Skip to main content

Full text of "Die Runenschrift;"

See other formats


^■^"y^fr- 


».'«?'*«. 


''^^. 


.-^■:W- 


■^^§^'U: 


**?-■■= 


DIE  RUNENSCHRIFT 


DIE 


RUNENSCHRIFT 


VON 


LUDV/.^V.*A^*WIMMER 


VOM  VERFASSER  UMGEARBEITETE  UND  VERMEHRTE  AUSGABE 


MIT  3  TAFELN  UND  ABBILDUNGEN  IM  TEXTE 


AUS  DEM  DANISCHEN  ÜBERSETZT 


Dr.   f.   HOLTHAUSEN 


BERLIN 

WEIDMANNSCHE    BUCHHANDLUNG 
1887 


Driink  von  \V.   Pormetier,    Hrtrlin. 


DEM  ANDENKEN 


RASMUS  KRISTIAN  RASK'S 


UND 


NIELS  LUDVIG  WESTERGAARDS 


Jils  man  heule  vor  einem  jähre  in  Deutschland  den  hundert- 
jährigen geburtstag  Jacob  Grimms  unter  allgemeiner  beteiligung  feierte, 
wurde  auch  aufs  tieue  und  mit  recht  die  erinnerung  an  den  einen 
der  männer  wachgerufen,  mit  deren  namen  ich  dieses  buch  geziert 
habe.  R.  K.  Rask  war  es,  der  zu  an  fang  des  Jahrhunderts  mit 
Bopp  und  Grimm  zusammen  den  grund  legte,  auf  welchem  die  neuere 
Sprachwissenschaft  bis  auf  unsere  tage  herab  weiter  gebaut  hat,  und  was 
Grimms  „Deutsche  Grammatik"  für  das  studium  der  südgermanischen 
sprachen  xcurde,  das  wurden  die  arbeiten  seines  gleichzeitigen  und  un- 
gefähr gleichaltrigen  dänischen  genossen  in  nicht  geringerem  mafse  für 
das  Studium  der  alten  spräche  des  Nordens  und  der  neueren  nor- 
dischen sprachen. 

Wenn  nun  auf  den  22.  november  1887  der  hundertjährige  ge- 
burtstag unseres  berühmten  landsmannes  fällt,  so  werden  wir  hier  in 
Dänemark  dieses  tages  sicherlich  mit  nicht  geringerer  teilnähme  gedenken, 
als  man  in  Deutschland  des  4.  januars  1785  gedachte.  Schwerlich 
aber  wird  es  mir  vergönnt  sein,  zu  jener  zeit  in  deutscher  spräche 
das  andenken  des  grofsen  dänischen  forschers  zu  feiern;  ich  habe  daher 
die  gelegenheit,  die  sich  jetzt  bot,  bemitzen  wollen,  um  dem  lehrer  die 
hddigung  des  schülers  darzubringen.  Eine  solche  erscheint  so  oft  post 
festum,  dafs  man  es  hoffentlich  verzeihen  wird,  wenn  die  meinige  dies- 
mal etwas  vor  dem  eigentlichen  jubeltage  kommt. 

Mit  Rasks  namen  habe  ich  den  namen  des  mannes  verbunden, 
welcher  mehr  als  irgend  ein    anderer   der  träger  der  Raskschen  tra- 


VIII 

dilion  wurde  und  sie  dem  jüngeren  geschlechte  überlieferte,  und  dem 
auch  ich  persönlich  zu  besonderem  danke  verpflichtet  bin.  N.  L. 
Westergaard,  der  seit  meiner  ersten  Studienzeit  mein  liebster  lehrer 
icar  und  den  ich  in  den  letzten  jähren  seines  lebens  kollegen  und 
freund  nennen  zu  dürfen  glücklich  war,  begleitete  bis  zuletzt  meine 
arbeiten  über  die  alte  spräche  und  schrift  des  Nordens  mit  unge- 
schwächtem interesse. 

Dem  andenken  dieser  beiden  männer,  die  einander  nicht  nur  an 
gelehrsamkeit  und  Scharfsinn,  sondern  auch  in  glühender  Vaterlands- 
liebe glichen,  weihe  ich  dieses  buch  in  der  hoffnung,  es  möge  in  dem 
geiste  geschrieben  sein,  der  sie  selber  beseelte. 

Kopenhagen,  den  4.  januar  1886. 

Jjudv,  F,  A,  Wimnier, 


Vorrede. 


Den  gnmdstock  dieser  abhandlung  bildet  eine  reihe  von  vortragen, 
die  ich  als  anhang  zu  voilesungen  über  die  geschichte  der  altnordischen 
spräche  im  frühjahrssemester  1873  an  der  Kopenhagener  Universität 
über  die  runenschrift  gehalten  habe.  Es  war  meine  absieht,  später  diese 
beiden  Vorlesungen  durchzuarbeiten  und  herauszugeben,  was  indessen 
bis  jetzt  nur  mit  den  Vorlesungen  über  die  runenschrift  geschehen  ist. 
Im  sommer  1873  wurde  das  manuscript  fertiggestellt ,  und  der  druck 
wurde  zu  anfang  des  Jahres  1874  vollendet. 

Gleichzeitig  mit  und  unmittelbar  nach  dem  druck  des  buches 
wurden  merkwürdigerweise  an  sehr  verschiedenen  stellen  eine  über- 
raschend grofse  anzahl  denkmäler  ans  licht  gezogen,  die  für  die  fragen, 
welche  ich  in  meiner  abhandlung  zu  lösen  versucht  hatte,  von  der 
gröfsten  bedeutung  waren.  Auf  ein  paar  dieser  denkmäler  konnte  ich 
noch  in  einigen  nachtragen  zu  dem  werke  die  aufmerksamkeit  lenken 
(die  Fretlaubershermer  spange  und  den  norwegischen  stein  von  Vatn); 
aber  eine  noch  gröfsere  anzahl  kam  erst  gleich  nach  dem  erscheinen 
meines  buches  ans  tageslicht.  Ich  hebe  hervor  das  speerblatt  von  Kovel 
in  Volhynien  mit  der  unzweifelhaft  gotischen  inschrift,  ein  paar 
rnnenspangen  aus  Deutschland ,  den  lanzenschaft  aus  dem  Kragehuler 
moore  auf  Fühnen  mit  der  längsten  in  Dänemark  entdeckten  inschrift 
in  älteren  runen,  verschiedene  steine  aus  Schweden  und  Norwegen  mit 
denselben  rnnen,  darunter  den  merkwürdigen  stein  von  Strand,  der 
nächst  dem  steine  von  Tune  die  längste  noncegische  inschrift  in  solchen 
runen  enthält. 

Zugleich  mit  der  heransgabe  meiner  abhandlung  wnrden  aufserdem 
neue  gesichtspunkte  bezüglich  des  gemeingermanischen  konsonanten- 
systems  geltend  gemacht,  woraus  hervorging,  dafs  die  späteren  mutae 
g,  d,  b  ursprünglich  spiranten,  g.,  d,  b,  gewesen. 


Ä  VORREDE. 

Auch  änderten  die  archäologen  allmählich  ihre  ansieht  über  das 
alter  der  denkmäler,  die  durch  die  grofsen  moorfunde  in  Schleswig  und 
auf  Fnhnen  zu  tage  gefördert  waren,  worunter  sich  einige  inschriften 
mit  älteren  runen  befanden.  Oft  habe  ich  in  Unterredungen  mit  meinem 
verstorbenen  freunde  prof.  C.  Engelhardt,  der  sich  durch  die  ausgra- 
bung  und  beschreibung  der  Schleswig  sehen  und  fühnischen  moorfunde  so 
grofse  Verdienste  um  die  nordische  altertumsforschung  erworben  hat, 
behauptet,  dafs  seine  Zeitbestimmungen  für  diese  funde  (Thorsbjærg 
mitte  des  3.  Jahrhunderts  und  Kragehul  ende  des  5.  jahrh.  n.  Chr.) 
sich  schwer  mit  den  sprachlichen  und  paläographischen  thatsachen  in 
einklang  bringen  liefsen,  dafs  die  inschriften,  die  wir  übereinstimmend 
für  die  allerältesten  ansahen  (von  Thorsbjærg,  Strärup,  Himlingöje) 
runen-  und  sprachformen  aufwiesen,  die  so  gut  loie  vollständig  mit 
den  nach  seiner  meinung  ein  paar  hundert  jähre  jüngeren  inschriften 
von  Kragehul  und  mit  den  zum  gröfsten  teile  unzweifelhaft  noch  jün- 
geren norwegischen  und  schwedischen  Steininschriften  übereinstimmten. 
Ein  solcher  stillstand  in  der  entwicklung  im  verlaufe  von  ein  paar 
hundert  jähren  oder  mehr  war  mir  ganz  unerklärlich,  gar  nicht 
davon  zu  reden,  dafs  zufolge  der  datierungen  Engelhardts  ein  langer 
Zeitraum  bleiben  würde,  in  dem  nicht  ein  einziges  runendenkmal  im 
Norden  nachgewiesen  werden  könnte.  Auch  für  die  archäologen  stellte 
das  Verhältnis  zwischen  den  moorfunden  sich  indes  bald  in  einem  an- 
dern lichte  dar,  und  besonders  Worsaae  machte  geltend,  dafs  sie  für 
wesentlich  gleichaltrig  zu  halten  seien,  so  dafs  die  ältesten  in  bedeu- 
tend spätere  zeit  gesetzt  werden  müfsten,  als  man  anfangs  ange- 
nommen hatte,  wie  er  mir  auch  ohne  bedenken  einräumte,  dafs  man  die 
entslehung  des  goldenen  hornes  mit  einer  runden  zahl  am  ehesten  um 
das  jähr  500  anzusetzen  habe.  Während  ich  trotz  der  gröfsten 
zweifei  in  „Runeskr.  opr."  1874  im  anschlnfs  an  die  damals  allgemein 
angenommenen  archäologischen  beslimmungen  die  nordischen  runendenk- 
mäler  mit  der  längeren  runenreihe  in  die  zeit  zwischen  250—600 
setzte,  habe  ich  daher  jetzt  kein  bedenken  getragen,  die  ältesten  etica 
in  das  jähr  400  hinabzurücken. 

Alle  diese  neuen  thatsachen  waren  natürlich  von  der  gröfsten  bedeu- 
tung  auch  für  die  frage  nach  dem  Ursprung  der  runenschrift,  und  ich 
hatte  die  freude,  dafs  sie  in  hohem  grade  die  richtigkeit  der  ergebnisse 
bestätigteti ,  zu  denen  ich  gelangt  war;  aber  selbstverständlich  konnten 
jetzt  mehrere  einzelheiten  in  einem  andern  lichte  gesehen  und  klarer 
und  bestimmter  dargestellt  werden,   als  dies  früher  möglich  war.      In 


VORREDE.  XI 

Vorlesungen  und  später  in  einem  vortrage  in  der  kgl.  dänischen  Akademie 
der  Wissenschaften  am  25.  februar  1881  teilte  ich  die  wichtigsten  von 
den  neuen  ergebnissen  mit,  zu  denen  ich  hierdurch  geführt  worden 
war,  und  es  war  meine  absieht,  dieselben  in  eine  deutsche  hearbeitung 
meines  buches  hineinzuarbeiten,  icelche  vorzunehmen  ich  gleich  nach 
seinem  erscheinen  zu  m'ederholten  malen  aufgefordert  worden  war.  Die 
avsführung  dieser  arbeit  wurde  indessen  aus  verschiedenen  gründen 
von  jähr  zu  jähr  hinausgeschoben,  vnd  ist  erst  jetzt  verwirklicht  worden, 
nachdem  dr.  F.  Holthausen,  angeregt  durch  prof.  Sievers  in  Tübingen 
und  später  durch  prof.  Hoffory  in  Berlin,  sich  erboten  hatte,  die 
Übersetzung  zu  unternehmen.  Die  neuen  ergebnisse,  zu  denen  ich  im 
verlaufe  der  12  jähre  gekommen  bin,  welche  zioischen  der  dänischen  atis- 
gabe  und  der  gegenwärtigen  bearbeitung  liegen,  und  wovon  ich  bereits 
zu  beginn  des  Jahres  1884  einige  hauptpunkte  in  dem  briefe  mitgeteilt 
habe,  den  dr.  Burg  seiner  verdienstlichen  abhandlung  über  die  älteren 
nordischen  runeninschriften  beigefügt  hat,  auf  welche  ich  im  ganzen 
genommen  bezüglich  des  Standpunktes,  den  die  deutung  dieser  inschriften 
für  den  augenblick  eireicht  hat,  verweisen  kann,  sind  natürlich  dem 
buche  in  serner  jetzigen  gestalt  einverleibt  worden.  Im  laufe  der  letzten 
10  jähre  habe  ich  aufserdem  während  der  Vorbereitungen  zu  einem 
grofsen  werke  über  die  dänischen  runendenkmäler  gelegenheit  gehabt, 
alle  dänischen  (hierunler  auch  die  schlesmgschen  und  schonischen)  und 
verschiedene  der  übrigen  nordischen  runeninschriften  persönlich  zu  unter- 
suchen. Die  ausbeute  von  diesen  Untersuchungen  ist  natürlich  auch 
der  gegenwärtigen  ausgäbe  zu  gute  gekommen,  insofern  ich  teils  an  ver- 
schiedenen stellen  den  stoff  habe  ergänzen  können,  teils  öfters  das 
malerial,  welches  früher  zu  meiner  Verfügung  stand,  zu  berichtigen  in 
der  lage  getcesen  bin. 

Obwohl  meine  ergebnisse  sowohl  bezüglich  des  Ursprungs  der 
runenschrift  als  auch  bezüglich  des  gegenseitigen  Verhältnisses  der  beiden 
runenalphabete  im  ganzen  Zustimmung  von  den  kompetentesten  seilen 
und  nicht  am  wenigsten  bei  deutschen  gelehrten  gefunden  haben  —  ich 
schulde  K.  Maurer,  dem  verstorbenen  Müllenhoff,  M.  Rieger,  E.  Sie- 
vers, F.  Zarncke  tind  andern  dank  für  ihre  öffentlichen  auslassungen 
in  diesem  sinne  — .  ist  doch  nach  dem  erscheinen  meiner  abhandlung 
von  zwei  seilen  her  eine  abweichende  auffassung  von  dem  urspi^ung  der 
runenschrift  geltend  gemacht  tcorden.  In  einer  kleinen  mitteilung  auf 
3  Seiten,  die  am  7.  november  1873  in  der  Gesellschaft  der  Wissen- 
schaften zu  Christiania  vorgetragen  wurde,  aber  erst  nach  meiner  ab- 


XII  VORREDE. 

handlung  erschien  („Om  Runeskriftens  Oprindelse",  Christ.  1S74),  hat 
nämlich  S.  Bugge  dieselbe  ansieht  ausgesprochen,  die  er  bereits  früher 
angedeutet  hatte  (siehe  unten  s.  174  anm.  1),  nämlich  dafs  den  grund- 
stock  der  runenschrift  zwar  im  wesentlichen  das  lateinische  aiphabet 
bilde,  dafs  sie  jedoch  stark  durch  die  nordetruskische  schrift  beeinflufst 
sei;  ein  nachweis  hiervon  im  einzelnen  ist  aber  nicht  versucht.  Dafs 
Bugge  diese  meinung  hat  aussprechen  können,  wundert  mich  keineswegs. 
Als  ich  zum  ersten  male  inschriften  mit  „nordetruskischen"  buchstaben 
sah,  überraschte  mich  die  erstaunliche  äufsere  ähnlichkeit  zwischen 
dieser  schrift  und  unserer  ältesten  runenschrift  derma fsen,  dafs  ich  es 
im  ersten  augenblicke  für  ausgemacht  hielt,  dafs  wir  hier  das  wirkliche 
Vorbild  der  runenschrift  hätten;  wenn  ich  daher  seiner  zeit  mit  einem 
Vorurteil  an  die  Untersuchung  über  den  Ursprung  der  runenschrift  ging, 
so  mufste  es  das  sein,  dafs  die  „nordetruskische"  schrift  bei  der  bildung 
der  runen  eine  rolle  gespielt  habe.  Das  ergebnis  wurde  indessen,  dafs 
alle  ähnlichkeilen  rein  äufsere  und  zufällige  waren,  was  ich  in  meinem 
buche  näher  nachgewiesen  habe.  Ich  glaube  somit,  dafs  ich,  lange  be- 
vor Bugges  obengenannte  mitteilnng  über  den  Ursprung  der  runenschrift 
mir  bekannt  geworden  war,  die  gründe  iciderlegt  hatte,  worauf  sie  ge- 
stützt werden  konnte.  Auch  mit  einer  andern  abhandlung  von  Bugge 
wurde  ich  kurz  nach  dem  erscheinen  meines  buches  bekannt,  nämlich 
dem  ersten  abschnitt  (s.  1 — d6)  der  in  der  Antiqvarisk  Tidskrift  för 
Sverige  V,  1  gedruckten  „Tolkning  af  runeindskriften  på  Rokstenen  i 
Östergötland"  (der  schlufs  von  s.  97  an  erschien  erst  1878).  hh 
trage  kein  bedenken,  diese  abhandlung  als  die  bedeutendste  runologische 
arbeit  zu  bezeichnen,  die  in  der  neueren  zeit  erschienen  ist,  denn  es 
ist  dem  Verfasser  durch  eine  seltene  Vereinigung  von  gelehrsamkeit  und 
Scharfsinn  geglückt,  den  gröfsten  teil  der  vielen  Schwierigkeiten  zu 
lösen,  welche  die  inschrift  darbot,  was  besonders  deutlich  bei  verglei- 
chting  mit  dem  früheren  verzweifelten  versuche  von  Stephens  (Old-Nor- 
thern  Rwiic  Monuments  I,  s.  230  ff.)  zu  tage  tritt.  Bugge  erhält  in 
dieser  arbeit  gelegenheit,  auch  bei  mehreren  von  den  fragen  zti  ver- 
weilen, die  ich  in  „Runeskr.  opr."  behandelt  hatte,  und  es  hat  mich 
natürlich  gefreut,  dafs  wir  hier  wie  öfters  früher  zu  denselben  ergeb- 
nissen  gelangt  sind  (so  z.  b.  darin,  der  rune  \  auf  dem  Röker  steine 
die  bedeutung  h  zu  geben,  in  den  beweisen  für  die  ursprüngliche  reihen- 
folge  Y  r  im  kürzeren  futhark  u.  s.  w.). 

Während   Bugges   obengenannte    auslassungen   über   den  Ursprung 
der  runenschrift  unabhängig  von  meinem  buche  erschienen  waren,  hat 


VORREDE.  XIII 

dieses  die  gröfsere  abhandhing  von  J.  Taylor,  welche  den  Ursprung 
der  rnnenschrift  behandelt,  „Greeks  and  Goths:  a  Study  on  the 
Runes",  London  1879,  hervorgerufen.  Einen  icesentlichen  anteil  an 
Taylors  buche  hatte  der  herausgeber  des  großen  runenwerkes  „The  Old- 
Northern  Runic  Monuments  of.  Scandinavia  and  England",  lektor  des 
englischen  an  der  Kopenhagener  Universität,  prof.  G.  Stephens,  und 
er  sprach  dann  auch  sofort  nach  dem  erscheinen  des  buches  seine  unbe- 
dingte Zustimmung  zu  den  resultaten  des  Verfassers  aus  („Fædrelandet" 
vom  24.  juni  1879).  Stephens'  äufserimgen  in  dieser  angelegenheit 
veranlafsten   mich,  am   selben  orte  („Fædrelandet"  vom  3.  juli  1879) 

folgende  bemerkungen  über  Taylors  buch  zu  veröffentlichen:  „ Der 

Verfasser  sucht  sw  zeigen,  dafs  die  Goten  im  6.  Jahrhundert  vor  Chr. 
ihr  runenalphabet  nach  dem  thrakisch  -  griechischen  alphabete  schufest, 
und  er  bekämpft  in  folge  dessen  die  auffassung,  die  ich  geltend  ge- 
macht habe,  dafs  die  runen  vom  lateinischen  alphabete  abstammen. 
Hierbei  hat  er  mir  indessen  ansichten  zugeschrieben,  die  ich  nicht  nur 
niemals  ausgesprochen  habe,  sondern  die  im  vollständigen  loiderspruch 
mit  meinen  äufserungen  stehen.  S.  20  f.  fafst  er  nämlich  das  resultat 
meiner  Untersuchungen  in  folgende  worte  zusammen:  „Dr.  Wimmer 
supposes  that  the  Runes  were  obtained  from  the  Romans,  through  the 
Gauls,  in  the  time  of  the  early  empire.  In  order  to  account  for 
certain  Runes  which  plainly  cannot  be  of  Latin  origin,  he  assumes  that 
his  hypothetical  Gaulish  aiphabet  contained  letters  dericed  from  the 
Massilian  Greeks,  and  others  descended  from  the  old  North  -  Etruscan 
aiphabet!"  Solche  ungereimte  behanptungen  habe  ich  natürlich  niemals 
aufgestellt.  Nachdem  ich  im  einzelnen,  icie  ich  glaube,  genügend  nach- 
gewiesen habe,  dafs  alle  runen  ohne  ausnähme  vom  lateini- 
schen alphabete  abstammen  („Runeskr.  opr."  s.  88 — 147),  werfe 
ich  (s.  148)  die  frage  auf,  auf  tcelchem  wege  das  römische  aiphabet, 
das  als  grundlage  für  die  rnnenschrift  diente,  den  germanischen  Völkern 
bekannt  geworden,  und  ich  erkläre,  dafs  es  gegenwärtig  unmöglich  sei, 
eine  nur  irgendicie  sichere  antwort  hierauf  zu  geben;  dafs  es  aber  als 
eine  möglichkeit  hingestellt  werden  dürfe,  dafs  die  Germanen 
nicht  direkt  durch  die  Römer  selbst,  sondern  durch  die  Gallier  mit  der 
lateinischen  schrift,  nach  welcher  die  runen  gebildet  wurden,  bekanntschaft 
gemacht  haben.  Über  die  schrift  der  Gallier  habe  ich  bemerkt,  dafs 
die  bewohner  des  eigentlichen  Galliens  zuerst  das  griechische  und  darauf 
das  lateinische  aiphabet  benutzteti,  während  die  Gallier  in  Oberitalien  zu- 
erst sich  ein  aiphabet  nach  der  „nordetruskischen"  schrift  schufen,  jedoch 


XIV  VORREDE. 

später  gleichfalls  das  römische  aiphabet  annahmen.  Das  nach  der  nord- 
etruskischen  schrift  gebildete  gallische  aiphabet  habe  ich  s.  150  anm. 
angeführt,  gestützt  auf  die  gallischen  inschriften,  welche  ich  an  einer 
andern  stelle  in  meinem  buche  (s.  49  anm.  1)  behandelt  habe.  Aus 
all  dem  hat  Taylor  also  herausgelesen,  dafs  ich  zur  erkiärung  gewisser 
rtmeti  ein  hypothetisches  gallisches  aiphabet  habe  bilden  müssen,  das 
teils  griechische,  teils  nordetruskische  zeichen  aufgenommen  hätte!! 

S.  28 ff.  bespricht  Taylor  darauf,  wie  die  einzebien  runen  nach 
meiner  meinung  von  den  lateinischen  buchstaben  abgeleitet  werden  sollten. 
Auch  dieser  abschnitt  ist  voll  von  Unrichtigkeiten  und  mifsverständnissen, 
und  alle  meine  beweise  sind  entweder  weggelassen  oder  verdreht.  Ich 
will  nur  das  allererste  beispiel  anführen  (s.  28  ff.).  Die  erkiärung, 
die  ich  von  dem  a-zeichen  in  der  runenschrift  gegeben  haben  soll, 
ist,  dafs  man  ohne  genügenden  grund  das  lateinische  A  aufgab  und 
an  stelle  dessen  das  etruskische  a-zeichen  aufnahm.  Aber  ich  habe 
gerade  mit  grofsem  nachdrnck  hervorgehoben,  dafs  die  a-rune  vom 
lateinischen  A  abstamme,  und  nicht^  wie  man  durch  eine  oberflächliche 
betrachlung  anzunehmen  verleitet  werden  könnte,  in  irgend  einer  Ver- 
bindung mit  dem  nordetruskischen  zeichen  stehe  („Runeskr.  opr."  s.  93 
mit  anm..-!,  s.  95  und  s.  150  anm.}.  Von  ähnlicher  art  sind  die 
übrigen  „beweise",  die  Taylor  gegen  mich  anführt,  indem  er  mir  an 
vielen  stellen  eine  vollständig  unrichtige  ansieht  zuschreibt,  die  er 
dann  bekämpft.  Alle  diese  fehler  und  mifsverständnisse  zu  berich- 
tigen, darauf  kann  ich  mich  natürlich  nicht  einlassen;  es  würde  ein 
ganzes  buch  erfordern,  dicker  als  T.s  eigenes.  Aber  seine  polemik  ist, 
wie  man  aus  dem  vorhergehenden  gesehen  haben  wird,  von  einer  so 
eigentümlichen  art,  dafs  ich  eins  von  beiden  voraussetzen  mufs:  ent- 
weder hat  der  Verfasser  einfach  mein  buch  nicht  selbst  gelesen,  sondern 
hat  dessen  inhalt  erst  aus  zweiter  hand,  und  arg  entstellt,  erhalten;  oder 
er  kann  kein  dänisch  lesen  und  hat  infolge  dessen  nichts  von  dem 
inhalt  des  buches  verstanden,  welches  zu  kritisieren  er  sich  berufen 
gefühlt  hat.  Dies  fmde  ich  auch  durch  die  änfserungen  des  Verfassers 
über  Rask  in  der  vorrede  bestätigt;  wofern  er  wirklich  mein  buch  ge- 
lesen und  verstanden  hätte,  würde  er  darin  (s.  15  f.)  nämlich  nicht  nur 
Rasks  ansieht  erwähnt  gefunden  haben,  sondern  auch  die  namen 
anderer  gelehrter,  welche  die  ähnlichkeit  zwischen  den  alten  grie- 
chischen buchstaben  und  den  runen  hervorgehoben  haben. 

Hiermit  kann  ich  von  herm  Taylors  buche  abschied  nehmen.  Was 
für  und  gegen  seine  auffassung  vom  Ursprünge   der   runen   aus   der 


VORREDE.  XV 

griechischen  schrift  spricht,  habe  ich  bereits  genügend  in  meiner  oft 
genannten  abhandlung  entioickelt  %tnd  finde  keine  veranlassung,  jetzt 
näher  auf  diese  frage  einzugehen.  T.s  ganze  darstellung  ist,  wie  es 
von  dem  Verfasser  der  „Etruscan  Researches"  zu  ertcarlen  stand,  ganz 
unmethodisch  und  verfehlt,  und  es  thut  deshalb  weniger  zur  sache,  dafs 
er  sich  in  den  einzelheiten  auf  eine  menge  längst  nachgewiesener  fehler 
bei  Stephens  stützt."^) 

Das  hier  ausgesprochene  urteil  über  Taylors  buch  halte  ich  weiter 
aufrecht:  es  ist  auf  eine  reihe  kühner,  teils  unbewiesener  und  unbeweis- 
barer, teils  vollständig  falscher  hypothesen  gebaut,  auf  eine  grofse 
Unwissenheit  in  dem  rein  thatsächlichen  bezüglich  der  fragen,  die  be- 
antwortung  heischten,  tihd  endlich  meiner  arbeit  gegen^er,  die  zum 
gegenständ  der  kritik  gemacht  wird,  auf  die  gröbsten  Verdrehungen 
und  mifsverständnisse.^)  Zu  einer  entgegnung  im  einzelnen  auf  diese 
arbeit  finde  ich  folglich  nicht  die  geringste  veranlassung.  Der  erste 
abschnitt  in  meinem  buche  ist  ja  eine  solche  entgegnung,  und  Taylor 
hat  mir  natürlich  keine  Ursache  gegeben,  eine  zeüe  von  dem  zu  ändern, 
was  ich  früher  behauptet  hatte. 

Dafs  ich  einen  ähnlichen  standpunkt  auch  Stephens'  eigenen  ar- 
beiten gegenüber  einnehme,  ist  selbstverständlich.  In  allem,  was  die 
runologie  diesem  manne  verdankt,  ist  nämlich  eine  phantastische  be- 
geisterung  für  die  sache  gepaart  mit  dem  erstaunlichsten  mangel  an 
einsieht  in  die  behandelten  fragen  und  der  vollständigsten  Verachtung 


^)  Obenstehende  bemerkiuigen  wurden  von  folgender  naehschrifl  Itegleäel: 
„\acMem  diese  bemerkungen  an  „Fædrelandet'  abgeschickt  waren,  erhielt  ich 
die  englische  Zeitschrift  Athenæum  vom  28.  Juni,  in  welcher  ein  einsichtiger 
kritiker  in  einer  klaren  und  überlegenen  weise  die  „confusion"  aufdeckt,  die 
durch  T.s  ganze  abhandlung  gehe,  so  dafs  bei  seiner  „expedition  to  Thracé' 
nicid  das  geringste  herausgekommen  sei.  „In  no  case  does  he  critieaUy  reftde 
any  of  the  arguments  of  Dr.  Wimmer,  btd  he  condemns  them  all  most  cavalierlt/'', 
sagt  der  recensent,  nachdem  er  eine  kurze,  aber  vollkommen  korrekte  darstel- 
lung meiner  beweise  fiir  die  abstammung  der  runen  aus  dem  lateinischen 
alp  habet  gegeben  hat."  Herr  Stephens,  dessen  äufserungen  diese  auslassung  mei- 
nerseits hervorgerufen  hatten,  hatte  hierauf  nichts  zu  antworten. 

*)  ^"1  gegensatze  hierzu  hebe  ich  hervor,  dafs  die  resultate  meiner  Unter- 
suchungen sich  im  ganzen  korrekt  wiedergegeben  finden  von  0.  Montelius  in 
„Sveriges  Historia  fron  äldsta  tid  tili  våra  dagar'' ,  I,  Stockh.  1877,  s.  212  ff. 
und  s.  3ö3  ff"-,  C.  Rosenberg,  X ordboernes  yi åndsliv  fra  Oldtiden  til  vore  Dage,  I, 
Kbh.  1878,  s.  53 tf.,  P.  Hebke,  Om  Runerne  i  Morden,  Kbh.  1879  und  von 
J.  Rhys,  Lectures  on  ffetsh  Phdology,  London  1679,  s.  320  ff. 


XVI  VORREDE. 

aller  wissenschaftlichen  methode. ')  Dies  hoffe  ich  genügend  in  meiner 
kritik  seines  ersten  bandes  bewiesen  zu  haben  („De  ældste  nordiske 
runeindskrifter"  in  den  Aarbeger  f.  nord.  Oldkyndighed  og  Historie  1867, 
s.  1 — 64,  sowie  „Prof.  G.  Stephens  om  de  ældste  nordiske  runeindskrifter"* 
ebenda  1868,  s.  53 — 75),  so  dafs  ich  eine  neue  entgegnung  auf  alle 
seine  behawptungen  im  einzelnen  für  ganz  überflüssig  halten  darf.  In 
Wirklichkeit  ist  mein  ganzes  buch  ja  aiich  eine  indirekte  kritik  über 
Stephens;  wenn  ich  recht  habe,  ist  zugleich  über  alle  deutungen  u.  s.  w. 
von  Stephens  der  stab  gebrochen,  während  man  natürlich  nicht  den  um- 
gekehrten schlufs  ziehen  darf,  dafs  S.  recht  hätte,  wenn  ich  unrecht 
haben  sollte. 

Dies  urteil  gilt  auch  von  der  behandlung  der  altenglischen  in- 
schriften,  ivo  es  der  Verfasser  doch  mit  seiner  muttersprache  zu  thun 
hat,  und  wo  man  infolge  seiner  Stellung  ihm  eine  geioisse  autorität 
zutrauen  könnte.  Wo  er  sich  indessen  nicht,  wie  bei  den  gröfseren 
inschriften,  auf  vorzügliche  vorarbeiten  stützen  kann,  sondern  auf 
eigene  hand  vorgehest  mufs,  ist  er  im  stande  unglaubliche  sacken  zu 
leisten,  so  bei  der  behandlung  des  Brougher  Steines  aus  Westmoreland, 
ICO  er  auf  10  folioseiten  eine  griechische  inschrift  als  altenglisch  in 
eitlem  dialekt  deutet,  den  er  für  die  gelegenheit  erfunden  hat. 


Es  war  ursprünglich  meine  absieht  gewesen,  in  einer  deutschen 
bearbeitung  den  ganzen  einleitenden  abschnitt  im  2.  kap.  des  ersten 
biiches  über  das  phönicische  und  die  alten  südeuropäischen  alphabete  aus- 
zulassen, da  ich  glaubte,  von  den  hier  früher  dargestellteti  resultaten  als 
sicheren  thatsachen  ausgehen  zu  können,  die  nicht  aufs  neue  vorgetragen 
zu  werden  brauchten.  Leider  zeigen  indessen  nicht  nur  bücher  loie 
Taylors  „Greeks  and  Goths",  sondern   auch   äufserungen  von   andern 


')  Als  ein  neuer  eklatantei'  beweis  hierfür  verdient  erwähnt  zu  werden, 
dafs  er  in  dem  1884  erschienenen  3.  bande  der  „Old~Northern  Runic  Monu- 
ments" an  stelle  seiner  früheren,  ganz  willkürlichen  datierungen  der  in- 
schriften oft  ohne  irgend  welche  begründung  andere  gesetzt  hat,  die  weit  mehr 
mit  den  meinigen  übereinstimmen;  diemeinen  waren  natürlich  auf  meine  deutun- 
gen der  inschriften  und  auf  die  daraus  gezogenen  sprachlichen  und  paläographi- 
sc/ien  ergebnisse  gebaut.  Stephe?is  behält  indessen  seine  eigenen  deutungen  bei  und 
nimmt  nur  meine  datierungen  auf!!  (während  so  der  stein  von  Istaby  früher 
um  300—400  gesetzt  wurde,  wird  er  jetzt  bis  600 — 700  herabgerückt;  der 
Sölvesborger  stein,  der  früher  um  400 — 500  gesetzt  wurde,  stammt  jetzt  von 
800—900  her  u.  s.  w.J. 


Einleitung*. 


Yon  den  drei  perioden,  worin  die  altertumsforscher  die  zeit  im  Ran. 
Norden  vor  der  einführung  des  Christentums  eingeteilt  haben,  dem  ^"P^' 
stein-,  bronce-  und  eisenalter,  unterscheidet  sich  bekanntlich  das 
letzte  von  den  beiden  anderen  auch  dadurch,  dafs  wir  erst  in  ihm 
spuren  von  buchstabenschrift  treffen.  Während  die  denkmäler 
des  stein-  und  broncealters  nicht  eine  einzige  Inschrift  mit  wirk- 
lichen buchstaben  aufweisen  —  denn  die  sogenannten  „hällristningar" 
(felsenritzungen)  aus  dem  broncealter  enthalten  höchstens  eine  art 
bilderschrift,  zu  deren  richtiger  deutung  den  Schlüssel  zu  finden 
kaum  jemals  gelingen  wird  — ,  haben  wir  solche  Inschriften  aus  jedem 
der  drei  hauptabschnitte,  in  welche  man  das  eisenalter  ein- 
geteilt hat.  Erst  für  diese  periode  werden  wir  daher  —  insofern  es 
uns  möglich  ist  ihre  inschriften  zu  deuten  —  im  stande  sein 
mit  bestimmtheit  zu  sagen,  welcher  stamm  oder  welche  stamme  im 
Norden  gewohnt  haben,  während  wir  uns  in  bezug  auf  die  einwohner 
der  beiden  ersten  perioden  mit  vermutungen  begnügen  müssen,  die 
höchst  unsicher  sind. 

Mit  den  grofsen  moorfunden,  die  in  den  letzten  20  bis  30  jähren 
in  Dänemark  zu  tage  gekommen  sind  —  den  von  C.  Engelhardt 
beschriebenen  funden  vom  Thorsbjærger  und  Nydamer  moore  in  Schles- 
wig, vom  Vier  und  Kragehuler  moore  auf  Fühnen^)  — ,  begann  eine 
neue  aera  für  das  studium  des  eisenalters  im  Norden,  welches  Engelhardt 


1)  Thorsbjerg  Mosefund,  Kbh.  1863.  Nydam  Mosefand,  ib.  1865.  (Diese 
beiden  englisch  in:  Deamark  in  the  early  iron  age,  illuslrated  by  recent  disco- 
veries  in  tJie  peat  mosses  of  Slesvig,  London  1866).  Kragehai  Mosefuad, 
Kbh.  1867.     Vimose  Fandet,  ib.  1869. 

WIMHER,  Die  nmensehnft.  1 


2  EINLEITUNG. 

in  seinen  verschiedenen  archäologischen  Untersuchungen  beständig  vom 
jähre  250  bis  ungefähr  1000  nach  Chr.  rechnete,  wovon  das  ältere 
eisenalter  die  zeit  von  250 — 450,  das  mittlere  die  zeit  von  450 
bis  ungef.  700  und  das  jüngere  die  zeit  von  ungef.  700  bis  ungef. 
1000  umfafste.  Von  den  grofsen  moorfunden  setzte  Engelhardt  den 
ältesten  (den  Thorsbjærger  fund)  in  die  mitte  des  3.  jahrhdts  (also 
den  anfang  der  älteren  eisenzeit  selbst),  den  jüngsten  (den  Kragehuler 
fund)  ins  5.  jahrhdt  (den  anfang  der  mittleren  eisenzeit).  Neuere 
funde  und  forlgesetzte  Untersuchungen  haben  indessen  die  altertums- 
forscher  dazu  gebracht  in  den  letzten  jähren  diese  Zeitbestimmungen 
etwas  zu  modificieren  ^),  so  dafs  der  anfang  der  eisenzeit  jetzt  in  das 
erste  Jahrhundert  vor  Chr.  oder  noch  früher  gesetzt  werden  mufs, 
und  innerhalb  der  älteren  eisenzeit,  die  von  ungef.  100  vor  Chr. 
bis  zum  schlufs  des  5.  Jahrhunderts  nach  Chr.  gerechnet  wird, 
scheidet  man  wieder  zwischen  der  vor  römischen  periode  (ungef. 
100  vor  Chr.  bis  100  nach  Chr.),  der  römischen  periode  (ungef. 
100 — 300  nach  Chr.)  und  der  völkervvanderungszeit  (4.  und  5. 
Jahrhundert).  Die  mittlere  eisenzeit  oder  die  erste  nachrömische 
zeit  umfafst  das  6.  und  7.  jahrhdt  (500 — 700)  und  die  jüngere 
eisenzeit  oder  die  Wikingerzeit  das  8.  bis  10.  jahrhdt  (700 — 1000). 
Von  den  grofsen  moorfunden,  die  jetzt  als  wesentlich  gleichzeitig 
angesehen  werden,  gehören  die  ältesten  (Thorsbjærger  und  Nydamer 
moor)  ohne  zweifei  dem  Schlüsse  der  Völkerwanderungszeit  (dem 
5.  jahrhdt),  die  jüngeren  (Vier  und  Kragehuler  moor)  dem  anfang 
der  mittleren  eisenzeit  (dem  6.  jahrhdt)  an.  In  dieselbe  zeit  wie 
die  moorfunde  gehören  auch  die  ältesten  im  Norden  gefundenen 
runeninschriften,  von  denen  keine  an  alter  diejenigen  überragt,  welche 
aus  dem  Thorsbjærger  moore  hervorgezogen  sind. 

Es  ist  natürlich  das  charakteristische  an  den  altertümern,  was 
die  einteilung  der  eisenzeit  in  verschiedene  perioden  seitens  der  alter- 
tumsforscher  bestimmt  hat.  Für  den  Sprachforscher,  der  das  hauptge- 
wicht  auf  die  sprach  form  legen  mufs,  die  sich  in  den  inschriften 
findet,  und  auf  die  zeichen,  die  in  den  verschiedenen  Zeiten  nach- 
gewiesen werden  können,  will  sich  an  keinem  punkte  eine  scharfe  und 

^)  Vgl.  .1.  J.  A.  Worsaae,  ,, Ruslands  og  det  skandinaviske  Nordens  Bebyg- 
gelse og  ældste  Kulturforhold"  in  den  årb.  f.  nord.  oldk.  1872,  s.  309  ff.;  derselbe 
„Nordens  Forhistorie,"  Kbh.  1881,  s.  127  ff.;  (Sophus  Müller,)  der  abschnitt 
„Jernalderen"  in  „Det  Kgl.  Museum  for  de  nordiske  Oldsager",  Kbh.  1883  (auch 
deutsch:  „Führer  durch  das  Kgl.  Museum  nordischer  Alterthümer",  ib.  1885). 


EI^LEITÜNG.  t> 

bestimmte  grenze  zwischen  einer  älteren  eisenzeit,  einer  mittleren 
eisenzeit  und  einer  jüngeren  eisenzeit  in  dem  sinne  zeigen,  worin  die 
archäologen  diese  namen  fassen.  Was  schrift  und  spräche  anbelangt, 
tinden  wir  nämh'ch  die  ganze  periode  hindurch  gleiche  und  all- 
mähliche Übergänge  von  den  älteren  zu  den  jüngeren  formen.  Es 
ist  ja  indessen  auch  für  den  Sprachforscher  zweckmäfsig,  gewisse 
perioden  in  der  entwicklung  anzusetzen  und  durch  bestimmte  Jahres- 
zahlen abzugrenzen. 

Vom  rein  sprachlichen  und  paläographischen  Standpunkte  aus 
würde  ich  dann  am  meisten  geneigt  sein  die  eisenzeit  in  zwei  perioden 
zu  teilen,  von  denen  die  eine,  welche  ich  die  ältere  eisenzeit 
nennen  würde,  die  zeit  von  ungef.  400  (dem  auftreten  der  ältesten 
inschriflen)  bis  ungef.  650,  die  andere,  die  jüngere  eisenzeit,  die 
zeit  von  ungef.  800  bis  ungef.  1000  urafafste.  Zwischen  diesen 
beiden  perioden  liegt  also  ein  Zeitraum  von  150  jähren  (650  — SOO), 
der  in  sprachlicher  hinsieht  als  mittlere  eisenzeit  angesehen 
werden  könnte.  Leider  sind  nur  äufserst  wenige  schriftliche  denk- 
mäler  bisher  ans  tageslicht  gekommen,  die  sich  mit  Sicherheit  in  diese 
zeit  setzen  lassen;  aber  trotz  ihrer  geringen  anzahl  sind  sie  für  uns 
von  der  allergröfsten  Wichtigkeit,  da  sie  deutlich  die  ältere  und  jün- 
gere eisenzeit  verknüpfen  und  den  Übergang  von  der  spräche  und 
schrift  der  einen  periode  zu  derjenigen  der  andern  zeigen.  Es  ver- 
steht sich  von  selbst,  dafs  diese  Sachlage  eine  aufserordentliche 
bedeutung  hat,  wenn  wir  auf  die  frage  antwort  geben  sollen,  ob  es 
derselbe  stamm  ist,  oder  ob  es  verschiedene  sind,  die  vom  anfang  bis 
zum  Schlüsse  der  eisenzeit  im  Norden  gewohnt  haben. 

Vergleichen  wir  nämhch  die  ältere  eisenzeit  unmittelbar  mit  der 
jüngeren,  ohne  die  Übergangsglieder  gebührend  in  betracht  zu  ziehen, 
so  werden  sich  sowohl  für  den  alter tums-  wie  für  den  Sprachforscher 
ziemlich  grofse  Verschiedenheiten  zeigen.  Es  könnte  ja  also  möghch 
sein,  dafs  in  der  jüngeren  eisenzeit  eine  neue  einwanderung  nach 
dem  Norden  erfolgt  wäre,  wodurch  das  gepräge  der  älteren  plötzhch 
verändert  oder  in  wesentlichem  grade  modificiert  worden  wäre,  und  es 
ist  namentHch  früher  in  der  altertumsforschung  ein  beliebtes  mittel  s. 
gewesen,  welches  aber  auch  in  neuerer  zeit  eine  nicht  unbedeutende 
rolle  gespielt  hat,  die  Verschiedenheiten  in  den  verschiedenen  Zeilen 
mit  hülfe  von  einwanderungstheorieen  zu  erklären.  Es  soll  auch  nicht 
geleugnet  werden,  dafs  es  oft  verlockend  sein  kann  dieses  mittel  an- 
zuwenden,   da  man  sich    dadurch  in  der  regel   ohne  weiteres  kopf- 

1* 


4  EINLEITUNG. 

zerbrechen  auf  eine  anscheinend  leichte  und  natürliche  weise  aus 
vielen  Schwierigkeiten  herauswindet.  Findet  man  grofse  Verschieden- 
heiten, so  kann  man  ja  ein  ganz  verschiedenes  volk  das  frühere  ver- 
drängen lassen;  sind  die  Verschiedenheiten  geringer,  so  kann  man  sich 
ja  mit  einem  stammverwandten  volke  begnügen.  Wenn  man  uns 
blofs  ein  wenig  sichrere  nachrichten  darüber  geben  könnte,  woher 
diese  neuen  Völker  gekommen  sind,  und  was  unter  den  während  der 
Völkerwanderungen  entstandenen  kämpfen  aus  den  alten  geworden 
ist!  Aber  so  lange  man  das  nicht  vermag,  ist  die  einwanderungs- 
theorie  nur  ein  mittel,  wodurch  man  den  knoten  zerhaut,  den  man 
zu  lösen  nicht  im  stande  ist,  und  es  wird  so  oft  angewandt,  dafs 
es  uns  leicht  gegen  alle  die  einwanderungen  mistrauisch  macht, 
welche  durch  keine  anderen  beweise  gestützt  werden  können,  als  den 
drang  ein  neues  volk  vorzuführen,  so  oft  man  gröfsere  kultur- 
veränderungen  entdeckt  oder  zu  entdecken  glaubt.  Was  insbeson- 
dere den  gegensatz  zwischen  dem  älteren  und  jüngeren  eisenalter  im 
Norden  anbelangt,  so  könnte  derselbe,  wie  mir  scheint,  auf  eine 
weit  natürhchere  und  einfachere  weise  erklärt  werden,  als  dadurch, 
dafs  man  eine  neue  Völkerwanderung  macht,  von  der  man  in  Wirk- 
lichkeit nicht  das  geringste  weifs,  obgleich  es  mir  nicht  unbekannt 
ist,  dafs  Schriftsteller  selbst  in  der  neuesten  zeit  nicht  blofs  unter- 
nommen haben  zu  zeigen,  welche  stamme  bei  dem  übergange  vem 
älteren  zum  jüngeren  eisenalter  im  Norden  eingewandert  sind, 
sondern  sogar  genau  den  weg  anzugeben,  den  jeder  stamm  gegangen 
ist.  Wie  sinnreich  dies  alles  auch  ausgedacht  sein  mag,  so  ist  es 
doch  nur  dich  tung,  keine  geschieh te.  Dieser  Völkerwanderungstheorie 
stelle  ich  dreist  die  behauptung  entgegen,  dafs  der  gegensatz  zwischen 
den  altertümern  der  älteren  und  jüngeren  eisenzeit,  selbst  wenn 
er  noch  weit  gröfser  wäre,  als  er  in  Wirklichkeit  ist,  doch  keineswegs 
s.  5.  mit  notwendigkeit  eine  neue  einwanderung  beweisen  würde.  Es  ist 
ja  doch  einleuchtend,  dafs  in  dem  Zeitraum  von  mindestens  800  jähren, 
welcher  zwischen  dem  beginn  der  älteren  und  der  jüngeren  eisenzeit 
liegt,  allmähliche  Veränderungen  in  der  kultur  nicht  nur  vor  sich 
gegangen  sein  können,  sondern  mit  Wahrscheinlichkeit  vor  sich  ge- 
gangen sind,  so  wie  es  selbstverständlich  ist,  dafs  die  spräche  ums 
jähr  800  anders  gelautet  haben  mufs,  als  ums  jähr  400.  Hierzu 
kommt,  dafs  neue  kulturströmungen  die  frühere  kultur  vernichten 
oder  verändern  können,  so  dafs  sie  fast  unkenntlich  wird.  Aber  ver- 
mag das  volk  unter  solchen  Verhältnissen  seine  spräche  zu  bewahren. 


EI2<(LEITUNG.  O 

SO  hat  es  zugleich  das  sicherste  zeichen  seiner  herkunft  bewahrt;  denn 
wohl  ist  auch  die  spräche  im  laufe  der  zeit  grofsen  Veränderungen 
unterworfen,  aber  diese  Veränderungen  geschehen  immer  nach  be- 
stimmten gesetzen.  die  der  Sprachforscher  aufzuspüren  und  nachzu- 
weisen vermag.  Wo  wir  daher,  wie  gerade  in  der  eisenzeit,  erhaltene 
Sprachdenkmäler  durch  die  verschiedenen  perioden  hindurch  haben, 
glaube  ich,  dafs  man  weit  eher  von  der  Sprachforschung  als  von  der 
altertumsforschung  sichere  antwort  auf  die  ethnographischen  fragen 
erwarten  darf,  da  es  mir  klar  vor  äugen  steht,  dafs  das  Verhältnis 
zwischen  der  spräche  in  der  älteren  und  jüngeren  eisenzeit  eine  ganz 
andere  bedeutung  für  die  beurteilung  der  Stammesverwandtschaft  hat, 
als  die  „schalenförmigen  spangen"  der  Wikingerzeit  und  die  andern 
beweise,  die  man  aus  dem  gegensatze  zwischen  den  altertümem  in 
den  beiden  perioden  hat  herholen  wollen*). 

Die  spräche  der  eisenzeit  ist  uns  in  den  sogenannten  runen- 
inschriften  überliefert,  von  welchen  wir  auf  steinen  (grabdenk- 
mälern)  und  losen  gegenständen  in  den  nordischen  ländern  zwei 
verschiedene  arten  finden;  einer  begegnen  wir  in  den  wohlbe- 
kannten inschriften  aus  dem  jüngeren  eisenalter.  Nach  der  zeit, 
worin  sie  auftreten,  sind  wir  daher  berechtigt  diese  runen  die  jün- 
geren zu  nennen.  Inschriften  mit  einem  in  mehreren  beziehun- 
gen  verschiedenen  alphabete,  den  ältesten  runen,  finden  wir  da- 
gegen auf  gegenständen  aus  dem  schlufs  der  älteren  eisenzeit  und 
aus  der  mittleren  eisenzeit.  Gemeinsam  ist  den  inschriften  in  die- 
sen beiden  runengattungen,  dafs  sie  selten  viele  worte  enthalten,  und 
dafs  ihr  inhalt  niemals  —  wenn  wir  ein  paar  der  jüngeren  inschriften 
ausnehmen  —  uns  irgend  eine  bemerkenswerte  historische  aufklärung  s.  6. 
gibt,  indem  sie  uns  meistens  nur  „den  namen  eines  mannes,  den 
niemand  kennt,  und  als  seine  wichtigste  that,  dafs  er  tot  ist,"  er- 
zählen. Trotz  dieses  dürftigen  inhalts  gehören  die  runeninschriften 
jedoch  zu  den  unschätzbarsten  denkmälern  für  den  sprach-,  geschichts- 
und  altertumsforscber.  Indem  sie  nämlich  in  einer  spräche  zu  uns 
reden,  die  Jahrhunderte  vor  unsern  ältesten  handschriften  liegt,  und 
indem  sie  uns  diese  spräche  auf  verschiedenen  entwicklungsstufen 
zeigen,    die  im  engsten  inneren  zusammenhange   stehen,  liefern  sie 


')  Vgl.  mit  obenstehender  entwickluog  weiter  noten  im  1.  kap.  des  2.  bnches 
sowie  meine  auslassungen  über  das  erste  hervortreten  der  nordischen 
Volksindividualität  in  den  „Forhandlinger  paa  det  andet  aordiske  Filolog- 
mede  1S81",  Krist.  1883,  s.  240—245. 


6  EINLEITUNG. 

einen  unumstöfslichen  beweis  dafür,  dafs  der  Übergang  von  der  spräche 
des  älteren  eisenallers  zu  der  des  jüngeren  im  Norden  selbst  durch 
einfache  natürliche  Veränderungen  im  laufe  der  zeit  vor  sich  gegangen 
sein  mufs,  und  widerlegen  damit  zugleich  alle  theorieen  von  ein- 
wanderungen  neuer  Völker  beim  übergange  vom  älteren  zum  jün- 
geren eisenalter.  —  Die  runen  zeichen  in  den  ältesten  inschriften 
bilden  ihrerseits  an  sich,  wie  wir  später  nachweisen  werden,  eine  that- 
sache  unter  vielen  andern,  die  dazu  dient  die  kulturströmungen  zu 
zeigen,  welche  auf  die  bevölkerung  des  Nordens  in  den  ersten  Jahr- 
hunderten nach  Christi  geburt  am  stärksten  eingewirkt  haben. 

Alle  nordischen  runeninschriften  aus  dem  eisenalter  zerfallen 
also  in  zwei  grofse  hauptgruppen,  deren  zeit  mit  hülfe  ihrer  sprach- 
und  runenformen  folgendermafsen  bestimmt  werden  kann: 

I.  DIE  ÄLTESTE  RUNENSPRACHE 

(ca.  400 — 650)  in  den  inschriften  mit  dem  längeren  aiphabet  aus  der 
älteren  und  mittleren  eisenzeit.  Freilich  sind  nicht  blofs  die  schrift- 
zeichen, sondern  auch  die  sprachformen  in  allen  nordischen  Inschriften 
aus  dieser  periode  in  allem  wesentlichen  dieselben.  Dafs  wir  keine  gröfsern 
Verschiedenheiten  nachweisen  können,  liegt  indessen,  wie  ich  früher  („Den 
historiske  sprogforskning  og  modersmålet",  s.  52  =  årb.  f.  nord. 
oldk.  1868,  s.  308)  hervorgehoben  habe,  darin,  dafs  der  sprach- 
stofT,  welcher  zu  unserer  Verfügung  steht,  so  gering  ist,  und  es  wüi'de 
natürlich  unrichtig  sein,  hieraus  den  schlufs  zu  ziehen,  die  spräche 
habe  sich  während  dieser  ganzen  zeit  im  Norden  unverändert  gehalten. 
Dem  wird  aufserdem  bestimmt  durch  die  Inschriften  widersprochen, 
welche  dem  Schlüsse  der  periode  angehören  und  ungefähr  in  das 
jähr  650  gesetzt  werden  können,  indem  sie  sowohl  in  den  runen-  wie 
in  den  sprachformen  einzelne  Veränderungen  aufweisen,  die  sich  in  der 
zeit  von  ungef.  650  bis  ungef.  800  weiter  entwickeln.  Diese  bildet 
den  Übergang  zu 

II.  DER  JÜNGEREN  RUNENSPRACHE 

(ca.  800-1000)  in  den  inschriften  mit  dem  kürzeren  alphabete  aus 
der  jüngeren  eisenzeit.  Zu  den  ältesten  denkmälern  dieser  gruppe 
gehören  namentlich  die  steine  von  Helnæs  und  Fl em løse  auf 
Fühnen,  sowie  die  damit  ungefähr   gleichzeitigen  seeländischen  steine 


SmLBITDNG.  7 

von  Kall  er  up  (Höjetostrup)  und  Snoldelev.  Alle  diese  steine,  die 
ungefähr  dem  jähre  800  (825)  angehören  müssen,  zeigen  nämlich 
noch  durch  einzelne  runenzeichen  und  sprachformen  den  anschlufs 
an  die  ältesten  Inschriften  und  den  allmählichen  Übergang  zu  der 
grofsen  menge  der  jüngeren,  wo  das  aiphabet  nach  und  nach  eine 
feste,  von  dem  älteren  ziemlich  verschiedene  gestalt  angenommen  hat, 
wie  wir  es  z.  b.  auf  den  beiden  berühmten  steinen  von  Jællinge 
antreflen,  die  uns  dadurch,  dafs  sie  bestimmte  historische  personen 
und  begebenheiten  erwähnen,  hinsichtlich  der  Zeitbestimmung  einen 
einigermafsen  sicheren  anhaltspunkt  geben,  indem  der  kleinere  (von 
könig  Gorm  zum  andenken  an  königin  Tyra  errichtet)  etwa  in  das 
jähr  930,  der  gröfsere  (von  könig  Harald  zum  andenken  an  Gorm 
und  Tyra  errichtet)  ungefähr  um  980  gesetzt  werden  mufs. 

Eine  vergleichung  zwischen  der  älteren  und  jüngeren  runen- 
spräche  zeigt,  wie  ich  anderwärts,  namentlich  in  betreff  der  sub- 
stantiva,  darzulegen  versucht  habe^),  dafs  die  jüngere  sich  einfach 
aus  der  älteren  entwickelt  hat,  und  dafs  wir  in  mehreren  fallen  auf 
den  denkmälern  selbst  den  allmählichen  Übergang  von  den  älteren  zu 
den  jüngeren  formen  nachweisen  können.  Aber  was  von  der  spräche 
selbst  gilt,  gilt  auch  von  den  zeichen,  womit  sie  geschrieben  ist; 
das  jüngere  aiphabet  hat  sich  nämlich  nach  und  nach  aus  dem 
älteren  entwickelt,  und  auch  hier  können  wir  auf  den  denkmälern 
selbst  die  allmählichen  Übergänge  verfolgen.  Das  im  einzelnen  darzu-  s. 
stellen,  wird  ein  hauptgegenstand  für  diese  abhandlung  sein.  Bevor 
wir  jedoch  dazu  Obergehen,  das  Verhältnis  zwischen  dem  älteren  und 
jüngeren  runenalphabete  oder  die  entwicklung  der  runenschrift 
im  Norden  zu  behandeln ,  erhebt  sich  eine  andere  frage,  welche  wir 
zunächst  zu  beantworten  suchen  wollen,  nämlich  die  frage  nach  dem 
Ursprung  der  runenschrift  überhaupt. 


1)  Navueordenes  böjaiog  i  ældre  Dansk,  Kbh.  1868.    Den  historiske  sprog- 
forskning og  modersmålet,   Kbh.   1868   (separatabdr.   aus  den  årb.  f.  nord.    oldk 

1868). 


ERSTES  BUCH. 


DER  URSPRUNG  DER  RUNENSCHRIFT. 


Erstes  biicli. 
Der  Ursprung  der  runenschrift. 


I.  kapitel. 
Frühere  ansichten  über  alter  und  Ursprung  der  runen. 

Die  frage  nach  dem  alter  und  dem  Ursprung  der  runen  ist  so 
oft  aufgeworfen  und  auf  so  viele  verschiedene  weisen  beantwortet 
worden,  dafs  man  fast  versucht  sein  könnte  zu  sagen,  dafs  alle  mög- 
lichen ,  denkbaren  und  undenkbaren  ansichten  zu  worte  gekommen 
sind.  Man  hat  auf  der  einen  seite  die  runen  so  alt  gemacht  wie  die 
Sündflut,  auf  der  andern  seite  jünger  als  die  einführung  des  Christen- 
tums im  Norden ;  man  hat  sie  sich  von  den  nordischen  Völkern  selbst 
ohne  das  vorbild  irgend  eines  fremden  alphabetes  erfunden  gedacht, 
und  man  hat  sie  von  einer  menge  älterer  und  jüngerer  alphabete  ab- 
zuleiten gesucht.  Es  ist  eine  sehr  grofse  literatur,  die  hier  vorliegt; 
aber  die  quahlät  steht  leider  im  umgekehrten  Verhältnis  zur  quantität. 

Angesehene  schwedische  gelehrte  im  16.  und  17.  Jahrhundert 
(Job.  Magnus,  Olaus  Magnus,  Olof  Rudbeck  u.a.)  sahen  be- 
kanntlich verschiedene  runensteine  in  Schweden  als  denkmäler  aus 
der  zeit  „vor  (!)  oder  kurz  nach  der  sündflut"  an  und  hielten  die 
runen  für  eine  erfindung  der  alten  „Sveo-Gothen"  ^).  Noch  beim  über- 
gange zum  18.  jhdt  nahm  Job.  Peringskiöld  an,  dafs  die  runen 
durch  Japhets  söhn  Magog  von  Asien  nach  Schweden  gebracht  seien, 
dessen  grabstein  er  unter  den  schwedischen  runensteinen  fand,  wie  s.  9. 
er   mit  hülfe  einer  andern   Inschrift  (des  Steines  von  Ärja)  die  ver- 


^)  Historia  Joaonis  IVIagni  de  omnibus  Gothorain  Sveonamqne  regibus, 
Romæ  1554,  lib.  1,  c.  7.  —  Historia  de  geotibos  Septentrioüalibos,  avtore  Olao 
iMagoo  Gotho,  Romæ  1555,  lib.  I,  c.  36.  —  Olf  Rudbeks  Atlaod  eller 
Manheim  etc.  (anch  mit  lateinischem  titel:  Ola  vi  Rudbeckii  Atlantica  sive 
Manheim  etc.),  (I)  upsalæ  (1679),  c.  38  §  4. 


12         ERSTES  BUCH.   DER  URSPRUNG  DER  RUNENSCHRIFT. 

bindiing  der  bewohner  des  Nordens  mit  Tyrus  und  Sodoma  nach- 
wies^). Selbst  mitten  im  18.  jhdt  finden  diese  phantastischen  Vor- 
stellungen einen  eifrigen  fürsprecher  in  Joh.  Göransson,  der  1750 
Bautil  herausgab,  das  noch  in  unsern  tagen  durch  seine  1173  ab- 
bildungen  von  runendenkmälern  eines  der  wichtigsten  werke  für  das 
runenstudium  ist.  Allerdings  betrachtet  er  es  als  zweifelhaft,  ob  mit 
dem  Sodoma  auf  dem  Ärjaer  steine  das  Sodoma  gemeint  sei,  „welches 
im  jähre  der  weit  2100  zerstört  wurde";  aber  er  setzt  ohne  bedenken 
einige  von  den  schwedischen  runensteinen  in  das  jähr  2000  vor  Chr. 
(vorrede  zu  Bautil  §  3  u.  no.  52 — 53,  s.  15),  und  sein  standpunkt 
wird  klar  durch  den  titel  auf  dem  buche  bezeichnet,  das  er  1747 
über  den  Ursprung  der  runen  herausgab:  „Is  Ätlinga;  Det  är:  De 
Forna  Goters,  här  uti  Svea  Rike,  Bokstäfver  Ok  Salighets  Lara,  Två- 
tusend  Tvåhundrad  år  fore  Christum,  utspridde  i  all  Land;  Igenfunden 
af  Johan  Göransson.  Stockholm  1747."  [d.h.:  „Ls  Atlinga;  das  ist: 
die  buchstaben  und  die  seligkeitslehre  der  alten  Goten  hier  im 
Schwedenreiche,  2200  jähre  vor  Chr.,  ausgebreitet  in  allen  ländern; 
wiederaufgefunden  von  J.  G  .  .  .  ."].  Nachdem  er  im  allgemeinen 
darüber  gesprochen  hat,  wie  die  runen  von  „einem  sehr  weisen  meister, 
der  jedoch  das  hebräische  aiphabet  åls  vorbild  gehabt  hat",  erfunden  seien 
(§3),  und  dafs  die  Griechen,  Etrusker  und  Römer  ihre  buchstaben  von  den 
16  nordischen  runen  bekommen  hätten  (§  4),  gibt  er  die  zeit  für 
diese  erfindung  genauer  an:  „Die  runen  sind  nicht  von  einem  beiden, 
sondern  von  einem  frommen  und  von  gottes  heihgem  offenbartem 
Worte  hocherleuchteten  und  weisen  gottesmanne  erfunden,  der  jedoch 
notwendig  hier  zu  lande  dies  sein  teures  meisterstück  gemacht  und 
ungefähr  im  jähre  der  weit  2000  gelebt  hat  und  zweifelsohne  Gomer 
gewesen  ist"  (§  7). 

Von  älteren  dänischen  gelehrten  istes  eigentlich  nur  Ole  Worm, 
10.  der  die  frage  nach  dem  Ursprünge  der  runen  zum  gegenstände  besonderer 
Untersuchungen  gemacht  hat.  In  seinem  bekannten  werke:  „RH^+Å 
seu  Danica  Literatura  antiquissima,  vulgo  Gothica  dicta.  Editio  se- 
cunda  auctior  &  locupletior,  Hafniæ  1651",  fol.  (1.  ausgäbe  1636,  4 to) 
stellt  er  die  ansieht  auf,  dafs  die  runen  vor  der  einwanderung  nach 


1)  Vita  Theoderici  regis  Ostrogothorum  et  Italiæ,  autore  Joh.  Cochlæo. 
Cum  additamentis  &  annotationibus  etc.  opera  Job.  Peringskiöld,  Stockhol- 
miæ  1699,  s.  355;  402 — 4.  Vgl.  E.  J.  Bioerner,  Prodromus  tractatnam  de 
geograpbia  Scandioaviæ  veteri,  et  historiis  Gothicis  etc.,  Stockb.  (1726),  s.  6 
—10;  s.  51. 


I.    KAP.       FRÜHERE    ANSICHTEN    ÜBER    ALTER    UND    URSPRUNG    DER    RUNEN.      13 

Europa  in  Asien  nach  den  hebräischen  buchstaben  gebildet  worden 
wären  (s.  107),  was  er  darauf  im  einzelnen  zu  beweisen  sucht.  Als 
eine  anerkannte  Wahrheit,  die  keines  beweises  bedarf,  stellt  er  folgen- 
den satz  an  die  spitze  seiner  Untersuchungen:  „Ut  gentes  oranino 
omnes  ab  Hebræis  ortuni  traxere,  ita  &  lingvæ  ac  literæ,  quæ  anti- 
quitatem  ahquam  præ  se  ferunt"  (c.  21  anf.,  s.  109).  Es  ist  nur 
die  allgemeine  ansieht  der  zeit  von  dem  ehrwürdigen  alter  der  he- 
bräischen spräche  und  schrift,  die  hier  zu  worte  kommt.  Er  ist  in- 
dessen nicht  blind  dafür,  dafs  auch  die  griechischen  und  lateinischen 
buchstaben  ähnhchkeit  mit  den  runen  aufweisen ;  aber  er  erklärt  die 
Übereinstimmung  daraus,  dafs  alle  diese  alphabete  aus  derselben  quelle 
entsprungen  seien  (s.  111);  dagegen  leitet  er  nicht,  wie  Bredsdorff 
behauptet  hat  („Om  Runeskriftens  Oprindelse"  s.  6),  die  griechische 
und  lateinische  schrift  aus  den  runen  ab,  obgleich  er  freilich  die  runen 
für  weit  älter  als  die  griechischen  buchstaben  hält  (s.  113). 

Diese  übertriebenen  Vorstellungen  von  dem  alter  der  runenschrift 
erweckten  jedoch  frühzeitig  bei  mehr  besonnenen  und  kritischen 
forschem  Widerspruch,  und  glückte  es  ihnen  auch  nicht,  selbst  eine 
befriedigende  antwort  auf  die  frage  zu  geben,  so  haben  sie  auf  jeden 
fall  das  verdienst,  die  Untersuchung  auf  andere  und  sicherere  bahnen 
gebracht  zu  haben.  Dafs  die  schwedischen  runensteine  nicht  nur 
keine  erinnerungen  an  Magog  oder  an  Tyrus  und  Sodoma  enthielten, 
diese  „mera  geographica  et  historica  portenla",  sondern  dafs  sie  im 
ganzen  genommen  sogar  jünger  als  die  einführung  des  Christentums 
waren,  bewies  Olof  Celsius,  der  das  interesse  für  das  runenstudium 
von  seinem  vater  Magnus  Celsius  geerbt  hatte,  dem  es  geglückt  war 
(1675),  den  Schlüssel  zu  der  deutung  der  Heisinger  runen  zu  finden 
Denselben  weg  wie  0.  Celsius  in  der  beurteilung  des  alters  der  runen- 
inschriften  ging  auch  N.  R.  Bro  c  man  und  Schwedens  grofser  Sprach- 
forscher Joh.  Ihre^).     Hinsichthch   des  Ursprunges  der  runenschrift  s.  11. 


^)  0.  Celsius,  MoDumeota  quædam  Sveo-Gothica  suis  temporibus  reddita 
(ia  den  Acta  Literaria  Sveciæ,  edita  Upsaliæ,  1726—34).  Aufserdem  gab  er  die 
Schriften  seines  vaters  über  die  Heisinger  ronen  heraas:  Magni  Celsii  de  runis 
Helsingicis  oratio  habita,  cum  rectoratnm  aeademicum  deponeret  anno  1675, 
Upsaliæ  1707,  Svo,  und  Oreades  Helsingicæ  redivivæ  (I— II),  Upsal.  1710,  8vo. 
Hieran  schlielst  sich  eine  Streitschrift  gegen  Bioerner:  Runæ  Medelpadicæ  ab 
importuna  crisi  breviter  vindicatae,  auctore  O(lao)  C(elsio),  Upsal.  1726,  4to.  — 
N.  R.  Brocman,  Sagan  om  Ingwar  VVidtfarne  etc.  och  Undersökning  om  wäre 
Runstenars  Alder,  Stockholm  1762,  4to.  —  J.  Ihre,  De  Ranaram  in  Svecia  anti- 


14         ERSTES  BUCH.   DER  URSPRUNG  DER  RUNENSCHRIFT. 

war  Iliie  auf  grund  der  eigentümlichen  anordnung  des  alphabels  am 
meisten  geneigt,  es  als  eine  erfindung  der  „scythischen"  Völker,  ehe 
sie  noch  durch  kriege  oder  auf  friedlichem  wege  in  nähere  berührung 
mit  den  übrigen  europäischen  Völkern  gekommen  wären ,  anzuselm 
(Glossarium  Suiogothicum  I,  Upsaliæ  1769  fol.  unter  dem  buchstaben 
A).  Aufserdem  nahm  er  an  (De  Runarum  patria),  dafs  die  runen- 
schrift  sich  durch  die  sächsischen  Völker  bis  nach  dem  Norden  aus- 
gebreitet hätte,  indem  er  wie  später  W.  Grimm  (Über  deutsche  Runen 
s.  149  ff.)  besonderes  gewicht  auf  die  von  Hrabanus  Maurus  erwähnten 
„markomannischen"  runen  legte,  die  indessen  nur  eins  der  gewöhn- 
lichen altenglischen  runenalphabete  in  etwas  entstellter  form  sind. 
Vor  ihre  hatte  E.  Benzelius  dagegen  die  runen  von  „den  ältesten 
griechischen  oder  ionischen  buchstaben"  abzuleiten  gesucht^),  eine 
ansieht,  die  später  eine  bedeutende  rolle  gespielt  hat. 

Die  von  diesen  männern  vorgebrachten  anschauungen  gewannen 
allmählich  ziemlich  allgemeinen  eingang,  und  die  nüchterneren  meinun- 
gen  kamen  auch  schon  in  Dalins  und  später  in  Lagerbrings 
12.  schwedischer  geschichte  zu  worte^).  Mit  Benzelius  nimmt  Dalin  an, 
dafs  die  runen  von  den  griechischen  buchstaben  abslammen,  und 
dafs  sie  mit  den  ältesten  einwohnern  Skandinaviens  nach  dem  Norden 
gebracht  sind;  als  ganz  falsch  weist  er  die  ansieht  ab,  dafs  sie  nicht 
älter  als  das  Christentum,  oder  dafs  sie  von  Wulfila  erfunden  seien, 
der  gerade  im  gegen  teil  seine  buchstaben  nicht  nur  mit  hülfe  der 
griechischen  und  lateinischen,  sondern  auch  mit  hülfe  der  runen 
bildete.  Lagerbring  will  sich  dagegen  nicht  anheischig  machen,  den 
gelehrtenstreit  über  den  Ursprung  der  runen  zu  entscheiden ;  sondern 
er  sagt  treffend:  „Fragt  man  nun  weiter,  wer  unsere  nordischen  Völker 
schreiben  gelehrt  hat,  so  wäre  es  vielleicht  nicht  so  ungereimt,  wenn 
man  antwortete,  dafs  man  das  nicht  weifs",  und  seine  folgenden  be- 
merkungen  zeigen,  dafs  er  zwischen  dem,  was  man  hierüber  wufsle 
und  nicht  wufste,  vortrefflich  zu  unterscheiden  verstand. 

Auch  in  unserm  Jahrhundert  ist  der  Ursprung  der  runenschrift 
gegenständ  für  die  Untersuchungen  vieler  gelehrten  gewesen;  aber  die 

quitatC;  Upsaliæ  1769,  4to;  De  Runaruin  patria  et  origine,  Upsal,  1770,  4to.; 
De  Runarum  io  Svecia  occasu  I — II,  Upsal.  1771 — 73,  4to. 

1)  Periculum  Runicum  quod  .  .  .  præside  .  .  .  Fabiano  Törner  .  .  .  erudi- 
torum  examiui  modesle  submittit  E  r  i  c  u  s  Benzelius,  Upsaliæ  1724,  8vo  (siehe 
namentlich  s.  28  ff.). 

2)  Olof  Dalin,  Svea  Rikes  Historia,  I,  Stockholm  1747,  4to,  s.  231  ff.  — 
(Sven    Bring,)  Svea  Rikes  Historia,  I,  Stockholm  1769,  4to,  s.  449  ff. 


I.    KAP.       FRl'HERE    ANSICHTEN    ÜBER    ALTER   UND    URSPRUNG    DER    RUNEN.     15 

einigkeit  erstreckt  sich  selten  weiter  als  auf  den  allgemeinen  salz, 
der  von  den  meisten  älteren  ebenfalls  anerkannt  wurde,  dafs  die 
runen  auf  die  eine  oder  die  andere  weise  mit  den  alten  sfld- 
europäischen  alphabeten  oder  der  quelle,  woraus  diese  entsprungen 
sind,  verwandt  sein  müssen.  Wenn  man  dagegen  diese  Verwandt- 
schaft genauer  zu  bestimmen  versucht  hat,  so  zeigt  es  sich,  dafs  die 
meinungen  nach  sehr  verschiedenen  richtungen  auseinander  ge- 
gangen sind,  und  bis  in  die  neuesten  Zeiten  hinein  haben  die  ver- 
schiedensten auslebten  Vertreter  gefunden. 

Nur  ausnahmsweise  trifft  man  bei  den  gelehrten  des  19.  Jahr- 
hunderts die  behauptung,  dafs  die  runen  nicht  aus  einem  der  be- 
kannten alphabete  hervorgegangen,  sondern  von  den  germanischen 
Völkern  ohne  ein  fremdes  vorbild  erfunden  seien.  So  nimmt  G. 
Brynjulfsen  an,  dafs  der  ,,gotho-kaukasische  stamm"  die  runen  er- 
funden habe,  und  dafs  die  buchslabenschrift  der  übrigen  Völker  all- 
mähhch  daraus  entwickelt  sei,  da  das  runenalphabet  das  einfach-  »•  1^. 
sie  und  „folglich"  das  primitivste  von  allen  wäre.  Der  um  das 
runenstudium  höchst  verdiente  Job.  G.  Liljegren  findet  —  wie 
früher  Ihre  — ,  dafs  sowohl  die  anordnung  als  auch  die  form  der 
runen  dagegen  spricht,  sie  von  einem  andern  bekannten  alphabete 
abzuleiten;  dagegen  glaubt  er,  dafs  die  stablosen  Heisinger  runen 
den  gewöhnlichen  runen  zu  grunde  hegen,  welche  letzteren  später 
so  geändert  wurden,  dafs  sie  sich  der  lateinischen  schrift  näherten. 
In  neuerer  zeit  haben  auch  Weingaertner  und  Dietrich  die 
ansieht  ausgesprochen,  dafs  die  runenschrift  von  an  fang  an  ohne 
fremdes  Vorbild  geschaffen  sei^). 


^)  Gislias  Brynjulfi  fil.,  Periculnm  Rnaologicnm,  Havniæ  1823,  !V 68 
—69.  —  Joh.  G.  Liljegren,  Run-Lära,  Stockholm  1S32,  s.  65—69;  vgl,  s. 
35 — 39.  Schon  M.  Celsius  hatte  übrigens  die  Heisinger  ruaen  Tdr  die  ältesten  er- 
klärt (Oreades  Helsingicæ,  s.  4S  f.).  —  VV.  Weingaertner,  Die  Aussprache 
des  Gothischen  zur  Zeit  des  Ulfilas,  Leipzig  1858,  s.  20:  „Wir  sehen  die  Runen 
der  germanischen  Völker  als  ein  den  germanischen  Dlikkten  entsprechendes 
direkt  aus  dem  asiatischen  Stammland  mitgebrachtes  EflpR  an,  welches  ganz 
analog  den  germanischen  Sprachen  selbst  neben  der  klassischen  Schrift  sich 
hinzieht,  bis  es  mit  ihr  zunächst  vorübergehend  sich  verbindet,  dann  aber  mit 
den  übrigen  Errungenschaften  des  Alterthnms  den  Völkern  des  Nordens  ganz  und 
vollständig  anheim  fällt,  um  sich  selbständig  bei  ihnen  fortzuentwickeln.  Jene 
erste  innige  Verbindung  der  griechisch-römischen  und  germanischen  Schrift  ist 
unsere  Gotbische,  als  deren  Erfinder  Ulfilas  also  nur  insofern  angesehen  werden 
darf,    als   er   griechische    Lautbezeichnongen    nach    eigenem   Gutdünken    in    die 


/1 


16         ERSTES  BUCH.   DER  URSPRUNG  DER  RUNENSCHRIFT. 

14.  Während    die    hier   genannten  Schriftsteller  also  den  grund  der 

ähnlichkeit  zwischen  den  runen  und  den  andern  alten  alphabeten 
entweder  darin  suchen,  dafs  diese  letzteren  aus  der  runenschrift 
hervorgegangen  seien,  oder  darin,  dafs  diese  sich  erst  später  der 
griechischen  und  lateinischen  schrift  genähert  habe,  erklären  die 
meisten  andern  die  ähnlichkeit  daraus,  dafs  das  runenalphabet  nach 
einem  älteren  alphabete  gebildet  sei.  Aber  bei  der  bestimmun  g 
dieses  alphabetes  ist  man  sehr  verschiedene  wege  gegangen. 

Nicht  wenige  haben  die  runen  unmittelbar  aus  den  semiti- 
schen buchstaben  herleiten  wollen.  Es  ist  jedoch  nicht  mehr 
wie  im  17.  und  18.  Jahrhundert  das  hebräische,  sondern  zunächst 
das  phönicische  oder  ein  noch  älteres  aiphabet,  das  man  als  das 
grundalphabet  betrachtet,  woraus  die  runenschrift  hervorgegangen  sei. 
Diese  ansieht,  die  schon  Sjöborg  aussprach  (1805),  haben  unter 
neueren  Schriftstellern  U.  W.  Dieterich  und  Olde  —  jedoch  auf 
sehr  verschiedene  weise  —  ausführlicher  zu  begründen  gesucht,  so 
wie  Fr.  Lenorraant  an  verschiedenen  stellen  dieselbe  auffassung 
angedeutet  hat'). 


heimischen  Schriftzüge  meugte."  Vgl.  hiermit  s.  17:  „Meiner  Ansicht  nach 
haben  die  Runen  der  Gothen  in  Folge  der  engen  Verbindung  des  Volkes  mit  Rom 
einerseits,  mit  Konstantinopel  andererseits,  sich  schon  lange  vor  Ulfilas  dem 
Charakter  der  griechisch-römischen  Schrift  genähert."  —  F.  Dietrich,  Ueber 
die  Aussprache  des  Gothischen  während  der  Zeit  seines  Bestehens,  Marburg 
1862,  s.  6:  „Ferner  ist  jetzt  [1862!]  wenig  bezweifelt,  dafs  die  Runen  nicht 
aus  den  phönicisch -griechischen  Zeichen  entstanden,  sondern  bei  den  ger- 
manischen Stämmen  einheimisch  gewesen  sind,  woraus  ferner  mit  Wahrschein- 
lichkeit abzunehmen  ist,  dals  sie  bei  ihnen  unabhängig,  und  wie  alle  graphischen 
Zeichen  anderer  Völker  aus  einer  Bilderschrift  hervorgegangen  sind.  In  der  That 
sprechen  auch  dafür  die  altnordischen  Namen  .  .  .". 

^)  N.  H.  Sjöborg,  Litteræ  Gothicæ,  ab  Asia  oriundæ,  ad  Scandinavos  ho- 
spites  deductæ,  Londini  Gothorum  1805,  4to:  „Neque  alphabetum  Jonicum  ut 
matrem,  Gothicum  vero  ut  filiam,  sed  potius  ambo,  sorores  filiasque  germanas  ab 
antiquissimo  Phænicum  Ægyptiorumque  alphabeto  ortas  existimamus"  s.  7;  vgl. 
s.  13.  —  ü.  W.  Dieter  ich,  Enträthselung  des  Odinischen  Tn^i'R.K  durch 
das  semitische  Alphabet,  Stockholm  und  Leipzig  1864.  —  E.  M.  Olde,  Om  de 
skandinaviska  runornas  omedelbara  Ursprung  från  det  äldsta  feniciska  alfabetet. 
Lund  1871.  —  Fr.  Lenormant  in  der  Revue  archeologique,  vol.  XVI  (Paris 
1867),  s.  332.  Sowohl  seine  andeutungen  hier  als  auch  seine  darstellung  von 
dem  gegenseitigen  Verhältnis  der  verschiedenen  runenalphabete  im  ersten  bande 
seines  grofsen  unvollendeten  Werkes:  „Essai  sur  la  propagation  de  I'alphabet 
phenicien  dans  l'ancien  monde  I,  Paris  1872",  tafel  3,  no.  5  zeigen  jedoch,  dafs 
man  nicht  viel  von  der  behandlung  der  runenschrift  erwarten  durfte,  die  einem 


I.    KAP.       FRÜHERE    ANSICHTEN    ÜBER    ALTER    UND    URSPRUNG    DER    RUNEN.    17 

Von  allen  alten  alpliabelen  hat  jedoch  keines  so  grofse  aufmerk-  s.  15. 
samkeit  auf  sich  gezogen  wie  das  griechische.  Bereits  im  vorigen 
Jahrhundert  wies,  wie  wir  oben  bemerkt  haben,  E.  Benzelius  auf 
die  merkwürdige  ähnlichkeit  zwischen  den  ältesten  griechischen  buch- 
staben  und  den  runen  hin  und  nahm  infolge  derselben  an,  die  runen- 
schrift  sei  aus  dem  ältesten  griechischen  al|diabet  hervorgegangen. 
Die  noch  bis  in  die  neuesten  Zeiten  wiederholte  fabel  von  einem 
ursprünglichen  griechischen  alphabete  mit  16  buchstaben,  das  also 
in  der  anzahl  der  zeichen  auf  eine  merkwürdige  weise  mit  den  16 
nordischen  runen  zusammenfiel),  trug  sehr  dazu  bei,  diese  ansieht 
zu  bestärken,  der  sich  später  viele  angeschlossen  haben.  Nach 
Bredsdorffs  äufserung  (,,0m  Runeskriftens  Oprindelse"  s.  9  anm.) 
soll  auch  Rask  sich  hierfür  ausgesprochen  haben'),  und  Finn  Mag- 
nusen  sagt  gleichfalls  („Runamo  og  Runerne"  s.  8):  „Auf  jeden 
fall  ist  es  gewifs,  dafs  die  runenbuchstaben  in  der  form  sich  sehr 
der  ältesten  griechischen  schrift  nähern,  —  und  ich  kann  meines 
teils  nach  den  aufschlüssen,  die  man  bisjetzt  hat,  nicht  anders  als 
diese  ansieht  überhaupt  für  die  wahrscheinlichste  ansehen".  Tn  der  an- 
merkung  auf  derselben  seite  scheint  er  jedoch  schon  grofse  bedenken 
bekommen  zu  haben.  Die  griechische  herkunft  der  runenschrift 
wird  auch  von  F.  J,  Lauth  (Das  germanische  Runen  -  Fudark, 
München  1857,  s.  180;  185  f.)  angenommen.  Meistens  hat  man  sich 
indessen  mit  vagen  und  unbestimmten  andeutungen  begnügt,  ohne 
die  ähnlichkeiten  im  einzelnen  nachzuweisen.  Wenn  man  dies  ver- 
suchte, zeigte  es  sich  auch,   dafs  die  vergleichung  an  vielen  punkten 


der  folgenden  bände  vorbehalten  war.  —  Mehr  als  ein  rnriosum  und  zugleich 
als  stütze  für  meinen  ausspruch,  dafs  alle  möglichen,  denkbaren  nie  undenkbaren 
ansichten  zu  Worte  gekommen  sind,  will  ich  anführen,  daTs  Dieterich  in  der  hier 
genannten  schrift  die  16  nordischen  runen  aus  einem  von  ihm  selbst  gemachten 
alten  semitischen  alphabete  von  16  zeichen  herleitet,  so  dafs  i  von  äleph,  li 
von  bifth,  K  von  gtmel  u.  s.  w.  gebildet  ist.  Das  ist  unleugbar  auch  ein  aus- 
weg,  um  die  schwierige  frage  nach  der  anordnung  der  runen  im  vergleich  mit 
den  andern  älteren  alphabeten  zu  lösen.  (Eine  andeutung  von  etwas  ähnlichem, 
doch  nur  bezüglich  der  ersten  drei  runen,  findet  sich  übrigens  schon  bei  Bryn- 
julfsen,  Periculum  Kunologicum,  s.  93  anm.). 

^)  So  noch  P.  G.  Thorsen,  De  danske  Ranemindesmærker  i,  Kbh.  1864, 
s.  358  f. 

-)  Vgl.  R.  K.  Rask,  Undersøgelse  om  det  gamle  Nordiske  eller  Islandske 
Sprogs  Oprindelse,  Kbh.  ISIS,  s.  301  (vgl.  Samlede  Afhandlinger  111,  1838, 
s.  386  ff.). 

WIMMER,  Die  ranenschrift.  2 


18         EUSTES  BUCH.   DER  URSPRUNG  DER  RUNENSCHRIFT. 

nicht  Stich  hielt.  Anstatt  die  runen  unmittelbar  von  den  griechischen 
IG.  buchstahen  herzuleiten,  nahm  man  daher  zu  „einer  gemeinsamen 
quelle"  für  beide  alphabete  seine  Zuflucht.  Dies  wird  bereits  in 
einer  anzeige  von  Bredsdorffs  und  Brynjulfsens  Schriften  über  die 
runen  in  der  „Dansk  Litteratur  -  Tidende  for  1823"  no.  46 — 47, 
S.  726  [von  P.  E.  Müller]  angedeutet,  und  bestimmter  wird  dieser 
gedanke  von  N.  M.  Petersen,  „Danmarks  Historie  i  Hedenold"  HF 
(1855)  s.  263  ff.  ausgesprochen:  Auffallend  sei  besonders  die  Über- 
einstimmung mit  den  ältesten  griechischen  buchstaben,  jedoch  wolle 
er  damit  nicht  behaupten,  „dafs  die  ältesten  nordischen  runen 
unmittelbar  von  den  griechischen  buchstaben  entnommen  sind,  aber 
sie  zeigen,  dafs  beide  Völker  ihre  schrift  aus  derselben  älteren  quelle 
haben."  Wahrscheinlich  meint  C.  C.  Rafn  dasselbe,  wenn  er  sagt: 
„Ces  caractéres  [die  16  nordischen  runen]  que  le  mythe  attribue  ä  Odin, 
dérivent  indubitablement  de  l'ancienne  patrie  asiatique  des  habitants 
du  Nord.  Comme  les  anciens  caractéres  grecs  proviennent  égale- 
ment,  selon  toute  probabihté,  de  la  mérae  partie  du  monde,  il  est 
tres  curieux  de  remarquer  la  conformité  que  nous  présentent  les 
deux  alphabets"  (Antiquités  de  l'Orient,  monuments  runographiques 
interprétés  par  C.  C.  Rafn,  Copenhague  1856,  s.  44).  Auch  bei 
G.  Stephens  rieselt  noch  die  quelle,  aus  der  sowohl  die  runen  wie 
die  Übrigen  alten  alphabete  ihren  Ursprung  haben:  „A  single  glance 
will  show  that  all  the  Runes  are  sister  staves,  descended  from  a 
söurce  which  also  produced  the  alphabets  of  the  Phænicians  and 
the  Classical  peoples  .  .  .  But  this  Phænician  staverow  supplies  val- 
uable  connecting  links  towards  understanding  the  Runic  forms.  We 
thus  see  that  the  „Scandinavian  Futhark"  [die  kürzere  runenreihe] 
is  not  younger  than  the  „Old-Northern"  [die  längere  reihe],  but 
a  peculiar  modification  and  compendium  of  the  common  Runic  tra- 
ditions .  .  .  But  we  also  see  that  the  Scandinavian  Y  (M)  is  not 
younger  than  the  Old-Northern  M  (M),  both  forms  being  only  varie- 
ties  of  the  Phænician  and  Palmyrene  M"  (!)  (The  Old-Northern  Runic 
monuments  I,  s.  94).  Leider  hat  keiner  der  genannten  schriftsteiler 
versucht  diese  „gemeinsame  quelle"  näher  nachzuweisen,  aus  der 
sowohl  die  griechischen  buchstaben  wie  die  runen  entsprungen  sein 
sollen;  sie  steht  in  einen  mystischen  schleier  eingehüllt,  den  man 
nicht  zu  lüften  vermocht  hat,  und  man  hat  sich  deshalb  mit  nebel- 
haften, unbestimmten  andeutungen  begnügen  müssen. 

Auch  aus  den   alten   italischen  alphabeten  hat  man  die  runen 


I.    KAP.       FRÜBERE    ANSICHTEN    ÜBER    ALTER   UND    URSPRUNG    DER    RUNEN.      19 

abzuleiten  gesucht.  K.  Weinhold  (Altnordisches  Leben,  Berlin  1856, 
s.  407  ff.)  denkt  zunächst  an  das  etruskische  oder  ein  anderes  italisches, 
aber  nicht-lateinisches,  aiphabet.  Doch  wagt  er  nicht  eine  bestimmte 
meinung  auszusprechen,  sondern  fafst  seine  Untersuchungen  in  folgen- 
des resultat  zusammen:  „Wir  halten  also  an  dem  Satze  fest,  <lie  Runen 
sind  AbkömmUnge  des  phönicisch-europfiischen  Ålphal>etes.  Auf 
welchem  Wege  sie  den  Germanen  zukamen,  wagen  wir  nicht  zu  ent- 
scheiden, doch  scheint  derselbe  über  Italien  und  die  etrurischen  Ge- 
biete gegangen  zu  sein"  (s.  412). 

Entscheidend  hat  sich  dagegen  A.  Kirch  hoff  für  den  Ursprung  s.  17. 
der  runenschrift  aus  dem   lateinischen  alphabete   der  ersten  Jahr- 
hunderte  nach    Christi  gehurt  ausgesprochen,    eine  ansieht,    die    er 
hinsichtlich  der  einzelnen  zeichen  in  der  vorrede  zur  zweiten  aufläge 
seines  buches  „Das  gothische  runenalphabet" ,     Berlin    1854,    8vo*)  ' 
darzulegen  gesucht  hat. 

Einen  ziemUch  alleinstehenden  versuch  hat  endlich  J.  H.  Breds- 
dorff gemacht,  die  runenschrift  von  den  Wulfilanischen  buchstaben 
abzuleiten^),   während  die  meisten  neueren  darüber  einig  sind,    dafs 


^)  Dagegen  enthält  die  erste  ausgäbe  (Berlin  1S51,  4to)  die  Untersuchung  über 
den  Ursprung  der  runenschrift  nicht.  —  Ganz  verschieden  von  KirchhoiTs  mei- 
nung ist  natürlich  die  Vorstellung,  die  zuweilen  bei  älteren  Schriftstellern  zu 
Worte  gckomnien  ist,  dafs  die  runenschrift  nichts  anderes  als  eine  verdrehnng 
der  lateinischen  buchstaben  des  mittelalters  sei  (siehe  z.  B.  Leibnitz,  Collec- 
tanea  Elymologica  in  den  Opera  omnia  VI,  2,  Genevæ  176S,  s.  197.  Gleich- 
falls spricht  U.  F.  Kopp,  Palæographia  critica  III,  Mannhemii  1829,  nachdem 
er  bemerkt  hat,  dafs  kein  rnnendenkmal  älter  sei  als  das  zehnte  Jahrhundert, 
im  vorbeigehen  aus:  „hoc  autem  loco  monere  sufficiat,  illas  quidem  Runas  ori- 
ginem  traxisse  a  corruptis  Romanorum  literis,  qnas  virorum  doctornm  plurimi 
omnino  ignorant,  quasque  e  Britannia  in  Scandinaviam  transvectas  esse  atique 
verisimile  sit"  s.  236). 

-)  J.  H.  Bredsdorff,  Om  Runeskriftens  Oprindelse,  Kbh.  1S22,  4to,  woran 
sich  schliefst:  „Bemærkninger  i  Anledning  af  Recensionen  [von  P.  E.  Müller] 
i  Lilteraturtidenden  [d.i.  Damsk  Litteratur-Tidende  fur  1823]  No.  46"  (S  seilen, 
welche  als  beilage  mit  no.  51  der  Litteratur-Tidende  folgten),  nebst:  „Om  For- 
holdet mellem  det  skandinaviske  Rune-Alphabet  og  det  gothiske  Alphabet,  som 
er  anvendt  i  de  neapolitanske  Brevskaber"  in  der  Tidsskrift  for  jVordi^jk  Old- 
kyndighed  11  (1829),  s.  59—62.  Vgl.  ebenfalls  die  beiden  kleinen  abhandlungen: 
„Om  de  saakaldte  tydske  Runer;  eller  Bemærkninger  ved  Hr.  \V.  C.  Grimms 
Skrift:  „Über  deutsche  Runen""  in  Molbechs  Nordisk  Tidsskrift  for  Historie, 
Literatur  og  Konst  II  (Kbh.  182S),  s.  394 — 103  und  „Om  GnldhornsruDernes 
Oprindelse«  in  Barfods  Brage  og  Idun  III  (Kbh.   1840),  s.  502  —  16. 

2* 


20         ERSTES  BUCH.   DER  URSPRUNG  DER  RUNENSCHRIFT. 

umgekehrt  das  runenalpliabet  in  weiterer  oder  geringerer  ausdchnung 
dem  alphabete  Wulfilas  zu  grunde  liegt. 

Diese  übersieht  über  die  verschiedenen  ansichten,  die  sich  be- 
s.  18.  zügUcii  des  Ursprungs  der  runenschrift  geltend  gemacht  haben,  könnte 
natürlich  bedeutend  vermehrt  werden,  und  ich  könnte  eine  nicht 
kleine  reihe  namen  von  Schriftstellern  hinzufügen,  welche,  anstatt  sich 
klar  und  bestimmt  auszudrücken,  es  vorgezogen  haben,  so  vage  und 
unbestimmte  andeutungen  zu  geben,  dafs  es  sehr  schwer  und  oft  ganz 
unmöglich  ist,  ihre  wirkliche  meinung  herauszufinden. 

Was  hier  angeführt  ist,  wird  indessen  genügen,  um  zu  zeigen, 
dafs  diese  frage  bis  in  die  neuesten  zeiten  höchst  verschiedene  ant- 
worten hervorgerufen  hat.  Die  thatsache  ist  weniger  wunderbar,  als 
es  beim  ersten  anblick  scheinen  könnte,  wenn  wir  bedenken,  dafs  ja 
alle  die  alphabete,  von  denen  man  die  runen  herzuleiten  gesucht  hat, 
auf  eine  gemeinsame  quelle  zurückweisen;  da  sie  alle  mehr  oder 
weniger  das  ursprüngliche  gepräge  bewahrt  haben  und  in  manchen 
einzelnen  zeichen  genau  übereinstimmen,  so  hat  jede  ansieht  mit 
leichtigkeit  die  eine  oder  andere  stütze  finden  können.  Aber  man 
hat  bei  diesen  Untersuchungen  aufser  vielen  fehlem  im  einzelnen  den 
hauptfehler  begangen,  alphabete  von  ganz  verschiedenen  zeiten  mit 
einander  zu  vergleichen.  Namenilich  hat  man  fast  immer  das  allbe- 
kannte kürzere  nordische  runenalphabet  als  ausgangspunkt  bei  der 
vergleichung  mit  den  älteren  alphabeten  benutzt,  indem  man  auf  der 
falschen  Voraussetzung  fufste,  dafs  dieses  aiphabet  dem  ursprüng- 
lichen am  nächsten  stände,  während  es  sich  in  Wirklichkeit  als 
eine  jüngere,  in  den  nordischen  ländern  erfolgte  entwicklung  eines 
älteren  runenalphabetes  erweist,  das  einmal  allen  germanischen 
Völkern  gemeinsam  war  und  uns  auf  unsern  denkmälern  aus  dem 
älteren  eisenalter  überliefert  ist.  Da  wir  später  dazu  kommen  werden, 
hierfür  den  beweis  zu  führen,  so  kann  für  uns  keine  rede  davon  sein, 
das  jüngere  aiphabet  mit  andern  alphabeten  aufserhalb  des  Nordens 
zu  vergleichen;  es  findet  seine  notwendige  Voraussetzung  und  er- 
klärung  in  dem  älteren,  und  die  frage  bleibt  dann,  mit  welchem  alpha- 
bete das  letztere  verwandt  ist.  Nur  wenn  man  diesen  weg  einschlägt, 
wird  die  frage  eine,  wie  ich  hoffe,  befriedigende  lösung  finden  können. 
Aber  wir  müssen  bei  der  beurteilung  der  früheren  versuche  wohl  im 
äuge  behalten,  dafs  erst  die  neueste  zeit  uns  die  mittel  gegeben  hat, 
s.  19.  die  notwendig  waren,  um  mit  Sicherheit  diesen  weg  zu  betreten.  Dafs 
es    den    altertumsforschern    glückte,    allmählich    eine    grofse    menge 


I.  KAP.   FRÜHERE  ANSICHTE.'*!  ÜBER  ALTER  UND  URSPRUNG  DER  RUNEN.  21 

VOD  deukmälerii  mit  den  älteren  runen  sowohl  im  Norden  als  auch 
aufserhalb  desselben  ans  licht  zu  ziehen,  und  da(s  die  vergleichende 
Sprachwissenschaft  im  stande  war,  die  sprachform  dieser  inschriften 
nachzuweisen,  waren  notwendige  bedingungen,  um  mehr  als  schwan- 
kende und  unsichere  antworten  auf  die  frage  nach  dem  alter  und 
der  Verbreitung  der  runen  sowie  nach  deren  Verhältnis  zu  fremden 
schriftzeichen  geben  zu  können. 

Da  es  nun  eine  thatsache  ist,  dafs  die  runenschrift  erst  in  dem 
sogenannten  älteren  eisenalter  auftritt,  müssen  wir  uns,  um  ihre  ver- 
wandten zu  finden,  natürlich  vor  allen  dingen  zu  den  alten  süd- 
europäischen alphabeten  (dem  griechischen,  lateinischen,  etrus- 
kischen  und  den  übrigen  italischen)  wenden,  und  die  ähnhchkeit 
zwischen  ihnen  und  den  runen  wird  sich  dann  auch  sofort  in  vielen 
punkten  so  augenfalhg  zeigen,  dafs  die  Verwandtschaft  unzweifelhaft 
wird.  Aber  damit  ist  es  ja  noch  keineswegs  ausgemacht,  dafs  die 
runenschrift  mit  notwendigkeit  von  einem  dieser  alphabete  abstammen 
mufs,  und  also  noch  weniger,  von  welchem  unter  ihnen.  Sie  könnte 
ja  aus  derselben  quelle  wie  diese  alphabete  entsprungen 
sein  und  sich  darauf  selbständig  entwickelt  haben;  aber  sie 
kann  auch  aus  einem  einzigen  derselben  hervorgegangen 
oder  mit  hülfe  mehrerer  zugleich  gebildet  sein. 

Es  ist  ja  einleuchtend,  dafs  man,  um  diese  frage  sicher  beant- 
worten zu  können,  zu  allererst  darüber  im  reinen  sein  mufs, 
welches  Verhältnis  zwischen  den  alten  südeuropäischen  alphabeten 
unter  einander  besteht,  und  man  verwirrt  die  sache  nur,  wenn  man, 
wie  es  oft  geschehen  ist  und  noch  häufig  geschieht,  ohne  irgend- 
welche methode  planlos  bald  zeichen  von  dem  einen,  bald  von 
dem  andern  alphabete  mit  den  runen  vergleicht.  Obwohl  nämlich 
die  entwicklung  der  alten  griechischen  und  itaUschen  alphabete  nach 
den  neuesten  entdeckungen  und  Untersuchungen  nicht  blofs  in  den 
hauptzügen ,  sondern  auch  in  den  meisten  einzelheiten  ziemlich  klar 
vorhegt,  haben  die  forscher,  die  sich  mit  dem  Ursprünge  der  runen- 
schrift beschäftigt  haben ,  nur  ganz  ausnahmsweise  hiervon  kenntnis  s.  20. 
genommen.  Bei  all  den  verwinten  Vorstellungen,  die  sich  infolge 
dessen  geltend  gemacht  haben,  halte  ich  es  für  unmöglich,  die  Unter- 
suchung auf  den  rechten  weg  zu  bringen,  wenn  sie  nicht  noch  einmal 
so  zu  sagen  ganz  von  vorn  begonnen  wird.  Um  also  eine  sichere 
grundlage  zu  haben,  worauf  wir  bei  den  folgenden  Untersuchungen 
über  den  Ursprung  der  runenschrift  bauen  können,  müssen  wir  zunächst 


22  EKSTES    BUCH.       DER    UBSPRUNG    DER    RUNENSCHRIFT. 

eine  übersieht  über  die  entwickhing  und  das  gegenseitige  verhilltnis 
derjenigen  alphabete  geben,  zu  denen  man  mit  mehr  oder  weniger 
grund  die  runen  hat  in  beziehung  setzen  wollen. 


II.  kapitel. 

Das  Verhältnis   zwischen   dem  phönicischen  und  den 

alten  südeuropäischen  alphabeten. 

A.  Das  phönicische  und  die  alten  griechischen  alphahete. 
Dass  die  Griechen  ihre  buchstabenschrift  von  den  Phöniciern 
erhalten  haben,  berichtet  schon  Herodot  (V,  58);  und  auch  später 
war  dies  die  allgemeine  ansieht  bei  den  Griechen,  obgleich  wir  lin- 
den, dafs  sich  abweichende  anschauungen  frühzeitig  geltend  machten  ^). 
Um  die  phönicische  herkunft  der  griechischen  buchstaben  nachzu- 
weisen, brauchen  wir  jedoch  keineswegs  unsere  Zuflucht  zu  der  grie- 
chischen Überlieferung  zu  nehmen,  die  in  manchen  punkten  unrichtig 
und  verwirrt  ist.  Ein  unumstöfslicher  beweis  für  die  abstammung  des 
griechischen  alphabetes  vom  phönicischen  läfst  sich  nämlich  durch  die 
Übereinstimmung  führen,  die  sich  nicht  nur  zwischen  den  griechischen 
und  semitischen  buchstabennamen^),  sondern  auch  zwischen  den 
altgriechischen  und  phönicischen  buchstabenformen  findet, 
s.  21.  Das  alte  phönicische   aiphabet  bestand    aus  22    buchstaben, 

deren  namen   und  reihenfolge    im  hebräischen  bewahrt   sind^).     Die 


^)  Franz,  Elementa  epigraphices  Græeæ,  ßeroliui  1840,  s.  12  tf. 

2)  Maa  vergleiche  hebräisch  äleph,  béih,  f^imel,  däleth,  wäw,  fieth,  téth,  jod, 
kaph,  lämed,  qöph,  täw  mit  griechisch  al(fa,  ßijra,  yäfi/xa  {yéfifjia),  åélra,  ßav, 
1JT«  (i^ra),  d^rJTKy  löjxu,  y.annaj  Xdußaa,  xönnct,  Tav. 

•')  Auch  die  alten  hebräischen  zeichen,  die  sich  noch  auf  münzen  aus  der 
Makkabäerzeit  finden,  stimmen  fast  ganz  mit  den  phönicischen  iiberein,  sie  wurden 
aber  frühzeitig  von  der  sogen,  „quadratschrift"  verdrängt,  während  die  Samari- 
taner aus  hafs  gegen  die  Juden  die  alte  schrift  bewahrten.  Von  besonderem 
interesse  bezüglich  der  älteren  form  der  hebräischen  zeichen  ist  die  in  neuerer 
zeit  gefundene  Siloahinschrift.  (Vgl.  die  alphabettafeln  bei  G.  Bickell,  Grund- 
rifs  der  hebr.  Grammatik,  Leipz.  1869 — 70  und  bei  Gesenius-Kautzsch, 
Hebr.  Gramm.  24.  auf!.,  Leipz.  1885,  s.  378.  Über  die  Siloahinschr.  vgl.  ebenda 
s.  9  f.  und  das  facsimile  aufs.  377).  —  Die  älteste  phönicische  ausspräche  der 
22  buchstaben  mufs  gleichfalls  mit  der  alten  hebräischen  ausspräche  überein- 
gestimmt haben,  die  im  laufe  der  zeit  verschiedene  modificatiouen  erfuhr,  indem 


II.    KAP.      A.    DAS  PHÖNICISCHE  OND  DIE  ALTEN  GRIECHISCHEN  ALPHABETE.     23 

form  dieses  alphabetes,  die  wir  in  den  phönicischen  inschriflen,  na- 
mentlich von  Sidon,  finden,  hat  sich  indessen  aus  einem  noch  älteren 
gemein-semitischen  alphabete  entwickelt,  über  das  man  erst  in 
der  neueren  zeit  mit  hülfe  der  bei  Dibon  (Dhibån)  gefundenen  merk- 
würdigen inschrift  auf  einer  steinsäule  aus  dem  9.  jahrhdt  vor  Christi 
geburt  (c.  890),  die  dem  moabitischen  könige  Mesa  ihren  Ursprung 
verdankt^),  sichere  aufklärungen  erhalten  hat.  Da  der  moabitische 
stein,  wenn  wir  von  den  keilinschriften  absehen,  ohne  zweifei  die 
älteste  von  allen  semitischen  inschriften  aufweist  und  auf  jeden  fall 
das  älteste  bisher  entdeckte  denkmal  mit  wirklicher  buchstabenschrift 
ist,  dessen  zeit  wir  genauer  zu  bestimmen  im  stande  sind,  so  wird 
sein  aiphabet  in  zukunft  neben  dem  phönicischen  den  ausgangspunkt 
für  alle  Untersuchungen  über  die  entwicklung  der  buchstabenschrift 
bilden.  Was  uns  die  inschrift  von  Dibon  in  dieser  beziehung  lehren 
konnte,  ist  in  der  neuesten  zeit  durch  die  im  anfang  der  siebziger 
jähre  auf  der  insel  Cypern  gefundenen  8  bruchstücke  von  zwei  (drei?) 
phönicischen  inschriften  aus  derselben  zeit  und  von  demselben  Inhalt 
weiter  bestätigt  worden,  die  schwerlich  viel  jünger  sein  können,  als 
der  stein  Mesas  und  somit  die  ältesten  Überreste  von  eigen thch  phö- 
nicischer  spräche  und  schrift  enthalten*). 


oainentlieb  2>  P»  D  ""'^  ji  "1>  2  nebeo   dem  werte   als    verschlolslaute  k,  t,  p 
g,  d,  b  auch  die  spiraotische  ausspräche  /,  ^,  y;  y,  S,  ß  bekamen;   anfserdem 
spaltete    sich  '2,',  sin,   io    die  beiden   laate  s  (^,  sin)  and  s  ('^y,  sin).     Vgl.  J. 
Olshansen,  Lehrb.  der  hebr.  Sprache,  Braunschw.    1S61,  §6,  §23,  §30. 

')  Zoerst  bekannt  gemacht  in :  La  stele  de  Mesa  roi  de  Moab  896  av.  J.  C. 
Lettre  å  M.  le  c'®  de  Vogiié  par  Ch.  Clermo  nt-Ganneau,  Paris  1S70,  4to. 
Eine  nene  und  bessere  abbildnng  gab  de  Vogiié  in  der  Revae  archéologiqae, 
vol.  XXI,  Paris  1S70,  pl.  VIII  (darnach  wiedergegeben  bei  Th.  Nöldeke,  Die 
Inschrift  des  Königs  Mesa  von  Moab,  Kiel  1S70).  Vgl.  noch  K.  Schlottmann, 
Die  Siegessäule  Mesa's,  Halle  ISTO  und  ders.  in  der  ZDMG,  Bd.  XXIV  (1S70) 
s.  253  ff.  43S  a.  645  ff.,  XXV,  s.  463  ff;  Nö  Idekes  artikel  „Mesa"  in  Schenkels 
Bibellex.  Bd.  IV;  Himpel  in  der  Tüb.  theoL  Qnartalschr.  1S7Ü,  s.  5S4  ff.; 
Diestel  in  den  Jahrbb.  f.  deutsche  Theol.  1871,  s.  215  ff.  Siehe  auch  den 
artikel  im  „.\usland"  1S74,  no.  48,  s.  951  ff.  —  Der  gröfste  teil  der  bruch- 
stücke ist  jetzt  im  Louvre  zu  Paris. 

-)  Zuerst  bekannt  gemacht  von  E.  Renan:  iVotice  sur  buit  fragments  de 
patéres  de  bronze,  portant  des  inscriptions  phénicienues  tres  ancienues  im  Jour- 
nal des  Savants  aout  1S77,  p.  484 — 494  mit  tafel;  spater  behandelt  im  Corpus 
Inscr.  Semiticarum  I,  Parisiis  1881,  p.  22 — 26  u.  taf.  IV  (heliogravure  von  Du- 
jardin).  Es  kann  kaum  ein  zweifei  darüber  bestehen,  dals  die  6  stücke  (A-F) 
zusammen  gehören,  wogegen  es  nicht  sicher  auszumachen  ist,  ob  G  und  H 
reste  von  einer  oder  von  zwei  inschriften  sind. 


24  ERSTES    ÜUCII.       DElt    UHS1>HÜNU    DEIt    IIUNENSCHKIFT. 

Um  eine  voislelluiig  von  den  semitischen  buchslabenf'ornien 
zu  geben,  die  dem  allgriechischen  alphabete  am  nächsten  zu  grunde 
liegen,  stellen  wir  das  aiphabet  von  dem  moabitischen  steine  und  von 
8.  22.  der  alten  phönicischen  inschrift  (gewifs  aus  dem  4.  oder  aus  dem 
Schlüsse  des  5.  jahrhdts  vor  Chr.)  auf  dem  Sarkophage  des  sidonischeu 
Königs  Esmünazar^)  neben  einander  auf.  In  der  Sarkophaginschrift 
kommt  das  ganze  phönicische  aiphabet  vollständig  vor,  wohingegen 
sich  in  dem  teile,  der  von  der  moabitischen  inschrift  erhallen  ist, 
kein  beispiel  von  dem  buchstaben  findet,  welcher  dem  hebräischen 
13  téth  entspricht^);  dieser  buchstabe  kommt  dagegen  ein  einziges 
mal  auf  einem  der  bruchstücke  von  Cypern  in  einer  form  vor,  die 
als  gemeinsemitisch  angesehen  werden  kann,  weshalb  ich  denselben 
in  dem  moabitischen  alphabete  eingeklammert  hinzugefügt  habe. 


1)  Entdeckt  1855  in  der  uähe  von  Saida  (dem  alten  Sidou),  jetzt  im  Lou  vre 
zu  Paris.  Genau  abgebildet  bei  H.  d'Albert  de  Luyucs,  memoire  sur  le 
s.ircophajfe  et  riuscription  funéraire  d'Esmunazar,  roi  de  Sidon,  Paris  1856,  4to. 
Aufser  der  hauptinschrift  in  22  zeilen  auf  der  brust  des  köuigsbildes  oben  auf 
dem  deckel  des  sarkophages  findet  sich  eine  zweite  inschrift  in  6)^  zeilen ,  die 
um  den  hals  des  köuigsbildes  geht  und  im  ganzen  mit  schöneren  und  regel- 
mäfsigeren  ziigen  ausgebauen  ist  als  die  grofse  inschrift,  aber  nur  eine  genaue 
Wiederholung  dieser  letzteren  bis  zum  29.  buchstaben  in  der  13.  zeile  bildet, 
wo  sie  mitten  in  einem  worte  aufhört.  Beide  texte  kontrollieren  somit  einander, 
und  wir  können  an  4  stellen  die  grofse  inschrift  mit  hülfe  der  kleineren  be- 
richtigen, die  nur  einen  fehler  enthält,  der  sich  nicht  in  der  gröfseren  findet. 
Die  abbildung  bei  de  Luynes  ist  öfter  in  besser  zugänglichen  werken  wieder- 
gegeben, so  bei  S.  Muuk  im  Journal  asiatique,  avril — mai  185ü;  M.  A.  Levy, 
Phönizische  Studien,  Erstes  Heft,  Breslau  1856,  tab.  I;  K.  Schlottmaun,  Die 
inschrift  Eschmunazars  Königs  der  Sidonier,  geschichtlich  und  sprachlich  erklärt, 
Halle  1868,  tab.  I— H;  P.  Schröder,  Die  Phönizische  Sprache,  Halle  1869, 
tab.  I.  Die  neueste  wiedergäbe  der  inschrift  findet  sich  in  dem  Corpus  Inscr. 
Semit.  I,  p.  9  fl".  mit  taf.  H  und  III  (heliogravure  von  Dujardin). 

■^)  Auch  in  der  Sarkophaginschrift  findet  sich  J2  nur  einmal,  aber  sehr  grol's 
und  deutlich,  nämlich  als  der  vorletzte  bucbstabe  in  der  elften  zeile.  —  Um  so 
viel  wie  möglich  den  charakter,  den  die  buchstaben  in  den  iuschriften  selbst 
haben,  zu  bewahren,  sind  auf  der  alphabeltafcl  die  moabitischen  zeichen  absicht- 
lich feiner  und  die  sidonischen  fetter  gemacht.  Die  hier  dargestellten  formen 
können  als  grandtypen  betrachtet  werden,  während  unbedeutende  und  ganz  un- 
wesentliche modificationen,  die  einzelne  buchstaben  zuweilen  aufweisen,  natür- 
lich nicht  mit  aufgenommen  sind. 


li.    KAP.       A.    DAS  PHÖNICiSCHE  UNO  DIE  ALTEN  GRIECHISCHEiN  ALPHABETE.     25 


niüabitisch: 

sidonisch: 

i                     1 

1    1. 

X 

äleph 

+ 

»C 

» 

2, 

•^ 

béth 

5 

9 

6 

3. 

J 

ghnel 

1 

A 

9 

!    ■*• 

"1 

däleth 

<i 

<\ 

d 

5. 

n 

he 

^ 

^ 

h 

6. 

1 

ICäW 

Y 

i 

w 

7. 

1 

zajin 

zu 

A^ 

5 

8. 

n 

h'éth 

H 

1^ 

K 

9. 

•l: 

téth 

W 

Ö 

t 

10. 

1 

jod 

Z 

«v 

j 

1  11. 

2iy 

kaph 

f 

r  1 

k 

'  12. 

b 

lämed 

6 

1, 

l 

\  13. 

72  (C> 

mém 

y 

1 

m 

1  14. 

:(|) 

nun 

1 

h 

n 

15. 

D 

sämekh 

É 

*c  ^ 

's 

16. 

V 

ajin 

o 

o 

arab.  ^ 

17. 

S  (P]) 

pe 

1 

77 

V 

18. 

s  iy) 

säde 

h- 

r 

S 

19. 

P 

qöph 

T 

V 

? 

20. 

"1 

res 

^ 

<\ 

r 

21. 

•v^' 

sin  (sin) 

w 

w 

M^ 

22. 

n 

täw 

X 

/- 

t 

s.  23. 


Wo  die  moabitiscben  und  sidouisclien  buchslabenfornien  von 
einander  abweichen,  siebt  das  moabiliscbe  alpbabet  durcbgebends  auf 
der  ursprünglicberen  stufe  ^),  wie  dies  weiter  aus  den  folgenden  unter-  s.  24. 

^)  Die  stark  abgerundete  form,  die  einzeloe  bachstabeo,    oamentlicb  lämed, 
io   der   uiuabitischen   ioschrift  iiu   gegensatz    zu   deu  gewöbulicbeu  pböuicischeo 


2G  ERSTES    nUCH.       DER    URSPRUNG    DER    RUNENSCHRIFT. 

siichungen  über  die  entwicklung  des  griecbischen  alphabetes  bervor- 
geben  wird.  So  weisen  zajin,  kaph,  qöph,  mém  und  sin  formen  auf, 
die  im  gegensalze  zum  sidoniscben  genau  mit  den  ältesten  griecbi- 
scben  übereinstimmen;  die  moabitiscben  formen  für  mém  und  sin 
linden  sich  genau  in  einer  kleinen  inscbrift  von  4  buchslaben  auf 
einer  gemme  wieder,  welche  de  Vogüe  in  der  Revue  arcbéologique, 
vol.  XVII  (1868),  tab.  XIV,  no.  1,  herausgegeben  bat,  und  die  er 
grade  auf  grund  dieser  buchstabenformen  für  älter  als  das  7.,  „ja 
sogar  als  das  8.  jhdt"  anzusehen  geneigt  war  (ibid.  s.  433)^).  Die 
entdeckung  der  moabitischen  inscbrift  hat  im  ganzen  die  ansiebt 
glänzend  bewährt,  welche  graf  Vogüe  schon  früher  in  bezug  auf  die 
entwicklung  der  alten  semitischen  alpbabete  geltend  gemacht  hatte  ^). 

Unter  allen  buchstabenformen  in  der  moabitischen  inscbrift  heben 
wir  jedoch  namentlich  <\  {däleth)  hervor,  das  mit  dem  griechischen 
A  (åéXTcc)  übereinstimmt,  während  dieser  buchstabe  bereits  in  den 
ältesten  sidoniscben  Inschriften  eine  Verlängerung  erbalten  hat,  wo- 
durch er  mit  dem  zeichen  für  res  zusammen  fällt.  Höchst  merk- 
würdig wegen  der  Übereinstimmung  mit  dem  griecbischen  ist  auch 
das  moabitische  zeichen  für  sämekh,  worüber  unten  mehr. 

Nachdem  die  vorstehenden  bemerkungen  über  das  Verhältnis  zwi- 
schen dem  moabitischen  und  dem  sidoniscben  alpbabete  in  der  ersten 
ausgäbe  dieses  werkes  1874  gedruckt  waren,  ist  die  berechtigung,  die 
moabitiscben  buchstabenformen  in  allem  wesentlichen  als  die  ältesten 
ge  meinsemitischen  anzusehen,  vollständig  durch  die  obengenannten 
acht  altphönicischen  inschriftbruchstücke  von  Cypern  bestätigt 
worden.  Wir  finden  darauf  nämlich  das  ganze  phönicische  aiphabet 
mit  ausnähme  der  zeichen  für  gimel,  M  und  pe  wieder.  Hiervon 
stimmen   äkiph,   béth,   däleth  (Z^),    zajin   (J),   jöd,    kaph,   lämed  (l), 


formen  aufweisen,  darf  jedoch  eher  für  eiue  eigentümlichkeit  in  dieser  inschrift 
als  für  ein  zeichen  von  hohem  alter  angesehen  werden. 

^)  Aufser  mém  und  sin  kommt  lämed  zweimal  in  der  inschrift  vor,  und 
die  form  desselben  stimmt  gleichfalls  mit  der  moabitischen  überein,  ermangelt 
aber  der  starken  rundung.  Dasselbe  gilt  von  dem  4  mal  vorkommenden  lämed 
auf  den  phöuicischen  bruchstücken  A  und  B  von  Cypern;  eine  etwas  stärkere 
rundung  hat  das  zeichen  dagegen  auf  dem  bruchstück  H,  wo  es  sich  zweimal 
findet. 

■^)  Siehe  namentlich  seine  abhandlung:  „l'alphabet  hébraique  et  I'alphabet 
araméen"  in  der  Revue  arcbéologique,  vol.  XI  (1865),  s.  319—341  mit  pl.  VIII 
— IX  und  als  ein  supplement  hierzu :  „intailles  å  legendes  sémitiques"  in  der 
Revue  archéol.,  vol.  XVII  (1868),  s.  432—50  mit  pl.  XIV— XVI. 


II.    KAP.      A.    DAS  PBÖNICISCHE  UND  DIE  ALTEN  GRIECHISCHEN  ALPHABETE.      27 

mein,  m'm,  sämekh,  ajin,  säde,  qöph,  res  und  sin  so  gut  wie  voll- 
ständig mit  den  entsprechenden  moabilischen  zeichen  überein,  und 
dasselbe  kann  sicher  von  gimel,  he  und  pe  angenommen  werden. 
Ein  wenig  abweichend  ist  wäw,  das  nur  ein  einziges  mal  als  erster 
buchstabe  auf  dem  bruchstück  E  vorkommt  und  etwas  beschädigt 
ist,  aber  die  form  ^  zu  haben  scheint,  sowie  Jiéth  (^)  und  täw 
(-j"  "l"  "Y).  Gerade  alle  charakteristischen  formen  sind  also  mit  dem 
moabitischen  aiphabet  gemeinsam,  und  die  zeichen  für  h'éth  und  täw 
dürfen  vielleicht  eher  als  die  moabitischen  für  gemeinsemitisch  ange- 
sehen werden. 

Schon  eine  vergleichung  zwischen  den  verschiedenen  buchstaben- 
formen, die  in  den  alten  griechischen  Inschriften  angewandt  werden, 
macht  es  wahrscheinhch,  dafs  alle  22  phönicischen  buchstabeu 
von  anfang  an  im  griechischen  in  der  gestalt  aufgenommen  wurden,  s.  25. 
die  sie  im  altsemitischen  aiphabet  hatten;  dafs  auch  die  semitische 
reihenfolge  und  so  weit  wie  möglich  die  semitischen  namen  bewahrt 
blieben,  zeigt  das  gewöhnliche  griechische  aiphabet.  Doch  hat  der 
vollständige  beweis  für  die  Verpflanzung  aller  phönicischen  zeichen 
in  ihrer  ursprünglichen  anordnung  auf  griechischen  boden  erst  mit 
hülfe  des  altgriechischen  alphabetes  geführt  werden  können,  das  sich 
auf  der  sogen,  galassischen  vase  von  Caere,  einem  kleinen  ge- 
fäfse  von  etruskischer  arbeit  findet,  welches  von  general  Galassi  in 
^inem  etruskischen  grabe  bei  Caere  zusammen  mit  vasen  mit  etrus- 
kischen  inschriften  entdeckt  wurde  und  sich  jetzt  im  gregorianischen 
museum  zu  Rom  befindet.  Von  diesem  wichtigen  denkmal,  für  das 
wir  auch  später  Verwendung  haben  werden,  teilen  wir  auf  s.  29 
(fig.  1)  eine  abbildung  mit^).  Die  Inschrift,  die  um  den  bauch  der 
vase  läuft,  ist  ein  etruskisches  syllabar,  das  wir  unten  näher  be- 
sprechen werden.  Vorläufig  behandeln  wir  nur  die  inschrift  auf  dem 
fufse,  die  das  griechische  aiphabet  enthält,  in  welchem  jedoch  ein 
wenig  von  dem  A  und  das  [i  so  gut  wie  ganz  zerstört  ist;  durch 
einsetzung    des  /*  aus  dem  syllabar   bekommen    wir    folgende  buch- 

*)  Bekannt  gemacht  von  R.  Lepsins  in  den  Annali  dell'  instituto  di  corri- 
spoudenza  archeologica,  vol.  VIII,  Roma  1S36,  tab.  ß  (vgl.  s.  1S6  ff.).  Darnach 
bei  Franz,  Elementa  epigr.  Græcæ  s.  22  (nicht  ganz  genau),  und  im  Corpus 
inscriptionum  Græcarum,  vol.  IV,  no.  8342  tab.  VIII  (vgl.  ibid.  s.  212—13). 
Siehe  gleichfalls  A.  Fabretti,  Corpus  inscriptionum  Italicarnm,  Aug.  Tanri- 
norum  1S67,  no.  2403,  s.  CCVII  und  tab.  XLIII  (auf  der  tafel  hat  es  unrichtig 
no.  2405  bekommen);  H.  Roehl,  Inscriptiones  Græcæ  antiqvissimæ,  Berol.  18S2, 
DO.  534. 


28  ERSTES    BÜCU.       DEIl    UUSPUUISG    DEIl    HUINEISSCHUIFT. 

stabenreilie,  in  der  die  zeiclien,  wie  wir  sogleich  dartliuii  werden,  die 
liier  beigelugle  bedeulung  haben: 

aßyasw^hxf^ixXfi    v    -    o   n  {a)  q  a  z  v  ^  (f)  x 
ASCD^F'XB©  IKbn/AE©   P    vy   P^fK  +  <fY 

Ein  äiniHches  griechisches  aiphabet,  das  jedoch  nicht  ganz  voll- 
Ständig  ist,  indem  es  mit  o  schliefst,  hatte  nian  lange  vorher  (1690 
oder  98)  zwischen  etruskischen  Inschriften  und  in  Verbindung  mit 
einem  bruchstück  eines  etruskischen  syjlabars  auf  der  wand  eines 
etruskischen  grabes  bei  Colle  in  der  nähe  von  Siena  gefunden  (siehe 
s.  29  lig.  2)  ^).  Wenn  man  ein  paar  abweichungen  in  den  buch- 
stabenformen ausnimmt,  die  gevvifs  zum  teil  auf  rechnung  der  ab- 
schrift  gesetzt  werden  können,  stimmt  es  mit  dem  aiphabet  von  Caere 
überein. 

Die  genauesten  Untersuchungen  über  diese  alphabete  verdanken 
wir  Th.  M  omni  sen,  dem  es  zuerst  gelang,  den  wert  der  einzel- 
nen zweifelhaften  zeichen  zu  bestimmen  (Die  unteritalischen  Dialekte, 
Leipzig  1850,  s.  8  ff.). 

Von  den  25  buchstaben  im  aiphabet  von  Caere  entsprechen  die 
ersten  21  der  alten  phönicischen  reihe,  aus  welcher  nur  das  zeichen 
für  qöph,  xönncc  (?)  vor  q  fehlt.  Dafs  dieser  buchstabe  an  dieser 
stelle  im  griechischen  grundalphabet  vorhanden  gewesen,  ist  ja  indessen 
klar,  da  er  in  den  altgriechischen  Inschriften  aligemein  ist  und  sich 
selbst  in  dem  gewöhnlichen  griechischen  alphabete  als  Zahlzeichen 
erhalten  hat;  aber  er  hat  im  vergleich  mit  xänna  immer  eine  sehr 
eingeschränkte  anvvendung  gehabt,  indem  er  namentlich  vor  o  %  mehr 
sporadisch  vor  v  und  konsonanten  gebraucht  wurde. 

Dagegen  finden  wir,  was  das  merkwürdigste  bei  diesem  aiphabet 
und  von  der  gröfsten  Wichtigkeit  für  uns  ist,  vier  zeichen  für  die 
Zischlaute  wie  im  phönicischen,  nämlich  nicht  nur  I  (C)  zwischen 
w  und  h  (tj)  und  ^  {a)  zwischen  q  und  t  wie  in  dem  gewöhnlichen 
griechischen  alphabete,  sondern  auch  das  zeichen  ffi  zwischen  v  und 


1)  Abgebildet  bei  ßeliori,  Le  piltuie  antiche  etc.,  Koma  1706  (lateinische 
ausg.  1738),  Appendice  tav.  XI;  Thomæ  Dempsteri  de  Etruria  regali  libri 
Septem,  Floreutiæ  1723 — 24,  11,  tab.  92;  (Lanzi,)  S<iggio  di  liogiia  etrusca, 
Koma  1789,  II,  s.  512.  Darnach  bei  Lepsius  uud  Franz  1.  c.  und  im  Corpus 
iüscr.  Gr.,  vol.  III,  no.  6183  (s.  874—75).  Vgl.  Fabretti  no.  449—51,  s.  L 
und  tab.  XXVIII;  Roehl  no.  535. 

-)  Daher  auch  in  einer  der  am  spätesten  entdeckten  iuschril'ten  von  Thera 
(Roehl  no.  449)  in  der  Verbindung  Ogj  {.=  x)  ^'"''  ^* 


II.    KAP.       A.    DAS  PHÖNICISCHE  UND  DIE  ALTEN  GRIECHISCHEN  ALPHABETE.    29 


6 

> 

m 

O 

I. 

5 

5 

A^ 

^^ 

Ö 

i 

[D 

uJ 

G 

A 

C 

w 

> 

Qq 

^ 

i 

J^2 


s.  26. 


Hai 


/^lrt^^(^^ 


mu 


Mpttn-Ti'i 


Fig.  1 :  Die  galassisehe  vase  von  Caere. 
Fig.  2 :  Alphabet  und  syUabar  von  Colle, 


30         ERSTES  BUCH.   DER  URSPRUNG  DER  RUNENSCHRIFT. 

O  (und  dies  wohlgemerkt  in  dem  alpliabet  von  Caere  wie  in  dem 
von  Colle)  nebst  ^  nach  n.  Diese  beiden  zeichen  entsprechen 
also  dem  phonicischen  sämekh  und  säde;  dafs  das  letztere  in  dem 
aiphabet  von  Caere  die  ungewöhnliche  form  H  anstatt  M  bekommen 
hat,  welche  in  den  allerfdlesten  griechischen  inschriften  allgemein 
ist,  und  welche  es  wahrscheinlich  in  dem  aiphabet  von  Colle  gehabt 
s.  28.  hat ,  liegt  daran ,  dafs  M  in  dem  ersteren  alphahct  das  zeichen 
für  V  ist,  wie  [jt,  die  form  NM  hat,  entsprechend  den  sonst  vor- 
kommenden altgriechischen  formen  f^  (v)  und  1^  (|u-),  die  beide  in 
der  Inschrift  von  Colle  gebraucht  werden^). 

Die  4  letzten  buchstaben  in  dem  aiphabet  von  Caere,  die  hinter 
der  alten  phonicischen  reihe  hinzugefügt  sind,  werden  gerade  auf 
grund  hiervon  allgemein  als  später  erfundene  spezifisch  griechische 
zeichen  aufgefafst.  Dies  gilt  jedoch  nicht  von  dem  zeichen  für  «, 
das  in  Wirklichkeit,  wie  wir  sogleich  zeigen  werden,  aus  einem  der 
alten  phonicischen  buchstaben  hervorgegangen  ist;  dafs  es  älter  ist, 
als  die  drei  folgenden  zeichen,  zeigt  sich  nicht  blofs  dadurch,  dafs  es 
die  erste  stelle  nach  r  hat,  sondern  geht  namentlich  daraus  hervor, 
dafs  das  zeichen  für  u  in  keinem  einzigen  griechischen  alphabete  fehlt, 
wogegen  die  ältesten  inschriften  von  Thera  und  Melos  (taf.  I, 
no.  1)  keine  besonderen  zeichen  für  ^,  (f,  %  und  ip  kennen,  sondern 
xö",  nh^  xh  und  nß  gebrauchen.  Gleichfalls  fehlen  dem  alten  aipha- 
bet von  Kreta,  dessen  formen  jetzt  mit  vollkommener  Sicherheit 
mit  hülfe  der  kürzlich  entdeckten  merkwürdigen  inschrift  von  Gortyn^) 
bestimmt  werden  können,  besondere  zeichen  für  §,  cp,  %  und  xp,  die 
hier  durch  xö",  tt®),  x^)  und  n<s  ausgedrückt  werden.  Dagegen  be- 
kam man  schon  in    der  ältesten  zeit    ein  eigenes  zeichen  für  i}^ ,  da 


1)  Die  form  des  v  in  dem  aiphabet  von  Colle  beruht  natürlich  auf  einer 
ungenauigkeit  entweder  in  der  inschrift  selbst  oder  in  der  abschrift,  da  die 
richtige  y-form  2  mal  in  dem  syllabarbruchstiick  vorkommt.  (Dals  das  zeichen 
für  C  <lie  form  I  statt  -I  hat,  ist  auch  einfach  ein  fehler). 

■^)  Leggi  antiche  della  citta  di  Gortyna  in  Greta  scoperte  dai  D"  F.  Halbherr 
ed  E.  Fabricius  lette  ed  illustrate  da  D.  Comparetti,  Firenze  18S5.  Vgl. 
Das  Recht  von  Gortyn  herausgeg.  und  erläutert  von  F.  Bücheier  und  E.  Zitel- 
mann  im  Rhein.  Museum  für  Philologie  XL,  Ergänzungsheft  1885.  (Zwei  früher 
bekannte  bruchstücke  der  inschrift  sind  bei  Roehl  no.  475 — 476  aufgenommen). 
Da  die  inschrift  kaum  weiter  als  in  den  schlufs  des  5.  jahrhdts  zurückgesetzt 
werden  kann,  so  zeigt  sie  also,  dafs  man  auf  der  abgelegenen  insel  einen  .stand- 
punkt festgehalten  hat,  der  längst  in  den  andern  gegenden  Griechenlands  auf- 
gegeben worden  war. 

^)  B  (H)  wird  überhaupt  nicht  in  der  inschrift  gebraucht. 


II.    KAP.       A.    DAS  PHÖNICISCHE  UNO  DIE  ALTEN  GRIECHISCHEN  ALPHABETE.     31 

die  Phönicier  nicht  nur  das  gewöhnliche  t  {täte)  hatten,  welches  für 
T  benutzt  wurde,  sondern  auch  ein  eigentümliches  hartes  t  (téih, 
arabisches  _b   rå)^)  besafsen,  und  dies  für  S-  Verwendung  fand. 

Es  ist  somit  sicher,  dafs  das  älteste  griechische  aiphabet,  dessen 
grundtypus  sich  am  allerklarsten  in  den  uralten  inschrifteii  von  Thera 
findet,  die  22  semitischen  zeichen  benutzt  und  höchstens  ein  neues 
hinzugefügt  hat;  dafs  auch  die  semitische  buchstabenfolge  bewahrt 
blieb,  zeigt  die  Übereinstimmung  zwischen  dem  aiphabet  von  Caere 
und  dem  gewöhnhchen  griechischen  aiphabet. 

Trotz  dieser  grofsen  ähnüchkeit  mit  dem  phönicischen  finden 
wir  jedoch  in  dem  ältesten  griechischen  alphabete  eine  wesentliche 
abweichung  von  dem  semitischen  grundalphabet,  die  zugleich  so  zu 
sagen  den  letzten  grofsen  fortschritt  in  der  entwicklung 
der  buchstabenschrift  bezeichnet.  Während  nämlich  das  alt- 
semitische aiphabet  noch  die  spuren  ursprünghcher  Silbenschrift  be- 
wahrt, indem  es  nur  zeichen  für  die  konsonanten  hat,  so  dafs 
ein  jedes  konsonantzeichen  sowohl  den  konsonanten  als  auch  den  s.  29. 
vokal  bezeichnet,  der  in  Verbindung  mit  dem  konsonanten  eine 
silbe  bildet,  haben  die  Griechen  nach  der  aufnähme  des  phönicischen 
alphabetes  zeichen  sowohl  für  die  konsonanten  wie  für  die 
vokale.  Dies  ist  namentlich  mit  hülfe  der  phönicischen  guttu- 
rale erreicht;  von  ihnen  bezeichneten  äleph  und  he  den  festen  und 
den  gehauchten  vokaleinsatz,  das  erstere  dem  hamze  der  Araber,  dem 
spiritus  lenis  der  Griechen  entsprechend  —  sonst  in  den  europäischen 
sprachen  nicht  bezeichnet  — ,  während  he  ein  sehr  schwach  gehauchtes 
h  wie  das  arabische  he,  das  (fi*ühere)  französische  h  in  haut  und  dgl.  war. 
Einen  sehr  starken  hauch  bezeichneten  dagegen  h'elh  und  ajin,  ent- 
sprechend dem  IT  {ha)  und  ^  (am)  der  Araber,  lauten,  die  sehr  selten 
in  einer  europäischen  spräche  gebildet  werden^). 

Zur  bezeicbnung  ihres  starken  hauches,  des  spiritm  asper,  wähl- 
ten die  Griechen  das  phönicische  h'eth,  welches  in  den  ältesten 
griechischen  inschriften  die  form  B,  später  H  hat;  aber  schon  in  den 


')  Vgl.  darüber  E.  Brücke,  Grnadzüge  der  Physiologie  und  Systematik  der 
Sprachlante,  2.  Aufl.,  Wien   1S76,  s.  137  ff. 

-)  E.  Brücke,  Grondzüge  der  Physiologie  aod  Systematik  der  Sprachlaate, 
Wien  1S56,  s.  9—12,  vgl.  s.  94—102  =  s.  9—15,  s.  88,  137,  144—150  in  der 
2.  aufl.,  Wien  1S76  und  derse  ibe:  Über  eine  neue  Methode  der  phonet.  Trans- 
scription, Wien  1863,  s.  31  ff.;  H.  B.  Rumpelt,  Das  natürl.  System  der  Sprach- 
laute, Halle  1S69,  s.  102—7. 


32  ERSTKS    nUCH.       DEK    URSPnUNG    DKR    RUNENSCHHrFT. 

älteslen  inschriften  von  Thera  kommt  B  zugleich  in  der  bcdeulung 
1]  vor,  iintl  bekanntlich  gab  man  später  in  dem  ionischen  alphabet 
ganz  auf,  das  h  zu  bezeichnen  und  benutzte  H  ausschhefslich  in  der 
bedeulung  ^^).  Die  drei  andern  phönicischen  gutturale  aleph,  hé  und 
ajin  nahmen  die  Griechen  dagegen  von  anfang  an  als  zeichen  für  die 
vocale  a,  e  und  q  auf,  und  zwar  so,  dafs  sie  sowohl  die  kurzen  wie  die 
langen  vokale  bezeichneten.  Wie  wir  aus  den  inschriften  von  Thera 
sehen,  wurde  jedoch  sehr  frühzeitig  in  einzelnen  gegenden  der  unter- 
schied zwischen  dem  kurzen  und  langen  e  in  der  schrift  ausgedrückt, 
indem  man  dem  zeichen  für  h  die  bedeutung  ij  gab,  so  dafs  also 
auch  der  vierte  phönicische  guttural  bei  den  Griechen  damit  endete, 
vokalzeichen  zu  werden.  Später  führte  man  auch  einen  unterschied 
30.  zwischen  dem  kurzem  und  langen  o  ein,  indem  man  aus  dem  alten 
o-zeichen  ein  neues  für  «  bildete,  das  bei  den  loniern  frühzeitig 
in  der  form  52  auftritt.  —  Auch  die  vokale  i  und  n  drückten  die 
Griechen  mit  hülfe  der  phönicischen  buchstaben  aus.  Für  i  ver- 
wandte man  das  zeichen  für  den  zunächst  Hegenden  phönicischen 
laut,  nämlich  den  halbvokal  jöd,  für  den  die  Griechen  in  der  ursprüng- 
lichen bedeutung  keine  Verwendung  hatten,  da  der  laut  j  sehr  früh 
im  griechischen  verloren  gegangen  war.  Anders  stellte  sich  dagegen 
das  Verhältnis  hinsichtlich  des  andern  phönicischen  halbvokals  des  icäw; 
es  lag  nahe  für  die  Griechen,  diesen  buchstaben  zur  bezeichnung  des 
vokals  u  zu  benutzen,  wie  jöd  für  /  gebraucht  wurde;  aber  während 
sich  der  laut  j  im  griechischen  bei  der  einführung  der  buchstaben- 
schrift  nicht  mehr  vorfand,  war  der  laut  w  auf  jeden  fall  bei  den 
meisten  griechischen  stammen  noch  in  vollem  gebrauch,  und  es  ist 
wohl  kaum  wahrscheinlich,  dafs  er  irgendwo  ganz  verloren  gewesen 
ist,  obwohl  sich  dieses  nicht  mit  Sicherheit  beweisen  läfst,  da  er  sich 
niemals  in  den  ältesten  inschriften  von  Thera  findet,  wo  gerade  sehr 
oft  gelegenheit  gewesen  wäre,  ihn  zu  bezeichnen^).  In  andern 
der  ältesten  griechischen  inschriften  (z.  b.  von  Korinth  und  Korkyra) 
finden  wir  dagegen  das  zeichen  F  ^  für  den  halbvokal  w  und  K  Y 
für  den   vokal  m.     Dieselbe  form   des  w-zeichens  (K^  Y)   gebrauchen 


*)  Weit  später  führten  die  Griechen  wieder  nicht  blofs  eine  bezeichnunjj 
für  den  spiritus  asper  ein,  sondern  bildeten  auch  (allein  von  allen  europäischen 
Völkern)  ein  zeichen  für  den  spiritus  lenis. 

^)  Ich  finde  daher  auch  keinen  grund,  mit  Roehl  den  dritten  buchstaben 
in  der  in  mehreren  beziehungen  zweifelhaften  inschrift  no.  458  als  ^  aufzu- 
fassen. 


IF,    KAP.     A.    DAS  PHÖNICISCHE  UND  DIE  ALTEN  GRIECHISCHEN  ALPHABETE.       33 

die  inscliriften  von  Thera.  Da  dieses  zeichen  eine  so  grofse  älinlich- 
keit  mit  dem  moabilischen  wäw  zeigt,  wälirend  das  griechische  tr- 
zeichen  eine  mehr  abweichende  form  hat,  so  hege  ich  keinen  zweifei, 
dafs  wir  gerade  in  dem  ältesten  griechischen  zeichen  für  u  das  phöni- 
cische  tp-zeichen  haben,  dafs  dagegen  das  griechische  ?p-zeichen  eine 
modification  hiervon  ist.  Phönicisches  wätc  hat  sich  also  bei 
den  Griechen  in  zwei  zeichen,  Y  für  u  nnd  ^  für  jc  ge- 
spalten. Entweder  kann  dies  zugleich  mit  der  aufnähme  der 
phönicischen  buchstabenreihe  geschehen  sein,  und  der  grund  dafür, 
dafs  man  das  alte  tcäjc-zeichen  für  m,  aber  das  neue  davon  abge- 
leitete zeichen  für  tc  benutzte,  kann  dann  eben  darin  liegen,  dafs 
auch  das  jöd-zeichen  bei  den  Griechen  sofort  in  der  bedeutung  des 
vokals  i  aufgenommen  wurde;  oder  man  kann  eine  zeit  lang  das 
dem  phönicischen  wäw  entsprechende  Y  an  der  ursprünglichen  stelle 
sowohl  mit  der  bedeutung  w  als  auch  u  behalten  haben;  aber  da  s.  31. 
man  bald  das  bedürfnis  fühlte,  diese  beiden  laute  zu  bezeichnen, 
bildete  man  aus  Y  die  modificierte  form  ^  F,  die  man  dann  für  w 
anwandte  und  an  der  alten  stelle  bewahrte,  während  das  alte  zeichen 
Y  mit  der  bedeutung  u  an  den  schlufs  des  alphabetes  hinter  zav 
gesetzt  wurde,  wo  es  sich  sowohl  auf  der  vase  von  Caere  wie  in 
dem  gewöhnlichen  griechischen  alphabete  findet,  wogegen  ßav  die- 
selbe stelle  wie  das  phönicische  wäio  hat.  Als  an  eine  analogie  hierzu 
will  ich  daran  erinnern,  dafs  wir  in  dem  ältesten  altenglischen  runen- 
alphabet  eine  aus  der  alten  a-rune  (^)  modificierte  form  {^)  an  der 
stelle  finden,  die  ursprünglich  dem  ^  zukam,  während  sich  diese  rune 
selbst  am  Schlüsse  des  alphabets  zwischen  den  neueren  altenglischen 
zeichen  befindet  ^). 

1)  Auch  voD  griechischen  alphabeten  können  analogieen  hierzu  vielleicht 
nachgewiesen  werden.  Während  nämlich  die  lonier  aus  o  die  beiden  zeichen 
0  =  0  und  n.  =  to  bildeten,  von  denen  o  auf  seinem  alten  platze  stehen  blieb, 
während  n  ans  ende  des  alphabetes  gesetzt  wurde,  finden  wir  auf  Faros  und  dem 
von  dorther  kolonisierten  Thasos  dieselben  beiden  zeichen,  aber  mit  der  ent- 
gegengesetzten bedeutung  (n  =  o,  o  ^  w).  Auch  auf  Melos  hat  sich  o  früh- 
zeitig in  die  beiden  formen  o  und  c  gespalten,  von  denen  o  w,  C  dagegen  o  be- 
zeichnet. Aber  wii-  wissen  nicht,  wie  diese  zeichen  im  ajphubel  geordnet  worden 
sind,  und  es  ist  natürlicherweise  deswegen  auch  nicht  gestattet,  ohne  weiteres 
anzunehmen,  dafs  das  alte  O  mit  der  bedeutung  (o  an  den  schlufs  des  alphabetes  an 
dieselbe  stelle  wie  das  ionische  n  gerückt  wurden  ist,  während  die  neuen  zeichen 
n,  C  an  dem  alten  platze  standen.  £s  ist  eine  ebenso  grofse  Wahrscheinlichkeit 
dafür  vorhanden,  dafs  O  seinen  platz  behalten  hat,  und  dafs  die  neuen  zeichen 
entweder  daneben  gestellt  wurden,  oder  an  den  schlufs  des  alphabetes  rückten. 
WXMMER,  Die  rnnenschrift.  3 


34         ERSTES  BUCH.   DER  URSPRUNG  DER  RUNENSCHRIFT. 

Die  letztere  annähme,  dafs  der  unterschied  zwischen  w  und  u 
nicht  gleichzeitig  mit  der  aufnähme  des  phönicischen  alphabetes, 
sondern  dafs  Y  uisprünglich  das  zeichen  für  beide  laute  gewesen, 
kommt  mir  am  wahrscheinlichsten  vor,  obgleich  sie  nicht  bewiesen 
werden  kann.  Ist  diese  annähme  indessen  richtig,  so  läfst  es  sich 
nicht  mit  Sicherheit  ausmachen,  ob  die  Inschriften  von  Thera  noch  auf 
dem  Standpunkte  stehen,  wo  Y  sowohl  lo  wie  u  bezeichnete  und 
seinen  platz  hinter  s  hatte,  oder  ob  es  damals  als  zeichen  für  u  seine 
s.  32.  stelle  hinter  t  gehabt  hat  ^).  Da  indessen  alle  griechischen  alphabete,  so 
weit  wir  sie  kontrollieren  können,  übereinstimmend  F  (to)  an  sechster 
stelle  in  der  buchstabenreihe  haben  und  Y  (m)  hinter  r  stellen,  so 
scheint  dies  in  hohem  grade  für  die  annähme  zu  sprechen,  dafs  der 
unterschied  zwischen  w  und  u  älter  sein  mufs  als  die  zeit,  welcher 
die  Inschriften  von  Thera  angehören.  In  jedem  falle  ist  die  Spal- 
tung des  «ü«jo-zeichens  in  Y  {u)  und  1  {w)  die  älteste  abweichung, 
welche  die  Griechen  in  die  ursprüngliche  phönicische  reihe  eingeführt 
haben  ^). 

Anders  verhält  es  sich  dagegen  mit  den  drei  letzten  zeichen, 
die  in  dem  aiphabet  auf  der  galassischen  vase  hinter  u  erscheinen. 
Dies  sind  nicht  blofs  neue  eigentümlich  griechische  zeichen,  die 
später  zu  der  alten  reihe  hinter  u  hinzugefügt  worden  und  noch 
nicht  in  den  ältesten  Inschriften  von  Thera  und  Melos  oder  in  der 
Inschrift  von  Gortyn  vorkommen;  sondern  wir  linden  sie  auch  in 
verschiedenen  gegenden  in  verschiedener  anordnung  und  be- 
deutung  angewandt,  wodurch  die  alten  griechischen  alphabete 
in  zwei  grofse  gruppen  zerfallen,  wie  A.Kirchhoff  in  seinen 
gründhchen  und  scharfsinnigen  „Studien  zur  Geschichte  des  griechi- 
schen Alphabets"  (2.  Aufl.  Berlin  1867;  3.  umgearb.  Aufl.  mit  einer 
Karte  1877)  nachgewiesen  hat.  In  der  ersten  hauptgruppe,  zu 
der  das  aiphabet  auf  der  vase  gehört,  und  deren  buchstabenfolge  wir 


^)  Im  letzteren  falle  könnte  sich  w  natürlich  sehr  gut,  selbst  wenn  es  als 
lautzeichen  verschwunden  wäre,  an  seinem  alten  platze  als  Zahlzeichen  er- 
halten haben. 

■^)  F.  Lenormant  hat  in  seinen  Etudes  sur  l'origiDe  et  la  formation  de 
l'alphabet  grec  (in  der  Revue  archéol.  1867,  vol.  XVI,  s.  273—78;  327—42; 
423—39  mit  pl.  XXII;  1868,  vol.  XVII,  s.  189—206;  279—292  mit  pl.  VI) 
gleichfalls  die  ähnlichkeit  zwischen  phönic.  wäio  und  griech.  u  gesehen  (siehe 
Revue  archéol.  1867,  s.  330);  aber  die  wichtige  frage  nach  dem  Verhältnis 
zwischen  den  griechischen  zeichen  für  w  und  u  erörtert  er  gar  nicht.  Auch  in 
andern  bcziehuugen  leidet  die  fleiisige  arbeit  an  groiseu  mangeln. 


II.    KAP.       A.    DAS  PUÖMCISCUE  UND  DIE  ALTEN  GRIECHISCHEN  ALPHABETE.     35 

daraus  kennen,  folgt  nach  u:  +  +X,  ®(p<t>,  V4,Y  mit  der  be- 
deutung  f,  (f,  /.  Das  ist  das  sogenannte  „dorisclie"  aiphabet,  das 
sich  namentlich  in  inschriften  von  Euböa,  ßöotien,  Phokis,  Lokris, 
Achaia,  Lakonieu,  nebst  den  chalkidischen  und  achäischen  kolonieen 
in  Italien  lindet  (taf,  I,  no.  2 — 7).  In  der  zweiten  hauptgruppe  s.  33. 
dagegen,  wozu  aufser  dem  gewöhnlichen  griechischen  (ionischen) 
aiphabet  auch  die  alten  inschriften  von  Korinth  und  Korkyra,  nebst 
Argos  gehören,  haben  diese  drei  zeichen  eine  andere  anordnung  und 
bedeutung  (taf.  I,  no.  8 — 11).  Während  nämlich  auf  der  galassischen 
vase  und  in  den  alphabeten,  welche  sich  daran  anschliefsen,  die 
zeichen  für  ^,  y,  x  n^ch  v  folgen,  hat  das  gewöhnliche  griechische 
aiphabet  bekanntlich  nach  i'  die  zeichen  für  (f,  %,  ip,  wohingegen  ^ 
zwischen  p  und  o  steht.  Das  zeichen  für  (p  ist  dasselbe  wie  in  der  ' 
ersten  gruppe,  aber  deren  zeichen  für  |  und  x  bezeichnen  in  der 
zweiten  gruppe  x  und  ip,  während  wir. in  der  ersten  kein  besonderes 
zeichen  für  die  lautverbindung  ip^)  flnden  (so  wenig  wie  für  w, 
das  ja  auch  frülizeitig  im  ionischen  aiphabet  hinler  ip  auftritt). 

Der  grund  für  die  verschiedene  anordnung  und  bedeutung,  die 
man  so  in  verschiedenen  gegenden  den  drei  neuen  zeichen  hinter  v 
gab,  steht  in  genauer  Verbindung  mit  der  art  und  weise,  wie  die 
vier  phönicischen  Zischlaute,  die  man  in  das  griechische  grundalphabet 
aufnahm ,  allmählich  in  den  beiden  hauptgruppen  griechischer  alpba- 
bete  benutzt  wurden.  Auf  der  galassischen  vase  fanden  wir  alle  vier 
zeichen  an  ihrem  ursprünghchen  platze  im  aiphabet;  aber  in  Wirk- 
lichkeit hatte  man  nur  Verwendung  für  zwei:  da  das  phönicische 
2  (zajin)  nämlich  als  bezeichnung  für  den  griechischen  laut  ^^)  auf- 
genommen wurde,  so  brauchte  man  nur  ein  zeichen  für  den  eigent- 
lichen Zischlaut  s.  Dafs  der  s-Iaut  in  verschiedenen  gegenden  Grie- 
chenlands eine  etwas  verschiedene  ausspräche  gehabt  haben  kann,  ist 
sehr  wohl  möglich;  aber  nach  allem  was  vorliegt,  deutet  nichts  dar- 
auf hin,  dafs  man  gleichzeitig  in  derselben  gegend  das  bedürf- 
nis   gefühlt  hat,    eine  verschiedene  ausspräche  des  ziscldautes  durch  s.  34. 


1)  Aasnahmsweise  hat  jedoch  das  lokrische  aiphabet  nebea  +,  *P,  V 
für  I,  (f,  jf  auch  ein  neues  zeichen  )lv  für  i//  gebildet. 

'-)  Der  griechischen  form  liegt  das  moabitische  zeichen  nahe;  dagegen  ist 
der  alte  griechische  name  C^«  nach  ^r«,  &^a  gebildet  (phönicisches  zaj'in 
mufste  notwendigerweise  im  griechischen,  das  den  laut  7  nicht  hatte,  umgebildet 
werden).  Auf  gleiche  weise  ist  griechisches  ixü  (hebr.  meni)  nach  vü  (hebr. 
nun)  gebildet;  vgl.  Mommsen,  Uuteritai.  Dial.  s.  5. 

3* 


36         ERSTES  BUCH.   DER  URSPRUNG  DER  RUNENSCHRIFT. 

verschiedene  zeichen  auszudrücken.  Dagegen  waren  hei  den  Phöni- 
ciern  sämekh,  säde  und  sm  nicht  blofs  im  zeichen,  sondern  auch  im 
laute  verschieden :  der  gewöhnliche  s-laut  war  sin,  während  säde  einen 
härteren  s-laut  ausdrückte  (wie  arabisches  y«  sin  und  (jo  sad),  die 
sich  zu  einander  wie  täw  zu  téth  (arab.  ta  und  tu;  vgl.  vorn  s.  31) 
verhielten  ^);  eine  dritte  modißcation  des  Zischlautes,  die  wir  nicht  mit 
Sicherheit  bestimmen  können,  wurde  endlich  durch  sämekh  bezeichnet. 
Wenn  die  Griechen  nun  in  ihr  aiphabet  alle  drei  phönicischen  zeichen 
für  den  Zischlaut  aufnahmen ,  obgleich  sie  nur  eins  als  lautzeichen 
benutzten,  so  mufs  der  grund  ohne  zweifei  darin  gesucht  werden, 
dafs  die  phönicische  buchstabenreihe  von  anfang  an  den 
Griechen  nicht  blofs  als  aiphabet,  sondern  auch  als  Zahlen- 
reihe, mit  derselben  bedeutung  wie  bei  den  Phöniciern,  diente;  aus 
diesem  grunde  wurden  gleichfalls  sowohl  phönicisches  kaph  wie  qöph 
aufgenommen,  trotzdem  das  eine  dieser  zeichen  vom  Standpunkte  der 
Griechen  aus  als  lautzeichen  überflüssig  war.  Von  den  drei  phöni- 
cischen zeichen  sämekh,  säde  und  sin,  die  so  in  die  griechische  buch- 
staben-  und  Zahlenreihe  übergingen,  nahm  man  nur  eins  als  zeichen 
für  den  laut  ö"  auf.  So  weit  es  möghch  ist,  die  entwicklung  histo- 
risch zu  verfolgen,  scheint  sämekh  niemals  in  dieser  bedeutung  ge- 
braucht zu  sein;  es  ist  also  nur  seines  zahlwertes  wegen  auf 
seinem  alten  platze  in  der  buchstabenreihe  bewahrt.  Dagegen  sind  säde 
und  sin  beide  zu  verschiedenen  zeiten  als  zeichen  für  das  griechische 
0"  benutzt  worden ;  in  den  allerältesten  inschriften  wird  regelmäfsig 
das  aus  säde  hervorgegangene  M  gebraucht;  aber  es  wurde  schon 
früh  überall  von  einem  aus  sin  entstandenen  zeichen  verdrängt,  das 
zuerst  in  den  formen  ^  ^  (seltener  ^  ^),  später  überall  in  der  form 
^  auftritt.  Es  war  ohne  zweifei  ein  rein  praktischer  grund,  der 
bewirkte,  dafs  säde  allmählich  von  sin  verdrängt  wurde;  bei  der  be- 
nutzung  des  letzteren  Zeichens  setzte  man  sich  nämlich  nicht  der 
Verwechslung  mit  M,  fiv,  aus,  das  ja  später  allgemein  gerade  die 
form  annahm,  welche  früher  für  g  eigentümlich  gewesen  war.  Vor 
dieser  zeit  mufs  daher  M  mit  der  bedeutung  a  aus  allen  griechischen 
alphabeten  verschwunden  gewesen  sein,  und  es  ist  der  einzige  von 
allen  phönicischen  buchstaben,  den  wir  später  weder  im  alphabete 
noch  in  der  Zahlenreihe  auf  der  alten  stelle  finden. 
g  35  Anders    erging    es    dagegen   dem    15.    phönicischen   buchstaben 


1)  Vgl.  darüber  E.  Brücke,  Gruodz.  d.  Phys.  etc.  2.   Aufl.,  s.   141  ff. 


II.    KAP.      A.    OAS  PHÖMCISCUE  UND  DIE  ALTEN  GRIECHISCHEN  ALPHABETE.      37 

(sämekh).  Wir  finden  ihn  noch  auf  seinem  allen  platze  in  der  form 
EB  in  den  alphabelen  von  Caere  und  Colle;  aber  da  er  in  Wirklichkeit 
ganz  aus  den  inschriften  verschwunden  ist,  die  zu  dieser  gruppe  ge- 
hören, ja  hier  kaum  jemals  als  buchstabe  angewendet  worden  ist,  so 
hat  er  in  jenen  alphabeten  nicht  die  bedeutung  eines  lautzeichens,  son- 
dern nur  die  eines  Zahlzeichens.  Auch  in  den  alphabeten  der  zweiten 
hauptgruppe  wurde  dieses  zeichen  lange  auf  seinem  ursprünglichen 
platze  zwischen  v  und  o  allein  wegen  seines  zahlwertes  bewahrt; 
aber  später  benutzte  man  es  hier  auch  als  wirkliches  lautzeichen, 
indem  man  ihm  die  bedeutung  §  und  den  daran  geknüpften  neuen 
nanien  |t  gab. 

Während  sämekh  somit  niemals,  soweit  wir  zurückblicken  können, 
im  griechischen  als  zeichen  für  den  s-laut  gebraucht  worden  ist,  zeigt 
der  umstand,  dafs  es  später  in  seiner  ursprünglichen  form 
und  an  seiner  ursprünglichen  stelle  (aber  allerdings  mit 
einer  veränderten  bedeutung  als  zeichen  für  eine  lautverbind  ung,  von 
welcher  jedoch  s  den  letzten  bestandteil  bildete)  als  wirklicher  buchstabe 
in  die  eine  gruppe  von  alphabeten  aufgenommen  wurde,  dafs  es  dort 
von  alter  zeit  her  gestanden  haben  mufs,  was  ja  auch  zum  überflufs 
durch  das  aiphabet  von  Caere  bestätigt  wird,  wo  sämekh  nicht  als 
lautzeichen  angewandt  worden  sein  kann,  da  wir  hier  gerade  das 
dieser  gruppe  von  alphabeten  eigentümliche  neue  zeichen  für  ?  hinter 
V  Gnden.  Dafs  sämekh  in  das  altgriechische  aiphabet  mit  den  übrigen 
phönicischen  buchstaben  zusammen  aufgenommen  worden  ist,  kann 
somit  keinem  zweifei  unterworfen  sein.  Aufser  dem  bereits  ange- 
führten haben  wir  noch  einen  beweis  hierfür,  nämlich  den  griechi- 
schen namen  des  s -lautes;  dieser  ist  in  dem  gewöhnlichen  griechi- 
schen alphabete  aiyfia,  und  schon  Herodot  (I,  139)  führt  an,  dafs 
aiyfict  der  ionische  name  für  s  war,  dafs  aber  die  Dorier  diesen 
buchstaben  aäi>  nannten  (jcovto  yQcififiaj  ro  z/cogtseg  (xåy  üdv  xa- 
léovai,  "loopeg  de  oi-yfia).  Von  diesen  namen  geht  aiyfia  unzweifel- 
haft auf  das  phönicische  sämekh  zurück,  während  aäv  phönicisches  sin 
ist;  der  name  des  <;  bei  den  loniern  ist  also  von  dem  alten  sämekh 
hergenommen,  während  das  zeichen  selbst  in  der  ältesten  form 
(M)  vom  phönicischen  säde  ausging,  in  der  jüngeren  (^  ^)  vom  phönici-  s.  36. 
sehen  sin.  Zwar  sind  Franz  und  Gesenius  darin  einig,  dafs  sowohl 
der  name  aiyfia  als  auch  das  zeichen  ^  vom  phönicischen  ^  sämekh, 
und  sowohl  der   name    adf    wie    das    zeichen  M  vom  phönicischen 


38  ERSTES    UUCH.       DER    URSI'UUiNG    DER    RUNENSCHRIFT. 

W  ,  sin  (hei  ihnen  sin)  ausgehe'),  und  dasselbe  wird  nach  Mommsens 
und  KirchholTs  Untersuchungen  von  Lenoiniant  (Revue  archéol.  18G7, 
s.  331  und  tab.  XXII)  wiederholt;  aber  die  moabi tische  inschrill 
zeigt,  dafs  die  ursprüngHche  form  des  sämekh  $  war,  und  daraus 
kann  n u r griechisches I,  $t,  nicht  E,  (riyfia,  entstanden  sein;  das  nioa- 
bilische  sämefrÄ -zeichen  lehrt  uns  zugleich,  dafs  die  älteste  gemein- 
griechische form  für  dieses  zeichen  nicht  mit  Mommsen  (Unterital. 
Dial,  s.  11;  331)  und  Kirchhoff  (Studien^'  s.  73,  123,  130  =^ 
s.  85,  124,  157)  in  dem  zeichen  Q  der  alphabete  von  Caere  und 
Colle  gesellen  werden  darf,  sondern  in  dem  zeichen  für  5t,  $,  das  in 
alten  inschriften  von  Korkyra  und  Miletos  vorkommt;  hieraus  ist 
durch  eine  unbedeutende  Veränderung  I,  das  gewöhnliche  zeichen  für 
5  in  den  inschriften  der  zweiten  hauptgruppe,  gebildet.  Dagegen 
müssen  sowohl  ffl  wie  argivisches  W  als  seltnere  modificationen  des 
ursprünglichen  Zeichens  aufgefafst  werden^). 

Es  ist  somit  klar,  dafs  griechisches  ^  als  zeichen  für  aiyfia  nicht 
aus  dem  altsemitischen  sämeM-zeichen  hervorgegangen  sein  kann ;  dieses 
zeichen  stimmt  durchaus  mit  dem  altgriechischen  zeichen  überein, 
das  sich  an  der  entsprechenden  stelle  im  alphabete  findet,  und  das 
später  als  zeichen  für  ?  gebraucht  wurde.  Die  frage  ist  somit  nur,  wie 
das  älteste  griechische  zeichen  für  den  s-laut,  M,  und  die  zeichen, 
die  es  später  ablösten,  ^  ^,  sich  zu  den  semitischen  zeichen  ver- 
halten; denn  dafs  nicht  blofs,  wie  wir  angenommen  haben,  ^  ^, 
sondern  dafs  auch,  wie  Gesenius,  Franz  und  Lenormant  meinen,  M  der 
form  nach  aus  phönicischem  sin  (w)  hervorgegangen  sein  können, 
läfst  sich  natürlich  nicht  leugnen.  Aber  die  oben  angenommene  ent- 
wicklung,  in  folge  deren  M  von  säde  und  /  ^  von  sin  ausgehen,  wird 
s.  37.  nicht  nur  durch  das  aiphabet  auf  der  galassischen  vase,  sondern  auch 
durch  die  alten  etruskischen  alphabete,  welche  auf  uns  gekommen  sind, 
vollauf  bestätigt;  ihnen  fehlt  nämlich  das  zeichen  an  dem  platze  von 
sämekh ;  aber  wo  das  alphabet  auf  der  vase  die  dem  phönicischen  säde  und 
siH  entsprechenden  zeichen  hat,  finden  wir  grade  in  den  etruskischen  alpha- 
beten  an  der  ersten  stelle  ein  zeichen,  das  dem  griechischen M entspricht, 
und  an  der  andern  die  dem  griechischen  /  ^  entsprechenden  formen  (ge- 


*)  Gesenius,  Scripturse  lioguæque  Phoeniciæ  moDuueDta,  Lipsiæ  1837, 
s.  66;  Franz,  Eleinenta  epigr.  Gr.  s.  16. 

-)  Das  argivische  |  ist  nur  das  ursprüngliche  zeichen,  auf  die  seite  gekehrt; 
gerade  das  entgegengesetzte  verüältnis  tritt  zwischen  dem  gewöhnlichen  grie- 
chischen  ^   und  luoabitischeui  W  zu  tage. 


If.    KAP.       A.    DAS  PUÖNICISCHE  UND  DIE  ALTEN  GRIECHISCHEN  ALPHABETE.     39 

iiaueres  siehe  unten).  Wenn  wir  indessen  in  den  alten  griechischen 
inschriften  immer  /  als  die  ältere  form  antreffen,  die  erst  später  regel- 
mäfsig  durch  ^  verdrängt  wird,  trotzdem  das  letztere  zeichen  dem 
semitischen  w  sin  am  nächsten  liegt,  so  ist  es  ja  keineswegs  ausge- 
macht, dass  /  in  Wirklichkeit  älter  ist  als  ^;  im  gegenteil  müssen  die 
Griechen  sogar,  ehe  ^  in  den  inschriften  mit  der  bedeutung  a  auftritt, 
notwendig  eine  andere  form  dieses  Zeichens  benutzt  haben ;  in  den 
allerältesten  inschriften,  die  noch  M  für  a  gebrauchen,  hat  Iwra 
nämlich  oft  die  alte  form  ^;  damals  kann  sin  {aap)  also  nicht  die- 
selbe form  gehabt  haben,  sondern  muss  entweder  unverändert  so  ge- 
blieben sein  wie  semitisches  w,  oder  die  form  ^  ^  gehabt  haben, 
indem  das  semitische  zeichen  auf  die  seite  gekehrt  wurde  (wie  <f 
äleph  zu  A  A  äX(fa  wurde).  In  der  zeit  wo  M  als  a  verschwindet,, 
wird  auch  das  zeichen  /  für  iwra  von  I  verdrängt,  und  erst  jetzt 
kann  also  w  oder  ^  zu  /  mit  der  bedeutung  a  umgebildet  worden 
sein.  Obgleich  ^  in  jüngeren  inschriften  auftritt  als  ^,  ist  es  also  in 
Wirklichkeit  eine  ältere  form  als  dieses. 

Es  scheint  mir  somit  klar,  dass  wir  uns  bezüglich  der  Schicksale  der 
drei  phönicischen  Zischlaute  im  griechischen  alphabete  folgende  ent- 
wicklung  denken  müssen:  zuerst  nahm  man  alle  drei  zeichen  $  sä- 
mekh,  aiyfia^  M  säde  (dessen  griechischer  name  unbekannt  ist)  und 
^  sin,  adv,  an  ihrer  ursprünglichen  stelle  auf;  aiyfia  und  adv  standen 
eine  zeit  lang  im  alphabete,  weil  sie  als  Zahlzeichen  bedeutung  hatten, 
obwohl  sie  nicht  als  buchstaben  benutzt  wurden,  wohingegen  säde 
das  gewöhnliche  zeichen  für  den  s -laut  war.  Noch  während  dieses 
zeichen  für  s  gebraucht  wurde,  nahm  man  indessen  das  alte  aiyfia  als 
zeichen  für  ?')  auf,  wie  die  inschriften  von  Korinth  und  Korkyra  zeigen; 
aber  der  name  aiyfia  konnte  natürlich  nicht  länger  für  dieses  zeichen  s.  38. 
gebraucht  werden,  das  vielmehr  den  neuen  namen  §1  bekam  (gebildet 
wie  die  namen  (fl,  ylj  xjjt  der  ausschüefslich  griechischen  zeichen). 
Dagegen  wurde  der  name  aiyfia  auf  das  särfe-zeichen  übertragen ;  aber 
da  säde  allmählich  bei  allen  Griechen  von  oäp  verdrängt  wurde,  be- 
hielten nur  die  Dorier  den  ursprünglichen  namen  für  dieses  zeichen, 
wählend  die  lonier  wohl  das  neue  zeichen  aufnahmen,  aber  den  alten 
namen  oiyfia  bewahrten-).     Ich   meine  also,  dafs  wir  folgende  drei 

^)  In  ähnlicher  weise  hatte  man  ja  schon  von  anfan^  an  den  vierten  phö- 
nicischen Zischlaut  zaj'ni  als  zeichen  für  C  angewandt. 

-)  Man  uiuls  sich  wohl  denken,  dafs  A^  aiyfxu  und  ^  ^  aäv  eine  zeit  lang 
durcheinander  als  zeichen  für  a  gebraucht  worden  sind;  das  letzte  zeichen  siegte 
allmählich,  nahm  aber  den  namen  an,  welcher  ursprünglich  dem  r\  zukam. 


40  ERSTES    BUCH.       DE«    UKSl'UUiNU    DEH    UU^ENSCHUIFT. 

entwicklungsslufen  in  der  anweiuhing  dieser  zeichen  in  dem  gewöhn- 
lichen griechischen  ulpliahele  nachweisen  können: 

sämekh  säde         ^n 

I.  ($  Zahlzeichen)  M  (^  Zahlzeichen) 

aiyfia  ?  ady 

II.  $1  M  (^  Zahlzeichen) 

^t  ciy^icc        adv 

III.  $1  -  /^ 

§r  oiyfia 

Trotzdem  die  lonier  also  aap  als  buchstabennamen  nicht  zu- 
sammen mit  dem  zeichen  aufnahmen,  verschwand  dieser  nanie  doch 
nicht  ganz,  wie  es  mit  säde  der  fall  war.  Bei  einer  späteren  Um- 
änderung der  Zahlenreihe  wurde  nämlich  adp^)  als  zeichen  für  900 
zu  allerletzt  im  alphabete  hinter  w  eingesetzt,  da  aiyfia  ja  sowohl  als 
buchstabe  wie  als  Zahlzeichen  auf  dem  früheren  platze  des  aap  stand. 
s.  39.  Dagegen  erhielten  sich  sowohl  ßav  als  xonna  in  der  Zahlenreihe  auf 
ihrem  ursprünglichen  platze,  trolzdem  sie  als  laulzeichen  lange  von 
den  loniern  aufgegeben  worden  waren. 

Die  meisten  alten  griechischen  alphabete.  schliefsen  sich  der  einen 
oder  der  andern  hier  besprochenen  hauptgruppe  an,  je  nachdem  sie 
zur  bezeichnung  des  ?  entweder  das  alte  zeichen  für  phönicisches  sämekh 
an  der  ursprünglichen  stelle  zwischen  p  und  o  benutzen,  oder  das  neue 
griechische  zeichen  +  X  anwenden,  welches  in  den  andern  alpha- 
beten  die  bedeutung  x  hat. 

Nur  einzelne  alphabete  stehen  ganz  oder  zum  teil  aufserhalb  der 
beiden  hauptgruppen;  zur  ersteren  art  gehören  die  alten  Inschriften 
von  Thera  und  iMelos,  welche,  wie  schon  bemerkt,  keine  besonderen 
zeichen  für  |,  (f,  -/^  ^  anwenden,  sondern  diese  lautverbindungen 
durch  xa,  nh,  xh,  na  ausdrücken.  Am  nächsten  schliefst  sich  diesen 
das  aiphabet  von  Kreta  in  der  inschrifl  von  Gortyn  an,  das  die  ge- 
nannten lautverbindungen  durch    xa,    7t,  x,   na  ausdrückt^).      Eine 


^)  Von  seiuer  form  bekam  es  später  deu  nameu  aafxnl,  wie  F  dea  uameo 
Siyafifxa  erhielt.  Die  spätere  form  des  zahlzeicLeus  aafxnl  bin  ich  mit  Mommsen 
(Unterital.  Dial.  s.  14  anm.)  geneigt,  auf  das  alte  s-zeichen  M  säde  zurückzu- 
fUhreu.  So  würden  wir  in  Wirklichkeit  in  den  griechischen  Zahlzeichen  noch 
alle  22  phönicischeu  buchstaben  erhalten  finden. 

2)  Dagegen  kommen  in  jüngeren  Inschriften  von  Melos  (j)  X  (später  auch  J) 
in  der  bedeutung  if.,  x  (I)  vor.  —  In  einer  kleineu  Inschrift  von  Kreta  (Roehl 


II.    KAP.       A.    DAS  PBÖNICISCUE  U>D  DIE  ALTEM  GBIECUISCHEN  ALPHABETE.     41 

besondere  stelliiDg  niDimt  das  attische  alp  habet  ein  (laf.  I,  no.  12), 
indem  es  eigener  zeichen  für  §  und  tp  ermangelt,  die  durch  x^  ""** 
(fo  bezeichnet  werden;  aber  da  es  X  +  in  der  bedeutung  x  gebraucht, 
schliefst  es  sich  zunächst  der  zweiten  hauptgruppe  an*). 

Wir  sind  hiermit  die  entwicklung  der  alten  griechischen  alphabete 
durchgegangen;  die  besonderen  Veränderungen,  denen  einzelne  zeichen 
in  verschiedenen  gegenden  unterworfen  gewesen  sind,  werden  aus  der 
alphabettafel  hervorgehn,  ohne  dafs  wir  weiter  dabei  zu  verweilen 
brauchen.  Diese  örlhchen  eigentümlichkeiten  verschwanden  ja  schnell, 
als  das  ionische  aiphabet  Ol.  94,  2  (403  v.  Chr.)  in  Athen  und 
ungefåhr  gleichzeitig  im  übrigen  Hellas  angenommen  und  dadurch 
zum  allgemeinen  griechischen  aiphabet  erhoben  wurde. 

Das  grundalphabet,  aus  welchem  alle  griechischen  alphabete  her- 
vorgegangen sind,  hat  also  aus  23  zeichen  bestanden,  die  genau  mit 
den  22  phönicischen  übereinstimmen,  nur  mit  der  abweichung,  dafs 
phonicisches  wäw  bei  den  Griechen  zeichen  für  u  wurde,  währenti 
man  für  w  eine  neue,  daraus  abgeleitete  form  bildete,  die  man  an 
den  platz  des  phönicischen  icöic-zeichens  stellte,  wogegen  u  den  23.  s.  JO. 
platz  im  alphabete  bekam.  Nach  dem  Zeugnisse  der  alten  gi'iechischen 
inschriflen  mufs  dieses  griechische  grundalphabet,  in  welchem  die 
Schrift  wie  im  phönicischen  von  rechts  nach  links  ging,  am  ehesten 
folgendes  aussehen  gehabt  haben: 

1  2   3   4   5  6  7  8   9  10  11   12    13   14  15  16  17  18  19  20  21  22  23 

AalA^=lIBe/Hl'(r)^'1$01t^q>1^tY 

Die  hier  angegebenen  formen,  die  alle  in  den  ältesten  Inschriften 
nachgewiesen  werden  können  (mit  ausnähme  von  M,  das  stets  die 
form  M  hat,  und  von  ^,  welches  erst  etwas  später  als  zeichen  für  den 
s-laut  auftritt),  stimmen  fast  durchaus  mit  den  altsemitischen  zeichen 
auf  dem  moabitischen  steine  überein.  Die  einzelnen  abweichungen 
können  zum  gröfsten  teil  als  gleichzeitig  mit  der  aufnähme  des  phö- 
nicischen alphabetes  betrachtet  werden.  Die  hauptabweichung  von 
dem  semitischen  grundalphabet  besteht  darin,  dafs  ß^za  die  form 
S  für  5  angenommen  hat;  doch  darf  9  gewifs  als  das  gemeingriechi- 
sche zeichen  angesehen  werden,  und  J^  in  den  Inschriften  von  Ko- 
rinth und  Korkvra  als  eine   daraus  abgeleitete  offene  form,  die  not- 


no.  474),    die    auf  jeden   fall    nicht  viel  jünger   sein  kann  als  die  Inschrift  von 
Gortyn,  kommt  {gleichfalls  ®   =  <^  vor. 

')  Mit   dem   attischen   aiphabet  stimmen   auch   die    inschriften   von  Ægina 
und  iNasos  überein. 


42         ERSTES  BUCH.   ÜEH  URSPHUNG  ÜER  RUNENSCHRIFT. 

wendig  wurde,  weil  e  dort  die  form  B  angenommen  hatte  ^).  Etwas 
abweichend  vom  j)hönicischen  ist  auch  das  dem  säde  entsprechende 
rdteste  zeichen  für  den  griechischen  s-laut,  M ;  die  ursprüngliche  form 
dieses  Zeichens  ist  gewifs  M  gewesen,  das  also  sehr  verschieden  von 
fiv,  ^,  war,  indem  die  beistrlche  nicht  nur  nach  verschiedenen  seilen 
gingen,  sondern  [jhv  auch  einen  strich  mehr  hatte  als  säde.  Sehr 
früh  wurde  der  rechte  beistrich  am  säde  jedoch  ganz  bis  unten  hin 
verlängert,  M,  und  fiv  nahm  regelmäfsig  die  form  M  (von  rechts 
nach  links)  oder  M  (von  Hnks  nach  rechts)  an,  also  dieselbe  form, 
die  säde  ursprünglich  gehabt  hatte.  Diese  formen  für  a  und  fi  fin- 
den sich  z.  b.  in  den  ältesten  Inschriften  von  Thera^).  Da  M  in  der 
s.  41.  bedeutung  a  verschwand,  nahm  fi  auch  diese  form  an.  —  Endlich 
haben  ein  paar  der  griechischen  zeichen  eine  kleine  Umstellung  (im  ver- 
gleich zu  den  phönicischen)  erfahren ;  dies  gilt  von  äX(pa,  und  das- 
selbe ist  vielleicht  mit  dem  zeichen  der  fall  gewesen,  das  dem  phö- 
nicischen sin  entspricht  (vgl.  oben  s.  39).  Dagegen  ist  es  sehr 
zweifelhaft,  ob  Idußda  im  ältesten  griechischen  alphabete  die  dem 
phönicischen  entsprechende  form  V  gehabt  oder  den  beistrich  oben  ange- 
fügt bekommen  hat  (^);  das  am  gewöhnlichsten  vorkommende  zeichen 
ist  h  /^,  später  A,  während  V  in  Altika,  Böotien  und  den  chalkidischen 
kolonieen  in  Italien  gebraucht  wird;  ab^r  da  es  auf  Euböa  gerade  die 
form  ^  hat,  so  ist  V  in  den  kolonieen  in  Italien  wohl  als  später  wieder 
aus  ^  entstanden  anzusehen.  Hierüber  wage  ich  mich  jedoch  nicht 
bestimmt  auszusprechen  und  habe  daher  in  dem  oben  aufgestellten 
griechischen  grundalphabet  beide  formen  angeführt,  die  vielleicht  so- 
gar die  beislriche  nach  der  entgegengesetzten  seite  gehabt  haben 
dürften  (4,  1),  wie  wir  dies  in  den  inschriflen  linden,  die  von  rechts 
nach  links  laufen.  Sehr  frühzeitig  mufs  nämlich  X  im  griechischen 
nach  derselben  seite  gekehrt  worden  sein  wie  y,  selbst  wenn  sie  ur- 


i)  Dals  die  form  ^  auf  Thera  io  der  ältesten  zeit  gebraucht  wurde,  scheint 
sicher  aus  no.  466  bei  Roehl  geschlossen  werden  zu  können,  obgleich  diese  in- 
schrift  mehrere  Schwierigkeiten  darbietet.  Dagegen  kommt  ß  nicht  in  der  ältesten 
Inschrift  von  M  elos  vor;  aber  da  ein  paar  jüngere  inschriften  (Roehl  no.  414,  429) 
>\  =  ß  neben  ^  =  y  haben,  so  ist  man  berechtigt,  diese  eigentümlich  melische 
ß-iorm  auch  für  die  zeit  der  ältesten  inschrift  anzunehmen.  Eine  andere  alte 
abweichende  /S-form,  C  ist  charakteristisch  für  die  inschriften  von  Faros, 
Thasos,  INaxos  und  Keos. 

-)  Auf  der  alphabettafel  bei  Kirchhoff  (Studien  etc.)  ist  die  fiv-lorva  in  dem 
ältesten  aiphabet  von  Thera  ungenau,  indem  der  rechte  strich  ganz  bis  unten 
hin  verlängert  ist. 


II.    KAP.       B.    ME  ALTEN  ITALISCBEN  ALPHABETE.  43 

spi'ünglich  wie  im  pliönicischen  verschieden  gewandt  gewesen  sind  ^). 
Dadiircli  wurde  die  fdinliclikeit  zwischen  den  heiden  zeichen  oft  sehr 
grols,  und  das  ;'-zeicheu  in  einer  gegend  hat  häufig  dieselhc  form 
wie  das  A-zeicheii  in  einer  andern. 


B.     Die  alten  italischen  alphabete. 

Wenden  wir  uns  nun  nach  Italien,  so  ist  es  einleuchtend,  dafs 
die  alten  italischen  alphabete,  wie  auch  römische  schriftsteiler  be- 
richten-), aus  dem  griechischen,  nicht  unmittelbar  aus  dem  phönici- 
schen,  hervorgegangen  sind.  Um  das  letztere  anzunehmen,  niüfste 
man  nämlich  von  der  höchst  unwahrscheinlichen  Voraussetzung  aus- 
gehen, dafs  die  Griechen  und  die  italischen  Völker  unabhängig  von  s.  42. 
einander  nicht  nur  in  ihren  Veränderungen  der  ursprünglichen  zeichen 
zu  denselben  ergebnissen  gekommen  sein  sollten  (man  vergleiche  z.b. 
phönic.  9  mit  griediisch-italischem  SB  u.  s.  w.),  sondern  auch  durch 
ein  merkwürdiges  zusammentreffen  dieselben  phönicischen  zeichen  zur 
bezeichnung  der  vokale  und  Zischlaute  gewählt  hätten. 

Der  griechische  Ursprung  der  italischen  alphabete  wird  ganz 
zweifellos,  wenn  wir  sehen,  dafs  sie  nicht  blofs  die  aus  dem 
phönicischen  entlehnten  giiechischen  buchstaben,  sondern  auch  die 
speciell  griechischen  zeichen  haben,  die  später  zur  allen  phönicischen 
reihe  hinzugefügt  wurden.  Und  die  anordnung  und  bedeulung,  welche 
diese  zeichen  in  den  alten  italischen  alphabeten  haben,  dient  nicht 
allein  dazu  ihre  abstammung  von  einem  griechischen  alphabete  zu 
bestätigen,  sondern  zeigt  zugleich,  dafs  das  griechische  aiphabet, 
wovon  alle  italischen  alphabete  abstammen,  nach  u  die  zeichen  für 
^}  Vj>  X  gehabt  und  also  der  ersten  .  hauptgruppe  von  griechischen 
alphabeten  angehört  hat,  die  wir  ja  auch  gerade  in  den  chalkidischen 
und  achäischen  kolonieen  in  Italien  fanden. 

Um  die  ursprüngliche  buchstabenordnung  in  den  alten  italischen 
alphabeten  zu  bestimmen,  sind  wir  glücklicherweise  nicht  auf  das  ge- 
wöhnliche lateinische  aiphabet  allein  angewiesen;  auch  von  dem  etrus- 
kischen  aiphabet  sind  uns  nämlich  verschiedene  darstellungen  aus  dem 


^)  Der  unterschied  zwi.scheQ  ~|  y  und  r  A  jl  in  den  ältesten  inschriften  von 
Melos  (von  links  nach  rechts)  ist  zu  vereinzelt,  um  darauf  zu  bauen. 

'-)  Plinius  iXatural.  histor.  (ed.  Sillig)  VH,  193,  210;  Tacitus  Ann.  AI,  14. 
(Mit  den  römischen  Schriftstellern  vgl.  Dionysius  Halicar n.  Antiqq.  Rom. 
I,  33.) 


44         ERSTES  BUCH.   DER  URSPRUNG  ÜER  RUNENSCHRIFT. 

ullertuin  überliefert.  Aufsei*  dem  syllabar ,  das  sich  mit  dem  oben 
behandeileti  griechischen  alphabeL  von  Caere  (und  Colie)  vereinigt 
tindet,  haben  wir  ein  vollständiges  etruskisches  aiphabet  auf  einem 
Ihongeßfse,  das  1845  bei  Bomarzo  (im  distrikt  Viterbo)  ge- 
funden wurde  ^),  und  zwei  andere  gleichfalls  vollständige  alphabete  auf 
ein  paar  n  olanischen  schalen  (jetzt  im  inuseo  Borbonico  in  Neapel)^), 
s.  43.  Endlich  hat  Gamurrini  in  neuerer  zeit  in  einem  grabe  in  Clusium 
drei  etruskische,  auf  zwei  tufsteinen  eingeritzte  alphabete  entdeckt^). 
Nach  dem  bisher  vorliegenden  material  zerfallen  alle 
italischen  alphabete  in  zwei  haup tgruppen.  Die  erste 
gruppe  hat  zu  der  ursprüngHchen  griechischen  reihe  ein  neues  zeichen 
$  8  *"'■  ^6"  laut /■  gefügt,  da  griechisches  cp  zu  fern  gelegen  haben  mufs, 
um  diesen  laut  auszudrücken.  Aufserdem  finden  wir  in  den  alpha- 
belen  aus  dieser  gruppe  die  beiden  dem  phönicischen  säde  und  sin 
entsprechenden  formen  des  Zischlautes,  die  wir  aus  den  alten  griechi- 
schen alphabeten  kennen,  aber  kein  zeichen  an  der  stelle  des  sämekh. 
Von  den  beiden  gaumenlauten  >l  (kaph,  xariTta)  und  ?  {qöph,  xÖTina) 
ist  nur  der  erste  bekannt.  Dies  stimmt  genau  mit  dem  griechischen 
alphabete  auf  der  galassischen  vase,  welchem  das  xönjia  fehlt,  und 
wo  Q,  wie  wir  oben  gesehen  haben,  wohl  an  der  stelle  des  sämekh 
steht,  aber  keine  bedeutung  als  laulzeichen  gehabt  haben  kann.  Da 
nun  dieses  griechische  aiphabet  in  Etrurien  mit  einem  etruskischen 
syllabar  und  etruskischen  inschriften  zusammen  gefunden  ist,  so 
haben  wir  hier  ohne  zweifei  gerade  das  grundalp  habet  (in  einer 
etwas  modificierten  form)  sowohl  für  das  gewöhnliche  etruskische  wie 
auch  für  die  andern  italischen  alphabete  dieser  gruppe.  Allen  diesen 
alphabelen  gemeinsam  und  abweichend  von  dem  griechischen  auf 
der  vase  ist  auch,  dafs  sie  nicht  das  griechische  X  (§)  als  laulzeichen*) 

1)  Bekauut  gemacht  von  P.  Secchi  im  Bulletino  dell'  iustituto  dl  corri- 
spondeuza  archeologica  1846,  s.  7;  Mommsen,  Uuterital.  Dial.  tab.  I,  no.  13 
(vgl.  ibid.  s.  3ü'.);  G.  Conestabile  in  der  Revue  archeoi.  IV,  1S61,  s.  446; 
Fahre tti,  Corpus  inscr.  Ital.  no.  2436  a— c  (s.  CCIX  und  tab.  XLIII). 

-)  C.  R.  Lepsius,  loscriptiones  Umbricæ  et  Oscæ  quotquot  adhuc  repertæ 
sunt  omues,  Lipsiæ  1841,  tab.  XXVI,  no.  33  und  34;  Mommsen,  I.  c.  tah.  I, 
no.   14  und   15;  Fahretti,  I.  c.  no.  2766—67  (s.  CGLI  und  tab.  XLIX). 

3)  G.  F.  Gamurrini,  Alfabeti  etruschi  di  Chiusi  in  den  Annali  dell'  instit. 
di  corrisp.  archeoi.  1871,  s.  156  ff.  mit  tab.  L.  Vgl.  Mommsen  in  der  Ephe- 
meris  epigraphica,  corporis  inscriptionum  Latiuarum  suppiementum,  Fasciculus 
tertius,  1872,  s.  220—21. 

*)  Als  zahlzeicbea  gebraucht  das  etruskische  dagegen  X  +  in  der 
bedeutung  10. 


ri.    KAP.       B.    DIE  ALTEN  ITALISCHEN  ALPHABETE.  45 

gebrauchen,  und  dafs  sie  so  gut  wie  ohne  ausnähme  von  rechts  nach 
links  geschrieben  werden.     Hierher  gehören: 

1)  Das  gewöhnliche  etru  skische  aiphabet  auf  dem  thon- 
gefäfse  von  ßomarzo  (taf.  II,  no.  2),  womit  die  campanisch-etruskischen 
alphabete,  die  sich  auf  zwei  nolanischen  schalen  eingekratzt  finden 
(taf.  II,  no.  3 — 4),  in  allem  wesenlUchen  übereinstimmen,  während  s.  44. 
die  clusinischen  (taf.  II,  no.  5)  eine  einzelne  gröfsere  abweichung  auf- 
weisen*). 

Das  aiphabet  von  Bomarzo  hat  19  der  griechischen  buchstaben 
von  der  galassischen  vase  bewahrt  und  hinter  denselben  $  hinzuge- 
fügt; dagegen  hat  es  die  griechischen  zeichen  für  o,  ß,  d  und  x  auf- 
gegeben. Das  letztere  findet  sich  jedoch  noch  ab  und  zu  in  den 
ältesten  etruskischen  inschriften  (taf.  II,  no.  6)^),  wird  aber  später 
durch  D  ersetzt,  welches  daher  in  dem  ersten  aiphabet  vonNola  so- 
wohl an  seiner  eigenen  stelle,  wie  an  der  von  k  vorkommt,  während 
die  andern  alphabete  auf  diesem  platze  kein  zeichen  besitzen,  mit  aus- 
nähme der  clusinischen,  die  gerade  umgekehrt  K,  aber  kein  C  haben''). 
Im  übrigen  stimmt  das  erste  der  nolanischen  alphabete  in  der  an- 
zahl  und  form  der  zeichen  bis  auf  ein  paar  unwesentliche  abweichungen 
fast  genau  mit  dem  aiphabet  von  Bomarzo  überein;  das  zeichen  für 
r  ist  zweimal  geschrieben,  aber  die  erste  verunglückte  form  durch 
einen  kleinen  strich  oben  wieder  getilgt  *).     Das  andere  aiphabet  ent- s.  45. 


^)  Keines  der  alphabete  von  Ciasiam  ist  noch  vollständig;  indessen  ergänzen 
sich  die  beiden  alphabete  anf  dem  einen  stein  gegenseitig,  indem  das  eine  von 
a  bis  t  und  das  andere  von  k  bis  zom  schlnfs  geht,  wogegen  sein  anfang  ganz 
undeutlich  geworden  ist.  Mit  hülfe  hiervon  haben  wir  das  aiphabet  auf  taf.  11 
aufgestellt;  nur  ist  dort  die  Veränderung  vorgenommen,  dafs  u  vor  q  gestellt 
ist,  während  diese  bnchstaben  in  der  inschrift  selbst  in  der  umgekehrten  reihen- 
folge  stehen  (das  erste  aiphabet  hat  hinter  p  nur  die  drei  zeichen  fur  (f,  r,  t) ; 
in  dem  aiphabet  auf  dem  andern  steine  ist  die  anordnnng  dagegen  zweifel- 
haft, da  die  nach  p  folgenden  bnchstaben  fast  verschwunden  sind.  Im  gegensatz 
zu  den  nolanischen  alphabeten  und  dem  aiphabet  von  Bomarzo  laufen  alle  clu- 
sinischen von  links  nach  rechts;  nur  /  wird  in  dem  einen  aiphabet  durch  ■\ 
(aber  in  den  beiden  andern  durch  V)  ausgedrückt. 

-)  Vgl.  Mommseo;  Unterital.  Dial.  s.  18;  G.  Conestabile,  Iscrizioni 
etrusche  e  etrusco-latine,  Firenze  1858,  s.  XCIV. 

^)  K  findet  sich  in  allen  drei  alphabeteo,  ond  den  beiden,  deren  anfang  be- 
wahrt ist,  fehlt  C. 

'*)  Nach  dem  platze  dieses  Zeichens  im  aiphabet  läge  es  unlängbar  nahe, 
es  für  7  (xottttk)  zu  nehmen;  da  aber  sowohl  die  form  wie  auch  andere  gründe, 
die    unten    genauer    entwickelt    werden    sollen,    dieses   höchst  unwahrscheinlich 


46         ERSTES  BUCH.   DER  URSPRUNG  HER  RUNENSCHRIFT. 

hält  dagegen  mehrere  ahweichungen,  welche  zum  teil  auf  Unachtsam- 
keit heruhen ;  so  fehlen  die  zeichen  für  h,  r  und  t,  und  ein  paar 
buchstahen  haben  abweichende  formen,  die  sonst  nicht  nachgewiesen 
werden  können^);  aber  doch  ist  dieses  aiphabet  von  grofser  Wichtig- 
keit, um  ein  paar  eigentümlichkeiten  bei  dem  syllabar  von  Caere  zu  er- 
klären, mit  hülfe  dessen  wir  ein  fünftes  etruskisches  aiphabet  auf- 
stellen können  (taf.  II,  no.  1),  dessen  buchstabenformen  so  gut  wie 
gänzlich  mit  den  griechischen  auf  derselben  vase  übereinstimmen'^). 
Es  kann  kaum  einem  zweifei  unterliegen,  dafs  dieses  syllabar  mit 
Mommsen  und  Kirchhoff  in  folgender  Ordnung  gelesen  werden  mufs: 


Cl 

ca 

cu 

ce 

wi 

wa 

WH 

we 

zi 

za 

ZU 

ze 

hi 

ha 

hu 

he 

^i 

O^a 

^u 

i^e 

nii 

ma 

mu 

me 

ni 

na 

nu 

ne 

pi 

pa 

pu 

pe 

ri 

ra 

ru 

re 

si 

sa 

SU 

se 

ti 

ta 

tu 

it)e 

Xi 

%a 

XU 

X« 

9i 

?a 

9u 

9e 

Hier  haben  wir  also  13  konsonanten,   von  denen  jeder  mit  den 

4  etruskischen  vokalen  verbunden  ist;    aber  während  diese  letzteren 

nicht  in  der  reihenfolge  stehen,   die  sie  im  aiphabet  einnehmen  (was 

auch    nicht    in    dem  syllabarbruchstück  von  Colle  der  fall  ist,    das 

s.  46.  nur:  ma  mi  me  mu  na  n hat^)),  folgen  die  vokale  in  der  ge- 


machen, so  glaube  ich  mit  Mommseii  (Uuterital.  Dial.  s.  7),  dafs  es  cia  r  ist, 
welches  wieder  ausgelöscht  wurde  (vgl.  den  auf  me  folgenden  teil  eines  n  und 
das  erste  pi  im  syllabar  von  Caere). 

1)  Das  zeichen  für  u  ist  fast  mit  l  gleich  geworden,  und  i  hat  die  form  I 
statt  I  (vgl.  den  umgekehrten  fehler  im  aiphabet  von  Colle;  siehe  oben  s.  30 
anm.   1). 

^)  Dem  ^  im  griechischen  alphiibete  entspricht  ^  im  syllabar,  und  dessen  r 
ist  nach  der  andern  seite  gewendet,  ohne  zweifei  um  es  besser  von  p  zu  unter- 
scheiden, das  im  syllabar  unmittelbar  vorhergeht. 

3)  Dafs  die  alte  Zeichnung  hinter  dem  zweiten  n  A  O  hat,  beruht  unzweifel- 
haft auf  einer  unrichtigen  wiedergäbe  der  Inschrift;  O  mufste  im  etruskischen 
it  bedeuten,  das  indessen  im  griechischen  aiphabet  die  form  ©  hat,  während  O 


II.    KAP.       B.    DIE  ALTEN  ITALISCHEIS  ALPHABETE.  47 

wohnlichen  anordnung.  Wir  finden  also  übereinstimmend  mit  andeni 
etruskischen  alphabeten  folgende  buchstaben  aus  dem  griechischen 
aiphabet  in  dem  alphabete  des  syllabars  fortgelassen:  den  vokal  o  und 
die  konsonanten  b,  d,  k;  aber  aufserdem  fehlt  l  und  der  Zischlaut 
zwischen  p  und  r  nebst  (f,  während  wir  hinter  x  das  zeichen  ? 
finden,  das  in  dem  griechischen  alphabete  nicht  vorkommt.  Diese 
auslassungen  erklärt  Mommsen  (Unterital.  Dial.  s.  17)  daraus,  dafs 
die  Etrusker  in  der  regel  (p  nur  in  griechischen  Wörtern  gebrauch- 
ten, und  dafs  /  sowie  der  Zischlaut  zwischen  p  und  r  keine  konso- 
nanten, sondern  halbvokale  waren.  Da  der  beweis  dafür,  dafs  die  beiden 
letzteren  buchstaben  im  etruskischen  halbvokale  waren,  sich  indessen 
nur  auf  deren  auslassung  hier  im  alphabete  stützt,  so  ist  Mommsens 
erklärung  unbeweisbar  und  zugleich  höchst  unwahrscheinlich,  wes- 
wegen auch  Kirchhoff  annimmt,  dafs  beide  zeichen  nur  durch  reine 
vergefslichkeit  im  syllabar  ausgelassen  sind.  Dies  wäre  ja  ebenso- 
wohl hier  wie  in  dem  andern  nolanischen  alphabete  möglich,  wo  wir 
gleichfalls  mehrere  zeichen  vergessen  finden;  aber  ich  nehme  doch 
nur  in  bezug  auf  l  an,  dafs  es  durch  ein  vergessen  ausgelassen  sei; 
gerade  wo  die  reihe  mit  m  endet,  ist  ja  etwas  bei  den  zeichen  ge- 
stümpert, und  es  ist  da  leicht  denkbar,  dafs  auch  die  reihe  mit  /, 
die  vorangehen  sollte,  vergessen  worden  ist.  Dagegen  kann  ich  be- 
züglich der  auslassung  des  einen  s-lautes  weder  mit  Mommsen  noch 
mit  Kirchhofl"  übereinstimmen ;  sondern  ich  linde  die  erklärung  zu  dieser 
auslassung  in  dem  zweiten  nolanischen  aiphabet,  wo  gerade  an  der 
stelle  dieses  s-lautes  nicht  dessen  gevvöhnUches  zeichen  (M)  sondern 
I  d.  i.  s  steht,  das  somit  an  zwei  stellen  auftritt,  wie  D  in  dem 
ersten  nolanischen  aiphabet.  Das  zeichen  M  für  den  Zischlaut  ist  im 
etruskischen  alphabete  vorhanden  gewesen  und  wird  in  den  inschriften 
gebraucht,  aber  der  laut  ist  nicht  von  z  (oder  dem  andern  s-laut  s.  47. 
wie  im  umbrischen;  siehe  unten)  verschieden  gewesen,  und  daher  ist 
es  absichtlich  in  dem  syllabar  ausgelassen*).  Gleichfalls  ist  (f  ausge- 
lassen, weil  es  nicht  einen  eigentümlichen  etruskischen  laut  bezeich- 


dort  das  gewöhDÜche  zeichen  für  o  ist.  An  stelle  von  /\  O  hat  das  syllabar 
gewils  ein  undentliches  >^|  (in)  gehabt,  wonach  der  schlals  verschwunden  war. 
^)  Von  den  closinischen  alphabeten  läl'st  das  einzige,  das  am  schlösse  voll- 
ständig ist,  umgekehrt  das  ^-zeichen  vor  t  aus,  da  man  kaum  den  kleinen  strich, 
der  sich  auf  der  Zeichnung  hinter  r  findet,  als  rest  von  ^  oder  ^  aulTassen  darf 
(in  dem  ersten  aiphabet  fehlen  beide  «-zeichen,  während  das  dritte  wegen 
undeutlichkeit  keiue  aufklärung  gibt;  vgl.  oben  s.  45  anm.  1). 


48         ERSTES  BUCH.   DER  URSPRUNG  DER  RUNENSCHRIFT. 

nete,  sondern  nur  in  fremdwörtern  gebraucht  wurde,  und  auch  hier 
gibt  uns  das  zweite  nolanische  aiphabet  die  erkhlrung,  indem  es  an 
stelle  von  (f  ^  d.  h.  das  zeichen  für  to  hat,  das  also  gleichfalls  an 
zwei  stellen  in  diesem  aiphabet  auftritt.  Es  bleibt  somit  nur  noch 
die  bedeutung  des  Zeichens  ?  in  dem  syllabar  zu  besprechen.  In  der 
äufseren  form  stimmt  es  ganz  mit  dem  griechischen  xönna  ühcrein; 
aber  da  dieses  zeichen  im  griechischen  aiphabet  vor  q,  nicht  wie 
hier  im  syllabar  hinter  %  steht,  da  die  ursprüngliche  reihenfolge  der 
konsonanten  sonst  an  keiner  stelle  im  syllabar  durchbrochen  ist,  und 
da  ?  in  dem  griechischen  aiphabet  auf  der  vase  fehlt,  so  kann  ich 
keineswegs  Kirchhofl  darin  beistimmen,  ihm  dieselbe  bedeutung 
wie  dem  gewöhnlichen  griechischen  ?  zuzuerteilen.  Es  ist  unzweifel- 
haft sowohl  hier  im  syllabar  wie  in  einzelnen  der  ältesten  elruskischen 
Inschriften,  wo  es  ebenfalls  nachgewiesen  werden  kann'),  nur  eine 
andere  form  für  das  gewöhnhche  etruskische  $  8»  tlas  neue  zeichen 
für  den  /"-laut,  das  ja  gerade  in  den  andern  alphabeten  gleichwie  im 
syllabar  die  letzte  stelle  hinter  griechischem  /  einnimmt^).  Vielleicht 
48.  ist  dann  das  zeichen  für  xönna  gerade  in  dem  griechischen  aiphabet 
auf  der  vase  ausgelassen,  weil  es  in  der  äufseren  form  mit  diesem 
in  der  bedeutung  ganz  verschiedenen  elruskischen  zeichen  zusammen 
fallen  würde;  jedoch  ist  dies  ja  nur  eine  vermutung,  deren  richtig- 
keit  zu  beweisen  unmöglich  ist.  Aber  gerade  weil  griechisches  xönna 
im  etruskischen  aufgegeben  war,  konnte  das  /"-zeichen  (8)  die  form 
?  bekommen,  wie  ^  im  aiphabet  von  ßomarzo  und  sonst  allgemein 
die  form  O  erhalten  hat,  weil  griechisches  o  im  etruskischen  aufge- 
geben war. 

Die  folgenden  alphabete  dieser  gruppe  kennen  wir  nur  aus  In- 
schriften, und  ihre  buchstabenordnung  mufs  deshalb  mit  hülfe  der 
hier  behandeilen  etruskischen  alphabete  (und  des  griechischen  alpha- 
betes  auf  der  vase  von  Caere)  bestimmt  werden,  nämlich: 


')  Mo  mm  sen,  Unterital.  Dial.  s.  17  f. 

2)  A.  Noel  des  Vergers,  der  übrigens  gtaabt,  dafs  die  etruskische  scbrift 
unmittelbar  aus  der  phönicischen  hervorgegangen  ist,  betrachtet  wie  Kirchboir 
das  in  einzelnen  der  ältesten  inscbriften  vorkommende  9  «"Is  zeichen  für  q 
(L'Étrurie  et  les  Étrusques,  Paris  1862—64,  Tome  III  fol.  pl.  XL).  Es  wiire 
ja  höchst  merkwürdig  —  wenn  nicht  geradezu  unmöglich  (vgl.  z.  b.  das  falis- 
kische  unten)  — ,  dal's  das  etruskische  eine  zeit  lang  beide  zeichen  >|  und  9 
für  den  gaumenlaut  A;  bewahrt  und  sie  dann  beide  zugleich  aufgegeben  haben 
sollte.  Hierzu  kommt,  dafs  beide  zeichen  in  derselben  inschrift  zu  finden  sind, 
und  dafs  9  ^^  ^"ch  vor  andern  vokalen  als  u  gebraucht  werden  kann. 


II.    KAP.       B.    OIE    ALTEN    ITALISCHEN    ALPHABETE.  49 

2)  Das  nordetruskische  aiphabet  in  einer  anzahl  Inschriften, 
die  nördlich  von  den  Apenninen,  namentlich  in  Oberitalien  und  dem 
alten  Rätien  gefunden  sind,  und  die  Th.  Mo  mm  sen  zuerst  gesam- 
melt und  sorgfältig  untersucht  hat*).  Die  Verwandtschaft  zwischen 
den  alphabeten  in  diesen  inschriften  und  dem  gewöhnlichen  etrus- 
kischen  aiphabet  ist  augenscheinlich;  aber  da  die  deutung  der  in- 
schriften, welche  offenbar  verschiedenen  sprachen  angehören,  be- 
züglich der  meisten  als  noch  nicht  einmal  angefangen  bezeichnet 
werden  kann-),  so  ist  es  nur  mit  hülfe  der  bekannten  italischen  s.  49. 
(namentlich  etruskischen)  alphabete  möglich,  die  bedeutung  der  ein- 
zelnen zeichen  zu  bestimmen.  Hieraus  geht  nun  folgendes  hervor: 
die  zeichen  für  b  und  d  fehlen  wie  im  gewöhnlichen  etruskischen; 
aber  während  dieses  von  den  zeichen  D  ig)  und  >|  (k)  regelmäfsig 
«las  erstere  wählte,  hat  das  nordetruskische  umgekehrt  i>  aufgegeben 
und  >)  behalten^).     Auch  q  fehlt,    und  für  den  Zischlaut  Gnden  sich 


^)  Die  nordetrnskischea  Alphabete  aof  lascbriften  nad  Miiazeo ,  von  Th. 
Moinmsen  ia  den  Mittheilaogen  der  Aatiqaarischen  Gesellschaft  in  Zürich,  VII. 
Band,  Zürich  1S53,  s.  199  ff.  (mit  3  tafeln).  Vgl.  Fabretti,  Corpus  inscr.  Ital. 
s.  III — VIII  und  tab.  I— VI  samt  tab.  LVIII  und  s.  2033 — 34,  wo  verschiedene  neue 
inschriften  hinzugekommen  sind,  denen  noch  die  1S71  bei  Trevisio  im  Veltlin 
gefundene  Inschrift  beigefügt  werden  kann  (Bulletino  dell'  instit.  di  corrispond. 
archeol.  1S7I,  s.  214 — 19;  vgl.  Anzeiger  für  Schweizerische  Alterthumskunde, 
Januar  1872,  Zürich,  s.  306 — 7  und  tab.  XXIV  no.  8). 

-)  Nach  dem  erscheinen  von  Mommsens  abhandlung  ist  es  jedoch  gegluckt  mit 
Sicherheit  nachzuweisen,  dafs  mindestens  einzelne  der  inschriften  in  dem  „west- 
etruskischen"  aiphabet  (von  links  nach  rechts  and  mit  bewahrung  sowohl  des 
0  wie  des  u)  gallische  sind. 

■*)  Zwar  behauptet  W.  Corssen  mit  vollkommener  Sicherheit,  dafs  das  nord- 
etruskische gerade  im  gegensatze  zum  gewöhnlichen  etruskischen  alle  drei  „me- 
diae"  b,  g,  d  bewahrt  habe  (siehe  seinen  artikel  „Alphabet"  in  Paulys  Real- 
Encyclopädie  I,  2.  Aufl.,  Stuttgart  1864,  s.  802  und  „Über  Aussprache,  Vokalis- 
mns  und  Betonung  der  lateinischen  Sprache"  I,  2.  Ausg.,  Leipzig  1868,  s.  2). 
Diese  behauptung  ist  jedoch  ganz  unbegründet,  da  sie  sich  nur  auf  die  Inschrift 
von  Limone  am  Gardasee  (Mommsen  tab.  II  no.  17;  Fabretti  tab.  I  no.  13) 
und  vielleicht  auf  ein  sehr  unsicheres  zeichen  in  einer  andern  Inschrift  (Mommsen 
tab.  II  no.  25,  Fabretti  tab.  IV  no.  33)  stützen  kann;  aber  von  der  Limoner 
Inschrift,  deren  spräche  unzweifelhaft  gallisch  ist,  und  deren  aiphabet  eine  ganz 
eigentümliche  Stellung  einnimmt,  indem  die  drei  ersten  zeilen  mit  rein  latei- 
nischen buchstaben  geschrieben  sind,  während  die  drei  letzten  eine  mischung 
von  lateinischen  und  fremden  zeichen  enthalten,  die  sich  nur  zum  teil  in  den 
übrigen  „nordetruskischen"  inschriften  wieder6nden,  ist  man  natürlich  keineswegs 
berechtigt  Schlüsse  zu  ziehen,  die  von  dem  nordetruskischen  alphabete  im  allge- 
meinen gelten.  Im  gegenteil  zeigen  die  gallischen  inschriften,  die  ausschliefslich 
WIMMER,  Die  runenechrift.  4 


50  ERSTES    BUCH.       DER    URSPRUNG    DER    RI'ISENSOHRIFT. 

beide  zeichen  M  und  ^.  Die  abweichungen  vom  gewöhnlichen  elriis- 
kischen  bestehen  wesentlich  darin,  dafs  wir  den  vokal  o  zugleich  mit 
M  bewahrt  finden  —  in  der  regel  (ausgenommen  in  den  gallischen 
inschriften)  jedoch  nur  das  eine  dieser  zeichen,  indem  man  in  ver- 
8.50.  schiedenen  gegenden  entweder  o  oder  m  aufgab  -  ,  und  dafs  das 
neue  etruskische  zeichen  $  ß  ff"*  A  welches  sonst  eben  filr  diese 
gruppe  der  itahschen  alphabete  charakteristisch  ist,  fehlt,  auf  jeden 
fall  in  dieser  form.  Ich  halte  es  nämlich  für  sehr  zweifelhaft,  ob 
die  zuweilen  vorkommenden  zeichen  ?')  T^)  wirklich,  wie  Mommsen 
und  andere  nach  ihm  meinen,  ^  und  nicht  eher  f  bedeuten,  wie 
wir  bezüglich  des  ?  in  dem  syllabar  auf  der  vase  von  Caere  an- 
nahmen. Das  zeichen  für  z  kommt  in  ein  paar  inschriften  in  der 
form  4i  /R  vor,  die  natürlich  aus  ^j:  entstanden  ist,  das  sich  in  keiner 
der  bisher  bekannten   nordetruskischen    inschriften  nachweisen  läfst. 


„nordetruskische"  schrift  gebrauchen,  dals  die  Gallier  die  etruskischeu  zeichen 
HlX  sowohl  in  der  bedeutung  Je,  p,  t  wie  g;  b,  d  aufnahmen.  Dies  ging  schon 
ans  der  zweisprachigen  inschrift  von  Tod  i  (Mommsen  in  Hoefers  Zeitschrift 
für  die  Wissenschaft  der  Sprache  I,  1846,  s.  394  ff.;  Fabretti  tab.  XXI  no.  86; 
W.  Stokes  in  den  Beiträgen  zur  vergl.  Sprachforschung  III,  1863,  s.  65  ff.,  J. 
Becker  ibid.  s.  170  f.  und  öfter.s)  hei-vor  und  ist  weiter  durch  die  später  gefundene 
inschrift  von  Novaria  (Fabretti  tab.  V  no.  41  bis;  G.  Flechia,  di  un'  iscrizione 
celtica  trovata  nel  JNovarese,  Torino  1864;  vgl.  H.  Ebel  in  den  Beiträgen  zur 
vergl.  Sprachforschung  IV,  1865,  s.  486—89)  bestätigt  worden.  [Was  Corssen  später 
in  seinem  grofsen  w  erke  „Über  die  Sprache  der  Etrusker"  I — II,  Leipzig  1874 — 75 
für  das  Verständnis  der  nordetruskischen  inschriften  geleistet,  hat  die  vielen 
schwierigen  fragen  der  lösung  nicht  näher  gebracht.  Überhaupt  betrachte  ich 
im  gegensatze  zu  S.  Bugge  (Jenaer  Literaturzeitung  1875,  s.  287)  den  abschnitt 
über  nordetruskisch  in  Corssens  erstem  bande  als  einen  der  unglücklichsten  in 
dem  im  ganzen  verfehlten  buche.] 

^)  So  mufs  dieses  zeichen,  das  3  mal  io  der  inschrift  von  Verona  (Mommsen 
tab.  II  DO.  19,  Fabretti  tab.  II  no.  14)  vorkommt,  wiedergegeben  werden,  nicht 
mit  Mommsen  und  Fabretti  in  ihren  alphabettafeln  als  <p. 

'^)  Mommsen  tab.  1  no.  12,  Fabretti  tab.  VI  no.  59.  Dasselbe  zeichen  findet 
sich  gewils  auch  bei  Mommsen  tab.  II  no.  14,  Fabretti  tab.  II  no.  22,  —  Die- 
jenigen, welche  annehmen,  dafs  i  im  etruskischeu  q  bezeichne,  werden  wohl  am 
ehesten  diese  „nordetruskischen"  zeichen  ebenso  auffassen.  Aufserdem  ist  ja  die 
möglichkeit  vorhanden,  dafs  mindestens  x  geradezu  dem  griechischen  ip  entspricht. 
Jedenfalls  liegt  es  am  nächsten,  diese  bedeutung  dem  ^  in  der  inschrift  von 
Trient  (Mommsen  tab.  I  no.  11,  Fabretti  tab.  I  no.  12)  zuzuerteilen,  das  von 
Mommsen  gleichfalls  als  9^  aufgefafst  wird.  Auch  kann  ich  dem  T  auf  dem 
helme  aus  Steiermark  (Mommsen  tab.  I  no.  12,  Fabretti  tab.  VI  no.  59)  nicht 
mit  Mommsen  die  bedeutung  ^  geben;  es  ist  eher,  wie  in  der  inschrift  von 
Vadena  (Fabretti  tab.  II  bo.  24),  eine  andere  form  für  i    =  ;|f. 


II.    KAP.       B.    DIE    ALTEN    ITALISCHEN    ALPHABETE.  51 

Dafs  (las  ausnahmsweise  auftretende  M  eine  andere  form  des  Zisch- 
lautes M  wie  in  dem  einen  aiphabet  von  Nola  ist,  darf  als  sicher 
angesehen  werden.  Auf  taf.  II,  no.  7  habe  ich  nach  den  inschriften 
das  „nordetruskische''  aiphabet  zusammengestellt  und  durch  frage- 
zeichen  meine  zweifei  bezüglich  der  bedeutung  einzelner  zeichen  zu 
erkennen  gegeben. 

3)  Das    umbrische   aiphabet  auf  den   tafeln    von   Iguvium 

und  einzelnen  andern  denkmälern^)  ermangelt  wie  das  gewöhnliche  «•  51. 
etruskische  des  o  und  d;  aber  im  gegensatz  zu  diesem  hat  das  um- 
brische von  den  zeichen  3  und  H  das  5  aufgegeben  und  H  bewahrt, 
wie  die  alphabete  von  Clusium  und  das  „nordetruskische".  Die  grie- 
chischen aspiraten  (f  und  x  fehlen  ganz,  und  auch  das  zeichen  für 
i>  kommt  nur  ein  paar  mal  und  in  derselben  bedeutung  wie  das 
gewöhnliche  /  vor.  Gleichfalls  istMselten  und  steht  gleichbedeutend 
mit  dem  gewöhnlichen  2.  Eine  eigentümliche  runde  form,  die  jedoch 
auch  in  etruskischen  inschriften  vorkommt,  hat  h  angenommen,  wo- 
gegen A  für  m  nifr  auf  der  einen  tafel  gebraucht  wird;  es  ist  wohl 
eine  abgekürzte  form  des  gewöhnlichen  Zeichens.  Endlich  hat  das  um- 
brische zwei  neue  zeichen  hinzugefügt,  nämhch  S,  um  einen  laut 
zwischen  r  und  s  zu  bezeichnen,  der  in  lateinischer  schrift  durch  rs 
ausgedrückt  wird,  und  d,  um  einen  aus  k  hervorgegangenen  „pala- 
talen"  laut  (wie  indisches  f)  wiederzugeben,  in  lateinischer  schrift 
durch  s  mit  einem  kleinen  haken  vorn  (S)  ausgedrückt.  Von  diesen 
beiden  zeichen,  deren  platz  im  alphabete  natürlich  zweifelhaft  ist, 
scheint  das  letzlere  willkürlich  erfunden  zu  sein,  wogegen  *1  die  eine 
der  im  etruskischen  vorkommenden  r-formen  (0,  S)  ist,  die  hier  ge- 
braucht wird,  um  einen  von  dem  gewöhnlichen  r  (Q)  etwas  ver- 
schiedenen, aber  damit  verwandten  laut  zu  bezeichnen  (taf.  II,  no.8). 

4)  Das  oskische  aiphabet  in  den  inschriften  von  Abella, 
Agnone  und  mehreren  andern  ■')  ermangelt  des  o  wie  das  etruskische 
und  umbrische,  hat  aber  alle  drei  „mediae"  b,  g,  d  bewahrt,  —  die 
beiden  ersten  in  den  gewöhnlichen  formen  8,  ^ .  während  d  die 
eigentümliche   gestalt    ^   bekommen   hat,    welche  dadurch   veranlafst 


^)  C.  R.  Lepsias,  Inscriptiones  Umbricæ  et  Oscae,  tab.  I — XX,  XXIX; 
S.  Th.  Aufrecht  n.  A.  Kirchhoff,  Die  ümbrischen  Sprachdeükmäler,  I — 11, 
Berlio  1849—51;  Fabretti,  Corpus  inser.  lUl,  s.  IX  ff.  und  tab.  VI  bis— XXI. 

'-)  Lepsias,  loser.  Umbr.  et  Oscæ,  tab.  XXI — XXVIII,  XXX;  M  om  ms  en, 
Unterital.  Dial.  tab.  V— XII;  Fabretti,  Corpus  ioscr.  Ital.  tab.  XLVIII— LV, 
wo  einzelne  später  entdeckte  inschrifles  mitaufgeoommeD  sind. 

4* 


52  ERSTES   BUCH.       DER    URSPRUNG    DER    RUNENSCHRIFT. 

wurde,  dafs  das  ursprüngliche  zeichen  für  r  (9)  wie  im  etruskischen 
s.  52.  und  umhrischen  die  form  0  annahm,  also  mit  der  ursprünglichen 
d-form  zusammenfiel').  Dagegen  sind  sowohl  v^  wie  der  Zischlaut  M, 
die  beide  auch  nur  ausnahmsweise  im  umhrischen  vorkommen,  auf- 
gegeben. Endlich  hat  das  oskische  zwei  neue  vokalzeichen  gebildet, 
nämlich  h,  um  einen  zwischenlaut  zwischen  i  und  e  zu  bezeichnen, 
und  V,  um  o  zu  bezeichnen  (anstatt  des  ursprünglichen,  frühzeitig  auf- 
gegebenen Zeichens  für  diesen  laut).  Diese  zeichen,  die  deutlich  aus 
I  (i)  und  V  (m)  gebildet  sind,  haben  wohl  ihren  platz  im  alphabele 
hinter  8  gehabt  (taf.  ir,  no.  9). 

Zu  der  jetzt  besprochenen  gruppe  von  italischen  alphabeten  ge- 
hört auch  das  sabellische  in  den  beiden  Inschriften  von  Crecchio 
und  Cupra  maritima^);  aber  da  es  nicht  vollständig  bekannt  ist,  und 
die  bedeutung  einzelner  zeichen  noch  als  zweifelhaft  gelten  mufs, 
übergehen  wir  es  hier. 

Die  zweite  hauptgruppe  von  italischen  alphabeten  unter- 
scheidet sich  von  der  ersten  dadurch,  dafs  sie  kein  neues  zeichen 
für  f  gebildet,  sondern  das  griechische  røoMJ-zeichen  benutzt  hat,  um 
s.  53.  diesen  laut  auszudrücken,  und  infolge  dessen  wird  u  sowohl  für  den 
vokal  «  wie  für  den  halbvokal  w  gebraucht.  Von  den  Zischlauten 
findet  sich  nur  die  dem  phönicischen  stn  entsprechende  form,  und 
die  griechischen  aspiraten  (^,  (f,  x)  sind  als  lautzeichen  aufgegeben^). 

1)  Ich  kann  nicht  mit  Mommsen  (1.  c.  s.  25)  nod  Kirchhoff  (Stadien  a.  s.  w. 
s.  119)  die  oskische  </-form  als  ausreicheüden  beweis  dafür  ansehen,  dafs  das 
zeichen  für  d  einmal  im  oskischen  gefehlt  habe,  und  dals  später  wieder  zur  be- 
zeichnung  dieses  lautes  die  griechische  r-form  P  benutzt  worden  sei.  Obgleich 
dies  möglich  ist,  halte  ich  es  doch  für  weit  wahrscheinlicher,  dafs  d  im  oskischen 
immer  vorhanden  gewesen  ist,  und  dafs  dessen  c^-form  sich  selbständig  aus 
älterem  Q  entwickelt  hat;  dafs  dieses  auf  jeden  fall  an  der  alten  stelle  im 
alphabete  (hinter  g)  gestanden,  wie  Mommsen  selbst  (1.  c.)  nachzuweisen 
gesucht  hat,  zeigt  ein  bruchstück  eines  oskischen  alphabetes  auf  einer  wand  in 
Pompeji ,  das  die  vier  ersten  buchstaben  (a,  b,  g;  d)  ganz  deutlich  und  einen 
teil  des  fünften  enthält  (siehe  R.  Garrucci,  Graffiti  de  Pompéi,  2  de  édit.,  Paris 
1856,  tab.  I  no.  1).  —  Wenn  das  oskische  wirklich  später  das  griechische  P 
r  als  bezeichnung  für  d  aufgenommen  hätte,  könnten  wir  auch  griechisches  O 
in  der  bedeutung  o  aufgenommen  erwarten,  was  unleugbar  viel  näher  zu  liegen 
scheint ;  aber  hier  wurde  eben  ein  ganz  neues  zeichen  gebildet. 

2)  Mommsen,  Unterital.  Dial.  tab.  II  und  XVII;  vgl.  ibid.  s.  329  ff.;  Fa- 
bretti  tab.  LIII  no.  2848,  tab.  XLV  no.  2682;  Corssen  in  der  Zeitschr.  f. 
vergl.  Spiachf.  X  (1861),  s.  1  ff. 

3)  Doch  können  sie  alle  drei  als  Zahlzeichen  bei  den  Römern  nachgewiesen 
werden:  O  (sehr  selten)  =  100,  ©  =  1000  and  H'4,  =  50  (Mommsen,  Unter- 


n.    KAP.       B.    DIB    ALTEN    ITALISCHEN   ALPHABETE.  53 

Dagegen  sind  die  beiden  griechischen  zeichen  für  den  guttural  fr,  K 
xänna  und  ?  xönna,  wie  auch  griechisches  o  (das  sich  jedoch  auch 
im  „nordetruskischen"  fand)  und  5  bewahrt.  An  steile  der  in  der 
ersten  gruppe  gebrauchten  form  für  r  G  (*1)  flnden  wir  hier  !\  R. 
Durch  die  benutzung  des  ursprünglichen  w-zeichens  in  der  bedeutung 
f  und  des  u  sowohl  für  m  wie  «c,  durch  die  bewahrung  von  ?  und 
5  (ebenso  zum  teil  o),  und  durch  ihre  r-form  unterscheidet  sich 
diese  italische  alphabetgruppe  von  der  ersten;  durch  die  r-form  und 
durch  die  bewahrung  von  ?  weicht  sie  gleichfalls  von  dem  griechi- 
schen aiphabet  auf  der  galassischen  vase  ab:  aber  da  wir  hinter  u 
X-l"  in  der  bedeutung  x,  entsprechend  dem  +  (?)  auf  der  vase, 
finden,  so  ist  es  klar,  dafs  auch  diese  gruppe  von  italischen  alpha- 
beten  von  einem  griechischen  alphabete  ausgeht,  welches  zu  derselben 
klasse  gehört  wie  das  der  galassischen  vase.  Wenn  wir  daher  in 
diesem  aiphabet  uns  nur  ?  an  der  ursprünglichen  stelle  denken,  wird 
es  in  allem  wesentUchen  als  grundalphabet  für  alle  italischen  alpha- 
bete sowohl  der  ersten  wie  der  zweiten  gruppe  angesehen  werden 
können.     Zu  dieser  letzteren  gehören: 

1)  Das  lateinische  aiphabet  hatte  in  der  ältesten  nachweis- 
lichen gestalt  21  buchstaben  mit  dem  zeichen  für  z  (ohne  zweifei  in 
der  form  It)  an  der  ursprünglichen  (siebenten)  stelle.  Schon  in 
den  ältesten  Inschriften,  die  in  Ritschis  Priscae  Latinitatis  monu- 
menta  epigraphica  (Berol.  1S62)  in  schönen  abbildungen  herausge- 
geben sind,  ist  indessen  z  aufgegeben '),  und  K  k  hat  eine  sehr  einge- 
schränkte an  Wendung;  um  den  Är-laut  auszudrücken,  wird  regelmäfsig  s.  54. 
das  ursprüngliche  (/-zeichen  (C)  gebraucht,  das  lange  sowohl  g  wie 
Ic  bezeichnete.  Später  bekam  es  ausschliefslich  die  bedeutung  fr, 
indem  man   für   den  ^-laut   das   neue   zeichen  G  durch  eine  kleine 

ital.  Dial.  s.  33  f.;  F.  Ritschi,  Zur  Geschichte  des  lateinischen  Alphabets  im 
Rheinischen  Haseum  för  Philologie,  24.  Jahrgang,  Frankfort  am  Main  1869,  s. 
12  f.). 

')  Dagegen  kommt  z  in  einem  brnchstück  von  einer  der  saiischen  hymnen 
vor,  das  von  Varro  (De  lingua  Latina  VII,  26)  aufbewahrt  ist.  —  Auch  in  den 
ältesten  lateinischen  inschriften  scheint  auf  den  ersten  blick  s  zweimal  in  den 
formen  COZA,  (CO)ZAiN'O  auf  den  alten  lateinischen  münzen  bei  Ritschi  tab. 
VII  no.  40,  a  &  b  (vgl.  ibid.  s.  11  nnd  Mommsen,  Inscriptiones  Latinæ  anti- 
quissimæ,  Berol.  1863,  s,  6)  vorznliegen,  was  dann  zugleich  einen  beweis  dafdr 
enthalten  würde,  dafs  die  form  Z  ziemlich  früh  aufgetreten  wäre.  Namentlich 
aas  diesem  grunde  bin  ich  jedoch  am  meisten  geneigt,  Z  auf  diesen  münzen 
nicht  in  der  bedeutung  z  aufzufassen,  sondern  als  eine  kleine  Veränderung  von 
^   d.  i.  S  ivgl.  Ritschi  ibid.  no.  41,  a  &  b). 


54         ERSTES  BDCe.   DER  URSPRUNG  DER  RUNENSCHRIFT. 

Veränderung  von  C  bildele;  dieses  neue  ^-zeichen,  das  sich  schon 
in  den  ältesten  inschriflen  zeigt,  setzte  man  im  aiphabet  an  der 
Stelle  ein,  wo  früher  z  gestanden  hatte.  Das  ist  das  ältere  la- 
teinische aiphabet  von  21  buchstaben,  wovon  Cicero  und  Quintilian 
reden ^),  und  wovon  wir  mehrere  darstellungen,  mit  dem  griffel  ge- 
schrieben, auf  wänden  in  Pompeji  finden^);  seine  wichtigsten  buch- 
stabenformen sind  nach  den  alten  Inschriften  auf  taf.  li,  no.  11 
wiedergegeben.  —  Später  wurde  dieses  aiphabet  um  2  buchstaben 
vermehrt,  indem  man  zum  gebrauch  in  griechischen  Wörtern  schon 
zu  Ciceros  zeit  ziemlich  allgemein  griechisches  Y,  T  und  ^  in  der 
jüngeren  form  Z  aufnahm.  Obwohl  diese  beiden  buchstaben  von  den 
Römern  immer  als  fremde  angesehen  und  in  wirklich  lateinischen 
Wörtern  nicht  gebraucht  wurden^),  gab  man  ihnen  doch  später  eine 
stelle  am  schlufs  des  alphabetes  hinter  x,  und  so  kam  das  allgemein 
bekannte  lateinische  aiphabet  von  23  buchstaben  zu  stande,  das  uns 
s.  55.  in  den  Inschriften  aus  der  kaiserzeit  begegnet  (taf.  II,  no.  12)*).  Im 
unterschied  nicht  blofs  von  allen  alphabeten  in  der  vorigen  gruppe, 
sondern  auch  von  dem  zweiten  in  dieser  gruppe,  geht  die  lateinische 
Schrift,  soweit  wir  sie  zurückverfolgen  können,  ohne  ausnähme  von 
links  nach  rechts. 

2)  Das  faliskische  alp  habet  in  den  von  Garrucci  entdeckten 
inschriften  in  Civita  Castellana  (dem  alten  Falerii)^)  stimmt  in  allem 
wesentlichen  mit  dem  älteren  lateinischen  aiphabet  überein;  jedoch 
hat  es  sowohl  K  wie  ?  aufgegeben   und   bezeichnet  den  fr-laut  (was 

1)  Cic.  de  nat.  deor.  II,  37.  Quintil.  In.  Or.  I,  4,  9."  Vgl.  Suetou. 
Aug.  88. 

2)  Inscriptiones  parietariæ  Pompeianæ  ed.  C.  Zan  gem  eis  ter,  Berol.  1S71 
(Corpus  Inscr.  Lat.  IV),  no.  2514 — 2549  c  enthalten  die  lateinischen  alphabete  und 
brucbstücke  davon,  die  auf  den  wänden  in  Pompeji  gefunden  sind.  Die  alpha- 
bete, welche  vollständig  sind  (no.  2514 — 18;  tab.  XL  no.  3,  5,  9 — 11;  vgl. 
Ritschi,  monum.  epigr.  tab.  XVII  no.  24),  enden  alle  mit  X  und  haben  natür- 
lich G  an  der  siebenten  stelle;  E  wird  fast  immer  durch  II  und  F  zuweilen 
durch   |l   bezeichnet. 

3)  Vgl.  Cic.  Orator  If.O.     Quintil.  In.  Or.  XII,   10,27. 

*)  Die  jüngere  lateinische  buchstabenreihe  ist  uns  jn  inschriften  aus  Vigna 
Acquari  (Bulletino  dell'  inst,  di  corr.  archeol.  1862,  s.  29)  und  aus  Stein  am 
Anger,  dem  alten  Savaria  in  Pannonien  (Corp.  Inscr.  Lat.  III,  2  s.  962)  über- 
liefert. 

^)  R.  Garrucci,  Scoperte  falische  laden  Annali  dell'  instituto  di  corri- 
spond.  archeol.  1860,  s.  211 — 81  mit  taff.  F,  G,  H;  Mommsen  in  den  Monats- 
berichten der  königL  Preuls.  Akademie  der  Wissenschaften  zu  Berlin  1860, 
Berlin   1861,  s.  451—56. 


II.    KAP.       B.    DIE    ÅLTE?(    ITALISCHEN    ALPHABETE.  55 

auch  im  lateinischen  die  regel  ist)  durch  ^C;  dagegen  hat  es  z  (das 
sich  ebenfalls  im  lateinischen  auf  der  ältesten  stufe  fand)  in  den 
formen  ^P  bewahrt.  Die  letztere  form,  die  nur  eine  Verkürzung 
der  ersteren  ist,  gleicht  sehr  der  ursprünglichen  jcäio-form,  die  im 
lateinischen  und  faliskischen  für  f  angewandt  wird,  und  dieser  buch- 
stabe  bekam  daher  im  faliskischen  die  vom  lateinischen  abweichende 
form  T  ^).  Unsicher  ist  es,  ob  H,  wie  Detlefsen  nachzuweisen  gesucht  s.  56. 
hat*),  zeichen  für  b  ist,  während  p  durch  P  ausgedrückt  wird.  In 
jedem  falle  ist  sowohl  1  wie  P  von  anfang  an  zeichen  für  p,  und 
das  alte  6-zeichen  ist  folgüch  aufgegeben.  Aber  es  ist  möglich,  dafs 
man  später  von  den  beiden  p- zeichen  das  eine  in  der  bedeutung  ft, 
das  andere  in  der  bedeutung  p  benutzt  hat.  Selbst  wenn  es  sich  da- 
mit richtig  verhält,  so  ist  es  doch  kaum  wahrscheinlich,  dalis  1  in 
der  bedeutung  b  an  die  zweite  stelle  im  aiphabet  gestellt  worden 
ist.  Eine  eigentümliche  form  sowohl  im  vergleich  zum  lateinischen 
wie  zu  den  andern  italischen  alphabeten  bietet  das  fahskische  a-zeichen 
fi  dar,  das  grofse  ähnlichkeit  mit  dem  r-zeichen  hat,  wovon  es  sich 
jedoch  dadurch  unterscheidet,  dafs  beim  letzteren  die  seitenstriche 
niemals    ganz  bis  an  den  senkrechten  stab  reichen  (^).    Faliskisches 


')  Dafss  T  eioe  ambildang  des  wäuvzeicheas  ist  (um  die  Verwechslung  mit 
dem  zeichen  fiir  s,  -r ,  das  durch  verL'drzung  r  oder  4  wurde,  zu  vermeiden), 
bezweifle  ich  nicht;  es  ist  also  ein  ähnliches  Verhältnis,  wie  wenn  das  oskische 
Q  </  in  °  verändern  mufste,  um  der  Verwechslung  mit  dem  aus  •  r  entstan- 
denen Q  vorzubeugen.  Dafs  das  faliskische  s  und  das  oskische  r  formen  be- 
kamen, die  ursprünglich  ganz  andern  buchstaben  angehörten,  welche  daher  not- 
wendigerweise verändert  werden  mufsten,  ist  ein  Vorgang,  auf  den  wir  jeden 
augenblick  stofsen,  wenn  wir  die  entwicklungsgeschichte  der  verschiedenen 
alphabeie  untersuchen  (man  vergleiche  z.  b.  die  korinthischen  und  korkyräischen 
formen  für  ß  und  t).  —  Corssen  nimmt  dagegen  an,  dafs  faliskisches  ^  und 
etruskisch-umbrisch-oskisches  ^Q  verschiedene  entwicklungen  einer  älteren 
grundform  sind,  die  er  im  sabellischen  Q]  findet  (Zeitschr.  f.  vgl.  Sprachf.  X 
(1861),  s.  28;  Über  .Aussprache  etc.  s.  2);  aber  weil  diese  formen  einander  allzu 
fern  liegen,  und  weil  sich  das  griechische  wäia  im  faliskischen  als  zeichen  für  w 
nicht  findet,  sondern  dieses,  gerade  wie  das  lateinische,  u  sowohl  Tur  den  vokal 
wie  tur  den  halbvokal  gebraucht,  finde  ich  Gorsseos  annähme  sehr  unglücklieh. 
Wie  er  trotz  dieser  ansieht  das  lateinische  und  faliskische  zusammen  als  eine 
gruppe  den  andern  italischen  alphabeten  gegenüberstellen  kann,  sehe  ich  nicht 
ein.  Auf  die  dem  lateinischen  und  faliskischen  gemeinsame  r-form  ist  doch  un- 
möglich eine  Urverwandtschaft  zu  gründen,  wenn  die  abweichnngen  sonst  so 
grofs  sind,  wie  sie  nach  Corssens  auffassung  des  y-zeichens  werden  müssen. 

-)  Alcune  osservazioni  suUe  iscrizioni  falische  im  Bulletino  dell'  inst,  di 
corr.  archeol.  1861,  s.  198—205. 


56  ERSTES    BUCH.       DER    URSPRUNG    DER   RUNENSCHRIFT. 

ß{  entspringt  offenbar  aus  der  allen  italischen  a-form  f],  die  im 
elruskischen  und  umbrischen  die  gewöhnliche  ist,  nicht,  wie  Mommsen 
meint,  aus  dem  A  der  allen  lateinischen  inschriften,  das  selbst  aus  A 
entstanden  ist.  Wie  die  inschriften  der  ersten  hauplgruppe  gehen 
auch  die  faliskischen  von  rechts  nach  hnks;  aber  einzelne  buchstaben 
können  willkürlich  nach  beiden  selten  gewendet  werden  (^taf.ll,  no.lO). 


III.  kapitel. 
Die  runenschrift. 

A.  Ihre  Verbreitung. 

Nach   dieser   Übersicht   über  den  Ursprung  und  die  entwicklung 
der  alten  südeuropäischen  alphabete  gehen  wir  zu  unsrer  eigentlichen 
aufgäbe  über,  den  Ursprung  der  runenschrift  zu  untersuchen. 
s.  57.  Es    wird   jedoch   zweckmäfsig   sein ,    dieser  Untersuchung  einige 

bemerkungen  über    die    Verbreitung    der    runenschrift   voraus 
zu  senden. 

Bekannthch  kommen  die  runen  namentlich  in  den  skandinavi- 
schen ländern  und  in  England  vor;  aber  sie  sind  doch  keineswegs 
auf  diese  Völker  des  germanischen  stammes  beschränkt  gewesen. 
Denn  auch  in  den  gegenden,  wo  Goten  und  Germanen  auf  dem  fest- 
lande wohnen  oder  früher  wohnten,  hat  man  einzelne  denkmäler  mit 
der  gattung  von  runen  gefunden,  die  in  den  ältesten  inschriften  im 
Norden  (und  in  England)  vorkommen. 

Aufser  sechs  brakteaten  mit  runen,  von  denen  einer  ohne  zweifei 
um  1839  irgendwo  in  Norddeutschland  gefunden  ist  (jetzt  im  mu- 
seum zu  Berlin,  Stephens  no.  29  =  Atlas  for  nord.  Oldk.  no.  113)^), 
einer  1850  oder  52  bei  dem  dorfe  Wapno  (zwischen  Wongrowitz  und 
Exin)  südlich  der  Netze  in  Posen^),  die  vier  andern  (von  denen  zwei 
mit  derselben  Inschrift)  1859  bei  Dannenberg  in  Hannover  (Stephens 


1)  Uürichtig  gibt  Stepheüs  (II,  s.  541)  Köslin  in  Pommern  als  die  fund- 
stätte  dieses  brakteaten  an.  Vgl.  Vierzehnter  Bericht  der  Schlesnig-Holsteiu- 
Lauenburgischen  Gesellschaft  für  die  Sammlung  und  Erhaltung  vaterländischer 
Alterlhümer  1849,  s.  13  f.  und  taf.  no.  '6;  Müllenhoff  in  der  Zeitschr.  f.  d.  a., 
neue  folge  VI,  s.  253. 

2)  Müllenhoff  in  der  Zeitschr.  f,  d,  a.,  neue  folge  VI,  s.  254  ff. 


III.    KAP.       A.    DIE     TERRREITUIXG    DER    RUNENSCHRIFT.  57 

HO  7 — 9)*),  sind  aufserhalb  des   Nordens   und  Englands  bisher   fol- 
gende denkmäler  mit  den  alleren  ninen  aufgefunden: 

1)  Der  Bukarester  ring,  ein  grofser  goldring,  der  1837  zu- 
sammen mit  vielen  andern  goldsachen  bei  Pelrossa  in  der  Walachei 
gefunden  wurde  (seit  1838  im  museum  zu  Bukarest)*); 

2)  das  Roveler  speerblatt.  ein  speerblalt  von  eisen,  1858 
bei  Kovel  in  Volhynien  gefunden,  aber  erst  viel  später  bekannt 
gemacht;  es  gehört  prof.  A.  Szumowski  in  Warschau'); 

3)  das  Muncheberger  speerblatt,  ein  speerblalt  von  eisen, 
1865  bei  Slüncheberg  in  Brandenburg  gefunden*); 

4)  der  Körliner  ring,  ein  goldener  fingerring,  gefunden 
1839  bei  Körlin  in  Pommern  (jetzt  im  museum  zu  Berlin)*); 

h  Anfserdem  ist  eine  goldmüaze.  die  auf  der  eineo  seile  eine  barbarische 
Dachbildung  von  Theodosius'  nameo,  auf  der  andern  einige  rnnen  hat,  bei  Har- 
lingen  in  Friesland  gefunden  (Atlas  for  nord.  Oldk.  no.  251,  s.  8  =  Stephens 
no.  58),  und  eine  silbermünze,  gleichfalls  mit  rnnen  anf  der  einen  seite,  in 
Holland  in  der  nähe  von  Utrecht  (Stephens  no.  70).  Die  erstere  von  diesen 
münzen  hat  zweimal  die  specifiscb  englische  a-rnne  |C  (und  einmal  die  A-rnne 
|S();    auch  auf  der  letzteren  scheint  die  a-rune  |(^  vorzukommen. 

^)  J.  Arneth,  Die  antiken  Gold-  und  Silber- Monumente  des  K.  K.  Mänz- 
und  Antiken-Cabinettes  in  Wien.  Mit  XLI  Tafeln.  Wien  1850  fol.,  s.  86  and 
Beilage  taf.  VI,  no.  2. 

3)  Wiadomos'ci  archeologiczne  III,  Warszawa  1876,  s.  49—61  mit  taf.  1 
(s.  55 — 57  enthalten  meine  bemerkungen  über  die  inschrift);  Congres  inter- 
national d' Anthropologie  et  d'Archéologie  préhistoriques,  Comte-Rendu  da  la  8°>e 
Session  h  Budapest  1876,  I  (Budapest  1877),  s.  457 — 60  (ein  brief  von  mir  an 
prof  J.  Sawisza  über  die  inschrift).  Vgl.  A.  Kohn  und  C.  Mehlis,  Materialien 
znr  Vorgeschichte  des  Menschen  im  östlichen  Europa  nach  polnischen  und 
russischen  Quellen  II,  Jena  1S79,  s.  1770*.;  Revue  archéol.  jnillet-aodt  1884,  s.  54  ff. 

*)  Anzeiger  für  Kunde  der  deutschen  Vorzeit.  Neue  Folge  XIV,  Nürnberg 
1867,  s.  33 — 41.  —  Bezüglich  des  von  J.  Undset  im  Oktober  1883  im  museum 
zu  Torcello  in  Italien  entdeckten  speerblattes  von  bronze  (Zeitschr.  für  Eth- 
nologie, Berlin  1S83,  mit  taf.  IX)  habe  ich  bereits  1884  in  einer  mitteilung  an 
herrn  L.  Chodzkiewicz  in  Paris  ausgesprochen:  ,,....  Que  linscription  sur  la 
pointe  de  lance  eo  bronze  de  Torcello  ait  été  fabriquée  å  une  époque  moderne 
d'aprés  celle  de  Muncheberg,  je  n'en  saurais  douter.  Cela  se  conclut  avec  évidence 
des  fautes  commises  dans  celle-Iå  et  qni  seraient  impossibles  dans  une  inscription 
authentique.  Mais  l'imitation  —  je  n'ose  dire  la  supercherie  —  parait  d'ailleurs 
étre  faite  avec  beancoup  de  soin  et  beaucoup  d'arl."  Diese  ansieht  halte  ich  auch 
nach  den    später  erschienenen  aufklärungen  (Zeitschr.  f.  Ethnol.  1885)  aufrecht. 

^)  Fiun  Magnusen,  „Kunamo  og  Runerne"  in  den  Det  kgl.  danske  Viden- 
skabernes Selskabs  histor.  og  philos.  Afhandlinger  VI  (1841),  s.  221—23;  vgl. 
s.  656;  abgebildet  tab.  XIII,  fig.  4a&  b  und  darnach  wiedergegeben  bei  Stephens. 
Vgl.  Vierzehnter  Bericht   der  Schleswig- Holstein -Lauenbnrgischen  Gesellschaft 


58         ERSTES  BUCH.   DER  URSPRUNG  DER  RUNENSCHRIFT. 

5)  die    spange    von    Charnay,    eine    silberspange    (fibula), 
gefunden   1857  bei  Charnay    in  der  Bourgogne  in  einem  begräb- 
nisplatze   aus   der  „nierovingischen"  zeit  (in  II.  Baudots  altertümer- 
sammlung  zu  Dijon)  i); 
s.  58.  6)  die  Norden  dorfer  spange  a,  eine  silberspange,   1843  in 

einem  grabe  bei  Nordendorf  in  der  nähe  von  Augsburg  in  Bayern 
gefunden  (im  museum  zu  Augsburg)  ^j; 

7)  die  Nordendorfer  «pange  b,  eine  silberspange,  wie  die 
vorige  vor  mehreren  jähren  in  einem  der  gräber  bei  Nordendorf  ge- 
funden (im  museum  zu  Augsburg)''); 

etc.  1849,  s.  lOfl".  und  taf.  no.  1;  Zeitschr.  f.  d.  a.,  oeue  folge  VI,  s.  252  f. 
Die  fuodstätte  ist  Köilin  (nicht,  wie  früher  oft  unrichtig  angegeben,  Köslin)  in 
Pommern.  —  Der  ring  hat  fünf  kanten  mit  zwei  facetten  in  jeder;  in  einer  der 
facetten  findet  sich  das  mystische  „hakeukreuz"  oder  „svastika"  (^i),  und  in 
einer  andern  die  runen  in  zwei  reihen,  durch  einen  strich  geschieden;  zu  unterst 
stehen  (]  W,  also  dieselben  runen,  die  wir  in  einer  andern  Ordnung  auf  einem 
der  pfeile  aus  dem  Nydamer  moore  zusammengestellt  finden,  und  worin  ich  ein 
beispiel  von  dem  magischen  gebrauche  der  runen  zu  finden  geglaubt  habe  („De 
ældste  nordiske  runeindskrifter"  s.  26—27,  in  den  årb.  f.  nord.  oldk.  1867); 
oben  über  diesen  drei  runeu  findet  sich  das  zeichen  J*,  das  ich  für  eine  binde- 
rune,  zusammengesetzt  aus  ^  und  |^,  ansehe,  wie  wir  auf  einem  andern  der 
pfeile  aus  dem  JXydaraer  moore  J^,  dasselbe  zeichen  wie  auf  dem  Körliner  ringe, 
aber  nach  der  entgegengesetzten  seile,  finden  (vgl.  „de  ældste  nord,  runeindskr." 
s.  46);  es  sind  dieselben  beiden  runen,  zu  einem  zeichen  vereinigt,  die  wir  auch 
in  der  häufigen  Verbindung  ^^fi  oder  ni^  (1^1,  ^Hl)  finden;  ^1  allein  (ohne  n, 
also  der  binderune  auf  dem  ringe  und  pfeile  entsprechend)  scheint  auf  einem 
brakteaten  vorzukommen,  der  nördlich  von  Hadersleben  gefunden  ist  (Stephens 
no.  21;  Atlas  no.  88;  Thorsen,  Runemindesmærker  s.  329),  obgleich  man  hin- 
sichtlich der  bedeutung  des  ersten  Zeichens,  das  auch  ein  verunglücktes  f]  sein 
könnte,  einige  zweifei  hegen  darf.  Dafs  gerade  ^  regelmäfsig  in  diesen  ma- 
gischen Zusammenstellungen  vorkommt,  steht  sicher  in  Verbindung  mit  dessen 
namen  dss,  öss  (in  der  sprachforra  der  ältesten  nordischen  Inschriften  au  sur). 
Dafs  alu  (mit  seinen  varianten  lau,  lua  —  al,  la)  aus  dem  ein  einziges  mal 
vorkommenden  s  alu  (Stephens  no.  20  =;  Atlas  no.  85)  hervorgeht,  glaube  ich  nicht. 
(Vgl.  Bugge  in  den  ärb.  f.  nord.  oldk.  1871,  s.   182—185.) 

1)  H.  Baudot,  Memoire  sur  les  sépultures  des  barbares  de  l'époque  Mé- 
rovingienne,  découvertes  en  Bourgogne,  et  particuliérement  ä  Charnay.  Dijon 
&  Paris   1860,  pi.  XIV,  no.  1   und  s.  49  ff. 

2)  Die  runeninscbrift  wurde  erst  mehr  als  20  jähre  später  (1865)  von  dr. 
L.  Lindeuschmit  in  Mainz  entdeckt,  der  die  spange  in  „Die  Alterthümer  unserer 
heidnischen  Vorzeit"  11,2,  Mainz  1866,  4to,  taf.  6  no.  1  &  2  herausgegeben  hat. 

^)  Auch  diese  Inschrift  wurde  erst  längere  zeit  nachher  von  Lindenschmit 
entdeckt  und  in  „Die  Alterthümer  etc."  III,  8  (1877),  taf.  6  no.  2  herausgegeben. 
Vgl.  M.  Rieger,    „Eine   neue  Runenioschrift"  (mit  abbildung)  im    „Correspon- 


å 


MI.    KAP.       A.    DIE    VERBREITOG    DER    RUNENSCHRIFT.  59 

8)  die  Hohenstadter  spange,  eine  prachtvolle  spange,  ge- 
funden in  einem  „alamanischen"  grabe  bei  Hohenstadt  in  Worte m- 
berg.(im  museum  zu  Stuttgart)^); 

9)  die  Osthofener  spange,  eine  vergoldete  bronzespange, 
gefunden  bei  Oslhofen  in  Rheinhessen  (im  museum  zu  Mainz)^); 

10)  die  Freilaubersheimer  spange,  eine  silberspange, 
gefunden  1873  in  einem  grabe  bei  Freilaubersheim  in  Rhein hes sen 
(im  museum  zu  Mainz)  ^); 

11)  die  Friedberger  spange,  eine  silberspange,  gefunden  im 
Winter  1885,86  in  einem  grabe  bei  Friedberg  in  der  Wetterau, 
provinz  Ober h essen;  gehört  dem  Gnder,  herrn  G.  Dieffenbach  in 
Fried  berg  *) ; 

12)  die  Emser  spange,  ein  bruchstück  {]^  von  einer  silber- 
spange, gefunden  1878  bei  Ems  in  Nassau;  in  Privatbesitz'*); 

13)  die  spange  von  Engers,  eine  silberspange,  gefunden 
1885  in  einem  grabe  bei  Engers  im  kreise  Neuwied  des  reg. -bez. 
Koblenz  in  der  Rheinprovinz  (im  museum  zu  Worms)^). 

denzblatt  des  Gcsanimtvereins  der  deutschea  Geschichts-  and  Alterthunisvereine" 
(Darmstadt)  No.  5  (Mai)   1S77. 

1)  Nach  iM.  Rieger  iü  der  Zeitschr.  f.  d.  Philologie  V,  s.  381  findet  sich 
hier  eine  inschrift  mit  runeo,  die  jedoch  jetzt  mit  ausnähme  von  ein  paar 
zeichen  vollständig  unleserlich  sind. 

-)  Herausgegeben  von  Lindeuschmit  in  „Die  Alterthüraer  etc."  I,  1  (185S) 
taf.  8  no.  4  &  5.  Die  runen  wurden  aber  erst  später  entdeckt,  und  Liudenschmit 
lieferte  dann  eine  neue  zeichnuug  in  vol.  II,  2,  taf.  6  no.  3  &  4.  Leider  ist  die 
inschrift  an  mehreren  stellen  sehr  undeutlich  und  so  verschieden  bei  Lindeu- 
schmit und  Stephens  (II,  p.  585)  wiedergegeben,  dals  es  kaum  glücken  wird,  sie 
zu  denten. 

3)  Liudenschmit,  „Die  Alterthümer  etc."  III,  4  (1874)  taf.  6  no.  1;  M. 
Rieger  in  der  Zeitschr.  f.  d.  Philologie  V,  s.  375  ff.  mit  taf.   1. 

*)  Siehe  herrn  Diefienbacbs  mitteilung  im  „Korrespondenzblatt  der  VVest- 
deutscheu  Zeitschr.  f.  Gesch.  u.  Kunst",  Jahrg.  V,  no.  4  (April)  18S6,  s.  105  f. 
Durch  dr.  F.  Holthauseo  habe  ich  von  herrn  Dieffenbach  genaue  wiedergaben  der 
sehr  deutlichen  inschrift  erhalten,  die  ^nRD^NirM  I)nru|)hild  lautet  (=  ahd. 
Drudhilt,  Försteniann,  .\ltdeutsches  nameubuch  I,  sp.  350). 

^)  „Eine  fränkische  Gewandnadel  mit  Runeninscbrift,  gefunden  bei  Eros"  im 
„Correspondenzblatt  des  Gesammtvereins  der  deutscheu  Geschichts-  und  Alter- 
tbumsvereine"  (Darmstadt)  INo.  5  (.Mai)  1S78  nebst  einer  mitteilung  von  M.  Rieger 
über  die  runeninscbrift. 

•*)  Siehe  dr.  Koehls  mitteilung  im  „Korrespondenzblatt  der  Westdeutschen 
Zeitschr.  f.  Gesch.  u.  Kunst",  Jahrg.  V,  no.  2  (Febr.)  1886,  s.  44  ff.  Genaue 
nachrichten  über  die  spange  und  deren  inschrift  verdanke  ich  dr.  F.  Holthausen, 
der  im  verein  mit  prof.  Zangemeister  in  Heidelberg  dieselbe  persönlich  in  Worms 


60         ERSTES  BUCH.   DER  URSPRUNG  DER  RUNENSCHRIFT. 

s.  59.  Diese  denkmäler,    denen   sich    hoften  dich  allmählich  mehr  ähn- 

liche anschliefsen  werden^),  um  so  mehr  da  die  meisten  in  der 
letzten  zeit  zu  tage  gekommen  sind,  und  sowohl  die  Nordendorfer  wie 
die  Osthofener  spangen  zeigen,  dafs  die  runen  sich  lange  nach  der 
enideckung  der  denkmäler  haben  verborgen  hallen  können,  finden  sich 
mit  ausnähme  der  später  gefundenen  spangen  von  Friedberg  und  Engers 
abgebildet  und  besprochen  in  Stephens'  werke  ,,The  Old-Norlhern  Runic 
monuments  of  Scandinavia  and  England"  U,  1868,  s.  565 — 603  und 
s.  880 — 84  (das  Möncheberger  speerblatl)  sowie  in  III,  s.  97 f.  (die 
Charnayer  spange  nach  meiner  Zeichnung  in  ,, Runeskriften'*  1874), 
s.  lOOff".  (die  Freilaubersheimer  spange),  s.  158f.  (die  Norden- 
dorfer  spange  b  nach  Lindenschmits  Zeichnung),  s.  266 ff",  (das 
speerblatt  von  Kovel),  s.  274  (die  Emser  spange  nach  der  Zeichnung 
im  Correspondenzblatt) ,  s.  485f.  (das  speerblatt  von  Torcello). 
Stephens  fafst  die  genannten  denkmäler  unter  dem  namen  „Wan- 
derers" zusammen,  indem  er  von  der  Voraussetzung  ausgeht,  dafs 
sie  alle  „altnordisch"  seien  und  in  alter  zeit  von  den  skandina- 
vischen ländern  nach  den  gegenden,  wo  sie  gefunden  sind,  gebracht 
(„gewandert")  sein  müfsten'^).     Aber  diese  annähme  wird  vollständig 


untersucht  hat;  von  beiden  p^eoannten  herren  habe  ich  gleichfalls  sorgfältige 
wiedergaben  der  inschrift  erhalten.  Diese  besteht  aus  vier  flüchtig  eingeritzten, 
aber  vollkommen  sicheren  runen  TMH^  (leuh),  das  ja  auch  indem  leubwini 
der  Nordendorfer  spange  vorkommt,  aber  hier  am  wahrscheinlichsten  subst.  neutr. 
(=  ahd.  Hup,  as.  Hof)  ist. 

1)  Aufser  auf  den  oben  aufgezählten  denkmäleru  hat  man  auch  mit  grölserer 
oder  geringerer  Wahrscheinlichkeit  auf  folgenden  andern  germanische  runen  zu 
finden  geglaubt:  ein  kleiner  köpf  von  thon,  dessen  Fundstätte  unbekannt  ist  (jetzt 
in  Berlin;  siehe  Vierzehnter  Bericht  der  Schleswig-Holstein-Lauenburgischen  Ge- 
sellschaft etc.  1849,  s.  14  f  und  taf.  no.  4),  ein  kreuz  von  Nordendorf,  eine 
thonscheibe  von  Nassenbeuern  und  ein  becher  von  Monsheim  (siehe  Dietrich  in 
der  Zeitschr.  f.  d.  a.  XIV,  83  f,  85,  91,  und  vgl.  Müllenhotf  in  der  Zeitscbr. 
f.  d.  a.,  neue  folge  VI,  s.  252  B".  und  die  anmerkung  s.  254  f.).  Ich  halte  jedoch 
die  zeichen  auf  keinem  dieser  denkmäler  für  wirklich  echte  alte  runen. 

^)  Als  eine  art  Zugeständnis  gegenüber  der  ansieht,  die  ich  bezüglich  der 
nationalität  der  denkmäler  geltend  gemacht  hatte,  hat  Stephens  jedoch  in  dem 
1884  erschienenen  3.  bande  die  drei  denkmäler,  die  ich  für  gotische  erklärt 
hatte  (die  speerblätter  von  Kovel  und  Müucheberg,  den  Bukarester  ring)  unter 
einer  besonderen  rubrik  mit  dem  titel  „The  Gothic  march"  zusammengestellt 
(dafs  es  dem  Verfasser  durch  seine  lesung  dieser  Inschriften  geglückt  ist,  jede 
spur  von  gotischen  formen  zu  entfernen,  bin  ich  ihm  jedoch  noch  hinzuzufügen 
schuldig).  Aber  andererseits  hat  er  dann  auch  im  selben  bande  mit  der 
^röfsten  wjllkür    und    ohne  einen  schatten  von  beweis  die  denkmäler,    die  ich 


III.    KAP.       A.    DIE    VERBREITUNG    DER    RUNENSCHRIFT. 


61 


Das  speerblatt  vod  Müncbeberg 


Das  Speerblatt  voq  Rovel. 


62  ERSTES    BUCH.       DKll    (JUSPIUING    DEIl    HüiNENSCHRIFT. 

durch  die  spräche  der  inschriften  widerlegt,  die  sich  üherall,   wo  sie 
mit  Sicherheit  gedeutet  werden  kann,    als  dem  gotischen  und  germa- 
nischen stamme  angehörend  erweist'),  indem  wir  entweder  rein  gotische 
s-  60.  oder  germanische  sprachformen  finden. 

Dies  gilt  vor  allem  von  den  Inschriften  auf  dem  speerhlatt  von 
Kovel  und  auf  der  spange  von  Freilaubersheim.  Bezüglich  der  ersteren 
hatte  ich  bereits  1875  nach  einer  mir  zugesandten  mangelhaften 
Photographie  herrn  prof.  J.  Sawisza  in  Warschau  mitgeteilt,  dafs  die 
Inschrift  sicher  einen  gotischen  mannsnamen  enthielte  (vgl.  oben 
s.  57  anm.  3).  Genaue  aufklärungen,  die  ich  kurze  zeit  darauf  über 
die  Inschrift  empfing,  setzten  es  aufser  allen  zweifei,  dafs  diese,  wie 
ich  vermutet  hatte,  lautete:  \[]I/1^1IT  d,  i.  tilarids,  indem  T 
und  []  als  variationen  der  gewöhnlichen  runenformen  T  (t)  und  M 
(d)  ^)  angesehen  werden  müssen ,  wie  wir  in  nordischen  inschriften 
ausnahmsweise  fl  für  das  gewöhnliche  M  (e)  finden.  Tilarids  ist 
ein  mannesname  im  nom.  sgl.  und  in  echt  gotischer  form  (mit  tila- 
vgl.  tils,  gatils  bei  Wulfila),  und  das  worl,  welches  'tüchtiger  reiter' 
bedeutet,  ist  gleich  gebildet  mit  dem  mannsnamen  woduridaR 
('kühner,  kecker  reiter')  auf  dem  norwegischen  stein  von  Tune; 
aber  während  -riduR  die  speciell  nordische  form  des  wortes  ist, 
wurde  es  bei  den  Goten  -rUs^).   Da  die  Inschrift  auf  dem  speerblatt 


für  deutsche  erklärt  habe,  teils  nach  England  (die  spangen  von  INordendorf,  Ost- 
hofen  und  Ems),  teils  nach  Norwegen  (die  spangen  von  Charnay  und  Freilaubers- 
heim) verlegt;  dals  die  spräche,  welche  er  durch  seine  lesung  aus  diesen  In- 
schriften herausbekommt,  ebenso  gut  nordisch  oder  englisch  oder  »eichen 
audern  nameu  man  ihr  geben  will,  genannt  werden  kann,  wie  deutsch,  räume 
ich  natürlich  ohne  bedenken  ein. 

^)  Vgl.  Navneordenes  böjning  i  ældre  dansk  s.  2  anm. 

2)  Dafs  X,  ^  lod  ^  ursprünglich  zeichen  für  die  spiranten  ß;,  t  und  ä, 
nicht,  wie  bisher  allgemein  angenommen  wurde,  für  die  mutæ  g;  b  und  d  waren, 
wird  aus  der  folgenden  Untersuchung  hervorgehen ;  ich  umschreibe  diese  runen 
daher  mit  £,  i  und  ä:. 

^)  Siehe  meine  bemerkungen  in  den  ,, Forhandlinger  paa  det  andet  nordiske 
Filologmøde  i  Kristiania  1881",  Krist.  1883,  s.  244.  —  Die  regelmäfsige 
form  bei  Wulfila  würde  zwar  -reips  sein;  aber  das  -rids  der  Inschrift  zeigt  nach 
meiner  meinung  einen  älteren  standpunkt,  indem  gemeingerm.  -rldaz  (mit  runen 
R.IM^Y)  i™  nord.  -rtäüR,  aber  im  got.  -rlds,  später  -rlps,  wurde.  Die  got. 
Sprachüberreste  haben  ja  noch  in  vielen  fällen  d  (d.  i.  ä)  statt  p  im  auslaut 
und  vor  dem  s  des  nominativs  bewahrt  (so  immer  veitvods  u.  s.  w.).  Selbst 
wenn  man  in  diesen  fallen  die  formen  mit  d  {\/\)  nicht  als  die  älteren,  sondern 
nur  als  (ungenaue)  Schreibung  für  p  betrachten  will,   erklärt  sich  der  gebrauch 


lir.    KAP.       A.    DIE    VERBREITUNG    DER    RDiXENSCHRIFT.  63 

von  Kovel  somit  ausgeprägt  gotisch  ist,  glaube  ich,  dafs  dasselbe 
mit  dem  höchsten  grade  von  Wahrscheinlichkeit  auch  von  der 
inschrift  auf  dem  speerblatt  von  Müncheberg  gesagt  werden  kann, 
das  in  andern  beziehungen  die  gröfste  äbnlichkeit  mit  dem  speerblatt 
von  Kovel  aufweist  und  wie  dieses  einen  mannsnamen  enthält.  Denn 
wohl  kann  das  ^^+^n  ran  Da  d.i.  raniDa  nom.  sgl.  masc.  eines 
an-  Stammes,  das  sich  zusammen  mit  dem  „hakenkreuz"  und 
andern  symbolischen  zeichen  auf  dem  Muncheberger  speer  flndet,  auch 
nach  seiner  sprachform  nordisch  sein  (vgl.  den  namen  H^R^ 
har  Da  d.  i.  har  i  Da  auf  dem  kämm  aus  dem  Vier  moore,  den  wir 
auf  dem  Skaänger  stein  von  Södermanland  ganz  ausgeschrieben  als 
H^Rl^^  finden);  aber  einer  solchen  annähme  wird  bestimmt  durch  die 
fundstätte  widersprochen.  Wir  haben  hier  also  einen  fall,  wo  nordisch 
und  gotisch  (möglicherweise  auch  deutsch)  in  dieser  periode 
zusammen  fallen,  und  wo  also  nur  die  fundstätte  entscheiden  kann, 
welcher  sprachform  die  inschrift  angehört.  Dasselbe  gilt  von  dem  s.  56 
genannten,  ohne  zweifei  in  Norddeutschland  gefundenen  brakteaten, 
dessen  inschrift  ^^IX^  ich  mit  MüllenboiT  und  Bugge  (årh,  for.'  nord. 
oldk.  1871,  s.  200)  waiga  lese  und  als  einen  mannsnamen  auffasse, 
der  dem  ahd.   Waiko  entspricht. 

Dafs  auch  die  inschrift  des  Bukarester  ringes  gotisch  ist,  wird 
sowohl  durch  dessen  fundorl  wie  durch  dessen  inschrift  bewiesen,  die 
nach  einem  abgufs  im  altnord.  museum  in  Kopenhagen  und  nach 
der  Zeichnung  bei  Stephens  (vgl.  auch  Bevue  archéol.  XVII,  1868, 
s.  52)  sicher  |;^utaniowi  hailag  gelesen  werden  mufs*).  Wenn 
auch  die  bedeutung  von  -niowi  unsicher  ist,  glaube  ich  doch  jetzt 
wie  früher,  dafs  g.u  t  a  -  den  namen  des  Gotenvolkes  enthält,  und  dafs 
hailag  der  nom.  sgl.  neutr.  Ton  einem  dem  altnord.  heilagr,  ahd. 
heilag  entsprechenden  adjectiv  ist. 

Während  die  drei  genannten  inschriften  also  mit  Sicherheit  oder 
grofser  Wahrscheinlichkeit  auf  die  Goten  zurückgeführt  werden  dür- 


des  d  (^\  ja  leicht  aus  analogie  von  den  formeo,  die  d  hatten  (geo.  uod  dat. 
Sgl.  and  der  ganze  plur.).  —  Das  H  des  Koveler  Speeres  als  eine  Veränderung 
von  (j,  ^,  nicht  von  M,  anfzafassen,  wie  mir  dr.  Holthaasen  vorgeschlagen 
hat,  kann  ich  ans  vielen  gründen  nicht  billigen. 

^)  Meine  frühere  lesung  und  deatnng  dieser  inschrift  („De  ældste  nordiske 
runeindskrifter"  s.  45  anm.),  die  sich  aof  die  älteren  zeirbnangen  stStzte,  sehe 
ich  jetzt  also  für  anhaltbar  an. 


64  ERSTES    BUCH.       DER    URSPRUNG    »ER    RUNENSCHRIFT. 

fen  ^),  zeigen  die  drei  ersten  sicheren  worte  in  der  inschrift  auf  der 
Freilaubersheimer  spange  eine  ausgejjrägt  deutsche  sprachform. 
Die  genannten  worte  lauten  nämlich  ^^^Ä:  PR^Mt:  Rn+F^:,  boso 
wraet  runa^),  wo  es  mir  am  natürlichsten  scheint,  runa  als  acc.  plur. 
aufzufassen,  also:  „Boso  schrieb  (die)  runen".  Dafs  wir  hier  west- 
germanische spräche  haben,  ist  ja  offenbar'')  (alt  sä  eh  s  i  seh 
würde  es  lauten:  Böso  loret  rmm,  altfriesisch:  Bösa  wret  runa,  alt- 
englisch: Bösa  wrdt  runa  {rtme);  althochdeutsch:  Buoso  (lo)mz 
rüno  {runa),  wohingegen  dieselben  worte  auf  gotisch  die  form:  Bösa 
wrait  rünös  und  auf  nordisch  in  den  ältesten  inschriften  Bösa 
wrait  rnnöH,  in  den  jüngeren  Bösi  rait  rünan  haben  würden).  Der 
dem  boso  der  inschrift  entsprechende  mannsnanie  kommt  öfter  sowohl 
im  germanischen  wie  im  nordischen  vor,  wo  er  in  den  ältesten 
inschriften  bosa  lauten  müfste,  während  boso  in  der  sprachform 
dieser  inschriften  ein  frauenname  sein  würde,  wie  auch  das  Ver- 
hältnis im  gotischen  ist.  Was  über  die  sprachform  in  dieser  in- 
schrift gesagt  ist,  würde  natürlich  auch  gelten,  wenn  wir  mit  M.  Rieger 
runa  als  singular  auffassen  (also  collectiv  in  der  bedeutung  „die 
runeninschrift"  gebraucht);  denn  im  nordischen  würde  diese  form  in 
den  ältesten  inschriften  run  o  lauten,  was  wir  gerade  auf  dem  nor- 
wegischen Einanger  steine  finden,  wo  das  wort  gleichfalls,  was  also 
Riegers  auffassung  stützen  könnte,  collectiv  von  der  ganzen  inschrift 
gebraucht  ist.  Ausgeprägt  germanische  spräche,  entgegengesetzt  dem 
gotischen  und  nordischen,  treffen  wir  gleichfalls  in  dem  wo  dan  und 
leubwini  der  Nordendorfer  spange  (wod an  würde  got.  wödans  und 


1)  Auch  den  Körliner  ring  führe  ich  auf  grund  der  fuadstätte  am  ehesten 
auf  die  Goten  zurück,  obgleich  dessen  inschrift  in  bezug  auf  seine  nationalität 
keinen  aufschlufs  enthält.  Nach  den  fundstätten  (von  süden  nach  norden)  habe 
ich  die  denkmüler  oben  s.  57 — 59  geordnet,  so  dafs  die  gotischen  zuerst  ange- 
führt werden  (no,  1 — 4)  und  demnächst  die   westgermanischen  (no.  5 — 13). 

■^)  Die  trennungszeichen  hinter  dem  zweiten  worte,  besonders  das  unterste, 
sind  höchst  unsicher.  Lber  den  hinter  runa  folgenden  teil  der  inschrift,  die  an 
mehreren  stellen  sehr  undeutlich  ist,  kann  ich  nur  unsichere  vermutungen  auf- 
stellen, die  anzuführen  hier  nicht  der  rechte  ort  ist. 

3)  Dafs  die  sprachform  in  der  inschrift  der  Freilaubersheimer  spange  nicht 
blofs  als  deutsch  (im  gegensatz  zu  gotisch  und  nordisch),  sondern  sogar  als 
niederdeutsch  (im  gegensatz  zu  hochdeutsch)  bestimmt  werden  kann, 
wie  ich  1874  in  „Runeskr."  s,  263  aussprach,  halte  ich  auch  jetzt  für  wahr- 
scheinlich; ae  in  wraet  fasse  ich  als  eine  tastende  lautbezeichnung  aus  einer 
zeit  auf,  wo  der  alte  diphthong  auf  dem  wege  war,  ein  einfacher  langer  vokal 
zu  werden. 


III.    KAP.       A.    DIE    VERBREITUNG    DER    RUNENSCHRIFT.  65 

nordisch  in  den  ältesten  inschriften  wödanaR  (wödinaR^)  lauten;  vgl. 
..den  historiske  sprogforskning  og  modersmålet"  s.  48  =  årh.  f.  nord. 
oldk.  1868,  s.  304;  leub  =:  ahd.  Uup,  Hop,  altsachs.  Hof,  altengl. 
hof,  got.  liufs,  altnord.  Ijt'tfr;  wini  =  ahd.  as.  wini,  altengl.  wine, 
altnord.  yinr),  in  dem  leub  der  spange  von  Engers  und  dem  frauen- 
namen  |)uruj)hild  auf  der  Friedberger  spange  (vgl.  s.  59,  anm.  4  u.  6). 

Die  hier  besprochenen  und  an  so  verschiedenen  stellen  aufserhalb 
des  Nordens,  in  gegenden,  wo  Goten  und  Germanen  früher  wohnten, 
gefundenen  runendenkmäler  liefern  somit  durch  ihre  zeichen  und  spräche 
einen  vollgültigen  und  unwiderleglichen  beweis  dafür,  dafs  die 
ganze  germanische  völkerklasse  einmal  ein  gemeinsames 
runenalp  habet  gehabt,  das  in  allem  wesentlichen  mit  dem- 
jenigen übereingestimmt  hat,  das  wir  auf  den  ältesten  denkmälern 
im  Norden  finden.  Da  man  nichts  desto  weniger  in  der  neueren 
zeit  eifrig  gesucht  hat  diese  thatsache  zu  leugnen,  so  wollen  wir  einen 
augenblick  bei  verschiedenen  andern  umständen  verweilen,  woraus 
dasselbe  zum  überflufs  hervorgeht. 

Wenn  verschiedene  ältere  und  neuere  Schriftsteller')  Tacitus' s.  61. 
bekannte  äufserung  über  die  Germanen:  lüterarum  secreta  viri pariter 
ac  feminæ  ignorant  (Germ.  c.  19)  als  beweis  dafür  gebraucht  haben, 
dafs  sie  zu  seiner  zeit  die  schrift  nicht  kannten,  so  beruht  dies  auf 
einem  misverstehen  von  Tacitus'  worten,  die  man  unrichtig  über- 
setzt bat:  „männer  und  weiber  sind  in  gleichem  grade  mit  dem  ge- 
heimnis  der  buchstabenschrift  unbekannt",  eine  deutung,  welche  vor- 
aussetzen würde,  dafs  Tacitus  das  schreiben  überhaupt  als  ein  ge- 
geheimnis  betrachtete,  selbst  bei  seinen  eigenen  landsleulen;  oder, 
da  dies  natürhch  nicht  der  fall  war,  müfste  „das  geheimnis  der 
buchstabenschrift"  dasselbe  bezeichnen  wie  „die  buchstabenschrift 
im  allgemeinen".  So  könnte  sich  vielleicht  der  eine  oder  der 
andere  moderne  Schriftsteller  ausdrücken;  aber  nach  Tacitus'  ganzer 
ausdrucksweise  kann  lüterarum  secreta  bei  ihm  nicht  dieselbe  be- 
deutung  haben  wie  litterce;  wollte  er  nichts  anderes  sagen,  als 
dafs  die  buchstabenschrift  den  Germanen  unbekannt  war,  so  hätte 
er  dies  sicherlich  ganz  einfach  durch  die  worte  litteras  ignorant  oder 
litterarum  ignari  ausgedrückt.  Eine  andere  erklärung  der  stelle,  wozu 
litter arum  secreta  etwas  besser  passen  würde,  ist  von  W.  Grimm^) 
gegeben;    er   nimmt  nämlich  an,    dafs  Tacitus    durch  die  werte  viri 

^)  So  auch  Stephens,  Old-Northera  Rnoic  raonuments  s.  106. 
^  Über  deutsche  Runen,  Göttingen  1821,  s.  30  ff. 
WIHKEB,  Die  runenschrift.  5 


66  ERSTES    BUCH.       DER    URSPRUNG    DER    RUNEISSCHRIFT. 

pariter  ac  feminæ  „das  volk"  im  allgemeinen,  aber  nicht  zugleich  die 
priesler  habe  bezeichnen  wollen,  die  nach  Grimms  meinung  gerade 
im  besitze  einer  buchstabenschrift  gewesen  sind,  welche  also  dem 
gewöhnlichen  volke  gegenüber  mit  recht  „geheim"  genannt  werden 
konnte.  Bei  dieser  erklärung  brauchen  wir  uns  jedoch  niclit  lange 
aufzuhalten,  da  es  ja  einleuchtend  ist,  dafs  kein  Schriftsteller  dar- 
auf verfallen  würde,  „das  volk  mit  ausschlufs  der  priester"  durch 
die  Worte  viri  pariler  ac  feminæ  auszudrücken,  ohne  mit  einem 
Worte  zu  erwähnen,  dafs  er  jene  ausnähme  mache.  Die  stelle  raufs 
daher  auf  andere  weise  verstanden  werden,  und  wie,  wird  klar, 
wenn  wir  das  ganze  im  Zusammenhang  lesen.  Tacitus  spricht  an  der 
genannten  stelle  über  die  heiligkeit  der  ehe  und  die  keuschheit  der 
frauen  bei  den  Germanen  und  sagt  da  (c.  19):  Ergo  sæpta  pudicitia 
s.  62.  agunt,  nuUis  spectaculorum  illecebris,  nuUis  conviv^orum  irritationibus 
corruptæ.  Litlerarum  secreta  viri  pariter  ac  feminæ  ignorant.  Pau- 
cissima    in  tam   numerosa  gente  adulteria,  quorum  pæna  præsens  et 

maritis    permissa Nemo  enim  illic  vitia  ridet,  nee 

corrumpere    et    corrumpi    sæculum  vocatur,   d.  h.  „So  leben  da  die 
frauen  mit  wohlgeschützter  keuschheit,  ohne  durch  schlüpfrige  Schau- 
spiele oder  durch  aufregende  gastmähler  verdorben  zu  werden  ...... 

Im  Verhältnis  zur  gröfse  des  Volkes  kommen  dort  sehr  wenig  ehe- 
brüche  vor,  die  eine  sofortige  strafe  mit  sich  führen,  deren  Voll- 
streckung den  ehemännern  überlassen  ist"  (dies  wird  darauf  näher 
geschildert);  „denn  dort  lacht  niemand  über  die  laster,  und  man 
nennt  es  nicht  übereinstimmend  mit  dem  Zeitgeist  („guten  ton")  zu 
verführen  und  sich  verführen  zu  lassen."  Dafs  Tacitus  in  diesem 
ganzen  zusammenhange,  wo  er  gerade  die  reinen  sitten  der  Ger- 
manen im  gegensatze  zu  den  römischen  zuständen  preisen  will  (plus- 
que  ibi  boni  mores  valent  quam  ahbi  bonae  leges  c.  19  schlufs), 
eine  bemerkung  darüber  einschieben  sollte,  dafs  sie  nicht  schreiben 
konnten,  wäre  ja  völlig  sinnlos.  Es  ist  selbstverständüch,  dafs  litterarum 
secreta  parallel  mit  spectaculorum  illecebræ  („die  schlüpfrigen,  verführe- 
rischen Schauspiele")  und  conviviorum  irritationes  („die  aufregenden 
gastmähler")  steht  und  ein  drittes,  den  Römern  wohlbekanntes  ver- 
führungsmittel  bezeichnet;  es  mufs  daher,  wie  auch  schon  J.  Lipsius 
richtig  gesehen  hat,  von  „heimlichem  briefwechsel,  heimhchen  liebes- 
briefen,  die  männer  und  frauen  einander  sandten",  verstanden  werden. 
Nur  diese  erklärung  pafst  sowohl  zu  dem  Zusammenhang  wie  zu  den 
Worten  litterarum  secreta.    Aber   hiermit  fällt  dann  auch  der  beweis. 


III.    KAP.       A.    DIE    VERBREITUNG    DER    RUNENSCHRIFT.  67 

den  man  aus  Tacitus  fär  die  unbekanntschaft  der  Germanen  mit  der 
Schrift  hat  herholen  wollen.  Soll  die  stelle  in  bezug  auf  diese  frage 
etwas  beweisen,  so  müfste  es  im  gegenteil  sein,  dafs  die  Germanen 
gerade  die  buchstabenschrift  gekannt  haben.  Denn  erst  dadurch  würde 
ja  der  rühm,  welchen  Tacitus  ihnen  wegen  nichlanwendung  der  buch- 
stabenschrift zu  heimlichem  briefwechsel  zuerkennt,  völlig  begründet 
sein,  wohingegen  derselbe  weniger  zu  bedeuten  hätte,  wenn  sie  gar 
nicht  hätten  schreiben  können.  Aufserdem  erwähnt  ja  Tacitus  an 
andern  stellen  als  thatsachen,  die  ihn  keineswegs  verwundert  haben,  s.  63. 
einen  brief  von  dem  berühmten  Markomannenkönige  Marobod  (Ma- 
roboduus)  an  Tiberius  (Ann.  II,  63)  und  von  dem  Chattenfürsten 
Adgandester  (Adgandestrius)  an  den  römischen  senat  (Ann.  11, 
88).  Es  kann  wohl  kein  zweifei  darüber  bestehen,  dafs  diese  briefe 
lateinisch  und  mit  lateinischen  buchstaben  geschrieben  waren  —  von 
Marobod  wissen  wir,  dafs  er  sich  längere  zeit  in  Rom  aufgehalten 
hatte  — ,  und  es  geht  also  hieraus  hervor,  dafs  zum  mindesten  hoch- 
stehende Germanen  sich  schriftlich  in  einer  fremden  spräche  haben 
ausdrücken  können.  Aber  es  liegt  dann  nahe  anzunehmen,  dafs  sie 
auch  versucht  haben,  ihre  eigene  spräche  mit  den  ihnen  wohlbe- 
kannten lateinischen  schriftzeichen  zu  schreiben,  wie  es  mit  den 
Galliern  zu  der  zeit  der  fall  war,  und  von  hier  aus  war  dann  der 
schritt  zur  bildung  eines  eignen  alphabetes  für  ihre  spräche  (der  runen) 
nach  den  lateinischen  buchstaben  ebenso  leicht  als  natürlich.  Eine 
positive  aufklärung,  die  zu  sicheren  resultaten  in  dieser  beziehung 
führen  kann,  geben  indessen  weder  Tacitus  noch  andere  Schriftsteller 
des  altertums^).     Aus  der  folgenden  Untersuchung  wird   sich  aufser- 


M  Germ.  cap.  10  schildert  Tacitas  das  looswerfen  der  Germanen  auf  folgende 
weise:  „Virgam  frugiferæ  arbori  decisaiu  in  sorculos  ampntant  eosque  noti* 
quibnsdaui  discretos  super  candidam  vestem  temere  ac  fortuito  spargunt.  Mox, 
si  publice  consultetur  [Halm  für  consuletur],  sacerdos  civitatis,  sin  privatim» 
ipse  pater  familiæ,  precatus  deos  cælnmque  suspiciens,  ter  singulos  tollit,  sub- 
latos  secnndum  impressam  ante  notam  interpretatur".  Dafs  hier  bei  notæ, 
nota  impressa  an  runen  gedacht  sein  sollte,  würde  ich  für  höchst  unwahr- 
scheinlich halten,  selbst  wenn  die  Germanen  za  der  zeit  wirklich  die  rnnen- 
schrift  gekannt  hätten;  es  müfste  viel  eher  von  anderen  „zeichen"  oder  „marken" 
zu  verstehen  sein.  Vgl.  übrigens  K.  Mülle  nhoff,  Zur  Runenlehre.  Zwei  Ab- 
handlungen von  R.  V.  Liliencron  u.  K.  Müllenhoff,  Halle  1852,  s.  26  ff.;  C.  G.  Ho- 
me yer  in  dem  Bericht  über  die  Verhandlungen  der  königl.  Prenfs.  Akademie  der 
Wissenschaften  zu  Berlin  1853,  s.  747  ff.  In  seinem  gröfseren  werke  „Die  Hans- 
and   Uofmarken",    Berlin    1870,    s.  8    erklärt    Homeyer    beiläufig,    dafs    notæ 

5* 


68  ERSTES  BUCH.   DER  URSPRUNG  DER  RUNENSCHRIFT. 

dem  ergeben,  dafs  es  nicht  angenommen  werden  kann,  dafs  die  Ger- 
manen bereits  zu  Tacitus'  zeit  die  runenschrift  gekannt  haben  sollten. 
Erst  mehrere  Jahrhunderte  nach  Tacitus  legt  ein  Schriftsteller 
beiläufig  und  ganz  zufaUig  ein  ausdrückliches  Zeugnis  von  dem 
gebrauche  der  runenschrift  bei  den  Germanen  ab.  Dies  ist  Ve- 
nantius  Fortunatus,  der  in  Oberitalien  geboren  und  in  Ra- 
venna erzogen  war,  sich  aber  später  an  vielen  verschiedenen  stellen  in 
64.  Deutschland  und  Frankreich  aufhielt,  bis  er  am  Schlüsse  des  sechsten 
Jahrhunderts  bischof  zu  Poitiers  (episcopus  Pictaviensis)  wurde  ^). 
Unter  Venantius'  lateinischen  gedichten  findet  sich  auch  ein  bdef  an 
seinen  (im  übrigen  unbekannten)  freund  Flavus,  worin  er  diesen 
auffordert,  ihm  entweder  lateinisch  oder  in  einer  andern  spräche  zu 
antworten;  wenn  er  nicht  lateinisch  schreiben  wolle,  könne  er  ja 
z.  b.  mit  „barbarischen  runen"  auf  holztafeln  oder  auf  einem 
glatten  holzstabe  schreiben.  Dies  wird  folgendermafsen  in  den  beiden 
seit  0.  Worms  tagen  ^)  oft  angeführten  versen  (Carminum  lib.  VII, 
18,  V.  19  f.)  ausgedrückt: 


an    der    aagefiihrten    stelle    bei  Tacitus    mit  MülleDhoET   von    rnnen    verstauden 
werden  könne. 

1)  Bezüglich  dieses  merkwürdigen  mannes  verweise  ich  auf  die  schöne 
Schilderung  bei  A.  Thierry,  Récits  des  temps  mérovingiens,  II  (Paris  1840), 
s.  242  ff.,  sowie  auf  die  lebensbeschreibungen  vor  den  ausgaben  seiner  werke: 
Venautii  Honorii  Clementiani  Fortunati  carminum,  epistolarnm,  expositionnm 
libri  XI  etc.  Omnia  recens  illustrata  notis  variis  a  Christopher  o  Browero, 
Moguntiæ  1617;  Venantii  Honorii  Clementiani  Fortunati  opera  omnia  quse  extant 
etc.  notis  et  scholiis  illustrata  opera  et  studio  Mich.  Angeli  Luchi,  I — II, 
Romæ  1786 — 87  (abgedruckt  bei  J.  P.  Migne,  Patrologiæ  cursus  completus,  tom. 
LXXXVIII,  Parisiis  1850);  Venanti  Honori  Clementiani  Fortunati  presbyteri 
Italici  Opera  poetica  rec.  et  emend.  Fridericus  Leo,  Berolini  1881  (Mon.  Germ. 
Hist.  Auct.  antiquiss.  IV,  1).  —  Vgl.  W.  Wattenbach,  Deutschlands  geschichts- 
quellen  im  mittelalter  bis  zur  mitte  des  13.  jhdts  1,  5.  aufl.  Berlin  1885, 
s.  87  ff.,  wo  die  weitere  litteratur  unter  anm.  3  verzeichnet  ist. 

2)  Es  war  Steph.  Stephanius,  der  1635  Ole  Worm  auf  die  stelle  bei 
Venantius  aufmerksam  machte.  Stephanius  schreibt  die  beiden  verse  mit  Browers 
bemerkung  ab  und  fügt  hinzu:  „Quæ  ego  nunc  omnia  tuam  in  gratiam  descri- 
benda  duxi,  ut  si  a  te  antea  non  sint  observata,  locum  fortasse  inveniant  in 
eruditissimo  Tractatu  tuo  de  Litte ratura  Runica"  (siehe  01a i  Wormii  et 
ad  eum  doctorum  virorum  epistolæ,  Havniæ  1751,1,  s.  162).  Hierauf  antwortet 
0.  Worm  (ibid.  s.  163):  „Fortunatum  me  judicavero,  tuum  ubi  videro  Foriunatum 
F^enantium.  Auetor  enim  est  mihi  nunquam  visns,  sed  tuæ  [„dein  brief"]  ejus 
mihi  ingessere  videndi  cupiditatem,  ut  sine  eo  meas  de  Runis  Meditationes 
mancas  ac  mutilas  plane  esse  arbitrer.     Locus,   quem  mihi  suggessisti,   elegans 


III.    KAP.       A.    DIE    VERBREITUNG    DER    RUNENSCHRIFT.  69 

Barbara  fraxineis  pingatur  runa  tabellis, 
quodque  papyrus  agit,  virgula  plana  valet. 
Wer  leugnet ,  dafs  die  Germanen  (im  engeren  sinne)  überhaupt  die  s.  65. 
runenschrift  gekannt  haben,  müfste  wohl  annehmen,  dafs  Yenantius 
durch  einen  zufall  mit  den  nordischen  (oder  altenglischen)  runen 
bekannt  geworden  wäre,  und  dais  der  ausdruck  „barbara  runa" 
sich  darauf  bezöge.  Aber  da  diese  „barbarischen  runen"  nach  dem 
zusammenhange  eine  schrift  bezeichnen  müssen,  die  nicht  nur  dem 
Yenantius,  sondern  auch  dem  Flavus  wohlbekannt  ist,  so  scheint  es 
mir  einleuchtend,  dafs  wir  nicht  an  die  fernUegenden  nordischen 
runen  denken  dürfen,  sondern  dafs  barbara  runa  als  die  speciell 
germanische  („barbarische")  schrift  in  gegensatz  zur  lateinischen  ge- 
stellt wird.  Mit  der  runenschrift  hatte  Yenantius  bei  den  verschiedenen 
germanischen  Völkern ,  unter  denen  er  sich  aufgehalten ,  bekannt- 
schaft  gemacht  (ja,  es  ist  sogar  nicht  unmöglich,  dafs  er  sie  schon  bei 
den  Goten  in  Ravenna  kennen  gelernt  haben  könnte),  und  er  gebraucht 
barbara  von  runa  in  derselben  bedeutung,  wie  wenn  er  anderwärts 
(Carm.  hb.  IX,  1,  v.  27  f.)  in  einem  gedichte  „ad  Chilpericum  regem"  sagt: 

Chilperice  potens,  si  in  terpres  barbarus  extet, 

adjutor  fortis,  hoc  quoque  nomen  ha  bes. 

In  derselben  weise  stellt  er  die  barbarische  (d.  i.  germanische)  harfe 

der    römischen    lyra    gegenüber ,    und    die    deutschen    lieder  werden 

„barbara  carmina"  genannt  (Carm.  lib.  YII,  8,  v.  63 ff.): 

Romanusque  lyra,  plaudal  tibi  barbarus  harpa, 
Græcus  Achilliaca,  chrotta  Britanna  canat. 


Nos  tibi  versiculos,  dent  barbara  carmina  leudos; 
sie  Variante  tropo  laus  sonet  una  viro*). 


est,  &  meis  cogitationibns  io  maltis  faveos;  ntioam  ejus  generis  iovenires  plus- 
cnla".  (Vgl.  s.  165,  wo  Worm  für  das  leihen  des  baches  dankt).  In  der  ersten 
ausgäbe  seiner  Danica  Literatura  1636,  4to,  s.  7  (vgl.  s.  9  &  22)  erwähnte  VVorm 
die  stelle  bei  Veoantins.  Später  ist  sie  oft  von  andern  angeführt  und  behandelt 
worden,  am  ausführlichsten  von  W.  Grimm,  Über  deutsche  Runen,  s.  61  ff. 

*)  Vgl.  Carm.,  Praefatio,  wo  er  erwähnt,  dafs  er  auf  seiner  reise  unter 
den  barbarischen  Völkern  oft  an  ihren  gelagen  teilnahm,  „nbi  mihi  tantnndem 
valebat  raacum  gemere  quod  cantare  apud  qaos  nihil  disparat  aut  Stridor 
anseris  aut  canor  oloris,  sola  sæpe  bombicans  barbaros  leudos  harpa  reli- 
dens".  Das  wort  leudus  bei  Venanlius  ist  das  deutsche  lied  (ahd.  Uod,  leod); 
harpa  ist  ahd.  harpha,  har  Ja.  Auch  chrotta  kommt  im  ahd.  in  der  form  roüa 
(für  hrotta),  rota  als  ein  saiteninslrumeut  von  keltischem  Ursprung  vor. 


70  ERSTES  BUCH.   DER  URSPRUNG  DER  RUNENSCHRIFT. 

s.  66.  Wenn  wir  nicht  gewaltsame  oder  künstliche  erklärungen  auf  die 

hier  angeführte  stelle  des  Venantius  anwenden  wollen,  zeigt  sie  uns 
also,  dafs  die  runen,  die  wir  auf  den  spangen  von  Charnay, 
Nord  end  orf  u.  s.  w.  finden,  noch  zu  seiner  zeit  (am  schlufs  des 
6.  jahrhdts)  von  germanischen  („barbarischen")  Völkern  —  es  liegt  ja 
am  nächsten  anzunehmen,  dafs  Venantius  besonders  an  die  Franken 
denkt  — ,  benutzt  wurden,  obgleich  sie  wohl  stark  auf  dem  wege 
waren,  vor  der  lateinischen  schrift  zu  weichen.  Aber  Venantius'  worte 
geben  uns  aufserdem  eine  andere  interessante  aufklärung,  da  daraus 
hervorgeht,  dafs  die  runenschrift  von  den  Deutschen  auf  holztafeln 
oder  holzstäbe  eingeritzt  wurde,  die  als  briefe  dienten. 
Dies  stimmt  auffallend  zu  einem  Zeugnisse  aus  dem  Norden,  nämlich 
Saxos  Worten  (hb.  III,  s.  145  ed.  P.  E.  Müller  =  s.  92  ed. 
A.  Holder):  „Proficiscuntur  cum  eo  bini  Fengonis  satellites,  literas 
ligno  insculptas  —  nam  id  celebre  quondara  genus  char- 
tarum  erat  —  secum  gestantes",  und  es  ist  ja  bekannt,  dafs 
„runenstäbe"  {kefli,  rünakefli)  im  Norden  bis  in  sehr  späte  zeit  hinab 
benutzt  wurden^).  Auch  der  den  verschiedenen  germanischen  Völkern 
gemeinsame  name  für  „buch"  (ahd.  buoh;  alts.  b6c\  altengl.  böc, 
plur.  bec)  altnord.  bök,  plur.  bækr;  got.  böka  Sgl.  'buchstabe',  plur. 
bökös  'buch,  brief)  ist  höchst  wahrscheinlich  von  anfang  an  dasselbe 
wort  wie  „buche",  das  sich  in  den  meisten  sprachen  erst  spät,  in 
einzelnen  gar  nicht  in  zwei  worte  gespalten  hat.  Die  ursprüngliche 
bedeutung  von  „buch"  ist  daher  wohl  gerade  ,, tafeln  von  buchen- 
holz"  gewesen,  auf  welche  die  runen,  die  stäbe  (ahd.  buohstab, 
runstab\  alts.  böcstaf;  altengl.  bocstæf,  runstæf;  altn.  stafr,  bökstafr,  rüna- 
stafr  —  vgl.  got.  stafs  im  plur.  „kinderlehre",  ffroix^ta)  geschrieben, 
geritzt  wurden  (ahd.  rizan-,  alts.  und  altengl.  writan;  altn.  rita  — 

s.  67.  vgl.  got.  vyrits  'strich',  „tüpfel",  xsqaia,  wie  ahd.  ^is  'strich,  buchstabe'). 
Dafs  wir  in  der  ältesten  zeit  dieselben  benennungen  für  „buch", 
„buchstabe",  „schreiben"  so  verbreitet  bei  den  verschiedenen 
germanischen  Völkern  finden,  ist  ja  auch  ein  moment,  das  für  die 
beantwortung  der  frage  nach  ihrer  kenntnis  der  buchstabenschrift 
bedeutung  hat. 

Dafs  die  Germanen  am  Schlüsse  des  6.  jahrhdts  eine  eigentüm- 
Uche  buchstabenschrift  unter  dem  namen  runen  kannten,  wissen  wir 
also  aus    dem    Zeugnisse    des  Venantius,    das  ja  durch  die  oben  ge- 

1)  Vgl.  Liljegren,   Rnn-Lära,  s.  181  ff.;  P.  E.  Müller  in   der  ausgäbe 
vou  Saxo  II,  s.  5  ff.;  P.  G.  Thorsen,    De  danske  Rnnemindesniærker,  s.  250  ff. 


III.    KAP.       A.    DIE    VERBREITD!<G    DER   RUNENSCHRIFT.  71 

nannten  speciell  germanischen  runendenkmäler  (die  spangen  von 
Charnay,  Nordendorf  u.  s.  w.)  positiv  bestätigt  wird,  unter  denen  die 
ältesten  aus  archäologischen  gründen  gerade  in  die  zeit,  da 
Venantius  seine  gedichte  schrieb,  gesetzt  werden  müssen.  Dafs  die 
runenschrift  indessen  noch  älter  ist,  wird  durch  die  runendenk- 
mäler bewiesen,  die  wir  als  speciell  gotische  bezeichnet  haben  (die 
speerblätter  von  Kovel  und  Müncheberg  samt  dem  Bukarester  ringe), 
und  die  sicher  an  das  ende  des  4.  jahrhdts  gesetzt  werden  dürfen, 
also  in  dieselbe  zeit,  in  welche  auch  die  ältesten  der  im  Norden  ge- 
fundenen runeninschriften  (die  inschriften  aus  dem  Thorsbjærger 
moore  und  einige  andere)  gehören.  Aulser  den  genannten  gotischen 
runeninschriften  haben  wir  noch  einen  andern  wichtigen  beweis  da- 
für, dafs  die  Goten  im  4.  jahrhdt  die  runenschrift  gekannt  haben. 
In  einer  handschrift  in  Wien  aas  dem  Schlüsse  des  9.  oder  dem 
anfang  des  10.  jahrhdts  (cod.  Salisb.  no.  140),  die  auf  den  ersten  18 
blättern  Alcuini  orthographia  enthält,  finden  sich  auf  dem  20.  blatte 
zwei  merkwürdige  alphabete,  nämlich  auf  der  ersten  seile  in  zwei 
senkrechten  reihen  ein  altengüsches  runenalphabet  mit  hinzufügung 
der  namen  und  der  bedeutung  der  runen  (vgl.  näheres  unten),  auf 
der  rückseite  gleichfalls  in  zwei  senkrechten  reihen  zwei  gotische 
alphabete,  von  denen  das  erstere  sich  der  kursivschrift  nähert,  aber 
die  ursprüngliche  gotische  buchstabenordnung  bewahrt,  die  sich  mit 
Sicherheit  mit  hülfe  des  zahlenwertes  der  buchstaben  bestimmen 
läfst,  das  andere  dagegen  ungefähr  die  aus  den  bibelhandschriften  be- 
kannten buchstabenformen,  aber  nach  dem  lateinischen  alphabete 
geordnet,  hat.  In  einer  dritten  senkrechten  reihe  rechts  vor  dem 
zweiten  aiphabet  sind  endlich  die  namen  der  buchstaben  hinzuge- 
fügt*). Auf  die  ähnlichkeit  zwischen  diesen  namen  und  den  alten  s.  6S. 
runennamen  (namentlich  den  altenglischen)  hatte  bereits  W.  Grimm 
hingewiesen  (Zur  Literatur  der  Runen  s.  9  f.),  wozu  J.  Grimm  ein- 
zelne bemerkungen  hinzugefügt  hatte  (ebenda  s.  41  f.).  Aber  erst 
20  jähre    später    glückte    es    P.  A.  Munch^)    und    A.  Kirch- 


^)  Abgebildet  bei  VV.  Grimm,  Zur  Literatur  der  Ruaeo.  Nebst  Mittheilnog 
runischer  Alphabete  nod  gothischer  Fragmente  ans  Handschriften.  (Aus  dem 
XLm.  Bande  der  Wiener  Jahrbücher  der  Literatur  besonders  abgedruckt.) 
Wien  1S28,  s.  10*.  Vgl.  auch  H.  F.  Massmann  in  Hanpts  Zeitschrift  für 
deutsches  alterthum  I  (1841),  s.  296  ff. 

')  In  dem  Bericht  über  die  Verbandlungen  der  königL  Preufs.  Akademie 
der  Wissenschaften    zu    Berlin  1S48,  s.  55  ff.    (Samlede  Afhandlinger  I,    Christi- 


n 


ERSTES  BUCH.   DER  URSPRUNG  DER  RUNENSCHRIFT. 


hoff*),  wie  es  scheint  unabhängig  von  einander,  aber  im  wesent- 
hchen  mit  demselben  resultat,  die  ursprünglichen  formen  der  gotischen 
buchstabennamen  nachzuweisen.  Einzelne  zweifelhafte  namen  hat 
später  J.  Zacher  einer  sorgfaltigen  prüfung  unterzogen-).  Trotz- 
dem mehrere  einzelheiten  gewifs  bei  erneuerter  durchsieht  noch  be- 
richtigt werden  können,  ist  das  hauptergebnis  von  Munchs  und  Kirch- 
hoffs Untersuchungen  die  unzweifelhafte  thatsache,  dafs  die  gotischen 
buchstaben  eigene  namen  gehabt  haben,  die  uns  in  einer  etwas  ver- 
derbten gestalt  im  cod.  Salisb.  140  überliefert  sind,  und  dafs  diese 
namen  auf  das  genaueste  mit  den  alten  altengHschen  (und  nor- 
dischen) runennamen  übereinstimmen.  Aber  hieraus  müssen  wir 
dann  mit  notwendigkeit  den  schlufs  ziehen,  dafs  die  Goten  vor 
und  zu  Wulfilas  zeit  ein  runenalphabet  gehabt  haben. 
An  stelle  dieses  alphabetes  gab  Wulfila  seinen  landsleuten  ein  neues, 
das  er  nach  den  griechischen  (und  lateinischen)  uncialbuchstaben 
bildete ;  aber  er  behielt  die  alten  buchstabennamen,  und  wenn  wir 
die  einzelnen  zeichen  in  dem  Wulfilanischen  alphabete  betrachten, 
werden  wir  finden,  dafs  er  auch  zwei  von  den  alten  runenzeichen 
unter  die  griechischen  (und  lateinischen)  buchstaben  aufgenommen 
hat  (siehe  unten  'Anhang'  I),  ein  verfahren,  das  wir  ja  auch  in 
s.  69.  England  (und  Skandinavien)  treffen,  als  das  lateinische  aiphabet  dort 
die  alte  runenschrift  verdrängte*). 


auia  1873,  s.  416  f.),  sowie  in  „Det  gotiske  Sprogs  Formlære",  Christiania  1848, 
§  18,  s.  15—16. 

^)  Das  gothiscbe  ruueoalphabet,  Berlin  1851,  4to.     (Zweite  aufl.  1854,  8vo). 

^)  Das  gothiscbe  alphabet  Vulfilas  und  das  runenalphabet,  Leipzig  1855. 

3)  Venantius  Fortunatus'  Zeitgenosse,  der  fränkische  geschichtsschreiber 
Gregor  von  Tours,  erzählt  in  seiner  historia  Francorum  (V,  44)  von  könig 
Chilperik:  „Addit  autem  et  litteras  litteris  nostris,  id  est  w,  sicut  Graeci  habent, 
ae,  the,  uui,  quarum  caracteres  hi  sunt :  w  Ø,  ae  t//,  the  Z,  uui  ^.  Et  misit 
epistulas  in  universis  civitatibus  regni  sul,  ut  sie  pueri  docerentur,  ae  libri 
antiquitus  scripti,  planati  pomice  rescriberentur".  Dies  verstehe  ich  so,  dafs 
Chilperik  das  von  den  Franken  allgemein  l>enutzte  lateinische  aiphabet  um 
vier  neue  buchstaben  habe  vermehren  wollen,  ein  versuch,  der  jedoch  keine 
gröl'sere  bedeutung  erlangte,  als  der  des  kaisers  Claudius,  drei  neue  buchstaben 
einzuführen.  Leider  sind  die  von  Chilperik  gebildeten  zeichen  in  späteren  hand- 
schriften  und  ausgaben  von  Gregors  werke  sehr  verderbt  (vgl.  die  abbildungen 
der  zeichen  in  der  ausgäbe  von  W.  Arndt,  Mon.  Germ.  Seriptt.  rer.  Mero- 
ving.  I,  tab.  4  oben  (Cod.  Lugd.)  und  s.  237  anm.  t.);  dagegen  scheint  eine 
vorzügliche  alte  handschrift  von  Cambrai  (aus  der  mitte  des  7.  jahrhdts,  vgl. 
Ariiilt  a.  a.  o.  s.  24  f.)    dem    ursprünglichen    sehr  nahe  zu  stehen.     Nach  dieser 


III.    KAP.       A.    DIE    VERBREITUNG    DER    RDNE?ISCBRIFT.  73 

Die  hier  besprochenen  thatsachen  in  Verbindung  mit  dem  alter 
der  nordischen,  gotischen  und  germanischen  runendenkmäler  machen 
es  daher  im  höchsten  grade  wahrscheinHch,  dafs  die  ganze  ger- 
manische Völkerklasse  in  den  ersten  Jahrhunderten  nach 
Christi  gehurt  ein  runenalphabet  gehabt  hat,  welches  aufs 
genaueste  mit  dem  ältesten  nordischen  übereinstimmte. 

Bei  den  Goten  und  Germanen  auf  dem  festlande  hat  die 
runenschrift  indessen  nur  wenige  spuren  zurückgelassen  und  ist  früh- 
zeitig ganz  verschwunden.  Während  das  Wulfilanische  aiphabet  bereits 
im  4.  jahrh.  bei  den  Goten  eingeführt  wurde,  finden  wir  in  den  s.  70. 
ältesten  deutschen  Sprachüberresten  (8.  und  9.  jahrh.)  ausschliefslich 
das  lateinische  aiphabet  benutzt;  aber  es  hatte  ohne  zweifei  schon  lange 
vorher  die  alte  runenschrift  verdrängt,  *  die  noch  eine  zeit  lang  so- 
wohl bei  den  Goten  wie  bei  den  Germanen  neben  den  neueren  alpha- 
beten  gebraucht  sein  kann,  aber  doch  bald  vor  diesen  gewichen  sein 
mufs.  Länger  als  die  verwandten  auf  dem  festlande  hielten  dagegen 
die  germanischen  stamme,  die  nach  England  ausgewandert  waren, 
ihre  alte  schrift  in  ehren.  Das  runenalphabet  wurde  in  England 
durch  einzelne  neue  zeichen  für  später  entwickelte  laute  vermehrt, 
und  es  wurde  eine  zeit  lang  mit  dem  lateinischen  zusammen  gebraucht, 
sogar  auf  denselben  denkmälern,  wie  uns  namentlich  das  kreuz  von 
Ruthwell  beweist.  In  den  ältesten  altenglischen  handschriften  (9.  und 
10.  jahrh.)  ist  indessen  das  lateinische  aiphabet  alleinherrschend', 
jedoch  finden  wir  in  einzelnen  handschriften  ab  und  zu  runen  ein- 
gemischt, was  im  verein  mit  den  vielen  handschriftlichen  runenal- 
phabeten  zeigt,  dafs  man  noch  in  späten  Zeiten  die  kenntnis  von  der 
anordnung,    den    namen    und    der    bedeutung    der    runen    bewahrte. 


haadschrift  werden  die  zeichen  foIgeDdermarsen  io  dem  Nouvean  traité  de  Di- 
plomatique vol.  II,  Paris  1755,  s.  62  (vgl.  s.  50—65)  wiedergegeben:  QJ  Q^  ^ff 
<^,  ^  t/ie,  ^  uui.  Ich  glaube  hiernach,  dafs  das  erste  zeichen  (für  das  lange  o) 
geradezu  die  griechische  uacialform  von  lo  ist,  oder  vielleicht  eher  Q  mit  eioem 
pankt  darin,  so  dafs  w  eine  erkläraog  davon  ist;  und  dafs  die  zeichen  für  æ 
und  th  dnrch  verschlingung  der  lateinischen  nncialbuchstaben  a  und  e,  sowie  t 
und  h,  gebildet  sind.  In  dem  letzten  zeichen  (für  uui  d.  i.  w)  finde  ich  dagegen 
die  alte  u>-rnne  (P)  oder  eine  daraus  gebildete  form  wieder,  wo  nur  der  haopt- 
stab  verkürzt  ist  (bekanntlich  ging  diese  rune  ja  auch  in  die  ,, angelsächsische" 
Schrift  über).  Ist  diese  Vermutung  richtig,  so  haben  wir  hierin  eiaeo  neuen 
beweis  daHir,  dals  die  runenschrift  zu  Chilperiks  zeit  von  den  Frauken  gekannt 
war,  wodurch  Venautius'  zengnis  weiter  bestätigt  wird. 


74         ERSTES  BUCH.   DER  URSPRUNG  DER  RUNENSCHRIFT. 

Trotzdem    finden    wir    aucli    in    England    nur    eine    verhältnismafsig 
höchst  unbedeutende  anzahl  runendenknifder  bewahrt. 

In  den  skandinavischen  ländern  waren  die  Verhältnisse 
in  allen  beziehungen  der  alten  runenschrift  am  günstigsten;  hier  er- 
hielt sie  sich  so  lange  im  allgemeinen  gebrauch,  dafs  sie  im  laufe  der 
Zeiten  mannigfaltige  Veränderungen  erleiden  und  an  verschiedenen 
stellen  sich  sehr  verschieden  entwickeln  konnte.  Auch  scheint  ihre 
anwendung  in  inschriften  auf  steinen  zur  erinnerung  an  verstorbene 
sich  besonders  im  Norden  entwickelt  zu  haben,  wo  sie  eine  bedeu- 
tende rolle  spielen  sollte,  während  bisher  kein  einziger  gedenkste.in 
mit  runen  in  den  gegenden  gefunden  worden  ist,  wo  Goten  und 
Germanen  auf  dem  festlande  wohnten,  gleichwie  in  England  der  stein 
von  Kent  (Stephens  l,  s.  367)  ganz  allein  dasteht.  Ohne  zweifei  ist 
die  sitte,  den  toten  runensteine  zu  errichten,  zuerst  in  Norwegen  und 
Schweden  aufgekommen,  da  wir  von  Dänemark,  wo  doch  die  ältesten 
runendenkmäler  aus  dem  älteren  eisenalter  zu  tage  gekommen  sind, 
s.  71.  keinen  grabstein  kennen,  der  in  diese  zeit  gesetzt  werden  kann.  Aber 
später  hat  dieser  gebrauch  sich  über  den  ganzen  Norden  erstreckt, 
und  in  der  ersten  periode  des  jüngeren  eisenalters  scheint  er  be- 
sonders allgemein  in  Dänemark  und  zumal  auf  den  dänischen  inseln 
verbreitet  gewesen  zu  sein.  Jedoch  sind  der  denkmäler  gerade  aus 
dieser  zeit  allzu  wenige,  als  dafs  wir  noch  einen  bestimmten 
schlufs  daraus  ziehen  dürften. 

B.    Das  älteste  gemeingermanische  runenalphaiet. 

Wir  haben  im  vorhergehenden  gezeigt,  dafs  die  runenschrift  ein- 
mal dem  ganzen  germanischen  Völkerstamme  angehört  hat;  aber  über 
den  Ursprung  dieser  schrift  haben  wir  nicht  die  geringste  aufklärung 
in  unsern  quellen  finden  können.  Um  auf  diese  frage  eine  befrie- 
digende antwort  geben  zu  können,  müssen  wir  natürlich  zuerst  da- 
mit im  reinen  sein,  wie  das  gemeingerraanische  runenal- 
phabet  beschaffen  gewesen  ist,  und  hier  würden  wir  sicher 
noch  lange  in  bezug  auf  eine  menge  einzelheiten  im  dunkeln  getappt 
haben,  wenn  uns  nicht  ein  glücklicher  zufall  geholfen  hätte,  dieses  rätsei 
zu  lösen.  Dies  ist  in  weit  höherem  grade,  als  wir  hoffen  durften, 
geschehen,  indem  drei  von  den  bisher  bekannten  denkmälern  mit 
den  ältesten  runen  das  alte  runen  alp  habet  als  solches  enthalten, 
und  von  diesen  drei  alphabeten  ist  das  eine  im  Norden,  das  zweite 
inBurgund,  das  dritte  in  England  gefunden.     Wir   haben  auf 


III.    KAP.       B.    DAS    ÄLTESTE    GEMEINGERMANISCHE    RUNBNALPHABET.       75 

diese  weise  ein  mit  den  übrigen  denkmälern  gleich- 
zeitiges aiphabet  von  dreien  der  hauptstämme  in  unserer 
sprachklasse. 

Diese  für  unsere  Untersuchung  wichtigen  denkmäler  sind: 

1)  ein  brakteat  (d.  h.  eine  dünne  goldplatle,  bractea,  in  form 
einer  münze,  mit  prägung  auf  der  einen  seite  und  mit  einer  Öse 
versehen,  um  als  schmuckgehänge  benutzt  werden  zu  können),  ge- 
funden 1774  bei  Vadstena  in  Schweden,  jetzt  im  museum  zu 
Stockholm.  Der  gröfste  teil  der  Umschrift  desselben  besteht  aus 
einem  runenalphabet  in  der  ursprünglichen  reihenfolge  der  runen 
(tab.  in,  fig.  1,  nach  einem  ausgezeichneten  galvanoplastischen  ab- 
gufs  im  allnordischen  museum  zu  Kopenhagen); 

2)  die  oben  (s.  58)  genannte  spange,  die  bei  Charnay  in  der  s.  72. 
Bourgogne    gefunden    ist     Die    oberste    zeile  der  inschrift  enthält 

den  gröfsten  teil  des  runenalphabetes  in  derselben  anordnung  wie 
der  brakteat  von  Vadstena  (taf.  III,  fig.  2,  nach  einer  Zeichnung, 
die  ich  zugleich  mit  genauen  erläuterungen  über  die  einzelnen  runen 
dem  französischen  allertumsforscher  E.  Beauvois  verdanke,  der  mir 
die  gefälUgkeit  erwiesen  hat,  die  inschritl  in  herrn  Baudots 
Sammlung  in  Dijon  sorgfältig  zu  untersuchen  und  sich  dadurch  im 
Stande  gesehen  hat,  verschiedene  wertvolle  berichtigungen  zu  den  frühe- 
ren abbildungen  zu  liefern); 

3)  ein  messer  oder  kleines  schwer!,  gefunden  1857  in  der 
Themse  (jetzt  im  British  Museum),  mit  einem  altenglischen 
runenalphabete,  ebenfalls  in  der  ursprünglichen  anordnung  (taf.  III, 
fig.  3,  nach  der  Zeichnung  bei  Stephens  I,  s.  362  in  halber  gröfse, 
mit  dem  original  verglichen  und  darnach  berichtigt  von  dem  attaché 
bei  der  dänischen  gesandtschaft  in  London,  C.  C.  A.  Gösch). 

Von  diesen  drei  alphabeten  müssen  die  beiden  ersteren  unge- 
fähr gleichzeitig  sein  und  können  in  das  ende  des  6.  jahrhdts  (um 
600)  n.  Chr.  gesetzt  werden,  wohingegen  das  aiphabet  auf  dem 
Themsemesser,  das  auch  die  neueren  zeichen  für  die  besondern 
altenghschen  laute  enthält,  jünger  ist  und  gewils  dem  ende  des 
8.  jahrhdts  (um  800)  angehört.  Die  bedeutung,  welche  das  alte 
griechische  aiphabet  auf  der  vase  von  Caere  und  die  alten  etrus- 
kischen  alphabete  von  Bomarzo,  Clusium  und  Nola  für  das  Ver- 
ständnis der  entwicklungsgeschichte  der  griechischen  und  itahschen 
alphabete  haben,  dieselbe  haben  die  genannten  runenalphabete  für 
die  geschichte  der  runenschrift. 


.  76  ERSTES   BUCH.       DER    URSPRU>G    DER    RUNEINSCHRIFT. 

Indem  wir  daher  dazu  übergehn,  diese  alphabete  im  einzelnen 
näher  zu  besprechen,  beginnen  wir  mit  demjenigen,  das  nicht  nur 
am  längsten  bekannt  und  oft  behandelt  worden  ist,  sondern  auch 
in  vielen  beziehungen  als  das  wichtigste  angesehen  werden  mufs, 
nämlich : 

1)  dem  alphabete  auf  dem  brakteaten  von  Vadstena. 
Dieses  aiphabet  hat  folgende  gestalt: 

Die    runen    stehen  also   umgekehrt  und  laufen  von  rechts  nach 

links.     Sie   sind  folglich  im   stempel   richtig  eingeschnitten  gewesen, 

73.  und  wir  müssen  sie  also  umwenden  um  die  formen  zu  erhalten,  die 

der  Stempelschneider   dargestellt  hat   (die  richtig  gewendeten  formen 

werden  sich  natürlich  auf  der  rückseite  des  brakteaten  zeigen). 

Von  grofser  Wichtigkeit  ist,  wie  wir  später  sehen  werden,  das 
trennungszeichen  (:)  an  den  beiden  stellen.  Hinsichtlich  der  runen- 
zeichen  sind  nur  das  vorletzte  und  der  seitenstrich  im  1  etwas  un- 
deuthch;  aber  es  fehlt  eine  rune  im  aiphabet  hinter  St,  die  wir  jedoch 
mit  Sicherheit  aus  den  Inschriften  und  andern  alphabeten  ergänzen 
können,  nämlich  M.  Dafs  sich  diese  rune  nicht  auf  dem  brakteaten 
findet,  wo  man  gemeint  hat,  dafs  sie  von  der  perle  unter  der  Öse 
verdeckt  sein  könnte,  hat  Klemming  bei  Stephens  II,  s.  536  erklärt. 
Sie  ist  also  einfach  aus  mangel  an  räum  ausgelassen  (vgl.  weiter 
unten),  wie  wir  aus  demselben  grunde  mehrere  zeichen  in  dem 
nächsten  aiphabet,  das  wir  besprechen  werden,    ausgelassen   finden^). 


1)  Die  acht  runen,  die  sich  auf  dem  brakteaten  von  Vadstena  vor  der  alphabet- 
reihe finden,  lese  ich  mit  ßugge  (årb.  f.  nord.  oldk.  1871,  s.  203)  luwatuwa, 
was  ich  jedoch  ebenso  \\enig  wie  Bugge  befriedigend  zu  erklären  vermag.  iVlan 
könnte  an  zwei  nameu  (a/z-stämme  mascul.  gen.)  oder  an  einen  zusammenge- 
setzten mannsnanien  denken.  Doch  glaube  ich  am  ehesten,  dafs  wenigstens  die 
vier  ersten  runen  (luwa)  keine  bestimmte  sprachliche  bedeutung  haben,  und 
ich  halte  es  nicht  lür  zufällig,  dafs  wir  in  dieser  Zusammenstellung  dieselben 
drei  runen  (lua)  antreffen,  deren  vorkommen  auf  andern  denkmälern  wir  oben 
(s.  57  f.  anm.  5)  besprochen  haben.  Ich  nehme  daher  auch  an,  dafs  ein  Zusammen- 
hang zwischen  dem  luwa  des  brakteaten  von  Vadstena  und  dem  lawn  auf 
einem  brakteaten  von  Schonen  (Stephens  no.  19  =  Atlas  no.  84)  besteht,  worauf 
dort  ohne  zweifei  laukaR  folgt,  das  ein  mannsname  sein  kann  (altn.  laukr; 
vgl.  Bugge  in  den  årb.  f.  nord.  oldk.  1871,  s.  200).  —  Während  der  brakteat 
von  Vadstena  das  ganze  aiphabet  mit  ausnahmt-  einer  einzigen  rune  enthält, 
finde   ich  mit  C.  J.  Thomsen   (annaler   f.    nord.  oldk.  1855,  s.  272)   den   aufang 


III.    KAP.       B.  DAS    ÄLTESTE    GEMEINGERMAMSCHE    RUTiENALPUARET.       77 

Die  ursprüngliche  form  der  runenreihe  auf  dem   brakteaten  von  s.  74 
Vadslena  wird  also,    wenn  wir  die  runen  umwenden  und  M  hinzu- 
fügen, folgende: 

12  3  4  5   6  7  8    9  10  11  12  13  14  15  16   17  IS  19  20  21  22  23  24 

Mit  dem  .,futhark"  des  brakteaten  von  Vadslena  stimmt  voll- 
ständig in  der  anordnung  der  runen  und  bis  auf  ein  paar  geringere 
abweichungen  auch  in  deren  formen 

2)  das  aiphabet  auf  der  spange  von  Charnay. 

Da  mehrere  von  den  runenzeichen  auf  dieser  spange  in  den 
früheren  wiedergaben  bei  Baudot  und  Stephens  mir  zweifelhaft  vor- 
kamen, wandte  ich  mich  in  dieser  angelegenheit  an  herrn  E.  Beauvois 
mit  der  bitte,  die  inschrift  zu  untersuchen.  Dieser  bitte  kam 
er  auch  mit  gröfster  bereitwiUigkeit  nach  und  sandte  mir  eine  auf 
den  sorgfältigsten  Untersuchungen  beruhende  Zeichnung  der  spange; 
ehe  diese  Zeichnung  endgültig  ausgeführt  wurde,  sandte  ich  einen 
probeabdruck  davon    an  herrn  Beauvois,    damit  er  sich  noch  einmal 


davon  (fn|))  auf  eiaem  brakteateo  von  Schonen  (Stephens  no.  26,  Atlas  no.  103), 
Znsammenhang  hiermit  hat  vielleicht  auch  fun{)  auf  einem  kleinen  amulet  (?) 
von  granit,  das  1866  bei  Valby  in  der  nähe  von  Kopenhagen  gefunden  wurde 
und  früher  in  meinem  besitz  war,  aber  1575  dem  altnordischen  museum  in 
Kopenhagen  geschenkt  wurde  („de  ældste  nord.  runeindskr."  s.  23,  anm.  ]; 
Stephens  II,  s.  S61).  Dafs  die  runen  fünf)  auf  diesem  steine,  von  dem  hier 
eine   abbilduog  in    natürlicher   gröfse   mitgeteilt    wird,    mit   dem   rnnenalphabet 

in  Verbindung  ste- 
hen köoneo,  wird 
durch  einen  stein 
von  Vermland  be- 
stätigt.aufdem  sich 
eben  dieselben  vier 
runen  zusammen 
mit  den  ]6  zeichen 
der  jüngeren  runenreihe  in  der  später  bekannten  anordnung  Buden  (E.  Fernow, 
Beskrifning  öfver  Wermeland,  Götheborg  1773,  p.  128:  Liljegren,  Rnn-Urkunder 
no.  2003).  —  Mit  diesen  darstellungen  vom  rnneaalphabete  oder  von  teilen  des- 
selben verdienen  nicht  nur  die  verschiedenen  darstelinngen  des  jüogeren  runen- 
alphabetes,  die  unten  im  2.  buche  näher  besprochen  werden,  sondern  auch  ein 
in  Schonen  gefundener  messingbrakteat  aus  dem  mittelalter  (12.  jahrhdt?),  dessen 
Umschrift  das  lateinische  aiphabet  von  .\  bis  R  enthält,  womit  es  aas  maugel 
an  räum  endet  (Atlas  no.  37),  verglichen  zu  werden. 


78         ERSTES  BUCH.   DER  URSPRUNG  DER  RUNENSCHRIFT. 

von  deren  genauigkeit  vergewissern  könnte.  Mit  einer  Zuvorkommen- 
heit und  einem  interesse  für  die  sache,  wofür  ich  ihm  nicht  genug 
danken  kann,  reiste  er  aus  dem  grunde  nochmals  nach  Dijon,  wo  er 
im  verein  mit  herrn  Baudot  jedes  einzelne  zeichen  auf  der  spange 
einer  erneuerten  sorgfältigen  Untersuchung  mit  der  lupe  unterwarf 
und  mit  dem  probedruck  verglich.  Diese  neue  Untersuchung  bestätigte 
unter  anderm  aufs  schönste  meine  vermutung  bezüglich  der  16.  rune 
im  aiphabet,  worüber  ich  geäufsert  hatte,  dafs  sie  als  „eine  verunglückte 
form  für  das  gewöhnliche  X,  welches  hier  darzustellen  offenbar  die 
absieht  des  runenritzers  gewesen  war",  aufgefafst  werden  müfste; 
es  zeigte  sich  nämlich,  dafs  es  nicht  nur  „die  absieht"  gewesen  war, 
diese  runenform  darzustellen,  sondern  dafs  sie  sich  auch  in  Wirk- 
lichkeit auf  der  spange  befand.  Nach  diesen  wiederholten  Unter- 
suchungen ist  die  abbildung  der  spange  taf.  III,  lig.  2  ausgeführt, 
und  ich  hoffe,  dafs  diese  Zeichnung  in  bezug  auf  die  runen  das 
original  so  genau  wie  möglich  auch  in  solchen  kleinigkeiten,  wie  dem 
gegenseitigen  längenverhältnis  der  Stäbe  u.  s.  w.  wiedergibt.  Da  ich 
mich  nicht  im  stande  sehe,  die  eigentliche  Inschrift  zu  deuten  und 
alle  versuche,  die  man  bisher  deswegen  gemacht  hat,  als  gänzlich 
verfehlt  ansehen  mufs,  so  werde  ich,  um  wenigstens  die  diplomatische 
grundlage  zu  sichern,  folgende  bemerkungen  von  herrn  Beauvois  in 
bezug  auf  einzelne  zeichen  mitteilen,  die  früher  entweder  ungenau 
wiedergegeben  sind  oder  anlafs  zum  zweifei  geben  können : 

In  der  zeile  rechts  hinter  dem  trennungszeichen  (den  drei 
punkten)  folgt  zuerst  ein  n  (nicht  das  von  Stephens  wiedergegebene 
zeichen),  demnächst  ^  (beinahe  wie  die  dritte  rune  im  futhark;  nur 
der  unterste  nebenstrich  geht  ein  wenig  über  den  obersten  hinaus, 
aber  beginnt  nicht  wie  bei  Stephens  am  fufse  des  hauptstriches). 
Die  dritte  rune  ist  V  (nicht  Y  wie  bei  Baudot  und  Stephens);  in 
der  vierten  ist  der  querstrich  beinahe  wagrecht,  aber  neigt  sich  doch 
ein  wenig  nach  rechts  (mufs  folglich  +  n  sein).  Nach  der  siebenten 
rune  folgt  ein  trennungszeichen,  bestehend  aus  4  punkten  (nicht  5 
wie  bei  Stephens);  das  letzte  zeichen  in  dieser  zeile  ist  unzweifel- 
haft M,  obgleich  der  senkrechte  strich  rechts  nicht  vollständig  mit 
dem  übrigen  zeichen  verbunden  ist,  was  ja  auch,  wie  die  Zeichnung 
beweist,  bei  mehreren  andern  runen  vorkommt,  und  sich  aus  der 
art  und  weise  der  einritzung  erklärt. 

In  der  zeile  links  folgen  auf  das  trennungszeichen  (4  punkte) 
kl,   worüber  Beauvois  nicht  blofs  bemerkt,  dafs  sie  nicht  verbunden 


III.    KAP.       B.    DAS    ÄLTESTE    GEMEI.NGERMA.NISCHE    RUiyENALPHABET.       79 

sind,    sondern    ausdrücklich    hinzufügt,    dafs    ,,es    klar    ist,    dafs  sie 
nicht  einen  einfachen  buchstaben  bilden". 

Es  geht  hieraus  hervor,  dafs  die  wiedergäbe  der  Inschrift  in 
doppelter  gröfse,  die  sich  s.  49  in  Baudots  werke  befindet,  bis  auf 
ein  paar  ausnahmen  die  einzelnen  runenformen  ganz  richtig  und  weit 
genauer  darstellt,  als  die  übrigen  bisher  veröffentlichten  Zeichnungen. 
Nach  dem,  was  ich  hier  über  die  zeichen  der  inschrift  angeführt 
habe,  kann  kaum  ein  zweifei  darüber  bestehen,  dafs  diese  gelesen 
werden  soll: 

u{)fn{)ai  ;   iddan    i  kiano 

In  dem  ersten  worte  mufs  mindestens  ein  vokal  ausgelassen  sein, 
und  die  bedeutung  von  k  in  dem  letzten  worte  ist  zweifelhaft  (vgl. 
unten).  Es  ist  nicht  wahrscheinlich,  dafs  die  3  kleinen  runen  aut 
dem  untersten  teile  der  spange  rechts  und  die  zwei  gröfseren  mitten 
auf  der  spange  in  näherer  Verbindung  mit  der  hauptinschrift  stehen. 
Ich  fordere  nun  gelehrte  studiengenossen  auf,  ihren  Scharfsinn  daran 
zu  üben,  diese  worte  zu  erklären;  denn  dafs  wir  hier  wirkliche  worte, 
nicht  eine  willkürliche  Zusammenstellung  von  runen  ohne  sprach- 
liche bedeutung  haben,  scheint  offenbar. 

Die  oberste  inschriftzeile  auf  der  spange  enthält  das  runen- 
alphabet  in  folgender  form: 


y/ 


hrn)<\pHtiH.|ui^nnpi 


Die  zeichen  sind  hier  im  vergröfserten  mafsstabe  in  genauer 
Übereinstimmung  mit  den  formen,  die  sie  in  der  inschrift 
selbst  haben,  wiedergegeben  (vgl.  taf.  III,  fig.  2).  Infolge  der  art,  auf 
welche  die  runen  eingeritzt  sind,  stofsen  die  striche  in  vielen  fällen 
nicht  völlig  zusammen.  Die  beiden  letzten  runen  (namentlich  M, 
wovon  nur  der  eine  senkrechte  stab,  sowie  die  unterste  hälfte  links 
von  dem  einen  querstrich  und  ein  kleines  stück  des  andern  senk- 
rechten Stabes  zu  sehen  ist)  sind  durch  abnutzung  ziemlich  undeutlich 
geworden;  jedoch  kann  kein  zweifei  über  ihre  form  bestehen  (das 
fehlende  ist  oben  durch  punkte  ausgefüllt).  Die  16.  rune,  welche 
dem  X,  /  (s)  auf  dem  brakteaten  von  Vadstena  entspricht,  hat  auf 
den  früheren  Zeichnungen  eine  sehr  unregelmäfsige  gestalt  und  ist 
bedeutend  kleiner  als  die  zeichen,  die  sie  umgeben;  aber  es  hat  sich, 
wie    oben    bemerkt  wurde,    gezeigt,    dafs    hier  in    der  inschrift  ein 


80  ERSTES    BUCH.       DER    URSPRUNG    DER    RUNEISSCHRIFT. 

ziemlich  regel mäfsiges  X  sieht  (nur  mit  etwas  getrennten  strichen, 
wie  sonst  öfters).  Die  abweichung  der  5.  rune  (r)  von  den  allgemein 
bekannten  formen  ist  ja  nur  unbedeutend,  und  dasselbe  mufs  von 
der  dritten  (/>)  gesagt  werden,  die  nur  die  nebenstriche  ziemlich  weit 
oben  an  dem  hauptstab  erhalten  hat,  aber  sich  doch  deutlich  von 
der  achten  rune  (w)  unterscheidet;  eine  glücklichere  form  des  p  finden 
wir  dagegen  zwei  mal  in  der  zeile  rechts,  und  r  hat  gleichfalls  die 
regelmäfsige  form  mitten  auf  dem  untersten  teile  der  spange.  —  Da 
das  aiphabet  aus  mangel  an  räum  mit  M  abbricht,  so  fehlen  folglich 
die  vier  letzten  runen;  aber  von  diesen  kommen  in  der  übrigen  In- 
schrift aufserhalb  des  alphabetes  die  beiden  letzten  in  den  gewöhn- 
lichen formen  5^  und  M  vor.  Gleichfalls  befindet  sich  in  der  zeile 
5.  75.  links  die  form  +  (=  n),  während  das  aiphabet  +  hat  (ebenso  wie  die 
zeile  rechts,  wo  der  querstrich  jedoch  beinahe  wagrecht  geworden  ist). 
Es  kann  nämlich  kein  zweifei  darüber  sein,  dafs  sowohl  die  vierte  rune 
in  der  zeile  rechts  als  auch  die  dritte  in  der  zeile  links  n  bezeichnen,  und 
dasselbe  gilt  von  der  rune  vor  S(  in  der  zeile  links;  dieses  zeichen  als  eine 
ungeschickte  form  der  ^-rune  (X)  aufzufassen,  dem  widerspricht  nämlich 
bestimmt  sowohl  der  senkrechte  hauptstrich  wie  die  gröfse  des  neben- 
striches,  besonders  links,  —  Von  den  beiden  grofsen  runen,  die  für  sich 
allein  mitten  auf  dem  untersten  teil  der  spange  stehen,  anscheinend  ohne 
Zusammenhang  mit  den  übrigen,  mufs  die  letztere  nach  Beauvois'  Zeich- 
nung notwendig  als  r,  nicht  als  u,  aufgefafst  werden;  dagegen  hat  die 
erstere  eine  form,  die  sich  nicht  in  der  runenreihe  oder  in  der  übrigen 
inschrift  wiederfindet,  sondern  der  fc-rune  im  jüngeren  nordischen 
alphabete  gleicht.  Wenn  indessen  Thorsen  (De  danske  Runerain- 
desm.  s.  356)  annimmt,  dafs  die  beiden  gröfseren  runen  auf  der 
spange  wirklich  dem  kürzeren  nordischen  runenalphabet  angehören 
(also  zeichen  für  k  und  r  oder  u  sind)  und  gerade  durch  ihre  gröfse 
absichtlich  als  die  wichtigsten  im  gegensatz  zu  der  übrigen  inschrift, 
die  das  andere  aiphabet  benutzt,  hervorgehoben  seien,  so  beruht  dies 
auf  einer  auffassung  von  dem  Verhältnis  zwischen  den  beiden  runen- 
alphabeten,  deren  unhaltbarkeit  ich  im  folgenden  zu  beweisen  hoffe. 
Da  sich  nämlich  K,  wie  wir  unten  darthun  werden,  erst  weit  später 
im  Norden  aus  älteren  <  durch  die  mittelform  y  entwickelt  hat, 
kann  das  K  der  spange  von  Charnay  selbstverständlich  nicht  das  jüngere 
nordische  zeichen  für  k  sein;  sondern  wenn  diese  rune  hier  die 
bedeutung  k  hat,  so  mufs  sie  eine  andere  form  an  stelle  von  <  des 
alphabetes  sein,  die  ganz  unabhängig  vom  nordischen  Kent- 


III.    KAP.       B.    DAS    ALTESTE    GEXEINGERMAMSCHE    RDNE.NALPHABET.       Sl 

wickelt  ist,  und  ich  würde  dann  geneigt  sein,  auch  die  mir  un- 
verständliche rune  in  der  zeile  links  gleich  hinler  dem  trennungs- 
zeichen  ebenso  aiifzufassen ,  indem  man  dadurch,  dal^  man  dem  < 
einen  senkrechten  stab  gab,  entweder  K  oder  k  bildete  (zufällig 
fiel  also  die  erstere  form  mit  der  nordischen,  die  zweite  mit  der 
altenglischen  A--ruue  zusammen).  Doch  ist  dies  nicht  nur  äufserst 
zweifelhaft,  sondern  auch  höchst  unwahrscheinlich,  gerade  weil  wir 
im  aiphabet  selbst  <  in  dieser  bedeutung  finden.  Man  könnte  auch 
darauf  verfallen,  in  Keine  vereinfachte  form  von  V  zu  erbücken 
(vgl.  |:{  und  H  in  altenglischen  alphabeten);  aber  dieses  finde  ich 
noch  unwahrscheinlicher,  da  nicht  blofs  der  futhark  mit  der  ge- 
wöhnlichen form  V  beginnt,  sondern  diese  gleichfalls  in  der  zeile 
rechts  steht;  und  selbst  wenn  man  denken  könnte,  dafs  K  dieselbe  be- 
deutung wie  V  hätte,  wird  kaum  jemand  dasselbe  von  k  annehmen. 
Aber  diese  beiden  zeichen  (K  und  k)  scheinen  notwendig  auf  die- 
selbe weise  aufgefafst  werden  zu  müssen.  Da  somit  keine  von  den 
im  aiphabet  vorkommenden  runen  zu  diesen  zeichen  pafst,  liegt  es 
natürhch  nahe,  an  eine  von  den  beiden  im  futhark  fehlenden  runen, 
nämlich  die  zeichen  für  l  und  f?  zu  denken.  Da  nun  sowohl  Y  wie 
auch  k  im  anfange  eines  Wortes  stehen,  können  sie  selbstverständUch 
nicht  das  zeichen  für  td  sein,  und  es  bleibt  somit  nur  l  übrig.  Ich  halte 
es  daher  auch  für  überwiegend  wahrscheinlich,  dafs  k  hier  eine  an- 
dere form  für  das  ursprüngliche  T  ist,  und  dafs  K  an  dessen  stelle 
treten  und  neben  k  gebraucht  werden  konnte  (gerade  wie  +  mit  + 
wechselt  u.  s.  w.).  Dagegen  finde  ich  durchaus  keinen  grund,  k  und 
Y  als  neue  zeichen  für  laute  anzusehen,  die  sich  im  ursprüngUchen 
futhark  nicht  bezeichnet  fanden,  und  die  also  ihre  stelle  nach  der 
24.  rune  wie  in  den  altenglischen  alphabeten  gehabt  haben  müfsten. 
Das  aiphabet  der  spange  von  Charnay  hat  somit  folgende  gestalt 
gehabt,  wenn  wir  die  zeichen,  die  sich  in  der  Inschrift  auTserhalb  des  s.  76. 
futharks  finden,  in  parenthese  setzen: 

12   3   4    5   6  7  8  9    10   11 12  13  14  15  16  IT  18  19  20    21    82  23  24 

rnKh»^f>(R)<XPN  +(+)  IH^WXxt^MM(kK?)..  (5^M) 

Nichts  spricht  dafür,  dafs  dieses  aiphabet  neue  zeichen  hinter  der 
ursprünglichen  reihe  hinzugefügt  und  also  mehr  als  die  24  runen  ent- 
halten haben  sollte,  welche  sich  auch  in  dem  nordischen  futhark 
finden.  Ånders  verhält  sich  die  sache  dagegen  in  dieser  beziehung 
mit  dem 

WLMMEB,  Die  ranenBchiift.  6 


82  ERSTES    BUCH.      DER   URSPRUNG    DER   RUNEISSCHRIFT. 

3)  aiphabet  auf  dem  Themsemesser. 

Um  möglichst  grofse  Sicherheit  bezüglich  der  form  der  runen- 
zeichen  in  dieser  Inschrift  zu  erreichen,  wo  besonders  die  16.  rune 
(s),  die  auf  Stephens'  Zeichnung  die  form  Y  hat,  mir  höchst  ver- 
dächtig vorkam,  wandte  ich  mich  an  herrn  Gösch  in  London,  der 
mit  grofser  bereitwilligkeit  die  von  mir  übersandte  vorläufige  Zeich- 
nung mit  dem  original  im  British  Museum  verglich  und  jeden 
einzelnen  buchstaben  genau  mit  der  lupe  untersuchte.  Herr  Gösch 
schreibt  darüber:  „Das  betrelTende  messer  (richtiger  ein  kleines 
Schwert)  wird  auf  der  etiquette  folgendermafsen  bezeichnet:  'Anglo- 
Saxon  scrammasax  or  sword-knife,  inlaid  with  an  Alphabet  in 
Anglo-Saxon  runes,  found  in  the  Thames.  Purchased  1857'.  Der 
direktor  der  altertumssammlung  des  museums,  W.  Franks,  entdeckte 
die  Inschrift,  die  nicht  sichtbar  war,  als  das  stück,  kurz  nachdem 
es  gefunden  war,  gekauft  wurde.  Die  reinigung  wurde  von  W.  Franks 
selbst  vorgenommen  ...  Die  schriftzeichen  sind  mit  geflochtenem 
metalldraht  eingelegt,  der  jetzt  eine  gelbliche  färbe  angenommen  hat, 
wohl  durch  den  firnifs  veranlafst,  womit  das  stück  überzogen  ist,  um 
es  vor  dem  einflusse  der  luft  zu  schützen.     Die  buchstaben  sind  im 

ganzen  vollständig  deutlich Was  speciell  no.  16  anbelangt,  so 

scheint  sie  mir  ganz  deutUch  als  ein  l  mit  scharfen  konturen  und 
ohne  irgend  welche  spur  von  einem  querstriche  dazustehn.  Es  ist 
wahr,  dafs  sich  ein  wenig  rechts  davon,  unter  T  hin,  ein  sehr  kleiner, 
etwas  hellerer  fleck  befindet,  der  als  Überrest  von  einlegung  und 
folghch  als  Überrest  von  einem  sonst  verschwundenen  querstriche  ge- 
deutet werden  könnte ;  aber  er  ist  sehr  undeutlich,  und  ähnliche  zum 
teil  viel  deutlichere  gelbe  flecken  finden  sich  an  mehreren  stellen 
zwischen  den  buchstaben,  wo  sie  nicht  so  gedeutet  werden  können. 
Jetzt  steht  dort  ganz  entschieden  nicht  P.  Eine  solche  lesung 
kann  nur  conjectur  sein."  Infolge  dessen  mufs  die  s-rune  auf  dem 
Themsemesser  also  für  eine  vereinfachte  form  der  gewöhnlichen 
altenglischen  s-rune  H  angesehen  werden,  von  der  nur  der  unterste 
strich  bewahrt  ist  (wie  man  umgekehrt  im  Norden  zuweilen  '  d.  i. 
den  obersten  strich  von  H,  findet;  diese  und  mehrere  ähnliche  Ver- 
einfachungen werden  im  folgenden  näher  besprochen  werden).  Auf 
der  Zeichnung  des  Themsemessers  tafel  III,  fig.  3  ist  also  l  für 
Stephens'  Y    eingesetzt. 

Das  ganze  aiphabet  hat  folgende  gestalt: 


ni.    KAP.       B.    DAS    ALTESTE    GEMEINGERMAMSCHE    BUNEHALPHABET.       83 

1     8     3     4     5     6      7     8     9     10  11    12  13  14    15  16  17  18    19  20    21   22  23    24     25    26    87      2« 

Wir  fioden  hier  einige  abweichungen  von  den  beiden  oben  be- 
sprochenen aipbabeten  sowohl  in  der  anordnung  wie  in  der  anzahl  s. 
der  runen  ^),  welche  indessen,  wie  wir  nachweisen  können,  nicht  ur- 
sprünglich vorhanden  gewesen  sind.  Eine  darstelluog  des  alten  alt- 
engUschen  runenalphabetes  ist  uns  nämlich  nicht  blofs  auf  dem  Themse- 
messer überliefert,  sondern  auch  in  mehreren  handschriften  aus 
dem  neunten  bis  elften  Jahrhundert,  die  an  verschiedenen  stellen  so- 
wohl in  England  wie  aufserhalb  desselben  gefunden  sind,  sich  aber 
alle  ursprünglich  dorther  schreiben.  Diese  handschriftlichen  alphabete, 
welche  nicht  nur  die  runenzeichen,  sondern  auch  deren  namen  und 
bedeutung  wiedergeben,  folgen  teils  der  ursprünglichen  anordnung  der 
runen  („futhork"),  teils  dem  lateinischen  aiphabet').  Die  letzteren 
sind  natürlich  alle  jüngere  Umstellungen  der  ersteren  und  erweitern 
in  keiner  beziehung  unsere  kenntnis  der  runenschrift;  dagegen  sind 
mehrere  der  alphabete  in  der  alten  futhorkordnung  für  uns  von 
gi'ofser  Wichtigkeit  bei  der  beurteilung  des  runenalphabetes  auf  dem 
Themsemesser.  Von  diesen  alphabeten  geben  wir  deswegen  s.  85 
die  beiden  wieder,  die  aus  mehreren  gründen  als  die  wichtigsten  an- 
gesehen werden  können,  nämlich: 

1)  das  aiphabet,  welches    dem    alten  altenglischen  runenliede 
zu  grunde  hegt,    das  eine  erklärung  der  runennamen  enthält^),    und 


^)  Die  abweichenden  raneaformen  werden  nach  and  nach  im  folgenden  be- 
sprochen werden. 

-)  Abgedruckt  bei  G.  Hickes,  Linguarom  Vett.  Septentrionalinm  Thesaoros, 
vol.  I  (Oxoniæ  1705),  s.  135—36;  vol.  HI  (1703),  tab.  VI  (in  der  fnthork-ordnong), 
ibid.  tab.  II  (nach  dem  lateinischen  alpbabet  geordnet);  W.  Grimm,  Über  deutsche 
Runen,  Göttingen  1S21,  tab.  I — III,  und  Zur  Literatur  der  Runen,  Wien  1828 
(aus  den  Wiener  Jahrbüchern  der  Literatur  yol.  XLIII),  s.  1 — 2,  23,  25;  J.  M. 
Kern  ble,  On  Anglo-Saxon  Runes  in  der  Archæologia,  published  by  the  society  of 
antiquaries  of  London,  vol.  XXVIII,  London  1S40,  pl.  XV— XVI;  G.  Stephens, 
The  01d-?{orthern  Rnnic  monuments,  I,  s.  100 — 103  (in  der  futhork-ordnung), 
s.  104 — 114  (in  der  ordnuog  des  lateinischen  alphabetes);  vgl.  nachtrage  s.  829 
— 832.  Eine  geordnete  Übersicht  über  die  zu  der  zeit  bekannten  „futhorke"  und 
alphabete  lieferte  Liliencron  in  Zur  Runenlehre.  Zwei  Abhandlungen  von 
R.  V.  Liliencron  und  K.  MüllenhoGT.  Halle  1852  (ans  der  Allgemeinen  Monats- 
schrift frir  Wissenschaft  und  Literatur),  s.  8  ff. 

3)  Hickes,  Thesaurus  I,  s.  135  (nach  einer  jetzt  verlorenen  handschrift). 
Darnach  ist  das  aiphabet  wiedergegeben  bei  W'.  Grimm,  deutsche  Runen 
tab.  III  no.  1,  Kemble  pL  XVI  fig.  11,  Stephens  I,  s.  100  oo.  5;  das  runen- 

6* 


84         ERSTES  BUCH.   DER  URSPRUNG  DER  RUNENSCHRIFT. 

s.  78.  2)  das   aiphabet    in    dem   oben   (s.  71)    genannten  cod.    Salisb. 

no.  140^). 

In  dem  ersten  dieser  alphabete  müssen  die  4  letzten  zeichen 
indessen  später  hinzugefügt  sein,  da  sie  nicht  im  runeniiede  genannt 
werden,  das  mit  dem  verse  über  ear  schliefst.  Hinter  dem  zweiten 
alphabete  stehen  zuletzt  in  der  zweiten  reihe  die  lateinischen  vokale 
mit  nachfolgenden  punkten,  womit  sie  sich  auch  sonst  zuweilen  be- 
zeichnet finden.  Eine  dritte  reihe,  die  hier  ausgelassen  ist,  enthält 
die  gotischen  buchstaben  bis  m,  wie  man  auf  der  Zeichnung  bei  W. 
Grimm  sehen  kann. 

In  dem  aiphabet  des  runenliedes  entsprechen  die  ersten  24 
zeichen  genau  dem  nordischen  alphabet  auf  dem  brakteaten  von  Vad- 
stena,  wenn  wir  in  diesem  das  fehlende  M  nach  S(  hinzufügen ; 
gleichfalls  stimmt  die  anordnung  in  diesen  beiden  alphabeten  mit  dem 
teil  des  burgundischen  alphabetes  überein,  der  sich  auf  der  spange 
von  Charnay  befindet.  Nach  M  haben  die  altenglischen  alphabete  und 
das  runenlied  dagegen  neue  zeichen  und  namen  für  solche  altenglische 
laute  hinzugefügt,  die  später  entwickelt  sind,  oder  wegen  der  Ver- 
änderungen, die  mit  den  runennamen  vorgegangen  waren,  nicht 
mehr  durch  die  ursprünglichen  zeichen  ausgedrückt  werden  konnten : 
das  runenlied  und  sein  aiphabet  haben  5  neue  zeichen  (für  a,  æ,  y, 
io,  ea),  aber  der  cod.  Salisb.  140  nur  4  (für  a,  æ,  ea''),  y).  Vergleichen 
wir  nun  das  Themsemesser  mit  diesen  alphabeten,  so  ist  es  klar, 
dafs  dessen  ^  ^  A  ^  gleichfalls  die  4  zeichen  für  die  altenglischen 

s.  80.  laute  a,  æ,  y,  ea  vorstellen,  und  wir  dürfen  gewifs  ihre  anordnung 
in  diesem  aiphabet  als  die  ursprüngliche  ansehen,  da  auch  das  runen- 
lied  und  sein  aiphabet  y  vor  ea  hat.  Über  den  grund,  warum 
das  zeichen    ^,    das    im    nordischen    und  burgundischen    aiphabet 


lied  bei  W.  Grimm  s.  217  ff.,  Kemble  s.  339—45,  Grein,  Bibliothek  der 
angelsächs.  Poesie  II,  s.  351—54  (=  s  331—337  im  I.  bande  der  neuen  be- 
arbeitung  von  R.  P.  VVülcker,  Kassel  1883),  M.  Rieger,  Alt-  und  Angel- 
sächisches  Lesebuch  nebst  altfriesischen  Stücken  mit  einem  Wörterbuche,  Giefsen 
1861,  s.  136 -3ü. 

1)  W.  Grimm,  Zur  Literatur  der  Runen  s.  1—2;  darnach  bei  Kemble 
pl.  XV  fig.  7,  Stephens  I,  s.  102  no.  8. 

2)  So  wird  die  bedeutung  von  '^  angegeben,  während  es  unrichtig  den 
namen  eor  (für  ear)  bekommen  hat.  —  Auch  ein  paar  andere  fehler  in  diesen 
alphabeten  sind  so  augenscheinlich,  dafs  jeder  sie  sofort  wird  berichtigen  können: 
die  /9-rune  hat  im  cod.  Salisb.  den  namen  lug  statt  ing,  und  im  aiphabet  des 
runenliedes  steht  bei  der  m-rune  der  name  an  für  man. 


III.    KAP.       B.    OAS   ÄLTESTE    GEMEINGERMANISCHE    RUNENALPHABET.       85 


IA        l?F»li 

■c    t"" 

;^  "* 

u    h"" 

b     B'^ 

i*"^ 

>t  T" 

e   M'' 

t     dorn 

M 

0      V 

m'^H'" 

hq  "»"" 

V   '^5«' 

N?'"^ 
R 

UU  ?^r"' 

nt 

UM 

r   ndeJ 

VN 

\y^  r'' 

i(?   ^"'^ 

•5'S'       ^ 

^'*^ 

Å'^ 

to  >rz"' 

eap.   T 

de: 
lio:: 

u  :•: 

s.  79. 


1.  Alphabet  des  alteaglischen  rnnealiedes. 

2.  Alteogliscbes  ranenalphabet  im  cod.  Salisb.  140. 


86         ERSTES  BUCH.   DER  URSPRUNG  DER  RUNENSCHRIFT. 

die  vierte  stelle  hat,  im  altenglischen  als  bezeichnung  für  den  neuen 
laut  «e  gebraucht  wurde,  während  die  vierte  rune  hier  die  form  ^ 
erhielt,  werden  wir  später  sprechen. 

Dagegen  zeigt  eine  vergleichung  mit  dem  aiphabet  auf  dem  brak- 
teaten  von  Vadstena  und  dem  runenliede,  dafs  die  ursprüngliche  reihen- 
folge  in  dem  aiphabet  auf  dem  Themsemesser  an  einem  einzigen  punkte 
gestört  ist.  Von  den  24  ursprünglichen  runen  haben  nämlich  nur 
die  ersten  19  dieselbe  anordnung  wie  in  den  beiden  andern  alphabeten 
bewahrt;  während  der  brakteat  nach  M 

M  r  O  5^  [M]  hat,  und  das  runenlied  gleichfalls 
M  t"  ^  8  ^5  finden  wir  auf  dem  Themsemesser 

^  M  r  M  t. 

Da  die  bedeutung  von  ^,  t,  M  klar  zu  sein  scheint  (p,  l,  m),  mufs 
H  eine  andere  form  für  M  und  ^  eine  andere  für  S(  sein  ^). 

Sowohl  das  brakteatenalphabet,  das  runenlied  wie  die  handschrift- 
lichen altenglischen  alphabete  setzen  es  aufser  allen  zweifei,  dafs  wir 
nicht  die  ursprüngliche  anordnung  dieser  5  runen  auf  dem  Themse- 
messer haben.  Zwar  finden  wir  in  dem  kürzeren  nordischen 
aiphabet  gleichwie  auf  dem  Themsemesser  I,  m  an  stelle  von  m,  1; 
aber  dafs  diese  Umsetzung  weit  später  im  Norden  vorgenommen  ist, 
werden  wir  unten  zeigen. 

Nur  an  einem  einzigen  punkte  könnte  das  Themsemesser  viel- 
leicht zu  einem  kleinen  zweifei  veranlassung  geben;  da  es  nämlich 
das  alte  o-zeichen  (altengl.  æ,  é)  an  der  24.  stelle  hat,  und  da  wir 
gleichfalls  im  cod.  Salisb.  140  und  in  den  andern  alten  altenglischen 
alphabeten  mit  ausnähme  desjenigen  des  runenliedes  S(  hinter  M 
s.  81.  finden^),  im  übrigen  aber  dieselbe  anordnung  wie  auf  dem  brakteaten 
von  Vadstena,  so  könnte  man  annehmen,  dafs  das  im  brakteatenalphabet 
fehlende  M  eigentlich  vor  5^  stehen  sollte,  und  dafs  es  entweder 
vergessen  oder,  da  nur  für  eine  rune  platz  da  war,  absichtlich 
ausgelassen    wäre,    man  also    das    letzte    zeichen    im    aiphabet    (5^) 


^)  Es  verdient  bemerkt  zu  werden,  dafs  wir  in  einem  der  handschriftlichen 
alphabete  (bei  Stephens  I,  s.  103  no.  13)  die  beiden  formen  ^  und  ^  neben  ein- 
ander, beide  mit  dem  nameo  edel,  finden.  —  Ahnliche  Veränderungen  (Verein- 
fachungen) wie  bei  ^  und  ^  zeigt  das  Themsemesser  auch  in  seinem  +  und  i 
im  Verhältnis  zu  dem    (|)  A  und  V\  der  andern  alphabete. 

2)  Siehe  Stephens  I,  s.  100  no.  4  (wo  nach  der  /-rune  f(  in,  hinc;  H  d, 
dag;  X  oe,  othl  folgen,  indem  die  zeichen  für  f9  und  æ  unrichtig  vertauscht 
sind);  s.  102  no.  7  &  9;  s.  103  no.  10,  13  &  15;  s.  829  no.  61;  s.  »30 
no.  62  bis. 


III.    KAP.       B.    DAS    ALTESTE    GEMEI.NGERMAMSCHE    RÜNEiSALPHABET.       87 

gesetzt,  aber  das  vorletzte  (M)  aus  raumraangel  weggelassen  hätte.  Je- 
doch finde  ich  dies  unwahrscheinlich,  und  der  beweis,  welcher  von  dem 
The mseni esser  hergeholt  werden  könnte,  wird  natürlich  in  hohem  grade 
dadurch  abgeschwächt,  dafs  die  reihenfolge  von  allen  fünf  runen  hinter 
e  hier  gestört  ist,  so  dafs  auch  d  durch  zwei  runen  von  o  (æ,  é) 
getrennt  worden  ist.  Obgleich  ich  also  die  reihenfolge  M  5^  in  den 
altengUschen  alphabeten  für  eine  spätere  Umstellung  halte'),  die  in 
dem  aiphabet  des  runenHedes  nicht  vorgenommen  ist,  weil  das  alte 
gedieht,  woran  sich  dieses  aiphabet  knüpfte,  die  ursprüngUche  an- 
ordnung  bewahrt  hatte,  sehe  ich  mich  freilich  nicht  im  stande,  einen 
durchaus  entscheidenden  beweis  dafür  zu  erbringen,  dafs  M  und  nicht 
S(  an  der  letzten  stelle  in  dem  ursprünglichen  alphahete  gestanden  hat. 
Die  verhältnismäfsig  jungen  altenglischen  runenin- 
sch riften  stehen  hinsichtlich  der  formen  und  der  bedeutung  der 
runen  im  ganzen  genommen  auf  derselben  stufe,  \%ie  die  hand- 
schriftlichen alphahete.  Ein  älterer  standpunkt  in  der  entwicklung  der 
runenschrift  in  England  (ungef.  um  das  jähr  600)  wird  jedoch  durch 
eine  alte  allenglische  münze  repräsentiert,  die  sich  jetzt  im  British 
Museum  befindet  (Stephens  U,  s.  879  und  LXVIII  f.).  Diese  münze, 
die  eine  nachbildung  von  einem  solidus  des  Honorius  ist,  hat  auf  der 
reversseite  eine  runeninschrift,  die  nach  ein  paar  vorzügUchen  lack- 
abdrücken, welche  ich  vom  British  Museum  erhalten  habe,  unzweifelhaft : 

zu  lesen  ist,  was  mit  gewöhnücher  altengl.  Orthographie  durch  scå- 
nomödu  wiedergegeben  werden  mufs.  Dafs  die  Inschrift  eine  alt- 
englische ist,  geht  mit  Sicherheit  aus  der  speciel!  altengl.  rune  K  her- 
vor. Die  erste  rune  ^  weicht  nur  durch  den  kleinen  strich  unten 
von  der  gemeingerm.  s-rune  X  ab,  welche  im  altengl.  später  (wie 
im  nordischen)  die  form  H  bekam;  gleichfalls  sehe  ich  die  zweite 
rune  JL  als  eine  mittelform  zwischen  gemeingerm.  <  und  späterem 
altengl.  k  an  (die  entwicklung  in  England  war  also  <JLk,  im  Norden 
dagegen  <  Y  K).  Endlich  hat  Ä  in  dieser  inschrift  noch  seine  ur- 
sprüngliche bedeutung  o,  nicht  æ  wie  sonst  in  den  altengl.  inschriften. 
Mit  dieser  alten  stufe  in  der  schrift  stimmt  auch  die  sprachform 
überein.      Formell    könnte    scanomödu    natürlich    ein    frauen- 


^)  Einen  natürlichen  grand  für  diese  nmstellang  finde  ich  darin,  dafs  man 
das  zeichen  für  æ,  e  in  unmittelbare  Verbindung  mit  der  reihe  von  vokalen  hat 
setzen  wollen,  die  im  altenglischen  alphahete  zu  dem  orspränglichen  futhark 
hinzugefügt  war. 


88  ERSTES    nUCH.       DER    URSPRUNG    DER    RUNEISSCHRIFT. 

name  sein  (=  alid.  -möda  in  Adalmöda  etc.;  vgl.  Förslemann,  Alld. 
Namenbuch,  Personenn.  sp.  933),  der  nom.  Sgl.  eines  ö-stammes, 
dessen  endung  nach  langer  silbe  noch  nicht  wie  bei  dr  (gegenüber 
giefu)  abgefallen  wäre.  Aber  da  ich  einen  frauennamen  an  dieser 
stelle  für  äufserst  unwahrscheinlich  halte,  so  hege  ich  keinen  zweifei 
darüber,  dafs  scanomödu  ein  mannsname  und  nom.  sgl.  eines 
a-stammes  (=  altengl.  -möd;  vgl.  Heremöd  im  Beöwulf)  ist,  wo  sich 
der  Stammauslaut  noch  als  u  erhalten  hat  (entweder  geradezu  durch 
Übergang  von  a  zu  u,  oder  vielleicht  eher  durch  analogie  der  u-  und 
der  weiblichen  ö-stämme). 

Die  vergleichung  zwischen  dem  nordischen,  burgundischen  und 
den  altenglischen  runenalphabeten  zeigt  nun,  dafs  das  ursprüng- 
liche gemeingermanische  aiphabet  24  zeichen  enthalten 
hat  in  der  anordnung,  wie  wir  sie  auf  dem  brakteaten 
von  Vadstena  finden,  und  wahrscheinlich  mit  dem  darauf 
fehlenden  M  hinter  S^. 

Die  bedeutung  der  einzelnen  zeichen  in  der  runenreihe  auf 
dem  brakteaten  von  Vadstena  (der  spange  von  Charnay  und  dem 
Themsemesser)  ist  zum  gröfsten  teile  klar,  teils  durch  vergleichung 
mit  den  handschriftlichen  altenglischen  alphabeten,  wo  die  bedeutung 
und  die  namen  der  runen  hinzugefügt  sind,  teils  und  ^vornehmlich 
durch  die  bedeutung,  welche  die  zeichen  in  den  aus  der  älteren  und 
mittleren  eisenzeit  überlieferten  inschriften  selbst  aufweisen.  Indessen 
82.  enthält  der  „futhark"  auf  dem  brakteaten  ein  paar  runen,  die  wir  auf 
den  denkmälern,  deren  inschriften  zu  deuten  geglückt  ist,  nicht  nach- 
weisen können  (dafs  die  brakteateninschriften  zum  gröfsten  teile  uner- 
klärbar sind,  liegt  in  verschiedenen  besonderen  Verhältnissen  begründet). 

Aus  den  nordischen  runeninschriften  können  wir  nämlich 
folgendes  aiphabet  und  folgende  hauptformen  der  runen  aufstellen, 
die  wir  nach  der  alten  reihenfolge  auf  dem  brakteaten  (und  in  den 
andern  alphabeten)  ordnen: 

1234567  8 

1.    r         n         t^|>         F:        KR         <  X  PP     : 


f 

U 

{> 

a 

r 

k 

§ 

W 

9 

10 

11 

12 

13 

14 

15 

16 

HH 

+  + 

1 

" 

•• 

•• 

Y(>k) 

n 

h 

n 

i 

R 

s 

17 

18 

19 

20 

21 

22 

23 

24 

t 

^B 

M 

MH 

r 

^'O' 

S^ 

MDO 

t 

b 

e 

m 

1 

D 

0 

(t 

Hl. 


KAP.  C.  VBRHÄLTN.  Zu  D.  ALTEN  ALPHABET.  ABSTAMMUNG  V.  LAT.  ALPH.  89 


Mehrere  andere  unwesentlichere  modificationen  in  diesen  formen 
werden  später  angeführt  werden.  (Dafs  X,  ^,  M  ursprünghch  spi- 
ranten bezeichneten,  und  nicht,  wie  bisher  allgemein  angenommen, 
mutæ,  wird  unten  näher  nachgewiesen  werden.) 

Von  den  zeichen,  welche  im  futhark  auf  dem  brakteaten  vor- 
kommen, fehlen  somit  in  unsern  inschriften  die  drei,  die  auf  dem 
brakteaten  die  form  ^,  't-,  ^  haben,  und  deren  bedeulung  in  den 
altenglischen  alphabeten  alsj,  eo  (I),  p  angegeben  wird.  Wir  werden 
unten  diese  zeichen  und  den  grund  dafür,  dafs  sie  sich  nicht  in  den 
inschriften  finden,  des  näheren  besprechen.  Hier  bemerken  wir  nur, 
dafs  der  platz  dieser  drei  runen  neben  einander  in  den  alphabeten 
nicht  in  der  geringsten  Verbindung  mit  dem  umstände  sieht,  dafs  sie 
sich  nicht  in  unsern  inschriften  nachweisen  lassen. 


C.  Das  Verhältnis    der  runenschrift  zu  den  übrigen  alten  alphabeten. 
Ihre  abstammung  vom  lateinischen  aiphabet. 

Betrachten  wir  nun  die  runenzeichen  und  ihre  be- 
deutung,  so  wird  die  Übereinstimmung  mit  den  alten 
südeuropäischen  alphabeten  sofort  an  vielen  punkten 
in  die  äugen  fallen.  Es  ist  wohl  kaum  jemand,  der  es  für 
zufällig  halten  wird,  dafs  die  runen  R,  <,  H,  I,  ^,  ^  so  gut  wie 
gänzlich  den  lateinischen  und  zum  teil  den  griechischen  buchstaben  s.  S3. 
mit  derselben  bedeutung  entsprechen.  Aber  auf  der  andern  seite 
scheinen  allerdings  einzelne  runenzeichen  nicht  die  geringste  ähnlichkeit 
mit  irgend  einem  andern  bekannten  alphabete  aufzuweisen.  Können 
wir  da  die  runenschrift  von  einem  oder  von  mehreren  der  südeuro- 
päischen alphabete  ableiten,  oder  weist  sie  nicht  eher,  wie  man  oft 
behauptet  hat,  auf  eine  mit  diesen  alphabeten  gemeinsame  quelle 
zuiück?  Diese  frage  ist  in  wirküchkeit  sehr  leicht  zu  beantworten, 
da  die  vielbesprochene  „gemeinsame  quelle"  keineswegs  so  unbe- 
kannt ist,  wie  man  anzunehmen  scheint.  Nach  dem,  was  im  vorher- 
gehenden nachgewiesen  ist,  wissen  wir,  dafs  das  griechische  aiphabet 
vom  phönicischen  entlehnt  ist,  und  dafs  die  italischen  alphabete 
wiederum  vom  griechischen  ausgehen.  Stellte  die  sache  sich  nun  so, 
dals  wir  das  griechische  aiphabet  erst  aus  einer  so  späten  zeit 
kannten,  dafs  es  in  vielen  punkten  als  von  seinem  phönicischen  vor- 
bilde    abgewichen     und     selbständig    entwickelt    angesehen    werden 


90  ERSTES    BUCH.       DER    URSPRUNG    DER    RUNENSCHRIFT. 

müfste,  und  wäre  dasselbe  mit  dem  phönicischen  alphabete  der  fall, 
so  liefse  sich  ganz  gewifs  ein  ursprüngliches  semitisches  grundal- 
phabet  denken,  woraus  sowohl  das  phönicische,  das  griechische  wie 
das  runenalphabet  (aufser  vielen  andern)  hervorgegangen  sein  könnten, 
worauf  sie  sich  im  laufe  der  zeit,  jedes  auf  seine  weise,  entwickelt 
hätten,  bis  sie  zu  der  form  gekommep  wären,  worin  wir  sie  kennen. 
Das  grundalphabet  könnte  dagegen  verloren  sein,  und  es  bliebe  die 
aufgäbe  der  Wissenschaft,  mit  der  gröfstmöglichen  genauigkeit  auf 
dieses  aiphabet  zurückzuschliefsen  und  es  mit  hülfe  aller  jüngeren 
abgeleiteten  formen  zu  rekonstruieren.  Das  Verhältnis  könnte  also  ein 
gleiches  sein  wie  z.  b.  zwischen  dem  altenglischen  und  dem  jüngeren 
nordischen  runenalphabete,  die  beide  aus  einer  gemeinschaftlichen 
quelle  abgeleitet  sein  müssen,  von  der  sie  sich  später  auf  sehr  ver- 
schiedene weise  entfernt  haben.  Ein  solcher  gedanke  mufs,  jedenfalls 
dunkel,  denen  vorgeschwebt  haben,  die  das  griechische  und  das 
runenalphabet  aus  einer  gemeinsamen,  unbekannten  quelle  ableiten. 
Aber  dieser  ganze  gedanke  beruht  auf  durchaus  unrichtigen  Vorstellungen 
von  der  entwicklungsgeschichte  des  griechischen  alphabeles.  Wir 
kennen  dieses  aiphabet  nämlich  nicht  nur  in  vielen  jüngeren  abge- 
leiteten formen,  sondern  wir  finden  es  auch  (namentlich  in  den  In- 
schriften von  Thera)  in  einer  gestalt  vor,  die  so  altertümhch  ist,  dafs 
s.  84.  sie  fast  in  allen  beziehungen  für  das  griechische  grundalphabet  gelten 
kann,  und  wir  finden  gleichfalls  das  altsemitische  aiphabet  (auf  der 
moabitischen  säule)  in  einer  form,  worin  es  als  das  grundalphabet 
sowohl  für  das  griechische  wie  für  die  übrigen  alten  semitischen 
alphabete  in  allem  wesentlichen  betrachtet  werden  kann.  Wir  vermögen 
mit  hülfe  der  buchstabenformen  in  den  alten  semitischen,  griechischen 
und  italischen  Inschriften  fast  mit  mathematischer  genauigkeit  ein 
phönicisches,  griechisches  und  italisches  grundalphabet  zu  konstruieren 
und  die  weitere  entwicklung  dieser  alphabete  nachzuweisen. 

Aber  hiermit  ist  es  nun  zugleich  mit  notwendigkeit  gegeben, 
wo  die  quelle  gesucht  werden  mufs,  woraus  man  sich  sowohl  das 
griechische,  oder  im  ganzen  genommen  die  alten  südeuropäischen 
alphabete,  als  auch  die  runenschrift  hervorgegangen  gedacht  hat.  Ist 
die  runenschrift  nämlich  nicht  unmittelbar  mit  diesen  alphabeten  ' 
verwandt,  sondern  aus  einer  älteren  gemeinsamen  quelle  entsprungen, 
so  kann  diese  quelle  nur  das  phönicische,  oder  richtiger 
das  altsemitische  aiphabet  sein,  dessen  älteste  gestalt 
wir  auf  der  moabitischen  säule  finden 


III.   KAP.    C.  VERHÄLTN.  ZU  D.  ALTEN  ALPHABET.    ABSTAHNU>G  V.  LAT.  ALPH.  91 

Selbst  der  flüchtigste  blick  überzeugt  uns  indessen  davon,  dafs 
die  runenschrift  keine  unmittelbare  berührung  mit  diesem  alpha- 
bete  haben  kann,  sondern  gerade  auf  die  südeuropäischen  alphabete 
hinweist;  man  vergleiche  aufser  mehreren  andern  formen,  die  wir  unten 
näher  besprechen  werden,  z.  b. : 


moab.-sidon.: 

6 
59 

3 

r 
1<\ 

griechisch: 

ß 
B 

h,  ri 

Q 
PP 

6 

h 

i 

r 

etruskisch: 

- 

B 

9a 

oskisch-umbr. 

faliskisch: 

lateinisch: 

B 

B  O 

B  H 

H 

1 

a 

R 

runen: 

^ 

H 

1 

K 

Man  wird  vielleicht  einwenden,  dafs  das  ruoen-H  ebenso  gut  un-  s.  85. 
mittelbar  aus  dem  semitischen  ÄV^Ä-zeichen  wie  aus  dem  griechisch- 
lateinischen H  entwickelt  sein  kann,  besonders  da  die  form  H  auf  der 
spange  von  Charnay  und  in  den  altenglischen  alphabelen  genau  mit 
dem  moabitischen  zeichen  übereinstimmt;  aber  da  die  nordischen  In- 
schriften ohne  ausnähme  H  H  haben,  da  H  sich  gleichfalls  auf  dem 
Bukarester  ringe  Ondet,  und  da  die  bedeutung  h  eher  auf  griechisch- 
lateinisches, als  auf  semitisches  Kelh  zurückweist,  so  raufs  die  ähn- 
lichkeit  zwischen  moabitischem  W  und  dem  burgundischen  und  alt- 
englischen h-zeichen  als  ganz  zufällig  angesehen  werden;  die  älteste 
runenform  für  h  müssen  wir  am  ehesten  im  nordischen  H  H  und  in 
dem  H  des  Bukarester  ringes  suchen.  Was  man  mit  einem  scheine 
von  recht  gegen  die  zurückführung  des  runen-H  auf  griechisch- 
lateinisches H  anstatt  auf  altsemitisches  |!J  einwenden  könnte,  kann 
hingegen  nicht  bezüglich  der  formen  ^  1  R  angeführt  werden.  Man 
darf  es  gewifs  nicht  blofs  als  höchst  unwahrscheinlich,  sondern  als 
durchaus  unglaublich  bezeichnen,  daüs  die  runenschrift  und  die 
griechisch-lateinische  schrift  unabhängig  von  einander  die  ursprüng- 
lichen (semitischen)  formen  dieser  drei  zeichen  verändert  haben  und 
doch  zuletzt  zu  demselben  resultat  gekommen  sein  sollten.  Hierzu 
kommt  noch  weiter,  dafs  dieselbe  merkwürdige  Übereinstimmung 
zwischen  diesen  alphabeten  sich  auch  bezügUch  der  wähl  eines  von 
den  semitischen    Zischlauten    zum   ausdruck  des  s-lautes  geltend  ge- 


92         ERSTES  BUCH.   DER  URSPRUNG  DER  RUNENSCHRIFT. 

macht  hatte.  Gleichwie  die  griechischen  alphabete  niemals  das  zeichen 
für  sämekh  in  dieser  bedeutung  benutzt  zu  haben  scheinen,  sondern 
eine  zeit  lang  zwischen  den  zeichen  für  säde  und  sin  schwankten, 
von  denen  endlich  das  letztere  alleinherrschend  wurde  (^  C)  und  aus- 
schliefslich  im  lateinischen  alphabete  gebraucht  wird  {[€\  /  S),  so 
finden  wir  auch  in  der  runenschrift  nur  dieses  zeichen  für  s  (^  und 
verschiedene  Veränderungen  hiervon  wie  im  griechischen  und  latei- 
nischen). Ich  nehme  nicht  an,  dafs  jemand  im  ernste  behaupten 
wird,  dafs  nicht  nur  die  runen  ^  I  1^  unabhängig  von  den  grie- 
chisch-lateinischen buchstaben  durch  ein  merkwürdiges  zusammen- 
treffen dieselben  formen  wie  diese  angenommen,  sondern  dafs  auch 
alle  diese  alphabete  von  den  drei  (oder  richtiger  vier)  semitischen 
Zischlauten  durch  einen  zufall  denselben  zur  bezeichnung  ihres 
s-lautes  gewählt  und  auf  dieselbe  weise  umgebildet  haben.  Wer 
dessenungeachtet  an  dem  unmittelbaren  semitischen  Ursprünge  der 
86.  runenschrift  festhalten  will,  ist  auf  jeden  fall  genötigt,  eine  spätere  Um- 
bildung von  einem  teil  der  runenzeichen  vorauszusetzen,  wodurch  sie  die- 
selbe form  wie  die  griechischen  und  lateinischen  buchstaben  angenommen. 
Diese  ansieht  ist  nun  auch  von  verschiedenen  gelehrten  vorgebracht 
worden,  welche  uns  jedoch  noch  den  beweis  für  deren  richtigkeit 
schuldig  sind;  und  dieser  beweis  würde  ja  am  leichtesten  durch  den 
nachweis  eines  denkmals  mit  der  ursprünglichen,  vom  griechischen 
und  lateinischen  unbeeinflufsten  runenschrift  geführt  werden  können. 
Aber  eine  solche  seh  rift  ist  niemals  dagewesen;  es  ist  nämlich 
keineswegs  ausreichend  für  die,  welche  dieser  ansieht  huldigen,  die 
an  und  für  sich  mögliche,  aber  wenig  glaubliche  behauptung  aufzu- 
stellen, dafs  die  mit  dem  griechischen  und  lateinischen  u.  s.  w.  über- 
einstimmenden runen  erst  später  diese  gestalt  angenommen  haben. 
Selbst  wenn  wir  dies  einräumen  könnten,  so  hat  man  unglücklicher- 
weise noch  die  allermerkwürdigste  Übereinstimmung  zwischen  der 
runenschrift  und  den  südeuropäischen  alphabeten  vergessen,  wodurch 
sie  sich  alle  von  dem  altsemitischen  unterscheiden.  Von  den  se- 
mitischen gutturalen  müfste  nämhch  die  runenschrift  das  Kélh 
zur  bezeichnung  von  h,  aber  aleph,  he  und  ajin  zur  bezeich- 
nung der  vokale  a,  e  und  o  (^,  M,  ^),  gerade  wie  das 
älteste  griechische  und  deshalb  auch  die  italischen 
alphabete  gewählt  haben.  Sie  müfste  gleichfalls  in  Überein- 
stimmung mit  dem  griechischen  u.  s.  w.  den  halbvokal  jöd  zur 
bezeichnung    des    vokals  i  (I)  gewählt  haben,    obgleich  wir    in   der 


hl.   KAP.  C.  VERBALT?«.  ZU  D.  ALTEN  ALPHABET.  ABSTAMMUNG  V.  LAT.  ALPH.  93 

runenschi'ifl  gerade  im  gegensatze  zum  griechischen  u.  s.  w.  zeichen 
sowohl  für  j  als  auch  für  i  linden.  Endlich  müfste  der  semitische 
halbrokal  wäw,  der  nach  dem,  was  wir  oben  gezeigt  haben,  sich 
im  griechischen  in  die  beiden  zeichen  F  w  und  Y  »  spaltete,  die 
sich  im  etruskischen ,  umbrischen  und  oskischen  in  derselben  be- 
deutung  wiederOnden,  aber  im  lateinischen  F  f  und  V  u,  w  wurden, 
auch  in  der  runenschrift  in  den  beiden  formen  r  f  und  n  n  auf- 
treten ! 

Also:  1)  die  vier  altsemitischen  gutturale  und  die  beiden 
halb  vokale  jöd  und  wäw  genau  in  derselben  weise  wie  in  den 
südeuropäischen  alphabeten,  mit  einer  von  der  ursprünglichen  se- 
mitischen wesentlich  verschiedenen  bedeutung  angewandt :  2)  der 
s-Iaut  durch  dasselbe  zeichen  wie  im  griechischen  u.  s.  w.  ausge- 
drückt, obgleich  man  drei  (oder  vier)  zur  auswahl  hatte;  3)  eine 
menge  runenformen  genau  mit  den  griechischen  und  lateinischen 
zeichen  übereinstimmend,  welche  dieselbe  bedeutung  haben,  aber  s.  87. 
gänzlich  von  den  semitischen  abweichend  —  alles  dieses  mufs  man 
wohl  ha uptp unkte  nennen,  worin  die  runenschrift  sowohl  in 
der  form  wie  in  der  bedeutung  der  zeichen  vom  phönicischen  (alt- 
semitischen) alphabete  abweicht,  aber  mit  den  südeuropäischen  über- 
einstimmt. 

Ich  füge  hinzu:  überall,  wo  die  ähnlichkeit  zwischen  der  runen- 
schrift und  andern  alphabeten  hervortritt,  ist  es  die  griechisch- 
itahsche  schrift,  welche  vergleichungspunkte  darbietet;  wo  sich 
keine  ähnlichkeit  mit  der  griechisch-italischen  zeigt,  ist 
auch  keine  spur  davon  mit  der  semitischen  vorhanden. 

Hiermit  hoffe  ich  denn  ein  für  allemal  vollständig  die  ansieht 
derer  zurückgewiesen  zu  haben,  welche  die  runenschrift  unmittelbar 
vom  phönicischen  oder  altsemitischen  alphabete  haben  herleiten 
wollen,  und  damit  zugleich  die  meinung  derjenigen,  die  sie  zu  einer 
mit  den  südeuropäischen  alphabeten  „gemeinsamen  quelle"  haben  hin- 
führen wollen;  denn  in  Wirklichkeit  kann  die  letztere  ansieht  keine 
andere  bedeutung  haben  als  die  erstere,  trotzdem  dieses  kaum  einem 
einzigen  von  den  forschem,  welche  sie  ausgesprochen  haben,  klar 
gewesen  sein  dürfte. 

Wenn  wir  also  genötigt  werden,  jeden  gedanken  an  die  unmittel- 
bare Verwandtschaft  der  runenschrift  mit  dem  altsemitischen  alphabete 
aufzugeben,  dagegen  aber  die  auffallende  ähnlichkeit  mit  der  griechisch- 
italischen   schrift    nicht    abweisen  können,    so  folgt  daraus  natürlich 


94         ERSTES  BUCH.   DER  URSPRUNG  DER  RUNENSCHRIFT. 

zugleicti,  dafs  die  runenschrift  weder  mit  den  germanischen  Völkern 
—  oder  speciell  mit  den  bewohnern  des  Nordens,  was  man  ja  auch 
hat  behaupten  wollen  —  aus  ihrer  ursprünglichen  heimat  in  Asien 
mitgebracht  sein,  noch  dafs  sie  sich  (so  Dietrichs  und  vieler  anderer 
meinung)  auf  eine  eigentümliche  weise  aus  einer  ursprünglichen 
bilderschrift  entwickelt  haben  kann.  Im  letzteren  falle  müfste  man 
nämlich  wieder,  um  die  auffallende  ähnUchkeit  zwischen  einzelnen 
runen  und  den  entsprechenden  griechischen  und  lateinischen  zeichen  zu 
erklären,  zu  der  ausrede  seine  Zuflucht  nehmen,  dafs  die  ursprüng- 
liche bilderschrift  später  nach  dem  griechischen  und  lateinischen  um- 
gebildet worden  wäre.  Ich  werde  nicht  hierbei  verweilen,  da  diese 
ganze  Vorstellung  von  der  entwicklung  der  runen  aus  einer  bilder- 
schrift auf  die  wildesten  phantasien  gebaut  ist,  worüber  eine  be- 
merkung  hinzuzufügen  wir  später  gelegenheit  erhalten  werden. 

Um  den  Ursprung  der  runenschrift  zu  finden,  müssen 
wir  uns  also  zu  den  alten  südeuropäischen  alphabeten 
wenden,  und  hier  scheinen  schon  ein  paar  der  oben  (s.  91)  be- 
sprochenen runenformen,  nämlich  K  und  H  mit  der  bedeutung  h, 
besonders  auf  das  lateinische  aiphabet  hinzuweisen,  trotzdem  sie 
natürlich  keinen  sicheren  beweis  abgeben,  da  R  und  H  (jedoch 
meistens  mit  der  bedeutung  ij)  auch  in  verschiedenen  griechischen 
alphabeten  vorkommen.  Dafs  wir  indessen  das  vorbild  für  die 
runen  weder  in  einem  griechischen  alphabele,  noch  in 
einem  der  alten  nicht-lateinischen  alphabete  Italiens 
suchen  können,  sondern  zu  dem  ausschliefslich  latei- 
nischen gehen  müssen,  zeigt  die  bedeutung  und  zum  teil 
die  form  verschiedener  anderer  runenzeichen. 

Den  stärksten  und,  wie  ich  mit  Kirchhoff^)  glaube,  an  und  für 
sich  durchaus  entscheidenden  beweis  für  die  abstammung  der  runen- 
schrift vom  lateinischen  alphabete  liefert  das  erste  zeichen  in  der 
runenreihe,  nämlich  T  mit  der  bedeutung  f.  Man  hat  diese 
rune  oft  mit  griechischem  F  {ßccVj  diyafifia),  latein.  F,  verglichen, 
und  es  kann  kein  zweifei  darüber  sein,  dafs  es  dasselbe  zeichen  ist, 
was  wir  des  weiteren  unten  beweisen  werden;  aber  nur  das  runen- 
alphabet  und  das  lateinische  aiphabet  gebraucht  dieses 
zeichen  mit  der  eigentümlichen  bedeutung  f.  Dagegen  hat 
F  im  griechischen  die  bedeutung  des  halbvokals  w,  und  dieselbe  be- 


1)  Das  gothische  ranenalphabet,  2.  auf!.,  s.  4  ff. 


III.  KAP.    C.  VERHÄLT^.  ZV  D.  ALTES  ALPHABET.    ABSTAMMUNG  V.  LAT.  ALPH.  95 

deutung  ist  an  die  entsprechenden  zeichen  in  den  italischen  alphabeten 
(etruskisch,  umbrisch,  oskisch)  geknüpft,  ausgenommen  gerade  das 
lateinische^),  welches  statt  dessen  V  (ti)  sowohl  für  den  vokal  u  wie 
für  den  halbvokal  ir  gebraucht,  während  die  übrigen  italischen  alpha- 
bete,  welche  F  (zum  teil  in  etwas  modificierter  gestalt)  nur  in  der  s.  89. 
ursprünglichen  bedeutung  w  haben,  für  den  laut  f  das  neue  zeichen 
$  8  bildeten. 

Zu  der  Übereinstimmung,  die  wir  in  form  und  bedeutung 
zwischen  der  rune  T  und  lateinischem  F  finden,  kommt  ferner  das 
runenzeichen  <  mit  der  bedeutung  k  dem  lateinischen  <  C) 
entsprechend,  während  das  griechische  und  oskische  das  ent- 
sprechende zeichen  in  der  urspünglichen  bedeutung  g  anwenden,  und 
das  umbrische  diesen  buchstaben  gänzUch  aufgegeben  hat,  indem  >j  hier 
sowohl  k  wie  g  bezeichnet.  Allerdings  gebraucht  das  etruskische  auch 
in  der  regel  D  in  der  bedeutung  k  (und  ohne  zweifei  zugleich  g); 
aber  in  der  nordetruskischen  schrift  ist  ^  durchaus  unbekannt,  und 
nur  >|  wird  wie  im  umbrischen  gebraucht.  Aufserdem  steht  das 
etruskische  aiphabet  in  andern  wesentlichen  punkten  zu 
fern,  als  dafs  vom  Ursprung  der  runenschrift  aus  dem- 
selben die  rede  sein  könnte,  was  gleichfalls  hinsichtlich 
des  umbrischen  und  oskischen  gilt').  Während  wir  nämhch 
in  diesen  alphabeten  für  h  und  r  die  formen  G  O,  ^  Q  finden,  hat 
das  lateinische  die  den  runen    entsprechenden    zeichen.     Weit  wich- 


I)  Es  gibt  jedoch  éia  italisches  aiphabet,  das  in  dieser  hinsieht  mit  dem 
lateinischen  übereinstimmt,  nämlich  das  faliskische;  aber  da  f  dort  die 
eigentümliche  form  ^  angenommen  hat,  weil  p  das  zeichen  für  s  geworden 
war  (vgl.  s.  55  mit  anm.  1),  und  da  dem  faliskischeo  aiphabet  aafserdem  das 
zeichen  ß  (^)  gänzlich  fehlt,  welches  sich  in  der  ranenscbrift  in  der  lateinischen 
form  findet,  so  kann  es  keinen  einflafs  auf  die  bildung  der  runenschrift  gehabt 
haben,  was  ja  auch  ans  historischen  gründen  höchst  unwahrscheinlich  sein  würde. 

-)  Dafs  <  in  der  runenschrift  dnrchgehends  kleiner  als  die  andern  bnch- 
staben  ist,  mnfs  als  ganz  unwesentlich  angesehen  werden  und  hat  wohl  nur 
seinen  gruod  darin,  dafs  die  kürzere  form  für  leichter  und  einfacher  gehalten 
wurde;  etwas  ähnliches  begegnet  uns  aufserdem  bei  ein  paar  andern  runen- 
zeichen, und  es  hat  ja  auch  eine  analogie  in  der  o -form  der  älteren  alphabete, 
die  ganz  allgemein  kleiner  ist  als  die  der  andern  bnchstaben. 

^)  Dasselbe  ist  der  fall  mit  dem  zu  dieser  grnppe  gehörigen  sabellischen 
alphabete,  das  dieselbe  (/-form  wie  das  oskische  gebraucht  nnd  wie  dieses  das  o 
durch  ein  aus  u  gebildetes  zeichen  ausdrückt;  für  r  und  für  den  zischlant 
finden  sich  die  aus  dem  etruskischen  bekannten  formen,  und  h  ist  w,  während 
die  eigentümlichen  zeichen  Q]    und    ^  /  auszudrücken  scheinen. 


96 


ERSTES  BUCH.   DER  URSPRUNG  DER  RUNENSCHRIFT. 


90, 


tiger  ist  jedoch  folgendes:  dem  etruskischen  fehlen  sowohl  im  süden 
als  auch  im  norden  die  ursprünglichen  zeichen  für  b  und  d;  das 
umhrische  und  das  oskische  haben  dagegen  9,  aber  d  mangelt  eben- 
falls im  umbrischen  und  hat  im  oskischen  die  eigentümliche  form 
J|.  Nur  das  lateinische  hat  beide  zeichen  in  denselben  formen,  die 
wir  in  dem  ^  und  V  (mit  der  bedeutung  p)  der  runenschrift  wieder 
erkennen,  worüber  unten  mehr;  diese  letztere  rune  läfst  sich  dagegen 
nicht  vom  griechischen  ^  (®  O)  herleiten,  das  auch  im  etruskischen 
bewahrt  ist. 

Die  besondere  Verwandtschaft  der  runenschrift  mit 
dem  lateinischen  alphabe  te  wird  nun  deutlich  durch  folgende 
Zusammenstellungen  hervortreten : 


griechisch: 

BH 

r 
PR 

b 
B 

d 
AD 

9 

rc 

w 
F 

etruskisch: 

h 
B 

Sa 

- 

- 

Kg 
:> 

w 
w 

f 

umbrisch: 

O 

Q 

9 

- 

- 

^ 

$  8 

oskisch: 

B 

a 

9 

n 

9 
> 

w 

nordetr.: 

M 

a 

- 

- 

- 

T 

f 

faliskisch: 

BH 

^ 

Q 

1c,  9 

f 
t 

lateinisch: 

H 

R 

B 

D 

fr  (5) 

C 

f 

F 

runen: 

H 

R 

^ 

P 

k 

< 

f 

Es  kann  noch  hinzu  gefügt  werden,  dafs  sowohl  das  lateinische 
wie  die  runen  nur  die  aus  dem  ursprünglichen  sin  entstandene  s-form 
(/  S)  kennen,  während  die  alten  griechischen,  das  etruskische  und 
umhrische  aiphabet  auch  das  dem  ursprünglichen  särfe  entsprechende 
M  haben.  Gleichfalls  haben  das  allgemeine  etruskische,  das  urabrische 
und  oskische  das  griechisch-lateinische  o-zeichen  O  aufgegeben,  das 
in  der  runenschrift  zu  ^  wurde. 

Schon  ein  paar  der  hier  genannten  runenzeichen,  namentlich  V, 
zeigen  jedoch  eine  abvveichung  von  den  entsprechenden  lateinischen 
zeichen,  was  auf  den  ersten  blick  vielleicht  sonderbar  erscheinen 
kann,  sich  aber  nichts  desto  weniger  als  in  genauer  Übereinstimmung 


III.  KAP.    C.  VERHÄLTW.  ZD  D.  ALTEN  ALPHABET,    ABSTAMMUNG  ▼.  LAT.  ALPH.   97 

mit  dem  ganzen  wesen  der  runenschrift  stehend  erweist.  Wir 
müssen  deswegen  einen  augenblick  bei  der  Ursache  dieser  ab- 
weichungen  verweilen,  weil  sie  uns  den  Schlüssel  zur  erklärung  der 
formen  gibt,  die  viele  runenzeichen  angenommen  haben. 

Nach  dem  übereinstimmenden  zeugnis  von  Venantius  Fortunatus 
und  Saxo,  das  wir  früher  (s.  68  f.  und  70)  angeführt  haben,  das  auch 
durch  viele  andere  thatsachen  aus  einer  späteren  zeit  erhärtet  wird,  s.  91. 
können  wir  nicht  daran  zweifeln,  dafs  die  runen  von  anfang  an 
namentlich  zum  einritzen  auf  dünne  holztafeln  —  celebre  quondam 
genus  chartarum,  wie  Saxo  sagt  —  benutzt  wurden  ^).  Aber  es  ist 
selbstverständlich,  dafs  die  form  der  schrift  zum  teil  von  dem  ma- 
terial  bedingt  wird,  worauf  man  sie  anwendet.  Zur  einritzung  in 
holz  sind  namentlich  senkrechte  linien  zweckmäfsig^  wogegen  die 
wagerechten  leicht  undeutlich  werden;  auch  die  runden  formen  lassen 
sich  sehr  schwer  darstellen.  Es  liegt  deswegen  nahe,  in  einer  schrift, 
deren  hauptbestimmung  es  war,  auf  holz  angewandt  zu  werden,  so 
weil  wie  möglich  überall  gerade  linien  zu  wählen,  die  eine 
senkrechte  oder  schräge  richtung  hatten.  Und  dieses  princip 
hat  die  runenschrift  in  ihrer  ursprünglichen  gestalt  in  seiner  ganzen 
strenge  durchgeführt^);   hierauf  deutet  auch  die  alte  benennung  der  s.  92. 


^)  Wegen  der  bescbaffeoheit  des  materials  waren  diese  holztafeln  natür- 
licherweise leicht  der  Zerstörung  aasgesetzt,  and  kein  solches  deokmal  ist  auf 
die  gegenwart  gekommen.  Einzelne  Inschriften  aaf  holz  mit  älteren  rnnen 
sind  jedoch  aus  unsern  mooren  hervorgezogen,  so  die  runenpfeile  aus  dem 
?iydamer  moor,  der  hobel  aas  dem  Vier  moor,  der  lanzenschaft  and  ein  paar  andere 
kleinigkeiten  ans  dem  Kragehaler  moor.  Ein  raneostal»  ist  bei  Frøslev  in  der 
nähe  von  Flensburg  gefunden  (Thorsen,  De  danske  Runemindesm.  I,  s.  233  und  243  ff., 
wo  jedoch  weder  die  abbildaog  noch  die  erläuterungen  der  einzelnen  zeichen 
correct  sind.  Das  original,  das  unzweifelhaft  ein  brnchstäck  ist,  dessen  schlufs 
fehlt,  befindet  sich  jetzt  im  museum  zu  Kiel,  wo  ich  es  untersucht  habe;  die 
drei  letzten  runen  scheinen  sicher  als  f  I  Y  gelesen  werden  zu  müssen ,  und 
hiernach  ein  treonungszeichen,  was  darauf  hindeutet,  dafs  wir  ein  denkmal  mit 
älteren  rnnen  vor  ans  haben).  Zwei  holzstäbe  mit  ranen  (ungefähr  aas  dem  jähre 
1200),  die  früher  in  der  kirchthüre  zu  Vinje  in  Telemarken  gesessen  hatten 
(Antiqvariske  Annaler  I,  1S12,  Ufel  IV,  fig.  1—2  und  s.  247  ff.;  S.  ß  ugge  in 
den  Forhandlinger  i  Videnskabs-Selskabet  i  Christiania  for  1S64,  s.  216  f.), 
wurden  1867  von  dem  altnordischen  museum  in  Kopenhagen  an  das  museum  in 
Kristiania  abgegeben. 

-)  Bereits  Bredsdorff  hat  mit  grofser  schärfe  diese  eigentämlichkeit  bei 
der  runenschrift  hervorgehoben.  Indem  er  Worms  ansieht  über  die  abstammung 
der  runen  von  den  hebräischen  buchstaben  bekämpft,  fährt  er  fort  (Om  Rune- 
skriftens Oprind,  s.  8):  „Dagegen  kano  der  Übergang  von  dem  griechischen  und 
WIMMEEl,  Die  rimenselirift.  7 


98         ERSTES  BUCH.   DER  URSPRUNG  DER  RUNENSCHRIFT, 

runenzeichen:  „Stäbe",  und  dasselbe  geht  deutlich  aus  den  In- 
schriften auf  holz  und  metall  aus  der  älteren  eisenzeit  hervor,  die 
zum  grofsen  teile  älter  sein  müssen  als  die  in  Norwegen  und 
Schweden  gefundenen  inschriften  auf  stein.  Trotzdem  das  metall 
nämlich  sehr  gut  wagerechte  linien  nicht  nur  gestattete,  sondern 
ganz  besonders  dafür  geeignet  sein  niufste,  linden  wir  sie  auch  hier 
s.  93.  nur    als    ausnähme  angewandt^);    sonst  sind    die    wagerechten 


lateinischen  aipbabete  zum  runenalphabet  leicht  aus  der  in  älteren  zeiten  im 
Norden  üblichen  Schreibweise  erklärt  werden.  Wohl  sind  nämlich  die  meisten 
jetzt  vorhandenen  denkniäler  mit  runenschrift  von  stein,  aber  es  ist  bekannt, 
dafs  es  die  gewöhnliche  Schreibweise  war,  die  runeu  in  längliche  bretter  oder  stäbe 
einzuschneiden.  Jeder,  der  diese  art  und  weise  einzuschneiden  versucht  hat, 
w  ird  gefunden  haben,  1)  dals  horizontale  striche  schwer  anzubringen  sind,  weil  sie 
mit  den  holzadern  parallel  geben,  und  deshalb  teils  nicht  recht  kenntlich  werden, 
teils  nicht  ausgeführt  werden  können,  ohne  dafs  ein  ganzer  splitter  von  dem 
holze  abgeht,  weswegen  man  sie  gerne  vermeidet  und  schräge  striche  an  ihrer 
stelle  gebraucht;  2)  dals  senkrechte  linien  am  allerleichtesten  zu  machen  sind; 
3)  dafs  auch  krumme  linien  schwierig  sind,  und  dafs  man  deshalb  gern  ge- 
brochene gerade  an  deren  stelle  wählt;  4)  dafs  die  arbeit  etwas  beschwerlich 
ist,  weswegen  man  leicht  geneigt  sein  kann,  einen  strich  statt  zweier  zu 
schreiben".  Ich  habe  hier  um  so  mehr  diese  äufserungen  des  scharfsinnigen 
dänischen  gelehrten  hervorziehen  wollen,  als  seine  abhandlung  wegen  des  un- 
glücklichen Versuches,  die  runen  von  dem  VVulfilanischeu  alphabete  abzuleiten 
von  den  meisten  gewifs  als  wertlos  angesehen  wird.  Dies  ist  so  wenig  der  fall, 
dafs  ich  gerade  im  gegenteil  zu  behaupten  wage,  dafs  nur  die  mangelhafte  kennt- 
nis,  die  man  noch  zu  jener  zeit  von  der  ältesten  gestalt  der  runenschrift  hatte, 
ihn  in  der  hauptsache  fehl  greifen  liels.  Sonst  wäre  er  mehr  als  irgend  ein 
anderer  im  stande  gewesen,  klarheit  in  diese  frage  zu  bringen.  Es  ist  eine 
pflicht,  dies  dem  manne  gegenüber  hervorzuheben,  welcher  zum  ersten  male  mit 
glück  die  Inschrift  des  goldenen  hornes  zu  deuten  und  ihre  spräche  zu  be- 
stimmen suchte  (siehe  „de  ældste  nord,  runeindskrifter"  in  den  årbøger  f.  nord. 
oldk.  1867,  s.  34f. ;  s.  57  f)  und  dadurch  einen  sicheren  grund  für  spätere 
forschungen  legte. 

Auch  Kirchhoff  hat,  gewifs  ohne  Bredsdortt's  hier  genannte  abhandlung  zu 
kennen,  auf  dieselben  charakteristischen  eigenheiten  bei  der  runenschrift  auf- 
merksam gemacht  (Das  gothische  runenalphabet,  2.  auf].,  s.  3). 

1)  T"  und  n  für  ^  (<)  und  ^  (rt)  auf  dem  speerblatt  von  Kovel,  (~j  für 
f*1  (e)  auf  der  zwinge  aus  dem  Thorsbjærger  moor  und  (ohne  zweifei  in  der- 
selben bedeutung,  kaum  als  [)  u)  auf  dem  Sträruper  diadem  (siehe  „den  histor. 
sprogforskn.  og  modersmålet"  s.  42  —  43  auui.  =  årh.  f.  nord,  oldk.  1868, 
s,  298—99  anm.),  R  als  binderune  für  [~|  M  (<"")  gleichfalls  auf  der  zwinge 
aus  dem  Thorsbjærger  moor.  Endlich  hat  auch  die  j -rune  auf  dem  Themse- 
messer die  ungewöhnliche  form  -f-  mit  wagerechtem  strich  und  die  A-rune  auf 
dem  ßukarester  ringe  einen  geraden  querslrich  (H)  anstatt  der  schrägen  (^H,  H). 


III. 


KAP.    C.  VERHÄLTPC.  ZD  D.  ALTEN  ALPHABET.    ABSTAMMüItG  V.  LAT.  ALPH.  99 


Striche  von  den  ältesten  bis  auf  die  jüngsten  zeiten  aus 
der  runenschrift  verbannt  gewesen. 

Dafs  man  auch  anstatt  der  runden  ursprünglicli  gebrochene  gerade 
linien  anwandte,  geht  gleichfalls  deulhch  aus  den  alten  inschriften 
auf  holz  und  nietall  hervor,  wo  wir  meistens  ^  {p);  R  (r);  P  (w); 
/X'  ^  I  i*)5  ^  (ß);  M  {m);  M  {d)  mit  den  scharfen  kanten  finden, 
während  diese  zeichen  später  in  den  Steininschriften  in  der  regel 
eine  stärkere  oder  geringere  rundung  annehmen ;  t>:  R;  P;  ?  und  S  (der 
Bergaer  stein),  \  (der  Tanumer  stein),  \  und  ]  (der  Krogstader  stein); 
B;  M;  M.  Dieselbe  beobachtung  kann  bei  noch  mehreren  runenformen 
(m,  »,  o)  gemacht  werden. 

Der  umstand,  dafs  man  in  der  runenschrift  ursprünglich  die 
wagerechten  und  runden  linien  vermied,  erklärt  nicht  nur  vollständig 
die  abweichungen,  die  sich  zwischen  einzelnen  runenzeichen  und  den 
entsprechenden  lateinischen  buchstabenformen  finden,  sondern  zeigt 
zugleich,  dafs  wir  das  vorbild  für  die  runenschrift  nicht 
in  den  älteren  kantigen  lateinischen  buchstaben  zu 
suchen  brauchen,  sondern  dafs  die  späteren  abgerun- 
deten lateinischen  formen  dasselbe  ergebnis  liefern 
mufsten:  die  runenzeichen  für  k  und  s,  <  und  ^,  entsprechen  nicht 
allein  genau  den  altlateinischen  formen  <  und  /,  sondern  mufsten  auch 
mit  notwendigkeit  aus  den  jüngeren  lateinischen  C  und  S  hervorgehen. 
Ebenfalls  läge  die  a-rune  ^  der  altlateinischen  form  A  nahe :  man  hätte 
den  hauptstab  senkrecht  gemacht;  aber  auch  das  jüngere  A  mufste 
in  der  runenschrift  die  form  ^  annehmen^).  Eine  notwendige  folge 
hiervon  war  es,  dafs  lateinisches  F  in  der  runenschrift  JT  wurde, 
indem   die   seitenstriche   ein    wenig    heruntergerückt  wurden,    damit 


Auch  in  den  nordischen  steinioscbriften  können  die  schrägen  nebeostriche  be- 
sonders in  H  H  (^)  on<l  "t  "f  (")  sich  zuweilen  der  vsagerechten  Stellung 
nähern,  was  jedoch  als  eine  reine  Zufälligkeit  angesehen  werden  moTs  (so  |/| 
und  beide  4'~rQnen  auf  dem  stein  von  Tanum  ond  noch  mehr  die  beiden  ^- 
runen  anf  dem  steine  von  Strand,  während  die  dritte  die  form  m  hat,  wie  die 
beiden  •f'i'onen  einen  schrägen  strich  haben j. 

^)  Es  ist  dagegen  rein  zufällig,  wenn  a  in  der  nordetraskisehen  (and 
der  daraus  entlehnten  gallischen)  schrift  zuweilen  grofse  ähnlichkeit  mit  der 
a-rune  bekommen  bat;  denn  nordetruskisches  (gallisches)  ^  (in  der  bedeutung 
a)  ist  nur  eine  variation  der  a-form  /^,  wo  die  nebenstriche  nicht  ganz  her- 
unter geführt  sind ;  im  übrigen  ist  nordetruskisches  y^  gewifs  nur  eine  jüngere 
offene  form  des  anch  vorkommenden  A  und  zeigt  eine  dem  lateinischen  parallele 
entwicklung,  wo  wir  gleichfalls  in  der  ältesten  zeit  y\  und  (das  daraus  ent- 
standene)  ^  finden. 

7» 


100        ERSTES  BUCH.   DER  URSPRUNG  DER  RUNENSCHRIFT. 

dieses  zeichen  nicht  mit  F^  (a)  zusammenfalle.    Eine  form  f  war  un- 
brauchbar,  da  die  runenschrift  auch  den  grundsatz  durchgeführt  hat 
s.  94.  niemals    die    beistriche    sich    über   den  senkrechten    stab 
erheben  oder  unter  denselben  gehen  zu  lassen. 

Nach  diesen  bemerkungen  gehen  wir  dazu  über  im  einzelnen 
die  entwicklung  der  runen  aus  der  lateinischen  schrift  nachzuweisen. 
Der  Übersichtlichkeit  halber  beginnen  wir  damit  die  lateinischen 
buchstaben  und  die  daraus  entstandenen  runen  nebeneinander  zu 
stellen.  Da  wir  im  vorhergehenden  gesehen  haben,  dafs  die  runen- 
schrift in  folge  ihrer  natur  sowohl  von  den  älteren  eckigen  wie  von 
den  jüngeren  abgerundeten  lateinischen  formen  hergeleitet  werden 
kann,  so  verzeichnen  wir  sie  beide: 

Lateinisch: 
a         A  A  A  A  A  A 
b         ^  B 
k  (S)  <  C  C 
d         >D 
e         <<^$E\\ 
f         ^  /-  F  1« 
g        OG 
h         H 

I,  j  II 

k  KK 

1  PkL 

m  (AA^  W)  M  A\ 

n  /VV^N 

o  OO 

p      rp  P 

q        ?QQQ 
r         RR  P  R 
s        (^  5)  ;  X  S 
t  OT 

«,  w   \|  V 
X         X 

[y]      Y 

[z]       z  . 

s  95.  Von    den    24    runen    haben    wir    somit    für    16    entsprechende 

zeichen  im  lateinischen  alphabete  finden  zu  können   geglaubt.     Übrig 


Urnen: 
^B 

k  < 

b  V  \> 

M 

r 

HH 

i  1 

> 

MM 
+  + 
5^ 

RR 

t 

III.  KAP.  C.  VERHÄLTN.  ZU  D.  ALTEN  ALPHABET.  ABSTAMMUNG  V.  LAT.  ALPH.  101 

bleiben  also  8  runen  von  den  inschriften  und  dem  aiphabet  auf  dem 
brakleaten,  die  wir  vorläufig  nicht  mit  irgend  einem  lateinischen 
buchstaben  zusammenzustellen  gewagt  haben,  nämlich:  X  g,  P  P  w, 
(f  j,  't  altengl.  eo,  t,  ^  ;»,  Y  (A)  r,  ♦  ^^  »,  M  DG  d. 

Sehen  wir  die  16  zusammengestellten  lateinischen  buchstaben 
und  runen  ein  wenig  näher  an,  so  finden  wir  auf  den  ersten  blick 
eine  deutliche  Übereinstimmung  zwischen 

Lateinisch:  Runen: 

b  ^  B  ^B 

k  <  C  < 

h  H  HH 

■  I  i 

r  1^  R  RR 

Dafs  ebenfalls  die  a-rune  ^  aus  A,  A  hervorgegangen  ist,  und  dafs 
in  folge  hiervon  F  die  form  T  bekam,  haben  wir  schon  besprochen. 
Auch  beim  T  mufste  die  wagerechte  linie  gebrochen  werden,  so 
dafs  wir  die  form  T  erhalten  (es  ist  also  kein  grund  dafür  vorhan- 
den, an  eine  mittelform  zwischen  lateinischem  'f  und  Y  zu  denken,  die 
auch  beide  in  der  runenschrift  unbrauchbar  waren,  weil  sich  der 
querstrich  über  den  hauptstab  erhebt).  Bei  diesen  runen  liegt  wie 
beim  h  der  unterschied  von  den  lateinischen  buchstaben  also  nur 
darin,  dafs  man  die  wagerechten  Hnien  vermied.  Das  T  des  Koveler 
Speeres  und  das  H  des  Bukarester  ringes  als  die  ursprünglichen  formen 
anzusehen,  würde  dagegen  ganz  unstatthaft  sein;  das  H  anstatt  H  des 
letzteren  halte  ich  für  eine  reine  Zufälligkeit,  die  natürlich  auch, 
wenn  das  material  es  zuläfst,  bei  ^,  T,  +  vorkommen  kann,  und  wo- 
von selbst  die  nordischen  Steininschriften  beispiele  darbieten  (siehe 
s.  98  f.  anm.  1);  dagegen  hat  der  Bukarester  ring  selbst  neben  H 
nicht  nur  ^,  T  und  +,  sondern  auch  die  ursprüngliche  ^-form  T. 
Wenn  der  speer  von  Kovel  statt  dessen  T  gebraucht,  so  ist  dies  wie 
das  []  für  M  derselben  inschrift  in  der  eigentümlichen  art  und  weise 
begründet,  wie  die  inschrift  hier  sowohl  als  auf  dem  Speere  von  Münche- 
berg  und  auf  dem  Themsemesser  mit  metalldraht  in  das  eisen  ein- 
gelegt ist  (mehrere  Vereinfachungen  der  runen  auf  dem  Themse- 
messer erklären  sich  gerade  am  besten  hieraus).  Dafs  das  M  der 
spange  von  Charnay  wie  das  altengl.  N  (auf  dem  Themsemesser, 
in  den  inschriften  und  in  der  regel  in  den  handschriftlichen  alpha- 
beten)   jüngere    (zierüchere)    formen    für   H    sind,    kann    ja    keinem 


102        ERSTES  BUCH.   DER  URSPRUNG  DER  RUNENSCHRIFT. 

zweifei  unterworfen  sein;  aber  die  Übereinstimmung  zwischen  den 
A-formen  auf  den  spangen  von  Charnay  und  Friedberg  (nach  Stephens' 
Zeichnung  auch  auf  der  Osthofener  spange)  und  in  den  altengl. 
inschriften  scheint  zu  beweisen,  dafs  die  Westgermanen  früh- 
zeitig das  ursprüngliche  H  zu  M  verändert  haben.  Auch 
bei  der  s-rune  treffen  wir  frühzeitig  verschiedene  Veränderungen 
von  ^  (oder  nach  der-  entgegengesetzten  seite  X);  dafs  diese 
forna  nämlich  die  ursprüngliche  gemeingermanische  ist,  zeigen  der 
Speer  von  Kovel,  die  spange  von  Charnay,  die  Freilaubersheimer 
spange,  das  goldene  horn  und  der  gröfste  teil  der  übrigen  inschriften 
aus  dem  Norden;  aus  dieser  form  geht  natürlich  auch  das  alt- 
engl. und  das  spätere  nordische  h  (H)  hervor.  Wenn  wir  daher  auf 
dem  Thorsbjærger  schildbuckel  und  dem  lanzenschaft  von  Kragehul 
^,  auf  der  spange  von  Himlingöje  ^,  auf  der  spange  von  Vimose  f 
finden,  so  ist  es  klar,  dafs  wir  in  all  diesen  fallen  rein  willkür- 
liche abweichungen  von  der  ursprünglichen  form  haben;  aber  diese 
änderungen  lagen  ja  gerade  bei  dieser  rune  verführerisch  nahe. 

Das  lateinische  e-zeichen  ^E  war  schwerer  zum  gebrauch  für 
die  runenschrift  umzubilden.  Dadurch,  dafs  man  den  wagerechten 
linien  eine  schräge  Stellung  gab,  hätte  man  eine  form  ^  oder  ø 
erhalten  können;  aber  da  der  beistrich,  wie  wir  bei  V  und  T  sahen, 
sich  niemals  unter  oder  über  den  bauptstab  ziehen  durfte,  so  wurde 
E  umgedreht  und  an  stelle  der  in  der  runenschrift  unanwendbaren 
form  rn  wurde  M  gebildet.  Obgleich  ich  somit  glaube,  dafs  die  ru- 
nenschrift ganz  natürlich  E  in  M  verändern  mufste,  kann  freilich 
nicht  geleugnet  werden,  dafs  die  form  beider  zeichen  dadurch  sehr 
verschieden  geworden  ist,  und  ich  könnte  daher  geneigt  sein, 
die  rune  M  nicht  von  E,  sondern  von  der  eigentümlich  la- 
s.  96.  teinischen  e-form  II  abzuleiten.  Dies  letzere  zeichen,  das  sich  auch 
(als  entlehnung  aus  dem  lateinischen)  in  den  faliskischen  inschriften 
vorfindet,  ist  sehr  früh  bei  den  Römern  in  gebrauch  gekommen  und 
mufs  bis  in  sehr  späte  zeit  hinein  allgemein  benutzt  worden  sein, 
wie  z.  b.  die  wandinschriften  von  Pompeji  zeigen ;  alle  die  von  Zange- 
meister angeführten  alphabete  und  alphabetbruchstücke  haben,  mit 
ausnähme  zweier,  11  als  zeichen  für  e  (vgl.  oben  s.  54  anm.  2). 
Auch  auf  den  wachstafeln  (aus  dem  zweiten  und  dritten  jahrluU  nach 
Chr.),  die  in  bergwerken  in  Siebenbürgen^)   gefunden  sind,    wird 

1)  Jo.  F.  MafsmauD,  Libellus  aurarius  sive  tabulæ  ceratæ  et  antiquissimæ 
et  anicæ  Romanæ  in  fodina  auraiia  apud  Abrudbaoyam,  oppidulam  Traossylva- 


III.  KAP.  C.  VERHÄLT?!.  ZU  D.  ALTEN  ALPHABET.    ABSTAMMDNG  V.  LAT.  ALPH.  103 

ausschliefslich  dieses  zeichen  gebraucht.  Wenn  die  beiden  senkrech- 
ten striche  in  der  riinenschrift  zu  einem  zeichen  verbunden  werden 
sollten,  lag  die  form  M  ja  am  nächsten.  Dafs  diese  form  die  ge- 
meingermanische ist,  geht  aus  der  Übereinstimmung  zwischen  den 
germanischen,  altengl.  und  nordischen  inschriften  hervor.  Das  in 
ein  paar  der  allerältesten  nordischen  inschriften  vereinzelt  vorkom- 
mende n  (s.  98  anm.  1)  verdankt  seine  form  ausschliefsUch  dem 
material  (metall),  worauf  diese  inschriften  angebracht  sind,  und  kann 
keineswegs  als  die  ältere  ursprünglichere  form  angesehen  werden,  da 
sie  ganz  gegen  das  in  der  runenschrift  durchgeführte  princip  ver- 
stofsen  würde.  Ich  kann  daher  auch  nicht  mit  Bugge  (To  ny- 
fundne norske  Rune-Indskrifter  fra  den  ældre  Jærnalder,  Krist  1872, 
s.  24)  darin  übereinstimmen,  die  form  der  e-rune  in  der  ValsQorder 
inscbrift  als  zeichen  von  „hohem  alter"  zu  betrachten,  weil  sie  dem 
oben  genannten  D  ,ani  meisten  zu  gleichen  scheint".  Die  ziemlich 
plumpe  und  unbehülfliche  form,  die  nicht  nur  M,  sondern  die  runen 
im  ganzen  genommen  in  dieser  inscbrift  haben,  sehe  ich  keineswegs 
als  zeichen  von  alter  an,  sondern  erkläre  ich  ganz  einfach  aus  den 
sehr  schwierigen  Verhältnissen,  unter  denen  der  runenritzer  sicher- 
lich hat  arbeiten  müssen,  als  er  die  inscbrift  auf  der  klippe  an- 
brachte. 

Sei  es  nun,  dafs  die  M-rune  vom  lateinischen  E  oder  von  II 
abstammt,  so  fiel  sie  zusammen  mit  dem  lateinischen  ni-zeichen 
MM,  das  in  folge  dessen  notwendig  zum  gebrauch  für  die  runen- 
schrift ein  wenig  geändert  werden  mufste  und  die  form  M  annahm. 
Das  Verhältnis  hier  ist  also  ein  ähnliches  wie  zwischen  lateinischem  A  A, 
F  und  den  runen  ^,  V.  Hinsichtlich  der  runenzeichen  M  e.  Mm 
gegenüber  lateinischem  E  He,  M  7»  kann  man  sich  auch  an  das 
Verhältnis  zwischen  den  gewöhnlichen  altgriechischen  formen  B  ß, 
F*  und  den  allen  korinthisch-korkyräischen  S  ß->  ^  ^^  sowie  an  ähn- 
liche analogieen  von  andern  alten  südeuropäischen  alphabeten  erinnern, 
wo  ein  buchstabe  durch  eine  laune  diejenige  form  bekommen  hat, 
die  ursprünglich  einem  ganz  andern  zeichen  zukommt,  und  dieses  in 


nnin,  auper  repertæ,  Lipsiæ  (1841),  4to;  Detlefs  en,  über  zwei  neu  entdeckte 
römische  Liknoden  auf  Wachstafeln  in  den  Sitzungsberichten  der  philosophisch- 
historischen  Classe  der  kaiserlichen  Akademie  der  Wissenschaften,  XXIIL  Band, 
Wien  1S57,  s.  601 — 635,  und  (  ber  ein  neues  Fragment  einer  römischen  Wachs- 
nrknnde  aus  Siebenbürgen,  ibid.  s.  636—650  (vgl.  XXVH.  Band,  1858,  s.  S9- 
108);  Corpus  Inscr.  Lat.  III,  2  (1873),  s.  921  ff. 


104 


ERSTES    BUCH.       DER    URSPRUNG    DER    RUNENSCHRIFT. 


folge  dessen  auch  eine  von  seiner  früheren  mehr  oder  weniger  abwei- 
s.  97.  chende  gestalt  annehmen  mufste  ^).  Dafs  wir  in  M  das  gemeingerma- 
nische zeichen  für  die  wi-rune  haben,  zeigen  die  inschriften  sowohl  wie 
die  alten  runenalphabete,  und  irgend  eine  alte  abweichung  von  dieser 
form  läfst  sich  nicht  nachweisen.  Wenn  ich  früher  in  Übereinstimmung 
mit  der  allgemeinen  auffassung  das  R  auf  der  Thorsbjærger  zwinge 
als  eine  zierlichere  form  von  M  angesehen  habe,  die  gleichwie  fl  an 
derselben  stelle  dem  material,  worauf  die  Inschrift  angebracht  war, 
ihren  Ursprung  verdankte,  so  halte  ich  nämlich  jetzt  diese  auffassung 
für  unrichtig.  Bereits  Burg  hatte  (Die  älteren  nord.  runeninschrif- 
ten,  s.  24  f.)  ausgesprochen,  dafs  R  mehr  enthalten  könne  als  das 
blofse  m  (M),  und  später  hat  mir  dr.  Holthausen  schriftlich  die  Ver- 
mutung mitgeteilt,"  dafs  R  binderune  für  e  m  sein  und  diese  zeile  also 
niwaDe  mariR  gelesen  werden  könnte,  wo  er  mit  Hoffory  niwaDe 
als  locativ  ohne  präposition  („in  Niwang")  auffafste,  wenn  man  nicht 
vorzöge,  ni  als  fehler  für  in  anzusehen  (vgl.  owl-  für  wol-  in  der 
zeile  auf  der  andern  seile),  ni  als  Schreibfehler  für  in  zu  halten 
wage  ich  nicht;  aber  dagegen  bin  ich  nicht  länger  im  zweifei  darüber, 
dafs  R  wirklich  binderune  für  em  ist.  Dafs  die  zwei  Zeilen  der  in- 
schrift,  die  jede  auf  einer  seite  der  zwinge  angebracht  sind ,  gleich- 
zeitig und  von  derselben  person  geritzt  sind,  wird  kaum  jemand  in 
zweifei  ziehn,  der  wie  ich  gelegenheit  gehabt  hat,  das  original  (jetzt 
im  museum  zu  Kiel)  selbst  zu  untersuchen;  dafs  die  runen  in  beiden 


1)  Das  zeichen  ^  in  dem  griechischen  aiphabet  auf  der  vase  von  Caere 
anstatt  des  gewöhnlichen  ^  ist,  wie  wir  oben  (s.  30)  bemerkt  haben,  gleich- 
falls dadurch  hervorgerufen,  dafs  v  die  form  bekommen  hatte,  die  sonst  für  den 
Zischlaut  üblich  war;  vgl.  ebenso  s.  55  anm.   1. 


III.  KAP.  C.  VERHÄLTX.  ZU  D.  ALTEN  ALPHABET.  ABSTÄMMLING  V.  LAT.  ALPH.   105 

Zeilen  ganz  denselben  charakler  haben,  geht  auch  aus  der  beistehen- 
den sorgfältigen  abbildung  hervor.  Ich  glaube  jetzt  wie  früher,  dafs 
beide  Zeilen  zusammengehören  und  das  ganze  folgendermafsen  gelesen 
und  verbunden  werden  mufs:  owl  j)u{)ewaR  niwaDe  mariß  d.i.  Wol- 
InipewüR  Niwatde-märtR,  was  in  gewöhnlicher  altnordischer  sprachform 
lauten  würde:  Ullpér  (i)  Nivange  m^rr\  dafs  die  präposition  ausgelas- 
sen ist,  und  dafs  beide  worte  mit  einer  binderune  zusammengeschrie- 
ben sind,  könnte  vielleicht  daraus  erklärt  werden,  dafs  sie  zu  einem 
begriff  („der  in  Niwang  berühmte"  ^  „Niwangs  rühm",  „der  held 
von  Niwang")  zusammengeschmolzen  waren. 

Zwei  lateinische  buchstaben  wurden  in  der  runenschrift  umge- 
dreht, nämlich  die  zeichen  für  I  und  u,  P  L  und  \J  V>  welche  daher 
die  formen  T  und  K  annahmen.  Es  ist  gewifs  kein  zweifei  darüber 
möghch,  dafs  nur  die  rücksicht  auf  die  bequemlichkeit  diese  Veränderung 
veranlafst  hat,  da  man  offenbar  viel  leichter  und  genauer  T  und  K  wird 
einritzen  können,  wo  der  nebenstrich  von  der  spitze  des  hauptstabes 
ausgeht,  als  V  und  V,  die  geradezu  den  lateinischen  formen  ent- 
sprechen würden.  Wenn  wir,  namentlich  in  den  wandinschriften  von 
Pompeji,  nicht  selten  k  für  H  finden,  so  ist  dies  ja  eine  änderung 
von  ganz  derselben  art,  wie  sie  die  runenschrift  durchgeführt  hat. 
Wenn  k,  K,  wie  ich  oben  vermutet  habe,  auf  der  spange  von 
Charnay  zeichen  für  l  sind,  so  sehe  ich  sie  als  spätere  abweichun- 
gen  von  T  an;  dafs  dieses  nämlich  die  ursprüngliche  form  für  die 
rune  gewesen  ist,  geht  aus  der  Übereinstimmung  zwischen  allen  an- 
dern denkmälern  (gotischen,  deutschen,  englischen  pnd  nordischen) 
hervor.  —  In  der  w-rune  hat  der  rechte  seitenstrich  kaum  von  anfang 
an  die  krümmung  gehabt,  die  später  gewöhnlich  wurde  (R);  man  be- 
trachte z.  beisp.  die  formen  auf  dem  Bukarester  ringe,  der  zwinge 
aus  dem  Thorsbjærger  und  dem  liobel  aus  dem  Vier  moore,  die  der 
ursprünglichen  am  nächsten  zu  liegen  scheinen.  Aber  die  w-rune 
hat  gewifs  früher  als  irgend  eine  andere  eine  abgerundete  form  (viel- 
leicht durch  eine  mittelform  H)  angenommen. 

Dafs  auch  die  runenzeichen  für  n  und  o  eine  von  den  latei-  «•  98. 
nischen  buchstaben  etwas  abweichende  gestalt  bekamen,  lag  daran, 
dafs  sie  sonst  leicht  der  Verwechslung  mit  zwei  andern  runenzeichen 
ausgesetzt  gewesen  wären.  —  Lat.  ^  ^  N  konnte  in  die  runenschrift 
in  der  form  NM  aufgenommen  werden;  aber  da  dieses  zeichen 
leicht  mit  der  Ä-rune  H  H  ^)  zusammengefallen  wäre,  so  gab  man  ihm 

^)  Gerade  diese  form  hat  n  gewöhnlich  im  etruskischea  uad  oskischeo. 


106        ERSTES  BUCH.   DER  URSPRUNG  DER  RUNENSCHRIFT. 

die  einfachere  form  +  +,  indem  die  beiden  senkrechten  stäbe  im  N  zu 
einem  vereinigt  und  der  querstrich  mitten  hindurch  gezogen  wurde. 
Das  Verhältnis  zwischen  +  +  ist  dasselbe  wie  zwischen  H  H ;  beide 
formen  werden  in  den  ältesten  inschriften  durcheinander  gebraucht 
und  wechseln  sogar  in  derselben  inschrift ').  Eine  von  +  abgeleitete 
jüngere  form  h,  wo  der  nebenstrich  nur  auf  der  rechten  seite  des 
hauptstriches  angebracht  ist,  scheint  nach  den  Zeichnungen  sicher  auf 
der  Nordendorfer  spange  b  vorzukommen,  läfst  sich  aber  sonst  kaum 
in  den  inschriften  mit  der  längeren  runenreihe  nachweisen,  trotzdem 
es  leicht,  wenn  der  strich  links  verhältnismäfsig  kurz  ist,  das  aus- 
sehen derselben  bekommen  kann  (dies  ist  vermutlich  z.  b.  mit  der 
kleinen  n-rune  in  dem  worte  runa  auf  der  Freilaubersheimer  spange 
der  fall,  die  auf  der  Zeichnung  bei  Stephens  die  form  Y  hat,  vvährend 


1)  Das  goldene  horn  hat  z.  b.  zuerst  einmal  H  und  dt-mnächst  zweimal  H,  der 
stein  von  Varnum  (Järsberg)  zweimal  H>  einmal  H-  Während  n,  das  nur  ein- 
mal auf  dem  goldenen  horne  vorkommt,  dort  die  form  ^  hat,  gleichwie  auf  der 
lanze  von  Kragehul  und  auf  den  steinen  von  Stcnstad  und  Beiland,  gebraucht 
die  zwinge  vom  Thorsbjærger  moore  und  der  hobel  aus  dem  Vier  moore  *f,  das 
sich  gleichfalls  auf  dem  Varnumer  und  Orstader  steine  und  dreimal  auf  dem 
Reidstader  steine  findet.  Im  ganzen  scheint  "f  als  die  gewöhnlichste  form  an- 
gesehen werden  zu  müssen,  wenn  die  inschrift,  wie  in  den  genannten  fällen,  von 
links  nach  rechts  geht;  dagegen  finden  wir  im  allgemeinen  <{"  in  den  Inschriften, 
die  von  rechts  nach  links  gehen  (Möjebro  zweimal,  Krogfetad,  Tanum  zweimal, 
Einang,  Strand  zweimal,  Tomstad,  Torvik  b).  Doch  läfst  sich  eine  bestimmte 
regel  keineswegs  aufstellen;  denn  auf  dem  steine  von  Berga  steht  "f  von  rechts 
nach  links,  und  der  Tuner  stein  hat  auf  der  ersten  seite  "f  von  rechts  nach 
links  und  gleichfalls  auf  der  zweiten  seite  in  der  zeile  2  und  3,  aber  in  der 
eisten  zeile  <^  von  links  nach  rechts.  Auch  auf  der  Charnayer  spange  finden 
sich  beide  formen;  die  Freilaubersheimer  spange  hat  ^  (zweimal),  aber  der 
Bukarester  ring,  der  Muncheberger  speer  (von  rechts  nach  links),  die  Norden- 
dorfer  spange  und  die  altenglischen  inschriften  "f.  Ich  halte  H  ""d  "f-  für  die 
ursprünglichen  formen  und  nehme  an,  dafs  H  ""d  ^'  »nlstanden  sind,  als  die 
Schrift  auch  die  richtung  von  rechts  nach  links  bekam;  seit  der  zeit  wurden 
beide  zeichen  oft  durcheinander  gebraucht,  ohne  rücksicht  auf  die  richtung  der 
Schrift.  —  Dieselbe  Willkür  finden  wir  im  gebrauche  der  ormen  ^  ^  der  Ä-rune 
mit  ihren  abänderungen.  Dafs  ^  die  ursprüngliche  ans  lat.  S  entstandene  form 
ist,  und  dafs  ^  erst  in  inschriften,  die  von  rechts  nach  links  laufen,  gebraucht 
wurde,  halte  ich  für  sicher,  und  dies  wird  durch  den  Koveler  speer  und  die 
Freilaubersheimer  spange  bestätigt;  im  Norden  werden  ^  ^  und  deren  neben- 
formen  dagegen  vermischt  und  sogar  in  derselben  inschrift  schwankend  ge- 
braucht (siehe  z.  b.  die  steine  von  Tune,  Krogstad  und  Björketorp),  wie  später  in 
den  inschriften  der  kürzeren  reihe  V\  und  |4  auf  demselben  denkmal  gefunden 
werden  können. 


III.  KAP.    C.  VERHÄLTN.  ZU  D.  ALTEN  ALPHABET.   ABSTAMMUNG  V.  LAT.  ALPH.  107 

ein  grofses  und  deutliches  +  in  der  zweiten  zeile  vorkommt;  es  ist 
daher  wahrscheinlich,  dafs  auch  in  dem  ersten  n  der  nebenstrich  auf 
dem  original  durch  den  hauptstrich  hindurch  läuft;  aber  es  besteht 
möglicherweise  dasselbe  Verhältnis  zwischen  der  gröfse  der  teile,  welche 
auf  der  Hnken  und  auf  der  rechten  seite  des  hauptstriches  liegen,  wie 
z.  b.  auf  dem  goldenen  horn,  wo  der  nebenstrich  rechts  ungefähr  doppelt 
so  grofs  wie  der  zur  linken  ist;  vgl.  ebenfalls  die  letzte  n-rune  in 
der  zeile  links  auf  der  spange  von  Charnay).  Sollte  nicht  auch  l' 
auf  der  Nordendorfer  spange  b  eine  abgekürzte  form  von  +  sein? 
(in  diesem  falle  würden  also  beide  formen  der  w-rune  in  dieser 
inschrift  vorkommen,  wie  z.  b.  auf  der  spange  von  Charnay  und 
anderwärts).  Dafs  Y  hier  nicht  die  bedeutung  l  haben  kann,  wie 
ich  bezüglich  des  sehr  ähnlichen  Zeichens  auf  der  spange  von  Charnay 
vermutet  habe,  geht  nämlich  mit  Sicherheit  daraus  hervor,  dafs  die 
/-rune  in  der  inschrift  in  der  gewöhnlichen  form  T  vorkommt. 

Wie  lateinisches  <  C  in  der  runenschrift  zu  <  wurde,  das  kleiner 
war  als  die  übrigen  runenzeichen,  so  sollten  wir  lat.  O  O  zu  o  um- 
gewandelt erwarten;  aber  da  dieses  oder  ein  sehr  ähnliches  zeichen 
in  der  runenschrift  die  bedeutung  td  hatte,  wie  wir  sogleich  sehen 
werden,  so  mufste  die  o-rune  eine  form  annehmen,  die  ein  wenig 
vom  lateinischen  abwich,  und  dieses  erreichte  man  dadurch,  dafs  s.  99. 
man  den  beiden  untersten  strichen  eine  kleine  Verlängerung  gab,  so 
dafs  sie  sich  einander  schneiden  mufsten;  so  entstand  ^,  das  als 
die  gemeingermaniscbe  form  für  o  angesehen  werden  mufs,  was  aus 
den  gotischen  und  deutschen  inschriflen  auf  dem  Bukarester  ringe, 
den  spangen  von  Charnay,  Nordendorf,  Osthofen  und  Freilaubersheim, 
sowie  den  altengl.  und  nordischen  inschriften  hervorgeht.  Eine  etwas 
modificierte  form,  die  sich  sonst  nicht  in  einer  inschrift  nachweisen 
läfst.  ist  ^  in  dem  aiphabet  auf  dem  Themsemesser  (siehe  oben  s.  86). 

Die  bisher  betrachteten  15  runen  stimmten  in  der  bedeutung 
ganz  zu  den  entsprechenden  lateinischen  zeichen.  Dieses  gilt  dagegen 
nicht  ven  der  16.  der  runen,  die  wir  nichts  desto  weniger  von  anfang 
an  mit  den  lateinischen  buchstaben  zusammengestellt  haben,  weil 
ihre  form  hinsichtlich  ihres  Ursprungs  keinen  zweifei  übrig  läfst, 
nämlich  k  Diese  rune  dient  bekanntlich  sowohl  im  altern  wie  im 
Jüngern  runenalphabet  zur  bezeichnung  für  den  unserer  sprach- 
familie  charakteristischen  laut  J),  der  im  lateinischen  fehlt,  dessen 
aiphabet  daher  kein  zeichen  darbot,  welches  diesen  laut  geradezu  wieder- 
gab.    Hätte   man   dagegen   das  griechische  oder  etruskische  aiphabet 


108  ERSTES    BUCH.       DER    URSPRUNG    DER    RUNENSCHRIFT. 

dem  runenalphabet  zu  grunde  gelegt,  so  halle  nnan  vielleicht  zur 
bezeichnung  für  p  das  zeichen  für  S-  wählen  können  ^).  Es  ist  in- 
dessen der  form  nach  klar,  dafs  die  rune  p  nur  eine  etwas  modiG- 
cierle  gestalt  des  lateinischen  rf-zeichens  t>  D  ist,  indem  die  neben- 
striche ein  wenig  kleiner  geworden,  so  dafs  l>  insoweit  genau  dem 
latein.  D  auf  dieselbe  weise  wie  <  dem  latein.  C  entspricht. 

Dieses  anscheinend  merkwürdige  verhalten,  dafs  man  in  der 
runenschrift  das  lateinische  D  in  der  bedeutung  p,  nicht  in  der- 
selben bedeutung  aufnahm,  die  das  zeichen  im  lateinischen  halte,  fin- 
det seine  erklärung  in  der  beschaflenheit  des  gemeingermanischen 
konsonantensystems.  Bis  vor  wenigen  Jahren  nahm  man  bekanntlich 
allgemein  an,  dafs  die  gemeingermanische  spräche  keine  der  altnord. 
Spirantenreihe  {g.,  d,  t)  entsprechenden  laute  hatte,  selbst  wenn  man, 
wie  ich  es  immer  gemeint  und  seit  vielen  jähren  in  meinen  Vorle- 
sungen über  gotische  und  altnordische  Sprachgeschichte  dargestellt 
habe,  davon  ausging,  dafs  gotisch  ^,  d,  6imin-  und  auslaute 
spiranten  waren.  Die  spiranten  galten  als  in  den  einzelsprachen  aus 
den  entsprechenden  mutae  entstanden,  so  dafs  wir  hier  parallele 
entwicklungen  innerhalb  der  germanischen  sprachen  bekamen,  nicht 
den  gemeingermanischen  standpunkt,  der  gerade  durch  die  aus  den 
„aspiraten"  entwickelten  mutae  g,  d,  b  bezeichnet  wurde.  Neuere 
Untersuchungen  haben  ja  indessen  das  unrichtige  in  dieser  früheren 
annähme  evident  nachgewiesen,  so  dafs  wir  jetzt  in  das  gemeinger- 
manische lautsystem  anstatt  der  muten-reihe  g,  d,  b  gerade  die  spi- 
ranten g,  d,  b  einsetzen  müssen.  Diese  neuere  auffassung 
stimmt  nun  vortrefflich  sowohl  zu  dem  älteren  wie  zu 
dem  jüngeren  runenalphabete,  und  ihre  richligkeit  erhält  gerade 
hierdurch  eine  weitere  bestätigung. 

Wenn  g  und  d  in  den  germanischen  sprachen  zu  der  zeit  spi- 
ranten waren,  als  das  runenalphabet  gebildet  wurde,  konnte  man 
diese  laute  kaum  durch  die  lateinischen  zeichen  für  g  und  d,  die  eher 
unsern  jetzigen  mutae  entsprachen,  ausdrücken.  Wären  die  laute  im 
lateinischen  und  germanischen  dagegen  dieselben  gewesen,  so  wäre  es 
mindestens  sehr  auffallend,  dafs  man  lat.  D  zur  bezeichnung  für  den 
ganz  verschiedenen,  im  lateinischen  unbekannten  laut  p  gewählt,  aber 


')  In  wiefern  man  dies  gethan  haben  würde,  ist  jedoch  änfserst  zweifelhaft, 
da  Wulfila  in  seinem  aiphabet  ß  durch  griechisches  tp  ausdrückte,  während 
griech.    9^   als   zeichen  für  die  lautverbinduiig   hw  benutzt    wurde    (vgl.  s.   114). 


•III 


KAP.    C.  VERHÄLT^.  Zu  D.  ALTEN  ALPHABET.  ABSTAMM tn«G  V.  LAT.  ALPH.  1  09 


für  das  dem  lat.  und  german.  gemeinsame  d  ein  neues  zeichen  ge- 
bildet hätte.  Ganz  anders  dagegen  stellt  sich  die  sache,  wenn  das 
germanische  den  d-hüt  gar  nicht  hatte,  aber  sowohl  p  wie  d,  die 
beide  von  lat  d  weit  ablagen  und  zwei  zeichen  im  runenalphabet  er- 
forderten. Es  lag  dann  eben  so  nahe,  lat.  D  zur  bezeichnung  für  p 
wie  für  d  zu  wählen,  und  das  hat  das  runenalphabet  ja  auch  gethan, 
da  es  aufser  allem  zweifei  steht,  dals  ^  formell  das  lateinische 
D  ist 

Um  den  laut  d  auszudrücken,  fehlte  es  also  an  einem  vorbilde 
im  lateinischen  aiphabet,  und  man  mu£ste  ein  neues  mittel  finden, 
um  diesen  laut  in  der  runenschrift zu  bezeichnen.  Dieses  erreichte 
man  dadurch,  dafs  man  zwei  p  gegen  einander  stellte  und 
daraus  das  zeichen  M  bildete,  wo  die  ursprünghche  lateinische 
rf-form  noch  deuthcher  als  in  ^  bewahrt  ist,  weil  man  bei  M  sich 
leichter  der  Verwechselung  mit  M  »t  aussetzte.  Die  gemeingermani- 
sche form  der  ^-rune  ist  nämlich  M  wie  in  den  nordischen  inschrif- 
ten,  auf  der  Charnayer,  Nordendorfer  und  Friedberger  spange  u.  s.  w.; 
dasselbe  zeichen  wird  auch  öfter  in  den  altengUschen  inschriften  (z.  b. 
auf  Franks  schrein)  gebraucht,  während  die  handschriflüchen  alpha- 
bete  das  jüngere  H  haben,  das  gleichfalls  in  den  inschriften  (so  auf 
dem  kreuze  von  Ruthwell)  gewöhnlich  ist.  Diese  form  konnte  wie 
gesagt  leicht  mit  M  m  verwechselt  werden,  und  wir  finden  daher 
auch  in  ein  paar  der  alten  altengUschen  alphabete  den  wert  von  s.  lOU. 
M  als  m,  d  und  von  M  ab  rf,  w  angegeben  (siehe  z.  b.  das  aipha- 
bet des  runenhedes  oben  s.  85)  ^).  Ganz  alleinstehend  ist  die  auf 
dem  Koveler  speere  gebrauchte  d-torm  Q  und  sicher  wie  das  T 
statt  T  derselben  Inschrift  durch  technische  gründe  hervorgerufen 
(vgl.  s.  101);  D  für  M  stimmt  ja  vollkommen  zu  fl  für  M  in  zwei 
nordischen  melallinschriften  (s.  103). 

')  VVeoD  ich  oben  (s.  86)  sagte,  dafs  die  bedentuag  der  ranea  K,  T,  M 
auf  dem  Themsemesser  klar  za  sein  „scheint",  so  geschah  dies,  weil  also  wirk- 
lich die  müglichkeit  da  ist,  dals  ^  zeichen  für  et  sein  kaoo.  In  diesem  falle 
würde  also  auch  das  aiphabet  aaf  dem  Themsemesser  die  in  den  handschrift- 
lichen alteng;lischen  alphabeten  gewöhnliche  reihenfolge  ä,  æ  haben,  und  sein  W 
möfste  folglich  zeichen  für  m  sein ,  so  dafs  nur  X  an  einen  anrichtigeo  platz 
(vor  m  anstatt  hinter  l)  gestellt  wäre.  Dieses  habe  ich  hier  erwähnen  wollen, 
obwohl  ich  es  für  höchst  anwahrscheiolich  halte.  —  In  in  Schriften  ans  den 
skandinavischen  ländero  läfst  sich  die  form  H  für  ^  erst  in  einer  zeit  nach- 
weisen, wo  das  längere  aiphabet  längst  vor  dem  kürzeren  als  der  allgemein  ge- 
bräachlichen  schrift  gewichen  war,  nämlich  anter  den  ranen  der  längeren  reihe, 
die  auf  dem  Köker  steine  vorkommen. 


Lal 

teinisch 

a 

A  A 

f 

F 

t 

i  T 

e 

E,  II 

m 

IVV  A\ 

1 

1.  L 

II 

\J  V 

n 

N  N 

o 

O  O 

d 

l>  D 

110"  ,   ERSTES    BUCH.       DER    URSPRUNG    DER    RUNENSCHRIFT. 

Aufser  den  oben  (s.  101)  genannten  6  lateinischen  buchstaben 
und  runen,  die  so  gut  wie  gänzlich  in  form  und  bedeutung  über- 
einstimmten, haben  wir  also  ferner  Übereinstimmung  zwischen  folgen- 
den lateinischen  buchstaben  und  runen  nachgewiesen : 

Runen: 

r 
t 

M 

r 

Kn 
+  + 

{[)  J>  t>;  davon  wieder  gebildet: 
d  M  Da  (M) 

Hiermit  sind  also  17  von  den  runen,  die  in  unsern  inschriften  und 
in  dem  aiphabet  auf  dem  brakteaten  vorkommen,  aus  dem  lateini- 
schen alphabete  erklärt. 

Es  ist  indessen  selbstverständlich,  dafs  mehrere  von  diesen  ru- 
s.  101.  nenzeichen  sich  ebenso  gut  aus  dem  griechischen  oder  den  andern  alten 
italischen,  nicht-lateinischen  alphabeten  würden  erklären  lassen,  und 
man  könnte  daher  annehmen,  dafs  die  runenschrift  durch  entlehnung 
von  mehreren  alphabeten  gebildet  wäre.  Dafs  so  etwas  an  und  für 
sich  keineswegs  unmöglich  ist,  zeigt  ja  das  Wulfilanische  aiphabet  zum 
überflufs.  Aber  unter  den  hier  behandelten  17  runenzeichen 
ist  nicht  ein  einziges,  das  gröfsere  ähnlichkeit  mit  einem 
andern  italischen  alphabete  als  mit  dem  lateinischen  zeigt, 
und  nur  ein  einziges,  das  eher  auf  das  griechische  als  auf 
das  lateinische  hinzuweisen  scheinen  könnte.  Dieses  eine 
zeichen  ist  die  /-rune  T;  während  nämlich  alle  italischen  alphabete 
l  mit  4  l'  L  bezeichnen,  finden  wir  diese  form  nur  ausnahmsweise 
in  den  alten  griechischen  alphabelen  (Atlika,  Böotien,  die  chalkidi- 
schen  kolonieen  in  Itahen);  in  der  regel  geht  dagegen  im  griechischen 
der  beistrich  im  l  von  oben  aus  (^  A  A)  wie  im  runenalphabet. 
Man  könnte  daher  vielleicht  glauben,  in  der  rune  f*  einen  beweis  für 
die  ansieht  zu  finden,    dafs  das  runenalphabet  besonders    mit    einem 


III.  KAP.    C.  VERHALTW.  ZO  D.  ALTEN  ALPHABET.  ABSTAMMUNG  V.  LAT.  ALPH.  111 

griechischen  alphabete  verwandt  sei;  aber  dieser  beweis  ist  aus 
mehreren  gründen  durchaus  ungenügend.  Das  runenalphabet  hat 
nämlich  nicht  blofs  T  für/,  sondern  auch  H  für  m;  dies  letztere  zei- 
chen hat  indessen  nicht  nur  im  lateinischen,  sondern  auch  in  allen 
griechischen  alphabeten  die  umgekehrte  Stellung.  Konnte  nun  grie- 
chisch-lateinisches V  umgewendet  und  zu  H  gemacht  werden,  so 
mufste  ebenfalls  P  L  zu  T  werden  können,  und  es  mufs  geradezu, 
wie  wir  oben  angedeutet  haben,  als  consequent  angesehen  werden, 
dafs  das  runenalphabet  sowohl  lateinisches  l  wie  u  umgedreht  hat. 
Aufserdem  zeigen  die  alten  griechischen  alphabete  selbst,  dafs  es  auf 
vollständiger  willkür  beruht  hat ,  ob  man  für  i  T  oder  l  ge- 
wählt hat;  während  nämlich  das  alte  aiphabet  auf  Euböa  A  T  ge- 
braucht, hat  das  daraus  entstandene  chalkidische  aiphabet  in  Italien 
stets  die  form  k  Nach  den  alten  semitischen  formen  müfste  man 
am  ehesten  annehmen,  dafs  l  die  ursprüngliche  griechische  form 
wäre;  aber  es  würde,  wie  ich  oben  (s.  42)  hervorgehoben  habe,  nicht 
möglich  sein,  dem  einen  gegenbeweis  zu  liefern,  der  sich  auf  die 
ältesten  griechischen  inschrilten  stützend  behaupten  wollte,  dafe  schon 
das  griechische  grundalphabet  das  phönicische  lämed  umgewendet  und 
es  zu  I*  gemacht  hätte  (auf  dieselbe  weise  wie  das  altsemische  -^  s.  102. 
äleph  und  w  shi  im  griechischen  nur  in  den  umgedrehten  formen 
A  und  ^  nachgewiesen  werden  können). 

Das  Verhältnis  zwischen  den  /-zeichen  im  griechischen,  lateini- 
schen und  in  den  runen  gibt  daher  durchaus  keinen  beweis  dafür 
ab,  dafs  dieses  runenzeichen  nicht  vom  lateinischen  ausgegangen  ist. 
Und  was  die  übrigen  16  runen  angeht,  die  wir  oben  mit  den  latei- 
nischen buchstaben  zusammengestellt  haben,  so  werden  sie  nur  von 
einem  nicht-lateinischen  alphabete  abgeleitet  werden  können,  wo 
dessen  zeichen  mit  den  lateinischen  zusammenfallen;  aber 
überall,  wo  sich  ein  charakteristischer  unterschied  in  form 
oder  bedeutung  zwischen  dem  lateinischen  und  den  an- 
dern alphabeten  findet,  weisen  die  runenzeichen  aus- 
schliefslich    auf   das  lateinische   hin  ^).     Daraus  sind  wir  be- 

^)  Um  iieioe  einwendung  unbeaotwortet  sleheo  zu  lassen,  will  ich  noch 
darauf  aufmerksam  machen,  dafs,  während  niemand,  so  weit  ich  neifs,  das  Ver- 
hältnis zwischen  den  /-zeichen  besonders  hervorgehoben  hat,  obgleich  es  doch 
eine  gewisse  bedeutung  zu  haben  scheinen  könnte,  man  dagegen  ein  auFser- 
ordentlicbes  gewicht  auf  die  ruoe  f(  gelegt  hat,  die  man  nicht  wie  oben  vom 
latein.  Q,  sondern  vom  griech.  ß  abgeleitet  bat.  Ich  leugne  nicht,  dafs  sie 
von  diesem  zeichen  ausgeben  könnte,  obwohl  ich  es  für  höchst  merkwürdig  an- 


112        ERSTES  BUCH.   DER  URSPRUNG  DER  RUNENSCHRIFT. 

rechtigt,  den  schluss  zu  ziehen,  dafs  sie  auch  in  den  fällen  aus  dem 
lateinischen  entstanden  sein  müssen,  wo  dieses  mit  den  andern  alpha- 
belen  zusammenfällt,  sofern  nicht  die  sieben  noch  unerklärten 
runenzeichen  uns  anderswohin  weisen. 

Von  den  sieben  runen,  deren  Ursprung  wir  noch  nicht  unter- 
sucht haben,  kommen  vier,  nämhch  X  g,  PPio,  Y  (Å)  ä  und 
V  ^  rø ,  ganz  allgemein  in  unsern  inschriften  vor,  wogegen  die  drei 
andern  zwar  in  allen  alten  alphabeten  auftreten,  aber  in  den  in- 
schriften nur  sehr  selten  oder  gar  nicht  als  zeichen  für  wirkliche 
s.  103.  buchstaben  nachgewiesen  werden  können.  Diese  drei  runen  haben 
auf  dem  brakteaten  von  Vadstena  die  formen  ^,  1'  und  B;  aber  die 
erste  und  die  letzte  treten,  wie  wir  sogleich  sehen  werden,  an  andern 
stellen  in  einer  sehr  abweichenden  gestalt  auf.  Was  die  bedeutung 
anbelangt,  so  ist  sie  nur  bezüglich  dieser  beiden  unzweifelhaft:  ^ 
nimmt  dieselbe  stelle  ein  wie  die  altengl.  gfeV-rune;  der  spätere  alt- 
nord.  name  ist  dr,  aber  die  gemeingermanische  form  dieses  Wortes 
war  jera,  welches  in  der  spräche  der  ältesten  nordischen  inschriften 
jära  gelautet  haben  muls.  Die  bedeutung  der  rune  im  gemeinger- 
manischen und  im  ältesten  nordischen  alphabete  war  daher  (wie  im  alt- 
englischen) j.  Über  ihre  spätere  Veränderung  im  nordischen  sowohl  im 
namen  (und  der  damit  folgenden  bedeutung)  als  auch  in  der  äufseren 
form  wollen  wir  später  ausführhcher  reden.  — •  l*  hat  in  den  altenglischen 
alphabeten  den  namen  eoh  oder  ih.  Dies  könnte  zu  der  vermutung 
führen,  dafs  die  rune  ursprünglich  das  zeichen  für  langes  i  oder  für 
den  diphthongen  gewesen  sei,  dessen  gemeingermanische  form  eu  war, 
und  der  später  in  den  verschiedenen  sprachen  verschiedene  formen 
annahm:  got.  tu,  altengl.  eö,  iö,  altnordisch-isländisch  jü,  je  u.  s.  w. 


sehen  würde,  dafs  man  darauf  verfallen  wäre  o  durch  f2  auszudrücken,  wenn 
uian  für  e  E  wählte.  Aber  hierzu  kommt,  dafs  dasjenige  griechische  ai- 
phabet, von  dem  in  einem  solchen  falle  allein  bei  der  ableitung  der  runen- 
schrift  die  rede  sein  könnte,  nämlich  das  ionische,  unglücklicherweise  H 
in  der  bedeutung  t]  gebraucht,  des  p  (^)  ermangelt  und  y  und  p  in  den  formen 
r  und  P  hat,  während  die  eigentümliche  form  und  bedeutung  von 
lateinischem  H  ^j  F /»  C  ^  und  |^  r  sich  gerade  genau  in  den  ent- 
sprechenden runen  wiederfindet.  —  In  seinem  neuesten  werke  „Die 
Kultur  Schwedens  in  vorchristlicher  Zeit",  Berlin  1885,  s.  114  schliefst  0. 
Montelius  sich  wie  in  früheren  arbeiten  meiner  annähme  an,  „dafs  die  Runen 
durch  eine  Veränderung  der  römischen  Buchstaben  entstanden  sind";  aber  er 
leitet  nichtsdestoweniger  die  rune  f^  vom  griech.  ß  ab,  ohne  den  Widerspruch 
zu  bemerken,  in  welchen  er  hierdurch  gerät. 


IH.  KÄP.     C.  VERHÄLTxN.  ZU  D.  ALTEN  ALPHABET.  ABSTAMMDMG  Y.  LAT.  ALPH.  113 

Eine  praktische  anwendung  als  lautzeichen  hat  diese  rune  indessen  in 
unsern  inschriften  nicht  gefunden;  dagegen  hat  sie  sich  lange  im  ai- 
phabet gehalten,  und  da  sie  endlich  auch  hier  aufgegeben  wurde,  so 
ist  es  möglich,  dafs  ihr  name  auf  eine  andere  rune  übertragen  wor- 
den ist.  Über  alle  diese  Verhältnisse  werden  wir  unten  des  näheren 
zu  sprechen  gelegenheit  finden.  —  ^  auf  dem  brakteaten  entspricht 
der  altenglischen  j)-rune  (peord),  und  ihre  bedeutung  im  gemein- 
germanischen und  ältesten  nordischen  alphabete  mufs  gleichfalls  p 
gewesen  sein. 

Es  sind  also  die  runenzeichen  für  die  gutturale  g_  und  ta,  den 
labial  p,  die  halbvokale  w  und  j  sowie  für  das  nordische  p.  und  das 
altenglische  eo  {i),  die  wir  noch  betrachten  müssen. 

1.  Die  rune  X  ^. 
Wir  haben  oben  gesehen,  dafs  die  runenschrift  das  latei- 
nische C  in  der  form  <  und  mit  derselben  bedeutung  wie  im  latei- 
nischen aufnahm,  und  wir  haben  gerade  hierin  einen  der  beweise  für 
die  abstammung  der  runen  vom  lateinischen  aiphabet  gefunden.  Ur- 
sprünglich hat  das  lateinische  aiphabet  natürlich  wie  das  griechische 
C  in  der  bedeutung  g  gebraucht  und  k  durch  K  ausgedrückt;  aber  s.  104. 
bereits  in  den  ältesten  lateinischen  inschriften  wird  C  nicht  nur  in 
der  bedeutung  g,  sondern  auch  als  die  gewöhnliche  bezeichnung  für 
k  verwandt,  während  das  alte  K  auf  einzelne  worte,  und  Q  auf  eine 
einzige  Verbindung  beschränkt  war.  Da  man  später  wieder  das  be- 
dürfnis  fühlte,  den  g-  und  Ä-laut  durch  zwei  zeichen  zu  unterschei- 
den, so  bildete  man  von  dem  alten  C  ein  neues  zeichen  C  (auch  in 
den  formen  6,  G)  für  den  p-laut.  Dieses  zeichen,  das  man  in  der 
buchstabenreihe  zwischen  F  und  H  an  den  platz  setzte,  wo  früher  s 
(I)  gestanden  hatte,  kann  zwar  frühzeitig  nachgewiesen  werden,  da 
es  dreimal  auf  dem  Sarkophage  des  L.  Cornelius  Scipio  Barbatus 
(cos.  298  V.  Chr.)  vorkommt^)  und  später  allgemein  wird  (z.  b.  in 
dem  senatuscons.  de  Bacchan.  186  v.  Chr.);  aber  lange  nachdem  ein 
eigenes  zeichen  für  g  gebildet  worden  war,  fuhr  man  dennoch  fort, 
C  sowohl  in  der  bedeutung  k  wie  g  zu  gebrauchen  (vgl.  Ritschi, 
Priscæ  Lat  mon.  s.  111).     Da  die  runenschrift  für  den    fr-laut   das 


^)  Trotz  Corssens  einwendangen  (Über  Aassprache  etc.  II-,  s.  93  anm.)  kann 
ich  die  iaschrift  auf  dem  Sarkophage  des  Barbatas  nicht  für  älter  ansehen,  als 
die,  welche  sich  auf  dem  seines  sohnes  L.  Cornelios  Scipio  (cos.  259  v.  Chr.) 
befindet. 

WISIMEB,  Die  rnnenachrift.  8 


114  ERSTES    BUCH.       DER    URSPRUISG    DER    RUNENSCHRIFT. 

am  gewöhnlichsten  gebrauchte  lateinische  fr-zeichen  C  aufgenommen 
hatte,  waren  K  und  Q,  die  denselben  laut  ausdrückten,  für  den,  der 
das  runenalphabet  schuf,  eigentlich  überflüssige  zeichen;  aber  selbst- 
verständlich konnten  diese  zeichen  in  einer  von  der  lateinischen  ver- 
schiedenen bedeutung  aufgenommen  werden.  Dafs  man  indessen  als 
zeichen  für  den  «;[-laut  weder  eines  der  lateinischen  fc-zeichen  noch 
das  lateinische  ^f-zeichen  wählte,  zeigt  die  form  der  ^-rune  auf  den 
ersten  blick.  Daraus  zu  schliefsen,  dafs  das  runenalphabet  aus  dem 
lateinischen  alphabete  gebildet  sei,  bevor  dieses  das  zeichen  G  für  g 
eingeführt  hätte,  würde  jedoch  übereilt  sein.  Das  Verhältnis  zwi- 
schen lat.  g  und  germ.  g  war  ja  nämhch  ganz  dasselbe,  wie  zwi- 
schen lat.  d  und  germ.  d;  in  beiden  föUen  lagen  also  die  lateinischen 
und  germanischen  laute  weit  auseinander,  und  so  wenig  wie  man 
lat.  D  wählte,  um  den  germ.  spiranten  d  auszudrücken,  eben  so 
wenig  konnte  lat.  G  als  zeichen  für  den  spiranten  g  gebraucht  wer- 
den. Fragen  wir  nun  nach  dem  Ursprung  des  runenzeichens  X, 
so  gibt  es  verschiedene  möglichkeiten.  Formell  fällt  diese  rune 
s.  105,  ja  ganz  mit  lat.  X  x  zusammen;  aber  hier  liegt  der  lat.  laut  so 
fern,  dafs  man  am  ehesten  einen  zufall  in  der  ähnlichkeit  erblicken 
darf,  obgleich  die  möglichkeit  gewifs  vorhanden  ist,  dafs  das  runen- 
alphabet zur  bezeichnung  für  g  gerade  lat.  X  gewählt  haben  kann, 
weil  dieses  eine  lautverbindung  ausdrückte,  wofür  man  kein  eigenes 
zeichen  brauchte.  Es  würde  das  auf  jeden  fall  nicht  merkwürdiger  sein 
als  das  Verhältnis,  das  wir  im  Wulfilanischen  alphabete  finden,  wo 
griechisches  ip  zur  bezeichnung  für  den  laut  p  benutzt  ist,  während 
griech.  ^  die  lautverbindung  hio  ^)  ausdrückt  (natürlich  weil  ein  unter- 
schied zwischen  dem  laute  des  griech.  ^  und  dem  des  got.  p  be- 
standen hat,  also  aus  einem  ähnlichen  grunde,  wie  griech.  y  in  den 
italischen  alphabeten  nicht  zur  bezeichnung  des  /"-lautes  verwendet 
wurde). 

Wenn  ich  trotzdem  am  meisten  geneigt  bin,  die  ähnhchkeit  zwi- 
schen der  g-rune  und  dem  lat.  x  als  zufällig  zu  betrachten  (gerade  wie 
die  zwischen  lat.  M  m  und  der  rune  M  e  und  zum  teil  die  zwischen 
lat.  F  f  und  der  rune  ^  a),  so  liegt  das  daran,  dafs  ich  in  der  rune 
X  ein  zeichen  sehe ,  welches  aus  <  k  auf  dieselbe  weise  gebildet  ist, 
wie  M  aus  ^  gebildet  wurde.  Gleichwie  man  nämlich  die  (!-rune 
dadurch  bildete,  dafs  man  zwei  j!>  gegen  einander  kehrte,  so  hat  man 


1)  Vgl.  unten  'Anhang'  I. 


in.  KAP.    c.  VERHALTS.  ZD  D.  ALTEN  ALPHABET.  ABSTAMMUNG  V.  LAT.  ALPH.  115 

höchst  wahrscheinlich  die  |)[-rune  durch  zusammenrücken  zweier 
einander  zugewendeter  <  gebildet,  und  der  parallelismus  wird 
vollständig,  wenn  wir  darauf  achten,  dafs  sowohl  D  wie  auch  C  in  ^^  und 
<  verkleinert,  aber  in  M  und  X  in  ihrer  ursprünglichen  gröfse  bewahrt 
wurden.  Dafs  die  so  entstandene  rune  mit  lat  X  zusammenfiel,  war 
dann  nicht  merkwürdiger,  als  dafs  die  g-rune  mit  lat.  m  zusammenfiel. 
Hiermit  will  ich  jedoch  nicht  behaupten,  dafs  lat.  X  nicht  das  muster 
für  die  bildung  des  runenzeichens  X  abgegeben  haben  könne. 
Ich  finde  dies  im  gegenteil  höchst  wahrscheinlich;  es  lag  ja  nämlich 
sowohl  wegen  der  form  wie  wegen  der  bedeutung  nahe  zu  glauben, 
dass  lat.  X  wirklich  aus  C  hervorgegangen  wäre,  und  gerade  das 
Vorbild,  das  man  so  im  lat.  alpbabete  zu  finden  glaubte,  kann  ja 
veranlassung  zur  bildung  der  X-rune  gegeben  haben.  Dafs  diese 
letztere  wirklich  durch  Zusammenstellung  zweier  <  gebildet  ist,  finde 
ich  nicht  nur  in  der  analogie  mit  dem  runenzeichen  für  å,  sondern 
auch  in  der  art  und  weise  bestätigt,  auf  welche  man  zum  gebrauch 
für  das  runenalphabet  ein  zeichen  für  den  dritten  guttural  gebildet 
hat,  welchen  das  lateinische  sowohl  wie  die  andern  alten  alpbabete  s.  106. 
nicht  durch  ein  besonderes  zeichen  auszudrücken  für  notwendig  be- 
funden hat,  nämlich  den  nasal  der  gulturalreihe,  ». 


2.    Die  rune  O  ♦  '^ 


rø. 


Bei  der  bildung  des  Zeichens  für  diesen  laut  legte  man  wie  beim 
g[-zeichen  <  zu  grunde,  indem  man  auf  eine  weise,  die  der  bei  X 
angewandten  entgegengesetzt  ist,  zwei  <  zu  der  figur  O  zusammen- 
rückte. Diese  form  finden  wir  (jedoch  etwas  undeutlich)  auf  dem 
brakteaten  von  Vadstena  und  gleichfalls  (ganz  deutlich)  dreimal  auf 
dem  brakteaten  no.  17  bei  Stephens  (=  Atlas  no.  80):  aber  im  übri- 
gen ist  das  geschlossene  zeichen  für  »  selten,  und  die  formen, 
welche  in  unsern  ältesten  Inschriften  gebraucht  werden,  namentlich 
^  ^,  zeigen  noch  deutlicher  als  O  den  Ursprung  aus  den  beiden  <• 
Leider  fehlt  diese  rune  im  futhark  der  spange  von  Charnay  und  in 
den  deutschen  inschriften;  aber  dafs  die  offene  form  die  ursprüng- 
liche gemeingermanische  ist,  kann  gleichwohl  mit  ziemlicher  Sicherheit 
aus  der  Übereinstimmung  zwischen  ^  ^  in  den  inschriften  aus  den 
mooren  von  Thorsbjærg  und  Yi  u.  s.  w.,  ^  auf  dem  goldenen  horn 
u.  s.  w.  samt  dem  ff  des  Muncheberger  Speeres  gefolgert  werden, 
und  das  geschlossene  O  auf  dem  brakteaten   von  Vadstena    ist    ohne 

8* 


116        ERSTES  BUCH.   DER  URSPRUNG  DER  RUNENSCHRIFT. 

zweifei  allein  der  rücksicht  auf  den  räum  zuzuschreiben  ^).  Die  form 
des  runenzeichens  für  t9  (^)  scheint  zugleich  einen  grund  dafür  zu 
enthalten,  dafs  die  o-rune  die  form  ^  an  stelle  von  O  bekam,  das 
besser  mit  lat.  O  übereinstimmen  würde. 

Man  hat  zuweilen  auf  das  runenzeichen  für  rø  besonderes  ge- 
wicht gelegt  und  es  als  beweis  für  die  abstammung  der  runen  vom 
griechischen  benutzen  wollen.  Aber  die  bildung  dieses  Zeichens 
enthält  gerade  einen  beweis  gegen  direkte  Verwandtschaft  mit  dem 
griechischen;  denn  im  griechischen  bezeichnete  man  bekanntlich  den 
gutturalen  nasal  vor  g  und  k  durch  y  (und  dies  nahm  Wulfila  später 
in  sein  aiphabet  auf);  dagegen  bildete  man  kein  besonderes  zeichen 
für  diesen  laut.  Wenn  also  das  runenalphabet,  um  f9  auszudrücken, 
aus  seinem  <  fr  ein  ganz  neues  zeichen  mit  einer  eigenen 
stelle  im  alp  habet  zwischen  den  andern  buchstaben  gebildet  hat, 
so  unterscheidet  es  sich  dadurch  sowohl  vom  griechischen  wie  von 
den  alten  italischen  alphabeten,  und  die  ähnlichkeit,  die  man  mit  griecb. 
YY  =  tag  hat  finden  wollen,  ist  nur  rein  oberflächlich  und  scheinbar. 

s.  107.  3.   Die  rune  ^  W  K  2>- 

In  der  labialreihe  hatte  das  lateinische  je  ein  zeichen  für  b 
und  p,  und  zwei  zeichen  finden  sich  gleichfalls  in  den  alten  runeu- 
alphabelen  auf  dem  brakteaten,  der  spange  von  Charnay,  dem  Them- 
semesser und  in  den  handschriftlichen  altengl.  alphabeten ;  aber  wäh- 
rend das  ^-zeichen  öfter  in  den  inschriften  vorkommt,  kann  -p  — 
natürlich  zufällig  —  in  keiner  der  bisher  bekannten  ältesten  nordi- 
schen inschriften  nachgewiesen  werden,  und  in  der  gemeingermani- 
schen spräche  hatte  dieser  laut  ja  auch  eine  sehr  beschränkte  an- 
wendung.  In  den  alten  alphabeten  finden  wir  folgende  zwei  zeichen 
für  p  und  S: 


der  brakteat  von  Vadstena: 
die  spange  von  Charnay: 
das  Themsemesser: 
handschr.  altengl.  alphab.: 


V 

d 

^ 

ß 

N 

^ 

K 

^ 

IX 

«  ^ 

B^ 

h 

1)  Jüngere  änderungen  zeigen  sich  in  U  (Stenstad),  j^  (Krogstad;  von 
rechts  nach  links)  und  altengl.  X^  das  letztere  zwei  gegeneinandergekebrte  ^  ^ 
die  in  einander  geschoben  sind,  während  sie  bei  X  -g!  nur  zusamineogerückt 
wurden. 


III.  KAP.     C.  VERHÄLT«.  ZD  D.  ALTEN  ALPHABET.  ABSTAHMÜ?(G  V.  LAT.  ALPH.  117 

Das  zeichen  für  5  ist  somit  überall  dasselbe  und  stimmt  zu  dem 
^  B  der  inschriften  und  dem  lat.  ^  B.  In  der  labialreihe  ist  das  Ver- 
hältnis also  verschieden  von  dem,  das  wir  in  der  dental-  und  guttural- 
reihe angetroffen  haben,  was  uns  auch  nicht  wundem  kann,  da 
lat.  b  sicherUch  in  der  ausspräche  nicht  so  stark  vom  germ.  d  ent- 
fernt war,  wie  g  und  d  von  g.  und  ä,  und  es  kann  ja  nach  der 
form  des  Zeichens  kein  zweifei  darüber  obwalten,  dafs  die  runenschrift 
geradezu  das  lat.  B  in  der  bedeutung  5  aufgenommen  hat.  —  Dagegen 
tritt  p  in  mehreren  formen  auf,  die  nicht  auf  den  ersten  blick  auf  lat. 
P  P  zurückgeführt  werden  können.  Die  formen  der  d-  und  p-rune 
auf  dem  brakteaten  könnten  vielleicht  zu  der  annähme  verleiten,  dafs 
man  ursprünglich  nur  ein  zeichen  für  beide  laute  benutzt  hätte, 
nämhch  lat.  B;  dafs  p  auf  dem  brakteaten  die  eckige  form  hat,  wäh- 
rend d  abgerundet  ist,  wie  dafs  der  hauptstab  im  letzteren  ein  wenig 
über  und  besonSers  unter  die  nebenstriche  reicht,  scheint,  wenn  es 
nicht  auf  einem  reinen  zufall  beruht ,  zu  zeigen ,  dafs  man  ver- 
sucht hat,  einen  künsthchen  unterschied  zwischen  diesen  beiden 
zeichen  zu  machen;  aber  einen  solchen  unterschied  hat  die  schrift 
in  Wirklichkeit  durchaus  nicht  anerkannt;  denn  wir  finden  für  5  so- 
wohl die  eckige  wie  die  runde  form  in  den  alten  inschriften,  und  die 
letztere  mufs  wegen  des  grundprincips  der  runenschrift  die  jüngere 
sein.  Die  annähme,  dafs  das  ursprüngUche  runenalphabet  nur  ein 
zeichen  für  8  und  p  gekannt  habe,  wird  überhaupt  dadurch  vollständig 
widerlegt,  dafs  alle  alten  alphabete  an  der  14 ten  stelle  inder  reihe 
die  p-rune  und  an  der  18 ten  die  5-rune  haben.  Das  ursprüng- 
liche aiphabet  mufs  deshalb  auch  zwei  zeichen  für  diese 
beiden  laute  gehabt  haben.  Aber  wie  ist  dann  das  runenzeichen 
für  p  entstanden?  Es  schiene  ja  nahe  gelegen  zu  haben,  ein- s.  108. 
fach  das  lateinische  P  aufzunehmen  und  es  in  derselben  bedeutung 
zum  gebrauch  für  die  runenschrift  umzuformen.  Da  indessen  die 
rune  ^,  die  die  bedeutung  u>  hat,  formell  ganz  mit  dem  lat.  P  zu- 
sammenfällt, so  mufste  man  als  zeichen  für  p  entweder  das  lat.  P 
auf  andere  weise  umbilden  (vgl.  das  Verhältnis  zwischen  lat.  fAm  und 
den  runen  M  e  und  M  m),  oder  ein  neues  mittel  ausfindig  machen, 
um  diesen  laut  auszudrücken.  Welchen  von  diesen  auswegen  man 
gewählt  hat,  kann  etwas  zweifelhaft  erscheinen.  Da  mir  die  verschie- 
denen formen  der  j)-rune  von  lat.  P  so  weit  abzuUegen  schienen,  dafs 
ich  nicht  wagte,  sie  daraus  abzuleiten,  so  hatte  ich  mir  früher  fol- 
gende möglichkeit  gedacht.     Wie  das  runenalphabet  in  der  gut- 


118        ERSTES  BUCH.   DER  URSPRUNG  DER  RUNENSCHRIFT. 

tural-  und  dentalreihe  die  aus  dem  latein.  C  und  D  hervor- 
gegangenen formen  zur  bildung  neuer  zeichen  für  ver- 
wandte laute  benutzte,  indem  man  aus  <  zeichen  für  ^  und  rø, 
aus  ^  ein  zeichen  für  d  bildete,  dadurch  dafs  man  zwei  gegen  einander 
gekehrte  <  und  ^  zusammenrückte  (X,  ^;  M),  so  könnte  man 
nach  demselben  princip  auch  in  der  labialreihe  ein  zei- 
chen für  p  geschaffen  haben,  indem  man  zwei  gegen  einan- 
der gekehrte  ^  zusammenrückte.  Dadurch  würde  dann  ein 
zeichen  W  entstehen,  welches  zwar  nicht  nachgewiesen  werden  kann, 
aus  dem  aber  alle  p-zekhen  in  den  alten  alphabeten  hervorgegangen 
sein  könnten.  Da  nämlich  das  ursprüngliche  zeichen  ziemHch  ver- 
wickelt und  schwierig  war,  so  wurde  es  später  auf  verschiedene 
weise  vereinfacht:  dadurch,  dafs  man  die  hälfte  wieder  fortwarf,  ent- 
stand ^  auf  dem  brakteaten,  wodurch  das  p-  und  ^-zeichen  im  Nor- 
den zusammenfielen ;  dagegen  hat  das  \4  der  spange  von  Charnay  den 
mittleren  teil  und  die  schrägen  striche  oben  und  das  altengl.  K  den 
mittleren  teil  und  den  rechten  senkrechten  strich  fortgevvorfen  ^). 

Diese  auffassung,  bei  der  ich,  obwohl  zweifelnd,  in  „Runeskr." 
1874,  s.  108  stehen  geblieben  war,  und  die  auch  später  von  anderer 
Seite  Zustimmung  gefunden  hat,  kommt  mir  jedoch  jetzt  selbst  allzu 
künstlich  und  daher  unwahrscheinlich  vor.  Das  U  der  spange  von 
Charnay  und  das  altenglische  K  lassen  sich  ja  sehr  gut  auf  lat.  P 
zurückführen,  das  zum  gebrauch  für  die  runenschrift  nicht  nur 
die  form  P,  sondern  auch  1^  annehmen  konnte;  eine  mehr  sym- 
metrische und  zierliche  form  dachte  man  ohne  zweifei  durch  Ver- 
dopplung der  nebenstriche  zu  erzielen,  wodurch  altengl.  K  entstand 
(vgl.  X  auf  der  spange  von  Charnay,  N  ebenda  und  N  auf  der 
Friedberger  spange  und  im  altengl.).  Dafs  das  ursprüngliche  T  eben 
so  gut  die  nebenstriche  am  fufse  wie  oben  haben  konnte  (also  U 
neben  K)  stimmt  dazu,  dafs  wir  +  H  neben  +  H  finden,  und  be- 
sonders zu  dem  k  und  K  der  spange  von  Charnay  in  der  bedeutung 
l,  wenn  meine  oben  ausgesprochene  vermutung  über  diese  zeichen 
richtig  ist,  sowie  zu  dem  Å  und  A  der  nordischen  inschriften  neben 
Y  und  Y.  Dafs  das  aiphabet  auf  der  spange  von  Charnay  dem  U 
wieder  einen  senkrechten  strich  rechts  zugefügt  hat,  halte  ich  für  eine 
eigentümlichkeit    bei  diesem   alphabete,  die  an  dessen  N  für  H  und 


^)  Die  verschiedeneu  formen    iu   den   handschriftlichen   alten^lischeu   alpha- 
beten  lassen  sich  alle  uiit  leichtigkeit  auf  U    zurückführen. 


-U.  KAP.  C.  VERHÄLT.N.  ZO  D.  ALTEN  ALPHABET.  ABSTAMMCrSG  V.  LAT.  ALPH.  119 

besonders  au  X  für  Y  erinnert,  und  wodurch  man  auf  einem  andern 
wege  als  im  allenglischen  K  eine  mehr  symmetrische  form  er- 
reichte ^).  Ich  hege  daher  jetzt  keinen  zweifei  darüber,  d  a  f s  die  p- 
rune  geradezu  aus  lat.  P  hervorgegangen  ist.  Leider  kennen 
wir  weder  von  den  gotischen,  deutschen  noch  nordischen  inschriften  her 
die  form  der  p-rune,  abgesehen  von  den  alphabeten  auf  der  spange  von 
Chamay  und  dem  brakteaten.  Wenn  sie  indessen,  wie  ich  annehme, 
aus  lat.  P  gebildet  ist,  so  ist  es  klar,  dafs  nur  die  burgundische  und 
die  altenghschen  runenformen  sich  darauf  zurückführen  lassen.  Da- 
gegen zeigt  das  brakteatenalphabet,  dafs  das  p-zeichen  im  Norden  sehr 
früh  durch  das  ü-zeichen  ersetzt  ist,  welches  daher  in  dem  aiphabet 
auf  dem  brakteaten  nicht  nur  an  seiner  eigenen  stelle,  sondern  auch 
da  auftritt,  wo  früher  p  gestanden  hatte,  gerade  wie  in  dem  einen 
elruskischeu  aiphabet  von  Nola  D  sowohl  auf  seinem  eigenen  platze  s.  109. 
wie  auf  dem  des  alten  H  steht. 


4.    Die  rune  P  P  w. 

Wir  wenden  uns  hiernach  zu  den  runenzeichen  für  die  halbrokale 
w  und  j.  Das  zeichen,  welches  in  dem  griechischen  und  den  alten 
itahschen  nichtlateinischen  alphabeten  zur  bezeichnung  für  den  tc- 
laut  gebraucht  wurde,  wandte  das  lateinische  und  nach  diesem  das 
runenalphabet  in  der  bedeutung  f  an,  wie  wir  oben  gesehen  haben. 
Zur  bezeichnung  für  den  halbvokal  «c  bildete  das  lateinische  aiphabet 
kein  neues  zeichen,  sondern  behalf  sich  mit  dem  vokal  V,  wie  es 
durch  I  sowohl  den  vokal  t  als  auch  den  halbvokal  j  ausdrückte. 
Das  runenalphabet  nahm  dagegen  lat.  V  und  I  nur  zur  bezeichnung 
der  vokale  u  und  i  auf,  wogegen  es  für  die  halbvokale  w  und  j  ganz 
andere  zeichen  gebraucht. 

Das  zeichen  für  den  halbvokal  to  ist  in  den  alten  runenalpha- 
beten  sowohl  wie  in  den  inschriften  ohne  ausnähme  P  P.  Diese 
rune  stimmt  in  der  form  genau  mit  dem  latein.  |)-zeichen  überein, 
das,  wie  wir  eben  gesehen  haben,  gerade  aus  diesem  gruude  im  runen- 
alphabet als  zeichen  für  p  auf  andere  weise  umgebildet  wurde.  Die 
ähnüchkeit  zwischen  dem  runenzeichen  P  und  dem  lateinischen  P  muls 


^)  Eine  vollständige  analogie  zu  dem  ^  statt  (^  der  spange  voa  Charnay 
bieteo  die  griechischeu  zeichen  f/^  und  ^  für  f/  (v)  und  ^^  (u)  in  dem  aipha- 
bet auf  der  galassischeu  vase. 


120        ERSTES  BUCU.   DER  URSPRUNG  DER  RUNENSCHRIFT. 

daher  eben  so  zufällig  sein  wie  die  zwischen  lat.  M  m  F  /"  und  den 
runen  M  e  ^  a,  und  wie  zum  teil  die  zwischen  lat.  X  x  und  der  rune 
X  g.j  obgleich  das  lateinische  zeichen  im  letzteren  falle  wohl  gerade  eine 
mitwirkende  Ursache  dazu  war,  dafs  die  ^-rune  diese  form  erhielt.  Da- 
gegen würde  es  ja  mehr  als  merkwürdig  sein,  wenn  die  runenschrift, 
wo  sie  sowohl  w  wie  p  ausdrücken  wollte,  lat.  P  zur  bezeichnung  für 
diese  beiden  laute  benutzt  hätte,  und  das  obendrein  in  der  weise,  dafs 
das  rø-zeichen  formell  vollkommen  mit  lat.  P  gleich  wurde,  während  das 
|)-zeichen  eine  mehr  abweichende  form  erhielt.  Aufserdem  hat  die 
runenschrift  in  keinem  andern  falle  aus  demselben  lateinischen 
buchstaben  zeichen  für  zwei  oder  mehr  verschiedene  laute 
gebildet  (X  und  ^  sind  ja  neue  zeichen,  die  erst  aus  der  <-rune  zum 
110.  besondern  gebrauch  für  die  runenschrift  gebildet  sind).  Ich  wage  also 
nicht  in  den  hier  genannten  fällen  die  ähnlichkeit  zwischen  den  latei- 
nischen buchstaben  und  den  runen  als  zeichen  von  Verwandtschaft  an- 
zusehen, da  ich  als  hauptgrundsatz  für  die  ableitung  zweier  alpha- 
bete  von  einander  die  forderung  aufstelle,  dafs  die  zeichen  einander 
sowohl  in  form  wie  bedeutung  entsprechen  müssen,  wofern  man 
nicht,  wo  dies  in  der  einen  oder  andern  richtung  nicht  der  fall  ist, 
ganz  evident  die  gründe  der  abvveichungen  nachweisen  kann.  Sonst 
wird  man  leicht  zu  den  willkürlichsten  und  unbegreiflichsten  Zu- 
sammenstellungen verleitet.  Folglich  mufs  ich  die  behauptung  zu- 
rückweisen, dafs  die  rune  ^  w  von  lat.  P  p  ausgehe,  und  den  ge- 
danken,  den  ich  früher  („Runeskr."  s.  110)  mit  grofsem  zweifei  der 
näheren  erwägung  anheimgestellt  habe,  dafs  ^  entweder  aus  der  ^- 
oder  der  H-rune  gebildet  sein  könnte,  gebe  ich  jetzt  auch  vollständig 
auf.  Es  gibt  nämlich  einen  lateinischen  buchstaben,  aus  dem  die  ic- 
rune  nach  meiner  meinung  nicht  nur  zufolge  seiner  form,  sondern 
auch  seiner  bedeutung  abgeleitet  werden  kann,  also  aller  Wahrschein- 
lichkeit nach  wirklich  entstanden  ist,  nämlich  lat.  Q. 

Dieser  buchstabe  wird  ja  in  Verbindung  mit  V  mit  dem  laute 
ausgesprochen,  der  auf  jeden  fall  auf  das  nächste  dem  germanischen 
w  entsprach,  und  es  lag  daher  nahe,  den  buchstaben  Q  selbst,  der 
sonst  in  der  runenschrift  keine  Verwendung  finden  konnte,  mit  der 
bedeutung  w  aufzunehmen.  Dafs  dies  wirklich  geschehen  ist,  wird 
in  hohem  grade  durch  die  form  der  w-rune  wahrscheinlich  gemacht ; 
sollte  Q  nämlich  zum  gebrauch  für  die  runenschrift  umgebildet 
werden,  so  ist  es  klar,  dass  P  so  nahe  wie  möglich  lag,  wenn  man 
nicht  eine  form  wählen  wollte,  die  mit  S(.  zusammenfiel. 


III. 


KAP.    C.  VERHALTEN.  ZU  D.  ALTEi>  ALPHABET.  ABSTAMMUNG  V.  LAT.  ALPH.    121 


5.  Die  rune  ^  H  ^  j- 
Während   das   runenzeichen    für    w  in    den  alphabeten  und  in- 
schriften  immer  dasselbe  ist,  finden  wir  für  den  andern  halbvokal,  j, 
eine  verschiedene  form  in  den  verschiedenen  alphabeten,  nämlich: 

auf  dem  brakteaten  von  Vadstena:  ^ 
auf  der  spange  von  Charnay:  H 

auf  dem  Themsemesser:  + 

in  handschr.  altengl.  alphab.:  ^  ^^ 

Die  anzahl  dieser  formen  kann  mit  hülfe  der  inschriften  noch  ver-  s.  lU. 
mehrt  werden.  Zwar  können  wir  in  keiner  der  bisher  bekannten 
ältesten  inschriften  im  Norden  mit  vollkommener  Sicherheit  das  alte 
j-zeichen  mit  der  bedeulung  y  nachweisen;  aber  dafs  dies  —  wie  bei 
p  —  auf  einem  reinen  zufalle  beruht,  der  sich  aus  dem  geringen 
sprachstoft"  erklärt,  den  man  in  diesen  inschriften  findet,  ist  daraus 
klar,  dafs  dieses  zeichen  weit  später,  aber  allerdings  mit  ver- 
änderter bedeutung,  eins  der  allerhäufigsten  ist.  Da  nämlich  der  ur- 
sprüngliche name  der  rune  jära  in  folge  nordischer  lautgesetze  zu  är 
wurde,  konnte  sie  selbstverständlich  nicht  länger  als  zeichen  für  j 
gebraucht  werden,  sondern  mufste  die  bedeutung  a  annehmen.  Hier- 
für hatte  das  ursprüngliche  runenalphabet  indessen  die  rune  ^,  und 
da  man  nicht  zwei  zeichen  für  den  a-laut  brauchte,  so  kam  die  alte 
y«rfl-rune  ohne  zweifei  zu  irgend  einer  zeit  aufser  gebrauch;  aber  sie 
hielt  sich  im  alphabete,  und  da  später  das  ^  seinen  namen  (ur- 
sprünglich und  in  der  sprachform  der  ältesten  nordischen  inschriften 
^+^nY  ans  uz,  ansuR)  so  veränderte,  dafs  das  reine  a  im  anlaut  wegen 
des  folgenden  nasals  etwas  verdunkelt  wurde,  so  verdrängte  die  dr- 
rune  allmählich  das  ^  als  bezeichnung  für  das  reine  a,  während  ^  das 
zeichen  für  einen  dunkleren  laut  wurde.  Am  frühesten  kann  die  alte 
jara-rune  mit  der  bedeutung  a  auf  dem  steine  von  Istaby  nachge- 
wiesen werden,  wo  R  dagegen  zur  bezeichnung  eines  schwa-lautes 
(svarabhaktisches  a)  dient  ^).  Ob  die  jiTra-rune  diesen  namen  und 
die  damit  verbundene  bedeutung  _/ noch  zur  zeit  des  brakteatalphabetes 
gehabt,  oder  ob  sie  bereits  den  namen  ära  und  die  bedeutung  a  an- 
genommen habe,  ist  für  den  augenblick  unmöglich  mit  Sicherheit  zu 
entscheiden;    denn    sie   scheint  zwar  auf  dem  Skodborger  brakteaten 


^)  Siehe  „De  ældste  oord.  runeindskr."  (årb.  f.  nord.  oldk.  1S67),  s.  39,  51, 
56;  Navneordenes  böjuing  i  æ'.dre  dansk,  s.  41  tf.;  Bugge  in  der  Tidskr.  for 
Phiiologi  og  Pædagogik  Vil,  s.  314  tf. 


122        ERSTES  BUCH.   DER  URSPRUNG  DER  RUNENSCHRIFT. 

(Stephens  no.  67;  Thorsen  I,  s.  329),  wo  sie  dreimal  die  form  fJ^)  und 
einmal  umgekehrt  ^  hat,  j  bedeuten  zu  müssen,  da  sie  an  allen  vier 
112.  stellen  unmittelbar  vor  ^  steht;  aber  ein  sicherer  schlufs  läfst  sich 
keineswegs  hieraus  ziehen,  da  es  nicht  ausgemacht  ist,  ob  dieser  brak- 
teat  mit  seinem  dreimal  wiederholten  unerklärten  auja-alawin  und 
darauffolgenden  jalawid  wirkliche  worte  hat  ausdrücken  sollen  oder 
nur  eine  willkürliche  Zusammenstellung  von  runen  enthält'^);  auf 
jeden  fall  ist  es  unmöglich  für  uns,  jetzt  die  bedeutung  dieser 
Inschrift  ausfindig  zu  machen,  und  daher  können  wir  sie  auch 
nicht  als  beweis  bezüglich  des  wertes  ihrer  jära-rune  gebrauchen. 
Indem  wir  es  also  auch  unentschieden  lassen  müssen,  ob  die 
jära-rune  auf  dem  brakteaten  von  Vadstena  j  oder  a  bedeutet, 
finden  wir  sie  wie  gesagt  auf  dem  Istabyer  steine  (ungef.  650)  in  der 
bedeutung  a,  aber  mit  der  ungewöhnlichen  form  H.  Auf  andern 
der  Blekinger  steine  mit  älteren  runen  sowohl  wie  in  einigen  der 
ältesten  inschriften  mit  dem  kürzeren  aiphabet  hat  sie  endlich  die 
form  if,  die  früh  zu  +  vereinfacht  wurde,  welches  die  gewöhnhche 
a-form  in  unsern  inschriften  aus  der  jüngeren  eisenzeit  ist.  Diese 
ganze  entwicklung  werden  wir  unten  des  näheren  zu  besprechen  ge- 
legenheit  finden. 

Der  Übersichtlichkeit  halber  stellen  wir  hier  die  verschiedenen 
formen  zusammen,  unter  denen  die  alte  yöra-rune  auftritt,  einerlei 
ob  sie  die  ältere  bedeutung  j,  oder  die  neuere  nordische  a  hat: 

die  spange  von  Charnay:  H  U) 

der  stein  von  Istaby:  h  (a) 

der  brakteat  von  Vadstena:  ^  {j  oder  a?) 

altenglisch:  +4*^(j') 

jünger  nordisch:  )jc  ^  (a). 


^)  Diese  form  eastpricht  gaaz  der  des  brakteaten  von  Vadstena,  da  die 
runen  auch  auf  dem  brakteaten  von  Skudborg  umgekehrt  stehen.  Ich  kann  da- 
her nicht  der  uieinung  Bugges  beipflichteu  (årb.  f.  nord.  oldk.  1878,  s.  69),  dals 
das  zeichen  auf  dem  Skodborger  brakteaten  eine  form  der  i/?^-rune  sei,  da  das 
charakteristische  für  diese  rune  im  gegensatz  zur  Jära-rune  gerade  als  regel  die 
offene  form  ist.  Die  spauge  von  Fonnås,  deren  tng-ruae  Bugge  veranlal'st  hat, 
sich  für  die  bedeutung  ing-  auf  dem  brakteaten  auszusprechen,  gebraucht  ja  auch 
gerade  die  form  J,  die  ich  für  die  kori-ekteste  halte;  denn  dafs  die  striche  au 
den  beiden  andern  stellen  unten  zusammenlaufen  (pl),  betrachte  ich  als  einen 
reinen  zufall,  hervoi-gerufen  durch  Unachtsamkeit   von   selten   des   runenritzers. 

2)  Wie  in  andern  inschriften,  wo  die  runen  wahrscheinlich  magische  be- 
deutung  haben,    spielt    die    a-rune    auch    auf    dem   Skodborger  brakteaten  eine 


III.  KAP.    C.  VERHÄLTN.  ZV  D.  ALTEN  ALPHABET.  ABSTAMMUNG  V.  LAT.  ALPH.  123 

Von  den  allenglischen  formen  kommt  die  erste  nur  auf  dem  Themse- 
messer vor;  die  ähnlichkeit,  welche  die  ger-rune  hier  mit  dem 
späteren  nordischen  +  bekommen  hat,  ist  nur  scheinbar  und  ganz 
zufallig;  nordisches  +  ist  nämlich  eine  jüngere  vereinfachte  form 
des  älteren  )|(:  und  das  altengl.  +  auf  dem  Themsemesser  ist  ohne 
zweifei  eine  dieser  inschrift  eigentümliche  modification  von  ähnhcher  s.  113. 
art  wie  ihr  i  für  H,  H  für  M,  ^  für  S^,  womit  ich  jedoch  nicht  be- 
haupten will,  dafs  das  +  des  Themsemessers  unmittelbar  aus  <|)  •^ 
hervorgegangen. 

Bei  einer  betrachtung  dieser  verschiedenen  formen  der  j-rune 
zeigen  die  abweichungen  unter  denselben  sich  beim  ersten  anblick  so 
grofs,  dafs  es  schwierig  erscheinen  kann,  die  gemeingermanische  form 
dieser  rune  nachzuweisen.  Was  indessen  sofort  in  die  äugen  fällt,  ist, 
dafs  die  beiden  denkmäler,  die  räumlich  am  weitesten  von  einander  ge- 
trennt sind,  die  spange  von  Charnay  und  der  stein  von  Istaby,  zeichen 
darbieten,  die  völlig  identisch  genannt  werden  müssen,  da  H  und  H 
ja  nur  in  derselben  weise  von  einander  abweichen,  wie  z.  b.  die  beiden 
formen  der  s-rune  \  und  ^  u.  s.  w.  Dafs  diese  ähnlichkeit  zufällig  sein 
könn  te,  entstanden  durch  parallele  entwicklung,  darf  natürlich  nicht 
ohne  weiteres  geleugnet  werden;  aber  es  müTste  doch  sicherUch  in 
hohem  grade  merkwürdig  genannt  werden,  dafs  man  in  so  weit  von 
einander  Hegenden  gegenden  unabhängig  von  einander  auf  zwei  so 
charakteristische  formen  gekommen  sein  sollte.  Weit  eher  müfste  man 
daher  zu  dem  Schlüsse  geführt  werden,  dafs  die  übereinstim- 
mende burgundische  und  nordische  runenform  auch  die 
ursprüngliche  war,  und  dafs  sich  die  andern  formen  allmählich 
daraus  entwickelt  haben.  Dafs  dies  in  Wirklichkeit  der  fall  ist, 
scheint  mir  mit  Sicherheit  aus  der  merkwürdigen  inschrift  auf  dem 
lanzenschaft  aus  dem  Kragehuler  moore  hervorzugehn,  den  C.  Engel- 
hardt so  glücklich  war  im  sommer  1877  hervorzuziehen,  und  wovon 
ich  hier  eine  Zeichnung  mitteile,  die  ihrer  zeit  für  eine  beabsichtigte 
abhandlung  von  Engelhardt  und  mir  über  die  späteren  funde  im  Kra- 
gehuler moore  ausgeführt  wurde  (dieselbe  abbildung  ist  bei  Stephens 
III,  s.  133  wiedergegeben).  Bei  der  aufnähme  wurde  der  morsche 
holzschaft  an  mehreren  stellen  in  stücke  zerbrochen,  so  dafs  die  in- 
schrift, wie  dies  aus  der  Zeichnung  hervorgehl,  aus  5  bruchslücken 
besieht;  von  diesen  passen  jedoch  die  zwei  gröfslen  genau  zusammen 

wichtige  roile,  und  wir  fiudea  ebenso  die  u-  uud  /-ruue  wieder  (vgl.  oben  s.  57 f. 
aam.  5  und  s.  76  auin.   ]). 


124 


ERSTES  BUCH.   DER  URSPRUNG  DER  RUNENSCHRIFT. 


ihn  lii  I 


pifcp! 


1.^  V 


iPTTiü] 


Der  lanzenschaft  aus  dem  Kragehuler  moore. 


III.  KAP.    C.  VERBÄLTN.  ZU  D.  ALTEN  ALPHABET.    ABSTAMMOG  V.  LAT.  ALPH.  125 

und  schliefsen  sich  sicher  an  einander  (von  der  ^-rune  befindet  sich 
der  hauptslrich  auf  dem  ersten  stück,  die  spitze  des  oberen  neben- 
striches  auf  dem  andern  stück,  wogegen  der  untere  nebenstrich 
durch  den  bruch  ganz  verschwunden  ist,  was  aus  der  im  übrigen 
sehr  genauen  Zeichnung  nicht  genügend  hervorgeht);  das  dritte  stück 
fand  sich  später  und  pafste  zufolge  der  mitteihmg,  die  Engelhardt 
mir  sofort  nach  der  entdeckung  sandte,  nicht  genau  an  das  zweite, 
und  deswegen  hielt  er  es  für  „zweifelhaft,  ob  sie  ohne  lücke  zusam- 
mengehörten". Dafs  sie  nicht  unmittelbar  mit  einander  verbunden 
werden  können,  halte  ich  für  sicher  auf  grund  der  sprachformen, 
die  dadurch  entstehen  würden.  Ebenso  wenig  glaube  ich,  dafs  das 
vierte  stück  sich  unmittelbar  an  das  dritte  schUefst;  dagegen  passen 
das  vierte  und  fünfte  genau  zusammen.  Leider  fehlt  das  stück,  wor- 
auf der  schlufs  der  inschrift  angebracht  gewesen  ist  (von  der  letz- 
ten rune  sieht  man  nur  gerade  im  bruch  einen  hauptstrich,  der  kei- 
nen nebenstrich  zur  linken  gehabt  hat).  Die  ganze  inschrift  umschreibe 
ich  demnach  folgenderraafsen  mit  lateinischen  buchstaben,  indem  ich 
die  binderunen  mit  einem  bogen  darüber  bezeichne  und  die  stellen, 
wo  ich  die  inschrift  für  unvollständig  halte,  mit  punkten  angebe: 

ek   erilaR   asugisalas  muha   haite  g^ag.agaginugahe  .  .  . 
liha  .  .  .  hagalawiHubig  .  .  .^) 


^)  Die  überraschende  ähnlichkeit,  Vielehe  die  inschrift  sowohl  im  iohalt  wie 
in  der  form  der  ranen  mit  der  inschrift  auf  der  schlänge  (dem  amalet?)  ans 
dem  Lindholmer  moore  in  Schonen  aufweist,  wird  natürlich  auf  den  ersten  blick 
jedem  auifalleo.  Merkwürdig  genug  stimmt  einer  von  den  gegenständen,  die 
1751 — 52  aus  dem  Kragehuler  moore  hervorgezogen  wurden,  aber  später  ver- 
schwunden sind,  nach  S.  Abildgaards  beschreibung  so  genau  mit  der  Lindholmer 
schlänge  (vgl.  Engelhardt,  Kragehul  Mosefund,  s.  9  und  s.  26),  dafs  man  ver- 
sucht sein  könnte,  diese  letztere  gerade  für  das  im  Kragehuler  moore  ge- 
fundene denkmal  anzusehen.  Gegen  diese  annähme  spricht  jedoch  die  bestimmte 
mitteilung,  die  der  frühere  eigentümer  der  Lindholmer  schlänge,  der  berühmte 
archäologe  S.  JNilsson  in  Lund,  F.  Magnusen  gegeben  hat,  der  zufolge  die 
Lindholmer  schlänge  1S40  in  einem  zu  dem  herrenhofe  Lindholm  in  Schonen  ge- 
hörenden torfmoore  gefunden  ist  (,,Runamo",  s.  649  f.  und  das  register  s.  n. 
Lindholm).  Wenn  diese  mitteilung  richtig  ist,  müssen  wir  also  annehmen, 
dafs  zwei  fast  gleiche  rnnendenkmäler  aus  dem  fuhnischen  und  dem  schoaischen 
moore  hervorgezogen  sind,  was  ja  an  und  für  sich  auch  nicht  unmöglich  ge- 
nannt werden  kann;  man  braucht  sich  blois  an  die  auffallende  Übereinstimmung 
zwischen  den  speerblättern  von  Müncheberg  und  Kovel  zu  erinnern.  Mit  den 
runenformen    auf   dem    lanzenschaft    und   der    schlänge   stimmen  gleichfalls  die 


126        ERSTES  BUCH.   DER  URSPRUNG  DER  RUNENSCHRIFT. 

Es  kann  natürlicli  kein  zweifei  darüber  bestehen,  dafs  das  in  dieser 
Inschrift  zweimal  vorkommende  H  die  alte  yära-rune  in  der  von 
dem  Istabyer  steine  her  bekannten  form  ist,  selbst  wenn  die  be- 
deutung  der  rune  sich  wegen  der  mangelhaften  inschrift  nicht  mit 
vollkommener  Sicherheit  feststellen  läfst;  der  umstand,  dafs  sie  an 
beiden  stellen  zwischen  zwei  vokalen  steht,  macht  es  jedoch  höchst 
wahrscheinlich,  dafs  die  bedeutung  j  sein  mufs;  namentlich  an  der 
letzten  stelle  Hegt  es  nahe,  hagala  als  accusativ  von  einem  bekannten 
dem  allnord.  hagall  entsprechenden  worte  aufzufassen  und  das  fol- 
gende wort  wiju  zu  lesen.  Da  ich  glaube,  dafs  die  runen  hagala  zu 
einem  worte  zusammengehören,  und  da  ich  nicht  annehme,  dafs  das 
dritte  und  vierte  bruchslück  sich  unmittelbar  an  einander  schliefsen,  so 
halte  ich  es  für  unzulässig,  H^  am  Schlüsse  des  dritten  bruchslückes 
mit  H  im  anfang  des  vierten  zu  dem  worte  jah  zu  verbinden,  wie 
verlockend  eine  solche  lesung  auch  bei  dem  gedanken  an  das  iah 
des  Steines  von  Varnum  sein  könnte  (natürlich  kann  aber  sehr  gut  auf 
dem  zwischen  ^  und  H  fehlenden  stücke  gerade  ein  H  gestanden  ha- 
ben, das  mit  dem  vorhergehenden  HF^  verbunden  werden  sollte). 

Die  vollständig  übereinstimmende  form,  die  die  alte  jära-rune  so- 
mit auf  der  spange  von  Charnay,  der  lanze  von  Kragelml  und  dem  stein 
von  Istaby  zeigt,  mufs  a  priori  zu  der  annähme  führen,  dafs  wir  auf 
diesen  denkmälern  gerade  die  älteste  ursprüngliche  form  dieser  rune 
finden,  und  diese  annähme  wird  vollständig  durch  den  lateinischen 
buchstaben  bestätigt,  aus  dem  die  y-rune  hervorgegangen  ist,  da  H 
geradezu  aus  lat.  G  gebildet  ist.  Lateinisches  G  wurde,  wie 
früher  erwähnt,  wegen  der  ganz  verschiedenen  ausspräche  nicht  als 
zeichen  für  die  germanische  spirans  ^  gebraucht.  Dagegen  müssen 
lat.  g  und  germanisches  j  in  vielen  fallen  zu  der  zeit ,  als  das 
runenalphabet  gebildet  wurde,  nahezu  im  laute  zusammengefallen  sein, 
wenn  wir,  wofür  alles  spricht,  diese  nicht  weiter  zurück  verschieben 
als  frühestens  bis  zum  jähre  200  nach  Chr.  Sollte  nun  lat.  Q  zum 
gebrauch  für  die  runensclirift  umgebildet  werden,  so  lag  kaum  ein 
zeichen  näher  als  das  H  der  lanze  von  Kragehul  und  des  Steines  von 
Istaby  und  (umgekehrt)  das  H  der  spange  von  Charnay.  Hieraus 
müssen  sich  dann  die  andern  formen  im  Norden  und  in  England  allmäh- 
lich entwickelt  haben,  und  die  ursprüngliche  form  mufs  notwendiger- 


ranen  überein,  die  sich  anf  dem  kleinen  bruchstück  eines  messerheftes  (?)  ans 
dem  Kragehuler  moore  befinden;  ich  finde  auch  auf  dem  messerhefte  mehrere 
der  auf  der  Lindholmer  schlänge  vorkommenden  magischen  runen  wieder. 


III.  KAP.  C.  VERHALTS.  ZU  D.  ALTEN  ALPHABET.  ABSTAMJfUNG  V.  LAT.  ALPH.  127 

weise  in  beiden  gegenden  verändert  sein,  ehe  die  alte  s-rune  (^  \)  so- 
wohl im  Norden  wie  auch  in  England  die  form  H  annehmen  konnte, 
also  gerade  die  gestalt,  welche  ursprünglich  der  yära-rune  zukam. 

Eine  frühzeitige  Veränderung  des  H  finde  ich  in  dem  ^  des 
brakteaten  von  Vadstena,  das  wohl  gerade  entstanden  ist,  um  die  Ver- 
wechselung mit  der  s-rune  /  zu  vermeiden.  Gleichfalls  fasse  ich  das 
zeichen  \i  auf  der  spange  von  Fonnås  als  eine  Veränderung  des  H  auf, 
und  hier  dann  ohne  zweifei  in  der  späteren  bedeutung  a,  nicht  mit 
Bugge  (årb.  for  nord.  oldk.  1S78,  s.  70)  als  eine  form  von  K  das  ja 
von  den  ältesten  bis  auf  die  neuesten  zeiten  seine  ursprüngliche  form 
bewahrt  hat.  Habe  ich  indessen  in  dieser  vermutung  recht,  so  liegt 
es  verführerisch  nahe,  die  sehr  ähnliche  geschlossene  form  K  die  auf 
dem  steine  von  Rök  zwischen  den  runen  der  längeren  reihe  und  in 
einem  jetzt  verschwundenen  norwegischen  runenkalender  (Worm,  Fasti 
Danici,  2.  ausg.,  Hafniæ  1643,  p.  92  und  darnach  bei  Stephens  II, 
p.  867)  vorkommt,  in  derselben  bedeutung  aufzufassen,  in  welchem 
falle  das  H  des  Steines  von  Rök  natürlich  die  jüngere  form  der  s-rune 
sein  mufs,  während  der  kalender  die  ältere  form  \  bewahrt  hat.  Dafs 
dies  mehr  als  eine  blofse  vermutung  ist,  scheint  mir  aus  dem  umstände 
hervorzugehen,  dafs  die  ersten  5  runen  der  längeren  reihe  auf  dem 
Roker  steine  (HWPM)  uns  in  diesem  falle  ein  wohlbekanntes  wort 
geben  (sagwm  =  sag^nm,  indem  die  alte  jc-rune  hier  wie  auf  dem  see- 
ländischen  steine  von  Frerslev  in  der  bedeutung  u  gebraucht  ist;  vgl. 
Burg  s.  47,  wo  jedoch  anstatt  S  ein  P  zu  lesen  ist).  Indessen  fanden 
die  formen  ^,  Jj,  JJ  der  j-  (a-)rune,  die  wohl  zur  einritzung  in  holz 
und  metall  dienlich  sein  konnten,  aber  in  Steininschriften  sehr  be- 
schwerlich waren,  niemals  allgemeine  Verbreitung,  sondern  wurden  früh- 
zeitig von  dem  zweckmäfsigeren  zeichen  5(c  verdrängt,  das  vielleicht 
eher  aus  }:]  \i  als  unmittelbar  aus  H  abzuleiten  ist.  Welche  mittel- 
form oder  mittelformen  zwischen  altengl.  <J)  ^  und  dem  ursprünglichen 
h  liegen,  kann  mit  hülfe  der  verhältnismäfsig  jungen  englischen  runen- 
denkmäler  nicht  aufgeklärt  werden  (das  +  des  Themsemessers  kann 
natürlich  direkt  von  H  abgeleitet  werden). 

Dafs    das  j-zeichen    in  der   runenschrift    unmittelbar  s.  114. 
von  lat.  G  ausgeht,  enthält  natürlich  einen  entscheiden- 
den beweis  dafür,  dafs  es  das  lateinische  aiphabet  in  seiner 
jüngeren  gestalt  ist,    das  bei  der  bildung  der  runenschrift 
zu  grunde  gelegt  wurde. 

Die  hier  vorgetragene  auffassung  wird  auch  in  hohem  grade  durch 


128        ERSTES  BUCH.   DEU  URSPRUNG  DER  RUNENSCHRIFT. 

die  betrachtung  des  andern  alten  alphabetes  gestützt,  das  wir  bei 
einem  der  germanischen  Völker,  den  Goten,  finden,  wo  die  runenschrift 
bereits  gegen  die  mitte  des  4.  jahrhdts  von  dem  alphabete  Wulfilas  ab- 
gelöst wurde.  Während  die  runenschrift  von  den  lateinischen  kapitalbuch- 
staben  ausgeht,  ist  das  Wulfilanische  aiphabet  wesentlich  den  grie- 
chischen uncialbuchstaben  nachgebildet,  doch  so,  dafs  auch  einzelne 
lateinische  buchstaben  für  laute,  die  sich  im  griechischen  nicht  fanden, 
die  aber  die  Römer  mit  den  Goten  gemeinsam  hatten  {/",  j),  benutzt 
sind;  dafs  auch  zwei  runen  in  das  Wulfilanische  aiphabet  übergegangen, 
und  dafs  die  alten  runennamen  bewahrt  sind,  ist  in  Verbindung  mit 
den  andern  oben  (s.  71  f.)  hervorgehobenen  umständen  ein  wichtiger 
beweis  dafür,  dafs  die  runenschrift  bei  den  Goten  älter  ist  als  W^ulfilas 
aiphabet. 

Als  zeichen  für  b  und  g  finden  wir  nun  gerade  im  Wulfilanischen 
alphabete  griech.  ß  und  y,  und  dieselbe  herkunft  mufs  daher  von  got. 
(/angenommen  werden,  obschon  es  nach  seiner  form  sowohl  von  griech. 
å  wie  von  latein.  d  abgeleitet  werden  kann;  aber  da  die  ausspräche 
des  griechischen  ß,  y,  å  damals  im  wesentlichen  mit  derjenigen  der 
germanischen  spiranten  5,  g,  å  zusammenfiel,  so  müssen  die  Goten 
sicher  noch  zu  Wulfilas  zeit  diese  ausspräche  nicht  nur  im  in-  und 
auslaut,  sondern  auch  im  anlaut  bewahrt  haben.  Hätten  die  Goten 
mutæ  gehabt,  so  müfsten  wir  weit  eher  lat.  6,  gf,  å  zu  finden  erwarten. 

Wäre  das  runenalphabet  aus  dem  griechischen  alphabete  gebildet, 
oder  hätte  es  nur  einzelne  griechische  buchstaben  unter  die  lateinischen 
aufgenommen  —  wie  Wulfila  lateinische  unter  die  griechischen  auf- 
nahm — ,  so  können  wir  kaum  bezweifeln,  dafs  wir  besonders  in 
diesem  punkte  (bei  der  bildung  der  zeichen  für  die  spiranten  g,  <f)  den 
griechischen  einflufs  spüren  würden,  was  ja  indes  durchaus  nicht  der 
fall  ist. 

Um  den  halbvokal  y  auszudrücken,  mufste  W'ulfila .  dagegen  das 
griechische  aiphabet  verlassen  und  das  lateinische  G-zeichen  auf- 
nehmen, mit  welchem  got.  y  in  vielen  fällen  in  der  ausspräche  auf  das 
nächste  übereinstimmte.  Ganz  dasselbe  Verhältnis  hat  sich  auch  in  der 
runenschrift  geltend  gemacht,  die  wegen  der  verschiedenen  ausspräche 
lat.  G  nicht  für  ihr  g  verwenden  konnte,  dasselbe  dagegen  als  zeichen 
für  ihr  j  aufnahm. 

6.  Die  rune  Y  (A)  %\  r. 

Von  den  24  zeichen  des  alten  runenalphabetes  sind  somit  nur 
noch  Y  und  \  übrig. 


in.  KAP.    c.  VERHÄLTN.  Zu  D.  ALTEN  ALPHABET.  ABSTAMMUNG  V.  LAT.  ALPH.   129 

Die  erstere  dieser  runen  hat  im  futhark  auf  dem  brakteaten,  dem 
Themsemesser  und  im  allgemeinen  in  den  handschriftlichen  altengl. 
alphabeten  die  form  Y.  In  unsern  inschriften  aus  dem  älteren  eisen- 
alter gehört  sie  zu  den  am  häuGgsten  vorkommenden  zeichen,  und  sie 
hat  hier  wie  in  den  alphabeten  fast  ausschliefslich  die  form  Y  mit 
den  beistrichen  oben.  Ausnahmsweise  finden  wir  jedoch  auf  dem 
lanzenschafte  aus  dem  Kragehuler  moore  die  runen  aR  als  binderune 
X,  in  demselben  namen  zusammengeschrieben  und  also  in  ganz  derselben 
bedeutung  wie  Y^  (von  rechts  nach  links)  auf  der  Lindholmer 
schlänge,  und  von  den  andern  inschriften  mit  dem  längeren  alphabete 
gebraucht  der  stein  von  Varnum  (Järsbei^)  nur  einmal  Y  (in  dem 
Worte  Rn+5^Y),  aber  dreimal  in  derselben  bedeutung  A,  jedoch  nur 
in  Verbindung  mit  ^,  darunter  das  eine  mal  als  binderune  wie  in  der 
Kragehuler  inschrift.  Eis  geht  hieraus  hervor,  dafs  A,  welches  später 
allgemein  wurde  und  in  der  jüngeren  eisenzeit  alleinherrscht,  bereits  s.  115. 
frühzeitig  als  eine  gleichbedeutende  nebenform  zu  Y  gebraucht  worden 
ist.  Da  indessen  die  inschriften  von  Kragehul  und  Varnum,  die  nicht 
zu  den  ältesten  nordischen  inschriften  mit  der  längeren  reihe  ge- 
hören, die  einzigen  bisher  bekannten  beispiele  für  Å  bieten,  während 
alle  andern  inschriften  mit  den  zeichen  dieser  reihe  (auch  die  der  brak- 
teaten) wie  die  altenglischen  alphabete  durchgehends  Y  haben,  so 
müssen  wir  natürlich  die  letztere  form  als  die  älteste  und  ursprüng- 
liche ansehen  und  A.  als  eine  jüngere  speciel!  nordische  Veränderung, 
die,  wie  dies  sowohl  aus  der  Kragehuler  wie  aus  der  Varnumer  in- 
schrift hervorgeht,  von  anfang  an  in  der  in  den  nordischen  inschriften 
besonders  häufigen  Verbindung  ^Y  entstanden  ist,  wenn  diese  beiden 
runen  an  einem  hauplstriche  zusammengeschrieben  wurden.  Da  nämlich 
im  älteren  alphabete  unmöglich  Verwechslung  zwischen  einem  andern 
zeichen  und  Y  entstehen  konnte,  sei  es  dafs  dieses  die  beistriche  oben 
oder  unten  hatte,  so  konnte  man,  wie  ich  früher  hervorgehoben  habe 
(„De  ældste  nord.  runeindskr.",  s.  40—41),  Y  und  Å  durcheinander  ge- 
brauchen. Ein  ganz  entsprechender  Wechsel  in  der  Stellung  der  neben- 
striche kann  übrigens  auch  bei  einem  andern  runenzeichen  nachge- 
wiesen werden:  die  älteste  form  der  Ar-rune  <  begann  man  bereits 
frühzeitig  so  zu  verändern,  dafs  <  umgedreht  und  mit  einem  senk- 
rechten striche  versehen  wurde;  aber  während  der  stein  von  Varnum 
und  einzelne  andere  etwas  jüngere  inschriften  k  durch  V  Y  mit  den 
beistrichen  oben  ausdrücken  (woraus  sich  das  jüngere  K  entwickelt  hat), 

WIM  HER,  Die  rnnenschrift.  9 


130        ERSTES  BUCH.   DER  URSPRUNG  DER  RUNENSCHRIFT. 

finden  wir  in  den  inschriften  von  Kragehul  und  Lindholm  A.  Es 
ist  ja  einleuchtend,  dafs  Y  sich  zu  Å  verhält  wie  Y  zu  A').  Neben 
dem  älteren  Y  und  dem  daraus  veränderten  jüngeren  A  kommt  in- 
dessen ein  einziges  mal  eine  dritte  form  dieser  rune  vor,  nämlich  A 
im  futhark  der  spange  von  Charnay.  Man  könnte  vielleicht  geneigt 
sein,  diese  form  als  den  ursprünglichen  grundtypus  zu  betrachten, 
woraus  sowohl  nordisches  Y  wie  A  durch  vereinfaehung  hätte  her- 
vorgehen können ,  indem  man  entweder  nur  die  oberen  oder  die 
unteren  beistriche  behielt.  Aber  da  wir  im  Norden  niemals  eine 
spur  von  X  finden,  und  da  die  ältesten  nordischen  inschriften  so- 
wohl wie  die  altenglischen  alphabete  wie  gesagt  nur  Y  kennen  ^), 
s.  116.  so  halte  ich  es  für  höchst  unwahrscheinhch,  dafs  wir  in  dem  ganz 
alleinstehenden  X  auf  der  spange  von  Charnay  die  gemeingermanische 
form  dieser  rune  haben  sollten.  Ich  halte  es  im  gegenteil  für  sicher, 
dafs  nicht  blofs  Å  eine  spätere  nordische  Veränderung  von  Y  ist, 
sondern  dafs  auch  auf  der  spange  von  Charnay  X  eine  spätere  (zier- 
lichere) form  für  Y  ist,  wie  wir  an  derselben  stelle  und  in  England 
N  und  M  für  H,  W  und  IX  für  K  (U)  finden. 

Die  bedeutung  der  Y-rune  geht  klar  aus  den  nordischen  in- 
schriften hervor,  wo  sie  namentlich  im  wortausJaut  als  bezeichnung 
für  den  aus   stimmhaftem  s  {z)  entstandenen  r-laut    vorkommt,    der 


^)  Wenu  meine  oben  (s.  81)  dargelegte  Vermutung  über  die  bedeutung  der 
zeichen  J^  "n"!  K  auf  der  spange  von  Charnay  richtig  ist,  so  würden  wir  hier 
ein  ganz  ähnliches  Verhältnis  auf  einem  deutschen  denkmal  linden. 

■^)  Zwar  hat  ein  altenglischcs  aiphabet  von  St.  Gallen  (VV.  Grimm,  Über 
deutsche  Runen,  tab.  II  no.  3;  Stephens  s.  102  no.  7)  die  form  X»  ^^^  i''''  früher 
(„De  ældste  nord.  runeindskr.",  s.  32)  mit  jfi  auf  der  spange  von  Charnay  ver- 
glichen habe;  aber  ich  bin  jetzt  überzeugt,  dafs  diese  beiden  formen  nicht  in 
der  geringsten  Verbindung  mit  einander  stehen.  Da  nämlich  alle  altenglischeo 
alphabete  den  namen  und  die  bedeutung  dieser  rune  mifsverslanden  haben,  die 
sie  in  der  regel  mit  x  wiedergeben,  so  veränderte  das  genannte  aiphabet  auch 
das  zeichen  Y  ^^  X)  das  somit  das  aussehen  eines  durchstrichenen  lateinischen 
X  bekam.  Dafs  diese  erklärung  richtig  ist,  wird  in  hohem  grade  durch  ein 
anderes  altenglisches  aiphabet,  gleichfalls  aus  St.  Gallen,  bestätigt  (Grimm 
tab.  II  no.  1  &  2;  Stephens  s.  103  no.  10,  s.  107  no.  21),  wo  wir  anstatt 
Y  geradezu  das  lateinische  X  ™it  <^fci  namen  elux  und  dem  werte  x  finden. 
Da  X  sonst  das  gewöhnliche  zeichen  für  die  j^^-rune  war,  so  bat  diese  in  diesem 
alphabete  eine  etwas  veränderte  form  bekommen;  umgekehrt  hat  dagegen  das 
zuerst  erwähnte  aiphabet  richtig  X  als  g,  und  da  es  folglich  nicht  dasselbe 
zeichen  auch  in  der  bedeutung  x  brauchen  konnte,  so  hat  es  der  diesem 
entsprechenden  rune  die   form  )|^  gegebea. 


III.  KAP.  C.  VERHXlTN.  zu  D.  ALTEN  ALPHABET.  ABSTAMMUNG  V.  LAT.  ALPH.  131 

gotischem  s  (z)  entspricht,  wogegen  der  ursprfinghchem  (gemeinger- 
manischem) r  entsprechende  r-laut  durch  R  R  ausgedrückt  wird. 
Diese  beiden  r-laute,  von  denen  ich  den  ersten  mit  r,  den  zweiten 
mit  r  bezeichne,  wurden  im  Norden  nicht  blofs  während  des  ganzen 
älteren  eisenalters,  sondern  auch  in  den  ältesten  inschriften  aus  dem 
jüngeren  eisenalter  genau  unterschieden^).  Die  eigentümlich  nordische 
bedeutung  von  Y  (Å)  ist  also  unzweifelhaft;  aber  in  inschriften  aufser- 
halb  des  Nordens  hat  diese  rune  bisher  nicht  mit  wirklicher  buch- 
stabenbedeutung  nachgewiesen  werden  können.  Da  wir  sie  indessen«,  in 
als  15.  zeichen  im  runenalphabet  zwischen  p  und  s  nicht  blofs  auf 
dem  nordischen  brakteaten  von  Vadstena,  sondern  auch  aufderbur- 
gundischen  spange  von  Charnay  und  dem  altengUschen  Themsemesser 
sowohl  wie  in  den  handschriftlichen  altenglischen  alphabeten  finden, 
so  ist  es  klar,  dafs  wir  in  Y  keine  rune  haben,  die  speciell  im 
Norden  erfunden  ist,  um  den  eigen lümlichen  nordischen  ß-laut  aus- 
zudrücken. Y  mufs  bereits  im  ältesten  gemeingermanischen 
runenalphabet  den  15.  platz  in  der  reihe  eingenommen 
haben,  und  es  ist  zugleich  klar,  dafs  es  damals  nicht  die  bedeutung  r 
wie  im  nordischen  gehabt  haben  kann,  sondern  das  dem  nordischen  r 
zu  grunde  liegende  stimmhafte  s  (2)  bezeichnet  haben  mufs,  welches 
in  der  gemeingermanischen  spräche  eine  weit  gröfsere  rolle  gespielt 
hat,  als  man  nach  den  Überresten  der  gotischen  spräche  vermuten 
sollte,  die  wir  aus  Wulfilas  bibelübersetzung  kennen,  wo  s,  das  diesen 
laut  bezeichnet,  fast  ausschliefslich  im  inlaute  vorkommt;  aber  bereits 
Holtzmann  hat  den  richtigen  Zusammenhang  gesehen,  wenn  er  (Alt- 
deutsche Gramm,  s.  43  f.)  meint,  dafs  namentlich  jedes  gotische 
flexions-s  im  auslaut  aus  z  entstanden  sei.  Auf  jeden  fall  haben 
die  germanischen  Völker,  als  das  runenalphabet  gebildet 
wurde,  den  unterschied  zwischen  dem  stimmlosen  und 
dem  stimmhaften  s-laute  so  stark  gefühlt,  dafs  sie  zur 
bezeichnung  dafür  die  beiden  zeichen  ^  und  Y  bildeten, 
die  ganz  genau  dieselben  laute  wie  Wulfilas  s  und  3  ausgedrückt  ha- 
ben. Im  nordischen,  wo  älteres  z  als  ß  bewahrt  wurde,  fuhr  man 
also  fort,  Y  in  dieser  bedeutung  zu  benutzen.     Dagegen    warfen    die 


1)  Siehe  iin  ganzen  genommen  „De  ældste  nord.  runeindskr."  ^årb.  f.  nord. 
oldk.  1867),  s.  29  ff.;  „Professor  G.  Stephens  om  de  ældste  nordiske  rane- 
indskrifter", s.  9  ff.  (=  årh.  f.  nord.  oldk.  1S6S,  s.  61  ff).  Vgl.  meine  „alt- 
nordische grammatik'',  Halle  1871,  s.  9  anm.;  „fornnordisk  formlära",  Lund  1S74, 
§  5,  7)  anm.,  s.  11. 

9* 


132        ERSTES  BUCH.   DFR  URSPRUNG  DER  RUNENSCHRIFT. 

westgermanischen  sprachen  bekannllich  frühzeitig  den  dem  got. 
s  (s),  nord.  r  entsprechenden  laut  in  der  flexion  ah,  und  sie  hahen 
daher  auch  früh  aufgehört,  die  rune  Y  als  buchstaben  zu  benutzen. 
Gleichwohl  blieb  sie  auf  ihrem  allen  platze  in  den  alphabeten  stehen; 
aber  da  man  in  der  praxis  keine  Verwendung  dafür  hatte,  so  vergafs 
man  nach  und  nach  ihren  ursprünglichen  namen  nebst  der  bedeutung. 
Daher  schreiben  sich  die  vielen  entstellungen  in  den  handschriftlichen 
altenglischen  runenalphabeten,  die  ihm  die  namen  eolhx,  ilcs,  üix,  elux 
und  die  bedeutungen  x,  il,  l  et  x  geben.  In  dem  oben  (s.  83) 
s.  118.  genannten  altengUschen  runenliede  bei  Hickes,  wo  jeder  vers  mit 
dem  namen  der  rune,  die  erklärt  werden  soll,  beginnt,  heifst  es 
von  Y: 

■^    Vp eolhx   seccard  hæf|)  oftust  on  fenne 

wo  seccard  schon  von  W.  Grimm  richtig  in  secg  eard  verbessert  ist, 
so  dafs  die  ganze  zeile  lautet: 

eolhx  secg  eard  hæfj)  oftust  on  fenne  ^). 

In  eolhx  sollen  wir  also  den  namen  der  rune  und  zugleich  ihre 
bedeutung  finden;  aber  eolhx  ist  in  Wirklichkeit  nichts,  obgleich  Grein 
(Glossar  I,  s.  257)  es  als  genitiv  von  eolh  auffafst.  Diese  erklärung 
ist  natürlich  zu  verwerfen,  da  der  genitiv  eol{h)es  lauten  würde.  Dage- 
gen können  wir  auf  einem  andern  wege  zu  der  form  eolhx  gelangen : 
in  der  Zusammensetzung  mit  secg  würde  eolh  nämlich  das  worl 
eolhsecg  bilden,  wo  hs  für  x  gelten  könnte;  wenn  eolhxsecg  geschrie- 
ben wird,  ist  x  in  Wirklichkeit  überflüssig,  da  es  nur  eine  Wiederho- 
lung des  vorhergehenden  h  und  des  folgenden  s  ist.  Die  bedeutung 
der  rune  (x)  findet  sich  also  in  der  mitte  des  wortes :  eolhsecg  = 
eolxecg  (eolhxsecg)  und  entspricht  dem  werte,  der  ihm  in  dem  an 
das  runenlied  geknüpften  alphabete  beigelegt  wird.  Aber  selbstver- 
ständlich beruhen  die  angaben  in  den  altenglischen  alphabeten  auf 
späteren  misverständnissen.  Da  Y»  wie  wir  gesehen  haben, 
ursprünglich  das  zeichen  für  stimmhaftes  s  (z),  später  im  nordischen 
R,  war,  und  dieser  laut  niemals  im  wortanfang  vorkommt,  so  müssen 
wir  für  diese  rune  wie  für  rø  einen  namen  haben,  wo  sich  die  bedeu- 
tung der  rune  im  auslaut  findet,  während  die  übrigen  runennamen 


1)  Etwas  gewaltsamer  ist  Kembles  besserung: 

eolhx  secg  eardad  oftust  on  feone. 


III.  KAP.    C.  VERHÄLTN.  ZU  D.  ALTEN  ALPHABET.  ABSTAMMUNG  V.  LAT.  ALPH.   133 

umgekehrt  mit  dem  buchstaben  anfangen,  den  die  rune  ausdrückt. 
Nun  entspricht  indes  der  altengliscbe  name  eolhx,  der  nur  durch 
misverständnis  aus  eolh  entstanden  ist,  gerade  dem  allnordischen  elgr, 
das  in  der  ältesten  runensprache  ohne  zweifei  *algiR  (^t^XIY)  ge-  s.  119. 
lautet  haben  würde  ^),  wo  wir  also  die  bedeutung  von  Y  (ur- 
sprünglich 2,  nord.  r)  im  worten.de  als  merkmal  des  nominativs 
finden.  Im  altenglischen  ging  dieses  wort  dagegen  in  eolh  über  und 
verlor  also  gerade  den  laut,  welcher  die  bedeutung  der  rune  angab; 
da  die  rune  folglich  als  ein  müfsiges  zeichen  im  alphabete  stand,  und 
man  ihre  ursprüngliche  bedeutung  vergessen  hatte,  so,  scheint  es, 
gab  man  ihr  willkürlich  den  wert  x„  weil  das  alte  runenalphabet 
kein  zeichen  für  diesen  buchstaben  hatte;  um  aber  für  die  bedeutung 
X  zu  passen,  mufste  auch  der  name  eolh  verändert  werden,  und  dies 
wurde  durch  Zusammensetzung  mit  dem  worte  secg  erreicht,  indem 
h  am  Schlüsse  des  ersten  gliedes  in  Verbindung  mit  s  im  anfange 
des  zweiten  gliedes  x  vorstellen  konnte,  und  um  diesen  buch- 
staben  deutlicher  zu  bezeichnen,  veränderte  man  in  der  schrift  eolhsecg 
in  eolhxsecg  und  liefs  endlich  das  sinnlose  eolhx  selbst  mit  abwer- 
fung von  secg  als  namen  der  rune  gelten. 

Da  der  ursprüngliche  name  der  rune  Y>k  im  laufe  dieser  Unter- 
suchungen für  uns  von  grofser  Wichtigkeit  werden  wird,  so  habe  ich 
hier  diese  entwicklung  darlegen  müssen,  die  ich  übrigens  in  allem 
wesentlichen  bereits  in  den  årbøger  for  nord.  oldk.  1867  („de  ældste 
nord.  runeindskr."),  s.  32 — 34  anm.   vorgebracht  habe. 

Nachdem  wn*  so  die  ursprüngliche  bedeutung  der  rune  Y 
sowie  deren  namen  nachgewiesen  haben,  bleibt  noch  übrig  zu  unter- 
suchen, woher  das  runen  zeichen  stammt.  Einen  buchstaben  mit  ganz 
entsprechender  bedeutung  finden  wir  ja  im  lateinischen  alphabete 
nicht;  aber  da  lateinisches  s  für  ^  s  benutzt  war,  mufste  man  für 
den  andern  zischlaut  entweder  ein  zeichen  unabhängig  vom  lateinischen 
bilden,  oder  z  wählen,  wie  Wulfila  in  sein  aiphabet  diesen  buch- 
s laben  zur  bezeichnung  für  got.  z  aufnahm,  das  gerade  den  ursprüng- 


1)  Da  Cæsar  (de  hello  Gall.  VI,  27)  das  wort  alces  und  Paasanias  (V,  12,  1 ; 
IX,  21,3)  iUxi]  gebraucht,  da  ferner  das  e  in  altn.  elgr  i-unilaut  von  a  sein  mufs, 
weil  das  wort  entweder  y«-  oder  «-stamm  ist,  so  dürfen  wir  die  ohen  genannte 
grundform  (in  got.  gestalt  *algeis  oder  *algs)  annehmen,  wohingegen  ags.  eolh 
und  mhd.  eich  ein  urgerm.  *elhaz  voraussetzen,  womit  jenes  im  Verhältnis  des 
ablauts  und  des  grammatischen  wechseis  steht.  Eine  dritte  form,  einen  n- 
stamm,  hat  das  hochdeutsche  in  ahd.  elaho,  elho,  mhd.  elhe. 


134        ERSTES  BUCH.   DER  URSPRUNG  DER  RUNENSCHRIFT. 

liehen  laut  der  Y-rune  repräsentiert.  Da  nun  Z  zum  gebrauch  für  die 
s.  120.  runenschrift  am  natürlichsten  entweder  zu  l»  (vgl.  T  aus  T)  oder, 
indem  die  querstriche  von  der  mitte  des  stabes  ausgingen,  zu  Y  >k 
(vgl.  V  aus  F)  umgebildet  werden  mufste,  so  zweitle  ich  nicht  daran, 
dafs  wir  in  Y  wirklich  eine  aus  lat.  Z  entstandene  rune 
haben. 

7.  Die  rune  1^4"  (?). 
Dafs  man  für  die  s-rune  nicht  die  form  \  wählte,  die  unleug- 
bar dem  Z  näher  zu  liegen  scheint,  findet  eine  natürliche  erklärung 
darin,  dafs  das  zeichen  \  oder  vT  zur  darstellung  derjenigen  rune  ge- 
braucht wurde,  die  in  allen  alten  alphabeten  die  13te  stelle  einnimmt. 
Dagegen  finden  wir  diese  rune  nicht  als  laut  zeichen  in  den  go- 
tischen und  nordischen  inschriften,  und  wo  sie  in  deutschen  Inschrif- 
ten nachgewiesen  werden  kann  (auf  der  Nordendorfer  spange  a '), 
der  Freilaubersheimer  spange,  rechts  unten  auf  der  spange  von  Char- 
nay),  ist  ihre  bedeutung  ganz  unsicher.  Auch  sehe  ich  mich  nicht 
im  Stande,  ihre  bedeutung  in  der  allenglischen  inschrift  auf  dem  steine 
von  Thornhill  (Stephens  ill,  s.  211)  zu  bestimmen,  und  in  den 
gröfseren  bekannten  altengl,  runeninschriften  tritt  4*  nur  ein  einziges 
mal  auf  dem  kreuze  von  Ruthwell  in  dem  worte  ^t'MM'M'TIX  auf, 
wo  es  also  am  ehesten  die  bedeutung  h  zu  haben  scheint  {almehttig), 
das  will  sagen  die  des  letzten  buchstabens  in  dem  namen,  womit  die 
rune  in  den  handschriftlichen  altengl.  alphabeten  bezeichnet  wird:  eoh, 
ih;  gerade  dieser  name  hat  natürlich  zu  dem  eigentümhchen  gebrauch 
der  rune  auf  dem  kreuze  von  Ruthwell  veranlassung  gegeben,  der 
jedoch  nicht  der  ursprüngliche  sein  kann.  Dagegen  könnte  der  name 
eoh,  ih  zu  der  annähme  verleiten,  dafs  die  rune  ursprünglich  das 
zeichen  für  den  gemeingermanischen  diphthongen  eu  oder  für  langes 
i  gewesen  sei.  Das  erstere  kommt  mir  jedoch  nicht  nur  höchst 
zweifelhatt,  sondern  auch  unwahrscheinlich  vor,  da  ich  niefit  einsehe, 
was  den,  der  die  runenschrift  bildete,  bewogen  haben  sollte,  ein  eige- 
nes zeichen  für  die  lautgruppe  eu  einzuführen,  wenn  die  beiden  an- 
dern diplilhonge  iai,  au)  durch  Zusammenstellung  der  beiden  vokal- 
zeichen (M,  hfl)  ausgedrückt  wurden.  Dafs  man  dasselbe  mittel  auch 
dazu  benutzt  hat,    den  diphlhong  eu   auszudrücken,    geht   aufserdem 


')  Möglicherweise  ist  J*  auf  der  iNordendorfer   spange  gar    nicht    als    laut- 
zeichen, sondern  als  eine  art  trennungszeichen  gebraucht. 


III, 


KAP.    C.  VERBXlTN.  Zu  D.  ALTEN  ALPHABET.  ABSTAMMUNG  V.  LAT.  ALPH.   135 


mit  Sicherheit  aus  dem  rMH^PI+l  leubwini  der  Nordendorfer  spange 
(vgl.  s.  64)  und  dem  TMH^  leub  der  spange  von  Engers  (vgl.  s.  65) 
hervor.  Dafs  man  auch  im  Norden  diesen  diphthong  nicht  durch 
ein  einzelnes  zeichen  ausgedrückt  hat,  werden  wir  später  gelegenheit 
finden  nachzuweisen. 

Eher  könnte  man  sich  daher  mit  dem  Wulfilanischen  alphabete 
vor  äugen  denken,  dafs  man  in  der  runenschrift  von  anfang  an  I  als 
zeichen  für  i  gebraucht  und  't  oder  ^T  als  zeichen  für  1  gebildet  hätte. 
Da  indessen  die  vier  andern  vokalzeichen  in  der  runenschrift  (^  M  5^  h) 
sowohl  für  die  kurzen  wie  für  die  langen  laute  gebraucht  werden, 
so  finde  ich  es  unwahrscheinUch,  dafs  man  für  t  das  bedürfnis  nach 
zwei  zeichen  gefühlt  haben  sollte.  Aufserdem  gebrauchen  die  runen- 
inschriften  nachweislich  I  sowohl  in  der  bedeutung  i  wie  t  (vgl.  got. 
tilarids  auf  dem  Koveler  Speere  mit  woduridaR  auf  dem  steine 
von  Tune,  as ugisalas  =  altnord.  Äsgisls  auf  der  Ki'agehuler  lanze). 

Da  ich  mir  auch  schwer  einen  andern  laut  denken  kann,  den 
das  gemeingermanische  runenalphabet  durch  dieses  zeichen  auszu- 
drücken sich  veranlafst  gesehen  haben  sollte*),  so  stellt  es  sich  für 
mich  als  eine  mögüchkeit  dar,  die  mir  einen  nicht  geringen  grad 
von  Wahrscheinlichkeit  zu  haben  scheint,  dafs  1»  von  anfang  an 
gar  nicht  als  lautzeichen  gebraucht  worden  ist,  sondern  aus 
einem  andern  grunde  gebildet  wurde,  um  das  runenalphabet  zu  ver- 
vollständigen, so  dafs  jedes  der  drei  „geschlechter"  seine  acht  zeichen 
erhalten  konnte  (Wulfila  nahm  ja    bekanntlich  in    sein    aiphabet    die 

^)  Die  gemeiDgeruianisehe  spräche  hatte  ja  sowohl  im  anlaut  wie  im  in- 
laat  Spiranten  (ß,  g_,  å),  doch  sicherlich  mit  einer  einzigen  ausnähme,  nämlich 
wo  ein  nasal  (19,  n,  m)  vorherging;  hier  fanden  sich  wahrscheinlich  bereits  zu 
der  zeit,  da  das  runenalphabet  geschallen  wurde,  muta?  (fdg,  nd,  mb);  nun  zeigen 
die  Inschriften,  dafs  die  ruue  V  nicht  blols  das  zeichen  für  ^,  sondern  auch 
für  den  nasal  in  Verbindung  mit  der  folgenden  muta  (tdg)  war,  und  diese 
letztere  bedeutung  hat  sie  überall  in  den  bis  jetzt  bekannten  Inschriften,  die 
kein  beispiel  für  f9k  darbieten.  Consequeut  mufsten  'f  (//)  und  ^  (m)  also 
auch  zeichen  sowohl  für  den  nasal  wie  für  diesen  in  Verbindung  mit  der  muta 
(nd,  mb)  sein,  worüber  wir  im  folgenden  des  näheren  zu  sprechen  haben  werden. 
Der  gedanke,  dafs  die  runenschrift  ein  eigenes  zeichen  zum  ausdrock  der  lant- 
verbiudung  nd  erfunden  haben,  und  dafs  dieses  die  ursprüngliche  bedeutung  von 
\  sein  könnte,  würde  also  durch  die  Verwendung  des  v  nicht  gestützt  werden 
und  scheint  mir  auch  an  und  für  sich  ganz  unwahrscheinlich.  Ich  habe  jedoch 
hierauf  aufmerksam  machen  wollen,  weil  es  überhaupt  schwer  Fällt,  sich  einen 
laut  oder  eine  lautverbindung  zu  denken ,  die  die  runenschrift  durch  ihr  \ 
auszudrücken  bedürfnis  hätte  Tühlen  können. 


136        ERSTES  BUCH.   DER  URSPRUNG  DER  RUNENSCHRIFT. 

griechischen  episema  koppa  und  sampi  als  Zahlzeichen,  aber  nicht 
als  lautzeiclien,  auf).  Da  die  rune  ja  indessen  einen  bestimmten  na- 
men  wie  die  übrigen  runen  gehabt  haben  niufs,  so  kann  sie  natürlich 
später  ab  und  zu  sehr  wohl  als  lautzeichen  in  der  bedeutung  ge- 
braucht worden  sein,  die  ihr  name  angab. 

Ist  diese  vermutung  richtig,  so  würde  ich  geneigt  sein,  in  der 
rune  \  ^  eine  Umänderung  des  lat.  Y  zu  sehen,  das  ja  sonst  im 
gemeingermanischen  alphabete  keine  Verwendung  finden  würde,  wo  ein 
entsprechender  laut  fehlte.  Latein.  Y  konnte  nach  dem  grundsatze 
der  runenschrift,  dafs  die  nebenstriche  sich  niemals  über  den  hauptstab 
erheben,  die  form  T  annehmen;  da  lat.  T  indessen  gerade  in  dieser 
weise  umgebildet  war,  so  lagen  die  formen  \  oder  «T,  wo  der  eine 
arm  des  Y  an  die  spitze,  der  andere  an  den  fufs  des  hauptstabes  ge- 
fügt wurde,  ja  nahe. 


Hinsichthch  der  8  runen,  die  wir  von  anfang  an  bei  der  ver- 
gleichung  mit  dem  lateinischen  alphabete  (s.  100  f.)  aufserhalb  der  be- 
trachtung  liefsen,  nämlich  X  ^,  Y  w,  ^  j,  'V  ?,  ^  p,  Y  ä,  ^  rø,  M  (f , 
haben  unsere  Untersuchungen  also  zu  dem  ergebnis  geführt,  dafs  als 
die  ursprünglichen  gemeingermanischen  formen  der  /-  und  ^j-rune 
H  und  K  anstatt  des  ^  und  ^  des  brakteaten  von  Vadstena  ange- 
nommen werden  müssen,  und  dafs  die  offene  form  der  fa-rune  ur- 
sprünglicher ist  als  die  geschlossene  des  brakteaten,  wogegen  sich 
die  ursprünglichen  formen  in  den  übrigen  fallen  auf  dem  brakteaten 
finden  (dafs  er  auch  für  das  fehlende  ^  die  form  M  haben  würde, 
kann  natürlich  als  sicher  angenommen  werden).  Von  den  ge- 
nannten 8  runen  gehen  vier,  nämhch  Hji,  l^  p,  ^  w  und  Y  s  (ä), 
aus  lateinischem  G,  P,  Q  und  Z  hervor;  dagegen  sind  X^,  ^ ;» 
und  M  d  zum  besonderen  gebrauch  für  die  runenschrift  durch  Ver- 
doppelung der  <-  und  Krune  gebildet,  doch  so,  dafs  lat.  X  ohne 
zweifei  das  Vorbild  für  X  abgegeben  hat,  während  ein  solches  Vorbild 
für  die  beiden  andern  zeichen  nicht  nachgewiesen  werden  kann.  Nur 
bezüglich  des  Ursprungs  der  rune  'V  wage  ich  keine  bestimmte  an- 
sieht auszusprechen;  aber  ich  halte  es  für  möglich,  dafs  sie  von  lat. 
Y  ausgeht. 
121.  Selbst  wenn  man  jetzt  zweifei  an  der  richtigkeit  der  einen  oder 

der  andern  meiner  Zusammenstellungen  erheben,  und  selbst  wenn  man 
nicht  meiner  erklärung  des  Ursprungs  der  für  die  runenschrift  eigen- 
tümlichen zeichen  X,  ^  ,  M  beitreten  will,  von  denen   auf  jeden  fall 


Itl.  KAP.    C.  VERHÄLTN.  Zu  D.  ALTEN  ALPHABET.  ABSTAMMÜ?<G  V.  LAT.  ALPH.   137 

nur  das  erste  ein  direktes  vorbild  in  der  lateinischen  schrift  haben 
kann,  so  wird  dies  natürlich  nicht  im  mindesten  unser  hauptergebnis 
erschüttern  können,  dafs  das  runenalphabet  von  einem  grie- 
chisch-italischen alphabete  abstammt,  und  dafs  dieses 
aiphabet  nur  das  speciell  lateinische  gewesen  sein  kann. 
Jedes  beliebige  andere  aiphabet  als  das  lateinische  würde  uns  nämlich 
bezüglich  der  zweifelhaften  zeichen  ebenso  wenig  aufklärung  wie  die- 
ses geben,  und  wo  kein  zweifei  möglich  ist,  kann  die  erklärung 
nur  in  einem  nicht-lateinischen  alphabete  gesucht  wer- 
den, wenn  dieses  mit  dem  lateinischen  übereinstimmt, 
und  nur  in  dem  specifisch  lateinischen,  wenn  dieses  von 
den  andern  abweicht.  Ebenso  wenig  wie  man  deshalb  die  ab- 
stammung  des  griechischen  alphabetes  vom  phönicischen  leugnen  kann, 
weil  es  unmöglich  ist.  mit  Sicherheit  den  Ursprung  einzelner  von  den 
speciell  griechischen  zeichen  nachzuweisen,  ebenso  wenig  ist  man  be- 
rechtigt, den  Ursprung  der  runenschrift  aus  dem  lateinischen  alphabete 
zu  leugnen,  weil  wir  die  herkunft  einzelner,  oder  nach  meiner  meinung 
vielmehr  nur  eines  einzigen  der  für  die  runenschrift  eigentümlichen 
zeichen  nicht  sicher  anzugeben  vermögen. 

Aber  wir  sind  ja  sogar  der  lösung  der  frage  noch  näher  gekommen, 
als  blofs  bis  zu  dem  resultat,  dafs  die  runenschrift  vom  lateinischen 
alphabete  abstammt.  Da  nämlich  die  j-rune  von  lat.  Q  und  die  s- 
(ä-)  rune  von  lat.  Z  ausgeht,  so  ist  ja  damit  zugleich  bewiesen,  dafs 
dasjenige  aiphabet,  welches  der  runenschrift  zu  grunde 
liegt,  das  jüngere  lateinische  ist,  das  nicht  nur  das  neue 
zeichen  G  hinter  F  gestellt  hatte,  sondern  auch  die  später 
aufgenommenen  griechischen  zeichen  Y  und  Z  benutzte. 
Von  den  23  buchstaben,  die  sich  in  diesem  alphabete  befanden,  hatte  s.  122 
K  eine  sehr  beschränkte  anwendung  und  war  für  das  runenalphabet 
ganz  überflüssig,  da  es  denselben  laut  wie  das  gewöhnliche  C  aus- 
drückte. Auch  X  und  Y  waren  überflüssig  für  dieses,  da  sie  zeichen 
waren,  für  welche  die  runenschrift  keine  Verwendung  hatte,  insofern 
X  eine  laut  Verbindung  ausdrückte,  und  y  in  der  gemeinger- 
manischen spräche  noch  unbekannt  war.  Von  den  übrigen  20  buch- 
staben  wurden  17  mit  derselben  bedeutung  wie  im  latei- 
nischen aiphabet  und  in  einer  form  aufgenommen,  die  nur 
nach  einem  bestimmten  princip  geändert  war,  wo  die 
eigentümliche  bestimmung  der  runenschrift  zur  einritzung 
in  holz  es  notwendig  machte,  nämlich: 


13S 


ERSTES  BUCH.   DER 

URSPRUNG  Dl 

A 

F: 

B 

^ 

C 

< 

E, 

II     M 

F 

r 

H 
1 

H 

1 

1 

L 

i 

r 

M 

M 

N 

+ 

O 

^ 

P 

1^ 

R 

R 

S 

^ 

T 

t 

V 

n 

z 

Y 

Auch  die  3  andern  buchstaben,  die  sich  im  lateinischen  alpha- 
bete  fanden,  nämlich  D,  G  und  Q,  wurden  alle  in  den  mit  dem 
Charakter  der  runenschrift  übereinstimmenden  formen  ^,  H  und  P 
aufgenommen,  aber  inder  abweichenden  bedeutung />,  y  und  to, 
wovon  der  grund  bezüglich  jedes  einzelnen  Zeichens  im  voraufgehenden 
angegeben  ist.  Von  den  drei  noch  übrigbleibenden,  vom  Standpunkte 
der  runenschrift  aus  ganz  überflüssigen  buchstaben  K,  X  und  Y  hat 
X  unzweifelhaft  veranlassung  dazu  gegeben,  dafs  das  runenzeichen 
für  g,  gerade  die  form  X  bekam  ^) ,    und  es  ist  möglich ,  dafs  Y  der 

ij  Dafs  die  rune  X  vielleicht  mit  lat,  X  verwandt  sein  könnte,  hat  bereits 
Müllenhoif  (Zur  Runenlehre,  s.  59  anin.  1)  geäulsert;  jedoch  spricht  er  sich 
darüber  mit  grofser  behutsamkeit  aus.  Weniger  vorsichtig  wird  diese  frage  von 
einem  gelehrten  in  der  Tidskrift  for  Pbilologi  og  Pædagogik  V,  s.  298  be- 
handelt. Indem  er  nämlich  Kirchhoffs  ansieht  über  die  abstammung  der  runen- 
schrift vom  latein.  alphabete  aufnimmt  —  zwar  wird  Kirchhoff  nicht  genannt ; 
aber  wer  sonst  mit  den  „andern"  gemeint  ist,  die  dies  nachgewiesen  haben 
sollen,  ist  mir  unbekannt  — ,  fügt  er  die  behauptung  hinzu,  dafs  die  runenzeichen 
für  w,  g'  und  y  lateinisches  P,  X  und  Q  seien;  diese  stützt  sich  auf  die  falsche 
Voraussetzung,  dafs  dem  ursprünglichen  runenalphabete  das  zeichen  für  p  fehlte, 
und  auf  die  merkwürdige  aufklärung,  dafs  lat.  G  „wie  bekannt  jünger"  sei. 
Dafs  G  im  lat.  aiphabet  jünger  ist  als  X  und  Q,  ist  gewils  „bekannt";  aber 
ich  sehe  nicht  ein,  welchen  nutzen  diese  aufklärung  schafft,  wenn  nicht  zugleich 
nachgewiesen  wird,  dafs  G  jünger  ist  als  dasjenige  lateinische  aiphabet,  aus  * 
dem  die  runenschrift  hervorgegangen  ist. 


III.  KAP,  C.  VERHÄLTN.  ZU  D.  ALTEN  ALPHABET.  ABSTAMMONG  V.  LAT.  ALPH.    139 

rune  «T  'V  zu  grunde  liegt.  In  diesem  falle  würde  also  K  der 
einzige  lateinische  buchstabe  sein,  der  bei  der  bildung 
der  runenschrift  keine  Verwendung  fand;  aber  es  war  ja 
auch  das  einzige  zeichen,  das  bei  den  Römern  selbst  als  eine  ruine 
aus  älteren  Zeiten  dastand,  beschränkt  auf  den  gebrauch  in  einigen 
einzelnen  fällen. 

Das  älteste  gemeingermanische  runenalphabet,  das  s.  123. 
uns  in  der  ursprünglichen  buchstabenfolge  und  bis  auf 
ein  paar  ausnahmen  mit  der  ursprünglichen  gestalt  der 
runen  namentlich  auf  dem  brakteaten  von  Vadstena  und 
der  spange  von  Charnay  überliefert  ist,  hat  also  aus  24 
zeichen  bestanden,  die  zum  gröfsten  teil  nach  den  latei- 
nischen kapitalbucbstaben  in  der  form  gebildet  sind, 
welche  sie  im  Jüngern  lateinischen  alphabeteaus  der 
ersten  kaiserzeit  hatten.  Dieses  runenalphabet  mufs  am  ehesten 
folgendes  aussehen  gehabt  haben: 

1   2   3   4   3  6   7   8     9  10  11  12  13  14  15  16    17  18  19   20  21  22  23  24 

f  ujiarkgw  hnij-p  zs  tb  emlDo  d 
Ein  älteres  stadium  in  der  entwicklung  der  runen- 
schrift anzunehmen,  wo  dieses  aiphabet  eine  einfachere  form  gehabt 
hätte,  was  namentlich  M.  Rieger  in  den  interessanten  bemerkungen, 
die  er  in  seiner  recension  der  dänischen  ausgäbe  meines  buches  in 
der  Z.  für  d.  Philol.  VI,  1875,  s.  333  if.  als  eine  möglichkeit  hinge- 
slelll  hat,  liegt  nach  meiner  meinung  dui*chaus  kein  grund  vor.  Dem 
widersprechen  bestimmt  alle  vorliegenden  thalsachen,  dadurch  dafs  so- 
wohl die  gotischen,  deutschen,  englischen  und  nordischen  runendenk- 
mäler  als  auch  der  Wiener  cod.  Salisb.  140  auf  das  hier  dargestellte 
aiphabet  von  24  zeichen  hinweisen.  So  lange  mau  daher  nicht  im 
Stande  ist,  mit  hülfe  von  runendenkmälern  oder  andern  thatsachen  das 
Vorhandensein  eines  älteren  alphabetes  nachzuweisen,  aus  dem  das  ge- 
meingermanische mit  den  24  zeichen  sich  entwickelt  hat,  bleibt  die 
annähme  eines  solchen  alphabetes  nur  eine  hypothese,  die  sich  nicht 
nur  nicht  beweisen  läfst,  sondern  mir  sogar  im  höchsten  grade 
unwahrscheinlich  dünkt,  und  zwar  nicht  am  wenigsten  aus  dem  grunde, 
weil  sie  mir  ganz  überflüssig  vorkommt,  um  die  entstehung  des 
wirklich  vorliegenden  gemeingermanischen  runenalphabetes  zu  erklären. 
Da  die  gründe,  die  Rieger  seinerzeit  veranlafsten ,  den  hier  be- 
kämpften gedanken  voi-zubringen,  jetzt  in  allem  wesentlichen  durch  die 


140  ERSTES    BUCH.       DER    URSPRUNG    DER   RUNENSCHRIFT. 

neuen  erklärungen  weggefallen  sind,  die  ich  im  vorhergehenden  über 
das  Verhältnis  einzelner  runenzeichen  zu  den  lateinischen  buchstaben 
habe  geben  können,  so  hofle  ich,  dafs  er  an  seinem  fdteren  alpha- 
bete  mit  den  18  zeichen  nicht  länger  festhalten,  sondern  mir  ein- 
räumen wird,  dafs  die  übrigen  6  zeichen  ein  ebenso  ehrwürdiges 
alter  haben  wie  jene  18. 


D.   Verschiedenheiten  zwischen  der  nmenschrift  und  den  übrigen  alten 

alphabeten. 
Selbst  wenn  wir  nun,  wie  ich  hoffe,  ganz  unwiderleglich  den 
Ursprung  der  einzelnen  runenzeichen  aus  den  lateinischen  buchstaben 
nachgewiesen  haben,  so  tritt  uns  doch  bei  der  betrachtung  des  runen- 
alphabetes,  das  wir  als  das  gemeingermanische  aufgestellt  haben,  ein 
merkwürdiges  factum  entgegen,  eine  auffallende  abweichung  vom 
lateinischen  alphabete,  nämlich  die  ganz  verschiedene  buch- 
stabenordnung.  Die  Übereinstimmung  zwischen  den  alphabeten 
s.  124.  auf  der  spange  von  Charnay  und  dem  brakteaten  von  Vadstena 
sowie  den  altenglischen  alphabeten,  welche  die  später  gebildeten 
zeichen  hinter  der  älteren  ursprünglichen  reihe  hinzugefügt  haben, 
beweisen  unwiderleglich,  dafs  bereits  das  älteste  gemeingermanische 
runenalphabet  seine  zeichen  auf  dieselbe  weise  geordnet  hat,  und  die 
trennungszeichen ,  welche  sich  auf  dem  brakteaten  von  Vadstena 
nach  der  achten  und  sechzehnten  rune  finden,  machen  es  bei  ver- 
gleichung  mit  dem  jüngeren  nordischen  alphabete  ebenso  höchst 
wahrscheinlich,  dafs  die  24  alten  runenzeichen  auch  von  an  fang 
an  in  3  abteilungen  eingeteilt  gewesen  sind.  Nichts  von 
diesem  stimmt  mit  dem  lateinischen  überein.  Und  hierzu  kommen 
weiter  noch  die  abweichenden  buchstabennamen.  Während  die 
lateinischen  buchstabennamen  so  weit  wie  möglich  durch  den  eigenen 
laut  der  buchstaben  ausgedrückt  werden  (was  die  konsonanten  anlangt, 
also  in  Verbindung  mit  einem  vorhergehenden  oder  nachfolgenden  vokal), 
so  sind  die  runennamen  wirkliche  worte  der  spräche,  die,  so  weit 
dies  möglich  ist  (also  mit  ausnähme  der  namen  für  z  und  fa),  mit 
dem  buchstaben  beginnen,  den  die  rune  ausdrückt.  Dafs  auch  diese 
vom  lateinischen  verschiedenen  namen  den  runen  von 
anfang  an  zugehört  haben,  zeigt  die  Übereinstimmung  zwischen 
den  gotischen  buchstabennamen,  den  altenglischen  und  späteren 
nordischen  runennamen,  durch  deren   hülfe   es  uns   möglich  werden 


III.  KAP,  D.  VERSCHIEDENHEITEN  ZW.  D.  RUNENSCHRIFT  ü.  D.  ALTEN  ALPH.  141 

wird    auch    die    namen   der   runen   in   der  gemeingermanischen    und 
ältesten  nordischen  form  zu  bestimmen. 

Damit  diese  Verschiedenheiten  zwischen  dem  runen- 
alpliabet  und  dem  lateinischen  aiphabet  hinsichtlich  der 
reihenfolge  und  benennung  der  buchstaben  jedoch  in 
irgend  welcher  beziehung  das  ergebnis  unserer  Unter- 
suchungen erschüttern  könnten,  müfste  man  auf  jeden  fall 
ein  anderes  älteres  aiphabet  nachweisen,  welches  besser 
als  das  lateinische  den  grund  dieser  abweichungen  zu  er- 
klären vermöchte;  aber  ein  solches  aiphabet  findet  sich 
nicht;  denn  dieselben  abweichungen  sind  ja  auch  vorhanden,  wenn 
wir  das  runenalphabet  mit  dem  phönicischen  oder  griechischen  oder 
andern  verwandten  alphabeten  vergleichen.  Die  eigentümliche  an- 
ordnung  des  runenalphabetes  und  die  besondern  namen  der  runen, 
die  auf  jeden  fall  echt  germanisch  und  also  aus  der  spräche 
desjenigen  germanischen  stammes  entnommen  sind,  bei  dem  die 
runenschrift  zuerst  geschaffen  wurde,  helfen  uns  daher  in  keiner 
beziehung  auf  die  spur,  wenn  wir  nach  dem  Ursprung  der  zeichen 
fragen,  erschüttern  aber  selbstverständlich  auch  nicht  im  mindesten  s.  125. 
das  resultat,  zu  dem  wir  auf  andern  wegen  gekommen  sind.  Gerade 
im  gegenteil  scheint  die  Selbständigkeit,  die  der  erfinder  der  runen- 
schrift in  so  vielen  beziehungen  dem  lateinischen  vorbilde  gegenüber 
an  den  tag  gelegt  hat,  auf  eine  spätere  zeit  hinzuweisen  und  so 
selbst  unsere  weitere  annähme  zu  bestärken,  dafs  es  das  jüngere 
lateinische  aiphabet  von  23  zeichen  sei,  welches  die  grundlage  für  die 
runenschrift  bildete.  Dafs  man  auf  einem  älteren  standpunkt  eher  zu 
einer  ganz  sklavischen  nachahmung  seines  Vorbildes  versucht  sein 
konnte,  zeigt  die  art,  in  welcher  das  älteste  griechische  aiphabet  sich 
dem  phönicischen  anschlofs,  indem  es  alle  phönicischen  zeichen  samt 
ihrer  reihenfolge  und  ihren  namen  aufnahm ;  gleichfalls  nahmen  die 
italischen  alphabete  die  griechischen  zeichen  in  der  ursprünglichen 
reihenfolge  auf,  aber  nicht  —  wenn  wir  aus  dem  uns  bekannten 
lateinischen  alphabete  schliefsen  dürfen  —  die  griechischen  namen. 
Das  runenalphabet  endlich  nahm  die  lateinischen  zeichen 
auf,  aber  weder  deren  anordnung  noch  deren  namen  und 
bildete  aufserdem  ein  paar  neue  zeichen  ohne  vorbild  in 
der  lateinischen  schrift. 

Die  genannten  abweichungen  vom  lateinischen  alphabete  könnten 
nun  zwar,    wie  MüUenhoff  hervorgehoben  hat  (Z.  f.  d.  a.,  neue  folge 


142  ERSTES    RUCH.       DER    ÜRSPRUNß    DER    RUNENSCHRIFT. 

VI,  1875,  s.  250  f.),  daraus  erklärt  werden,  dafs  derjenige,  welcher 
zuerst  das  runenalphabet  schuf,  die  lateinischen  buchstaben  gar  nicht 
nach  abcedarien,  sondern  aus  zusammenhängenden  texten  gelernt  hätte. 
Die  möglichkeit  einer  solchen  annähme  darf  natürlich  nicht  ge- 
leugnet werden;  aber  es  kommt  mir  doch  in  hohem  grade  wahr- 
scheinlich vor,  dafs  der  mann,  der  mit  der  lateinischen  schrift  so 
vertraut  war,  wie  der  erfinder  der  runenschrift  es  gewesen  ist,  die 
buchstabenfolge  dieser  schrift  gekannt  hat  und  also  auch,  wenn  ihn 
nicht  besondere  gründe  bewogen  hätten  davon  abzuweichen,  dieselbe 
in  seinem  eignen  alphabete  hätte  befolgen  können,  gleichwie  Wulfila 
in  seinem  alphabete  die  reihenfolge  der  griechischen  buchstaben  bei- 
behielt. Ich  hege  daher  auch  keinen  zweifei  darüber,  dafs  wir 
hier  gerade  eine  mit  bewustsein  vorgenommene  abweichung 
vom  lateinischen  alphabete  haben.  Welche  gründe  den  alten 
runenmeister  bewogen  haben,  die  lateinische  buchstabenfolge  aufzugeben 
und  gerade  die  zu  wählen,  welche  wir  in  dem  ältesten  runenalphabet 
finden,  und  ferner,  warum  er  die  24  runen  in  3  ableilungen  ordnete 
und  den  runenzeichen  die  namen  gab,  die  wir  vorfinden,  können  wir 
jetzt  natürlich  nicht  bis  ins  einzelne  entscheiden.  Vieles  deutet  jedoch 
darauf  hin,  dafs  die  runenschrift  von  anfang  an  nicht  blofs  als 
buchstabenschrift,  sondern  auch  und  vielleicht  wesent- 
lich zu  msTgischem  gebrauche  gedient  hat;  besonders  lehrreich 
sind  ja  in  dieser  beziehung  die  vielen  unzweifelhaft  magischen  In- 
schriften mit  älteren  runen,  die  noch  erhalten  sind,  und  auf  die  ich 
bereits  in  der  abhandlung:  „De  ældste  nordiske  runeindskrifter"  (årh. 
f.  nord.  oldk.  1867)  s.  26  f.  (vgl.  oben  s.  57  f.  anm.  5  und  122  anm.  2) 
aufmerksam  gemacht  habe.  Dieser  gebrauch  setzt  indessen  mit  not- 
wendigkeit  voraus,  dafs  jede  rune  ihren  bezeichnenden  namen  hatte, 
erklärt  es,  wenn  ein  einziges  runenzeichen  ('l')  von  anfang  an  vielleicht 
gar  nicht  als  lautzeichen  gebraucht  worden,  und  hier  liegt  ohne  zweifei 
auch  der  grund  dafür,  dafs  die  24  runenzeichen  in  einer  von  der  latei- 
nischen buchstabenordnung  verschiedenen  reihenfolge  in  3  abteilungen 
mit  je  8  zeichen  eingeteilt  wurden. 

Weiter  als  zu  dieser  ganz  allgemeinen  einsieht  können  wir, 
glaube  ich,  nicht  gelangen.  Jedesfails  verlocken  die  versuche,  die 
bisher  gemacht  worden  sind,  diese  fragen  im  einzelnen  zu  lösen,  nicht 
dazu,  neue  beitrage  in  dieser  richtung  zu  liefern.  Namentlich  hat 
man  bezüghch  der  runennamen  oft  die  ansieht  aufgestellt,  dafs  sie 
mit  besonderer  rücksicht  auf  die  form  der  zeichen  gewählt  seien, 


III.  KAP.      E.    RICHTUNG  D.  RUNENSCHRIFT;  TRENNUNGSZEICHEN  U.  S.  W.    143 

und  viele  ältere  und  neuere  gelehrte  haben  sogar  diese  zeichen  und 
namen  als  beweis  für  die  entwicklung  der  runen  aus  einer  ursprüng- 
lichen uralten  bilderschrift  gebraucht;  hier  ist  ja  ein  weites  feld  für 
die  Phantasie:  „T,  Tyr,  ist  der  gott,  der  seine  bände  schützend  und 
segnend  über  die  erde  ausbreitet;  Y,  madr,  ist  der  mann,  der  betend 
seine  bände  erhebt;  T,  fé,  ist  der  stierkopf  mit  den  hörnern"  u.  s.  w., 
u.  s.  w.  (Brynjulfsen,  Pericul.  Runolog.  §36;  Dietrich  an  der  oben 
s.  15  f.  anm.  genannten  stelle).  Zwar  ist,  wie  wir  gesehen  haben,  s.  126. 
das  ursprüngliche  zeichen  für  die  nordische  madr-rune  nicht  Y, 
sondern  M,  wogegen  Y  im  ältesten  aiphabet  das  zeichen  für  r  war 
und  einen  namen  hatte,  der  später  im  altnordischen  die  form  elgr 
bekam;  aber  es  wird  ja  gewifs  nicht  schwer  fallen,  die  früheren  er- 
klärungen  der  runennamen  mit  bezug  hierauf  zu  ändern.  Derjenige, 
der  früher  in  Y  (madr)  ,, einen  mann"  sah,  „der  seine  bände  zum 
gebet  erhebt",  kann  wohl  auch  in  M  (mannn)  „einen  mann"  finden, 
„der  auf  der  erde  hinschreitet",  oder  dergl.,  und  Y  (elgR)  könnte 
ja  ausgezeichnet  „das  elentier  mit  den  zacken"  anstatt  „des  betenden 
mannes"  vorstellen.  Aber  ich  verlasse  diese  müfsigen  phantasien  mit 
dem  geständnis,  dafs  ich  mich  nicht  im  stande  sehe,  den  grund  für 
den  namen  jedes  einzelnen  runenzeichens  anzugeben,  und  ich  glaube, 
dafs  diese  frage  immer  als  ein  rätsei  vor  uns  stehen  wird,  wenn  nicht 
einmal  im  laufe  der  zeit  ein  unvorhergesehener  glücksfall  uns  den 
Schlüssel  zu  ihrer  lösung  geben  sollte^). 

E.  Die  richtung  der  runenschrift;  trennnngszeichen;  hinderunen; 
einfasmngslinien. 
1.  Die  r ichtun  g  der  schrift. 
Ehe  wir  unsere  Untersuchungen  über  den  Ursprung  der  runen- 
schrift schliefsen,    müssen    wir    noch    einige   bemerkungen  besonders 
über  die  richtung  der  schrift  und  über  die  trennnngszeichen 
hinzufügen. 


^)  Es  hat  mich  gefreut,  lange  nachdem  dies  niedergeschrieben  war,  eine 
äufserung  von  W.  Grimm  über  den  hieroglyphischen  Charakter  der  runenschrift 
zu  finden,  die  ich  ganz  zu  der  meinigen  machen  kann.  In  einer  anzeige  von  Bryn- 
julfsens  buche  über  die  runen  sagt  er  (Götting.  gel.  Anz.  1824,  s.  1024):  „Ree. 
glaubt  weder  an  hieroglyphische  Entstehung  der  Runen,  noch  von  allen  hier  ge- 
gebenen Erklärungen  ein  Wort;  er  wül'zte  kaum  etwas,  das  man  auf  diese  Art 
nicht  in  den  paar  Strichen  finden  könnte". 


144  ERSTES    BUCH.       DER    URSPRUNG    DER    RUNENSCHRIFT. 

Es  kann  als  unzweifelhaft  angesehen  werden,  dafs  die  Griechen 
bei  der  aufnähme  des  phönicischen  alphabetes  zugleich  die  ursprüng- 
liche richlung  der  schrift  von  rechts  nach  links  bewahrten.  Schon 
in  den  allerältesten  griechischen  inschriften  treffen  wir  jedoch 
daneben  entweder  die  richlung  von  links  nach  rechts')  oder  eine 
s.  127.  Vermischung  beider  weisen,  so  dafs  man  gewöhnlich  von  links  nach 
rechts  begann,  darauf  aber  die  zweite  zeile  in  der  entgegengesetzten 
richtung  von  rechts  nach  links  laufen  liefs  (ßovarQOffrjdov)^). 
Eine  eigentümliche  art  von  bustrophedon  in  Schlangenwindungen, 
wo  die  Zeilen  nicht  blols  in  entgegengesetzter  richtung  laufen,  sondern 
wo  auch  die  buchstaben  in  beiden  reihen  umgekehrt  gegen  einander 
stehen,  kommt  ab  und  zu,  wenn  auch  sehr  selten,  in  griechischen 
inschriften  vor'').  Frühzeitig  wurde  jedoch  bekanntlich  die  richtung 
von  links  nach  rechts  alleinherrschend. 

Von  den  alten  italischen  alphabeten  gebraucht  nur  das  latei- 
nische   ohne    ausnähme   die  richtung  von  links  nach  rechts,    wäh- 


^)  Z.  b.  in  iiiehreien  der  inschriften  von  Thera,  in  der  ungefähr  gleich- 
zeitigen Inschrift  von  Mel  o  s  (Corp.  Inscr.  Græc.  no.  3,  Franz,  Elem.  epigr. 
Gr.  no.  21,  Roehl,  Inscr.  Gr.  ant.  no.  412)  und  in  andern  der  ältesten  inschriften. 

2)  Beispielshalber  mögen  angeführt  sein:  die  sigäische  Inschrift  (C.  1.  G. 
no.  8,  Franz  no.  32,  Roehl  no.  492),  drei  inschriften  aus  Milet  (C.  T.  Newton, 
History  of  discoveries  at  Halicarnassus,  Cnidus  and  Branchidæ  II  p.  777  & 
tab.  XC  VI  66,  Roehl  no.  483;  Newton  II  p.  583  und  781  &  tab.  XCVII  67 
und  68,  Roehl  no.  484;  C.  I.  G.  no.  39,  Franz  no.  45,  Roehl  no.  486),  zwei 
inschriften  aus  Attika  (Kirchhoff,  Corp.  Inscr.  Attic.  I  no.  463;  C.  I.  G. 
no.  22,  Franz  no.  43,  A.  R.  Rangabé,  Antiquités  Helléniques  no.  7,  Ph.  Le 
Bas,  Voyage  archéologique  en  Gréce  et  en  Asie  luineure,  Inscriptions  pi.  V 
no.  4,  C.  I.  A.  I  no.  465),  aus  Korkyra  (Le  Bas  pi.  VI  no.  1,  Roehl  no.  343) 
und  sonst  wo.  —  Rechts  beginnt  die  grol'se  in  zwölf  kolumnen  aulserordent- 
lich  sorgfältig  und  elegant  eingehauene  Inschrift  von  Gortyn  (siehe  oben  s.  30 
anm.  2)  und  mehrere  Inschriften  aus  Didyma  (Roehl  no.  487,  488,  489).  Rechts 
und  mit  der  untersten  zeile  beginnt  die  Inschrift  von  Krissa  (C.  I.  G.  no.  1, 
Le  Bas  pl.  XII  no.  3,  Roehl  no.  314)  und  eine  Inschrift  aus  Samos  (C.  Curtius 
im  Rhein.  Museum  f.  Philologie  XXIX,  1,  1874,  s.  160  no.  3,  Roehl  no.  383). 
—  Zu  Solons  zeit  war  bekanntlich  die  Schreibweise  ßovarQotprjt^ov  herrschend 
in  Athen. 

3)  So  in  einer  Inschrift  von  Korkyra  (C.  I.  G.  no.  20,  Franz  no.  31, 
Roehl  no.  340),  aus  Athen  (Rangobe  no.  6,  Le  Bas  pl.  II  no.  3,  C.  L  A. 
no.  467),  aus  Sparta  (Rangabé  no.  316,  Le  Bas  pl.  II  no.  1,  Roehl  no.  54),  eine 
zu  Olympia  gefundene  Inschrift  (Kirchhoff  in  der  Archäolog.  Zeitung  XXXVII, 
1879,  p.  153,  Roehl  no.  370).  —  Eine  mischung  des  gewöhnlichen  und  des  in 
Schlangenwindungen  gehenden  ßovaTQoqtjaov  findet  sich  in  einer  inschrift  aus 
Naxos  (Fraenkel  in  der  Archäolog.  Zeitung  XXXVII,  p.  85,  Roehl  no.  407). 


III.  KAP.   E.  RICHTUNG  D.  RUNENSCHRIFT;  TRENNUNGSZEICHEN  ü.  S.  W.   145 

rend  die  etniskischen,  umbrischen  und  oskischen  sowie  die 
sonst  mit  dem  lateinischen  nahe  verwandten  faliskischen  Inschriften 
regelmäfsig  von  rechts  nach  links  gehen.  Dagegen  treffen  wir  nur 
ganz  ausnahmsweise  die  Schreibweise  ßov(fTQO(f^a6p  in  ein  paar  der 
nordetruskischen  inschriften  und  in  einzelnen  aus  dem  eigentlichen 
Etrurien  M.  Beispiele  für  das  bustrophedon  in  Schlangenwindungen, 
die  so  deutlich  in  den  sabelli sehen  inschriften  von  Crecchio  und 
Cupra  (vgl.  s.  52)  hervortreten,  sind  sonst  sehr  schwer  nachzu-  s.  128. 
weisen,  obgleich  etwas  ähnliches  wenn  auch  nur  selten  im  etruskischen 
vorkomriit*). 

Die  runeninschriflen  beobachten  bezüglich  der  richtung  der 
schritt  kein  festes  princip.  Wir  finden  sie  sowohl  von  links  nach 
rechts  wie  von  rechts  nach  links  geschrieben,  sowohl  in 
gewöhnlichem  wie  in  schlangenförmigem  bustrophedon. 
Dies  stimmt  gewifs  nicht  mit  dem  lateinischen  überein,  wo  die  schrift 
seit  den  ältesten  Zeiten  ohne  ausnähme  von  links  nach  rechts  geht;  und 
es  kann  auch  nicht  von  den  Galliern  entlehnt  sein,  wenn,  was  wir 
unten  des  näheren  besprechen  werden,  das  lateinische  aiphabet  durch 
sie  zu  den  germanischen  Völkern  gekommen  ist;  wenigstens  wenden  alle 
bisher  bekannten  gallischen  inschriften  mit  dem  griechischen  und 
lateinischen  alphabete  nur  die  richtung  von  links  nach  rechts  an, 
und  dasselbe  mufs  in  den  galHschen  inschriften  mit  dem  nordetrus- 
kischen aiphabet  als  regel  angesehen  werden,  obgleich  dieses  sonst 
wie  das  gewöhnliche  etruskische  am  häufigsten  die  umgekehrte  rich- 
tung gehabt  hat. 

Es  beruht  aber  im  ganzen  genommen  auf  einem  vollständigen 
mifsverständnis,  den  grund  für  die  willkür,  welche  die  runenin- 
schriflen in  dieser  beziehung  aufweisen,  bei  einem  andern  volke 
suchen  zu  wollen.  Sie  ist  nämlich  etwas,  das  sich  im  laufe  der  zeit 
ganz  natürlich  ohne  ein  fremdes  vorbiid  von  selbst  entwickeln  kann. 
Wir  dürfen  wohl  von  der  Voraussetzung  ausgehen,  dafs  der,  welcher 
zuerst  das  runenalphabet  erfand,  auch  der  schrift  eine  bestimmte 
richtung  gab.  Aber  welchen  stichhaltigen  grund  könnte  man  dafür 
anführen,  dafs  die,  welche  das  runenalphabet  benutzten,  nicht  ebenso 


^)  G.  Conestabile,  Iscrizioni  etrusche  e  etrusco-Iatine,  s.  XGI  f.  und  tav. 
IV  no,  15,  tav.  XIII  no.  54,  tav.  XVIII  no.  73. 

2)  Siehe  z.  B.  bei  Conestabile  tav.  I  no.  1  nnd  tav.  XLVI  no.  161.  Die- 
selbe Schreibweise  findet  sich  gewii's  auch  in  einer  der  nordetruskischen  in- 
schriften (Momnisen  tab,  II  no.  14,  Fabrelti  tab.  II  no.  22), 

WIMMER,  Die  ranenschrift.  10 


146  ERSTES    BUCH.       DEH    UKSPKÜiNG    DEIl    RUNENSCHRIFT. 

gut  wie  die  alten  Griechen  darauf  verfallen  konnten,  die  ursprüng- 
liche richtung  der  schrift  umzuwenden?  Und  es  wird  wohl  kaum 
jemand  behaupten  wollen,  dafs  es  für  die  Griechen  natürlich  gewesen 
sei,  die  richtung  der  semitischen  schrift  zu  verändern'),  aber  unnatür- 
s.  129.  lieh  für  unsere  vorfahren  dasselbe  mit  der  lateinischen  zu  thun. 
Wenn  niemand  daran  anstofs  nimmt,  dafs  die  uralten  griechischen 
inschriften  von  Thera  wie  unsere  runeninschriften  zugleich  sowohl 
von  links  nach  rechts,  von  rechts  nach  links  als  auch  ßovaiQo- 
(prjööv  geschrieben  sind,  wenn  wir  —  weil  es  eine  unwiderleg- 
liche Ihatsache  ist  —  ohne  bedenken  einräumen ,  dafs  die  Griechen 
ohne  ein  fremdes  Vorbild  die  ursprüngliche  richtung  der  schrift  haben 
verändern  können,  sie  überhaupt  lange  als  etwas  ganz  unwesentliches 
betrachtet  haben,  was  sollte  uns  da  hindern,  dasselbe  von  unsern  vor- 
fahren anzunehmen,  um  so  mehr,  als  es  sich  nachweisen  läfst,  dafs 
es  zum  teil  rein  äufserliche  gründe  sind,  rücksicht  auf  platz  und 
deutlichkeit  u.  s.  w.,  die  ursprünglich  anlafs  zu  dieser  scheinbaren 
Willkür  gegeben  haben? 

Bezüglich  der  runeninschriften  ist  es  jedoch  von  Wichtigkeit  zu 
beachten,  dafs  die  richtung  von  rechts  nach  links  und  ßov- 
aiQOifridöv  keineswegs  wie  bei  den  griechischen  ein  zeichen 
von  hohem  alter  der  inschriften  ist.  Im  gegenteil  scheint 
vieles  dafür  zu  sprechen,  dafs  dies  später  entstandene  Veränderungen 
sind,  und  dafs  die  ursprüngliche  richtung  gerade  die  von 
links  nach  rechts  gewesen  ist,  wie  in  den  römischen  und 
gallischen  inschriften.  Diese  finden  wir  nämlich  nicht  nur  regel- 
mäfsig  aufserhalb  des  Nordens  (auf  dem  Bukarester  ringe,  den 
spangen  von  Charnay,  Nordendorf  a  und  b,  Osthofen,  Freilaubersheim, 
Friedberg  und  Engers,  sowie  in  den  altenglischen  inschriften,  während 
nur  der  name  auf  den  speerblättern  von  Müncheberg  und  Kovel  und  die 
runen  auf  dem  Körliner  ringe  von  rechts  nach  links  laufen),  sondern 
auch  in  den  meisten  nordischen  inschriften,  die  zu  den  allerältesten  ge- 
rechnet werden  müssen:  der  zwinge  von  Thorsbjaerg,  dem 
diadem  vonStrårup,  der  spange  von  Himlingöje, 
dem  kamme  aus  dem  Vier  moore,  dem  lanzenschaft 
aus  dem  Kragéhuler  moore,  dem  goldenen  horn, 
deren  inschriften  nur  aus  einer  einzigen  zeile  bestehen.    Hierzu  müssen 


^)  Auch  einzelDe  sehr  alte  etruskische  inschriften  gehen  Regen  die  regel 
von  links  nach  rechts  (man  vergleiche  ebenfalls  die  alphabete  von  Clusinin 
und  das  syllabar  von  Caere). 


III.  KAP.       E.    RICHTUNG    D.  RUNEiNSCHBIFT ;    TRENNUNGSZEICHEN  ü.   S.  W. 


147 


natürlich  auch  solche  inschriflen  gerechnet  werden,  in  denen  zwei 
Zeilen  gegen  einander  gewendet  sind,  die  aber  jede  für  sich  von  links 
nach  rechts  gehen,  z.  b.  auf  der  spange  von  Ems  und  der  aus 
dem  Vier  moore,  von  welch  letzterer  wir  hier  eine  abbildung 
in  natürlicher  gröfse  mitteilen: 


s.  130. 


Die  spange  aus  dem  \  ier  moore. 

Es  ist  offenbar,  dafs  der  runenritzer,  nachdem  er  die  eine  zeile  ein- 
geritzt hatte,  die  spange  umgekehrt  und  darauf  die  zweite  zeile  geritzt 
hat^).     Dasselbe  gilt  von  den  inschriften  auf  der   oberen   fläche  und 


1)  Die  Inschrift,  welche  vod  C.  Engelhardt  1868  entdeckt  nod  im  selben 
jähre  in  dem  ,, Gnide  illustre  du  mnsée  des  antiqnités  dn  Nord  å  Copenhagne", 
s.  24  (vgl.  Vimose  Fundet,  1869,  s.  20)  in  der  oben  wiedergegebenen,  unter  meiner 
kontrolle  ausgeführten  Zeichnung  herausgegeben  wurde,  ist  im  ganzen  sehr  deat- 
lich  nod  scheint  nur  die  lesung: 

laasauw'ina 
ns  elcpee 
zu  gestatten.  Die  bedeutnng  hiervon  ist  mir  indessen  unverständlich,  nod  ich 
kann  daher  auch  nicht  ausmachen,  welche  zeile  als  die  erste  zu  betrachten  ist.  Ich 
wage  weder  zwei  namen  noch  eine  Zusammensetzung  aadagasu-laasauwina 
anzunehmen.  Am  wahrscheinlichsten  dünkt  es  mir,  dafs  die  ganze  Inschrift  (viel- 
leicht mit  ausnähme  vob  wina,  das  ein  name  sein  könnte,  entsprechend  dem 
altnord.  Fingt)  runen  ohne  wirkliche  sprachliche  bedeutung  enthält,  und  es  ver- 
dient dann  hervorgehoben  zu  werden,  dafs  nicht  blofs  ^  hier  eine  grofse  rolle 
spielt,  sondern  dafs  wir  auch  ^  und  H  wie  anderwärts  wiederfinden  (vgl.  die  be- 
merkung  über  die  inschrift  auf  dem  brakteateo  von  Vadsteoa  oben  s.  76,  anm.   1). 

10* 


148        ERSTES  BUCH.   DER  URSPRUNG  DER  RUNENSCHRIFT. 

s.  131.  auf  der  seile  des  hobeis  aus  dem  Vier  moore,  die  sich  aufser- 
deni  von  verschiedenen  personen  herzuschreiben  scheinen.  Daneben 
mufs  es  als  eine  ausnähme  angesehen  werden,  wenn  die  im  übrigen 
unverständhche  inschrifl  auf  dem  Thorsbjærger  schildbuckel 
von  rechts  nach  Unks  zu  laufen  scheint  M. 

1)  „Professor  G.  Stephens  om  de  ældste  nordiske  runeindskrifter",  s.  16 — 17 
(=r  årb.  f.  nord.  oldk.  Ib68,  s.  ü8  f.).  Zu  dem  von  mir  dort  bemerkten  kann 
ich  jetzt  folgendes  hinzufügen: 

Das  original,  welches  früher  der  Sammlung  von  ultertümern  in  Flensburg 
angehörte,  befindet  sich  jetzt  im  museum  zu  Kiel,  wo  ich  es  1879  zu  unter- 
suchen gelcfteiiheit  halte.  Die  fein  eingeritzte  Inschrift  hat  ungerähr  folgende 
form  HYX^I^;  *'^'"  oberste  nebenstrich  in  ^  ist  ein  wenig  undeutlich;  in  der 
vorletzten  rune  ist  der  nebenstrich  links  feiner  und  befindet  sich  weiter  oben 
an  dem  hauptstabe,  als  der  zur  rechten,  und  in  der  lezten  rune  läuft  der  quer- 
strich  ein  kleines  stück  über  beide  hauptstabe  hinaus.  Über  die  bedeutung  der 
einzelnen  zeichen  kann  jedoch  kaum  ein  zweifei  bestehn,  und  ich  halte  die 
lesung  HYX^  1^  für  sicher.  Von  diesen  runen  deutet  nur  ^  darauf  hin,  dafs 
die  Inschrift  von  rechts  nach  links  geht,  da  die  5  andern  dieselbe  form  haben 
könnten,  einerlei  ob  die  richtung  von  rechts  nach  links  oder  umgekehrt  war, 
obgleich  die  form  der  «-rune,  die  am  nächsten  mit  derjenigen  übereinstimmt, 
die  wir  auf  dem  lanzenschaft  von  Kragehul  finden,  sonst  am  ehesten  für  das 
letztere  sprechen  würde.  Ich  habe  mir  daher  die  möglichkeit  gedacht,  dafs  die 
fünf  runen  HYX^I  wirklich  von  links  nach  rechts  gelesen  werden  sollen  und 
die  eigentliche  Inschrift  enthalten  (natürlich  so,  dats  die  worte  nicht  ganz 
ausgeschrieben  sind),  und  dafs  der  runenritzer  hiernach  dus  magische  ^  ge- 
setzt hat,  gerade  deshalb  nach  der  entgegengesetzten  seite  gewendet,  um  diese 
rune  deutlicher  als  aufserhalb  der  eigentlichen  Inschrift  stehend  zu  bezeichnen. 
Wie  es  sich  hiermit  auch  verhalten  mag  —  und  es  wird  kaum  jemals  aufgeklärt 
werden  können  — ,  so  hege  ich  keinen  zweifei  darüber,  dafs  wir  bier  eine 
wirkliche  runeninschrift  haben.  Einen  solchen  zweifei  hege  ich  dagegen  jetzt 
wie  früher  bezüglich  der  Inschrift  auf  einem  römischen  broncegefäfs,  gefunden  hei 
Valløby  in  der  nähe  von  Køge  (herausgeg.  von  C.  Engelhardt  in  der  be- 
scbreibung  des  Vallobyer  fundes,  årb.  f.  nord.  oldk.  1873,  s.  303 — 305).  Die 
Inschrift,  die  sehr  leicht  aufsen  auf  den  boden  des  gefäfses  eingeiitzt  ist,  läuft 
von  links  nach  rechts  und  scheint  fünf  buchsiaben  enthalten  zu  haben,  von 
denen  jedoch  der  letzte  mit  ausnähme  eines  teiles  von  dem  untersten  striche 
zerstört  ist;  die  vier  ersten  buchstaben  mül'sten,  wenn  sie  runen  wären,  am 
ehesten  wiis  gelesen  werden,  und  da  der  letzte  zu  ^  ergänzt  werden  könnte, 
würden  wir  ein  wort  wiisa  (vgl.  altnord.  vist)  bekommen;  aus  mehreren 
gi'ünden  glaube  ich  jedoch  nicht,  dafs  wir  diese  zeichen  als  runen  aulfassen 
dürfen  (es  sind  eher  lateinische  buchstaben  PIIS.,  kaum  RIIS.);  auch  Engelhardt 
ist  am  meisten  geneigt,  hier  lateinische  buchstabeu  zu  finden.  Dafs  die  Inschrift 
auf  einer  kleinen  broncefigur  von  Frohov  in  Norwegen  (Stepbeus  1,  s.  2.50)  nicht 
aus  runen  besteht,  obgleich  sie  ein  ^  enthält,  sehe  ich  mit  Rygh  und  Bugge 
(årb.  f.  nord.  oldk.  1871,  s.  176  anm.)  für  sicher  an;  jedoch  wage  ich  nicht  die 
zeichen  „uordetruskische"  zu  nennen. 


III.  KAP.       E.    RICHTUNG    D.  RIKSE> SCHRIFT ;    TRENNDKGSZEICHEN  Ü.  S.  W.    149 

Dafs  die  richtung  der  schrifl  indessen  früh,  wenn  auch  nicht  gleich 
von  anfang  an,  als  ganz  gleichgültig  betrachtet  wurde,  geht  deutlich  aus 
einer  vergleichung  zwischen  den  gleichzeitigen  gotischen  inschriften 
auf  dem  Bukarester  ringe  (von  links  nach  rechts)  und  auf  den  speer- 
blältern  von  Müncheberg  und  Kovel  (von  rechts  nach  links),  sowie 
zwischen  den  beiden  gleichzeitigen  und  in  so  vielen  beziehungen  iden- 
tischen nordischen  inschriften  auf  der  lanze  von  Kragehul  (von  links 
nach  rechts)  und  der  schlänge  von  Lindholm  (von  rechts  nach  links) 
hervor.  Dasselbe  Verhältnis  flnden  wir  in  den  inschriften  auf  den  nor-  »•  132. 
wegisclien  und  schwedischen  steinen,  die  alle  für  jünger  als  die  dänischen 
inschriften  aus  dem  Thorsbjærger  moore,  von  Strärup  und  Himhngöje 
zu  halten  sind.  Von  links  nach  rechts  laufen  die  inschriften  in 
3  Zeilen  auf  den  steinen  von  Reidstad  und  Orstad,  und  dasselbe  gilt 
zum  teil  (vgl.  unten)  von  der  inschrift  in  zwei  Zeilen  auf  dem  Varnumer 
steine,  samt  den  inschriften  in  einer  zeile  auf  den  steinen  von  Skärkind, 
Skaäng,  Bö,  Taneni,  Bratsberg,  Belland,  Stenstad,  auf  der 
felswand  bei  Yeblungsnæs,  sowie  den  längeren  inschriften  auf  den 
Blekinger  steinen  (Björketorp,  Stentofte,  Istaby).  Aber  unge- 
fähr ebenso  oft  hnden  wir  die  umgekehrte  richtung  von  rechts  nach 
links;  die  längste  von  den  bisher  bekannten  inschriften.  welche  diese 
richtung  hat,  ist  der  1882  entdeckte  merkwürdige  Strander  stein  aus 
Ryfylke  in  Norwegen,  von  welchem  auf  der  nächsten  seite  eine  abbildung 
mitgeteilt  wird  *).  Dieselbe  richtung  haben  die  beiden  Zeilen  auf  den 
steinen  von  Berga,  Krogstad  und  M  ö  j  e  b  r  o  und  die  ein- 
zelne zeile  auf  den  steinen  von  Einang,  Tomstad,  Tanum, 
Vånga,  den  beiden  steinen  von  Torvik,  sowie  auf  der  felswand 


^)  Die  inschrift  lautet: 

hadnlaikas 

ek  ha|;asta[l]daR 

hiaaiwido  maga  ininino 
il.  h.  „Hadniaik  (der  name  des  toten).  Ich  Ha^ustaid  begrub  meiuea  söhn  (in 
diesem  hiigel/'.  Hiosichtlich  der  dritten  rune  in  der  zweiten  zeile  vermute 
ich,  dals  der  luoenritzer  die  absiebt  hatte,  zuerst  H  ^°  hauen;  aber  als  er  J* 
gehauen  hatte,  zeigte  es  sich,  dals  diese  ruue  zu  nahe  an  das  vorhergehende  > 
koiiimeu  oder  allzu  schmal  »erden  würde;  er  änderte  dann  das  beabsichtigte 
H  iö  H)  uiufste  aber  natürlich  den  ersten  qnerstrich  steben  lassen.  Auch  im 
anfaog  der  nächsten  zeile  schlag  er  ohne  zweifei,  wie  Bugge  annimmt,  |^^H 
statt  l^'JH  ein  und  berichtigte  dann  den  fehler,  indem  er  an  das  H  <Jen  kleinen 
strich  für  die  /-rune  fiigte;  aber  die  beiden  a-runen  mufste  er  natürlich  stehen 
lassen.  Die  etwas  nachlässige  uud  unbeholfene  art,  in  der  die  ganze  inschrift 
aasgeführt  ist,  erklärt  genügend  die  genannten  beiden  fehler 


150  ERSTES    BUCH.       DER    URSPRUNG    DER    RUNENSCHRIFT. 


Der  steiu   von  Stiaad. 


III. 


KAP.       E.    RICHTUNG    D.  RUNENSCHRIFT;    TRENNUNGSZEICHEN  U.  S.  W.     151 


am  Valsfjord.  Der  Vollständigkeit  halber  füge  ich  noch  hinzu, 
dafs  die  inschrift  auf  der  Etelhemer  spange  von  links  nach  rechts 
läuft,  was  gleichfalls  von  der  einen  zeile  auf  der  spange  von  Fonnås 
gilt,  während  die  drei  andern  die  umgekehrte  richtung  haben  —  also 
beide  Schreibweisen  in  ein  und  derselben  inschrift!  Von 
den  drei  wesentlich  gleichartigen  magischen  Inschriften  auf  den 
steinen  von  Förde,  Kinnevad  und  Elgesem  geht  endlich  die  erste 
von  links  nach  rechts,  die  beiden  letzten  von  rechts  nach  links ^). 
Es  wird  aus  der  hier  mitgeteilten  Übersicht  hervorgehen,  dafs  es  für 
vollständig  gleichgültig  angesehen  worden  ist,  welche  richtung  man 
der  Schrift  gab;  beide  arten  sind  gleichzeitig  und  ungefähr  gleich 
häufig  im  gebrauch  gewesen.  Neben  der  nach  meiner  ansieht 
ursprünglichen  richtung  von  links  nach  rechts  hat  man  also  früh 
auch  von  rechts  nach  links  zu  schreiben  begonnen,  was  um  so  natür- 
Ucher  war,  als  über  die  hälfte  der  runenzeiclien  in  beiden  fällen 
dieselbe  form  behalten  konnte,  namentlich  X  ^,  HA,  +  «,  1/,  H  j, 
1^?,  Yä,  ^  s,  t  f,  M  e,  M  w,  ♦  rø,  5^  0,  M  (f  (häufig  auch  A  w)- 
Da  es  gleichgültig  war,  ob  man  H,  H,  X,  /  u.  s.  w.  oder  H,  H,  "^5 
\  u.  s.  w.  schrieb,  so  lag  es  ja  nahe,  dieselbe  freiheit  auch  bei  den 
andern  zeichen  anzuwenden  und  ^,  <1,  'l  u.  s.  w.  für  ebenso  berechtigt 
wie  V ,  ^,  ^  anzusehn.  Infolge  dessen  gelangte  man  ganz  nalürliih  dazu, 
die  richtung  der  einzelnen  zeichen  und  folglich  auch  die  der  ganzen 
inschrift  als  gleichgültig  zu  betrachten.  Um  zu  diesem  resultat  zu 
kommen,  brauchten  die  bewohiier  des  Nordens  wahrlich  ebensowenig 
wie  die  Griechen  ein  fremdes  Vorbild. 

War  man  indessen  erst  zu  der  ansieht  gekommen ,  dafs  die  s.  133. 
richtung  der  schrift  gleichgültig  sei,  so  konnte  hieraus  wieder  sehr 
leicht  folgen,  dafs  man  darauf  verfiel,  beide  weisen  zu  vereinigen, 
und  so  gelangte  man  zu  dem  gewöhnlichen  bustrophedon.  Jedoch 
findet  sich  dies  sehr  selten  in  den  Inschriften  mit  den  ältesten 
runen  vor  und  ist  zweifelsohne  erst  in  gebrauch  gekommen,  nach- 
dem die  schrift  neben  der  älteren  richtung  längst  auch  die  richtung 
von  rechts  nach  links  angenommen  hatte.  Es  gibt  eigentlich  nur 
ein  denkmal  aus  dem  älteren  eisenalter,  dessen  inschrift  ßovfjrgo- 
(frjöov  läuft ;  dafür  ist  aber  dieses  denkmal  äufserst  lehrreich  in 
dieser    beziehung,    da    es    eine   längere    inschrift    auf   beiden    Seiten 

1)  Alle  die  hier  genaonten  Inschriften  finden  sich  jetzt  abgebildet  bei 
Stephens  I  —  III  mit  Verweisung  auf  die  werke,  wo  sie  sonst  abgebildet  und 
behandelt  sind.     Dies  letztere  kann   man   noch  besser  bei  Burg  sehen. 


152        ERSTES  BUCH.   DER  URSPRUNG  DER  RUNENSCHRIFT. 

hat,  nämlich  der  slem  von  Tune,  von  dem  ich  hier  eine  neue  Zeich- 
nung, gegründet  auf  meine  eigenen  untersucliungen  der  inschrift  im 
sommer  1881  und  auf  eine  reihe  vorzüglicher  abdrücke,  milleiie. 
Diese  Zeichnung,  bei  der  grofse  Sorgfalt  auf  genaue  wiedergäbe  der 
einzelnen  runenformen  verwandt  ist,  bestätigt  nicht  nur  vollständig 
die  berichtigungen,  die  Bugge  seiner  zeit  zu  der  Zeichnung  bei  Ste- 
phens mitgeteilt  hat,  sondern  zeigt  auch,  dafs  in  wirkhchkeit  an 
keiner  einzigen  stelle  irgendwelcher  zweifei  über  die  lesung  bestehen 
kann. 

Die  eine  seite  des  Steines  enthält  in  zwei  Zeilen  folgende  inschrift: 

d.  i.  ek  vviwaR  after  woduri  |  de 

witada-halaiban  :  worahto  [:  runoR]^) 
Wir  haben  also  hier  die  gewöhnliche  bustrophedonform,  wo  die  erste 
zeile  von   links  nach  rechts  läuft  und  die  zweite  sich  darauf  in    der 
entgegengesetzten    richtung    dreht,    wodurch  man  ja    erreichte,    dafs 

134.  die  buchstaben,  die  zusammengehörten,  auch  so  nahe  wie  möglich 
bei  einander  zu  stehen  kamen. 

Auf  der  andern  seite  des  Steines,  wo  die  inschrift  aus  drei  Zeilen 

135.  besteht,  haben  dagegen  nur  die  zwei  ersten  die  gewöhnliche  bustro- 
phedonform, während  die  dritte  mit  der  zweiten  eine  schlangen- 
windung  bildet,  ganz  wie  in  der  s.  144  am  schlufs  der  3.  anm.  an- 
geführten griechischen  inschrift  von  Naxos,  indem  die  runeu  in  diesen 
beiden  Zeilen  umgekehrt  gegen  einander  stehen,  also: 


.?.  • '  I 


^)  „Ich  Wiwait  machte  die  ruüen  nach  dem  genossen  (kriegsgefdhrten) 
Wodurid".  Vgl.  „de  ældste  nord.  runeindskrifter"  (årb.  f.  nord.  oldk.  1867), 
s.  37f.,  s.  51  H".;  Navneordenes  böjning  i  ældre  dansk,  s.  41  ff.;  Bugge  in  der 
filol.  tidskr.  VII,  s.  225  BF.  Dafs  die  inschrift  nur  die  lesung  witada  erlaubt, 
hat  ßugge  hier  ausgesprochen,  was  vollständig  mit  meiner  Untersuchung  und 
meinen  abdrücken  übereinstimmt. 


III.    KAP.       E.    RICHTÜ.XG    D.    RUNENSCHRIFT;     TRENNUNGSZEICHEN  U.  S.  W.     153 


Der  stein   von  Taue. 


154        ERSTES  BUCH.   DER  URSPRUNG  DER  RUNENSCHRIFT. 

d.  i.  arbiDa  siDosten  arbiDano 
})uiDOR  dohtriR  cTalidun 
[afte]R  woduride:  staina:^) 


^)  Der  obere  punkt  nach  staina  läuft  mit  dem  ende  von  dem  oberen 
beistrieh  der  a-ruiie  zusammen,  von  dem  er  jedoch  sicher  geschieden  werden 
kann.  —  Bugge  (filol.  tidskr.  VII,  229  ff".)  liest  und  deutet  die  inschrift 
fol^endermalsen:  arbinga  slngosteR  arbingan  ol)lingoR  (statt  o|)uingOB) 
dohtrin  dalidnn  (afte)R  vsodaride  staina,  d.  h.:  „die  ältesten  erben  der 
erben,  Odlingas  töchter,  setzten  (?)  nach  VVodurid  den  stein".  Bugge  will  je- 
doch nur  den  anfang  seiner  deutong  (bis  dohlrin)  als  einen  unsichern  versuch 
angesehen  wissen  und  läfst  dalidun  unerklärt.  Später  (filol.  tiilskr.  VIII, 
191 — 92)  erklärt  er  dalidun  =  dallid im  von  *dalljan,  „schön  ausstatten", 
behält  l)uingoR  und  verbindet  in  der  erslen  zeile  arbiogano  l)uingoR; 
er  übersetzt  dann:  „die  ältesten  von  den  erben,  Thuingas  töchter",  aber  läfst 
das  erste  arbinga  unerklärt  (filol.  tidskr.  VIII,  194).  —  In  meiner  abhandlung 
über  „de  ældste  nord.  runeindskr."  s.  60  und  in  „Navneordenes  böjn.*'  s.  41  ff. 
hatte  ich  nur  eine  deutung  des  Schlusses  der  inschrift  versucht:  dohtrin 
daedun  (oder  dalidun?)  (aftii)R  woduride  staina,  „töchter  errichteten 
(oder  teilten?)  nach  VVodurid  den  stein".  Dagegen  hatte  ich  in  einem  briefe 
an  meinen  verstorbenen  freund  K.  Lyngby,  worin  ich,  ehe  Bugges  oben- 
genannte abhandlung  in  der  filol.  lidskr.  erschien,  ihm  eine  zusammenhängende 
darstellung  der  resultate  gegeben  hatte,  zu  denen  ich  damals  in  der  deutung 
di-r  ältesten  runeninscbriften  gekommen  war,  meine  meinung  über  die  deutung 
der  ganzen  inschrift  aufgestellt.  Nachdem  ich  darauf  aufmerksam  gemacht 
hatte,  dafs  ich  bezüglich  meiner  früheien  deutungen  in  den  årh.  f.  nord.  oldk. 
1867  zweifei  über  das  witai  gahalaiban  auf  der  einen  seite  des  Steines  von 
Tune  hege,  wo  vielleicht  eher  „witada-h  alaiban  als  ein  zusammengesetztes 
wort  mit  bewahrung  des  auslautes  in  witada-"  zu  lesen  sein  dürfte,  und 
dafs  auf  der  andern  seite  sowohl  daedun  wie  dalidnn  gelesen  werden  könnte, 
sowie  dafs  eine  ähnliche  Zweideutigkeit  in  der  ersten  zeile  auf  dieser  seite  vor- 
handen sei,  indem  sowohl  -Hr  als  auch  -cR  vor  arbingano  gelesen  werden 
könnte  (selbst  hatte  ich  damals  nie  gelegenheit  gehabt,  die  inschrift  zu  unter- 
suchen), kam  ich  nach  einer  längeren  entwicklung,  die  ich  hier  übergehe,  zu  dem 
re-suitate,  dafs  die  wortc 

arbingasingosteRarbingano])uingoRdohtriR 
Wodurids  „enkel"  oder  „söhn  und  eukelinuen"  bedeuten  müfsten,  indem  ich,  je 
nachdem  wir  den  stamm  arbinga-  oder  arbingan-  hätten,  zu  lesen  vorschlug: 
entweder:    arbinga    singostCR   (arbingas   ingostcR)  arbinga  no{)uingoR 

dohtriR,    „der  erben    (des  erben)  'söhne'  [und]  der   erben  .  .  .  (ein 

adjectiv)  töchter"  .  .   . 
oder:  arbinga  singostli  r  arbingano  |)uingoR  (arbingan  ol)uingOR) 

dohtriR,    „der    erbe    SingostÜR    [und]    von   den  erbinnen  Thaingas 

(oder  der  erbe  Oduingas)  töchter"  .  .  . 


III.    KAP.       E.    RICBTÜNG    D.  RUNENSCHRIFT:    TRENNUNGSZEICHEN  ü.  S.  W.    155 

Der    stein    von  Tune  gibt   uns  somit  das    älteste    beispiel    von  s.  136. 
beiden   arten   der   bustrophedonschrift ,    von  welcher  die  zuerst    be- 
sprochene art  auch  in  einigen  der  ältesten  griechischen  und   in  ein-  s.  137. 


Hinsichtlich  des  verbnms  daedun  oder  dalidun  hinter  dohtria  fand  ich 
in  beiden  fällen  eine  Schwierigkeit,  da  ich  fur  daedun  ein  da  dun  und  für 
dalidun  ein  dailidun  erwartete.  Wenn  daedun  staina  gelesen  würde,  so 
fafste  ich  diesen  ausdruck  im  Verhältnis  zu  worahto  runoR  ebenso  auf,  wie 
z.  b.  auf  den  steinen  von  Helnæs  und  Glavendrnp  sali  stain  im  Verhältnis  zu 
fa|)i,  raist  runaa.  Jedoch  war  ich  am  meisten  geneigt,  dalidun  (statt 
dailidun  durch  eine  mischuug  der  a-  und  /-klasse)  zu  lesen  und  bemerkte  hin- 
sichtlich der  bedeutung  des  wertes  folgendes:  „Ich  erkläre  es  so:  'die  kindes- 
kinder'  teilten  den  stein  nach  Wodurid,  das  will  sagen:  der  stein  wurde  nach 
Wodurid  errichtet  (,,\ViwaR  machte  die  runen  nach  Wodurid"  —  die  erste 
Seite);  aber  später  teilten  Wodurids  erben  wieder  den  stein  nach  ihm  —  sie 
kamen  in  dasselbe  grab,  und  ihre  namen  wurden  auf  demselben  steine  einge- 
bauen.  Eine  bestätigung  für  die  richtigkeit  dieser  meinung  finde  ich  aufserdem 
in  der  form  der  runenzeichen  in  beiden  Inschriften,  die  deutlich  zeigt,  dafs  sie 
ans  verschiedener  zeit  stammen;  die  kürzeste,  schönste  und  älteste  Inschrift  wurde 
von  VViwaß  gehauen,  während  der  stein  noch  an  der  erde  lag  und  für  den,  der 
die  runen  einschlug,  leicht  zu  handhaben  war;  dagegen  wurde  die  andere  In- 
schrift, welche  zum  gedächtnis  an  Wodurids  „erben"  diente,  später  eingehaueo, 
nachdem  der  stein  aufgerichtet  war;  es  war  deshalb  schwerer  für  deu  runen- 
ritzer,  die  arbeit  schön  zu  machen,  und  das  zeigen  die  ruoenzüge  auch  deutlich 
genug.  Ehe  ich  diese  erklärung  der  Inschrift  auf  dem  steine  von  Tuue  ver- 
lasse, will  ich  noch  einer  einwendung  entgegentreten,  die  dagegen  erhoben 
werden  könnte:  man  könnte  sagen,  es  sei  ohne  beispiel,  dafs  ein  stein  erst 
über  Wodurid  errichtet  wäre,  und  dafs  später  seine  „erben  an  demselben 
steine  nach  ihm  teilhaber  wurden".  Wenn  wir  aus  dem  schliefsen,  was  noch 
heutigen  tages  oft  mit  leichensteioen  geschieht,  die  über  einer  bestimmten 
person  gesetzt  werden,  aber  so,  dafs  man  für  einen  oder  mehrere  namen 
der  familie  platz  frei  läfst,  so  würde  die  einwendung  ohne  bedeutung  sein,  da 
dasselbe  natürlich  auch  in  alter  zeit  geschehen  seiu  könnte.  Aber  ich  glaube 
aufserdem  ein  paar  ältere  runensteine  nachweisen  zu  können,  die  zum  ge- 
dächtnis zweier  errichtet  sind:  auf  dem  stein  von  Berga  steht  nach  meiner 
vermutung  der  name  saligastiR;  aber  aufserdem  enthält  der  stein  noch  das 
wort  fino,  das  ich  als  nom.  sgl.  f.  (^lul)ro,  bariso)  auffasse.  Auch  der 
stein  von  Krogstad  zeigt  uns  vielleicht  dasselbe  Verhältnis;  ich  lese  hier  das 
eine  wort  als  stain  an  (konnte  es  nicht  leicht  einem  runenritzer  einfallen  \ 
anstatt^  einzubauen?  auf  der  andern  seite  schlug  er  4*  nach  der  entgegenge- 
setzten Seite  gekehrt  ein),  was  ich  nicht  als  das  ,, appellativ"  „stein",  sondern 
als  nomen  proprium,  den  manusnamen  „Stein",  auffasse  (wenn  es  „appellativ" 
wäre,  müfste  nämlich  ein  genitiv  vorangehen;  aber  das  wort  auf  der  andern 
seite  eudigt  auf  -ingi,  nicht  auf  -ingan);  und  der  name  auf  der  andern  seite 
kann  dann  der  name  eines  andern  maunes  (vaters,  bruders)  sein;  jedoch  ist  es 
nach    der    endung    -ingi  (jüngere    form  für  -Inga)   vielleicht  wahrscheinlicher, 


156        ERSTES  BUCH.   DER  URSPRUNG  DER  RUNENSCHRIFT. 

zelnen  etruskischen  inschriften  vorkommt,  während  die  andere  arl 
bei  den  Griechen  und   mit  ausnalime   der  beiden    „sabellischen"   in- 

s.  138.  schrillen  auch  in  Italien  sein*  selten  ist.  Zwar  nimmt  Mommsen  bei 
der  behandlung  der  sabellischen  inschrillen  (Unlerilal.  Dial.  s.  2211., 
s.  32911.)  an,  dafs  ihre  bustrophedonform  so  aufserordentlich  alt  sei, 

s.  139.  dafs  auch  die  gewöhnliche  aus  dem  griechischen  bekannte  form  davon 
ausgegangen  sein  mufs,  und   er  findet    hier    Überreste  einer   uralten 


ihn  als  „patronymikon"  zu  stainaR  aufzufassen.  —  Wir  haben  auf  diesen  deiik- 
uiälern : 

1)  teils  einen  (oder  zwei)  einzelne  namen  im  nominativ;  dies  findet  sich 
aufser  auf  den  steinen  von  Kerga,  K  rogstad  und  Bratsberg  auch  auf 
einzelnen   losen  gegenständen  aus  Dänemark; 

2)  teils  den  namen  im  genitiv  mit  hinzufügung  des  Wortes  „stein";  dies 
findet  sich  auf  dem  steine  von  Stenstad:  igingoo  halaB  („Igingas  stein") 
und  hat  wohl  auch  auf  dem  steine  von  Beiland  gestanden,  wo  jetzt  nur 
der  genitiv  erhalten  ist,  wofern  nicht  das  Y;  womit  der  uame  nicht 
beginnen  kann,  und  das  sich  nur  auf  der  einen  Zeichnung  bei  Stephens 
findet,  der  letzte  buchstabe  z.  b.  von  (^TM'I'^)Y  (staina)B  sein  sollte, 
worauf  dann  der  genitiv  eines  männlichen  aw-stammes  folgte.  Auf  die- 
selbe weise  bin  ich  endlich  geneigt  das  l)rawingan  haitinaR  was  des 
Steines  von  Tanum  mit  auslassung  von  „stein"  zu  erklären,  das  auf  dem 
jetzt  abgehauenen  stücke  des  steioes  gestanden  hat  (jedoch  könnte  ein 
anderer  vielleicht  eher  annehmen,  dafs  z.  b.  das  wort  sunuR  hier  den 
genitiv  l)rawiogan  regiert  hätte); 

3)  teils  längere  und  vollständigere  inschriften. 

Alles  dieses  hat  seine  eutsprechung  in  den  jüngeren  runen: 

1)  der  stein  von  Haverslund; 

2)  die  steine  von  Kallerup   und  Snoldelev; 

3)  die  masse  der  jüngeren  runeninschriften." 

Der  schlufs  des  briefes  enthält  eine  kleine  Übersicht  über  die  flexion  der 
substantiva  in  der  ältesten  runensprache  (wovon  ein  teil  später  in  die  årb.  f. 
nord.  oldk.  1868,  s.  305  —  6  =  „den  historiske  sprogforsku.  og  modersm." 
s.  49—50  aufgenommen  ist)  und  endlich  meine  deutung  des  Sölvesborger 
Steines  (Navneordenes  böjn.,  s.  74  anm.  2). 

Obgleich  ich  jetzt  verschiedene  dinge  anders  auffasse  und  die  hier  mitgeteilte 
erklärung  von  dalidun  nur  als  einen  flüchtigen  einfall  betrachte,  so  habe  ich 
doch  die  gelegenheit  benutzen  wollen,  diese  bemerkungen  mitzuteilen,  da  es  von 
interesse  sein  kann,  zwei  von  einander  unabhängige  deutungen  des  Steines  von 
Tune  und  anderer  inschriften  mit  den  älteren  ruuen  zu  sehen,  wo  noch  einzelne 
Worte  als  zweifelhaft  angesehen  w erden  müssen.  Es  wird  zugleich  hieraus  her- 
vorgehen, dafs  ich  in  mehreren  beziehungen  meine  meiuung  über  die  ältesten 
runeninschriften  weit  abgerundeter  und  ausführlicher  in  dem  genannten  briefe 
als  in  meiner  kurze  zeit  darauf  erschienenen  und  ebenfalls  von  Bugges  dea- 
lungen unabhängigen  abhaudlung  über  die  flexion  der  substantiva  dargelegt  habe. 


III.    KAP.       E.  RICHTUNG    D.  ROENSCHRIFT ;    TRENNUNGSZEICHEN  U.  S.  W.    157 

ilaliscben  Schreibweise  und  einen  beweis  dafür,  dafs  die  griechiscbe 
scbrift  als  buslrophedon  nach  Etrurien  kam  und  in  dieser  form 
eine  zeit  lang  von  Etruskern,  Unibrern  und  Sabellern  gebraucht 
wurde.  Ich  halte  indessen  alle  diese  Schlüsse  für  sehr  übereilt,  und 
ich  glaube,  dafs  sein  Scharfsinn  Momrasen  hier  vollständig  auf  den 
Irrweg  geleitet  hat,  um  so  mehr,  als  er  selbst  trotz  der  grofsen  be- 
wunderung  für  die  altertümliche  Schreibweise  in  den  sabellischen  In- 
schriften mit  recht  hervorgehoben  hat ,  dafs  weder  ihr  aiphabet 
noch  die  sprachformen  gerade  auf  einen  besonders  alten  standpunkt 
deuten. 

Das  bustrophedon  in  Schlangenwindungen  ist  nämlich  an  und 
für  sich  so  natürlich,  dafs  man  sich  nur  darüber  wundern  mufs, 
dasselbe  nicht  öfter  in  alten  Inschriften  angewandt  zu  finden;  denn 
in  Wirklichkeit  ist  ja  jede  inschrift,  die  um  einen  runden,  ovalen  oder 
eckigen  gegenständ  (eine  münze  u.  s.  w.)  läuft,  ein  solches  buslro- 
phedon, das  also  von  selbst  wegen  der  form  des  gegenstän- 
des entsteht,  der  die  inschrift  tragen  solP).  Auch  in  der 
oben  (s.  147)  abgebildeten  inschrift  auf  der  Vimoser  spange  sowohl  wie 
in  andern  ähnlichen  Inschriften  (der  Emser  spange,  dem  hobel  aus  dem 
Vier  moore,  der  schlänge  von  Lindholm)  stehen  die  beiden  zeilen 
eigentlich  in  demselben  Verhältnis  zu  einander,  obgleich  es  hier  offenbar 
nicht  vom  runenritzer  beabsichtigt  worden  ist,  von  der  gewöhnlichen 
richtung  abzuweichen^).  Wenn  es  im  ganzen  als  gleichgültig  betrachtet 
wurde,  ob  man  die  schrift  von  links  nach  rechts  oder  umgekehrt  gehen 
liefs,  und  man  gleichwohl  in  einer  inschrift  recht  deutlich  bezeichnen 
wollte,  wo  die  eine  zeile  sich  an  die  andere  schlofs,  so  wurde  dies  ja 
am  leichtesten  gerade  dadurch  erreicht,  dafs  man  einen  buchstaben  so 


')  Vgl.  z.  b.  die  alten  griechischeo  inschrifteo  von  jVaxos  (Fraenkel  iu 
der  .\rchäoi.  Zeitg.  XXXVII,  1S79,  p.  84,  Roehi  no.  4ü8),  von  Thera  (Roehl 
no.  449  und  466),  von  Olympia  (Kirchhoff  in  der  Archäol.  Zeitg.  XXWIF, 
p.  161,  Roebl  no.  512ai  u.  s.  w.  Aach  in  der  s.  144  anm.  3  genannten  in- 
schrift aas  Olympia  hat  die  foim  des  Steines  offenbar  Veranlassung  za  dem 
bustrophedon  in  scblaogenwindaagen  gegeben. 

■-)  In  der  inschrift  auf  der  3f  ord  endor fer  spange  finden  wir  in  derselben 
linie  absichtlich  den  mannesnamen,  der  ohne  eigentliche  Verbindung  mit  der 
übrigen  inschrift  steht,  nach  der  entgegengesetzten  seile  geschrieben,  was  voll- 
kommen mit  der  weise  stimmt,  auf  welche  in  einer  von  den  ioschriften  von 
Thera  (bei  Boeckh,  Franz  und  Rangabé  no.  1,  Le  Bas  pl.  II  no.  4,  Roehl 
no.  451)  die  namen  KlfayoQug  und  IléQaiévg  geschrieben  sind.  Der  grand  war 
in  beiden  fällen  derselbe,  nämlich  das  streben  nach  deutlicbkeit. 


158        ERSTES  BUCH.   DER  URSPRUNG  DER  RUNENSCHRIFT. 

s.  NO.  ZU  sagen  zu  beiden  Zeilen  gehören  liefs.  Hierdurch  entsteht  dann  die 
schlangenförmige  schrift  in  den  sabellischen  inschriften,  die  uns  im 
Norden  zuerst  auf  dem  stein  von  Tune  begegnet,  aber  später  mehr  und 
mehr  allgemein  wurde  und  sich  auf  einigen  der  ältesten  steine  aus  dem 
Jüngern  eisenalter  findet,  z.  b.  den  steinen  von  Helnæs,  Flemlese 
und  Glavendrup,  wo  jedoch  der  unterschied  von  dem  Tuner  steine 
besteht,  dafs  die  einzelnen  Zeilen  durch  einen  strich  geschieden  sind, 
auf  dem  die  runen  stehen.  Der  nächste  schritt  war,  dafs  man  an 
stelle  der  einfachen  striche  die  steine  mit  den  eigentümlichen  und 
kunstvollen  seh  langen  wind  ungen  schmückte,  die  später  eine 
grofse  rolle  spielen  sollten,  und  in  denen  so  aufserordentlich  viele 
von  den  jüngeren  runen  inschriften  namentlich  in  Schweden  einge- 
ritzt wurden. 

Dafs  die  bustrophedonform  in  den  runeninschriften  im  Norden 
selbst  entwickelt  ist,  wo  sie  anfangs  nur  einer  steinhauerlaune,  die 
wohl  durch  das  streben  nach  gröfserer  deutlichkeil  hervorgerufen 
wurde,  ihr  dasein  verdankt,  ergibt  sich  daraus,  dafs  sie  anderwärts 
so  aufserordentlich  selten  vorkommt,  und  dafs  sie  bei  uns  erst  auf 
einem  steine  erscheint,  der  aus  mehreren  gründen  keineswegs  zu  den 
ältesten  denkmälern  gerechnet  werden  darf^). 


^)  Anf  dem  stein  von  Varnum  (Järsberg),  der,  wie  auch  Bugge  in  seiner 
scharfsinnigen  deutung  dieser  inschrift  (filol.  tidskr.  VII,  s.  237  ff.;  vgl.  VIII, 
s.  196  f.)  hervorgehoben  hat,  in  mehreren  beziehangcn  an  den  Tuner  stein  er- 
innert und  ungefähr  derselben  zeit  wie  dieser  angehören  inufs,  läuft  die  inschrift, 
wie  oben  (s.  149)  bemerkt,  in  zwei  zeilen  von  links  nach  rechts;  nur  das  letzte 
wort  ist  sowohl  aus  rücksiebt  anf  platz  wie  auf  deutlichkeit  bu- 
strophedon  geschrieben,  so  dafs  es  zugleich  um  die  unterste  zeile  läuft,  mit  der 
die  inschrift  beginnt: 


IXh-V^Y 


d.  i.:  runoR  waritu  („wir  beide  schrieben  die  runen");  runoB  ist  das  letzte 
regelmäfsig  geschriebene  wort  in  der  obersten  (letzten)  zeile,  und  vor  "t*  in 
dem  Worte  waritu  steht  der  letzte  buchstabe  in  der  untersten  (ersten)  zeile. 
In  den  inschriften  mit  der  längeren  runenreihe  finden  sich  sichere  beispiele  für 
die  bustrophedonform  bisher  nur  auf  dem  Tuner  steine  und  in  diesem  einen 
wort  auf  dem  Varnumer  stein  ,  und  der  letztere  zeigt  gerade  deutlich,  dafs  es 
rein  zufällig  ist,  dafs  diese  form  gewählt  wurde. 


III.    KAP.       E.  RICHTPNG    D.  RUNENSCHRIFT ;    TRENMÜ.iiGSZEICHEN  Ü.  S.  W.      159 

Der  enlwicklungsgang,  den  wir  auf  den  denkmälern  verfolgen  s.  IJ  I. 
können,  ist  also  der,  dafs  die  ursprüngliche  richtung  der 
runenschrift  von  links  nach  rechts  war,  wie  die  der  lateini- 
schen Schrift;  aber  früh  hat  man  ihr  daneben  auch  die 
richtung  von  rechts  nach  links  gegeben.  Durch  eine  Ver- 
einigung dieser  beiden  formen  entstand  später  das  ge- 
wöhnliche bustrophedon.  und  gleichzeitig  damit  zeigen 
sich  auch  die  ersten  spuren  der  schlangenförm  ig  ge- 
wundenen Schrift.  Alle  diese  formen  hielten  sich  in  der  folgen- 
den zeit  lange  neben  einander,  indem  es  ausschliefslich  auf  dem  ge- 
schmack  und  der  kunslfertigkeit  des  runenrilzers  beruhte,  welche  form 
er  wählen  wollte. 

Ich  habe  etwas  bei  diesem  ganzen  entwicklungsgange  verweilen 
müssen,  da  man  natürlich  auch  die  richtung  der  schrift  von  rechts 
nach  links  und  ßovarQocffjöop  als  beweis  für  die  unmittelbare  ab- 
stammung  der  runen  vom  phönicischen  oder  einem  alten  griechischen 
oder  italischen,  nicht-lateinischen  alphabete  benutzt  hat;  dafs  sie  auch 
die  richtung  von  links  nach  rechts  hatte,  und  dafs  sich  dies  gerade  in 
den  allerällesten  inschriften  als  regel  zeigt,  hat  man  entweder  übersehen 
oder  nicht  für  der  aufmerksamkeit  wert  erachtet,  indem  man  von  der 
ganz  falschen  Voraussetzung  ausgegangen  ist,  dafs  es  wohl  einer  schrift, 
die  ursprünglich  von  rechts  nach  links  ging,  gestattet  werden  könnte, 
später  die  entgegengesetzte  richtung  anzunehmen,  dafs  aber  die  umge- 
kehrte Veränderung  undenkbar  sei.  Von  dem  ersteren  hatte  man  ja  ein 
sicheres  beispiel  im  griechischen,  und  daraus  zog  man  dann  den  un- 
richtigen schlufs,  dafs  dasselbe  auch  mit  der  runenschrift  geschehen 
sein  müfste.  Dafs  beides  der  natur  der  sache  nach  gleich  berechtigt  und 
gleich  wahrscheinlich  war,  dafür  hat  man  kein  äuge  gehabt. 


In  der  art,  wie  die  Inschriften  auf  den  runensteinen  angebracht 
wurden,  finden  wir  in  einer  andern  beziehung  einen  bestimmten 
unterschied  zwischen  den  inschriften  mit  den  runen  der  längeren  und 
der  kürzeren  reihe.  In  diesen  letzteren  ist  es  nämlich  eine  feste  regel, 
dafs  die  inschrift  unten  auf  dem  steine  beginnt  und  dann 
an  demselben  hinaufläuft.  Das  umgekehrte,  dafs  die  inschrift 
oben  an  dem  steine  anfängt  und  dann  hinab  läuft,  oder  dafs  sie 
horizontal  an  dem  steine  angebracht  wird,  mufs  als  besonders  seltene, 
ganz  alleinstehende  ausnahmen  angesehen  werden  (eine  solche  aus- 
nähme bildet  z.  b.  der  grölsere  stein  von  Jællinge,  dessen  inschrift 


160        ERSTES  BUCH.   DER  URSPRUNG  DER  RUNENSCHRIFT. 

Iiorizontal  angebracht  ist,  natürlich  mit  rücksicht  auf  die  ganze  form 
des  Steines  und  die  verschiedenen  verschlingungen  und  bihllichen 
darstellungen,  die  sich  aufser  der  inschrift  darauf  findenl.  In  den 
inschriflen  mit  der  längeren  runenreihe  herrscht  dagegen  grofse  Will- 
kür in  dieser  beziehung.  Denn  es  befolgen  wohl  einzelne  die  jüngere 
regel,  die  inschrift  von  unten  nach  oben  laufen  zu  lassen  (die  steine 
vonTanum,  Tomstad,  Strand,  Torvik  a,  Stentofte,  die  fels- 
wand  am  Valsfjord);  aber  wir  finden  doch  öfter  die  umgekehrte 
rieh  tung  von  oben  nach  unten  (die  steine  von  Skaäng,  Vånga, 
Krogstad,  Varnum,  Einang,  Bö,  Stenstad,  Torvik  b,  Istaby). 
Eine  Vermischung  beider  arten  zeigt  der  stein  von  Tune,  auf  dessen 
erster  seile  die  inschrift  an  der  spitze  beginnt,  während  die  auf  der 
zweiten  seile  umgekehrt  von  unten  anfangt.  Auch  horizontale  linien 
kommen  öfter  vor  (die  steine  von  Möjebro,  Orstad,  R  ei  d  s  lad, 
Björkelorp,  die  felswand  bei  Veblungsnæs),  und  auf  dem  steine 
von  Berga  steht  der  eine  name  horizontal,  während  der  andere  von 
oben  nach  unten  läuft,  wozu  man  kaum  etwas  entsprechendes  in  einer 
einzigen  aus  der  grofsen  menge  von  inschriflen  der  jüngeren  eisenzeit 
wird   nachweisen   können. 

In  der  regel  wird  die  form  des  Steines  natürlich  mit  vollkommener 
Sicherheit  zeigen,  was  als  dessen  oberer  und  was  als  dessen  unterer 
teil  angesehen  werden  soll,  und  wo  dies  —  besonders  bei  bruch- 
stücken  —  zweifelhaft  sein  kann,  wird  die  hier  dargestellte  regel  uns 
die  frage  entscheiden  helfen.  Dafs  man  nicht  früher  auf  diese  regel 
aufmerksam  gewesen  ist,  hat  indessen  veranlassung  dazu  gegeben,  dafs 
verschiedene  runendenkmäler  an  ihrem  gegenwärtigen  platze  eine  un- 
richtige Stellung  erhalten  haben,  indem  sie  entweder  auf  die  seile 
gewendet  oder  auf  den  köpf  gestellt  sind.  Auch  bei  Thorsen  treffen 
wir  diesen  fehler  öflers  in  seinem  buche  „De  danske  Runemindes- 
mærker" II,  1 :    auf   die  seile  gestellt    sind  z.  b.    no.  9  (bruchslück 

o 

des  Steines  von  Horne),  no.  30  (bruchslück  eines  Steines  von  Arhus), 
no.  64  (bruchslück  des  Steines  von  Hammel),  no.  67  (der  kleinere  stein 
von  Skærn),  no.  72  (bruchslück  des  Steines  von  Vårst),  und  auf  dem 
köpfe  stehen  no.  32  (bruchslück  eines  Steines  von  Arhus),  no.  35 
(der  Ferslever  stein),  no.  36  (der  Flejsborger  stein;  hier  zeigt  jedoch 
die  form  des  Steines  deutlich  das  richtige),  no.  80  (der  stein  von 
Bröndeslev),  no.  86  (der  Hanninger  stein).  Über  den  Tågeruper  stein, 
der  auf  der  abbildung  H,  1  zwischen  no.  27  und  no.  28  richtig  gestellt 
ist,  bemerkt  Thorsen  ausdrücklich  II,  2,  s.  268,  dafs  er  so  zu  stellen 


III.    KAP.       E.    RICHTÜ.NG    D.    RÜ.>'E.>SCHRrFT ;    TRE»iL'>GSZEICHEN  U.  S.  W.     161 

sei,  dafs  er  auf  die  seile  zu  stehen  käme,  und  denselben  fehler  begeht 
er  s.  269  bezüglich  des  Steines  von  Brejninge.  Dies  sind  jedoch  nur 
kleinigkeiten  im  vergleich  zu  den  vielen  und  grofsen  fehlem,  die  sich 
in  andern  beziehungen  in  dieser  arbeit  finden,  nicht  am  wenigsten  in 
der  wiedergäbe  der  inschriften  selbst. 

2.    Trennungszeichen. 

Dieselbe  willkür,  die  uns  in  den  älteren  alphabeten  in  beziehung 
auf  die  richtung  der  schrift  begegnet,    treffen    wir  auch  in  der  an- s.  142. 
Wendung  der  tre nnungsz  eichen. 

Dafs  man  bereits  in  sehr  alter  zeit  zur  erreichung  eines  höheren 
grades  von  deulhchkeit  die  grenze  zwischen  den  einzelnen  Wörtern 
mit  hülfe  von  trenn ungszeichen  festzusetzen  gesucht  hat,  zeigt  die 
moabitische  inschrift,  welche  regelmäfsig  die  einzelnen  worte  durch 
einen  punkt  scheidet  ^).  Aufserdem  aber  bietet  diese  inschrift  die 
bisher  alleinstehende  eigentümlichkeit,  dafs  sie  auch  ein  anderes 
zeichen,  nämlich  einen  senkrechten  strich,  benutzt,  um  die  einzelnen 
Sätze  zu  unterscheiden.  Ebenso  sind  in  der  oben  (s.  22  anm.  3) 
erwähnten  althebräischen  Siloahinschrift  (ca.  700  vor  Chr.)  alle 
Worte  durch  einen  punkt  von  einander  getrennt.  In  den  bruchstücken 
der  phönicischen  inschriften  von  Cypern  finden  sich  dagegen  keine 
trennungszeichen ;  sie  kommen  auch  in  der  grofsen  sidonischen  in- 
schrift auf  dem  Sarkophage  E^münazars  nicht  vor  und  werden  über- 
haupt nur  ganz  ausnahmsweise  in  den  phönicischen  inschriften  an- 
gewandt. 

Auch  bei  den  Griechen  kommen  trennungszeichen  zwischen 
den  einzelnen  worten  selten  und  meistens  nur  in  sehr  alten  inschriften 
vor.  Die  ältesten  inschriften  von  Thera  und  Melos  gebrauchen  in  der 
regel  keine  trennungszeichen.  Ausnahmsweise  dient  jedoch  ein 
senkrechter  strich  als  trennungszeichen  in  einer  inschrift  von  Thera 
(Roehl  no.  449)*),  von  Lyt  los  (Roehl  no.  478)  und  Axos  (Roehl 
no.  480).  Ein  einzelner  punkt  wird  angewandt  auf  der  broncetafel 
von  Petilia  (C.  I.  G.  no.  4,  Franz  no.  23,  Roehl  no.  544)  und  in 


1)  Die  altpersischea  keiliuschrifteD  aus  der  Achämeuidenzeit  wenden  be- 
kanntlich regelmäfsig  einen  kleinen  schrägliegenden  keil  als  trennangszeicheo 
zwischen  den  einzelnen  worten  an. 

2)  Durch  die  art  und  weise,  auf  welche  die  namen  Kleicyöons  und  ütQuuvg 
in  einer  der  inschriften  von  Thera  geschrieben  werden  (siehe  s.  157  anm.  2), 
wird  natürlich  dasselbe  erreicht,  wie  darch  den  gebrauch  von  trennaugszeichen. 

WIMMER,  Die  rauenschrift.  11 


162  ERSTES    BUCH.      DER   URSPRUNG   DER    RUNENSCHRIFT. 

einer  inschrift  von  Syrakus  (Roehl  no.  509),  und  etwas  häufiger 
finden  wir  2  oder  3  punkte  auf  dieselbe  weise  gebraucht^).  Später 
wird  der  gebrauch  der  trennungszeichen  ganz  aufgegeben,  und  wenn 
wir  in  griechischen  inschriften  aus  der  römischen  kaiserzeit  wieder 
s.  143.  einzelne  beispiele  von  anwendung  eines  einzelnen  punktes  finden  können''), 
so  ist  dies  ohne  zvveifel  von  den  Römern  entlehnt. 

Eine  weit  gewöhnlichere  anwendung  haben  dagegen  die  trennungs- 
zeichen bei  den  italischen  Völkern  gefunden,  wo  es  als  ausnähme 
angesehen  werden  mufs,  wenn  sie  nicht  gebraucht  werden  (so  in 
einzelnen  etruskischen  inschriften).  Im  übrigen  finden  wir  dieselben 
trennungszeichen  wie  bei  den  Griechen;  sehr  selten  kommen  jedoch 
drei  punkte  vor,  z.  b.  ab  und  zu  in  etruskischen  inschriften  sowie 
in  den  sabellischen  von  Crecchio  und  Cupra  und  mit  zwei  punkten 
abwechselnd  auf  der  broncetafel  von  Velletri  (Mommsen,  Unterital. 
Dial.  tab.  XIV).  Zwei  punkte  sind  dagegen  sehr  gewöhnlich  im  etrus- 
kischen und  werden  durchgehends  auf  den  iguvinischen  tafeln  mit 
umbrischer  schrift  gebraucht.  Sonst  müssen  auch  die  beiden  punkte 
als  seltene  ausnahmen  angesehen  werden  (so  in  einzelnen  der  falis- 
kischen  inschriften  und  in  den  oskischen  bei  Mommsen  tab.  VIII, 
no.  1,  10  und  14).  Der  einzelne  punkt,  der  bei  den  Griechen  so 
selten  ist,  kommt  sehr  oft  in  Italien  vor,  so  in  vielen  etruskischen 
inschriften,  in  mehreren  der  faliskischen,  fast  ohne  ausnähme  in  den 


^)  Zwei  punkte  fiuden  sich  z.  b.  in  dem  vertrag  S^wischcQ  Elis  und 
Heræa  (C.  I.  G.  nu.  11,  Franz  no.  24,  Roehl  no.  llU),  in  einer  andern  gleich- 
zeitigen eleischen  iuschrift  (Roehl  no.  111)  und  in  einzelnen  alten  attischen 
inschriften  (z.  b.  C.  I.  A.  no.  4,  472).  Drei  punkte  werden  in  der  gröfseren 
lokrischen  inschrift  aus  Galaxidi  (W.  Fischer  im  Rhein.  Mus.  XXVI,  s.  39  IT., 
Roehl  no.  321)  und  in  mehreren  der  alten  attischen  inschriften  (z.  b.  C.  I.  G. 
no.  22,  139,  147  =  C.  I.  A.  465,  170,  188;  ebenso  C.  I.  A.  no.  477,  482  und 
öfters)  gebi-aucht.  Auch  kommen  zuweilen  in  derselben  inschrift  abwechselnd 
zwei  oder  drei  punkte  vor,  so  in  der  sigäischen  inschrift,  inder  kleineren 
lokrischen  iuschi-ift  aus  Galaxidi  (Rangabé  no.  356  b  pl.  XIII,  J.  L.  üssing 
in  der  Oversigt  over  det  kgl.  danske  Videnskabernes  Selskabs  Forhand- 
linger 1857,  s.  21  f.,  Roehl  no.  322)  und  in  einer  alten  attischen  inschrift 
(C.  I.  A.  no.  2).  Ein  beispiel  für  einen  und  drei  punkte  in  derselben 
inschrift  bietet  eine  kleine  insclirift  von  Dodona  (Carapanos,  Dodone  et  ses 
rnines,  Paris  1878,  p.  47  &  tab.  XXVI,  2,  Roehl  no.  5).  In  einer  andern  kleinen 
inschrift  von  Dodona  (Carapanos  p.  40  &  tab.  XXIII,  2,  Roehl  no.  502)  kommen 
sowohl  zwei,  drei  wie  vier  punkte  vor  (die  ersteren  je  einmal,  das  letzte 
zweimal). 

2)  J.  L.  Ussing  in  „Det  kgl.  danske  Videnskabernes  Selskabs  Skrifter".  V. 
Række.  Historisk  og  philos.  Afdel.  11^  s.  9. 


III.    KAP.       E.    RICHTÜJiG    D,    RUNENSCHRIFT;    TRE.MNUNGSZEICHEN  U.  S.  W,     163 

oskiscben,  und  er  ist  bei  den  Römern  scbon  in  den  älleslen  bekann- 
ten inschriften  regel  geworden^). 

In  den  runeninschriften  herrscht  von  den  ältesten  zelten  an 
grofse  Willkür  in  dein  gebrauch  und  der  form  der  trennungszeichen. 
Meistens  werden  sie  in  den  inschriften  der  längeren  reihe 
gar  nicht  angewendet.  Wo  die  inschrift  nur  einen  einzigen 
namen  enthält  (der  speer  von  Mnncheberg  und  Kovel,  das  diadem  von 
Strårup,  die  spange  von  Himlingöje,  die  steine  von  Vånga  und  Brals- 
berg),  war  natürlich  keine  veranlassung  vorhanden,  ein  trennungs- ».  1J4. 
zeichen  zu  gebrauchen;  dies  gilt  gleichfalls,  wo  jedes  wort  in  der 
inschrift  in  einer  besonderen  zeile  steht  (der  stein  von  Orstad,  die 
erste  und  dritte  zeile  auf  dem  steine  von  Reidstad,  der  stein  von 
Krogstad);  aber  sie  kommen  auch  nicht  auf  dem  Bukarester  ringe, 
den  spangen  von  Nordendorf ^),  Osthofen  und  Etelhem,  dem  Thors- 
bjærger  Scheidebeschlag,  dem  lanzenschaft  von  Kragehul,  den  steinen 
von  Tanum,  Einang,  Strand,  Bö,  Stenslad,  Torvik  b,  in  den  felsen- 
inschriften  bei  Veblungsnæs  und  dem  Valsfjord  oder  in  den  gröfseren 
blekingschen  inschriften  (Björketorp,  Stentofte,  Istaby)  vor.  Nur  auf  ganz 
vereinzelten  denkmälern  ist  der  gebrauch  von  trennungszeichen  etwas 
consequent  durchgeführt:  das  goldene  horn  bezeichnet  viermal  den 
unterschied  zwischen  den  einzelnen  Worten  durch  4  punkte^),  der 
brakteat  von  Yadstena  hat  nach  den  ersten  8  runen  einen  ein- 
zelnen punkt  und  darauf  zweimal  2  punkte  nach  jeder  der  folgen- 
den 8  runen*);  der  hobel  von  Vi  mose  gebraucht  auf  der  oberen 


^)  Aach  in  den  hercoIanensiscbeD  papyrosrollen  findet  sich  wie  in 
den  inschriften  ein  pankt  hinter  den  einzelnen  werten  (siehe  das  lateinische 
gedieht  über  die  schlacht  bei  Actium  in  Herculanensium  Voluiniuuui  quæ  saper- 
snnt  Tom.  II,  Neapoli  1809).  Dagegen  gebrauchen  die  wachstafeln  von 
Siebenbürgen  nur  ganz  ausnahmsweise  trennungszeichen,  nämlich  ab  und  zu 
einen  punkt  am  Schlüsse  eines  satzes  (Mafsmann,  Libellus  aurarius,  §  154). 

^)  Auf  dem  Bukarester  ringe  ist  jedoch  ein  deutlicher  abstand  zwischen  den 
Worten  gutaniowi  und  hailag,  wodurch  also  dasselbe  erreicht  wird,  wie 
durch  ein  trennungszeichen.  Dasselbe  hat  die  Nordendorfer  spange  a  auf  eine 
andere  weise  erreicht,  indem  der  name  leubwini,  der  in  derselben  zeile  steht 
wie  das  letzte  wort  der  hauptioschrift,  von  dieser  deutlich  geschieden  wird, 
indem  er  nach  der  entgegengesetzten  seile  geritzt  ist  (vgl.  oben  s.  157  anm.  2). 

^)  Dafs  nicht  ebenso  zwischen  ek  hlewagastia  ein  trennungszeichen  an- 
gebracht ist,  liegt  sicher,  wie  Burg  (Die  älteren  uord.  rnneninschr.,  s.  20 
anm.  2)  meint,  darin  begründet,  dafs  ek  hier  proklitisch  steht. 

*)  Hier  waren  die  trennungszeichen  oder  ein  anderes  mittel  natürlich  durch- 
aus notwendig,  um  die  drei  gescblechter  im  aiphabet  zu  bezeichnen. 

U* 


164        ERSTES  BUCH.   DEU  URSPRUNG  DER  RUNENSCHRIFT. 

fläche  deutlich  einmal  4  punkte,  während  die  inschrift  auf  der  seile 
sowohl  2  als  auch  3  punkte  zu  hahen  scheint.  Ebenfalls  hat  die  Frei- 
laubersheimer  spange  drei-  oder  viermal  2  punkte  (längliche 
kleine  striche)  als  trennungszeichen  zwischen  den  einzelnen  Worten,  und 
auf  der  spange  von  C h  arnay  finden  sich  vor  der  eigentlichen  in- 
schrift in  der  zeile  rechts  3  punkte,  um  diese  zeile  deutlich  von  dem 
alphabete  zu  scheiden;  später  gebraucht  diese  inschrift  dagegen  zweimal 
4  punkte^),  aber  kein  trennungszeichen  nach  dem  letzten  buchstaben. 
Unter  den  Steininschriften  hat  der  stein  von  Tomstad,  der  wahr- 
scheinlich nur  zwei  worte  enthalten  hat,  3  punkte  zwischen  diesen, 
und  die  zweite  zeile  des  Steines  von  Reidstad  2  punkte  zwischen 
ik  wakraR  und  unnam^). 

Dafs  man  indessen  den  gebrauch  von  trennungszeichen  zwischen 
den  einzelnen  Worten  für  ganz  überflüssig  gehalten  hat,  geht  deutlich 
aus  der  rein  sporadischen  anwendung  hervor,  die  sie  in  einzelnen 
Inschriften  gefunden  haben.  Der  stein  von  Tune  gebraucht  so 
in  jeder  seiner  längeren  Inschriften  nur  zweimal  2  punkte  und  in  der 
inschrift  von  3  zeilen  doch  nur  vor  und  hinter  dem  letzten  worte*); 
auch  der  stein  von  Varnum  hat  nur  einmal  3  punkte,  aber  sonst 
kein  trennungszeichen.  Öfters  kommt  ein  trennungszeichen  am  ende 
der  inschrift  vor,  —  und  nicht,  oder  nur  ganz  ausnahmsweise,  zugleich 
zwischen  den  einzelnen  Worten  derselben.  Auch  dies  zeigt  deutlich,  dafs 
man  diese  zeichen  eher  als  eine  reine  Verzierung  aufgefafst  hat.  Ich  habe 
bereits  angeführt,  dafs  das  eine  trennungszeichen  auf  der  zweiten 
s.  145.  Seite  des  Steines  von  Tune  sich  hinter  der  inschrift  befindet.  Die 
Lindholmer  schlänge    hat    3  punkte    am    Schlüsse    beider   in- 

^)  Auf  der  Zeichnung  bei  Stephens  besteht  das  zweite  trennungszeichen  aus 
fÜDf  punkten  in  einer  sonst  nicht  vorlioniineaden  form;  dies  ist  indessen  nach 
ßeauvois'  erklärung  (siehe  oben  s.  78)  unrichtig.  Es  kann  kein  zweitel  darüber 
sein,  dafs  der  runenritzer  hier  wie  in  der  zeile  links  vier  punkte  hat  setzen 
wollen;  aber  sie  haben  in  der  zeile  rechts  eine  etwas  unregelmälsigere  form 
bekommen.  Die  punkte  auf  der  spauge  von  Charnay  sind  wie  auf  der  Frei- 
laubersheimer  spange  eigentlich  längliche  stricheichen,  die  natürlich  durch  ein- 
ritzung  mit  der  feinen  uadel  im  metall  entstehen  mul'sten. 

2)  Dafs  kein  trennungszeichen  zwischen  ik  und  wakran  gebraucht  wird, 
stimmt  zu  dem  goldenen  horn. 

3)  Die  inschrift  von  zwei  zeilen  hat  nur  das  trennungszeichen  vor  und 
hinter  dem  vorletzten  worte;  ob  auch  zwei  punkte  hinter  dem  letzten  worte 
gestanden  haben ,  könneu  wir  nicht  entscheiden ,  da  nur  der  oberste  teil  von 
der  ersten  rune  in  diesem  worte  übrig  geblieben  ist;  auch  der  unterste  punkt 
vor  diesem  worte  ist  jetzt  fort. 


III.    KAP.       E.    RICHTUNG    D.    RUNENSCHRIFT;    TRENNUNGSZEICHEN  U.  S.  W,     165 

schriflzeilen  und  sonst  nur  2  punkte  vor  dem  magischen  (11^.  welches 
das  letzte  wort  in  der  einen  zeileist^).  Auch  auf  dem  braktealen 
von  Tjörkö  bezeichnen  die  3  punkte  ohne  zweifei  den  schlufs  der 
inschiift,  und  im  übrigen  gebraucht  sie  nur  2  punkte  vor  dem 
vorletzten  worte^)  (mit  rücksicht  auf  den  engen  räum  sind  die  punkte 
hier  horizontal  hinter  einander  gestellt,  nicht  wie  sonst  über  einander). 
Ein  einzelner  punkt  findet  sich  am  Schlüsse  der  inschrift  des  Steines 
von  S  kå  an  g  und  Skärkind  und  gleichfalls  hinter  dem  worte  sali- 
gastiß  (aber  nicht  nach  fino)  auf  dem  steine  von  Berga. 

Wir  haben  hiermit  über  den  gebrauch  der  trennungszeichen 
rechenschaft  abgelegt,  die  in  form  von  punkten  in  den  ältesten  runen- 
inschriften  vorkommen;  aber  es  liegt  natürlich  die  möglichkeit  vor, 
dafs  in  der  einen  oder  andern  von  den  undeutlichen  inschriften  ur- 
sprünglich ein  trennungszeichen  dagewesen  ist,  das  jetzt  nicht  mit 
Sicherheit  unterschieden  werden  kann;  dafs  die  punkte  in  der  inschrift 
auf  der  seite  des  hobeis  von  Vimose  schwach  und  etwas  unsicher 
sind,  haben  wir  bereits  hervorgehoben ;  auch  auf  dem  steine  von  Tune 
sind  beide  punkte  nur  recht  klar  an  der  einen  stelle,  und  auf 
dem  steine  von  Berga  fehlen  sowohl  der  punkt  wie  der  linke  neben- 
slrich  in  der  letzten  rune  noch  auf  Stephens'  Zeichnung  I,  177  (vgl. 
„Prof.  G.  Stephens  om  de  ældste  nordiske  runeindskrifter",  s.  13  = 
ärb.  f.  nord.  oldk.  1868,  s.  65).  Umgekehrt  können  natürh'che  Un- 
ebenheiten im  steine  fälschlich  als  trennungszeichen  aufgefafst  sein; 
dies  ist  so  z.  b.  der  fall  mit  dem  striche,  der  sich  bei  Stephens  (aber 
nicht  auf  der  älteren  Zeichnung  bei  Finn  3Iagnusen)  vor  der  inschrift 
auf  dem  Stenstader  steine  findet,  und  eine  menge  beispiele  von  ähn- 
lichen fehlem  könnten  von  den  inschriften  mit  der  kürzeren  runen- 
reihe  angeführt  werden  (vgl.  unten  im  'Anhang'  VI). 

Aufser  den  hier  genannten  am  gewöhnlichsten  gebrauchten  formen 
der  trennungszeichen  (punkten  in  verschiedener  anzahl)  glaube  ich, 
dafs  einzelne  seltener  vorkommende  zeichen  in  einigen  inschriften 
ebenso  aufgefafst  werden  müssen.  Hierhin  rechne  ich  ^  auf  dem 
steine  von  Möjebro,  das  auch  durch  seine  geringere  gröfse  zeigt, 
dafs    es    kaum    als   wirkliche   rune    genommen    werden    darf;     das 


^)  Ich  habe  mir  gedacht,  dafs  dasselbe  in  der  inschrift  auf  dem  schild- 
bnckel  von  Thorsbjærg  beabsichtigt  sein  könnte,  indem  man  ^  umgekehrt  im 
Verhältnis  zu  der  eigentlichen  inschrift  stellte   (vgl.   s.   14S  anm.   1). 

-)  Die  punkte  in  dieser  inschrift  sind  gewifs  nur  gebraucht  um  den  räum 
auszufüllen. 


166  ERSTKS    ItUCll.       DEK    UltSl'UUNG    DKIl    KU^ÉNSCHRIFT. 

kleine  kieiiz  zwischen  den  beiden  punkten  scheint  nur  als  eine  zier- 
lichere form  anstatt  eines  dritten  punktes  gewählt  zu  sein ').  Gleich- 
falls bin  ich  geneigt,  nicht  nur  das  letzte  zeichen  1  auf  dem  stein 
von  Skaäng  als  trennungszeichen  aufzufassen,  trotzdem  noch  ein 
punkt  darauf  folgt,  sondern  auch  das  zeichen  )j<  mitten  in  der  in- 
schrift  hinter  harina.  Wir  haben  hier  offenbar  denselben  namen  wie 
auf  dem  kämm  von  Vimose,  und  durch  ein  zeichen,  das  damals  kaum 
als  laulzeichen  im  gebrauch  war,  sich  aber  doch  im  futhark  befand 
und  später  zeichen  fär  die  a-rune  wurde  ^),  hat  man  gewifs  diesen 
namen  deutlich  von  dem  folgenden  leugan  scheiden  wollen,  dessen 
Ursprung  ich  indessen  nicht  sicher  erklären  kann.  Dafs  das  zeichen  hinter 
Y  auf  jeden  fall  nicht  die  bedeutung  einer  rune  hat,  sondern  nur  zur  Ver- 
zierung am  Schlüsse  der  inschrift  gebraucht  ist,  unterliegt  keinem  zweifei. 
Dafs  auch  >|c  wirklich  als  trennungszeichen  gebraucht  ist,  scheint 
mir  durch  die  sehr  ähnliche  inschrift  auf  dem  einen  steine  von 
Torvik  bestätigt  zu  werden,  welche  lautet: 

A 


i<>\ømv 


d.  i.  ladawariüau  (das  letzte  Y  zerstört,  da  die  spitze   des  Steines 
wegen  der  Spaltung  fehlt;  siehe  B.  E.  Bendixen  in  der  „Aarsberetning 


^)  Das  zeicheü  auf  dem  stein  von  Möjebro  erinnert  an  das  auf  Jüngern 
runensteinen  oft  vorkommende  trennungszeichen  X,  das  z.  b.  auf  dem  slein  von 
Hedeby  und  anderwärts  abwechselnd  mit  zwei  punkten  gebraucht  wird.  Diese 
ähnlichkeit  halte  ich  jedoch  für  ganz  zufällig.  —  Wenn  das  in  rede  stehende 
zeichen  auf  dem  stein  von  Möjebro  dieselbe  gröl'se  gehabt  hätte  wie  die  übrigen 
runen,  würde  ich  es  am  ehesten  als  eine  zierlichere  form  der  X^i'une  aufgefafst 
haben,  was  ja  nahe  Hegt,  und  dies  ist  auch  früher  mein  gedanke  gewesen,  indem 
ich  annahm,  dafs  die  oberste  zeile  mit  ^  anstatt  mit  |  schlösse  („Prof, 
G.  Stephens  om  de  ældste  nord.  runeindskrifter",  s.  20  =  årb.  f.  nord.  oldk.  1868, 
s.  72).  Ich  glaubte  damals,  dafs  die  ganze  inschrift  als  frawaradan  ana  hahai 
Slawin  aR  gelesen  werden  müfste  und  altnord.  Fraråder  å  hå  (dat.  sgl.  fem.) 
slegi'in  entspräche  (vgl.  auch  Burg  s.  107,  anm.  2).  In  folge  später  empfangener 
anfklärungeu  über  die  Inschrift  kann  die  letzte  rune  in  der  obersten  zeile  jedoch 
nur  I  gelesen  werden,  was  in  Verbindung  mit  der  form  der  vermuteten  ^-rune 
mich  zu  der  oben  dargelegten  auffassung  brachte. 

2)  Es  besteht  natürlich  auch  die  möglichkeit,  dafs  )j<  auf  dem  steine  von 
Skaäng  nur  durch  einen  reineu  zufall  dieselbe  form  bekommen  hat,  welche  die 
alte  yä/'ö-rune  später  annahm. 


III.    KAP.       E.    RICHTUNG    D.    RUNENSCHRIFT;    TRENNUNGSZEICHEN  U.  S.  W.     167 

fra  Foreningen  til  norske  Fortidsmindesmerkers  Bevaring  for  1880", 
Krist.  1881,  s.  66 ;  vgl.  s.  254).  Dafs  das  zeichen,  welches  über  S^ 
steht,  und  eine  auffallende  ähnlicbkeit  mit  der  M-rune  hat,  als  eine  art 
Irennungszeichen  zwischen  lada  und  wariDaR  gebraucht  ist,  bezweifle 
ich  nicht;  warioaR  scheint  sicher  =  altnord.  v^ringr  zu  sein,  und 
lada^)  lese  ich  landa  \må  fasse  es  als  einen  mannsnamen  =  altnord. 
Landi.  Ob  das  -T,  das  auf  der  Nordendorf  er  spange  a  am  Schlüsse 
der  hauptinschrift  zwischen  dieser  und  dem  nach  der  entgegenge- 
setzten Seite  geritzten  leubwini  steht,  in  gleicher  weise  als  Irennungs- 
zeichen aufgefafst  werden  soll,  wage  ich  nicht  zu  entscheiden. 

Das  schwanken,  das  sich  so  im  gebrauch  der  trennungszeichen 
zu  erkennen  gibt,  und  die  vielen  verschiedenen  formen,  worin  sie  s,  146. 
auftreten,  zeigen  deutlich,  dafs  es  auf  der  laune  des  runenrilzers  be- 
ruht hat,  wie  weit  er  sie  überhaupt  hat  benutzen  wollen,  und  dafs 
es  ausschliefslich  sache  seines  eigenen  geschmackes  war,  welche 
form  er  wählen  wollte.  Irgend  ein  fremdes  Vorbild  wird  man 
hier  schwer  nachweisen  können;  aber  da  die  runenschrift  aus  dem 
lateinischen  alphabete  entstanden  ist,  so  ist  es  ja  das  natürlichste 
auch  anzunehmen,  dafs  die  grofse  abwechslung,  welche  die  runen- 
inschriften  bezüglich  der  trennungszeichen  aufweisen,  doch  im  grunde 
von  dem  einzelnen  punkte  ausgeht,  der  bei  den  Römern  regel  ge- 
worden war ;  aber  eine  der  gröfse  der  runenzeichen  entsprechende 
zierlichere  form  fand  man  bald  in  2,  3  oder  4  punkten  (stricheichen), 
oder  auf  andere    weise-),    und  bis  in   späte  zeit   hinab  Wieb    dieses 


1)  Die  wiedergäbe  lafja  bei  Burg  s.  134  mufs  auf  einem  schreib-  oder  lese- 
fehler  beraheo. 

2)  Wollte  mao  das  vorbild  für  die  trennungszeichea  der  runeninscbriften  in 
den  zwei  oder  drei  punkten  bei  den  Griechen  und  Etraskern  suchen  —  ohne  sich 
darum  zu  bekümmern ,  dafs  wir  auch  dort  einen  punkt  treffen  — ,  so  miilste 
man  auf  alle  fälle  einräumen ,  dafs  der  runenritzer  auf  eigene  band  sowohl  die 
drei  punkte  in  vier  als  auch  die  zwei  in  einen  verändert  haben  kann,  eine  an- 
nähme, die  mir  eben  so  kühn  wie  die  meinige  vorkommt,  der  zufolge  er  nach 
seinem  eignen  geschmack  den  einzelnen  punkt  behandelt  haben  kann,  wie  er  es 
für  gut  befand.  Wie  täuschend  die  ähnlichkeiten  sich  zuweilen  ganz  unab- 
hängig von  einander  entwickeln  können,  dafür  haben  wir  ein  beispiel  ia  dem  "|' 
des  Steines  von  Skaäng  als  trennungszeichen  hinter  der  letzten  rune.  Auf 
dem  moabitischen  steine,  wo  der  punkt  zur  trennung  der  Wörter  und  der  senk- 
rechte slric^h  zur  Scheidung  der  sätze  dient,  können  zuweilen  beide  zu  dem 
zeichen  |.  vereinigt  werden.  Hier  haben  wir  zwar,  da  die  Inschrift  von  rechts  nach 
links  läuft,  den  punkt  vor  dem  striche,  während  das  umgekehrte  auf  dem 
steine  von  Skaäng  der    fall   ist,    dessen   inschrift  von    links   nach   rechts    geht. 


168  ERSTES    BUCH.       DER    ÜUSPRÜNC.    HER    RUNENSCHRIFT. 

schwanken  bestehen.  Von  den  ältesten  Inschriften  aus  dem  jüngeren 
eisenalter  haben  einige  gar  keine  trenn ungszeichen  (die  steine  von 
Helnæs,  Flemlnse),  während  der  stein  von  Kallerup  einen  einzigen 
punkt  und  der  stein  von  Snoldelev  (fünfmal)  einen  kleinen  strich  hat, 
der  auch  beständig  auf  den  steinen  von  Glavendrup  und  Tryggevælde 
147,  u.  s.  w.  gebraucht  wird;  3  punkte  finden  sich  auf  dem  steine  von 
Norrenærå;  der  stein  von  Læborg  hat  dreimal  3  und  zweimal 
2  punkte,  der  kleinere  stein  von  Jællinge  überall  2  punkte,  der 
gröfsere  sowohl  2  wie  einen,  und  in  den  inschriften  aus  der  letzten 
hälfte  des  10.  jhdts  kommen  ja  bekanntlich  der  einfache  oder  nament- 
lich 2  punkte  aufserordentlich  häufig  vor. 

3.  Binderunen. 
Der  gebrauch,  zwei  runen  an  einem  und  demselben  hauptstriche 
zu  einer  sogenannten  „binderune"  zu  vereinigen,  kommt  bekanntlich 
ab  und  zu  in  den  inschriften  mit  der  kürzeren  runenreihe  vor,  wo 
er  jedoch  in  älterer  zeit  als  eine  äufserst  seltene  ausnähme  anzusehen 
ist,  die  erst  weit  später  eine  allgemeinere  anwendung  findet  ^).  Da- 
gegen treffen  wir  öfters  binderunen  in  den  inschriften  mit  der  längeren 
runenreihe.  Dafs  keine  solche  in  den  gotischen  und  deutschen  in- 
schriften vorkommt,  mufs  am  ehesten  als  ein  zufall  betrachtet 
werden;  im  Norden  treten  sie  nämlich  bereits  in  einer  der  aller- 
ältesten  inschriften,  auf  der  Thorsbjærger  zwinge,  auf,  wo  fl  und  M 
in  dem  zeichen  R  verschlungen  sind,  obgleich  fl  hier  der  letzte 
buchstabe  in  dem  einen  und  M  der  erste  buchstabe  im  nächsten  worte 
ist  (beide  worte  verschmolzen  jedoch  wahrscheinlich  zu  einem  begriffe; 
vgl.  s.  105).  Die  neigung,  binderunen  zu  gebrauchen,  geht  aus  der  art 
und  weise  hervor,  wie  das  wort  erilaR  in  verschiedenen  inschriften 
geschrieben  wird:  MXIT^  Kragehuler  lanze,  M^if^^A  Varnumer  stein, 
aber  auch  ohne  binderunen  Y^1l/lM  Lindholmer  schlänge.  Der 
lanzenschaft  aus  dem  Kragehuler  moore  und  der  stein  von  Varnum 
zeichnen  sich  im  ganzen  genommen  durch  einen  starken  gebrauch 
von  binderunen  ans,  die  übrigens  vielleicht  namentlich  in  magischen 
inschriften  eine  rolle  gespielt  haben  (vgl.  oben  s.  57  f.  anm.  5). 

Die  ähnlichkeit  ist  indessen  ja  schlagend,  und  ich  überlasse  diesen  beitrag  den- 
jenigen, welche  noch  an  der  abstaminung  der  runenschrift  vom  semitischen 
aipbabet  festhalten. 

')  Sehr  selten  kommt  der  fall  vor,  dafs  derselbe  hauptstrich  mehr  als  zwei 
runen  trägt.  Ein  schönes  muster  von  solchen  anf  einem  stabe  verbundenen  riinen 
{„samstavsriiner")  weist  der  schleswigsche  Hedebyer  stein  auf. 


III.    KAP.       E.    RICHTUNG    D.    RUNENSCHRIFT;    TRENNUNGSZEICHEN  U.  S.  W.     169 

4.  Einfassungslinien.  Bildliche  darstelliingen. 
Von  dem  gebrauche,  die  runeninschriften  zwischen  ein fassungs- 
linien  anzubringen,  der  ja  in  den  inschriften  mit  der  kürzeren 
runenreihe  regel  wurde,  obgleich  sich  ab  und  zu  bis  in  späte  zeit 
hinab  ausnahmen  davon  finden,  treffen  wir  bereits,  jedoch  selten,  die 
ersten  spuren  in  den  inschriften  der  längeren  reihe.  Meistens  stehen 
die  runen  in  diesen  inschriften  jedoch  frei,  was  ohne  ausnähme  von 
den  ältesten  unter  ihnen  gilt:  den  Speeren  von  Müncheberg  und  Kovel, 
dem  Bukarester  ringe,  dem  schildbuckel  und  der  zwinge  von  Thors- 
bjærg,  dem  diadem  von  Slrarup,  der  spange  von  Himlingöje,  den  in- 
schriften aus  dem  Vier  und  Kragehuler  moore.  Dasselbe  ist  der  fall 
mit  den  deutschen  inschriften  auf  den  spangen  von  Nordendorf,  Frei- 
laubersheim.  Friedberg,  Ems  und  Engers.  Dagegen  ist  ein  doppelter 
strich  unter  den  runen  auf  dem  obersten  teile  der  spange  von  Charnay 
angebracht,  aber  keiner  über  denselben,  während  die  drei  kleineren 
runen  auf  dem  untersten  teile  der  spange  einen  einfachen  strich  sowohl 
am  fufse  wie  an  der  spitze  haben,  und  nur  die  beiden  gröfseren  runen 
mitten  auf  dem  untersten  teile  der  spange  ganz  frei  stehen.  Die 
spange  von  Osthofen  hat  einen  doppelten  strich  unter  den  runen 
und  einen  einfachen  an  deren  spitze.  Mit  ausnähme  der  brakteaten- 
inschriften,  die  öfters,  aber  keineswegs  durchgehends,  zwischen  ein- 
rahmungsstrichen  angebracht  sind,  werden  diese  selten  in  den  gleich- 
zeitigen nordischen  inschriften  angewandt:  auf  der  spange  von  Fonnås 
werden  die  runen  in  der  einen  zeile  von  einer  Umrahmung  einge- 
schlossen, während  die  in  den  3  anderen  zeilen  frei  stehen.  Die  in- 
schrift  der  spange  von  Etelhem  hat  gleichfalls  eine  linie  sowohl  an 
der  spitze  wie  am  fufse  der  runen,  und  aufserdem  hinter  der  in- 
scbrift  das  zeichen  h,  das  entweder  als  Verbindungslinie  zwischen  den 
rahmenstrichen  oder  als  ein  trennungszeichen  am  Schlüsse  der  inschrift 
aufgefafst  werden  kann,  das  in  diesem  falle  an  das  1  des  Steines 
von  Skaäng  erinnert  (siehe  oben  s.  166).  Auch  für  die  s  t  e  i  n  i  n  - 
Schriften  mit  den  älteren  runen  gilt  als  regel,  dafs  die  runen  frei 
stehen.  Ausnahmen  hiervon  bietet  jedoch  der  stein  von  S  ten  stad, 
wo  die  runen  auf  einem  strich  stehen,  was  gleichfalls  mit  den  beiden 
Zeilen  auf  dem  steine  von  Möjebro  der  fall  ist.  Ein  ganzer  rahmen 
scheint  die  magische  inschrift  auf  dem  stein  von  Kinne  vad  ein- 
geschlossen zu  haben,  und  die  inschrift  auf  dem  stein  von  Tanem 
ist  möglicherweise  von  einem  gleichen  umgeben  gewesen,  der  ziemlich 
genau  mit  demjenigen  auf  der  Etelhemer  spange  übereinstimmt.    Nach 


170  ERSTES    BUCH.       DER    URSPRUNG    DER    RUNENSCHRIFT. 

ein  paar  vorzügliclien  abdrücken  von  dem  steine  in  seinem  gegen- 
wärtigen zustande  hat  die  stark  verwischte  und  bisher  ungedeutete 
inschrift  folgendes  aussehen: 


Der  oberste  teil  der  beiden  ersten  runen  mit  den  beistrichen  kann 
jetzt  nur  sehr  schwach  verfolgt  werden;  aber  die  übrig  gebhebenen 
spuren  in  Verbindung  mit  der  älteren  Zeichnung  (L.  D,  Klüwer, 
Norske  Mindesmærker,  Christiania  1823,  taf.  29  fig.  b)  stellen  es  aufser 
allen  zweifel,  dafs  hier  MF^  steht.  Eine  kleine  Vertiefung  an  der 
dritten  rune  etwas  über  der  mitte  ist  durch  abschälung  hervorgerufen 
und  kann  nicht  als  Überrest  des  nebenstriches  in  einem  +  aufgefafst 
werden.  Da  die  erste  rune  die  form  M  hat,  mufs  die  sechste  trotz 
der  ovalen  form  der  nebenstriche,  die  derselben  grofse  ähnlichkeit 
mit  der  rune  T  in  der  kürzeren  reihe  verleiht,  eine  form  des  ge- 
wöhnlichen Y  R  sein.  Ich  hatte  in  bezug  hierauf  vor  vielen  jähren 
vermutet,  dafs  die  inschrift  ursprünglich 

MMPPY  maiwaR 
gelautet  haben  könnte,  ein  wohlbekannter  mannsname  =  dem  späteren 
altnord.  Mar.  Da  die  4.  und  5.  rune  indessen  auf  Klüwers  Zeichnung 
als  deutliches  I^r  wiedergegeben  werden,  und  da  die  übrig  gebliebenen 
spuren  dieser  runen  eher  für  diese  lesung  als  für  Pf^  sprechen,  so 
scheint  die  inschrift  MF^IRrY  mairlR  wiedergegeben  werden  zu 
müssen,  worin  ich  am  meisten  geneigt  bin,  verkürzte  Schreibung  (wie 
auf  der  Etelhemer  spange)  eines  mannesnamens  zu  sehen.  Wie  die 
inschrift  indessen  auch  gedeutet  werden  soll,  so  glaube  ich  sieher,  dafs 
das  zeichen  hinter  4',  dafs  bei  Klüwer  die  form  p  hat,  ebenso  auf-^ 
gefafst  werden  mufs,  wie  das  1*  der  Etelhemer  spange. 

Diese  schwachen  anlaufe  sind  das  einzige,  das  den  Übergang  zu 
dem  späteren  gebrauche  zeigt,  wo  die  einrahmungsstriche  regel 
wurden.  Besonders  geht  es  klar  aus  der  inschrift  des  Steines  von 
Möjebro  hervor,  deren  beide  Zeilen  jede  für  sich  auf  einem  einzigen 
rahmenstriche  stehen,  wie  leicht  der  Übergang  hiervon  zu  der  an- 
bringung  der  runen  zwischen  einfassungsünien  sein  würde,  die  bei- 
den Zeilen  gemeinsam  sind,  wodurch  man  eine  form  erhalten 
würde,   die  ganz  derjenigen  entspräche,  die  sich  auf  dem    steine   von 


III.    KAP.       F.    WO    E.>TSTAND    DIE    RINENSCURIFT ?  171 

Kai  1er up  findet  Einen  vollständigen  rahmen  wie  auf  den  steinen  von 
Kinnevad  und  Tanem  hat  dagegen  der  stein  von  Snoldelev.  Im 
allgemeinen  zeigt  sich  jedoch  in  den  ältesten  Inschriften  des  jüngeren 
eisenalters  in  diesem  punkte  noch  die  anknüpfung  an  die  inschriflen 
mit  den  älteren  runen,  dafs  in  der  ersten  und  letzten  zeile  an  der 
spitze  und  am  fufse  den  runen  der  einfassungsstrich  fehlt,  während 
die  übrigen  Zeilen  zwischen  den  gemeinsamen  einfassungsstrichen  an- 
gebracht sind  (siehe  z.  b.  die  steine  von  Helnæs,  Flemlose,  Glaven- 
drup  und  Tryggevælde). 


Auch  zu  bildlichen  darstellungen,  die  auf  vielen  runen- 
denkmälern  aus  der  jüngeren  eisenzeit  eine  so  grofse  rolle  spielen, 
finden  sich  die  ersten  ansätze  auf  denkmälern  mit  älteren  runen. 
Wenn  ich  von  den  merkwürdigen  künstlerischen  darstellungen  auf 
dem  goldenen  horne  absehe  sowie  von  den  brakteaten,  deren  darstel- 
lungen ja  von  anfang  an  den  Vorbildern  ihre  entstehung  verdanken, 
die  man  auf  fremden  (südländischen)  münzen  fand,  so  spielen  jedoch 
bildliche  darstellungen  auf  den  älteren  runendenkmälern  eine  höchst 
untergeordnete  rolle. 

Von  diesen  haben  nämlich  nur  die  beiden  upländischen  steine  von 
Krogstad  und  Möjebro  ein  paar  einfache  darstellungen,  der  erstere 
die  eines  mannes  mit  aufgehobenen  bänden,  der  zweite  die  eines  mannes 
zu  pferde.  Gewifs  lassen  sich  ähnliche  derartige  umrisse  auch  auf 
einzelnen  runensteinen  aus  der  jüngeren  eisenzeit  nachweisen;  aber 
die  „bilder"  der  steine  von  Krogstad  und  Möjebro  führen  doch 
meine  gedanken  weit  eher  zu  den  felsenritzungen  („hällristningar") 
der  broncezeit  als  zu  den  oft  mit  grofser  kunstfertigkeit  und 
tüchtigkeit  ausgeführten  bildlichen  darstellungen ,  die  auf  vielen 
runensteinen  aus  der  jüngeren  eisenzeit  vorkommen;  denn  selbst 
wenn  dem  gröfseren  steine  von  Jællinge  der  erste  rang  in  dieser  be- 
ziehung  eingeräumt  werden  mufs,  so  hat  er  doch  viele  seitenstücke 
besonders  auf  schonischen  und  schwedischen  steinen. 

F.  Wo  etitstand  die  runenschriftt 
Ich  glaube,  dafs  wir  im  vorhergehenden  alles  dasjenige  dargestellt 
haben,  was  die  runenschrift  selbst  uns  über  ihren  Ursprung  wird 
lehren  können,  und  wir  haben  nirgends  etwas  gefunden,  das  gegen 
das  resultal  sprechen  könnte,  zu  dem  wir  durch  unsere  betrachtung 
der  form  und   bedeutung  der  einzelnen  zeichen    kamen,  dafs   diese 


172       ERSTES  DUCH,   HER  URSPRUNG  »ER  RUNENSCHRIFT. 

Schrift  aus  dem  lateinischen  alphabete  entstanden  sein  müsse.  Wir 
haben  sogar  geglaubt,  annährend  die  zeit  für  die  bildung  des  runen- 
alphabetes  feststellen  zu  können,  insofern  ein  paar  zeichen  beweisen, 
dafs  es  das  jüngere  lateinische  aiphabet  sein  mufs,  das  ihm  als  Vorbild 
gedient  hat.  Zu  dieser  Zeitbestimmung  werden  wir  auch  mit  Wahr- 
scheinlichkeit auf  einem  andern  wege  geführt.  Wir  haben  bereits  früher 
hervorgehoben,  dafs  die  runenschrift  erst  in  der  älteren  eisenzeit  auf- 
tritt, und  wir  sind  nach  den  bisher  vorliegenden  thatsachen  nicht  be- 
rechtigt, irgend  eine  Inschrift  mit  den  ältesten  runen  weiter  als  bis  ins 
vierte  jahrhdt  nach  Chr.  zurückzusetzen.  Aber  den  archäologischen 
Untersuchungen  zufolge  macht  sich  gerade  zu  dieser  zeit  der  römische 
einflufs  in  seiner  vollen  stärke  geltend.  Es  liegt  deswegen  nahe,  a  priori 
anzunehmen,  dafs  der  Ursprung  der  runenschrift,  die  auf  den  ersten 
blick  eine  unzweifelhafte  Verwandtschaft  mit  den  alten  südeuropäischen 
alphabeten  (dem  griechischen,  etruskischen,  lateinischen)  zeigt,  zu- 
nächst im  lateinischen  gesucht  werden  mufs.  Der  etruskische  einflufs 
müfste  nämlich  älter,  und  der  griechische  jünger  sein,  während  um- 
gekehrt diejenigen  griechischen  buchstaben,  aus  denen  man  sich 
allein  die  runen  entstanden  denken  könnte,  einer  früheren  periode 
angehören  würden,  nämlich  unserm  broncealter.  Wenn  daher  die 
runenschrift,  wie  wir  im  vorhergehenden  gezeigt  haben,  sich  nur 
aus  dem  lateinischen  alphabete  herleiten  läfst,  so  ist  dies  in  voll- 
kommener Übereinstimmung  mit  archäologischen  und  historischen 
s.  148.  thatsachen,  und  die  zeit  für  das  erste  auftreten  dieser  schrift  gibt 
eine  neue  und  gewichtige  stütze  für  unsere  annähme,  dafs  sie  von 
dem  jüngeren  lateinischen  aiphabet  von  23  buchstaben  ausgegangen 
sein  mufs.  Hieraus  folgt  dann  zugleich,  dafs  das  auftreten  der  runen- 
schrift in  der  älteren  eisenzeit  an  und  für  sich  durchaus  keinen 
beweis  liefert,  der  die  hypothese  von  einer  neuen  stammeseinwande- 
rung  in  den  Norden  in  dieser  periode  stützen  kann.  Die  runenschrift 
ist  nur  ein  einzelnes  moment  in  dem  römischen  einflufs,  der 
in  jener  zeit  sichtbar  wird,  und  sie  ist  so  früh  zu  uns  gekommen, 
wie  es  im  ganzen  genommen  denkbar  war.  Soll  eine  neue  ein  Wan- 
derung staltgefunden  haben,  so  mufs  dies  also  durch  andere  gründe 
bewiesen  werden. 

Es  gibt  jedoch  noch  eine  frage,  die  ohne  zweifei  aufgeworfen 
werden  wird,  auf  die  aber  zur  zeit  eine  nur  irgendwie  sichere  ant- 
wort  zu  geben  unmöglich  ist,  und  bezüglich  deren  ich  mich  des- 
wegen auf  einzelne  andeutungen  beschränken  werde.    Auf  welchem 


III.    KAP.       F.    WO    ENTSTAND    DIE    RUNENSCHRIFT?  173 

wege  wurde  das  römische  aiphabet,  das  der  riinenschrift  als  grund- 
lage diente,  den  germanischen  Völkern  bekannt? 

Nach  Cäsars  eroberung  von  Gallien  kamen  bekanntlich  auch  die 
Germanen  in  nähere  Verbindung  mit  den  Römern,  mit  denen  sie  in 
der  folgezeit  in  mannichfache  friedliche  und  kriegerische  berührungen 
gerieten.  Da  also  die  direkte  Verbindung  zwischen  den  Römern 
und  Germanen  im  älteren  eisenalter  so  bedeutend  war,  so  kann 
auch  die  runenschrift  leicht  als  bei  einem  germanischen  stamme  ent- 
standen gedacht  werden,  der  in  näherer  Verbindung  mit  den  Römern 
stand ^).  Jedoch  läfst  sich  dies  nicht  beweisen,  und  es  ist  auch 
nicht  notwendig,  dafs  die  schrift  zu  den  germanischen  Völkern  direkt 
von  den  Römern  gekommen  sei.  Aufser  den  Römern  gab  es  näm- 
lich ein  anderes  volk,  mit  dem  germanische  stamme  zu  dieser  zeit 
und  früher  in  lebhaftem  verkehr  standen,  und  durch  deren  land  ohne 
zweifei  einer  der  hauptwege  für  die  ausbreitung  der  römischen  kultur 
nach  dem  Norden  gegangen  ist,  nämlich  die  Gallier").  Sichere 
kunde  von  der  schrift  der  Gallier  haben  wir  zuerst  durch  die  in  s.  149. 
neuerer  zeit  entdeckten  altgallischen  inschriften  erhalten^).  Überein- 
stimmend mit  dem  Zeugnis  der  alten  schriftsteiler  gebrauchen  die 
ältesten  von  diesen  inschriften  das  griechische  aiphabet  (in  seiner 
jüngeren  gewöhnlichen  gestalt),  das  sich  natürlich  von  Massilia  aus 
über  Südgallien  verbreitet  hat*).     Durch  Cäsars  eroberung   ging  in- 

^)  Ich  werde  nur  oebeü  den  vielen  andern  thatsachea  auf  Taeitus'  äulserung 
über  die  Hermunduren  (Genn.  c.  41)  hinweiseo. 

■^)  Vgl.  J.  J.  A.  VVorsaae,  Om  Slesvigs  eller  Sunderjyllands  Oldtids- 
minder, Kbh.  1865,  s.  47  &  57. 

^)  J.  Becker,  Die  inschriftlichen  Überreste  der  keltischen  spräche  in  Kuhns 
und  Schleiehers  Beitragen  zur  vergl,  Sprachforschung  III  (1803),  s.  162 — 215, 
326—59,  405—43;  IV  (1865),  s.  129—70.  A.  Pietet,  Nouvel  essai  sur  les 
inscriptions  Ganloises  in  der  Revue  archéol.  1867,  XV,  s.  276  —  89,  313 — 29, 
385—402;  XVI,  s.   1—20,  123—40. 

*)  Vgl.  Strabo  IV,  1,  5  (p.  181  edit.  Casaub.).  Cæsar  B.  G.  \,  29:  In 
castris  Helvetiorum  tabulæ  repertæ  sunt  li tteris  Græcis  confectæ  et  ad 
Cæsareui  relatæ,  quibus  in  tabulis  nominatim  ratio  confecta  erat,  qui  numerus 
domo  exisset  eorum,  qui  arma  ferre  posseut,  et  item  separatim  pueri,  senes 
mulieresque,  also  ,, listen,  mit  griechischen  buchstaben  (aber  natürlich  in  galli- 
scher spräche)  geschrieben,  die  ein  Verzeichnis  über  diejenigen  enthielten, 
welche  von  hause  fortgezogen  waren";  ibid.  VI,  14  (von  den  Druiden):  neqne 
fas  esse  existimant  ea  litteris  mandare,  quum  in  reliqnis  fere  rebus,  publicis 
privatisque  ratiouibos  Græcis  litteris  ntantur,  „sie  halten  es  für  unerlaubt, 
ihre  lehre  niederzuschreiben,  obwohl  sie  sonst  in  der  regel,  wie  z.  b.  in 
öffentlichen  und  privaten  rechenschaften,  griechische  buchstaben  gebrauchen".  Dafs 
diese    kenutnis    indessen    zu  Cäsars   zeit    nicht    bei   allen   Galliern    verbreitet 


174  ERSTES    BUCH.       DER    URSPRUNG    DER    RUNENSCHRIFT. 

dessen  hierin  eine  Veränderung  vor;  die  beiiannlschaft  mil  dem 
lateinischen  alphabele  wurde  nun  allgemein,  und  in  den  allgal- 
lischen inschriflen  aus  der  ersten  kaiserzeil  finden  wir  die  griechi- 
150.  sehen  buchslaben  mil  den  laleinischen  kapitalbuchslaben  verlauscht,  die 
später  wiederum  von  der  uncial-  und  kursivschrift  verdrängt  werden. 
Während  so  die  bewohner  des  eigentlichen  Galliens  zuerst  das 
griechische  und  demnächst  das  lateinische  alphabel  gebrauchten, 
scheinen  die  gallischen  Völker  in  Oberitahen  am  frühesten  die  „nord- 
e  tru  s  kis  che"  schrifl  ihrem  alphabete  zu  grunde  gelegt,  aber  später 
gleichfalls  das  römische  alphabel  angenommen  zu  haben. 

Auf  grund  des  näheren  Verkehrs,  der  an  vielen  stellen  zwischen 
Galliern  und  Germanen  stattgefunden  hat,  müssen  wir  daher  als  eine 
möglichkeit  hinstellen,  dafs  die  lateinische  schrifl  gerade  gleichzeitig 
mit  ihrem  siegreichen  vordringen  bei  den  gallischen  Völkern  auch  den 
germanischen  stammen  bekannt  geworden  ist,  und  dafs  das  runen - 
alphabel  aus  den  lateinischen  kapitalbuchstaben  ent- 
standen sein  kann,  mit  denen  germanische  Völker  in  der 
ersten  römischen  kaiserzeil  bei  den  Galliern  bekann  t- 
schaft  machten.  Dagegen  finde  ich  in  den  runenzeichen  selbst 
nichts,  welches  darauf  hindeuten  könnte,  dafs  auch  die  von  den 
Gaüiern.vor  dem  lateinischen  alphabel  benutzte  griechische  und  nord- 
etruskische  schrift  bei  der  bildung  des  runenalphabeles  eine  rolle  ge- 
spielt haben  kann^).     Aber    es    verdient    hervorgehoben    zu    werden, 

war,  scheint  aus  V,  48  hervorzugehen,  wo  Cäsar  da\on  spricht,  dafs  er  wäh- 
rend seines  aufenthaltes  bei  den  JNerviern  einen  brief  au  Cicero  absandte, 
der  mit  griechischen  buchstaben  (und  wahrscheinlich,  obgleich  dies  nicht  ge- 
radezu in  den  Worten  „hancGræcis  conscriptam  litteris  uiittit"  liegt,  griechisch) 
geschrieben  war,  damit  er  nicht,  wenn  er  vom  feinde  aufgefangen  würde,  seine 
pläue  verraten  sollte.  Dafs  die  fern  wohnenden,  uucivilisierten  Nervier  (II,  4)  im 
gegensatze  zu  andern  gallischen  stammen  die  griechische  schrift  nicht  kannten,  pafst 
eben  sehr  gut  zu  der  Schilderung,  die  Cäsar  anderwärts  (II,  15)  von  ihnen  gibt. 
^)  Da  indessen  mein  gelehrter,  um  das  runenstudium  hochverdienter  freund 
S.  Bugge  in  seiner  abhaodluug  über  die  runeninschriften  auf  goldbraitteateo 
beiläufig  angedeutet  bat,  dafs  die  nordetruskische  schrift  mit  der  runen- 
schriit  in  veibinduug  stehen  konnte  (årb.  f.  nord.  oldk.  1871,  s.  176;  mé- 
moires  de  la  société  royale  des  antiquaires  du  INord  187],  s.  363),  eine  an- 
sieht, an  der  er  in  seinen  bemcrkungeu  „Oni  Runeskriftens  Oprindelse"  (Christ. 
1874)  festgehalten  hat,  so  werde  ich  hier  zur  näheren  vergleichung  mit  dem 
„Dordetruskischen"  aiphabet,  das  ich  auf  taf.  II  no.  7  zusammengestellt  habe, 
die  form  dieses  alphabetes  anführen,  welche  die  Gallier  benutzten: 

abgdetDzh^ikl    m    n    o  p    s    r    s    t    u 

15---^--.   -iKi.(/yv)rorMD/xv 


III.    KAP.       F.    WO    ENTSTAND    DIE    RUNENSCHRIFT?  175 

dafs  während  die  Gallier  allmählich  das  griechische,  nordetruskische  s.  151. 
und  lateinische  aiphabet  so  gut  wie  unverändert  aufnahmen,  das  runen- 
alphabet  weit  selbständiger  seinem  lateinischen  vorbilde  gegenüber  steht. 
Es  ist  somit  eine  möglichkeit  vorhanden,  dafs  die  germanischen 
Völker  ihre  kenntnis  der  lateinischen  buchstaben,  wonach  die  runen- 
schrift  gebildet  wurde,  nicht  direkt  von  den  Römern,  sondern  indirekt 
durch  die  GaUier,  und  besonders  die  gallischen  stamme  in 
Oberitalien  erhallen  haben.  Dafs  die  runen  dagegen  auf  einem 
westUchen  wege,  über  das  eigentliche  Gallien,  zu  den  Germanen  ge- 
kommen sein  sollten,  dünkt  mir  wenig  wahrscheinlich,  da  es  mir 
der  thatsache  zu  widerstreiten  scheint,  dafs  wir  auch  die  runen- 
schrift  im  Osten  bei  den  Goten  vor  dem  Wultilanischen  alphal)ele 
finden,  und  gerade  die  speciell  gotischen  inschriflen  müssen  nach 
allem,  was  vorliegt,  zu  den  ältesten  von  allen  bisher  bekannten  runen- 
denkmälern  gerechnet  werden,  und  wesenthch  gleichzeitig  mit  ihnen 
sind  die  ältesten  im  Norden  entdeckten  denkmäler,  während  die 
specifisch  deutschen  bedeutend  jünger  sind.  Wie  es  sich 
nun  auch  bezüglich  der  gegend,  wo  die  runenschrift  entstanden  ist,  ver- 

Vou  w  ichtigkeit  bei  der  vergleichuDg  mit  der  runeaschrift  ist  es ,  dafs  die  or- 
spräoglicheo  zeichen  Tiir  b,  g,  d  febleo  und  diese  lante  darch  p,  k,  t  aosgedrückt 
werden  (vgl.  oben  s.  49f.  anin.  3).  Das  einzige  zeichen,  das  an  die  runenschrift 
erinnert,  ist  ^  mit  der  bedeutung  Q;  aber  dafs  dieser  buchstabe  hier  diese  form 
bekommen  hat,  die  sonst  im  etruskiseben  w  bezeichnet,  liegt  darin,  dafs  die  Gallier 
V  sowohl  für  u  wie  Tür  w  gebranchten;  da  also  kein  mifsverständnis  möglich  war, 
bekam  A  gleich  den  übrigen  buchstaben  eine  aufrechte  Stellung.  Da  indessen 
die  buchslabeu,  die  vom  lateinischen  abweichen,  den  runen  weit  ferner  liegen 
als  diese  (namentlich  r  und  t),  und  da  die  in  die  runenschrift  aufge- 
nommenen lateinischen  B  C  D  F  Z  H  hier  ganz  fehlen,  so  glaube 
ich,  wird  man  ciuräumeo,  dals  dus  von  deu  Galliern  benutzte  nordetruskische 
alpbabet  nicht  die  entfernteste  berübrung  mit  der  runenschrift  haben  kann,  und 
dals  die  ähnlichkeit  zwischen  der  a-rune  und  dem  gallisch-etrnskischen  a,  wie 
ich  oben  (s.  99  aom.  1)  bemerkte,  als  ganz  zafållig  anzusehen  ist.  —  Dagegen 
ist  es  möglich,  dafs  einzelne  eigentümliche  zeichen,  die  sich  auf  einigen  brak* 
teaten  mit  runen  zusammen  finden,  und  deren  bedeutung  anzugeben  uns  unmög- 
lich ist,  nicht  blofs  äufsere  ähnlichkeit,  sondern  auch  einen  wirklichen  Zu- 
sammenhang mit  entsprechenden  zeichen  in  Inschriften  von  Oberitalien  und  auf 
den  goldgetafseu,  die  im  Banal  gefunden  sind,  haben,  wie  Bugge  vermutet  hat 
(årb.  f.  nord.  oldk.  187],  s.  175  f.).  Aber  diese  mischung  von  runen  und  fremden 
scfariftzeichen  auf  einzelnen  brakteaten  gehört  dann  einer  späteren  zeit  an  und 
steht  mit  der  ursprünglichen  entwicklung  der  runenschrift  nicht  in  Verbindung. 
(Bezüglich  der  veruiuteteu  Verwandtschaft  zwischen  den  runen  und  der  „nord- 
etruskischen"  schrift  verweise  ich  im  übrigen  auch  auf  die  bemerkungen,  die  ich 
in  der  vorrede  über  diesen  punkt  gegeben  habe.) 


176  ERSTES    BUCH.       DER    URSPRUNG    DER    RUNENSCHRIFT. 

hallen  möge,  so  hoffe  ich,  dafs  so  viel  als  ergebnis  der  vorhergehenden 
Untersuchungen  hingestellt  werden  darf:  das  runenalphabet  ist 
nach  dem  lateinischen  alphabete  frühestens  am  ende  des 
zweiten  oder  zu  anfang  des  dritten  Jahrhunderts  nach  Chr. 
bei  einem  der  südlich  wohnenden  germanischen  stamme 
(natürlich  an  einer  einzigen  stelle  und  —  können  wir  wohl  getrost 
hinzufügen  —  von  einem  einzigen  manne)  gebildet,  und  es  hat 
sich  von  dort  aus  allmählich  zu  den  andern  nahverwandten 
Stämmen  verbreitet. 

Wir  haben  hiermit  den  ersten  teil  unserer  aufgäbe  vollendet. 
Wir  haben  nachgewiesen,  dafs  das  einzige  alte  aiphabet,  von  welchem 
die  runen  unmittelbar  abstammen  können,  das  lateinische  ist;  und 
dafs  es  das  jüngere  lateinische  aiphabet  sein  mufs,  wird  sowohl  durch 
einzelne  runenzeichen,  wie  durch  die  zeit  bewiesen,  der  die  ältesten 
runeninschriften  angehören.  Der  gebrauch  der  schrift  bei  den 
germanischen  Völkern  —  mögen  sie  dieselbe  nun  un- 
mittelbar von  den  Römern,  oder  mittelbar  durch  die 
Gallier  erhalten  haben  —  steht  somit  in  Verbindung  mit 
dem  mächtigen  einflusse,  den  die  Römer  in  der  ersten 
kaiserzeit  auf  die  barbaren  ausübten,  und  ihr  auftreten 
im  Norden  im  älteren  eisenalter  kann  folglich  nicht  als 
beweis  für  das  eindringen  eines  neuen  stammes  zu  dieser 
s.  152.  zeit  gebraucht  werden.  Die  runenschrift  allein  kann  uns  somit 
nicht  helfen,  die  schwierige,  noch  ungelöste  frage  nach  dem  Verhältnis 
zwischen  den  bewohnern  des  Nordens  in  dem  bronce-  und  denen  im 
eisenalter  zu  beantworten;  dagegen  beweist  sie  das  ganze  eisenalter 
hindurch  nicht  blofs  durch  ihre  spräche,  sondern  auch  durch  ihre 
äufsere  form  mehr  als  alle  andern  thatsachen,  dafs  das  volk,  welches  in 
dem  älteren  eisenalter  zuerst  die  runenschrift  in  den 
nordischen  ländern  zu  benutzen  anfing,  dasselbe  ist,  das 
uns  die  inschriften  aus  dem  jüngeren  eisenalter  hinter- 
lassen hat.  Hiermit  werden  wir  uns  im  zweiten  teile  unserer  Unter- 
suchungen beschäftigen,  in  welchem  ich  einen  genügenden  beweis  dafür 
zu  liefern  hoffe,  dafs  die  schrift,  die  uns  auf  den  nordischen 
denkmälern  aus  dem  jüngeren  eisenalter  begegnet,  durch 
eine  stufenweise  entwicklung  aus  derjenigen  hervorge- 
gangen ist,  die  in  dem  älteren  eisenalter  gebraucht  wurde. 


ZWEITES  BUCH. 


DIE  ENTWICKLUNG  DER  RUNENSCHRIFT 
IM  NORDEN. 


WIMJIER    die  ranensehrifU  |2 


Zweites  buch. 

Die  entwicklung  der  runenschrift  im  Norden. 


I.  kapitel. 
Die  jüngere,  kürzere  (nordisclie)  nmenreilie. 

Das  ninenalphabet,  mit  welchem  wir  uns  bisher  beschäftigt  und 
dessen  Ursprung  wir  nachzuweisen  gesucht  haben,  wurde  also  von 
den  bewohnern  der  nordischen  lander  am  Schlüsse  des  alleren  und 
in  dem  mittleren  eisenaller  gebraucht,  Dafs  es  indessen  keine  speciell 
nordische  schrift  war,  sondern  dafs  es  auch  von  andern  stammen 
der  germanischen-  völkerfamilie  gebraucht  wurde,  ist  im  vorher- 
gehenden dargelegt  worden. 

Anders  stellt  sich  die  sache  dagegen,  wenn  wir  die  schrift- 
lichen denkmäler  im  Norden  aus  dem  jüngeren  eisenalter  be- 
trachten; wir  finden  da  ein  aiphabet,  das  nicht  blofs  in  manchen  be- 
ziehungen  von  demjenigen  abweicht,  das  früher  in  gebrauch  war,  sondern 
das  auch  als  speciell  nordisch  im  strengsien  sinne  angesehen 
werden  mufs.  Wo  denkmäler  mit  dieser  schrift  aufserhalb  der  skan- 
dinavischen lander  nachgewiesen  werden  können,  da  bezeugt  die 
spräche  immer,  da£s  sie  von  Nordleuten  herrühren,  die  auf  ihren 
Zügen  nach  fremden  ländern  gekommen. 

Das  runenalphabet.  welches  im  Norden  im  jüngeren  eisenalter 
benutzt  wurde,  hat  in  seiner  am  meisten  bekannten  gestalt,  so 
wie  wir  es  auf  der  gröfseren  menge  unserer  runensteine  finden, 
16  zeichen,  die  wir  mit  angäbe  ihrer  namen  und  .ihrer  bedeutung 
hier  folgen  lassen: 

12* 


50 

ZWEITES 

BUCH. 

DIE    ENTWICKLUNG   DER 

1. 

r\ 

2 

n  U 

3 

fJ 

(=1)  n  (0 

fé 

nr 

pnrs,  porn 

öss 

2. 

^  h 

8 
+    11 

9 

i  i 

10 

+  a 

180 

S.  153.  12  3  4  6 

R  r  V  k 

reid  kann 

n 

H  s 

hagall,  hagl     naud         iss  dr  sdl 

12  13  14  15  IG 

3.    t  t  ^  b  r  1  Y  m  A  R  (y) 

?t/r        bjarkan       Iggr  madr  yr 

Diese  zeichen  wurden  in  3  abteilungen  („æltir",  „gesclilechler") 
geteilt:  Frøys  ætt,  die  6  ersten  runen  enthaltend,  Hagais  ætt 
die  5  folgenden,  und  Tys  ætt  die  5  letzten. 

Das  hier  angeführte  aiphabet  ist  durch  die  Überlieferung  bis  in  späte 
zeit  hinein  bewahrt  «orden.  Wir  kennen  seine  zeichen  (niii  einzelnen 
Veränderungen  und  mit  einer  veränderten  anordnung  an  einer  einzigen 
stelle),  deren  namen  und  bedeutung  durch  das  alte  norwegische 
runen  gedieht,  welches  0.  Worm  1636  in  seiner  „Danica  Litera- 
tura  antiquissima",  s.  105 ff.  (2  ausg.  1651,  s.  95 ff.)  mitteilte,  wo- 
nach es  von  W.  Grimra,  Über  deutsche  Runen,  1821,  s.  246  ff.  wie- 
dergegeben wurde.  Das  original  ging  bei  der  feuersbrunst  von  Kopen- 
hagen im  j.  1728  zu  grunde;  aber  es  ist  dr.  Kr.  Kålund  geglückt, 
ein  paar  alte  abschriften  des  gedichtes  aufzuspüren,  wonach  er  es  in 
einer  verbesserten  gestalt  (in  den  „Småstykker,  udgivne  af  samfund  til 
udgivelse  af  gammel  nordisk  litteratur',  Kbh.  1884,  s.  1 — 16)  her- 
ausgegeben hat.  Das  gedieht  ist  ohne  zweifei  in  den  schlufs  des  12. 
oder  den  anfang  des  13.  jahrhdts  zu  setzen.  Mit  diesem  runengedichte 
eng  verwandt,  aber  in  einzelnen  wesentlichen  punkten  doch  von  ihm  ab- 
weichend, ist  eine  isländische  runenreimerei,  die  in  jüngeren 
handschriften  und  in  Jon  Olafssons  handschriftlicher  Runologia 
erhalten  ist,  und  die  Kålund  an  derselben  stelle  s,  16 — 21  mitgeteilt 
hat  (vgl.  'Anhang'  II).  Aufserdem  sind  verschiedene  darstellungen  des 
jüngeren  runenalphabetes  auf  steinen,  glocken  und  andern  gegenständen 
aus  den  nordischen  ländern  überliefert.  Liljegren  führt  mehrere 
solche  an  (Run-Lära  s.  172  f. ;  Run-Urkunder  no.  2001  ff.,  aufserdem  ein- 
zelne andere,  z.  b.  no.  1982  =  Stephens  s.  104  no.  15,  c;  no.  1986, 
1995),  wozu  noch  ferner  aus  Dänemark  der  futhork  auf  dem  tauf- 
stein in  der  kirche  zu, Bårse  (in  der  nähe  von  Præsto)  gefügt 
werden  kann,  welcher  hinter  den  16  runen  drei  zeichen  zugefügt  hat, 
die  allgemein  in  kalendern  gebraucht  wurden,  um  in  Verbindung  mit 


I.    KAP.      DIE    JÜNGERE,    KÜRZERE    (.NORDISCHE)    RUNENREIHE.  181 

den  16  runen  die  19  goldenen  zahlen  auszudrücken  (Annaler  f.  nord. 
Oldk.  og  Hist.  1846,  s.  283  ff.  mit  taf.  II).    Auch  auf  zwei  dänischen 

o 

runensteinen  in  Astrup  (bei  Varde)  und  in  Monsted  (bei 
Viborg)  findet  sich  die  runenreihe;  aber  aus  mangel  an  platz  läfst 
der  erste  die  drei  letzten,  der  zweite  die  letzte  rune  im  alphabete 
aus  (abgebildet  bei  Thorsen,  De  danske  Runeraindesmærker  I,  s.  317 
und  II,  1  no.  14;  II,  1  no.  60)').  Diese  und  mehrere  andere  dar- 
stellungen  der  kürzeren  runenreihe  werden  wir  unten  näher  zu  be- 
sprechen gelegenheit  finden. 

Vergleichen  wir  nun  das  hier  dargestellte  runenalphabet  aus  dem 
jüngeren  eisenalter  mit  demjenigen,  das  in  dem  älteren  gebraucht 
wurde ,  so  ist  sofort  eine  wichtige  thatsache  klar  und  unwider- 
sprechlich,  nämlich  dafs  beide  alphabete  mit  notwendigkeit 
auf  eine  gemeinsame  quelle  zurückweisen.  Die  beweise  hier- 
für sind  folgende: 

1)  Von  den  16  runen  im  kürzeren  alphabete  finden  sich  9,  nämlich  s.  154. 

rni>R  +  !tBr 

auch  in  dem  längeren  ganz  in  derselben  form  und  mit  der- 
selben bedeutung  wie  im  kürzeren  wieder.  Auch  die  ähnlichkeit 
zwischen  dem  ^  q  (o),  H  s  des  kürzeren  und  dem  ^  a,  ^  s  des  längeren 
ist  augenfällig; 

2)  die  runennamen  in  dem  kürzeren  alphabete  stimmen 
genau  mit  denen  überein,  die  wir  mit  hülfe  der  altenglischen  und 
gotischen  namen  für  die  entsprechenden  zeichen  des  längeren  alpha- 
betes  feststellen  können; 

3)  das  kürzere  alpbabet  wird  in  3  abteilungen  („geschlechter") 
eingeteilt,  die  mit  Y  f,  if  h  und  T(  beginnen;  dafs  dieselbe  ein- 
teilung  in  dem  längeren  alphabete  benutzt  worden  ist,  geht  aus 
dem  futhark  auf  dem  brakteaten  von  Vadstena  hervor,  der  zwei 
punkte  (:)  als  trennungszeichen  vor  H  h  und  T  t  hat. 

Jeder  einzelne  dieser  gründe  ist  an  und  für  sich  ausreichend, 
um  zu  zeigen,  dafs  die  beiden  alphabete  nicht  nur  nicht  unabhängig 
von  einander  entwickelt  sind,  sondern  sogar  in  der  engsten  Verbin- 
dung untereinander  stehen.     Hiermit  ist  ja  indessen  noch  nicht  aus- 


1)  Fälschlich  nimmt  Thorsea  (I,  s.  315  a.  II,  2,  s.  35)  an,  dafs  die  3  letztea 
rnnen  io  der  .\stroper  reihe  deshalb  fehlen,  weil  ein  stück  vom  steine  abge- 
schlagen sei;  wie  auf  dem  Monsteder  steine  sind  jedoch  auch  auf  dem  Astroper 
steine  alle  runen  erhalten,  was  allerdings  aach  ans  Thorsens  zeichnoog  nicht 
hervorgeht. 


182        ZWEITES    BUCH.        KIE    Ei^TW  ICKLIJMJ    DKll    UUiNENSOHIUFT    IM    INORDE.M. 

gemacht,  welches  Verhältnis  zwischen  ihnen  im  einzelnen  ob- 
waltet. Die  frage,  welche  wir  beantworten  müssen,  ist,  ob  das  eine 
von  diesen  alphabeten  unmittelbar  aus  dem  andern  her- 
vorgegangen, oder  ob  sie  beide  aus  einer  älteren  gemein- 
samen quelle  abgeleitet  sind. 

In  den  vorhergehenden  Untersuchungen  kamen  wir  zu  dem 
resultate,  dafs  ein  für  alle  germanischen  Völker  gemeinsames  runen- 
alphabet  von  24  zeichen  mit  hülfe  des  lateinischen  gebildet  wurde, 
und  dafs  es  eben  dieses  aiphabet  ist,  welches  auf  den  ältesten 
schriftlichen  denkmälern  im  Norden  gebraucht  wird.  Eine  notwen- 
dige folge  hiervon  wird  natürlich  sein,  dafs  das  kürzere  speciell  nor- 
dische aiphabet,  das  wir  auf  den  jüngeren  denkmälern  finden,  und 
das  auf  dieselbe  quelle  wie  das  längere  gemeingermanische  zurückweist, 
nur  von  diesem  abgeleitet  werden  kann.  Wäre  nämlich  umgekehrt  das 
längere  aiphabet  aus  dem  kürzeren  hervorgegangen  —  was  wohl  als  die 
bis  1874  allgemeine  ansieht  bezeichnet  werden  mufs,  in  welchem 
jähre  ich  in  der  dänischen  ausgäbe  dieses  buches  die  entgegengesetzte 
auffassung  zu  beweisen  suchte  — ,  oder  wären  beide  alphabete, 
wie  man  auch  behauptet  hat,  unabhängig  von  einander  aus  einem 
gemeinschafthchen  grundalphabete  entwickelt'),  so  müfste  unser 
s  155.  früheres  resultat  in  einem  wesentlichen  punkte  modificlert  werden. 
An  stelle  eines  grundalphabetes  von  24  zeichen  müfste  man  sich  dann 
weit  eher  ein  vom  lateinischen  ausgegangenes  gemeinger- 
manisches aiphabet  denken,  das  in  der anzahl der  zeich  en 
mit  dem  kürzeren  nordischen  übereinstimmte.  Ein  solches 
aiphabet  läfst  sich  zwar  nichtnachweisen;  aber  wir  brauchten  nur  einzelne 


^)  Müllen  hoff  sagt  hierüber  (Z,  f.  d.  a. ,  neue  f.  VI,  s.  250):  „Wiininer 
ist  in  seiner  abhandluug  über  den  Ursprung  und  die  entwicklung  der  runen- 
schrift  im  JNorden  zu  zwei  ergebnissen  gelangt,  von  denen  das  eine,  die  ab- 
stainmuQg  der  runea  von  dem  lateinischeu  aiphabet,  mit  der  wol  schon  lauge 
feststehenden  Überzeugung  aller  vorurteilslos  in  diesen  dingen  denkenden  über- 
eintrifft, das  andere  dagegen,  die  herleitung  des  nordischen  alphabefs  von  16 
zeichen  aus  dem  älteren  von  24,  mit  einer  ansieht  in  Widerspruch  tritt,  die 
bisher  wol  den  meisten  ungefähr  wie  Kirchhoff  (zs.  10,  206)  die  Sicherheit 
eines  rcchenexempels  zu  haben  schien,  ich  glaube,  auch  der  beweis,  den 
hr  Wimmer  hierfür  mit  hilfe  der  inschriften  führt,  wird  sich  uicht  anfechten 
lafsen  und  leicht  durch  neue  funde  noch  weitere  bestätigung  erhalten".  Da- 
gegen versuchte  Zarncke  (Lit.  Centralblatt  7.  Novbr.  1874)  noch  die  ältere 
auffassung  aufrecht  zu  erhalten.  Vgl.  auch  M.  Riegers  oben  (s.  139  f.)  er- 
wähnte äufseruugen  in  der  Z.   f.  d.  Ph.  VI. 


I.    KAP.       DIE    JÜNGERE,    KÜRZERE    (>'0RDISCHE)    RUNENREIHE.  183 

runenformen  in  dem  kürzeren  nordischen  alpliahet  auf  einen  alleren 
Standpunkt  zurückzuführen,  der  im  längeren  alphabet  bewahrt  sein 
müfsle  (dessen  <  k,  H  Ä  u.  s.  w.  gegenüber  dem  K,  5|c  u.  s.  w. 
des  kürzeren)  und  den  runen  öss  und  dr  ihre  ursprüngliche  bedeu- 
tung  a  und  j  wiederzugeben ,  um  sofort  ein  aiphabet  zu  erhalten, 
welches  sowohl  dem  kürzeren  nordischen  als  auch  dem  längeren  auf 
dem  brakteaten  von  Vadstena  u.  s.  w.  zu  grunde  liegen  könnte.  Das 
ursprüngUche  runenalphabet  hätte  sich  dann  frühzeitig  in  zwei 
gespalten,  von  denen  das  eine,  das  in  der  anzahl  der  zeichen  dem 
grundalphabet  entspräche,  und  insoweit  demselben  am  nächsten 
stände,  von  den  eigentlichen  skandinavischen  Völkern  bewahrt  worden 
wäre,  bei  denen  wir  es  im  jüngeren  eisenalter  in  vollem  gebrauch 
linden,  während  die  gotischen  und  deutschen  Völker  später  das 
grundalphabet  durch  hinzufügung  neuer  zeichen  weiter  entwickelt 
hätten,  so  dafs  es  die  form  erhalten,  die  wir  von  dem  Vadslenaer 
brakteaten,  der  spange  von  Charnay  u.  s.  w.  kennen ;  auf  einem 
noch  späteren  standpunkt  wäre  dieses  (gotisch-deutsche)  aiphabet  dann 
in  England  weiter  ausgebildet  worden  ^).     Ein  solcher  gedanke  ist  an 


^)  Ober  das  Verhältnis  zwischen  den  versebiedenen  runenalphabeten  spricht 
sich  \V.  Griuim  folgenderniafsen  aus:  ,,Wir  haben  die  drei  Runenalphabcle, 
das  nordische,  deafsche  und  angelsächsische  verglichen  und  ihre  Verwandtschaft 
gefunden.  Es  entsteht  jetzt  weiter  die  schwierige  Frage:  wie  wir  uns  die 
Entstehung  dieses  Verhältnisses  und  die  Abhängigkeit  des  einen  von  dem  an- 
dern vorstellen  müssen?  Wir  gehen  von  dem  Grundsatz  aus,  dasz  das  ein- 
fachste Alphabet  das  älteste  sey ;  dem  geniäsz  sind  wir  genöthigt,  den  sechszeha 
alten  Runen,  and  zwar  nach  ihrer  eigenthümlichen,  alten  Ordnung,  deren  Ursache, 
so  viel  ich  wcisz,  noch  nicht  entdeckt  ist,  den  Vorrang  zu  geben"  (über 
deuts^che  Runen,  s.  124),  und  er  kommt  dann  zu  dem  resultat,  „dasz  die  sechs- 
zehn altnordischen  Runen  Grundlage  der  deutschen  und  angel- 
sächsischen sind"  (s.  128).  Gegen  diese  ganze  betrachtuog,  der  sich  später 
viele  angeschlossen  haben,  auf  jeden  fall  im  wesentlichen,  hat  jedoch  bereits 
B  red  sd  or  ff  einspruch  erhoben  :  „Das  ärmste  aiphabet  braucht  nicht  gerade  das 
älteste  zu  sein.  Es  ist  wohl  denkbar,  dafs  unsere  vorfahren  einige  buchsfaben 
fortgeworfeu  haben  können,  teils  weil  sie  für  unnötig  gehalten  wurden,  teils 
weil  sie  schwer  nachzumachen  waren,  teils  weil  man  sich  vielleicht  nur  unvoll- 
ständig mit  dem  älteren  aiphabet  bekannt  gemacht  hatte.  So  warfen  die 
Griechen  einige  von  den  buchstaben  der  Fhönicier,  und  die  Römer  einige  von 
denen  der  Griechen  fort,  und  die  Engländer  haben  æ,  p  und  d  abgeschaflt" 
(„Om  de  saakaldte  tydske  Raner"  in  Molbechs  Nordisk  Tidsskrift  for  Historie, 
Literatur  og  Konst,  II,  1828,  s.  397).  An  derselben  stelle  (s.  398)  spricht  er 
sich  über  das  Verhältnis  zwischen  dem  kürzeren  nordischen  runenalphabet  und 
dem  altenglischen  folgendermafscn  aus:    „Ich    vermute,   dafs  diese  beiden   arten 


184        ZWEITES    BUCH.       DIE    ENTWICKLUNG    DEU    RUNENSCHRIFT    IM    NORDEN. 

s.  156.  und  für  sich  natürlich,  und  er  war  vollkommen  berechtigt,  so  lange 
man  von  der  Voraussetzung  ausging,  dafs  die  sprachform  auf  den 
denkmälern  mit  dem  längeren   aiphabet    in   Skandinavien    (dem   gol- 

s.  157.  denen  horn  u.  s.  w.)  nicht  dem  nordischen  sprachstamme  angehöre, 
sondern  entweder  gotisch  oder  deutsch  sei.  Anders  stellt  sich 
die  Sache  dagegen,  nachdem  in  der  neuesten  zeit  nachgewiesen  ist, 
dafs  die  spräche  in  diesen  Inschriften  nordisch  ist,  und  dafs  das 
•  längere  runenalphabet  nicht  blofs  von  Goten  und  Deutschen  benutzt 
wurde,  sondern  auch  die  einzige  gebräuchliche  schrift  in  Skan- 
dinavien war,  ehe  das  kürzere  aiphabet  bei  uns  auftrat.  Wenn  man 
zugleich  mit  mir  in  der  auffassung  einig  ist,  die  ich  an  verschiedenen 
stellen  zu  erhärten  gesucht  habe  und  —  wie  ich  hoffe  —  zur  evidenz 
beweisen  werde,  dafs  die  spräche  in  den  nordischen  Inschriften  mit 
dem  längeren  alphabete  nur  ein  älteres  stadium  der  spräche  ist,  die 
wir  in  den  Inschriften  des  jüngeren  eisenalters  mit  dem  kürzeren  alpha- 


von  raneo  unabhängig  von  einander  sind,  aber  aus  einer  gemeinsamen  quelle 
stammen,  und  ich  gebe  deshalb  die  ansieht  auf,  die  ich  in  der  schrift  über  den 
Ursprung  der  runenscbrift  s.  19  betreffs  der  normannischen  (markomannischen) 
runen  geäul'sert  habe".  Diese  vollständig  richtige  auffassung  von  dem  ver- 
wandtschaftsverhältnis  zwischen  den  beiden  alphabeten  ist  später  auch  von  an- 
dern vorgetragen  worden;  so  äulsert  Liliencron  (Zur  Runenlehre  s.  16): 
„Die  herkömmliche  Annahme,  das  erweiterte  goth.-ags.  Alphabet  habe  seine 
directe  Quelle  in  dem  eugeien  nord.,  ist  wohl  nicht  haltbar  .  .  .  Der  Einfluss 
beider  Alphabete  auf  einander  war  ein  wechselseitiger,  beiden  aber  liegt  ein 
gemeinschaftliches  üralphabet  zu  Grunde".  Auch  Kirchhoff  betrachtet  den  salz 
als  bewiesen,  ,,dass  das  angelsächsische  und  nordische  aiphabet  sich  unabhängig 
von  einander  auf  einer  gemeinschaftlichen  grundlage  entwickelt  haben,  das  eine 
nicht  aus  dem  anderen  abzuleiten  ist"  (Das  goth.  runenalphabet,  2te  aull.,  s.  2). 
Es  war  natürlich,  dafs  diese  gelehrten  zu  dem  resultate  kamen,  dafs  das  kürzere 
nordische  aiphabet  dem  gemeinsamen  grundalphabete  („uralphabete")  am  nächsten 
stände,  und  Kirchhoff  meint  daher  auch,  „dass,  wenu  wir  im  altskandinuvischeu 
alphabete  die  j//'-rune  streichen  und  den  zeichen  i  und  12  [d.  h.  der  öss-  und 
ar-rune]  ihre  ursprünglichen  bedeutungen  a  und  J  wiedergeben,  wir  die  aiizahl 
der  laute  erhalten,  die  in  dem  uralphabete  bezeichnet  waren.  Diesem  uralpha- 
bete  steht  allerdings  das  skandinavische  am  nächsten;  dass  aber  aus  ihm,  etwa 
in  einer  noch  älteren  gestalt,  die  übrigen  alphabete  abgeleitet  sein  sollten,  oder 
mit  anderem  worte  das  skandinavische  aiphabet  selbst  als  jenes  üralphabet  zu 
betrachten  sei,  dys  ist  eine  annähme,  zu  der  Unkenntnis  und  auch  wohl  misver- 
standener  patriotismus  hat  ehemahls  verleiten  können,  die  aber  dnrch  gar  nichts 
zu  erweisen  steht  und  als  für  immer  widerlegt  betrachtet  werden  kann,  wenn 
wahr  ist,  was  ich  an  einem  andern  orte  über  das  Verhältnis  jenes  ältesten  runen- 
alphabetes  zu  dem  lateinischen  bemerkt  habe"  („Zur  Würdigung  der  franzö- 
sischen runen"  in  Haupts  zeitschr.  für  deutsches  alterthum,  X,  1856,  s.  202). 


I.  KAP.   DIE  JÜNGERE,  KÜRZERE  (.NORDISCHE)  RONENREIHE.      185 

bele  finden,  so  wird  die  frage  über  das  Verhältnis  zwischen  den  beiden 
alphabelen  natürlich  damit  zugleich  entschieden  sein:  in  dem  älteren 
längeren  aiphabet  müssen  wir  dann  notwendig  die  quelle  für  das 
kürzere  jüngere  suchen. 

Dals  unsere  runeninschriflen  aus  dem  älteren  und  jüngeren  eisen- 
alter die  spräche  desselben  nordischen  volksstammes  aus 
verschiedenen  zeiten  enthalten,  wie  ich  behaupte,  bat  indessen 
nicht  blofs  Gislason  bestimmt  geleugnet,  indem  er  das  resultat 
seiner  Untersuchungen  über  die  spräche  in  den  ältesten  inschriften 
in  folgende  worte  zusammenfafst:  „Sieht  man  von  den  einzelheiten  ab 
und  betrachtet  man  das  idiom  in  der  hier  behandelten  abteilung  der 
älteren  inschriften  im  ganzen,  so  scheint  es  weder  auf  den  ,.germa- 
nischen"  noch  auf  den  „skandinavischen  stamm"  zurückgeführt  werden  s.  158. 
zu  können,  sondern  ein  mitlelding  mit  einer  stark  hervortretenden 
„germanischen"  und  einer  vielleicht  noch  stärker  hervortretenden 
„skandinavischen"  seite  zu  sein.  Es  hat  einer  Völkerschaft  angehört, 
die  im  ströme  der  zeit  untergegangen,  von  einer  eindringenden  völker- 
woge  überschwemmt  worden  ist  —  ,, einem  naheverwandten  sprofs 
aus  gotischer  wurzel""  (årb.  f.  nord.  oldk.  1869,  s.  145).  Auch 
Bugge,  mit  dem  ich  sonst  vollständig,  sowohl  in  der  auffas- 
sung  der  spräche  der  ältesten  inschriften  im  ganzen  wie  in  den 
meisten  einzelheiten  übereinzustimmen  das  vergnügen  habe  —  eine 
Übereinstimmung,  der  in  diesen  fragen  eine  um  so  gröfsere  bedeu- 
tung  beizumessen  ist,  als  wir  in  den  allermeisten  fallen  ganz  unab- 
hängig von  einander  zu  denselben  resultaten  gekommen  sind  — ,  hat 
sich,  jedenfalls  früher,  mit  einem  gewissen  vorbehält  über  diese  sache 
aussprechen  zu  müssen  geglaubt,  indem  er  äufserte:  „ich  habe  nicht 
sagen  wollen,  dafs  einzig  und  allein  ein  Zeitunterschied  zwischen 
der  spräche  in  den  inschriften  aus  der  älteren  eisenzeit  und  der 
spi'ache  in  den  gewöhnlichen  skandinavischen  runeninschriften  bestehe. 
Archäologen  haben  mir  im  gegenleil  den  glauben  beigebracht,  dafs 
der  anfang  der  jüngeren  eisenzeit  in  Verbindung  damit  stehe,  dafs  ein 
neues  nordisches  element  eindringt"  (Tidskr.  for  Philologi  og  Pædag. 
VII,  s.  356;  vgl.  årb.  f.  nord.  oldk.  1871,  s.  214  f.)  i). 

1)  Spätere  auslassaugeo  Bugges  getien  jedoch  in  einer  andern  richtang  und 
fallen  im  weseutlii-hea  mit  der  von  mir  vertreteoea  aoscbauuug  zusammen;  man 
sehe  z.  b.  seine  iiuiserungen  bei  der  zweiten  nordischen  philoiogenversammlung 
1S81  in  den  „Forhandlinger  paa  det  andet  nord.  Filologmøde",  Krist.  1S83, 
s.  218  f.  und  meine  beuierknngen  dazu  an  derselben  stelle  s.  240  £F.  Noch  be- 
stimmter   formuliert    Bugge    seine    autTassung    in    den   årb.   f.   nord.  oldk.  1884, 


186  ZWEITES    BUCH.       DIE    ENTWICKLUNG    DEU    RUMENSCHRIFT    IM    NORDEN. 

Wenn  die  Sprachforscher  somit  auf  die  wichtige  frage  nach  der 
slammesverwandtschaft  zwischen  den  bewohnern  des  Nordens  in  der 
älteren  und  jüngeren  eisenzeit  verschiedene  antworten  haben  geben 
■können,  so  brauchen  wir  uns  niclit  darüber  zu  wundern,  dafs  auch 
historiker  und  altertumsforscher  zu  entgegengesetzten  resultaten  ge- 
kommen sind.  Sowohl  nach  Gislasons  wie  nach  Bugges  oben  ge- 
nannter auffassung  steht  der  weg  für  die  möglichkeit  offen,  dafs  ein 
neuer  stamm  beim  beginn  des  jüngeren  eisenallers  das  kürzere  runen- 
alphabet  nach  dem  Norden  gebracht,  und  dafs  sich  dieses  also  un- 
abhängig von  der  schrift  entwickelt  haben  kann,  die  in  dem  älteren 
eisenalter  gebraucht  wurde.  Diese  ansieht  ist  denn  auch  in  neuerer 
zeit  zu  Worte  gekommen,  und  man  hat  mit  grofser  bestimmtheit  die 
behauptung.  aufgestellt,  das  kürzere  runenalphabet  könne  unmöglich 
aus  dem  längeren  hervorgegangen  sein,  da  kein  volk  darauf  verfallen 
würde,  zeichen  für  laute  fortzuwerfen,  die  es  früher  ausgedrückt  hätte, 
und  später  wieder  neue  zeichen  für  diese  laute  zu  bilden  (vgl.  z.  b. 
das  <  k  und  X  g  des  längeren  alphabetes,  die  im  kürzeren  beide 
•  durch-  K  ausgedrückt  werden,  während  man  später  wieder  einen  unter- 
s.  159.  schied  zwischen  K  k  und  Y  g  einführte).  Das  Verhältnis  zwischen 
den  runenalphabeten  in  der  älteren  und  jüngeren  eisenzeit  hat  man 
daher  zusammen  mit  archäologischen  ergebnissen  als  stütze  für 
die  ansieht  benutzt,  dafs  ein  neues  volk  beim  übergange  .  aus  der 
älteren  zur'jüngeren  eisenzeit  in  den  Norden  eingewandert  sein  müsse  ^). 

s.  93  ff.,  wo  der  gedanke  an  eiae  ciowanderung  in  der  jüngeren  eisenzeit  ganz 
aufgegeben  ist:  „Jedoch  gehören  die  iin  Norden  gefundenen  inschriften  mit  den 
runen  der  längeren  reihe  demselben  volksstamme  an,  der  hier  in  der  historischen 
zeit  gewohnt  bat;  und  die  spräche,  die  -iin  Norden  in  der  letzten  heidnischen 
zeit  geredet  wurde,  hat  sich  aus  der  sprachform  entwickelt,  die  jene  inschriften 
uns  kennen  lehren"  (s.  95).  Aber  diese  aulfassung  gebietet  nach  meiner  Über- 
zeugung mit  notwendigkeit,  die  Vorstellung  von  einer  Wesensverschiedenheit  zwi- 
schen der  spräche  in  der  jüngeren  eisenzeit  (der  Wikingerzeit)  und  der  un- 
mittelbar vorhergehenden  periode  aufzugeben,  einen  gedanken,  den  Bugge  beständig 
festhält  und  der  nach  meiner  meinung  nur  darauf  beruht,  dafs  er  die  sprachform 
auf  deukmälern  von  sehr  verschiedener  zeit  vergleicht,  ohne  die  übergangsglieder 
gehörig  in  betracht  zu  ziehen.  —  Wenn  ich  oben  ältere  äufserungcn  Bugges 
hervorgezogen  habe,  obgleich  sie  gegen  die  auffassung  streiten,  die  er  jetzt  hegt, 
so  liegt  das  daran,  dafs  man  gerade  diesen  früheren  äufserungcn  so  greise 
bedfcutung  beigelegt  und  sie  als  stütze  fiir  die  eiuwanderungstheorieeii  gebraucht 
hat,  die  ich  immer  aufs  stärkste  bekämpft  habe.       ^^ 

M  Siehe  namentlich  Hans  0.  H.  Hildebrand,  Svenska  folket  under  hedna 
tiden,  Stockh.  1866;  2.  uppl.  1872,  s.  53  und  öfters  (vgl.  s  IX  anm.).  Der 
Verfasser  stützt  sich  gerade  auf  Gislasons  und  Bugg^  aulorität. 


I.    KAP.       DIE    JÜNGERE,    KÜRZERE    (NORUISCUE)    RUNENKEIHE.  IST 

Bei  dieser  annähme  erspart  man  sich  unleugbar  auf  eine  leichte 
weise  jede  mögliche  Schwierigkeit  in  bezug  auf  die  erklärung  der  ent- 
wicklung  des  kürzeren  alphabetes;  es  wird  von  dem  neuen  volke 
eingeführt  und  verdrängt  das  längere,  das  die  früheren  bewohner  ge- 
braucht hatten.  Wenn  man  von  der  Voraussetzung  ausgeht,  dafs  das 
längere  aiphabet  das  jüngere-  und  volikommnere  sein  müsse,  so  bleibt 
es  jedoch  ein  rätsei,  dafs  die  Völker,  die  früher  dieses  aiphabet 
benutzten,  es  mit  dem  kürzeren  und  unvollkommneren  des  neuen 
Stammes  verlauscht  haben,  und  nicht  umgekehrt.  Aber  ich  werde 
nicht  bei  diesem  Widerspruch  verweilen,  da  ich  fürchte,  dafs  alle 
sprachlichen  uud  archäologischen  —  nicht  zu  reden  von  historischen 
—  Ihatsachen,  worauf  man  diese  Völkerwanderung  gebaut  hat,  gleich 
schwach  und  unhaltbar  sind. 

Es  ist  zum  mindesten  eine  höchst  übereilte  behauptung,  dafs 
eine  spräche  nicht  auf  einem  älteren  Standpunkte  laute,  die  später 
durch  ein  einziges  zeichen  ausgedrückt  werden,  auf  eine  genauere  und 
volikommnere  weise  unterscheiden  könne.  Analogieen  von  der  schrift 
anderer  Völker  zeigen  im  gegenleil,  dafs  das  runenalphabet,'  das 
z.  b.  k  und  g  durch  ein  einziges  zeichen  ausdrückt,  sehr  gut  aus 
einem  älteren  aiphabet  hervorgegangen  sein  kann,  welches  zwei 
zeichen  für  diese  laute  gebrauchte.  Das  älteste. römische  aiphabet 
benutzte  natürlich  übereinstimmend  mit  dem  griechischen  vorbilde 
c  für  g  und  K  für  k;  später  wurde  K  nur  ganz  ausnahmsweise 
angewandt,  während  C  sowohl. für  g  wie  für  k  gebraucht  wurde; 
endlich  erhielt  C  nur  die  bedeutung  fr,  und  man  bildete  hieraus 
ein  neues  zeichen  G  für  g.  Dies  stimmt  vollständig  mit  dem  Ver- 
hältnis in  der  runenschrift  überein,  wo  wir  am  frühesten  <  =  fr, 
X  =  ^^),  demnächst  K  (aus  älterem  <,  Y)  =  51  und  fr,  endlich 
]^  =  fr  und  das  daraus  gebildete  Y  =  g  finden.  Auf  ähnliche 
weise  gebraucht  das  umbrische,  wenn  es  mit  seinem  eigenen  aiphabet 
geschrieben  wird,  nur  die  ursprünglichen  zeichen  für  fr  und  t  als  be- 
zeichnung  sowohl  für  fr,  t  als  auch  für  3,  d,  während  es  mit  s.  160. 
lateinischer  schrift  alle  vier  laute  verschieden  ausdrückt;  dafs  auch  das 
umbrische  aiphabet  selbst  ursprünglich  vier  zeichen  für  diese  laute  gehabt 
hat,  kann  kaum  einem  zweifei  unterworfen  sein.  Aber  wir  brauchen  uns 
nicht  einmal  zu  der  scl)<irt  fremder  Völker  zu  wenden,  um  analogieen 

^)  Ich  lege  hier  absichtlich  den  zeichen  in  dem  runenalphabete  die  be- 
deutung bei,  welche  die  gelehrten,  deren  ansieht  ich  bekämpfe,  ihnen  in  Über- 
einstimmung mit  dem  bisher  aligemein  angenommenen  zaerteilt  habeu. 


188         ZWEITES    BUCH.       DIE    ENTWICKLUNG    DEU    RUNENSCHUIFT    IM    NORDEiN. 

ZU  dem  zu  linden,  was  wir  in  der  runenschrifl  antreffen.  Es  ist  ja 
eine  bekannte  saclie,  dafs  die  ältesten  dänischen  —  so  gut  wie  die 
schwedischen  —  handschritten  die  niutæ  d  und  g  von  den  spiranten, 
die  durch  tk  (dh)  und  gk  bezeichnet  werden,  unterscheiden,  und  dafs 
sie  gleichfalls  v  und  w  auf  verschiedene  weise  bezeichnen;  aber  wie- 
wohl sich  alle  6  laute  noch  im  dänischen  finden  —  während  das 
schwedische  ziemlich  spät  die  spiranten  #  und  g,  samt  w  verloren 
hat  — ,  drücken  wir  sie  jetzt  nur  durch  die  drei  zeichen  d,  g  und 
V  aus.  Wenn  man  also  im  jähre  1300  für  die  genannten  sechs  laute 
sechs  verschiedene  zeichen  hatte,  aber  einige  Jahrhunderte  später  sich 
mit  drei  zeichen  begnügte,  so  mufs  man  wohl  einräumen,  dafs  es 
nicht  angeht,  es  a  priori  unmöglich  oder  unwahrscheinlich  zu  nennen, 
dafs  auch  das  runenalphabet  früher  sowohl  für  k,  t,  als  auch  für 
g,  d  zeichen  haben,  sich  aber  später  mit  zwei  zeichen  für  diese  vier 
laute  behelfen  konnte.  Die  sprachlichen  —  oder  richtiger  paläo- 
graphischen  —  gründe,  die  man  gegen  die  ableilung  des  kürzeren 
runenalphabeles  aus  dem  längeren  angeführt  hat,  können  folglich  nicht 
als  Stichhallig  gelten. 

Dafs  auch  die  archäologischen  ihatsachen,  worauf  man  hinge- 
wiesen hat,  nicht  im  stande  sind  die  tlieorie  von  der  einwanderung  eines 
neuen  stammes  zu  stützen,  hat,  wie  ich  glaube,  Worsaae  mit  schla- 
genden gründen  in  seinen  Untersuchungen  über  „Ruslands  og  det 
skandinaviske  Nordens  Bebyggelse  og  ældste  Kulturforhold"  be- 
wiesen. Gegen  die  annähme,  dafs  es  speciell  Rufsland  sein  sollte, 
durch  welches  der  neue  stamm  nach  dem  Norden  gekommen  wäre, 
bemerkt  Worsaae:  ,,Die  alterlümer  in  Rufsland  können,  wie  wir 
bisher  gesehen  haben,  keine  irgendwie  feste  stütze  für  die  an- 
nähme abgeben,  dafs  die  skandinavischen  Völker  oder  auch  nur  ein 
einzelner  skandinavischer  stamm  von  osten  her  durch  Rufsland  in 
den  Norden  eingewandert  sein  sollte.  Nur  eine  östliche  völkerbe- 
wegung  nach  dem  Norden  aus  dem  nördlichen  Asien  ist  deutlich  an 
s.  161.  dem  vorrücken  der  finnischen  und  lappischen  Völker  über  Nordrufs- 
land und  Finnland  nach  dem  nördlichsten  Schweden  und  Norwegen 
zu  spüren.  Wenn  alle  früheren  germanischen  stamme  auf  einem 
südlichen  und  südöstlichen  wege  in  den  Norden  hineingekommen 
sind,  würde  es  eine  merkwürdige  erscheinung  sein,  wenn  wirk- 
lich einzelne  zweige  dieser  Völker  mehrere  Jahrhunderte  später 
beim  beginn  des  jüngsten  eisenalters  (gegen  das  jähr  700)  nach  dem 
nördlicheren  Schweden  und  Norwegen  auf  einem  östlichen  wege  ein- 


I.    KAP.       DIE    JÜNGERE,    KÜRZERE    (nORDI^CHe)    BUNENREIBE.  189 

gewandert  wären,  nachdem  bereits  Slaven,  Liven,  Letten,  Kuren  und 
Finnen  längst  bis  zu  den  küstenländern  der  Ostsee  hin  vorgedrungen 
waren.  Auf  jeden  fall  müfste  dann  bestimmt  nachgewiesen  werden 
können,  dafs  sich  in  diesen  gegenden  ältere  Überreste  eines  solchefi 
skandinavischen  Volkes  und  von  mindestens  den  Voraussetzungen 
für  die  eigentümliche  kulturrichtung  befanden,  welche  dieses  später 
in  dem  jüngsten  eisenalter  in  Schweden  und  Norwegen  entwickelte. 
Namentlich  würde  es  von  besonderem  interesse  und  von  besonderer 
bedeutung  sein,  wenn  es  glücken  könnte,  in  irgend  einem  teile  von 
Rufsland  und  aus  einer  so  frühen  zeit  wie  ungefähr  dem  jähre  700 
spuren  der  jüngeren  skandinavischen  runenschrift  nachzuweisen,  die, 
wie  man  gemeint  hat,  nicht  aus  der  älteren  entwickelt,  sondern 
gerade  das  kennzeichen  für  ein  in  den  Norden  neu  eingewandertes 
Volk  sein  sollte.  Es  ist  jedoch  bekannt,  dafs  noch  in  ganz  Rufsland 
nicht  die  mindeste  spur  von  runenschrift  entdeckt  ist,  weder  aus 
einer  älteren  noch  aus  einer  jüngeren  periode  des  eisenallers"  (årb. 
for  nord.  oldk.  1872,  s.  417—18). 

Dafs  ein  neuer  stamm  gleich  beim  beginn  der  historischen 
zeit  nach  dem  Norden  eingewandert  sein  und  eine  neue  schrift  und 
eine  neue  kultur  mitgebracht  haben  sollte,  die  gleichsam  mit  einem 
schlage  die  ältere  verdrängte,  müfste  durch  gewichtige  gründe  ge- 
stützt werden;  aber  die  geschichte  schweigt  darüber,  die  altertümer 
zeugen  dagegen,  spräche  und  schrift  widerlegen  es  und 
machen  sowohl  die  einwanderungstheorie  als  auch  die 
Vorstellung  von  dem  höheren  alter  und  der  gröfseren 
ursprünglichkeit  des  kürzeren  runenalphabetes  dem 
längeren  gegenüber  zu  nichte^). 


^)  Nachdem  die  obeDstehenden  bemerkoogea  in  ihrer  däoischea  gestalt  schon 
gedruckt  waren,  erhielt  ich  J.  E.  Sars,  „Udsigt  over  den  norske  Historie''  I, 
Christ.  1873,  worin  die  beweise  Tdr  eine  Völkerwanderung  nach  dem  forden 
gegen  den  anfang  des  jüngeren  eiseoalters  einer  gründlichen  kritik  unterworfen 
werden  (siehe  namentlich  s.  63  ff.).  Es  freut  mich,  dafs  der  Verfasser  dieser 
scharfsinnigen  und,  selbst  wo  ich  mich  mit  ihm  uneinig  erklären  mufs,  in  hohem 
grade  anregenden  Untersuchungen,  bezüglich  der  völkerwanderungstheorie  zu 
demselben  resultate  gekommen  ist  wie  ich.  „Es  scheint  uns  also  das  wahr- 
scheinlichste, dafs  sowohl  das  ältere  wie  das  jüngere  eisenalter  demselben  stamme 
angehören  und  von  den  im  laufe  der  zeit  und  nach  dem  gange  der  ent- 
wicklung  wechselnden  sitten  oder  gebrauchen  derselben  Völker  zengnis  ablegen" 
(s.  66). 


190        ZWEITES    BUCH.       DIE    ENTWICKLUNG    DEH    RUNENSCHRIFT    IM    NORDEN. 

Wie  nämlich  die  spräche  in  den  inschriften  mit  dem  kürzeren 
alphabete  nur  ein  jüngeres  stadium  derjenigen  spräche  ist,  die  wir  in 
den  inschriften  mit  dem  längeren  aiphabet  finden  —  was  nicht 
s.  162.  näher  in  der  vorliegenden  abhandlung  entwickelt  werden  soll  — ,  so 
ist  das  kürzere  alphabel  von  16  zeichen  selbst  nur  eine 
jüngere  entwicklung  des  längeren  von  24  zeichen,  eine 
entwicklung,  die  nicht  plötzlich  und  auf  ein  mal,  sondern 
längere  zeit  hindurch  vorbereitet,  vor  sich  gegangen  ist,  wie  die 
runendenkmäler  selbst  uns  zeigen,  und  wie  wir  mit  hülfe 
derselben  im  folgenden  näher  nachweisen  werden^). 

*)  Auch  Lauth  (Das  germanische  Runea-Fudark,  1857,  s.  177  ff.)  leitet 
das  kürzere  nordische  runenalphabet  aus  dem  längeren  ab;  aber  im  einzelnen 
leiden  seine  beweise  hierfür  allerdings  an  grofsen  fehlem.  —  Dals  das  kürzere 
runenalphabet  „ohne  zweifei  im  wesentlichen  in  folge  einer  durchgreifenden  Ver- 
einfachung der  längeren  reihe  entstanden"  ist,  hat  F.  Dyrlund  in  „Kort  Udsigt 
over  det  philologisk-historiske  Samfunds  Virksomhed  i  Aaret  1857—1858",  s.  39 
ausgesprochen.  Es  ist  mir  jedoch  nicht  bekannt,  wie  sich  mein  geehrter  freund 
diese  entwicklung  gedacht  hat.  Etwas  weiter  ausgeführt  ist  derselbe  gedanke 
von  einem  gelehrten  in  der  ,, Tidskrift  for  Philologi  og  Pædagogik"  V  (1864), 
s.  299.  Von  dem  was  hier  angeführt  wird,  kann  ich  jedoch  nur  dem  auch  von 
Lauth  und  andern  hervorgehobenen  Verhältnisse  zwischen  den  beiden  a-zeichen 
im  kürzeren  alphabete  gegenüber  der  a-  und  j-rune  des  längeren  einige  beweis- 
kraft  zuschreiben.  Hinsichtlich  des  übrigen,  das  zum  teil  auf  unrichtige  Voraus- 
setzungen gestützt  wird  —  z.  b.  dafs  jt  niit  der  bedeutung  a  eine  Umänderung 
von  ^  sei  (was  auch  Bredsdorff  annahm,  „Om  Guldhornsrunernes  Oprindelse"  in 
Barfods  Brage  og  Iduu,  III,  1840,  s.  508),  und  dals  Y  ^^  •^^^  längeren  reibe  eine 
nebenform  zu  ^  sei  — ,  habe  ich  eine  wesentlich  verschiedene  auffassung.  — 
Dafs  das  kürzere  aiphabet  durch  eine  stufenweise  entwicklung 
aus  dem  längeren  hervorgegangen  sei,  das  Verhältnis  zwischen 
den  abweichenden  runeuforuien  und  der  verschiedenen  anzahl 
von  zeichen  sowie  die  gründe  für  die  verschiedene  anordnung  von 
einzelnen  zeichen  in  beiden  alphabeten  hat  noch  niemand  nachzuweisen 
gesucht.  Aber  ohne  einen  solchen  nachweis  ist  das  Verhältnis  zwischen  den 
beiden  a-zeicben  im  kürzeren  alphabele  und  den  entsprechenden  zeichen  im 
längereu  natürlich  keineswegs  au  und  für  sich  ausreichend,  um  die  unmittel- 
bare abstammung  des  kürzeren  von  dem  längeren  zu  beweisen.  Deswegen  ist 
auch  Kirchhoff,  trotzdem  er  zuerst  den  Zusammenhang  zwischen  der  6ss-  und 
är-rune  im  nordischen  aiphabet  und  dem  a  und  j  des  längeren  klar  dargelegt 
hat,  der  meinung,  dafs  das  kürzere  nordische  aiphabet  dem  gemeinsamen  gruud- 
alphabete  am  nächsten  liege,  während  er  keineswegs,  wie  in  der  genannten  ab- 
handlung in  der  filol.  tidskr.  (s.  297  anm.)  gesagt  wird,  ,,die  grölsere  reihe  von 
der  kleineren  ableitet",  sondern  ganz  im  gegenteil  eine  solche  Vorstellung  als 
vollständig  anrichtig  abweist  (siehe  seine  oben  angeführte  äufserung  s.  184 
in  der  anmerkung).  —  Ganz  unklar  ist  Stephens'  auffassung  des  Verhältnisses 


II.  KAP.      VERH^LTN.  ZWISCHEN  D.  KÜRZEREN  U.  LANGEREN  RUNENREIHE.       191 

II.  kapitel.  s.  163. 

Das  Verhältnis  zwischen  der  kürzeren  und  längeren 

runenreihe. 
Indem  wir  also  dazu  übergehn ,  das  Verhältnis  zwischen 
den  beiden  runenalphabelen  im  einzelnen  darzustellen,  beginnen 
wir  —  um  sofort  die  äbnlichkeiten  und  Verschiedenheiten  so 
deutlich  wie  mögUch  hervortreten  zu  lassen  —  damit,  das  aipha- 
bet von  dem  Vadstenaer  brakteaten  (s.  77)  und  den  ältesten  in- 
schriften  (s.  88)  mit  dem  gewöhnlichen  kürzeren  nordischen  alpha- 
bete  (s.  180)  zusammen  zu  stellen: 

I.   rnf^|sR<Xf>:H  +  l^1.^Y^:t^MMr^^M 
II.  rnt>l=RK--:)|c  +  i+--     H:t^-rY Å 

Die  laute,    die  durch   die    verschiedenen   zeichen  in  den  beiden 
reihen  ausgedrückt  werden,  sind  folgende: 


I. 

Läng 

ere 

reihe: 

F:  aä^) 

M  ee^)  St  oö 

Diphthonge:      ^1  ai    ^fl  au 

l   i  i       Hmm 

(Mn  eu)  in  iu^) 

<  k 

')   H  Ä  X  ^  1 

♦  rø*) 

i  ^  y  w) 

t  t 

')   ^  p^  d    ^  s 

YN 

R^) 

+  n 

Vi  Rr«) 

^  p'') 

')  Y  f  t  h 

M  m 

Y  u> 

Doppelkonsonanten  werden  durch  einfaches  zeichen  aus- 
gedrückt. 

1)  Das  lange  gemeingermanische  (und  gotische)  é  ist  im  nor- 
dischen bereits  in  den  ältesten  inschriften  zu  ä  geworden  (vgl.  märtR  ^ 
altnord.  m^rr  auf  der  Thorsbjærger  zwinge).  Dagegen  findet  sich 
hier  c  (aus  älterem  gemeingerman.  ai)  in  verschiedenen  endungen. 

2)  Die  älteste  gemeingermanische  gestalt  dieses  diphthongen  Mh 
eu  läfst  sich  nicht  mit  Sicherheit  in  den  nordischen  inschriften  nach- 
weisen, die  frühzeitig  das  jüngere  IH  tu  angewandt  zu  haben  scheinen 
(vgl.  unten  s.  210  f.). 

zwischen  den  beiden  ranenalphabeten,  wie  dies  ans  seinen  s.  IS  eitierten  ans- 
lassuggen  hervorgeht.  Auch  P.  G.  Thorsen,  der  die  kürzere  reibe  als  die 
nrsprüngliche  ansah,  hat  nur  vage  und  unbestiminte  andeutungen  von  dem  Ver- 
hältnis zwischen  beiden  reihen  gegeben  („De  danske  Rnnewindesmærker"  I, 
Kbh.  1SG4,  s.  323  If.  an  verschiedenen'  stellen). 


192        ZWEITES    BUCH.       DIE    ENTWICKLUNG    DER    RUNENSCHRIFT    IM    NORDEN. 


3)  Sprachgeschichlliche  gründe  maclien  es  jedoch  liöchst  wahr- 
scheinlich, dafs  hereits  die  gemeingermanisclie  spräche  die  muten- 
reihe g,  d,  b  hinter  den  nasalen  fa,  n,  m  gehabt  hat.  Indessen  geben 
die  ältesten  inschriften  keine  sichern  aufschlösse  darüber,  wie  die 
muten  in  den  beiden  zuletzt  genannten  fällen  (nrf,  mb)  ausgedrückt 
sind,  was  wir  unten  näher  besprechen  werden. 

4)  In  den  inschriften,  wo  diese  rune  gebraucht  wird,  ist  sie 
das  zeichen  für  den  nasal  mit  folgender  muta,  also  f9g. 

5)  Dafs  die  älteste  form  dieser  rune  H  ist,  und  dafs  sie  früh- 
zeitig wegen  der  Veränderung  des  namens  die  bedeutung  a  für  älteres  j 
erhalten  hat,  ist  oben  (s.  121  ff.)  nachgewiesen. 

6)  Dafs  sowohl  Y  wie  R  dental  sind,  hat  J.  HofFory  nach- 
gewiesen (Arkiv  f.  nord.  Filologi  I,  1882,  s.  41  f.);  er  bestimmt 
das  erstere  als  alveolar,  das  zweite  als  gin gi val. 

7)  Das  ursprüngliche  Ü-zeichen  ist  im  Norden  frühzeitig  auch  als 
zeichen  für  p  gebraucht  worden. 

IL    Kürzere  reihe: 

t^  nasaliertes  a  (å,  æ)     +  a  (a,  æ)        Diphthonge:  +1  æi  +n  au  {øy) 
\  i,  e        n  u,  0  [y,  ø)  IH  m 

Zeichen  sowohl  für  kurze  wie  für  lange  laute. 


Y  k  g  {79g)\if  h  Y  g. 
t  t  d  (nd)  \^  p  d 
^  p  b  (mb)  \Y  f       V 


H  s  A.  Ä 


(+  rø) 
+   n 
9Y  m 


Vi  Kr 


I  j 


n  10 


Doppelkonsonanten  werden  durch  einfaches  zeichen  aus- 
gedrückt. 

(Vgl.  in    beziehung    auf   einzelheiten   sowie  betreffs   der    vokale 

und  konsonanten  genaueres  unten  'Anhang'  VI.) 

Die  vergleichung  zwischen  beiden  reihen  zeigt  also: 

1)  dafs  ein  paar  zeichen  in  beiden  alphabeten  eine  verschiedene 
bedeutung  haben,  indem  die  rune,  welche  in  der  kürzeren  reihe 
den  namen  6ss  hat  und  gewöhnlich  mit  o  wiedergegeben  wird, 
aber  in  älterer  zeit  die  bedeutung  q  (nasaliertes  a)  hat,  dem  a-zeichen  ^ 
der  längeren  entspricht,  während  die  a-rune  +  der  kürzeren  reihe 
auf  derselben  stelle  steht  wie  die  j-rune  der  längeren; 

2)  dafs  einige  zeichen  in  beiden  alphabeten  eine  abweichende 
form  haben,  näniHch  die 

K  )j(  +  W  Y  A  des  kürzeren,  entsprechend  den 
<  H  ^  /  M  Y  des  längeren. 


ir.  KAP.   VERHALT.N.  ZWISCHEN  D.  KÜRZEREN  U,  LÄNGEREN  RUNENREIUE.   193 

Auch  1^  weicht  in  der  regel  ein  wenig  von  ^  ab; 

3)  dafis  acht  von  den  zeichen,  die  sich  in  dem  längeren 
alphabete  vorfinden,  im  kürzeren  fehlen,  nämlich 

X  P  t  ^(p)  M   ^/  ^  M; 

4)  dafs  ein  paar  zeichen  in  der  kürzeren  reihe  eine  andere 
stelle  haben  als  die  gleichwertigen  zeichen  in  der 
längeren,  insofern  die  TY  der  küi-zeren  den  MP  der  längereu  in 
umgekehrter  aufeinanderfolge  entsprechen,  und  Å  in  der  kürzereu 
reihe  auf  einem  ganz  andern  platze  steht  als  Y  in  der  längeren. 

Das  sind  Verschiedenheiten,  die  auf  den  ersten  blick  viel- 
leicht so  zahlreich  und  so  grofs  scheinen,  dafs  man  darüber  die 
ähnlichkeiten  fast  vergessen  könnte.  Aber  wir  müssen  wohl 
daran  denken,  dafs  sich  das  erste  der  hier  dargestellten  s.  164. 
alphabete  aufdenkmälern  findet,  die  der  zeit  von  ungefähr 
400  bis  ungefähr  600  augehören,  das  andere  auf  runen- 
steinen  ungefähr  vom  jähre  1000,  und  dafs  wir  noch  nicht 
die  dazwischenliegende  entwicklung  in  betracht  ge- 
zogen haben.  Ziehen  wir  sie  in  betracht,  so  werden  sich  die 
scheinbar  grofsen  Verschiedenheiten  in  einem  andern  hebte  zeigen, 
und  ich  hoffe,  dafs  es  mir  auf  diesem  wege  glücken  soll,  die  gründe 
für  diese  oben  aufgezählten  Ungleichheiten  nachzuweisen  und  zugleich 
den  beweis  dafür  zu  liefern,  dafs  die  kürzere  reihe  sich  all- 
mählich aus  der  längern  entwickelt  hat. 

Die  4  hauptpunkte,  unter  denen  wir  die  Verschiedenheiten 
zwischen  den  beiden  runenreihen  zusammenstellten,  behandeln  wir  in 
der  oben  angegebenen  Ordnung  und  beginnen  unsere  Untersuchungen 
daher  mit  der  besprechung  einer  eigenlümlichkeit  des  kürzeren 
alphabetes,  die  ihre  erklärung  nur  in  dem  längeren  findet  und  also 
zugleich  zeigt,  dafs  das  kürzere,  was  diesen  punkt  betrifft,  aus  dem 
längeren  hervorgegangen  sein  kann,  aber  nicht  umgekehrt. 

1.  Das  Verhältnis  zwischen  der  ansuR-  und  öss-  sowie 
zwischen  der  jära-  und  är-rune. 
Trotzdem  das  kürzere  aiphabet  im  ganzen  genommen  eine  sehr 
eingeschränkte  und  mangelhafte  lautbezeichnung  hat,  finden  wir  doch 
hinsichthch  eines  einzigen  lautes  eine  merkwürdige  ausnähme  hier- 
von: es  kommen  zwei  zeichen  für  den  a-laut  vor,  nämhch  die 
runen  h  und  +.  Von  diesen  hat  zwar  die  erstere  den  namen  öss 
und  die  andere  den   namen  dr,   so  dafs    wir    erwarten    sollten,    dafs 

WIMMEK,  Die  raneDschrifc.  J3 


194  ZWEITES    BUCH.        DIE    ENTWICKLUNG    DER    RUNENSCHRIFT    IM    NORDEN. 

jene  das  zeichen  für  o,  diese  das  für  a  wäre.  Aber  das  ist  keines- 
>vegs  der  fall,  wenn  wir  die  runendenkmäler  selbst  betrachten,  die 
vielmehr  in  der  regel  den  o-laut  durch  H  (n)  ausdrücken,  während  fs 
ebensowohl  wie  +  zeichen  für  den  a-laut  ist;  ja  diese  beiden 
zeichen  können  sogar  abwechselnd  auf  demselben  steine  in  dem- 
selben werte  gebraucht  werden.  Als  beweis  hierfür  werde  ich 
vorläufig  nur  folgende  formen  von  dem  Glavendruper  steine  (ungefähr 
ums  jähr  900)  anführen:  )|<t^+H  hc^ns  =  altnord.  hatis ,  f^+l^+ 
^njjn  =  altnord.  annan;  ^^+m  i)^nsi  und  l^-f+HI  |»ansi,  jedes 
einmal,  =  J!)an»s/  (in  der  allnorweg.-isländ.  Schriftsprache  penna). 
Was  ist  nun  der  grund  dafür,  dafs  das  kürzere  aiphabet  diese 
s.  165.  beiden  zeichen  für  den  a-laut  besitzt,  und  dafs  das  erstere  zeichen 
den  namen  öss  bekommen  hat,  obgleich  es  a,  nicht  o,  ausdrückt? 

Diese  beiden  fragen  stehen  in  enger  Verbindung  mit  einander, 
und  die  antwort  darauf  findet  sich  in  den  Veränderungen,  welchen 
die  nordische  spräche  und  folglich  auch  die  ursprüngUchen  runen- 
namen  im  laufe  der  zeit  unterworfen  gewesen  sind.  In  der  dar- 
stellung  derselben  kann  ich  mich  fast  überall  Kirchhoff  (Das  goth. 
runenalphabet,  2.  aufl.,  s.  43  ff.)  und  Bugge  (filol.  tidskr.  VII, 
s.  315  ff.)  anschliefsen. 

Wo  die  kürzere  reihe  ihre  cfr-rune  hat,  da  finden  wir  in  der 
längeren  das  zeichen,  welches  im  altenglischen  den  namen  ger  führt, 
got.  jer,  ahd.  jdr  (gemeingermanisch  jera,  in  der  sprachform  der 
ältesten  nordischen  inschriften  jära).  Ursprünglich  war  also  die 
rune  das  zeichen  für  j;  aber  im  nordischen  schwand  j  frühzeitig  im 
anlaut:  jära  wurde  ära,  dr,  und  damit  veränderte  sich  die 
bedeutung  des  Zeichens  von  j  zu  a. 

W^o  das  kürzere  nordische  aiphabet  dagegen  seine  dss-rune  hat, 
besitzt  das  altenglische  aiphabet  gleichfalls  eine  rune,  die  6s  genannt 
wird;  aber  nur  der  name,  nicht  das  zeichen  stimmt  mit  dem 
nordischen  überein ;  während  das  nordische  aiphabet  das  zeichen  ^  ge- 
braucht, später  im  allgemeinen  K  hat  das  altenglische  6s  die  form  l'^,  wo- 
gegen das  dem  nordischen  öss  entsprechende  zeichen  F^  im  altenglischen 
futhork  als  die  26.  rune  zwischen  den  speciell  altenglischen  zeichen  auf- 
tritt, die  später  zu  der  ursprünglichen  reihe  hinzugefügt  worden.  Auch  F^ 
hat  indessen  im  altenglischen  nicht  die  bedeutung  a,  vielmehr  die  be- 
deutung æ  und  den  namen  æsc.  Alles  dieses  bat  seinen  grund  in  späteren 
lautveränderungen  innerhalb   der  altenglischen    spräche.     In  dem  ge- 


II.  KAP.       VERHÄLT.N.  ZWISCHEN  D.  KÜRZEREN  V.  LÄNGEREN  RUNE?IREIUE.        195 

roeingermanischen  und  ällesten  nordischen  fuiliark  nimml  das  zeichen 
^  mit  der  bedeulung  a  die  vierle  stelle  ein:  der  ursprüngliche  und 
älteste  nordische  name  für  diese  rune  war  ansuz,  ansuR.  Danach 
altenglischen  lautgesetzen  ursprüngliches  «1*5  zu  6s  wird ,  so  mufsle 
auch  der  runenname  ansuz  die  form  ös  annehmen  (vgl.  gös 
'gans'  u.  s.  w.).  Anstalt  nun  die  alte  ff-rune  ^  mit  dem  ver- 
änderten namen  6s  und  der  bedeulung  0  die  ursprüngliche  'stelle  im 
fulhork  behalten  zu  lassen,  bildete  man  aus  ^  das  neue  zeichen  f^, 
das  mil  dem  namen  6s  und  der  daran  haftenden  bedeulung  0  aufs.  106. 
den  früheren  platz  des  ^  gestellt  wurde.  Für  den  o-laut  behielt 
man  dagegen  das  alte  zeichen  ^;  aber  es  bekam  den  neuen  namen 
asc  (vgl.  ahd.  ask,  allnord.  askr)  und  wurde  ans  ende  der  runenreihe 
gestellt.  Auch  das  worl  asc  veränderte  indessen  später  im  altengl. 
seinen  a-laut,  nämlich  in  ce,  und  in  folge  dessen  wurde  ^  mit  dem 
namen  æsc  das  zeichen  für  cp,  während  man  für  den  a-laul  ein  neues 
zeichen  ^  (eine  miltelform  zwischen  ^  und  f^)  bildete,  dem  man  den 
namen  de  gab  (eine  speciell  altengl.  form,  wo  d  aus  einem  älteren  diph- 
thongen  entstanden  ist;  vgl.  ahd.  eih,  allnord.  etk  'eiche').  Die  beiden 
runen  ^  de  und  ^  æsc  stellte  man  dann  mit  der  bedeulung  a  und  æ 
vornan  unter  den  speciell  altengl.  runen,  während  ^  6s  mit  der  be- 
deulung 0  den  platz  und  den  namen  behielt,  die  ursprünglich  dem  ^ 
zukamen.  So  mufs  man  sich  die  entwicklung  im  altengl.  denken,  wo 
sich  also  ^  allmählich  in  drei  runenformen  zur  bezeichnung  der  laute 
a,  (P,  0  gespalten  hat. 

Auch  im  Norden  mufsle  der  alle  name  ansun  verschiedene  Ver- 
änderungen erleiden,  wodurch  sein  ursprünghches  a  allmählich  ver- 
dunkelt wurde.  Der  entwicklungsgang  ist  hier  ungefähr  folgender  ge- 
wesen: an  in  ansuR  ging  in  ein  langes  nasales  a  über,  so  dafs  ansuR 
zu  ^suR  wurde ^),  und  dies  nasale  a  wurde  später  wegen  des  folgenden 
u  durch  die  lautveränderung,  die  wir  M-umlaul  zu  nennen  pflegen, 
weiter  verdunkelt,  so  dafs  eine  form  entstand,  die  ungeßhr  äsuR  ge- 
lautet haben  mufs:  da  später  der  thematische  vokal  schwand,  ging 
daraus  die  form  åss  und   weiterhin  durch  aufgeben  der  nasalierung 


')  Es  liegt  uahe,  aus  der  schreibnng  asugisalas  =  altnord.  '.-isgisls  auf 
dem  lanzenschaft  aus  dem  Kragelinler  moore  zu  vermuten,  dafs  die  ausspräche 
mit  \-  statt  an-  schon  zu  der  zeit  dieser  inschrift  eingetreten  gewesen;  aber  ^ 
kann  hier  natürlich  auch  an-  gelesen  \«^rden ,  da  eine  verliürzte  scbreibang  ^ 
für  ^"^  im  namen  der  rune  selbst  ganz  mit  dem  öfter  voriLommenden  <^  =  \s) 
für  1^  übereinstimmen  würde. 

13* 


196         ZWEITES   nuCH.       DIE    ENTWICKLl'NG    DER    RUNENSCHRIFT    IM   NORDEN. 

ass  hervor,  eine  ausspräche,  die  in  den  ältesten  altnord.  hand- 
schriften  durch  9s s  oder  æss  bezeichnet  wird.  In  der  regel  ver- 
schwand dieses  ^,  der  w-umlaut  von  rf,  später,  indem  d  wieder  in 
alle  formen  eindrang;  aber  in  einzelnen  worten  hielt  sich  umgekehrt 
9  durch  alle  formen  und  fiel  dann  mit  6  zusammen  (vgl.  ndtt  und 
iiött,  amhdlt  und  ambolt,  spann  und  spönn,  dl  und  61  a.  s.  w.)  ^),  So 
s.  167.  konnte  die  form  qss,  die  regelmäfsig  aus  ansua  entwickelt  ist, 
später  also  sowohl  in  dss  wie  in  öss  übergehn ,  und  der  runenname 
öss  kann  folglich,  wie  Bugge  meint,  im  Norden  selbst  aus  dem 
älteren  qss  entstanden  sein.  Ich  habe  jedoch  einiges  bedenken,  dies 
anzunehmen.  Da  nämlich  qss  als  name  für  einen  heidnischen  gott 
später  nicht  in  öss,  sondern  in  dss  überging,  so  müfste  man  ja  an- 
nehmen, dafs  das  alte  qss  sich  in  die  beiden  worte  dss  in  der  be- 
deutung  'heidnischer  gott'  und  öss  als  name  für  die  rune  gespalten 
hätte;  als  grund  hierfür  könnte  man  vielleicht  anführen,  dafs  g  (ö) 
leichter  in  dem  runennamen  siegen  konnte,  der  wohl  gewöhnHch  im 
nominativ  (und  accusativ)  sgl.,  seltener  im  genitiv  gebraucht  wurde,  aus 
welchem  d  später  wieder  eindringen  konnte,  während  von  qss  'heid- 
nischer gott'  wohl  gerade  der  genitiv  plur.  dsa  häufig  vorkam;  da 
der  runenname  öss  somit  formell  von  dss  verschieden  geworden,  so 
hätte  man  auch  allmählich  die  ursprüngliche  bedeutung  dieses  wortes 
vergessen  und  es  als  identisch  mit  altnord.  öss  'flufsmündung',  nicht 
als  eine  nebenform  zu  dss,  aufgefafst.  Obgleich  alles  dieses  denkbar 
ist,  finde  ich  es  doch  nicht  sehr  wahrscheinlich  und  bin  deshalb  am 
meisten  geneigt,  den  Ursprung  des  runennamens  öss  anderwärts  zu 
suchen.  Da  die  alte  dss-rune  nämlich  erst  sehr  spät  mit  der  be- 
deutung o  auftritt,  zu  einer  zeit,  wo  auch  andere  Veränderungen  in 
der  kürzeren  runenreihe  vorgenommen  sind,  so  halte  ich  es  für  das 
wahrscheinlichste,  dafs  die  bedeutung  0  und  der  damit  sich  ergebende 
name  öss  unter  einflufs  des  altenglischen  runenalphabetes  auf  die  dss- 
rune  übertragen  ist,  das  ja  seine  ds-rune  an  der  stelle  hatte,  wo  die 
nordische  «ss-rune  stand.  Im  altengl.  mufs  der  runenname  6s  früh- 
zeitig unverständlich  geworden  sein,  da  das  alte  runenlied  denselben 
in  der  bedeutung  „mund"  zu  nehmen  scheint  (indem  es  ihn  mit  lat. 
OS  in  Verbindung  setzt!);    es  lag  somit  für  die  Nordleute  nahe,  das 

^)  Vgl.  meiae  „altnord.  gramm."  und  „foraaord.  forml."  §  11,  c;  §  33,  B, 
anin.  3;  §  48,  anin.  2;  §  51,  b,  aniii.  2;  §  58,  b,  anm.;  §  70  und  öfter.  —  Siehe 
auch  Noreeii,  altisl.  und  altnorweg.  gramm.  §  71,  2;  §  74,  2;  §  79;  §  lOü; 
§   146;  §  148,  6;  §  269,  5;  §  287 ff.;  §  304 ff.;  §  309,  1  und  öfter. 


II.  KAP.      VERUÄLTN.  ZWISCHEN'  D.  KÜRZEREN  V.  LÄ.NGEREN  RUNE.NREIHE.       197 

altengl.  ös  mit  ihrem  öss  'flufsmünduiig'  zu  identifizieren.  Ich  finde 
es  deshalb  wahrscheinlicher,  dafs  man  im  Norden  geradezu  den  alt- 
engl. nanien  aufgenommen  habe,  als  dafs  man  aus  qss  die  beiden  formen 
dss  Cgotl')  und  öss  (als  runennamen)  erhalten  und  darauf  die  be- 
deutung  des  letzteren  wortes  mifsverstanden  haben  sollte.  In  der  hier 
ausgesprochenen  vermutung  werde  ich  auch  dadurch  bestärkt,  dals  s.  168. 
das  altengl.  runenalphabet  an  andern  punkten  in  einer  späteren  zeit  offen- 
bar auf  das  nordische  eingewirkt  hat:  der  alte  nordische  name  für 
die  rune  V  war  {jurs  {pw's  rist  ek  per  Skirnismäl  36;  vgl.  thuris  im 
„abecedarium  Nordmannicum*',  pors  in  einem  fulhork  bei  Hickes  III, 
tab.  VI  no.  7  =  Stephens  1,  s.  103  no.  14);  aber  später  wurde  der 
name  pm's,  der  in  einer  älteren  form  auch  dem  gemeingermanischen 
futhark  angehört  haben  mufs,  im  Norden  mit  porn  verlauscht,  das 
zweifelsohne  aus  dem  altengl.  alphabete  entlehnt  ist,  wo  dieser  name  früh- 
zeitig den  älteren  verdrängt  hatte;  mit  dem  runenzeichen  ging  be- 
kannlUch  auch  der  name  porn  in  das  lateinische  aiphabet  über  und 
lebt  noch  auf  Island,  obgleich  schon  der  Verfasser  der  ältesten  ortho- 
graphischen abhandlung  in  der  Snorra-Edda  die  benennung  pé  dafür 
einzuführen  suchte  (Su.  Edda  II,  38).  Dafs  auch  yr  als  name  für  die 
rune  Å  wahrscheinlich  aus  dem  altengl.  entlehnt  ist,  werde  ich  unten 
näher  besprechen^). 

Ob  man  indessen  den  namen  öss  als  geradezu  aus  dem  ältesten 
nordischen  runennamen  an  sur  hervorgegangen  oder  als  aus  dem  alt- 
engl. entlehnt  betrachtet,  so  hat  dies  nalürhch  durchaus  keinen  ein- 
flufs  auf  die   darstellung,    die   wir  von  den   Veränderungen  gegeben 


')  Es  verdieat  hervorgehoben  zn  werden,  dafs  das  norwegische  runeogedicht 
die  naineo  öss  (in  der  bedeutang  'flufsmünduog')  und  rjr  hat,  aber  dagegen  das 
alte  ßurs.  Diese  drei  uamen  finden  sich  auch  in  der  isländischen  runen- 
reimerei;  aber  merkwürdig  genug  fal'st  sie  öss  nicht  als  'flulsuiündang',  sondern 
gerade  in  der  ältesten  ursprünglichen  bedeutang  'as'  (von  Odin:  Oss  er  aldin- 
gautr  I  ok  åsgards  jöfurr  |  ok  valhallar  visi),  und  die  lateinische  Übersetzung,  die 
in  der  einen  handschrift  dem  runennamen  beigefügt  wird,  ist  Jupiter.  Sollte 
sich  hierin  das  bewufstsein  von  der  alten  magischen  bedeutung  dieser  rune  zeigen, 
die  ich  oben  öfter  gelegenheit  gehabt  habe  hervorzuheben  (vgl.  s.  57  f.  anm.  5j, 
das  sich  auf  Island  bis  in  späte  zeiten  erhalten  hätte,  gerade  an  Odin  ge- 
knüpft als  'den  as'  xar'  i^o^tjv  in  diesem  falle,  den  gott  der  runen?  Dals  eine 
solche  tiadition  sich  lange  auf  Island  erhalten  haben  kann,  beneist  indessen 
nichts  bezüglich  der  andern  nordischen  lander;  und  thatsächlich  zeigt  ja  das 
norwegische  runeogedicht,  dafs  die  spätere  auffassung  von  öss  auf  eine  zeit 
zurückgeführt  werden  kann,  die  weit  derjenigen  voraus  liegt,  wo  die  isländische 
rnneareimerei  entstanden  ist. 


198  ZWEITES    BUCH.        UIK    E>T\VICKLU.>G    »ER    KU1NE."SSCHRIFT    IM    NORDEN. 

haben,  welche  im  Norden  mit  den  nanien  jära  und  aiisuu  und  in- 
folge dessen  mit  der  bedeulung  der  entsprechenden  runen  vorgehen 
mufslen.  Es  ist  ja  klar,  dafs  die  alte  jära -rune  später  dazu 
übergehen  mufste,  das  gewöhnliche  zeichen  für  a  zu  werden, 
während  die  alle  ans ur- rune  namentlich  benutzt  werden  konnte,  wo 
man  einen  von  dem  folgenden  nasal  beeinflufsten  a-laut  bezeichnen 
wollte,  und  dieser  entwicklungsgang  wird  vollständig  von  den  in- 
schnften  bestätigt.  Ehe  wir  jedoch  dazu  übergehen,  dies  genauer 
zu  betrachten,  wollen  wir  sehen,  wie  die  alten  zeichen  für  a  und/ 
sich  im  laufe  der  zeit  verändert  haben. 

Das  älteste  und  ursprünglichste  zeichen  für  die  ansuR-rune  ist 
^.  Es  mufs  hierneben  als  selten  und  zum  grofsen  teile  als  rein  zu- 
fällig betrachtet  werden,  wenn  der  obere  nebenstrich  in  den  Inschriften 
mit  dem  längeren  alphabete  nicht  von  der  spitze  ausgeht,  wie  z.  b. 
auf  der  Etelhemer  spange,  wo  namentlich  das  erste  f^  wie  das  vor- 
169.  hergehende  T  und  das  folgende  ^  die  nebenstriche  etwas  weiter  unten 
bekommen  hat;  dasselbe  gilt  von  dem  zweiten  ^  auf  dem  oben  (s.  63) 
genannten  brakteaten  aus  Norddeutschland.  Auch  auf  dem  Kinne- 
vader  steine,  dessen  inschrift  von  Bugge  in  den  årh.  f.  nord.  oldk. 
1871,  s.  221  angeführt  wird,  kommt  A  (von  rechts  nach  links)  vor. 
Als  eine  reine  ausnähme,  die  nur  durch  rücksicht  auf  den  platz  her- 
vorgerufen ist,  mufs  es  dagegen  betrachtet  werden,  wenn  der  stein 
von  Varnum,  der  sonst  regelmäfsig  ^  gebraucht,  ein  einziges  mal  A 
mit  den  beistrichen  nach  der  entgegengesetzten  seite  in  dem  worte 
l:H  iah  (==  got.  jah  'und')  hat;  da  nämlich  I  und  ^  nicht  zu  einer 
binderune  verschlungen  werden  konnten,  so  war  es  notwendig,  ah 
wie  hier  auszudrücken,  obgleich  das  eigentlich  im  längern  aiphabet  ha 
(von  rechts  nach  links)  bedeuten  mufste  (für  ha  gebraucht  derselbe 
stein  die  binderune  hf).  Im  kürzeren  alphabete  hat  die  ass-rune 
wesentlich  dieselbe  form  wie  die  ansua-vune  im  längeren;  in  der 
regel  sind  es  jedoch  nur  die  ältesten  Inschriften  mit  dem  kürzeren 
alphabete,  welche  ^  mit  dem  von  der  spitze  des  hauptstabes  aus- 
gehenden nebenstriche  gebrauchen ,  so  die  steine  von  Snoldelev  und 
Helnæs,    und    es    mufs   als    ein   zufall  angesehen    werden,    wenn   wir 

o 

dieselbe  form  in  dem  futhork  auf  dem  steine  von  Astrup  linden,  wo 
auch  der  nebenstrich  in  p  fast  bis  zur  spitze  reicht.  Frühzeitig 
wurde  nämlich  im  kürzeren  aiphabet  F^  von  t^  verdrängt  (als  eine 
Übergangsform  zwischen  dem  älteren  ^  und  dem  jüngeren  1^  kann 
die   form   auf  dem    steine   von   Nörrenaera,    der    zu    unsern    ältesten 


II.  KAP.   VERBÄLTN.  ZWISCHEN  D.  KÜRZEREM  U.  LÄNGEREM  RLNE.XREIHE.   199 

riinensteinen   gehört,    angesehen    werden).     Erst  später   treten  auch 
die  formen  A  und  +  auf. 

Während  die  dss-rune  sich  also  seit  den  ältesten  Zeiten  wesent- 
lich unverändert  erhalten  hat,  verhält  es  sich  mil  der  jära-rune 
anders.  Wir  haben  schon  oben  (s.  121  ff.)  darauf  aufmerksam  ge- 
macht, dafs  diese  rune  unter  vielen  verschiedenen  formen  auftritt,  die 
alle  auf  das  H  der  Kragehuler  lanze  und  des  Istabyer  Steines  zurück- 
geffdirl  werden  müssen,  während  sowohl  das  ^  des  brakteaten  von 
Vadstena,  das  {3  der  spange  von  Fonnäs  wie  das  jjc  auf  den  bleking- 
schen  steinen  von  Björketorp,  Stentofte  und  Gommor  jüngere  ent- s.  170. 
Wicklungen  sind  ^).  Von  den  inschriften  mit  dem  kürzeren  aiphabet 
kennen  nur  ein  paar  der  allerältesten  dänischen  noch  die  form  )jc 
für  a  („de  ældste  nord.  runeindskr."  s.  62);  sehr  früh  wurde  >|{ 
nämlich  durch  fortwerfen  des  einen  querstriches  weiter  vereinfacht 
und  erhielt  die  form  +,  die  das  gewöhnliche  zeichen  für  a  in  den 
inschriften  mit  der  küraeren  runenreihe  ist.  Aber  )|c  und  +  sind 
eine  zeit  lang  neben  einander  sogar  in  derselben  gegend*)  und  auf 
denselben  denkmälern  im  gebrauch  gewesen,  wie  dies  aus  den  ältesten 
dänischen  steinen  hervorgeht.  Während  der  stein  von  Kallerup  (Höje- 
tostrup)  und  der  gleichzeitige  schonische  stein  von  Orja  nur  )jc  und 
der  von  Helnæs  nur  +  gebraucht,  drückt  der  stein  von  Snoldelev  den 
fl-laut  zuerst  zweimal  durch  )|c  aus,  gebraucht  darauf  aber  fünfmal  +; 
wären  die  inschriften  der  steine  von  Kallerup  und  Örja  länger, 
so  könnten  wir  daher  auch  erwarten,  auf  denselben  +  mit  )|c  zu- 
sammen zu  finden.     Dafs  es  auf  jeden  fall  zufällig  ist,  dafs  der  stein 


^)  Iq  der  beurleilnng  der  steine  von  Björketorp  und  Stentofte  als 
denkmäler  ans  jüngerer  zeit,  die  künstlich  die  schriftzeichen  und  zam  teil  die 
spracbformen  einer  älteren  zeit  nachahmen,  schliefse  ich  mich  im  ganzen  voll- 
ständig der  von  Bagge  vorgebrachten  aaflassung  an.  Wie  weit  der  ver- 
schwundene stein  von  Gommor  derselben  kategorie  angehört  hat,  oder  ge- 
radezu eins  der  originalen  denkmäler  gewesen  ist,  welche  der  Björketorper  und 
Stentofter  stein  nachgeahmt  haben,  läfst  sich  natürlich  nicht  entscheiden.  Da- 
gegen finde  ich  auch  auf  dem  steine  von  Fstaby  eine  künstliche  nach- 
ahmnng  der  spräche  und  der  zeichen  einer  älteren  zeit,  nicht  einen  zuverlässigen 
ausdruck  für  eine  zu  einer  gewissen  zeit  wirklich  herrschende  sprachform.  In- 
dem ich  hoffe,  bei  einer  andern  gelegenheit  auf  diese  frage  zurückzukommen, 
verweise  ich  vorläufig  auf  meine  bemerkungen  hierüber  bei  Borg  s.  156  ff. 
Selbst  bei  dieser  aulTassung  geben  die  genannten  Blekinger  steine  uns  doch  wert- 
volle aufklärungen  über  die  entwicklung  der  schrift  und  spräche  im  IVorden. 

-)  Mit  unrecht  scheint  Bugge  dies  in  zweifei  zu  ziehen  (filol.  tidskr. 
VIII,  164). 


200  ZWEITES    BUCH.        DIE    E^T^VICKLUNG    DER    RL'NEMSCHUIFT    IM    NORDEN. 

von  Helnæs  nur  +  gebraucht,  geht  daraus  hervor,  dafs  der  stein  von 
Flemlose,  dessen  Inschrift,  wie  ich  unten  zeigen  werde,  von  dem- 
selben manne  eingehauen  sein  mufs  wie  die  des  sleines  von  Helnæs 
s.  171.  und  zwar  später  als  diese,  >jc  abwechselnd  mit  +  in  denselben  fällen 
gebraucht,  wo  der  stein  von  Helnæs  +  hat. 

Wir  sehen  also,  dafs  die  alte  ja ra- rune  mit  der  bedeutung  a 
und  folglich  mit  dem  namen  ära,  dr  nach  und  nach  in  den  formen 
H,  )|c,  +  auftritt.  Das  besondere  zeichen  für  j  war  damit  verloren, 
wogegen  man  zwei  zeichen  für  den  a-laut  bekommen  hatte. 
Man  könnte  sich  nun  mit  Bugge  (filol.  tidskr.  VH,  243)  denken,  dafs 
von  diesen  beiden  zeichen  ära  dazu  benutzt  wurde,  um  das  lange  a 
auszudrücken,  während  ansuR  für  die  bezeichnung  des  kurzen 
a  bewahrt  blieb.  Jedoch  läfst  sich  diese  Vermutung  nicht  be- 
weisen ,  und  ich  finde  es  unwahrscheinlich ,  dafs  man  den  kurzen 
und  langen  a-laut  durch  zwei  zeichen  unterschieden  haben  sollte, 
da  man  einen  solchen  unterschied  bei  den  andern  vokalen  nicht 
machte,  und  da  P  in  den  ältesten  inschriften  sowohl  das  lange  wie 
das  kurze  a  bezeichnet.  Ich  glaube  deshalb  am  ehesten,  dafs  die 
alte  j  ära -rune,  nachdem  sie  zu  ära  geworden  war,  eine  zeit  lang 
als  lautzeichen  aufser  gebrauch  gekommen  ist^),  wenn  man  sie  nicht 
zuweilen  mit  F  zusammen  und  in  derselben  bedeutung  verwandt 
hat,  was  ja  möglich,  aber  nicht  zu  beweisen  ist**).  Dagegen  erhielt 
sie  sich  auf  ihrem  alten  platze  im  aiphabet,  und  erst  als  der  a-laut 
in  ansuR  allmähUch  durch  das  folgende  n  nasahert  wurde,  nahm 
man  die  ära -rune  als  zeichen  für  den  rein  oralen  a-laut  auf, 
während  ^  das  zeichen  für  einen  davon  verschiedenen  a-laut  wurde. 
Dies  ist  der  grund  dafür,  dafs  beide  zeichen  auf  dem  steine  von  Istaby 
in  verschiedener  bedeutung  gebraucht  werden  (s.  oben  s.  121),  und  auf 


^)  Auf  ähnliche  weise  denke  ich  mir,  dafs  die  alt  engl.  üV-rune  erst  als 
lautzeichen  in  gebrauch  gekommen  ist,  als  die  ursprüngliche  o-ruue  5^  deu 
namen  ædel  und  die  bedeutung  æ  aunahm,  und  wir  müssen  hierin  wohl  gerade 
den  grund  dafür  suchen,  dafs  die  o^-rune  das  neue  zeichen  ^  bekommen  hat, 
während  das  alte  ^  mit  dem  neuen  namen  asc  sich  als  zeichen  für  a  (später  ce, 
æsc)  erhielt. 

2)  Auf  dem  stein  von  Stentofte  kommt  ^  nur  ein  einziges  mal  und  in  der- 
selben bedeutung  wie  jk  vor  (nämlich  in  H^  in  der  zweiten  zeile,  das  in  der 
ersten  zeile  H>j<  geschrieben  wird);  sonst  tritt  nur  4;  als  zeichen  für  a  sowohl 
auf  dem  steine  von  ßjörketorp  wie  auf  dem  steine  von  Stentofte  auf;  auf  dem 
steine  von  Istaby  bezeichuet  1^  a,  aber  ^  einen  schwa-laut  (svarabhaktisches  a). 


II.  KAP.      VERHÄLT.N.  ZWISCHEN  D.  KÜRZEREN  O.  LÄrSGEREN  RUNE>REIUE.       201 

den  ällesten  runensteinen  mit  dem  kürzeren  alphabele  isl  (5Jc)  +  gerade- 
zu das  zeichen  für  das  gewöhnliche  a,  während  ^  f^  regelmäfsig  ge- 
braucht wird,  wo  früher  ein  a  mit  darauffolgendem  n  gestanden 
hatte,  das  später  in  nasales  a,  q,  übergegangen  war,  eine  ausspräche, 
die  wir  noch  zu  der  zeit  voraussetzen  müssen,  der  diese  steine  au-  s.  172. 
gehören.  Deshalb  hat  der  stein  von  Snoldelev  neben  :;jc  +  für  a  einmal 
F^,  ausgesprochen  q,  aus  älterem  an  =  altnord.  d,  und  derselbe  unter- 
schied wird  auf  den  steinen  von  Örja,  Helnæs  und  Flemlose  be- 
obachtet.    Auch   später  wird  häufig  ^  in   der  dem   altnord.  ä   ent- 

,  _  o 

sprechenden  präpositicn  wie  in   t>h  (der  grofse  stein  von  Arhus,  der 
stein  von  Hedeby  u.  s.  w.)  =  altn.  pä  geschrieben.     Aus  demselben 
grunde   finden   wir  gleichfalls  f^  in  der  grofsen  menge  mit  f^H-   zu- 
sammengesetzter namen,  die  auf  den  runensteinen  vorkommen,   so  in 
N^lnR+    (der    eine    Hälleslader   stein),    t=:HrRlt>I<    (der    stein   von 
Vedelspang)  und  vielen  andern  =  altn.  Asbjgrn,  Asfredr,   wo  ds-  ja 
gerade   aus   dem    alten   ansu-   enstanden    ist    und   nasaliert   ausge- 
sprochen sein  mul5,  ehe  es  die  form   äs-   bekam.     Eine   erinnerung 
an  älteres  nasaliertes  a  haben  wir  vielleicht  auch,  wenn  der  infinitiv 
der  verba  auf  ^  ausgeht,   so  auf  dem   einen  Hallestader  steine,  der 
dreimal  f^   gebraucht,  nämlich  in  dem  namen  t^HK+HTI^  asgautr, 
in  der  präposition   F^  <i  und  in  dem  infinitiv  HT+Tf^  stand^.     Der 
gebrauch  von  ^  ist  jedoch   nicht   auf  die  hier  genannten  fälle    be- 
schränkt,   wo  es  ein  aus  an  entstandenes  nasales  a  ausgedrückt  hat; 
sondern  es  kommt  aufserdem  ganz  allgemein  anstatt  des  rein  oralen 
a  vor  einem  wirklich    vorhandenen  nasal    (n,  m)  vor,   z.   b.  in    den 
oben  (s.  194)  genannten  beispielen    von    dem    Glavendruper    steine ; 
gleichfalls  wird  m^nr  (==  mannr)  aui  dem  gröfseren  Skærner  steine 
geschrieben  (aber  matr  auf  dem   schleswigschen   steine  von  Hedeby 
=  mandr,    siehe    „Navneordenes    böjn.   i    ældre    dansk",    s.   85  f.), 
kl  am  u  Ian   (der    stein   von  Tryggevælde,    gewils    glqmulan    ausge- 
sprochen).    Bei  in  der  schrift,  aber  nicht  in  der  ausspräche  aus- 
gelassenem   nasal    wird    P  [^  in    HTPTÅ,     Hl'f^'^'^    stätR  d.    i. 
stændR   auf  dem   Örjaer   und  Flemloser   steine    gebraucht,    und   der 
Tryggevælder  stein   hat  sogar  >h'^+TRl  {)^i  batri  in   der  bedeu- 
tung  pceim  hoelri.    Dals  a  vor  dem  nasal  gerade  so  besonders  regel- 
mäfsig durch  die   dss- rune    f^   ausgedrückt   wü'd,   während    man    es 
sonst  durch  die  dr-rune  +  bezeichnet,  scheint  es  aufser  allen  zweifei 
zu  setzen,  dafs  a  hier  eine  zeit  lang  nasaliert  gewesen  wie  in  den  fällen. 


202  ZWEITES    BUCH.        DIE    ENTWICKLUNG    I)ER    RUNENSCHRIFT    IM    .NORDEN. 

WO  n  früher  verschwunden  war ').  Da  der  unterschied ,  der 
zwischen  F  ^  9  und  >j<  +  «  wirklich  vorhanden  gewesen  war, 
alhiiählich  verschwand,  so  wurden  auch  beide  zeichen  vermischt  ge- 
braucht; dafs  man  noch  bis  in  sehr  späte  zeit  hinein  K  t>f!,  f^H- 
s.  173.^  allnord.  d,  pd,  As-  schrieb,  beweist  daher  auch  nicht,  dafs  der 
nasalklang  noch  in  diesen  fällen  gehört  wurde,  sondern  ist  nur  die 
alte  Schreibweise,  die  sich  unverändert  erhalten  hat,  lange  nachdem 
ihre  ursprüngliche  bedeutung  vergessen  war.  Das  Verhältnis  zwischen 
den  beiden  a-runen  P  ^  9  und  +  a  ist  dann  dasselbe  wie  zwischen 
den  beiden  r-runen  Å  r  und  R  r,  die  gleichfalls  ursprünglich  sowohl 
im  laut  wie  im  zeichen  verschieden  waren,  aber  später  zusammenge- 
worfen wurden,  als  die  laute  zusammengefallen  waren;  und  wie  man 
es  zuletzt  ganz  aufgab  A  für  r  zu  gebrauchen,  so  siegte  auch  \  über 
K  Erst  später  treten  sowohl  >k  wie  1^  {A)  wieder,  aber  mit  den  neuen 
bedeutungen  y  und  0,  auf. 

2.  Das  Verhältnis  zwischen  den  verschiedenen  runen- 
formen  in  der  kürzeren  und  längeren  reihe. 

In  den  Veränderungen,  denen  die  runen  ansuR  und  jära  im 
Norden  sowohl  in  den  na  men  und  der  damit  verbundenen  bedeutung, 
als  auch  in  der  form  unterworfen  gewesen  sind,  sahen  wir  einen 
'  allmählichen  und  langsamen  Übergang  von  dem  P  a  und  H  (^,  )|c) 
y,  a  der  längeren  reihe  zu  dem  P  f=  9  und  (>|()  +  a  der  kürzeren. 
Dieser  Übergang  steht  zugleich  in  enger  Verbindung  mit 
den  Veränderungen,  welche  andere  der  älteren  zeichen 
nach  und  nach  erlitten. 

So  lange  die  är-rune  wie  auf  dem  Istabyer  steine  die  form  H 
hatte,  mufste  die  s-rune  notwendigerweise  noch  die  ältere  form  /  "^ 
bewahren,  und  ich  halte  es,  wie  oben  (s.  127)  hervorgehoben  wurde, 
für  wahrscheinlich,  dafs  das  ^  des  brakteaten  von  Vadstena  gerade 
aus  h  gebildet  ist,  um  der  Verwechslung  mit  /  vorzubeugen.  Aber 
in  jedem  falle  sind  die  älteren  formen  H,  ^  frühzeitig  durch  )jc 
verdrängt,  das  eine  zeit  lang  die  herrschende  form  für  die  fl-rune  im 
ganzen  Norden  war,  und  nicht  lange  darnach,  dafs  die  a-rune 


^)  Die  nasale  ausspräche  von  vokalen  vor  nasallauten  wird  bezüglich  Islands 
durch  die  Beispiele  erhärtet,  welche  der  Verfasser  der  ältesten  grammatischen 
abhandluDg  in  der  Snorra-Edda  anführt.  —  Vgl.  zu  dieser  ganzen  auseinander- 
setzung  den  aufsatz  Nor  een  s  „De  nordiska  språkens  nasalerade  vokaler"  im 
Arkiv  f.  nord.  Fil.  III  iChrist.  1885),  s.  1  ff.,  bes.  s.  24  ff. 


If.  KAP.       VERUÄLTM.  ZWISCHEN  D.  KÜRZEREN  U.  LÄNGEREN  RÜNENREIUE.       203 

diese  form  angenommen  halle,  isl  das  alle  ^\  zu  HH 
geworden,  indem  diese  rune  eine  senkrechte  Stellung  bekam  wie 
die  übrigen  zeichen.  Während  die  steine  von  Björketorp  und 
Stentofte  noch  /  \  für  s  neben  >jc  haben,  gebraucht  der  stein  von 
Kallerup  zweimal  jjc  =  a  und  dreimal  H  =  s,  und  dieselben  beiden 
zeichen  ßnden  sich  auf  dem  gleichzeitigen  stein  von  Örja  und  dem 
etwas  älteren  Sölvesborger  steine ,  den  wir  sogleich  näher  be- 
sprechen werden.  Ungefähr  um  das  jähr  700,  können  wir 
daher  sagen,  ist  H  das  gewöhnliche  zeichen  für  s 
geworden,  und  es  ist  als  ganz  zußllig  anzusehen,  wenn  wir 
nachher,  sogar  bis  in  späte  zeit,  wieder  ab  und  zu  einer  form  be- 
gegnen können,  die  an  das  zeichen  des  ältesten  alphabetes  erinnert,  so 

o 

in  dem  fulliork  auf  dem  steine  von  Åstrup,  der  \    gebraucht. 

Indessen  hielt  sich  auch  )(c  nicht  als  zeichen  für  die  dr-rune;  s.  174. 
neben  jjc  tritt  früh  die  daraus  vereinfachte  form  +  auf,  wie  wir 
oben  erwähnt  haben.  Aus  dem  dort  angeführten  geht  zugleich 
hervor,  dafs  +  nicht  plötzlich  5|(  verdrängt  hat,  sondern  dafs  beide 
formen  sich  längere  zeit  nebeneinander  gehalten  haben.  Die  form, 
welche  die  rfr-rune  zuletzt  in  der  kürzeren  reihe  annahm  (+),  hatte  in 
der  längeren  eine  ganz  andere  bedeutung,  +  war  dort  eine  neben- 
f  o  r  m  von  +  n.  Von  diesen  beiden  formen,  die  in  der  ältesten 
zeit  durcheinander  gebraucht  wurden  wie  HH  (s.  oben  s.  106), 
war  für  n  später  ausschliefslich  +  in  gebrauch.  Der  stein  von 
Istaby  hat  jedoch  noch  +  =:  n,  und  auf  den  steinen  von  Björketorp 
und  Stentofte,  wo  die  dr-rune  durch  )|c  ausgedrückt  wird,  wird 
sowohl  +  wie  +  mit  der  bedeutung  h  gebraucht.  Da  •I'  indessen  als 
n  e  b  e  u  f  o  r  m  von  )jc  a  auf  den  ältesten  steinen  mit  dem  küi"zeren 
alphabete  auftritt  und  gleichfalls  auf  dem  steine  von  Räfsal  ge- 
braucht wird,  der  ungefähr  mit  dem  Sölvesborger  gleichzeitig  sein 
mufs  (vgl.  unten),  so  mufs  die  eine  der  alten  u-formen  ++  um  das 
jähr  700  aufgegeben  sein;  von  dieser  zeit  an  wurde  nur  +  in 
der  bedeutung  n  gebraucht,  und  die  är-rune  ))e  konnte 
also  in  +  übergehn. 

Erst  zwischen  den  jähren  800  —  900  wurde  +  jedoch 
als  zeichen  für  die  dr-rune  alleinherrschend,  und  nicht 
lange  darauf  nahm  das  alte  Ä-zeichen  HH  die  form  jjc 
an,  die  früher  der  dr-rune  angehört  hatte.  Der  stein  von  kallerup 
hat  daher  H  =  Ä,  )jc  =  a,  der  Snoldelever  stein  H  ^  A,  )jc  und  +  =  a; 
der   Helnæser   stein    hat  H=A,  +=a;    aber  dafs   )|c  noch  damals 


204  ZWEITES    BUCH.       DIE    E.NT WICKLUNG    DEll    HUNEISSCURIFT    IM    NORDEN. 

und  in  dieser  gegend  für  a  im  gebrauch  war,  zeigt  der  Fiemloser 
stein,  wie  wir  oben  bemerkt  haben.  Ungefähr  vom  jähre  900 
au  finden  wir  dagegen  ausschliefslich  +  =  a  und  )|c  =h  (der 
stein  von  Giavendrup  u.  s.  w.). 

Dafs  man  H  H  in  >|c  veränderte,  als  dieses  zeichen  nicht  mehr 
für  einen  andern  laut  gebraucht  wurde,  lag  daran,  dafs  man  eine 
einfachere  form  mit  einem  einzigen  stabe  wie  bei  den  übrigen  runen- 
zeichen  suchte,  und  da  man  weder  +  noch  +  gebrauchen  konnte,  die 
zeichen  für  a  und  n  waren,  so  mufste  die  form  ::|<  am  nächsten 
liegen. 

Ungefähr  gleichzeitig  mit  dem  übergange  von 
H  H  zu  )|c  und  aus  demselben  grunde  geht  auch  eine  Veränderung 
s.  175.  mit  einem  andern  der  alten  runenzeichen  vor,  nämlich  mit  der  m-rune 
M  M.  So  lange  )jc  (zusammen  mit  +)  noch  das  zeichen  für  a  und 
H  H  das  für  h  ist,  finden  wir  auch  das  w-zeichen  in  der  ältesten  form; 
so  braucht  der  stein  von  Sölvesborg  M,  und  um  das  jähr  800 
(825)  läfst  sich  dieses  zeichen  zum  letzten  male  auf  dem  steine 
von  Helnæs  nachweisen.  Aber  zwischen  den  jähren  800 — 900 
nahm  es  eine  form  an,  in  der  die  beiden  stäbe  zu  einem 
vereinigt  wurden,  nämlich  ^  ^,  das  oft  auf  den  älteren  dänischen 
steinen  (auf  dem  Tryggevælder  steine  von  Seeland,  dem  Norrenæråer 
und  Rönninger  steine  von  Fühnen,  den  Jællinger  steinen  und  vielen 
andern  der  jütischen  steine)  vorkommt.  Dieses  zeichen  für  die  m- 
rune  hielt  sich  namentlich  in  JüLland,  während  es  an  andern  stellen 
früher  von  der  daraus  hervorgegangenen  einfacheren  form  Y  ver- 
drängt wurde,  die  als  das  gewöhnliche  zeichen  für  die  m-rune  in  der 
kürzeren  reihe  angesehen  werden  mufs.  Ausnahmsweise  kommt 
sowohl  die  geschlossene  wie  die  offene  w-forni  (t  und  Y)  auf 
demselben  d  e  n  k  ni  a  1  vor  (so  auf  dem  schonischen  steine 
von  Valleberga).  Da  die  Inschriften  auf  den  runensteinen  aus  der 
jüngeren  eisenzeit  in  der  regel  von  einfassungslinien  eingeschlossen 
sind,  so  kann  es  sogar  ab  und  zu  schwer  fallen  zu  entscheiden, 
ob  wir  die  form  T  oder  ^  haben.  Der  über  der  rune  angebrachte 
einfassungsstrich  (*P)  gibt  ja  gerade  eine  einfache  und  natürliche 
erklärung   dafüi",    dafs  aus    t    sich    allmählich    Y  entwickelt   hat^), 


^)  Der  schonische  steiu  von  Krageholm  hat  in  Wirklichkeit  in  seinen  vielen 
7/i-ruuen  noch  überall  die  form  xj  ^^^''  diese  Inschrift  stellt  uns  zugleich 
handgreiflich  vor  äugen,  wie  ^  natürlich  ans  x  hervorgehen  konnte  und  mul'ste. 


ir.  KAP.   VERHÄLT.N.  ZWISCHEN  D.  KÜRZEREN  U.  LÄNGEREN  RUNENREIHE.   205 

und  daTs  die  jüngste  7n-form,  Y,  bereits  so  früh  auftreten  kann  wie 
auf  dem  steine  von  Snoldelev  (vgl.  unten)  i). 

Im  längeren  aiphabet  war  Y  dagegen  das  zeichen  für  den  aus 
dem  stimmhaften  s  (s)  entstandenen  r-laut  /?.  Mit  derselben  be- 
deulung  wie  das  gewöhnliche  Y  tritt  jedoch  bereits  in  den  inschriften 
mit  der  längeren  reihe  die  form  Å  auf  (s.  oben  s.  129  f.),  die  später 
die  alleinherrschaft  erringt.  Während  der  stein  von  Istaby  noch 
ausschliefslich  Y  hat,  das  gleichfalls  auf  dem  stein  von  Björketorp 
gebraucht  wird,  kennt  der  stein  von  Stentofte  nur  das  jüngere  >k 
(„de  ældste  nord.  runeindskr."  s.  58),  das  gleichfalls  immer  in  den 
inschriften  mit  dem  kürzeren  alphabete  vorkommt.  Wir  dürfen 
hieraus  schhefsen,  dafs  die  form  Å  das  Y  ungefähr  in  der- 
selben zeit  verdrängt  hat,  wo  das  «-zeichen  +  das  +  ver- 
drängte. In  folge  hiervon  konnte  die  /«-rune  M  also  in 
Y  verändert  werden^),  und  der  umstand,  dafs  der  stein  von 
Helnæs  noch  M  gebraucht,  während  andere  der  älteren  steine  mit 
dem  kürzeren  alphabete  ^  ^  haben,  schliefst  die  möglichkeit  nicht 
aus,  dafs  auch  Y  sehr  früh  als  eine  nebenform  zu  den  andern  zeichen 
im  gebrauch  gewesen  sein  kann,  wie  wir  gleichzeitig  5Jc  und  +  (ja  sogar 
frühzeitig  als  lokale  eigenlümlichkeit  ^,  z.  b.  auf  dem  Kälfvestener  steine  s.  176. 
von  Östergütland,  ßautil  no.  904  =  Stephens  s.  724)  für  die  dr-rune 
gebraucht  finden.  Dafs  Y  frühzeitig  neben  den  andern  /«-formen 
aufgetreten,  würde  ausgemacht  sein,  wenn  es  sich  beweisen  liefse, 
dafs  der  stein  von  Snoldelev  diese  form  gebraucht  hat;  die  ganze  in- 
schrift  ist  deutlich,  leider  mit  ausnähme  von  m,  welches  am  Schlüsse 
des  letzten  wortes  H+PH+nKn*  salhauku[m]  d.i.  Salhtiugum  ge- 
standen hat-,  doch  scheinen  die  spuren,  die  sich  von  dem  linken  bei- 
striche  der  letzten  rune  noch  auf  dem  steine  finden,  nur  ein  Y  zu 
erlauben,  weder  M  M  noch  ^  ^.  Wenn  dies  richtig  ist,  so  würden 
wir  hierin  zugleich  einen  beweis  dafür  haben,  dafs  M  etwas  eher 
zu  (^)Y  geworden  wäre  als  H  die  form  jjc  angenommen 
hätte. 


^)  Eine  sehr  selten  vorkommende  /«-form,  die  nie  allgemeine  Verbreitung 
erhielt,  ist  f,  das  auf  den  beiden  steinen  von  Hälleslad  aus  Schonen  und  auf 
einem  runensteinbruchstück  von  Arhus  vorkommt.  Siud  die  poukte  hier  an- 
gebracht um  einen  klaren  und  augenfälligen  unterschied  zwischen  Y  "'  """^ 
yJv  R  hervorzubringen? 

-)  Vgl.  „De  ældste  nord.  runeindskr.",  s.  40;  „Prof.  G.  Stephens  om  de  ældste 
nord.  runeindskrifter",  s.  9  (=  årb.  for  nord.   otdk.   1868,  s.  61). 


206  ZWEITES    BUCH.        DIE    ENTWICKLUNG    DER    RUNENSCHRIFT    IM    NORDEN. 

Aiifser  den  bisher  besprochenen  zeichen  weicht  auch  die  A'-nme 
K  der  kürzeren  reihe  von  dem  <  der  längeren  ab.  Bereits  in  den 
inschriften  mit  dem  längeren  alphabele  ist  indessen  das  alte  <  zuweilen 
etwas  verändert  worden,  indem  man  ihm  einen  senkrechten  slab  gab, 
wodurch  es  in  form  und  gröfse  besser  mit  den  übrigen  runenzeichen 
in  Übereinstimmung  kam.  Die  inschriften  auf  der  Kragehuler  lanze  und 
auf  der  schlänge  aus  dem  Lindholmer  moore  drücken  fr  durch  A 
aus,  und  das  umgekehrte  zeichen  V  kommt  auf  dem  Varnumer  steine 
vor;  von  den  Blekinger  steinen  gebraucht  der  von  Björketorp  gleich- 
falls Y,  welches  ohne  zweifei  sich  auch  auf  dem  Stentofter  steine 
findet.  Durch  eine  unbedeutende  änderung  geht  hieraus  das  zeichen 
K  hervor,  indem  der  beistrich  zur  linken  und  der  senkrechte 
Stab  eine  hnie  bilden.  Diese  form  der  fr-rune  ist  in  dem  kürzeren 
alphabete  von  den  ältesten  bekannten  inschriften  (den  steinen  von  Kalle- 
rup.  Snoldelev,  Helnæs,  Flemlose)  an  die  herrschende,  und  es  mufs 
als  zufällig  angesehen  werden,  wenn  später  zuweilen  wieder  eine  form 
gefunden  werden  kann,  die  an  das  ältere  Y  erinnert^).  Den  Über- 
gang von  dem  aus  <  entstandenen  Y  zu  dem  jüngeren 
K  halte  ich  für  gleichzeitig  mit  dem  übergange  von  / 
zu  h. 
177.  Folgende  punkte  in   der  enlwicklung  beim  übergange   von  dem 

längeren    zum    kürzeren   alphabete   haben  wir  also  vorläufig  nachge- 
wiesen : 

^  =  a  wird  F!  ^  =  .1  (schwa-laut  auf  dem  steine  von  Istaby), 

g.  (nasaliertes  a); 
H  (^)  ursprüngl.  ^j  wird  das  zeichen  für  a  und  nimmt  später 

die  formen  >|c,  +  an; 
^  X   =  s  wird  h  H,    nachdem   H   in   der   bedeutung   a  von  5|< 

verdrängt  war; 
+  'f'  =  n;  von  diesen  formen  wurde  +  alleinherrschend,  ehe  >|c 

a  die  form  +  annahm ; 
H  H  =  Ä  wird  >|(,  nachdem  dieses  zeichen  in  der  bedeutung  a 

vor  +  gewichen  war; 
M  M  =  m  wird  ^  9,  Y ;  dieser    Übergang   scheint  ein  wenig 
älter  als  der  Übergang  von  H  H  in  >|c  zu  sein; 


ij  In  dem  Worte  skar|)a  auf  dem  Danevirke-steine  ist  die  A-rune  auf 
Thorsens  zeichuung  (De  danske  Uunemindesmærker  I,  s.  93)  ungenau;  die 
rune  hat  in  diesem  worte  wesentlich  dieselbe  form  wie  an  den  andern  stellen, 
wo  sie  in  dieser  Inschrift  vorkommt. 


II.  KAP.   VERHÄLT^.  ZWISCHEN  D.  KÜRZEREN  U.  LÄNGEREN  RUNENREIHE.   207 

Y  >k  =  ß ;  von  diesen  formen  war  Å  alleinherrscliend  ge- 
worden,   ehe  M    die  form  Y  annahm; 

<  :=  A*  wird  Y  und  dieses  wieder  K. 

Diese  Veränderungen  sind,  wie  wir  gesehen  hahen,  keineswegs 
gleichzeitig  vor  sich  gegangen ;  ich  denke  mir  ungefähr  folgende  enl- 
wicklung,  die  zum  gröfsten  teil  mit  hülfe  der  runendenkmäler  seihst 
nacligewiesen  werden  kann: 

I.  ungef.  400  bis  ungef.  600  (625),  der  gröfste  teil  der 
inschriflen  mit  dem  längeren  alphabete: 

ru>^      [^  <AY  :  HH  ++  I  h^    YÅ  ^X  :  T  ^      M      r 

f   n  p  a^)    r      k  h      n    i  y(«)^)    r       s         t    t       m       l 

II.  ungef.  650,  die  schrlft,  die  auf  den  Blekinger  steinen  von 
Istaby,  ßjörketorp  und  Stentofte  nachgeahmt  wird: 

r  n  !>  P       K      Y      :  HH  ++  I  H)|c    YÅ  /X    :  t  ^       M       r 
(o)^*)  a  b 

III.  ungef.  800  (825),  die  ältesten  inschriften  mit  der  kürzeren 
runenreihe  (die  steine  von  Kallerup,  Snoldelev,  Helnæs, 
Flemløse  und  Örja): 

r  n  !>  P?    K     Y     :  HH    +    I  :|c+     Å    hH   =  t  ^  M(tY)  r 

rV.    etwa   900  bis  etwa  1000  (die  steine    von  Glavendrup, 

Tryggevælde,  Jællinge  u.  s.  w.): 

r  n  1^  (p)t:  RK:)((+i+     >kHH•t^tY^ 

Der  Übergang  von  den  älteren  zu  den  jüngeren   formen  ist  also  s,  178. 
allmählich    und    im    ganzen  ziemhch   langsam  geschehen,  und  die 
entwicklung  darf  auch  nicht   als    gleich  schnell  in  den  verschiedenen 
gegenden    des  Nordens  vorgegangen    gedacht  werden.     Wir  haben  ja 
sogar  )|(  und  +    auf   demselben    steine  wechseln    sehen,    und  es  ist 


')  Vor  einem  nasal  ist  der  laut  vielleicht  in  dieser  periode  bereits  nasaliert. 

^)  In  der  bedeutung  j  kommt  1^  ohne  zweifei  aaf  dem  lanzenschaft  ans 
dem  Kragehaler  moore  vor.  Gegen  den  schlufs  der  periode  bat  die  rnne  sicher 
die  bedeutung  a  bekommen  und  wird  kaum  als  laatzeichen  gebraacht  (der  stein 
von  Varnum  drückt  J  in    dem  worte  jah    'und'    durch    |  aus). 

'^)  Nnr  ein  einziges  mal  auf  dem  steine  von  Stentofte  hat  diese  rune  die 
bedeutung  a  wie  in  der  vorigen  periode;  auf  dem  steine  von  Istaby  ist  sie  das 
zeichen  für  einen  schwa-lant  {a).  Als  zeichen  für  das  reine  a  gebrauchen 
der  stein  von  Istaby  1^,  die  steine  von  ßjörketorp  and  Stentofte  mit  der  ge- 
nannten  ausnähme   •jjc. 


208         ZWEITES   BUCH.        DIK    ENTWICKLUNG   DER   RUNENSCHRIFT    IM   NORDEN. 

sehr  wohl  ntiögUch,  dafs  +  das  einzige  gehräuchUche  zeichen  in  einer 
gegend  gewesen  sein  kann,  während  man  in  einer  andern  noch  das 
ältere  >|c  benutzte;  auch  von  den  übrigen  zeichen  können  ältere  und 
jüngere  formen  längere  zeit  hindurch  neben  einander  gegolten 
haben  und  die  älteren  an  einer  stelle  früher  als  an  einer  andern  auf- 
gegeben worden  sein.  Aufserdem  haben  sich  in  gewissen  gegenden 
sehr  früh  örtliche  eigentümlichkeiten  entwickelt,  indem  die 
ursprünglichen  runenzeichen  dort  auf  eine  weise  verändert  wor- 
den, die  von  der  gewöhnlichen  abweicht.  Alle  diese  formen 
lassen  sich  indessen  mit  leichtigkeit  auf  die  allgemein  bekannten 
zurückführen,  so  die  auf  dem  s.  205  genannten  steine  von  Kälfvesten, 
der  seiner  spräche  nach  nicht  viel  jünger  sein  kann  als  die  älteren 
dänischen  (etwa  900),  aber  K  ==  H  hat,  h=:+,  'i  =  't',i=  A, 
indem  nur  der  unterste  teil  des  senkrechten  stabes,  '  =  H,  indem  nur 
der  oberste  stab  übrig  blieb,  1  =  T,  ^  =  ^ ;  auch  die  h-  und  m- 
rune  haben  in  dem  futhark,  der  auf  diesem  steine  gebraucht  wird, 
ohne  zweifei  formen  gehabt,  die  von  den  gewöhnlichen  abweichen^), 
so  dafs  nur  T,  >,  R,  K,  I,  t*  (die  sich  alle  6  auf  dem  steine  finden) 
und  wohl  f^  (das  nicht  vorkommt)  mit  den  sonst  zu  der  zeit  all- 
gemein gebrauchten  zeichen  übereingestimmt  haben.  Auf  diese  ört- 
lichen eigentümhchkeilen,  wovon  mehrere  weit  später  wieder  auf- 
treten und  eine  allgemeinere  ausbreitung  bekommen,  nehme  ich 
hier  keine  rücksicht,  da  sie  nur  eine  weitere  entwicklung  (in  der 
regel  Vereinfachung)  der  allgemein  bekannten  formen  sind.  Eine  dar- 
stellung  hiervon  im  einzelnen  mufs  gegenständ  einer  besonderen  ab- 
handlung  werden  (vgl.  unten  'Anhang'  III). 

s.  179.  3.   Das  Verhältnis  zwischen  den  24  zeichen  der  längeren 
reihe  zu  den  16  der  kürzeren. 
Wir    haben    bisher    nur  die   abweichenden   runenformen    be- 
handelt, die  in  beiden  alphabeten  mit  derselben  bedeutung  oder  mit 
einer  bedeutung  vorkommen,   die  auf  grund  der  Wandlungen,  denen 
die    spräche     selbst    unterworfen    gewesen ,    verändert    worden    ist, 


1)  Ich  schlielse  dies  aus  dem  Röker  steine,  dessen  aiphabet  in  hohem  grade  dem 
hier  besprochenen  gleicht  (nur  die  dr~  und  6-rune  haben  die  umgewendeten 
formen  p  und  k),  und  wo  h  und  m  durch  f  und  -f"  ausgedrückt  werden 
(wenn  die  ^er-rune  -f-  des  Themsemessers  von  den  gewöhnlichen  altengl. 
formen  (KA  ausgeht,  so  würde  sie  sich  zu  diesen  verhalten,  gerade  wie  sich 
das  m  des  Steines  von  Rök  zu   ^^  verhält). 


II.  KAP.   VERHÄLTN.  ZWISCHEN  D.  KÜRZEREN  ü.  LÄNGEREN  RUNENREIHE.   209 

und  wir  haben  nachgewiesen ,  dafs  die  formen  des  kürzeren  alpha- 
beles  überall  auf  die  des  längeren  zurückweisen,  sowie  dafs  die  enl- 
wicklung  allinähiich  vor  sich  gegangen  ist.  Die  differenz  zwischen 
den  beiden  alphabeten,  über  die  wir  demnächst  rechenschaft  geben 
werden,  ist  die  verschiedene  anzahl  der  zeichen,  die  in  beiden 
gebraucht  werden,  nämlich  24  in  der  längeren  reihe  gegenüber  16 
in  der  kürzeren.  Auch  hier  haben  wir  eine  entwicklung 
vor  uns,  die  nicht  plötzlich,  sondern  lange  zeit  sachte 
fortschreitend,  vor  sich  gegangen  ist. 

Von  den  24  zeichen,  die  ursprünglich  dem  längeren  alphabete 
angehörten,  sind  ein  paar  im  Norden  sehr  früh  aufgegeben.  Dies 
gilt  von  dem  |)-zeichen,  das  sich  auf  dem  brakteaten  von  Vadstena 
in  der  form  ^  findet,  also  dieselbe  gestalt  bekommen  hat  wie 
das  zeichen  für  5,  obgleich  auf  dem  brakteaten  vielleicht  ein 
künstlicher  unterschied  zwischen  den  beiden  zeichen  versucht  ist 
(siehe  oben  s.  117  und  119).  In  den  bisher  bekannten  Inschriften 
aus  der  älteren  eisenzeit  kommt  zufällig  kein  wort  mit  dem  f -laute 
vor;  aber  wir  dürfen  annehmen,  dafs  dieser  laut  durch  ^B  ausgedrückt 
worden  ist,  ausgenommen  vielleicht  in  den  allerältesten  inschriflen. 
Ich  finde  nämlich  keinen  grund  dafür,  mit  Bugge  (ärb.  f.  nord. 
oldk.  1878,  s.  66  f.)  das  ^  und  ^  der  spange  von  Founås  als  zwei 
verschiedene  zeichen  aufzufassen,  von  denen  das  erslere  p,  das  andere 
b  bezeichnen  sollte.  Ich  glaube,  dafs  wir  in  beiden  fällen  die  Ö-rune 
haben,  da  entsprechende  formen  dieser  rune  häufig  neben  ein- 
ander sowohl  in  inschriften  mit  den  zeichen  der  längeren  wie  der 
kürzeren  reihe  vorkommen.  Während  der  stein  von  Björkelorp  B 
gebraucht,  hat  der  stein  von  Stentofte  §,  und  von  den  beiden  spangen 
von  Nordendorf  hat  die  eine  ^  wie  die  Freilaubersheiner  spange 
(die  letztere  in  dem  namen  boso,  also  sicher  mit  der  bedeutung  t  oder 
6),  die  andere  ^  wie  die  spange  von  Engers  (die  erstere  in  dem 
namen  leubwini,  die  zweilein  leub,  also  auch  sicher  mit  der  be- 
deutung d  oder  6).  Dieses  letztere  zeichen  stimmt  aufs  nächste  mit 
der  form  auf  der  spange  von  Fonnås  überein,  der  Bugge  die  bedeu- 
tung p  zuerteilt,  und  dasselbe  gilt  von  ^  (von  rechts  nach  links)  auf 
der  schlänge  von  Lindholm  und  auf  dem  messerheft  (?)  von  Kragehul, 
das  ich  also  auch  als  6-rune  auffasse.  Wenn  Bugge  das  erste  wort 
auf  dem  Björketorper  steine  uftarabasba,  wie  ich  glaube,  richtig  als 
ü{)arfa-spä  „Verwünschung"  gedeutet  hat,  so  scheint  die  Schreib- 
weise sba  einen  direkten  beweis  dafür  abzugeben,  dafs  die  form  der 

"WIILMEB,  Die  runenschrift,  14. 


210         ZWEITES    BUCH.      DIE    ENTWICKLUNG    DER   RUNENSCHRIFT    IM    NORDEN. 

längeren    reihe,    die    auf  dem  Björketorper  steine  nachgeahmt  ist,  p 
durch  B  ausgedrückt  hat,  wie  wir  so  wie  so  erwarten  müssen. 

Sehr  frühzeitig  ist  auch  die  13.  rune  in  den  alten  fulharken,  i-T, 
als  lautzeichen  aufgegeben  worden,  wenn  sie  überhaupt  von  anfang 
an  zeichen  für  einen  bestimmten  laut  gewesen  ist.  Wie  ich  oben 
(s.  112  f.  und  134  fr.)  nachgewiesen  habe,  ist  die  ursprüngliche  bedeu- 
tung  dieser  rune  nämlich  ungewifs,  und  es  scheint  mir  sogar  am  wahr- 
scheinlichsten, dafs  sie  im  ursprünglichen  runenalphabetegar  kein  laut- 
zeichen gewesen  ist.  Auf  jeden  fall  kann  sie  hier  kaum,  wie  man  nach 
ihrem  allengl.  namen  vermutet  hat,  zeichen  für  den  gemeingerm. 
diphlhongen  en  oder  für  l  gewesen  sein.  Dafür,  dafs  der  letzlere  laut 
in  den  ältesten  runeninschriften  durch  dasselbe  zeichen  wie  t  ausge- 
drückt wird,  habe  ich  oben  beispiele  angeführt,  und  ich  habe  gleich- 
falls hervorgehoben,  dafs  die  deutschen  insciiriflen  auf  den  spangen  von 
Nordendorf  und  Engers  den  diphthong  en  durch  Zusammenstellung 
der  beiden  runen  MH  ausdrücken.  Im  Norden  hat  dieser  diphthong 
ohne  zweifei  frühzeitig  die  form  in  angenommen;  ein  sicheres  beispiel 
für  das  ältere  MPl  läfst  sich  in  unsern  inschriften  nicht  nachweisen^). 
Dagegen  kommt  das  jüngere  IPl  auf  dem  Reids  tader  steine  in  dem 
Worte  iujiingaR  vor.  Dafs  nur  so  gelesen  werden  kann  (und  nicht 
IHM+Xf^Y  iud(i)ngaR,  wie  ich  früher  mit  bezugnahme  auf  Bugges 
äufserungen  vermulet  halte),  davon  bin  ich  durch  Untersuchung  der 
inschrift  überzeugt  worden,  und  das  ist  auch  aus  meinem  abdruck  er- 
sichtlich, nach  welchem  ich  hier  die  inschrift  wiedergebe,  da  die  Zeich- 
nung bei  Stephens  an  mehreren  fehlem  leidet: 


^)  Das  leugar  des  Steines  von  Skaäiig  ist  nämlich  etymologisch  unsicher; 
sollte  CS  ein  von  leug_an  {■=  altnord.  Ijüga)  abgeleiteter  a-stüniin  sein,  der 
ganz  dem  altnord.  Ijüg^r  entsprechen  würde?  In  diesem  falle  bütteu  wir  hier 
ein  ursprüngliches  eu  durch  Mfl  ausgedrückt  wie  auf  den  spangen  von  Nordeu- 
dorf  und  Engers. 


II.  KAP.   VERHÄLTN.  ZWISCHEN  D.  KÜRZEREN  V.   LÄNGEREN  RCNENREIHE.   211 

Nur  in  der  letzten  rune  in  der  zweiten  zeile  (dem  verhältnis- 
mäfsig  schmalen  M)  sind  die  nebenstriche  etwas  undeutlich,  aber  doch 
vollkommen  sicher.  Die  punkte  in  dieser  zeile  stehen  nahe  dem 
zweiten  worte;  im  anfang  der  zeile  ist  <  gewifs  unabsichtlich  so 
nahe  an  das  vorhergehende  I  herangekommen,  dafs  es  damit  ganz 
zusammenläuft.  Es  besteht  kein  zweifei  darüber,  dafs  die  inschrift, 
wie  auch  Bugge  gelesen  hat,  wiedergegeben  werden  mufs: 

iuJ)ingaR 

ik  wakraR:  unnam 

wraita 

iu|)ingaR  fasse  ich  mit  Bugge  als  den  namen  des  mannes,  zu  dessen  s.  ISO. 
andenken  der  stein  gesetzt  ist  (eine  bestätigung  der  richtigkeit  dieser 
auffassung  bietet  der  stein  von  Strand,  der  ebenfalls  mit  dem  namen 
des  toten  beginnt  und  darauf  sagt,  wer  den  grabhügel  über  ihm  auf- 
warf). Die  älteste  nordische  form  dieses  namens  würde  ohne  zweifei 
Eupif9gaR  lauten  (vgl.  Juthimgi,  ^lovO-ovyyot,  ahd.  Eodunc)^).  Dafs  der 
gemeingerm.  diphthong  eu  also  frühzeitig  im  Norden  durch  IPl  ausge- 
drückt worden  ist,  geht  aus  dem  namen  auf  dem  Reidstader  steine 
hervor^);  dagegen  läfst  sich  nicht  mit  Sicherheit  entscheiden,  ob  die 
ausspräche  eu  oder  tu  gewesen  ist,  da  wir  in  dieser  inschrift  auch 
ik  für  ek  Gnden,  und  sie  also  in  diesem  falle  unzweifelhaft  die  l-rune 
anstatt  des  älteren  M  als  zeichen  für  e  gebraucht  hat. 


^)  Sehr  zweifelhaft  ist  dagegen  die  von  Bugge  angeDomineue  verwantschaft 
mit  altDord.  Joä  'kiud'.  Dieselbe  würzet  wie  io  Jod  haben  wir  ja  iu  aitoord.  audr 
'reichtum;  Schicksal",  audiim  'vom  Schicksal  bestimmt,  gegeben',  eigentlich 
ptcp.  prät.  von  einem  sonst  verlorenen  starken  verbum  (altnord.  gram.  §  132, 
anm.  1).  Das  Präteritum  dazu  würde  *jåd  heifsen,  was  indessen  nur  zufällig  die- 
selbe form  wie  das  substantiv  Jod  'kind'  bekommen  hätte,  da  das  präteritum  yo^ 
einem  got.  * aiaufi  entsprechen  würde,  während  das  nomen  yötf  got.  *  jm^,  stamm 
iuda-,  wäre.  Gotisch  audags  u.  s.  w.  zeigt,  dafs  die  hierher  gehörenden  worte 
ursprünglich  d,  nicht  p,  hatten;  nach  vokalen  und  r  fiel  ursprüngliches  d  und 
urspr.  ]j  im  in-  ond  auslant  bekanntlich  später  im  altnord.  in  d  zusammen  (alt- 
nord.  gram.  §  5,  2,  anm.  3;  fornnord.  forml.  §  5,  2,  anm.  1).  Aber  da  wir  in 
den  ioschriften  mit  dem  längeren  alpliabete  noch  d  {\l\)  und  p  (^)  unterschieden 
finden,  so  kommt  es  mir  mehr  als  zweifelhaft  vor,  ob  iuI)ingaB  auf  dieselbe 
Wurzel  wie  Jod  zurückgeführt  werden  kann. 

-)  Dagegen  bin  ich  mit  Burg  (s.  35f.)  darin  einverstanden,  dafs  der  name 
rinPir^  niuwila,  der  auf  einem  brakt eaten  vorkommt,  wovon  1S70  drei 
exemplare  bei  Næsbjærg  in  der  nähe  von  \arde  in  Jütland  gefunden  wurden, 
kaum  ein  aus  urnord.  eu  entstandenes  iu  enthalten  kann. 


212         ZWEITES   BUCH.        DIE    ENTWICKLUNG    DER    RUNENSCHRIFT    IM   NORDEN. 

Ob  nun  die  rune  \  4*  ursprünglich  das  zeiclien  für  einen  be- 
stimmten laut  gewesen,  oder,  was  ich  für  das  wahrscheinHchste  halle, 
s.  181.  aus  andern  gründen  in  den  fulhark  eingesetzt  ist,  so  kann  sie  im 
Norden  nicht  als  lautzeichen  nachgewiesen  werden,  was  natürlich 
nicht  im  Widerspruch  damit  steht,  dafs  sie  lange  ihren  alten  platz  im 
futhark  (wie  auf  dem  brakteaten  von  Vadstena)  behalten  hat  und 
ohne  zweifei  als  magisches  zeichen  gebraucht  worden  ist.  Dafs  sie 
keine  bedeutung  als  lautzeichen  hatte,  geht  auch  daraus  hervor,  dafs  der 
stein  von  Krogstad  \  und  ••T  (jedes  einmal)  in  der  bedeutung  (, 
also  als  eine  andere  form  der  T-rune,  hat^).  Wenn  wir  daher  auf 
einzelnen  brakteaten  "t  4"  linden  können,  und  das  oben  (s.  77  in  der 
anm.)  genannte  amulet  (?)  gleichfalls  am  schlufs  der  ersten  zeile  \ 
hat,  so  kommt  es  mir  am  wahrscheinlichsten  vor,  dafs  diese  zeichen 
eine  magische  bedeutung  haben. 

Das  oben  besprochene  iuI)ingaR  auf  dem  Reidstader  steine  zeigt 
durch  sein  +X  eine  abweichung  von  der  Schreibweise  der  älteren 
zeit,  indem  es  die  alte  m^-rune  nicht  durch  eins  der  besonderen  zeichen 
für  diese  rune  ausdrückt,  die  ja  zu  den  am  häufigsten  vorkommen- 
den in  den  Inschriften  mit  älteren  runen  gehören,  sondern  durch 
Zusammenstellung  der  beiden  runen  +X.  Wir  dürfen  daraus  allein 
natürlich  nicht  schliefsen,  dafs  das  alle  m^-zeichen  zu  der  zeit  dieser 
Inschrift  ganz  aufgegeben  war;  aber  dies  wird  doch  wahrscheinlich, 
wenn  wir  bedenken,  dafs  die  ohne  zvveifel  gleichzeitige  Inschrift  auf  dem 
Torviker  steine  b  (vgl.  unten  in  der  anm.  1)  statt  der  m^-rune  <X'I' 
d.  i.  ngk  (von  rechts  nach  links)  schreibt^),  wo  ngk  also  dieselbe  be- 


')  „Navneordenes  liöjuing;  i  ældre  dausk",  s.  46  (vgl.  oben  s,  155  in  der  au- 
mcrkung);  Bugge  in  der  filol.  tidskr.  VIII,  s.  169,  —  Die  fünii  der  <-ruue 
auf  dem  Krogstader  steine  ist  so  alleinstehend,  dul's  ich  eher  geneigt  bin  sie 
einer  laune  des  runenritzers  zur  last  zu  legen,  als  datin  eine  lokale  eigen- 
tüinlii-hkeit  zu  erblicken.  Selbst  in  dem  letzleren  falle  kann  ich  jedoch  keines- 
wegs mit  Bugge  (årh.  f.  nord.  oldk.  1878,  s.  67)  darin  übereinstimmen,  das 
^  der  spange  von  Fonuäs  für  eine  mittelform  zwischen  'X  und  dem  \^  des 
Krogstader  steiues  zu  erklaren;  den  kleinen  strich,  der  bei  der  i-rune  der 
spange  von  Founäs  vom  ful'se  des  hauptstabes  ausgeht,  halte  ich  für  ganz  zuliillig 
und  nichtsbedeutend  gleichwie  den  etwas  kleineren  strich  bei  y\,  in  derselben 
inscluift  (ähnliche  strichelcheu  kommen  öfters  aul"  dem  1883  entdeckten  Tor- 
viker steine  b  (Stephens  III,  s.  457)  vor,  wo  sie  oUVnbar  als  Verzierung  an- 
gewandt sind). 

■^)  Die  form  <  in  einer  Inschrift  von  rechts  nach  links  dentet  auch  auf 
eiue  jüngere  zeit. 


II.  KAP.      \TRHÄLTN.  ZWISCHEN  D.  KÜRZEREM  U.  LÄNGEREN  RUNENREIHE.       213 

deutung  wie  ng  auf  dem  Reidslader  steine  und  wie  das  ^  "^  der  älteren 
inschriften  hat. 

Endlich  zeigt  die  Schreibweise  K  d.  i.  ik')  auf  dem  Reidstader 
steine  statt  M<  (MA,  MV),  das  sonst  in  den  inschriften  mit  der 
längeren  runenreihe  (vgl.  das  goldene  horn,  den  Kragehuler  lanzenschaft, 
die  schlänge  von  Lindholm,  die  steine  von  Tune,  Strand  und  Varnum,  die 
felswand  am  Valsfjord)  gebraucht  wird,  dafs  man  auf  jeden  fall  in 
einzelnen  gegenden  I  zur  bezeichnung  des  (kurzen)  e  zu  verwenden 
begonnen  hatte,  woraus  jedoch  natürlich  nicht  folgt,  dafs  das  alte  M 
zu  der  betreffenden  zeit  ganz  aufgegeben  war. 

Was  uns  der  Reidslader  stein  bezügUch  der  e-rune  M  lehrt, 
geht  noch  klarer  hinsichtlich  der  alten  o-rune  5^  aus  der  in- 
schrift  auf  dem  brakteaten  von  Tjörkö  hervor,  wovon  hier  eine 
abbildung  folgt: 


Übereinstimmend  mit  Bugge  lese  ich  die  inschrift: 
wurte  runoR  an   w(a)lhakurne  .  .   heldaR  kunimudiu  .  .  .*) 
indem  ich  das  erste  T  in  wll  für  einen,   wahrscheinlich  durch  einen 
mangel  im  stempel  hervorgerufenen,  fehler  für  ^  halte. 

In  gewöhnlicher  altnordischer  sprachform  würde  diese  inschrift 
lauten: 

orti  rünar  d  Valkomi  Hjaldr  Kynmundi. 

Das  kurze  o  ist  hier  also  durch  H  ausgedrückt  in  wurte  (vgl. 
worahto  auf  dem  stein  von  Tune)  und  -kurne  (vgl.  horna  auf  dem 
goldnen  horn»,  während  S^  als  zeichen  für  das  lange  o  in  runoR  be- 
wahrt ist.  Im  gegensatz  zu  dem  ik  des  Reidstader  Steines  drückt  diese 
inschrift  dagegen  e  durch  M  aus  (heldaR;  auch  in  wurte  halte  ich  e 

^)  Die  art  and  weise,  auf  welche  die  beiden  roneD  hier  zasammeDgeriickt 
sind,  hat  gleichfalls  ein  seitenstück  auf  dem  Torviker  steine  b  in  der  zn- 
sauiiueaschreibung  von  (f  und  |  z»  Id  •  dals  dies  l>i  bezeichnen  mufs  und  nicht 
eine  form  der  ^-rnne  sein  kann,  zeigt  die  regelmäfsige  form  dieser  rane  später 
in  der  inschrift. 

'^)  Vgl.  bezüglich  der  trennungszeichen  s.   165. 


214  ZWEITES    BUCH.        DIE    ENTWICKLUNG    DER    RUNENSCHRIFT    IM    NORDEN. 

für  kurz,  während  es  mir  zweifelhaft  ist,  oh  e  in  kurne  zu  dieser  zeit 
verkürzt  worden  ist,  oder  noch  seine  ursprünghche  huige  hewahrt  hat). 
Ein  anderes  mit  dem  hrakteaten  von  Tjörkö  gleichzeitiges  hei- 
spiel  von  dem  gebrauche  des  Pl  für  ^  ö  in  einer  endung  finde  ich  in 
der  inschrift  auf  dem  steine  von  Orstad.  Nach  persönlicher  Unter- 
suchung und  einem  abdruck  der  inschrift  gebe  ich  diese  folgender- 
mafsen  wieder: 


Das  übertrage  ich: 

hi  wigaR 
s  a  r  a  1  u 
.  .  wina  . 
Die  lesung  der  beiden  ersten  Zeilen  halte    ich    für  vollkommen 
sicher    (ein    paar    kleine  verliefungen    im    steine    hinter  der  zweiten 
rune  der  ersten  zeile  können  nach   meiner  ansieht    nicht  als  neben- 
striche   einer    ^-rune    aufgefafst   werden ,     die    auch    allzu   nahe  an 
das  folgende  w  herankommen    würde);    dagegen  wage    ich    nicht    zu 
entscheiden,    welche    beiden  (kaum   drei)    runen    vor    dem    sicheren 
wina  in  der  dritten  zeile  stehen,  und  welche  rune  darauf  folgt ^).    In 
hiwigaR  —  saralu  linde  ich  einen  manns-  und  frauennamen  (vgl. 
saligastia  —  fino  auf  dem  steine  von  ßerga),  und  das  letztere  halte 

^)  Der  grofse  abstand  zwischen  dem  zeilenpaar,  das  an  der  spitze  des  Steines 
angebracht  ist,  und  der  dritten  zeile,  die  sich  an  dessen  ful'se  befindet,  zeigt, 
dai's  keine  unmittelbare  Verbindung  zwischen  dieser  zeile  und  den  beiden 
obersten  besteht. 


II.   KAP.      VERHÄLTN.  ZWISCHEN  D.  KÜHZEREN  U.  LÄNGEREN  RUNENREIHE.      215 

ich  für  einen  fem.  ö-stamm,  der  einem  späteren  altnoid.  Sqrl  (oder 
SgriW^)  entsprechen  würde  ^).  Während  die  älteren  Inschriften  in  diesem 
falle  S^  haben  (vgl  run  o  auf  dem  steine  von  Einang),  finden  wir  also 
hier  das  jüngere  H,  sei  es  dafs  dasselbe  hier  wie  auf  dem  brakteaten 
von  Tjörkö  die  bedeutung  ö  hat,  oder  wirkhch  eine  jüngere  aus- 
spräche mit  u  bezeichnet.  Dafs  5^  dagegen  als  zeichen  für  ö  noch 
lange  nach  der  zeit  auftritt,  in  welche  der  brakteat  von  Tjörkö  und 
der  stein  von  Orstad  zu  setzen  sind,  davon  werden  wir  unten  ein 
beispiel  sehen. 

Die  Schlüsse,  die  sich  aus  den  hier  behandelten,  sämtlich  um 
das  jähr  600  (625)  zu  setzenden  denkmälern  (dem  stein  von  Reid- 
stad,  dem  stein  von  Torvik  b,  dem  stein  von  Orstad,  dem  brakteaten 
von  Tjörkö)  bezügUch  der  zeichen  ziehen  lassen,  die  sich  nicht  in 
der  kürzeren  runenreihe  wiederfinden,  sind  also  folgende:  Bereits 
lange  vor  der  zeit,  der  diese  denkmäler  angehören,  ist  ohne  zweifei 
die  rune  'X'  als  lautzeichen  aufgegeben,  wenn  sie  jemals  als  solches 
in  gebrauch  gewesen  ist.  Gleichfalls  ist  das  besondere  zeichen  für  p 
aufgegeben ;  es  wird  durch  das  zeichen  für  b  mitvertreten.  Die 
steine  von  Reidstad  und  Torvik  zeigen  uns  weiter,  dafs  die  alte 
ing-rüne  durch  Zusammenstellung  der  zeichen  für  n  und  #,  oder  für 
«,  g  und  k  ausgedrückt  werden  konnte,  und  das  besondere  zeichen 
für  diese  rune  darf  somit  gewifs  als  aufgegeben  betrachtet  werden. 
Dafs  ferner  e  durch  die  l-rune  und  o  durch  die  H-rune  ausgedrückt 
werden  konnte,  geht  aus  dem  steine  von  Reidstad,  dem  brakteaten 
von  Tjörkö    und    dem  Orstader    steine  hervor.     Dies  bereitet  die 


1)  Aalälslich  einer  äufserung  meines  freundes  V.  Thomsen  in  seiner  dis- 
putation  über  ,,den  gotiske  sprogklasses  indflydelse  på  den  finske"  (s.  94  anui.  1) 
hatte  ich  gelegenheit,  1869  diese  erklärung  uiiindlich  aufzustellen.  Später  hat 
auch  Bugge  saralu  gelesen  und  es  als  frauennauien  aufgefafst;  aber  er  glaubte, 
dafs  es  ein  an-stimm  und  n  ungenaue  bezeichnung  für  o  sei  (årb.  for  nord. 
oldk.  1S71,  s  209).  Im  gegensatze  dazu  mul's  ich  als  das  wahrscheinlichste 
festhalten,  dafs  wir  einen  ö-stumm  haben,  und  als  eine  möglichkeit,  dal's  \)  sogar 
die  wirkliche  ausspräche  bezeichnet  (vgl.  „Navneordenes  böju.  i.  ældre  dansk", 
s.  68  anui.).  Wenn  Bugge  in  der  „Aarsberetning  fra  Foreningen  til  norske 
Fortidsmindesmerkers  Bevaring  for  1874"  (Krist.  1875),  s.  177  seine  frühere 
deutung  aufgegeben  und  die  ansieht  ausgesprochen  hat,  dafs  saralu  kein  wort, 
sondern  eine  unerklärbare  magische  formel  sei,  so  kann  ich  dieser  auGTassung 
nicht  beitreten,  obgleich  ich,  so  lange  icli  nicht  das  ganze  deukmal  deuten  kann, 
mich  mit  Burg  einverstanden  erklären  inul's,  wenn  er  sie  folgendermafsen 
charakterisiert:  „diese  auffassung  ist  selbstverständlich  unwiderlegbar,  leider  aber 
auch  nicht  zu  beweisen"  (s.  117). 


216         ZWEITES    nUCH.       DIE    ENTWICKLUNG    DEIl    RUNENSCHRIFT    IM    NORDEN. 

vollständige  aufgäbe  von  M  und  5^,  d.h.  deren  durch- 
gängige ersetzung  durch  I  und  H,  vor.  Wenn  hierzu  noch 
kommt,  dafs  auch  von  der  alten  j'-rune  angenommen  werden  mufs,  dafs 
sie  vor  der  zeit  dieser  denkmäler  ihren  namen  in  ära  verändert  habe,  so 
dafs  j  nicht  länger  ein  eigenes  zeichen  hatte,  sondern  durch  die  iss- 
rune  I  ausgedrückt  wurde,  wie  wir  auf  dem  Varnumer  steine  jah  (=  got. 
jah  'und')  iah  geschrieben  finden  — ,  so  glaube  ich,  dafs  die 
augenblicklich  vorliegenden  thatsachen  in  hohem  grade  die  richligkeit 
des  resultates  bestätigen,  das  ich  bereits  1874  feststellen  zu  können 
vermeinte,  nämlich,  dafs  der  standpunkt  in  der  entwicklung 
der  run  ensch  rift,  der  durch  den  Reidstader  stein  und 
die  übrigen  gleichzeitigen  denkmäler  bezeichnet  wird, 
nur  20  von  den  zeichen  benutzt  hat,  die  sich  in  dem  ur- 
sprünglichen runenalphabe  te  befanden,  und  aufserdem 
den  Übergang  zu  der  aufgebung  zweier  andern  gebildet 
hat,  da  \  sowie  die  f-  und  wahrscheinlich  die  m^'-rune  als  gänz- 
lich aufgegeben  angesehen  werden  können,  wogegen  die  alle  j'-rune 
mit  der  bedeutung  a  nur  vorläufig  als  überflüssig  betrachtet 
wurde,  so  lange  ^  noch  das  gewöhnHche  zeichen  für  a  war;  etwas 
später  änderte  sich  dieses  Verhältnis,  indem  gerade  die  är(a)-rune 
aufs  neue,  als  zeichen  für  das  gewöhnliche  a,  in  gebnuicli  kam, 
während  ^  eine  modificierte  bedeutung  erhielt,  wie  wir  oben  nach- 
gewiesen haben.  Die  runen  M  und  S(.  waren  noch  gebräuchlich, 
konnten  jedoch,  auf  jeden  fall  als  zeichen  für  e  und  ö,  durch  I  und  [\ 
ersetzt  werden.  In  der  alten  reihenfolge  geordnet  sind  die  zu  dieser 
zeit  gebrauchten  lautzeichen  also  gewesen: 

rn  l>F5R<YXf>  :  HH  ++1  [Ho]--Y>k  A  =  t^MiMr-5^iM 

1 1  ni 

übrig  sind  somit  noch  5  zeichen  von  denjenigen  der  längeren 
s.  182.  reihe,  die  sich  nicht  in  der  kürzeren  finden,  nämlich  M  e,  ^  o,  X^, 
M  (f ,  V  w.  Aus  mangel  an  denkmälern  können  wir  leider  nicht  mit 
Sicherheit  nachweisen,  wie  früh  jedes  einzelne  von  diesen  zeichen 
aufgegeben  worden  ist.  Dagegen  können  wir  engere  zeitgrenzen 
festsetzen,  innerhalb  deren  es  geschehen  sein  mufs,  und  wir  können 
zugleich  nachweisen,  dafs  die  aufgäbe  nicht  plötzlich  geschehen  ist, 
sondern  erst  nachdem  längere  zeit  schwanken  zwischen  der  älteren 
und  jüngeren  bezeichnungsweise  geherrscht  hatte.  Auf  zweien  der 
blekingschen  steine,  welche  die  schrift  und  zum  teil  die  spräche 
einer  älteren  zeit  nachgeahmt  haben  (den  steinen  von  Björketorp  und 


II.   KAP,     VERHÄLTN.  ZWISCHEN  D.  KÜRZEREN   U.  LÄNGEREN  RUNENREIHE.       217 

Stentofte),  kommen  sie  noch  alle  fünf  wie  auf  den  soeben  be- 
handelten denknifdern  von  Reidslad,  Orslad,  Torvik  und  Tjörkö  vor,  und 
derselbe  standpunkt  darf  mit  Sicherheit  bezüglich  des  Steines  von  Istaby 
angenommen  werden,  obgleich  dieser  zufällig  nur  M  und  P  hat.  Der 
unterschied  zwischen  diesen  blekingschen  steinen  und  den  etwas 
älteren  denkmälern  von  Reidstad  u.  s.  w.  liegt  also  in  paläo- 
graphischer  beziehung  darin,  dafs  die  letzteren  für  die  a-rune  nur 
das  ältere  zeichen  ^  kennen,  während  die  ersteren  regelmäfsig  die 
är-riine  gebrauchen  (der  stein  von  Istaby  in  der  ältesten  form  H, 
die  andern  in  der  form  >(<);  dagegen  kommt  ^  auf  dem  Björketorper 
steine  gar  nicht  vor,  auf  dem  steine  von  Stentofte  nur  ein  einziges 
mal  in  derselben  bedeutung  wie  >|c,  aber  auf  dem  steine  von  Istaby 
durchgehends  neben  H,  jedoch  mit  einer  verschiedenen  bedeutung,  in- 
dem H  das  reine  a  ausdrückt,  ^  dagegen  einen  schwa-laut  (svara- 
bhaktisches  a).  Dieser  jüngere  standpunkt  in  der  schrift  stimmt  auch 
mit  den  sprachformen  (aufgeben  des  stammauslautenden  a  im  nom.  sgl. 
der  masc.  a-stämme,  im  acc.  sgl.  der  schwa-laut  auf  dem  steine 
von  Istaby,  acc.  plur.  fem.  runaR  an  derselben  stelle  für  älteres 
runoR)  überein.  Mit  rücksicht  auf  den  Reidstader  stein  u.  s.  w.,  den 
ich  in  den  anfang  des  7.  jhdts  setze,  glaube  ich  daher  mit  gutem  grunde 
die  schrift  und  die  spräche,  welche  auf  den  blekingschen  steinen 
nachgeahmt  wird,  wo  wir  zum  letzten  male  noch  alle  die  fünf  alten 
nmen  M^XMP  in  vollem  gebrauch  finden,  in  die  mitte  des  7.  jhdts 
setzen  zu  können.  Auf  den  ältesten  dänischen  steinen  mit  der  kürzeren 
reihe  (anfang  des  9.  jhdts)  sind  diese  5  zeichen  dagegen  ganz  auf- 
gegeben und  durch  inKTh  ersetzt;  diese  Veränderung  ist  also 
zwischen  etwa  650  und  etwa  800  (825)  eingetreten.  Mit  hülfe 
der  wenigen  denkmäler,  die  in  den  Zeitraum  zwischen  den  blekingschen 
steinen  und  den  ältesten  dänischen  gesetzt  werden  müssen,  können 
wir  jedoch  der  lösung  der  frage  noch  näher  kommen,  und  es  wird 
sich  herausstellen,  dafs  die  genannten  -5  zeichen  zu  verschiedener 
zeit  aufgegeben  sind.  Dies  werden  wir  im  folgenden  näher  nachweisen, 
indem  wir  dazu  übergehen,  die  sprachgeschichllichen  gründe  zu  unter- 
suchen, die  veranlafst  haben  können,  dafs  die  älteren  zeichen  allmählich 
verschwanden. 

Schon  auf  dem  Reidstader  steine  sahen  wir,  dafs  I  für  M  in  dem 
Worte  ék  gebraucht  war.  Dafs  dieser  gebrauch  jedoch  noch  weit 
davon  entfernt  war,  durchgeführt  zu  sein,  zeigt  der  Torviker  stein 
b  und    der    brakteat    von   Tjörkö,    die    regelmäfsig    das    alte   M  so- 


218  ZWEITES    BUCH.       DIE    ENTWICKLUNG    DER    HUISENSCHIUFT    IM    INORKEN. 

wohl  für  iirsprüngliclies  é  wie  für  filleres  e  verwenden.  Dies  letzlere 
kommt  ja  in  den  ältesten  nordischen  Inschriften  in  verschiedenen 
flexionsendungen  vor,  wo  es  hekanntlich  später  verkürzt  wurde,  und 
ich  halte  es  für  höchst  wahrscheinlich,  dafs  e  eine  ausspräche  ange- 
nommen hat,  die  dem  i  nahe  lag,  und  dafs  man  daher  natürlich  da- 
zu geführt  wurde,  diesen  laut  durch  I  anstatt  des  älteren  M  auszu- 
drücken, wie  es  bei  dem  ik  des  Reidstader  steiiißs  der  fall  war^). 
Hierdurch  war  für  den  späteren  gebrauch  der  weg  gebahnt,  wo  I 
überall  M  verdrängte. 
s.  183.  Es  war  indessen  auch  ein  anderer  umstand,  der  notwendig  dazu 

führen  mufste,  dafs  M  allmählich  als  zeichen  für  e  aufgegeben  wurde, 
nämlich  die  Veränderungen,  welche  im  laufe  der  zeit  mit  dem  runen- 
namen  vorgingen.  Der  altenglische  name  für  diese  rune  ist  eh  (eoh) 
„pferd",  ein  aus  den  andern  sprachen  unserer  sprachfamiüe  bekanntes 
wort:  got.  *aihws'in  aihwaiundi,  alls.  ehu  in  ehuscalc.  Der  ursprüngliche 
gemeingerman.  stamm  ist  ehwa-,  der  ganz  mit  lat.  equKs  (gr.  innoq, 
älter  Xxüoc.,  skr.  ä^vas  u.  s.  w.)  übereinstimmt.  In  der  spracliform 
der  ältesten  nordischen  inschriflen  niufs  dieses  wort  notwendig  MHP^Y 
ehwaR  gelautet  haben,  das  später  zu  dem  in  altnordischen  gedichteu 
vorkommenden  jör  wurde  (ursprünglich  a-stamm,  später  mit  einzelnen 
spuren  von  Übergang  zu  den  e-stämmen;  altnord.  gram.  §38,  anm.  1). 
Wann  e  in  dem  ursprünglichen  ehwaR  sich  so  verändert  hat,  dafs 
das  runenzeichen  nicht  länger  in  der  bedeulung  e  benutzt  werden 
konnte,  wage  ich  jedoch  nicht  zu  entscheiden,  aber  ich  halte  es  für 
höchst  wahrscheinlich ,  dafs  urnordisch  ehwaR  schon  zur  zeit  des 
Reidstader  Steines  eine  form  angenommen  hat,  in  der  é  verdunkelt 
wurde,  so  dafs  es  nahe  liegen  mufste,  I  zur  bezeichnung  für  diesen 
laut  anzuwenden.  Lange  bevor  dies  geschah,  war  I  ja  auch  das 
zeichen  für  j  geworden,  da  der  runenname  jära  die  form  ära  ange- 
nommen hatte. 

Ein  gleicher  grund,  Veränderung  des  runennamens,  läfst  sich 
nicht  dafür  nachweisen,  dafs  S^  als  zeichen  für  o  aufgegeben  werden 
mufste;  aber  wir  treffen  doch  auch  hier  Verhältnisse,  die  eine  leichte 


1)  Dagegen  kanu  ich  mich  nicht  Bugges  lesung  mwstuiioi  auf  dem  Krogsfader 
steine  und  seiner  auffassung  dieser  form  als  dat.  sgl.  mit  |  für  M  anschlieiseu. 
Von  der  letzten  rune  ist  nur  die  spitze  sichtbar  und  dahinter  eine  gröfsere  ab- 
schälung, die  nach  meiner  meiuung  sowohl  diese  rune  wie  die  darauf  folgende 
vernichtet  hat;  ich  nehme  an,  dafs  die  Inschrift  auf  dieser  seite  des  steiues 
ursprünglich  rawstuiioan  gelautet  hat. 


II.  KAP.     VERHÄLTN.  ZWISCHEN  D.  KÜRZEREN  U.  LÄNGEREN  RLNENREIHE.       219 

und  natürliclie  erkläiiing  davon  geben,  dafs  H  allmählich  an  die  stelle 
von  S(  trat,  das  ja  in  den  ältesten  inschritten  das  einzige  sowohl  für 
ö  wie  für  ö  gebrauchte  zeichen  ist.  Während  der  entwicklung  der 
spräche  nahm  ö  indessen  in  vielen  fallen  eine  ausspräche  an,  die  sich 
dem  u  näherte  oder  geradezu  damit  zusammenfiel;  dies  gilt  sowohl 
von  den  flexionsendungen  wie  von  der  Wurzelsilbe:  urnord.  -o  im 
noni.  und  acc.  der  fem.  ö-stämme  (run o  auf  dem  steine  von  Einang) 
wurde  später  -n,  das  umlaut  bewirkte  und  dann  abfiel  (vgl.  urnord. 
*^f6o  =  altnord.  gjgf);  ein  beispiel  von  -m  für  älteres  -o  in  den  in- 
schriflen  mit  den  runen  der  längeren  reihe  habe  ich  oben  in  dem 
sar  all!  des  Orstader  Steines  zu  finden  geglaubt.  Auch  in  der  Wurzel- 
silbe konnte  w  an  die  stelle  eines  älteren  o  treten:  altnord.  ulfr  (isl. 
ülfr)  setzt  ein  älteres  *wolfaR  voraus^),  das  wir  auch  auf  dem  steine 
von  Stentofte  finden  (wolafR),  wogegen  der  stein  von  Istaby  wulAfR 
hat;  obgleich  dies  letztere  anscheinend  ein  jüngeres  sprachstadium 
bezeichnet,  so  sind  wir  doch  nicht  berechtigt,  aus  der  Schreibweise 
mit  n  auf  dem  steine  von  Istaby  zu  schliefsen,  dafs  der  laut  wirk- 
lich «  gewesen  ist,  da  H  auch  das  zeichen  für  das  ältere  o  sein 
kann ').  Das  schwanken,  das  somit,  zum  teil  infolge  der  Veränderung 
der  spräche,  allmählich  im  gebrauche  von  5^  und  n  eintrat,  endete 
zuletzt  ganz  natürlich  damit,  dafs  man  das  beschwerlichere  zeichen  S( 
aufgab  und  überall  n  gebrauchte,  wozu  die  analogie  von  I  und  M 
natürlich  auch  beigetragen  haben  kann;  aber  in  beiden  fällen  gab  es 
eine  längere  Übergangsperiode,  wo  beide  zeichen  noch  durcheinander 
gebraucht  werden  konnten,  und  wo  man,  wie  es  scheint,  zuerst  I  und 
n  als  zeichen  für  é  und  ö  einführte,  aber  M  und  St  in  der  bedeutung 
é  und  ö  behielt  (vgl.  den  stein  von  Reidstad  und  den  brakteaten  von 
Tjörkö). 

Wir  gehen   nunmehr  zu  den  beiden  runen  X  und  M   über,  die  s.  184. 
in  demselben  Zeitraum  wie  M  und  S(,'  und  ohne  zweifei  eher  als  diese, 
aufgegeben  sind,  wogegen  P  sich  länger  hielt. 


')  Vgl.  Noreen,    altisl.  gramm.  §   172. 

*)  Umgekehrt  gebraucht  der  stein  von  Stentofte  f^  uioht  blofs  in  wolafn, 
sondern  auch  in  ronoR,  entsprechend  dem  ruiiaR  des  Steines  von  Björketorp 
und  Istaby.  Da  die  älteste  nordische  form  rüiioR ,  später  rünaR  war,  nnd 
dieses  wort  niemals  ein  o  in  der  wurzel  gehabt  hat,  so  ist  die  Schreibweise 
roDOB  offenbar  durch  einen  nnglScklichen  versuch,  eine  ältere  Schreibweise 
nachzuahmen,  bervorgerufeu;  die  beobachtung,  dafs  ^  früher  in  vielen  fallen 
gebraucht  wurde,  wo  man  später  [\  schrieb  (so  in  wolafn),  wurde  unrichtig 
auf  die  form  runoR  übertragen. 


220         ZWEITES    BUCH.        DIE    ENTWICKLUNG    DER    RUNENSCHIUFT    IM    NORDEN. 

So  lange  man  von  der  Voraussetzung  ausging,  dafs  X  und  M  in 
dem  ursprünglichen  runenalpliabete  zeichen  für  muten,  g  und  d,  wären, 
mufste  es  als  eine  etwas  unerklärliche  thatsache  dastehen,  dafs  man 
später  die  zeichen  für  diese  laute  aufgab  und  sie  durch  die  zeichen 
für  k  und  t  [Y  und  T)  ersetzte;  denn  selbst  wenn  aus  andern  älteren 
alphabeten  entsprechende  Vorgänge  nachgewiesen  werden  können 
(vgl.  oben  s.  187 f.),  so  enthält  dies  doch  keine  völlig  befriedigende 
erklärung  der  gründe,  dafs  gerade  diese  zeichen  in  der  runenschrift 
aufgegeben  wurden.  Wenn  man  nämlich  zu  der  zeit,  da  diese  zeichen 
aufgegeben  wurden ,  mit  absieht  die  runenschrift  durch  ausstofsung 
einiger  der  älteren  zeichen  hätte  vereinfachen  wollen,  so  hätte  es 
unleugbar,  vom  standpunkt  der  gegenwart  aus,  weit  näher  gelegen, 
z.  b.  mit  der  einen  von  den  beiden  a-runen,  oder  mit  der  einen  von 
den  beiden  r-runen,  oder  mit  der  alten  ip-rune  zu  beginnen,  die  that- 
sächlich  doch  erst  lange  nach  X  und  M  aufgegeben  wurden.  Ganz  anders 
stellt  sich  die  sache  dagegen,  wenn  X  und  M  im  ursprünglichen 
runenalphabete  nicht  zeichen  für  mutæ,  sondern,  wie  oben  nachge- 
wiesen, für  die  spiranten  g_  und  <f  waren.  Wir  erhalten  dann  eine 
einfache  und  natürliche  erklärung  des  Verhältnisses  zwischen  dem 
älteren  und  jüngeren  futhark  auch  in  diesem  punkte,  und  die  er- 
klärung bleibt  dieselbe,  die  wir  auch  in  andern  fällen  gefunden  haben, 
nämlich  die  durch  die  Veränderung  der  spräche  hervorge- 
rufenen Veränderungen  in  den  runennamen.  In  der  ältesten 
{urnordischen)  spräche  hatten  die  runen  X  und  M  die  namen  g,eio  und 
dagüR.  Später  gingen  die  spiranten  im  anlaut  in  stimmhafte  mutæ 
über,  wie  in  altn.  gjqf,  dagr ,  während  sie  im  in-  und  auslaut  be- 
wahrt wurden.  Wo  die  spräche  früher  nur  zwei  laute  hatte  —  wenn 
wir  uns  vorläufig  an  die  guttural-  und  dentalreihe  halten  — ,  erhielt 
sie  jetzt  also  vier,  und  die  zeichen  des  älteren  alphabetes  waren  folglich 
zu  einer  genauen  iautbezeichnung  unzureichend.  Man  hätte  nun  den 
ausweg  wählen  können,  die  neuen  mutæ  auch  als  zeichen  für  die 
spiranten  zu  behalten,  wie  dies  ja  im  jetzigen  dänischen  der  fall  ist 
{dag,  god).  Aber  der  unterschied  zwischen  den  beiden  lauten  mufs  so 
stark  gefühlt  worden  sein,  dafs  man  zum  mindesten  in  der  dentalreihe 
es  für  notwendig  gehalten  hat,  sie  durch  zwei  verschiedene  laute  aus- 
zudrücken, wie  dies  auch  später  im  Norden  der  fall  war,  wenn  is- 
ländisch und  altnorwegisch  d  und  #  (p),  altschwedisch  und  altdänisch 
d  und  th  (p,  dh)  unterschieden.  Als  zeichen  für  den  spiranten  d 
lag  es  natürlich   viel  näher  p  åls  d  zu   gebrauchen,    und  diese  be- 


II.  KAP.     VERHÄLTX.  ZWISCHEN  D.  KÜRZEREN  U.  LANGEREN  RÜNENREIHE.       221 

Zeichnung  wurde  daher  in  die  runenschrift  eingeführt,  wo  sie  sich 
bis  in  die  spätesten  zeiteu  hielt,  da  selbst  die  punktierten  runen  nur 
ganz  ausnahmsweise  einen  unterschied  zwischen  t>  (==  p)  und  ^  (==  d) 
machen. 

Dagegen  hätte  man  natürlich  die  alte  äägaR -rune  nach  dem  über- 
gange ihres  namens  in  dagfi  als  zeichen  für  den  rf-laut  behalten  können, 
und  es  ist  wohl  auch  sowohl  möglich  wie  wahrscheinhch,  dafs  dies 
Verhältnis  zu  irgend  einer  zeit  bestanden  hat;  aber  man  hat  es  auf 
jeden  fall  bald  aufgegeben,  da  die  laute  t  und  d  einander  so  nahe 
lagen,  dafs  sie  ebenso  gut  durch  ein  zeichen  ausgedrückt  werden 
konnten,  wie  p  und  (f.  Man  hatte  hierfür  die  wähl  zwischen  T  und 
M,  und  es  war  dann  natürlich,  dafs  man  das  letztere  beschwerlichere 
zeichen  aufgab  und  das  erstere  wählte. 

Auf  etwas  andere  weise  mufste  man  sich  in  der  guttural-  und 
labialreihe  helfen.  In  der  ersteren  wurde  die  muta  g  durch  die 
t-rune  ausgedrückt,  wie  d  in  der  denlalreihe  durch  t;  aber  als 
zeichen  für  (j[  im  in-  und  auslaut  wählte  man  nicht  h,  was  dem  Ver- 
hältnis in  der  dentalreibe  am  nächsten  entsprochen  haben  würde,  und 
was  das  jüngste  runenalphabet  (die  punktierten  runen)  auch  wirkhch 
durchgeführt  hat,  sondern  man  liefs  hier  die  /r-rune  auch  für  die 
spirans  gellen,  nachdem  das  alte  X,  wie  es  scheint,  eine  zeit  lang 
als  zeichen  sowohl  für  g  wie  für  g  gebraucht  worden  war. 

In  der  labialreihe  endhch  war,  wie  oben  (s.  209  f.)  nachge- 
wiesen, das  zeichen  für  6  sehr  früh  auch  in  der  bedeutung  p  ge- 
braucht worden.  Hier  hatte  man  also  kein  anderes  mittel  als  das,  die 
alte  ß-rune  zur  bezeichnung  sowohl  für  6  wie  für  p  beizubehalten. 
Um  die  spirans  im  in-  und  auslaut  auszudrücken,  wählte  man  da- 
gegen anstatt  des  alten  B  (vgl.  ubaR  und  harabanaR  auf  dem 
steine  von  Varnum)  die  /"-rune,  was  mit  dem  Verhältnis  in  der  denlal- 
reihe übereinstimmt.  Dies  wurde  jedoch  gewifs  ziemlich  spät  durcli- 
gelührt;  denn  bis  in  junge  zeiten  —  ohne  zweifei  noch  in  den  älteren 
inschriften  mit  der  kürzeren  runenreihe  (um  900)  —  scheint  mau 
genau  zwischen  ursprünglichem  Ö  und  ursprgl.  /  durch  B  und  T 
unterschieden  zu  haben;  und  selbst  nachdem  beide  laute  zusammen- 
gefallen, und  r  das  regelmäfsige  zeichen  in  beiden  fällen  geworden 
war,  finden  wir  noch  in  gewissen  gegenden  eine  erinnerung  an  die 
ältere  Schreibweise,  indem  jüngere  inschriften  sporadisch  B  für  T, 
nicht  blofs  ursprüngüchem  d  sondern  auch  ursprgl.  f  entsprechend,  ge- 
brauchen. 


222       ZWEITES    BUCH.       DIE    ENTWICKLUNG    DER    RUNENSCHIWFT    IM    NOUÜEN. 

So  denke  ich  mir  also,  in  den  hauplzügen,  dafs  die  entwick- 
lung  in  laul  und  zeichen  von  dem  alleren  zu  dem  jüngeren  runen- 
alphabete  bezüglich  der  spiranten  und  niutæ  vor  sich  gegangen  sein 
mufs,  und  wir  sind  somit  von  den  lauten  und  den  zeichen,  die  ich 
s.  191  taf.  I  dargestellt  habe,  zu  denjenigen  gelangt,  welche  sich  s.  192 
auf  taf.  II  finden. 

Leider  ist  es  nicht  möglich,  auf  den  denkmälern  selbst  die  ent- 
wicklung  im  einzelnen  zu  verfolgen,  da  uns  nur  eine  so  geringe  an- 
zahl  denkmäler  aus  der  zeit  bewahrt  ist,  in  der  diese  Verände- 
rungen vor  sich  gegangen  sind,  und  die  einzelnen,  die  aus  andern 
gründen  in  diese  periode  gesetzt  werden  können,  wegen  der  sehr 
kurz  gefafsten  Inschriften  über  die  hier  behandelten  fragen  keinen 
aufschlufs  geben.  Was  die  zur  zeit  bekannten  inschriften  aufklären, 
ist  folgendes: 

Auf  dem  steine  von  Strand  (s.  oben  s.  149  f.)  wird  hadulaikau 
(alln.  ^Hgdleikr,  ahd.  Hadaleih)  geschrieben,  wogegen  drei  Blekinger 
steine  haj)u-  gebrauchen  (ha|)uwulAfR  Istaby,  haJjuwolafR  Sten- 
tofte, ha{)uwolafa  acc.  Gommor;  siehe  „de  ældste  nordiske  rune- 
indskrifter" s.  53  t.,  „Navneordenes  böjning  i  ældre  dansk"  s.  46), 
das  nach  ahd,  hadu-  (hada-),  altengl.  headu-,  head'o-  als  die  allere, 
ursprüngliche  form  angenommen  werden  mufs.  Wenn  der  stein  von 
Strand  also  M  stall  1^  gebraucht,  so  sehe  ich  hierin  eine  begonnene 
Vermischung  der  beiden  in  den  ältesten  inschriften  genau  unter- 
schiedenen zeichen  ^  und  M  und  wohl  auch  der  laute,  die  sie  ur- 
sprünglich bezeichneten.  Im  späteren  nordischen  fielen  ja  beide  laute 
(p  und  #)  zusammen  und  wurden,  wie  oben  bemerkt,  durch  1^  aus- 
gedrückt. Diese  erklärung  des  hadu-  auf  dem  steine  von  Strand, 
die  ich  bei  Burg  s.  156  vorgebracht  habe,  halle  ich  auch  jetzt  für 
wahrscheinlicher,  als  die  von  Bugge  in  den  årb.  f.  nord.  oldk.  1884, 
s.  86  f. 

Einen  befriedigenden  grund  dafür,  dafs  die  alte  mg^-rune  v  auf 
dem  Reidstader  steine  durch  Zusammenstellung  der  beiden  runen  +X 
n§  und  auf  dem  Torviker  steine  b  sogar  der  drei  runen  <X'I'  ngk 
ausgedrückt  wird,  finde  ich  in  der  annähme,  dafs  der  name  der  rune  X 
zu  der  zeit  dieser  inschriften  nicht  mehr  mit  der  spirans,  sondern 
mit  der  muta  begann.  Ich  denke  mir,  dafs  X  noch  zur  zeit  dieser 
inschriften  zeichen  sowohl  für  die  spirans  wie  für  die  muta  war; 
aber  welchen  ausweg  man  später  wählen  würde,  scheint  mir  in  der 
inschrift  des   Torviker  Steines  angedeutet,    wo  X   {g)  mit  <  {k)    zur 


II.  KAP.     VERHÄLTN.  ZWISCHEN   D.  KÜRZEREN  U.  LÄNGEREN  RÜNENREIHE.       223 

bezeichnung  der  mula  zusammengestellt  ist.  oder  wo  X+  ng  vielleicht 
eher  zeichen  für  fd  und  <  für  die  folgende  muta  ist.  Dieser  brauch 
wurde  ja  gerade  später  in  den  Inschriften  mit  der  kürzeren  reihe 
durchgeführt,  wo  die  Ä-rune  (Y)  das  regelmäfsige  zeichen  auch  für 
Tdg  {W  =  it9g)  wurde. 

In  den  hier  genannten  Schreibweisen  auf  den  steinen  von  Strand, 
Reidstad  und  Torvik  finde  ich  also  erinnerungen  an  die  Übergangszeit, 
da  durch  Veränderung  der  spräche  und  damit  zugleich  der  runennamen 
Verwirrung  im  gebrauch  der  alten  zeichen  eingetreten  war. 

In  der  dentalreihe  war  M  ursprünglich  als  zeichen  für  die 
spirans  <f  gebildet,  wie  X  und  ^  in  der  guttural-  und  labialreihe  g. 
und  t  bezeichneten.  Neben  den  spiranten  hatte  die  gemeingerm. 
spräche  jedoch  ohne  zweifei  in  einem  einzigen  falle,  nämlich  wenn 
ein  nasal  unmittelbar  vorherging,  die  mutæ  g,  d,  b.  wie  ich  oben  (s.  192) 
hervorgehoben  habe.  Die  ältesten  runeninschriften  /eigen  uns,  dafs 
g  in  dieser  Verbindung  gar  nicht  in  der  schritt  ausgedrückt  worden 
ist,  indem  die  m^-rune  nicht  blofs  als  zeichen  für  «?,  sondern  auch 
für  fag  gebraucht  wurde  (beispiele  für  fdk  bieten  diese  inschriften 
nicht,  aber  dafs  hier  V<  geschrieben  worden  wäre,  kann  kaum  einem 
zweifei  unterliegen).  Dagegen  stellt  sich  die  sache  schwieriger  be- 
züglich d  und  b  in  den  Verbindungen  nd  und  mb.  Analog  der 
Schreibung  ^^  =  tag  könnten  wir  auch  in  der  guttural-  und  labial- 
reihe +  +  (h)  und  M  (m)  als  zeichen  für  den  nasal  in  Verbindung  mit 
der  folgenden  muta  (nd,  mb)  gebraucht  erwarten ,  also  gerade  ent- 
gegengesetzt dem  verfahren  der  inschriften  mit  der  kürzeren  reihe, 
wo  K,  T,  ^  sowohl  zeichen  für  die  einzelnen  mutæ,  wie  für  diese  in 
Verbindung  mit  dem  vorhergehenden  nasal  sind.  Dafs  +  in  den 
ältesten  inschriften  wirklich  zeichen  für  nd  wie  V  für  tag  gewesen 
ist,  könnte  durch  die  Schreibung  unnam  auf  dem  Reidslader  steine 
bestätigt  werden,  worin  Bugge  gewifs  mit  recht  und-nam  gefunden 
hat;  aber  wenn  er  aus  der  Schreibung  iin-  schliefst,  dafs  d  auch 
wirklich  in  der  ausspräche  weggelassen  gewesen  ist,  so  kann  ich  ihm 
nicht  beipflichten.  Dagegen  würde  un-  in  der  bedeutung  und-  ja 
gerade  die  korrekte  Schreibweise  sein,  wenn  7id  in  den  ältesten  in- 
schriften in  anologie  zu  fdg  ausgedrückt  worden  wäre.  Der  stein  von 
Reidstad  allein  gibt  jedoch  keinen  genügenden  beweis  dafür,  dafs  dies  der 
fall  gewesen,  da  ja  auch  die  möglichkeiten  vorhanden  sind,  dafs  die 
runenschrift  anfangs  nd  durch  das  zeichen  für  die  spirans  (M),  oder 
wie  in  der  kürzeren  runenreihe  durch  T  ausgedrückt  haben  könnte,  in 


224       ZWEITES    BUCH.       DIE    ENTWICKLUNG     DEIl    RUNENSCHRIFT    IM    NORDEN. 

beiden  fällen  mit  oder  ohne  vorhergehendes  +  n  (das  wort  landa 
könnte  inun  sich  also  entweder  1*^+^  —  was  zudem  un-nani  des 
Reidstader  Steines  stimmen  würde  —  oder  ^^+MF^,  TF^M^  oder  TF^+tF^, 
Tf^tF^  —  entsprechend  dem  rf:(+)t,  r+(-+)t  der  jüngeren  inschriften 
—  geschrieben  denken).  Dafs  wirklich  das  ursprüngliche  spiranten- 
zeichen  M,  sogar  mit  auslassung  des  Zeichens  für  den  nasal,  zur  be- 
zeichnung  von  nasal  und  mula  (nd)  gebraucht  worden  ist,  geht  sicher 
aus  dem  kunimudiu  des  brakteaten  von  Tjörkö  hervor,  das  natür- 
lich kwiimundiu,  dat.  Sgl.  von  kimimunduR,  zu  lesen  ist,  und  die- 
selbe Schreibweise  würden  wir  in  lada  auf  dem  Torviker  steine  a 
haben,  wenn  meine  deutung  dieser  inschrift  (s.  166  f.)  richtig  ist.  In 
diesen  beiden  inschriften,  von  denen  die  des  brakteaten  von  Tjörkö 
zu  den  jüngeren  unter  den  inschriften  der  längeren  reihe  gehört,  und 
die  des  Torviker  Steines  kaum  für  viel  älter  angesehen  werden  kann, 
könnte  der  gebrauch  von  M  =  nd  jedoch  dadurch  hervorgerufen 
sein,  dafs  sich  M  zur  zeit  dieser  inschriften  im  anlaut  zur  muta  ent- 
wickelt hatte  {Sagaii  war  dagan  geworden);  denn  dafs  die  echte 
spirans  nicht  blofs  als  zeichen  für  die  muta,  sondern  selbst  für  diese 
in  Verbindung  mit  dem  nasal  gebraucht  wurde,  müfste  auf  jeden  fall 
eine  eigentümliche  bezeichnungsweise  genannt  werden.  Da  wir  von 
den  ältesten  inschriften  keine  beispiele  für  die  Verbindung  nd  haben, 
läfst  sich  indessen  nichts  sicheres  in  bezug  auf  diesen  punkt  fest- 
stellen. Nach  dem  was  vorliegt,  kommt  es  mir  am  wahrscheinlichsten 
vor,  dafs  man  in  der  ältesten  zeit  "f  =  nd  gebraucht  hat,  und  dafs 
eine  erinnerung  hieran  noch  auf  dem  Reidstader  steine  bewahrt  ist, 
dafs  man  aber  später,  nachdem  M  muta  geworden  war,  dieses  auch  in 
der  bedeutung  nd,  wie  auf  (dem  steine  von  Torvik  und)  dem  brakteaten 
von  Tjörkö,  gebraucht  haben  kann.  —  Für  die  gemeingerm.  Verbindung 
ücf,  die  im  Norden  wie  im  germanischen  überhaupt  früh,  gewifs  noch 
vor  dem  Übergang  von  d  zu  d  im  anlaut,  Id  wurde,  gebrauchen  die 
inschriften  regelmäfsig  TM  (hagustaldaR  Valsfjord  =  hagustadaR 
Strand^),  heldaR  Tjörkö;  vgl.  das  j)  urujihild  der  Fried  berger  spange 
und  I^M  auf  dem  kreuze  von  Ruth  well  in  MM  F^^PMM  he  vvalde 
'he  would'  u.  s.  w.). 

^)  Die  Schreibweise  hagustadan  = -s/aWaii  {Xaxim -staldaR)  neben  -stål- 
et an  (\gl.  in  den  jüngeren  inschriften  haratr  =  Uaraldr  auf  dem  steine  von 
Søndervissiug  neben  haraltr  auf  dem  Jæliinger  steine)  stimmt  ja  genau  zum 
kunimuduR  =  -rnunduR  des  brakteaten  vou  Tjörkö  (vgl,  das  spätere 't"  =  «rf 
neben  +1^);  aber  die  Schreibung  M,  T  für  |^M,  \"X  i^'  so  alleinstehend,  dafs 
sie  sicü  nur  als  durch  ungeuauigkeit  hervorgerui'eu  betrachte. 


Tl.   KAP.      VERHÄLT.N.  Z\VISCHE>-  D.   KÜRZEREN   L'.   LÄNGERE.N   RL>E>REIHE.       225 

In  der  Verbindung  Id,  vielleicht  auch  in  der  Verbindung  nd, 
scheint  M  also  als  zeichen  für  die  mula  gebraucht  zu  sein,  noch  bevor 
sie  im  anlaut  in  die  niuta  überging.  Als  dies  geschali.  ist  M  ohne 
z^veifel  eine  zeit  lang  sowohl  für  (/  wie  für  d  zeichen  geweseu :  aber 
der  unterschied  zwischen  beiden  lauten  mufs  bald  so  stark  ge- 
fühlt worden  sein,  dafs  man  ein  neues  mittel  suchte  sie  zu  unter- 
scheiden. Dies  erreichte  man,  indem  man  T  i/i  als  zeichen  iür  die 
mula  (/  und  l>  [p)  als  zeichen  für  die  spirans  d  wählte,  so  dafs  das 
alte  M  also  überflüssig  wurde,   wie  ich  oben  entwickelt  habe. 

Dafs  diese  darstellung  mehr  ist  als  eine  theorie,  und  dafs  das 
alte  M  als  zeichen  für  '/  frühzeitig  von  T  abgelöst  wurde,  geht  zm- 
evidenz  aus  einem  interessanten  norwegischen  deukmal  aus  der  Über- 
gangszeit, nämlich  dem  im  sommer  1S74  von  J.  Undset  entdeckten 
steine  von  Vatn,  hervor.  Nach  einer  mir  zugesandten  Photographie 
hatte  ich  bereits  1S74  in  den  nachtragen  zu  meiner  abhandlung  über 
die  runenschrift  die  vermutung  ausgesprochen,  dafs  die  Inschrift  das 
wort  RH5^5l<r"t/k  rhoaltR  d.  i.  Hröaldn  enthielte,  und  die  richtigkeit 
dieser  vermutung  wurde  kurze  zeit  nacii  dem  erscheinen  meiner  ab- 
handlung auf  das  erfreulichste  durch  die  vortretTlichen  abdrücke  und 
übrigen  genauen  aufklärungen  über  die  Inschrift,  die  icli  vom  adjunk- 
ten K.  Rygh  in  Drontheim  und  herrn  Undset  erhielt,  sowie  durch 
die  mitteilungen  des  letzteren  in  ..Det  kgl.  norske  Videnskabers 
Selskabs  Skrifter",  Throndhjem  1S75,  s.  24  11".  (=  Separatabdruck 
s.  S  ff.)  bestätigt.  Wegen  ihrer  Wichtigkeit  gebe  ich  die  Inschrift 
umstehend  nach  dem   mir  seiner  zeit  zugesandten   material  wieder. 

Die  art  und  weise,  wie  das  Hröaldn  der  Inschrift  ausgedrückt 
ist,  ist  in  vielen  punkten  interessant:  während  der  stein  von 
Vatn  nämlich  RH^jjcTTÅ  schreibt,  drückt  einer  der  allerältesten 
unter  den  dänischen  runensteinen,  der  Snoldelevt-r  stein,  der  unten 
im  'Anhang"  VI  wiedergegeben  wird,  den  genitiv  desselben  namens 
durch  RnH+rtH  aus.  Statt  des  alten  M.  das  in  den  Inschriften 
mit  der  längeren  reihe,  wie  oben  nachgewiesen  ist.  ja  auch  in  der 
Verbindung  Id  gebraucht  wird,  hat  die  Inschrift  von  Vatn  also  in 
Übereinstimmung  mit  den  Inschriften  der  kürzeren  reihe  T.  Wir 
können  nicht  im  zweifei  darüber  sein,  dafs  T  hier  das  zeichen  für 
die  mula  d  ist,  und  es  darf  wohl  als  berechtigt  gelten,  hieraus  den 
schlufs  zu  ziehn ,  dafs  derjenige ,  der  die  Inschrift  des  Steines  von 
Vatn  ritzte,  auch  im  anlaut  T  in  der  bedeutung  d  und  im  in-  und 
auslaut   ^    in    der   bedeutung    d    gebrauclit    hätte,    dafs  also    das  alte 

WIJIMER,  Die  runenschrift.  15 


226        ZWRITES    BUCH.       OFE     ENTWICKLUNG     DER     RUNENSCHRIFT    IM    NORDEN. 

zeichen  M  damals  aufgegeben  war.  Aber  die  inschrift  von  Vatn 
zeigt  uns  zugleich,  dafs  das  alte  S(,  auC  jeden  fall  als  zeichen  für 
das  lange  o,  noch  nicht  von  H  verdrängt  war,  wie  auf  dem  stein  von 
Snoldelev.     Dafs  wir  auf  dem  stein   von  Vatn  aucli  )|C  als  zeichen  für 


Der  stein  vou  Vato. 


a  finden,  ist  nur,  was  wir  erwarten  mufslen  (dafs  der  Snoldelever 
stein  in  dem  entsprechenden  worle  +  gebraucht,  ist  zuffdlig,  da  er 
in  andern  worten  >jc  hat).     Dafs  die  entwickhing  der  runenschrift  auf 


li.  KAP.      VEr.HÄLT.N.  ZWISCHEN  H.   KÜRZEREN   L.  LÄNGEREN  KU.NE.N'REIHE.       227 

eine  merkwürdige  weise  im  allgemeinen  über  den  ganzen  Norden 
hin  den  gleichen  schritt  eingehalten  hat  —  eine  ansieht,  die  mir 
immer  fest  gestanden  hat,  und  wovon  ich  daher  auch  in  meiner  ganzen 
abhandlung  sowohl  in  ihrer  filieren  dänischen  wie  in  ihrer  jetzigen 
gestall  ausgegangen  bin  — ,  wird  aufs  klarste  durch  die  inschrift  von 
Valn  besläligl,  selbst  wenn  die  entwicklung,  was  sich  ja  von  selbst 
versieht,  und  was  ich  auch  ausdrücklich  hervorgehoben  habe  (s.  207  f.), 
in  einigen  gegenden  bezüglich  dieses  oder  jenes  punkles  schneller  ge- 
gangen als  in  andern. 

Mehr  inschriften  aus  derselben  zeit,  als  der  stein  von  Vatn,  der 
nach  meiner  ansieht  ums  jähr  700  (725)  gesetzt  werden  mufs,  und 
aus  der  zunächst  vorhergehenden  zeit  werden  uns  natürlich  helfen, 
mit  noch  gi'öfserer  schärfe  die  hier  behandelten  fragen  nach  der  zeit 
des  aufgebens  der  allen  runenzeichen  M,  5^  und  X,  M  zu  beantworten. 
Aber  bereits  das  jetzt  vorliegende  material  ist  ausreichend,  um  die 
allmähliche  entwicklung  auch  auf  diesen  punkten  und  dadurch  den 
Übergang  zu  dem  gebrauche  der  späteren  zeit  zu  zeigen.  ISach  dem 
oben  entwickelten  zweifle  ich  nicht  daran,  dafs  X  wenigstens  ebenso 
früh  wie  M  aufgegeben  und  von  «)  Y  (auf  dem  stein  von  Vatn 
vielleicht  bereits  in  der  form  Y)  verdrängt  ist,  andrerseits  halle  ich 
es  für  höchst  wahrscheinlich,  dafs  St  als  zeichen  für  ö  sich  etwas 
länger  in  gebrauch  gehalten  hat  als  M.  Verglichen  mit  dem  futbark 
auf  dem  Reidstader  steine  u.  s.  w.  (s.  216),  würde  derjenige  des 
Steines  von  Vatn  also  folgende  form  haben: 

rnt>|iKY(K)-P:HH  +  l)|Cfl-->kAH):t^-Mr-5^i   - 

n/ 

Dafs  von  den  für  die  längere  reihe  eigentümlichen  zeichen  nicht 
nur  St,  sondern  auch  ^  sich  noch  in  diesem  futbark  fand,  kann 
nämlich  durchaus  keinem  zweifei  unterworfen  sein,  seit  es  sich 
mit  Sicherheit  nachweisen  läfst,  da£s  von  allen  älteren  zeichen,  die 
im  kürzeren  alphabete  aufgegeben  sind,  die  w-rune  P  sich  am  längsten 
gehalten  hat.  Diese  für  die  entwicklung  der  runenschrift  wichtige 
thalsache  geht  daraus  hervor,  dafs  wir  in  ein  paar  inschriften,  die 
sich  sonst  in  zeichen  und  sprachforraen  eng  an  die  ältesten  denk- 
mäler  mit  der  küraeren  reihe  anschliefsen  (stein  von  Helnæs  u.  s.  w.), 
noch  P  als  zeichen  für  lo  finden,  nämlich  auf  dem  Sölvesborger 
steine  aus  Bleking  und  dem  Räfsaler  steine  aus  Bohuslän.  Der 
erste  von  diesen  steinen  hat  nach  der  Zeichnung  bei  Stepheus  (I,  s.l93) 

15* 


228       ZWEITES    BUCH.       DIE     ENTWICKLUNG    DEK    RUNENSCHRIFT    IM    NORDEN. 

die  im  ganzen  zu  der  älteren  Zeichnung  bei  Worsaae  (Bleliingske 
Mindesmærker  fra  Hedenold,  Kbli.  1846,  tal".  XIII,  tig.  2)  stimmt, 
foluende  inschrifl : 


s.  185.  Stephens,    der   behauptete,     dafs    die    inschrift    vollständig    erhalten 
sei,  las : 

ÆSMUTS  RIUSII. 
RUTI  W[rai]TI. 
das  er  übersetzt: 

Æsmut's  hnise  [barrow,  stone-mound). 

Ruti  wrote  (carved  these  runes). 

Da  ich  natürlich   eine   solche   sprachform    nicht    anerkennen  konnte, 

so  vermutete  ich  („Navneordenes  böjn.  i  ældre  dansk",  s.  74  anm.  2), 

dafs  auf  dem  steine  gestanden  habe: 


,\^-_j,. 


so  dafs  die   ganze  inschrift,  von   welcher  also  nur   ein   teil  erhalten 
wäre,  ungefähr  gelautet  haben  müfste: 

ruti  rai[t  (oder  raist)  runaR  aft(iR)] 

qsmut  sunu  sin. 
Bugge,  der  meine  deutung  in  der  filol.  tidskr.  VII,  s.  349ff.  aufnahm, 
schlofs  sich  im  ganzen  derselben  an,  fand  es  aber  doch  bedenk- 
lich, die  inschrift  als  ein  bruchstück  anzusehen  und  vermutete, 
gestützt  auf  die  Zeichnung  bei  Stephens,  dafs  anstatt  meines  RjjclT 
rait  möglicherweise  P)|(R)j<IT  warait  gestanden  haben  könnte^). 
Eine  Untersuchung  des  Steines,  die  Bugge  später  anzustellen  gelegen- 
heit  hatte,  und  deren  ergebnisse  er  in  der  filol.  tidskr.  VIII,  s.  201  ff. 
mitgeteilt  hat,  bestätigte  sowohl  meine  vermutung,  dafs  die   inschrift 


')  Rleiae  berichtigung  zu  R)k|(T)  stützte  sich  nicht  blofs  darauf,  dafs  die 
dritte  ruue  sowohl  bei  Stephens  wie  bei  Worsaae  ein  deutliches  |  war,  son- 
deru  auch  uud   nauieutlich  auf  die  form  der  ersten  ruiie  bei  Worsaae. 


II.  KAP.    VERHÄLTN.  ZWISCHEN  D.  KÜRZEREN  ü.  LÄNGEREN  RÜNE.NREIHE.      229 

nur  ein  bruchstück  sei,  als  auch  die  meisten  meiner  berichtigungen : 
es  stand  dort  sunusin  statt  Stephens'  ...s  riusii,  und  in  der 
zweiten  zeile  hatte  ich  gleichfalls  richtig  die  sechste  rune  ^  (t  bei  Ste- 
phens!) zu  5|(  ergänzt  ^).  Nur  die  fünfte  rune  in  dieser  zeile  war  wirk-  s.  1S6. 
lieh  P,  nicht  R,  und  da  die  siebente  rune  nur  j  oder  vielleicht  \>, 
nicht  R,  sein  konnte,  so  konnte  die  Inschrift  an  dieser  stelle  weder  das 
wort  R))clT  rait,  wie  ich  angenommen,  noch  P5|cR)jclT  warait,  wie 
Bugge  vermutet  hatte,  enthalten  haben.  Die  spuren  der  letzten  rune 
vor  qsmut  machten  es  nach  Bugges  meinung  wahrscheinhch ,  dafs 
das  vorhergehende  wort  die  form  aft,  nicht  aftiR,  gehabt,  so  dafs 
die  ganze  inschrift  also  gelesen  werden  mufste : 

Rnti .  P^\  (oder  p)  . ..  (5fcrt)^Hhnthn+nHi+ 

Wie  die  hinter  ruti  folgenden  runen  wai  oder  waj)  ergänzt 
werden  sollten,  war  zweifelhaft  (Bugge  vermutete,  dafs  es  ein  patro- 
nymikon, z.  b.  „Vades  söhn",  sein  könnte);  aber  die  gesammt- 
bedeatung  der  inschrift  war  ja  klar  {„Ruti ....  [ritzte  die  runen 
oder  errichtete  den  stein]  nach  Asmnnd  seinem  söhne''').  Durch  eine 
erneute  Untersuchung  der  inschrift  im  sommer  1876  kam  Bugge 
jedoch  zu  dem  ergebnis,  dafs  das  erste  wort  HRT I ,  nicht  RHTI  ge- 
lesen (Vitterhets  Historie  och  Antiqvitets  Akademiens  Månadsblad  1877, 
s.  534),  und  der  anfang  der  inschrift  also  ergänzt  werden  müfste: 
urti  wa[|)i  aft].  Ob  nun  Bugges  frühere  oder  zweite  lesung  sich 
schliefslich  als  die  richtige  erweist,  was  ich  für  den  augenblick  unent- 
schieden lassen  mufs,  da  ich  noch  keine  gelegenheit  gehabt  habe 
diese  inschrift  selbst  zu  untersuchen,  das  hat  glücklicherweise  keine  be- 
deutung  für  den  gebrauch,  welchen  ich  hier  von  dem  denkmal  machen 
will.  Die  inschrift  üefert  nämlich  auf  jeden  fall  einen  sicheren  be- 
weis dafür,  dafs  P  noch  zu  einer  zeit  gebraucht  wurde,  wo  wir  sonst 
im  ganzen  das  aiphabet  finden,  welches  wir  oben  (s.  207)  als  für  das 
jähr  800  (825)  eigentümlich  aufgestellt  haben.  Namentlich  zeigt 
^smut  =  Äsmund,  dafs  das  besondere  zeichen  für  d  aufgegeben 
war  und  nicht  nur  d,  sondern  auch  nd,  wie  später  allgemein,  durch 
T  ausgedrückt  wurde.     Wenn  die  inschrift  ruti  hat,  so  wage  ich  nicht 

^)  Bagge  glaubt,  dafs  auch  das  wort  §smut  eher  mit  )k  als  mit  ^  begoanea 
hat;  es  läfst  sich  iadessea  nach  Bugges  äulserungeo  keineswegs  mit  Sicherheit 
entscheideo,  uud  ich  finde  es  höchst  unwahrscheinlich,  da  a  in  ds-  zur  zeit  des 
Sölvesborger  Steines  unzweifelhaft  mit  deutlichem  nasalklang  ausgesprochen 
worden  ist,  eine  ausspräche,  die  ja  gerade  ia  tu-  noch  weit  später  durch  ^  be- 
zeichnet wurde  (s.   oben  s.  201  f.). 


230 


ZWEITES    BUCH,       DIE    E.N TWICKLUXi    ItEU    HUISENSCHKIFT    IM    NUKDEN. 


ZU  eiilscheiden,  wie  dieser  name  ausgesprochen  worden  ist,  da  ich 
jelzl  Burgs  bedenken  teile,  es  mit  ahd.  Rnozo  zusammenzustellen; 
aber  selbst  wenn  man  von  H  also  hier  niciit  sagen  kann,  dafs  es  als 
zeichen  für  den  ö-laut  stehe,  so  dürfen  wir  doch  sicher  annehmen, 
dafs  I  als  e  ausgesprochen  worden  ist,  und  wenn  urti  (=  altnord. 
orli)  die  richtige  lesung  ist,  so  würden  wir  nicht  blofs  ein  I  mit 
der  bedeulung  e,  sondern  auch  H  in  der  bedeutung  ö  haben. 
Zwar  wäre,  wenn  wir  nur  auf  die  sprach  formen  rücksicht  nehmen, 
die  möglichkeit  vorhanden,  dafs  auch  S(  noch  als  zeichen  für  ö  be- 
wahrt sein  könnte,  und  dafs  die  inschrift  somit  auf  derselben  stufe 
wie  der  stein  von  Vatn  stehn  und  derselben  zeit  angehören  könnte, 
wie  dieser.  Aber  dem  wird  auf  das  bestimmteste  von  dem  ganzen 
Charakter  der  inschrift  widersprochen ,  der  in  Verbindung  mit  ihren 
runenformen  und  selbst  dem  Irennungszeichen  nach  ruti  (urti)  es 
aufser  allen  zweifei  setzt,  dafs  sie  den  ältesten  dänischen  steinen  (von 
Kallerup  u.  s.  w.)  näher  gerückt  werden  mufs;  nur  die  P-rune 
macht  sie  älter  als  diese,  und  ich  glaube  daher  das  riclitige  zu 
treffen,  wenn  ich  sie  jetzt  wie  früher  chronologisch  zwischen  diese 
und  den  stein  von  Vatn  einordne. 

Zusammen  mit  runen-  und  sprachformen,  die  sonst  für  die  In- 
schriften mit  der  kürzeren  reihe  eigentümlich  sind,  finden  wir  gleich- 
falls die  P-rune  auf  dem  Räfsaler  steine,  dessen  inschrift  bereits 
187.  von  Bugge  in  der  filol.  tidskr.  VIII,  s.  163 ff.  mitgeteilt  und  gedeutet 
ist.  Nach  einem  gipsabgufs  im  allnordischen  museum  zu  Kopen- 
hagen hat  diese  inschrift  folgendes  aussehen: 


Der  unterste  teil  besonders  der  letzten  runen  ist  etwas  beschädigt, 
namentlich  hat  die  allerletzte  rune  die  beistriclie  unten  verloren; 
aber  die  älteren  Zeichnungen  lassen  erkennen,  dafs  dort  /k  gestanden 
hat.     Bugge  liest  die  inschrift: 

hariwiilfs    stainaR 
„Herwolfs  steine"-. 


II.  KAP.     VERUÄLTN.  ZWISCHEI«  D.  KÜRZEltE.N  U.  LÄNGEREN  RÜNENREiUE.       231 

Über  hariwulfs,  das  zuerst  von  Bugge  richtig  gelesen  ist,  kann  kein 
zweifei  herrschen.  Das  zweite  wort  wird  von  Liljegren  stinaR  wieder- 
gegeben (Run-Urkunder  no.  2033),  von  Bugge  stainaR,  und  ich 
glaube  mit  Bugge,  dafs  dort  stainaR  gestanden  hat,  wodurch  wir 
eine  von  älteren  und  jüngeren  steinen  her  wohlbekannte  formel  be- 
kommen (einen  namen  im  genitiv,  regiert  von  dem  worle  „stein",  hier 
im  plur.  „steine";  vgl.  „Navneordenes  böjn.  i  ældre  dansk",  s.  46  anm.), 
obgleich  einiges  bedenken  dagegen  erhoben  werden  kann,  die  zweite 
rune  als  T  zu  nehmen;  von  dem  linken  beistriche  linde  ich  nämlich 
keine  deutliche  spur,  und  der  rechte  beislrich  biegt  gegen  den  hauptstab 
derartig  ein,  dafs  die  rune  als  ein  P  aufgefafst  werden  kann,  wo  der 
unterste  teil  des  beistriches  undeutlich  ist  ^).     Wir  würden  dann 

hariwulls    swainaR  s.  188. 

„Hencolfs  knechte'' 
erhallen,  und  der  stein  müfste  wohl  für  ein  denkmal  angesehen  werden, 
das  lierwolf  über  seinen  mannen  errichtet  hätte. 

Ob  wir  das  zweite  wort  stainaR  lesen,  was  ich  für  richtig  halte, 
oder  swainaR,  hat  indessen  glückhcherweise  keinen  einflufs  auf  die 
beantwortung  der  frage,  welche  hier  die  hauptsache  ist.  Wie  der  Hel- 
næser  braucht  der  Häfsaler  stein  die  alle  A-rune  H  zusammen  mit  der 
jüngeren  form  der  dr-rune  +;  aber  er  hat  aufserdem  P  in  dem  nameii 
hariwulfR,  der  somit  zu  dem  hariwulAfR  des  Steines  von  Islaby 
und  dem  hariwolafu  des  Steines  von  Stentofte  stimmt,  während  der 
Haverslunder  stein  aus  Schleswig  (Thorsen  I ,  s.  5)  die  jüngere  form 
liairulfR  d.  i.  HæniIfR  aufweist.  Durch  sein  P  4n  wulfK  steht  der 
Räfsaler  stein  auf  einem  älteren  Standpunkte  als  die  ältesten  däni- 
schen steine,  wo  tc  vor  «fortgefallen  ist  (I^HnnrrA  rhuulfR  auf 
dem   Helnæser   steine,    l^nnrP^Å  ruulfR    auf  dem  Fiemloser,  d.  i. 


')  Jedoch  würde  die  ioim  dei-  »r-iuuc  an  dieser  stelle  nicht  gauz  mit  dem 
zeichen  in  hariwulfs  überciDstiniinoD,  wo  der  nebenstrich  nicht  gleich  von 
der  Spitze  des  hauptsiabes  ausgeht,  so  dals  P  bier  grolse  äbulichkeit  mit  p 
bekommt,  besonders  da  auch  ein  teil  des  bauptstabes  unten  abgeschlagen  ist. 
Wie  in  der  iv-vuae  erhebt  sich  der  hauptstab  in  der  dritten  rune  (R)  etwas 
über  den  uebenstab.  —  Da  hinter  der  *-runc  im  zweiten  worle  gerade  platz  genug 
für  den  linken  beistrich  eines  ^  ist,  so  zweifle  ich  nicht  daran,  dals  dieses  zeichen 
wirklich  auf  dem  steine  in  einer  ziemlich  abgerundeten  form,  ungefähr  wie  in 
der  ersten  zeile  auf  dem  Fiemloser  steine,  gestaudea  hat,  mit  welchem  der 
Räfsaler  auch  eine  auffallende  Übereinstimmung  durch  die  verschiedene  gröfse 
der  runenzeichen  aufweist.  Eine  ^form  mit  ungewöhnlich  abgerundeten  bei- 
strichen  würde  auch  gut  zu  der  form  stimmen,  die  die  »-rune  beide  male  hat. 


232  ZWEITES    BUCH,       DIE    ENTWICKLUNG    DER    RUNENSCHRIFT    IM    NORDEN. 

Hröulfn),  und  wo  es  sonst  durch  die  w-rune  ausgedrückt  wird 
(suij)ks  =  Swid'ings  der  stein  von  Kallerup,  kunualts  =  Gunn- 
loalds  der  stein  von  Snoldelev,  uas  =  was  der  stein  von  Flemlose 
u.  s.  w.).  Die  form  der  s-rune  auf  dem  steine  von  Räfsal  fafst  Bugge 
als  eine  Übergangsform  zwischen  dem  älteren  /  "^  und  dem  jüngeren 
WH;  die  abweichung  von  dem  gewöhnlichen  jüngeren  zeichen  kommt 
mir  jedoch  so  gering  vor,  dafs  ich  sie  nur  als  rein  zufällig  zu  be- 
trachten wage,  um  so  mehr,  als  nicht  blofs  die  ältesten  dänischen  steine, 
sondern  auch  der  Sölvesborger  stein  durchgehends  H  (H)  gebrauchen. 
s.  189.  Sowohl  durch  die  bewahrung  der  P-rune  wie  durch  die  erhal- 

tung  des  lo-lautes  vor  u  in  wulfR^)  weisen  der  Sölvesborger  und  Räf- 
saler  stein  über  die  ältesten  bekannten  Inschriften  mit  der  kürzeren 
runenreihe  vom  anfang  des  9.  jhdts  hinaus;  aber  da  sie  im  übrigen 
in  runen-  und  sprachformen  sowie  im  ganzen  Charakter  der  Inschriften 
sich  nahe  an  diese  steine  anschliefsen,  so  nehme  ich  an,  dafs  sie  un- 
gefähr ums  jähr  750  (775)  gesetzt  werden  müssen.  Für  diese  zeit 
können  wir  also  folgende  runenreihe  aufstellen,  wenn  wir  die  vom 
längeren  futhark  bekannte  reihenfolge  beibehalten  (vgl.  s.  227): 

Wie  wir  erwarten  konnten,  stimmen  die  runenformen  genau  mit 
denen  überein,  die  um  das  jähr  800  (825)  gebraucht  wurden  (siehe 
s.  207,  wo  die  reihen  III  &  IV,  aber  natürlich  nicht  I  &  II,  vollständig 
sind).  Die  einzige  sichere  abweichung,  die  sich  zwischen  beiden 
reihen  nachweisen  läfst,  ist  also  die  bewahrung  von  P  im  futhark 
der  hier  besprochenen  steine^). 


^)  Hals  w  gleichzeitig  in  andern  analogen  fallen  geschwunden  war  (vgl. 
fornnord.  fornil.  §24,  C,  c),  würde  aus  dem  urti  des  Sölvesborger  Steines  her- 
vorgehen, wenn  dies  die  richtige  lesung  ist  (vgl.  worahto  auf  dein  stein  von 
Tune  mit  bewahrung  sowohl  des  w  wie  des  h,  wurte  auf  dem  brakteaten  von 
Tjörkö  mit  bewahrung  von  tv,  aber  ausstolsung  von  h). 

")  Wenn  dagegen  die  P-rune  auf  dem  Röker  steine  zwischen  den  runen 
der  längeren  reihe  und  auf  dem  seeländischeu  Frerslever  steine  in  einer  Inschrift 
mit  der  küizeren  reihe  in  der  bedeutungw  gebraucht  ist  (s.  oben  s.  127),  so  stammt 
dies  in  beiden  fallen  ohne  zweifel  aus  einer  zeit  her,  wo  diese  rune  iu  Wirklichkeit 
längst  durch  H  ersetzt  war,  während  man  jedoch  noch  die  erinnerung  daran 
bewahrte,  dafs  sie  früher  iu  fällen  benutzt  war,  wo  fl  sie  später  abgelöst 
halte.  Dies  wird  dadurch  bestätigt,  dafs  man  auf  den  genannten  beiden  steinen 
nach  meiner  meinung  durch  ein  mifsverständuis  gerade  der  rune  eine  bedeutung 
zuerteilt  hat,  die  sie  niiht  hatte,  so  lange  sie  wirklich  in  gebrauch  war. 


IL  KAP.    verhält:«,  zwischen  D.  KDRZERE.N  ü.  längeren    RUNENREIHE.        233 

Wir  haben  hiermit  die  entwicklung  vom  längeren  zum  kürzeren 
alphabele  mit  rücksicht  auf  die  verschiedene  anzahl  der  zeichen  in 
beiden  verfolgt,  so  weit  sie  sich  mit  hülfe  der  denkraäler  selbst  nach- 
weisen läfst,  und  obwohl  einzelne  fragen  sicherlich  mit  der  zeit  noch 
bestimmter  mit  hülfe  neuer  funde  gelöst  werden  dürften,  so  liegt  doch 
jetzt  schon  ein  genügendes  material  vor,  um  im  einzelnen  den  beweis 
für  die  behauptung  zu  führen,  die  ich  zu  anfang  aufstellte,  dafs  wir 
auch  hier  eine  entwicklung  haben,  die  allmählich  längere  Zeiten  hin- 
durch vor  sich  gegangen  ist,  nicht  eine  zu  einer  bestimmten 
zeit  mit  bewufster  absieht  vorgenommene  vereinfach  ung. 

An  und  für  sich  liefse  sich  natürlich  wohl  denken,  dafs  man,  um  das 
runenalphabet  für  die  benutzung  zu  Inschriften  einfacher  und  bequemer 
zu  machen,  auf  einmal  mehrere  der  älteren  schwierigen  zeichen 
aufgegeben  und.  sie  durch  die  am  nächsten  liegenden  ersetzt  hätte, 
und  selbst  wenn  wir  nur  das  längere  aiphabet  in  der  form  auf  dem 
brakteaten  von  Vadslena  und  das  kürzere  in  der  gewöhnlichsten  oben 
(s.  191)  angeführten  form  kannten,  würde  man  keineswegs  berechtigt 
sein,  a  priori  die  behauptung  aufzustellen,  dafs  das  letztere  aiphabet 
nicht  aus  dem  ersteren  hervorgegangen  sein  könnte,  obgleich  eine  un-  s.  I9ü. 
befangene  betrachtung  wohl  zunächst  zu  der  von  Kirchhoff  und  an- 
dern aufgestellten  ansieht  führen  müfste,  dafs  beide  von  einem  ge- 
meinschaftlichen grundalphabele  ausgegangen  seien.  Aber  nach  allem 
was  vorliegt,  nach  dem  ganzen  entwicklungsgang,  der  auf  den  denk- 
mälern  verfolgt  werden  kann,  wird  die  sache  ganz  unumstöfslich  klar, 
indem  wir  nicht  nur  nachweisen  können,  dafs  die  jüngeren  runen- 
f ormen  die  älteren,  denen  sie  in  der  bedeutung  entsprechen,  zu 
ihrer  notwendigen  Voraussetzung  haben,  sondern  auch,  dafs  die  acht 
zeichen  des  älteren  alphabetes,  die  sich  nicht  in  dem  jüngeren  wieder- 
finden, erst  ganz  allmählich  vollständig  aufgegeben  wurden,  sicherlich 
nachdem  sie  längere  zeit  mit  den  zeichen  promiscue  benutzt  worden 
waren,  die  später  ganz  an  ihre  stelle  traten.  Chronologisch 
scheint  die  entwicklung  die  folgende  gewesen  zu  sein: 

Frühzeitig  hat  man  die  rune  't  •!"  als  lautzeichen,  wenn  sie 
überhaupt  im  anfang  als  ein  solches  gebraucht  worden  ist,  und 
das  besondere  zeichen  für  p  aufgegeben,  indem  die  5-rune  auch  zur 
bezeichuung  für  p  angewendet  wurde;  demnächst  folgte  ^,  das 
man  in  einer  Übergangsperiode  durch  +X  oder  sogar  +X<  aus- 
drückte, was  zugleich  zeigt,  dafs  X  und  <  noch  in  gebrauch  waren, 
nachdem   ^  aufgegeben  war.     Später,    als    die    spiranten  g_  und  d 


234  ZWEITES    BIJCII.        DIE    ENTWICKLUNG    ÜEU    HUNENSCHRIFT    IM    NORDEN. 

im  aiilaul  zu  den  imUeii  g  uiitl  (/  geworden  waren,  wurden  X  und  M 
durch  Y  und  T  verdrängt,  wie  man  für  die  laute  p,  b  sehr  lange 
nur  das  eine  zeichen  ^  gekannt  hatte.  Ungefähr  gleichzeitig 
hiermit  wurden  M  durch  I  und  ^  als  zeichen  für  ö  durch  R  er- 
setzt, während  es  sich  noch  einige  zeit  als  zeichen  für  ö  erhielt,  bis 
es  auch  hier  durch  n  verdrängt  wurde,  das  endlich  gleichfalls 
an  die  stelle  von  P  trat. 

Diese  ganze  entwicklung  ist  um  das  jähr  800  abge- 
schlossen; aber  sie  ist  im  laufe  von  mehreren  hundert  jähren  vor 
sich  gegangen,  und  selbst  ganz  correspondierende  phasen  derselben  sind 
keineswegs  auch  immer  gleichzeitig,  wie  wir  deutlich  aus  dem  Verhältnis 
zwischen  den  runen  I  und  H  sehen;  die  erstere  ist  an  die  stelle  des  I  i, 
h  j,  M  e  der  längeren  reihe,  die  zweite  ebenso  an  die  stelle  von  n  n, 
^  w,  S(  0  getreten ;  aber  I  war  mehrere  hundert  jähre  eher  das  zeichen 
i'üv  j  geworden,  bevor  H  zeichen  für  «o  wurde,  und  während  das  alte 
lo-zeichen  ganz  aufgegeben  wurde,  als  R  an  dessen  stelle  trat,  erhielt 
sich  die  alle  jära-rune  mit  dem  namen  dr  und  der  bedeutung  a  bis  in 
die  spätesten  Zeilen. 

Dafs  die  für  die  längere  reihe  charakteristischen  acht  runen  nach  dem 
jähre  800  in  der  gewöhnlich  gehrauchten  schrift  nicht  mehr  als  laut- 
zeichen auftreten,  berechtigt  uns  jedoch  nicht  zu  dem  Schlüsse,  dafs 
sie  von  da  an  auch  ganz  vergessen  waren.  Ich  halle  es  im  gegenteil, 
wie  ich  an  andern  stellen  angedeutet  habe,  für  höchst  wahrscheinlich, 
dafs  sie  ihren  platz  im  futhark  behalten  haben,  lange  nachdem  sie  als 
eigentliche  lautzeichen  aufgegeben  waren,  und  dafs  sie  —  oder  einzelne 
von  ihnen  —  ebenfalls  lange  nachher  als  magische  zeichen  im 
gebrauch  gewesen  sein^  können.  Dafs  sowohl  -die  der  längeren  reihe 
eigenlümliclien  runenzeichen  wie  ihre  bedeutung  noch  in  später  zeit 
bekannt  gewesen  sein  müssen,  Jahrhunderte  nachdem  die  kürzere  reihe 
in  ausschliefslichen  gebrauch  gekommen  war,  geht  ja  unter  anderm  mit 
Sicherheit  aus  den  inschriflen  auf  dem  Roker  steine  (mitte  des 
10.  jhdls)  und  auf  den  in  dieser  abhandlung  so  oft  angeführten  Ble- 
kinger  steinen  hervor,  die  künstlich  die  schrift  der  älteren  zeit  nach- 
geahmt haben.  Ja,  lange  nach  der  zeit  des  Röker  Steines  finden  wir 
runen  aus  der  längeren  reihe  in  dem  oben  (s.  127)  genannten  norwe- 
gischen runenkalender.  Besonders  runen  kun  dig  zu  sein,  war  ja 
eine  eigenschaft,  worauf  man  im  Norden  grofsen  wert  legte  (vgl.  unten 
s.  239  f.),  und  dies  erklärt  dann  ausreichend  nicht  nur,  dafs  man  die 
kenntnis  von   der  schrift  der  älteren  zeit  zu  bewahren  suchte,  sondern 


II.  KAP.  VERHÄLTN.  ZWISCHEN  D.  KÜRZEREN  U.  LÄNGEREN  RUNENREIHE.    235 

auch,   (lafs  man  sich   versucht  fühlen   konnte,   dieselbe  sogar  nachzu- 
ahmen, um  auf  diese  weise  seine  gelehrsamkeit  an  den  tag  zu  legen. 

4.  Das  Verhältnis  zwischen  den  MT  und  Y(>k)  der  längeren 
und  den  TY  und  X.  der  kürzeren  reihe. 

Es  braucht  nur  noch  über  eine  abweichung  zwischen  der  längeren 
und  der  kürzeren  runenreihe  rechenschaft  gegeben  zu  werden,  nämlich 
ül)er  die  verschiedene  reihenfolge,  die  ein  paar  runen- 
zeichen  in  beiden  einnehmen,  indem  die  längere  reihe  M  T  ent- 
sprechend dem  r  Y  der  kürzeren  hat,  gleichwie  das  Y  (Å)  der  längeren  s.  191. 
sich  an  einer  ganz  andern  stelle  findet,  als  das  entsprechende  zeichen 
der  kürzeren. 

Was  die  erste  dieser  Umstellungen  anlangt,  so  ist  das  Verhältnis 
sehr  einfach.  Wir  können  nämlich  mit  sicheiheit  nachweisen,  dafs  die 
anordnung  MT  in  der  längeren  reihe  die  ursprüngliche  ist,  welche  erst 
sehr  spät  zu  TYin  der  kürzeren  abgeändert  worden  ist.  Dafs  der 
kürzere  fulhark  in  seiner  bekanntesten  gestalt  auch  ursprünglich  m 
vor  l  gestellt  hat,  zeigen  verschiedene  darsteUungen  dieses  fulharks, 
die  bis  auf  die  gegenwart  erhallen  sind.  Die  älteste  derselben  findet 
sich  in  einer  handschrift  von  St.  Gallen  aus  dem  9.  jhdt  (cod. 
Sangaliens,  no,  878),  die  auf  s.  321  einen  altenglischen  futhork  (mit 
dem  namen  ANGÜLlSCUiM)  und  darauf  die  nordische  runenreihe  unter 
dem  namen  ABECEDARIUM  N0RD(MANNICL3I)  enthält. 

Diese  letztere  hat  folgende  gestall*): 


*)  W.  Grimm,  Über  deutsche  Ruuea,  s.  138ff.  und  tab.  II  nach  einer  Zeich- 
nung von  Ilde  fons  von  Arx;  Zur  Literatur  der  Runen,  s.  26 — 28  (vgl.  s.  42) 
mit  einer  neuen  Zeichnung  des  nordischen  fiithnrks  von  von  Arx,  nachdem 
vieles  durch  anwendung  eines  reagens  deutlicher  hervorgetreten  war.  Später 
(1830)  sah  H.  F.  MaTsmann  die  handschrift  und  teilte  seine  lesung  im  „An- 
zeiger flir  Kunde  de;  deutschen  Mittelalters"  1832,  s.  32  mit.  Endlich  hat  auch 
H.  HuttCMier  ein  facsiinile  davon  in  „Denkuiahle  des  Mittelalters"  I,  St.  Galleu 
1844,  taf.  1  gegeben.  Die  umstebcudc  wiedergäbe  Iidit  sich  genau  an  die  zweite 
Zeichnung  von  von  Arx;  nur  die  letzte  der  altejiglischen  runen,  die  unter  feu 
foniian  steht,  ist  als  ^  nach  Mafsmanns  lesung  wiedergegeben  (von  Arx  hat  P 
Haltenier  "1^^  was  gewifs  das  ursprüngliche  ist);  gleichfalls  ist  das  zeichen  über 
der  nordischen  maär-rnnc  mit  (Mafsmann  und)  Hattemer  als  M,  '^-  '•  <lie  altengl. 
7»aÄ-ruue,  wiedergegeben,  während  dieses  zeichen  ganz  auf  von  Arx'  erster 
Zeichnung  fehlte  und  auf  der  zweiten  nur  eine  diagonale  hatte.  —  Das  an  die 
runen  geknüpfte  gedieht  ist  am  besten  bebandelt  von  Müllen  hoff  in  Denk- 
mäler deutscher  Poesie  und  Prosa,  herausgeg.  von  K.  MüUenhoff  u.  W.  Scherer, 
Berlin  1864,  s.   10  &  s.  271—73  (2.  ausg.  1873,  s.   j2  &  s.  2S3— 85)  sowie  in 


236  ZWEITES    BUCH.        DIE    ENTWICKLUNG    DEH    HUNENSCHRIFT    IM    NÜKÜEN. 

^B  tCF  r/^fiiVM     NO  KD 

1/  N  >'  p/ 

'  »»»     E  t)nxaYen.jLma7i.j      LagaTAe^eo/rro/ A  yr^aLlttliabe 
rm  eil 

s.  192.  Hier  linden  wir  also  nicht  nur  die  reihenfolge  ml  wie  im  längeren 

fulhark,  sondern  auch  die  form  ^  für  das  gewöhnliche  Y;  es  ist  klar, 
dafs  die  w-form  hier  dem  von  unsern  runensteinen  her  bekannten 
^  entspricht,  das  früh  das  M  verdrängte,  wie  wir  oben  nachge- 
wiesen haben,  und  ich  zweifle  nicht  daran,  dafs  die  m-riine  auch  in 
der  handschrift  ursprünglich  die  form  ^  mit  ganz  durchgezogenem 
Stab  gehabt  hat,  dafs  dieser  aber  später  oben  so  undeuthch  geworden 
ist,  dafs  er  nicht  mehr  zu  sehen  ist  (in  der  tyr-i'\ine  ist  gleichfalls 
der  Unke  strich  jetzt  fort,  und  das  altengl.  m-zeichen  über  dem  nor- 
dischen kam  auch  erst  mit  hülfe  von  reagens  zum  Vorschein).  Der 
futhark,  welcher  in  der  handschrift  von  St.  Gallen  aufbewahrt  ist, 
stimmt  somit  zu  demjenigen,  der  auf  dem  Tryggevælder  steine  u.  s.  w. 
benutzt  ist  (vgl.  s.  207). 

Eine  gewichtige  einwendung  läfst  sich  jedoch  dagegen  erheben, 
die  anordnung  m  l  in  dieser  handschrift  als  ursprünglich  zu  be- 
trachten, indem  man  behaupten  könnte,  diese  Umstellung  sei  unter 
einflufs  des  altenglischen  futhorks  vorgenommen.  Es  ist  daher  ein 
glück,  d«fs  wir  uns  nicht  allein  auf  die  sangaUische  handschrift  zu 
stützen  brauchen,  um  nachzuweisen,  dafs  m  in  der  kürzeren  nor- 
dischen reihe  ursprüngüch  vor  l  gestanden  hat. 

Dieselbe  Ordnung  hat  man  auch  in  einem  futhork  finden  wollen, 

s.  193.  der  zwischen  andern  runeninschriften  auf  den  wänden  in  der  grab- 
kammer  eingeritzt  ist,  die  1861  von  Farrer  auf  dem  hügel  Maes- 
howe  bei  Stenness  (d.  i.  Steinsnes)  auf  den  Orkneys  geöffnet  wurde, 

einer  besondereu  abhauJluug  „Über  das  abecedariuin  Nordinaoaicum"  in  Haupts 
zeitschr.  f.  deutsches  alterthum  XIV  (Neue  folge  II),  1869,  s.  123—33,  der  ich 
uiich  iu  allem  weseutlicheu  auschlielsen  kann. 


II.  KAP.  VERHALTN,  ZWISCHEN  D.  KURZEREN  ü.  LANGEREN  RÜNENREIHE. 


237 


und  der  hier  in  halber  gröfse   nach    einem    abgufs   im   allnordischen 
museum  zu  Kopenhagen  Aviedergegehen  wird'): 


'«'Um.': 


Da  die  13  ersten  runen  in  den  allgemein  bekannten  jüngsten 
formen  in  der  gewöhnlichen  Ordnung  aufeinander  folgen,  so  haben 
sowohl  Rafn,  wie  Stephens  und  Munch  die  3  letzten  als  zeichen  für 
m,  l,  y  aufgelafst^);  man  müfste  dann  annehmen,  dafs  yk,  das  sonst 
in  den  Maeshower  Inschriften  das  zeichen  für  y  ist,  hier  an  stelle  von 
Y  gebraucht  wäre,  während  die  r/r-rune  die  form  h  hätte.  An  der 
richtigkeit  hiervon  wird  jedoch  starker  zweifei  gehegt  werden  können ; 
denn  auf  Farrers  Zeichnung  fehlt  der  punkt  (der  kleine  strich)  in 
dem  letzten  R  ganz,  und  obgleich  der  abgufs  eine  kleine  Unebenheit 
hat,  die  so  aufgefafst  werden  kann,  bin  ich  nach  wiederholter 
Untersuchung  weit  mehr  geneigt,  dieselbe  als  zufällig  anzusehn.  Wenn 
hierzu  noch  kommt,  dafs  von  den  beiden  vorhergehenden  zeichen 
das  vermeintliche  l  den  beistrich  so  weit  unten  an  dem  hauptstabe 
hat,  dafs  es  natürlich  als  n  aufgefafst  werden  mufs,  und  dafs  m  die 
ganz  alleinstehende  form  mit  den  beistrichen  am  fufse  des  haupt- 
stabes  hat,  so  liegt  es  nach  meiner  meinung  weit  näher,  die  3  letzten  s.  194. 
runen  in  der  bedeutung  zu  nehmen,  worin  sie  sonst  in  diesen  in- 
schriften  vorkommen,  nämlich  als  y,  7i,  u.  Der  futhork  ist  also 
unvollständig,'  wie  das  öfters  der  fall  ist,  indem  die  zeichen  für  m 
und    l  fehlen,    während    die    letzte    rune   Å   (y)   dasteht,    und   die 

^)  Vgl.  Janics  Farrer,  Notice  of  runic  iuscriptions  discovered  duriog  re- 
cent excavalions  in  the  Orkneys.  Printed  for  private  circulation  1S62.  Plate 
VII  no.  5;  Stephens  II,  s.  758  (vgl.  I,  s.  101);  P.A.  Munch  im  Illustreret 
Nyhedsblad,  Christiania  1861,  no.  49,  8.  Decbr.  (=  Samlede  Afhandlinger  IV, 
Christ.  1876,  s.  525). 

^)  Diesen  schliefst  sich  auch  Bugge  in  „Tolkning  af  Runeindskriften  paa 
Rökstenen",  s.  73  an. 


238 


ZWEITES    BUCH.       »IE    ENTWICKLUNG    DEn    RUNENSCHUIFT    IM    NüHDEN. 


beiden  darauffolgenden  runen  (nu)  müssen  dann  am  ehesten  als  eine 
abkürzung  (des  namens  des  runenritzers?)  aufgefafst  werden^).  Dieser 
futbork  gibt  also  keinen  aufschlufs  über  die  reihenfolge  von  m  und  l. 
Die  frage  läfst  sieb  dagegen  auf  anderem  wege  mit  vollkomme- 
ner sicberbeit  vermillelst  der  Maeshower  inscbriflen  lösen.  Die 
„zweig-"  oder  „astrunen",  die  in  ein  paar  dieser  inschriften  vor- 
kommen, setzen  nämlich  folgende  anordnung  des  futhorks  voraus: 

12        3      4        5       6 

1.  r  n    M  R  K 

1         2         S        t        5 

2.  )|<    h    Ml 

12         3        4        5 

3.  1  ^  Y  r  /k 

wo  dann  wie  sonst  häufig  die  „geschlechler"  in  verschiedene  Ordnung 
gestellt  werden  konnten,  so  dafs  z.  b.  Froys  geschlecht  (no.  1) 
und  Tys  ge  schlecht  (no.  3)  den  platz  tauschten  (vgl.  Liljegren, 
Hun-Lära  s.  52).  Hiernach  finden  wir  leicht  die  bedeutung  der 
zweigrunen  in  der  Maeshower  Inschrift  bei  Farrcr  pl.  VIII  no.  8, 
Stephens  I,  s.  237: 


WW/ 


m/i 


Aus  der  anzahl  der  zweige  ist  es  klar,  dafs  die  zur  rechten  die 
stelle  der  rune  im  geschlecht,  die  zur  linken  das  geschlecht  selbst 
angeben.  Da  das  fünfte  zeichen  die  6.  rune  im  3.  geschlecht  aus- 
drücken soll,  und  nur  Froys  geschlecht  nach  der  gewöhnlichen  ein- 
teilung  6  runen  bat  (die  beiden  andern  jedoch  5),  so  können  wir 
hieraus  sofort  mit  Wahrscheinlichkeit  schliefsen,  dafs  Tys  ge- 
schlecht als  no.  1  und  Froys  als  no.  3  gezählt  wird.  Wir  erhalten 
folglich : 

^)  Ich  habe  mir  auch  gedacht,  dafs  nu  die  aiifangsbuchstaben  des  adjekti- 
vuins  iiurun  =  H07vjrt«  'nordisch,  norwegisch' wären,  in  welch  letzterer  bedeu- 
tung es  sich  gerade  auf  dem  dänischen  steine  von  Egå  findet  („ISavneordenes 
böjning  in  ældre  dansk"  §  21,  s.  50);  der  ausdruck  hier  würde  dann  ganz  der 
bezeichnung  ,,Abecedarium  INordmanDicum"  im  cod.  Sangall.  entsprechen.  Gegen 
diese  aulfassuug  kann  jedoch  der  einwand  erhoben  werden,  dafs  nurun  nach 
der  in  den  Inschriften  von  Maeshowe  gebrauchten  Schreibweise  wahrscheinlich  ^, 
nicht    n  haben    würde.  , 


II.  KAP.    VERHÄLT«.  ZWISCHEN  D.  KURZEREN  V.  LÄNGEREN  RUNENREIHE. 


239 


4.  rune  im  2.  geschlecht  =  a 

5.  rune  im  3.  (1.)  geschlechl  =  r 

4,  rune  im  1.  (3.)  geschlechl  =  l 
3.  rune  im  2.  geschlecht  =    / 

6.  rune  im  3.  (l.)  geschlecht  =  k 

5.  rune  im  3.  (I.)  geschlecht  =  r 

also  arlikr.  Die  erste  rune  (a)  hat  indessen  noch  einen  querslrich 
an  dem  hauplslahe;  in  dem  alphabele,  das  der  runeinilzer  benutzte, 
war  die  alte  är-riine  (+)  nämlich  in  die  beiden  formen  H  mit  der 
bedeutung  a  und  +  mil  der  bedeutung  æ  gespalten.  Durch  den 
querslrich  ist  also  deutlich  zu  erkennen  gegeben,  dafs  es  die 
form  der  4.  rune  im  2.  gescidechte  war,  welche  die  bedeutung  æ 
halle,  die  hier  ausgedrückt  worden  sollte.  Folglich  mufs  das  wort 
ærlikr  d.  i.  Æiiingr  (=  dem  gewöhnlichen  allnord.  Erliugr)  ge- 
lesen werden,  der  name  dos  runenrilzers.  S<?1mu  Stephens  hal  diese 
runen  auf  dieseli»e  weise  gedeutet;  nur  liest  er  unrichtig  aærlikr, 
indem  er  die  erste  rune  als  zeichen  für  ace  slalt  Inj"  æ  allein  au- 
sicht. 

Nach  demselben  princip  werden  auch  die  zweigrunen  in  der 
Maeshower  inscluift  bei  Faner  pl.  X  no.  18,  Stepheus  I,  s.  238,  ge- 
deulel,  die  ich  hier  mitnehme,  da  wir  sogleich  anlafs  bekommen 
werden,  den  futhork  gerade  dieser  inschrifl  zu  besprechen: 


195. 


w  w. 


'I/Wå 


f  J  f  f  f 


A  å  A 


A 


p       i       s       a        r       r      n      n     a       r 

also  j)isar  runar  (,.diese  runen"),  wie  auch  Stephens  gelesen  hat. 
Dagegen  hat,  soweit  ich  weifs,  niemand  bemerkt,  dafs  der  runen- 
ritzer  in  dieser  inschrifl  zugleich  ein  ganz  deutliches  zeugiiis  darüber 
abgelegt  hat,  welche  stelle  m  in  dem  von  ihm  benutzlen  futhork  hatte. 
Nach  den  vvorlen  |)isar  runar  mit  den  zweigrunen  folgt  nämlich  in 
gewöhnlichen  runen:  rist  sa  mafir  er  runstr  er  fyrir  uæstan 
haf;  während  die  übrigen  runen  nichts  eigentümUches  bieten,  ist  w 
in  ma})r  durch  f  und  h  in  haf  durch  i^  bezeichnet.  Stephens 
nennt  die  in-  und  A-form  „ornamental'-;  aber  dies  gilt  auf  jeden 
fall  nur  von  h,  wo  die  querstriche  verdoppelt  sind;  dagegen  ist  die  s.  196. 
angeführte  form  der  m-rune  gerade  absichthch  gebraucht,  da  der 
runenrilzer  dadurch  zugleich  m  als  dritte  rune  im  ersten  (d.  h.  drillen) 


240  ZWEITES    BUCH.       DIE    ENTWICKLUNG    DER    RUNENSCHRIFT    IM    NORDEN. 

geschlechte  bezeichnen  wollte;  es  ist  nämlich  eine  „zweigrune"  von 
derselben  art,  wie  in  dem  worte  ftisar,  und  der  runenritzer  hat 
uns  dadurch  zugleich  den  schlüssel  gegeben,  um  diese  runen  zu 
lesen;  es  ist  offenbar,  dafs  er  mit  seiner  fertigkeit  im  runenritzen  hat 
spielen  wollen,  was  ja  auch  gut  dazu  stimmt,  dafs  er  sich  selbst 
„den  runenkundigsten"  nennt. 

Es  geht  also  hieraus  hervor,  dafs  der  fulhork  der  Maeshower 
inschriflen  die  reihenfolge  ml  hatte.  Dieselbe  anordnung  linden  wir 
gleichfalls  auf  dem  oben  (s.  181)  genannten  steine  in  der  Monsteder 
kirche,  und  es  kann  kein  zweifei  darüber  bestehn,  dafs  der  ebenda 
genannte  stein  von  Astrup,  dessen  futhork  wegen  der  runenformen 
für  etwas  älter  als  der  des  Monsteder  Steines  gehalten  werden  mufs, 
dieselbe  reihenfolge  gehabt  hat.  Erst  im  12.  jlidt  finden  wir  die  spätere 
anordnung  auf  dem  taufstein  in  Bårse.  In  Schweden  treffen  wir  die 
ursprüngliche  reihenfolge  auf  einem  stein  von  Upland  (Baulil  no.  331, 
Liljegren  no.  2006,  Upplands  Fornminnesförenings  Tidskrift  I,  1871, 
s.  76).  Merkwürdiger  ist  es,  dafs  die  reihenfolge  m  l  auch  nicht  blofs 
in  dem  norwegischen  runengedicht,  sondern  sogar  in  der  spät  nieder- 
geschriebenen isländischen  runenreimerei  bewahrt  ist;  ja  selbst  in  ein 
paar  jüngeren  handschriftlichen  fulhorken  (Hickes,  Thesaurus  III, 
tab.  VI  no.  5  und  7;  Stephens  I,  s.  103  no.  12  und  14),  von  denen 
der  eine  hinter  der  yr-rane  Y  g  und  der  andere  eine  gröfsere  reihe 
neuerer  runen  hinzugefügt,  nimmt  m  noch  seinen  alten  platz  vor  l  ein. 

Wir  dürfen  hieraus  schUefsen,  dafs  die  anordnung  m  l  erst  sehr 
spät  (kaum  vor  dem  Schlüsse  des  11.  oder  eher  vielleicht  erst  gegen  die 
mitte  des  12.  jhdts)  von  der  jüngeren  l  m  verdrängt  worden  ist,  und 
dafs  die  Überlieferung  doch  die  alte  anordnung  noch  viel  später  hat 
festhalten  können.  Dafs  die  Umstellung  unter  einflufs  des  lateinischen 
alpha betes  geschehen  ist,  welches  zu  der  zeit  stark  dazu  beitrug,  dafs 
die  alte  runenschrift  auch  in  andern  beziehungen  wesentliche  Ver- 
änderungen erfuhr,  kann  kaum  einem  zweifei  unterworfen  sein.  Mög- 
licherweise hat  das  lateinische  aiphabet  auch  die  Umstellung  von  m  l 
hervorgerufen,  die  sich  wahrscheinlich  auf  dem  Themsemesser  tindet 
(siehe  oben  s.  86  und  s.  109  anm.  1);  aber  das  ist  auf  jeden  fall 
klar,  dafs  die  anordnung  auf  dem  Themsemesser  nicht  in  der  geringsten 
Verbindung  mit  der  weit  später  vorgenommenen  umordnung  im  nor- 
dischen futhork  steht,  und  während  die  reihenfolge  Im  in  den  alteng- 
lischen alphabeten  als  eine  alleinstehende  ausnähme  auf  dem  Themse- 
messer auftritt,  wurde  sie  in  dem  jüngsten  nordischen  futhork  regel. 


II.  KAP.   VERHÄLTN.  ZWISCHEN  D.  KÜRZEREN  ü.  LÄNGEREN  RUNENREiHE.  241 

Weit  schwieriger  ist  es,  die  letzte  frage  zu  beantworleo,  die  uns 
entgegentritt,  welches  Verhältnis  zwischen  dem  Y  (Å)  r  der  längeren 
reihe  und  dem  >k  r  (y)  der  kürzeren  statt  lindet.  Wir  finden 
hier  nämlich  nicht  nur  eine  verschiedene  anordnung  in  beiden 
reihen,  indem  die  längere  Y  im  zweiten  geschlecht  zwischen  p  und  s  s.  197. 
hat,  während  das  Å  der  kürzeren  zuletzt  im  dritten  geschlecht  steht; 
sondern  es  besteht  zugleich  die  abweichung  zwischen  beiden  reihen, 
dafs  das  Å  der  kürzeren  den  namen  yr  führt,  während  ich  oben 
nachgewiesen  habe,  dafs  das  Y  der  längeren  einen  dem  altnord. 
elgr  entsprechenden  namen  gehabt  hat.  In  der  erklärung  dieser  Ver- 
hältnisse müssen  wir  uns  wesentlich  an  vermutungen  halten,  und 
ich  bin  daher  nicht  sicher,  dafs  es  mir  geglückt  ist  das  richtige 
zu  treffen  oder  alle  die  zweifei  zu  entfernen,  die  erhoben  werden 
können.  Als  einen  lösungsversuch,  von  dessen  richtigkeit  ich  gleich- 
wohl jetzt  mehr  überzeugt  bin  als  im  jähre  1874,  teile  ich  die  folgenden 
bemerkungen  mit,  in  der  hoffnung,  dafs  es  einem  andern  gelingen 
werde  sie  entweder  zu  bestätigen,  oder  etwas  besseres  an  ihre  stelle 
zu  setzen. 

Die  sichere  grundlage,  von  der  wir  in  jedem  falle  ausgehen 
müssen,  ist  die  bedeutung  von  yk  in  den  inschriften  mit  dem  kürzeren 
alphabete.  Dafs  >k  in  den  ältesten  dieser  inschriften  das  zeichen  für 
einen  von  R  verschiedenen  r-laut  ist,  welcher  ursprünglichem  z 
(gotischem  s,  z)  entsprach,  habe  ich  in  „de  ældste  nord.  runeindskr." 
(årh.  f.  nord.  oldk.  1867),  s.  31  f.  (vgl.  oben  s.  130  ff.)  nachgewiesen. 
Diese  bedeutung  von  Å  entspricht  somit  ganz  der  bedeutung  von  Y 
(A)  im  längeren  alphabete,  und  es  ist  daher  unzweifelhaft,  dafs  das 
Ås.  des  kürzeren  geradezu  die  eine  (jüngere)  von  den  formen  ist, 
welche  das  längere  aiphabet  zum  ausdruck  des  lautes  r  gebrauchte. 
Da  in  späterer  zeit  die  beiden  r- laute  zusammenfielen,  so  finden 
sich  auch  die  zeichen  Å  und  I^  durcheinander,  und  zuletzt  wird  nur 
R  für  den  r-laut  gebraucht,  während  >k  die  bedeutung  y  bekommt 
(so  in  der  runenhandschrift  des  schonischen  gesetzes  von  ungef.  1300 
oder  ein  wenig  früher  BÅ  =  by).  Es  liegt  nahe,  den  grund  zu  diesem 
übergange  von  der  bedeutung  r  zu  j^  in  dem  runennamenj^  selbst 
zu  suchen.  Ursprünglich  ist  dieser  name  für  das  sogenannte 
„schlufs-Ä"  gebraucht  worden,  er  endete  also  auf  die  rune,  welche 
er  bezeichnete;  aber  da  man  später  ein  besonderes  zeichen  für 
diesen  r-laut  zum  unterschiede  von  R  nicht  brauchte,  so  bekam  A 
die    bedeutung    y,    indem    man    wie    bei    den  andern    runennamen 

WIMHER,  Die  ranensehrift.  Jg 


242       ZWEITES    BUCH.       DIE    ENTWICKLUNG    DER    RUNENSCHRIFT    IM    NORDEN. 

den  wert  dieses  Zeichens  in  dem  laute  suchte,  womit  der  naine 
anfing. 

Diese    Vorgänge    scheinen  an    und    für    sich    überaus   natürlich 

s.  198.  und  einfach,  aber  sie  geben   uns  keine  erklär  ung  für  die  verschiedene 

anordnung  und  die  Verschiedenheit  der  nainen  in  den  beiden  reihen. 

Was  zunächst  die  anordnung  betrifft,  so  müssen  wir  darauf 
achten,  dafs  alle  darstellungen  der  kürzeren  reihe  ohne  ausnähme 
die  yr-rune  an  der  letzten  stelle  und  kein  dem  Y  der  längeren  reihe 
entsprechendes  zeichen  vor  s  haben.  Dies  gilt  von  der  handschrifl 
von  St.  Gallen,  den  eben  besprochenen  fulhorken  von  Maeshowe 
u.  s.  w. ,  wo  die  alte  reilienfolge  m  l  noch  bewahrt  war.  Eben- 
falls zeigen  die  zweigrunen  in  der  Maeshower  inschrift  no.  18 
(s.  239),  dafs  s  den  fünften  platz  im  zweiten  geschlechte  gehabt,  und 
dafs  Å  folglich  im  dritten  zuletzt  gestanden  hat.  Die  Umstellung 
von  A  inufs  daher  vorgenommen  sein,  lange  bevor  l  vor  m  gestellt 
wurde,  und  sie  mufs  einen  ganz  andern  grund  haben,  da  gerade  das 
lateinische  aiphabet  hier  dazu  hätte  auffordern  können,  n  vor  s  zu 
behalten.  Der  grund  für  diese  Umsetzung  scheint  jedoch  nicht  so 
schwer  nachweisbar.  Da  nämlich  acht  von  den  älteren  runenzeichen 
allmählich  aufgegeben  waren,  so  würden  wir  mit  bewahrung  der  alten 
anordnung  folgende  reihe  etwa  um  das  jähr  800  (der  stein  von  Helnæs 
u.  s.  w.)  erhallen: 

Hier  waren  also  6  runen  in  jedem  der  beiden  ersten  geschlechler, 
aber  nur  4  im  dritten.  Um  gröfsere  harmonie  zwischen  der  anzahl 
der  zeichen  in  den  3  geschlechtern  zu  wege  zu  bringen,  versetzte 
man  dann  Å  aus  dem  zweiten  geschlecht  an  das  ende  des  dritten. 
Da  natürhch  P'HT  ihren  ursprünglichen  platz  als  erste  rune  in  jedem 
geschlechte  behalten  mufsten,  so  halte  man  nur  die  wähl  zwischen 
einer  der  fünf  andern  runen  in  den  beiden  ersten  geschlechtern, 
und  dafs  man  gerade  Å  wählte,  lag  ohne  zweifei  daran,  dafs  diese 
rune  sich  von  allen  andern  dadurch  unterschied,  dafs  ihre  bedeutung 
im  ende  ihres  namens  enthalten  war.  Dafs  sie  in  der  kürzeren 
reihe  gerade  denselben  platz  erhielt,  welchen  die  andere  rune,  deren 
wert  gleichfalls  im  Schlüsse  (auslaute)  des  namens  stand,  nämlich  die 
ing-rane  V,  in  der  längeren  reihe  gehabt,  mufs  als  ganz  zufällig 
angesehen  werden,  da  die  Umsetzung  von  >k  sicher  erst  lange  nach- 
dem die  m^-rune  aufgegeben  war,  geschehen  ist. 


II.  KAP.      VERHÄLTiN.  ZWISCHEN  D.  KÜRZEREN  U.  LÄNGEREN  RDNENREIHE.  243 

Es  bleibt  also  nur  noch  übrig  das  Verhältnis  zwischen  d  en  n  amen  s.  199. 
yr  in  der  kürzeren  und  elgR  (*algiR)  in  der  längeren  reihe  zu  be- 
trachten. Durch  eine  scharfsinnige  auseinandersetzung  hat  Müllen- 
hoff  (Zur  Runenlehre  s.  60  f.)  nachzuweisen  gesucht,  dafs  der 
nordische  runenname  yr  mit  ahd.  tuTa,  nhd.  eihe  und  mit  dem  alt- 
engl.  runennamen  eöh  (ih)  =  eöw  (iic)  identisch  sei^).  Wäre  diese 
erklärung  richtig,  so  würde  daraus  ja  mit  notwendigkeit  folgen,  dafs 
allnord.  yr,  das  in  der  kürzeren  reihe  der  name  für  Å.  ist,  in  der 
längeren  dem  der  altengl.  eö/»-rune  entsprechenden  zeichen  "V  4* 
angehört  haben  müfste,  und  ich  sähe  dann  keinen  andern  ausweg 
dieses  Verhältnis  zu  erklären,  als  die  annähme,  dafs  die  rune  \,  die, 
wie  wir  oben  nachgewiesen  haben,  im  Norden  nicht  als  laulzeichen 
auftritt,  hier  ihren  namen  an  die  rune  A.  abgegeben  hat,  die  des- 
halb in  der  jüngeren  reihe  yr  statt  elgr  heifst;  der  neue  wie 
der  alte  war  ja  ein  name,  in  welchem  der  lautwert  der  rune  (ß) 
am  wortende  als  kennzeichen  für  den  norainativ  stand.  Obwohl 
eine  solche  namenüberlragung  von  einem  zeichen  auf  ein  anderes 
nicht  an  und  für  sich  unmöglich  genannt  werden  kann  (man 
denke  z.  b.  an  die  Verhältnisse  bei  griech.  aiyfta),  so  ist  sie 
doch  wenig  wahrscheinlich,  und  ich  würde  in  diesem  falle  nicht 
im  Stande  sein,  einen  irgend  wie  vernünftigen  grund  dafür  an- 
zugeben. Trotzdem  daher  MüllenhotTs  Zusammenstellung  von  alt- 
nord.  yr  und  altengl.  eöh  sprachlich  unanfechtbar  ist,  erweckt  sie  doch 
so  grofse  bedenken,  dafs  ich  die  ähnlichkeit  zwischen  dem  alteog- 
lischeu  und  dem  nordischen  runennamen  nur  für  zutällig  ansehen 
kann  und  in  folge   dessen  auch   die   annähme  verwerfen    mufs,    dafs  s.  2uo. 


')  Altuortl.  yr  y^eht  voa  ciaer  grundform  aus,  die  in  der  ältesten  ruuen- 
sprache  |P^Y  Iwaa  lauten,  und  etyiuologisch  ganz  dem  griecbischen  iös  (aus 
*is6s)  'pt'eil'  eutsprerben  würde,  das  also  nicht  mehr  als  ein  wort  da  stände, 
das  nnr  im  griechischen  uad  arischen  nachgewiesen  wäre  (J.  Schmidt,  Die  Ver- 
wantscbaftsverhättnisse  der  lodogerm.  Sprachen,  s.  61).  MülleohotT  weist 
an  der  oben  genannten  stelle  auf  die  ähnlichkeit  zwischen  yr  und  iös  hin, 
scheint  sie  jedoch  für  zufällig  zu  halten,  trotzdem  er  mit  rücksicht  auf  die  ver- 
schiedene bedeutuDg  der  worte  mit  recht  das  Verhältnis  zwischen  lat.  arcut 
^bogen'  und  den  entsprechenden  worteu  in  der  germanischen  sprachfamilie  her- 
vorbebt, die  die  bedeutong  'pfeil'  haben:  got.  *arhwa-,  arhwazna,  altuord. 
or,  geil,  orvar  (würde  in  der  ältesten  runensprache  *arhw6  lauten),  altengl. 
earh,  arewe  (eng.  arrow).  —  Es  beruht  natürlich  auf  einem  misverständnisse, 
wenn  Munch  glaubt,  dafs  der  runenname  yr  'bogen'  ursprünglich  or  'pfeif  ge- 
lautet haben  könne  (Forn -.Svenskans  och  Forn-iSorskans  Språkbyggnad  s.  123). 

16* 


244  ZWEITES    BUCH.       DIE    ENTWICKLUNG    DER    RUNENSCHRIFT    IM    NORDEN. 

^  ursprünglich  der  nordische  name  fur  die  rune  \  war,  der  später, 
ungewifs  aus  welchem  grunde,  auf  Å  übertragen  worden. 

Als  erklärung  dafür,  dafs  das  ijr  im  jüngsten  nordischen  futhork 
elgr  als  namen  für  die  rune  Å  verdrängt  hat,  sehe  ich  nur  eine 
möghchkeit,  nämlich  die  annähme,  dafs  die  Nordleute  erst  in  sehr 
später  zeit  den  namen  yr  aus  dem  altenglischen  runen- 
alphabete  aufgenommen  haben.  Hier  hatte  man  früh  aus  der 
alten  «-rune  ein  neues  zeichen  für  y  gebildet,  welches  hinter  die 
ursprüngliche  reihe  gestellt  wurde  und  den  namen  yr  halte.  Die 
form  des  nordischen  Å  elgr  führte  leicht  zu  der  annähme,  dafs  es 
wie  altengl.  yr  eine  Umbildung  von  H  sei,  und  als  man  Å  auf  den 
letzten  platz  im  futhark  gestellt  hatte,  wurde  die  scheinbare  Über- 
einstimmung mit  dem  altenglischen  zeichen  noch  gröfser,  was  mit 
sich  brachte,  dafs  auch  der  altengl.  name  auf  die  nordische  rune 
übertragen  wurde;  dies  konnte  um  so  leichter  geschehen,  als  man  im 
altengl.  namen  yr  das  nordische  wort  yr  zu  finden  glaubte.  Wir  haben 
hier  dann  denselben  Vorgang,  wie  wenn  altengl.  6s  später  das  nordische 
åss  verdrängt  und  mit  altnord.  6ss  identificiert  wird.  Zwar  scheint 
der  futhark  in  der  handschrift  von  St.  Gallen  zu  beweisen,  dafs  ^r 
im  Norden  frühzeitig  als  name  für  Å  gebraucht  worden;  aber  ich 
kann  dem  Zeugnis  dieser  handschrift  bezüghch  dieser  frage  kein 
grofses  gewicht  beimessen ,  da  einwirkung  von  dem  altengUschen 
alphabete  gerade  hier  so  nahe  lag,  dafs  ich  kein  bedenken  hege 
s.  201.  anzunehmen,  der  name  yr  im  cod.  Sangall.  sei  durch  ein  mifsver- 
ständnis,  unter  einflufs  der  yr-rune  des  altenglischen  alphabetes,  in 
das  nordische  gekommen,  welche  man  natürlich  mit  dem  nordischen 
zeichen  identificierte.  Dessen  wirklicher  name  war  damals 
und  weit  später  nach  meiner  meinung  elgR,  und  elga  wurde 
erst  dann  von  yr  verdrängt,  als  man  das  bedürfnis  nach 
einem  eigenen  zeichen  für  den  i/-laut  fühlte. 

Zu  dieser  annähme  bin  ich  durch  einen  ziemlich  seltenen  ge- 
brauch des  Zeichens  Å  auf  dänischen  und  schwedischen  runensteinen 
geführt  worden,  der  nach  meiner  meinung  bisher  nicht  richtig  er- 
klärt ist. 

Der  gröfsere  Søndervissinger  stein,  der  ohne  zweifei  von 
Harald  blauzahns  gemahlin  Tofa  zur  erinnerung  an  ihre  mutter  er- 
richtet ist  und  dem  ende  des  10.  Jahrhunderts  angehört,  hat  in 
4  Zeilen  folgende  inschrift: 


II.  KAP.   VERHALTN.  ZWISCHEN  D.  KÜRZEREN  U.  LÄNGEREN  RDNENREIHE.    245 

tufa  I  lÅt  <  kaurua • kubl 

mistiuis  •  tuti/k  ■  uft  ■  muj)ur 

sina  '  harats  <  hius  ■  ku{)a  •  kurms 

kuna  suna>k 

die  ungefähr  gelautet  haben  mufs:  Töfa  Ut  gerwa  (yårwd)  kumbl, 
Misttwis  dötttR ,  øf(  mödur  sina,  Haralds  hins  gada  Gorms  siniüR  kona, 
d.  h.  „Tofa,  Mistiwis  tochter,  Haralds  des  guten  Gormssohns  weih,  liefs 
das  denkmal  machen  nach  ihrer  mutter". 

Geraäfs  der  ursprünglichen  Unterscheidung  zwischen  År  und  1^  r 
steht  Å  richtig  in  dem  genitiv  simaR  und  1^  richtig  in  dem  accusaliv 
mu[)ur  d.  i.  möditr;  auch  in  dem  nominaliv  tutiR  d.  i.  dötlt'ji 
ist  Å  frühzeitig  durch  analogie  aus  andern  formen  an  stelle  von  R 
getreten  (vgl.  'Anhang'  IV).  Daneben  treffen  wir  indessen  hier  auf 
dem  Sondervissinger  steine  A.  in  dem  worte  lAt  mit  einer 
ganz  andern  bedeulung;  dafs  wir  in  dieser  form  das  Präteritum 
des  verbums  lata  haben,  das  sonst  auf  den  runensteinen  unzählige 
male  MT  lit  ge.schrieben  wird,  ist  natürlich  über  jeden  zweifei  er- 
haben; es  handelt  sich  also  nur  um  die  ausspräche  dieser  form. 
Thorsen  („Den  sondervissingske  Runesten"  s.  15  — 16)  nimmt  an, 
dafs  TAT  løt  gelautet  habe,  und  findet  in  dem  gebrauch  des  /k. 
mit  der  bedeutung  ø  ein  sehr  altes  beispiel  für  den  später  allge- 
meinen gebrauch  dieses  Zeichens  als  vokal,  weshalb  er  es  nicht 
nur  mit  Å  auf  dem  Hobroer  steine,  den  wir  sogleich  näher  be- s.  202. 
sprechen  werden,  sondern  auch  mit  dem  År+I^  des  Vejerslever 
Steines  und  mit  Å  in  der  Gesingholmer  Inschrift  zusammenstellt.  Im 
gegensatz  zu  Thorsen  glaube  ich  indessen,  dafs  das  >k  der  beiden 
letzten  Inschriften  mit  der  gewöhnlichen  jüngeren  bedeutung  y  (das 
Ar+R  des  Vejerslever  Steines  lese  ich  yfaer  =  yvær  im  jütischen 
gesetze)  nicht  in  der  geringsten  Verbindung  mit  A  auf  den  steinen 
von  Sondervissing  und  Hobro  steht.  Dafs  der  y-laut  später  in  vielen 
fällen  in  ø  überging,  erklärte  ja  keinesfalls,  wie  so  das  spätere  «/-zeichen 
schon  auf  dem  Sondervissinger  steine  mit  der  bedeutung  o  gebraucht 
wäre,  und  die  Schreibweise  (kaurua,)  uft,  wo  gerade  der  >9-laut 
wie  sonst  regelmäfsig  in  den  runeninschriften  durch  (au  oder)  «  aus- 
gedrückt wird,  macht  es  höchst  unwahrscheinlich,  dafs  man  für  e 
in  let  eine  neue,  sonst  unbekannte,  bezeichnung  für  diesen  laut  ge- 
wählt haben  sollte.  Da  aufserdem  sprachgeschichtliche  gründe  da- 
gegen sprechen,  die  form  løt  für  so  alt  zu  halten,  so  zweifle  ich  nicht 


246  ZWEITES    BUCH.       DIE    ENTWICKLUNG    DER    RUNENSCHRIFT    IM    NORDEN. 

daran,   dafs  die   Schreibweise  T/kT  liier   dieselbe  ausspräche  wie  das 
gewöhnliche  TlT,  nämlich  Ut  (=  isl.  Ut)  oder  ^céf  bezeichnet'), 
s.  203.  Obgleich    >k  auf  den   runensteinen    selten  als  zeichen    für  den 

e-  oder  æ-laut  vorkommt,  isl  der  Sjandervissinger  stein  jedoch  nicht 
alleinstehend.  Dasselbe  Verhältnis  begegnet  uns  wenn  möglich  noch 
deutlicher  auf  einem  andern  jütischen  steine,  nämlich  dem  von 
Hobro,  den  ich  umstehend  nach  einer  Zeichnung  von  prof.  Kornerup 
im  archiv  des  altnordischen  museums  zu  Kopenhagen  mit  einigen 
berichtigungen,  die  sich  auf  meine  eigene  Untersuchung  des  Steines 
gründen,  wiedergebe.     Die  Inschrift  lautet: 

:  {)uri>k  :  risj)i  :  stin  :  {)qasi^)  :  aufti  :  karl  : 
hin  :  ku|)f[a  :  fÅlaka  :  sin  :  harjia  :  ku|)<ian  :  trÅk  : 
d.  h.  PöriR  ræispi  (oder  réspi)  stæin  (oder  sten)  pannsi  øfti  Karl  hinn 
göda  félaga  sinn,  harda  gödan  dræng,  „Thorir  errichtete  diesen  stein 
nach  Karl  dem  guten,  seinem  kameraden,  einem  sehr  tüchtigen  manne". 
Hier  steht  Å.  also  wie  auf  dem  Søndervissinger  steine  einmal 
mit  seiner  gewöhnlichen  bedeutung  in  MriR  und  zugleich  als  zeichen 


•)  Wenn  Thorsen  meint,  dafs  das  jetzige  dänische  lod  „sich  aus  der  pro- 
vinzialeigentiiuilichkeit  entwickelt  hat,  welche  f'/kT  uns  erkennen  lälst",  so 
kann  ich  diese  auffassung  nicht  teilen.  Von  den  ältesten  dänischen  Sprachdenk- 
mälern hat  die  runenhaudschrift  des  schouischen  gesetzes  zweimal  løt  (V,  17), 
während  die  Hadorfsche  handschrlft  an  beiden  stellen  lot  schreibt;  diese  letztere 
form  wird  auch  in  den  seeländischen  gesetzen  gebraucht,  wogegen  das  jütische 
gesetz  einmal  let  und  einmal  læt  hat.  im  altschwedischen  ist  die  regelmaisige 
form  læt  (im  Gutalag  Ut,  wo  t  wie  in  andern  fällen  Island,  e  entspricht),  aber 
lot  selten.  Das  Verhältnis  zwischen  den  formen  læt,  let,  lut  im  altschwedischen 
und  altdänischen  ist  sicher  dieses,  dai's  læt  die  älteste  ist,  und  dafs  lot  erst 
später  dadurch  aufkam,  dals  das  wort  in  die  ablautsreihe  a — 6  übergeführt 
wurde  (in  analogie  mit  /ara  u.  s.  w.  flectiert  wurde,  wie  z.  b.  in  dem  jetzigen 
gotländischen  dialekte  rada  im  präteritura  7'od  heilst,  während  die  Gutasaga 
reß,  riap  hat).  Dagegen  h;it  sich  løt  am  ehesten  aus  læt  durch  Übergang  von  æ 
in  e  entwickelt.  —  Da  altnord.  lét  wie  bekannt  aus  einer  älteren  form  mit 
reduplicatioussilbe  entstanden  ist,  könnte  man,  wenn  das  X>.  des  T/kT  ^"^  ^^^ 
Søndervissinger  steine  als  zeichen  für  den  e-  oder  æ-laut  alleinstehend  wäre,  ver- 
sucht sein  dieses  wort  lat  zu  lesen,  wo  J^  also  seine  urspiüiigliche  bedeutung 
hätte,  nnd  der  vokal  ausgelassen  wäre;  in  l[æ]i't  gehörte  das  /  somit  der  redupli- 
cationssilbe,  und  r  mülste  durch  dissimilatiun  aus  dem  /  der  wurzel  hervorge- 
gangen sein  (vgl.  altengl.  leorl,  prät.  von  lætan,  got.  lailot).  Aus  mehreren 
gründen  halte  ich  jedoch  diese  erklärung  für  unrichtig. 

*)  Die  inschrift  hat  [s^+HI  (nicht  fj'l'+HI  wie  auf  Kornerups  Zeichnung), 
wo  ^'f  wi^  i"  ku{)2ia  v.aå  kujj^aii  gebraucht  ist. 


II.  KAP.    VERHÄLT.N.  ZWISCHEN  D.  KÜRZEREN  U.  LÄNGEREN  RDNENREIHE. 


24- 


für  é  ((p)  und  æ  in  den  worten  félagi  (fælagi)  und  dræfiga,  die  beide 
sonst  regelraäfsig  Tl  T+Kl  und  TRIKÅ  geschrieben  werden. 

Noch  öfter  kommt  A  mit  der  bedeulung  e,  æ  in  Schweden 
vor.  Aus  der  liarde  Ase  in  Ves t ergo t land  führt  Liljegren  10 
steine  an  (Run-Urkunder  no.  1367 — 76),  von  denen  wenigstens  vier 
>k  als  zeichen  für  e,  æ  gebrauchen  in  den  worten  t'/kKi*  =  pegn  (no. 
1370),  tItkK  =  dræng  (no.  1371.  t372\  ÅrtlÅ  =  af/i/j,no.  1370, 


Der  steiu  vou   Hobro,  Jiitlaod. 

1376),  also  ganz  in  derselben  bedeutung  wie  I  in  1*1  Ki",  Ir  TfÅ  auf 
no.  1369  gebraucht  ist  und  ♦  in  I  TTI  auf  no.  1372,  wo  wir  also  sowohl 
\  wie  auch  A  in  der  bedeulung  e  (æ)  flnden^).    Der  letztgenannte  stein  s.  204. 

*)  Dagegen  ist  es  höchst  nowahrscheiolich,  dafs  J^  auch  in  IP'Tyk  auf 
00.  1375  und  in  \Y X.  auf  no-  13T1  e  (ifte,  ife:  vgl.  efti  auf  no.  137"2)  oder 
eR  UftcR,  ifcR)  bezeichnet,  so  dafs  X.  sowohl  zeichen  für  e  wie  für  iJ  wäre; 


248 


ZWEITES    BUCH.       DIE    ENTWICKLUNG    DER    RUNENSCHRIFT    IM    NORDEN. 


(no.  1372)  scheint  in  naher  beziehung  zu   dem   eben    besprochenen 
dänischen    steine    von    Hobio    zu  stehen,    mit   dessen    hülfe    er  mit 


Der   stein  aus  dem  kirclispiel  Äs,  Äse  härad,  Vestergötland. 

Sicherheit   wird   ergänzt  werden  können,    weshalb  ich  ihn   hier  nach 
der    Zeichnung    im    Bautil    (no.    951)    wiedergebe.      Die    inschrift, 


yjv   iiiuls    io    den    geoanntea    werten    in    seiner  gewöhnlichen    bedeutung  R  ge- 
noiumen  werden  (iftR,  iffi  ist  eine  nicht  selten  vorkoiuiceade  Schreibweise). 


II.  KAP.   VERHÄLTN.  ZWISCHEN  D.  KÜRZEREN  U.  LÄNGEREN  RUNENREIUE.    249 

in  deren  schlufs  die  spitzen  der  runen  abgeschlagen  sind,    mufs  ge- 
lesen werden: 

jjuri  :  risj)!  :  st[i]n  :  J)4nsi  :  efti  :  karl  : 

sin  :  f >k . . . .  :  h[a]r])a  :  ku|)^n  :  trAk  : 

Zwischen  sin  und  h[a]r{)a  liest  Liljegren,  was  auch  die  Zeichnung  s.  205. 
im  Bautil  zunächst  anzeigt,  Fr:  i'ant,  das  also  frænd\a)  bedeuten 
müfste;  aber  es  hat  dort  offenbar  VXX\Y\  {^^  félaga)  wie  auf  dem 
Hobroer  steine  gestanden^).  Da  dieser  stein  aus  Vestergötland  vons.  206. 
und  nach  einem  manne  mit  demselben  namen  wie  der  stein  von 
Hobro  errichtet  ist,  da  beide  Inschriften  ungefähr  gleichlautend  sind, 
und  beide  A.  in  derselben  bedeutung  gebrauchen,  so  liegt  es  trotz 
des  Unterschiedes,  der  sich  in  der  Orthographie  einzelner  worte  findet, 
nahe,  anzunehmen,  dafs  derselbe  Thorir  seinem  kameraden  Karl  ein 
denkmal  sowohl  in  Jütland  wie  in  Vestergötland  errichtet  hat. 

Neben  MT,  das  uns  unzählige  male  auf  schwedischen  runen- 
sleinen  begegnet,  kommt  hier  auch  einigemal  die  Schreibweise  T/kT, 
plur.  TÅTH  vor,  wie  auf  dem  Sendervissinger  steine,  so  auf  no.  288, 
612,  625  bei  Liljegren. 

Eine  befriedigende  erklärung  der  thatsache,  dafs  die  rune 
yk,  während  sie  noch  in  vollem  gebrauch  als  zeichen  für 
das  „schlufs-Ä"  war,  und  lange  bevor  sie  mit  der  jüngeren 
bedeutung   y  auftritt,    zugleich   als  bezeichnung   für  den 


*)  Die  richtigkeit  dieser  vermataog  ist  inzwischen  durch  K. Torin  in  „Wester- 
götlands  Ruoioskrifter,  Andra  samlingen",  Lund  1S77,  s.  19  bestätigt  worden. 
Ans  der  übrigens  sehr  undeutlichen  Zeichnung  des  steiiies  bei  Torin  (no.  42) 
scheint  hervorzugehen,  dafs  sich  hinter  P'/Iv  keine  punkte  finden;  in  der  fol- 
genden rune  {X'\  ist  der  ganze  nebenstrich  weggeschlagen,  aber  in  der  vierten 
{^\  ist  noch  der  unterste  teil  zu  sehen,  was  mit  Bautil  übereinstimmt; 
der  fünften  rune  {Y^  fehlt  der  ganze  nebenstrich  (Bautil  hat  Y^  ohne  zweifei 
unrichtig  statt  l')^  der  auch  in  der  sechsten  (k"^  nicht  zu  sehen  ist,  während 
Bautil  noch  den  untersten  teil  hat.  Von  den  folgenden  beiden  punkten  ist 
der  unterste  erhalten  wie  in  Bautil,  und  in  der  rune  vor  |^  ist  der  unterste  teil 
von  beiden  nebenstrichen,  der  in  Bautil  fehlt,  und  der  zeigt,  dafs  hier  jt  ge- 
standen hat,  noch  deutlich;  dem  'f  in  'fl^yk.K  f^Wt  die  spitze  wie  in  Bautil.  — 
Von  den  andern  bei  Liljegren  angeFührten  steinen  aus  dieser  barde  finden  sich 
aufserdem  no.  1369—70  und  1375 — 76  bei  Torin  als  no.  44 — 45  und  40 — 41 
wieder  und  bezeugen  Bautils  und  Liljegreus  lesuog  bezüglich  der  oben  ange- 
führten formen.  Auf  einem  neuen  bruchstück  bei  Torin  (s.  18),  das  wahrschein- 
lich einen  teil  von  Liljegrens  no.  1376  ausmacht,  wird  aufserdem  fj^kKi" 
wie  auf  no.  1370  geschrieben. 


250  ZWEITES    BUCH.       DIE    ENTWICKLUNG    DER    RUNENSCHRIFT    IM    NORDEN. 

e-  und  æ-laut  angewandt  werden  kann,  linde  ich  darin,  dafs 
sie  noch  zu  der  zeit  den  allen  namen  elgn  gehabt  hat;  am  ende 
der  Worte  fuhr  sie  fort  mit  der  ursprünglichen  bedeutung  r 
gebraucht  zu  werden;  aber  man  konnte  auch  wie  bei  den  andern 
runenzeichen  ihre  bedeutung  in  dem  buchstaben  suchen,  womit  der 
name  begann,  und  sie  konnte  somit  zugleich  für  e  und  æ  ange- 
wandt werden.  Dieser  letztere  gebrauch  drang  jedoch  niemals  recht 
durch  und  mufs  am  ehesten  als  eine  individuelle  eigentümlichkeit 
einzelner  runenritzer  aufgefafst  werden.  Zur  bezeichnung  der  laute 
e  und  æ  fand  man  nämlich  ein  neues  mittel  mit  hülfe  der  punktierten- 
runen,  und  /k  eJgn  wurde  allmählich  sowohl  als  zeichen  für  das 
„schluss-Ä"  (jedoch  erst  lange  nachdem  es  lautlich  mit  R  zusammen- 
gefallen war)  wie  für  e,  æ  aufgegeben.  Als  A  später  wieder 
in  die  runenschrift  aufgenommen  wurde,  hatte  es  die  neue 
bedeutung  y  und  den  neuen  namen  yr.  Wie  ein  punktiertes 
I  (f)  zeichen  für  e  wurde,  so  bildete  man  das  punktierte  H  (R)  als 
zeichen  für  y;  aber  auch  das  alte  Å  wurde  später  als  eine  ver- 
änderte form  von  H  aufgefafst  und  bekam  daher  dieselbe  bedeu- 
tung wie  R.  Den  namen  für  diese  rune  entlehnte  man  von  der 
altenglischen  ?/-rune,  die  weit  früher  von  H  gebildet  war  und  in  der 
s.  207.  form  ziemlich  genau  mit  dem  nordischen  Å  R  übereinstimmte,  wes- 
halb bereits  im  „abecedarium  Nordmannicum"  der  name  yr  auf  yk 
übertragen  ist. 

Ich  nehme  deshalb  an,  dafs  man  gleichzeitig  altengl.  ös  und  yr, 
die  mit  nord.  öss  und  yr  identificiert  wurden,  als  namen  für  die 
runen  aufgenommen  hat,  welche  auf  der  jüngsten  entwicklungs- 
stufe    der    runenschrift    zeichen    für  o  und  y  wurden^).     Wo  früher 


1}  Legt  inao  stärkeres  gewicht  auf  den  nainea  yr  im  abeced.  Nordm., 
als  ich  für  berechtigt  halten  kann,  so  darf  man  nicht  die  möglichkeit  über- 
sehen, dal's  der  name  yr  längere  zeit  neben  dem  alten  elgR  bestanden  haben 
kann,  ehe  er  dieses  ganz  verdrängte,  und  dals  der  runenritzer,  welcher  J^  so- 
wohl für  R  wie  für  e,  æ  gebrauchte,  dadurch  gerade  zu  erkennen  gegeben  hat, 
dafs  er  an  dem  alten  namen  festhielt.  So  wurde  ohne  zweifei  das  alte  purs 
erst  sehr  spät  von  porn  als  namen  der  rune  |j  verdrängt.  —  Da  die  iaschriften 
von  Maeshowe  /^  in  der  bedeutung  y  gebrauchen,  so  ist  es  klar,  dafs  der 
name  auch  yr  gewesen  ist;  aber  es  liegt  nicht  der  geringste  grund  vor,  mit 
Stephens  (I,  s.  101)  den  unter  diesen  inscbriften  vorkommenden,  oben  (s.  236ff.) 
besprochenen  furthork  in  das  9.  jhdt  zu  setzen;  er  ist  sicher  weit  ins  11.  hinab  zu 
rücken,  wahrscheinlich  sogar  bis  in  die  mitte  des  12.jhdts,  in  welche  zeit  diese 
inschriften  im  ganzen  genommen  gesetzt  werden  müssen. 


II.  KAP.    VERHÄLT^.  ZWISCHEN  D.  KÜRZEREN  ü.  LÄNGEREN  RUNENREIUE.  251 

die  dss-  und  elgR-rune  gestanden  hatten,  dahin  stellte  man  jetzt  die 
öss-  und  ^r-rune,  und  der  fulhork  behielt  somit  die  frühere  anzahl 
zeichen  und  ihre  alle  anordnung,  während  die  übrigen  neuen  punktierten 
runen  nicht  in  die  ältere  reihe  eingeordnet  wurden. 


Das  resultat  der  vorhergehenden  Untersuchungen  ist  also,  dafs 
die  kürzere  runenreihe  von  16  zeichen  unmittelbar  aus 
der  längeren  von  24  zeichen  hervorgegangen  ist.  Die  Ver- 
änderungen, welche  während  dieser  entwicklung  mit  dem  längeren 
futhark  vorgegangen  sind,  lassen  sich  in  folgende  punkte  zusammen- 
fassen : 

1)  Die  alten  runennamen  jära  und  ansuR  wurden  allmählich 
so  verändert,  dafs  die  entsprechenden  runen  zeichen  für  das  rein 
orale  a  und  für  einen  von  dem  nasal  beeinflufsten  a-laut  wurden; 

2)  verschiedene  der  älteren  zeichen  wurden  allmählich  von 
neueren  (in  der  regel  einfacheren)  formen  verdrängt,  wobei  die  älteren 
und   jüngeren    zeichen    längere    zeit   neben  einander  stehen  konnten 

(5|c  und  +  =  a),  gleichwie  wir  an   mehreren   punkten  Übergangs- s.  208. 
formen    während    der   entwicklung   von    der   längereu   zur  kürzeren 
r«ihe  nachweisen  können  (<YK  =  Ä-,  M"^  Y  =  m  u.  s.  w.); 

3)  8  der  älteren  zeichen  wurden  allmählich  aufgegeben,  ein  paar 
sehr  früh  (V't,  das  vielleicht  von  anfang  an  gar  kein  lautzeichen 
war,  und  die  p-rune) ,  die  andern  später  und,  wie  es  scheint,  in  fol- 
gender reihenfolge:  ^;  X,  M,  M;  ^;  P.  Von  den  alten  zeichen, 
die  sich  nicht  in  der  kürzeren  reihe  wiederfinden,  erhielt  sich  Pw 
am  längsten; 

4)  die  alte  anordnung  wurde  an  zwei  punkten  verändert. 
Erst  sehr  spät  wurde  /  vor  m  gestellt.  Weit  früher  wurde  Å.  r 
aus  dem  zweiten  geschlecht  an  den  schlufs  des  dritten  versetzt, 
um  gröfsere  harmonie  zwischen  der  anzahl  der  zeichen  in  den  drei 
gesell lech tern  zu  wege  zu  bringen.  Als  A  nicht  mehr  als  zeichen  für 
das  „schlufs-ß"  gebraucht  wurde,  gab  man  dieser  rune  die  neue 
bedeutung  y,  indem  man  sie  als  eine  Veränderung  von  H  und  als 
identisch  mit  der  altengl.  j/r-rune  auffafste,  deren  namen  sie  an- 
nahm, während  sie  früher  in  der  bedeutung  h  den  namen  elgR  wie 
in  der  längeren  reihe  gehabt  hatte,  weshalb  sie  zuweilen  auch  mit 
der  bedeutung  e  oder  ob  auftreten  kann. 


252         ZWEITES    BUCH.       DIE    ENTWICKLUNG    DER    RUNENSCHRIFT    IM    NORDEN. 

III.  kapitel. 
Die  „punktierten"  runen.    Das  jüngste  runenalphabet. 

Das  runenalphabet  von  16  zeichen,  dessen  entstehung  wir  eben 
betrachtet  haben,  und  welches  auf  unseren  runensteinen  aus  der 
jüngeren  eisenzeit  (von  der  mitte  des  9.  bis  zum  anfange  des 
11.  jhdts)  das  gewöhnlicheist,  drückt  ja  nur  sehr  unvollkommen  die 
verschiedenen  laute  aus,  namentlich  die  vielen  vokale,  die  sich  all- 
mählich durch  um  laut  und  andere  lautveränderungen  in  der  spräche 
entwickelt  hatten. 

Dieser  mangelhaften  lautbezeichnung  suchte  man  später  abzu- 
helfen,  indem  man  aus  einzelnen  der  16  runen  neue  durch  hinzu- 
fügung eines  punktes  oder  eines  kleinen  Striches  bildete.  Dadurch 
entstanden  die  sogenannten  punktierten  runen,  die  sich  bereits  am 
ende  des  10.  und  am  anfang  fles  11.  jhdts  zu  zeigen  beginnen, 
aber  keineswegs  mit  einem  schlage  consequent  auftreten.  Wie  der 
s.  209.  Übergang  vom  längeren  zum  kürzeren  alphabete  einen  ausgedehnten  Zeit- 
raum in  anspruch  genommen,  so  ist  auch  die  enlwicklung  vom  gewöhn- 
lichen futhark  des  jüngeren  eisenalters  zu  den  punktierten  runen  sehr 
langsam  vor  sich  gegangen,  und  wenn  wir  früher  auf  demselben  denk- 
mal  das  alte  und  das  neue  ())(  und  +)  neben  einander  finden  konnten, 
so  treffen  wir  hier  dasselbe  Verhältnis  wieder.  Auf  dem  runenstein, 
der  1857  auf  der  Bustruper  feldmark  dicht  südlich  vom  Danevirke 
gefunden  wurde,  und  der  könig  Sven  gabelbarts  namen  trägt  (dem 
Danevirker  steine),  kommen  die  punktierten  runen  ♦  und  Y  jede  ein 
einziges  mal  vor,  nämlich  \  in  dem  worte  HtHTR  uestr  d.  i.  westr 
und  Y  in  >rlTl'ir+')  himj)iga  d.  i.  hæimpega  oder  hémpega. 
Sonst  wird  I  nicht  blofs  dem  ursprünglichen  diphthongen  +1  ai  {æi) 
entsprechend,  der  zu  dieser  zeit  sich  dem  einfachen  laute  é  genähert 
haben  mufs  (also  in  suin,  stin,  him-,  hifta-),  sondern  auch  in 
-J)iga  =  -pega  gebraucht,  während  die  ältere  bezeichnung  l-P  (1^) 
für  e  in  ias  d.  i.  es,  i^n  d.  i.  en  vorkommt;  gleichfalls  steht  K  in 
Kn+nK/k  kunukR  nach  dem  älteren  gebrauch  sowohl  als  zeichen 
für  k  wie  für  g  (tdg). 

Weit  häufiger  werden  die  beiden  genannten  punktierten  runen 
auf  dem  einen  Schleswiger  steine  von  Vedelspang,  dem  Hedebyer  steine, 


*)  Der  punkt  in  dem  K  ist  früher  übersehen  worden  (auch  auf  der  Zeichnung 
bei  Thorsen,  De  danske  Ruueuiiudesuiærker  I,  s.  93). 


III.  KAP.       DIE    PÜXKTIERTEN    RÜ>E>'.       DAS   JÜNGSTE    ROSENALFBABET.        253 

angewandt,  der  ungeßhr  derselben  zeit  (um  das  jähr  1000)  wie  der 
Danevirker  stein  angehört.  Wie  dieser  gebraucht  der  Hedebyer  stein 
jedoch  t  e  und  Y  g  (sowohl  als  muta  wie  als  spirans)  durcheinander  mit 
I  und  K.  Wir  finden  so*  in  ITtl/k  eftiR,  tWTyk  (geschrieben  mit 
„einstabsrunen")  tregR  d.  i.  drcmgR  und  im  nom.  plur.  TWKI+>k 
trekiaR  d.  i.  drcmgjaR,  ja  sogar  in  IRIK  erik  (=  dem  altnord. 
Eirik),  welches  zu  beweisen  scheint,  dafs  der  diphthong  auf  jeden 
fall  in  diesem  worte  zum  einfachen  vokal  geworden  war.  Dagegen  sieht 
I  nicht  blofs  in  den  andern  fällen,  wo  das  allnurdische  ei  hat  (ris|)i, 
slin,  bim-,  suins,  während  der  alle  diphthong  sogar  ganz  aus- 
geschrieben wird  in  hai[)abu  =  altnord.  Heidabö,  auf  dem  Danevirker 
steine  hi|)abu  geschrieben),  sondern  auch  in  filaga  =  félaga, 
-^\gi  =  -pegi,  während  ias,  ian  {=  es,  en)  wie  auf  dem  Danevirker 
steine  e  durch  ia  ausdrücken.  Auf  gleiche  weise  wechseln  V  und 
K  auf  diesem  steine;  während  man  Y  in  hini{)igi  und  filaga  ge- 
braucht findet,  wird  das  wort  drængR  nur  an  der  einen  stelle  mit 
Y  (tregR),  aber  an  der  andern  mit  K  (trekiaR)  geschrieben,  so 
wie  gödr  durch  ku{)r  ausgedrückt  wird. 

Ähnliche  Verhältnisse  begegnen  uns  auch  ab  und  zu  auf  andern 
gleichzeitigen  steinen;  der  grofse  stein  von  Ärhus  hat  z.  b.  zweimal  \ 
(in  eftiR  und  felaka)  und  einmal  Y  (in  augutr);  aber  in  der  regel 
werden  die  punktierten  runen  (♦  und  Y)  noch  nicht  in  den  inschriften 
vom  Schlüsse  des  10.  jhdts  (dem  gröfseren  steine  von  Jællinge  u.  s.  w.) 
gebraucht,  oder  treten  nur  ganz  sporadisch  auf  (so  haben  der  grofse 
Hällestader  und  der  Sjöruper  stein  von  Schonen  jeder  einmal  Y). 

Etwas  später  als  ♦  und  Y  tritt  auch  R  als  zeichen  für  y  auf,  s.  210. 
aus  n  auf  dieselbe  weise  wie  ♦  und  Y  aus  I  und  K  gebildet.  Wäh- 
rend sowohl  der  Danevirker  wie  der  Hedebyer  stein  noch  H  in  der 
bedeutung  y  gebrauchen  (-bu  =  -by,  sturimatr  mit  einstabs- 
runen  auf  dem  Hedebyer  steine  =  s/yrimandr),  kommt  B  zusammen 
mit  ♦  und  Y  auf  dem  stein  von  Sjælle  aus  Jätland  vor,  der  ungefähr 
mit  dem  Hedebyer  steine  gleichzeitig  sein  mufs.  Öfter  treten  alle  drei 
punktierten  runen  in  etwas  jüngeren  inschriften  (ungefähr  um  die 
mitte  des  11.  jhdts)  aus  Schweden  und  Bornholm  auf,  und  diese 
Vermehrung  der  16  zeichen  der  kürzeren  runenreihe  wurde  längere 
zeit  hindurch  für  ausreichend  gehalten.  Dafs  die  punktierten  runen 
nicht  in  den  alten  futhark  eingereiht  oder  in  denselben  hinter  den 
älteren  zeichen  aufgenommen  wurden,  zeigen  die  wiedergaben  dessell)en, 
die   uns  auf  steinen  und  andern  denkmälern  überliefert  sind,    sowie 


254         ZWEITES    BUCH.       DIE    ENTWICKLUNG    DER    RUNENSCHRIFT    IM    NORDEN. 

auch  das  alte  norwegische  runengediclil  und  die  isländische  runen- 
reimerei.  Nur  die  beiden  oben  (s,  240)  genannten  handschriftlichen 
futhorke  fügen  hinter  der  alten  reihe  der  erste  Y ,  aber  keine  der 
andern   jüngeren   runen,    der  zweite  mehrere   jüngere  zeichen  hinzu, 


L-Wdi 


Der  alphabetsteiii   von   Osterniaiiæ   sogn,   ßornholui. 

die  er  jedoch  gerade  als  nicht  zu  der  ursprünglichen  reihe  gehörend 
bezeichnet,  indem  er  dieselben  durch  drei  punkte  von  dieser  unter- 
scheidet; und  während  den  16  alten  runen  die  namen  beigefügt 
werden,    setzt  er  den    neuen  nur  die    buchslabeii    bei,    welche  ihre 


III.    KAP,       DIE    PCNKTIERTEN    RUJCEN.       DAS    JD.NGSTE    RUNENALPHABET.       255 

bedeutung  angeben.  Dafs  die  punktierten  runen  dagegen  unter  die 
alleren  aufgenommen  wurden,  wenn  der  futhork  nach  dem  latei- 
nischen alphabete  geordnet  wurde,  mufste  man  ja  erwarten. 
Eine  alte  darstellung  hiervon  tindet  sich  auf  einem  kleinen  sandstein, 
der  zu  beginn  des  Jahres  1882  in  Østermariæ  sogn  auf  Bornholm 
ausgepflügt  wurde  und  jetzt  im  altnordischen  museum  zu  Kopen- 
hagen bewahrt  wird.  Dieses  in  seiner  art  alleinstehende  denkmal  ist 
umstehend  in  natürlicher  gröfse  wiedergegeben '). 

Von  den  neueren  punktierten  runen  sind  also  nur  i  (e)  und 
V  ig)  in  dieses  aiphabet  aufgenommen,  und  von  besonderem  interesse 
ist  es,  dafs  wir  für  r  R  und  Å  neben  einander  finden;  dies  stimmt 
mit  dem  merkwürdigen  handschriflhchen  alphabete  bei  Hickes  Ilf, 
tab.  II  no.  6  {=  Stephens  I,  s.  108—9  no.  31)  überein,  wo  die 
runen  gleichfalls  nach  dem  lateinischen  alphabete  geordnet  sind, 
jedoch  nur  die  16  alten  runen  platz  gefunden  haben,  was  in  Ver- 
bindung mit  den  runenformen  daraufhindeutet,  dafs  die  quelle  dieses 
alphabetes  sehr  alt  sein  niufs.  Wie  der  kleine  strich  am  Schlüsse 
des  Bornholmer  alphabetes  ergänzt  werden  soll,  läfsl  sich  nicht  sicher 
ausmachen,  da  der  stein  hier  in  stücke  gebrochen  ist;  wir  würden 
ja  an  dieser  stelle  am  ehesten  R  als  zeichen  für  y  erwarten;  aber 
von  einem  beistrich  findet  sich  keine  spur,  und  die  form  des  Striches 
widerspricht  bestimmt  einer  solchen  annähme.  Ich  glaube  deshalb, 
dafs  das  aiphabet  mit  H  geendet  hat,  und  dafs  der  strich  nur  eine 
art  trennungszeichen  ist,  um  den  räum  am  Schlüsse  des  alphabetes 
auszufüllen. 

Durch  die  bildung  der  punktierten  runen  macht  sich  ein  ganz 
neues  princip  geltend,  und  ihr  auftreten  bildet  das  dritte  stadium 
in  der  entwicklung  der  nordischen  runenschrift. 

Das  bedürfnis  nach  einer  vollständigeren  lautbezeichnung,  welches 
zuerst  die  punktierten  runen  hervorrief,  konnte  jedoch  auf  die  länge 
keineswegs  durch  diese  allein  befriedigt  werden.   Allmählich  spalteten 


^)  Wie  aus  dieser  abbilduDg  hervorgeht,  leidet  Stephens'  wiedergäbe  III, 
s.  442  ao  verschiedenen  wesentlichen  fehlem.  Der  sehr  deutliche  punkt  in  f,  der 
ziemlich  nahe  an  dem  beistriche  steht,  ist  übersehen;  die  form  der  A-rune  ist 
unglücklich;  in  R  ist  der  unterste  nebenstrich,  der  in  J^^  hineinläuft,  übersehen, 
und  Stepbens  fal'st  die  rone  als  lateinisches  P  auf!  Den  kleinen  strich  hinter  H 
sieht  Stephens  fiir  einen  rest  von  lat.  X  3o!  —  Der  kleine  alphabetstein  von  Jüt- 
land,  den  Stephens  für  echt  hält  und  dessen  runen  er  an  derselben  stelle  v^ieder- 
gibt,  ist  nach  meiner  ansieht  ein  plumper  betrug  aus  der  neuesten  zeit. 


h 

A 

n 

0 

+ 

* 

æ 

0 

256         ZWEITES    BUCH.       DIE    ENTWICKLUNG    DER    RUNENSCHRIFT    IM  flORDEN. 

sich  daher  mehr  und  mehr  von  den  alten  zeichen  in  verschiedene 
formen,  die  alle  besondere  laule  bezeichneten,  und  das  alte  runenalphabet 
wurde  zuletzt  so  dem  lateinischen  alphabete  angepafst,  dafs  es  ein 
zeichen  für  jeden  der  lateinischen  buchstaben  bekam.  Dies  ist  die 
letzte  stufe  in  der  entwlcklung  der  runenschrift,  welche  hiermit 
abgeschlossen  ist.  Dies  geschah  zu  einer  zeit,  wo  man  das  lateinische 
aiphabet  neben  dem  runenalphabet  benutzte,  ohne  jedoch  das  letztere 
aufgeben  zu  wollen.  Man  bildete  dann  mit  hülfe  der  alten  runen- 
zeichen  ein  aiphabet,  das  gerade  so  gut  wie  die  lateinischen  buch- 
slaben  die  laute  der  muttersprache  wiedergeben  konnte.  Dieses 
aiphabet  finden  wir  z.  b.  in  der  runenhandschrift  des  schonischen 
gesetzes  (ums  jähr  1300),  wo  es  folgende  form  hat: 

^  B  -  1  t   r  K  )fc    I    Kr 

a     b     c     d     e    f,  V    g    h,  g.    i,  j    k     l 

Bu.  B-Rll1t>       n-Å 

p  q     r      s      t  p,d   ti,w    X     y 

Für  c  und  q,  die  in  den  ältesten  nordischen  handschriften  mit  latei- 
nischen buchstaben  häufig  gebraucht  werden,  hat  die  runenhandschrift 
dasselbe  zeichen  wie  für  k  (K),  und  x  wird  durch  H^H  d.  i.  ^s  (ghs) 
ausgedrückt. 

Anderwärts  treffen   wir   aufserdem   verschiedene  andere  formen, 
z.  b.: 

n«/     ^  d     f  V  {w)     h  c,  z     *s 

Das  Verhältnis  zwischen  den  älteren  und  den  neuen  zeichen  ist 
ja  an  allen  punkten  deutlich.  Teils  sind  einzelne  zeichen  weiler  ver- 
einfacht worden :  +  a,  +  w,  T  f  gingen  in  i,  b,  1  über,  wie  H  s  nicht 
s.  211.  selten  zu  *  verkürzt  wurde  —  dafs  diese  formen  bereits  frühzeitig 
sporadisch  auftreten  können,  haben  wir  oben  (s.  208)  gelegenheit 
gehabt  zu  bemerken;  der  Schleswiger  runenstein  von  Vedelspang,  der 
keine  punktierten  runen  kennt,  hat  neben  den  gewöhnlichen  älteren 
formen  T  t  und  H  s  beständig  i  a  und  h  n  (vgl.  'Anhang'  III).  Teils 
haben  sich  viele  der  älteren  zeichen  in  zwei  gespalten,  nämlich: 

'l'a  =  Ha,  +  æ  V  k  =Y  k,  Y  g 

(t:  ^  =  ^  0,  *  ^)  t  t  =  1  f,  1  rf 

\   i  =  1    i,    \  e  B  b  =  B  6,  B  oder  B  p 

n  u  =  n  M,   R  (A)  y  h  s  =  h  s,  V   z  oder 

H  c,  z,  *  s 


ni.  KåP*.      DIB  PUNKTIERTEN  RUNEN.       DAS  JÜNGSTE  RUNENALPHABET.      257 

ond  aulserdem  zuweilen 

Das  so  erweiterte  runenalphabet  stand  lange  zeit  neben  dem 
lateinischen,  und  so  zähe  hielt  das  volk  an  seiner  alten  schrift  fest, 
dafs  sie  nicht  einmal  als  vollständig  aufgegeben  angesehen  werden 
kann,  als  die  gelehrten  im  16.  Jahrhundert  sie  zum  gegenstände  ihrer 
Untersuchungen  zu  machen  begannen. 

Wie  dies  weit  früher  bei  den  südgermanischen  Völkern  geschehen 
war,  wurden  endlich  auch  in  Skandinavien  die  runen  von  der  latei- 
nischen schrift  verdrängt.  Es  war  also  in  Wirklichkeit  das  zweite 
mal,  dafs  die  Nordbewohner  das  lateinische  aiphabet  annahmen.  Die 
fichrift,  welche  sie  in  den  ersten  Jahrhunderten  nach  Chr.  zusammen 
mit  den  übrigen  germanischen  Völkern  gebrauchten,  war  geradezu 
aus  den  lateinischen  buchstaben  gebildet,  und  Jahrhunderte  hindurch 
hatten  sich  die  runenschrift  und  das  lateinische  aiphabet  unabhängig 
von  einander  entwickelt.  Zu  anfang  des  mittelalters  wurde  das 
lateinische  alphabel  in  einer  neuen  gestalt  im  Norden  bekannt  und 
führte  von  nun  an  einen  langwierigen  kämpf  mit  der  alten  runen- 
schrift, die  unter  seinem  einflusse  wesentlich  verändert  wurde,  während 
sich  die  einwirkung  der  runenschrift  auf  das  lateinische  aiphabet  in 
der  hauptsache  darauf  beschränkte,  dafs  letzleres  eine  einzige  rune,  t>, 
aufnahm,  die  aber  in  Dänemark  und  Schweden  frühzeitig  wieder  auf- 
gegeben wurde  ').  Jedoch  Ireflen  wir  auch  in  bezug  auf  die  lautbe-  «•  2J2. 
Zeichnung  in  den  ältesten  dänischen  und  schwedischen  handschriften 
einzelne  deutliche  spuren  der  runenschrifl*). 


^)  Das  „aogelsächsische"  aiphabet  nahm  bekanntlieh  nicht  hlofs  die  rnne  p^ 
sondern  aoch  P  u>  auf.  Wenn  dies  letztere  zeichen  auch  in  Skandinavien  als 
zeichen  für  w  vorkommt  —  so  in  einigen  der  ältesten  isländischen  und  nor- 
wegischen handschriften  und  sonst  zuweilen  — ,  ist  es  hierher  von  England 
herübergebracht,  aber  nicht  wie  fi  aus  unserm  eigenen  rnnenalphabete  aufge- 
nommen, welches,  wie  wir  oben  nachgewiesen  haben,  das  «v-zeichen  vor  dem 
jähre  SOO  aufgegeben  hatte. 

-)  Ich  denke  besonders  an  den  ab  und  zu  vorkommenden  gebrauch  von  h 
(statt  des  gcwühnlichen  gk)  zur  bezeichnuog  des  lautes  ^,  welcher  im  jüngsten 
runenalphabet  regelmäfsig  durch  -jjc,  ausgedrückt  wird.  Nicht  selten  wird  h  auf 
diese  weise  in  der  den  anfang  von  Valdemars  seeländischem  gesetze  enthaltenden 
Arnamagn.  handschrift  no.  24  4to  verwendet  (siehe  den  photolithographischen 
abdmck,  Kbh.  1S69,  und  „Valdemars  sællandske  Lov,  udg.  ved  P.  G.  Thorsen", 
Kbh.  1S52).  Wenn  sich  in  Thorsens  ausgäbe  nach  derselben  handschrift  totær 
WIMMER,  Die  rnnensehrift,  17 


258 


ZWEITES    BUCH.       DIE    ENTWICKLUNG    DER   RUNENSCHRIFT   IM    NORDEN. 


Stellen  wir  nun  die  drei  haupt formen  der  runenschrifl  im 
Norden,  das  ältere,  jüngere  und  jüngste  aiphabet,  zusammen,  so 
sind  die  zeichen  auf  folgende  weise  nach  den  lauten,  die  bezeichnet 
werden,  zu  ordnen  (siehe  oben  s.  191  f.  und  vgl.  meine  „allnordische 
grammatik"  und  „fornnordisk  formlära"  §  2,  §  4—5): 


L<k 

Hh  y.  g. 

tt 

>  p   \/\d 

^P 

Vf   ^t 

^  s  Y  [s]  ß 


+  n 
M  m 


Vi    Kr 


1  (I)  j 


^  a,  M  e,  I  i,  ^0,  n  «  (kurze  und  lange). 
Diphthonge  werden  durch  Zusammenstellung  der  vokale,  doppel- 
konsonanten  durch  einfaches  zeichen  ausgedrückt. 


.Yk  g  (f9g) 

5|i  h 

t  t    (l(nd) 

M 

^  p   b  (mb) 

^f 

Å  R 


(+^) 

+   n 

t  Ym 

tl  k 


ly 


n  w 


|5  nasaliertes  a  (ö,  æ),  +  a  («,  æ),  I  i,  e,  h  n,  o  {y,  o)  aufser 
mehreren  andern  bedeutungen  für  die  einzelnen  vokalzeichen  und 
die  daraus  gebildeten  zusammengesetzten  zeichen   (vgl.  'Anhang'  VI). 


III.  Y  k  V  g 
t  f  1  d 
B  p   B  6 


H*  s  k  z 


i 


fl, 


V  p  (P>)  d 
+  æ,  I  ?,  t  e,  n  w,  n  A  y,  ^  0,  +  0 


\  n 
Y  m 


tl     R 


[\  w 


(T,  1  §  1),  tothær  (I,  1  §  12  im  schl.)  findet,  hat  er  an  der  ersten  stelle  das 
wohlbekannte  verschlungene  zeichen  für  do,  an  der  andern  das  deutliche  do 
unrichtig  als  to  gelesen;  auch  die  ruoenscbrift  hätte  ja  zu  dieser  zeit  d  nicht 
durch  t,  sondern  durch  'punktiertes'  t  (d.  i.  d)  ausgedrückt,  wie  es  in  der  runen- 
handschrift  des  schouiscben  gesetzes  der  fall  ist. 


Anhanff. 


I. 

Das  "Wulfllanische  alphabet. 

(Za  8.  71  f.,  114,  128.) 

An  verschiedenen  stellen  haben  wir  in  dieser  abhandlung  gelegen- 
heil  gehabt,  bei  den  Ihatsachen  zu  verweilen,  die  beweisen,  dafs  die 
Goten  wie  aucli  die  übrigen  germanischen  Völker  die  runenschrift  ge- 
kannt und  gebraucht  haben;  aber  frühzeitig,  gegen  das  ende  des 
4.  Jahrhunderts,  hat  auf  jeden  fall  ein  grofser  teil  der  Goten  diese 
Schrift  mit  einem  neuen  alphabete  vertauscht,  das  uns  in  den  gotischen 
Sprachdenkmälern  überliefert  ist.  Als  „erfmder"  dieses  alphahetes 
bezeichnen  kirchenhistoriker  (Philostorgios,  Sokrates)  Wulfila ^),  ein 
ausdruck,  der  indessen  cum  grano  sahs  zu  verstehen  ist.  Wie  sich 
Wulfllas  Schrift  zu  der  alten  runenschrift  und  zu  den  in  seiner 
zeit  allgemein  bekannten  und  gebrauchten  alphabeten  anderer  Völker 
verhält,  wie  es  also  in  Wirklichkeit  mit  WuKilas  „erfindung  der 
gotischen  buchslaben"  steht,  wird  klar  aus  einer  näheren  betrachtung 
der  buchslabenformen  hervorgehen,  die  uns  in  den  gotischen  hand- 
schriflen,  besonders  im  codex  argenteus,  überliefert  sind.  Dafs  diese 
handschrift  nämlich  die  buchstaben  in  allem  wesentlichen  in  der 
von  Wulfila  selbst  gebi-auchten  gestalt  wiedergibt,  darf  sowohl  aus 
ihrem  alter  (wahrscheinlich  ende  des  5.  jhdls)  wie  aus  ihrer  ganz 
prachtvollen  ausstattung  und  sorgfältigen  herslellung  geschlossen  werden 
und  wird  auch  dadurch  bestätigt,  dafs  sich  dieselben  buchstabenformen 
so   gut  wie  unverändert    in   den   übrigen   gotischen   pergamenthand- 


^)  G.  Waitz,  Über  das  Leben  and  die  Lehre  des  U161a,  HaanoCer  1840, 
4to,  s.  51. 

17* 


260 


ANHANG. 


Schriften  (codices  Ambrosiani  in  Mailand,  codex  Valicanus  in  Rom, 
codex  Carolinus  in  Wolfenbüttel)  wiederfinden,  während  die  beiden 
Kaufbriefe  auf  papyrus  von  Neapel  und  Arezzo  (der  letztere  jetzt  ver- 
loren) etwas  abweichende,  mehr  kursive  formen  haben  (vgl,  die 
Schrifttafel  in  Gabelentz   und  Loebes  Grammatik  der  Golh.  Sprache). 

Jeden,  der  mit  kennlnis  der  griecliiscben  und  lateinischen  paläo- 
graphie  unbefangen  die  gotischen  buchstaben  betrachtet  oder  den 
blick  auf  eine  seite  in  einer  der  gotischen  handschriften  richtet^), 
wird  sofort  die  erstaunliche  Übereinstimmung  zwischen  Wulfilas  schrift 
und  der  griechischen  (und  lateinischen)  uncialschrift  von  400—600 
frappieren^),  und  eine  nähere  Untersuchung  der  Wulfilanischen 
buchstaben  im  einzelnen  wird  es  auch  aufser  allen  zweifei 
setzen,  dafs  Wulfila  seine  schrift  durch  eine  sinnreiche  an- 
wendung  der  griechischen  und  einzelner  lateinischer 
uncialbuchstaben  mit  aufnähme  von  ein  paar  runen  ge- 
bildet hat. 

Dieses  Verhältnis,  das  bereits  Gabelentz  und  Loche  (Goth.  Gram. 
s.  12  (T.)  und  später  Kirchhoff  (Das  gothische  runenalphabet)  in  der 
hauptsache  richtig  dargestellt  hatten,  haben  spätere  Untersuchungen 
wieder  in  mehreren  beziehungen  unklar  gemacht.  Ich  will  deshalb 
hier  so  kurz  wie  möglich  näher  zu  begründen  suchen,  was  ich  an 
verschiedenen  stellen  in  der  vorhergehenden  abhandlung  teils  über 
das  Wulfilanische  aiphabet  im  allgemeinen,  teils  über  einzelne  von 
dessen  zeichen  ausgesprochen  habe. 

Die  gotische  buchstaben  folge  läfst  sich  mit  Sicherheit  aus 
dem  zahlenwerte  der  buchstaben  bestimmen,  der  genau  mit  dem 
griechischen  gebrauche  zusammenfällt.      Hiernach  stellen  wir    unten 


^)  Ein  recht  zuverlässiges  bild  von  einer  seite  (fol.  5  r.)  im  cod.  arg.  gibt 
das  faksimile,  das  A.  Uppströms  ausgäbe  (Upsaliæ  1854)  begleitet;  jedoch  ist  der 
ton  der  purpurfarbe  des  pergaments  nicht  ganz  glücklich.  Die  seite  der 
haodschrift,  welche  sich  auf  taf.  118  in  der  von  „The  Palæographical  Society" 
herausgegebenen  vorzüglichen  Sammlung  „Facsimiles  of  Manuscripts  and  In- 
scriptions.  Ed.  by  E.  A.  Bond  and  E.  M.  Thompson,  I,  London  1873—83" 
findet,  stellt  natürlich  die  einzelnen  buchstabenformen  etc.  genau  dar;  aber  die- 
selben treten  nicht  klar  hervor,  und  die  abbildung  gibt  nur  eine  schwache  Vor- 
stellung von  der  äulseren  erscheinung  der  prachtvollen  handschrift. 

^)  Diese  autfalleude  ähnlichkeit  zeigt  sich  sogar  in  solchen  von  rein  kalli- 
graphischen gründen  herrührenden  kleinigkeitcn  wie  der  häufigen  auslassung  der 
kleinen  feineren  verbindungsstriche  in  den  buchstaben,  so  dafs  die  linien  nicht 
ganz  zusammenhängen  (bei  J,  r,  s  u.  s.  w.). 


I.       DAS    WULFILANISCHE    ALPBABET.  261 

S.  264  in  der  reihe  I  die  gotischen  buchslaben  in  den  aus  dem  cod. 
arg.  bekannten  formen  auf,  indem  wir  auf  die  rechte  seile  die  latei- 
nischen buchstaben  stellen,  mit  denen  die  gotischen  im  allgemeinen 
in  den  ausgaben  umschrieben  werden,  und  auf  der  linken  zur  ver- 
gleichung  die  griechischen  buchstaben  hinzufügen,  die  denselben 
zahlenwert  wie  die  gotischen  haben.  Nur  das  letzte  zeichen  (für 
900)  kommt  nicht  im  cod.  arg.  oder  in  den  andern  wirklich  gotischen 
handschriften  vor,  sondern  ist  der  Wiener  handschrift  cod.  Salisb. 
no.  140  (vgl.  s.  71)  entnommen. 

Es  geht  aus  der  Zusammenstellung  hervor,  dafs  Wulfila  27  zeichen 
gebraucht  wie  die  griechische  buchstabenreihe,  wenn  sie  zu  Zahl- 
zeichen benutzt  wird,  und  dafs  die  gotische  anordnung  genau  der 
griechischen  entspricht.  Die  abweichungen  beider  reihen  von  einander 
beruhen  zum  gröfsten  teil  auf  dem  unterschied  zwischen  der  griechi- 
schen und  gotischen  spräche;  sie  zeigen  sich,  wenn  wir  vorläufig  die 
verschiedenen  buchstaben  formen  aufserhalb  der  betrachtung  lassen, 
an  folgenden  punkten: 

1)  wo  das  griechische  sein  episemon  j:  ßav,  diya[t,[M)t  (später 
C  ötiyfuc)  aufweist,  hat  Wulfila  das  zeichen  für  q,  d.  i.  die  laut- 
verbindung  kw,  eingesetzt.  Dagegen  werden  die  beiden  andern 
griechischen  episema  xönna  und  aäv  {(Saiinl)  an  ihrer  stelle  und 
in  der  form  beibehalten,  die  wir  auch  aus  dem  griechischen 
kennen^); 

2)  für  griech.  jy,  ^,  (f  setzt  Wulfila  zeichen  für  Ä,  j,  /  ein; 

3)  für  griech.  o  setzt  er  sein  u  ein; 

4)  für  griech.  xp  setzt  er  das  zeichen  für  w,  d.  i.  die  lautver- 
bindung  Aw,  ein; 

5)  griech.  v  gibt  o,  d.  i.  den  halb  vokal  tu,  wieder  (wird  aber  in 
griechischen  Wörtern  zugleich  mit  der  bedeutung  y  gebraucht). 

Wulfila  hat  also  das  griechische  Vorbild  nur  verlassen^ 
wo  er  es  wegen  der  iautverhältnisse  der  gotischen  spräche 
für  notwendig  hielt.  Es  war  natürlich  nötig,  im  gotischen  zeichen 
für  die  im  griechischen  fehlenden  laute  Ä,  j  und  f  zu  haben,  wo- 
gegen die  griechischen  zeichen  für  die  lautverbindungen  5  und  xff 
ganz  überflüssig  waren.  Jedoch  hat  Wulfila  selbst  einzelzeichen  für 
die  lautverbindungen  kw  und  hxo  geschaffen.     Diese   häufigen    laut- 


1)  W.  Grimm,   Zar  Literatur  der  Ranen,  Wien  1828,  s.  ],  15,  28;  vgl. 
V.  Gardthaasen,  Griechische  Palaeographie,  Leipz.  I8T9,  s.  167,  266. 


262  ANHANG. 

Verbindungen  scheint  VVuUila  als  einfache  laute  aufgelafst  zu  haben ') ; 
in  allen  andern  fällen  wendet  er  nämlich  zur  bezeichnung  des  halb- 
vokals  w  griech.  v  an,  das  indessen  in  griechischen  Wörtern  auch 
mit  der  bedeutung  y  steht.  Einen  dem  griechischen  entsprechenden 
unterschied  zwischen  «  und  rj,  o  und«  hielt  WuKila  für  überflüssig; 
sein  e  (d.  i.  e)  setzte  er  an  die  stelle  des  griech.  «,  sein  o  (d.  i.  5) 
umgekehrt  an  die  des  griech,  w,  und  bekam  somit  platz  für  h  und 
M,  wo  das  griechische  ^  und  o  hatte.  Für  ti  benutzt  er  nämlich  ein 
einfaches  zeichen,  nicht,  wie  das  griechische,  ov.  Dagegen  hat  er  in 
ein  paar  andern  fällen  gerade  mit  dem  griechischen  als  vorbild  einzel- 
laule  durch  Zusammenstellung  von  zwei  zeichen  ausgedrückt,  indem 
er  l  durch  ei  und  æ  durch  ai  bezeichnete^).  Auch  die  Verwendung 
von  g  für  den  gutturalen  nasal  fd  {aggilus  =  äyysXog)  ist  vollständig 
griechisch  (vgl.  s.  116). 

Dafs  das  griechische  aiphabet  somit  die  eigentliche  grundlage  für 
das  Wulfilanische  bildet,  ist  über  jeden  zweifei  erhaben.  Wo  ihn 
das  griechische  aiphabet  im  stich  liefs,  lag  es  für  Wulfila  nahe,  zu 
dem  andern  alten  südeuropäischen  alphabel  seine  zuÜucht  zu  nehmen, 
mit  dem  er  ebenso  vertraut  wie  mit  dem  griechischen  war,  nämlich 
zu  dem  lateinischen. 

Von  den  oben  genannten  abweichungen  vom  griechischen  weisen 
uns  die  drei  wichtigsten  auch  sofort  aufs  lateinische  hin,  nämlich  die 
zeichen  für  h,  j  und  f.    Während  die  beiden  ersteren  von  diesen  lauten 


1)  Bekanntlich  halt  J.  Hoffory  mit  Zustimmung  von  Collitz  (Zcilschr. 
f.  d.  Phil.  XII,  480  If.)  q  und  w  für  einfache  laute,  den  ersteren  für  einen  labiali- 
sierten  A-laut  {k  mit  «f-stellung  der  lippen),  den  zweiten  für  ein  labinlisiertes 
h  {k  mit  {{-Stellung  der  lippen).  Dies  hat  Braune  (Gotische  grammatik,  2.  aufl., 
Halle  1882)  angenommen  und  hat  zugleich  nach  Collitz'  vorschlage  als  Um- 
schreibung für  den  letzteren  laut  das  zeichen  fv  eingeführt.  Obgleich  ich  — 
vielleicht  allzu  ängstlich  —  es  für  richtig  angesehen  habe,  in  meiner  abhandlung 
der  landläufigen  aulTassung  dieser  laute  zu  folgen  und  sie  auf  die  gewöhnliche 
art  zu  umschreiben ,  so  muls  ich  mich  doch  unbedingt  der  genannten  neueren 
aulfassung  anschliefsen,  die  nicht  nur  verschiedene  sprachliche  Schwierigkeiten 
in  befriedigender  weise  löst,  sondern  auch  eine  vorzügliche  erklärung  der 
gründe  für  die  bildung  der  VVulfilanischen  zeichen  gibt;  gleichfalls  halte  ich 
das  zeichen  fv  für  eine  sehr  glückliche  Umschreibung  des  ø  die  sicher  allmäh- 
lich allgemein  eingang  finden  wird  (als  Umschreibung  Tür  v  "lülste  dann  eher 
w  als  V  gebraucht  werden).  —  Vgl.  hierzu  jetzt  noch  den  aufsatz  Braunes 
„Zur  transscription  des  gotischen  alphabets"  in   P.  Br.  Beitr.  XU,  216  IF. 

2)  Vgl.  z.  b.  die  Schreibung  im  cod.  Sinaiticus  Matth.  X,  18:  xkI  inl 
fjyffioias  Se  xal  ßaailTg  (=  -XfTs)  ax9^aea&at  {==  -G&f)  (Vfxfv  f/Jov. 


I.       DAS    WCLFILANISCHE    ALPHABET.  263 

im  griechischen  ja  ganz  fehlten,  und  WulQIa  daher  in  diesem  alphabele 
kein  zeichen  finden  konnte,  das  auch  nur  annäliernd  diese  laute  aus- 
drückte, hätte  er  sicher  als  zeichen  für  /  griech.  </)  wählen  können; 
er  hat  auch  sein  f  auf  den  platz  gestellt,  den  das  griechische  (p  ein- 
nimmt, und  in  griechischen  Wörtern  drückt  er  (f  durch  f  aus;  aber 
wenn  er  zur  bezeichnung  dieses  lautes  nicht  das  griechische,  sondern 
das  lateinische  zeichen  wählte,  so  war  der  grund  natürlich  der,  dafs 
die  ausspräche  des  griechischen  (p  und  des  gotischen  f  wesentlich 
verschieden  war.  Dafs  er  auch  in  andern  punkten,  aber  stets  aus 
besondern  gründen,  das  griechische  aiphabet  verliefs  und  das 
lateinische  benutzte,  werden  wir  unten  bei  der  besprechung  der 
einzelnen  buchstaben  sehen.  Hier  mache  ich  nur  noch  darauf  auf- 
merksam, dafs  während  die  zeichen  für  i  und  æ  nach  griechischem 
vorbilde  ei  und  ai  geschrieben  werden,  Wulfila  in  analogie  mit  dem 
letzteren  zeichen,  aber  nach  lateinischem  Vorbild,  au  als  zeichen 
für  å  gebildet  hat. 

Eine  betrachtung  der  einzelnen  Wulfilanischen  buchstaben- 
formen wird  die  hier  geltend  gemachte  aufTassung  vollständig  be- 
stätigen, dafs  das  griechische  aiphabet  in  allem  wesentlichen  die 
grundlage  bildet,  dafs  aber  das  lateinische  in  einigen  punkten  statt 
desselben  hat  benutzt  werden  müssen.  Wie  weit  auch  das  alte  runen- 
alphabet  einigen  einflufs  gehabt  hat,  wird  gleichfalls  aus  dem  folgenden 
hervorgehen. 

Um  mit  Sicherheit  eine  derartige  Untersuchung  vornehmen  zu 
können,  stellen  wir  mit  den  Wulfilanischen  buchstaben  die  grie- 
chischen und  lateinischen  uncialbuchstaben  zusammen,  die  der- 
selben zeit  angehören  (ungef.  400 — 600,  in  welcher  periode  diese 
buchstaben  in  allem  wesentlichen  in  denselben  formen  auftreten). 
Die  griechischen  buchstaben,  die  in  der  reihe  II  aufgeführt  werden, 
sind  dem  codex  Sinaiticus  (geschrieben  gegen  das  j.  400)^)  ent- 
nommen; eine  einzige,  mit  der  gotischen  besonders  übereinstimmende 
form  des  d  ist  aus  einer  jüngeren  handschrift  gewonnen  und  neben 
die  form  im  cod.  Sin.  gestellt  (vgl.  Gardthausen,  Gr.  Palaeogr.  taf.  1); 
gleichfalls  ist  das  zeichen  T  für  900  aus  Jüngern  handschriften  ent- 
lehnt (siehe  oben   s.  261  anm.  1).     Die  lateinischen   buchstaben   in 

^)  Codex  Friderico-Angustanus  sive  fragmenta  Veteris  Testamenli  e  codice 
Graeco  omoiuui  qui  ia  Europa  supersunt  facile  antiqaissimo  ed.  C.  Tisch en- 
dorf,  Lips.  1846,  und  Bibliorum  codex  Sioaiticus  Petropolitaaus  ed.  C.  Tischeo- 
dorf,    1— IV,   Petropoli  1S62. 


264  ANHANG. 


I. 

n. 

TTT. 

iv; 

a    j.      jV    öv 

X 

^ 

P 

iß    2    B  j 

li 

15 

^ 

r  j   r  ^ 

r 

C 

X 

^     i      ^    «Z' 

2..^ 

6 

M 

£    o     €3  «^ 

e 

e 

M 

/^,S      tf      U     ? 

5 

m  w.w 

- 

£     7     Z    ^ 

z 

z 

Y 

i«      «!?      h     Ä/ 

H 

h 

H 

-»^     ^      ^   / 

e 

!> 

\       30          1        ^ 

1 

1 

1 

K       2<7         K     ^ 

K 

K 

< 

X     30      \\     1/ 

\ 

l 

h 

f^     Ao      l^    vi/ 

M 

rn 

H 

,V     So     [S\     n/ 

N 

isj 

^. 

S     ^-      9    y 

X 

9 

H 

0     ;-<?      p^    ?^ 

O 

O 

h 

TT    ^^     n    F 

FT 

P 

r 

S  ^-  M  - 

1 

9 

^ 

Q    loo     K     r 

P 

K 

K 

(j    ioo     S    * 

C 

s 

5 

r    J<;t»    X   iy 

T 

T. 

/t\ 

V      ioo      Y      1}     (i/j 

T 

r 

l> 

<p     5oo      K     i^ 

<l> 

TiP 

r 

X    ^o     Xæ" 

X 

x>C 

— 

t/J    7<><?     0    w 

X 

— 

m    ßoo     ^     o 

CJO 

- 

Ä 

'^  s<x>  "T  ~ 

[t] 

1 
<> 

1.       DAS    WULFILANISCHE    ALPHABET.  265 

der  reihe  III  sind  der  von  Mommsen  herausgegebenen  Zeilzer  oster- 
tafel  (geschrieben  in  der  mitte  des  5.  jhdts)  entnommen').  Alle 
zeichen  des  alphabetes  mit  ausnähme  von  z  kommen  auf  der  seite 
vor,  die  photolithographisch  auf  taf.  1  bei  Mommsen  wiedergegeben 
ist;  das  in  alten  lateinischen  handschriften  sehr  selten  erscheinende 
z^)  stammt  anderswoher.  Formen  für  /",  die  der  gotischen  näher 
liegen,  kommen  in  andern  alten  handschriften,  z.  b.  in  der  be- 
kannten handschrift  des  Gaius^),  vor,  deren  /"-form  deshalb  neben 
diejenige  der  oslertafel  gestellt  ist.  Während  ich  die  ursprüngliche 
buchslabenordnung  im  griechischen  aiphabet  bewahrt  habe,  ist 
sie  im  lateinischen  dadurch  gebrochen,  dafs  ich  die  den  gotischen 
buchstaben  entsprechenden  zeichen  n,  /",  g  (2,  y,  x)  an  den  stellen 
eingesetzt  habe,  wohin  sie  im  gotischen  aiphabet  gehören.  Endlich 
enthält  reihe  IV  das  gemeingermanische  runenalphabet,  so  dafs  jede 
rune  dem  gotischen  buchstaben  gegenüber  gestellt  ist,  der  denselben 
laut  wie  diese  ausdrückt. 

Eine  vergleichung  zwischen  diesen  buchstabenformen  zeigt,  dafs 
einige  dem  gotischen,  griechischen  und  lateinischen  ge- 
meinsam sind,  nämlich: 

eziRUTyx 

Von  diesen  zeichen  entspricht  lat.  o?  indessen  nur  formell  dem 
griech.  und  got.  X,  das  bei  Wulfila  nur  in  griechischen  fremdwörtern, 
besonders  in  dem  worte  Xristns,  gebraucht  wird;  es  ist  folglich  das 
griechische  zeichen,  das  von  Wulfila  aufgenommen  ist.  Dasselbe  gilt 
von  den  im  lateinischen  sehr  selten  gebrauchten  zeichen  z  und  R; 
dafs  Wulfila  hier  die  griechischen  zeichen  aufgenommen  hat,  geht  be- 
züglich des  ersteren  auch  aus  dessen  platze  hervor,  der  mit  dem  der 
griechischen,  nicht  der  lateinischen  buchstabenreihe,  übereinstimmt. 
Ganz  dasselbe  ist  der  fall  mit  Wulfilas  y.  Die  genannten  4  zeichen, 
die  im  griechischen   und  lateinischen  dieselbe    form  haben,    sind  so- 


*)  Zeitzer  Ostertafel  vom  Jahre  447.  Herausgegeb.  vod  Th.  Mommsen 
in  den  AbhandlnngeQ  der  kgl.  Akademie  der  Wissenschaften  zu  Berlin  1862, 
Berlin  1S63,  s.  539  ET.  Exempla  codicum  Lalinorum  litteris  maiuscalis  scrip- 
torum.  Edd.  C.  Zangemeister  et  Guil.  Wattenbach,  Heidelb.  1876  (Sapple- 
mentum  1879),  tab.  XXIII. 

-)  W.  W atten b ach,  Anleitung  zur  lateinischen  Palaeographie.  Vierte, 
verb.  Anfl ,  Leipz.  1886,  s.  65. 

^)  Gaii  institvtionvni  commentarii  qvattvor  codicis  Veronensis  denvo  collati 
apographvm  confecit  et  ed.  G  vil,  Stvdenivnd,  Lips.   1874. 


266  ANHANG. 

mit  sicher  aus  dem  griechischen  aiphabet  genommen.  Wieweit  dagegen 
die  zeichen  61 HT  als  griechische  oder  lateinische  bezeicimet  werden 
Süllen,  beruht  darauf,  ob  wir  im  stande  sind,  des  einzelnen  näher 
nachzuweisen,  welche  rolle  diese  beiden  alphabate  im  ganzen  genommen 
bei  der  bildung  des  gotischen  gespielt  haben.  Und  was  von  diesen 
vier  dem  griechischen  und  lateim'schen  gemeinsamen  zeichen  gilt, 
mufs  auch  auf  die  zeichen  für  a,  b  und  d  anwendung  finden,  die 
gleichfalls  formell  sowohl  vom  griechischen  wie  vom  lateinischen 
abgeleitet  werden  können,  obgleich  von  unseren  griech.  a  und  ß  zu 
sagen  ist,  dafs  sie  den  gotischen  formen  etwas  näher  liegen  als 
unsere  latein.  a  und  b,  was  in  noch  höherem  grade  mit  den  ent- 
sprechenden zeichen  anderer  handschriflen  der  fall  ist^). 

Entschieden  griechisch  sind  dagegen 
rAMnH90  t  900. 

Ebenso  unzweifelhaft  ist  es,    dass  das  lateinische  alp  habet 
das  Vorbild  für 

h  q  )^  s  j; 
abgegeben  hat.  Dafs  die  zeichen  für  h,  j\  f  aus  dem  lateinischen 
alphabete  genommen  wurden,  lag  natürlich  daran,  dafs  das  grie- 
chische keine  zeichen  für  h  und  j  darbot,  und  dafs  das  lateinisclie 
f  dem  gotischen  laute  viel  näher  stand,  als  das  griechische  qi.  Wenn 
Wulfila  auch  sein  r  und  s  vom  lateinischen  nahm  und  nicht  griech. 
P  und  C  wählte,  die  ja  eben  so  gut  für  seine  schrift  pafsten, 
so  mufs  der  haupigrund  ohne  zweifei  darin  gesucht  werden,  dafs  er 
absichtlich  diese  beiden  griechischen  zeichen  vermied,  weil  zwei 
lateinische  buchstaben  mit  einer  ganz  verschiedenen  be- 
deutung  (p,  c)  formell  mit  ihnen  zusammenfielen.  Indem 
er  die  lateinischen  formen  für  rund  s  aufnahm,  erreichte 
Wulfila  somit,    dafs    sein    aiphabet    kein    zeichen   bekam. 


1)  Während  die  griechischen  uucialhandschrifteu  die  alte  i-form  festhallen, 
gebrauchen  die  lateinischen  auch  b)  das  bereits  frühzeitig  im  lateinischen  nach- 
gewiesen werden  kann  (Wattenbach,  Anleitung  z,  lat.  Pal.  ^,  s.  45).  In  der  be- 
kannten bibelhandschrift  ,, codex  Bezæ"  in  Cambridge  aus  dem  6.jhdt,  wo  der 
griechische  und  lateinische  text  einander  gegenüberstehen ,  hat  der  griechische 
beständig  _ß,  der  lateinische  |jj  für  d  gebraucht  der  griechische  text  gleich- 
falls das  alte  \. ,  aber  der  lateinische  Q  (siehe  Codex  Theodori  Bezæ  Canta- 
brigiensis  evangelia  et  apostolorum  acta  complectens  quadratis  literis  Græco- 
Latinus.  Ed.  Th.  Kipling,  I — 11  fol.,  Cantabrigiæ  1793;  neuere  ausgäbe  durch 
F,  H.  Sc  riven  er,  Cambridge  1864;  vgl.  taf.  14  (griechisch)  und  15  (lateinisch) 
iD  Palæogr.  Society's  Facsimiles  I). 


I.       DAS    WÜLFILANISCHE    ALPHABET.  267 

das  im  griechischen  und  lateinischen  verschiedene  bedeu- 
tung  hatte.  Dies  ist  nach  meiner  meinung  das  bestimmende  für 
Wultila  gewesen,  obgleich  ich  natürlich  einräume,  dafs  man  mit 
KirchholT  (Das  goth.  runenalph.*  s.  55  f.)  auch  den  grund  für  die 
aufnähme  dieser  beiden  lateinischen  buchslaben  darin  suchen  könnte, 
dafs  die  lateinischen  buchstaben  den  entsprechenden  runen  weit 
näher  lagen,  als  die  griechischen,  wozu  ich  dann  den  weiteren 
grund  fügen  würde,  dafs  Wultila  durch  aufnähme  von  griech.  P 
und  C  zwei  buchstaben  erhalten  haben  würde,  die  formell  mit  zwei 
runen  von  ganz  anderer  bedeutung  (^  w,  <  k)  zusammenfielen.  Wenn 
ich  indessen  dem  von  Kirchhoff  angeführten  grunde  kein  so  grofses 
gewicht  beilegen  kann,  so  beruht  dies  darauf,  dafs  Wultila  sich 
in  andern  fallen  nicht  nach  dem  hierin  ausgesprochenen  grundsatze 
gerichtet  hat:  er  nahm  griechisches,  nicht  lateinisches  m  auf,  trotz- 
dem das  erstere  mit  dem  runenzeichen  füi*  e  zusammenfiel;  er  trug 
kein  bedenken,  griech.  tp  als  p  zu  gebrauchen  (vgl  unten)  und 
griech.  x  aufzunehmen,  obgleich  diese  zeichen  formell  mit  den  runen 
Y  und  X  zusammenfielen,  wie  sein  episemon  für  900  dieselbe  form 
wie  die  T-rune  hat. 

Übrig  bleiben  also  nur  noch  folgende  Wulfilanische  zeichen: 
uq  t\f  p  II  u  0w  Qo 
von  denen  die  vier  ersten  weder  in  form  noch  bedeutung  mit  den 
griechischen  zeichen  übereinstimmen,  deren  stelle  sie  in  der  buch- 
stabenreihe einnehmen,  während  das  letzte  wohl  in  der  bedeutung 
dem  griechischen  o)  entspricht,  dessen  platz  es  auch  einnimmt, 
in  der  form  dagegen  ebenfalls  sehr  abweichend  von  ihm  erscheint. 
Diese  zeichen  müssen  wir  etwas  näher  betrachten. 

11  wird  von  Wulfila  als  zeichen  für  die  lautverbindung  kw 
gebraucht  und  liegt  also  in  der  bedeutung  dem  lateinischen  q  nahe, 
das  offenbar  zur  bezeichnung  für  diese  lautgruppe  hätte  gebraucht 
werden  können;  aber  dafs  das  Wulfilanische  zeichen  vom  lateinischen 
*1  ausgegangen  sei,  mufs  wegen  seiner  form  geleugnet  werden.  Da- 
gegen fällt  das  zeichen  formell  ganz  mit  lateinischem  n  zusammen, 
das  ja  sowohl  in  der  bedeutung  «  wie  auch  w  gebraucht  und 
also  von  Wulfila  entweder  als  zeichen  für  den  halbvokal  tr  oder  für 
den  vokal  u  hätte  aufgenommen  werden  können;  für  den  ersteren 
benutzte  er  indessen  griechisches  i',  für  den  letzteren  ein  anderes 
zeichen,  und  u  wandte  er  dann  zur  bezeichnung  einer  lautverbin- 
dung   an,    worin    w   den    letzten   bestandteil    bildete.      Auch   dieses 


268  ANHANG. 

zeichen  sehe  ich  also  für  aus  dem  lateinischen  entlehnt  an,  und  dafs 
es  wirklich  das  lateinische  u  ist,  welches  diese  Verwendung  gefunden 
hat,  scheint  mir  in  hohem  grade  dadurch  bestätigt  zu  werden,  dafs 
dieser  lateinische  buchstabe  nicht  gebraucht  wird,  um  das  gotische 
M  wiederzugeben.  Dafs  das  näher  liegende  lateinische  q  nicht  an- 
gewandt wurde,  konnte  ja  auch  darin  begründet  sein,  dafs  das  dem 
lateinischen  q  entsprechende  zeichen  sich  in  Wirklichkeit  an  einer 
andern  stelle  in  der  gotischen  buchstabenreihe  findet,  nämlich  als 
episemon  für  90.  Weshalb  nun  Wulfila  nicht  einfach  das  griechische 
episemon  xonna  oder  eher  das  diesem  entsprechende  lateinische  q 
als  zeichen  für  sein  kw  gebrauchte,  was  wir  von  unserm  Standpunkt 
aus  vielleicht  natürlich  gefunden  haben  würden  —  als  zeichen  für 
sein  h  und  f  setzte  er  ja  doch  latein.  h  und  f  an  der  stelle  von  fj 
und  (f  ein  — ,  ist  natürlich  schwer  mit  Sicherheit  zu  sagen;  aber  da 
Wulfila  im  ganzen  genommen  so  grofse  einsieht  bei  der  Schaffung 
seines  alphabetes  bewiesen  hat,  so  zweifle  ich  nicht  daran,  dafs  er 
auch  hier  genügende  gründe  für  seine  wähl  gehabt. 

Da  latein.  u  also  als  zeichen  für  kw  und  griech.  v  für  w  ge- 
braucht war,  bot  weder  das  griechische  noch  das  lateinische  aiphabet 
mehr  ein  passendes  zeichen  für  den  M-laut  dar.  Hier  verliefs^Wulfila 
daher  seine  gewöhnlichen  Vorbilder  und  nahm  seine  Zuflucht  zu  der 
alten  runenschrift,  deren  n  er  aufnahm  und  an  der  stelle  einsetzte, 
wo  griech.  o  stand.  Dafs  das  m- zeichen  sowohl  seiner  form  als 
auch  seiner  bedeutung  nach  von  der  M-rune  ausgeht,  halte  ich  für 
unzweifelhaft,  und  der  gedanke,  dafs  es  das  lateinische  kursive 
n  sein  könnte,  das  in  dieser  bedeutung  aufgenommen  wäre  (Gabelentz 
und  Loebe,  Gotb.  Gram.  §  1  und  12),  während  also  das  (griechische) 
uncial-n  seine  ursprüngliche  bedeutung  behielt,  kommt  mir  in  dem 
grade  unwahrscheinlich  vor,  dafs  ich  ihn  keiner  Widerlegung  würdige. 

f\)  hat  bei  Wulfila  die  bedeutung  p  und  nimmt  dieselbe  stelle 
wie  griech.  ^  ein.  Dafs  das  griechische  zeichen  nicht  für  diesen 
laut  benutzt  wurde,  kann  etwas  auffallend  erscheinen,  da  die  aus- 
spräche des  griechischen  d^  sich  kaum  besonders  von  der  des  goti- 
schen p  entfernt  haben  kann.  Dafs  jedoch  ein  bestimmter  unter- 
schied dagewesen  sein  mufs,  der  vielleicht  auch  Wulfila  gröfser  vor- 
gekommen ist,  als  er  in  Wirklichkeit  war,  dafür  scheint  mir  gerade 
das  Wulfilanische  aiphabet  einen  sicheren  beweis  zu  liefern;  dafs 
Wulfila  für  diese  unterschiede  ein  ohr  gehabt  hat,  geht  auch  daraus 
hervor,  dafs  er  griech.  (f  als  zeichen  für  f  verwarf.     Formell  fällt 


I.       DAS    WÜLFILANISCHE    ALPHABET.  269 

got.  p  indessen  mit  einem  ganz  andern  griechischen  zeichen  zu- 
sammen, nämlich  mit  ip;  und  umgekehrt  finden  wir  an  der  stelle,  wo 
das  griechische  ip  hat,  im  gotischen  ein  zeichen  (für  die  lautver- 
bindung  hw),  das  formell  mit  griech.  ^  übereinstimmt.  Es  besteht 
für  mich  nun  gar  kein  zweifei  darüber,  dafs  Wulfila,  was  bereits 
Gabelentz  nnd  Loebe  (Golh.  Gram.  §  11  und  12)  gesehen  haben, 
und  was  auch  Kirchhoff  (Das  golh.  runenalphabet'  s.  58)  einräumt, 
sowohl  gi'iech.  d-  wie  griech.  \p  in  sein  aiphabet  aufgenommen,  aber 
ihre  platze  vertauscht  hat,  so  dafs  ip  (für  das  ja  in  der  griechischen 
bedeulung  keine  Verwendung  war)  als  zeichen  für  />  benutzt  wurde, 
während  &  als  zeichen  für  tr  (d.  i.  hw)  eintrat.  Der  wesentlichste  grund 
hierfür  war,  so  viel  ich  sehen  kann,  dafs  Wulfila  den  unterschied  kon- 
statieren wollte,  der  in  der  ausspräche  zwischen  griech.  3  und  got. 
p  statt  hatte. 

Es  bleibt  noch  das  gotische  o-zeichen  Q  übrig.  Dieses  zeichen 
nimmt  ja  die  dem  griech.  «  entsprechende  stelle  ein,  und  man  hat 
daher  auch  behauptet,  dafs  got.  ö  geradezu  von  diesem  griechischen 
buchstaben  ausgegangen  sei  (Gabelentz  u.  Loebe  1.  c.  §  12;  Kirch- 
hoff 1.  c.  s.  53  f.,  s.  56);  aber  die  formen  des  griechischen  und 
gotischen  buchstabens  liegen  einander  zu  fern,  als  dafs  dies  ange- 
nommen werden  kann;  denn  got.  Q  darf  natürlich  nicht,  wie  man 
bestandig  gethan  hat,  mit  griech.  ß  zusammengestellt  werden,  wovon 
man  es  sich  allerdings  ausgegangen  denken  könnte,  sondern  wie 
alle  übrigen  gotischen  buchstaben  mit  dem  griechischen 
uncial- (u,  wovon  es  sich  ja  so  sehr  entfernt,  dafs  die  Identität  für 
unmöglich  angesehen  werden  mufs.  Als  eine  regel,  wovon  schlechter- 
dings keine  ausnähme  gemacht  wird,  gilt  nämlich,  dafs  Wulfila  sein 
aiphabet  durch  aufnähme  griechischer  und  lateinischer  buchstaben 
gebildet  hat,  ohne  etwas  in  deren  form  zu  ändern.  Wenn 
daher  griech.  ^  bei  ihm  die  form  0  mit  punkt  statt  strich  hat,  so 
zweifle  ich  nicht  daran,  dafs  diese  form  zu  seiner  zeit  allgemein  ge- 
wesen ist,  was  sicher  gleichfalls  von  seinem  a  und  d  gilt  (die  ein- 
zigen fälle,  wo  unbedeutende  abweichungen  zwischen  Wulfilas 
buchstaben  und  den  aus  handschriften  allgemein  bekannten  grie- 
chischen formen  nachgewiesen    werden   können)^).     Da   das    runen- 

')  Bei  a  ist  die  aus  zwei  feineren  strichen  gebildete  rundung  zd  einem 
einzigen  dickeren  striche  znsanimengeschmolzen,  wodurch  dieser  bachstabe  grofse 
ähnlichkeit  mit  /  bekommt;  im  allgemeinen  wird  jedoch  die  regel  beobachtet, 
dafs   der   nebenstrich    im  /    nicht    über  den   hanptstab   hinaus  verlängert   wird, 


270  ANHANG. 

alpliabel  nun  gerade  die  form  5^  für  o  hat,  so  bin  ich  nicht  im 
zweifei  darüber,  dafs  Wulfila  hier  wie  beim  M-zeichen  das  griechische 
(und  lateinische)  aiphabet  verlassen  und  die  alte  heimische  schrifl 
benutzt  hat,  die  gerade  betreffs  dieser  beiden  zeichen  insofern  vorzüglich 
zu  seiner  eigenen  pafste,  als  sie  beide  besonders  bequem  zu  schreiben 
waren.  Diese  letztere  rücksicht,  glaube  ich,  ist  auch  die  einzige  aus- 
schlaggebende für  Wulfila  gewesen,  die  rune  als  zeichen  für  sein  o 
zu  wählen  und  weder  griech.  (i)  noch,  was  man  in  analogie  mit  6 
hatte  erwarten  können,  griech.  O;  das  erstere  zeichen  war  bei 
weitem  nicht  so  bequem  wie  Q,  und  durch  O  hätte  er  ein  zeichen 
bekommen,  das  allzu  sehr  dem  0  glich. 

Von  den  zeichen  im  Wulfilanischen  aiphabet  gehen  also  von 
den  runen  aus 

na, 
von  dem  lateinischen  alphabete 

u^  h  qy  1^  s  )^, 
während  der  ganze  resl   dem   griechischen   alphabete   angehört, 
nämlich 

j\BrcL6Z(J)/>iKAiiNn  (H)Ty  X0w(t). 

Das  ergebnis  dieser  Untersuchung  ist  also,  dafs  Wulfila  als 
grundlage  für  seine  schrift  das  griechische  uncialalphabet 
benutzte;  aber  wo  dies  nicht  für  seinen  zweck  genügend 
war,  wandte  er  sich  zum  lateinischen,  und  nur  für  zwei 
buchstaben  nahm  er  zeichen  aus  der  runenschrift  auf. 

Dafs  dies  das  wirkliche  Verhältnis  ist,  und  dafs  Wulfila  nicht, 
wie  namentlich  J.  Zacher^)  und  nach  ihm  A.  Raszmann^)  haben 
behaupten  wollen,  das  runenalphahet  als  grundlage  für  seine  schrift 
gebrauchte  und  die  runen  zur  ähnlichkeit  mit  den  griechischen  (und 
lateinischen)  bMchstaben  umbildete,  geht  mit  unläugbarer  Sicher- 
heit aus  der  vollständigen  Übereinstimmung  der  gotischen  buch- 
staben  mit  den  griechischen  (und  lateinischen)  hervor,  wogegen  die 
abweichungen  von  der  runenschrift  auf  so  gut  wie  allen  punkten 
sehr  bedeutend  sind,  und  wird  durch  die  übrigen  Übereinstimmungen 


während  er  im  a  sehr  häufig  ein  gutes  stück  darunter  geht.  Auch  im  cod.  Sio. 
köonen  a  uod  A  einander  sehr  ähnlich  werden. 

^)  Das  gothische  aiphabet  Vulfiias  und  das  runenalphahet,  Leipz.'  1855, 
s.  53  ff. 

2)  Der  artikel  „Gothische  Sprache  und  Literatur"  in  Ersch  u.  Grubers 
Encyklopädie,  I.  Sect.,  75.  Tbeii,  Leipz.  1862,  s.  301  f. 


I.       DAS    WÜLFILANISCHE    ALPHABET.  271 

zwischen  der  gotischen  und  griechisch-lateinischen  schrift  im  gegen- 
satz  zur  runenschrift  (der  anordn  ung  und  dem  zahlenvverle  der  buch- 
staben ;  6i  als  zeichen  für  l ;  j\i  und  jvn  als  zeichen  für  æ  und  « ; 
rr  =  griech.  yy)  bestätigt.  Got.  j\BrA.6  u.  s.  w.  für  eine  Um- 
bildung der  runen  ^^XMM  u.  s.  w.  mit  annäherung  an  die  grie- 
chische schrift  und  nicht  für  eine  direkte  aufnähme  der  entsprechen- 
den griechischen  buchstaben  anzusehen,  kommt  mir  in  dem  mafse 
künstlich  und  aller  Wahrscheinlichkeit  zuwiderlaufend  vor,  dafs  es 
kaum  einer  ernstlichen  Widerlegung  bedarf. 

Dafs  Wulfilas  schrift,  trotzdem  sie  sich  in  den  buchstaben- 
formen, ihrer  anordnung  u.  s.  w.  so  stark  von  der  alten  runen- 
schrift entfernte,  schnell  allgemeinen  eingang  fand  und  die  runen  ver- 
drängte, lag  natürlich  zu  allererst  an  ihrer  zweckmäfsigkeit,  da  sie 
sich  weit  mehr  zum  gebrauch  auf  pergament  eignete,  als  die  speciell 
zur  einritzung  in  holz,  metall  u.  s.  w.  gebildete  runenschrift. 

Aufserdem  brach  Wulfila  ja  keineswegs  vollständig 
mit  der  alten  schrift;  seine  Verehrung  für  dieselbe  zeigt  sich 
besonders  an  zwei  punkten,  nämlich  durch  die  aufnähme  der  runen- 
zeichen  für  u  und  o  und  namentHch  durch  die  bewahrung  der 
alten  runennamen  (vgl.  s.  71  f.),  die  man  für  so  festgewachsen  im 
bewufstsein  des  volkes  halten  mufs,  dafs  es  schwer  war,  sie  auszu- 
rotten. Über  diese  namen  bleibt  noch  übrig  einige  bemerkungen 
hinzuzufügen. 

Trotz  der  entstellungen  in  der  Wiener  handschrift  ist  die  Über- 
einstimmung zwischen  den  gotischen  buchstabennamen  und  den  alt- 
englischen und  nordischen  runennamen  hinsichtlich  der  weit  über- 
wiegenden anzahl  so  deutlich,  dafs,  wie  Munch  und  Kirchhoff  nach- 
gewiesen haben,  kein  zweifei  darüber  sein  kann,  dafs  Wulfila  direkt 
die  alten  germanischen  runennamen  in  gotischer  form  auf 
seine  buchstaben  übertragen  hat.  Dies  gilt  von  den  namen  der 
buchslaben  b  (weder  Munchs  bairika  noch  KirchhofTs  bairka  trelfen 
jedoch  das  richtige;  die  handschrift  hat  bercna,  und  dafs  n  ursprüng- 
lich mit  zum  worte  gehört  hat,  zeigt  nordisch  bjarkan),  g,  d,  h,  i,  k 
(hier  ist  die  gotische  form  zweifelhaft),  l,  m,  n,  j,  u,  p,  r,  s,  t,  «?,  f 
und  0.  Dafs  wir  auch  in  dem  eyz  der  handschrift  als  namen  für  e 
den  alten  germanischen  runennamen  ehioaz  (MHf^F^Y)  in  der  got. 
form  aihios  wiederfinden,  ist  Munchs  Scharfsinn  nicht  entgangen,  und 
dies  Verhältnis  ist  um  so  interessanter,  als  es  zeigt,  dafs  Wulfila 
kein  bedenken   getragen    hat,    den    alten   namen   beizubehalten,    ob- 


272  ANHANG. 

gleich  (lieser  nach  seiner  Schreibung  nicht  so  wie  in  der 
runenschrift  mit  dem  huchstaben  begann,  dessen  laut 
er  ausdrücken  sollte;  ganz  dasselbe  Verhältnis  treffen  wir  ja  in- 
dessen auch  bei  eis  als  namen  für  i.  In  ein  paar  ffdlen  scheint  Wul- 
fila  jedoch  die  alten  runennamen  verlassen  und  neue  namen  für 
seine  buchstaben  gebildet  zu  haben:  a  und  p  haben  in  der  hand- 
schrift  die  namen  aza  und  thylh,  worin  man  nur  mit  der  grüfslen 
Willkür  die  dem  altnord.  dss  und  purs  (sicher  die  ältesten  namen 
der  runen  ^  und  ^)  entsprechenden  gotischen  worte  wird  wieder- 
finden können.  In  aza  kann  ich  weder  mit  Munch  ein  gotisches 
asks  (erschlossen  aus  dem  speciell  altenglischen  runennamen  æsc, 
der  ja  indessen  weit  jünger  als  Wulfila  ist),  noch  mit  Kirchhoff  ein 
ans  sehen;  eher  glaube  ich,  dafs  aza  ein  fehler  für  got.  aha  'sinn, 
verstand'  ist  (2  und  h  konnten  leicht  verwechselt  werden;  vgl. 
Wattenbach,  Anleitung  zur  lat.'  Palaeogr.  *,  s.  65  f.),  und  in  thyth 
bin  ich  mehr  geneigt  mit  Munch  (Det  got.  Sprogs  Formlære  s.  15) 
got.  piuda  zu  finden,  als  mit  Kirchhoff  got.  piup.  Wenn  Wulfila 
die  runennamen  bei  diesen  beiden  buchstaben  mit  andern  vertauscht 
hat,  so  suche  ich  den  grund  dafür  in  dem  umstände,  dafs  gerade 
diese  beiden  runennamen,  die  ohne  zweifei  eine  ganz  besondere  rolle 
als  magische  zeichen  spielten,  nach  seiner  meinung  allzu  starke  er- 
innerungen  an  das  heidentum  enthielten.  Für  z  konnte  Wulfila  den 
namen  der  rune  Y  nicht  behalten,  da  Y  in  diesem  namen  gerade 
nominativszeichen  war;  aber  hier  war  z  ja  im  gotischen  zu  s  ge- 
worden, wie  die  gotischen  sprachüberr<'sle  und  besonders  das  tila- 
rids  des  Koveler  Speeres  zeigen.  In  dem  ezec  der  handschrit't 
würde  man  auch  schwerlich  den  nordischen  runennamen  elgn  wieder- 
finden können.  Das  merkwürdige,  bisher  nicht  befriedigend  erklärte 
ezec  halte  ich  für  einen  fehler  anstatt  ezet,  eine  lesung,  die  das  fak- 
simile bei  Grimm  mir  sogar  zu  gestatten  scheint;  aber  auf  jeden 
fall  ist  es  ja  eine  bekannte  sache,  dafs  c  und  t  in  handschriften  aus 
dieser  zeit  oft  verwechselt  werden,  und  ein  sicheres  beispiel  hierfür 
bietet  unsere  handschrift  selbst  in  dem  namen  noicz  für  noilz  d.  i. 
got.  naups  (indem  t  wie  öfter  für  th  steht).  In  ezet  könnte  man 
dann  versucht  sein,  einen  aus  dem  griechischen  Cij^a  gebildeten 
namen  zu  finden,  wo  z  wie  in  den  echten  gotischen  Worten  in  den 
inlaut  kam.  Da  indessen  alle  übrigen  buchstahennamen  echt 
gotisch  sind,  so  kommt  mir  eine  solche  annähme  wenig  wahr- 
scheinlich   vor,    und    ich    zweifle    nicht    daran,    dafs   sich    in  (ezec,) 


I.     DAS    WOLFILANISCHE   ALPHABET.  273 

ezet  ein  wirklich  gotisches  wort  (asett)  verbirgt.  Für  die  beiden 
neugebildeten  zeichen  für  q(kw)  und  w  (ämj)  hat  WulGla  selbst- 
verständlich auch  neue  namen  bilden  müssen,  die  mit  q  und  tø 
begannen;  aber  wie  die  dem  quetra  und  uuaer  der  handschrift 
entsprechenden  gotischen  worte  gelautet  haben  können,  dabei  werde 
ich  nicht  länger  verweilen,  da  uns  hier  jeder  sichere  Stützpunkt 
fehlt,  und  die  phantasie  daher  eine  allzu  grofse  rolle  zu  spielen  ha- 
ben würde;  ich  bemerke  nur,  dafs  die  lautähnlichkeit  zwischen 
quetra  und  dem  altengl.  runennamen  cweord,  aus  der  man  ihre 
Identität  hat  folgern  wollen,  natürlich  auf  einem  reinen  zufalle  beruht, 
da  der  zuletzt  genannte  speciell  altengl.  name  ja  einer  verhältnis- 
mäfsig  sehr  späten  zeit  angehört. 

Es  bleibt  also  nur  noch  der  buchstabe  X  übrige).  Dieser 
speciell  griechische  buchstabe  wird  nur  in  den  bei  WulGla  auf- 
genommenen griechischen  Wörtern  gebraucht  und  kommt  auch  hier 
selten  vor,  indem  er  mit  A*  wechselt,  wenn  man  den  namen  Xristus 
ausnimmt,  dem  zu  liebe  er  wohl  überhaupt  aufgenommen  ist.  Man 
könnte  deswegen  vermuten,  dafs  mindestens  dieser  buchstabe  seinen 
griechischen  namen  bewahrt  hätte;  aber  hier  tritt  uns  das  merk- 
würdige entgegen,  dafs  die  Wiener  handschrift  ihm  den  namen 
enguz  zuerteilt,  einen  namen,  der  auf  den  ersten  blick  ganz  unge- 
reimt erscheint,  da  der  buchstabe,  den  der  name  bezeichnen  soll, 
ja  nirgends  darin  enthalten  ist.  Wie  schon  Kirchhoff  (Das  goth,  runen- 
alphabet'  s.  60  f.)  hervorgehoben  hat,  scheint  dieses  Verhältnis  jedoch 
nicht  schwer  zu  erklären.  Das  Wulfilanische  aiphabet  enthält  zeichen 
für  alle  dieselben  laute,  die  das  gemeingermanische  runenalphabet 
durch  22  von  seinen  zeichen  ausdrückte,  und  die  namen  dieser 
22  runen  wurden  mit  den  oben  genannten  ausnahmen  auf  die 
Wulfdanischen  buchstaben  übertragen.  Im  runenalphabet  befanden 
sich  indessen  noch  die  beiden  zeichen  l»  und  ^,  wozu  Wulfila  nichts 
entsprechendes  hat.  Die  ursprüngliche  bedeulung  des  ersten  dieser 
zeichen  ist,  wie  wir  oben  entwickelt  haben,  ganz  unsicher,  weshalb 
ich.  vermutet  habe,  dafs   es   vielleicht  im  runenalphabet  als  eine  art 


1)  Ob  die  beiden  griechischcD  episema  xonna  und  aar  {aa/int)  in  Wolfilas 
aipbabete  ihre  griechischen  namea  behalten,  oder  dieselben  mit  gotischen  ver- 
tauscht, oder  —  was  wohl  das  wahrscheinlichste  ist  —  ihren  platz  in  der 
Zahlenreihe  als  naineolose  zeichen  eingenommen  haben,  die  nur  in  der  schrift 
gebraucht  wurden,  anstatt  die  betrefifendeo  zahlen  mit  deren  namen  zu  schreiben, 
läTst  sich  natürlich  nicht  entscheiden. 

WIUUER,  Die  inneDscfarift.  |g 


274  ANHANG.       I.    DAS    WÜLFILANISCHE    ALPHABET, 

episemon  eingesetzt  sein  kann  (wie  Wulfila  die  griechischen  episema 
^  und  '5  als  zahlen-,  nicht  als  lautzeichen  aufnahm),  ohne  dafs  wir 
jetzt  den  grund  dafür  entdecken  können.  Diese  vermutung  konnte 
durch  das  Wulfilanische  alphahet  bestätigt  werden,  wo  wir  keine 
spur  von  einem  diesem  zeichen  entsprechenden  buchstaben  oder 
namen  finden.  Anders  war  es  mit  der  rune  ^,  die  ja  im  alten 
runenalphabet  die  bedeutung  fd  hatte;  da  Wulfila  indessen  die 
griechische  bezeichnung  r  aufnahm,  so  finden  wir  selbstverständlich 
in  seinem  aiphabet  kein  zeichen,  das  denselben  lautwert  wie  die  ing- 
rune  hat;  aber  war  das  zeichen  für  diesen  laut  somit  auch  auf- 
gegeben, so  wurde  doch  der  alte  name  bewahrt.  Denn  dafs  enguz 
als  name  für  X  gerade  den  namen  der  m^-rune  enthält,  kann  ja 
keinem  zweifei  unterworfen  sein.  Um  den  alten  namen  zu  bewahren, 
ist  er  also  an  den  einzigen  ganz  fremden,  niemals  in  gotischen 
Worten  vorkommenden  buchstaben  im  Wulfilanischen  aiphabet  geknüpft; 
dies  konnte  um  so  eher  geschehen,  als  griech.  x  j*  leicht  den  ein- 
druck  machen  konnte,  gerade  wie  die  rune  v  durch  Zusammen- 
stellung von  zwei  <  gebildet  zu  sein.  Kaum  an  irgend  einem  andern 
punkte  zeigt  sich  deutlicher  als  hier  Wulfilas  fähigkeit,  das  ein- 
heimische mit  dem  fremden  auf  eine  solche  art  zu  verbinden,  dafs 
das  letztere  ohne  Schwierigkeit  bei  seinen  landsleuten  eingang  finden 
konnte. 


n. 

Das  altnorwe^sche  runengedicht  und  die  isländische 
ninenreimerei. 

(Zn  seite  180.) 

Das  s.  180  erwähnte  altnorwegische  runengedicht  befand 
sich  nach  O.  Worm  in  einer  alten  gesetzeshandschrift  in  der  Univer- 
sitätsbibliothek zu  Kopenhagen  („Danica  Literatura  antiquissima" 
1636,  s.  105;  2.  ausg.  1651,  s.  95).  Diese  handschrift,  wonach 
Worm  das  gedieht  herausgab  (abgedruckt  bei  W.  Grimm,  Über 
deutsche  Runen,  s.  246  ff.  und  mit  einer  menge  höchst  willkürlicher 
berichtigungen  im  Corpus  poeticum  Boreale,  II,  Oxford  1883,  s.  369  f.), 
ging  bei  dem  brande  der  bibliothek  1728  zu  grunde.  Glücklicher- 
weise sind  indessen  zwei  so  gut  wie  vollständig  übereinstimmende 
sorgfältige  abschriften  des  gedichtes  erhalten.  Die  eine  (A)  von  Arne 
Magnussons  band  (wahrscheinlich  zwischen  1686—89  genommen) 
befindet  sich  in  der  Kopenhagener  Universitätsbibliothek;  hiernach  hat 
P.  A.  Munch  das  gedieht  in  der  „Kortfattet  Fremstilling  af  den  ældste 
Nordiske  Runeskrift'',  Christ.  1848,  s.  7  f.  herausgegeben,  aber  unglück- 
licherweise „mit  berichtigter  Orthographie"  und  mit  einer  unrichtigen 
Umstellung  an  einer  einzigen  stelle.  Die  andere  abschrift  (B),  die  sich 
in  der  kgl.  bibliothek  zu  Stockholm  befindet,  rührt  von  JönEggerts- 
son  her  und  ist  (wahrscheinlich  zwischen  1680—89)  unabhängig  von 
der  Arne  Magnussons  genommen.  Von  diesen  abschriften  scheint  ß 
genau  alle  orthographischen  eigen tümlichkeiten  der  handschrift  bewahrt 
zu  haben,  wogegen  Ä  zuweilen  in  kleinigkeiten  abweicht  (besonders 
hat  sie  durchgehends  v  für  m,  wo  es  nicht  vokal  ist,  ausgenommen 
in  ucesta  5a).  Auf  grundlage  der  genannten  abschriften  hat  Kr.  Ka- 
lund  eine  neue  ausgäbe  des  gedichtes  geliefert  in  den  „Småstykker, 
udgivne  af  samfund  Ul  udgivelse  af  gammel  nordisk  literatur",  Kbh. 

18* 


276  ANHANG. 

1884,  s.  1—16,  wozu  in  den  „Småstykker  etc."  Kbli.  1885,  s.  100  ff, 
verschiedene  nachtrage  von  S.  Bugge,  F.  Jonsson  und  Björn  Olsen 
hinzugefügt  sind.  Betreffs  der  metrischen  eigentümlichkeiten  verweise 
ich  besonders  auf  Bugges  bemerkungen  s.  103  —  5.  Verschiedene 
bemerkungen,  die  ich  später  von  F.  Jonsson  erhalten  habe,  werden 
im  folgenden  unter  seinem  namen  angeführt. 

Das  gedieht,  das  ohne  zweifei  dem  Schlüsse  des  12.  oder  dem 
anfang  des  13.  jhdts  angehört,  ist,  wie  die  spräche  (die  allitteration) 
zeigt,  von  einem  Norweger  verfafst.  Es  besteht  aus  zweizeiligen 
sowohl  durch  allitteration  wie  durch  endreim  verbundenen  versen 
mit  6  Silben  in  jeder  zeile,  in  der  regel  von  folgendem  typus: 

(vgl.  Sievers  in  Paul  und  Braunes  Beitr.  X,  s.  527).  Nur  vers  15 
ermangelt  des  endreims  und  gebraucht  statt  dessen  binnenreim.  Jede 
verszeile  bildet  in  der  regel  einen  satz  für  sich  (eine  ausnähme  macht 
nur  V.  4  und  v.  15). 

Mit  benutzung  des  genannten  materials  gebe  ich  das  gedieht  mit 
altnorwegischer  Orthographie,  welche  die  handschrift  zum  gröfslen  teile 
bewahrt  hat,  wieder  (vgl.  besonders  „Gammel  norsk  Homiliebog",  herausg. 
von  C.  R.  Unger,  Christ.  1864,  und  E.  Sievers,  Tübinger  Bruchstücke 
der  älteren  Frostuthingslög,  Tübingen  1886).  Die  runennamen  im 
anfang  jedes  verses  werden  in  der  handschrift  durch  die  entsprechenden 
runen  bezeichnet;  die  in  klammern  beigefügten  namen  rühren  also 
von  mir  her. 

1. 
r  (fé)  vældr  frænda  roge; 
fødesk  ulfr  i  sköge. 
2. 
n  (i'ir)  er  af  illu  jarne; 
opt  loypr  ræinn  å  hjarne. 

1.  Gut  verursacht  streit  der  verwandten;  der  wolf  lebt  im  walde. 

2.  Schlacke  kommt  von  schlechtem  eisen;  oft  läuft  das  renntier 
auf  hartgefrorenem  schnee. 

1  a.    frjénda]    freiida  Aß   bezeichnet   vielleicht    eine    mehr  geschlossene    avs- 
sprache  des  voknls  vor  nd   fvgi.  æinendr  12aJ. 

2  a.    ISach  Jon  Olafssons  Zeugnisse  (angeführt  von  h'älimd  s.  7  f.J  wurde  ür 
im.    südlichen    Island    in    der    bedeutung    „schlacken,  schmiedeabfall'^  gebraucht; 


II.    D.  ALT.-SORWEGISCHE  RUNENGEDICHT  Ü.  D.  ISLÄNDISCHE  RUMENREIMEREI.    277 

3. 

|>  (|)urs)  vældr  kvenna  kvillu; 
kålr  værdr  får  af  illu. 

4. 
A  (oss)  er  flestra  færda 
fgr,  en  skalpr  er  sværda. 

5. 
R  (ræid)  kvætta  rossom  væsta; 
Reginu  slo  sværdet  bæzta. 


3.  'Turs'  verursacht  fraueiikuinmer  (-krankheit);    froh  werden 
wenige  vom  übel  (nur  seilen  macht  uuglück  jemanden  froh). 

4.  Fluüsraündung  ist  der  meisten  reisen  weg,    aber  die  scheide 
ist  der  der  Schwerter. 

5.  Reiten,    sagt    man,    ist    für   rosse    das    schlimmste;    Regin 
schmiedete  das  beste  schwert. 


vgl.  ürt  jaro,  „schlechtes ,  unreines  eisen^',  patlr  af  Gull-Asu-pordi  (Sex  sögu- 
pwttir,  herausgeg.  von  J.  porkelsson,  Rkiik  ISöö,  s.  77 J  und  die  bemerkung  zu 
der  isländ.  runenreinierei  v.  16b.  —  er  af]  metrische  auflosung. 

3  a.  kvillu  ]  IVeder  A  noch  B  haben  mehr  als  den  ersten  buchttaben  von 
diesem  worte,  das  ja  indessen  mit  Sicherheit  vermittelst  des  reinies  ergänzt 
werden  kann.  Bezüglich  der  bedeulung  vgl.  isl.  kvilli  m.  krankheit,  übel,  kvilla 
verbum  „klagen^'  in  nonvegischen  dialektal.  Ich  nehme  hier  das  wort  in  der- 
selben bedeutiing  wie  das  Jetzt  gebräuchliche  kvilli  ^=  dem  gewöhnlichen  meio 
im  alt  nordischen  J,  indem  ich  im  gegensatze  zu  Bugge  |)urs  nicht  als  „riese^^, 
sondern  als  bezeichnung  pir  den  magischen  runenstab  auffasse  (vgl.  die  isl. 
reimereij.  Dieser  rief  gerade,  auf  ein  dünnes  brett  f'spj'ald'J  oder  ähnlich 
eingeritzt  und  z.  b.  unter  das  kopfkissen  eines  weibes  gelegt,  krankheit  hervor; 
vgl.  Skirnismal  v.  36:  [)urs  rist  ek  jiér  und  Egils  saga  c.  75.  —  b.  værdr  A, 
uærda  ß.    Das  allnurwegische  homilienbuch  schreibt  gleichfalls  værda  {aber  vcra). 

4  a.  ^  .  .  .  færda  ]  ^  er  læid  {unter pungicrt)  f.  f.  A,  ^  er  l^id  f.  f.  B.  — 
b.  fqr  ....  sværda  ]  en  skalper  er  sværda  A,  eo  skalper  suærda  B.  In  einer 
handschriftlichen  Sammlung  von  Edda-excerpten  etc.  von  1680  (AM  73b  4toJ,  wo 
auch  das  runengedicht  nach  ff  orm  angeführt  wird,  lautet  der  vers  folgender- 
viafsen:  os  er  flestra  ferda  för  eon  skalpur  sverda,  toas  ich  für  das  richtige 
halte,  indem  fqr  als  lange  silbe  gebraucht  ist  (vgl.  Sievers  in  Paul  und  Braunes 
Beitr.  f^lll,  s.  54  f.).  Statt  fqr  sehlagen  B.  Olsen  und  Bugge  færill  vor  (metrische 
auflösungj. 

5  a.  kva?da]  metrische  auflosung.  —  rossom]  hier  und  in  ero  15  b  gebraucht 
die  handschrift  o  in  den  endungen,  aber  sonst  u,  was  ich  beibehalten  habe  (vgl. 


278  ANHANG. 


6. 
K  (kaun)  er  barna  bylvan; 
bol  gerver  mann  f^lvan. 

7. 
5|c  (hagall)  er  kaltiastr  korna; 
Kristr  sköp  haeimenn  forna. 

8. 
V  (naud)  gerer  næppa  koste; 
noktan  kælr  i  froste. 

9. 

I  (is)  kgllum  brü  bræida; 

blindan  f)arf  at  læida. 


6.  Geschwör  ist  der  kinder  verderben ;  Unglück  macht  den  mann 
bleich. 

7.  Hagel  ist  das  kälteste  korn;  Christus  schuf  die  uralte  weit. 

8.  Not  macht  bedrängte  lage;  den  nackten  frierts  im  froste. 

9.  Eis  nennen  wir   die   breite  brücke;    den    bUnden   mufs    man 
führen. 

das  aUnorweg,  homilienbuchj.  —  b.  ßegiaa  ]  reghio  A  ß,  metrische  auflösung.  — 
slo  ]  Bugge;  A  ß  haben  nur  den  ersten  buchstaben,  skop  Munch,  saud  (vgl.  Ox- 
forder wö'rterb.  sjoda  2)  B.  Olsen. 

6a.    y....  bqlvau]    B.  Olsen    (vgl.  den    isländischen   runenreim    kaan    er 
barna  böl);   Y  er  bæggia  bariia  AB.  —  b.  mann]  B.  Olsen  (vgl.  bql  gjørir  mik 
fqlvan  Landndmabök  s.  152^ J;  naan  AB.     Bugge  schlägt  vor: 
kaun  er  bæggja  barna 
bol;  gjørver  nå  {oder  uån)  fqlvan. 
d.  i.  „geschwiir  ist  Unglück  für  beide  kinder  (=  kinder  beiderlei  geschlechts,  so- 
wohl knaben  wie  mädchenj;  der  tote  wird  bleich^'.     Diese  erklärung  von  bæggja 
barna  halle  ich  indessen  für  unmöglich. 

7a.  hagall]  metrische  auflösung.  Dafs  der  runenname  hier  bagall,  nicht 
hagl  ist,  zeigt  das  adjektiv  kaldastr.  —  b.  hæimenn  forna]  vgl.  in  forna  fold 
Hymiskvida  v.  24. 

8a.  gerer]  metrische  auflösung  oder  gerr  gelesen  (dagegen  wird  görver 
in  6  b  gebraucht).  Auch  das  altnorweg.  homilienbuch  schreibt  gewöhnlich  gera 
mit  e,  nicht  mit  æ. 

9  a.  brü  ]  bræ  A  B.  IForm  und  alle  folgenden  (Munch,  h'ålund,  BuggeJ 
verbessern  in  bi  ü  und  verstehen  bru  bræida  als  „die  breite  brücke".  Diese  auf- 
fassung  kommt  mir  jedoch  zweifelhaft  vor ;  sollte  sich  der  ausdruck  hier  nicht 
auf  die  sage  beziehen,  die  aus  der  Fglsunga  saga  c.  1  bekannt  ist:  Breda 
fqnn kalla  hverja  fqon,  er  uiikil  er? 


II.    D.  ALT^ORWEGISCHE  BD^ENGEDICHT  D.  D.  ISLÄ?IDISCHE  RUMENREIMEREI.    279 

10. 

i  (år)  er  gumna  gode; 
gel  ek  at  ^rr  var  Frode. 

11. 

0  (sol)  er  landa  Ijome; 
liiti  ek  helgum  dorne. 

12. 

1  (T^r)  er  æinendr  åsa; 
opt  værdr  smidr  at  blåsa. 

13. 
^  (bjarkan)  er  laufgrenslr  lima; 
Loki  bar  flærdar  tiiua. 


10.  (Gutes)  jähr  ist  der  niäoner  glück  (ein  segen  für  die  menschen); 
ich  sage,  dafs  Frode  freigebig  war. 

11.  Sonne  ist  der  lande  licht;  ich  beuge  mich  vor  dem  heiligen. 

12.  Ty  ist  einhändig  unter  den  asen;    oft    hat  der  schmied  zu 
blasen. 

13.  Birkenzweig  ist  das  laubgrünste  reis;   Loke  brachte  falsch- 
heits-glück. 


10a.  gamoa]  gufoa  AB,  eine  Schreibweise,  die  nach  Bugge  dafür  spricht, 
dafs  der  Schreiber  aus  dem  vcestÜchen  Norwegen  getcesen  ist.  —  b.  get  ek] 
lies  getk. 

IIb.  lati  ek]  lies  lulik.  —  helgnm  ]  die  zusammengezogenen  formen  dieses 
Wortes  werden  im  altnorweg.  homilienbuche  regelmäfsig  mit  æ  geschrieben  wie 
hæilagr  u.  s.  w. 

12a.  æioendr]  =  æinbæadr  fvgl.  afrcDdr  a.  ähnl.  „Fornnordisk  forml". 
Lund  1874,  §  24,  C,  e,  anm.,  s.33);  æ  hat  vor  od  eine  mehr  geschlossene 
ausspräche  bekommen  (vgl.  die  bemerkung  zu  frænda  laj. 

13a.  bjarkan  er]...  an  er  metrische  aufhisung  oder  bjarkan'r  gelesen. 
bjarkao  seheint  hier  und  in  der  isl.  runenreimerei  nach  dem  zusammenhange  einen 
„belaubten  birkenzweig,  birkenreis"  zu  bedeuten  fverscliieden  von  bjqrk  ^birke'J. 
Das  wort  ist  netdr.  in  der  dritten  grammatischen  abhandlung  in  der  Snorra 
Edda  fB.  Olsens  ausg.  s.  47 J,  und  es  ist  kein  grund  dazu  vorhanden  ^  es  hier 
als  mase.  aufzufassen ;  das  adjectiv  richtet  sich  im  geschlecht  nach  lima  fvon 
liini).  —  b.  Loki  ]  metrische  auflösung.  Die  handschrift  gebraucht  hier  i  in 
der  endung  wegen  des  k  (vgl.  aaki,  hauki,  niikil  v.  14,  regbio  5b,  aber  roge, 
skoghe  r.  1;    auch  lüü  IIb    beruht    wohl  auf  dem  folgenden  (e)k);    sonst   ist   e 


280  ANHANG. 

14. 

Y  (mattr)  er  moldar  auki; 
mikil  er  graeip  ä  liauki. 

15. 
r  (iQgr)  er,  er  fællr  ör  tjalle 
foss;  en  guU  ero  nosser. 

16. 
Å  (^r)  er  vetrgronstr  vida; 
vant  er,  er  brennr,  at  svida. 


14.  Mann  ist  Vermehrung  des  staubes;    grofs   ist  die  klaue  am 
habicht. 

15.  Wasser  ist  das,  wo  (wenn)  ein  Wasserfall  vom  berge  stürzt; 
aber  gold  sind  kleinode. 

16.  Eibe  ist  der  wintergrünste  bäum;    es  pflegt  zu  sengen,   wo 
(wenn)  es  brennt. 


in  den  endtingen  durchgeführt,  mit  ausnähme  von  lialli  loa  und  gerir  8a,  vjo 
ich  e  eingesetzt  halte  {das  letztere  nach  analogie  von  gor  ver  6  b;  dafs  A 
hier  -ir  für  ß's  -er  schreibt,  ist  offenbar  ein  fehler  loie  dessen  loke  13b 
für  ß's  lüki).  Der  sinn  ist:  Loke  brachte  durch  seine  falschhcit  un glück  mit 
sich    (tiini  wie  z.  b.  |)okki  sowohl  in  guter  wie  in  übler  bedeutung  gebrauchlj. 

14.  Dieser  und  der  folgende  vers  sind  nicht  nur  von  IVorm,  sondern  auch 
von  Munck  umgestellt.  —  b.  luikil]   metrische  auflosung, 

15a.  Iqgr  er  (lies  iQgr'r),  er]  F.  Jonsson,  IF immer;  f*  er  [)at  er  AB.  In 
Übereinstimmung  mit  Bugge  hält  Jonsson  foss  für  das  subjekt  im  satte  {„Wasser- 
fall ist  das  wasser,  das  vom  berge  niederstürzf-^J,  wogegen  ich  auf  grund  der 
Wortstellung  und  der  analogie  mit  allen  andern  versen  Iqgr  als  subjekt  fasse: 
„das  ist  ivasser,  wo  foder  wenn)  ein  Wasserfall  von  einem  berge  herabstürzt" ; 
vgl.  16b.  —  b.  ero]  metrische  auflosung  oder  ro  (ro)  gelesen.  —  ^4nsfatt  der 
sonst  gebrauchten  efidreime  hat  dieser  vers  binnenreim  fhalbreim  in  der  ersten, 
ganzreim  in  der  zweiten  zeilej. 

16b.  vant  er  {lies  vanl'r),  er]  fVimmei'  wie  in  15a;  vaiit  (uaiit  ß)  er  l)ar 
er  A  ß.  —  Der  reim  vida  oo  svida  deutet  darauf  hin,  dafs  der  vokal  im 
ersten  Worte  auf  dem  wege  war,  lang  zu  wei'den,  was  nach  Bugge  ein  beweis 
dafür  sein  würde,  dafs  der  Verfasser  aus  dem  /Festlande  war  fvgl.  die  bemerkung 
zu  10 aj. 


II.    D.  ALTNORWEGISCHE  RC.NENGEDICHT  U.  D.  ISLÄ.NDISCHE  ROE^REIMEREI.    281 

In  vielen  punklen  so  nahe  verwandt  mit  dem  norwegfschen 
runen ''edichl,  dafs  die  einwirkung  desselben  unverkennbar  ist,  aber 
in  andern  beziehungen  sehr  abweichend  davon  sind  einige  islän- 
dische runenreimereien,  die  in  verschiedenen  handschriften  in 
der  Arnamagnæanischen  Sammlung  in  der  universilälsbibliothek  zu 
Kopenhagen  aufbewahrt  sind,  nämlich  AM  6S7  d  4'°,  pergament- 
handschrift  aus  dem  ende  des  15.  jhdls,  AM  461  12'"°,  pergament- 
handschrift  aus  dem  16.  jhdt,  AM  749  4'»,  papierhandschrift  aus 
dem  17.  jhdt.  Zwei  in  allem  wesentlichen  übereinstimmende  formen 
dieser  reimereien  werden  aufserdem  von  Jon  Olafs  son  dem  älteren 
aus  Grunnavik  in  seiner  handschriftlichen  „Runologia"  (AM  413  fol. ; 
früher  Addit.  8  fol.),  die  nach  dem  tilelblatte  ursprünglich  1732  ver- 
fafst  war,  aber  1752  aufs  neue  vom  Verfasser  abgeschrieben  und  um 
einige  nachtrage  vermehrt  wurde,  milgeteilt. 

AM  687  gibt  wie  die  handschrift  des  norwegischen  runen- 
gedichtes  die  runen  durch  deren  zeichen  wieder,  läfst  aber  die  namen 
aus  (diese  finden  sich  jedoch  anderwärts  in  der  handschrift;  siehe 
unten),  wogegen  AM  461  die  namen,  aber  nicht  die  zeichen,  hat; 
beide  handschriften  bewahren  die  ursprüngliche  reihenfolge  der  runen. 
AM  749  hat  sowohl  die  namen  wie  die  zeichen,  ordnet  aber  die  runen 
nach  der  lateinischen  buchstabenfolge  und  fügt  die  späteren  („punk- 
tierten") runen  hinzu.  Dasselbe  ist  der  fall  mit  J.  Olafssons  erstem  texte 
(s.  130 — 35),  wogegen  der  zweite  (s.  140  f.)  der  ursprünglichen  an- 
ordnung  (jedoch  mit  lögr  vor  madr)  folgt  und  nur  die  16  alten  runen 
aufnimmt.  Beide  texte  haben  sowohl  die  runenzeichen  (der  letztere 
in  form  von  „zweigrunen"),  wie  deren  namen.  Eigentümlich  für  687 
ist,  dafs  sie  nach  den  Umschreibungen  für  jede  rune  eine  lateinische 
Übersetzung  von  deren  namen  und  eine  nordische  fürstenbenennung 
mit  dem  anfangsbuchstaben  des  namens  der  betreffenden  rune  hinzu- 
fügt. Aufserdem  enthält  diese  handschrift  auf  der  den  runenreimereien 
gegenüberstehenden  seite  (der  dritten)  ein  jedem  einzelneu  runen- 
namen  entsprechendes  lateinisches  wort  mit  begründung  der  anwen- 
dung  dieses  Wortes.  Diese  lateinischen  wiedergaben  stimmen  jedoch 
nur  ausnahmsweise  zu  der  Übersetzung,  die  in  der  runenreimerei  nach 
den  Umschreibungen  beigefügt  wird;  aber  wir  finden  hier  alle  runen- 
nameu  (mit  ausnähme  von  madr,  das  weggelassen  wird)  in  der  ur- 
sprünglichen reihenfolge  und  können  sie  also  hieraus  in  die  reimerei 
einsetzen. 


282  ANHANG. 

Die  genannten  reimereien,  die  Kålund  zusammen  mit  dem  runen- 
gedicht  in  den  „Småstykker"  etc.  s.  16— 21  (vgl.  s.  102  f.  und  111—13) 
veröffentlicht  hat,  gebe  ich  hier  mit  gewöhnlicher  isländischer  Ortho- 
graphie auf  grundlage  der  ältesten  aufzeichnung  in  AM  687  wieder, 
wo  sie  die  ersten  16  Zeilen  auf  s.  2  einnehmen,  so  dafs  jede  rune 
ihre  eigene  zeile  hat.  Die  handschrift  ist  indessen  an  mehreren 
stellen  sehr  undeutlich  oder  sogar  ganz  unleserlich  und  mufs  also 
mit  hülfe  der  übrigen  texte  ergänzt  werden ,  deren  abweichende  les- 
arten  im  übrigen  nur  angeführt  werden,  wo  sie  einige  bedeutung 
haben.  Zugleich  teile  ich,  besonders  mit  rücksicht  auf  die  runen- 
namen,  die  eben  genannte,  bisher  nicht  herausgegebene,  lateinische 
Übersetzung  auf  s.  3  in  687  mit. 

Jeder  vers  in  der  runenreimerei  besteht  aus  3  kurzen  Zeilen, 
die  jede  für  sich  eine  Umschreibung  ('kenning')  des  runennamens  ent- 
halten. Die  beiden  ersten  Zeilen  werden  durch  Stabreim  untereinander 
verbunden,  wogegen  die  dritte  ihre  eigenen  Stabreime  hat. 

1. 
r  (fé)  er  frænda  rög 
ok  flædar  vi  li 
ok  grafseids  gata. 
aurum.     fylkir. 

2. 

n  (ür)  er  sk^ja  gråtr 
ok  skara  jjverrir 
ok  hirdis  hatr. 
umbre.     visi. 

1.  Gut  ('gold')  ist  der  verwandten  streit  und  des  meeres  feuer 
und  des  „grabfisches"  (der  schlänge)  weg. 

2.  Staubregen  (Svasser')  ist  der  wölken  weinen  und  der  eisränder 
auflöser  und  (gegenständ  für)  des  hirten  hafs. 

Ib.  flædar  v.]  fyrda  ganian  („dei"  männer  freude'-'-)  461,  749,  JOb,  Fofois 
bani  JOa.  —  c.  grafseids]  grafl)vengs  4ffi ;  grafseidr  =  grafvitnir,  grafl)veDgr 
(Lex.  poet.J. 

2  b.  abweichend  von  Bugge  fasse  ich  mit  F.  Jonsson  skara  als  gen.  plur. 
von  skqr  f.,  der  rand  einer  eisßäche  (vgl.  skari  m.,  „criista  glacialis,  eis- 
rinde" Bj.  HaldorsonJ.  Fgl.  die  Umschreibung  isa  aldrtregi  von  der  sonne  11c. 
—  Die  lateinische  Übersetzung  uiubre  ist  natiirlich  ein  mi/'sverständnis  für 
imber  (iinbres). 


II.   D.  ALTNORWEGISCHE  RÜNENGEDICHT  U.  D.  ISLÄNDISCHE  RÜNENREIMEREI.    283 

3. 

p  (l)Urs)  er  kvenna  kvöl 
ok  kletta  bui 
ok  vardrünar  verr. 
saturnus.     {)engill. 

4. 

A  (öss)  er  aldingautr 
ok  äsgards  jöfurr 
ok  valliallar  visi. 
Jupiter,     oddvili. 

5. 
R  (reid)  er  sitjandi  sæla 
ok  snüdig  ferd 
ok  jors  erfidi. 
iler.     ræsir. 

6. 
K  (kaun)  er  barna  böl 
ok  bardagi 
ok  holdfiia  hüs. 

flagella.     konungr. 

3.  'Turs'  ist  der  weiber  quäl  (plage)  und  der  klippen  bewohner 
und  der  riesin  mann. 

4.  'Os'  („der  as",  Odin)  ist  der  alte  schöpfer  und  Äsgards  könig 
und  Walhalls  fürst. 

5.  Reiten  ist  behagliches  sitzen  und  hurtige  reise  und  anstrengung 
des  pferdes. 

6.  Geschwür   ist  der   kinder  Unglück   und  Züchtigung   und   das 
haus  (die  wohnungl  toten  fleisches. 

3.  a  verstehe  ich  {)urs  von  dem  manischen  runenstabe  wie  im  runengedicht, 
loogegen  es  b  und  c  in  der  bedeuUing  „riese"  gebraucht  wird.  —  b.  biii]  749, 
JO,  ibüi  461,  unleserlich  in  687.  —  c.  vardrünar  v.  ]  74Ü,  JO,  sidförull  seggr 
461;  687  scheint  vor',riiaav' sicher  ein  l]zut  haben,  aber  die  vorhergehenden  buch- 
staben  sind  buchst  undeutlich  (baul-  d.  i.  böl-?). 

4  a.  aldingautr  vgl.  Fegtamshv.  v.  2  und  13. 

5  a.  sitjandi  titela]  eigentlich  „sitzender  glücklicher  zustandi^  d.i.  die  behag- 
lichkeit,  die  man  fühlt,  indem  man  auf  dem  rücken  des  pferdes  sitzt. —  c.  jors] 
für  jös  der  alten  spräche. 

6  b.  bardagi]  ^57,  461,   749,  JO  a,  nehme  ich  in  der  bedeutung  „Züchtigung ^ 


284  ANHANG. 


7. 
)((  (hagall)  er  kaldakorn 
ok  krapadrifa 
ok  suaka  so  lt. 

grando.     hildingr. 

8. 
b  (naud)  er  I>^jar  [»rä 
ok  J)ungr  kostr 
ok  våssamlig  verk. 
opera,     niflungr. 

9. 
I    (iss)  er  arbörkr 
ok  unnar  {jak 
ok  feigra  manna  får. 
glacies.     jöfurr. 


7.  Hagel  ist  kaltes  korn  und  Schneegestöber  und  der  schlangen 
krankheit  (Vernichtung). 

8.  Not  ('knechlschaft')    ist  kummer  der  magd  und  harter  stand 
und  mühselige  arbeit. 

9.  Eis  ist  flufsrinde  und  dach  (decke)  der  woge  und  gefahr  für 
<lie  männer,  deren  todesstunde  nahe  ist. 

bestrafung'^  (es  wird  vielleicht  an  solche  fälle  gedacht  wie  z.  b.  Job,  der  mit 
beulen  geschlagen  tvurdej.  Für  bardagi  hat  JOb  bardaga  för,  was  Håltind  in 
den  texl  aufgenommen  hat  (natürlich  um  eine  zweigliedrige  Umschreibung  zu 
erhalten^  was  ich  jedoch  nicht  für  notwendig  haltej;  dies  verstehe  ich  nicht  mit 
Bugge  als  „eine  stelle,  wo  sich  plage  (schmerzj  regt'''  (also  för  nom.  sing, 
fem.),  sondern  als  „spuren,  male  der  Züchtigung-"  (för  neutr.  plur.  von  far, 
spur,  mal  von  etwas;  mit  dem  plu ral  i-^/.  våssanilig  verk  ^c,  ülfs  leifar  i26/  — 
flagelia]  von  diesem,  ivorte  ist  nur  flag  deutlich,  das  Bugge  zu  „nag[inoüa],  eine 
weniger  richtige  form  für  phlcgmonc",  ergänzt;  aber  die  handschrift  hat  ohne 
Zweifel  flagella,  das  die  Übersetzung  von  bardagi  ist  wie  in  den  lateinischen 
Übersetzungen  auf  der  folgenden  seite  in  der  handschrift. 

8  a.  iM'ä]  /uCT"  am  ehesten  in  der  bedeutung  „wgritudo  animi,  mceror,  sc/iioer- 
mut,  trübsinn"-  (Bj.  HaldorsonJ.  —  b,  l)ungr  kostr]  749,  JO,  jjvera  erfidi  461, 
unleserlich  in  687.   —   Die  lateinische  Übersetzung  opera  gibt  nur  das  wort  verk 

wieder. 

9  a.  arbörkr]  461,  740,  JO,  unleserlich  in  687.  —  b.  uunar  l)ak]  461,  749, 
JOb,  uuuar  unleserlich,  l)ak  sehr  undeutlich  in  687,  unnar  l)ekja  JO a.  —  c.  f. 
.lu.  får]   feigs   får  JOa,   feigs    inanns    forad    461,    feigs    forad   749,    JOb;  vgl. 


II.    n.  ALTNORWEGISCHE  ROENGEDICBT  ü.  D.  ISLÄNDISCHE  RLNENREIMEREI.     2S5 

10. 

i  (är)  er  gunina  gödi 
ok  gotl  sumar 
ok  algroinn  akr. 
anniis.     allvaldr. 

11. 

^  (sol)  er  skyja  skjold r 
ok  skinandi  rüdull 
ok  isa  aldilregi. 
rota.     siklingr. 

12. 
1  (Tyr)  er  einhendr  åss 
ok  Ulfs  leifar 
ok  hofa  hilmir. 
mårs.     tiggi. 

10.  (Gutes)  jähr  ist  der  männer  glück  und  guter   sommer  und 
vollreifer  acker. 

11.  Sonne  ist  der  wölken  schild  und  scheinender  slrahlenglanz 
und  der  eismassen  morder  (Zerstörer). 

12.  Ty  ist  der  einhändige  as   und  des  wolfes  Überbleibsel  und 
der  tempel  könig. 

alt  er  feigs   forad  Fdfnismdl  v.  11.      Mit  dieser   Umschreibung  des    eises  vgl. 
Målshåttakvædi  v.  25:   sjaldan    hittisk  feigs  »qk  frorin. 

10  b.  gott  s.  ]  749,  JO  a,  gott  sehr  undeutlich,  snmar  unleserlich  in  687, 
glatt  s.  JOb,  die  buchstaben  vor  tt  verlöscht  in  461.  —  c.  algroinn  a.  ]  749, 
JO,  ok  vel  flest  Jiat  er  vill  461;  687  hat  data  {undeutlichj  dreyri,  „nässe  der 
thäler*^  d.  i.  fliisse,  also  år  als  nom.  plur.  von  'a.  'flufs,  ström'  aufgefafst. 

1 1  a.  skyja  skjöldr  inufs  als  umschrtkbung  für  die  sonne  „den  runden 
himmelskö'rper"  bezeichnen,  also  dasselbe  bild  wie  hvél  Wad'  von  der  „sonnen- 
scheibe"  gebraucht  (749  und  JO  haben  gerade  anstatt  der  Umschreibung  isa 
aldrtregi  11c  hverfandi  hvél),  dem  die  lateinische  Übersetzung  rota  entspricht. 
Die  Umschreibung  skyja  skjöldr  beruht  eigentlich  auf  eüier  begriffscerwir- 
rung  und  ist  vielleicht  durch  mifsverständnis  von  Grhnnismdl  v.  38  hervor- 
gerufen. 

12.  In  687  sind  die  runen  ^  und  ^  mit  den  zugehörigen  erklärungen  ver- 
tauscht. —  b.  Ulfs  leifar]  „des  icolfes  (des  FenriswolfesJ  iiberbleibsel'^,  weil  er 
nur  Tys  eine  band  frafs,  aber  den  rest  übrig  liefs;  die  umschreibimg  ist  sehr 
gesucht,  kommt  aber  auch  in  späteren  rhnur  vor.  —  c.  bofa  b.  ]  Diese  Um- 
schreibung ist  eigentlich  fehlerhaft  von  Odin  auf  Ty  übertragen. 


286  ANHANG. 

13. 

^  (bjarkan)  er  laufgat  lim 
ok  lilit  Ire 
ok  ungsamligr  vittr. 
abies.  biullungr. 
14. 
Y  (niadr)  er  manns  gaman 
ok  moldar  auki 
ok  skipa  skreytir. 
bomo.     mildingr. 
15. 
r  (lögr)  er  vellanda  valn 
ok  vidr  ketill 
ok  glömmiinga  grund, 
lacus.     lofdungr. 
16. 
X  (;fr)  er  bendr  bogi 
ok  brolgjarnt  jarn 
ok  fifu  färbauli. 
arcus.     yiiglingr. 

13.  Birkenreis  ist  ein   laubreicber  zweig  und  ein  kleiner  bäum 
und  ein  jugendücbes  holz. 

14.  Mann  ist  des  mannes  freude  und   des   staubes  Vermehrung 
und  der  schiffe  schmucker. 

15.  Nässe  ist  hervorquellendes  wasser  und  weiter  (grofser)  kessel 
und  der  fische  land. 

16.  'Yr'    ist    gespannter    bogen     und    sprödes    eisen    und    des 
pfeiles  riese. 

13c.  ungsamligr]  soll  wohl  bedeuten  „das  ivegen  der  grünen  blätter  ein 
jugendliches  (frisches)  aussehen  hat";  Bugge  schlägt  wgsamWgr  „prächtig"  vor. 

14  a  =  Hdvamäl  v.  47  b. 

15a.  vellaada  vatn]  687  f jedoch  vatn  unsicher);  alle  übrigen  tcvle  (461, 
749,  JOJ  haben  vellandi  vimr  (d.  i.  vimur),  „hervorquellende  fluf^  das  dem 
„vom  berge  niederstürzenden  toasserfall"  des  nmcn gedicktes  (vimur  =  foss)  ent- 
spricht und  daher  vielleicht  das  ursprüngliche  ist.  —  b.  vidr  ketill]  Ich  nehme 
an,  dafs  hier  auf  die  heifsen  quellen  auf  Island  mit  ihren  eviporspringenden 
Wassersäulen  angespielt  wird,  deren  name  (liverr)  ja  gerade  ursprünglich  in  der 
bcdeutung  ,,kes.'iel"'  vorkommt. 

10,    Auch   die   isländischen    (sehr  jungen)    runeninschviften   gebrauchen    in 


II.  D.  ALTNORWEGISCHE  RÜNENGEDICHT  Ü.  D.  ISLÄNDISCHE  RUNBNREIMEREI.    287 

der  regel  J  als  zeichen  für  y;  in  der  ältesten  dieser  Inschriften  (der  kirch- 
thiire  von  f''alßjafstairj  scheint  dagegen  R  die  bedeutung  o  zu  haben  färb.  f. 
nord.  oldk.  1882,  s.  93  f.).  —  AM  461  läPst  diesen  stab  und  seine  Umschreibungen 
ganzaus,  die  Ja  hier  auf  die  beide?i  ganz  verschiedenen  bedeutungen  „bogen"  und 
„schlechtes  eisefi^^  bezug  haben  ("vgl.  die  uinschreibttngen .  fiir  år  in  687 ;  siehe 
die  bernerkung  zu  10 cj .  —  a.  bendrbogi]  JO  a,  tvibendr  b.  JO  b  (in  749  ist  tni 
über  bendr  geschrieben),  unleserlich  in  687.  —  b.  brotgjarnt  jarn]  obrotgjarnt 
j.  Kalund,  indem  er  das  etwas  undeutliche  zeichen  in  687  vor  brotpjarot  als  o 
liest;  aber  es  ist  das  gewöhnliche  abkürzungszeichen  fiir  ok  ("Bugges  vorschlug 
brotgjarot  für  obrotgjarnt,  das  auch  der  reim  stützt,  wird  hierdurch  bestätigt J. 
yr  in  derselben  bedeutung  wie  hier  („sprödes  eisen")  findet  sich  auch  in  der 
Zusammensetzung  kaidyr  Merlinus  spå  (vgl.  kaldor  „ferrum  fragile"  Bj.  Haldor- 
sonj  und  steht  offenbar  in  Verbindung  viit  ür  „schlacken",  ürt  jara  (siehe 
das  runengedichl  v.  2).  Statt  brolg.  jarn  hat  749  bardaga  gangr  („des  kampfes 
riese"),  JO  b  bardaga  gagn  („des  kampfes  geräth").  —  c.  fifu  f.]  JO  b  „des  p  feiles 
riete" ,  Umschreibung  fiir  „den  bogen",  der  den  pfeil  abschiefst,  fenja  fleygir 
(„des  p feiles  aussender")  749;  687   hat  einen  leeren  platz  fiir  diese  Umschreibung. 


Die  lateinischen  Übersetzungen  der  runennamen,  welche  die 
letzten  9  Zeilen  auf  s.  3  in  AM  687  einnehmen,  lauten  mit  aufgelösten 
abkürzungen  und  mit  gewöhnlicher  isländischer  Orthographie  folgender- 
mafsen  (das  völlig  unleserliche  schliefse  ich  in  klammern  ein): 

Aurum  guU,  guU  er  fé,  fé  er  rünastafr.  Ymber^  skür,  ski'ir 
er  ür,  ür  er  rünastafr.  ||  Fantasroa  er  skrimsl,  skrimsl  er  |)u(rs)', 
|)(urs)*  er  rünastafr.  Flu  men  straumr,  straumr  er  öss,  ||  öss  er 
rünastafr.  Iter  vegr,  vegr®  för,  [för]*  (e)r  reid,  reid  er  rünastafr. 
Wulnus^  sår,  sår  ||  er  kann,  kaun  er  rünastafr.  (Niv)es  er  snjör, 
snjör  er  hagl,  hagall  er  rünastafr.  Flagella  ||  er  bardagi,  bardagi  er 
naud,  naud  er  rünastafr.  (Fr)ig(us)®  er  frost,  frost  er  iss,  iss  er 
rünastafr.  ||  Estas  er  sumar,  sumar  er  år,  år  er  rünastafr.  Ignis 
er  eldr,  eldr  er  söl,  s  öl  er  rünastafr.  ||  Jupiter  er  Pörr,  Pörr  er  åss, 
åss  er  Tyr,  Tyr  er  rünastafr.     Flos  er  blom,  blom  er  vidr,  vidr  || 

^)  Ymber  (in  der  handschriß  jb^  undeutlichj  d.  i.  imber  (vgl.  nmbre  in 
der  runenreimerei  v.  2). 

*)  jjnrs  oder  |mss?  Bie  zwei  (drei)  letzten  buchstaben  an  beiden  stellen  fast 
völlig  unleserlich. 

')    Die  zwei  ersten  buchstaben  undeutlich. 

*)    Das  zweite  för  ist  in  der  handschriß  weggelassen. 

*)  woln'  in  der  handschrift  (doch  n  und  das  abkürzungszeichen  für  us 
undeutlich). 

•)  Das  ganze  wort  sehr  undeutlich  (die  zwei  ersten  buchstaben  und  das 
abkürzutigszeiehen  für  us  fast  völlig  unleserlich). 


288     ANHANG.      II.     D.  ALTiNORW.  RUNCNGED.  U.  D.  ISLAND.  RUNENREIMEREF. 

er  hjarkan,  bjarkan  er  riinaslafr.  Palus  er  gorinr\  gormr  er 
sjör,  sjör  er  lögr,  ||  lögr  er  rünastafr.  Arcus  er  bogi,  bogi  er  ^r, 
jr  er  n'inaslafr. 

Vollständig  übereinstimmend  sind  also  nur  die  Übersetzungen 
von  fé,  (ür,)  reid  und  yr;  flag  eil  a,  das  in  der  reimerei  kaun 
übersetzt,  steht  hier  als  Übersetzung  von  naud  (der  gemeinschaftliche 
begriff  ist  bardagi);  gleichfalls  findet  sich  Jupiter  an  verschiedenen 
stellen,  in  der  reimerei  als  Übersetzung  von  öss,  aber  hier  als  Über- 
setzung von  Tyr,  wogegen  öss  durch  flumen  wiedergegeben  wird, 
also  die  gewöhnliche  jüngere  bedeutung,  die  sich  auch  in  dem  runen- 
gedicht  findet.  Dies  ist  der  wesentlichste  und  zugleich  der  interessan- 
teste unterschied  zwischen  beiden  reihen,  wogegen  keine  veranlassung 
vorliegt,  hier  näher  bei  den  übrigen  abweichungen  zu  verweilen. 


^)   Bie  zwei  ersten  buchstaben  undeutlich. 


III. 

örtliche  ab  weichungen  im  gewöhnlichen  nordischen 

futhark. 

(Za  Seite  208.) 

Dafs  sich  neben  der  form  der  runenschrift,  die  über  den  ganzen 
Norden  hin  allgemein  üblich  war,  frühzeitig  örtliche  ei  gen - 
lümlichkeiten  entwickelten,  haben  wir  s.  208  bei  der  besprechung 
der  auf  den  beiden  östergötländischen  runensteinen  von  Kälfveslen 
und  Rök  gebrauchten  runenformen  kurz  berührt. 

Als  hauptvertreler  dieser  form  der  runenschrift,  die  um  die 
mitte  des  10.  jhdts  besonders  in  Östergötland  verbreitet  gewesen 
zu  sein  scheint,  steht  die  grofse  merkwürdige  inschrift  auf  dem 
Röker  steine  da,  deren  futhark  folgende  gestalt  hat: 

rhht^DURK  HiH   T11KT  rr, 

f      lo      fi      ci      r     k/       h/n/i/a/s  t^      h      my      V     R/ 

Diese  formen  sind  offenbar  durch  consequente  Vereinfachung  der- 
jenigen zu  Stande  gekommen,  die  sonst  gegen  das  jähr  900  herr- 
schend geworden  waren  (siehe  s.  207) :  h  n,  \  a  und  1  t  haben 
einfach  die  hälfte  des  nebenstrichs  fortgeworfen;  die  ältere  form  T 
kommt  noch  zweimal  auf  dem  Röker  steine  in  dem  worte  st^nta 
in  der  ersten  zeile  vor,  während  das  erste  wort  in  der  inschrift 
(afl)  1  hat,  das  auch  durchweg  in  dem  übrigen  teile  der  inschrift 
gebraucht  wird.  Oft  geht  der  nebenstrich  bei  dieser  rune  wie  bei  ii, 
r  und  l  vom  hauptstabe  ein  wenig  unterhalb  von  dessen  spitze  aus 
(bei  j>  reicht  der  nebenslrich  umgekehrt  häufig  bis  zur  spitze  und 
zum  fufse  des  hauptstriches).  Auch  die  6  -  rune  |?  ist  aus  ^  ^  (auf 
ähnhche  weise  wie  h  P  1  aus  +  +  T)  durch  abwerfen  der  hälfte  der 
nebenstriche   entstanden.     Die  zeichen  für  h  und  »i  (♦  und  i")  sind 

WIM  SLEB,  Die  runenschrift.  19 


290  ANHANG. 

natürlich  aus  5J(  und  *P  ^  entstanden  und  die  zeichen  für  s  und  n 
aus  H  und  A ,  indem  beziehungsweise  nur  der  oberste,  resp.  der 
unterste  teil  von  diesen  runen  beibehalten  wurde.  Ganz  mit  den  ge- 
wöhnlichen formen  übereinstimmend  sind  dagegen  die  zeichen  für 
/,  <f,  k,  i  und  im  wesenthchen  auch  die  für  u,  p,  r,  l. 

Der  auf  dem  Kälfvestener  steine  gebrauchte  fulhark  unter- 
scheidet sich  von  dem  des  Röker  Steines  dadurch,  dafs  die  a-  und 
6-rune  die  nebenstriche  auf  der  linken  seile  des  hauptstabes  haben 
(i  und  ^),  aber  man  darf,  wie  ich  oben  s.  208  bemerkte,  annehmen, 
dafs  er  im  übrigen,  ausgenommen  vielleicht  das  zeichen  für  die 
w-rune,  mit  dem  Röker  übereingestimmt  habe.  Derselbe  futhark 
wie  auf  dem  steine  von  Kälfvesten,  aber  mit  der  gewöhnlichen 
jüngeren  m-form  Y  wird  nämlich  in  einer  kleinen  gruppe  nor- 
wegischer runeninschriften  (namentlich  von  Jæderen)  und  in  dem 
gröfsten  teile  der  Inschriften  auf  der  insel  Man  (aus  der  zweiten 
hälfte  des  ll.jhdts)^)  gebraucht.     Dieser  futhark  hat  folgende  form: 

fupqrkhnias     t  b  m  l  r 

Nur  R  fehlt,  da  r  (R)  es  mitvertritt,  während  der  stein  von  Kälfvesten 
wie  der  von  Rök  i  hat. 

In  genauester  Übereinstimmung  mit  dem  futhark  des  Röker 
Steines  steht  ein  runenalphabet,  das  wir  in  der  schwedischen  provinz 
Helsingland  finden,  wo  es  jedoch  nur  von  einem  einzigen  denkmal 
her  bekannt  ist,  nämlich  einem  eisernen  ringe,  welcher  früher  an 
der  rüstkam merthür  der  um  1840  niedergerissenen  kirche  von  Forsa 
im  nördlichen  Helsingland  angebracht  war.  Auf  diesem  ringe  ist 
eine  längere  runeninschrift  vermittelst  eines  meifsels  oder  schrot- 
eisens  eingehauen,  und  die  kleinen  dreikantigen  nebenstriche  an  einem 
teile  der  runen  sind  mit  einem  kleinen  keilförmigen  stempel  hervor- 
gebracht, der  in  der  regel  nicht  ganz  bis  an  den  hauptstab  heran 
gesetzt  ist^).     Dieser  futhark  hat  folgende  form: 


1)  P.  A.  Munch  iii  den  Annaler  for  nord.  Oldk.  og  Historie  1850,  s.  273  ff. 
(Samlede  Afhandlinger  III,  Christ.  1875,  s.  181  ff.)  und  in  den  Chronica  reguni 
Manniæ  et  insularum,  Christ.  1860,  Preface  s.  XX  ff.  (mit  tafel);  J.  G.  Cumming, 
The  Runic  remains  of  the  isle  of  Man,  London   1857. 

^)  S.  Bugge,  Rune-Indskriften  paa  Ringen  i  Forsa  Kirke  i  Nordre  Helsing- 
land, Christ.  1877,  4*«,  womit  zu  vergleichen  ist  Harald  Hjärne,  Runinskriften 
på  Forsaringen  in  der  Nordisk  Tidskrift  for  Filologi.  Ny  Række  V,  3  (1880), 
s.  177  tf. 


HI.    ÖRTLICHE  ABWEICHUNGEN  IM  GEWÖHNLICHEN  NORDISCHEN  FUTHARK.     291 

r.KKt>nKKr  IHM  rnr, 

f  -'  Ti/  p  c^^  r  k  h/n/i/a/s  t/  b  m/t  IL 
Die  abweichungen  von  den  runen  des  Röker  Steines  erklären  sich 
leicht  aus  der  art  und  weise,  wie  die  inschrift  eingebauen  ist  (die 
beiden  formen  des  />  und  r  sind  z.  b.  dadurch  entstanden,  dafs  das 
eine  mal  zwei,  das  andere  mal  drei  schlage  beim  einhauen  der  neben- 
striche gelhan  sind).  Wenn  man  hiervon  absieht,  so  stimmen  die 
runen  des  Forsaer  ringes  vollständig  mit  denen  des  Röker  Steines 
überein,  mit  alleiniger  ausnähme  der  f-rune,  die  den  nebenstrich  auf 
der  rechten  seite  des  hauptstabes  hat  und  die  form  X  zeigt  (natür- 
lich zum  unterschiede  von  der  Z-rune),  während  wir  in  Übereinstim- 
mung mit  dem  Röker  steine  eher  '\  erwarteten.  Dafs  aber  die  runen 
des  ringes  von  Forsa  in  denen  des  Steines  von  Rök  ihre  Voraussetzung 
haben,  kann  ja  gar  keinem  zweifei  unterliegen.  Da  die  inschrift 
kaum  älter  sein  kann,  als  aus  der  zweiten  hälfte  des  12.  jhdts,  so 
ist  es  natürlich  zweifelhaft,  ob  m  in  diesem  futhark  noch  seinen 
ursprünglichen  platz  vor  l  bewahrt  hatte. 

Durch  eine  abermalige  Vereinfachung  der  runenformen  des  ringes 
von  Forsa  kommen  wir  zu  der  letzten  und  extremsten  von  den 
örtlichen  Veränderungen  des  alten  runenalphabetes.  Diese  form  treffen 
wir  gleichfalls  im  nördUchen  He  Isingland,  wo  sie  aus  fünf  stein- 
inschriften  bekannt  ist,  von  denen  vier  noch  erhalten  sind.  Nach 
dem  orte  hat  man  diese  runen  „die  Heisinger"  genannt,  oder  sonst 
kurzweg  „die  stablosen",  nach  dem  am  meisten  charakteristischen 
merkmale  an  ihnen,  dem  nämlich,  dafs  in  der  regel  der  hauptstab  fort- 
gelassen und  nur  der  nebenstrich  oder  ein  teil  desselben  beibehalten 
ist.     Dieser  futhark  hat  folgende  form: 


T  ^  '  ( ^"^^ 


i~> — ^ 


^  uy  f>  r  h  hyTvi/eus  V  h  V  m/  W 
Die  dss-rune  scheint  gefehlt  zu  haben,  da  die  dr-rune  auch  in 
den  fallen  angewandt  wird,  wo  die  öss-rune  auf  dem  Röker  steine 
und  dem  ringe  von  Forsa  gebraucht  worden  wäre.  Da  sie  sich  in 
dieser  letzteren  inschrift  findet,  die  mit  den  inschriften  in  stablosen 
runen  gleichaltrig  ist,  so  ist  sie  vielleicht  absichtlich  bei  diesen  aus- 
gelassen, um  die  Symmetrie  im  futhark  zu  wahren,  welche,  wie  Rugge 
hervorgehoben  hat  (Rune-Indskriften  paa  Ringen  i  Forsa  Kirke  s.  39), 
kaum  zufällig  ist,  die  Symmetrie,  welche  darin  zu  tage  tritt,  dafe  sich 

19* 


292  ANHANG. 

auf  beiden  seilen  der  ?-rune  die  übrigen  zu  je  7  gruppieren.  Die 
Symmetrie  scheint  auch  zu  fordern,  dafs  l  seine  stelle  vor  m  gehabt 
hat.  Die  rune,  welche  früher  als  h  gelesen  wurde,  ist  nach  Bugges 
erklärung  (a.  a.  o.)  zeichen  für  k,  wogegen  die  h  -  rune  zufällig  in 
den  inscb'riften  nicht  vorkommt;  "ihre  form  ist  folglich  zweifelhaft. 
Sie  kann  nicht  durch  2  punkte  mitten  zwischen  den  einfassungsllnien 
(in  ähnlicher  weise  wie  die  zeichen  für  m  und  r)  ausgedrückt  worden 
sein,  da  die  inschriften  als  trennungszeichen  2  oder  3  punkte  ge- 
brauchen; dagegen  halte  ich  es  für  wahrscheinlich,  dafs  das  Ä-zeichen 
die  form  eines  kleinen  wagerechten  Striches  mitten  zwischen  den 
einfassungsllnien  gehabt  hat  (— ).  Wenn  die  ciss-rune  einmal  in 
diesem  futhark  vorhanden  gewesen  ist,  so  hat  sie  ohne  zweifei  die 
form  A.  gehabt  (vgl.  das  zeichen  für  b). 

Das  Verhältnis  zwischen  den  slablosen  Heisinger  runen  und  den 
runen  auf  dem  Röker  steine  und  dem  ringe  von  Forsa  ist  also  fol- 
gendes: die  beiden  einzigen  runen,  die  unverändert  bewahrt  wurden, 
sind  die  zeichen  für  i  und  s.  Durch  fortwerfen  des  hauptstabes  ent- 
standen die  zeichen  für  u,  n,  a,  t  und  l  (und  nach  meiner  vermutung 
das  für  das  nicht  vorkommende  h).  Der  hauptstab  und  der  oberste 
teil  des  nebenstriches  sind  bei  r  fortgeworfen,  der  hauptstab  und  der 
oberste  nebenstrich  bei  b  (und  wahrscheinlich  bei  g,,  wenn  es  auf  einer 
früheren  stufe  vorhanden  gewesen  ist).  Nur  der  mittlere  teil  des 
beistriches  ist  bewahrt  in  dem  J!>- zeichen  •  aus  |>  (mit  ßugge  diese 
rune  von  dem  |)  des  Forsaer  ringes  abzuleiten  wage  ich  nicht,  da  ich 
diese  form  auf  dem  ringe  für  zufällig  ansehe,  hervorgerufen  durch 
die  art  und  weise,  in  der  die  Inschrift  eingeiiauen  ist).  Durch  stärkere 
Veränderungen  sind  die  zeichen  für  m  und  r  in  zwei  punkte  aufge- 
löst (analog  dem  zeichen  für  r  erwarteten  wir  übrigens  eher,  dafs 
das  s-zeichen  die  form  erhalten  hätte,  welche  m  ausdrückt),  und  bei 
f  und  k  ist  der  hauptstab  halbiert  und  die  beistriche  sind  zu  dem 
kleinen  knöpfe  an  der  spitze  und  am  fufse  dieser  runen  zusammen- 
geschmolzen. 

Ungefähr  gleichzeitig  damit,  dafs  die  runenschrift  die  gestalt  an- 
nahm, die  lange  zeit  die  allgemein  herrschende  im  ganzen  Norden 
blieb,  und  deren  letzter  zug  mit  dem  übergange  der  alten  runenformen 
H  und  M  für  h  und  m  in  )jc  und  T  (Y)  gegen  die  mitte  des  9.  jhdts 
vollendet  war,  so  dafs  jede  rune  jetzt  einen  einzigen  geraden 
haup  tstab  hatte  (nur  H  bildet  eine   kleine  abweichung  von   dieser 


III.    ÖRTLICHE  ABWEICBÜNGEN  IM  GEWÖHNLICHEN  NORDISCHEN  FÜTHARK.      293 

regel),  hat  sich  also,  wie  das  aus  dem  Kälfvestener  und  Röker  steine 
und  andern  mit  ihnen  wesentlich  identischen  schwedischen  inschriften 
hervorgeht,  eine  tendenz  gellend  gemacht,  dieses  runenalp  habet 
noch  weiter  zu  vereinfachen.  Dafs  dieser  versuch  einen  nicht 
geringen  anklang  gefunden  hat,  kann  mit  Sicherheit  daraus  geschlossen 
werden,  dafs  sich  spuren  von  ihm  nicht  nur  in  Schweden  etwa  von 
der  mitte  des  1 0.  (die  steine  von  Kälfvesten  und  Rök)  bis  gegen  das 
ende  des  12.  jhdts  (der  ring  von  Forsa,  die  stablosen  Heisinger  runen), 
sondern  auch  über  Norwegen  bis  zur  in  sei  Man  hin  nachweisen  lassen. 
In  Dänemark  scheint  diese  tendenz  niemals  in  weitem  umfange 
boden  gefafst  zu  haben;  aber  einzelne  äufserungen  derselben  sind 
trotzdem  auch  hier  zu  spüren.  Ich  rechne  dahin  den  gebrauch  der 
runen  i  und  Y  für  +  und  +  auf  dem  mit  den  steinen  von  Kälfvesten 
und  Röt  ungefähr  gleichaltrigen  schleswigschen  steine  von  Vedel- 
spang  (P.  G.  Thorsen,  De  danske  Runemindesmærker  I,  s.  43)^), 
gleichwie  die  n-  und  r-  und  zum  teil  die  wt-form  desselben  mir 
ebendahin  zu  weisen  scheinen  (dagegen  haben  s,  t,  h  die  gewöhn- 
lichen formen  H,  T,  B,  was  gleichfalls  von  den  nicht  vorkommenden 
h  und  R  angenommen  werden  kann).  Noch  gröfsere  Übereinstimmung 
mit  jener  gruppe  schwedischer  steine,  zu  der  der  Röker  und  Kälfvestener 
stein  gehören,  bietet  der  kleinere  Gunderuper  stein  von  Jütland 
(Thorsen  II,  1  no.  54,  wo  jedoch  weder  der  ganze  Charakter  der  In- 
schrift noch  die  eiiizelheiten  genau  wiedergegeben  sind,  wie  auch  die 
beschreibung  des  Steines  und  die  Zeitbestimmung  II,  2,  s.  151  f.  ganz 
unrichtig  ist).     Die  Inschrift,  die 

austain*)  ;  sati  ;  stain*)  ;  f)5nsi  :  abt  i  ^sulb  >  fa|)ur  i  sin  i 
lautet    und    ohne    zweifei    in    die    zweite  hälfte  des  10.  jhdts  gesetzt 
werden  mufs,  gebraucht  durchgehends  i,  h,  "für  a,  n,  s.    Diese  runen 
sowohl  wie  die  ganze  form  der  inschrift  und  der  gebrauch  von  b  für 
das  gewöhnliche  /"in  ijsulb  (auch  in  abt)^)  verraten  eine  beziehung 


^)  Eine  genaue  wiedergäbe  der  eiazelnea  raaeafornieo,  worauf  es  ja  hier 
besonders  ankoninit,  findet  mau  jedoch  nicht  auf  der  Zeichnung  bei  Thorsen,  die 
aufserdem  den  grofsen  fehler  sutriku  für  siktriku  enthält. 

^)  Thorsens  Zeichnung  und  text  haben  unrichtig  au  s  tan  und  der  text  un- 
richtig s  tin. 

3)  Während  der  ursprüngliche  unterschied  zwischen  y  und  b  (t)  im  in-  und 
auslaut  auf  dem  Röker  und  auf  dem  damit  nahe  verwandten  Kärnborfr  steine 
von  Södermanland  (Bugge,  Tolkning  af  Runeindskriften  paa  Rokstenen,  s.  114  f.) 
sowie  auf  den  dänischen  steinen  von  Tryggevælde  und  dem  kleineren  stein  von 


294      ANHANG.     III.    ÖRTLICHE  ABWEICHUNGEN  IM  GEW.  NORD.  FUTHARK. 

ZU  den  oben  besprochenen  schwedischen  inschriften  und  den  damit 
verwandten  inschriften  von  Man,  die  nicht  zufällig  sein  kann,  und 
die  den  übrigen  gleichzeitigen  dänischen  inschriften  so  fremd  ist,  dafs 
ich  aus  diesen  gründen  den  Gunderuper  stein  gar  nicht  für  dänisch 
im  eigentlichen  sinne  ansehe  (vgl.  die  bemerkungen  oben  s.  249  über 
den  stein  von  Hobro). 

Selbst  wenn  die  hier  besprochenen  Vereinfachungen  des  alten 
runenalphabetes  eine  weniger  hervortretende  rolle  in  der  eigentlichen 
runensteinperiode  (mitte  des  9.  bis  mitte  des  11.  jhdts)  mit  aus- 
nähme gewisser  gegenden  gespielt  haben,  so  dringen  doch  einzelne 
derselben  in  einer  späteren  zeit  siegreich  durch.  Wenn  in  jüngeren 
inschriften  aus  dem  ganzen  Norden  "i,  h  und  zum  teil  1  und  *  an 
die  stelle  von  +,  +,  T,  H  treten,  so  hege  ich  keinen  zweifei  darüber, 
dafs  diese  formen  ihre  Voraussetzung  in  der  entwicklung  haben,  die 
sich  sporadisch  auf  weit  älteren  denkmälern  nachweisen  läfst. 


Bække  beobachtet  wird  (siehe  unten  'Anhang'  VI),  ist  auf  dem  Gunderuper 
steine  b  auf  formen  übertragen,  die  ursprünglich  y  hatten  (ulb  =  ulf;  abt 
bezeichnet  wohl  am  ehesten  die  ausspräche  æpt  für  æft),  was  mit  dem  gebrauch 
in  den  inschriften  von  Man  übereinstimmt,  die  gleichfalls  z.  b.  ulb  haben,  wozu 
sich  aber  sonst  kein  seitenstück  auf  dänischen  runensteinen  findet. 


IV. 

Das  Verhältnis  zwischen  den  runen  Kr  und  Aä^). 

(Zn  Seite  130  ff.,  241  ff.) 

Wie  oben  (s.  130  flf.,  s.  241  ff.)  nachgewiesen ,  waren  die  runen 
reid  und  ^  (älter  elgR)  im  Norden  ursprünglich  zeichen  für  zwei 
verschiedene  r-laule,  von  denen  der  erste  einem  ursprünglichen  (ge- 
meingerm.)  r  entspricht,  der  zweite  einem  ursprünglichen  (gemein- 
gerra.)  s  (das  im  got.  meist  zu  s  geworden  ist).  Diese  regel  wird 
nicht  nur  in  den  Inschriften  mit  den  älteren  runen  befolgt,  sondern 
macht  sich  auch  bis  in  späte  zeit  hinein  in  den  Inschriften  mit 
den  jüngeren  runen  geltend.  Wenn  wir  indessen  in  diesen  be- 
reits so  früh  wie  auf  dem  steine  von  Tryggevælde  u.  s.  w.  formen 
wie  Tåknhiltr  ^^  Ragnhildr,  h alr i  =  bætri  mit  R  für  A,  und  um- 
gekehrt sustiR  =  systiR  finden,  während  die  alte  regel  sonst  beob- 
achtet wird  (vgl.  die  in  den  årb.  f.  nord.  oldk.  1867,  s.  31  und 
die  hier  weiter  unten  s.  332  angeführten  beispiele),  so  kann  ich  die 
erklärung,  die  ich  an  der  erstgenannten  stelle  von  diesem  Verhältnis 
gegeben  habe,  und  die  auch  Bugge  in  seiner  deutung  des  Röker 
Steines  (s.  9)  vorgebracht  hat,  dafs  nämlich  die  zeichen  K  und  A  ver- 
mischt wurden,  weil  man  die  beiden  r-laute  nicht  mehr  scharf  unter- 
schied, für  nichts  anderes  als  für  einen  notbehelf  ansehen.  Bereits 
in  „Runeskr.  opr."  1874,  s.  255  hatte  ich  daher  auch  hervorgehoben, 
dafs  von  den  beiden  r-zeichen,  obwohl  sie  früh  vermischt  zu  werden 
anfingen,  doch  deswegen  nicht  gesagt  werden  dürfte,  dafs  sie 
lautlich  zusammengefallen  seien.  Meine  seitdem  vorgenommenen 


1)  Siehe  meine  „Sproglige  iagttagelser  fra  eu  rnnologisk.  rejse  i  Skåoe  i 
somnierea  1S76"  io  „Kort  udsigt  over  det  filologisk-historiske  sainfuods  virk- 
somhed i  årene  1876 — 7S",  Kbh.  1878,  s.  16 — 19  (separatabzug  s.  5 — 8). 


296  ANHANG. 

Untersuchungen  unserer  runendenkmäler  und  das  dadurch  herbeige- 
schaffte zuverlässige  inschriftenmaterial  haben  mich  davon  überzeugt, 
dafs  ich  1874  recht  hatte,  und  ich  glaube  nun  auch  im  stande 
zu  sein,  die  gründe  für  die  scheinbare  Vermischung  der  beiden  zeichen 
nachzuweisen.  Es  sind  ohne  zweifei  dieselben  gründe,  die  an  vielen 
andern  punkten  die  gröfsten  Veränderungen  während  der  entwicklung 
der  sprachen  hervorgerufen  haben,  nämlich  zum  teil  analogien,  zum 
teil  die  anziehung  oder  abstofsung,  welche  die  verschiedenen  laute 
auf  einander  üben  (also  ein  lautphysiologischer  grund).  Jeder 
von  diesen  Wirkungen  gehört  bezüglich  der  hier  behandelten  frage 
ihre  besondere  periode  in  der  spräche  an: 

In  der  älteren  runensprache  wird  der  unterschied  zwischen 
r  (=  ursprgl.  r)  und  r  (aus  ursprgl.  z)  genau  beobachtet  (siehe  die 
aufzählung  der  bis  zu  jener  zeit  bekannten  formen  mit  Y,  Å  in 
den  årb.  f.  nord.  oldk.  1868,  s.  71  ff.  =  „Professor  G".  Stephens  om 
de  ældste  nordiske  runeindskrifter",  s.  19  fF.).  Eine  abweichung  von 
der  regel  bildet  jedoch  die  präposition  aften  'nach'  in  der  einen 
Inschrift  auf  dem  stein  von  Tune,  während  die  andere  das  ursprüng- 
lichere after  hat;  gleichfalls  findet  sich  r  für  r  in  der  präposition 
ubaR  'über'  auf  dem  stein  von  Varnum,  und  hierher  rechne  ich  auch 
das  wort  JiaR  auf  dem  Einanger  steine,  dessen  inschrift:  dagan  f)aR 
runo  faihido  lautet,  wo  ich  nicht  mit  Bugge  J)aR  runo  =  altnord. 
p^r  rünar  fasse,  sondern  runo  als  acc.  sgl.  mit  collectiver  bedeu- 
tung  („die  runeninsclmft")  und  {)aR  als  adverb  =  got.  und  altnord. 
par  („Ich  Tag  ritzte  die  runeninsclirift  da")  ansehe  ^). 

Da  sich  r  in  der  älteren  runensprache  ja  namentlich  im  aus- 
laut  in  einer  grofsen  menge  von  fällen  fand,  so  konnte  es  durch 
analogie  auch  auf  einzelne  präposit ionen  und  adverbia 
übertragen  werden,  die  ursprünglich  auf  r-laut  ausgingen;  dadurch 
entstanden  formen  wie  aftcR,  ubaR,  {)aR,  die  später  in  der  regel 
R  bewahrten.  Gleichwie  der  stein  von  Istaby,  der  sich  den  älteren 
runeninschriften  anschliefst,  afAtR  (d.  i.  aftAR)  hat,  so  tritt  dieses 
wort  in  seinen  vielen  verschiedenen  formen  auf  unseren  jüngeren  runen- 
sleinen  immer  mit  ß   am  ende  auf  (aftiR,  iftiR,   uftiR  u.  s.  w.). 

Möglicherweise  haben  auch  die  verwandtschaftsnamen,  die  in 
der  altnord.  Schriftsprache  -ir  im  nom.,    -ur  in  den  übrigeji  formen 


1)  Auch  im  anfang  der  Röker  iiischrift  (aft  uamuj)  stc^nta   ruuan  l)an) 
ist  {)an  wohl  am  ehesleu  als  adverb  zu  fassen. 


IV.      DAS    VERHÄLTMS  ZWISCHEN  DEN  RUNEN    R  T  UND  >k  H.  297 

des  Sgl.  aufweisen,  schon  in  der  älteren  runensprache  -r  im  nom. 
zu  -Ä,  analog  den  vielen  andern  nominativen  auf  -«,  verändert.  Auf 
jeden  fall  ist  es  in  den  jüngeren  inschriften  regel,  dafs  der  nom. 
stets  -iR  hat  (faI)iR,  bru{)iR  u.  s.  w.),  während  die  andern  casus 
ebenso  reg^Imäfs^ig  -ur  haben  (fa|)ur,  bru|)ur  u.  s.  w.). 

Mit  den  hier  genannten  ausnahmen,  wo  -r  durch  analogie  das  -r 
verdrängen  konnte,  wird  die  ursprüngliche  regel  nicht  blofs  in  den 
inschriften  mit  den  älteren  runen  befolgt;  sondern  auch  die  ältesten 
inschriften  tnit  jüngeren  runen  (die  gruppe  von  steinen;  die  ich  in 
den  anfang  des  9.  jhdts  setze;  siehe  unten  s.  335  ff.)  beobachten 
noch  die  ältere  regel,  obwohl  deren  spräche  in  andern  beziehungen 
wesentliche  Veränderungen  erlitten  hat,  namentlich  durch  ausstofsung 
von  vokalen  und  konsonanten  (die  älteren  nominative  dagOR,  gasttR, 
daudan  wurden  zu  dag,R,  gæstR,  dåudR  u.  s.  w.,  das  prät.  fai- 
hido  zu  fdda  u.  s.  w.).  Erst  in  der  gruppe  von  inschriften,  die 
ungefähr  dem  jähre  900  angehört  (unten  s.  356  ff.),  finden 
wir  die  ältere  rege)  für  den  gebrauch  von  R  und  X  durch- 
gehends  an  einem  einzigen  punkte  durchbrochen;  während 
wir  nämlich  das  alte  A  nach  gutturalen  und  labialen  lauten  sowie 
nach  vokalen  bewahrt  sehen,  ist  es  nach  dentalen  (T  =  ^  d.  nd, 
\>  =  p,  d,  +  =  «)  regelmäfsig  in  R  übergegangen.  Dieser  Über- 
gang findet  sich  fast  ohne  ausnähme  in  aljen  dänischen  runenin- 
schriften  vom  jähre  900  bis  etwas  nach  dem  jähre  1000  (dem  Zeitpunkte, 
um  den  sich  die  grofse  menge  unserer  runensteine  gruppiert)  und  ist 
selbstverständlich  durch  einen  lautphysiologischen  grund  hervorgerufen, 
den  nämlich,  dafs  der  alveolare  r-laut  Å.  r,  dessen  Verwandtschaft 
mit  i  sich  unter  anderm  auch  darin  zeigt,  dafs  er  im  nordischen 
i-umlaut  hervorruft,  natürlich  in  Verbindung  mit  den  gutturallauten 
bewahrt  wurde,  während  die  dentalen  eher  den  dem  normal -euro- 
päischen Zungenspitzen -r  entsprechenden  gingivalen  r-laut  R.  r  ver- 
langten. Dafs  auch  die  labialen  an  Å  ä  festhielten,  beruht  wohl 
darauf,  dafs  der  alveolare  r-laut  mehr  vorn,  der  gingivale  weiter 
hinten  articuliert  wurde  (siehe  Hoffory  im  Arkiv  f.  nord.  Filologi  1, 
s.  41  ff.).  Durch  die  hier  dargestellte  regel  erklärt  sich  also  die 
Schreibung  raknbiltr  und  batri  auf  dem  stein  von  Tryggevælde  neben 
faiR  und  futiR,  haraltr  auf  dem  gröfseren  stein  von  Jællinge  neben 
kunukR  und  s^r,  augutr  und  tu|)r  auf  dem  grofsen  stein  von 
Ärhus  neben  asIakR,  kunuIfR,  ruIfR  und  kunukaR,  u.  s.  w. 
u.  s.  w.     Die    einzige   ausnähme,    die    ich    von  dieser  regel  auf  den 


298  ANHANG. 

dänischen  runensteinen  gefunden  habe ,  ist  s  u  n  r  auf  dem  Krage- 
holmer  steine  (Schonen),  während  der  stein  von  Skærn  r  nach  n  in 
mj^nr  d.  i.  mannr  hat  (auf  dem  Hedebyer  stein  matr  d.  i.  mandr 
geschrieben).  Bezüglich  der  form  sunR  ist  indessen  zu  bemerken, 
dafs  dieses  wort  auf  der  einen  seile  als  w-stamm  den  auslaut  länger 
als  die  a-  und  /-stamme  bewahrt  und  auf  der  andern  seile  sich  früh 
durch  abwerfen  des  r  im  nom.  der  neueren  spräche  genähert  hat;  das 
alte  sunuR  und  das  neuere  sun  zusammen  können  eine  Schreibung 
sunR  für  sunr  hervorgerufen  haben,  wo  r  (r)  vielleicht  in  der  aus- 
spräche gar  nicht  vorhanden  gewesen  ist  (sun  im  nom.  fmdel  sich 
auf  mehreren  unserer  runensteine). 

Der  Vollständigkeit  halber  mufs  noch  hinzugefügt  werden,  dafs 
das  R  (Å)  des  nominalivs  mindestens  vom  jähre  900  an  in  Ver- 
bindung mit  einem  zum  stamme  des  wortes  gehörigen  r  (K)  in  rr, 
geschrieben  R,  übergeht:  kunar=  Gunnarr,  \>uy  =  Pörr,  ^sur  = 
altnord.  Qzurr,  u.  s.  w.  Dasselbe  ist  gewiss  auch  in  noch  alleren  in- 
schriften  der  fall  gewesen. 

Die  hier  besprochene  regel  für  den  gebrauch  von  R  und  Å  ge- 
währt uns  ein  neues,  nicht  unwichtiges  mittel,  das  alter  der  runen- 
denkmäler  zu  bestimmen,  da  wir  schliefsen  dürfen,  dafs  die  in- 
schriften,  die  noch  Å  hinter  einem  denlal  in  Übereinstim- 
mung mit  der  ursprünglichen  regel  bewahrt  haben,  spätestens 
der  periode  zwischen  800  —  900  angehören  müssen.  So 
finden  wir  nach  der  älteren  regel  st§tR  d.  i.  stqndR  auf  dem 
steine  von  Flemlose  und  auf  dem  gleichaltrigen  steine  von  Örja 
(Schonen),  wie  der  ungefähr  100  jähre  ältere  stein  von  Vatn  (Nor- 
wegen) rhoaltR  d.  i.  HröaldR  hat  (vgl.  oben  s.  225  f.).  Wenn  ich 
in  „Runeskr.  opr."  1874,  s.  169  (vgl.  unten  s.  356  ff.)  den  stein  von 
Norrenærå  zu  unsern  ältesten  runensteinen  gerechnet  habe,  so  wird 
diese  annähme  also  auch  durch  die  Schreibung  [)urmutR  d.  i. 
Pörmundr  bestätigt',  umgekehrt  zeigt  dieselbe  regel,  dafs  z.  b.  der 
stein  von  Glemminge  in  Schonen,  der  jünger  als  der  stein  von  Tryg- 
gevælde und  ungefähr  gleichaltrig  mit  dem  steine  von  Skærn  sein 
mufs,  altnord.  brjötr  durch  briulr,  und  nicht  durch  briulR  aus- 
gedrückt haben  würde,  wie  Stephens  fälschlich  in  seine  Zeichnung 
(II,  s.  702)  nach  berichtigung  von  P.  G.  Thorsen  aufgenommen  hat 
(die  Inschrift  hat  briuti). 

Ich  halle  es  für  eine  sichere  thatsache,  welche  die  vorhergehende 
abhandlung  hoffentlich  aufser  allen  zweifei  gestellt  hat,  dafs  sowohl 


IV.     DAS    VERHÄLTNIS  ZWISCHEN  DEN  BÜKEN    R  T  UND  A  R.  299 

spräche  wie  schrifl  in  allem  wesentlichen  bei  ihrer  enlwicklung  gleichen 
schritt  über  den  ganzen  Norden  hin  von  der  älteren  eisenzeit  bis  gegen 
das  jähr  1000  innegehalten  haben.  Es  ist  daher  interessant  zu  beob- 
achten, dafs  das  Verhältnis,  das  eben  für  Dänemark  bezüglich  der 
runen  K  und  Å  nachgewiesen  ist,  auch  von  Schweden  gilt.  Jedoch 
werde  ich  hier  um  so  weniger  bei  diesem  punkte  verweilen,  als  die 
Zeichnungen,  die  bisher  von  schwedischen  runensteinen  veröffentlicht 
sind,  zum  gröfsten  teil  bezüglich  der  genauen  wiedergäbe  der  ein- 
zelnen zeichen  viel  zu  wünschen  übrig  lassen,  so  dafs  sie  für  diese 
art  von  Untersuchungen  kein  genügend  zuverlässiges  niaterial  bieten. 
Da  die  grofse  masse  von  schwedischen  runensteinen  indessen  im 
ganzen  genommen  jünger  ist  als  die  dänischen ,  so  ist  es  natürlich, 
dafs  wir  in  Schweden  häuflg  die  regel  durchbrochen  finden,  die  in 
Dänemark  um  das  jähr  1000  genau  befolgt  wird;  dies  gilt  somit  von 
der  grofsen  anzahl  schwedischer  steine,  die  mit  ziemlicher  Sicherheit 
in  die  zeit  etwas  vor  oder  nach  der  mitte  des  11.  jhdts  gesetzt 
werden  können;  ich  denke  besonders  an  die  gruppe  von  steinen,  die 
über  männern  errichtet  sind,  die  mit  Ingoar  (f  1041)  ostwärts  zogen, 
und  an  die  beiden  gruppen,  die  sich  von  den  bekannten  runenritzern 
Ybber  (ubiR)  und  Bah  (bali)  herschreiben. 


V. 

Chronologische  Übersicht  der  ältesten  nordischen 
runendenkmäler. 

Ich  habe  an  vielen  stellen  in  der  varhergehenden  abhandlung 
versuchen  müssen,  das  altersverhältnis  zwischen  den  verschiedenen 
runeninschriften  mit  der  längeren  und  kürzeren  runenreihe  fest- 
zustellen. Es  wird  daher  zweckmäfsig  sein,  eine  gesamtübersicht 
dieser  inschriflen  in  chronologischer  anordnung  mitzuteilen.  Dafs 
diese  Zeitbestimmungen  nur  annäherungsweise  das  richtige  treffen 
können,  ist  indessen  selbstverständlich,  da  kein  runendenkmal  durch 
eine  bestimmte  Jahreszahl  die  zeit  angibt,  der  es  angehört.  Es  sind 
andere  Verhältnisse  (sprachliche,  paläographische,  archäologische  gründe), 
die  uns  bei  der  Zeitbestimmung  leiten  müssen;  aber  wenn  sie  alle 
gehörig  in  betracht  gezogen  werden,  glaube  ich  doch,  dafs  es  gelingen 
wird,  einigermafsen  das  richtige  zu  treffen. 

Was  zu  allererst  bedacht  werden  mufs,  ist  natürlich,  dafs  für  die 
allmähliche  entwicklung  räum  bleibt,  die  mit  spräche  und 
Schrift , vorgegangen  ist,  und  dafs  die  grenzen,  innerhalb  derer  wir 
uns  bewegen  wollen,  weder  zu  enge  noch  zu  weit  gezogen  werden. 
Wohl  kann  die  entwicklung,  wie  ich  selbst  nachdrücklich  hervorgehoben 
habe,  an  einem  orte  schneller  als  an  einem  andern  erfolgt  sein;  aber  M 

im  ganzen  und  grofsen  hat   die  entwicklung  doch  —  das  betone  ich 
nochmals  —  über  den  ganzen  Norden  hin  gleichen  schritt  gehalten. 

Es  gibt  natürhch  inschriften,  deren  sprach-  und  runenformen  nicht 
an  und  für  sich  ausreichend  sind,  um  ihnen  einen  bestimmten  platz 
in  der  reihe  anzuweisen.  Das..  .  .  an  :  waruR  des  Steines  von  Tom- 
stad  z.  b.  konnte  ohne  zweifei  keine  andere  als  eben  diese  form  haben, 
sei  derselbe  nun  gleichaltrig  mit  der  zwinge  aus  dem  Thorsbjærger 
moore  oder  mit  dem  Reidstader  steine;  wenn  ich  annehme,  dafs  er  der 


V.    CHRONOLOGISCHE  ÜBERSICHT  DER  ÄLTESTEN  NORD.  RCNENDENKMÄLER.     301 

zeit  des  letzteren  weit  nälier  steht  als  der  der  ersteren,  so  liegt  das  daran, 
dafs  er  zu  einer  gruppe  norwegischer  runendenkmäler  gehört,  von  denen 
man  weifs  oder  mit  Sicherheit  annehmen  kann,  dafs  sie  ursprünglich  im 
innern  von  grabhügeln  errichtet  wurden  (die  steine  von  Stenstad, 
Bratsberg,  Tanem,  Orstad  und  Elgesem  —  der  letztere  mit  der  magi- 
schen inschrift  (]^^  —  sind  aus  gräbern  hervorgezogen,  und  dasselbe  ist 
bezüglich  der  steine  von  Beiland,  Tomstad,  Reidstad  anzunehmen),  und 
die  nicht  zu  den  ältesten  norwegischen  Inschriften  mit  der  längeren 
runenreihe  gerechnet  werden  können.  Aber  die  nähere  bestimmung  des 
gegenseitigen  altersverhältnisses  zwischen  denselben  beruht  natürlich, 
wo  uns  nicht  sprachliche  oder  paläographische  gründe  leiten  können, 
auf  einer  Schätzung  nach  dem  ganzen  Charakter  der  denk- 
mälerund  Inschriften,  der  ja  überhaupt  bei  der  feststellung 
des  alters  solcher  denkmäler  keine  geringe  rolle  spielen  darf.  Um 
ein  begründetes  gutachten  aussprechen  zu  können,  das  weit  ver- 
schieden ist  von  losen  vermutungen,  dazu  ist  selbstverständlich  er- 
forderlich ,  dafs  man  in  steter  beschäftigung  mit  den  denkmälern 
durch  autopsie  den  blick  für  die  eigentümlichkeilen  der  verschiedenen 
Zeiten  und  der  verschiedenen  gegenden  geschärft  hat,,  so  dafs  man 
überall  während  der  vergleichung  das  ganze  vorliegende  material  in 
mente  hat  und  infolge  dessen  zugleich  im  stande  ist,  sowohl  das  ganze 
wie  alle  einzelheiten  in  gebührende  betrachtung  zu  ziehen. 

Dafs  auch  die  archäologischen  resul  täte  für  den  Sprach- 
forscher bei  der  bestimmung  des  gegenseitigen  altersverhältnisses  der 
runeninschriften  von  grofser  bedeutung  sind,  versteht  sich  von  selbst; 
aber  diese  ergebnisse  sind  bekanntlich  leider  noch  höchst  unzulänglich, 
wenn  es  sich  um  die  festselzung  bestimmter  Jahreszahlen  für 
die  einzelnen  funde  handelt.  Für  den  Sprachforscher  können  die 
bestimmungen  der  archäologie  daher  nur  als  kontrole  der  resultate 
dienen,  zu  denen  er  auf  anderm  wege  (durch  sprachHche  und  paläo- 
graphische beobachtungen)  gelangen  mufste,  und  wo  Sprachforschung 
und  archäologie  mit  einander  in  streit  geraten,  kann  sich  die  erstere 
nicht  vor  der  letzteren  beugen,  wofern  diese  nicht  im  stande  ist,  durch 
gewichtige  gründe  zu  überzeugen. 

Einen  sicheren  chronologischen  anhält  zur  bestimmung 
des  alters  der  runendenkmäler  erhalten  wir  ja  erst  sehr  spät  in  der 
jüngeren  eisenzeit  in  den  wenigen  wirklich  historischen  denk- 
mälern (den  steinen  von  Jællinge,  dem  Danevirke-steine).  Diese 
geben  den  ausgangspunkt  ab,    von  dem   aus   wir  bei  der   datierung 


302  ANHANG. 

der  älteren  denkmäler  zuriickschliefsen  müssen,  und  zwar  so,  dafs,  wenn 
man  das  ganze  überschaut,  eine  passende  zeit  für  die  entwicklung 
übrig  bleibt.  Eben  diese  zeit  würde  nach  meiner  Überzeugung  allzulang 
werden,  wenn  wir  mit  Engelhardt  und  andern  die  inschrift  auf  der 
Thorsbjærger  zwinge  in  das  j.  250  und  die  Inschriften  aus  dem 
Kragelmler  moore  in  das  j.  500  setzen  wollten.  Dafs  diese  in 
Schriften  durch  einen  Zeitraum  von  250  jähren  geschieden  sein  sollten, 
würde  auf  unlösbare  sprachliche  und  paläographische  Schwierigkeiten 
stofsen;  diese  verschwinden  dagegen,  wenn  wir  den  Thorsbjærger 
fund  höchstens  100  jähre  vor  den  Kragehuler  setzen. 

Was  als  hauplbeweis  für  die  annähme  des  hohen  allers  der 
moorfunde  gedient  hat,  ist  bekanntlich  das  aller  der  in  ihnen 
enthaltenen  münzen,  indem  man  davon  ausgegangen  ist,  dafs  die 
funde  im  ganzen  nicht  viel  jünger  sein  könnten  als  die  jüngsten  der 
in  ihnen  vorkommenden  münzen.  Obgleich  es  auf  den  ersten  blick 
so  scheinen  mag,  als  ob  dies  argument  eine  grofse  bedeutung  besäfse, 
so  mufs  es  doch  Verwunderung  erregen,  dafs  man  noch  beständig 
fortfahren  kann,  demselben  eine  solche  beizulegen,  nachdem  längst 
bewiesen  ist,  ein  wie  geringes  gewicht  demselben  in  Wirklichkeit  zu- 
kommt. Es  ist  ja  nämlich  eine  thatsache,  die  sich  aus  einer  menge 
von  funden  sowohl  innerhalb  wie  aufserhalb  des  Nordens  ergibt,  dafs 
münzen  bisweilen  aufserordentlich  lange  in  umlauf  gewesen  sind,  und 
dafs  besonders  die  guten  römischen  denare  aus  den  beiden 
ersten  Jahrhunderten  noch  Jahrhunderte  lang  verwahrt 
wurden.  Dagegen  kommen  die  münzen  aus  dem  3.  und 
4.  jhdt  im  ganzen  Norden  sehr  selten  vor,  indem  die  münz- 
tünde  mit  Commodus  beinahe  aufhören  und  erst  von  Honorius 
ab  wieder  allgemein  werden,  mag  dies  nun  darauf  beruhen,  dafs  in 
dem  langen  Zeitraum,  wo  die  münzenreihe  fast  abgebrochen  ist,  Stö- 
rungen früherer  Verbindungen  zwischen  Norden  und  Süden  einge- 
treten sind,  oder  —  was  mir  am  wahrscheinlichsten  vorkommt  — 
davon  herrühren,  dafs  die  barbaren  ungern  die  schlechte  münze  an- 
nahmen, die  von  Septimius  Severus  ab  geprägt  wurde.  Wenn  die 
archäologen  die  münzen  in  den  moorfunden  zur  altersbestimmung 
der  letzteren  benutzen,  so  kann  das  ergebnis  daher  leicht  falsch 
werden,  und  dies  ist  nach  meiner  Überzeugung  thatsächlich  geschehen, 
insofern  man  die  ältesten  dieser  funde  in  die  mitte  des  3.  jhdts  setzte. 
Die  Sprachforschung  mufs  sich  hier  entschieden  auf  die  seile  derjenigen 
archäologen  stellen,  die  aus  andern,  rein  archäologischen,  gründen  die 


V.    CHRONOLOGISCHE  ÜBERSICHT  DER  ÄLTESTEN  NORD.  RÜNENDENKMÄLER.      303 

moorfunde  als  wesentlich  gleichaltrig  ansehen.  Dadurch  werden 
die  ältesten  derselben  bedeutend  in  der  zeit  herabgerückt,  denn 
man  kann  den  Thorsbjærger  fund  nach  meiner  meinung  aller- 
früheslens    in  das  jähr  400  setzen. 

Diese  bemerkungen  mufste  ich  vorausschicken,  um  besonders  die 
erste  von  den  zahlen  zu  begründen,  die  ich  in  der  folgenden  chrono- 
logischen Übersicht  benutzt  habe,  wo  natürlich  so  weit  wie  mög- 
lich runde  zahlen  gewählt  sind.  Die  in  klammern  hinzugefügte  zahl  gibt 
die  grenze  an,  innerhalb  welcher  man  sich,  wie  ich  glaube,  bewegen 
darf,  so  doch,  dafs  die  zahl,  die  in  der  klammer  steht,  nach  meiner 
meinung  der  Wahrheit  am  nächsten  liegt.  Innerhalb  der  einzelnen 
zeitgrenzen  sind  die  denkmäler  chronologisch  nach  ihrem  gegenseitigen 
altersverhältnis  geordnet,  so  dafs  z,  b.  die  inschriflen  Ton  Vimose 
mit  einer  runden  zahl  nahe  um  das  jähr  500,  der  brakteat  von 
Vadstena  nahe  um  das  jähr  600  gesetzt  sein  sollen.  Durch  ein 
komma  unterscheide  ich  denkmäler,  die  als  wesentlich  gleichzeitig 
angesehen  werden  können,  wogegen  ich  semikolon  und  punkt  setze, 
wo  ich  einen  etwas  gröfseren  zeitabstand  annehme.  Dafs  vieles  hier- 
bei auf  ungefährer  Schätzung  beruhen  mufs,  habe  ich  bereits  hervor- 
gehoben, und  ich  habe  daher  der  vorsieht  halber  auch  die  periode 
500  —  600  nicht  in  Unterabteilungen  geschieden,  obgleich  ich  glaube, 
daJGs  man  ohne  wesentlichen  mifsgriff  deren  erste  hälfte  (500 — 550) 
von  den  Vimoser  Inschriften  bis  zum  steine  von  Berga  rechnen 
könnte,  ihre  zweite  (550 — 600)  vom  steine  von  Yånga  bis  zu  dem 
brakteaten  von  Vadstena. 

e.  400 — 500.  Die  inschriften  vom  Thorsbjærger  und  Nydamer 
moore;  das  diadem  von  Strårup,  die  spange  von  Himlingöje. 

c.  500 — 600,  Die  inschriften  von  Vimose;  das  goldene  horn, 
die  inschriften  aus  dem  Kragehuler  moore,  die  schlänge  von 
Lindholm;  der  stein  von  Einang,  die  inschrift  vom  Vals- 
fjord,  der  stein  von  Tune,  der  stein  von  Strand,  der  stein 
von  V  am  um,  der  stein  von  Tanum,  der  stein  von  Berga, 

Der  stein  von  Vånga,  der  stein  von  Skärkind,  der  stein 
von  Skaäng,  der  stein  von  Torvik  a,  der  stein  von  Bö, 
der  stein  von  Tom  stad,  der  stein  von  Stenstad,  der  stein 
von  Belland,  der  stein  von  Bratsberg,  die  inschrift  von 
Veblungsnæs;  der  stein  von  Krogs tad,  der  stein  von 
Möjebro. 


304  ANHANG. 

Der  stein  von  Tanem,    die   spange   von   Etelhem,    der 
brakteat  von  Vadstena^). 
c.  600(625) — 675.     Der  stein  von   Heidstad,    der  stein   von   Or- 
stad,  der  stein  von  Torvik  b,  der  brakteat  von  Tjörkö^). 

Die  Schrift,  die  auf  den  steinen  von  Istaby,  Björketorp 
und  Stentofte  nachgeahmt  wird  (stein  von  Gom  mor). 

Die   spange  von   Fonnås    und    die   zeichen    der    längeren 
reihe,  die  auf  dem  Röker  steine  und  in  dem  norwegischen 
runen  kalender  (s,  127)  nachgeahmt  werden. 
c.  700  (72.5).     Der  stein  von  Vatn. 

c.  750  (77.5).     Der  stein  von  Sölvesborg,  der  stein  von  Räfsal. 
c.  800  (825).     Der   stein   von  Örja,    der  stein  von  Kallerup,    der 
stein  von  Snoldelev,-  der  stein  von  Helnæs,    der  stein  von 
Flemlose^). 
c.  850  (87.5).     Der  Rirkeboer  stein  von  den  Færeern;   der  Vald- 

byer  stein  aus  Norwegen,  der  stein  von  Norrenærå^). 
c.  !)00.     Der    stein    von    Glavendrup,    der    stein    von   Trygge- 
vælde. 
c.  930.     Der  kleinere  stein  von  Jæ Hinge. 
c.  980.     Der  gröfsere  stein  von  Jællinge. 
c.  1000.  Der  stein  von  Danevirke. 

Wenn  man  dieses  Verzeichnis  näher  ansieht,  in  das  ich  mit  aus- 
nähme der  brakteatinschriften  alle  bis  jetzt  bekannten  nordischen 
runendenkmäler  aufgenommen  habe,  die  sich  nach  meiner  meinung 
mit  Sicherheit  in  die  zeit  zwischen  400  und  900  setzen  lassen,  wäh- 
rend ich  vom  jähre  900  bis  zum  jähre  1000  nur  einzelne  charakte- 
ristische beispiele  angeführt  habe,  so  wird  die  ungleiche  Verteilung 
über  die  verschiedenen  nordischen  lander  in  den  verschiedenen  Zeiten 
sowohl  wie  die  ungleiche  Verteilung  innerhalb  der  verschiedenen  pe- 
rioden, von  denen  einige  so  gut  wie  gar  keine  runendenkmäler  auf- 
weisen, natürlich  sofort  in  die  äugen  springen  und  möglicherweise, 
aber  mit  unrecht,  zweifei  an  der  richtigkeit  der  chronologischen  be- 
stimmungen  wecken.     Die   genannten  Verhältnisse  sind  nämlich  teils 


^)  Die  brakteatinschriften  gehören  der  letzten  hälfte  des  6.  jhdts  und 
dem  7.  jhdte  (c.  550 — 700)  an.  In  diese  periode  und  am  ehesten  in  den  scblufs 
derselben  setze  ich  auch  die  magischen  inschriften  auf  den  steinen  von  Kinne- 
vad,  Elgesem  und  Förde. 

^)  Über  verschiedene  andere  dänische  steine,  die  ohne  zweifei  gleichfalls 
dem  9.  jhdt  angehören,  siehe  unten  'Anhang'  VI  (s.  353  tf.). 


V.    CHRONOLOGISCHE  ÜBEBSICHT    DER    ÄLTESTEN    NORD.  RGNENDENKMÄLER.   305* 

in  dem  ganzen  gange  der  entwicklung  begründet,  teils  in  dem  ge- 
brauche, der  sich  zu  verschiedenen  zeiten  in  den  verschiedenen  nor- 
dischen ländern  bezügUch  der  Verwendung  von  runensteinen  geltend 
gemacht  hat.  Hieraus  erklärt  sich,  dafs  die  ältesten  runendenk- 
mäler  zwischen  dem  jähre  400  und  dem  anfang  des  6.  jhdts  aus- 
schliefshch  Dänemark  angehören,  dafs  die  runensteine  im  6.  und 
im  anfange  des  7.  jhdts  nur  in  Norwegen  und  Schweden  vorkommen, 
und  dafs  wir  in  dem  übrigen  teile  des  7.  jhdts  und  bis  zum  beginn 
des  9.  jhdts  gleichfalls  nur  Norwegen  und  Schweden  vertreten  finden, 
und  selbst  da  nur  mit  einer  höchst  unbedeutenden  anzahl  von  In- 
schriften. 

Dafs  die  runendenkmäler  am  frühesten  in. Dänemark  auftreten, 
ist  ja  eine  natürliche  folge  davon,  dafs  die  runenschrift  von  süden 
her  eingedrungen  ist,  und  dafs  sie  also  einige  zeit  gebraucht  hat, 
ehe  sie  auch  Schweden  und  Norwegen  erreichte.  Dafs  dagegen  aus- 
schliefslich  die  letztgenannten  lander  denkmäler  von  ungefähr  525 
bis  zum  anfange  des  9.  jhdts  aufweisen,  liegt  daran,  dafs  von  Däne- 
mark kein  einziger  runens  tein  mit  älteren  runen  bekannt  ist;  dafs 
die  runenschrift  jedoch  auch  in  dem  genannten  Zeiträume  in  Däne- 
mark nicht  unbekannt  gewesen  ist,  raufs  ja  als  selbstverständlich 
angesehen  werden  und  geht  auch  mit  Sicherheit  aus  den  brakteal- 
inschriften  hervor.  Dagegen  mufs  die  sitte,  runensteine  zum 
andenken  an  verstorbene  zu  errichten,  nach  den  vorliegenden 
thatsachen  zu  urteilen  sich  erst  in  Norwegen  und  Schweden  ent- 
wickelt haben,  und  da  man  annehmen  darf,  dafs  es  einige  zeit  ge- 
dauert hat ,  ehe  diese  sitte  aufgekommen  ist,  so  ist  es  ja  auch  natür- 
lich, dafs  die  Steininschriften  von  Norwegen  und  Schweden  im  ganzen 
genommen  jünger  sind  als  verschiedene  dänische  Inschriften  auf  losen 
gegenständen. 

Diese  Verhältnisse  sind  also  genügend  in  dem  ganzen  gange  der 
entwicklung  begründet  und  werden  kaum  Verwunderung  erregen. 
Merkwürdiger  könnte  es  dagegen  scheinen,  dafs  in  Norwegen  und 
Schweden  die  periode  von  ungefähr  525  (der  stein  von  Einang 
u.  s.  w.)  bis  ungefähr  650  (die  blekingschen  steine  von  Istaby  u.  s.  w.) 
eine  so  auffallend  grofse  anzahl  von  denkmälern  im  vergleich  zu 
der  folgenden  zeit  aufweist,  und  man,  wenn  die  runensteine  vom 
anfang  des  9.  jhdts  an  wieder  in  gröfserer  anzahl  auftreten,  nicht 
mehr  Norwegen  und  Schweden,  sondern  fast  ausschliefslich  Däne- 
mark vertreten  findet. 

WIMMEB,  Die  runeoschrift.  20 


•306 


ANHANG. 


Diese  auf  den  ersten  blick  merkwürdige  erscheinung  steht  in- 
dessen in  engster  Verbindung  mit  einem  eigentümlichen  gebrauche, 
der  lange  weiter  fortlebte,  als  man  vom  anfange  des  6.  jhdts  an  die 
runen  auf  denksteinen  über  verstorbenen  zu  verwenden  begann,  mit 
dem  gebrauche  der  inschriftlosen  denksteine.  Solche  inschrift- 
losen denksteine  —  bautasteine  —  wurden  in  den  nordischen 
ländern  bekanntlich  schon  in  der  broncezeit  errichtet,  und  mei- 
stens hatten  sie  wohl  ihre  stelle  auf  oder  neben  den  grabhügeln; 
aber  wir  kennen  auch  beispiele  davon,  dafs  sie  in  die  gräber  hin- 
ein gestellt  und  ab  und  zu  mit  symbolischen  (religiösen)  zeichen  ver- 
sehen worden  sind^).  Die  ganze  eisenzeit  hindurch  spielt  die  silte, 
bautasteine  ohne  inschriften  zur  erinnerung  an  die  toten  zu  errichten, 
eine  gi'ofse  rolle.  Als  die  runenschrift  im  Norden  bekannt  wurde, 
konnte  es  ja  nahe  zu  liegen  scheinen,  dieselbe  auf  den  denksteinen 
zu  benutzen,  und  das  ist  dann  auch  frühzeitig  in  Norwegen  und 
Schweden  geschehen,  während  dieser  brauch  erst  viel  später  in  Däne- 
mark aufgekommen  zu  sein  scheint.  Diese  runen  sie  ine  wurden 
natürlich  namentlich  auf  oder  neben  den  gräbern  errichtet  (der  stein 
von  Einang  in  Norwegen  ist  der  einzige,  der  noch  auf  seinem  hügel 
steht^));    aber    daneben    hat    man    dann     auch    häufig    den   runen- 

^)  Siehe  im  ganzen  genouimeo  C.  Engelhardt  in  den  årh.  f.  nord.  oidk. 
1876,  s.  J28lf. 

2)  In  bezug  auf  R.  Heinzeis  frage  wegen  der  inschrift  auf  dem  Einanger 
steine  im  Anzeiger  f.  d.  alterthum  n.  d.  litteratur  XII,  s.  44  f.:  ,, steht  die  eigent- 
liche inschrift  des  Einangsteines  auf  der  unaufgedecicteu  seite,  oder  auf  einem 
anderen  stein,  oder  sind  die  erhaltenen  Worte  eine  gute  rdlschung?"  bemerke  ich, 
dafs  der  stein,  wie  oben  gesagt,  der  einzige  von  allen  bisher  bekannten  runensteinen 
mit  älteren  runen  ist,  der  noch  an  seinem  ursprünglichen  platze  auf  dem  grabhügel 
steht;  dafs  er  also  ein  denkstein  über  dem  verstorbenen  ist,  kann  keinem  zweifei 
unterliegen,  und  von  einer  „fälschung"  kann  nach  dem  ganzen  charakter  der 
inschrift  keine  rede  sein  (wer  wäre  auch  in  neuerer  zeit  oder  überhaupt  zu 
einer  zeit,  wo  die  längere  runenreihe  und  deren  spräche  nicht  mehr  bekannt 
war,  im  stande  gewesen,  eine  in  allen  beziehungen  so  „gute"  fälschung  vor- 
zunehmen?). Aber  die  inschrift  bietet  gewifs  vom  modernen  standpunkt 
aus  das  merkwürdige,  dafs  sie  den  namen  des  toten  nicht  nennt,  zu  dessen 
andenken  der  stein  errichtet  ist,  sondern  nur  den  namen  dessen,  der  die 
inschrift  ritzte  („Ich  Tag  schrieb  die  runen  hier").  Man  könnte  sich  nun,  da 
die  inschrift  sehr  verwittert  und  undeutlich  ist,  denken,  dafs  der  name  des 
toten  in  einer  zeile  über  der  erhaltenen  inschrift  (vgl.  z.  b.  den  stein  von  Strand) 
oder  auf  der  entgegengeselzteu  seite  des  Steines  gestanden  hätte  (da  der  stein 
auf  dem  grabhügel  steht,  so  ist  er  ja  leicht  auf  allen  selten  zu  untersuchen, 
und  es  mufs  auf  einem  mifsverständnis  beruhen,   wenn  Heinzel  von  „der  unauf- 


?.    CHRO?(OLOGISCHE  ÜBERSICHT  DER  ÄLTESTEN  NORD.  RINTISDE-NKMÄLER.     307 

Stein  in  das  grab  hinein  gestellt,  wie  es  mit  den  älteren  bauta- 
steinen  zuweilen  der  fall  ist.  Selbstverständlich  waren  die  steine,  welche 
diese  bestimmuug  hatten,  in  der  regel  kleiner  als  die  steine,  die  auf 
dem  grabe  errichtet  wurden,  und  die  inschriften  in  der  regel  sehr  kurz 
gefafst  (der  name  des  toten,  oder  „N.  N.'s  stein,  grab"  u.  ähnl.,  oder 
eine  magische  inscbrift,  .von  der  man  annahm,  sie  könne  über  die 
ruhe  des  toten  oder  den  frieden  des  grabes  wachen).  Wie  ich  oben 
hervorgehoben  habe,  sind  besonders  aus  Norwegen  eine  verhältnis- 
mäfsig  grolle  anzahl  solcher  steine  mit  älteren  runen  bekannt,  die  in 
den  gräbern  angebracht  gewesen  sind,  und  sie  scheinen  hier  sogar 
allmählich  die  runensleine  auf  den  gräbern  ganz  verdrängt  zu  haben, 
an  deren  stelle  man  wieder  die  inschrifllosen  bautasteine  wählte. 
Während  wir  nämhch  in  Norwegen  in  dem  langen  Zeitraum  von  un- 
gefähr 625  bis  tief  in  die  christliche  zeit  hinein  keinen  einzigen 
runenstein  kennen,  der  auf  dem  grabe  errichtet  gewesen,  treffen  wir 
in  dieser  zeit  noch  einzelne  spuren  der  sitle,  solche  steine  in  die 
gräber  hinein  zu  stellen:  der  stein  von  Vatn  aus  dem  anfang  des 
8.  jhdts  ist  aus  einem  grabhügel  hervorgezogen,  und  dasselbe  ist 
der  fall  mit  dem  steine  von  Valdby,  der  nicht  nur  der  älteste  von 
allen  bisher  bekannten  norwegischen  steinen  mit  der  kürzeren  runen- 
reihe,  sondern  auch  der  einzige  ist,  welcher  der  heidnischen  zeit  an- 
gehört, und  nach  meiner  meinung  in  die  mitte  (die  zweite  hälfte) 
des  9.  jhdts  gesetzt  werden  mufs. 


gedeckten  seile"  spricht);  aber  da  Bagge  keine  spar  von  rnnen  anfserhalb  der 
erhaltenen  inschrift  hat  entdecken  können,  deren  sämtliche  ranen  trotz  ihrer 
nndeatlichkeit  doch  vollkommen  sicher  sind,  so  kommt  mir  eine  solche  annähme 
im  höchsten  grade  unwahrscheinlich  vor  (etwas  weniger  kühn  dürfte  dagegen 
die  vermotang  sein,  die  Burg  s.  136  andeutet,  dafs  vor  dem  ersten  ^  ein  jetzt 
ganz  verschwundenes  >(^  gestanden  haben  könne).  Dafs  der  name  des  toten 
dagegen  auf  einem  andern,  jetzt  verschwundenen  steine  gestanden  haben  kann, 
der  ursprünglich  neben  dem  erhaltenen  seine  stelle  hatte,  ist  natürlich  möglich, 
läfst  sich  aber  selbstverständlich  nicht  beweisen,  und  die  Verhältnisse,  unter 
denen  der  stein  mitten  auf  dem  hngel  angebracht  war,  sprechen  entschieden 
dagegen.  Ich  halte  es  auch  nicht  Tür  notwendig,  dafs  die  denksteine  ans 
jener  zeit  den  namen  des  toten  enthalten  haben;  wenn  ein  inschrift  loser 
bautastein,  auf  oder  neben  dem  hügel  errichtet,  in  der  regel  für  ausreichend 
angesehen  wurde,  um  an  den  verstorbenen  zu  erinnern,  indem  jeder  in  der 
gegend  wulste,  wer  in  dem  hügel  ruhte  und  über  wem  der  stein  errichtet  war, 
so  brauchte  der  runenstein  auch  nicht  den  namen  des  toten  zu  nennen,  so 
konnte  man  sich  völlig  damit  begnügen,  den  namen  des  verwandten  oder  freundes 
zu  melden,  der  gewünscht  hatte  zu  seinem  andenken  runen  zu  ritzen. 

20* 


308  ^  ANHANG. 

Auch  was  Schweden  anbetrifft,  so  deutet  die  form  und  die  grüfse 
einzelner  steine  mit  den  älteren  runen  darauf  hin,  dafs  sie  inner- 
halb der  grtlber  angebracht  gewesen,  obgleich  positive  nachrichten 
darüber  fehlen  (die  steine  von  Vfmga,  Skärkind  und  Kinnevad  —  der 
letztere  mit  einer  magischen  inschrift,  die  ofl'enbar  mit  der  inschrift 
auf  dem  norwegischen  steine  von  Elgesem  nahe  verwandt  ist). 

Dafs  derselbe  gebrauch  ebenso,  jedenfalls  in  einer  etwas  spä- 
teren periode,  in  Dänemark  bekannt  gewesen  ist,  geht  mit  Sicher- 
heit daraus  hervor,  dafs  sich  unter  unsern  ältesten  runendenkmäiern 
einzelne  finden,  von  denen  man  weifs  oder  wegen  ihrer  form  und 
gröfse  mit  hoher  Wahrscheinlichkeit  schliefsen  darf,  dafs  sie  im  in- 
nern   von   grabhügein   angebracht   gewesen  sind  (vgl.  unten  s.  358  f.). 

Nach  den  bis  jetzt  vorliegenden  that.«aclien  mufs  die  erwähnte 
sitte,  runensteine  innerhalb  der  gräber  aufzustellen,  als  zuerst  in  Nor- 
wegen entstanden  angesehen  werden,  wo  sie  im  6.  jhdt  besonders  ver- 
breitet gewesen  zu  sein  scheint,  in  derselben  zeit,  wo  man  runensteine 
auf  den  gräbern  errichtete,  und  wo  sie  auch  das  7.,  8.  und  9.  jhdt  hin- 
durch verfolgt  werden  kann ,  in  welcher  periode  man  dagegen  all- 
mählich ganz  damit  aufgehört-  hat,  runensteine  auf  den  gräbern  zu 
errichten.  Von  Norwegen  hat  der  brauch  sich  frühzeitig  nach  Schweden 
hin  verbreitet,  ist  aber  erst  später  nach  Dänemark  gekommen,  wo 
wir  ihn  nicht  vor  dem  anfang  des  9.  jhdts  antreffen. 

Es  ist  also  aussieht  vorhanden,  dafs  man  rings  umher  im  Norden 
bei  Untersuchung  der  gräber  aus  dem  eisenalter  einzelne  runensteine 
hervorzuziehen  im  stande  sein  wird,  und  besonders  von  Norwegen  darf 
man  hoffen,  dafs  dort  auf  diese  weise  noch  verschiedene  runendenk- 
mäler  sowohl  aus  der  mittleren  wie  der  jüngeren  eisenzeit  zu  tage 
kommen  werden.  Dafs  man  jedoch  keine  grofse  ausbeute  erwarten 
darf,  zeigen  die  vielen  gräber  des  eisenalters,  die  besonders  in  neuerer 
zeit  systematisch  untersucht  sind ,  ohne  dafs  runensteine  darin  ge- 
funden wurden.  Es  ist  daher  kaum  zu  irgend  einer  zeit  irgendwo 
im  Norden  eine  allgemeine  sitte  gewesen,  runensteine  in  den  grä- 
bern anzubringen. 

Dasselbe  gilt  auch  für  einen  längeren  Zeitraum  von  der  sitte, 
runensteine  auf  den  gräbern  zu  errichten.  In  Norwegen  scheint 
dieser  brauch  bereits  im  7.  jhdt  fast  ganz  erloschen  zu  sein,  und  auch 
im  übrigen  Norden  kann  derselbe  von  der  mitte  des  7.  bis  zum  an- 
fang des  9.  jhdts  keine  bedeutende  rolle  gespielt  haben.  Die  ein- 
zigen   Vertreter,    die    wir    im   laufe  dieser  mindestens  150  jähre  für 


V.    CHKO>OLOGISCHE  ÜBERSICHT  I»ER  XlTESTE>  NORD.  RU>ENDEKKMÄLER.      309 

derartige  deiikraäler  aus  dem  ganzen  Norden  haben,  sind  nämlich  der 
Sölvesborger  stein  von  Bleking  und  der  Räisaler  stein  von  Bohusläu. 
Diese  beiden  erhaltenen-  denkmäler  machen  es  ja  indessen  —  ich 
Avill  nicht  sagen  höchst  wahrscheinlich,  sondern  sicher,  dafs  andere 
ähnliche,  jetzt  verschwundene,  da  gewesen,  und  sie  sind  auf  jeden 
fall  ausreichend,  um  zu  zeigen,  dafs  die  sitte,  runensteine  zu  setzen, 
die  wir  zum  ersten  male  im  6.  jlidt  antreffen,  wohl  einen  langen  Zeil- 
raum hindurch  selten  gepflegt,  aber  doch  niemals  ganz  aufgegeben 
worden  ist;  sie  wird  dann  auch  später  zu  neuem  lel)en  erweckt  und 
erhält  eine  Verbreitung  wie  nie  zuvor.  Aber  während  sie  ursprünglich 
in  Norwegen  und  Schweden  entstanden  war,  geht  sie  in  ihrer  neuen 
form  wesentlich  von  Dänemark  aus.  Hier  erscheinen  nämlich  zu  an- 
fang  des  9.  jhdts  die  ältesten  bekannten  steine  mit  der  kürzeren  runen- 
reihe,  und  hier  stofsen  wir  gerade  gleichzeitig  auf  die  beiden  früheren, 
von  Norwegen  und  Schweden  her  bekannten  gebrauche,  runensteine 
in  die  gräber  hinein  zu  stellen,  wie  auch  dieselben  auf  und  neben 
diesen  zu  errichten.  Beide  brauche  scheinen  sich  im  9,  jhdt  neben- 
einander zu  erhalten;  aber  vom  jähre  900  an  hat  der  letztere  voll- 
ständig über  den  ersteren  gesiegt;  von  nun  ab  errichtet  man  nur  die 
runensteine,  die  oft  als  grofse  und  prachtvolle  denkmäler  mit  längeren 
Inschriften  auftreten  (die  steine  von  Glavendrup,  Tryggevælde  u.  s.  w.), 
auf  und  neben  den  gräbern,  nicht  selten  in  Verbindung  mit  inschrift- 
losen bautasteinen.  Dies  wird  das  10.  und  die  erste  hälfte  des 
11.  jhdts  hindurch  fortgesetzt,  wo  die  eigentliche  runensteinperiode 
für  Dänemark  authört.  In  Schweden  lallt  sie  etwas  später,  in  das 
ganze  11.  jhdt;  aber  sie  wird  hier  in  einzelnen  gegenden  (besonders 
auf  Gotland)  bis  tief  ins  mittelalter  fortgeführt.  Nach  Dänemark  und 
Schweden  folgt  endlich  Norwegen. 

Es  zeigt  sich  also  in  dieser"  ganzen  entwicklung,  die  ich  hier  in 
ihren  hauptzügen  zu  schildtrn  gesucht  habe,  ein  merkwürdiger  kreis- 
lauf:  die  runensteine  treten  zun>  ersten  male  in  Norwegen  im 
anfang  des  6.  jhdts  auf  und  werden  sowohl  auf  wie  in  den  grabhügeln 
angebracht;  nach  dem  verlauf  von  100  jähren  hat  der  letztere  brauch 
hier  ohne  zweifei  den  ersteren  verdrängt;  aber  auch  die  runensteine 
in  den  gräbern  kommen  von  jetzt  an  nur  sparsam  vor.  Ungefähr  gleich- 
zeitig mit  ihrem  auftreten  in  Norwegen  zeigen  sich  beide  brauche 
auch  in  Schweden,  wo  sie  jedoch  beide  einen  langen  Zeitraum  hindurch 
nur  selten  angewandt  sind  und  deshalb  hier  sehr  wenige  denkn)äler 
hinterlassen    haben.     Erst   um  das  jähr  800  erreichen  beide  brauche 


310  ANHANG. 

Dänemark,  wo  sie  sich  schnell  entwickeln  und  starke  Verbreitung 
gewinnen;  nach  dem  verlauf  eines  Jahrhunderts  wird  die  sille,  die 
steine  in  die  gräber  zu  stellen,  indessen  ganz  von  dem  brauche  ver- 
drängt, sie  auf  oder  neben  den  gräbern  zu  errichten,  und  diese 
letztere  weise  verbreitet  sich  so  von  Dänemark  wieder  über  Schweden, 
gelangt  aber  erst  spät  nach  der  stelle  zurück,  von  wo  sie  ursprüng- 
lich ihren  ausgang  genommen  hatte,  Norwegen. 

Dieser  entwicklungsgang  erklärt  also  die  höchst  ungleiche  Ver- 
teilung der  runensteine  innerhalb  der  einzelnen  nordischen  lander 
in  den  verschiedenen  zeiten  und  deren  sparsames  auftreten  während 
längerer  Zeiträume,  und  was  wir  hier  mit  hülfe  der  thatsachen,  die 
von  den  denkmälern  selbst  abgeleitet  werden  können,  für  Norwegen, 
Schweden  und  Dänemark  festgestellt  haben,  gewinnt  aucll  auf  andere 
weise  seine  bestätigung.  Wir  finden  hierin  nämlich  eine  genügende  er- 
klärung  dafür,  dafs  von  Norwegens  alter  kolonie  Island  nicht  ein  ein- 
ziger runenstein  bekannt  ist,  der  in  die  heidnische  zeit  zurückgeführt 
werden  kann,  die  runensteine  auf  Island  vielmehr  erst  spät  im  miltel- 
alter  in  form  von  leichensteinen  mit  dem  jüngsten  runenalphabete 
auftreten.  Wohl  nimmt  Björn  M.  Olsen  an,  dafs  runensteine  auch 
in  der  heidenzeit  auf  Island  errichtet  worden  seien,  und  er  sucht 
den  grund  dafür,  dafs  kein  solches  denkmal  mehr  übrig  geblieben 
ist,  darin,  dafs  sie  frühzeitig  zu  grunde  gegangen  sein  können,  weil 
die  isländischen  steinarten  leicht  dem  verwittern  ausgesetzt  sind 
(„Runerne  i  den  oldislandske  literatur",  Kbh.  1883,  s.  5  f.).  Aber 
der  wahre  grund  liegt  einfach  darin,  dafs  keine  derartigen  steine 
auf  Island  vorhanden  gewesen  sind,  weil  die  norwegischen  aus- 
wanderer  aus  ihrer  heimat  nicht  die  sitte  mitbrachten,  runensteine 
zur  erinnerung  an  verstorbene  zu  errichten.  Hätten  sie  diesen  brauch 
gekannt,  so  würden  wir  sicherlich  in  Norwegen  denkmäler  davon 
erhalten  finden;  denn  selbst  wenn  die  isländischen  steine  leicht  ver- 
wittern, so  gilt  dies  nicht  von  den  klippen  und  granitblöcken  Nor- 
wegens, auf  denen  uns  gerade  eine  nicht  geringe  anzahl  von  In- 
schriften mit  der  ältesten  runenreihe  bewahrt  sind.  Aber  dafs  man 
später,  als  Island  angesiedelt  wurde,  weder  in  Norviegen  noch  auf 
Island  diesen  brauch  befolgt  hat,  geht  nicht  blofs  daraus  hervor,  dafs 
die  denkmäler  fehlen,  sondern  wird  nach  meiner  meinung  wenn  möglich 
mit  noch  gröfserer  Sicherheit  durch  die  negativen  Zeugnisse  der  ge- 
schichlsquellen  bewiesen,  insofern  weder  die  isländischen  sagas  noch 
Snorre  in  seiner  norwegischen  geschichte  ein  einziges  derartiges  denk- 


V.    CHRONOLOGISCHE  ÜBERSICHT  DER  ÄLTESTEN  NORD.  RUNENDENKMÄLER.     311 

mal  erwähnen,  die  sie  unzweifelhaft  oft  genannt  haben  würden,  wenn 
dergleichen  bekannt  gewesen  wären  —  welche  quelle  für  Snorre  würde 
nicht  ein  geschichtliches  denkmal  wie  z.  b.  die  Jællinger  steine  ge- 
wesen sein !  Wenn  Snorre  -in  der  saga  von  Häkon  dem  guten  mit- 
teilt, wie  Håkon  nach  der  schlacht  auf  Rastarkalf  den  Egil  prächtig 
im  schiff  begraben  und  einen  hügel  über  ihm  und  den  andern  ge- 
fallenen männern  aufschütten  liefs,  so  fügt  er  ausdrückhch  nicht  nur 
hinzu,  dafs  man  die  genannten  hügel  noch  sehe  {sér  pd  hauga  enn 
fyrir  stinnan  Fr^darberg),  sondern  auch:  „hdvt'r  bautasteinar  standa 
kjd  haugi  Egils  nllserks"'  (Heimskringla,  udg.  af  C.  R.  ünger,  Christ. 
1868,  s.  102;  Wimmer,  Oldnordisk  læsebog  ^,  s.  40  unten).  Es  waren 
also  die  hohen  inschriftlosen  bautasteine,  nicht  runensteine,  die 
hier  zur  erinnerung  an  die  toten  errichtet  wurden.  Dafs  sich  kein 
stein  mit  runeninschrift  auf  oder  neben  Egils  grabhügel  befunden 
hat,  sind  wir  aus  Snorres  schweigen  zu  schliefsen  berechtigt,  und  dafs 
auch  auf  Island  keine  runensteine  zur  erinnerung  an  die  mächtigen 
häuptlinge  errichtet  wurden,  dürfen  wir  eben  so  sicher  aus  dem 
schweigen  der  sagas  erschliefsen.  Ob  man  dagegen  einen  runenstein 
z.  b.  mit  Egils  namen  in  seinen  grabhügel  hinein  gestellt  hat, 
läfst  sich  natürlich  nicht  entscheiden,  und  die  möglichkeit  hiervon 
darf  also  nicht  a  priori  geleugnet  werden,  obgleich  ich  es  allerdings 
für  wahrscheinlich  halle,  dafs  dieser  gebrauch  zur  zeit  Håkons  des 
guten  aufgehört  hat.  Dagegen  könnte  man,  da  der  stein  von  Valdby 
der  zweiten  hälfte  des  9.  jhdts  angehört,  vermuten,  dafs  die  sitte 
noch  bekannt  war,  als  die  ersten  Norweger  nach  Island  auswanderten, 
und  die  möglichkeit  ist  also  nicht  ausgeschlossen,  dafs  auf  Island 
ein  runenstein  aus  der  heidnischen  zeit  entdeckt  werden  könnte,  wenn 
die  gräber  aus  der  zeit  methodisch  untersucht  würden.  Für  das  Vor- 
handensein einer  solchen  möglichkeit  könnte  auch  der  umstand 
sprechen,  dafs  ein  derartiges  runendenkmal  wirklich  in  der  zweiten 
von  den  alten  kolonien  Norwegens,  auf  den  Færoern,  zu  tage  ge- 
kommen ist.  Hier  fand  man  zu  Kirkebø  auf  Strome  1833  einen 
kleinen  runenstein,  der  jetzt  im  altnordischen  museum  zu  Kopen- 
hagen aufbewahrt  wird.  Die  ganze  form  und  die  kleinheit  des  Steines 
macht  es  unzweifelhaft,  dafs  derselbe  in  einem  grabhügel  angebracht 
gewesen  ist.  Von  der  Inschrift,  die  mit  mehreren  wesentlichen  feh- 
lem und  ganz  unrichtigen  deutungen  in  der  „Nordisk  Tidskrift  for 
Oldkyndighed"  H,  Kbh.  1833,  s.  309 f.  und  bei  Stephens  II,  s.  728ff. 
(vgl.  III,  s.  466  f.)  wiedergegeben  ist,    fehlt  der  anfang  (der  unterste 


312  ANHANG. 

teil  des  Steines).  Die  inschrift  ist  in  einer  einzigen  zeile  von  rechts 
nach  links  zwischen  zwei  einfassungsslrichen  eingehauen,  und  die 
feinen  runenformen  erinnern  etwas  an  die  des  sleines  von  Snoldelev. 
Während  der  erhaltene  teil  des  anfangs  &u  verschiedenen  zweifeln  ver- 
anlassung geben  kann,  ist  es  sicher,  dafs  die  beiden  letzten  worte 
nur  ^n^lHAIT^fl  uftiR  hrucj  d.  i.  øftiR  Hrög,  gelesen  werden 
können.  Glücklicherweise  helfen  diese  worte  uns  zugleich  das  aller 
des  denkmals  ziemlich  genau  zu  bestimmen.  Die  erhaltung  der 
alten  Ä-rune  H  zeigt  nämlich  nach  dem  oben  (s.  203  ff.)  entwickelten, 
dafs  die  inschrift  älter  sein  mufs  als  das  jähr  900,  und  hierzu  stimmt 
auch  gut  die  bewahrung  des  A,  des  nasalierlen  a,  im  accusativ  des 
M-stammes  Hröi;  dfenn  wohl  finden  wir  bereits  auf  den  ältesten  däni- 
schen steinen  in  diesem  falle  das  reine  a  mit  aufgegebener  nasalie- 
rung (hurnbura  auf  dem  Ralleruper,  ala  u.  s.  w.  auf  dem  Glaven- 
druper  steine);  aber  dafs  die  nasalität  früher  vorhanden  gewesen  ist 
(entsprechend  der  endung  -an  in  den  Inschriften  mit  den  ältesten 
runen),  kann  ja  keinem  zweifei  unterliegen.  Jch  schliefse  aus  der 
vergleichung  zwischen  dem  Kirkeboer  und  dem  Kalleruper  steine, 
dafs  die  nasalierung  im  genannten  falle  in  Dänemark  früher  als  in 
Norwegen  und  auf  den  Færoern  aufgegeben  ist;  denn  dafs  die  fær- 
eische  inschrift  etwas  jünger  ist  als  die  des  Kalleruper  Steines, 
scheint  mir  ihr  ganzer  Charakter  (auch  die  rune  A,  nicht  ^)  zu  be- 
weisen ;  ich  würde  am  meisten  geneigt  sein,  dieselbe  in  die  mitte 
des  9.  jhdts  zu  setzen,  also  gleichaltrig  mit  dem  steine  von  Nörre- 
nærå  oder  ein  wenig  älter  als  diesen.  Dafs  der  stein  norwegisch  sei, 
finde  ich. auch  keinen  grund  zu  bezweifeln,  obgleich  sich  natürlich  kein 
unmittelbarer  beweis  dafür  führen  läfst,  dafs  er  sich  nicht  von  däni- 
schen Wikingern  herschreiben  könnte;  aber  hiergegen  scheinen  mir 
nicht  blofs  die  geschichtlichen  Verhältnisse,  sondern  auch  die  Ver- 
schiedenheiten gegen  die  ungefähr  gleichzeitigen  dänischen  steine  (q,  in 
Hröq,  uftiR  für  aft  oder  uft)  zu  sprechen.  Die  sitte,  runensteine 
in  die  grabhügel  zu  stellen,  die  wir  in  Norwegen  ungefähr  vom  jähre 
550  an  (der  stein  von  Tomstad  u.  s.  w.)  bis  in  die  zweite  hälfte  des 
9.  jhdts  (der  stein  von  Valdby)  verfolgen  können,  hat  somit  durch 
diesen  færeiscben  stein  ein  neues  zeugnis  von  sich  für  die  mitte 
des  9.  jhdts  abgelegt  und  also  zugleich  die  möglichkeit  der  ent- 
deckung  ähnlicher  denkmäler  auf  Island  aus  dem  ende  des  Jahr- 
hunderts bewiesen. 

Während  die  runensclirift  selbst,    wie  wir  oben  gesehen  haben, 


V.    CHRONOLOGISCBE  ÜBERSICHT  DER  ÄLTESTEN  NORD.  RUNENDENKMÄLER.       313 

bei  ihrer  entwicklung  in  allem  wesentlichen  über  den  ganzen 
Norden  hin  gleichen  schritt  gehalten  hat,  ist  das  Verhältnis  also  ein 
ganz  anderes,  wenn  wir  über  ihre  anwendung  zu  inschriften  auf  den 
runensteinen  sprechen.  Hier  sind  die  nordischen  lander  jedes 
seinen  eigenen  weg  gegangen,  und- die  eigentliche  runensteinperiode 
gehört  in  jedem  einer  andern  zeit  an,  gleichwie  sich  in  diesem 
punkte  innerhalb  eines  jeden  landes  in  hohem  grade  provinzielle 
eigentümlichkeiten  geltend  machen.  Während  z.  b.  die  alte  dänische 
provinz  Schonen  sich  im  ganzen  genommen  dem  übrigen  Dänemark 
anschliefst,  nimmt  Bornholm  eine  besondere  Stellung  ein,  da  die 
vielen  runensteine  auf  dieser  insel  gerade  der  periode  angehören,  wo 
man  im  übrigen  Dänemark  auf  dem  wege  war,  diesen  gebrauch  auf- 
zugeben, kein  einziges  bornbolmisches  runendenkmal  dagegen  in  das 
10.  jhdt  gesetzt  werden  kann. 


VI.  i 

Die  ältesten  dänisclien  runendenkmäler  mit  der 

kürzeren  runenreihe.  J 

s.  213.  Da  ich  in  der   Untersuchung  über  die   entwicklung    der  runen- 

schrift  im  Norden  an  vielen  stellen  veranlassung  gehabt  habe,  auf  die 
ältesten  dänischen  steine  aus  der  jüngeren  eisenzeit  hinzuweisen,  so 
wird  es  zweckmäfsig  sein,  diese  denkmäler  hier  zusammenzustellen 
und  ihre  inschriften  zu  deuten. 

Wenn  wir  die  oben  (s.  227  ff.)  besprochenen  steine  von  Sölves- 
borg  in  Bleking  und  von  Räfsal  in  Bohuslän  ausnehmen,  die  nicht 
geradezu  den  inschriften  mit  der  kürzeren  runenreihe  beigezählt 
werden  können ,  da  sie  noch  eine  einzige  rune  bewahrt  haben ,  die 
sonst  dem  längeren  alphabete  eigentümlich  ist^),  so  sind  die  ältesten 
bisher  bekannten  inschriften  mit  dem  kürzeren  nordischen  futhark 
auf  den  dänischen  inseln  und  in  Schonen  zum  Vorschein  gekommen. 
Sowohl  in  sprachlicher  wie  in  paläographischer  beziehung  sind  diese 
inschriften  von  grofser  Wichtigkeit,  da  sie  den  Zusammenhang  in  der 
entwicklung  von  der  älteren  zur  jüngeren  eisenzeit  zeigen.  Ich  be- 
handle daher  zuerst  die  wenigen  steine  (im  ganzen  fünf,  zwei  von 
Seeland,  zwei  von  FOhnen,  einen  von  Schonen),  die  noch  einzelne 
runenformen  haben,  welche  sich  in  der  längeren  reihe  wiederfinden, 
aber  später  in  der  kürzeren  aufgegeben  wurden,  und  knüpfe  daran 
die  deutung  von  einigen  der  merkwürdigsten  dänischen  inschriften, 
die  der  zeit  nach  zunächst  auf  diese  folgen,  in  denen  aber  der  Über- 
gang zu  den  allgemein  bekannten  jüngeren  runenformen  durch- 
geführt ist. 


*)  Bezüglich  des  seeländischen  steioes  voa  Frerslev,  bei  dem  dasselbe  der 
fall  ist,  begnüge  ich  wich  mit  ciueui  hiuweis  auf  die  bemerkuageu  obeu  s.  232, 
aom.  2. 


VI.  DIE  ÄLTESTEN  DAN.  RÜNENDE.NKMÄLER  MIT  D.  KÜRZEREN  RUNENREIHE.   315 

Da  die  lautbezeichnung,  wie  wir  früher  hervorgehoben  haben, 
in  den  inschriflen  mit  der  kürzeren  runenreihe  sehr  mangelhaft  ist, 
so  liegt  die  hauptschwierigkeit  bei  der  deutung  dieser  inschriflen  s.  214. 
darin,  genau  den  laut  zu  bestimmen,  der  in  jedem  einzelnen  falle 
namentlich  durch  die  3  (4)  vokalzeichen  +  (^j  a  ig),  I  t,  H  u 
ausgedrückt  wird.  Nur  die  genaueste  kenntnis  der  ganzen  nordischen 
Sprachgeschichte  wird  uns  in  den  stand  setzen,  zweifei  zu  lösen, 
die  an  vielen  punkten  entstehen,  und  in  nicht  wenigen  fallen  ist  es 
noch  unmöglich,  zu  vollkommen  sicheren  ergebnissen  zu  gelangen. 
Teils  um  die  bedeutung  näher  zu  begründen,  die  ich  oben  (s.  192; 
vgl.  s.  258)  den  zeichen  in  der  kürzeren  runenreihe  zuerteill  habe, 
und  teils  um  im  folgenden  weitläufige  Untersuchungen  über  die  aus- 
spräche der  einzelnen  formen  zu  vermeiden,  schicke  ich  der  eigent- 
lichen deutung  der  inschriflen  eine  kurze  Übersicht  über  die  ver- 
schiedenen laute  voraus,  die  durch  die  einzelnen  zeichen  in  den  in- 
schriflen von  ungef.  800  bis  ungef.  zum  jähre  1000  ausgedrückt 
werden,  so  viel  wie  möglich  durch  beispiele  von  dänischen  steinen 
erläutert,  die  ich  alle  persönlich  unlersuchl  habe,  und  bei  denen 
ich  daher  für  die  Zuverlässigkeit  der  angeführten  formen  einstehen 
kann. 

A.  Vokale. 

Um  die  vielen  verschiedenen,  sowohl  kurzen  wie  langen  vokale 
auszudrücken,  die  sich  allmählich  in  der  gemeinnordischen  spräche 
entwickelt  hatten,  mufsten  sich  die  runenritzer  mit  den  4  zeichen 
+  a,  ^  ff,  I  ?,  n  M  behelfen,  von  denen  I  und  H  frühzeitig  auch  für  e 
und  0  gebraucht  worden  waren.  Alle  übrigen  laute  mufsten  also 
entweder  durch  die  ursprünglichen  zeichen  für  die  laute,  aus  denen 
sie  sich  entwickelt  hatten,  oder  durch  zusammengesetzte  zeichen  aus- 
gedrückt werden.  In  folge  dessen  treten  die  4  vokalzeichen  in  der 
runenschrift  mit  folgenden  bedeutungen  auf: 

§  1.  +  1)  =  a,  d:  laumarkaR  gen.  (Jællinge)  =  Da/jwarA-a«, 
har|)a  (Hedeby)  =  Aar<fa;  ala  (Glavendrup)  =  i/a,  uabn  (Sjörup, 
Schonen)  =  wdpn. 

Aber  +  wurde  aufserdem  noch  das  zeichen  für  die  laule,  die 
aus  o,  d  durch  umlaut  entstanden  waren,  also: 


316 


AISHANG. 


2)  =  æ,  é  (t-umlaut  von  a,  d,  in  den  ältesten  allnord.  Hand- 
schriften ^,  i  oder  æ,  æ):  nafni  opt.  präs.  {krs)  ^  næfni,  balri 
(Tryggevælde),  bastr  (Kragehoim,  Schonen)  =  bætri,  bæstr  (kaum 
batri,  bastr;  vgl.  §  6,  a,  2);  bajii  neutr.  pi.  (Gunderup)  =  bædi.  Gleich- 
falls haben  karjji  (Tryggevælde  und  viele  andere  inschriften),  karjm 
(Glavendrup)  ohne  zweifel  den  laut  æ  gehabt  (gærdi,  gærdn  ==  altnord. 
g^rdi,  g^rdu),  nicht  o  wie  in  altnord.  gerdi,  gordu  (vgl.  unten  4). 

Wir  müssen  annehmen,  dafs  in  den  ältesten  runeninschriften 
der  t-umlaut  noch,  nicht  eingetreten  ist  (-gastis  auf  dem  goldenen 
horn  und  dem  stein  von  Berga  =  altnord.  -g^str,  marin  Thorsbjærg 
=  altnord.  mirr)\  aber  da  das  i  der  endungen  in  denselben  fällen 
wie  in  der  späteren  spräche  bereits  in  den  ältesten  inschriften  mit  der 
kürzeren  runenreihe  geschwunden  ist,  so  dürfen  wir  annehmen,  dafs 
die  vokalfärbung,  die  mit  t-umlaut  bezeichnet  wird,  zwischen  600 — 700 
angefangen  hat  sich  geltend  zu  machen. 

3)  =  å  (m- Umlaut  von  o,  in  den  ältesten  altnord.  handschriften  q 
oder  æ;  neuisländisch  ö):  fa|)ur  (Glavendrup)  = /"arMr  (allnord.  fgdur), 
hakua  (oft  auf  schwedischen  steinen)  =  Ä%^M)a.     Dafs  dieser  umlaut 

s.  215.  gemeinnordisch  ist,  halle  ich  nämlich  für  unzweifelhaft,  ebenso  dafs 
er  ursprünglich  wesentlich  dieselbe  ausbreilung  im  schwedisch -dänischen 
wie  in  der  gewöhnlichen  allnordischen  Schriftsprache  gehabt  hat;  aber 
frühzeitig  ist  er  durch  ausgleichung  in  den  meisten  fällen  im  schwedischen 
und  dänischen  wieder  verschwunden,  wo  jedoch  viele  formen  noch  von 
seinem  früheren  Vorhandensein  zeugen  (siehe  Lyngby  in  der  Tidskrift 
for  Philologi  og  Pædagogik  II,  Kbh.  1861,  s.  297  ff.).  Dafs  +  auf 
den  runensteinen  in  den  fällen,  wo  auch  das  neuschvvedische  und 
neudänische  den  umlaut  bewahrt  haben  {hugga,  hugge  u.  s.  w.  =  altnord. 
hpggva)  als  «,  nicht  als  a,  ausgesprochen  worden  ist,  versteht  sich  von 
selbst.  Dagegen  ist  die  frage  schwieriger  zu  entscheiden  in  den  fällen, 
wo  die  neueren  sprachen  a  haben  (r+J>IA,  T+tTlR  =  allnorå.  fadir, 
fgdnr  u.  s.  w.).  Einen  sicheren  beweis  dafür,  dafs  der  umlaut  noch 
ums  jähr  1000  in  solchen  formen  auch  in  Schweden  und  Dänemark 
vorhanden  gewesen  ist,  liefert  indessen  die  Schreibung  -iTl  (H)  auf 
den  runensteinen  (§  6,  c,  3;  vgl.  §  5,  5  und  §  6,  d,  3),  die  selbstver- 
ständlich zeichen  für  «  (altnord.  p)  ist,  indem  man  zum  ausdruck  des 
aus  a  durch  M-umlaut  entstandenen  vokals  entweder  a  (w)  allein  oder 
ein  aus  a  und  u  zusammengesetztes  zeichen  gebrauchen  konnte  (vgl. 
+1  und  I  als  zeichen  für  den  «-umlaut  von  a,  §  6,  a,  2  und  §  4,  3). 


VI.    ntÉ  ÄLTESTEN  DAN.  RÜNENDENKMÄLER  MIT  D.  KÜRZEREN  RUNENREIHE.       317 

Es  geht  aus  den  unten  unter  +n  (§  6,  c,  3)  angeführten  beispielen 
hervor,  dafs  man  jedenfalls  im  östlichen  Dänemark  (Schonen)  gegen 
das  jähr  1000  noch  fadin,  fådtir,  satti,  sattu  unterschied,  und  dafs 
man  in  Jülland  gleichfalls  z.  b.  die  form  Danmark  hatte;  aber  wenn 
wir  dieses  wort  tanmaurk  acc.  (der  gröfsere  stein  von  Jællinge),  tan- 
markaR  gen.  (der  kleinere  stein  von  JæUinge),  tanmarku  dat.  (der 
Skivumer  stein  von  Jülland,  welcher  der  ersten  hälfle  des  10.  jhdts 
angehört)  geschrieben  finden ,  so  halte  ich  es  für  das  wahrschein- 
lichste, dafs  der  umlaut  nur  im  nom.  und  acc.  bewahrt,  dagegen 
aber  im  dat.  fortgefallen  ist,  wo  u  erhalten  blieb.  Dies  stimmt  ja 
nämlich  ganz  zu  dem  aus  den  altnorwegischen  handschriften 
bekannten  Verhältnis,  wo  der  «-umlaut  gerade  in  den  formen  er- 
halten ist,  wo  u  abgeworfen  war,  aber  durch  die  unumgelauleten 
formen  verdrängt  wurde,  wo  u  vorhanden  war  {land,  pl.  Ignd,  landum; 
mgrk,  dat.  markn,  markum  u.s.  w.).  .  Dieselbe  enlwicklung  ist  ^ann 
in  Dänemark  und  Schweden  vor  sich  gegangen,  und  diese  neuere 
entwicklung  hat  sich,  wie  sonst  öfters,  eher  in  Jütland  als  auf  den 
dänischen  inseln ,  in  Schonen  und  Schweden  gellend  gemacht. 
Während  ich  also  annehme,  dafs  die  flexion  des  wortes  Danmark 
am  ende  des  10.  jhdts  in  Jülland  Danmark,  -markoR,  -marku  ge- 
wesen ist,  zeigen  die  gleichzeitigen  schonischen  formen  fädnr,  sattu, 
dafs  man  hier  die  ältere  form  -marku  auch  noch  im  dat.  gehabt  hat. 
In  beziehung  hierauf  würde  ich  also  z.  b.  die  form  bar|)usk,  prät. 
med.  von  beer  jask,  auf  dem  grofsen  Arhuser  steine  (gegen  1000) 
durch  baräiisk  wiedergeben,  während  wir  auf  gleichzeitigen  schonischen 
und  vielleicht  auch  seeländischen  denkmälern  noch  eine  ausspräche 
hårdusk  (=  altnord.  bgrdt(sk)  annehmen  dürfen.  Auf  jeden  fall  hege 
ich  keinen  zweifei  darüber,  dafs  der  ii- umlaut  auf  den  ungefähr 
100  jähre  älteren  fühnischen  und  seeländischen  steinen  von  Glaven- 
drup.  Tryggevælde  u.  s.  w.  vollständig  durchgeführt  gewesen  ist,  deren 
fa{)ur  u.  s.  w.  also  fadur  (fgdur)  u.  s.  w.  gelesen  werden  mufs. 

Dafs  der  w-umlaut  im  Norden  jünger  ist  als  der  /-umlaut,  kann 
kaum  einem  zweifei  unterliegen  (von  den  Inschriften  mit  älteren  runen 
hat  der  stein  von  Strand  den  acc.  m  agu  =  altnord.  mgg,  hadu- 
laikaR  =  Hgdleikr),  aber  viel  jünger  als  dieser  kann  er  hinwiederum 
nicht  sein.  Ich  nehme  an,  dafs  er  sich  zwischen  700 — 800  vollständig 
entwickelt  habe.  Diese  auffassung  mufs  ich  auf  das  entschiedenste 
gegenüber  einer  ansieht  behaupten,  die  besonders  in  der  neuesten 
zeit   mit  grofser  bestimmtheit  aufgestellt  worden  ist,    und  derzufolge 


318  ANHANG. 

der  (norwegisch-)isländisclie  M-uinlaut  erst  zu  ende  des  11.  jhdts 
begonnen  haben  sollte  (siehe  Kormaks  saga,  herausgegeben  von 
Th.  Mübius,  Halle  1886,  s.  101).  Diese  ansieht  steht  in  unlös- 
barem Widerspruch  nicht  nur  mit  den  sprachgeschichtlichen  that- 
sachen,  die  aus  den  neueren  nordischen  sprachen  und  aus  den 
runeninschriften  gezogen  werden  können,  sondern  auch  mit  dem 
factum,  dafs  der  w-umlaut,  wenn  er  erst  im  11.  jhdt  eingetreten 
wäre,  zu  einer  zeit  aufgekommen  sein  müfste,  wo  die  wirkende  Ur- 
sache dazu  (m  in  den  endungen)  in  mancherlei  fällen  längst  ge- 
schwunden war.  Es  sind  die  häufigen  skaldenreime,  wo  a  auf  q  reimt, 
die  ausgezeichnete  isländische  Sprachforscher  veranlafst  haben,  diese 
ganz  unhaltbare  behauptung  aufzustellen.  Die  genannten  skaldenreime 
halte  ich  für  eine  durch  die  not  erzwungene  poetische  licenz,  und 
dies  Verhältnis  wird  ja  auch  sehr  verständlich  und  erklärlich,  wenn 
wir  daran  denken,  dafs  q  in  Wirklichkeit  nicht  so  sehr  weit  von  a 
ab  lag,  wogegen  das  Verhältnis  natürlich  ein  ganz  anderes  wird,  wenn 
wir  an  stelle  des  altnord.  p  das  neuisländische  ö  setzen  (daraus  er- 
klärt sich  auch  die  auffassung  der  Isländer). 

Dafs  auch  der  lange  å-laut,  der  M-umlaut  von  d  (in  den  ältesten 
altnord.  handschriften  9  oder  ab)  im  schwedisch- dänischen  vorhanden 
gewesen  ist,  geht  mit  Sicherheit  aus  einzelnen  Worten  hervor,  in  denen 
er  auch  hier  in  den  neueren  sprachen  nachgewiesen  werden  kann 
(schwed.  sjöy  snjö,  dän.  sø,  sne  und  ähnlichen  aus  älterem  sio,  snio 
=  altnord.  sjgr,  snjgr\  dän.  él  'riemen',  altschwedisch-dän.  e^i=:  alt- 
nord. gl,  neuisl.  öl\  schwed.-dän.  hun  =  altnord.  hgn;  altschwed.-dän. 
ambut  =  altnord.  ambgtt).  Möglicherweise  ist  der  umlaut  d — a  jedoch 
im  schwedischen  und  dänischen  früher  durch  ausgleichung  verdrängt 
als  der  umlaut  des  kurzen  a.  Dies  würde  zu  dem  Verhältnis  im  alt- 
nordischen stimmen,  wo  sich  dieser  umlaut  ja  nur  in  den  ältesten 
handschriften  tindet,  während  d  später  so  gut  wie  in  allen  fällen  wieder 
g  verdrängte  (vgl.  oben  s.  196).  Wenn  also  der  Hedebyer  stein  satu, 
plur.  prät.  von  sitja  =  altnord.  sgtu  {sdtu)  hat,  so  nehme  ich  an,  dafs 
diese  form  hier  sdtu  (in  analogie  mit  Danmarku)  ausgesprochen  worden 
ist,  bezweifle  aber  nicht,  dafs  die  ausspräche  auf  älteren  denkmälern,  und 
vielleicht  noch  damals  im  östlichen  Dänemark  und  Schweden  s'åtu  war. 

4)  Natürlich  könnte  «f  »"ch  zeichen  für  0  sein  in  den  fallen,  wo  dies  durch 
«- (t»-)umlaut  aus  »entstanden  ist  (fornuord.  forml.  §  13;  vgl.  meine  „Sinåbidrag 


VI.    DIE  ÄLTESTEN  DAN.  RUNEISDENKMÄF-ER  MIT  D.  KÜRZEREN  RÜNENREIHE.       319 

til  nordisk  sproghistorie"  in  „Det  philologisk-historiske  Samfands  Mindeskrift", 
Kbh.  1879,  s.  177  ff.);  aber  dieser  uinlaut  hat  nur  sporadisch  Schweden  und 
Dänemark  berührt,  wo  er  jedoch  gewifs  in  einer  form  wie  gørwa  vorhanden 
gewesen  ist,  in  welchem  speciellen  falle  der  ^-laut  in  unseren  runeninschriften 
durch   «ITI  ausgedrückt  wird  (vgl.  §  6,  c,  3  &  4). 

Die  hier  genannten  bedeulungen  von  +  sind  also  in  der  sprach- 
geschichtlichen entwicklung  begründet.  Dagegen  sollte  der  e-laut 
eigentlich  durch  I  ausgedrückt  werden,  was  auch  gewöhnlich  der  fall 
ist;  aber  da  +  das  regelmäfsige  zeichen  für  æ  war,  und  dieser  laut 
dem  e  nahe  liegt,  so  finden  wir  auch  frühzeitig  +  gebraucht 

5)  =  e  (é):  uar{)i  (Glavendrup,  Tryggevælde)  =  tcercf/',  opt.  präs. 
von  uar{)a  (Ars)  =  werda,  uar  acc.  (Tryggevælde)  =  wer  'ehemann', 
maj)  (Mejlby)  =:  med,  him|)aki  (Hällestad  c)  ^ -pegt,  an  (Sjörup) 
=  en  'aber';  saR  dat.  (Hällestad  a)  =  séR.  —  Diese  häuQge  Schreibung 
mit  a  für  i  in  diesen  formen  (vgl.  §  4,  2)  bereits  in  so  alten  In- 
schriften wie  der  des  Glavendruper  Steines  u.  s.  w.  scheint  mir  an- 
zudeuten, dafs  der  laut  in  diesen  fällen  näher  dem  æ  ais  dem  e  gelegen 
habe  (frühzeitig  haben  diese  worte  jedenfalls  æ  bekommen,  das  regel- 
raäfsig  in  unsern  ältesten  handschriften  gebraucht  wird). 

6)  Da  die  alten  diphthonge  in  einfache  laute  überzugehen  anfingen,  kann 
«p  zuweilen  für  das  gewöhnliche  |  gefunden  werden,  entsprechend  dem  diphthongen 
«j*!  :  ras|)i  (Skovlænge)  =  raist)i,  ris|)i,  ras|)i  stan  (auf  schwedischen 
steinen)  =  raist>i  stain,  ris|)i  stin  d.  i.  ræisf)i  siæin  oder  réspi  sten 
(vgl.  §  7),  aki  (Sjörup)  =  aigi  (Hällestad  a)  d.  i.  æigi  oder  égi  'nicht', 
t)aR  (Skårby,  Schonen)  =  l>aiR,  ^iB,  t)aRa  (Greosten)  =  |>aiRa,  |)iua.  Da- 
gegen bezeichnet  |^4'H^I  3°^  ^^^  Rimsoer  steine  rais^)!,  indem  H  zeichen  für 
i  s  ist,  während  s  allein  durch   Pf  ausgedrückt  wird. 

§2.  f=  drückt  dieselben  laute  aus  wie  +  mit  folgendem 
nasal  (siehe  oben  s.  201  f.  und  vgl.  §  3); 

1)  =  ^,  q:  hqn  (Skivum),  hqns  (Glavendrup)  =  A^nn,  hqns\ 
{}  (Snoldelev  u.  s.  w.),  ^i\  (Arhus  u.  s.  w.)=  q,  pq,  ^sa  (Sjörring, 
Tulstorp)  =  ^sa,  qni  (Mejlby)  =  4«»,  fjmuta  (bruchstück  von  Arhus) 
=  ^mtmda. 

2)  =  q,  £§:    stqtR  (Flemlose,  Ör'ia)  =  stqndR,    Iqki  (Ars)  = 

3)  =  g,  S:  klqmulan  (Tryggevælde)  =glqmulan\  ^s-  in  naraen  s.  216. 
=  qs-  in  den  ältesten  Inschriften;  später  auch  qs-,  ds-,  ds-   und  mit 


320  AISHANG. 

Verkürzung  des  vokals  ås-,  as-,  æs^:  '^sbiåni,  j{sbiårn;  Åsbiorn,  Åsbiorn; 
Asbtorn,  Asbiom,  Æsbiorn  (£s-)'). 

Das  woi't  f^H  wurde  ursprünglich  flecliert:  nona.  qss,  gen.  qsan. 
Durch  analogie  bekam  auch  der  nom.  später  die  form  qss,  die  wie- 
derum durch  aufgeben  der  nasaliläl  zu  dss  wurde.  Die  mit  f^H-  (aus 
^hn-)  zusammengesetzten  namen  lauteten  ursprünglich  \s-;  aber  da 
das  unzusammengesetzte  'qss  zü  qss,  dss  wurde,  so  konnte  die  form 
ohne  w-umlaut  auch  das  qs-  im  ersten  gliede  der  namen  verdrängen, 
wo  gewifs  nicht  selten  die  umgelaulete  und  nichtumgelautele  form 
nebeneinander  standen^). 

4)  Mit  der  bedeutaag  o  kommt  ^  dagegen  erst  io  jüngeren  Inschriften 
vor;  ich  glaube  daher  auch  nicht,  dals  der  name  fr§[)a  auf  dem  in  vielen  be- 
ziehungen  dunklen  Tirsleder  steine  als  Frßäa  aufgefulst  werden  darf. 

§  3.  1)  Ziemlich  früh  (in  der  2.  hälfle  des  10.  jhdts)  be- 
ginnen die  zeichen  +  und  ^  vermischt  zu  werden,  so  dafs 
wir  ^  für  +  in  dessen  verschiedenen  bedeutungen  finden  können, 
ohne  dafs  ein  nasal  darauf  folgt  oder  früher  darauf  gefolgt  ist:  har|)<j 
(Asferg)  für  das  häufige  ha r {ja  =  Äar^Za;  ;jft  (Vedelspang),  «jftin 
(Skovlænge)  für  das  ganz  gewöhnliche  aft,  aftiR  =  cp/if,  æftiR\  S{|r 
dat.  (Jællinge)  für  saR  (Hällestad  a)  =  seß;  <juk  (Köpinge,  Schonen) 
zweimal  für  das  gewöhnliche  auk.  Umgekehrt  findet  sich  zu  ende 
des  10.  jhdts  +  für  t^  in  asbiarn  (Fosie,  Schonen),  askil  (Hälle- 
stad a;  aber  f}skau  tr,  tjsbiurn  auf  den  beiden  andern  gleichzeitigen 
steinen  von  Hällestad),  askulr  (Rrageholm),   aslakR  (Arhus),   asur 

o  • 

(Gardstanga,  Ravnkilde;  aber  qsur  Ars,  Strö  a,   Valkärra). 

2)  Wie  die  oben  s.  194,  s.  201  und  s.  319  angeführten  beispiele 
zeigen,  mufs  a  in  älterer  zeit  nasaliert  gewesen  sein,  nicht  blofs  wo 
der  nasal  geschwunden  und  das  vorhergehende  a  gedehnt  war,  son- 
dern auch  wo  ein  nasal  unmittelbar  auf  a  folgte.  Jedoch  ist 
hier  sehr  früh  schwanken  im  gebrauch  von  1^  und  +  eingetreten.  In 
den  ältesten  inschriften  ist  die  regel  jedoch  sicherlich  genau  durch- 
geführt   gewesen,    obgleich    sie  nur  die  form  s t q t r  =  s^tfnd«  dar- 

^)  Ich  nehme  nicht  an,  dafs  die  dänisch-schwedischen  formen  auf  Æs-(Es-) 
in  Æsbiorn  {Esbiorn,  Esbern),  Æskill  {Eskel)  u.  s.  w.  unter  einflufs  der  formen 
von  gss  (dss)  entstanden  sind,  die  t-umlaut  hatten  (dat.  sgl.  ^si,  nom.  pl  fsir). 

^)  Wenn  wir  später  häufig  sowohl  ^s-  wie  0*-  iu  diesen  nauieu  treilen,  so 
könnte  das  erstere  von  der  nichtumgelauteten,  das  letztere  von  der  umgelauteten 
form  ausgehen;  aber  ich  nehme  doch  am  ehesten  an,  dafs  Os-  (in  Os/red,  Os- 
got  u.  s.  w.)  durch  einwirkung  der  altenglischen  namen  eingedrungen  ist. 


VI.   DIE    ÄLTESTEN  DAN.  RÜNENDENKMÄLER  MIT  D.  KÜRZEREN  RÜNENREIBE.    321 

bieten;  aber  auch  die  jüngeren  inschriflen  aus  der  ersten  hälfte  des 
10.  jhdts  haben  viele  erinner  ungen  an  das  ältere  Verhältnis  bewahrt, 
obgleich  es  hier  bereits  erschüttert  ist:  so  hat  der  stein  von  Glaven- 
drup  {)tjnsi  (einmal),  hfins,  Jjnfin,  aber  auch  |)ansi  (einmal), 
hai])uiar])an,  der  stein  von  Tryggevælde  schreibt  Jjfjnsi  (dreimal), 
kl^mulan  mit  ^  in  der  ersten,  aber  ^  in  der  letzten  silbe,  sowie 
man,  hi|)an.  Wenn  diese  inschrift  |)tji  batri  in  der  bedeutung 
pCBim  bcetri  hat,  so  bezeichnet  ^  unzweifelhaft,  dafs  der  nasal  vor  b 
ausgelassen  ist,  aber  kaum,  dafs  der  diphthong  æi  nasaliert  gewesen; 
denn  das  wort  stain  wird  (zweimal)  mit  der  dr-rune  geschrieben 
wie  auf  dem  Glavendruper  steine,  was  auch  ohne  ausnähme  in  den 
noch  älteren  inschriflen  (Kallerup,  Snoldelev,  Helnæs,  FlemLöse)  so- 
wie auf  der  grofsen  masse  jüngerer  steine  der  fall  ist  (so  hat  der 
gröfsereGunderuper  stein  stain  wie|}aim  neben  |)cjnsi).  Einzelne denk- 
mäler  aus  der  ersten  hälfte  des  10.  jhdts  verwenden  noch  consequent 
^  vor  nasal:  so  hat  der  stein  von  Skivum  h^n  uas  Icjntm^n^ 
baistr  i  t<|nmarku  =  hqnn  was  Iqndmqnna  bæstr  i  Dqnmarku;  der 
stein  von  Ars  hat  [)c{nsi,  stfjnta  und  l^ki  =  Ic^igi.  Aber  im  übrigen 
ßndet  sich  in  der  grofsen  menge  von  inschriften  aus  dem  10.  jhdt 
in  diesem  falle  grofses  schwanken  im  gebrauche  von  ^  und  +,  so  dafs 
+  allmählich  das  weit  überwiegende  wird:  |)cinsi  kommt  jedoch 
häufig  neben  ftansi  vor,  st^nta  (Ajrs),  aber  stat^  (Hällestad), 
manr  (Skæm),  aber  matr  (Hedeby)  =  mandr,  man  acc.  (Sjælle, 
wie  auch  Tryggevælde),  mana  gen.  plur.  (Krageholm)  =  »ja/ina, 
uhimsk^n  acc.  Sgl.  masc.  (Sondervissing  b),  aber  ku{)an  sehr  ge- 
wöhnlich =  ^dJa«,  kauruan  (Sæddinge)  =  ^önca«,  tu[)an  (Virring) 
=  dätidan.  Mit  +  wird  gleichfalls  han  (Sæddinge,  Krageholm,  Hedeby 
und  öfter),  hans  (Krageholm),  tanmarkaR,  tanmaurk,  tani 
(Jællinge),  la t  (Ravnkilde]  ^ /anrf,  hantaR  (Hunestad)  ^  Äan«?aÄ, 
an  (Sjörup)  =  en  geschrieben;  gleichfalls  vor  m:  bram  (Krageholm) 
=  Bram,  kamal  (Valkärra)  =  Gamal.  Dies  scheint  zu  beweisen,  dafs 
die  nasalierung  der  vokale  im  laufe  des  10.  jhdts  in  Dänemark 
geschwunden  ist,  wo  ein  nasal  folgte,  und  es  mufs  daher  als  un- 
richtige anwendung  von  ^  für  +  angesehen  werden,  wenn  wir  z.  b. 
icjn  (Danevirke)  für  das  gewöhliche  ian  (an,  in)  =  e»,  qumula 
(Sjörring)  =  Oymunda  finden. 

3)   Wo    ein    kurzes  a  ursprünglich    und    noch    in    der    ältesten 
runensprache  vor  einem  nasal  gestanden  hatte,  der  in  alter  zeit  fort- 

"WIHMER,  Die  runenschrift.  21 


322  ANHANG. 

gefallen  war  (früher  als  die  allerältesten  inschrifleii  mit  der  kürzeren 
runenreihe),  mufs  a  ohne  zweifei  ursprünglich  nasaliert  gewesen  sein 
(also  im  acc.  plur.  masc.  der  o-stämme,  in  vielen  formen  der  n-stämme, 
im  inf.  und  in  der  3.  pers.  plur.  präs.  der  verba).  Eine  erinnerung 
an  den  einstigen  nasalvokal  in  diesen  fällen  habe  ich  auch  auf 
dem  færoischen  stein  von  Kirkebo  nachweisen  zu  können  geglaubt 
(siehe  oben  s.  312).  Aber  in  Dänemark  und  wahrscheinHch  auch  in 
Schweden  war  die  nasalität  bereits  im  anfang  des  9.  jhdts  verloren, 
wie  dies  aus  unsern  ältesten  runensteinen  hervorgeht,  die  hier  stets 
die  rfr-rune  brauchen;  hurnbura  gen.  sgl.  (Kallerup),  ala  gen. 
Sgl.  (Glavendrup),  ala  kuj)a  acc.  sgl.  (Glavendrup) ,  aha  acc.  sgl. 
(Gunderup),  tuka  dal.  sgl.  (Gunderup),  rita  inf.  (Glavendrup,  Trygge- 
vælde), stfjnta,  uarjja  inf.  (Ars),  kaurua  (Sondervissing,  Jællinge) 
=  gerwa,  lika  3.  pers.  plur.  präs.  (Gunderup)  =  liga  (altnord.  liggja) 
u.  s.  w.  Beispiele  für  den  acc.  plur.  von  männlichen  a-stämmen 
kommen  erst  in  jüngeren  Inschriften  aus  der  zweiten  hälfte  des 
10.  jhdts  vor:  stina  (Gårdstånga  c).  Neben  der  grofsen  masse  von 
beispielen  für  die  är-rune  in  den  genannten  formen  gerade  aus 
unsern  ältesten  Inschriften  finden  wir  ganz  ausnahmsweise  und  erst 
in  jüngeren  inschriften  ^  in  filagfj  acc.  sgl.  (Sjörup),  stinq  acc. 
plur.  auf  ein  paar  schonischen  steinen,  siucj  acc.  plur.  auf  ein  paar 
jütischen  steinen  und  auf  dem  schonischen  stein  von  Lundagård, 
kristuci  acc.  plur.  (der  gröfsere  stein  von  Jællinge),  stat<)  inf.  (Hälle- 
stad  b).  Dafs  wir  in  diesen  fällen  nicht  den  alten  nasalvokal  bewahrt 
vor  uns  haben,  geht  jedoch  deuthch  aus  der  grofsen  menge  analoger  for- 
men mit  der  «r-rune  nicht  nur  auf  weit  älteren  und  auf  gleichzeitigen 
steinen,  sondern  auch  auf  eben  denselben  denkmälern  hervor,  die  aus- 
nahmsweise ^  gebrauchen:  der  Ulstruper  stein  hat  im  acc.  plur. 
skibara  s  in  cj  =sÄ:?|9ara  sina,  der  stein  von  Vinge  bruj)r  sinf}  tua 
=  hrøår  sina  twd,  der  stein  von  Lundagård  neben  stinq  und  sin^ 
im  acc.  plur.  b a |) a  und  k u |) a  =  bdda,  göäa.  Dafs  auch  der  vor- 
hergehende nasal  das  folgende  kurze  a  nicht  nasaliert  hat,  wie 
man  aus  den  beispielen  sinq,  stinfi,  kristnq  vermuten  könnte, 
wozu  noch  ferner  das,  letzte  f=  in  m  c}  n  cj  gen.  plur.  (Skivum)  und 
hribnq  nom.  sgl.  (Bække)  gefügt  werden  kann,  geht  aus  den  aufser- 
ordentlich  zahlreichen  fällen  hervor,  wo  von  den  ältesten  Zeiten  an  + 
hinter  +  geschrieben  wird  (stainaR  Räfsal,  sunari  Snoldelev  und  öfter, 
truknaj)u  Helnæs,  kuna  Glavendrup,  Sondervissing,  runaR  Glaven- 
drup,   sina   acc.   sgl.  fem.    der  kleinere  stein  von  Jællinge,  Læborg, 


VI.    DIE  ÄLTESTEN  DÄ>.  RDNEJIDENKMALER  MIT  D. KÜRZEREM  RÜNENREIHE.       323 

Gunderup  und  mehrere);  ebenso  mak  (Gunderup)  =  wdgf  u.  s.  w. 
u.  s.  \v.  In  den  angeführten  formen  mit  ^  sehe  ich  daher  nur  eine 
Vermischung  von  f^  und  +;  aber  wenn  f^  besonders  hinter  +  auftritt, 
so  ist  es  doch  hier  ohne  zweifei  absichtUch  aus  kalligraphischen 
gründen  gebraucht,  um  das  zusammentreffen  von  ++  zu  vermeiden. 
4)  Noch  einen  beweis  für  die  vollständige  Vermischung  der  öss- 
und  dr-rune  zu  ende  des  10.  jhdts  liefert  die  zuweilen  vorkommende 
Zusammenstellung  beider  zeichen  um  den  a-laut  auszudrücken:  f^+KI 
tjaki  (Bjersjö,  Schonen)  =  Akt.  Besonders  charakteristisch  in  dieser 
beziehung  ist  der  stein  von  Hobro  (s.  oben  s.  246  f.),  der  dreimal  ^+ 
in  |)fjasi,  kuj);ia,  kul)tian  schreibt  (aber  +  allein  regelmäfsig  in 
felaka,  har{)a  sowohl  wie  in  karl). 

§  4.  I  1)  =  I,  i:  lantir|)i  (Egå)  =  landhiråi  (altnord.  Äfr^ir, 
„Navneordenes  bojning  i  ældre  dansk"  §21),  hin  (Oddum)  ^hinn; 
{)riR  (Bække)  = />riij,  sin,  sina,  acc.  sgl,  mase.  und  fem.  (Jællinge) 
=  sinn,  üna. 

2)  =  e,  é:  uirf)i  (Glemminge,  Schonen)  =  loerrfi,  is  pron.  rel. 
(Flemløse  und  öfter)  =  «s,  uir  acc.  (Sjörring)  =  «?er,  mi^)  (Strö  b) 
=  med,  him})iki  (Hallestad  b  und  öfter)  = -/)c^t,  in  (Glavendrup) 
=  en,  l)ign  (Randers)  =])e^»;  filaga  acc.  (Hedeby)  = /e/a<jfO,  fiaR 
gen.  (Gunderup)  =  féaR. 

Das  unbetonte  I  in  der  letzten  silbe  eines  wortes,  das  nicht  einem 
ursprünglichen  i  entspricht,   ist   gewifs  auch  zeichen  für  den  laut  e,  s.  217. 
nicht  für  t,  gewesen ;  jedoch  behalte  ich  in  diesem  falle  überall  t  bei, 
auch  wenn  ich  die  worle  nach  ihrer  ausspräche  wiedergebe. 

Gleichwie  +  anstatt  I  gebraucht  werden  konnte,  um  den  e-laut 
auszudrücken,  so  kann  umgekehrt  I 

3)  =  æ,  æ  sein:  hribucj  (Bække)  =  Hrcetna  (altnord.  Hr^fna,  fem. 
zu  Hrafn),  liki  (Rygbjærg)  =  længi,  trikR,  trik  (allgemein)  = 
drængR,  dræng\  ift,  iftiR  (allgemein)  =  æ/if,  æfttR-,  nistiR  nom.  plur. 
mase.  (Hälleslad  a)  =  næstiR,  frinta  acc.  (Egå)  =  frænda  (in  diesem 
Worte  hal  die  Schreibung  mit  I  =  æ  jedoch  historischen  grund). 

i)  jNatiirlich  würde  |  auch  zeichen  für  y,  y  in  den  wenigen  fallen  sein,  wo 
dieses  ans  i,  i  entstanden  ist  (fornnord.  forml.  §  11,  d);  aber  dieser  Übergang  hat 
Dänemark  und  Schweden  nur  sporadisch  berührt  und  wird  also  sehr  schwer  ia 
runeninschriften  aacbgewiesen  werden  können;  jedoch  ist  das  siktrikn  des 
Steines  von  Vedelspang  ohne  zweifei  Sigtryggw  (nicht  -triggw)  zu  lesen,  vgl. 
schwed.-däa.  trygg. 

21* 


324  ANHANG. 

5)  Frühzeitig  beginnt  I  auch  anstatt  +1  als  zeichen  für  den 
diphthongen  æi  gebraucht  zu  werden:  ris[)i  stin  (Skærn  und 
öfter)  =  ræispi  stæin.  Diese  Schreibung  bezeichnet  wohl  gerade  in 
den  älteren  inschriften  den  beginnenden,  in  den  jüngeren  den  voll- 
ständigen Übergang  des  diphthongen  zum  einfachen  langen  laute  («); 
vgl.  §  7. 

6)  Aufser  den  hier  genannten  vokalen  bezeichnet  I  auch  den 
halbvokal  j;  aber  die  meisten  von  den  Verbindungen,  die  später  j 
erhielten  (ja,  jü  u.  s.  w.)  haben  zur  zeit  der  runensteine  ohne  zweifei 
noch  i  {ia,  iü  u.  s.  w.)  gehabt.  Dagegen  ist  I  sicher  zeichen  für  den 
halbvokal  in  formen  wie  trekian  nom.  pl.  (Hedeby)  =  drcmgjan 
(„Navneordene  böjn.  i  ældre  dansk"  s.  55). 

§5.  n  1)  =  w,  li:  sunu  acc.  sgl.  (Helnæs;  Navneordenes  böjn. 
s.  74),  kunulf  acc.  (Tryggevælde)  =  Gwimilf;  nu  (Tygge vælde) 
=  nu,  runaR  (Glaven dr up)  =  runa/j. 

Das  unbetonte  u  in  endungen  hat  vielleicht  dem  o  näher  als 
dem  M  gestanden;  ich  gebe  es  jedoch  überall  durch  u  wieder  (in  ana- 
logie  mit  i  in  den  endungen;  vgl.  §  4,  2  schlufs). 

2)  =  0,  o:  kurmR  (Jællinge)  =  GormR\  |)ur  (Glavendrup)  = 
P&rr,  bru{)ur  (Rönninge)  =  brödur. 

3)  =  y,^:  suniR  (Glavendrup)  =  sj/»««;  bu  (Danevirke,  Hedeby) 

4)  =  e,  é:  uft  (Sondervissing),  uftiR  (Danevirke)  = «/"/,  eftiR 
(nebenform  zu  æft,  æftiR,  geschrieben  aft,  aftiR,  ift,  iftiR,  eftiR, 
aift,  aiftiR);  bruf)r  acc.  plur.  (Jætsmark)  =  6r^5r,  nuruna  (Egå) 
=  norréna,  futiR  (Tryggevælde)  = /"etidm. 

5)  Aufserdem  kann  [\  zuweilen  statt  +  oder  +n  (§  6>  t'»  3)  als  zeichen  für 
den  å-Iaut  gebraucht  werden,  der  ja  dem  o  nahe  liegt:  hukua  (Strö  und  oft 
auf  schwedischen  steinea)  =  håggiva.  In  den  älteren  inschriften  kommt  [\  jedoch 
s.  218.  kaum  in  dieser  bedeutung  vor,  und  es  ist  daher  wahrscheinlich,  dafs  das  ältere 
å  in  formen  wie  hukua  in  das  daraus  entstandene  jüngere  o,  u  übergegangen 
ist  (vgl.  in  mit  der  bedeutung  iå  oder  io  §  6,  d,  3). 

6)  Frühzeitig  beginnt  n  auch  an  stelle  von  ^n  als  zeichen  für 
die  diphthonge  AM  und  üy  gebraucht  zu  werden:  I)usi  (der  kleinere 
stein  von  JæUinge  =  J)ausi  auf  dem  gröfseren),  tujjan  acc.  sgl.  masc. 
{yirr'mg)  =  dåudan;  frustin  (=  älterem  fraustain  d.  i.  Freystæinn) 
Bautil  no.  841.    Diese  Schreibung  verrät  wohl  in  der  regel  gleichwie 


VI.    DIE  ÄLTESTEN  DAN.  RUNENDENKMÄLER  MIT  D.  KÜRZEREN  RÜNENREIHE.       325 

I  für  +1  (§  4,  5),  dafs  der  diphthong  in  einen  einfachen  langen  laut 
(é)  übergegangen  ist.  Man  mufs  jedoch  am  ehesten  annehmen,  dafs 
auf  dem  kleineren  stein  von  JæUinge  der  diphthong  noch  bewahrt  ist 
wie  in  |)ausi  auf  dem  gröfseren  Gunderuper  und  auf  dem  Skivumer 
steine,  wogegen  J)ausi  auf  dem  gröfseren  stein  von  Jællinge  viel- 
leicht umgekehrt  den  lautwert  pési  hat. 

7)  Endlich  ist  H  auch  zeichen  für  den  halb  vokal  to:  uas  (Flem- 
lese)  =  icas,  s  u  i  n  (Danevirke)  =  Swm'nn  (Sicénn).  Bewahrt  als  auslaut 
in  fällen,  wo  es  im  altnord.  abgeworfen  ist,  findet  es  sich  in  sik- 
Iriku  (Vedelspang)  =  Sigtryggw;  auf  dieselbeweise  lese  ich  das  karuR 
des  Röker  Steines  als  gårwR  {==  altnord.  gprr),  entsprechend  dem 
acc.  kauruan  (Sæddinge)  =  ^«ncaw  (altnord.  ggrvan). 

%  6.  Die  diphthonge  werden  ursprünglich  durch  Zusammen- 
stellung der  zeichen  für  die  einzelnen  laute  (+1,  +11,  IH)  ausgedrückt; 
aber  wie  ein  einziges  zeichen  (I,  R)  frühzeitig  anstatt  des  zusammen- 
gesetzten (+1,  +0)  gebraucht  werden  kann,  um  den  diphthongen 
auszudrücken  (vgl.  §  4,  5,  §  5,  6),  so  kann  umgekehrt  ein  zusammen- 
gesetztes zeichen  (+1,  1+,  +n)  zuweilen  angewandt  werden,  um  die 
einfachen  laute  auszudrücken,  denen  ein  eigenes  zeichen  fehlt.  Der 
laut  å  (M-umlaut  von  ä)  wird  regelmäfsig  durch  dasselbe  zeichen  wie  a 
ausgedrückt,  aber  ab  und  zu  auch  durch  Zusammenstellung  von  a  und 
w;  die  laute  æ  und  e  werden  in  der  regel  durch  dasselbe  zeichen  wie 
0  und  i  ausgedrückt,  aber  mitunter  auch  durch  Zusammenstellung 
von  a  und  t.     Wir  finden  daher: 

a.  +1  1)  =  dem  diphthongen  ai  (wohl  CBt  ausgesprochen,  in  den 
ältesten  altnord.  handschriften  ^i  oder  æi,  auch  wie  später  ei):  raist 
(Gla vendrup)  =  rcpjs^  altnord.  rejsf,  prät.  von  rista,  st ain  (Kaller up) 
=^stæinn  {steinn),  raist)i  stain  (Gunderup),  i  |)aim  hauki  (Gunderup). 

2)  =  æ  (i-umlaut  von  a):  hairulfR  (Haverslund)  =  Aærwi/A, 
baistr  (Skivum)  =  bæstr^),  aift  (Skivum),  aifÜR  (Gardstanga  b 
und   öfter)  ^  ce/y,   æftiR,   ailti    (Glavendrup,    Tryggevælde)  =  æZft". 

3)  Selten  ist  +1  auch  zeichen  für  e:  |)aikn  (Gunderup)  = /»e^n. 


^)  Die  bezeichnang  ai  beweist,  dafs  diese  form  sehr  frülizeitig  æ  statt  des 
in  den  älstesten  altnord.  handschriften  häufig  vorkommenden  a  (baztr)  bekommen 
hat;  da  æ  im  komparativ  früher  als  im  superlativ  eingetreten  ist  (vgl.  mein 
oldnord.  læsebog'  XXVI),  so  ist  das  batri  des  Tryggevælder  Steines  eher 
bætri  als  batri  ausgesprochen  worden. 


326 


ANHANG. 


b.  1+  \)  =  ia:  biarnaR  gen.  (Skærn),  biarki  dat.  (Hällestad) 
=  biargi. 

2)  =  m  (M-umlaut  von  ia):  -biarn  nom.  und  acc.  (Fosie  und 
oft  auf  schwedischen  steinen)  =  -biårn^). 

3)  =  e:  las  pron.  rel.  (Jællinge  und  öfter)  =  es,  i  an  (Sæddinge; 
auf  dem  Danevirke-steine  i^n)  =  m,  [)iakn  (Glavendrup  und  öfters) 
=  pegn,  nuruiak  (Jællinge)  =  Norweg. 

4)  Sehr  selten  =  æ:  iaft  (Sendervissing  h)  =  æft. 

8.219.  c.  +n    1)  =  dem   diphthongen  au  (wohl  au  ausgesprochen,    in 

den  ältesten  altnorweg.  handschriften  qu  oder  æu,  in  den  altisl.  au): 
hauk  (Tryggevælde  und  öfter)  ==  håug  {haug),  j^skautr  (Hälle- 
stad b)  =  j^sgåutr  {Asganlr). 

2)  =  dem  diphthongen  ey  (isl.  ey,  «-umlaut  von  au):  austain 
(Tågerup,  Gunderup  h)  =  Øystætnn  {Eysteinn),  fraustain  (auf  schwe- 
dischen steinen,  Liljegren  no.  835,  842;  vgl.  fraystain  mit  punk- 
tiertem M  auf  dem  stein  von  Sjælle)  =  Freystæinn  (Freysteinn). 

3)  =  å  (dem  «-umlaut  von  a,  gleichwie  der  «-umlaut  durch 
+1  bezeichnet  werden  kann).  Ziemlich  selten  kommt  +n  in  dieser 
bedeutung  an  stelle  des  gewöhnlichen  +  vor;  aber  gerade  die  bezeich- 
nung  +n  enthält  einen  vollgültigen  beweis  unter  vielen  andern 
dafür,  dafs  der  M-umlaut  gemeinnordisch  gewesen  ist  (vgl.  §  1,  3 
und  Navneord,  böjn.  §  13):  haukua  (auf  schwedischen  steinen,  Lilje- 
gren  no.  662,  1091)  =  haggwa,  biaurn  (der  kleinere  Skærner  stein) 
=  biårn;  in  diesen  fällen  ist  der  umlaut  auch  im  neuschwedischen 
und  neudänischen  bewahrt;  aber  wir  finden  auch  tanmaurk  acc. 
(Jællinge)  =  Danmark,  fau|)ur  acc.  (Gleraminge,  Schonen;  die 
schwedischen  steine  bei  Liljegren  no.  258,  967)  =  fådur,  s  a  u  t  u  ,  prät. 
plur.  von  sætja,  entsprechend  dem  Sgl.  sati  =  satti,  såttu  (die  scho- 
nischen  steine  von  Hunestad  und  Skårby)^).  Gleichfalls  bezeichnet 
kauruan  acc.   Sgl.   masc.   (Sæddinge)^)   ohne  zweifei  die  ausspräche 

')  Jedoch  kann  biaru  auch  die  ausspräche  biarn,  eine  durch  aoalogie  nach 
dem  gen.  biarnaR  entstandene  nebenform  zu  biårn,  wiedergeben. 

■-)  Die  formen  satti,  såtlu  sind  älter  als  die  allnorwegisch-isländischen  setti, 
settu.  Siehe  meine  „Småbidrag  til  nordisk  sproghistorie"  in  „Det  philologisk- 
historiske  Samfunds  Mindeskrift",  Kbh.   1879,  s.  183  f.  (separatabzug  s.  10  f.). 

')  In  der  Verbindung  l)urui  kat  kauruan  stain  ()ansi,  d.  i.  Jyyrwi 
gat  gårwan  stadn  pannsi.    Da  ich  prof.  Stephens  gegenüber  geleugnet  hatte,  dafs 


VI.  DIE  ÄLTESTEN  DAN.  RÜNENDE>KMÄLER  MIT  D.  KÜRZEBEN  RDNENREIBE.   327 

ganoan  (:=:  altnord.  ggrvan),  und  in  analogie  hiermit  könnte  auch 
kaurua  inf.  (Jællinge,  Sondervissing)  gänca  und  nicht  das  dem  alt- 
nord.  entsprechende  gerwa  ausdrücken,  obgleich  das  letztere  mir  am 
wahrscheinlichsten  vorkommt,  da  der  u-  («7-)umlaut  von  æ  zu  « 
in  diesem  falle  auch  Dänemark  und  Schweden  umfafst  zu  haben 
scheint  ^). 

4)=:^.    Man  mufs  annehmen,  dafs  +n  diesen  laut  in  kaurua 
inf.  ausdrückt,  das  eher  gerwa  als  gårwa  gelautet  hat  (siehe  3  schlufs), 
sowie  in  auft  (Glavendrup),  auftiR  (Fuglie,  Schonen)  =  uft,  uftiR  s.  220. 
(nebenform  zu  aft,   aftiR;  vgl.  §  5,  4). 

5)  Aufserdem  kommt  +n  (f^H)  sporadisch  in  ein  paar  fällen 
vor,  wo  wir  das  einfache  +  oder  H  erwarteten:  u[)inkaur  nom.  und 
acc.  (Skivum,  Skærn)  für  -kar  =  Oåmhdrr,  -kar;  hiau  (Læborg) 
für  hiu  (§  6,  d,  2),  prät.  von  haggica  =  hiö  (vgl.  hio  jüt.  gesetz  3,  34, 
altnord.  Ajo),  |)iau{)u  dat.  (Tirsted)   für  |)iu{)u  (Simbris,   Schonen) 


sich  der  iofinitiv  auf  -an  auf  jüngeren  rnaensteioen  fände  („De  ældste  nord. 
runeindskr."  s.  14^,  so  führte  er  in  seiner  antwort  7  vermeintliche  beispiele 
für  diese  formen  an,  und  nahm  den  stein  von  Sæddinge  in  sein  werk  auf, 
weil  er  in  kaurnan  ,,an  example,  neither  doubtful  nor  deniable  nor  to  be 
escaped  by  any  linguistic  snbterfuge  wbatsoever,  of  the  infinitive  in  -an 
in  heathen  Scandinavia"  fand  (s.  782).  Diese  starken  worte  scheinen  auf  Ryd- 
qvist  eindrack  gemacht  zu  haben,  der  Stephens'  erklärnng  von  kaurnan  als 
infinitiv  ohne  Widerspruch  bestehen  läfst,  während  er  die  nnhaltbarkeit  der 
andern  sechs  beispiele  nachweist  (Svenska  språkets  Lagar,  IV,  s.  426 — 27). 
Auch  Thorsen  nimmt  dieses  wort  auf  dem  Sæddinger  steine  als  Infinitiv,  aber 
er  scheint  kaarua  lesen  zu  wollen  (,,De  danske  Runem."  I,  s.  49);  die  Inschrift 
hat  jedoch  deutlich  kauruan,  und  geta  verbunden  mit  dem  particip.  prät.  ist 
ja  nicht  blofs  aus  dem  altnordischen,  sondern  auch  ans  dem  alt-  and  neo- 
dänisehen  wohlbekannt. 

^)  Da  die  sehr  häufig  vorkommende  präteritalform  in  den  runen  Inschriften 
4*  (f  1,  2)  oder  |  (häufig  auf  schwedischen  steinen)  hat,  nicht  ^J\  oder  W  so 
darf  man  hieraus  schliefsen ,  dafs  der  K>-nmlaut  von  æ  in  dieser  form  in 
Dänemark  und  Schweden  nicht  vorhanden  gewesen  ist,  dals  sie  also  gærii, 
nicht  gørii  ausgesprochen  wurde.  Im  inf.  könnte  man  sich  eine  form  gårwa 
unter  einflufs  des  häufig  vorkommenden  adjectivs  gårr  (gårwR)  entstanden 
denken,  das  statt  des  ptcp.  prät.  gebraucht  wurde;  aber  da  tr,  wie  die  rnnen- 
inschriften  und  die  ältesten  altnord.  Sprachdenkmäler  zeigen,  sich  im  inf.  (und 
präs.)  noch  lange  gebalten,  nachdem  es  bereits  im  prät.  ausgefallen  war 
(fornnord.  forml.  §  143,  2),  so  kommt  es  mir  am  wahrscheinlichsten  vor,  dals 
die  runische  form  kaurua  gørwa  bezeichnet,  so  dafs  die  flexion  gewesen  wäre: 
inf.  gørwa,  prät.  gceräi,  (ptcp.  prät.)  gårr  (gårwR). 


328  ANHANG, 

=  piüäu  (allnorw.-isl.  pjödu),  nicjut  (Norrenærå)  für  niui  =  niiit, 
imper.  von  iiiuta  (altnorw.-isl.  njöt),  |)nurui  (der  gröfsere  stein  von 
Jællinge,  nicht  {liurui,  wie  man  früher  las)  für  das  gewöhnliche 
[)urui  (der  kleinere  stein  von  Jællinge  und  öfter)  =  Pyrwi.  In 
-kaur  und  hiau  bezeichnet  +n  wohl  einen  laut,  der  von  d  und  ö  ein 
wenig  verschieden  gewesen  ist,  sich  etwas  dem  a  genähert  hat.  Wenn 
-kaur  ursprünglich  ein  M-stamm  war,  so  würde  a  u  ja  als  hezeich- 
nung  des  dem  altnord.  ^  entsprechenden  umgelauteten  vokals  voll- 
kommen berechtigt  sein  (§  6,  c,  3),  und  altnord.  -karr  müfste  dann  ein 
späterer  übertritt  in  die  o-klasse  sein  (wie  z.  b.  grr,  drr,  fornnord. 
forml.  §  51  b,  anm.  1).  In  hiau  könnte  au  natürlich  ganz  gut  als  be- 
zeichnung  für  das  lange  o  aufgefafst  werden ;  aber  da  dieser  laut  auf 
älteren  steinen  sonst  durch  n  ausgedrückt  wird,  so  bin  ich  am  meisten 
geneigt  au  als  zeichen  für  einen  von  o  etwas  verschiedenen  mehr 
offenen  laut  aufzufassen.  In  J)iau{)u,  nifjut  ist  der  laut  kaum  ein 
reines  m  gewesen,  sondern  am  ehesten  ein  mittellaut  nach  ia  hin, 
und  der  gebrauch  von  t=  für  +  in  nitjut  ist  wohl  auch  gerade  ein 
beweis  dafür,  dafs  der  runenritzer  eine  unklare  auffassung  von  diesem 
laute  hatte;  denn  von  wirklicher  nasalierung  kann  in  diesem  falle 
ja  keine  rede  sein,  und  der  stein  von  Norrenærå  gehört  einer  zeit 
an,  wo  man  1^  q  und  +  a  noch  genau  unterschied.  In  {jcjurui  statt 
des  sonst  öfter  vorkommenden  |)urui  ist  i\u  eine  ungewöhnliche 
bezeichnung  für  den  laut  y,  da  +n  auf  dem  gröfseren  stein  von 
Jællinge  ohne  zweifei  zeichen  für  den  «^-laut  sowohl  in  kaurua  (= 
gerwa)  wie  in  {)ausi  {=  pési)  ist,  so  lag  es  ja  nahe,  dieselbe  be- 
zeichnung auch  für  den  y-laut  zu  gebrauchen  (dafs  hier  l^n,  aber  in 
den  beiden  andern  fällen  +n  geschrieben  wird,  beruht  darauf,  dafs  1^ 
und  +  im  ganzen  auf  diesem  steine  vermischt  sind,  wie  s^r  für  sbr 
zeigt). 

d.  In  l)  =  ni  (altnorwegisch-isl.  yw,  jd) ^) :  {)iuj)u  (Simbris,  siehe 
oben  c,  5),  ubbriuti  conj.  präs.  (Glemminge,  Schonen)  =  nppbriiiti 
(altnorw.-isl.  uppbrjöti). 

2)  =  iö,  10   (sehr  seltene  Verbindung   im  schwedisch-dänischen; 


')  Ob  man  nicht  in  den  fällen,  wo  das  altnorw. -isländische  j6  bekam,  auch 
im  schwed. -dänischen  wenigstens  in  gewissen  gegenden  eine  zeit  lang  eine  von 
iü  etwas  verschiedene  ausspräche  gehabt  hat,  kann  jedoch  zweifelhaft  sein. 
Hierfür  könnte  unter  anderm  auch  die  in  §  6,  c,  5  besprochene  Schreibung  an 
(qu)  für  u  in  |>iau[)u,  ni^ut   sprechen. 


VI.    DIE  ÄLTESTEN  DAN.  RUNENDENKMÄLER  MIT  D.  KÜRZEREN  RUNENREIHE.       329 

altisl.  jö,  jo):  hiu  (Liljegren  no.  70),  hiuk  (oft  auf  schwedischen 
steinen)  =  Ä/o,  hiogg  (vgl.  altschwed.  hio,  hiog,  hiegg,  Rydqvist  1, 171 
und  vgl.  hiau  §  6,  c,  5). 

3)  =  tå  oder  später  (§  5,  5)  io  (entsprechend  dem  altnord.  jq,  isl. 
jö,  M-umlaut  von/a):  -biurn  (Hune  in  Jütland,  Sjörup,  Hällestad  und 
Strö  in  Schonen  und  öher)  =  -biam  oder  -hiorn,  miuk  (Rygbjærg) 
=  miåk  oder  7mok,  altnord.  mjqk  (siehe  „Store  Rygbjaerg-stenen"  in 
den  årh.  f.  nord.  oldk.  1875,  s.  201,  207  ==  separatabz.  s.  14,  20). 

§  7.  Während  die  ältesten  inschriften  regelmäfsig  die  alten 
diphthonge  æt  und  au,  ey  durch  +1  und  +n  ausdrücken,  finden 
wir  sie  später  (namentlich  vom  ende  des  10.  jhdts  an,  mehr  spora- 
disch auch  früher)  meistens  mit  einfachen  zeichen  geschrieben,  I 
(selten  +)  für  +1  und  n  für  +n,  so  auf  dem  Danevirker  und  Hede-  s.  221. 
byer  steine  mit  einer  einzigen  ausnähme  durchgehends  I  =  +1  (siehe 
oben  s.  252  f.),  aber  dagegen  iau'j^T  =  dåndr  auf  beiden.  Dieser 
starke  gebrauch  des  I  für  +1  und  namentlich  des  punktierten  I  (♦) 
in  erik  (=  älterem  Æirik)  auf  dem  einen  steine  zeigt,  dafs  die 
alten  diphthonge  in  Dänemark  nicht  mehr  rein  bewahrt  gewesen  sind ; 
aber  der  Übergang  von  diphthongen  zu  einfachen  lauten  ist  natür- 
lich ebenso  wenig  wie  andere  durchgreifende  Übergänge  in  der  spräche 
plötzlich  vor  sich  gegangen.  Es  mufs  eine  periode  gegeben  haben, 
wo  man  noch  zwischen  einfachem  laut  und  diphthongen  schwankte, 
und  gerade  diese  Übergangsperiode  finden  wir  ohne  zweifei  durch  die 
genannten  Schleswiger  steine  und  viele  andere  vertreten.  In  Däne- 
mark, wo  der  Übergang  von  den  alten  diphthongen  zu  einfachen 
langen  lauten  {æi  zu  é,  åu  und  ey  zu  e)  früher  als  in  Schweden  be- 
gann, ist  er  ohne  zweifei  vollständig  in  der  ersten  hälfte  des  11.  jhdts 
durchgeführt. 

§  8.  Wie  die  in  §  Iff.  angeführten  beispiele  beweisen,  wird  die 
quantität  der  vokale  in  der  schrift  nicht  bezeichnet:  +r+  ala 
=  Ala  und  alla  u.  s.  w.  Nur  ganz  ausnahmsweise  kommt  Zusammen- 
stellung von  zwei  vokalzeichen  zur  bezeichnung  eines  langen  vokals 
vor:  t*++HI  |)aasi  (Tryggevælde)  =  ^dsi. 

§  9.  Nicht  selten  werden  vokale  in  den  runeninschriften  ent- 
weder aus  rücksicht  auf  den  räum  oder  durch  Unachtsamkeit  weg- 
gelassen: hr|)a  (Langå,  Randers)  =  harj)a,  hns  (Egå)  =  hans, 
stn  (Vejlby)  =  stin,  ris{)  (Mejlby,  Grensten),  rij)  (Höriiing)  =  ris|)i 


330  ANHANG. 

U.dgl.  Ein  merkwürdiges  beispiel  von  absichtlicher  auslassung 
sowohl  von  vokalen  wie  von  konsonanten  gibt  der  eine  von  den 
Bækker  steinen,  dessen  inschrift  in  zwei  zeilen  lautet: 

hribn^  :  ktubi  :  kriukubj)si 
aft  :  uibrukm{)usin 

was  ich  erganze  hribn;^  k(a)t  u(r)bi(t  oder  n)  kriu(t)kub(l) 
{)(u)si  aft  uibruk  m(u)|)u(r)  sin(a),  d.i.  Hrædna  gat  orpit  {oåev 
orpm)  griüiknmbl  pånsi  (pest)  æft  Wiborg  mödur  sina,  „Hræfna  er- 
richtete dieses  denkmal  (diesen  högel  mit  steinkreis)  nach  ihrer 
mutter  Wiborg"^). 

§  10.  Umgekehrt  wird  nicht  selten  ein  vokal,  besonders  ein  sva- 
rabhaktisches  M  oder  «,  eingeschoben:  turutin  (Skæm)  =  dröl tin, 
buru|)ur  (GylUng)  =  ftrdffwr,  f)igin  (Langå)  für  {)ign  (Randers)  = 
pegn,  SciskiriJ)r  {Skæm)  =  S asg ær dr,  simi|)r  (Liljegren  no.  897) 
=  smidr  (derselbe  stein  hat  auch  boro|)ur  =  brödur).  In  den 
ältesten  nordischen  runeninschriften  ist  bekanntlich  svarabhaktisches 
a  gewöhnlich,  und  auf  dem  steine  von  Istaby  wird  es  sogar  durch  ein 
von  dem  gewöhnlichen  a  verschiedenes  zeichen  ausgedrückt:  woråhto 
(Tune)  =  got.  wavrhta,  altnord.  orta,  halaiban  (Tune)  =  got.  igä)- 
hlaiban,  harabanaR  (Varnum)  =  altnord.  Hrafn,  WArait,  wulAfn 
(Istaby)  ::=  got.  wrait,  wulfs,  altnord.  reit,  nlfr ,  u.  s.  w.  (Siehe  „De 
ældste  nord.  runeindskrifter"  s.  56  f.,  „Navneordenes  böjn.  i  ældre 
dansk"  s.  47). 

§  11.  Umsetzung  von  vokalen  kommt  zuweilen  vor:  bur|)ur 
(Kolind)  =brul) ur,  biruti  (Skærn)  =  briuti. 

B.    Konsonanten. 

Hier  sind  die  Verhältnisse  weit  einfacher  als  bei  den  vokalen, 
und  nur  selten  können  wir  über  die  bedeutung  der  konsonanten- 
zeichen  der  runenschrift  im  zweifei  sein: 

§12.  a.  Y  1)  =  fc:  kunukR  (Jællinge)  =  frowwn^'Ä,  skai[) 
(Tryggevælde)  :=:  skæid. 


»)  Siehe  „Deo  såkaldte  Jællingekredses  runestene"  in  „Opnscula  philologica 
ad  I.  N.  Madvigiuia",  Haun.  1876,  s.  212  If.  (separatabz.  s.  20  ff.). 


VI.    DIE  ÄLTESTEN  DAN.  RUNEISDENKMÄLER  MIT  D.  KÜRZEREN  RÜNENREIHE.      331 

2)  =  g  (muta):    kurmR  (Jællinge)  =  Gorm/j,    kul)r  (Hedeby)  s.  222. 
=  gödr;    siktriku  (Vedelspaiig)  =  Sigtryggw,  hakua  (schwedische 
sieine)  =håggxDa. 

O 

3)  =^  (spirans):  uiki  (Glavendrup)  =  wijit,  felaka  acc.  (Ärhus) 
=  félaga  (auf  dem  Hedebyer  steine  ßaga  mit  punktiertem  Y  ge- 
schrieben, das  sowohl  für  die  muta  wie  für  die  spirans  gebraucht 
wird). 

Erst   später   wird   spirantisches  §■    durch   dasselbe    zeichen  wie  h,  jj(,  aus- 
gedrückt. 

b.  T  1)  =  t:  suti  (Glavendrup)  =  Söti,  stain  (Kallerup) 
=  stæinn. 

2)  =  d:  taut)r  (Danevirke,  Hedeby)  =  dåuår,  lanmaurk  (Jæl- 
Ymge)  =  Danmark,  haraltr  (JæUinge)  =  fiaroWr. 

Dagegen  wird  T  nicht  statt  ^  in  der  bedeutung  d  gebraucht; 
folglich  ist{)urmutR  [Norrenærå)  =  PörmundR  (nicht  PörmödR),  malr 
(Hedeby)  =  wanrfr  (nicht  madr),  mitr  (Lundagård)  ^  m(»W(?r  (vgl. 
„Navneordenes  böjn.  i  ældre  dansk"  s.  85  f.).  Der  name  fatuR  auf  dem 
verschwundenen  Arrilder  steine  von  Schleswig  kann  daher  nicht 
Fadir  bezeichnen,  wie  Thorsen  meint  („De  danske  Runemindesm." 
I,  238),  wogegen  auch  u  [und  r]  sprechen.  Es  ist  am  ehesten  ein 
M-  (oder  ioa-)stamm  mit  bewahrtem  Stammauslaut  im  nom.  sgl. 

c.  ^  *  1)  =  p:  k  n  u  b  u  (Vedelspang)  =  gnüpu,  u  a  b  n  (Sjörup) 
=  loäpn. 

2)  =  b:  but  (Jællinge)  =  bot. 

3)  =  5  (spirans).  Im  nordischen  fiel  dieser  laut  später  (kaum 
vor  dem  10.  jhdt)  mit  f  zusammen,  und  in  den  runeninschriften  ist 
r  daher  in  der  regel  zeichen  sowohl  für  ursprüngUches  f  wie  für 
ursprüngliches  6.  Jedoch  findet  sich  5  (B)  noch  von  f  (P^)  unter- 
schieden in  nairbis  (Tryggevælde)  =  iVærSjs  neben  ulf,  aft  und  in 
hribnc}  (Bække)  =  Hræbna  (vgl.  harabanaR  Varnum)  neben  aft. 
(Ausnahmsweise  kommt  b  auf  worte  übertragen  vor,  die  ursprünglich 
f  hatten;  siehe  §  13,  b,  2  schlufs). 

§  13.  a.  1^  1)  =  j>  (im  anlaut  sowie  hinter  k,  p,  s  und  in  ein- 
zelnen andern  fällen;  siehe  J.  Hoffory  in  der  Nordisk  Tidskr.  f.  Fi- 
lologi.   Ny  Række  HI,  s.  293  f.  und  in  der  Ztschr.  f.  d.  altert.     Neue 


332  ANHANG. 

f.  X,  S.  375  ff.):  |)ur  (Glavendrup)  = /'drr,  raisj)i,  risjii  (gewöhnlich) 
=  rceispi,  réspi. 

2)  =  d  (sonst  im  Inlaut):  fa{)i  (uelnæs)  =  facti,  tau[)r  (Dane- 
virke,  Eedehy )==  dändr,  harjia  (Hedeby)  =  ftarda. 

Zweifelhaft  ist  es,  ob  ^  im  anlaut  der  pronoraina  und  adverbien, 
die  in  den  neueren  nordischen  sprachen  d  bekommen  haben,  p  oder 
d  bezeichnet:  J)ansi  =  /»an»se  oder  dannsi"! 

b.  r  1)  =  /■  (im  anlaut  und  vor  t  sowie  vielleicht  vor  k  und  s) : 
fa{)ur  (Glavendrup)  =  fådur,  aft  (Flemlose  u.  s.  w.)  =  æft;  ulf s? 

2)  =  V  (sonst  im  inlaut):  ulfu  (Helnæs).  Übereinstimmend  mit 
den  altnord.,  den  altschwedischen  und  altdänischen  handschriften 
gebe  ich  auch  diesen  laut  mit  f  wieder. 

Zuweilen  findet  sich  B  in  formen,  die  ursprünglich  f  hatten, 
als  erinnerung  aus  der  zeit,  wo  b  und  f  noch  im  in-  und  auslaut 
223.  unterschieden  wurden:  cisulb,  abt  (der  kleinere  Gunderuper  stein; 
siehe  oben  s.  293  f.  und  vgl.  §  12,  c,  3). 

§  14.  I^  =  r,  Å  =  Ä  werden  ursprünglich  etymologisch 
unterschieden,  wie  oben  (s.  130 f.  und  241  f.)  nachgewiesen.  Bei- 
spiele: kurmR  kunuka  (der  kleinere  stein  von  JæUinge)  =  GorniR 
konungR,  hairulfa  (Haverslund)  =  Hærnlfii,  kaißulf  acc.  (Kärnbo, 
Södermanland)  =  Gæinulf,  sunaa  und  J)ulaR  gen.  Sgl.  (Snoldelev), 
runaR  (Glavendrup)  =  riiwa/j,  uaRU  plur.  prät.  (Gärdstanga  b)  = 
wdRU  (i«aÄM?),  J)aiRa  gen.  pl.  (öüers)  =  pceiRa;  —  bru{)ur  gen. 
{Helnæs,)  =  brödur ,  faj)ur  acc.  (Glavendrup)  = /affwr.  Mit  einem 
vorhergehenden  r  verschmilzt  die  nominativendung  n  zu  rr,  ge- 
schrieben R:  J)ur  (Glavendrup,  Virring)  :=  Z>drr  (dagegen  Å  =  ä/j: 
quaiR  Helnæs,  QskaiR  bruchstück  von  Arhus,   biarngaiR  Simbris). 

§  15.  Frühzeitig  beginnt  jedoch  die  ursprüngliche 
regel  für   den  gebrauch  von   R  und  A  zu  schwanken: 

Die  älteste  abweichung  besteht  darin,  dafs  Å  durch  anal  o  gie  R 
in  einzelnen  präpositionen  und  nominativen  verdrängen  kann,  wo  es 
bereits  früh  alleinherrschend  gewerden  ist:  aftiR  u.  s.  w.,  fa|)iR 
(Strö),  bru{)iR  (Dybeck),  tutiR  (Skærn),  s ustia  (Tryggevælde) =/«<!««, 
brödiR,  döttiR,  systiR  neben  den  häufig  vorkommenden  accusativformen 
fa![)ur,   muj)ur,   bruj)ur. 

Vor  dem  jähre  900  wird  umgekehrt  Å  durch  K  verdrängt,  wenn  ein 
dental  vorhergeht:  haraltr  kunukR  (der  gröisere  stein  von  JæUinge) 


VI.    DIE  ÄLTESTEIV  ülü.  RUiNENDENKMÄLER  MIT  D.  KÜRZERE^  RCMENREIHE.       333 

=  Haraldr  konunga  statt  HaraldR,  batri  (Tryggevælde)  =  ftcelri  für 
bætRt. 

Mit  ausnähme  dieser  fälle ,  die  oben  s  296  ff.  ausführlicher 
besprochen  sind,  finden  wir  erst  in  der  2.  hälfte  des  11.  jhdts 
häufig  die  alte  regel  für  den  gebrauch  von  1^  und  Å  durchbrochen, 
und  es  endet  ja  damit,  daJfe  das  erstere  zeichen  ganz  das  letztere 
verdrängt;  aber  in  einzelnen  gegenden  hielt  man  noch  tief  bis 
ins  13.  jhdt  hinein  an  dem  alten  unterschiede  zwischen  R,  Å  so 
genau  fest,  dafs  man  annehmen  mufs,  dafs  die  beiden  laute  auch 
deutlich  unterschieden  werden  konnten  (dies  ist  z.  b.  der  fall  in 
der  langen  Inschrift  auf  dem  gotiändischen  taufslein  m  Åkirkeby  auf 
Bornholm  aus  der  2.  hälfle  des  13.  jhdts;  vgl.  meine  „Småbidrag  til 
nord.  sproghistorie"  in  „Det  philol.-histor.  Sarafunds  Mindeskrift", 
Kbh.  1879,  s.  193  ff.  =  separatabz.  s.  20  ff.). 

Ganz  vereinzelt  treffen  wir  in  runeninschriften  beide  zeichen 
R  und  >k  ähnlich  der  §  3,  4  besprochenen  Zusammenstellung  der 
öss-  und  ar-rune  neben  einander  gesetzt:  T+l^nRyk  acc.  auf  einem 
steine  von  Upland  (Bautil  no.  238,  Liljegren  no.  599,  R.  Dybeck 
Sverikes  Runurkunder  fol.,  II,  no.  165).  Besonders  hervortretend  ist 
dieser  gebrauch  auf  einem  andern  steine  aus  derselben  gegend  wie 
der  oben  genannte  (Dybeck  ibid.  no.  170),  wo  RA  dreimal  zusammen- 
gestellt ist,  nämlich  in  fturkarR,  fa[)urR,  bru|)urR  (für  älteres 
J)urka(i)R,  fa|)ur,  bru|)ur),  während  R  und  Å  regelmäfsig  in 
-kautr,  {)ur-  und  iftiR  gebraucht  werden. 

Über  y|v  in  der  bedentnog  e,  æ  siehe  oben  s.  244  ff. 

§  16.  Über  ^  Ä,  +  n  (/a),  Y  w,  H  s  und  T  Z  ist  nichts  be- 
sonderes zu  bemerken,  da  diese  zeichen  nur  ihre  eigenen  laute  aus- 
drücken. 

§  17.  Konsonantenverdopplung  wird  in  der  schrift  nicht 
bezeichnet;  wie  das  einfache  vokalzeichen  sowohl  die  kurzen  wie  die 
langen  vokale  ausdrückt,  so  drückt  das  einfache  konsonantenzeichen 
sowohl  die  einfachen  wie  die  doppelten  konsonanten  aus:  stain 
nom.  (Kallerup  u.  s.  w.)  und  stain  acc.  (Helnæs  u.  s.  w.)  =  sfæin» 
und  stcein,  sati  und  suti  (Glavendrup)  =  sofft'  und  Söti,  futiR 
(Tryggevælde)  = /«rff//ij,  ala  acc.  Sgl.  fem.  (JæUinge)  und  ala  acc. 
Sgl.  masc.  (Glavendrup)  =  alla  und  Ala.  —  Zuweilen  wird  ein- 
faches konsonantzeichen  auch  in  solchen  fällen  geschrieben,    wo  ein 


334  AISHANG. 

wort  mit  einem  konsonanten  schliefst  und  das  folgende  mit  dem- 
selben laute  beginnt:  kunualtstain  (Snoldelev)  =  kunualts  stain; 
aber  gewöhnlich  ulfs  sati  (Tryggevælde),  stain  nuRa  (Helnæs). 

Dafs  sowohl  die  länge  der  vokale  wie  die  der  konsonanten  un- 
bezeichnet  gelassen  wird ,  kann  natürlich  oft  veranlassung  zur  Zwei- 
deutigkeit geben:  nie}!  ala  skibara  auf  dem  bornholmischen  steine 
in  Ny  Larsker,  das  man  in  der  bedeulung  med  alla  skipara  genom- 
men hat,  mufs  med  Ala  skipara  erklärt  werden;  der  name  mani 
kann   sowohl  Mdni  wie  Manni  gelesen  werden  u.  s.  w. 

§  18.  a.  Vor  K,  T,  ^  wird  der  nasal  so  häufig  weggelassen, 
dafs  diese  Schreibweise  in  den  älteren  Inschriften  als  regel  zu  be- 
trachten ist: 

y  =  tdg:  kunukR  {Jæuinge)  =  konungR,  trutnik  (Læborg) 
=  dröttning,  kiku  (Hällestad  a)  =  gingu. 

T  =  wd:  cjsmut  (Sölvesborg),  ku^umut  (Helnæs)  =  -mund, 
{)urmutR  (Norrenærå)  =  PörmundR  (vgl.  §  12,  b,  2),  buta  acc. 
(Glemminge)  =  hönda;  aber  auch  ganz  ausgeschrieben  kuj)muntr 
{iskiyum)  =  Gudmundr,  bunta  (Krageholm)  =  feönrfa.  Ausnahms- 
weise wird  lanmitr  auf  dem  stein  von  Lundagard  für  das  ge- 
wöhnliche lat-  (l^t-)  oder  lant-  (Iqnt-)  geschrieben;  man  kann 
kaum  annehmen ,  dafs  d  bereits  zu  der  zeit  (ums  jähr  1000)  in 
der  ausspräche  verschwunden  gewesen,  obgleich  wir  im  schonischen 
gesetz  öfter  bei  der  Zusammensetzung  lan-  für  land-  in  den  ältesten 
handschriften  finden, 
s.  224.  $  =  m6:  kubl  (Norrenærå,  Glavendrup,  Jællinge,  der  gröfsere 
stein  von  Sondervissing  und  öfter)  =  kumbl  (wie  auf  dem  kleineren 
stein  von  Sondervissing  und  dem  von  Vedelspang  geschrieben  wird). 

Der  gebrauch  von  1^,  nicht  +,  vor  K,  T,  ^  kann  gerade  dazu 
dienen,  die  auslassung  des  nasals  erkennen  zu  lassen:  l^ki  (Ars) 
=  længi,  sti^tr  {Fiemhse)  =  stændR',  auf  gleiche  weise  würde  das 
wort  lamb  durch  Icjb  ausgedrückt  werden  (vgl.  s.  201). 

b.  Mehr  sporadisch  werden  andere  konsonanten  fortgelassen, 
namentlich  R:  ka{)u  (Bække  a)  für  karj)u  =  gcerdu,  bianaR 
(Grensten)  =  hiarnaR,  ri[)  (Hörning)  ^  risj)i  (vgl.  §  9).  Diese  und 
ähnliche  auslassungen  können  ihren  grund  teils  in  rücksicht  auf 
den  räum,  teils  in  nachlässiger  Schreibung  haben,  können  aber 
auch  auf  wirklicher  ausspräche  beruhen  {biannaR  für  biamaRf).  — 
Besonders  hebe    ich  hervor,  dafs  T  sich  zuweilen   vor  s  fortgelassen 


VI.  DIE  ÄLTESTEN  DAN.  RUNENDENKMÄLER  MIT  D.  KÜRZEREN  RUNENREIHE,   335 

findet,  das  also  in  diesem  falle  in  derselben  bedeulnng  wie  das  alt- 
nordische und  zum  teil  das  altschvvedische  und  altdänische  s  steht 
(vgl.  J.  Hoffory  im  Arkiv  for  nord.  Filologi  II,  s.  79  ff.  =  „Altnord. 
Consonantstudien",  Göttingen  1884,  s.  69  ff.) :  nskaus  (Rönninge) 
=  tjskauts,  .\sg(hils,  harals  (Skærn  b)  =  haralts,  Haralds 
{Haraltst)  —  dagegen  ganz  ausgeschrieben  ruhalts,  kunualts  auf 
dem  steine  von  Snoldelev  (siehe  unten).  Vor  s  ist  t  wohl  auch,  wie 
man  annehmen  mufs,  ausgelassen  in  baistr  (Skivum),  bastr 
(Krageholm)  =  altnord.  hazlr,  h^ztr. 


Nach  dieser  Übersicht  über  die  verschiedene  bedeutung  der  runen- 
zeichen  wenden  wir  uns  zur  deutung  der  kleinen  gruppe  von  däni- 
schen runensteinen,  welche  die  ältesten  denkmäler  im  Norden  mit 
der  kürzeren  runenreihe  enthalten ').  Ihre  zeit  mufs,  wie  früher  be- 
merkt, als  der  anfang  des  9.  jhdts  bestimmt  werden. 

1.    Der  stein  von  Kallenip  (Höjetostrup). 

Gefunden  um  1826  im  kirchspiel  Höjetostrup  (harde  Smörum, 
amt  Kopenhagen),  eine  meile  östlich  von  Roskilde  auf  einem  felde  s.  225. 
zu  Kallerup  in  der  nähe  von  Höjetostrup;  1851  auf  seinem  gegen- 
wärtigen platze  an  der  landstrafse  dicht  beim  Hedehus-kruge  errichtet. 
Er  ist  190  cent.  hoch,  wovon  140  über  der  erde,  110  cent.  breit, 
63  cent.  dick;  die  runen  sind  22  bis  24  cent.  hoch  und  alle  sehr  deut- 
lich. Ein  trennungszeichen  (ein  einfacher  punkt)  findet  sich  nur  hinter 
dem  Worte  stain;  ein  paar  natürliche  Vertiefungen  im  steine  hinter 
der  letzten  rune  (H)  sind  früher  unrichtig  als  2  punkte  aufgefafst. 
Eine  gröfsere  regelmäfsige  Vertiefung  an   der  spitze  der   ersten  rune 


^)  Diese  und  die  übrigen  steine,  die  im  folgenden  gedeutet  werden,  sind 
unter  meiner  leitung  von  professor  J.  Magnus  Petersen  mit  gewohntem 
geschick  gezeichnet  und  chemitypiert.  Ich  habe  sie  selbst  zu  verschiedenen 
Zeiten  alle  genau  untersucht,  und  in  mehreren  punkten  weichen  meine  abbildungen 
daher  von  den  Zeichnungen  bei  Thorsen  und  Stephens  ab.  Mit  ausnähme  der 
hier  wiedergegebenen  Zeichnungen  der  steine  von  JNörrenaera  und  Röaninge,  die 
für  das  von  mir  vorbereitete  werk  über  die  dänischen  runendenkmäler  aus- 
geführt sind,  werden  die  übrigen  hier  mitgeteilten  denkmäler  in  genanntem 
werke  in  bedeutend  gröfserem  mafsstabe  erscheinen ,  als  das  format  hier  ge- 
stattet hat. 


336 


ANHA>G. 


in  der  zweiten  zeile  ist  eine  von  den  bekannten  schalenförmigen  ver- 
liefungen, die  für  älter  als  die  iuschrift  angesehen  werden  müssen. 


å 


Der  stein  von  Kallerup  (Höjetostrup). 

Die  Inschrift,  welche  die  alten  formen  H  und  )|(  für  die  h-  und 

o-rune  gebraucht,  lautet: 

hurnbura 
stain  •  suit)ks 
hurnbura  d.  i.  Hornhora,  genitiv  des  mannsnamens  Hornbori, 
abhängig  von  dem  folgenden  stain.     Vgl.  den  zwergnamen  Hornbori 


VI.  DIE  ÄLTESTEN  DAN.  RUNENDENKMÄLER  MIT  D.  KÜRZEREN  RUNENREIHE.   337 

VQluspa  13  (womit  Bugge  altengl.  hornbora  'horn träger,  comiger'  ver- 
gleicht)^); auch  als  name  eines  hofes  in  Norwegen  kommt  Hornbori 
vor  (P.  A.  Munch,  „Norge  i  Middelalderen"  s.  87   oben). 

In  suijjks  ist  der  vokal  i  zwischen  p  und  k  (vgl.  oben  s.  63) 
sowie  der  nasal  vor  k  weggelassen.  Das  wort  raufs  also  swidings 
gelesen  werden,  was  ich  mit  Bugge  (filol.  tidskr.  VII,  220)  als 
„Svides  söhn  oder  nachkomme"  verstehe,  während  man  es  früher 
als  ein  adjectivum,  abgeleitet  von  svidr  =  sviimr  (also  „des  weisen"), 
auffafste;  aber  der  Übergang  von  nn  zu  p  (4)  ist  von  einem  folgen- 
den r  bedingt  (fornnord.  forml.  §  21,  c;  §  108,  a,  anm.).  Ob  i  in 
der  Wurzelsilbe  von  SmdnigR  kurz  oder  lang  gewesen,  wage  ich  nicht 
zu  entscheiden. 

In  ihrer  alt  dänischen  sprachform  mufs  die  Inschrift  also 
wiedergegeben  werden ; 

Hornbora  stceinn  Swidings. 
d.  h.  „Hornbores  stein,  des  sohnes  Svides". 

Nicht  blofs  durch  die  runenzeichen  H  h  und  5JC  a,  sondern  auch  durch 
die  formel,  die  in  der  Inschrift  gebraucht  wird,  schhefst  sich  der 
stein  von  Kallerup  nahe  an  die  Inschriften  mit  der  längeren  'runen- 
reihe  an;  während  diese  nämlich  sehr  oft  nur  einen  namen  im 
genitiv,  regiert  von  dem  worte  „stein",  enthalten  zu  haben  scheinen, 
einen  Wortlaut,  dem  wir  auch  auf  dem  Räfsaler  steine  (s.  230f.)  be- s.  226. 
gegneten,  so  ist  diese  formel  unter  der  grofsen  menge  inschriften 
mit  der  kürzeren  reihe  nur  von  dem  Kalleruper  und  dem  Snolde- 
lever steine  bekannt,  die  sie  jedoch  beide  ein  wenig  erweitert  haben, 
indem  sie  auch  den  namen  des  vaters  hinzufügen  (vgl.  „Navneordenes 
böjn.  i  ældre  dansk"  s.  46  anm.  und  s.  74  anm.  1). 

2.    Der  stein  von  Snoldelev.  s.  227. 

Gefunden  1768  im  kirchspiel  Snoldelev  (hårde  Tune,  amt  Kopen- 
hagen),  eine  meile  südlich  von  der  stelle,  wo  der  Kalleruper  stein 
gefunden  wurde ;  1812  nach  Kopenhagen  übergeführt,  wo  er  jetzt  in  s.  228. 
der  runenhalle  des  altnordischen  museums  aufgestellt  ist.  Er  ist 
137  cent.  lang,  bis  73  cent.  breit  und  bis  40  cent.  dick;  die  sehr  deut- 
lichen runen  sind  zwischen  12,5  und  4,5  cent.  hoch. 


')  Die  verszählang  weist  hier  und  im  folgenden  auf  Bngges  ausgäbe  hin. 
WIMMEB,  Die  rnnenschrift.  22 


338 


ANHANG. 


Die  Inschrift,  welche  H  für  h  und  sowohl  >((  wie  +  für  a  ge- 
hraucht, ist  vollständig  mit  ausnähme  der  letzten  rune  in  der  zweiten 
zeile  (hinter  H),  wovon   nur   ein  teil  des  linken  nebenstriches  übrig 


Der  steiu  voq  Suoldelev. 


geblieben  ist.  N.  M,  Petersen  hat  sie  richtig  als  m  ergänzt,  und  die 
übrig  gebliebenen  sjjuren  scheinen  sicher  zu  zeigen,  dafs  sie  die  form 
Y  gehabt  hat  (siehe  oben  s.  205).     Wir  lesen  also: 


VI.    DIE  ÄLTESTEN  DÄ>.  RUISENDENKMÄLER  MIT  D.  KÜRZEREN  RDNENREIHE.       339 

kun  I  ualtstain  i  sunaR  " 
ruhalts  i  |)ulaR  i  ^salhauku[m] 

Es  ist  offenbar,  dafs  wir  hier  dieselbe  Verbindung  wie  auf  dem 
Kalleruper  steine  baben,  einen  namen  im  genitiv  abhängig  von  dem 
Worte  stain  und  dahinter  sunaR  als  apposition  zu  dem  namen. 
Aber  kun u alt  ermangelt  des  genitivzeichens,  weil  das  folgende  wort, 
womit  es  ohne  trennungszeichen  zusammengeschrieben  ist,  mit  s  an- 
längt (§  17),  das  hier  bei  der  starken  häufung  von  konsonanten 
leicht  undeutlich  werden  oder  in  der  ausspräche  ganz  fortfallen  konnte; 
wir  müssen  also  kunualts  stain  lesen. 

kunualts  ist  =  Gunnwalds;  das  trennungszeichen,  das  hinter 
kun  steht,  ist  wohl  ein  beweis  dafür,  dafs  man  Gunn-waldR  deuthch 
als  einen  zusammengesetzten  namen  aufgefafst  hat  (vgl.  hiermit  die 
Schreibung  baijiaxbu,  hi|)a:bu  =  Hmdaby  {Hédaby)  auf  dem  Hede- 
byer und  Danevirker  steine,  ub:salum  dat.  pl.  =  Uppsahim  {-salumf) 
auf  dem  einen  Hallestader  steine).  Der  name  Gunnwaldr  ist  nicht  ge- 
wöhnlich in  der  altnordischen  literatur;  er  kommt  jedoch  in  der  Land- 
nämabök  (Isl.  sog.  I,  s.  72)  und  in  norwegischen  Urkunden  vor  (siehe 
das  namenregister  zum  Diplomatarium  Norvegicum  I). 

ruhalts  ist  ungenaue  Schreibung  für  hrualts  d.  i.  Hröalds, 
gen.  von  dem  auch  in  der  altnord.  literatur  bekannten  namen  HröaldR. 
Derselbe  name  kommt  auf  dem  stein  von  Vatn  vor,  geschrieben 
RH5^>j(rT>k  (siehe  oben  s.  225 f.).  Mit  diesem  rhoaltR  und  mit  dem 
ruhalts  des  Steines  von  Snoldelev  kann  die  Schreibung  rhuulfR 
(Helnæs)  für  hruulfR  =  flrdM?/'Ä  und  rhafnuka  (Læborg)  für  hräfn- 
uka  =  Hrafminga  verglichen  werden,  während  andere  steine,  die 
nicht  nur  mit  diesen  gleichzeitig,  sondern  sogar  mit  gröfster  Wahr- 
scheinlichkeit als  von  denselben  personen  herrührend  anzusehen  sind, 
das  h  ganz  auslassen:  ruulf  acc.  (Flemlose),  rafnuka  (Bække  a). 
Man  hat  also  eine  Schwierigkeit  darin  gefunden,  die  lautverbindung 
hr  auszudrücken,  oder  h  ist  vielleicht  schon  auf  dem  wege  gewesen 
in  Dänemark  zu  schwinden  (eine  mittelstufe  zwischen  dem  ursprüng- 
lichen hr  und  dem  späteren  r,  die  möglicherweise  gerade  durch  die 
schwankende  Schreibung  auf  den  genannten  steinen  bezeichnet  wird, 
könnte  das  stimmlose  r  gebildet  haben,  das  ja  gerade  im  neuisländ. 
hr  geschrieben  wird;  vgl.  Hoffory  in  der  Zeitsclir.  f.  vergl.  sprachf. 
XXm,  s.  533 f.). 

|)ulaR  ist   gen.    von  I)u1r,  das  aus  den  Eddagedichten  in  der  s.  229. 

22* 


340 


ANHANG. 


bedeutung    'retlner,    weiser'    bekannt    ist;    davon    das    verbum  pylja 
'reden,  hersagen': 

Vafjjr.  9:  pd  skal  freista, 
hvdrr  fleira  viti, 
gestr  eda  inn  gamli  pulr 
„wer  mehr  weifs,  der  fremde  oder  der  alte  'redner'"; 
Håv.  111:  mal  er  at  pylja 
pular  stöli  d 
„werte  sind  zu  sprechen  auf  dem  rednerstuhl"; 
Håv.  134:  at  hdrum  pul 
hl^pu  aldregi 
„über  den  greisen  redner  lache  du  niemals"; 
Fäfn.  34:  hpfäi  skemra  Uli  kann 
inn  hdra  pul 
fara  til  heljar  hédan 
„um    einen    köpf  kürzer  lasse   er  den    greisen    redner    (hier  fast  = 
'Zauberer')  von  hinnen  zu  Hei  fahren". 

Håv.  142  hat  auch  fimbulpulr,  'der  grofse  redner  (weise)' ;  vgl. 
unten  den  Helnæser  stein  unter  dem  worte  fajii. 

Es  ist  möglich,  dafs  unter  {juIr  auf  dem  Snoldelever  steine  ein 
geistliclier  'redner'  („priester")  gemeint  ist;  aber  wir  vermögen  den 
begriff  des  Wortes  nicbt  näher  festzustellen,  das  auch  an  den  aus 
den  Eddagedichten  angeführten  stellen  sehr  unbestimmt  ist. 

Ein  anderer  zweifei,  der  ebenfalls  immer  unlösbar  sein  wird,  ist 
der,  ob  |)ulaR  hier  in  apposition  zu  kunualt(s)  oder  zu  ruhalts 
steht.  Das  erstere  ist  natürlich  das  wahrscheinlichste,  da  man  den, 
zu  dessen  gedächtnis  das  denkmal  errichtet  wurde,  eher  durch  angäbe 
seiner  eigenen  Stellung  als  der  seines  vaters  näher  bezeichnet  erwartet; 
aber  entscheidend  ist  dies  nicht. 

cj,  Präposition  =  altnord.  d;  hier  als  nasaliertes  d  ausgesprochen, 
salhaukum,  dat.  pl.  von  salhaukaR  d.  i.  SalhåugaR ,  ein  name, 
den  wir  noch  in  der  landstadt  Sallen)  im  kirchspiel  Snoldelev  wiederfinden. 
Auf  altdänisch  lautet  die  inschrift  also: 
s.  230.  Gunnwalds  stæinn,  sunaR  Hröalds, 

pulttR  4  Salhåugum. 
Die  gewöhnliche  altnordische^)  Schriftsprache  würde  dagegen 
haben: 


^)  Ich   behalte    hier   die    gewöhnliche   beneonung   „altnordisch"  für  die  alt- 
norwegisch-isländische   literatursprache,    obwohl    sie  an   und  für  sich  weniger 


VI.    DIE  ÄLTESTEN  DA>-.  RUNENDENKMÄLER  MIT  D.  KÜRZEREN  ROENREIHE.      341 

Gitnnvalds  stetnn,  sonar  Hröalds, 
pular  d  Salhaugum. 
d.  h.  „Gunwalds  stein,  des  sohnes  Roalds,  'redner'  auf  (in)  Saltiaugen 
(Salløv)". 

Die  Übersetzung  ist  absichtlich  ebenso  unbestimmt  gemacht  wie 
die  Inschrift. 

Aüfser  der  inschrift  trägt  der  Snoldelever  stein  einige  symbo- 
lische zeichen  und  figuren :  es  sind  nämlich  auf  der  linken  seite  der  in- 
schrift, in  derselben  tiefe  und  mit  denselben  feinen  linien  wie  diese, 
drei  hörner  eingehauen,  die  in  einander  greifen,  und  darüber  ein  wenig 
weiter  nach  links  ein  „hakenkreuz".  Die  bedeutung  dieser  figuren 
ist  unsicher;  dafs  es  aber  wie  der  Thorshammer  auf  dem  Læborger 
steine  und  wie  die  kreuze  auf  vielen  runensteinen  aus  der  christ- 
lichen zeit  heilige,  religiöse  Symbole  gewesen,  kann  kaum  bezweifelt 
werden.  Sie  müssen  sicher  symbole  für  den  gott  gewesen  sein,  in 
dessen  dienste  der  „redner"  gestanden  hat.  und  man  mufs  dann  wohl 
am  ersten  an  Odin  denken,  da  ja  Thors  eigentümliches  merkmal  der 
hammer  war,  und  da  auch  das  wort  pulR  selbst,  wie  oben  hervorgeho- 
ben, auf  Odin  hinweist. 

3.    Der  stein  von  Helnæs. 

Gefunden  am  18.  märz  1860  auf  der  kleinen  fühnischen  halb- 
insel  Helnæs  (barde  Bäg,  amt  Odense),  südhch  von  Assens.  Der 
stein  wurde  leider  gespalten,  aber  die  meisten  stücke  später  wieder- 
gefunden und  zusammengefügt,  so  dafs  die  inschrift  mit  ausnähme 
der  letzten  runen  in  der  dritten  zeile  vollständig  ist.  Kurze  zeit  nach- 
dem der  stein  entdeckt  war,  wurde  er  von  könig  Friedrich  VII.  unter- 


gläcklich  ist,  und  es  Damentlich  hier  wird,  wo  „altnordisch"  in  gegeasatz  zn 
dem  „altdänisch"  der  runeninschriften  von  nngefahr  800  bis  etwa  zum  jähre  1000 
gestellt  wird,  das  mit  gröfserem  rechte  selber  geradezu  altnordisch  genannt  wer- 
den könnte,  da  die  gemeinnordische  spräche  erst  gegen  das  jähr  1000  in  höherem 
grade  die  Verschiedenheiten  zu  entwickeln  beginnt,  welche  zur  spaltung  in  schwe- 
disch-dänisch und  norwegisch-isländisch  führten.  Da  indessen  die  sprachform  in 
den  ältesten  isländischen  (und  norwegischen)  handschriften  in  allem  wesent- 
lichen dieselbe  ist  wie  die  der  spräche  in  den  runeninschriften  von  800 — 1000 
und  gleichfalls  genau  mit  der  spräche  der  Eddagedichte  und  der  norwegiscH- 
isländischeu  skalden  übereinstimmt,  so  kann  die  benennuog  „altnordisch"  mit 
einem  gewissen  rechte  von  der  in  diesen  handschriften  überlieferten  form  des 
altDorwegisch-isländischen  gebraucht  werden. 


342  ANHANG. 

sucht,  der  ihn  später  dem  altnord.  museum  in  Kopenhagen  schenkte, 
wo  er  jetzt  aufgestellt  ist.  Er  jst  210  cent.  hoch,  bis  100  cent. 
breit,  60  cent.  dick;  die  runen  sind  10,5  bis  13  cent.  hoch. 

Die  inschrift,  welche  die  alten  runenformen  H  =  Ä  und  M  =  m 
(aber  überall  +  =  a)  gebraucht,  entbehrt  im  gegensatz  zum  Kalle- 
s.  231.  ruper  und  Snoldelever  steine  jedes  trennungszeichens;  aber  die  tren- 
nüng  der  worte  bietet  trotzdem  keine  Schwierigkeit,  ausgenommen  am 
Schlüsse  der  unvollständigen  dritten  zeile.  Die  beiden  ersten  Zeilen 
laufen  in  schlangenwindungs-bustrophedon,  die  beiden  letzten  regel- 
mäfsig  von  links  nach  rechts.     Wir  lesen: 

rhuulfR  sati  stain  nuRa 
ku|)i  aft  kuj)umut  bru{)ur 
sunu  sin  truknaj)u  ... 
nualR  fa{)i 

rhuulfR  d.i.  hruulfR,  wie  wir  beim  Snoldelever  steine  bemerk- 
ten, ist  ein  mannsname,  zusammengesetzt  aus  ulfR  'wolf  und  hru  = 
altnord.  hrö-  für  hröä-  (von  hröär  'rühm'),  das  öfters  als  erstes  glied 
in  Personennamen  gebraucht  wird:  Hrödmarr,  Hröägeirr,  Hrödny,  wäh- 
rend es  in  Hröaldr,  Hrömundr  sehr  früh  zu  hrö-  geworden  ist.  Die 
form  hier  hat  also  HröulfR  (für  ürödulfR)  entsprechend  dem  später  ge- 
wöhnlichen Hrölfr  gelautet. 

sati  d.  i.  satti  =  altnord.  setti.  Im  gegensatz  zum  altnorwegisch- 
isländischen  bewahrte  das  altschwedisch-dänische  die  nichtumgelautete 
form  (satti,  plur.  såttu;  siehe  §  6,  c,  3). 

nuRa  wird  durch  seine  Verbindung  mit  dem  folgenden  ku|)i, 
altnord.  godi,  verständlich,  das  auf  Island  den  geistlichen  und  welt- 
lichen hardenvorsteher  (in  Norwegen  hersir)  bezeichnete.  Auf  Island 
kommt  der  titel  godi  zuweilen  in  Verbindung  mit  dem  namen  des 
s.  234.  gottes  vor,  den  der  träger  besonders  verehrte  (Freys  godi),  aber  öfter 
mit  dem  namen  der  gegend  oder  ihrer  bewohner,  deren  „gode"  er  war 
{Tungu  godi,  „gode  zu  Tunga",  Ljösvetninga  godi  u.  s.  w.).  Dem  ent- 
sprechend mufs  nuRa  auch  hier  am  ehesten  als  genitiv  eines  Orts- 
namens nuRifi  oder  nuRaR  aufgefafst  werden,  der  auch  in  Schweden 
(Norir  ==  Nora  in  Upland,  Rydqvist  II,  28P)  und  Norwegen  (^Nörar, 
Munch,  Norge  i  Middelalderen  s.  102^^^)  vorkommt;  aber  es  kann 
natürlich  auch  name  der  bewohner  sein  („Norer";  vgl.  Morir  und 
ähnl.).  Thorsen  (De  danske  Runemindesm.  s.  337  f.  anm.)  fafst  es 
dagegen  als  personennamen  auf  und  setzt  es  in  Verbindung  mit  dem 


VI.    DIE  ÄLTESTEN  DAN.  RUNENDENKMÄLER  MIT  D.  KÜRZEREN  I!L>E>REIHE.       343 


s.  232. 


Der  stein  von  Helnæs. 


344  ANHANG. 

zwergnamen  Nori  (iVön?)  Vpluspä  11,  der  auch  sonst  als  personen- 
iiame  gebraucht  wird.  Es  ist  möghch,  dafs  dieser  name  mit  dem 
Worte  auf  dem  steine  von  Helnæs  verwandt  ist;  aber  es  liegt  kein 
grund  vor,  das  letztere  als  personennamen  („Nores  gode")  aufzufassen 
und  daraus  solche  Schlüsse  zu  ziehen,  wie  Thorsen  gethan  hat. 

Die  Verbindung  nuRa  kul)i  findet  sich  auch  auf  dem  Flemloser 
steine,  wo  nuRa  wie  hier  mit  Å  geschrieben  wird,  was"  also  auf 
eine  form  mit  ursprünglichem  2  deutet.  Mit  nuRa  kuj)i  stimmt  das 
saulua  ku[)i  des  Glavendruper  Steines  (siehe  diesen)  überein. 

aft=  „efter"  'nach';  das  altnordische  hat  im  allgemeinen  eptir 
(eftir),  aber  älter  auch  ept  [eft).  Nach  der  verschiedenen  Schreibung 
des  Wortes  auf  den  runensteinen  ist  es  ohne  zweifei  hier  æft  (auf 
andern  steinen  eft)  ausgesprochen  worden  (vgl.  den  Glavendruper 
stein  unter  auft). 

kul)umut  =  altnord.  Gudmund;  ob  das  letzte  «in  ku{)u-  Schwä- 
chung des  ursprünglichen  a  im  stamme,  was  ich  wegen  des  alters  der 
inschrift  für  wahrscheinlich  halte,  oder  ein  eingeschobener  hülfslaut  ist, 
der  ja  in  den  runeninschriften  öfters  vorkommt,  läfst  sich  nicht  mit 
Sicherheit  entscheiden.  Zweifelhaft  ist  es  auch,  ob  u  in  kuj)-  und  in 
ku{)i  0  oder  m  bezeichnet;  ich  halte  das  erstere  für  das  wahrscheinlichste. 

bruj)ur  gen.  ==  bröäur. 

sunu  ist  ein  alter  accusativ  sgl.  (für  das  später  gewöhnliche 
sun)  mit  bewahrtem  Stammauslaut,  der  sich  am  längsten  in  den 
M-stämmen  erhielt  (Navneord,  böjn.  i  ældre  dansk  §  38;  Den  histor. 
sprogforskn.  og  modersmålet  s.  26  ff.  und  öfter);  dagegen  fehlt  der 
auslaut  auf  dem  Helnæser  steine  in  stain,ku|)umut,  sin  (=sinn). 
s.  235.  truknal)u    steht    unzweifelhaft    auf   dem    steine,    obgleich   der 

unterste  teil  der  beiden  letzten  runen  (J>n)  mit  dem  abgeschlagenen 
stücke  des  Steines  verschwunden  ist.  Hinter  n  sieht  man  noch 
deuthch  die  spitze  von  zwei  geraden  strichen,  so  nahe  bei  einander, 
dafs  sie  am  ehesten  ein  H  von  derselben  form  wie  in  rhuulfR  ge- 
bildet zu  haben  scheinen.  Rafn  und  nach  ihm  Stephens  haben 
truknaj)u  han  (H++)  gelesen  und  truknaj)u  als  „eine  ältere  form 
anstatt  trukna{)i"  erklärt;  da  man  indessen  weder  in  alter  noch  in 
■neuer  zeit  druknadu  für  -i  gesagt  hat,  so  müfste  R ,  wenn  diese  lesung 
richtig  wäre,  natürlich  ein  fehler  für  I  sein,  was  wir  in  dieser  in- 
schrift anzunehmen  nicht  berechtigt  sind  (die  s ati  =  satti  und  faj)i 
=z  fddi  hat).  Thorsen  liest  dagegen  trug  nafju,  das  er  auf  islän- 
disch   durch    dreng   nddu    wiedergibt    (De    danske  Runemindesm.  I, 


VI,  DIE  ÄLTESTEN  DAN.  RÜNENDENKMÄLER  MIT  D.  KÜRZEREN  RUNENREIHE.   345 

s.  337  anm.);  aber  die  bedeutung  hiervon  ist  mir  ganz  unverständ- 
lich, und  dreng  könnte  selbstverständlich  hier  nicht  mit  n  geschrie- 
ben werden.  Die  bisher  gegebenen  erklärungen  sind  also  zu  ver- 
werfen, und  mit  Sicherheit  lälst  sich  diese  zeile  natürlich  nicht  er- 
gänzen. Ich  habe  mir  gedacht,  dafs  dort  mit  einem  ausdruck,  der 
von  andern  runensteinen  her  bekannt  ist,  haÜR  uti,  „die  männer 
(er  und  sein  gefolge)  ertranken  draufsen  (auf  dem  meere)"  gestanden 
haben  kann. 

^uaiR  d.  i.  J^wætRR  (bezüghch  des  rh  siehe  §  14)  ist  ein  sehr 
seltener  name,  der  sich  jedoch  in  der  „Gutasaga"  c.  2  in  der  form 
Atoair  {awair  strahain  af  alfha  socn)  wiederfindet.  Der  name  ist 
ohne  zweifei  identisch  mit  dem  ahd.  Anagér,  welches  das  Å  erklärt, 
da  r  in  ger,  altnord.  geirr,  aus  urspr.  z  entstanden  ist  (daher  auch  in 
den  runeninschriften  regelmäfsig  kaiR-  =  gæiR-  und  -kaifi  nom. 
und  acc.  ^^  -gcetRR,  -gæin);  ^uaiR  geht  wohl  am  ehesten  von  einer 
grundform  anagicaiRaR  aus  (vgl.  ßugge  und  Noreen  im  Ärkiv  f.  nord. 
Filol.  II,  s.  224,  III,  s.  29  anm.  1).  Die  entsprechende  altnord.  form 
würde  wohl  Aveirr  lauten. 

fa[)i  =  altnord.  fdäi  von  fä,  das  gerade  von  „runenstaben"  in 
den  Hävamäl  v.  142  gebraucht  wird: 

rünar  munt  pii  fmna 

ok  rddna  stafi, 

mjgk  störa  stafi, 

mjpk  stinna  stafi, 

er  fdäi  fimhilpulr 

ok  geräu  ginnregin 

ok  reist  Hroptr  rggna 
„runen  sollst  du  finden  und  gedeutete  ('erratene')  släbe,   sehr  grofse 
Stäbe,    sehr  starke  stäbe,  die  der  grofse  redner  (weise)  'malte',    und 
die    hohen    mächte   verfertigten,    und    gott  Odin  ritzte".     Gleichfalls 
heifst  es  Hävamäl  v.  157: 

sva  ek  rist 

ok  i  rümim  fdk 
„so  ritze  ich  und  male  ich  in  runen." 

Auch  auf  den  runensteinen  kommt  das  wort,  wennschon  selten,  s.  236. 
sowohl    alleinstehend    wie    in    Verbindung    mit  „runen"  und  „stein" 
vor:    fa|)i    fa{)iR    aft    faiki^n   sunu  (der  Röker  stein;  Navneord, 
böjn.  i  ældre  dansk  s.  75);    faj)i   runaR   J)isaR,    faj)i  stain  J)ina 
(auf   steinen  aus  Helsingland,    Liljegren  no.  1065,  1067,  1071).     In 


346  ANHANG. 

derselben  bedeutung  wie  faj)i  haben  die  runensteine  auch  marka{)i 
(„zeichnete")  allein  oder  in  Verbindung  mit  runan  und  stain  (vgl. 
Rafn  in  der  Antiquar.  Tidsskr.  1858—60,  s.  187). 

Im  spateren  altnordischen  wird  fd  als  a-stamm  flectiert  (forn- 
nord.  forml.  §  152);  dafs  es  aber  ursprünglich  ja-stamm  gewesen 
(entsprechend  dem  ahd.  féhen,  féhian),  zeigt  das  prät.  faihido 
(„ich  ritzte")  auf  dem  Einanger  steine  mit  den  älteren  runen  (siehe 
ßugge,  To  nyfundne  norske  Rune-Indskrifter  fra  den  ældre  Jærnalder, 
s.  18  ff.).  Die  älteste  flexion  ist  also  faihjan,  faihiäo  gewesen;  später 
fæja,  fdäa  und  endlich  fd,  fdäa  (vgl.  fornnord.  forml.  §  148  mit 
anm.  2  und  das  Verhältnis  zwischen  altnord.  strd,  strdda  und  got. 
straujan,  strawida;  siehe  jetzt  auch  Burg  s.  136).  Ob  der  infinitiv  zur 
zeit  des  Helnæser  Steines  fæja  oder  fd  gelautet  hat,  ist  ungewifs  (vgl. 
jedoch  unten  beim  Flemloser  steine). 
Die  ganze  Inschrift  lautet  also: 

HröulfR  satti  stæin,  NÖRa-goäi,  æft 

Goäumund   bröäur-sunu  sinn;    druknadu  h[aliR  üti]. 

j^wceiRR  fddi. 

Das  gewöhnliche  altnordische  würde  dagegen  haben: 

Hrölfr  setti  stein,  Nöra-godi,  eptir  (ept) 

Gudmund  hrödur-son  sinn;  druknadu  h[alir  üti]. 

*Aveirr  fddi. 
d.  h.    „Rolf  Noregode   setzte   (diesen)   stein   nach  Gudmund,    seinem 
bruderssohne;  [er  und  seine  mannen]  ertranken  [auf  dem  meere]. 
Aweir  schmückte  (den  stein  oder  ritzte  die  runen)". 
Die  Wortstellung  im  anfang  der  inschrift  („Rolf  setzte  den  stein, 
Noregode"  statt  „Rolf  Noregode  setzte  den  stein")    ist  auch  von  an- 
dern   runensteinen    her    bekannt    (vgl.  z,  b.  dem  gröfseren  Skærner 
stein,  dem  Sondervissinger  stein  oben  s.  245;  der  Hedebyer  stein  be- 
s.  237.  ginnt  |)urlf  risjii  stin  Jiqnsi  himj)igi  suins  eftiR  erik  filaga 
sin.    Dagegen  hat  z.  b.  der  Tryggevælder  stein  die  gewöhnliche  Wort- 
stellung). 

Während  wir  also  auf  dem  Helnæser  steine  noch  H  und  M  in  den 
alten  formen  haben,  ist  +  überall  das  zeichen  für  a,  wogegen  der 
Kalleruper  stein  >|c  und  der  Snoldelever  beide  formen  gebraucht.  Dafs 
es  jedoch  zufällig  ist,  dafs  sich  nur  +  auf  dem  Helnæser  steine 
findet,  und  dafs  >|<  gewifs  nicht  blofs  noch  in  dieser  gegend,  sondern 
sogar  von  demselben  runenritzer  gebraucht  wurde,  dessen  name  auf 
dem  Helnæser  steine  steht,  zeigt 


VI.    DIE  ALTESTEN  DAN.  RüNENDENKMÄLER  MIT  D.  KÜRZEREN  RUNENREIHE.      347 

4.   Der  stein  von  Flemløse. 

Aus  der  gegend  von  Assens,  wie  der  Helnæser  stein;  jetzt  zu 
Jægerspris,  wohin  könig  Friedrich  VII.  ihn  versetzen  liefs.  Vor  vielen 
Jahren  ist  der  stein  gespalten  worden,  wodurch  ungefähr  die  hälfte 
verloren  gegangen  ist;  aber  er  war  ganz  zu  Worms  zeit,  der  ihn 
mit  verschiedenen  Veränderungen  in  der  inschrift  wiedergegeben  hat, 
worüber  er  jedoch  zum  teil  rechenschaft  ablegt  (Danicorum  monumen- 
torum  libri  VI,  1643  fol.,  s.  246  f.).  Der  stein  befand  sich  damals 
auf  dem  Flemloser  kirchhof,  wohin  er  von  einem  hügel  in  der  nähe 
übergeführt  war.  Aufser  Worms  abbildung  findet  sich  eine  Zeichnung 
des  Steines  von  prof.  N.  Haven  (t  1777)  im  archiv  des  altnordischen 
museums  zu  Kopenhagen  und  zusammen  damit  eine  dritte  (etwas  ältere) 
Zeichnung  von  Wichmand,  pfarrer  zu  Flemløse,  wo  jedoch  nur  die  drei 
ersten  zeilen  abgebildet  sind,  da  die  vierte  wahrscheinlich  von  der  erde 
verborgen  wurde;  Worm  und  Haven  haben  auch  die  vierte  reihe. 

Das  erhaltene  stück  des  Steines,  welches  glücklicherweise  den 
gröfsten  teil  der  inschrift  enthält,  ist  184  cent.  hoch,  bis  zu  53  cent. 
breit  und  63  cent.  dick. 

Wenn  wir  dasjenige-,  welches  mit  hülfe  der  alten  Zeichnungen, 
namentlich  der  von  Haven,  ergänzt  werden  kann,  in  klammern  setzen, 
so  hat  die  inschrift  ursprünglich  gelautet: 

A+Knt>IHnnHn[+IA  +rtlÅ] 

Die  drei  ersten  zeilen  sind  sicher  auf  grund  des  Steines  und  der  s.  238. 
Zeichnungen  und  müssen  gelesen  werden: 
aft  ruulf  stfjtR 
(st)ain  sasi  is  uas  nu- 
Ra  ku|)i  satu  su(niR  aftiR) 
Mehrere  von  diesen  formen  kennen  wir  vom  Helnæser  steine: 
aft  präp.  mit  dem  acc.  wie  auf  dem  Helnæser  steine,  aber  dort 
mit  +,  hier  mit  jjc  geschrieben. 

ruulf  d.  i.  Röulf  für  Hröitlf  (auf  dem  Helnæser  steine  im  nom. 
rhuulfR  geschrieben). 

stqtR  ist  die  3.  pers.  sgl.  ind.  präs.  von  standa;  t  drückt  nd 
aus,  und  die  auslassung  des  nasals  ist  gerade  durch  ^  bezeichnet; 
dafs  der  umlaut  in  dieser  form    für  den  Flemljaser   stein  vorauszu- 


348 


ANHANG. 


s.  233. 


Der  stein  von  Flemløse. 


VI.    DIE  ÄLTESTEN  DAN.  RONENDE>KMÄLER  MIT  D.  KÜRZEREN  RUNENREIHE.      349 

setzen  ist,  und  dafs  wir  also  stqndR,  nicht  stqndii,  lesen  müssen, 
halte  ich  für  unzweifelhaft.  Die  endung  >k  ä  in  der  3.  pers.  ist 
wichtig  in  sprachgeschichtlicher  beziehung,  da  sie  zeigt,  dafs  das  ur- 
sprüngliche d  oder  p  (got.  standtp)  frühzeitig  im  nordischen  aufgegeben 
ist  und  durch  das  aus  z  entwickelte  r  der  2.  pers.  ersetzt  wurde. 

sasi,  die  ursprüngliche  form  des  pronomen  demonstr,  (zu- 
sammengesetzt aus  sa  und  dem  unflectierbaren  -si],  wofür  später 
pessi  eintrat.  Ob  a  damals  in  sa,  sasi  lang  gewesen,  ist  vielleicht 
zweifelhaft. 

is  d.  i.  es,  pron.  rel.  =  altnord.  es,  jünger  er  (altdänisch  cpr 
neben  dem  jüngeren  thcer). 

uas  d.  i.  toas,  prater,  von  wesa  (jünger  toera)  ^  altnord.  vas, 
jünger  var.  In  den  formen  von  tcesa  und  in  den  andern  fällen,  wo 
r  erst  spät  durch  analogie  s  verdrängt  hat,  war  dieses  natürhch  von 
dem  stimmhaften  s  (2)  in  flexionsendungen  u.  s.  w.  verschieden,  das 
bereits  in  den  ältesten  inschriften  zu  r  geworden  ist.  Neben  uas 
finden  wir  in  runeninschriften  ungefähr  vom  jähre  1000  auch  häufig 
uaR  in  analogie  mit  dem  plur.  uaRU. 

nuRa-ku|)i  siehe  den  Helnæser  stein. 

satu  am  ehesten  =  sa^/u  (siehe  den  Helnæser  stein). 

suniR  nom.  pl.  d.i.  sj//hä  =  altnord.  synir. 

aftiR=  altnord.  eptir  (eftir),  dän.  efter,  die  längere  form,  während 
wir  im  anfang  der  Inschrift  æft  haben;  aber  dort  ist  es  mit  dem 
accusativ  verbunden,  während  das  regierte  wort  {fåd^lr  sinn  oder 
kann)  hier  ausgelassen  ist,  weswegen  vielleicht  gerade  die  längere  s.  239. 
form  absichtlich  gewählt  wurde.  An  der  lesung  dürfen  wir  wegen 
der  Übereinstimmung  zwischen  allen  drei  alten  abbildungen  nicht 
zweifeln,  obgleich  jetzt  nur  satu  s  und  der  gröfste  teil  von  u  sich 
auf  dem  steipe  findet,  während  das  folgende  abgeschlagen  ist  Trotz- 
dem R  in  æftiR  nicht  aus  älterem  s  entstanden  ist,  hat  es  in  dieser 
und  ein  paar  ähnlichen  formen  bereits  in  den  inschriften  mit  den 
älteren  runen  das  r  verdrängt  (siehe  'Anhang'  IV). 

Aufser  der  hier  gegebenen  deutung  der  letzten  worte  gibt  es 
indes  eine  andere  möglichkeit,  die  ich  zwar  nicht  wahrscheinhch  finde, 
die  wir  aber  doch  besprechen  müssen,  da  sie  sprachlich  ebenso  richtig 
wäre  wie  diejenige,  welche  wir  oben  vorgebracht  haben.  Wenn  wir 
nämlich  satu  als  prät.  von  sitja,  nicht  von  sæt  ja,  fassen,  und  also 
satu  lesen,  so  müTsten  die  worte  satu  syntR  cpfltR  bedeuten:  „die  söhne 
blieben  zurück,  safsen  einsam  und  verlassen"  (vgl.  altnord.  süja  eptir). 


350 


ANHANG. 


Der  jetzt  behandelte  teil  der  inscbrift  hat  also  gelautet: 
Æft  Hröiilf  std^ndn  stæinn  sdsi,  es  was 
NÖRü-godi;  sättu  [satu]  synia  ceftiR. 

In  gewöhnlicher  altnordischer  sprachform: 

Eptir  (ept)  Hrölf  stendr  steinn  pesst,  er  (es)  var  (vas) 
Nöra-godi;  settu  [sgtu]  synir  eptir. 

d.  h.  „Nach  Rolf  sieht  dieser  stein,  der  Noregode  war;  es  setzten 
(ihn)  seine  söhne  nach  (ihm)  [oder:  es  blieben  seine  söhne  (einsam 
trauernd)  zurück]". 

Wir  finden  auf  diesem  steine  )j<  viermal  und  +  dreimal  in  den 
hier  gedeuteten  Zeilen  und  wie  auf  dem  Snoldelever  steine  >|c  am  anfang 
und  +  am  schlufs  der  Inschrift,  was  jedoch  für  einen  reinen  zufall 
zu  halten  ist.  Es  sieht  fast  so  aus,  als  ob  sich  die  runeiiritzer  am 
schlufs  die  arbeil  durch  anwendung  der  einfacheren  form  ein  wenig 
halten  erleichtern  wollen.  In  der  vierten  zeile  auf  dem  Flemloser 
steine  begegnen  wir  jedoch  wieder  beiden  zeichen. 

Durch  den  gebrauch  des  >j(  weicht  diese  Inschrift  also  von  der 
s.  240.  des  Helnæser  Steines  ab;  aber  im  übrigen  zeigt  sich  doch  eine  er- 
staunliche ähnlichkeit  zwischen  beiden  in  Inhalt  wie  in  äufserer  form. 
Beide  Inschriften  sprechen  von  einem  NÖRagodi  mit  demselben  namen, 
der  freihch  auf  dem  Helnæser  steine  rhuulfa  und  hier  ruulfR 
ohne  h  geschrieben  wird,  was  aber  nicht  merkwürdiger  ist,  als  dafs 
Hrafnunga  Töfi  („Tofe  vom' Rafnungengeschlechte")  auf  dem  Læ- 
borger  steine  rhafn  ukatufi,  aber  auf  dem  Bækker  steine  rafnuka: 
tufi  geschrieben  wird.  Der  Helnæser  stein  wurde  von  dem  Nore- 
.  goden  „Hröulf"  nach  seinem  brudersohn  errichtet,  der  Flemloser 
stein  steht  nach  dem  Noregoden  „Röulf".  Wenn  hierzu  noch  kommt, 
dafs  beide  steine  nach  runen-  und  sprachformen  notwendig  derselben 
zeit  (dem  anfang  des  9.  jhdts)  angehöuen  müssen,  und  dafs  sie  in 
derselben  gegend  gefunden  sind,  so  liegt  der  schlufs  nahe,  dafs  es 
auch  derselbe  mann  ist,  den  wir  auf  beiden  erwähnt  finden.  In  diesem 
falle  ist  also  der  Flemloser  stein  „nach  Rolf"  etwas  jünger  als  der  Hel- 
næser stein,  welcher  von  ihm  errichtet  wurde.  Diese  vermutung  wird 
auch  durch  die  ganz  übereinstimmende  äufsere  form  beider  Inschriften 
bestätigt:  drei  reihen  ohne  trennungszeichen,  die  sich  auf  dieselbe 
weise  gegen  einander  wenden,  und  endlich  eine  vierte  zeile,  die  auf 
beiden  steinen  den  namen  des  runenritzers  enthalten  haben  mufs. 
Leider  fehlt  diese   zeile  jetzt  auf  dem  Flemloser  steine,  und  gerade 


VI.  DIE  ÄLTESTEN  DAN.  RUKENDENKMÄLER  MIT  D.  KÜRZEREN  RUNENREIHE.   351 

hier  stimmen  Worms  und  Havens  Zeichnungen  nicht  mit  einander 
überein.     Worm  hat  nämlich: 

ohne  eine  bemerkiing  darüber,  dafs  er  berichtigungen  in  dieser  zeile 
vorgenommen  habe.     Dagegen  hat  Havens  Zeichnung: 

und  er  bemerkt  ausdrücklich,  dafs  nicht  P'-t'+l^lÅ  wie  bei  Worm  auf 
dem  steine  stände.  Es  ist  klar,  dafs  wir  das  letzte  Å  auf  Worms 
Zeichnung  seiner  eigenen  oder  seines  Zeichners  berichtigung  verdanken, 
da  er  den  stein  von  den  söhnen  nach  ihrem  ,, vater  Fuhir"  errichtet 
sein  lassen  wollte. 

Was  nun  Havens  Zeichnung  anbelangt,  so  stimmt  sie  aller- 
dings, wo  wir  sie  kontrollieren  können,  mit  dem  steine  überein,  aber 
doch  so,  dafs  die  runenformen  keineswegs  genau  nachgebildet  sind, 
und  die  einzelnen  zeichen  stehen  auch  keineswegs  so  unter  einander,  s.  241. 
wie  auf  dem  steine  selbst.  Während  -f'P'TIÅ  am  ende  der  dritten 
zeile  bei  Worm  sich  dicht  an  das  vorhergehende  wort  anschliefst, 
ist  es  bei  Haven  davon  geschieden,  ebenso  wie  bei  ihm  die  beiden 
Worte  in  der  letzten  zeile  getrennt,  bei  Worm  aber  zusammenge- 
schrieben sind.  Wer  hier  recht  hat,  läfst  sich  nicht  entscheiden; 
wir  würden  natürlich  alle  worte  zusammengeschrieben  erwarten;  aber 
Havens  Zeichnung  macht  den  eindruck,  dafs  ein  aller  bruch  im  steine 
die  trennung  veranlafst  haben  könnte.  Da  Haven  ausdrücklich  her- 
vorhebt, dafs  die  vierte  zeile  viel  undeutlicher  sei  als  die  andern,  so 
dürfen  wir  nicht  für  ausgemacht  halten,  dafs  es  ihm  geglückt  ist, 
diese  zeile  genau  wiederzugeben;  hiergegen  zeugt  aufs  bestimmteste 
die  ganz  alleinstehende  form,  welche  die  letzte  rune  auf  seiner  Zeich- 
nung hat;  Stephens  nimmt  sie  als  J:,  das  „aus  mangel  an  räum"  statt 
^  gebraucht -sein  sollte,  und  er  Hest  faa|)o,  worin  er  „eine  ältere 
form  für  faaj)i"  findet  (vgl.  trukna{)u  auf  dem  Helnæser  steine). 
Diese  erklärung  ist  natürlich  zu  verwerfen,  teils  weil  die  3.  pers.  sgl. 
niemals  fajju,  fa{)o  für  fapi  gelautet  hat,  teils  weil  f^  zur  zeit  des 
Flemloser  Steines  nicht  als  zeichen  für  o  (w)  gebraucht  werden 
konnte,  sondern  das  „nasalierte  a"  ausdrückte,  das  hier  ebenfalls 
unrichtig  sein  würde.  Es  geht  deshalb  nicht  an,  das  ungewöhnliche 
zeichen  bei  Haven  als  eine  form  der  dss-rune  zu  nehmen,  besonders  ' 
da  auch  die  regelmäfsige  form  ^^  in  der  ersten  zeile  steht,  und  für 
dieses  zeichen  würde  auch  nach  Havens  Zeichnung  sehr  gut  am 
schlufs   der  vierten  zeile   platz   gewesen   sein.     Entweder  hat  Haven 


352  ANHANG. 

daher  zufällige  ritzen  im  steine  für  nebenstriche  der  rune  gehalten, 
so  dafs  dort  in  Wirklichkeit  nur  I  gestanden  hat,  wie  bei  Worm, 
oder  der  stein  hat  ein  >j(  gehabt,  wo  die  beistriche  links  vielleicht 
sehr  undeutlich  waren.  Im  ersteren  falle  würden  wir  faaj)i,  3.  pers. 
Sgl.  prät.  wie  auf  dem  Helnæser  steine  erhalten,  im  andern  faa{)a, 
1.  pers.  Sgl.  prät.,  das  gerade  in  den  Inschriften  mit  der  längeren 
runenreihe  oft  gebraucht  wird,  wo  später  die  3.  pers.  allgemein  wurde 
(vgl.  namentlich  das  dagaR  faihido  =  altnord.  Dagr  fdda  des 
Einanger  Steines,  „(Ich)  Tag  ritzte  die  runen").  Hier  tritt  nun  eine 
neue  ähnhchkeit  zwischen  den  steinen  von  Helnæs  und  F'lemløse  her- 
242.  vor,  indem  beide  denselben  selten  vorkommenden  ausdruck  von  dem 
runenritzer  gebrauchen,  der  aus  Dänemark  nur  von  diesen  beiden 
steinen  her  bekannt  ist.  Dafs  der  Helnæser  stein  T+J*!  hat,  während 
das  wort  hier  V^^\>\  (r+'ff'jjc?)  mit  doppeltem  ^  geschrieben  wird, 
ist  natürlich  nur  ein  orthographischer  unterschied;  aber  es  ist  doch 
möglich,  dafs  das  faa|)i  (faajia)  des  Flemloser  Steines  zu  erkennen 
gibt,  dafs  ein  schwaches  a  auf  das  d  folgte  (fdadi),  wodurch  die  form 
zugleich  einen  beweis  dafür  abgeben  würde,  dafs  das  wort  damals  in 
die  o-klasse  übergeführt  war  (vgl.  unter  dem  Helnæser  steine  s.  346). 

Nach  allen  hier  hervorgehobenen  ähnlichkeiten  zwischen  den 
beiden  steinen  trage  ich  auch  kein  bedenken,  den  letzten  schritt  zu 
thun  und  zu  behaupten,  dafs  der  gelinde  gesagt  höchst  sonderbare 
name  l^n>jclÅ  (fuain)  des  runenritzers  eine  falsche  wiedergäbe  an 
stelle  von  f^njjcIA  j|uaiR  ist,  also  demselben  nameh,  der  auf  dem 
Helnæser  steine  F^R+IÅ  mit  +  geschrieben  wird.  Diese  annähme 
kommt  mir  so  wahrscheinlich  vor,  dafs  ich  nicht  den  geringsten 
zweifei  an  ihrer  richtigkeit  hege. 

Die  steine  von  Helnæs  und  Flemløse  sind  also  von  demselben 
manne  geritzt,  und  der  Flemløser  stein  mufs  seinem  Inhalt  zufolge 
etwas  jünger  als  der  Helnæser  sein;  aber  nichts  desto  weniger  hat 
der  runenritzer  auf  dem  älteren  steine  durchgehends  das  jüngere 
zeichen  +  für  a  gebraucht,  während  er  auf  dem  jüngeren  steine  + 
abwechselnd  mit  dem  älteren  >|«  verwendet. 

5.    Der  stein  von  Örja. 

Das  letzte  von  den  denkmälern,  die  wegen  der  runenformen  u.  s.w. 

ganz  unzweifelhaft  derselben  gruppe  wie  die  jetzt  behandelten  4  see- 

ländischen  und  fühnischen  steine  angehören,  ist  der  schonische  stein 

von  Örja,  der  vor  mehreren  jähren  beim  umbau  der  kirche  von  Orja 


VI.  DIE  ÄLTESTEN  DAN.  RUNENDENKMÄLER  MIT  D.  KÜRZEREN  RUNENREIHE.   353 

(bei  Landskrona)  gefunden  wurde.  Er  wurde  von  da  nach  Lund 
gebracht,  in  dessen  neuem  museum  er  jetzt  einen  platz  erhalten  hat; 
ehe  er  noch  hierhin  übergeführt  war,  hatte  ich  gelegenheit,  ihn  zum 
ersten  male  unter  freiem  himmel  auf  meiner  runologischen  reise  in 
Schonen  1876  zu  untersuchen;  später  habe  ich  denselben  öfter  aufs 
neue  besichtigt.  Die  erste  mitteilung  über  den  stein  verdanken  wir 
N.  G.  Bruzelius  in  den  „Samlingar  tili  Skånes  historia,  fornkunskap 
och  beskrifning"  (IV),  Lund  1871,  s.  151,  wo"  er  sich  jedoch  in  ein 
paar  Zeilen  darauf  beschränkt,  denselben  für  so  beschädigt  zu  er- 
klären, dafs  er  nicht  im  stande  sei,  ein  einziges  wort  zu  lesen.  Der 
stein  bat  die  neigung,  sich  in  dünnen  lagen  abzuschälen,  und  ein 
grofser  teil  der  inschrift  ist  dadurch  ganz  verschwunden  und  das 
erhaltene  mehr  oder  weniger  beschädigt.  Indem  ich  mich  bezügUch 
desjenigen  teiles  der  inschrift,  der  zu  verschiedenen  zweifeln  ver- 
anlassung geben  kann,  damit  begnügen  mufs  auf  die  darstellung 
hinzuweisen,  die  in  meinem  runenwerke  erscheinen  wird,  bemerke 
ich  hier  blofs,  dafs  die  beiden  ersten  worte  unzweifelhaft 

d.  i.  stc|tR  aft  lauten,  also  ganz  derselbe  ausdruck,  wie  auf  dem 
stein  von  Flemlose,  und  beide  worte  auf  dieselbe  weise  wie  dort  ge- 
schrieben, speciell  auch  aft  mit  jjc,  was  ja  für  die  altersbestimmung 
der  inschrift  entscheidend  ist.  Die  einzige  abweichung  ist  das 
trennungszeichen  (3  punkte),  während  die  beiden  gleichzeitigen 
fühnischen  steine  kein  solches  gebrauchen  und  von  den  beiden 
seeländischen  der  eine  einen  einzigen  punkt  anwendet,  der  andere 
einen  kleinen  strich ;  aber  3  punkte  finden  sich  gerade  auch  auf  dem 
stein  von  Norrenærå,  den  wir  gleich  hierauf  behandeln. 


Obgleich  die  hier  behandelten  5  steine  samt  dem  oben  (s.  311  f.) 
besprochenen  färeischen  stein  von  Kirkebo  alle  bisher  bekannten 
denkmäler  in  Skandinavien  sind,  auf  denen  wir  ein  paar  der  älteren 
runenformen  zwischen  den  zeichen  der  kürzeren  reihe  finden,  so  ist 
doch  damit  nicht  gesagt,  dafs  kein  anderer  von  unseren  runensteinen 
derselben  zeit  wie  diese  angehören  könne.  Da  der  Snoldelever  stein 
wahrscheinlich  Y  für  m  gebraucht  hat,  und  da  der  Helnæser  stein 
überall,  der  Snoldelever  und  Flemsloser  zum  teil  a  durch  +  aus- 
drücken, so  wird  also  nur  >|(  mit  der  bedeutung  h  für  das  alte  HH 
einen  sicheren  bew  eis  dafür  abgeben ,  dafs  eine  inschrift  jünger  ist  s.  243. 
als  die  hier   genannten.     Wo  das  Ä-zeichen   fehlt,    müssen   uns   die 

WIMMER,  Die  ruDenschrift.  23 


354  ANHANG. 

spräche  und  andere  merkmale  bei  der  Zeitbestimmung  leiten.  Ich 
halle  es  somit  für  höchst  wahrscheinlich,  dafs  der  stein  von  Vold- 
tofte  (Ved tofte),  der  wie  die  steine  von  Helnæs  und  Flemlose 
aus  der  gegend  von  Assens  stammt  (jetzt  zusammen  mit  dem  stein 
von  Flemløse  zu  Jægerspris),  mit  diesen  gleichzeitig  und  ein  denk- 
mal  für  denselben  HröulfR  {RöhI/r)  ist,  der  auf  den  beiden  andern 
steinen  genannt  wird.  Ganz  unrichtig,  mangelhaft  und  irreführend 
sind  nämlich  die  mitteilungen,  die  Stephens  (I,  s.  333  f.)  über  diesen 
stein  und  seine  inschrift  gibt.  Längs  der  einen  kante  des  Steines 
stehen  folgende  runen: 

Die  drittletzte  rune  ist  sicher  H,  dessen  form  noch  deuthch  ver- 
folgt werden  kann,  obgleich  die  spitze  und  der  mittlere  teil  abge- 
blättert sind;  die  vorletzte  rune  ist  ein  sicheres  I  ohne  spur  von 
nebenstrichen;  die  rauheit  des  Steines  hat  Stephens  getäuscht,  so 
dafs  er  ein  T  zu  finden  geglaubt  hat.  Ein  wichtiger  umstand,  den 
weder  Stephens  noch  andere  erwähnt  haben,  ist,  dafs  der  stein  ge- 
spalten worden  ist  (die  grofsen  Sprenglöcher  zeigen  sich  sehr  deutlich), 
so  dafs  derselbe  gar  wohl  ursprünglich  doppelt  so  breit  als  jetzt  ge- 
wesen sein  kann  (auch  die  rückseite  ist  abgespalten,  so  dafs  der  stein 
jetzt  verhältnismäfsig  sehr  dünn  ist).  Die  form  des  Steines  läfst 
keinen  zweifei  darüber,  dafs  er  so  aufgerichtet  gewesen  ist,  dafs  die 
jetzt  erhaltene  inschrift  von  oben  nach  unten  lief;  aber  daraus  folgt 
wiederum  sicher  (siehe  oben  s.  159  f.),  dafs  sich  auf  der  andern,  jetzt 
abgespaltenen  kante  eine  zweite  inschrift  befunden  hat,  welche  die 
entgegengesetzte  richtung  (von  unten  nach  oben)  hatte,  und  dafs  der 
anfang  der  inschrift  eben  dort  gestanden  hat.  Ich  vermute  daher, 
dafs  der  name '  des  toten  links  auf  dem  fehlenden  teile  des  Steines 
zu  lesen  war,  und  dafs  die  rechts  gegenüber  erhaltenen  runen  ruulfR- 
sis  ergänzt  werden  müssen  ruuIfR  s[at]i  s[tain]^),  absichtlich 
so  geschrieben,  um  nicht  diese  zeile  länger  als  die  andere  zu  machen, 
die  den  namen  des  toten  enthielt  (wenn  es  derselbe  k  u [)  u  m  u t  r  war 
wie  auf  dem  steine  von  Helnæs,  so  könnte  dies  wort  ja  gerade  einen 
räum  ausfüllen,  der  den  erhaltenen  runen  entsprach).    Auf  die  gleich- 


*)  Ich  halte  also  weiter  an  der  Vermutung  über  die  bedeutung  dieser  runen 
fest,  die  ich  schon  in  „De  ældste  nord.  runeindskrifter"  (årb.  f.  nord.  oldk.  1867), 
s.  62  und  in  „Professor  G.  Stephens  om  de  ældste  nord.  runeindskrifter"  s.  14 
(==  årb.  f.  nord.  oldk.  1868,  s.  66)  aufgestellt  habe,  lange  bevor  ich  gelegenheit 
gehabt  hatte,  dieses  denkmal  selbst  zu  untersuchen. 


VI.    DIE  ÄLTESTEN  DAN.  RUNEISDEMKMÄLER  HIT  D.  KÜRZEREN  RCNENREIHE.       355 

zeiligkeit  des  Steines  von  Voldtofte  mit  denen  von  Helnæs  und  Flem- 
lese  deuten  bestimmt  dessen  runenformen,  um  nicht  von  dem  namen 
ruulfR  und  dessen  Schreibweise  zu  sprechen.  Habeich  recht  darin, 
ruulfR  sati  stain  zu  lesen,  so  ist  es  ja  auch  gerade  dieselbe  formel, 
womit  der  stein  von  Helnæs  beginnt. 

Auch  aus  Jütland  glaube  ich  ein  oder  ein  paar  gleichzeitige 
denkmäler  anführen  zu  können.  In  der  kirche  zu  Hammel  (in 
der  grafschaft  Frijsenborg)  befindet  sich  ein  bruchstück  eines  runen- 
steines,  bezüglich  dessen  Thorsen  sich  ähnhche  unzuverlässigkeiten  hat 
zu  schulden  kommen  lassen,  wie  Stephens  sich  bezüglich  des  Steines 
von  Voldtofte.  In  „De  danske  Runemindesmærker"  11,^2,  s.  173  teilt 
Thorsen  nämlich  mit,  dafs  „der  stein  als  stufe  im  eingang  zu  einer 
früheren  watfenkammer  liegt",  und  dafs  man  von  der  schrift  jetzt  nur 
„ulfs  s  tin  sieht,  indem  die  fortsetzung  in  die  raauer  hineingeht",  so- 
wie „dafs  das  für  t  gebrauchte  zeichen  nicht  der  alten  buchstabenreihe 
angehört"  (wie  dies  aus  seiner  Zeichnung  II,  1,  no.  64  hervorgeht,  liest 
er  nämlich  1^)).  Alle  diese  bemerkungen  sind  indessen  vollständig 
unrichtig:  Bei  meiner  Untersuchung  des  Steines  im  jähre  1877  zeigte 
sich  nämlich,  dafs  er  nicht  als  stufe  im  eingange  einer  früheren 
Waffenkammer  lag,  sondern  als  sockelstein  in  der  kirche  benutzt  war. 
Zu  diesem  behufe  ist  er  seiner  zeit  gespalten  worden,  so  dafs  nur 
6  runen  von  der  inscbrilt  übrig  gebUeben  sind,  ohne  dafs  irgend  etwas 
durch  die  mauer  verdeckt  ist.  Zugleich  ist  der  stein  auch  etwas 
abgeputzt  und  geglättet  worden,  so  dafs  die  runen  ziemlich  aus- 
geschabt sind,  ohne  dafs  die  lesung  jedoch  an  irgend  einer  stelle 
zweifelhaft  sein  kann.     Dort  steht  nämlich 

mit  T,  nicht  1,  wie  Thorsen  angibt. 

Da  sich  keine  spur  von  runen  auf  dem  nicht  ganz  kleinen  stücke 
des  Steines  vor  ulfs  und  ebenso  wenig  über  oder  unter  dem  erhal- 
tenen teile  der  inschriftzeile  findet,  so  mufs  die  Inschrift  mit  diesem 
Worte  begonnen  haben,  und  sowohl  der  ganze  Charakter  der  runen, 
das  kleine  längliche  trennungszeichen,  wie  die  in  der  Inschrift  ge- 
brauchte formel  machen  es  mir  mehr  als  wahrscheinhch,  dafs  wir 
hier  ein  denkmal  haben,  das  genau  mit  dem  Kalleruper  und  Snolde- 
lever steine  übereinstimmt.     Ich  vermute   daher,  dafs  die  Inschrift 


')  Dafs   diese   form   sich  nicht    in   der  alten   bnchstabenreihe    finde,    ist  ja 
übrigens  ganz  irrig  (siehe  oben  'Anhang'  III). 

23* 


356  ANHANG. 

ulfs  I  stain  gelautet  hat  (mit  +  oder  >j<  als  zeichen  für  die  a-rune), 
wonach  möglicherweise  noch  wie  auf  den  beiden  genannten  wesentlich 
gleichzeitigen  steinen  eine  angäbe  darüber  gefolgt  ist,  wessen  nach- 
komme ulfR  war.  Wir  haben  hier  einen  eklatanten  beweis  dafür, 
wie  notwendig  autopsie  ist,  um  das  alter  eines  denkmals  wie  dieses 
zu  bestimmen;  denn  die  runen  ulfs  st  können  aus  rein  sprachlichen 
gründen  natürlich  ebenso  gut  dem  8.  oder  dem  9.  wie  dem  12.,  ja 
sogar  dem  19.  jhdt  angehören! 

EndHch  nehme  ich  an,  dafs  auch  der  Schleswiger  stein  von  A  r  r  ild, 
wenn  meine  oben  (§  12,  b,  2  schlufs)  ausgesprochene  vermutung  richtig 
ist,  am  nächsten  derselben  zeit  wie  die  jetzt  behandelten  denkmäler 
angehören  mufs  (vgl.  auch  unten  s.  359). 


Während  wir  mit  hülfe  der  runen-  und  sprachformen  u.  s.  w. 
die  zeit  dieser  steine  ungefähr  als  den  anfang  des  9.  jhdts  bestimmen 
können,  so  wird  eine  andere  gröfsere  gruppe  von  runensteinen,  die 
gleichfalls  deutHch  aus  der  heidnischen  zeit  stammen  und  chronologisch 
den  hier  besprochenen  zunächst  folgen,  um  900  etwa  gesetzt  werden 
können.  Die  alten  runenformen  M,  >|<,  H  H  sind  jetzt  ganz  vor  ^  ^ 
(Y),  +,  >|c  gewichen,  und  auch  in  andern  beziehungen  zeigen  sich 
verschiedene  spuren  einer  jüngeren  entwicklungsphase  (Å  wird  hinter 
dental  mit  K  vertauscht;  der  acc.  sgl.  sunu  wird  von  sun  verdrängt). 
Als  beispiele  von  den  denkmälern  aus  dieser  zeit  wollen  wir  "drei 
steine  behandeln,  die  in  enger  Verbindung  mit  einander  zu  stehen 
scheinen,  und  wovon  zwei  durch  die  gröfse  und  den  Inhalt  der  in- 
schriften  zu  den  merkwürdigsten  runendenkmälern  in  ganz  Skandi- 
navien gehören,  nämlich  der  fühnische  stein  von  Glavendrup  und 
der  seeländische  stein  von  Tryggevælde.  Nahe  verwandt  mit  ihnen 
ist  der  fühnische  stein  von  Rönninge. 

In  die  zeit  zwischen  diesen  drei  denkmälern  und  den  eben  be- 
handelten, also  ungefähr  ums  jähr  8*50  (87  5)  ist  ein  denkmal 
aus  Fühnen  zu  setzen,  das  ich  daher  zunächst  besprechen  will,  nämlich 

6.  Der  stein  von  Norrenærå. 
Gefunden  1684  auf  dem  kirchhofe  von  Norrenærå  (harde  Skam, 
amt  Odense),  östhch  von  Bogense,  und  jetzt  im  innern  der  kirche 
eingemauert.  Der  ziemlich  unansehnliche  eiförmige  stein  ist  110  cent. 
lang  und  bis  zu  60  cent.  breit;  aber  die  runen,  die  den  stein  in 
seiner  ganzen  breite  ausfüllen,  sind  sowohl  an  und  für  sich  als  auch 


VI.    DIE  ÄLTESTEN  DAN.  RUISENOENKMÄLER  MIT  D.  KÜRZEREN  RÜNENREIHE.       357 


Der  stein  vou  iNorreoærå. 


358  ANHANG. 

im  Verhältnis  zu  dem  umfange  des  Steines  ungewöhnlich  grofs,  die 
längste  ist  ungefähr  29  cent.  hoch;  gegen  die  spitze  hin  nimmt  die 
gröfse  aus  rücksicht  auf  die  form  des  Steines  ah,  welche  gleichfalls 
die  ungewöhnliche  gestalt  der  letzten  rune  (H)  in  der  inschrift  ver- 
anlafst  hat.  Eine  gröfsere  ahschälung  hat  besonders  die  beiden  ersten 
runen  beschädigt;  aber  ihre  ganze  form  kann  noch  sicher  verfolgt 
werden.  Ein  natürliches  loch  im  steine  vor  dem  ersten  |5  ist  bei 
Thorsen  (De  danske  Runemindesm.  I,  s.  265)  unrichtig  als  ein  ge- 
hauener punkt  aufgefafst;  als  trennungszeichen  werden  in  der  zweiten 
zeile  3  längliche  punkte  gebraucht. 

Die  inschrift  lautet: 

{)urmutR 
nicjut  :   kubls 

JiurmutR  d.  i.  PörmnndR  {§  12,  b,  2).  Wegen  X  siehe  'An- 
hang' IV,  s.  298;  auf  gleiche  weise  hat  der  norwegische  stein  von 
Valdby  (s.  307),  den  ich  für  gleichzeitig  mit  dem  stein  von  Norrenærå 
halte,  A  als  nominativzeichen  hinter  p  bewahrt. 

nicjut  kann  trotz  der  ungewöhnlichen  Schreibung  mit  f^H 
(§  6,  c,  5)  nicht  anders  denn  als  imperativ  des  verbums  niiita  (niata'^) 
i=  isl.  njöta  aufgefafst  werden ;  hier  wie  im  altnord.  mit  dem  gen. 
verbunden:  'gutes  von  etwas  geniefsen'. 

kubls  d.  i.  kumbls  bezeichnet  hier  am  ehesten  „den  grabhügel". 
Über  die  form  und  bedeutung  des  Wortes  vgl.  unten  s.  365. 

Die  altdänische  form  der  inschrift  ist  also  gewesen: 
PörmundR 
niüt  (niat^)  kumbls! 

Das  gewöhnliche  altnordische  würde  haben: 
Pormundr 
nj6t(tu)  kum(b)ls! 
d.  h.  „Thormund,  geniefse  des  hügels!  ruhe  friedlich  im  grabhügel!" 

Der  ganze  Charakter  der  inschrift  (runenformen  u.  s.  w.)  bewogen 
mich  bereits  vor  vielen  jähren  diesen  stein  für  etwas  älter  als  den 
Glavendruper  u.  s.  w.  anzusehen.  Diese  vermutung  ist  später  durch 
meine  beobachtung  über  das  Verhältnis  zwischen  Å  und  R  nach  dentalen 
('Anhang'  IV)  bestätigt  worden,  und  sie  wird  noch  durch  einen  andern 
umstand  weiter  erhärtet.  Die  gröfse  und  form  des  Steines  sowohl 
wie  der  Inhalt  der  inschrift  machen  es  in  hohem  grade  wahrscheinlich, 
dafs  derselbe,  wie  die  oben  (s.  301,  306  ff.)  besprochene,  besonders 
aus   Norwegen    bekannte    reihe    von    denkmälern    aus    der  mittleren 


VI.  DIE  ÄLTESTEN  DAN.  RÜNENDENKMÄLER  MIT  D.  KÜRZEREN  RDNENREIHE.   359 

und  dem  beginn  der  jüngeren  eisenzeit,  in  den  grabliügel  hinein 
gestellt  worden  ist.  Die  umstände,  unter  denen  der  Snold  elever 
stein  gefunden  wurde,  sprechen  in  hohem  mafse  dafür,  dafs  dasselbe 
mit  diesem  der  fall  gewesen,  und  seine  form  erinnert  ja  auch  sehr 
an  die  des  Steines  von  Nörrenserä.  Auch  der  kleine  unansehnliche 
stein  von  Arrild  hat  unzweifelhaft  im  innern  des  grabhügels  ge- 
standen. Dieser  umstand  stützt  somit  noch  weiter  meine  ansieht 
über  das  alter  der  genannten  denkmäler. 

7.   Der  stein  von  Glavendrup. 

Dies  sehr  ansehnliche  denkmal  mit  der  längsten  runeninschrift, 
die  aus  Dänemark  bekannt  ist,  wurde  auf  einem  felde  in  der  land- 
stadt  Glavendrup  im  kirchspiel  Skamby  (barde  Skam.  amt  Odense) 
zwischen  Odense  und  Bogense  gefunden.  Obwohl  man  in  der  gegend 
lange  gewufst  hatte,  dafs  der  stein  eine  Inschrift  trug,  lag  er  doch 
14  jähre  lang  unbeachtet,  bis  er  im  sommer  1806  von  Vedel  Simonsen 
hervorgezogen,  man  darf  wohl  sagen  entdeckt  wurde.  Jetzt  ist  er 
Staatseigentum  und  seit  1864  wieder  auf  dem  hügel  errichtet,  wo  er  s.  246. 
vermuthch  ursprünghch  gestanden  hat.  Seine  ganze  länge  beträgt 
283  cent.,  wovon  ungefähr  ein  drittel  in  der  erde  gestanden  hat  (jetzt 
ragen  173  cent.  über  die  erde  empor):  die  gröfste  breite  ist  157  cent., 
die  kante  mit  der  inschrift  55  cent.  dick;  die  höhe  der  runen  isl,sehr 
verschieden  (die  gröfsten  haben  ungefähr  36  cent.,  die  kleinsten  ungefähr 
10  cent.).  Die  abbildung  gibt  den  stein  seiner  ganzen  form  nach  wieder. 

Die  inschrift,  die  auf  die  beiden  breiten  selten  des  Steines  und 
die  kante  zwischen  beiden  verteilt  ist,  steht  im  ganzen  sehr  klar 
und  deutlich  da.  Fast  alle  worte  werden  von  einander  durch  das 
von  andern  älteren  steinen  (dem  stein  von  Snoldelev  u.  s.  w.) 
her  bekannte  trennungszeichen  i  geschieden,  das  dagegen  nicht  am 
anfang  oder  schlufs  der  Zeilen  gebraucht  wird.  Unter  den  206  runen 
der  inschrift  kommen  alle  zeichen  aus  dem  damals  gebräuchlichen 
runenalphabet  vor,  mit  ausnähme  der  m-rune,  die  ohne  zweifei  die 
form  ^^  wie  auf  den  steinen  von  Norrenærå,  Tryggevælde,  Rön- 
ninge u.  s.  w.  gehabt  haben  würde. 

An  zwei  stellen  findet  sich  ein  leerer  räum  ohne  runen,  näm- 
lich nach  dem  worte  nl+  in  der  letzten  zeile  auf  der  Vorderseite 
und  nach  It'-I'  in  der  schlufszeile  auf  der  kante  (trennungszeichen 
fehlen  daher  hinter  diesen  beiden  worten).    Wegen  alter  bräche  und 


360 


ANHANG. 


S.  244. 


I. 


Der  stein  von  Glavendrup. 


VI.    DIE  ÄLTESTEN  DAN.  RÜNENDENKMÄLER  MIT  D.  KÜRZEREN  RÜNENREIBE.      361 

II.  s.  245. 


362  ANHANG. 

löcher  im  stein  liat  der  rurienritzer  absiclillicli  an  diesen  stellen  den 
platz  offen  gelassen,  so  dafs  die  ganze  inschrift  vollständig  ist. 

Die  inschrift  beginnt  mit  dem  werte  raknhiltr  in  der  2.  zeile 
von  rechts  auf  der  Vorderseite,  und  dieses  wort  zeichnet  sich  durch 
die  gröfse  der  runen  sowohl  wie  durch  den  abstand  zwischen  den 
einzelnen  zeichen  aus,  ohne  zweifei  weil  der  name  auf  diese  weise 
hervorgehoben  werden  sollte.  Die  inschrift  läuft  darauf  bustrophedon, 
so  dafs  die  3.  zeile  von  rechts  auf  die  zweite  folgt,  und  darauf 
die  vierte.  Die  erste  zeile  rechts,  womit  die  inschrift  auf  dieser  seite 
endet,  geht  in  derselben  richlung  wie  die  zweite  und  vierte.  In  der 
schlufszeile  hat  der  runenritzer  aus  mangel  an  räum  das  letzte  wort 
l'H'K+  teilen  müssen,  so  dafs  die  beiden  letzten  runen  umgekehrt 
über  die  3  ersten  gestellt  wurden;  er  hat  vielleicht  nicht  von  anfang 
an  berechnet,  dafs  er  nach  nl+  einen  platz  frei  lassen  wollte; 
aber  der  grofse  rifs  im  steine,  der  über  die  spitze  der  drei  runen  HH' 
läuft  und  sich  darauf  bedeutend  erweitert,  hat  im  verein  mit  den 
vielen  löchern  und  Unebenheiten  hinter  diesem  worte  ihn  bewogen, 
dies  stück  des  Steines  unbenutzt  zu  lassen.  Die  erste  sichere  rune 
hinter  nl+  ist  das  +,  das  sich  gerade  unter  dem  I  von  raknhiltr  be- 
findet; obgleich  sowohl  dieses  +  wie  die  darauf  folgenden  \P  schwach 
hervortreten,  so  können  sie  doch  keine  veranlassung  zu  irgend  welchem 
zweifei  geben,  und  der  folgende  teil  der  inschrift  ist  sehr  gut  er- 
halten. Durch  eine  neue  Untersuchung  derselben,  die  ich  im 
sommer  1879  im  laufe  zweier  tage  unter  den  allergunstigsten  Ver- 
hältnissen vornahm,  so  dafs  alle  zweifei  in  bezug  auf  einzelheiten 
hinsichtlich  der  lesung  befriedigend  gelöst  werden  konnten,  entdeckte 
ich  indessen,  dafs  sich  auch  vor  +  deutliche  spuren  eines  stabes  mit 
nebenstrichen  in  der  mitte  fanden,  die  zeigten,  dafs  hier  ein  )|c  stand 
(auch  auf  meinen  abdrücken  verfolge  ich  mit  Sicherheit  die  ganze  form 
der  rune).  Hier  steht  also  hai{)-,  nicht  aij)-,  wie  ich  in  „Rune- 
skriften" 1874  las.  Aber  ich  bin  noch  vollständig  davon  über- 
zeugt, dafs  zwischen  uia  und  hai|>-  niemals  ein  runenstab  ein- 
gehauen gewesen  ist. 

Die    inschrift    auf  der   rückseite  beginnt  mit  der  zeile,    welche 
am  weitesten  links  steht,  und  läuft  darauf  bustrophedon  mit  ausnähme 
der  letzten  (6.)  zeile,  die  einen  neuen,  selbständigen  satz  enthält, 
s.  247.  Die  inschrift  auf  der  kante,  die  mit  der  zeile  rechts  beginnt  und 

dann  bustrophedon  läuft,  gibt  keinen  anlafs  zum  zvveifel ;  aber  die  2 
Zeilen   haben    wegen  alter  risse  und  Unebenheiten  im   stein,   welche 


TI.    DIE  ÄLTESTEN  DAN.  RCNENDENK HALER  MIT  D.  KÜRZEREN  RI7NENREIHE.      363 

die  Inschrift  soweit  als  möglich  umgeht,  eine  ziemlich  unregelmäfsige 
form  erhalten,  und  ein  gröfserer  spalt  und  Unebenheiten  in  der  letzten 
zeile  hinter  dem  worte  i|)a  haben  hier  wie  auf  der  Vorderseite  ver- 
anlassung zu  einer  leeren  stelle  gegeben. 
Die  ganze  inschrift  lautet: 

I.    raknhil tr  i  sa- 
li I  stain  J)cinsi  i  auft 
ala  I  saulua  ku{)a 
uia      hai|)uiarf)an  {)iakn 
U.    ala  I  suniR  i  kar{)u 

kubl  I  I)ausi  i  aft  fal)ur 
sin  I  auk  i  hc)ns  i  kuna  •  auft 
uar  I  sin  i  in  i  suti  i  raist  i  run- 
aR  I  |)asi  I  aft  i  trutin  i  sin 
|)ur  I  uiki  i  {)asi  ■  runaR 
III.    at  I  rita  ■  sa  i  uar{)i  >  is  i  stain  {)ansi 
ailti  I  i{)a      aft  i  c|nc)n  i  traki 
Wir   besprechen  nur  die  formen,   die   wir  früher  zu  behandeln 
keine  gelegenheit  gehabt  haben: 

raknhiltr  d.  i.  Ragnhüdr,  ein  gewöhnlicher  altnordischer  frauen- 
name.     Über  die  endung  -r  siehe  'Anhang'  IV. 

))^nsi,  acc.  sgl.  masc.  zu  sasi  (Flemlose),  unten  jjansi  ge- 
schrieben, in  beiden  fällen  =  parmsi  (altnord.  pentia).  Für  f)^nsi, 
{)ansi,  das  auf  unsern  runensteinen  sehr  gewöhnlich  ist,  findet  sich 
später  |)insi,  [lainsi,  das  eine  jüngere  ausspräche,  pennsi oder pcpnnsi, 
bezeichnet.  Zweifelhaft  ist,  ob  p  im  anlaut  dieses  wortes  p  oder  d 
ausdrückt. 

auft,  präp.  'nach',  das  später  einmal  auft  und  dreimal  aft  wie 
auf  dem  Helnæser  steine  und  anderwärts  geschrieben  wird.  Die  Schrei- 
bung auft  drückt  wie  uft  øft,  eine  häufige  nebenform  zu  æft,  aus, 
welches  letzlere  aft,  wie  hier,  oder  ift,  aif  t  geschrieben  wird  (§  5,  4). 
ala  acc.  sgl.  von  dem  auch  im  altnord.  bekannten  namen  'Ab'. 
saulua  ku{)a  entspricht  dem  nuRa  kul)i  auf  den  steinen  von  s.  248. 
Helnæs  und  Flemlese,  und  in  saulua  müssen  wir  daher  den  namen 
von  dem  distrikt  des  goden  oder  von  dessen  bewohnern  suchen. 
Einen  diesem  entsprechenden  Ortsnamen  finden  wir  auch  in  Norwegen, 
wo  das  heutige  Selten  im  .sprengel  von  Orland,  ^  meile  von 
Agdenes,  das  altnord.  Sglvi  ist  (Heimskringla  ed.  Unger  s.  76^®—": 
Eirikr  komingr  for  um  velrinn  nordr  ä  Méri  ok  tak  veizlu  i  Sglva 


364 


ANHANG. 


fyrir  innan  Agdanes  =  cod.  Fris.  s.  59  ^^  i  Solva).  Ich  nehme  also 
saulua  hier  als  gen.  Sgl.  des  Ortsnamens  oder  als  gen.  pl.  des  namens 
der  bewohner  („gode  in  Salve"  oder  „gode  der  Sålver"),  aber  vk^eder  mit 
Rafn  (Antiquités  de  TOrient  s.194)  als  namen  von  Ales  hofe,  noch  mit 
Thorsen  als  personennamen  (so  dafs  Ale  „Sålves  gode",  untergeordneter 
amimann,  wäre).  Die  Schreibung  saulua  bezeichnet  den  w-umlaut 
von  a  wie  zuweilen  sonst  auf  den  runensteinen   (§  6,  c,  3). 

Von  den  hierauf  folgenden  worten  in  der  vierten  zeile  uia  hai|i- 
uiar[)an  [)iakn  ist  nur  {)iakn  von  andern  Inschriften  her  bekannt 
=  altnord.  pegn,  'ein  freigeborner  mann'  (über  die  etymologie  siehe 
„Den  histor.  sprogforskning  og  modersmålet"  s.  21  =  årb.  for.  nord. 
oldk.  1868,  s.  277),  auf  den  runensteinen  J)ikn,  |)akn,  fjiakn,  {)aikn 
geschrieben,  welche  formen  alle  die  ausspräche  pegn  {pægn)  aus- 
drücken. Das  wort  war  eine  ehrenbezeichnung  für  einen  mann  (vgl. 
das  davon  gebildete  pegnskapr),  und  wie  es  hier  von  dem  ,, goden" 
Ale  gebraucht  wird,  so  finden  wir  es  in  der  altisl.  literatur  z.  b.  von 
Gudmundr  Höla-bischof  gebraucht  (Gudmundar  drapa  von  Arni  Jonsson, 
abl  1371—79,  v.  13;  ßiskupa  sögur  II,  s.  205).  Das  von  l3iaku 
regierte  uia  fasse  ich  als  gen.  pl.  neutr.,  entsprechend  dem  altnord.  via, 
alldän.  icéa  oder  wia,  von  wé  oder  wi  (altnord.  vé)  'tempel';  wéa  pegn  ist 
dann  dasselbe  wie  norvveg.-isl.  hofgodi  'tempelpriester'.  Dagegen  wage 
ich  nicht  uia  in  der  bedeutung  'der  götter',  d.  h.  als  gen.  eines  plur. 
masc.  weaR  oder  wian  zu  nehmen  (véar  'götter'  in  der  Ilymiskvida 
s.  249.  v.  39  beruht  ohne  zweifei  auf  Verderbnis),  und  noch  weniger  wage  ich 
es  als  gen.  sgl.  entsprechend  dem  altnord.  Véa  von  dem  götternamen 
Vé  für  *  Véi  (fornnord.  formlära  §  65  am  Schlüsse)  aufzufassen. 

haif)uiarl)an  ist  natürlich  adjectivum  im  acc.  sgl.  masc.  zu 
pegn\  während  die  frühere  lesung  aij)uiar|)an  uns  ein  unbekanntes 
wort  gab,  haben  wir  jetzt  ein  wort  bekommen,  dessen  bedeutung  klar 
ist,  und  das  sowohl  im  altschvvedischen  wie  im  altdänischen  nach- 
gewiesen werden  kann:  haij)uiarf)r  d.  i.  hæidwerdr  auf  dem  Glaven- 
druper  steine  stimmt  vollständig  mit  dem  haipverpr  'ruhmvoll'  des 
Gutalag  igripr  hinn  ohaipverpi  'der  unrühmliche,  schändliche  griff' 
23,  4  =  eyn  vnerlich  grif  in  der  alten  deutschen  Übersetzung)  und 
dem  hepiiarpcer  des  schonischen  gesetzes  {hepiiarpe  man  'ein  ange- 
sehener, vornehmer  mann'  5,  28^))  überein,  indem  a  hier  wie  in  andern 


')  In  Anders  Sunesens  alter  lateinischer  paraphrase  des  schouischen  gesetzes 
wird  das  wort  folgendermafsen  erklärt:  „(vir)  diues  et  præpotens,  cui  non  esset 


VI.    DIE  ÄLTESTEN  DAN.  RÜNENDENKMÄLER  MIT  D.  KÜRZEREN  RUNENREIHE.      365 

ähnlichen  fällen  {uara  =vera,  uarpa  =  verda  u.  s.  w.)  einem  altnord. 
e  entspricht.  Dagegen  hat  das  isländische  heidvirdr,  durcli  Vermischung 
mit  virdr,  ptcp.  prät.  von  virda.  Auf  dem  Glavendruper  steine  steht 
das  wort  in  seiner  ursprünglichen  bedeutung  'ehrwürdig' : 'der  tempel 
ehrwürdiger  degen'  d.  h.  'der  hochgeehrte  (hochangesehene,  "hoch- 
ehrwürdige")  tempel  Vorsteher'. 

kar{)u  =  gærdu,  kaum  gerdu  (§  1,  2). 

kubl  ist,  wie  das  folgende  J)ausi  zeigt,  acc.  pl.  neutr.  Das 
wort  kommt  öfters  in  dieser  Verbindung  auf  unsern  runensteinen  vor, 
im  allgemeinen  wie  hier  mit  auslassung  des  nasals  geschrieben, 
seltener  kumbl.  Das  altnorwegisch-isl.  braucht  selten  kumbl  (kuml) 
neutr.  —  und  sowohl  im  Sgl.  wie  im  plur.  —  in  der  bedeutung 
'grabhügel'.  In  den  runeninschriften  hat  das  wort  oft  eine  etwas 
weitere  bedeutung,  so  dafs  es  das  ganze  denkmal  bezeichnet  (nament- 
lich hügel  und  stein  zusammen);  wo  es  wie  hier  stain  und  runaR 
gegenübergestellt  wird,  denkt  man  natürlich  zunächst  an  den  „hügel", 
und  diese  bedeutung  hat  es  gleichfalls  auf  dem  steine  von  Norrenærå, 
wo  es  im  sgl.  steht,  wie  ab  und  zu  in  andern  runeninschriften. 

|)ausi,  die  älteste  form  im  neutr.  plur.  zu  sasi  (altnord.  ^«sst). 
In  einer  so  alten  Inschrift  wie  der  des  Glavendruper  Steines,  mufs 
man  sicher  annehmen,  dafs  das  wort  noch  den  alten  diphthongen 
bewahrt  hat;  dagegen  ist  es  zweifelhaft,  ob  das  |>usi  des  kleineren 
Steines  von  Jællinge  påusi  oder  pest  bezeichnet,  eine  ausspräche,  die 
auf  jeden  fall  für  das  f)ausi,  |)usi  jüngerer  inschriften  wahrschein- 
lich ist;  denn  auf  dem  vor  einigen  jähren  entdeckten  heidnischen 
Virringer  steine  von  Jütland  (zweite  hälfte  des  10.  jhdts)  wird  J)isis.  250. 
geschrieben,  das  am  ehesten  pési  gelautet  hat  (vgl.  pæsæ  æræ  logh  im 
schonischen  kirchengesetze  c.  5  runenhandschr.,  pæse  die  hadorfsche 
handschr.,  thcessi  AM.  37  4to;  pæse  mal  æræ  al  til  ens  rættæ  mælt 
schonisches  gesetz  5,  3  in  der  hadorfschen  handschr.,  thisi  AM.  41 
4 to,  runenhandschr.  fehlt).  Das  |)ausi,  |)usi,  J)isi  der  runensteine 
kann  daher  pési,  pcési  bezeichnen  (vgl.  auf t,  uft,  iU  =  eft,  æft). 

fa|)ur  hier  ohne  zweifel  fådur  mit  w-umlaut  (altnord.  fgdur). 


tatom  resistere  ant  propter  generis  claritatem  aut  offieij  digoitateni,  qaalem 
hettcarthe  man  io  lingua  patria  oominamns".  Dieselbe  bedentang  bat  das  wort 
ia  „Vederlagsretten"  (Knuds  des  grofsen  gefolgsrecht),  das  in  jüngerer  schoniscber 
sprachform  erhalten  ist:  konung  oc  andra  hithxDorthe  men,  ther  hirdh  skulde 
hawa. 


366  AISHANG. 

auk  =  altnortl.  oÄ:,  aber  älter  auk,  enlsprechend  der  form,  die 
auf  den  runensteinen  die  gewöhnliche  ist. 

htjns  mit  f^  wie  in  |)c\nsi  oben,  qn.in  wegen  des  folgenden 
n  (§  3,  2). 

kuna  =  altnord.  kona,  hier  mit  o-  oder  mit  w-laut?  das  letztere 
allgemein  im  altdänischen  (auch  in  altnord.  handschriften  vereinzelt  mit 
M  geschrieben). 

uar  wie  auf  dem  Tryggevælder  steine  ^  altnord.  ver;  hier  wer 
oder  wær  ausgesprochen,  acc.  von  werr  {wærr)  'mann,  ehemann'.  Im 
altnord.  ist  das  wort  wesentlich  dichterisch. 

in  =  en,  'aber'. 

suti  =  dem  altnord.  namen  Söti. 

ra ist  =  altnord.  rejsf,  prät.  von  rista. 

[)asi,  alter  acc.  pl.  fem.  zu  sasi,  wie  wir  hier  {jcjnsi,  f)ansi  im 
acc.  Sgl.  masc.  und  J)ausi  im  acc.  pl.  neutr.  haben.  Die  fem.  form 
[)asi  steht  also  für  ursprüngliches  |)aRsi  d.  i.  pdRsi  oder  pænsi,  wenn 
der  fi-umlaut  gemeinnordisch  gewesen  ist,  wofür  das  altschwedische 
zu  sprechen  scheint;  in  |)asi  ist  r  dem  folgenden  s  assimiliert, 
und  die  ausspräche  ist  ohne  zweifei  pässi  oder  pæssi  (altnord.  pessar) 
gewesen. 

tru  tin  =  altnord.  dröttin  'herr',  und  ebenso  hier. 

{)ur  d.  i.  Pörr,  der  gott,  der  angerufen  wird.  (Mit  unrecht 
glaubt  Thorsen,  De  danske  Runemindesm.  I,  s.  68  anm.,  dafs  u  der 
ursprüngliche  vokal  in  dem  worte  ist,  der  auf  den  runensteinen  be- 
wahrt sei.) 

uiki  =  altnord.  vigi  und  ebenso  hier,  opt.  präs.  von  wigja. 

Die   anrufung    des    heidnischen    gottes    auf   dem    Glavendruper 

steine  hat    nun  ein    seitenstück   in   dem    oben    genannten   Virringer 

251.  steine  bekommen,    dessen  inschrift  mit  den  worten   J)ur  uiki   l)isi 

kumi    d.  i.   Pörr  wigi  pæsi   kumbl,    ,,Thor  weihe  dieses  denkmal!" 

schliefst. 

Die  beiden  letzten  Zeilen  (die  inschrift  auf  der  kante  des  Steines) 
sprechen  eine  strafe  aus,  die  denjenigen  treffen  soll,  der  das  denkmal 
zerstört.  Da  alle  worte  hier  leicht  verständlich  sind  mit  ausnähme 
der  beiden  ersten,  so  versparen  wir  uns  diese  beiden  bis  zuletzt. 

sa  uarj)i  d.  i.  sd  werdi  oder  wcerdi  (das  altdänische  hat  noch 
vereinzelt  wærthæ  zusammen  mit  dem  jüngeren  warthæ,  worthæ). 

ailti  d.  i.  ælti  =  altnord.  elti,  opt.  präs.  von  elta,  'fortjagen, 
verfolgen;    drücken,  pressen,  kneten'  (in  der  letzten  bedeutung  noch 


VI.    DIE  ÄLTESTEN  DAN.  RUNEN  DENKMÄLER  HIT  D.  KÜRZEREN  RUNENREIHE.       367 

im  dänischen  ælte  bewahrt;  aber  im  altdänischen  auch  'treiben, 
jagen',  z.  b.  im  schonischen  gesetz  11,  7:  æltCBr  man  ræf  i  graf  mæp 
hundum;  Valdemars  Seeland,  geselz  2,  27:  tha  ma  mannæn  horkuncen 
æJtæ  burt  fran  sich  und  so  noch  bis  in  späte  zeit).  Hier  ist  die  be- 
deutung  am  ehesten  ganz  im  allgemeinen  'gewalt  übt  gegen',  'gewalt 
anthut',  kaum  'wälzt'. 

ij)a  =  altnord.  eäa  'oder'. 

qnc}n  =  annan  (also  bereits  hier  ohne  r  wie  im  altnord. ;  forn- 
nord.  forml.  §  24,  C,  a). 

traki  =  dragi;  '(ihn)  nach  einem  andern  verschleppt'  wird  durch 
die  Inschrift  auf  dem  Tryggevælder  steine  aufgeklärt,  der  mit  folgen- 
den Worten  schliefst:  sa  uar|)i  at  rita  is  ailti  stain  {)qnsi  ij)a 
hi|)an  traki,  wo  hi|)an  =  Äe^fan  'von  hier  fort'  ('ihn  von  hier,  von 
dem  platze,  auf  dem  er  steht,  fortschleppt');  ebenso  auf  dem  Glaven- 
druper  steine:  'ihn  (von  seinem  platze)  fortschleppt,  (um  ihn)  nach 
einem  andern  (zu  errichten)'.  Es  geht  also  hiöraus  hervor,  dafs 
ältere  runensteine  zuweilen  von  ihrem  ursprünglichen  platze  fort- 
genommen und  aufs  neue  benutzt  wurden.  Ein  sicheres  beispiel 
hierfür  bietet  der  Skaänger  stein  von  Södermanland ,  wo  sich  in  der 
mitte  eine  Inschrift  mit  älteren  runen  aus  dem  6.  jhdt,  aber  um 
diese  herum  eine  Schlangenwindung  mit  neuerer  inschrift  aus  dem 
11.  jhdt  befindet.  In  der  regel  wurde  jedoch  wohl  die  ältere  inschrift 
weggehauen,  wenn  man  den  stein  aufs  neue  in  gebrauch  nahm. 

Es  bleibt  dann  nur  noch  der  ausdruck  at  rita  übrig,  der  in 
derselben  Verbindung  wie  hier  auf  dem  Tryggevælder  steine  vorkommt, 
wo  er  ebenfalls  rita  geschrieben  wird  (eine  kleine  natürliche  Ver- 
tiefung auf  dem  Glavendruper  steine  hoch  oben  auf  der  linken  seite 
der  l-rune  ist  von  Stephens  unrichtig  als  eingehauener  nebenstrich 
aufgefafst;  er  hest  daher  1,  das  er  für  „eine  alte  form"  der  a-rune 
ansieht;  aber  diese  rune  wird  ja  auf  dem  Glavendruper  steine  ohne 
ausnähme  +  geschrieben).  Dagegen  hat  das  wort  die  form  rata  an  s.  252. 
der  dritten  stelle,  wo  es  sich  in  den  runeninschriften  nachweisen 
läfst,  nämlich  auf  dem  Gleraminger  steine  in  Schonen,  der  mit  den 
Worten  scWiefst:    uirj)i  at   rata   huas  üb  briuti^)  d.  i.  tcerdi  at 


^)  Dafs  die  inschrift  huas  ab  briati  und  nicht,  wie  man  früher  gelesen, 
huks  nb  briutR,  hat,  habe  ich  in  meinen  „Sproglige  iagttagelser  fra  en 
rnnologisk  rejse  i  Skåne  i  sommeren  1S76"  in  „Kort  udsigt  over  det  filol.-hist. 
samfunds  virksomhed  i  årene  1876 — 7S"  s.  14  £f.  (separatabz.  s.  3  GT.)  nachgewiesen. 


368  ANHANG. 

?  hiods  uppbriüti  (allisl.  verdi  at  ?  hverr  er  [es)  uppbrjöti).  Es 
könnte  dem  sinne  nacli  ansprechend  sein,  wie  man  vorgeschlagen  hat, 
rita,  rata  als  verbum  =  altnord.  rata  'wandern'  (got.  wratön)  aufzu- 
fassen, also:  'er  soll  wandern,  friedlos  umherziehen'  (ungefähr  das- 
selbe, was  durch  den  ausdruck  vargr,  vargr  i  véum  bezeichnet  wird). 
Andere  (N.  M.Petersen  in  „Danmarks  Historie  i  Hedenold"  HP,  366 
=  HP,  275,  Jonsson  und  Vigfusson  in  ihren  Wörterbüchern)  haben- 
rita,  rata  als  ein  von  at  regiertes  subst.  gefafst  und  es  mit  dem 
im  isländischen  gebräuchlichen  rati  'eine  sinnlose  person',  eine  'person, 
die  umhergeht  und  sich  töricht  beträgt',  in  Verbindung  gebracht,  so  dafs 
der  ausdruck  hier  bedeuten  würde:  'er  werde  mit  Wahnsinn  geschlagen, 
streife  wahnsinnig  umher'.  Gegen  diese  beiden  erklärungen  spricht  in- 
dessen die  Schreibung  rita  neben  rata,  die  zusammen  auf  eine  form  mit 
e-  oder  æ-laut  zurückweisen.  Das  einzige  bekannte  wort,  an  das  man 
auch  gedacht  hat  und  das  hier  passen  kann,  ist  altnord.  rétta  'wieder 
in  Ordnung  bringen',  so  dafs  loeräi  at  rétta  bedeuten  müfste:  'er 
bringe  ihn  wieder  an  seine  stelle',  'mache  den  schaden  wieder  gut' 
(vgl.  altnord.  rétta  rön  'das  geraubte  zurück  erstatten'  und  ähnliche 
ausdrücke.)  Obgleich  ich  allerdings  in  diesen  formein  einen  stär- 
keren ausdruck  erwartete,  so  glaube  ich  doch  aus  sprachlichen 
gründen,  dafs  rita  (rata)  nur  in  der  letztgenannten  bedeutung  ge- 
nommen werden  kann,  was  auch  durch  den  vierten  runenstein  be- 
s.  253.  stätigt  wird,  auf  welchem  wir  eine  andere  formel  finden,  welche  die- 
selbe bedeutung  wie  das  in  rede  stehende  uar{)i  (uir{)i)  at  rita 
(rata)  hat,  nämlich  den  Skærner  stein  von  Jütland.  Hier  schliefst 
die  inschrift  nämlich  mit  den  worten  si|)i  sa  mjjnr  is  {)usi  kubl 
üb  biruti  d.  i.  ?  sd  niannr  es  pesi  kumbl  uppbriüti,  wo  ebenfalls  alles 
klar  ist,  mit  ausnähme  eben  des  Wortes  sij)i,  auf  das  es  hier  an- 
kommt. Es  kann  natürlich  nicht,  wie  Stephens  meint,  =  altnord. 
sinnt  (von  sinna  'wandern')  sein,  so  dafs  sijii  als  sinj)i  gelesen 
werden  müfste;  denn  der  Übergang  von  np  zu  nn  im  nordischen 
(fornnord.  forml.  §  22,  B,  b)  ist  weit  älter  als  die  zeit  des  Skærner 
Steines  (vgl.  tjntjn  =  annan  auf  dem  Glavendruper  steine  und  die 
mit  kun-  d.  i.  Gunn-  zusammengesetzten  namen  auf  den  runen- 
steinen).  Auch  läfst  die  bedeutung  nicht  ohne  die  gröfste  willkür 
zu,  es  (wie  Rafn  und  Thorsen)  mit  altnord.  sida  [seida]  'zauberei, 
hexerei  treiben'  in  Verbindung  zu  setzen.  Dagegen  gestattet  sowohl 
die  Schreibweise  wie  die  bedeutung,  si{)a  =  altnord.  sida  'schick 
auf  etwas  setzen'  (von  sidr)  zu  fassen;  mit  der  bedeutung  'wieder  in 


VI.    DIE  ÄLTESTEN  DAN.  RUNENDENKMALER  MIT  D.  KÜRZEREN  RÜNENREFBE.       369 

Ordnung  bringen'  würde  dieses  worl  also  ganz  dem  rétta  (rætta)  der 
andern  inschriften  entsprechen. 

In  ihrer  altdänischen  sprachform  mufs  die  ganze  Inschrift 
also  wiedergegeben  werden*): 

Ragnkildr  satti  stæin  pannsi  eft  'Ala  Salwa- 
goda,  icéa  hæidwerdan  pegn. 

'Ala  syniR  gærdu  kumbl  päusi  ceft  fådur  sinn 
åuk  hans  lco7ia  eft  wer  sinn;  en  Söti  reeist  rünoR  pdssi 
(péssi?)  ceft  dröttin  sinn. 

I*örr  toigi  pdssi  (pæssi?)  rünaRl 
At  rétta  sd  werdi,    es  stæin  pannsi  ælti  eda  æft 
annan  dragil 

Das  gewöhnliche  altnordische  würde  haben: 

Ragnhildr  setti  stein  penna  ept(ir)  'Ala  Sgha-goda,  véa 
heidvirdan  pegn. 

Ala  synir  gerdu  kum(h}l  pessi  ept(ir)  fgdur  sinn  ok  hans 
koua  ept(ir)  ver  sinn;  en  Söti  reist  riinar  pessar  ept(ir)  dröttin 
sinn. 

Pörr  vigi  pessar  rünar! 

At  rétta  sd  verdi,  er  (es)  stein  penna  elti  eda  ept(ir) 
annan  dragil 

d.h.  „Ragnhild  setzte  diesen  stein  nach  Ale   Sålvegode,   der  tempel  g,  254. 
ehrwürdigem  Wächter  (dem  hochehrwürdigen  tempelpriester). 

Ales  söhne  machten  diesen  hügel  (dieses  grabdenkmal)  nach 
ihrem  vater  und  sein  weih  nach  ihrem  gatten;  aber  Sote  ritzte  diese 
runen  nach  seinem  herrn. 

Thor  weihe  diese  runen! 

Der  soll  es  wieder  in  Ordnung  bringen  (den  schaden  ersetzen), 
wer  gegen  diesen  stein  gewalt  verübt  (ihn  beschädigt)  oder  (um  ihn) 
nach  einem  andern  (zu  errichten)  fortschleppt!" 

8.   Der  stein  von  Tryggevælde. 

Soll  ursprünglich  auf  oder  bei  einem  hügel  in  Lille  Tårnby  im 
kirchspiel  Hårlev  (harde  Bjæverskov,  amt  Præstø)  gestanden  haben, 
von  wo  er  1566  nach  dem  burghof  von  Tryggevælde  versetzt  wurde; 

*)  Da  die  nasalieraog  vor  dem  nasal  ja  zweifelhaft  ist  (vgl.  {)^nsi  und  {jaosi 
u.  s.  w.),  so    deute    ich   sie  nicht  an;   die  nasalierte  und  die  nnnasalierte   form 
haben  wohl  zu  jener  zeit  neben  einander  gestanden  (wie  z.  b.  eß  neben  cefi). 
WIMMER,  Die  rnnenschrift.  24 


370 


ANHANG. 


256. 


Der  steiu  vou  Tryggevælde.  I, 


VL    DIE  ÄLTESTEN  DAN.  RUNENDENKMÄLER  MIT  D.  KÜRZEREN  RUIrøNREIHE.    371 


8.  257. 


Der  stein  von  Tryggevælde,  ü. 


24* 


372  ANHANG. 

später  wurde  er  wieder  von  hier  nach  Vallø  und  endlich  1810  nach 
Kopenhagen  ühergeführt,  wo  er  bis  1867  auf  dem  Trinitatis-kirchhofe 
stand,  in  welchem  jähre  er  dann  in  der  runenhalle  des  altnor- 
dischen museums  aufgestellt  wurde,  wo  das  imponierende  denkmal 
hoch  über  alle  andern  runensteine  hervorragt.  Der  stein  ist  nämlich 
304  cent.  hoch  und  bis  127  cent.  breit.  Die  dicke  beträgt  am  fufse 
55  cent.,  nimmt  aber  gegen  die  spitze  hin  bedeutend  ab;  die  gröfsten 
runen  sind  25  cent.  hoch.  Von  dem  untersten  teile  des  Steines,  der 
ursprünglich  in  der  erde  gestanden  hat,  ist  ein  stück  auf  der  um- 
stehenden abbildung  weggelassen. 

Die  lange  Inschrift  füllt  in  5  zeilen  die  ganze  Vorderseite  des 
Steines,  und  aufserdem  befindet  sich  eine  einzelne  zeile  auf  jeder  der 
beiden  Seitenflächen  zwischen  der  vorder-  und  rückseite.  Alle  in- 
schriftzeilen  laufen  von  links  nach  rechts  (nicht  wie  auf  dem  Glaven- 
druper  steine  bustrophedon).  Seitdem  ich  in  „Runeskr.  opr."  1874 
eine  deutung  der  Inschrift  mitteilte,  habe  ich  sie  oft  aufs  neue  unter- 
sucht und  vollständige  abdrücke  derselben  genommen,  wodurch  ich 
auch  bezüglich  einiger  stellen,  die  mir  früher  zweifelhaft  waren,  zur 
Sicherheit  gelangt  bin.  Die  Inschrift  steht  im  ganzen  genommen 
klar  und  bestimmt  da,  obgleich  die  runen  mit  den  feinen,  nicht 
tiefgehauenen  hnien,  die  übrigens  in  ihrem  ganzen  Charakter  in  hohem 
grade  an  die  des  Glavendruper  Steines  erinnern,  nicht  stark  auf  dem 
ziemlich  unebenen  steine  hervortreten.  Fünf  gröfsere  löcher,  die  in 
späterer  zeit  (ungewifs  wann)  durch  den  stein  gebohrt  sind,  haben 
einzelne  von  den  runen  beschädigt,  ohne  jedoch  auch  nur  eine  ein- 
zige vollständig  unkenntlich  zu  machen.  Wie  auf  dem  Glavendruper 
steine  werden  die  meisten  worte  durch  ein  kleines  feines,  längliches 
trennungszeichen  geschieden,  das  freilich  an  mehreren  stellen  ziem- 
lich undeutlich  ist;  ausnahmsweise  wird  es  auch  am  seh  luf  s  der  3. 
(1.)  zeile  gebraucht.  Das  zeichen  für  die  m-rune,  die  auf  dem  Glaven- 
druper steine  nicht  vorkommt,  findet  sich  zweimal  in  wenig  von  ein- 
ander abweichenden  formen. 

Die  ältere  künstlerisch  ausgeführte  Zeichnung  der  Inschrift  (bei 
Stephens  II,  s.  807)  leidet  an  verschiedenen  mangeln  in  der  wiedergäbe 
einzelner  runenformen  und  besonders  der  einfassungslinien.  Aufser- 
dem hat  Stephens  das  letzte  wort  in  der  am  weitesten  nach  links 
stehenden  zeile  auf  der  Vorderseite  unrichtig  t'^'+Hl  gelesen  (so  auch 
Thorsen,  De  danske  Runemindesm.  I,  s.  151);  Nyerup  hatte  früher 
l>+)|<hl    (beide    nebenstriche    des  >|<    als  sehr    undeuthch    punktiert) 


VI.  DIE  ÄLTESTEN  DAN.  RDNENDENKMÄLER  HIT  D.  KÜRZEREN  RUNENREIHE.   373 

gelesen,  und  Rafn  t>'HHI.  Der  stein  hat  indessen  f>++HI,  was  auch 
Bugge  (filol.  tidskr.  IX,  114  anm.)  vermutet;  auf  dem  steine  selbst 
tritt  das  zweifelhafte  +  in  glücklicher  beleuchtnng  deutlich  hervor, 
und  auf  meinen  letzten  abdrücken  steht  es  auch  ganz  klar.  Das  grofse  s.  255. 
loch,  das  am  anfang  der  beiden  ersten  Zeilen  rechts  in  den  stein  ge- 
bohrt ist,  hat  den  obersten  teil  der  beiden  ersten  runen  in  der  am  . 
weitesten  rechts  stehenden  zeile  fortgenommen;  aber  nach  der  dritten 
steht  ganz  deutlich  ein  trennungszeichen  und  darauf ++11^^111;  das  vor- 
hergehende wort  kann  nur  Hn+  gelesen  werden,  was  auch  Stephens 
gesehen  hat;  von  H  ist  nur  der  gröfste  teil  des  untersten  stabes  übrig 
geblieben,  H  ist  deutlich,  obgleich  die  spitze  fort  ist,  und  die  letzte 
rune  ist  +  mit  einem  ziemlich  schwachen  querstriche.  In  der  dritten 
und  vierten  zeile  hat  Rafn  Y  statt  Y  in  den  werten  raknhiltr, 
kunulf,  kl^mulan  gelesen;  aber  es  sind  nur  einige  von  den  un- 
zähhgen  kleinen  Unebenheiten  im  steine,  die  in  diesen  worten  sowohl 
wie  in  kar[)i  in  der  zweiten  zeile  von  links  eine  gewisse  ähnlichkeit 
mit  gehauenen  punkten  haben  mögen;  dafs  die  iuschrift  überall  K, 
niemals  Y  hat,  ist  über  jeden  zweifei  erhaben. 

Wenn  wir  die  inschriftzeilen  von  links  nach  rechts  in  derselben 
anordnung  wie  auf  dem  steine  wiedergeben,  so  bekommen  wir: 
I.  auk  I  skai])  i  |)aasi 

{)()nsi  I  auk  i  karf)!  i  hauk  i  f)()nsi  auft 

raknhiltr  i  sustiR  i  ulfs  ■  sali  i  stain  ■ 

kunulf  I  uar  sin  i  klc^mulan  i  man 

sun  I  nairbis  ■  fain  i  uar{ia  i  nu  futiR  i  ^<|i  i  batri 
II.  sa  I  uar|)i  i  at  i  rita  i  is  i  ailti  stain  |)c)nsi 

if)a  I  hi{)an  traki 
Wir  können  nicht  über  das  wort  im  zweifei  sein,  womit  die  in- 
schrift  anfängt.  Es  ist  dasselbe  wie  auf  dem  Glavendruper  steine, 
und  es  ist  hier  wie  auf  jenem  dadurch  hervorgehoben,  dafs  die 
runen  ansehnlicher  sind  und  in  weiterem  abstand  von  einander 
stehen,  als  in  der  übrigen  inschrift,  nämlich  raknhiltr  im  anfang 
der  dritten  zeile  =  Ragnhildr.  Sie  wird  hier  sustiR  ulfs  d.  i.  systtR 
Ulfs  genannt,  wogegen  keine  derartige  nähere  bezeichnung  auf  dem 
Glavendruper  steine  hinzugefügt  ist. 

Die  folgenden  worte  kennen  wir  von  den  früher  behandelten  in-  s.  258. 
Schriften   her.     Nach   sali   stain    kann   nur  die  zeile  oben   folgen: 
„setzte  diesen  stein  und  machte  diesen  hügel  nach".     Hierauf  mufs 
also  ein  name  im  acc.  folgen,  regiert  von  auft  d.  i.  eft  wie  auf  dem 


374  ANHANG. 

Glavendruper  steine,  und  dieser  findet  sich  in  der  vierten  zeile,  näm- 
lich kunulf  uar  sin  d.  i.  Gtinmilf  wer  sinn,  die  beiden  letzten  worle 
wie  auf  dem  Glavendruper  steine.  Gunnulf  ist  hier  gewifs  die  aus- 
spräche gewesen  =  isl.  Gunnölf  (vgl.  Pörölfr  u.  s.  w.). 

kl^mulan  ist  adj.  im  acc.  Sgl.  masc,  und  dieses  in  Verbindung 
mit  dem  folgenden  man  =  mann  steht  also  in  apposition  zu  kunulf. 
Die  bedeutung  von  kltjmulan  ist  nicht  ganz  sicher,  da  ein  völlig  ent- 
sprechendes wort  anderswoher  nicht  nachgewiesen  werden  kann ;  aber 
ableitungen  von  derselben  wurzel  sind  in  den  nordischen  sprachen  kei- 
neswegs selten:  das  isl.  hat  glam  neutr.  'geräusch,  lärm'  (besonders  von 
einem  klirrenden  geräusch),  und  das  verbum  glama  'schwätzen'  findet 
sich  Hävam.  v.  31;  gleichfalls  wird  glammadr  oåer  glgm mudr  als  bei- 
name  in  der  Landnämabök  gebraucht  {Grimr  g.  =  'der  redende',  'laut- 
sprechende'?), und  wir  haben  ja  auch  im  dänischen  das  subst.  ^-^am  (be- 
sonders hundeglam  'hundegebell',  glamhul  'schalloch  im  glockenturm') 
und  das  verbum  glamme  'bellen'.  In  schwedischen  mundarten  ist 
glama  gewöhnlich,  und  im  dalischen  kommt  gleichfalls  ein  adj.  gla- 
mun  'redend'  vor  (siehe  Rietz;  Rydqvist  IV,  183;  vgl.  sumäglam  'ge- 
spräch,  Unterredung'  bei  Näsman,  Historiola  linguæ  Dalekarlicæ, 
Upsaliæ  1733,  s.  68).  Da  das  wort  hier  natürlich  als  eine  ehrende 
bezeichnung  aufzufassen  ist,  so  mufs  die  bedeutung  wohl  am  ehesten, 
wie  man  auch  früher  angenommen  hat,  ' wohlredend ',  'beredt'  sein. 
Es  ist  wahrscheinlich,  dafs  u  das  vorhergehende  a  (geschrieben  t^  vor 
dem  nasal,  wie  dreimal  in  |)cinsi)  umgelautet  hat,  so  dafs  das  wort 
glqmulan,  glåmulan  lautete. 

Hiernach  müssen  dann  als  eine  neue  apposition  die  worte  sun 
nairbis  in  der  5.  zeile  folgen;  sun  ist  die  jüngere  form  des  acc.  Sgl., 
s.  259.  wofür  der  Helnæser  stein  noch  das  alte  sunu  hat.  nairbis  ist 
gen.  von  nairbiR,  d.  i.  NærtiR  mit  ai  =  ce  (§  6,  a,  2).  Das  wort,  das 
gewifs  mit  ahd.  Nerbo  (Förstemann,  Personennamen  sp.  955)  ver- 
wandt ist,  hat  also  das  ursprüngUche  t  bewahrt,  das  noch  von  altem 
f  unterschieden  wird  (kunulf),  während  diese  beiden  laute  später 
im  altnord.  in  f  (d.  i.  v)  zusammenfielen;   vgl.  §  12,  c,  3. 

fain  d.  \.  fdiR  =  altnord.  fdir,  nom.  pl.  masc.  'wenige'. 

uar{)a  nu^  werda  {wærda)  nü . 

fuÜR  d.  i.  féddiR. 

l)qi  (so  deutlich  auf  dem  steine);  darnach  batri  d.  i.  hætri  (mit 
R  statt  k  wegen  des  vorhergehenden  t).  Vor  6æfn  erwarten  wir 
einen  dativ  als  zweites  vergleichungsglied,  und  jifji  mufs  auch  pæim 


VI.  DIE  ÄLTESTEN  DAN.  RUNE.NDENKMÄLER  MIT  D.  KÜRZEREN  RÜNE>REIHE.   375 

gelesen  werden ;  in  der  regel  wird  nämlich  m  vor  6  weggelassen  (vgl. 
kubi  für  kumbl),  und  dieselbe  Schreibung  ist  hier  angewandt,  ob- 
gleich^ ein  neues  wort  beginnt.  Es  ist  also  ein  ähnliches  Verhältnis, 
wie  wenn  der  Snoldelever  stein  kunualtstain  für  kunualts  stain 
hat,  indem  die  regel  für  die  konsonantenverdopplung  in  der  runen- 
schrift  hier  auf  den  fall  ausgedehnt  ist,  wo  das  eine  wort  mit  dem- 
selben konsonanten  schliefst,  mit  welchem  das  folgende  anfängt.  In 
dem  j)c}i  für  pæim  des  Tryggevælder  Steines  ist  die  auslassung  des 
nasals  vor  b  gerade  durch  die  Schreibung  f=  für  +  bezeichnet  (§3,' 2). 
Der  ganze  Zusammenhang  zeigt,  dafs  an  dieser  lesung  kein  zweifei 
sein  kann,  und  Stephens'  deutung  von  {)cji  (bei  ihm  |)æi!)  als  nom. 
pl.  masc.  =  altnord.  peir  („that  {)æi  is  here  nom.  pl.  masc,  = 
exactly  as  the  English  they,  the,  no  one  will  deny"!!  s.  810),  gibt 
nur  einen  beweis  unter  unzähligen  andern  dafür,  wie  es  mit  seiner 
kennlnis  der  spräche  dieser  Inschriften  bestellt  ist. 

Wir  haben  indessen  für  die  drei  worte  in  der  obersten  zeile 
auf  der  Vorderseite  noch  keine  Verwendung  gefunden.  Dafs  sie  eine 
weitere  bezeichnung  für  einen  teil  des  errichteten  denkmals  enthalten, 
darüber  kann  kein  zweifei  bestehen.  Früher  setzte  man  daher  diese 
zeile  hinter  klqmulan  man  ein  und  verband  sie  unmittelbar  mit 
der  fünften  zeile,  wo  man  umhuirbis  (-huairbis)  oder  uthuirbis  s.  260. 
(-huairbis)  mit, der  bedeutung  umhverfis  'ringsum'  oder  üthverfis 
'aufsen  herum'  vermutete;  aber  Rask  sagt  ausdrücklich,  dafs  die 
buchstaben  auf  dem  steine  diese  vermutung  nicht  zu  bestärken 
scheinen,  und  dies  ist  richtig,  da  dort,  wie  oben  erwähnt,  nur  sun 
n  air  bis  gelesen  werden  kann.  Die  frage  bleibt  also,  wohin  die 
Worte  auk  skaij)  {)aasi  gehören;  dafs  sie,  wie  auch  Rask  gesehen 
hat,  ein  neues  object  zu  sati  und  kar|) i  enthalten  müssen,  ist  klar, 
obgleich  die  bedeutung  von  skai[>  nur  annähernd  ermittelt  werden 
kann :  aber  auch  hier  hat  Rasks  Scharfsinn  ohne  zweifei  auf  die 
richtige  spur  geleitet,  wenn  er  vermutet,  dafs  es  'Steinsetzung'  be- 
deuten kann,  und  es  mit  altnord.  skidgardr  vergleicht.  Die  wurzel  in 
skid  und  skcBid  ist  nämlich  dieselbe,  und  dasselbe  wort  skæid  finden  wir 
in  altnord.  skeid  fem,  'schiff  wieder  (auch  in  dän.  ske  'löffel',  das  ety- 
mologisch dasselbe  wort  ist)  ^).    Bei  skceid  müssen  wir  dann  mit  Rask 


^)  Maach,  der  dorcti  eine  konjektur,  die  der  ttiatbestand  nicht  erlaubt, 
skaip  J)atsi  mit  folgender  erklärung:  „skeid,  hier  steinsetzung  (eig.  sta- 
dium, circusy  gelesen  hat,  und  Rafn,  der  skail)1)aisi  liest,  das  er  „diese 
bahnen"   („les  chemins  battos")    übersetzt,    müssen    dagegen    beide    skaij)    als 


376 


ANHANG. 


zunächst  an  eine  'steinset^ung  die  den  hügel  umgab'  denken,  die 
auch  ohne  zweifei  gerade  wegen  ihrer  ähnlichkeit  mit  einem  schiffe 
so  genannt  wurde  ('schiffssetzung',  'Umsetzung  von  steinen  in  form 
eines  schiffes',  wie  N  M.  Petersen  richtig  gesehen  hat,  „Danmarks 
Historie  i  Hedenold"  HI  \  366  =  HI  \  275).  Ich  bin  geneigt  zu 
glauben,  dafs  eine  reihe  granitblöcke,  die  jetzt  umgeworfen  dicht  bei 
der  stelle  liegen,  wo  der  Glavendruper  stein  errichtet  ist,  Überreste 
von  einer  solchen  skæid  sind,  die  in  Verbindung  mit  dem  hügel  und 
dem  runenstein  das  denkmal  für  Ale  Sålvegode  gebildet  hat.  Wohl 
wird  das  wort  skaiji  nicht  auf  dem  Glavendruper  steine  genannt, 
aber  dessen  kubl  kann  sowohl  den  hauk  wie  die  skaij)  des  Trygge- 
vælder Steines  umfassen, 
s.  261.  Dem   skaij)   entspricht  J)aasi,   acc.  Sgl.  fem.  zu  sasi,  ausge- 

sprochen pdsi  (das  lange  a  ist  also  ausnahmsweise  durch  doppeltes  a 
bezeichnet,  womit  die  Schreibung  faaj)i  oder  faal)a  auf  dem  stein 
von  Flemlese  verglichen  werden  kann).  Ob  die  worte  auk  skai}) 
{)aasi  ihre  stelle  unmittelbar  hinter  stain  Jtijnsi  oder  hinter  hauk 
J)qnsi  haben  sollen,  ist  natürlich  zweifelhaft  und  läfst  sich  nicht 
mit  Sicherheit  entscheiden;  dafs  sie  aber  an  einer  dieser  stellen  ein- 
gesetzt werden  müssen,  steht  aufser  allem  zweifei.  Wenn  ich  sie 
an  der  letzteren  stelle  einsetze,  so  geschieht  dies,  um  zu  erkennen  zu 
geben,  dafs  diese  worte  den  teil  des  denkmals  nennen,  der  zuletzt 
ausgeführt  wurde ^).  Denn  dafs  diese  worte  in  eine  zeile  für  sich 
und  aufserhalb  der  übrigen  inschrift  gestellt  sind,  könnte  freilich 
daraus  erklärt  werden,  dafs  der  runenritzer  durch  ein  vergessen  die- 
selben an  ihrer  richtigen  stelle  übersprungen  und  sie  deshalb  später 
in  einer  zeile  darüber  hinzugefügt  hätte.  Weit  vk^ahrscheinlicher  kommt 
mir  jedoch  eine  andere  möglichkeit  vor,  nämlich  die,  dafs  die  auslassung 
von  anfang  an  absichtlich  gewesen,  indem  die  besprochene  skaij) 
erst  nach  dem  hügel  und  dem  runensteine  errichtet  worden  ist,  und 

identisch  mit  altnord.  skeid  neutr.  'lauf,  laufbaha'  aufgefafst  habeo  (siehe  P.  A. 
Munch,  Kortfattet  Fremstilling  af  den  ældste  Nordiske  Runeskrift,  s.  37;  Forn- 
Svenskans  och  Forn-lNorskans  Språkbyggnad,  s.  138;  C.  C.  Rafn,  Antiquités  de 
l'Orient,  s.  188  f.). 

^)  Die  worte  sati  und  kar[)i  helfen  uns  nicht  zu  entscheiden,  wo  skail) 
am  ehesten  eingesetzt  werden  mufs,  da  es  ungewifs  ist,  ob  man  sætja  skæid 
(ähnlich  wie  sætJa  stæin)  oder  gønva  skæid  (gleich  wie  gørwa  håug,  kumbl) 
gesagt  hat;  aber  diese  Verbindungen  waten  keineswegs  feste,  da  man  nicht  blofs 
andere  ausdrücke  daneben  (ræisa  stæin,  werpa  håug),  sondern  sogar  sætJa  und 
gønva  durcheioander  gebrauchen  konnte  (siehe  z.  b.  den  stein  von  Sæddiiige 
oben  s.  326  aom.  3). 


VI.    DIE  ÄLTESTEN  DAN.  RUNENDENKMÄLER  MIT  D.  KÜRZEREN  RUNENREIHE.      377 

dafs  in  folge  dessen  die  darauf  bezüglichen  worte  in  der  inschrift  erst 
später  hinzugefügt  sind.  Die  zeile  mit  den  werten  auk  skaij)  |)aasi 
hat  ganz  denselben  Charakter  wie  die  übrige  inschrift,  und  es  ist  kein 
grund  vorhanden,  daran  zu  zweifeln,  dafs  sie  sich  von  demselben 
runenritzer  herschreibt  wie  diese;  aber  dafs  sie  später  von  dem 
runenritzer  hinzugefügt  ist,  nachdem  die  4  übrigen  zeilen  eingehauen 
waren,  geht  mit  ebenso  grofser  Sicherheit  aus  dem  früher  nicht  be- 
achteten umstände  hervor,  dafs  die  runen  in  der  zweiten  zeile  von 
links  keinen  einfassungsstrich  an  der  spitze  haben,  weil  sie  ursprüng- 
lich die  erste  zeile  zu  bilden  bestimmt  waren;  die  später  hinzuge- 
fügte zeile  erhielt  dagegen  einen  einfassungsstrich  am  fufse  der  runen, 
der  indessen  die  spitzen  der  runen  in  der  zeile  darunter  nicht  be- 
rührt und  sich  nicht  weiter  als  bis  zum  ende  der  später  hinzuge- 
fügten zeile  erstreckt  (dies  ist  auf  der  Zeichnung  bei  Stephens  gar 
nicht  beachtet,  wo  der  strich  unter  der  ersten  zeile  links  dieser  und 
der  zweiten  zeile  gemeinsam  und  aufserdem  unrichtig  ganz  über  die 
zweite  zeile  hinaus  verlängert  ist). 

Die  beiden  zeilen  auf  den  Seitenflächen   haben  wir  bereits  unter 
dem  Glavendruper  steine  zu  behandeln  gelegenheit  gehabt. 

Die  ganze  inschrift  gebe  ich  also  folgendermafsen  auf  altdänisch 
wieder : 

Ragnhildr,    systiR   Ulfs,    satti   stætn   pannst   auk 

gærdi  hang  pannst  auk  skceid  pdst  oft  Gunnulf,   wer 

sinn,  glåmulan  mann,  siin  Nærbis. 

FäiR  werda  nü  foddia  pæim  bætri. 

Sd  werdi  at  rétta,  es  celti  stæin  pannst  eda  hedan 

dragi! 

In  gewöhnlicher  allnordischer  sprachform  würde  dies  lauten: 

Ragnhildr,  systir  Ulfs,  setti  stein  penna  ok  gerdi  haug 
pemia  ok  *  skeid  pessa  ept(ir)  Gunnölf,  ver  sinn,  *glpmulan 
mann,  son  *  Nerfis. 

Fair  verda  nü  féddir  peim  betri. 

Sd  verdi  at  rétta,  er  (es)  elti  stein  penna  eda  hédan  dragi! 

d.  h.  „Ragnhild,  die  Schwester  Ulfs,  setzte  diesen  stein  und  machte 
diesen  hügel  und  diese  Steinsetzung  nach  Gunnolf,  ihrem  gatten,  dem 
wohlredenden  manne,  dem  söhne  Nærfes. 

Wenige  werden  jetzt  geboren  (die)  besser  als  er. 


378  ANHANG. 

Der  soll  es  wieder  in  Ordnung  bringen  (den  schaden  ersetzen), 
wer  gegen  diesen  stein  gewalt  verübt  (ihn  beschädigt)  oder  ihn  von 
hinnen  fortschleppt!" 

Durch  den  ganzen  Charakter  der  inschrift  (die  feinen  schlanken 
runenformen  u.  s.  w.)  erinnert  der  stein  von  Tryggevælde  in  so  hohem 
grade  an  die  inschrift  auf  dem  ungefähr  gleichzeitigen  Glavendruper 
steine,  dafs  man  versucht  sein  könnte,  beide  auf  denselben  runen- 
ritzer  zurückzuführen,  was  auch  andere  gründe  wahrscheinlich  machen. 
262.  Der  inhalt  beider  inscbriften  scheint  nämlich,  was  bereits  Rask  her- 
vorgehoben hat,  dafür  zu  sprechen,  dafs  es  dieselbe  Ragnhild  ist,  die 
sowohl  den  Glavendruper  als  auch  den  Tryggevælder  stein  errichtet 
hat.  Sie  ist  in  diesem  falle  zweimal  verheiratet  gewesen  und  hat 
jedem  ihrer  vornehmeii,  hochangesehenen  männer  ein  prachtvolles 
denkmal  gesetzt.  Ich  finde  nicht,  dafs  eine  stichhaltige  einwendung 
gegen  diese  vermutung  erhoben  werden  kann.  Der  Zeitunterschied 
zwischen  beiden  Inschriften  kann  auf  keinen  fall  bedeutend  sein;  aber 
ich  würde  ohne  bedenken  den  Tryggevælder  stein  für  den  jüngeren 
erklären. 

Auf  dem  Glavendruper  sowohl  wie  auf  dem  Tryggevælder  steine 
hat  man  in  den  schlufsvvorten  der  inscbriften  verse  finden  wollen: 

Glavendrup:  Tryggevælde: 

Pörr  wigi  pdssi  rmuR!  Fdin  werda  nü 

At  rétta  sd  werdi,  féddiR  pæim  bætri. 

es  stæin  parmsi  ælti  Sd  werdi  at  réfta, 

eda  æft  annan  dragil  es  ælti  stæin  pannsi. 

Dafs  wir  hier  wirklich  eine  mit  bevvufstsein  beabsichtigte  vers- 
form haben  sollten,  halte  ich  jedenfalls  bezüglich  des  Tryggevælder 
Steines  für  ganz  unwahrscheinlich.  Die  vollständig  prosaische  Wort- 
stellung und  besonders  das  unmittelbar  auf  pannsi  folgende  eda 
hedan  dragi,  das  aufserhalb  des  verses  stehen  würde,  scheinen  mir 
entschieden  gegen  diese  annähme  zu  sprechen.  Aber  auch  in  der 
rhythmischen  form  auf  dem  Glavendruper  steine  bin  ich  am  meisten 
geneigt  einen  reinen  zufall  zu  finden. 

0.    Der  stein  von  Rönninge. 

o 

Refand  sich  zu  Worms  zeit  in  Rönninge  (harde  Asum,  amt 
Odense)  zwischen  Nyborg  und  Kærteminde;  war  später  lange  ver- 
schwunden, bis  er  1853  im    fundament  eines  hauses  in  Kærteminde 


VI.    DIE  ÄLTESTEN  DAN.  RÜNENDENKMÄLF.R  MIT  D.  Kl  RZEREN  RÜNENREIBE.      379 


DMcUr 


AIP  f-c 


^od. 


Der  stein  voo  Rönoinse. 


380  ANHANG. 

wiedergefunden  wurde,  wo  er  jelzl  aufserhalb  der  kirche  aufgestellt 
ist.  Der  ziemlich  unansehnliche  stein')  ist  115  cent.  hoch  und  hat 
•  55  cent.  in  seiner  gröfsten  breite.  Von  den  runen  haben  die  höchsten 
13  cent.,  die  kleinste  (zuletzt  in  der  dritten  zeile,  wo  die  runen  im 
ganzen  in  rücksicht  auf  den  platz  sehr  klein  sind)  nur  4  cent. 

Obwohl  eine  menge  natürlicher  ritzen  im  steine  sind,  die  über 
die  inschrift  laufen,  ist  diese  doch  im  ganzen  genommen  sehr  deut- 
lich und  gibt  nirgends  veranlassung  zum  zweifei;  die  worte  werden 
durch  den  von  den  oben  besprochenen  steinen  her  bekannten  kleinen 
strich  geschieden.  Die  inschrift,  die  in  der  zeile  links  beginnt  und 
bustrophedon  läuft,  lautet: 

suti  1  sati  I  stain  i  {)ansi  •  aft 

ailaifibruj)ur  >  sin  i  sun  i  {jskaus 

rauf) um  i  skialta 

Alle  Worte  in  der  ersten  zeile  (auch  den  namen  suti)  kennen 
wir  vom  Glavendruper  und  Tryggevælder  steine  her. 

ailaif  mufs  eine  ausspräche  æilæif  bezeichnen,  das  also  im 
letzten  gliede  von  dem  wohlbekannten  altisl.  Eilifr  abweicht. 

sun  kann  grammatisch  sowohl  nom.,  apposition  zu  suti,  als 
auch  acc,  appos.  zu  ailaif,  sein.  Das  alter  des  Steines  spricht  jedoch 
eher  für  das  letztere,  da  der  nom.  gewifs  damals  die  form  sunR 
hatte  (vgl.  oben  s.  298).  Dafs  man  auch  von  selten  des  inhalts  eher 
eine  weitere  nachricht  über  æilæifR  als  über  Söti  erwarten  würde,  ist 
dagegen  bezüglich  dieser  frage  nicht  entscheidend  (vgl.  z.  b.  die  in- 
schrift auf  dem  jütischen  steine  von  Kolind:  tusti  ris{)i  stin  j)cjnsi 
ift  tufa  is  uar{)  tu|)r  ustr  bur|)ur  (für  bruj)ur)  sin  smij)r 
<isui{)aR  =  Tosti  ræispi  (réspi)  stæin  (sten)  pannsi  æft  To  fa,  es  ward 
dåudr  (dødr)  cmstr  (éstr),  brodur  sinn,  smidr  \swidaR,  wo  smidr  ja 
apposition  zu  Tosti  ist,  „Toste,  Asveds  schmied,  errichtete  diesen 
stein  nach  seinem  bruder  Tofe,  der  ostwärts  starb"). 

d^&kdiMS,  =  ^sgåuts  (§18,  b). 

raul)um  skialta  gen.  von  rauj)  umskialti  d.  i.  råudumskialdi 
'rotschild',  'mit  dem  roten  Schilde'.  Das  wort  ist  ganz  auf  dieselbe 
weise  gebildet  wie  das  altnord.  fggrumskitmi,  'schönhaut',  'der  mit  der 
schönen  haut',  ein  beiname  des  Porgautr  (siehe  Formanna  sögur  XI, 


1)  Wenn  Thorsen  (De  danske  Ruueinindesm.  II,  2,  s.  250)  ihn  „einen  ansehn- 
lichen stein  von  3  eilen  höhe"  nennt,  mufs  er  hier  wie  öfters  fufs  und  eile  ver- 
wechselt haben. 


VI.  DIE  ÄLTESTEN  DAN.  RUNENDENKHÄLER  MIT  D.  KÜRZEREN  RUNENREIHE.   381 

302:  hann  var  manna  fridastr,  kann  kalhdi  Haraldr  konungr  Sigurd- 
arson  fggrumskinna),  tvenmimhrüni  'doppelbraue',  'mit  den  doppelten 
augenbrauen'  (?),  beiname  des  landnämsmannes  Oldfr  (Landnåma 
in  den  tsl.  sögur  I,  306;  Flöamanna  saga  c.  18  in  den  Fornsögur 
von  G.  Vigfüsson  und  Th.  Möbius  s.  137).  Diese  beinamen  gehen 
natürlich  von  den  Verbindungen  med  raudum  skildi,  med  fggrum 
skinni,  med  tvennum  brmum  aus,  und  haben  hiervon  die  dativform  be- 
wahrt. Auf  ähnliche  weise  ist  der  dativ  mit  weglassung  der  präposition 
in  dem  beinamen  Fitjumskeggi  'von  Fitjar'  eingetreten  (Landnåma  in 
den  Isl.  sog.  I,  60),  ausgehend  von  der  gewöhnlichen  Verbindung  d 
Filjum.  Wenn  ich  oben  s.  105  über  die  inschrifl  auf  der  Thors- 
bjærger  zwinge  ausgesprochen  habe,  dafs  niwaDe-mariß  mögUcher- 
weise  zu  einem  begriff  zusammengeschmolzen  sei,  so  habe  ich  gerade 
formen  wie  das  spätere  Fitjumskeggi  u.  ähnl.  vor  äugen  gehabt.  — 
Hat  der  beiname  räudumskialdi  bezug  auf  seinen  kriegerischen  sinn? 
„der  rote  schild"  war  ja  gerade  kriegszeichen  (vgl.  Helgakvida  Hund- 
ingsbana  I,  v.  33: 

slgng  tipp  vid  rd 
raudum  skildi). 
In  alt  dänisch  er  sprachform  hat  die  Inschrift  also  gelautet; 
Söti  satti  stæin  pannsi  æft  Æilæif 
'    brödur  sinn,  sun  \sgauts  räudumskialda. 
Das  gewöhnhche  altnordische  würde  haben: 
Söti  setti  stein  penna  ept(ir)  *  Eileif 
brödur  sinn,  son  Äsgauts  *  raudumskjalda. 
d.  h.  „Sote  setzte  diesen  stein  nach  seinem  bruder 

Eileif,  einem  söhne  von  Asgaut  rotschild". 
Dafs  der  stein  von  Rönninge  nach  den  runen-  und  sprachformen 
derselben  zeit  angehört  wie  der  Glavendruper  und  Tryggevælder  stein, 
steht  aufser  allem  zweifei.  Aber  der  Charakter  in  allen  drei  In- 
schriften zeigt  aufserdem  eine  so  auffallende  Übereinstimmung,  dafs 
man  allein  aus  diesem  grunde  versucht  sein  könnte,  sie  auf  den- 
selben runenritzer  zurückzuführen.  Ob  der  Sote  des  Glavendruper 
und  Rönninger  Steines  dieselbe  person  ist ,  wird  natürUch  niemals 
mit  Sicherheit  entschieden  werden  können,  ebensowenig  wie  die 
gleiche  frage  betreffs  der  Ragnhild  des  Glavendruper  und  Tryggevælder 
Steines  oder  des  Rolf  des  Helnæser,  Flemløser  und  Voldtofter  Steines; 
aber  ein  hoher  grad  von  wahrscheinhchkeit  spricht  doch  dafür, 
in   allen   diesen    fällen    dieselben  personen   zu   sehen.     Was   speciell 


382 


ANHANG. 


das  Verhältnis  zwischen  dem  stein  von  Rönninge  und  dem  Glavenr 
druper  betrifft,  so  mufs  hervorgehoben  werden,  dafs  der  name  Sote 
verhältnismäfsig  selten  vorkommt;  da  beide  denkmäler  nun,  wie  ge- 
sagt, gleichzeitig  und  aus  derselben  gegend  sind  und  aufserdem  in 
dem  ganzen  Charakter  der  inschriften  so  genau  übereinstimmen,  so 
scheint  es  mir  berechtigt  zu  schliefsen,  dafs  Sote,  der  die  runen  auf 
dem  Glavendruper  steine  zum  andenken  an  seinen  herrn  ritzte,  der- 
selbe ist,  der  die  Inschrift  von  Rönninge  zum  andenken  seines  bruders 
errichtet  (und  zugleich  geritzt)  hat.  Aber  ich  bin,  wie  oben  hervor- 
gehoben, geneigt  zu  glauben,  dafs  auch  die  inschrift  des  Steines  von 
Tryggevælde  sich  von  ihm  herschreibt;  es  ist  dann  wahrscheinlich, 
dafs  er  nach  dem  tode  von  Ale  Sålvegode  bei  Ragnhilds  zweitem 
manne  Gunnulf  in  dienste  getreten  ist  und  bei  dessen  tode  die  runen 
auf  dessen  denkstein  wie  auf  dem  seines  früheren  herrn  geritzt  hat. 
Wie  es  sich  nun  hiermit  auch  verhalten  mag,  so  sind  es  mächtige 
geschlechter,  von  deren  dasein  auf  den  dänischen  inseln  vor  beinahe 
1000  Jahren  die  stolzen  grabdenkmäler  zeugen ,  welche  die  gattin 
errichtete  und  der  treue  diener  ritzte,  von  deren  leben  und  wirk^ 
samkeit  aber  die  runen  uns  leider  allzu  wenig  erzählen. 


Sohlufsbemerkungen. 

Der  schwierige  druck,  die  vielen  typen,  die  geschnitten  und  ge- 
gossen werden  mufsten,  haben  im  verein  mit  andern  umständen  das 
erscheinen  verzögert,  so  dafs  mehr  als  ein  jähr  zwischen  dem  tage, 
wo  ich  die  widmung  des  buches  schrieb,  und  jetzt  verflossen  ist, 
da  die  korrektur  des  letzten  bogens  vor  mir  liegt.  Was  in  dieser 
zeit  über  die  eine  oder  andere  von  den  fragen  erschienen  ist,  die 
hier  behandelt  werden,  habe  ich  nur  ganz  ausnahmsweise  berück- 
sichtigen können.  Die  runenschrift  selbst  anbelangend  sind  jedoch, 
so  viel  ich  weifs,  nur  ein  paar  kleine  aufsätze  von  E.  Brate  in 
„Vitterhets  Historie  och  Antiqvitets  Akademiens  Månadsblad"  1886, 
s.  1  ff.  und  s.  49  ff.  veröffentlicht,  worin  er  unter  anderm  die  schwie- 
rigen fragen  wegen  der  runen  "t  eoh  und  Y  eolhx  behandelt.  Ich 
sehe  mich  jedoch  nicht  durch  herrn  Brätes  bemerkungen,  worin  er 
natürlich  von  den  ansichten  ausgeht,  die  ich  in  Runeskr.  opr.  1874 
vorgebracht,    aber  längst  und  also  auch  in  der  vorliegenden  abband- 


SCBLCSSBEMERKCNGEN.  383 

hing  bezüglich  des  X  vollständig  aufgegeben  habe,  veranlasst  irgend 
welche  änderung  in  dem  oben  gesagten  vorzunehmen,  und  ich  halte 
seine  neuen  erklärungen  der  genannten  runen  für  sehr  verunglückt 
und  wenig  methodisch  (wenn  er  z.  b.  als  stütze  für  eine  unhalt- 
bare theorie  über  die  rune  \  auf  den  ausweg  verfällt  zu  erklären, 
der  brakteat  von  Vadstena  sei  nicht  nordisch,  weil  sich  die  genannte 
rune  in  dessen  fulhark  findet!  Dasselbe  mufs  dann  wohl  von  den 
andern  brakteaten  und  dem  kleinen  amulet(?)  von  Valby  gelten, 
die  gleichfalls  dieses  zeichen  haben).  Mehrere  nach  meiner  ansieht 
übereilte  schlufsfolgerungen  sind  dadurch  zustande  gekommen,  dafs 
der  Verfasser  sein  material  nicht  mit  gehöriger  kritik  benutzt,  oder 
sogar  auf  ganz  unrichtige  wiedergaben  der  Inschriften  gebaut  hat 
(dafs  die  «-rune  H  in  der  bedeutung  der  t-rune  I  auf  einem  so 
alten  denkmal  wie  dem  stein  von  Vedelspang  stehen  könne,  wird 
s.  64  durch  dessen  sutriku  bewiesen,  das  jedoch,  wie  ich  oben 
s.  293  anm.  1  nachgewiesen  habe,  unrichtige  lesung  für  siktriku  ist). 
Eine  gewisse  Verwunderung  hat  es  bei  mir  hervorgerufen,  s.  56  f. 
folgende  äufserung  zu  finden:  „Wimmer  scheint  überhaupt  nicht  die 
mögUchkeit  zu  erkennen,  dafs  sieb  zwei-  namen  für  dieselbe  rune 
nebeneinander  haben  finden  können"  (es  ist  die  rede  von  den  beiden 
namen,  welche  die  rune  Å  nach  meiner  ansieht  gehabt  hat,  elgR  und 
yr)  und  die  daran  geknüpfte  belehrung  zu  lesen,  dafs  dies  keineswegs 
unmöglich  sei,  da  die  namen  äss  und  6ss,  purs  und  ßorn  doch  neben- 
einander gestanden  hätten.  Dafs  der  Verfasser  hier  indessen  keine 
beobachtung  vorgebracht  hat,  die  mir  ganz  neu  ist,  davon  wird  er 
sich  beim  nachlesen  von  Runeskr.  opr.  s.  207  anm.  (=  hier  oben 
s.  250  anm.  und  vgl.  s.  197  anm.)  überzeugen  können. 

Was  ich  im  übrigen  nachträglich  zu  bemerken  veranlassung  finde 
ist  folgendes: 

S.  75  und  s.  82  f.  Da  die  benennung  Themsemesse r  durch  den 
usus  gewissermafsen  sanctioniert  ist,  so  habe  ich  dieselbe  überall  ge- 
braucht, obgleich,  wie  bereits  Gösch  hervorgehoben  hat  (s.  82),  der  aus- 
druck  Themseschwert  richtiger  sein  würde.  Es  ist  nämlieh,  was  mir 
auch  dr.  Holthausen  mitteilt,  nicht  ein  messer,  sondern  „ein  kurzes,  so- 
genanntes 'fränkisches'  schwert,  einschneidig  und  mit  langer  spitze". 

Was  das  aiphabet  auf  diesem  denkmal  anbelangt,  so  hatte  schon 
bibliothekar  dr.  Kr.  Kål  und,  den  ich  ersucht  hatte,  während  eines 
aufenthaltes  in  London  im  sommer  1884  dasselbe  zu  untersuchen, 
besonders  bezügUch  des  kleinen  von  herrn  Gösch  (s.  82)  erwähnten 


384  SCHLUSSBEMERKÜNGEN. 

„fleckes"  zwischen  I  und  T  mir  mitgeteilt,  dafs  dieser  kaum  zu- 
fällig sein  könne,  dafs  derselbe  aber  nicht  mit  dem  vorhergehenden  I 
verbunden  sei,  und  dafs  herrn  Gosch's  mitteilung  über  diese  rune 
also  in  soweit  richtig  war.  Dr.  F.  Holthausen,  der  später  im 
sommer  1886  gelegenheit  hatte,  die  inschrift  zu  untersuchen,  be- 
stätigte ausdrücklich  dr.  Kalunds  auffassung  und  sandte  mir  eine 
sorgfältige  wiedergäbe  dieses  teiles  der  inschrift.  Als  antwort  hierauf 
äufserte  ich,  dafs  der  strich  nach  meiner  ansieht  ein  trennungs- 
zeichen  wie  auf  dem  brakteaten  von  Vadstena  sein  müsse,  und  bat 
daher  zugleich  dr.  H.,  zu  untersuchen,  ob  sich  nicht  spuren  eines 
ähnhchen  trennungszeichens  auch  vor  N  (und  vielleicht  vor  F^,  womit 
die  neuen,  ausschliefsHch  altenglischen  runen  beginnen)  fänden.  Das 
ergebnis  einer  neuen  Untersuchung  der  inschrift,  die  dr.  H.  mit  dem 
vergröfserungsglase  vornahm,  und  von  der  er  mir  sofort  mitteilung 
machte,  war,  dafs  dort  deutlich  TN  und  l^  stand,  eine  lesung,  die 
auch  durch  einen  der  beamten  des  museums  bestätigt  wurde.  Später 
nahm  der  direktor  der  altertümersammlung,  Mr.  Franks,  selbst  an  der 
Untersuchung  teil  und  bestätigte  gleichfalls  die  richtigkeit  von  dr.  H.s 
lesung,  was  die  kleinen  striche  zwischen  P  und  N  und  zwischen  I 
und  T  anbetraf;  dagegen  hielt  er  den  punkt  am  fufse  des  P  nicht 
für  sicher,  wofür  mir  auch  der  einfache  strich  zwischen  s  und  t 
zu  sprechen  scheint.  Wie  es  sich  indessen  hiermit  auch  verhalten 
mag,  so  besteht  kein  zweifei  darüber,  dafs  auch  auf  dem  Themse- 
messer die  drei  alten  „geschlechter"  im  futhark  deutlich  unterschieden 
werden,  und  dasselbe  liefert  somit  einen  direkten  beweis  dafür,  dafs 
diese  einteilung,  wie  ich  in  meiner  abhandlung  vorausgesetzt  habe, 
dem  gemeingermanischen  runenalphabet  angehört  hat,  nicht  speciell 
im  Norden  entstanden  ist. 

Einige  durch  meine  lesung  der  s-rune  auf  dem  Themsemesser 
in  Runeskr.  opr.  1874  hervorgerufene  bemerkungen  von  Stephens 
(III,  s.  159  f.)  sind  natürlich  nicht  zuverlässiger  als  seine  übrigen 
auseinandersetzungen  bei  ähnlicher  gelegenheit,  und  ich  habe  mich 
daher  nicht'veranlasst  gesehen,  in  den  vorhergehenden  Untersuchungen 
über  das  aiphabet  des  Themsemessers  denselben  irgend  welche  bedeu- 
tung  beizulegen  oder  überhaupt  darauf  rücksicht  zu  nehmen.  Dafs 
ich  hieran  recht  gethan  habe,  zeigen  ja  die  jetzt  vorliegenden  that- 
sachen. 

S.  125  z.  12  V.  0.  Hinter  dem  worte  „schliefst"  füge  man  hin- 
zu: und  ich  halte  es  also  für  unrichtig,  dafs  sie  auf  dem  original  im 


SCHLUSSBEMERKUMGEN.  385 

altnordischen   museum    in   Kopenhagen    (und    darnach    auf  der  um- 
stehenden Zeichnung)  zusammengefügt  worden  sind. 

S  127.  Lange  nachdem  dies  niedergeschrieben  war,  tinde  ich 
in  „Svensk  Literaturhistoria  af  H.  Schuck",  1.  haftet,  Stockh.  1885, 
s.  28,  dafs  S.  ßugge  in  einer  neuen  nicht  veröflenllichten  und  mir 
leider  unbekannten  deutung  der  älteren  runen  auf  dem  Röker  steine 
jetzt  gleichfalls  dessen-  1^  in  der  bedeutung  a  fafst  und  wie  ich  das 
erste  wort  sagwm  liest.  Ob  Bugge  nun  auch  dem  }]  der  Fonnaser 
spange,  das  für  mich  den  ausgangspunkt  für  die  neue  erklärung  des 
Zeichens  auf  dem  Röker  steine  bildete,  dieselbe  bedeutung  zuerteilt, 
ist  mir  dagegen  unbekannt. 

S.  132  oben.  Um  misverständnissen  vorzubeugen  hebe  ich  her- 
vor, dafs  die  westgermanischen  sprachen,  obgleich  sie  in  mancherlei 
lallen  frühzeitig  das  gemeingerm.  -s  abwarfen,  doch  bekanntlich  in 
einer  reihe  von  formen  ein  aus  s  entstandenes  r  aufweisen:  ahd.  as. 
mer  =  got.  mais,  ahd.  rör  =  got.  raus,  ahd.  er  =  got.  is,  ahd.  ar,  ur 
=  got.  US,  und  im  inlaul  ist  z  überall  als  r  bewahrt:  ahd.  as.  toärun 
=  got.  tcestm,  ahd.  öra,  aengl.  edre  =  got.  ausö,  gleichfalls  in  der 
got.  Verbindung  zd:  ahd.  hört,  as.  aengl.  hord  ==  got.  huzd  u.  s.  w. 
Während  die  beiden  etymologisch  verschiedenen  r-laute  im  Norden 
bis  in  sehr  späte  zeit  unterschieden  wurden,  scheinen  sie  im  west- 
germanischen sehr  früh  lautlich  zusammengefallen  und  beide  durch 
die  rune  R  ausgedrückt  zu  sein.  Auf  jeden  fall  konnte  die  rune  Y 
mir  ihrem  ursprünglichen,  dem  nordischen  elg/i  entsprechenden  namen 
im  westgermanischen  natürlich  nicht  als  zeichen  für  das  aus  z  ent- 
standene r  gebraucht  werden,  nachdem  z  (r)  als  nominativendung 
abgefallen  war. 

S.  211.  In  dem  ursprünglichen  Eupifdgaz  war  eu  vielleicht 
schon  in  gemeingerm.  zeit  wegen  des  folgenden  i  zu  iu  geworden; 
jedenfalls  aber  im  nordischen  zur  zeit  des  Reidstader  Steines, 
dessen  iu  also  genau  die  damalige  ausspräche  bezeichnet  und 
keinen  beweis  dafür  abgibt,  wie  urspr.  eu  in  andern  tällen  be- 
handelt wurde. 

S.  213.  Eine  neue  Untersuchung  des  brakteaten  von  Tjörkö  im 
Stockholmer  museum,  die  ich  im  sommer  1886  anzustellen  gelegen- 
heit  hatte,  überzeugte  mich,  dafs  derselbe  in  Wirklichkeit  das  ver- 
mutete ^r,  nicht  ^^,  hat,  wenn  gleich  der  eine  nebenstrich  des  ^  sehr 
schwach  hervortritt,  was  ohne  zweifei  bereits  im  stempel  der  fall  ge- 
wesen ist. 

WIMMER,    Die  runeuschrift,  25 


386  SCHLUSSBEMERKUNGEN. 

S.  230  f.  Eine  neue  abbildung  des  Räfsaler  Steines  nach  dem 
original  mit  genauen  angaben  über  jede  einzelne  rune,  die  vollständig 
bestätigen,  was  ich  über  die  Inschrift  ausgesprochen  habe,  findet  sich 
in  „Bohusläns  runinskrifler.  Af  S.  Boije"  s.  5  ff .  mit  tafel  (separat- 
abdruck  aus  „Bidrag  tili  Göteborgs  och  Bohusläns  hisloria",  9.  haftet). 
S.  292.  Das  wi- zeichen  der  Heisinger  runen  geht  natürlich  von 
der  m-form  T  des  Röker  Steines  aus,  indem  der  hauptslab  wie  ge- 
wöhnlich fortgelassen  und  der  nebenstrich  in  zwei  punkte  aufgelöst  ist. 
S.  339  f.  u.  345  f.  Über  die  ausdrücke  puU,  få,  marka  vgl. 
jetzt  Müllenhoff,  Altertumskunde  V,  s.  288  ff. 

Ich  füge  nur  noch  hinzu,  dafs  ich  in  meiner  abhandlung  ab- 
sichtlich beide  namen  ftithark  und  futhork  vom  runenalphabet  ge- 
braucht habe.  Den  ersteren  wende  ich  nämlich  in  den  fällen  an, 
wo  die  vierte  rune  die  bedeutung  a  oder  q  hat,  den  letzteren,  wo 
sie  in  der  bedeutung  o  steht. 

So  weit  die  fertigen  bogen  mir  bis  jetzt  im  reindruck  vorliegen, 
habe  ich,  abgesehen  von  einzelnen  Inkonsequenzen  in  der  Schreibung, 
die  der  leser  entschuldigen  möge,  folgende  d ruckfehler  entdeckt: 
s.  4  z.  3  v.  u.  vernichten  1.  verwischen 
s.  23  z.  22  V.  u.  p  1.  p; 
s.  62  z.  3  V.  u.  veitvods  1.  weitxcods 
s.  64  z.  17  V.  u.  hinler  ^,spange"  fehlt:  a 
s.  92  z.  6  V.  u.  ajin  1.  djin 
s.  106  z.  9  V.  u.  ormen  1.  formen 
s.  107  z.  4 f.  V.  u.    1.   zur   bezeichnung   des   für   unsere   sprach- 

familie  charakteristischen  lautes  p 
s.  109  z.  6  V.  o.  hinter  „das"  fehlt:  erstere 
s.  134  z.  20  V.  0.  (5^  1.  P^ 
s.  135  z.  1  V.  o.  ^  1.  ^ 
s.  144  z.  21  V.  u.  XC  VI  1    XCVII 
s.  180  z.  11  V.  u.  Olafssons  1.  Olafssons 
s.  223  z.  18  V.  u.  guttural-   1.  dental- 
s.  224  z.  1  V.  u.  sie  sich  1.  ich  sie 
s.  268  z.  13  V.  u.  1  1.  11 
s.  230  z.  1  V.  0.  Äsbirou  1.  Asbiron 

Kopenhagen,  im  februar   1887. 


Eegister*). 


a-rune  ^.  Urspning  92.  99.  101. 
Der  ursprüngliche  name  ansuz 
\Niirde  im  altengl.  6$^  und  ^  spal- 
tete sich  hier  allmähligh  in  die 
drei  runen  ^  o  F^  a  1^  cp  33.  194  f. 
200  anm.  1.  Im  Norden  wurde 
der  name  ansuz,  ansuR  zu  qsuR, 
qss,  qss,  dss,  und  ^,  später  ^, 
zeichen  für  svarabhaktisches  a 
(auf  dem  steine  von  Istaby), 
später  allgemein  für  nasaliertes  a 
195  f.  198  f.  200  f.  Als  die  na- 
salierung aufgegeben  wurde,  mit 
+a  vermischt  202.  Erst  spät  wird 
^,  ^  mit  dem  aus  dem  altengl.  6s 
herrührenden  namen  öss  zeichen 
für  0    193  f.    196  f. 

a-rune  +  s.  j-rune. 

æ-rune  im  altengl.  s.  a-rune  K 
Spätere  im  Norden  +  256. 

Arhuser  stein  253. 

Arrilder  stein  356.  359. 

o 

Aser  steine  247  ff. 
Astrunen  s.  Zweigrunen. 
Astruper  stein  181.  203. 
b-rune  ^.    Ursprung  96.  101.   Im 
Norden   frühzeitig  auch  zeichen 


für  p  (vgl.  p-rune).  Als  t  im 
anlaut  in  b  überging,  wurde  das 
alte  zeichen  ^  sowohl  für  die 
muta  b  wie  fur  die  spirans  b 
(im  in-  und  auslaute)  gebraucht. 
Später  ging  d  im  auslaute  in  v 
über,  und  als  zeichen  dafür  wurde 
die  f-rune  verwendet  221.  Die 
formen  J5,  i\  208. 

Barser  taufstein  180  f. 

Bautasteine  306.  311. 

Bellander  stein  149.  156  anm. 
303. 

Bergaer  stein  149.  155  anm. 
160.  165.  303. 

Bilderschrift  der  felsenritzungen 
aus  dem  broncealter  1.  171. 

Björketorper  stein  149.  160. 
163.  199  anm.  1.  200  anm.  2. 
203.  209  f.  217.  219  anm.  1.  304. 

Blekinger  steine  mit  alteren 
runen  s.  Björketorp,  Gonunor, 
Istaby,  Stentofte. 

Böer  stein  149.  160.  163.  303. 

Brakteat  aus  Norddeutsch- 
land 56.  63.'  (vgl.  Dannenberg, 
Wapno). 


*)  Hierin  sind  alle  inschriften  mit  den  älteren  runen  und  von  den 
jüngeren  nordischen  inschriften  mit  der  kürzeren  runenreihe  diejenigen 
aufgenommen,  welche  dazu  verwertet  sind  die  entwicklung  der  runenschrift 
nachzuweisen,  dagegen  nicht  die  grofse  anzabi  derer,  die  nur  beispielsweise 
aus  sprachgeschichtlichen  gründen  angeführt  worden. 

25* 


388 


REGISTER. 


Brakteaten,  nordische  76  f. 
anm.  88.  304  anm.  (vgl.  Skodborg, 
Tjörkö,  Vadstena,  Varde). 

Bratsberger  stein  149.  156  anm. 
163.  303. 

Buchstabenschrift.  Erstes  auf- 
treten im  Norden  1. 

Bukarester  ring  57.  63.  146. 
163.  169. 

c-rune  H  256. 

Charnayer  spange  58.  75.  77  ff. 

134.  146.  164.  169. 
"Chilperiks     buchstaben     72  f. 
anm.  3. 

d-rune  M.  Ursprung  108  f.  Jün- 
gere formen  109.  123.  Als  muta 
gebraucht  in  der  Verbindung  nd'> 
135  anm.  1.  223  f.,  in  der  Ver- 
bindung Id  224.  Als  d  im  an- 
laut  zu  d  wurde,  wählte  man  als 
zeichen  für  die  muta  d.  T,  für 
die  Spirans  å  V  220  f.  222.  t>  256. 

Dalbyer  diadem  s.  Strårup. 

Danevirker  stein  206  anm.  1. 
252.  304. 

Dannenberger  brakteaten  56. 

e-rune  M.     Ursprung    92.    102  f. 

Die  form  f]  103.    Später  durch 
,  I  ausgedrückt  213.  215  f.  217  f. 

♦    252  ff. 
Einanger    stein    64.    149.    160. 

163.  296.  303.  306. 
Einwanderungen    neuer   Völker 

nach   dem  Norden  im  jüngeren 

eisenalter  fanden  nicht  statt  3  ff. 

185  ff. 
Ei  sen  alter  im  Norden.    Perioden 

Iff. 
Elgesemer  stein   151.  301.  304 

anm. 
Emser  spange  59.  147.  169. 
Engerser  spange  59  f.   65.  135. 

146.  169.  209.    - 


Etelhemer  spange  151.  163.  169. 
304. 

f - r u n  e  r.    Ursprung  93 .  94  f.  96 f. 

99  f.    101.      Bedeutung  /  und  v 

vgl.  b -rune.     (f  v  256.) 
Felsenritzungen  s.  Bilderschrift. 
Flemleser  stein  6.  158.  168.  171. 

231  anm.  1.  304.  347  ff. 
Fonnaser  spange    122  anm.   1. 

151.  169.  209.  212  anm.  1.  304. 
Förder  stein  151.  304  anm. 
Forsaer  ring  290  f. 
Frederiksberger   amulet(?)  s. 

Valby.- 
Freilaubersheimer  spange  59. 

62.  64.  134.  146.   164.  209. 
Frerslever  stein  127.  232  anm. 2. 

314  anm. 
Friedberger  spange  59.  65.  146. 

169.  224. 
Frøhover      broncefigur      148 

anm.   1. 
Frøslever  runenstab  97  anm.  1. 

g-rune  X.  Ursprung  113  ff.  138 
anm.  1.  Als  ^  im  anlaut  in  g 
überging,  wurde  X  eine  zeit  lang 
für  beide  laute  verwendet,  später 
aber  von   der  k-rune  verdrängt 

221.  222  f.     V  252  ff. 
Gallehus  s.  Goldenes  horn. 
Gallische  schrift  173  ff. 
Gesingholmer  Inschrift  245. 
Glavendruper    stein    150.    168. 

171.  304.  359  ff. 
Glemminger  stein  298. 
Goldenes  horn  146.  163. 171.303. 
Gommorer    stein    199    anm.    1. 

222.  304. 

Gregor  von  Tours  72  f.  anm.  3. 
Gunderuper  stein,  der  kleinere, 

293  f. 
h-rune  H  H-  Ursprung  91.  94.  101. 


REGISTER. 


389 


Die  formen  H  H     106    anm.    1. 

Jüngere  westgerm.  form  Kl   101  f. 

Im  Norden    wii'd  HH    zwischen 

800—900  zu  ^   203  f.     Später 

auch    zeichen   für  g.   256.      Die 

form  ♦   208  anm.  290. 
Hagb^er  stein  s.  Möjebro. 
Hallestader  stein  253. 
Hammeler  stein  355  f. 
Haverslunder  stein    156    anm. 

231. 
Hedebyer  stein  168  anm.  1.  252  f. 
Heisinger  runen   13.  15.  291  f. 

386.  (vgl.  Forsaer  ring). 
Helnæser  stein  6.  158.  168.  171. 

304.  341  ff. 
Himlingöjer    spange  146.    163. 

169.  303. 
Hobroer  stein  246  f.  323. 
Hohenstadter  spange  59. 
Höjetostruper  stein  s.  Kallerup. 

i-rune  I.    Ursprung  91  f.  101. 

ih-  (eoh-)rune  "t  4^.  Bedeutung 
und  Ursprung  134  ff.  142.  210. 
212.  273  f. 

Istabyer  stein  121.  149.  160. 
163.  199  anm.  1.  200  anm.  2.  203. 
217.  222.  304. 

j-rune  H.  Formen  und  Ursprung 
121  ff.  Der  ursprüngliche  name 
J&ra  wird  im  Norden  Jäi^a,  ära, 
år,  und  die  rune  (H,  später  ^, 
}J,  >|c  und  endlich  zwischen 
800  —  900  das  aus  diesem  letzten 
entstandene  +)  kam  eine  zeit  lang 
als  lautzeichen  aufser  gebrauch, 
als  ^  das  allgemeine  a-zeichen 
war,  wurde  aber  später  das  regel- 
mäfsige   zeichen  für  a,   während 

.  ^  das  nasalierte  a  ausdrückte 
(vgl.  a-rune  ^)  194.  198.  199  ff. 
203.      Der  laut  y  durch  I   aus- 


gedrückt 216.  234.    Die  form  i 

208.  256.  294. 
Jædersche     runeninschriften 

290. 
Jællinger  stein,  der  gröfsere  7. 

159  f.  168.  171.  .304. 
Jællinger  stein,  der  kleinere  7. 

168.  304. 
Järsberger  stein  s.  Vamum. 

k-rune  <.  Ursprung  95.  99.  101. 

Wird  altengl.  k  81.  87,  im  Nor- 
den AY,   später  Y  80  f.  206. 
Kälfvestener    stein    205.    208. 

290. 
Kalleruper   stein    7.   156  anm. 

168.  171.  203.  304.  335  ff. 
Kinnevader    stein     151.     169. 

304  anm. 
Kirkeboer  stein  304.  311  f.  322. 

353. 
Körliner   ring  57  f.   64  anm,  1. 

146. 
Koveler    speerblatt    57.    61  ff. 

135.  146.  163.  169.  272. 
Kragehuler  lanzenschaft  123 ff. 

135.    146.    149.  163.  168  f.  195 

anm.  1.  303, 
Kragehuler     messerheft     (?) 

125  f.  anm.  1.  209.  303. 
Krogstader  stein  149,  155  anm. 

160.  163.  171.  212  und  anm.  1, 

218  anm.  1.  303. 

1-rune  r.  Ursprung  105.  110  f. 
Jüngere  formen  k  Y  auf  der 
Chamayer  spange  81.  105.  Stand 
ursprünglich  hinter  der  m-rune 
(s.  diese). 

Læborger  stein  168. 

Lindholmer  schlänge  125  anm. 
1.    149.  164  f.  168,  209,  .303. 

m-rune  M.     Ursprung  103  f.    Im 


390 


REGISTER. 


Norden       wird      M      zwischen 

800—900  zu  ^  Y   204  f.     Die 

seltene  form   *f     205     anm.    1. 

t  208  anm.  289  f.     Die  m-rune 

stand  ursprünglich  vor  der  1-rune 

und  wurde  erst  sehr  spät  Muter 

diese  gestellt  235  ff. 
Maeshower   runeninschriften 

236  ff. 
Magische  runeninschriften 

57  f.    anm.  5.    122  anm.  2.  125  f. 

anm.  1.  142.  168.  212.  234. 
Mansche      runeninschriften 

290. 
Markomannische  runen  14. 
Möjehroer  stein  149.  160.  165. 

169  f.  171.  303. 
Mønsteder  stein  181. 
Moorfunde,  dänische,  aus  dem 

eisenalter  1  ff .  302  f. 
Muncheberger    speerblatt  57. 

61.  63.  146.  163.  169. 

n-rune  +  +.  Ursprung  105  f.  Die 
formen  +  +  106  anm.  1.  Jüngere 
formen  \-  Y  (?)  106  f.  Seit  c.  700 
im  Norden  nur  +  203,  h  208. 
294. 

Næsbjærg  s.  Varde. 

Nordendorfer  spange  a58.  64f. 
134  anm.  135.  146.  157  anm. 
163.  167.  169.  209. 

Nordendorfer  spangeb  58.  146. 
163.  209. 

Norrenæråer  stein  168.  198  f. 
298.  304.  356  ff. 

Nydamer  runenpfeile  57  f.  anm. 
5.  303. 

D-rune  ^.  Formen  und  Ursprung 
115  ff.  Bedeutung  155  anm.  1. 
223.  Statt  ♦  wird  +X,  +X< 
geschrieben,  später  Ki+K)  212  f. 


0 -rune  5^.  Ursprung  92.  96.  107. 
Ulf.  anm.  1.  Die  form  ^  des 
Themsemessers  107.  123.  Im 
altengl.  frühzeitig  zeichen  für  æ 
200  anm.  1.  Im  Norden  später 
durch  n  ausgedrückt  213  ff.  218  f. 
Im  jüngsten  runenalphabet  ^ 
zeichen  für  o  256  (vgl.  a-rune  ^). 

0-rune  im  altengl.  s.  o-rune. 
Spätere  im  Norden    ^  256. 

Örjaer  stein  203.  304.  352  f. 

Orstader  stein  149.  160.  163. 
2141  304. 

Osthofener  spange  59.  146. 
163.  169. 

p-rune  T.  Formen  und  Ursprung 
1 1 6  f.  Im  Norden  frühzeitig  von 
^  verdrängt  113.  209  f.  B  und 
B  256. 

Punktierte  runen  252  ff. 

r-rune  R.  Ursprung  91.  94.  101. 
Verhältnis  zwischen  R  und  YÅ 
130  ff.  241.  295  ff    385. 

R-rune  Y/k.  Form,  bedeutung, 
name  128  ff.  Ursprung  133  f. 
Seit  c.  700  nur  die  form  A  205, 
bisweilen  i  208.  289  ff.  Platz  und 
name  im  kürzeren  futhark  im 
Verhältnis .  zu  denen  des  längeren 
futharks  241  ff.  251.  ■ 

Räfsaler  stein  230  ff.  304  309. 
386. 

Reidstader  stein  149.  160.  163 f. 
210  ff.  223.  304. 

Röker  stein  127.  208  anm.  1. 
232  anm.  2.  234.  289  f.  296  anm. 
304.  385. 

Röhninger  stein  378  ff. 

Runenalphabete  mit  älteren 
runen  auf  alten  denkmälern  74  ff. 
Handschriftliche   altenglische  71. 


REGISTER. 


391 


83ff.  130  anm.  2.  Mit  jüngeren 
runen  auf  alten  denkmälern  181  f. 
236  ff.  240.  254  f.  Handschriftliche 
nordische  235  f.  (aus  St.  Gallen). 
240.  255. 

Runengedicht,  altenglisches  83 
und  anra.  3.  132.  Altdeutsches 
235  f.  anm.  1."  Altnonvegisches 
180.  197  anm.  1.  240.  275  ff. 
Isländische  runenreimereien  180. 
197  anra.  1.  240.  281  ff. 

Runengeschlechter  (^ttir)  135. 
140.  142.  180.  238.    .384. 

Runenhandschrift  des  schoni- 
schen  gesetzes  256. 

Runeninschriften.  Verbreitung 
56  ff.  Alter  im  Norden  2.  5  ff. 
21.  300ff.  Aufserhalb  des  Nordens 
65  ff.    Die  altenglischen  87. 

Runenkalender,  norwegischer 
127.  234.  .304. 

Runenmünze,  aus  Friesland  57 
anra.  1.  Aus  Holland  57  anm.  1. 
Aus  England  87  f. 

Runennamen  71  f.  140  f.  142  f. 
180  f.  271  ff.  276  ff. 

Runenreimerei,  isländische  s. 
Runengedicht. 

Runenstäbe  70.  97  anra.  1. 

Runensteine  nur  im  Norden  74. 
Alter  und  Verbreitung  in  den 
verschiedenen  nordischen  länderu 
74.  305  ff.  Auf  Island  keine  aus 
der  heidenzeit  310  ff.  Im  Innern 
von  grabhügeln  errichtet  301. 
307  ff.  .358  f. 

Runenähnliche  zeichen  in  ver- 
schiedenen inschriften  60  anm.  1. 
148  anm.  1. 

Ruthweiler  kreuz  73.  134.  224. 

s-rune  ^\.  Ursprung  92.  99. 
101.   Die  formen  ^  X  106  anm.  1. 


Jüngere  formen  102.  123.  Das  I 
des  Themsemessers  82  384.  Im 
altengl.  frühzeitig  H  87.  Im  Nor- 
den ebenso  H  f«!  203.  Die  form 
I*   82.  208.  256.  294. 

Saxo  Gramraaticus  70. 

Sjöruper  stein  253. 

Skäänger  stein6.3.149. 160.165f. 
167  f.  anm.  2.  169.  210  anm.  1. 
303.  367. 

Skärkinder  stein  149.  165. 
303. 

Skodborger  brakteat  121  f. 

Snoldelever  stein    7.   156  anm. 

168.  171.  304.  337  ff.  359. 
Sölvesborger    stein    156    anm. 

203.  227  ff.  232  anm.  1.  304.  309. 
Sondervissinger  stein  244 ff. 
Stablose     runen     s.     Heisinger 

runen. 
Stenstader  stein  149.  156  anm. 

160.  163.   165.  169.  203.  .303. 
Stentofter  stein  149.  160.  163. 

199    anra.  1.    200   anm.  2.     209. 

217.  219  anm.  1.  222.  304. 
Strander  stein  149  f.  160.  163. 

222.  224.  303. 
Straruper    diadem    146.     163. 

169.  303. 

t-rune  T.  Ursprung  101.  Die 
form  T  des  Koveler  Speeres  98 
anm.  1.  101.  109.  Die  form  1 
208.  256.  294. 

Tacitüs  65  ff. 

Tanemer  stein  149.  169  f.  304. 

Tanumer  stein  149.  156  anm. 
160.  163.  303. 

Therasemesser  (-schwert)  75. 
82  ff.  123.  208  anm.  1.  240  383f. 

Thornhiller  stein  134. 

Thorsbjærger  schildbuckel 
148.  165  anm.  1.  169.  303. 


392 


REGlSTIiK. 


Thorsbjærgcr     zwinge    104  f. 

146.  163.  168  f.  303.  381. 
Tjörköer   brakteat    165.  213  f. 

224.   232  anm.  1.  304.  385. 
Tomstader  stein  149.  160.  164. 

300.  303. 
Torcelloer  speerblatt  57  anm. 4. 
Torviker  stein  a  149.  160.  166  f. 

224.  303. 
Torviker  stein  b  149.  160.  163. 

212   und   anm.  1..      213    anm.  1. 

222  f.  304. 
Tryggevælder   stein   168.    171. 

304.  369  if. 
Tuner  stein  62.  135.  152ff.  160. 

164  f.  303. 

|)-rune  K       Ursprung    96.    109. 
Name  197.  272. 

u-rune  PI.  Ursprung  93.  105.  111. 

v-rune   s.  b-  und  f-rune.    F  256. 
w-rune  P.     Ursprung  119  f.  Ums 

jähr  800  im  Norden  von  der  u- 

rune  n  verdrängt  227  ff. 
Vadstenaer  brakteat   75.  761". 

122.  163.  304. 
Valbyer  amulet  (?)  76  f.   anm.  1. 

212. 
Valdbyer   stein   304.   307.  358. 


Valløbyer    broncegefäfs     148 

anm.  1. 
Valsfjorder  inschrift  151.  160. 

163.  224.  303. 
Vangaer  stein  149.  160.  163.  303. 
Wapnoer  brakteat  56. 
Varder  brakteat  211  anm.  1. 
Varnumer  stein  149.  158  anm.  1. 

160.    164.    168.   216.  221.  303. 
Vatner  stein  225  ff.  304.  307. 
Veblungsnæser  inschrift  149. 

160.  163.  3Ö3. 
Vedelspanger  stein  256.  293. 
Vedtofter  stein  s.  Voldtofte. 
Vejerslever  stein  245. 
Venantius  Fortunatus  68  ff. 
Vimose-hobel    148.    163f.    165. 

169.  303. 
Vimose-kamm     63.    146.    166. 

169.  303. 
Vimose  -  spange    147.    169.  303. 
Voldtofter  stein  354  f. 
Wulfilanisches  aiphabet  71  f. 

108  anm.  1.  114.  128.  259  ff. 

y-rune     241  ff.     (vgl.    R-rune). 
250  f.  253. 

z-rune    s.    R-rune.     ^  256. 
Zweigrunen  238  ff. 


TAFELN. 


Bemerkung  zu  den  alphabettafeln. 


Durch  -  wird  angedeutet,  daCs  der  belrelfende  buchstabe  in  den  inschriften, 

nach  denen  die  alphabete  zusammengestellt  sind,  nicht  als  lautzeichen  in  gebrauch 

gewesen  ist;  durch  •• ,  dals  er  zufallig  in  den  inschriften  nicht  vorkommt,  aber 

s.  270.  unzweifelhaft   üblich   war;    durch  ?,    dafs   er  nicht   nachgewiesen    werden   kann, 

und  dals  es  unsicher  ist,  ob  er  vorhanden  gewesen. 

Im  übrigen  werden  die  griechischen  buchstaben  überall  (ausgenommen  in 
dem  „griechischen  grundalphabet")  in  den  formen  aufgeführt,  die  angewandt 
werden,  wenn  die  schiift  von  links  nach  rechts  geht.  Da  die  inschriften 
von  Thera  sowohl  wie  mehrere  andere  von  den  ältesten  inschriften  auch  von 
rechls  nach  links  laufen,  so  kommen  natürlich  auch  formen  vor,  die  sich  nach 
der  entgegengesetzten  seite  wenden  (also  z.  b.  in  der  reibe  no.  1  "^  ^  u.  s.  w. 
=  f  ^  ^  u.  s.  w.).  Von  den  verschiedenen  formen  in  no.  1  für  ß,  y,  ',  /n  ist 
die  letzte  besonders  melisch  ("]  scheint  ein  rest  aus  der  zeit  zu  sein,  wo  die 
Schrift  von  rechts  nach  links  ging).  In  no.  3  gehört  die  form  \^  für  A  be- 
sonders Böotien  an.  Die  in  no.  6  fehlenden  zeichen  für  s  und  f  kommen  in 
inschriften  auf  vasen  ,  die  dasselbe  aiphabet  gebrauchen,  in  den  formen  C  und 
I  vor.  im  ionischen  aiphabet  (no.  8)  gehören  die  zuerst  angeführten  formen 
einer  älteren  stufe  an,  die  letzten  ungefähr  dem  jähre  450,  und  dies  ionische 
aiphabet  stimmt  somit  fast  gänzlich  mit  demjenigen  überein,  das  50  jähre  später 
gemeingriechisch  wurde.  In  dem  aiphabet  von  Argos  (no.  11)  gehört  ^ 
=  a  nur  den  ältesten  inschriften  an,  während  die  jüngeren  ^  und  demnächst 
^  haben;  natürlich  tritt  ^  in  der  bedeutung  /x  erst  zu  der  zeit  auf,  wo  es 
nicht  mehr  die  bedeutung  a  hatte.  Dieselbe  bemerkung  gilt  auch  von  andern 
reihen,  wo  dasselbe  zeichen  zuweilen  mit  verschiedener  bedeutung  vorkommt; 
das  beruht  selbstverständlich  auf  einem  Zeitunterschiede.  Wenn  wir  z.  b.  in 
no.7  I  '^  y,  aber  auch  =  t  finden,  so  ist  es  klar,  dafs  |  in  der  bedeutung  y 
mit  den  älteren  formen  von  i  gleichzeitig  gewesen  ist;  bevor  i  die  ge- 
stalt I  annahm,  muls  auch  y  seine  form  verändert  haben,  wenn  wir  gleich  zu- 
fällig nicht  nachweisen  können,  worin  die  Veränderung  bestanden  hat. 

Im  altsemitischen  aiphabet  oben  auf  der  tafel  ist  für  teth  die  form  ein- 
gesetzt, die  sich  auf  den  bruchstücken  von  Cypern  findet  und  als  die  gewöhn- 
liche altsemitische  anzusehen  ist;  auch  die  zeichen  für  zajin,  /ieth,  lämed  und 
täw  gehören  diesen  inschriften  an.  Dafs  das  wäw-zeicben  sowohl  auf  seinen 
ursprünglichen  platz  wie  auch  ans  ende  des  alphabetes  gestellt  ist,  soll  be- 
zeichnen, dals  sowohl  griechisches  ^  wie  v  von  ihm  ausgeht. 
>  Auf  der  zweiten  tafel,  wo  die  alten  italischen  alphabete  wiedergegeben 
werden,  findet  sich  zu  oberst  ein  „altgriechisches  aiphabet  in  Italien",  welches 
aus  den  formen  der  alten  inschriften  zusammengestellt  ist  (vgl.  taf.  I,  no.  2  und 
no.  6 — 7),  und  aus  welchem  sich  alle  italischen  alphabete  erklären  lassen.  In 
den  reihen  6,  8  und  11  sind  ein  paar  selten  vorkommende  zeichen  in  klammern 
gesetzt. 

Was  sonst  der  erklärung  bedürfen  könnte,  wird  sie  im  texte  gefunden  haben. 


d 

8 

A 
A 

1    D 
I>A 
> 
IDA 

Tafel  I. 

(VVJ 

•'   Y   ^        •        •        \ 

V                         ■                  :                 : 

''•il 

Y                      ! 

'         i 

KYV 

! 

4     , 

(p       ,     X 

[^] 

:        K 

1 

rp      :     Y 

- 

;  VK 

i 
+     i 

04)      VY 

- 

V 

+ 

(D     ^    V 

X 

VY 

X 

ød),    \i/Y 

- 

:DA 

:  VY 

1 

X    1 

øcD  :  V 

DA 

A 
A 

A> 

D 

DA 

IVY 

1 

+    1 

0                 vl^ 

- 

^      ! 

5C      j     w 

CO 

Y 

1 

4) 

1 
X    '  VY 

Q. 

Y 

1 

X     y 

QU) 

:  KV 

000' 

X+       Y 

- 

1  YV 

i 

(D4> 

1 

x+      ? 

- 

:   VY 

• 

x+  '   - 

1 

- 

-.-oHr.Ii'J.. 

Anfit.u.Swmdr.  V.  C  X.KeU 

ei,Ber]ir..S. 

Tafel  III. 


Fig.  1. 


Der  brakteat  von  Vadstena. 
Fis.  2. 


^ 


h 


AA 


IL 


^ 


«HC- 

äs 


pH 
W 

G> 
O 

to 
•Pi 

0)1 

^i 

Hi 

cdf 

Tj; 

.d 

U\ 
**   i 


•o  i 

3: 


c« 

H 
Q 


Ü 

Ö 

O 

li 
Q 


Unhetsity  of  Torente 
library 

DO  NOT 

REMOVE 

THE 

CARD 

FROM 

THIS 

POCKET 


Acme  Library  Card  Pocket 

Vmütx  P«t  "Ref.  Inda  Ffle" 

Made  by  LIBRARY  BUREAU 


t^J^'.M^ 


Mi 


'■»': 


'Ø^Mt 


JW 


mm. 


,^,  ^v^^-^-4^^^ 


— ^  .    «       Kri;        .  ^       I 


*•*.' 


it' 


*^.v;->»%