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Becker, Hans Philipp Ottc
Die Satire Jonathan
Swifts
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DIE
SATIRE JONATHAN 8W1FT8
INAUGURAL-DISSERTATION
ZUR
ERLANGUNG DER DOKTORWÜRDE
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EINER
HOHEN PHILOSOPHISCHEN FAKULTÄT
UNIVERSITÄT MARBURG
VORGELEGT
VOK
H. PH. OTTO BECKER
AUS FRANKFURT A. M.
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MARBURG A. L. 1913
DIE
SATIRE JOiNATHAN 8WIF1\S
INAUGURAL-DISSERTATION
ZUR
ERLANGUNG DER DOKTORWÜRDE
EINER
HOHEN PHILOSOPHISCHEN FAKULTÄT
DER
UNIVERSITÄT MARBURG
VORGELEGT
VON
H. PH. OTTO BECKER
AUS FRANKFURT A. M.
€^-
MARBURG A.L. 1913
Von der pliilosoiiliischen Fakultät als Dissertation angenommen
am 27. Februar 1911.
Referent: Prof. Dr. W. Victor.
Druck von Ehrhardt Karras, Halle a. S.
Meinen lieben Eltern
Digitized by the Internet Archive
in 2010 with funding from
University of Toronto
http://www.arcliive.org/details/diesatirejonathaOObeck
Inhalt.
Seite
I. Einleitung 1
1. Die heutig-e Definition des Humors und der Satire .... 2
2. Die Wandlungen des Begriffs Humor 5
3. Swifts Stellung zu Humor und Satire 8
II. Allgemein (Charakteristisches über die Satire ,1. Swifts 14
1. Swifts Persönlichkeit und Charakter 14
2. Das gegenseitige Verhältnis seines Humors und seiner Satire 17
3. Die Bedingungen für die Wirkung seiner Satire . . . . 21
4. Der Pessimismus 25
III. Die Passive Komik 31
1. Die Anschauungskomik 31
2. Die Komik der Sprache 35
3. Die Situationskomik 35
4. Die Charakterkomik 38
IV. Die Aktive Komik oder der Witz 45^
A. Der Formwitz 49
B. Der intellektuelle Witz 50
1. Das Spiel mit dem Unsinn ; . . . . ."^, 51
a) Die witzigen Erklärungen 51
b) Der witzige Rat öJ-rtfA- ^ K«yCv.6 54
c) Der Vexierwitz 56
d) Äußere Mittel 56
2. Die witzige Koordination 58
3. Die witzige Antithese 59
4. Die witzige Metapher 59
5. Die witzige Hyperbel 62
6. Die Karikatur 63
V. Dielronie.. 64
1. Die Bedingungen zum Entstehen der Ironie • . 64
2. Die Form der Ironie 67
a) Die Aussage 67
- Ijjt/^''^ Seite
1)) l'adel statt Lob 68
c) Lob statt Tadel 7i
3. Der Stil der Ironie 72
4. Die Mischarten der Ironie 74
5. Die Verteilung der Ironie 77
VI. Die Form der Satire 79
1. Die mimische Satire 79
2. Die groteske Satire 81
3. Die burleske Satire • ... 83
4. Die allegorische Satire 84
5. Die symbolische Satire 86
6. Die direkte Satire 88
Literatur.
Ausgaben :
1. The l*rose Works.
Edited by Temple Scott. 12 B. London 1908.
2. Letters of Jonathan Swift and his Friends.
Edited by Hawkesworth 1768 — 1775.
T. I— VI.
Klem. Aigner, G. v. Kabeners Verhältnis zu Swift. Pola 1905.
Otto Behaghel, Rewui^tes und Fnbewußtes im dichterischen Schaffen.
Gießen 190b.
H. Bergson, Le Rire. Paris 1900.
W. F. Chalmers, Charakteristische Eigenschaften von Stevensons
Stil. Marburg. Diss. 1903.
C. M. Dalrymple, Rudyard Kiplings Prosa. Marb. Diss. 1905.
Dan. .1. Davis, Stil Mrs. Humphry Wards. Marb. Diss. 1907.
E. Elster, Prinzipien der Literaturgeschichte. Halle 1897.
K.Fischer, Leber den Witz, Heidelberg 1889.
K. Fr. Flögel, Geschichte der komischen Literatur 1784 — 1787.
Liegnitz u. Leipzig.
H. Hettner, Geschichte der englischen Literatur. Braunschweig
1855.
W. Ho mann, H. Fielding als Humorist. Marb. Diss. 1908.
Dr. Franz Jahn, Das Problem des Komischen. Potsdam, ohne
Jahr (zuerst 1908).
W. E. II. Lecky, 1. B. (I. Scott) London 1908.
Franz liederer, Die Ironie in den Tragödien Shakespeares.
Berlin. Diss. 1907.
Th. Lipps, Komik und Humor. Leijjzig 1898.
VIII
H. Lötschert, W. M. Thackeray als Humorist. Marl). Diss. 1908.
Th, B. Macaulay, Essays (Addison), iiostoii 1893.
1). Masson, Essays biograpbical and critieal. Camhridg-e 1856.
Iv. Meye, Die politisclie Stellung;- .louatliaii Swifts. Leipzi^;- 1903.
K. M. Meyer, Swift und Liclitenberg. Berlin 1886. Deutsche
Stilistik. München 1906.
W. Minto, A Manual of Englisli Prose Literature. Edinb. 1886.
Dr. Jos. Müller, Das Wesen des Humors. München 1896.
.1. Paul, Vorschule der Aesthetik. Berlin, ohne Jahr.
W. Kaleigh, The English Novel. London 1904.
W. Kicken, Bemerkungen über Anlage und Erfolg der wichtigsten
Zeitschriften Steeles und Addisons EintluT) auf die Entwicklung
derselben. Elberfeld, Programm 1884.
H. Schneegans, Geschichte der grotesken Satire. Strasburg 1894.
W.Scott, Life of Swift. Edinburgh 1824.
G. Steinhausen, Geschichte des deutschen Briefes. Stuttgart u.
Leipzig 1889/1881.
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Fr. Spielhagen, Vermischte Schriften. Leipzig 1872.
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W. ■\1. Thackeray, English Humourists. London 1867.
P. Thierkopf, Dr. Swifts Gulliver und die franzrtsischeu Vt)r-
gänger. Magdeburg 1899.
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1837. 2. Aesthetik. Keutlingen u. Leipzig 1846.
R. M. Werner, Schriften über die Technik der Erzählung.
Deutsche Lit.-Zeit. XXX, Nr. 2, Jan. 1909.
I. Einleitung.
Der Name Jonathan Swifts ist mit dem Begriff der
Satire unlöslich verbunden. Fast alle sind darüber einig,
daß ihm auf diesem Gebiete die Meisterschaft zuerkannt
werden muß. „Der größte Satiriker der Weltliteratur", sagt
z. B. R. M. Meyek,') „bleibt wohl trotz dem Epiker Cervantes
und dem unvergleiclilichen Virtuosen Voltaire der Engländer
Swift, der allein fast die Härte besaß, ohne Abschweifen
immer auf das Herz des Gegners zu zielen."
Auch ander-e Biographen und Kritiker wie Taine. Hettnee,
wie MiNTO und Masson heben an seinen Schriften den Cha-
rakter des ausgesprochen Satirischen hervor.
Daneben fehlt es aber auch nicht an solchen, die zwar
die Mitwirkung- des satirischen Faktors nicht bestreiten, ja
sogar auf ihn die eigentümliche Färbung seiner Schriften
zurückführen, im allgemeinen aber Swift den Charakter des
Humoristen ganz oder teilweise zusprechen wollen. So
E. Gosse, mehr noch W. Scott und Leslie Stephen, Jean
Paul und W. M. Thackeeay.
Diese verschiedenen Bezeichnungen erklären sich zum Teil
daraus, daß die Definitionen der Begriffe des Humors und der
Satire noch nicht endgültig abgeschlossen sind, zum Teil auch
daraus, daß der Charakter des Humors und der Satire Je
1) Stilistik 214.
l5o<'k(!i', Die Satire .I<iii;itliiui Swilts.
nach der Gemütsart einer Nation verschieden entwickelt ist.
Zudem haben die Begriffe, vor allem der des Humors, da sie
ja so stark von dem Geistes- und Gemütsleben eines Volkes
abhängig sind, im Laufe der letzten Jahrhunderte große
Wandlungen durchgemacht. Endlich ^ und das ist wohl der
Hauptgrund für das Nebeneinander der zwei Beziehungen —
scheinen Humor und Satire oft in einer Person vereinigt zu
sein, und je nach dem Grade der Mischung oder Veranlassung
mehr das eine oder das andere hervorzutreten.
Die vorliegende Arbeit stellt den Versuch dar, durch
eine Analyse der Hauptwerke Swifts seinen Anteil an den
Gattungen des Humors und der Satire festzustellen. Im be-
sonderen aber will sie unter Berücksichtigung der Zeit-
verhältnisse und der persönlichen Anlagen Swifts den Cha-
rakter seiner Satire näher bestimmen, durch eine Übersicht
über die Eigentümlichkeiten. Bestandteile und die Erscheinungs-
formen, mit denen die Satire auf uns wirkt.
Ehe wir jedoch die Anal3'Se der Werke versuchen, seien
zuvor einige allgemeine Bemerkungen über das Wesen des
Humors und der Satire vorausgeschickt: wie wir heute die
beiden Gattungen erklären, was das 18. Jahrhundert darunter
verstand, und welche Stellung endlich Swift zu dem Problem
einnahm.
1. Die heutige Definition des Humors und der Satire.
Nach der Ansicht der modernen Theoretiker gehört der
Humor zu den höheren Formen der Komik, die meisten
halten ihn sogar für die höchste. Die Wirkung jeder Komik
beruht auf einem Kontrast. Während der Kontrast des ob-
jektiv Komischen durch die normale Anschauung unmittelbar
klargelegt wird, erkennen wir den humoristischen Kontrast
nur von einer höheren A\^arte aus. Der Humor ist keine
Eigenschaft, die wie die objektive Komik dem Handeln und
Leiden anhaftet, sondern eine individuelle, subjektive Art
des Fühlens und Denkens, eine Weltanschauung, die wir dm
Dingen entgegen bringen. Der Humor betrachtet die Welt
von dem hohen Stand})unkt des Idealismus; ihm erscheint
damit die Welt in ihrer Anmaßung als nichtig und lächerlich.
Diese Erkenntnis der Minderwertigkeit und der Wider-
sprüche des Lebens löst bei dem Humoristen die Unlustgefühle
aus, die das eine Glied des Kontrastes liefern. Aber bei
dieser widerspruchsvollen Erscheinung bleibt der Humorist
nicht stehen. Vielmehr stellt er auf Grund seiner weiten
optimistischen Weltanschauung den Unlustgefühlen Gefühle
der Lust entgegen. Nachdem er die Widersprüche erkannt
und beleuchtet hat, versucht er sie als Optimist heiter auf-
zulösen. Der echte Humorist liebt das Menschengeschlecht.
Anteilnahme am verlachten Objekt ist eine seiner Haupt-
tugenden. Er Aveist darauf hin, daß wdr alle nicht voll-
kommen sind, und nimmt sich deshalb selbst nicht von seinem
gutmütigen Spotte aus.
Dieses Anteilnehmen ist es auch, das den Humor, be-
sonders den des letzten Jahrhunderts, von den 'anderen
Gattungen des Komischen und Witzigen scheidet. In seiner
Anteilnahme darf der Humorist sehr weit gehen, er darf so-
gar den bittersten Tränen, der schmerzlichsten Enttäuschung
noch ein Lächeln zugesellen.')
Das Gebiet des Humors erfährt eine scharfe Umgrenzung
durch die Norm der moralischen Anschauung. ,.Wir ver-
tragen keinen Humor, kein Lachen, keine Versöhnung, wo
ein derbes Dreinschlagen am Platze ist." 2)
Das ist der Punkt, wo häufig die Satire einsetzt.
Die Satire hat manche Ähnlichkeit mit dem Humor, wie
sie denn auch häufig durcheinander geworfen wurden.
1) Elster 350. '^) Elster 349.
-i
Aber während dem Humor sowohl die Willensg-efühle wie
die Schicksalsgefühle zugäng-lich sind, bewegt sich die Satire
auf einem beschränkteren Gebiet: dem der Willensgefühle.
Die Schicksalsgefühle sind der Satire verschlossen. ') Deshalb
ist auch die Satire nicht wie der Humor beschaulicher Natur,
sondern sie ist aggressiv; sie verzichtet nicht darauf, um-
fassend ins Leben einzugreifen, sondern suclit darin gerade
ihre Haupttätigkeit. A\'egen dieser starken Betonung der
Willenstätigkeit und des Aggressiven ist der Satire das chole-
rische Temperament so günstig, während der Humor be-
sonders auf dem (gründe des phlegmatischen Temperaments
gedeiht. Doch haben beide den Standpunkt der Welt-
betrachtung und die Ausdrucksmittel gemeinsam. Denn auch
die Satire betrachtet die Welt von einem hohen idealen
Standpunkt aus und bedient sich, um diese subjektive AVelt-
anschauung zu objektivieren, komischer und Avitziger Kontraste.
Daher die große Ähnlichkeit. Aber es bleibt doch der tief-
einschneidende Unterschied zwischen beiden, daß die Satire
bei dem ungelösten Widerspruch zwischen Ideal und Wirk-
lichkeit' verweilt, während der Humor sich darum bemüht,
diesen Widerspruch in Heiterkeit und Versöhnung aufzulösen.
Denn der Humorist ist Optimist, der Satiriker dagegen
Pessimist. Deshalb hinterläßt die Satire nicht die harmonische,
befriedigende Wirkung wie der Humor, sondern sie wirkt
unbefriedigend, ja wegen ihrer schroffen Form häufig ver-
letzend und erbitternd. A\'enn wir diese pessimistische Welt-
anschauung und ihre aggressive Natur beachten, können Avir
auch verstehen, weshalb der Satiriker im Gegensatz zum
Humoristen mit Vorliebe bei dem Häßlichen und Bösen ver-
weilt, das Arme, Bedrückte dagegen, noch mehr das Naive,
Kleine, Harmlose unbeachtet läßt. Kindergestalten finden wir
1) Elster 355.
deslialb bei dem Satiriker selten; sie bieten ihm in ilirer
harmlosen Glückselio'kt'it zu wenig- Angriifsfläclien ; er be-
schäftigt sich lieber mit ausgereiften Charakteren.
Humor wie Satire erfahren häufig-, wie wir weiter unten
sehen werden, durch gegenseitige Mischung Modifikationen.
Die eigentliche Prägung aber kommt erst durch die Indivi-
dualität zustande. Denn Humor und Satire sind individuelle
subjektive A\^eltanschauungen und richten sicli als Begleit-
erscheinung der Individualität nach Charakter, Temperament,
jeweiliger Geistesverfassung, nach persönlicher Erfahrung,
Lebens- und Interessenkreis. Erinnerung, Neigung, Stimmung,
Standpunkt. Verhältnis des Gegenstandes zum Ich etc.»)
2. Die Waudluugen des Begriffs Humor.
Der Begriff der Satire hat wegen der ihm verschlossenen
Schicksalsgefühle keine besondere Wandlung durchgemacht
und ist theoretisch nicht so heiß umstritten worden wie der
Humoi-. Nur daß praktisch die eine Zeit eine größere Vor-
liebe für ihn zeigte und einen günstigeren Boden ihm ent-
gegen brachte, als die andere.
Der Begriff Humor dagegen hat in den letzten zwei Jahr-
hunderten die mannigfachen Wandlungen durchgemacht. Denn
der Humor ist ein Spiegel des gesamten Geistes- und (lefühls-
lebens einer Nation. Wie wir oben gesehen haben, huldigen "^
wir heute einer sehr weiten Auffassung, betonen vor allem
das starke Gefühlsleben, das Anteilnehmen des Humoristen
und fassen selbst solche entsagungsvollen Äußerungen als
Humor auf, vor der die Komik im engeren Sinne flieht.-)
Diese tiefe, weite Auffassung ist aber erst im Laufe des
letzten Jahrhunderts unter uns heimisch geworden. Gegen-
über der einseitigen Betonung des menschlichen Verstandes
') Jahn S. 93. '•') Elster 352.
6
und der Vernunft bildet die Romantik eine berechtigte Re-
aktion, indem sie das Gefühlsleben, das Gemüt, die Phantasie
in den Vordergrund ihrer Betrachtung stellt. Die Romantik,
besonders Jean Paul, hat den Begriff Humor so erweitert und
vertieft, wie er im wesentlichen noch lieute bei uns gefaßt
wird.
Im nüchternen 18. Jahrhundert merken Avir von dieser
weiten und tiefen Auffassung des Humors noch nichts. Je
weiter wir chronologisch zurückgehen, desto mehr vermissen
wir in Theorie und Praxis die Berücksichtigung des Gefühls-'
elements, desto mehr tritt dagegen Verstand und Vernunft
in den Vordergrund, desto mehr tritt folglich der Humor
hinter einer Bevorzugung des Witzigen und Satirischen
zurück.
Sehr bezeichnend für die Ausschaltung des Gefühls bei
dem Komischen überhaupt, also auch beim Humor sind
die theoretischen Erörterungen der Wolf-Baumgartschen
Schule.') Eine für seine Zeit weite Auffassung vom Begriff
des Humors hat dagegen Lessing. Für ihn ist Humor soviel
als Laune, als fröhliche Stimmung. Lessing ist auch insofern
für unser Problem des Komischen von Bedeutung, als er zu-
erst genau auf die zwei Glieder : Lachen und Verlachen, auf-
merksam macht. Damit steht er dem Humor näher als seine
englischen Vorgänger Hobbes und Shaftesbur}', die nur
von einem Verlachen wissen.') Aus diesen beiden Ansichten
erkennen wir recht deutlich, wie sich der Begriff verschoben
hat. Bei Lessing ist schon ein Mitgefühl angedeutet, wenigstens
setzt das Lachen keine Antipathie voraus. Bei Hobbes und
Shaftesbury dagegen ist dieses Mitgefühl zurückgedrängt und
überwuchert von dem Selbstgefühl. Das Lachen neigt deshalb
noch nicht zum Humor, sondern zum WWz. Tu beiden Theorien,
1) Jahn K. II.
der der Eiiß-länder wie Lessings, spiegelt sich getreulich das
Fühlen und Denken ihrer Zeit. Tn der Zeit Lessings. be-
sonders in der des Sturms und Drangs, macht sich eine
Steigerung des (lefühlslebens. besonders der Liebe und der
Freundschaft bemerkbar; daher diese zarten Keime zum Humor.
Die Theorien aber von Hobbes und Shaftesbury lassen
das heraufziehende Jahrhundert der Aufkläiimg erkennen.')
Die großen Errungenschaften auf dem Gebiete der Politik
und Wissenschaft hatten ein geschwelltes Selbstbewußtsein
aufschießen lassen, das sich auch in den Theorien über die
komischen Erscheinungsformen geltend macht.
Daneben tritt bei Shaftesbury noch jener charakteristische
Trieb nach A\'ahrheit heivor, man versucht mit den Fragen
nach der Allgemeingültigkeit unsrer Erkenntnisse eine Er-
' kenntnistheorie zu begründen, und diesem Zwecke sollen auch
die komischen Erscheinungsformen dienen.
Diese beiden Punkte: das gesteigerte Selbstbewußtsein
und der Trieb nach AVahrheit, sind für Gestaltung unsres
Begriffs im 17. und Anfang des 18. Jahrhunderts von großer
Bedeutung geworden. Der Trieb nach Wahrheit hat die
komischen Erscheinungsformen aus dem Gebiet des ästhetischen
Spieles in das des ethischen Ernstes verpflanzt ; er hat sie zu
einem Mittel der moralischen Tendenz herabgewürdigt ; er
hat den Begriff rein praktisch verwertet und ihn in den
Dienst des Verstandes und der Vernunft gestellt.
Das gesteigerte Selbstbewußtsein andererseits hat die
Entwicklung des für den weiten Humor nötigen Mitgefühls
unterbunden und den Begriff in die ihm näher liegenden
Bahnen des Witzes und der Satire gedrängt.
Das war die herrschende Geistesriclitung zu der Zeit, als
Swift mit seinen Schriften in die r)ffentlichkeit trat.
») Jahu K. IL
3. Swifts Stellung zu Humor und Satire.
Swifts Anschauungen lassen ihn als einen typischen
Vertreter des 18. Jahrhunderts erscheinen. So können wir
g-leich vermuten, daß er den Begriff Humor nicht sonderlich
weit g-efaßt haben wird, daß auch bei ilim das Gefühlselement
stark zurücktreten und dafür die Vernunft und der Verstand
im Vordergrund stehen, daß er folglich nach unserer heutigen
Auffassung weniger zum Humor als zum AMtz und zur Satire
neigen wird.
Von großer Wichtigkeit sind zur genauen Erkenntnis
seiner Stellungnahme zum Problem seine eigenen Bemerkungen.
Es sind allerdings nur sehr wenige, und auch diese keine
eigentlich philosophischen Definitionen. Denn er war ja seiner
praktischen, tendenziösen Veranlagung nach jeglicher philo-
sophischen Erörterung abgeneigt.
Wir erfahren vielmehr seine Ansichten über Humor,
Satire und ^^'itz aus einer Besprechung von Gay"s „Beggar's
Opera" im ..Intelligencer" Nr. III:
„The point I mean. is what we call humour, which in
its perfection is allowed to be much preferable to /rif if it
be not rather the most useful and agreeable species of it." ')
Was wir oben von dem Zeitstil ausgehend bei Swift ver-
mutet haben, finden wir durch die Stelle bestätigt; für unsere
Begriffe faßt Swift den Humor zu eng. Denn er sieht den
Humor als eine Spiel- und Unterart des Witzes an und be-
weist damit, daß er das Gefühlselement außer acht läßt und
den Nachdruck auf den Verstand legt.
Noch nähere Aufschlüsse über seine Stellung zum Problem
gibt uns ein anderes Zitat aus demselben Aufsatz:
') IX,31().
>,It is certainly the best ing-redient towards tlie kiiid of
mtire wliicli is most useful and gives the least offence, which
instea4 of lashing, laiighs men out of tlieir follies and vices,
and is the character which gives Horace the preference to
Juvenal." •)
Hatte das erste Beispiel Swifts Anschluß an die damalige
(leistesrichtung gezeigt, so hat das letzte Beispiel zudem be-
sonderen indiAiduellen ^Xert. Es beweist seine Neigung zur
Satire.
Auch diese Definition des Humors ist für unsere Begriffe
zu eng. Aber die l^nterordnung des Humors unter die Satire
ist für uns begreiflich, ^^'ie Humor und Satire, selbst wenn
begrifflich streng geschieden, in Wirklichkeit häufig in ein-
ander übergehen, insofern „als der Humorist aus Ohnmacht
gegenüber der frechen Wirklichkeit zum Satiriker wird, der
Satiriker aus Gutmütigkeit und Mitleid mit dem Jammer der
Endlichkeit, davon er doch schließlich ein Teil ist. zum
Humoristen." 2)
Bei Swift ist jedoch diese Scheidung zwischen Humor
und Satire nicht einmal theoretisch scharf durchgeführt. Die
Grenze zwischen beiden Begriffen zerfließt.
Praktisch neigt er. wie wir im IL Kapitel sehen werden,
auf Grund seiner persönlichen Anlagen, seines Berufes, seiner
Stimmung, Lebenserfahrung mehr zur Satire, und diese Neigung
drückt sich auch ungewollt in seiner Definition aus. Unter
„Satire which laughs men out of their follies and vices*' ver-
steht er milde, komische Satire, während „lashing" direkte
Satire bedeutet.
Aus allen diesen Definitionen Swifts spricht zu uns ein
typischer Vertreter des 18. Jahrhunderts. Sie lassen erkennen,
1) IX, 318. Iiitelligence Xo. III.
-) Spielhagen, Verm. Schriften, S. 235. Leipzig- 1872.
10
was auch Biologie und Soziologie neuerdings nachgewiesen
haben, daß die Funktion des Kömischen sich nach dem
Lebensinhalt eines Menschen und einer Zeit richtet. Alles
dient einem Zweck: der sittlichen Besserung der Menschheit;
es gibt nur wenige von Swifts Schriften, die nicht diese
moralische Tendenz, wenn auch oft in groteskem Gewand,
in sich tragen. Ja man kann sagen, daß die Tendenz bei
ihm die Hauptsache ist und der „humour" Nebenzweck. Nur
um desto sicherer auf sein Publikum wirken zu können,
kleidet er die Tendenz in das, was für ihn Humor ist.
„The public good is performed in two ways, Instruction
and diversion as mankind is now disposed he receives
much greater advantage by being diverted than instructed." ^
Auch seine Hochschätzung von Gay's „Beggers' Opera"
geht zum Teil auf die moralische Tendenz zurück.
„ — he hath, by a turn of humour entirely new, placed
vices of all kinds in tlie strongest and most odious light and
thereby done eminent Service both to religion and morality."2)
Vergleiche auch noch die Worte:
„The other end (that men propose in writing satire) is ,
a public spirit, prompting men of genious and virtue to mend
the World as far as they are able."^)
Neben dieser moralischen Tendenz ist das Lachen für
Swift Selbstzweck. Auch diese Auffassung des Lachens ist
dem Satiriker wie dem Humoristen eigen. Ein psycho-
physischer Drang nach Lebensfreude ist es, der sich in dieser
Tendenz ausspricht. Ein Drang, wie wir ihn bei Swift vor
allem in jener Vorliebe für harmlose, wenn auch bizarre
Scherze, „puns and practical jokes", finden. Aber dieses
harmlose Lachen, das vor allem den Humoristen ziert, ist bei
Swift doch ziemlich selten. Dafür war ei- zu eitel, zu ehr-
1)1,90. »)IX,318.
11
geizig-, zu selbstbewußt und selbstgerecht: was AVunder —
er lebte ja in einem Zeitalter des krassen Egoismus.
So äußert sich bei Swift der Drang nach Lebensfreude
in dem ungestümen Verlangen, das Recht seiner Persönlich-
keit durchzusetzen. D.eshalb faßt er das Lachen als eine
willkommene Entschädigung für seine Zurücksetzung besonders
gegenüber IVEinistern und anderen Bevorzugten auf.
„There are two ends that men propose in writing sdtirr.
one of them less noble than the other, as regarding nothing
farther than personal satisfaction, and pleasure of the writer;
but without any view towards personal malice; the other is
a public spirit prompting men of genius and virtue, to mend
the World as far as thej^ are able. And as both these ends
are innocent, so the latteris highly commendable. With regard
to the former, I demand whether I have not as good a title
to laugh, as men have to be ridiculous, and to expose vice,
as another has to be vicious. If I ridicule the.follies and
corruptions of a court, a ministry, or a Senate; are they not
emply paid by pensions, titles, and power, while I expect
and desire no other reward, than of laughing with a few
friends in a corner." ')
Die häufige Verwendung der komischen und witzigen Er-
scheinungsformen setzt eine große Vorliebe für 'diese Stil-
gattung voraus. Das zeigt sich schon in seiner Lektüre.
Bei seiner großen und ausgedehnten klassischen Bildung
ist es nicht weiter verwunderlich, daß er neben anderem sich
häufig mit klassischen, griechischen urd römischen Satirikern
beschäftigt hat. Wir höi-en z. B. schon im Journal, daß er
sich eine Aristophanes- Ausgabe angeschafft hat. Häufig
findet sich in seinen Schriften -tnvenal erwähnt, den er
gut gelesen zu haben scheint.
1) IX, 318.
12
Noch besser als Juvenal gefällt ihm Horaz. Juvenal ist
ihm offenbar zu scharf, während ihm an Horaz das Über-
wiegen des Humors in der Satire sehr zusagt. Ebenso scheint
er in den englischen Humoristen bewandert gewesen zu sein.
Butlers Hudibras hat er gekannt.
Zu seinen besonders geschätzten eigentlichen Lieblings-
V Schriftstellern gehören Cervantes und Eabelais. Cervantes
Don Quixote muß damals in England viel gelesen worden sein;
die Übersetzungen von Skelton , Phillips . Motteux deuten
schon darauf hin. Zudem erfahren wir in der Tale of a Tub,
daß ein „wit" die Geschichte nach englischem Geschmack zu-
gestutzt hatte. Swift zitiert Cervantes des öfteren als Bei-
spiel für echten Humor. Auch komische Vergleiche nimmt
er aus dem Don Quixote, besonders wenn er eine Sache als
recht verdreht hinstellen will.i)
Noch näher als Cervantes steht ihm Rabelais. Die Ent-
lehnungen im Gulliver sind von Borkowsky und Hönncher
schon nachgewiesen worden. Interessant ist, daß sich in
seiner 1745 versteigerten Bibliothek ein Exemplar der Werke
Eabelais befand mit Glossen von Swifts Hand. Diese Aus-
gabe ist leider verloren gegangen.
^ Das Groteske, vielleicht auch das Natürliche, Sinnliche
war es, was ihm die Komik von Eabelais so nahe, brachte.
Im allgemeinen hat Swift für das Theater seiner Zeit
wenig übrig gehabt. Er tadelt stets den schlechten Geschmack,
der sich breit mache. Dagegen empfiehlt er allen, die Ge-
schmack an echtem Humor hätten, das „Theatre Italien ou le
recueil de toutes les comedies et scenes frangaises, qui ont
ete jouees sur le theatre Italien", eine 1695 von Gherardi
herausgegebene Sammlung.
1) VI, 151.
13
Diesen „true liuiiioui-' glaubt er aiicli in Gay's „Beggars'
Opera" zu finden und schreibt dieser Eigenschaft den großen
Beifall des Stückes zu.
Von den Theaterstücken seines Freundes Congreve ist er
so begeistert, das er darüber das Zubettgehen vergißt.
Und wie bei seiner Lektüre, so hat er auch bei seinen
Freunden und Zeitgenossen diese Gaben des Humors, der
Satire und des Witzes wolil zu würdigen verstanden. Sie
war es häufig, die ihn mit manchem Freundschaft schließen
ließ. So waren z. B. Swift und Addison grundverschiedene
Naturen; aber der Humor und Witz in der Konversation, den
Young und Steele Addison nachrühmen, haben auch auf Swift
ihren Bann ausgeübt.
Auch mit Congreve, „a nmn of brightest comic genius
that Britain produced", wie W. Scott ihn nennt, verband ihn
innige Freundschaft.
Von seiner Hochachtung für Gay haben wir schon ge-
redet. Endlich gar sein überaus geschätzter Arbuthnot,
dessen Werke wegen der komischen Ader denen Swifts so
ähnlich sind, daß man manches Swift selbst zuschrieb. Und
wer dächte nicht an Sheridan, „jenen Pädagogen mit dem
lachenden Kinderherzen" und an die vielen „puns" und Pas-
quinaden, mit denen Swift und er sich zu necken pflegten,
oder an jene Sammlung: „Bon mots de Stella".
Besonders deutlich zeigt sich dieser Sinn füi' Scherz in
den oft wunderlichen „practical jokes", die damals überhaupt
im Schwang waren, und zu denen auch Swift sein Teil bei-
steuerte.
So erzählt er im „Journal to Stella", i) wie er und seine
Freunde das Gerücht in Umlauf setzten: ein berüchtigter
Mörder, den man tags zuvor gehängt, sei von seinen Kum-
0 11,449.
14
panen abgeschnitten und wieder zum Leben gebracht worden,
befinde sich aber schon wieder in den Händen des Sherift's. ')
Oder man denke an die Szene, wie Swift aus g-änzlichem
Mangel an Kirchenbesuchern seinen Clerk mit dem für jene
bestimmten Church-service bedacht habe, und andere Scherze
mehr.
Am bekanntesten in dieser Art dürfte wohl die Bicker-
staff- Affäre sein.
II. Allgemein Charakteristisches über die Satire
J. Swifts.
l.y Swifts Persönlichkeit und Cliarakter.
Das Bild seiner Satire wird uns deutlicher, wenn wir
einen Blick auf seine Persönlichkeit, auf seinen Charakter
werfen.
Was zunächst seine Persönlichkeit betrifft, so war
durch Geburt, Abstammung, Vaterland und Beruf ein Boden
gegeben, wie er der Satire kaum günstiger entsteh'en konnte.
Swift stammte aus einer alten, vornehmen, aber verarmten
Yorkshirer Familie, die seit mehr als hundert Jahren in Irland
ansässig war und ihren englischen Charakter durch Heiraten
mit Irländern der neuen Heimat akklimatisiert hatte. Wir
Averden kaum fehlgehen, wenn wir in Swift eine Vermengung
dieser beiden so verschiedenen Nationalcharaktere zu finden
glauben: auf der einen Seite die irische Heißblütigkeit und
Leidenschaft, auf der anderen die düstere Energie Englands.
0 n, 449.
15
Zu diesen rein klimatischen und pliysiolügischen Be-
dingungen kommen noch andere ebenfalls günstige und für
den Charakter der Satire ausschlaggebende äußere Momente,
die den günstigen Boden noch fruchtbarer machen sollten,
Hwift gehörte dem geistlichen Stande an, ein Stand, der
wegen des in seiner Natur begründeten sittlichen Ernstes von
jeher die besten und größten Satiriker und Humoristen ge-
liefert hat: ich erinnere nur an llabelais, Sterne und andere.
Der geistliche Beruf war allerdings nicht sein eigent-
licher; weit mehr als Geistlicher, war Swift Politiker. Er
lebte in einer politisch äußerst erregten und, wegen der
inneren Kämpfe und Zwistigkeiten, unglücklichen Zeit. In
diese Kämpfe hat Swift, durch äußere und innere Umstände
getrieben, mit der ganzen Wucht seiner Persönlichkeit ein-
gegriffen. Diese ausgesprochene Neigung und Begabung zur
Politik hat auch seiner Satire den Stempel aufgedrückt.
Denn wenn irgend ein Beruf, so stellt der des Politikers,
namentlich der des Pamphletisten, hohe Anforderungen an \^
die Energie der Willensgefühle. Die rasche Produktion der
Pamphlete erlaubte ihm kein Schaffen in Ruhe. Sein Leben
war durchdrungen von der leidenschaftlichen Energie einer
rastlosen Tätigkeit.
Der Begabung für Politik verdankt Swift auch den Ver-
kehr mit Vertretern des höchsten Adels und damit den
Charakter als Weltmann. Seine Vorliebe für Konversation
und Witz fand in diesem Verkehr den denkbar günstigsten
Boden.
Noch plastischer tritt uns das Bild seiner Satire entgegen,
wenn wir seine psychischen Grundlagen ins Auge fassen.
Er war Politiker, weil er Parteimann war. Seine Sub-
jektivität, sein Unabhängigkeitsgefühl, sein Selbstbewußtsein,
sein Egoismus drängten ihn dazu. Weil er glaubte, daß
seinem Stande nicht die gebührende Achtung gezollt werde, -
16
betätigte er sich in der Politik. Er konnte in seinem maß-
losen Stolz die vornehme Abstammung- nicht verleugnen.
Sein Selbstbewußtsein wurde noch gesteigert durch eine
übertriebene Empfindlichkeit. Er selbst hat mit seinem
Spott kaum jemand verschont, doch war er eines Tages sehr
beleidigt, als ihn eine Magd auf seine barsche Anfrage mit
einer schnippischen Antwort abfertigte. Der wahre Humorist
trägt versöhnlicheren Charakter zur Schau. So ist auch
dieser Zug wieder ein neuer Beweis dafür, daß Swift seinem
ganzen Wesen nach mehr Satiriker als Humorist sein mußte.
So abstoßend jedoch diese Empfindlichkeit wirken konnte,
besonders wenn sie sich zu starker Erregung und plötzlichem,
unwiderstehlichem Zorn steigerte, sobald Personen oder Ver-
hältnisse seinem Willen entgegentraten, um so M'ohltuender
berühren uns seine sympathischen Charakterzüge: seine
treue Freundschaft, seine Hilfsbereitschaft und seine Unter-
stützung von jungen Talenten wie Harrison. Ja, Macaulay
behauptet, daß Addison unter der herrischen und mürrischen
Maske eine große Gutmütigkeit gefunden habe. Rührend ist
das tiefe Mitleid, das er mit der so früh dahingerafften Anne
Long empfand. Auch die zahlreichen Freundschaften, die er
mit vornehmen Damen, mit den Töchtern des Duke of Or-
mond, Lady Kerry, Lady Oglethorp unterhielt, sprechen für
sein Wohlwollen.
Diese widerspruchsvollen Charakteranlagen hat die Ironie
des Schicksals noch verschärft. Denn sein ganzes Leben
ist eine große Antithese zwischen Wollen und Gelingen.
Er war ein Verfechter der Freiheit, das Leben drängte ihn
zur Partei der Tories. Er haßte Irland und wurde ein Vor-
kämpfer für seine Unabhängigkeit. Er verachtete die Frauen
und empfand tiefe Neigung zu Stella. Er haßte das Menschen-
geschlecht im allgemeinen und hielt doch treue Freundschaft
mit dem Einzelnen. Er war arm, und doch trachtete er nach
17
den liolieii Kliren. Das Schicksal war ihm aber iiui- kurze
Zeit hokl dann zerschlug sich eine Hoffnung nach der anderen.
Diese tiefe Kränkung-, die ein neidisches Geschick seinem Ehr-
geiz und seinem Stolz hat widerfahren lassen, hat die Ver-
bitterung und den Pessimismus erzeugt, der im Verein mit
der dämonischen Wildheit ungewöhnliche Kräfte in ihm ent-
'fesselte und ihn endgültig zur Satire drängte.
/
/ 2. Das gei^enseitige Verhältnis seines Humors
* und seiner Siitire.
Trotz der ausgesprochenen Neigung zur Satire ist Swift
doch nicht frei von humoristischen Zügen. Eine gewisse Gut-
mütigkeit in den geschilderten Charakteren und ein liebe-
volles Eingehen auf das Detail vor allem ist es, was uns
humoristisch anmutet.
Als humoristisch kann man die sympathischen
Charakterzüge ansehen, mit denen etliche Personen im
Gulliver ausgestattet sind. Vor allem Gulliver selbst in dem
Lande der Liliputaner. Er erkennt wohl die Schwäche der
Bewohner, aber trotz der Versuchung und besonders, da er
sich durch die Gastfreundschaft verpflichtet fühlt, macht er
seine überlegenen Körperkräfte ihnen gegenüber nicht geltend.
Ja, als zwei boshaft veranlagte Einw^ohner trotz des Verbotes
und der aufgestellten Wachen nach ihm schießen und ge-
bunden ihm ausgeliefert werden, übt er großmütig Milde und
gibt ihnen die Freiheit wdeder.i)
Auch das zweite Buch birgt solche sympathische Cha-
raktere; vor allem Gullivers „nurse" Glumdaldrich. Sie hat
eine große Zuneigung zu Gulliver gefaßt, nimmt ihn vor
mancherlei Widerwärtigkeiten in Schutz und vergießt bei
seinem Abschied heiße Tränen. 2) Diese Figur ist um so
') VIII, 31. 2) VIII, 145.
neck er, Die S:itire Jonatliun S\vift>;
18
sympatliischer, als die übrigen Frauenclmraktere sich dieser
vorteilhaften Darstellung nicht erfreuen. Ähnlich sympathisch,
vielleicht noch etwas humoiToller, ist der Charakter des Königs
gezeichnet; denn der König ist sogar nicht frei von gut-
mütigem Spott. Als Gulliver das Abenteuer mit dem Affen
hinter sich hat, zieht der König ihn auf mit Fragen, wie die Luft
hoch oben auf dem Dach ihm bekommen sei, und ob ihm das
Essen geschmeckt habe, das der Affe ihm aufgenötigt.
Neben diesen vereinzelten sympathischen Charakterzügen
muten uns vor allem jene detaillierten Schilderungen
wegen ihrer liebevollen, behaglichen Kl ein mal er ei humo-
ristisch an. Zum Teil handelt es sich um einfache Be-
schreibungen, man denkt an die Mahlzeiten Gullivers in
Liliput, wo ihn ein ganzes Heer von Dienern bewirtet; oder
an die Beschreibung der Zimmerkiste, die er im Riesenlande
bewohnt.
Zum Teil auch handelt es sich um unbewohnte Kontraste;
so wenn zwei lange Yeomen Gullivers Uhr an einer Stange
forttragen, wie Eollfuhrleute in England ein Faß Bier. Oder
wenn Gulliver die Länge der Hauptstadt mißt, indem er die
Karte barfuß abschreitet.
Besonders reizvoll wirkt die Kleinmalerei, wenn in dem
Idyll eine feine psychologische Beobachtung zum Ausdruck
kommt. So wissen die kleinen Knirpse, die sich mit Gullivers
Geld abmühen, nicht, was die schwere Scheibe bedeutet. ')
Ebensowenig sind sich die Riesen darüber klar, sie müssen
den Finger anfeuchten, um überhaupt das Geldstück auf die
Hand zu bringen. 2) Oder die Szene, als man Gullivers Hut
an der Küste findet und es für ein mißgestaltetes Meeres-
ungeheuer hält. 3) Oder endlich die Riesengelehrten, die
Gulliver für einen „lusus naturae" halten und ihm die Rock-
1) VIII, 34. -) VIII, 91. ■') VIII, 41.
19
sclilippeii mit einem Strohhalm in die Höhe klappen. ')
Phantastischer noch wird der Humor in der bekannten
Episodfe, als die Liliputaner Armee zwischen den Beinen
Gullivers in Reih und Glied durchzieht, 2) oder bei Gullivers
Lesemethode, 3) oder bei seinem Klaviervortrag'.
Der humoristischen Stimmung dienen auch unerwartete
lächerliche Zwischenfälle, wie Gullivers Erwachen durch
Nießen,'») weil ihn ein Offizier mit der Pike in der Nase ge-
kitzelt, und witzige Vergleiche, wie der Augen des bebrillten
Eiesen mit dem Vollmond, der in sein Kämmerlein durch
zwei Fenster scheint. •'>) Um einen humoristischen Kontrast
handelt es sich ferner bei der hyperbolischen Sprache,
die gelegentlich Gulliver führt, und die in B. 11 besonders
komisch wirkt. Da redet er die Königin mit den über-
schwänglichsten Phrasen an : „darling of the world'', „Phoenix
of the Creation" etc., und er will lieber tausendmal sterben,
als mit einem unehrbaren Körperteil die Haare entweihen,
die einst der Königin gehörten, und aus denen er einen Stuhl-
sitz geflochten hatte.*')
Das Eingehen auf das Einzelne spielt auch eine
große Rolle bei der Charakterisierung mancher Personen,
wobei freilich oft etwas Satire einfließt. So kann Swift den
Ärger kaum unterdrücken in der sonst äußerst humoristischen
und komischen Schilderung von einer übertriebenen Gast-
f reundliclikeit. ") Er wird wider seinen AVillen an den Ofen
in den Lehnsessel gesetzt, muß viel Grog trinken, das ganze
Haus ist in Aufregung, das krebsrote Gesicht der Wirtin
läßt die Nähe des Abendessens erraten; er wird andauernd
zum Essen genötigt. Man sieht förmlich die einzelnen Ge-
stalten umherrennen.
') VIII, 90. ^) VIII, 42. ^) VIII, 140. ') VIII, 121).
•■) VIII, 98. '■■) VIII, 129. ') IX, 56.
9+
20
Die übrigen Eigenscliaften des wahren Humoristen werden
wir bei ihm vergeblich suchen. So vor allem das Wechseln
von Stimmungen, von Lustigkeit und Traurigkeit und um-
gekehrt. Bei Swift ist der Grundton gewöhnlich ganz durcli-
gehalten, mit Ausnahme der Tale, die ungewöhnlich lustig ist,
finden wii ihn sonst meistens ernst.
Swift hat auch, abgesehen von dem Riesenbaby, be-
zeichnenderweise gar keine Kindergestalten, die sonst der
Humorist so gerne schildert. Das erklärt sich zum Teil aus
seinem verbitterten Junggesellentum, zum Teil aber auch aus
seinem Charakter als Satiriker; denn die Satire verweilt un-
gern bei rein naiven Menschen, sondern beschäftigt sich lieber
mit ausgereiften Charakteren.
Abgesehen von den oben erwähnten behaglich liebevollen
Schilderungen liat Swift für das Naive, Anmutige, das Innige
wenig Sinn. Sein Geist ist zu skeptisch. Es ist fast, als
schäme er sich der Liebe, und doch gibt es in seinen vertrau-
lichen Schriften, in seinem Tagebuch, in seinen Briefen an
Freunde, Stellen von großer Herzlichkeit; aber in seinen zur
Veröffentlichung bestimmten Werken vermeidet er das An-
teilnehmen an dem verlachten Objekt. Da er die
Tendenz hinter einer scheinbaren Objektivität zu verbergen
bestrebt ist, unterläßt er es, seine Person einzumischen.
Autobiographische und bewußt humoristische Cha-
raktere finden sich daher bei ihm gar nicht.
Swift weist also, besonders in den beiden ersten Büchern
der Travels, unleugbar humoristische Züge auf. Es muß
jedoch betont werden, daß viele Szenen, die an und für sich
durch das behagliche Detail uns humoristisch anmuten, im
großen Gefüge des Romans betrachtet, satirischen Zwecken
dienen. So sind Gullivers Lesemethode und seine Vor-
bereitungen zum Klavierspiel solche humoristische Klein-
21
maiereien, aber sie dienen doch, namentlich das letzte Beispiel,
dazu, zu zeigen, wie kläglich die bei uns so imposante Natur
des Manschen wirkt, w^enn man sie aus den gegebenen Ver-
hältnissen in andere versetzt.
Aus dem Charakter der einzelnen Lebensperioden können
wir vermuten, daß diese Kleinmalerei früher und in einer
glücklicheren Zeit entstand als das letzte Buch, in dem wilder
Pessimismus und tief vergrämte Melancholie den Grundton
abgeben.
3. Die Bediugungeii für die Wirkuug seiner Satire.
Die Wirkung Swifts als eines komischen Dichters ist be-
dingt durch den Ernst des Vortrags und die Anschaulichkeit
der Schilderung.
Der Ernst des Vortrags. \
Daß Swift diese Eigenschaft in hohem Maße besessen,
dafür bürgt schon seine anerkannte Meisterschaft in der
Handhabung der Ironie, i)
Er selbst hat sich darüber folgendermaßen geäußert
(„Tatler" 66, 8.— 10. Sept. 17092):
,.Action in one that speaks in public is the same thing
which a good mien is in ordinary life. Thus, as a certain
insensibility in the countenance recommends a sentence of
humour and jest, so it must be a very lively consciousness
that gives grace to great sentiments: For the jest is to be
a thing unexpected; therefore your undesigning manner is a
beauty in expressions of mirth ..."
Auch seine Freunde heben diese Eigentümlichkeit seines
Vortrags hervor; so sagt Macaulay, daß Swift, der, wie wir
oben erwähnt, ein glänzender Gesellschafter war. die sclniur-
') K. V. ■-) IX , 18.
2-1
rigsteii Geschichten mit der ernstesten Miene vorzutragen
pflegte, während sich die anderen vor Lachen krümmten.
Durch diesen Ernst will er vor dem Leser und Hörer
den Eindruck der Glaubhaftigkeit und Wahrheit machen. Er
weist im Gulliver des öfteren selbst ausdrücklich auf die
Wahrheit seiner Schilderungen hin.
„Thus, gentle reader, I have given thee a faithful
history of my travels for sixteen years and above seven
months: wherein I have not been so studious of ornament
as truth.^^^)
Und in der Einleitung läßt er den Publisher sagen :
„There is an air of truth apparent through the whole: and
indeed the author was so distinguished for bis veracity, that
it became a sort of proverb among his neighbours at Eedriff,
when anyone affirmed a thing, to say it was so true as if
Mr. Gulliver liad spoke it." 2)
/ Die Anschaulichkeit der Schilderung.
Ebensosehr wie durch den Ernst des Vortrags wirkt
Swift durch die Anschaulichkeit der Schilderung. Zu diesem
Stil war Swift als komischer Dichter wie als Pamphletist
durch die Rücksicht auf das Publikum gezwungen. Der Stil
der Anschaulichkeit wurde begünstigt durch die AVeit -
anschauung des Empirismus. Seine eigentliche innerste Be-
gründung aber findet er in der Geistesanlage Swifts.
Swifts Denken ist induktiv. Es ist aber dem in-
duktiven Denken eigen, daß es das Allgemeine, das Abstrakte,
meidet und nach dem Besonderen, iiach dem Anschaulichen
greift.
Das Publikum des komischen Dichters will sich am
fertigen Bilde, an der leichtfaßlichen Einzelheit freuen; es
') VIII, 302. 2) VIII, 3.
23
will sich durch die lokalen Anspielung'en ang'eheimelt fühlen.
Der komische Dichter kann daher nicht farbig genug schildern ;
im Gegensatz zum ethischen Dichter, der das allgemein
Wertvolle heraushebt, nicht genug individualisieren, speziali-
sieren und lokalisieren.!)
So ist er, um mit etwas ganz Äußerlichem zu beginnen,
sehr genau in seinen Zahlenangaben. AVir erfahren genau,
daß er „738 flowers and shining hints" gesammelt hat, ohne
sie verwerten zu können, und daß eine Akademie errichtet
werden soll, die 9743 Leute faßt.'-^)
Viel stärker als die Zahlenangaben tritt die Anschaulich-
keit in den Namen von Straßen, Gebäuden und besonders
von Kaffee- und Schokoladehäusern hervor.
Schon J. Paul'*) hat darauf hingewiesen, wieviel glücklicher
in dieser Beziehung der Engländer sei als der Deutsche.
Gerade dieses Moment trägt dazu bei, die Stimmung an-
heimelnd zu machen und damit die Zuhörer zu gewinnen.
Denn die meisten dieser Namen stammen aus London und
tragen wegen den damit verbundenen Nebenvorstellungen
ein durchaus charakteristisches Gepräge.
So verbindet er mit dem Namen von White Chocolate House
die Vorstellung von „galantrie. pleasure and entertainement",
WiWs Coffee-house ist ihm das typische Poeten-Cafe, dagegen
die beste Quelle für lokale und auswärtige Neuigkeiten ist
ihm St. James Coffee-house. Swift erzählt uns, daß er auf
der Suche nach einem passenden Titel für „Mechanical Operation
of the spirit" Westminster Hall, 8t. Paul's churchyard und
die ganze Fleet-street durchrannt hat»)
In seiner prekären Lage gegenüber den Kritikern ver-
gleicht er sich mit einem Manne, der an einem Regentage
in Edinburgh -Street spazieren geht und von den Fenstern
') J. Paul § 35. -) I 44, 40. •') Vorschule § 35. ") I, 191.
24
aus beobacliet wird.i) Er zählt uns all die Plätze auf. wo
er Freunde hat, in Will's Coft'ee-house, (xresham College,
Warwick Lane Moorfields, Scotland Yard, Westminster Hall,
Guildhall etc. 2)
„It is but to venture your lungs, and you may preacli
in Conrent-lrarden ag'ainst foppery and fornication, and sonie-
thing' eise: against pride and dissimulation, and bribery at
White Hau : you may expose rapine and injustice in the inns
of Court Cha/pel : and in a city pulpit, be as fierce as you
please against avarice, hypocrisy. and extortion." ^y
Dieses Spezialisieren zeigt sich auch in dem Erwähnen
einzelner Körperteile.
Jack sagt nicht : das Schicksal warnte mich nicht, sondern
„did not think it convenient, to twitch me by the elbow. "'')
Martin will die ihm von Peter als Fleisch vorgesetzte
Speise nicht als „mutton" anerkennen und räsonniert:
„By G — , my lord, said he, I can only say, that to my
eyes, and fingers, and teeth, and nose, it seems to be nothing
but a crust of bread.''-^)
Er sagt nicht, man solle dem vergeßlichen Minister sein
Anliegen „eindringlich vorstellen", sondern er gibt genau an,
wie man ihm die Vergeßlichkeit austreiben könne:
..... a tweak by the nose or a kick in the belly: or
tread on his corns. or tuck him three by both ears, or run
a pin into his breech, or pincli his arm black and blue, to
prevent forgetfulness."^)
Die humoristische Sinnlichkeit äußert sich auch in der
Häufung konkreter Beispiele.
So zählt er eine ganze Reihe von Unannehmlichkeiten
auf, denen die drei Brüder ausgesetzt sind, weil sie keine
») 1,70. '') I, 125. ■') 1,46.
") I, 133. •■') I, 86. <■•) VIII, 196.
25
„Shoulder knots" haben. ,Jf they weiit to the play liouse,
the door-keeper shewed them into tlie twelve-penny gallery.
If the^' called a boat, says a waterman, I am first sculler.
If they stepped to the Rose to take a bottle the drawer
would cry, Friend, we seil no ale. If they went to visit a
lady a tootmen met them at the door. with. Pray send up
your message." i)
Auch in der Paraphrase zeigt sich das Streben nach
Anschaulichkeit. Der A\irgang der modernen „courtship"
wird umschrieben als „devout turn of eyes, called ogling; an
artifical form of canting and whining by vote, every inter-
val, for want of other matter, made up witli a shrug or a
lium, a sigh or a groan; the style compact of insignificant
words, incoherences, and repetition."-)
Eine Art Umsclireibung ist auch die Fülle der volks-
tümlichen Spitznamen, mit denen die Straßenjungen Jack
beglückten: „Jack the bald. Jack with alantern; Dutch Jack,
French Hugh, Tom the beggar, Knocking Jack of the north."' ^)
Metaphern, Gleichnisse, Symbole tragen gleichfalls
dazu bei, dem Stil Farbe und Lebendigkeit zu verleihen und
die Wirkung der Komik zu sichern.'')
Selten sind bei Swift Kunstausdrücke, „slang", häutiger
dagegen Flüche, für die er sich trotz seines geistlichen
Standes sehr interessiert zu haben scheint, wie eine von
W. Scott berichtete Sammlung aus Chaucer beweist.
4. Der Pessimismus.
Er hat Swift in seiner satirischen .\nlage bestärkt, und,
in der letzten Hälfte seines Lebens, ilir das Hauptgepräge
gegeben.
0 I, 64. -) I, 209. ') I, 161. ') cf. K. III u. VI.
26
Von allen Biographen Swifts wird darauf hingewiesen,
daß die Gründe zu seinem Pessimismus und zu seinem späteren
Wahnsinn in seiner Körperkonstitution zu suchen sind. Auf
Grund von autobiographischen Notizen und Untersuchungen,
die im Jalire 1835 an Swifts Schädel vorgenommen wurden,
ist Dr. Wilde, ein englischer Arzt, zu der Ansicht gekommen,
daß Swift nicht an einem erblichen Nervenübel, sondern an einer
von Zeit zu Zeit wiederkehrenden „cerebral congestion" litt.i)
Dieses Leiden, das bei Swifts reizbarem Nervensystem
mit den Jahren immer heftiger auftrat, hat die pathologische,
fast ans Perverse grenzende Neigung zum Obszönen aus-
gelöst, die einen wesentlichen Charakterzug seiner Komik
bildet, und die ihm sogar von seinen sicherlich nicht allzu
prüden Zeitgenossen vorgehalten wurde.
Auf diese Neigung zum Obzönen hat man auch seine
Neigung für Rabelais zurückführen wollen. Mag sein. Eine
Freude am Derben, scharf Komischen, wenigstens muß man
zugeben. Seine Hochschätzung von Gays Beggars' Opera
spricht ja schon dafür. Aber das Derbe, für modernes Emp-
finden Obszöne bei Rabelais ist doch wesentlich anderer
Natur als bei Swift. Bei Rabelais ist es eine gigantische,
mit übersprudelnder Lebensfreude gemischte Sinnlichkeit, die
sich größtenteils um die niedere Liebe dreht. Bei Swift
nichts von dem. Auch keine frivole Lüsternheit, wie man
sie nach der raffinierten, eleganten damaligen Sittenlosigkeit
hätte vermuten können, denn dafür dachte er in moralischer
Hinsicht viel zu sittenstreng. Sondern ein grämliches, an-
widerndes und angewidertes Wühlen in Verwesung über-
gegangenen Unrat und in Exkrementen. Man denke an die
eingehende Beschreibung des Brechmittels, das sich die
Yahoos brauen.
1) Hettner S. 321.
27
„Their next business is, from lierb??. minerals, gums, oils,
Shells, salts, Juices, seaweed, excrements, barks of trees,
serpents, toads, frogs, spiders, dead men's flesli and bones,
birds, beasts, and fislies, to form a composition for smell and
taste tlie most abominable, nauseous and detestable they can
possibly contrive, whicli the stomach immediately rejects witli
loatliing; and tliis they call a vomit." ')
Die Keime zu Swifts pessimistischer Weltanschauung
liegen also schon in der unbestreitbar physischen Vorstimmung.
Einen überaus günstigen Boden fanden sie in dem Lebens-
geschick Swifts, in dem Scheitern seiner ehrgeizigen Pläne
auf Ernennung zum Biscliof und damit zum House of Lords.
Ganz besondere Förderung aber erfuhren sie durch die ihm
eigentümliche Denkweise. Denn so sehr auch das em-^
piristische, induktive Denken seinem Realismus zustatten
kommt, so gefährlich kann es werden, wenn dieses Denken
zu positiv, wenn es analytisch oder gar destruktiv wird.
Diese Betrachtungsweise führt leicht zum Pessimismus, und
der Pessimismus seinerseits, mag er nun auf körperliche Ver-
stimmung zurückgehen oder aus der xA.rt des Denkens oder
aus beiden resultieren — dieser Pessimismus schärft seiner-
seits wieder das kritische Achten auf die Einzelheit. Eine
Betrachtungsweise aber, die jedes Ding, das Schöne, noch
viel lieber das Häßliche, in seine Bestandteile zerlegt, daß
ihm ein schöner Frauenkopf nichts weiter ist als ein durch-
löchertes Stück Fleisch, die bei allen uns imponierenden
Personen und Ereignissen nach den innersten Gründen forscht,
eine solche Betrachtungsweise kann unmöglich zu erbaulichen
Resultaten führen.
„How low an opinion 1 had of human wisdom and in-
tegrity, when T was truly informed of tlie Springs and motives
oVlII,265.
28
of great enterprizes and revolutions in the world. and of the
contemptible accidents to which they owed their success." ')
Dann freilich verschwindet seine Hochachtung vor hoch-
gestellten Personen, wenn er erkennt, daß die vornehme Ge-
sellschaft hauptsächlich durch Betrug. Bedrückung, Inzest,
Prostitution von Weib und Tochter, Verrat und Gift in Besitz
ihrer hohen Ehrenstellen gelangt ist;-) wenn er an den
Geistererscheinungen in Glubdubdrib die Linien der Fürsten-
häuser öfters unterbrochen sieht durch Musiker, Prälaten,
Kardinäle, Äbte, Barbiere, Höflinge, Pagen, Lakaien, Kutscher;
dann wundert er sich nicht mehr über die Degeneration,
über das Aufkommen der „falsehood, cruelty, cowardice. " 3)
,.How the pox under all its consequences and denomin-
ations had altered everv lineament of an English countenance,
shortened the size of bodies, unbraced the nerves, relaxed
the sinews and muscles, introduced a sallow complexion, and
rendered the flesh loose and rancid.''-^
LTnd Swift hat diese analytisch destruktive Betrachtungs-
weise mit umso größerer Leidenschaft geübt, als durch sie
seine Theorie von der Nichtswürdigkeit des menschlichen
Geschlechts immer von neuem bestätigt wurde (Brief an Pope,
29. September 1725).
Sein Pessimismus im Gulliver steigert sich. Ein
Buch „On the weakness of human kind", das er in Brobding-
nag gelesen, hatte ihn ahnen lassen, wie verächtlich und
hilflos im Vergleich zu früher der Mensch gegenüber Witterungs-
unbilden und wilden Tieren ist.
Diese Degeneration der menschlichen Rasse, die er in
Brobdingnag nur geahnt, wird ihm durch die Geister-
erscheinungen in Glubdubdrib zur traurigen Gewißheit; eine
Degeneration nicht nur in physischer, sondern auch, was
') VIII, 209. •') VIII, 210. ^) VIII, 208.
29
noch schlimmer, in moralischer Beziehung. Die seinem .lahr-
hundert so erhaben clünkende Geschichte Englands erscheint
dem iliesen- König nur, „a heap of conspiracies, rebellions,
murders, massacres, revolutions, banishments. The very worst
effects that avarice, faction, hypocrisy, perfidiousness, cruelty,
madness, hatred, envy, lust, malice, or ambition could produce."
Dieses Swift eigentümliche Achten nur auf die Schatten-
seiten des Lebens und dieses eindringende Erkennen der
Schäden löst in ihm jene tief pessimistische Stimmung aus,
die um so melancholischer wird, je mehr er erkennt, daß die
menschlichen Laster schon mit dem Listinkt verbunden im
Menschen liegen.
Das Gefühl der Niclitswürdigkeit des Menschengeschlechts,
zugleich die Vorahnung seines geistigen Zerfalls haben ihren
tiefsten Ausdruck gefunden in der berühmten Episode von
den Struldbrug, jenen tiefunglücklichen Geschöpfen, die bis
zum dreißigsten Jahre sich durch nichts von gewöhnlichen
Sterblichen unterscheiden, von da an aber immer melancho-
lischer und verrückter werden, ihr Gedächtnis und ihre
jugendfrische Gestalt verlieren, dabei aber alle Laster nur in
sich steigerndem Maße beibehalten, ohne jemals Aussicht auf
Erlösung von ihren Leiden durch den Tod zu haben.
In diesem melancholischen Selbstbekenntnis fließt der
physiologische und theoretische Pessimismus zusammen.
Aber Swift war kein konsequenter Pessimist. Trotz
dieser fast durchweg negativen Satire und trotz der zynischen
Form seiner Misanthropie lassen sich Stellen finden, die den
Versuch einer Versöhnung mit dem Menschengeschlecht ahnen
lassen, und die beweisen, daß unter der rohen Form doch
ein großes sympathisches Herz schlug. („Misanthropy thongh
not in Timon's manner." Brief an Pope, 29. Sept. 1725.)
Swift dachte, und das charakterisiert seine Satire, un-
geheuer hoch und ideal, und gerade weil die ^\'elt sich so
30
sehr von seinen Idealen entfernte, denen er sie nalie bringen
wollte, deshalb hat seine Satire einen so schrillen Klang.
Nein, Swift war in seinem Pessimismus nicht konsequent.
Der konsequente Pessimist theoretisiert ohne Mitgefühl
und spricht ohne Bedauern von der rettungslosen Verderbt-
heit der Menschen. Das tut Swift nicht.
So zart die Ansätze zur Versöhnung sind, sie sind doch
vorhanden. Zwar ist für ihn der Mensch kein „animal ratio-
tionale", aber er ist auch nicht irrational, sondern „rationis
capax". Und wenn er auch am Anfang bei seiner Erzählung
ganz objektiv bleibt, so bricht gerade, je verbitterter die
Satire wird, mitunter sein Mitgefühl durch, daß er die Ver-
derbnis der Menschheit nicht sehen kann „without some
amazement and much sorrow."i) Diese Ansätze zur Ver-
söhnung sind zwar selten und ihr Vergleich zu dem wilden
Affekt der Satire zart und schüchtern; aber sie sind doch
vorhanden. Auch seine Utopien beweisen die Inkonsequenz.
Gewiß, sie sind bizarr; das entspringt eben der exzentrischen
Natur Swifts; aber man kann ihnen nicht hohen Idealismus
und Wohlwollen für die Menschen abstreiten. Etwas wunder-
lich gibt sich die Utopie in jenem pädagogischen Exkurs über
die Erziehung der Kinder in Liliput, wo man so recht den
mürrischen Junggesellen herausmerkt. Sehr phantastisch ist
auch noch die Utopie des IV. Buches im Lande der Houjm-
hehems, wo Freundschaft und Wohlwollen die Haupttugenden
sind, auf denen die Ehe und Erziehung sich aufbauen.
Praktischer und realer sind schon die Utopien des IL Buches
in dem Riesenlande, dessen „maxims in moralitj^ and govern-
ment" Swift seinem eigenen Vaterland wünscht. Am deut-
lichsten aber scheint er mir dieses versöhnende Wohlwollen
der Menschheit gegenüber ausgesprochen zu haben in der
») VIII, 275.
31
Einleitung" zu der melancholischen Struldbrugepisode, wo er
aus Unkenntnis über die Avalire Natur der Struldbrugs deren
Unsterblichkeit als das größte Glück preist, das jemand
widerfahren könne und den erstaunten Luggnaggiern aus-
einandersetzt, was er in jener glücklichen Lage tun würde.
Er würde zunächst große Schätze aufhäufen, auf Grund einer
sorgfältigen Beobachtung ein reiches Wissen sammeln, nach
der besten Erfahrung eine große lleform der Staaten vor-
nehmen, allen moralisclien Schäden mit frühzeitigen Lehren
entgegentreten, Mildtätigkeit und Freundschaft pflegen, hoff-
nungsvolle Talente unterstützen und alle Erfindungen und
Entdeckungen in den Dienst der Weisheit und Güte stellen.
Mit diesen Utopien nähert sich seine Satire wiederum
der Anteilnahme des Humoristen.
III. Die Passive Komik.
Am ästhetischsten wirkt die Satire, wenn sie sich damit
begnügt, ihre pessimistische Anschauung in die Geschehnisse
und Charaktere hinein zu projizieren, durch sie allein zum
Ausdruck zu bringen. Je weniger hierbei moralische Er-
örterungen angeschlossen werden, um so heiterer wirkt das
Spiel, um so eher kann in dem Schriftsteller der Künstler
hervortreten. Die Satire wirkt dann nicht in zynischer
Direktheit, sondern wie der Humor, allein durch die Formen
der Komik und des Witzes.
1. Die Auscliauuugskomik.
Sie baut sich auf den Charakter der ,,Travels'' als
.Märchenbuch und Reisebeschreibunff auf und hat mit am
32
meisten dazu beigetrag-en . dem Buche bei der Kinderwelt
einen bleibenden Erfolg- zu sichern. Das Kind, das auf eine
geringe Lebenserfahrung zurückschauen kann, ist in dem was
es komisch findet, Avesentlich bescheidener als gereifte -Leute.
Es haftet weit mehr an seiner Sphäre, an seiner Gewohnheit.
Was ihm neu, ungewohnt entgegentritt und es seltsam
anmutet, löst bereits bei ihm ein Lachen aus, wo wir es nur
zur Verwunderung oder zum Interesse bringen. Das ist die
Komik, die — zum großen Teil durchaus harmloser (im
engeren Sinne humoristischer), phantastischer Natur — sich
durch das ganze Werk durchzieht, Und die die Basis für die
übrigen Faktoren der Komik abgibt.
Das Liliputaner -Völkchen mit seiner emsigen Greschäftig-
keit, die ungeschlachten Leiber und Manieren der Riesen,
die Laputaner in ihrer grotesken Kleidung — endlich sogar
der Affe oder die Pferde mit den Menschenmanieren, all das
ist uns durchaus neu, ungewohnt, seltsam und deshalb komisch.
Das Ungew^ohnte der Erscheinung wird noch gesteigert,
w^enn wir Gulliver, also einen unserer Mitmenschen, in dieser
fremden Umwelt, unter diesen Märchen Völkern beobachten.
Hier tritt zum Ungewohnten als steigerndes Moment die
Komik des Kontrastes.
Riesengroß erscheint Gulliver dem Zwergvölkchen, winzig
klein dagegen den Riesen in Brobdingnag. Der Kontrast
wirkt um so komischer, je näher die Situation die verschieden
großen Gestalten in Berührung bringt.
Man denke an die Ehrerbietung, die Gulliver in Liliput
und andererseits in Brobdingnag der Kaiserlichen und König-
lichen Familie entgegen bringt; an die Szene, als er zum
Zeichen der Unterwürfigkeit vor dem Liliputanerkaiser kniet, ')
oder wie Gulliver der Königin von Brobdingnag den Fuß
1) VIII, 45.
33
küssen will; sie aber läßt ihn auf den Tisch stellen niid
reicht ihm huldvoll den kleinen Finger, „wliich I enibraced
in botli arms". ')
Sehr klar zeigt sich die Anschanungskomik der Gestalt
in der Szene, in der die Königin und Gulliver sich zusammen
im Spiegel betrachten; denn hier betont Gulliver selbst, wie
außerordentlich komisch der Kontrast auf ihn und die Königin
gewirkt habe. Sein harmloses, herzliches Lachen steckt auch
die Leser an.
So ließen sich besonders im I. und IL Buche noch eine
ganze Reihe von Szenen finden, wo die Anschauungskomik
der Gestalt sich mit der Komik des Kontrastes verbindet:
meistens Szenen, in denen sich eine liebevolle schalkhafte
Kleinmalerei bemerkbar macht. So der imposante Parade-
marsch der Liliputaner Armee zwischen den Beinen Gullivers
durch; 2) die Übungen der Liliputaner Kavallerie auf Gullivers
hochgespanntem Schnupftuch;'^) das Heer von Bedienten, be-
sonders auch von Schneidern, die sich um Gullivers leibliche
Versorgung verdient machen; 4) die köstliche Szene, wie die
Kinder, als Gulliver schläft, in seinem Haar Versteck spielen;^)
die Lesemethode vor dem Eiesenbuch und andere mehr.
Wie die Menschen, so berührt uns auch die ganze Um-
welt, in der Gulliver sich bewegt, komisch. Denn sie ist
uns ungewohnt und seltsam. Wir lachen über die winzig
kleinen Häuser und Tiere in Liliput, über die riesengroßen
in Brobdingnag, die so seltsam mit der Gestalt Gullivers
kontrastieren. Wir lachen insbesondere auch über sein Kisten-
zimmer, über die kleinen Möbel, den Stuhl, dessen Sitz aus
den Haaren der Königin geflochten ist, über den in einen
Daumennagel gefaßten Kamm aus königlichen Bartstummeln,
über seine Hosen aus Mausfell, und was dergleichen Raritäten
1) VIII, 103. 0 VIII, 42. 3) VIII, 40.
*) VIII, 64 ff. *) VIII, 39.
Becker, Die Satire Jonathan Swifts.
34
mehr sind, mit denen er in England so viel Aufsehen erregt
haben will.
Auf den Eindruck des Ungewohnten, Seltsamen geht
auch das komische Empfinden zurück, das uns Tiere ver-
ursachen können, wenn wir an ilmen Eigenschaften entdecken,
die sie dem Menschen ähnlich machen. Der Affe, der in
Brobdingnag Gulliver aufs Dach entführt und mit aller Ge-
walt ihm eine zärtliche Mutter sein will, erinnert uns an
ähnliche Vorkommnisse aus dem Menschenleben und wirkt
um so komischer, je weniger wir diese menschliche Eigen-
schaft bei dem Tiere erwarten.
Weniger wirksam, weil weniger glaubhaft, ist dagegen
die Komik des vierten Buches, wo die Pferde in der Manier
der alten Fabeln menschliche Arbeiten verrichten. Sie
melken Kühe, verfertigen Instrumente, nähen, halten Rat ab
und dergleichen mehr.
Hier fühlen wir zu sehr, wie diese Tugenden und
Fähigkeiten den Tieren nicht von Natur aus zukommen und
so als menschenähnlich durch die Komik hervorgehoben werden
können, sondern wir fühlen, daß der iVutor in seiner Misan-
thropie ihnen diese Idealtugenden erst künstlich beigelegt hat.
Dadurch gewinnt das ganze etwas Dogmatisches, moralisch
Tendenziöses, während gerade die Anschauungskomik in ihrem
harmlosen Genuß die Betonung des Lehrhaften als störend
vermeidet.
Das letzte Beispiel ist keine reine Anschauungskomik
mehr; es spielt schon in die Charakterkomik hinein. So sehen
wir bereits bei dieser primitiven Komik, daß die Faktoren
selten allein auftreten. Die Komik der Gestalt verbindet
sich oft mit der des Charakters, und diese wieder mit der
der Situation.
S6
2. Die Komik der Spruche.
Sie bedient sich wie die Anschauungskoinik des Faktors
des Neuen, Ungewohnten, Seltsamen. In „Gulliver's
Travels" zehrt diese primitive Komik von der Phantastik des
Märchenbuchs und Reiseromans. Das dankbarste Publikum für
diese Komik werden wiederum Kinder sein. Ein neues Wort,
eine ungewohnte Klangfarbe und Tonluihe ruft bei ihnen
schon Heiterkeit hervor, besonders, wenn die Sprache, wie
im vierten Buch, lautmalend das Wiehern der- Pferde wieder-
gibt (Houynhnhnms, snuwnh), oder gar, wenn Gulliver durch
seinen langen Aufenthalt unter den Pferden deren A\'ieliern
in seinen Tonfall aufgenommen hat.
In den meisten Fällen steht auch hier die Sprechkomik
nicht allein, sondern dient der Charakterisierung. Man
denke an die wunderliche Zeichen- und Gerätesprache, die
die Akademiker von Lagado zur Abkürzung und Wortersparnis
eingeführt haben.
Hier tritt zu dem Neuen und Seltsamen noch der komische
Faktor des Unverständlichen und Zweckwidrigen hinzu.
Beispiele liefert die von Swift stark kritisierte Juristen- und
Höflingssprache') oder in der „Tale of a Tub" die Sprache Jacks,
der sich nur in biblischen Sätzen und Zitaten bewegt, von
den Leuten aber nicht verstanden Avird und daher in eine
peinliche Situation gerät. 2)
3. Die Situationskomik.
Auch sie stellt noch eine ziemlich harmlose Komik dar,
aber unter ihr leuchtet sc\ion deutlich die satirische Tendenz
des Buches hervor. Denh „Gulliver's Travels" sind mit der
Absicht geschrieben, zu zeigen: der Nimbus, der den Menschen
') III. Buch VIII. 0 1 , 132.
3*
36 ,
und seiner Hände Werk umgibt, ist nur ein relativer; er
verschwindet, sowie der Menscli aus den gegebenen Verhält-
nissen in andere versetzt wird.
Im I. Buch, in .Liliput, hält Swift mit dieser Herab-
setzung des Menschengeschlechts noch ziemlich zurück. Fast
als wollte er uns noch bestärken in unserem Wahn von der
Würde und Bedeutung des Menschen, zeigt er uns Gulliver
unter Menschen, die ihm physisch bedeutend unterlegen sind.
Infolgedessen sind es auch die Liliputaner, die durch Gulliver
in allerlei peinliche Situationen geraten. Aber, und darin
zeigt sich der harmlose mehr humoristische Charakter des
I. Buches: die Situationen sind durchaus ungefährlich und
wirken deshalb rein ei'heiternd.
Einen maßgebenden Faktor bei der Situationskomik wie bei
aller Komik bildet der Kontrast. Eine Ursache, die nach
unserer Ansicht verhältnismäßig klein ist, ruft bei dem
Völkchen eine überraschend große Wirkung hervor. Allein
die Stimme, das Niesen Gullivers flößen ihm einen unheim-
lichen Schrecken ein, gar nicht zu reden von der Wirkung»
des Pistolenschusses. Oder gar die gewaltigen Leitungen, die
er auf Grund seiner Körperstärke vollbringen kann. Die
ganze feindliche Flotte vermag er wie ein Spielzeug hinter
sich her zu ziehen ; und als der Palast in Flammen steht und
alle Löschversuche vergebens sind, ist Gulliver der Mann,
der kraft seiner pliysischen Überlegenheit das herrliche Ge-
])äude vor der drohenden Vernichtung rettet. -^
Hier im I. Buch verkörpert die Situationskomik noch die
schalkhafte Beschaulichkeit des Humors. Dagegen im II. Buch
steht sie im Dienst der satirischen Tendenz. Sie zeigt uns,
wie der in Liliput so angestaunte, übermächtige Mensch zur
lächerlichen hilflosen Kreatur wird, wenn ihn das Geschick
in eine andere Umgebung verschlägt. Welclie Fülle von
Mißgeschick bricht nicht über den Unglücklichen herein.
37
lind dabei noch auf Veranlassung von Dinocn und Wesen, auf
die er in seiner englischen Heimat nur mit stolzer Über-
legenheit herabzusehen pflegte. Eine Brotkruste bringt ihn
zu P^all. An einem Schneckengehäuse hätte er beinahe ein
Bein gebrochen. Um ein Haar wäre er erstickt, als er eines
Tages bis an den Hals in einem Maulwurfshügel versank,
und wenig hätte gefehlt, so wäre es einer Weihe gelungen,
ihn als Beute davon zu tragen. Wie ein Spielzeug faßt ihn
eines Tages ein Wachtelhund, um ihn dem entsetzten Gärtner
zu apportieren. Als Spielzeug behandelt ihn auch das Riesen-
baby, das ihn nach Kinderart gleich in den Mund steckt, und
als er in seiner Herzensangst laut aufschreit, ihn erschreckt
fallen läßt, so daß er sich alle Glieder zerschlagen hätte,
wenn ihn nicht die Amme in der Schürze aufgefangen
hätte.')
In den letzten Beispielen wird die Wirkung des komischen
Mißgeschicks verstärkt durch die (Jharakterkomik des Miß-
verständnisses und der Verwechslung, und durch die
Situationskomik der angenehm getäuschten Erwartung,
die das Lachen besonders herzlich erklingen läßt.
In allen diesen Fällen war Gulliver das Opfer von äußeren
Zufälligkeiten. Weit komischer und satirischer wirken jedoch
die Beispiele, in denen Gulliver im Vollgefühl seiner nur in
England gültigen Leistungsfähigkeit selbst die komische
Situation verschuldet. Man denke an die Wirkung seines mit
großer Kraftanstrengung inszenierten Klaviervortrags und an
das peinlich nachsichtige Urteil des Königs.
Um seine Gewandheit zu erproben, will er einmal über
einen Kuhdüngerhaufen springen, springt aber zu kurz und sinkt
bis an die Knie in den Mist. Er wird zwar sorgfältig ge-
reinigt, aber die Königin und der Hof erfahren es doch, so
') VIII, 92 0"., 118 ff.
38
daß, wie er selbst erzählt, er tagelang- den Gegenstand des
alfgemeinen Gelächters 'bildet, i)
Verschärft wird die Komik dnrch das Obszöne, das
dem Mißgeschick einen peinlichen Anstrich verleiht. Gemildert
dagegen wird die Satire durch die Selbstverlachung.
Wenn Gulliver in dem Erlebnis mit dem Affen erzählt: trotz
der gefährlichen Lage habe er den Zuschauern das Lachen
nicht verdenken können, denn die Situation sei zu komisch
gewesen, so wird das sich ängstigende Mitgefühl beruhigt
durch die heitere Selbstverlachung Gullivers, und wir selbst
lachen nur um so herzlicher. Damit gewinnt die Situations-
komik trotz ihres satirischen Grundgedankens einen ver-
söhnenden Abschluß.
4. Die Charakterkoniik.
„I have ever hated all nations, professions and com-
munities, and all my love is towards individuals", schreibt
Swift an Pope in einem Briefe vom 29. September 1725.
Aus dieser Weltanschauung und aus der satirischen Tendenz
der „Travels" erklärt sich das Vermeiden der individuellen
Charakterkoniik. Swift lacht vielmehr nur über allgemein
menschliche oder über Berufsschwächen. Hierbei wird die
Charakterkomik wirksam unterstützt von der Komik der Ge-
stalt, der Sprache und der Situation.
Bergson sielit den Grund der komischen Wirkung eines
Charakters in der „raideur de mecanique", in einer „insocia-
bilite du personnage",-) einer von dem allgemeinen Lebensfluß
sich absondernden oder ihm entgegen wirkenden Handlung,
die die zielstrebende Handlung des Lachens zu korrigieren
bestrebt ist.
0 VIII, 126. '■') y. 10, 142. u. 149.
39
Bergson erklärt damit die niiarakterkoniik vom theo-
lugischen , vom biologisch - soziologisciien Standpunkt aus.
Psychologisch gesprochen handelt es sich hier um eine Komik,
die auf Assoziation zurückgeht. Wir vergleichen einen
Charakter und seine Handlungsweise mit dem Bild, das die
normale harmonische Lebensanschauung in uns entstehen läßt.
Sein Charakter ersclieint uns daher unvollkommen, sein
Handeln zweckwidi-ig, unsinnig: komisch.
Die „raideur de meeanique" und die „insociabilite ' du
personnage" äußert sich gewöhnlich in einem plötzlicli ent-
hüllten habituellen Mangel, der uns humoristisch oder
satirisch anmuten kann. Humoristisch wird er auf uns wirken,
wenn uns der habituelle Mangel aus dem nun einmal ge-
gebenen Gesichtskreis entschuldbar erscheint. Freilich darf
auch hier weder unser Mitgefühl, noch unser Gemeinschafts-
gefühl, am wenigsten unser Selbstgefühl verletzt werden.
Humoristisch mutet uns z. B. noch die im „Tatler" Nr. 298
gegebene Schilderung ^ von der übertriebenen Gastfreundlich-
keit an, wenn auch die Schilderung von starkem Unwillen
durchweht ist. Humoristisch sind auch die vielen Fälle von
Charakterkomik, in denen die Liliputaner oder die Riesen
in Brobdingnag oder gar die Hou^'uhnhnms infolge mangel-
hafter Erfahrung fremde Gegenstände auf Grund eines ihnen
geläufigeren Vorstellungskomplexes beschreiben. Man denke
an die Beschreibung von Gullivers Inventar oder an die
Schilderung, die das Pferd von dem halb angekleideten Gul-
liver gibt.
Satirischer — zum Teil durch die Beimischung der
Siituationskomik — mutet uns schon die Charakterkomik des
IL Buches an. Denn unser Selbst- und Gemeinschaftsgefühl
sträubt sich dagegen, Gulliver mit geringen Tieren ver-
')B-IX,57.
40
wechselt zu selieii. Vernichtet dagegen wird die Komik in
dem IV. Buch, wo die Houynhnhnms auf Grund ihrer engen
Vorstellungssphäre Gulliver wegen der äußeren Ähnlichkeit
als ein brauchbares Exemplar der sonst minderwertigen und
lasterhaften Yahoorasse betrachten. Hier könnte die Situations-
komik der Verwechslung- entstehen, wenn nicht das tief ge-
kränkte Gemeinschaftsgefühl eines jeden Menschenfreundes
das Auflohen einer wirklichen Komik erstickte.
Auch der Charakter und die Person Gullivers erscheinen
manchmal in einem komischen Lichte durch den Kontrast
des in sich Unvereinbaren.
Wenn Gulliver nach der berühmten Entfiilirung durch
den Affen und nach seiner Eettung- den ihn schalkhaft ver-
spottenden König mit großsprecherischer Miene versichert, er
hätte sich dem Affen gegenüber seiner Haut wehren können,
wenn er nur an seinen Degen gedacht hätte — so stehen diese
großsprecherischen Worte in schroffem Mißverhältnis zu seiner
vorhergehenden Angst, und das dröhnende Gelächter der Riesen
beweist nur zu deutlich, wie wenig Glauben er gefunden. i)
Ein andermal hat er erst mit großem Mut eine Eiesen-
ratte erstochen, dann aber, von einem plötzlichen Bedürfnis
überrascht, eine lächerliche, pedantische Ängstlichkeit an den
Tag gelegt, indem er aus lauter Scliam vor Glumdaldrich sich
unter einem großen Blatt verkroch.-)
Der Kontrast des in sich Unvereinbaren braucht nicht
von Anfang an im Charakter zu liegen, sondern kann erst
durch die phj'sische Trägheit veranlaßt werden. Es sei daran
erinnert, wie Gulliver auf der Heimkehr von Brobdingnag so
überlaut redet,.-'*) wie er seine Wohnkiste in die Kabine ge-
bracht haben will'), wie er in England den Leuten zuruft,
ihm aus dem Wege zu gehen, damit er nicht auf sie trete,-'')
')Vni,126. 2)vn,95. 5) VIII, 151. ^) VIII, 148. ^) VIII, 154.
41
und sein AVeil) und seine Tocliter nicht sieht, nachdem er so
hmse gewohnt gewesen, 40 P'uß in die Höhe zu blicken —
alles Fälle, in denen die „raideur de nie('ani(ine" deutlich zum
Ausdruck kommt durch die Situationskomik, die sie hervorruft.
Doch kann dieser Kontrast des in sicli Unvereinbaren
von einem zum Pathologischen gesteigerten Pessimismus ge-
trieben, in dem Charakter Gullivers Formen annehmen, die
für uns nichts Komisches mehr haben. So wenn Gulliver den
im Lande der Honynhnhnms sich anerzogenen Widerwillen
gegen die Yahoos auch auf die Menschen überträgt, so daß
er beschließt, nicht mehr zu ihnen zurückzukehren, und als
ihn das Schicksal doch wieder unter Menschen verschlägt,
ihr Anblick, ihr Geruch selbst ihm so unausstehlich ist, daß
er y beim Kuß seines Weibes in Ohnmacht sinkt, ß) Wohl
haben wir hier die geforderte „insociabilite", aber das Mitleid
mit der bitter enttäuschten Gattin und unser eigener ge-
kränkter Stolz der Gemeinschaftsgefühle bringen die „in-
sensibilite" ins Schwanken und verhindern somit die Komik.
Die Charakterkomik der Berufsschwächen.
Besonders auffällig ist die „insociabilite du personnage"
in der Charakterkomik der Satire, die sich gegen Berufs-
schwächen, vor allem die der Mathematiker und Astro-
nomen richtet (B. III). Grotesk -satirisch wirkt die Cha-
rakterkomik der Laputer. Das ganze Leben dieser
Gelehrten ist rein musikalisclien uml mathematischen In-
teressen gewidmet. Sie gehen ihren eigenen Weg, ohne sich
um andere zu kümmern und mit ihnen Berührung zu suchen,
und können sich in ihrer mathematisch -musikalischen Ein-
seitigkeit gar nicht vorstellen, daß sich die Welt in anderen
Köpfen anders spiegele.
1) VIII, 301.
42
Man erwartet eine liarmoniscli ausgebildete Persönliclikeit
und findet statt dessen eine berufliche Einseit\gkeit,, und was
noch schlimmer, eine dem gesunden Menschenverstand hohn-
sprecliende Borniertheit, die um so krasser wirkt, als sie mit
scheinbarer Gelehrsamkeit auftritt.
Schon allein die Karikatur der äußeren Erscheinung
und die groteske Umwelt lassen uns ihre berufliche Einseitig-
keit erkennen. Ihr Kopf liegt nach links oder rechts, das
eine Auge ist nach innen, das andere nach oben gedreht:
seltsame Erscheinungen, die durcli das Konzentrieren auf
mathematische Probleme und durch ihre astronomische Be-
schäftigung bedingt sind. Auch an ihren Kleidern kann
man ilii'e übertrieben einseitige Liebhaberei für Astronomie
und Musik erkennen; denn ihre Gewänder sind über und
über bedeckt mit Sonnen, Monden, Sternen, "^ dazu noch be-
stickt mit Darstellungen von Flöten, Geigen, Harfen, Trom-
peten und Gitarren.
Die berufliche Einseitigkeit geht sogar so weit, daß sie aus
lauter Vorliebe für Mathematik und Musik ihrer Umwelt die Form
von matliematischen und musikalischen Instrumenten geben.')
Das Essen Avird in der Form von Dreiecken, Rhomboiden, von
Zylindern und Parallelogrammen, die dazu gehörigen Saucen
und Puddings in der Form von Flöten, Klarinetten und Geigen
serviert.
Selbst die Sprache bannt ihre berufliche Einseitigkeit
in die engen Grenzen mathematischen und musikalischen
Ausdrucks. Die Schönheit einer Frau beschreiben sie mit
Ehomben, Kreisen, Parallelogrammen, Ellipsen und anderen
geometrischen oder musikalischen Fachausdrücken. 2) Noch
unnatürlicher und in ihrer Wirkung noch grotesker ist die
Sprache der Gelehrten von Lagado. Statt der schwierigen
1) VIII, 164. 2) VIII, 168.
43
Worte haben sie eine einfache Zeichensprache eingefülirt, so
daß die Gelehrtesten Avie Hausierer ganze Säcke voll Ge-
rumpel benötigen, um sich unterhalten zu können. i)
Und nicht genug damit, daß sie selbst als traumverlorene
Menschen herumlaufen, sie können sich in ihrer Beschränktheit
überhaupt nicht vorstellen, wie es bei Gulliver anders sein
könne, und bringen ihn dadurch in wunderliche Situationen.
Weil sie zur Erregung der Aufmerksamkeit und zum Zu-
standekommen eines Gesprächs der „flappers" bedürfen, wird
auch der mehr als verwunderte Gulliver mit den Klatschen
aufmerksam gemacht;-) v»^eil sie in groteskem Kostüm herum-
laufen, muß auch Gulliver sich ein mathematisch -musikalisches
Gewand anmessen lassen. Schade um die viele Mühe und
Zeit, um die kunstvollen mathematischen Anmessungen und
Berechnungen: denn sie passen ihm gar nicht.
So dient auch hier das naive Übertragen eigener enger
Anschauungen auf andere Leute und die daraus entstehende
Situationskomik (Wiederholung eines Identischen, getäuschte
Erwartung) dazu, den habituellen Mangel der Einseitigkeit
noch schärfer hervortreten zu lassen.
Stark übertrieben ist die Charakterkomik der Aka-
demiker von Lagado (III. Buch). Das Kapitel hat dem-
gemäß eine recht geteilte Aufnahme erlebt. Nirgends in den
„Travels" tritt das Zweckwidrige der angewandten Mittel und
die mit großer Scheingelehrsamkeit gepaarte berufliche Be-
schränktheit klarer zutage. Zudem weiß Swift den Eindruck
des Satirischen wesentlich zu verstärken durch die scheinbare
Objektivität der Darstellung, durch die ironische Zu-
stimmung, durch das Obszöne und Drastische und durch
die wirksame Situationskomik der getäuschten Er-
wartung:. Erinnert sei an die „hoffnungsvollen" blinden
') VIII, 193. ^) VIII, 165.
44
Falbenmischer;') an den betagten stud. med. vet,, der einen
Hund von Kolik lieilen wollte, indem er ihm mit einem Blase-
balg ein Liiftklystier gab;-) und an die vereinfachte Pflüge-
methode eines Projektors, der Nüsse, Datteln und Eicheln in
dem Acker vergrub und das Feld sodann von 600 Schweinen
durchwühlen ließ. Die Ernte blieb so gut wie ganz aus. 3)
Ganz besonders satirisch erscheint die Verdrehtheit der
Laputer durch den Vergleich mit einem in diesem Lande
selten vernünftigen Menschen. So in der fast sentimentalen
Schilderung des schönen geschmackvollen Gartens, den der
Lord zu seinem großen Leidwesen nach dem herrschenden
bizarren Geschmack umgestalten muß, um bei Hofe und bei
seinen Mitmenschen nicht übel aufzufallen, und um nicht als
stolz, dumm und launenhaft verschrieen zu werden.
Hier zeigt sich der leidenschaftliche Satiriker, der der
traurigen Eealität ein leuchtendes Idealbild entgegenstellt.
Kein Versuch versöhnender Heiterkeit mildert den scharfen
Eindruck, und selbst die affektvolle Energie der Satire er-
schlafft unter dem Druck der unverbesserlichen Dummheit der
Menschen zur resignierten Melancholie.
Die Satire der „Tale of a Tub" beruht ebenfalls zum
Teil auf Charakterkomik, sowohl die Satire auf die drei
Kirchen, als die auf die Skribenten. Bei Peter ist es vor
allem das Raffinement, mit dem er sich stets zum Herren
der Lage zu machen weiß. Komischer, weil in sich wider-
spruchsvoller, wirkt Jack. Das Benehmen, das er an den
Tag legt, ist unnatürlich, zweckwidrig. Seine biblische
Sprache, seine unvernünftig dünne Winterkleidung, sein
dicker Sommeranzug, seine heuchlerische frömmelnde Ecken-
steherei, seine Sucht nach Märtyrertum, sein Bilderhaß und
älinliche habituelle Mängel mehr bringt Swift schonungslos,
■) VIII, 188. •') VIII, 188 ff. ') VIII, 187.
45
oft grotesk znr Charakterkarikatur verzerrt, in das grelle
Licht der Komik.
Aach die Satire auf das Skribententum geht sehr oft auf
die plötzliche Enthüllung' eines habituellen Mangels zurück.
Hier kann sich Swift gar nicht genug tun, die Anmaßung,
die Unwissenheit der Skribenten an den Pranger zu stellen.
Haben sie ihm doch für eine Dedikation viel gelehrtes
Material herangebracht, angeblich aus Sokrates, Epaminondas,
Attikus, Kato, ohne daß auch nur ein Wort daran wahr ist.i)
Nicht einmal „Detur Dignissimo" können sie übersetzen, ob-
wohl sie ihm für gutes Geld oft Übersetzungen aus dem
Lateinischen angefertigt haben, i)
Allgemein menschliche Schwächen.
Um die Enthüllung eines habituellen Mangels handelt es
sich auch bei der Charakterkomik, deren satirische Tendenz
sich gegen allgemein menschliche Schwächen und Laster
richtet. Dieser Teil der Charakterkomik und der Satire ist
in „GuUiver's Travels" der bei weitem unerquicklichste. Wohl
gibt es eine Reihe von Fällen, die trotz ihres satirischen
Grundgedankens stark komische Wirkung haben und ein
wirklich befreiendes Lachen auslösen, aber diese Fälle sind ver-
hältnismäßig selten und beschränken sich auf die ersten Bücher.
Da werden Fehler und Schwächen an den Pranger ge-
stellt, die ihren Ursprung im politischen, sozialen und im
staatlichen Leben haben.
Unter dem Symbol der „high-heels"' und der „low-heels"
verspottet er die Parteisucht der High-Church und der
Low-Church, der Tories und der Whigs. Der König, der den
„low-heels" huldvoll gesinnt ist, trägt niedrige Absätze, der
Prince of Wales jedoch wegen seiner schwankenden Haltung
einen hohen und einen niedrigen Absatz.
') 1,27.
46
Weniger erquicklich als dieses Beispiel ist die Cliarakter-
komik, die auf den habituellen Mangel der Streitsucht zu-
rückgeht. Zwischen Liliput und Blefuxu ist ein Streit aus-
gebrochen, ob man die Eier am breiten oder am spitzen Ende
öffnen sollte. Der Streit hat bereits sechs Aufstände und
11000 Menschenleben gekostet. Die „bigendians" stellen die
Katholiken, die „lowendians" die Protestanten dar.
Satirischer wirkt die Charakterkomik, die sich mit der
Günstlings wir tschaft der Minister befaßt. Die Minister
in Liliput tanzen zum Zeitvertreib des Königs und zur Be-
lustigung des Hofes auf einem Seile und kriechen wie ein
Hund unter oder über einen vorgehaltenen Stock und sind
hocherfreut, wenn die Tüchtigsten mit einem Bändchen de-
koriert werden. Im III. Buch müssen die Minister und alle,
die dem König nahen, sogar den Staub vor dem Throne auf-
lecken, den die Intriguanten hinstreuen, und den sie oft sogar
mit Gift vermischen, wenn der in Ungnade gefallene aus dem
Wege geräumt werden soll.
Auch die (Charakterkomik der politischen Gehässigkeit
und Verfolgungssucht macht er zum Gegenstand seiner
Satire. Wiederum ist es die Dummheit, die sich für besonders
pfiffig hält, die er zur Zielscheibe seines Spottes auswählt,
und wiederum greift er zu dem Mittel der Obszönität, um
den Charakter noch lächerlicher zu machen. Denn der Pro-
fessor, der sich auf das von ihm erfundene Mittel zur Ent-
deckung von Verschwörungen besonders viel zugute tut, rät
den Staatsleuten, die Diät der verdächtigen Individuen und
besonders ihrer Exkremente zu beobachten. Aus Farbe, Ge-
ruch, Geschmack, den Bestandteilen, der rascheren oder lang-
sameren Verdauung, will er Schlüsse über die Gedanken und
Absichten des Individuums folgern. 9
') VIII, 198.
47
Die Scliwäclicn und Laster des weiblichen Geschlechts
hat Swift mit besondei-er Vorliebe zur Grundlage seiner
Oharaliterkomik und zum Gegenstand seiner Satire ge-
nomnien. Denn Swift war trotz seines Verkehrs mit Damen
der höchsten adeligen Gesellschaft und trotz seiner Liebes-
verhältnisses mit Stella und Esther ein großer Weiberfeind,
besonders in den letzten Perioden seines Lebens. In „Gulliver's
Travels" ist eine Steigerung der Satire auf die Frauen deutlich
fühlbar. In dem I. Buch, in der Verleumdung, die von einer
heißen Liebe der Königin zu Gulliver wissen will, tritt die
Charakterkomik mit dem habituellen Mangel der weiblichen
Untreue fast zurück hinter dem Kontrast der Anschauune:.
Auch in dem II. Buche liegt der Kontrast der Anschauung
der Komik zugrunde, aber die Satire, die sich vor allem
gegen die Schamlosigkeit der Hofdamen richtet, ist in der
Charakterkomik schon deutlicher fühlbar durch widerliche
Detailmalerei.
Das Thema der Treulosigkeit und Schamlosigkeit der
Frauen wird in den nächsten Büchern noch weiter aus-
gesponnen, allerdings nicht eigentlich in Form der reinen
Charakterkomik. In Laputa können sich die Frauen mit ihren
Liebhabern die größten Freiheiten in Gegenwart ihrer Gatten
erlauben, da diese zu sehr mit mathematischen Problemen be-
schäftigt sind, als daß sie ihre Treulosigkeit merken könnten, i)
In den nächsten Kapiteln wird durch Geistererscheinungen,
Anekdoten etc. dafür gesorgt, daß diese Charakterschwäche
der Frauen bei der Satire nicht zu kurz konmie. Diese Art
der Satire gehört jedoch nicht mehr unter die Komik des
Charakters, sondern schon unter die direkte Satire.
Das Thema der Unsittlichkeit der Frauen wird im
IV. Buch in zynischem Vergleich mit den Gewohnheiten der
Yahoos auf die Spitze getrieben.
') VI, 170.
48
Wohl haben wir hier noch AnsHtze zur Charakter-, melir
nocli zur tSituationskomik (A^erwechslung), wie die Szene, wo
ein Junges Yahooweibclien den badenden Gulliver für einen
Vertreter der Affenrasse hält und mit brünstiger Umarmung'
um seine Liebe wirbt, bis das Aufseher -Pferd Gulliver aus
seiner peinlichen Lage befreit; aber wenn wir auch die Freude
an der komischen Situation dem Pferdekönig kaum verübeln
können: für den betroffenen Gulliver, die menschliche Passe
überhaupt, und besonders für das weibliche Geschlecht, ist
die Charakterkomik zum größten Teil durch den Vergleich
mit den Yahoos vernichtet.
Noch zj^nischer wirkt die Enthüllung anderer allgemein
menschlicher Schwächen. Durch die Darstellung von Vorgängen
aus dem Leben der Yahoos werden menschliche Laster gebrand-
markt, aber nur in moralischer didaktischer Form, während das
mildernde Moment der Situationskomik dabei ganz gestrichen ist.
Habsucht äußert sich bei den Yahoos darin, daß sie
wertlose glänzende Stfeine vergraben und über ihren Verlust
untröstlich sein können.')
Auch das Laster des Trunks findet sich bei ihnen. Sie
kauen eine süße Wurzel, geraten bei diesem Genuß in wilden
Taumel, erschlaffen dann aber um so eher. 2)
Alle Laster der Europäer, vom wollüstigen, üppigen
Leben bis zur Günstlings- und Maitressenwirtschaft werden
uns im Zerrbilde der Yahoos vorgeführt.
Nun haben wir allerdings oben gesehen, daß auch Tiere
komisch wirken können, insofern ihr Gebahren etwas menschen-
ähnliches hat. Aber die Komik kann bei uns nicht recht auf-
kommen, weil unser Selbstgefühl sich gegen einen Vergleich mit
dieser schändlichen Passe sträubt und die starke Betonung
des Moralischen der Entwicklung der Komik hinderlich ist.
') VII, 272. 2) VIII, 273.
49
IV. Die aktive Komik oder der Witz.
Humor und Satire g-reifen oeine, zu dem Ausdruc.ksmittel
des Witzes, um ihre Weltauscliauuuo" zu spief>eln, vor allem
die Satire. Der Witz nimmt im siebzehnten und Anfang' des
achtzehnten Jalirlinndeits eine hervorrat>ende Stellung ein.
Wenn je Zeitumstände dem Aufkommen dieser Art Komik
günstig- waren, so war es die Zeit Swifts. Der Eationalisnnis
mit seinem einseitigen Betonen der Yerstandestätigkeit und.
was damit parallel läuft, der McUigel an Gefühlsknltur; der
Einfluß der französischen Sahms, und die \'orliebe für Kon-
versation; das Aufblühen der (Jafes und der Schokoladeliäuser
mit ihren politischen und literarischen Klubs; die Verzettelung
der geistigen Kräfte in literarischer Kleinkunst; die politisch
erregte Zeit, die scharfen Parteikämpfe; die durch das em-
pirische Denken geschärfte Kunst der Beobachtung des Cha-
rakteristischen an einer Persönlichkeit; die großen sozialen und
politischen Errungenschaften und das dadurch gesell wellte Selbst-
bewußtsein: aus dem Zusammemvirken aller dieser Faktoren
können wir verstehen, warum gerade das beginnende achtzehnte
Jahrhundert so sehr unter dem Zeichen des Witzes steht.
Auch Swift, von der Natur zur virtuosen Handhabung
des Witzes veranlagt, ist mit in den Strudel dieses Zeitgeistes
gerissen worden.
Sein Witz ist teils Selbstzweck und dann harmlos, teils
dient er satirischen Tendenzen.
A. Der Pormwitz.
Harmlos ist fast der ganze Formwitz, vor allem die
„puns" seiner Konversation und die im Journal to Stella
überaus zahlreichen „verses and proverbs".
Bcekor, Dio Satire JoiiatlKui Swifts. 4
50
„Be you lords or be you-eaiis.
Yoii must write to naug'lity girls."i) .
Als der Sclionisteiu in Stellas Hause eint>estürzt ist.
schreibt er:
„I liate all wind, before and beliind,
From cheeks Avitli eyes, or from blind." ^)
Harmlos sind auch die Dialekt-Klangwitze in seiner
Korrespondenz: „To Sheridan in barbarous Latin, to Sheridan
in Ang'lo- Latin",'') in dem scherzhaften ,,Irish eloquence" und
in dem „Dialogue in Hybernan style".'')
Harmlos ist endlich der größte Teil von Swifts Namen-
witzen. Sie waren damals in den Wochenschriften sehr be-
liebt. So wie er den Dubliner Blumenmädchen poetische-
Spitznamen: Flora, Cancerina, Stumpa-nympha etc., gab, so
stellt er uns im ,.Tatler" die Brüder Tobiali und Obadjah
Greenhat vor, in der „Polite Conversation",: Lady Smart.
Mr. Neverout, Lady Answerall.
Daß in seinen späteren Schriften die Satire auch in dieses
Gebiet der Namen witze gedrungen ist, beweisen folgende
Namen, die er für irische Gegenden vorschlug: Fool-brook.
Puppy-ford, C'oxcomb-Hall, Mount-Copperhead; Dunce-hill.^')
B. Der intellektuelle Witz.
Die Formwitze sind bei SAvift selten. Bei seiner hervor-
ragenden Verstandesbegabung liegt seine Stärke vielmehr auf
dem Gebiet des intellektuellen Witzes.
1) II, 66. ') II, 89.
3) ed. 1775, B. 14, S. 254 u. 276.
. *) VII, 361. •>) VII, 384.
5t
1. Das Spiel mit dem liisimi.
Der weitaus <>]-ößte Teil des intellektuellen A\'itzes stellt
ein Spiel mit dem Unsinn zum ZAvecke des wit'zif>en W'eis-
niachens dar. Auch hier gibt es Fälle, in denen der Witz
Selbstzweck zu sein scheint. Am häutigsten jedoch verfols*!
er eine satirische Absicht. Die Satire, die er iu die spielende
Form der Parodie zu kleiden ptlegt, richtet sich vor allem
i>eoen -die Skribenten. Ihre Dummheit, ihr Mangel' an
klassischer Bildung, ihre unsinnigen Themata, ihre Eitelkeit,
ihr Prunken mit großer Scheingelehrsamkeit und andere
.Schwächen will Swift durch die Parodie verspotten.
a) Die witzigen Elrkläruugen.
Sie sind zum größten Teil parodisch und kommen iu der
„Tale" überaus häufig vor. In ihnen werden Dinge mit einem
Anschein von AVahrheit dargestellt, die iliuen nicht zukommt.
Behauptungen mit Gründen erhärtet, die keine sind. Dinge
in Beziehung gesetzt, die nichts miteinander zu tun haben.
Ein Spiel mit dem Unsinn stellt die witzige Begriffs-
beziehung dar, die den vorteilhaften Einfluß der Kanzel auf
den fanatischen Prediger erklärt. i) Denn die Kanzel sei
wurmstichig, sie berge auf diese Weise viel Würmer in ihrem
Holz und habe wegen des faulen Holzes die Eigenschaft, im
Dunkeln zu leuchten. Durch diese Erklärung maclit er eine
satirische Anspielung auf den fanatischen Prediger (,.inward
light and füll of maggots") und auf die zwei Schicksale seiner
Schriften: verbrannt und von Würmern gefressen zu werden.
In der „Battle of the Books" spricht er von einem Ein-
fluß der Tinte auf die Schriftsteller. Denn die Tinte wurde
von dem Erfinder aus zwei Teilen zusammengesetzt : aus Galle
1)1,52.
52
und Kupfer, ,.l\y its bitterness and">enom to suit in some de-
gree, as well as to foment, tlie genius of combatants." i)
Oder: Er redet von der Entstehung der .szythischen
,.Longheads" und findet eine würdige Analogie dazu in den
englischen ,.Roundheads". Der Eindruck des Witzigen wird
noch erhöht durch die witzige Begründung dieses selt-
samen Phänomens. Anfangs nur Kunstwerke, hergestellt mit
einer Schere, mit einem gewissen Druck aufs Gesicht und
einer schwarzen Mütze, wurde die Form später zu selbst-
tätigem Naturspiel nach eingehender Betrachtung der Köpfe
und damit Beeinflussung der Konzeption der Frauen -)
Besonders die Anmaßung und Dummheit der Skribenten
reizt ihn. Er verspottet parodierend diese Eigenschaften durch
eine witzige Folgerung^), eine ürteilsbeziehung, die vor
allem die Fnerlaubtheit der Ableitung herausspringen läßt.
,. . . . where I am not understood, it shall be concluded
that something very useful and profound is couched under-
neath . . . ^)
Die Gewinnsucht der Skribenten niußite einem Mann
wie Swift vor allem verhaßt sein; denn kaum einer trachtete
so wenig nach literarischen Lorbeeren und danach, materiellen
Gewinn aus seinen Schriften zu schlagen, Avie SAvift. Die
Form, in der er seiner Satire in der „Tale" Ausdruck ver-
leiht, ist die Parodie der witzigen Einschränkung. 3) Zwei
Urteile treten hier in Beziehung, von denen die weitgehenden Zu-
geständnisse des ersten durch die beinahe ebenso weitgehenden
Einschränkungen des zweiten zurückgenommen werden.
Am Schluß des Kapitels über die Äolisten behauptet er:
er wolle die Vorurteile aus der Welt schaffen und die Dinge
in das wahrste und beste Licht rücken, „which I therefore
0 1, 163. =>) 1, 195.
=•) Lipps 196. *) 1,43.
53
boldly lindert akf, witlioiit aiiy reg-ards üf iiiy own. beside t!ie
lioiiour and tlie tlianks."i)
Ein Spiel mit dem Unsinn stellt aiicli die phantastische
Erkläning dar, die mit physikalischen Bedingungen ilir
Spiel treibt. Swift redet von den mehr oder weniger vorteil-
haften „oratorial machines" und erklärt, der Redner müsse
deshalb noch stehen, damit die Worte auf der I^uft dahin-
gleitend in den Mund sinken könnten, der zu diesem ZAvecke
parallel dem Horizont gerichtet sei. 2) Hierher gehört ferner
die Erklärung der sinnreichen Theatereinrichtung, die es er-
möglicht, die einzelnen Partieen der Stücke, je nach ihrem
Charakter an bestimmte Zuschauergruppen gelangen zu lassen.
Mit folgenden witzig- satirischen Gründen wird die
große in der Bibliothek ausgebrochene Verwirrung erklärt:
Ein perverser Wind hat den Bücherstaub der modernen Bücher
dem Bibliothekar in die Augen geblasen; vielleicht hat der
Bibliothekar auch die Würmer aus den „Schoolmen" gepickt
und gegessen, und diese sind ihm auf Kopf und Spleen ge-
krochen etc.=^)
Die witzige Erklärung kann weiterhin zur Beschreibung,
zur Karikatur übergehen. Auch hier liegt ein Spiel mit
dem Unsinn zum Zweck des witzigen Weismachens vor. Um
den Charakter der Äolisten zu verspotten, erklärt uns Swift
das Zustandekommen der Inspiration folgendermaßen. Sie
benutzen als Kanzeln Fässer und führen durch ein Windrohr
die unterirdischen Windströmungen dem Körper zu. Frauen
sind infolge ihres umfangreichen Körperbaues zur Inspiration
besonders geeignet. Hieraus erklärt Swift mit witziger
Folgerung die Verwendung von Frauenpi-iestern bei den
Quäkern,
') 1,112. •-») 1,50, ») I, im.
54
Das witzige Weisiiuulieii in der Form des witzigen
Schlusses ist bei Swift sehr selten. Das folgende Beispiel
ist dem Tonuemnärclien entnommen. Die Äolisten achten die
Bildmig sehr, denn sie bläst den Mensclien auf. Diese Be-
hauptung beweisen sie durch folgenden Syllogismus:
„Words are but wind; and learning is nothing but words;
ergo, learning is nothing but wind."i)
Als Spiel, mit dem Unsinn kann man endlich aucli
spTachliclie Erklärungen auffassen. Um tien Fall einer
witzigen Parodie, einer Satire auf die wunderlichen Etymo-
logien der Gelehrten, besonders Bentleys, handelt es sich in
der im „Gulliver" gegebenen Etymologie des Wortes Laputa.
„Lap in the old obsolete language signifieth high, and
untuh. a governor, frora whicli they say by corruption was
derived Laputa, from Lapuntuh. But I don't approve this
derivation which seems to be a little strained. I ventured
to offer to the learned among them a conjecture of my own
that Laputa was „quasi lap outed"; lap signifying properly
the dancing of the sunbeams in the sea, and „outed", a wing,
Avhich however J, sli^-ll, not obtrude, but submit to the judi-
cious reader."
b) Der witzige Rat.
Neben den witzigen Erklärungen greift das Spiel mit
dem Unsinn sehr gern und häutig zum witzigen Rat. Der
literarische Rat war damals überhaupt selu' beliebt, auf
politischem, religiösen, besonders aber auf moralischem Gebiet.
Swift zeigt sich auch hier als ein Mann seiner Zeit, indem
er eine damals gangbare literarische Form zum Träger seines
Witzes macht.
'; I, 108. ■-) VIII, 16(J.
55
Mauclie dieser Ratschläge .sind nur witzig; so die l»at-
schläge an das Publikum, wie es den Text besser vei'steiien
könne,!) oder daß es gut sei, sclnveißdurclitränkte gesteppte
Naclitinützen zu tragen, da so der Geist nur durch den Mund
entAveichen könne. ■^)
Zum größten Teil aber haben wir es mit Ratschlägen zu
tun, in denen satirische Spitzen gegen die Skribenten und
gegen Swifts lockere Mitwelt durchblitzen. Der Rat ist dann
mehr ironisch.
Die Skribenten sind nach Swifts Ansicht übel dran. Die
(Quelle ihres Witzes ist am Versiegen, und neues Lesen und
Denken ist eine allzu ermüdende Beschäftigung, ["m ihnen
aus dieser doppelten Klemme zu helfen, empüelilt er ihnen
große Inhaltsverzeichnisse, Kompendien und Zitatenbücher;
keine Autoren selbst zu lesen, dafür aber um so mehr Kritiker,
Kommentatoren, Lexika und Sammlungen von (Tlanzstellen.
Auch macht er sie auf das Rezept seiner literarischen Mixtur
aufmerksam, die scjion nach vierzehn Minuten eine Fülle von
wohlgeordneten Gedanken fertig zum Niederschreiben im
Kopfe entstehen läßt. 3)
Etwas verschieden von dieser Art' des witzigen Rats ist
das Mittel, das Peter als sicherwirkend gegen Würmer an-
preist, eine Satire, deren Spitze sich gegen die gar zu wenig
mühsamen Bußen und die leichte Absolution dei- römischen
Kirche richtet: 4) „The patient was to eat nothing after supper
for three nights: as soon as he went to bed. lie was care-
fully to lay on one side, and wlien he grew weary to turn
upon tlie otlier. He must also duly confine liis two eyes in
the same object: and by no means break wind at both ends
together, without manifest occasion." Hier entsteht der Witz
dadurch, daß uns etwas durchaus Selbstveiständliches
1) 1,128. . -) 1,201. ^) 1,91. ') 1,80.
56
in der Form des witzigen llates als eiiu' bedeutende Erfindung
vorgetäuscht wird.
Daß der Rat sich auch rein satririscli geben kann, beweist
der beliebte Vorschlag zur Errichtung einer Akademie, auf
der sämtliche damaligen Modelaster gelehrt werden.')
c) Der Vexierwitz.
Zum Spiel mit dem Unsinn, dessen satirische Spitze sich
gegen die Skribenten und deren anmaßende Dummheit richtet,
gehört auch der bei SAvift seltene Vexierwitz des Ana-
chronismus, ein witziges Urteil, das „auf Grund einer
falschen Analogie einen Sachverhalt völlig auf den Kopf
stellt." 2)
Homer habe große Schwächen aufzuweisen: Seine Be-
lesenheit in moderner Literatur sei gering, und seine Kenntnis
der englischen Kirchengeschichte sei auch nicht w^eit her.
Zwar müsse man ihm seine Erfindung des Kompasses, des
Schießpulvers und die Entdeckung der Blutzirkulation zugeben,
dagegen müsse man mit aller Entschiedenheit seine Autorschaft
bestreiten für die Werke: „an account of tlie spieen; an art
of political wagering; a dissertation upon tea."-*)
Der Widersinn dieser Witzart leuchtet nur zu leicht ein.
d) Äußere Mittel.
Durch sie wird ebenfalls die Hohlheit der Skribenten an
den Pranger gestellt. Gewöhnlich wird durch die ruhm-
redigen Präambeln unsere Erwartung stark gespannt, um
dann ebensosehr enttäuscht zu werden; denn der schwierige
Punkt, auf den er aufmerksam macht, bleibt gewöhnlich un-
aufgeklärt. Aus Zweckmäßigkeitsgründen wird die Aus-
') 1,40. -) Lipps 189. ■') 1,91, 92.
57
fülmiiif>' miterlasseii, oder der \'erle^-er tritt in den \'()ider-
grinid und berichtet von einem plötzlichen Unwohlsein des
Autors, das dieser sich durch die Lektüre einer poetischen
Epistel zugezogen; er habe deshalb seinen Schriftstellerbernf
für immer aufgeben müssen; oder der Autor fühlt sicli selbst
nicht so ganz sicher bei seinem so mühsam entstandenen
Skriptum. Ein Postskriptum der „Mechanical Operation of
tlie Spirif' lautet. „Pray burn this letter, as soon as it comes
to your hands." ')
Auch die Parodie der Anreden an die Leser wird
geschickt verwandt. Die Leser werden ermahnt, scharf auf-
zupassen, es komme jetzt ein „knotty point'V) oder er rät
ihnen, zum besseren Verständnis des Werkes sich in die
gleichen kärglichen Lebenslagen zu versetzen, unter denen
der Autor das Werk schrieb, -^l oder endlich, er macht den
gestrengen Leser darauf aufmerksam, daß er es jetzt für ge-
raten halte, eine G-edächtnisschwäche vorzuschützen, um
einen Nachtrag zu entschuldigen.'')
Den Anreden an die Leser entspricht das formelle Mittel
der witzigen parodistisclien Apostrophe, durch die er den
Schwulst und die kriechende Gunsthascherei der Skribenten
verlacht. Hierher kann man auch die „Dedications to Lord
Somers; to tlie Prince Posterity" rechnen, mit denen er die
„Tale" ausstaffiert.
Der schwülstige Stil zeigt sich z. B. in der Anrufung des
Weltalls zum Zeugen, daß er, der „modern author", dem
„universal good of mankind" dient:
„This, 0 universal! is the adventurous attempt of me, thy
secretary.
— Quemvis perferre hiborem
Suadet, et inducit noctes vigilare serenos.»)
0 I, 210. -) 1, 118. ■') I, 41. *) I, 96, 97. ') I, 89.
•58
Die uiibeieclitigte Ruhmredigkeit parodiert Swift diircli
die zalilreiclien literarischen Verweise, die Ankündigimji:
vielversprecliender Werke, die in" der „Tale" behandelt sein
sollen, wie:i) „New help for smatterers, or the Art of being
deep learned and shallow read; a universal Eule of Reason,
or every man liis own Carver"; etc. und derartige welt-
erschütternde literarische Novitäten mehr;^) ein „historio-theo-
\)hysi-logical account of zeal" will er auf Subskription ver-
öffentlichen :=') „a panegyrical essay upon the number three"
ist schon im Druck, und für die nächste Zeit, hat er zur
Veröffentlichung- noch eine ganze Reihe von Schriften geplant:
eine „History of Ears",*) ein „panegyric upon war, faniine
and pestilence, a panegyric upon Mankind; a critical essay
upon the ait of Canting; philosophically, physically and musical-
ly considered." Sogar seinen Kollegen, den Skribenten, die
hier im „Tale" etwas kurz weg gekommen seien, wolle er in
einem größeren Werke eine eingehendere Würdigung zuteil
werden lassen.
2. Die witzige Koordination.
Zu den Seltenheiten von Swifts Witz gehört die sehr
wirksame witzige Begriffsbeziehung der Koordination, die auf
eine Zusammenstellung heterogener Begriffe zurückgeht. Der
AMtz ist hier meistens Selbstzweck. So, wenn Swift be-
liauptet: die degenerierten Ohren dieses Jahrhunderts böten
dem Schriftsteller wenig Halt, mehr schon die Leidenschaft, am
meisten die Neugierde; so stellt er Sinnliches und Unsinn-
liches zusammen, als ob die Leidenschaft oder die Neugierde
etwas Gfreif bares wären, wie die Ohren.")
Satirisclier ist ein anderes Beispiel aus der „Tale of a
Tub". Jack, in seiner Sucht nacli Märtyrertum, läßt sicli
0 I, 93. 2) I, 98. ■') L 49. *) I, 139. ') I, 150.
«)L38.. ') 1,139.
59
genje (liircli])riiiielii, ,.aiid wlit^ii \\v liad. I)y such raiiicst
solicitatioiis, uiade a sliift to pi-ociirc a bastinjo: siifticicnt to
swell up bis faiicy aiul liis sides, lie wuiild ivturu honit'." •)
3. Die witzige Antithese.
Sie ist bei Swift auffallend wenig- entwickelt, Avährend
doch sonst, besonders in späteren politischen Schriften, sein
scharf denkender, satirischer Geist gerade in der Antithese
wirknngsvoll zum Ausdruck koiiinit. Damit hängt zusammen,
daß Swift, im Gegensatz zu dem Virtuosen Voltaire, die Form
des Epigramms kaum gepflegt hat.
Die „Thoug-hts on Various Subjects"' weisen ihrem Cha-
rakter nach einige Beispiele auf:
,.If a man Avill observe as he walks in the streets, I
believe he will find the merriest countenances in mouining
coaches. "'^)
,.Tlie greatest inventions were produced in the times of
ignorance; as the use of compass, gunpowder and printing;
and by the dullest nation, as the Germans."'=*)
4. Die witzige Metaplier.
Die witzige Metapher unterscheidet sich von der ernst-
haften durch das Fremdartige der Parallelvorstellung. Sie
nimmt bei Swift neben der witzigen Erklärung und dem
Avitzigen Rat den breitesten Raum ein. Ausnehmend häutig
verwendet sie Swift in den Erstlingswelken, in der ..Battle
of the Books", der ..Mechanical Operation of the Spirit'' und
vor allem in der „Tale of a Tub-'. Ahmt er in der „Battle"
die iKmierischen Vergleiche nach, so parodiert er in der „'J'ale"'
die schwülstige Schreibweise der Skribenten. Denn die über-
0 1,36. -) 1,227. ^) 1,274.
60
iriclie uiul unpassende Verwendung- der Metapher war Swift
durchaus zuwider. Seine Metapher weist ein ausgedehntes
Interessengebiet, scharfe Beobaclitungsgabe und große An-
schaulichkeit auf.
Vorgänge aus dem A^olksleben, der Kirclie, aus der Natur,
Pflanzen und vor allem Tiere werden zu Vergleichen heran-
gezogen, um geistige und körperliche Vorstellungen witzig zu
verdeutlichen.
Eine Parodie stellt folgende Avitzige Metapher aus der
„Tale of a Tub" dar:
„Wisdom is a fox, who after a long hunting will at last
cost you the pains to dig out. It is a clieese, which by liow
mucli the richer, has the thieker, the homelier and the coarser
coat, and whereof, to a judicious pallate the maggots are the
the best. It is a sack posset, wherein the deeper you go,
you will lind it the sweeter. Wisdom is a hen, whose cackling
we must value and consider, because it is attended witli an
tgg. but then lastly, it is a nut, wliich unless you clioose
Avith judgement, may cost you a tootli, and pay you witli
nothing but a Avorm. "i)
Satirischer Avirkt der metaphorische Witz, Avenn die
Parallelvorstellung aus einer niederen Sphäre stammt. Mit
Vorliebe werden in der „Tale"' Vorgänge aus dem Menschen-
leben durch solche aus der TierAvelt illustriert. Bentley
gleicht einem verwundeten Elephant, Peter einem gut ge-
zogenen Hühnerhund, die Studenten jungen Wölfen, die
Frauen mit ihivm Geschwätz jungen Papageien. Die Satire
auf die Kritiker zeichnet sich (hirch eine Fülle sohdier
Avitziger Vergleiche aus.
„Secondly tlie true critics are known, by tlieir talent of
swarming about the noblest writers, to which they are carried
>) I, 54.
61
nierely l).y instinct, as a rat to a l)(\st cliccse, or a wasp to
tlie fairest fruit ..."
„Lastly a true critic, in the peiiisal of a book is Ul-e a
d()(i at a feast, wliose thoughts and stomach are wholly set
lipon wliat the j>uests fling away, and consequently is apt
to snarl most wlien tlieiv are the fewest bones."
Der metaphorische WWa kann die .Charakterkomik
wirkungsvoll unterstützen, wie in der Satire auf die politisehe
Gehässigkeit und die Sucht, hinter den harmlosesten Schriften
geheime Verschwörungen 7a\ entdecken („Gulliver's Travels").
„For instance they caii discover a close stool to signify
a priory counsel; a flock of geese, a Senate; a lame dog, an
invader; a plague, a Standing army; a buzzard, a prime
minister; the gout, a high priest; a gibbet. a secretary of
State; a Chamber pot. a committee of grandees; a sieve, a
court lady; a brooni, a revolution; a mousetrap, an employ-
ment; a bottomless pit, a treasury; a sink, the court; a cap
and bells, a favourite; a broken reed. a court of justice; an
empty tun, a genei-al; a running sore, the administration."^)
Der metaphorische AMtz kann seiner inneren Ver-
wandtschaft nach leicht in die symbolische Satire übergehen.
Die Kleiderphilosophie der „Tale" liefert dafür den Beweis."*)
Zur Verschärfung des satirischen Beigeschmacks ver-
wendet Swift die beliebten Obszönitäten. So vergleicht er
einmal die flüchtigen Leser, die sich mit dem Index begnügen,
mit „certain fortuiie-tellers in Northern America, who liave
a way of reading a maivs destiny by peeping into his breech.^)
Oder die häufig zitierte Stelle über den Geschmack seiner
Leser: „This I mention because I am wonderfully well ac-
quainted with the present relish of court eous readers; and I
1) cf. auch I, 72. -) I, 78. •') VIII, 200.
*) cf. Symbolische Satire K. VI. ») I, 206.
62
liave often observed witli Singular pleasure tliat a fl.v, driven
froiii a hone}— pot, will immediatelj^, witli very good appetite.
alight, and fiiiish bis meal onan excrement." i)
5. Die witzige Hyperbel.
Der Eindruck des Witzigen wird bedeutend verstärkt
durch das bei Swift sehr beliebte Mittel der witzigen Hyperbel.
Während die „Travels" in ihren beiden ersten Büchern die
Hyperbel selten und nur in humoristischem Sinne verwenden,
— man denke an die überschwänglichen Namen des Königs-
paares: „Ornament of Kature, Phoenix of the Creation' u. a,
— , ist die Hyperbel in der „Tale" und in der „Battle of the
Books" als Parodie auf die Skribenten und auf Peter gedacht.
Die Satire richtet sich vor allem gegen die Beschränktheit,
das Gunsthaschen, die verlogene Anmaßung und die politische
Charakterlosigkeit der Skribenten.
Nach dem Muster anderer Autoren hat er, um das Prob-
lem würdig darstellen zu können , bereits 100 Vorworte
studiert, und doch wünscht er sich noch 100 Hände, 100 Zungen,
und 100 Federn. Den „courteous reader" ermahnt er „to
peruse of world of application again and again".^) Mit Stolz
blickt er auf seine reiche Journalistentätigkeit: 91 Pamphlete
im Dienst von 36 Parteien!
Hyperbeln stellen auch Peters „Lügen" und seine käuf-
liche Begnadigung aller möglichen Schufte dar.
Er habe eine Kuh — schwört Peter — , die auf einmal
soviel Milch gebe, daß man 3000 Kirchen damit füllen könne:
eine Satire auf die lächerliche Übertreibung der Milch der
Jungfrau Maria. Er habe, schneidet Peter weiter auf, von
seinem Vater einen „sign-post" (das heilige Kreuz), von
dessen Holz und Nägeln könne er 16 Kriegsschiffe bauen. '^)
1) 1, 142. ') I, 63. =') I, 87.
63
An die Behörden erläßt Peter folg-ende Verfiioung': Hat
ein Mörder das nötige Silndeno-eld hinterlegt, so soll er be-
gnadigt werden, wenn auch das Gericht auf Mord, Sodomiterei.
Raub, Tempelschändung", Blutschande oder Landesverrat er-
kannt liat.t)
(). Die Karikatur.
Das ^\'esen dieser Witzart besteht darin, daß sie äußere
und innere Charakterzüge aufgreift und durch spielende
Übertreibung, Verzerrung und durch illustrierendes Ver-
gleichen verdeutlicht. Sie geht sehr oft auf die Oharakter-
komik zurück und bildet umgekehrt ihre wirkungsvolle Stütze.
Die Karikatur ist die Form, in der das exzentrische, satirische
Wesen Swifts eine befriedigende Betätigung finden konnte.
Die Kapitel über die Äolussekte, über Jack, die „Mechanical
Operation of the Spirit" und das III. Buch der „Travels" sind
die Hauptfundgruben für die Karikatur.
Die trefflichsten Karikaturen gibt der Avunderliche Jack
ab. Infolge seiner merkwürdigen Vorliebe für „snap-dragons"
lodert in seinem Bauch eine ewige Flamme. Eine dampfende
Grlut strömt ihm aus Nase, Mund und Augen, so daß er im
Dunkel der Nacht aussieht wie der Schädel eines Pesels, in
den ein böser Bub, um brave Bürger zu erschrecken, eine
Zelmpfennigkerze gestellt hat.-)
') I, 83.
-) I, 132; cf. Kap. VI, Groteske Satire.
64
Y. Die Ironie.
1. Bediiiguiigen zum Entstehen der Ironie.
Die Ironie stellt eine höhere Form als der Witz dar.
Während der Witz nur mit dem Äußeren der Dinge spielt,
dringt die Ironie in das Wesen der Dinge ein ..und durch-
leuchtet seine innersten Eigentümlichkeiten." i) Sie ist des-
halb der Ausdruck eines scharfen kritischen Geistes, meistens
einer gewissen Verbitterung,; denn die Ironie entsteht leicht da,-
wo Verstand und Wissenschaft keine Befriedigung* mehr ge-
Avähren. Die Ironie in ihrer schärfsten und reinsten Form
tritt, wie der Humor, noch stärker im Alter als in der
Jugend auf, da die große Menschenkenntnis, die sie bekundet,
erst in vorgerücktem Alter erworben werden kann: lauter
Bedingungen, die Swifts- meisterhafte Handhabung der Ironie
bei seiner physischen und geistigen Veranlagung, seiner trüb-
seligen Umwelt, seiner verbitternden Lebensf ülii ung erklärlich
erscheinen lassen.
Diese ironische Stimmung kommt zum prägnanten Aus-
druck in der Sprache. Sie sagt das Gegenteil von dem, was
sie denkt, meistens in kritischer Absicht. Damit tritt sie in
den Dienst der Satire.
Durch den sprachlichen Ausdruck täuscht sie uns einen
Augenblick über ihre wahre Meinung, die dann um so schärfer
hervorspringt, sowie wir die Täuschung erkennen. Die Satire
ist um so feiner, je länger die Täuschung anhält, um so plumper,
je kürzer sie vorwaltet. Die Täuschung wird am besten dadurch
erreicht, daß der Autor mit seiner eigenen Person tunlichst
') Fischer S. 193.
65
zurücktritt und den größtuHiglichsten Ernst bewahrt. Der
Kontrast des Witzes ist daher der Ironie g-efährlich.
Um den Schein des Ernstes zu erzielen, mimt er den
Unparteilichen, den Uninteressierten. Deshalb stellt er
sich sogar auf das Niveau der Ironisierten, spielt den ITn-
gebildeten und hält damit seinen Angritt'sobjekten ihr Spiegel-
bild vor. So führt er klassische Namen an, z. B. Agesilaos;
auf die richtige Schreibung des Namens glaubt ei- jedoch
keinen Wert legen zu müssen; es ist ihm auch einerlei, ob
der König, den er erwähnt, ('aesar Augustus oder ähnlieh
hieß, von den Scipionen weiß er nicht einmal die christlichen
Taufnamen, und ob sie Dichter oder Generäle waren; endlich
ist er gar so naiv, den Dingen unbedingten Glauben zu
schenken, da das. Buch ja gedruckt sei.i)
Noch deutlicher tritt dieser Schein des Ernstes hervor,
wenn er den Teilnehmenden spielt, der die Bedürftigen mit
seinem Rat unterstützt. Die Mutter solle im letzten Monat
vor dem Verkauf das Kind nur tüchtig trinken lassen,, rät
er in dem Meisterwerk der Ironie: „Modest Proposal", damit
das Kind beim Verkauf schön rund und fett sei, und sie
einen dementsprechend, hohen Lohn erziele. Er selbst habe
nur das Volkswohl im i^uge und von diesem Vorschlag ab-
solut keinen Gewinn. „I have no children, by which I can
propose to get one single penny, the youngest being nine
years old, and my wife past child-bearing.-)
Um seine Ansicht, sein Urteil und seinen Vorschlag recht
glaubwürdig erscheinen zu lassen, hält er mit seinem eigenen
Urteil scheinbar möglichst zurück und beruft sich lieber auf
das Urteil von Autoritäten. ..I am assured by our mer-
chants ... As I have been informed by a principal gentle-
man in the county of C'anan ... I have been assured l)y a
') VII, 240. •^) VIT, 216.
Hcckor, Die Siitirr .1 oiuitliun Swifts. 5
66
knowing American of my acquaintance . . . For we are told
by a grave aiithor, an eminent Frencli Pliysician . . ." ; oder
er zitiert einen berühmten Schriftsteller, dessen Ansicht er
im Grunde nicht teilt, die er aber benutzt, um seiner Ironie
den Schein des Ernstes zu verleihen. Hobbes sage schon,
daß das Studium der Eömer die jungen Leute gegen die ab-
solute Macht der Fürsten aufsässig mache, i)
Wenn der Autor seine eigene Meinung gibt, so geschieht
es nie ohne eine bescheidene schüchterne Einleitungs-
floskel. Sehr bezeichnend ist schon der Titel „A Modest
Proposal"; er bedauert, er zweifelt, ist gern bereit, auch auf
andere weise Vorschläge einzugehen, „equally innocent cheap,
easy and effectiial" ; er denkt und macht seine Vorschläge
nur „with humble Submission"; er ,.wagt" sich in seiner Beweis-
führung eiiien Schritt weiter; nicht aus eigener Initiative macht
er das „Proposal" : „I have been desired to employ my thoughts
upon ..."; er macht selbst Einwände, kann nicht leugnen;
in ganz kritischen Fällen suspendiert er sogar sein Urteil.
Ein typisches Ausdrucksmittel der Ironie ist die Rede-
figur der Litotes. Auch in ihr spricht sich eine bescheidene
Zurückhaltung aus, die aber nur scheinbar ist, da die Litotes
durch die umschreibende doppelte Negation einen um so
stärkeren positiven x4.usdruck erstrebt.
Er sagt z. B. nicht: ich halte es für leicht möglich,
sondern: „I do not deny it possible" ; nicht: ein Mann, klein
an Körper und Geist, sondern: „a man of no large dimensions
of body and mind." Oder: ,.A Child, just dropped from its dam,
may be supported by little other nourishment ..."=^)
•) YII, 239. 2) VII, 21G. ') VII, 208.
67
2. Die Form der Ironie.
Die Form, in der sich die Ironie äußern kann, ist ver-
schiedenartig-.
a) Di^e Aiissag-e.
Die Ironie kann sclion in der Form einer Aussage auf-
treten :
„Tg gain the reputation of the first orator in the king-
dom, no man of spirit would scruple to lose all the friends
he had in the world." i)
Hierher gehören die ironischen Entschuldigungen
für die detaillierte und. nach des Autors Ansicht, unumgänglich
notwendige Wiedergabe von Obszönitäten, eine im „Gulliver"
ziemlich häufige Erscheinung,-) durch die die Charakterkomik
der mit seiner großen Gestalt unvereinbaren Schamhaftigkeit
noch besser' hervorgehoben wird. Auch benutzt er diese Ge-
legenheit gern, um seinen Gegnern, die ihm Vorliebe für
Obszönitäten vorwarfen, etwas am Zeug zu flicken.
Die ironische Auslage kann noch erheblicli verstärkt
werden durch zugefügte ironische Bedingungen. A\'enn
er z.B. sagt: „I do not blame an honest gentleman for the
bitterest invectives against one to whom he professeth the
greatest friendship; provided he acts in the dark, so as not
to be discovered",-') so wird das in dem ersten ironischen
Satz kritisierte schurkische Verhalten durch den Nachsatz
noch näher charakterisiert. Die Satire gewinnt dadurch sehr
an Deutlichkeit und Schärfe.
Um eine ähnliche Art der Ironie, ebenfalls in Form der
Aussage, handelt es sich bei dem ironischen Ausnahme-
machen, wie es im „Gulliver" verschiedentlich vorkommt.
Als Gulliver sich bei den Geistererscheinungen in Glubdubdrib
>) VII, 237. •■=)Vni,29. «)VII,23(J.
•5*
68 _
nach den Mitl^eln erkundigt liat, mit denen viele sich hohe
Ehrentitel und einträgliche vStellen verschafft haben, fügt er
hinzu : „for I hope the reader need not be told, that I do not
in the least intend mj^ own country in what I say upon this
occasion";^) am Schluß der grausamen Eroberungen, genannt
Kolonisation: „But this description doth by no means affect
the British nation."^) Durch derartige deutliche ironische
Bemerkungen wird der satirische Grundgedanke uns besonders
stark zu Bewußtsein gebracht. In diesen Beispielen ist die
Form der Aussage nicht mehr ganz rein, vielmehr steckt in
ihr ein ironisches Lob, das einen positiven Tadel aussprechen
soll. Doch davon später.
b) Tadel statt Lob.
Eine- sonst seltene Form der L-onie, die aber Swift
meisterlich zu handhaben versteht , ist die Form : Tadel
statt Lob.
Schon J. Paul bemerkt treft'end: „Nur Swift besaß die
Kunst, eine Ehrenpforte zierlich mit Nesseln zu verhängen
und zu verkleiden, am besten. " ^)
Diese Form der Ironie verwendet auch Swift seltener,
sehr ausgiebig allerdings in der ..Vindication of Lord Carteret",
in einer Schrift, in der es sich um eine Rechtfertigung handelt.
Das Lob, wie es sich in den Ephiteta ausspricht, ist in
diesem Pamphlet stark aufgetragen, während sich der ironische
Tadel und damit die Satire auf seine Mitmenschen, besonders
auf Adel und Frauen, oft nur in einem Wort kundgibt. Die
Ironie ist durch die starke Betonung der guten Eigenschaften
sehr deutlich.
In der „Vindication of Lord Carteret" tritt Swift vor
allem für die klassische Erziehung und Bildung ein, für
1) VIir,209. ^) VIII, 306. s) Vorschule 164.
00
eifrijn;'e Tätigkeit aiidi der jiiiig'eu Adeligen. Ü'w i-eines
I^'amilienlebeii: Eig-enschaften Carterets, die er ironisch tadelt
und damit indirekt satirisch zum Ausdruck bringt, daß die
damaligen jungen Adeligen in dieser Beziehung sehr viel zu
wünschen übrig ließen. Die klassische Bildung, die Vorliebe
für Literatur und der Besitz von „politeness and good sense"
tadelt er ironisch als „unfortunate turn of mind, useless talents,
unfortunate principles, unfasliionable academic education, mis-
taken method too apt to spoil their politics and principles";
als „unnecessary pains to load their head with" bezeichnet
er sie sogar für gelehrte Berufe.
Seine klassische Bildung habe Carteret zu einem „most
insupportable unintelligible corapanion to all tine gentlemen
round the table'' gemacht. Seine großen Talente, sein Ge-
dächtnis, sein Urteil, sein Verstand, sein AMtz, seine Bered-
samkeit seien eine „misfortune". Seine eifrige Tätigkeit als
Gesandter an verschiedenen Höfen schon in jungen Jahren
wird nicht gebilligt, „according to custom he ought to have
been busied in losing his money at a Choco^ate-house or in
other amusements equally laudable and epidemic among per-
sons of humour." Ja, er habe sogar in der Jugend ein
solides Leben geführt und hege jetzt Achtung, Freundschaft
und Liebe zu Frau und Kind „ in a most unexemplary
manner".
In der Form des ironischen Tadels an Stelle des posi-
tiven Lobes tritt uns auch die bei ihm sonst seltene Selbst-
ironie entgegen. Das ..Modest Proposal" steht ihm höher
als alle anderen. ..Therefore let no man talk to me of other
expedients", und nun zitiert er eine ganze Reihe seiner
früheren Pamphlete, die er gerade durch diese ironische. Ab-
weisung dem Leser wieder ins Gedächtnis bringen will : Über
den ausschließlichen Gebrauch irländischer :Manufaktur. Gegen
die Streit- und Parteisucht. Über die Art und A\eise. die
70 _
Landlords etwas erkenntlich gegenüber ihren Hörigen zu
machen etcA)
Auch ,.Gulliver's Travels" enthalten diese Form des
Tadels statt des Lobes, sogar einen Fall der humoristischen
Selbstironie, allerdings verbunden mit einer Satire auf seine
Kritiker und auf die Reiseromane. Ich meine die Er-
örterung über die Abschiedsszene im IV. Buch.-) (Tulliver
bückt sich, um den Huf des Königpferdes zu küssen, das Pferd
aber reicht ihm von selbst den Huf. Darauf fährt er fort:
„I am not ignorant, how much I have been censured this last
particular. For my detractors are pleased to think it im-
probable that so illustrious a person should descend to give
so great a mark of distinction to a creature so inferior as I.
Neither have I forgot, how apt some travellers are to boast
of extraordinary favours they have received. But if these
censurers were better acquainted witli the noble and courteous
disposition of the Houynhnhnms, they would soon change their
opinion."
Die übrigen Fälle dieser Art, die wir im Gulliver finden,
stellen eine weit schärfere Satire dar. Sie finden sich meistens
im Anschluß an politische Erörterungen, wie sie das IL Buch
über das Gerichtswesen 3) und. in anorganisch dogmatischer
Form, die Ansichten des Königs über die englischen Verhält-
nisse,*) besonders scharf aber das III. Buch mit seiner „school
of projectors'' bergen. Diese Projectors erscheinen ihm „wholly
impossible chimaeras, extravagant and irrational."^)
Die Satire entwickelt unter der Form des ironischen
Tadels ihr ideales Programm, das sie vermittels der Kritik,
die die Ironie an der Welt übt, wenigstens annähernd zu er-
reichen bestrebt ist.
0 YII, 215. 2) VTIT, 293. ^') VIII, 140. ") VIII, 137, 138.
■■) VIII, 195.
71
c) Lob statt Tadel.
Die im allg-emeinen häufig-ste Erscheinungsform der Ironie
ist die Form: Lob statt Tadel. Der eigentliche Charakter
der Ironie, die Verbitterung, kommt in dieser Form noch
besser zum Ausdruck als in der Form „Tadel statt Lob".
Auch hier kann die Ironie sich schon in einem Worte aus-
sprechen. So nennt er die Gelehrten in Brobdignag, die
Gulliver als einen ,.lusus naturae" bezeichnen, ..virtuosi" und
verstärkt durch diese ironische Bemerkung die Wirkung der
Charakterkomik, i) Sie kann aber auch in einer Fülle von
ironisch lobenden Bezeichnungen sich breit machen und damit
die Satire besonders auffällig und bissig hervorklingen lassen.
Charakteristisch in dieser Art ist ein Passus, wo der
Gelehrte Wotton die Zielscheibe der Satire abgibt.'-)
Die Unkenntnis Homers und der „Ancients" in der poli-
tischen und religiösen Geschichte Englands habe aufs ge-
rechteste beurteilt sein „trortht/ and inyenioiis frienä Mr. Wotton,
Bachelor of Divinity, in his incomparahle treatise of Ancient
and Modern Learning: a book nerer to be sufficientl ij vnlued,
whether we consider the lia_i)2)i/ turns and tiowings of the authors
wit, the fjreaf asefuhiess of his sublime discoveries upon the
subject of flies and spittle, or the lahorious eloquence of his
style; and I cannot forbear doing that author ihe Justice of
my public acknowledgemenfs, for the f/reat iielps and Uftings
T had out of his incomparahle piece. while I was penning
this treatise.''
Die weiteren Beispiele dieser Art liefert die „Tale of a
Tub", besonders die Satire auf die Skribenten, 3) auf die Sekte
der Äolisten*) und \'or allem die Satire auf Wotton. &) Da-
neben auch Gulliver, namentlich die erwähnten dogmatischen
') VIII, 106. •-') I, 92. ^) I, 125, 10(5. ") 1, 112. 'O I, 117.
Kapitel über Eng-land. in^denen die Ironie des günstig-eu Be-
richts unter Gullivers Naivität geschickt verdeckt ist.
Nahe verwandt mit dieser Fcn^m der Ironie „Lob statt
Tadel-' ist der ironische Rat, der den rein witzigen noch
an Schärfe überbietet; denn beim Avitzigen Rat handelt es
sich meistens um eine Parodie, um einen Unsinn, während
mit dem ironischen Rat indirekt ein Verbot verbunden ist.
Der Ratj schweißdurchtränkte Nachtmützen zu tragen, ist nur
witzig, dagegen der Rat, die umständliche Lektüre durch
das einfache Studium von Kompendien und Indices zu er-
setzen, ist schon mehr ironisch. Das Meisterwerk ironischen
Rats stellen die „Directions to Servants" dar. xllles, was
nur an Gewissenlosigkeit, Intrigue, Faulheit, Verlogenheit
und Unsauberkeit erdacht werden kann, wird da als Tugend,
als zum Beruf des Dieners gehörig angepriesen. Damit werden
die Verhältnisse einer scharfen Kritik unterzogen. In den
„Directions" zeigt sich recht deutlich, auf welch hervor-
ragender Menschenkenntnis, besonders niederer Klassen, Swifts
Ironie basierte.
3. l)er Stil der Ironie.
Im allgemeinen bevorzugt die Ironie einen kalten,
nüchternen Stil, wie ihn die lateinische und die ihr nahe-
stehende englische Sprache aufweist. Eine feurige Sprach-
fülle verträgt sich dagegen schwerer mit der ironischen
Kälte;!) um so melir Wahlverwandtschaft hat die Ironie mit
der episc^hen Ruhe.
Doch darf sie. um ihre \\irkung zu erhöhen, ihren Stil
wohl anschaulich gestalten, vorausgesetzt, daß durch
diesen Schmuck der geforderte Schein des Ernstes nicht
verletzt wird.
') .Tonn Paul T i; ÜT.
Handelt es sich darum, die Ironie sehr deutlich zu
machen, so ist das Stilmittel der Hyperbel besonders ge-
eignet. Es wird seinem Charakter nach fast nur verwandt
bei der Form „Lob statt Tadel" und findet sich am häufig-sten
in der „Tale of a Tnb". in der Satire auf die Skribenten.
Es sei nur an Wendungen erinnert wie: „tliese illustrious per-
sons", „those immortal productions", „the neverdying- works",
,,the writers, whom 1 exceedingly reverence" und ähnliche unter
„Witz" ziterte Beispiele.
Die epische Ruhe zeigt sich vor allem in der Sinnlichkeit
und Anschaulichkeit. Am höchsten steht in dieser Be-
ziehung- das „Modest Proposal". Daß der Ernst durch die
Anschaulichkeit durchaus nicht gefährdet zu werden braucht,
beweist der Umstand, daß ein spanischer Geistlicher das
„Proposal" für Ernst aufnahm und meinte : es müsse in Irland
doch schlimm bestellt sein, daß ein derartiger Vorschlag, und
dazu noch von einem Geistlichen, gemacht werden könne.
In der Tat ist Swift überaus erfinderisch in Gründen,
mit denen er das wahnsinnige Projekt stützt und ernsthaft
erscheinen läßt. Er operiert mit Zahlen, mit Statistiken,
rechnet den Gewinn vor, den der Verkauf eines Kindes ab-
wirft, und preist die sonstigen Vorteile. Das Fleisch eines
kräftigen Mädchens ist das ganze Jahr eßbar. Die gegerbte
Haut gibt elegante Damenhandschuhe und feine Herrenstiefel.
Die Wirkung dieser Gründe wird gestützt durch die ein-
gehendsten Detailangaben. Als besonders wohlschmeckend
im Winter empfiehlt er das Vorder- und Hinterteil mit etwas
Pfeffer und Salz angerichtet; es müsse aber vier Tage liegen.')
Hervorragend bekömmlich und nahrhaft sei das Fleisch eines
einjährigen Kindes, „whether stewed, roasted, baked or boiled,
') YII, 209.
74
and I luake iio doubt tliar it will equally serve in a fricassee
or a ragout."
In diesen Detailangaben kann sich die Sinnlichkeit Swifts
in einer Weise ausleben, die mitunter unser gesundes Gefühl
verletzt, besonders, wenn sich noch der pathologische Faktor
der Obszönität hinzugesellt. In dieser widerlich krassen
Form liegen schon die Anzeichen zu Swifts keimendem *
Wahnsinn.
Wenn der Ernst es vertragen kann, darf die Ironie die
Anschaulichkeit auch durch niedrige Vergleiche erhöhen.
Die Satire bekommt dadurch einen sarkastischen Ausdruck.
Auch in diesem Punkte, vor allem in der ruhigen, ehr-
erbietigen Einführung niedriger (Tleichnisse , wird Swifts
Meisterschaft zugegeben, i) Selbstverständlich sind die Ver-
gleiclie ihrer satirischen Tendenz nach wieder aus dem Tier-
leben gegriffen.
„I rather recommend buying the children alive and dress-
ing them hot from the knife as we do roasting pigs.^^^)
Wie glücklich werden die Irländer werden, wenn sie das
„Modest Proposal" befolgen: „men would become as fond of
tlieir wives during the time of pregnancy, as they are now
of the inares in foal, or soics, when they are ready to farrow,
nor offer to beat or kick them (as it is too frequent a prac-
tice) for fear of a miscariage." 3j
4. Die Mischarten der Irouie.
Die Ironie erleidet verschiedene Grade der Intensität, die
durch ihr Verhältnis zur Grundstimmung und zur Tendenz
des Gesamtwerkes bedingt sind.
Die Ironie kann (im engeren Sinne) humoristisch sein,
wenn die kritische Tendenz ausgeschaltet wird, wenn das
') Jean Paul I § 37. -) VII, 211. ^) VII, 214.
75
Verhältnis zwischen dem Autor und seinem Objekt kein ge-
spanntes ist und überhaupt unberücksichtigt bleibt. Selbst-
verständlich ist diese Art der Ironie bei Swift, der als
Pamphletist die Tendenz so stark betonte, sehr selten. Sie
findet sich in den beiden ersten Büchern der „Travels", in
den Büchern, die einen schalkhaften (Charakter tragen.
So wenn Gulliver erzählt: er habe bequem auf das
Taschentuch des Riesen steigen können, es sei nur einen Fuß
dick gewesen; die Farmerstochter sei nicht über 40 Fuß hoch,
und die Walfische seien dort so groß, daß ein Mann sie kaum
auf den Schultern tragen könne, i)
Ganz anderer Art ist die humoristische Ironie, die sich
in der Hoffnung auf Verbesserung der A^'ollindustrie ausspricht:
„denn die Liliputanerschafe, die er mitgebracht, hätten sich
sehr vermehrt und zeichneten sich durch feine A\'olle aus.-j
Einen besonderen Reiz verleiht diesem Beispiel die Anspielung
auf damalige Zeitverhältnisse.
Meistens dient die Ironie bei Swift einem satirischen
Grundgedanken. Diesen Zweck hat ihre Verbindung mit dem
Witz, wie z. B. in der „Tale". Dem eigentlichen Charakter
der Ironie, dem Ernst, sind zwar die Kontraste des Witzes
gefährlich,^) dennoch aber bewirkt die Verbindung der Parodie,
die den Hauptwert auf die Form legt, mit der Ironie, die
besonders mit ihrem Sinn, ihrem Gedankengehalt kritisiert,
daß unter dem spielenden Äußeren die satirische Spitze stets
fühlbar ist.
Auch die Verbindung der Ironie mit der Charakter -
komik dient der satirischen Tendenz. Man denke an die
Beschreibung von Jack : „In winter he went always loose and
unbuttoned, and clad as thin as possible, to let in the ambient
1) Vir, 91 , 97, 114. ■-) Vlir, 82. ^) Jean Paul I § 37.
76
lieat; and in summer lapped liimself close and thick to keep
itout."')
Noch feiner ist die Ironie im III. Buch der „Travels", die
die Charakterkomik der blinden Farbenmischer satirischer
gestaltet: „It was indeed my misfortune to find them at
that time not very perfect in tlieir lessons. and the professor
himself happened to be generally mistaken."-)
Schließt sich die Ironie gar direkt der Satire an, so
wirkt sie außerordentlich verschärfend. Meistens tritt sie
dann im Zusammenhang mit einer Reflexion auf, sehr oft in
Form von Anreden an das Publikum, in ..ironischem Aus-
nahmemachen" mit England und in sarkastischen Vergleichen.
Er wünscht sich die Beredsamkeit eines Cicero oder eines
Demosthenes, um die Verdienste und das Glück seines Vater-
landes gebührend feiern zu können. 3)
Er behauptet wiederholt, er mache durchaus keine An-
spielung auf England; dabei schildert er genau die englischen
Verhältnisse, wie z. B. in der Satire auf die Titel- und
Stellenhascherei mit unehrenhaften Mitteln;*) oder in der
Satire auf die Launen der A\'eiber in der Anekdote von der
durchgegangenen Ministerfrau ; &) oder endlich gar in der Satire
auf die Methode der modernen Kolonisation. <>)
In diesem letzten Beispiel erreicht die Satire, geföidert
durch die affektische Fülle, eine außergewöhnliche Schärfe;
sie steht dem Sarkasmus nahe. Daneben äußert sich der
Pessimismus in dei- ironischen Resignation. Von einer
wirklichen Resignation kann man bei Swifts lebhaftem 'l'em-
perament, seiner starken Lebensfähigkeit, wenigstens zur Ab-
fassungszeit der „Travels", noch nicht reden. Der eigentlichen
Resignation fehlt auch die aufbauende Kraft; die ironische
') I, 134: 2) VIII, 187. •■') VIII. 130.
") VIIT, 209. '■') VIII, 170. «) VIII, 30.-).
77
dagegen stellt einen nni so stärkeren Aff(^kt dar. der im
Dienst der Satire zweckmäßige Verwendung findet.
„I am not in the least provoked at the siglit of a lawyer,
a pick-pocket, a colonel, a t'ool, a lord, a gamester, a poli-
tician, a wliore-master, a physician, an evidence, a suborner,
an attorney, a traitor or the like; tliis is all according to tlie
due course of tliings."i)
5. Die Yerteiluiig der Ironie.
Um hier die Verteilung der Ironie auf die Hauptwerke
nochmals kurz zusammen zu fassen, so zeigt schon das Erst-
lingswerk die „Tale of a Tub" eine starke Verwendung
der Ironie. Swift sagt selbst: „an irony runs tlirough the
whole book".2) Aber hier ist die Ironie von dem Witz üppig
überwuchert. Ihr eigentlicher Charakter des Ernstes geht
dabei zum Teil verloren. Es fehlt in diesem Jugendwerk
noch das Bittere, das später Swifts Ironie auszeichnet; trotz-
dem lassen Ironie und Witz das satirische Leitmotiv deutlich
durchklingen. Die Form ist „Lob statt Tadel", mit be-
sonderer Verwendung der Hyperbel. Die Satire richtet sich
gegen die Skribenten. In der Satire auf die Vertreter der
Kirche dient die Ironie mitunter zur Verstärkung der Cha-
rakterkomik.
Eine verschiedenartige Verwendung der Ironie weisen
„Gulliver's Travels" auf.
Die beiden ersten Bücher greifen wegen ihres schalk-
haften Charakters zuweilen zur humoristischen Ironie, vor
allem das IL Buch. Aber schon Ende des II. Buches wird
die Ironie als Stütze der Satire gebraucht, anfangs noch ge-
schickt unter der Naivität des Autors verborgen, in den
1) VIII, 307. •■^)I,5.
78
folgenden Büchern deutlicher. Da die Ironie auf eine Re-
flexion zurückgeht, tritt sie fast nur im Anschluß an
reflektierende Erörterungen auf : im IL Buch in dem dogmati-
sierenden Exkurs über England. Aus eben diesem Grunde ist
die Ironie im III. Buch so selten. Denif hier ist, anfangs
wenigstens, strengste Objektivität gewahrt. Der Autor urteilt
fast nie. Es finden sich demgemäß nur ganz wenige ironische
Glossen. Erst bei den moralisierenden reflektierenden Kapiteln
über die Geistererscheinungen in Glubdubdrib oder bei der
Anekdote über die Frau des Ministers tritt' die Ironie der
Satire häufig helfend zur Seite. Selten ist hier die Form
„Lob statt Tadel", häufiger das „ironische Ausnahmemachen
mit England". Das IV. Buch endlich verwendet die Ironie
erst ganz gegen Schluß in dem Fazit, das Gulliver zieht, aber
dann in außerordentlich scharfer Form, z. 1\ in der ironischen
Resignation, z. T. in direktem Sarkasmus.
Weniger mannigfach ist der Charakter der Ironie in der
„Vindication of Lord Carteret". Die Ironie ist fast
durchweg sehr deutlich, was mit dem Charakter des Stückes
als Pamphlet zusammenhängen mag. Die Grundform ist
„Tadel statt Lob", soweit es sich um Carteret handelt. Das
Lob ist dabei sehr breit ausgeführt, der ironische Tadel sehr
knapp, daher die Deutlichkeit. Daneben kommt noch die
Form „Lob statt Tadel" vor, die meist bei persönlichen Satiren
angewandt wird, z. B. gegen Tighe, Lord Allen u. a. Die
beiden kontrastierenden Formen der Ironie, der ironische
Tadel (Carteret) und das ironische Lob (die Adeligen) ergeben
durch den Vergleich die allgemeine Satire auf die Adeligen.
Die reinste Form der Ironie stellen die „Directions to
Servants" und das „Modest Proposal" dar, die beide eine
durchgeführte Ironie aufweisen. Die Form der ., Directions"
ist der „ironische Rat". Bemerkenswert ist der Ernst des
Vortrags, die hervorragende, stark pessimistisch gefärbte
79
Menschenkenntnis, und die starke, tendenziiise Verwendung
des Obszönen,
Dieselben Eigenschaften zeichnen auch das „Modest
Proposal" aus: „ironischer Rat", unerschütterlicher Ernst,
Verwendung des Obszönen und eine grausige Detailmalerei,
Der Sarkasmus ist hier noch stärker als in den „Directions".
Beide bergen Anzeichen des Verfalls der geistigen Kräfte
Swift's,
VI. Die Form der Satire.
\
f 1. Die Mimische Satire.
Die komisclre Wirkung dieser Satire beruht auf der
scheinbar naiven karikirenden Nachahmung des komischen
Subjekts, Sie stellt eine sehr reine ästhetische Form dar, da
es ihr nicht allein um das starke Betonen der Tendenz zu tun
ist, sondern auch um die ansprechende gefällige Einkleidung,
Manche dieser Einkleidungen sind für die damalige Zeit
typisch; die Form spielt dabei eine untergeordnete Rolle.
Andere wiederum stellen Parodien dar; dann ist die Form
selbst das Objekt der Satire.
Eine typische Form der damaligen Satire ist der Brief,
Die Beliebtheit dieser Literaturgattung um die Wende des
siebzenten und am Anfang des achtzehnten Jahrhunderts er-
klärt sich aus dem lebhaften Interesse für Politik, dem
schwach entwickelten Zeitungswesen — Swifts umfangreiche
Korrespondenz enthält neben persönlichen meist politische
Nachrichten — , hauptsächlich aber aus den Keimen der Ge-
fühlskultur, die in dem Moralismus ihre Wurzeln hat, aber
se
erst um die Mitte des achtzehnten Jahrhunderts zur vollen
Blüte sich entfaltete.
Swift hat die Briefform mit großer Vorliebe benutzt,-
nicht nur bei seinen Pamphleten,^ sondern auch als Ein-
kleidung von literarischen Essays. Als vortreffliche Beispiele
der miraischen Satire in der Form des fingierten Briefes seien
aus der großen Menge nur zwei erwähnt, der eine fast humo-
ristisch gehalten: der Brief eines neugierig- verliebten Mädchens
Sylvia an Isaac Bickerstaff (Tatler 24. März 1710);') der
andere weitaus satirischer. Es handelt sich um das Bitt-
gesuch der Skribenten, die seither im Dienste der Whigs
waren, nun aber bei dem Ministerwechsel brotlos sind, wenn
die Torys sie nicht gnädig in ihren Dienst nehmen.^)
Beliebt war damals in England auch die Satire in der
Form gelehrter Abhandlung. Die Satire richtet sich meist
gegen die Halbbildung. Swift hat diese Form benutzt im
„Discourse on the Mechanical Operation of the Spirit".
Die auch von Rabener und Pope angewandte Form der
gelehrten Noten oder des „Schlüssels" finden wir in den
Anmerkungen zu „Merlin's Prophecy".
Hier ist nochmals auf die Form des Rates des witzig-,
ironisch-satirischen, zu verweisen, teils „Projekt", teils „Advice",
teils „Hints", teils „Directions" genannt. Auch diese Form er-
klärt sich aus den Zeitverhältnissen, aus den politischen und
gesellschaftlichen Zuständen, und aus den Versuchen, eine
Besserung auf dem Gebiet der Moralität und Sozialpolitik
herbeizuführen.
Rein mimische Satire stellen ferner die Parodien dar,
worin Swift sich über den Unfug lustig macht, der von den
Skribenten mit der Traumtechnik in der Literatur getrieben
wurde; so im ..Tatler" Nr. 5 vom 27. Januar 1710.3) t^^yift
') IX, G;i ^) IX, 299. =") IX, 48, 54.
81
geht iiücli einen Schritt weitei', indem er auch das Er-
wachenO satirisch ausnutzt.
Bekannter als diese Satire sind die „Bickerstaff Pamphlets"
g-eworden, die in der Form von Weissagungen den „Astro-
loger Partridge" parodieren: „Predictions to the year 1708,
Meriin's Prophecy".
Die Parodien auf die Skribenten sind in die Form von
„Dedications to the Prince Posterit^y , to Lord Somers" und
in zahlreichen unangebrachten „Digressions" auf unsinnige
Themata eingekleidet.
Auch „Gulliver's Travels" stellen eine Parodie dar, deren
Spitze sich gegen die Aufschneiderei der Reiseromane,
gegen das überflüssige Detail und gegen die allzureichlichen
Schiffsausdrücke richtet. Anfang des IL Buches parodiert er
wörtlich Sturmys „Oompleat Mariner". 2)
r
r
2. Die groteske Satire.
Swift gehört zu den letzten bedeutenden Repräsentanten
des verschwindenden Grotesken. Seine starke Phantasie, sein
exzentrisches ^^'esen, sein eifriges Rabelais - Studium ließen
ihn für die Gattung des Grotesken Vorliebe empfinden.
Während jedoch bei Rabelais die groteske Satire sich auch in
einer grotesken Sprache äußert, weist die Satire Swifts stets
eine klassisch einfache Sprache auf.
Das Groteske kommt bei ihm nicht allzuhäufig vor. Rein
grotesk ist nach Schneegans' Ansicht nur die Satire auf die
Wissenschaft im III. Buch der „Travels". Hier wird die
Charakterschwäche der beruflichen Einseitigkeit auf musi-
kalisch-mathematischem Gebiet bis zur Unmöglichkeit ver-
zerrt. Die fliegende Insel wird von einem großen Magneten
') IX, 48, 54. «) VIII, 86.
HockiT, Dil' S;itirc .)i)ii;itli:iii Swifts.
82
dirigiert. Die ganze Umgebung, die Tische, die Speisen, die
Kleider, die Sprache, alles hat mathematisches und musika-
lisches Gepräge. Die Bewohner pflegen die innere Kontem-
plation, die Musik und die astronomischen Studien ; sonst haben
sie für die Umwelt keinen Sinn.
Diesen reinen Ton des Grotesken hat Swift in seinen
anderen* Schriften nicht getroffen. Die „Tale of a Tub" weist
höchstens Ansätze zu einer grotesken Form auf, und
auch diese finden sich selten allein, sondern meist mit alle-
gorischer und symbolischer Satire vermischt.
Ziemlich rein ist der Ansatz bei der äußeren K^arikatur,
die Eduard v. Hartmann als das Hauptmerkmal des Grotesken
bezeichnete. Hier ist die groteske Form, der spielende Aus-
druck die Hauptsache. Die Satire auf die Aolisten und auf
Jack verwenden dieses Moment sehr häufig.
„He (Jack) hired a tailor to stitch up the collar so close,
that it was ready to choke him, and squeezed out his eyes
at such a rate, as one could see nothing but the white." ')
Oft ist das Groteske von dem Allegorischen schwer zu
^trennen. Das ist der Fall bei den Charakterkarikaturen, bei
denen das Allegorische im Vordergrund steht.
Hierher gehört die vielseitige Verwendung des Testaments.
Jack benutzt es als Nachtmütze, als Eegenschirm, als Zehen-
umwickler. als probates Mittel gegen Schwindelanfälle und
in zerriebenem Zustande als Magenpulver.-)
Auch das sonstige Benehmen Jacks weist diese Form der
grotesk -allegorischen Satire auf; so seine Heuchelei, 3) sein
frommes Eckenstehen und Beten ;^) seine Vorliebe für „snap-
dragons" und sein damit zusammenhängendes „feuriges" An-
gesicht.
1) 1,137. 2) 1,131. ä) I 134 4) I ;^32.
83
Die Satire auf die Inspiration der Aolisten ist ebenfalls
in erster Linie allegorisch; doch weiß ihr Swift einen grotesken
Anstrich zu geben, indem er den Vorgang bis zur Unmöglich-
keit karikiert, i) Die Aolisten nehmen nämlich, um die Kunst
des Rülpsens zu üben, etliche hundert an der Zahl, in einem
Kreise Aufstellung, ein jeder mit einem Blasebalg ausgerüstet,
den er in des Nachbarn Hintern steckt und ihn damit zu der
Größe eines Fasses aufbläst, bis dieser imstande ist, mit einer
plötzlichen Entleerung seinen Schülern einen großen Teil des
aufgenommenen Windes abzugeben.
Die Karikatur verwendet auch hier wieder das Mittel
der Obszönität.
Auch mit der symbolischen Satire kann das Groteske
in innige Verbindung treten. Die Sprache Jacks stellt die
Vollendung des spanischen „braying" dar; da er aber selbst
große Schlappohren hat, so kann man weder mit dem Auge
noch mit dem Gehör unterscheiden, ob es sich um einen
Originallaut oder eine Imitation handelt. 2) Hier scheint das
Groteske sogar zu überwiegen.
j , 3. i)ie burleske Satire.
Das Burleske stellt die qualitative Verschiebung eines
Hohen zu einem Niedrigen dar. Sein Lachen ist nicht harm-
los, naiv wie das Groteske, sondern hämisch, frivol. ^
Das Burleske ist bei Swift selten. Das beste Beispiel
stellt das Gedicht „Philemon and Baucis" dar. Die Form
ist die der Travestie. Aus den Göttern macht er Bettel-
mönche, aus Philemon und Baucis kentische Bauern. Nicht
genug damit, daß ihr Haus eine Kirche wird, Philemon wird
sogar Pfarrer, der nur von Abgaben und Zehnten spricht,'
Pfeife raucht, Zeitung liest und auf die Dissidenten schimpft.
») 1, 107. '0 I, 135.
84
In ,. Gullivers Travels" verwendet Swift das Burleske
gar nicht, in der „Tale of a Tub" sehr selten' und nur in
Verbindung- mit der allegorischen und der symbolischen
Satire.
So erzählt uns Swift von den Triumphen, die die Grubstreet-
schreiber, die Vertreter der „stage itinerant" mit ihren Pro-
dukten über „Time" feiern. Die- Flügel haben sie diesem
ihrem Feind gestutzt, die Nägel geschnitten, die Zähne ab-
gefeilt, sein Stundenglas umgedreht, seine Sense haben sie
stumpf gemacht, sogar die Nägel haben sie ihm aus den
Schuhen gezogen.^)
Hier ist mit dem allegorischen Apparat mutwilliger Scherz
getrieben.
Schärfer wirkt die Verbindung des Burlesken mit
der symbolischen Satire. Mit den „puppets" und „raree-
shows"2) Peters verspottet er die Prozessionen, mit dem
„universal pickle" das AV^eihwasser und dessen Wunderkraft. •^)
Mit diesem „universal pickle"., einer Erfindung Peters, kann
man alles Ungeziefer im Hause, Wiesel, Eatten und Spinnen,
vertreiben, man kann sogar Hunde von Tollwut, von Räude,
von Grind und Läusen heilen.
Das Unflätige gesellt sich mit Vorliebe zum Burlesken.
4. /Die allegorische Satire.
Sie nimmt bei Swift den breitesten Raum ein. In ihrer
Kälte bringt sie den satirischen Gedanken schärfer zum Aus-
di'uck als die groteske Satire, wirkt dafür aber auch weniger
lebhaft und weniger ergötzlich. Während Swift in seinen
späteren Schriften kein besonders entwickeltes allegorisches
Denken aufweist, machen die Erstlingswerke, die „Tale of a
') 1,57. •') 1,81. ') I, 181.
85
Tab" und die „Battle of the Books", eine Ausnahme. Diese
seltsame Erscheinung- findet einmal ihre Erklärung- in der
jugendlich lebendigen Phantasie, die das Tonnenmärchen über-
haupt auszeichnet — man denke nur an die Fülle der über-
raschenden Metaphern — , sodann aber auch in der hohen Bildung
seiner Leser. Vor allem die „Battle of the Books" weist die
allegorische Satire in dem Stil des Heroisch -Komischen auf.
indem durch die Sprache dem nichtswürdigen Ereignis und
unbedeutenden Personen ein Komplex von erhabenen Vor-
stellungen aufgenötigt wird, erscheinen die Personen und Er-
eignisse noch lächerlicher. Die allegorische Satire ist hier
nicht ganz rein, wirkt aber dafür auch nicht so kalt.
Die Personifikation nach klassischem Muster zeigt sich
vor allem in den Göttern der „Battle of the Books": Da
liegt „Criticism" auf ihrem Lager mit den Resten von un-
zähligen halbverschlungenen Bänden. „Pride", ihre Mutter,
kleidet sich in selbstbeschriebenes Papier. „Opinion", ihre
Schwester, ist leichtfüßig, hat die Augen verbunden, ist dick-
köpfig und dennoch schwindelig und dreht sich beständig.
Ihre Kinder sind „Noise", „Impudence", „Dulness",
„Vanity", „Positiveness", „Pedantry", „ 111- Manners", i)
Ähnlich in der „Tale". Die drei Brüder verkehren mit
der „Duchess d'Argont, Madame de Grands Titres, Countess
d'Orgueil". „Paris" (der Richterstand) wird von „Juno"
(Geld) und „Venus" (Liebe) bestochen und verschläft die
ganze Gerichtssache. 2)
Besonders eingehend beschäftigt sich seine Satire mit
der Kritik. Seine allegorische Satire der Göttin „Criticism"
weist stark karikirende Züge auf.
Die Göttin') hat Katzenklauen; Kopf, Ohren und Stimme
gleichen denen eines Esels. Zähne hat sie schon lange keine
•) 1,175. "~)I,il.
86
mehr. Ihre Augen sind nach innen verdreht, als ob sie nur
auf sicli sähe. Ihr Spleen ist so ungeheuerlich und starrend,
wie eine mächtige Brust. Eine Menge schauderhafter Monstra
saug-en gierig an ihren Zitzen und wunderbar, je gieriger sie
saugen, um so größer wird der Spleen.
Natürlich gewinnt dadurch die Allegorie an Lebhaftigkeit.
Eine Allegorie im weiteren Sinne ist die ganze „Tale of
a Tub". Die drei Kirchen werden personiiiziert und allego-
risiert durch die drei Vertreter: Peter, Martin und Jack,
und durch deren Charaktereigenschaften und Handlungsweisen.
Auch hier kann wieder die Karikatur belebend auf die
Allegorie wirken, wie die oben zitierten Beispiele der Äolisten
und Jacks beweisen.
5. Die symbolische Satire.
Sie ist wenig.ör häufig als die allegorische, zeichnet sich
jedoch wegen ihrer Verwandtschaft mit der metaphorischen
Aperzeption durch eine größere Phantasietätigkeit aus. Sie
kommt besonders in der „Tale of a Tub" und in der „Battle
of the Books", seltener in „Gullivers Travels" vor. Auch die
symbolische Satire kann verschiedene Verbindungen eingehen.
Ganz rein ist die symbolische Satire im I. Buch der
„Travels", wo die Charakterlosigkeit der Minister durch Seil-
springen, der übertriebene Parteieifer durch hohe oder niedrige
Absätze symbolisiert wird.
Die Möglichkeit der Verbindung zwischen symbolischer
und grotesker Satire beweist das III. Buch. Die mathe-
matisch geformte Umgebung symbolisiert die berufliche Ein-
seitigkeit; die übertreibende Darstellung an und für sich ist
grotesk.
Das Symbol kann auch als ein Teil der allegorischen
Satire auftreten, z. B. bei äußeren Schilderungen von Personen.
87
So ist die Figur Bentle}^» in der ,,Battle" an und für
sich eine Personifikation seiner Schriften. Daß ihm Swift
aber in seine Rechte einen Flegel, in seine Linke einen Topf
mit Unrat gibt, ist eine symbolische Satire auf den Ideen-
g-ehalt seiner Schriften.')
In der „Tale of a Tub" nimmt die symbolische Satire
eine etwas selbständigere Stelle ein. Sie fügt sich aber auch
hier in den Rahmen der weiteren Allegorie.
Hierher gehört vor allem die „Kleiderphilosophie". ■^)
Die Satire setzt da an, wo er auf die Charaktereigen-
schaften zu sprechen kommt. Religion ist ein Deckmantel;
Ehrlichkeit ein Paar schmutzige, abgetragene Schuhe ; Eigen-
liebe ein Mantel; Eitelkeit ein Hemd; Gewissen ein Paar
Hosen, die zwar Laster und Häßlichkeit bedecken, aber auch
leicht zur Befriedigung beider heruntergestreift werden
können.
Am häufigsten verwandt ist die Form des Symbols in
der ,.Tale of a Tub" bei der Satire auf die römische Kirche.
Man denke an die verschiedenen Erfindungen Peters: sein
„whispering- Office", eine Satire auf die Ohrenbeichte, sein
„universal pickle", das sich gegen den Gebrauch des Weih-
wassers richtet, und sein Universalmittel gegen Würmer, eine
Satire auf die allzuleichte Absolution. 3) Man denke auch an
die Puder, Pulver, Pflaster, Salben, die er auf Jahrmärkten
verkauft, "»j sowie seine interessanten „puppets and raree-
shows".ä) Jene stellen eine symbolische Satire auf den Ab-
laßhandel, diese auf den Mummenschanz der Prozessionen dar.
Hatte das III. Buch der „Gulliver Travels" eine Ver-
bindung von symbolischer und grotesker Satire dargestellt, so
erweisen die zuletzt angeführten Erfindungen. Peters, die
Möglichkeit der Vereinigung von symbolischer und
1) I, 182. 2) I, 62. ^) I, 80. ') I, 46. '-) 1, 81.
burlesker Satire. Der Spott wirkt dadurch reizvoller, aber
auch frivoler.
6. Die direkte Satire.
Sie ist die ästhetisch am weniosten anziehende Form.
Die künstlerische Unbefangenheit, soweit man bei Swift über-
haupt davon reden kann, ist hier gänzlich verloren gegangen.
Bei Swift Avar ja überhaupt nicht so sehr der ästhetische
Mensch produktiv wie der sittliche, und das zeigt sich in
keiner Form deutlicher als in der direkten Satire. Denn sie
spornt zur Tat. Sie nimmt sich nicht erst die Zeit aus-
zuschmücken. Der Affekt durchbricht alle Schranken, sogar
die ungewöhnliche Selbstbeherrschung eines Swift und macht
sich in bissigen Bemerkungen und in langatmigen Schimpfereien
Luft.
Eine Art direkte Satire sind schon die bissigen Rand-
glossen, die er über die „Characters of the Court of Queen
Anne" von Macky.i) und zu Burnets „History of his own
Time""^) macht. Sein Urteil ist in den meisten Fällen dem
der Autoren entgegengesetzt. Verbitterung und Menschenhaß
spiegeln sich fast in jedem Wort; „a deceitful, hj^pocritical,.
factious knave, a damnable hypocrite, of no religion, a blunder-
ing, rattle-pated drunken sot." Am häufigsten aber findet
sich die direkte Satire in „G-ulliver's Travels" am Ende des
zweiten Buches und besonders in den dogmatischen, ironischen,
pessimistischen Kapiteln der beiden letzten Bücher. Sie
richtet sich gegen die Ärzte, gegen das Militär, gegen das
ganze Menschengeschlecht. Erinnert sei an die Listen der
ärztlichen Medikamente, 3) an die schauderhafte Schilderung
des Krieges 4) und, im letzten Buch der „Travels", an die
') X,373, 288. *) X, 327 — 368.
^) VIII, 196, 265. ') VIII, 255.
89
seitenlange Aufzählung' der ilnn verliaßten Stände. An
alles umfassender Ausfiiln-liclikeit läßt sie kaum etwas zu
wünschen übrig.
„I enjoyed perfect health of body, and tranciuillity of
mind; I did not feel the treacher}^ or inconstancy of a friend,
nor the injuries of a secret or open enemy. I had no oc-
casion of bribing, flattering or pimping, to propose the favour
of any great man or his minion. I wanted no fence against
fraud or oppression; liere was neither physician to destroy
my body, nor lawyer to ruin my fortune; no informer to
watch my words and actions, or forge accusations against
nie for hire: here were no gibers, censurers, backbiters, pick-
pockets, highwaymen, housebreakers, attorneys, bawds, buf-
foons, gamesters, politicians, wits, splenetics, tedious talkers,
controversists, ravishers, murderers, robbers, virtuosos; no
leaders or followei's of party and faction; no encouragers to
vice, by seducement or examples; no dungeon, axes, gibbets,
whipping - posts or pillories ; no cheating shopkeepers or
mechanics; no pride, vanity or affection; no fops, bullies,
drunkards, strolling whores, or poxes; no ranting, lewd, ex-
pensive wives; no stupid, proud pedants; no importunate,
overbearing, quarrelsome, noisy, roaring empty, conceited,
swearing companions; no scoundrels, raised from the dust for
the sake of their vices, or nobility thrown into it on account
of their virtues; no lords, fiddlers, judges, or dancing-masters."')
') viir, 287.
Berichtigung.
S. 39, Z. 1 von oben lies teleologischen statt theologischen.
Lebenslauf.
Ich, Hans Philipp Otto Becker, evangelisch -reformiei't,
Preuße, geboren am 30. November 1886 zu Wolferborn, Kreis
Gelnhausen, besuchte drei Jahre die Volksschule, erwarb
Ostern 1905 das Reifezeugnis auf dem Goethe -Gymnasium zu
Frankfurt a. M. , besuchte zum Studium ' des Englischen,
Französischen und der Geschichte die Universitäten Bonn von
Ostern 1905 bis Herbst 1906, Berlin von Herbst 1906 bis
Ostern 1907, Marburg von Ostern 1907 bis Ostern 1911. Am
1. März 1911 bestand ich das Rigorosum, am 21. und 22. April
das Staatsexamen. Herbst 1911 überwies mich das Pro vinzial-
schulkollegium zu Cassel dem pädagogischen Seminar des
Wöhler- Realgymnasiums zu Frankfurt a. M. und Ostern zur
Aushilfe dem Reform - Gymnasium zu Frankfurt - Sachsen-
hausen, Herbst 1912 zur Ableistung des Probejahres der
Rödelheimer Realschule zu Frankfurt a. M.
Von meinen akademischen Lehrern nenne ich in dank-
barer Gesinnung folgende Herren Dozenten und Lektoren:
Beacock, Brandl, Bülbring, Delbrück, Drescher, Ebeling,
Foerster, Haguenin, Joliet, Klebs, Loesclike, Natorp, Nissen,
Price, Roethe, v. d. Ropp, Savory, E. Schmidt, Schulte, Schwarz,
Spies, Varrentrapp, Waltz, Wechssler, Wilmanns.
Zu besonderem Danke bin ich Herrn Prof. Dr. W. Vietor
verpflichtet, der mir die Anregung zu dieser Arbeit gab und
mich bei der Ausführung mit seinem Rat unterstützte.
c) M
--^i ^
PLEASE DO NOT REMOVE
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PR
3727
3/i
Becker, Hans Philipp Ctto
Die Satire Jonathan
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