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Full text of "Die Satire Jonathan Swifts"

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Becker,  Hans  Philipp  Ottc 

Die  Satire  Jonathan 
Swifts 


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DIE 

SATIRE  JONATHAN  8W1FT8 


INAUGURAL-DISSERTATION 

ZUR 

ERLANGUNG  DER  DOKTORWÜRDE 

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EINER 

HOHEN   PHILOSOPHISCHEN  FAKULTÄT 


UNIVERSITÄT  MARBURG 

VORGELEGT 
VOK 

H.  PH.  OTTO   BECKER 

AUS   FRANKFURT   A.  M. 


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MARBURG  A.  L.  1913 


DIE 

SATIRE  JOiNATHAN  8WIF1\S 


INAUGURAL-DISSERTATION 

ZUR 

ERLANGUNG  DER  DOKTORWÜRDE 

EINER 

HOHEN   PHILOSOPHISCHEN  FAKULTÄT 

DER 

UNIVERSITÄT  MARBURG 

VORGELEGT 
VON 

H.  PH.  OTTO   BECKER 

AUS   FRANKFURT   A.  M. 


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MARBURG  A.L.  1913 


Von  der  pliilosoiiliischen  Fakultät  als  Dissertation  angenommen 
am  27.  Februar  1911. 


Referent:    Prof.  Dr.  W.  Victor. 


Druck  von  Ehrhardt  Karras,  Halle  a.  S. 


Meinen  lieben  Eltern 


Digitized  by  the  Internet  Archive 

in  2010  with  funding  from 

University  of  Toronto 


http://www.arcliive.org/details/diesatirejonathaOObeck 


Inhalt. 


Seite 

I.    Einleitung 1 

1.  Die  heutig-e  Definition  des  Humors  und  der  Satire  ....  2 

2.  Die  Wandlungen  des  Begriffs  Humor 5 

3.  Swifts  Stellung  zu  Humor  und  Satire 8 

II.    Allgemein  (Charakteristisches  über  die  Satire  ,1.  Swifts  14 

1.  Swifts  Persönlichkeit  und   Charakter 14 

2.  Das  gegenseitige  Verhältnis  seines  Humors  und  seiner  Satire  17 

3.  Die  Bedingungen  für  die  Wirkung  seiner  Satire     .   .    .   .  21 

4.  Der  Pessimismus 25 

III.  Die  Passive  Komik 31 

1.  Die  Anschauungskomik 31 

2.  Die  Komik  der  Sprache 35 

3.  Die  Situationskomik 35 

4.  Die  Charakterkomik 38 

IV.  Die  Aktive  Komik  oder  der  Witz 45^ 

A.  Der  Formwitz 49 

B.  Der  intellektuelle  Witz 50 

1.  Das  Spiel  mit  dem  Unsinn   ;    .    .    .    .    ."^, 51 

a)  Die  witzigen  Erklärungen 51 

b)  Der  witzige  Rat  öJ-rtfA- ^  K«yCv.6 54 

c)  Der  Vexierwitz 56 

d)  Äußere  Mittel 56 

2.  Die  witzige  Koordination 58 

3.  Die  witzige  Antithese 59 

4.  Die  witzige  Metapher 59 

5.  Die  witzige  Hyperbel 62 

6.  Die  Karikatur 63 

V.    Dielronie.. 64 

1.  Die  Bedingungen  zum  Entstehen  der  Ironie •  .  64 

2.  Die  Form  der  Ironie 67 

a)  Die  Aussage 67 


-    Ijjt/^''^  Seite 

1))  l'adel  statt  Lob 68 

c)  Lob  statt  Tadel 7i 

3.  Der  Stil  der  Ironie 72 

4.  Die  Mischarten  der  Ironie 74 

5.  Die  Verteilung  der  Ironie 77 

VI.    Die  Form  der  Satire 79 

1.  Die  mimische  Satire 79 

2.  Die  groteske  Satire 81 

3.  Die  burleske  Satire •  ...  83 

4.  Die  allegorische  Satire 84 

5.  Die  symbolische  Satire 86 

6.  Die  direkte  Satire 88 


Literatur. 

Ausgaben  : 

1.  The  l*rose  Works. 

Edited  by  Temple  Scott.      12  B.     London   1908. 

2.  Letters  of  Jonathan  Swift  and  his  Friends. 

Edited  by  Hawkesworth   1768  —  1775. 

T.  I— VI. 


Klem.  Aigner,  G.  v.  Kabeners  Verhältnis  zu  Swift.     Pola   1905. 
Otto  Behaghel,  Rewui^tes  und  Fnbewußtes  im  dichterischen  Schaffen. 

Gießen   190b. 
H.  Bergson,  Le  Rire.     Paris   1900. 
W.  F.  Chalmers,    Charakteristische  Eigenschaften    von    Stevensons 

Stil.     Marburg.  Diss.   1903. 
C.  M.  Dalrymple,  Rudyard  Kiplings  Prosa.     Marb.   Diss.   1905. 
Dan.  .1.  Davis,  Stil  Mrs.  Humphry  Wards.     Marb.  Diss.   1907. 
E.  Elster,  Prinzipien  der  Literaturgeschichte.     Halle    1897. 
K.Fischer,   Leber  den  Witz,  Heidelberg   1889. 
K.  Fr.  Flögel,    Geschichte    der    komischen  Literatur    1784 — 1787. 

Liegnitz  u.   Leipzig. 
H.  Hettner,    Geschichte    der    englischen    Literatur.      Braunschweig 

1855. 
W.  Ho  mann,  H.  Fielding  als  Humorist.     Marb.   Diss.   1908. 
Dr.   Franz    Jahn,     Das    Problem    des    Komischen.      Potsdam,    ohne 

Jahr  (zuerst   1908). 
W.  E.  II.  Lecky,  1.  B.  (I.   Scott)   London   1908. 
Franz     liederer,     Die     Ironie     in     den    Tragödien    Shakespeares. 

Berlin.  Diss.   1907. 
Th.  Lipps,  Komik  und  Humor.     Leijjzig   1898. 


VIII 

H.  Lötschert,    W.  M.  Thackeray  als  Humorist.     Marl).  Diss.   1908. 
Th,  B.  Macaulay,  Essays  (Addison),     iiostoii   1893. 
1).  Masson,  Essays  biograpbical   and   critieal.     Camhridg-e   1856. 
Iv.  Meye,    Die  politisclie  Stellung;-  .louatliaii   Swifts.      Leipzi^;-   1903. 
K.  M.  Meyer,    Swift    und    Liclitenberg.      Berlin    1886.      Deutsche 

Stilistik.     München  1906. 
W.  Minto,    A  Manual    of  Englisli  Prose   Literature.      Edinb.   1886. 
Dr.  Jos.  Müller,  Das  Wesen  des  Humors.     München   1896. 
.1.  Paul,  Vorschule  der  Aesthetik.     Berlin,  ohne  Jahr. 
W.  Kaleigh,  The  English  Novel.      London   1904. 
W.  Kicken,  Bemerkungen  über  Anlage  und  Erfolg  der  wichtigsten 

Zeitschriften   Steeles    und  Addisons  EintluT)    auf  die  Entwicklung 

derselben.     Elberfeld,  Programm   1884. 

H.  Schneegans,  Geschichte  der  grotesken  Satire.    Strasburg  1894. 

W.Scott,   Life  of  Swift.     Edinburgh   1824. 

G.  Steinhausen,    Geschichte    des    deutschen  Briefes.      Stuttgart  u. 

Leipzig   1889/1881. 
Leslie  Stephen,  Swift  (Men  of  Letters).     London  1882. 
Fr.  Spielhagen,  Vermischte  Schriften.      Leipzig  1872. 
IL  Taine,  Histoire  de  la  litterature  anglaise.     Paris   1897. 
W.  ■\1.  Thackeray,    English  Humourists.     London   1867. 
P.  Thierkopf,     Dr.  Swifts    Gulliver    und    die    franzrtsischeu    Vt)r- 

gänger.     Magdeburg  1899. 
Fr.  Th.  Vi  seh  er,   1.  Über  das  Erhabene  und  Komisclie.     Stuttgart 

1837.     2.  Aesthetik.     Keutlingen  u.  Leipzig   1846. 
R.    M.    Werner,     Schriften    über    die    Technik    der    Erzählung. 

Deutsche   Lit.-Zeit.  XXX,  Nr.  2,  Jan.  1909. 


I.  Einleitung. 


Der  Name  Jonathan  Swifts  ist  mit  dem  Begriff  der 
Satire  unlöslich  verbunden.  Fast  alle  sind  darüber  einig, 
daß  ihm  auf  diesem  Gebiete  die  Meisterschaft  zuerkannt 
werden  muß.  „Der  größte  Satiriker  der  Weltliteratur",  sagt 
z.  B.  R.  M.  Meyek,')  „bleibt  wohl  trotz  dem  Epiker  Cervantes 
und  dem  unvergleiclilichen  Virtuosen  Voltaire  der  Engländer 
Swift,  der  allein  fast  die  Härte  besaß,  ohne  Abschweifen 
immer  auf  das  Herz  des  Gegners  zu  zielen." 

Auch  ander-e  Biographen  und  Kritiker  wie  Taine.  Hettnee, 
wie  MiNTO  und  Masson  heben  an  seinen  Schriften  den  Cha- 
rakter des  ausgesprochen  Satirischen  hervor. 

Daneben  fehlt  es  aber  auch  nicht  an  solchen,  die  zwar 
die  Mitwirkung-  des  satirischen  Faktors  nicht  bestreiten,  ja 
sogar  auf  ihn  die  eigentümliche  Färbung  seiner  Schriften 
zurückführen,  im  allgemeinen  aber  Swift  den  Charakter  des 
Humoristen  ganz  oder  teilweise  zusprechen  wollen.  So 
E.  Gosse,  mehr  noch  W.  Scott  und  Leslie  Stephen,  Jean 
Paul  und  W.  M.  Thackeeay. 

Diese  verschiedenen  Bezeichnungen  erklären  sich  zum  Teil 
daraus,  daß  die  Definitionen  der  Begriffe  des  Humors  und  der 
Satire  noch  nicht  endgültig  abgeschlossen  sind,  zum  Teil  auch 
daraus,    daß   der   Charakter   des  Humors  und   der  Satire   Je 


1)  Stilistik  214. 

l5o<'k(!i',  Die  Satire  .I<iii;itliiui  Swilts. 


nach  der  Gemütsart  einer  Nation  verschieden  entwickelt  ist. 
Zudem  haben  die  Begriffe,  vor  allem  der  des  Humors,  da  sie 
ja  so  stark  von  dem  Geistes-  und  Gemütsleben  eines  Volkes 
abhängig  sind,  im  Laufe  der  letzten  Jahrhunderte  große 
Wandlungen  durchgemacht.  Endlich  ^  und  das  ist  wohl  der 
Hauptgrund  für  das  Nebeneinander  der  zwei  Beziehungen  — 
scheinen  Humor  und  Satire  oft  in  einer  Person  vereinigt  zu 
sein,  und  je  nach  dem  Grade  der  Mischung  oder  Veranlassung 
mehr  das  eine  oder  das  andere  hervorzutreten. 

Die  vorliegende  Arbeit  stellt  den  Versuch  dar,  durch 
eine  Analyse  der  Hauptwerke  Swifts  seinen  Anteil  an  den 
Gattungen  des  Humors  und  der  Satire  festzustellen.  Im  be- 
sonderen aber  will  sie  unter  Berücksichtigung  der  Zeit- 
verhältnisse und  der  persönlichen  Anlagen  Swifts  den  Cha- 
rakter seiner  Satire  näher  bestimmen,  durch  eine  Übersicht 
über  die  Eigentümlichkeiten.  Bestandteile  und  die  Erscheinungs- 
formen, mit  denen  die  Satire  auf  uns  wirkt. 

Ehe  wir  jedoch  die  Anal3'Se  der  Werke  versuchen,  seien 
zuvor  einige  allgemeine  Bemerkungen  über  das  Wesen  des 
Humors  und  der  Satire  vorausgeschickt:  wie  wir  heute  die 
beiden  Gattungen  erklären,  was  das  18.  Jahrhundert  darunter 
verstand,  und  welche  Stellung  endlich  Swift  zu  dem  Problem 
einnahm. 

1.   Die  heutige  Definition  des  Humors  und  der  Satire. 

Nach  der  Ansicht  der  modernen  Theoretiker  gehört  der 
Humor  zu  den  höheren  Formen  der  Komik,  die  meisten 
halten  ihn  sogar  für  die  höchste.  Die  Wirkung  jeder  Komik 
beruht  auf  einem  Kontrast.  Während  der  Kontrast  des  ob- 
jektiv Komischen  durch  die  normale  Anschauung  unmittelbar 
klargelegt  wird,  erkennen  wir  den  humoristischen  Kontrast 
nur  von  einer  höheren  A\^arte  aus.  Der  Humor  ist  keine 
Eigenschaft,   die   wie   die  objektive  Komik  dem  Handeln  und 


Leiden  anhaftet,  sondern  eine  individuelle,  subjektive  Art 
des  Fühlens  und  Denkens,  eine  Weltanschauung,  die  wir  dm 
Dingen  entgegen  bringen.  Der  Humor  betrachtet  die  Welt 
von  dem  hohen  Stand})unkt  des  Idealismus;  ihm  erscheint 
damit  die  Welt  in  ihrer  Anmaßung  als  nichtig  und  lächerlich. 

Diese  Erkenntnis  der  Minderwertigkeit  und  der  Wider- 
sprüche des  Lebens  löst  bei  dem  Humoristen  die  Unlustgefühle 
aus,  die  das  eine  Glied  des  Kontrastes  liefern.  Aber  bei 
dieser  widerspruchsvollen  Erscheinung  bleibt  der  Humorist 
nicht  stehen.  Vielmehr  stellt  er  auf  Grund  seiner  weiten 
optimistischen  Weltanschauung  den  Unlustgefühlen  Gefühle 
der  Lust  entgegen.  Nachdem  er  die  Widersprüche  erkannt 
und  beleuchtet  hat,  versucht  er  sie  als  Optimist  heiter  auf- 
zulösen. Der  echte  Humorist  liebt  das  Menschengeschlecht. 
Anteilnahme  am  verlachten  Objekt  ist  eine  seiner  Haupt- 
tugenden. Er  Aveist  darauf  hin,  daß  wdr  alle  nicht  voll- 
kommen sind,  und  nimmt  sich  deshalb  selbst  nicht  von  seinem 
gutmütigen  Spotte  aus. 

Dieses  Anteilnehmen  ist  es  auch,  das  den  Humor,  be- 
sonders den  des  letzten  Jahrhunderts,  von  den  'anderen 
Gattungen  des  Komischen  und  Witzigen  scheidet.  In  seiner 
Anteilnahme  darf  der  Humorist  sehr  weit  gehen,  er  darf  so- 
gar den  bittersten  Tränen,  der  schmerzlichsten  Enttäuschung 
noch  ein  Lächeln  zugesellen.') 

Das  Gebiet  des  Humors  erfährt  eine  scharfe  Umgrenzung 
durch  die  Norm  der  moralischen  Anschauung.  ,.Wir  ver- 
tragen keinen  Humor,  kein  Lachen,  keine  Versöhnung,  wo 
ein  derbes  Dreinschlagen  am  Platze  ist."  2) 

Das  ist  der  Punkt,  wo  häufig  die  Satire  einsetzt. 

Die  Satire  hat  manche  Ähnlichkeit  mit  dem  Humor,  wie 
sie  denn  auch  häufig  durcheinander  geworfen  wurden. 


1)  Elster  350.  '^)  Elster  349. 


-i 


Aber  während  dem  Humor  sowohl  die  Willensg-efühle  wie 
die  Schicksalsgefühle  zugäng-lich  sind,  bewegt  sich  die  Satire 
auf  einem  beschränkteren  Gebiet:  dem  der  Willensgefühle. 
Die  Schicksalsgefühle  sind  der  Satire  verschlossen. ')  Deshalb 
ist  auch  die  Satire  nicht  wie  der  Humor  beschaulicher  Natur, 
sondern  sie  ist  aggressiv;  sie  verzichtet  nicht  darauf,  um- 
fassend ins  Leben  einzugreifen,  sondern  suclit  darin  gerade 
ihre  Haupttätigkeit.  A\'egen  dieser  starken  Betonung  der 
Willenstätigkeit  und  des  Aggressiven  ist  der  Satire  das  chole- 
rische Temperament  so  günstig,  während  der  Humor  be- 
sonders auf  dem  (gründe  des  phlegmatischen  Temperaments 
gedeiht.  Doch  haben  beide  den  Standpunkt  der  Welt- 
betrachtung und  die  Ausdrucksmittel  gemeinsam.  Denn  auch 
die  Satire  betrachtet  die  Welt  von  einem  hohen  idealen 
Standpunkt  aus  und  bedient  sich,  um  diese  subjektive  AVelt- 
anschauung  zu  objektivieren,  komischer  und  Avitziger  Kontraste. 
Daher  die  große  Ähnlichkeit.  Aber  es  bleibt  doch  der  tief- 
einschneidende Unterschied  zwischen  beiden,  daß  die  Satire 
bei  dem  ungelösten  Widerspruch  zwischen  Ideal  und  Wirk- 
lichkeit' verweilt,  während  der  Humor  sich  darum  bemüht, 
diesen  Widerspruch  in  Heiterkeit  und  Versöhnung  aufzulösen. 
Denn  der  Humorist  ist  Optimist,  der  Satiriker  dagegen 
Pessimist.  Deshalb  hinterläßt  die  Satire  nicht  die  harmonische, 
befriedigende  Wirkung  wie  der  Humor,  sondern  sie  wirkt 
unbefriedigend,  ja  wegen  ihrer  schroffen  Form  häufig  ver- 
letzend und  erbitternd.  A\'enn  wir  diese  pessimistische  Welt- 
anschauung und  ihre  aggressive  Natur  beachten,  können  Avir 
auch  verstehen,  weshalb  der  Satiriker  im  Gegensatz  zum 
Humoristen  mit  Vorliebe  bei  dem  Häßlichen  und  Bösen  ver- 
weilt, das  Arme,  Bedrückte  dagegen,  noch  mehr  das  Naive, 
Kleine,  Harmlose  unbeachtet  läßt.    Kindergestalten  finden  wir 

1)  Elster  355. 


deslialb  bei  dem  Satiriker  selten;  sie  bieten  ihm  in  ilirer 
harmlosen  Glückselio'kt'it  zu  wenig-  Angriifsfläclien ;  er  be- 
schäftigt sich  lieber  mit  ausgereiften  Charakteren. 

Humor  wie  Satire  erfahren  häufig-,  wie  wir  weiter  unten 
sehen  werden,  durch  gegenseitige  Mischung  Modifikationen. 
Die  eigentliche  Prägung  aber  kommt  erst  durch  die  Indivi- 
dualität zustande.  Denn  Humor  und  Satire  sind  individuelle 
subjektive  A\^eltanschauungen  und  richten  sicli  als  Begleit- 
erscheinung der  Individualität  nach  Charakter,  Temperament, 
jeweiliger  Geistesverfassung,  nach  persönlicher  Erfahrung, 
Lebens-  und  Interessenkreis.  Erinnerung,  Neigung,  Stimmung, 
Standpunkt.  Verhältnis  des  Gegenstandes  zum  Ich  etc.») 

2.   Die  Waudluugen  des  Begriffs  Humor. 

Der  Begriff  der  Satire  hat  wegen  der  ihm  verschlossenen 
Schicksalsgefühle  keine  besondere  Wandlung  durchgemacht 
und  ist  theoretisch  nicht  so  heiß  umstritten  worden  wie  der 
Humoi-.  Nur  daß  praktisch  die  eine  Zeit  eine  größere  Vor- 
liebe für  ihn  zeigte  und  einen  günstigeren  Boden  ihm  ent- 
gegen brachte,  als  die  andere. 

Der  Begriff  Humor  dagegen  hat  in  den  letzten  zwei  Jahr- 
hunderten die  mannigfachen  Wandlungen  durchgemacht.  Denn 
der  Humor  ist  ein  Spiegel  des  gesamten  Geistes-  und  (lefühls- 
lebens  einer  Nation.  Wie  wir  oben  gesehen  haben,  huldigen  "^ 
wir  heute  einer  sehr  weiten  Auffassung,  betonen  vor  allem 
das  starke  Gefühlsleben,  das  Anteilnehmen  des  Humoristen 
und  fassen  selbst  solche  entsagungsvollen  Äußerungen  als 
Humor  auf,  vor  der  die  Komik  im  engeren  Sinne  flieht.-) 

Diese  tiefe,  weite  Auffassung  ist  aber  erst  im  Laufe  des 
letzten  Jahrhunderts  unter  uns  heimisch  geworden.  Gegen- 
über der   einseitigen   Betonung   des   menschlichen  Verstandes 

')  Jahn  S.  93.  '•')  Elster  352. 


6 

und  der  Vernunft  bildet  die  Romantik  eine  berechtigte  Re- 
aktion, indem  sie  das  Gefühlsleben,  das  Gemüt,  die  Phantasie 
in  den  Vordergrund  ihrer  Betrachtung  stellt.  Die  Romantik, 
besonders  Jean  Paul,  hat  den  Begriff  Humor  so  erweitert  und 
vertieft,  wie  er  im  wesentlichen  noch  lieute  bei  uns  gefaßt 
wird. 

Im  nüchternen  18.  Jahrhundert  merken  Avir  von  dieser 
weiten  und  tiefen  Auffassung  des  Humors  noch  nichts.  Je 
weiter  wir  chronologisch  zurückgehen,  desto  mehr  vermissen 
wir  in  Theorie  und  Praxis  die  Berücksichtigung  des  Gefühls-' 
elements,  desto  mehr  tritt  dagegen  Verstand  und  Vernunft 
in  den  Vordergrund,  desto  mehr  tritt  folglich  der  Humor 
hinter  einer  Bevorzugung  des  Witzigen  und  Satirischen 
zurück. 

Sehr  bezeichnend  für  die  Ausschaltung  des  Gefühls  bei 
dem  Komischen  überhaupt,  also  auch  beim  Humor  sind 
die  theoretischen  Erörterungen  der  Wolf-Baumgartschen 
Schule.')  Eine  für  seine  Zeit  weite  Auffassung  vom  Begriff 
des  Humors  hat  dagegen  Lessing.  Für  ihn  ist  Humor  soviel 
als  Laune,  als  fröhliche  Stimmung.  Lessing  ist  auch  insofern 
für  unser  Problem  des  Komischen  von  Bedeutung,  als  er  zu- 
erst genau  auf  die  zwei  Glieder :  Lachen  und  Verlachen,  auf- 
merksam macht.  Damit  steht  er  dem  Humor  näher  als  seine 
englischen  Vorgänger  Hobbes  und  Shaftesbur}',  die  nur 
von  einem  Verlachen  wissen.')  Aus  diesen  beiden  Ansichten 
erkennen  wir  recht  deutlich,  wie  sich  der  Begriff  verschoben 
hat.  Bei  Lessing  ist  schon  ein  Mitgefühl  angedeutet,  wenigstens 
setzt  das  Lachen  keine  Antipathie  voraus.  Bei  Hobbes  und 
Shaftesbury  dagegen  ist  dieses  Mitgefühl  zurückgedrängt  und 
überwuchert  von  dem  Selbstgefühl.  Das  Lachen  neigt  deshalb 
noch  nicht  zum  Humor,  sondern  zum  WWz.   Tu  beiden  Theorien, 

1)  Jahn  K.  II. 


der  der  Eiiß-länder  wie  Lessings,  spiegelt  sich  getreulich  das 
Fühlen  und  Denken  ihrer  Zeit.  Tn  der  Zeit  Lessings.  be- 
sonders in  der  des  Sturms  und  Drangs,  macht  sich  eine 
Steigerung  des  (lefühlslebens.  besonders  der  Liebe  und  der 
Freundschaft  bemerkbar;  daher  diese  zarten  Keime  zum  Humor. 

Die  Theorien  aber  von  Hobbes  und  Shaftesbury  lassen 
das  heraufziehende  Jahrhundert  der  Aufkläiimg  erkennen.') 
Die  großen  Errungenschaften  auf  dem  Gebiete  der  Politik 
und  Wissenschaft  hatten  ein  geschwelltes  Selbstbewußtsein 
aufschießen  lassen,  das  sich  auch  in  den  Theorien  über  die 
komischen  Erscheinungsformen  geltend  macht. 

Daneben  tritt  bei  Shaftesbury  noch  jener  charakteristische 

Trieb   nach  A\'ahrheit  heivor,   man  versucht  mit  den  Fragen 

nach   der   Allgemeingültigkeit   unsrer  Erkenntnisse   eine  Er- 

'  kenntnistheorie  zu  begründen,  und  diesem  Zwecke  sollen  auch 

die  komischen  Erscheinungsformen  dienen. 

Diese  beiden  Punkte:  das  gesteigerte  Selbstbewußtsein 
und  der  Trieb  nach  AVahrheit,  sind  für  Gestaltung  unsres 
Begriffs  im  17.  und  Anfang  des  18.  Jahrhunderts  von  großer 
Bedeutung  geworden.  Der  Trieb  nach  Wahrheit  hat  die 
komischen  Erscheinungsformen  aus  dem  Gebiet  des  ästhetischen 
Spieles  in  das  des  ethischen  Ernstes  verpflanzt ;  er  hat  sie  zu 
einem  Mittel  der  moralischen  Tendenz  herabgewürdigt ;  er 
hat  den  Begriff  rein  praktisch  verwertet  und  ihn  in  den 
Dienst  des  Verstandes  und  der  Vernunft  gestellt. 

Das  gesteigerte  Selbstbewußtsein  andererseits  hat  die 
Entwicklung  des  für  den  weiten  Humor  nötigen  Mitgefühls 
unterbunden  und  den  Begriff  in  die  ihm  näher  liegenden 
Bahnen  des  Witzes  und  der  Satire  gedrängt. 

Das  war  die  herrschende  Geistesriclitung  zu  der  Zeit,  als 
Swift  mit  seinen  Schriften  in  die  r)ffentlichkeit  trat. 

»)  Jahu  K.  IL 


3.    Swifts  Stellung  zu  Humor  und  Satire. 

Swifts  Anschauungen  lassen  ihn  als  einen  typischen 
Vertreter  des  18.  Jahrhunderts  erscheinen.  So  können  wir 
g-leich  vermuten,  daß  er  den  Begriff  Humor  nicht  sonderlich 
weit  g-efaßt  haben  wird,  daß  auch  bei  ilim  das  Gefühlselement 
stark  zurücktreten  und  dafür  die  Vernunft  und  der  Verstand 
im  Vordergrund  stehen,  daß  er  folglich  nach  unserer  heutigen 
Auffassung  weniger  zum  Humor  als  zum  AMtz  und  zur  Satire 
neigen  wird. 

Von  großer  Wichtigkeit  sind  zur  genauen  Erkenntnis 
seiner  Stellungnahme  zum  Problem  seine  eigenen  Bemerkungen. 
Es  sind  allerdings  nur  sehr  wenige,  und  auch  diese  keine 
eigentlich  philosophischen  Definitionen.  Denn  er  war  ja  seiner 
praktischen,  tendenziösen  Veranlagung  nach  jeglicher  philo- 
sophischen Erörterung  abgeneigt. 

Wir  erfahren  vielmehr  seine  Ansichten  über  Humor, 
Satire  und  ^^'itz  aus  einer  Besprechung  von  Gay"s  „Beggar's 
Opera"  im  ..Intelligencer"  Nr.  III: 

„The  point  I  mean.  is  what  we  call  humour,  which  in 
its  perfection  is  allowed  to  be  much  preferable  to  /rif  if  it 
be  not  rather  the  most  useful  and  agreeable  species  of  it." ') 

Was  wir  oben  von  dem  Zeitstil  ausgehend  bei  Swift  ver- 
mutet haben,  finden  wir  durch  die  Stelle  bestätigt;  für  unsere 
Begriffe  faßt  Swift  den  Humor  zu  eng.  Denn  er  sieht  den 
Humor  als  eine  Spiel-  und  Unterart  des  Witzes  an  und  be- 
weist damit,  daß  er  das  Gefühlselement  außer  acht  läßt  und 
den  Nachdruck  auf  den  Verstand  legt. 

Noch  nähere  Aufschlüsse  über  seine  Stellung  zum  Problem 
gibt  uns  ein  anderes  Zitat  aus  demselben  Aufsatz: 

')  IX,31(). 


>,It  is  certainly  the  best  ing-redient  towards  tlie  kiiid  of 
mtire  wliicli  is  most  useful  and  gives  the  least  offence,  which 
instea4  of  lashing,  laiighs  men  out  of  tlieir  follies  and  vices, 
and  is  the  character  which  gives  Horace  the  preference  to 
Juvenal."  •) 

Hatte  das  erste  Beispiel  Swifts  Anschluß  an  die  damalige 
(leistesrichtung  gezeigt,  so  hat  das  letzte  Beispiel  zudem  be- 
sonderen indiAiduellen  ^Xert.  Es  beweist  seine  Neigung  zur 
Satire. 

Auch  diese  Definition  des  Humors  ist  für  unsere  Begriffe 
zu  eng.  Aber  die  l^nterordnung  des  Humors  unter  die  Satire 
ist  für  uns  begreiflich,  ^^'ie  Humor  und  Satire,  selbst  wenn 
begrifflich  streng  geschieden,  in  Wirklichkeit  häufig  in  ein- 
ander übergehen,  insofern  „als  der  Humorist  aus  Ohnmacht 
gegenüber  der  frechen  Wirklichkeit  zum  Satiriker  wird,  der 
Satiriker  aus  Gutmütigkeit  und  Mitleid  mit  dem  Jammer  der 
Endlichkeit,  davon  er  doch  schließlich  ein  Teil  ist.  zum 
Humoristen."  2) 

Bei  Swift  ist  jedoch  diese  Scheidung  zwischen  Humor 
und  Satire  nicht  einmal  theoretisch  scharf  durchgeführt.  Die 
Grenze  zwischen  beiden  Begriffen  zerfließt. 

Praktisch  neigt  er.  wie  wir  im  IL  Kapitel  sehen  werden, 
auf  Grund  seiner  persönlichen  Anlagen,  seines  Berufes,  seiner 
Stimmung,  Lebenserfahrung  mehr  zur  Satire,  und  diese  Neigung 
drückt  sich  auch  ungewollt  in  seiner  Definition  aus.  Unter 
„Satire  which  laughs  men  out  of  their  follies  and  vices*'  ver- 
steht er  milde,  komische  Satire,  während  „lashing"  direkte 
Satire  bedeutet. 

Aus  allen  diesen  Definitionen  Swifts  spricht  zu  uns  ein 
typischer  Vertreter  des  18.  Jahrhunderts.    Sie  lassen  erkennen, 


1)  IX,  318.     Iiitelligence  Xo.  III. 

-)  Spielhagen,  Verm.  Schriften,  S.  235.    Leipzig-  1872. 


10 

was  auch  Biologie  und  Soziologie  neuerdings  nachgewiesen 
haben,  daß  die  Funktion  des  Kömischen  sich  nach  dem 
Lebensinhalt  eines  Menschen  und  einer  Zeit  richtet.  Alles 
dient  einem  Zweck:  der  sittlichen  Besserung  der  Menschheit; 
es  gibt  nur  wenige  von  Swifts  Schriften,  die  nicht  diese 
moralische  Tendenz,  wenn  auch  oft  in  groteskem  Gewand, 
in  sich  tragen.  Ja  man  kann  sagen,  daß  die  Tendenz  bei 
ihm  die  Hauptsache  ist  und  der  „humour"  Nebenzweck.  Nur 
um  desto  sicherer  auf  sein  Publikum  wirken  zu  können, 
kleidet  er  die  Tendenz  in  das,  was  für  ihn  Humor  ist. 

„The   public   good  is  performed  in  two  ways,  Instruction 

and  diversion as  mankind  is  now  disposed  he  receives 

much  greater  advantage  by  being  diverted  than  instructed."  ^ 

Auch  seine  Hochschätzung  von  Gay's  „Beggers'  Opera" 
geht  zum  Teil  auf  die  moralische  Tendenz  zurück. 

„ —  he  hath,  by  a  turn  of  humour  entirely  new,  placed 
vices  of  all  kinds  in  tlie  strongest  and  most  odious  light  and 
thereby  done  eminent  Service  both  to  religion  and  morality."2) 

Vergleiche  auch  noch  die  Worte: 

„The   other  end   (that  men  propose  in  writing  satire)   is  , 
a  public  spirit,  prompting  men  of  genious  and  virtue  to  mend 
the  World  as  far  as  they  are  able."^) 

Neben  dieser  moralischen  Tendenz  ist  das  Lachen  für 
Swift  Selbstzweck.  Auch  diese  Auffassung  des  Lachens  ist 
dem  Satiriker  wie  dem  Humoristen  eigen.  Ein  psycho- 
physischer  Drang  nach  Lebensfreude  ist  es,  der  sich  in  dieser 
Tendenz  ausspricht.  Ein  Drang,  wie  wir  ihn  bei  Swift  vor 
allem  in  jener  Vorliebe  für  harmlose,  wenn  auch  bizarre 
Scherze,  „puns  and  practical  jokes",  finden.  Aber  dieses 
harmlose  Lachen,  das  vor  allem  den  Humoristen  ziert,  ist  bei 
Swift  doch   ziemlich  selten.     Dafür  war  ei-  zu  eitel,   zu  ehr- 

1)1,90.  »)IX,318. 


11 

geizig-,  zu  selbstbewußt  und  selbstgerecht:  was  AVunder  — 
er  lebte  ja  in  einem  Zeitalter  des  krassen  Egoismus. 

So  äußert  sich  bei  Swift  der  Drang  nach  Lebensfreude 
in  dem  ungestümen  Verlangen,  das  Recht  seiner  Persönlich- 
keit durchzusetzen.  D.eshalb  faßt  er  das  Lachen  als  eine 
willkommene  Entschädigung  für  seine  Zurücksetzung  besonders 
gegenüber  IVEinistern  und  anderen  Bevorzugten  auf. 

„There  are  two  ends  that  men  propose  in  writing  sdtirr. 
one  of  them  less  noble  than  the  other,  as  regarding  nothing 
farther  than  personal  satisfaction,  and  pleasure  of  the  writer; 
but  without  any  view  towards  personal  malice;  the  other  is 
a  public  spirit  prompting  men  of  genius  and  virtue,  to  mend 
the  World  as  far  as  thej^  are  able.  And  as  both  these  ends 
are  innocent,  so  the  latteris  highly  commendable.  With  regard 
to  the  former,  I  demand  whether  I  have  not  as  good  a  title 
to  laugh,  as  men  have  to  be  ridiculous,  and  to  expose  vice, 
as  another  has  to  be  vicious.  If  I  ridicule  the.follies  and 
corruptions  of  a  court,  a  ministry,  or  a  Senate;  are  they  not 
emply  paid  by  pensions,  titles,  and  power,  while  I  expect 
and  desire  no  other  reward,  than  of  laughing  with  a  few 
friends  in  a  corner." ') 

Die  häufige  Verwendung  der  komischen  und  witzigen  Er- 
scheinungsformen setzt  eine  große  Vorliebe  für 'diese  Stil- 
gattung voraus.    Das  zeigt  sich  schon  in  seiner  Lektüre. 

Bei  seiner  großen  und  ausgedehnten  klassischen  Bildung 
ist  es  nicht  weiter  verwunderlich,  daß  er  neben  anderem  sich 
häufig  mit  klassischen,  griechischen  urd  römischen  Satirikern 
beschäftigt  hat.  Wir  höi-en  z.  B.  schon  im  Journal,  daß  er 
sich  eine  Aristophanes- Ausgabe  angeschafft  hat.  Häufig 
findet  sich  in  seinen  Schriften  -tnvenal  erwähnt,  den  er 
gut  gelesen  zu  haben  scheint. 

1)  IX,  318. 


12 

Noch  besser  als  Juvenal  gefällt  ihm  Horaz.  Juvenal  ist 
ihm  offenbar  zu  scharf,  während  ihm  an  Horaz  das  Über- 
wiegen des  Humors  in  der  Satire  sehr  zusagt.  Ebenso  scheint 
er  in  den  englischen  Humoristen  bewandert  gewesen  zu  sein. 
Butlers  Hudibras  hat  er  gekannt. 

Zu  seinen  besonders  geschätzten  eigentlichen  Lieblings- 
V  Schriftstellern  gehören  Cervantes  und  Eabelais.  Cervantes 
Don  Quixote  muß  damals  in  England  viel  gelesen  worden  sein; 
die  Übersetzungen  von  Skelton ,  Phillips .  Motteux  deuten 
schon  darauf  hin.  Zudem  erfahren  wir  in  der  Tale  of  a  Tub, 
daß  ein  „wit"  die  Geschichte  nach  englischem  Geschmack  zu- 
gestutzt hatte.  Swift  zitiert  Cervantes  des  öfteren  als  Bei- 
spiel für  echten  Humor.  Auch  komische  Vergleiche  nimmt 
er  aus  dem  Don  Quixote,  besonders  wenn  er  eine  Sache  als 
recht  verdreht  hinstellen  will.i) 

Noch  näher  als  Cervantes  steht  ihm  Rabelais.  Die  Ent- 
lehnungen im  Gulliver  sind  von  Borkowsky  und  Hönncher 
schon  nachgewiesen  worden.  Interessant  ist,  daß  sich  in 
seiner  1745  versteigerten  Bibliothek  ein  Exemplar  der  Werke 
Eabelais  befand  mit  Glossen  von  Swifts  Hand.  Diese  Aus- 
gabe ist  leider  verloren  gegangen. 
^  Das  Groteske,   vielleicht   auch  das  Natürliche,   Sinnliche 

war  es,  was  ihm  die  Komik  von  Eabelais  so  nahe,  brachte. 

Im  allgemeinen  hat  Swift  für  das  Theater  seiner  Zeit 
wenig  übrig  gehabt.  Er  tadelt  stets  den  schlechten  Geschmack, 
der  sich  breit  mache.  Dagegen  empfiehlt  er  allen,  die  Ge- 
schmack an  echtem  Humor  hätten,  das  „Theatre  Italien  ou  le 
recueil  de  toutes  les  comedies  et  scenes  frangaises,  qui  ont 
ete  jouees  sur  le  theatre  Italien",  eine  1695  von  Gherardi 
herausgegebene  Sammlung. 

1)  VI,  151. 


13 

Diesen  „true  liuiiioui-'  glaubt  er  aiicli  in  Gay's  „Beggars' 
Opera"  zu  finden  und  schreibt  dieser  Eigenschaft  den  großen 
Beifall  des  Stückes  zu. 

Von  den  Theaterstücken  seines  Freundes  Congreve  ist  er 
so  begeistert,  das  er  darüber  das  Zubettgehen  vergißt. 

Und  wie  bei  seiner  Lektüre,  so  hat  er  auch  bei  seinen 
Freunden  und  Zeitgenossen  diese  Gaben  des  Humors,  der 
Satire  und  des  Witzes  wolil  zu  würdigen  verstanden.  Sie 
war  es  häufig,  die  ihn  mit  manchem  Freundschaft  schließen 
ließ.  So  waren  z.  B.  Swift  und  Addison  grundverschiedene 
Naturen;  aber  der  Humor  und  Witz  in  der  Konversation,  den 
Young  und  Steele  Addison  nachrühmen,  haben  auch  auf  Swift 
ihren  Bann  ausgeübt. 

Auch  mit  Congreve,  „a  nmn  of  brightest  comic  genius 
that  Britain  produced",  wie  W.  Scott  ihn  nennt,  verband  ihn 
innige  Freundschaft. 

Von  seiner  Hochachtung  für  Gay  haben  wir  schon  ge- 
redet. Endlich  gar  sein  überaus  geschätzter  Arbuthnot, 
dessen  Werke  wegen  der  komischen  Ader  denen  Swifts  so 
ähnlich  sind,  daß  man  manches  Swift  selbst  zuschrieb.  Und 
wer  dächte  nicht  an  Sheridan,  „jenen  Pädagogen  mit  dem 
lachenden  Kinderherzen"  und  an  die  vielen  „puns"  und  Pas- 
quinaden,  mit  denen  Swift  und  er  sich  zu  necken  pflegten, 
oder  an  jene  Sammlung:  „Bon  mots  de  Stella". 

Besonders  deutlich  zeigt  sich  dieser  Sinn  füi'  Scherz  in 
den  oft  wunderlichen  „practical  jokes",  die  damals  überhaupt 
im  Schwang  waren,  und  zu  denen  auch  Swift  sein  Teil  bei- 
steuerte. 

So  erzählt  er  im  „Journal  to  Stella",  i)  wie  er  und  seine 
Freunde  das  Gerücht  in  Umlauf  setzten:  ein  berüchtigter 
Mörder,   den  man  tags  zuvor  gehängt,   sei  von  seinen  Kum- 

0  11,449. 


14 

panen  abgeschnitten  und  wieder  zum  Leben  gebracht  worden, 
befinde  sich  aber  schon  wieder  in  den  Händen  des  Sherift's. ') 

Oder  man  denke  an  die  Szene,  wie  Swift  aus  g-änzlichem 
Mangel  an  Kirchenbesuchern  seinen  Clerk  mit  dem  für  jene 
bestimmten  Church-service  bedacht  habe,  und  andere  Scherze 
mehr. 

Am  bekanntesten  in  dieser  Art  dürfte  wohl  die  Bicker- 
staff- Affäre  sein. 


II.  Allgemein  Charakteristisches  über  die  Satire 

J.  Swifts. 


l.y  Swifts  Persönlichkeit  und  Cliarakter. 

Das  Bild  seiner  Satire  wird  uns  deutlicher,  wenn  wir 
einen  Blick  auf  seine  Persönlichkeit,  auf  seinen  Charakter 
werfen. 

Was  zunächst  seine  Persönlichkeit  betrifft,  so  war 
durch  Geburt,  Abstammung,  Vaterland  und  Beruf  ein  Boden 
gegeben,  wie  er  der  Satire  kaum  günstiger  entsteh'en  konnte. 
Swift  stammte  aus  einer  alten,  vornehmen,  aber  verarmten 
Yorkshirer  Familie,  die  seit  mehr  als  hundert  Jahren  in  Irland 
ansässig  war  und  ihren  englischen  Charakter  durch  Heiraten 
mit  Irländern  der  neuen  Heimat  akklimatisiert  hatte.  Wir 
Averden  kaum  fehlgehen,  wenn  wir  in  Swift  eine  Vermengung 
dieser  beiden  so  verschiedenen  Nationalcharaktere  zu  finden 
glauben:  auf  der  einen  Seite  die  irische  Heißblütigkeit  und 
Leidenschaft,   auf  der  anderen  die  düstere  Energie  Englands. 

0  n,  449. 


15 

Zu  diesen  rein  klimatischen  und  pliysiolügischen  Be- 
dingungen kommen  noch  andere  ebenfalls  günstige  und  für 
den  Charakter  der  Satire  ausschlaggebende  äußere  Momente, 
die  den  günstigen  Boden  noch  fruchtbarer  machen  sollten, 
Hwift  gehörte  dem  geistlichen  Stande  an,  ein  Stand,  der 
wegen  des  in  seiner  Natur  begründeten  sittlichen  Ernstes  von 
jeher  die  besten  und  größten  Satiriker  und  Humoristen  ge- 
liefert hat:  ich  erinnere  nur  an  llabelais,  Sterne  und  andere. 

Der  geistliche  Beruf  war  allerdings  nicht  sein  eigent- 
licher; weit  mehr  als  Geistlicher,  war  Swift  Politiker.  Er 
lebte  in  einer  politisch  äußerst  erregten  und,  wegen  der 
inneren  Kämpfe  und  Zwistigkeiten,  unglücklichen  Zeit.  In 
diese  Kämpfe  hat  Swift,  durch  äußere  und  innere  Umstände 
getrieben,  mit  der  ganzen  Wucht  seiner  Persönlichkeit  ein- 
gegriffen. Diese  ausgesprochene  Neigung  und  Begabung  zur 
Politik  hat  auch  seiner  Satire  den  Stempel  aufgedrückt. 

Denn  wenn  irgend  ein  Beruf,  so  stellt  der  des  Politikers, 
namentlich  der  des  Pamphletisten,  hohe  Anforderungen  an  \^ 
die  Energie  der  Willensgefühle.  Die  rasche  Produktion  der 
Pamphlete  erlaubte  ihm  kein  Schaffen  in  Ruhe.  Sein  Leben 
war  durchdrungen  von  der  leidenschaftlichen  Energie  einer 
rastlosen  Tätigkeit. 

Der  Begabung  für  Politik  verdankt  Swift  auch  den  Ver- 
kehr mit  Vertretern  des  höchsten  Adels  und  damit  den 
Charakter  als  Weltmann.  Seine  Vorliebe  für  Konversation 
und  Witz  fand  in  diesem  Verkehr  den  denkbar  günstigsten 
Boden. 

Noch  plastischer  tritt  uns  das  Bild  seiner  Satire  entgegen, 
wenn  wir  seine  psychischen  Grundlagen  ins  Auge  fassen. 
Er  war  Politiker,  weil  er  Parteimann  war.  Seine  Sub- 
jektivität, sein  Unabhängigkeitsgefühl,  sein  Selbstbewußtsein, 
sein  Egoismus  drängten  ihn  dazu.  Weil  er  glaubte,  daß 
seinem  Stande   nicht   die  gebührende  Achtung  gezollt  werde,     - 


16 

betätigte  er  sich  in  der  Politik.  Er  konnte  in  seinem  maß- 
losen Stolz  die  vornehme  Abstammung-  nicht  verleugnen. 

Sein  Selbstbewußtsein  wurde  noch  gesteigert  durch  eine 
übertriebene  Empfindlichkeit.  Er  selbst  hat  mit  seinem 
Spott  kaum  jemand  verschont,  doch  war  er  eines  Tages  sehr 
beleidigt,  als  ihn  eine  Magd  auf  seine  barsche  Anfrage  mit 
einer  schnippischen  Antwort  abfertigte.  Der  wahre  Humorist 
trägt  versöhnlicheren  Charakter  zur  Schau.  So  ist  auch 
dieser  Zug  wieder  ein  neuer  Beweis  dafür,  daß  Swift  seinem 
ganzen  Wesen  nach  mehr  Satiriker  als  Humorist  sein  mußte. 

So  abstoßend  jedoch  diese  Empfindlichkeit  wirken  konnte, 
besonders  wenn  sie  sich  zu  starker  Erregung  und  plötzlichem, 
unwiderstehlichem  Zorn  steigerte,  sobald  Personen  oder  Ver- 
hältnisse seinem  Willen  entgegentraten,  um  so  M'ohltuender 
berühren  uns  seine  sympathischen  Charakterzüge:  seine 
treue  Freundschaft,  seine  Hilfsbereitschaft  und  seine  Unter- 
stützung von  jungen  Talenten  wie  Harrison.  Ja,  Macaulay 
behauptet,  daß  Addison  unter  der  herrischen  und  mürrischen 
Maske  eine  große  Gutmütigkeit  gefunden  habe.  Rührend  ist 
das  tiefe  Mitleid,  das  er  mit  der  so  früh  dahingerafften  Anne 
Long  empfand.  Auch  die  zahlreichen  Freundschaften,  die  er 
mit  vornehmen  Damen,  mit  den  Töchtern  des  Duke  of  Or- 
mond, Lady  Kerry,  Lady  Oglethorp  unterhielt,  sprechen  für 
sein  Wohlwollen. 

Diese  widerspruchsvollen  Charakteranlagen  hat  die  Ironie 
des  Schicksals  noch  verschärft.  Denn  sein  ganzes  Leben 
ist  eine  große  Antithese  zwischen  Wollen  und  Gelingen. 
Er  war  ein  Verfechter  der  Freiheit,  das  Leben  drängte  ihn 
zur  Partei  der  Tories.  Er  haßte  Irland  und  wurde  ein  Vor- 
kämpfer für  seine  Unabhängigkeit.  Er  verachtete  die  Frauen 
und  empfand  tiefe  Neigung  zu  Stella.  Er  haßte  das  Menschen- 
geschlecht im  allgemeinen  und  hielt  doch  treue  Freundschaft 
mit  dem  Einzelnen.    Er  war  arm,  und  doch  trachtete  er  nach 


17 

den  liolieii  Kliren.  Das  Schicksal  war  ihm  aber  iiui-  kurze 
Zeit  hokl  dann  zerschlug  sich  eine  Hoffnung  nach  der  anderen. 
Diese  tiefe  Kränkung-,  die  ein  neidisches  Geschick  seinem  Ehr- 
geiz und  seinem  Stolz  hat  widerfahren  lassen,  hat  die  Ver- 
bitterung und  den  Pessimismus  erzeugt,  der  im  Verein  mit 
der  dämonischen  Wildheit  ungewöhnliche  Kräfte  in  ihm  ent- 
'fesselte  und  ihn  endgültig  zur  Satire  drängte. 

/ 

/    2.  Das  gei^enseitige  Verhältnis  seines  Humors 
*  und  seiner  Siitire. 

Trotz  der  ausgesprochenen  Neigung  zur  Satire  ist  Swift 
doch  nicht  frei  von  humoristischen  Zügen.  Eine  gewisse  Gut- 
mütigkeit in  den  geschilderten  Charakteren  und  ein  liebe- 
volles Eingehen  auf  das  Detail  vor  allem  ist  es,  was  uns 
humoristisch  anmutet. 

Als  humoristisch  kann  man  die  sympathischen 
Charakterzüge  ansehen,  mit  denen  etliche  Personen  im 
Gulliver  ausgestattet  sind.  Vor  allem  Gulliver  selbst  in  dem 
Lande  der  Liliputaner.  Er  erkennt  wohl  die  Schwäche  der 
Bewohner,  aber  trotz  der  Versuchung  und  besonders,  da  er 
sich  durch  die  Gastfreundschaft  verpflichtet  fühlt,  macht  er 
seine  überlegenen  Körperkräfte  ihnen  gegenüber  nicht  geltend. 
Ja,  als  zwei  boshaft  veranlagte  Einw^ohner  trotz  des  Verbotes 
und  der  aufgestellten  Wachen  nach  ihm  schießen  und  ge- 
bunden ihm  ausgeliefert  werden,  übt  er  großmütig  Milde  und 
gibt  ihnen  die  Freiheit  wdeder.i) 

Auch  das  zweite  Buch  birgt  solche  sympathische  Cha- 
raktere; vor  allem  Gullivers  „nurse"  Glumdaldrich.  Sie  hat 
eine  große  Zuneigung  zu  Gulliver  gefaßt,  nimmt  ihn  vor 
mancherlei  Widerwärtigkeiten  in  Schutz  und  vergießt  bei 
seinem   Abschied    heiße   Tränen. 2)     Diese   Figur   ist   um    so 


')  VIII,  31.        2)  VIII,  145. 

neck  er,  Die  S:itire  Jonatliun  S\vift>; 


18 

sympatliischer,  als  die  übrigen  Frauenclmraktere  sich  dieser 
vorteilhaften  Darstellung  nicht  erfreuen.  Ähnlich  sympathisch, 
vielleicht  noch  etwas  humoiToller,  ist  der  Charakter  des  Königs 
gezeichnet;  denn  der  König  ist  sogar  nicht  frei  von  gut- 
mütigem Spott.  Als  Gulliver  das  Abenteuer  mit  dem  Affen 
hinter  sich  hat,  zieht  der  König  ihn  auf  mit  Fragen,  wie  die  Luft 
hoch  oben  auf  dem  Dach  ihm  bekommen  sei,  und  ob  ihm  das 
Essen  geschmeckt  habe,  das  der  Affe  ihm  aufgenötigt. 

Neben  diesen  vereinzelten  sympathischen  Charakterzügen 
muten  uns  vor  allem  jene  detaillierten  Schilderungen 
wegen  ihrer  liebevollen,  behaglichen  Kl  ein  mal  er  ei  humo- 
ristisch an.  Zum  Teil  handelt  es  sich  um  einfache  Be- 
schreibungen, man  denkt  an  die  Mahlzeiten  Gullivers  in 
Liliput,  wo  ihn  ein  ganzes  Heer  von  Dienern  bewirtet;  oder 
an  die  Beschreibung  der  Zimmerkiste,  die  er  im  Riesenlande 
bewohnt. 

Zum  Teil  auch  handelt  es  sich  um  unbewohnte  Kontraste; 
so  wenn  zwei  lange  Yeomen  Gullivers  Uhr  an  einer  Stange 
forttragen,  wie  Eollfuhrleute  in  England  ein  Faß  Bier.  Oder 
wenn  Gulliver  die  Länge  der  Hauptstadt  mißt,  indem  er  die 
Karte  barfuß  abschreitet. 

Besonders  reizvoll  wirkt  die  Kleinmalerei,  wenn  in  dem 
Idyll  eine  feine  psychologische  Beobachtung  zum  Ausdruck 
kommt.  So  wissen  die  kleinen  Knirpse,  die  sich  mit  Gullivers 
Geld  abmühen,  nicht,  was  die  schwere  Scheibe  bedeutet. ') 
Ebensowenig  sind  sich  die  Riesen  darüber  klar,  sie  müssen 
den  Finger  anfeuchten,  um  überhaupt  das  Geldstück  auf  die 
Hand  zu  bringen.  2)  Oder  die  Szene,  als  man  Gullivers  Hut 
an  der  Küste  findet  und  es  für  ein  mißgestaltetes  Meeres- 
ungeheuer hält.  3)  Oder  endlich  die  Riesengelehrten,  die 
Gulliver  für  einen  „lusus  naturae"  halten  und  ihm  die  Rock- 

1)  VIII,  34.        -)  VIII,  91.         ■')  VIII,  41. 


19 

sclilippeii  mit  einem  Strohhalm  in  die  Höhe  klappen. ') 
Phantastischer  noch  wird  der  Humor  in  der  bekannten 
Episodfe,  als  die  Liliputaner  Armee  zwischen  den  Beinen 
Gullivers  in  Reih  und  Glied  durchzieht, 2)  oder  bei  Gullivers 
Lesemethode, 3)  oder  bei  seinem  Klaviervortrag'. 

Der  humoristischen  Stimmung  dienen  auch  unerwartete 
lächerliche  Zwischenfälle,  wie  Gullivers  Erwachen  durch 
Nießen,'»)  weil  ihn  ein  Offizier  mit  der  Pike  in  der  Nase  ge- 
kitzelt, und  witzige  Vergleiche,  wie  der  Augen  des  bebrillten 
Eiesen  mit  dem  Vollmond,  der  in  sein  Kämmerlein  durch 
zwei  Fenster  scheint.  •'>)  Um  einen  humoristischen  Kontrast 
handelt  es  sich  ferner  bei  der  hyperbolischen  Sprache, 
die  gelegentlich  Gulliver  führt,  und  die  in  B.  11  besonders 
komisch  wirkt.  Da  redet  er  die  Königin  mit  den  über- 
schwänglichsten  Phrasen  an :  „darling  of  the  world'',  „Phoenix 
of  the  Creation"  etc.,  und  er  will  lieber  tausendmal  sterben, 
als  mit  einem  unehrbaren  Körperteil  die  Haare  entweihen, 
die  einst  der  Königin  gehörten,  und  aus  denen  er  einen  Stuhl- 
sitz geflochten  hatte.*') 

Das  Eingehen  auf  das  Einzelne  spielt  auch  eine 
große  Rolle  bei  der  Charakterisierung  mancher  Personen, 
wobei  freilich  oft  etwas  Satire  einfließt.  So  kann  Swift  den 
Ärger  kaum  unterdrücken  in  der  sonst  äußerst  humoristischen 
und  komischen  Schilderung  von  einer  übertriebenen  Gast- 
f reundliclikeit. ")  Er  wird  wider  seinen  AVillen  an  den  Ofen 
in  den  Lehnsessel  gesetzt,  muß  viel  Grog  trinken,  das  ganze 
Haus  ist  in  Aufregung,  das  krebsrote  Gesicht  der  Wirtin 
läßt  die  Nähe  des  Abendessens  erraten;  er  wird  andauernd 
zum  Essen  genötigt.  Man  sieht  förmlich  die  einzelnen  Ge- 
stalten umherrennen. 


')  VIII,  90.  ^)  VIII,  42.  ^)  VIII,  140.  ')  VIII,  121). 

•■)  VIII,  98.  '■■)  VIII,  129.        ')  IX,  56. 

9+ 


20 

Die  übrigen  Eigenscliaften  des  wahren  Humoristen  werden 
wir  bei  ihm  vergeblich  suchen.  So  vor  allem  das  Wechseln 
von  Stimmungen,  von  Lustigkeit  und  Traurigkeit  und  um- 
gekehrt. Bei  Swift  ist  der  Grundton  gewöhnlich  ganz  durcli- 
gehalten,  mit  Ausnahme  der  Tale,  die  ungewöhnlich  lustig  ist, 
finden  wii   ihn  sonst  meistens  ernst. 

Swift  hat  auch,  abgesehen  von  dem  Riesenbaby,  be- 
zeichnenderweise gar  keine  Kindergestalten,  die  sonst  der 
Humorist  so  gerne  schildert.  Das  erklärt  sich  zum  Teil  aus 
seinem  verbitterten  Junggesellentum,  zum  Teil  aber  auch  aus 
seinem  Charakter  als  Satiriker;  denn  die  Satire  verweilt  un- 
gern bei  rein  naiven  Menschen,  sondern  beschäftigt  sich  lieber 
mit  ausgereiften  Charakteren. 

Abgesehen  von  den  oben  erwähnten  behaglich  liebevollen 
Schilderungen  liat  Swift  für  das  Naive,  Anmutige,  das  Innige 
wenig  Sinn.  Sein  Geist  ist  zu  skeptisch.  Es  ist  fast,  als 
schäme  er  sich  der  Liebe,  und  doch  gibt  es  in  seinen  vertrau- 
lichen Schriften,  in  seinem  Tagebuch,  in  seinen  Briefen  an 
Freunde,  Stellen  von  großer  Herzlichkeit;  aber  in  seinen  zur 
Veröffentlichung  bestimmten  Werken  vermeidet  er  das  An- 
teilnehmen an  dem  verlachten  Objekt.  Da  er  die 
Tendenz  hinter  einer  scheinbaren  Objektivität  zu  verbergen 
bestrebt  ist,  unterläßt  er  es,  seine  Person  einzumischen. 
Autobiographische  und  bewußt  humoristische  Cha- 
raktere finden  sich  daher  bei  ihm  gar  nicht. 

Swift  weist  also,  besonders  in  den  beiden  ersten  Büchern 
der  Travels,  unleugbar  humoristische  Züge  auf.  Es  muß 
jedoch  betont  werden,  daß  viele  Szenen,  die  an  und  für  sich 
durch  das  behagliche  Detail  uns  humoristisch  anmuten,  im 
großen  Gefüge  des  Romans  betrachtet,  satirischen  Zwecken 
dienen.  So  sind  Gullivers  Lesemethode  und  seine  Vor- 
bereitungen   zum    Klavierspiel    solche    humoristische    Klein- 


21 

maiereien,  aber  sie  dienen  doch,  namentlich  das  letzte  Beispiel, 
dazu,  zu  zeigen,  wie  kläglich  die  bei  uns  so  imposante  Natur 
des  Manschen  wirkt,  w^enn  man  sie  aus  den  gegebenen  Ver- 
hältnissen in  andere  versetzt. 

Aus  dem  Charakter  der  einzelnen  Lebensperioden  können 
wir  vermuten,  daß  diese  Kleinmalerei  früher  und  in  einer 
glücklicheren  Zeit  entstand  als  das  letzte  Buch,  in  dem  wilder 
Pessimismus  und  tief  vergrämte  Melancholie  den  Grundton 
abgeben. 

3.   Die  Bediugungeii  für  die  Wirkuug  seiner  Satire. 

Die  Wirkung  Swifts  als  eines  komischen  Dichters  ist  be- 
dingt durch  den  Ernst  des  Vortrags  und  die  Anschaulichkeit 
der  Schilderung. 

Der  Ernst    des   Vortrags.  \ 

Daß  Swift  diese  Eigenschaft  in  hohem  Maße  besessen, 
dafür  bürgt  schon  seine  anerkannte  Meisterschaft  in  der 
Handhabung  der  Ironie,  i) 

Er  selbst  hat  sich  darüber  folgendermaßen  geäußert 
(„Tatler"  66,  8.— 10.  Sept.  17092): 

,.Action  in  one  that  speaks  in  public  is  the  same  thing 
which  a  good  mien  is  in  ordinary  life.  Thus,  as  a  certain 
insensibility  in  the  countenance  recommends  a  sentence  of 
humour  and  jest,  so  it  must  be  a  very  lively  consciousness 
that  gives  grace  to  great  sentiments:  For  the  jest  is  to  be 
a  thing  unexpected;  therefore  your  undesigning  manner  is  a 
beauty  in  expressions  of  mirth  ..." 

Auch  seine  Freunde  heben  diese  Eigentümlichkeit  seines 
Vortrags  hervor;  so  sagt  Macaulay,  daß  Swift,  der,  wie  wir 
oben  erwähnt,  ein  glänzender  Gesellschafter  war.  die  sclniur- 

')  K.  V.  ■-)  IX ,  18. 


2-1 

rigsteii  Geschichten  mit  der  ernstesten  Miene  vorzutragen 
pflegte,  während  sich  die  anderen  vor  Lachen  krümmten. 

Durch  diesen  Ernst  will  er  vor  dem  Leser  und  Hörer 
den  Eindruck  der  Glaubhaftigkeit  und  Wahrheit  machen.  Er 
weist  im  Gulliver  des  öfteren  selbst  ausdrücklich  auf  die 
Wahrheit  seiner  Schilderungen  hin. 

„Thus,  gentle  reader,  I  have  given  thee  a  faithful 
history  of  my  travels  for  sixteen  years  and  above  seven 
months:  wherein  I  have  not  been  so  studious  of  ornament 
as  truth.^^^) 

Und  in  der  Einleitung  läßt  er  den  Publisher  sagen : 
„There  is  an  air  of  truth  apparent  through  the  whole:  and 
indeed  the  author  was  so  distinguished  for  bis  veracity,  that 
it  became  a  sort  of  proverb  among  his  neighbours  at  Eedriff, 
when  anyone  affirmed  a  thing,  to  say  it  was  so  true  as  if 
Mr.  Gulliver  liad  spoke  it."  2) 

/    Die  Anschaulichkeit  der  Schilderung. 

Ebensosehr  wie  durch  den  Ernst  des  Vortrags  wirkt 
Swift  durch  die  Anschaulichkeit  der  Schilderung.  Zu  diesem 
Stil  war  Swift  als  komischer  Dichter  wie  als  Pamphletist 
durch  die  Rücksicht  auf  das  Publikum  gezwungen.  Der  Stil 
der  Anschaulichkeit  wurde  begünstigt  durch  die  AVeit - 
anschauung  des  Empirismus.  Seine  eigentliche  innerste  Be- 
gründung aber  findet  er  in  der  Geistesanlage  Swifts. 

Swifts  Denken  ist  induktiv.  Es  ist  aber  dem  in- 
duktiven Denken  eigen,  daß  es  das  Allgemeine,  das  Abstrakte, 
meidet  und  nach  dem  Besonderen,  iiach  dem  Anschaulichen 
greift. 

Das  Publikum  des  komischen  Dichters  will  sich  am 
fertigen   Bilde,   an   der  leichtfaßlichen  Einzelheit   freuen;   es 

')  VIII,  302.         2)  VIII,  3. 


23 

will  sich  durch  die  lokalen  Anspielung'en  ang'eheimelt  fühlen. 
Der  komische  Dichter  kann  daher  nicht  farbig  genug  schildern ; 
im  Gegensatz  zum  ethischen  Dichter,  der  das  allgemein 
Wertvolle  heraushebt,  nicht  genug  individualisieren,  speziali- 
sieren und  lokalisieren.!) 

So  ist  er,  um  mit  etwas  ganz  Äußerlichem  zu  beginnen, 
sehr  genau  in  seinen  Zahlenangaben.  AVir  erfahren  genau, 
daß  er  „738  flowers  and  shining  hints"  gesammelt  hat,  ohne 
sie  verwerten  zu  können,  und  daß  eine  Akademie  errichtet 
werden  soll,  die  9743  Leute  faßt.'-^) 

Viel  stärker  als  die  Zahlenangaben  tritt  die  Anschaulich- 
keit in  den  Namen  von  Straßen,  Gebäuden  und  besonders 
von  Kaffee-  und  Schokoladehäusern  hervor. 

Schon  J.  Paul'*)  hat  darauf  hingewiesen,  wieviel  glücklicher 
in  dieser  Beziehung  der  Engländer  sei  als  der  Deutsche. 
Gerade  dieses  Moment  trägt  dazu  bei,  die  Stimmung  an- 
heimelnd zu  machen  und  damit  die  Zuhörer  zu  gewinnen. 
Denn  die  meisten  dieser  Namen  stammen  aus  London  und 
tragen  wegen  den  damit  verbundenen  Nebenvorstellungen 
ein  durchaus  charakteristisches  Gepräge. 

So  verbindet  er  mit  dem  Namen  von  White  Chocolate  House 
die  Vorstellung  von  „galantrie.  pleasure  and  entertainement", 
WiWs  Coffee-house  ist  ihm  das  typische  Poeten-Cafe,  dagegen 
die  beste  Quelle  für  lokale  und  auswärtige  Neuigkeiten  ist 
ihm  St.  James  Coffee-house.  Swift  erzählt  uns,  daß  er  auf 
der  Suche  nach  einem  passenden  Titel  für  „Mechanical  Operation 
of  the  spirit"  Westminster  Hall,  8t.  Paul's  churchyard  und 
die  ganze  Fleet-street  durchrannt  hat») 

In  seiner  prekären  Lage  gegenüber  den  Kritikern  ver- 
gleicht er  sich  mit  einem  Manne,  der  an  einem  Regentage 
in   Edinburgh -Street  spazieren   geht  und  von   den  Fenstern 

')  J.  Paul  §  35.  -)  I  44,  40.  •')  Vorschule  §  35.  ")  I,  191. 


24 

aus  beobacliet  wird.i)  Er  zählt  uns  all  die  Plätze  auf.  wo 
er  Freunde  hat,  in  Will's  Coft'ee-house,  (xresham  College, 
Warwick  Lane  Moorfields,  Scotland  Yard,  Westminster  Hall, 
Guildhall  etc.  2) 

„It  is  but  to  venture  your  lungs,  and  you  may  preacli 
in  Conrent-lrarden  ag'ainst  foppery  and  fornication,  and  sonie- 
thing'  eise:  against  pride  and  dissimulation,  and  bribery  at 
White  Hau :  you  may  expose  rapine  and  injustice  in  the  inns 
of  Court  Cha/pel :  and  in  a  city  pulpit,  be  as  fierce  as  you 
please  against  avarice,  hypocrisy.  and  extortion."  ^y 

Dieses  Spezialisieren  zeigt  sich  auch  in  dem  Erwähnen 
einzelner  Körperteile. 

Jack  sagt  nicht :  das  Schicksal  warnte  mich  nicht,  sondern 
„did  not  think  it  convenient,    to  twitch  me  by  the  elbow. "'') 

Martin  will  die  ihm  von  Peter  als  Fleisch  vorgesetzte 
Speise  nicht  als  „mutton"  anerkennen  und  räsonniert: 

„By  G — ,  my  lord,  said  he,  I  can  only  say,  that  to  my 
eyes,  and  fingers,  and  teeth,  and  nose,  it  seems  to  be  nothing 
but  a  crust  of  bread.''-^) 

Er  sagt  nicht,  man  solle  dem  vergeßlichen  Minister  sein 
Anliegen  „eindringlich  vorstellen",  sondern  er  gibt  genau  an, 
wie  man  ihm  die  Vergeßlichkeit  austreiben  könne: 

.....  a  tweak  by  the  nose  or  a  kick  in  the  belly:  or 
tread  on  his  corns.  or  tuck  him  three  by  both  ears,  or  run 
a  pin  into  his  breech,  or  pincli  his  arm  black  and  blue,  to 
prevent  forgetfulness."^) 

Die  humoristische  Sinnlichkeit  äußert  sich  auch  in  der 
Häufung  konkreter  Beispiele. 

So  zählt  er  eine  ganze  Reihe  von  Unannehmlichkeiten 
auf,    denen    die  drei  Brüder   ausgesetzt   sind,   weil   sie  keine 

»)  1,70.  '')  I,  125.  ■')  1,46. 

")  I,  133.        •■')  I,  86.  <■•)  VIII,  196. 


25 

„Shoulder  knots"  haben.  ,Jf  they  weiit  to  the  play  liouse, 
the  door-keeper  shewed  them  into  tlie  twelve-penny  gallery. 
If  the^'  called  a  boat,  says  a  waterman,  I  am  first  sculler. 
If  they  stepped  to  the  Rose  to  take  a  bottle  the  drawer 
would  cry,  Friend,  we  seil  no  ale.  If  they  went  to  visit  a 
lady  a  tootmen  met  them  at  the  door.  with.  Pray  send  up 
your  message."  i) 

Auch  in  der  Paraphrase  zeigt  sich  das  Streben  nach 
Anschaulichkeit.  Der  A\irgang  der  modernen  „courtship" 
wird  umschrieben  als  „devout  turn  of  eyes,  called  ogling;  an 
artifical  form  of  canting  and  whining  by  vote,  every  inter- 
val,  for  want  of  other  matter,  made  up  witli  a  shrug  or  a 
lium,  a  sigh  or  a  groan;  the  style  compact  of  insignificant 
words,  incoherences,  and  repetition."-) 

Eine  Art  Umsclireibung  ist  auch  die  Fülle  der  volks- 
tümlichen Spitznamen,  mit  denen  die  Straßenjungen  Jack 
beglückten:  „Jack  the  bald.  Jack  with  alantern;  Dutch  Jack, 
French  Hugh,  Tom  the  beggar,  Knocking  Jack  of  the  north."' ^) 

Metaphern,  Gleichnisse,  Symbole  tragen  gleichfalls 
dazu  bei,  dem  Stil  Farbe  und  Lebendigkeit  zu  verleihen  und 
die  Wirkung  der  Komik  zu  sichern.'') 

Selten  sind  bei  Swift  Kunstausdrücke,  „slang",  häutiger 
dagegen  Flüche,  für  die  er  sich  trotz  seines  geistlichen 
Standes  sehr  interessiert  zu  haben  scheint,  wie  eine  von 
W.  Scott  berichtete  Sammlung  aus  Chaucer  beweist. 


4.   Der  Pessimismus. 

Er  hat  Swift  in  seiner  satirischen  .\nlage  bestärkt,  und, 
in  der  letzten  Hälfte  seines  Lebens,  ilir  das  Hauptgepräge 
gegeben. 


0  I,  64.  -)  I,  209.  ')  I,  161.  ')  cf.  K.  III  u.  VI. 


26 

Von  allen  Biographen  Swifts  wird  darauf  hingewiesen, 
daß  die  Gründe  zu  seinem  Pessimismus  und  zu  seinem  späteren 
Wahnsinn  in  seiner  Körperkonstitution  zu  suchen  sind.  Auf 
Grund  von  autobiographischen  Notizen  und  Untersuchungen, 
die  im  Jalire  1835  an  Swifts  Schädel  vorgenommen  wurden, 
ist  Dr.  Wilde,  ein  englischer  Arzt,  zu  der  Ansicht  gekommen, 
daß  Swift  nicht  an  einem  erblichen  Nervenübel,  sondern  an  einer 
von  Zeit  zu  Zeit  wiederkehrenden  „cerebral  congestion"  litt.i) 

Dieses  Leiden,  das  bei  Swifts  reizbarem  Nervensystem 
mit  den  Jahren  immer  heftiger  auftrat,  hat  die  pathologische, 
fast  ans  Perverse  grenzende  Neigung  zum  Obszönen  aus- 
gelöst, die  einen  wesentlichen  Charakterzug  seiner  Komik 
bildet,  und  die  ihm  sogar  von  seinen  sicherlich  nicht  allzu 
prüden  Zeitgenossen  vorgehalten  wurde. 

Auf  diese  Neigung  zum  Obzönen  hat  man  auch  seine 
Neigung  für  Rabelais  zurückführen  wollen.  Mag  sein.  Eine 
Freude  am  Derben,  scharf  Komischen,  wenigstens  muß  man 
zugeben.  Seine  Hochschätzung  von  Gays  Beggars'  Opera 
spricht  ja  schon  dafür.  Aber  das  Derbe,  für  modernes  Emp- 
finden Obszöne  bei  Rabelais  ist  doch  wesentlich  anderer 
Natur  als  bei  Swift.  Bei  Rabelais  ist  es  eine  gigantische, 
mit  übersprudelnder  Lebensfreude  gemischte  Sinnlichkeit,  die 
sich  größtenteils  um  die  niedere  Liebe  dreht.  Bei  Swift 
nichts  von  dem.  Auch  keine  frivole  Lüsternheit,  wie  man 
sie  nach  der  raffinierten,  eleganten  damaligen  Sittenlosigkeit 
hätte  vermuten  können,  denn  dafür  dachte  er  in  moralischer 
Hinsicht  viel  zu  sittenstreng.  Sondern  ein  grämliches,  an- 
widerndes und  angewidertes  Wühlen  in  Verwesung  über- 
gegangenen Unrat  und  in  Exkrementen.  Man  denke  an  die 
eingehende  Beschreibung  des  Brechmittels,  das  sich  die 
Yahoos  brauen. 


1)  Hettner  S.  321. 


27 

„Their  next  business  is,  from  lierb??.  minerals,  gums,  oils, 
Shells,  salts,  Juices,  seaweed,  excrements,  barks  of  trees, 
serpents,  toads,  frogs,  spiders,  dead  men's  flesli  and  bones, 
birds,  beasts,  and  fislies,  to  form  a  composition  for  smell  and 
taste  tlie  most  abominable,  nauseous  and  detestable  they  can 
possibly  contrive,  whicli  the  stomach  immediately  rejects  witli 
loatliing;  and  tliis  they  call  a  vomit." ') 

Die  Keime  zu  Swifts  pessimistischer  Weltanschauung 
liegen  also  schon  in  der  unbestreitbar  physischen  Vorstimmung. 
Einen  überaus  günstigen  Boden  fanden  sie  in  dem  Lebens- 
geschick Swifts,  in  dem  Scheitern  seiner  ehrgeizigen  Pläne 
auf  Ernennung  zum  Biscliof  und  damit  zum  House  of  Lords. 
Ganz  besondere  Förderung  aber  erfuhren  sie  durch  die  ihm 
eigentümliche  Denkweise.  Denn  so  sehr  auch  das  em-^ 
piristische,  induktive  Denken  seinem  Realismus  zustatten 
kommt,  so  gefährlich  kann  es  werden,  wenn  dieses  Denken 
zu  positiv,  wenn  es  analytisch  oder  gar  destruktiv  wird. 
Diese  Betrachtungsweise  führt  leicht  zum  Pessimismus,  und 
der  Pessimismus  seinerseits,  mag  er  nun  auf  körperliche  Ver- 
stimmung zurückgehen  oder  aus  der  xA.rt  des  Denkens  oder 
aus  beiden  resultieren  —  dieser  Pessimismus  schärft  seiner- 
seits wieder  das  kritische  Achten  auf  die  Einzelheit.  Eine 
Betrachtungsweise  aber,  die  jedes  Ding,  das  Schöne,  noch 
viel  lieber  das  Häßliche,  in  seine  Bestandteile  zerlegt,  daß 
ihm  ein  schöner  Frauenkopf  nichts  weiter  ist  als  ein  durch- 
löchertes Stück  Fleisch,  die  bei  allen  uns  imponierenden 
Personen  und  Ereignissen  nach  den  innersten  Gründen  forscht, 
eine  solche  Betrachtungsweise  kann  unmöglich  zu  erbaulichen 
Resultaten  führen. 

„How  low   an  opinion    1    had  of  human  wisdom  and  in- 
tegrity,  when  T  was  truly  informed  of  tlie  Springs  and  motives 

oVlII,265. 


28 

of  great  enterprizes  and  revolutions  in  the  world.  and  of  the 
contemptible  accidents  to  which  they  owed  their  success." ') 
Dann  freilich  verschwindet  seine  Hochachtung  vor  hoch- 
gestellten Personen,  wenn  er  erkennt,  daß  die  vornehme  Ge- 
sellschaft hauptsächlich  durch  Betrug.  Bedrückung,  Inzest, 
Prostitution  von  Weib  und  Tochter,  Verrat  und  Gift  in  Besitz 
ihrer  hohen  Ehrenstellen  gelangt  ist;-)  wenn  er  an  den 
Geistererscheinungen  in  Glubdubdrib  die  Linien  der  Fürsten- 
häuser öfters  unterbrochen  sieht  durch  Musiker,  Prälaten, 
Kardinäle,  Äbte,  Barbiere,  Höflinge,  Pagen,  Lakaien,  Kutscher; 
dann  wundert  er  sich  nicht  mehr  über  die  Degeneration, 
über  das  Aufkommen  der  „falsehood,  cruelty,  cowardice. "  3) 

,.How  the  pox  under  all  its  consequences  and  denomin- 
ations  had  altered  everv  lineament  of  an  English  countenance, 
shortened  the  size  of  bodies,  unbraced  the  nerves,  relaxed 
the  sinews  and  muscles,  introduced  a  sallow  complexion,  and 
rendered  the  flesh  loose  and  rancid.''-^ 

LTnd  Swift  hat  diese  analytisch  destruktive  Betrachtungs- 
weise mit  umso  größerer  Leidenschaft  geübt,  als  durch  sie 
seine  Theorie  von  der  Nichtswürdigkeit  des  menschlichen 
Geschlechts  immer  von  neuem  bestätigt  wurde  (Brief  an  Pope, 
29.  September  1725). 

Sein  Pessimismus  im  Gulliver  steigert  sich.  Ein 
Buch  „On  the  weakness  of  human  kind",  das  er  in  Brobding- 
nag  gelesen,  hatte  ihn  ahnen  lassen,  wie  verächtlich  und 
hilflos  im  Vergleich  zu  früher  der  Mensch  gegenüber  Witterungs- 
unbilden und  wilden  Tieren  ist. 

Diese  Degeneration  der  menschlichen  Rasse,  die  er  in 
Brobdingnag  nur  geahnt,  wird  ihm  durch  die  Geister- 
erscheinungen in  Glubdubdrib  zur  traurigen  Gewißheit;  eine 
Degeneration   nicht    nur   in   physischer,    sondern    auch,    was 

')  VIII,  209.  •')  VIII,  210.        ^)  VIII,  208. 


29 

noch  schlimmer,  in  moralischer  Beziehung.  Die  seinem  .lahr- 
hundert  so  erhaben  clünkende  Geschichte  Englands  erscheint 
dem  iliesen- König  nur,  „a  heap  of  conspiracies,  rebellions, 
murders,  massacres,  revolutions,  banishments.  The  very  worst 
effects  that  avarice,  faction,  hypocrisy,  perfidiousness,  cruelty, 
madness,  hatred,  envy,  lust,  malice,  or  ambition  could  produce." 

Dieses  Swift  eigentümliche  Achten  nur  auf  die  Schatten- 
seiten des  Lebens  und  dieses  eindringende  Erkennen  der 
Schäden  löst  in  ihm  jene  tief  pessimistische  Stimmung  aus, 
die  um  so  melancholischer  wird,  je  mehr  er  erkennt,  daß  die 
menschlichen  Laster  schon  mit  dem  Listinkt  verbunden  im 
Menschen  liegen. 

Das  Gefühl  der  Niclitswürdigkeit  des  Menschengeschlechts, 
zugleich  die  Vorahnung  seines  geistigen  Zerfalls  haben  ihren 
tiefsten  Ausdruck  gefunden  in  der  berühmten  Episode  von 
den  Struldbrug,  jenen  tiefunglücklichen  Geschöpfen,  die  bis 
zum  dreißigsten  Jahre  sich  durch  nichts  von  gewöhnlichen 
Sterblichen  unterscheiden,  von  da  an  aber  immer  melancho- 
lischer und  verrückter  werden,  ihr  Gedächtnis  und  ihre 
jugendfrische  Gestalt  verlieren,  dabei  aber  alle  Laster  nur  in 
sich  steigerndem  Maße  beibehalten,  ohne  jemals  Aussicht  auf 
Erlösung  von  ihren  Leiden  durch  den  Tod  zu  haben. 

In  diesem  melancholischen  Selbstbekenntnis  fließt  der 
physiologische  und  theoretische  Pessimismus  zusammen. 

Aber  Swift  war  kein  konsequenter  Pessimist.  Trotz 
dieser  fast  durchweg  negativen  Satire  und  trotz  der  zynischen 
Form  seiner  Misanthropie  lassen  sich  Stellen  finden,  die  den 
Versuch  einer  Versöhnung  mit  dem  Menschengeschlecht  ahnen 
lassen,  und  die  beweisen,  daß  unter  der  rohen  Form  doch 
ein  großes  sympathisches  Herz  schlug.  („Misanthropy  thongh 
not  in  Timon's  manner."    Brief  an  Pope,  29.  Sept.  1725.) 

Swift  dachte,  und  das  charakterisiert  seine  Satire,  un- 
geheuer hoch   und   ideal,   und   gerade  weil   die  ^\'elt  sich  so 


30 

sehr  von  seinen  Idealen  entfernte,  denen  er  sie  nalie  bringen 
wollte,  deshalb  hat  seine  Satire  einen  so  schrillen  Klang. 

Nein,  Swift  war  in  seinem  Pessimismus  nicht  konsequent. 

Der  konsequente  Pessimist  theoretisiert  ohne  Mitgefühl 
und  spricht  ohne  Bedauern  von  der  rettungslosen  Verderbt- 
heit der  Menschen.    Das  tut  Swift  nicht. 

So  zart  die  Ansätze  zur  Versöhnung  sind,  sie  sind  doch 
vorhanden.  Zwar  ist  für  ihn  der  Mensch  kein  „animal  ratio- 
tionale",  aber  er  ist  auch  nicht  irrational,  sondern  „rationis 
capax".  Und  wenn  er  auch  am  Anfang  bei  seiner  Erzählung 
ganz  objektiv  bleibt,  so  bricht  gerade,  je  verbitterter  die 
Satire  wird,  mitunter  sein  Mitgefühl  durch,  daß  er  die  Ver- 
derbnis der  Menschheit  nicht  sehen  kann  „without  some 
amazement  and  much  sorrow."i)  Diese  Ansätze  zur  Ver- 
söhnung sind  zwar  selten  und  ihr  Vergleich  zu  dem  wilden 
Affekt  der  Satire  zart  und  schüchtern;  aber  sie  sind  doch 
vorhanden.  Auch  seine  Utopien  beweisen  die  Inkonsequenz. 
Gewiß,  sie  sind  bizarr;  das  entspringt  eben  der  exzentrischen 
Natur  Swifts;  aber  man  kann  ihnen  nicht  hohen  Idealismus 
und  Wohlwollen  für  die  Menschen  abstreiten.  Etwas  wunder- 
lich gibt  sich  die  Utopie  in  jenem  pädagogischen  Exkurs  über 
die  Erziehung  der  Kinder  in  Liliput,  wo  man  so  recht  den 
mürrischen  Junggesellen  herausmerkt.  Sehr  phantastisch  ist 
auch  noch  die  Utopie  des  IV.  Buches  im  Lande  der  Houjm- 
hehems,  wo  Freundschaft  und  Wohlwollen  die  Haupttugenden 
sind,  auf  denen  die  Ehe  und  Erziehung  sich  aufbauen. 
Praktischer  und  realer  sind  schon  die  Utopien  des  IL  Buches 
in  dem  Riesenlande,  dessen  „maxims  in  moralitj^  and  govern- 
ment"  Swift  seinem  eigenen  Vaterland  wünscht.  Am  deut- 
lichsten aber  scheint  er  mir  dieses  versöhnende  Wohlwollen 
der  Menschheit   gegenüber   ausgesprochen   zu   haben   in   der 

»)  VIII,  275. 


31 

Einleitung"  zu  der  melancholischen  Struldbrugepisode,  wo  er 
aus  Unkenntnis  über  die  Avalire  Natur  der  Struldbrugs  deren 
Unsterblichkeit  als  das  größte  Glück  preist,  das  jemand 
widerfahren  könne  und  den  erstaunten  Luggnaggiern  aus- 
einandersetzt, was  er  in  jener  glücklichen  Lage  tun  würde. 
Er  würde  zunächst  große  Schätze  aufhäufen,  auf  Grund  einer 
sorgfältigen  Beobachtung  ein  reiches  Wissen  sammeln,  nach 
der  besten  Erfahrung  eine  große  lleform  der  Staaten  vor- 
nehmen, allen  moralisclien  Schäden  mit  frühzeitigen  Lehren 
entgegentreten,  Mildtätigkeit  und  Freundschaft  pflegen,  hoff- 
nungsvolle Talente  unterstützen  und  alle  Erfindungen  und 
Entdeckungen  in  den  Dienst  der  Weisheit  und  Güte  stellen. 
Mit  diesen  Utopien  nähert  sich  seine  Satire  wiederum 
der  Anteilnahme  des  Humoristen. 


III.  Die  Passive  Komik. 


Am  ästhetischsten  wirkt  die  Satire,  wenn  sie  sich  damit 
begnügt,  ihre  pessimistische  Anschauung  in  die  Geschehnisse 
und  Charaktere  hinein  zu  projizieren,  durch  sie  allein  zum 
Ausdruck  zu  bringen.  Je  weniger  hierbei  moralische  Er- 
örterungen angeschlossen  werden,  um  so  heiterer  wirkt  das 
Spiel,  um  so  eher  kann  in  dem  Schriftsteller  der  Künstler 
hervortreten.  Die  Satire  wirkt  dann  nicht  in  zynischer 
Direktheit,  sondern  wie  der  Humor,  allein  durch  die  Formen 
der  Komik  und  des  Witzes. 

1.  Die  Auscliauuugskomik. 

Sie  baut  sich  auf  den  Charakter  der  ,,Travels''  als 
.Märchenbuch    und   Reisebeschreibunff    auf   und   hat   mit   am 


32 

meisten  dazu  beigetrag-en .  dem  Buche  bei  der  Kinderwelt 
einen  bleibenden  Erfolg-  zu  sichern.  Das  Kind,  das  auf  eine 
geringe  Lebenserfahrung  zurückschauen  kann,  ist  in  dem  was 
es  komisch  findet,  Avesentlich  bescheidener  als  gereifte  -Leute. 
Es  haftet  weit  mehr  an  seiner  Sphäre,  an  seiner  Gewohnheit. 
Was  ihm  neu,  ungewohnt  entgegentritt  und  es  seltsam 
anmutet,  löst  bereits  bei  ihm  ein  Lachen  aus,  wo  wir  es  nur 
zur  Verwunderung  oder  zum  Interesse  bringen.  Das  ist  die 
Komik,  die  —  zum  großen  Teil  durchaus  harmloser  (im 
engeren  Sinne  humoristischer),  phantastischer  Natur  —  sich 
durch  das  ganze  Werk  durchzieht,  Und  die  die  Basis  für  die 
übrigen  Faktoren  der  Komik  abgibt. 

Das  Liliputaner -Völkchen  mit  seiner  emsigen  Greschäftig- 
keit,  die  ungeschlachten  Leiber  und  Manieren  der  Riesen, 
die  Laputaner  in  ihrer  grotesken  Kleidung  —  endlich  sogar 
der  Affe  oder  die  Pferde  mit  den  Menschenmanieren,  all  das 
ist  uns  durchaus  neu,  ungewohnt,  seltsam  und  deshalb  komisch. 

Das  Ungew^ohnte  der  Erscheinung  wird  noch  gesteigert, 
w^enn  wir  Gulliver,  also  einen  unserer  Mitmenschen,  in  dieser 
fremden  Umwelt,  unter  diesen  Märchen  Völkern  beobachten. 

Hier  tritt  zum  Ungewohnten  als  steigerndes  Moment  die 
Komik  des  Kontrastes. 

Riesengroß  erscheint  Gulliver  dem  Zwergvölkchen,  winzig 
klein  dagegen  den  Riesen  in  Brobdingnag.  Der  Kontrast 
wirkt  um  so  komischer,  je  näher  die  Situation  die  verschieden 
großen  Gestalten  in  Berührung  bringt. 

Man  denke  an  die  Ehrerbietung,  die  Gulliver  in  Liliput 
und  andererseits  in  Brobdingnag  der  Kaiserlichen  und  König- 
lichen Familie  entgegen  bringt;  an  die  Szene,  als  er  zum 
Zeichen  der  Unterwürfigkeit  vor  dem  Liliputanerkaiser  kniet, ') 
oder   wie  Gulliver   der  Königin   von  Brobdingnag   den    Fuß 

1)  VIII,  45. 


33 

küssen  will;  sie  aber  läßt  ihn  auf  den  Tisch  stellen  niid 
reicht  ihm  huldvoll  den  kleinen  Finger,  „wliich  I  enibraced 
in  botli  arms". ') 

Sehr  klar  zeigt  sich  die  Anschanungskomik  der  Gestalt 
in  der  Szene,  in  der  die  Königin  und  Gulliver  sich  zusammen 
im  Spiegel  betrachten;  denn  hier  betont  Gulliver  selbst,  wie 
außerordentlich  komisch  der  Kontrast  auf  ihn  und  die  Königin 
gewirkt  habe.  Sein  harmloses,  herzliches  Lachen  steckt  auch 
die  Leser  an. 

So  ließen  sich  besonders  im  I.  und  IL  Buche  noch  eine 
ganze  Reihe  von  Szenen  finden,  wo  die  Anschauungskomik 
der  Gestalt  sich  mit  der  Komik  des  Kontrastes  verbindet: 
meistens  Szenen,  in  denen  sich  eine  liebevolle  schalkhafte 
Kleinmalerei  bemerkbar  macht.  So  der  imposante  Parade- 
marsch der  Liliputaner  Armee  zwischen  den  Beinen  Gullivers 
durch; 2)  die  Übungen  der  Liliputaner  Kavallerie  auf  Gullivers 
hochgespanntem  Schnupftuch;'^)  das  Heer  von  Bedienten,  be- 
sonders auch  von  Schneidern,  die  sich  um  Gullivers  leibliche 
Versorgung  verdient  machen; 4)  die  köstliche  Szene,  wie  die 
Kinder,  als  Gulliver  schläft,  in  seinem  Haar  Versteck  spielen;^) 
die  Lesemethode  vor  dem  Eiesenbuch  und  andere  mehr. 

Wie  die  Menschen,  so  berührt  uns  auch  die  ganze  Um- 
welt, in  der  Gulliver  sich  bewegt,  komisch.  Denn  sie  ist 
uns  ungewohnt  und  seltsam.  Wir  lachen  über  die  winzig 
kleinen  Häuser  und  Tiere  in  Liliput,  über  die  riesengroßen 
in  Brobdingnag,  die  so  seltsam  mit  der  Gestalt  Gullivers 
kontrastieren.  Wir  lachen  insbesondere  auch  über  sein  Kisten- 
zimmer, über  die  kleinen  Möbel,  den  Stuhl,  dessen  Sitz  aus 
den  Haaren  der  Königin  geflochten  ist,  über  den  in  einen 
Daumennagel  gefaßten  Kamm  aus  königlichen  Bartstummeln, 
über  seine  Hosen  aus  Mausfell,  und  was  dergleichen  Raritäten 


1)  VIII,  103.  0  VIII,  42.  3)  VIII,  40. 

*)  VIII,  64  ff.         *)  VIII,  39. 

Becker,  Die  Satire  Jonathan  Swifts. 


34 

mehr  sind,  mit  denen  er  in  England  so  viel  Aufsehen  erregt 
haben  will. 

Auf  den  Eindruck  des  Ungewohnten,  Seltsamen  geht 
auch  das  komische  Empfinden  zurück,  das  uns  Tiere  ver- 
ursachen können,  wenn  wir  an  ilmen  Eigenschaften  entdecken, 
die  sie  dem  Menschen  ähnlich  machen.  Der  Affe,  der  in 
Brobdingnag  Gulliver  aufs  Dach  entführt  und  mit  aller  Ge- 
walt ihm  eine  zärtliche  Mutter  sein  will,  erinnert  uns  an 
ähnliche  Vorkommnisse  aus  dem  Menschenleben  und  wirkt 
um  so  komischer,  je  weniger  wir  diese  menschliche  Eigen- 
schaft bei  dem  Tiere  erwarten. 

Weniger  wirksam,  weil  weniger  glaubhaft,  ist  dagegen 
die  Komik  des  vierten  Buches,  wo  die  Pferde  in  der  Manier 
der  alten  Fabeln  menschliche  Arbeiten  verrichten.  Sie 
melken  Kühe,  verfertigen  Instrumente,  nähen,  halten  Rat  ab 
und  dergleichen  mehr. 

Hier  fühlen  wir  zu  sehr,  wie  diese  Tugenden  und 
Fähigkeiten  den  Tieren  nicht  von  Natur  aus  zukommen  und 
so  als  menschenähnlich  durch  die  Komik  hervorgehoben  werden 
können,  sondern  wir  fühlen,  daß  der  iVutor  in  seiner  Misan- 
thropie  ihnen  diese  Idealtugenden  erst  künstlich  beigelegt  hat. 
Dadurch  gewinnt  das  ganze  etwas  Dogmatisches,  moralisch 
Tendenziöses,  während  gerade  die  Anschauungskomik  in  ihrem 
harmlosen  Genuß  die  Betonung  des  Lehrhaften  als  störend 
vermeidet. 

Das  letzte  Beispiel  ist  keine  reine  Anschauungskomik 
mehr;  es  spielt  schon  in  die  Charakterkomik  hinein.  So  sehen 
wir  bereits  bei  dieser  primitiven  Komik,  daß  die  Faktoren 
selten  allein  auftreten.  Die  Komik  der  Gestalt  verbindet 
sich  oft  mit  der  des  Charakters,  und  diese  wieder  mit  der 
der  Situation. 


S6 


2.  Die  Komik  der  Spruche. 

Sie  bedient  sich  wie  die  Anschauungskoinik  des  Faktors 
des  Neuen,  Ungewohnten,  Seltsamen.  In  „Gulliver's 
Travels"  zehrt  diese  primitive  Komik  von  der  Phantastik  des 
Märchenbuchs  und  Reiseromans.  Das  dankbarste  Publikum  für 
diese  Komik  werden  wiederum  Kinder  sein.  Ein  neues  Wort, 
eine  ungewohnte  Klangfarbe  und  Tonluihe  ruft  bei  ihnen 
schon  Heiterkeit  hervor,  besonders,  wenn  die  Sprache,  wie 
im  vierten  Buch,  lautmalend  das  Wiehern  der-  Pferde  wieder- 
gibt (Houynhnhnms,  snuwnh),  oder  gar,  wenn  Gulliver  durch 
seinen  langen  Aufenthalt  unter  den  Pferden  deren  A\'ieliern 
in  seinen  Tonfall  aufgenommen  hat. 

In  den  meisten  Fällen  steht  auch  hier  die  Sprechkomik 
nicht  allein,  sondern  dient  der  Charakterisierung.  Man 
denke  an  die  wunderliche  Zeichen-  und  Gerätesprache,  die 
die  Akademiker  von  Lagado  zur  Abkürzung  und  Wortersparnis 
eingeführt  haben. 

Hier  tritt  zu  dem  Neuen  und  Seltsamen  noch  der  komische 
Faktor  des  Unverständlichen  und  Zweckwidrigen  hinzu. 
Beispiele  liefert  die  von  Swift  stark  kritisierte  Juristen-  und 
Höflingssprache')  oder  in  der  „Tale  of  a  Tub"  die  Sprache  Jacks, 
der  sich  nur  in  biblischen  Sätzen  und  Zitaten  bewegt,  von 
den  Leuten  aber  nicht  verstanden  Avird  und  daher  in  eine 
peinliche  Situation  gerät.  2) 

3.    Die  Situationskomik. 

Auch  sie  stellt  noch  eine  ziemlich  harmlose  Komik  dar, 
aber  unter  ihr  leuchtet  sc\ion  deutlich  die  satirische  Tendenz 
des  Buches  hervor.  Denh  „Gulliver's  Travels"  sind  mit  der 
Absicht  geschrieben,  zu  zeigen:  der  Nimbus,  der  den  Menschen 


')  III.  Buch  VIII.  0  1 ,  132. 

3* 


36     , 

und  seiner  Hände  Werk  umgibt,  ist  nur  ein  relativer;  er 
verschwindet,  sowie  der  Menscli  aus  den  gegebenen  Verhält- 
nissen in  andere  versetzt  wird. 

Im  I.  Buch,  in  .Liliput,  hält  Swift  mit  dieser  Herab- 
setzung des  Menschengeschlechts  noch  ziemlich  zurück.  Fast 
als  wollte  er  uns  noch  bestärken  in  unserem  Wahn  von  der 
Würde  und  Bedeutung  des  Menschen,  zeigt  er  uns  Gulliver 
unter  Menschen,  die  ihm  physisch  bedeutend  unterlegen  sind. 
Infolgedessen  sind  es  auch  die  Liliputaner,  die  durch  Gulliver 
in  allerlei  peinliche  Situationen  geraten.  Aber,  und  darin 
zeigt  sich  der  harmlose  mehr  humoristische  Charakter  des 
I.  Buches:  die  Situationen  sind  durchaus  ungefährlich  und 
wirken  deshalb  rein  ei'heiternd. 

Einen  maßgebenden  Faktor  bei  der  Situationskomik  wie  bei 
aller  Komik  bildet  der  Kontrast.  Eine  Ursache,  die  nach 
unserer  Ansicht  verhältnismäßig  klein  ist,  ruft  bei  dem 
Völkchen  eine  überraschend  große  Wirkung  hervor.  Allein 
die  Stimme,  das  Niesen  Gullivers  flößen  ihm  einen  unheim- 
lichen Schrecken  ein,  gar  nicht  zu  reden  von  der  Wirkung» 
des  Pistolenschusses.  Oder  gar  die  gewaltigen  Leitungen,  die 
er  auf  Grund  seiner  Körperstärke  vollbringen  kann.  Die 
ganze  feindliche  Flotte  vermag  er  wie  ein  Spielzeug  hinter 
sich  her  zu  ziehen ;  und  als  der  Palast  in  Flammen  steht  und 
alle  Löschversuche  vergebens  sind,  ist  Gulliver  der  Mann, 
der  kraft  seiner  pliysischen  Überlegenheit  das  herrliche  Ge- 
])äude  vor  der  drohenden  Vernichtung  rettet.  -^ 

Hier  im  I.  Buch  verkörpert  die  Situationskomik  noch  die 
schalkhafte  Beschaulichkeit  des  Humors.  Dagegen  im  II.  Buch 
steht  sie  im  Dienst  der  satirischen  Tendenz.  Sie  zeigt  uns, 
wie  der  in  Liliput  so  angestaunte,  übermächtige  Mensch  zur 
lächerlichen  hilflosen  Kreatur  wird,  wenn  ihn  das  Geschick 
in  eine  andere  Umgebung  verschlägt.  Welclie  Fülle  von 
Mißgeschick    bricht  nicht   über  den   Unglücklichen   herein. 


37 

lind  dabei  noch  auf  Veranlassung  von  Dinocn  und  Wesen,  auf 
die  er  in  seiner  englischen  Heimat  nur  mit  stolzer  Über- 
legenheit herabzusehen  pflegte.  Eine  Brotkruste  bringt  ihn 
zu  P^all.  An  einem  Schneckengehäuse  hätte  er  beinahe  ein 
Bein  gebrochen.  Um  ein  Haar  wäre  er  erstickt,  als  er  eines 
Tages  bis  an  den  Hals  in  einem  Maulwurfshügel  versank, 
und  wenig  hätte  gefehlt,  so  wäre  es  einer  Weihe  gelungen, 
ihn  als  Beute  davon  zu  tragen.  Wie  ein  Spielzeug  faßt  ihn 
eines  Tages  ein  Wachtelhund,  um  ihn  dem  entsetzten  Gärtner 
zu  apportieren.  Als  Spielzeug  behandelt  ihn  auch  das  Riesen- 
baby, das  ihn  nach  Kinderart  gleich  in  den  Mund  steckt,  und 
als  er  in  seiner  Herzensangst  laut  aufschreit,  ihn  erschreckt 
fallen  läßt,  so  daß  er  sich  alle  Glieder  zerschlagen  hätte, 
wenn  ihn  nicht  die  Amme  in  der  Schürze  aufgefangen 
hätte.') 

In  den  letzten  Beispielen  wird  die  Wirkung  des  komischen 
Mißgeschicks  verstärkt  durch  die  (Jharakterkomik  des  Miß- 
verständnisses und  der  Verwechslung,  und  durch  die 
Situationskomik  der  angenehm  getäuschten  Erwartung, 
die  das  Lachen  besonders  herzlich  erklingen  läßt. 

In  allen  diesen  Fällen  war  Gulliver  das  Opfer  von  äußeren 
Zufälligkeiten.  Weit  komischer  und  satirischer  wirken  jedoch 
die  Beispiele,  in  denen  Gulliver  im  Vollgefühl  seiner  nur  in 
England  gültigen  Leistungsfähigkeit  selbst  die  komische 
Situation  verschuldet.  Man  denke  an  die  Wirkung  seines  mit 
großer  Kraftanstrengung  inszenierten  Klaviervortrags  und  an 
das  peinlich  nachsichtige  Urteil  des  Königs. 

Um  seine  Gewandheit  zu  erproben,  will  er  einmal  über 
einen  Kuhdüngerhaufen  springen,  springt  aber  zu  kurz  und  sinkt 
bis  an  die  Knie  in  den  Mist.  Er  wird  zwar  sorgfältig  ge- 
reinigt,  aber  die  Königin  und  der  Hof  erfahren  es  doch,   so 


')  VIII,  92  0".,  118  ff. 


38 

daß,   wie   er  selbst  erzählt,   er  tagelang-  den  Gegenstand  des 
alfgemeinen  Gelächters  'bildet,  i) 

Verschärft  wird  die  Komik  dnrch  das  Obszöne,  das 
dem  Mißgeschick  einen  peinlichen  Anstrich  verleiht.  Gemildert 
dagegen  wird  die  Satire  durch  die  Selbstverlachung. 
Wenn  Gulliver  in  dem  Erlebnis  mit  dem  Affen  erzählt:  trotz 
der  gefährlichen  Lage  habe  er  den  Zuschauern  das  Lachen 
nicht  verdenken  können,  denn  die  Situation  sei  zu  komisch 
gewesen,  so  wird  das  sich  ängstigende  Mitgefühl  beruhigt 
durch  die  heitere  Selbstverlachung  Gullivers,  und  wir  selbst 
lachen  nur  um  so  herzlicher.  Damit  gewinnt  die  Situations- 
komik trotz  ihres  satirischen  Grundgedankens  einen  ver- 
söhnenden Abschluß. 


4.    Die  Charakterkoniik. 

„I  have  ever  hated  all  nations,  professions  and  com- 
munities,  and  all  my  love  is  towards  individuals",  schreibt 
Swift  an  Pope  in  einem  Briefe  vom  29.  September  1725. 
Aus  dieser  Weltanschauung  und  aus  der  satirischen  Tendenz 
der  „Travels"  erklärt  sich  das  Vermeiden  der  individuellen 
Charakterkoniik.  Swift  lacht  vielmehr  nur  über  allgemein 
menschliche  oder  über  Berufsschwächen.  Hierbei  wird  die 
Charakterkomik  wirksam  unterstützt  von  der  Komik  der  Ge- 
stalt, der  Sprache  und  der  Situation. 

Bergson  sielit  den  Grund  der  komischen  Wirkung  eines 
Charakters  in  der  „raideur  de  mecanique",  in  einer  „insocia- 
bilite  du  personnage",-)  einer  von  dem  allgemeinen  Lebensfluß 
sich  absondernden  oder  ihm  entgegen  wirkenden  Handlung, 
die  die  zielstrebende  Handlung  des  Lachens  zu  korrigieren 
bestrebt  ist. 


0  VIII,  126.  '■')  y.  10,  142. u.  149. 


39 

Bergson  erklärt  damit  die  niiarakterkoniik  vom  theo- 
lugischen ,  vom  biologisch  -  soziologisciien  Standpunkt  aus. 
Psychologisch  gesprochen  handelt  es  sich  hier  um  eine  Komik, 
die  auf  Assoziation  zurückgeht.  Wir  vergleichen  einen 
Charakter  und  seine  Handlungsweise  mit  dem  Bild,  das  die 
normale  harmonische  Lebensanschauung  in  uns  entstehen  läßt. 
Sein  Charakter  ersclieint  uns  daher  unvollkommen,  sein 
Handeln  zweckwidi-ig,  unsinnig:  komisch. 

Die  „raideur  de  meeanique"  und  die  „insociabilite '  du 
personnage"  äußert  sich  gewöhnlich  in  einem  plötzlicli  ent- 
hüllten habituellen  Mangel,  der  uns  humoristisch  oder 
satirisch  anmuten  kann.  Humoristisch  wird  er  auf  uns  wirken, 
wenn  uns  der  habituelle  Mangel  aus  dem  nun  einmal  ge- 
gebenen Gesichtskreis  entschuldbar  erscheint.  Freilich  darf 
auch  hier  weder  unser  Mitgefühl,  noch  unser  Gemeinschafts- 
gefühl,   am    wenigsten    unser   Selbstgefühl    verletzt    werden. 

Humoristisch  mutet  uns  z.  B.  noch  die  im  „Tatler"  Nr.  298 
gegebene  Schilderung  ^  von  der  übertriebenen  Gastfreundlich- 
keit an,  wenn  auch  die  Schilderung  von  starkem  Unwillen 
durchweht  ist.  Humoristisch  sind  auch  die  vielen  Fälle  von 
Charakterkomik,  in  denen  die  Liliputaner  oder  die  Riesen 
in  Brobdingnag  oder  gar  die  Hou^'uhnhnms  infolge  mangel- 
hafter Erfahrung  fremde  Gegenstände  auf  Grund  eines  ihnen 
geläufigeren  Vorstellungskomplexes  beschreiben.  Man  denke 
an  die  Beschreibung  von  Gullivers  Inventar  oder  an  die 
Schilderung,  die  das  Pferd  von  dem  halb  angekleideten  Gul- 
liver gibt. 

Satirischer  —  zum  Teil  durch  die  Beimischung  der 
Siituationskomik  —  mutet  uns  schon  die  Charakterkomik  des 
IL  Buches  an.  Denn  unser  Selbst-  und  Gemeinschaftsgefühl 
sträubt    sich    dagegen,    Gulliver    mit    geringen    Tieren    ver- 

')B-IX,57. 


40 

wechselt  zu  selieii.  Vernichtet  dagegen  wird  die  Komik  in 
dem  IV.  Buch,  wo  die  Houynhnhnms  auf  Grund  ihrer  engen 
Vorstellungssphäre  Gulliver  wegen  der  äußeren  Ähnlichkeit 
als  ein  brauchbares  Exemplar  der  sonst  minderwertigen  und 
lasterhaften  Yahoorasse  betrachten.  Hier  könnte  die  Situations- 
komik der  Verwechslung-  entstehen,  wenn  nicht  das  tief  ge- 
kränkte Gemeinschaftsgefühl  eines  jeden  Menschenfreundes 
das  Auflohen  einer  wirklichen  Komik  erstickte. 

Auch  der  Charakter  und  die  Person  Gullivers  erscheinen 
manchmal  in  einem  komischen  Lichte  durch  den  Kontrast 
des  in  sich  Unvereinbaren. 

Wenn  Gulliver  nach  der  berühmten  Entfiilirung  durch 
den  Affen  und  nach  seiner  Eettung-  den  ihn  schalkhaft  ver- 
spottenden König  mit  großsprecherischer  Miene  versichert,  er 
hätte  sich  dem  Affen  gegenüber  seiner  Haut  wehren  können, 
wenn  er  nur  an  seinen  Degen  gedacht  hätte  —  so  stehen  diese 
großsprecherischen  Worte  in  schroffem  Mißverhältnis  zu  seiner 
vorhergehenden  Angst,  und  das  dröhnende  Gelächter  der  Riesen 
beweist   nur  zu   deutlich,   wie   wenig  Glauben  er  gefunden. i) 

Ein  andermal  hat  er  erst  mit  großem  Mut  eine  Eiesen- 
ratte  erstochen,  dann  aber,  von  einem  plötzlichen  Bedürfnis 
überrascht,  eine  lächerliche,  pedantische  Ängstlichkeit  an  den 
Tag  gelegt,  indem  er  aus  lauter  Scliam  vor  Glumdaldrich  sich 
unter  einem  großen  Blatt  verkroch.-) 

Der  Kontrast  des  in  sich  Unvereinbaren  braucht  nicht 
von  Anfang  an  im  Charakter  zu  liegen,  sondern  kann  erst 
durch  die  phj'sische  Trägheit  veranlaßt  werden.  Es  sei  daran 
erinnert,  wie  Gulliver  auf  der  Heimkehr  von  Brobdingnag  so 
überlaut  redet,.-'*)  wie  er  seine  Wohnkiste  in  die  Kabine  ge- 
bracht haben  will'),  wie  er  in  England  den  Leuten  zuruft, 
ihm  aus  dem  Wege  zu  gehen,  damit  er  nicht  auf  sie  trete,-'') 

')Vni,126.       2)vn,95.       5)  VIII,  151.       ^)  VIII,  148.       ^)  VIII,  154. 


41 

und  sein  AVeil)  und  seine  Tocliter  nicht  sieht,  nachdem  er  so 
hmse  gewohnt  gewesen,  40  P'uß  in  die  Höhe  zu  blicken  — 
alles  Fälle,  in  denen  die  „raideur  de  nie('ani(ine"  deutlich  zum 
Ausdruck  kommt  durch  die  Situationskomik,  die  sie  hervorruft. 
Doch  kann  dieser  Kontrast  des  in  sicli  Unvereinbaren 
von  einem  zum  Pathologischen  gesteigerten  Pessimismus  ge- 
trieben, in  dem  Charakter  Gullivers  Formen  annehmen,  die 
für  uns  nichts  Komisches  mehr  haben.  So  wenn  Gulliver  den 
im  Lande  der  Honynhnhnms  sich  anerzogenen  Widerwillen 
gegen  die  Yahoos  auch  auf  die  Menschen  überträgt,  so  daß 
er  beschließt,  nicht  mehr  zu  ihnen  zurückzukehren,  und  als 
ihn  das  Schicksal  doch  wieder  unter  Menschen  verschlägt, 
ihr  Anblick,  ihr  Geruch  selbst  ihm  so  unausstehlich  ist,  daß 
er  y  beim  Kuß  seines  Weibes  in  Ohnmacht  sinkt,  ß)  Wohl 
haben  wir  hier  die  geforderte  „insociabilite",  aber  das  Mitleid 
mit  der  bitter  enttäuschten  Gattin  und  unser  eigener  ge- 
kränkter Stolz  der  Gemeinschaftsgefühle  bringen  die  „in- 
sensibilite"   ins  Schwanken   und  verhindern  somit  die  Komik. 

Die  Charakterkomik  der  Berufsschwächen. 
Besonders  auffällig  ist  die  „insociabilite  du  personnage" 
in  der  Charakterkomik  der  Satire,  die  sich  gegen  Berufs- 
schwächen, vor  allem  die  der  Mathematiker  und  Astro- 
nomen richtet  (B.  III).  Grotesk -satirisch  wirkt  die  Cha- 
rakterkomik der  Laputer.  Das  ganze  Leben  dieser 
Gelehrten  ist  rein  musikalisclien  uml  mathematischen  In- 
teressen gewidmet.  Sie  gehen  ihren  eigenen  Weg,  ohne  sich 
um  andere  zu  kümmern  und  mit  ihnen  Berührung  zu  suchen, 
und  können  sich  in  ihrer  mathematisch -musikalischen  Ein- 
seitigkeit gar  nicht  vorstellen,  daß  sich  die  Welt  in  anderen 
Köpfen  anders  spiegele. 

1)  VIII,  301. 


42 

Man  erwartet  eine  liarmoniscli  ausgebildete  Persönliclikeit 
und  findet  statt  dessen  eine  berufliche  Einseit\gkeit,,  und  was 
noch  schlimmer,  eine  dem  gesunden  Menschenverstand  hohn- 
sprecliende  Borniertheit,  die  um  so  krasser  wirkt,  als  sie  mit 
scheinbarer  Gelehrsamkeit  auftritt. 

Schon  allein  die  Karikatur  der  äußeren  Erscheinung 
und  die  groteske  Umwelt  lassen  uns  ihre  berufliche  Einseitig- 
keit erkennen.  Ihr  Kopf  liegt  nach  links  oder  rechts,  das 
eine  Auge  ist  nach  innen,  das  andere  nach  oben  gedreht: 
seltsame  Erscheinungen,  die  durcli  das  Konzentrieren  auf 
mathematische  Probleme  und  durch  ihre  astronomische  Be- 
schäftigung bedingt  sind.  Auch  an  ihren  Kleidern  kann 
man  ilii'e  übertrieben  einseitige  Liebhaberei  für  Astronomie 
und  Musik  erkennen;  denn  ihre  Gewänder  sind  über  und 
über  bedeckt  mit  Sonnen,  Monden,  Sternen, "^  dazu  noch  be- 
stickt mit  Darstellungen  von  Flöten,  Geigen,  Harfen,  Trom- 
peten und  Gitarren. 

Die  berufliche  Einseitigkeit  geht  sogar  so  weit,  daß  sie  aus 
lauter  Vorliebe  für  Mathematik  und  Musik  ihrer  Umwelt  die  Form 
von  matliematischen  und  musikalischen  Instrumenten  geben.') 
Das  Essen  Avird  in  der  Form  von  Dreiecken,  Rhomboiden,  von 
Zylindern  und  Parallelogrammen,  die  dazu  gehörigen  Saucen 
und  Puddings  in  der  Form  von  Flöten,  Klarinetten  und  Geigen 
serviert. 

Selbst  die  Sprache  bannt  ihre  berufliche  Einseitigkeit 
in  die  engen  Grenzen  mathematischen  und  musikalischen 
Ausdrucks.  Die  Schönheit  einer  Frau  beschreiben  sie  mit 
Ehomben,  Kreisen,  Parallelogrammen,  Ellipsen  und  anderen 
geometrischen  oder  musikalischen  Fachausdrücken.  2)  Noch 
unnatürlicher  und  in  ihrer  Wirkung  noch  grotesker  ist  die 
Sprache   der   Gelehrten   von   Lagado.     Statt  der  schwierigen 

1)  VIII,  164.         2)  VIII,  168. 


43 

Worte  haben  sie  eine  einfache  Zeichensprache  eingefülirt,  so 
daß  die  Gelehrtesten  Avie  Hausierer  ganze  Säcke  voll  Ge- 
rumpel benötigen,  um  sich  unterhalten  zu  können. i) 

Und  nicht  genug  damit,  daß  sie  selbst  als  traumverlorene 
Menschen  herumlaufen,  sie  können  sich  in  ihrer  Beschränktheit 
überhaupt  nicht  vorstellen,  wie  es  bei  Gulliver  anders  sein 
könne,  und  bringen  ihn  dadurch  in  wunderliche  Situationen. 
Weil  sie  zur  Erregung  der  Aufmerksamkeit  und  zum  Zu- 
standekommen eines  Gesprächs  der  „flappers"  bedürfen,  wird 
auch  der  mehr  als  verwunderte  Gulliver  mit  den  Klatschen 
aufmerksam  gemacht;-)  v»^eil  sie  in  groteskem  Kostüm  herum- 
laufen, muß  auch  Gulliver  sich  ein  mathematisch -musikalisches 
Gewand  anmessen  lassen.  Schade  um  die  viele  Mühe  und 
Zeit,  um  die  kunstvollen  mathematischen  Anmessungen  und 
Berechnungen:  denn  sie  passen  ihm  gar  nicht. 

So  dient  auch  hier  das  naive  Übertragen  eigener  enger 
Anschauungen  auf  andere  Leute  und  die  daraus  entstehende 
Situationskomik  (Wiederholung  eines  Identischen,  getäuschte 
Erwartung)  dazu,  den  habituellen  Mangel  der  Einseitigkeit 
noch  schärfer  hervortreten  zu  lassen. 

Stark  übertrieben  ist  die  Charakterkomik  der  Aka- 
demiker von  Lagado  (III.  Buch).  Das  Kapitel  hat  dem- 
gemäß eine  recht  geteilte  Aufnahme  erlebt.  Nirgends  in  den 
„Travels"  tritt  das  Zweckwidrige  der  angewandten  Mittel  und 
die  mit  großer  Scheingelehrsamkeit  gepaarte  berufliche  Be- 
schränktheit klarer  zutage.  Zudem  weiß  Swift  den  Eindruck 
des  Satirischen  wesentlich  zu  verstärken  durch  die  scheinbare 
Objektivität  der  Darstellung,  durch  die  ironische  Zu- 
stimmung, durch  das  Obszöne  und  Drastische  und  durch 
die  wirksame  Situationskomik  der  getäuschten  Er- 
wartung:.    Erinnert    sei   an   die    „hoffnungsvollen"    blinden 


')  VIII,  193.  ^)  VIII,  165. 


44 

Falbenmischer;')  an  den  betagten  stud.  med.  vet,,  der  einen 
Hund  von  Kolik  lieilen  wollte,  indem  er  ihm  mit  einem  Blase- 
balg ein  Liiftklystier  gab;-)  und  an  die  vereinfachte  Pflüge- 
methode eines  Projektors,  der  Nüsse,  Datteln  und  Eicheln  in 
dem  Acker  vergrub  und  das  Feld  sodann  von  600  Schweinen 
durchwühlen  ließ.     Die  Ernte  blieb  so  gut  wie  ganz  aus.  3) 

Ganz  besonders  satirisch  erscheint  die  Verdrehtheit  der 
Laputer  durch  den  Vergleich  mit  einem  in  diesem  Lande 
selten  vernünftigen  Menschen.  So  in  der  fast  sentimentalen 
Schilderung  des  schönen  geschmackvollen  Gartens,  den  der 
Lord  zu  seinem  großen  Leidwesen  nach  dem  herrschenden 
bizarren  Geschmack  umgestalten  muß,  um  bei  Hofe  und  bei 
seinen  Mitmenschen  nicht  übel  aufzufallen,  und  um  nicht  als 
stolz,  dumm  und  launenhaft  verschrieen  zu  werden. 

Hier  zeigt  sich  der  leidenschaftliche  Satiriker,  der  der 
traurigen  Eealität  ein  leuchtendes  Idealbild  entgegenstellt. 
Kein  Versuch  versöhnender  Heiterkeit  mildert  den  scharfen 
Eindruck,  und  selbst  die  affektvolle  Energie  der  Satire  er- 
schlafft unter  dem  Druck  der  unverbesserlichen  Dummheit  der 
Menschen  zur  resignierten  Melancholie. 

Die  Satire  der  „Tale  of  a  Tub"  beruht  ebenfalls  zum 
Teil  auf  Charakterkomik,  sowohl  die  Satire  auf  die  drei 
Kirchen,  als  die  auf  die  Skribenten.  Bei  Peter  ist  es  vor 
allem  das  Raffinement,  mit  dem  er  sich  stets  zum  Herren 
der  Lage  zu  machen  weiß.  Komischer,  weil  in  sich  wider- 
spruchsvoller, wirkt  Jack.  Das  Benehmen,  das  er  an  den 
Tag  legt,  ist  unnatürlich,  zweckwidrig.  Seine  biblische 
Sprache,  seine  unvernünftig  dünne  Winterkleidung,  sein 
dicker  Sommeranzug,  seine  heuchlerische  frömmelnde  Ecken- 
steherei,  seine  Sucht  nach  Märtyrertum,  sein  Bilderhaß  und 
älinliche  habituelle  Mängel  mehr  bringt  Swift  schonungslos, 


■)  VIII,  188.  •')  VIII,  188  ff.         ')  VIII,  187. 


45 

oft   grotesk   znr  Charakterkarikatur  verzerrt,   in   das  grelle 
Licht  der  Komik. 

Aach  die  Satire  auf  das  Skribententum  geht  sehr  oft  auf 
die  plötzliche  Enthüllung'  eines  habituellen  Mangels  zurück. 
Hier  kann  sich  Swift  gar  nicht  genug  tun,  die  Anmaßung, 
die  Unwissenheit  der  Skribenten  an  den  Pranger  zu  stellen. 
Haben  sie  ihm  doch  für  eine  Dedikation  viel  gelehrtes 
Material  herangebracht,  angeblich  aus  Sokrates,  Epaminondas, 
Attikus,  Kato,  ohne  daß  auch  nur  ein  Wort  daran  wahr  ist.i) 
Nicht  einmal  „Detur  Dignissimo"  können  sie  übersetzen,  ob- 
wohl sie  ihm  für  gutes  Geld  oft  Übersetzungen  aus  dem 
Lateinischen  angefertigt  haben,  i) 

Allgemein  menschliche  Schwächen. 

Um  die  Enthüllung  eines  habituellen  Mangels  handelt  es 
sich  auch  bei  der  Charakterkomik,  deren  satirische  Tendenz 
sich  gegen  allgemein  menschliche  Schwächen  und  Laster 
richtet.  Dieser  Teil  der  Charakterkomik  und  der  Satire  ist 
in  „GuUiver's  Travels"  der  bei  weitem  unerquicklichste.  Wohl 
gibt  es  eine  Reihe  von  Fällen,  die  trotz  ihres  satirischen 
Grundgedankens  stark  komische  Wirkung  haben  und  ein 
wirklich  befreiendes  Lachen  auslösen,  aber  diese  Fälle  sind  ver- 
hältnismäßig selten  und  beschränken  sich  auf  die  ersten  Bücher. 

Da  werden  Fehler  und  Schwächen  an  den  Pranger  ge- 
stellt, die  ihren  Ursprung  im  politischen,  sozialen  und  im 
staatlichen  Leben  haben. 

Unter  dem  Symbol  der  „high-heels"'  und  der  „low-heels" 
verspottet  er  die  Parteisucht  der  High-Church  und  der 
Low-Church,  der  Tories  und  der  Whigs.  Der  König,  der  den 
„low-heels"  huldvoll  gesinnt  ist,  trägt  niedrige  Absätze,  der 
Prince  of  Wales  jedoch  wegen  seiner  schwankenden  Haltung 
einen  hohen  und  einen  niedrigen  Absatz. 

')  1,27. 


46 

Weniger  erquicklich  als  dieses  Beispiel  ist  die  Cliarakter- 
komik,  die  auf  den  habituellen  Mangel  der  Streitsucht  zu- 
rückgeht. Zwischen  Liliput  und  Blefuxu  ist  ein  Streit  aus- 
gebrochen, ob  man  die  Eier  am  breiten  oder  am  spitzen  Ende 
öffnen  sollte.  Der  Streit  hat  bereits  sechs  Aufstände  und 
11000  Menschenleben  gekostet.  Die  „bigendians"  stellen  die 
Katholiken,  die  „lowendians"  die  Protestanten  dar. 

Satirischer  wirkt  die  Charakterkomik,  die  sich  mit  der 
Günstlings  wir  tschaft  der  Minister  befaßt.  Die  Minister 
in  Liliput  tanzen  zum  Zeitvertreib  des  Königs  und  zur  Be- 
lustigung des  Hofes  auf  einem  Seile  und  kriechen  wie  ein 
Hund  unter  oder  über  einen  vorgehaltenen  Stock  und  sind 
hocherfreut,  wenn  die  Tüchtigsten  mit  einem  Bändchen  de- 
koriert werden.  Im  III.  Buch  müssen  die  Minister  und  alle, 
die  dem  König  nahen,  sogar  den  Staub  vor  dem  Throne  auf- 
lecken, den  die  Intriguanten  hinstreuen,  und  den  sie  oft  sogar 
mit  Gift  vermischen,  wenn  der  in  Ungnade  gefallene  aus  dem 
Wege  geräumt  werden  soll. 

Auch  die  (Charakterkomik  der  politischen  Gehässigkeit 
und  Verfolgungssucht  macht  er  zum  Gegenstand  seiner 
Satire.  Wiederum  ist  es  die  Dummheit,  die  sich  für  besonders 
pfiffig  hält,  die  er  zur  Zielscheibe  seines  Spottes  auswählt, 
und  wiederum  greift  er  zu  dem  Mittel  der  Obszönität,  um 
den  Charakter  noch  lächerlicher  zu  machen.  Denn  der  Pro- 
fessor, der  sich  auf  das  von  ihm  erfundene  Mittel  zur  Ent- 
deckung von  Verschwörungen  besonders  viel  zugute  tut,  rät 
den  Staatsleuten,  die  Diät  der  verdächtigen  Individuen  und 
besonders  ihrer  Exkremente  zu  beobachten.  Aus  Farbe,  Ge- 
ruch, Geschmack,  den  Bestandteilen,  der  rascheren  oder  lang- 
sameren Verdauung,  will  er  Schlüsse  über  die  Gedanken  und 
Absichten  des  Individuums  folgern.  9 

')  VIII,  198. 


47 

Die  Scliwäclicn  und  Laster  des  weiblichen  Geschlechts 
hat  Swift  mit  besondei-er  Vorliebe  zur  Grundlage  seiner 
Oharaliterkomik  und  zum  Gegenstand  seiner  Satire  ge- 
nomnien.  Denn  Swift  war  trotz  seines  Verkehrs  mit  Damen 
der  höchsten  adeligen  Gesellschaft  und  trotz  seiner  Liebes- 
verhältnisses mit  Stella  und  Esther  ein  großer  Weiberfeind, 
besonders  in  den  letzten  Perioden  seines  Lebens.  In  „Gulliver's 
Travels"  ist  eine  Steigerung  der  Satire  auf  die  Frauen  deutlich 
fühlbar.  In  dem  I.  Buch,  in  der  Verleumdung,  die  von  einer 
heißen  Liebe  der  Königin  zu  Gulliver  wissen  will,  tritt  die 
Charakterkomik  mit  dem  habituellen  Mangel  der  weiblichen 
Untreue  fast  zurück  hinter  dem  Kontrast  der  Anschauune:. 
Auch  in  dem  II.  Buche  liegt  der  Kontrast  der  Anschauung 
der  Komik  zugrunde,  aber  die  Satire,  die  sich  vor  allem 
gegen  die  Schamlosigkeit  der  Hofdamen  richtet,  ist  in  der 
Charakterkomik  schon  deutlicher  fühlbar  durch  widerliche 
Detailmalerei. 

Das  Thema  der  Treulosigkeit  und  Schamlosigkeit  der 
Frauen  wird  in  den  nächsten  Büchern  noch  weiter  aus- 
gesponnen, allerdings  nicht  eigentlich  in  Form  der  reinen 
Charakterkomik.  In  Laputa  können  sich  die  Frauen  mit  ihren 
Liebhabern  die  größten  Freiheiten  in  Gegenwart  ihrer  Gatten 
erlauben,  da  diese  zu  sehr  mit  mathematischen  Problemen  be- 
schäftigt sind,  als  daß  sie  ihre  Treulosigkeit  merken  könnten,  i) 

In  den  nächsten  Kapiteln  wird  durch  Geistererscheinungen, 
Anekdoten  etc.  dafür  gesorgt,  daß  diese  Charakterschwäche 
der  Frauen  bei  der  Satire  nicht  zu  kurz  konmie.  Diese  Art 
der  Satire  gehört  jedoch  nicht  mehr  unter  die  Komik  des 
Charakters,  sondern  schon  unter  die  direkte  Satire. 

Das  Thema  der  Unsittlichkeit  der  Frauen  wird  im 
IV.  Buch  in  zynischem  Vergleich  mit  den  Gewohnheiten  der 
Yahoos  auf  die  Spitze  getrieben. 

')  VI,  170. 


48 

Wohl  haben  wir  hier  noch  AnsHtze  zur  Charakter-,  melir 
nocli  zur  tSituationskomik  (A^erwechslung),  wie  die  Szene,  wo 
ein  Junges  Yahooweibclien  den  badenden  Gulliver  für  einen 
Vertreter  der  Affenrasse  hält  und  mit  brünstiger  Umarmung' 
um  seine  Liebe  wirbt,  bis  das  Aufseher -Pferd  Gulliver  aus 
seiner  peinlichen  Lage  befreit;  aber  wenn  wir  auch  die  Freude 
an  der  komischen  Situation  dem  Pferdekönig  kaum  verübeln 
können:  für  den  betroffenen  Gulliver,  die  menschliche  Passe 
überhaupt,  und  besonders  für  das  weibliche  Geschlecht,  ist 
die  Charakterkomik  zum  größten  Teil  durch  den  Vergleich 
mit  den  Yahoos  vernichtet. 

Noch  zj^nischer  wirkt  die  Enthüllung  anderer  allgemein 
menschlicher  Schwächen.  Durch  die  Darstellung  von  Vorgängen 
aus  dem  Leben  der  Yahoos  werden  menschliche  Laster  gebrand- 
markt, aber  nur  in  moralischer  didaktischer  Form,  während  das 
mildernde  Moment  der  Situationskomik  dabei  ganz  gestrichen  ist. 

Habsucht  äußert  sich  bei  den  Yahoos  darin,  daß  sie 
wertlose  glänzende  Stfeine  vergraben  und  über  ihren  Verlust 
untröstlich  sein  können.') 

Auch  das  Laster  des  Trunks  findet  sich  bei  ihnen.  Sie 
kauen  eine  süße  Wurzel,  geraten  bei  diesem  Genuß  in  wilden 
Taumel,  erschlaffen  dann  aber  um  so  eher. 2) 

Alle  Laster  der  Europäer,  vom  wollüstigen,  üppigen 
Leben  bis  zur  Günstlings-  und  Maitressenwirtschaft  werden 
uns  im  Zerrbilde  der  Yahoos  vorgeführt. 

Nun  haben  wir  allerdings  oben  gesehen,  daß  auch  Tiere 
komisch  wirken  können,  insofern  ihr  Gebahren  etwas  menschen- 
ähnliches hat.  Aber  die  Komik  kann  bei  uns  nicht  recht  auf- 
kommen, weil  unser  Selbstgefühl  sich  gegen  einen  Vergleich  mit 
dieser  schändlichen  Passe  sträubt  und  die  starke  Betonung 
des  Moralischen  der  Entwicklung  der  Komik  hinderlich   ist. 


')  VII,  272.        2)  VIII,  273. 


49 


IV.  Die  aktive  Komik  oder  der  Witz. 

Humor  und  Satire  g-reifen  oeine,  zu  dem  Ausdruc.ksmittel 
des  Witzes,  um  ihre  Weltauscliauuuo"  zu  spief>eln,  vor  allem 
die  Satire.  Der  Witz  nimmt  im  siebzehnten  und  Anfang'  des 
achtzehnten  Jalirlinndeits  eine  hervorrat>ende  Stellung  ein. 
Wenn  je  Zeitumstände  dem  Aufkommen  dieser  Art  Komik 
günstig-  waren,  so  war  es  die  Zeit  Swifts.  Der  Eationalisnnis 
mit  seinem  einseitigen  Betonen  der  Yerstandestätigkeit  und. 
was  damit  parallel  läuft,  der  McUigel  an  Gefühlsknltur;  der 
Einfluß  der  französischen  Sahms,  und  die  \'orliebe  für  Kon- 
versation; das  Aufblühen  der  (Jafes  und  der  Schokoladeliäuser 
mit  ihren  politischen  und  literarischen  Klubs;  die  Verzettelung 
der  geistigen  Kräfte  in  literarischer  Kleinkunst;  die  politisch 
erregte  Zeit,  die  scharfen  Parteikämpfe;  die  durch  das  em- 
pirische Denken  geschärfte  Kunst  der  Beobachtung  des  Cha- 
rakteristischen an  einer  Persönlichkeit;  die  großen  sozialen  und 
politischen  Errungenschaften  und  das  dadurch  gesell  wellte  Selbst- 
bewußtsein: aus  dem  Zusammemvirken  aller  dieser  Faktoren 
können  wir  verstehen,  warum  gerade  das  beginnende  achtzehnte 
Jahrhundert  so  sehr  unter  dem  Zeichen  des  Witzes  steht. 

Auch  Swift,  von  der  Natur  zur  virtuosen  Handhabung 
des  Witzes  veranlagt,  ist  mit  in  den  Strudel  dieses  Zeitgeistes 
gerissen  worden. 

Sein  Witz  ist  teils  Selbstzweck  und  dann  harmlos,  teils 
dient  er  satirischen  Tendenzen. 

A.    Der  Pormwitz. 

Harmlos  ist  fast  der  ganze  Formwitz,  vor  allem  die 
„puns"  seiner  Konversation  und  die  im  Journal  to  Stella 
überaus  zahlreichen  „verses  and  proverbs". 

Bcekor,  Dio  Satire  JoiiatlKui  Swifts.  4 


50 

„Be  you  lords  or  be  you-eaiis. 

Yoii  must  write  to  naug'lity  girls."i)  . 

Als  der  Sclionisteiu  in  Stellas  Hause  eint>estürzt  ist. 
schreibt  er: 

„I  liate  all  wind,  before  and  beliind, 
From  cheeks  Avitli  eyes,  or  from  blind."  ^) 

Harmlos  sind  auch  die  Dialekt-Klangwitze  in  seiner 
Korrespondenz:  „To  Sheridan  in  barbarous  Latin,  to  Sheridan 
in  Ang'lo- Latin",'')  in  dem  scherzhaften  ,,Irish  eloquence"  und 
in  dem  „Dialogue  in  Hybernan  style".'') 

Harmlos  ist  endlich  der  größte  Teil  von  Swifts  Namen- 
witzen. Sie  waren  damals  in  den  Wochenschriften  sehr  be- 
liebt. So  wie  er  den  Dubliner  Blumenmädchen  poetische- 
Spitznamen:  Flora,  Cancerina,  Stumpa-nympha  etc.,  gab,  so 
stellt  er  uns  im  ,.Tatler"  die  Brüder  Tobiali  und  Obadjah 
Greenhat  vor,  in  der  „Polite  Conversation",:  Lady  Smart. 
Mr.  Neverout,  Lady  Answerall. 

Daß  in  seinen  späteren  Schriften  die  Satire  auch  in  dieses 
Gebiet  der  Namen witze  gedrungen  ist,  beweisen  folgende 
Namen,  die  er  für  irische  Gegenden  vorschlug:  Fool-brook. 
Puppy-ford,  C'oxcomb-Hall,  Mount-Copperhead;  Dunce-hill.^') 


B.    Der  intellektuelle  Witz. 

Die  Formwitze  sind  bei  SAvift  selten.  Bei  seiner  hervor- 
ragenden Verstandesbegabung  liegt  seine  Stärke  vielmehr  auf 
dem  Gebiet  des  intellektuellen  Witzes. 


1)  II,  66.  ')  II,  89. 

3)  ed.  1775,  B.  14,  S.  254  u.  276. 
.  *)  VII,  361.  •>)  VII,  384. 


5t 


1.    Das  Spiel  mit  dem  liisimi. 

Der  weitaus  <>]-ößte  Teil  des  intellektuellen  A\'itzes  stellt 
ein  Spiel  mit  dem  Unsinn  zum  ZAvecke  des  wit'zif>en  W'eis- 
niachens  dar.  Auch  hier  gibt  es  Fälle,  in  denen  der  Witz 
Selbstzweck  zu  sein  scheint.  Am  häutigsten  jedoch  verfols*! 
er  eine  satirische  Absicht.  Die  Satire,  die  er  iu  die  spielende 
Form  der  Parodie  zu  kleiden  ptlegt,  richtet  sich  vor  allem 
i>eoen  -die  Skribenten.  Ihre  Dummheit,  ihr  Mangel' an 
klassischer  Bildung,  ihre  unsinnigen  Themata,  ihre  Eitelkeit, 
ihr  Prunken  mit  großer  Scheingelehrsamkeit  und  andere 
.Schwächen  will  Swift  durch  die  Parodie  verspotten. 

a)   Die  witzigen  Elrkläruugen. 

Sie  sind  zum  größten  Teil  parodisch  und  kommen  iu  der 
„Tale"  überaus  häufig  vor.  In  ihnen  werden  Dinge  mit  einem 
Anschein  von  AVahrheit  dargestellt,  die  iliuen  nicht  zukommt. 
Behauptungen  mit  Gründen  erhärtet,  die  keine  sind.  Dinge 
in  Beziehung  gesetzt,   die   nichts   miteinander   zu  tun  haben. 

Ein  Spiel  mit  dem  Unsinn  stellt  die  witzige  Begriffs- 
beziehung  dar,  die  den  vorteilhaften  Einfluß  der  Kanzel  auf 
den  fanatischen  Prediger  erklärt. i)  Denn  die  Kanzel  sei 
wurmstichig,  sie  berge  auf  diese  Weise  viel  Würmer  in  ihrem 
Holz  und  habe  wegen  des  faulen  Holzes  die  Eigenschaft,  im 
Dunkeln  zu  leuchten.  Durch  diese  Erklärung  maclit  er  eine 
satirische  Anspielung  auf  den  fanatischen  Prediger  (,.inward 
light  and  füll  of  maggots")  und  auf  die  zwei  Schicksale  seiner 
Schriften:  verbrannt  und  von  Würmern  gefressen  zu  werden. 

In  der  „Battle  of  the  Books"  spricht  er  von  einem  Ein- 
fluß der  Tinte  auf  die  Schriftsteller.  Denn  die  Tinte  wurde 
von  dem  Erfinder  aus  zwei  Teilen  zusammengesetzt :  aus  Galle 

1)1,52. 


52 

und  Kupfer,  ,.l\y  its  bitterness  and">enom  to  suit  in  some  de- 
gree,  as  well  as  to  foment,  tlie  genius  of  combatants."  i) 

Oder:  Er  redet  von  der  Entstehung  der  .szythischen 
,.Longheads"  und  findet  eine  würdige  Analogie  dazu  in  den 
englischen  ,.Roundheads".  Der  Eindruck  des  Witzigen  wird 
noch  erhöht  durch  die  witzige  Begründung  dieses  selt- 
samen Phänomens.  Anfangs  nur  Kunstwerke,  hergestellt  mit 
einer  Schere,  mit  einem  gewissen  Druck  aufs  Gesicht  und 
einer  schwarzen  Mütze,  wurde  die  Form  später  zu  selbst- 
tätigem Naturspiel  nach  eingehender  Betrachtung  der  Köpfe 
und  damit  Beeinflussung  der  Konzeption  der  Frauen  -) 

Besonders  die  Anmaßung  und  Dummheit  der  Skribenten 
reizt  ihn.  Er  verspottet  parodierend  diese  Eigenschaften  durch 
eine  witzige  Folgerung^),  eine  ürteilsbeziehung,  die  vor 
allem  die  Fnerlaubtheit  der  Ableitung  herausspringen  läßt. 

,.  .  .  .  where  I  am  not  understood,  it  shall  be  concluded 
that  something  very  useful  and  profound  is  couched  under- 
neath  . . .  ^) 

Die  Gewinnsucht  der  Skribenten  niußite  einem  Mann 
wie  Swift  vor  allem  verhaßt  sein;  denn  kaum  einer  trachtete 
so  wenig  nach  literarischen  Lorbeeren  und  danach,  materiellen 
Gewinn  aus  seinen  Schriften  zu  schlagen,  Avie  SAvift.  Die 
Form,  in  der  er  seiner  Satire  in  der  „Tale"  Ausdruck  ver- 
leiht, ist  die  Parodie  der  witzigen  Einschränkung. 3)  Zwei 
Urteile  treten  hier  in  Beziehung,  von  denen  die  weitgehenden  Zu- 
geständnisse des  ersten  durch  die  beinahe  ebenso  weitgehenden 
Einschränkungen  des  zweiten  zurückgenommen  werden. 

Am  Schluß  des  Kapitels  über  die  Äolisten  behauptet  er: 
er  wolle  die  Vorurteile  aus  der  Welt  schaffen  und  die  Dinge 
in   das   wahrste  und   beste  Licht  rücken,   „which  I  therefore 

0  1, 163.  =>)  1, 195. 

=•)  Lipps  196.        *)  1,43. 


53 

boldly  lindert akf,  witlioiit  aiiy  reg-ards  üf  iiiy  own.  beside  t!ie 
lioiiour  and  tlie  tlianks."i) 

Ein  Spiel  mit  dem  Unsinn  stellt  aiicli  die  phantastische 
Erkläning  dar,  die  mit  physikalischen  Bedingungen  ilir 
Spiel  treibt.  Swift  redet  von  den  mehr  oder  weniger  vorteil- 
haften „oratorial  machines"  und  erklärt,  der  Redner  müsse 
deshalb  noch  stehen,  damit  die  Worte  auf  der  I^uft  dahin- 
gleitend in  den  Mund  sinken  könnten,  der  zu  diesem  ZAvecke 
parallel  dem  Horizont  gerichtet  sei. 2)  Hierher  gehört  ferner 
die  Erklärung  der  sinnreichen  Theatereinrichtung,  die  es  er- 
möglicht, die  einzelnen  Partieen  der  Stücke,  je  nach  ihrem 
Charakter  an  bestimmte  Zuschauergruppen  gelangen  zu  lassen. 

Mit  folgenden  witzig- satirischen  Gründen  wird  die 
große  in  der  Bibliothek  ausgebrochene  Verwirrung  erklärt: 
Ein  perverser  Wind  hat  den  Bücherstaub  der  modernen  Bücher 
dem  Bibliothekar  in  die  Augen  geblasen;  vielleicht  hat  der 
Bibliothekar  auch  die  Würmer  aus  den  „Schoolmen"  gepickt 
und  gegessen,  und  diese  sind  ihm  auf  Kopf  und  Spleen  ge- 
krochen etc.=^) 

Die  witzige  Erklärung  kann  weiterhin  zur  Beschreibung, 
zur  Karikatur  übergehen.  Auch  hier  liegt  ein  Spiel  mit 
dem  Unsinn  zum  Zweck  des  witzigen  Weismachens  vor.  Um 
den  Charakter  der  Äolisten  zu  verspotten,  erklärt  uns  Swift 
das  Zustandekommen  der  Inspiration  folgendermaßen.  Sie 
benutzen  als  Kanzeln  Fässer  und  führen  durch  ein  Windrohr 
die  unterirdischen  Windströmungen  dem  Körper  zu.  Frauen 
sind  infolge  ihres  umfangreichen  Körperbaues  zur  Inspiration 
besonders  geeignet.  Hieraus  erklärt  Swift  mit  witziger 
Folgerung  die  Verwendung  von  Frauenpi-iestern  bei  den 
Quäkern, 

')  1,112.         •-»)  1,50,        »)  I,  im. 


54 

Das  witzige  Weisiiuulieii  in  der  Form  des  witzigen 
Schlusses  ist  bei  Swift  sehr  selten.  Das  folgende  Beispiel 
ist  dem  Tonuemnärclien  entnommen.  Die  Äolisten  achten  die 
Bildmig  sehr,  denn  sie  bläst  den  Mensclien  auf.  Diese  Be- 
hauptung beweisen  sie  durch  folgenden  Syllogismus: 

„Words  are  but  wind;  and  learning  is  nothing  but  words; 
ergo,  learning  is  nothing  but  wind."i) 

Als  Spiel,  mit  dem  Unsinn  kann  man  endlich  aucli 
spTachliclie  Erklärungen  auffassen.  Um  tien  Fall  einer 
witzigen  Parodie,  einer  Satire  auf  die  wunderlichen  Etymo- 
logien der  Gelehrten,  besonders  Bentleys,  handelt  es  sich  in 
der  im  „Gulliver"  gegebenen  Etymologie  des  Wortes  Laputa. 

„Lap  in  the  old  obsolete  language  signifieth  high,  and 
untuh.  a  governor,  frora  whicli  they  say  by  corruption  was 
derived  Laputa,  from  Lapuntuh.  But  I  don't  approve  this 
derivation  which  seems  to  be  a  little  strained.  I  ventured 
to  offer  to  the  learned  among  them  a  conjecture  of  my  own 
that  Laputa  was  „quasi  lap  outed";  lap  signifying  properly 
the  dancing  of  the  sunbeams  in  the  sea,  and  „outed",  a  wing, 
Avhich  however  J,  sli^-ll,  not  obtrude,  but  submit  to  the  judi- 
cious  reader." 

b)  Der  witzige  Rat. 
Neben  den  witzigen  Erklärungen  greift  das  Spiel  mit 
dem  Unsinn  sehr  gern  und  häutig  zum  witzigen  Rat.  Der 
literarische  Rat  war  damals  überhaupt  selu'  beliebt,  auf 
politischem,  religiösen,  besonders  aber  auf  moralischem  Gebiet. 
Swift  zeigt  sich  auch  hier  als  ein  Mann  seiner  Zeit,  indem 
er  eine  damals  gangbare  literarische  Form  zum  Träger  seines 
Witzes  macht. 

';  I,  108.  ■-)  VIII,  16(J. 


55 

Mauclie  dieser  Ratschläge  .sind  nur  witzig;  so  die  l»at- 
schläge  an  das  Publikum,  wie  es  den  Text  besser  vei'steiien 
könne,!)  oder  daß  es  gut  sei,  sclnveißdurclitränkte  gesteppte 
Naclitinützen  zu  tragen,  da  so  der  Geist  nur  durch  den  Mund 
entAveichen  könne.  ■^) 

Zum  größten  Teil  aber  haben  wir  es  mit  Ratschlägen  zu 
tun,  in  denen  satirische  Spitzen  gegen  die  Skribenten  und 
gegen  Swifts  lockere  Mitwelt  durchblitzen.  Der  Rat  ist  dann 
mehr  ironisch. 

Die  Skribenten  sind  nach  Swifts  Ansicht  übel  dran.  Die 
(Quelle  ihres  Witzes  ist  am  Versiegen,  und  neues  Lesen  und 
Denken  ist  eine  allzu  ermüdende  Beschäftigung,  ["m  ihnen 
aus  dieser  doppelten  Klemme  zu  helfen,  empüelilt  er  ihnen 
große  Inhaltsverzeichnisse,  Kompendien  und  Zitatenbücher; 
keine  Autoren  selbst  zu  lesen,  dafür  aber  um  so  mehr  Kritiker, 
Kommentatoren,  Lexika  und  Sammlungen  von  (Tlanzstellen. 
Auch  macht  er  sie  auf  das  Rezept  seiner  literarischen  Mixtur 
aufmerksam,  die  scjion  nach  vierzehn  Minuten  eine  Fülle  von 
wohlgeordneten  Gedanken  fertig  zum  Niederschreiben  im 
Kopfe  entstehen  läßt.  3) 

Etwas  verschieden  von  dieser  Art'  des  witzigen  Rats  ist 
das  Mittel,  das  Peter  als  sicherwirkend  gegen  Würmer  an- 
preist, eine  Satire,  deren  Spitze  sich  gegen  die  gar  zu  wenig 
mühsamen  Bußen  und  die  leichte  Absolution  dei-  römischen 
Kirche  richtet: 4)  „The  patient  was  to  eat  nothing  after  supper 
for  three  nights:  as  soon  as  he  went  to  bed.  lie  was  care- 
fully  to  lay  on  one  side,  and  wlien  he  grew  weary  to  turn 
upon  tlie  otlier.  He  must  also  duly  confine  liis  two  eyes  in 
the  same  object:  and  by  no  means  break  wind  at  both  ends 
together,  without  manifest  occasion."  Hier  entsteht  der  Witz 
dadurch,   daß   uns  etwas  durchaus   Selbstveiständliches 

1)  1,128.    .      -)  1,201.         ^)  1,91.  ')  1,80. 


56 

in  der  Form  des  witzigen  llates  als  eiiu'  bedeutende  Erfindung 
vorgetäuscht  wird. 

Daß  der  Rat  sich  auch  rein  satririscli  geben  kann,  beweist 
der  beliebte  Vorschlag  zur  Errichtung  einer  Akademie,  auf 
der  sämtliche  damaligen  Modelaster  gelehrt  werden.') 

c)   Der  Vexierwitz. 

Zum  Spiel  mit  dem  Unsinn,  dessen  satirische  Spitze  sich 
gegen  die  Skribenten  und  deren  anmaßende  Dummheit  richtet, 
gehört  auch  der  bei  SAvift  seltene  Vexierwitz  des  Ana- 
chronismus, ein  witziges  Urteil,  das  „auf  Grund  einer 
falschen  Analogie  einen  Sachverhalt  völlig  auf  den  Kopf 
stellt."  2) 

Homer  habe  große  Schwächen  aufzuweisen:  Seine  Be- 
lesenheit in  moderner  Literatur  sei  gering,  und  seine  Kenntnis 
der  englischen  Kirchengeschichte  sei  auch  nicht  w^eit  her. 
Zwar  müsse  man  ihm  seine  Erfindung  des  Kompasses,  des 
Schießpulvers  und  die  Entdeckung  der  Blutzirkulation  zugeben, 
dagegen  müsse  man  mit  aller  Entschiedenheit  seine  Autorschaft 
bestreiten  für  die  Werke:  „an  account  of  tlie  spieen;  an  art 
of  political  wagering;  a  dissertation  upon  tea."-*) 

Der  Widersinn  dieser  Witzart  leuchtet  nur  zu  leicht  ein. 

d)  Äußere  Mittel. 
Durch  sie  wird  ebenfalls  die  Hohlheit  der  Skribenten  an 
den  Pranger  gestellt.  Gewöhnlich  wird  durch  die  ruhm- 
redigen Präambeln  unsere  Erwartung  stark  gespannt,  um 
dann  ebensosehr  enttäuscht  zu  werden;  denn  der  schwierige 
Punkt,  auf  den  er  aufmerksam  macht,  bleibt  gewöhnlich  un- 
aufgeklärt.     Aus    Zweckmäßigkeitsgründen    wird    die    Aus- 

')  1,40.  -)  Lipps  189.  ■')  1,91,  92. 


57 

fülmiiif>'  miterlasseii,  oder  der  \'erle^-er  tritt  in  den  \'()ider- 
grinid  und  berichtet  von  einem  plötzlichen  Unwohlsein  des 
Autors,  das  dieser  sich  durch  die  Lektüre  einer  poetischen 
Epistel  zugezogen;  er  habe  deshalb  seinen  Schriftstellerbernf 
für  immer  aufgeben  müssen;  oder  der  Autor  fühlt  sicli  selbst 
nicht  so  ganz  sicher  bei  seinem  so  mühsam  entstandenen 
Skriptum.  Ein  Postskriptum  der  „Mechanical  Operation  of 
tlie  Spirif'  lautet.  „Pray  burn  this  letter,  as  soon  as  it  comes 
to  your  hands." ') 

Auch  die  Parodie  der  Anreden  an  die  Leser  wird 
geschickt  verwandt.  Die  Leser  werden  ermahnt,  scharf  auf- 
zupassen, es  komme  jetzt  ein  „knotty  point'V)  oder  er  rät 
ihnen,  zum  besseren  Verständnis  des  Werkes  sich  in  die 
gleichen  kärglichen  Lebenslagen  zu  versetzen,  unter  denen 
der  Autor  das  Werk  schrieb, -^l  oder  endlich,  er  macht  den 
gestrengen  Leser  darauf  aufmerksam,  daß  er  es  jetzt  für  ge- 
raten halte,  eine  G-edächtnisschwäche  vorzuschützen,  um 
einen  Nachtrag  zu  entschuldigen.'') 

Den  Anreden  an  die  Leser  entspricht  das  formelle  Mittel 
der  witzigen  parodistisclien  Apostrophe,  durch  die  er  den 
Schwulst  und  die  kriechende  Gunsthascherei  der  Skribenten 
verlacht.  Hierher  kann  man  auch  die  „Dedications  to  Lord 
Somers;  to  tlie  Prince  Posterity"  rechnen,  mit  denen  er  die 
„Tale"  ausstaffiert. 

Der  schwülstige  Stil  zeigt  sich  z.  B.  in  der  Anrufung  des 
Weltalls  zum  Zeugen,  daß  er,  der  „modern  author",  dem 
„universal  good  of  mankind"  dient: 

„This,  0  universal!  is  the  adventurous  attempt  of  me,  thy 
secretary. 

—  Quemvis  perferre  hiborem 

Suadet,  et  inducit  noctes  vigilare  serenos.») 

0  I,  210.  -)  1, 118.  ■')  I,  41.  *)  I,  96,  97.  ')  I,  89. 


•58 

Die  uiibeieclitigte  Ruhmredigkeit  parodiert  Swift  diircli 
die  zalilreiclien  literarischen  Verweise,  die  Ankündigimji: 
vielversprecliender  Werke,  die  in"  der  „Tale"  behandelt  sein 
sollen,  wie:i)  „New  help  for  smatterers,  or  the  Art  of  being 
deep  learned  and  shallow  read;  a  universal  Eule  of  Reason, 
or  every  man  liis  own  Carver";  etc.  und  derartige  welt- 
erschütternde literarische  Novitäten  mehr;^)  ein  „historio-theo- 
\)hysi-logical  account  of  zeal"  will  er  auf  Subskription  ver- 
öffentlichen :=')  „a  panegyrical  essay  upon  the  number  three" 
ist  schon  im  Druck,  und  für  die  nächste  Zeit,  hat  er  zur 
Veröffentlichung-  noch  eine  ganze  Reihe  von  Schriften  geplant: 
eine  „History  of  Ears",*)  ein  „panegyric  upon  war,  faniine 
and  pestilence,  a  panegyric  upon  Mankind;  a  critical  essay 
upon  the  ait  of  Canting;  philosophically,  physically  and  musical- 
ly  considered."  Sogar  seinen  Kollegen,  den  Skribenten,  die 
hier  im  „Tale"  etwas  kurz  weg  gekommen  seien,  wolle  er  in 
einem  größeren  Werke  eine  eingehendere  Würdigung  zuteil 
werden  lassen. 

2.   Die  witzige  Koordination. 

Zu  den  Seltenheiten  von  Swifts  Witz  gehört  die  sehr 
wirksame  witzige  Begriffsbeziehung  der  Koordination,  die  auf 
eine  Zusammenstellung  heterogener  Begriffe  zurückgeht.  Der 
AMtz  ist  hier  meistens  Selbstzweck.  So,  wenn  Swift  be- 
liauptet:  die  degenerierten  Ohren  dieses  Jahrhunderts  böten 
dem  Schriftsteller  wenig  Halt,  mehr  schon  die  Leidenschaft,  am 
meisten  die  Neugierde;  so  stellt  er  Sinnliches  und  Unsinn- 
liches zusammen,  als  ob  die  Leidenschaft  oder  die  Neugierde 
etwas  Gfreif bares  wären,  wie  die  Ohren.") 

Satirisclier  ist  ein  anderes  Beispiel  aus  der  „Tale  of  a 
Tub".     Jack,   in   seiner   Sucht    nacli   Märtyrertum,   läßt  sicli 

0  I,  93.  2)  I,  98.  ■')  L  49.  *)  I,  139.  ')  I,  150. 

«)L38..        ')  1,139. 


59 

genje  (liircli])riiiielii,  ,.aiid  wlit^ii  \\v  liad.  I)y  such  raiiicst 
solicitatioiis,  uiade  a  sliift  to  pi-ociirc  a  bastinjo:  siifticicnt  to 
swell  up  bis  faiicy  aiul  liis  sides,  lie  wuiild  ivturu  honit'."  •) 

3.  Die  witzige  Antithese. 

Sie  ist  bei  Swift  auffallend  wenig-  entwickelt,  Avährend 
doch  sonst,  besonders  in  späteren  politischen  Schriften,  sein 
scharf  denkender,  satirischer  Geist  gerade  in  der  Antithese 
wirknngsvoll  zum  Ausdruck  koiiinit.  Damit  hängt  zusammen, 
daß  Swift,  im  Gegensatz  zu  dem  Virtuosen  Voltaire,  die  Form 
des  Epigramms  kaum  gepflegt  hat. 

Die  „Thoug-hts  on  Various  Subjects"'  weisen  ihrem  Cha- 
rakter nach  einige  Beispiele  auf: 

,.If  a  man  Avill  observe  as  he  walks  in  the  streets,  I 
believe  he  will  find  the  merriest  countenances  in  mouining 
coaches.  "'^) 

,.Tlie  greatest  inventions  were  produced  in  the  times  of 
ignorance;  as  the  use  of  compass,  gunpowder  and  printing; 
and  by  the  dullest  nation,  as  the  Germans."'=*) 

4.  Die  witzige  Metaplier. 

Die  witzige  Metapher  unterscheidet  sich  von  der  ernst- 
haften durch  das  Fremdartige  der  Parallelvorstellung.  Sie 
nimmt  bei  Swift  neben  der  witzigen  Erklärung  und  dem 
Avitzigen  Rat  den  breitesten  Raum  ein.  Ausnehmend  häutig 
verwendet  sie  Swift  in  den  Erstlingswelken,  in  der  ..Battle 
of  the  Books",  der  ..Mechanical  Operation  of  the  Spirit''  und 
vor  allem  in  der  „Tale  of  a  Tub-'.  Ahmt  er  in  der  „Battle" 
die  iKmierischen  Vergleiche  nach,  so  parodiert  er  in  der  „'J'ale"' 
die  schwülstige  Schreibweise  der  Skribenten.    Denn  die  über- 

0  1,36.  -)  1,227.  ^)  1,274. 


60 

iriclie  uiul  unpassende  Verwendung-  der  Metapher  war  Swift 
durchaus  zuwider.  Seine  Metapher  weist  ein  ausgedehntes 
Interessengebiet,  scharfe  Beobaclitungsgabe  und  große  An- 
schaulichkeit auf. 

Vorgänge  aus  dem  A^olksleben,  der  Kirclie,  aus  der  Natur, 
Pflanzen  und  vor  allem  Tiere  werden  zu  Vergleichen  heran- 
gezogen, um  geistige  und  körperliche  Vorstellungen  witzig  zu 
verdeutlichen. 

Eine  Parodie  stellt  folgende  Avitzige  Metapher  aus  der 
„Tale  of  a  Tub"  dar: 

„Wisdom  is  a  fox,  who  after  a  long  hunting  will  at  last 
cost  you  the  pains  to  dig  out.  It  is  a  clieese,  which  by  liow 
mucli  the  richer,  has  the  thieker,  the  homelier  and  the  coarser 
coat,  and  whereof,  to  a  judicious  pallate  the  maggots  are  the 
the  best.  It  is  a  sack  posset,  wherein  the  deeper  you  go, 
you  will  lind  it  the  sweeter.  Wisdom  is  a  hen,  whose  cackling 
we  must  value  and  consider,  because  it  is  attended  witli  an 
tgg.  but  then  lastly,  it  is  a  nut,  wliich  unless  you  clioose 
Avith  judgement,  may  cost  you  a  tootli,  and  pay  you  witli 
nothing  but  a  Avorm.  "i) 

Satirischer  Avirkt  der  metaphorische  Witz,  Avenn  die 
Parallelvorstellung  aus  einer  niederen  Sphäre  stammt.  Mit 
Vorliebe  werden  in  der  „Tale"'  Vorgänge  aus  dem  Menschen- 
leben durch  solche  aus  der  TierAvelt  illustriert.  Bentley 
gleicht  einem  verwundeten  Elephant,  Peter  einem  gut  ge- 
zogenen Hühnerhund,  die  Studenten  jungen  Wölfen,  die 
Frauen  mit  ihivm  Geschwätz  jungen  Papageien.  Die  Satire 
auf  die  Kritiker  zeichnet  sich  (hirch  eine  Fülle  sohdier 
Avitziger  Vergleiche  aus. 

„Secondly  tlie  true  critics  are  known,  by  tlieir  talent  of 
swarming  about  the  noblest  writers,  to  which  they  are  carried 

>)  I,  54. 


61 

nierely   l).y  instinct,   as  a  rat  to  a  l)(\st  cliccse,   or  a  wasp  to 
tlie  fairest  fruit  ..." 

„Lastly  a  true  critic,  in  the  peiiisal  of  a  book  is  Ul-e  a 
d()(i  at  a  feast,  wliose  thoughts  and  stomach  are  wholly  set 
lipon  wliat  the  j>uests  fling  away,  and  consequently  is  apt 
to  snarl  most  wlien  tlieiv  are  the  fewest  bones." 

Der  metaphorische  WWa  kann  die  .Charakterkomik 
wirkungsvoll  unterstützen,  wie  in  der  Satire  auf  die  politisehe 
Gehässigkeit  und  die  Sucht,  hinter  den  harmlosesten  Schriften 
geheime  Verschwörungen  7a\  entdecken  („Gulliver's  Travels"). 

„For  instance  they  caii  discover  a  close  stool  to  signify 
a  priory  counsel;  a  flock  of  geese,  a  Senate;  a  lame  dog,  an 
invader;  a  plague,  a  Standing  army;  a  buzzard,  a  prime 
minister;  the  gout,  a  high  priest;  a  gibbet.  a  secretary  of 
State;  a  Chamber  pot.  a  committee  of  grandees;  a  sieve,  a 
court  lady;  a  brooni,  a  revolution;  a  mousetrap,  an  employ- 
ment;  a  bottomless  pit,  a  treasury;  a  sink,  the  court;  a  cap 
and  bells,  a  favourite;  a  broken  reed.  a  court  of  justice;  an 
empty  tun,  a  genei-al;  a  running  sore,   the  administration."^) 

Der  metaphorische  AMtz  kann  seiner  inneren  Ver- 
wandtschaft nach  leicht  in  die  symbolische  Satire  übergehen. 
Die  Kleiderphilosophie  der  „Tale"  liefert  dafür  den  Beweis."*) 

Zur  Verschärfung  des  satirischen  Beigeschmacks  ver- 
wendet Swift  die  beliebten  Obszönitäten.  So  vergleicht  er 
einmal  die  flüchtigen  Leser,  die  sich  mit  dem  Index  begnügen, 
mit  „certain  fortuiie-tellers  in  Northern  America,  who  liave 
a  way  of  reading  a  maivs  destiny  by  peeping  into  his  breech.^) 
Oder  die  häufig  zitierte  Stelle  über  den  Geschmack  seiner 
Leser:  „This  I  mention  because  I  am  wonderfully  well  ac- 
quainted  with  the  present  relish  of  court eous  readers;   and  I 

1)  cf.  auch  I,  72.  -)  I,  78.  •')  VIII,  200. 

*)  cf.  Symbolische  Satire  K.  VI.        »)  I,  206. 


62 

liave  often  observed  witli  Singular  pleasure  tliat  a  fl.v,  driven 
froiii  a  hone}— pot,  will  immediatelj^,  witli  very  good  appetite. 
alight,  and  fiiiish  bis  meal  onan  excrement."  i) 

5.    Die  witzige  Hyperbel. 

Der  Eindruck  des  Witzigen  wird  bedeutend  verstärkt 
durch  das  bei  Swift  sehr  beliebte  Mittel  der  witzigen  Hyperbel. 
Während  die  „Travels"  in  ihren  beiden  ersten  Büchern  die 
Hyperbel  selten  und  nur  in  humoristischem  Sinne  verwenden, 
—  man  denke  an  die  überschwänglichen  Namen  des  Königs- 
paares: „Ornament  of  Kature,  Phoenix  of  the  Creation'  u.  a, 
— ,  ist  die  Hyperbel  in  der  „Tale"  und  in  der  „Battle  of  the 
Books"  als  Parodie  auf  die  Skribenten  und  auf  Peter  gedacht. 
Die  Satire  richtet  sich  vor  allem  gegen  die  Beschränktheit, 
das  Gunsthaschen,  die  verlogene  Anmaßung  und  die  politische 
Charakterlosigkeit  der  Skribenten. 

Nach  dem  Muster  anderer  Autoren  hat  er,  um  das  Prob- 
lem würdig  darstellen  zu  können ,  bereits  100  Vorworte 
studiert,  und  doch  wünscht  er  sich  noch  100  Hände,  100  Zungen, 
und  100  Federn.  Den  „courteous  reader"  ermahnt  er  „to 
peruse  of  world  of  application  again  and  again".^)  Mit  Stolz 
blickt  er  auf  seine  reiche  Journalistentätigkeit:  91  Pamphlete 
im  Dienst  von  36  Parteien! 

Hyperbeln  stellen  auch  Peters  „Lügen"  und  seine  käuf- 
liche Begnadigung  aller  möglichen  Schufte  dar. 

Er  habe  eine  Kuh  —  schwört  Peter  — ,  die  auf  einmal 
soviel  Milch  gebe,  daß  man  3000  Kirchen  damit  füllen  könne: 
eine  Satire  auf  die  lächerliche  Übertreibung  der  Milch  der 
Jungfrau  Maria.  Er  habe,  schneidet  Peter  weiter  auf,  von 
seinem  Vater  einen  „sign-post"  (das  heilige  Kreuz),  von 
dessen  Holz  und  Nägeln  könne  er  16  Kriegsschiffe  bauen. '^) 

1)  1, 142.         ')  I,  63.        =')  I,  87. 


63 

An  die  Behörden  erläßt  Peter  folg-ende  Verfiioung':  Hat 
ein  Mörder  das  nötige  Silndeno-eld  hinterlegt,  so  soll  er  be- 
gnadigt werden,  wenn  auch  das  Gericht  auf  Mord,  Sodomiterei. 
Raub,  Tempelschändung",  Blutschande  oder  Landesverrat  er- 
kannt liat.t) 

().   Die  Karikatur. 

Das  ^\'esen  dieser  Witzart  besteht  darin,  daß  sie  äußere 
und  innere  Charakterzüge  aufgreift  und  durch  spielende 
Übertreibung,  Verzerrung  und  durch  illustrierendes  Ver- 
gleichen verdeutlicht.  Sie  geht  sehr  oft  auf  die  Oharakter- 
komik  zurück  und  bildet  umgekehrt  ihre  wirkungsvolle  Stütze. 
Die  Karikatur  ist  die  Form,  in  der  das  exzentrische,  satirische 
Wesen  Swifts  eine  befriedigende  Betätigung  finden  konnte. 
Die  Kapitel  über  die  Äolussekte,  über  Jack,  die  „Mechanical 
Operation  of  the  Spirit"  und  das  III.  Buch  der  „Travels"  sind 
die  Hauptfundgruben  für  die  Karikatur. 

Die  trefflichsten  Karikaturen  gibt  der  Avunderliche  Jack 
ab.  Infolge  seiner  merkwürdigen  Vorliebe  für  „snap-dragons" 
lodert  in  seinem  Bauch  eine  ewige  Flamme.  Eine  dampfende 
Grlut  strömt  ihm  aus  Nase,  Mund  und  Augen,  so  daß  er  im 
Dunkel  der  Nacht  aussieht  wie  der  Schädel  eines  Pesels,  in 
den  ein  böser  Bub,  um  brave  Bürger  zu  erschrecken,  eine 
Zelmpfennigkerze  gestellt  hat.-) 


')  I,  83. 

-)  I,  132;  cf.  Kap.  VI,  Groteske  Satire. 


64 


Y.  Die  Ironie. 


1.   Bediiiguiigen  zum  Entstehen  der  Ironie. 

Die  Ironie  stellt  eine  höhere  Form  als  der  Witz  dar. 
Während  der  Witz  nur  mit  dem  Äußeren  der  Dinge  spielt, 
dringt  die  Ironie  in  das  Wesen  der  Dinge  ein  ..und  durch- 
leuchtet seine  innersten  Eigentümlichkeiten."  i)  Sie  ist  des- 
halb der  Ausdruck  eines  scharfen  kritischen  Geistes,  meistens 
einer  gewissen  Verbitterung,;  denn  die  Ironie  entsteht  leicht  da,- 
wo  Verstand  und  Wissenschaft  keine  Befriedigung*  mehr  ge- 
Avähren.  Die  Ironie  in  ihrer  schärfsten  und  reinsten  Form 
tritt,  wie  der  Humor,  noch  stärker  im  Alter  als  in  der 
Jugend  auf,  da  die  große  Menschenkenntnis,  die  sie  bekundet, 
erst  in  vorgerücktem  Alter  erworben  werden  kann:  lauter 
Bedingungen,  die  Swifts- meisterhafte  Handhabung  der  Ironie 
bei  seiner  physischen  und  geistigen  Veranlagung,  seiner  trüb- 
seligen Umwelt,  seiner  verbitternden  Lebensf ülii ung  erklärlich 
erscheinen  lassen. 

Diese  ironische  Stimmung  kommt  zum  prägnanten  Aus- 
druck in  der  Sprache.  Sie  sagt  das  Gegenteil  von  dem,  was 
sie  denkt,  meistens  in  kritischer  Absicht.  Damit  tritt  sie  in 
den  Dienst  der  Satire. 

Durch  den  sprachlichen  Ausdruck  täuscht  sie  uns  einen 
Augenblick  über  ihre  wahre  Meinung,  die  dann  um  so  schärfer 
hervorspringt,  sowie  wir  die  Täuschung  erkennen.  Die  Satire 
ist  um  so  feiner,  je  länger  die  Täuschung  anhält,  um  so  plumper, 
je  kürzer  sie  vorwaltet.  Die  Täuschung  wird  am  besten  dadurch 
erreicht,   daß   der  Autor  mit  seiner  eigenen  Person  tunlichst 


')  Fischer  S.  193. 


65 

zurücktritt  und  den  größtuHiglichsten  Ernst  bewahrt.  Der 
Kontrast  des  Witzes  ist  daher  der  Ironie  g-efährlich. 

Um  den  Schein  des  Ernstes  zu  erzielen,  mimt  er  den 
Unparteilichen,  den  Uninteressierten.  Deshalb  stellt  er 
sich  sogar  auf  das  Niveau  der  Ironisierten,  spielt  den  ITn- 
gebildeten  und  hält  damit  seinen  Angritt'sobjekten  ihr  Spiegel- 
bild vor.  So  führt  er  klassische  Namen  an,  z.  B.  Agesilaos; 
auf  die  richtige  Schreibung  des  Namens  glaubt  ei-  jedoch 
keinen  Wert  legen  zu  müssen;  es  ist  ihm  auch  einerlei,  ob 
der  König,  den  er  erwähnt,  ('aesar  Augustus  oder  ähnlieh 
hieß,  von  den  Scipionen  weiß  er  nicht  einmal  die  christlichen 
Taufnamen,  und  ob  sie  Dichter  oder  Generäle  waren;  endlich 
ist  er  gar  so  naiv,  den  Dingen  unbedingten  Glauben  zu 
schenken,  da  das.  Buch  ja  gedruckt  sei.i) 

Noch  deutlicher  tritt  dieser  Schein  des  Ernstes  hervor, 
wenn  er  den  Teilnehmenden  spielt,  der  die  Bedürftigen  mit 
seinem  Rat  unterstützt.  Die  Mutter  solle  im  letzten  Monat 
vor  dem  Verkauf  das  Kind  nur  tüchtig  trinken  lassen,, rät 
er  in  dem  Meisterwerk  der  Ironie:  „Modest  Proposal",  damit 
das  Kind  beim  Verkauf  schön  rund  und  fett  sei,  und  sie 
einen  dementsprechend,  hohen  Lohn  erziele.  Er  selbst  habe 
nur  das  Volkswohl  im  i^uge  und  von  diesem  Vorschlag  ab- 
solut keinen  Gewinn.  „I  have  no  children,  by  which  I  can 
propose  to  get  one  single  penny,  the  youngest  being  nine 
years  old,  and  my  wife  past  child-bearing.-) 

Um  seine  Ansicht,  sein  Urteil  und  seinen  Vorschlag  recht 
glaubwürdig  erscheinen  zu  lassen,  hält  er  mit  seinem  eigenen 
Urteil  scheinbar  möglichst  zurück  und  beruft  sich  lieber  auf 
das  Urteil  von  Autoritäten.  ..I  am  assured  by  our  mer- 
chants  ...  As  I  have  been  informed  by  a  principal  gentle- 
man  in  the   county  of  C'anan  ...     I  have  been  assured  l)y  a 

')  VII,  240.  •^)  VIT,  216. 

Hcckor,  Die  Siitirr  .1  oiuitliun  Swifts.  5 


66 

knowing  American  of  my  acquaintance  .  .  .  For  we  are  told 
by  a  grave  aiithor,  an  eminent  Frencli  Pliysician  .  .  ." ;  oder 
er  zitiert  einen  berühmten  Schriftsteller,  dessen  Ansicht  er 
im  Grunde  nicht  teilt,  die  er  aber  benutzt,  um  seiner  Ironie 
den  Schein  des  Ernstes  zu  verleihen.  Hobbes  sage  schon, 
daß  das  Studium  der  Eömer  die  jungen  Leute  gegen  die  ab- 
solute Macht  der  Fürsten  aufsässig  mache,  i) 

Wenn  der  Autor  seine  eigene  Meinung  gibt,  so  geschieht 
es  nie  ohne  eine  bescheidene  schüchterne  Einleitungs- 
floskel. Sehr  bezeichnend  ist  schon  der  Titel  „A  Modest 
Proposal";  er  bedauert,  er  zweifelt,  ist  gern  bereit,  auch  auf 
andere  weise  Vorschläge  einzugehen,  „equally  innocent  cheap, 
easy  and  effectiial" ;  er  denkt  und  macht  seine  Vorschläge 
nur  „with  humble  Submission";  er  ,.wagt"  sich  in  seiner  Beweis- 
führung eiiien  Schritt  weiter;  nicht  aus  eigener  Initiative  macht 
er  das  „Proposal" :  „I  have  been  desired  to  employ  my  thoughts 
upon  ...";  er  macht  selbst  Einwände,  kann  nicht  leugnen; 
in  ganz  kritischen  Fällen  suspendiert  er  sogar  sein  Urteil. 

Ein  typisches  Ausdrucksmittel  der  Ironie  ist  die  Rede- 
figur der  Litotes.  Auch  in  ihr  spricht  sich  eine  bescheidene 
Zurückhaltung  aus,  die  aber  nur  scheinbar  ist,  da  die  Litotes 
durch  die  umschreibende  doppelte  Negation  einen  um  so 
stärkeren  positiven  x4.usdruck  erstrebt. 

Er  sagt  z.  B.  nicht:  ich  halte  es  für  leicht  möglich, 
sondern:  „I  do  not  deny  it  possible" ;  nicht:  ein  Mann,  klein 
an  Körper  und  Geist,  sondern:  „a  man  of  no  large  dimensions 
of  body  and  mind."  Oder:  ,.A  Child,  just  dropped  from  its  dam, 
may  be  supported  by  little  other  nourishment  ..."=^) 


•)  YII,  239.         2)  VII,  21G.  ')  VII,  208. 


67 


2.    Die  Form  der  Ironie. 

Die  Form,  in  der  sich  die  Ironie  äußern  kann,  ist  ver- 
schiedenartig-. 

a)   Di^e  Aiissag-e. 

Die  Ironie  kann  sclion  in  der  Form  einer  Aussage  auf- 
treten : 

„Tg  gain  the  reputation  of  the  first  orator  in  the  king- 
dom,  no  man  of  spirit  would  scruple  to  lose  all  the  friends 
he  had  in  the  world."  i) 

Hierher  gehören  die  ironischen  Entschuldigungen 
für  die  detaillierte  und.  nach  des  Autors  Ansicht,  unumgänglich 
notwendige  Wiedergabe  von  Obszönitäten,  eine  im  „Gulliver" 
ziemlich  häufige  Erscheinung,-)  durch  die  die  Charakterkomik 
der  mit  seiner  großen  Gestalt  unvereinbaren  Schamhaftigkeit 
noch  besser' hervorgehoben  wird.  Auch  benutzt  er  diese  Ge- 
legenheit gern,  um  seinen  Gegnern,  die  ihm  Vorliebe  für 
Obszönitäten  vorwarfen,  etwas  am  Zeug  zu  flicken. 

Die  ironische  Auslage  kann  noch  erheblicli  verstärkt 
werden  durch  zugefügte  ironische  Bedingungen.  A\'enn 
er  z.B.  sagt:  „I  do  not  blame  an  honest  gentleman  for  the 
bitterest  invectives  against  one  to  whom  he  professeth  the 
greatest  friendship;  provided  he  acts  in  the  dark,  so  as  not 
to  be  discovered",-')  so  wird  das  in  dem  ersten  ironischen 
Satz  kritisierte  schurkische  Verhalten  durch  den  Nachsatz 
noch  näher  charakterisiert.  Die  Satire  gewinnt  dadurch  sehr 
an  Deutlichkeit  und  Schärfe. 

Um  eine  ähnliche  Art  der  Ironie,  ebenfalls  in  Form  der 
Aussage,  handelt  es  sich  bei  dem  ironischen  Ausnahme- 
machen, wie  es  im  „Gulliver"  verschiedentlich  vorkommt. 
Als  Gulliver  sich  bei  den  Geistererscheinungen  in  Glubdubdrib 


>)  VII,  237.  •■=)Vni,29.  «)VII,23(J. 

•5* 


68  _ 

nach  den  Mitl^eln  erkundigt  liat,  mit  denen  viele  sich  hohe 
Ehrentitel  und  einträgliche  vStellen  verschafft  haben,  fügt  er 
hinzu :  „for  I  hope  the  reader  need  not  be  told,  that  I  do  not 
in  the  least  intend  mj^  own  country  in  what  I  say  upon  this 
occasion";^)  am  Schluß  der  grausamen  Eroberungen,  genannt 
Kolonisation:  „But  this  description  doth  by  no  means  affect 
the  British  nation."^)  Durch  derartige  deutliche  ironische 
Bemerkungen  wird  der  satirische  Grundgedanke  uns  besonders 
stark  zu  Bewußtsein  gebracht.  In  diesen  Beispielen  ist  die 
Form  der  Aussage  nicht  mehr  ganz  rein,  vielmehr  steckt  in 
ihr  ein  ironisches  Lob,  das  einen  positiven  Tadel  aussprechen 
soll.     Doch  davon  später. 

b)    Tadel  statt  Lob. 

Eine-  sonst  seltene  Form  der  L-onie,  die  aber  Swift 
meisterlich  zu  handhaben  versteht ,  ist  die  Form :  Tadel 
statt  Lob. 

Schon  J.  Paul  bemerkt  treft'end:  „Nur  Swift  besaß  die 
Kunst,  eine  Ehrenpforte  zierlich  mit  Nesseln  zu  verhängen 
und  zu  verkleiden,  am  besten. "  ^) 

Diese  Form  der  Ironie  verwendet  auch  Swift  seltener, 
sehr  ausgiebig  allerdings  in  der  ..Vindication  of  Lord  Carteret", 
in  einer  Schrift,  in  der  es  sich  um  eine  Rechtfertigung  handelt. 
Das  Lob,  wie  es  sich  in  den  Ephiteta  ausspricht,  ist  in 
diesem  Pamphlet  stark  aufgetragen,  während  sich  der  ironische 
Tadel  und  damit  die  Satire  auf  seine  Mitmenschen,  besonders 
auf  Adel  und  Frauen,  oft  nur  in  einem  Wort  kundgibt.  Die 
Ironie  ist  durch  die  starke  Betonung  der  guten  Eigenschaften 
sehr  deutlich. 

In  der  „Vindication  of  Lord  Carteret"  tritt  Swift  vor 
allem    für    die   klassische   Erziehung   und   Bildung   ein,    für 

1)  VIir,209.  ^)  VIII,  306.  s)  Vorschule  164. 


00 

eifrijn;'e  Tätigkeit  aiidi  der  jiiiig'eu  Adeligen.  Ü'w  i-eines 
I^'amilienlebeii:  Eig-enschaften  Carterets,  die  er  ironisch  tadelt 
und  damit  indirekt  satirisch  zum  Ausdruck  bringt,  daß  die 
damaligen  jungen  Adeligen  in  dieser  Beziehung  sehr  viel  zu 
wünschen  übrig  ließen.  Die  klassische  Bildung,  die  Vorliebe 
für  Literatur  und  der  Besitz  von  „politeness  and  good  sense" 
tadelt  er  ironisch  als  „unfortunate  turn  of  mind,  useless  talents, 
unfortunate  principles,  unfasliionable  academic  education,  mis- 
taken  method  too  apt  to  spoil  their  politics  and  principles"; 
als  „unnecessary  pains  to  load  their  head  with"  bezeichnet 
er  sie  sogar  für  gelehrte  Berufe. 

Seine  klassische  Bildung  habe  Carteret  zu  einem  „most 
insupportable  unintelligible  corapanion  to  all  tine  gentlemen 
round  the  table''  gemacht.  Seine  großen  Talente,  sein  Ge- 
dächtnis, sein  Urteil,  sein  Verstand,  sein  AMtz,  seine  Bered- 
samkeit seien  eine  „misfortune".  Seine  eifrige  Tätigkeit  als 
Gesandter  an  verschiedenen  Höfen  schon  in  jungen  Jahren 
wird  nicht  gebilligt,  „according  to  custom  he  ought  to  have 
been  busied  in  losing  his  money  at  a  Choco^ate-house  or  in 
other  amusements  equally  laudable  and  epidemic  among  per- 
sons  of  humour."  Ja,  er  habe  sogar  in  der  Jugend  ein 
solides  Leben  geführt  und  hege  jetzt  Achtung,  Freundschaft 
und  Liebe  zu  Frau  und  Kind  „  in  a  most  unexemplary 
manner". 

In  der  Form  des  ironischen  Tadels  an  Stelle  des  posi- 
tiven Lobes  tritt  uns  auch  die  bei  ihm  sonst  seltene  Selbst- 
ironie entgegen.  Das  ..Modest  Proposal"  steht  ihm  höher 
als  alle  anderen.  ..Therefore  let  no  man  talk  to  me  of  other 
expedients",  und  nun  zitiert  er  eine  ganze  Reihe  seiner 
früheren  Pamphlete,  die  er  gerade  durch  diese  ironische.  Ab- 
weisung dem  Leser  wieder  ins  Gedächtnis  bringen  will :  Über 
den  ausschließlichen  Gebrauch  irländischer  :Manufaktur.  Gegen 
die  Streit-   und  Parteisucht.     Über  die  Art  und  A\eise.    die 


70  _ 

Landlords  etwas  erkenntlich  gegenüber  ihren  Hörigen  zu 
machen  etcA) 

Auch  ,.Gulliver's  Travels"  enthalten  diese  Form  des 
Tadels  statt  des  Lobes,  sogar  einen  Fall  der  humoristischen 
Selbstironie,  allerdings  verbunden  mit  einer  Satire  auf  seine 
Kritiker  und  auf  die  Reiseromane.  Ich  meine  die  Er- 
örterung über  die  Abschiedsszene  im  IV.  Buch.-)  (Tulliver 
bückt  sich,  um  den  Huf  des  Königpferdes  zu  küssen,  das  Pferd 
aber  reicht  ihm  von  selbst  den  Huf.  Darauf  fährt  er  fort: 
„I  am  not  ignorant,  how  much  I  have  been  censured  this  last 
particular.  For  my  detractors  are  pleased  to  think  it  im- 
probable that  so  illustrious  a  person  should  descend  to  give 
so  great  a  mark  of  distinction  to  a  creature  so  inferior  as  I. 
Neither  have  I  forgot,  how  apt  some  travellers  are  to  boast 
of  extraordinary  favours  they  have  received.  But  if  these 
censurers  were  better  acquainted  witli  the  noble  and  courteous 
disposition  of  the  Houynhnhnms,  they  would  soon  change  their 
opinion." 

Die  übrigen  Fälle  dieser  Art,  die  wir  im  Gulliver  finden, 
stellen  eine  weit  schärfere  Satire  dar.  Sie  finden  sich  meistens 
im  Anschluß  an  politische  Erörterungen,  wie  sie  das  IL  Buch 
über  das  Gerichtswesen 3)  und.  in  anorganisch  dogmatischer 
Form,  die  Ansichten  des  Königs  über  die  englischen  Verhält- 
nisse,*) besonders  scharf  aber  das  III.  Buch  mit  seiner  „school 
of  projectors''  bergen.  Diese  Projectors  erscheinen  ihm  „wholly 
impossible  chimaeras,  extravagant  and  irrational."^) 

Die  Satire  entwickelt  unter  der  Form  des  ironischen 
Tadels  ihr  ideales  Programm,  das  sie  vermittels  der  Kritik, 
die  die  Ironie  an  der  Welt  übt,  wenigstens  annähernd  zu  er- 
reichen bestrebt  ist. 


0  YII,  215.  2)  VTIT,  293.  ^')  VIII,  140.  ")  VIII,  137,  138. 

■■)  VIII,  195. 


71 


c)   Lob  statt  Tadel. 

Die  im  allg-emeinen  häufig-ste  Erscheinungsform  der  Ironie 
ist  die  Form:  Lob  statt  Tadel.  Der  eigentliche  Charakter 
der  Ironie,  die  Verbitterung,  kommt  in  dieser  Form  noch 
besser  zum  Ausdruck  als  in  der  Form  „Tadel  statt  Lob". 
Auch  hier  kann  die  Ironie  sich  schon  in  einem  Worte  aus- 
sprechen. So  nennt  er  die  Gelehrten  in  Brobdignag,  die 
Gulliver  als  einen  ,.lusus  naturae"  bezeichnen,  ..virtuosi"  und 
verstärkt  durch  diese  ironische  Bemerkung  die  Wirkung  der 
Charakterkomik,  i)  Sie  kann  aber  auch  in  einer  Fülle  von 
ironisch  lobenden  Bezeichnungen  sich  breit  machen  und  damit 
die  Satire  besonders  auffällig  und  bissig  hervorklingen  lassen. 

Charakteristisch  in  dieser  Art  ist  ein  Passus,  wo  der 
Gelehrte  Wotton  die  Zielscheibe  der  Satire  abgibt.'-) 

Die  Unkenntnis  Homers  und  der  „Ancients"  in  der  poli- 
tischen und  religiösen  Geschichte  Englands  habe  aufs  ge- 
rechteste beurteilt  sein  „trortht/  and  inyenioiis  frienä  Mr.  Wotton, 
Bachelor  of  Divinity,  in  his  incomparahle  treatise  of  Ancient 
and  Modern  Learning:  a  book  nerer  to  be  sufficientl ij  vnlued, 
whether  we  consider  the  lia_i)2)i/  turns  and  tiowings  of  the  authors 
wit,  the  fjreaf  asefuhiess  of  his  sublime  discoveries  upon  the 
subject  of  flies  and  spittle,  or  the  lahorious  eloquence  of  his 
style;  and  I  cannot  forbear  doing  that  author  ihe  Justice  of 
my  public  acknowledgemenfs,  for  the  f/reat  iielps  and  Uftings 
T  had  out  of  his  incomparahle  piece.  while  I  was  penning 
this  treatise.'' 

Die  weiteren  Beispiele  dieser  Art  liefert  die  „Tale  of  a 
Tub",  besonders  die  Satire  auf  die  Skribenten, 3)  auf  die  Sekte 
der  Äolisten*)  und  \'or  allem  die  Satire  auf  Wotton.  &)  Da- 
neben auch  Gulliver,  namentlich  die  erwähnten  dogmatischen 

')  VIII,  106.         •-')  I,  92.        ^)  I,  125,  10(5.        ")  1,  112.        'O  I,  117. 


Kapitel  über  Eng-land.  in^denen  die  Ironie  des  günstig-eu  Be- 
richts unter  Gullivers  Naivität  geschickt  verdeckt  ist. 

Nahe  verwandt  mit  dieser  Fcn^m  der  Ironie  „Lob  statt 
Tadel-'  ist  der  ironische  Rat,  der  den  rein  witzigen  noch 
an  Schärfe  überbietet;  denn  beim  Avitzigen  Rat  handelt  es 
sich  meistens  um  eine  Parodie,  um  einen  Unsinn,  während 
mit  dem  ironischen  Rat  indirekt  ein  Verbot  verbunden  ist. 
Der  Ratj  schweißdurchtränkte  Nachtmützen  zu  tragen,  ist  nur 
witzig,  dagegen  der  Rat,  die  umständliche  Lektüre  durch 
das  einfache  Studium  von  Kompendien  und  Indices  zu  er- 
setzen, ist  schon  mehr  ironisch.  Das  Meisterwerk  ironischen 
Rats  stellen  die  „Directions  to  Servants"  dar.  xllles,  was 
nur  an  Gewissenlosigkeit,  Intrigue,  Faulheit,  Verlogenheit 
und  Unsauberkeit  erdacht  werden  kann,  wird  da  als  Tugend, 
als  zum  Beruf  des  Dieners  gehörig  angepriesen.  Damit  werden 
die  Verhältnisse  einer  scharfen  Kritik  unterzogen.  In  den 
„Directions"  zeigt  sich  recht  deutlich,  auf  welch  hervor- 
ragender Menschenkenntnis,  besonders  niederer  Klassen,  Swifts 
Ironie  basierte. 

3.    l)er  Stil  der  Ironie. 

Im  allgemeinen  bevorzugt  die  Ironie  einen  kalten, 
nüchternen  Stil,  wie  ihn  die  lateinische  und  die  ihr  nahe- 
stehende englische  Sprache  aufweist.  Eine  feurige  Sprach- 
fülle verträgt  sich  dagegen  schwerer  mit  der  ironischen 
Kälte;!)  um  so  melir  Wahlverwandtschaft  hat  die  Ironie  mit 
der  episc^hen  Ruhe. 

Doch  darf  sie.  um  ihre  \\irkung  zu  erhöhen,  ihren  Stil 
wohl  anschaulich  gestalten,  vorausgesetzt,  daß  durch 
diesen  Schmuck  der  geforderte  Schein  des  Ernstes  nicht 
verletzt  wird. 

')  .Tonn  Paul  T  i;  ÜT. 


Handelt  es  sich  darum,  die  Ironie  sehr  deutlich  zu 
machen,  so  ist  das  Stilmittel  der  Hyperbel  besonders  ge- 
eignet. Es  wird  seinem  Charakter  nach  fast  nur  verwandt 
bei  der  Form  „Lob  statt  Tadel"  und  findet  sich  am  häufig-sten 
in  der  „Tale  of  a  Tnb".  in  der  Satire  auf  die  Skribenten. 
Es  sei  nur  an  Wendungen  erinnert  wie:  „tliese  illustrious  per- 
sons",  „those  immortal  productions",  „the  neverdying-  works", 
,,the  writers,  whom  1  exceedingly  reverence"  und  ähnliche  unter 
„Witz"  ziterte  Beispiele. 

Die  epische  Ruhe  zeigt  sich  vor  allem  in  der  Sinnlichkeit 
und  Anschaulichkeit.  Am  höchsten  steht  in  dieser  Be- 
ziehung- das  „Modest  Proposal".  Daß  der  Ernst  durch  die 
Anschaulichkeit  durchaus  nicht  gefährdet  zu  werden  braucht, 
beweist  der  Umstand,  daß  ein  spanischer  Geistlicher  das 
„Proposal"  für  Ernst  aufnahm  und  meinte :  es  müsse  in  Irland 
doch  schlimm  bestellt  sein,  daß  ein  derartiger  Vorschlag,  und 
dazu  noch  von  einem  Geistlichen,  gemacht  werden  könne. 

In  der  Tat  ist  Swift  überaus  erfinderisch  in  Gründen, 
mit  denen  er  das  wahnsinnige  Projekt  stützt  und  ernsthaft 
erscheinen  läßt.  Er  operiert  mit  Zahlen,  mit  Statistiken, 
rechnet  den  Gewinn  vor,  den  der  Verkauf  eines  Kindes  ab- 
wirft, und  preist  die  sonstigen  Vorteile.  Das  Fleisch  eines 
kräftigen  Mädchens  ist  das  ganze  Jahr  eßbar.  Die  gegerbte 
Haut  gibt  elegante  Damenhandschuhe  und  feine  Herrenstiefel. 

Die  Wirkung  dieser  Gründe  wird  gestützt  durch  die  ein- 
gehendsten Detailangaben.  Als  besonders  wohlschmeckend 
im  Winter  empfiehlt  er  das  Vorder-  und  Hinterteil  mit  etwas 
Pfeffer  und  Salz  angerichtet;  es  müsse  aber  vier  Tage  liegen.') 
Hervorragend  bekömmlich  und  nahrhaft  sei  das  Fleisch  eines 
einjährigen  Kindes,  „whether  stewed,  roasted,  baked  or  boiled, 

')  YII,  209. 


74 

and  I  luake  iio  doubt  tliar  it  will  equally  serve  in  a  fricassee 
or  a  ragout." 

In  diesen  Detailangaben  kann  sich  die  Sinnlichkeit  Swifts 
in  einer  Weise  ausleben,  die  mitunter  unser  gesundes  Gefühl 
verletzt,  besonders,  wenn  sich  noch  der  pathologische  Faktor 
der  Obszönität  hinzugesellt.  In  dieser  widerlich  krassen 
Form  liegen  schon  die  Anzeichen  zu  Swifts  keimendem  * 
Wahnsinn. 

Wenn  der  Ernst  es  vertragen  kann,  darf  die  Ironie  die 
Anschaulichkeit  auch  durch  niedrige  Vergleiche  erhöhen. 
Die  Satire  bekommt  dadurch  einen  sarkastischen  Ausdruck. 
Auch  in  diesem  Punkte,  vor  allem  in  der  ruhigen,  ehr- 
erbietigen Einführung  niedriger  (Tleichnisse ,  wird  Swifts 
Meisterschaft  zugegeben,  i)  Selbstverständlich  sind  die  Ver- 
gleiclie  ihrer  satirischen  Tendenz  nach  wieder  aus  dem  Tier- 
leben gegriffen. 

„I  rather  recommend  buying  the  children  alive  and  dress- 
ing  them  hot  from  the  knife  as  we  do  roasting  pigs.^^^) 

Wie  glücklich  werden  die  Irländer  werden,  wenn  sie  das 
„Modest  Proposal"  befolgen:  „men  would  become  as  fond  of 
tlieir  wives  during  the  time  of  pregnancy,  as  they  are  now 
of  the  inares  in  foal,  or  soics,  when  they  are  ready  to  farrow, 
nor  offer  to  beat  or  kick  them  (as  it  is  too  frequent  a  prac- 
tice)  for  fear  of  a  miscariage."  3j 

4.    Die  Mischarten  der  Irouie. 

Die  Ironie  erleidet  verschiedene  Grade  der  Intensität,  die 
durch  ihr  Verhältnis  zur  Grundstimmung  und  zur  Tendenz 
des  Gesamtwerkes  bedingt  sind. 

Die  Ironie  kann  (im  engeren  Sinne)  humoristisch  sein, 
wenn   die   kritische  Tendenz   ausgeschaltet   wird,   wenn  das 

')  Jean  Paul  I  §  37.  -)  VII,  211.  ^)  VII,  214. 


75 

Verhältnis  zwischen  dem  Autor  und  seinem  Objekt  kein  ge- 
spanntes ist  und  überhaupt  unberücksichtigt  bleibt.  Selbst- 
verständlich ist  diese  Art  der  Ironie  bei  Swift,  der  als 
Pamphletist  die  Tendenz  so  stark  betonte,  sehr  selten.  Sie 
findet  sich  in  den  beiden  ersten  Büchern  der  „Travels",  in 
den  Büchern,  die  einen  schalkhaften  (Charakter  tragen. 

So  wenn  Gulliver  erzählt:  er  habe  bequem  auf  das 
Taschentuch  des  Riesen  steigen  können,  es  sei  nur  einen  Fuß 
dick  gewesen;  die  Farmerstochter  sei  nicht  über  40  Fuß  hoch, 
und  die  Walfische  seien  dort  so  groß,  daß  ein  Mann  sie  kaum 
auf  den  Schultern  tragen  könne,  i) 

Ganz  anderer  Art  ist  die  humoristische  Ironie,  die  sich 
in  der  Hoffnung  auf  Verbesserung  der  A^'ollindustrie  ausspricht: 
„denn  die  Liliputanerschafe,  die  er  mitgebracht,  hätten  sich 
sehr  vermehrt  und  zeichneten  sich  durch  feine  A\'olle  aus.-j 
Einen  besonderen  Reiz  verleiht  diesem  Beispiel  die  Anspielung 
auf  damalige  Zeitverhältnisse. 

Meistens  dient  die  Ironie  bei  Swift  einem  satirischen 
Grundgedanken.  Diesen  Zweck  hat  ihre  Verbindung  mit  dem 
Witz,  wie  z.  B.  in  der  „Tale".  Dem  eigentlichen  Charakter 
der  Ironie,  dem  Ernst,  sind  zwar  die  Kontraste  des  Witzes 
gefährlich,^)  dennoch  aber  bewirkt  die  Verbindung  der  Parodie, 
die  den  Hauptwert  auf  die  Form  legt,  mit  der  Ironie,  die 
besonders  mit  ihrem  Sinn,  ihrem  Gedankengehalt  kritisiert, 
daß  unter  dem  spielenden  Äußeren  die  satirische  Spitze  stets 
fühlbar  ist. 

Auch  die  Verbindung  der  Ironie  mit  der  Charakter - 
komik  dient  der  satirischen  Tendenz.  Man  denke  an  die 
Beschreibung  von  Jack :  „In  winter  he  went  always  loose  and 
unbuttoned,  and  clad  as  thin  as  possible,  to  let  in  the  ambient 


1)  Vir,  91 ,  97,  114.  ■-)  Vlir,  82.  ^)  Jean  Paul  I  §  37. 


76 

lieat;   and  in  summer  lapped  liimself  close  and  thick  to  keep 
itout."') 

Noch  feiner  ist  die  Ironie  im  III.  Buch  der  „Travels",  die 
die  Charakterkomik  der  blinden  Farbenmischer  satirischer 
gestaltet:  „It  was  indeed  my  misfortune  to  find  them  at 
that  time  not  very  perfect  in  tlieir  lessons.  and  the  professor 
himself  happened  to  be  generally  mistaken."-) 

Schließt  sich  die  Ironie  gar  direkt  der  Satire  an,  so 
wirkt  sie  außerordentlich  verschärfend.  Meistens  tritt  sie 
dann  im  Zusammenhang  mit  einer  Reflexion  auf,  sehr  oft  in 
Form  von  Anreden  an  das  Publikum,  in  ..ironischem  Aus- 
nahmemachen" mit  England  und  in  sarkastischen  Vergleichen. 
Er  wünscht  sich  die  Beredsamkeit  eines  Cicero  oder  eines 
Demosthenes,  um  die  Verdienste  und  das  Glück  seines  Vater- 
landes gebührend  feiern  zu  können.  3) 

Er  behauptet  wiederholt,  er  mache  durchaus  keine  An- 
spielung auf  England;  dabei  schildert  er  genau  die  englischen 
Verhältnisse,  wie  z.  B.  in  der  Satire  auf  die  Titel-  und 
Stellenhascherei  mit  unehrenhaften  Mitteln;*)  oder  in  der 
Satire  auf  die  Launen  der  A\'eiber  in  der  Anekdote  von  der 
durchgegangenen  Ministerfrau ;  &)  oder  endlich  gar  in  der  Satire 
auf  die  Methode  der  modernen  Kolonisation.  <>) 

In  diesem  letzten  Beispiel  erreicht  die  Satire,  geföidert 
durch  die  affektische  Fülle,  eine  außergewöhnliche  Schärfe; 
sie  steht  dem  Sarkasmus  nahe.  Daneben  äußert  sich  der 
Pessimismus  in  dei-  ironischen  Resignation.  Von  einer 
wirklichen  Resignation  kann  man  bei  Swifts  lebhaftem  'l'em- 
perament,  seiner  starken  Lebensfähigkeit,  wenigstens  zur  Ab- 
fassungszeit der  „Travels",  noch  nicht  reden.  Der  eigentlichen 
Resignation   fehlt   auch   die   aufbauende   Kraft;   die  ironische 


')  I,  134:  2)  VIII,  187.  •■')  VIII.  130. 

")  VIIT,  209.        '■')  VIII,  170.  «)  VIII,  30.-). 


77 

dagegen    stellt   einen    nni    so    stärkeren   Aff(^kt   dar.    der   im 
Dienst  der  Satire  zweckmäßige  Verwendung  findet. 

„I  am  not  in  the  least  provoked  at  the  siglit  of  a  lawyer, 
a  pick-pocket,  a  colonel,  a  t'ool,  a  lord,  a  gamester,  a  poli- 
tician,  a  wliore-master,  a  physician,  an  evidence,  a  suborner, 
an  attorney,  a  traitor  or  the  like;  tliis  is  all  according  to  tlie 
due  course  of  tliings."i) 

5.   Die  Yerteiluiig  der  Ironie. 

Um  hier  die  Verteilung  der  Ironie  auf  die  Hauptwerke 
nochmals  kurz  zusammen  zu  fassen,  so  zeigt  schon  das  Erst- 
lingswerk die  „Tale  of  a  Tub"  eine  starke  Verwendung 
der  Ironie.  Swift  sagt  selbst:  „an  irony  runs  tlirough  the 
whole  book".2)  Aber  hier  ist  die  Ironie  von  dem  Witz  üppig 
überwuchert.  Ihr  eigentlicher  Charakter  des  Ernstes  geht 
dabei  zum  Teil  verloren.  Es  fehlt  in  diesem  Jugendwerk 
noch  das  Bittere,  das  später  Swifts  Ironie  auszeichnet;  trotz- 
dem lassen  Ironie  und  Witz  das  satirische  Leitmotiv  deutlich 
durchklingen.  Die  Form  ist  „Lob  statt  Tadel",  mit  be- 
sonderer Verwendung  der  Hyperbel.  Die  Satire  richtet  sich 
gegen  die  Skribenten.  In  der  Satire  auf  die  Vertreter  der 
Kirche  dient  die  Ironie  mitunter  zur  Verstärkung  der  Cha- 
rakterkomik. 

Eine  verschiedenartige  Verwendung  der  Ironie  weisen 
„Gulliver's  Travels"  auf. 

Die  beiden  ersten  Bücher  greifen  wegen  ihres  schalk- 
haften Charakters  zuweilen  zur  humoristischen  Ironie,  vor 
allem  das  IL  Buch.  Aber  schon  Ende  des  II.  Buches  wird 
die  Ironie  als  Stütze  der  Satire  gebraucht,  anfangs  noch  ge- 
schickt   unter   der   Naivität   des   Autors   verborgen,    in    den 

1)  VIII,  307.  •■^)I,5. 


78 

folgenden  Büchern  deutlicher.  Da  die  Ironie  auf  eine  Re- 
flexion zurückgeht,  tritt  sie  fast  nur  im  Anschluß  an 
reflektierende  Erörterungen  auf :  im  IL  Buch  in  dem  dogmati- 
sierenden  Exkurs  über  England.  Aus  eben  diesem  Grunde  ist 
die  Ironie  im  III.  Buch  so  selten.  Denif  hier  ist,  anfangs 
wenigstens,  strengste  Objektivität  gewahrt.  Der  Autor  urteilt 
fast  nie.  Es  finden  sich  demgemäß  nur  ganz  wenige  ironische 
Glossen.  Erst  bei  den  moralisierenden  reflektierenden  Kapiteln 
über  die  Geistererscheinungen  in  Glubdubdrib  oder  bei  der 
Anekdote  über  die  Frau  des  Ministers  tritt'  die  Ironie  der 
Satire  häufig  helfend  zur  Seite.  Selten  ist  hier  die  Form 
„Lob  statt  Tadel",  häufiger  das  „ironische  Ausnahmemachen 
mit  England".  Das  IV.  Buch  endlich  verwendet  die  Ironie 
erst  ganz  gegen  Schluß  in  dem  Fazit,  das  Gulliver  zieht,  aber 
dann  in  außerordentlich  scharfer  Form,  z.  1\  in  der  ironischen 
Resignation,  z.  T.  in  direktem  Sarkasmus. 

Weniger  mannigfach  ist  der  Charakter  der  Ironie  in  der 
„Vindication  of  Lord  Carteret".  Die  Ironie  ist  fast 
durchweg  sehr  deutlich,  was  mit  dem  Charakter  des  Stückes 
als  Pamphlet  zusammenhängen  mag.  Die  Grundform  ist 
„Tadel  statt  Lob",  soweit  es  sich  um  Carteret  handelt.  Das 
Lob  ist  dabei  sehr  breit  ausgeführt,  der  ironische  Tadel  sehr 
knapp,  daher  die  Deutlichkeit.  Daneben  kommt  noch  die 
Form  „Lob  statt  Tadel"  vor,  die  meist  bei  persönlichen  Satiren 
angewandt  wird,  z.  B.  gegen  Tighe,  Lord  Allen  u.  a.  Die 
beiden  kontrastierenden  Formen  der  Ironie,  der  ironische 
Tadel  (Carteret)  und  das  ironische  Lob  (die  Adeligen)  ergeben 
durch  den  Vergleich   die  allgemeine  Satire  auf  die  Adeligen. 

Die  reinste  Form  der  Ironie  stellen  die  „Directions  to 
Servants"  und  das  „Modest  Proposal"  dar,  die  beide  eine 
durchgeführte  Ironie  aufweisen.  Die  Form  der  ., Directions" 
ist  der  „ironische  Rat".  Bemerkenswert  ist  der  Ernst  des 
Vortrags,    die    hervorragende,    stark    pessimistisch    gefärbte 


79 

Menschenkenntnis,   und  die  starke,   tendenziiise  Verwendung 
des  Obszönen, 

Dieselben  Eigenschaften  zeichnen  auch  das  „Modest 
Proposal"  aus:  „ironischer  Rat",  unerschütterlicher  Ernst, 
Verwendung  des  Obszönen  und  eine  grausige  Detailmalerei, 
Der  Sarkasmus  ist  hier  noch  stärker  als  in  den  „Directions". 
Beide  bergen  Anzeichen  des  Verfalls  der  geistigen  Kräfte 
Swift's, 


VI.  Die  Form  der  Satire. 


\ 


f     1.    Die  Mimische  Satire. 

Die  komisclre  Wirkung  dieser  Satire  beruht  auf  der 
scheinbar  naiven  karikirenden  Nachahmung  des  komischen 
Subjekts,  Sie  stellt  eine  sehr  reine  ästhetische  Form  dar,  da 
es  ihr  nicht  allein  um  das  starke  Betonen  der  Tendenz  zu  tun 
ist,  sondern  auch  um  die  ansprechende  gefällige  Einkleidung, 
Manche  dieser  Einkleidungen  sind  für  die  damalige  Zeit 
typisch;  die  Form  spielt  dabei  eine  untergeordnete  Rolle. 
Andere  wiederum  stellen  Parodien  dar;  dann  ist  die  Form 
selbst  das  Objekt  der  Satire. 

Eine  typische  Form  der  damaligen  Satire  ist  der  Brief, 
Die  Beliebtheit  dieser  Literaturgattung  um  die  Wende  des 
siebzenten  und  am  Anfang  des  achtzehnten  Jahrhunderts  er- 
klärt sich  aus  dem  lebhaften  Interesse  für  Politik,  dem 
schwach  entwickelten  Zeitungswesen  —  Swifts  umfangreiche 
Korrespondenz  enthält  neben  persönlichen  meist  politische 
Nachrichten  — ,  hauptsächlich  aber  aus  den  Keimen  der  Ge- 
fühlskultur,  die  in   dem  Moralismus  ihre  Wurzeln  hat,   aber 


se 

erst  um  die  Mitte  des  achtzehnten  Jahrhunderts  zur  vollen 
Blüte  sich  entfaltete. 

Swift  hat  die  Briefform  mit  großer  Vorliebe  benutzt,- 
nicht  nur  bei  seinen  Pamphleten,^  sondern  auch  als  Ein- 
kleidung von  literarischen  Essays.  Als  vortreffliche  Beispiele 
der  miraischen  Satire  in  der  Form  des  fingierten  Briefes  seien 
aus  der  großen  Menge  nur  zwei  erwähnt,  der  eine  fast  humo- 
ristisch gehalten:  der  Brief  eines  neugierig- verliebten  Mädchens 
Sylvia  an  Isaac  Bickerstaff  (Tatler  24.  März  1710);')  der 
andere  weitaus  satirischer.  Es  handelt  sich  um  das  Bitt- 
gesuch der  Skribenten,  die  seither  im  Dienste  der  Whigs 
waren,  nun  aber  bei  dem  Ministerwechsel  brotlos  sind,  wenn 
die  Torys  sie  nicht  gnädig  in  ihren  Dienst  nehmen.^) 

Beliebt  war  damals  in  England  auch  die  Satire  in  der 
Form  gelehrter  Abhandlung.  Die  Satire  richtet  sich  meist 
gegen  die  Halbbildung.  Swift  hat  diese  Form  benutzt  im 
„Discourse  on  the  Mechanical  Operation  of  the  Spirit". 

Die  auch  von  Rabener  und  Pope  angewandte  Form  der 
gelehrten  Noten  oder  des  „Schlüssels"  finden  wir  in  den 
Anmerkungen  zu  „Merlin's  Prophecy". 

Hier  ist  nochmals  auf  die  Form  des  Rates  des  witzig-, 
ironisch-satirischen,  zu  verweisen,  teils  „Projekt",  teils  „Advice", 
teils  „Hints",  teils  „Directions"  genannt.  Auch  diese  Form  er- 
klärt sich  aus  den  Zeitverhältnissen,  aus  den  politischen  und 
gesellschaftlichen  Zuständen,  und  aus  den  Versuchen,  eine 
Besserung  auf  dem  Gebiet  der  Moralität  und  Sozialpolitik 
herbeizuführen. 

Rein  mimische  Satire  stellen  ferner  die  Parodien  dar, 
worin  Swift  sich  über  den  Unfug  lustig  macht,  der  von  den 
Skribenten  mit  der  Traumtechnik  in  der  Literatur  getrieben 
wurde;  so  im  ..Tatler"  Nr.  5   vom  27.  Januar   1710.3)     t^^yift 

')  IX,  G;i  ^)  IX,  299.  =")  IX,  48,  54. 


81 

geht  iiücli  einen  Schritt  weitei',  indem  er  auch  das  Er- 
wachenO  satirisch  ausnutzt. 

Bekannter  als  diese  Satire  sind  die  „Bickerstaff  Pamphlets" 
g-eworden,  die  in  der  Form  von  Weissagungen  den  „Astro- 
loger Partridge"  parodieren:  „Predictions  to  the  year  1708, 
Meriin's  Prophecy". 

Die  Parodien  auf  die  Skribenten  sind  in  die  Form  von 
„Dedications  to  the  Prince  Posterit^y ,  to  Lord  Somers"  und 
in  zahlreichen  unangebrachten  „Digressions"  auf  unsinnige 
Themata  eingekleidet. 

Auch  „Gulliver's  Travels"  stellen  eine  Parodie  dar,  deren 
Spitze  sich  gegen  die  Aufschneiderei  der  Reiseromane, 
gegen  das  überflüssige  Detail  und  gegen  die  allzureichlichen 
Schiffsausdrücke  richtet.  Anfang  des  IL  Buches  parodiert  er 
wörtlich  Sturmys  „Oompleat  Mariner". 2) 

r 
r 

2.   Die  groteske  Satire. 

Swift  gehört  zu  den  letzten  bedeutenden  Repräsentanten 
des  verschwindenden  Grotesken.  Seine  starke  Phantasie,  sein 
exzentrisches  ^^'esen,  sein  eifriges  Rabelais  -  Studium  ließen 
ihn  für  die  Gattung  des  Grotesken  Vorliebe  empfinden. 
Während  jedoch  bei  Rabelais  die  groteske  Satire  sich  auch  in 
einer  grotesken  Sprache  äußert,  weist  die  Satire  Swifts  stets 
eine  klassisch  einfache  Sprache  auf. 

Das  Groteske  kommt  bei  ihm  nicht  allzuhäufig  vor.  Rein 
grotesk  ist  nach  Schneegans'  Ansicht  nur  die  Satire  auf  die 
Wissenschaft  im  III.  Buch  der  „Travels".  Hier  wird  die 
Charakterschwäche  der  beruflichen  Einseitigkeit  auf  musi- 
kalisch-mathematischem Gebiet  bis  zur  Unmöglichkeit  ver- 
zerrt.   Die  fliegende  Insel   wird  von  einem  großen  Magneten 


')  IX,  48,  54.  «)  VIII,  86. 

HockiT,  Dil'  S;itirc   .)i)ii;itli:iii  Swifts. 


82 

dirigiert.  Die  ganze  Umgebung,  die  Tische,  die  Speisen,  die 
Kleider,  die  Sprache,  alles  hat  mathematisches  und  musika- 
lisches Gepräge.  Die  Bewohner  pflegen  die  innere  Kontem- 
plation, die  Musik  und  die  astronomischen  Studien ;  sonst  haben 
sie  für  die  Umwelt  keinen  Sinn. 

Diesen  reinen  Ton  des  Grotesken  hat  Swift  in  seinen 
anderen*  Schriften  nicht  getroffen.  Die  „Tale  of  a  Tub"  weist 
höchstens  Ansätze  zu  einer  grotesken  Form  auf,  und 
auch  diese  finden  sich  selten  allein,  sondern  meist  mit  alle- 
gorischer und  symbolischer  Satire  vermischt. 

Ziemlich  rein  ist  der  Ansatz  bei  der  äußeren  K^arikatur, 
die  Eduard  v.  Hartmann  als  das  Hauptmerkmal  des  Grotesken 
bezeichnete.  Hier  ist  die  groteske  Form,  der  spielende  Aus- 
druck die  Hauptsache.  Die  Satire  auf  die  Aolisten  und  auf 
Jack  verwenden  dieses  Moment  sehr  häufig. 

„He  (Jack)  hired  a  tailor  to  stitch  up  the  collar  so  close, 
that  it  was  ready  to  choke  him,  and  squeezed  out  his  eyes 
at  such  a  rate,  as  one  could  see  nothing  but  the  white." ') 

Oft  ist  das  Groteske  von  dem  Allegorischen  schwer  zu 
^trennen.  Das  ist  der  Fall  bei  den  Charakterkarikaturen,  bei 
denen  das  Allegorische  im  Vordergrund  steht. 

Hierher  gehört  die  vielseitige  Verwendung  des  Testaments. 
Jack  benutzt  es  als  Nachtmütze,  als  Eegenschirm,  als  Zehen- 
umwickler.  als  probates  Mittel  gegen  Schwindelanfälle  und 
in  zerriebenem  Zustande  als  Magenpulver.-) 

Auch  das  sonstige  Benehmen  Jacks  weist  diese  Form  der 
grotesk -allegorischen  Satire  auf;  so  seine  Heuchelei,  3)  sein 
frommes  Eckenstehen  und  Beten ;^)  seine  Vorliebe  für  „snap- 
dragons"  und  sein  damit  zusammenhängendes  „feuriges"  An- 
gesicht. 

1)  1,137.  2)  1,131.  ä)  I   134  4)  I   ;^32. 


83 

Die  Satire  auf  die  Inspiration  der  Aolisten  ist  ebenfalls 
in  erster  Linie  allegorisch;  doch  weiß  ihr  Swift  einen  grotesken 
Anstrich  zu  geben,  indem  er  den  Vorgang  bis  zur  Unmöglich- 
keit karikiert,  i)  Die  Aolisten  nehmen  nämlich,  um  die  Kunst 
des  Rülpsens  zu  üben,  etliche  hundert  an  der  Zahl,  in  einem 
Kreise  Aufstellung,  ein  jeder  mit  einem  Blasebalg  ausgerüstet, 
den  er  in  des  Nachbarn  Hintern  steckt  und  ihn  damit  zu  der 
Größe  eines  Fasses  aufbläst,  bis  dieser  imstande  ist,  mit  einer 
plötzlichen  Entleerung  seinen  Schülern  einen  großen  Teil  des 
aufgenommenen  Windes  abzugeben. 

Die  Karikatur  verwendet  auch  hier  wieder  das  Mittel 
der  Obszönität. 

Auch  mit  der  symbolischen  Satire  kann  das  Groteske 
in  innige  Verbindung  treten.  Die  Sprache  Jacks  stellt  die 
Vollendung  des  spanischen  „braying"  dar;  da  er  aber  selbst 
große  Schlappohren  hat,  so  kann  man  weder  mit  dem  Auge 
noch  mit  dem  Gehör  unterscheiden,  ob  es  sich  um  einen 
Originallaut  oder  eine  Imitation  handelt.  2)  Hier  scheint  das 
Groteske  sogar  zu  überwiegen. 

j   ,  3.   i)ie  burleske  Satire. 

Das  Burleske  stellt  die  qualitative  Verschiebung  eines 
Hohen  zu  einem  Niedrigen  dar.  Sein  Lachen  ist  nicht  harm- 
los, naiv  wie  das  Groteske,  sondern  hämisch,  frivol.  ^ 

Das  Burleske  ist  bei  Swift  selten.  Das  beste  Beispiel 
stellt  das  Gedicht  „Philemon  and  Baucis"  dar.  Die  Form 
ist  die  der  Travestie.  Aus  den  Göttern  macht  er  Bettel- 
mönche, aus  Philemon  und  Baucis  kentische  Bauern.  Nicht 
genug  damit,  daß  ihr  Haus  eine  Kirche  wird,  Philemon  wird 
sogar  Pfarrer,  der  nur  von  Abgaben  und  Zehnten  spricht,' 
Pfeife  raucht,  Zeitung  liest  und  auf  die  Dissidenten  schimpft. 

»)  1, 107.        '0  I,  135. 


84 

In  ,. Gullivers  Travels"  verwendet  Swift  das  Burleske 
gar  nicht,  in  der  „Tale  of  a  Tub"  sehr  selten' und  nur  in 
Verbindung-  mit  der  allegorischen  und  der  symbolischen 
Satire. 

So  erzählt  uns  Swift  von  den  Triumphen,  die  die  Grubstreet- 
schreiber,  die  Vertreter  der  „stage  itinerant"  mit  ihren  Pro- 
dukten über  „Time"  feiern.  Die- Flügel  haben  sie  diesem 
ihrem  Feind  gestutzt,  die  Nägel  geschnitten,  die  Zähne  ab- 
gefeilt, sein  Stundenglas  umgedreht,  seine  Sense  haben  sie 
stumpf  gemacht,  sogar  die  Nägel  haben  sie  ihm  aus  den 
Schuhen  gezogen.^) 

Hier  ist  mit  dem  allegorischen  Apparat  mutwilliger  Scherz 
getrieben. 

Schärfer  wirkt  die  Verbindung  des  Burlesken  mit 
der  symbolischen  Satire.  Mit  den  „puppets"  und  „raree- 
shows"2)  Peters  verspottet  er  die  Prozessionen,  mit  dem 
„universal  pickle"  das  AV^eihwasser  und  dessen  Wunderkraft. •^) 
Mit  diesem  „universal  pickle".,  einer  Erfindung  Peters,  kann 
man  alles  Ungeziefer  im  Hause,  Wiesel,  Eatten  und  Spinnen, 
vertreiben,  man  kann  sogar  Hunde  von  Tollwut,  von  Räude, 
von  Grind  und  Läusen  heilen. 

Das  Unflätige  gesellt   sich   mit  Vorliebe  zum  Burlesken. 

4.  /Die  allegorische  Satire. 

Sie  nimmt  bei  Swift  den  breitesten  Raum  ein.  In  ihrer 
Kälte  bringt  sie  den  satirischen  Gedanken  schärfer  zum  Aus- 
di'uck  als  die  groteske  Satire,  wirkt  dafür  aber  auch  weniger 
lebhaft  und  weniger  ergötzlich.  Während  Swift  in  seinen 
späteren  Schriften  kein  besonders  entwickeltes  allegorisches 
Denken  aufweist,  machen  die  Erstlingswerke,  die  „Tale  of  a 

')  1,57.         •')  1,81.         ')  I,  181. 


85 

Tab"  und  die  „Battle  of  the  Books",  eine  Ausnahme.  Diese 
seltsame  Erscheinung-  findet  einmal  ihre  Erklärung-  in  der 
jugendlich  lebendigen  Phantasie,  die  das  Tonnenmärchen  über- 
haupt auszeichnet  —  man  denke  nur  an  die  Fülle  der  über- 
raschenden Metaphern  — ,  sodann  aber  auch  in  der  hohen  Bildung 
seiner  Leser.  Vor  allem  die  „Battle  of  the  Books"  weist  die 
allegorische  Satire  in  dem  Stil  des  Heroisch -Komischen  auf. 
indem  durch  die  Sprache  dem  nichtswürdigen  Ereignis  und 
unbedeutenden  Personen  ein  Komplex  von  erhabenen  Vor- 
stellungen aufgenötigt  wird,  erscheinen  die  Personen  und  Er- 
eignisse noch  lächerlicher.  Die  allegorische  Satire  ist  hier 
nicht  ganz  rein,  wirkt  aber  dafür  auch  nicht  so  kalt. 

Die  Personifikation  nach  klassischem  Muster  zeigt  sich 
vor  allem  in  den  Göttern  der  „Battle  of  the  Books":  Da 
liegt  „Criticism"  auf  ihrem  Lager  mit  den  Resten  von  un- 
zähligen halbverschlungenen  Bänden.  „Pride",  ihre  Mutter, 
kleidet  sich  in  selbstbeschriebenes  Papier.  „Opinion",  ihre 
Schwester,  ist  leichtfüßig,  hat  die  Augen  verbunden,  ist  dick- 
köpfig   und   dennoch    schwindelig   und    dreht   sich  beständig. 

Ihre  Kinder  sind  „Noise",  „Impudence",  „Dulness", 
„Vanity",  „Positiveness",  „Pedantry",  „  111- Manners",  i) 

Ähnlich  in  der  „Tale".  Die  drei  Brüder  verkehren  mit 
der  „Duchess  d'Argont,  Madame  de  Grands  Titres,  Countess 
d'Orgueil".  „Paris"  (der  Richterstand)  wird  von  „Juno" 
(Geld)  und  „Venus"  (Liebe)  bestochen  und  verschläft  die 
ganze  Gerichtssache.  2) 

Besonders  eingehend  beschäftigt  sich  seine  Satire  mit 
der  Kritik.  Seine  allegorische  Satire  der  Göttin  „Criticism" 
weist  stark  karikirende  Züge  auf. 

Die  Göttin')  hat  Katzenklauen;  Kopf,  Ohren  und  Stimme 
gleichen  denen  eines  Esels.    Zähne  hat  sie  schon  lange  keine 

•)  1,175.         "~)I,il. 


86 

mehr.  Ihre  Augen  sind  nach  innen  verdreht,  als  ob  sie  nur 
auf  sicli  sähe.  Ihr  Spleen  ist  so  ungeheuerlich  und  starrend, 
wie  eine  mächtige  Brust.  Eine  Menge  schauderhafter  Monstra 
saug-en  gierig  an  ihren  Zitzen  und  wunderbar,  je  gieriger  sie 
saugen,  um  so  größer  wird  der  Spleen. 

Natürlich  gewinnt  dadurch  die  Allegorie  an  Lebhaftigkeit. 

Eine  Allegorie  im  weiteren  Sinne  ist  die  ganze  „Tale  of 
a  Tub".  Die  drei  Kirchen  werden  personiiiziert  und  allego- 
risiert  durch  die  drei  Vertreter:  Peter,  Martin  und  Jack, 
und  durch  deren  Charaktereigenschaften  und  Handlungsweisen. 

Auch  hier  kann  wieder  die  Karikatur  belebend  auf  die 
Allegorie  wirken,  wie  die  oben  zitierten  Beispiele  der  Äolisten 
und  Jacks  beweisen. 

5.   Die  symbolische  Satire. 

Sie  ist  wenig.ör  häufig  als  die  allegorische,  zeichnet  sich 
jedoch  wegen  ihrer  Verwandtschaft  mit  der  metaphorischen 
Aperzeption  durch  eine  größere  Phantasietätigkeit  aus.  Sie 
kommt  besonders  in  der  „Tale  of  a  Tub"  und  in  der  „Battle 
of  the  Books",  seltener  in  „Gullivers  Travels"  vor.  Auch  die 
symbolische  Satire  kann  verschiedene  Verbindungen  eingehen. 

Ganz  rein  ist  die  symbolische  Satire  im  I.  Buch  der 
„Travels",  wo  die  Charakterlosigkeit  der  Minister  durch  Seil- 
springen, der  übertriebene  Parteieifer  durch  hohe  oder  niedrige 
Absätze  symbolisiert  wird. 

Die  Möglichkeit  der  Verbindung  zwischen  symbolischer 
und  grotesker  Satire  beweist  das  III.  Buch.  Die  mathe- 
matisch geformte  Umgebung  symbolisiert  die  berufliche  Ein- 
seitigkeit; die  übertreibende  Darstellung  an  und  für  sich  ist 
grotesk. 

Das  Symbol  kann  auch  als  ein  Teil  der  allegorischen 
Satire  auftreten,  z.  B.  bei  äußeren  Schilderungen  von  Personen. 


87 

So  ist  die  Figur  Bentle}^»  in  der  ,,Battle"  an  und  für 
sich  eine  Personifikation  seiner  Schriften.  Daß  ihm  Swift 
aber  in  seine  Rechte  einen  Flegel,  in  seine  Linke  einen  Topf 
mit  Unrat  gibt,  ist  eine  symbolische  Satire  auf  den  Ideen- 
g-ehalt  seiner  Schriften.') 

In  der  „Tale  of  a  Tub"  nimmt  die  symbolische  Satire 
eine  etwas  selbständigere  Stelle  ein.  Sie  fügt  sich  aber  auch 
hier  in  den  Rahmen  der  weiteren  Allegorie. 

Hierher  gehört  vor  allem  die  „Kleiderphilosophie". ■^) 

Die  Satire  setzt  da  an,  wo  er  auf  die  Charaktereigen- 
schaften zu  sprechen  kommt.  Religion  ist  ein  Deckmantel; 
Ehrlichkeit  ein  Paar  schmutzige,  abgetragene  Schuhe ;  Eigen- 
liebe ein  Mantel;  Eitelkeit  ein  Hemd;  Gewissen  ein  Paar 
Hosen,  die  zwar  Laster  und  Häßlichkeit  bedecken,  aber  auch 
leicht  zur  Befriedigung  beider  heruntergestreift  werden 
können. 

Am  häufigsten  verwandt  ist  die  Form  des  Symbols  in 
der  ,.Tale  of  a  Tub"  bei  der  Satire  auf  die  römische  Kirche. 
Man  denke  an  die  verschiedenen  Erfindungen  Peters:  sein 
„whispering- Office",  eine  Satire  auf  die  Ohrenbeichte,  sein 
„universal  pickle",  das  sich  gegen  den  Gebrauch  des  Weih- 
wassers richtet,  und  sein  Universalmittel  gegen  Würmer,  eine 
Satire  auf  die  allzuleichte  Absolution. 3)  Man  denke  auch  an 
die  Puder,  Pulver,  Pflaster,  Salben,  die  er  auf  Jahrmärkten 
verkauft, "»j  sowie  seine  interessanten  „puppets  and  raree- 
shows".ä)  Jene  stellen  eine  symbolische  Satire  auf  den  Ab- 
laßhandel, diese  auf  den  Mummenschanz  der  Prozessionen  dar. 

Hatte  das  III.  Buch  der  „Gulliver  Travels"  eine  Ver- 
bindung von  symbolischer  und  grotesker  Satire  dargestellt,  so 
erweisen  die  zuletzt  angeführten  Erfindungen.  Peters,  die 
Möglichkeit    der    Vereinigung    von    symbolischer    und 

1)  I,  182.  2)  I,  62.  ^)  I,  80.  ')  I,  46.  '-)  1,  81. 


burlesker  Satire.     Der  Spott  wirkt  dadurch  reizvoller,  aber 
auch  frivoler. 

6.   Die  direkte  Satire. 

Sie  ist  die  ästhetisch  am  weniosten  anziehende  Form. 
Die  künstlerische  Unbefangenheit,  soweit  man  bei  Swift  über- 
haupt davon  reden  kann,  ist  hier  gänzlich  verloren  gegangen. 
Bei  Swift  Avar  ja  überhaupt  nicht  so  sehr  der  ästhetische 
Mensch  produktiv  wie  der  sittliche,  und  das  zeigt  sich  in 
keiner  Form  deutlicher  als  in  der  direkten  Satire.  Denn  sie 
spornt  zur  Tat.  Sie  nimmt  sich  nicht  erst  die  Zeit  aus- 
zuschmücken. Der  Affekt  durchbricht  alle  Schranken,  sogar 
die  ungewöhnliche  Selbstbeherrschung  eines  Swift  und  macht 
sich  in  bissigen  Bemerkungen  und  in  langatmigen  Schimpfereien 
Luft. 

Eine  Art  direkte  Satire  sind  schon  die  bissigen  Rand- 
glossen, die  er  über  die  „Characters  of  the  Court  of  Queen 
Anne"  von  Macky.i)  und  zu  Burnets  „History  of  his  own 
Time""^)  macht.  Sein  Urteil  ist  in  den  meisten  Fällen  dem 
der  Autoren  entgegengesetzt.  Verbitterung  und  Menschenhaß 
spiegeln  sich  fast  in  jedem  Wort;  „a  deceitful,  hj^pocritical,. 
factious  knave,  a  damnable  hypocrite,  of  no  religion,  a  blunder- 
ing,  rattle-pated  drunken  sot."  Am  häufigsten  aber  findet 
sich  die  direkte  Satire  in  „G-ulliver's  Travels"  am  Ende  des 
zweiten  Buches  und  besonders  in  den  dogmatischen,  ironischen, 
pessimistischen  Kapiteln  der  beiden  letzten  Bücher.  Sie 
richtet  sich  gegen  die  Ärzte,  gegen  das  Militär,  gegen  das 
ganze  Menschengeschlecht.  Erinnert  sei  an  die  Listen  der 
ärztlichen  Medikamente, 3)  an  die  schauderhafte  Schilderung 
des    Krieges 4)    und,   im   letzten  Buch    der  „Travels",   an  die 


')  X,373,  288.  *)  X,  327  — 368. 

^)  VIII,  196,  265.  ')  VIII,  255. 


89 

seitenlange  Aufzählung'  der  ilnn  verliaßten  Stände.  An 
alles  umfassender  Ausfiiln-liclikeit  läßt  sie  kaum  etwas  zu 
wünschen  übrig. 

„I  enjoyed  perfect  health  of  body,  and  tranciuillity  of 
mind;  I  did  not  feel  the  treacher}^  or  inconstancy  of  a  friend, 
nor  the  injuries  of  a  secret  or  open  enemy.  I  had  no  oc- 
casion  of  bribing,  flattering  or  pimping,  to  propose  the  favour 
of  any  great  man  or  his  minion.  I  wanted  no  fence  against 
fraud  or  oppression;  liere  was  neither  physician  to  destroy 
my  body,  nor  lawyer  to  ruin  my  fortune;  no  informer  to 
watch  my  words  and  actions,  or  forge  accusations  against 
nie  for  hire:  here  were  no  gibers,  censurers,  backbiters,  pick- 
pockets,  highwaymen,  housebreakers,  attorneys,  bawds,  buf- 
foons,  gamesters,  politicians,  wits,  splenetics,  tedious  talkers, 
controversists,  ravishers,  murderers,  robbers,  virtuosos;  no 
leaders  or  followei's  of  party  and  faction;  no  encouragers  to 
vice,  by  seducement  or  examples;  no  dungeon,  axes,  gibbets, 
whipping  -  posts  or  pillories ;  no  cheating  shopkeepers  or 
mechanics;  no  pride,  vanity  or  affection;  no  fops,  bullies, 
drunkards,  strolling  whores,  or  poxes;  no  ranting,  lewd,  ex- 
pensive  wives;  no  stupid,  proud  pedants;  no  importunate, 
overbearing,  quarrelsome,  noisy,  roaring  empty,  conceited, 
swearing  companions;  no  scoundrels,  raised  from  the  dust  for 
the  sake  of  their  vices,  or  nobility  thrown  into  it  on  account 
of  their  virtues;  no  lords,  fiddlers,  judges,  or  dancing-masters."') 


')  viir,  287. 


Berichtigung. 

S.  39,  Z.  1  von  oben  lies  teleologischen  statt  theologischen. 


Lebenslauf. 


Ich,  Hans  Philipp  Otto  Becker,  evangelisch -reformiei't, 
Preuße,  geboren  am  30.  November  1886  zu  Wolferborn,  Kreis 
Gelnhausen,  besuchte  drei  Jahre  die  Volksschule,  erwarb 
Ostern  1905  das  Reifezeugnis  auf  dem  Goethe -Gymnasium  zu 
Frankfurt  a.  M. ,  besuchte  zum  Studium '  des  Englischen, 
Französischen  und  der  Geschichte  die  Universitäten  Bonn  von 
Ostern  1905  bis  Herbst  1906,  Berlin  von  Herbst  1906  bis 
Ostern  1907,  Marburg  von  Ostern  1907  bis  Ostern  1911.  Am 
1.  März  1911  bestand  ich  das  Rigorosum,  am  21.  und  22.  April 
das  Staatsexamen.  Herbst  1911  überwies  mich  das  Pro vinzial- 
schulkollegium  zu  Cassel  dem  pädagogischen  Seminar  des 
Wöhler- Realgymnasiums  zu  Frankfurt  a.  M.  und  Ostern  zur 
Aushilfe  dem  Reform  -  Gymnasium  zu  Frankfurt  -  Sachsen- 
hausen, Herbst  1912  zur  Ableistung  des  Probejahres  der 
Rödelheimer  Realschule  zu  Frankfurt  a.  M. 

Von  meinen  akademischen  Lehrern  nenne  ich  in  dank- 
barer Gesinnung  folgende  Herren  Dozenten  und  Lektoren: 
Beacock,  Brandl,  Bülbring,  Delbrück,  Drescher,  Ebeling, 
Foerster,  Haguenin,  Joliet,  Klebs,  Loesclike,  Natorp,  Nissen, 
Price,  Roethe,  v.  d.  Ropp,  Savory,  E.  Schmidt,  Schulte,  Schwarz, 
Spies,  Varrentrapp,  Waltz,  Wechssler,  Wilmanns. 

Zu  besonderem  Danke  bin  ich  Herrn  Prof.  Dr.  W.  Vietor 
verpflichtet,  der  mir  die  Anregung  zu  dieser  Arbeit  gab  und 
mich  bei  der  Ausführung  mit  seinem  Rat  unterstützte. 


c)  M 


--^i  ^ 


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UNIVERSITY  OF  TORONTO  LIBRARY 


PR 

3727 

3/i 


Becker,  Hans  Philipp  Ctto 

Die  Satire  Jonathan 
Swifts