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Full text of "Die Schönheit des weiblichen Körpers : den Müttern, Ärzten und Künstlern gewidmet"

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Die  Schönheit 


des 


Weiblichen  Körpers. 


Von 


DR-  C.  H.  ST  RATZ. 


DEN  MUTTERN,  ÄRZTEN  UND  KUNSTLERN 

GEWIDMET. 


Mit  6g  theils  fai-bigen  Abbildungen  im   Text  und  j   Tafeln  in  Heliogravüre. 


STUTTGART. 
VERLAG    VON  FERDLNAND  ENKE. 

7c 


Druck  der  Union  Deutsche  Verlagsgesellschaft  in  Stuttgart. 


Vorwort. 


Wer  ein  neues  Haus  bauen  will,  hat  eine  schwere  Arbeit  zu 
verrichten.  Von  überall  her  muss  er  die  Steine  und  die  Balken 
herbeitragen,  und  er  ist  den  freundlichen  Menschen  dankbar,  die 
ihm  dabei  geholfen  haben.  Wenn  endlich  das  Haus  dasteht,  dann 
ist  es  noch  lange  nicht  fertig,  hier  hat  die  Mauer  einen  Riss  be- 
kommen  und  dort  hat  sich  ein  Stein  gesenkt,  und  Jahre  vergehen, 
ehe  er  das  Gebäude  wohnlich  eingerichtet  hat,  zur  Freude  für  sich 
und  andere. 

Ich  habe  versucht,  der  lebenden  weiblichen  Schönheit  einen 
Tempel  zu  errichten  im  Reiche  der  Gedanken;  die  Bausteine  haben 
mir  der  Arzt,  der  Anatom  und  der  Künstler  geliefert. 

Mit  freundlichem  Dank  an  diejenigen,  die  mir  geholfen,  über- 
gebe ich  das  Werk,  so  wie  es  ist,  der  Oeffentlichkeit  und  hoffe,  dass 
es  Beifall  finden  wird  und  mir  Freunde  erwirbt,  die  geneigt  sind, 
es  zu  verbessern,  zu  erweitern  und  zu  vervollständigen. 


IV  Vorwort. 

Ich  habe  eine  mehr  allgemeinverständliche  Form  gewählt,  da 
der  Inhalt,  wie  mir  scheint,  auch  weitere  Kreise  als  die  rein  wissen- 
schaftlichen zu  fesseln  berufen  ist.  Dies  Buch  ist  den  Müttern,  den 
Aerzten  und  Künstlern  gewidmet. 

Habeat  suum  fatum. 
den  Haag-Scheveningen,  Juni  1898. 

C.  H.  Stratz. 


Inhalt. 


Seite 

Einleitung 1 

I.  Der  moderne  Schönheitsbegriff 4 

IL  Darstellung  weiblicher  Schönheit  durch  die  bildende  Kunst      ...  13 

III.  Weibliche  Schönheit  in  der  Literatur 26 

IV.  Proportionslehre  und  Canon 32 

V.  Einfluss  von  Geschlecht,  Lebensalter  und  Erblichkeit 43 

VI.  Einfluss  von  Krankheiten  auf  die  Körperform 51 

VII.  Einfluss    der    Entwickelung ,    Ernährung    und   Lebensweise    auf    den 

Körper 62 

VIII.  Einfluss  der  Kleider  auf  die  Körperform 70 

IX.  Beurtheilung    des    Körpers    im    allgemeinen    nach    diesen    Gesichts- 
punkten        78 

X.  Beurtheilung  der  einzelnen  Körpertheile 91 

a)  Kopf 92 

b)  Rumpf s 105 

Der  Rumpf  als  Ganzes 106 

Die  einzelnen  Theile  des  Rumpfes 112 

Brust ' 112 

Bauch 124 

Rücken 131 

Die  Verbindungen  des  Rumpfes  mit  Kopf  und  Gliedmassen  138 

Hals 139 

Schultern .,    .     .     .  144 

Hüften  und  Gesäss 146 


VI  -Inhalt. 

Seite 

c)  Obere  Gliedmassen 151 

Arm 152 

Hand 155 

d)  Untere  Gliedmassen 157 

Bein 158 

Fuss     . 162 

XI.  Ueberblick    der    gegebenen    Bedingungen    normaler   Körperbildung, 

Masse  und  Proportionen.     Felder  und  Vorzüge 165 

XII.  Praktische    Verwerthung    der    wissenschaftlichen    Auffassung    weib- 
licher Schönheit 170 

XIII.  Verwerthung  in  der  Kunst  und  Kunstkritik 185 

XIV.  Vorschriften  zur  Erhaltung  und  Förderung'  weiblicher  Schönheit      .  190 


Verzeiclmiss  der  Tafeln. 

Tafel  I.     Wiener  Mädchen. 

Tafel  IL     Junges  Mädchen.    Originalzeichnung  von  Frau  Cornelia  Paczka. 

Tafel  III.     Rückansicht  derselben. 


Verzeiclmiss  der  Abbildungen. 


Seite 

Fig.     1.  Vatikanische  Venus 10 

„  2.  La  danseuse  von  Falgniere 11 

„  3  a  und  b.     Aphrodite  diaduinene  vom  Esquilin 16,  17 

„  4.  Alma  Tadema.     „Ein  Bildhauermodell"        18 

„  5.  löjäbriges  Judenmädchen 19 

6.  Venus  von  Boticelli .22 

„  7.  Canon  von  G.  Fritsch  und  Merkel'che  Normalgestalt 36 

„  8.  Weibliche  Normalfigur  nach  Richer 38 

„  9.  Sarpi,  javanisches  Mädchen  von  etwa  18  Jahren 39 

„  10.  Weibliche  Normalfigur  nach  Hay 42 

„  11.  Weibliche  Normalfigur  von  Thomson 42 

„  12.  Infantilismus  der  Frau  nach  Meige 45 

„  13.  Schönheitscurve.     Beaute  du  diable .  47 

„  14.  Mädchen  mit  deutlichen  Zeichen  überstandener  Rhachitis     ...  54 

„  15.  Junge  Engländerin  mit  Spuren  überstandener  Rhachitis  ....  55 

„  16.  Myopathie  primitive  progressive  nach  Londe  und  Meige       ...  57 

„  17.  Mädchen  von  26  Jahren  mit  kräftig  entwickelter  Muskulatur  .     .  58 

„  18.  20jähriges  Mädchen  mit  phthisischem  Habitus 60 

„  19.  Kopf  eines  menschlichen  Embryo,  aus  der  sechsten  Woche  (schema- 
tisch nach  Gegenbaur  und  Häckel) 63 

„  20.  Kopf  einer  jungen  Pariserin  mit  feingeschnittenem  Mund    ...  64 

„  21.  Kleines  Mädchen  mit  X-Beinen  (Genu  valgum)  nach  Hoffa  .     .     .  66 

„  22.  Javanisches  Mädchen,  das  nie  ein  Corset  getragen  hat     .     .     .     .  71 

„  23.  Gypsabguss  nach  der  Leiche  einer  jugendlichen  Selbstmörderin    .  72 

„  24.  Mädchentorso  ohne  Schnürfurche 73 

„  25.  Mädchen  mit  deutlicher  Schnürfurche 74 

,,  26.  Mädchen  mit  sehr  starker  Einschnürung 75 

„  27.  Symmetrische  Körperhaltung 80 

„  28.  Männliche  Normalgestalt  nach  Merkel 83 

„  29.  Weibliche  Normalgestalt  nach  Merkel 83 

„  30.  Männliche  Normalgestalt  nach  Merkel  von  hinten 84 


VIII  Verzeichniss  der  Abbildungen. 

Seite 

Fig.  31.     Weibliche  Normalgestalt  nach  Merkel  von  hinten 84 

„    32.  Weiblicher  und  männlicher  Torso  im  Profil  nach  Thomson    .     .  85 

„    33.  Weiblicher  und  männlicher  Schädel.     Modificirt  nach  Ecker .     .  92 

34.  Kopf  eines  Embryo  aus  der  sechsten  Woche 94 

35.  Schädel  eines  Neugeborenen 96 

36.  Schädel  einer  Frau  mit  schmalem  und  langem  Oberkiefer      .     .  96 

37.  Schädel  einer  Frau  mit  kurzem  und  breitem  Oberkiefer    ...  96 

38.  Weiblicher  Kopf  mit  guten  Proportionen  und  gut  gebautem  Auge  103 

39.  Schöngebildetes  Ohr  (nach  Langer) 104 

„    40.  Rumpfskelet    eines    23jährigen   Mädchens,    durch   Schnüren   ver- 
unstaltet (nach  Rüdinger) 107 

„    41.     Muskulatur  des  weiblichen  Torso  von  vorn 108 

„    42.     Muskulatur  des  weiblichen  Rückens        109 

,,    43.  Rückansicht  von  Mann  und  Frau   nach  Richer  zur  Vergleichung 

der  Vertheilung  des  Fettpolsters 110 

„    44.     Gut  gebauter  weiblicher  Rumpf 111 

„    45.  14jähriges  Mädchen   mit    guter  Absetzung  der  Brust   gegen    die 

vordere  Achselgrenze 117 

„    46.     Gut  gebaute  Brust 119 

„    47.     Schlecht  gebaute  Brust 120 

„    48.  Vollentwickelte  Brust  einer  beaute  du  diable  (Böhmin) ....  123 

„    49.     Weibliches  Becken 125 

„    50.  Weiblicher  Körper  mit  schönen  Grenzlinien  zwischen  Rumpf  und 

Schenkeln 130 

51.  Runder  Rücken  nach  Hoffa 132 

52.  Tiefstand    der   rechten    Schulter   bei    beginnender   Rückgratsver- 
krümmung (nach  Hoffa) 134 

53.  Schön  modellirter  Rücken  eines  javanischen  Mädchens  ....  135 

54.  Rücken  einer  Pariserin,  durch  Schnüren  verflacht 136 

55.  Verlorenes  Profil  von  Fig.  50  mit  schönen  Rückenlinien      .     .     .  137 

56.  Weiblicher  Hals  und  Schulter  im  Profil 140 

57.  Abrundung  der  Hüfte  bei  einer  jungen  Engländerin       ....  148 

58.  Erste  Zeichen  des  Verwelkens 150 

59.  Schön  gerundeter  Arm 155 

60.  Schön  gebauter  Arm  und  Schulter 156 

61.  Bestimmung  der  Geradheit  des  Beines  nach  Mikulicz     ....  160 

62.  Brücke'sche  Linie 160 

63.  Abdrücke  vom  normalen  und  von  Plattfüssen  nach  Volkmann    .  163 

64.  Bestimmung  des  Wiener  Mädchens  nach  Köpf  längen     .     .     .     .  175 

65.  Bestimmung  des  Wiener  Mädchens  nach  dem  Modulus  von  Fritsch  177 

66.  17jährige  Berlinerin  nach  einer  Aufnahme  von  G.  Fritsch      .     .  180 

67.  Dieselbe  von  hinten 181 

68.  Proportionen  von  Margarethe,  verglichen  mit  dem  Canon  von  Fritsch  182 

69.  Dioptrische  Profilzeichnung  nach  Kopflängen 183 


Einleitung. 


Des  Weibes  Leib  ist  ein  Gedieht, 
Das  Gott  der  Herr  geschrieben 
Ins  grosse  Stammbuch  der  Natur, 
Als  ihn  der  Geist  getrieben. 

(Heine.) 

eit  Menschengedenken  haben  Tausende  von  Dichtern,  von 
Malern  und  Bildhauern  die  Schönheit  des  Weibes  in  Wort 
und  Bild  verherrlicht,  selbst  ernste  Gelehrte  haben  sich 
nicht  gescheut ,  Theorien  über  das  weibliche  Schönheitsideal  zu- 
sammenzustellen;  und  die  Menge  bewundert  ihre  Werke  und  betet 
ihnen  nach.  Dabei  vergisst  sie  aber,  dass  die  allmächtige  Natur 
in  ihrer  unerschöpflichen  Kraft  täglich  weibliche  Wesen  erstehen 
lässt,  die  weit  schöner  sind,  als  alles,  was  Kunst  und  Wissenschaft 
je  hervorgebracht,  an  denen  die  meisten  achtungslos  vorübergehen, 
weil  kein  Kundiger  ihnen  zuruft:  Seht  hier  die  lebende  Schönheit 
in  Fleisch  und  Blut. 

In  herrlichen  Worten  forderte  schon  im  Anfang  des  sechzehnten 
Jahrhunderts  der  grosse  Meister  Albrecht  Dürer l)  dazu  auf,  immer 
und  immer  wieder  zur  Natur  zurückzukehren: 

„Darum  sieh  die  Natur  neissig  an,  richte  dich  danach  und 
geh  nicht  von  ihr  ab  in  deinem  Gutdünken,  dass  du  meinest,  du 
wollest  das  Bessere  von  dir  selbst  finden,  denn  du  würdest  verführt. 
Denn  wahrhaftig  steckt  die  Kunst  in  der  Natur;  wer  sie  heraus 
kann  reissen,  der  hat  sie.  Ueberkommst  du  sie,  so  wird  sie  dir 
viel  Fehls   nehmen   in   deinem  Werk.     Aber  je  genauer  dein  Werk 


!)  Proportionslehre,  III.  Theil,  1523. 
Stratz,  Die  Schönheit  des  weiblichen  Körpers. 


2  -  Einleitung. 

dem  Leben  gemäss  ist  in  seiner  Gestalt,  desto  besser  erscheint  dein 
Werk.  Und  dies  ist  wahr;  darum  nimm  dir  nimmermehr  vor,  dass 
du  etwas  Besseres  mögest  oder  wollest  machen,  als  Gott  es  seiner 
erschaffenen  Kreatur  zu  wirken  Kraft  gegeben,  denn  dein  Ver- 
mögen ist  kraftlos  gegen  Gottes  Schaffen." 

Nicht  nur  für  den  Künstler,  sondern  auch  für  jeden  gebildeten 
Menschen  überhaupt  sind  diese  goldenen  Lehren  beherzigenswerth, 
auch  heute  noch. 

Dank  der  Photographie  und  der  Verbesserung  in  der  Technik 
der  anderen  vervielfältigenden  Künste  sind  wir  heute  in  der  Lage, 
wenigstens  die  äusseren  Formen  lebender  Schönheit  mit  wissen- 
schaftlicher Genauigkeit  festzuhalten. 

Brücke  l)  war  der  erste ,  der  sich  dieses  Mittels  bediente,  ihm 
folgte  Thomson2).  Richer3),  der  künstlerische,  selbst  gefertigte 
Zeichnungen  nach  dem  lebenden  Modell  giebt,  hat  dieselben  eben- 
falls durch  photographische  Aufnahmen  wissenschaftlich  sicher 
gestellt. 

Bei  diesen  und  allen  ähnlichen  älteren  und  neueren  Werken, 
die  sich  in  mehr  wissenschaftlicher  Weise  mit  der  weiblichen  Schön- 
heit beschäftigen,  sind  mir  indessen  zwei  Thatsachen,  oder,  wenn 
man  will,  Mängel  aufgefallen.  Zunächst  beschäftigen  dieselben  sich 
nicht  mit  dem  schönen  Körper  an  und  für  sich,  sondern  nur  in 
Beziehung  zu  den  Nachbildungen  desselben  durch  die  Kunst;  dann 
aber  werden  wohl  sehr  sorgfältig  alle  anatomischen  Thatsachen  be- 
handelt, die  pathologischen  Thatsachen  jedoch,  die  durch  Krank- 
heiten und  unrichtige  Lebensweise  bedingten  Veränderungen  des 
Körpers,  werden  nur  sehr  flüchtig  gestreift. 

Ich  habe  einen  neuen  Weg  zur  Beurtheilung  menschlicher 
Schönheit  einzuschlagen  versucht,  indem  ich  neben  den  Standpunkt 
des  Künstlers  und  des  Anatomen  den  des  Arztes  stellte,  indem  ich 
statt  an  Bildern  und  Leichen  meine  Beobachtungen  so  viel  wie  mög- 
lich am  lebenden  Körper  machte,  und  diesen  an  und  für  sich  als 
Hauptsache,  und  nicht  nur  als  Gegenstand  künstlerischer  Darstellung 


r)  Schönheit  und  Fehler  der  menschlichen  Gestalt,  1890. 
-)  Handbook  of  anatomy  for  art  students,  1896. 
3)  Anatomie  artistique,  1890. 


Einleitung.  3 

betrachtete.  Dass  ich  mich  dabei  allein  auf  den  weiblichen  Körper 
beschränkte,  erklärt  sich  daraus,  dass  mir  als  Frauenarzt  kein 
grösseres  männliches  Material  zur  Verfügung  stand. 

Zahlreiche  Arbeiten  anderer,  worunter  namentlich  die  der 
Anthropologen  hervorzuheben  sind,  kamen  mir  zu  statten  bei  meinen 
Untersuchungen,  die  mich  nach  fünfzehnjähriger  Arbeit  zu  dem  Er- 
gebniss  gebracht  haben,  dass  wir  nur  auf  negativem  Wege,  d.  h. 
durch  Ausschluss  krankhafter  Einflüsse,  aller  durch  fehlerhafte  Klei- 
dung, durch  Erblichkeit,  unrichtige  Ernährung  und  unzweckmässige 
Lebensweise  bedingten  Verunstaltungen  des  Körpers  zu  einer  Normal- 
gestalt ,  zu  einem  Schönheitsideal  gelangen  können,  das  dann  aller- 
dings individuell  sehr  verschieden  sein  kann,  aber  doch  stets  den- 
selben Gesetzen  unterworfen  ist,  da  vollendete  Schönheit  und  voll- 
kommene Gesundheit  sich  decken. 

Dadurch  allein  erhalten  wir  einen  festen,  auf  Thatsachen  be- 
ruhenden Massstab,  den  wir,  unabhängig  vom  individuellen,  un- 
berechenbaren Geschmack,  anlegen  können. 

Hierin  liegt,  glaube  ich,  auch  ein  gewisser  praktischer  Werth 
meiner  Untersuchungen,  dass  sich  aus  denselben  ergiebt,  dass  wir, 
namentlich  bei  der  heranwachsenden  Jugend,  sehr  wohl  im  Stande 
sind,  durch  zweckmässige  Behandlung  die  Gesundheit  und  damit  die 
Schönheit  des  Körpers  zu  erhöhen  und  zu  veredeln. 

Bevor  ich  jedoch  daran  gehe,  die  bekannten  Thatsachen,  ver- 
mehrt durch  eigene  Beobachtungen,  von  diesem  neuen  Standpunkte 
aus  zu  betrachten,  muss  ich,  des  besseren  Verständnisses  halber,  in 
grossen  Zügen  die  verschiedenen  Wege  besprechen,  auf  denen  man 
bisher  das  Schönheitsideal  zu  erreichen  gesucht  hat,  und  vor  allen 
Dingen  muss  ich  den  modernen  Schönheitsbegriff  und  die  Umstände, 
die  zu  seiner  Bildung  beigetragen  haben,  kritisch  beleuchten. 


I. 

Der  moderne  Schönheitsbegriff. 

Der  moderne  europäische  Mensen  kennt  vom  lebenden  weib- 
lichen Körper  so  gut  als  nichts.  Er  sieht  nur  Gesicht  und  Hände, 
bei  festlichen  Gelegenheiten  Arme  und  Schultern.  Nur  einen  oder 
einige  wenige  weibliche  Körper  sieht  er  entkleidet,  und  auch  diese 
meist  unter  Umständen,  die  ihm  ein  nüchternes,  unbeeinflusstes 
Urtheil  unmöglich  machen  oder  doch  trüben;  denn  Liebe  macht  blind. 

Ueber  Gesicht  und  Hände  kann  er  sich  allerdings  ein  selbst- 
ständiges Urtheil  bilden,  was  er  vom  übrigen  Körper  weiss,  ist  der 
Gesammteindruck  der  Erinnerungsbilder  von  Darstellungen  desselben 
durch  die  bildende  Kunst;  Beobachtungen  an  dem  lebenden  Weibe 
spielen  dabei  eine  ganz  untergeordnete  Rolle.  Demnach  beruht  das 
Schönheitsideal  des  modernen  Europäers  grösstenteils  auf  durch  die 
Kunst  vermittelten  Eindrücken.  Eine  Ausnahme  hiervon  macht  der 
Künstler  und  der  Arzt. 

Den  unmittelbaren  Eindruck,  den  der  erste  Anblick  eines 
nackten  weiblichen  Körpers  auf  den  Beschauer  ausübt,  hat  Goethe, 
der  grosse  Psychologe,  in  vortrefflicher  Weise  geschildert  M. 

„Sie  brachte  mich  darauf  in  ein  kleines,  artig  meublirtes 
Zimmer;  ein  sauberer  Teppich  deckte  den  Fussboden,  in  einer  Art 
von  Nische  stand  ein  sehr  reinliches  Bett,  zu  der  Seite  des  Hauptes 
eine  Toilette  mit  aufgestelltem  Spiegel,  und  zu  den  Füssen  ein 
Gueridon    mit    einem    dreiarmigen  Leuchter,    auf   dem    schöne    helle 


Briefe  aus  der  Schweiz.     Erste  Abtheilung.     Cotta  4,  p.  469. 


Der  moderne  Schönheitsbegriff.  5 

Kerzen  brannten.  Auch  auf  der  Toilette  brannten  zwei  Lichter. 
Ein  erloschenes  Kaminfeuer  hatte  die  Stube  durchaus  erwärmt.  Die 
Alte  wies  mir  einen  Sessel  an,  dem  Bette  gegenüber  am  Kamin, 
und  entfernte  sich. 

„Es  währte  nicht  lange,  so  kam  zu  der  entgegengesetzten  Thüre 
ein  grosses,  herrlich  gebildetes,  schönes  Frauenzimmer  heraus;  ihre 
Kleidung  unterschied  sich  nicht  von  der  gewöhnlichen.  Sie  schien 
mich  nicht  zu  bemerken,  warf  ihren  schwarzen  Mantel  ab  und  setzte 
sich  vor  die  Toilette.  Sie  nahm  eine  grosse  Haube,  die  ihr  Gesicht 
bedeckt  hatte,  vom  Kopfe:  eine  schöne,  regelmässige  Bildung  zeigte 
sich,  braune  Haare  mit  vielen  und  grossen  Locken  rollten  auf  die 
Schultern  herunter.  Sie  fing  an,  sich  auszukleiden;  welch  eine 
wunderliche  Empfindung,  da  ein  Stück  nach  dem  anderen  herabfiel, 
und  die  Natur ,  von  der  fremden  Hülle  entkleidet ,  mir  als  fremd 
schien  und  beinahe,  möcht'  ich  sagen,  mir  einen  schauerlichen  Ein- 
druck machte. 

„Ach,  mein  Freund,  ist  es  nicht  mit  unseren  Meinungen,  unseren 
Vorurtheilen ,  Einrichtungen,  Gesetzen  und  Grillen  auch  so?  Er- 
schrecken wir  nicht,  wenn  eine  von  diesen  fremden,  ungehörigen, 
unwahren  Umgebungen  uns  entzogen  wird  und  irgend  ein  Theil 
unserer  wahren  Natur  entblösst  dastehen  soll?  Wir  schaudern,  wir 
schämen  uns.  — 

„Soll  ich  dir's  gestehen,  ich  konnte  mich  nicht  in  den  herr- 
lichen Körper  finden,  da  die  letzte  Hülle  herabfiel!  Was  sehen  wir 
an  den  Weibern?  Was  für  Weiber  gefallen  uns,  und  wie  confundiren 
wir  alle  Begriffe?  Ein  kleiner  Schuh  sieht  gut  aus,  und  wir  rufen: 
welch  ein  schöner  kleiner  Fuss !  Ein  schmaler  Schnürleib  hat  etwas 
Elegantes,  und  wir  preisen  die  schöne  Taille. 

„Ich  beschreibe  dir  meine  Reflectionen,  weil  ich  dir  mit  Worten 
die  Reihe  von  entzückenden  Bildern  nicht  darstellen  kann,  die  mich 
das  schöne  Mädchen  mit  Anstand  und  Artigkeit  sehen  liess.  —  Alle 
Bewegungen  folgten  so  natürlich  auf  einander,  und  doch  schienen 
sie  so  studirt  zu  sein.  Reizend  war  sie,  indem  sie  sich  entkleidete, 
schön,  herrlich  schön,  als  das  letzte  Gewand  fiel.  Sie  stand,  wie 
Minerva  vor  Paris  mochte  gestanden  haben." 

Dieses  Gefühl  von  Schauder,  das  Goethe  so  richtig  hervorhebt, 


(5  Der  moderne  Schönheitsbegriff. 

eine  Mischung  von  Schrecken  über  den  ungewohnten  Anblick  und 
einer  gewissen  sinnlichen  Erregung,  hat  auch  der  Arzt  vor  seinem 
ersten  weiblichen  Patienten,  der  Künstler  vor  seinem  ersten  weib- 
lichen Modell.  Es  verschwindet,  sobald  der  Künstler  nur  das 
Schöne,  der  Arzt  nur  das  Menschliche  sieht;  und  es  erlischt  sehr 
rasch  bei  der  Gewöhnung  an  den  Anblick  des  Nackten. 

In  unserer  Zeit,  wo  selbst  die  Vertreter  des  deutschen  Volkes 
sich  nicht  scheuten,  das  Bild  der  Wahrheit  aus  ihrer  Mitte  zu  ver- 
bannen, weil  es  nackt  war  1),  sind  manche  leicht  geneigt,  Nacktheit 
und  Unsittlichkeit  für  dasselbe  zu  halten.  Das  ist  jedoch  ein  grosser 
Irrthum.  Nicht  das  Nackte  ist  unsittlich,  sondern  die  Augen  des 
Beschauers.  Derjenige,  der  im  nackten  Körper  nur  das  Weib  sieht, 
der  über  den  ersten  sinnlichen  Eindruck  nicht  hinauskommt,  und 
sich  von  ihm  beherrschen  lässt,  ist  unsittlich  und  überträgt  seine 
eigene  Unvollkommenheit  auf  den  Gegenstand,   den  er  betrachtet. 

Die  Bekleidung  hat  mit  der  Sittlichkeit  nichts  zu  thun,  sondern 
nur  mit  der  Schicklichkeit,  mit  der  Mode.  Eine  Entblössung,  die  von 
der  Mode  vorgeschrieben  ist,  wird  niemals  als  unsittlich  empfunden. 

Wer  Gelegenheit  gehabt  hat,  unter  Völkern  zu  leben,  die  ganz 
oder  theilweise  nackt  gehen,  wird  bald  gewahr,  class  die  Kleidung 
mit  der  Sittlichkeit  in  gar  keinem  Zusammenhang  steht,  und  sehr 
bald  bemerkt  er  die  Erweiterung  seiner  beschränkten  europäischen 
Auffassung  an  sich  selbst. 

Sehr  treffend  schildert  von  den  Steinen  2)  seine  diesbezüglichen 
Eindrücke  in  Amerika. 

Als  ich  im  Jahre  1890  das  Innere  Javas  bereiste,  begegnete 
ich  bei  Singaparna  eines  Morgens  grossen  Schaaren  von  älteren  und 
jüngeren  Weibern,  die,  bis  zum  Gürtel  entblösst,  zum  Markte  zogen. 
Der  erste  Eindruck  war  dasselbe  von  Goethe  beschriebene  Gefühl 
von  Schauder,  verursacht  durch  den  Anblick  weiblicher  Nacktheit 
in  für  mich  neuer  Umgebung  und  in  so  grosser  Masse.  Bald  aber 
gewann  trotz  manchem  wirklich  klassisch  schön  gebauten  Mädchen- 
torso die  Abscheu  vor  dem  vielen  Hässlichen,  was  hier  in  aller  Un- 


*)  Vor  Eröffnung  des  neuen  Reiehstagsgebäudes  anno  domini  1895. 
2)  Unter  den  Naturvölkern  Centralbrasiliens,  1894. 


Der  moderne  Schönheitsbegriff.  7 

schuld  gezeigt  wurde,  die  Oberhand,  und  ich  begriff  auf  einmal, 
warum  die  meisten  Weiber  sich  lieber  verhüllen,  wenn  die  Mode  es 
ihnen  gestattet. 

Eigenthümlich  sind  die  Verschiebungen,  die  das  Schicklich- 
keitsgefühl  unter  dem  Drang  der  Umstände  erleiden  kann.  Ein 
europäisches  Mädchen  erröthet,  wenn  man  sie  in  der  Nachtjacke 
überrascht,  aber  sie  zeigt  sich  decolletirt  auf  jedem  Balle.  Eine 
Frau  im  dunklen  Kleide  fühlt  sich  unter  Balltoiletten,  ein  Herr  im 
Gehrock  unter  Fräcken  in  hohem  Masse  unbehaglich. 

In  Batavia,  wo  alle  Damen  ihre  blossen  Füsse  in  kleine  gold- 
gestickte Schuhe  stecken,  fand  man  es  höchst  unpassend,  als  eine 
Dame  sich  im  Hotel  zeigte,  die  ihre  Beine  in  blauseidene  Strümpfe 
gehüllt  hatte,  und  gerade  durch  die  Verhüllung  die  Aufmerksamkeit 
auf  diesen  Theil  ihres  Körpers  lenkte. 

Ich  halte  es  für  überflüssig,  die  angeführten  Beispiele  mit  noch 
weiteren  zu  vermehren  l)  und  glaube  zu  dem  Schlüsse  berechtigt  zu 
sein,  dass  unser  Sittlichkeitsgefühl  angeboren  ist,  unser  Schicklich  - 
keitsgefühl  hingegen  ganz  und  gar  abhängig  ist  von  den  in  unserer 
Umgebung  herrschenden  Gewohnheiten  und  Gebräuchen. 

Was  wir  aber  in  der  Natur  in  Europa  unbewusst  verurtheilen, 
halten  wir  in  der  Kunst  für  erlaubt.  Deshalb  legen  wir,  die  Natur 
nicht  kennend,  an  die  Schönheit  des  weiblichen  Körpers  den  Mass- 
stab an,  der  uns  aus  Kunstwerken  geläufig  geworden  ist.  Dabei 
geben  wir  uns  jedoch  wiederum  keine  Rechenschaft  davon,  class  auch 
die  Auffassung  des  Weibes  in  der  Kunst  einer  gewissen  Mode,  einer 
Tradition  unterliegt,  die  mit  dem  Schönheitsbegriff  als  solchem  gar 
nichts  zu  thun  hat,  und  class  wir  dieselbe  nicht  ohne  weiteres  ins 
Leben  übertragen  können. 

Wir  finden  die  Venus  von  Milo  schön,  so  wie  sie  ist.  Wäre 
sie  aber  nach  der  heutigen  Mode  gekleidet,  so  würden  wir  ihre 
Figur  abscheulich  finden,  denn  unter  den  Kleidern  würde  die  Taille 
der  Venus  noch  beträchtlich  an  Breite  zunehmen. 

Wenn  wir  nun  einerseits  die  Venus  von  Milo,  andererseits  eine 
feine  Taille  schön  finden,    so  müssen  wir    daraus  folgern,    dass  alle 


Siehe  Ploss-Bartels,  Das  Weib.     1897,  I,  p.  359  ff 


Der  moderne  Schönheitsbegriff. 


schlanken  Frauen  entkleidet  kässlich  sind,  da  sie  die  Vollkommen- 
heit der  Venus  nicht  besitzen. 

Dies  ist  jedoch  nicht  der  Fall,  wie  die  Erfahrung  bestätigt. 
Der  weitere  Schluss  ist  demnach,  dass  jemand,  der  die  ganze  Venus 
von  Milo  auswendig  kennt,  doch  nicht  im  Stande  oder  berechtigt 
ist,  irgend  welchen  Rückschluss  auf  den  Körper  einer  lebenden  be- 
kleideten Frau  zu  machen. 

Aber  noch  mehr;  wir  nehmen  selbst,  ohne  es  zu  wissen,  alt- 
griechische Moden  als  Massstab  zur  Beurtheilung  moderner  Kunst- 
werke und  auch  des  Lebens,  wo  uns  dies  nackt  entgegentritt. 

Nur  zwei  Beispiele: 

In  der  ganzen  klassischen  Kunst,  so  weit  wir  sie  kennen,  finden 
sich  nur  zwei  Bildwerke  eines  nackten  Mannes  mit  einem  Schnurr- 
bart, nämlich  der  sterbende  Gallier  und  der  Gallier  in  der  Gruppe 
Arria  und  Paetus.  Alle  anderen  Figuren  sind  mit  vollem  Bart  oder 
bartlos  dargestellt.  Weder  bei  den  Griechen  noch  bei  den  Römern 
war  es  Mode,  einen  Schnurrbart  zu  tragen;  in  den  genannten  Statuen 
ist  gerade  dadurch  der  Barbar  charakterisirt.  Trotzdem  bei  uns 
Tausende  von  Schnurrbärten  im  täglichen  Leben  angetroffen  werden, 
finden  wir  sie,  ausser  bei  Portraitstatuen,  kaum  in  der  Kunst.  Wenn 
wir  sie  zusammen  mit  einem  unbekleideten  Körper  antreffen,  be- 
fremden sie  unser  Gefühl,  wir  sehen  nicht  den  nackten,  sondern  den 
entkleideten  Mann,  weil  —  die  altgriechische  Mode  den  Schnurrbart 
verurtheilte. 

Ein  weiteres  Beispiel  ist  die  Darstellung  des  nackten  weib- 
lichen Körpers  in  der  Kunst.  Derselbe  wird  stets  ohne  jegliche 
Körperbehaarung  nachgebildet.  Weil  dieselbe  hässlich  ist?  Nein, 
weil  es  bei  den  alten  Griechen  und  Römern,  wie  noch  jetzt  bei  allen 
orientalischen  Völkern,  Sitte  war,  dass  die  Frauen  die  Haare  ihres 
Körpers  künstlich  entfernten.  Dies  geht  deutlich  hervor  aus  dem 
103.  Gesang  der  Bilitis1),  wo  als  Merkwürdigkeit  von  den  Prieste- 
rinnen der  Astarte  gesagt  wird:  „Sie  ziehen  sich  niemals  die  Haare 
aus,  auf  dass  das  dunkle  Dreieck  der  Göttin  ihren  Unterleib  zeichne, 
wie  einen  Tempel." 

a)  Heim,  Bilitis'  sämmtliche  Lieder,  1894.  Louj's,  Les  chansons  de 
Bilitis,  1897. 


Der  moderne  Schönheitsbegrift'.  9 

Trotzdem  die  Mode  des  Epilirens  seit  Jahrhunderten  bei  uns 
nicht  mehr  besteht,  hat  die  Kunst  sie  doch  beibehalten  und  damit 
auf  das  Schönheitsideal  der  modernen  Menschen  übertragen. 

Wie  sehr  nicht  nur  der  einzelne  Mensch,  sondern  die  ganze 
sogenannte  „öffentliche  Meinung"  durch  den  äusseren  Schein  urtheils- 
los  beeinflusst  wird,  ersieht  man  am  besten  aus  einer  Vergleichung 
von  Fig.  1  und  Fig.  2. 

Fig.  1  ist  eine  Reproduction  der  aus  ihrem  Blechgewancle  be- 
freiten vaticanischen  Venus  x) ,  Fig.  2  Falgnieres  bekannte  Portrait- 
statue  der  Cleo  de  Merode,  die  als  eine  der  schönsten  jetzt  leben- 
den Frauen  gefeiert  wird. 

Die  erstere  entspricht  allen  Anforderungen,  die  wir  an  einen 
normalen  weiblichen  Körper  stellen  können.  —  Auf  den  ersten  Blick 
bemerkt  man  bei  der  letzteren:  künstlich  durch  Kleidung  zusammen- 
gedrückten unteren  Brustumfang,  fehlerhaften  Ansatz  der  Brust, 
fehlerhafte  Kniestellung,  zu  schweres  Sprunggelenk. 

Der  moderne  Schönheitsbegriff  setzt  sich  demnach  zusammen 
aus  einer  durch  tägliche  Uebung  ermöglichten  Kenntniss  des  Kopfes, 
der  Hände  und  der  Arme  und  bezüglich  des  übrigen  Körpers  aus 
einem  Sammelbegriff,  den  Reproductionen  des  nackten  Weibes  durch 
die  Kunst  entnommen. 

Das  allgemeine  Urtheil  über  Frauenschönheit  ist  somit  kein 
sachverständiges,  sondern  ein  indirectes,  das  einerseits  durch  nicht 
naturgetreue  Vorstellung  des  Körpers,  andererseits  durch  Corsets, 
Schuhe  und  Kleidung  getäuscht,  sich  falsche  und  unnatürliche  Ideale 
schafft. 

Alles  bisher  Gesagte  bezieht  sich  hauptsächlich  auf  die  Schön- 
heit der  Form.  Dass  in  Beziehung  auf  die  Schönheit  der  Farbe  es 
noch  viel  schwieriger  ist,  ein  objectives  Urtheil  zu  haben,  weiss 
jeder,  der  sich  einigermassen  mit  der  Farbenlehre  und  der  Function 
des  menschlichen  Auges  beschäftigt  hat,  niemand  weiss  es  besser, 
als  die  Frauen  selbst,  die  durch  richtige  Auswahl  der  sie  umgeben- 


')  Es  ist  das  grosse  Verdienst  von  Michaelis,  dass  sie  in  diesem  Zustande 
dem  Publicum  bekannt  gemacht  wurde.  Das  Kensingtonmuseum  besitzt  einen 
Gypsabguss  nach  dem  Original.  Vgl.  Bruckmann,  Denkmäler  griechischer  und 
römischer  Plastik,  und  Springer's  Kunstgeschichte,  Bd.  I,  4.  Aufl.,  1895. 


10 


Der  moderne  Schönheitsbegriff. 


Fig.  l.    Vaticanische  Venus. 


den  Farben   instinctiv   ihre  Reize   zu    erhöhen,    ihre  Fehler   zu  ver- 
bergen  wissen.     Noch    schwieriger    ist    es,    die    Schönheit    der  Be- 


Der  moderne  SchönheitsbeyritF. 


11 


Fig.  2.    La  danseuse  von  Falgniere. 
Nach  einer  Photographie  von  Braun,  Clement  &  Cie.  in  Dornach  i.  E.,  Paris  und  New- York. 

wegungen  zu  analysiren,  deren  meiste  uns  durch  die  Kleidung  ver- 
borgen werden. 


12  Der  moderne  Schönheitsbegriff. 

Doch  wir  müssen  noch  eine  weitere  Einschränkung  machen. 
Selbst  das  wenige,  was  man  täglich  vom  weiblichen  Körper  sehen 
kann,  wird  von  den  meisten  nicht  mit  der  nöthigen  Aufmerksamkeit 
betrachtet,  weil  ihr  Blick  nicht  geübt  ist.  Man  vergegenwärtige 
sich  die  Gesichtszüge,  die  Haare,  die  Augen,  die  Hände  abwesender 
Personen,  mit  denen  man  täglich  zusammentrifft.  Von  der  grösseren 
Mehrzahl  derselben  ist  man  nicht  im  Stande,  die  Farbe  der  Haare 
und  Augen,  die  Form  von  Nase  und  Mund  im  Gedächtniss  wieder- 
zufinden, es  sei  denn,  dass  dieselben  durch  ganz  aussergewöhnliche 
Bildung  einen  tieferen  Eindruck  hinterlassen  haben. 

Die  Ohren  nun  gar,  die  doch  recht  viel  zum  Gesichtsausdruck 
beitragen,  werden  meistens  nur  äusserst  oberflächlich  betrachtet; 
von  der  Form  der  Hände  berichtet  uns  Mantegazza l) ,  dass  selbst 
Malern  unbekannt  war,  ob  ihr  zweiter  Finger  länger  war  als  ihr 
vierter. 

Es  wird  also  im  allgemeinen  selbst  über  Kopf,  Gesicht  und 
Hand  nur  oberflächlich  geurtheilt,  trotzdem  wir  täglich  in  der  Lage 
sind,  diese  Theile  in  grösserer  Zahl  betrachten  zu  können;  auf  die 
übrigen  Theile  des  Körpers  kann  nur  ein  geübter  Beobachter  aus 
Gang  und  Haltung  gewisse  Rückschlüsse  machen;  meist  jedoch  be- 
gnügt man  sich  mit  einer  unbestimmten  Auffassung,  die  aus  der 
auch  meist  oberflächlichen  Betrachtung  von  Kunstwerken  abge- 
leitet ist. 

Um  diesem  Elemente  in  der  modernen  Auffassung  gerecht  zu 
werden,  sind  wir  verpflichtet,  die  Darstellung  weiblicher  Schönheit 
durch  die  bildende  Kunst  zu  analysiren. 


!)  Physiologie  des  Weibes.     Deutsch  von  Teuscher,  1894,  p.  52. 


Weibliche  Schönheit  in  der  Kunst.  13 


IL 

Darstellung  weiblicher  Schönheit  durch  die 
bildende  Kunst. 

Es  wurde  bereits  darauf  hingewiesen,  dass  die  Blüthezeit  der 
griechischen  Kunst  einen  so  mächtigen  Einfluss  auf  das  moderne 
Schönheitsideal  geübt  hat,  dass  selbst  Zufälligkeiten  der  damaligen 
Mode  unbewusst  in  dasselbe  herübergenommen  werden. 

Unstreitig  hat  die  Bildhauerkunst  zur  Zeit  des  Phidias ,  des 
Polyklet  und  Praxiteles  ihre  höchste  Stufe  erreicht,  und  es  ist  noch 
die  Frage,  ob  sie  sich  jemals  der  damaligen  Höhe  wird  nähern 
können.  Es  ist  darum  auch  ganz  natürlich,  dass  die  altgriechische 
Kunst  auf  alle  späteren  Kunstepochen  als  unerreichtes  Vorbild  ein- 
gewirkt hat,  und  dadurch  wieder  bis  auf  den  heutigen  Tag  das  all- 
gemeine Schönheitsideal  beeinflusst. 

Ausser  der  griechischen  Kunst,  auf  die  ein  Jahrhunderte 
dauernder  Schlummer  folgte,  ist  es  namentlich  die  Renaissance,  die 
wir  hier  zu  besprechen  haben.  Alle  orientalischen  Elemente,  die  in 
der  Kunstgeschichte  berücksichtigt  werden  müssen,  haben  mit  der 
Gestaltung  des  weiblichen  Körpers  nichts  zu  thun.  Ebensowenig 
hat  sich  der  japanische  Einfluss  in  der  Kunst  so  weit  geltend  ge- 
macht, dass  er  in  dieser  Beziehung  eine  Besprechung  verdient. 

Die  altgriechische  Kunst  schöpfte  ihre  Motive  unmittelbar  aus 
dem  Leben.  Weder  rauhe  Witterung  noch  körperliche  Gebrechen 
veranlassten  die  damalige  Bevölkerung  Griechenlands,  ihre  schönen 
Gestalten  mit  Gewändern  zu  verhüllen,  und  dadurch  war  die  erste 
Grundbedingung  für  den  schaffenden  Künstler,  das  tägliche  Studium 
und  die  Vergleichung  der  verschiedenen  Formen  des  nackten  Körpers 
in  seiner  vollkommensten  Gestaltung,  gegeben. 

Durch  fortgesetzte  Uebung  des  Auges  konnte  sich  somit  der 
damalige  Künstler  ein  Idealbild  erschaffen,  zu  dessen  Verwirklichung 
ihm  die  schönsten  Modelle  in  reichster  Auswahl  zur  Verfügung 
standen. 


^4  Weibliche  Schönheit  in  der  Kunst. 


Von  nicht  zu  unterschätzender  Wichtigkeit  ist  ferner  der  Um- 
stand, dass  nicht  nur  der  Künstler,  sondern  auch  sein  Publicum,  die 
ganze  damals  lebende  Menschheit,  den  nackten  Körper  täglich  sah 
und  ihn  kannte,  so  dass  von  künstlerischen  Leistungen  viel  mehr 
gefordert  werden  konnte,  dieselben  aber  andererseits  viel  sachver- 
ständigere Anerkennung  fanden,  als  heutzutage  der  Fall  ist,  gegen- 
über einem  Publicum,  das  den  menschlichen  Körper  nicht  kennt. 

In  äusserst  scharfsinniger  Weise  hat  vor  kurzem  Richer1)  nach- 
gewiesen, wie  sehr  der  künstlerische  Blick  der  alten  griechischen 
Künstler  allen  Epigonen  überlegen  war. 

Wo  er  von  der  Darstellung  der  Bewegung  spricht,  und  darauf 
aufmerksam  macht,  dass  wir,  dank  der  modernen  Wissenschaft,  in 
der  Lage  sind,  durch  Momentaufnahmen  jede  einzelne  Phase  der  Be- 
wegung im  Bilde  festzuhalten ,  hebt  er  hervor ,  dass  die  meisten 
späteren  Künstler,  einer  unbewussten  Tradition  folgend,  niemals 
gehende  oder  laufende,  sondern  stets  nur  schwebende  oder  fallende 
Figuren  dargestellt  haben.  Alle  griechischen  Figuren  aber,  von  den 
Tyrannenmördern  bis  zum  tanzenden  Faun,  erwiesen  sich  als  richtige 
ßeproductionen  völlig  naturwahrer  Stellungen. 

Ausser  ihrem  wunderbar  geschärften  künstlerischen  Blick,  ausser 
der  Anzahl  zahlreicher  hervorragend  schöner  Modelle  verfügten  die 
Griechen  noch  über  ein  drittes  Mittel  zur  Naturtreue  ihrer  Dar- 
stellungen: den  Grypsabguss  nach  dem  Leben.  Nach  Plinius2) 
war  Lysikrates  der  erste,  der  dieses  Hülfsmittel  in  die  bildende  Kunst 
eingeführt  hat. 

Anatomie  war  den  griechischen  Künstlern  bis  zur  alexandrini- 
schen  Schule  unbekannt,  wie  Chereau 3)  und  Langer 4)  überzeugend 
nachgewiesen  haben. 

Langer  hebt  hervor,  dass  die  besten  antiken  Bilder  die  ruhig 
gehaltenen  sind,  „deren  Muskelmechanismus  versteckt  ist".  „Dagegen 
ist  an  bewegten  Bildwerken    so  Manches  auszusetzen ,    Fehlerhaftes, 


1)  Dialogue  sur  l'art  et  la  science.  —  La  nouvelle  revue,  Tome  107  et  s. 
19  annee.     La  revue  de  l'art  ancien  et  moderne,  1897,  fase  3  et  4. 

2)  Citirt  bei  Langer. 

3)  Dictionnaire  encyclopaedique  des  sciences  medicales. 

4)  Anatomie  der  äusseren  Formen  des  menschlichen  Körpers,  1884,  p.  30  ff. 


Weibliche  Schönheit  in  der  Kunst.  15 


Unverstandenes.  Die  Muskelerhabenheiten  finden  sich  mitunter  un- 
richtig gruppirfc,  ein  anderes  Mal  sind  Muskelerhabenheiten  unter- 
mischt und  unterschiedslos  wie  Hautfalten  und  Skeleterhabenheiten 
behandelt.  Was  an  solchen  Bildwerken  ungetheilte  und  gerecht- 
fertigte Bewunderung  erregt,  das  ist  die  Bewegung  und  diese  liegt 
viel  mehr  in  der  Gliederung  als  in  der  Muskulatur." 

Mit  anderen  Worten  will  Langer  dadurch  wohl  ausdrücken, 
dass  trotz  untergeordneter  anatomischer  Fehler  der  Allgemeineindruck 
bewegter  Figuren  stets  ein  naturwahrer  ist;  Richer  hat,  wie  gesagt, 
die  Naturtreue  derselben  durch  Controle  mit  Momentphotographien 
direct  nachgewiesen. 

Da  nun  aber  bewegte  Figuren  am  schwierigsten  darzustellen 
sind,  weil  man  nicht  im  Stande  ist,  ein  Modell  in  der  gewünschten 
Stellung  zu  fixiren,  so  ist  diese  gleichmässige  Anerkennung  von  den 
verschiedensten  Beurtheilern  nur  wieder  ein  neuer  Beweis  für  die 
ausserordentliche  Schärfe,  mit  der  die  antiken  Künstler  beobachteten1). 

Wenn  nun  auch  ihr  künstlerisch  geschulter  Blick  und  die  grosse 
Zahl  schöner  Modelle  den  antiken  Meistern  trotz  ihrer  Unkenntniss 
der  Anatomie  die  herrlichsten  Schöpfungen  ermöglichte,  so  war  doch 
die  absolut  naturgetreue  Wiedergabe  der  menschlichen  Gestalt  keines- 
wegs der  Endzweck  ihrer  Kunst. 

Wir  dürfen  nicht  vergessen,  dass  bei  den  Griechen  die  Kunst 
im  Dienste  ihrer  Religion  stand,  welche  ihnen,  in  grösserer  Ab- 
wechselung allerdings  als  die  christliche,  die  Themas  für  die  meisten 
ihrer  Darstellungen  vorschrieb.  Der  griechische  Künstler,  der  Götter 
darstellte,  war  somit  gezwungen,  seine  Gestalten  zu  idealisiren  und 
dadurch  von  der  Natur  abzuweichen. 

Dass  dabei  das  Modell  keineswegs  eine  untergeordnete  Rolle 
spielte,  beweist  das  Beispiel  des  Praxiteles,  welcher  im  Tempel  zu 
Thespiae  neben  der  Aphrodite  aus  Dankbarkeit  die  nackte  Portrait  - 
statue  der  Phryne  aufstellte;  andererseits  aber  beweist  gerade  dies  Bei- 


*)  Es  ist  mir  aufgefallen,  dass  auch  die  japanischen  Künstler  viel  schärfer 
beobachten,  als  unsere  Künstler  und  wir  mit  ihnen  gewohnt  sind:  In  europäischen 
Bildern  findet  man  stets  schwebende,  niemals  fliegende  Vögel.  Japanische  Dar- 
stellungen fliegender  Vögel,  die  uns  auf  den  ersten  Blick  unnatürlich  erscheinen, 
erweisen  sich  beim  Vergleich  mit  Momentaufnahmen  als  völlig  naturgetreu. 


16 


Weibliche  Schönheit  in  der  Kunst. 


spiel,    dass    es   sich   nicht   um   naturgetreue  Wiedergabe   selbst   des 
schönsten  Modells    handelte;    denn    sonst  wäre   dieser  Weiheact   des 

grossen  Künstlers,  die  Gegen- 
überstellung von  Göttin  und 
Weib,  nicht  verständlich. 

Es  handelte  sich  für  den 
griechischen  Künstler  darum, 
das  Modell  den  Traditionen 
der  darzustellenden  Götter- 
figur anzupassen ,  das  Indi- 
viduelle gewissermassen  zu 
schematisiren,  den  göttlichen 
Typus  mit  grösstmöglicher 
Naturtreue  zu  vereinen. 

Aber  nicht  nur  der  reli- 
giöse Zweck  des  Kunst- 
werkes, sondern  auch  der  für 
dasselbe  bestimmte  Standort 
zwang  den  Künstler,  von  der 
Natur  abzuweichen. 

Eine  auf  hohem  Fuss- 
stück  stehende  Figur,  in  na- 
türlichen Verhältnissen  aus- 
geführt, erscheint  dem  Be- 
schauer gedrungen  und  un- 
ansehnlich, wovon  wir  uns 
jederzeit  überzeugen  können, 
wenn  wir  Menschen  von  unten 
herauf  betrachten.  In  solchen 
Fällen  muss  der  Künstler  die 
Längenmasse  auf  Kosten  der 
Breitenmasse  unnatürlich  und 
ungleichmässig  vergrössern. 
Beim  Anblick  von  vorn  müssen 


Fig.  3  a.    Aphrodite  diadumene  vom  Esquilin. 


alle  näherliegenden  Theile  im  Verhältniss  verkleinert,  alle  entfernter 
liegenden  Theile    vergrössert   werden;    auch    davon   können   wir   uns 


Weibliche  Schönheit  in  der  Kunst. 


17 


leicht  überzeugen,  wenn  wir  auf  die  Fehler  achten,  die  bei  unrichtig 
eingestellten   photographischen  Aufnahmen  vorkommen  können. 

Bei  einer  Aufstellung 
im  Tempel  endlich  muss 
das  Bild  mit  der  Umgebung 
architektonisch  harmoniren, 
und  wird  dadurch  von  einer 
ganzen  Zahl  von  Gesetzen 
abhängig,  die  die  Form  in 
der  verschiedensten  Weise 
beeinflussen  können. 

Die  Berücksichtigung 
aller  dieser  Momente  ver- 
langte eine  grosse  Uebung 
und  Erfahrung,  sie  veran- 
lasste die  Ausbildung  einer 
gewissen  Systematik  der 
Verhältnisse  der  einzelnen 
Körpertheile  unter  sich, 
einer  Proportionslehre,  die 
demnach  auch,  wie  zu  er- 
warten ist,  und  wie  durch 
zahlreiche  Messungen  aus 
späterer  Zeit  bestätigt 
wurde ,  keineswegs  stets 
den  Proportionen  lebender 
Menschen  entspricht. 

Können  wir  nun  auch 
bei  genügender  Aufmerk- 
samkeit die  ewigmensch- 
liche Schönheit  in  den  anti- 
ken Bildwerken  von  den 
durch    Tradition,     Standort  Fig.  3b.    Aphrodite  diadumene  vom  Esquilin. 

und  Charakter  der  darzustellenden  Persönlichkeiten  geforderten  Ver- 
änderungen scheiden,  so  dürfen  wir  uns  doch  keinen  unmittelbaren 
Rückschluss  auf  den  lebenden  Menschen  erlauben. 

Stratz,  Die  Schönheit  des  weiblichen  Körpers.  2 


18 


Weibliche  Schönheit  in  der  Kunst. 


Nur  ein  Beispiel:  Fig.  3  stellt  die  Aphrodite  diadumene  vom 
Esquilin  vor,  Fig.  4  Alma  Tadema's  bekanntes  Modell  des  Bild- 
hauers, Fig.  5  ein  15jähri- 
ges  Judenmädchen ,  das 
ziemlich  normal  gebaut  ist. 
Bei  der  ersteren  be- 
weisen die  im  Verhältniss 
zum  Rumpf  etwas  zu  langen 
Beine,  dass  die  Figur  für 
ein  Postament  berechnet 
war ;  der  etwas  nach  hinten 
geneigte  Oberkörper  ist 
verglichen  mit  der  nach 
vorn  tretenden  Bauch-  und 
Lendengegend  schwerer 
gearbeitet,  das  Haupt  re- 
präsentirt  deutlich  den 
archaistischen  Typus  und 
ist  verhältnissmässig  grös- 
ser als  bei  anderen  antiken 
Statuen.  Der  Allgemein- 
eindruck  der  ganzen  Figur 
ist  der  eines  jungen  Mäd- 
chens ,  halb  Kind ,  halb 
Weib,  in  der  allerersten 
Blüthe,  einer  noch  nicht 
völlig  geöffneten  Knospe. 
Alma  Tadema  hat  die  ganze 
Figur  gestreckt,  das  Con- 
ventionelle daraus  entfernt, 
das  Verhältniss  von  Brust 
und  Unterleib  entspricht 
mehr  dem  der  Erwach- 
senen, der  Nabel  steht 
tiefer,  die  Brüste  sind  stärker  entwickelt,  der  Kopf  ist  kleiner; 
das  ganze  Mädchen    ist    älter   und   schlanker   geworden,    hat  jedoch 


Fig.  4.    Alma  Tadema 
Mit  Genehmigun 


„Ein  Bildhauermodell". 


der  Photographischen  Gesellschaft 
in  Berlin. 


Weibliche  Schönheit  in  der  Kunst.  21 

bilduhgen  einiger  derselben  illustrirt.  Unter  den  Künstlern  finden 
sich  Leonardo  da  Vinci,  Michel  Angelo,  Raphael,  Bandinelli,  Ccllini, 
Titian,  Carracci,  Rubens,  Rembrandt,  Dürer  und  zahlreiche  andere. 

Wenn  einerseits  auch  diese  Erweiterung  ihrer  Kenntnisse  den 
grossen  Künstlern  ermöglichte,  fehlerhafte  Modelle  in  ihren  Werken 
zu  verbessern,  so  lag  andererseits  die  Gefahr  nahe,  dass  manche, 
gerade  durch  diese  Kenntnisse  verleitet,  mehr  in  ihre  Gestalten  hinein- 
legten, als  wirklich  zu  sehen  war,  gewissermassen  die  Natur  über- 
boten, ohne  dieselbe  schöner  zu  machen.  Dieser  Gefahr  sind  auch 
grosse  Meister  nicht  entgangen1). 

Suchten  sie  sich  andererseits  durch  treue  Nachahmung  des 
Modells  vor  dieser  Gefahr  zu  schützen,  so  drohte  wieder  die  Mög- 
lichkeit, dass  sie  unbewusst  Fehler  derselben  in  ihre  Werke  über- 
trugen, und  zwar  um  so  mehr,  als  es  nicht  jedem  glückte,  vollendet 
schöne  Modelle  zu  finden. 

Aber  nicht  nur  der  Künstler,  sondern  auch  das  Publicum  war 
den  täglichen  Anblick  des  Nackten  entwöhnt,  und  so  ist  es  zu  er- 
klären, dass  beide,  Künstler  sowohl  als  Publicum,  minder  wählerisch 
wurden  und  auch  mit  minder  Schönem  vorlieb  nahmen,  wo  es  sich  bot. 

Mehr  und  mehr  tritt  die  Individualität  des  Künsters  in  den 
Vordergrund,  und  grosse  Vorzüge  in  der  Technik  oder  in  der  Auf- 
fassung sind  im  Stande,  ganze  Generationen  für  absichtliche  und 
unabsichtliche  Fehler  anderer  Art  blind  zu  machen. 

Es  ist  nicht  meine  Absicht,  hier  eine  ausführliche  Kritik  der 
Kunst  und  der  Kunstgeschichte  der  Renaissance  zu  schreiben;  für 
meinen  Zweck  genügt  es,  an  einem  beliebigen  Beispiel  nachzuweisen, 
wie  selbst  Kenner  sich  durch  die  herrschende  Strömung  zu  irrigen 
Auffassungen  hinreissen  lassen  können. 

Ich  wähle  dafür  die  florentinische  Venus  von  Sandro  Boticelli, 
der  gerade  in  letzter  Zeit  von  den  Präraphaeliten  mit  ungetheilter 
Bewunderung  auf  den  Thron  erhoben  wurde. 

Brücke  hat  bereits  auf  einige  anatomische  Fehler  derselben 
aufmerksam  gemacht  (1.  c.  p.  25,  62,  81).     Ullman,  einer  der  besten 


!)  Vgl.  Henke,    Die  Menschen    des  Michel  Angelo  im  Vergleich   mit   der 
Antike.     Eostock  1892. 


22 


Weibliche  Schönheit  in  der  Kunst. 


Fig.  6.    Venus  von  Boticelli. 


unter  den  Biographen  Boticelli's,  erkennt  dieselben  auch  als  solche 
an.  Er  führt  die  Verse  Poliziano's  an,  die  wahrscheinlich  der  Dar- 
stellung zu  Grunde  lagen,  er  bespricht  ausführlich  und  sachlich  die 


Weibliche  Schönheit  in  der  Kunst,  23 


Möglichkeit,  ob  Simonetta  Catanea,  die  Geliebte  des  Giuliano  di 
Medici,  als  Modell  zur  Venus  gedient  habe,  und  entscheidet  sich  im 
verneinenden  Sinne,  da  das  einzige  authentische  Bildniss  der  Simo- 
netta nicht  mit  dem  Gesichte  der  Venus  völlig  übereinstimmt l). 

Man   vergleiche   hiermit    den   Erguss   von  Ernst  Steinmann 2) : 

„Frau  Schönheit  ist's, 
Von  deren  Lobgesang 
Noch  zittert  Herz  und  Hand, 
Die  du  so  oft  erkannt 
Am  fliegend  goldnen  Haar, 
Ani  flatternden  Gewand. 

„Mit  diesen  Versen  aus  einem  Schönheitshymnus  Rossetti's  lässt  sich 
der    poetische    Zauber,    welcher    die    Geburt    der    schaumgeborenen 

Aphrodite  umschwebt,  vielleicht  am  ersten  in  Worte  fassen. 

Leise  plätschernd  umspielen  die  Wogen  das  schwankende  Fahrzeug, 
auf  dessen  Rand  die  reizende  Liebesgöttin  steht,  Brust  und  Schoss 
mit  keuscher  Gebärde  bedeckend.  Eine  unendliche  Fülle  goldenen 
Haares  umflattert  die  Himmlische.  —  —  —  Man  hat  diese  Gestalt 
mit  Recht  als  das  schönste  Venusbild  der  neueren  Kunst  gepriesen; 
es  lässt  sich  wohl  überhaupt  nur  mit  der  schlummernden  Venus  des 
Giorgione  vergleichen,  wo  uns  ebenso  die  Reinheit  der  Seele  entzückt, 
die  in  der  keuschen  Hülle  eines  vollendet  schönen  Weibes  Wohnung 
genommen  hat.  Wie  eine  Sage  aus  dem  goldenen  Zeitalter,  das 
JVEarsilio  Ficino  in  seinen  Briefen  mit  so  glühenden  Farben  geschildert 
hat,  redet  dies  Bild  zu  uns,  vor  welchem  sich  der  Beschauer  bald  als 
unberufener  Zeuge  eines  der  heiligen  Geheimnisse  fühlt,  welche  die 
Natur  im  grossen  Buche  ihrer  Wunder  verborgen  hat.  So  wahr  ist 
dieser  Vorgang  geschildert,  so  lebendig  wirkt  der  jungfräuliche  Reiz 
der  athmenden  Göttin  u.  s.  w." 

Diese  ganze  Expectoration,  bei  der  ich  noch  alles  nicht  direct 
auf  die  Venus  Bezügliche  wegliess,  wird  durch  das  beigefügte  Bild 
noch  überflüssiger  gemacht. 

Schreibt  man  so  Kunstgeschichte?    Ich  glaube  nicht. 


J)  Ullman,  Boticelli,  p.  102. 

2)  Künstlermonographien  von  Knackfuss,  24,  1897. 


24  Weibliche  Schönheit  in  der  Kunst. 

Brücke  nicht  erwähnt,  Ullman  nicht  erwähnt,  Warburg  1)  nicht 
erwähnt,  niemand  erwähnt,  nur  Steinmann. 

Ich  möchte  diesen  Tiraden  das  Folgende  gegenüberstellen. 

Die  Figur  der  Venus  von  Sandro  Boticelli  ist  erfüllt  von  einem 
zarten,  wehmüthigen  Liebreiz,  der  einen  tiefen  Eindruck  macht. 
Betrachtet  man  die  Figur  näher,  so  findet  man  in  dem  langen, 
schmalen  Halse,  den  stark  abfallenden  Schultern,  dem  schmalen 
eingesunkenen  Brustkasten,  dem  dadurch  bedingten  Tiefstand  und 
der  geringeren  Divergenz  der  Brüste  den  ausgeprägten  Typus  der 
Schwindsüchtigen  wieder,  der,  wie  im  Leben,  so  auch  in  der  bild- 
lichen Darstellung  durch  seine  tieftraurige  Schönheit  das  innige  Mit- 
gefühl des  Beschauers  erregt. 

Wenn  wir  bedenken,  dass  Simonetta  Catanea  im  Jahre  1453 
geboren  ist,  und,  nachdem  sie  sich  1468  mit  Marco  Vespucci  ver- 
heirathet  hatte,  bereits  im  Jahre  1476,  noch  nicht  dreiundzwanzig 
Jahre  alt,  an  Schwindsucht  starb,  so  ist  es  mehr  als  wahrscheinlich, 
dass  sie,  wie  einige  Autoren  annehmen,  wirklich  als  Modell  zu 
Boticelli's  Venus  gestanden  hat,  und  dass  der  Künstler  aus  leicht 
begreiflichen  Gründen  nur  das  Gesicht  etwas  verändert  hat2). 

Brücke  hat  bereits  auf  einige  anatomische  Fehler  der  Figur 
aufmerksam  gemacht. 

Boticelli  hat  also,  ohne  es  zu  wissen,  den  Typus  einer  schönen 
Schwindsüchtigen  zu  seinem  Ideal  gemacht.  Seine  Bewunderer  und 
Nachfolger  aber  Avussten  dies  auch  nicht  und  haben,  seinen  Idealen 
nachstrebend,  ihren  gesunden  Modellen  das  Gepräge  der  Schwind- 
sucht aufgedrückt  und  so  unwahre  Mischgestalten  geschaffen. 

Dies  eine  Beispiel  möge  genügen,  um  darzuthun,  wie  sich  in 
den  späteren  Werken  Natur  und  Kunst  in  den  verwickeltsten  Ver- 
hältnissen verschlingen.  Um  einem  Künstler  voll  und  ganz  gerecht 
zu  werden,    muss    man   nicht   nur   seine  Werke,    sondern   auch  sein 


!)  Die  Geburt  der  Venus  und  Primavera  von  Sandro  Boticelli.  Diss.  inaug. 
Strassburg  1892. 

2)  Auch  auf  dem  Bildniss  der  Simonetta  von  Pollajuolo  iu  der  Sammlung 
des  Duc  d'Aumale  zeigt  der  bis  unter  die  Brüste  entblösste  Oberkörper  trotz 
seiner  grossen  Schönheit  alle  Zeichen  der  Schwindsucht.  (Stich  von  de  Mare 
in  der  Gazette  des  beaux-arts,  22.) 


Weibliche  Schönheit  in  der  Kunst.  25 


Leben  und  die  Zeit,  in  der  er  lebte,  äusserst  sorgfältig  analysiren, 
und  nur  selten  wird  es  gelingen,  daraus  ein  gültiges  Schönheitsideal 
zu  destilliren. 

Je  eher  wir  im  Stande  sind,  den  Kunstwerken  analoge  Ge- 
stalten im  Leben  zurückzufinden ,  desto  wahrscheinlicher  wird  es, 
dass  der  Künstler  sich  ganz  an  das  schöne  Leben  gehalten  hat,  und 
in  dieser  Beziehung  stehen  die  nackten  weiblichen  Gestalten  von 
Tizian,  Giorgione,  Palma  Vecchio  und  van  Dyck  oben  an.  Rembrandt 
und  Rubens  sind  ihnen  ebenbürtig  in  der  Naturwahrheit,  jedoch 
haben  beide  keine  so  schönen  Modelle  gehabt. 

Wenn  wir  den  Werth  aller  von  Tausenden  von  Meistern  ge- 
schaffenen Kunstwerke  in  Beziehung  auf  das  moderne  Schönheits- 
ideal nach  dem  Einfiuss  bemessen,  den  sie  auf  die  grosse  Masse 
gehabt  haben,  so  müssen  wir  uns  abfragen,  welche  weiblichen  Ge- 
bilde in  den  weitesten  Kreisen  bekannt,  welche  am  meisten  repro- 
ducirt  worden  sind. 

Es  sind  dies  unstreitig  die  Venus  von  Milo,  die  Venus  von 
Medici,  die  sixtinische  Madonna  und  die  Madonna  della  sedia. 

Wir  sehen  also,  dass  in  Bezug  auf  den  weiblichen  Körper  die 
klassische  Kunst  auch  heute  noch  den  Sieg  davongetragen  hat,  und 
dass  von  allen  späteren  Künstlern  Raphael  der  einzige  war,  der  das 
liebreizende  Gesicht  seiner  Madonnen  zum  allgemein  anerkannten 
Ideal  zu  erheben  wusste.  Andererseits  aber  ersehen  wir  daraus  auch, 
dass  „die  grosse  Masse"  ein  strenger  und  gerechter  Richter  ist  und 
sehr  wohl  das  wahrhaft  Schöne  aus  der  Unzahl  des  Geringeren  und 
Mittelmässigen  herauszufinden  weiss.  Auch  hier  in  der  Kunst,  wie 
in  der  Geschichte,  ist  der  beste  unbeeinflusste  Kenner  die  Nachwelt. 


26  Schönheit  in  der  Literatur. 


III. 

Weibliche  Schönheit  in  der  Literatur. 

Die  Darstellung  weiblicher  Schönheit  in  der  Literatur  kann 
man  von  künstlerischem  sowie  von  rein  wissenschaftlichem  Stand- 
punkt aus  betrachten. 

Den  ersteren  hat  Lessing  im  Laokoon  eingenommen,  in  dem  er 
die  Grenzen  des  Darstellbaren  in  Malerei  und  Poesie  bestimmt1). 

„Homer  sagt  von  Helena  nichts  weiter,  als  dass  sie  weisse 
Arme  und  schönes  Haar  gehabt  habe.  Er  malt  ihre  Schönheit, 
indem  er  den  Eindruck  schildert,  den  dieselbe  auf  die  versammelten 
trojanischen  Greise  macht.  Zeuxis  malte  sie  selbst:  Sein  Gemälde 
bestand    aus  der  einzigen  Figur  der  Helena,    die  nackend  dastand." 

Nach  Lessing's  Auffassung  muss  demnach  der  Dichter  an  die 
Stelle  der  Augen  und  des  Mundes  den  Blick  und  das  Lächeln  setzen, 
statt  schlanker  Glieder  die  Bewegungen  beschreiben,  statt  körper- 
licher Schönheit  den  Eindruck,  den  dieselbe  hervorruft.  Will  er  uns 
die  Vorzüge  eines  schönen  Körpers  vorführen,  so  soll  er  nicht  sie 
selbst  schildern,  sondern  den  Act  der  Entkleidimg,  der  uns  dieselben 
enthüllt,  oder  den  Eindruck,  den  sie  auf  den  Beschauer  machen. 

Als  Muster  kann  die  eingangs  wiedergegebene  Schilderung  des 
sich  entkleidenden  Mädchens  von  Goethe  gelten.  Ei-  sagt  nichts  von 
ihrem  Körper,  als  dass  ihr  Gesicht  eine  schöne,  regelmässige  Bildung 
zeigte,  und  dass  braune  Haare  mit  vielen  und  grossen  Locken  auf 
die  Schultern  herunterrollten;  alle  übrigen  Körpertheile  sind  gar 
nicht  erwähnt.  Dass  sie  schön  sind,  sehen  wir  aus  dem  Eindruck 
auf  den  bewundernden  Zuschauer  während  des  Enthüllens.  Ein 
Maler  hätte  nicht  den  staunenden  Jüngling,  sondern  wie  Zeuxis  die 
entkleidete  Schönheit  darstellen  müssen. 

Ich  bin  überzeugt,  dass  Lessing's  künstlerischer  Standpunkt  der 
richtige  ist,  und  wenn  ich  ihn  zu  dem  meinigen  mache,  so  muss  ich 
zu  dem  Schlüsse  kommen,  dass  gerade  die  besten  literarischen  Werke 

])  Lessing's  gesammelte  Werke,  Cotta,  1886,  II,  p.  620  ff. 


Schönheit  in  der  Literatur.  27 

am  meisten  auf  die  Phantasie  des  Lesers  wirken  und  darum  am 
allerwenigsten  im  Stande  sind,  uns  ein  Bild  zu  geben,  das  wir  direct 
mit  der  lebenden  Wirklichkeit  vergleichen  können:  jeder  Leser  stellt 
sich  unter  dem  Bild  der  gepriesenen  Schönheit  seine  eigene  Geliebte 
vor  oder  diejenige  Frau,  deren  körperliche  Vorzüge  den  tiefsten  Ein- 
druck auf  ihn  hinterlassen  haben. 

Hier  müssen  wir  vom  künstlerischen  Standpunkt  ganz  absehen. 

Stellen  wir  uns  auf  den  rein  wissenschaftlichen  Standpunkt, 
sehen  wir  ganz  ab  von  dem  literarischen  Werth,  beschränken  wir 
uns  auf  das  Feststellen  von  Thatsachen,  dann  haben  so  manche  selbst 
minderwerthige  dichterische  Leistungen  gerade  für  unseren  Zweck 
einen  gewissen  Werth,  indem  sie  einerseits  ein  Spiegelbild  der  An- 
forderungen geben,  die  zur  Zeit  des  Schriftstellers  an  lebende  weib- 
liche Schönheit  gestellt  wurden,  andererseits  insofern,  als  sie  mass- 
gebend geworden  sind  für  eine  gewisse  Geschmacksrichtung  in  der 
Schönheitsauffassung.  Eine  derartige  Untersuchung  erhält  dadurch 
einen  höheren  Werth,  dass  erfahrungsgemäss  die  die  Poesie  be- 
herrschende Mode  stets  auch  die  bildende  Kunst  in  gleicher  Weise 
beherrscht,  so  dass  wir  auch  das  Schönheitsideal  jeder  Zeit  in  Wort 
und  Bild  zugleich  zurückfinden  können. 

Wenn  Martial  verlangt,  dass  die  weibliche  Brust  von  der  Art 
sein  müsse  „ut  capiat  nostra  tegatque  manus",  so  können  wir  daraus 
schliessen,  dass  zu  seiner  Zeit  grosse  Brüste  nicht  für  schön  galten. 
Dementsprechend  finden  wir  auch  auf  allen  klassischen  weiblichen 
Statuen  kleine  Brüste  dargestellt. 

Wir  werden  niemals  ein  Mädchen  mit  einem  wirklichen 
Schwanenhals  und  einer  wirklichen  Wespentaille  schön  finden;  der 
Gebrauch  dieser  Bilder  lehrt  uns  indess,  dass  ein  langer  Hals  und 
eine  schmale  Mitte  als  Attribute  des  Schönheitsideals  aufgefasst 
wurden  und  in  gewissem  Sinne  noch  werden.  Ein  Blick  auf  Familien- 
bilder aus  der  ersten  Hälfte  unseres  Jahrhunderts  oder  auf  die 
schönen  Zeichnungen  Gavarni's  lehrt  uns  ferner,  dass  die  bildende 
Kunst  derselben  Auffassung  huldigt. 

Houdoy  x)  hat  in  einem  mustergültigen  Werke  das  Schönheits- 

J)  La  beaute  des  femmes  dans  la  literature  et  dans  l'art  du  XII  au 
XVI  siecle,  1876. 


28  Schönkeit  in  der  Literatur. 

ideal  des  zwölften  bis  sechzehnten  Jahrhunderts  in  dieser  Weise 
wissenschaftlich  analy.sirt. 

Ihm  schliessen  sich  an  Vachon  *),  Ploss-Bartels  2),  Mantegazza3) 
und  zahlreiche  andere. 

Die  Kunst  und  die  Literatur  aller  Völker  bietet  Bausteine 
genug,  um,  ebenso  wie  es  Houdoy  für  das  spätere  Mittelalter  gethan 
hat,  ein  Schönheitsideal  der  gebildeten  Welt  mit  allen  seinen  durch 
Zeit   und    Geschmacksrichtung    bestimmten   Variationen    aufzubauen. 

Eine  derartige  Arbeit  würde  jedoch  weit  über  die  Grenzen  dieses 
Buches  hinausgehen.  Ich  verweise  hier  auf  die  citirten  Autoren  und 
begnüge  mich  damit,  zu  constatiren,  dass  in  der  Literatur  ebenso 
wie  in  der  bildenden  Kunst  das  Schönheitsideal  beruht  auf  Beob- 
achtung des  Lebens,  die  jedoch  stets  durch  Mode  und  künstlerische 
Auffassung  bedingte  Veränderungen  untergangen  hat. 

Dass  hinwiederum  literarische  Werke  Einfluss  auf  die  herr- 
schende Auffassung  weiblicher  Schönheit  ausüben  können,  beweist 
unter  anderem  das  Beispiel  von  Rousseau,  der  durch  seinen  Emile 
zahlreiche  seiner  weiblichen  Zeitgenossen  zum  Selbststillen  ihrer 
Kinder  veranlasste  und  dadurch  das  Schönfinden  gefüllter  Busen  in 
die  Mode  brachte.  Auch  Goethe's  Werther  hat  wenigstens  auf  die 
Kleidertracht  seiner  Zeit  einen  entscheidenden  Einfluss  ausgeübt. 

Von  den  tausend  Beschreibungen  weiblicher  Schönheit,  die  sich 
in  der  Literatur  finden,  gebe  ich  als  Beispiel  nur  eine  wieder,  die 
ich  dem  Buche  von  Houdoy  entnehme.  Ich  wähle  diese,  einmal,  weil 
neben  ihr  ein  Bild  des  Originals  besteht,  dann  aber,  weil  sich  darin 
ein  Massstab  zur  Beurtheilung  weiblicher  Schönheit  findet,  den  wir 
bis  jetzt  noch  nicht  berücksichtigt  haben,  und  der  uns  unmerklich 
zur  weiteren  Entwickelung  unseres  Themas  leitet. 

Es  ist  dies  die  von  Niphus  verfasste  Beschreibung  von  Giovanna 
d'Aragona,  deren  Bild,  von  Raphael,  oder  wahrscheinlicher  von  Giulio 
Romano  gemalt4),  im  Louvre  in  Paris  hängt. 

J)  La  femme  dans  l'art. 

2)  Das  weibliche  Sckönheitsideal  in:  Das  Weib,  s.  o. 

3)  Physiologie  des  Weibes  u.  a. 

4)  Gruyer  (Gazette  des  beaux-arts,  XXII,  p.  465)  weist  auf  Grund  histori- 
scher Docurnente  nach,  dass  Raphael  Giovanna  niemals  gesehen  haben  kann, 
und  allein  die  Arbeit  Romanos  beaufsichtigte. 


Schönheit  der  Jeanne  d'Aragon.  29 

Houdoy  giebt  neben  einer  vorzüglichen  Uebersetzung  ins  Fran- 
zösische  den  lateinisch  geschriebenen  Originaltext  von  Niphus. 

„Die  erhabene  Joanna  ist  für  uns  ein  Beweis,  dass  die  wahr- 
hafte Schönheit  nur  in  der  Natur  besteht,  denn  sie  paart  die  voll- 
kommene Schönheit  des  Körpers  und  der  Seele. 

Ihre  Seele  vereinigt  sittliche  Heldengrösse  mit  Sanftmuth  (und 
in  dieser  liegt  gerade  die  Schönheit  der  Seele),  so  dass  sie  nicht 
von  irdischer,  sondern  von  göttlicher  Abkunft  erscheint. 

Ihre  Körperformen  sind  von  solch  hervorragender  Schönheit, 
dass  selbst  Zeuxis,  der  zur  Darstellung  der  Helena  die  verschiedenen 
Reize  der  allerschönsten  Mädchen  von  Croton  vereinigen  musste,  sich 
mit  Joanna  als  einzigem  Modell  begnügt  hätte,  wenn  es  ihm  vergönnt 
gewesen  wäre,  dieselbe  zu  schauen  und  ihre  Vortrefflichkeit  zu  erkennen. 

Ihre  Gestalt  ist  von  Mittelgrösse,  gerade  und  zierlich,  geschmückt 
mit  dem  wunderbarsten  Ebenmass  der  Glieder;  sie  erscheint  weder 
fett  noch  knochig,  sondern  in  jugendlicher  Fülle  (succulenta) ;  ihre 
Hautfarbe  ist  nicht  bleich,  sondern  spielt  vom  Weissen  ins  Rothe; 
ihre  langen  Haare  schimmern  wie  Gold.  Ihre  Ohren  sind  klein  und 
rund,  dem  Munde  entsprechend1).  Dunkelbraune,  nicht  zu  dicht 
stehende  Härchen  wölben  sich  im  halben  Kreise  zu  den  Brauen; 
ihre  blauenden  Augen  erstrahlen  heller  als  alle  Sterne  unter  den 
schwarzen  geraden  Wimpern  und  streuen  Liebreiz  und  Freude  um 
sich  her;  zwischen  den  Augenbrauen  steigt  die  gleichmässig  und 
schön  geformte  Nase  gerade  herunter;  von  göttlicher  Form  ist  das 
Thälchen,  das  die  Nase  von  der  Oberlippe  scheidet.  Der  kleine, 
süss  lächelnde  Mund  zieht  die  Küsse  stärker  an,  als  der  Magnet  das 
Eisen;  weiche  Lippen  umschliessen  ihn,  honigsüss  und  korallenroth. 
Die  Zähne  sind  klein,  glänzend  wie  Elfenbein  und  schön  geordnet; 
ihr  Athem  ist  der  köstlichste  Wohlgeruch. 

Ihre  göttliche  Stimme  hat  nichts  Menschliches.  Ein  niedliches 
Grübchen  ziert  das  Kinn;  auf  ihren  Wangen  spielt  die  Farbe  der 
Rose  und  des  Schnees.  Der  Umriss  ihres  Antlitzes  ist  rund,  zum 
männlichen  hinneig-end. 


J)  Nach  Agrippa  inussten  die  Ohren  vereinigt  einen  Kreis  bilden,  der  der 
Grösse  des  geöffneten  Mundes  entsprach. 


30  Schönheit  der  Jeanne  d' Aragon. 

Der  gerade,  gestreckte  Hals  hebt  sich  voll  und  weiss  zwischen 
den  glänzenden,  gut  gewölbten  Schultern,  die  auf  breiter  Fläche 
keinen  Knochen  hervortreten  lassen.  Die  Brüste  von  massiger  Grösse 
sind  gleichmässig  gerundet  und  ähneln  den  Pfirsichen,  deren  Duft 
sie  ausströmen. 

Die  weichen  Hände  sind  von  aussen  wie  Schnee,  von  innen 
wie  Elfenbein,  und  genau  so  lang  wie  das  Angesicht;  die  gefüllten, 
runden  Finger  sind  nicht  zu  kurz  und  tragen  feine,  gewölbte  Nägel 
von  zarter  Farbe. 

Der  Oberkörper  hat  im  ganzen  die  Form  einer  umgekehrten, 
etwas  platten  Birne,  deren  untere  Spitze  schmal  und  rund  im  Durch- 
schnitt ist,  und  deren  breites  Ende  sich  oben  in  bewunderungs- 
würdigen Linien  und  Flächen  an  die  Wurzel  des  Halses  ansetzt. 

Der  Unterleib  ist  flach  gewölbt  und  im  guten  Verhältniss  zu 
Hüften  und  Lenden.  Die  Oberschenkel  sind  kräftig  und  drehrund; 
der  Oberschenkel  steht  zur  Wade,  die  Wade  zum  Oberarm  im 
richtigen  Ebenmass  von  drei  zu  zwei1). 

Die  Arme  sind  in  göttlichem  Gleichmass  zu  den  übrigen  Theilen 
des  Körpers  geformt. 

Die  Füsse  sind  zierlich  und  endigen  in  bewunderungswürdig 
geformten  Zehen. 

Ihr  Ebenmass  und  ihre  Schönheit  ist  von  der  Art,  dass  man 
sie  mit  Recht  den  Unsterblichen  zurechnen  kann. 

Wenn  nun  die  geistigen  Eigenschaften,  der  Liebreiz  und  die 
Schönheit  dieser  Prinzessin  so  gross  sind,  so  kann  man  daraus 
schliessen,  nicht  allein,  dass  das  wahrhaft  Schöne  nur  in  der  Natur 
besteht,  sondern  auch,  dass  nichts  an  Schönheit  den  menschlichen 
Körper  übertrifft." 

Besser  und  rascher  als  diese  Beschreibung  überzeugt  uns  das 
discretere  Bild  der  Jeanne  d' Aragon  im  Louvre  von  deren  körper- 
lichen Reizen.  Ob  der  alte  Niphus  dieselben  nicht  nur  theoretisch, 
sondern   auch  praktisch   studiren  konnte,   ist  für  uns  Nebensache2). 


x)  D.  h.  der  Umfang  des  Oberschenkels  =  1  x\i  mal  dem  Umfang  der  Wade, 
Umfang  der  Wade  =  lVzmal  Umfang  des  Oberarms. 

2)  Guyon  (Diverses  lecons  III)  weist  nach,  dass  Niphus  als  Arzt  Gelegen- 
heit hatte,  den  Körper  der  Prinzessin  zu  sehen. 


Schönheit  in  der  Literatur.  31 

Die  Hauptsache  ist,  dass  er  bestrebt  ist,  uns  von  der  Schön- 
heit Joanna's  nicht  nur  durch  die  Aufzählung  und  Umschreibung 
der  einzelnen  Körpertheile  zu  überzeugen,  sondern  auch  durch  die 
Vergieichung  mit  einem  gewissen  Massstab,  durch  die  Proportion 
der  Theile  unter  sich. 

Er  bildet  damit  den  Uebergang  von  der  Auffassung  des  Dichters 
zu  der  des  Philosophen,  der  nicht  nur  den  Eindruck  hervorrufen 
und  wiedergeben,  sondern  auch  begründen  will. 

Die  theoretischen  Betrachtungen,  die  solche  Herren  ohne 
Kenntniss  des  Lebens  in  ihren  Studirstuben  anstellten,  haben  einen 
äusserst  geringen  Werth.  Wenn  Schopenhauer  von  dem  „niedrig 
gewachsenen,  schmalschultrigen,  breithüftigen  und  kurzbeinigen  Ge- 
schlecht" spricht,  das  man  das  schöne  nennt,  so  beweist  dies  nur, 
dass  er  wenige  und  traurige  Erfahrungen  und  keine  vorurtheilsfreien 
Studien  gemacht  hat. 

An  Versuchen,  die  verschiedenen  Formen  weiblicher  Schönheit 
systematisch  einzutheilen,  fehlt  es  nicht,  Künstler,  Philosophen  und 
Aesthetiker  haben  darin  gewetteifert. 

A.Walker1)  unterscheidet  drei  Formen:  locomotive,  nutritive, 
mental  beauty,  und  stellt  als  Typen  für  die  erste  Diana,  für  die 
zweite  Venus,  für  die  dritte  Minerva  auf. 

Lairesse2)  schreibt:  Die  Schönheit  eines  nackten  Frauenbildes 
besteht  hierin,  dass  erstlich  die  Gliedmassen  gut  geformt  sind,  zum 
zweiten,  dass  sie  eine  schöne,  freie  und  gemächliche  Bewegung  haben, 
und  endlich  eine  gesunde  und  frische  Couleur. 

Andere  wieder  unterscheiden  zwischen  erhabener  und  lieblicher, 
zwischen  sittlicher  und  sinnlicher,  zwischen  blonder  und  brünetter 
Schönheit.  Bei  allen  diesen  Eintheilungen  ist  es  beim  Versuche  ge- 
blieben und  keine  hat  sich  allgemeine  Geltung  verschafft. 

Das  einzige  Positive,  was  sich  aus  allen  diesen  Versuchen  heraus 
entwickelt  hat,  ist  das  Bestreben,  eine  gewisse  Gesetzmässigkeit  in 
der  Form,  in  den  Grössenverhältnissen  der  einzelnen  Theile  zu  ein- 
ander zu  entdecken,  die  Lehre  von  den  Proportionen. 


x)  Analysis  and  Classification  of  beauty  in  woman.     London  1852. 
2)  Groot  schilderboek.     Amsterdam  1716. 


Antiker  Canon  und  Modulus. 


IV. 
Proportionslehre  und  Canon. 

Wir  haben  in  dem  vorigen  Abschnitt  gesehen,  dass  Niphus 
die  Schönheit  Johannas  von  Aragonien  zum  Theil  nach  gewissen 
Verhältnissen  beurtheilt:  die  Ohren  sind  zusammen  gleich  gross  wie 
der  Mund,  die  Hand  entspricht  genau  der  Länge  des  Angesichts, 
Schenkel,  Wade  und  Oberarm  stehen  im  Verhältniss  von  3  zu  2  u.  s.  w. 

Gleich  Niphus  haben  sich  schon  seit  der  grauen  Zeit  der 
Aegvpter  bis  in  unsere  Tage  zahlreiche  hervorragende  Männer  be- 
müht, die  Gesetzmässigkeit  der  Proportionen  des  menschlichen  Körpers 
zu  erforschen. 

Dies  geschah  von  einzelnen  ausschliesslich  in  der  bescheidenen 
und  löblichen  Absicht,  dem  Künstler  dadurch  ein  Hülfsmittel  zur 
Nachbildung  menschlicher  Figuren  an  die  Hand  zu  geben,  andere 
aber  haben  sich  verleiten  lassen,  aus  einer  scheinbaren  Gesetzmässig- 
keit der  von  ihnen  genommenen  Masse  ein  theoretisches  Gebäude 
zur  Bestimmung  des  Schönheitsbegriffs  zu  construiren. 

Erst  in  allerneuester  Zeit  finden  sich  vereinzelte  Bestrebungen, 
aus  einer  grossen  Anzahl  Messungen  in  wissenschaftlicher  Weise 
das  Mittelmass  und  damit  zwar  nicht  das  Schönheitsideal,  wohl  aber 
die  Normalgestalt  zu  bestimmen. 

Die  sorgfältigen  Untersuchungen  von  Ch.  Blanc1)  haben  nach- 
gewiesen, dass  die  alten  Aegypter  als  Grundmass  die  Länge  des 
Mittelfingers  annahmen,  der  nach  ihnen  neunzehnmal  in  der  Körper- 
lange  enthalten  ist. 

Eine  genau  nach  diesen  Regeln  construirte  Figur  heisst  Canon, 
das  sie  bestimmende  Grundmass  wird  Modulus  genannt. 

Es  scheint,  dass  der  ägyptische  Canon  zum  Theil  in  die  griechi- 
sche Kunst  übernommen  wurde,  dass  daneben  aber  auch  noch  andere 


x)  Gazette  des  beaux-arts,  7. 


Proportionssysteme.  33 

Canons  bestanden,  bei  denen  die  Länge  der  Hand,  des  Fusses  oder 
des  Kopfes  den  Modulus  abgab. 

Der  bekannteste  ist  der  des  Polyklet,  den  manche  in  dem 
Speerträger  von  Neapel  zurückzufinden  glauben 1).  Vitruv ,  Galen 
und  Plinius  berichten  über  den  Canon  des  Polyklet.  Danach  ist  das 
Gesicht  ein  Zehntel,  der  Kopf  ein  Achtel  der  Gesammthöhe,  Kopf 
und  Hals  ein  Sechstel  und  gleich  der  Fusslänge.  Das  Gesicht  zer- 
fällt in  drei  gleiche  Theile,  vom  Kinn  zum  unteren  Rand  der  Nase, 
von  da  bis  zum  oberen  Rand  derselben,  und  von  da  bis  zum  Haar- 
ansatz -). 

Archäologen  und  Historiker  haben  auszumachen,  ob  damit 
wirklich  der  Canon  des  Polyklet  durch  Ueb erlief erung  bewahrt  ist, 
uns  interessirt  hier  nur  die  Thatsache,  dass  diese  Masse  bis  in  unsere 
Zeit  als  Massstab  menschlicher  Schönheit  gegolten  haben,  trotzdem 
sie,  wie  Langer3)  nachgewiesen  hat,  selbst  bei  zahlreichen  klassi- 
schen Bildwerken  nicht  immer  zu  finden  sind. 

Als  mit  der  Renaissance  das  Interesse  an  dem  menschlichen 
Körper  wieder  erwachte,  sind  Leonardo  da  Vinci,  Albrecht  Dürer 
und  Agrippa  die  ersten  gewesen,  die  sich  wieder  mit  den  Propor- 
tionen des  menschlichen  Körpers  beschäftigten;  die  ersteren  beiden 
stellten  sich  ausschliesslich  auf  den  Standpunkt  des  Künstlers  zur 
leichteren  Nachbildung,  der  letztere  hat  ein  ganzes  System  aufgebaut, 
nach  dem  sich  nicht  nur  der  menschliche  Mikrokosmus,  sondern 
auch  jede  geometrische  Figur,  selbst  die  Sternenwelt,  systematisiren 
lässt  4). 

Wer  sich  für  die  historische  Entwickelung  der  verschiedenen 
Systeme  interessirt,  findet  eine  ziemlich  vollständige  Uebersicht  und 
Besprechung  derselben  in  der  fleissigen  Arbeit  von  Zeising5).  Da- 
selbst werden  78  Philosophen,  Künstler,  Anatomen  und  Physiologen 
aufgezählt,    dazu    kommt   der   von  Zeising    nicht    erwähnte  Agrippa 


2)  Guillaurne  hält  denselben  für  eine  Copie,  da  das  Original  wahrschein- 
lich aus  Bronce  gewesen  ist. 

2)  Vgl.  L.  von  Sybel,  Weltgeschichte  der  Kunst,  1888,  p.  193. 

3)  1.  c.  p.  60. 

4)  Agrippa,  de  philosophia  occulta,  1531. 

5)  Neue  Lehre  von  den  Proportionen  des  menschlichen  Körpers,  1854. 
Stratz,  Die  Schönheit  des  weiblichen  Körpers.  3 


34  Proportionssysteme. 

und  Zeising  selbst  mit  seiner  Lehre  vom  goldenen  Schnitt,  so  dass 
wir  bis  zum  Jahre  1854  nicht  weniger  als  80  Autoren  haben,  deren 
jeder  wieder  einer  persönlichen  Auffassung  huldigt. 

Die  meisten  bestimmen  die  Proportionen  nach  Kopf-  und  Ge- 
sichtslängen, Hay  *)  legt  seinem  System  den  musikalischen  Accord 
zu  Grunde,  indem  er  den  Abstand  der  einzelnen  Theile  des  Körpers 
nach  Terzen,  Quinten,  Octaven  u.  s.  w.  bestimmt.  Zeising  Avendet 
die  Lehre  vom  goldenen  Schnitt  an,  wonach  eine  Linie  so  getheilt 
wird,  dass  das  Ganze  sich  zum  grösseren  Theil  verhält,  wie  dieser 
zum  kleineren;  so  verhält  sich  nach  ihm  die  Körperhöhe  zur  Nabel- 
höhe, wie  diese  zu  der  Entfernung  des  Nabels  bis  zum  Scheitel. 

Wie  Langer2)  richtig  bemerkt,  hat  diese  Eintheilung  schon 
deshalb  keinen  Werth,  weil  die  Höhe  des  Nabels  sehr  variabel  ist; 
jedoch  erkennt  er  an,  dass  bei  der  Bestimmung  der  Taillenhöhe 
einer  gekleideten  weiblichen  Figur  die  Zeising'sche  Eintheilung 
zutrifft. 

Es  sei  hier  noch  erwähnt,  dass  unter  allen  Autoren  Cenino 
Cennini 3)  der  einzige  ist,  der  den  Frauen  überhaupt  jegliche  richtige 
Körperproportion  abspricht  und  sich  deshalb  nur  mit  dem  männ- 
lichen Körper  beschäftigt. 

Die  erste  rein  wissenschaftliche  Arbeit  über  Proportionen 
stammt  von  Quetelet 4),  der  aus  den  an  dreissig  jungen  Männern  ge- 
fundenen Massen  eine  Durchschnittsproportion  construirte. 

Er  betritt  damit  den  modernen,  von  den  Anthropologen  mehr 
und  mehr  ausgebildeten  Weg,  durch  Vergleichung  einer  möglichst 
grossen  Zahl  von  Einzelmassen  ein  durchschnittliches  Normalmass 
des  Menschen,  je  nach  Rasse,  Lebensalter  und  Geschlecht  verschieden, 
zu  construiren.  Topinard 5)  hat  versucht,  aus  den  ihm  zugänglichen 
Messungen   derartige  Normalmasse   für    den   Europäer   festzustellen, 


')  The  geornetric  beauty  of  the  human  figure  defined,  1851. 

2)  1.  c.  p.  56. 

3)  Lübke,  Italienische  Malerei,   citirt  bei  Langer  p.  62,  hei  Zeising  nicht 
erwähnt. 

4)  Des  proportions  du  corps  humain.     Bulletin    de  l'academie  royale  des 
sciences,  lettres  et  beaux-arts  de  Belgique,  XV. 

5)  Citirt  bei  Richer,  Anatomie  artistique,  1890,  p.  258. 


Proportionssysteme.  35 

sieht  jedoch,  eine  grosse  Schwierigkeit  in  dem  Umstände,  dass  man 
in  Europa  keine  grössere  Anzahl  von  Individuen  absolut  reiner  Rasse 
erhalten  kann. 

Es  ist  bekannt,  dass  in  neuester  Zeit  Bertillon  in  derselben 
Weise  die  Identität  von  Verbrechern  festzustellen  suchte. 

In  Amerika  hat  Sargent *)  mehr  als  zweitausend  Jünglinge 
und  Mädchen  im  Alter  von  20  Jahren  gemessen  und  nach  den 
Durchschnittsmassen  zwei  Thonmodelle  angefertigt,  die  in  Chicago 
ausgestellt  waren.  Richer  2)  hat  in  gleicher  Weise  wie  Sargent  einen 
Canon  der  Proportionen  des  menschlichen  Körpers  construirt,  den- 
selben nach  Kopflängen  bestimmt  und  als  Statue  ausgearbeitet.  Den 
weiblichen  Körper  hat  er  leider  nur  beiläufig  berücksichtigt. 

Die  Vergleichung  der  von  verschiedenen  Untersuchern  ge- 
wonnenen Resultate  wird  erschwert  durch  den  Umstand,  dass  man 
bisher  noch  nicht  einer  einheitlichen,  allgemein  gültigen  Methode  ge- 
folgt ist. 

Obwohl  wir  demnach  noch  nicht  in  der  Lage  sind,  feststehende 
Normalproportionen  für  den  menschlichen  Körper  zu  geben,  so 
können  wir  doch  mit  grosser  Genugthuung  feststellen,  dass  im 
grossen  und  ganzen  trotz  der  verschiedenen  Wege  die  Endresultate 
gewissenhafter  Beobachter  sich  decken,  und  nicht  nur  das  allein, 
sondern  dass  die  künstlerische  Idealgestalt  mit  der  wissenschaftlichen 
Normalgestalt  zusammenfällt. 

Um  dies  darzuthun,  diene  als  Grundlage  die  von  G.  Fritsch3) 
befürwortete  und  verbesserte  graphische  Methode  zur  Bestimmung 
der  menschlichen  Proportionen,  welche  von  C.  Schmidt4)  und 
C.  Carus 5)  inaugurirt  ist. 

Fig.  7  stellt  die  weibliche  Normalgestalt  von  Merkel 6)  dar, 
welche  in  ein  Zehntel  natürlicher  Grösse  gezeichnet  ist,  entsprechend 
einer  Gesammtlänge  von  155  cm.    Daneben  sind  die  Masse  für  diese 


J)  Scribner's  Magazine,  1893,  Vol.  XIV,  Nr.  79. 

2)  Richer,  Canon  des  proportions  du  corps  humain,  1893. 

3)  Verhandlungen  der  Berl.  Anthropologischen  Gesellschaft,  16.  Febr.  1895. 

4)  Proportionsschlüssel.     Stuttgart  1849. 

5)  Die  Proportionslehre  der  menschlichen  Gestalt,  1854. 

6)  Handbuch  der  topographischen  Anatomie,  1896,  IL  p.  256. 


36 


Normalmasse. 


Figur  nach  dem  Fritsch'schen  Canon  construirt  und  der  Deutlichkeit 
halber  in  punktirten  Linien  in  die  Figur  selbst  übertragen. 

Als    Modulus    des    Schmidt  -  Fritsch'schen    Canons     dient     die 


Fig.  7.    Canon  von  G.  Fritsch  und  Merkeische  Normalgestalt. 

Länge  der  Wirbelsäule,  gemessen  vom  unteren  Rand  der  Nase 
bis  zum  oberen  Rand  der  Symphyse  in  gerade  gestreckter  Haltung 
=  ab.  Dieser  Hauptmodulus  genügt,  um  alle  übrigen  Masse  zu 
bestimmen. 


Fritsch'scher  Canon.  37 

Zunächst  wird  er  in  vier  gleiche  Theile  ae,  ef,  fN  und  Nb 
getheilt;  von  diesen  Untermoduli  (=  lk  Modulus)  wird  einer,  ac,  in 
der  Verlängerung  von  ab  angefügt,  um  die  Scheitelhöhe  zu  be- 
stimmen ;  je  ein  Untermodulus  bei  e,  eS  und  eSx  bestimmt  den  Ab- 
stand der  Schultergelenke  SSX;  je  ein  halber  Untermodulus  bei 
b,  bH  und  bHx  giebt  den  Abstand  der  Hüftgelenke  HH^ 

Verbindet  man  jedes  Schultergelenk  mit  dem  gegenüberliegen- 
den Hüftgelenk,  so  schneiden  sich  die  Verbindungslinien  SHX  und 
S7H  bei  N  im  Nabel. 

Zieht  man  von  den  Schultergelenken  Linien  durch  a,  so  bilden 
deren  Verlängerungen  Sad1  und  S1ad  mit  den  von  c  aus  gezogenen 
Parallelen  cd  und  cdx  ein  Quadrat,  dessen  quere  Diagonale  dd2  die 
Schädelbreite  angiebt. 

Eine  zu  aS  gezogene  Parallele  von  e  aus  schneidet  die  Linie 
SHX  in  der  Höhe  der  Brustwarze  B,  der  die  linke  Brustwarze 
Bx  entspricht. 

Nun  kann  man  die  Länge  der  Extremitäten  in  folgender  Weise 
bestimmen : 

Obere  Extremität: 
SBi  rechtes  Schultergelenk  bis  linke  Brustwarze  =  SE  Oberarm. 
B[N  linke  Brustwarze  bis  Nabel  =  EM  Unterarm. 
NH  Nabel  bis  Hüftgelenk  =  MP  Hand. 

Untere  Extremität. 
HB|  rechtes  Hüftgelenk  bis  linke  Brustwarze  —  HK  Oberschenkel. 
BjHj  Hüftgelenk  bis  Brustwarze   derselben  Seite  =  KF  Unterschenkel. 
Die  Höhe  des  Fusses  ist  (ungefähr)  ein  halber  Untermodulus. 
Die  gesammte  Körperlänge  ch  ist  gleich  10 Ya  Untermoduli. 

Die  Bestimmung  der  Fusshöhe  und  der  Gesammtlänge  hat  Fritsch  nicht 
ausdrücklich  angegeben;  ich  habe  dieselbe  auf  Grund  zahlreicher  Controle- 
messungen  beigefügt  und  kann  constatiren,  dass  man  dabei  bis  auf  einige  Centi- 
meter  genau  messen  kann.  Am  sichersten  geht  man,  auf  der  Mittellinie  cb 
fünf  weitere  Untermoduli  =  bg  und  einem  Halben  bis  ein  Drittel  Um  =  gh 
abzutragen  und  dann  den  Abstand  von  FF1  bis  h  als  Fusshöhe  anzunehmen. 

Merkel  giebt  nicht  an,  in  welcher  Weise  er  zur  Construction 
seiner  weiblichen  Normalgestalt  gelangt  ist;  jedenfalls  hat  er  sich 
nicht  der  Fritsch'schen  Methode  bedient,  denn  sonst  hätte  er  die- 
selbe unzweifelhaft  erwähnt. 


Ct 


aT 


38  Normalmasse.     Merkel.     Froriep. 

Um  so  auffallender  ist  es,  dass  er  auf  anderem  Wege  beinahe 
zu  den  gleichen  Resultaten  kommt,  wie  Fritsch,  denn  wir  sehen  aus 
der  Figur,  dass  die  Merkel'sche  Gestalt  bis  auf  kleine  Abweichungen 

von  einigen  Millimetern  mit 
den  Fritsch'schen  Massen 
sich  deckt.  (Die  Masse  des 
Armes  stimmen  genau,  sobald 
man  sich  die  Schulter  etwas 
gesenkt  vorstellt.) 

Froriep  hat  seiner  Ana- 
tomie für  Künstler l)  acht 
ProjDortionstafeln  beigefügt, 
die  zum  Theil  nach  Liharzik 
construirt,  nebenbei  aber  auch 
nach  Kopf  höhen  berechnet 
sind.  Die  achte  Tafel  stellt 
ein  erwachsenes  Weib  von 
25  Jahren  vor.  Trägt  man 
bei  dieser  die  Fritsch'sche 
Construction  ein,  so  stellt 
sich  heraus,  dass  auch  hier  die 
Masse  beinahe  vollkommen 
sich  decken;  nur  ist  bei  Fro- 
riep die  Schädelbreite  um 
1  cm  breiter  und  die  Brust- 
warzen stehen  tiefer. 

Diese  doppelte  Ueber- 
einstimmung  sp rieht  sehr  ent- 
schieden für  die  Brauchbar- 
keit des  Fritsch'schen  Canons, 
der  abgesehen  von  der  äusserst 
einfachen  Construction  noch 
den  Vortheil  hat,  dass  auch  durch  einfache  Berechnung  ohne  Con- 
struction ein  Theil  der  Masse   bestimmt  werden  kann. 


Fig.  8.    Weibliehe  Normalfigur  nach  Richer. 


:)  Zweite  Auflage  1890. 


Normalmasse.     Richer. 


39 


Ist  der  Modulus  z.  B.  =  60,  so  ist  der  Untermodulus  =  15,  demnach  S  Sj 
(Fig.  7)  =  30,  RRi  =  15,  dd[  =  15,  ch  =  155.  Zur  ungefähren  Vergleichung 
mit  einer  Berechnung  nach  Kopfmassen  kann  man  beachten,  dass  der  Ab- 
stand der  Brustwarzen  BBj  ungefähr 
gleich  ist  der  Kopflänge.  Rechnet  man 
die  Gesammtlänge  auf  lrJ2  Kopflängen, 
dann  verhält  sich  eine  Kopflänge  zu 
einem  Untermodulus  wie  77*  zu  107s, 
also  etwa  wie  3  zu  4;  im  gegebenen  Fall 
3  Kopflängen  (B  Bt  =  20)  zu  20  =  4  Unter- 
moduli zu  15  =  60. 

Richer  x)  hat  die  Proportionen 
ausschliesslich  nach  Kopflängen  be- 
stimmt. Die  weibliche  Normalfigur 
von  Richer  (Fig.  8)  kommt  auf  das 
Genaueste  überein  mit  dem  Fritsch- 
schen  Canon 2),  ausser  zwei  kleinen 
Abweichungen :  die  Scheitelhöhe 
ist  bei  Richer  um  etwas  kleiner 
und  die  Länge  des  Vorderarms  ist 
etwas  grösser  (auf  der  Zeichnung 
scheint  der  Unterschied  noch  stär- 
ker, weil  die  oberen  Messpunkte 
höher  liegen  als  die  etwas  ge- 
senkten Schultergelenke). 

Immerhin  ist  Richer,  wenn 
auch  auf  anderem  Wege,  zu  beinahe 
derselben  Normalgestalt  gekommen, 
als  Fritsch,    Merkel   und  Froriep. 

Zur  Vergleichung  des  Canons 
mit  den  Verhältnissen  an  der  Leben- 
den habe  ich  ein  gutgebautes  javani- 
schen Mädchen,  Sarpi,  gewählt, 
deren  Umrisse  genau  nach  der  Photographie  gezeichnet  sind  (Fig.  9). 

J)  Anatomie  artistique,  1890,  p.  169  und  252. 

2)  Diese  Uebereinstimmung  ist  um  so  auffallender,  als  Richer,  wie  er  mir 
mittheilte,  diese  weibliche  Figur  aus  dem  Gedächtniss  so  zeichnete,  wie  er  sie 
für  richtig  proportionirt  hielt. 


Fig.  9.    Sarpi,  javanisches  Mädchen 
von  etwa  18  Jahren. 


40  Normalmasse.     Langer. 

Wegen  der  vorgebeugten  Haltung  des  Kopfes  fällt  der  obere 
Endpunkt  des  Modulus  ab  etwas  höher  als  der  untere  Nasenrand. 
Mit  Ausnahme  des  im  Verhältniss  zum  Körper  zu  grossen  Kopfes, 
der  der  javanischen  Rasse  eigenthümlich  ist,  stimmen  die  Masse  bis 
auf  Millimeter  genau.  Die  Brüste  sind  mit  den  Armen  in  die  Höhe 
und  etwas  nach  aussen  gerückt,  und  fallen  bei  gesenkten  Armen 
genau  in  die  Punkte  BBX  (Fig.  7),  wie  ich  mich  an  einer  anderen 
Aufnahme  überzeugen  konnte. 

Langer  l)  hat  nach  directen  Messungen  an  Lebenden  ein  Linear- 
schema aufgestellt.  Da  er  ebenso  wie  Schmidt  und  Fritsch  die  Ge- 
lenke und  das  Knochengerüst  als  Grundlage  seiner  Messungen  be- 
nützt, so  decken  sich  seine  Masse  mit  den  obigen  vollkommen,  Avas 
den  Rumpf  betrifft. 

Bei  den  Extremitäten  findet  Langer,  abweichend  von  Fritsch, 
dass  Ober-  und  Unterarm,  Ober-  und  Unterschenkel  gleich  lang 
sind2),  die  Endergebnisse  sind  aber  die  gleichen,  trotz  dieser  Ver- 
schiedenheiten, die  nur  auf  verschiedener  Annahme  der  Messpunkte 
beruhen. 

Langer  hat  ausser  lebenden  Menschen  auch  eine  grössere  An- 
zahl antiker  Statuen  gemessen,  und  dabei  gefunden,  dass  namentlich 
die  Figuren  des  Parthenon  vollkommen  mit  den  Normalverhältnissen 
lebender  Menschen  übereinstimmen. 

Die  bisherigen  Betrachtungen  haben  uns  demnach  das  folgende 
gelehrt. 

Durch  genaue  vergleichende  Messungen  wohlgebauter  Indivi- 
duen gelangt  man  zu  stets  wiederkehrenden  Normalmassen,  die  im 
grossen  und  ganzen  trotz  der  verschiedenen  Messungsmethoden  stets 
dieselben  sind.  Von  allen  angewandten  Methoden  geben  diejenigen 
die  zuverlässigsten  Resultate,  die  sich  an  unveränderlich  feststehende, 


*)  1.  c.  p.  48. 

2)  Dieser  Unterschied  erklärt  sich  aus  der  Methode  der  Messung  von 
Langer.  Die  Länge  des  Unterschenkels  berechnet  er  nach  dem  unteren  Rande 
des  Wadenbeinknöchels;  dieser  liegt  jedoch  viel  tiefer  als  das  Gelenk;  den 
Unterarm  rechnet  er  von  der  Achse  des  Ellbogengelenks,  die  im  Oberarmknochen 
liegt,  bis  in  die  Mitte  des  (doppelten)  Handgelenks,  wodurch  der  Unterarm  auf 
Kosten  von  Oberarm  und  Hand  um  einige  Centimeter  vergrössert  wird. 


Normalmasse.     Fehlerhafte  Canons.  41 

durch  das  Knochengerüst  und  die  Gelenke  bestimmte  Punkte  halten. 
Unter  allen  diesen  Methoden  verdient  wiederum  die  von  Schmidt 
und  Fritsch  den  Vorzug,  weil  sie  mit  der  Genauigkeit  der  Messung 
eine  einfache  Construction  und  bequeme  Berechnung  vereinigt,  und 
sich  dadurch  als  Massstab  zur  Beurtheilung  gegebener  Figuren  be- 
sonders eignet. 

Wir  haben  gesehen,  dass  diese  Verhältnisse  sich  sowohl  an 
anderen  Canons  als  auch  an  normalen  Exemplaren  von  Lebenden 
wiederfinden  lassen,  ebenso  wie  in  mustergültigen  Darstellungen  der 
idealen  Menschengestalt.  Nun  wollen  wir  versuchen,  die  gemachten 
Erfahrungen  auch  kritisch  zu  verwerthen  zur  Entdeckung  von  Fehlern 
in  einer  gegebenen  Figur. 

Als  Beispiel  wähle  ich  zunächst  die  obenerwähnte  weibliche 
Normalgestalt  von  Hay,  die  nach  musikalischen  Accorden  construirt 
ist  (Fig.  10). 

Tragen  wir  in  dieselbe  den  Fritsch'schen  Modulus  ab  ein  und 
construiren  die  nöthigen  Linien,  so  zeigt  sich  zunächst,  dass  die 
Beine  viel  zu  kurz  sind,  und  dass  dieser  Fehler  hauptsächlich  auf 
starke  Verkürzung  der  Unterschenkel  zu  setzen  ist,  ein  Fehler,  der 
in  den  arbeitenden  Klassen  sehr  häufig  gefunden  wird. 

Das  scheinbare  Ebenmass  der  Figur  wird  jedoch  gerettet  durch 
einen  zweiten  Fehler,  nämlich  durch  eine  starke  Verkleinerung  des 
Hauptes,  die  als  eine  Eigentümlichkeit  bevorzugter  Geschlechter  gilt. 

Es  werden  also  gewissermassen  die  plebejischen  Beine  durch 
einen  aristokratischen  Kopf  verdeckt,  und  dadurch  entsteht  eine 
Gestalt,  die  vielleicht  einmal  vorkommen  kann,  jedenfalls  aber  kein 
Ideal  ist. 

Noch  stärker  sind  die  Fehler  in  der  Thomson'schen  Normal- 
figur (Fig.  11)  ausgedrückt. 

Hier  sind  die  Unterschenkel  noch  kürzer,  das  Haupt  erscheint 
noch  unproportionirter,  weil  das  Gesicht  im  Verhältniss  zum  Schädel 
grösser  gehalten  ist  als  bei  Hay. 

Weitere  Beispiele  finden  sich  in  dem  obenerwähnten  Aufsatz 
von  Fritsch. 

Wir  haben  somit  eine  ziemlich  genaue  wissenschaftliche  Me- 
thode   zur  Bestimmung    der   richtigen  Verhältnisse    des   Körpers    im 


42 


Fehlerhafte  Canons. 


allgemeinen;    class    dies    auch   im    besonderen    der   Fall   ist,    werden 
wir  weiter  unten  bei  Besprechung  der  einzelnen  Körpertheile  sehen. 


u 


gl 
h 


Fig.  10.   Weibliche  Normalfigur  nach  Hay. 


Fig.  11.   Weibliche  Nonnalfigur  von  Thomson. 


Die  einzige  Schwierigkeit  bei  der  Anwendung  dieser  Methode 
besteht  in  der  Zugänglichkeit  der  Messpunkte,  die  zum  Theil,  nament- 
lich bei  wohlgenährten  Gestalten,  durch  Muskeln  und  Fett  bedeckt 
sind.     Doch   auch  diesem  Uebelstande   kann  jetzt,   wenn  es   nöthig 


Geschlechtscharakter.  43 

ist,    durch    geeignete   Anwendung    der   Röntgenstrahlen    abgeholfen 
werden. 

Wenn  wir  nun  auch  einerseits  nach  den  Gesetzen  der  Pro- 
portionslehre im  Stande  sind,  eine  ganze  Reihe  von  Körpern  als 
weniger  schön  oder  hässlich  auszuschalten,  so  ist  andererseits  doch 
wieder  der  Fall  denkbar,  dass  ein  völlig  richtig  proportionirter 
Körper  doch  hässlich  ist;  man  braucht  nur  zu  bedenken,  class  trotz 
abschreckendster  Magerkeit,  trotz  der  unästhetischsten  Fettleibigkeit 
ein  Körper  in  seinen  Längenmassen  doch  richtig  gebaut  sein  kann. 
Richtiges  Yerhältniss  ist  eben  nur  eines  von  verschiedenen  die  Körper- 
schönheit bedingenden  Momenten,  deren  übrige  im  folgenden  be- 
sprochen werden  sollen. 


V. 

Einfluss  von  Geschlecht,  Lebensalter  und 
Erblichkeit. 

Mit  sein*  viel  Scharfsinn,  aber  mit  noch  mehr  Einseitigkeit 
haben  verschiedene  Philosophen  (Lotze,  Schopenhauer  u.  A.)  und 
Anthropologen  (Albrecht,  Delannay)  nachzuweisen  versucht,  dass  das 
Weib  tiefer  als  der  Mann  und  dem  Affen  näher  stehe. 

Eine  andere,  auch  heute  noch  sehr  allgemein  verbreitete  Auf- 
fassung betrachtet  das  Weib  als  ein  niederes,  dem  Kinde  näher 
stehendes  Entwickelungsstadium. 

Hauptsächlich  Charcot,  Richer  und  deren  Schüler  haben  auf 
Grund  sorgfältiger  Naturbeobachtungen  einige  Klarheit  in  die  Frage 
gebracht.  Eine  sehr  sorgfältige  Zusammenstellung  aller  Geschlechts- 
unterschiede finden  sich  in  dem  Buche  von  Ellis:   ,,Mann  und  Weib." 

Ohne  mich  hier  auf  nochmalige  Kritik  entgegengesetzter  An- 

o  O      CT  ö 

sichten  einzulassen ,    stelle    ich  mich  auf  den  von  der  Charcot'schen 
Schule  vertretenen  Standpunkt. 

Danach  stehen  Mann  und  Weib  in  ihrer  Vollendung  als  zwei 


44  Primärer  und  seeundärer  Geschlechtscharakter. 

in  sich  abgeschlossene  Typen  neben  einander,  deren  jeder  sich  gleich- 
weit, doch  in  anderer  Richtung  von  dem  ursprünglichen,  kindlichen 
Typus  entfernt  hat. 

Ebenso  wie  bei  einzelnen  männlichen  Individuen  sich  An- 
näherungen an  den  kindlichen  sowohl  als  an  den  weiblichen  Typus 
finden  lassen,  ebenso  finden  sich  andererseits  bei  einzelnen  Weibern 
Annäherungen  an  den  kindlichen,  sowie  an  den  männlichen  Typus. 

In  diesem  Sinne  kann  man  von  einem  Einfluss  des  Geschlechts 
auf  die  normalen  weiblichen  Körperformen  sprechen. 

Hunt  er  hat  zuerst  einen  Unterschied  zwischen  primären  und 
secundären  Geschlechtscharakteren  gemacht. 

Wir  können  als  primäre  Geschlechtscharaktere  die  Geschlechts- 
theile  als  solche  auffassen,  als  secundäre  alle  diejenigen  Verände- 
rungen des  kindlichen  Körpers,  die  ihm  das  weibliche,  resp.  männ- 
liche Gepräge  verleihen. 

In.  allen  Fällen,  in  denen  die  primären  Geschlechtscharaktere 
nicht  gut  ausgebildet  sind,  bei  den  sog.  Hermaphroditen,  bilden  auch 
die  secundären  Geschlechtscharaktere  Mischformen  vom  männlichen 
und  weiblichen  Typus.  Es  giebt  Fälle,  wo  selbst  erfahrene  Aerzte1) 
nur  mit  dem  Mikroskop  entscheiden  konnten,  ob  es  sich  um  einen 
männlichen  oder  Aveiblichen  Zwitter  handelte. 

Abgesehen  von  diesen  Fällen  von  wirklicher  oder  scheinbarer 
Zwitterbildung  giebt  es  aber  eine  ganze  Anzahl  Weiber  mit  nor- 
malem primärem  Geschlechts charakter,  deren  secundäre  Geschlechts- 
merkmale trotzdem  Annäherung  an  den  männlichen  resp.  kindlichen 
Typus  zeigen. 

Es  lässt  sich  auf  Grund  der  bis  jetzt  bekannten  Thatsachen 
nicht  ausmachen,  ob  nicht  in  solchen  Fällen  stets  eine  mangelhafte 
Entwickelung  der  Geschlechtstheile  mit  im  Spiele  ist. 

Die  wichtigsten  secundären  Geschlechtscharaktere  des  Weibes 
sind:  zarter  Knochenbau,  runde  Formen,  Brüste,  breite  Hüften,  reiche 
lange  Kopfhaare  und  Fehlen  der  Körperhaare  ausser  in  den  Achsel- 
höhlen und  auf  dem  Schaniberge. 


J)  Sänger,  Pozzi,  Neugebauer.    Vgl.  Centralblatt  für  Gynäkologie,    1898, 
p.  389  ff.  (Nr.  15). 


Infantilismus. 


45 


Wenn  wir  danach  die 
Normalgestalt  des  Weibes  be- 
stimmen wollen,  müssen  wir  alle 
diejenigen  ausschalten,  welche 
derben  Knochenbau,  eckige 
Formen,  keine  Brüste,  schmale 
Hüften,  kurze  und  spärliche 
Kopf  haare,  Barte,  Haare  zwi- 
schen den  Brüsten  und  am 
Bauche  besitzen. 

Wenn  auch  der  ausge- 
prägte Typus  der  virago ,  des 
Mannweibes,  leicht  zu  erkennen 
ist,  so  erheischt  die  richtige 
Ausschaltung  der  ans  männ- 
liche streifenden  Formen  in 
vielen  Fällen  doch  eine  sehr 
sorgfältige  Untersuchung,  ja 
sogar  Bestätigung  durch  Mess- 
instrumente. 

Auf  die  weiteren  secundä- 
ren  Geschlechtscharaktere  kom- 
men wir  weiter  unten  bei  Be- 
sprechung der  einzelnen  Kör- 
pertheile  zurück. 

Schwieriger  noch  als  die 
Ausschaltung  der  ans  männliche 
streifenden  Formen  ist  die  Aus- 
schaltung der  sogenannten  in- 
fantilen Bildung  des  weiblichen 
Körpers,  wenn  dieselbe  nicht 
sehr  deutlich  ausgeprägt  ist. 

Ein   sehr   schönes   Beispiel 
Meige1)   beschrieben.     Das   betreffende   Mädchen   ist   30   Jahre    alt, 


Fig.  12.    Infantilismus  der  Frau  nach  Meige. 
von    weiblichem    Tnfantilismus    hat 


-1)  Nouvelle  Iconographie  de  la  Salpetriere,  1895,  p.  218. 


46  Einfluss  des  Lebensalters. 


und  hat  das  Aeussere  einer  etwa  Zwölfjährigen.  Sie  litt  an  Hysterie; 
die  Genitalien  waren  normal,  jedoch,  in  ihrer  Entwickelung  gleich 
dem  Körper  zurückgeblieben. 

Dieser  Körper  zeigt  den  ausgeprägt  kindlichen  Bau  ohne  irgend 
welchen  secundären  Geschlechtscharakter  (Fig.  12).  Die  Brüste  fehlen, 
der  Körper  ist  völlig  unbehaart;  weder  Hüften  und  Oberschenkel,  noch 
Arme  und  Schultern  zeigen  den  Fettansatz  des  reifenden  oder  ge- 
reiften Weibes;  der  Rumpf  ist  gleichmässig  cylindrisch,  in  der  Taille 
nicht  eingezogen,  das  Becken  ist  schmal,  der  Bauch  wölbt  sich  vor 
und  geht  ohne  scharfe  Abgrenzung  in  den  Schamberg  über. 

Derartig  ausgeprägte  Formen  von  Infantilismus  finden  sich 
ebenso  wie  ausgeprägter  Virilismus  sehr  selten.  Für  letzteres  spricht 
ja  schon  der  Umstand,  dass  Frauen  mit  Barten  in  Schaubuden  und 
auf  Jahrmärkten  als  Sehenswürdigkeiten  gezeigt  werden.  Leichtere 
Grade  beider  Phänomene  sind  jedoch  gar  nicht  so  ausserordentlich 
selten.  Unter  100  daraufhin  untersuchten  Frauen  habe  ich  4  mit 
mehr  männlicher,  2  mit  mehr  kindlicher  Gestaltung  gefunden. 

Somit  erklärt  sich  die  scheinbar  absurde  Behauptung,  dass  das 
Geschlecht  bei  der  Beurtheilung  des  weiblichen  Körpers  von  Ein- 
fluss sein  könne,  in  der  Weise:  je  reiner  die  secundären  Ge- 
schlechtscharaktere am  weiblichen  Körper  ausgeprägt  sind ,  desto 
mehr  kann  derselbe  darauf  Anspruch  machen,  als  normal  angesehen 
zu  werden. 

Es  mag  scheinbar  ebenso  paradox  klingen,  dass  noch  besonders 
hervorgehoben  wird,  dass  das  Lebensalter  einen  Einfluss  auf  die 
Körpergestaltung  ausübt;  denn  jeder  weiss,  dass  ein  kleines  Mädchen 
und  eine  alte  Frau  anders  aussehen  als  eine  Frau  in  ihrer  Blüthe. 
Was  ich  hier  hervorheben  möchte,  ist,  dass  eben  diese  Blüthe  bei 
der  einen  Person  früher,  bei  der  anderen  später  eintritt,  dass  darin 
eine  grosse  individuelle  Schwankung  besteht. 

Jede  Frau  erreicht  im  Laufe  ihres  Lebens  eine  höchste  Blüthe, 
die ,  bildlich  dargestellt ,  den  höchsten  Punkt  einer  Curve  bildet, 
welche  im  Kindesalter  aufsteigend,  im  höheren  Alter  absteigend  ge- 
dacht ist. 

Diese  Schönheitscurve  kann  in  einem  Falle  sehr  rasch  ansteigen, 
um  ebenso    rasch  wieder   abzufallen,    und    wir    haben  dann  vor  uns 


Blüthezeit.     Beaute  du  diable. 


47 


die  sogenannte  beaute  du  diable,  ein  Begriff,  der  nur  in  der  fran- 
zösischen Sprache  besteht. 

In  anderen  Fällen  wieder  steigt  die  Curve  sehr  langsam  an, 
um  ebenso  langsam  wieder  zu  sinken,  der  Höhepunkt  dieser  Curve 
tritt  später  ein,  erreicht  aber  eine  absolut  grössere  Höhe  als  im 
ersten  Fall,    die   absteigende  Curve   sinkt  viel  langsamer   (Fig.  13). 

Das  Lebensalter,  in  welchem  die  höchste  Höhe  erreicht  wird, 
ist  sehr  wechselnd.  Namentlich  bei  südlichen  Völkern  wird  dieselbe 
oft  schon  im  14.  bis  15.  Jahre  erreicht,  bei  germanischen  Stämmen, 


Jahre 

5 

10 

15 

20 

25 

30 

35 

40 

45 

50 

55 

X 

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Schönheitskurve 


—  Beaute  du  diable 
Fig.  13. 


bei  Deutschen,  Holländerinnen,  Scandinavierinnen  und  Engländerinnen 
meist  mit  dem  20.  Lebensjahre  oder  noch  später.  Mir  sind  Fälle 
bekannt,  in  denen  erst  im  30.  und  33.  Jahre  die  volle  Blüthe  er- 
reicht wurde. 

Eine  geistreiche  Künstlerin  machte  mir  einst  die  folgende  Be- 
merkung: Der  Endzweck  der  Frau  ist,  Mutter  zu  werden;  die  Frau 
hat  demnach  ihre  höchste  Blüthe  erreicht,  wenn  sie  schwanger 
ist;  also  muss  eine  schöne  Frau  am  schönsten  sein,  wenn  sie 
schwanger  ist. 

Ich  erwiederte  ihr,  dass  dies  wirklich  der  Fall  ist,  wenn  näm- 
lich der  Zeitpunkt  der  höchsten  Blüthe  mit  dem  ersten  Monat  der 
ersten  Schwangerschaft  zusammenfällt.    Denn  mit  dem  Eintreten  der 


48  Einfluss  der  Erblichkeit. 

Schwangerschaft  wird,  wie  jedem  Arzt  bekannt  ist,  der  Stoffwechsel 
erhöht,  alle  Gewebe  sind  strotzend  gefüllt,  das  Incarnat  der  Haut 
ist  zarter  und  lebhafter,  die  Brüste  werden  praller  und  härter.  Da- 
durch wird  der  Reiz  der  vollen  Blüthe  erhöht  bis  zu  dem  Augen- 
blick, wo  das  Schwellen  des  Leibes  im  weiteren  Verlauf  der  Schwanger- 
schaft die  Harmonie  der  Formen  beeinträchtigt. 

Wie  wenig  eigentlich  das  Lebensalter  einer  Frau  an  ihrem 
Aeusseren  erkannt  werden  kann,  dafür  ist  das  oben  abgebildete 
30jährige  Mädchen  (Fig.  12)  ein  sprechender  Beweis. 

In  demselben  klassischen  Werke,  dem  dieses  Bild  entnommen 
ist,  haben  Soucrues  und  Charcot  unter  dem  Namen  von  Geromorphisme 
cutane  die  21jährige  Amandine  beschrieben,  die  trotz  ihres  jugend- 
lichen Alters  mit  ihrem  gerunzelten  Körper  den  Eindruck  einer 
60jährigen  Greisin  macht.  Ich  verzichte  hier  auf  die  Wiedergabe 
der  sprechenden,  aber  nicht  gerade  sympathischen  Photographie  und 
verweise  den  wissbegierigen  Leser  auf  das  Original1). 

Ausser  derartigen  Extremen  giebt  es  jedoch  eine  grosse  Reihe 
schwieriger  zu  beurtheilender  Fälle,  die  nicht  so  deutlich  ausgeprägt 
sind.  Jedermann  kann  sich  leicht  davon  überzeugen,  wenn  er  gleich- 
altrige Frauen  aus  seiner  Umgebung  mit  einander  vergleicht.  Er 
wird  dabei  zu  der  Ueberzeugung  kommen,  dass  der  Augenblick  der 
höchsten  Blüthe  bei  den  einzelnen  Frauen  sehr  verschieden  ist  und 
keineswegs  an  ein  bestimmtes  Alter  gebunden. 

In  wie  weit  Erziehung  und  Lebensweise  auf  die  Entwickelung 
und  Erhaltung  der  Schönheit  von  Einfluss  sein  können,  werden  wir 
noch  besjDrechen. 

Hier  sei  nur  erwähnt,  dass  die  Frauen  der  sog.  besseren  Stände 
im  allgemeinen  später  reifen  und  länger  schön  bleiben  als  die  der 
arbeitenden  Klasse,  bis  auf  wenige  Ausnahmen. 

Und  damit  kommen  wir  auf  einen  dritten  Factor,  der  die 
Normalgestalt  beeinflusst,  nämlich  die  Erblichkeit,  oder  besser  ge- 
sagt, die  Züchtung. 

Ich  möchte  hier  das  Wort  Züchtung  mehr  in  dem  Sinne  ver- 
standen wissen ,  wie  man  es  —  ich    bitte ,    mir   zu  verzeihen  —  von 


!)  Iconographie  de  la  Salpetriere,  1891.  p.  170. 


Rassenzüchtung.  49 

Pferden  und  Hunden  gebraucht,  wenn  man  denselben  „Rasse"  zu- 
erkennt. 

Der  Werth  des  Hundes  oder  des  Pferdes  wird  nach  dem  Stamm- 
baum bemessen,  vorausgesetzt,  dass  sich  damit  die  gewünschten 
edlen  Körpereigenschaften  verbinden. 

Beim  Menschen,  namentlich  beim  männlichen,  hat  ja  der  Stamm- 
baum auch  einen  gewissen  Marktwerth,  jedoch  ohne  Rücksicht  auf 
eventuelle  gute  oder  schlechte  Körpereigenschaften. 

Die  wirkliche  Rasse  im  naturgeschichtlichen  Sinne  ist  nicht 
ausschliesslich  diejenige,  die  im  Gothaer  Kalender  steht,  sondern  es 
sind  alle  die  Geschlechter,  die  durch  lange  Generationen  hindurch 
unter  besonders  günstigen  Lebensbedingungen  geblüht  und  sich  nur 
mit  Ihresgleichen  vermischt  haben.  Eine  derartige,  durch  Jahr- 
hunderte fortgesetzte  Zuchtwahl  muss  günstige  Resultate  hervor- 
bringen. Man  findet  sie  ebenso  beim  Adel,  wie  beim  unverfälschten 
Bauernstände  und  in  alten  Bürgerfamilien. 

Aus  eigener  Erfahrung  kann  ich  bestätigen,  dass  namentlich 
in  dem  sehr  conservativen  Holland  derartige  Beispiele  vortrefflicher 
Körperbildimg  in  alten  Familien  bei  Männern  sowie  bei  Frauen 
häufig  anzutreffen  sind. 

Bekannt  ist  dagegen  auch  der  Umstand,  dass  unter  den  Juden 
trotz  der  Zähigkeit  des  Volkes  in  Folge  der  jahrhundertelangen 
Unterdrückung  sehr  viel  mehr  körperlich  abnormale  Individuen  an- 
getroffen werden,   als  bei  irgend  einem  anderen  Volke  der  Welt. 

Die  Erfolge  einer  Rassenzüchtung  werden  um  so  besser  sein, 
je  mehr  zwei  eine  neue  Verbindung  eingehende  Individuen  von  körper- 
lichen Vorzügen  versehen  sind.  So  kann  die  Verbindung*  eines  Edel- 
mannes mit  einem  Bauernmädchen,  eines  Italieners  mit  einer  Oester- 
reicherin  zu  einer  Veredelung  der  Rasse  werden,  vorausgesetzt,  dass 
die  Betheiligten  völlig  gesund  und  normal  sind. 

Die  Erfahrung  hat  gelehrt,  dass  die  Nachkommen  zweier  In- 
dividuen von  „Rasse"  um  so  kräftiger  sind,  je  weniger  die  Familien 
selbst  mit  einander  verwandt  sind,  dass  hingegen  bei  zahlreichen 
Heirathen  innerhalb  einer  Familie  das  Geschlecht  mehr  und  mehr 
entartet,    und  zwar  zunächst  psychisch,    dann  aber  auch  körperlich. 

Die  Erklärung  für  diese  Thatsache  ist  sehr  einfach:  Kein 
Stratz,  Die  Schönheit  des  weiblichen  Körpers.  4 


50  Rassenzüchtung. 


Mensch  ist  vollkommen  normal.  Vereinigen  sich  zwei  Menschen 
verschiedener  Familien,  so  ist  mit  grosser  Wahrscheinlichkeit  an- 
zunehmen, dass  einer  der  Betheiligten  andere  Fehler  hat  als  der 
andere.  Die  Kinder  können  nun,  wie  die  Vorzüge,  so  auch  die 
Fehler  ihrer  Eltern  erben,  jedoch  werden  die  Fehler  des  einen  In- 
dividuums durch  die  Vorzüge  des  anderen  verdeckt  werden.  Ver- 
einigen sich  jedoch  zwei  Individuen  derselben  Familie,  die  neben 
den  gleichen  Vorzügen  die  gleichen  Fehler  besitzen,  so  werden  die 
Kinder  die  Fehler  sowie  die  Vorzüge  der  Eltern  in  erhöhtem  Masse 
zeigen.  Je  häufiger  ähnliche  Verbindungen  in  einer  Familie  vor- 
kommen, desto  stärker  werden  in  den  Nachkommen  die  Fehler,  so- 
wie die  Vorzüge  derselben  ausgeprägt  sein. 

Wie  die  Menschen  im  allgemeinen  geneigt  sind,  eher  die  Fehler 
als  die  Vorzüge  ihrer  Nebenmenschen  anzuerkennen,  so  wird  im  be- 
sonderen unter  Heredität  oder  Erblichkeit  meist  die  Uebererbung 
von  Fehlern,  nicht  aber  von  Vorzügen  verstanden,  und  wenn  man 
von  einem  erblich  belasteten  Menschen  spricht,  so  versteht  man 
darunter  meist  das  Erbtheil  an  Fehlern,  das  er  seinen  Vorfahren  zu 
danken  hat. 

Welchen  Einfluss  die  Erblichkeit  ausübt,  ist  zunächst  deutlich 
erkennbar  an  der  sogenannten  Familienähnlichkeit.  Da  jedoch 
die  meisten  neugeborenen  Kinder  einander  gleichen,  so  kann  man 
diese  Familienähnlichkeit  erst  in  der  späteren  Entwickelung  erkennen, 
und  dabei  ist  es  eigenthümlich,  dass  man  sehr  häufig  in  den  heran- 
wachsenden Kindern  nicht  die  Züge  der  Eltern,  sondern  die  der 
Grosseltern  zurückfindet.  Darum  wird  heirathslustigen  Jünglingen 
gerathen,  sich  bei  der  Wahl  eines  Mädchens  nicht  nur  deren  Mutter, 
sondern  auch  beide  Grossmütter  erst  gründlich  anzusehen. 

Noch  merkwürdiger  ist  das  Wiederauftauchen  einer  älteren 
Form  in  einem  späteren  Geschlechte,  wie  etwa  die  Aehnlichkeit  der 
jüngsten  Tochter  mit  der  nur  noch  im  Bilde  bekannten  Ahnfrau. 

Die  Erblichkeit  in  diesem  weiteren  Sinne,  der  Atavismus,  hat 
Paul  Bourget  zu  seinem  Romane  Kosmopolis  den  Stoff  geliefert.  Er 
zeigt  darin,  wie  sich  trotz  des  Bestrebens  der  sogenannten  Welt, 
keinem  besonderen  Volke  anzugehören ,  doch  stets  wieder  der  Ur- 
typus  in  den  einzelnen  Charakteren  offenbart. 


Krankhafte  Einflüsse.  51 


In  dieser  Weise  aufgefasst,  begreifen  wir  dann  auch  die  natur- 
wissenschaftlich begründete  Unsterblichkeit  der  Seele  wie  des  Körpers, 
da  in  jedem  Menschen  die  Eigenthümlichkeiten  aller  seiner  Vorfahren 
wieder  aufleben,  so  wie  die  seinigen  wieder  in  seinen  Nachkommen 
weiterleben  werden. 

Hier  tritt  nun  aber  der  Kampf  ums  Dasein  in  seine  Rechte 
und  lässt  nur  die  jeweils  besten  Individuen  durch  lange  Reihen  von 
Geschlechtern  ihre  Eigenschaften  vererben,  während  die  schlechter 
beanlagten  Individuen  untergehen. 

Wir  müssten  demnach  im  Menschengeschlecht  eine  stets  schöner 
und  kräftiger  blühende  Sippe  erzielen,  wenn  es  im  heutigen  Kampfe 
ums  Dasein  nicht  mehr  noch  auf  geistige,  als  auf  körperliche  Eigen- 
schaften dabei  ankäme. 

Allgemeine  Regeln,  den  günstigen  oder  ungünstigen  Einnuss 
der  Erblichkeit  auf  die  Körperbeschaffenheit  zu  bestimmen,  lassen 
sich  nicht  aufstellen.  Im  gegebenen  Falle  jedoch  wird  man  wohl 
häufig  im  Stande  sein,   denselben  nachweisen  zu  können. 

Wenn  wir  also  das  Geschlecht,  das  Lebensalter  und  die  Erb- 
lichkeit zur  Beurtheilung  des  weiblichen  Körpers  herbeiziehen,  so 
haben  wir  zu  achten  auf  deutlich  ausgeprägte  secundäre  Geschlechts- 
charaktere, wir  müssen  für  die  betreffende  Frau  die  höchste  Blüthe- 
zeit  bestimmen  und  die  eventuellen  günstigen  und  ungünstigen  Ein- 
flüsse der  früheren  Geschlechter  der  Kritik  unterwerfen. 


VI.  • 
Einfluss  von  Krankheiten  auf  die  Körperform. 

Viele  Krankheiten  können  bestehen  und  heilen,  ohne  irgend 
welche  Veränderung  der  Körperform  zu  verursachen,  andere  ver- 
ändern dieselbe  in  einer  Weise,  dass  selbst  dem  Laien  sofort  die 
Entstellung  auffällt,  in  weiteren  Fällen  hinterlässt  die  überstanclene 
Krankheit  Fehler,  die  nicht  sofort  ins  Auge  springen  und  oft  selbst 
von  Sachverständigen  nur  mit  Mühe  gefunden  werden  können.    Mit 


ES9  Kindische  Krankheit. 


der  ersten  Gruppe  von  Krankheiten,  zu  denen  namentlich  die  acuten 
Infectionskrankkeiten,  wie  Typhus,  Scharlach,  Masern  n.  a.  gehören. 
haben  wir  hier  nichts  zu  machen.  Ebensowenig  mit  der  zweiten 
Gruppe;  denn  einen  Höcker,  eine  eingefallene  Nase,  Triefaugen, 
eine  Trichterbrust  oder  ein  zu  kurzes  Bein  wird  jeder  mit  Leichtig- 
keit erkennen  und  den  damit  Behafteten  ohne  weiteres  die  normale 
Körpergestaltung   absprechen. 

Die  dritte  Gruppe  von  Krankheiten  jedoch,  die  leichte  Ab- 
weichungen von  der  Norm  zurücklässt,  verdient  unsere  besondere 
Beachtung. 

Da  die  äussere  Form  des  Körpers  in  erster  Linie  vom  Skelet. 
von  den  dasselbe  umkleidenden  Muskeln,  der  Haut  und  dem  Fett- 
polster abhängt,  so  sind  es  hauptsächlich  Krankheiten  dieser  Theile, 
die  hervorzuheben  sind,  erst  in  zweiter  Linie  Krankheiten  innerer 
Organe,  insoweit  sie  die  äussere  Form  beeinflussen. 

Unter  allen  diesen  Krankheiten  sind  wiederum  diejenigen  die 
wichtigsten ,  die  den  Körper  in  seiner  Entwickelungszeit  befallen, 
weil  sie  dann  auf  die  zarten,  in  der  Bildung  begriffenen  Formen  viel 
nachhaltiger  einwirken  können,   als  nach  erlangter  Reife. 

Von  Krankheiten,  die  vorwiegend  das  Skelet  beeinflussen,  ist 
die  verbreitetste  und  bekannteste  die  sogenannte  englische  Krank- 
heit, die  Khachitis.  Sie  tritt  meist  schon  im  1.  bis  4.  Lebensjahr, 
selten  später  auf.  Ihr  Hauptsymptom  ist  eine  eigentümliche  Stö- 
rung im  Waehsthum  der  Knochen  Jh  die  wegen  zu  geringer  Kalk- 
ablagerung  weich  bleiben  und  an  den  Gelenkenden  sich  verdicken. 
Die  weichen  Knochen  folgen  dem  Muskelzug  und  dem  Druck  der 
Körperlast,  es  entstehen  Verkrümmungen,  die  namentlich  an  den 
Beinen  sehr  auffallend  sein  können,  wenn  die  kranken  Kinder  zum 
Gehen  veranlasst  werden.  Tritt  Heilung  ein.  dann  erfolgt  dabei 
eine  sehr  kräftige  Kalkablagerung,  durch  welche  die  Verkrümmungen 
der  Gliedmassen,  sowie  die  Verdickungen  der  Gelenkenden  als  blei- 
bende Verunstaltung  erhalten  werden. 

Heber  die  Häufigkeit  des  Vorkommens  der  Khachitis  sind  die 
Auffassungen  sehr  getheilt.  weil,  wie  Vierordt  hervorhebt,    „die  ein- 


J)  Vgl.  Vierordt.  Khachitis  und  Osteomalacie,   189G.     Holder. 


Rhachitis. 


ÖÖ 


zelnen  Beobachter  den  Begriff  der  Rhachitis  sehr  verschieden  weit 
fassen,  und  weil  das  Urtheil  über  Häufigkeit  und  Schwere  der  Rhachitis 
auch  sonst  nicht  nach  einheitlichen  Gesichtspunkten  gewonnen  ist." 

Diese  Auffassung  von  Vierordt  kann  ich  aus  eigener  Erfah- 
rung noch  dahin  erweitern,  dass  eine  grosse  Anzahl  der  leichteren 
rhachitischen  Fälle  überhaupt  nicht  zur  ärztlichen  Beobachtung 
kommen.  Zur  Zeit  meiner  poliklinischen  Thätigkeit  in  Berlin  achtete 
ich  auf  diesen  Umstand  und  fand  unter  der  arbeitenden  Klasse  bei- 
nahe in  jeder  Familie  ein  oder  mehr  rhachitische  oder  rhachitisch 
gewesene  Kinder,  die  niemals  ärztlich  behandelt  worden  waren. 

Für  unsern  Zweck  handelt  es  sich  nicht  um  die  Schwere  der 
Krankheit,  sondern  lediglich  um  die  bleibenden  Veränderungen,  unter 
denen  die  Verkrümmungen  der  unteren  Extremitäten  obenan  stehen. 
Darum  glaube  ich,  dass  wir  den  von  Senator  und  Ritchie  gefundenen 
höchsten  Procentsatz  von  30  °/o  als  Minimalzahl  des  wirklichen  Ver- 
hältnisses, alle  leichtesten  Fälle  mitgerechnet,  ansehen  dürfen. 

Am  häufigsten  findet  sich  die  Krankheit  in  der  arbeitenden 
Klasse  grösserer  Städte,  also  gerade  in  derjenigen  Bevölkerungs- 
schicht, die  den  Künstlern  die  meisten  Modelle  liefert.  Wir  können 
annehmen,  dass  unter  hundert  Mädchen  aus  dem  Volke  mindestens 
dreissig  sind,  die  sicher  Rhachitis  gehabt  haben. 

Welcher  Gefahr  ein  Künstler  sich  aussetzt,  der  diesen  Umstand 
nicht  beachtet,  erhellt  aus  dem  Beispiel  von  Klein.  Dieser  Maler 
hat  ein  Urtheil  des  Paris1)  gemalt,  in  dem  man  an  den  dicken 
Hand-  und  Fussgelenken,  aus  der  Verkrümmung  der  unteren  Ex- 
tremitäten mit  Sicherheit  nachweisen  kann,  dass  alle  drei  Gattinnen 
die  englische  Krankheit  gehabt  haben.  Aphrodite  erhält  offenbar 
den  Preis,  weil  sie  diese  Symptome  am  deutlichsten  aufweist.  Auch 
die  bekannte  Eva  von  Stuck  hat  in  ihrer  Jugend  eine  nicht  unbe- 
deutende Rhachitis  durchgemacht. 

Nach  Vierordt  sind  Mangel  an  Luft  und  Sonnenlicht,  schlechte 
Hautpflege  und  schlechte  Ernährung  von  schwerwiegender  Bedeutung 
für  die  Entwickelung  der  Rhachitis.  Aus  diesen  Gründen  findet  man 
sie  auch  seltener  in  besser  situirten  Kreisen. 


Publicirt  durch  die  Berliner  photographische  Gesellschaft. 


54 


Rhachitische  Einflüsse. 


Fig.  14.    Mädchen  mit  deutlichen  Zeichen 
überstandener  Rhachitis. 


Die  wichtigsten  Ver- 
änderungen, die  die  Rha- 
chitis hinterlässt,  sind  die 
folgenden : 

Verdickung  des  Hand- 
gelenks ,  namentlich  an 
der  Seite  des  kleinen  Fin- 
gers (Ulnarköpfchen) ; 

Verkrümmung  des  Un- 
terarms und  schiefe  Stel- 
lung desselben  gegen  den 
Oberarm; 

Verkrümmung  der  Wir- 
belsäule und  des  Brust- 
korbes ; 

Veränderungen  des 
Beckens,  das  weniger  ge- 
räumig wird  und  dadurch 
wieder  einen  grösseren 
oder  geringeren  Grad  von 
Hängebauch  veranlassen 
kann ; 

Verdickung  der  Knö- 
chel und  der  Gelenkenden 
am  Knie; 

Verkrümmung  der  Un- 
terschenkel und  Ober- 
schenkel, 0 -Beine,  Säbel- 
beine, X-Beine,  Plattfuss. 

Die    schwereren    Ein- 
flüsse der  Rhachitis,  wie 
Knickungen  der  Extremi- 
täten, Veränderungen  der 
Schädelknochen,  sowie  den  rhachitischen  Rosenkranz  (die  Auftreibung 
der  Rippengelenke  am  Brustbein)    seien  hier  nur  beiläufig  erwähnt. 
Alle    diese  Abweichungen   können  in   der   weiteren  Entwicke- 


Rhachitische  Einflüsse. 


55 


lung  des  Körpers  zum  Theil  ab- 
gescliwäclit  werden  und  auch 
wolil  ganz  verschwinden,  meist 
aber  bleibt  die  Verdickung  der 
Gelenke  zeitlebens  bestellen. 

Zur  Erläuterung  der  an- 
geführten Thatsachen  dienen  die 
folgenden  Beispiele. 

Fig.  14  stellt  ein  Mäd- 
chen englischer  (?)  Abkunft  vor, 
bei  der  noch  deutliche  Beweise 
der  früheren  Rhachitis  zu  fin- 
den sind. 

Am  linken  Arm  sieht  man 
die  starke  Vorwölbimg  des  Ra- 
dialendes oberhalb  der  Klein- 
fingerseite des  Handgelenks,  so- 
wie eine  geringe  Verkrümmung 
des  Unterarms.  Am  linken  Bein 
besteht  eine  charakteristische 
Verkrümmung  des  Unterschen- 
kels, die  namentlich  oberhalb 
des  inneren  Knöchels  hervortritt. 
Das  Fussgelenk  selbst  ist  ver- 
dickt und  plump. 

Bei  einer  anderen  jungen 
Engländerin  (Fig.  15)  sehen  wir 
nur  ganz  geringe  Spuren  der 
üb  erstandenen  Rhachitis ;  am  lin- 
ken Handgelenk  wieder  die  Her- 
vorwölbung der  Gelenkenden  des 
Unterarms,  am  rechten  Fuss- 
gelenk eine  leichte  Verdickung 
der  Knöchel. 

Ueber  Fehler   anderer  Art  dieser   beiden  Figuren  werden   wir 
weiter  unten  noch  zu  sprechen  haben. 


Fis 


15.    Junge  Engländerin  mit  Spuren 
überstandener  Ehacliitis. 


56  Krankheiten  der  Muskeln. 

Neben  der  Rhachitis  sind  alle  anderen  Krankheiten,  die  das 
Knochengerüst  betreffen,  von  untergeordneter  Bedeutung,  da  sie  meist 
so  tiefgreifende  Veränderungen  der  betroffenen  Gliedmassen  hervor- 
rufen, dass  sie  für  unsere  Zwecke  füglich  ausser  Betrachtung  bleiben 
können.  Dahin  gehört  die  Knochenerweichung  (Osteomalacie),  die 
Knochenmarkeiterung  (Osteomyelitis)  u.  a.  m. 

Der  zweite  Factor,  der  die  äussere  Form  des  Körpers  be- 
stimmt, ist  das  Fleisch,  die  Muskeln. 

Abgesehen  von  einigen  schwereren  Rückenmarkskrankheiten, 
in  deren  Verlauf  geringere  oder  grössere  Muskelcomplexe  zum 
Schwund  kommen,  haben  Erb,  Landouzy,  Dejerine,  Leyden  u.  a. 
gewisse  Krankheiten  beschrieben,  in  denen,  meist  bei  jugendlichen 
Individuen,  ganz  bestimmte  und  stets  dieselben  Muskelgruppen  er- 
kranken, erst  sich  verdicken  und  dann  schrumpfen.  So  tritt  in  der 
einen  von  Erb  beschriebenen  Form  die  Erkrankung  meist  in  be- 
stimmten Muskelgruppen  der  Schulter  und  der  Oberarme  auf,  in 
einer  anderen  Gruppe  von  Fällen  sind  es  Muskeln  des  Rückens  und 
der  Beine,  die  zuerst  erkranken.  Charcot x)  hat  alle  diese  verschie- 
denen Formen  unter  dem  Namen  der  „Myopathie  primitive  progres- 
sive" vereinigt,  Erb2)  hat  sich  ihm  später  angeschlossen  und  die 
verschiedenen  Krankheitsbilder  unter  dem  Namen  „Dystrophia  mus- 
cularis  progressiva"  (etwa  =  fortschreitender  Muskelschwund)  zu- 
sammengefasst. 

Abgesehen  von  der  Functionsstörung  übt  diese  Krankheit  je 
nach  ihrer  Localisation  einen  starken  Einfluss  auf  die  Form  und  die 
Haltung  des  Körpers  aus. 

Bei  der  einen  Form  z.  B.  erkranken  am  Rumpf  und  den 
Schultern  hauptsächlich  die  von  vorn  und  hinten  zur  Schulter 
tretenden  Muskeln  (Pectorales,  Cucullaris,  Serratus  anticus  major, 
Rhomboideus ,  Sacrolumbalis  und  Latissimus  dorsi) ,  während  die 
von  oben  hinzutretenden  Muskeln  (Deltoideus,  Supraspinatus,  Infra- 
spinatus  etc.)  normal  bleiben.  Die  Folge  davon  ist  Vornüber- 
sinken des  Kopfes  und  Halses,  Abstehen  der  Schulterblätter  und  Ab- 


*)  Charcot,  Revision  nosographique  des  atrophies  musculaires  progr.  medic- 
7.  3.  1885. 

2)  Erb,  Dystrophia  muscularis  progressiva.     Leipzig  1891. 


Myopathie. 


57 


flachung  der  oberen  Brust- 
gegend. An  den  unteren 
Extremitäten  sind  es  vor- 
wiegend die  grossen  Gesäss- 
muskeln  (Grlutaei)  und  die 
vorderen  Streckmuskeln  des 
Oberschenkels  (Quadriceps), 
die  zuerst  von  der  Krank- 
heit befallen  werden.  Hier- 
von ist  die  Folge  eine  starke 
vordere  Abflachimg  des  Ober- 
schenkels und  ein  schär- 
feres Hervortreten  der  Falte 
zwischen  Hinterbacken  und 
Oberschenkel. 

Beide  oben  beschrie- 
bene Zustände  sind  in  ihrem 
ersten  Stadium  bereits  deut- 
lich erkennbar  in  Fig.  16, 
die  der  "Monographie  von 
Londe  und  Meige  x)  entnom- 
men ist. 

Man  vergleiche  damit 
Fig.  17,  eine  etwa  26jährige 
Berlinerin  mit  besonders  gut 
entwickelter  Muskulatur,  die 
mit  dem  kräftigen  Rücken, 
der  guten  Wölbung  von 
Brust  und  Oberschenkel  und 
dem  stumpfen  Winkel  zwi- 
schen Hinterbacken  und  hin- 
terer Oberschenkelcontour 
einen  schlagenden  Gegen- 
satz  zu    der  ungefähr   gleichaltrigen  Pauline  C.  L.  (Fig.  16)  bildet. 


•■ 


Fig.  16.    Myopathie  primitive  progressive 
nach  Londe  und  Meige. 


*)  Iconographie  de  la  Salpetriere,  tome  VII,  planche  XIX,  1894,  p.  442  ff. 


58 


Hautkrankheiten. 


Krankheiten  der  Haut 
haben  kaum  einigen  Einfluss 
auf  die  allgemeine  Körper- 
form, wohl  aber  können  die 
zurückbleibenden  Narben  die 
Glätte  und  Farbe  der  Kör- 
peroberfläche beeinträchti- 
gen. Man  denke  nur  an  die 
entstellende  Wirkung  der 
Pockennarben,  die  man  ge- 
genwärtig glücklicherweise 
viel  seltener  zu  sehen  be- 
kommt als  vor  einigen  Jahr- 
zehnten. 

Muttermäler  können  eben- 
falls sehr  hässlich  sein,  und 
von  ärztlichem  Standpunkte 
muss  man  auch  die  kleinen 
schwarzen  Maler  als  eine 
Abnormität  ausschalten,  die 
den  Namen  der  Schönheits- 
mäler,  oder  grains  de  beaute 
führen. 

Krankheiten ,  die  aus- 
schliesslich das  unter  der 
Haut  liegende  Fettgewebe 
ergreifen,  giebt  es  kaum. 
Die  abnorm  starke  oder  ab- 
norm schwache  Ausbildung 
von  Fett  ist  meist  eine  Folge 
von  unzweckmässiger  Ernäh- 
rung und  Lebensweise  und 
wird  weiter  unten  berücksichtigt  werden  müssen.  Allgemeine  Fett- 
sucht ergreift  den  ganzen  Körper  und  entstellt  in  einer  Weise,  die 
an  und  für  sich  die  Annäherung  an  die  Normalform  ausschliesst. 

Abgesehen    von    den    erwähnten   Krankheiten,    die    direct    auf 


^fc*fc------^a£t^-* 


Fig.  17. 


Mädchen  von  26  Jahren  mit  kräftig 
entwickelter  Muskulatur. 


Schwindsucht.  ~)(.  I 

Knochen,  Muskeln  und  Haut  iliren  Einfluss  ausüben,  giebt  es  aber 
noch  eine  ganze  Reihe  von  inneren  Krankheiten,  die  diese  Theile 
gemeinschaftlich  und  damit  auch  die  allgemeine  Körperform  beein- 
flussen. 

Sie  alle  aufzählen,  hiesse  ein  Lehrbuch  der  physikalischen 
Diagnostik  schreiben.  Wer  Vollständigkeit  wünscht,  den  verweise 
ich  auf  das  bekannte  Lehrbuch  von  Yierordt1). 

Die  häufigste  und  wichtigste  dieser  Krankheiten  ist  die  Schwind- 
sucht, an  der  nach  Strümpell  ein  Siebtel  aller  Menschen  =  15  °/o 
sterben. 

Den  sog.  „phthisischen  Habitus",  d.  h.  diejenige  Körper- 
gestaltung, die  auf  Anlage  zur  Schwindsucht  schliessen  lässt,  be- 
schreibt Strümpell2)  folgendermassen. 

„Die  Merkmale  des  , phthisischen  Habitus'  sind:  schmächtiger, 
dabei  oft  ziemlich  hoch  aufgeschossener  Körperbau,  schwächliche 
Muskulatur,  geringes  Fettpolster,  blasse,  oft  sehr  zarte,  bläulich 
durchschimmernde  Haut,  welche  an  den  Wangen  zuweilen  eine  um- 
schriebene Röthung  zeigt,  langer  schmächtiger  Hals,  schmaler  langer 
Brustkasten,  schmale,  magere  Hände  u.  s.  w. 

Der  Brustkasten  zeichnet  sich  im  allgemeinen  durch  seine 
Länge  aus,  ist  aber  dabei  schmal  und  flach.  Mit  der  Länge  des 
Brustkorbes  hängt  es  zusammen,  dass  die  einzelnen  Zwischenrippen- 
räume breit  sind,  der  Winkel  in  der  Herzgrube  ein  spitzer  ist.  Das 
Brustbein  ist  ebenfalls  lang  und  schmal,  der  Winkel  zwischen  Griff 
und  Körper  zuweilen  besonders  hervortretend;  die  oberen  und  unteren 
Schlüsselbeingruben,  ebenso  wie  die  Drosselgrube  eingesunken,  die 
Schulterblätter  von  der  Brustkorbwand  abstehend." 

Fig.  .18  stellt  ein  junges  Mädchen  mit  beginnender  Schwind- 
sucht vor,  Welches  die  genannten  Erscheinungen  ziemlich  deutlich 
zeigt.  Ich  verdanke  dasselbe  der  Freundlichkeit  von  Dr.  Roessingh, 
Director  des  städtischen  Krankenhauses  im  Haag. 

Noch    deutlicher    sind    die    äusserlichen  Zeichen    der  Schwind- 


r)  Vierordt,  Diagnostik  der  inneren  Krankheiten.     Leipzig,  Vogel. 
2)  Strümpell,  Specielle  Pathologie  und  Therapie  der  inneren  Krankheiten, 
1894,  I,  p.  363. 


60 


Schwindsucht.     Skrofulöse. 


sucht  in  der  obenerwähnten 
Aphrodite  von  Boticelli  aus- 
gedrückt. Derselbe  Typus 
findet  sich  an  der  nackten 
Figur  des  Frühlings  in  der 
Primavera  desselben  Mei- 
sters. Während  in  der  letz- 
teren die  dem  baldigen  Unter- 
gang geweihte  Blüthe  durch 
die  körperlichen  Reize  einer 
Schwindsüchtigen  vortreff- 
lich zum  Ausdruck  kommt, 
scheint  mir  bei  einer  Venus 
dieser  Typus  weniger  glück- 
lich gewählt  zu  sein. 

Mit  der  Schwindsucht 
nahe  verwandt  und  wahr- 
scheinlich wie  diese  durch 
Vergiftung  des  Körpers  durch 
Tuberkelbacillen  verursacht, 
ist  die  Skrofulöse.  Der 
Name  stammt  von  Scrofa, 
Schwein,  und  erklärt  sich 
daraus ,  dass  das  Gesicht 
durch  Schwellung  der  Hals- 
drüsen, der  Nase  und  der 
Oberlippe  einen  an  das 
Schwein  erinnernden  Aus- 
druck bekommt. 

Man  unterscheidet  zwei 
Formen:  Die  eine,  die  so- 
genannte torpide  Skrofulöse, 
ist  charakterisirt  durch  ge- 
dunsenes Gesicht,  dicke  Nase  und  dicke,  vorstehende  Lippen,  mit 
oft  rüsselförmiger  Verlängerung  der  Oberlippe,  Schwellung  und  Ver- 
dickung der  Halsdrüsen,  schmutzigbleiche  Hautfarbe,  spärliche  Mus- 


Fit 


18.    20jähriges  Mädchen  mit  phthisischem 
Habitus. 


Skrofulöse.     Andere  innere  Krankheiten.  Ol 

kulatur  bei  verhältnissmässig  starker  Entwickelung  des  Unterhaut- 
fettgewebes, wodurch  die  Gestalt  ein  etwas  schwammiges  Gepräge 
erhält,  dicker  Bauch,  dünne  Extremitäten  und  oft  entzündete 
Augenlider. 

Die  zweite  Form,  die  erethische  Skrofulöse  ist  charakterisirt 
durch  massige  Röthe  der  Haut  und  magere  Körperformen  mit  starker 
Neigung  zur  Eiterung  in  den  geschwollenen  Drüsen;  der  Allgemein- 
zustand erinnert  an  den  phthisischen  Habitus. 

Bei  dieser  Form  der  Skrofulöse  wie  bei  den  Schwindsüchtigen 
finden  sich  meist  auffallend  tiefe,  glänzende  Augen  mit  langen,  meist 
dunklen  Wimpern,  die  viel  dazu  beitragen,  die  wehmüthige  Schön- 
heit des  kranken  Körpers  zu  erhöhen. 

Die  Skrofulöse  tritt  meist  im  späteren  Kindesalter  auf;  von 
allen  Erscheinungen  erhält  sich  neben  der  Schwellung  der  Hals- 
drüsen am  längsten  die  Verdickung  der  Oberlippe. 

Eine  liebenswürdige  Künstlerin  zeigte  mir  vor  einiger  Zeit  eine 
jugendliche  Psyche,  die  sie  getreu  nach  dem  lebenden  Modell  aus- 
geführt hatte.  Aus  der  Verdickung  der  Oberlippe  meinte  ich 
schliessen  zu  können,  dass  das  Modell  skrofulös  sei,  und  die  Künst- 
lerin bestätigte  mir,  dass  in  der  That  das  Mädchen  oft  erkältet 
gewesen  sei,  und  an  Drüsenschwellungen  am  Halse  und  entzündeten 
Augen  gelitten  habe.     Ex  ungue  leonem. 

Eine  weitere,  den  Aerzten  wohlbekannte  Körperbeschaffenheit 
ist  der  sogenannte  Habitus  apoplecticus  und  emphysematosus, 
das  Aussehen  der  zu  Schlagfluss  und  Asthma  neisrenden  Individuen: 
kurzer  Hals,  gedrungener  Körper,  gedunsenes  und  geröthetes  Ge- 
sicht, fassförmiger  Brustkorb. 

Dieses  Aeussere  findet  sich  jedoch  meist  in  vorgerücktem  Alter. 
und  dann  auch  bei  Männern  häufiger  als  bei  Frauen,  so  dass  es 
uns  hier  nicht  weiter  interessiren  kann. 

Von  allen  den  genannten  Krankheiten  sind  die  Rhachitis  und 
die  Schwindsucht  die  wichtigsten.  Wie  oben  gesagt,  leiden  an  eng- 
lischer Krankheit,  die  leichten  Fälle  nicht  mitgerechnet,  mindestens 
30  °/o  aller  lebenden  Menschen  und  sterben  an  Schwindsucht  15°/o. 
Zusammen  also  45°/o,  die  an  englischer  Krankheit  und  an  Schwind- 
sucht leiden,  also  beinahe  die  Hälfte  aller  jetzt  lebenden  Menschen. 


(32  Einflüsse  der  Entwiekelung. 

Nun  können  allerdings  häufig  bei  ein  und  demselben  Individuum 
beide  Krankheiten  zugleich  auftreten,  wodurch  der  Procentsatz  der 
Gesunden  ein  wesentlich  besserer  würde.  Dem  steht  aber  gegenüber, 
dass  einerseits  die  leichteren  Fälle  von  Rhachitis,  andererseits  die 
geheilten  Fälle  von  Schwindsucht  in  dieser  Berechnung  nicht  berück- 
sichtigt sind,  beides  Umstände,  die  das  Verhältniss  wieder  wesent- 
lich ungünstiger  gestalten. 

Für  unsere  Zwecke  genügt  es,  festzustellen,  dass  wir  bei  der 
Bestimmung  der  Normalgestalt  mit  grosser  Sorgfalt  auf  die  Zeichen 
zu  achten  haben,  die  gerade  diese  beiden  Krankheiten  hervor- 
rufen, und  dass  wir  den  damit  behafteten  Frauen  die  anatomisch 
schöne  i.  e.  normale  Gestalt  absprechen  müssen. 

Jedoch  dürfen  wir  dabei  nicht  vergessen,  dass  eine  ganze 
Reihe  von  Fällen  besteht,  in  der  beide  Krankheiten  ausgeheilt  sind, 
ohne  irgend  welche  Spuren  zu  hinterlassen. 


VII. 

Einfluss  der  Entwiekelung,  Ernährung  und 
Lebensweise  auf  den  Körper. 

Schon  vor  der  Geburt  können  sich  Einflüsse  geltend  machen, 
die  den  normalen  Verlauf  der  Entwiekelung  stören.  Wer  sich  in 
die  Geheimnisse  der  Entwickelungsgeschichte  vertieft,  staunt  stets 
von  neuem  über  die  wunderbare  Kraft  der  Natur,  die  aus  mikro- 
skopischen Anlagen  ihr  schönstes  Gebilde,  den  Menschen,  zu  zeitigen 
versteht  und  nur  in  seltenen  Ausnahmefällen  ihre  Aufgabe  nicht 
glänzend  zu  Ende  führt. 

In  allgemein  verständlicher  Form  hat  Häckel  die  Entwickelungs- 
geschichte des  Menschen  *)  beschrieben. 

Wie  im  Laufe  der  Jahrtausende  aus  dem  Urschleim  die  Würmer. 


])  Anthropogenie,  1.  Auflage,  Leipzig  1874,  Engelmann. 


Entwickelung  des  Gesichts. 


aus  den  Würmern  die  Amphibien,  aus  diesen  nacli  unendlichen  Zeiten 
die  Menschengeschlechter  sich  entwickelt  haben,  so  macht  jedes 
menschliche  Individuum  in  Zeit  von  wenigen  Monaten  den  grossen 
Entwickelungsgang  von  der  Zelle  zum  Wurm,  und  von  diesem  bis 
zum  ausgebildeten  Menschenkinde  durch. 

Die  kleinste  Störung  in  diesem  Entwickelungsgang  kann  die 
harmonische  Ausbildung  des  Körpers  vereiteln. 

Betrachten  wir  zum  Beispiel  die  Entwickelung  des  mensch- 
lichen Gesichtes. 

In  der  sechsten  Woche  seines  Daseins  bildet  der  Kopf  des 
Embryo  eine  gleichmässig  weiche  Masse  (Fig.  19).  Von  der  Stirne 
wachsen  ein  breiterer  mittlerer  und  zwei 
seitliche  Nasenfortsätze  (nm,  nlnl),  die 
Riechgruben  zwischen  sich  fassend,  nach 
unten.  Ausserhalb  derselben  liegen  bei- 
derseits die  Augenanlagen.  Unter  den- 
selben ziehen  nach  innen  und  unten  die 
zwei  Oberkieferfortsätze  (ms,  ms).  Diese 
fünf  Fortsätze  bilden  zusammen  die  obere 
Begrenzung  der  Mundhöhle,  die  von 
unten  von  den  bereits  vereinigten  Unter- 
kieferbogen (mi)  begrenzt  wird.  In  der 
Tiefe  liegt  die  Anlage  der  Zunge  (g). 

Im  weiteren  Verlaufe  der  Ent- 
wickelung verwachsen  die  fünf  oberen 
Fortsätze  mehr  und  mehr,  bis  schliess- 
lich die  beiden  Oberkieferfortsätze  mit 
einem  Theil  des  mittleren  Nasenfort- 
satzes zusammen  die  Oberlippe  bilden. 
Wo  diese  Vereinigung  nicht  in  voll- 
ständiger Weise  zu  Stande  kommt,  bleibt  ein  grösserer  oder  ge- 
ringerer Grad  von   „Hasenscharte"   bestehen. 

Bei  gleichmässig  guter  Entwickelung  aller  Theile  muss  nicht 
nur  die  Oberlippe  völlig  vereinigt  sein,  sondern  es  muss  sich  auch 
das  Grübchen  zwischen  Nase  und  Mund  deutlich  und  scharf  ab- 
grenzen,   und    das    Lippenroth    muss    in    der   Mitte    mit   leicht   nach 


Fig  19.  Kopf  eines  menschlichen 
Embryo  aus  der  sechsten  Woche. 
(Schematisch  nach  Gegenbaur  und 

Häckel). 
nm  mittlerer,  nl  seitliche  Nasen- 
fortsätze, ms  Oberkieferfortsätze, 
g  Zunge,  o  o  Augen,  m  i  Unterkiefer- 

fortsätze. 


64 


Entwickeluno-  des  Gesichts. 


unten  convexem  Bogen  zusammenfliessen.  Diesen  Anforderungen 
genügt  in  vollem  Masse  der  schöne  Mund  einer  in  Fig.  20  abgebil- 
deten jungen  Pariserin. 

Zwischen    diesen    beiden  Extremen    giebt  es  zahlreiche  Ueber- 
gänge.     Es    ist    bekannt,    dass   bei  den  Engländern  häufig  zu  kurze 


Fig.  20.    Kopf  einer  jungen  Pariserin  mit  feingeschnittenem  Mund  (nach  einer  Photographie 

von  Reutlinger,  Paris). 

Oberlippen  gefunden  werden,  und  bei  den  Negern  wiederum  häufig 
Oberlippen,  die  den  normalen  Grad  der  Entwickelung  in  ihren  seit- 
lichen Parthien  überschreiten.  Diese  letztere  Eigenthümlichkeit  ist 
meist  eine  Folge  von  starker  Entwickelung  des  Oberkiefers  überhaupt 
und  findet  sich  deshalb  zusammen  mit  stark  vorstehenden  Backen- 
knochen. 


Einfluss  von  Ernährung  und  Lebensweise.  (35 

Inwieweit  die  Erblichkeit  auf  die  Gesichtszüge  einwirken  kann, 
ist  oben  bereits  besprochen. 

Ebenso  wie  am  Gesicht  lassen  sich  auch  an  anderen  Körper- 
theilen  häufig  Abweichungen  von  der  Norm  auf  embryonale  Ent- 
wickelungsstörungen  zurückführen,  ja  man  nimmt  selbst  an,  dass  ein 
grosser  Theil  später  auftretender  Krankheiten,  wie  z.  B.  die  meisten 
Geschwülste,  als  Keime  schon  mit  auf  die  Welt  gebracht  wurden 
(Cohnheim'sche  Krebstheorie). 

Wenn  wir  einen  strengen  Massstab  anlegen,  so  müssen  wir 
fordern,  dass  die  Entwickelung  des  Körpers  eine  völlig  symmetrische 
ist,  d.  h.  dass  die  eine  Körperhälfte  genau  das  Spiegelbild  der  anderen 
ist.  Dieser  Anforderung  dürfte  jedoch  kaum  ein  lebendes  Wesen 
genügen;  wir  müssen  deshalb,  um  der  Natur  gerecht  zu  werden, 
eine  leichte  Asymmetrie  als  individuelle  Abweichung,  eine  stärkere 
jedoch  als  Fehler  auffassen. 

Geringere  Entwickelungsfehler  können  im  Beginn  selbst  der 
schärfsten  Prüfung-  entgehen  und  sich  erst  am  heranwachsenden 
Körper  durch  grössere  Deutlichkeit  bemerkbar  machen. 

So  erkennt  man  in  den  ungewissen  Zügen  des  kindlichen  Ge- 
sichts kaum  Spuren  der  Adlernase  des  Vaters,  die  doch  im  Keim 
bereits  besteht.  Bei  einer  mir  bekannten  Familie,  die  von  der  Natur 
ausschliesslich  mit  linken  Beinen  begabt  zu  sein  schien,  zeigte  sich 
diese  Familieneigenthümlichkeit  bei  den  Kindern  erst  später  in  Gang 
und  Haltung. 

Wenn  wir  die  weitere  Entwickelung  vom  Kind  zum  Weibe 
betrachten,  so  treten  hier  die  Einflüsse  der  Ernährung  und  Lebens- 
weise so  sehr  in  den  Vordergrund,  dass  ein  scharfes  Auseinander- 
halten dieser  verschiedenen  Einflüsse  im  einzelnen  Falle  kaum 
möglich  ist. 

In  manchen  Fällen  sind  sogar  die  Ansichten  darüber  getheilt, 
ob  man  gewisse  Abnormitäten  als  Entwickelungsfehler  oder  als 
Folgen  von  Krankheiten  aufzufassen  hat. 

So  hat  Miculicz  auf  Grund  eingehender  Untersuchungen  an- 
genommen, dass  alle  Formen  der  sogenannten  X-  oder  Bäckerbeine, 
die  durch  Einwärtskrümmung  der  Beine  im  Kniegelenk  gekennzeichnet 
sind  (Fig.  21),  auf  englischer  Krankheit  beruhen. 

Stratz,  Die  Schönheit  des  weiblichen  Körpers.  5 


m 


Einfiuss  der  Ernährung  und  Lebensweise. 


Hoffa  und  andere  nehmen  wieder  an,  dass  eine  derartige  Ver- 
biegung   im  Kniegelenk   sehr  wohl   auch  ohne  Rhachitis  durch  ver- 
hältnissmässig    zu    schwere   Belastung    der    weichen   Knochen  beim 
Stehen    hervorgerufen   werden    könne.     Im  ersten  Falle  also  krank- 
hafter   Einfiuss,     im    zweiten 
unrichtige  Lebensweise  in  den 
Entwickelungsjahren  (Bäcker- 
bein). 

Ebenso  leitet  Rupprecht 
alle  Skoliosen  (Verkrümmun- 
gen der  Wirbelsäule)  von  Rha- 
chitis ab,  während  Hoffa  auch 
hierbei  rein  statische  Einflüsse 
(z.B.  Schreibhaltung  der  Schul- 
kinder) gelten  lässt,  allerdings 
bei  „abnormer  Weichheit"  der 
Knochen. 

Wir  haben  oben  bei  Er- 
wähnung der  Rhachitis  ge- 
sehen, dass  dabei  wieder  nach 
Vierordt  Mangel  an  Luft  und 
Licht  und  schlechte  Ernäh- 
rung von  schwerwiegender  Be- 
deutung sind,  also  wiederum 
der  Einfiuss  der  Ernährung 
auf  den  Krankheitszustand  her- 
vorgehoben wird. 

Wie  dem  auch  sei,  wir 
können  für  unsere  Zwecke  aus 
allen  diesen  entgegengesetzten 
Ansichten  die  gemeinschaft- 
liche Schlussfolgerung  ziehen,  dass  ausser  Krankheiten  auch  die 
Ernährung  und  Lebensweise  auf  die  Entwickelung  des  Körpers  einen 
nachhaltigen  Einfiuss  ausüben  können. 

Bei  normaler  Entwickelung  ist  der  Körper  in  den  ersten  Lebens- 
jahren   gefüllt,    etwa   im    sechsten   beginnt    er  allmählig  länger  und 


Kleines  Mädchen  mit  X-Beinen  (Genu 
valgum)  nach  Hoffa.  ' 


Normales  Körpergewicht.  67 

schlanker  zu  werden  und  mehr  und  mehr  die  secundären  Geschlechts- 
charaktere anzunehmen,  die  bei  Mädchen  sich  im  allgemeinen  früher 
einstellen  als  bei  Knaben.  Erst  nach  erfolgter  Geschlechtsreife  erlangt 
der  Körper  seine  volle  Ausbildung. 

In  der  Entwickelungsperiode  haben  bei  den  noch  zarten  Or- 
ganen alle  schädlichen  Einflüsse  selbstverständlich  eine  viel  nach- 
haltigere Wirkung  als  später. 

Kräftige,  eiweissreiche  Kost  ist  für  den  wachsenden  Körper  ein 
Bedürfniss.  Fleisch,  Eier  und  Milch  sind  die  besten  und  werth- 
vollsten  Nahrungsmittel;  in  den  ärmeren  Klassen  werden  dieselben 
grösstentheils  durch  minderwerthige,  wie  Kartoffel,  Brod  und  Hülsen- 
früchte ersetzt.  Von  diesen  sind  viel  grössere  Massen  nöthig,  um 
denselben  Nährwerth  zu  erreichen.  Selbst  bei  genügender  Nahrung 
wird  deshalb  bei  der  Bewältigung  dieser  minderwerthigen  Kost  eine 
grössere  Arbeit  vom  Körper  gefordert;  meist  aber  ist  ausserdem 
nicht  nur  die  Qualität,  sondern  auch  die  Quantität  der  Nahrung  zu 
gering,  um  allen  Anforderungen  zu  genügen. 

Wir  sehen,  class  bei  vorwiegender  Fleisch-  und  Milchkost  unter 
sonst  gleichen  Verhältnissen  alle  Gewebe  des  Körpers,  vorall  aber 
die  Muskeln,  kräftiger  und  straffer  werden,  der  Fettansatz  kein  über- 
mässiger und  die  Haut  elastisch  ist.  Bei  reichlicher  Fütterung  mit 
Kartoffeln  und  Brod  bleiben  die  Muskeln  schwächer,  der  Fettansatz 
wird  viel  reichlicher,   der  Unterleib  ist  aufgetrieben,   die  Haut  schlaff. 

Die  Masse  kann  in  letzterem  Fall  grösser  sein  als  in  ersterem, 
der  Gehalt  und  die  Dauerhaftigkeit  des  Körpers  ist  im  ersteren 
weitaus  besser. 

Ueber  den  richtigen  Grad  der  Ernährung  eines  Körpers  kann 
man  sich  am  besten  überzeugen  durch  das  Gewicht. 

Nach  Vierordt  bestimmt  man  dasselbe  nach  folgender  Formel. 

T      B 

-7777—  =  K,  das  heisst:  L  =  Körperlänge  in  Centimetern  vervielfältigt 
240  i  o  o 

mit  B  =  Brustweite,  über  den  Brustwarzen  gemessen,  in  Centimetern, 
getheilt  durch  240  giebt  K  =  das  Körpergewicht  in  Kilogrammen. 
Da  Vierordt  seine  Formel  aus  zahlreichen  Einzelmessungen 
gesunder  Individuen  berechnet  hat,  so  haben  wir  damit  einen  ziem- 
lich genauen  Massstab  gewonnen. 


68  Fülle  und  Abmagerung. 

Ist  z.  B.  die  Körperlänge  =  168  cm,  der  Brustumfang  =  88, 

so    muss    das  Gewicht  — ^r^ —  =  61,6  kg  sein. 

240  ö 

Bei  fehlerhafter  Ernährung  kann  der  Fettansatz  zu  gering  oder 
zu  reichlich  sein.  In  beiden  Fällen  scheint  es  sich  häufig  auch  um 
eine  angeborene  Anlage  zu  Magerkeit  oder  Fülle  zu  handeln. 

Ein  nicht  nur  bei  Buschmänninen,  sondern  auch  bei  Euro- 
päerinnen beobachteter  Fehler,  auf  den  Richer  zuerst  die  Aufmerk- 
samkeit gelenkt  hat,  ist  eine  abnorm  starke  Anhäufung  von  Fett  in 
der  Beckengegend  und  dem  oberen  Drittel  der  Oberschenkel;  Fig.  14 
zeigt  dies  sehr  deutlich. 

Während  bei  normalen  Gestalten  das  Unterhautfett  die  Gestalt 
abrundet,  ohne  doch  die  darunterliegenden  Formen  der  Muskeln, 
Gelenke  und  Knochen  völlig  verschwinden  zu  lassen,  lässt  ein  magerer 
Körper  dieselben  zu  stark  vortreten  und  macht  die  Gestalt  eckig. 
Bei  zu  starker  Fettanhäufung  werden  zunächst  die  tieferen  Theile 
des  Körpers  verdeckt,  es  bilden  sich  an  den  Beugestellen  der  Glied- 
in assen,  unter  den  Brüsten  und  am  Kinn  Wülste  und  Furchen,  die 
feine  Gliederung  der  Gestalt  verschwindet.  An  Stellen,  an  denen 
die  Spannung  der  Lederhaut  zu  stark  wird,  entstehen  weisse,  zackige 
Narben,   ähnlich  den  sogenannten  Schwangerschaftsnarben. 

Wenn  ein  solcher  gefüllter  Körper  wieder  abmagert,  kann  die 
Haut  nur  bis  zu  einer  gewissen  Grenze  ihre  ursprüngliche  Elasticität 
wiedererlangen ;  wo  diese  im  Stiche  lässt,  hängt  sie  schlaff  auf  ihrer 
Unterlage  und  bildet  Falten  und  Runzeln. 

An  diesen  Zeichen,  sowie  an  den  Narben,  die  sich  hauptsäch- 
lich am  Bauch,  auf  den  Oberschenkeln  und  am  Gesäss  finden,  kann 
man  einen  abgemagerten  Körper  von  einem  mageren  unterscheiden. 

Unter  den  mageren  Frauen  sind  viele,  die  erst  ihre  volle  Blüthe 
erreichen  zu  einer  Zeit,  wo  andere  sie  bereits  durch  zu  starke  Fülle 
wieder  verlieren. 

Die  Lebensweise  kann,  trotz  guter  Ernährung,  einen  nach- 
theiligen Einfluss  auf  die  harmonische  Entwicklung  des  Körpers 
ausüben. 

Wo  der  Beruf  dies  verlangt,  wird  eine  besondere  Muskelgruppe 
häufiger    und    nachhaltiger    gebraucht,    als    die    anderen.     In    Folge 


EinÜuss  der  Lebensweise.  69 


davon  entwickeln  sich  diese  Muskeln  mehr,  werden  dicker  und 
springen  mehr  hervor  als  die  anderen.  Wie  bei  Schmieden  die  Arm- 
und  Schultermuskeln,  mit  den  Muskeln  der  Beine  verglichen,  unver- 
hältnissmässig  kräftig  sind,  so  zeichnen  sich  wieder  Ballettänzerinnen 
durch  sehr  kräftige  Formen  der  Beine  aus,  bei  zu  schwacher  Ent- 
wickelung  der  Arme  und  Schultern. 

Im  allgemeinen  werden  bei  Frauen  der  besseren  Stände  alle 
Muskeln  nicht  genügend  geübt,  namentlich  aber  diejenigen  der  Arme 
und  Schultern. 

In  den  ärmeren  Klassen  wird  hinwiederum  frühzeitige  und 
anstrengende  Arbeit  von  den  Beinen  gefordert,  so  dass  diese  zwar 
unter  sonst  normalen  Umständen  kräftig  und  gedrungen,  aber  im 
Längenwachsthum  der  Knochen  behindert  und  dadurch  im  Verhält niss 
zum  übrigen  Körper  zu  kurz  werden.  Kommt  nun  noch  schlechte 
Ernährung  und  Rhachitis  hinzu,  so  werden  sie  ausserdem  noch  krumm 
und  plump  in  den  Gelenken. 

Es  ist  oben  schon  darauf  hingewiesen,  dass  durch  häufig 
wiederholte  ungleichmässige  Belastung  der  Wirbelsäule  eine  bleibende 
Verkrümmung  derselben  entstehen  kann,  wie  sie  bei  zahlreichen 
Schulkindern  durch  die  Haltung  beim  Schreiben  auch  thatsächlich 
häufig  sich  findet. 

Beinahe  allgemein  findet  sich  eine  stärkere  Entwickelung  der 
rechten  Brust  und  Schulter  im  Verhäitniss  zur  linken.  Diese  Er- 
scheinung hängt  mit  der  Rechtshändigkeit  des  Menschen  zusammen 
und  kann  deshalb  kaum  als  Fehler  angesehen  werden,  es  sei  denn, 
dass  der  Unterschied  besonders  auffallend  ist. 

Bei  vielen  Frauen  werden  einzelne  Körpertheile  durch  häufig 
sich  folgende  Geburten  dauernd  entstellt,  bei  anderen  wieder  üben 
dieselben  kaum  einen  Einfluss  aus. 

Wir  kommen  darauf  später  noch  zurück. 

Die  angeführten  Beispiele  durch  weitere  zu  vermehren,  erscheint 
mir  an  dieser  Stelle  überflüssig. 

Wir  haben  demnach  als  weitere  Momente  zur  Beurtheilung 
des  normalen  weiblichen  Körpers  zu  beachten  die  symmetrische  Ent- 
wickelung beider  Körperhälften,  entsprechend  den  Gesetzen  der  Ent- 
wickelungsgeschichte ,    die  gleichmässige  Ernährung,   die  sich  durch 


70  Kleidung. 

Vergleichung  des  Gewichts  mit  der  Körperlänge  und  dem  Brust- 
umfang nachweisen  lässt,  und  die  Ausschaltung  der  durch  die 
Lebensweise  bedingten  Verunstaltung  vom  ganzen  Körper  oder  von 
Theilen  desselben. 


VIII. 
Einfluss  der  Kleider  auf  die  Körperform. 

Wahrheit  und  Dichtung  am  bekleideten  Weibe  von  einander 
zu  trennen  ist  schwer,  oft  unmöglich.  Die  Mode  ist  viel  weniger 
dazu  erschaffen,  Schönheiten  hervorzuheben,  als  vielmehr  Schön- 
heiten zu  heucheln  und  Fehler  zu  verdecken,  und  darum  wird  alles 
Eifern  gegen  die  sogenannten  Modethorheiten  immer  und  ewig  nutz- 
los bleiben. 

Schöne  Körper  werden  unter  jeglicher  Bekleidung  schön  er- 
scheinen, am  schönsten  natürlich,  wenn  sie  unverhüllt  sind;  für  diese 
sind  keine  Modekünste  nöthig.  Da  die  Besitzerinnen  derselben 
jedoch  in  der  Minderzahl  sind,  so  sehen  sie  sich  gezwungen,  der 
Uebermacht  ihrer  weitaus  zahlreicheren  Schwestern  zu  weichen,  die 
bestrebt  sind,  sich  vorteilhafter  zu  zeigen,  als  die  Natur  es  ihnen 
gestattet  hat.  Zur  Erreichung  dieses  Zweckes  werden  wieder  die- 
jenigen  Mittel  die  beliebtesten  und  verbreitetsten  sein,  die  einer 
möglichst    grossen  Anzahl   von  Frauen   zu    statten  kommen  können. 

Hat  einmal  die  Mode  eine  derartige  Bestrebung  geheiligt,  dann 
ist  wieder  jede  einzelne  Frau  bestrebt,  ihre  Schwestern  zu  über- 
bieten, und  so  entstehen  Uebertreibungen ,  die  sich  mehr  und  mehr 
vom  Normalen  entfernen,  die  Grenzen  des  Schönen  überschreiten, 
nun  aber  auch  durch  ihre  Unzweckmässigkeit  eine  bleibende  Schä- 
digung des  normalen  Körpers  veranlassen  können. 

Unter  allen  Vorzügen  des  weiblichen  Körpers  gilt  als  einer 
der  wichtigsten  die  schlanke  Mitte,  und  um  diese  hervorzuzaubern, 
bediente  man  sich  des  Schnürleibs  in  allen  möglichen  Formen1). 


:)  Vgl.  Witkowsky,  Les  seins  et  l'allaitement,  Maloine  1898.  —  Chap.  IV. 
l'histoire  du  corset. 


Corset. 


Von  Hippokrates 
bis  Sömmering  haben 
viele  und  gelehrte  Herren 
gegen  das  Corset  geeifert, 
und  viele  werden  es  nach 
ihnen  auch  thun,  aber 
alle  ohne  Erfolg.  Die 
Corsetbedürftigen  unter 
den  Frauen  haben  das- 
selbe stets  beibehalten 
und  werden  es  behalten, 
so  lange  die  Erde  besteht. 

Ich  bin  kein  Geg- 
ner des  Corsets,  wohl 
aber  ein  Gegner  des  Miss- 
brauchs, der  damit  ge- 
trieben wird.  Schlecht 
gebauten  Frauen  das  Cor- 
set abzurathen,  ist  hoff- 
nungslos. Ich  habe  mich, 
und  zwar  mit  Erfolg,  da- 
mit begnügt,  die  gutge- 
bauten Frauen  vor  den 
schädlichen  Folgen  des- 
selben zu  bewahren,  wenn 
es  noch  Zeit  war. 

Um  den  morali- 
schen Werth  des  Corsets 
zu  begreifen,  müssen  wir 
uns  zunächst  deutlich 
machen,  was  eine  Taille 
ist,  und  was  man  darunter 
zu  verstehen  gewohnt  ist. 

Die  natürliche  Form  der  Taille  zeigt  ein  javanisches  Mädchen 
(Fig.  22)  von  gutem  Bau,  das  nie  in  seinem  Leben  ein  Corset  ge- 
tragen hat. 


Fig.  22. 


Javanisches  Mädchen,  das  nie  ein  Corset 
getragen  hat. 


72 


Taille. 


Trotz  guter  Fülle  des  Körpers  kommt  die  schlanke  Taille  gut 

zum  Ausdruck. 

Dieser  Ausdruck  beruht  nicht  auf  dem  absoluten  Umfang  der 

schmalen  Mitte,   sondern    auf  dem  Gegensatz   der  schmäleren  Mitte 

zu  den  breiteren  Hüften  und  Schultern. 

Dass  die  Breite  der  Schultern  ein  wichtiger  Factor  ist,  beweist 

ein  Blick  auf  Fig.  23,  die  den  Rücken  einer  jungen  Berlinerin  dar- 
stellt; hier  erscheint  die  Taille 
trotz  breiterer  Hüften  viel 
weniger  schlank,  weil  der 
Brustkorb  in  beinahe  gerader 
Linie  nach  oben  verläuft,  so 
dass  der  Körper  am  unteren 
Rand  der  Schulterblätter  bei- 
nahe ebenso  breit  ist,  als  in 
der  Taille. 

Als  natürliche  Bedingung 
einer  schlanken  Taille  müssen 
wir  demnach  annehmen,  dass 
von  der  schmälsten  Stelle  am 
unteren  Rand  des  Brustkorbes 
die  Körpercontour  in  weich- 
auslaufender Wellenlinie  sich 
nach  unten  und  ebenso  nach 
oben  verbreitert;  dabei  ist 
der  absolute  Umfang  der 
schmälsten  Stelle  vollständig* 
Nebensache. 

Im  gewöhnlichen  Leben,. 

aber  namentlich  unter  den  Frauen  selbst,  urtheilt  man  anders.    Man 

spricht  höchstens  von  langer  oder  kurzer  Taille,  hauptsächlich  jedoch 

vom  absoluten  Umfang  der  Gürtelhöhe.     Eine  Taille  von  60  cm  ist 

schön,  eine  von  50  cm  entzückend  u.  s.  w. 

Aber    der    Mensch    versuche     die    Götter    nicht    und    begehre 

nimmer  und  nimmer  zu  schauen,  was  sie  gnädig  bedecken.  — 


Fig.  23.    Gypsabguss  nach  der  Leiche  einer  jugend- 
lichen Selbstmörderin  (1.  anat.  Institut.  Berlin). 


Folgen  des  Schnürens. 


73 


Meinert *)  und  andere  haben  den  Schleier  gelüftet  und  nach- 
gewiesen, dass  Schnürlebern  und  Magensenkung,  Bleichsucht  und 
Stuhlverstopf img ,  Lungen-  und  Herzkrankheiten  durch  zu  starkes 
Zusammenpressen  des   unteren  Brustumfangs  hervorgerufen  werden. 


Fig.  24.    Mädchentorso  ohne  Schnürfurche. 

Wir  geben  das  Alles  gerne  zu ,  wir  haben  uns  hier  aber  nur 
zu  fragen:  Wird,  mit  so  viel  Opfern  an  Gesundheit  und  Lebens- 
freude der  eigentliche  Zweck,    die  Verschönerung  des  Körpers,    er- 


Centralblatt  für  innere  Medicin,  1896,  12  und  13. 


74 


Folgen  des  Schnürens. 


reicht  oder  nicht?    Die  Antwort  lautet:   Scheinbar  wohl,  in  Wirklich- 
keit nicht. 

Der   grossen  Masse   imponirt   die  so  erzeugte  schlanke  Taille, 
der  Erfahrene  kann,  selbst  an  der  bekleideten  Frau,  an  dem  Miss- 


Fig.  25.    Mädchen  mit  deutlicher  Schnürfiirche. 


verhältniss  der  dünnen  Mitte  zu  den  übrigen  Theilen  des  Körpers, 
die  verborgenen  Fehler  meistens  erkennen. 

Am  entkleideten  Körper  tritt  die  Verunstaltung  für  jeden  deut- 
lich hervor. 

Bei   einem   nicht    entstellten  Mädchentorso  (Fig.  24)   geht  der 


Folgen  des  Schnürens. 


75 


Umriss  des  Brustkorbs  weich  in  die  Linien  des  Unterleibs  über, 
dessen  gleichmässige  flache  Wölbung  durch  das  Vortreten  der  Mus- 
keln, namentlich  rechts  und  links  von  der  Mittellinie  oberhalb  des 
Nabels  markirt  wird;  der  am  stärksten  vortretende  Theil  ist  die 
fettreichere  Umgebung  des  Nabels. 


Fig.  26.    Mädchen  mit  sehr  starker  Einschnürung. 

Als  erster  Einfluss  des  Schnürens  zeigt  sich  zunächst  oberhall) 
des  Nabels  eine  querverlaufende  Furche,  die  eine  schärfere,  nicht 
natürliche  Abgrenzung  des  Rumpfes  in  einen  oberen  und  unteren 
Abschnitt  hervorruft;  die  unterhalb  dieser  Linie  liegenden  weichen 
Theile  des  Unterleibes  werden  nach  unten  und  vorn  gepresst:  der 
Bauch  wird  rund  und  tritt  heraus.     Fig.  25  zeigt  diese  Entstellung 


76  Folgen  des  Schnürens. 

an  einem  übrigens  schön  gebauten  Körper.  Im  weiteren  Verlauf 
wird  die  Einschnürung  immer  schärfer,  der  Bauch  darunter  tritt 
mehr  und  mehr  hervor  {Fig.  26).  In  Folge  der  geringeren  Wölbung 
des  Brustkastens  ziehen  die  Brüste  mehr  und  mehr  herunter.  Durch 
die  starke  Einschnürung  der  Bauchmuskeln,  namentlich  der  geraden, 
die  vom  Schambein  zum  Brustbein  hinziehen,  ist  das  Relief  des 
Unterleibes  zerstört,  zugleich  aber  auch  dessen  Hauptstütze,  so  dass 
er  schlaff  herunterhängt  und  zum  Hängebauch  wird. 

Ein  solcher  Körper  wird  durch  die  erste  Schwangerschaft, 
durch  jeden  noch  so  geringen  Fettansatz  endgültig  entstellt:  Bauch 
und  Brüste  werden  dicker  und  schlaffer  und  hängen ;  statt  der  Taille 
bildet  sich  eine  querverlaufende,  wulstige  Falte  und  nur  das  Corset 
ist  noch  im  Stande,  eine  Zeit  lang  die  verlorene  Form  vorzutäuschen, 
die  es  selbst  verdorben  hat. 

Ebenso  wie  die  Bauchmuskeln,  beeinfiusst  ein  Missbrauch  des 
Corsets  auch  die  Rückenmuskeln  in  ihrer  Entwickelung  und  Wirkung. 

Frauen,  die  an  das  Corset  gewöhnt  sind,  fühlen  sich  rasch  er- 
müdet und  klagen  über  Schmerzen  im  Rücken,  wenn  sie  einige  Zeit 
ohne  Corset  sich  bewegen.  Der  Rücken  erscheint  dann  hohl,  flach 
und  wenig  modellirt  in  Folge  des  geringeren  Vortretens  der  Muskel- 
wülste. 

Der  nachtheilige  Einfluss  des  Corsets  ist  um  so  grösser,  je 
stärker  es  geschnürt  wird,  je  höher  es  ist  und  je  früher  es  an- 
gelegt wird. 

Es  ist  leicht  zu  begreifen,  dass  in  den  .  Entwicklungsjahren, 
wo  das  Gerüst  des  wachsenden  Körpers  noch  zart  und  biegsam  ist, 
ein  verhältnissmässig  viel  geringerer  Druck  genügt,  um  die  Form 
zu  beeinflussen,  ebenso,  dass  die  Arbeit  der  Rumpfmuskeln  bei  einem 
hohen  Corset  viel  stärker  und  in  grösserer  Ausdehnung  beeinträchtigt 
wird,  als  bei  einem  niederen,  das  nur  wie  ein  breiter  Gürtel  die 
Mitte  umspannt.  Dass  endlich  bei  stärkerem  Schnüren  die  Druck- 
wirkung entsprechend  erhöht  wird,  ist  auch  ohne  weiteres  ein- 
leuchtend. 

Nun  haben  aber  anatomische  Untersuchungen1)  ergeben,  dass 


J)  Siehe  Meinert  1.  c. 


Stiefel  und  Strumpfbänder.  77 

Bauernweiber,  die  überhaupt  kein  Corset  trugen,  oft  viel  stärkere 
Schnürfurchen  zeigten,  als  eingeschnürte  Damen,  und  zwar,  weil  die- 
selben die  Rockbänder  stark  anzogen,  die  dann  ihre  ganze  Wirkung 
auf  eine  kleinere  Fläche  um  so  kräftiger  geltend  machten.  Daraus 
ein  Argument  zu  Gunsten  des  engen  Corsets  ableiten  zu  wollen,  ist 
nicht  erlaubt.  Wohl  aber  lässt  sich  daraus  ableiten,  dass  das  Corset 
als  Stützpunkt  für  die  Kleider  des  Unterkörpers  völlig  gerechtfertigt 
ist,  dass  aber  andererseits  das  Corset  nicht  dazu  missbraucht  werden 
darf,  um  eine  künstliche  Taille  zu  formiren. 

Nach  der  schlanken  Taille  kommt  der  kleine  Fuss,  den  jede 
Frau  gern  haben  möchte  und  dem  zu  Liebe  sie  die  angeborene 
Schönheit  dieses  Körpertheils  durch  unzweckmässige  Bekleidung 
verdirbt. 

Eine  Künstlerin,  deren  Hauptaufgabe  die  Darstellung  des  weib- 
lichen Körpers  in  seiner  höchsten  Vollendung  ist,  klagte  mir,  dass 
sie  noch  nie  in  ihrem  Leben  einen  schönen  weiblichen  Fuss  — 
nicht  Stiefel  —  gesehen  habe.  Sie  war  noch  jung;  aber  ich  muss 
gestehen,  dass  unter  den  zahlreichen  weiblichen  Füssen,  die  ich  ge- 
sehen habe,  nur  wenige  sind,  die  vor  einer  strengeren  Kritik  stand- 
halten. Hauptsächlich  ist  es  die  Verdrehung  der  grossen  Zehe 
nach  aussen  und  die  Krallenstellung  der  kleineren  Zehen,  die  den 
Fuss  verunstalten.     Wir  kommen  darauf  noch  zurück. 

Als  drittes  Glied  in  der  Kette  des  schädlichen  Einflusses 
moderner  Frauenkleidung  ist  das  Strumpfband  zu  nennen,  das  je 
nach  dem  Geschmack  der  Trägerin  entweder  die  Form  der  Wade 
oder  die  des  Knies  verdirbt.  Die  Rembrandt'schen  Modelle  haben 
das  Erstere  vorgezogen. 

Nach  Lücke  r)  soll  aber  auch  die  jetzt  übliche  Befestigung  der 
Strümpfe  von  Kindern  am  Leibchen  Veranlassung  geben  zu  Ver- 
krümmung der  Beine. 

Man  hätte  demnach  die  Wahl  zwischen  Schnürfurchen  am 
Knie  oder  an  der  Wade  und  krummen  Beinen,  wenn  man  es  nicht 
vorzieht,  kurze  Socken  oder  sehr  lange,  bis  zur  Mitte  des  Ober- 
schenkels reichende  Strümpfe  zu  tragen. 


x)  Citirt  bei  Hoffa,  Orthopädische  Chirurgie,  1894,  p.  112. 


78        Beurtheilung  des  Körpers  im  allgemeinen  nach  diesen  Gesichtspunkten. 

Wir  haben  hiermit  die  drei  wichtigsten  Theile  der  weiblichen 
Kleidung,  welche  die  Schönheit  des  Körpers  beeinträchtigen  können, 
besprochen,  und  haben  demnach  des  weiteren  zu  achten  auf  Ver- 
unstaltung des  Rumpfes  durch  Schnüren  und  Rockbänder,  der  Füsse 
durch  drückende  Schuhe,  der  Kniee  und  Waden  durch  Strumpfbänder. 


IX. 

Beurtheilung  des  Körpers  im  allgemeinen 
nach  diesen  Gesichtspunkten. 

Wir  haben  in  den  vorigen  Abschnitten  in  grossen  Zügen  die 
verschiedenen  Momente  besprochen,  welche  die  Schönheit  des  weib- 
lichen Körpers  bedingen  und  beeinträchtigen  können;  wir  haben 
dargethan,  dass  diese  Momente  abhängig  sind  von  gewissen,  mehr 
weniger  fest  umschriebenen  Gesetzen,  die  theils  empirisch  und 
statistisch,  theils  exact  und  deductiv  gewonnen  sind. 

Haben  wir  uns  damit  auf  den  naturwissenschaftlichen  Stand- 
punkt gestellt,  so  müssen  wir  denselben  bei  der  Anwendung  der 
gefundenen  Gesetze  auch  in  so  fern  wahren,  dass  wir  trotz  der  Gesetze 
kritisch  indiviclualisiren  und  nicht  blindlings  schematisiren. 

Diese  Gefahr  ist  hauptsächlich  bei  den  auf  empirischem  und 
statistischem  Wege  gefundenen  Thatsachen  sehr  naheliegend.  Haben 
wir  bei  Vergleichung  einer  grossen  Anzahl  von  Individuen  einen 
gewissen  Werth  gefunden,  so  ist  das  ein  Durchschnittswert!! ,  der 
höchstens  als  unterste  Grenze  des  JSTormalwerthes ,  in  keinem  Falle 
aber  als  massgebend  für   „das  normale  Individuum"   gelten  darf. 

So  hat  R.  von  Larisch  (Der  Schönheitsfehler  des  Weibes.  München  1896) 
die  Behauptung  aufgestellt,  dass  die  Weiber  zu  kurze  Beine  hätten  und  als  Be- 
weis 100  von  ihm  ausgeführte  Messungen  an  Photographien  von  Modellen  geliefert. 

Ganz  abgesehen  davon,  dass  bei  Photographien,  wenn  der  Apparat  nicht 
genau  auf  die  Körpermitte  eingestellt  ist,  die  Beine  stets  zu  kurz  erscheinen, 
beweisen  die  Messungen  von  Larisch  nur,  dass  es  viele  Weiber  mit  kurzen  Beinen 
giebt,  und  namentlich  unter  Künstlermodellen ;  dies  ist  aber  bei  Männern  genau 
ebenso  der  Fall  und  beruht  in  beiden  Fällen  beinahe  immer  auf  Rhachitis. 


Beurtheilung  des  Körpers  im  allgemeinen  nach  diesen  Gesichtspunkten.        79 

Wollen  wir  einen  Normalwerth  bestimmen,  so  ist  nicht  die 
Zahl,  sondern  die  Wahl  der  betreffenden  Individuen  das  Massgebende. 
Wir  müssen  vorerst  alle  Individuen  ausmerzen,  die  aus  irgend  einem 
Grunde  den  Anspruch  auf  Normalität  verloren  haben. 

Normal  in  diesem  Sinne  ist  aber,  wie  sich  zeigen  wird,  auch 
schön. 

Ich  habe  gestrebt,  diesem  Grundsatze  so  getreu  wie  möglich 
zu  folgen. 

Ebenso  wie  der  künstlerische,  ist  auch  der  ärztliche  Blick  an- 
geboren. Man  braucht  weder  Arzt  noch  Künstler  zu  sein,  um  beide 
zu  besitzen.  Es  giebt  aber  nicht  nur  farbenblinde,  sondern  auch 
formenblinde  Menschen,  die  beides  in  grösserem  oder  geringerem 
Masse  entbehren,  und  auch  von  diesen  sind  leider  so  manche  Aerzte 
und  Künstler. 

Der  Künstler,  sowie  der  Arzt  schärft  seinen  Blick  durch  die 
Uebung,  und  um  sich  von  der  Richtigkeit  desselben  zu  überzeugen, 
sind  beide  gezwungen,  gewisse  technische  Hülfsmittel  zu  gebrauchen, 
die  ihnen  ermöglichen,  die  gewonnenen  Gesichtseindrücke  mit  ab- 
soluten Werthen  zu  vergleichen. 

Wir  haben  hier  nun  zunächst  nur  mit  der  Art  und  Weise  zu 
thun,  wie  man  sich,  von  ärztlichem  Standpunkte  den  richtigen  Ein- 
druck von  der  Form  des  weiblichen  Körpers  verschafft,  und  hierbei 
haben  wir,  ebenso  wie  bei  einem  Patienten,  zunächst  die  Gestalt  im 
allgemeinen  zu  betrachten,  bevor  wir  zur  Beurtheilung  der  einzelnen 
Theile  übergehen. 

Wichtig  ist  es,  dass  man  zunächst  den  völlig  entkleideten 
Körper  so  aufstellt,  dass  das  volle  Licht  gleichmässig  darauf  fällt, 
also  dem  Fenster  gegenüber.  Bei  schräger  Beleuchtung  ist  es 
schwierig,  die  rechte  mit  der  linken  Körperhälfte  vergleichen  zu 
können.  Der  Beschauer  stellt  sich,  auf  einigen  Abstand,  mit  dem 
Rücken  nach  dem  Fenster,  der  zu  beurtheilenden  Person  genau 
gegenüber. 

Die  Körperhaltung  muss  die  aufrechte,  militärische  sein,  jedoch 
so,    dass   die  Füsse  in  ihrer  ganzen  Länge  sich  berühren  (Fig.  27). 

In  dieser  Stellung  kann  man  sich  zunächst  über  die  Pro- 
portionen, das  Verhältniss  der  einzelnen  Körpertheile  zu  einander 


80       Beurtheilung  des  Körpers-im  allgemeinen  nach  diesen  Gesichtspunkten. 


und  zum  Ganzen  orientiren,  und,  wo  nöthig,  dem  Auge  mit  Zirkel 
und  Bandmass  nachhelfen.    Streng  wissenschaftlichen  Anforderungen 

entspricht  der  Zander'sche  Messapparat. 
Zu  rascher  Orientirung  genügt  es, 
einige  Hauptmasse  zu  nehmen,  die  durch 
vergleichende  Messungen  an  gut  gehauten 
Körpern  festgestellt  sind: 
A.    Höhenmasse. 

1.  Die  Körperhöhe  ist  7x/2  his 
73/i  Mal  so  gross  als  die  Kopf  höhe;  in 
sehr  seltenen  Fällen  ist  das  Verhältniss 
1  :  8.  Die  durchschnittliche  Körperhöhe 
von  europäischen  Frauen  ist  158  (nach 
Quetelet). 

2.  Die  Körpermitte  (Fig.  27 *)  ist 
gleich  der  halben  Gesammthöhe ;  sie  liegt 
bei  der  Frau  ungefähr  an  der  oberen 
Haargrenze  des  Schamberges.  Eine  auch 
nur  geringe  Verschiebung  derselben  nach 
oben  deutet  auf  einen  Fehler  in  den 
unteren  Extremitäten. 

3.  Bei  richtiger  Länge  der  Arme 
muss  das  Ellenbogengelenk  in  der  Höhe 
der  Taille,  das  Handgelenk  in  der  Höhe 
des  Schambergs  stehen,  wenn  der  Arm 
ruhig  herabhängt. 

4.  Die  Länge  der  Beine  ist  bereits 
bestimmt  durch  den  Stand  der  Körper- 
mitte. Wenn  die  Beine  ganz  gerade  und 
gut  geformt  sind,  müssen  sie  sich  in  der 
angegebenen  Stellung  an  vier  Punkten 
berühren,  nämlich  am  oberen  Drittel  des 

Oberschenkels,  am  Knie,  an  der  Wade  und  am  Fussgelenk.  Bei 
jugendlichen  Individuen  mit  noch  nicht  voll  entwickelten  Waden 
kann  der  dritte  Berührungspunkt  fehlen,  ohne  dass  darum  die  Form 
der  Beine  eine  schlechte  wird. 


Fig.  27.    Symmetrische  Körper- 
haltung. 


Beurtheilung  des  Körpers  im  allgemeinen  nach  diesen  Gesichtspunkten.        ,Si 

Berühren  sich  die  Kniee  bei  geschlossenen  Knöcheln  nicht,  dann 
sind  die  Beine  nach  aussen  gekrümmt  (O-Beine),  berühren  sich  bei 
geschlossenen  Knieen  die  Knöchel  nicht,  dann  sind  die  Beine  nach 
innen  gekrümmt  (X-Beine). 

Der  oberste  Berührungspunkt  ist  abhängig  von  der  Fülle  der 
Oberschenkel. 

B.    Breitenmasse. 

1.  Die  Schulterbreite  ist  beim  weiblichen  sowie  beim  männ- 
lichen Körper  das  absolut  grösste  von  allen  Breitenmassen ;  die 
genaue  Messung  ist  erschwert  durch  die  grosse  Beweglichkeit  und 
den  wechselnden  Hoch-  und  Tiefstand  der  Schulter.  Am  sichersten 
misst  man  von  oben  her  vom  äussersten  Rand  des  Schulterblatts, 
dem  Acromion,   aus  (Schultergelenkbreite). 

2.  Die  Taillenbreite  ist  der  Durchmesser  des  Rumpfes  am 
unteren  Rippenrand. 

3.  Die  Hüftbreite  ist  am  grössten  in  der  Höhe  der  von 
aussen  fühlbaren  Vor  Sprünge  der  Oberschenkelknochen  (Trochanteren), 
ja  sogar  unter  denselben:  zur  Bestimmung  des  Masses  ist  es  am 
empfehlenswerthesten,  durch  die  Haut  hin  diese  Knochenvorsprünge 
abzutasten  und  von  ihnen  aus  zu  messen.  Die  Hüftgelenkbreite  ist 
schwieriger  zu  bestimmen  wegen  Unzugänglichkeit  des  Hüftgelenks; 
sie  beträgt  die  Hälfte  der  Schultergelenkbreite. 

Aus  dem  Verhältniss  dieser  drei  Masse  ergiebt  sich  die 
charakteristische  Form  des  gutgebauten  weiblichen  Rumpfes. 

Bei    25  wohlgebauten  Frauen   fand  ich  folgendes  Verhältniss: 

Körperlänge -  .     .  155 — 170 

Schulterbreite 35 — 40 

Taillenbreite       ......     19—24 

Hüftbreite 31—86 

Es  ergab  sich ,  dass ,  ganz  unabhängig  von  der  Körperlänge, 
die  Breitenmasse  stets  so  angeordnet  waren,  dass  die  Hüftbreite  um 
4  cm,   die  Taillenbreite  um  16  cm  geringer  war  als  die  Schulterbreite. 

Will  man  weitere  Masse  nehmen,  dann  kann  man  dazu  ent- 
weder die  Richer'sche  Eintheilung  in  Kopfhöhen  oder  die  Fritsch'sche 
oder  Langer'sche  Methode  benutzen. 

Stratz,  Die  Schönheit  des  weiblichen  Körpers.  6 


82  Secundäre  Geschlechtsmerkmale. 

Die  oben  angegebenen  Masse  genügen  jedoch  zur  Beurtheilung 
der  allgemeinen  Verbältnisse  der  Figur.  Ausserdem  aber  bat  man 
mit  den  Breitenmassen  bereits  einen  der  Avicbtigsten  secundären  Ge- 
schlecktsckaraktere,  die  weibliche  Bildung  des  Rumpfes,  festgestellt. 
Die  secundären  Geschlechtscharaktere  sind  deutlich 
aus  den  Figuren  28 — 31 x)  zu  erkennen,  welche  die  männliche  und 
weibliche  Normalgestalt  nach  Merkel  darstellen. 

Für  den  Rumpf  sind  die  Masse  an  den  Merkerschen  Normal- 
figuren : 

Mann  Weib 

Körperlänge 165,5  158 

Schulterbreite 45  37 

Taillenbreite 25  23 

Hüftbreite 32,5  34. 

Abgesehen  von  der  absoluten  Grösse  der  Masse  ist  namentlich 
wichtig,  dass  der  Unterschied  zwischen  Hüftbreite  und  Schulterbreite 
beim  Manne  12,5,  beim  Weibe  nur  3  cm  beträgt.  Das  U eberwiegen 
der  Hüften  im  Verhältniss  zu  den  Schultern  ist  der  wichtigste  von 
den  secundären  Geschlechtscharakteren  des  Weibes. 

Weiter  sieht  man  aus  diesen  Figuren  die  grössere  Zierlichkeit 
des  Skeletes  und  die  grössere  Breite  des  Beckens,  sowie  die  durch 
Ausbildung  der  Brustdrüsen  veränderte  Gestalt  des  Oberkörpers  und 
die  runderen  Formen  des  Weibes. 

Allgemein  wurde  bisher  angenommen,  dass  der  Lendentheil  der 
weiblichen  Wirbelsäule  grösser  sei  als  der  des  Mannes.  Merkel 
hat  nachgewiesen,'  dass  dies  allerdings  der  Fall  ist,  wenn  man  die 
Vorderseite  der  Lendenwirbel  misst,  dass  man  aber  genau  das  um- 
gekehrte Verhältniss  findet  bei  Vergieichung  der  Rückseite  der  Lenden- 
wirbelkörper,  denn  da  sind  die  des  Mannes  grösser.  Daraus  folgt, 
dass  die  weibliche  Wirbelsäule  in  der  Lendenkrümmung  stärker  ge- 
bogen ist  als  die  männliche ,  eine  Thatsache ,  die  mit  der  stärkeren 
Neigung-  des  weiblichen  Beckens  in  Zusammenhang-  steht. 


')  Fr.  Merkel,  Handbuch  der  topographischen  Anatomie.  Vieweg.  1896. 
Bd.  2,  p.  182  und  256.  Autor  und  Verleger  waren  so  liebenswürdig,  die  Repro- 
duction  der  vortrefflichen  Figuren  zu  gestatten.  Die  Verhältnisse  der  Reproduction 
zum  Original  sind  138:165:  die  Originale  sind   V10  natürliche  Grösse. 


Secundäre  Geschlechtsmerkmale.  83 

Für  die  äussere  Form  des  Körpers  ergiebt  sich  aus  dieser  Be- 
obachtung als  weiterer  Geschlechtscharakter,  dass  das  weibliche  Kreuz 


Fig.  28.    Männliche  Normalgestalt 
nach  Merkel. 


Fig.  29.     Weibliche  Normalgestalt 
nach  Merkel  (vgl.  Fig.  7). 


mehr  eingezogen  und  die  Rückenlinie  im  Profil  stärker  gebogen  er- 
scheint als  die  des  Mannes. 

Dieser  Unterschied  zeigt  sich  deutlich  in  Fig.  32. 


84 


Secundäre  Geschlechtsmerkmale. 


Hat  man  sich  so  über  die  Proportionen  und  die  Ausbildung  des  Ge- 
schlechtscharakters im  allgemeinen  orientirt,  so  muss  man  des  weiteren 


Fig.  30.    Männliche  Normalgestalt 
von  hinten  nach  Merkel. 


Fig.  31.    Weibliche  Normalgestalt 
von  hinten  nach  Merkel. 


die    symmetrische    Entwickelung    des    Körpers    beurtheilen. 

Dies    gelingt    in   gewissem    Sinne    auch    bei   Betrachtung    der 

Figur  von  vorne  in  der  oben  beschriebenen  Stellung.    Besser  jedoch 


Symmetrische  Entwickelung.     Ernährungszustand. 


85 


ist  es,  zu  diesem  Zwecke  die  zu  untersuchende  Person  sich  gerade 
ausgestreckt  auf  den  Rücken  legen  zu  lassen,  hinter  das  Haupt  der- 
selben zu  treten  und  von  hier  aus  in  der  Verkürzung  die  rechte  mit 
der  linken  Körperhälfte  zu  vergleichen.  Unregelmässigkeiten  treten 
hierbei  viel  schärfer  hervor. 

In  zweifelhaften  Fällen,   deren  Zahl  bei   einiger  Uebung    sich 
rasch  vermindert,  muss  die  directe  Messung  entscheiden. 


Fig.  32.    Weiblicher  und  männlicher  Torso  im  Profil  nach  Thomson. 


Ueber  den  Ernährungszustand  entscheidet  das  Körper- 
gewicht. Dieses  wird,  wie  oben  gesagt,  nach  der  Vierordt' sehen 
Formel  aus  der  Körperlänge  und  dem  Brustumfang  über  den  Brust- 
warzen berechnet.  Das  normale  weibliche  Durchschnittsgewicht 
schwankt  zwischen  52  und  60  kg.  Ein  werthvolles  Zeichen  zur 
Beurtheilung  der  Ernährung  ist  das  Aussehen  der  Haut,  ihre  Spannung, 
ihr  Grlanz  und  ihre  Farbe. 

Eine  gesunde  Haut   schmiegt  sich    glatt   und  ohne  Falten  der 


gß  Ernährungszustand.     Haut. 

Körperoberfläche  an ;  die  natürlichen  Falten  in  den  Beugestellen 
gleichen  sich  aus  bei  Streckung  der  Gliedmassen.  Namentlich  bei 
der  Frau  werden  durch  das  Fettpolster  alle  vorspringenden  Ecken 
und  Kanten  des  Knochengerüstes  ausgeglichen,  an  Stellen,  an  denen 
die  Haut  an  den  darunter  liegenden  Theilen  fester  haftet,  bilden 
sich  Grübchen,  so  am  Kinn,  in  den  Wangen,  auf  den  Schultern,  am 
Ellbogen,  im  Kreuz.  Nimmt  man  eine  Falte  der  Haut  mit  den 
Fingern  auf,  so  glättet  sie  sich  sofort  wieder.  Die  Schädigung  der 
Spannung  der  Haut  durch  starke  Abmagerung  ist  oben  schon  er- 
wähnt. Wenn  die  Spannung  mit  dem  Alter  schwindet,  bilden  sich 
Runzeln,  die  zuerst  an  den  Augen  auftreten  (Krähenfüsse). 

Die  Haut  hat  einen  matt  sammetartigen  Glanz  von  weicher 
Glätte.  Dichter  vergleichen  denselben  mit  Elfenbein,  Alabaster  und 
Marmor;  die  Künstler  aber  wissen,  wie  schwierig  es  ist,  dem  Marmor 
und  dem  Elfenbein  das  Aussehen  der  Haut  zu  geben. 

Die  Oberfläche  ist  nicht  gleichmässig  glatt,  sondern  von  zahl- 
reichen kleinsten  Spalten  durchsetzt,  so  dass  sie  gewissermassen  ein 
zusammengewachsenes  allerfeinstes  Netzwerk  bildet,  und  eine  klein- 
körnige Oberfläche  erhält.  Je  kleiner  das  Korn,  desto  zarter  ist  der 
matte  Glanz  der  Haut.  Bei  schlechter  Ernährung,  bei  Krankheiten 
wird  die  Haut  welk  und  trübe,  bei  zu  starker  Talgabsonderung  er- 
hält sie  einen  fettigen,  spiegelnden  Glanz. 

Die  Farbe  der  Haut  zu  beschreiben  ist  ebenso  schwierig  als 
sie  darzustellen.  Sie  wird  mit  Rosen  und  Lilien,  Milch  und  Blut, 
Wachs  und  Schnee,  selbst  mit  neugeborenen  Schafen  verglichen,  der 
Maler  benutzt  ausser  Weiss ,  Vermillon ,  Kobalt  und  gelbem  Ocker 
alle  Farben  seiner  Palette,  um  die  Nuancen  der  Menschenhaut  wieder- 
zugeben. Die  obersten  Schichten  der  Haut  sind  matt  durchsichtig, 
so  dass  alle  darunter  liegenden  Theile  je  nach  der  Dicke  der  Haut 
ihr  mehr  weniger  ihre  Farbe  mittheilen  und  so  die  verschiedenen 
Nuancen  der  Haut  begründen.  Die  dunkelrothen  Venen  erscheinen 
bläulich,  der  brünette  Ton  ist  eine  Folge  der  stärkeren  Pigments- 
anhäufung in  der  Lederhaut,  die  bräunlich  durchschimmert.  Je  zarter 
die  Haut  ist,   desto  lebhafter  wird  das  Colorit  sein. 

Die  nicht  bedeckten  Theile  der  Haut  erhalten  durch  die  Ein- 
wirkung der  Kälte  und  des  Lichtes  eine  stärkere  Färbung.    Deshalb 


Fettgewebe.     Muskeln.  .    87 

rötliet  sich  das  Gesicht,  wenn  man  viel  im  Freien  sich  bewegt,  und 
erscheint  bleich  bei  Menschen,  die  ihr  Leben  in  geschlossenen  Räumen 
zubringen . 

Dass  die  Wangen  stets  ein  höheres  Roth  zeigen  als  das  übrige 
Gesicht,  erklärt  sich  daraus,  dass  dort  die  arterielle  Blutversorgung 
am  reichlichsten  und  die  Haut  am  zartesten  ist.  Die  Röthe  der 
Wangen  bleibt  auch  bei  allgemeiner  Blässe  noch  lange  erhalten. 

Von  der  gesunden  Röthe  hat  man  die  sogenannte  hektische 
Röthe  zu  unterscheiden,  auf  die  wir  weiter  unten  noch  zurück- 
kommen. 

Bei  guter  Ernährung  ist  die  Haut  im  allgemeinen  weisslich  mit 
einem  rosigen  Schimmer;  gelbliche  oder  bläuliche  Verfärbung  deutet 
auf  Krankheiten,    aber  auch  auf  eiweissarme,    schlechte  Ernährung. 

Ebenso  wie  die  Haut,  ist  auch  das  unter  ihr  liegende  Fett- 
polster an  verschiedenen  Stellen  des  Körpers  von  wechselnder  Dicke. 
Wie  sich  dasselbe  vertheilt,  wird  noch  weiter  unten  besprochen;  je- 
doch ist  festzuhalten,  dass  bei  der  Frau  im  allgemeinen  die  Haut 
dünner  und  das  Fettpolster  dicker  ist  wie  beim  Manne.  Darum  findet 
man  bei  der  Frau  auch  nie  die  scharf  umschriebenen,  durch  Furchen 
begrenzten  Muskeln,  die  sich  bei  männlichen  Arbeitern  finden. 

Kräftige  Muskelarbeit  entstellt  bei  einem  Weibe  beinahe  nie- 
mals die  Schönheit  der  äusseren  Formen,  was  ich  mehrmals  bei 
Akrobatinnen  und  Reiterinnen  feststellen  konnte. 

Es  ist  oben  schon  hervorgehoben,  dass  durch  zu  starken  und 
ausschliesslichen  Gebrauch  einer  bestimmten  Muskelgruppe  der  har- 
monische Eindruck  des  Ganzen  leiden  kann.  Um  das  beurtheilen  zu 
können,  ist  eine  genauere  Kenntniss  der  Muskeln  des  menschlichen 
Körpers  nöthig. 

Man  kann  sich  dieselben  noch  anschaulicher  machen,  wenn 
man  das  zu  untersuchende  Individuum  Bewegungen  ausführen  lässt, 
wobei  sich  die  einzelnen  Muskeln  verdicken. 

Wir  kommen  auf  die  Muskeln  und  ihren  Einfluss  auf  die  Form 
der  einzelnen  Theile  des  Körpers  noch  zurück.  Bei  einiger  Uebung 
wird  man  bald  im  Stande  sein,  durch  einen  raschen  Blick  sich  über 
die  gleichmässige  Entwickelung  derselben  aus  der  Modellirung  des 
Körpers    zu    überzeugen.     Ueber    die    Schulter-    und    Brustmuskeln 


38  Lebensweise  und  Erblichkeit. 

orientirt  man  sich  am  besten,  wenn  man  die  Arme  bis  über  den 
Horizont  langsam  heben  und  senken  lässt.  über  die  Bauch-  und 
Rückenmuskeln  durch  Beugen  und  Strecken  des  Oberkörpers; 
über  die  Muskeln  der  Beine  durch  Gehbewegungen.  Wenn  die 
Rundung  der  Formen  hauptsächlich  durch  Fett  bedingt  ist,  werden 
bei  all  diesen  Bewegungen  die  Körperformen  verhältnissmässig  wenig 
beeinflusst;  bei  gut  ausgebildeter  Muskulatur  aber  treten  die  durch 
die  Muskeln  bedingten  Rundungen  deutlich  hervor. 

Wir  haben  oben  hervorgehoben ,  dass  ausser  der  Ernährung 
und  Entwickelung  auch  die  Lebensweise  und  die  Erblichkeit 
einen  grossen  Einfluss  auf  die  äussere  Körperform  ausüben,  einen 
Einfluss ,  bei  dem  sich  nicht  immer  genau  bestimmen  lässt,  in  wie 
weit  das  eine  oder  das  andere  der  genannten  Momente  ihn  hervor- 
gebracht hat.  Durch  die  beiden  letzteren,  die  Lebensweise  und  die 
Erblichkeit,  ist  namentlich  bedingt  die  Individualität,  d.  h.  die- 
jenigen Ab  weichung  en  von  dem  allgemeinen  Schema,  die 
der  einzelnen  Gestalt  ihr  charakteristisches  Gepräge 
verleihen. 

Man  kann,  wie  Langer1)  hervorhebt,  aus  der  grossen  Zahl  der 
Individualitäten  wiederum  grössere  Gruppen  mit  gemeinschaftlichen 
Merkmalen  zusammenstellen,  und  z.  B.  grosse,  mittelgrosse  und  kleine, 
schlanke  und  gedrungene  Gestalten  von  einander  scheiden.  Langer 
findet  dabei,  dass  auch  diese  Gruppen  gewissen  Gesetzen  unterworfen 
sind,  so  dass  sich  meist  gross  und  schlank,  klein  und  gedrungen  zu- 
sammenfindet. Dies  sind  jedoch  individuelle  Schwankungen,  die  sich 
alle  auf  das  Verhältniss  zwischen  den  Proportionen  der  Längen- 
und  Breitenmasse  des  Körpers  zurückführen  lassen.  Das  Individuum, 
gleichgültig  ob  es  gross  oder  klein ,  schlank  oder  gedrungen  ist, 
kann  nur  dann  für  normal  gelten,  wenn  seine  Proportionen  den  oben 
aufgestellten  Gesetzen  entsprechen. 

Ich  glaube,  dass  sich  allgemein  gültige  Gesetze  zur  Beurtheilung 
der  Individualität  vorläufig  nicht  aufstellen  lassen,  dass  aber  die  Be- 
achtung der  Individualität  im  gegebenen  Falle  ein  strenges  Gebot  ist. 

Ich  glaube,   dass  selbst  ein  Appelles  nicht  im  Stande  war.   durch 


J)  Anatomie  der  äusseren  Formen,  p.  79. 


TAFEL  II. 


JUNGES    MADCHEN 

Nach   einer    ALaraplue    von   Cornelia   Paczka . 


Individualität.     Höchste  Hliithezeit.  39 

Vereinigung  der  Vorzüge  der  12  schönsten  Mädchen  von  Kroton 
einen  lebensfähigen  Körper,  sei  es  auch  nur  im  Bilde,  zu  erschaffen, 
weil  dabei  die  harmonische  Ausbildung  des  einzelnen  Individuums 
nicht  mehr  zur  Geltung  kommen  konnte. 

Gerade  weil  uns  die  Gesetze,  nach  denen  sich  jeder  einzelne 
Körper  als  Mikrokosmus  ausbildet,  nur  zum  Theile  bekannt  sind, 
wird  auch  der  darstellende  Künstler,  wenn  er  sich  von  seinem  Modell 
entfernt,  Gefahr  laufen,  Fehler  gegen  die  Naturwahrheit  zu  begehen. 

Wir  können  uns  hier  mit  der  Aufstellung  folgender  Sätze  für 
die  Würdigung  der  Individualität  begnügen: 

Jede  Frau  hat  ihre  eigene  Individualität,  die  sie  von 
allen  anderen  Individuen  ihrer  Art  unterscheidet.  Diese 
Individualität  ist  begründet  auf  gewissen  Abweichungen 
von  den  allgemeinen  Regeln.  Diese  Abweichungen  geben 
dem  Körper  sein  persönliches  Gepräge,  und  sind  nicht  als 
Fehler  anzusehen,  so  lange  sie  sich  innerhalb  der  auf- 
gestellten Grenzen  der  Gesetze  über  Proportionen,  sym- 
metrische Entwickelung,  gleichmässige  Ausbildung  und 
secundären  Geschlechtscharakter  halten. 

Demnach  kann  z.  B.  eine  sehr  scharf  ausgeprägte  vererbte 
Individualität  bei  einer  Frau  die  Schönheit  beeinträchtigen,  weil  sie 
einen  der  wichtigsten  secundären  Geschlechtscharaktere,  die  Weich- 
heit der  Formen,  verwischt.  So  kann  eine  vom  Vater  ererbte  lange 
Nase  die  Harmonie  der  Formen  im  Gesichte  der  Tochter  zerstören, 
während  sie  beim  Sohne  die  Kraft  der  Züge  erhöht. 

Haben  wir  uns  in  dieser  Weise  über  die  richtigen  Proportionen, 
über  Ernährung  und  symmetrische  Entwickelung,  über  die  gute  Aus- 
bildung der  secundären  Geschlechtscharaktere,  über  die  Individualität 
des  zu  untersuchenden  Weibes  unterrichtet,  so  bleibt  nur  noch  übrig, 
den  Zeitpunkt  der  höchsten  Blüthe  zu  bestimmen,  bevor  wir  zur 
genaueren  Betrachtung  der  einzelnen  Körpertheile  übergehen. 

Ob  eine  Frau  ihre  höchste  Blüthezeit  erreicht  oder  über- 
schritten hat,  lässt  sich  bei  einmaliger  Untersuchung  oft  schwer  aus- 
machen. 

Im  allgemeinen  nimmt  man  an,  dass  der  weibliche  Körper  mit 
dem  23.  Lebensjahre  völlig   ausgebildet   ist,    doch   ist    bereits   oben 


90  Höchste  Blüthezeit. 

darauf  hingewiesen  worden,  dass  das  Lebensalter  in  dieser  Beziehung 
sehr  grossen  individuellen  Schwankungen  unterworfen  ist. 

Grössere  Sicherheit  bietet  noch  das  Auftreten  der  ersten  Men- 
struation. Je  später  diese  sich  einstellt,  desto  wahrscheinlicher  tritt 
auch  die  höchste  Blüthezeit  .später  ein. 

Eiuen  weiteren  Anhaltspunkt,  um  die  grössere  oder  geringere 
Ausbildung  des  Körpers  zu  beurtheilen,  haben  wir  an  den  Propor- 
tionen. Beim  neugeborenen  Mädchen  ist  im  Verhältniss  der  Kopf 
am  grössten,  die  Extremitäten  am  kleinsten.  Um  die  volle  Aus- 
bildung zu  erreichen,  muss  sich  der  ganze  Körper  um  reichlich  das 
Dreifache  vergrössern;  dabei  wächst  der  Kopf  bis  zum  Doppelten, 
der  Rumpf  bis  zum  Dreifachen,  die  Beine  bis  zum  Vierfachen  ihrer 
ursprünglichen  Länge.  Der  Kopf  hat  meist  schon  gegen  das 
13.  Lebensjahr  seine  bleibende  Länge  erreicht,  der  Rumpf  ebenfalls, 
die  Beine  jedoch  erreichen  dieselbe  viel  später.  Da  nun  aber  die 
Körpermitte  um  so  tiefer  reicht,  je  länger  die  Beine  werden,  so 
muss  der  tiefste  Stand  derselben  mit  dem  vollendeten  Wachsthum 
zusammenfallen.  Demnach  ist  die  Wahrscheinlichkeit,  dass  wir  es 
mit  einem  ausgebildeten  Körper  zu  thun  haben,  um  so  grösser,  je 
tiefer  die  Körpermitte  steht.  Jedoch  behält  sie  diesen  tiefsten  Stand 
auch  noch  zu  einer  Zeit,  in  der  die  höchste  Blüthe  verstrichen  ist, 
und  darum  können  die  Proportionen  uns  höchstens  dazu  dienen,  den 
nicht  völlig  gereiften  vom  reifen  Körper  zu  scheiden,  nicht  aber  vom 
überreifen.  —  Den  sichersten  Anhaltspunkt  zur  Entscheidung  dieser 
Frage  bietet  die  jeweilige  Beschaffenheit  der  Brüste.  Wir  kommen 
darauf  weiter  unten  zurück;  hier  sei  nur  erwähnt,  dass  die  höchste 
Blüthezeit  der  Brüste,  und  damit  des  Körpers,  dann  erreicht  ist,  wenn 
die  pralle  Form  derselben  durch  die  harte  Drüse,  nicht  aber  durch 
Fettablagerung,  ihre  höchste  Ausbildung  erlangt  hat. 

Aus  dem  Vorstehenden  ist  ersichtlich,  dass  wir  zur  Erhebung 
des  Befundes  nicht  umhin  können,  einige  Fragen  an  die  untersuchte 
Person  zu  stellen.  Das  Alter,  das  Eintreten  der  ersten  Menstruation. 
Beschäftigung,  Lebensweise  und  Familienverhältnisse  können  für  uns 
wichtige  Handhaben  sein,  um  Individualität,  höchste  Blüthe  u.  a.  m. 
richtig  beurtheilen  zu  können.  Wir  sind  also  in  gewissem  Sinne 
gezwungen,  eine   „Anamnese"    aufzunehmen,  und  unser  Urtheil  zum 


Beurtheilung  der  einzelnen  Körpertheile.  91 

Theil  auf  Aussagen  zu  stützen,  die  wir  von  dem  Subject  der  Unter- 
suchung selbst  erhalten  haben. 

Dabei  ist  jedoch  darauf  zu  achten,  dass  diese  Anamnese,  ebenso 
wie  in  der  ärztlichen  Welt  nur  einen  subjectiven  Werth  hat,  d.  h. 
dass  wir  sie  nur  dann  als  glaubwürdig  ansehen  dürfen,  wenn  sie 
mit  dem  von  uns  erhobenen  objectiven  Befund  übereinstimmt. 

Dies  ist  eine  wissenschaftliche  Forderung  und  keineswegs  ein 
Misstrauensvotum  für  die  Frauen  im  allgemeinen  oder  für  das  unter- 
suchte Individuum  im  besonderen. 


X. 
Beurtheilung  der  einzelnen  Körpertheile. 

Wie  wir  beim  Krankenexamen  nach  der  allgemeinen  Betrach- 
tung des  Körpers  seine  Organe  einer  näheren  Untersuchung  unter- 
werfen, so  müssen  wir  auch  hier  uns  nun  ausführlicher  mit  den 
einzelnen  Körpertheilen  beschäftigen.  Die  Untersuchung  ist  insofern 
schwieriger,  als  wir  im  ersten  Falle  bestrebt  sind,  bestehende  Fehler 
aufzusuchen,  im  letzteren,  mögliche  Fehler  auszuschalten.  Je  gün- 
stiger unser  Ergebnis«  ist,  desto  eher  können  wir  mit  jenem  alten 
General  ausrufen:  Ich  sehe  wieder  viele,  die  nicht  da  sind. 

Wenn  wir  bei  der  Betrachtung  des  Körpers  im  allgemeinen 
darauf  gewiesen  haben,  dass  es  wichtig  ist,  das  Licht  voll  und 
gleichmässig  von  vorn  auf  den  Körper  fallen  zu  lassen,  so  müssen 
wir  hier  hervorheben,  dass  es  zur  richtigen  Beurtheilung  seiner  Theile 
oft  wünschenswerth  ist,  dieselben  in  seitlicher  und  halber  Beleuch- 
tung zu  betrachten,  weil  dadurch  die  Einzelheiten  der  Bildung 
schärfer  hervortreten  (vgl.  Fig.  17). 

Ausserdem  aber  sind  wir  oft  genöthigt,  die  einzelnen  Körper- 
theile in  verschiedene  Stellungen  zu  bringen.  Beim  Kopf  genügt 
die  Betrachtung  in  Profil  und  im  Enface.  beim  Rumpf  und  noch 
mehr   bei  den  Glieclmassen  werden    wir    sehen,    dass    wir    damit  oft 


Kopf. 


nicht  einmal  auskommen,  ja  dass  wir  sogar  die  verschiedenen  Phasen 
der  Bewegungen  zu  Hülfe  nehmen  müssen. 

a)   Kopf. 

Die  Form  des  Kopfes,  als  Ganzes  betrachtet,  ist  im  wesent- 
lichen abhängig  von  der  Bildung  des  Schädels.  Da  nun  aber  von 
100  Kindern  97  in  Schädellage  geboren  werden,  wobei  der  bei  der 
Geburt  nach  hinten  liegende  Theil  der  Schädelwölbung  eine  wenn 
auch  noch  so  geringe  Abflachung  erleidet,    die    selten  völlig  wieder 


a  b 

Fig.  33.    Weiblicher  («)  und  männlicher  (fi)  Schädel.    Modificirt  nach  Ecker. 

ausgeglichen  wird,  so  sind  in  weitaus  den  meisten  Fällen  die  Schädel 
asymmetrisch.  Meist  ist  jedoch  diese  Abweichung  so  gering,  dass 
wir  damit  nicht  zu  rechnen  brauchen. 

Die  secundären  Geschlechtscharaktere  sind  am  Schädel  deut- 
lich ausgeprägt  (Fig.  33).  Zunächst  ist  die  Grösse  sowie  der  Inhalt 
des  Gehirnschädels  bei  der  Frau  geringer,  und  ebenso  die  Grösse 
des  Gesichtsschädels,  verglichen  mit  dem  Gehirnschädel. 

Die  Wölbung  des  Schädeldaches  ist  beim  Mann  stärker  und 
gleichmässiger ;  bei  der  Frau  ist  der  Scheitel  flacher  und  setzt  sich 
im  Profil  von  der  Stirn  und  vom  Hinterhaupt  in  schärferem  Winkel 
ab  als  beim  Manne.  Dadurch  wird  die  Stirngegend  bei  der 
Frau  kürzer  und  verläuft  mehr  senkrecht  als  beim  Manne. 

Von    vorn    gesehen    ist    die    Stirn    der   Frau    gleichmässig 


Kopf.     Haare.  93 

rund  gewölbt,  während  beim  Manne  die  Stimhöcker  kräftig  aus- 
gebildet sind  und  der  Stirn  eine  mehr  eckige  Form  geben.  Der 
Gesichtsschädel  der  Frau  erscheint  breiter  und  weniger  hoch,  und 
im   Verhältniss  zum  Hirnschädel  kleiner  als  beim  Manne. 

Im  allgemeinen  ist  damit  der  Geschlechtsunterschied  am  Schädel 
der  folgende: 

Männerschädel :  eckig,  hoch,  mit  Ueberwiegen  des  Gesichtstheils, 

Weiberschädel:  rund,  breit,  mit  Ueberwiegen  des  Gehirntheils. 

Bei  der  Betrachtung  der  lebenden  Frau  ist  es  im  Profil  nament- 
lich die  Knickung  zwischen  Stirn  und  Scheitel  und  en  face 
die  relative  Kleinheit  und  Rundung  des  Gesichts,  welche  der 
Beobachtung  zugänglich  sind,  und,  gut  ausgeprägt,  den  Vorzug  rein 
weiblicher  Bildung  in  sich  schli essen. 

Das  starke  Hervortreten  der  Stirnhöcker,  das  sich  in  der  Regel 
erst  beim  erwachsenen  Manne  deutlich  ausgeprägt,  kann  bei  beiden 
Geschlechtern  schon  in  jugendlichem  Alter  auftreten  und  zwar  als 
Folge  von  englischer  Krankheit  (Tete  carree).  Abgesehen  vom 
jugendlichen  Alter  erkennt  man  den  krankhaften  Ursprung  solcher 
Schädelbildung  meist  an  dem  gleichzeitigen  Vorhandensein  rhachi- 
tischer  Zeichen  an  anderen  Körpertheilen. 

Die  übrige  Form  des  Schädels  wird  durch  die  Haare  verdeckt, 
welche  beim  Manne,  auch  wenn  man  sie  nicht  abschneidet,  nie  so 
lang  werden  als  bei  der  Frau. 

Die  Haare  der  Frau  erreichen  eine  durchschnittliche  Länge 
von  75  cm  (Ranke)  und  sind  ausserdem  dicker  als  beim  Manne 
(Virchow).  Sie  können  aber  auch  eine  Länge  von  150  cm  und  mehr 
erreichen1).  Demnach  bildet  langes  und  reichliches  Kopfhaar 
einen  secundären  Geschlechtscharakter  der  Frau  und  damit  einen 
Vorzug  weiblicher  Bildung,  der  um  so  grösser  wird,  je  länger  und 
je  reichlicher  das  Haupthaar  im  gegebenen  Falle  ist. 

Der  wichtigste  Theil  nicht  nur  des  Kopfes,  sondern  des  Körpers 
überhaupt  ist  das  Angesicht.  Im  Gesicht  ist  die  Individualität 
am  stärksten  ausgedrückt.  Das  Gesicht  ist  stets  unbedeckt  und 
häufiger  und  gründlicher  Beobachtung  ausgesetzt;    jedermann   kennt 

!)  Bei  vier  Frauen  mit  besonders  schönem  Haar  habe  ich  120,  126,  130 
und  153  cm  gemessen. 


94 


Gesicht. 


die  feinen  Nuancen    seines  Ausdrucks,    wenn  er  auch   nicht  die  Er- 
klärung dafür  zu  geben  vermag. 

Man  ist  so  sehr  gewöhnt,  allein  nach  dem  Gesicht  zu  urtheilen, 
dass  eine  schöne  Bildung  desselben  alle  Fehler  des  Körpers  ver- 
gessen lässt,  ein  hässliches  Gesicht  aber  trotz  aller  Vorzüge  des 
übrigen  Körpers  ein  Verdammungsurtheil  in  sich  schliesst. 

Wenn  wir  uns  darüber  Rechenschaft  geben  wollen,  welche 
Anforderungen  man  anatomisch  an  die  schöne  Gesichtsbildung  stellen 

darf,  so  müssen  wir  zuerst  auf  die  em- 
bryonale Entwickelung  derselben  zurück- 
greifen. 

Wir  haben  bereits  oben  beispiels- 
weise (Fig.  19)  die  Entwickelung  des 
Gesichts  herangezogen  und  erwähnt, 
welchen  Einfiuss  die  Ausbildung  des 
mittleren  Nasenfortsatzes  auf  die  Form 
der  Oberlippe  ausübt. 

Vergegenwärtigen  wir  uns  noch- 
mals die  Kopfform  eines  menschlichen 
Embryo  aus  der  sechsten  Woche,  so 
sehen  wir,  dass  das  Gesicht  in  der 
Hauptsache  aus  sieben  Fortsätzen  ge- 
bildet wird,  einem  unpaarigen,  dem  mitt- 
leren Nasenfortsatze  und  drei  paarigen, 
den  seitlichen  Nasenfortsätzen,  den  Ober- 
kieferfortsätzen und  den  in  der  sechsten 
Woche  bereits  verwachsenen  Unterkieferfortsätzen  (Fig.  34). 

Von  der  gleichmässigen  Entwickelung  dieser  Fortsätze  hängt 
im  wesentlichen  die  regelmässige  Form  des  Gesichtes  ab,  und  zwar 
sind  es  die  Oberkieferfortsätze,  die  dabei  die  Hauptrolle  spielen. 

Jeder  der  erwähnten  Fortsätze  enthält  in  der  Anlage  die  Haut, 
die  Muskeln,  die  Blutgefässe,  die  Nerven  und  die  Knochen  des  zu- 
künftigen Gesichtes;  die  letzteren  sind  es  namentlich,  an  denen  wir 
einen  Massstab  zur  Beurtheilung  gewinnen  können. 

Vergleichen  wir  mit  der  Embryonalanlage  den  Schädel  eines 
neugeborenen   Kindes    (Fig.  35),    so    sehen    wir.    dass    die    den    drei 


Fig.  34.     Kopf  eines  Embryo  aus 

der  sechsten  Woche. 

(nl  und  nm  seitliche  und  mittlerer 

Nasenfortsatz    des  Stirnlappens, 

m  s  Oberkieferfortsätze,  >»  i  Unter- 

kieferfortsätze  ) 


Gesicht.  95 

Nasenfortsätzen  angehörigen  Knochen,  die  Nasenbeine  und  der  Mittel  - 
kiefer,  an  Wachsthum  durch  die  Knochen  des  Oberkiefers  und  Joch- 
bogens  weit  überholt  sind. 

Die  Oberkieferknochen  bilden  den  Mittelpunkt,  um  den  sich 
die  übrigen  Knochen  des  Gesichts  anordnen,  wie  man  sich  leicht  an 
beistehender  Figur  (35)  überzeugen  kann.  Zunächst  bilden  sie  in 
Vereinigung  mit  dem  schmalen  Mittelkiefer  die  obere  Begrenzung 
des  Mundes  und  die  untere  der  Nase;  durch  die  nach  oben  sich 
weiterschiebenden  Fortsätze  begrenzen  sie  einen  Theil  der  Augen- 
höhle und  scheiden  diese  von  der  Nase.  Augen,  Mund  und  Nase, 
die  wichtigsten  Theile  des  Gesichtes,  sind  dadurch  in  Abhängigkeit 
gebracht  von  der  Entwickelung  des  Oberkiefers. 

Gehen  wir  nun  einen  Schritt  weiter  und  vergleichen  den 
Schädel  des  Neugeborenen  mit  dem  der  erwachsenen  Frau,  so  tritt 
der  Einfluss  des  Wachsthums  des  Oberkiefers  sofort  deutlich  vor 
Augen  (Fig.  36,  37). 

Sind  die  oberen  Ausläufer  des  Oberkiefers  zu  stark  entwickelt, 
so  wird  die  Wurzel  der  Nase  breit  und  die  Augen  treten  mehr  aus 
einander  (Fig.  37),  sind  die  mittleren  Theile  zu  mächtig,  so  schieben 
sie  die  Jochbogen  nach  aussen  und  die  Backenknochen  treten  stärker 
hervor,  während  zugleich  die  Nase  einen  stärkeren  Winkel  nach 
vorn  macht. 

Von  der  Entwickelung  des  unteren  Theiles  hängt  zunächst,  wie 
erwähnt,  die  Bildung  der  Oberlippe  ab.  Tritt  der  Oberkiefer  in 
schräger  Richtung  nach  vorn  voraus  (Prognathie),  ist  er  dabei  kräftig 
entwickelt,  dann  beherrscht  er  die  übrigen  Theile  des  Gesichts  und 
bildet  den  Typus,  der  bei  den  Negern  ein  Rassenmerkmal  ist.  Mit 
dieser  Verstärkung  der  oberen  Mundparthie  geht  aber  Hand  in  Hand 
eine  Verkürzung  und  Verbreiterung  der  Nasengegend,  so  dass  diese 
in  die  Höhe  gebogen  und  breiter  wird  und  zugleich  in  der  Ansicht  von 
vorn  die  Oeffnung  der  Nasenlöcher  sichtbar  macht.  Meist  verbindet 
sich    damit   eine    stärkere  Entwickelung   des  Unterkiefers   (Fig.  37). 

Wenn  jedoch  die  unteren  Parthien  des  Oberkiefers  schmal 
bleiben  und  zugleich  mehr  senkrecht  sich  stellen  (Orthognathie), 
dann  tritt  die  Mundparthie  mehr  zurück ,  zugleich  aber  wird  die 
Nase  schmäler  und  länger  in  ihrem  unteren  Theil  (Fig.  36). 


96 


Gesicht. 


Aus  allen  diesen  Momenten  ergeben  sich  zahlreiche  Verschieden- 
heiten der  Gesichtsbildung. 

Dass    die    anderen    Gesichtsknocken    auch    mehr   oder   weniger 


Fig.  35.    Schädel  eines  Neugeborenen. 
Die  rothe  Linie  umgiebt  den  Gesichtstheil  der  Oberkieferknochen. 


Fig.  3ti.   Schädel  einer  Frau  mit  schmalem 
und  langem  Oberkiefer. 


Fig.  37.     Schädel  einer  Frau  mit  kurzem 
und  breitem  Oberkiefer. 


dazu  beitragen  können,  liegt  auf  der  Hand.     Wer  sich  dafür  inter 
essirt,  findet  Ausführlicheres  darüber  bei  Langer  1). 


*)  Anatomie  der  äusseren  Formen,  p.  110  ff. 


Gesicht.  97 

Wir  haben  uns  hier  auf  den  Oberkiefer  als  den  weitaus  wich- 
tigsten der  Gesichtsknochen  beschränkt. 

Nun  ist  aber  die  Frage,  welche  Bildung  desselben  die  beste  ist. 

Es  ist  hier  der  Platz,  um  Stellung  zu  nehmen  in  einer  Frage, 
die  schon  lange  die  Gemüther  beschäftigt  und  in  der  verschiedensten 
Weise  beantwortet  ist.  Man  sagt,  dass  der  Europäer  stets  die 
europäische  Frau  am  schönsten  finden  wird,  der  Chinese  dagegen 
die  Chinesin,  der  Neger  die  Negerin,  wie  der  Hund  die  Hündin  oder 
der  Hahn  die  Henne.  Daraus  will  man  ableiten,  dass  der  Schön- 
heitsbegriff  individuell  und  undefinirbar  ist. 

Ich  möchte  daraus  vielmehr  ableiten,  dass  der  Schönheits- 
begriff  mehr  oder  minder  entwickelt  ist,  und  dass  ein  Hahn  geringere 
Ansprüche  stellt  als  ein  Hund,  dieser  geringere  als  ein  Neger  und 
so  weiter.  Massgebend  ist  allein  die  Auffassung  des  höchstent- 
wickelten Individuums,  und  es  erscheint  mir  nicht  zweifelhaft,  dass 
der  Indogermane  und  seine  Abstämmlinge  auf  den  ersten  Platz  mit 
Recht  Anspruch  erheben  dürfen. 

Der  schlagendste  Beweis  ist,  dass  wir  sehen,  wie  diese  Rasse 
nicht  nur  in  Europa  selbst,  sondern  auch  in  allen  anderen  Welt- 
theilen  die  übrigen  allmählig  zurückdrängt  und  ausrottet.  In  Amerika 
sind  jetzt  schon  die  Rothhäute  zu  zählen,  in  einigen  hundert  Jahren 
wird  man  mit  Schaudern  in  alten  Märchen  lesen,  dass  es  Menschen 
mit  schwarzer  Haut  gegeben  hat. 

Wenn  wir  so  auf  Grund  seiner  Erfolge  im  Kampf  ums  Dasein 
dem  Indogermanen  den  ersten  Platz  in  der  naturwissenschaftlichen 
Rangordnung  einräumen,  so  können  wir  weiter  sagen,  dass  unter  den 
indogermanischen  Frauen  diejenigen  am  höchsten  stehen,  die  sich, 
am  weitesten  von  den  Merkmalen  anderer  Rassen  resp.  von  den 
mehr  thierischen  Formen  entfernt  haben. 

Da  nun  aber  ein  breiter,  kurzer  und  vorstehender  Oberkiefer 
das  Merkmal  des  Negertypus  resp.  des  Affentypus  ist,  so  wird  die 
Gesichtsbildung  um  so  vollkommener  sein,  je  schmäler,  länger  und 
senkrechter  der  Oberkiefer  sich  entwickelt  hat,  und  je  schmäler 
seine  oberen  Ausläufer  sind. 

Die  Folgen  derartiger  Bildung  sind:  eine  schmale  und  ge- 
streckte   Nase,    eine    gleichmässige,    mehr    senkrechte    Ab- 

Stratz,  Die  Schönheit  des  weiblichen  Körpers.  7 


98  Gesicht. 

flachung  der  seitlichen  Nasenparthie  nach  der  Oberlippe 
zu,  senkrechter  Stand  der  Zähne  des  Oberkiefers,  wenig 
vortretende  Backenknochen. 

Ausser  diesen  Rassenvorzügen  kommen  jedoch  noch  die  secun- 
d'ären  Geschlechtscharaktere  am  Gesichtsskelet  in  Betracht. 

Zunächst  haben  wir  die  erwähnte  relative  Kleinheit  des 
Gesichts  im  Verhältniss  zum  Schädel. 

Dazu  kommt,  dass  die  Augenhöhlen  des  weiblichen  Skelets 
geräumiger  sind  als  beim  Manne. 

Die  gieichmässige  Abrundung  des  weiblichen  Gesichts  lässt 
sich  schon  im  Skelet  erkennen.  Hierzu  tragen  zwei  weitere  wesent- 
liche secundäre  Geschlechtscharaktere  bei. 

Schaaf  hausen  x)  fand,  dass  bei  Frauen  aller  Rassen  die  mittleren 
Schneidezähne  absolut  grösser  sind  als  bei  Männern;  da  nun  die 
mittleren  Schneidezähne  dem  Mittelkiefer  entsprechen  (auf  Fig.  36 
u.  37  mit  punktirter  Linie  angedeutet),  so  können  wir  die  Breite 
des  Mittelkiefers  und  [damit  der  mittleren  Schneidezähne  als  einen 
Vorzug  des  weiblichen  Körpers  auffassen.  Es  resultirt  daraus  eine 
stärkere  Breite  des  Gesichts  bei  Frauen  unterhalb  der 
Backenknochen  in  den  mittleren  Parthien. 

Endlich  hat  Morselli 2)  durch  vergleichende  Messungen  und 
Wägungen  gefunden,  dass  der  Unterkiefer  der  Frau  kleiner 
und  leichter  ist  als  der  des  Mannes.  Wir  können  demnach  als 
einen  weiteren  Vorzug  weiblicher  Bildung  verzeichnen:  schmaler 
Unterkiefer  mit  'schräg  nach  auswärts  verlaufenden  Ge- 
lenkfortsätzen. 

Daraus  resultirt  wieder  eine  starke  Verjüngung  des  Gesichts 
von  der  Mitte  nach  dem  Kinne  zu. 

Fassen  wir  das  Resultat  der  erwähnten  Geschlechtsunterschiede 
zusammen,  so  kommen  wir  zu  dem  Schlüsse,  dass  die  gut  entwickelte 
knöcherne  Unterlage  des  weiblichen  Gesichts  in  der  Höhe  des  unteren 
Augenhöhlenrandes  am  breitesten  ist,  und  sich  von  da  nach  unten 
stark  und  gleichmässig  nach  dem  Kinne  zu  verjüngt. 


J)  Citirt  bei  Ploss-Bartels,  Das  Weib,  1897,  p.  25. 

2)  Sul  peso  del  cranio  e  della  mandibola  in  rapporto  col  sesso.  Firenze  1876. 


Gesicht.  99 

Die  Gesammtverhältnisse  des  gleichmässig  ausgebildeten  Schädels 
müssen  nach  übereinstimmenden  Messungen  an  zahlreichen  gut  ge- 
bauten Individuen  derart  sein,  dass  die  Längsachse  in  drei  gleiche 
Theile  zerfällt,  nämlich  vom  Stirnwinkel  bis  zum  oberen  Augen- 
rand, von  da  bis  zum  unteren  Nasenrand,  von  da  bis  zum 
Kinn;  die  grösste  Breite  über  den  Schläfen  muss  zur  Länge  des 
Schädels  im  Verhältniss  von  2  zu  3  stehen. 

Ausserdem  muss  natürlich  auch  die  linke  Hälfte  mit  der  rechten 
völlig  symmetrisch  gestaltet  sein. 

Aus  alledem  ergiebt  sich,  dass  durch  die  knöcherne  Unterlage 
die  Hauptformen  des  Gesichts  bestimmt  sind,  jedoch  in  einer  Weise, 
die  einen  grossen  Spielraum  für  individuelle  Ausbildung  innerhalb 
normaler  Grenzen  gestattet. 

Von  beiden  Geschlechtern  kann  man  verlangen,  dass  die  Zähne 
gleichmässig  gestellt,  weiss  und  glatt  sind,  bei  der  Frau  kommt 
dazu  die  grössere  Breite  der  vorderen  oberen  Schneidezähne.  — 

Noch  feinere  Nuancen  der  Individualität  geben  die  Muskeln. 
Die  scheinbare  Regellosigkeit  derselben  entwirrt  sich  (Merkel),  wenn 
man  bedenkt,  dass  sie  alle  um  die  Oeffnungen  des  Gesichts,  die 
Augen,  die  Ohren,  die  Nase  und  den  Mund  gruppirt,  entweder 
Schliess-  oder  Oeffnungsmuskeln  sind.  Die  Schliessmuskeln  legen 
sich  kreisförmig  um  die  Oeffnung,  die  Oeffnungsmuskeln  stehen  radial 
zum  Rande  angeordnet.  Jedoch  verflechten  sich  die  einzelnen 
Muskeln  wieder  unter  einander,  und  ausserdem  unterscheiden  sie  sich 
von  den  übrigen  Muskeln  des  Körpers  dadurch,  dass  nicht  nur  der 
Muskel  im  ganzen,  sondern  auch  jedes  einzelne  Muskelbündel  einer 
selbstständigen  Bewegung  fähig  ist. 

So  entstehen  z.  B.  die  Grübchen  in  den  Wangen  durch  die 
isolirte  Wirkung  eines  daselbst  in  der  Haut  endigenden  Muskel- 
bündels, der  beim  Lächeln  sich  zusammenzieht. 

Eine  vortreffliche  Beschreibung  der  Gesichtsmuskeln  findet  sich 
bei  Merkel1)  und  bei  Langer2).  Die  Muskeln  sind  die  hauptsäch- 
lichsten Träger    der  Individualität,    und   haben    als    solche   hier   nur 


J)  Merkel,  Topographische  Anatomie,  I,  p.  100. 
2)  Anatomie  der  äusseren  Formen,  p.  129. 


100  Gesicht. 

untergeordnetes  Interesse,  es  sei  denn,  dass  man  die  feine  Ausbil- 
dung des  Mienenspiels  mit  als  einen  der  Vorzüge  weiblicher  Voll- 
kommenheit erwähnen  will.  Den  Ausdruck  des  Gesichts,  des  Spiegels 
der  Seele,  hier  ausführlich  zu  analysiren,  würde  die  Grenzen  des 
Buches  zu  sehr  überschreiten. 

Eine  Eigentümlichkeit  der  Gesichtsmuskeln  jedoch,  die  Langer 
besonders  hervorgehoben  hat,   verdient  unsere  besondere  Beachtung. 

An  einzelnen  Stellen  des  Gesichts  flechten  sich  nämlich  die 
Enden  einiger  Muskeln  in  die  Haut  ein,  und  zwar  in  der  Stirn- 
gegend, an  den  Nasenflügeln,  in  den  Lippen  und  am  Kinn.  Die 
Grenzen  dieser  Einpflanzungen  sind  die  Augenbrauen  und  die  quere 
Furche  zwischen  Kinn  und  Unterlippe,  ferner  jederseits  zwei  Furchen, 
von  denen  die  eine  vom  Nasenflügel  nach  dem  äusseren  Mundrand, 
die  andere  vom  äusseren  Mundrand  nach  dem  Kinn  herabzieht;  diese 
letztere  vereinigt  sich  häufig  unterhalb  des  Kinnes  mit  der  gegen- 
überliegenden. 

Diese  Muskelbildung  übt  Emfluss  auf  die  Vertheilung  des  Fett- 
polsters im  Gesicht.  Innerhalb  der  Grenzen  der  festen  Muskelanhef- 
tung  kann  sich  dasselbe  nicht  entwickeln;  wir  sehen  daher  auch  bei 
starker  Fettleibigkeit  stets  Stirn.  Nase,  Mund  und  Kinn  davon  ver- 
schont, während  durch  starke  Fettanhäufung  in  den  Wangen  die 
erwähnten  Furchen  schärfer  und  schärfer  hervortreten.  Am  Kinn 
bildet  sich  ein  oder  mehrere  Fettwülste  unterhall)  der  vereinigten 
Lippenkinnlinie,  das  bekannte  Doppelkinn. 

Da  nun  eine  gewisse  Rundung  der  Formen  dem  Weibe  eigen- 
thümlich,  eine  zu  grosse  Fülle  aber  unschön  ist.  können  wir  als 
Bedingung  guter  Enhvickelung  für  die  Frau  aufstellen,  dass  die  ge- 
nannten Grenzlinien  angedeutet  sein  müssen,  ohne  zu  scharf  hervor- 
zutreten (Fig.  38).  Das  Grübchen  im  Kinn,  eine  Zierde  des  weib- 
lichen Geschlechts,  ist,  ebenso  wie  die  Grübchen  in  den  Wangen, 
durch    den  Zug    der   in    die  Haut   verflochtenen  Muskeln   veranlasst. 

Die  Auspolsterung  der  Wangen  mit  Fett  vollendet  die  Abrun- 
dung  des  Gesichts  zum  gleichmässigen  Oval,  zum  „länglichen  Ei- 
rund", jedoch  nur  so  lange,  als  die  Spannung  der  Haut  erhalten 
ist.  Wenn  diese  erschlafft,  hängen  die  Backen  herab  und  werden 
schlaff. 


Augen.  101 

Es  ist  deshalb  ein  gutes,  wenn  auch  nicht  stets  erlaubtes 
Mittel  älterer  Herren,  sich  von  dem  Gesundheitszustand  weiblicher 
Pflegebefohlenen  dadurch  zu  überzeugen,  dass  sie  sie  in  die  Backen 
kneifen. 

Ueber  die  Haut  des  Gesichtes  haben  wir  bereits  gesprochen. 
Sie  ist  über  den  Wangen  am  zartesten  und  dort  bei  gesunden 
Menschen  stets  leicht  geröthet,  weil  das  Blut  stärker  durchschimmert. 
Eine  scharf  umschriebene,  kreisrunde  helle  Röthe  über  den  Backen- 
knochen ist  ein  Zeichen  der  Schwindsucht,  und  darum  nicht  normal. 

Die  Augäpfel  haben  mit  dem  8.  Lebensjahre  ihre  bleibende 
Grösse  erreicht  und  sind  bei  allen  Menschen  gleich  .gross.  Der 
scheinbare  Unterschied  hängt  allein  ab  von  der  grösseren  oder 
kleineren  Lidspalte,  und  von  der  tieferen  oder  oberflächlichen  Ein- 
bettung. 

Abgesehen  davon,  dass  dunkle  Augen  etwas  grösser  erscheinen 
als  helle,  hängt  der  Eindruck  der  Grösse  völlig  ab  von  der  Um- 
gebung  des  Auges. 

Die  Augenbrauen  liegen  auf  der  Grenze  zwischen  Augenhöhle 
und  unterem  Stirnrand.  Da  grosse  Augenhöhlen  ein  secundäres 
weibliches  Geschlechtsmerkmal  sind,  so  sind  die  Augenbrauen  um 
so  schöner,  je  höher  sie  gewölbt  sind.  Da  ferner  buschige  Augen- 
brauen den  Mann  und  ein  höheres  Lebensalter  kennzeichnen,  können 
schmale,  glatt  verlaufende  Augenbrauen  als  weiblicher  Vorzug  an- 
gesehen werden. 

Es  gilt  als  schön,  wenn  die  Augenbrauen  zur  Seite  lang  und 
spitz  auslaufen,  als  hässlich,  wenn  sie  in  der  Mitte  verwachsen  sind; 
eine  befriedigende  Begründung  dieser  Auffassung  lässt  sich  nicht 
finden.  Dass  aber  das  gänzliche  Fehlen  der  Augenbrauen  als  Ent- 
stellung angesehen  wird,  beweist  unter  anderem  der  in  Japan 
übliche  Brauch  l ) ,  dass  verheirathete  Frauen  zur  Beruhigung  ihrer 
eifersüchtigen  Ehemänner  nicht  nur  die  Zähne  schwarz  färben, 
sondern  auch  die  Augenbrauen  abscheeren  müssen. 

Die  Augenwinkel    müssen    bei    geschlossenen  Lidern    in   einer 


J)  Ich  konnte  mich  vor  einigen  Jahren  in  Japan  selbst  davon  überzeugen, 
dass  diese  Sitte  mehr  und  mehr  abnimmt. 


102  Augen.     Nase. 

horizontalen  Linie  liegen ,  bei  geöffneten  Lidern  steht  der  innere, 
mit  der  Thränengrube  rund  auslaufende  etwas  tiefer  als  der  äussere, 
scharfe  Augenwinkel.  Stärkeres  Höhertreten  des  äusseren  Augen- 
winkels ist  eine  Eigentümlichkeit  der  mongolischen  Rasse  und 
darum  beim  Indogermanen  als  ein  Fehler  zu  bezeichnen,  und  zwar 
ohne  Unterschied  des  Geschlechts. 

Die  Stellung  der  Wimpern  auf  den  Lidknorj)eln  muss  gerade 
und  regelmässig  sein,  denn  spärliche  und  unregelmässige  Einpflanzung 
deutet  auf  Krankheiten,  hauptsächlich  auf  scrojthulöse  Augenent- 
zündung.    Auch  dies  ist  beiden  Geschlechtern  gemeinsam. 

Zwei  weitere  Anforderungen  an  die  Bildung  des  Auges  können 
ebenfalls  als  Vorzüge  beider  Geschlechter  gelten,  jedoch  sind  sie 
anatomisch  mehr  im  weiblichen  Bau  begründet. 

Das  ist  zunächst  die  Grösse  der  Lidspalte  und  dann  die 
Bildung  der  Hautfalte,  die  sich  bei  geöffnetem  Auge  über  das  obere 
Augenlid  legt.  Je  höher  die  Augenhöhle  ist,  desto  weniger  wird 
sich  die  Hautfalte  über  das  Lid  herabsenken,  in  desto  weicherem 
Schwünge  wird  sie  sich  nach  der  Schläfe  zu  verlieren.  Eine  grössere 
Lidspalte  lässt  das  Auge  und  damit  auch  die  Augenhöhle  grösser 
erscheinen.  Da  nun  aber  die  grosse  Augenhöhle  ein  secundäres 
weibliches  Geschlechtsmerkmal  ist,  so  können  eine  weite  Lidspalte 
und  eine  weich  und  hoch  über  dem  oberen  Augenlid  ver- 
laufende Hautfalte  als  vorwiegend  weibliche  Schönheiten  ver- 
zeichnet werden. 

Fig.  38  zeigt  dieselben,  sowie  die  Gestalt  der  Augenbrauen  in 
sehr  guter  Form,  während  in  Fig.  24  durch  die  Hautfalte  das  obere 
Augenlid  völlig  verdeckt  wird. 

Die  Form  der  Nase  wird  vorwiegend  durch  das  knöcherne 
Gerüst  zusammen  mit  dem  Nasenknorpel  bestimmt.  Aus  dem  oben 
Gesagten  geht  hervor,  dass  die  Form  der  Nase  gut  ist,  wenn  sie 
schmal  ist,  was  namentlich  im  schmalen  und  gestreckten  Nasen- 
rücken zum  Ausdruck  kommt.  Ob  derselbe  dann  gerade  verläuft 
oder  gebogen,  ist  eine  individuelle  Abweichung  innerhalb  der  nor- 
malen Grenzen. 

Von  der  Form  des  Mundes  ist  bereits  gesagt,  dass  die  gut 
entwickelte    Oberlippe    derart    sein    muss,    dass    die    zwei    äusseren 


Mund. 


103 


Ränder  nach  innen  in  sanfter  Linie  leicht  ansteigen,  und  der  mittlere, 
dem  Nasenlappen  entstammende  Theil  sich  scharf  absetzt  (Fig.  20). 
Demgemäss  muss  auch  die  freie  Mitte  der  Oberlippe  deutlich  nach 
unten  herabragen.  Ferner  muss,  bei  regelmässiger  Bildung,  das 
Lippenroth   genau   bis    an    den   gebogenen  Rand   der  Lippe    heran- 


Fig.  38.    Weiblicher  Kopf  mit  guten  Proportionen  und  gut  gebautem  Auge. 
Nach,  einer  Photographie  von  Reutlinger,  Paris. 

reichen  und  nach  aussen  schmäler  werden.  Die  Unterlippe  legt  sich 
in  leichtem,  in  der  Mitte  breiter  werdendem  Bogen  der  Oberlippe  an. 
Bei  schön  geschnittenem  Munde  muss  die  Oberlippe  etwas  weiter 
vorstehen  als  die  Unterlippe.  Während  die  übrigen  Vorzüge  beiden 
Geschlechtern  gemeinsam  sind ,  ist  der  letztgenannte  wieder  ein 
besonderer  Vorzug  des  weiblichen  Geschlechts,  da  er  mit  der  ge- 
ringeren Grösse  des  Unterkiefers  in  ursächlichem  Verband  steht. 


104 


Ohr.     Haarfarbe. 


Die  Breite  der  Mundspalte  steht  zur  Lidspalte  im  Verhältniss 
von  3:2,  die  Augen  stehen  um  eine  Augenbreite  von  einander  ab. 
so  dass  die  äusseren  Augenwinkel  doppelt  so  weit  von  einander  ent- 
fernt sind  als  die  Mundwinkel. 

Das  Ohr  kommt  im  embryonalen  Leben  erst  sehr  spät  zur 
Entwickelung  und  zeigt  im  späteren  Leben  ausserordentlich  starke 
individuelle  Verschiedenheiten,  welche  von  den  Meisten  kaum  be- 
achtet   werden.     Die    Bildhauer    der    Antike    kannten    sie    indessen 

(Winkelmann)  sehr  genau,  und  in  neuerer 
Zeit  hat  Bertillon  das  Charakteristische  des 
Ohrs  zur  Feststellung  der  Person  von  Ver- 
brechern benutzt. 

Bei  guter  und  regelmässiger  Entwick- 
lung hat  die  Ohrmuschel  nach  Langer  fol- 
gende Gestaltung -(Fig.  39). 

Am    äusseren    Gehörgang    stehen    sich 
Leiste  (H)  und  Gegenleiste  (Ä)  von  ungefähr 
gleicher  Grösse  gegenüber,  ebenso  am  oberen 
Theil  der  Ohrmuschel  Bock  (T)  und  Gegen- 
bock (At).     Der  Bock  umkreist  den  äusseren 
Rand  des  Ohres  in  langer  Linie,   der  Gegen- 
bock   erhebt    sich    in    der   Mitte    höher    und 
spaltet   sich    nach    vorn,    während    er   nach 
hinten  sich,,  flacher  werdend,  mit  dem  Bock 
vereinigt  und  in  die  Gegenleiste  ausläuft.  Das  Ohrläppchen  endigt  frei. 
Ein    namentlich    beim  weiblichen  Ohr   störender  Fehler    ist  zu 
starke  Entwickelung  und  Grösse  der  Ohrmuschel. 

Da  die  Stellung  des  äusseren  Gehörgangs,  der  mit  der  Gehirnbasis 
stets  gleich  hoch  steht,  fest  bestimmt  ist,  so  ist  es  namentlich  zu  starke 
Entwickelung  des  oberen' Theils  der^freien  Ohrmuschel,  die  entstellt. 
Bei  gerader  Stellung  des  Kopfes  muss  der  äussere  Gehörgang 
ungefähr  in  derselben  Höhe  liegen  wie  der  obere  Rand  des  Nasen- 
flügels, und  der  obere  Rand  der  Ohrmuschel  nicht  höher  als  der 
obere  Rand  der  Augenhöhle. 

Es  erübrigt  noch,  die  Farbe  der  Haare,  der  Augenbrauen  und 
der  Augen  zu  besprechen. 


Fig.  39.     Schöngebildetes  Ohr 
(nach  Langer). 

T  Bock  (Tragus),  At  Gegenbock 

(Antitragus),  H Leiste.  (Helix), 

A  Gegenleiste  (Anthelix). 


Rumpf  im  allgemeinen.  105 

Da  starke  Pigmentanhäufung  ein  gemeinschaftliches  Merkmal 
niedriger  stehender  Rassen  ist,  so  kann  man  im  allgemeinen  blondes 
Haupthaar  als  einen  Vorzug  betrachten,  und  namentlich  bei  der 
Frau,  bei  der  durch  den  schwächeren  Gegensatz  von  blond  und  weiss 
die  Harmonie  der  zarteren  Bildung  erhöht  wird. 

Bei  den  Augenbrauen  jedoch  verdient  die  dunklere  Färbung 
den  Vorzug,  weil  durch  sie  die  Weite  der  Augenhöhlen  noch  deut- 
licher hervorgehoben  wird. 

Die  Farbe  der  Augen  hängt  ausschliesslich  ab  von  der  Ver- 
theilung  des  Pigments;  wenn  dasselbe  ausschliesslich  hinter  der 
Regenbogenhaut  sitzt,  erscheint  dieselbe  blau,  dringt  es  in  sie  ein, 
so  erscheint  sie  braun  bis  schwarz.  Demnach  können  wir  die 
Farbe  der  Augen  nur  als  einen  Ausdruck  der  Individualität  be- 
trachten. 


t>)   R  u  m  p  f. 

Man  unterscheidet  am  Rumpf  von  vorn  die  Brust  (im  weiteren 
Sinne)  und  den  Bauch,  von  hinten  den  Rücken.  Seine  Ver- 
bindungen mit  Kopf  und  Gliedmassen  sind  der  Hals,  die  Schultern 
und  die  Hüften.  So  selbstverständlich  diese  Eintheilung  auch  sein 
mag,  so  stösst  man  doch  schon  auf  Schwierigkeiten  bei  dem  blossen 
Versuch,  die  einzelnen  Theile  scharf  von  einander  abzugrenzen. 
Noch  schwieriger  wird  es,  wenn  man  noch  weitere  Benennungen 
einzelner  Körpertheile  hinzunimmt,  wie  Nacken,  Lenden,  Kreuz, 
Weichen,  Leisten  u.  s.  w.  Jedem  Arzt  fällt  es  auf,  dass  die  Meisten 
nur  einen  ganz  dunkeln  Begriff  haben,  wo  diese  Theile  eigentlich 
liegen.  Eine  Frau  z.  B.,  die  über  Kreuzschmerzen  klagt,  bezeichnet 
fast  immer  die  Lenden  als  die  empfindliche  Stelle;  -  -  sie  weiss  beim 
Ochsenfleisch  den  Ziemer  vom  Filet  vortrefflich  zu  unterscheiden, 
dürfte  aber  kaum  im  Stande  sein,  die  Lage  der  entsprechenden  Theile 
am  eigenen  Körper  anzugeben.  Jedoch  sind  selbst  Männer  vom  Fach 
nicht  im  Stande,  alle  einzelnen  Theile  des  Rumpfes  mit  unfehlbarer 
Sicherheit  von  einander  zu  scheiden. 

Dies  hat  seinen  Grund  darin,  dass  feste,  unverwischbare  Grenzen 


10(5  Rumpf  als  Ganzes. 

überhaupt  nicht  bestehen  und  die  Uebergänge  sich  allmählig  inein- 
ander verlieren  1). 

Wir  thun  deshalb  gut,  erst  den  Aufbau  des  Rumpfes  als  Ganzes 
und  dann  seine  einzelnen  Theile  in  ihrer  mehr  oder  weniger  scharfen 
Abgrenzung  zu  besprechen. 

Der  Rumpf  als  Ganzes. 

Vom  Kopf  unterscheidet  sich  der  Rumpf  dadurch,  dass  bei  ihm 
die  weichen  Theile  bei  der  Bestimmung  der  äusseren  Formen  eine 
viel  grössere  Rolle  spielen. 

Das  Skelet  des  Rumpfes  wird  gebildet  durch  die  Wirbelsäule, 
den  Brustkorb,   den  Schultergürtel  und  das  Becken. 

Das  Verhältniss  des  Skelets  zur  Körperoberfläche  ist  ersichtlich 
aus  den  Figuren  28- — 31,  die  zugleich  die  secundären  Geschlechts- 
charaktere desselben  deutlich  machen. 

Die  Wirbelsäule  muss  bei  symmetrischer  Stellung  völlig  gerade 
verlaufen.  Abweichungen  davon  deuten  auf  Rhachitis,  ungleich- 
massige  Entwickelung,  Tuberculose  und  Lungenkrankheiten. 

Von  der  senkrechten  Richtung  überzeugt  man  sich  in  zweifel- 
haften Fällen,  indem  man  auf  der  Rückseite  die  Dornfortsätze  der 
Wirbel  durch  die  Haut  abtastet  und  mit  schwarzer  Farbe  bezeichnet. 
Die  so  bezeichneten  Punkte  müssen  in  einer  geraden  Linie  liegen. 
Noch  einfacher  ist  es,  den  Dornfortsatz  des  siebenten  Halswirbels, 
der  im  Nacken  am  stärksten  vorspringt,  aufzusuchen  und  von  ihm 
aus  ein  Senkloth  herabhängen  zu  lassen,  welches  bei  gutem  Bau 
genau  in  der  Spalte  zwischen  den  Hinterbacken  liegen  muss.  Die 
Länge  der  Wirbelsäule,  welcher  der  Abstand  vom  unteren  Nasen- 
rande bis  zum  oberen  Rand  der  vorderen  Beckenverbindung  ent- 
spricht, ist  ein  constantes  Mass,  das  Fritsch,  Carus  und  Schmidt  als 
Modulus  zur  Bestimmung  der  Proportionen  benutzt  haben,  wie  oben 
ausgeführt  wurde. 

Ebenso  ist  bereits  erwähnt,  dass  in  der  seitlichen  Ansicht  die 
Wirbelsäule  der  Frau  im  Lendentheil  stärker  eingebogen  ist  als 
beim  Manne  (vgl.  Fig.  32). 

])  Vgl.  Merkel,  Topographische  Anatomie,  II,  p.  180  ff. 


Rumpf  als  Ganzes. 


107 


Der   Brustkorb    bestellt    aus    den    Rippen,    dem  Brustbein    und 
dem  Brusttlieil  der  Wirbelsäule. 

Bei  guter  Ausbildung  muss  derselbe  kräftig  gewölbt  sein,  so 
dass  die  Rippen  am  Rücken  fast  horizontal,  an  der  Brustseite  nur 
wenig  nach  abwärts  verlaufen. 
Von  seiner  Breite  und  Tiefe 
hängt  im  wesentlichen  die  Form 
der  Brust  ab,  wie  wir  weiter 
unten  sehen  werden. 

Bei  der  Frau  ist  der  Brust- 
korb im  allgemeinen  schmäler 
und  länger  als  beim  Manne; 
jedoch  muss  er  stets  so  gebaut 
sein,  dass  der  Winkel,  den  der 
untere  Rippenrand  bildet,  wenig 
kleiner  ist  als  ein  rechter. 

Grösser  ist  er  bei  dem 
fassförmigen  Thorax  asthmati- 
scher Personen,  kleiner,  oft  sehr 
viel  kleiner  bei  Personen  mit 
schwindsüchtiger  Gestaltung  und 
bei  Verunstaltung  durch  zu  star- 
kes Schnüren. 

Oben  wurden  bereits  die 
dadurch  hervorgerufenen  Ent- 
stellungen des  Rumpfes  im  Bilde 
vorgeführt;  hier  sei  die  Ent- 
stellung des  Skelets  durch  ein 
weiteres  Beispiel  verdeutlicht 
(Fig.  40),  hier  ist  zwischen  den 
freien  Rippen  beider  Seiten  ein 
schmaler  Spalt  mit  sehr  spitzem 
Winkel  vorhanden.  Ein  vergleichender  Blick  auf  Fig.  29  genügt, 
um  den  Unterschied  zu  erkennen. 

Der  Schultergürtel    ist   mit    dem  Brustkorb    nur   in    der  Kehl- 
ffrube  durch  die  Gelenke  der  beiden  Schlüsselbeine  verbunden.    Diese 


Fig.  40.    Kumpfskelet  eines  23jährigen 

Mädchens,  durch  Schnüren  verunstaltet  (nach 

Rüdinger). 


108  Rumpf  als  Ganzes. 

sowie  das  Brustbein  sind  die  einzigen  Knochen,  die  in  ihrer  ganzen 
Länge  dicht  unter  der  Haut  liegen. 

Am  unteren  Ende  ist  die  Wirbelsäule  durch  das  Kreuzbein  mit 


Fig.  41.    Muskulatur  des  weiblichen  Torso  von  vorn. 

dem  Becken  verbunden.  Das  Kreuzbein  ist  bei  der  Frau  breiter  und 
kürzer  als  beim  Manne;  welchen  Emnuss  dies  auf  die  Gestaltung 
der  Rückenoberfläche  ausübt,  werden  Avir  später  sehen. 


Rumpf  als  Ganzes. 


109 


Beim  weiblichen  Becken  sind  wichtige  secundäre  Geschlechts- 
charaktere zu  verzeichnen.     Es  ist  geräumiger,   der  Schanibosjen  ist 


Fig.  42.    Muskulatur  des  weiblichen  Rückens. 


stumpfer,  die  Beckenschaufeln  flacher  und  breiter  ausladend  als  beim 
Manne.  Dadurch  überwiegt  im  Skelet  die  Beckengegend  beim  Weibe 
weitaus  über  den  Brustkorb,  während  die  grösste  Schulterbreite  die 


110 


Rumpf  als  Ganzes. 


grösste  Beckenbreite  bei  der  Frau  nur  sehr  wenig,  beim  Manne 
jedoch  bedeutend  übertrifft. 

Vom  Becken  liegen  die  Kämme  der  Darmschaufeln  jederseits 
dicht  unter  der  Haut. 

Die  tastbaren  Knochen  des  Rumpfskelets  geben  uns  einen  ge- 


Fig.  43.    Rückansicht  von  Mann  und  Frau  nach  Richer  zur  Vergleichung  der  Vertheüun^ 

des  Fettpolsters. 

o  o  o  o  o  starke  Anhäufung  von  Fett. 


wissen  Anhaltspunkt   zur  Bestimmung  der  Grenzen   einzelner  seiner 
Gegenden. 

Der   Schlüsselbeinrand   bildet   die    Grenze   zwischen   Hals   und 
Brust,  der  untere  Rippenrand  zwischen  Brust  und  Bauch,  der  Kamm 


Rumpfmuskeln. 


111 


der  Darmschaufeln  zwischen  Bauch  und  Hüften.  Während  wir  am 
Skelet  die  Schulterknochen ,  die  Lendenwirbelsäule  .  und  das  Kreuz 
scharf  umschreiben  können,  wer- 
den diese  Grenzen  durch  die  be- 
deckenden Weichtheile  am  leben- 
den Körper  wieder  stark  ver- 
wischt. Immerhin  aber  haben 
wir  durch  die  Kenntniss  des 
Skelets  eine  Reihe  von  Anhalts- 
punkten bekommen,  die  uns  zum 
Verständniss  und  zur  Beurthei- 
lung  der  äusseren  Formen  un- 
erlässlich  sind. 

Ausser  dem  Knochengerüst 
sind  es  zunächst  die  Muskeln  und 
dann  das  Fettpolster  der  Haut, 
die  die  Formen  des  Rumpfes  be- 
stimmen. 

Fig.  41  zeigt  die  Rumpf- 
muskulatur des  weiblichen  Torso 
in  der  Ansicht  von  vorn. 

Bei  der  allgemeinen  Be- 
trachtung fällt  auf,  dass  sich 
die  oberflächlichen  Muskeln  des 
Rumpfes  in  drei  grössere  Gruppen 
theilen.  Zunächst  diejenigen,  die 
zusammen  den  vorderen  und  seit- 
lichen Abschluss  der  Bauchhöhle 
bewerkstelligen,  dann  diejenigen, 
die  von  vorn  und  hinten,  von 
oben  und  unten  nach  der  Schulter 
hinziehen,  und  endlich  die  Mus- 
keln der  Hüften. 


Fig.  44.    Gut  gebauter  weiblicher  Rumpf. 


Von    diesen    drei    Gruppen    bildet    die    erste    die    Verbindung 
zwischen  Brustkorb  und  Beckenwand. 

Während  die  zweite  alle  scharfen  Ecken  und  Kanten  zwischen 


112  Brust. 

Schultern,  Brust  und  Rücken  verbindet  und  ausfüllt  und  die  Umrisse 
des  Rumpfes  in  die  oberen  Gliedmassen  in  weichen  Linien  hinüber- 
leitet, sind  die  Hüftmuskeln  seitlich  und  hinten  durch  die  Kämme 
der  Beckenschaufeln,  vorn  durch  das  Leistenband  scharf  von  dem 
übrigen  Rumpfe  geschieden. 

Die  Muskeln  sind  bei  beiden  Geschlechtern  dieselben,  jedoch 
schwächer  bei  der  Frau.  Schlechte  Entwickelung  derselben  kann 
den  weiblichen  ebenso  gut  wie  den  männlichen  Körper  entstellen. 
Bei  krankhaften  Störungen  der  gleichmässigen  Entwickelung  der 
Muskeln  sind  es,  wie  oben  erwähnt,  namentlich  die  Schulter-  und 
Hüftmuskeln,  die  zuerst  angegriffen  werden.  Bei  guter  Ernährung 
müssen  auch  bei  der  Frau  trotz  des  reichlichen  Fettpolsters  die 
Muskelbäuche  deutlich  erkennbar  sein.  Abgesehen  davon,  dass  das- 
selbe bei  ihr  im  allgemeinen  reichlicher  ist  als  beim  Manne,  sind 
es  namentlich  die  Nabelgegend ,  Hüften  und  die  unteren  Parthien 
des  Rückens  (Fig.  43),  die  eine  kräftigere  und  charakteristische  Ver- 
theilung  des  Fettes  bei  der  Frau  besitzen.  Diese  und  andere  Einzel- 
heiten werden  noch  weiter  besprochen  werden. 

Bei  der  Betrachtung  des  Rumpfes  als  Ganzes  haben  wir  somit 
hauptsächlich  zu  achten  auf  gleichmässige  und  symmetrische  Ent- 
wickelung des  Skelets,  soweit  dasselbe  dem  Auge  und  der  Messung 
zugänglich  ist,  Ueberwiegen  der  Bauch-  und  Beckengegend  im  Ver- 
hältniss  zum  Oberkörper,  nach  den  oben  aufgestellten  Gesetzen  der 
Proportionslehre,   und  auf  den  Einfluss  des  Schnürens. 

Als  Muster  eines  gut  entwickelten  weiblichen  Torso  kann 
Fig.  44  gelten. 

Die  einzelnen  Theile  des  Rumpfes. 

Brust. 

Die  Brust  im  weiteren  Sinne  ist  derjenige  Theil  des  Rumpfes, 
der  von  oben  durch  die  Schlüsselbeine,  von  unten  durch  den  unteren 
Rippenrand  begrenzt  wird.  Beim  Weibe  erhält  er  sein  besonderes 
Gepräge  in  den  beiden  durch  die  wachsenden  Milchdrüsen  ver- 
ursachten Hervorwölbungen,  die  Brüste  im  engeren  Sinne,  das 
schönste  der  secundären  weiblichen  Geschlechtsmerkmale. 


Brustkorb.  113 

Aus  ihrer  Beschaffenheit  kann  man  wichtige  Rückschlüsse 
nicht  nur  auf  die  Brust,  sondern  auch  auf  den  Körper  im  allgemeinen 
machen. 

Die  Grundlage  der  Brust  bildet  der  Brustkorb;  auf  sein  Ver- 
hältniss  zu  den  übrigen  Theilen  des  Skelets  ist  bereits  hingewiesen. 

Wir  können  an  einen  normal  gebauten  Brustkorb  die  folgenden 
Bedingungen  stellen,  deren  Nichterfüllung  anatomische  Fehler  sind. 

1.  Die  Brustwirbelsäule  muss,  von  vorn  gesehen,  völlig  gerade 
in  der  Mittellinie  des  Körpers  verlaufen;  im  Profil  bildet  sie  einen 
leichten,  nach  hinten  convexen  Bogen  in  ihrer  oberen  Hälfte. 

2.  Die  Rippen  verlaufen  symmetrisch  in  einem  gleich- 
massigen  Bogen,  liegen  hinten  beinahe  horizontal,  senken  sich 
etwas  stärker  in  der  Seite,  liegen  wieder  horizontal  in  der  Linie 
der  Brustwarze  und  steigen  von  da  unmerklich  ohne  Knickung  o-e^en 
das  Brustbein  an. 

3.  Das  Brustbein  liegt  etwas  tiefer  als  die  vordersten  Punkte 
der  Rippen,  schliesst  sich  aber  deren  Wölbung  überall  gieichmässig 
an.  Der  Winkel  zwischen  Handgriff  und  Körper,  in  der  Höhe  der 
2.  Rippe  (angulus  Ludovisi),  darf  nicht  scharf  hervortreten. 

4.  Die  gemeinschaftliche  Wölbung  des  Brustkorbes  ist  in 
seinen  höheren  Parthien  (bis  zur  4.  Rippe)  nach  oben  gerichtet,  in 
den  mittleren  (bis  zur  8.  Rippe)  nach  vorn,  und  erst  in  den  untersten 
Parthien  (bis  zur  12.  Rippe)  etwas  nach  abwärts.  Die  Wölbung 
muss  eine  ganz  gleichmässige  sein,  im  Profil  sowie  in  der  Ansicht 
en  face. 

5.  Der  untere  Rippenrand  bildet  in  der  Herzgrube  einen 
Winkel  von  beinahe  90  °. 

Als  gemeinschaftliche  Folge  dieser  Eigenschaften  kommt  hin- 
zu, dass  sich  die  Schlüsselbeine  und  die  Schulterblätter  in  guter 
Wölbung  dem  Brustkorb  glatt  anlegen. 

Die  häufigsten  Ursachen,  die  fehlerhafte  Bildung  veranlassen, 
sind  die  Rhachitis,  die  Anlage  zur  Schwindsucht  und  das  Schnüren. 

Rhachitis  veranlasst  Verkrümmungen  der  Wirbelsäule  und 
dadurch  unsymmetrische  Entwickelung ,  ungieichmässige  Wölbung 
der  Rippen,  die  bei  ihrer  Weichheit  durch  Zug  und  Druck  ver- 
unstaltet   werden,     Knickung    des    Brustbeins    zwischen    Griff    und 

Stratz,  Die  Schönheit  des  weiblichen  Körpers.  8 


114  Brustmuskeln. 

Körper  (Hühnerbrust) ,  Auftreibung  der  Rippenenden,  wodurch  eine 
Verdickung  und  starke  Knickung  des  Brustkorbs  innerhalb  der 
Brustwarzenlinien  entsteht.  Durch  die  stärkere  Knickung  der  Rippen 
wird  der  Brustkorb  im  ganzen  flacher  und  breiter,  namentlich  in 
seiner  oberen  Wölbung,  seine  unteren  Parthien  fallen  stärker  ab. 

Die  Anlage  zur  Schwindsucht  ist  gekennzeichnet  durch 
einen  langen  und  schmalen  Brustkorb.  Mit  dem  gesunden  verglichen 
zeigt  der  schwindsüchtige  Brustkorb  demnach  weiter  von  einander 
abstehende  Rippen,  die  in  ihrem  ganzen  Verlauf  stärker  nach  unten 
ziehen,  wodurch  wiederum  eine  geringere  Wölbung  der  oberen  Par- 
thien und  eine  zu  geringe  Ausdehnung  in  die  Breite  veranlasst  wird. 
Dies  hat  zur  Folge,  dass  die  Schlüsselbeine  stärker  gekrümmt  sind, 
weiter  vorspringen  und  ebenso  wie  die  Schulterblätter  hervortreten. 
Unter  den  Schlüsselbeinen  bilden  sich  dann  tiefere  Gruben.  Der 
untere  Rippenrand  bildet  einen  sehr  viel  spitzeren  Winkel. 

Durch  das  Schnüren  wird  der  Brustkorb  in  seinen  unteren 
Parthien  stark  verengert,  die  Wölbung  wird  geringer  und  nament- 
lich sehr  verschärft  in  den  mittleren  Parthien,  so  dass  von  der 
4.  Rippe  ab  die  Wölbung  statt  nach  vorn,  mehr  nach  unten  hin 
steht.     Der  untere  Rippenrand  ist  ein  spitzer  Winkel. 

Alle  diese  drei  Ursachen,  am  stärksten  allerdings  die  letzte, 
haben  die  Verunstaltung  veranlasst,  die  Fig.  40  deutlich  zeigt. 

Lungenkrankheiten,  namentlich  Brustfellentzündungen  in  jugend- 
lichem Alter  können  durch  Verwachsungen  einen  Theil  des  Brust- 
korbs sehr  wesentlich  in  seiner  Entwicklung  beeinflussen.  Es  finden 
sich  dann  an  der  früher  erkrankten  Stelle  Einziehungen  oder  Auf- 
treibungen, die  die  Symmetrie  stören. 

Am  lebenden  Weibe  können  wir  den  Brustkorb  nur  durch  die 
weichen  Theile  hindurch  fühlen.  Ob  er  gut  gebaut  ist,  können  wir 
beurtheilen  aus  dem  gleichmässigen  Heben  und  Senken  beim  Athmen, 
dann  aber  aus  der  Form  der  Weichtheile,  die  durch  den  Bau  des 
Brustkorbs  beeinflusst  ist. 

Von  grösseren  Weichtheilen  sind  es  namentlich  die  grossen 
Brustmuskeln  (Pectoralis  major  und  minor),  Avelche  die  Form  der 
Brust  beeinflussen  (Fig.  41).  Ihre  Bündel  entspringen  an  der  ganzen 
Vorderfläche  der  Brust  vom  unteren  Rippenrand,  dem  Brustbeinrand 


Brüste.  115 

und  der  unteren  Fläche  des  Schlüsselbeins  und  vereinigen  sich  zu 
einem  kräftigen  Muskelbauch,  dessen  Sehne  sich  am  Knochen  des 
Oberarms  ansetzt.  Der  untere  Rand  dieses  Muskels  bildet  die 
vordere  Begrenzung  der  Achselhöhle,  die  demnach  beim  Senken  des 
Armes  sich  vertieft,  beim  Heben  verstreicht.  Je  kräftiger  er  ist, 
desto  stärker  wird  diese  Grenzlinie  hervortreten,  und  desto  gleich- 
massiger  wird  die  obere  Wölbung  der  Brust  in  die  Schulter  über- 
gehen. 

Ist  der  Muskel  schlecht  entwickelt,  dann  treten  die  Schultern 
vor,  und  es  entsteht  eine  tiefe  Einsenkung  zwischen  Schulter  und 
Brust  unterhalb  des  Schlüsselbeins  bis  in  die  Achsel  (vgl.  Fig.  16). 

Auf  den  grossen  Brustmuskeln ,  den  äusseren  Rand  derselben 
nur  wenig  überragend,  liegen  die  Brüste  (vgl.  Fig.  41)  in  der 
Höhe  der  3.  —  6.  Rippe. 

Aus  diesem  Verhältniss  geht  hervor,  dass  der  Brustkorb  sowie 
der  Brustmuskel  einen  sehr  wesentlichen  Einfluss  auf  die  Form  der 
Brust  im  engeren  Sinne  haben  müssen. 

Bevor  wir  jedoch  uns  mit  den  Brüsten  beschäftigen,  müssen 
wir  noch  die  Verhältnisse  der  Haut  in  Kurzem  berücksichtigen. 

Die  Haut  ist  in  der  Gegend  der  Brustwarzen  besonders  zart 
und  dünn;  in  der  Mitte  nach  dem  Brustbein  zu  wird  sie  etwas 
dicker  und  heftet  sich  der  knöchernen  Unterlage,  der  sie  hier  un- 
mittelbar aufliegt,  fest  an.  Nach  den  Achseln  zu  wird  sie  eben- 
falls dicker,  liegt  dem  unter  ihr  liegenden  Brustmuskel  am  unteren 
Rande  wieder  etwas  fester  an,  zugleich  aber  entwickelt  sich  hier 
eine  mächtigere  Fettlage,  die  die  Achselhöhle  auspolstert,  sich 
zwischen  Brustmuskel  und  Brustkorb  hineinschiebt  und  sich  am 
unteren  Rande  des  Muskels  nach  vorn  zu  allmählig  verliert. 

Zwischen  Haut  und  Muskel  liegt  über  der  4.  Rippe,  unter  der 
Brustwarze,  beim  Kinde  die  Anlage  der  Milchdrüse,  die  beim 
Knaben  nicht  zur  Entwickelung  kommt,  beim  Mädchen  aber  etwa 
vom  zehnten  Jahre  an  zu  wachsen  beginnt,  und  schliesslich  den 
Raum  von  der  3.  bis  zur  6.  Rippe  einnimmt. 

Die  Milchdrüse  bildet  anfänglich  einen  flachen  scheibenförmigen 
Körper,  dessen  Ausführungsgänge  nach  den  Brustwarzen  ziehen. 
Diese    sind    mit  ihrer  Axe  nach  aussen  gerichtet.     Später  entstehen 


116  Brüste. 

zwei  halbkugelige  Erhabenheiten,  die  zunächst  dem  grossen  Brust- 
muskel in  ihrem  ganzen  Umfang  aufliegen.  Je  grösser  die  Drüsen 
werden,  desto  mehr  spannen  sie  die  Haut  in  ihrer  Umgebung  und 
schieben  sich  zwischen  diese  und  die  darunterliegenden  Theile  hinein. 
Da  nun  aber  die  Haut  bei  guter  Entwickelung  am  Brustbein  fest 
anhaftet,  so  wird  die  losere  Haut  aus  der  Achselgegend  stärker 
herangezogen,  während  über  dem  Brustbein  zwischen  den  wachsen- 
den Brüsten  eine  leichte  Vertiefung,  der  Busen,  bestehen  bleibt. 
Zugleich  drehen  sich  dann  die  Axen  der  Brustwarzen  etwas  mehr 
nach  vorn. 

Im  Stadium  der  ersten  Reife  wölbt  sich  der  wachsende  Drüsen- 
körper etwas  über  den  äusseren  Rand  des  Brustmuskels  vor  (Fig.  41), 
so  dass  die  halbkugelige  Brust  sich  in  leichtem  Winkel  von  der 
Hautfalte  abhebt,  welche,  den  Brustmuskel  in  sich  fassend,  die 
vordere  Achselhöhle  abschliesst  (Fig.  45,  vgl.  auch  Fig.  5). 

Um  die  wachsende  Drüse  vergrössert  sich  stets  auch  mehr 
oder  weniger  das  Fettpolster,  welches  die  Gestalt  der  Drüse  mehr 
abrundet  und  die  Uebergänge  zu  den  umliegenden  Theilen  weicher 
macht.  Je  kräftiger  die  Drüse  entwickelt  ist,  desto  praller  und 
härter  ist  die  Brust,  während  bei  stärkerer  Entwickelung  des  Fett- 
polsters die  Brust  grösser  und  weicher  wird. 

Je  fester  das  elastische  Unterhautbindegewebe  gefügt  ist,  desto 
schwieriger  wird  daselbst  Fett  abgelagert,  und  darum  ist  eine  vor- 
wiegend aus  Drüsensubstanz  bestehende  Brust  meist  gepaart  mit 
praller,  elastischer  Haut;  aus  demselben  Grunde  aber  ist  sie  mit 
der  Haut  sowohl  als  mit  dem  darunter  liegenden  Brustmuskel  viel 
fester  und  inniger  verbunden. 

Durch  die  Elasticität  der  Haut  und  die  feste  Anheftung  wird 
zugleich  die  wachsende  Brust  am  Herabziehen  verhindert,  und  wird 
eine  scheibenförmige,  bis  halbkugelige  Hervorragung  bilden,  die  bei 
gleichmässiger  Spannung  der  Haut  sich  überall  in  weichen  Linien 
aus  der  Umgebung  erhebt. 

Neigung  zu  Fettansatz  aber  geht  meist  gepaart  mit  geringerer 
Bindegewebsausbildung  und  geringerer  Elasticität  der  Haut.  Dem- 
nach werden  vorwiegend  aus  Fett  bestehende  Brüste  schlaffer  sein, 
sich    senken    und   tiefer    stehen,    und    eher  an  ihrem  unteren  Rande 


Brüste. 


117 


die    Haut    in    einer    Falte     abheben,     als     bei    ersterwähnter    Be- 
schaffenheit. 

Der    naturwissenschaftliche  Werth    der    Brust    hängt    aber    ab 


Fig.  45.    14 jähriges  Mädchen  mit  guter  Absetzung  der  Brust  gegen  die  vordere 
Achselgrenze  (rechts). 

von  der  Entwickelung  des  Drüsenkörpers,  demnach  können  wir  von 
diesem  Standpunkt  aus  verlangen,  dass  die  Brust  hart  und  prall, 
nicht    zu    gross,    scheibenförmig   bis    halbkugelförmig    sei, 


118  Brüste. 

dass  sie  ihrer  Unterlage  sowie  der  Haut  gut  anhaftet,  dass 
sie  zwischen  der  3.  und  6.  Rippe,  die  Warze  nicht  tiefer  als 
die  4.  Rippe,  steht  und  dass  sich  unter  der  Brust  keine 
Hautfalte  bildet. 

Ausserdem  muss  die  Warze  gut  und  gleichmässig  ent- 
wickelt   sein   und   etwas    über   den  Warzenhof    emporragen. 

Der  Messung  zugänglich  ist  der  jeweilige  Abstand  der 
Brustwarzen.  Derselbe  darf  bei  gut  entwickelten  Brüsten 
nicht  kleiner  sein  als  20  cm. 

Denselben  Standpunkt  hat  aber  auch  die  Kunst,  voran  die 
griechische,  stets  eingenommen,  und  so  deckt  sich  auch  hier  wieder 
das  Normale  mit  dem  Schönen. 

Da  wir  mit  dem  Tiefstehen  der  Brüste  den  Begriff  des  Hängens 
verbinden,  so  halten  wir  einen  hohen  Ansatz  derselben  für  schön. 

Diese  Auffassung  ist  naturwissenschaftlich  begründet,  da  bei 
gut  gewölbtem  Brustkorb  die  Rippen  enger  an  einander  stehen  und 
horizontaler  verlaufen,  wodurch  der  obere  Theil  des  Brustkorbs  dem 
Ansatz  der  Brüste  eine  breitere  Fläche  bietet,  welche  durch  einen 
kräftig  entwickelten  Brustmuskel  noch  erweitert  und  abgerundet 
wird.  So  wird  gegenseitig  hoher  Brustansatz  und  gute  Entwicke- 
lung  des  Brustkorbs  und  Brustmuskels  bedingt. 

Am  schwindsüchtigen  Brustkorb  stehen  die  Brüste  au  und  für 
sich  tiefer,  da  die  Rippen  alle,  und  demnach  auch  die  der  Warze 
entsprechende  4. ,  schräg  nach  abwärts  verlaufen  und  weiter  aus 
einander  stehen.  Ausserdem  aber  folgen  die  Brüste  dem  Gesetze  der 
Schwere  um  so  eher,  als  der  Brustkorb  mehr  abschüssig  und  die 
Gewebe  schlaff  sind.  Aus  demselben  Grunde  bildet  sich  unter  ihnen 
eine  Hautfalte  (vgl.  Venus  von  Botticelli,  Fig.  6). 

Als  Beispiel  für  eine  gut  gebaute  Brust  diene  Fig.  46. 

Der  Brustkorb  ist  gut  und  gleichmässig  gewölbt,  die  Schlüssel- 
beine springen  nicht  vor,  unter  ihnen  wölbt  sich  die  Brust  gleich- 
massig  mit  breiter  oberer  Fläche,  ohne  dass  die  Rippen  sichtbar 
sind.  Die  kräftige  Entwickelung  des  Brustmuskels  ist  ausser  der 
gleichmässigen  Wölbung  an  der  guten  Ausprägung  der  vorderen  im 
Arm  sich  verlierenden  Achsellinie  erkennbar.  Die  Brüste  sind  halb- 
kugelig hoch  angesetzt,  liegen  dem  Brustmuskel  zum  grössten  Theil 


Brüste. 


119 


auf,  bilden  keine  Hautfalte.  Dass  sie  mit  der  Unterlage  verwachsen 
sind,  ist  ersichtlich  aus  der  rechten  Brust,  die  mit  dem  rechten  ge- 
hobenen Brustmuskel  zusammen  emporsteigt..  Der  untere  Rippen- 
rand bildet  in  der  Herzgrube  einen  rechten  Winkel. 

Dasselbe  Verhältniss    zeigt  Fig.  44   bei  kleineren  Brüsten  und 


TV^V^ 


Fig.  46.    Gut  gebaute  Brust. 

Fig.  25  bei  etwas  schwächerer  Entwickelung  des  Muskels  und 
stärkerem  Fettansatz. 

Als  Beispiel  für  eine  schlecht  gebaute  Brust  dient  Fig.  47, 
das  den  schwindsüchtigen  Typus  repräsentirt. 

Der  Brustkorb  ist  flach,  schmal  und  wenig  gewölbt,  die 
Schlüsselbeine    und   die  Schultern   treten    stark  hervor.     Die  2.  und 


120 


Brüste. 


der   Ansatz    der   3.  Rippe   ist  links   bei   der   seitlichen  Beleuchtung 
deutlich  sichtbar.    Der  Brustmuskel  ist  schwach  entwickelt,  so  dass 


— — : ; ' 1 


Fig.  47.     Schlecht  gebaute  Brust. 

die  vordere  Achsellinie  kaum  hervortritt.  Die  Brüste  sind  gesunken 
und  haben  die  Brusthaut  mit  herabgezogen,  wodurch  eine  schräge  Linie 
vom  Brustbein  nach  aussen  entstanden  ist,  die  unter  der  Brust  in  eine 
Hautfalte  ausläuft.   Die  Brustwarze  steht  zwischen  der  5.  und  6.  Rippe. 


Brüste.  121 

Der  untere  Rippenrand  bildet  in  der  Herzgrube  einen  spitzen 
Winkel,  die  Rippen  sind  unter  den  Brüsten  zum  Theil  durch  die 
Haut  erkenntlich. 

Wenn  man  trotz  aller  dieser  Fehler  der  Gestalt  einen  gewissen 
jugendlichen  Liebreiz  nicht  absprechen  kann,  so  erinnere  ich  nur 
wieder  an  die  Venus  des  Sandro  Botticelli,  die  denselben  Typus 
repräsentirt.  Auch  das  Krankhafte  kann  seinen  Reiz  haben,  aber 
schön  ist  es  nicht. 

Wir  haben  gezeigt,  dass  die  Beschaffenheit  der  Brüste  ausser 
vom  Drüsenkörper  selbst  abhängig  ist  von  der  Form  des  Brustkorbs, 
der  Stärke  der  Muskeln  und  der  Elasticität  der  Haut,  und  dass  ein 
Fehler  bei  einem  dieser  Elemente  auch  stets  eine  Entstellung  der 
Brüste  zur  Folge  hat. 

Ueber  den  Brustkorb  und  die  Muskulatur  ist  bereits  ge- 
sprochen, die  Elasticität  der  Haut  jedoch  ist  nur  beiläufig  erwähnt, 
insofern  als  mit  geringerer  Elasticität  grössere  Neigung  zur  Fett- 
bildung gepaart  geht. 

Ausserdem  aber  kann  Verringerung  der  Elasticität  die  ursprüng- 
lich schöne  Form  der  Brüste  vorübergehend  oder  auch  dauernd  ent- 
stellen. Verringerung  der  Elasticität  tritt  ein,  wenn  auf  stärkere 
Anspannung  Erschlaffung  erfolgt,  oder  wenn  die  Grenze  der  Dehn- 
barkeit überschritten  ist.  Der  erste  Fall  findet  sich  bei  starker  Ab- 
magerung und  bei  Schwangerschaft,  der  letzte  bei  Neigung  zum 
Fettansatz. 

Starke  Abmagerung  als  Folge  acuter  Krankheiten  oder  an- 
strengender Lebensweise  kann  leicht  durch  Ruhe  und  gute  Kost 
wieder  verschwinden,  auch  die  durch  die  Schwangerschaft  verursachte 
zeitweise  Füllung  der  Brüste  kann  verschwinden,  ohne  eine  bleibende 
Entstellung  zu  hinterlassen ,  und  zwar  geschieht  dies  bei  richtiger 
Behandlung  viel  häufiger,  als  im  allgemeinen  angenommen  wird. 
Eine  meiner  Patientinnen,  die  sechsmal  geboren  hatte,  zeigte  weder 
an  den  Brüsten  noch  sonst  an  irgend  einem  Theil  ihres  Körpers 
die  geringsten  Spuren  der  überstandenen  Schwangerschaften. 

Neigung  zu  Fettansatz  hingegen  verdirbt  die  Form  der  Brüste 
meist  dauernd,  und  zwar  um  so  eher,  wenn  er  mit  unzweckmässiger 
Ernährung  gepaart  geht. 


122  Brüste. 

Es  ist  dies  ein  Fehler,  der  die  Brüste  von  weitaus  den  meisten 
Künstlermodellen  in  sehr  kurzer  Zeit  unbrauchbar  macht. 

Diese  meist  der  ärmeren  Klasse  angehörigen  Mädchen,  wachsen 
bei  mangelnder  Fleischkost  in  spärlichen  Körperverhältnissen  heran, 
wobei  dann  zur  Zeit  der  Reife  durch  stärkere  Fettablagerung  eine 
gewisse  Fülle  der  Formen  entsteht,  die  bei  mangelnder  Elasticität 
der  Haut  nur  von  äusserst  kurzer  Dauer  ist. 

Fig.  48  zeigt  eine  derartige  vergängliche  Schönheit.  Die  Ge- 
stalt zeigt  gedrungene,  aber  gefällige  Formen;  jedoch  deren  Run- 
dung ist  nicht  durch  kräftige  Muskeln  bedingt,  sondern  durch  den 
Fettansatz  der  jugendlichen  Reife.  Die  Brüste  sind  rund,  gut  ge- 
füllt und  prall;  jedoch  fehlt  die  gute  Ausprägung  der  vorderen 
Achselgrenze,  der  Beweis  des  Vorhandenseins  eines  kräftigen  Brust- 
muskels. 

Die  schräge  Linie,  die  vom  Brustbein  nach  aussen  unten  ver- 
läuft und  die  rechte  Brust  vom  Busen  scheidet,  beweist,  dass  die 
Brust  durch  ihre  Schwere  die  Haut  bereits  herabgezogen  hat.  Bei 
der  geringsten  Vermehrung  des  Gewichts  wird  die  untere  Begrenzung 
der  Brüste  zur  Falte,  und  dasselbe  tritt  ein,  wenn  die  jugendliche 
Fülle  durch  anstrengende  Lebensweise  oder  nach  Schwangerschaft 
verschwindet.  Die  höchste  Blüthe  ist  erreicht,  vielleicht  schon  über- 
schritten, so  oder  so  muss  sie  vergehen;  beaute  du  diable. 

Sehr  hübsch  und  sehr  wahr  ist  die  Anekdote,  die,  wie  ich 
glaube,  von  Cabanel  erzählt  wird.  Er  hatte  ein  sehr  schönes  Mäd- 
chen für  schweres  Geld  als  Modell  angenommen  unter  der  Be- 
dingung, dass  sie  ein  streng  eingezogenes  Leben  führe. 

Eines  Tages  fand  er  sie  verändert  und  schickte  sie  weg.  Die 
Nacht  vorher  war  das  Mädchen  zum  ersten  Mal  von  der  vorge- 
schriebenen Lebensweise  abgewichen. 

Fig.  48  kann  zugleich  als  Vorbild  dienen  für  die  oben  auf- 
gestellte Behauptung,  dass  die  Beschaffenheit  der  Brüste  eine  der 
besten  Kriterien  ist  zur  Bestimmung  der  höchsten  Blüthe  einer  Frau. 

Im  allgemeinen  kann  man  sagen,  dass  jede  Verminderung  einer 
einmal  erreichten  Fülle  den  Körper  nachtheilig  beeinflusst,  und  dass 
die  Brüste  derjenige  Körpertheil  sind,  an  dem  auch  die  geringste 
Abmagerung  am  ersten  und  deutlichsten  sichtbar  wird. 


Brüste. 


123 


Vor  der  höchsten  Blüthe  tritt  eine  stetige  Zunahme  in  der 
Rundung  der  Formen  ein.  Nach  derselben  tritt  Abmagerung  ein, 
oder   eine   mit  Ueberspannung    der  Haut   einhergehende  Ueberf'ülle. 


Fig.  48.    Vollentwickelte  Brust  einer  beaute  du  diable  (Böhmin). 

Während  der  höchsten  Blüthe  muss  demnach  die  Form  der 
Brüste  derart  sein,  dass  die  geringste  Vermehrung  oder  Verminderung 
ihres  Umfangs  die  Form  beeinträchtigt. 

Beide  Fälle  sind  dadurch  gekennzeichnet,  dass  der  obere  Theil 


124  Bauch. 

der  Brüste  sich  abflacht,  während  der  untere  Theil  sich  stärker 
rundet,  wobei  zugleich  die  Axe  der  Brustwarze  mehr  nach  oben 
gerichtet  wird. 

Aus  alledem  geht  weiter  hervor,  dass  die  höchste  Blüthe  um 
so  länger  dauert,  je  mehr  die  Form  der  Brust  durch  den  Drüsen- 
körper und  bindegewebige  Elemente  gebildet  wird,  um  so  kürzer, 
je  mehr  sie  ihre  Form  dem  Fettpolster  zu  verdanken  hat. 

Am  dauerhaftesten  sind  kleine,  flache,  hochangesetzte  Brüste 
mit    schön    gewölbtem  Brustkorb    und  kräftig  entwickeltem  Muskel. 

Das  Lebensalter  hat  wenig  mit  der  Schönheit  der  Brust  zu 
machen;  ich  habe  ein  Mädchen  von  15  Jahren  mit  hängenden 
Brüsten  gesehen,  und  eine  Dame  von  60,  die,  dank  dem  kalten 
Wasser  und  körperlichen  Uebungen,  trotz  mehrfacher  Geburten  die 
vollendet  schöne  Form  ihrer  Brüste  bewahrt  hatte. 


Bau  c  h. 

Der  Bauch  wird  von  oben  durch  den  unteren  Rippenrand,  von 
unten  durch  die  Kämme  der  Darmbeinschaufeln  und  die  Leisten- 
bänder begrenzt.  Seine  Form  hängt  im  wesentlichen  ab  von  seiner 
muskulösen  Bedeckung  und  von  der  Form  der  oberen  und  unteren 
knöchernen  Grenze. 

Die  für  den  unteren  Rippenrand  bereits  genannten  Bedingungen 
gelten  auch  für  die  Plastik  des  Bauches.  Der  Brustkorb  muss.  eine 
gleichmässig  gewölbte  untere  Grenze  haben,  die  am  Brustbein  in 
einem  nahezu  rechten  Winkel  zusammenstösst,  um  den  Bauchmuskeln 
eine  breite  Anheftungsfläche  zu  bieten. 

Das  Becken  (vgl.  Fig.  29)  liegt  grösstentheils  im  Inneren  des 
Körpers  verborgen;  dicht  unter  die  Haut  treten  nur  die  Darmbein- 
kämme und  die  Vereinigung  der  Schambeine. 

Bei  normal  gebautem  Becken  des  Weibes  muss  der  grösste 
Abstand  der  Dar mb einkämme  (Cristae)  mindestens  28  cm  be- 
tragen, während  ihre  vordersten  Enden,  die  Dornen  (Spinae),  min- 
destens 26  cm  von  einander  abstehen  müssen.  Noch  wichtiger  als 
die  Masse  selbst  ist  der  jeweilige  LTnterschied ,  der  durchschnittlich 
3  cm,  nie  weniger  als  2  cm  betragen  soll. 


Becken. 


125 


Ein  drittes  Breitenmass  ist  der  Abstand  der  Hüften  an  dem 
Oberschenkelknorren  (Trochanteren);  dieser  muss  mindestens 
31  betragen,    also  2 — 3  cm    mehr   als    der  Kammabstand  (Fig.  49). 

Der  Unterschied  in  diesen  drei  Massen  lässt  Rückschlüsse  zu 
auf  die  Gestaltung  des  Beckenkanals  und  ist  deshalb  von  grosser 
Wichtigkeit  für  den  Geburtshelfer. 

Je  grösser  die  Masse  und  je  grösser  der  Unterschied  derselben 
unter  einander,  desto  besser  gewölbt  ist  das  Becken  und  desto  ge- 
räumiger seine  Höhle.     Die  normalen,    durch  zahlreiche  Messungen 


x  t 


Fig.  49.    Weibliches  Becken. 

CC  Kammbreite  (Cristae),  SS  Dornbreite  (Spinae),  TT  Hüftenbreite  (Trochanteren), 

x  x  Schambeinvereinigung. 

festgestellten  Durchschnittsmasse  sind:  Dornbreite  26,  Kammbreite  29, 
Hüftbreite  31,5  (Differenz  3  und  2,5  cm). 

Das  breite  Becken  ist  ein  naturwissenschaftlicher  Beweis  für 
die  Tüchtigkeit  der  Besitzerin  zur  Fortpflanzung,  also  das  wichtigste 
secundäre  Geschlechtsmerkmal.  Zugleich  aber  wird  es  vom  künst- 
lerischen Standpunkt  als  Schönheit  angesehen.  Also  auch  hier 
wieder  ein  sprechender  Beweis,  dass  das  Normale  und  das  Schöne  oft 
unbewusst  denselben  Gesetzen  gehorchen  müssen. 

Je  geringer  die  Wölbung  der  Beckenschaufeln  ist,  desto  mehr 
müssen  die  Dornen  nach  aussen  treten,  bis  sie  schliesslich  ebenso 
weit  abstehen  als  die  Kämme  in  ihrer  grössten  Entfernung,  ja  es 
kann  sogar  vorkommen,  dass  die  Dornen  den  mittleren  Abstand  der 


126  Bauch. 

Kämme  in  der  Breite  überschreiten.  Die  Erfahrung  hat  gelehrt, 
dass  dann  auch  die  Beckenhöhle  stark  verengert  wird,  und  dass  der- 
artige Fehler  in  der  Entwickelung  des  Beckens  in  weitaus  den 
meisten  Fällen  auf  Rhachitis  beruhen. 

Hand  in  Hand  mit  der  geringeren  Wölbung  der  Beckenschaufeln 
geht  aber  eine  geringere  Wölbung  der  von  ihr  entspringenden  mus- 
kulösen Bauchwand ;  diese  hat  bei  dem  geringeren  Umfang  der 
knöchernen  Basis  eine  grössere  Last  zu  tragen  und  wenn  sie  ihrer 
Aufgabe  nicht  gewachsen  ist,  sinkt  sie  nach  unten,  es  ensteht  ein 
Hängebauch. 

Die  Vereinigung  der  Schambeine  liegt  hinter  dem  Schamberg, 
so  dass  ihre  obere  Grenze  etwa  mit  der  Grenze  der  Schamhaare 
nach  oben  zusammenfällt.  Bei  aufrechter  Stellung  liegt  ihr  vor- 
derster Punkt  ungefähr  in  derselben  senkrechten  Fläche  wie  die 
Dornen  (vgl.  Fig.  32).  Von  hier  zieht  gegen  die  Dornen  zu  jeder- 
seits  das  Leistenband ,  das ,  mit  den  Knochen  fest  verbunden ,  die 
untere  Grenze  des  Bauches  bestimmt. 

Die  vordere  Bauchwand  besteht  ausschliesslich  aus  Muskeln 
und  Haut. 

Von  den  Muskeln  sind  die  wichtigsten  die  geraden  Bauch- 
muskeln (Fig.  41),  die  von  der  Mitte  des  unteren  Rippenrandes  zu 
den  Schambeinen  herabsteigen.  Wenn  sie  gut  entwickelt  sind,  müssen 
sich  rechts  und  links  von  ihnen  zwei  Furchen  erkennen  lassen. 
Fehlen  derselben  ist  ein  Zeichen  ungenügender  Entwickelung. 

Die  übrigen  Bauchmuskeln  liegen  seitlich  über  den  Kämmen 
und  bilden  die  Weichen,  die  nach  hinten  in  die  Lenden  über- 
gehen ;  auch  sie  müssen  gut  ausgeprägt  sein,  da  sie  die  gute  Spannung 
des  Bauches  in  die  Quere  bedingen. 

Fig.  41  zeigt  die  Lage  der  Muskeln ,  welche  bei  guter  Ent- 
wickelung ebenso  viele  Hervorwölbungen  auf  der  Bauchfiäche,  zwei 
mittlere  längere  und  zwei  kürzere  seitliche,  zum  Gesetze  machen. 
Einigermassen  wird  diese  Gestaltung  beeinflusst  durch  die  Vertheilung 
des  Fettpolsters,  das  bei  der  Frau  sich  in  der  Gegend  um  den  Nabel 
und  auf  dem  Schamberg  stärker  anhäuft.  Da  diese  Fettvertheilung 
ein  secundäres  weibliches  Geschlechtsmerkmal  ist,  so  muss  sie  unter 
normalen  Verhältnissen  deutlich  ausgeprägt  sein. 


Bauch.  127 

Wenn  wir  nun  weiter  ins  Auge  fassen ,  dass  durch  die  von 
oben  und  seitlich  einsetzenden  Muskelmassen  der  Unterleib  abgeflacht 
und  zurückgedrängt  werden  muss,  soweit  er  unterhalb  der  Muskeln 
liegt  (also  nicht  die  Nabelgegend),  so  können  wir  am  gut  gebauten 
Bauche  das  Folgende  erkennen: 

Der  Bauch  ist  flach  gewölbt;  in  der  Mittellinie  so- 
wie jederseits  etwa  handbreit  davon  ziehen  zwei  Furchen 
herab,  die  sich  allmählig  in  der  am  stärksten  und  weich 
sich  vorwölbenden  Nabelgegend  verlieren,  unterhalb 
derselben  aber  wieder  etwas  deutlicher  werden.  Der 
Nabel  liegt  in  einer  (durch  die  Fettanhäufung  bedingten)  tieferen 
Grube.  Ausserhalb  der  seitlichen  Furchen  wölben  sich 
die  Weichen  stärker  hervor.  Der  Uebergang  aller  dieser 
Furchen  und  Wölbungen  muss  weich  sein. 

Zwischen  Nabelgegend  und  Schaniberg  bildet  der  Um- 
riss  im  Profil  eine  leichte  Wellenlinie,  aus  der  sich  der 
Schamberg  stärker  hervorhebt  (vgl.  Fig.   24). 

Jedes  Abweichen  von  diesen  Vorschriften  ist  ein  Fehler,  ver- 
ursacht durch  schlechte  Ernährung,  fehlerhafte  Knochenbegrenzung 
nach  Rhachitis  etc.,  unrichtige  Fettvertheilung,  nicht  genügende  Ent- 
wickelung  der  weiblichen  Geschlechtscharaktere,  und  endlich  durch 
das  Schnüren. 

Ausser  den  Fehlern  treten  aber  auch  deren  Folgezustände 
mehr  und  mehr  hervor. 

Bei  schlechter  Ernährung,  d.  h.  ungenügender  Fleischkost,  ist 
die  Masse  der  nöthigen  Nahrung  grösser,  die  Därme  werden  stärker 
ausgedehnt,  so  dass  die  Spannung  des  Bauches  zunimmt,  ohne  dass 
die  Muskeln  kräftiger  werden:  die  Bauchwand  wird  dünner,  wölbt 
sich  stark  vor  und  ist  wenig  modellirt ,  es  entsteht  der  Spitzbauch. 

Bei  zu  starkem  und  gieichmässig  über  den  ganzen  Bauch  ver- 
teiltem Fettpolster  entsteht  der  gieichmässig  runde ,  durch  keine 
Furche  in  seiner  Gestaltlosigkeit  getrübte  Froschbauch.  Ein  gut 
ausgebildetes  Exemplar  dieser  Gattung  zeigt  Fig.  14. 

Bei  schmalem  Brustkorb  ist  der  Verlauf  der  Bauchwand  nach 
dem  Becken  zu  verbreitert,  namentlich  aber  die  Wirkung  der  geraden 
Bauchmuskeln  bei  geringerer  Breite  beeinträchtigt.    Bei  ungenügender 


128  Bauch. 

Wölbung  des  Beckens,  wie  sie  namentlich  häufig  bei  Rhachitis  auftritt, 
ist  durch  das  Nachaussentreten  der  Dornen  ein  ähnliches  Verhältniss 
geschaffen,  das  noch  ärger  wird,  wenn  zugleich  auch  ein  enger  Brust- 
korb besteht.  Die  ganze  Last  der  Baucheingeweide  ruht  dann  auf 
dem  unteren  Theil  der  an  und  für  sich  in  ungünstigen  Verhältnissen 
verkehrenden  Muskelwand,  die  sich  mehr  und  mehr  nach  unten  vor- 
wölbt; es  entsteht  ein  Hängebauch. 

Ein  sehr  wichtiges  Hülfsmittel  zur  Erzeugung  dieser  Difformi- 
täten  ist  der  Missbrauch  der  Corsets. 

Schnürt  man  die  Mitte  ein,  dann  verengert  sich  zunächst  die 
untere  Rundung  des  Brustkorbs,  so  dass  alle  Muskeln  an  kurzer 
Haftfläche  liegen.  Die  geraden  Bauchmuskeln,  von  deren  Entwicke- 
lung  hauptsächlich  die  schöne  Form  des  Unterleibes  abhängt,  können 
sich  nicht  zusammenziehen,  da  die  Druckfürchen  mitten  über  sie  hin- 
laufen; ihre  oberen  Parthien  sind  zur  Unthätigkeit  verurtheilt,  während 
die  unteren  die  ganze  Last  der  herabgepressten  Eingeweide  zu  tragen 
haben.  Seitlich  werden  die  Weichen  eingeschnürt,  auch  hier  schwinden 
die  Muskeln  und  das  Fett  sinkt  nach  unten. 

Eine  einzige  Geburt  genügt,  um  alle  diese  ihrer  Widerstands- 
fähigkeit beraubten  Elemente  zeitlebens  in  einen  schlaffen,  herab- 
hängenden Sack  zu  verwandeln,  nachdem  sie  selbst  der  betroffenen 
Patientin  viel  mehr  Leiden  verursacht  hat,  als  je  im  Fluche  nach 
dem  Sündenfall  dem  Weibe  zugemuthet  worden  war. 

Schwangerschaften  unter  normalen  Verhältnissen  hinterlassen 
nur  dann  bleibende  Spuren,  wenn  sie  sehr  zahlreich  und  rasch  hinter 
einander  auftreten.  Bei  geschnürtem  Leibe  dagegen  ist  die  Stufen- 
leiter: Wespentaille,  Spitzbauch,  schwere  Geburt,  Hängebauch,  zweite 
schwere  Geburt,  faltiger  Hängebauch. 

Noch  rascher  verliert  sich  die  Schönheit  des  Bauches,  wenn 
während  der  Schwangerschaft  stark  geschnürt  wird,  dagegen  wird 
sie  durch  kräftiges  Einbinden  nach  der  Geburt  erhalten. 

Die  Schwangerschaftsnarben  bilden  sich  bei  genügender  Elasti- 
cität  der  Bauchdecken  ganz  oder  doch  grösstenteils  zurück. 

An  den  Leisten  geht  der  Bauch  in  weichen  Linien  in  die 
Schenkel  über,  in  der  Mitte  setzt  er  sich  fort  in  den  Schamberg. 
Die  leichte  quere  Einsenkung  darüber  ist  zugleich  die  obere  Grenze 


Bauch.  129 

der  Schambehaarung.  Höher  hinauf  wachsende  Haare  sind  dem 
Manne  eigenthümlich  und  darum  bei  der  Frau  ein  Fehler. 

Es  ist  bereits  früher  darauf  hingewiesen,  dass  der  Laie,  durch 
Traditionen  der  bildenden  Kunst  veranlasst,  sich  geneigt  fühlt,  die 
Behaarung  des  Schamberges  für  unschön  zu  halten.  Der  Arzt,  an 
den  Anblick  gewöhnt,  findet  sie  natürlich  und  darum  nicht  hässlich 
bei  massiger  Entwickelung.  Starke  Entwickelung  ist  ein  Fehler, 
weil  sie  an  das  Thierische  und  Männliche  erinnert,  und  dadurch  den 
weiblichen  Geschlechtscharakter  verletzt. 

In  ausführlicher  Weise  hat  Brücke1)  die  Grenzlinien  zwischen 
Bauch  und  Schenkeln  beim  Weibe  besprochen.  Er  unterscheidet 
zwei  Hauptformen;  bei  der  einen  bilden  die  Trennungslinien  zwischen 
Scham  und  Schenkeln  einen  spitzen  Winkel,  verlaufen  steil  nach 
aufwärts  und  vereinigen  sich  mit  der  von  den  Dornen  nach  abwärts 
führenden  Beckenlinie,  bei  der  zweiten  bilden  sie  einen  stumpferen 
Winkel  und  verlaufen  tiefer  abwärts  nach  den  Schenkeln  zu,  während 
die  von  den  Dornen  absteigende  Beckenlinie  oberhalb  in  die  Furche 
zwischen  Sckamhügel  und  Nabelgegend  ausläuft.  Die  erste  Form 
ist  bedingt  durch  geringere  Beckenneigung,  hohe  Darmbeinschaufeln 
und  näher  gestellte  Dornen,  die  zweite  durch  stärkere  Beckenneigung, 
breite  Darmbeinschaufeln  und  weit  gestellte  Dornen. 

Da  nun  eine  stärkere  Beckenneigung  (vgl.  Fig.  32)  ebenso  wie 
ein  breites  Becken  für  das  weibliche  Geschlecht  charakteristisch  sind, 
so  können  wir  ohne  weiteres  der  zweiten  Form  den  Vorzug  geben. 

Da  in  diesem  Falle,  bei  stärkerer  Beckenneigung,  die  Scham- 
spalte ebenfalls  mehr  nach  unten  und  hinten  tritt,  so  ergiebt  sich 
daraus  die  weitere  Folge ,  dass  die  Gestaltung  des  Bauches  um  so 
normaler  und  darum  schöner  ist,  je  weniger  in  der  aufrechten 
Stellung  von  vorn  die  Schamspalte  sichtbar  ist. 

Ein  Beispiel  der  ersten  Form  bietet  Fig.  45,  bei  der  das  Becken 
noch  nicht  die  volle  weibliche  Entwickelung  erreicht  hat.  Eine  vor- 
zügliche Ausbildung  der  zweiten  Form  zeigt  Fig.  50,  die  einen  auch 
im  übrigen  völlig  fehlerfreien  Rumpf  aufzuweisen  hat. 

Eine  dritte,  zwischen  Nabel  und  Schamberg  etwas  höher  quer 


*)  Brücke,  Schönheit  und  Fehler  der  menschlichen  Gestalt,  p.  111  ff. 
Stratz,  Die  Schönheit  des  weiblichen  Körpers.  9 


130 


Bauch. 


verlaufende  Linie  er- 
wähnt Richer x)  als 
charakteristisch  für 
das  weibliche  Ge- 
schlecht. Ich  stimme 
ihm  bei,  halte  jedoch 
diese  Linie  für  ein 
Kunstproduct,  da  ich 
sie  nur  zusammen  mit 
anderen  Folgen  von 
starkem  Schnüren  ge- 
sehen habe  (vergl. 
Brücke  1.  c.  p.  87). 

Die  zweite,  zwischen 
Nabel  und  Schamberg 
verlaufende  Linie  darf, 
wie  auch  Langer 2) 
hervorhebt,  nur  an  den 
Seiten  deutlich  sein 
und  muss  in  der  Mittel- 
linie zu  einer  seich- 
ten Furche  verflachen. 
Erst  bei  übermässiger 
Fettbildung  tritt  sie 
schärfer  hervor. 

Der  Nabel  kann 
gross  oder  klein,  flach 
oder  eingezogen  sein, 
hoch  oder  tief  stehen. 
Da  ein  grosser  Nabel 
die  Folge  eines  man- 
gelhaften Verschlusses 
des  Nabelrings  ist,  so 
muss  ein  kleiner  Nabel  schön  sein,  weil  er  die  Folge  besserer  Ent- 


Fig.  50. 


Weiblicher  Körper  mit  schönen  Grenzlinien 
zwischen  Rumpf  und  Schenkeln. 


Anatomie  artistique,  p.  188. 

Anatomie  der  äusseren  Foi'men,  p.  209. 


Kücken.  131 

wickelung  ist.  Und  da  beim  Weibe  eine  stärkere  Fettanhäufung 
um  den  Nabel,  die  denselben  zugleich  vertieft,  zu  den  secundären 
Geschlechtscharakteren  gehört,  so  verdient  bei  ihr  ein  eingezogener 
Nabel  den  Vorzug.  Beim  Kind  steht  der  Nabel  am  tiefsten  und  rückt 
mit  zunehmender  Ausbildung  des  Körpers  bei  beiden  Geschlechtern 
mehr  und  mehr  nach  oben;  Hochstand  des  Nabels  ist  demnach  ein 
Zeichen  besserer  Entwicklung. 

Für  den  Nabel  der  Frau  können  wir  in  Folge  dessen  als  Fehler 
bezeichnen,  wenn  er  gross,  flach  und  tiefstehend,  als  Vorzüge,  wenn 
er  klein,  eingezogen  und  hoch  angesetzt  ist. 

Rücke  n. 

Der  Rücken  bildet  die  gemeinschaftliche  Kehrseite  von  Brust 
und  Bauch.  Seine  schöne  Gestaltung  hängt  in  erster  Linie  vom 
normalen  Bau  der  knöchernen  Unterlage  ab ,  und  dafür  gelten  die- 
selben Vorschriften  wie  oben. 

Die  Wirbelsäule  muss,  von  hinten  beträchtet,  ganz  gerade  ver- 
laufen. Durch  Rhachitis,  durch  unzweckmässige  Lebensweise,  haupt- 
sächlich Ueberanstrengung  in  jugendlichem  Alter  mit  oder  ohne 
Rhachitis,  durch  tuberculöse  Wirbelkrankheiten  können  Verkrüm- 
mungen entstehen,    die    als    ebenso  viele  Fehler  zu  betrachten  sind. 

Im  Profil  muss  die  Wirbelsäule  im  oberen  Brusttheil  etwas 
nach  hinten,  im  Lendentheil  sich  nach  vorn  vorwölben,  wodurch  eine 
leichte  Rundung  in  der  Schultergegend  und  eine  Höhlung  im  Kreuz 
entsteht;  diese  letztere  muss  beim  Weibe  besonders  deutlich  aus- 
geprägt sein,  weil  sie,  zusammen  mit  "der  stärkeren  Beckenneigung, 
ein  secundäres  Geschlechtsmerkmal  bildet. 

Eine  zu  starke  Rundung  des  oberen  Rückentheils,  der  runde 
Rücken,  ist  ein  Fehler.  Derselbe  kann  nicht  bestehen,  ohne  dass 
auch  der  Brustkorb  stark  nach  hinten  tritt  und  deshalb  die  Brust 
flach  wird  und  die  Schultern  nach  vorn  sinken.  Es  ist  bekannt1), 
dass  eine  derartige  Bildung  in  einzelnen  Geschlechtern  erblich  ist 
und  sich  namentlich  bei  Juden  häufig1  findet. 


!)  Vgl.  Hoffa,  Orthopädische  Chirurgie,  p.  221. 


132 


Rücken. 


Fig.  51,   dem  Buche  von  Hoffa  entnommen,  zeigt  den  typischen 
runden  Rücken. 

Hoffa  nimmt  an,   dass  eine  derartige  laxe  Haltung  hauptsäeh- 


Fig.  51.    Runder  Eücken  nach  Hoffa. 


lieh  auf  Willensschwäche  beruht.  Ein  vergleichender  Blick  auf 
Fig.  16  jedoch  lehrt  uns,  dass  mangelhafte  Muskelentwickelung  den- 
selben  Einfluss   ausüben   muss.     Im   ersteren  Fall   müsste    demnach 


Rücken.  133 

durch  Muskelspannung  der  Fehler  ausgeglichen  werden  können,  im 
zweiten  nicht. 

Eine  zu  starke  Höhlung  im  Lendentheil,  der  hohle  Rücken, 
ist  ebenfallst  ein  Fehler,  der  wiederum  ein  starkes  Vorspringen  des 
Bauches  nach  vorn  und  des  Gesässes  nach  hinten  veranlassen  muss. 
Er  findet  sich  physiologisch  in  der  späteren  Zeit  der  Schwanger- 
schaft, bei  der  das  Ueberwiegen  des  stark  gedehnten  Bauches  durch 
Uebersinken  des  Oberkörpers  nach  hinten  ausgeglichen  wird;  dann 
aber  auch  bei  jeder  zu  starken  Neigung  des  Beckens,  wie  sie  nament- 
lich bei  Hüftgelenksentzündung  vorkommt. 

Ein  hohler  Rücken  geht  gepaart  mit  zu  schwacher  Entwicke- 
lung  der  Rückenmuskulatur. 

Als  normale  können  wir  eine  Krümmung  ansehen,  die  ein 
Profil  giebt  wie  Fig.  32. 

Auf  der  Mittellinie  des  Rückens  sind  die  Dornfortsätze  der 
Wirbelbogen  deutlich  durch  die  Haut  fühlbar,  zum  Theil  auch 
sichtbar;  am  stärksten  springt  oben  im  Nacken  der  7.  Halswirbel 
ins  Auge. 

Seitliche  Verkrümmungen  der  Wirbelsäule  haben  stets  auch 
fehlerhafte  Bildung  des  Brustkorbes  zur  Folge. 

Der  Brustkorb  muss  auch  hinten  symmetrisch  gebaut  und  gut 
gewölbt  sein.  Ist  er,  bei  flacher  Brust,  zu  stark  gewölbt,  dann 
treten  die  Schulterblätter  zu  stark  heraus,  und  die  Schultern  sinken 
nach  vorn.  Ist  er,  wie  bei  der  Anlage  zur  Schwindsucht,  zu  lang 
und  zu  schmal,  dann  sinken  die  Schultern  herab  und  heben  den 
unteren  Winkel  der  Schulterblätter  heraus.  Ist  er  ungleichmässig 
entwickelt,  dann  steht  das  eine  Schulterblatt  höher  als  das  andere, 
und  der  eine  Winkel  steht  weiter  entfernt  oder  schiefer  gegen  die 
Mittellinie  als  der  andere. 

Geringere  Fehler  der  Wirbelsäule  sowohl  wie  des  Brustkorbes 
lassen  sich  demnach  am  besten  nach  dem  Stand  der.  Schulterblätter 
beurtheilen. 

So  zeigt  Fig.  52  einen  tieferen  Stand  des  rechten  Schulter- 
blattes mit  stärkerem  Hervortreten  seines  unteren  Randes  als  erstes 
Zeichen  einer  beginnenden  Rückgratverkrümmung  nach  links  mit 
stärkerer  Wölbung1  der  rechten  Hälfte  des  Brustkorbes. 


134 


Rücken. 


Dass  ein  zu  schmales  Becken  die  Gestalt  des  Rückens  ver- 
derben muss,  geht  schon  daraus  hervor,  dass  für  ihn  dasselbe  Ver- 
hältniss  zwischen  Schulterbreite,  Taillenbreite  und  Hüftbreite  be- 
stehen muss,  wie  an  der 
Vorderseite  des  Rum- 
pfes, und  dass  die  Ver- 
ringerung der  Hüftbreite 
den  weiblichen  Ge- 
schlechtscharakter ver- 
schwinden l'ässt. 

Von  besonderer  Wich- 
tigkeit jedoch  ist  das 
Kreuzbein ,  das  beim 
Weibe  sehr  viel  breiter 
ist  als  beim  Manne,  und 
das  zur  Gestaltung  des 
Rückens  um  so  mehr  bei- 
trägt, als  es  dicht  unter 
der  Haut  liegt;  rechts 
und  links  von  ihm  liegen 
die  hinteren  Dornen  der 
von  vorn  kommenden 
Darmbeinkämme,  deren 
Abstand  zugleich  die 
obere  Breite  des  Kreuz- 
beines angiebt  und  min- 
destens 10  cm  betragen 
muss. 

Je  gleichmässiger  die 
Wölbung  der  Darmbein- 
kämme  ist,  desto  besser  wird  die  Wölbung  des  Rückens  in  den 
Lenden,  die  der  unteren  hinteren  Rippenwölbung  entsprechen  muss, 
um  eine  gleichmässige  Spannung  der  daran  befestigten  Muskeln  zu 
ermöglichen. 

Während  die  tiefer  liegenden  Rückenmuskeln  beinahe  alle  mit 
der  Wirbelsäule    parallel   verlaufen   und   die   Skelettheile  verbinden, 


Fig.  52. 


Tiefstand  der  rechten  Schulter  hei  beginnender 
Rückgratsverkrümmung  (nach  Hoffa). 


Rücken. 


135 


abrunden  und  ihre  Uebergänge 
verstreichen  lassen,  sind  die 
höher  liegenden  Rückenmus- 
keln, also  gerade  diejenigen, 
die  der  Oberfläche  das  Relief 
geben,  alle  nach  der  Schulter 
gerichtet  (Fig.  42). 

Um  das  feine  Relief  der 
Rückenmuskeln  zu  verstehen, 
ist  eine  genaue  Kenntniss  der- 
selben nöthig ;  für  unsere  Zwecke 
genügt  es,  darauf  aufmerksam 
zu  machen,  dass  die  meisten 
Muskeln  zum  Schulterblatt  und 
von  diesem  zur  Schulter  ziehen, 
dass  sich  aber  der  grosse  Ka- 
puzenmuskel und  der  breite 
Rückenmuskel  jederseits  dar- 
über hinlegen,  so  dass  sich  an 
ihnen  ausser  ihren  eigenen  auch 
die  Bewegungen  der  darunter 
liegenden  Schulterblattmuskeln 
gewissermassen  verschleiert  in 
wechselvollem  Spiele  markiren. 

Da  die  Muskeln  von  der 
Mitte  nach  rechts  und  links 
verlaufen,  so  wird  sich  zwischen 
den  Muskelbäuchen  bei  guter 
Entwicklung  eine  Rinne  bilden, 
die  um  so  tiefer  wird,  je  stärker 
die  Schultern  nach  hinten  ge- 
zogen werden.  Im  Kreuz  läuft 
diese  Rinne  flach  aus,  weil  hier 
das  knöcherne  Gerüst  der  Haut 
sich  anlegt.  Das  Relief  des  Rückens  wird  vollendet  durch  die  Haut 
mit  ihrem  Fettpolster. 


Fig.  53.    Schön  modellirter  Rücken  eines 
javanischen  Mädchens. 


13(3  Rücken. 

Auf  die  Vertheilimg  des  Fettes  an  den  Schultern  kommen  wir 
noch  zu  sprechen;  für  den  übrigen  Rücken  ist  die  Thatsache  von 
Wichtigkeit,    dass    beim    Weibe    ein    stärkeres    Fettpolster    von   den 


Fig.  54.    Rücken  einer  Pariserin,  durch  Schnüren  verflacht. 

Hüften  aus  über  die  Darmbeinkämme  nach  oben  zieht,  sich  seitlich 
und  oberhalb  der  Kreuzgegend  in  den  Lenden  stark  anhäuft  und 
dieselben  so  abrundet,  dass  sie  in  gieichmässiger  Wölbung  nach  den 
Hüften   hin   abfallen.      Richer   hat    auf    diesen   Umstand    besonders 


Kreuzgrübchen. 


137 


aufmerksam  gemacht  und 
die  diesbezüglichen  Ge- 
schlechts-Unterschiede im 
Bilde  festgehalten  (vergl. 
Fig.  43).  Beim  Manne  bleibt 
der  Darmbeinkamm  stets 
deutlicher  sichtbar.  Am 
Kreuz  haftet  die  Haut  der 
knöchernen  Unterlage  stets 
mehr  an,  am  stärksten  aber 
in  der  Gegend  der  hin- 
teren Dornen,  woselbst  sich 
bei  genügender  Fettbildung 
zwei  Grübchen,  die  Kreuz- 
grübchen, formen,  die,  bei 
seitlicher  Beleuchtung  deut- 
lich sichtbar,  ein  charakte- 
ristisches Zeichen  schöner 
weiblicher  Körperbildung 
sind  (Fig.  53). 

Als  charakteristisch 
für  das  gut  gebaute  Weib 
müssen  wir  ansehen,  dass  der 
Abstand  dieser  Grüb- 
chen mindestens  10  cm 
beträgt  (Breite  des  Kreuz- 
beins), class  sie  gleich- 
massig  rund  und  nicht 
länglich  sind  (breite 
Wölbung  des  Hüftbeins) 
und  dass  ihre  Verbin- 
dung mit  dem  oberen 
Ende  des  Spaltes  zwi- 
schen den  Hinterbacken  einen  Winkel  von  90°  bildet 
(grössere  Kürze  des  Kreuzbeins  als  beim  Manne). 

Eine   derartige   Configuration   des  Rückens,  bei   der   man   mit 


wu 


Verlorenes  Profil  von  Fig.  50  mit  schönen 
Riickenlinien. 


138  Verbindung  des  Rumpfes  mit  Kopf  und  Gliedern. 

Sicherheit  jeden  Einfluss  des  Corsets  ausschliessen  kann,  bietet  das 
javanische  Mädchen  Muakidja  (Fig.  53). 

Das  Schnüren  entstellt  den  Rücken  zwar  weniger  und  später 
als  Brust  und  Bauch,  übt  aber  trotzdem  einen  langsam  sich  steigernden 
nachtheiligen  Einfluss ,  namentlich  auf  die  Entwickelung  und  Aus- 
bildung der  langen  Rückenmuskeln.  Dafür  sprechen  die  Klagen  über 
Rückenschmerzen  von  Frauen,  die  an  das  Corset  gewöhnt  sind  und 
es  zeitweise  ablegen.  Aeusserlich  sichtbar  ist  der  Einfluss  an  den 
schwächer  entwickelten  Weichen  und  an  der  Verflachung  der  mittleren 
Rückenfurche;  später  wird  der  ganze  Rücken  flacher,  das  Muskel- 
relief verliert  sich  ganz,  die  Schulterblätter  stehen  ab,  und  das  Kreuz 
wird  hohl. 

Das  erste  Stadium  bei  noch  gut  erhaltener  Wölbuno;  zeigt  eine 
junge  Pariserin  (Fig.  54). 

Ausser  am  Kreuz  haftet  die  Haut  auch  am  ganzen  Verlauf  der 
Wirbelsäule  fester  an  den  Dornfortsätzen,  so  selbst,  dass  sich  in 
seltenen  Fällen  auch  hier  seichte  Grübchen  bilden.  Je  gleichmässiger 
diese  Anheftung  ist,  desto  deutlicher  zeichnet  sich  die  mittlere  Rücken- 
furche ab ,  die  demnach  einerseits  von  guter  Anheftung  der  Haut, 
andererseits  von  kräftiger  Entwickelung  der  Muskeln  und  guter 
Wölbung  des  Brustkorbs  abhängig  ist. 

Eine  sehr  schöne  Ausbildung  des  Rückens  im  allgemeinen,  der 
mittleren  Rückenfurche  im  besonderen  zeigt  Fig.  55,  die  die  seit- 
liche Ansicht  der  bereits  in  Fig.   50  abgebildeten  Person  giebt. 

Wir  sehen  hier  zugleich,  wie  die  schöne  Gestalt  des  Rückens 
mit  der  von  Brust  und  Bauch  zusammenfällt,  da  die  Schönheit  aller 
dieser  Theile  im  grossen  und  ganzen  von  den  gleichen  Bedingungen 
abhängig  ist. 

Die  Verbindungen  des  Rumpfes  mit  Kopf  und  Gliedmassen. 

Abweichend  von  der  üblichen  Darstellung  habe  ich  die  Be- 
sprechung des  Kopfes  und  des  Rumpfes  in  den  Vordergrund  meiner 
Darstellung  gerückt,  um  nun  erst  den  Hals  lediglich  als  verbinden- 
des  Glied  dieser  Körpertheile  zu  besprechen.  Wenn  ich  dadurch 
der  Gefahr,    in  Wiederholungen    zu   verfallen,    nicht   ganz  entgehen 


Hals.  139 

kann,  ebenso  wie  später  bei  der  Betrachtung  der  Schultern,  so  glaube 
ich.  andererseits  dadurch  an  Deutlichkeit  zu  gewinnen.  Eine  scharfe 
Scheidung  ist  ja,  wie  oben  schon  hervorgehoben,  bei  der  unbe- 
stimmten Begrenzung  ohnehin  erschwert. 

Hals. 

Unter  Hals  versteht  man  die  Verbindung  zwischen  Kopf  und 
Rumpf,  und  zwar  meist  nur  die  vordere  Seite,  während  man  deren 
hinteren  Abschnitt  mit  Nacken  bezeichnet.  Die  Begriffe  sind  auch 
hier  etwas  verwirrt;  anatomisch  am  zweckmässigsten  erscheint  es, 
die  ganze  Verbindung  den  Hals  zu  nennen,  dessen  hintere  bis  an 
das  Schulterblatt  reichende  Hälfte  den  Nacken,  die  vordere  durch 
die  Schlüsselbeine  begrenzte  die  Büste  zu  nennen. 

Im  täglichen  Leben  versteht  man  unter  den  beiden  letzteren 
Begriffen  meist  sehr  viel  grössere  Bezirke,  ja  in  der  Satire  über 
weibliche  Mode  erstreckt  sich  die  Büste  selbst  bis  zum  Nabel. 

Die  knöcherne  Unterlage  des  Halses  wird  gebildet  von  dem 
Halstheil  der  Wirbelsäule,  der  bei  allen  Menschen  bis  auf  einige 
Millimeter  gleich  lang  ist.  Er  verläuft  in  einem  leicht  nach  vorn 
convexen  Bogen. 

Die  obere  Grenze  bildet  vorn  der  Unterkiefer,  hinten  der 
Schädelboden;  die  untere  vorn  das  Schüsselbein,  und  in  der  Kehl- 
grube das  Brustbein,  hinten  der  erste  Brustwirbel  mit  der  sich 
daran  anschliessenden  1.  Rippe  und  das  Schulterblatt.  Wie  man 
sich  leicht  bei  Vergleichung  von  Fig.  29  u.  31  überzeugen  kann, 
liegen  die  hinteren  Grenzen  höher  als  ,die  vorderen,  so  dass  demnach 
der  Hals  im  ganzen  von  oben  und  von  unten  durch  zwei  schräg 
nach  vorn  abwärts  verlaufende  Flächen  begrenzt  wird. 

Es  geht  daraus  ohne  weiteres  hervor,  dass  bei  der  stets  gleichen 
Länge  der  Hals  Wirbelsäule  die  scheinbare  Länge  des  Halses  aus- 
schliesslich abhängt  von  der  Lage  der  oberen  und  unteren  Be- 
grenzung. 

Er  wird  kürzer  erscheinen,  wenn  der  Unterkiefer  sich  nach 
unten  vorschiebt,  oder  wenn  die  Schlüsselbeine  und  der  Brustkorb 
vorn,  die  Schultern  seitlich  sich  heben. 


140  Hals. 

Fig.  56  verdeutlicht  diese  Verhältnisse. 

Bezüglich    der    oberen    Grenze    wissen    wir    bereits,    dass    der 
weibliche  Unterkiefer   klein    und    niedrig  sein   muss;    dies  weibliche 


Fig.  56.    Weiblicher  Hals  und  Schulter  im  Profil. 

I,  II,  III,  IV  i.  bis  4.  Rippe,  K  Kopfnicker  (Sternocleidomastoideus),  31  Mönchskappen 

oder  Kapuzenmuskel  (Trapezius),  D  Schultermuskel  (Deltoideus). 

Geschlechtsmerkmal  hat  demnach  auf  die  Bildung  des  Halses  einen 
massgebenden  Einfluss,  wie  wir  gleich  sehen  werden. 

Die  untere  Grenze  hängt  in  erster  Linie  ab  von  der  Bildung 
des  Brustkorbs. 

Im  Gegensatz    zum  Manne    hat  das  Weib   einen    schmäleren 


Hals.  141 

und  längeren  Brustkorb,  es  wird  sich  demnach  der  Hals  von  der 
Brustwölbung  weniger  scharf  absetzen.  Wenn  jedoch,  wie  bei  dem 
Brustkorb  der  Schwindsüchtigen,  die  Rippen  vorn  nach  abwärts  ver- 
laufen und  weiter  aus  einander  stehen,  dann  wird  nicht  nur  die  Brust 
verflacht,  sondern  es  muss  auch  der  obere  Rand  des  Brustbeins 
herabsinken,  und  mit  ihm  die  inneren  Enden  der  Schlüsselbeine. 
Gleichzeitig  sinken  aber  auch  an  dem  abschüssigen  Brustkorb  die 
Schultern  nach  unten,  so  dass  dadurch  ein  scheinbar  langer, 
dünner  Hals  entsteht,  der  für  Schwindsucht  charakteristisch  und 
darum  nicht  normal  ist. 

Man  muss  jedoch  bedenken,  dass  das  Schlüsselbein  des 
Weibes  dadurch  ausgezeichnet  ist,  dass  es  zierlicher,  gerader 
und  weniger  vorspringend  ist  als  beim  Manne,  und  dass  es  bei 
normal  gebautem  Brustkorb,  demselben  dicht  anliegend,  nach  den 
Schultern  zu  sich  etwas  senkt.  An  den  Schlüsselbeinen  ist  demnach 
die  fehlerhafte  Bildung,  die  den  längeren  Hals  vortäuscht,  erkennbar 
daran,  dass  bei  dem  schmalen,  abschüssigen  Thorax  die  Krümmung 
eine  stärkere  wird,  wodurch  sie  mehr  hervorstehen,  und  dass  die 
inneren  Enden  an  der  Kehlgrube  tiefer  stehen. 

Bei  frühzeitiger  Verknöcherung  durch  Rhachitis  entsteht  ein 
plumper,  breiter,  dabei  aber  häufig  flacher,  selbst  eingedrückter 
Brustkorb,  zugleich  mit  Verdickung  und  Verkrümmung  der  Schlüssel- 
beine. 

Die  verdickten  und  unregelmässig  gekrümmten  Rippen  bilden 
mit  den  stark  vorspringenden  Schlüsselbeinen  eine  viel  dickere  und 
plumpere  Masse,  die  zwar  in  normaler  Höhe  steht,  aber  durch  ihre 
Massenzunahme  den  Hals  kürzer  und  dicker  erscheinen  lässt.  Zu- 
gleich aber  treten  aus  demselben  Grunde  die  Schulterknochen  stärker 
hervor  und  mehr  nach  oben,  wodurch  die  Kürze  des  Halses  noch 
erhöht  wird. 

Wir  sehen  daraus,  dass  die  Gestaltung  des  Halses,  was  das 
Skelet  anlangt,  lediglich  abhängt  von:  der  Kleinheit  der  Unterkiefer, 
dem  geraden  und  schlanken  Verlauf  der  Schlüsselbeine  und  der 
guten  und  gleichmässigen  Wölbung  des  Brustkorbes. 

Als  Fehler  haben  wir  demnach  zu  betrachten:  starke  Ent- 
wickelung    des    Unterkiefers    nach    der    Länge    und    Breite,    starke 


142  Hals. 

Krümmimg,  Verdickung  und  Vorspringen  der  Schlüsselbeine,  zu 
schmalen  und  abschüssigen,  oder  zu  breiten  und  plumpen  Brustkorb. 

Von  den  Muskeln  sind  es  namentlich  der  Kopfnicker  und  die 
Kapuzenmuskeln,  welche  die  Form  des  Halses  beeinflussen.  Ihr  Ver- 
lauf erhellt  aus  den  Fig.  56,  41  u.  42. 

Die  Kopfnicker  laufen  beiderseits  von  der  Kehlgrube  und  dem 
inneren  Schlüsselbeinrand  nach  oben  hinter  das  Ohr.  Der  vordere 
Theil  des  Halses  zwischen  ihnen  ist  durch  den  Kehlkopf,  die  Luft- 
röhre, die  Speiseröhre  und  die  kleineren,  sie  umgebenden  Muskeln 
angefüllt.  Die  Kapuzenmuskeln  gehen  vom  seitlichen  Ende  des 
Schlüsselbeins  und  vom  oberen  Rand  des  Schulterblatts  fächerförmig 
nach  der  Wirbelsäule  und  dem  Hinterkopf.  Ihre  Wölbung  bildet 
die  Nackenlinie.  Zwischen  beiden  Muskeln  bleibt,  wie  auf  Fig.  56 
ersichtlich,  der  mittlere  Theil  des  Schlüsselbeines  frei,  über  dem  bei 
ungenügender  Entwickelung  des  Fettpolsters  die  so  sehr  gefürchteten 
als  Salzfässer  bezeichneten  Gruben  sich  bilden. 

Die  übrigen  Muskeln  des  Halses  beeinflussen  die  äussere  Ge- 
stalt desselben  nicht.  Die  beiden  genannten  Muskeln  sind  bei  guter 
und  gleichmässiger  Entwickelung  bei  allen  Bewegungen  des  Kopfes 
sichtbar,  in  der  geraden  aufrechten  Stellung  des  Kopfes  nach  vorn 
jedoch  müssen  sie  sich  in  der  gleichmässigen  Rundung  des  Halses 
verlieren  mit  Ausnahme  des  vorderen  Ansatzes  der  Kopfnicker  neben 
der  Kehlgrube. 

Diese  letztere  muss  deutlich  erkennbar  sein  (vgl.  Fig.  24) :  ihr 
Fehlen  deutet  auf  Schwellung  der  darunter  liegenden  Schilddrüse, 
demnach  auf  Anlage  zum  Kropf,  die  krankhaft  und  unschön  ist. 

Die  Haut  des  Halses  ist  vorne  zart,  im  Nacken  etwas  dicker 
und  den  übrigen  Weichtheilen  fester  anhaftend.  Das  unter  ihr 
liegende  Fettpolster  rundet  die  Form  des  Halses  ab.  An  der  vor- 
deren Seite  zwischen  den  Kopfnickern  umgiebt  es  die  tieferliegenden 
Organe,  von  denen  der  Kehlkopf  das  wichtigste  ist.  Da  dieser  beim 
Manne  als  Adamsapfel  stark  vorspringt,  so  muss  eine  flache  gleich- 
massige  Wölbung  dieser  Stelle  als  für  das  weibliche  Geschlecht 
charakteristisch  als  besonderer  Vorzug  gelten. 

Beim  Kopf  ist  hervorgehoben  worden,  dass  das  Fettpolster 
sich  seitlich  in  den  Wangenparthien  stärker  anhäuft.    Bei  schmalem 


RÜCKANSICHT   EINES  JUNGEN   MÄDCHENS 

Nach    einer   ALqraphie    von    Cornelia    Faczka. 


Hals.     Nacken.  143 

Unterkiefer  geht  das  Fettpolster  gleichmässig  in  das  des  Halses 
über,  so  dass  wir  das  Verstreichen  der  Unterkieferwinkel  und 
den  weicheren  Uebergang  der  Wangen  zur  vorderen  Hals- 
f lache  als  Vorzüge  betrachten  müssen,  weil  sie  dem  weiblichen 
Geschlecht  angemessen  sind. 

Aus  demselben  Grunde  muss  im  Profil  die  Ümrisslinie  vom 
Kinn  zum  Halse  weich  sein  und  einen  möglichst  stumpfen 
Winkel  bilden,  da  das  Gegentheil  nur  bei  starker,  männlicher  Ent- 
wickelung  des  Unterkiefers  möglich  ist. 

Ueber  die  gute  Füllung  der  Schlüsselbeingruben  ist  bereits 
gesprochen. 

Treffen  alle  diese  Bedingungen  ein,  dann  bildet  der  Hals  von 
den  Wangen  herab  vorn  eine  gleichmässig  gerundete,  allmählig  breiter 
werdende  Fläche,  die  ohne  scharfe  Abgrenzung  gleichmässig  über 
die  Schlüsselbeine  in  die  Brustwölbung  übergeht. 

Ueber  dem  Kehlkopf  finden  sich  eine  oder  mehrere  horizontal 
verlaufende  Furchen,  das  sogenannte  Collier  de  Venus;  sie  sind  ein 
Zeichen  guter  Spannung  bei  elastischer  Haut  und  normalem  Fett- 
polster, und  finden  sich  stets  bei  Kindern  und  jugendlichen,  gut- 
genährten Individuen.  Da  sie  nur  bei  weichen  Formen  vorkommen 
können,  so'  sind  sie  ein  besonderer  Vorzug  weiblicher  Bildung. 

Nicht  zu  verwechseln  sind  diese  nur  zart  angedeuteten  Quer- 
linien über  der  Kehle  mit  den  höheren,  unter  dem  Doppelkinn  bei 
zu  starker  Fettentwickelung  sich  bildenden  Querfalten. 

Die  zur  Schulter  herabreichende  Halsnackenlinie  wird,  wie  ge- 
sagt, durch  die  obere  Wölbung  des  Kapuzenmuskels  gebildet,  der 
sich  am  Rücken  und  der  hinteren  Schulter gegend  gleichmässig  aus- 
breitet und  den  Nacken  in  weichen  Linien  mit  Rücken  und  Schultern 
verstreichen  lässt.  Zu  starke  Ausbildung  dieses  Muskels  bildet  bei 
Ringkämpfern  den  sogenannten  Stiernacken  und  ist  bei  Frauen 
darum  hässlich.  Bei  gleichmässiger  Entwickelung  des  Muskels,  der 
Haut,  sowie  auch  der  knöchernen  Unterlage,  muss  der  Nacken  nach 
beiden  Schulterblättern  in  gleichmässiger  Wölbung  herabziehen  und 
in  der  Mitte  unter  dem  7.  Halswirbel  sich  allmählig  zur  mittleren 
Rückenfurche  verflachen. 

Man  hat  den  dünnen  Hals  als  ein  Zeichen  der  Juno-fräulichkeit 


144  Schultern. 

angesehen  und  behauptet,  dass  selbst  einmaliger  Greschlechtsgenuss 
sich  sofort  in  einer  Dickenzunahme  des  Halses  verrathe.  Ich  habe 
mich  persönlich  von  der  Richtigkeit  dieser  Annahme  nicht  über- 
zeugen können. 

Dass  der  Umfang  des  Halses  gleich  dem  der  Wade  sein  müsse, 
hat  Brücke1)  widerlegt,  der  durch  Messungen  nachgewiesen  hat. 
dass  bei  gieichmässiger  Entwickelung  die  Wade  stets  dicker  ist  als 
der  Hals. 

Schultern. 

Die  Verbindung  des  Rumpfes  mit  den  oberen  Grliedmassen  ist 
die  Schulter.  Ihre  Form  hängt  zunächst  ab  von  der  knöchernen 
Unterlage,  von  der  wir  bereits  ausführlich  gesprochen  haben. 

Normale  Verhältnisse  verlangen  demnach  gute  und  gleich- 
massige  Wölbung  des  Brustkorbs,  gerades,  gestrecktes,  der  Brust- 
contour  sich  anschmiegendes  Schlüsselbein,  gut  anliegendes,  flaches 
Schulterblatt. 

Die  Muskeln,  welche  vom  Schulterblatt  zum  Arm  ziehen, 
werden  alle  bedeckt  durch  den  grossen  Schultermuskel  (Deltoideus. 
Fig.  56),  der  hauptsächlich,  bei  übrigens  guten  Verhältnissen,  die 
Form  der  Schulter  bedingt.  Er  entspringt  vom  seitlichen  unteren 
Rand  des  Schlüsselbeins  und  vom  Kamm  des  Schulterblatts,  bildet 
demnach  eine  Fortsetzung  des  Kapuzenmuskels  unterhalb  dieser 
knöchernen  Leiste. 

Auf  den  Fig.  41,  42  u.  56  lässt  sich  seine  Lage  und  deren 
Einfluss  auf  die  Form  der  Schulter  leicht  erkennen;  sehr  schön  aus- 
geprägt ist  er  auf  Fig.  17. 

Er  dient  hauptsächlich  zum  Heben  des  Arms  und  zum  Halten 
desselben  in  erhobener  Stellung.  Von  vorn  schliesst  sich  ihm  un- 
mittelbar der  grosse  Brustmuskel  an,  der  neben  ihm  am  Oberarm- 
bein sich  befestigt. 

Von  der  guten  Entwickelung  des  Schultermuskels  hängt  die 
gleichmässige  kräftige  Abrundung  der  Schulter  ab.  die  sich  durch 
stärkere  Absetzung  gegen  den  übrigen  Arm  von  einer  anderen  durch 

x)  1.  c.  p.  16. 


Schultern.  145 

Fettanhäufung  bedingten  Schulterrundung  unterscheidet.  Diese  letztere 
ist  ein  Zeichen  reiferen  Alters  und  darum  ein  Fehler,  sobald  sie  die 
darunter  liegenden  Muskelbäuche  verdeckt. 

Die  schöne  Form  der  Schulter  kann  durch  Muskelübung, 
Heben  der  Arme  etc.  hervorgehoben  und  durch  sie  auch  erhalten 
werden.  Brücke1)  hebt  hervor,  dass  die  Albanerinnen,  die  ihre 
Lasten  mit  erhobenen  Armen  auf  dem  Kopfe  tragen,  besonders 
schöne  Schultern  besitzen. 

Von  der  guten  Gestaltung  dieser  Muskeln,  die  ja  auch  bei 
normalen  Verhältnissen  eine  analoge  Ausbildung  der  übrigen  Muskeln 
zur  Folge  haben  muss,  hängt  eine  Bildung  an  der  weiblichen  Schulter 
ab,  die  sich  bald  mehr,  bald  weniger  deutlich  auch  in  der  Ruhe 
findet;  dies  sind  ein  oder  zwei  flache  Grübchen  an  der  Stelle,  wo  die 
Haut  dem  Kamm  des  Schulterblattes  an  der  Grenze  zwischen  Ka- 
puzenmuskel und  Schultermuskel  fester  anhaftet. 

Wird  der  Arm  gehoben  und  dadurch  der  Schultermuskel  ver- 
kürzt und  verdickt,  so  vertiefen  sich  diese  Grübchen  zu  einer  halb- 
mondförmigen Furche,  die  sich  um  die  hintere  und  obere  Ansatz- 
stelle des  Muskels  bildet  (vgl.  Fig.  67  rechter  Arm). 

Diese  Erscheinung  ist  demnach  als  ein  Zeichen  guter  Muskel- 
bildung und  demnach  als  Vorzug  anzusehen. 

Der  Stand  der  Schultern  ist  sehr  wechselnd.  Schon  bei  dem- 
selben Individuum  werden  bei  jedem  Athemzuge  die  Schultern  mit 
dem  Brustkorb  gehoben  und  gesenkt.  Jede  Bewegung  des  Armes 
verändert  den  Umriss  und  den  Stand  der  Schulter  (vgl.  Fig.  41,  42). 

Wir  müssen  demnach  zur  Vergieichung  stets  einen  symme- 
trischen Stand  mit  herabhängenden  -  Armen  einnehmen  lassen ;  die 
Bewegungen  können  uns,  namentlich  bei  seitlicher  Beleuchtung, 
werthvolle  Aufschlüsse  über  die  Entwickelung  der  Muskeln  verschaffen. 

Die  Achselhöhle  ist  nur  bei  erhobenem  Arm  sichtbar.  Ihre 
Grenzen  bilden,  wie  bereits  gesagt,  vorn  der  untere  Rand  des  grossen 
Brustmuskels,  hinten  der  äussere  Rand  des  grossen  Rückenmuskels. 
In  der  Tiefe  ist  sie  mit  einem  dicken  Fettpolster  versehen,  das  be- 
sonders zwischen  Brustmuskel  und  Brustkorb  kräftio-  entwickelt  ist. 


*)  1.  c. 
Stratz,  Die  Schönheit  des  weiblichen  Körpers.  10 


146  Hüften. 

Ihre  normale  Gestaltung  wird  abhängen  von  der  guten  Entwicke- 
lung  der  sie  bildenden  Muskeln  und  von  guter  Wölbung  des  Brust- 
korbes. 

Die  Haut  ist,  der  grossen  Beweglichkeit  des  Armes  entsprechend, 
in  der  Achselhöhle  sehr  locker  an  der  Unterlage  befestigt,  während 
sie  an  der  Schulter  etwas  fester  mit  den  darunter  liegenden  Muskeln 
verbunden  sein  muss. 

Von  der  Behaarung  der  Achselhöhle  gilt  das  bereits  von  der 
übrigen  Körperbehaarung  Gesagte.  Als  Zeichen  der  Reife  ist  ein 
zarter  Flaum  normal  und  darum  schön;  starke  Behaarung  ist  bei 
der  Frau  hässlich,    weil  sie  ans  Männliche  und  Thierische  erinnert. 

Hüften   und   G  e  s  ä  s  s. 

Die  knöcherne  Grundlage  für  die  Hüfte  und  das  Gesäss  bilden 
die  Beckenschaufeln,  die  in  der  Mitte  durch  das  keilförmig  sich  ein- 
schiebende Kreuzbein  von  einander  geschieden  sind. 

Für  das  weibliche  Geschlecht  charakteristisch  ist  eine  breite, 
niedrigere,  weit  ausgebuchtete  Beckenschaufel,  ein  in  seinem  oberen 
Theil  breiteres  und  zugleich  kürzeres  Kreuzbein  und  eine  stärkere 
Beckenneigung,  durch  die  ein  hohleres  Kreuz  bedingt  wird. 

Diesen  Ansprüchen  muss  bei  guter  Bildung  die  knöcherne 
Unterlage  genügen,  ausserdem  muss  das  Becken  symmetrisch  sein 
und  keine  Zeichen  von  Rhachitis  erkennen  lassen. 

Nach  aussen  unter  die  Haut  tritt  nur  der  obere  Band  der 
Beckenschaufel,  der  Kamm,  der  am  vorderen  Dorn  am  deutlichsten 
fühlbar,  in  gieichmässigem ,  an  der  Seite  höher  stehendem  Bogen 
nach  hinten  verlaufen  muss;  sein  hinteres  Ende  ist  erkennbar  an 
den  bereits  erwähnten  Grübchen  über  den  hinteren  Dornen. 

Zur  Beurtheilung  der.  richtigen  Verhältnisse  dienen  die  oben 
bereits  erwähnten  Breitenmasse. 

Die  vorderen  Muskeln  der  Hüfte  treten  in  der  Tiefe  vom 
Becken  an  den  Oberschenkelknochen,  so  dass  sie  mit  den  Schenkel- 
muskeln eine  Masse  bilden,  die  durch  das  Leistenband  vom  Bauche 
scharf  geschieden  ist.  Bei  Beugung  des  Oberschenkels  tritt  diese 
Grenze  noch  schärfer  hervor. 


Gesäss.  147 

Der  hintere  Theil  der  Hüfte  dagegen  erhält  seine  Form  haupt- 
sächlich durch  die  grossen  Gresässmuskeln  [(vgl.  Fig.  42),  die  in 
kräftiger  Fleischmasse  vom  hinteren  Theil  des  Kammes  und  vom 
äusseren  Rand  des  Kreuzbeins  nach  der  hinteren  und  äusseren  Fläche 
des  Oberschenkelknochens  hinziehen. 

Durch  den  oberen  Ansatz  dieser  Muskeln  wird  zugleich  die 
untere  Begrenzung  des  Kreuzdreiecks  stärker  ausgedrückt,  die 
sich  von  den  Kreuzgrübchen  bis  zum  oberen  Ende  der  Spalte  er- 
streckt, und  dort  in  rechtem  Winkel  mit  der  gegenüberliegenden 
zusammentrifft. 

Innerhalb  dieses  Dreiecks  haftet  die  Haut  der  Unterlage  fester 
an,  so  dass  sich  daselbst  nur  ein  massiges  Fettpolster  entwickeln  kann. 

Der  Abrundung  der  weiblichen  Formen  entsprechend,  ist  die 
Entwickelung  des  Fettpolsters  gerade  in  dieser  Gegend  von  grosser 
Bedeutung. 

Im  Gegensatz  zum  Manne  zieht  es  sich  beim  Weibe  seitlich 
über  die  breiteren  und  flacheren  Kämme  ununterbrochen  nach  der 
Lendengegend  hinauf  (vgl.  Fig.  43),  wodurch  die  Hüften  noch  breiter 
und  höher  erscheinen  und  den  weiblichen  Geschlechtscharakter  noch 
mehr  hervorheben. 

Bei  guter  Bildung  muss  demnach  in  der  seitlichen  Ansicht  die 
Hüfte  bis  an  die  Taille  eine  gleichmässig  gerundete  Fläche,  um  den 
Oberschenkelknorren  dagegen,  wo  die  Haut  der  Unterlage  wieder 
fester  anhaftet,  eine  flache  halbrunde  Grube  bilden.  Diese  Gestal- 
tung tritt  auch  bei  im  übrigen  mageren  Individuen  deutlich  hervor 
(Fig.  57). 

Sehr  schön  und  gleichmässig;«  ist  der  Uebergang  des  Ober- 
schenkeis  zur  Hüfte  in  Fig.  55. 

Unterhalb  des  Gesässmuskels  ist  die  Haut  mit  sehr  kräftigem 
Bindegewebe  an  das  Sitzbein  befestigt,  so  dass  diese  Befestigungen 
beiderseits  im  Halbkreis  in  der  Spalte  nach  oben  zusammenlaufen 
und  gewissermassen  zwei  Hauttaschen  formen,  in  die  die  Gesäss- 
muskeln  eingelagert  sind.  Wie  aus  Fig.  42  ersichtlich,  füllen  die 
Muskeln  jedoch  nicht  den  ganzen  Raum  aus,  der  im  übrigen  durch 
ein  sehr  pralles  und  reichliches  Fettpolster  austapezirt  ist.  Dieses 
wölbt    zusammen    mit    den    Muskeln    die    Hinterbacken    in    kräftiger 


148 


Hüften  und  Gesäss 


Rundung  hervor.  Der 
Form  des  Beckens  ent- 
sprechend sind  dieselben 
bei  der  normal  gebauten 
Frau  breiter,  niedriger, 
und  stärker  abgerundet 
als  beim  Manne ,  und 
treten ,  der  grösseren 
Beckenneigung  entspre- 
chend, stärker  hervor. 

Ausser  dem  guten 
Bau  des  Beckens  tragen 
demnach  kräftige  Mus- 
kulatur, pralles  Fettpol- 
ster und  elastische  Haut 
bei  zur  schönen  Gestal- 
tung des  Gresässes. 

Je  elastischer  die 
Haut  ist,  desto  kräftiger 
wird  sich  die  Falte  unter 
den  Hinterbacken  span- 
nen, und  desto  praller 
werden  sich  dieselben 
darüber  vorwölben;  da 
ausserdem  bei  elastischer 
Haut  deren  Befestigung 
im  Umkreise  des  Ober- 
schenkelknorrens ein 
stärkerer  ist,  so  wird 
das  Fettpolster  sich  mehr 
nach  der  Mitte  zu  aus- 
dehnen und  dadurch 
einen  stärkeren  Ver- 
schluss der  mittleren  Gesässspalte  mit  gleichzeitiger  Vertiefung  der- 
selben zur  Folge  haben. 

Die  unteren  Querfalten  ändern  sich  mit  der  Stellung;  je  stärker 


Fig.  57. 


Abrundung  der  Hüfte  bei  einer  jungen 
Engländerin 


Hüften  und  Gesäss.  149 

das  Bein  nach  aussen  gehoben,  oder  das  Becken  an  der  einen  Seite 
gesenkt  wird,  desto  schräger  nach  unten  wird  die  Falte  verlaufen 
und  zugleich  nach  aussen  sich  mehr  und  mehr  abflachen  (vgl.  Fig.  54). 
Noch  mehr  ist  dies  der  Fall  bei  Beugung  des  Oberschenkels  nach 
vorn.     Bei  starker  Beugung  verstreicht  die  Falte  völlig. 

Nach  aussen  verliert  sich  die  Falte  allmählig  in  der  Oberfläche 
des  Schenkels. 

Unter  dieser  Falte  findet  sich  häufig  eine  zweite,  etwas  seich- 
tere. Sie  ist  ein  Vorzug,  da  sie  sich  nur  bei  Frauen  findet,  und 
auch   bei   diesen   nur    bei   elastischer  Haut    mit    prallem  Fettpolster. 

Von  hinten  lässt  sich  diese  Falte  bei  geeigneter  Beleuchtung 
(Fig.  54)  leicht  erkennen,  im  Profil  giebt  sie  dem  Umriss  das  cha- 
rakteristisch Weibliche,  indem  sie  den  Uebergang  von  der  Hinter- 
backe zum  Schenkel  in  einem  weicheren,  doppelt  gebrochenen  Winkel 
vermittelt  (Fig.  55),  während  derselbe  beim  Manne  trotz  des  geringeren 
Umfangs  des  Gesässes  viel  schärfer  accentuirt  ist. 

Jedes  Abweichen  von  den  angegebenen  Formen  muss  als 
Fehler  bezeichnet  werden.  Zu  starkes  Klaffen,  zu  geringe  Wölbung 
der  Hinterbacken  bei  ungenügender  Fettentwickelung,  zu  kräftiges 
Hervortreten  und  Verschwommensein  der  Formen  bei  zu  starker 
Fettablagerung,  stark  nach  unten  verlaufende  Falten  bei  zu  schmalem 
Becken  mit  hohem  Kreuz,  alles  dies  sind  Fehler,  die  sich  von  selbst 
aus  dem  oben  Gesagten  ergeben. 

Hierbei  muss  noch  hervorgehoben  werden,  dass  zu  starke  Fett- 
entwickelung stets  mit  Verringerung  der  Elasticität  der  Haut  ge- 
paart ist ,  so  dass  die  gewucherten  Massen  schlaff  herabhängen. 
Sehr  häufig  findet  sich  eine  solche  loca'le  Fettanhäufung  bei  zu 
starkem  Schnüren,  wodurch  das  Fett  aus  der  Lendengegend  herab- 
gedrängt wird. 

Richer l)  hat  darauf  aufmerksam  gemacht ,  dass  eine  abnorme 
Fettanhäufung  an  Hüften  und  Gesäss  sich  bei  europäischen  Frauen 
in  grösserem  oder  geringerem  Masse  ziemlich  häufig  findet.  Mir 
scheint,  wie  gesagt,  das  Schnüren  als  ursächliches  Moment  von 
grosser  Wichtigkeit. 


Anatomie  artistique,  p.  86. 


150 


Hüften  und  Gesäss. 


Erste  Zeichen  des  Verwelkens. 


Tritt  nach  stärkerer  Fülle 
wieder  Abmagerung  ein,  dann 
zeigt  sich  dies  am  Gesäss  daran, 
dass  sich  an  dem  inneren  Winkel 
mit  dem  Schwinden  des  Fett- 
polsters die  Haut  zunächst  in 
leichte  quere  Falten  legt. 

In  leichtem  Masse  zeigt 
dies  Fig.  58  an  der  linken 
Seite.  An  derselben  Figur  ist 
die  beginnende  Abmagerung 
sichtbar  am  stärkeren  Hervor- 
treten der  Schulterblätter,  so- 
wie aus  der  stärkeren  Wölbung 
des  unteren  Theils  und  dem 
Herabsinken  der  Brüste. 

Diese  Zeichen  zeigen,  wie 
die  ersten  fallenden  Blätter,  das 
Herannahen    des  Herbstes   an. 

Bei  den  kurzlebigen  Künst- 
lermodellen, denen  dies  Mäd- 
chen auch  angehört,  finden  sie 
sich  sehr  bald. 

Bei  noch  stärkerer  Abmage- 
rung zeichnen  sich  schliesslich 
unter  der  Haut  ausschliesslich 
die  vermagerten  Bündel  derGe- 
sässmuskel  ab,  während  neben 
der  klaffenden  Spalte  das  letzte 
Fett  in  zwei  schlaffen  Haut- 
säckchen  herabhängt. 

In  vortrefflicher  Weise  hat 
Richer  in  seiner  Figur  „La 
paralysie  agitante"  neben  allen 
anderen     auch     dieses    Kenn- 


zeichen des  Greisenalters  zum  Ausdruck  gebracht. 


Obere  Gliedmassen.  151 


c)  Obere  Gliedmassen. 

Ueber  die  Yerbältnisse  der  oberen  Gliedmassen  zum  übrigen 
Körper  wissen  wir  bereits,  dass  bei  richtiger  Länge  derselben  das 
Handgelenk  des  herabhängenden  Arms  ungefähr  in  der  Höhe  der 
Schamtheile  zu  stehen  kommt,  während  der  Ellenbogen  etwa  die  Höhe 
der  Taille  erreicht. 

Ferner  ist  der  Abstand  des  Schultergelenks  vom  Ellenbogen- 
gelenk  gleich  gross  wie  von  der  gegenüberliegenden  Brustwarze,  vom 
Ellenbogengelenk  bis  zum  Handgelenk  gleich  dem  Abstand  der 
Brustwarze  vom  Nabel. 

Die  Länge  der  Hand  entspricht  dem  Abstand  vom  Nabel  bis 
zum  Hüftgelenk  und  beträgt  ausserdem  ein  Neuntel  der  Körperlänge 
(nach  Langer). 

Ein  genauestes  Eingehen  auf  alle  Einzelheiten,  wie  dies  Richer, 
Langer  und  Brücke  gethan  haben,  erfordert  eine  sehr  ausgebreitete 
anatomische  Kenntniss,  der  wir  für  unsere  Zwecke  eine  ebenso 
genaue  Kenntniss  der  Krankheitserscheinungen  beifügen  müssten. 
Ich  will  diese  beim  Leser  nicht  voraussetzen  und  ihn  auch  nicht 
durch  die  Fülle  der  Einzelheiten  zu  sehr  ermüden  und  beschränke 
mich  darum  auf  die  wichtigsten,  häufigsten  und  am  leichtesten  er- 
kennbaren Fehler. 

Ebenso  wie  bei  den  übrigen  Körpertheilen  hängt  auch  bei  den 
Gliedmassen,  den  oberen  sowie  auch  den  unteren,  die  Form  in  erster 
Linie  von  der  Bildung  des  Skelets  ab. 

Am  Oberarm  besteht,  wie  am  Oberschenkel,  das  Skelet  aus 
einem,  am  Unterarm  und  am  Unterschenkel  aus  je  zwei  Röhren- 
knochen. 

An  allen  diesen  Röhrenknochen  macht  sich  als  häufigste  Ent- 
stellung der  Einfluss  der  Rhachitis  in  stets  derselben  charakteristi- 
schen Weise  geltend. 

Das  Wesen  der  Rhachitis  besteht,  wie  gesagt,  in  einer  ab- 
normen Weichheit  der  Knochen,  auf  die  dann  eine  abnorme  Ablage- 
rung von  harter  Knochenmasse  folgt. 

An  den  Röhrenknochen   haben   wir    ein    schlankeres,    längeres 


152  Arm. 

Mittelstück  (die  Diapkyse)  und  zwei  kürzere,  dickere  Gelenkenden 
(die  Epiphysen)  zu  unterscheiden.  Der  Einfluss  der  Rliacliitis  äussert 
sich  nun  bei  den  Röhrenknochen  in  der  Weise,  dass  das  Mittelstück 
nur  wenig  kürzer  und  dicker,  jedoch  mehr  oder  weniger  stark  ver- 
krümmt wird,  an  den  Gelenkenden  jedoch  tritt  eine  viel  stärkere 
Dickenzunahme  ein,  die  mehr  weniger  auch  die  Krümmung  der  Ge- 
lenkflächen und  damit  den  Stand  der  Gliedmassentheile  zu  einander 
beeinflusst. 

Am  Arm  können  wir  die  Verdickung  des  Oberarmbeinkopfes 
an  der  Schulter  wegen  der  darüber  liegenden  Muskeln  nicht  wahr- 
nehmen, eine  Verkrümmung  des  Mittelstückes  schon  eher,  ganz 
deutlich  aber  die  Verdickung  des  unteren  Endes  am  Ellenbogen,  die 
namentlich  an  der  inneren  Seite,  entsprechend  der  grösseren  Knochen- 
masse, stark  auffällt. 

Die  Folge  dieser  stärkeren  Auftreibuno;  des  inneren  an  und 
für  sich  schon  dickeren  Gelenkendes  ist,  dass  die  Gelenkfläche  des 
Ellenbogens  noch  stärker  als  normal  in  einer  nach  aussen  ansteigenden 
Linie  verläuft.  Demnach  muss  auch  der  Unterarm  sich  schief  an- 
setzen, so  dass  er  bei  Streckung  des  ganzen  Armes  schief  nach 
aussen  verläuft. 

Wir  haben  also  als  Fehler,  verursacht  durch  Rhachitis  des 
Oberarmknochens,  zu  verzeichnen:  Verdickung  des  Ellenbogen- 
gelenks, namentlich  in  der  Breite  und  am  inneren  Rand.  Schiefer 
Ansatz  des  Vorderarms  (vgl.  Fig.  14,  rechter  Arm). 

Wenn  wir  die  Hand  auf  die  gegenüberliegende  Schulter  legen, 
dann  fühlen  wir  am  Unterarm  eine  gerade  knöcherne  Leiste,  die 
vom  Ellenbogen  zur  Kleinfingerseite  der  Hand  verläuft,  den  äusseren 
Rand  der  Elle  (Ulna).  An  diesem  Knochen  äussert  sich  die  Rhachitis 
gleichfalls  durch  Verdickung  der  Gelenkenden. 

Das  obere  Ende  läuft  in  einen  rundlichen  Knopf  (Olecranon) 
aus,  der  sich  bei  gestrecktem  Arm  in  den  Oberarmknochen  hinein- 
senkt.  Bei  guter  Bildung  entsteht  dann  in  der  daselbst  fester  an- 
haftenden Haut  ein  Grübchen,  bei  Verdickung  des  Olecranon  aber 
durch  Verschiebung  der  Haut  eine  oder  mehrere  Falten. 

Das  untere  Ende  ist  das  Ellenbeinköpfchen  (Capitulum)  am 
Kleinfingerrande    des  Handgelenks,    dessen   kugelige  Verdickung  als 


Ellenbogen.  153 

eines  der  charakteristischen  Zeichen  von  Rhachitis  bereits  oben  er- 
wähnt wurde  (vgl.  Fig.  14,  linker  Arm,  Fig.  15  ebenso). 

Der  zweite  Knochen  des  Unterarms,  die  Speiche  (Radius I.  ist 
in  seinem  oberen  Verlauf  durch  die  Muskeln  bedeckt,  am  Hand- 
gelenk aber  legt  sich  sein  breites  unteres  Ende  neben  das  Ellen- 
köpfchen und  giebt  bei  rhachitischer  Verdickung  dem  Handgelenk 
eine  plumpe,  breite  Form. 

Als  durch  Rhachitis  veranlasste  Fehler  des  Unterarms  können 
wir  demnach  nennen:  Verdickung  des  Handgelenks  mit  kugel- 
förmigem Hervortreten  des  Ellenköpfchens.  Verdickung  des 
oberen  Ellenköpfchens  mit  Faltenbildung  an  der  Hinter- 
seite des  Ellenbogens  bei  Streckung  und  spitzem  Hervor- 
treten desselben  bei  Beugung. 

Der  spitze  Ellenbogen  (Fig.  15  rechter  Arm)  kann  aber 
ausser  durch  Rhachitis  auch  durch  anderweitige  Vergrösserung  des 
Olecranon,  z.  B.  durch  starke  Muskelarbeit  in  früher  Jugend,  ent- 
stehen, doch  ist,  wie  überhaupt,  so  auch  in  solchen  Fällen,  nicht 
mit  Sicherheit  auszumachen,  inwieweit  dann  die  Weichheit  der 
Knochen  durch  die  Jugend,  inwieweit  durch  die  Rhachitis  bedingt 
ist.  Die  einfachste  Erklärung  ist  wohl  die,  der  auch  Vierordt  zu- 
gethan  ist,  dass  eben  leichtere  Formen  von  Rhachitis  viel  häufiger 
vorkommen,  als  man  im  allgemeinen  anzunehmen  geneigt  ist. 

Um  die  richtige  Lage  der  Armknochen  zu  einander  zu  be- 
stimmen, lässt  man  den  Arm  gestreckt  herabhängen  und  die  Hand 
so  drehen,  dass  die  Hohlhand  nach  vorn  sieht  (Supination,  vgl. 
Fig.  29  rechter  Arm).  Dann  muss  eine  gerade  Linie,  die  die  Mitte 
des  Schulter-  und  des  Ellenbogengelenks  verbindet,  mit  ihrer  Ver- 
längerung zwischen  dem  vierten  und  fünften  Finger  durchgehen; 
dies  Verhältniss  zeigt  die  Normalgestalt  von  Merkel.  . 

Brücke,  Ricker  u.  a.  nehmen,  namentlich  für  den  Mann,  an, 
dass  die  Verlängerung  dieser  Linie  das  Handgelenk  überhaupt  nicht 
trifft,  so  dass  nach  ihnen  der  schiefe  Ansatz  des  Vorderarms  als 
normal  gilt.  Es  scheint  in  der  That,  dass  beim  Manne  in  der 
Regel,  wohl  in  Folge  der  stärkeren  Muskelwirkung,  der  Vorder- 
arm stärker  im  Winkel  absteht  als  beim  Weibe.  Ich  habe  mich 
jedoch  davon  überzeugen  können,    dass    die   von  Merkel  als  normal 


154  Arm. 

angenommene  Configuration  bei  gutgebauten  Frauen  häufig  genug 
vorkommt. 

Wird  in  derselben  Lage  die  Hand  mit  dem  Rücken  nach  vorn 
gebracht  (Pronation),  dann  haben  sich  Elle  und  Speiche  um  einander 
herumgewälzt,  jedoch  so,  class  der  untere  Rand  der  Speiche  stärker 
nach  innen  tritt  als  die  Elle  nach  aussen.  In  dieser  Lage  läuft  die 
Verlängerung  der  oben  genannten  Linie  im  Zeigefinger  aus. 

Zu  geringe  Entwickelung  des  Olecranon  ermöglicht  in  der 
Streckung  ein  zu  starkes  Ausweichen  der  Unterarme  nach  hinten, 
eine  Ueber Streckung,  die  auch  als  ein  häufig  vorkommender 
Fehler  angesehen  werden  muss  (Brücke). 

Nächst  den  Knochen  sind  es  die  Muskeln,  die  die  Form  des 
Armes  bestimmen.  Am  Oberarm  ist  es  zunächst  der  grosse  Schulter- 
muskel, der  sich  seitlich  zwischen  die  vorn  verlaufenden  Beuger  und 
die  hinten  verlaufenden  Strecker  einschiebt. 

Die  Muskeln  des  Unterarms  bilden  zusammen  einen  gleich- 
massigen  Fleischkegel,  der  dicht  unterhalb  des  Ellenbogens  am 
dicksten,  nach  dem  Handgelenk  zu  in  dünneren  Sehnen  schmal 
ausläuft. 

Bei  guter  Entwickelung  der  Muskeln  müssen  demnach  eine 
gleichmässige  seitliche  Schulter  Wölbung,  eine  vordere  und  eine  hintere 
Oberarmwölbung,  sowie  eine  cylindrische ,  nach  unten  schmäler 
werdende  Wölbung  des  Unterarms  erkennbar  sein. 

Während  zu  kräftige  Wölbung  der  Muskeln,  oder  gar  das 
Hervortreten  einzelner  Muskelbündel  an  männliche  Bildung  erinnert 
und  darum  beim  Weibe  ein  Fehler  ist,  so  ist  andererseits  schwäch- 
liche Armmuskelbildung,  die  sich  ja  leider  recht  häufig  findet,  als 
Zeichen  ungleichmässiger  Körperausbildung  (vgl.  Fig.  57)  zu  rügen. 

Die  Haut  ist,  namentlich  am  Oberarm,  bei  der  Frau  zarter  als 
beim  Mann;  das  Fettpolster  ist  reichlicher,  wodurch  der  Arm  eine 
mehr  gerundete  Form  erhält. 

Da  jedoch  stärkere  Anhäufung  von  Fett,  namentlich  am  Ober- 
arm und  der  Schulter,  ein  Zeichen  reiferen  Alters  ist,  so  ist  ein 
runder  Frauen  arm  nur  dann  schön,  wenn  sich  unter  der 
Haut  die  Wölbungen  der  Muskeln  erkennen  lassen. 

Am  Ellenbogen  und  etwas  darunter  haftet  die  Haut  der  knöchernen 


Hand. 


155 


Unterlage  etwas  fester  an,  wodurch  daselbst  am  Unterarm  eine  kleine 
Abflachung,  im  Ellenbogen  ein  bei  Streckung  sich  vertiefendes 
Grübchen  entsteht.  Eine  gute  Form  zeigt  der  linke  Arm  von  Fig.  59 
und  besonders  auch  Fio-.  60. 


L 


Fig.  59.    Schön  gerundeter  Arm. 

Eine  kleine  Hand  gilt  für  schön.  Von  anatomischem  Stand- 
punkt können  wir  jedoch  nur  verlangen,  dass  sie  ein  Neuntel  der 
Körperlänge  betrage.  Sie  wird  demnach  bei  der  Frau  im  Yerhältniss 
zur  Körperlänge  und  zum  Bau  des  Skelets  stets  kleiner  und  zier- 
licher sein  als  beim  Manne. 

Als  Fehler  haben  wir  zu  betrachten  breite,  plumpe  Handfläche, 


156 


Hand. 


Fig.  60.    Schön  gebauter  Arm  und  Schulter.    (Nach  einer  Aufnahme  von  A.  Enke.) 


dicke,  kurze  und  krumme  Finger,  starkes  Vortreten  der  Finger- 
knöchel und  Gelenke.  Alle  diese  Fehler  lassen  sich  auf  rhachitische 
Entstellungen  zurückbringen,  und  ich  bin  geneigt,  sie  in  weitaus  den 
meisten  Fällen  auch  als  solche  aufzufassen. 


Untere  Gliedmassen.  157 

Je  breiter  die  Endglieder  sind,  desto  breiter,  kürzer  und  flacher 
müssen  auch  die  Nägel  sein. 

Die  Muskeln  treten  an  der  Hand  wenig  hervor,  dagegen  ist 
die  weichere  Fülle  durch  Fettansatz  ein  mit  Recht  geschätztes  weib- 
liches Geschlechtsmerkmal,  das  bei  genügender  Elasticität  der  Haut 
die  Bildung  der  Grübchen  über  den  Gelenken  veranlasst. 

Als  Vorzüge  können  demnach  gelten :  schmale,  weich  ge- 
rundete Hand  mit  Grübchen  auf  den  G elenkf lachen, 
gerade,  schmaler  werdende  Finger,  gebogene  Nägel, 
deren  Länge  die  Breite  übertrifft. 

Verschiedene  Gelehrte  haben  sich  darüber  gestritten,  ob  und 
wie  oft  der  Zeigefinger  der  Menschen  länger  sei  als  der  Ringfinger. 
Da  nämlich  beim  Affen  der  zweite  Finger  stets  kürzer  ist  als  der 
vierte,  so  kann  die  grössere  Länge  des  zweiten  Fingers  als  ein 
Zeichen  höherer  Entwickelung  aufgefasst  werden. 

Casanova,  Mantegazza  u.  a.  thun  sich  zu  gute  mit  ihren  dies- 
bezüglichen Entdeckungen  und  halten  die  grössere  Länge  des  zweiten 
Fingers  für  eine  seltene,  schöne  Erscheinung.  In  seiner  Physiologie 
des  Weibes,  die  mir  in  deutscher  Uebersetzung  vom  Jahre  1894  vor- 
liegt, hat  Mantegazza  denselben  Standpunkt  eingenommen.  Es  scheint 
ihm  demnach  unbekannt  zu  sein,  dass  Braune  *)  bereits  im  Jahre  1874 
durch  zahlreiche  Messungen  nachgewiesen  hat,  dass  die  scheinbare 
Verkürzung  des  zweiten  Fingers  meist  auf  einer  schiefen  Stellung 
desselben  zu  den  Mittelhandknochen  beruht,  und  dass  bei  durch- 
schnittlich 70  °/o  der  von  ihm  gemessenen  Menschen  der  zweite 
Finger  in  der  That  der  längere  war. 

Immerhin  aber  bleibt  bestehen,  -  dass  sich  dies  „Zeichen  höherer 
Entwickelung"  beim  Weibe  viel  häufiger  findet  als  beim  Manne. 

(1)  Untere  Grliedmassen. 

Bei  der  Beurtheilung  der  Länge  der  Beine  im  Verhältniss  zum 
Rumpf  wird  häufig,  so  unter  anderen  auch  von  dem  oben  erwähnten 
v.  Larisch,  ein  Fehler  gemacht,  indem  nicht  die  ganze  Länge  der 
Beine  berücksichtigt  wird. 


!)  Festgabe  für  Carl  Ludwig.     Verlag  von  Vogel.     Leipzig  1874. 


158  Bein. 

In  der  Mitte  senkt  sich,  wie  oben  beschrieben,  der  Rumpf 
tiefer,  während  die  Beine  schräg  nach  aussen  gegen  die  Hüften  zu 
abschneiden. 

Rechnet  man  nach  Richer  die  Körperlänge  gleich  7 12  Kopf- 
längen, dann  ist  die  Länge  des  Rumpfes  mit  dem  Kopf,  in  der 
Mitte  gemessen,  bis  zum  Schamspalt  gleich  vier  Kopflängen,  die 
Länge  des  Beines,  bis  zum  Hüftgelenk  gemessen,  ebenfalls  gleich 
vier  Kopflängen.  Die  Beine  überragen  deshalb  die  halbe  Körper- 
länge um  ein  Viertel  Kopflänge  und  stehen  deshalb  um  ebensoviel 
höher  als  die  Körpermitte. 

Dies  ist  beim  Manne  genau  ebenso  wie  beim  Weibe.  Der 
Unterschied  zwischen  beiden  besteht  jedoch  in  Verhältnissen,  die 
durch  die  Form  des  Beckens  gegeben  sind.  Beim  Manne  ist  es 
schmal  und  hoch,  so  dass  der  mittlere,  zAvischen  die  Beine  sich  ein- 
schiebende Rumpftheil  in  spitzerem  Winkel  tiefer  nach  unten  tritt, 
wodurch  die  Körpermitte  scheinbar  am  Rumpfe  in  die  Höhe  rückt. 
Bei  der  Frau  dagegen  ist  das  Becken  breit  und  flach,  der  mittlere, 
zwischen  die  Beine  sich  einschiebende  Rumpftheil  tritt  in  stumpfem 
Winkel  weniger  tief  und  die  Körpermitte  steht  demnach  scheinbar 
tiefer  als  beim  Manne. 

Dadurch,  dass  sich  der  Umriss  des  Beines  in  den  der  Hüften 
fortsetzt,  welche  wegen  der  steilen  und  hohen  Darmschaufeln  beim 
Manne  schmäler  und  länger  erscheinen,  wird  der  Eindruck  des 
längeren  Beines  beim  Manne  noch  erhöht. 

Die  Länge  des  Beines  lässt  sich  nach  Richer  bestimmen  auf 
vier  Kopflängen,  nach  Fritsch- Schmidt  ist  die  Länge  des  Ober- 
schenkels gleich  dem  Abstand  des  Hüftgelenks  von  der  Brustwarze 
der  anderen  Seite,  die  Länge  des  Unterschenkels  gleich  dem  Abstand 
des  Hüftgelenks  von  der  Brustwarze  derselben  Seite. 

Die  Länge  des  Oberschenkels  ist  ungefähr  gleich  der  Lauge 
des  Unterschenkels  zusammen  mit  der  Höhe  des  Fusses. 

Man  hat  früher  angenommen,  dass  beim  Weibe  der  Schenkel- 
hals mehr  horizontal  zum  Schenkelkopf  verläuft  als  beim  Manne. 
Langer 1)    hat   nachgewiesen ,    dass    dies  unrichtig  ist ,    und  dass  der 

J)  1.  c.  p.  229. 


Bein.  159 

mehr  oder  weniger  horizontale  Verlauf  des  Schenkelhalses  nichts 
mit  dem  Geschlecht  zu  thun  hat.  Höchst  wahrscheinlich  ist  der 
horizontale  Schenkelhals  und  die  dadurch  verursachte  Verkürzung 
des  Oberschenkels  in  den  meisten  Fällen,  beim  Manne  sowie  beim 
Weibe,  auf  den  Druck  der  Körperlast  bei  rhachitischer  Anlage  zurück- 
zuführen. 

Von  den  Beinen  gilt  bezüglich  des  Knochengerüstes  im  all- 
gemeinen dasselbe,  was  von  den  Armen  gesagt  ist. 

Wir  haben  als  durch  Rhachitis  entstandene  Fehler  zu  be- 
zeichnen: Verdickung  des  unteren  Gelenkendes  des  Oberschenkel- 
knochens (Femur),  namentlich  an  seiner  inneren  Seite,  demgemäss 
Verdickung  des  Kniegelenks  und  schiefer  Ansatz  des 
Unterschenkels  an  den  Oberschenkel.  Verdickung  der  Unter- 
schenkelknochen am  Knie  und  an  den  Knöcheln,  demnach  plumpes, 
verdicktes  Sprunggelenk  und  schiefer  Ansatz  des  Fusses 
im  Sprunggelenk  bei  tieferem  Stand  des  massigeren  inneren 
Knöchels. 

Dazu  kommt  beim  Beine  aber  noch  der  Druck  der  Körperlast 
und  dadurch  stärkere  Verkrümmung  der  mittleren  Stücke  der  Röhren- 
knochen. 

Je  nachdem  verschiedene  Momente,  wie  Beschäftigung,  Beruf, 
stärkere  oder  schwächere  Belastung  zusammengewirkt  haben,  erhalten 
wir  die  verschiedenen  Formen  der  krankhaften  Beine,  die  X-Beine, 
die  O-Beine.  die  Säbelbeine  etc.,  beim  Fusse  aber  den  mehr  oder 
weniger  ausgeprägten  Plattfuss. 

Gröbere  Fehler  derart  sind  leicht  zu  erkennen.  Hier  handelt 
es  sich  hauptsächlich  darum ,  auch  geringere  Grade  dieser  Ab- 
weichungen beurtheilen  zu  können. 

Es  ist  oben  schon  gesagt,  dass  man  sich  vom  geraden  Verlauf 
der  unteren  Gliedmassen  dadurch  überzeugen  kann,  dass  in  der  in 
Fig.  27  angewiesenen  Stellung  die  Beine  sich  an  vier  Punkten,  am 
oberen  Drittel  der  Oberschenkel,  am  Knie,  an  der  Wade  und  am 
inneren  Knöchel  berühren  müssen.  Bei  Frauen  können  bei  guter 
Füllung  die  Oberschenkel  auch  in  ihrer  ganzen  Länge  einander  an- 
liegen, ohne  dass  dies  ein  Fehler  ist. 

Ein  weiteres  durch  Miculicz  angegebenes  Mittel  ist,  sich  durch 


160 


Bein. 


Messung  davon  zu  überzeugen,  dass  die  zweite  Zehe,  die  Mitte  des 
Sprunggelenks,  die  Mitte  des  Knies  und  die  Mitte  des  Hüftgelenks 
in  einer  geraden  Linie  liegen  (Fig.  61). 


Fig.  61.    Bestimmung  der  Geradheit 
des  Beines  nach  Miculicz. 


Fig.  62.    Brücke'sche  Linie. 


Da  die  Lage  des  Hüftgelenks  selbst  an  der  Lebenden  oft  schwer  zu 
bestimmen  ist,  kann  man  statt  dessen  die  Mitte  des  Leistenbandes  setzen. 

Rückt  aus  besagter  Linie  die  Kniescheibe  nach  innen,  dann 
besteht  ein  X-Bein,  ein  bei  Weibern  sehr  häufig  vorkommender  Fehler, 


Bein.     Knie.  1(31 

der  in  leichtem  Grade  ebenso  wie  der  schiefe  Ansatz  des  Unterarms 
von  Einzelnen  darum  als  normal  angenommen  wird,  weil  er  so  ausser- 
ordentlich häufig  vorkommt. 

Mit  dem  X-Bein  darf  man  nicht  eine  durch  Beugung  verursachte 
Einwärtsdrehung  des  Knies  verwechseln,  wie  sie  Fig.  1  zeigt.  Am 
gestreckten  rechten  Bein  dieser  Figur  kann  man  erkennen,  dass  das- 
selbe völlig  gerade  ist. 

Unwillkürlich  sieht  man  jedoch  die  ächten  X-Beine  mit  milderen 
Augen  an,  da  sie  an  die  mit  Recht  beliebte  Stellung  erinnern,  welche 
die  Schamhaftigkeit  des  Weibes  so  schön  zum  Ausdruck  bringt. 

Aus  demselben  Grunde  findet  man  die  Abweichung  des  Knies 
nach  aussen,  das  O-Bein,   gerade  beim  Weibe  um  so  viel  hässlicher. 

Scheinbar  der  Geraden  von  Mikulicz  entsprechend  ist  eine  Ver- 
bindung des  X-Beins  mit  dem  Säbelbein,  wie  es  Fig.  14  zeigt.  Die 
Abweichung  des  Knies  nach  innen  wird  durch  den  im  Bogen  erst 
nach  aussen  und  dann  ebenfalls  nach  innen  abweichenden  Unter- 
schenkel ausgeglichen,  so  dass  Fussgelenk,  Knie  und  Hüftgelenk 
ungefähr  in  einer  Geraden  liegen. 

Wenn  die  vordere  Ansicht  des  Beines  gut  ist,  muss  es  die 
hintere  ebenfalls  sein.  In  der  seitlichen  Ansicht  hingegen  kann  durch 
rhachitische  Verkrümmung  sowohl  als  durch  Fehler  in  den  Knie- 
bändern (Brücke)  eine  Abweichung  entstehen,  die  man  nach  Brücke 
an  einer  Linie  controliren  kann ,  die  vom  Oberschenkelknorren  zum 
äusseren  Knöchel  gezogen  wird  (Fig.  62). 

Diese  Linie  muss  das  Knie  in  der  Mitte  seiner  Breite  treffen, 
wenn  das  Bein  gut  gestreckt  ist.  Trifft  sie  dasselbe  weiter  nach 
vorn,  dann  besteht  Ueberstreckung"  oder  Abweichung  des  Unter- 
schenkels nach  hinten  bei  zu  langem  Kniebande,  trifft  sie  es  zu  weit 
nach   hinten,    dann   ist  das  Knie  zu  stark  nach  vorn  durchgebogen. 

Da  einerseits  die  Muskeln  beim  Manne  stärker  entwickelt  sind 
als  beim  Weibe,  andererseits  aber  ein  absolut  dickerer  Schenkel  schon 
beim  heranwachsenden  Mädchen  ein  wichtiges  secundäres  Geschlechts- 
merkmal bildet,  so  muss  die  Dicke  des  weiblichen  Schenkels  haupt- 
sächlich auf  ein  stärkeres  Fettpolster  zurückgeführt  werden,  und 
demgemäss  müssen  die  Formen  der  Muskeln  viel  weniger  stark 
hervortreten  als  beim  Manne. 

Stratz,  Die  Schönheit  des  weiblichen  Körpers.  11 


162  Wade.     Knöchel. 

Darum  ist  ein  flacher  Oberschenkel,  der,  entsprechend  der  vorn 
und  hinten  am  kräftigsten  entwickelten  Muskulatur,  das  Bein  von 
vorn  schmäler,  von  der  Seite  breiter  erscheinen  lässt,  dem  Manne 
eigen thümlich ,  der  Frau  dagegen  ein  runder  Oberschenkel,  der  in 
jeder  Ansicht  dieselbe  weiche  Form  zeigt. 

Die  Muskulatur  spielt  beim  Weibe  nur  insofern  eine  Rolle,  als 
der  Oberschenkel,  dem  Fleisch  entsprechend,  im  oberen  Drittel,  also 
unterhalb  der  Schenkelknorren,   am  stärksten  gewölbt  sein  muss. 

Als  Fehler  ist  anzusehen,  wenn  das  Fett  darüber  so  stark  an- 
gehäuft ist,  dass  der  Umriss  des  Oberschenkels  von  der  Hüfte  in 
gerader  oder  gar  eingefallener  Linie  nach  dem  Knie  zu  abläuft. 

Auch  am  weiblichen  Knie  werden  die  Contouren  durch  stärkere 
Fettanhäufung  weicher,  jedoch  muss  das  Knie  dünn  sein,  weil  es 
sonst  an  rhachitische  Bildung  erinnert. 

Dasselbe  wie  vom  Oberschenkel  gilt  von  der  Wade  des  Weibes ; 
während  man  an  der  Wade  des  Mannes  die  Muskeln  muss  erkennen 
können,  sind  dieselben  beim  Weibe  durch  stärkeres  Fettpolster  zu 
einer  gleichmässigen  Rundung  vereinigt,  die  im  oberen  Drittel  jedoch, 
den  in  der  Tiefe  liegenden  Muskelbändern  entsprechend,  den  stärksten 
Umfang  hat. 

Durch  unzweckmässige  Strumpfbänder  wird  ihre  Form,  wie 
oben  bereits  erwähnt,  verdorben. 

Ein  schlanker  Knöchel  ist  ein  grosser  Vorzug,  weil  er 
einerseits,  beruhend  auf  zarterem  Knochenbau,  ein  secundäres  weib- 
liches Geschlechtsmerkmal  bildet,  andererseits  eines  der  wichtigsten 
Merkmale  ist,  um  frühere  Rhachitis  auszuschliessen. 

Enges  Handgelenk  und  enge  Knöchel  sind,  wie  beim  Pferde 
die  engen  Fesseln,    das   hervorragendste  Zeichen  einer  guten  Rasse. 

Der  Fuss  ist  nächst  der  Taille  derjenige  Körpertheil,  der  die 
stärkste  Verunstaltung  durch  fehlerhafte  Bekleidung  zu  erdulden  hat. 

Was  seine  Grösse  betrifft,  so  gilt  von  ihm  dasselbe,  was  bereits 
von  der  Hand  gesagt  ist.  Sie  muss  im  Verhältniss  stehen  zur  Körper- 
grösse,  und  zwar  nach  Quetelet  sechs-  bis  höchstens  siebenmal  in 
derselben  enthalten  sein.  Die  Länge  des  Fusses  ist  demnach  grösser 
als  die  des  Kopfes;  nach  einer  alten  Regel  ist  die  Länge  des  Fusses 
gleich  dem  Umfang  der  geballten  Faust. 


Fv 


163 


Von  allen  Fehlern  des  Fusses  als  Ganzes  ist  der  häufigste  der 
Plattfuss,  der  meist  auf  Rhachitis  beruht. 

Während  bei  gut  gebautem  Fusse  seine  innere  Wölbung  derart 
sein  soll,  dass  ein  Vögelchen,  wenn  auch  nur  ein  ganz  kleines,  darunter 
sitzen  kann,  sinkt  beim  Plattfuss  das  Gewölbe  ein  und  die  Sohle 
liegt  in  grösserer  Fläche  dem  Boden  an.  Von  dem  Vorhandensein 
eines  geringeren  Grades  von  Plattfuss  kann  man  sich  überzeugen, 
wenn  man  den  mit  Wasser  befeuchteten  Fuss  auf  dem  Boden  ab- 
drückt (Fig.  63). 

Der  guten  Wölbung  entspricht  ein  hoher  Rist. 


Fig.  63.    Abdrücke  vom  normalen  («)  und  von  Plattfüssen  (ö  c  (7)  nach  Volkmann. 


Wir  haben  demnach  als  Vorzüge  des  Fusses  die  gute  Wöl- 
bung und  den  hohen  Rist  zu  fordern. 

Da  beim  Fuss  ebenso  wie  bei  der  Hand  das  Skelet  viel 
weniger  von  Weichtheilen  bedeckt  wird  als  an  anderen  Körper- 
theilen,  so  übt  seine  Bildung  einen  hervorragenden  Einfiuss  auf  die 
äussere  Form. 

Ein  Fehler  ist  ein  kräftiges,  grosses,  ans  Männliche  erinnerndes 
und  ebenso  ein  plumpes,  dickes,  durch  Rhachitis  verunstaltetes  Fuss- 
skelet,  und  aus  beiden  Gründen  ist  ein  zierlicher,  schmaler  Fuss  mit 
langen,  schmalen  Zehen  eine  Zierde  des  Weibes. 

Von    den    Zehen    ist    bei    guter    Entwickelung    die    zweite    am 


164  Zehen. 

längsten.  Braune  *)  hat  nachgewiesen,  dass  schon  beim  Embryo  die 
zweite  Zehe  am  längsten  ist,  und  dass  dies  bei  mehr  als  70  °/o  von 
Erwachsenen,  die  er  mass,  ebenso  war. 

Die  scheinbar  grössere  Länge  der  grossen  Zehe  rührt  davon 
her,  dass  im  Stiefel  die  grosse  Zehe  gerade  bleibt,  während  die 
anderen  Zehen  eine  Krallenstellung  einnehmen,  die  sie  kürzer  er- 
scheinen lässt. 

Abgesehen  von  dieser  Krallenstellung  bewirkt  der  dauernde 
Druck  zu  enger  Stiefel  eine  Drehung  der  grossen  Zehe  nach  ein- 
wärts mit  starkem  Hervortreten  ihres  verdickten  Mittelfussgelenkes. 

Dieser  sehr  häufig  vorkommende  Fehler  ist  besonders  deutlich 
in  Fig.  18. 

Weniger  ein  Fehler  als  vielmehr  ein  meist  unerhört  ver- 
klingender Nothschrei  der  Natur  nach  besserer  Bekleidung  sind  die 
Hühneraugen.  Bei  ihrer  geringen  Ausdehnung  können  sie  die  Form 
des  Fusses  nur  wenig  entstellen. 

Wie  es  scheint,  will  sich  jedoch  die  Natur  der  leidenden 
Menschheit  erbarmen:  Piltzner2)  hat  durch  eine  grössere  Reihe  von 
Untersuchungen  festgestellt,  dass  bei  einer  grossen  Anzahl  von  Men- 
schen die  kleine  Zehe,  der  Lieblingsplatz  der  Hühneraugen,  anstatt 
aus  drei  nur  aus  zwei  Knochen  besteht,  woraus  er  schliesst,  dass  die 
kleine  Zehe  des  Menschen  in  einem  Rückbildungsprocess  begriffen  ist 
und  im  Laufe  der  Jahrhunderte  mehr  und  mehr  verschwinden  wird. 

Auch  hier  scheinen  wieder  die  Frauen  den  Männern  in  der 
Entwickelung  voraus  zu  sein,  denn  Pfitzner  fand  unter  je  hundert 
Frauen  41,  unter  je  hundert  Männern  blos  31.  deren  kleine  Zehe  nur 
zwei  Knochen  besass. 

Derselbe  Autor  stellte  fest,  dass  auch  die  grosse  Zehe  bei 
Weibern  im  Verhältniss  viel  kleiner  ist  als  bei  Männern. 

Wir  können  demnach  als  Merkmal  guter  weiblicher  Bildung 
für  die  Zehen  festsetzen:  lange  zweite  Zehe,  kurze  erste  und  sehr 
kurze  fünfte  Zehe. 

Wir    haben    hiermit    die    wichtigsten  Punkte    zur  Beurtheiluno- 


!)  Festgabe  an  Carl  Ludwig. 

2)  Citirt  bei  Havelock  Ellis,  Mann  und  Weib. 


Ueberblick  der  gegebenen  Bedingungen  normaler  Körperbildung.      165 

der  unteren  weiblichen  Gliedmassen  hervorgehoben;  zu  erwähnen 
bleibt  nur  noch,  dass  man  die  richtige  Gestaltung  derselben  sowie 
mögliche  Fehler  auch  am  Gang,  namentlich  in  der  Ansicht  von  hinten, 
leicht  erkennen  kann. 

In  ergötzlicher,  jedoch  ernst  gemeinter  Weise  beschreibt  Walker 
im  21.  Kapitel  seiner  „Beauty  of  woman"  die  „External  indications; 
or  Art  of  determining  the  precise  figure,  the  degree  of  beauty,  the 
mind,  the  habits  and  the  age  of  woman,  notwithstanding  the  aids 
and  disguisses  of  dress." 

Jedem,  der  sich  dafür  interessirt,  kann  ich  diese  naive  Lecture 
nur  empfehlen. 


XL 

Ueberblick  der  gegebenen  Bedingungen 
normaler  Körperbildung. 

Ich  hoffe,  dass  es  mir  gelungen  ist,  den  Leser,  der  bis  hierher 
meinen  Erörterungen  gefolgt  ist,  davon  zu  überzeugen,  dass  der 
Begriff  der  weiblichen  Schönheit  nicht  ausschliesslich  Geschmacks- 
sache ist,  und  dass  es  einzelne  unumstössliche  Thatsachen  giebt,  die 
diesen  Begriff  ganz  unabhängig  von  der  individuellen  Auffassung 
bestimmen.  Der  Weg  ist  neu,  vieles  ist  noch  dunkel,  jedoch  bin 
ich  überzeugt,  dass  sich  noch  mehr  Gesetze  werden  feststellen  lassen, 
um  den  allgemeinen  Begriff  der  Schönheit  noch  schärfer  zu  um- 
schreiben. Absichtlich  habe  ich  es  auch  so  viel  möglich  vermieden, 
anatomische  Einzelheiten  zu  bringen,  um  durch  eine  zu  grosse  Fülle 
davon  den  Gesammteindruck  nicht  zu  verwischen. 

Wenn  wir  die  bisher  angeführten  Thatsachen  überblicken, 
dann  ergiebt  sich  zunächst,  dass  wir  eine  Reihe  von  Massen  besitzen, 
deren  Grösse  und  gegenseitiges  Verhältniss  durch  die  Natur  unab- 
änderlich vorgeschrieben  ist.  Ein  Körper,  der  die  geforderten  Masse 
besitzt,  ist  normal;  jedes  Abweichen  davon  ist  ein  Fehler. 


166      Ueberblick  der  gegebenen  Bedingungen  normaler  Körperbildung. 

Schwankungen  innerhalb  der  normalen  Grenzen  bestimmen  die 
Individualität. 

Als  wichtigste  Masse  zur  Beurtheilung  normalen  Körperbaus 
haben  wir  zu  bestimmen: 

1.  Körperlänge, 

2.  halbe  Körperlänge  von  oben  zur  Bestimmung  der  Körpermitte, 

3.  Kopflänge, 

4.  Nasenschambeinlänge  (Modulus  von  Fritsch-Schmidt), 

5.  Brustumfang, 

6.  Schläfenbreite, 

7.  Schulterbreite, 

8.  Taillenbreite, 

9.  Hüftbreite, 

10.  Abstand  der  Brustwarzen, 

11.  Beckenmasse, 

a)  vordere  Dornbreite, 

b)  Kammbreite, 

c)  Schenkelknorrenbreite  (Hüftbreite), 

d)  hintere  Dornbreite, 

12.  Fusslänge. 

Zur  Verwerthung  dieser  Masse  haben  wir  zunächst  folgende 
Gleichungen: 

1.  Körperlänge  =   71J2 — 8    Kopflängen  =   10    Gesichtslängen 
==  9  Handlängen  =  6 — 7  Fusslängen  =  10  rjz  Untermoduli, 

2.  Schläfenbreite  =  Gesichtslänge, 

3.  Armlänge  =  3  Kopflängen. 

*    4.  Beinlänge  =  4  Kopflängen  =  obere  Länge  bis  zum  Schritt, 

5.  Schulterbreite  =  2  Kopflängen, 

„    Brustumfang  X  Körperlänge       TT  .  -.  ,     , 

b.  ■ 2—  =  Körpergewicht  .  kg, 

Das  Verhältniss  der  einzelnen  Masse  unter  einander  wird  be- 
stimmt durch  den  jeweiligen  Unterschied.    Derselbe  muss  betragen: 

1.  zwischen  Schultern  und  Hüften  mindestens     4     cm, 

2.  „  Schultern  und  Taille  .,  16 


Secundäre  Geschlechtsmerkmale.  1(57 

3.  zwischen  Hüften  und  Taille  mindestens   12     cm, 

4.  „  Schenkelknorren  und  Kämmen  „  2,5    „ 

5.  „  Kämmen  und  vorderen  Dornen  „  3        „ 

wobei  die  erstgenannten  Abstände  jeweils  die  grösseren  sind. 

Als  niedrigsten  Werth  für  ein  bestimmtes  Mass  haben  wir: 

1.  Abstand  der  vorderen  Dornen     26  cm, 

2.  „  „     hinteren  „  10      „ 

3.  „  „     Brustwarzen  20      „ 

Weitere  Verhältnisse  sind: 

1 .  Stirnlänge  =  Nasenlänge  =  Mund-  und  Kinnlänge  =  Ohrlänge, 

2.  Augenspalte  zur  Mundspalte  =  2:3. 

Mit  der  N  asenschambeinlänge  alsModulus  können  wir 
nach  der  Methode  von  Fritsch-Schmidt  die  Masse  für  sämmtliche 
Körpertheile  construiren.  Da  diese  mit  den  übrigen  Normalmassen 
übereinstimmen,  so  haben  wir  damit  eine  doppelte  Controle  zur 
Beurtheilung  des  untersuchten  Körpers. 

Von  Winkeln  haben  wir  zu  messen: 

1.  Winkel  des  unteren  Rippenrandes  in  der  Herzgrube, 

2.  unteren  Winkel  des  Kreuzdreiecks; 

der  erste  muss  beinahe,  der  zweite  genau  90  °  betragen. 

Des  weiteren  ergeben  sich  aus  den  bisherigen  Betrachtungen 
eine  Reihe  von  körperlichen  Eigenschaften,  deren  Vorhandensein  als 
Vorzug,  deren  Abwesenheit  als  Fehler  aufgefasst  werden  muss. 

Hier  steht  obenan  die  Beeinflussung  des  Körpers  durch  das 
Geschlecht,  die  secundären  weiblichen  Geschlechtscharaktere, 
deren  wichtigste  ich  in  folgender  Tabelle  zusammengestellt  habe. 

Tabelle  I. 
Secundäre  weibliche  Geschlechtscliaraktere 

gut  ausgeprägt :  schlecht  ausgeprägt : 

Vorzüge  Fehler 

Zierlicher  Knochenbau,  plumper  Knochenbau. 

Runde  Formen,  eckige  Formen. 

Brüste,  keine  Brüste. 

Breites  Becken,  schmales  Becken. 


168 


Secundäre  Geschlechtsmerkmale. 


Vorzüge 
Reiches,  langes  Haar, 
Gerade,  niedrige  Schamhaargrenze, 

Spärliche  Achselhaare, 
Keine  Körperbehaarung, 

Zarte  Haut, 

Runder  Schädel, 

Kleines  Gesicht, 

Grosse  Augenhöhlen, 

Hohe,  schmale  Augenbrauen, 

Niedriger,  schmaler  Unterkiefer, 

Weicher  Uebergang  von  Wange  zum 
Hals, 

Runder  Hals, 

Feines  Handgelenk, 

Schmale  Hand  mit  längerem  Zeige- 
finger, 

Runde  Schultern, 

Gerade,  schmale  Schlüsselbeine, 

Schmälerer,  längerer  Brustkorb, 

Schlanke  Taille, 

Hohles  Kreuz, 

Vorstehende,  gewölbte  Hinterbacken, 

Kreuzgrübchen, 

Runder,  dicker  Oberschenkel, 

Niedriger,  stumpfer  Schambogen, 

Weiche  Knieumrisse, 

Runde  Wade, 

Feines  Fussgelenk, 

Trockener  Fuss  mit 

schmalen  Zehen, 

Grössere  Länge  der  zweiten  und  grössere 
Kürze  der  fünften  Zehe, 

Breite  vordere  Schneidezähne, 


Fehler 

dünnes,  kurzes  Haar. 

hohe ,  spitz  zulaufende  Schamhaar- 
grenze. 

reichliche,  lange  Achselhaare. 

Schnurrbart  und  starke  Körperbehaa- 
rung. 

dicke  Haut. 

eckiger  Schädel. 

grosses  Gesicht. 

kleine  Augenhöhlen. 

niedrige,  buschige  Augenbrauen. 

hoher,  breiter  Unterkiefer. 

scharf  abgesetzter  Hals  mit  vorspringen- 
dem Unterkiefer. 

eckiger  Hals  mit  vorstehendem  Kehlkopf. 

plumpes  Handgelenk. 

breite  Hand  mit  längerem  Ringfinger. 

eckige  Schultern. 

gebogene,  dicke  Schlüsselbeine. 

kurzer  und  breiter  Brustkorb. 

Fehlen  der  Taille. 

gerades  Kreuz. 

flache,  kleine  Hinterbacken. 

keine  Kreuzgrübchen. 

flacher,  magerer  Oberschenkel. 

hoher,  spitzer  Schambogen. 

scharfe  Knieumrisse. 

eckige  Wade. 

plumpes  Fussgelenk. 

plumper,  dicker  Fuss  mit 

breiten  Zehen. 

grössere  Länge  der  ersten  und  stärkere 

Entwicklung  der  fünften  Zehe, 
schmale  Vorderzähne. 


Mit  Berücksichtigung  der  Entwickelung,  Ernährung  und  Lebens- 
weise, sowie  des  Einflusses  von  Krankheiten  erhalten  wir: 

Tabelle  IL 
Vo  r  z  ü  g  e  Fehler 

Symmetrie  beider  Körperhälften,  Asymmetrie  beider  Körperhälften. 

Hoher  Stand  der  Körpermitte,  tiefer  Stand  der  Körpermitte. 

Normales  Körpergewicht,  zu    grosses    oder    zu    kleines    Körper- 

gewicht. 


Entwickelung,  Ernährung,  Krankheiten  etc. 


169 


Vorzüge 

Glatte,  elastische  Haut, 
Gleichmässige  Muskelentwickelung, 
Feine  Gelenke, 
Gerade  Augenspalten, 
Gut  gewölbte  Oberlippe, 


Gerade,  gleichgestellte  Zähne, 
Gleichmässige  Rundung    des   Gesichts, 

Schmale,  gerade  Nase, 
Rundes  Kinn  mit  Grübchen, 
Runde  Schultern, 
Gerade  Wirbelsäule, 
Gleichmässig  gewölbter  Brustkorb, 


Hochgestellte,  runde,  pralle  Brüste, 

Flacher,  runder  Leib, 
Gewölbter  Rücken, 
Gerade,  obere  Gliedmassen, 

Runder  Ellenbogen, 
Schmale,  lange  Hand, 
Längerer  zweiter  Finger, 
Gebogene,  lange  Nägel, 
Gerade,  lange  Beine, 

Schmaler,  langer  Fuss, 
Gerade  grosse  Zehe, 
Längere  zweite  Zehe, 


Fehler 

schlaffe,  faltige  Haut. 

ungleichmässige  Muskelentwickelung. 

plumpe  Gelenke. 

schiefe  Augenspalten. 

stark  vorspringende  Oberlippe,  dicke 
Oberlippe,  zu  kurze  Oberlippe  (Ha- 
senscharte). 

schräge,  unregelmässig  gestellte  Zähne. 

vorstehende  Backenknochen,  vorsprin- 
gende Kauwerkzeuge. 

breite  Nase,  Stumpfnase,  Mopsnase. 

Doppelkinn,  Hackenkinn. 

eckige,  stark  abfallende  Schultern. 

Verkrümmung  der  Wirbelsäule. 

flacher  Brustkorb ,  schiefer  Brustkorb, 
Hühnerbrust,  Schusterbrust,  Trichter- 
brust. 

tief  angesetzte,  sinkende,  schlaffe 
Brüste,  Hängebrüste. 

Spitzbauch,  Hängebauch,  Froschbauch. 

flacher  Bücken,  runder  Rücken. 

schief  angesetzter  Unterarm,  Vortreten 
des  Ellenköpfchens. 

spitzer  Ellenbogen. 

kurze,  breite  Hand. 

längerer  vierter  Finger. 

breite,  flache  Nägel. 

kurze  Beine,  krumme  Beine,  O-Beine, 
X-Beine,  Säbelbeine. 

plumper,  breiter  Fuss. 

nach  innen  gekrümmte  grosse  Zehe. 

längere  erste  Zehe. 


Diese  Tabelle  Hesse  sich  ohne  Mühe  noch  sehr  viel  mehr  ver- 
vollständigen, jedoch  ist  sie  hinreichend,  um  darzuthun,  wie  viel  wir 
für  die  Beurtheilung  des  Körpers  bereits  gewonnen  haben. 

Es  sei  dem  Leser  überlassen,  unter  den  beigefügten  Abbil- 
dungen zahlreiche,  nicht  immer  erwähnte  Fehler  aufzusuchen.  Unter 
allen  bisher  gegebenen  Figuren  sind  nur  zwei,  die  allen  gestellten 
Anforderungen  genügen,  Fig.  44  und  50;  die  letztere  findet  sich  in 
Fig.  55  im  verlorenen  Profil. 

Das  javanische  Mädchen  Fig.  22  entspricht  trotz  der  guten 
Verhältnisse    des  übrigen  Körpers   nicht  unseren  Ansprüchen.     Ent- 


170  Praktische  Verwertkung. 

sprechend  ihrer  Rasse  hat  sie  einen  verhältnissmässig  zu  grossen 
Kopf  und  eine  weniger  entwickelte  Gesichtsbildung. 

Bei  Vem-leichung  der  zweiten  mit  der  ersten  Tabelle  wird  man 
finden,  dass  verschiedene  Fehler  sowie  Vorzüge  auf  beiden  genannt 
sind.  Die  gleichen  Fehler  können  von  verschiedenen  Ursachen  her- 
rühren, wie  die  Symptome  von  verschiedenen  Krankheiten.  Das- 
selbe Symptom  kann  von  dieser  wie  von  jener  Krankheit  verursacht 
werden;  aber  nur  durch  Zusammenstellung  der  verschiedenen  Sym- 
ptome im  gegebenen  Falle,  durch  sorgfältiges  Sichten,  Messen  und 
Erwägen  erlangt  man  ein  deutliches  Bild  der  Krankheit  und  ihrer 
Complicationen.  Uebung  macht  den  Meister,  und  dieser  kann  oft 
mit  einem  Blick  das  erkennen,  was  der  Anfänger  erst  nach  langem 
Suchen  entdeckt  zu  haben  glaubt. 

Als  Anfänger  kann  ich  nur  tastend  vorgehen,  wenn  ich  jetzt 
versuche,  das  Gefundene  zu  verwerthen;  und  wenn  ich  trotz  jahre- 
langer Arbeit  nur  wenig  bieten  kann,  so  möge  der  gute  Wille  das 
schlechte  Können  entschuldigen;  aber  einmal  muss  ein  Anfang  ge- 
macht werden,  und  ich  hoffe,  durch  meine  Anregung  zahlreiche 
andere  und  bessere  Kräfte  zu  ähnlicher  Arbeit  veranlassen  zu  können. 


XII. 

Praktische  Verwerthung  der  wissenschaftlichen 
Auffassung  weiblicher  Schönheit. 

Wissenschaftliche  Untersuchungen  haben  nur  dann  für  weitere 
Kreise  Werth,  wenn  sie  einem  praktischen  Zwecke  dienstbar  gemacht 
worden  sind. 

Da  der  weibliche  Körper  als  solcher  seit  Abschaffung  des 
Sklavenhandels  keinen  Marktwerth  mehr  hat,  so  besteht  das  Be- 
dürfniss,  denselben  nach  einem  festen  Massstabe  beurtheilen  zu 
können,  sich  eine  gewisse  Kennerschaft,  gleich  der  der  Pferde-  und 
Weinkenner,  anzueignen,  im  allgemeinen  nicht  mehr. 


Praktische  Verwerthung  der  wissenschaftlichen  Auffassung  etc.        171 

Trotzdem  hat  auch  jetzt  noch  die  körperliche  Schönheit  für 
die  Besitzerin  einen  hohen  Werth,  um  so  mehr,  da  sie  zugleich  ein 
Zeichen  körperlicher  Gesundheit  ist. 

Wenn  man  ferner  bedenkt,  dass  die  Entwickelung  und  Aus- 
bildung weiblicher  Schönheit  willkürlich  befördert  oder  geschädigt 
werden  kann,  und  zwar  am  meisten  in  den  Jahren  des  Reifens,  so 
geht  daraus  hervor,  dass  ein  fester  Massstab  zur  Beurtheilung  der- 
selben für  diejenigen  von  grossem  Werth  ist,  die  an  der  Ausbildung 
heranwachsender  Mädchen  ein  Interesse  haben. 

Den  Eltern  und  namentlich  den  Müttern  ist  die  heilige  Pflicht 
auferlegt,  in  zarter  Sorge  den  knospenden  Leib  des  zukünftigen 
Weibes  vor  allen  Schädlichkeiten  zu  wahren  und  durch  liebende 
Fürsorge  denselben  in  schöner  Blüthe  sich  entfalten  zu  lassen.  Mit 
Dankbarkeit  gedenke  ich  so  mancher  unter  ihnen,  die  mir  genug 
vertraute,  um  mir  einen  Antheil  an  diesem  ihrem  erhabenen  Werke 
zu  gönnen. 

In  zweiter  Linie  hat  die  Kenntniss  des  normalen  weiblichen 
Körpers  einen  praktischen  Werth  für  den  Künstler  bei  der  Wahl 
seiner  Modelle,  für  den  Kritiker  bei  der  Beurtheilung  des  Kunst- 
werks. 

Dass  für  den  ersten  der  künstlerische  Blick  und  die  Kenntniss 
der  Anatomie  allein  nicht  genügen,  habe  ich  bereits  an  einigen  Bei- 
spielen bewiesen,   die  sich  durch  zahlreiche  andere  vermehren  lassen. 

Für  den  letzteren  ist,  wenn  er  seinen  Beruf  ernst  auffasst,  ein 
fester  Massstab  von  noch  viel  grösserer  Wichtigkeit,  da  er  sowohl 
das  Modell  als  das ,  was  der  Künstler  daraus  machte ,  zu  be- 
urtheilen  hat. 

Bevor  wir  diese  besonderen  Zwecke  näher  besprechen,  wollen 
wir  jedoch  zunächst  die  praktische  Verwendbarkeit  der  bisherigen 
Erörterungen  an  Beispielen  erproben. 

Man  hat  behauptet,  dass  sich  alle  körperlichen  Vorzüge  nie- 
mals an  einem  lebenden  Weibe  zusammen  finden  lassen.  Durch 
meinen  Beruf  kam  ich  öfters  in  die  Lage,  mich  von  der  Unrichtig- 
keit dieser  Auffassung  zu  überzeugen  und  dieselbe  objectiv  wider- 
legen zu  können.  Da  ich  jedoch  erst  allmählig  die  Grundlagen  zur 
objectiven  Beurtheilung  ausarbeitete,  so  sind  meine  ersten  diesbezüg- 


172  Beispiele  guter  Körperbildung. 

liehen  Aufzeichnungen  nicht  alle  so  vollständig,  dass  ich  sie  ver- 
werthen  kann.  Ausserdem  aber  war  ich  aus  leicht  begreiflichen 
Gründen  nicht  stets  in  der  Lage,  mit  der  nöthigen  Genauigkeit  und 
Sorgfalt  die  erforderlichen  Messungen  vorzunehmen. 

Mehr  oder  weniger  berechtigte  Vorurtheile  verbieten  der  Frau, 
ihren  Körper  vor  dem  Manne  mehr  als  nöthig  zu  entblössen.  Diese 
Vorurtheile  finden  sich  allerdings  bei  schönen  Frauen  viel  seltener 
als  bei  solchen,  die  Fehler  zu  verbergen  haben. 

Jedenfalls  ist  dem  Arzte  die  Pflicht  auferlegt,  diese  Gefühle 
möglichst  zu  schonen,  und  nur  selten  begegnet  er  Frauen,  die  so 
unbefangen  und  so  wenig  kleinlich  sind,  dass  sie  sich  ihres  Körpers 
nicht  schämen. 

Von  acht  Frauen  besitze  ich  genaue  Angaben,  die  es  ermög- 
lichen, deren  Schönheit,  wenn  man  so  will,  schriftlich  zu  beglaubigen. 
Zwölf  weitere,  von  denen  ich  Aufzeichnungen  gemacht  habe,  be- 
sitzen neben  vielen  Vorzügen  nur  wenige  und  unbedeutende  Fehler. 

Alle  Zwanzig  gehörten  alten  Familien  des  besseren  Standes 
an  und  waren  alle  unter  sehr  günstigen  äusseren  Umständen  auf- 
gewachsen. 

Als  Beispiel  wähle  ich  Eine  aus  den  letzten  Zwölf. 

Jungverheirathete  Frau  von  24  Jahren. 

Körperlänge  168,5  cm. 

Kopflänge  21  cm. 

Beinlänge   90  cm    (bis   zum  Oberschenkelknorren). 

Schrittlänge  82,  bei  gespreiztem  Bein  84  cm. 

Brustumfang  88,5  cm. 

Nasenschambeinlänge  (Modulus)  62,5  cm. 

Schulterbreite  38,5  cm. 

Taillenbreite  21  cm. 

Hüftbreite  34,5  cm. 

Brustwarzenabstand  23,5  cm. 

Becken: 

Dornbreite  26,5  cm. 
Kammbreite  29  cm. 


Beispiele  guter  Körperbildung-.  173 

Hüftbreite  34  cm. 
Hintere  Dornbreite  12  cm. 

Körpergewicht  60  kg. 

Aus  diesen  Massen  ergiebt  sich  zunächst  die  seltene  Erschei- 
nung, dass  die  Kopflänge  beinahe  achtmal  in  der  Körperlänge  ent- 
halten ist. 

Da  die  Schrittlänge  82  cm  beträgt,  so  liegt  die  Körpermitte 
nur  2x/2  cm  höher,  also  noch  unterhalb  der  oberen  Schamhaar- 
grenze. 

Das  Bein  ist  um  6  cm  länger  als  vier  Kopflängen. 

Der  Unterschied  zwischen  Schultern  und  Taille  ist  17,5,  zwi- 
schen Hüften  und  Taille  13,5  cm,  also  jeweils  lx/2  cm  mehr  als 
nöthig. 

Die  Schultern  übertreffen  die  Hüften,  wie  vorgeschrieben, 
um  4  cm. 

Am  Becken  übertrifft  die  Kammbreite  die  Dornen  um  2,5  cm, 
die  Hüftbreite  sogar  um  5  cm  die  der  Kämme. 

Der  Abstand  der  hinteren  Dornen  von  12  cm  ist  ein  Beweis 
für  besondere  Breite  des  Kreuzbeins. 

Auch  der  Brustwarzenabstand  überschreitet  das  erforderliche 
Mass  um  3  x/-2  cm ,  trotzdem  in  diesem  Falle  die  Brüste  selbst  nicht 
gross  waren. 

Wir  sehen  daraus ,  dass  die  Längenmasse  ebenso  wie  die 
Breitenmasse  den  Normalsatz  schöner  Verhältnisse  stellenweise  sogar 
beträchtlich  überschreiten. 

Wenn  wir  das  Körpergewicht  'aus  der  Länge  und  dem  Brust- 
umfang berechnen,  kommen  wir  auf  61,2  kg.  Statt  dessen  haben  wir 
hier  nur  60  kg,  also   1,2  kg  zu  wenig. 

Bei  den  übrigens  normalen  Verhältnissen  können  wir  daraus 
schliessen,  dass  die  höchste  Blüthe  noch  nicht  erreicht  ist. 

In  der  That  machte  der  zartgebaute  Körper  auch  einen  sehr 
jugendlichen  Gesammteindruck. 

Der  einzige  Fehler,  den  ich  an  diesem  sonst  tadellosen  Leibe 
entdecken  konnte,  war  ein  etwas  schiefer  Ansatz  des  Vorderarms. 

Da  jedoch  das  Ellenköpfchen  nicht  hervortrat,  und  das  Hand- 


474  Beispiele  guter  Körperbildung. 

gelenk  sehr  schmal  war,  so  ist  in  diesem  Falle  Rkachitis  als  Ursache 
auszuschliessen. 

Ein  ganz  ähnliches  Beispiel  habe  ich  bei  anderer  Gelegenheit 1) 
veröffentlicht : 

Die  Masse  betrugen: 

Körperlänge  167  cm. 

Kopflänge  21  cm. 

Beinlänge  88  cm  bis  zum  Schenkelknorren. 

Schulterbreite  38  cm. 

Taille  22  cm. 

Hüftbreite  34  cm. 

Becken: 

Vordere  Dornen  26  cm. 
Kämme  29  cm. 
Hüften  33  cm. 
Hintere  Dornen  10,5  cm. 

Bei  beiden  Frauen  war  die  Beckengegend  besonders  schön  aus- 
gebildet ,  die  unteren  Grenzen  des  Kreuzdreiecks  bildeten  einen 
Winkel  von  genau  90°,  die  Kreuzgrübchen  Avaren,  dem  breiten 
Kreuzbein  entsprechend,  sehr  gut  ausgeprägt,  besonders  bei  der 
Letzteren,  bei  der  ich  übrigens  keinen  einzigen  Fehler  nachzuweisen 
im  Stande  war. 

Leider  kann  ich  nicht  die  Photographien  Beider  als  weitere 
Belege  hinzufügen.  Die  Zweite  gestattete  mir  allerdings,  eine  di- 
optrische  Aufnahme  ihres  Rückens  an  obengenannter  Stelle  zu  ver- 
öffentlichen, jedoch  entbehrt  dieselbe  für  unsere  Zwecke  den  objec- 
tiven  Werth  der  Photographie. 

Schwieriger  wird  die  Sache,  wenn  wir  zur  Begründung  unseres 
Urtheils  ausschliesslich  auf  eine  oder  mehrere  Photographien  an- 
gewiesen sind. 

Allerdings  lassen  sich  viele,  wenn  nicht  die  meisten  Detail- 
fragen  an  guten  Aufnahmen  mit  ziemlicher  Sicherheit  ausmachen: 
eine  genaue  Bestimmung  der  Verhältnisse  ist  jedoch  nur  dann  mög- 


*)  Zeitschrift  für  Geburtshülfe  und  Gynäkologie,  33,  p.  121. 


Beispiele  guter  Körperbildung. 


175 


lieh,   wenn  die  Aufnahme  in  symmetrischer  Stellung  genau  von  vorn 
genommen    ist.     Und    auch    dann    noch    fehlt    die    Möglichkeit,    die 


Fig.  64.    Bestimmung  des  Wiener  Mädchens  (Tafel  I)  nach  Kopflängen. 


Körperlänge  in  Centimetern,  sowie  den  Brustumfang  und  damit  das 
Körpergewicht  zu  bestimmen. 

Trotzdem    kann    man    immerhin    einigermassen    befriedigende 
Resultate  erzielen. 


176  Beispiele  guter  Körperbildung. 

Als  Beispiel  wähle  ich  die  Photographie  eines  Mädchens  aus 
Wien,  welche  ich  durch  die  freundliche  Vermittelung  der  Kunst- 
handlung von  Amsler  und  Ruthardt  erhielt  (siehe  Abbildung  Tafel  I). 

Da  der  Oberkörper  leicht  nach  hinten  übergebeugt  ist,  lässt 
sich  der  Fritsch'sche  Modulus  nicht  messen,  dagegen  kann  man  die 
Verhältnisse  der  Figur  nach  Kopflängen  bestimmen  (Fig.  64). 

Trägt  man  neben  dem  Umriss  die  Kopflängen  an  einem  Mass- 
stab ab,  dann  zeigt  sich  zunächst  auch  hier  wieder,  dass  die  Körper- 
lange  nur  um  weniges  kürzer  ist  als  acht  Kopflängen.  Denkt  man 
sich  die  Figur  gerade  aufgerichtet,  dann  dürfte  das  Verhältniss 
etwa  =  73/i  sein.  Die  Beinlänge  beträgt  ziemlich  genau  vier 
Kopflängen,  so  dass  die  Körpermitte  noch  unterhalb  der  oberen 
Schamhaargrenze  zu  liegen  kommt. 

Die  Lage  der  Schulterbreite,  Taille  und  Hüftbreite  ist  auf  der 
Figur  mit  punktirten  Linien  angegeben;  an  der  obersten  ist  die 
wahrscheinliche  Lage  der  Gelenke  sowie  der  äusseren  Schulterbreite 
bei  gesenkten  Armen  durch  Kreuzchen  bezeichnet.  Durch  Messung 
kann  man  sich  überzeugen,  dass  das  Verhältniss  der  drei  Masse  den 
Anforderungen  entspricht,  und  zwar  um  so  mehr,  als  die  Verkür- 
zung auf  allen  drei  Linien  ungefähr  die  gleiche  ist. 

Das  rechte  Bein  ist  so  gestellt,  dass  wir  mit  Hülfe  der 
Mikulicz'schen  Linie  (vgl.  Fig.  61)  den  völlig  geraden  Verlauf  des- 
selben mit  Sicherheit  feststellen  können. 

Im  allgemeinen  lässt  sich  zunächst  sagen ,  dass  der  Körper 
gute  Proportionen  bietet,  dass  jedoch  die  Länge  der  Beine  das  nor- 
male Durchschnittsmass  dabei  nicht  unbeträchtlich  überschreitet. 

Zur  Vergleichung  habe  ich  in  den  Umriss  einer  anderen  Auf- 
nahme desselben  Mädchens  (Fig.  65)  die  Construction  von  Fritsch 
eingezeichnet. 

Hier  lässt  sich  zunächst  die  Nasenschambeinlinie  trotz  der 
asymmetrischen  Haltung  mit  etwas  grösserer  Sicherheit   bestimmen. 

Das  Ueberwiegen  der  Schulterbreite  über  die  übrigen  Breiten- 
masse tritt  hier  noch  deutlicher  hervor.  Construirt  man  die  Fritsch- 
sche  Figur,  dann  fällt  die  Scheitelhöhe  genau  hinein.  Dasselbe  ist 
der  Fall  mit  der  linken  Schulter  und  Brust.  Die  rechte  Schulter 
ist   mit    der  Brust    etwas    gesenkt   und   steht   tiefer.     Dieser   tiefere 


Beispiele  guter  Körperbildung. 


177 


Cr 


Stand   ist  jedoch  nur  abhängig  von  der  Stellung;    denn  Nabel  und 
Hüftgelenke  stehen  in  der  richtigen  Höhe. 

Die   Längenverhältnisse    am  Arme    sind   richtig;    denn   sobald 
der   tiefere    Stand    der    Schulter   aus- 
geglichen wird,  fallen  die  Messpunkte 
in  die  Gelenke. 

Am  Bein  stehen  sie  etwas  höher, 
und  bei  der  Gesammthöhe  ergiebt  sich, 
dass  dieselbe  auf  Kosten  der  Beine 
um  das  Stück  hx  grösser  ist,  als  die 
Construction  verlangt. 

Die  Kopfbreite  lässt  sich  aus 
keiner  der  beiden  Figuren  bestimmen. 

Aus  beiden  Messungen  erhalten 
wir  demnach  das  übereinstimmende 
Ergebniss,  dass  alle  Proportionen 
richtig  sind,  dass  jedoch  die  Beine  die 
üblichen  Verhältnisse  überschreiten. 

Dies  ist  kein  Fehler ;  wir  können 
es  im  Gegentheil  als  einen  Vorzug 
ansehen,  da  dadurch  die  Körpermitte 
am  Rumpf  um  so  tiefer  tritt.  Ausser- 
dem aber  ist  durch  die  Lage  der 
Mikulicz'schen  Linie  die  Form  des 
rechten  Beins  als  völlig  normal  ge- 
kennzeichnet. Es  hat  dabei  einen 
schlanken  Knöchel,  und  wenn  wir  die. 
innere  Tangente  ziehen,  sehen  wir, 
dass  dieselbe  das  obere  Drittel  des 
Oberschenkels,  das  Knie  und  den 
inneren  Knöchel  berührt.  Die  schwä- 
cher ausgebildete  Wade  erreicht  diese 

Linie  nicht,  und  dies  ist  bei  den  sonst  richtigen  Verhältnissen  ein 
Beweis,  dass  wir  es  mit  einem  noch  nicht  voll  entwickelten  Mädchen- 
körper zu  thun  haben.  Die  Betrachtung  der  Tafel  lässt  im  übrigen 
alle  oben  erwähnten  Vorzüge  erkennen;  hervorzuheben  sind  der 
Stratz,  Die  Schönheit  des  weiblichen  Körpers.  12 


Fig.  65.  Bestimmung  des  Wiener  Mädchens 
nach  dem  Modulus  von  Fritsch. 


178  Beurtheilung  nach  Massen. 

runde  Ellenbogen,  der  gutgewölbte  Brustkorb,  der  gute  Ansatz  der 
jugendlichen,  ebenfalls  noch  nicht  vollentwickelten  Brüste,  und  der 
gutgeformte  Fuss  mit  längerer  zweiter  Zehe. 

Besonders  beachtenswerth  ist  in  diesem  Falle,  dass  kein  ein- 
ziges Zeichen  vorhanden  ist,  das  auf  Rhachitis  oder  auf  Schwind- 
sucht deutet. 

Wir  haben  vor  uns  eine  schöne,  gesunde  Knospe,  die  ihre 
höchste  Blüthezeit  noch  nicht  erreicht  hat. 

Ein  weiteres  Beispiel  ist  eine  17jährige  Berlinerin,  Margarethe 
E.  Ich  war  in  der  Lage,  alle  Masse  selbst  zu  nehmen,  Professor 
Gr.  Fritsch  nahm  in  verschiedenen  Stellungen  photographische  Auf- 
nahmen und  war  so  freundlich,  mir  dieselben  zu  überlassen.  Ausser- 
dem aber  hat  Frau  Paczka  in  liebenswürdigster  Weise  das  Modell 
künstlerisch  verwerthet. 

Wir  haben  so  von  demselben  Mädchen  die  Masse,  die  natur- 
getreue Aufnahme  und  die  künstlerische  Auffassung  zur  Yergleichung 
vor  uns. 

Die  Masse  sind: 

Körperlänge  166  cm. 

Kopflänge  23  cm. 

Beinlänge  85  cm  bis  zum  Oberschenkelknorren. 

Schrittlänge  79  cm. 

Brustumfang  85  cm. 

Nasenschamb einlänge  (Modulus)  66  cm. 

Schulterbreite  38  (Umfang  92)  cm. 

Taillenbreite  22,4  (Umfang  65)  cm. 

Hüftbreite  32  (Umfang  90)  cm. 

Brustwarzenabstand  19,75  cm. 

Scheitelschritthöhe  87  cm. 

Becken: 

Dornbreite  23  cm. 
Kammbreite  27,25  cm. 
Hüftbreite  31  cm. 
Hintere  Dornbreite   11  cm. 


Beurtheilung  nach  Massen.  179 

Hieraus  folgt  zunächst,  class  die  Kopflänge  7,2mal  in  der 
Körperläiige  enthalten  ist,  class  demnach  der  Kopf  unverhältniss- 
mässig  gross  ist. 

Das  Bein  ist  um  7  cm  kürzer  als  vier  Kopflängen. 

Die  Körpermitte  liegt  unterhalb  der  oberen  Schamhaargrenze. 

Der  Unterschied  zwischen  Schultern  und  Taille  ist  15,6,  zwi- 
schen Hüften  und  Taille  9,6,   also  um  0,4  und  um  2,4  cm  zu  gering. 

Die  Schultern  übertreffen  die  Hüften  um  6  statt  um  4  cm. 

Daraus  können  wir  schliessen  auf  ein  stärkeres  Ueberwiegen 
der  Schulterparthie ,  was  an  mehr  männliche  Bildung  erinnert  oder 
an  zu  geringe  Entwickelung  des  Beckens  denken  lässt. 

Die  Beckenmasse  haben  einen  Unterschied  von  4,25  und 
3,75  cm,  sind  dabei  aber  im  allgemeinen  klein;  wir  haben  also  ein 
typisch  weiblich  geformtes  Becken,  das  jedoch  im  Verhältniss  zur 
Körpergrösse  nicht  besonders  stark  entwickelt  ist. 

Da  der  hintere  Dornabstand  11  cm,  also  1  cm  über  das  Mass 
beträgt,  so  ist  daraus  zu  schliessen,  dass  das  Becken  selbst  weiblich 
ist,  jedoch  die  Schaufeln  •geringer  ausgebildet  sind. 

Von  den  übrigen  Massen  ist  auffallend,  class  trotz  der  zu 
kurzen  Beine  die  Körpermitte  doch  noch  unterhalb  der  oberen 
Schamhaargrenze  zu  liegen  kommt.  Auf  die  Masse  allein  ange- 
wiesen, müssen  wir  die  Erklärung  für  diese  Thatsache  vorläufig 
schuldig  bleiben. 

Was  können  wir  nun  aus  den  Massen   allein  schliessen? 

Zunächst,  dass  das  Mädchen  noch  nicht  völlig  entwickelt  ist, 
da  der  Körper  für  den  Kopf  zu  klein  ist  und  das  Becken  trotz 
guter  Masse  zu  klein  für  die  Schultern. 

Ferner  haben  wir  irgend  einen  Fehler  anzunehmen,  der  die 
Verkürzung  der  Beine  veranlasst  hat. 

Damit  steht  im  Zusammenhang  die  Verkürzung  der  ganzen 
Körperlänge,  die,  nach  dem  Fritsch'schen  System  berechnet,  10 x\z 
Untermoduli  (hier  =  16,5),  also  170,5  cm  betragen  müsste  statt 
166  cm,   demnach   um  4,5  cm  zu  kurz  ist. 

Von  den  verschiedenen  Aufnahmen,  welche  Professor  G.  Fritsch 
von  dem  Mädchen  gemacht  hat,  sind  zwei  in  Fig.  66  und  67  repro- 
ducirt.     Beide  Aufnahmen   sind   unter    nicht   gerade    sehr    günstigen 


180 


Beurtheilung  nach  Photogrammen. 


äusseren  Umständen  mit 
Blitzlicht  gemacht ;  auf 
künstlerische  Auffassung  ist 
dabei  absichtlich  kein  Werth 
gelegt;  sie  sollen  nichts 
weiter  sein  als  wissenschaft- 
liche Documente. 

Zur  Vergleichung  mit 
den  absoluten  Massen  habe 
ich  zunächst  in  die  Umrisse 
der  ersten  Photographie 
(Fig.  66)  einige  Gelenk- 
punkte und  denModulus  ein- 
getragen, daneben  auf  den 
Modulus  die  Normalmasse 
in  vollen  Linien  construirt 
und  nach  der  Vorschrift 
von  Fritsch  in  punktirten 
Linien  die  wirklichen  Masse 
der  Margarethe  beigefügt 
(Fig.  68). 

Endlich  ist  in  Fig.  69 
ein  Massstab  in  Kopflängen 
mit  einer  dioptrisch  nach 
der  Photographie  hergestell- 
ten Profilzeichnung  des  Mäd- 
chens zusammengestellt. 

Aus  der  Vergleichung 
der  Figuren  können  wir  jetzt 
eine  Reihe  von  Erscheinun- 
gen erklären,  die  uns  bei 
der  Vergleichung  der  Masse 


Fig.  66. 


17jährige  Berlinerin  nach  einer  Aufnahme 
von  G.  Fritsch. 


bereits  auffielen. 

In  Fig.  69  ist  auffällig, 
dass  das  Kreuz  wenig  eingebogen  ist,  in  Fig.  66  resp.  68,  dass  die 
Begrenzungslinien    des    Unterleibs    gegen    die    Schenkel    einen   sehr 


Beurtheilung  nach  Photogrammen. 


181 


Fig.  67.    Dieselbe  von  hinten. 


spitzen  Winkel  bilden.  Daraus  geht  hervor,  :dass  die  Neigung  des 
Beckens  eine  sehr  geringe  ist,  dass  in  Folge  dessen  ein  grösserer 
Theil  der  Schamspalte  von  vorn  zu  sehen  ist,  und  dass  bei  dem  zu 
hohen  Stande  dieser  Theile  es  erklärlich  ist,  warum  die  Körpermitte 


182 


Beurtheilung  nach  Photogrammen. 


trotz  der  kurzen  Beine  doch,  noch  unterhalb  der  oberen  Schamhaar- 
grenze   steht.     Wäre   das   Becken    bei    sonst   gleichen  Verhältnissen 


Fig.  68.    Proportionen  von  Margarethe,  verglichen  mit  dem  Canon  von  Fritsch. 


stärker  geneigt,  dann  müsste  die  Körpermitte  viel  höher  am  Unter- 
leib in  die  Höhe  treten. 

Der  scheinbare  Widerspruch  ist  also  erklärt  durch  das  Zu- 
sammentreffen von  zwei  Fehlern:  zu  schwache  Beckenneigung  und 
zu  kurze  Beine. 


Beurtheilung  nach  Photogrammen  und  Massen. 


188 


Die  Kürze  der  Beine  hängt,  wie  aus  Fig.  68  hervorgeht, 
namentlich  ab  von  der  Verkürzung  unterhalb  des  Kniees,  und  zwar 
lehrt  uns  der  Anblick  von  Fig.  66, 
dass  es  sich  um  einen  etwas  schief 
angesetzten  und  zugleich  verkrümmten 
Unterschenkel,  ausserdem  aber  um 
einen  leichten  Grad  von  Plattfuss 
handelt. 

Ebenso  sind  auch  die  Arme  im 
Vorderarm  verkürzt,  und  in  Fig.  66 
erkennen  wir  deutlich  am  rechten  Arm 
das  vorspringende  Ellenköpfchen. 

Ausser  der  Verkürzung  und  Ver- 
krümmung von  Unterschenkel  und 
Unterarm,  ausser  dem  vorspringenden 
Ellenköpfchen  haben  wir  noch  Ver- 
dickung der  Handgelenke  und  der 
Knöchel,  und  damit  ebensoviele  Zei- 
chen einer  früheren  Rhachitis. 

Trotz  der  krankhaften  Verkür- 
zung des  Beines  bleibt  aber  immer 
noch  ein  gewisses  Missverhältniss  zwi- 
schen der  Kopflänge  und  der  Körper- 
lange;  denn  selbst  bei  einer  Länge 
von  170,5  cm  ist  sie  doch  nur  gleich 
7,4  Kopflängen. 

Dies  Verhältniss  ist  aber  kenn- 
zeichnend für  einen  noch  nicht  völlig 
ausgewachsenen  Körper. 

Es  ist  aber  auch  ersichtlich,  dass 
trotz  gut  entwickelter  Muskeln,  die 
sich  namentlich  am  Oberarm  und 
Rücken  sehr  schön  ausprägen,  die 
Formen  etwas  Eckiges  haben;  ferner 
treten  die  Schlüsselbeine  und  die  Mus- 
keln   darüber    stark  vor,    alles  in  Folge   von  geringer  Entwickelung 


vm 

M 

M 

4 

V 

\\ 

IV 

i 

m 

ii 

i 

Fig.  ö9.    Dioptrisclie  Profilzeichnung 
nach  Kopflängen. 


134  Fehler  und  Vorzüge. 

des  Fettpolsters  der  Haut.  Auch,  dies  ist  ein  Zeichen  entweder 
schlechter  Ernährung  oder  noch  nicht  vollendeten  Wachsthums. 
Gegen  erstere  sprechen  aber  die  kräftige  Muskulatur,  die  gut  ent- 
wickelten Brüste  und  die  glatte  Haut. 

Wir  haben  somit  lauter  Zeichen,  aus  denen  hervorgeht,  dass 
das  Mädchen  seine  volle  Reife  noch  keineswegs  erreicht  hat,  dass 
sie  halb  Kind,  halb  Jungfrau  ist. 

Auffallend  bei  dem  sonst  mageren  Körper  ist  die  relative 
Grösse  der  Brustdrüsen  bei  verhältnissmässig  wenig  von  einander  ent- 
fernten Warzen.  Dies  erklärt  sich  aus  der  grossen  Elasticität  der 
Haut,  die  wir  auch  als  den  grössten  Vorzug  dieses  Körpers  be- 
trachten können. 

Während  die  Haut,  wie  besonders  aus  Fig.  65  ersichtlich,  am 
Busen  dem  Brustbein  fest  anhaftet,  hat  sie  der  wachsenden  Brust- 
drüse hier  gar  nicht,  in  der  Achselhöhle  nur  wiederstrebend  nach- 
gegeben ,  bis  die  grösste  Masse  der  Drüse  seitlich  ausgewichen  ist ; 
die  Warzen  aber  sind  in  gleicher  Entfernung  von  einander  stehen 
geblieben. 

Ein  weiterer  Vorzug  ist  der  schöne  Bau  des  Auges. 

Bei  Vergleichung  der  gegebenen  Abbildungen  lassen  sich  leicht 
noch  zahlreiche  weitere  Fehler  und  Vorzüge  entdecken. 

In  der  Hauptsache  ist  der  Hauptreiz  die  jugendliche  Frische, 
der  Hauptfehler  die  Ueberreste  der  englischen  Krankheit. 

Im  Folgenden  werden  wir  sehen,  was  der  Künstler  daraus 
machen  kann.  — 

leb  glaube,  dass  die  angeführten  Beispiele  genügend  dargethan 
haben,  dass  man  nacb  festen  Regeln  jeden  gegebenen  Körper  be- 
urtheilen  kann,  ohne  dass  dabei  irgend  welche  Beimischung  von 
persönlichem  Geschmack  in  Frage  kommt;  und  damit  kommen  wir 
nun  auch  zur  praktischen  Nutzanwendung  der  gesammelten  Ein- 
drücke. 


Verwerthung  des  Modells.  185 


XIII. 

Verwerthung  in  der  Kunst  und  Kunstkritik, 

Modelle. 

Wenn  wir  das  Modell  kennen,  so  müssen  wir  über  das  feine 
Gefühl  staunen ,  mit  dem  Frau  Paczka  dessen  Vorzüge  zu  erhöhen 
und  die  Fehler  zu  bedecken  wusste,  ohne  dabei  jemals  das  Original 
und  damit  die  Naturtreue  zu  verleugnen. 

Tafel  II  ist  eine  getreue  Nachbildung  des  Werkes  der  Künstlerin, 
das  direct  auf  die  Aluminiumplatte  gezeichnet  wurde. 

Die  gewählte  Stellung  erinnert  an  den  betenden  Knaben  im 
Berliner  Museum. 

Frau  Paczka  wusste  nicht,  dass  das  Mädchen  Rhachitis  hatte, 
trotzdem  aber  hat  sie  die  Zeichen  derselben  als  hässlich  empfunden 
und  sie  so  weit  abgeschwächt,   dass  sie  nicht  störend  wirken. 

Die  grössten  Schwierigkeiten  boten  die  Beine;  hier  galt  es,  die 
leichte  X-Form,  den  Plattfuss,  die  Verdickung  des  Fussgelenkes,  die 
Krümmung  und  Verkürzung  des  Unterschenkels  zu  bedecken. 

Das  linke  Bein  ist  zunächst  im  ganzen  etwas  nach  aussen  ge- 
dreht, wodurch  sich  die  leichte  X-Stellung  desselben  weniger  scharf 
markirt.  Im  rechten  Beine  ist  durch  die  Einwärtsbeugung  des  Knies 
die  X-Stellung  in  natürlicher  Weise  motivirt  und  wirkt  darum  nicht 
als  Fehler. 

Dadurch   aber ,    dass   diese    Beugung    stärker    ausgedrückt   ist, ' 
lässt  sie  den  Fehler  am  nicht  gebeugten  Bein  beinahe  verschwinden. 

Durch  Verkürzung  ist  rechts,  durch  Drehung  links  die  Ver- 
krümmung der  Unterschenkel  dem  prüfenden  Auge  entzogen,  der 
Mangel  in  der  Länge  derselben  ist  ausgebessert. 

Die  Drehung  des  linken  Fusses  nach  aussen  ist  gross  genug, 
um  die  Messung  des  geraden  Verlaufes  durch  die  Mikulicz'sche  Linie 
zu  vereiteln,  und  doch  auch  wieder  nicht  so  gross,  dass  an  dem 
Tiefertreten  des  inneren  Fussrandes  der  Plattfuss  erkannt  werden  kann. 


186  Verwerthung  des  Modells. 

Am  rechten  Fuss  ist  durch  die  Bewegung  der  fehlerhafte  Stand 
desselben  völlig  verwischt. 

Die  Knöchel  sind  etwas  höher  gestellt  und  etwas  schlanker 
gezeichnet. 

Somit  hat  Frau  Paczka  durch  gut  gewählte  Stellung  und  einige 
leichte  Verbesserungen  ihre  Aufgabe   in  glücklichster  Weise  gelöst. 

Das  Verhältniss  des  Kopfes  zur  Körperlänge  ist  in  dem  Kunst- 
werk wie  7  zu  1 ,  also  noch  ausgeprägter  zu  Gunsten  der  Kopf- 
grösse. 

Die  Begrenzungslinie  zwischen  Rumpf  und  Beinen  bildet  einen 
stumpfen  Winkel,  und  die  Stellung  ist  so  gewählt,  dass  die  Becken- 
neigung eine  grössere  ist. 

Durch  dieselbe  Bewegung  wird  die  Beckenparthie  mehr  nach 
vorn  gebracht,  sie  erscheint  grösser  und  zeichnet  die  Muskeln 
deutlicher. 

Am  Oberkörper  ist  die  schöne  Entwickelung  der  Brüste  und 
der  Muskulatur  des  Modells  unverändert  beibehalten. 

Alle  diese  Mittel  haben  denselben  Zweck,  die  Weiblichkeit  und 
die  Jugend  des  Modells  noch  mehr  hervortreten  zu  lassen. 

So,  wie  sie  vor  uns  steht,  ist  es  eine  halbgeöffnete  Mädchen- 
knospe, die  mit  leichtem  Schritte  dahinwandelt ,  um  die  lächelnde 
Zukunft  mit  ihren  offenen  Armen  zu  umfassen. 

In  der  Ansicht  von  hinten  (Tafel  III)  war  es  weit  schwieriger, 
die  gegebenen  Fehler  zu  verbergen;  am  rechten,  zum  Theil  bedeckten 
Bein  ist  das  Problem  wieder  durch  die  Beugung  im  Knie  gelöst; 
am  linken  ist  die  Einwärtsstellung  des  Knies  dadurch  gemildert,  dass 
das  Becken  im  Hüftgelenk  nach  rechts  tiefer  gestellt  ist.  Doch  lässt 
sich  nicht  leugnen,  dass  trotzdem  der  Fehler  nicht  völlig  ver- 
schwunden ist. 

Die  freundliche  Künstlerin  möge  mir  verzeihen,  dass  ich  ihr 
Werk  dazu  benutzte,  um  auch  zugleich  ein  wenig  die  Künstlerseele 
zu  analysiren;  aber  ich  fand  die  Gelegenheit  zu  verlockend,  um  dar- 
zuthun,  dass  der  echte  Künstler,  seiner  selbst  unbewusst,  den  Mass- 
stab des  Schönen  in  sich  trägt,  und  dass  er,  seinem  Gefühle  folgend, 
dasselbe  als  hässlich  vermeidet,  was  wir  Männer  der  Wissenschaft 
als  krank  und  fehlerhaft  brandmarken. 


Bildende  Kunst.  187 

Und  indem  ich  dieses  Beispiel  anführte,  habe  ich  zugleich  ge- 
sagt, was  mein  Buch  dem  Künstler  sein  soll.  Es  soll  ihn  nichts 
Neues  lehren,  es  soll  ihm  nur  den  wissenschaftlichen  Beweis  liefern, 
dass  sein  Gefühl  das  richtige  ist,  es  soll  ihm  ein  Wegweiser  sein 
im  Gebiete  des  Schönen  und  ihn  überzeugen,  dass  sein  Schönheits- 
sinn denselben  Naturgesetzen  unterworfen  ist,  denen  wir  uns  alle 
beugen  müssen.  „Wir  glauben  zu  schieben,  und  wir  werden  ge- 
schoben." 

Aus  alledem  geht  hervor,  dass  das  Werk  des  Künstlers  in 
hohem  Masse  von  seinem  Modell  abhängig  ist.  Wir  haben  eingangs 
schon  erwähnt,  dass  Werke  anderer  dafür  nur  einen  schlechten  Er- 
satz bieten,  da  auch  sie  unter  dem  Einfluss  des  gewählten  Modells, 
sowie  der  jeweiligen  Mode  stehen.  Wir  können  auch  nochmals  auf 
die  goldenen  Worte  Dürers  zurückweisen,  um  zur  Natur  und  immer 
wieder  zur  Natur  zurückzukehren. 

Aber  dabei  muss  man  sich  hüten,  alles  für  baare  Münze  an- 
zunehmen, was  in  der  Natur  vorkommt,  sondern  man  muss  entweder 
einen  sehr  gut  geschulten  künstlerischen  Blick  haben  oder  in  zweifel- 
haften Fällen  die  Wissenschaft  zu  Hülfe  nehmen. 

Freilich  kann  nicht  jeder  Maler  malen,  was  er  will;  häufig 
muss  er  malen,  was  er  kriegt.  Dies  gilt  nicht  allein  von  Bildniss- 
malern, die  häufig  die  scheusslichsten  Gesichter  aus  keinem  änderen 
Grunde  malen  müssen,  als  weil  deren  Besitzer  oder  Besitzerinnen  mit 
irdischen  Gütern  gesegnet  sind,  dies  gilt  auch  von  Malern,  die  in 
der  Wahl  ihres  Gegenstandes  völlig  frei  sind. 

Es  lassen  sich  hunderte  von  Beispielen,  besonders  unter  der 
grossen  Zahl  moderner  Maler  anführen,  aus  deren  Werken  sich  ein 
reichbesetztes  Krankenhaus  zusammenstellen  Hesse.  Entweder  haben 
die  Künstler  keine  besseren  Modelle  gehabt ,  oder  sie  haben  deren 
Fehler  nicht  gesehen. 

Dass  im  letzteren  Falle,  wie  Brücke  meint,  die  Liebe  eine 
grosse  Rolle  spielt,  ist  nicht  so  ganz  unwahrscheinlich. 

Wenn  wir  für  diesen  Punkt  die  Literatur  zu  Rathe  ziehen,  so 
finden  wir  in  der  That  bei  den  meisten  Schriftstellern  die  Beobach- 
tung, dass  es  die  Liebe  ist,  die  das  Weib  veranlasst,  ihren  Körper 
den  Blicken  des  angebeteten  Künstlers  preiszugeben. 


288  Künstlermodelle. 


Das  ist  der  Fall  in  Heyse's  Paradies,  in  Zola's  l'oeuvre,  selbst 
in  Goethe's  Briefen  aus  der  Schweiz  sagt  die  erfahrene  alte  Matrone, 
dass  es  viel  leichter  sei,  ein  Weib  zu  finden,  das  seinen  Körper  der 
Liebe,  als  eines,  das  ihn  nur  den  Augen  des  Mannes  preisgiebt. 

Dass  dem  liebenden  Weibe  gegenüber  der  Künstler  seine  Ob- 
jectivität  oft  schwer  bewahren  kann,  liegt  in  der  menschlichen  Natur 
begründet. 

Eine  andere  und  meiner  Ansicht  nach  höhere  Auffassung  findet 
sich  in  du  Maurier's  Trilby  (S.  95). 

„She  was  equally  unconscious  of  seif  with  her  clothes  on  or 
without;  she  could  be  naked  and  unashamed." 

Das  ist  dasselbe  Gefühl,  was  wir  am  unverdorbenen  Kinde 
sehen ;  die  erste  Regung  der  Liebe  zerstört  es,  wie  dies  ja  auch  bei 
Trilby   der  Fall  ist. 

Die  höchste  Auffassung  habe  ich  nur  bei  einem  einzigen 
Schriftsteller  gefunden ,  und  zwar  bei  dem  holländischen  Dichter 
Vosmaer. 

In  seiner  „Amazone"  will  die  schöne  Marciana  erst  dann  dem 
Künstler  Modell  stehen,  nachdem  sie  sich  davon  überzeugt  hat,  dass 
er  sie  nicht  liebt. 

Das  ist  eine  Frau,  die  weiss,  dass  sie  schön  ist,  und  die  sich 
aus  reiner  Liebe  zur  Kunst  entkleidet,  aber  nicht  vor  dem  Manne, 
sondern  vor  dem  Künstler,    und   zwar    vor    dem  grossen  Künstler. 

Derartige  Frauen,  wie  Agnes  Sorel,  Paola  Borghese,  Diana  von 
Poitiers,  Lady  Digby,  Helene  Racowitza  u.  a.  giebt  es  aber  nur  wenige. 
Weit  häufiger  sind  die,  die  sich  aus  Liebe  zum  Künstler  als  Modell 
hergeben.  Man  denke  nur  an  die  Gemahlinnen  von  Rubens,  die 
Frau  von  van  der  Werff  u.  a. 

Weitaus  die  meisten  Künstler  sind  auf  bezahlte  Modelle  an- 
gewiesen, und  da  dieselben  sich  meist  aus  den  ärmeren,  schlecht 
genährten  Klassen  rekrutiren,  so  findet  man  nur  ausnahmsweise  schöne 
Gestalten  unter  ihnen. 

Unter  den  hundert  Lichtbildern  in  dem  bekannten  „Act"  von  Koch 
und  Rieth  hat  kein  einziges  dieser  Künstlermodelle  einen  normalen 
Körper,  ebensowenig  in  den  50  Freilichtstudien  von  Koch.  Im 
Kinderact   von   Max    Peiser   findet   sich   nur    ein   einziges   Mädchen 


Kunstkritik.  J 89 

(Blatt  41),  das  normal  gebaut  ist.  Also  Eine  unter  200,  die  aus 
dein  Modellstehen  einen  Beruf  machen. 

Wenn  der  Künstler  sich,  was  vielfach  geschieht,  dadurch  helfen 
will,  dass  er  von  einem  Modell  diesen,  von  einem  anderen  jenen 
Körpertheil  benutzt,  dann  thut  er  der  Natur  Gewalt  an,  indem  er 
die  Individualität  zerstört.  Auf  diese  Weise  wird  er  niemals  im 
Stande  sein,  ein  harmonisches  Gebilde  zu  schaffen. 

Es  giebt  nur  zwei  Wege:  Entweder  ein  tadelloses  Modell  oder 
die  sachverständige  Verbesserung  und  Verdeckung  der  Fehler,  wie 
es  Frau  Paczka  getha;^  hat.  Und  für  diesen  letzteren  Fall  kann 
das  Urtheil  des  Arztes  oft  von  Nutzen  sein. 

Viel  gehört  dazu,  ein  Kunstwerk  zu  erschaffen,  fast  noch  mehr 
gehört  dazu,  es  richtig  zu  beurtheilen. 

Der  vollendete  Kritiker  muss  die  Geschichte,  die  Technik  der 
Kunst,  sowie  den  dargestellten  Gegenstand  genau  kennen,  und  das 
ist  für  die  meisten  Menschen  beinahe  unmöglich  zu  vereinigen.  Dass 
sich  trotzdem  so  viele  Kritiker  finden,  liegt  an  der  grossen  Selbst- 
überschätzung der  Menschen  im  allgemeinen.  Nirgends  tritt  dieselbe 
deutlicher  zu  Tage  als  in  der  Beurtheilung  des  Bildnisses  irgend 
einer  bekannten  Persönlichkeit.  Hier  glaubt  jeder,  dass  er  berechtigt 
und  im  Stande  ist,  alle  möglichen  und  unmöglichen  Fehler  zu  ent- 
decken. 

Ein  Urtheil,  sei  es  Lob  oder  Tadel,  auszusprechen,  ist  leicht, 
es  zu  begründen,  ist  schwer,  aber  doch  die  eigentliche  Aufgabe  einer 
sachverständigen  Kritik.  Ich  hoffe,  dass  die  kurzen  diesbezüglichen 
Andeutungen,  die  ich  im  Lauf  meiner  Arbeit  eingestreut  habe,  dazu 
beitragen  können,  auch  in  dieser.  Hinsicht  zur  Verbesserung  der 
Besseren  unter  den  Kunstkritikern  beizutragen.  Um  richten  zu 
können,  muss  man  erst  etwas  wissen. 


190  Erhaltung  körperlicher  Schönheit. 


XIV. 

Vorschriften  zur  Erhaltung  und  Förderung 
weiblicher  Schönheit. 

Der  Eingeweihte  steht  erstaunt  vor  der  Fülle  von  Mitteln,  die 
das  Weib  besitzt,  um  Vorzüge  zu  heuchehv  die  sie  nicht  hat,  und 
Fehler  so  geschickt  zu  verbergen,  dass  sich-  lieselben  in  Vorzüge 
verändern.  Darin  ist  das  Weib  Meister,  und  es  wäre  vermessen,  ihr 
darüber  noch  Vorschriften  geben  zu  wollen;  das  hiesse  Eulen  nach 
Athen  tragen. 

Wer  Fehler  hat  und  sie  verbergen  will,  für  den  sind  alle  Mittel 
erlaubt,  und  wenn  eine  Frau  ihren  an  und  für  sich  schon  schlechten 
Körper  noch  mehr  im  Dienste  der  Mode  verderben  will,  um  ihren 
glücklicheren  Schwestern  ähnlich  zu  sehen,  so  hat  sie  fremden  Rath 
dabei  nicht  nöthig. 

Meine  Absicht  ist  nicht,  wie  in  einem  Kochbuch  Recepte  für 
Schönheit  oder  ein  Verzeichniss  der  zahlreichen,  mir  bekannt  ge- 
wordenen Toilettengeheimnisse  herauszugeben;  ich  will  vielmehr 
darauf  hinweisen,  wie  jedes  Weib  die  ihr  von  der  Natur  verliehenen 
Gaben  am  besten  entwickeln  kann,  und  da  dieselben  am  meisten 
beim  heranwachsenden  Geschlechte  sowohl  günstig  als  ungünstig 
beeinflusst  werden  können,  so  richten  sich  meine  Worte  hauptsäch- 
lich an  die  Mütter. 

Ich  habe  oben  bereits  darauf  hingewiesen,  dass  Schönheit  stets 
individuell  ist,  dass  wir  deshalb  keine  mathematisch  umschriebene 
Form  der  Schönheit  haben,  sondern  dass  dieselbe  die  höchste  Aus- 
bildung einer  Individualität  ist  innerhalb  der  unabänder- 
lich feststehenden  Grenzen  normaler  Entwickelunsr. 

Vorschriften  lassen  sich  deshalb  nur  geben  für  die  feststehenden 
Grenzen;  doch  ist  selbst  hierbei  häufig  der  Rath  und  die  Erfahrung 
eines  Sachverständigen  nöthig,  und  insofern  will  ich  gerne  den  Vor- 
wurf auf  mich  nehmen,  dass  ich  eine  Oratio  pro  domo  halte,  indem 


Erziehung.  191 

ich  darauf  aufmerksam  mache ,  welche  grosse  Rolle  im  Leben  der 
Frau  der  Arzt  zu  spielen  berufen  ist. 

Ich  glaube  nicht ,  dass  dieselbe  unnöthig  ist.  Allerdings  be- 
steht schon  seit  Jahren  in  England  die  Sitte,  dass  alljährlich  die 
ganze  Familie,  und  namentlich  deren  weibliche  Mitglieder,  zum  Zahn- 
arzt pilgert,  um  sich  das  Gebiss  nachsehen  zu  lassen,  gleichgültig, 
ob  dasselbe  gut  oder  schlecht  ist. 

Ausser  den  Engländern  zeigt  aber  Niemand  seine  Zähne,  so- 
lange sie  noch  gesund  sind,  und  alle  anderen  Körpertheile  werden 
von  allen,  die  Engländer  einbegriffen,  vernachlässigt. 

Es  giebt  allerdings  einzelne  Ausnahmen,  und  wie  mir,  ist  es 
wohl  jedem  Arzte  hie  und  da  einmal  vorgekommen,  dass  eine  Mutter 
ihre  Tochter  untersuchen  lässt,  um  die  Gewissheit  zu  haben,  dass 
dieselbe  nicht  krank  ist. 

Wie  viel  Unheil  könnte  verhütet  werden,  wenn  diese  Sitte  all- 
gemein wäre,  und  wenn  in  solchen  Fällen  weder  die  Mütter  noch 
die  Aerzte  sich  durch  eine  gewisse  falsche  Scham  davon  abhalten 
Hessen,  die  Untersuchung  so  gründlich  vorzunehmen,  als  der  Ernst 
der  Sache  es  erheischt. 

Es  ist  ja  im  allgemeinen  viel  leichter,  eine  deutlich  aus- 
gesprochene Krankheit  zu  erkennen,  als  einen  Körper  daraufhin  zu 
untersuchen,  dass  er  keine  Krankheit  oder  Spuren  davon  besitzt. 

Die  Sorge  für  den  Körper  des  Mädchens  beginnt  eigentlich 
schon  vor  der  Geburt,  da  zu  starkes  Schnüren  während  der  Schwanger- 
schaft den  kindlichen  Körper  zeitlebens  zu  verderben  im  Stande  ist. 
Die  schwerstwiegenden  Sünden  werden  aber  meist  in  der  Periode 
des  Wachsens  und  Reifens  begangen. 

Ich  bilde  mir  nicht  ein,  dass  es  mir  gelingen  wird,  viele  Prose- 
lyten  zu  werben  —  der  alte  Sömmering  ist  schon  beinahe  hundert  Jahre 
todt,  und  noch  immer  werden  Corsetten  getragen  —  wenn  ich  aber 
auch  nur  eine  oder  einige  Mütter  bekehrt  habe,  dann  ist  dies  Buch 
nicht  umsonst  geschrieben. 

Die  erste  Regel  lautet :  Weite  Kleider  vor  und  enge  Kleider 
nach  der  Geburt,  im  eigenen  Interesse    und   in    dem    des  Kindes. 

Jeder  Druck  beeinträchtigt  den  Raum  für  das  werdende  Kind 
und  hemmt  es  in  seiner  Entwickelung.     Die  an  und  für  sich  schon 


192  Erziehung. 

in  dieser  Zeit  stark  gespannte  Bauchwand  wird  durch  Druck  von 
aussen  noch  mehr  aus  ihrer  natürlichen  Lage  gedrängt,  die  Muskeln 
erschlaffen  und  sind  nie  wieder  im  Stande,  ihre  frühere  Elasticität 
zu  erlangen. 

Nach  der  Geburt  muss,  namentlich  in  den  ersten  Wochen,  durch 
enge  Kleider  die  Bauchwand  so  lange  in  ihrer  Lage  erhalten  und 
unterstützt  werden,  bis  sie  wieder  ihre  volle  Elasticität  erlangt  hat. 
Dies  ist  meistens  nach  6  Wochen  der  Fall.  Jeder  Tag  weniger  ist 
ein  Leichenstein  auf  dem  Grabe  der  Schönheit. 

In  England  erhält  das  Mädchen,  das  sich  verheirathet ,  eine 
Leibbinde  mit  auf  den  Weg,  die  genau  sich  an  die  Form  des  jung- 
fräulichen Leibes  anschliesst.  Dieselbe  wird  sofort  nach  der  Geburt 
angelegt,  drückt  wohl  am  ersten  und  zweiten  Tag,  wirkt  dann  aber 
wohlthuend  durch  den  Halt,  den  sie  gewährt,  und  erhält  seiner  Be- 
sitzerin die  jugendliche  Form  des  Bauches.  Die  indischen  Frauen, 
deren  Beispiel  viele  Holländerinnen  jetzt  nachahmen,  binden  den  Unter- 
leib nach  der  Geburt  sehr  fest  ein.  Deutschland,  Frankreich  und 
andere  gebildete  Länder   aber    sind    die  Heimath  der  Hängebäuche. 

Wie  für  die  Mutter  enge,  so  sind  für  das  Kind  nach  der  Ge- 
burt weite  Kleider  angemessen.  Je  freier  es  sich  bewegen  kann, 
desto  besser  können  Gliedmassen  und  Brustkorb  sich  ausdehnen  und 
entwickeln. 

Darum  ist  die  zweite  goldene  Regel  für  das  heranwachsende 
Mädchen:  Weite  Kleider  und  freie  Bewegung.  Und  dies  gilt 
nicht  nur  für  den  Säugling,  sondern  für  das  ganze  Zeitalter  des 
Wachsthums. 

So  natürlich  das  scheint,  so  viel  wird  dagegen  gesündigt. 
Namentlich  die  freie  Bewegung  wird  oft  falsch  aufgefasst.  Das 
Spielen  der  Kinder,  ihnen  von  der  Natur  angeboren,  fördert  ihre 
Entwickelung  viel  mehr  als  das  systematisch  betriebene  Turnen,  bei 
dem  von  Jedem  ohne  Rücksicht  auf  jeweilige  Körperkraft  dasselbe 
gefordert  wird. 

Zu  früh  angestellte  Versuche,  ein  Kind  laufen  zu  lernen,  sind 
schädlich.  Wenn  es  die  nöthige  Kraft  besitzt,  wird  es  von  selbst 
laufen.  Erzwingt  man  dies  zu  früh,  dann  werden  die  zu  schwachen 
Beine  krumm. 


Erziehung.  193 

Faule  Kinder  sind  meist  auch  schwache  Kinder.  Wenn  ein 
Kind  wächst,  hat  es  mehr  Bedürfniss  nach  Ruhe  als  ein  Erwachsener. 
Kinder  zu  ermahnen,  dass  sie  gerade  sitzen,  ist  gut;  ihnen  aber 
schlechte  Stühle  ohne  Lehne  zu  geben,  um  sie  dazu  zu  zwingen, 
ist  eine  Sünde ,  die  das  erwachsene  Kind  mit  einem  krummen 
Rücken  büsst. 

Die  dritte  goldene  Regel  sind:  Kräftige  Nahrung,  frische 
Luft  und  reichlicher  Schlaf.  Sie  sind  für  Darm,  Lungen  und 
Nerven  das,  was  weite  Kleider  und  freie  Bewegung  für  Knochen, 
Muskeln  und  damit  für  die  Körperform  sind.  Da  aber  alle  Theile 
des  Körpers  ineinander  greifen,  so  kann  die  gleichmässige  Versorgung 
aller  nicht  entbehrt  werden. 

Als  vierte  goldene  Regel  gilt:  Die  Pflege  der  Haut,  und 
dabei  ist  Wasser  und  Seife  in  sehr  reichlicher  Menge  für  täglichen 
Gebrauch  ein  lange  noch  nicht  genug  geschätztes  Mittel  der  weib- 
lichen Kosmetik. 

Schmutzige  Kinder  können  ja  auch  schön  sein,  dies  zeugt  je- 
doch nur  von  der  Unverwüstlichkeit  der  menschlichen  Natur,  und 
ist  kein  Argument  gegen  den  Rath ,  durch  peinlichste  Reinlichkeit 
die  Thätigkeit  der  Haut  und  damit  die  Schönheit  des  Körpers  zu 
erhöhen. 

Wer  weiss ,  wie  viel  schöner  Murillo's  Zigeunerknaben  sein 
würden,  wenn  sie  sich  regelmässig  gewaschen  hätten. 

Wenn  das  Mädchen  zur  Jungfrau  heranreift,  dann  verfällt  es 
dem  Corset,  und  zwar  um  so  eher,  je  weniger   „Figur"    es  hat. 

Brücke  x)  hat  schon  daraufhingewiesen,  dass  gerade  die  Back- 
fische mit  gedrungenen  Formen  „sich  zu  den  schönsten  Gestalten 
auswachsen,"   sobald  sie  emporschiessen. 

Je  früher  man  ein  Corset  anlegt,  desto  mehr  verdirbt  es  die 
Gestalt  und  vereitelt  die  volle  Entwickelung  der  Körperformen.  Ich 
habe  bereits  oben  auf  die  nachtheiligen  Folgen  des  Corsets  hin- 
gewiesen. Hier  ^sei  nur  nochmals  hervorgehoben,  class  ich  das  Corset 
als  solches  keineswegs  verdamme,  sondern  nur  den  Missbrauch,  der 
damit  gemacht  wird. 


J)  1.  c  p.  71. 

Stratz,  Die  Schönheit  des  weiblichen  Körpers.  13 


194  Kleidung. 

Das  Corset  ist  eine  vortreffliche  Stütze  für  die  Last  der  Kleider, 
die  den  unteren  Theil  des  Körpers  verhüllen,  und  dient  dazu,  den 
Druck  derselben  auf  eine  grössere  Oberfläche  zu  vertheilen. 

Um  diesem  Zweck  zu  entsprechen,  muss  es  drei  Bedingungen 
genügen : 

Es  muss  auf  den  Hüften  ruhen ,  damit  es  die  weichen  Theile 
nicht  zu  sehr  drückt. 

Es  muss  lose  sitzen,  um  weder  die  Bewegungen  des  Körpers 
zu  hemmen,  noch  die  unter  ihm  liegenden  Organe,  den  Magen,  die 
Leber  und  die  Gedärme  zu  beengen. 

Es  darf  nicht  hoch  hinaufreichen,  um  weder  die  Athmung  zu 
hindern,  noch  die  Rückenmuskeln  in  ihrer  Bewegung  und  Ausbildung 
zu  beeinträchtigen. 

Dazu  kommt  endlich  noch,  dass  die  Schwere  der  Unterkleider 
auf  das  geringste  Mass  beschränkt  sein  soll;  je  weniger  und  je 
leichtere  Unterkleider  getragen  werden,  desto  leichter  ist  die  Auf- 
gabe des  Corsets. 

Von  allen  mir  bekannten  Formen  ist  das  Cors-et  Ceinture  —  den 
terminus  technicus  weiss  ich  nicht,  aber  die  Damen  werden  mich  be- 
greifen —  das  beste  und  naturgemässeste. 

Die  Frage,  wann  ein  Corset  angelegt  werden  soll,  ist  ebenso 
schwierig  im  allgemeinen  zu  entscheiden,  als  der  Zeitpunkt  der 
höchsten  Blüthe.  Vor  derselben  ist  es  schädlich,  während  und  nach 
derselben  empfehlenswerth.  Da  aber  dieselbe,  wie  ich  oben  aus- 
einandersetzte, bald  im  15.,  bald  im  30.  Jahr  und  noch  später  ein- 
tritt, so  ist  hier  eine  Entscheidung  nur  im  individuellen  Falle  möglich. 

Jedenfalls  kann  man  das  sagen,  dass  das  Corset  nicht  eher 
angelegt  werden  darf,  als  bis  die  Hüften  so  breit  sind,  dass  sie 
ohne  Schnüren  eine  Stütze  gewähren. 

Und  werden  Sie  jetzt  Ihr  Corset  ablegen,  verehrte  Leserin? 
Nein,  gewiss  nicht.  Dann,  bitte,  erbarmen  Sie  sich  wenigstens  Ihrer 
unschuldigen  Tochter  und  verhüten  Sie,  dass  sie  zu  früh  ihren  Körper 
entstellt.  Später  wird  sie  es  ja  doch  schon  von  selbst  thun.  aber 
dann  haben  Sie  sich  wenigstens  nichts  vorzuwerfen. 

Der  zweite  dunkle  Punkt  in  unserer  Gesittung  ist  der  Fuss. 
Frau  Paczka  versicherte  mir,  dass  sie  noch  nie  einen  schönen  weib- 


Kleidung.  195 

liehen  Fuss  gesehen  habe.  Ich  war  glücklicher,  aber  nicht  oft.  Auch 
die  Füsse  werden  meist  schon  in  der  Jugend  verdorben  und  zwar 
nicht  nur  im  Reiche  der  Mitte. 

Zahllos  sind  die  Schwestern  von  Aschenbrödel,  denen  kein 
Opfer  zu  gross  ist,  um  ihre  grösseren  Füsse  in  kleinere  Schuhe  zu 
zwängen.  Diese  Unsitte  würde  nur  dann  aufhören,  wenn  man  wieder 
anfinge,  auf  blossen  Füssen  oder  auf  Sandalen  zu  gehen.  Dass  dies 
aber  nicht  geschieht,  dafür  sorgen  die  zahlreichen  Vertreterinnen 
des  schönen  Geschlechts,  die  ihre  Füsse  nicht  mehr  zeigen  können. 
Den  Muth,  den  zu  kleinen  Schuh  aufzugeben,  um  einen  schönen  Fuss 
zu  besitzen,  werden  nur  Wenige  haben. 

Passende  Strumpfbänder  findet  man  jetzt  häufiger  als  vor  einigen 
Jahren;  doch  ist  auch  hierin  noch  manches  zu  verbessern.  Für 
Kinder  und  junge  Mädchen  ist  es  am  besten,  überhaupt  keine  Strümpfe, 
sondern  Socken  tragen   zu   lassen,    die  das  Bein   nirgends   beengen. 

Wenn  ich  mir  schliesslich  noch  den  bescheidenen  Rath  erlaube, 
dem  Frauenarzt  Gelegenheit  zu  geben,  durch  rechtzeitiges  Eingreifen 
so  manchen  sorgfältig  verborgen  gehaltenen  Krankkeitsheerd  im 
Keime  zu  ersticken,  so  glaube  ich  in  grossen  Zügen  alles  erwähnt 
zu  haben,  was  zum  Heil  und  Wohlsein  des  reifenden  Weibes  gethan 
werden  kann. 

Ob  ich  tauben  Ohren  gepredigt  habe,  wird  die  Zukunft  lehren. 
Aber  eines  steht  fest,  dass  die  Schönheit  des  weiblichen  Körpers 
nichts  anderes  ist  als  der  Inbegriff  höchster  Gesundheit. 

Und  die  Schönheit  der  Seele?  Glückselig  derjenige,  der  in  der 
Lage  war,  eine  schöne  Weiberseele  so  recht  von  Grund  aus  kennen 
zu  lernen.  Aber  darüber  schreiben  ist  Sünde,  denn  das  lässt  sich 
nur  fühlen  im  tiefsten  Herzen,  und  Gesetze  lassen  sich  dafür  nicht 
geben. 


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