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Die Schönheit
des
Weiblichen Körpers.
Von
DR- C. H. ST RATZ.
DEN MUTTERN, ÄRZTEN UND KUNSTLERN
GEWIDMET.
Mit 6g theils fai-bigen Abbildungen im Text und j Tafeln in Heliogravüre.
STUTTGART.
VERLAG VON FERDLNAND ENKE.
7c
Druck der Union Deutsche Verlagsgesellschaft in Stuttgart.
Vorwort.
Wer ein neues Haus bauen will, hat eine schwere Arbeit zu
verrichten. Von überall her muss er die Steine und die Balken
herbeitragen, und er ist den freundlichen Menschen dankbar, die
ihm dabei geholfen haben. Wenn endlich das Haus dasteht, dann
ist es noch lange nicht fertig, hier hat die Mauer einen Riss be-
kommen und dort hat sich ein Stein gesenkt, und Jahre vergehen,
ehe er das Gebäude wohnlich eingerichtet hat, zur Freude für sich
und andere.
Ich habe versucht, der lebenden weiblichen Schönheit einen
Tempel zu errichten im Reiche der Gedanken; die Bausteine haben
mir der Arzt, der Anatom und der Künstler geliefert.
Mit freundlichem Dank an diejenigen, die mir geholfen, über-
gebe ich das Werk, so wie es ist, der Oeffentlichkeit und hoffe, dass
es Beifall finden wird und mir Freunde erwirbt, die geneigt sind,
es zu verbessern, zu erweitern und zu vervollständigen.
IV Vorwort.
Ich habe eine mehr allgemeinverständliche Form gewählt, da
der Inhalt, wie mir scheint, auch weitere Kreise als die rein wissen-
schaftlichen zu fesseln berufen ist. Dies Buch ist den Müttern, den
Aerzten und Künstlern gewidmet.
Habeat suum fatum.
den Haag-Scheveningen, Juni 1898.
C. H. Stratz.
Inhalt.
Seite
Einleitung 1
I. Der moderne Schönheitsbegriff 4
IL Darstellung weiblicher Schönheit durch die bildende Kunst ... 13
III. Weibliche Schönheit in der Literatur 26
IV. Proportionslehre und Canon 32
V. Einfluss von Geschlecht, Lebensalter und Erblichkeit 43
VI. Einfluss von Krankheiten auf die Körperform 51
VII. Einfluss der Entwickelung , Ernährung und Lebensweise auf den
Körper 62
VIII. Einfluss der Kleider auf die Körperform 70
IX. Beurtheilung des Körpers im allgemeinen nach diesen Gesichts-
punkten 78
X. Beurtheilung der einzelnen Körpertheile 91
a) Kopf 92
b) Rumpf s 105
Der Rumpf als Ganzes 106
Die einzelnen Theile des Rumpfes 112
Brust ' 112
Bauch 124
Rücken 131
Die Verbindungen des Rumpfes mit Kopf und Gliedmassen 138
Hals 139
Schultern ., . . . 144
Hüften und Gesäss 146
VI -Inhalt.
Seite
c) Obere Gliedmassen 151
Arm 152
Hand 155
d) Untere Gliedmassen 157
Bein 158
Fuss . 162
XI. Ueberblick der gegebenen Bedingungen normaler Körperbildung,
Masse und Proportionen. Felder und Vorzüge 165
XII. Praktische Verwerthung der wissenschaftlichen Auffassung weib-
licher Schönheit 170
XIII. Verwerthung in der Kunst und Kunstkritik 185
XIV. Vorschriften zur Erhaltung und Förderung' weiblicher Schönheit . 190
Verzeiclmiss der Tafeln.
Tafel I. Wiener Mädchen.
Tafel IL Junges Mädchen. Originalzeichnung von Frau Cornelia Paczka.
Tafel III. Rückansicht derselben.
Verzeiclmiss der Abbildungen.
Seite
Fig. 1. Vatikanische Venus 10
„ 2. La danseuse von Falgniere 11
„ 3 a und b. Aphrodite diaduinene vom Esquilin 16, 17
„ 4. Alma Tadema. „Ein Bildhauermodell" 18
„ 5. löjäbriges Judenmädchen 19
6. Venus von Boticelli .22
„ 7. Canon von G. Fritsch und Merkel'che Normalgestalt 36
„ 8. Weibliche Normalfigur nach Richer 38
„ 9. Sarpi, javanisches Mädchen von etwa 18 Jahren 39
„ 10. Weibliche Normalfigur nach Hay 42
„ 11. Weibliche Normalfigur von Thomson 42
„ 12. Infantilismus der Frau nach Meige 45
„ 13. Schönheitscurve. Beaute du diable . 47
„ 14. Mädchen mit deutlichen Zeichen überstandener Rhachitis ... 54
„ 15. Junge Engländerin mit Spuren überstandener Rhachitis .... 55
„ 16. Myopathie primitive progressive nach Londe und Meige ... 57
„ 17. Mädchen von 26 Jahren mit kräftig entwickelter Muskulatur . . 58
„ 18. 20jähriges Mädchen mit phthisischem Habitus 60
„ 19. Kopf eines menschlichen Embryo, aus der sechsten Woche (schema-
tisch nach Gegenbaur und Häckel) 63
„ 20. Kopf einer jungen Pariserin mit feingeschnittenem Mund ... 64
„ 21. Kleines Mädchen mit X-Beinen (Genu valgum) nach Hoffa . . . 66
„ 22. Javanisches Mädchen, das nie ein Corset getragen hat . . . . 71
„ 23. Gypsabguss nach der Leiche einer jugendlichen Selbstmörderin . 72
„ 24. Mädchentorso ohne Schnürfurche 73
„ 25. Mädchen mit deutlicher Schnürfurche 74
,, 26. Mädchen mit sehr starker Einschnürung 75
„ 27. Symmetrische Körperhaltung 80
„ 28. Männliche Normalgestalt nach Merkel 83
„ 29. Weibliche Normalgestalt nach Merkel 83
„ 30. Männliche Normalgestalt nach Merkel von hinten 84
VIII Verzeichniss der Abbildungen.
Seite
Fig. 31. Weibliche Normalgestalt nach Merkel von hinten 84
„ 32. Weiblicher und männlicher Torso im Profil nach Thomson . . 85
„ 33. Weiblicher und männlicher Schädel. Modificirt nach Ecker . . 92
34. Kopf eines Embryo aus der sechsten Woche 94
35. Schädel eines Neugeborenen 96
36. Schädel einer Frau mit schmalem und langem Oberkiefer . . 96
37. Schädel einer Frau mit kurzem und breitem Oberkiefer ... 96
38. Weiblicher Kopf mit guten Proportionen und gut gebautem Auge 103
39. Schöngebildetes Ohr (nach Langer) 104
„ 40. Rumpfskelet eines 23jährigen Mädchens, durch Schnüren ver-
unstaltet (nach Rüdinger) 107
„ 41. Muskulatur des weiblichen Torso von vorn 108
„ 42. Muskulatur des weiblichen Rückens 109
,, 43. Rückansicht von Mann und Frau nach Richer zur Vergleichung
der Vertheilung des Fettpolsters 110
„ 44. Gut gebauter weiblicher Rumpf 111
„ 45. 14jähriges Mädchen mit guter Absetzung der Brust gegen die
vordere Achselgrenze 117
„ 46. Gut gebaute Brust 119
„ 47. Schlecht gebaute Brust 120
„ 48. Vollentwickelte Brust einer beaute du diable (Böhmin) .... 123
„ 49. Weibliches Becken 125
„ 50. Weiblicher Körper mit schönen Grenzlinien zwischen Rumpf und
Schenkeln 130
51. Runder Rücken nach Hoffa 132
52. Tiefstand der rechten Schulter bei beginnender Rückgratsver-
krümmung (nach Hoffa) 134
53. Schön modellirter Rücken eines javanischen Mädchens .... 135
54. Rücken einer Pariserin, durch Schnüren verflacht 136
55. Verlorenes Profil von Fig. 50 mit schönen Rückenlinien . . . 137
56. Weiblicher Hals und Schulter im Profil 140
57. Abrundung der Hüfte bei einer jungen Engländerin .... 148
58. Erste Zeichen des Verwelkens 150
59. Schön gerundeter Arm 155
60. Schön gebauter Arm und Schulter 156
61. Bestimmung der Geradheit des Beines nach Mikulicz .... 160
62. Brücke'sche Linie 160
63. Abdrücke vom normalen und von Plattfüssen nach Volkmann . 163
64. Bestimmung des Wiener Mädchens nach Köpf längen . . . . 175
65. Bestimmung des Wiener Mädchens nach dem Modulus von Fritsch 177
66. 17jährige Berlinerin nach einer Aufnahme von G. Fritsch . . 180
67. Dieselbe von hinten 181
68. Proportionen von Margarethe, verglichen mit dem Canon von Fritsch 182
69. Dioptrische Profilzeichnung nach Kopflängen 183
Einleitung.
Des Weibes Leib ist ein Gedieht,
Das Gott der Herr geschrieben
Ins grosse Stammbuch der Natur,
Als ihn der Geist getrieben.
(Heine.)
eit Menschengedenken haben Tausende von Dichtern, von
Malern und Bildhauern die Schönheit des Weibes in Wort
und Bild verherrlicht, selbst ernste Gelehrte haben sich
nicht gescheut , Theorien über das weibliche Schönheitsideal zu-
sammenzustellen; und die Menge bewundert ihre Werke und betet
ihnen nach. Dabei vergisst sie aber, dass die allmächtige Natur
in ihrer unerschöpflichen Kraft täglich weibliche Wesen erstehen
lässt, die weit schöner sind, als alles, was Kunst und Wissenschaft
je hervorgebracht, an denen die meisten achtungslos vorübergehen,
weil kein Kundiger ihnen zuruft: Seht hier die lebende Schönheit
in Fleisch und Blut.
In herrlichen Worten forderte schon im Anfang des sechzehnten
Jahrhunderts der grosse Meister Albrecht Dürer l) dazu auf, immer
und immer wieder zur Natur zurückzukehren:
„Darum sieh die Natur neissig an, richte dich danach und
geh nicht von ihr ab in deinem Gutdünken, dass du meinest, du
wollest das Bessere von dir selbst finden, denn du würdest verführt.
Denn wahrhaftig steckt die Kunst in der Natur; wer sie heraus
kann reissen, der hat sie. Ueberkommst du sie, so wird sie dir
viel Fehls nehmen in deinem Werk. Aber je genauer dein Werk
!) Proportionslehre, III. Theil, 1523.
Stratz, Die Schönheit des weiblichen Körpers.
2 - Einleitung.
dem Leben gemäss ist in seiner Gestalt, desto besser erscheint dein
Werk. Und dies ist wahr; darum nimm dir nimmermehr vor, dass
du etwas Besseres mögest oder wollest machen, als Gott es seiner
erschaffenen Kreatur zu wirken Kraft gegeben, denn dein Ver-
mögen ist kraftlos gegen Gottes Schaffen."
Nicht nur für den Künstler, sondern auch für jeden gebildeten
Menschen überhaupt sind diese goldenen Lehren beherzigenswerth,
auch heute noch.
Dank der Photographie und der Verbesserung in der Technik
der anderen vervielfältigenden Künste sind wir heute in der Lage,
wenigstens die äusseren Formen lebender Schönheit mit wissen-
schaftlicher Genauigkeit festzuhalten.
Brücke l) war der erste , der sich dieses Mittels bediente, ihm
folgte Thomson2). Richer3), der künstlerische, selbst gefertigte
Zeichnungen nach dem lebenden Modell giebt, hat dieselben eben-
falls durch photographische Aufnahmen wissenschaftlich sicher
gestellt.
Bei diesen und allen ähnlichen älteren und neueren Werken,
die sich in mehr wissenschaftlicher Weise mit der weiblichen Schön-
heit beschäftigen, sind mir indessen zwei Thatsachen, oder, wenn
man will, Mängel aufgefallen. Zunächst beschäftigen dieselben sich
nicht mit dem schönen Körper an und für sich, sondern nur in
Beziehung zu den Nachbildungen desselben durch die Kunst; dann
aber werden wohl sehr sorgfältig alle anatomischen Thatsachen be-
handelt, die pathologischen Thatsachen jedoch, die durch Krank-
heiten und unrichtige Lebensweise bedingten Veränderungen des
Körpers, werden nur sehr flüchtig gestreift.
Ich habe einen neuen Weg zur Beurtheilung menschlicher
Schönheit einzuschlagen versucht, indem ich neben den Standpunkt
des Künstlers und des Anatomen den des Arztes stellte, indem ich
statt an Bildern und Leichen meine Beobachtungen so viel wie mög-
lich am lebenden Körper machte, und diesen an und für sich als
Hauptsache, und nicht nur als Gegenstand künstlerischer Darstellung
r) Schönheit und Fehler der menschlichen Gestalt, 1890.
-) Handbook of anatomy for art students, 1896.
3) Anatomie artistique, 1890.
Einleitung. 3
betrachtete. Dass ich mich dabei allein auf den weiblichen Körper
beschränkte, erklärt sich daraus, dass mir als Frauenarzt kein
grösseres männliches Material zur Verfügung stand.
Zahlreiche Arbeiten anderer, worunter namentlich die der
Anthropologen hervorzuheben sind, kamen mir zu statten bei meinen
Untersuchungen, die mich nach fünfzehnjähriger Arbeit zu dem Er-
gebniss gebracht haben, dass wir nur auf negativem Wege, d. h.
durch Ausschluss krankhafter Einflüsse, aller durch fehlerhafte Klei-
dung, durch Erblichkeit, unrichtige Ernährung und unzweckmässige
Lebensweise bedingten Verunstaltungen des Körpers zu einer Normal-
gestalt , zu einem Schönheitsideal gelangen können, das dann aller-
dings individuell sehr verschieden sein kann, aber doch stets den-
selben Gesetzen unterworfen ist, da vollendete Schönheit und voll-
kommene Gesundheit sich decken.
Dadurch allein erhalten wir einen festen, auf Thatsachen be-
ruhenden Massstab, den wir, unabhängig vom individuellen, un-
berechenbaren Geschmack, anlegen können.
Hierin liegt, glaube ich, auch ein gewisser praktischer Werth
meiner Untersuchungen, dass sich aus denselben ergiebt, dass wir,
namentlich bei der heranwachsenden Jugend, sehr wohl im Stande
sind, durch zweckmässige Behandlung die Gesundheit und damit die
Schönheit des Körpers zu erhöhen und zu veredeln.
Bevor ich jedoch daran gehe, die bekannten Thatsachen, ver-
mehrt durch eigene Beobachtungen, von diesem neuen Standpunkte
aus zu betrachten, muss ich, des besseren Verständnisses halber, in
grossen Zügen die verschiedenen Wege besprechen, auf denen man
bisher das Schönheitsideal zu erreichen gesucht hat, und vor allen
Dingen muss ich den modernen Schönheitsbegriff und die Umstände,
die zu seiner Bildung beigetragen haben, kritisch beleuchten.
I.
Der moderne Schönheitsbegriff.
Der moderne europäische Mensen kennt vom lebenden weib-
lichen Körper so gut als nichts. Er sieht nur Gesicht und Hände,
bei festlichen Gelegenheiten Arme und Schultern. Nur einen oder
einige wenige weibliche Körper sieht er entkleidet, und auch diese
meist unter Umständen, die ihm ein nüchternes, unbeeinflusstes
Urtheil unmöglich machen oder doch trüben; denn Liebe macht blind.
Ueber Gesicht und Hände kann er sich allerdings ein selbst-
ständiges Urtheil bilden, was er vom übrigen Körper weiss, ist der
Gesammteindruck der Erinnerungsbilder von Darstellungen desselben
durch die bildende Kunst; Beobachtungen an dem lebenden Weibe
spielen dabei eine ganz untergeordnete Rolle. Demnach beruht das
Schönheitsideal des modernen Europäers grösstenteils auf durch die
Kunst vermittelten Eindrücken. Eine Ausnahme hiervon macht der
Künstler und der Arzt.
Den unmittelbaren Eindruck, den der erste Anblick eines
nackten weiblichen Körpers auf den Beschauer ausübt, hat Goethe,
der grosse Psychologe, in vortrefflicher Weise geschildert M.
„Sie brachte mich darauf in ein kleines, artig meublirtes
Zimmer; ein sauberer Teppich deckte den Fussboden, in einer Art
von Nische stand ein sehr reinliches Bett, zu der Seite des Hauptes
eine Toilette mit aufgestelltem Spiegel, und zu den Füssen ein
Gueridon mit einem dreiarmigen Leuchter, auf dem schöne helle
Briefe aus der Schweiz. Erste Abtheilung. Cotta 4, p. 469.
Der moderne Schönheitsbegriff. 5
Kerzen brannten. Auch auf der Toilette brannten zwei Lichter.
Ein erloschenes Kaminfeuer hatte die Stube durchaus erwärmt. Die
Alte wies mir einen Sessel an, dem Bette gegenüber am Kamin,
und entfernte sich.
„Es währte nicht lange, so kam zu der entgegengesetzten Thüre
ein grosses, herrlich gebildetes, schönes Frauenzimmer heraus; ihre
Kleidung unterschied sich nicht von der gewöhnlichen. Sie schien
mich nicht zu bemerken, warf ihren schwarzen Mantel ab und setzte
sich vor die Toilette. Sie nahm eine grosse Haube, die ihr Gesicht
bedeckt hatte, vom Kopfe: eine schöne, regelmässige Bildung zeigte
sich, braune Haare mit vielen und grossen Locken rollten auf die
Schultern herunter. Sie fing an, sich auszukleiden; welch eine
wunderliche Empfindung, da ein Stück nach dem anderen herabfiel,
und die Natur , von der fremden Hülle entkleidet , mir als fremd
schien und beinahe, möcht' ich sagen, mir einen schauerlichen Ein-
druck machte.
„Ach, mein Freund, ist es nicht mit unseren Meinungen, unseren
Vorurtheilen , Einrichtungen, Gesetzen und Grillen auch so? Er-
schrecken wir nicht, wenn eine von diesen fremden, ungehörigen,
unwahren Umgebungen uns entzogen wird und irgend ein Theil
unserer wahren Natur entblösst dastehen soll? Wir schaudern, wir
schämen uns. —
„Soll ich dir's gestehen, ich konnte mich nicht in den herr-
lichen Körper finden, da die letzte Hülle herabfiel! Was sehen wir
an den Weibern? Was für Weiber gefallen uns, und wie confundiren
wir alle Begriffe? Ein kleiner Schuh sieht gut aus, und wir rufen:
welch ein schöner kleiner Fuss ! Ein schmaler Schnürleib hat etwas
Elegantes, und wir preisen die schöne Taille.
„Ich beschreibe dir meine Reflectionen, weil ich dir mit Worten
die Reihe von entzückenden Bildern nicht darstellen kann, die mich
das schöne Mädchen mit Anstand und Artigkeit sehen liess. — Alle
Bewegungen folgten so natürlich auf einander, und doch schienen
sie so studirt zu sein. Reizend war sie, indem sie sich entkleidete,
schön, herrlich schön, als das letzte Gewand fiel. Sie stand, wie
Minerva vor Paris mochte gestanden haben."
Dieses Gefühl von Schauder, das Goethe so richtig hervorhebt,
(5 Der moderne Schönheitsbegriff.
eine Mischung von Schrecken über den ungewohnten Anblick und
einer gewissen sinnlichen Erregung, hat auch der Arzt vor seinem
ersten weiblichen Patienten, der Künstler vor seinem ersten weib-
lichen Modell. Es verschwindet, sobald der Künstler nur das
Schöne, der Arzt nur das Menschliche sieht; und es erlischt sehr
rasch bei der Gewöhnung an den Anblick des Nackten.
In unserer Zeit, wo selbst die Vertreter des deutschen Volkes
sich nicht scheuten, das Bild der Wahrheit aus ihrer Mitte zu ver-
bannen, weil es nackt war 1), sind manche leicht geneigt, Nacktheit
und Unsittlichkeit für dasselbe zu halten. Das ist jedoch ein grosser
Irrthum. Nicht das Nackte ist unsittlich, sondern die Augen des
Beschauers. Derjenige, der im nackten Körper nur das Weib sieht,
der über den ersten sinnlichen Eindruck nicht hinauskommt, und
sich von ihm beherrschen lässt, ist unsittlich und überträgt seine
eigene Unvollkommenheit auf den Gegenstand, den er betrachtet.
Die Bekleidung hat mit der Sittlichkeit nichts zu thun, sondern
nur mit der Schicklichkeit, mit der Mode. Eine Entblössung, die von
der Mode vorgeschrieben ist, wird niemals als unsittlich empfunden.
Wer Gelegenheit gehabt hat, unter Völkern zu leben, die ganz
oder theilweise nackt gehen, wird bald gewahr, class die Kleidung
mit der Sittlichkeit in gar keinem Zusammenhang steht, und sehr
bald bemerkt er die Erweiterung seiner beschränkten europäischen
Auffassung an sich selbst.
Sehr treffend schildert von den Steinen 2) seine diesbezüglichen
Eindrücke in Amerika.
Als ich im Jahre 1890 das Innere Javas bereiste, begegnete
ich bei Singaparna eines Morgens grossen Schaaren von älteren und
jüngeren Weibern, die, bis zum Gürtel entblösst, zum Markte zogen.
Der erste Eindruck war dasselbe von Goethe beschriebene Gefühl
von Schauder, verursacht durch den Anblick weiblicher Nacktheit
in für mich neuer Umgebung und in so grosser Masse. Bald aber
gewann trotz manchem wirklich klassisch schön gebauten Mädchen-
torso die Abscheu vor dem vielen Hässlichen, was hier in aller Un-
*) Vor Eröffnung des neuen Reiehstagsgebäudes anno domini 1895.
2) Unter den Naturvölkern Centralbrasiliens, 1894.
Der moderne Schönheitsbegriff. 7
schuld gezeigt wurde, die Oberhand, und ich begriff auf einmal,
warum die meisten Weiber sich lieber verhüllen, wenn die Mode es
ihnen gestattet.
Eigenthümlich sind die Verschiebungen, die das Schicklich-
keitsgefühl unter dem Drang der Umstände erleiden kann. Ein
europäisches Mädchen erröthet, wenn man sie in der Nachtjacke
überrascht, aber sie zeigt sich decolletirt auf jedem Balle. Eine
Frau im dunklen Kleide fühlt sich unter Balltoiletten, ein Herr im
Gehrock unter Fräcken in hohem Masse unbehaglich.
In Batavia, wo alle Damen ihre blossen Füsse in kleine gold-
gestickte Schuhe stecken, fand man es höchst unpassend, als eine
Dame sich im Hotel zeigte, die ihre Beine in blauseidene Strümpfe
gehüllt hatte, und gerade durch die Verhüllung die Aufmerksamkeit
auf diesen Theil ihres Körpers lenkte.
Ich halte es für überflüssig, die angeführten Beispiele mit noch
weiteren zu vermehren l) und glaube zu dem Schlüsse berechtigt zu
sein, dass unser Sittlichkeitsgefühl angeboren ist, unser Schicklich -
keitsgefühl hingegen ganz und gar abhängig ist von den in unserer
Umgebung herrschenden Gewohnheiten und Gebräuchen.
Was wir aber in der Natur in Europa unbewusst verurtheilen,
halten wir in der Kunst für erlaubt. Deshalb legen wir, die Natur
nicht kennend, an die Schönheit des weiblichen Körpers den Mass-
stab an, der uns aus Kunstwerken geläufig geworden ist. Dabei
geben wir uns jedoch wiederum keine Rechenschaft davon, class auch
die Auffassung des Weibes in der Kunst einer gewissen Mode, einer
Tradition unterliegt, die mit dem Schönheitsbegriff als solchem gar
nichts zu thun hat, und class wir dieselbe nicht ohne weiteres ins
Leben übertragen können.
Wir finden die Venus von Milo schön, so wie sie ist. Wäre
sie aber nach der heutigen Mode gekleidet, so würden wir ihre
Figur abscheulich finden, denn unter den Kleidern würde die Taille
der Venus noch beträchtlich an Breite zunehmen.
Wenn wir nun einerseits die Venus von Milo, andererseits eine
feine Taille schön finden, so müssen wir daraus folgern, dass alle
Siehe Ploss-Bartels, Das Weib. 1897, I, p. 359 ff
Der moderne Schönheitsbegriff.
schlanken Frauen entkleidet kässlich sind, da sie die Vollkommen-
heit der Venus nicht besitzen.
Dies ist jedoch nicht der Fall, wie die Erfahrung bestätigt.
Der weitere Schluss ist demnach, dass jemand, der die ganze Venus
von Milo auswendig kennt, doch nicht im Stande oder berechtigt
ist, irgend welchen Rückschluss auf den Körper einer lebenden be-
kleideten Frau zu machen.
Aber noch mehr; wir nehmen selbst, ohne es zu wissen, alt-
griechische Moden als Massstab zur Beurtheilung moderner Kunst-
werke und auch des Lebens, wo uns dies nackt entgegentritt.
Nur zwei Beispiele:
In der ganzen klassischen Kunst, so weit wir sie kennen, finden
sich nur zwei Bildwerke eines nackten Mannes mit einem Schnurr-
bart, nämlich der sterbende Gallier und der Gallier in der Gruppe
Arria und Paetus. Alle anderen Figuren sind mit vollem Bart oder
bartlos dargestellt. Weder bei den Griechen noch bei den Römern
war es Mode, einen Schnurrbart zu tragen; in den genannten Statuen
ist gerade dadurch der Barbar charakterisirt. Trotzdem bei uns
Tausende von Schnurrbärten im täglichen Leben angetroffen werden,
finden wir sie, ausser bei Portraitstatuen, kaum in der Kunst. Wenn
wir sie zusammen mit einem unbekleideten Körper antreffen, be-
fremden sie unser Gefühl, wir sehen nicht den nackten, sondern den
entkleideten Mann, weil — die altgriechische Mode den Schnurrbart
verurtheilte.
Ein weiteres Beispiel ist die Darstellung des nackten weib-
lichen Körpers in der Kunst. Derselbe wird stets ohne jegliche
Körperbehaarung nachgebildet. Weil dieselbe hässlich ist? Nein,
weil es bei den alten Griechen und Römern, wie noch jetzt bei allen
orientalischen Völkern, Sitte war, dass die Frauen die Haare ihres
Körpers künstlich entfernten. Dies geht deutlich hervor aus dem
103. Gesang der Bilitis1), wo als Merkwürdigkeit von den Prieste-
rinnen der Astarte gesagt wird: „Sie ziehen sich niemals die Haare
aus, auf dass das dunkle Dreieck der Göttin ihren Unterleib zeichne,
wie einen Tempel."
a) Heim, Bilitis' sämmtliche Lieder, 1894. Louj's, Les chansons de
Bilitis, 1897.
Der moderne Schönheitsbegrift'. 9
Trotzdem die Mode des Epilirens seit Jahrhunderten bei uns
nicht mehr besteht, hat die Kunst sie doch beibehalten und damit
auf das Schönheitsideal der modernen Menschen übertragen.
Wie sehr nicht nur der einzelne Mensch, sondern die ganze
sogenannte „öffentliche Meinung" durch den äusseren Schein urtheils-
los beeinflusst wird, ersieht man am besten aus einer Vergleichung
von Fig. 1 und Fig. 2.
Fig. 1 ist eine Reproduction der aus ihrem Blechgewancle be-
freiten vaticanischen Venus x) , Fig. 2 Falgnieres bekannte Portrait-
statue der Cleo de Merode, die als eine der schönsten jetzt leben-
den Frauen gefeiert wird.
Die erstere entspricht allen Anforderungen, die wir an einen
normalen weiblichen Körper stellen können. — Auf den ersten Blick
bemerkt man bei der letzteren: künstlich durch Kleidung zusammen-
gedrückten unteren Brustumfang, fehlerhaften Ansatz der Brust,
fehlerhafte Kniestellung, zu schweres Sprunggelenk.
Der moderne Schönheitsbegriff setzt sich demnach zusammen
aus einer durch tägliche Uebung ermöglichten Kenntniss des Kopfes,
der Hände und der Arme und bezüglich des übrigen Körpers aus
einem Sammelbegriff, den Reproductionen des nackten Weibes durch
die Kunst entnommen.
Das allgemeine Urtheil über Frauenschönheit ist somit kein
sachverständiges, sondern ein indirectes, das einerseits durch nicht
naturgetreue Vorstellung des Körpers, andererseits durch Corsets,
Schuhe und Kleidung getäuscht, sich falsche und unnatürliche Ideale
schafft.
Alles bisher Gesagte bezieht sich hauptsächlich auf die Schön-
heit der Form. Dass in Beziehung auf die Schönheit der Farbe es
noch viel schwieriger ist, ein objectives Urtheil zu haben, weiss
jeder, der sich einigermassen mit der Farbenlehre und der Function
des menschlichen Auges beschäftigt hat, niemand weiss es besser,
als die Frauen selbst, die durch richtige Auswahl der sie umgeben-
') Es ist das grosse Verdienst von Michaelis, dass sie in diesem Zustande
dem Publicum bekannt gemacht wurde. Das Kensingtonmuseum besitzt einen
Gypsabguss nach dem Original. Vgl. Bruckmann, Denkmäler griechischer und
römischer Plastik, und Springer's Kunstgeschichte, Bd. I, 4. Aufl., 1895.
10
Der moderne Schönheitsbegriff.
Fig. l. Vaticanische Venus.
den Farben instinctiv ihre Reize zu erhöhen, ihre Fehler zu ver-
bergen wissen. Noch schwieriger ist es, die Schönheit der Be-
Der moderne SchönheitsbeyritF.
11
Fig. 2. La danseuse von Falgniere.
Nach einer Photographie von Braun, Clement & Cie. in Dornach i. E., Paris und New- York.
wegungen zu analysiren, deren meiste uns durch die Kleidung ver-
borgen werden.
12 Der moderne Schönheitsbegriff.
Doch wir müssen noch eine weitere Einschränkung machen.
Selbst das wenige, was man täglich vom weiblichen Körper sehen
kann, wird von den meisten nicht mit der nöthigen Aufmerksamkeit
betrachtet, weil ihr Blick nicht geübt ist. Man vergegenwärtige
sich die Gesichtszüge, die Haare, die Augen, die Hände abwesender
Personen, mit denen man täglich zusammentrifft. Von der grösseren
Mehrzahl derselben ist man nicht im Stande, die Farbe der Haare
und Augen, die Form von Nase und Mund im Gedächtniss wieder-
zufinden, es sei denn, dass dieselben durch ganz aussergewöhnliche
Bildung einen tieferen Eindruck hinterlassen haben.
Die Ohren nun gar, die doch recht viel zum Gesichtsausdruck
beitragen, werden meistens nur äusserst oberflächlich betrachtet;
von der Form der Hände berichtet uns Mantegazza l) , dass selbst
Malern unbekannt war, ob ihr zweiter Finger länger war als ihr
vierter.
Es wird also im allgemeinen selbst über Kopf, Gesicht und
Hand nur oberflächlich geurtheilt, trotzdem wir täglich in der Lage
sind, diese Theile in grösserer Zahl betrachten zu können; auf die
übrigen Theile des Körpers kann nur ein geübter Beobachter aus
Gang und Haltung gewisse Rückschlüsse machen; meist jedoch be-
gnügt man sich mit einer unbestimmten Auffassung, die aus der
auch meist oberflächlichen Betrachtung von Kunstwerken abge-
leitet ist.
Um diesem Elemente in der modernen Auffassung gerecht zu
werden, sind wir verpflichtet, die Darstellung weiblicher Schönheit
durch die bildende Kunst zu analysiren.
!) Physiologie des Weibes. Deutsch von Teuscher, 1894, p. 52.
Weibliche Schönheit in der Kunst. 13
IL
Darstellung weiblicher Schönheit durch die
bildende Kunst.
Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass die Blüthezeit der
griechischen Kunst einen so mächtigen Einfluss auf das moderne
Schönheitsideal geübt hat, dass selbst Zufälligkeiten der damaligen
Mode unbewusst in dasselbe herübergenommen werden.
Unstreitig hat die Bildhauerkunst zur Zeit des Phidias , des
Polyklet und Praxiteles ihre höchste Stufe erreicht, und es ist noch
die Frage, ob sie sich jemals der damaligen Höhe wird nähern
können. Es ist darum auch ganz natürlich, dass die altgriechische
Kunst auf alle späteren Kunstepochen als unerreichtes Vorbild ein-
gewirkt hat, und dadurch wieder bis auf den heutigen Tag das all-
gemeine Schönheitsideal beeinflusst.
Ausser der griechischen Kunst, auf die ein Jahrhunderte
dauernder Schlummer folgte, ist es namentlich die Renaissance, die
wir hier zu besprechen haben. Alle orientalischen Elemente, die in
der Kunstgeschichte berücksichtigt werden müssen, haben mit der
Gestaltung des weiblichen Körpers nichts zu thun. Ebensowenig
hat sich der japanische Einfluss in der Kunst so weit geltend ge-
macht, dass er in dieser Beziehung eine Besprechung verdient.
Die altgriechische Kunst schöpfte ihre Motive unmittelbar aus
dem Leben. Weder rauhe Witterung noch körperliche Gebrechen
veranlassten die damalige Bevölkerung Griechenlands, ihre schönen
Gestalten mit Gewändern zu verhüllen, und dadurch war die erste
Grundbedingung für den schaffenden Künstler, das tägliche Studium
und die Vergleichung der verschiedenen Formen des nackten Körpers
in seiner vollkommensten Gestaltung, gegeben.
Durch fortgesetzte Uebung des Auges konnte sich somit der
damalige Künstler ein Idealbild erschaffen, zu dessen Verwirklichung
ihm die schönsten Modelle in reichster Auswahl zur Verfügung
standen.
^4 Weibliche Schönheit in der Kunst.
Von nicht zu unterschätzender Wichtigkeit ist ferner der Um-
stand, dass nicht nur der Künstler, sondern auch sein Publicum, die
ganze damals lebende Menschheit, den nackten Körper täglich sah
und ihn kannte, so dass von künstlerischen Leistungen viel mehr
gefordert werden konnte, dieselben aber andererseits viel sachver-
ständigere Anerkennung fanden, als heutzutage der Fall ist, gegen-
über einem Publicum, das den menschlichen Körper nicht kennt.
In äusserst scharfsinniger Weise hat vor kurzem Richer1) nach-
gewiesen, wie sehr der künstlerische Blick der alten griechischen
Künstler allen Epigonen überlegen war.
Wo er von der Darstellung der Bewegung spricht, und darauf
aufmerksam macht, dass wir, dank der modernen Wissenschaft, in
der Lage sind, durch Momentaufnahmen jede einzelne Phase der Be-
wegung im Bilde festzuhalten , hebt er hervor , dass die meisten
späteren Künstler, einer unbewussten Tradition folgend, niemals
gehende oder laufende, sondern stets nur schwebende oder fallende
Figuren dargestellt haben. Alle griechischen Figuren aber, von den
Tyrannenmördern bis zum tanzenden Faun, erwiesen sich als richtige
ßeproductionen völlig naturwahrer Stellungen.
Ausser ihrem wunderbar geschärften künstlerischen Blick, ausser
der Anzahl zahlreicher hervorragend schöner Modelle verfügten die
Griechen noch über ein drittes Mittel zur Naturtreue ihrer Dar-
stellungen: den Grypsabguss nach dem Leben. Nach Plinius2)
war Lysikrates der erste, der dieses Hülfsmittel in die bildende Kunst
eingeführt hat.
Anatomie war den griechischen Künstlern bis zur alexandrini-
schen Schule unbekannt, wie Chereau 3) und Langer 4) überzeugend
nachgewiesen haben.
Langer hebt hervor, dass die besten antiken Bilder die ruhig
gehaltenen sind, „deren Muskelmechanismus versteckt ist". „Dagegen
ist an bewegten Bildwerken so Manches auszusetzen , Fehlerhaftes,
1) Dialogue sur l'art et la science. — La nouvelle revue, Tome 107 et s.
19 annee. La revue de l'art ancien et moderne, 1897, fase 3 et 4.
2) Citirt bei Langer.
3) Dictionnaire encyclopaedique des sciences medicales.
4) Anatomie der äusseren Formen des menschlichen Körpers, 1884, p. 30 ff.
Weibliche Schönheit in der Kunst. 15
Unverstandenes. Die Muskelerhabenheiten finden sich mitunter un-
richtig gruppirfc, ein anderes Mal sind Muskelerhabenheiten unter-
mischt und unterschiedslos wie Hautfalten und Skeleterhabenheiten
behandelt. Was an solchen Bildwerken ungetheilte und gerecht-
fertigte Bewunderung erregt, das ist die Bewegung und diese liegt
viel mehr in der Gliederung als in der Muskulatur."
Mit anderen Worten will Langer dadurch wohl ausdrücken,
dass trotz untergeordneter anatomischer Fehler der Allgemeineindruck
bewegter Figuren stets ein naturwahrer ist; Richer hat, wie gesagt,
die Naturtreue derselben durch Controle mit Momentphotographien
direct nachgewiesen.
Da nun aber bewegte Figuren am schwierigsten darzustellen
sind, weil man nicht im Stande ist, ein Modell in der gewünschten
Stellung zu fixiren, so ist diese gleichmässige Anerkennung von den
verschiedensten Beurtheilern nur wieder ein neuer Beweis für die
ausserordentliche Schärfe, mit der die antiken Künstler beobachteten1).
Wenn nun auch ihr künstlerisch geschulter Blick und die grosse
Zahl schöner Modelle den antiken Meistern trotz ihrer Unkenntniss
der Anatomie die herrlichsten Schöpfungen ermöglichte, so war doch
die absolut naturgetreue Wiedergabe der menschlichen Gestalt keines-
wegs der Endzweck ihrer Kunst.
Wir dürfen nicht vergessen, dass bei den Griechen die Kunst
im Dienste ihrer Religion stand, welche ihnen, in grösserer Ab-
wechselung allerdings als die christliche, die Themas für die meisten
ihrer Darstellungen vorschrieb. Der griechische Künstler, der Götter
darstellte, war somit gezwungen, seine Gestalten zu idealisiren und
dadurch von der Natur abzuweichen.
Dass dabei das Modell keineswegs eine untergeordnete Rolle
spielte, beweist das Beispiel des Praxiteles, welcher im Tempel zu
Thespiae neben der Aphrodite aus Dankbarkeit die nackte Portrait -
statue der Phryne aufstellte; andererseits aber beweist gerade dies Bei-
*) Es ist mir aufgefallen, dass auch die japanischen Künstler viel schärfer
beobachten, als unsere Künstler und wir mit ihnen gewohnt sind: In europäischen
Bildern findet man stets schwebende, niemals fliegende Vögel. Japanische Dar-
stellungen fliegender Vögel, die uns auf den ersten Blick unnatürlich erscheinen,
erweisen sich beim Vergleich mit Momentaufnahmen als völlig naturgetreu.
16
Weibliche Schönheit in der Kunst.
spiel, dass es sich nicht um naturgetreue Wiedergabe selbst des
schönsten Modells handelte; denn sonst wäre dieser Weiheact des
grossen Künstlers, die Gegen-
überstellung von Göttin und
Weib, nicht verständlich.
Es handelte sich für den
griechischen Künstler darum,
das Modell den Traditionen
der darzustellenden Götter-
figur anzupassen , das Indi-
viduelle gewissermassen zu
schematisiren, den göttlichen
Typus mit grösstmöglicher
Naturtreue zu vereinen.
Aber nicht nur der reli-
giöse Zweck des Kunst-
werkes, sondern auch der für
dasselbe bestimmte Standort
zwang den Künstler, von der
Natur abzuweichen.
Eine auf hohem Fuss-
stück stehende Figur, in na-
türlichen Verhältnissen aus-
geführt, erscheint dem Be-
schauer gedrungen und un-
ansehnlich, wovon wir uns
jederzeit überzeugen können,
wenn wir Menschen von unten
herauf betrachten. In solchen
Fällen muss der Künstler die
Längenmasse auf Kosten der
Breitenmasse unnatürlich und
ungleichmässig vergrössern.
Beim Anblick von vorn müssen
Fig. 3 a. Aphrodite diadumene vom Esquilin.
alle näherliegenden Theile im Verhältniss verkleinert, alle entfernter
liegenden Theile vergrössert werden; auch davon können wir uns
Weibliche Schönheit in der Kunst.
17
leicht überzeugen, wenn wir auf die Fehler achten, die bei unrichtig
eingestellten photographischen Aufnahmen vorkommen können.
Bei einer Aufstellung
im Tempel endlich muss
das Bild mit der Umgebung
architektonisch harmoniren,
und wird dadurch von einer
ganzen Zahl von Gesetzen
abhängig, die die Form in
der verschiedensten Weise
beeinflussen können.
Die Berücksichtigung
aller dieser Momente ver-
langte eine grosse Uebung
und Erfahrung, sie veran-
lasste die Ausbildung einer
gewissen Systematik der
Verhältnisse der einzelnen
Körpertheile unter sich,
einer Proportionslehre, die
demnach auch, wie zu er-
warten ist, und wie durch
zahlreiche Messungen aus
späterer Zeit bestätigt
wurde , keineswegs stets
den Proportionen lebender
Menschen entspricht.
Können wir nun auch
bei genügender Aufmerk-
samkeit die ewigmensch-
liche Schönheit in den anti-
ken Bildwerken von den
durch Tradition, Standort Fig. 3b. Aphrodite diadumene vom Esquilin.
und Charakter der darzustellenden Persönlichkeiten geforderten Ver-
änderungen scheiden, so dürfen wir uns doch keinen unmittelbaren
Rückschluss auf den lebenden Menschen erlauben.
Stratz, Die Schönheit des weiblichen Körpers. 2
18
Weibliche Schönheit in der Kunst.
Nur ein Beispiel: Fig. 3 stellt die Aphrodite diadumene vom
Esquilin vor, Fig. 4 Alma Tadema's bekanntes Modell des Bild-
hauers, Fig. 5 ein 15jähri-
ges Judenmädchen , das
ziemlich normal gebaut ist.
Bei der ersteren be-
weisen die im Verhältniss
zum Rumpf etwas zu langen
Beine, dass die Figur für
ein Postament berechnet
war ; der etwas nach hinten
geneigte Oberkörper ist
verglichen mit der nach
vorn tretenden Bauch- und
Lendengegend schwerer
gearbeitet, das Haupt re-
präsentirt deutlich den
archaistischen Typus und
ist verhältnissmässig grös-
ser als bei anderen antiken
Statuen. Der Allgemein-
eindruck der ganzen Figur
ist der eines jungen Mäd-
chens , halb Kind , halb
Weib, in der allerersten
Blüthe, einer noch nicht
völlig geöffneten Knospe.
Alma Tadema hat die ganze
Figur gestreckt, das Con-
ventionelle daraus entfernt,
das Verhältniss von Brust
und Unterleib entspricht
mehr dem der Erwach-
senen, der Nabel steht
tiefer, die Brüste sind stärker entwickelt, der Kopf ist kleiner;
das ganze Mädchen ist älter und schlanker geworden, hat jedoch
Fig. 4. Alma Tadema
Mit Genehmigun
„Ein Bildhauermodell".
der Photographischen Gesellschaft
in Berlin.
Weibliche Schönheit in der Kunst. 21
bilduhgen einiger derselben illustrirt. Unter den Künstlern finden
sich Leonardo da Vinci, Michel Angelo, Raphael, Bandinelli, Ccllini,
Titian, Carracci, Rubens, Rembrandt, Dürer und zahlreiche andere.
Wenn einerseits auch diese Erweiterung ihrer Kenntnisse den
grossen Künstlern ermöglichte, fehlerhafte Modelle in ihren Werken
zu verbessern, so lag andererseits die Gefahr nahe, dass manche,
gerade durch diese Kenntnisse verleitet, mehr in ihre Gestalten hinein-
legten, als wirklich zu sehen war, gewissermassen die Natur über-
boten, ohne dieselbe schöner zu machen. Dieser Gefahr sind auch
grosse Meister nicht entgangen1).
Suchten sie sich andererseits durch treue Nachahmung des
Modells vor dieser Gefahr zu schützen, so drohte wieder die Mög-
lichkeit, dass sie unbewusst Fehler derselben in ihre Werke über-
trugen, und zwar um so mehr, als es nicht jedem glückte, vollendet
schöne Modelle zu finden.
Aber nicht nur der Künstler, sondern auch das Publicum war
den täglichen Anblick des Nackten entwöhnt, und so ist es zu er-
klären, dass beide, Künstler sowohl als Publicum, minder wählerisch
wurden und auch mit minder Schönem vorlieb nahmen, wo es sich bot.
Mehr und mehr tritt die Individualität des Künsters in den
Vordergrund, und grosse Vorzüge in der Technik oder in der Auf-
fassung sind im Stande, ganze Generationen für absichtliche und
unabsichtliche Fehler anderer Art blind zu machen.
Es ist nicht meine Absicht, hier eine ausführliche Kritik der
Kunst und der Kunstgeschichte der Renaissance zu schreiben; für
meinen Zweck genügt es, an einem beliebigen Beispiel nachzuweisen,
wie selbst Kenner sich durch die herrschende Strömung zu irrigen
Auffassungen hinreissen lassen können.
Ich wähle dafür die florentinische Venus von Sandro Boticelli,
der gerade in letzter Zeit von den Präraphaeliten mit ungetheilter
Bewunderung auf den Thron erhoben wurde.
Brücke hat bereits auf einige anatomische Fehler derselben
aufmerksam gemacht (1. c. p. 25, 62, 81). Ullman, einer der besten
!) Vgl. Henke, Die Menschen des Michel Angelo im Vergleich mit der
Antike. Eostock 1892.
22
Weibliche Schönheit in der Kunst.
Fig. 6. Venus von Boticelli.
unter den Biographen Boticelli's, erkennt dieselben auch als solche
an. Er führt die Verse Poliziano's an, die wahrscheinlich der Dar-
stellung zu Grunde lagen, er bespricht ausführlich und sachlich die
Weibliche Schönheit in der Kunst, 23
Möglichkeit, ob Simonetta Catanea, die Geliebte des Giuliano di
Medici, als Modell zur Venus gedient habe, und entscheidet sich im
verneinenden Sinne, da das einzige authentische Bildniss der Simo-
netta nicht mit dem Gesichte der Venus völlig übereinstimmt l).
Man vergleiche hiermit den Erguss von Ernst Steinmann 2) :
„Frau Schönheit ist's,
Von deren Lobgesang
Noch zittert Herz und Hand,
Die du so oft erkannt
Am fliegend goldnen Haar,
Ani flatternden Gewand.
„Mit diesen Versen aus einem Schönheitshymnus Rossetti's lässt sich
der poetische Zauber, welcher die Geburt der schaumgeborenen
Aphrodite umschwebt, vielleicht am ersten in Worte fassen.
Leise plätschernd umspielen die Wogen das schwankende Fahrzeug,
auf dessen Rand die reizende Liebesgöttin steht, Brust und Schoss
mit keuscher Gebärde bedeckend. Eine unendliche Fülle goldenen
Haares umflattert die Himmlische. — — — Man hat diese Gestalt
mit Recht als das schönste Venusbild der neueren Kunst gepriesen;
es lässt sich wohl überhaupt nur mit der schlummernden Venus des
Giorgione vergleichen, wo uns ebenso die Reinheit der Seele entzückt,
die in der keuschen Hülle eines vollendet schönen Weibes Wohnung
genommen hat. Wie eine Sage aus dem goldenen Zeitalter, das
JVEarsilio Ficino in seinen Briefen mit so glühenden Farben geschildert
hat, redet dies Bild zu uns, vor welchem sich der Beschauer bald als
unberufener Zeuge eines der heiligen Geheimnisse fühlt, welche die
Natur im grossen Buche ihrer Wunder verborgen hat. So wahr ist
dieser Vorgang geschildert, so lebendig wirkt der jungfräuliche Reiz
der athmenden Göttin u. s. w."
Diese ganze Expectoration, bei der ich noch alles nicht direct
auf die Venus Bezügliche wegliess, wird durch das beigefügte Bild
noch überflüssiger gemacht.
Schreibt man so Kunstgeschichte? Ich glaube nicht.
J) Ullman, Boticelli, p. 102.
2) Künstlermonographien von Knackfuss, 24, 1897.
24 Weibliche Schönheit in der Kunst.
Brücke nicht erwähnt, Ullman nicht erwähnt, Warburg 1) nicht
erwähnt, niemand erwähnt, nur Steinmann.
Ich möchte diesen Tiraden das Folgende gegenüberstellen.
Die Figur der Venus von Sandro Boticelli ist erfüllt von einem
zarten, wehmüthigen Liebreiz, der einen tiefen Eindruck macht.
Betrachtet man die Figur näher, so findet man in dem langen,
schmalen Halse, den stark abfallenden Schultern, dem schmalen
eingesunkenen Brustkasten, dem dadurch bedingten Tiefstand und
der geringeren Divergenz der Brüste den ausgeprägten Typus der
Schwindsüchtigen wieder, der, wie im Leben, so auch in der bild-
lichen Darstellung durch seine tieftraurige Schönheit das innige Mit-
gefühl des Beschauers erregt.
Wenn wir bedenken, dass Simonetta Catanea im Jahre 1453
geboren ist, und, nachdem sie sich 1468 mit Marco Vespucci ver-
heirathet hatte, bereits im Jahre 1476, noch nicht dreiundzwanzig
Jahre alt, an Schwindsucht starb, so ist es mehr als wahrscheinlich,
dass sie, wie einige Autoren annehmen, wirklich als Modell zu
Boticelli's Venus gestanden hat, und dass der Künstler aus leicht
begreiflichen Gründen nur das Gesicht etwas verändert hat2).
Brücke hat bereits auf einige anatomische Fehler der Figur
aufmerksam gemacht.
Boticelli hat also, ohne es zu wissen, den Typus einer schönen
Schwindsüchtigen zu seinem Ideal gemacht. Seine Bewunderer und
Nachfolger aber Avussten dies auch nicht und haben, seinen Idealen
nachstrebend, ihren gesunden Modellen das Gepräge der Schwind-
sucht aufgedrückt und so unwahre Mischgestalten geschaffen.
Dies eine Beispiel möge genügen, um darzuthun, wie sich in
den späteren Werken Natur und Kunst in den verwickeltsten Ver-
hältnissen verschlingen. Um einem Künstler voll und ganz gerecht
zu werden, muss man nicht nur seine Werke, sondern auch sein
!) Die Geburt der Venus und Primavera von Sandro Boticelli. Diss. inaug.
Strassburg 1892.
2) Auch auf dem Bildniss der Simonetta von Pollajuolo iu der Sammlung
des Duc d'Aumale zeigt der bis unter die Brüste entblösste Oberkörper trotz
seiner grossen Schönheit alle Zeichen der Schwindsucht. (Stich von de Mare
in der Gazette des beaux-arts, 22.)
Weibliche Schönheit in der Kunst. 25
Leben und die Zeit, in der er lebte, äusserst sorgfältig analysiren,
und nur selten wird es gelingen, daraus ein gültiges Schönheitsideal
zu destilliren.
Je eher wir im Stande sind, den Kunstwerken analoge Ge-
stalten im Leben zurückzufinden , desto wahrscheinlicher wird es,
dass der Künstler sich ganz an das schöne Leben gehalten hat, und
in dieser Beziehung stehen die nackten weiblichen Gestalten von
Tizian, Giorgione, Palma Vecchio und van Dyck oben an. Rembrandt
und Rubens sind ihnen ebenbürtig in der Naturwahrheit, jedoch
haben beide keine so schönen Modelle gehabt.
Wenn wir den Werth aller von Tausenden von Meistern ge-
schaffenen Kunstwerke in Beziehung auf das moderne Schönheits-
ideal nach dem Einfiuss bemessen, den sie auf die grosse Masse
gehabt haben, so müssen wir uns abfragen, welche weiblichen Ge-
bilde in den weitesten Kreisen bekannt, welche am meisten repro-
ducirt worden sind.
Es sind dies unstreitig die Venus von Milo, die Venus von
Medici, die sixtinische Madonna und die Madonna della sedia.
Wir sehen also, dass in Bezug auf den weiblichen Körper die
klassische Kunst auch heute noch den Sieg davongetragen hat, und
dass von allen späteren Künstlern Raphael der einzige war, der das
liebreizende Gesicht seiner Madonnen zum allgemein anerkannten
Ideal zu erheben wusste. Andererseits aber ersehen wir daraus auch,
dass „die grosse Masse" ein strenger und gerechter Richter ist und
sehr wohl das wahrhaft Schöne aus der Unzahl des Geringeren und
Mittelmässigen herauszufinden weiss. Auch hier in der Kunst, wie
in der Geschichte, ist der beste unbeeinflusste Kenner die Nachwelt.
26 Schönheit in der Literatur.
III.
Weibliche Schönheit in der Literatur.
Die Darstellung weiblicher Schönheit in der Literatur kann
man von künstlerischem sowie von rein wissenschaftlichem Stand-
punkt aus betrachten.
Den ersteren hat Lessing im Laokoon eingenommen, in dem er
die Grenzen des Darstellbaren in Malerei und Poesie bestimmt1).
„Homer sagt von Helena nichts weiter, als dass sie weisse
Arme und schönes Haar gehabt habe. Er malt ihre Schönheit,
indem er den Eindruck schildert, den dieselbe auf die versammelten
trojanischen Greise macht. Zeuxis malte sie selbst: Sein Gemälde
bestand aus der einzigen Figur der Helena, die nackend dastand."
Nach Lessing's Auffassung muss demnach der Dichter an die
Stelle der Augen und des Mundes den Blick und das Lächeln setzen,
statt schlanker Glieder die Bewegungen beschreiben, statt körper-
licher Schönheit den Eindruck, den dieselbe hervorruft. Will er uns
die Vorzüge eines schönen Körpers vorführen, so soll er nicht sie
selbst schildern, sondern den Act der Entkleidimg, der uns dieselben
enthüllt, oder den Eindruck, den sie auf den Beschauer machen.
Als Muster kann die eingangs wiedergegebene Schilderung des
sich entkleidenden Mädchens von Goethe gelten. Ei- sagt nichts von
ihrem Körper, als dass ihr Gesicht eine schöne, regelmässige Bildung
zeigte, und dass braune Haare mit vielen und grossen Locken auf
die Schultern herunterrollten; alle übrigen Körpertheile sind gar
nicht erwähnt. Dass sie schön sind, sehen wir aus dem Eindruck
auf den bewundernden Zuschauer während des Enthüllens. Ein
Maler hätte nicht den staunenden Jüngling, sondern wie Zeuxis die
entkleidete Schönheit darstellen müssen.
Ich bin überzeugt, dass Lessing's künstlerischer Standpunkt der
richtige ist, und wenn ich ihn zu dem meinigen mache, so muss ich
zu dem Schlüsse kommen, dass gerade die besten literarischen Werke
]) Lessing's gesammelte Werke, Cotta, 1886, II, p. 620 ff.
Schönheit in der Literatur. 27
am meisten auf die Phantasie des Lesers wirken und darum am
allerwenigsten im Stande sind, uns ein Bild zu geben, das wir direct
mit der lebenden Wirklichkeit vergleichen können: jeder Leser stellt
sich unter dem Bild der gepriesenen Schönheit seine eigene Geliebte
vor oder diejenige Frau, deren körperliche Vorzüge den tiefsten Ein-
druck auf ihn hinterlassen haben.
Hier müssen wir vom künstlerischen Standpunkt ganz absehen.
Stellen wir uns auf den rein wissenschaftlichen Standpunkt,
sehen wir ganz ab von dem literarischen Werth, beschränken wir
uns auf das Feststellen von Thatsachen, dann haben so manche selbst
minderwerthige dichterische Leistungen gerade für unseren Zweck
einen gewissen Werth, indem sie einerseits ein Spiegelbild der An-
forderungen geben, die zur Zeit des Schriftstellers an lebende weib-
liche Schönheit gestellt wurden, andererseits insofern, als sie mass-
gebend geworden sind für eine gewisse Geschmacksrichtung in der
Schönheitsauffassung. Eine derartige Untersuchung erhält dadurch
einen höheren Werth, dass erfahrungsgemäss die die Poesie be-
herrschende Mode stets auch die bildende Kunst in gleicher Weise
beherrscht, so dass wir auch das Schönheitsideal jeder Zeit in Wort
und Bild zugleich zurückfinden können.
Wenn Martial verlangt, dass die weibliche Brust von der Art
sein müsse „ut capiat nostra tegatque manus", so können wir daraus
schliessen, dass zu seiner Zeit grosse Brüste nicht für schön galten.
Dementsprechend finden wir auch auf allen klassischen weiblichen
Statuen kleine Brüste dargestellt.
Wir werden niemals ein Mädchen mit einem wirklichen
Schwanenhals und einer wirklichen Wespentaille schön finden; der
Gebrauch dieser Bilder lehrt uns indess, dass ein langer Hals und
eine schmale Mitte als Attribute des Schönheitsideals aufgefasst
wurden und in gewissem Sinne noch werden. Ein Blick auf Familien-
bilder aus der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts oder auf die
schönen Zeichnungen Gavarni's lehrt uns ferner, dass die bildende
Kunst derselben Auffassung huldigt.
Houdoy x) hat in einem mustergültigen Werke das Schönheits-
J) La beaute des femmes dans la literature et dans l'art du XII au
XVI siecle, 1876.
28 Schönkeit in der Literatur.
ideal des zwölften bis sechzehnten Jahrhunderts in dieser Weise
wissenschaftlich analy.sirt.
Ihm schliessen sich an Vachon *), Ploss-Bartels 2), Mantegazza3)
und zahlreiche andere.
Die Kunst und die Literatur aller Völker bietet Bausteine
genug, um, ebenso wie es Houdoy für das spätere Mittelalter gethan
hat, ein Schönheitsideal der gebildeten Welt mit allen seinen durch
Zeit und Geschmacksrichtung bestimmten Variationen aufzubauen.
Eine derartige Arbeit würde jedoch weit über die Grenzen dieses
Buches hinausgehen. Ich verweise hier auf die citirten Autoren und
begnüge mich damit, zu constatiren, dass in der Literatur ebenso
wie in der bildenden Kunst das Schönheitsideal beruht auf Beob-
achtung des Lebens, die jedoch stets durch Mode und künstlerische
Auffassung bedingte Veränderungen untergangen hat.
Dass hinwiederum literarische Werke Einfluss auf die herr-
schende Auffassung weiblicher Schönheit ausüben können, beweist
unter anderem das Beispiel von Rousseau, der durch seinen Emile
zahlreiche seiner weiblichen Zeitgenossen zum Selbststillen ihrer
Kinder veranlasste und dadurch das Schönfinden gefüllter Busen in
die Mode brachte. Auch Goethe's Werther hat wenigstens auf die
Kleidertracht seiner Zeit einen entscheidenden Einfluss ausgeübt.
Von den tausend Beschreibungen weiblicher Schönheit, die sich
in der Literatur finden, gebe ich als Beispiel nur eine wieder, die
ich dem Buche von Houdoy entnehme. Ich wähle diese, einmal, weil
neben ihr ein Bild des Originals besteht, dann aber, weil sich darin
ein Massstab zur Beurtheilung weiblicher Schönheit findet, den wir
bis jetzt noch nicht berücksichtigt haben, und der uns unmerklich
zur weiteren Entwickelung unseres Themas leitet.
Es ist dies die von Niphus verfasste Beschreibung von Giovanna
d'Aragona, deren Bild, von Raphael, oder wahrscheinlicher von Giulio
Romano gemalt4), im Louvre in Paris hängt.
J) La femme dans l'art.
2) Das weibliche Sckönheitsideal in: Das Weib, s. o.
3) Physiologie des Weibes u. a.
4) Gruyer (Gazette des beaux-arts, XXII, p. 465) weist auf Grund histori-
scher Docurnente nach, dass Raphael Giovanna niemals gesehen haben kann,
und allein die Arbeit Romanos beaufsichtigte.
Schönheit der Jeanne d'Aragon. 29
Houdoy giebt neben einer vorzüglichen Uebersetzung ins Fran-
zösische den lateinisch geschriebenen Originaltext von Niphus.
„Die erhabene Joanna ist für uns ein Beweis, dass die wahr-
hafte Schönheit nur in der Natur besteht, denn sie paart die voll-
kommene Schönheit des Körpers und der Seele.
Ihre Seele vereinigt sittliche Heldengrösse mit Sanftmuth (und
in dieser liegt gerade die Schönheit der Seele), so dass sie nicht
von irdischer, sondern von göttlicher Abkunft erscheint.
Ihre Körperformen sind von solch hervorragender Schönheit,
dass selbst Zeuxis, der zur Darstellung der Helena die verschiedenen
Reize der allerschönsten Mädchen von Croton vereinigen musste, sich
mit Joanna als einzigem Modell begnügt hätte, wenn es ihm vergönnt
gewesen wäre, dieselbe zu schauen und ihre Vortrefflichkeit zu erkennen.
Ihre Gestalt ist von Mittelgrösse, gerade und zierlich, geschmückt
mit dem wunderbarsten Ebenmass der Glieder; sie erscheint weder
fett noch knochig, sondern in jugendlicher Fülle (succulenta) ; ihre
Hautfarbe ist nicht bleich, sondern spielt vom Weissen ins Rothe;
ihre langen Haare schimmern wie Gold. Ihre Ohren sind klein und
rund, dem Munde entsprechend1). Dunkelbraune, nicht zu dicht
stehende Härchen wölben sich im halben Kreise zu den Brauen;
ihre blauenden Augen erstrahlen heller als alle Sterne unter den
schwarzen geraden Wimpern und streuen Liebreiz und Freude um
sich her; zwischen den Augenbrauen steigt die gleichmässig und
schön geformte Nase gerade herunter; von göttlicher Form ist das
Thälchen, das die Nase von der Oberlippe scheidet. Der kleine,
süss lächelnde Mund zieht die Küsse stärker an, als der Magnet das
Eisen; weiche Lippen umschliessen ihn, honigsüss und korallenroth.
Die Zähne sind klein, glänzend wie Elfenbein und schön geordnet;
ihr Athem ist der köstlichste Wohlgeruch.
Ihre göttliche Stimme hat nichts Menschliches. Ein niedliches
Grübchen ziert das Kinn; auf ihren Wangen spielt die Farbe der
Rose und des Schnees. Der Umriss ihres Antlitzes ist rund, zum
männlichen hinneig-end.
J) Nach Agrippa inussten die Ohren vereinigt einen Kreis bilden, der der
Grösse des geöffneten Mundes entsprach.
30 Schönheit der Jeanne d' Aragon.
Der gerade, gestreckte Hals hebt sich voll und weiss zwischen
den glänzenden, gut gewölbten Schultern, die auf breiter Fläche
keinen Knochen hervortreten lassen. Die Brüste von massiger Grösse
sind gleichmässig gerundet und ähneln den Pfirsichen, deren Duft
sie ausströmen.
Die weichen Hände sind von aussen wie Schnee, von innen
wie Elfenbein, und genau so lang wie das Angesicht; die gefüllten,
runden Finger sind nicht zu kurz und tragen feine, gewölbte Nägel
von zarter Farbe.
Der Oberkörper hat im ganzen die Form einer umgekehrten,
etwas platten Birne, deren untere Spitze schmal und rund im Durch-
schnitt ist, und deren breites Ende sich oben in bewunderungs-
würdigen Linien und Flächen an die Wurzel des Halses ansetzt.
Der Unterleib ist flach gewölbt und im guten Verhältniss zu
Hüften und Lenden. Die Oberschenkel sind kräftig und drehrund;
der Oberschenkel steht zur Wade, die Wade zum Oberarm im
richtigen Ebenmass von drei zu zwei1).
Die Arme sind in göttlichem Gleichmass zu den übrigen Theilen
des Körpers geformt.
Die Füsse sind zierlich und endigen in bewunderungswürdig
geformten Zehen.
Ihr Ebenmass und ihre Schönheit ist von der Art, dass man
sie mit Recht den Unsterblichen zurechnen kann.
Wenn nun die geistigen Eigenschaften, der Liebreiz und die
Schönheit dieser Prinzessin so gross sind, so kann man daraus
schliessen, nicht allein, dass das wahrhaft Schöne nur in der Natur
besteht, sondern auch, dass nichts an Schönheit den menschlichen
Körper übertrifft."
Besser und rascher als diese Beschreibung überzeugt uns das
discretere Bild der Jeanne d' Aragon im Louvre von deren körper-
lichen Reizen. Ob der alte Niphus dieselben nicht nur theoretisch,
sondern auch praktisch studiren konnte, ist für uns Nebensache2).
x) D. h. der Umfang des Oberschenkels = 1 x\i mal dem Umfang der Wade,
Umfang der Wade = lVzmal Umfang des Oberarms.
2) Guyon (Diverses lecons III) weist nach, dass Niphus als Arzt Gelegen-
heit hatte, den Körper der Prinzessin zu sehen.
Schönheit in der Literatur. 31
Die Hauptsache ist, dass er bestrebt ist, uns von der Schön-
heit Joanna's nicht nur durch die Aufzählung und Umschreibung
der einzelnen Körpertheile zu überzeugen, sondern auch durch die
Vergieichung mit einem gewissen Massstab, durch die Proportion
der Theile unter sich.
Er bildet damit den Uebergang von der Auffassung des Dichters
zu der des Philosophen, der nicht nur den Eindruck hervorrufen
und wiedergeben, sondern auch begründen will.
Die theoretischen Betrachtungen, die solche Herren ohne
Kenntniss des Lebens in ihren Studirstuben anstellten, haben einen
äusserst geringen Werth. Wenn Schopenhauer von dem „niedrig
gewachsenen, schmalschultrigen, breithüftigen und kurzbeinigen Ge-
schlecht" spricht, das man das schöne nennt, so beweist dies nur,
dass er wenige und traurige Erfahrungen und keine vorurtheilsfreien
Studien gemacht hat.
An Versuchen, die verschiedenen Formen weiblicher Schönheit
systematisch einzutheilen, fehlt es nicht, Künstler, Philosophen und
Aesthetiker haben darin gewetteifert.
A.Walker1) unterscheidet drei Formen: locomotive, nutritive,
mental beauty, und stellt als Typen für die erste Diana, für die
zweite Venus, für die dritte Minerva auf.
Lairesse2) schreibt: Die Schönheit eines nackten Frauenbildes
besteht hierin, dass erstlich die Gliedmassen gut geformt sind, zum
zweiten, dass sie eine schöne, freie und gemächliche Bewegung haben,
und endlich eine gesunde und frische Couleur.
Andere wieder unterscheiden zwischen erhabener und lieblicher,
zwischen sittlicher und sinnlicher, zwischen blonder und brünetter
Schönheit. Bei allen diesen Eintheilungen ist es beim Versuche ge-
blieben und keine hat sich allgemeine Geltung verschafft.
Das einzige Positive, was sich aus allen diesen Versuchen heraus
entwickelt hat, ist das Bestreben, eine gewisse Gesetzmässigkeit in
der Form, in den Grössenverhältnissen der einzelnen Theile zu ein-
ander zu entdecken, die Lehre von den Proportionen.
x) Analysis and Classification of beauty in woman. London 1852.
2) Groot schilderboek. Amsterdam 1716.
Antiker Canon und Modulus.
IV.
Proportionslehre und Canon.
Wir haben in dem vorigen Abschnitt gesehen, dass Niphus
die Schönheit Johannas von Aragonien zum Theil nach gewissen
Verhältnissen beurtheilt: die Ohren sind zusammen gleich gross wie
der Mund, die Hand entspricht genau der Länge des Angesichts,
Schenkel, Wade und Oberarm stehen im Verhältniss von 3 zu 2 u. s. w.
Gleich Niphus haben sich schon seit der grauen Zeit der
Aegvpter bis in unsere Tage zahlreiche hervorragende Männer be-
müht, die Gesetzmässigkeit der Proportionen des menschlichen Körpers
zu erforschen.
Dies geschah von einzelnen ausschliesslich in der bescheidenen
und löblichen Absicht, dem Künstler dadurch ein Hülfsmittel zur
Nachbildung menschlicher Figuren an die Hand zu geben, andere
aber haben sich verleiten lassen, aus einer scheinbaren Gesetzmässig-
keit der von ihnen genommenen Masse ein theoretisches Gebäude
zur Bestimmung des Schönheitsbegriffs zu construiren.
Erst in allerneuester Zeit finden sich vereinzelte Bestrebungen,
aus einer grossen Anzahl Messungen in wissenschaftlicher Weise
das Mittelmass und damit zwar nicht das Schönheitsideal, wohl aber
die Normalgestalt zu bestimmen.
Die sorgfältigen Untersuchungen von Ch. Blanc1) haben nach-
gewiesen, dass die alten Aegypter als Grundmass die Länge des
Mittelfingers annahmen, der nach ihnen neunzehnmal in der Körper-
lange enthalten ist.
Eine genau nach diesen Regeln construirte Figur heisst Canon,
das sie bestimmende Grundmass wird Modulus genannt.
Es scheint, dass der ägyptische Canon zum Theil in die griechi-
sche Kunst übernommen wurde, dass daneben aber auch noch andere
x) Gazette des beaux-arts, 7.
Proportionssysteme. 33
Canons bestanden, bei denen die Länge der Hand, des Fusses oder
des Kopfes den Modulus abgab.
Der bekannteste ist der des Polyklet, den manche in dem
Speerträger von Neapel zurückzufinden glauben 1). Vitruv , Galen
und Plinius berichten über den Canon des Polyklet. Danach ist das
Gesicht ein Zehntel, der Kopf ein Achtel der Gesammthöhe, Kopf
und Hals ein Sechstel und gleich der Fusslänge. Das Gesicht zer-
fällt in drei gleiche Theile, vom Kinn zum unteren Rand der Nase,
von da bis zum oberen Rand derselben, und von da bis zum Haar-
ansatz -).
Archäologen und Historiker haben auszumachen, ob damit
wirklich der Canon des Polyklet durch Ueb erlief erung bewahrt ist,
uns interessirt hier nur die Thatsache, dass diese Masse bis in unsere
Zeit als Massstab menschlicher Schönheit gegolten haben, trotzdem
sie, wie Langer3) nachgewiesen hat, selbst bei zahlreichen klassi-
schen Bildwerken nicht immer zu finden sind.
Als mit der Renaissance das Interesse an dem menschlichen
Körper wieder erwachte, sind Leonardo da Vinci, Albrecht Dürer
und Agrippa die ersten gewesen, die sich wieder mit den Propor-
tionen des menschlichen Körpers beschäftigten; die ersteren beiden
stellten sich ausschliesslich auf den Standpunkt des Künstlers zur
leichteren Nachbildung, der letztere hat ein ganzes System aufgebaut,
nach dem sich nicht nur der menschliche Mikrokosmus, sondern
auch jede geometrische Figur, selbst die Sternenwelt, systematisiren
lässt 4).
Wer sich für die historische Entwickelung der verschiedenen
Systeme interessirt, findet eine ziemlich vollständige Uebersicht und
Besprechung derselben in der fleissigen Arbeit von Zeising5). Da-
selbst werden 78 Philosophen, Künstler, Anatomen und Physiologen
aufgezählt, dazu kommt der von Zeising nicht erwähnte Agrippa
2) Guillaurne hält denselben für eine Copie, da das Original wahrschein-
lich aus Bronce gewesen ist.
2) Vgl. L. von Sybel, Weltgeschichte der Kunst, 1888, p. 193.
3) 1. c. p. 60.
4) Agrippa, de philosophia occulta, 1531.
5) Neue Lehre von den Proportionen des menschlichen Körpers, 1854.
Stratz, Die Schönheit des weiblichen Körpers. 3
34 Proportionssysteme.
und Zeising selbst mit seiner Lehre vom goldenen Schnitt, so dass
wir bis zum Jahre 1854 nicht weniger als 80 Autoren haben, deren
jeder wieder einer persönlichen Auffassung huldigt.
Die meisten bestimmen die Proportionen nach Kopf- und Ge-
sichtslängen, Hay *) legt seinem System den musikalischen Accord
zu Grunde, indem er den Abstand der einzelnen Theile des Körpers
nach Terzen, Quinten, Octaven u. s. w. bestimmt. Zeising Avendet
die Lehre vom goldenen Schnitt an, wonach eine Linie so getheilt
wird, dass das Ganze sich zum grösseren Theil verhält, wie dieser
zum kleineren; so verhält sich nach ihm die Körperhöhe zur Nabel-
höhe, wie diese zu der Entfernung des Nabels bis zum Scheitel.
Wie Langer2) richtig bemerkt, hat diese Eintheilung schon
deshalb keinen Werth, weil die Höhe des Nabels sehr variabel ist;
jedoch erkennt er an, dass bei der Bestimmung der Taillenhöhe
einer gekleideten weiblichen Figur die Zeising'sche Eintheilung
zutrifft.
Es sei hier noch erwähnt, dass unter allen Autoren Cenino
Cennini 3) der einzige ist, der den Frauen überhaupt jegliche richtige
Körperproportion abspricht und sich deshalb nur mit dem männ-
lichen Körper beschäftigt.
Die erste rein wissenschaftliche Arbeit über Proportionen
stammt von Quetelet 4), der aus den an dreissig jungen Männern ge-
fundenen Massen eine Durchschnittsproportion construirte.
Er betritt damit den modernen, von den Anthropologen mehr
und mehr ausgebildeten Weg, durch Vergleichung einer möglichst
grossen Zahl von Einzelmassen ein durchschnittliches Normalmass
des Menschen, je nach Rasse, Lebensalter und Geschlecht verschieden,
zu construiren. Topinard 5) hat versucht, aus den ihm zugänglichen
Messungen derartige Normalmasse für den Europäer festzustellen,
') The geornetric beauty of the human figure defined, 1851.
2) 1. c. p. 56.
3) Lübke, Italienische Malerei, citirt bei Langer p. 62, hei Zeising nicht
erwähnt.
4) Des proportions du corps humain. Bulletin de l'academie royale des
sciences, lettres et beaux-arts de Belgique, XV.
5) Citirt bei Richer, Anatomie artistique, 1890, p. 258.
Proportionssysteme. 35
sieht jedoch, eine grosse Schwierigkeit in dem Umstände, dass man
in Europa keine grössere Anzahl von Individuen absolut reiner Rasse
erhalten kann.
Es ist bekannt, dass in neuester Zeit Bertillon in derselben
Weise die Identität von Verbrechern festzustellen suchte.
In Amerika hat Sargent *) mehr als zweitausend Jünglinge
und Mädchen im Alter von 20 Jahren gemessen und nach den
Durchschnittsmassen zwei Thonmodelle angefertigt, die in Chicago
ausgestellt waren. Richer 2) hat in gleicher Weise wie Sargent einen
Canon der Proportionen des menschlichen Körpers construirt, den-
selben nach Kopflängen bestimmt und als Statue ausgearbeitet. Den
weiblichen Körper hat er leider nur beiläufig berücksichtigt.
Die Vergleichung der von verschiedenen Untersuchern ge-
wonnenen Resultate wird erschwert durch den Umstand, dass man
bisher noch nicht einer einheitlichen, allgemein gültigen Methode ge-
folgt ist.
Obwohl wir demnach noch nicht in der Lage sind, feststehende
Normalproportionen für den menschlichen Körper zu geben, so
können wir doch mit grosser Genugthuung feststellen, dass im
grossen und ganzen trotz der verschiedenen Wege die Endresultate
gewissenhafter Beobachter sich decken, und nicht nur das allein,
sondern dass die künstlerische Idealgestalt mit der wissenschaftlichen
Normalgestalt zusammenfällt.
Um dies darzuthun, diene als Grundlage die von G. Fritsch3)
befürwortete und verbesserte graphische Methode zur Bestimmung
der menschlichen Proportionen, welche von C. Schmidt4) und
C. Carus 5) inaugurirt ist.
Fig. 7 stellt die weibliche Normalgestalt von Merkel 6) dar,
welche in ein Zehntel natürlicher Grösse gezeichnet ist, entsprechend
einer Gesammtlänge von 155 cm. Daneben sind die Masse für diese
J) Scribner's Magazine, 1893, Vol. XIV, Nr. 79.
2) Richer, Canon des proportions du corps humain, 1893.
3) Verhandlungen der Berl. Anthropologischen Gesellschaft, 16. Febr. 1895.
4) Proportionsschlüssel. Stuttgart 1849.
5) Die Proportionslehre der menschlichen Gestalt, 1854.
6) Handbuch der topographischen Anatomie, 1896, IL p. 256.
36
Normalmasse.
Figur nach dem Fritsch'schen Canon construirt und der Deutlichkeit
halber in punktirten Linien in die Figur selbst übertragen.
Als Modulus des Schmidt - Fritsch'schen Canons dient die
Fig. 7. Canon von G. Fritsch und Merkeische Normalgestalt.
Länge der Wirbelsäule, gemessen vom unteren Rand der Nase
bis zum oberen Rand der Symphyse in gerade gestreckter Haltung
= ab. Dieser Hauptmodulus genügt, um alle übrigen Masse zu
bestimmen.
Fritsch'scher Canon. 37
Zunächst wird er in vier gleiche Theile ae, ef, fN und Nb
getheilt; von diesen Untermoduli (= lk Modulus) wird einer, ac, in
der Verlängerung von ab angefügt, um die Scheitelhöhe zu be-
stimmen ; je ein Untermodulus bei e, eS und eSx bestimmt den Ab-
stand der Schultergelenke SSX; je ein halber Untermodulus bei
b, bH und bHx giebt den Abstand der Hüftgelenke HH^
Verbindet man jedes Schultergelenk mit dem gegenüberliegen-
den Hüftgelenk, so schneiden sich die Verbindungslinien SHX und
S7H bei N im Nabel.
Zieht man von den Schultergelenken Linien durch a, so bilden
deren Verlängerungen Sad1 und S1ad mit den von c aus gezogenen
Parallelen cd und cdx ein Quadrat, dessen quere Diagonale dd2 die
Schädelbreite angiebt.
Eine zu aS gezogene Parallele von e aus schneidet die Linie
SHX in der Höhe der Brustwarze B, der die linke Brustwarze
Bx entspricht.
Nun kann man die Länge der Extremitäten in folgender Weise
bestimmen :
Obere Extremität:
SBi rechtes Schultergelenk bis linke Brustwarze = SE Oberarm.
B[N linke Brustwarze bis Nabel = EM Unterarm.
NH Nabel bis Hüftgelenk = MP Hand.
Untere Extremität.
HB| rechtes Hüftgelenk bis linke Brustwarze — HK Oberschenkel.
BjHj Hüftgelenk bis Brustwarze derselben Seite = KF Unterschenkel.
Die Höhe des Fusses ist (ungefähr) ein halber Untermodulus.
Die gesammte Körperlänge ch ist gleich 10 Ya Untermoduli.
Die Bestimmung der Fusshöhe und der Gesammtlänge hat Fritsch nicht
ausdrücklich angegeben; ich habe dieselbe auf Grund zahlreicher Controle-
messungen beigefügt und kann constatiren, dass man dabei bis auf einige Centi-
meter genau messen kann. Am sichersten geht man, auf der Mittellinie cb
fünf weitere Untermoduli = bg und einem Halben bis ein Drittel Um = gh
abzutragen und dann den Abstand von FF1 bis h als Fusshöhe anzunehmen.
Merkel giebt nicht an, in welcher Weise er zur Construction
seiner weiblichen Normalgestalt gelangt ist; jedenfalls hat er sich
nicht der Fritsch'schen Methode bedient, denn sonst hätte er die-
selbe unzweifelhaft erwähnt.
Ct
aT
38 Normalmasse. Merkel. Froriep.
Um so auffallender ist es, dass er auf anderem Wege beinahe
zu den gleichen Resultaten kommt, wie Fritsch, denn wir sehen aus
der Figur, dass die Merkel'sche Gestalt bis auf kleine Abweichungen
von einigen Millimetern mit
den Fritsch'schen Massen
sich deckt. (Die Masse des
Armes stimmen genau, sobald
man sich die Schulter etwas
gesenkt vorstellt.)
Froriep hat seiner Ana-
tomie für Künstler l) acht
ProjDortionstafeln beigefügt,
die zum Theil nach Liharzik
construirt, nebenbei aber auch
nach Kopf höhen berechnet
sind. Die achte Tafel stellt
ein erwachsenes Weib von
25 Jahren vor. Trägt man
bei dieser die Fritsch'sche
Construction ein, so stellt
sich heraus, dass auch hier die
Masse beinahe vollkommen
sich decken; nur ist bei Fro-
riep die Schädelbreite um
1 cm breiter und die Brust-
warzen stehen tiefer.
Diese doppelte Ueber-
einstimmung sp rieht sehr ent-
schieden für die Brauchbar-
keit des Fritsch'schen Canons,
der abgesehen von der äusserst
einfachen Construction noch
den Vortheil hat, dass auch durch einfache Berechnung ohne Con-
struction ein Theil der Masse bestimmt werden kann.
Fig. 8. Weibliehe Normalfigur nach Richer.
:) Zweite Auflage 1890.
Normalmasse. Richer.
39
Ist der Modulus z. B. = 60, so ist der Untermodulus = 15, demnach S Sj
(Fig. 7) = 30, RRi = 15, dd[ = 15, ch = 155. Zur ungefähren Vergleichung
mit einer Berechnung nach Kopfmassen kann man beachten, dass der Ab-
stand der Brustwarzen BBj ungefähr
gleich ist der Kopflänge. Rechnet man
die Gesammtlänge auf lrJ2 Kopflängen,
dann verhält sich eine Kopflänge zu
einem Untermodulus wie 77* zu 107s,
also etwa wie 3 zu 4; im gegebenen Fall
3 Kopflängen (B Bt = 20) zu 20 = 4 Unter-
moduli zu 15 = 60.
Richer x) hat die Proportionen
ausschliesslich nach Kopflängen be-
stimmt. Die weibliche Normalfigur
von Richer (Fig. 8) kommt auf das
Genaueste überein mit dem Fritsch-
schen Canon 2), ausser zwei kleinen
Abweichungen : die Scheitelhöhe
ist bei Richer um etwas kleiner
und die Länge des Vorderarms ist
etwas grösser (auf der Zeichnung
scheint der Unterschied noch stär-
ker, weil die oberen Messpunkte
höher liegen als die etwas ge-
senkten Schultergelenke).
Immerhin ist Richer, wenn
auch auf anderem Wege, zu beinahe
derselben Normalgestalt gekommen,
als Fritsch, Merkel und Froriep.
Zur Vergleichung des Canons
mit den Verhältnissen an der Leben-
den habe ich ein gutgebautes javani-
schen Mädchen, Sarpi, gewählt,
deren Umrisse genau nach der Photographie gezeichnet sind (Fig. 9).
J) Anatomie artistique, 1890, p. 169 und 252.
2) Diese Uebereinstimmung ist um so auffallender, als Richer, wie er mir
mittheilte, diese weibliche Figur aus dem Gedächtniss so zeichnete, wie er sie
für richtig proportionirt hielt.
Fig. 9. Sarpi, javanisches Mädchen
von etwa 18 Jahren.
40 Normalmasse. Langer.
Wegen der vorgebeugten Haltung des Kopfes fällt der obere
Endpunkt des Modulus ab etwas höher als der untere Nasenrand.
Mit Ausnahme des im Verhältniss zum Körper zu grossen Kopfes,
der der javanischen Rasse eigenthümlich ist, stimmen die Masse bis
auf Millimeter genau. Die Brüste sind mit den Armen in die Höhe
und etwas nach aussen gerückt, und fallen bei gesenkten Armen
genau in die Punkte BBX (Fig. 7), wie ich mich an einer anderen
Aufnahme überzeugen konnte.
Langer l) hat nach directen Messungen an Lebenden ein Linear-
schema aufgestellt. Da er ebenso wie Schmidt und Fritsch die Ge-
lenke und das Knochengerüst als Grundlage seiner Messungen be-
nützt, so decken sich seine Masse mit den obigen vollkommen, Avas
den Rumpf betrifft.
Bei den Extremitäten findet Langer, abweichend von Fritsch,
dass Ober- und Unterarm, Ober- und Unterschenkel gleich lang
sind2), die Endergebnisse sind aber die gleichen, trotz dieser Ver-
schiedenheiten, die nur auf verschiedener Annahme der Messpunkte
beruhen.
Langer hat ausser lebenden Menschen auch eine grössere An-
zahl antiker Statuen gemessen, und dabei gefunden, dass namentlich
die Figuren des Parthenon vollkommen mit den Normalverhältnissen
lebender Menschen übereinstimmen.
Die bisherigen Betrachtungen haben uns demnach das folgende
gelehrt.
Durch genaue vergleichende Messungen wohlgebauter Indivi-
duen gelangt man zu stets wiederkehrenden Normalmassen, die im
grossen und ganzen trotz der verschiedenen Messungsmethoden stets
dieselben sind. Von allen angewandten Methoden geben diejenigen
die zuverlässigsten Resultate, die sich an unveränderlich feststehende,
*) 1. c. p. 48.
2) Dieser Unterschied erklärt sich aus der Methode der Messung von
Langer. Die Länge des Unterschenkels berechnet er nach dem unteren Rande
des Wadenbeinknöchels; dieser liegt jedoch viel tiefer als das Gelenk; den
Unterarm rechnet er von der Achse des Ellbogengelenks, die im Oberarmknochen
liegt, bis in die Mitte des (doppelten) Handgelenks, wodurch der Unterarm auf
Kosten von Oberarm und Hand um einige Centimeter vergrössert wird.
Normalmasse. Fehlerhafte Canons. 41
durch das Knochengerüst und die Gelenke bestimmte Punkte halten.
Unter allen diesen Methoden verdient wiederum die von Schmidt
und Fritsch den Vorzug, weil sie mit der Genauigkeit der Messung
eine einfache Construction und bequeme Berechnung vereinigt, und
sich dadurch als Massstab zur Beurtheilung gegebener Figuren be-
sonders eignet.
Wir haben gesehen, dass diese Verhältnisse sich sowohl an
anderen Canons als auch an normalen Exemplaren von Lebenden
wiederfinden lassen, ebenso wie in mustergültigen Darstellungen der
idealen Menschengestalt. Nun wollen wir versuchen, die gemachten
Erfahrungen auch kritisch zu verwerthen zur Entdeckung von Fehlern
in einer gegebenen Figur.
Als Beispiel wähle ich zunächst die obenerwähnte weibliche
Normalgestalt von Hay, die nach musikalischen Accorden construirt
ist (Fig. 10).
Tragen wir in dieselbe den Fritsch'schen Modulus ab ein und
construiren die nöthigen Linien, so zeigt sich zunächst, dass die
Beine viel zu kurz sind, und dass dieser Fehler hauptsächlich auf
starke Verkürzung der Unterschenkel zu setzen ist, ein Fehler, der
in den arbeitenden Klassen sehr häufig gefunden wird.
Das scheinbare Ebenmass der Figur wird jedoch gerettet durch
einen zweiten Fehler, nämlich durch eine starke Verkleinerung des
Hauptes, die als eine Eigentümlichkeit bevorzugter Geschlechter gilt.
Es werden also gewissermassen die plebejischen Beine durch
einen aristokratischen Kopf verdeckt, und dadurch entsteht eine
Gestalt, die vielleicht einmal vorkommen kann, jedenfalls aber kein
Ideal ist.
Noch stärker sind die Fehler in der Thomson'schen Normal-
figur (Fig. 11) ausgedrückt.
Hier sind die Unterschenkel noch kürzer, das Haupt erscheint
noch unproportionirter, weil das Gesicht im Verhältniss zum Schädel
grösser gehalten ist als bei Hay.
Weitere Beispiele finden sich in dem obenerwähnten Aufsatz
von Fritsch.
Wir haben somit eine ziemlich genaue wissenschaftliche Me-
thode zur Bestimmung der richtigen Verhältnisse des Körpers im
42
Fehlerhafte Canons.
allgemeinen; class dies auch im besonderen der Fall ist, werden
wir weiter unten bei Besprechung der einzelnen Körpertheile sehen.
u
gl
h
Fig. 10. Weibliche Normalfigur nach Hay.
Fig. 11. Weibliche Nonnalfigur von Thomson.
Die einzige Schwierigkeit bei der Anwendung dieser Methode
besteht in der Zugänglichkeit der Messpunkte, die zum Theil, nament-
lich bei wohlgenährten Gestalten, durch Muskeln und Fett bedeckt
sind. Doch auch diesem Uebelstande kann jetzt, wenn es nöthig
Geschlechtscharakter. 43
ist, durch geeignete Anwendung der Röntgenstrahlen abgeholfen
werden.
Wenn wir nun auch einerseits nach den Gesetzen der Pro-
portionslehre im Stande sind, eine ganze Reihe von Körpern als
weniger schön oder hässlich auszuschalten, so ist andererseits doch
wieder der Fall denkbar, dass ein völlig richtig proportionirter
Körper doch hässlich ist; man braucht nur zu bedenken, class trotz
abschreckendster Magerkeit, trotz der unästhetischsten Fettleibigkeit
ein Körper in seinen Längenmassen doch richtig gebaut sein kann.
Richtiges Yerhältniss ist eben nur eines von verschiedenen die Körper-
schönheit bedingenden Momenten, deren übrige im folgenden be-
sprochen werden sollen.
V.
Einfluss von Geschlecht, Lebensalter und
Erblichkeit.
Mit sein* viel Scharfsinn, aber mit noch mehr Einseitigkeit
haben verschiedene Philosophen (Lotze, Schopenhauer u. A.) und
Anthropologen (Albrecht, Delannay) nachzuweisen versucht, dass das
Weib tiefer als der Mann und dem Affen näher stehe.
Eine andere, auch heute noch sehr allgemein verbreitete Auf-
fassung betrachtet das Weib als ein niederes, dem Kinde näher
stehendes Entwickelungsstadium.
Hauptsächlich Charcot, Richer und deren Schüler haben auf
Grund sorgfältiger Naturbeobachtungen einige Klarheit in die Frage
gebracht. Eine sehr sorgfältige Zusammenstellung aller Geschlechts-
unterschiede finden sich in dem Buche von Ellis: ,,Mann und Weib."
Ohne mich hier auf nochmalige Kritik entgegengesetzter An-
o O CT ö
sichten einzulassen , stelle ich mich auf den von der Charcot'schen
Schule vertretenen Standpunkt.
Danach stehen Mann und Weib in ihrer Vollendung als zwei
44 Primärer und seeundärer Geschlechtscharakter.
in sich abgeschlossene Typen neben einander, deren jeder sich gleich-
weit, doch in anderer Richtung von dem ursprünglichen, kindlichen
Typus entfernt hat.
Ebenso wie bei einzelnen männlichen Individuen sich An-
näherungen an den kindlichen sowohl als an den weiblichen Typus
finden lassen, ebenso finden sich andererseits bei einzelnen Weibern
Annäherungen an den kindlichen, sowie an den männlichen Typus.
In diesem Sinne kann man von einem Einfluss des Geschlechts
auf die normalen weiblichen Körperformen sprechen.
Hunt er hat zuerst einen Unterschied zwischen primären und
secundären Geschlechtscharakteren gemacht.
Wir können als primäre Geschlechtscharaktere die Geschlechts-
theile als solche auffassen, als secundäre alle diejenigen Verände-
rungen des kindlichen Körpers, die ihm das weibliche, resp. männ-
liche Gepräge verleihen.
In. allen Fällen, in denen die primären Geschlechtscharaktere
nicht gut ausgebildet sind, bei den sog. Hermaphroditen, bilden auch
die secundären Geschlechtscharaktere Mischformen vom männlichen
und weiblichen Typus. Es giebt Fälle, wo selbst erfahrene Aerzte1)
nur mit dem Mikroskop entscheiden konnten, ob es sich um einen
männlichen oder Aveiblichen Zwitter handelte.
Abgesehen von diesen Fällen von wirklicher oder scheinbarer
Zwitterbildung giebt es aber eine ganze Anzahl Weiber mit nor-
malem primärem Geschlechts charakter, deren secundäre Geschlechts-
merkmale trotzdem Annäherung an den männlichen resp. kindlichen
Typus zeigen.
Es lässt sich auf Grund der bis jetzt bekannten Thatsachen
nicht ausmachen, ob nicht in solchen Fällen stets eine mangelhafte
Entwickelung der Geschlechtstheile mit im Spiele ist.
Die wichtigsten secundären Geschlechtscharaktere des Weibes
sind: zarter Knochenbau, runde Formen, Brüste, breite Hüften, reiche
lange Kopfhaare und Fehlen der Körperhaare ausser in den Achsel-
höhlen und auf dem Schaniberge.
J) Sänger, Pozzi, Neugebauer. Vgl. Centralblatt für Gynäkologie, 1898,
p. 389 ff. (Nr. 15).
Infantilismus.
45
Wenn wir danach die
Normalgestalt des Weibes be-
stimmen wollen, müssen wir alle
diejenigen ausschalten, welche
derben Knochenbau, eckige
Formen, keine Brüste, schmale
Hüften, kurze und spärliche
Kopf haare, Barte, Haare zwi-
schen den Brüsten und am
Bauche besitzen.
Wenn auch der ausge-
prägte Typus der virago , des
Mannweibes, leicht zu erkennen
ist, so erheischt die richtige
Ausschaltung der ans männ-
liche streifenden Formen in
vielen Fällen doch eine sehr
sorgfältige Untersuchung, ja
sogar Bestätigung durch Mess-
instrumente.
Auf die weiteren secundä-
ren Geschlechtscharaktere kom-
men wir weiter unten bei Be-
sprechung der einzelnen Kör-
pertheile zurück.
Schwieriger noch als die
Ausschaltung der ans männliche
streifenden Formen ist die Aus-
schaltung der sogenannten in-
fantilen Bildung des weiblichen
Körpers, wenn dieselbe nicht
sehr deutlich ausgeprägt ist.
Ein sehr schönes Beispiel
Meige1) beschrieben. Das betreffende Mädchen ist 30 Jahre alt,
Fig. 12. Infantilismus der Frau nach Meige.
von weiblichem Tnfantilismus hat
-1) Nouvelle Iconographie de la Salpetriere, 1895, p. 218.
46 Einfluss des Lebensalters.
und hat das Aeussere einer etwa Zwölfjährigen. Sie litt an Hysterie;
die Genitalien waren normal, jedoch, in ihrer Entwickelung gleich
dem Körper zurückgeblieben.
Dieser Körper zeigt den ausgeprägt kindlichen Bau ohne irgend
welchen secundären Geschlechtscharakter (Fig. 12). Die Brüste fehlen,
der Körper ist völlig unbehaart; weder Hüften und Oberschenkel, noch
Arme und Schultern zeigen den Fettansatz des reifenden oder ge-
reiften Weibes; der Rumpf ist gleichmässig cylindrisch, in der Taille
nicht eingezogen, das Becken ist schmal, der Bauch wölbt sich vor
und geht ohne scharfe Abgrenzung in den Schamberg über.
Derartig ausgeprägte Formen von Infantilismus finden sich
ebenso wie ausgeprägter Virilismus sehr selten. Für letzteres spricht
ja schon der Umstand, dass Frauen mit Barten in Schaubuden und
auf Jahrmärkten als Sehenswürdigkeiten gezeigt werden. Leichtere
Grade beider Phänomene sind jedoch gar nicht so ausserordentlich
selten. Unter 100 daraufhin untersuchten Frauen habe ich 4 mit
mehr männlicher, 2 mit mehr kindlicher Gestaltung gefunden.
Somit erklärt sich die scheinbar absurde Behauptung, dass das
Geschlecht bei der Beurtheilung des weiblichen Körpers von Ein-
fluss sein könne, in der Weise: je reiner die secundären Ge-
schlechtscharaktere am weiblichen Körper ausgeprägt sind , desto
mehr kann derselbe darauf Anspruch machen, als normal angesehen
zu werden.
Es mag scheinbar ebenso paradox klingen, dass noch besonders
hervorgehoben wird, dass das Lebensalter einen Einfluss auf die
Körpergestaltung ausübt; denn jeder weiss, dass ein kleines Mädchen
und eine alte Frau anders aussehen als eine Frau in ihrer Blüthe.
Was ich hier hervorheben möchte, ist, dass eben diese Blüthe bei
der einen Person früher, bei der anderen später eintritt, dass darin
eine grosse individuelle Schwankung besteht.
Jede Frau erreicht im Laufe ihres Lebens eine höchste Blüthe,
die , bildlich dargestellt , den höchsten Punkt einer Curve bildet,
welche im Kindesalter aufsteigend, im höheren Alter absteigend ge-
dacht ist.
Diese Schönheitscurve kann in einem Falle sehr rasch ansteigen,
um ebenso rasch wieder abzufallen, und wir haben dann vor uns
Blüthezeit. Beaute du diable.
47
die sogenannte beaute du diable, ein Begriff, der nur in der fran-
zösischen Sprache besteht.
In anderen Fällen wieder steigt die Curve sehr langsam an,
um ebenso langsam wieder zu sinken, der Höhepunkt dieser Curve
tritt später ein, erreicht aber eine absolut grössere Höhe als im
ersten Fall, die absteigende Curve sinkt viel langsamer (Fig. 13).
Das Lebensalter, in welchem die höchste Höhe erreicht wird,
ist sehr wechselnd. Namentlich bei südlichen Völkern wird dieselbe
oft schon im 14. bis 15. Jahre erreicht, bei germanischen Stämmen,
Jahre
5
10
15
20
25
30
35
40
45
50
55
X
;
g i
M 1
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f 1
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M **
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NN
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N"x
^r •
r '
'■■,»
t*
Schönheitskurve
— Beaute du diable
Fig. 13.
bei Deutschen, Holländerinnen, Scandinavierinnen und Engländerinnen
meist mit dem 20. Lebensjahre oder noch später. Mir sind Fälle
bekannt, in denen erst im 30. und 33. Jahre die volle Blüthe er-
reicht wurde.
Eine geistreiche Künstlerin machte mir einst die folgende Be-
merkung: Der Endzweck der Frau ist, Mutter zu werden; die Frau
hat demnach ihre höchste Blüthe erreicht, wenn sie schwanger
ist; also muss eine schöne Frau am schönsten sein, wenn sie
schwanger ist.
Ich erwiederte ihr, dass dies wirklich der Fall ist, wenn näm-
lich der Zeitpunkt der höchsten Blüthe mit dem ersten Monat der
ersten Schwangerschaft zusammenfällt. Denn mit dem Eintreten der
48 Einfluss der Erblichkeit.
Schwangerschaft wird, wie jedem Arzt bekannt ist, der Stoffwechsel
erhöht, alle Gewebe sind strotzend gefüllt, das Incarnat der Haut
ist zarter und lebhafter, die Brüste werden praller und härter. Da-
durch wird der Reiz der vollen Blüthe erhöht bis zu dem Augen-
blick, wo das Schwellen des Leibes im weiteren Verlauf der Schwanger-
schaft die Harmonie der Formen beeinträchtigt.
Wie wenig eigentlich das Lebensalter einer Frau an ihrem
Aeusseren erkannt werden kann, dafür ist das oben abgebildete
30jährige Mädchen (Fig. 12) ein sprechender Beweis.
In demselben klassischen Werke, dem dieses Bild entnommen
ist, haben Soucrues und Charcot unter dem Namen von Geromorphisme
cutane die 21jährige Amandine beschrieben, die trotz ihres jugend-
lichen Alters mit ihrem gerunzelten Körper den Eindruck einer
60jährigen Greisin macht. Ich verzichte hier auf die Wiedergabe
der sprechenden, aber nicht gerade sympathischen Photographie und
verweise den wissbegierigen Leser auf das Original1).
Ausser derartigen Extremen giebt es jedoch eine grosse Reihe
schwieriger zu beurtheilender Fälle, die nicht so deutlich ausgeprägt
sind. Jedermann kann sich leicht davon überzeugen, wenn er gleich-
altrige Frauen aus seiner Umgebung mit einander vergleicht. Er
wird dabei zu der Ueberzeugung kommen, dass der Augenblick der
höchsten Blüthe bei den einzelnen Frauen sehr verschieden ist und
keineswegs an ein bestimmtes Alter gebunden.
In wie weit Erziehung und Lebensweise auf die Entwickelung
und Erhaltung der Schönheit von Einfluss sein können, werden wir
noch besjDrechen.
Hier sei nur erwähnt, dass die Frauen der sog. besseren Stände
im allgemeinen später reifen und länger schön bleiben als die der
arbeitenden Klasse, bis auf wenige Ausnahmen.
Und damit kommen wir auf einen dritten Factor, der die
Normalgestalt beeinflusst, nämlich die Erblichkeit, oder besser ge-
sagt, die Züchtung.
Ich möchte hier das Wort Züchtung mehr in dem Sinne ver-
standen wissen , wie man es — ich bitte , mir zu verzeihen — von
!) Iconographie de la Salpetriere, 1891. p. 170.
Rassenzüchtung. 49
Pferden und Hunden gebraucht, wenn man denselben „Rasse" zu-
erkennt.
Der Werth des Hundes oder des Pferdes wird nach dem Stamm-
baum bemessen, vorausgesetzt, dass sich damit die gewünschten
edlen Körpereigenschaften verbinden.
Beim Menschen, namentlich beim männlichen, hat ja der Stamm-
baum auch einen gewissen Marktwerth, jedoch ohne Rücksicht auf
eventuelle gute oder schlechte Körpereigenschaften.
Die wirkliche Rasse im naturgeschichtlichen Sinne ist nicht
ausschliesslich diejenige, die im Gothaer Kalender steht, sondern es
sind alle die Geschlechter, die durch lange Generationen hindurch
unter besonders günstigen Lebensbedingungen geblüht und sich nur
mit Ihresgleichen vermischt haben. Eine derartige, durch Jahr-
hunderte fortgesetzte Zuchtwahl muss günstige Resultate hervor-
bringen. Man findet sie ebenso beim Adel, wie beim unverfälschten
Bauernstände und in alten Bürgerfamilien.
Aus eigener Erfahrung kann ich bestätigen, dass namentlich
in dem sehr conservativen Holland derartige Beispiele vortrefflicher
Körperbildimg in alten Familien bei Männern sowie bei Frauen
häufig anzutreffen sind.
Bekannt ist dagegen auch der Umstand, dass unter den Juden
trotz der Zähigkeit des Volkes in Folge der jahrhundertelangen
Unterdrückung sehr viel mehr körperlich abnormale Individuen an-
getroffen werden, als bei irgend einem anderen Volke der Welt.
Die Erfolge einer Rassenzüchtung werden um so besser sein,
je mehr zwei eine neue Verbindung eingehende Individuen von körper-
lichen Vorzügen versehen sind. So kann die Verbindung* eines Edel-
mannes mit einem Bauernmädchen, eines Italieners mit einer Oester-
reicherin zu einer Veredelung der Rasse werden, vorausgesetzt, dass
die Betheiligten völlig gesund und normal sind.
Die Erfahrung hat gelehrt, dass die Nachkommen zweier In-
dividuen von „Rasse" um so kräftiger sind, je weniger die Familien
selbst mit einander verwandt sind, dass hingegen bei zahlreichen
Heirathen innerhalb einer Familie das Geschlecht mehr und mehr
entartet, und zwar zunächst psychisch, dann aber auch körperlich.
Die Erklärung für diese Thatsache ist sehr einfach: Kein
Stratz, Die Schönheit des weiblichen Körpers. 4
50 Rassenzüchtung.
Mensch ist vollkommen normal. Vereinigen sich zwei Menschen
verschiedener Familien, so ist mit grosser Wahrscheinlichkeit an-
zunehmen, dass einer der Betheiligten andere Fehler hat als der
andere. Die Kinder können nun, wie die Vorzüge, so auch die
Fehler ihrer Eltern erben, jedoch werden die Fehler des einen In-
dividuums durch die Vorzüge des anderen verdeckt werden. Ver-
einigen sich jedoch zwei Individuen derselben Familie, die neben
den gleichen Vorzügen die gleichen Fehler besitzen, so werden die
Kinder die Fehler sowie die Vorzüge der Eltern in erhöhtem Masse
zeigen. Je häufiger ähnliche Verbindungen in einer Familie vor-
kommen, desto stärker werden in den Nachkommen die Fehler, so-
wie die Vorzüge derselben ausgeprägt sein.
Wie die Menschen im allgemeinen geneigt sind, eher die Fehler
als die Vorzüge ihrer Nebenmenschen anzuerkennen, so wird im be-
sonderen unter Heredität oder Erblichkeit meist die Uebererbung
von Fehlern, nicht aber von Vorzügen verstanden, und wenn man
von einem erblich belasteten Menschen spricht, so versteht man
darunter meist das Erbtheil an Fehlern, das er seinen Vorfahren zu
danken hat.
Welchen Einfluss die Erblichkeit ausübt, ist zunächst deutlich
erkennbar an der sogenannten Familienähnlichkeit. Da jedoch
die meisten neugeborenen Kinder einander gleichen, so kann man
diese Familienähnlichkeit erst in der späteren Entwickelung erkennen,
und dabei ist es eigenthümlich, dass man sehr häufig in den heran-
wachsenden Kindern nicht die Züge der Eltern, sondern die der
Grosseltern zurückfindet. Darum wird heirathslustigen Jünglingen
gerathen, sich bei der Wahl eines Mädchens nicht nur deren Mutter,
sondern auch beide Grossmütter erst gründlich anzusehen.
Noch merkwürdiger ist das Wiederauftauchen einer älteren
Form in einem späteren Geschlechte, wie etwa die Aehnlichkeit der
jüngsten Tochter mit der nur noch im Bilde bekannten Ahnfrau.
Die Erblichkeit in diesem weiteren Sinne, der Atavismus, hat
Paul Bourget zu seinem Romane Kosmopolis den Stoff geliefert. Er
zeigt darin, wie sich trotz des Bestrebens der sogenannten Welt,
keinem besonderen Volke anzugehören , doch stets wieder der Ur-
typus in den einzelnen Charakteren offenbart.
Krankhafte Einflüsse. 51
In dieser Weise aufgefasst, begreifen wir dann auch die natur-
wissenschaftlich begründete Unsterblichkeit der Seele wie des Körpers,
da in jedem Menschen die Eigenthümlichkeiten aller seiner Vorfahren
wieder aufleben, so wie die seinigen wieder in seinen Nachkommen
weiterleben werden.
Hier tritt nun aber der Kampf ums Dasein in seine Rechte
und lässt nur die jeweils besten Individuen durch lange Reihen von
Geschlechtern ihre Eigenschaften vererben, während die schlechter
beanlagten Individuen untergehen.
Wir müssten demnach im Menschengeschlecht eine stets schöner
und kräftiger blühende Sippe erzielen, wenn es im heutigen Kampfe
ums Dasein nicht mehr noch auf geistige, als auf körperliche Eigen-
schaften dabei ankäme.
Allgemeine Regeln, den günstigen oder ungünstigen Einnuss
der Erblichkeit auf die Körperbeschaffenheit zu bestimmen, lassen
sich nicht aufstellen. Im gegebenen Falle jedoch wird man wohl
häufig im Stande sein, denselben nachweisen zu können.
Wenn wir also das Geschlecht, das Lebensalter und die Erb-
lichkeit zur Beurtheilung des weiblichen Körpers herbeiziehen, so
haben wir zu achten auf deutlich ausgeprägte secundäre Geschlechts-
charaktere, wir müssen für die betreffende Frau die höchste Blüthe-
zeit bestimmen und die eventuellen günstigen und ungünstigen Ein-
flüsse der früheren Geschlechter der Kritik unterwerfen.
VI. •
Einfluss von Krankheiten auf die Körperform.
Viele Krankheiten können bestehen und heilen, ohne irgend
welche Veränderung der Körperform zu verursachen, andere ver-
ändern dieselbe in einer Weise, dass selbst dem Laien sofort die
Entstellung auffällt, in weiteren Fällen hinterlässt die überstanclene
Krankheit Fehler, die nicht sofort ins Auge springen und oft selbst
von Sachverständigen nur mit Mühe gefunden werden können. Mit
ES9 Kindische Krankheit.
der ersten Gruppe von Krankheiten, zu denen namentlich die acuten
Infectionskrankkeiten, wie Typhus, Scharlach, Masern n. a. gehören.
haben wir hier nichts zu machen. Ebensowenig mit der zweiten
Gruppe; denn einen Höcker, eine eingefallene Nase, Triefaugen,
eine Trichterbrust oder ein zu kurzes Bein wird jeder mit Leichtig-
keit erkennen und den damit Behafteten ohne weiteres die normale
Körpergestaltung absprechen.
Die dritte Gruppe von Krankheiten jedoch, die leichte Ab-
weichungen von der Norm zurücklässt, verdient unsere besondere
Beachtung.
Da die äussere Form des Körpers in erster Linie vom Skelet.
von den dasselbe umkleidenden Muskeln, der Haut und dem Fett-
polster abhängt, so sind es hauptsächlich Krankheiten dieser Theile,
die hervorzuheben sind, erst in zweiter Linie Krankheiten innerer
Organe, insoweit sie die äussere Form beeinflussen.
Unter allen diesen Krankheiten sind wiederum diejenigen die
wichtigsten , die den Körper in seiner Entwickelungszeit befallen,
weil sie dann auf die zarten, in der Bildung begriffenen Formen viel
nachhaltiger einwirken können, als nach erlangter Reife.
Von Krankheiten, die vorwiegend das Skelet beeinflussen, ist
die verbreitetste und bekannteste die sogenannte englische Krank-
heit, die Khachitis. Sie tritt meist schon im 1. bis 4. Lebensjahr,
selten später auf. Ihr Hauptsymptom ist eine eigentümliche Stö-
rung im Waehsthum der Knochen Jh die wegen zu geringer Kalk-
ablagerung weich bleiben und an den Gelenkenden sich verdicken.
Die weichen Knochen folgen dem Muskelzug und dem Druck der
Körperlast, es entstehen Verkrümmungen, die namentlich an den
Beinen sehr auffallend sein können, wenn die kranken Kinder zum
Gehen veranlasst werden. Tritt Heilung ein. dann erfolgt dabei
eine sehr kräftige Kalkablagerung, durch welche die Verkrümmungen
der Gliedmassen, sowie die Verdickungen der Gelenkenden als blei-
bende Verunstaltung erhalten werden.
Heber die Häufigkeit des Vorkommens der Khachitis sind die
Auffassungen sehr getheilt. weil, wie Vierordt hervorhebt, „die ein-
J) Vgl. Vierordt. Khachitis und Osteomalacie, 189G. Holder.
Rhachitis.
ÖÖ
zelnen Beobachter den Begriff der Rhachitis sehr verschieden weit
fassen, und weil das Urtheil über Häufigkeit und Schwere der Rhachitis
auch sonst nicht nach einheitlichen Gesichtspunkten gewonnen ist."
Diese Auffassung von Vierordt kann ich aus eigener Erfah-
rung noch dahin erweitern, dass eine grosse Anzahl der leichteren
rhachitischen Fälle überhaupt nicht zur ärztlichen Beobachtung
kommen. Zur Zeit meiner poliklinischen Thätigkeit in Berlin achtete
ich auf diesen Umstand und fand unter der arbeitenden Klasse bei-
nahe in jeder Familie ein oder mehr rhachitische oder rhachitisch
gewesene Kinder, die niemals ärztlich behandelt worden waren.
Für unsern Zweck handelt es sich nicht um die Schwere der
Krankheit, sondern lediglich um die bleibenden Veränderungen, unter
denen die Verkrümmungen der unteren Extremitäten obenan stehen.
Darum glaube ich, dass wir den von Senator und Ritchie gefundenen
höchsten Procentsatz von 30 °/o als Minimalzahl des wirklichen Ver-
hältnisses, alle leichtesten Fälle mitgerechnet, ansehen dürfen.
Am häufigsten findet sich die Krankheit in der arbeitenden
Klasse grösserer Städte, also gerade in derjenigen Bevölkerungs-
schicht, die den Künstlern die meisten Modelle liefert. Wir können
annehmen, dass unter hundert Mädchen aus dem Volke mindestens
dreissig sind, die sicher Rhachitis gehabt haben.
Welcher Gefahr ein Künstler sich aussetzt, der diesen Umstand
nicht beachtet, erhellt aus dem Beispiel von Klein. Dieser Maler
hat ein Urtheil des Paris1) gemalt, in dem man an den dicken
Hand- und Fussgelenken, aus der Verkrümmung der unteren Ex-
tremitäten mit Sicherheit nachweisen kann, dass alle drei Gattinnen
die englische Krankheit gehabt haben. Aphrodite erhält offenbar
den Preis, weil sie diese Symptome am deutlichsten aufweist. Auch
die bekannte Eva von Stuck hat in ihrer Jugend eine nicht unbe-
deutende Rhachitis durchgemacht.
Nach Vierordt sind Mangel an Luft und Sonnenlicht, schlechte
Hautpflege und schlechte Ernährung von schwerwiegender Bedeutung
für die Entwickelung der Rhachitis. Aus diesen Gründen findet man
sie auch seltener in besser situirten Kreisen.
Publicirt durch die Berliner photographische Gesellschaft.
54
Rhachitische Einflüsse.
Fig. 14. Mädchen mit deutlichen Zeichen
überstandener Rhachitis.
Die wichtigsten Ver-
änderungen, die die Rha-
chitis hinterlässt, sind die
folgenden :
Verdickung des Hand-
gelenks , namentlich an
der Seite des kleinen Fin-
gers (Ulnarköpfchen) ;
Verkrümmung des Un-
terarms und schiefe Stel-
lung desselben gegen den
Oberarm;
Verkrümmung der Wir-
belsäule und des Brust-
korbes ;
Veränderungen des
Beckens, das weniger ge-
räumig wird und dadurch
wieder einen grösseren
oder geringeren Grad von
Hängebauch veranlassen
kann ;
Verdickung der Knö-
chel und der Gelenkenden
am Knie;
Verkrümmung der Un-
terschenkel und Ober-
schenkel, 0 -Beine, Säbel-
beine, X-Beine, Plattfuss.
Die schwereren Ein-
flüsse der Rhachitis, wie
Knickungen der Extremi-
täten, Veränderungen der
Schädelknochen, sowie den rhachitischen Rosenkranz (die Auftreibung
der Rippengelenke am Brustbein) seien hier nur beiläufig erwähnt.
Alle diese Abweichungen können in der weiteren Entwicke-
Rhachitische Einflüsse.
55
lung des Körpers zum Theil ab-
gescliwäclit werden und auch
wolil ganz verschwinden, meist
aber bleibt die Verdickung der
Gelenke zeitlebens bestellen.
Zur Erläuterung der an-
geführten Thatsachen dienen die
folgenden Beispiele.
Fig. 14 stellt ein Mäd-
chen englischer (?) Abkunft vor,
bei der noch deutliche Beweise
der früheren Rhachitis zu fin-
den sind.
Am linken Arm sieht man
die starke Vorwölbimg des Ra-
dialendes oberhalb der Klein-
fingerseite des Handgelenks, so-
wie eine geringe Verkrümmung
des Unterarms. Am linken Bein
besteht eine charakteristische
Verkrümmung des Unterschen-
kels, die namentlich oberhalb
des inneren Knöchels hervortritt.
Das Fussgelenk selbst ist ver-
dickt und plump.
Bei einer anderen jungen
Engländerin (Fig. 15) sehen wir
nur ganz geringe Spuren der
üb erstandenen Rhachitis ; am lin-
ken Handgelenk wieder die Her-
vorwölbung der Gelenkenden des
Unterarms, am rechten Fuss-
gelenk eine leichte Verdickung
der Knöchel.
Ueber Fehler anderer Art dieser beiden Figuren werden wir
weiter unten noch zu sprechen haben.
Fis
15. Junge Engländerin mit Spuren
überstandener Ehacliitis.
56 Krankheiten der Muskeln.
Neben der Rhachitis sind alle anderen Krankheiten, die das
Knochengerüst betreffen, von untergeordneter Bedeutung, da sie meist
so tiefgreifende Veränderungen der betroffenen Gliedmassen hervor-
rufen, dass sie für unsere Zwecke füglich ausser Betrachtung bleiben
können. Dahin gehört die Knochenerweichung (Osteomalacie), die
Knochenmarkeiterung (Osteomyelitis) u. a. m.
Der zweite Factor, der die äussere Form des Körpers be-
stimmt, ist das Fleisch, die Muskeln.
Abgesehen von einigen schwereren Rückenmarkskrankheiten,
in deren Verlauf geringere oder grössere Muskelcomplexe zum
Schwund kommen, haben Erb, Landouzy, Dejerine, Leyden u. a.
gewisse Krankheiten beschrieben, in denen, meist bei jugendlichen
Individuen, ganz bestimmte und stets dieselben Muskelgruppen er-
kranken, erst sich verdicken und dann schrumpfen. So tritt in der
einen von Erb beschriebenen Form die Erkrankung meist in be-
stimmten Muskelgruppen der Schulter und der Oberarme auf, in
einer anderen Gruppe von Fällen sind es Muskeln des Rückens und
der Beine, die zuerst erkranken. Charcot x) hat alle diese verschie-
denen Formen unter dem Namen der „Myopathie primitive progres-
sive" vereinigt, Erb2) hat sich ihm später angeschlossen und die
verschiedenen Krankheitsbilder unter dem Namen „Dystrophia mus-
cularis progressiva" (etwa = fortschreitender Muskelschwund) zu-
sammengefasst.
Abgesehen von der Functionsstörung übt diese Krankheit je
nach ihrer Localisation einen starken Einfluss auf die Form und die
Haltung des Körpers aus.
Bei der einen Form z. B. erkranken am Rumpf und den
Schultern hauptsächlich die von vorn und hinten zur Schulter
tretenden Muskeln (Pectorales, Cucullaris, Serratus anticus major,
Rhomboideus , Sacrolumbalis und Latissimus dorsi) , während die
von oben hinzutretenden Muskeln (Deltoideus, Supraspinatus, Infra-
spinatus etc.) normal bleiben. Die Folge davon ist Vornüber-
sinken des Kopfes und Halses, Abstehen der Schulterblätter und Ab-
*) Charcot, Revision nosographique des atrophies musculaires progr. medic-
7. 3. 1885.
2) Erb, Dystrophia muscularis progressiva. Leipzig 1891.
Myopathie.
57
flachung der oberen Brust-
gegend. An den unteren
Extremitäten sind es vor-
wiegend die grossen Gesäss-
muskeln (Grlutaei) und die
vorderen Streckmuskeln des
Oberschenkels (Quadriceps),
die zuerst von der Krank-
heit befallen werden. Hier-
von ist die Folge eine starke
vordere Abflachimg des Ober-
schenkels und ein schär-
feres Hervortreten der Falte
zwischen Hinterbacken und
Oberschenkel.
Beide oben beschrie-
bene Zustände sind in ihrem
ersten Stadium bereits deut-
lich erkennbar in Fig. 16,
die der "Monographie von
Londe und Meige x) entnom-
men ist.
Man vergleiche damit
Fig. 17, eine etwa 26jährige
Berlinerin mit besonders gut
entwickelter Muskulatur, die
mit dem kräftigen Rücken,
der guten Wölbung von
Brust und Oberschenkel und
dem stumpfen Winkel zwi-
schen Hinterbacken und hin-
terer Oberschenkelcontour
einen schlagenden Gegen-
satz zu der ungefähr gleichaltrigen Pauline C. L. (Fig. 16) bildet.
•■
Fig. 16. Myopathie primitive progressive
nach Londe und Meige.
*) Iconographie de la Salpetriere, tome VII, planche XIX, 1894, p. 442 ff.
58
Hautkrankheiten.
Krankheiten der Haut
haben kaum einigen Einfluss
auf die allgemeine Körper-
form, wohl aber können die
zurückbleibenden Narben die
Glätte und Farbe der Kör-
peroberfläche beeinträchti-
gen. Man denke nur an die
entstellende Wirkung der
Pockennarben, die man ge-
genwärtig glücklicherweise
viel seltener zu sehen be-
kommt als vor einigen Jahr-
zehnten.
Muttermäler können eben-
falls sehr hässlich sein, und
von ärztlichem Standpunkte
muss man auch die kleinen
schwarzen Maler als eine
Abnormität ausschalten, die
den Namen der Schönheits-
mäler, oder grains de beaute
führen.
Krankheiten , die aus-
schliesslich das unter der
Haut liegende Fettgewebe
ergreifen, giebt es kaum.
Die abnorm starke oder ab-
norm schwache Ausbildung
von Fett ist meist eine Folge
von unzweckmässiger Ernäh-
rung und Lebensweise und
wird weiter unten berücksichtigt werden müssen. Allgemeine Fett-
sucht ergreift den ganzen Körper und entstellt in einer Weise, die
an und für sich die Annäherung an die Normalform ausschliesst.
Abgesehen von den erwähnten Krankheiten, die direct auf
^fc*fc------^a£t^-*
Fig. 17.
Mädchen von 26 Jahren mit kräftig
entwickelter Muskulatur.
Schwindsucht. ~)(. I
Knochen, Muskeln und Haut iliren Einfluss ausüben, giebt es aber
noch eine ganze Reihe von inneren Krankheiten, die diese Theile
gemeinschaftlich und damit auch die allgemeine Körperform beein-
flussen.
Sie alle aufzählen, hiesse ein Lehrbuch der physikalischen
Diagnostik schreiben. Wer Vollständigkeit wünscht, den verweise
ich auf das bekannte Lehrbuch von Yierordt1).
Die häufigste und wichtigste dieser Krankheiten ist die Schwind-
sucht, an der nach Strümpell ein Siebtel aller Menschen = 15 °/o
sterben.
Den sog. „phthisischen Habitus", d. h. diejenige Körper-
gestaltung, die auf Anlage zur Schwindsucht schliessen lässt, be-
schreibt Strümpell2) folgendermassen.
„Die Merkmale des , phthisischen Habitus' sind: schmächtiger,
dabei oft ziemlich hoch aufgeschossener Körperbau, schwächliche
Muskulatur, geringes Fettpolster, blasse, oft sehr zarte, bläulich
durchschimmernde Haut, welche an den Wangen zuweilen eine um-
schriebene Röthung zeigt, langer schmächtiger Hals, schmaler langer
Brustkasten, schmale, magere Hände u. s. w.
Der Brustkasten zeichnet sich im allgemeinen durch seine
Länge aus, ist aber dabei schmal und flach. Mit der Länge des
Brustkorbes hängt es zusammen, dass die einzelnen Zwischenrippen-
räume breit sind, der Winkel in der Herzgrube ein spitzer ist. Das
Brustbein ist ebenfalls lang und schmal, der Winkel zwischen Griff
und Körper zuweilen besonders hervortretend; die oberen und unteren
Schlüsselbeingruben, ebenso wie die Drosselgrube eingesunken, die
Schulterblätter von der Brustkorbwand abstehend."
Fig. .18 stellt ein junges Mädchen mit beginnender Schwind-
sucht vor, Welches die genannten Erscheinungen ziemlich deutlich
zeigt. Ich verdanke dasselbe der Freundlichkeit von Dr. Roessingh,
Director des städtischen Krankenhauses im Haag.
Noch deutlicher sind die äusserlichen Zeichen der Schwind-
r) Vierordt, Diagnostik der inneren Krankheiten. Leipzig, Vogel.
2) Strümpell, Specielle Pathologie und Therapie der inneren Krankheiten,
1894, I, p. 363.
60
Schwindsucht. Skrofulöse.
sucht in der obenerwähnten
Aphrodite von Boticelli aus-
gedrückt. Derselbe Typus
findet sich an der nackten
Figur des Frühlings in der
Primavera desselben Mei-
sters. Während in der letz-
teren die dem baldigen Unter-
gang geweihte Blüthe durch
die körperlichen Reize einer
Schwindsüchtigen vortreff-
lich zum Ausdruck kommt,
scheint mir bei einer Venus
dieser Typus weniger glück-
lich gewählt zu sein.
Mit der Schwindsucht
nahe verwandt und wahr-
scheinlich wie diese durch
Vergiftung des Körpers durch
Tuberkelbacillen verursacht,
ist die Skrofulöse. Der
Name stammt von Scrofa,
Schwein, und erklärt sich
daraus , dass das Gesicht
durch Schwellung der Hals-
drüsen, der Nase und der
Oberlippe einen an das
Schwein erinnernden Aus-
druck bekommt.
Man unterscheidet zwei
Formen: Die eine, die so-
genannte torpide Skrofulöse,
ist charakterisirt durch ge-
dunsenes Gesicht, dicke Nase und dicke, vorstehende Lippen, mit
oft rüsselförmiger Verlängerung der Oberlippe, Schwellung und Ver-
dickung der Halsdrüsen, schmutzigbleiche Hautfarbe, spärliche Mus-
Fit
18. 20jähriges Mädchen mit phthisischem
Habitus.
Skrofulöse. Andere innere Krankheiten. Ol
kulatur bei verhältnissmässig starker Entwickelung des Unterhaut-
fettgewebes, wodurch die Gestalt ein etwas schwammiges Gepräge
erhält, dicker Bauch, dünne Extremitäten und oft entzündete
Augenlider.
Die zweite Form, die erethische Skrofulöse ist charakterisirt
durch massige Röthe der Haut und magere Körperformen mit starker
Neigung zur Eiterung in den geschwollenen Drüsen; der Allgemein-
zustand erinnert an den phthisischen Habitus.
Bei dieser Form der Skrofulöse wie bei den Schwindsüchtigen
finden sich meist auffallend tiefe, glänzende Augen mit langen, meist
dunklen Wimpern, die viel dazu beitragen, die wehmüthige Schön-
heit des kranken Körpers zu erhöhen.
Die Skrofulöse tritt meist im späteren Kindesalter auf; von
allen Erscheinungen erhält sich neben der Schwellung der Hals-
drüsen am längsten die Verdickung der Oberlippe.
Eine liebenswürdige Künstlerin zeigte mir vor einiger Zeit eine
jugendliche Psyche, die sie getreu nach dem lebenden Modell aus-
geführt hatte. Aus der Verdickung der Oberlippe meinte ich
schliessen zu können, dass das Modell skrofulös sei, und die Künst-
lerin bestätigte mir, dass in der That das Mädchen oft erkältet
gewesen sei, und an Drüsenschwellungen am Halse und entzündeten
Augen gelitten habe. Ex ungue leonem.
Eine weitere, den Aerzten wohlbekannte Körperbeschaffenheit
ist der sogenannte Habitus apoplecticus und emphysematosus,
das Aussehen der zu Schlagfluss und Asthma neisrenden Individuen:
kurzer Hals, gedrungener Körper, gedunsenes und geröthetes Ge-
sicht, fassförmiger Brustkorb.
Dieses Aeussere findet sich jedoch meist in vorgerücktem Alter.
und dann auch bei Männern häufiger als bei Frauen, so dass es
uns hier nicht weiter interessiren kann.
Von allen den genannten Krankheiten sind die Rhachitis und
die Schwindsucht die wichtigsten. Wie oben gesagt, leiden an eng-
lischer Krankheit, die leichten Fälle nicht mitgerechnet, mindestens
30 °/o aller lebenden Menschen und sterben an Schwindsucht 15°/o.
Zusammen also 45°/o, die an englischer Krankheit und an Schwind-
sucht leiden, also beinahe die Hälfte aller jetzt lebenden Menschen.
(32 Einflüsse der Entwiekelung.
Nun können allerdings häufig bei ein und demselben Individuum
beide Krankheiten zugleich auftreten, wodurch der Procentsatz der
Gesunden ein wesentlich besserer würde. Dem steht aber gegenüber,
dass einerseits die leichteren Fälle von Rhachitis, andererseits die
geheilten Fälle von Schwindsucht in dieser Berechnung nicht berück-
sichtigt sind, beides Umstände, die das Verhältniss wieder wesent-
lich ungünstiger gestalten.
Für unsere Zwecke genügt es, festzustellen, dass wir bei der
Bestimmung der Normalgestalt mit grosser Sorgfalt auf die Zeichen
zu achten haben, die gerade diese beiden Krankheiten hervor-
rufen, und dass wir den damit behafteten Frauen die anatomisch
schöne i. e. normale Gestalt absprechen müssen.
Jedoch dürfen wir dabei nicht vergessen, dass eine ganze
Reihe von Fällen besteht, in der beide Krankheiten ausgeheilt sind,
ohne irgend welche Spuren zu hinterlassen.
VII.
Einfluss der Entwiekelung, Ernährung und
Lebensweise auf den Körper.
Schon vor der Geburt können sich Einflüsse geltend machen,
die den normalen Verlauf der Entwiekelung stören. Wer sich in
die Geheimnisse der Entwickelungsgeschichte vertieft, staunt stets
von neuem über die wunderbare Kraft der Natur, die aus mikro-
skopischen Anlagen ihr schönstes Gebilde, den Menschen, zu zeitigen
versteht und nur in seltenen Ausnahmefällen ihre Aufgabe nicht
glänzend zu Ende führt.
In allgemein verständlicher Form hat Häckel die Entwickelungs-
geschichte des Menschen *) beschrieben.
Wie im Laufe der Jahrtausende aus dem Urschleim die Würmer.
]) Anthropogenie, 1. Auflage, Leipzig 1874, Engelmann.
Entwickelung des Gesichts.
aus den Würmern die Amphibien, aus diesen nacli unendlichen Zeiten
die Menschengeschlechter sich entwickelt haben, so macht jedes
menschliche Individuum in Zeit von wenigen Monaten den grossen
Entwickelungsgang von der Zelle zum Wurm, und von diesem bis
zum ausgebildeten Menschenkinde durch.
Die kleinste Störung in diesem Entwickelungsgang kann die
harmonische Ausbildung des Körpers vereiteln.
Betrachten wir zum Beispiel die Entwickelung des mensch-
lichen Gesichtes.
In der sechsten Woche seines Daseins bildet der Kopf des
Embryo eine gleichmässig weiche Masse (Fig. 19). Von der Stirne
wachsen ein breiterer mittlerer und zwei
seitliche Nasenfortsätze (nm, nlnl), die
Riechgruben zwischen sich fassend, nach
unten. Ausserhalb derselben liegen bei-
derseits die Augenanlagen. Unter den-
selben ziehen nach innen und unten die
zwei Oberkieferfortsätze (ms, ms). Diese
fünf Fortsätze bilden zusammen die obere
Begrenzung der Mundhöhle, die von
unten von den bereits vereinigten Unter-
kieferbogen (mi) begrenzt wird. In der
Tiefe liegt die Anlage der Zunge (g).
Im weiteren Verlaufe der Ent-
wickelung verwachsen die fünf oberen
Fortsätze mehr und mehr, bis schliess-
lich die beiden Oberkieferfortsätze mit
einem Theil des mittleren Nasenfort-
satzes zusammen die Oberlippe bilden.
Wo diese Vereinigung nicht in voll-
ständiger Weise zu Stande kommt, bleibt ein grösserer oder ge-
ringerer Grad von „Hasenscharte" bestehen.
Bei gleichmässig guter Entwickelung aller Theile muss nicht
nur die Oberlippe völlig vereinigt sein, sondern es muss sich auch
das Grübchen zwischen Nase und Mund deutlich und scharf ab-
grenzen, und das Lippenroth muss in der Mitte mit leicht nach
Fig 19. Kopf eines menschlichen
Embryo aus der sechsten Woche.
(Schematisch nach Gegenbaur und
Häckel).
nm mittlerer, nl seitliche Nasen-
fortsätze, ms Oberkieferfortsätze,
g Zunge, o o Augen, m i Unterkiefer-
fortsätze.
64
Entwickeluno- des Gesichts.
unten convexem Bogen zusammenfliessen. Diesen Anforderungen
genügt in vollem Masse der schöne Mund einer in Fig. 20 abgebil-
deten jungen Pariserin.
Zwischen diesen beiden Extremen giebt es zahlreiche Ueber-
gänge. Es ist bekannt, dass bei den Engländern häufig zu kurze
Fig. 20. Kopf einer jungen Pariserin mit feingeschnittenem Mund (nach einer Photographie
von Reutlinger, Paris).
Oberlippen gefunden werden, und bei den Negern wiederum häufig
Oberlippen, die den normalen Grad der Entwickelung in ihren seit-
lichen Parthien überschreiten. Diese letztere Eigenthümlichkeit ist
meist eine Folge von starker Entwickelung des Oberkiefers überhaupt
und findet sich deshalb zusammen mit stark vorstehenden Backen-
knochen.
Einfluss von Ernährung und Lebensweise. (35
Inwieweit die Erblichkeit auf die Gesichtszüge einwirken kann,
ist oben bereits besprochen.
Ebenso wie am Gesicht lassen sich auch an anderen Körper-
theilen häufig Abweichungen von der Norm auf embryonale Ent-
wickelungsstörungen zurückführen, ja man nimmt selbst an, dass ein
grosser Theil später auftretender Krankheiten, wie z. B. die meisten
Geschwülste, als Keime schon mit auf die Welt gebracht wurden
(Cohnheim'sche Krebstheorie).
Wenn wir einen strengen Massstab anlegen, so müssen wir
fordern, dass die Entwickelung des Körpers eine völlig symmetrische
ist, d. h. dass die eine Körperhälfte genau das Spiegelbild der anderen
ist. Dieser Anforderung dürfte jedoch kaum ein lebendes Wesen
genügen; wir müssen deshalb, um der Natur gerecht zu werden,
eine leichte Asymmetrie als individuelle Abweichung, eine stärkere
jedoch als Fehler auffassen.
Geringere Entwickelungsfehler können im Beginn selbst der
schärfsten Prüfung- entgehen und sich erst am heranwachsenden
Körper durch grössere Deutlichkeit bemerkbar machen.
So erkennt man in den ungewissen Zügen des kindlichen Ge-
sichts kaum Spuren der Adlernase des Vaters, die doch im Keim
bereits besteht. Bei einer mir bekannten Familie, die von der Natur
ausschliesslich mit linken Beinen begabt zu sein schien, zeigte sich
diese Familieneigenthümlichkeit bei den Kindern erst später in Gang
und Haltung.
Wenn wir die weitere Entwickelung vom Kind zum Weibe
betrachten, so treten hier die Einflüsse der Ernährung und Lebens-
weise so sehr in den Vordergrund, dass ein scharfes Auseinander-
halten dieser verschiedenen Einflüsse im einzelnen Falle kaum
möglich ist.
In manchen Fällen sind sogar die Ansichten darüber getheilt,
ob man gewisse Abnormitäten als Entwickelungsfehler oder als
Folgen von Krankheiten aufzufassen hat.
So hat Miculicz auf Grund eingehender Untersuchungen an-
genommen, dass alle Formen der sogenannten X- oder Bäckerbeine,
die durch Einwärtskrümmung der Beine im Kniegelenk gekennzeichnet
sind (Fig. 21), auf englischer Krankheit beruhen.
Stratz, Die Schönheit des weiblichen Körpers. 5
m
Einfiuss der Ernährung und Lebensweise.
Hoffa und andere nehmen wieder an, dass eine derartige Ver-
biegung im Kniegelenk sehr wohl auch ohne Rhachitis durch ver-
hältnissmässig zu schwere Belastung der weichen Knochen beim
Stehen hervorgerufen werden könne. Im ersten Falle also krank-
hafter Einfiuss, im zweiten
unrichtige Lebensweise in den
Entwickelungsjahren (Bäcker-
bein).
Ebenso leitet Rupprecht
alle Skoliosen (Verkrümmun-
gen der Wirbelsäule) von Rha-
chitis ab, während Hoffa auch
hierbei rein statische Einflüsse
(z.B. Schreibhaltung der Schul-
kinder) gelten lässt, allerdings
bei „abnormer Weichheit" der
Knochen.
Wir haben oben bei Er-
wähnung der Rhachitis ge-
sehen, dass dabei wieder nach
Vierordt Mangel an Luft und
Licht und schlechte Ernäh-
rung von schwerwiegender Be-
deutung sind, also wiederum
der Einfiuss der Ernährung
auf den Krankheitszustand her-
vorgehoben wird.
Wie dem auch sei, wir
können für unsere Zwecke aus
allen diesen entgegengesetzten
Ansichten die gemeinschaft-
liche Schlussfolgerung ziehen, dass ausser Krankheiten auch die
Ernährung und Lebensweise auf die Entwickelung des Körpers einen
nachhaltigen Einfiuss ausüben können.
Bei normaler Entwickelung ist der Körper in den ersten Lebens-
jahren gefüllt, etwa im sechsten beginnt er allmählig länger und
Kleines Mädchen mit X-Beinen (Genu
valgum) nach Hoffa. '
Normales Körpergewicht. 67
schlanker zu werden und mehr und mehr die secundären Geschlechts-
charaktere anzunehmen, die bei Mädchen sich im allgemeinen früher
einstellen als bei Knaben. Erst nach erfolgter Geschlechtsreife erlangt
der Körper seine volle Ausbildung.
In der Entwickelungsperiode haben bei den noch zarten Or-
ganen alle schädlichen Einflüsse selbstverständlich eine viel nach-
haltigere Wirkung als später.
Kräftige, eiweissreiche Kost ist für den wachsenden Körper ein
Bedürfniss. Fleisch, Eier und Milch sind die besten und werth-
vollsten Nahrungsmittel; in den ärmeren Klassen werden dieselben
grösstentheils durch minderwerthige, wie Kartoffel, Brod und Hülsen-
früchte ersetzt. Von diesen sind viel grössere Massen nöthig, um
denselben Nährwerth zu erreichen. Selbst bei genügender Nahrung
wird deshalb bei der Bewältigung dieser minderwerthigen Kost eine
grössere Arbeit vom Körper gefordert; meist aber ist ausserdem
nicht nur die Qualität, sondern auch die Quantität der Nahrung zu
gering, um allen Anforderungen zu genügen.
Wir sehen, class bei vorwiegender Fleisch- und Milchkost unter
sonst gleichen Verhältnissen alle Gewebe des Körpers, vorall aber
die Muskeln, kräftiger und straffer werden, der Fettansatz kein über-
mässiger und die Haut elastisch ist. Bei reichlicher Fütterung mit
Kartoffeln und Brod bleiben die Muskeln schwächer, der Fettansatz
wird viel reichlicher, der Unterleib ist aufgetrieben, die Haut schlaff.
Die Masse kann in letzterem Fall grösser sein als in ersterem,
der Gehalt und die Dauerhaftigkeit des Körpers ist im ersteren
weitaus besser.
Ueber den richtigen Grad der Ernährung eines Körpers kann
man sich am besten überzeugen durch das Gewicht.
Nach Vierordt bestimmt man dasselbe nach folgender Formel.
T B
-7777— = K, das heisst: L = Körperlänge in Centimetern vervielfältigt
240 i o o
mit B = Brustweite, über den Brustwarzen gemessen, in Centimetern,
getheilt durch 240 giebt K = das Körpergewicht in Kilogrammen.
Da Vierordt seine Formel aus zahlreichen Einzelmessungen
gesunder Individuen berechnet hat, so haben wir damit einen ziem-
lich genauen Massstab gewonnen.
68 Fülle und Abmagerung.
Ist z. B. die Körperlänge = 168 cm, der Brustumfang = 88,
so muss das Gewicht — ^r^ — = 61,6 kg sein.
240 ö
Bei fehlerhafter Ernährung kann der Fettansatz zu gering oder
zu reichlich sein. In beiden Fällen scheint es sich häufig auch um
eine angeborene Anlage zu Magerkeit oder Fülle zu handeln.
Ein nicht nur bei Buschmänninen, sondern auch bei Euro-
päerinnen beobachteter Fehler, auf den Richer zuerst die Aufmerk-
samkeit gelenkt hat, ist eine abnorm starke Anhäufung von Fett in
der Beckengegend und dem oberen Drittel der Oberschenkel; Fig. 14
zeigt dies sehr deutlich.
Während bei normalen Gestalten das Unterhautfett die Gestalt
abrundet, ohne doch die darunterliegenden Formen der Muskeln,
Gelenke und Knochen völlig verschwinden zu lassen, lässt ein magerer
Körper dieselben zu stark vortreten und macht die Gestalt eckig.
Bei zu starker Fettanhäufung werden zunächst die tieferen Theile
des Körpers verdeckt, es bilden sich an den Beugestellen der Glied-
in assen, unter den Brüsten und am Kinn Wülste und Furchen, die
feine Gliederung der Gestalt verschwindet. An Stellen, an denen
die Spannung der Lederhaut zu stark wird, entstehen weisse, zackige
Narben, ähnlich den sogenannten Schwangerschaftsnarben.
Wenn ein solcher gefüllter Körper wieder abmagert, kann die
Haut nur bis zu einer gewissen Grenze ihre ursprüngliche Elasticität
wiedererlangen ; wo diese im Stiche lässt, hängt sie schlaff auf ihrer
Unterlage und bildet Falten und Runzeln.
An diesen Zeichen, sowie an den Narben, die sich hauptsäch-
lich am Bauch, auf den Oberschenkeln und am Gesäss finden, kann
man einen abgemagerten Körper von einem mageren unterscheiden.
Unter den mageren Frauen sind viele, die erst ihre volle Blüthe
erreichen zu einer Zeit, wo andere sie bereits durch zu starke Fülle
wieder verlieren.
Die Lebensweise kann, trotz guter Ernährung, einen nach-
theiligen Einfluss auf die harmonische Entwicklung des Körpers
ausüben.
Wo der Beruf dies verlangt, wird eine besondere Muskelgruppe
häufiger und nachhaltiger gebraucht, als die anderen. In Folge
EinÜuss der Lebensweise. 69
davon entwickeln sich diese Muskeln mehr, werden dicker und
springen mehr hervor als die anderen. Wie bei Schmieden die Arm-
und Schultermuskeln, mit den Muskeln der Beine verglichen, unver-
hältnissmässig kräftig sind, so zeichnen sich wieder Ballettänzerinnen
durch sehr kräftige Formen der Beine aus, bei zu schwacher Ent-
wickelung der Arme und Schultern.
Im allgemeinen werden bei Frauen der besseren Stände alle
Muskeln nicht genügend geübt, namentlich aber diejenigen der Arme
und Schultern.
In den ärmeren Klassen wird hinwiederum frühzeitige und
anstrengende Arbeit von den Beinen gefordert, so dass diese zwar
unter sonst normalen Umständen kräftig und gedrungen, aber im
Längenwachsthum der Knochen behindert und dadurch im Verhält niss
zum übrigen Körper zu kurz werden. Kommt nun noch schlechte
Ernährung und Rhachitis hinzu, so werden sie ausserdem noch krumm
und plump in den Gelenken.
Es ist oben schon darauf hingewiesen, dass durch häufig
wiederholte ungleichmässige Belastung der Wirbelsäule eine bleibende
Verkrümmung derselben entstehen kann, wie sie bei zahlreichen
Schulkindern durch die Haltung beim Schreiben auch thatsächlich
häufig sich findet.
Beinahe allgemein findet sich eine stärkere Entwickelung der
rechten Brust und Schulter im Verhäitniss zur linken. Diese Er-
scheinung hängt mit der Rechtshändigkeit des Menschen zusammen
und kann deshalb kaum als Fehler angesehen werden, es sei denn,
dass der Unterschied besonders auffallend ist.
Bei vielen Frauen werden einzelne Körpertheile durch häufig
sich folgende Geburten dauernd entstellt, bei anderen wieder üben
dieselben kaum einen Einfluss aus.
Wir kommen darauf später noch zurück.
Die angeführten Beispiele durch weitere zu vermehren, erscheint
mir an dieser Stelle überflüssig.
Wir haben demnach als weitere Momente zur Beurtheilung
des normalen weiblichen Körpers zu beachten die symmetrische Ent-
wickelung beider Körperhälften, entsprechend den Gesetzen der Ent-
wickelungsgeschichte , die gleichmässige Ernährung, die sich durch
70 Kleidung.
Vergleichung des Gewichts mit der Körperlänge und dem Brust-
umfang nachweisen lässt, und die Ausschaltung der durch die
Lebensweise bedingten Verunstaltung vom ganzen Körper oder von
Theilen desselben.
VIII.
Einfluss der Kleider auf die Körperform.
Wahrheit und Dichtung am bekleideten Weibe von einander
zu trennen ist schwer, oft unmöglich. Die Mode ist viel weniger
dazu erschaffen, Schönheiten hervorzuheben, als vielmehr Schön-
heiten zu heucheln und Fehler zu verdecken, und darum wird alles
Eifern gegen die sogenannten Modethorheiten immer und ewig nutz-
los bleiben.
Schöne Körper werden unter jeglicher Bekleidung schön er-
scheinen, am schönsten natürlich, wenn sie unverhüllt sind; für diese
sind keine Modekünste nöthig. Da die Besitzerinnen derselben
jedoch in der Minderzahl sind, so sehen sie sich gezwungen, der
Uebermacht ihrer weitaus zahlreicheren Schwestern zu weichen, die
bestrebt sind, sich vorteilhafter zu zeigen, als die Natur es ihnen
gestattet hat. Zur Erreichung dieses Zweckes werden wieder die-
jenigen Mittel die beliebtesten und verbreitetsten sein, die einer
möglichst grossen Anzahl von Frauen zu statten kommen können.
Hat einmal die Mode eine derartige Bestrebung geheiligt, dann
ist wieder jede einzelne Frau bestrebt, ihre Schwestern zu über-
bieten, und so entstehen Uebertreibungen , die sich mehr und mehr
vom Normalen entfernen, die Grenzen des Schönen überschreiten,
nun aber auch durch ihre Unzweckmässigkeit eine bleibende Schä-
digung des normalen Körpers veranlassen können.
Unter allen Vorzügen des weiblichen Körpers gilt als einer
der wichtigsten die schlanke Mitte, und um diese hervorzuzaubern,
bediente man sich des Schnürleibs in allen möglichen Formen1).
:) Vgl. Witkowsky, Les seins et l'allaitement, Maloine 1898. — Chap. IV.
l'histoire du corset.
Corset.
Von Hippokrates
bis Sömmering haben
viele und gelehrte Herren
gegen das Corset geeifert,
und viele werden es nach
ihnen auch thun, aber
alle ohne Erfolg. Die
Corsetbedürftigen unter
den Frauen haben das-
selbe stets beibehalten
und werden es behalten,
so lange die Erde besteht.
Ich bin kein Geg-
ner des Corsets, wohl
aber ein Gegner des Miss-
brauchs, der damit ge-
trieben wird. Schlecht
gebauten Frauen das Cor-
set abzurathen, ist hoff-
nungslos. Ich habe mich,
und zwar mit Erfolg, da-
mit begnügt, die gutge-
bauten Frauen vor den
schädlichen Folgen des-
selben zu bewahren, wenn
es noch Zeit war.
Um den morali-
schen Werth des Corsets
zu begreifen, müssen wir
uns zunächst deutlich
machen, was eine Taille
ist, und was man darunter
zu verstehen gewohnt ist.
Die natürliche Form der Taille zeigt ein javanisches Mädchen
(Fig. 22) von gutem Bau, das nie in seinem Leben ein Corset ge-
tragen hat.
Fig. 22.
Javanisches Mädchen, das nie ein Corset
getragen hat.
72
Taille.
Trotz guter Fülle des Körpers kommt die schlanke Taille gut
zum Ausdruck.
Dieser Ausdruck beruht nicht auf dem absoluten Umfang der
schmalen Mitte, sondern auf dem Gegensatz der schmäleren Mitte
zu den breiteren Hüften und Schultern.
Dass die Breite der Schultern ein wichtiger Factor ist, beweist
ein Blick auf Fig. 23, die den Rücken einer jungen Berlinerin dar-
stellt; hier erscheint die Taille
trotz breiterer Hüften viel
weniger schlank, weil der
Brustkorb in beinahe gerader
Linie nach oben verläuft, so
dass der Körper am unteren
Rand der Schulterblätter bei-
nahe ebenso breit ist, als in
der Taille.
Als natürliche Bedingung
einer schlanken Taille müssen
wir demnach annehmen, dass
von der schmälsten Stelle am
unteren Rand des Brustkorbes
die Körpercontour in weich-
auslaufender Wellenlinie sich
nach unten und ebenso nach
oben verbreitert; dabei ist
der absolute Umfang der
schmälsten Stelle vollständig*
Nebensache.
Im gewöhnlichen Leben,.
aber namentlich unter den Frauen selbst, urtheilt man anders. Man
spricht höchstens von langer oder kurzer Taille, hauptsächlich jedoch
vom absoluten Umfang der Gürtelhöhe. Eine Taille von 60 cm ist
schön, eine von 50 cm entzückend u. s. w.
Aber der Mensch versuche die Götter nicht und begehre
nimmer und nimmer zu schauen, was sie gnädig bedecken. —
Fig. 23. Gypsabguss nach der Leiche einer jugend-
lichen Selbstmörderin (1. anat. Institut. Berlin).
Folgen des Schnürens.
73
Meinert *) und andere haben den Schleier gelüftet und nach-
gewiesen, dass Schnürlebern und Magensenkung, Bleichsucht und
Stuhlverstopf img , Lungen- und Herzkrankheiten durch zu starkes
Zusammenpressen des unteren Brustumfangs hervorgerufen werden.
Fig. 24. Mädchentorso ohne Schnürfurche.
Wir geben das Alles gerne zu , wir haben uns hier aber nur
zu fragen: Wird, mit so viel Opfern an Gesundheit und Lebens-
freude der eigentliche Zweck, die Verschönerung des Körpers, er-
Centralblatt für innere Medicin, 1896, 12 und 13.
74
Folgen des Schnürens.
reicht oder nicht? Die Antwort lautet: Scheinbar wohl, in Wirklich-
keit nicht.
Der grossen Masse imponirt die so erzeugte schlanke Taille,
der Erfahrene kann, selbst an der bekleideten Frau, an dem Miss-
Fig. 25. Mädchen mit deutlicher Schnürfiirche.
verhältniss der dünnen Mitte zu den übrigen Theilen des Körpers,
die verborgenen Fehler meistens erkennen.
Am entkleideten Körper tritt die Verunstaltung für jeden deut-
lich hervor.
Bei einem nicht entstellten Mädchentorso (Fig. 24) geht der
Folgen des Schnürens.
75
Umriss des Brustkorbs weich in die Linien des Unterleibs über,
dessen gleichmässige flache Wölbung durch das Vortreten der Mus-
keln, namentlich rechts und links von der Mittellinie oberhalb des
Nabels markirt wird; der am stärksten vortretende Theil ist die
fettreichere Umgebung des Nabels.
Fig. 26. Mädchen mit sehr starker Einschnürung.
Als erster Einfluss des Schnürens zeigt sich zunächst oberhall)
des Nabels eine querverlaufende Furche, die eine schärfere, nicht
natürliche Abgrenzung des Rumpfes in einen oberen und unteren
Abschnitt hervorruft; die unterhalb dieser Linie liegenden weichen
Theile des Unterleibes werden nach unten und vorn gepresst: der
Bauch wird rund und tritt heraus. Fig. 25 zeigt diese Entstellung
76 Folgen des Schnürens.
an einem übrigens schön gebauten Körper. Im weiteren Verlauf
wird die Einschnürung immer schärfer, der Bauch darunter tritt
mehr und mehr hervor {Fig. 26). In Folge der geringeren Wölbung
des Brustkastens ziehen die Brüste mehr und mehr herunter. Durch
die starke Einschnürung der Bauchmuskeln, namentlich der geraden,
die vom Schambein zum Brustbein hinziehen, ist das Relief des
Unterleibes zerstört, zugleich aber auch dessen Hauptstütze, so dass
er schlaff herunterhängt und zum Hängebauch wird.
Ein solcher Körper wird durch die erste Schwangerschaft,
durch jeden noch so geringen Fettansatz endgültig entstellt: Bauch
und Brüste werden dicker und schlaffer und hängen ; statt der Taille
bildet sich eine querverlaufende, wulstige Falte und nur das Corset
ist noch im Stande, eine Zeit lang die verlorene Form vorzutäuschen,
die es selbst verdorben hat.
Ebenso wie die Bauchmuskeln, beeinfiusst ein Missbrauch des
Corsets auch die Rückenmuskeln in ihrer Entwickelung und Wirkung.
Frauen, die an das Corset gewöhnt sind, fühlen sich rasch er-
müdet und klagen über Schmerzen im Rücken, wenn sie einige Zeit
ohne Corset sich bewegen. Der Rücken erscheint dann hohl, flach
und wenig modellirt in Folge des geringeren Vortretens der Muskel-
wülste.
Der nachtheilige Einfluss des Corsets ist um so grösser, je
stärker es geschnürt wird, je höher es ist und je früher es an-
gelegt wird.
Es ist leicht zu begreifen, dass in den . Entwicklungsjahren,
wo das Gerüst des wachsenden Körpers noch zart und biegsam ist,
ein verhältnissmässig viel geringerer Druck genügt, um die Form
zu beeinflussen, ebenso, dass die Arbeit der Rumpfmuskeln bei einem
hohen Corset viel stärker und in grösserer Ausdehnung beeinträchtigt
wird, als bei einem niederen, das nur wie ein breiter Gürtel die
Mitte umspannt. Dass endlich bei stärkerem Schnüren die Druck-
wirkung entsprechend erhöht wird, ist auch ohne weiteres ein-
leuchtend.
Nun haben aber anatomische Untersuchungen1) ergeben, dass
J) Siehe Meinert 1. c.
Stiefel und Strumpfbänder. 77
Bauernweiber, die überhaupt kein Corset trugen, oft viel stärkere
Schnürfurchen zeigten, als eingeschnürte Damen, und zwar, weil die-
selben die Rockbänder stark anzogen, die dann ihre ganze Wirkung
auf eine kleinere Fläche um so kräftiger geltend machten. Daraus
ein Argument zu Gunsten des engen Corsets ableiten zu wollen, ist
nicht erlaubt. Wohl aber lässt sich daraus ableiten, dass das Corset
als Stützpunkt für die Kleider des Unterkörpers völlig gerechtfertigt
ist, dass aber andererseits das Corset nicht dazu missbraucht werden
darf, um eine künstliche Taille zu formiren.
Nach der schlanken Taille kommt der kleine Fuss, den jede
Frau gern haben möchte und dem zu Liebe sie die angeborene
Schönheit dieses Körpertheils durch unzweckmässige Bekleidung
verdirbt.
Eine Künstlerin, deren Hauptaufgabe die Darstellung des weib-
lichen Körpers in seiner höchsten Vollendung ist, klagte mir, dass
sie noch nie in ihrem Leben einen schönen weiblichen Fuss —
nicht Stiefel — gesehen habe. Sie war noch jung; aber ich muss
gestehen, dass unter den zahlreichen weiblichen Füssen, die ich ge-
sehen habe, nur wenige sind, die vor einer strengeren Kritik stand-
halten. Hauptsächlich ist es die Verdrehung der grossen Zehe
nach aussen und die Krallenstellung der kleineren Zehen, die den
Fuss verunstalten. Wir kommen darauf noch zurück.
Als drittes Glied in der Kette des schädlichen Einflusses
moderner Frauenkleidung ist das Strumpfband zu nennen, das je
nach dem Geschmack der Trägerin entweder die Form der Wade
oder die des Knies verdirbt. Die Rembrandt'schen Modelle haben
das Erstere vorgezogen.
Nach Lücke r) soll aber auch die jetzt übliche Befestigung der
Strümpfe von Kindern am Leibchen Veranlassung geben zu Ver-
krümmung der Beine.
Man hätte demnach die Wahl zwischen Schnürfurchen am
Knie oder an der Wade und krummen Beinen, wenn man es nicht
vorzieht, kurze Socken oder sehr lange, bis zur Mitte des Ober-
schenkels reichende Strümpfe zu tragen.
x) Citirt bei Hoffa, Orthopädische Chirurgie, 1894, p. 112.
78 Beurtheilung des Körpers im allgemeinen nach diesen Gesichtspunkten.
Wir haben hiermit die drei wichtigsten Theile der weiblichen
Kleidung, welche die Schönheit des Körpers beeinträchtigen können,
besprochen, und haben demnach des weiteren zu achten auf Ver-
unstaltung des Rumpfes durch Schnüren und Rockbänder, der Füsse
durch drückende Schuhe, der Kniee und Waden durch Strumpfbänder.
IX.
Beurtheilung des Körpers im allgemeinen
nach diesen Gesichtspunkten.
Wir haben in den vorigen Abschnitten in grossen Zügen die
verschiedenen Momente besprochen, welche die Schönheit des weib-
lichen Körpers bedingen und beeinträchtigen können; wir haben
dargethan, dass diese Momente abhängig sind von gewissen, mehr
weniger fest umschriebenen Gesetzen, die theils empirisch und
statistisch, theils exact und deductiv gewonnen sind.
Haben wir uns damit auf den naturwissenschaftlichen Stand-
punkt gestellt, so müssen wir denselben bei der Anwendung der
gefundenen Gesetze auch in so fern wahren, dass wir trotz der Gesetze
kritisch indiviclualisiren und nicht blindlings schematisiren.
Diese Gefahr ist hauptsächlich bei den auf empirischem und
statistischem Wege gefundenen Thatsachen sehr naheliegend. Haben
wir bei Vergleichung einer grossen Anzahl von Individuen einen
gewissen Werth gefunden, so ist das ein Durchschnittswert!! , der
höchstens als unterste Grenze des JSTormalwerthes , in keinem Falle
aber als massgebend für „das normale Individuum" gelten darf.
So hat R. von Larisch (Der Schönheitsfehler des Weibes. München 1896)
die Behauptung aufgestellt, dass die Weiber zu kurze Beine hätten und als Be-
weis 100 von ihm ausgeführte Messungen an Photographien von Modellen geliefert.
Ganz abgesehen davon, dass bei Photographien, wenn der Apparat nicht
genau auf die Körpermitte eingestellt ist, die Beine stets zu kurz erscheinen,
beweisen die Messungen von Larisch nur, dass es viele Weiber mit kurzen Beinen
giebt, und namentlich unter Künstlermodellen ; dies ist aber bei Männern genau
ebenso der Fall und beruht in beiden Fällen beinahe immer auf Rhachitis.
Beurtheilung des Körpers im allgemeinen nach diesen Gesichtspunkten. 79
Wollen wir einen Normalwerth bestimmen, so ist nicht die
Zahl, sondern die Wahl der betreffenden Individuen das Massgebende.
Wir müssen vorerst alle Individuen ausmerzen, die aus irgend einem
Grunde den Anspruch auf Normalität verloren haben.
Normal in diesem Sinne ist aber, wie sich zeigen wird, auch
schön.
Ich habe gestrebt, diesem Grundsatze so getreu wie möglich
zu folgen.
Ebenso wie der künstlerische, ist auch der ärztliche Blick an-
geboren. Man braucht weder Arzt noch Künstler zu sein, um beide
zu besitzen. Es giebt aber nicht nur farbenblinde, sondern auch
formenblinde Menschen, die beides in grösserem oder geringerem
Masse entbehren, und auch von diesen sind leider so manche Aerzte
und Künstler.
Der Künstler, sowie der Arzt schärft seinen Blick durch die
Uebung, und um sich von der Richtigkeit desselben zu überzeugen,
sind beide gezwungen, gewisse technische Hülfsmittel zu gebrauchen,
die ihnen ermöglichen, die gewonnenen Gesichtseindrücke mit ab-
soluten Werthen zu vergleichen.
Wir haben hier nun zunächst nur mit der Art und Weise zu
thun, wie man sich, von ärztlichem Standpunkte den richtigen Ein-
druck von der Form des weiblichen Körpers verschafft, und hierbei
haben wir, ebenso wie bei einem Patienten, zunächst die Gestalt im
allgemeinen zu betrachten, bevor wir zur Beurtheilung der einzelnen
Theile übergehen.
Wichtig ist es, dass man zunächst den völlig entkleideten
Körper so aufstellt, dass das volle Licht gleichmässig darauf fällt,
also dem Fenster gegenüber. Bei schräger Beleuchtung ist es
schwierig, die rechte mit der linken Körperhälfte vergleichen zu
können. Der Beschauer stellt sich, auf einigen Abstand, mit dem
Rücken nach dem Fenster, der zu beurtheilenden Person genau
gegenüber.
Die Körperhaltung muss die aufrechte, militärische sein, jedoch
so, dass die Füsse in ihrer ganzen Länge sich berühren (Fig. 27).
In dieser Stellung kann man sich zunächst über die Pro-
portionen, das Verhältniss der einzelnen Körpertheile zu einander
80 Beurtheilung des Körpers-im allgemeinen nach diesen Gesichtspunkten.
und zum Ganzen orientiren, und, wo nöthig, dem Auge mit Zirkel
und Bandmass nachhelfen. Streng wissenschaftlichen Anforderungen
entspricht der Zander'sche Messapparat.
Zu rascher Orientirung genügt es,
einige Hauptmasse zu nehmen, die durch
vergleichende Messungen an gut gehauten
Körpern festgestellt sind:
A. Höhenmasse.
1. Die Körperhöhe ist 7x/2 his
73/i Mal so gross als die Kopf höhe; in
sehr seltenen Fällen ist das Verhältniss
1 : 8. Die durchschnittliche Körperhöhe
von europäischen Frauen ist 158 (nach
Quetelet).
2. Die Körpermitte (Fig. 27 *) ist
gleich der halben Gesammthöhe ; sie liegt
bei der Frau ungefähr an der oberen
Haargrenze des Schamberges. Eine auch
nur geringe Verschiebung derselben nach
oben deutet auf einen Fehler in den
unteren Extremitäten.
3. Bei richtiger Länge der Arme
muss das Ellenbogengelenk in der Höhe
der Taille, das Handgelenk in der Höhe
des Schambergs stehen, wenn der Arm
ruhig herabhängt.
4. Die Länge der Beine ist bereits
bestimmt durch den Stand der Körper-
mitte. Wenn die Beine ganz gerade und
gut geformt sind, müssen sie sich in der
angegebenen Stellung an vier Punkten
berühren, nämlich am oberen Drittel des
Oberschenkels, am Knie, an der Wade und am Fussgelenk. Bei
jugendlichen Individuen mit noch nicht voll entwickelten Waden
kann der dritte Berührungspunkt fehlen, ohne dass darum die Form
der Beine eine schlechte wird.
Fig. 27. Symmetrische Körper-
haltung.
Beurtheilung des Körpers im allgemeinen nach diesen Gesichtspunkten. ,Si
Berühren sich die Kniee bei geschlossenen Knöcheln nicht, dann
sind die Beine nach aussen gekrümmt (O-Beine), berühren sich bei
geschlossenen Knieen die Knöchel nicht, dann sind die Beine nach
innen gekrümmt (X-Beine).
Der oberste Berührungspunkt ist abhängig von der Fülle der
Oberschenkel.
B. Breitenmasse.
1. Die Schulterbreite ist beim weiblichen sowie beim männ-
lichen Körper das absolut grösste von allen Breitenmassen ; die
genaue Messung ist erschwert durch die grosse Beweglichkeit und
den wechselnden Hoch- und Tiefstand der Schulter. Am sichersten
misst man von oben her vom äussersten Rand des Schulterblatts,
dem Acromion, aus (Schultergelenkbreite).
2. Die Taillenbreite ist der Durchmesser des Rumpfes am
unteren Rippenrand.
3. Die Hüftbreite ist am grössten in der Höhe der von
aussen fühlbaren Vor Sprünge der Oberschenkelknochen (Trochanteren),
ja sogar unter denselben: zur Bestimmung des Masses ist es am
empfehlenswerthesten, durch die Haut hin diese Knochenvorsprünge
abzutasten und von ihnen aus zu messen. Die Hüftgelenkbreite ist
schwieriger zu bestimmen wegen Unzugänglichkeit des Hüftgelenks;
sie beträgt die Hälfte der Schultergelenkbreite.
Aus dem Verhältniss dieser drei Masse ergiebt sich die
charakteristische Form des gutgebauten weiblichen Rumpfes.
Bei 25 wohlgebauten Frauen fand ich folgendes Verhältniss:
Körperlänge - . . 155 — 170
Schulterbreite 35 — 40
Taillenbreite ...... 19—24
Hüftbreite 31—86
Es ergab sich , dass , ganz unabhängig von der Körperlänge,
die Breitenmasse stets so angeordnet waren, dass die Hüftbreite um
4 cm, die Taillenbreite um 16 cm geringer war als die Schulterbreite.
Will man weitere Masse nehmen, dann kann man dazu ent-
weder die Richer'sche Eintheilung in Kopfhöhen oder die Fritsch'sche
oder Langer'sche Methode benutzen.
Stratz, Die Schönheit des weiblichen Körpers. 6
82 Secundäre Geschlechtsmerkmale.
Die oben angegebenen Masse genügen jedoch zur Beurtheilung
der allgemeinen Verbältnisse der Figur. Ausserdem aber bat man
mit den Breitenmassen bereits einen der Avicbtigsten secundären Ge-
schlecktsckaraktere, die weibliche Bildung des Rumpfes, festgestellt.
Die secundären Geschlechtscharaktere sind deutlich
aus den Figuren 28 — 31 x) zu erkennen, welche die männliche und
weibliche Normalgestalt nach Merkel darstellen.
Für den Rumpf sind die Masse an den Merkerschen Normal-
figuren :
Mann Weib
Körperlänge 165,5 158
Schulterbreite 45 37
Taillenbreite 25 23
Hüftbreite 32,5 34.
Abgesehen von der absoluten Grösse der Masse ist namentlich
wichtig, dass der Unterschied zwischen Hüftbreite und Schulterbreite
beim Manne 12,5, beim Weibe nur 3 cm beträgt. Das U eberwiegen
der Hüften im Verhältniss zu den Schultern ist der wichtigste von
den secundären Geschlechtscharakteren des Weibes.
Weiter sieht man aus diesen Figuren die grössere Zierlichkeit
des Skeletes und die grössere Breite des Beckens, sowie die durch
Ausbildung der Brustdrüsen veränderte Gestalt des Oberkörpers und
die runderen Formen des Weibes.
Allgemein wurde bisher angenommen, dass der Lendentheil der
weiblichen Wirbelsäule grösser sei als der des Mannes. Merkel
hat nachgewiesen,' dass dies allerdings der Fall ist, wenn man die
Vorderseite der Lendenwirbel misst, dass man aber genau das um-
gekehrte Verhältniss findet bei Vergieichung der Rückseite der Lenden-
wirbelkörper, denn da sind die des Mannes grösser. Daraus folgt,
dass die weibliche Wirbelsäule in der Lendenkrümmung stärker ge-
bogen ist als die männliche , eine Thatsache , die mit der stärkeren
Neigung- des weiblichen Beckens in Zusammenhang- steht.
') Fr. Merkel, Handbuch der topographischen Anatomie. Vieweg. 1896.
Bd. 2, p. 182 und 256. Autor und Verleger waren so liebenswürdig, die Repro-
duction der vortrefflichen Figuren zu gestatten. Die Verhältnisse der Reproduction
zum Original sind 138:165: die Originale sind V10 natürliche Grösse.
Secundäre Geschlechtsmerkmale. 83
Für die äussere Form des Körpers ergiebt sich aus dieser Be-
obachtung als weiterer Geschlechtscharakter, dass das weibliche Kreuz
Fig. 28. Männliche Normalgestalt
nach Merkel.
Fig. 29. Weibliche Normalgestalt
nach Merkel (vgl. Fig. 7).
mehr eingezogen und die Rückenlinie im Profil stärker gebogen er-
scheint als die des Mannes.
Dieser Unterschied zeigt sich deutlich in Fig. 32.
84
Secundäre Geschlechtsmerkmale.
Hat man sich so über die Proportionen und die Ausbildung des Ge-
schlechtscharakters im allgemeinen orientirt, so muss man des weiteren
Fig. 30. Männliche Normalgestalt
von hinten nach Merkel.
Fig. 31. Weibliche Normalgestalt
von hinten nach Merkel.
die symmetrische Entwickelung des Körpers beurtheilen.
Dies gelingt in gewissem Sinne auch bei Betrachtung der
Figur von vorne in der oben beschriebenen Stellung. Besser jedoch
Symmetrische Entwickelung. Ernährungszustand.
85
ist es, zu diesem Zwecke die zu untersuchende Person sich gerade
ausgestreckt auf den Rücken legen zu lassen, hinter das Haupt der-
selben zu treten und von hier aus in der Verkürzung die rechte mit
der linken Körperhälfte zu vergleichen. Unregelmässigkeiten treten
hierbei viel schärfer hervor.
In zweifelhaften Fällen, deren Zahl bei einiger Uebung sich
rasch vermindert, muss die directe Messung entscheiden.
Fig. 32. Weiblicher und männlicher Torso im Profil nach Thomson.
Ueber den Ernährungszustand entscheidet das Körper-
gewicht. Dieses wird, wie oben gesagt, nach der Vierordt' sehen
Formel aus der Körperlänge und dem Brustumfang über den Brust-
warzen berechnet. Das normale weibliche Durchschnittsgewicht
schwankt zwischen 52 und 60 kg. Ein werthvolles Zeichen zur
Beurtheilung der Ernährung ist das Aussehen der Haut, ihre Spannung,
ihr Grlanz und ihre Farbe.
Eine gesunde Haut schmiegt sich glatt und ohne Falten der
gß Ernährungszustand. Haut.
Körperoberfläche an ; die natürlichen Falten in den Beugestellen
gleichen sich aus bei Streckung der Gliedmassen. Namentlich bei
der Frau werden durch das Fettpolster alle vorspringenden Ecken
und Kanten des Knochengerüstes ausgeglichen, an Stellen, an denen
die Haut an den darunter liegenden Theilen fester haftet, bilden
sich Grübchen, so am Kinn, in den Wangen, auf den Schultern, am
Ellbogen, im Kreuz. Nimmt man eine Falte der Haut mit den
Fingern auf, so glättet sie sich sofort wieder. Die Schädigung der
Spannung der Haut durch starke Abmagerung ist oben schon er-
wähnt. Wenn die Spannung mit dem Alter schwindet, bilden sich
Runzeln, die zuerst an den Augen auftreten (Krähenfüsse).
Die Haut hat einen matt sammetartigen Glanz von weicher
Glätte. Dichter vergleichen denselben mit Elfenbein, Alabaster und
Marmor; die Künstler aber wissen, wie schwierig es ist, dem Marmor
und dem Elfenbein das Aussehen der Haut zu geben.
Die Oberfläche ist nicht gleichmässig glatt, sondern von zahl-
reichen kleinsten Spalten durchsetzt, so dass sie gewissermassen ein
zusammengewachsenes allerfeinstes Netzwerk bildet, und eine klein-
körnige Oberfläche erhält. Je kleiner das Korn, desto zarter ist der
matte Glanz der Haut. Bei schlechter Ernährung, bei Krankheiten
wird die Haut welk und trübe, bei zu starker Talgabsonderung er-
hält sie einen fettigen, spiegelnden Glanz.
Die Farbe der Haut zu beschreiben ist ebenso schwierig als
sie darzustellen. Sie wird mit Rosen und Lilien, Milch und Blut,
Wachs und Schnee, selbst mit neugeborenen Schafen verglichen, der
Maler benutzt ausser Weiss , Vermillon , Kobalt und gelbem Ocker
alle Farben seiner Palette, um die Nuancen der Menschenhaut wieder-
zugeben. Die obersten Schichten der Haut sind matt durchsichtig,
so dass alle darunter liegenden Theile je nach der Dicke der Haut
ihr mehr weniger ihre Farbe mittheilen und so die verschiedenen
Nuancen der Haut begründen. Die dunkelrothen Venen erscheinen
bläulich, der brünette Ton ist eine Folge der stärkeren Pigments-
anhäufung in der Lederhaut, die bräunlich durchschimmert. Je zarter
die Haut ist, desto lebhafter wird das Colorit sein.
Die nicht bedeckten Theile der Haut erhalten durch die Ein-
wirkung der Kälte und des Lichtes eine stärkere Färbung. Deshalb
Fettgewebe. Muskeln. . 87
rötliet sich das Gesicht, wenn man viel im Freien sich bewegt, und
erscheint bleich bei Menschen, die ihr Leben in geschlossenen Räumen
zubringen .
Dass die Wangen stets ein höheres Roth zeigen als das übrige
Gesicht, erklärt sich daraus, dass dort die arterielle Blutversorgung
am reichlichsten und die Haut am zartesten ist. Die Röthe der
Wangen bleibt auch bei allgemeiner Blässe noch lange erhalten.
Von der gesunden Röthe hat man die sogenannte hektische
Röthe zu unterscheiden, auf die wir weiter unten noch zurück-
kommen.
Bei guter Ernährung ist die Haut im allgemeinen weisslich mit
einem rosigen Schimmer; gelbliche oder bläuliche Verfärbung deutet
auf Krankheiten, aber auch auf eiweissarme, schlechte Ernährung.
Ebenso wie die Haut, ist auch das unter ihr liegende Fett-
polster an verschiedenen Stellen des Körpers von wechselnder Dicke.
Wie sich dasselbe vertheilt, wird noch weiter unten besprochen; je-
doch ist festzuhalten, dass bei der Frau im allgemeinen die Haut
dünner und das Fettpolster dicker ist wie beim Manne. Darum findet
man bei der Frau auch nie die scharf umschriebenen, durch Furchen
begrenzten Muskeln, die sich bei männlichen Arbeitern finden.
Kräftige Muskelarbeit entstellt bei einem Weibe beinahe nie-
mals die Schönheit der äusseren Formen, was ich mehrmals bei
Akrobatinnen und Reiterinnen feststellen konnte.
Es ist oben schon hervorgehoben, dass durch zu starken und
ausschliesslichen Gebrauch einer bestimmten Muskelgruppe der har-
monische Eindruck des Ganzen leiden kann. Um das beurtheilen zu
können, ist eine genauere Kenntniss der Muskeln des menschlichen
Körpers nöthig.
Man kann sich dieselben noch anschaulicher machen, wenn
man das zu untersuchende Individuum Bewegungen ausführen lässt,
wobei sich die einzelnen Muskeln verdicken.
Wir kommen auf die Muskeln und ihren Einfluss auf die Form
der einzelnen Theile des Körpers noch zurück. Bei einiger Uebung
wird man bald im Stande sein, durch einen raschen Blick sich über
die gleichmässige Entwickelung derselben aus der Modellirung des
Körpers zu überzeugen. Ueber die Schulter- und Brustmuskeln
38 Lebensweise und Erblichkeit.
orientirt man sich am besten, wenn man die Arme bis über den
Horizont langsam heben und senken lässt. über die Bauch- und
Rückenmuskeln durch Beugen und Strecken des Oberkörpers;
über die Muskeln der Beine durch Gehbewegungen. Wenn die
Rundung der Formen hauptsächlich durch Fett bedingt ist, werden
bei all diesen Bewegungen die Körperformen verhältnissmässig wenig
beeinflusst; bei gut ausgebildeter Muskulatur aber treten die durch
die Muskeln bedingten Rundungen deutlich hervor.
Wir haben oben hervorgehoben , dass ausser der Ernährung
und Entwickelung auch die Lebensweise und die Erblichkeit
einen grossen Einfluss auf die äussere Körperform ausüben, einen
Einfluss , bei dem sich nicht immer genau bestimmen lässt, in wie
weit das eine oder das andere der genannten Momente ihn hervor-
gebracht hat. Durch die beiden letzteren, die Lebensweise und die
Erblichkeit, ist namentlich bedingt die Individualität, d. h. die-
jenigen Ab weichung en von dem allgemeinen Schema, die
der einzelnen Gestalt ihr charakteristisches Gepräge
verleihen.
Man kann, wie Langer1) hervorhebt, aus der grossen Zahl der
Individualitäten wiederum grössere Gruppen mit gemeinschaftlichen
Merkmalen zusammenstellen, und z. B. grosse, mittelgrosse und kleine,
schlanke und gedrungene Gestalten von einander scheiden. Langer
findet dabei, dass auch diese Gruppen gewissen Gesetzen unterworfen
sind, so dass sich meist gross und schlank, klein und gedrungen zu-
sammenfindet. Dies sind jedoch individuelle Schwankungen, die sich
alle auf das Verhältniss zwischen den Proportionen der Längen-
und Breitenmasse des Körpers zurückführen lassen. Das Individuum,
gleichgültig ob es gross oder klein , schlank oder gedrungen ist,
kann nur dann für normal gelten, wenn seine Proportionen den oben
aufgestellten Gesetzen entsprechen.
Ich glaube, dass sich allgemein gültige Gesetze zur Beurtheilung
der Individualität vorläufig nicht aufstellen lassen, dass aber die Be-
achtung der Individualität im gegebenen Falle ein strenges Gebot ist.
Ich glaube, dass selbst ein Appelles nicht im Stande war. durch
J) Anatomie der äusseren Formen, p. 79.
TAFEL II.
JUNGES MADCHEN
Nach einer ALaraplue von Cornelia Paczka .
Individualität. Höchste Hliithezeit. 39
Vereinigung der Vorzüge der 12 schönsten Mädchen von Kroton
einen lebensfähigen Körper, sei es auch nur im Bilde, zu erschaffen,
weil dabei die harmonische Ausbildung des einzelnen Individuums
nicht mehr zur Geltung kommen konnte.
Gerade weil uns die Gesetze, nach denen sich jeder einzelne
Körper als Mikrokosmus ausbildet, nur zum Theile bekannt sind,
wird auch der darstellende Künstler, wenn er sich von seinem Modell
entfernt, Gefahr laufen, Fehler gegen die Naturwahrheit zu begehen.
Wir können uns hier mit der Aufstellung folgender Sätze für
die Würdigung der Individualität begnügen:
Jede Frau hat ihre eigene Individualität, die sie von
allen anderen Individuen ihrer Art unterscheidet. Diese
Individualität ist begründet auf gewissen Abweichungen
von den allgemeinen Regeln. Diese Abweichungen geben
dem Körper sein persönliches Gepräge, und sind nicht als
Fehler anzusehen, so lange sie sich innerhalb der auf-
gestellten Grenzen der Gesetze über Proportionen, sym-
metrische Entwickelung, gleichmässige Ausbildung und
secundären Geschlechtscharakter halten.
Demnach kann z. B. eine sehr scharf ausgeprägte vererbte
Individualität bei einer Frau die Schönheit beeinträchtigen, weil sie
einen der wichtigsten secundären Geschlechtscharaktere, die Weich-
heit der Formen, verwischt. So kann eine vom Vater ererbte lange
Nase die Harmonie der Formen im Gesichte der Tochter zerstören,
während sie beim Sohne die Kraft der Züge erhöht.
Haben wir uns in dieser Weise über die richtigen Proportionen,
über Ernährung und symmetrische Entwickelung, über die gute Aus-
bildung der secundären Geschlechtscharaktere, über die Individualität
des zu untersuchenden Weibes unterrichtet, so bleibt nur noch übrig,
den Zeitpunkt der höchsten Blüthe zu bestimmen, bevor wir zur
genaueren Betrachtung der einzelnen Körpertheile übergehen.
Ob eine Frau ihre höchste Blüthezeit erreicht oder über-
schritten hat, lässt sich bei einmaliger Untersuchung oft schwer aus-
machen.
Im allgemeinen nimmt man an, dass der weibliche Körper mit
dem 23. Lebensjahre völlig ausgebildet ist, doch ist bereits oben
90 Höchste Blüthezeit.
darauf hingewiesen worden, dass das Lebensalter in dieser Beziehung
sehr grossen individuellen Schwankungen unterworfen ist.
Grössere Sicherheit bietet noch das Auftreten der ersten Men-
struation. Je später diese sich einstellt, desto wahrscheinlicher tritt
auch die höchste Blüthezeit .später ein.
Eiuen weiteren Anhaltspunkt, um die grössere oder geringere
Ausbildung des Körpers zu beurtheilen, haben wir an den Propor-
tionen. Beim neugeborenen Mädchen ist im Verhältniss der Kopf
am grössten, die Extremitäten am kleinsten. Um die volle Aus-
bildung zu erreichen, muss sich der ganze Körper um reichlich das
Dreifache vergrössern; dabei wächst der Kopf bis zum Doppelten,
der Rumpf bis zum Dreifachen, die Beine bis zum Vierfachen ihrer
ursprünglichen Länge. Der Kopf hat meist schon gegen das
13. Lebensjahr seine bleibende Länge erreicht, der Rumpf ebenfalls,
die Beine jedoch erreichen dieselbe viel später. Da nun aber die
Körpermitte um so tiefer reicht, je länger die Beine werden, so
muss der tiefste Stand derselben mit dem vollendeten Wachsthum
zusammenfallen. Demnach ist die Wahrscheinlichkeit, dass wir es
mit einem ausgebildeten Körper zu thun haben, um so grösser, je
tiefer die Körpermitte steht. Jedoch behält sie diesen tiefsten Stand
auch noch zu einer Zeit, in der die höchste Blüthe verstrichen ist,
und darum können die Proportionen uns höchstens dazu dienen, den
nicht völlig gereiften vom reifen Körper zu scheiden, nicht aber vom
überreifen. — Den sichersten Anhaltspunkt zur Entscheidung dieser
Frage bietet die jeweilige Beschaffenheit der Brüste. Wir kommen
darauf weiter unten zurück; hier sei nur erwähnt, dass die höchste
Blüthezeit der Brüste, und damit des Körpers, dann erreicht ist, wenn
die pralle Form derselben durch die harte Drüse, nicht aber durch
Fettablagerung, ihre höchste Ausbildung erlangt hat.
Aus dem Vorstehenden ist ersichtlich, dass wir zur Erhebung
des Befundes nicht umhin können, einige Fragen an die untersuchte
Person zu stellen. Das Alter, das Eintreten der ersten Menstruation.
Beschäftigung, Lebensweise und Familienverhältnisse können für uns
wichtige Handhaben sein, um Individualität, höchste Blüthe u. a. m.
richtig beurtheilen zu können. Wir sind also in gewissem Sinne
gezwungen, eine „Anamnese" aufzunehmen, und unser Urtheil zum
Beurtheilung der einzelnen Körpertheile. 91
Theil auf Aussagen zu stützen, die wir von dem Subject der Unter-
suchung selbst erhalten haben.
Dabei ist jedoch darauf zu achten, dass diese Anamnese, ebenso
wie in der ärztlichen Welt nur einen subjectiven Werth hat, d. h.
dass wir sie nur dann als glaubwürdig ansehen dürfen, wenn sie
mit dem von uns erhobenen objectiven Befund übereinstimmt.
Dies ist eine wissenschaftliche Forderung und keineswegs ein
Misstrauensvotum für die Frauen im allgemeinen oder für das unter-
suchte Individuum im besonderen.
X.
Beurtheilung der einzelnen Körpertheile.
Wie wir beim Krankenexamen nach der allgemeinen Betrach-
tung des Körpers seine Organe einer näheren Untersuchung unter-
werfen, so müssen wir auch hier uns nun ausführlicher mit den
einzelnen Körpertheilen beschäftigen. Die Untersuchung ist insofern
schwieriger, als wir im ersten Falle bestrebt sind, bestehende Fehler
aufzusuchen, im letzteren, mögliche Fehler auszuschalten. Je gün-
stiger unser Ergebnis« ist, desto eher können wir mit jenem alten
General ausrufen: Ich sehe wieder viele, die nicht da sind.
Wenn wir bei der Betrachtung des Körpers im allgemeinen
darauf gewiesen haben, dass es wichtig ist, das Licht voll und
gleichmässig von vorn auf den Körper fallen zu lassen, so müssen
wir hier hervorheben, dass es zur richtigen Beurtheilung seiner Theile
oft wünschenswerth ist, dieselben in seitlicher und halber Beleuch-
tung zu betrachten, weil dadurch die Einzelheiten der Bildung
schärfer hervortreten (vgl. Fig. 17).
Ausserdem aber sind wir oft genöthigt, die einzelnen Körper-
theile in verschiedene Stellungen zu bringen. Beim Kopf genügt
die Betrachtung in Profil und im Enface. beim Rumpf und noch
mehr bei den Glieclmassen werden wir sehen, dass wir damit oft
Kopf.
nicht einmal auskommen, ja dass wir sogar die verschiedenen Phasen
der Bewegungen zu Hülfe nehmen müssen.
a) Kopf.
Die Form des Kopfes, als Ganzes betrachtet, ist im wesent-
lichen abhängig von der Bildung des Schädels. Da nun aber von
100 Kindern 97 in Schädellage geboren werden, wobei der bei der
Geburt nach hinten liegende Theil der Schädelwölbung eine wenn
auch noch so geringe Abflachung erleidet, die selten völlig wieder
a b
Fig. 33. Weiblicher («) und männlicher (fi) Schädel. Modificirt nach Ecker.
ausgeglichen wird, so sind in weitaus den meisten Fällen die Schädel
asymmetrisch. Meist ist jedoch diese Abweichung so gering, dass
wir damit nicht zu rechnen brauchen.
Die secundären Geschlechtscharaktere sind am Schädel deut-
lich ausgeprägt (Fig. 33). Zunächst ist die Grösse sowie der Inhalt
des Gehirnschädels bei der Frau geringer, und ebenso die Grösse
des Gesichtsschädels, verglichen mit dem Gehirnschädel.
Die Wölbung des Schädeldaches ist beim Mann stärker und
gleichmässiger ; bei der Frau ist der Scheitel flacher und setzt sich
im Profil von der Stirn und vom Hinterhaupt in schärferem Winkel
ab als beim Manne. Dadurch wird die Stirngegend bei der
Frau kürzer und verläuft mehr senkrecht als beim Manne.
Von vorn gesehen ist die Stirn der Frau gleichmässig
Kopf. Haare. 93
rund gewölbt, während beim Manne die Stimhöcker kräftig aus-
gebildet sind und der Stirn eine mehr eckige Form geben. Der
Gesichtsschädel der Frau erscheint breiter und weniger hoch, und
im Verhältniss zum Hirnschädel kleiner als beim Manne.
Im allgemeinen ist damit der Geschlechtsunterschied am Schädel
der folgende:
Männerschädel : eckig, hoch, mit Ueberwiegen des Gesichtstheils,
Weiberschädel: rund, breit, mit Ueberwiegen des Gehirntheils.
Bei der Betrachtung der lebenden Frau ist es im Profil nament-
lich die Knickung zwischen Stirn und Scheitel und en face
die relative Kleinheit und Rundung des Gesichts, welche der
Beobachtung zugänglich sind, und, gut ausgeprägt, den Vorzug rein
weiblicher Bildung in sich schli essen.
Das starke Hervortreten der Stirnhöcker, das sich in der Regel
erst beim erwachsenen Manne deutlich ausgeprägt, kann bei beiden
Geschlechtern schon in jugendlichem Alter auftreten und zwar als
Folge von englischer Krankheit (Tete carree). Abgesehen vom
jugendlichen Alter erkennt man den krankhaften Ursprung solcher
Schädelbildung meist an dem gleichzeitigen Vorhandensein rhachi-
tischer Zeichen an anderen Körpertheilen.
Die übrige Form des Schädels wird durch die Haare verdeckt,
welche beim Manne, auch wenn man sie nicht abschneidet, nie so
lang werden als bei der Frau.
Die Haare der Frau erreichen eine durchschnittliche Länge
von 75 cm (Ranke) und sind ausserdem dicker als beim Manne
(Virchow). Sie können aber auch eine Länge von 150 cm und mehr
erreichen1). Demnach bildet langes und reichliches Kopfhaar
einen secundären Geschlechtscharakter der Frau und damit einen
Vorzug weiblicher Bildung, der um so grösser wird, je länger und
je reichlicher das Haupthaar im gegebenen Falle ist.
Der wichtigste Theil nicht nur des Kopfes, sondern des Körpers
überhaupt ist das Angesicht. Im Gesicht ist die Individualität
am stärksten ausgedrückt. Das Gesicht ist stets unbedeckt und
häufiger und gründlicher Beobachtung ausgesetzt; jedermann kennt
!) Bei vier Frauen mit besonders schönem Haar habe ich 120, 126, 130
und 153 cm gemessen.
94
Gesicht.
die feinen Nuancen seines Ausdrucks, wenn er auch nicht die Er-
klärung dafür zu geben vermag.
Man ist so sehr gewöhnt, allein nach dem Gesicht zu urtheilen,
dass eine schöne Bildung desselben alle Fehler des Körpers ver-
gessen lässt, ein hässliches Gesicht aber trotz aller Vorzüge des
übrigen Körpers ein Verdammungsurtheil in sich schliesst.
Wenn wir uns darüber Rechenschaft geben wollen, welche
Anforderungen man anatomisch an die schöne Gesichtsbildung stellen
darf, so müssen wir zuerst auf die em-
bryonale Entwickelung derselben zurück-
greifen.
Wir haben bereits oben beispiels-
weise (Fig. 19) die Entwickelung des
Gesichts herangezogen und erwähnt,
welchen Einfiuss die Ausbildung des
mittleren Nasenfortsatzes auf die Form
der Oberlippe ausübt.
Vergegenwärtigen wir uns noch-
mals die Kopfform eines menschlichen
Embryo aus der sechsten Woche, so
sehen wir, dass das Gesicht in der
Hauptsache aus sieben Fortsätzen ge-
bildet wird, einem unpaarigen, dem mitt-
leren Nasenfortsatze und drei paarigen,
den seitlichen Nasenfortsätzen, den Ober-
kieferfortsätzen und den in der sechsten
Woche bereits verwachsenen Unterkieferfortsätzen (Fig. 34).
Von der gleichmässigen Entwickelung dieser Fortsätze hängt
im wesentlichen die regelmässige Form des Gesichtes ab, und zwar
sind es die Oberkieferfortsätze, die dabei die Hauptrolle spielen.
Jeder der erwähnten Fortsätze enthält in der Anlage die Haut,
die Muskeln, die Blutgefässe, die Nerven und die Knochen des zu-
künftigen Gesichtes; die letzteren sind es namentlich, an denen wir
einen Massstab zur Beurtheilung gewinnen können.
Vergleichen wir mit der Embryonalanlage den Schädel eines
neugeborenen Kindes (Fig. 35), so sehen wir. dass die den drei
Fig. 34. Kopf eines Embryo aus
der sechsten Woche.
(nl und nm seitliche und mittlerer
Nasenfortsatz des Stirnlappens,
m s Oberkieferfortsätze, >» i Unter-
kieferfortsätze )
Gesicht. 95
Nasenfortsätzen angehörigen Knochen, die Nasenbeine und der Mittel -
kiefer, an Wachsthum durch die Knochen des Oberkiefers und Joch-
bogens weit überholt sind.
Die Oberkieferknochen bilden den Mittelpunkt, um den sich
die übrigen Knochen des Gesichts anordnen, wie man sich leicht an
beistehender Figur (35) überzeugen kann. Zunächst bilden sie in
Vereinigung mit dem schmalen Mittelkiefer die obere Begrenzung
des Mundes und die untere der Nase; durch die nach oben sich
weiterschiebenden Fortsätze begrenzen sie einen Theil der Augen-
höhle und scheiden diese von der Nase. Augen, Mund und Nase,
die wichtigsten Theile des Gesichtes, sind dadurch in Abhängigkeit
gebracht von der Entwickelung des Oberkiefers.
Gehen wir nun einen Schritt weiter und vergleichen den
Schädel des Neugeborenen mit dem der erwachsenen Frau, so tritt
der Einfluss des Wachsthums des Oberkiefers sofort deutlich vor
Augen (Fig. 36, 37).
Sind die oberen Ausläufer des Oberkiefers zu stark entwickelt,
so wird die Wurzel der Nase breit und die Augen treten mehr aus
einander (Fig. 37), sind die mittleren Theile zu mächtig, so schieben
sie die Jochbogen nach aussen und die Backenknochen treten stärker
hervor, während zugleich die Nase einen stärkeren Winkel nach
vorn macht.
Von der Entwickelung des unteren Theiles hängt zunächst, wie
erwähnt, die Bildung der Oberlippe ab. Tritt der Oberkiefer in
schräger Richtung nach vorn voraus (Prognathie), ist er dabei kräftig
entwickelt, dann beherrscht er die übrigen Theile des Gesichts und
bildet den Typus, der bei den Negern ein Rassenmerkmal ist. Mit
dieser Verstärkung der oberen Mundparthie geht aber Hand in Hand
eine Verkürzung und Verbreiterung der Nasengegend, so dass diese
in die Höhe gebogen und breiter wird und zugleich in der Ansicht von
vorn die Oeffnung der Nasenlöcher sichtbar macht. Meist verbindet
sich damit eine stärkere Entwickelung des Unterkiefers (Fig. 37).
Wenn jedoch die unteren Parthien des Oberkiefers schmal
bleiben und zugleich mehr senkrecht sich stellen (Orthognathie),
dann tritt die Mundparthie mehr zurück , zugleich aber wird die
Nase schmäler und länger in ihrem unteren Theil (Fig. 36).
96
Gesicht.
Aus allen diesen Momenten ergeben sich zahlreiche Verschieden-
heiten der Gesichtsbildung.
Dass die anderen Gesichtsknocken auch mehr oder weniger
Fig. 35. Schädel eines Neugeborenen.
Die rothe Linie umgiebt den Gesichtstheil der Oberkieferknochen.
Fig. 3ti. Schädel einer Frau mit schmalem
und langem Oberkiefer.
Fig. 37. Schädel einer Frau mit kurzem
und breitem Oberkiefer.
dazu beitragen können, liegt auf der Hand. Wer sich dafür inter
essirt, findet Ausführlicheres darüber bei Langer 1).
*) Anatomie der äusseren Formen, p. 110 ff.
Gesicht. 97
Wir haben uns hier auf den Oberkiefer als den weitaus wich-
tigsten der Gesichtsknochen beschränkt.
Nun ist aber die Frage, welche Bildung desselben die beste ist.
Es ist hier der Platz, um Stellung zu nehmen in einer Frage,
die schon lange die Gemüther beschäftigt und in der verschiedensten
Weise beantwortet ist. Man sagt, dass der Europäer stets die
europäische Frau am schönsten finden wird, der Chinese dagegen
die Chinesin, der Neger die Negerin, wie der Hund die Hündin oder
der Hahn die Henne. Daraus will man ableiten, dass der Schön-
heitsbegriff individuell und undefinirbar ist.
Ich möchte daraus vielmehr ableiten, dass der Schönheits-
begriff mehr oder minder entwickelt ist, und dass ein Hahn geringere
Ansprüche stellt als ein Hund, dieser geringere als ein Neger und
so weiter. Massgebend ist allein die Auffassung des höchstent-
wickelten Individuums, und es erscheint mir nicht zweifelhaft, dass
der Indogermane und seine Abstämmlinge auf den ersten Platz mit
Recht Anspruch erheben dürfen.
Der schlagendste Beweis ist, dass wir sehen, wie diese Rasse
nicht nur in Europa selbst, sondern auch in allen anderen Welt-
theilen die übrigen allmählig zurückdrängt und ausrottet. In Amerika
sind jetzt schon die Rothhäute zu zählen, in einigen hundert Jahren
wird man mit Schaudern in alten Märchen lesen, dass es Menschen
mit schwarzer Haut gegeben hat.
Wenn wir so auf Grund seiner Erfolge im Kampf ums Dasein
dem Indogermanen den ersten Platz in der naturwissenschaftlichen
Rangordnung einräumen, so können wir weiter sagen, dass unter den
indogermanischen Frauen diejenigen am höchsten stehen, die sich,
am weitesten von den Merkmalen anderer Rassen resp. von den
mehr thierischen Formen entfernt haben.
Da nun aber ein breiter, kurzer und vorstehender Oberkiefer
das Merkmal des Negertypus resp. des Affentypus ist, so wird die
Gesichtsbildung um so vollkommener sein, je schmäler, länger und
senkrechter der Oberkiefer sich entwickelt hat, und je schmäler
seine oberen Ausläufer sind.
Die Folgen derartiger Bildung sind: eine schmale und ge-
streckte Nase, eine gleichmässige, mehr senkrechte Ab-
Stratz, Die Schönheit des weiblichen Körpers. 7
98 Gesicht.
flachung der seitlichen Nasenparthie nach der Oberlippe
zu, senkrechter Stand der Zähne des Oberkiefers, wenig
vortretende Backenknochen.
Ausser diesen Rassenvorzügen kommen jedoch noch die secun-
d'ären Geschlechtscharaktere am Gesichtsskelet in Betracht.
Zunächst haben wir die erwähnte relative Kleinheit des
Gesichts im Verhältniss zum Schädel.
Dazu kommt, dass die Augenhöhlen des weiblichen Skelets
geräumiger sind als beim Manne.
Die gieichmässige Abrundung des weiblichen Gesichts lässt
sich schon im Skelet erkennen. Hierzu tragen zwei weitere wesent-
liche secundäre Geschlechtscharaktere bei.
Schaaf hausen x) fand, dass bei Frauen aller Rassen die mittleren
Schneidezähne absolut grösser sind als bei Männern; da nun die
mittleren Schneidezähne dem Mittelkiefer entsprechen (auf Fig. 36
u. 37 mit punktirter Linie angedeutet), so können wir die Breite
des Mittelkiefers und [damit der mittleren Schneidezähne als einen
Vorzug des weiblichen Körpers auffassen. Es resultirt daraus eine
stärkere Breite des Gesichts bei Frauen unterhalb der
Backenknochen in den mittleren Parthien.
Endlich hat Morselli 2) durch vergleichende Messungen und
Wägungen gefunden, dass der Unterkiefer der Frau kleiner
und leichter ist als der des Mannes. Wir können demnach als
einen weiteren Vorzug weiblicher Bildung verzeichnen: schmaler
Unterkiefer mit 'schräg nach auswärts verlaufenden Ge-
lenkfortsätzen.
Daraus resultirt wieder eine starke Verjüngung des Gesichts
von der Mitte nach dem Kinne zu.
Fassen wir das Resultat der erwähnten Geschlechtsunterschiede
zusammen, so kommen wir zu dem Schlüsse, dass die gut entwickelte
knöcherne Unterlage des weiblichen Gesichts in der Höhe des unteren
Augenhöhlenrandes am breitesten ist, und sich von da nach unten
stark und gleichmässig nach dem Kinne zu verjüngt.
J) Citirt bei Ploss-Bartels, Das Weib, 1897, p. 25.
2) Sul peso del cranio e della mandibola in rapporto col sesso. Firenze 1876.
Gesicht. 99
Die Gesammtverhältnisse des gleichmässig ausgebildeten Schädels
müssen nach übereinstimmenden Messungen an zahlreichen gut ge-
bauten Individuen derart sein, dass die Längsachse in drei gleiche
Theile zerfällt, nämlich vom Stirnwinkel bis zum oberen Augen-
rand, von da bis zum unteren Nasenrand, von da bis zum
Kinn; die grösste Breite über den Schläfen muss zur Länge des
Schädels im Verhältniss von 2 zu 3 stehen.
Ausserdem muss natürlich auch die linke Hälfte mit der rechten
völlig symmetrisch gestaltet sein.
Aus alledem ergiebt sich, dass durch die knöcherne Unterlage
die Hauptformen des Gesichts bestimmt sind, jedoch in einer Weise,
die einen grossen Spielraum für individuelle Ausbildung innerhalb
normaler Grenzen gestattet.
Von beiden Geschlechtern kann man verlangen, dass die Zähne
gleichmässig gestellt, weiss und glatt sind, bei der Frau kommt
dazu die grössere Breite der vorderen oberen Schneidezähne. —
Noch feinere Nuancen der Individualität geben die Muskeln.
Die scheinbare Regellosigkeit derselben entwirrt sich (Merkel), wenn
man bedenkt, dass sie alle um die Oeffnungen des Gesichts, die
Augen, die Ohren, die Nase und den Mund gruppirt, entweder
Schliess- oder Oeffnungsmuskeln sind. Die Schliessmuskeln legen
sich kreisförmig um die Oeffnung, die Oeffnungsmuskeln stehen radial
zum Rande angeordnet. Jedoch verflechten sich die einzelnen
Muskeln wieder unter einander, und ausserdem unterscheiden sie sich
von den übrigen Muskeln des Körpers dadurch, dass nicht nur der
Muskel im ganzen, sondern auch jedes einzelne Muskelbündel einer
selbstständigen Bewegung fähig ist.
So entstehen z. B. die Grübchen in den Wangen durch die
isolirte Wirkung eines daselbst in der Haut endigenden Muskel-
bündels, der beim Lächeln sich zusammenzieht.
Eine vortreffliche Beschreibung der Gesichtsmuskeln findet sich
bei Merkel1) und bei Langer2). Die Muskeln sind die hauptsäch-
lichsten Träger der Individualität, und haben als solche hier nur
J) Merkel, Topographische Anatomie, I, p. 100.
2) Anatomie der äusseren Formen, p. 129.
100 Gesicht.
untergeordnetes Interesse, es sei denn, dass man die feine Ausbil-
dung des Mienenspiels mit als einen der Vorzüge weiblicher Voll-
kommenheit erwähnen will. Den Ausdruck des Gesichts, des Spiegels
der Seele, hier ausführlich zu analysiren, würde die Grenzen des
Buches zu sehr überschreiten.
Eine Eigentümlichkeit der Gesichtsmuskeln jedoch, die Langer
besonders hervorgehoben hat, verdient unsere besondere Beachtung.
An einzelnen Stellen des Gesichts flechten sich nämlich die
Enden einiger Muskeln in die Haut ein, und zwar in der Stirn-
gegend, an den Nasenflügeln, in den Lippen und am Kinn. Die
Grenzen dieser Einpflanzungen sind die Augenbrauen und die quere
Furche zwischen Kinn und Unterlippe, ferner jederseits zwei Furchen,
von denen die eine vom Nasenflügel nach dem äusseren Mundrand,
die andere vom äusseren Mundrand nach dem Kinn herabzieht; diese
letztere vereinigt sich häufig unterhalb des Kinnes mit der gegen-
überliegenden.
Diese Muskelbildung übt Emfluss auf die Vertheilung des Fett-
polsters im Gesicht. Innerhalb der Grenzen der festen Muskelanhef-
tung kann sich dasselbe nicht entwickeln; wir sehen daher auch bei
starker Fettleibigkeit stets Stirn. Nase, Mund und Kinn davon ver-
schont, während durch starke Fettanhäufung in den Wangen die
erwähnten Furchen schärfer und schärfer hervortreten. Am Kinn
bildet sich ein oder mehrere Fettwülste unterhall) der vereinigten
Lippenkinnlinie, das bekannte Doppelkinn.
Da nun eine gewisse Rundung der Formen dem Weibe eigen-
thümlich, eine zu grosse Fülle aber unschön ist. können wir als
Bedingung guter Enhvickelung für die Frau aufstellen, dass die ge-
nannten Grenzlinien angedeutet sein müssen, ohne zu scharf hervor-
zutreten (Fig. 38). Das Grübchen im Kinn, eine Zierde des weib-
lichen Geschlechts, ist, ebenso wie die Grübchen in den Wangen,
durch den Zug der in die Haut verflochtenen Muskeln veranlasst.
Die Auspolsterung der Wangen mit Fett vollendet die Abrun-
dung des Gesichts zum gleichmässigen Oval, zum „länglichen Ei-
rund", jedoch nur so lange, als die Spannung der Haut erhalten
ist. Wenn diese erschlafft, hängen die Backen herab und werden
schlaff.
Augen. 101
Es ist deshalb ein gutes, wenn auch nicht stets erlaubtes
Mittel älterer Herren, sich von dem Gesundheitszustand weiblicher
Pflegebefohlenen dadurch zu überzeugen, dass sie sie in die Backen
kneifen.
Ueber die Haut des Gesichtes haben wir bereits gesprochen.
Sie ist über den Wangen am zartesten und dort bei gesunden
Menschen stets leicht geröthet, weil das Blut stärker durchschimmert.
Eine scharf umschriebene, kreisrunde helle Röthe über den Backen-
knochen ist ein Zeichen der Schwindsucht, und darum nicht normal.
Die Augäpfel haben mit dem 8. Lebensjahre ihre bleibende
Grösse erreicht und sind bei allen Menschen gleich .gross. Der
scheinbare Unterschied hängt allein ab von der grösseren oder
kleineren Lidspalte, und von der tieferen oder oberflächlichen Ein-
bettung.
Abgesehen davon, dass dunkle Augen etwas grösser erscheinen
als helle, hängt der Eindruck der Grösse völlig ab von der Um-
gebung des Auges.
Die Augenbrauen liegen auf der Grenze zwischen Augenhöhle
und unterem Stirnrand. Da grosse Augenhöhlen ein secundäres
weibliches Geschlechtsmerkmal sind, so sind die Augenbrauen um
so schöner, je höher sie gewölbt sind. Da ferner buschige Augen-
brauen den Mann und ein höheres Lebensalter kennzeichnen, können
schmale, glatt verlaufende Augenbrauen als weiblicher Vorzug an-
gesehen werden.
Es gilt als schön, wenn die Augenbrauen zur Seite lang und
spitz auslaufen, als hässlich, wenn sie in der Mitte verwachsen sind;
eine befriedigende Begründung dieser Auffassung lässt sich nicht
finden. Dass aber das gänzliche Fehlen der Augenbrauen als Ent-
stellung angesehen wird, beweist unter anderem der in Japan
übliche Brauch l ) , dass verheirathete Frauen zur Beruhigung ihrer
eifersüchtigen Ehemänner nicht nur die Zähne schwarz färben,
sondern auch die Augenbrauen abscheeren müssen.
Die Augenwinkel müssen bei geschlossenen Lidern in einer
J) Ich konnte mich vor einigen Jahren in Japan selbst davon überzeugen,
dass diese Sitte mehr und mehr abnimmt.
102 Augen. Nase.
horizontalen Linie liegen , bei geöffneten Lidern steht der innere,
mit der Thränengrube rund auslaufende etwas tiefer als der äussere,
scharfe Augenwinkel. Stärkeres Höhertreten des äusseren Augen-
winkels ist eine Eigentümlichkeit der mongolischen Rasse und
darum beim Indogermanen als ein Fehler zu bezeichnen, und zwar
ohne Unterschied des Geschlechts.
Die Stellung der Wimpern auf den Lidknorj)eln muss gerade
und regelmässig sein, denn spärliche und unregelmässige Einpflanzung
deutet auf Krankheiten, hauptsächlich auf scrojthulöse Augenent-
zündung. Auch dies ist beiden Geschlechtern gemeinsam.
Zwei weitere Anforderungen an die Bildung des Auges können
ebenfalls als Vorzüge beider Geschlechter gelten, jedoch sind sie
anatomisch mehr im weiblichen Bau begründet.
Das ist zunächst die Grösse der Lidspalte und dann die
Bildung der Hautfalte, die sich bei geöffnetem Auge über das obere
Augenlid legt. Je höher die Augenhöhle ist, desto weniger wird
sich die Hautfalte über das Lid herabsenken, in desto weicherem
Schwünge wird sie sich nach der Schläfe zu verlieren. Eine grössere
Lidspalte lässt das Auge und damit auch die Augenhöhle grösser
erscheinen. Da nun aber die grosse Augenhöhle ein secundäres
weibliches Geschlechtsmerkmal ist, so können eine weite Lidspalte
und eine weich und hoch über dem oberen Augenlid ver-
laufende Hautfalte als vorwiegend weibliche Schönheiten ver-
zeichnet werden.
Fig. 38 zeigt dieselben, sowie die Gestalt der Augenbrauen in
sehr guter Form, während in Fig. 24 durch die Hautfalte das obere
Augenlid völlig verdeckt wird.
Die Form der Nase wird vorwiegend durch das knöcherne
Gerüst zusammen mit dem Nasenknorpel bestimmt. Aus dem oben
Gesagten geht hervor, dass die Form der Nase gut ist, wenn sie
schmal ist, was namentlich im schmalen und gestreckten Nasen-
rücken zum Ausdruck kommt. Ob derselbe dann gerade verläuft
oder gebogen, ist eine individuelle Abweichung innerhalb der nor-
malen Grenzen.
Von der Form des Mundes ist bereits gesagt, dass die gut
entwickelte Oberlippe derart sein muss, dass die zwei äusseren
Mund.
103
Ränder nach innen in sanfter Linie leicht ansteigen, und der mittlere,
dem Nasenlappen entstammende Theil sich scharf absetzt (Fig. 20).
Demgemäss muss auch die freie Mitte der Oberlippe deutlich nach
unten herabragen. Ferner muss, bei regelmässiger Bildung, das
Lippenroth genau bis an den gebogenen Rand der Lippe heran-
Fig. 38. Weiblicher Kopf mit guten Proportionen und gut gebautem Auge.
Nach, einer Photographie von Reutlinger, Paris.
reichen und nach aussen schmäler werden. Die Unterlippe legt sich
in leichtem, in der Mitte breiter werdendem Bogen der Oberlippe an.
Bei schön geschnittenem Munde muss die Oberlippe etwas weiter
vorstehen als die Unterlippe. Während die übrigen Vorzüge beiden
Geschlechtern gemeinsam sind , ist der letztgenannte wieder ein
besonderer Vorzug des weiblichen Geschlechts, da er mit der ge-
ringeren Grösse des Unterkiefers in ursächlichem Verband steht.
104
Ohr. Haarfarbe.
Die Breite der Mundspalte steht zur Lidspalte im Verhältniss
von 3:2, die Augen stehen um eine Augenbreite von einander ab.
so dass die äusseren Augenwinkel doppelt so weit von einander ent-
fernt sind als die Mundwinkel.
Das Ohr kommt im embryonalen Leben erst sehr spät zur
Entwickelung und zeigt im späteren Leben ausserordentlich starke
individuelle Verschiedenheiten, welche von den Meisten kaum be-
achtet werden. Die Bildhauer der Antike kannten sie indessen
(Winkelmann) sehr genau, und in neuerer
Zeit hat Bertillon das Charakteristische des
Ohrs zur Feststellung der Person von Ver-
brechern benutzt.
Bei guter und regelmässiger Entwick-
lung hat die Ohrmuschel nach Langer fol-
gende Gestaltung -(Fig. 39).
Am äusseren Gehörgang stehen sich
Leiste (H) und Gegenleiste (Ä) von ungefähr
gleicher Grösse gegenüber, ebenso am oberen
Theil der Ohrmuschel Bock (T) und Gegen-
bock (At). Der Bock umkreist den äusseren
Rand des Ohres in langer Linie, der Gegen-
bock erhebt sich in der Mitte höher und
spaltet sich nach vorn, während er nach
hinten sich,, flacher werdend, mit dem Bock
vereinigt und in die Gegenleiste ausläuft. Das Ohrläppchen endigt frei.
Ein namentlich beim weiblichen Ohr störender Fehler ist zu
starke Entwickelung und Grösse der Ohrmuschel.
Da die Stellung des äusseren Gehörgangs, der mit der Gehirnbasis
stets gleich hoch steht, fest bestimmt ist, so ist es namentlich zu starke
Entwickelung des oberen' Theils der^freien Ohrmuschel, die entstellt.
Bei gerader Stellung des Kopfes muss der äussere Gehörgang
ungefähr in derselben Höhe liegen wie der obere Rand des Nasen-
flügels, und der obere Rand der Ohrmuschel nicht höher als der
obere Rand der Augenhöhle.
Es erübrigt noch, die Farbe der Haare, der Augenbrauen und
der Augen zu besprechen.
Fig. 39. Schöngebildetes Ohr
(nach Langer).
T Bock (Tragus), At Gegenbock
(Antitragus), H Leiste. (Helix),
A Gegenleiste (Anthelix).
Rumpf im allgemeinen. 105
Da starke Pigmentanhäufung ein gemeinschaftliches Merkmal
niedriger stehender Rassen ist, so kann man im allgemeinen blondes
Haupthaar als einen Vorzug betrachten, und namentlich bei der
Frau, bei der durch den schwächeren Gegensatz von blond und weiss
die Harmonie der zarteren Bildung erhöht wird.
Bei den Augenbrauen jedoch verdient die dunklere Färbung
den Vorzug, weil durch sie die Weite der Augenhöhlen noch deut-
licher hervorgehoben wird.
Die Farbe der Augen hängt ausschliesslich ab von der Ver-
theilung des Pigments; wenn dasselbe ausschliesslich hinter der
Regenbogenhaut sitzt, erscheint dieselbe blau, dringt es in sie ein,
so erscheint sie braun bis schwarz. Demnach können wir die
Farbe der Augen nur als einen Ausdruck der Individualität be-
trachten.
t>) R u m p f.
Man unterscheidet am Rumpf von vorn die Brust (im weiteren
Sinne) und den Bauch, von hinten den Rücken. Seine Ver-
bindungen mit Kopf und Gliedmassen sind der Hals, die Schultern
und die Hüften. So selbstverständlich diese Eintheilung auch sein
mag, so stösst man doch schon auf Schwierigkeiten bei dem blossen
Versuch, die einzelnen Theile scharf von einander abzugrenzen.
Noch schwieriger wird es, wenn man noch weitere Benennungen
einzelner Körpertheile hinzunimmt, wie Nacken, Lenden, Kreuz,
Weichen, Leisten u. s. w. Jedem Arzt fällt es auf, dass die Meisten
nur einen ganz dunkeln Begriff haben, wo diese Theile eigentlich
liegen. Eine Frau z. B., die über Kreuzschmerzen klagt, bezeichnet
fast immer die Lenden als die empfindliche Stelle; - - sie weiss beim
Ochsenfleisch den Ziemer vom Filet vortrefflich zu unterscheiden,
dürfte aber kaum im Stande sein, die Lage der entsprechenden Theile
am eigenen Körper anzugeben. Jedoch sind selbst Männer vom Fach
nicht im Stande, alle einzelnen Theile des Rumpfes mit unfehlbarer
Sicherheit von einander zu scheiden.
Dies hat seinen Grund darin, dass feste, unverwischbare Grenzen
10(5 Rumpf als Ganzes.
überhaupt nicht bestehen und die Uebergänge sich allmählig inein-
ander verlieren 1).
Wir thun deshalb gut, erst den Aufbau des Rumpfes als Ganzes
und dann seine einzelnen Theile in ihrer mehr oder weniger scharfen
Abgrenzung zu besprechen.
Der Rumpf als Ganzes.
Vom Kopf unterscheidet sich der Rumpf dadurch, dass bei ihm
die weichen Theile bei der Bestimmung der äusseren Formen eine
viel grössere Rolle spielen.
Das Skelet des Rumpfes wird gebildet durch die Wirbelsäule,
den Brustkorb, den Schultergürtel und das Becken.
Das Verhältniss des Skelets zur Körperoberfläche ist ersichtlich
aus den Figuren 28- — 31, die zugleich die secundären Geschlechts-
charaktere desselben deutlich machen.
Die Wirbelsäule muss bei symmetrischer Stellung völlig gerade
verlaufen. Abweichungen davon deuten auf Rhachitis, ungleich-
massige Entwickelung, Tuberculose und Lungenkrankheiten.
Von der senkrechten Richtung überzeugt man sich in zweifel-
haften Fällen, indem man auf der Rückseite die Dornfortsätze der
Wirbel durch die Haut abtastet und mit schwarzer Farbe bezeichnet.
Die so bezeichneten Punkte müssen in einer geraden Linie liegen.
Noch einfacher ist es, den Dornfortsatz des siebenten Halswirbels,
der im Nacken am stärksten vorspringt, aufzusuchen und von ihm
aus ein Senkloth herabhängen zu lassen, welches bei gutem Bau
genau in der Spalte zwischen den Hinterbacken liegen muss. Die
Länge der Wirbelsäule, welcher der Abstand vom unteren Nasen-
rande bis zum oberen Rand der vorderen Beckenverbindung ent-
spricht, ist ein constantes Mass, das Fritsch, Carus und Schmidt als
Modulus zur Bestimmung der Proportionen benutzt haben, wie oben
ausgeführt wurde.
Ebenso ist bereits erwähnt, dass in der seitlichen Ansicht die
Wirbelsäule der Frau im Lendentheil stärker eingebogen ist als
beim Manne (vgl. Fig. 32).
]) Vgl. Merkel, Topographische Anatomie, II, p. 180 ff.
Rumpf als Ganzes.
107
Der Brustkorb bestellt aus den Rippen, dem Brustbein und
dem Brusttlieil der Wirbelsäule.
Bei guter Ausbildung muss derselbe kräftig gewölbt sein, so
dass die Rippen am Rücken fast horizontal, an der Brustseite nur
wenig nach abwärts verlaufen.
Von seiner Breite und Tiefe
hängt im wesentlichen die Form
der Brust ab, wie wir weiter
unten sehen werden.
Bei der Frau ist der Brust-
korb im allgemeinen schmäler
und länger als beim Manne;
jedoch muss er stets so gebaut
sein, dass der Winkel, den der
untere Rippenrand bildet, wenig
kleiner ist als ein rechter.
Grösser ist er bei dem
fassförmigen Thorax asthmati-
scher Personen, kleiner, oft sehr
viel kleiner bei Personen mit
schwindsüchtiger Gestaltung und
bei Verunstaltung durch zu star-
kes Schnüren.
Oben wurden bereits die
dadurch hervorgerufenen Ent-
stellungen des Rumpfes im Bilde
vorgeführt; hier sei die Ent-
stellung des Skelets durch ein
weiteres Beispiel verdeutlicht
(Fig. 40), hier ist zwischen den
freien Rippen beider Seiten ein
schmaler Spalt mit sehr spitzem
Winkel vorhanden. Ein vergleichender Blick auf Fig. 29 genügt,
um den Unterschied zu erkennen.
Der Schultergürtel ist mit dem Brustkorb nur in der Kehl-
ffrube durch die Gelenke der beiden Schlüsselbeine verbunden. Diese
Fig. 40. Kumpfskelet eines 23jährigen
Mädchens, durch Schnüren verunstaltet (nach
Rüdinger).
108 Rumpf als Ganzes.
sowie das Brustbein sind die einzigen Knochen, die in ihrer ganzen
Länge dicht unter der Haut liegen.
Am unteren Ende ist die Wirbelsäule durch das Kreuzbein mit
Fig. 41. Muskulatur des weiblichen Torso von vorn.
dem Becken verbunden. Das Kreuzbein ist bei der Frau breiter und
kürzer als beim Manne; welchen Emnuss dies auf die Gestaltung
der Rückenoberfläche ausübt, werden Avir später sehen.
Rumpf als Ganzes.
109
Beim weiblichen Becken sind wichtige secundäre Geschlechts-
charaktere zu verzeichnen. Es ist geräumiger, der Schanibosjen ist
Fig. 42. Muskulatur des weiblichen Rückens.
stumpfer, die Beckenschaufeln flacher und breiter ausladend als beim
Manne. Dadurch überwiegt im Skelet die Beckengegend beim Weibe
weitaus über den Brustkorb, während die grösste Schulterbreite die
110
Rumpf als Ganzes.
grösste Beckenbreite bei der Frau nur sehr wenig, beim Manne
jedoch bedeutend übertrifft.
Vom Becken liegen die Kämme der Darmschaufeln jederseits
dicht unter der Haut.
Die tastbaren Knochen des Rumpfskelets geben uns einen ge-
Fig. 43. Rückansicht von Mann und Frau nach Richer zur Vergleichung der Vertheüun^
des Fettpolsters.
o o o o o starke Anhäufung von Fett.
wissen Anhaltspunkt zur Bestimmung der Grenzen einzelner seiner
Gegenden.
Der Schlüsselbeinrand bildet die Grenze zwischen Hals und
Brust, der untere Rippenrand zwischen Brust und Bauch, der Kamm
Rumpfmuskeln.
111
der Darmschaufeln zwischen Bauch und Hüften. Während wir am
Skelet die Schulterknochen , die Lendenwirbelsäule . und das Kreuz
scharf umschreiben können, wer-
den diese Grenzen durch die be-
deckenden Weichtheile am leben-
den Körper wieder stark ver-
wischt. Immerhin aber haben
wir durch die Kenntniss des
Skelets eine Reihe von Anhalts-
punkten bekommen, die uns zum
Verständniss und zur Beurthei-
lung der äusseren Formen un-
erlässlich sind.
Ausser dem Knochengerüst
sind es zunächst die Muskeln und
dann das Fettpolster der Haut,
die die Formen des Rumpfes be-
stimmen.
Fig. 41 zeigt die Rumpf-
muskulatur des weiblichen Torso
in der Ansicht von vorn.
Bei der allgemeinen Be-
trachtung fällt auf, dass sich
die oberflächlichen Muskeln des
Rumpfes in drei grössere Gruppen
theilen. Zunächst diejenigen, die
zusammen den vorderen und seit-
lichen Abschluss der Bauchhöhle
bewerkstelligen, dann diejenigen,
die von vorn und hinten, von
oben und unten nach der Schulter
hinziehen, und endlich die Mus-
keln der Hüften.
Fig. 44. Gut gebauter weiblicher Rumpf.
Von diesen drei Gruppen bildet die erste die Verbindung
zwischen Brustkorb und Beckenwand.
Während die zweite alle scharfen Ecken und Kanten zwischen
112 Brust.
Schultern, Brust und Rücken verbindet und ausfüllt und die Umrisse
des Rumpfes in die oberen Gliedmassen in weichen Linien hinüber-
leitet, sind die Hüftmuskeln seitlich und hinten durch die Kämme
der Beckenschaufeln, vorn durch das Leistenband scharf von dem
übrigen Rumpfe geschieden.
Die Muskeln sind bei beiden Geschlechtern dieselben, jedoch
schwächer bei der Frau. Schlechte Entwickelung derselben kann
den weiblichen ebenso gut wie den männlichen Körper entstellen.
Bei krankhaften Störungen der gleichmässigen Entwickelung der
Muskeln sind es, wie oben erwähnt, namentlich die Schulter- und
Hüftmuskeln, die zuerst angegriffen werden. Bei guter Ernährung
müssen auch bei der Frau trotz des reichlichen Fettpolsters die
Muskelbäuche deutlich erkennbar sein. Abgesehen davon, dass das-
selbe bei ihr im allgemeinen reichlicher ist als beim Manne, sind
es namentlich die Nabelgegend , Hüften und die unteren Parthien
des Rückens (Fig. 43), die eine kräftigere und charakteristische Ver-
theilung des Fettes bei der Frau besitzen. Diese und andere Einzel-
heiten werden noch weiter besprochen werden.
Bei der Betrachtung des Rumpfes als Ganzes haben wir somit
hauptsächlich zu achten auf gleichmässige und symmetrische Ent-
wickelung des Skelets, soweit dasselbe dem Auge und der Messung
zugänglich ist, Ueberwiegen der Bauch- und Beckengegend im Ver-
hältniss zum Oberkörper, nach den oben aufgestellten Gesetzen der
Proportionslehre, und auf den Einfluss des Schnürens.
Als Muster eines gut entwickelten weiblichen Torso kann
Fig. 44 gelten.
Die einzelnen Theile des Rumpfes.
Brust.
Die Brust im weiteren Sinne ist derjenige Theil des Rumpfes,
der von oben durch die Schlüsselbeine, von unten durch den unteren
Rippenrand begrenzt wird. Beim Weibe erhält er sein besonderes
Gepräge in den beiden durch die wachsenden Milchdrüsen ver-
ursachten Hervorwölbungen, die Brüste im engeren Sinne, das
schönste der secundären weiblichen Geschlechtsmerkmale.
Brustkorb. 113
Aus ihrer Beschaffenheit kann man wichtige Rückschlüsse
nicht nur auf die Brust, sondern auch auf den Körper im allgemeinen
machen.
Die Grundlage der Brust bildet der Brustkorb; auf sein Ver-
hältniss zu den übrigen Theilen des Skelets ist bereits hingewiesen.
Wir können an einen normal gebauten Brustkorb die folgenden
Bedingungen stellen, deren Nichterfüllung anatomische Fehler sind.
1. Die Brustwirbelsäule muss, von vorn gesehen, völlig gerade
in der Mittellinie des Körpers verlaufen; im Profil bildet sie einen
leichten, nach hinten convexen Bogen in ihrer oberen Hälfte.
2. Die Rippen verlaufen symmetrisch in einem gleich-
massigen Bogen, liegen hinten beinahe horizontal, senken sich
etwas stärker in der Seite, liegen wieder horizontal in der Linie
der Brustwarze und steigen von da unmerklich ohne Knickung o-e^en
das Brustbein an.
3. Das Brustbein liegt etwas tiefer als die vordersten Punkte
der Rippen, schliesst sich aber deren Wölbung überall gieichmässig
an. Der Winkel zwischen Handgriff und Körper, in der Höhe der
2. Rippe (angulus Ludovisi), darf nicht scharf hervortreten.
4. Die gemeinschaftliche Wölbung des Brustkorbes ist in
seinen höheren Parthien (bis zur 4. Rippe) nach oben gerichtet, in
den mittleren (bis zur 8. Rippe) nach vorn, und erst in den untersten
Parthien (bis zur 12. Rippe) etwas nach abwärts. Die Wölbung
muss eine ganz gleichmässige sein, im Profil sowie in der Ansicht
en face.
5. Der untere Rippenrand bildet in der Herzgrube einen
Winkel von beinahe 90 °.
Als gemeinschaftliche Folge dieser Eigenschaften kommt hin-
zu, dass sich die Schlüsselbeine und die Schulterblätter in guter
Wölbung dem Brustkorb glatt anlegen.
Die häufigsten Ursachen, die fehlerhafte Bildung veranlassen,
sind die Rhachitis, die Anlage zur Schwindsucht und das Schnüren.
Rhachitis veranlasst Verkrümmungen der Wirbelsäule und
dadurch unsymmetrische Entwickelung , ungieichmässige Wölbung
der Rippen, die bei ihrer Weichheit durch Zug und Druck ver-
unstaltet werden, Knickung des Brustbeins zwischen Griff und
Stratz, Die Schönheit des weiblichen Körpers. 8
114 Brustmuskeln.
Körper (Hühnerbrust) , Auftreibung der Rippenenden, wodurch eine
Verdickung und starke Knickung des Brustkorbs innerhalb der
Brustwarzenlinien entsteht. Durch die stärkere Knickung der Rippen
wird der Brustkorb im ganzen flacher und breiter, namentlich in
seiner oberen Wölbung, seine unteren Parthien fallen stärker ab.
Die Anlage zur Schwindsucht ist gekennzeichnet durch
einen langen und schmalen Brustkorb. Mit dem gesunden verglichen
zeigt der schwindsüchtige Brustkorb demnach weiter von einander
abstehende Rippen, die in ihrem ganzen Verlauf stärker nach unten
ziehen, wodurch wiederum eine geringere Wölbung der oberen Par-
thien und eine zu geringe Ausdehnung in die Breite veranlasst wird.
Dies hat zur Folge, dass die Schlüsselbeine stärker gekrümmt sind,
weiter vorspringen und ebenso wie die Schulterblätter hervortreten.
Unter den Schlüsselbeinen bilden sich dann tiefere Gruben. Der
untere Rippenrand bildet einen sehr viel spitzeren Winkel.
Durch das Schnüren wird der Brustkorb in seinen unteren
Parthien stark verengert, die Wölbung wird geringer und nament-
lich sehr verschärft in den mittleren Parthien, so dass von der
4. Rippe ab die Wölbung statt nach vorn, mehr nach unten hin
steht. Der untere Rippenrand ist ein spitzer Winkel.
Alle diese drei Ursachen, am stärksten allerdings die letzte,
haben die Verunstaltung veranlasst, die Fig. 40 deutlich zeigt.
Lungenkrankheiten, namentlich Brustfellentzündungen in jugend-
lichem Alter können durch Verwachsungen einen Theil des Brust-
korbs sehr wesentlich in seiner Entwicklung beeinflussen. Es finden
sich dann an der früher erkrankten Stelle Einziehungen oder Auf-
treibungen, die die Symmetrie stören.
Am lebenden Weibe können wir den Brustkorb nur durch die
weichen Theile hindurch fühlen. Ob er gut gebaut ist, können wir
beurtheilen aus dem gleichmässigen Heben und Senken beim Athmen,
dann aber aus der Form der Weichtheile, die durch den Bau des
Brustkorbs beeinflusst ist.
Von grösseren Weichtheilen sind es namentlich die grossen
Brustmuskeln (Pectoralis major und minor), Avelche die Form der
Brust beeinflussen (Fig. 41). Ihre Bündel entspringen an der ganzen
Vorderfläche der Brust vom unteren Rippenrand, dem Brustbeinrand
Brüste. 115
und der unteren Fläche des Schlüsselbeins und vereinigen sich zu
einem kräftigen Muskelbauch, dessen Sehne sich am Knochen des
Oberarms ansetzt. Der untere Rand dieses Muskels bildet die
vordere Begrenzung der Achselhöhle, die demnach beim Senken des
Armes sich vertieft, beim Heben verstreicht. Je kräftiger er ist,
desto stärker wird diese Grenzlinie hervortreten, und desto gleich-
massiger wird die obere Wölbung der Brust in die Schulter über-
gehen.
Ist der Muskel schlecht entwickelt, dann treten die Schultern
vor, und es entsteht eine tiefe Einsenkung zwischen Schulter und
Brust unterhalb des Schlüsselbeins bis in die Achsel (vgl. Fig. 16).
Auf den grossen Brustmuskeln , den äusseren Rand derselben
nur wenig überragend, liegen die Brüste (vgl. Fig. 41) in der
Höhe der 3. — 6. Rippe.
Aus diesem Verhältniss geht hervor, dass der Brustkorb sowie
der Brustmuskel einen sehr wesentlichen Einfluss auf die Form der
Brust im engeren Sinne haben müssen.
Bevor wir jedoch uns mit den Brüsten beschäftigen, müssen
wir noch die Verhältnisse der Haut in Kurzem berücksichtigen.
Die Haut ist in der Gegend der Brustwarzen besonders zart
und dünn; in der Mitte nach dem Brustbein zu wird sie etwas
dicker und heftet sich der knöchernen Unterlage, der sie hier un-
mittelbar aufliegt, fest an. Nach den Achseln zu wird sie eben-
falls dicker, liegt dem unter ihr liegenden Brustmuskel am unteren
Rande wieder etwas fester an, zugleich aber entwickelt sich hier
eine mächtigere Fettlage, die die Achselhöhle auspolstert, sich
zwischen Brustmuskel und Brustkorb hineinschiebt und sich am
unteren Rande des Muskels nach vorn zu allmählig verliert.
Zwischen Haut und Muskel liegt über der 4. Rippe, unter der
Brustwarze, beim Kinde die Anlage der Milchdrüse, die beim
Knaben nicht zur Entwickelung kommt, beim Mädchen aber etwa
vom zehnten Jahre an zu wachsen beginnt, und schliesslich den
Raum von der 3. bis zur 6. Rippe einnimmt.
Die Milchdrüse bildet anfänglich einen flachen scheibenförmigen
Körper, dessen Ausführungsgänge nach den Brustwarzen ziehen.
Diese sind mit ihrer Axe nach aussen gerichtet. Später entstehen
116 Brüste.
zwei halbkugelige Erhabenheiten, die zunächst dem grossen Brust-
muskel in ihrem ganzen Umfang aufliegen. Je grösser die Drüsen
werden, desto mehr spannen sie die Haut in ihrer Umgebung und
schieben sich zwischen diese und die darunterliegenden Theile hinein.
Da nun aber die Haut bei guter Entwickelung am Brustbein fest
anhaftet, so wird die losere Haut aus der Achselgegend stärker
herangezogen, während über dem Brustbein zwischen den wachsen-
den Brüsten eine leichte Vertiefung, der Busen, bestehen bleibt.
Zugleich drehen sich dann die Axen der Brustwarzen etwas mehr
nach vorn.
Im Stadium der ersten Reife wölbt sich der wachsende Drüsen-
körper etwas über den äusseren Rand des Brustmuskels vor (Fig. 41),
so dass die halbkugelige Brust sich in leichtem Winkel von der
Hautfalte abhebt, welche, den Brustmuskel in sich fassend, die
vordere Achselhöhle abschliesst (Fig. 45, vgl. auch Fig. 5).
Um die wachsende Drüse vergrössert sich stets auch mehr
oder weniger das Fettpolster, welches die Gestalt der Drüse mehr
abrundet und die Uebergänge zu den umliegenden Theilen weicher
macht. Je kräftiger die Drüse entwickelt ist, desto praller und
härter ist die Brust, während bei stärkerer Entwickelung des Fett-
polsters die Brust grösser und weicher wird.
Je fester das elastische Unterhautbindegewebe gefügt ist, desto
schwieriger wird daselbst Fett abgelagert, und darum ist eine vor-
wiegend aus Drüsensubstanz bestehende Brust meist gepaart mit
praller, elastischer Haut; aus demselben Grunde aber ist sie mit
der Haut sowohl als mit dem darunter liegenden Brustmuskel viel
fester und inniger verbunden.
Durch die Elasticität der Haut und die feste Anheftung wird
zugleich die wachsende Brust am Herabziehen verhindert, und wird
eine scheibenförmige, bis halbkugelige Hervorragung bilden, die bei
gleichmässiger Spannung der Haut sich überall in weichen Linien
aus der Umgebung erhebt.
Neigung zu Fettansatz aber geht meist gepaart mit geringerer
Bindegewebsausbildung und geringerer Elasticität der Haut. Dem-
nach werden vorwiegend aus Fett bestehende Brüste schlaffer sein,
sich senken und tiefer stehen, und eher an ihrem unteren Rande
Brüste.
117
die Haut in einer Falte abheben, als bei ersterwähnter Be-
schaffenheit.
Der naturwissenschaftliche Werth der Brust hängt aber ab
Fig. 45. 14 jähriges Mädchen mit guter Absetzung der Brust gegen die vordere
Achselgrenze (rechts).
von der Entwickelung des Drüsenkörpers, demnach können wir von
diesem Standpunkt aus verlangen, dass die Brust hart und prall,
nicht zu gross, scheibenförmig bis halbkugelförmig sei,
118 Brüste.
dass sie ihrer Unterlage sowie der Haut gut anhaftet, dass
sie zwischen der 3. und 6. Rippe, die Warze nicht tiefer als
die 4. Rippe, steht und dass sich unter der Brust keine
Hautfalte bildet.
Ausserdem muss die Warze gut und gleichmässig ent-
wickelt sein und etwas über den Warzenhof emporragen.
Der Messung zugänglich ist der jeweilige Abstand der
Brustwarzen. Derselbe darf bei gut entwickelten Brüsten
nicht kleiner sein als 20 cm.
Denselben Standpunkt hat aber auch die Kunst, voran die
griechische, stets eingenommen, und so deckt sich auch hier wieder
das Normale mit dem Schönen.
Da wir mit dem Tiefstehen der Brüste den Begriff des Hängens
verbinden, so halten wir einen hohen Ansatz derselben für schön.
Diese Auffassung ist naturwissenschaftlich begründet, da bei
gut gewölbtem Brustkorb die Rippen enger an einander stehen und
horizontaler verlaufen, wodurch der obere Theil des Brustkorbs dem
Ansatz der Brüste eine breitere Fläche bietet, welche durch einen
kräftig entwickelten Brustmuskel noch erweitert und abgerundet
wird. So wird gegenseitig hoher Brustansatz und gute Entwicke-
lung des Brustkorbs und Brustmuskels bedingt.
Am schwindsüchtigen Brustkorb stehen die Brüste au und für
sich tiefer, da die Rippen alle, und demnach auch die der Warze
entsprechende 4. , schräg nach abwärts verlaufen und weiter aus
einander stehen. Ausserdem aber folgen die Brüste dem Gesetze der
Schwere um so eher, als der Brustkorb mehr abschüssig und die
Gewebe schlaff sind. Aus demselben Grunde bildet sich unter ihnen
eine Hautfalte (vgl. Venus von Botticelli, Fig. 6).
Als Beispiel für eine gut gebaute Brust diene Fig. 46.
Der Brustkorb ist gut und gleichmässig gewölbt, die Schlüssel-
beine springen nicht vor, unter ihnen wölbt sich die Brust gleich-
massig mit breiter oberer Fläche, ohne dass die Rippen sichtbar
sind. Die kräftige Entwickelung des Brustmuskels ist ausser der
gleichmässigen Wölbung an der guten Ausprägung der vorderen im
Arm sich verlierenden Achsellinie erkennbar. Die Brüste sind halb-
kugelig hoch angesetzt, liegen dem Brustmuskel zum grössten Theil
Brüste.
119
auf, bilden keine Hautfalte. Dass sie mit der Unterlage verwachsen
sind, ist ersichtlich aus der rechten Brust, die mit dem rechten ge-
hobenen Brustmuskel zusammen emporsteigt.. Der untere Rippen-
rand bildet in der Herzgrube einen rechten Winkel.
Dasselbe Verhältniss zeigt Fig. 44 bei kleineren Brüsten und
TV^V^
Fig. 46. Gut gebaute Brust.
Fig. 25 bei etwas schwächerer Entwickelung des Muskels und
stärkerem Fettansatz.
Als Beispiel für eine schlecht gebaute Brust dient Fig. 47,
das den schwindsüchtigen Typus repräsentirt.
Der Brustkorb ist flach, schmal und wenig gewölbt, die
Schlüsselbeine und die Schultern treten stark hervor. Die 2. und
120
Brüste.
der Ansatz der 3. Rippe ist links bei der seitlichen Beleuchtung
deutlich sichtbar. Der Brustmuskel ist schwach entwickelt, so dass
— — : ; ' 1
Fig. 47. Schlecht gebaute Brust.
die vordere Achsellinie kaum hervortritt. Die Brüste sind gesunken
und haben die Brusthaut mit herabgezogen, wodurch eine schräge Linie
vom Brustbein nach aussen entstanden ist, die unter der Brust in eine
Hautfalte ausläuft. Die Brustwarze steht zwischen der 5. und 6. Rippe.
Brüste. 121
Der untere Rippenrand bildet in der Herzgrube einen spitzen
Winkel, die Rippen sind unter den Brüsten zum Theil durch die
Haut erkenntlich.
Wenn man trotz aller dieser Fehler der Gestalt einen gewissen
jugendlichen Liebreiz nicht absprechen kann, so erinnere ich nur
wieder an die Venus des Sandro Botticelli, die denselben Typus
repräsentirt. Auch das Krankhafte kann seinen Reiz haben, aber
schön ist es nicht.
Wir haben gezeigt, dass die Beschaffenheit der Brüste ausser
vom Drüsenkörper selbst abhängig ist von der Form des Brustkorbs,
der Stärke der Muskeln und der Elasticität der Haut, und dass ein
Fehler bei einem dieser Elemente auch stets eine Entstellung der
Brüste zur Folge hat.
Ueber den Brustkorb und die Muskulatur ist bereits ge-
sprochen, die Elasticität der Haut jedoch ist nur beiläufig erwähnt,
insofern als mit geringerer Elasticität grössere Neigung zur Fett-
bildung gepaart geht.
Ausserdem aber kann Verringerung der Elasticität die ursprüng-
lich schöne Form der Brüste vorübergehend oder auch dauernd ent-
stellen. Verringerung der Elasticität tritt ein, wenn auf stärkere
Anspannung Erschlaffung erfolgt, oder wenn die Grenze der Dehn-
barkeit überschritten ist. Der erste Fall findet sich bei starker Ab-
magerung und bei Schwangerschaft, der letzte bei Neigung zum
Fettansatz.
Starke Abmagerung als Folge acuter Krankheiten oder an-
strengender Lebensweise kann leicht durch Ruhe und gute Kost
wieder verschwinden, auch die durch die Schwangerschaft verursachte
zeitweise Füllung der Brüste kann verschwinden, ohne eine bleibende
Entstellung zu hinterlassen , und zwar geschieht dies bei richtiger
Behandlung viel häufiger, als im allgemeinen angenommen wird.
Eine meiner Patientinnen, die sechsmal geboren hatte, zeigte weder
an den Brüsten noch sonst an irgend einem Theil ihres Körpers
die geringsten Spuren der überstandenen Schwangerschaften.
Neigung zu Fettansatz hingegen verdirbt die Form der Brüste
meist dauernd, und zwar um so eher, wenn er mit unzweckmässiger
Ernährung gepaart geht.
122 Brüste.
Es ist dies ein Fehler, der die Brüste von weitaus den meisten
Künstlermodellen in sehr kurzer Zeit unbrauchbar macht.
Diese meist der ärmeren Klasse angehörigen Mädchen, wachsen
bei mangelnder Fleischkost in spärlichen Körperverhältnissen heran,
wobei dann zur Zeit der Reife durch stärkere Fettablagerung eine
gewisse Fülle der Formen entsteht, die bei mangelnder Elasticität
der Haut nur von äusserst kurzer Dauer ist.
Fig. 48 zeigt eine derartige vergängliche Schönheit. Die Ge-
stalt zeigt gedrungene, aber gefällige Formen; jedoch deren Run-
dung ist nicht durch kräftige Muskeln bedingt, sondern durch den
Fettansatz der jugendlichen Reife. Die Brüste sind rund, gut ge-
füllt und prall; jedoch fehlt die gute Ausprägung der vorderen
Achselgrenze, der Beweis des Vorhandenseins eines kräftigen Brust-
muskels.
Die schräge Linie, die vom Brustbein nach aussen unten ver-
läuft und die rechte Brust vom Busen scheidet, beweist, dass die
Brust durch ihre Schwere die Haut bereits herabgezogen hat. Bei
der geringsten Vermehrung des Gewichts wird die untere Begrenzung
der Brüste zur Falte, und dasselbe tritt ein, wenn die jugendliche
Fülle durch anstrengende Lebensweise oder nach Schwangerschaft
verschwindet. Die höchste Blüthe ist erreicht, vielleicht schon über-
schritten, so oder so muss sie vergehen; beaute du diable.
Sehr hübsch und sehr wahr ist die Anekdote, die, wie ich
glaube, von Cabanel erzählt wird. Er hatte ein sehr schönes Mäd-
chen für schweres Geld als Modell angenommen unter der Be-
dingung, dass sie ein streng eingezogenes Leben führe.
Eines Tages fand er sie verändert und schickte sie weg. Die
Nacht vorher war das Mädchen zum ersten Mal von der vorge-
schriebenen Lebensweise abgewichen.
Fig. 48 kann zugleich als Vorbild dienen für die oben auf-
gestellte Behauptung, dass die Beschaffenheit der Brüste eine der
besten Kriterien ist zur Bestimmung der höchsten Blüthe einer Frau.
Im allgemeinen kann man sagen, dass jede Verminderung einer
einmal erreichten Fülle den Körper nachtheilig beeinflusst, und dass
die Brüste derjenige Körpertheil sind, an dem auch die geringste
Abmagerung am ersten und deutlichsten sichtbar wird.
Brüste.
123
Vor der höchsten Blüthe tritt eine stetige Zunahme in der
Rundung der Formen ein. Nach derselben tritt Abmagerung ein,
oder eine mit Ueberspannung der Haut einhergehende Ueberf'ülle.
Fig. 48. Vollentwickelte Brust einer beaute du diable (Böhmin).
Während der höchsten Blüthe muss demnach die Form der
Brüste derart sein, dass die geringste Vermehrung oder Verminderung
ihres Umfangs die Form beeinträchtigt.
Beide Fälle sind dadurch gekennzeichnet, dass der obere Theil
124 Bauch.
der Brüste sich abflacht, während der untere Theil sich stärker
rundet, wobei zugleich die Axe der Brustwarze mehr nach oben
gerichtet wird.
Aus alledem geht weiter hervor, dass die höchste Blüthe um
so länger dauert, je mehr die Form der Brust durch den Drüsen-
körper und bindegewebige Elemente gebildet wird, um so kürzer,
je mehr sie ihre Form dem Fettpolster zu verdanken hat.
Am dauerhaftesten sind kleine, flache, hochangesetzte Brüste
mit schön gewölbtem Brustkorb und kräftig entwickeltem Muskel.
Das Lebensalter hat wenig mit der Schönheit der Brust zu
machen; ich habe ein Mädchen von 15 Jahren mit hängenden
Brüsten gesehen, und eine Dame von 60, die, dank dem kalten
Wasser und körperlichen Uebungen, trotz mehrfacher Geburten die
vollendet schöne Form ihrer Brüste bewahrt hatte.
Bau c h.
Der Bauch wird von oben durch den unteren Rippenrand, von
unten durch die Kämme der Darmbeinschaufeln und die Leisten-
bänder begrenzt. Seine Form hängt im wesentlichen ab von seiner
muskulösen Bedeckung und von der Form der oberen und unteren
knöchernen Grenze.
Die für den unteren Rippenrand bereits genannten Bedingungen
gelten auch für die Plastik des Bauches. Der Brustkorb muss. eine
gleichmässig gewölbte untere Grenze haben, die am Brustbein in
einem nahezu rechten Winkel zusammenstösst, um den Bauchmuskeln
eine breite Anheftungsfläche zu bieten.
Das Becken (vgl. Fig. 29) liegt grösstentheils im Inneren des
Körpers verborgen; dicht unter die Haut treten nur die Darmbein-
kämme und die Vereinigung der Schambeine.
Bei normal gebautem Becken des Weibes muss der grösste
Abstand der Dar mb einkämme (Cristae) mindestens 28 cm be-
tragen, während ihre vordersten Enden, die Dornen (Spinae), min-
destens 26 cm von einander abstehen müssen. Noch wichtiger als
die Masse selbst ist der jeweilige LTnterschied , der durchschnittlich
3 cm, nie weniger als 2 cm betragen soll.
Becken.
125
Ein drittes Breitenmass ist der Abstand der Hüften an dem
Oberschenkelknorren (Trochanteren); dieser muss mindestens
31 betragen, also 2 — 3 cm mehr als der Kammabstand (Fig. 49).
Der Unterschied in diesen drei Massen lässt Rückschlüsse zu
auf die Gestaltung des Beckenkanals und ist deshalb von grosser
Wichtigkeit für den Geburtshelfer.
Je grösser die Masse und je grösser der Unterschied derselben
unter einander, desto besser gewölbt ist das Becken und desto ge-
räumiger seine Höhle. Die normalen, durch zahlreiche Messungen
x t
Fig. 49. Weibliches Becken.
CC Kammbreite (Cristae), SS Dornbreite (Spinae), TT Hüftenbreite (Trochanteren),
x x Schambeinvereinigung.
festgestellten Durchschnittsmasse sind: Dornbreite 26, Kammbreite 29,
Hüftbreite 31,5 (Differenz 3 und 2,5 cm).
Das breite Becken ist ein naturwissenschaftlicher Beweis für
die Tüchtigkeit der Besitzerin zur Fortpflanzung, also das wichtigste
secundäre Geschlechtsmerkmal. Zugleich aber wird es vom künst-
lerischen Standpunkt als Schönheit angesehen. Also auch hier
wieder ein sprechender Beweis, dass das Normale und das Schöne oft
unbewusst denselben Gesetzen gehorchen müssen.
Je geringer die Wölbung der Beckenschaufeln ist, desto mehr
müssen die Dornen nach aussen treten, bis sie schliesslich ebenso
weit abstehen als die Kämme in ihrer grössten Entfernung, ja es
kann sogar vorkommen, dass die Dornen den mittleren Abstand der
126 Bauch.
Kämme in der Breite überschreiten. Die Erfahrung hat gelehrt,
dass dann auch die Beckenhöhle stark verengert wird, und dass der-
artige Fehler in der Entwickelung des Beckens in weitaus den
meisten Fällen auf Rhachitis beruhen.
Hand in Hand mit der geringeren Wölbung der Beckenschaufeln
geht aber eine geringere Wölbung der von ihr entspringenden mus-
kulösen Bauchwand ; diese hat bei dem geringeren Umfang der
knöchernen Basis eine grössere Last zu tragen und wenn sie ihrer
Aufgabe nicht gewachsen ist, sinkt sie nach unten, es ensteht ein
Hängebauch.
Die Vereinigung der Schambeine liegt hinter dem Schamberg,
so dass ihre obere Grenze etwa mit der Grenze der Schamhaare
nach oben zusammenfällt. Bei aufrechter Stellung liegt ihr vor-
derster Punkt ungefähr in derselben senkrechten Fläche wie die
Dornen (vgl. Fig. 32). Von hier zieht gegen die Dornen zu jeder-
seits das Leistenband , das , mit den Knochen fest verbunden , die
untere Grenze des Bauches bestimmt.
Die vordere Bauchwand besteht ausschliesslich aus Muskeln
und Haut.
Von den Muskeln sind die wichtigsten die geraden Bauch-
muskeln (Fig. 41), die von der Mitte des unteren Rippenrandes zu
den Schambeinen herabsteigen. Wenn sie gut entwickelt sind, müssen
sich rechts und links von ihnen zwei Furchen erkennen lassen.
Fehlen derselben ist ein Zeichen ungenügender Entwickelung.
Die übrigen Bauchmuskeln liegen seitlich über den Kämmen
und bilden die Weichen, die nach hinten in die Lenden über-
gehen ; auch sie müssen gut ausgeprägt sein, da sie die gute Spannung
des Bauches in die Quere bedingen.
Fig. 41 zeigt die Lage der Muskeln , welche bei guter Ent-
wickelung ebenso viele Hervorwölbungen auf der Bauchfiäche, zwei
mittlere längere und zwei kürzere seitliche, zum Gesetze machen.
Einigermassen wird diese Gestaltung beeinflusst durch die Vertheilung
des Fettpolsters, das bei der Frau sich in der Gegend um den Nabel
und auf dem Schamberg stärker anhäuft. Da diese Fettvertheilung
ein secundäres weibliches Geschlechtsmerkmal ist, so muss sie unter
normalen Verhältnissen deutlich ausgeprägt sein.
Bauch. 127
Wenn wir nun weiter ins Auge fassen , dass durch die von
oben und seitlich einsetzenden Muskelmassen der Unterleib abgeflacht
und zurückgedrängt werden muss, soweit er unterhalb der Muskeln
liegt (also nicht die Nabelgegend), so können wir am gut gebauten
Bauche das Folgende erkennen:
Der Bauch ist flach gewölbt; in der Mittellinie so-
wie jederseits etwa handbreit davon ziehen zwei Furchen
herab, die sich allmählig in der am stärksten und weich
sich vorwölbenden Nabelgegend verlieren, unterhalb
derselben aber wieder etwas deutlicher werden. Der
Nabel liegt in einer (durch die Fettanhäufung bedingten) tieferen
Grube. Ausserhalb der seitlichen Furchen wölben sich
die Weichen stärker hervor. Der Uebergang aller dieser
Furchen und Wölbungen muss weich sein.
Zwischen Nabelgegend und Schaniberg bildet der Um-
riss im Profil eine leichte Wellenlinie, aus der sich der
Schamberg stärker hervorhebt (vgl. Fig. 24).
Jedes Abweichen von diesen Vorschriften ist ein Fehler, ver-
ursacht durch schlechte Ernährung, fehlerhafte Knochenbegrenzung
nach Rhachitis etc., unrichtige Fettvertheilung, nicht genügende Ent-
wickelung der weiblichen Geschlechtscharaktere, und endlich durch
das Schnüren.
Ausser den Fehlern treten aber auch deren Folgezustände
mehr und mehr hervor.
Bei schlechter Ernährung, d. h. ungenügender Fleischkost, ist
die Masse der nöthigen Nahrung grösser, die Därme werden stärker
ausgedehnt, so dass die Spannung des Bauches zunimmt, ohne dass
die Muskeln kräftiger werden: die Bauchwand wird dünner, wölbt
sich stark vor und ist wenig modellirt , es entsteht der Spitzbauch.
Bei zu starkem und gieichmässig über den ganzen Bauch ver-
teiltem Fettpolster entsteht der gieichmässig runde , durch keine
Furche in seiner Gestaltlosigkeit getrübte Froschbauch. Ein gut
ausgebildetes Exemplar dieser Gattung zeigt Fig. 14.
Bei schmalem Brustkorb ist der Verlauf der Bauchwand nach
dem Becken zu verbreitert, namentlich aber die Wirkung der geraden
Bauchmuskeln bei geringerer Breite beeinträchtigt. Bei ungenügender
128 Bauch.
Wölbung des Beckens, wie sie namentlich häufig bei Rhachitis auftritt,
ist durch das Nachaussentreten der Dornen ein ähnliches Verhältniss
geschaffen, das noch ärger wird, wenn zugleich auch ein enger Brust-
korb besteht. Die ganze Last der Baucheingeweide ruht dann auf
dem unteren Theil der an und für sich in ungünstigen Verhältnissen
verkehrenden Muskelwand, die sich mehr und mehr nach unten vor-
wölbt; es entsteht ein Hängebauch.
Ein sehr wichtiges Hülfsmittel zur Erzeugung dieser Difformi-
täten ist der Missbrauch der Corsets.
Schnürt man die Mitte ein, dann verengert sich zunächst die
untere Rundung des Brustkorbs, so dass alle Muskeln an kurzer
Haftfläche liegen. Die geraden Bauchmuskeln, von deren Entwicke-
lung hauptsächlich die schöne Form des Unterleibes abhängt, können
sich nicht zusammenziehen, da die Druckfürchen mitten über sie hin-
laufen; ihre oberen Parthien sind zur Unthätigkeit verurtheilt, während
die unteren die ganze Last der herabgepressten Eingeweide zu tragen
haben. Seitlich werden die Weichen eingeschnürt, auch hier schwinden
die Muskeln und das Fett sinkt nach unten.
Eine einzige Geburt genügt, um alle diese ihrer Widerstands-
fähigkeit beraubten Elemente zeitlebens in einen schlaffen, herab-
hängenden Sack zu verwandeln, nachdem sie selbst der betroffenen
Patientin viel mehr Leiden verursacht hat, als je im Fluche nach
dem Sündenfall dem Weibe zugemuthet worden war.
Schwangerschaften unter normalen Verhältnissen hinterlassen
nur dann bleibende Spuren, wenn sie sehr zahlreich und rasch hinter
einander auftreten. Bei geschnürtem Leibe dagegen ist die Stufen-
leiter: Wespentaille, Spitzbauch, schwere Geburt, Hängebauch, zweite
schwere Geburt, faltiger Hängebauch.
Noch rascher verliert sich die Schönheit des Bauches, wenn
während der Schwangerschaft stark geschnürt wird, dagegen wird
sie durch kräftiges Einbinden nach der Geburt erhalten.
Die Schwangerschaftsnarben bilden sich bei genügender Elasti-
cität der Bauchdecken ganz oder doch grösstenteils zurück.
An den Leisten geht der Bauch in weichen Linien in die
Schenkel über, in der Mitte setzt er sich fort in den Schamberg.
Die leichte quere Einsenkung darüber ist zugleich die obere Grenze
Bauch. 129
der Schambehaarung. Höher hinauf wachsende Haare sind dem
Manne eigenthümlich und darum bei der Frau ein Fehler.
Es ist bereits früher darauf hingewiesen, dass der Laie, durch
Traditionen der bildenden Kunst veranlasst, sich geneigt fühlt, die
Behaarung des Schamberges für unschön zu halten. Der Arzt, an
den Anblick gewöhnt, findet sie natürlich und darum nicht hässlich
bei massiger Entwickelung. Starke Entwickelung ist ein Fehler,
weil sie an das Thierische und Männliche erinnert, und dadurch den
weiblichen Geschlechtscharakter verletzt.
In ausführlicher Weise hat Brücke1) die Grenzlinien zwischen
Bauch und Schenkeln beim Weibe besprochen. Er unterscheidet
zwei Hauptformen; bei der einen bilden die Trennungslinien zwischen
Scham und Schenkeln einen spitzen Winkel, verlaufen steil nach
aufwärts und vereinigen sich mit der von den Dornen nach abwärts
führenden Beckenlinie, bei der zweiten bilden sie einen stumpferen
Winkel und verlaufen tiefer abwärts nach den Schenkeln zu, während
die von den Dornen absteigende Beckenlinie oberhalb in die Furche
zwischen Sckamhügel und Nabelgegend ausläuft. Die erste Form
ist bedingt durch geringere Beckenneigung, hohe Darmbeinschaufeln
und näher gestellte Dornen, die zweite durch stärkere Beckenneigung,
breite Darmbeinschaufeln und weit gestellte Dornen.
Da nun eine stärkere Beckenneigung (vgl. Fig. 32) ebenso wie
ein breites Becken für das weibliche Geschlecht charakteristisch sind,
so können wir ohne weiteres der zweiten Form den Vorzug geben.
Da in diesem Falle, bei stärkerer Beckenneigung, die Scham-
spalte ebenfalls mehr nach unten und hinten tritt, so ergiebt sich
daraus die weitere Folge , dass die Gestaltung des Bauches um so
normaler und darum schöner ist, je weniger in der aufrechten
Stellung von vorn die Schamspalte sichtbar ist.
Ein Beispiel der ersten Form bietet Fig. 45, bei der das Becken
noch nicht die volle weibliche Entwickelung erreicht hat. Eine vor-
zügliche Ausbildung der zweiten Form zeigt Fig. 50, die einen auch
im übrigen völlig fehlerfreien Rumpf aufzuweisen hat.
Eine dritte, zwischen Nabel und Schamberg etwas höher quer
*) Brücke, Schönheit und Fehler der menschlichen Gestalt, p. 111 ff.
Stratz, Die Schönheit des weiblichen Körpers. 9
130
Bauch.
verlaufende Linie er-
wähnt Richer x) als
charakteristisch für
das weibliche Ge-
schlecht. Ich stimme
ihm bei, halte jedoch
diese Linie für ein
Kunstproduct, da ich
sie nur zusammen mit
anderen Folgen von
starkem Schnüren ge-
sehen habe (vergl.
Brücke 1. c. p. 87).
Die zweite, zwischen
Nabel und Schamberg
verlaufende Linie darf,
wie auch Langer 2)
hervorhebt, nur an den
Seiten deutlich sein
und muss in der Mittel-
linie zu einer seich-
ten Furche verflachen.
Erst bei übermässiger
Fettbildung tritt sie
schärfer hervor.
Der Nabel kann
gross oder klein, flach
oder eingezogen sein,
hoch oder tief stehen.
Da ein grosser Nabel
die Folge eines man-
gelhaften Verschlusses
des Nabelrings ist, so
muss ein kleiner Nabel schön sein, weil er die Folge besserer Ent-
Fig. 50.
Weiblicher Körper mit schönen Grenzlinien
zwischen Rumpf und Schenkeln.
Anatomie artistique, p. 188.
Anatomie der äusseren Foi'men, p. 209.
Kücken. 131
wickelung ist. Und da beim Weibe eine stärkere Fettanhäufung
um den Nabel, die denselben zugleich vertieft, zu den secundären
Geschlechtscharakteren gehört, so verdient bei ihr ein eingezogener
Nabel den Vorzug. Beim Kind steht der Nabel am tiefsten und rückt
mit zunehmender Ausbildung des Körpers bei beiden Geschlechtern
mehr und mehr nach oben; Hochstand des Nabels ist demnach ein
Zeichen besserer Entwicklung.
Für den Nabel der Frau können wir in Folge dessen als Fehler
bezeichnen, wenn er gross, flach und tiefstehend, als Vorzüge, wenn
er klein, eingezogen und hoch angesetzt ist.
Rücke n.
Der Rücken bildet die gemeinschaftliche Kehrseite von Brust
und Bauch. Seine schöne Gestaltung hängt in erster Linie vom
normalen Bau der knöchernen Unterlage ab , und dafür gelten die-
selben Vorschriften wie oben.
Die Wirbelsäule muss, von hinten beträchtet, ganz gerade ver-
laufen. Durch Rhachitis, durch unzweckmässige Lebensweise, haupt-
sächlich Ueberanstrengung in jugendlichem Alter mit oder ohne
Rhachitis, durch tuberculöse Wirbelkrankheiten können Verkrüm-
mungen entstehen, die als ebenso viele Fehler zu betrachten sind.
Im Profil muss die Wirbelsäule im oberen Brusttheil etwas
nach hinten, im Lendentheil sich nach vorn vorwölben, wodurch eine
leichte Rundung in der Schultergegend und eine Höhlung im Kreuz
entsteht; diese letztere muss beim Weibe besonders deutlich aus-
geprägt sein, weil sie, zusammen mit "der stärkeren Beckenneigung,
ein secundäres Geschlechtsmerkmal bildet.
Eine zu starke Rundung des oberen Rückentheils, der runde
Rücken, ist ein Fehler. Derselbe kann nicht bestehen, ohne dass
auch der Brustkorb stark nach hinten tritt und deshalb die Brust
flach wird und die Schultern nach vorn sinken. Es ist bekannt1),
dass eine derartige Bildung in einzelnen Geschlechtern erblich ist
und sich namentlich bei Juden häufig1 findet.
!) Vgl. Hoffa, Orthopädische Chirurgie, p. 221.
132
Rücken.
Fig. 51, dem Buche von Hoffa entnommen, zeigt den typischen
runden Rücken.
Hoffa nimmt an, dass eine derartige laxe Haltung hauptsäeh-
Fig. 51. Runder Eücken nach Hoffa.
lieh auf Willensschwäche beruht. Ein vergleichender Blick auf
Fig. 16 jedoch lehrt uns, dass mangelhafte Muskelentwickelung den-
selben Einfluss ausüben muss. Im ersteren Fall müsste demnach
Rücken. 133
durch Muskelspannung der Fehler ausgeglichen werden können, im
zweiten nicht.
Eine zu starke Höhlung im Lendentheil, der hohle Rücken,
ist ebenfallst ein Fehler, der wiederum ein starkes Vorspringen des
Bauches nach vorn und des Gesässes nach hinten veranlassen muss.
Er findet sich physiologisch in der späteren Zeit der Schwanger-
schaft, bei der das Ueberwiegen des stark gedehnten Bauches durch
Uebersinken des Oberkörpers nach hinten ausgeglichen wird; dann
aber auch bei jeder zu starken Neigung des Beckens, wie sie nament-
lich bei Hüftgelenksentzündung vorkommt.
Ein hohler Rücken geht gepaart mit zu schwacher Entwicke-
lung der Rückenmuskulatur.
Als normale können wir eine Krümmung ansehen, die ein
Profil giebt wie Fig. 32.
Auf der Mittellinie des Rückens sind die Dornfortsätze der
Wirbelbogen deutlich durch die Haut fühlbar, zum Theil auch
sichtbar; am stärksten springt oben im Nacken der 7. Halswirbel
ins Auge.
Seitliche Verkrümmungen der Wirbelsäule haben stets auch
fehlerhafte Bildung des Brustkorbes zur Folge.
Der Brustkorb muss auch hinten symmetrisch gebaut und gut
gewölbt sein. Ist er, bei flacher Brust, zu stark gewölbt, dann
treten die Schulterblätter zu stark heraus, und die Schultern sinken
nach vorn. Ist er, wie bei der Anlage zur Schwindsucht, zu lang
und zu schmal, dann sinken die Schultern herab und heben den
unteren Winkel der Schulterblätter heraus. Ist er ungleichmässig
entwickelt, dann steht das eine Schulterblatt höher als das andere,
und der eine Winkel steht weiter entfernt oder schiefer gegen die
Mittellinie als der andere.
Geringere Fehler der Wirbelsäule sowohl wie des Brustkorbes
lassen sich demnach am besten nach dem Stand der. Schulterblätter
beurtheilen.
So zeigt Fig. 52 einen tieferen Stand des rechten Schulter-
blattes mit stärkerem Hervortreten seines unteren Randes als erstes
Zeichen einer beginnenden Rückgratverkrümmung nach links mit
stärkerer Wölbung1 der rechten Hälfte des Brustkorbes.
134
Rücken.
Dass ein zu schmales Becken die Gestalt des Rückens ver-
derben muss, geht schon daraus hervor, dass für ihn dasselbe Ver-
hältniss zwischen Schulterbreite, Taillenbreite und Hüftbreite be-
stehen muss, wie an der
Vorderseite des Rum-
pfes, und dass die Ver-
ringerung der Hüftbreite
den weiblichen Ge-
schlechtscharakter ver-
schwinden l'ässt.
Von besonderer Wich-
tigkeit jedoch ist das
Kreuzbein , das beim
Weibe sehr viel breiter
ist als beim Manne, und
das zur Gestaltung des
Rückens um so mehr bei-
trägt, als es dicht unter
der Haut liegt; rechts
und links von ihm liegen
die hinteren Dornen der
von vorn kommenden
Darmbeinkämme, deren
Abstand zugleich die
obere Breite des Kreuz-
beines angiebt und min-
destens 10 cm betragen
muss.
Je gleichmässiger die
Wölbung der Darmbein-
kämme ist, desto besser wird die Wölbung des Rückens in den
Lenden, die der unteren hinteren Rippenwölbung entsprechen muss,
um eine gleichmässige Spannung der daran befestigten Muskeln zu
ermöglichen.
Während die tiefer liegenden Rückenmuskeln beinahe alle mit
der Wirbelsäule parallel verlaufen und die Skelettheile verbinden,
Fig. 52.
Tiefstand der rechten Schulter hei beginnender
Rückgratsverkrümmung (nach Hoffa).
Rücken.
135
abrunden und ihre Uebergänge
verstreichen lassen, sind die
höher liegenden Rückenmus-
keln, also gerade diejenigen,
die der Oberfläche das Relief
geben, alle nach der Schulter
gerichtet (Fig. 42).
Um das feine Relief der
Rückenmuskeln zu verstehen,
ist eine genaue Kenntniss der-
selben nöthig ; für unsere Zwecke
genügt es, darauf aufmerksam
zu machen, dass die meisten
Muskeln zum Schulterblatt und
von diesem zur Schulter ziehen,
dass sich aber der grosse Ka-
puzenmuskel und der breite
Rückenmuskel jederseits dar-
über hinlegen, so dass sich an
ihnen ausser ihren eigenen auch
die Bewegungen der darunter
liegenden Schulterblattmuskeln
gewissermassen verschleiert in
wechselvollem Spiele markiren.
Da die Muskeln von der
Mitte nach rechts und links
verlaufen, so wird sich zwischen
den Muskelbäuchen bei guter
Entwicklung eine Rinne bilden,
die um so tiefer wird, je stärker
die Schultern nach hinten ge-
zogen werden. Im Kreuz läuft
diese Rinne flach aus, weil hier
das knöcherne Gerüst der Haut
sich anlegt. Das Relief des Rückens wird vollendet durch die Haut
mit ihrem Fettpolster.
Fig. 53. Schön modellirter Rücken eines
javanischen Mädchens.
13(3 Rücken.
Auf die Vertheilimg des Fettes an den Schultern kommen wir
noch zu sprechen; für den übrigen Rücken ist die Thatsache von
Wichtigkeit, dass beim Weibe ein stärkeres Fettpolster von den
Fig. 54. Rücken einer Pariserin, durch Schnüren verflacht.
Hüften aus über die Darmbeinkämme nach oben zieht, sich seitlich
und oberhalb der Kreuzgegend in den Lenden stark anhäuft und
dieselben so abrundet, dass sie in gieichmässiger Wölbung nach den
Hüften hin abfallen. Richer hat auf diesen Umstand besonders
Kreuzgrübchen.
137
aufmerksam gemacht und
die diesbezüglichen Ge-
schlechts-Unterschiede im
Bilde festgehalten (vergl.
Fig. 43). Beim Manne bleibt
der Darmbeinkamm stets
deutlicher sichtbar. Am
Kreuz haftet die Haut der
knöchernen Unterlage stets
mehr an, am stärksten aber
in der Gegend der hin-
teren Dornen, woselbst sich
bei genügender Fettbildung
zwei Grübchen, die Kreuz-
grübchen, formen, die, bei
seitlicher Beleuchtung deut-
lich sichtbar, ein charakte-
ristisches Zeichen schöner
weiblicher Körperbildung
sind (Fig. 53).
Als charakteristisch
für das gut gebaute Weib
müssen wir ansehen, dass der
Abstand dieser Grüb-
chen mindestens 10 cm
beträgt (Breite des Kreuz-
beins), class sie gleich-
massig rund und nicht
länglich sind (breite
Wölbung des Hüftbeins)
und dass ihre Verbin-
dung mit dem oberen
Ende des Spaltes zwi-
schen den Hinterbacken einen Winkel von 90° bildet
(grössere Kürze des Kreuzbeins als beim Manne).
Eine derartige Configuration des Rückens, bei der man mit
wu
Verlorenes Profil von Fig. 50 mit schönen
Riickenlinien.
138 Verbindung des Rumpfes mit Kopf und Gliedern.
Sicherheit jeden Einfluss des Corsets ausschliessen kann, bietet das
javanische Mädchen Muakidja (Fig. 53).
Das Schnüren entstellt den Rücken zwar weniger und später
als Brust und Bauch, übt aber trotzdem einen langsam sich steigernden
nachtheiligen Einfluss , namentlich auf die Entwickelung und Aus-
bildung der langen Rückenmuskeln. Dafür sprechen die Klagen über
Rückenschmerzen von Frauen, die an das Corset gewöhnt sind und
es zeitweise ablegen. Aeusserlich sichtbar ist der Einfluss an den
schwächer entwickelten Weichen und an der Verflachung der mittleren
Rückenfurche; später wird der ganze Rücken flacher, das Muskel-
relief verliert sich ganz, die Schulterblätter stehen ab, und das Kreuz
wird hohl.
Das erste Stadium bei noch gut erhaltener Wölbuno; zeigt eine
junge Pariserin (Fig. 54).
Ausser am Kreuz haftet die Haut auch am ganzen Verlauf der
Wirbelsäule fester an den Dornfortsätzen, so selbst, dass sich in
seltenen Fällen auch hier seichte Grübchen bilden. Je gleichmässiger
diese Anheftung ist, desto deutlicher zeichnet sich die mittlere Rücken-
furche ab , die demnach einerseits von guter Anheftung der Haut,
andererseits von kräftiger Entwickelung der Muskeln und guter
Wölbung des Brustkorbs abhängig ist.
Eine sehr schöne Ausbildung des Rückens im allgemeinen, der
mittleren Rückenfurche im besonderen zeigt Fig. 55, die die seit-
liche Ansicht der bereits in Fig. 50 abgebildeten Person giebt.
Wir sehen hier zugleich, wie die schöne Gestalt des Rückens
mit der von Brust und Bauch zusammenfällt, da die Schönheit aller
dieser Theile im grossen und ganzen von den gleichen Bedingungen
abhängig ist.
Die Verbindungen des Rumpfes mit Kopf und Gliedmassen.
Abweichend von der üblichen Darstellung habe ich die Be-
sprechung des Kopfes und des Rumpfes in den Vordergrund meiner
Darstellung gerückt, um nun erst den Hals lediglich als verbinden-
des Glied dieser Körpertheile zu besprechen. Wenn ich dadurch
der Gefahr, in Wiederholungen zu verfallen, nicht ganz entgehen
Hals. 139
kann, ebenso wie später bei der Betrachtung der Schultern, so glaube
ich. andererseits dadurch an Deutlichkeit zu gewinnen. Eine scharfe
Scheidung ist ja, wie oben schon hervorgehoben, bei der unbe-
stimmten Begrenzung ohnehin erschwert.
Hals.
Unter Hals versteht man die Verbindung zwischen Kopf und
Rumpf, und zwar meist nur die vordere Seite, während man deren
hinteren Abschnitt mit Nacken bezeichnet. Die Begriffe sind auch
hier etwas verwirrt; anatomisch am zweckmässigsten erscheint es,
die ganze Verbindung den Hals zu nennen, dessen hintere bis an
das Schulterblatt reichende Hälfte den Nacken, die vordere durch
die Schlüsselbeine begrenzte die Büste zu nennen.
Im täglichen Leben versteht man unter den beiden letzteren
Begriffen meist sehr viel grössere Bezirke, ja in der Satire über
weibliche Mode erstreckt sich die Büste selbst bis zum Nabel.
Die knöcherne Unterlage des Halses wird gebildet von dem
Halstheil der Wirbelsäule, der bei allen Menschen bis auf einige
Millimeter gleich lang ist. Er verläuft in einem leicht nach vorn
convexen Bogen.
Die obere Grenze bildet vorn der Unterkiefer, hinten der
Schädelboden; die untere vorn das Schüsselbein, und in der Kehl-
grube das Brustbein, hinten der erste Brustwirbel mit der sich
daran anschliessenden 1. Rippe und das Schulterblatt. Wie man
sich leicht bei Vergleichung von Fig. 29 u. 31 überzeugen kann,
liegen die hinteren Grenzen höher als ,die vorderen, so dass demnach
der Hals im ganzen von oben und von unten durch zwei schräg
nach vorn abwärts verlaufende Flächen begrenzt wird.
Es geht daraus ohne weiteres hervor, dass bei der stets gleichen
Länge der Hals Wirbelsäule die scheinbare Länge des Halses aus-
schliesslich abhängt von der Lage der oberen und unteren Be-
grenzung.
Er wird kürzer erscheinen, wenn der Unterkiefer sich nach
unten vorschiebt, oder wenn die Schlüsselbeine und der Brustkorb
vorn, die Schultern seitlich sich heben.
140 Hals.
Fig. 56 verdeutlicht diese Verhältnisse.
Bezüglich der oberen Grenze wissen wir bereits, dass der
weibliche Unterkiefer klein und niedrig sein muss; dies weibliche
Fig. 56. Weiblicher Hals und Schulter im Profil.
I, II, III, IV i. bis 4. Rippe, K Kopfnicker (Sternocleidomastoideus), 31 Mönchskappen
oder Kapuzenmuskel (Trapezius), D Schultermuskel (Deltoideus).
Geschlechtsmerkmal hat demnach auf die Bildung des Halses einen
massgebenden Einfluss, wie wir gleich sehen werden.
Die untere Grenze hängt in erster Linie ab von der Bildung
des Brustkorbs.
Im Gegensatz zum Manne hat das Weib einen schmäleren
Hals. 141
und längeren Brustkorb, es wird sich demnach der Hals von der
Brustwölbung weniger scharf absetzen. Wenn jedoch, wie bei dem
Brustkorb der Schwindsüchtigen, die Rippen vorn nach abwärts ver-
laufen und weiter aus einander stehen, dann wird nicht nur die Brust
verflacht, sondern es muss auch der obere Rand des Brustbeins
herabsinken, und mit ihm die inneren Enden der Schlüsselbeine.
Gleichzeitig sinken aber auch an dem abschüssigen Brustkorb die
Schultern nach unten, so dass dadurch ein scheinbar langer,
dünner Hals entsteht, der für Schwindsucht charakteristisch und
darum nicht normal ist.
Man muss jedoch bedenken, dass das Schlüsselbein des
Weibes dadurch ausgezeichnet ist, dass es zierlicher, gerader
und weniger vorspringend ist als beim Manne, und dass es bei
normal gebautem Brustkorb, demselben dicht anliegend, nach den
Schultern zu sich etwas senkt. An den Schlüsselbeinen ist demnach
die fehlerhafte Bildung, die den längeren Hals vortäuscht, erkennbar
daran, dass bei dem schmalen, abschüssigen Thorax die Krümmung
eine stärkere wird, wodurch sie mehr hervorstehen, und dass die
inneren Enden an der Kehlgrube tiefer stehen.
Bei frühzeitiger Verknöcherung durch Rhachitis entsteht ein
plumper, breiter, dabei aber häufig flacher, selbst eingedrückter
Brustkorb, zugleich mit Verdickung und Verkrümmung der Schlüssel-
beine.
Die verdickten und unregelmässig gekrümmten Rippen bilden
mit den stark vorspringenden Schlüsselbeinen eine viel dickere und
plumpere Masse, die zwar in normaler Höhe steht, aber durch ihre
Massenzunahme den Hals kürzer und dicker erscheinen lässt. Zu-
gleich aber treten aus demselben Grunde die Schulterknochen stärker
hervor und mehr nach oben, wodurch die Kürze des Halses noch
erhöht wird.
Wir sehen daraus, dass die Gestaltung des Halses, was das
Skelet anlangt, lediglich abhängt von: der Kleinheit der Unterkiefer,
dem geraden und schlanken Verlauf der Schlüsselbeine und der
guten und gleichmässigen Wölbung des Brustkorbes.
Als Fehler haben wir demnach zu betrachten: starke Ent-
wickelung des Unterkiefers nach der Länge und Breite, starke
142 Hals.
Krümmimg, Verdickung und Vorspringen der Schlüsselbeine, zu
schmalen und abschüssigen, oder zu breiten und plumpen Brustkorb.
Von den Muskeln sind es namentlich der Kopfnicker und die
Kapuzenmuskeln, welche die Form des Halses beeinflussen. Ihr Ver-
lauf erhellt aus den Fig. 56, 41 u. 42.
Die Kopfnicker laufen beiderseits von der Kehlgrube und dem
inneren Schlüsselbeinrand nach oben hinter das Ohr. Der vordere
Theil des Halses zwischen ihnen ist durch den Kehlkopf, die Luft-
röhre, die Speiseröhre und die kleineren, sie umgebenden Muskeln
angefüllt. Die Kapuzenmuskeln gehen vom seitlichen Ende des
Schlüsselbeins und vom oberen Rand des Schulterblatts fächerförmig
nach der Wirbelsäule und dem Hinterkopf. Ihre Wölbung bildet
die Nackenlinie. Zwischen beiden Muskeln bleibt, wie auf Fig. 56
ersichtlich, der mittlere Theil des Schlüsselbeines frei, über dem bei
ungenügender Entwickelung des Fettpolsters die so sehr gefürchteten
als Salzfässer bezeichneten Gruben sich bilden.
Die übrigen Muskeln des Halses beeinflussen die äussere Ge-
stalt desselben nicht. Die beiden genannten Muskeln sind bei guter
und gleichmässiger Entwickelung bei allen Bewegungen des Kopfes
sichtbar, in der geraden aufrechten Stellung des Kopfes nach vorn
jedoch müssen sie sich in der gleichmässigen Rundung des Halses
verlieren mit Ausnahme des vorderen Ansatzes der Kopfnicker neben
der Kehlgrube.
Diese letztere muss deutlich erkennbar sein (vgl. Fig. 24) : ihr
Fehlen deutet auf Schwellung der darunter liegenden Schilddrüse,
demnach auf Anlage zum Kropf, die krankhaft und unschön ist.
Die Haut des Halses ist vorne zart, im Nacken etwas dicker
und den übrigen Weichtheilen fester anhaftend. Das unter ihr
liegende Fettpolster rundet die Form des Halses ab. An der vor-
deren Seite zwischen den Kopfnickern umgiebt es die tieferliegenden
Organe, von denen der Kehlkopf das wichtigste ist. Da dieser beim
Manne als Adamsapfel stark vorspringt, so muss eine flache gleich-
massige Wölbung dieser Stelle als für das weibliche Geschlecht
charakteristisch als besonderer Vorzug gelten.
Beim Kopf ist hervorgehoben worden, dass das Fettpolster
sich seitlich in den Wangenparthien stärker anhäuft. Bei schmalem
RÜCKANSICHT EINES JUNGEN MÄDCHENS
Nach einer ALqraphie von Cornelia Faczka.
Hals. Nacken. 143
Unterkiefer geht das Fettpolster gleichmässig in das des Halses
über, so dass wir das Verstreichen der Unterkieferwinkel und
den weicheren Uebergang der Wangen zur vorderen Hals-
f lache als Vorzüge betrachten müssen, weil sie dem weiblichen
Geschlecht angemessen sind.
Aus demselben Grunde muss im Profil die Ümrisslinie vom
Kinn zum Halse weich sein und einen möglichst stumpfen
Winkel bilden, da das Gegentheil nur bei starker, männlicher Ent-
wickelung des Unterkiefers möglich ist.
Ueber die gute Füllung der Schlüsselbeingruben ist bereits
gesprochen.
Treffen alle diese Bedingungen ein, dann bildet der Hals von
den Wangen herab vorn eine gleichmässig gerundete, allmählig breiter
werdende Fläche, die ohne scharfe Abgrenzung gleichmässig über
die Schlüsselbeine in die Brustwölbung übergeht.
Ueber dem Kehlkopf finden sich eine oder mehrere horizontal
verlaufende Furchen, das sogenannte Collier de Venus; sie sind ein
Zeichen guter Spannung bei elastischer Haut und normalem Fett-
polster, und finden sich stets bei Kindern und jugendlichen, gut-
genährten Individuen. Da sie nur bei weichen Formen vorkommen
können, so' sind sie ein besonderer Vorzug weiblicher Bildung.
Nicht zu verwechseln sind diese nur zart angedeuteten Quer-
linien über der Kehle mit den höheren, unter dem Doppelkinn bei
zu starker Fettentwickelung sich bildenden Querfalten.
Die zur Schulter herabreichende Halsnackenlinie wird, wie ge-
sagt, durch die obere Wölbung des Kapuzenmuskels gebildet, der
sich am Rücken und der hinteren Schulter gegend gleichmässig aus-
breitet und den Nacken in weichen Linien mit Rücken und Schultern
verstreichen lässt. Zu starke Ausbildung dieses Muskels bildet bei
Ringkämpfern den sogenannten Stiernacken und ist bei Frauen
darum hässlich. Bei gleichmässiger Entwickelung des Muskels, der
Haut, sowie auch der knöchernen Unterlage, muss der Nacken nach
beiden Schulterblättern in gleichmässiger Wölbung herabziehen und
in der Mitte unter dem 7. Halswirbel sich allmählig zur mittleren
Rückenfurche verflachen.
Man hat den dünnen Hals als ein Zeichen der Juno-fräulichkeit
144 Schultern.
angesehen und behauptet, dass selbst einmaliger Greschlechtsgenuss
sich sofort in einer Dickenzunahme des Halses verrathe. Ich habe
mich persönlich von der Richtigkeit dieser Annahme nicht über-
zeugen können.
Dass der Umfang des Halses gleich dem der Wade sein müsse,
hat Brücke1) widerlegt, der durch Messungen nachgewiesen hat.
dass bei gieichmässiger Entwickelung die Wade stets dicker ist als
der Hals.
Schultern.
Die Verbindung des Rumpfes mit den oberen Grliedmassen ist
die Schulter. Ihre Form hängt zunächst ab von der knöchernen
Unterlage, von der wir bereits ausführlich gesprochen haben.
Normale Verhältnisse verlangen demnach gute und gleich-
massige Wölbung des Brustkorbs, gerades, gestrecktes, der Brust-
contour sich anschmiegendes Schlüsselbein, gut anliegendes, flaches
Schulterblatt.
Die Muskeln, welche vom Schulterblatt zum Arm ziehen,
werden alle bedeckt durch den grossen Schultermuskel (Deltoideus.
Fig. 56), der hauptsächlich, bei übrigens guten Verhältnissen, die
Form der Schulter bedingt. Er entspringt vom seitlichen unteren
Rand des Schlüsselbeins und vom Kamm des Schulterblatts, bildet
demnach eine Fortsetzung des Kapuzenmuskels unterhalb dieser
knöchernen Leiste.
Auf den Fig. 41, 42 u. 56 lässt sich seine Lage und deren
Einfluss auf die Form der Schulter leicht erkennen; sehr schön aus-
geprägt ist er auf Fig. 17.
Er dient hauptsächlich zum Heben des Arms und zum Halten
desselben in erhobener Stellung. Von vorn schliesst sich ihm un-
mittelbar der grosse Brustmuskel an, der neben ihm am Oberarm-
bein sich befestigt.
Von der guten Entwickelung des Schultermuskels hängt die
gleichmässige kräftige Abrundung der Schulter ab. die sich durch
stärkere Absetzung gegen den übrigen Arm von einer anderen durch
x) 1. c. p. 16.
Schultern. 145
Fettanhäufung bedingten Schulterrundung unterscheidet. Diese letztere
ist ein Zeichen reiferen Alters und darum ein Fehler, sobald sie die
darunter liegenden Muskelbäuche verdeckt.
Die schöne Form der Schulter kann durch Muskelübung,
Heben der Arme etc. hervorgehoben und durch sie auch erhalten
werden. Brücke1) hebt hervor, dass die Albanerinnen, die ihre
Lasten mit erhobenen Armen auf dem Kopfe tragen, besonders
schöne Schultern besitzen.
Von der guten Gestaltung dieser Muskeln, die ja auch bei
normalen Verhältnissen eine analoge Ausbildung der übrigen Muskeln
zur Folge haben muss, hängt eine Bildung an der weiblichen Schulter
ab, die sich bald mehr, bald weniger deutlich auch in der Ruhe
findet; dies sind ein oder zwei flache Grübchen an der Stelle, wo die
Haut dem Kamm des Schulterblattes an der Grenze zwischen Ka-
puzenmuskel und Schultermuskel fester anhaftet.
Wird der Arm gehoben und dadurch der Schultermuskel ver-
kürzt und verdickt, so vertiefen sich diese Grübchen zu einer halb-
mondförmigen Furche, die sich um die hintere und obere Ansatz-
stelle des Muskels bildet (vgl. Fig. 67 rechter Arm).
Diese Erscheinung ist demnach als ein Zeichen guter Muskel-
bildung und demnach als Vorzug anzusehen.
Der Stand der Schultern ist sehr wechselnd. Schon bei dem-
selben Individuum werden bei jedem Athemzuge die Schultern mit
dem Brustkorb gehoben und gesenkt. Jede Bewegung des Armes
verändert den Umriss und den Stand der Schulter (vgl. Fig. 41, 42).
Wir müssen demnach zur Vergieichung stets einen symme-
trischen Stand mit herabhängenden - Armen einnehmen lassen ; die
Bewegungen können uns, namentlich bei seitlicher Beleuchtung,
werthvolle Aufschlüsse über die Entwickelung der Muskeln verschaffen.
Die Achselhöhle ist nur bei erhobenem Arm sichtbar. Ihre
Grenzen bilden, wie bereits gesagt, vorn der untere Rand des grossen
Brustmuskels, hinten der äussere Rand des grossen Rückenmuskels.
In der Tiefe ist sie mit einem dicken Fettpolster versehen, das be-
sonders zwischen Brustmuskel und Brustkorb kräftio- entwickelt ist.
*) 1. c.
Stratz, Die Schönheit des weiblichen Körpers. 10
146 Hüften.
Ihre normale Gestaltung wird abhängen von der guten Entwicke-
lung der sie bildenden Muskeln und von guter Wölbung des Brust-
korbes.
Die Haut ist, der grossen Beweglichkeit des Armes entsprechend,
in der Achselhöhle sehr locker an der Unterlage befestigt, während
sie an der Schulter etwas fester mit den darunter liegenden Muskeln
verbunden sein muss.
Von der Behaarung der Achselhöhle gilt das bereits von der
übrigen Körperbehaarung Gesagte. Als Zeichen der Reife ist ein
zarter Flaum normal und darum schön; starke Behaarung ist bei
der Frau hässlich, weil sie ans Männliche und Thierische erinnert.
Hüften und G e s ä s s.
Die knöcherne Grundlage für die Hüfte und das Gesäss bilden
die Beckenschaufeln, die in der Mitte durch das keilförmig sich ein-
schiebende Kreuzbein von einander geschieden sind.
Für das weibliche Geschlecht charakteristisch ist eine breite,
niedrigere, weit ausgebuchtete Beckenschaufel, ein in seinem oberen
Theil breiteres und zugleich kürzeres Kreuzbein und eine stärkere
Beckenneigung, durch die ein hohleres Kreuz bedingt wird.
Diesen Ansprüchen muss bei guter Bildung die knöcherne
Unterlage genügen, ausserdem muss das Becken symmetrisch sein
und keine Zeichen von Rhachitis erkennen lassen.
Nach aussen unter die Haut tritt nur der obere Band der
Beckenschaufel, der Kamm, der am vorderen Dorn am deutlichsten
fühlbar, in gieichmässigem , an der Seite höher stehendem Bogen
nach hinten verlaufen muss; sein hinteres Ende ist erkennbar an
den bereits erwähnten Grübchen über den hinteren Dornen.
Zur Beurtheilung der. richtigen Verhältnisse dienen die oben
bereits erwähnten Breitenmasse.
Die vorderen Muskeln der Hüfte treten in der Tiefe vom
Becken an den Oberschenkelknochen, so dass sie mit den Schenkel-
muskeln eine Masse bilden, die durch das Leistenband vom Bauche
scharf geschieden ist. Bei Beugung des Oberschenkels tritt diese
Grenze noch schärfer hervor.
Gesäss. 147
Der hintere Theil der Hüfte dagegen erhält seine Form haupt-
sächlich durch die grossen Gresässmuskeln [(vgl. Fig. 42), die in
kräftiger Fleischmasse vom hinteren Theil des Kammes und vom
äusseren Rand des Kreuzbeins nach der hinteren und äusseren Fläche
des Oberschenkelknochens hinziehen.
Durch den oberen Ansatz dieser Muskeln wird zugleich die
untere Begrenzung des Kreuzdreiecks stärker ausgedrückt, die
sich von den Kreuzgrübchen bis zum oberen Ende der Spalte er-
streckt, und dort in rechtem Winkel mit der gegenüberliegenden
zusammentrifft.
Innerhalb dieses Dreiecks haftet die Haut der Unterlage fester
an, so dass sich daselbst nur ein massiges Fettpolster entwickeln kann.
Der Abrundung der weiblichen Formen entsprechend, ist die
Entwickelung des Fettpolsters gerade in dieser Gegend von grosser
Bedeutung.
Im Gegensatz zum Manne zieht es sich beim Weibe seitlich
über die breiteren und flacheren Kämme ununterbrochen nach der
Lendengegend hinauf (vgl. Fig. 43), wodurch die Hüften noch breiter
und höher erscheinen und den weiblichen Geschlechtscharakter noch
mehr hervorheben.
Bei guter Bildung muss demnach in der seitlichen Ansicht die
Hüfte bis an die Taille eine gleichmässig gerundete Fläche, um den
Oberschenkelknorren dagegen, wo die Haut der Unterlage wieder
fester anhaftet, eine flache halbrunde Grube bilden. Diese Gestal-
tung tritt auch bei im übrigen mageren Individuen deutlich hervor
(Fig. 57).
Sehr schön und gleichmässig;« ist der Uebergang des Ober-
schenkeis zur Hüfte in Fig. 55.
Unterhalb des Gesässmuskels ist die Haut mit sehr kräftigem
Bindegewebe an das Sitzbein befestigt, so dass diese Befestigungen
beiderseits im Halbkreis in der Spalte nach oben zusammenlaufen
und gewissermassen zwei Hauttaschen formen, in die die Gesäss-
muskeln eingelagert sind. Wie aus Fig. 42 ersichtlich, füllen die
Muskeln jedoch nicht den ganzen Raum aus, der im übrigen durch
ein sehr pralles und reichliches Fettpolster austapezirt ist. Dieses
wölbt zusammen mit den Muskeln die Hinterbacken in kräftiger
148
Hüften und Gesäss
Rundung hervor. Der
Form des Beckens ent-
sprechend sind dieselben
bei der normal gebauten
Frau breiter, niedriger,
und stärker abgerundet
als beim Manne , und
treten , der grösseren
Beckenneigung entspre-
chend, stärker hervor.
Ausser dem guten
Bau des Beckens tragen
demnach kräftige Mus-
kulatur, pralles Fettpol-
ster und elastische Haut
bei zur schönen Gestal-
tung des Gresässes.
Je elastischer die
Haut ist, desto kräftiger
wird sich die Falte unter
den Hinterbacken span-
nen, und desto praller
werden sich dieselben
darüber vorwölben; da
ausserdem bei elastischer
Haut deren Befestigung
im Umkreise des Ober-
schenkelknorrens ein
stärkerer ist, so wird
das Fettpolster sich mehr
nach der Mitte zu aus-
dehnen und dadurch
einen stärkeren Ver-
schluss der mittleren Gesässspalte mit gleichzeitiger Vertiefung der-
selben zur Folge haben.
Die unteren Querfalten ändern sich mit der Stellung; je stärker
Fig. 57.
Abrundung der Hüfte bei einer jungen
Engländerin
Hüften und Gesäss. 149
das Bein nach aussen gehoben, oder das Becken an der einen Seite
gesenkt wird, desto schräger nach unten wird die Falte verlaufen
und zugleich nach aussen sich mehr und mehr abflachen (vgl. Fig. 54).
Noch mehr ist dies der Fall bei Beugung des Oberschenkels nach
vorn. Bei starker Beugung verstreicht die Falte völlig.
Nach aussen verliert sich die Falte allmählig in der Oberfläche
des Schenkels.
Unter dieser Falte findet sich häufig eine zweite, etwas seich-
tere. Sie ist ein Vorzug, da sie sich nur bei Frauen findet, und
auch bei diesen nur bei elastischer Haut mit prallem Fettpolster.
Von hinten lässt sich diese Falte bei geeigneter Beleuchtung
(Fig. 54) leicht erkennen, im Profil giebt sie dem Umriss das cha-
rakteristisch Weibliche, indem sie den Uebergang von der Hinter-
backe zum Schenkel in einem weicheren, doppelt gebrochenen Winkel
vermittelt (Fig. 55), während derselbe beim Manne trotz des geringeren
Umfangs des Gesässes viel schärfer accentuirt ist.
Jedes Abweichen von den angegebenen Formen muss als
Fehler bezeichnet werden. Zu starkes Klaffen, zu geringe Wölbung
der Hinterbacken bei ungenügender Fettentwickelung, zu kräftiges
Hervortreten und Verschwommensein der Formen bei zu starker
Fettablagerung, stark nach unten verlaufende Falten bei zu schmalem
Becken mit hohem Kreuz, alles dies sind Fehler, die sich von selbst
aus dem oben Gesagten ergeben.
Hierbei muss noch hervorgehoben werden, dass zu starke Fett-
entwickelung stets mit Verringerung der Elasticität der Haut ge-
paart ist , so dass die gewucherten Massen schlaff herabhängen.
Sehr häufig findet sich eine solche loca'le Fettanhäufung bei zu
starkem Schnüren, wodurch das Fett aus der Lendengegend herab-
gedrängt wird.
Richer l) hat darauf aufmerksam gemacht , dass eine abnorme
Fettanhäufung an Hüften und Gesäss sich bei europäischen Frauen
in grösserem oder geringerem Masse ziemlich häufig findet. Mir
scheint, wie gesagt, das Schnüren als ursächliches Moment von
grosser Wichtigkeit.
Anatomie artistique, p. 86.
150
Hüften und Gesäss.
Erste Zeichen des Verwelkens.
Tritt nach stärkerer Fülle
wieder Abmagerung ein, dann
zeigt sich dies am Gesäss daran,
dass sich an dem inneren Winkel
mit dem Schwinden des Fett-
polsters die Haut zunächst in
leichte quere Falten legt.
In leichtem Masse zeigt
dies Fig. 58 an der linken
Seite. An derselben Figur ist
die beginnende Abmagerung
sichtbar am stärkeren Hervor-
treten der Schulterblätter, so-
wie aus der stärkeren Wölbung
des unteren Theils und dem
Herabsinken der Brüste.
Diese Zeichen zeigen, wie
die ersten fallenden Blätter, das
Herannahen des Herbstes an.
Bei den kurzlebigen Künst-
lermodellen, denen dies Mäd-
chen auch angehört, finden sie
sich sehr bald.
Bei noch stärkerer Abmage-
rung zeichnen sich schliesslich
unter der Haut ausschliesslich
die vermagerten Bündel derGe-
sässmuskel ab, während neben
der klaffenden Spalte das letzte
Fett in zwei schlaffen Haut-
säckchen herabhängt.
In vortrefflicher Weise hat
Richer in seiner Figur „La
paralysie agitante" neben allen
anderen auch dieses Kenn-
zeichen des Greisenalters zum Ausdruck gebracht.
Obere Gliedmassen. 151
c) Obere Gliedmassen.
Ueber die Yerbältnisse der oberen Gliedmassen zum übrigen
Körper wissen wir bereits, dass bei richtiger Länge derselben das
Handgelenk des herabhängenden Arms ungefähr in der Höhe der
Schamtheile zu stehen kommt, während der Ellenbogen etwa die Höhe
der Taille erreicht.
Ferner ist der Abstand des Schultergelenks vom Ellenbogen-
gelenk gleich gross wie von der gegenüberliegenden Brustwarze, vom
Ellenbogengelenk bis zum Handgelenk gleich dem Abstand der
Brustwarze vom Nabel.
Die Länge der Hand entspricht dem Abstand vom Nabel bis
zum Hüftgelenk und beträgt ausserdem ein Neuntel der Körperlänge
(nach Langer).
Ein genauestes Eingehen auf alle Einzelheiten, wie dies Richer,
Langer und Brücke gethan haben, erfordert eine sehr ausgebreitete
anatomische Kenntniss, der wir für unsere Zwecke eine ebenso
genaue Kenntniss der Krankheitserscheinungen beifügen müssten.
Ich will diese beim Leser nicht voraussetzen und ihn auch nicht
durch die Fülle der Einzelheiten zu sehr ermüden und beschränke
mich darum auf die wichtigsten, häufigsten und am leichtesten er-
kennbaren Fehler.
Ebenso wie bei den übrigen Körpertheilen hängt auch bei den
Gliedmassen, den oberen sowie auch den unteren, die Form in erster
Linie von der Bildung des Skelets ab.
Am Oberarm besteht, wie am Oberschenkel, das Skelet aus
einem, am Unterarm und am Unterschenkel aus je zwei Röhren-
knochen.
An allen diesen Röhrenknochen macht sich als häufigste Ent-
stellung der Einfluss der Rhachitis in stets derselben charakteristi-
schen Weise geltend.
Das Wesen der Rhachitis besteht, wie gesagt, in einer ab-
normen Weichheit der Knochen, auf die dann eine abnorme Ablage-
rung von harter Knochenmasse folgt.
An den Röhrenknochen haben wir ein schlankeres, längeres
152 Arm.
Mittelstück (die Diapkyse) und zwei kürzere, dickere Gelenkenden
(die Epiphysen) zu unterscheiden. Der Einfluss der Rliacliitis äussert
sich nun bei den Röhrenknochen in der Weise, dass das Mittelstück
nur wenig kürzer und dicker, jedoch mehr oder weniger stark ver-
krümmt wird, an den Gelenkenden jedoch tritt eine viel stärkere
Dickenzunahme ein, die mehr weniger auch die Krümmung der Ge-
lenkflächen und damit den Stand der Gliedmassentheile zu einander
beeinflusst.
Am Arm können wir die Verdickung des Oberarmbeinkopfes
an der Schulter wegen der darüber liegenden Muskeln nicht wahr-
nehmen, eine Verkrümmung des Mittelstückes schon eher, ganz
deutlich aber die Verdickung des unteren Endes am Ellenbogen, die
namentlich an der inneren Seite, entsprechend der grösseren Knochen-
masse, stark auffällt.
Die Folge dieser stärkeren Auftreibuno; des inneren an und
für sich schon dickeren Gelenkendes ist, dass die Gelenkfläche des
Ellenbogens noch stärker als normal in einer nach aussen ansteigenden
Linie verläuft. Demnach muss auch der Unterarm sich schief an-
setzen, so dass er bei Streckung des ganzen Armes schief nach
aussen verläuft.
Wir haben also als Fehler, verursacht durch Rhachitis des
Oberarmknochens, zu verzeichnen: Verdickung des Ellenbogen-
gelenks, namentlich in der Breite und am inneren Rand. Schiefer
Ansatz des Vorderarms (vgl. Fig. 14, rechter Arm).
Wenn wir die Hand auf die gegenüberliegende Schulter legen,
dann fühlen wir am Unterarm eine gerade knöcherne Leiste, die
vom Ellenbogen zur Kleinfingerseite der Hand verläuft, den äusseren
Rand der Elle (Ulna). An diesem Knochen äussert sich die Rhachitis
gleichfalls durch Verdickung der Gelenkenden.
Das obere Ende läuft in einen rundlichen Knopf (Olecranon)
aus, der sich bei gestrecktem Arm in den Oberarmknochen hinein-
senkt. Bei guter Bildung entsteht dann in der daselbst fester an-
haftenden Haut ein Grübchen, bei Verdickung des Olecranon aber
durch Verschiebung der Haut eine oder mehrere Falten.
Das untere Ende ist das Ellenbeinköpfchen (Capitulum) am
Kleinfingerrande des Handgelenks, dessen kugelige Verdickung als
Ellenbogen. 153
eines der charakteristischen Zeichen von Rhachitis bereits oben er-
wähnt wurde (vgl. Fig. 14, linker Arm, Fig. 15 ebenso).
Der zweite Knochen des Unterarms, die Speiche (Radius I. ist
in seinem oberen Verlauf durch die Muskeln bedeckt, am Hand-
gelenk aber legt sich sein breites unteres Ende neben das Ellen-
köpfchen und giebt bei rhachitischer Verdickung dem Handgelenk
eine plumpe, breite Form.
Als durch Rhachitis veranlasste Fehler des Unterarms können
wir demnach nennen: Verdickung des Handgelenks mit kugel-
förmigem Hervortreten des Ellenköpfchens. Verdickung des
oberen Ellenköpfchens mit Faltenbildung an der Hinter-
seite des Ellenbogens bei Streckung und spitzem Hervor-
treten desselben bei Beugung.
Der spitze Ellenbogen (Fig. 15 rechter Arm) kann aber
ausser durch Rhachitis auch durch anderweitige Vergrösserung des
Olecranon, z. B. durch starke Muskelarbeit in früher Jugend, ent-
stehen, doch ist, wie überhaupt, so auch in solchen Fällen, nicht
mit Sicherheit auszumachen, inwieweit dann die Weichheit der
Knochen durch die Jugend, inwieweit durch die Rhachitis bedingt
ist. Die einfachste Erklärung ist wohl die, der auch Vierordt zu-
gethan ist, dass eben leichtere Formen von Rhachitis viel häufiger
vorkommen, als man im allgemeinen anzunehmen geneigt ist.
Um die richtige Lage der Armknochen zu einander zu be-
stimmen, lässt man den Arm gestreckt herabhängen und die Hand
so drehen, dass die Hohlhand nach vorn sieht (Supination, vgl.
Fig. 29 rechter Arm). Dann muss eine gerade Linie, die die Mitte
des Schulter- und des Ellenbogengelenks verbindet, mit ihrer Ver-
längerung zwischen dem vierten und fünften Finger durchgehen;
dies Verhältniss zeigt die Normalgestalt von Merkel. .
Brücke, Ricker u. a. nehmen, namentlich für den Mann, an,
dass die Verlängerung dieser Linie das Handgelenk überhaupt nicht
trifft, so dass nach ihnen der schiefe Ansatz des Vorderarms als
normal gilt. Es scheint in der That, dass beim Manne in der
Regel, wohl in Folge der stärkeren Muskelwirkung, der Vorder-
arm stärker im Winkel absteht als beim Weibe. Ich habe mich
jedoch davon überzeugen können, dass die von Merkel als normal
154 Arm.
angenommene Configuration bei gutgebauten Frauen häufig genug
vorkommt.
Wird in derselben Lage die Hand mit dem Rücken nach vorn
gebracht (Pronation), dann haben sich Elle und Speiche um einander
herumgewälzt, jedoch so, class der untere Rand der Speiche stärker
nach innen tritt als die Elle nach aussen. In dieser Lage läuft die
Verlängerung der oben genannten Linie im Zeigefinger aus.
Zu geringe Entwickelung des Olecranon ermöglicht in der
Streckung ein zu starkes Ausweichen der Unterarme nach hinten,
eine Ueber Streckung, die auch als ein häufig vorkommender
Fehler angesehen werden muss (Brücke).
Nächst den Knochen sind es die Muskeln, die die Form des
Armes bestimmen. Am Oberarm ist es zunächst der grosse Schulter-
muskel, der sich seitlich zwischen die vorn verlaufenden Beuger und
die hinten verlaufenden Strecker einschiebt.
Die Muskeln des Unterarms bilden zusammen einen gleich-
massigen Fleischkegel, der dicht unterhalb des Ellenbogens am
dicksten, nach dem Handgelenk zu in dünneren Sehnen schmal
ausläuft.
Bei guter Entwickelung der Muskeln müssen demnach eine
gleichmässige seitliche Schulter Wölbung, eine vordere und eine hintere
Oberarmwölbung, sowie eine cylindrische , nach unten schmäler
werdende Wölbung des Unterarms erkennbar sein.
Während zu kräftige Wölbung der Muskeln, oder gar das
Hervortreten einzelner Muskelbündel an männliche Bildung erinnert
und darum beim Weibe ein Fehler ist, so ist andererseits schwäch-
liche Armmuskelbildung, die sich ja leider recht häufig findet, als
Zeichen ungleichmässiger Körperausbildung (vgl. Fig. 57) zu rügen.
Die Haut ist, namentlich am Oberarm, bei der Frau zarter als
beim Mann; das Fettpolster ist reichlicher, wodurch der Arm eine
mehr gerundete Form erhält.
Da jedoch stärkere Anhäufung von Fett, namentlich am Ober-
arm und der Schulter, ein Zeichen reiferen Alters ist, so ist ein
runder Frauen arm nur dann schön, wenn sich unter der
Haut die Wölbungen der Muskeln erkennen lassen.
Am Ellenbogen und etwas darunter haftet die Haut der knöchernen
Hand.
155
Unterlage etwas fester an, wodurch daselbst am Unterarm eine kleine
Abflachung, im Ellenbogen ein bei Streckung sich vertiefendes
Grübchen entsteht. Eine gute Form zeigt der linke Arm von Fig. 59
und besonders auch Fio-. 60.
L
Fig. 59. Schön gerundeter Arm.
Eine kleine Hand gilt für schön. Von anatomischem Stand-
punkt können wir jedoch nur verlangen, dass sie ein Neuntel der
Körperlänge betrage. Sie wird demnach bei der Frau im Yerhältniss
zur Körperlänge und zum Bau des Skelets stets kleiner und zier-
licher sein als beim Manne.
Als Fehler haben wir zu betrachten breite, plumpe Handfläche,
156
Hand.
Fig. 60. Schön gebauter Arm und Schulter. (Nach einer Aufnahme von A. Enke.)
dicke, kurze und krumme Finger, starkes Vortreten der Finger-
knöchel und Gelenke. Alle diese Fehler lassen sich auf rhachitische
Entstellungen zurückbringen, und ich bin geneigt, sie in weitaus den
meisten Fällen auch als solche aufzufassen.
Untere Gliedmassen. 157
Je breiter die Endglieder sind, desto breiter, kürzer und flacher
müssen auch die Nägel sein.
Die Muskeln treten an der Hand wenig hervor, dagegen ist
die weichere Fülle durch Fettansatz ein mit Recht geschätztes weib-
liches Geschlechtsmerkmal, das bei genügender Elasticität der Haut
die Bildung der Grübchen über den Gelenken veranlasst.
Als Vorzüge können demnach gelten : schmale, weich ge-
rundete Hand mit Grübchen auf den G elenkf lachen,
gerade, schmaler werdende Finger, gebogene Nägel,
deren Länge die Breite übertrifft.
Verschiedene Gelehrte haben sich darüber gestritten, ob und
wie oft der Zeigefinger der Menschen länger sei als der Ringfinger.
Da nämlich beim Affen der zweite Finger stets kürzer ist als der
vierte, so kann die grössere Länge des zweiten Fingers als ein
Zeichen höherer Entwickelung aufgefasst werden.
Casanova, Mantegazza u. a. thun sich zu gute mit ihren dies-
bezüglichen Entdeckungen und halten die grössere Länge des zweiten
Fingers für eine seltene, schöne Erscheinung. In seiner Physiologie
des Weibes, die mir in deutscher Uebersetzung vom Jahre 1894 vor-
liegt, hat Mantegazza denselben Standpunkt eingenommen. Es scheint
ihm demnach unbekannt zu sein, dass Braune *) bereits im Jahre 1874
durch zahlreiche Messungen nachgewiesen hat, dass die scheinbare
Verkürzung des zweiten Fingers meist auf einer schiefen Stellung
desselben zu den Mittelhandknochen beruht, und dass bei durch-
schnittlich 70 °/o der von ihm gemessenen Menschen der zweite
Finger in der That der längere war.
Immerhin aber bleibt bestehen, - dass sich dies „Zeichen höherer
Entwickelung" beim Weibe viel häufiger findet als beim Manne.
(1) Untere Grliedmassen.
Bei der Beurtheilung der Länge der Beine im Verhältniss zum
Rumpf wird häufig, so unter anderen auch von dem oben erwähnten
v. Larisch, ein Fehler gemacht, indem nicht die ganze Länge der
Beine berücksichtigt wird.
!) Festgabe für Carl Ludwig. Verlag von Vogel. Leipzig 1874.
158 Bein.
In der Mitte senkt sich, wie oben beschrieben, der Rumpf
tiefer, während die Beine schräg nach aussen gegen die Hüften zu
abschneiden.
Rechnet man nach Richer die Körperlänge gleich 7 12 Kopf-
längen, dann ist die Länge des Rumpfes mit dem Kopf, in der
Mitte gemessen, bis zum Schamspalt gleich vier Kopflängen, die
Länge des Beines, bis zum Hüftgelenk gemessen, ebenfalls gleich
vier Kopflängen. Die Beine überragen deshalb die halbe Körper-
länge um ein Viertel Kopflänge und stehen deshalb um ebensoviel
höher als die Körpermitte.
Dies ist beim Manne genau ebenso wie beim Weibe. Der
Unterschied zwischen beiden besteht jedoch in Verhältnissen, die
durch die Form des Beckens gegeben sind. Beim Manne ist es
schmal und hoch, so dass der mittlere, zAvischen die Beine sich ein-
schiebende Rumpftheil in spitzerem Winkel tiefer nach unten tritt,
wodurch die Körpermitte scheinbar am Rumpfe in die Höhe rückt.
Bei der Frau dagegen ist das Becken breit und flach, der mittlere,
zwischen die Beine sich einschiebende Rumpftheil tritt in stumpfem
Winkel weniger tief und die Körpermitte steht demnach scheinbar
tiefer als beim Manne.
Dadurch, dass sich der Umriss des Beines in den der Hüften
fortsetzt, welche wegen der steilen und hohen Darmschaufeln beim
Manne schmäler und länger erscheinen, wird der Eindruck des
längeren Beines beim Manne noch erhöht.
Die Länge des Beines lässt sich nach Richer bestimmen auf
vier Kopflängen, nach Fritsch- Schmidt ist die Länge des Ober-
schenkels gleich dem Abstand des Hüftgelenks von der Brustwarze
der anderen Seite, die Länge des Unterschenkels gleich dem Abstand
des Hüftgelenks von der Brustwarze derselben Seite.
Die Länge des Oberschenkels ist ungefähr gleich der Lauge
des Unterschenkels zusammen mit der Höhe des Fusses.
Man hat früher angenommen, dass beim Weibe der Schenkel-
hals mehr horizontal zum Schenkelkopf verläuft als beim Manne.
Langer 1) hat nachgewiesen , dass dies unrichtig ist , und dass der
J) 1. c. p. 229.
Bein. 159
mehr oder weniger horizontale Verlauf des Schenkelhalses nichts
mit dem Geschlecht zu thun hat. Höchst wahrscheinlich ist der
horizontale Schenkelhals und die dadurch verursachte Verkürzung
des Oberschenkels in den meisten Fällen, beim Manne sowie beim
Weibe, auf den Druck der Körperlast bei rhachitischer Anlage zurück-
zuführen.
Von den Beinen gilt bezüglich des Knochengerüstes im all-
gemeinen dasselbe, was von den Armen gesagt ist.
Wir haben als durch Rhachitis entstandene Fehler zu be-
zeichnen: Verdickung des unteren Gelenkendes des Oberschenkel-
knochens (Femur), namentlich an seiner inneren Seite, demgemäss
Verdickung des Kniegelenks und schiefer Ansatz des
Unterschenkels an den Oberschenkel. Verdickung der Unter-
schenkelknochen am Knie und an den Knöcheln, demnach plumpes,
verdicktes Sprunggelenk und schiefer Ansatz des Fusses
im Sprunggelenk bei tieferem Stand des massigeren inneren
Knöchels.
Dazu kommt beim Beine aber noch der Druck der Körperlast
und dadurch stärkere Verkrümmung der mittleren Stücke der Röhren-
knochen.
Je nachdem verschiedene Momente, wie Beschäftigung, Beruf,
stärkere oder schwächere Belastung zusammengewirkt haben, erhalten
wir die verschiedenen Formen der krankhaften Beine, die X-Beine,
die O-Beine. die Säbelbeine etc., beim Fusse aber den mehr oder
weniger ausgeprägten Plattfuss.
Gröbere Fehler derart sind leicht zu erkennen. Hier handelt
es sich hauptsächlich darum , auch geringere Grade dieser Ab-
weichungen beurtheilen zu können.
Es ist oben schon gesagt, dass man sich vom geraden Verlauf
der unteren Gliedmassen dadurch überzeugen kann, dass in der in
Fig. 27 angewiesenen Stellung die Beine sich an vier Punkten, am
oberen Drittel der Oberschenkel, am Knie, an der Wade und am
inneren Knöchel berühren müssen. Bei Frauen können bei guter
Füllung die Oberschenkel auch in ihrer ganzen Länge einander an-
liegen, ohne dass dies ein Fehler ist.
Ein weiteres durch Miculicz angegebenes Mittel ist, sich durch
160
Bein.
Messung davon zu überzeugen, dass die zweite Zehe, die Mitte des
Sprunggelenks, die Mitte des Knies und die Mitte des Hüftgelenks
in einer geraden Linie liegen (Fig. 61).
Fig. 61. Bestimmung der Geradheit
des Beines nach Miculicz.
Fig. 62. Brücke'sche Linie.
Da die Lage des Hüftgelenks selbst an der Lebenden oft schwer zu
bestimmen ist, kann man statt dessen die Mitte des Leistenbandes setzen.
Rückt aus besagter Linie die Kniescheibe nach innen, dann
besteht ein X-Bein, ein bei Weibern sehr häufig vorkommender Fehler,
Bein. Knie. 1(31
der in leichtem Grade ebenso wie der schiefe Ansatz des Unterarms
von Einzelnen darum als normal angenommen wird, weil er so ausser-
ordentlich häufig vorkommt.
Mit dem X-Bein darf man nicht eine durch Beugung verursachte
Einwärtsdrehung des Knies verwechseln, wie sie Fig. 1 zeigt. Am
gestreckten rechten Bein dieser Figur kann man erkennen, dass das-
selbe völlig gerade ist.
Unwillkürlich sieht man jedoch die ächten X-Beine mit milderen
Augen an, da sie an die mit Recht beliebte Stellung erinnern, welche
die Schamhaftigkeit des Weibes so schön zum Ausdruck bringt.
Aus demselben Grunde findet man die Abweichung des Knies
nach aussen, das O-Bein, gerade beim Weibe um so viel hässlicher.
Scheinbar der Geraden von Mikulicz entsprechend ist eine Ver-
bindung des X-Beins mit dem Säbelbein, wie es Fig. 14 zeigt. Die
Abweichung des Knies nach innen wird durch den im Bogen erst
nach aussen und dann ebenfalls nach innen abweichenden Unter-
schenkel ausgeglichen, so dass Fussgelenk, Knie und Hüftgelenk
ungefähr in einer Geraden liegen.
Wenn die vordere Ansicht des Beines gut ist, muss es die
hintere ebenfalls sein. In der seitlichen Ansicht hingegen kann durch
rhachitische Verkrümmung sowohl als durch Fehler in den Knie-
bändern (Brücke) eine Abweichung entstehen, die man nach Brücke
an einer Linie controliren kann , die vom Oberschenkelknorren zum
äusseren Knöchel gezogen wird (Fig. 62).
Diese Linie muss das Knie in der Mitte seiner Breite treffen,
wenn das Bein gut gestreckt ist. Trifft sie dasselbe weiter nach
vorn, dann besteht Ueberstreckung" oder Abweichung des Unter-
schenkels nach hinten bei zu langem Kniebande, trifft sie es zu weit
nach hinten, dann ist das Knie zu stark nach vorn durchgebogen.
Da einerseits die Muskeln beim Manne stärker entwickelt sind
als beim Weibe, andererseits aber ein absolut dickerer Schenkel schon
beim heranwachsenden Mädchen ein wichtiges secundäres Geschlechts-
merkmal bildet, so muss die Dicke des weiblichen Schenkels haupt-
sächlich auf ein stärkeres Fettpolster zurückgeführt werden, und
demgemäss müssen die Formen der Muskeln viel weniger stark
hervortreten als beim Manne.
Stratz, Die Schönheit des weiblichen Körpers. 11
162 Wade. Knöchel.
Darum ist ein flacher Oberschenkel, der, entsprechend der vorn
und hinten am kräftigsten entwickelten Muskulatur, das Bein von
vorn schmäler, von der Seite breiter erscheinen lässt, dem Manne
eigen thümlich , der Frau dagegen ein runder Oberschenkel, der in
jeder Ansicht dieselbe weiche Form zeigt.
Die Muskulatur spielt beim Weibe nur insofern eine Rolle, als
der Oberschenkel, dem Fleisch entsprechend, im oberen Drittel, also
unterhalb der Schenkelknorren, am stärksten gewölbt sein muss.
Als Fehler ist anzusehen, wenn das Fett darüber so stark an-
gehäuft ist, dass der Umriss des Oberschenkels von der Hüfte in
gerader oder gar eingefallener Linie nach dem Knie zu abläuft.
Auch am weiblichen Knie werden die Contouren durch stärkere
Fettanhäufung weicher, jedoch muss das Knie dünn sein, weil es
sonst an rhachitische Bildung erinnert.
Dasselbe wie vom Oberschenkel gilt von der Wade des Weibes ;
während man an der Wade des Mannes die Muskeln muss erkennen
können, sind dieselben beim Weibe durch stärkeres Fettpolster zu
einer gleichmässigen Rundung vereinigt, die im oberen Drittel jedoch,
den in der Tiefe liegenden Muskelbändern entsprechend, den stärksten
Umfang hat.
Durch unzweckmässige Strumpfbänder wird ihre Form, wie
oben bereits erwähnt, verdorben.
Ein schlanker Knöchel ist ein grosser Vorzug, weil er
einerseits, beruhend auf zarterem Knochenbau, ein secundäres weib-
liches Geschlechtsmerkmal bildet, andererseits eines der wichtigsten
Merkmale ist, um frühere Rhachitis auszuschliessen.
Enges Handgelenk und enge Knöchel sind, wie beim Pferde
die engen Fesseln, das hervorragendste Zeichen einer guten Rasse.
Der Fuss ist nächst der Taille derjenige Körpertheil, der die
stärkste Verunstaltung durch fehlerhafte Bekleidung zu erdulden hat.
Was seine Grösse betrifft, so gilt von ihm dasselbe, was bereits
von der Hand gesagt ist. Sie muss im Verhältniss stehen zur Körper-
grösse, und zwar nach Quetelet sechs- bis höchstens siebenmal in
derselben enthalten sein. Die Länge des Fusses ist demnach grösser
als die des Kopfes; nach einer alten Regel ist die Länge des Fusses
gleich dem Umfang der geballten Faust.
Fv
163
Von allen Fehlern des Fusses als Ganzes ist der häufigste der
Plattfuss, der meist auf Rhachitis beruht.
Während bei gut gebautem Fusse seine innere Wölbung derart
sein soll, dass ein Vögelchen, wenn auch nur ein ganz kleines, darunter
sitzen kann, sinkt beim Plattfuss das Gewölbe ein und die Sohle
liegt in grösserer Fläche dem Boden an. Von dem Vorhandensein
eines geringeren Grades von Plattfuss kann man sich überzeugen,
wenn man den mit Wasser befeuchteten Fuss auf dem Boden ab-
drückt (Fig. 63).
Der guten Wölbung entspricht ein hoher Rist.
Fig. 63. Abdrücke vom normalen («) und von Plattfüssen (ö c (7) nach Volkmann.
Wir haben demnach als Vorzüge des Fusses die gute Wöl-
bung und den hohen Rist zu fordern.
Da beim Fuss ebenso wie bei der Hand das Skelet viel
weniger von Weichtheilen bedeckt wird als an anderen Körper-
theilen, so übt seine Bildung einen hervorragenden Einfiuss auf die
äussere Form.
Ein Fehler ist ein kräftiges, grosses, ans Männliche erinnerndes
und ebenso ein plumpes, dickes, durch Rhachitis verunstaltetes Fuss-
skelet, und aus beiden Gründen ist ein zierlicher, schmaler Fuss mit
langen, schmalen Zehen eine Zierde des Weibes.
Von den Zehen ist bei guter Entwickelung die zweite am
164 Zehen.
längsten. Braune *) hat nachgewiesen, dass schon beim Embryo die
zweite Zehe am längsten ist, und dass dies bei mehr als 70 °/o von
Erwachsenen, die er mass, ebenso war.
Die scheinbar grössere Länge der grossen Zehe rührt davon
her, dass im Stiefel die grosse Zehe gerade bleibt, während die
anderen Zehen eine Krallenstellung einnehmen, die sie kürzer er-
scheinen lässt.
Abgesehen von dieser Krallenstellung bewirkt der dauernde
Druck zu enger Stiefel eine Drehung der grossen Zehe nach ein-
wärts mit starkem Hervortreten ihres verdickten Mittelfussgelenkes.
Dieser sehr häufig vorkommende Fehler ist besonders deutlich
in Fig. 18.
Weniger ein Fehler als vielmehr ein meist unerhört ver-
klingender Nothschrei der Natur nach besserer Bekleidung sind die
Hühneraugen. Bei ihrer geringen Ausdehnung können sie die Form
des Fusses nur wenig entstellen.
Wie es scheint, will sich jedoch die Natur der leidenden
Menschheit erbarmen: Piltzner2) hat durch eine grössere Reihe von
Untersuchungen festgestellt, dass bei einer grossen Anzahl von Men-
schen die kleine Zehe, der Lieblingsplatz der Hühneraugen, anstatt
aus drei nur aus zwei Knochen besteht, woraus er schliesst, dass die
kleine Zehe des Menschen in einem Rückbildungsprocess begriffen ist
und im Laufe der Jahrhunderte mehr und mehr verschwinden wird.
Auch hier scheinen wieder die Frauen den Männern in der
Entwickelung voraus zu sein, denn Pfitzner fand unter je hundert
Frauen 41, unter je hundert Männern blos 31. deren kleine Zehe nur
zwei Knochen besass.
Derselbe Autor stellte fest, dass auch die grosse Zehe bei
Weibern im Verhältniss viel kleiner ist als bei Männern.
Wir können demnach als Merkmal guter weiblicher Bildung
für die Zehen festsetzen: lange zweite Zehe, kurze erste und sehr
kurze fünfte Zehe.
Wir haben hiermit die wichtigsten Punkte zur Beurtheiluno-
!) Festgabe an Carl Ludwig.
2) Citirt bei Havelock Ellis, Mann und Weib.
Ueberblick der gegebenen Bedingungen normaler Körperbildung. 165
der unteren weiblichen Gliedmassen hervorgehoben; zu erwähnen
bleibt nur noch, dass man die richtige Gestaltung derselben sowie
mögliche Fehler auch am Gang, namentlich in der Ansicht von hinten,
leicht erkennen kann.
In ergötzlicher, jedoch ernst gemeinter Weise beschreibt Walker
im 21. Kapitel seiner „Beauty of woman" die „External indications;
or Art of determining the precise figure, the degree of beauty, the
mind, the habits and the age of woman, notwithstanding the aids
and disguisses of dress."
Jedem, der sich dafür interessirt, kann ich diese naive Lecture
nur empfehlen.
XL
Ueberblick der gegebenen Bedingungen
normaler Körperbildung.
Ich hoffe, dass es mir gelungen ist, den Leser, der bis hierher
meinen Erörterungen gefolgt ist, davon zu überzeugen, dass der
Begriff der weiblichen Schönheit nicht ausschliesslich Geschmacks-
sache ist, und dass es einzelne unumstössliche Thatsachen giebt, die
diesen Begriff ganz unabhängig von der individuellen Auffassung
bestimmen. Der Weg ist neu, vieles ist noch dunkel, jedoch bin
ich überzeugt, dass sich noch mehr Gesetze werden feststellen lassen,
um den allgemeinen Begriff der Schönheit noch schärfer zu um-
schreiben. Absichtlich habe ich es auch so viel möglich vermieden,
anatomische Einzelheiten zu bringen, um durch eine zu grosse Fülle
davon den Gesammteindruck nicht zu verwischen.
Wenn wir die bisher angeführten Thatsachen überblicken,
dann ergiebt sich zunächst, dass wir eine Reihe von Massen besitzen,
deren Grösse und gegenseitiges Verhältniss durch die Natur unab-
änderlich vorgeschrieben ist. Ein Körper, der die geforderten Masse
besitzt, ist normal; jedes Abweichen davon ist ein Fehler.
166 Ueberblick der gegebenen Bedingungen normaler Körperbildung.
Schwankungen innerhalb der normalen Grenzen bestimmen die
Individualität.
Als wichtigste Masse zur Beurtheilung normalen Körperbaus
haben wir zu bestimmen:
1. Körperlänge,
2. halbe Körperlänge von oben zur Bestimmung der Körpermitte,
3. Kopflänge,
4. Nasenschambeinlänge (Modulus von Fritsch-Schmidt),
5. Brustumfang,
6. Schläfenbreite,
7. Schulterbreite,
8. Taillenbreite,
9. Hüftbreite,
10. Abstand der Brustwarzen,
11. Beckenmasse,
a) vordere Dornbreite,
b) Kammbreite,
c) Schenkelknorrenbreite (Hüftbreite),
d) hintere Dornbreite,
12. Fusslänge.
Zur Verwerthung dieser Masse haben wir zunächst folgende
Gleichungen:
1. Körperlänge = 71J2 — 8 Kopflängen = 10 Gesichtslängen
== 9 Handlängen = 6 — 7 Fusslängen = 10 rjz Untermoduli,
2. Schläfenbreite = Gesichtslänge,
3. Armlänge = 3 Kopflängen.
* 4. Beinlänge = 4 Kopflängen = obere Länge bis zum Schritt,
5. Schulterbreite = 2 Kopflängen,
„ Brustumfang X Körperlänge TT . -. , ,
b. ■ 2— = Körpergewicht . kg,
Das Verhältniss der einzelnen Masse unter einander wird be-
stimmt durch den jeweiligen Unterschied. Derselbe muss betragen:
1. zwischen Schultern und Hüften mindestens 4 cm,
2. „ Schultern und Taille ., 16
Secundäre Geschlechtsmerkmale. 1(57
3. zwischen Hüften und Taille mindestens 12 cm,
4. „ Schenkelknorren und Kämmen „ 2,5 „
5. „ Kämmen und vorderen Dornen „ 3 „
wobei die erstgenannten Abstände jeweils die grösseren sind.
Als niedrigsten Werth für ein bestimmtes Mass haben wir:
1. Abstand der vorderen Dornen 26 cm,
2. „ „ hinteren „ 10 „
3. „ „ Brustwarzen 20 „
Weitere Verhältnisse sind:
1 . Stirnlänge = Nasenlänge = Mund- und Kinnlänge = Ohrlänge,
2. Augenspalte zur Mundspalte = 2:3.
Mit der N asenschambeinlänge alsModulus können wir
nach der Methode von Fritsch-Schmidt die Masse für sämmtliche
Körpertheile construiren. Da diese mit den übrigen Normalmassen
übereinstimmen, so haben wir damit eine doppelte Controle zur
Beurtheilung des untersuchten Körpers.
Von Winkeln haben wir zu messen:
1. Winkel des unteren Rippenrandes in der Herzgrube,
2. unteren Winkel des Kreuzdreiecks;
der erste muss beinahe, der zweite genau 90 ° betragen.
Des weiteren ergeben sich aus den bisherigen Betrachtungen
eine Reihe von körperlichen Eigenschaften, deren Vorhandensein als
Vorzug, deren Abwesenheit als Fehler aufgefasst werden muss.
Hier steht obenan die Beeinflussung des Körpers durch das
Geschlecht, die secundären weiblichen Geschlechtscharaktere,
deren wichtigste ich in folgender Tabelle zusammengestellt habe.
Tabelle I.
Secundäre weibliche Geschlechtscliaraktere
gut ausgeprägt : schlecht ausgeprägt :
Vorzüge Fehler
Zierlicher Knochenbau, plumper Knochenbau.
Runde Formen, eckige Formen.
Brüste, keine Brüste.
Breites Becken, schmales Becken.
168
Secundäre Geschlechtsmerkmale.
Vorzüge
Reiches, langes Haar,
Gerade, niedrige Schamhaargrenze,
Spärliche Achselhaare,
Keine Körperbehaarung,
Zarte Haut,
Runder Schädel,
Kleines Gesicht,
Grosse Augenhöhlen,
Hohe, schmale Augenbrauen,
Niedriger, schmaler Unterkiefer,
Weicher Uebergang von Wange zum
Hals,
Runder Hals,
Feines Handgelenk,
Schmale Hand mit längerem Zeige-
finger,
Runde Schultern,
Gerade, schmale Schlüsselbeine,
Schmälerer, längerer Brustkorb,
Schlanke Taille,
Hohles Kreuz,
Vorstehende, gewölbte Hinterbacken,
Kreuzgrübchen,
Runder, dicker Oberschenkel,
Niedriger, stumpfer Schambogen,
Weiche Knieumrisse,
Runde Wade,
Feines Fussgelenk,
Trockener Fuss mit
schmalen Zehen,
Grössere Länge der zweiten und grössere
Kürze der fünften Zehe,
Breite vordere Schneidezähne,
Fehler
dünnes, kurzes Haar.
hohe , spitz zulaufende Schamhaar-
grenze.
reichliche, lange Achselhaare.
Schnurrbart und starke Körperbehaa-
rung.
dicke Haut.
eckiger Schädel.
grosses Gesicht.
kleine Augenhöhlen.
niedrige, buschige Augenbrauen.
hoher, breiter Unterkiefer.
scharf abgesetzter Hals mit vorspringen-
dem Unterkiefer.
eckiger Hals mit vorstehendem Kehlkopf.
plumpes Handgelenk.
breite Hand mit längerem Ringfinger.
eckige Schultern.
gebogene, dicke Schlüsselbeine.
kurzer und breiter Brustkorb.
Fehlen der Taille.
gerades Kreuz.
flache, kleine Hinterbacken.
keine Kreuzgrübchen.
flacher, magerer Oberschenkel.
hoher, spitzer Schambogen.
scharfe Knieumrisse.
eckige Wade.
plumpes Fussgelenk.
plumper, dicker Fuss mit
breiten Zehen.
grössere Länge der ersten und stärkere
Entwicklung der fünften Zehe,
schmale Vorderzähne.
Mit Berücksichtigung der Entwickelung, Ernährung und Lebens-
weise, sowie des Einflusses von Krankheiten erhalten wir:
Tabelle IL
Vo r z ü g e Fehler
Symmetrie beider Körperhälften, Asymmetrie beider Körperhälften.
Hoher Stand der Körpermitte, tiefer Stand der Körpermitte.
Normales Körpergewicht, zu grosses oder zu kleines Körper-
gewicht.
Entwickelung, Ernährung, Krankheiten etc.
169
Vorzüge
Glatte, elastische Haut,
Gleichmässige Muskelentwickelung,
Feine Gelenke,
Gerade Augenspalten,
Gut gewölbte Oberlippe,
Gerade, gleichgestellte Zähne,
Gleichmässige Rundung des Gesichts,
Schmale, gerade Nase,
Rundes Kinn mit Grübchen,
Runde Schultern,
Gerade Wirbelsäule,
Gleichmässig gewölbter Brustkorb,
Hochgestellte, runde, pralle Brüste,
Flacher, runder Leib,
Gewölbter Rücken,
Gerade, obere Gliedmassen,
Runder Ellenbogen,
Schmale, lange Hand,
Längerer zweiter Finger,
Gebogene, lange Nägel,
Gerade, lange Beine,
Schmaler, langer Fuss,
Gerade grosse Zehe,
Längere zweite Zehe,
Fehler
schlaffe, faltige Haut.
ungleichmässige Muskelentwickelung.
plumpe Gelenke.
schiefe Augenspalten.
stark vorspringende Oberlippe, dicke
Oberlippe, zu kurze Oberlippe (Ha-
senscharte).
schräge, unregelmässig gestellte Zähne.
vorstehende Backenknochen, vorsprin-
gende Kauwerkzeuge.
breite Nase, Stumpfnase, Mopsnase.
Doppelkinn, Hackenkinn.
eckige, stark abfallende Schultern.
Verkrümmung der Wirbelsäule.
flacher Brustkorb , schiefer Brustkorb,
Hühnerbrust, Schusterbrust, Trichter-
brust.
tief angesetzte, sinkende, schlaffe
Brüste, Hängebrüste.
Spitzbauch, Hängebauch, Froschbauch.
flacher Bücken, runder Rücken.
schief angesetzter Unterarm, Vortreten
des Ellenköpfchens.
spitzer Ellenbogen.
kurze, breite Hand.
längerer vierter Finger.
breite, flache Nägel.
kurze Beine, krumme Beine, O-Beine,
X-Beine, Säbelbeine.
plumper, breiter Fuss.
nach innen gekrümmte grosse Zehe.
längere erste Zehe.
Diese Tabelle Hesse sich ohne Mühe noch sehr viel mehr ver-
vollständigen, jedoch ist sie hinreichend, um darzuthun, wie viel wir
für die Beurtheilung des Körpers bereits gewonnen haben.
Es sei dem Leser überlassen, unter den beigefügten Abbil-
dungen zahlreiche, nicht immer erwähnte Fehler aufzusuchen. Unter
allen bisher gegebenen Figuren sind nur zwei, die allen gestellten
Anforderungen genügen, Fig. 44 und 50; die letztere findet sich in
Fig. 55 im verlorenen Profil.
Das javanische Mädchen Fig. 22 entspricht trotz der guten
Verhältnisse des übrigen Körpers nicht unseren Ansprüchen. Ent-
170 Praktische Verwertkung.
sprechend ihrer Rasse hat sie einen verhältnissmässig zu grossen
Kopf und eine weniger entwickelte Gesichtsbildung.
Bei Vem-leichung der zweiten mit der ersten Tabelle wird man
finden, dass verschiedene Fehler sowie Vorzüge auf beiden genannt
sind. Die gleichen Fehler können von verschiedenen Ursachen her-
rühren, wie die Symptome von verschiedenen Krankheiten. Das-
selbe Symptom kann von dieser wie von jener Krankheit verursacht
werden; aber nur durch Zusammenstellung der verschiedenen Sym-
ptome im gegebenen Falle, durch sorgfältiges Sichten, Messen und
Erwägen erlangt man ein deutliches Bild der Krankheit und ihrer
Complicationen. Uebung macht den Meister, und dieser kann oft
mit einem Blick das erkennen, was der Anfänger erst nach langem
Suchen entdeckt zu haben glaubt.
Als Anfänger kann ich nur tastend vorgehen, wenn ich jetzt
versuche, das Gefundene zu verwerthen; und wenn ich trotz jahre-
langer Arbeit nur wenig bieten kann, so möge der gute Wille das
schlechte Können entschuldigen; aber einmal muss ein Anfang ge-
macht werden, und ich hoffe, durch meine Anregung zahlreiche
andere und bessere Kräfte zu ähnlicher Arbeit veranlassen zu können.
XII.
Praktische Verwerthung der wissenschaftlichen
Auffassung weiblicher Schönheit.
Wissenschaftliche Untersuchungen haben nur dann für weitere
Kreise Werth, wenn sie einem praktischen Zwecke dienstbar gemacht
worden sind.
Da der weibliche Körper als solcher seit Abschaffung des
Sklavenhandels keinen Marktwerth mehr hat, so besteht das Be-
dürfniss, denselben nach einem festen Massstabe beurtheilen zu
können, sich eine gewisse Kennerschaft, gleich der der Pferde- und
Weinkenner, anzueignen, im allgemeinen nicht mehr.
Praktische Verwerthung der wissenschaftlichen Auffassung etc. 171
Trotzdem hat auch jetzt noch die körperliche Schönheit für
die Besitzerin einen hohen Werth, um so mehr, da sie zugleich ein
Zeichen körperlicher Gesundheit ist.
Wenn man ferner bedenkt, dass die Entwickelung und Aus-
bildung weiblicher Schönheit willkürlich befördert oder geschädigt
werden kann, und zwar am meisten in den Jahren des Reifens, so
geht daraus hervor, dass ein fester Massstab zur Beurtheilung der-
selben für diejenigen von grossem Werth ist, die an der Ausbildung
heranwachsender Mädchen ein Interesse haben.
Den Eltern und namentlich den Müttern ist die heilige Pflicht
auferlegt, in zarter Sorge den knospenden Leib des zukünftigen
Weibes vor allen Schädlichkeiten zu wahren und durch liebende
Fürsorge denselben in schöner Blüthe sich entfalten zu lassen. Mit
Dankbarkeit gedenke ich so mancher unter ihnen, die mir genug
vertraute, um mir einen Antheil an diesem ihrem erhabenen Werke
zu gönnen.
In zweiter Linie hat die Kenntniss des normalen weiblichen
Körpers einen praktischen Werth für den Künstler bei der Wahl
seiner Modelle, für den Kritiker bei der Beurtheilung des Kunst-
werks.
Dass für den ersten der künstlerische Blick und die Kenntniss
der Anatomie allein nicht genügen, habe ich bereits an einigen Bei-
spielen bewiesen, die sich durch zahlreiche andere vermehren lassen.
Für den letzteren ist, wenn er seinen Beruf ernst auffasst, ein
fester Massstab von noch viel grösserer Wichtigkeit, da er sowohl
das Modell als das , was der Künstler daraus machte , zu be-
urtheilen hat.
Bevor wir diese besonderen Zwecke näher besprechen, wollen
wir jedoch zunächst die praktische Verwendbarkeit der bisherigen
Erörterungen an Beispielen erproben.
Man hat behauptet, dass sich alle körperlichen Vorzüge nie-
mals an einem lebenden Weibe zusammen finden lassen. Durch
meinen Beruf kam ich öfters in die Lage, mich von der Unrichtig-
keit dieser Auffassung zu überzeugen und dieselbe objectiv wider-
legen zu können. Da ich jedoch erst allmählig die Grundlagen zur
objectiven Beurtheilung ausarbeitete, so sind meine ersten diesbezüg-
172 Beispiele guter Körperbildung.
liehen Aufzeichnungen nicht alle so vollständig, dass ich sie ver-
werthen kann. Ausserdem aber war ich aus leicht begreiflichen
Gründen nicht stets in der Lage, mit der nöthigen Genauigkeit und
Sorgfalt die erforderlichen Messungen vorzunehmen.
Mehr oder weniger berechtigte Vorurtheile verbieten der Frau,
ihren Körper vor dem Manne mehr als nöthig zu entblössen. Diese
Vorurtheile finden sich allerdings bei schönen Frauen viel seltener
als bei solchen, die Fehler zu verbergen haben.
Jedenfalls ist dem Arzte die Pflicht auferlegt, diese Gefühle
möglichst zu schonen, und nur selten begegnet er Frauen, die so
unbefangen und so wenig kleinlich sind, dass sie sich ihres Körpers
nicht schämen.
Von acht Frauen besitze ich genaue Angaben, die es ermög-
lichen, deren Schönheit, wenn man so will, schriftlich zu beglaubigen.
Zwölf weitere, von denen ich Aufzeichnungen gemacht habe, be-
sitzen neben vielen Vorzügen nur wenige und unbedeutende Fehler.
Alle Zwanzig gehörten alten Familien des besseren Standes
an und waren alle unter sehr günstigen äusseren Umständen auf-
gewachsen.
Als Beispiel wähle ich Eine aus den letzten Zwölf.
Jungverheirathete Frau von 24 Jahren.
Körperlänge 168,5 cm.
Kopflänge 21 cm.
Beinlänge 90 cm (bis zum Oberschenkelknorren).
Schrittlänge 82, bei gespreiztem Bein 84 cm.
Brustumfang 88,5 cm.
Nasenschambeinlänge (Modulus) 62,5 cm.
Schulterbreite 38,5 cm.
Taillenbreite 21 cm.
Hüftbreite 34,5 cm.
Brustwarzenabstand 23,5 cm.
Becken:
Dornbreite 26,5 cm.
Kammbreite 29 cm.
Beispiele guter Körperbildung-. 173
Hüftbreite 34 cm.
Hintere Dornbreite 12 cm.
Körpergewicht 60 kg.
Aus diesen Massen ergiebt sich zunächst die seltene Erschei-
nung, dass die Kopflänge beinahe achtmal in der Körperlänge ent-
halten ist.
Da die Schrittlänge 82 cm beträgt, so liegt die Körpermitte
nur 2x/2 cm höher, also noch unterhalb der oberen Schamhaar-
grenze.
Das Bein ist um 6 cm länger als vier Kopflängen.
Der Unterschied zwischen Schultern und Taille ist 17,5, zwi-
schen Hüften und Taille 13,5 cm, also jeweils lx/2 cm mehr als
nöthig.
Die Schultern übertreffen die Hüften, wie vorgeschrieben,
um 4 cm.
Am Becken übertrifft die Kammbreite die Dornen um 2,5 cm,
die Hüftbreite sogar um 5 cm die der Kämme.
Der Abstand der hinteren Dornen von 12 cm ist ein Beweis
für besondere Breite des Kreuzbeins.
Auch der Brustwarzenabstand überschreitet das erforderliche
Mass um 3 x/-2 cm , trotzdem in diesem Falle die Brüste selbst nicht
gross waren.
Wir sehen daraus , dass die Längenmasse ebenso wie die
Breitenmasse den Normalsatz schöner Verhältnisse stellenweise sogar
beträchtlich überschreiten.
Wenn wir das Körpergewicht 'aus der Länge und dem Brust-
umfang berechnen, kommen wir auf 61,2 kg. Statt dessen haben wir
hier nur 60 kg, also 1,2 kg zu wenig.
Bei den übrigens normalen Verhältnissen können wir daraus
schliessen, dass die höchste Blüthe noch nicht erreicht ist.
In der That machte der zartgebaute Körper auch einen sehr
jugendlichen Gesammteindruck.
Der einzige Fehler, den ich an diesem sonst tadellosen Leibe
entdecken konnte, war ein etwas schiefer Ansatz des Vorderarms.
Da jedoch das Ellenköpfchen nicht hervortrat, und das Hand-
474 Beispiele guter Körperbildung.
gelenk sehr schmal war, so ist in diesem Falle Rkachitis als Ursache
auszuschliessen.
Ein ganz ähnliches Beispiel habe ich bei anderer Gelegenheit 1)
veröffentlicht :
Die Masse betrugen:
Körperlänge 167 cm.
Kopflänge 21 cm.
Beinlänge 88 cm bis zum Schenkelknorren.
Schulterbreite 38 cm.
Taille 22 cm.
Hüftbreite 34 cm.
Becken:
Vordere Dornen 26 cm.
Kämme 29 cm.
Hüften 33 cm.
Hintere Dornen 10,5 cm.
Bei beiden Frauen war die Beckengegend besonders schön aus-
gebildet , die unteren Grenzen des Kreuzdreiecks bildeten einen
Winkel von genau 90°, die Kreuzgrübchen Avaren, dem breiten
Kreuzbein entsprechend, sehr gut ausgeprägt, besonders bei der
Letzteren, bei der ich übrigens keinen einzigen Fehler nachzuweisen
im Stande war.
Leider kann ich nicht die Photographien Beider als weitere
Belege hinzufügen. Die Zweite gestattete mir allerdings, eine di-
optrische Aufnahme ihres Rückens an obengenannter Stelle zu ver-
öffentlichen, jedoch entbehrt dieselbe für unsere Zwecke den objec-
tiven Werth der Photographie.
Schwieriger wird die Sache, wenn wir zur Begründung unseres
Urtheils ausschliesslich auf eine oder mehrere Photographien an-
gewiesen sind.
Allerdings lassen sich viele, wenn nicht die meisten Detail-
fragen an guten Aufnahmen mit ziemlicher Sicherheit ausmachen:
eine genaue Bestimmung der Verhältnisse ist jedoch nur dann mög-
*) Zeitschrift für Geburtshülfe und Gynäkologie, 33, p. 121.
Beispiele guter Körperbildung.
175
lieh, wenn die Aufnahme in symmetrischer Stellung genau von vorn
genommen ist. Und auch dann noch fehlt die Möglichkeit, die
Fig. 64. Bestimmung des Wiener Mädchens (Tafel I) nach Kopflängen.
Körperlänge in Centimetern, sowie den Brustumfang und damit das
Körpergewicht zu bestimmen.
Trotzdem kann man immerhin einigermassen befriedigende
Resultate erzielen.
176 Beispiele guter Körperbildung.
Als Beispiel wähle ich die Photographie eines Mädchens aus
Wien, welche ich durch die freundliche Vermittelung der Kunst-
handlung von Amsler und Ruthardt erhielt (siehe Abbildung Tafel I).
Da der Oberkörper leicht nach hinten übergebeugt ist, lässt
sich der Fritsch'sche Modulus nicht messen, dagegen kann man die
Verhältnisse der Figur nach Kopflängen bestimmen (Fig. 64).
Trägt man neben dem Umriss die Kopflängen an einem Mass-
stab ab, dann zeigt sich zunächst auch hier wieder, dass die Körper-
lange nur um weniges kürzer ist als acht Kopflängen. Denkt man
sich die Figur gerade aufgerichtet, dann dürfte das Verhältniss
etwa = 73/i sein. Die Beinlänge beträgt ziemlich genau vier
Kopflängen, so dass die Körpermitte noch unterhalb der oberen
Schamhaargrenze zu liegen kommt.
Die Lage der Schulterbreite, Taille und Hüftbreite ist auf der
Figur mit punktirten Linien angegeben; an der obersten ist die
wahrscheinliche Lage der Gelenke sowie der äusseren Schulterbreite
bei gesenkten Armen durch Kreuzchen bezeichnet. Durch Messung
kann man sich überzeugen, dass das Verhältniss der drei Masse den
Anforderungen entspricht, und zwar um so mehr, als die Verkür-
zung auf allen drei Linien ungefähr die gleiche ist.
Das rechte Bein ist so gestellt, dass wir mit Hülfe der
Mikulicz'schen Linie (vgl. Fig. 61) den völlig geraden Verlauf des-
selben mit Sicherheit feststellen können.
Im allgemeinen lässt sich zunächst sagen , dass der Körper
gute Proportionen bietet, dass jedoch die Länge der Beine das nor-
male Durchschnittsmass dabei nicht unbeträchtlich überschreitet.
Zur Vergleichung habe ich in den Umriss einer anderen Auf-
nahme desselben Mädchens (Fig. 65) die Construction von Fritsch
eingezeichnet.
Hier lässt sich zunächst die Nasenschambeinlinie trotz der
asymmetrischen Haltung mit etwas grösserer Sicherheit bestimmen.
Das Ueberwiegen der Schulterbreite über die übrigen Breiten-
masse tritt hier noch deutlicher hervor. Construirt man die Fritsch-
sche Figur, dann fällt die Scheitelhöhe genau hinein. Dasselbe ist
der Fall mit der linken Schulter und Brust. Die rechte Schulter
ist mit der Brust etwas gesenkt und steht tiefer. Dieser tiefere
Beispiele guter Körperbildung.
177
Cr
Stand ist jedoch nur abhängig von der Stellung; denn Nabel und
Hüftgelenke stehen in der richtigen Höhe.
Die Längenverhältnisse am Arme sind richtig; denn sobald
der tiefere Stand der Schulter aus-
geglichen wird, fallen die Messpunkte
in die Gelenke.
Am Bein stehen sie etwas höher,
und bei der Gesammthöhe ergiebt sich,
dass dieselbe auf Kosten der Beine
um das Stück hx grösser ist, als die
Construction verlangt.
Die Kopfbreite lässt sich aus
keiner der beiden Figuren bestimmen.
Aus beiden Messungen erhalten
wir demnach das übereinstimmende
Ergebniss, dass alle Proportionen
richtig sind, dass jedoch die Beine die
üblichen Verhältnisse überschreiten.
Dies ist kein Fehler ; wir können
es im Gegentheil als einen Vorzug
ansehen, da dadurch die Körpermitte
am Rumpf um so tiefer tritt. Ausser-
dem aber ist durch die Lage der
Mikulicz'schen Linie die Form des
rechten Beins als völlig normal ge-
kennzeichnet. Es hat dabei einen
schlanken Knöchel, und wenn wir die.
innere Tangente ziehen, sehen wir,
dass dieselbe das obere Drittel des
Oberschenkels, das Knie und den
inneren Knöchel berührt. Die schwä-
cher ausgebildete Wade erreicht diese
Linie nicht, und dies ist bei den sonst richtigen Verhältnissen ein
Beweis, dass wir es mit einem noch nicht voll entwickelten Mädchen-
körper zu thun haben. Die Betrachtung der Tafel lässt im übrigen
alle oben erwähnten Vorzüge erkennen; hervorzuheben sind der
Stratz, Die Schönheit des weiblichen Körpers. 12
Fig. 65. Bestimmung des Wiener Mädchens
nach dem Modulus von Fritsch.
178 Beurtheilung nach Massen.
runde Ellenbogen, der gutgewölbte Brustkorb, der gute Ansatz der
jugendlichen, ebenfalls noch nicht vollentwickelten Brüste, und der
gutgeformte Fuss mit längerer zweiter Zehe.
Besonders beachtenswerth ist in diesem Falle, dass kein ein-
ziges Zeichen vorhanden ist, das auf Rhachitis oder auf Schwind-
sucht deutet.
Wir haben vor uns eine schöne, gesunde Knospe, die ihre
höchste Blüthezeit noch nicht erreicht hat.
Ein weiteres Beispiel ist eine 17jährige Berlinerin, Margarethe
E. Ich war in der Lage, alle Masse selbst zu nehmen, Professor
Gr. Fritsch nahm in verschiedenen Stellungen photographische Auf-
nahmen und war so freundlich, mir dieselben zu überlassen. Ausser-
dem aber hat Frau Paczka in liebenswürdigster Weise das Modell
künstlerisch verwerthet.
Wir haben so von demselben Mädchen die Masse, die natur-
getreue Aufnahme und die künstlerische Auffassung zur Yergleichung
vor uns.
Die Masse sind:
Körperlänge 166 cm.
Kopflänge 23 cm.
Beinlänge 85 cm bis zum Oberschenkelknorren.
Schrittlänge 79 cm.
Brustumfang 85 cm.
Nasenschamb einlänge (Modulus) 66 cm.
Schulterbreite 38 (Umfang 92) cm.
Taillenbreite 22,4 (Umfang 65) cm.
Hüftbreite 32 (Umfang 90) cm.
Brustwarzenabstand 19,75 cm.
Scheitelschritthöhe 87 cm.
Becken:
Dornbreite 23 cm.
Kammbreite 27,25 cm.
Hüftbreite 31 cm.
Hintere Dornbreite 11 cm.
Beurtheilung nach Massen. 179
Hieraus folgt zunächst, class die Kopflänge 7,2mal in der
Körperläiige enthalten ist, class demnach der Kopf unverhältniss-
mässig gross ist.
Das Bein ist um 7 cm kürzer als vier Kopflängen.
Die Körpermitte liegt unterhalb der oberen Schamhaargrenze.
Der Unterschied zwischen Schultern und Taille ist 15,6, zwi-
schen Hüften und Taille 9,6, also um 0,4 und um 2,4 cm zu gering.
Die Schultern übertreffen die Hüften um 6 statt um 4 cm.
Daraus können wir schliessen auf ein stärkeres Ueberwiegen
der Schulterparthie , was an mehr männliche Bildung erinnert oder
an zu geringe Entwickelung des Beckens denken lässt.
Die Beckenmasse haben einen Unterschied von 4,25 und
3,75 cm, sind dabei aber im allgemeinen klein; wir haben also ein
typisch weiblich geformtes Becken, das jedoch im Verhältniss zur
Körpergrösse nicht besonders stark entwickelt ist.
Da der hintere Dornabstand 11 cm, also 1 cm über das Mass
beträgt, so ist daraus zu schliessen, dass das Becken selbst weiblich
ist, jedoch die Schaufeln •geringer ausgebildet sind.
Von den übrigen Massen ist auffallend, class trotz der zu
kurzen Beine die Körpermitte doch noch unterhalb der oberen
Schamhaargrenze zu liegen kommt. Auf die Masse allein ange-
wiesen, müssen wir die Erklärung für diese Thatsache vorläufig
schuldig bleiben.
Was können wir nun aus den Massen allein schliessen?
Zunächst, dass das Mädchen noch nicht völlig entwickelt ist,
da der Körper für den Kopf zu klein ist und das Becken trotz
guter Masse zu klein für die Schultern.
Ferner haben wir irgend einen Fehler anzunehmen, der die
Verkürzung der Beine veranlasst hat.
Damit steht im Zusammenhang die Verkürzung der ganzen
Körperlänge, die, nach dem Fritsch'schen System berechnet, 10 x\z
Untermoduli (hier = 16,5), also 170,5 cm betragen müsste statt
166 cm, demnach um 4,5 cm zu kurz ist.
Von den verschiedenen Aufnahmen, welche Professor G. Fritsch
von dem Mädchen gemacht hat, sind zwei in Fig. 66 und 67 repro-
ducirt. Beide Aufnahmen sind unter nicht gerade sehr günstigen
180
Beurtheilung nach Photogrammen.
äusseren Umständen mit
Blitzlicht gemacht ; auf
künstlerische Auffassung ist
dabei absichtlich kein Werth
gelegt; sie sollen nichts
weiter sein als wissenschaft-
liche Documente.
Zur Vergleichung mit
den absoluten Massen habe
ich zunächst in die Umrisse
der ersten Photographie
(Fig. 66) einige Gelenk-
punkte und denModulus ein-
getragen, daneben auf den
Modulus die Normalmasse
in vollen Linien construirt
und nach der Vorschrift
von Fritsch in punktirten
Linien die wirklichen Masse
der Margarethe beigefügt
(Fig. 68).
Endlich ist in Fig. 69
ein Massstab in Kopflängen
mit einer dioptrisch nach
der Photographie hergestell-
ten Profilzeichnung des Mäd-
chens zusammengestellt.
Aus der Vergleichung
der Figuren können wir jetzt
eine Reihe von Erscheinun-
gen erklären, die uns bei
der Vergleichung der Masse
Fig. 66.
17jährige Berlinerin nach einer Aufnahme
von G. Fritsch.
bereits auffielen.
In Fig. 69 ist auffällig,
dass das Kreuz wenig eingebogen ist, in Fig. 66 resp. 68, dass die
Begrenzungslinien des Unterleibs gegen die Schenkel einen sehr
Beurtheilung nach Photogrammen.
181
Fig. 67. Dieselbe von hinten.
spitzen Winkel bilden. Daraus geht hervor, :dass die Neigung des
Beckens eine sehr geringe ist, dass in Folge dessen ein grösserer
Theil der Schamspalte von vorn zu sehen ist, und dass bei dem zu
hohen Stande dieser Theile es erklärlich ist, warum die Körpermitte
182
Beurtheilung nach Photogrammen.
trotz der kurzen Beine doch, noch unterhalb der oberen Schamhaar-
grenze steht. Wäre das Becken bei sonst gleichen Verhältnissen
Fig. 68. Proportionen von Margarethe, verglichen mit dem Canon von Fritsch.
stärker geneigt, dann müsste die Körpermitte viel höher am Unter-
leib in die Höhe treten.
Der scheinbare Widerspruch ist also erklärt durch das Zu-
sammentreffen von zwei Fehlern: zu schwache Beckenneigung und
zu kurze Beine.
Beurtheilung nach Photogrammen und Massen.
188
Die Kürze der Beine hängt, wie aus Fig. 68 hervorgeht,
namentlich ab von der Verkürzung unterhalb des Kniees, und zwar
lehrt uns der Anblick von Fig. 66,
dass es sich um einen etwas schief
angesetzten und zugleich verkrümmten
Unterschenkel, ausserdem aber um
einen leichten Grad von Plattfuss
handelt.
Ebenso sind auch die Arme im
Vorderarm verkürzt, und in Fig. 66
erkennen wir deutlich am rechten Arm
das vorspringende Ellenköpfchen.
Ausser der Verkürzung und Ver-
krümmung von Unterschenkel und
Unterarm, ausser dem vorspringenden
Ellenköpfchen haben wir noch Ver-
dickung der Handgelenke und der
Knöchel, und damit ebensoviele Zei-
chen einer früheren Rhachitis.
Trotz der krankhaften Verkür-
zung des Beines bleibt aber immer
noch ein gewisses Missverhältniss zwi-
schen der Kopflänge und der Körper-
lange; denn selbst bei einer Länge
von 170,5 cm ist sie doch nur gleich
7,4 Kopflängen.
Dies Verhältniss ist aber kenn-
zeichnend für einen noch nicht völlig
ausgewachsenen Körper.
Es ist aber auch ersichtlich, dass
trotz gut entwickelter Muskeln, die
sich namentlich am Oberarm und
Rücken sehr schön ausprägen, die
Formen etwas Eckiges haben; ferner
treten die Schlüsselbeine und die Mus-
keln darüber stark vor, alles in Folge von geringer Entwickelung
vm
M
M
4
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IV
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ii
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Fig. ö9. Dioptrisclie Profilzeichnung
nach Kopflängen.
134 Fehler und Vorzüge.
des Fettpolsters der Haut. Auch, dies ist ein Zeichen entweder
schlechter Ernährung oder noch nicht vollendeten Wachsthums.
Gegen erstere sprechen aber die kräftige Muskulatur, die gut ent-
wickelten Brüste und die glatte Haut.
Wir haben somit lauter Zeichen, aus denen hervorgeht, dass
das Mädchen seine volle Reife noch keineswegs erreicht hat, dass
sie halb Kind, halb Jungfrau ist.
Auffallend bei dem sonst mageren Körper ist die relative
Grösse der Brustdrüsen bei verhältnissmässig wenig von einander ent-
fernten Warzen. Dies erklärt sich aus der grossen Elasticität der
Haut, die wir auch als den grössten Vorzug dieses Körpers be-
trachten können.
Während die Haut, wie besonders aus Fig. 65 ersichtlich, am
Busen dem Brustbein fest anhaftet, hat sie der wachsenden Brust-
drüse hier gar nicht, in der Achselhöhle nur wiederstrebend nach-
gegeben , bis die grösste Masse der Drüse seitlich ausgewichen ist ;
die Warzen aber sind in gleicher Entfernung von einander stehen
geblieben.
Ein weiterer Vorzug ist der schöne Bau des Auges.
Bei Vergleichung der gegebenen Abbildungen lassen sich leicht
noch zahlreiche weitere Fehler und Vorzüge entdecken.
In der Hauptsache ist der Hauptreiz die jugendliche Frische,
der Hauptfehler die Ueberreste der englischen Krankheit.
Im Folgenden werden wir sehen, was der Künstler daraus
machen kann. —
leb glaube, dass die angeführten Beispiele genügend dargethan
haben, dass man nacb festen Regeln jeden gegebenen Körper be-
urtheilen kann, ohne dass dabei irgend welche Beimischung von
persönlichem Geschmack in Frage kommt; und damit kommen wir
nun auch zur praktischen Nutzanwendung der gesammelten Ein-
drücke.
Verwerthung des Modells. 185
XIII.
Verwerthung in der Kunst und Kunstkritik,
Modelle.
Wenn wir das Modell kennen, so müssen wir über das feine
Gefühl staunen , mit dem Frau Paczka dessen Vorzüge zu erhöhen
und die Fehler zu bedecken wusste, ohne dabei jemals das Original
und damit die Naturtreue zu verleugnen.
Tafel II ist eine getreue Nachbildung des Werkes der Künstlerin,
das direct auf die Aluminiumplatte gezeichnet wurde.
Die gewählte Stellung erinnert an den betenden Knaben im
Berliner Museum.
Frau Paczka wusste nicht, dass das Mädchen Rhachitis hatte,
trotzdem aber hat sie die Zeichen derselben als hässlich empfunden
und sie so weit abgeschwächt, dass sie nicht störend wirken.
Die grössten Schwierigkeiten boten die Beine; hier galt es, die
leichte X-Form, den Plattfuss, die Verdickung des Fussgelenkes, die
Krümmung und Verkürzung des Unterschenkels zu bedecken.
Das linke Bein ist zunächst im ganzen etwas nach aussen ge-
dreht, wodurch sich die leichte X-Stellung desselben weniger scharf
markirt. Im rechten Beine ist durch die Einwärtsbeugung des Knies
die X-Stellung in natürlicher Weise motivirt und wirkt darum nicht
als Fehler.
Dadurch aber , dass diese Beugung stärker ausgedrückt ist, '
lässt sie den Fehler am nicht gebeugten Bein beinahe verschwinden.
Durch Verkürzung ist rechts, durch Drehung links die Ver-
krümmung der Unterschenkel dem prüfenden Auge entzogen, der
Mangel in der Länge derselben ist ausgebessert.
Die Drehung des linken Fusses nach aussen ist gross genug,
um die Messung des geraden Verlaufes durch die Mikulicz'sche Linie
zu vereiteln, und doch auch wieder nicht so gross, dass an dem
Tiefertreten des inneren Fussrandes der Plattfuss erkannt werden kann.
186 Verwerthung des Modells.
Am rechten Fuss ist durch die Bewegung der fehlerhafte Stand
desselben völlig verwischt.
Die Knöchel sind etwas höher gestellt und etwas schlanker
gezeichnet.
Somit hat Frau Paczka durch gut gewählte Stellung und einige
leichte Verbesserungen ihre Aufgabe in glücklichster Weise gelöst.
Das Verhältniss des Kopfes zur Körperlänge ist in dem Kunst-
werk wie 7 zu 1 , also noch ausgeprägter zu Gunsten der Kopf-
grösse.
Die Begrenzungslinie zwischen Rumpf und Beinen bildet einen
stumpfen Winkel, und die Stellung ist so gewählt, dass die Becken-
neigung eine grössere ist.
Durch dieselbe Bewegung wird die Beckenparthie mehr nach
vorn gebracht, sie erscheint grösser und zeichnet die Muskeln
deutlicher.
Am Oberkörper ist die schöne Entwickelung der Brüste und
der Muskulatur des Modells unverändert beibehalten.
Alle diese Mittel haben denselben Zweck, die Weiblichkeit und
die Jugend des Modells noch mehr hervortreten zu lassen.
So, wie sie vor uns steht, ist es eine halbgeöffnete Mädchen-
knospe, die mit leichtem Schritte dahinwandelt , um die lächelnde
Zukunft mit ihren offenen Armen zu umfassen.
In der Ansicht von hinten (Tafel III) war es weit schwieriger,
die gegebenen Fehler zu verbergen; am rechten, zum Theil bedeckten
Bein ist das Problem wieder durch die Beugung im Knie gelöst;
am linken ist die Einwärtsstellung des Knies dadurch gemildert, dass
das Becken im Hüftgelenk nach rechts tiefer gestellt ist. Doch lässt
sich nicht leugnen, dass trotzdem der Fehler nicht völlig ver-
schwunden ist.
Die freundliche Künstlerin möge mir verzeihen, dass ich ihr
Werk dazu benutzte, um auch zugleich ein wenig die Künstlerseele
zu analysiren; aber ich fand die Gelegenheit zu verlockend, um dar-
zuthun, dass der echte Künstler, seiner selbst unbewusst, den Mass-
stab des Schönen in sich trägt, und dass er, seinem Gefühle folgend,
dasselbe als hässlich vermeidet, was wir Männer der Wissenschaft
als krank und fehlerhaft brandmarken.
Bildende Kunst. 187
Und indem ich dieses Beispiel anführte, habe ich zugleich ge-
sagt, was mein Buch dem Künstler sein soll. Es soll ihn nichts
Neues lehren, es soll ihm nur den wissenschaftlichen Beweis liefern,
dass sein Gefühl das richtige ist, es soll ihm ein Wegweiser sein
im Gebiete des Schönen und ihn überzeugen, dass sein Schönheits-
sinn denselben Naturgesetzen unterworfen ist, denen wir uns alle
beugen müssen. „Wir glauben zu schieben, und wir werden ge-
schoben."
Aus alledem geht hervor, dass das Werk des Künstlers in
hohem Masse von seinem Modell abhängig ist. Wir haben eingangs
schon erwähnt, dass Werke anderer dafür nur einen schlechten Er-
satz bieten, da auch sie unter dem Einfluss des gewählten Modells,
sowie der jeweiligen Mode stehen. Wir können auch nochmals auf
die goldenen Worte Dürers zurückweisen, um zur Natur und immer
wieder zur Natur zurückzukehren.
Aber dabei muss man sich hüten, alles für baare Münze an-
zunehmen, was in der Natur vorkommt, sondern man muss entweder
einen sehr gut geschulten künstlerischen Blick haben oder in zweifel-
haften Fällen die Wissenschaft zu Hülfe nehmen.
Freilich kann nicht jeder Maler malen, was er will; häufig
muss er malen, was er kriegt. Dies gilt nicht allein von Bildniss-
malern, die häufig die scheusslichsten Gesichter aus keinem änderen
Grunde malen müssen, als weil deren Besitzer oder Besitzerinnen mit
irdischen Gütern gesegnet sind, dies gilt auch von Malern, die in
der Wahl ihres Gegenstandes völlig frei sind.
Es lassen sich hunderte von Beispielen, besonders unter der
grossen Zahl moderner Maler anführen, aus deren Werken sich ein
reichbesetztes Krankenhaus zusammenstellen Hesse. Entweder haben
die Künstler keine besseren Modelle gehabt , oder sie haben deren
Fehler nicht gesehen.
Dass im letzteren Falle, wie Brücke meint, die Liebe eine
grosse Rolle spielt, ist nicht so ganz unwahrscheinlich.
Wenn wir für diesen Punkt die Literatur zu Rathe ziehen, so
finden wir in der That bei den meisten Schriftstellern die Beobach-
tung, dass es die Liebe ist, die das Weib veranlasst, ihren Körper
den Blicken des angebeteten Künstlers preiszugeben.
288 Künstlermodelle.
Das ist der Fall in Heyse's Paradies, in Zola's l'oeuvre, selbst
in Goethe's Briefen aus der Schweiz sagt die erfahrene alte Matrone,
dass es viel leichter sei, ein Weib zu finden, das seinen Körper der
Liebe, als eines, das ihn nur den Augen des Mannes preisgiebt.
Dass dem liebenden Weibe gegenüber der Künstler seine Ob-
jectivität oft schwer bewahren kann, liegt in der menschlichen Natur
begründet.
Eine andere und meiner Ansicht nach höhere Auffassung findet
sich in du Maurier's Trilby (S. 95).
„She was equally unconscious of seif with her clothes on or
without; she could be naked and unashamed."
Das ist dasselbe Gefühl, was wir am unverdorbenen Kinde
sehen ; die erste Regung der Liebe zerstört es, wie dies ja auch bei
Trilby der Fall ist.
Die höchste Auffassung habe ich nur bei einem einzigen
Schriftsteller gefunden , und zwar bei dem holländischen Dichter
Vosmaer.
In seiner „Amazone" will die schöne Marciana erst dann dem
Künstler Modell stehen, nachdem sie sich davon überzeugt hat, dass
er sie nicht liebt.
Das ist eine Frau, die weiss, dass sie schön ist, und die sich
aus reiner Liebe zur Kunst entkleidet, aber nicht vor dem Manne,
sondern vor dem Künstler, und zwar vor dem grossen Künstler.
Derartige Frauen, wie Agnes Sorel, Paola Borghese, Diana von
Poitiers, Lady Digby, Helene Racowitza u. a. giebt es aber nur wenige.
Weit häufiger sind die, die sich aus Liebe zum Künstler als Modell
hergeben. Man denke nur an die Gemahlinnen von Rubens, die
Frau von van der Werff u. a.
Weitaus die meisten Künstler sind auf bezahlte Modelle an-
gewiesen, und da dieselben sich meist aus den ärmeren, schlecht
genährten Klassen rekrutiren, so findet man nur ausnahmsweise schöne
Gestalten unter ihnen.
Unter den hundert Lichtbildern in dem bekannten „Act" von Koch
und Rieth hat kein einziges dieser Künstlermodelle einen normalen
Körper, ebensowenig in den 50 Freilichtstudien von Koch. Im
Kinderact von Max Peiser findet sich nur ein einziges Mädchen
Kunstkritik. J 89
(Blatt 41), das normal gebaut ist. Also Eine unter 200, die aus
dein Modellstehen einen Beruf machen.
Wenn der Künstler sich, was vielfach geschieht, dadurch helfen
will, dass er von einem Modell diesen, von einem anderen jenen
Körpertheil benutzt, dann thut er der Natur Gewalt an, indem er
die Individualität zerstört. Auf diese Weise wird er niemals im
Stande sein, ein harmonisches Gebilde zu schaffen.
Es giebt nur zwei Wege: Entweder ein tadelloses Modell oder
die sachverständige Verbesserung und Verdeckung der Fehler, wie
es Frau Paczka getha;^ hat. Und für diesen letzteren Fall kann
das Urtheil des Arztes oft von Nutzen sein.
Viel gehört dazu, ein Kunstwerk zu erschaffen, fast noch mehr
gehört dazu, es richtig zu beurtheilen.
Der vollendete Kritiker muss die Geschichte, die Technik der
Kunst, sowie den dargestellten Gegenstand genau kennen, und das
ist für die meisten Menschen beinahe unmöglich zu vereinigen. Dass
sich trotzdem so viele Kritiker finden, liegt an der grossen Selbst-
überschätzung der Menschen im allgemeinen. Nirgends tritt dieselbe
deutlicher zu Tage als in der Beurtheilung des Bildnisses irgend
einer bekannten Persönlichkeit. Hier glaubt jeder, dass er berechtigt
und im Stande ist, alle möglichen und unmöglichen Fehler zu ent-
decken.
Ein Urtheil, sei es Lob oder Tadel, auszusprechen, ist leicht,
es zu begründen, ist schwer, aber doch die eigentliche Aufgabe einer
sachverständigen Kritik. Ich hoffe, dass die kurzen diesbezüglichen
Andeutungen, die ich im Lauf meiner Arbeit eingestreut habe, dazu
beitragen können, auch in dieser. Hinsicht zur Verbesserung der
Besseren unter den Kunstkritikern beizutragen. Um richten zu
können, muss man erst etwas wissen.
190 Erhaltung körperlicher Schönheit.
XIV.
Vorschriften zur Erhaltung und Förderung
weiblicher Schönheit.
Der Eingeweihte steht erstaunt vor der Fülle von Mitteln, die
das Weib besitzt, um Vorzüge zu heuchehv die sie nicht hat, und
Fehler so geschickt zu verbergen, dass sich- lieselben in Vorzüge
verändern. Darin ist das Weib Meister, und es wäre vermessen, ihr
darüber noch Vorschriften geben zu wollen; das hiesse Eulen nach
Athen tragen.
Wer Fehler hat und sie verbergen will, für den sind alle Mittel
erlaubt, und wenn eine Frau ihren an und für sich schon schlechten
Körper noch mehr im Dienste der Mode verderben will, um ihren
glücklicheren Schwestern ähnlich zu sehen, so hat sie fremden Rath
dabei nicht nöthig.
Meine Absicht ist nicht, wie in einem Kochbuch Recepte für
Schönheit oder ein Verzeichniss der zahlreichen, mir bekannt ge-
wordenen Toilettengeheimnisse herauszugeben; ich will vielmehr
darauf hinweisen, wie jedes Weib die ihr von der Natur verliehenen
Gaben am besten entwickeln kann, und da dieselben am meisten
beim heranwachsenden Geschlechte sowohl günstig als ungünstig
beeinflusst werden können, so richten sich meine Worte hauptsäch-
lich an die Mütter.
Ich habe oben bereits darauf hingewiesen, dass Schönheit stets
individuell ist, dass wir deshalb keine mathematisch umschriebene
Form der Schönheit haben, sondern dass dieselbe die höchste Aus-
bildung einer Individualität ist innerhalb der unabänder-
lich feststehenden Grenzen normaler Entwickelunsr.
Vorschriften lassen sich deshalb nur geben für die feststehenden
Grenzen; doch ist selbst hierbei häufig der Rath und die Erfahrung
eines Sachverständigen nöthig, und insofern will ich gerne den Vor-
wurf auf mich nehmen, dass ich eine Oratio pro domo halte, indem
Erziehung. 191
ich darauf aufmerksam mache , welche grosse Rolle im Leben der
Frau der Arzt zu spielen berufen ist.
Ich glaube nicht , dass dieselbe unnöthig ist. Allerdings be-
steht schon seit Jahren in England die Sitte, dass alljährlich die
ganze Familie, und namentlich deren weibliche Mitglieder, zum Zahn-
arzt pilgert, um sich das Gebiss nachsehen zu lassen, gleichgültig,
ob dasselbe gut oder schlecht ist.
Ausser den Engländern zeigt aber Niemand seine Zähne, so-
lange sie noch gesund sind, und alle anderen Körpertheile werden
von allen, die Engländer einbegriffen, vernachlässigt.
Es giebt allerdings einzelne Ausnahmen, und wie mir, ist es
wohl jedem Arzte hie und da einmal vorgekommen, dass eine Mutter
ihre Tochter untersuchen lässt, um die Gewissheit zu haben, dass
dieselbe nicht krank ist.
Wie viel Unheil könnte verhütet werden, wenn diese Sitte all-
gemein wäre, und wenn in solchen Fällen weder die Mütter noch
die Aerzte sich durch eine gewisse falsche Scham davon abhalten
Hessen, die Untersuchung so gründlich vorzunehmen, als der Ernst
der Sache es erheischt.
Es ist ja im allgemeinen viel leichter, eine deutlich aus-
gesprochene Krankheit zu erkennen, als einen Körper daraufhin zu
untersuchen, dass er keine Krankheit oder Spuren davon besitzt.
Die Sorge für den Körper des Mädchens beginnt eigentlich
schon vor der Geburt, da zu starkes Schnüren während der Schwanger-
schaft den kindlichen Körper zeitlebens zu verderben im Stande ist.
Die schwerstwiegenden Sünden werden aber meist in der Periode
des Wachsens und Reifens begangen.
Ich bilde mir nicht ein, dass es mir gelingen wird, viele Prose-
lyten zu werben — der alte Sömmering ist schon beinahe hundert Jahre
todt, und noch immer werden Corsetten getragen — wenn ich aber
auch nur eine oder einige Mütter bekehrt habe, dann ist dies Buch
nicht umsonst geschrieben.
Die erste Regel lautet : Weite Kleider vor und enge Kleider
nach der Geburt, im eigenen Interesse und in dem des Kindes.
Jeder Druck beeinträchtigt den Raum für das werdende Kind
und hemmt es in seiner Entwickelung. Die an und für sich schon
192 Erziehung.
in dieser Zeit stark gespannte Bauchwand wird durch Druck von
aussen noch mehr aus ihrer natürlichen Lage gedrängt, die Muskeln
erschlaffen und sind nie wieder im Stande, ihre frühere Elasticität
zu erlangen.
Nach der Geburt muss, namentlich in den ersten Wochen, durch
enge Kleider die Bauchwand so lange in ihrer Lage erhalten und
unterstützt werden, bis sie wieder ihre volle Elasticität erlangt hat.
Dies ist meistens nach 6 Wochen der Fall. Jeder Tag weniger ist
ein Leichenstein auf dem Grabe der Schönheit.
In England erhält das Mädchen, das sich verheirathet , eine
Leibbinde mit auf den Weg, die genau sich an die Form des jung-
fräulichen Leibes anschliesst. Dieselbe wird sofort nach der Geburt
angelegt, drückt wohl am ersten und zweiten Tag, wirkt dann aber
wohlthuend durch den Halt, den sie gewährt, und erhält seiner Be-
sitzerin die jugendliche Form des Bauches. Die indischen Frauen,
deren Beispiel viele Holländerinnen jetzt nachahmen, binden den Unter-
leib nach der Geburt sehr fest ein. Deutschland, Frankreich und
andere gebildete Länder aber sind die Heimath der Hängebäuche.
Wie für die Mutter enge, so sind für das Kind nach der Ge-
burt weite Kleider angemessen. Je freier es sich bewegen kann,
desto besser können Gliedmassen und Brustkorb sich ausdehnen und
entwickeln.
Darum ist die zweite goldene Regel für das heranwachsende
Mädchen: Weite Kleider und freie Bewegung. Und dies gilt
nicht nur für den Säugling, sondern für das ganze Zeitalter des
Wachsthums.
So natürlich das scheint, so viel wird dagegen gesündigt.
Namentlich die freie Bewegung wird oft falsch aufgefasst. Das
Spielen der Kinder, ihnen von der Natur angeboren, fördert ihre
Entwickelung viel mehr als das systematisch betriebene Turnen, bei
dem von Jedem ohne Rücksicht auf jeweilige Körperkraft dasselbe
gefordert wird.
Zu früh angestellte Versuche, ein Kind laufen zu lernen, sind
schädlich. Wenn es die nöthige Kraft besitzt, wird es von selbst
laufen. Erzwingt man dies zu früh, dann werden die zu schwachen
Beine krumm.
Erziehung. 193
Faule Kinder sind meist auch schwache Kinder. Wenn ein
Kind wächst, hat es mehr Bedürfniss nach Ruhe als ein Erwachsener.
Kinder zu ermahnen, dass sie gerade sitzen, ist gut; ihnen aber
schlechte Stühle ohne Lehne zu geben, um sie dazu zu zwingen,
ist eine Sünde , die das erwachsene Kind mit einem krummen
Rücken büsst.
Die dritte goldene Regel sind: Kräftige Nahrung, frische
Luft und reichlicher Schlaf. Sie sind für Darm, Lungen und
Nerven das, was weite Kleider und freie Bewegung für Knochen,
Muskeln und damit für die Körperform sind. Da aber alle Theile
des Körpers ineinander greifen, so kann die gleichmässige Versorgung
aller nicht entbehrt werden.
Als vierte goldene Regel gilt: Die Pflege der Haut, und
dabei ist Wasser und Seife in sehr reichlicher Menge für täglichen
Gebrauch ein lange noch nicht genug geschätztes Mittel der weib-
lichen Kosmetik.
Schmutzige Kinder können ja auch schön sein, dies zeugt je-
doch nur von der Unverwüstlichkeit der menschlichen Natur, und
ist kein Argument gegen den Rath , durch peinlichste Reinlichkeit
die Thätigkeit der Haut und damit die Schönheit des Körpers zu
erhöhen.
Wer weiss , wie viel schöner Murillo's Zigeunerknaben sein
würden, wenn sie sich regelmässig gewaschen hätten.
Wenn das Mädchen zur Jungfrau heranreift, dann verfällt es
dem Corset, und zwar um so eher, je weniger „Figur" es hat.
Brücke x) hat schon daraufhingewiesen, dass gerade die Back-
fische mit gedrungenen Formen „sich zu den schönsten Gestalten
auswachsen," sobald sie emporschiessen.
Je früher man ein Corset anlegt, desto mehr verdirbt es die
Gestalt und vereitelt die volle Entwickelung der Körperformen. Ich
habe bereits oben auf die nachtheiligen Folgen des Corsets hin-
gewiesen. Hier ^sei nur nochmals hervorgehoben, class ich das Corset
als solches keineswegs verdamme, sondern nur den Missbrauch, der
damit gemacht wird.
J) 1. c p. 71.
Stratz, Die Schönheit des weiblichen Körpers. 13
194 Kleidung.
Das Corset ist eine vortreffliche Stütze für die Last der Kleider,
die den unteren Theil des Körpers verhüllen, und dient dazu, den
Druck derselben auf eine grössere Oberfläche zu vertheilen.
Um diesem Zweck zu entsprechen, muss es drei Bedingungen
genügen :
Es muss auf den Hüften ruhen , damit es die weichen Theile
nicht zu sehr drückt.
Es muss lose sitzen, um weder die Bewegungen des Körpers
zu hemmen, noch die unter ihm liegenden Organe, den Magen, die
Leber und die Gedärme zu beengen.
Es darf nicht hoch hinaufreichen, um weder die Athmung zu
hindern, noch die Rückenmuskeln in ihrer Bewegung und Ausbildung
zu beeinträchtigen.
Dazu kommt endlich noch, dass die Schwere der Unterkleider
auf das geringste Mass beschränkt sein soll; je weniger und je
leichtere Unterkleider getragen werden, desto leichter ist die Auf-
gabe des Corsets.
Von allen mir bekannten Formen ist das Cors-et Ceinture — den
terminus technicus weiss ich nicht, aber die Damen werden mich be-
greifen — das beste und naturgemässeste.
Die Frage, wann ein Corset angelegt werden soll, ist ebenso
schwierig im allgemeinen zu entscheiden, als der Zeitpunkt der
höchsten Blüthe. Vor derselben ist es schädlich, während und nach
derselben empfehlenswerth. Da aber dieselbe, wie ich oben aus-
einandersetzte, bald im 15., bald im 30. Jahr und noch später ein-
tritt, so ist hier eine Entscheidung nur im individuellen Falle möglich.
Jedenfalls kann man das sagen, dass das Corset nicht eher
angelegt werden darf, als bis die Hüften so breit sind, dass sie
ohne Schnüren eine Stütze gewähren.
Und werden Sie jetzt Ihr Corset ablegen, verehrte Leserin?
Nein, gewiss nicht. Dann, bitte, erbarmen Sie sich wenigstens Ihrer
unschuldigen Tochter und verhüten Sie, dass sie zu früh ihren Körper
entstellt. Später wird sie es ja doch schon von selbst thun. aber
dann haben Sie sich wenigstens nichts vorzuwerfen.
Der zweite dunkle Punkt in unserer Gesittung ist der Fuss.
Frau Paczka versicherte mir, dass sie noch nie einen schönen weib-
Kleidung. 195
liehen Fuss gesehen habe. Ich war glücklicher, aber nicht oft. Auch
die Füsse werden meist schon in der Jugend verdorben und zwar
nicht nur im Reiche der Mitte.
Zahllos sind die Schwestern von Aschenbrödel, denen kein
Opfer zu gross ist, um ihre grösseren Füsse in kleinere Schuhe zu
zwängen. Diese Unsitte würde nur dann aufhören, wenn man wieder
anfinge, auf blossen Füssen oder auf Sandalen zu gehen. Dass dies
aber nicht geschieht, dafür sorgen die zahlreichen Vertreterinnen
des schönen Geschlechts, die ihre Füsse nicht mehr zeigen können.
Den Muth, den zu kleinen Schuh aufzugeben, um einen schönen Fuss
zu besitzen, werden nur Wenige haben.
Passende Strumpfbänder findet man jetzt häufiger als vor einigen
Jahren; doch ist auch hierin noch manches zu verbessern. Für
Kinder und junge Mädchen ist es am besten, überhaupt keine Strümpfe,
sondern Socken tragen zu lassen, die das Bein nirgends beengen.
Wenn ich mir schliesslich noch den bescheidenen Rath erlaube,
dem Frauenarzt Gelegenheit zu geben, durch rechtzeitiges Eingreifen
so manchen sorgfältig verborgen gehaltenen Krankkeitsheerd im
Keime zu ersticken, so glaube ich in grossen Zügen alles erwähnt
zu haben, was zum Heil und Wohlsein des reifenden Weibes gethan
werden kann.
Ob ich tauben Ohren gepredigt habe, wird die Zukunft lehren.
Aber eines steht fest, dass die Schönheit des weiblichen Körpers
nichts anderes ist als der Inbegriff höchster Gesundheit.
Und die Schönheit der Seele? Glückselig derjenige, der in der
Lage war, eine schöne Weiberseele so recht von Grund aus kennen
zu lernen. Aber darüber schreiben ist Sünde, denn das lässt sich
nur fühlen im tiefsten Herzen, und Gesetze lassen sich dafür nicht
geben.
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