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DIE 'T;
SÄIKHYA-PHILOSOPHIE.
EINE DARSTELLUNG DES
INDISCHEN RATIONALISMUS
NACH DEN QUELLEN
VON
RICHARD GARBE.
LEIPZIG
VERLAG VON H. HAESSEL
1894.
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/sr
/. 5-
/U
GEORG THIBAUT
GEWIDMET
IN DANKBARER ERINNERUNG
AN ALLE DEM VERFASSER IN BENARES ERWIESENEN
FREUNDLICHKEITEN.
\)
Vorwort.
Für die nachfolgende Darstellung der Sämkhya-
Philosophie habe ich das gesammte uns erhaltene Quellen-
material verwerthet, soweit es für das Verständniss des
Systems und seiner Gescliichte von Bedeutung ist. Trotz-
dem haben die Grundsätze, nach denen ich arbeitete, den
Umfang des Buches innerhalb massiger Grenzen gehalten.
Ich bin erstens der Meinung gewesen , dass dem
Interesse der Sache am meisten mit einer schlichten, ob-
jektiven Darlegung der S am khya- Lehren gedient sei,
und habe deshalb weder eine Kritik an diesen Lehren
geübt noch meine Darstellung durch Vergleiche mit ähn-
lichen Ideen in der europäischen Philosophie zu beleben
gesucht. Die Gefahr ist kaum zu vermeiden, dass durch
solche Ausblicke die Besonderheiten eines indischen Systems
verwischt werden. „Indische Dinge", sagt Max Müller
in der Zeitschrift der Deutschen Morgenländischen Gesell-
schaft VI. 22, „haben so viel von Vergleichung zu leiden,
„dass es nothwendig ist, ihre charakteristische Eigenthüm-
„lichkeit so viel als möglich hervorzuheben. Wir lernen
„durchaus nicht die Individualität des indischen Volkes
„erkennen, wenn wir seine Sprache, sein Denken und
„Forschen nur immer als Analogon oder als Complement
„der griechischen und römischen Welt betrachten". Anderer-
seits ist der Parallelismus der Grundlehren des Säm-
khya-Systems mit denen der europäischen Dualisten
so deutlich, dass kein Leser der Hinweise auf die Ueber-
einstimmungen bedarf.
Zweitens habe ich nicht durch die vorHegende Arbeit
meine im Laufe der letzten fünf Jahre veröffentlichten
Uebersetzungen der Sämkhya-Texte überflüssig machen
wollen. Wer die Fragen, zu deren Aufwerfung die Lehi-en
der Sämkhya- Philosophie in Indien geführt haben, bis
in aUe Einzelheiten verfolgen will, sei auf diese Ueber-
setzungen verwiesen.
— VI —
In der Hoffnung, für meine Arbeit auch Leser ausser-
halb des engen Kreises der Indologen zu finden*), habe
ich nach Kräften das Beweismaterial und philologische Er-
örteningen in Anmerkungen unter den Text verwiesen.
In den beiden ersten Kapiteln des einleitenden Abschnitts,
die sich der Natur der Sache nach vorzugsweise an Sans-
kritisten wenden, waren freilich derartige Auseinander-
setzungen auch im Text nicht zu vermeiden.
Im Ausdruck habe ich mich, soweit es mit der an-
gestrebten Klarheit der Darstellung vereinbar war, an den
Wortlaut der Quellen gehalten. Vollkommen unindisch
dagegen ist meine Anordnung des Materials; in dieser
Hinsicht konnte mir keines der Originalwerke als Vorbild
dienen; denn Uebersichtlichkeit in der Behandlung des
Stoffes ist in Indien selten erreicht und von den meisten
philosophischen Autoren nicht einmal erstrebt worden.
Möge dieses Buch dazu beitragen, die Gleichgiltigkeit
der abendländischen Philosophie gegen ihre indische
Schwester zu beseitigen. Diesem Wunsche habe ich nur
noch den Ausdruck meines ehrerbietigsten Dankes für die
Unterstützungen hinzuzufügen, durch welche die Kgl. Preus-
sische Regierung und die Akademie der Wissenschaften
zu Berlin mir das Studium der indischen Philosophie unter
der Leitung einheimischer Lehrer in Benares ermöglicht
haben. Ohne diese Vergünstigung hätte ich mir die Aus-
führung meiner Arbeiten über das Sä mkhya- System,
die mit dem vorliegenden Werke ihren Abschluss erreichen,
nicht zutrauen dürfen. Herrn Professor A. Hillebrandt
in Breslau danke ich herzlich für seine freundliche Hilfe
bei der Correctur.
^) Für solche Leser sei bemerkt, das in indischen Worten c
und ch wie tsch , j wie dsch , 9 und sh wie seh, s scharf wie unser
SS , r wie r mit leichter vocalischer Beimischung (als ri) , e und 0
stets lang auszusprechen sind.
Königsberg i/Pr. R. Garbe.
Inhaltsverzeichniss.
Seite
Erster Abschnitt. Einleitung 1
I. Ueber das Alter und die Herkunft der
Sämkhya-Philosophie 3
II. Zur Geschichte und Literatur der Säm-
khya-Philosophie 24
m. Ueber den Zusammenhang der Sämkhya-
Lehre mit der griechischen Philosophie 85
IV. Ueberblick über die anderen philoso-
phischen Systeme Indiens 106
Zweiter Abschnitt. Der Charakter der Sämkhya-Philo-
sophie 129
I. Allgemeines 131
1. Der Name sämMiya 131
2. Die Aufgabe des Systems 133
3. Die Anforderungen 141
4. Die Methode 150
5. Die Terminologie 168
II. Die allgemein-indischen Bestandtheile
des Systems 1"2
1. Der Samsära und die Macht der That . . 172
2. Die Erlösung bei Lebzeiten 180
3. Der Werth der Askese 184
4. Das Mythologische 188
III. Die speciellen Grundanschauungen des
Systems 191
1. Der Atheismus 191
2. Der übrige Inhalt 195
Dritter Abschnitt. Die Lehre von der Materie . .199
I. Kosmologie 201
— VIII —
Seite
1. Die Realität der Erscheinungswelt .... 201
2. Die Urmaterie 204
3. Die drei Guna's 209
4. Die Evolution und Reabsorption der Welt . 220
5. Der Begriff der Kausalität 228
6. Die Produkte, besonders die feinen und groben
Elemente 233
II. Physiologie 242
1. Der Organismus im Allgemeinen .... 242
2. Die Buddhi 244
3. Der Aharnkära 248
4. Das Manas oder der innere Sinn .... 252
5. Das innere Organ als Einheit 253
6. Die Indriya''s oder die äusseren Sinne . . . 257
7. Die dreizehn Organe als Gesammtheit . . 261
8. Der feine oder innere Körper 265
9. Der grobe Körper 272
10. Die Zustände 274
III. Die Materie als einheitlicher Begriff . . 285
Vierter Abschnitt. Die Lehre von der Seele ... 291
I. Die Seele an sich 293
1. Vorbemerkung über die Bezeichnungen der
Seele 293
2. Beweise für die Existenz der Seele .... 294
3. Das Wesen der Seele 296
4. Die Vielheit der Seelen 303
II. DieempirischeSeele 305
1. Das Verhältniss der Seele zu den Organen
und zum Leibe 305
2. Das Verhältniss der Seele zum Handeln . . 307
3. Die Aufgabe der Seele 309
4. Das Gebundensein und seine Ursache , die
Nichtunterscheidung 316
5. Die Erlösung und ihre Ursache, die Unter-
scheidung 823
Inclices 330
Erster Abschnitt.
Einleitung.
Garbe, Sämkhya-Philosophie.
>1
-J
I. lieber das Alter und die Herkunft der
Sämkhya-Philosophie.
Die erste Aufgabe für den Darsteller eines philoso-
phischen Systems ist die Erforschung seines historischen
Zusammenhanges mit anderen Ideenkreisen und der
Stellung, die es in dem grossen Ganzen der Spekulation
seines Heimathlandes einnimmt. Diese Aufgabe habe ich
zum Theil bereits an einem andern Orte erfüllt. Ich
glaube nämlich in der Einleitung zu meiner Uebersetzung
der Sämkhya-tattva-kaumudi') durch Zusammen-
stellung einer ganzen Reilie von Uebereinstimmungen die
Richtigkeit der einheimischen Tradition erwiesen zu haben,
nach der das Sämkhya- System alter als Buddha ist
und diesem als eine Hauptquelle bei der Begründung
seiner Lehre gedient hat. Damit ist ein fester Anhalts-
punkt gegeben, der uns zugleich den Namen von Buddhas
Vaterstadt, K apilavastu ,Kapila's Wohnsitz', als
einen bedeutungsvollen erscheinen lässt; denn wir dürfen
uns diese Stadt als zu dem Wirkungskreise Kapila's,
des Begründers der S ä m k h y a-Philosophie, gehörig denken.
Wenn nun Oldenberg in dem ersten Excurse zu
seinem Werke über Buddha (1. Aufl.) den Nachweis ge-
liefert hat, dass das Heimatliland des Buddhismus, die
Gegend östlich von dem Zusammenflusse von Gaiigä und
Y a m u n ä , zwar schon in der Zeit, als im Nordwesten der
Halbinsel die vedische Kultur sich entwickelte, von Ariern
^) Abhandlungen der 1. Classe derKgl. bayerischen Akademie
der Wissenschaften, XIX. Bd. III. Abth. S. :.17 ff.
1*
_ 4 —
bewohnt, aber noch im sechsten Jahrhundert vor Chr.
weniff brahmanisirt war, so hat dies mit besonderer Be-
ziehnng auf den Buddhismus gesagte eine noch grössere Be-
deutung für dessen Vorläuferin, die Sämkhya- Philosophie.
Wenn auch Kapila in späterer Zeit zu den grossen
Weisen des Brahmanenthums gezälilt wird, so ist seine
Lehre ursprünglich doch zweifellos eine unbrahmanische,
aus der freieren Denkweise seines Heimathlandes hervor-
gegangene gewesen. Wir finden dies noch geradezu im
Mahäbhärata ausgesprochen, wo XII. 13702 die Veden
als eines, die Sämkhya-, Yoga-, Pancarätra- und
Pä9upata- Lehren als etwas anderes neben ihnen gelten,
und wo XIL 13711 Säiukhya und Yoga als zwei uralte
Systeme (sanätane dve)^) neben ,allen Veden' angeführt
werden. Ja sogar zu einer Zeit, in der das Sämkhya-
System längst vom Brahmanenthum appropriirt und unter
die orthodoxen Systeme eingereiht war, um 800 nach Chr.,
hat ^amkaräcärya, der grosse Vedäntalehrer, an ver-
schiedenen Stellen seines Commentars zu den Brahma-
sütra's (1.1.5; IL 1. 1, 2) eingehend ausgeführt, dass die
Lehre Kapila's schriftwidrig (acabdaj, dem Veda wider-
streitend (veda-viruddha) und im Veda unbekannt (a-veda-
prasiddha) sei, sowohl wegen der Annahme der Urmaterie
und ihrer Entfaltungen als auch wegen der Aufstellung
einer Vielheit individueller Seelen. Dieser Erklärung
^amkaräcärya's gegenüber stehen allerdings zahlreiche
Berufungen auf die ,Schrift' in den systematischen S ä m khy a-
Texten; aber diese Texte sind lange nach der Brahmani-
sirung des Systems, ja selbst nach dessen Blüthezeit im
Schosse des Bralunanenthums, entstanden ; und da darf es
uns nicht Wunder nehmen, dass die Verfasser dieser Texte
bemüht gewesen sind das System als ,schriftgemäss' dar-
zustellen und zu empfehlen. Keinem, der die Sämkhya-
1) Vgl. auch noch Mbh. XII. 10467, 13639. Ein anderer Be-
weis für das hohe Alter, das man schon zur Zeit des Mahäbhä-
rata dem Sämkhya -System zuschrieb, liegt in der Legende
Mbh. I. 3131 ff.; cf. J. Davies, Sänkhya Kärikä p. 6.
I
— 5 —
Texte aufmerksam durchliest, kann entgehen, dass die Be-
rafungen auf die Schrift etwas künstliches, nicht zur Sache
gehöriges sind, und dass die Versuche, die Sämkhya-
Lehren mit dem Vedänta der Upanishad's zu ver-
mitteln, misslungen sind.
Aus dem vorbuddhistischen Alter ^) der Sämkhya-
Philosophie folgt, dass diese das älteste philosophische
1) Weitere Gründe für dasselbe lassen sich aus dem Brahma-
jäla Sutta gewinnen, auf das Herr Hofrath Bühl er mich gütigst
aufmerksam gemacht hat. Dieses merkwürdige Werk (herausge-
geben von G-rimblot in 'Sept Suttas Pälis, tir^s du Digha-Nikäya,
Paris 1876' nebst einer englischen Einleitung und Uebersetzung
von Gogerly) enthält eine Aufzählung der zu Buddha 's Zeit vor-
handenen und von Buddha bekämpften philosophischen Schulen.
Mag nun das geistige Leben Indiens um 500 vor Chr. noch so
rege und mannigfaltig gewesen sein, so ist doch nicht daran zu
denken, dass die im Brahmajäla Sutta beschriebenen Schulen,
deren Zahl sich auf 62 beläuft, wirklich bei Buddha's Auftreten
existirt haben ; vielmehr sind hier deutlich mit echt-indischer Syste-
matisirungssucht die theoretisch möglichen Lehrmeinungen über
bestimmte Gegenstände der Spekulation erschöpft und als de facto
vorhanden hingestellt worden. Dabei aber werden einige Ansichten
erwähnt, die sich mit den Lehren uns bekannter Schulen auf den
ersten Blick identificiren lassen. Zu diesen gehören die Haupt-
lehren des Samkhya- Systems. Dieselben werden im Brahma-
jäla Sutta als eine Kategorie der zweiten Abtheilung mit folgen-
den Worten beschrieben (nach Gogerly's Uebersetzung S. 72):
•Priests, some Samanas and Brahmans hold" — es ist dies die
stehende Einkleidung einer jeden Lehrmeinung — "the eternity of
"existences (sassata-väda), and in four forms aförm t h a t the soul
and the world are of eternal duration". In einer Anmer-
kung dazu sagt Gogerly: "The Sassata- Wäda therefore held,
"that both mind and matter existed from eternity and would
"exist to eternity", anscheinend ohne zu erkennen, dass er mit diesen
Worten die Quintessenz der Säinkhya- Philosophie zum Ausdruck
gebracht hat. Bemerkenswerth ist ausserdem die Thatsache, dass
sa^sata-väda ('skt. cäcvata-väda) ein Synonymon von sat-kärya-väda
ist, mit Avelchem Worte die Sämkhya's in ihren Schriften gern
ihr System charakterisiren.
An der angeführten Stelle werden dann weiter die vier Unter-
abtheilungen beschrieben, in welche die Anhänger des Sassata-
6 —
System Indiens überhaupt ist, eine Thatsache, die Weber
seit jeher richtig erkannt und betont hat. In frühere
Zeit dagegen weisen uns nicht nur die ersten Anfänge
väda zerfallen: „die drei ersten", heisst es, „haben ihre Leiden-
„schaften bezwungen und, ausdauernd und beharrlich in der Aus-
„übung der Tugend, diejenige Ruhe des Geistes erreicht, durch
„welche sie sich die verschiedenartigen Zustände früherer Existenzen
„in unendlichen Zeiträumen vergegenwärtigen. Eaher wissen sie,
„dass die Seele und die Welt ewig sind."
Mit diesen drei Kategorien scheinen die Anhänger des Yoga
gemeint zu sein, die durch Concentration des Denkens zu dem
ekstatischen Erschauen der Wahrheit zu gelangen glauben, wo-
gegen die vierte Kategorie deutlich die Vertreter der Särnkhya-
Philosophie im engeren Sinne umfasst. Ueber diese letzteren wird
nämlich S. 77 gesagt:
"Priests, there are some Samanas and Brahmaus who are
"reasoners and inquirers. Such a one from a course of reason-
"ing and investigation forms his opinion and says: The soul
"and the world are eternal, unproductive of new existences,
"like a mountain peak (kutattho := skt. kutastha, ein specieller
"Sämkhya -Terminus), unshaken, imperishable. Living be-
"ings pass away, they transmigrate, they die, they are born
"but they continue, as being eternal. Priests, this is the fourth
"reason why some Samanas and Brahmans are Sassata-wädä,
"and teach that the soul and the world are of eternal duration."
Weiterhin wird dann noch S. 83 diesen Philosophen folgende
Lehre, die in jedem Sä mkhya- Texte stehen könnte, in den
Mund gelegt:
"This Seif which is named the eye, the ear, the nose, the
"tongue, the body is impermanent, mutable, is not eternal, but
"is subject to continued change (viparinäma-dhamnio)\
"but this Seif which is named Mind or Intellect or conscious-
"ness is everduring, immutable, eternal and remains unchan-
"geably the same (nicco dhuvo sassato aj)arinäma-dhammo
"sassati-samam tatli' eva thassaUy\
Schliesslich könnte noch die zweite (aus acht Unterabtheilungen
bestehende) Kategorie der angeblich 44 Schulen, die „über die
Zukunft philosophiren", auf die Anhänger des Sämkhya -Systems
gedeutet werden ; denn von ihr heisst es S. 95, dass sie unconscious
existence after death (nach der Erlösung annehme. Die acht
Unterabtheilungen freilich sind rein theoretisch aufgestellt nach den
verschiedenen Anschauungen, die über die Natur der Seele möglich
— 7 —
religiös-philosophischer Spekulation in der vedischen Lite-
ratur, sondern auch die vorgeschritteneren Betrachtungen
über das All-Eine in den älteren Upanishad's. Diese
Upanishad's werden mit dem Namen V e d ä n t a ' Ende
oder Endziel des Veda'^) bezeichnet; ihr wesentlicher
Inhalt aber, die Lehre vom Brahma n-Atman, ist noch
ungeordnet und stellt eine viel ursprünglichere Stufe der
Spekulation dar als der schulmässige Vedänta, wie er
uns in dem ältesten wirklichen Lehrbuch dieses Systems,
in den Brahmasütra's des Bädaräyana, vorliegt.
Obschon also das Sämkhya- System älter ist als der
systematisch dargestellte Vedänta, so kann doch
kaum bezweifelt werden, dass es jünger ist als der un-
systematische Vedänta der alten Upanishad's.
Vielmehr dürfen wir annehmen, dass die geistige
Strömung, die von den enthusiastischen Verkündern der
Lehre vom AU-Einen ausging und sich über Nordindien
verbreitete, erst in dem wenig brahmanisirten Lande, von
dem oben die Rede war, das spekulative Nachdenken ge-
weckt, dann aber bald bei dessen nüchterner angelegten
Bewohnern die Opposition hervorgerufen hat, die in dem
System Kapila' s ihre methodische Gestaltung fand. In
wie weit Kapila dabei unter dem Einfluss der brah-
manischen Weltanschauung stand und in wie weit sein
System die Physiognomie allgemein - indischen Deniens
trägt, soll weiter unten in einem besonderen Abschnitte
erörtert werden.
sind, wobei sich jedoch die Meinung, dass die Seele immaterial
and infinite sei, mit der Lehre des Sämkhya- Systems decken
würde.
Bei dem unzweifelhaft hohen Alter des Brahmajäla Sutta
und der hervorragenden Stellung, welche das Werk in der Sutta -
Literatur einnimmt, sind diese nicht misszuverstehenden Angaben
von der grössten Bedeutung; sie würden allein schon genügen, um
die Priorität des Sämkhya -Systems vor dem Buddhismus zu
beweisen.
1) Das nähere über diesen Namen ist im Eingange von Deus-
sen's ,System des Vedänta' nachzusehen.
— 8 —
Einen von den eben dargelegten Anschauungen völlig
abweichenden Gedanken hat Gough, Philosophy of the
Upanishads S. 198, geäussert, indem er aus dem Charakter
des Sämkhya- Systems folgert, dass dieses gestiftet sei
"with the purpose of presenting a firmer front against
the Buddhists". Diese Behauptung wird von Gough nicht
weiter begriindet, steht aber offenbar im Zusammenhang
mit seiner — ich kann nicht anders sagen als — wunder-
lichen Vorstellung von der Entstehung unseres Systems
überhaupt. Er hält nämlich (S. 212) das Sämkhya ur-
sprünglich nur für "a nomenclature for the principles of
the philosophy of the Upanishads"; es ist ihm von Hause
aus nichts anderes als „eine Aufzählung der successiven
Emanationen der Mäyä, eine Reihe genauer Ausdrücke,
um die primitive Philosophie der Upanishad's zu be-
schreiben " ; die eigentlichen Lehren der Sämkhya- Philo-
sophie erklärt er für spätere Ent Wickelungen ').
Noch auf derselben Seite nennt Gough unser System
„eine Philosophie, welcher in ihrer ältesten Form nur eine
neue klare Darstellung der Emanation der Welt aus der
Mäyä zu sein scheine". Diese — merkwürdiger Weise
von Max Müller, Upanishads translated. Part IL p.
XXXV anerkannte — Theorie wiederholt Gough dann
S. 228 mit fast den gleichen Worten und fügt die folgende
Bemerkung hinzu : „Die Verschiedenheit der Ausdrucksweise
„(the divergence of phraseology) muss später zu einer Ver-
„ schiedenheit der Anschauungen geführt haben; und so
„fonnulirte die S ä m k h y a - Philosophie sich mit ihrer Be-
^) In ähnlicher Weise hatte schon früher Nehemiah Nila-
kantha S'ästri Gore (Rational Refutation, translated by F. E.
Hall, Calcutta 1862, p. 82— 85) versucht, die Entstehung der wich-
tigsten Begriffe der Sänikhya-Philosophie zu erklären. Dieser
gelehrte Inder ist der Ansicht, dass im Laufe der Zeit der wahre
Inhalt bestimmter Begriffe, mit denen man sich allgemein be-
schäftigt habe, vergessen worden sei, und dass sich durch allerlei
Ideen- Veränderungen und Verschiebungen die Gnmdzüge des S ä ra -
khya-Systems gebildet haben.
— 9 —
„seitigung des I^vara (d. h. Gottes), mit ihrer Aufstellung
,,der Realität und Unabhängigkeit der Prakrti (d. h. der
„ Urmaterie) , der Realität der Zweiheit und Vielheit der
„empirischen Welt und der Vielheit der Purusha's oder
„Seelen." Diese letzten Sätze klingen mir wie eine Ironie
auf die vorangehenden Behauptungen.
Nach Gough's Ansicht dienten die Worte nicht zur
Bezeichnung der Ideen, sondern zuerst waren die Kunst-
ausdrücke vorhanden, und aus ihnen gingen die Ideen
hervor! Wir sollen glaaben, dass die Hauptbegriffe des
Idealismus der älteren Upanishad's plötzlich — man
weiss nicht, weshalb und wozu — mit anderen Termini
benannt wurden, und dass aus diesen neuen technischen
Ausdrücken sich die originellste und unabhängigste Philo-
sophie entwickelte, die Indien hervorgebracht hat; eine
Lehre, die in allen wesentlichen Stücken die entschiedenste
Gegnerin desjenigen Gedankenkreises ist, aus dessen Kunst-
ausdrücken sie hervorgegangen! Ich glaube, dass selten
das Verhältniss zweier Weltanschauungen zu einander in
einer so widersinnigen Weise verkannt worden ist, wie
hier. Dieser sonderbare Irrthum ist bei G o u g h durch die
Betrachtung der ^vetä9vatara Upanishad und in
zweiter Linie auch durch die der Bhagavadgitä her-
vorgerufen vrorden. Beide VV^erke suchen bekannter Massen
verschiedene Philosopheme mit einander auszusöhnen, vor
allen Dingen das Sämkhya mit dem Vedänta. Aber
Gough leugnet ihren ausgleichenden, eklektischen Charakter,
der mit Bezug auf die^vetä9vatara Upanishad schon
vor 40 Jahren von R ö e r in der Einleitung zu seiner Ueber-
setzung dieses Werkes so anschaulich dargelegt worden ist ;
die^vetä9vataraUpanishad enthält nach Gough ledig-
lich dieselben Lehren wie die älteren Upanishad's, d.h.
die Lehren von der Einheit der individuellen Seele (Atman)
mit der Allseele (B rahm an) und von der illusorischen
Natur der empirischen Welt (S. 211). Ebenso ist ihm die
Bhagavadgitä, in der sich noch deutlicher die ver-
schiedensten geistigen Elemente zu einem Ganzen ver-
— 10 -
einigen, ein ausschliesslich vedantistisches Werk, dessen
Lehren durchaus die nämlichen seien wie die der U p a n i -
shad's (S. 226—228). Diese verkehrte Anschauung, die
durch jede unbefangene Betrachtung der beiden Werke
widerlegt wird, hat Gough dazu verführt, zunächst den
Sämkhya-Termini in der ^'vet. Up. und in der Bha-
gavadgitä ihren Inhalt zu nehmen und dann den Inhalt
als etwas später dazu gewachsenes hinzustellen.
Aus meinen vorher dargelegten Anschauungen über
das Heimathland der S am khya- Philosophie und über
den ursprünglich unvedischen Charakter dieses Systems
geht schon hervor, dass ich in der älteren vedischen Literatur
nicht eine Vorgeschichte der Sämkhya- Gedanken habe
finden können. Weber sagt Indische Literaturgeschichte-
252, dass „ in den filiheren Upanishad und Brähmana
„die Lehren, welche später dem Sämkhyasysteme ange-
„ hören, noch in bunter Vermischung mit Lehren entgegen-
„ gesetzter Ansicht stehen und mit denselben unter den
„ gleichen Namen M i m ä m s ä (]/man, Spekulation), A d e 9 a
„(Lehre), U p a n i s h a d (Sitzung) etc. aufgeführt werden"^).
Auch sonst hat Weber verschiedentlich auf Vorstufen der
Sämkhy a-Lehren in vedischen Schriften hingewiesen.
Verhielte sich die Sache wirklich so, wie Weber sie an-
sieht, Hessen sich Vorstufen bestimmter Sämkhya- Ideen
in vedischen Schriften älteren Datums nachweisen, so wäre
meine Theorie von der Entstehung der Sämkhya- Philo-
sophie hinfällig oder wenigstens zu modificiren. Ich glaube
jedoch im Stande zu sein, eine durchgreifende sachliche
Verschiedenheit zwischen den scheinbaren Anklängen an
das Sämkhya, die sich in vorbuddhistischen vedischen
Werken finden, und den Lehren Kapila's darzulegen.
*) Vgl. auch Ind. Stud. II. 184. — In ähnlicher Weise, wohl
unter dem Einfluss von Webe r 's Worten, hat sich auch Barth aus-
gesprochen, der Religions of India^ 69 an Stellen wie Chänd. Up. III.
19, Taitt. Up.U. 1, 7 die Keime der Särnkhya-Philosophie findet und
S. 70 gar behauptet, dass in den ältesten Upanishad 's "the ideas
that have come out in the Sänkhy a are already in general favour".
— 11 —
Die pliilosopliischen oder philosophisch geförbten Lieder
des Rig- 1111 d Atharvaveda enthalten pantheistische
und monotheistische Ideen und sind deshalb für die Vor-
geschichte des Vedänta von grosser Wichtigkeit. Ge-
danken aber mit historischen Beziehungen zum Sämkhya-
System habe ich in den beiden Liedersammlungen nicht
entdecken können. Li Betracht würden zunächst Vers 3
und 4 des berühmten und vielbesprochenen ^) Liedes RV.
X. 129 über den Anfang der Dinge kommen:
3. „Finsterniss war in Finsterniss verhüllt am Anfang;
„eine ununterscheidbare Wasserfluth war dieses alles. [Da]
„entstand das eine gewaltige, das von der Leere bedeckt
„war, durch die Kraft der Wärme.
4. „Dann entsprang [in ihm] zuerst der Wille, der
„des Denkens erster Same war. Den Zusammenhang des
„ Seienden mit dem Nichtseienden fanden die Weisen, nach-
„dem sie im Herzen einsichtig danach geforscht."
Die ,ununterscheidbare Wasserfluth' (apraketam salilam)
ist hier also das Princip, aus welchem die Schöpfung her-
vorgeht; und das ist ein Gedanke, der sich durch die ganze
vedische Literatur hindurchzieht und auch noch in der
späteren Mythologie erhalten hat. Das Urwasser bringt
entweder selbst die Dinge hervor, oder der Schöpfer lässt
sie aus ihm entstehen ^).
Dieses weltschafiFende Urwasser bringt Weber, Lid.
Stud. LK. 74 in Zusammenhang mit dem Sämkhya-
Princip der Urmaterie, für welches dasselbe 'nur ein plas-
tischerer Ausdruck' sei. Ich halte das nicht für richtig.
Die Idee des Urwassers ist eine kosmogonische Vorstel-
^) S. Scherman, Philosophische Hymnen aus der Rig- und
Atharva-Veda-Sanhitä S. 2.
2) S. RV. VI. 50. 7; X. 30. 10; 82. 6; 121. 7, 8; AV. IV. 2.
6; X. 7. 10; Taitt. S. V. 6. 4. 2; VII. 1. 5. 1; Qat. Br. XI. 1. 6.
1, 2; XIV. 8. 6. 1 = Brh. Up. V. 5. 1; Taitt. Br. I. 1. 3. 5; Taitt.
Ar. I. 23. 1; X. 1. 1; 10. 22; Ait. Ar. I. 1. 8. 1; Kath. Up. IV.
6; Nrs. Täp. Up. I. 1. 1 und sonst. Vgl. Weber, Ind. Stud. IX.
2, 74, Ludwig, Rigveda übersetzt V. 435, Scherman S. 6 — 9.
— 12 —
lung rein mythologischer Natur, wogegen in dem S ä m k hy a -
System die Idee der Urmaterie auf dem AVege der philo-
sophischen Abstraktion gCAvonnen ist. Dass alte mythisch-
religiöse Gedanken später von der Philosophie verwerthet
und ausgebildet werden, ist freilich anderweitig zur Genüge
beglaubigt. In unserem Falle aber wird ein solcher Zu-
sammenhang weder durch eine Uebereinstimmung im Aus-
druck noch im Inhalt wahrscheinlich gemacht. Die Ur-
materie der S ämk h y a ' s hat keine sachlichen Beziehungen
zu dem Wasser; denn im Sämkhya- System geht aus
der Urmaterie zuerst die Buddhi hervor, aus der Buddhi
der Ahamkära, und aus diesem entspringen neben dem
Manas und den äusseren Sinnen die feinen Elemente des
Aethers, der Luft, des Wassers, des Feuers und der Erde.
Aus diesen feinen Elementen entwickeln sich dann durch
gegenseitige Vermischung die fünf grob-materiellen Stoffe.
Das Wasser steht also mit den übrigen Elementen auf
der gleichen Stufe und am Ende des Schöpfungsprocesses,
während die vedische Mythologie es an den Anfang des-
selben setzt. Wenn man dagegen einwenden wollte, dass
bei Manu I. 11 die Urmaterie der Sämkhya's in un-
mittelbarem Zusammenhang mit dem mythologischen Ur-
wasser (v. 8, 10) erwähnt ist, so muss ich die Beweiskraft
eines solchen Aro^uments bestreiten. Die im Einganff des
berühmten Gesetzbuches vorgetragenen Anschauungen sind
verworrene Combinationen von mythologischen und philo-
sophischen Ideen, deren ganzem Charakter es durchaus
entspricht, dass die Lehre der S ä m k h y a - Philosophie von
dem primordium rerum mit der landläufigen mythologischen
Vorstellung über denselben Gegenstand verknüpft ist.
Wer trotzdem in den — immer noch nicht zu völliger
Klarheit gebrachten — Versen RV. X. 129. 3, 4 die Vor-
geschichte einer Grundanschauung der Sämkhya-Philo-
sophie zu finden geneigt ist, sei daran erinnert, das dort
ein Gedanke ausgesprochen ist, der den Voraussetzungen
des Sämkhya- Systems schnurstracks widerspricht, nämlich
der auch sonst in der vedischen Literatur verbreitete Ge-
I
- 13 —
danke, dass das Seiende aus dem Nichtseienden hervorge-
gangen sei ^). Das Sämkhya lehrt dagegen, dass die
Materie ebensowohl wie die Seelen ohne Anfang, von
Ewigkeit her real gewesen sei, und hat den Grundsatz
ex nihilo nihil fit mit solcher Entschiedenheit betont, wie
kein anderes indisches System; denn es ist das einzige,
welches die Lehre von der steten Kealität der Produkte
(sat-kärya-vüda) — mit anderen Worten: die Lehre von
der Anfangslosigkeit und Unzerstörbarkeit des sich be-
ständig verändernden Stoffes — proklamirt hat.
Eine zweite Stelle, die aus der Zeit der vedischen
Hymnendichtung für die Geschichte der Sämkhya- Philo-
sophie herangezogen worden ist und die in der That, äusser-
lich betrachtet, Beziehungen zu einem wesentlichen Gedanken
unseres Systems zu enthalten scheint, ist AV. X. 8. 43:
„Der neun thorige Lotus ist dreifach (trihhir gunehhih) um-
„ hüllt; das beseelte Ding, das in ihm ist, das fiirwahr kennen
„die Brahma- Kenner ". Ich habe diesen Vers bereits in
der Einleitung zu meiner Uebersetzung der Sämkhya-
tattva-kaumudi S. 529 (S. 13 des Separatabzuges)
Anm. 1 besprochen und die Beziehung, welche M u i r und
W e b e r ^) hier zu den drei Gu n a ' s , dem besonderen
Eigenthum der S ä ni k h y a - Philosophie, finden, im An-
schluss an die Auffassung des Petersburger Wörterbuchs
geleugnet. Die zweite Zeile des Verses enthält die offen-
kundigsten Beziehungen zumVedänta, wogegen meiner
Ansicht nach die erste in mystischer Ausdrucksweise nichts
anderes als die triviale Wahrheit aussagt, dass der neun-
thorige Lotus, d. h. der menschliche Leib, von Haut, Nägeln
und Haaren bedeckt ist. Wollte man den Ausdruck
tribhir gunebhih technisch im Sämkhya -Sinne auffassen,
so würde er bedeuten: ,mit den drei Constituenten', d. h.
,mit Materie' ; denn dass dies der Sinn des philosophischen
Terminus ist, wird weiter unten (im dritten Abschnitt L 3)
1) Vgl. EV. X. 72. 2, 3; AV. X. 7. 21, 25; XVII. 1. 19; Brh.
üp. I. 2. 1; Chänd. Up. VI. 2. 1; Taitt. Up. II. 7. 1.
•') Ind. Stud. IX. 11, Jenaer Liter. Zeit. 1878, S. 82.
— 14 —
dargelegt werden. Es müsste also die erste Zeile jenes
Verses nach Weber' s Voraussetzung besagen, dass der
menschliche Leib mit Materie bedeckt, von Materie ver-
hüllt sei, während doch nur gesagt werden kann, dass
der Leib aus Materie besteht. Das Wort triguna ,aus
den drei Constituenten bestehend' wird in den Sämkhya-
Schriften als ein Synonymon von prdkrta ,materieir ge-
braucht ^).
Andere Stellen, die zu der Vermuthung Anlass geben
könnten, dass in ihnen S ä m k h y a - ähnliche Gedanken
angedeutet liegen, sind mir aus den vedischen Liedersamm-
lungen nicht bekannt. Aber auch in den nächstfolgenden
Literaturkreisen der Brähmana's und Aranyaka's-)
habe ich solche Ideen nicht finden können. Die Mühe,
1
^) Uebrigens müssen wir bei der Erklärung jenes Atharva-
veda -Verses die Bedeutung ,Qualität' für pnna deshalb ganz
ausser Betracht lassen, weil das Wort zu der Zeit, als der Athar-
vaveda zusammengestellt wurde, noch nicht diese Bedeutung
hatte, die erst in der jüngeren Sütra-Literalur auftritt. Bis
dahin heisst guria durchaus ,Teil, Bestandtheil, Strähne u. s. w.'
Die ältesten Belege für den Gebrauch des Wortes guna im Sinne
von jQualität' sind nach dem Petersburger Wörterbuch Lätyäyan a
^rauta I. 1. 8 und ^äükhäyana Gyhya I. 2.
-) Im zehnten Prapäthaka des Taittiriya Aranyakn
sind Särrikhya- Lehren an zwei Stellen ausgesprochen. In dem
Schlussverse von X. 10. 1 ajäm ehäm loJdta-cukla-krshnäni etc., der
übrigens hier zusammenhangslos steht und aus Qvetäcvatara
Up. IV. 5 entlehnt ist (umgekehrt Weber, Ind. Stud. II. 91),
kann kein anderer Sinn gefunden werden, als die Lehre von der
schöpferischen, aus Sattva, Rajas und Tamas bestehenden Ur-
materie und die von der Vielheit individueller, in die Materie ver-
strickter Seelen. Ebenso weist der Schlussvers von X. 10. 3 mit
seinem pralrti-lina einen deutlichen Einfluss der S am khya- Phi-
losophie auf. Dass aber dieser zehnte Prapäthaka, Yäjniki oder
Mahanäräyana Upanishad genannt, ein spätes Anhängsel des
Aranyaka ist und aus der Zeit der sektarisehen Upanishad's
stammt, ist längst erkannt worden. Weder in den rituellen Pra-
päthaka's I— VI noch in den die Taittiriya Upanishad bilden-
den Frap. VII — IX ist mir ein Anklang an Säiakhya- Lehren
begegnet.
— 15 -
die ich auf diesen Gegenstand verwendete, hat ein durchaus
negatives Resultat ergeben, so dass ich im Gegensatz zu
Web er' s oben S. 10 herausgehobenen Worten den Satz
aufstellen muss, dasssichin der vedischenLiteratur,
so weit sie vorbuddhistisch ist, keine Sämkhya-
Lehren vorfinden. Unter Sämkhya- Lehren verstehe
ich hier natürlich die distinktiven Lehrsätze dieses
Systems, deren Inhalt die folgenden Gedanken bilden: die
absolute Verschiedenheit des geistigen und des ungeistigen
Princips; die Vielheit der Seelen; die Unabhängigkeit und
Ewigkeit der Materie: ihr Bestehen aus den Constituenten
Sattva, Rajas und Tamas; die Entfaltung der Welt
aus der Urmaterie; die Vorstellung, dass dabei zunächst
die psychischen Organe und dann die Aussendinge ent-
stehen; die Dreiheit der psychischen Organe; die fünfund-
zwanzig Principien; die Lehre von den feinen Elementen
(tanmätra), von dem inneren Körper (Uhga-garira), von den
Dispositionen (samskdra); die Auffassung der psychischen
Vorgänge als zunächst rein mechanischer und nur durch
die geistige Kraft der Seele ins Bewusstsein erhobener
Processe; die Gottesleugnung; der Satz, dass die Erlösung
allein durch die Unterscheidung (viveka) von Geist und
Materie erreichbar ist. Von allen diesen Gedanken findet
sich, so viel ich sehen kann, nichts in den Brähmana's
und Aranyaka's; es ist mir deshalb nicht ganz klar,
was für Stellen Weber gemeint hat, als er von der bunten
Vermischung der Sämkhya -Lehren mit Lehren der ent-
gegengesetzten Art in den Brähmana's sprach. Ich
vermuthe, dass er mythologisch-kosmogonische Ideen im
Sinne gehabt hat, namentlich wohl die verbreitete Vor-
stellung von dem L^rwasser, die schon oben S. 11, 12 erwähnt
war^). Aeussere Anklänge an den Wortlaut der Säm-
^) Wenn ich annehmen darf, dass Weber sich noch zu den
im ersten Bande der Indischen Studien ausgesprochenen Anschau-
ungen bekennt, so möchte ich aus S. 455 Anm. ft schliessen, dass
er jeden Schöpfungsbericht mit dem Sämkhya-System in Ver-
- 16 —
khya- Texte finden sich wohl zuweilen; aber bei näherer
Betrachtung lässt sich daraus doch kein innerer Zusammen-
hajig ableiten. Ich bin deshalb überzeugt, dass Kapila
durch keine Stelle unserer vedischen Texte zur Begrün-
dung seines Systems angeregt worden ist.
Weber hat Ind. Stud. V. 375, Anm. **, die Stellen
des ^atapatha und ^änkhäyana Brähniana zu-
sammengestellt, an denen das Selbst, der Atman, als , der
fünfundzwanzigste' {pancavlrnca) bezeichnet ist. Hier scheint
nun eine überraschende Uebereinstimmung mit den Lehren
der Sämkhya- Philosophie vorzuKegen, nach denen der
bindung zu setzen geneigt ist. Pra^na Up. VI. 4 heisst es: „Er
„(der höcliste Geist) schuf den Hauch (präna). Aus dem Hauch
„[entstanden] der Glaube (craddha), der Aether, die Luft, das Licht,
,,das Wasser u. s. w." Hierzu bemerkt Weber a. a. 0.: „Als
„schöpferisches Element ist mir die graddhä noch nirgendwo be-
„gegnet; dem Range nach steht sie hier mit dem ahainMra der
„Sänkhya auf gleicher Stufe, während der präna dem mahat
„entspricht, der Er deren purusha zusammt der prakrti.^^ Es sind
das Combinationen, die ich mir ebenso wenig zu eigen machen
kann, wie die Beziehungen zwischen Sämkhya und Buddhis-
mus, die Weber Ind. Stud. III. 132 findet. Auch noch in einem
anderen Punkte bringt Weber meiner Meinung nach nicht zu-
sammengehöriges zusammen. Ind. Stud. II. 76 Anm. -* sagt er,
dass nach der buddhistischen Legende Qäkyamuni „vor seinem
..Erscheinen auf der Erde als Qvetaketu in der Tushita -Region
„wiedergeboren ward und den versammelten Göttern die Lehre vor-
„trug, was wohl so viel heisse, als dass seine Lehren mit denen
„des Qvetaketu übereinstimmten, d. i. dass beide buddha waren
„und der Sänkhyalehre angehörten; dazvi passe denn auch, dass
„Qvetaketu in den vedantistischen Brahma nas fast stets unter-
„richtet wird, seine Ansichten als unhaltbar bekämpft werden."
Schlägt man nun aber diese Stellen nach, so findet man, dass die
dem ^vetaketu in den Mund gelegten Worte weder zum Säin-
khya noch zum Buddhismus die geringste Beziehung haben. Der
buddhistische Mythendichter, der von dieser früheren Existenz
Buddha's berichtete, wählte dazu den in der vedischen Literatur
geläufigen Namen Cvetaketu und hätte ebenso gut anstatt dessen
Yäjnavalkya, Asuri, ^ärulilya oder sonst irgend einen alten
Namen gebrauchen können.
— 17 —
Ätman oder Purusha als das 25ste Princip (tattva) den
24 materiellen Principien gegenüber steht (s. Sämkhya-
kärikä 3, S. Sütra I. 61). Dass aber in der That an
den Brahma na -Stellen etwas ganz anderes gemeint ist,
dass doli der Purusha oder der Mensch als solcher als
der 25ste zu seinen 24 Gliedern, den Händen, Füssen,
Fingern und Zehen, gerechnet wird, ist schon von Weber
gesagt worden.
Wenn ich eben bemerkte, dass die vorbuddhis-
tische Literatur nach meinen Untersuchungen keine
Sämkhya- Ideen aufweist, so habe ich damit schon er-
klärt, dass ich solche Ideen auch vergeblich in den älteren
Upanishad's gesucht habe. Dies gilt von der ganzen
Schicht derjenigen Upanishad's, die nur den drei
älteren Veden zugerechnet werden, (aufgezählt von Weber,
Ind. Literaturgeschichte- 172, Anm.). Einige Stellen in
diesen Werken scheinen beim ersten Anbhck gegen meine
Behauptung zu sprechen; ich glaube dieselben deshalb im
folgenden einer Erörterung unterziehen zu müssen, um
meine Gründe gegen die nahe liegenden Einwände vor-
zubringen.
Der Ahamkära, bekanntlich einer der Hauptbegriflfe
der Sämkhya -Philosophie, ist in der Chändogya
Upanishad VIL 25. 1 genannt. Hier liegt allerdings
eine Uebereinstimmung des Ausdrucks vor; aber die
Bedeutung des Wortes ist im Sänikhya- System eine
so vollständig andere, dass man nur von der Benutzung
eines vorhandenen — wenn auch bis dahin nicht geläufigen
— Wortes durch Kapila sprechen kann. Die ganze
Terminologie Kapila's ist ja dem zu seiner Zeit vor-
handenen Sprachschatze entnoiomen und nur insofern
originell, als mit einem grossen Theil der gewählten Aus-
drücke andere Bedeutungen verbunden sind'). Im Säm-
khya-System ist ahamkära ein beschränktes Organ mit
1) Vgl. unten im zweiten Abschnitt I. 5.
Garbe, Sämkhya-Philosopbie.
— 18 —
ganz bestimmter Funktion; in der Stelle der Chan dogya
Up. dagegen bezeichnet das Wort das Ich, das Selbst im
reinsten Vedänta- Sinne; denn ahamkära wird hier so-
gleich durch aham aufgenommen und ebenso beschrieben
wie der Ätman im folgenden Paragraphen (s. besonders
aham eve 'dam sarvam, dtmai 've 'dam sarvam). Dies ist
um so beachtenswerther, als ahamkära in den jüngeren
Upanishad's (Pra^na IV. 8, Maitri VI. 5, Cvetä9v.
V. 8 und sonst) nicht in dieser Bedeutung, sondern durchaus
im Sämkhya- Sinne verwendet wird.
Die nächste SteUe ist Chan d. Up. VII. 26. 2: dhdra-
euddkau sattva-cuddhih , sattva-cuddhau dhruvd smriih.
Hier liegt die Zusammenstellung mit dem in den Säm-
khya-Texten öfter gebrauchten sattva-guddhi ,Läuterung
des [im Innenorgan befindlichen] Sattva [durch Unter-
drückung der beiden anderen Substanzen Rajas und
Tamas]' sehr nahe, und ich selbst würde keinen Augen-
blick anstehen, diesen Inhalt in das sattva-cuddhi der
Chänd. U p. hineinzutragen, wenn die Upanish ad sonst
irgend welche Bekanntschaft mit der Theorie der drei
Guna's verriethe. Da aber das Wort sattva sonst nicht,
die Worte guna und rajas überhaupt nicht in ihr vor-
kommen und tamas an den drei Stellen, an denen es er-
scheint, (I. 3. 1; III. 17. 7; VU. 26. 2) nicht im tech-
nischen Sinne, sondern in der Grundbedeutung ,Finsterniss'
gebraucht ist, so wird man auch dem Worte sattva VII.
26. 2 nicht die technische Bedeutung, die es in der S ä m-
khya-Philosophie hat, zuschreiben dürfen '). Ich glaube
also, dass Böhtlingk Recht hat, wenn er das Wort an
jener Stelle in seiner ursprünglichen Bedeutung als
Abstractum fasst und übersetzt: „Auf reiner Speise
beruht reines Wesen, auf reinem Wesen ein sicheres Ge-
dächtniss. "
1) Wer dies dennoch thun will, wird aus dem angeführten
Grunde in der besprochenen Stelle eine Interpolation sehen
müssen.
— 19 —
Ebenso stimme icli B ölitlingk bei, wenn er Brhad-
äranyaka Up. IV. 4. 8 (Mädhy., IV. 4. 6 Känva)
lihga neben manas nicht im Sinne von hnga-carira ,innerer
Leib' nimmt, sondern als Adjektiv ,gekennzeichnet' also =
tal-Uhga i). Schon ^amkara hat nicht gewagt die erste
Auffassung mit Bestimmtheit zur Geltung zu bringen,
sondern auch die zweite für zulässig erklärt.
Sonst würden aus der Brhad. Up. noch zwei Stellen
in Betracht kommen; zunächst I. 4. 15 (Mädhy., I. 4. 7
Känva): tad dhe 'dam tarliy avydhrtam ctsU, tan näma-
rupäbhydm eva vyakriyata „damals war dieses hier noch
ungesondert; dann wurde es durch Name und Gestalt ge-
sondert." In diesen Worten liegt einfach die Vorstellung
eines Chaos ausgesprochen, welche uns ja schon in den
kosmogonischen Liedern des Veda entgegentritt und —
wie ich bereits oben ausführte — mit der Sämkhya-Idee
der Urmaterie nichts zu thun hat. Die Urmaterie der
Sämkhya- Philosophie ist nichts weniger als eine chaotische
Masse, sondern etwas durchaus stabiles, aus dem die mate-
rielle Welt in gesetzmässiger Entwicklung hervorgeht und
in das sie durch einen ebenso gesetzmässigen Process wieder
zurücksinkt; sie ist das absolute ,Gleichge wicht der drei
Substanzen Sattva, Rajas und Tamas'-).
Die andere SteUe ist Brhad. Up. IV. 4. 13 (Mädhy.):
andham tamah pravicanfi, ye 'samhhüiim upäsaie, ein Vers,
der i9ä Up. 12 (= VS. 40. 9) wiederkehrt und in Folge
dessen von verschiedenen Commentatoren besprochen worden
ist. Cainkara undDvivedaganga erklären asainbhüti durch,
prahrti und sehen in dem Verse demzufolge eine Polemik
gegen die Sämkhya's; Mahidhara lässt zwar dieselbe
Erklärung für asambhüti zu, sagt aber an erster SteUe,
dass der Satz gegen die Buddhisten gerichtet sei; Uvata
meint, dass er sich gegen die Materialisten (lokäyatika)
^) Vgl. Böhtlingk's Wörterbuch in kürzerer Fassung s. v. 14.
•') Sämkhyasütra I. 61.
2*
— 20 -
wende'). Weber schliesst sich Ind. Stud. I. 298, 299 der
Ansicht Mahidhara's an und sieht in der Stelle eine
Zurückweisun«^ der buddhistischen und dadurch mittelbar
auch der Sämkhya-Lehre -). Damit wäre die Brhad.
— resp. die 19a — IJpanishad nicht nur in die Zeit nach
Buddha hinabgerückt, sondern sogar in eine Zeit, in der
der Buddhismus sich schon kräftig entwickelt und ver-
breitet hatte; und was bleibt dann von der Upani-
s h a d - Literatur noch für die vorbuddhistische Zeit übrisr?
Ist es femer anzunehmen, dass die Brahmanen, wenn sie
gegen den Buddhismus polemisirten, sich zur Bezeichnung
der feindlichen Lehre eines gänzlich unbuddhistischen Ter-
minus bedient haben werden, den die Gegner keinen Grund
hatten auf sich zu beziehen? Ich bin überzeugt, dass
Uvata das richtige getroffen hat, und unterschreibe auch
hier Böhtlingk's Uebersetzung : „In dichte Finsterniss
treten diejenigen ein, welche die Vernichtung verehren;"
denn Matei'ialisten, die da meinen, dass mit dem Erlöschen
dieses Lebens aUes zu Ende sei, hat es sicher schon in vor-
buddliistischer Zeit in Indien gegeben -^j. Für die von den
anderen Commentatoren gelehrte Identität von asambhüü
mit der unentfalteten Urmaterie der Sämkhya's ist
weder aus dem Zusammenhang noch sonst irgendwoher
ein Grund zu entnehmen.
Dies wären sämmthche Stellen der älteren L^ p a n i -
^) Vgl. Max Müller, Upanishads translated I. p. 318.
2) Später (Ind. Lit. Gesch.- 329, Anm. *) ist Weber dies
wieder zweifelhaft geworden. Er meint, „es könnte eben die dortige
Polemik auch gegen die Sämkhya- Ansichten im Allgemeinen
gerichtet sein."
^) Auch das Brahmajäla Sutta erwähnt solche zu Buddha's
Zeit ihr Wesen treibende Irrlehrer, die da sprechen (nach Gogerly's
Uebersetzung bei Grimblot S. 97 unten): "The soul is material,
"formed of the four elements, generated by the parents: upon the
"dissolution of the body, it is cut off, destroyed, and after death
"will no longer exist: at that time the soul is completely anni-
„hilated."
— 21 —
shad's, in denen man Sämkhya-Leliren vermuthen
könnte ; doch habe ich im vorstehenden die Schwierigkeiten
dargelegt, die sich bei näherer Betrachtung gegen solche
Combinationen erheben. Meine Ansicht, dass die ange-
führten Stellen keinerlei Beziehung zu unserem System
haben, findet noch darin eine Stütze, dass in den Upa-
nishad's der zweiten Schicht auf Schritt und Tritt
S am khya- Ideen in dem Gewände der technischen Aus-
drücke dieser Philosophie auftreten und sich von da an
durch die jüngeren und jüngsten Werke dieses Namens
hindurchziehen. Während die Begründung der Sä m-
khya-Philosophie wegen der unverkennbaren Anleh-
nung des Buddhismus an dieselbe in vorbuddhistischer Zeit
stattgefunden haben muss, fällt die Beeinflussung des
Brahmanismus durch das Sämkhya-System erst
in die Zeit, welche zwischen der Entstehung
derjenigen Upanishad's, die nur den älteren
drei Veden zugehören, und der Abfassung der
Katha^), Maitri, ^vetä9vatara, Pra9na und ähn-
licher Upanishad's liegt. Das plötzliche Auftreten
der Sämkhya- Terminologie jenseits einer fest bestimmten
Grenze macht eine andere Beurtheilung des Thatbestandes
unmöglich.
Ich lasse hier ein Verzeichniss der SteUeii folgen, an
1) Oldenberg, Buddha^ S. 56 uud Max Müller, Anthro-
pological Religion p. 345 nehmen für die Katha (oder Käthaka)
Upanishad vorbuddhistischen Ursprung in Anspruch, weil sie in
der Erzählung von der Versuchung des Naciketas durch den
Todesgott einen wichtigen Beitrag zur Vorgeschichte der buddhis-
tischen Gedankenkreise erblicken. Davon bin ich auch überzeugt,
dass der Inhalt dieser Erzählung als vorbuddhistisch anzusehen
ist — findet sich doch bekanntlich eine ältere Version derselben
im Taittiriya Brähmana III. 11. 8 — und dass die Gestalt
des hier auftretenden Todesgottes der Prototyp des buddhistischen
Mära ist. Weshalb aber soll aus diesem Grunde die uns vor-
liegende Atharva-Recensiou der Katha Upanishad in so
frühe Zeit hinaufreichen?
— 22 —
welchen in den Atharva-, Yoga- und sektarischen
Upanishad's auf Lehren der Sämkhya- Philosophie
Bezug genommen ist:
Katha IL 9 (falls Weber, Ind. Stud. IL 184 iii
dem Worte tarha mit Recht eine Anspielung auf die Säm-
khya's sieht), IIL 10, 11. VL 7, 8; Maitri IL 5. IIL
2-5. IV. 3. V. 2. VL 5, 10, 19, 28, 30, 34. VU. 1
(cf. Weber, Ind. Lit. Gesch.- 107); (^Neik<^Ya,i2iX2i I.
8, 10. m. 12. IV. 5, 10. V. 2, 7, 8. VI. 10, 13, 16
(cf. Weber, Ind. Lit. Gesch. "^ 106, Ind. Stud. L 422,
430 fle., 438, 439); Pra9na IV. 8 (cf Weber, Ind. Stud.
L 451); Garbha 3, 4 (cf. Ind. Stud. IL 69, 70, Cole-
brooke, Mise. Ess. ^ L 257 Anm. 1); Cülika E. 14,15
(cf. Ind. Stud. IX. 16, 17); Pranägnihotra 1, 4; Nä-
dabindu 2, 18; Nrsimhatäpaniya I. 4. 3. 11. 9. 5
(cf. Ind. Stud. IX. 58 Anm., 106, 108, 167); Rämatä-
panlya I. 15, 88. U. 3, 5; MahänäräyanaX. 1, 3;
Jäbäla4;Krshna5, 6;Kälägnirudra2;Skanda2;
Mahä 1; Gopicandana 2.
Hiermit glaube ich meine von W e b e r ' s Standpunkt
abweichenden Anschauungen in hinreichender Ausführlich-
keit gerechtfertigt zu haben. Mit dem verehrten Meister
so oft in Gegensatz zu treten konnte ich schon deshalb
nicht vermeiden, weil ich den Vorwurf voraussah, den unter
anderen Umständen Weber gegen mich erheben musste.
In seiner eingehenden Besprechung von Regnaud's
Materiaux pour servil ä l'histoire de la philosophie de
rinde, Premiere Partie (Paris 1876) macht Weber (Jenaer
Literaturzeitung 1878, S. 82) mit vollem Recht die Aus-
stellung, dass diese Untersuchung erst mit den Upani-
shad's beginnt, und weist insbesondere auf die zahl-
reichen Upanishad- artigen, wiewohl nicht den Namen
einer Upanishad tragenden Stücke in den Brahma na's
und Aranyaka's hin. Weber tadelt somit Regnaud
deshalb, weil er seine Untersuchung über die philoso-
phische Spekulation in Indien „nicht gleich ab ovo, son-
dern von einem willkürlich gewählten Punkte innerhalb
— 23 —
der betreffenden Entwickelung aus" begonnen habe. Ich
hoffe erwiesen zu haben, dass dieser im Falle einer his-
torischen Behandlung der ganzen indischen Philosophie
wohlbegründete Vorwurf nicht in gleicher Weise eine
Darstellung der Sämkhya- Philosophie trifft, die von den
Upanishad's ausgeht, welche in dem eben angeführten
Verzeichniss an die Spitze gestellt sind.
II. Zur Glescliichte und Literatur der Säm-
khya-Philosophie.
Aus meinen bisherigen Ausfuhrungen ergiebt sieh, dass
die Sämkhya- Lehren mehrere hundert Jahre lang von
den literarisch wirkenden Kreisen des Brahmanenthums un-
beachtet gelassen worden sind '). In den letzten vorchristlichen
Jahrhunderten — so können wir mit einiger Sicherheit
sagen — hört diese Zurückhaltung auf; und ZAvar werden
die Lehren der S ä m k h y a - Philosophie nicht bekämpft,
sondern von Anfang an als brahmanische Anschauung,
als etwas dem Vedänta nicht widersprechendes behandelt.
Nur in den wenigen, oben S. 4 angeführten Stellen ist
die Erinnerung an den einstmals vorhandenen Gegensatz
zum Ausdruck gekommen. Wir müssen daraus scliliessen,
dass diese heterodoxen Ideen im Laufe der Zeit sich so viel
Geltung verschajfft hatten und dass die rationalistische
Weltanschauung der spiritualistischen ein so gefährlicher
Concurrent in dem Geistesleben jener Zeiten geworden
war, dass die in solchen Fragen stets sehr scharfsichtigen
Brahmanen die Versöhnung fllr zweckmässiger erachteten
als den Kampf.
^) Burnell in seiner Uebersetzung des Manu, S. XXII, XXIII
zieht aus dieser Thatsache den meiner Ansicht nach irrigen Schhiss,
dass das Sämkhya- System nicht vor dem ersten Jahrhundert
ante Chr. existirt habe: "The late Professor Goldstücker pointed
"out that Pänini did not loiow this System-, it is, therefore,
"subsequent to about 300 B. C, when Pänini probably lived,
"and no trace of it appears in the Mahäbhä^ya, about 150
"years later, etc."
— 25 —
Wenn ich im folgenden versuche die Geschichte und
Literatur der S am khya- Philosophie in den Hauptzügen
darzustellen, so habe ich über die Lehrer des Systems und
über die Verfasser der eigentlichen Sämkhya- Schriften
nur verhältnissmässig wenig zu bemerken. Das Literar-
historische ist von F. E. Hall in seiner Vorrede zum
Sämkhyasära (Bibl. Ind., Calcutta 1862) — der ver-
besserten Wiederholung der Einleitung zum Sämkhya-
pravacana-bhäshy a (Bibl. Ind., Calcutta 1856) — mit
der gründlichsten Gelehrsamkeit und so ausgezeichnetem
Scharfeinn erörtert worden, dass für spätere Forschungen
auf diesem Gebiete nur noch Raum zu Ergänzungen und
Berichtigungen in Einzelheiten gelassen ist.
In der ganzen Sanskritliteratur wird als Begründer
des Sämkhya-Systems Kapila genannt: doch ist nichts
von ihm verfasstes erhalten; denn dass die Sämkhya-
sütra's ein modernes Produkt sind und den berühmten
Namen Kapila 's mit Unrecht tragen, bedarf heute keines
Beweises mehr. Wir haben nicht einmal einen Anhalt
für die Annahme, dass Kapila überhaupt irgend welche
Werke verfasst habe. lieber seine Zeit können wir nur
sagen, dass er wegen der Abhängigkeit des Buddhismus
von seinen Lehren vor der IVlitte des sechsten Jahrhunderts
vor Chr. gelebt haben muss.
Nun hat Weber an verschiedenen Stellen der In-
dischen Literaturgeschichte '^ (S. 152, 239 Anm., 253, 254,
303; vgl. auch Ind. Stud. I. 84) gemeint, dass in dem
Namen desPatahcala Käpya, der indem Yäjhaval-
kiya Kända des ^atapatha Brähmana als ein um
die brahmanische Theologie besonders verdienter Lehrer
im Lande der Madra genannt ist, Beziehungen zu Kapila
und Patahjali, den traditionellen Gründern der Säm-
khya- und Yoga -Lehre, nicht zu verkennen seien.
Diese Combination gründet sich lediglich auf die Aehn-
lichkeit der Worte und ist mit der Vorstellung, dass
Kapila und Patanjali wirkliche Personen gewesen sind,
kaum zii vereinis^en. Ich sehe keinen Grund die Realität
— 26 —
dieser beiden Männer zu bezweifeln ') ; denn andernfalls
müssten wir, da ein in sich geschlossenes System nicht
ohne einen Stifter entstehen kann, annehmen, dass die
Erinnerung an die wirklichen Begründer verloren gegangen
sei und dass man in späterer Zeit Stifternamen fingirt
habe. Aber, selbst dies letztere zugegeben, dürfen wir es
als wahrscheinlich erachten, dass in diesem Falle die An-
hänger des atheistischen, rationalistischen Säm-
khya- Systems, wenn sie um einen Namen für ihren
Stifter in Verlegenheit waren, den Namen eines Mannes
gewählt haben werden, der in der orthodoxen b rah-
manischen Theologie eine Rolle gespielt hat? Nach
Ind. Stud. I. 435 und Ind. Lit. Gesch. '^ 254 denkt Weber
an genealogische Beziehungen Pata&jali's zu jenem
Käpya Patancala, Sollen wir ebenso glauben, dass
auch Kapila ein Nachkomme dieses brahmanischen
Lehrers gewesen sei ? Aus keinem andern Grunde, als wegen
der Aehnlichkeit der Namen? Man sieht, wir gerathen
nach allen Seiten hin, wenn wir die Consequenzen aus
W e b e r ' s Combination ziehen, zu unwahrscheinlichen An-
nahmen. Den Käpya Pataficala geradezu mit Kapila
zu identificiren — woran Weber, Ind. Stud. I. 434 ver-
muthungsweise gedacht hat^ aber gewiss heute nicht mehr
denkt — werden wir uns noch viel weniger entschliessen
können.
Ich sehe mich genöthigt, mich in dieser Frage
1) Den Zeitverhältnissen nach steht nichts der Annahme
Lassen's (Ind. Alterthumskunde I.^ 999) entgegen, dass Pataii-
jali, der Begründer des Yoga-Systems, und Patafijali, der Gram-
matiker, ein und dieselbe Person waren. Auch innere Gründe
werden sich nicht dagegen geltend machen lassen; denn warum
sollte der Verfasser des Mahäbhäshya nicht einen Ausbau des
S am khya -Systems unternommen haben? Dass die Sprache der
Yogasütra's keine Uebereinstimraung mit der des Mahäbhä-
shya aufweist, ist einfach durch die Verschiedenheit des Stoffes
und des Stiles beider Werke bedingt.
— 27 —
noch gegen die Anschauungen einer andern Autorität zu
wenden. Max Müller, Upanishads translated U. p.
XXVIII-XLI, geht von der Stelle Cvet. Up. V. 2 aus:
„Der allein eine jede Ursprungsstätte lenkt, alle Formen
„und alle Ursprungsstätten, der seinen Solni, den Weisen
„Kapila, am Anbeginn [der iSchöpfang] in seinen Ge-
„ danken heafte und bei dessen Geburt erblickte." Max
Müller ist mit ^amkara der Meinung, dass unter dem
Weisen Kapila hier nicht der Begründer des Sämkhya-
Systems, sondern die göttliche Person Hiranyagarbha's
zu verstehen sei. Bei der Neigung der Inder, die ver-
schiedenen Zweige ihres Wissens auf göttliche Urheber-
schaft zurückzuftihren, sei es nur natürlich gewesen Hira-
nyagarbha die Begründung des Sämkhya- Systems zu-
zuschreiben; und da bereits der Name Hiranyagarbha
anderweitig in solchem Zusammenhange benutzt war, sei
es ebenso natürlich gewesen, einen anderen Namen für
Hiranyagarbha, d. h.ebenKapila, zu diesem Zwecke zu
verwenden. Nachdem man so K a p i 1 a als den Stifter des
Sämkhya- Systems festgestellt habe, sei die Reaktion ge-
kommen. Die Inder hätten nun gelernt an einen wirk-
lichen Kapila zu glauben und auf der Umschau nach
Zeugnissen ftir ihii diese überall gefunden, wo in alten
Schriften das Wort Kapila vorkam. An eine historische
Persönlichkeit, die das Sämkhya- System gegründet,
glaubt Max Müller nicht, wie schon vor ihm Cole-
brooke, Mise. Ess. ' I. 243 ähnliche Zweifel geäussert
hat; Max Müller meint vielmehr, dass die eben angeführte
Stelle der Cvet. Up. zuerst dazu verführt habe den Namen
Kapila als verschieden von Hiranyagarbha Kapila
zu gebrauchen, und dass man sich später auf eben die-
selbe Stelle berufen habe, um die uranföngliche Existenz
eines Kapila als des Begründers der Sämkhya -Philo-
sophie zu beweisen.
Ich muss gestehen, diese ganze Construktion erscheint
mir in einer Weise unnatürlich und gekünstelt, dass mich
die harten Worte doppelt überraschen, mit denen Max
- 28 —
Müller Weber 's Anschauungen über diesen Punkt ver-
urtheilt (S. XLI): "What vast conclusions may be drawn
"from no facts, may be seen in Weber's Indische Studien,
"vol. I, p. 430, and even in his History of Indian Literature,
"published in 1878".
Ich bemerkte schon, dass ich in Kapila eine his-
torische Person sehe ^) ; doch ist alles über ihn in der in-
dischen Literatur berichtete ganz legendenhaft. Dass Kapila
unter die Söhne B rahm an 's gerechnet wird, dass er für
eine Incarnation Vishnu's oder Agni's gilt und auch
sonst zu göttlichem Range erhoben erscheint -}, ist für uns
nur insofern bemerkenswerth, als hieraus die hohe Bedeu-
tung ersichtlich ist, die man in Indien bis in das Puräna-
Zeitalter dem Sämkhya- System beilegte. Selbst denjenigen
Nachrichten, die von Kapila' s Geburt als einer natür-
lichen zu erzählen wissen, ist wenig Gewicht beizumessen,
da sie sich gegenseitig widersprechen. Nach einer Stelle
des H a r i V a m 9 a ist er ein Sohn Vitatha's, nach einer
andern Vasudeva's und der Naräci, und iiach dem
Bhägavata Puräna heisst sein Vater Kardama. Die
letztgenannte Quelle nennt seine Mutter Devahüti,
womit auch andere Puräna- Texte und neuere Autoren
(z. B. Vij&änabhikshu am Schluss des Sämkhya-
pravacana-bhäshya) übereinstimmen.
Von derselben unzuverlässigen Beschaffenheit sind die
Nachrichten, die den Aufenthalt Kapila' s nach Indra-
prastha (Delhi) oder Gangäsägara (der Gangesmün-
dung) und seine Geburt nach Pushkara (bei Ajmir)
verlegen '^'). Grössere Bedeutung haben die b u d dh i s ti s ch e n
1) Cf. Hall, SänkhyaSära, Preface p. 2): "The Mahäbha-
"rata, despite its plentiful alloy of fiction, sufficiently attests, it
"should seem, the reality of tbe sage."
2)Cf. Colebrooke,Misc.Ess.n. 241, 242; Weber, Ind. Studieu
I. 430 ff.; Hall, SänkhyaSära, Pref. 21ff.; Davies, Sänkhya Kä-
rikä p. 5 ff.
3) Cf. Hall, SänkhyaSära, Pref. 20; Davies, S. Kärikä p. 6.
- 29 —
Nachrichten über Kapila deshalb, weil sie seine Person
mit dem Namen der Stadt Kapilavastu in Zusammen-
hang bringen ^) und ihm somit eine Wirkungsstätte zu-
schreiben, deren geographische Lage vortrefflich zu den
inneren Beziehungen stimmt, die zwischen der Sä mkhya-
Philosophie und dem Buddhismus obwalten.
Eine Zusammenstellung der Legenden, die im Ma-
häbhärata, im Rämäy ana und in den Puräna's an
den Namen Kapila's geknüpft sind, scheint mir für die
Zwecke, die dieses Buch verfolgt, überflüssig zu sein.
Als unmittelbarer Schüler Kapila's wird von der
Tradition (Panca9ik ha in Vyäsa's Commentar zu den
Yogasütra's I 25, Sämkhyakärikä 70 und sonst)
ein Lehrer Namens Äsuri genannt, über dessen Person
für uns das gleiche Dunkel schwebt wie über der des
Stifters der Sämkhya -Lehre. Der eine Vers, den Hall
(Preface p. 21 unten) in einem ganz modernen Werke
dem Äsuri zugeschrieben gefunden hat, bietet keine
Garantie dafür, dass eine alte S ämkhya- Autorität dieses
Namens wirklich literarisch thätig gewesen ist. Weber
hat in Folge seiner Neigung, das Sämkhya mit der
vedischen Literatur in Verbindung zu bringen, an ver-
schiedenen SteUen (Ind. Lit. Gesch. -^ 152, 253, Ind. Stud. I.
434) unsern Asuri mit dem im ^atapatha Brähmana
oft genannten Rituallehrer gleichen Namens zu identifi-
ciren gesucht : aber er wirft selbst in einer Anmerkung zu
der zuletzt citirten Stelle den vollberechtigten Zweifel auf,
ob dies derselbe Äsuri sei wie der Schüler desKapila^
und begründet diesen Zweifel mit der Bemerkung, dass die
SteUen des Qat Br., an denen Ä s u r i genannt wird, sich
sämmtlich auf Fragen des Ceremoniells, nicht der Speku-
lation beziehen. Dass ftir mich eine Identificirung der
beiden Äsuri unmöglich ist, geht schon zur Genüge aus
1) Vgl. Fausböll und Weber, Ind. Stud. V. 412 ff. und die
Einleitung zu meiner Uebersetzung der Sämkhya-tattva-kaumudi
S. 531.
— 30 —
der obigen Darlegung meiner Anschauungen über die
Entstehung des S ä ra k h y a - Systems und aus dessen Feind-
seligkeit gegen das brahmanische Ritualwesen hervor. Auch
halte ich das ^at. Br. für beträchtlich älter als die Zeit,
in die wir einen Schüler Kapila' s versetzen müssten.
Im übrigen scheint mir auch die Anzahl und Qualität der
Zeugnisse nicht genügend zu sein, um den Sämkhya-
lehrer Asuri mit einiger Sicherheit für eine wirkliche
Person zu erklären.
Festeren Boden betreten wir bei dem nächst K a p i 1 a
berühmtesten Namen in der Gescliichte der Sämkhya-
Philosopliie, bei Panca9ikha, der in Sämkhyakä-
r i k ä 70 als der hauptsächlichste Verbreiter unseres Systems
bezeichnet ist. Ebendaselbst und im Mahäbhärata ')
wird Panca9ikha zu einem Schüler Asuri's gemacht:
doch werden wir weiter unten gewichtige Gründe gegen
die Richtigkeit dieser Tradition kennen lernen. Im zwölften
Buche des Mahäbhärata, Adhyäya 218, 219 (vgl. auch
Adhy. 321) erscheint Panca§ikha zAvar als der Lehrer
des altberühmten Videha- Königs Janaka, den er in
Mithilä im S ä in khya- System unterweist und vollständig
zu diesem bekehrt -) ; ich halte dies jedoch fiir eine zur Be-
stimmung von Panca9ikha's Zeit nicht verwerthbare,
tendenziöse Geschichte, die von den Sämkhya's nach der
Brahmanisirung ihrer Lehren erfunden ist in maiorem
gloriam ihres Systems und eines ihrer grössten Vorkämpfer.
Sie konnten zu dem Zwecke kaum etwas besseres thun als
die aus der Brhadäranyaka Upanishad bekannten
Zustände an dem Hofe des Königs Janaka, wo in den
Redekämpfen der grosse Ritualkenner und Verkünder des
All-Einen, Yäjnavalkya, die erste RoUe spielt, in der
M S. Hall, Preface p. 22, Anm. *.
-) Vgl. Weber, Ind. Stud. I. 433, 482. — Pratapa Chandra
Ray hat in seiner Uebersetzung des Mahäbhärata in den oben
angeführten Adhyäya's aus Janaka janadeva einen König 'Jan ade va
of the race of Janaka' gemacht.
— 31 —
Weise verwerthen, dass sie das Sämkliya an die Stelle
des Yedänta und Panca9iklia an die Stelle Yäj&a-
valkya's setzen. Eine Vorstufe in der Geschichte dieser
Legendenbildung finde ich in Adliyäya 312 — 320, wo
Yäjnavalkya den König Janaka in der (übrigens
vieKach mythologisch umgedeuteten) S ä ni k h y a - und Y o g a -
Philosophie unterweist ^). Dass uns diese verschiedenen
Stufen der tendenziösen Umgestaltung einer berühmten
alten UeberKeferang neben einander erhalten sind, darf
uns bei dem eigenthümlichen Charakter des Moksha-
dharma -Abschnitts nicht Wunder nehmen; ist doch in
diesem Abschnitt alles nur erreichbare reliffionscreschicht-
liehe Material zusammengetragen worden.
Dieselbe QueUe weist Panca9ikha dem Geschlechte
des Parä9ara zu-) und nennt ihn Käpileya (XII.
7886, 7895 — 99) ; wenn sie aber diesen Beinamen als ein
Metronymikon von Kapilä erklärt, so ist die Mutter jeden-
falls aus Käpileya heraus destillirt; denn Käpileya
hiess ursprünglich oflFenbar .der K a p i 1 a - artige', da Paii-
ca9ikha ja auch geradezu (XII. 7889, 7983) als eine Er-
scheinungsform Kapila' s angesehen A\Tirde ''). Dass die
Buddhisten Pahca9ikha zu göttlicher Würde erhoben
haben *), ist ein Beweis dafür, dass auch in ihrer Tradition
Panca9ikha als die zweite Haupt- Autorität der Säin-
khya- Philosophie galt.
Ich komme nun zu dem Punkte, der mich bestimmt
die Lebenszeit Panca9ikha's wesentlich später anzusetzen,
als die Ueberlieferung es thut. Hall, Preface 21 — 25 hat
in dankenswerther Weise die dürftigen Reste gesammelt,
die von den verlorenen Werken Panca9ikha's in den
Schriften der S ä m k h y a - und Yoga- Literatur erhalten
sind.
1) Vgl. Weber, Ind. Stud. I. 482.
2) S. Weber, Ind. Stud. I. 433.
^j Anders Weber a. a. 0.
*) S. Weber, Ind. Stud. U. 404, Ind. Lit. Gesch. "^ 303.
— 32 —
Die Citate in Vyäsa's Yogabhäshya werden mit
einer solchen Uebereinstimmnng von den späteren Com-
mentatoren Panca9ikha zugeschrieben, dass an seiner
Autorschaft kaum zu zweifeln ist '). Merkwürdiger Weise
hat Hall a. a. 0. die Panca9ikha-Fragmente in den
Sämkhyasütra's V. 32—35, VI. 68 unerwähnt ge-
lassen -), (obAvohl er von ihnen in seiner Einleitung zum
Sämkhy a-prav. -bhäshya S. 8, 9 spricht); und doch
sind sie gerade von besonderer Bedeutung für die Beur-
^) Dagegen muss ich mich gegen die Authenticität des
von Hall S. 23 angeführten ^loka ädyas tu violcslio etc. ent-
schiedener erklären als Hall es thut. Vijnjinabhikshu schreibt
diesen Vers Panca9ikha sowohl in seinem bisher unedirten
Commentar zu den Brahmas ütra's zu, als auch viermal in
seinem Yogavärttika (herausgegeben von Rämakrshiia und
Ke9ava9ästrin. Benares 1884), nämlich S. 126, 295, 298, 300.
Der Grund ist ersichtlich. Dieser Qloka findet sich in der Säm-
khya-krama-dipikä, d. h. in demjenigen Commentar zum
Tattvasamasa, den Ballantyne 'A lecture on the Sänkhya
philosophy^ (Mirzapore 1850) herausgegeben hat, und zwar S. 47,
48 Nr. 74. Die Sämkhya-krama-dipikä nun ist in allen
Handschriften — auch in einer mir gehörigen — als ein Werk
Panca9ikha's bezeichnet, v^ie man ja so oft in Indien modernen
Arbeiten dadurch ein Ansehen hat verleihen wollen, dass man ihnen
einen alten berühmten Namen vorsetzte; und Vij ii an abhikshu
ist unkritisch genug geveesen diese Täuschung nicht zu erkennen,
obwohl die S. kr. dipikä ausdrücklich in Nr. 46 Parica9ikha
als eine ihrer Autoritäten nennt. Der moderne Ursprung der S.
kr. dipikä verräth sich durch Sprache und Inhalt avif den ersten
Blick, und selbst die 25 kleinen (den Namen Tattvasamasa
tragenden) Sütra's, zu deren Erklärung das Werkchen dient,
können kein viel höheres Alter beanspruchen. Nun ist ja freilich
unser ^loka in der S. kr. dipikä durch das vorgesetzte uktamca
als ein Citat gekennzeichnet; da aber keine Autorität, die älter
wäre als dieses Werk, den Vers Parte a9ikha zuschreibt, werden
wir um so weniger dazu geneigt sein dies zu thun, als alle übrigen
auf uns gekommenen Panca9ikha-Fragmente nicht metrisch sind.
-) Und ebenso merkwürdig ist, dass er das Citat aus Pan-
ca9ikha im Sä in khya-pravaca na -bhäshya I. 127 über-
sehen hat.
— 33 —
theilung von Pafi.ca9ikha's Lebenszeit. In den S ü t r a ' s
V. 32 — 35 definirt Panca^ikha nämlich einen der
Ny äya-Philosopliie speciell angehörigen Terminus, vyäpti\
und wenn er dies auch in einer von den schulmässigen
Definitionen abweichenden Weise thut, so beweist die
Thatsache doch, dass zu Panca9ikha 's Zeiten nicht nur
logische Untersuchungen allgemeiner Natur geläufig waren,
sondern dass bereits die N y ä y a - Philosophie mit ihrer
ausgeprägten Terminologie bestand. Das Nyäya- System
aber ist zweifellos das jüngste der seclis orthodoxen Systeme,
und keine Spur weist darauf hin, dass es schon in
vorchristlicher Zeit vorhanden gewesen sei. Sehen wir uns
dann ferner die in V y ä s a ' s Y o g a - Commentar erhaltenen
Pahcacikha-Fragmente an, so legt auch ilu'e Sprache
einen entschiedenen Protest dagegen ein, dass ihr Ver-
fasser ein Vorgänger oder Zeitgenosse Buddha's ge-
wesen sei; denn als solchen müssten wir ihn ansehen,
Avenn die Lehrerreihe Kapila - Asuri-Paiica9ikha
historische Realität besässe. Vergleicht man die Sprache
der Paiica9ikha-Fragmente mit der annähernd datir-
barer philosophischer Autoren, so scheint mir wegen der
Kürze des Satzbaus am nächsten ^abarasvämin's
Commentar zur Pürvamimämsä zu liegen, der von
B ü h 1 e r (Einleitung zur Uebersetzung des M a n u p. CXIl)
nicht lange nach Beginn unserer Zeitrechnung angesetzt
wird. So bedenklich jedes argumentum ex silentio auch
ist, möchte ich doch in diesem Zusammenhange anführen,
dass Panca9ikha am Schlüsse des Yogabhäshya zu
I. 25 zwar constatirt, dass K a p i 1 a, der , Weise der Urzeit'
(ädi-vidvän), dem A s u r i seine Lehre mitgetheilt hat, nicht
aber auch, dass Äsuri ihm selbst das gleiche gethan.
Die Bezeichnung ädi-vidvän^ welche Panca9ikha hier
auf Kapila anwendet, scheint den Gedanken auszu-
schliessen, dass dieser der Lehrer seines eignen Lehrers ge-
wesen sein könne, und spricht vielmehr dafür, dass Kapila
und Äsuri für Panca9ikha in nebelhafter Ferne
standen
Garbe, Sämkhya-Pbilosophie. 3
— 34
Ich bin nach allem dem geneigt, Panca^ikha etwa
in das erste Jahrhundert nach Chr. zu setzen. Die Zeit
vmi da an bis zur Schlussredaktion des Mahäbhärata,
welcher aer Mokshadharma- Abschnitt sicher angehört,
würde vollauf genügen um den Nimbus hohen Alters, von
dem Pahca^ikha dort umgeben erscheint, begreiflich
zu machen; obwohl die letzte Redaktion des Mahäbhä-
rata spätestens im 4. oder 5. Jahrhundert nach Chr. vor-
genommen worden sein muss, da das Vorhandensein
unseres Mali äbhä rata- Textes, der sogenannten (}ata-
sahasri samhitd ,der aus 100,000 [Versen] bestehenden
Sammlung' uns inschriftlich durch eine Landschenkungs-
urkunde für das Jahr 533/534 bezeugt ist ^).
Pafica9ikha hat verschiedene Werke geschrieben,
Avie von Hall, Preface p. 22 festgestellt worden ist. Dass
er als der Verfasser der ursprünglichen, durch die Säm-
khyakärikä verdrängten Sütra's anzusehen ist"-),
ergiebt sich nicht nur aus dem im Yogabhashya I. 4
uns erhaltenen Sütra (s. Hall, a. a. 0. Anm. f), sondern
auch aus den Sänikhy asütra's V. 32—35, VI. 68, wenn
man nicht etwa annehmen will, dass in diesen die Lehren
Panca9ikha's über die betreffenden Gegenstände sütra-
mässig verkürzt worden seien ^).
Von dem nächstfolgenden S ä m k h y a - Lehrer, S a -
nandanäcäry a, ist uns nichts erhalten, als das eine
1) S. Fleet, Corpus Inscriptionum Indicarum, Vol. lU, p.
137, 139, und in diesem Buche S. 47 Anm. 2.
-) Diese Kunde wird auch den Worten Svapne^vara's ])ei
Hall, Einl. zum Sämkhya-prav.-bhäshya S. 10, zu Grunde
liegen. S. ferner Hall, Sänkhya Sara, Preface p. 8 Anm.
2) Dagegen ist die Möglichkeit, mit Svapne^vara (s. Hall,
a. a. 0.) in den ersten vier Worten des Fragments Yogabhashya
II. 13 zwei Sutra's zu finden, durch den Zusammenhang mit den
folgenden Sätzen ganz ausgeschlossen; Svapne^vara würde sicher
nicht auf diesen G-edanken gekommen sein, wenn ihm das voll-
ständige Citat — und nicht nur die Abkürzung in der Säiakhya-
tattva-kaumudi — bekannt gewesen wäre.
— 35 —
Wort im Sanikliy asütr a VI. 69. Immerhin wird er
dadurch, für uns eine greifbarere Person als die —
zum Theil gewiss rein mythologischen — Träger der
Namen, die noch im Mbh. XII. 13078—80 und in
Gaudapäda's Commentar zu Sanikhy akärikä 1 an-
geführt sind^): Sana, Sanatsujäta, Sanaka, Sanat-
kumära, Sanätana und Vodhu. Die ersten fünf,
deren Realität schon durch den Gleichklang der Namen
höchst verdächtig wird, gelten mit Kapila und Sanan-
dana zusammen für die sieben geistigen Söhne Brah-
man's; nur bei einem unter ihnen, Sanätana, haben
wir in modernen Werken schwache Zeugnisse dafür, dass
er ein Autor — und zwar über Gegenstände der Yoga-
Philosophie — gewesen sei 2). Der Name Vodhu oder
Vodha, über den Weber, Ind. Lit. Gesch.- 253 Anm. *,
zu vergleichen ist, macht nicht den Eindruck, als ob er
fingirt sei; doch lässt sich über seinen Inhaber nichts be-
stimmtes ermitteln. Vodhu oder Vodha erscheint stehend
als Gegenstand der Anrufung bei der weiter unten zu be-
handelnden Rshitarpana- (oder Pitrtarpana-) Cere-
monie, und zwar meist zwischen Asuri und Paiica-
9ikha (s. Weber's Verzeichniss der Berliner Sanskrit-
Handschriften I. p. 46, 327, II. p. 78, 344, 1152), ja sogar
an der ältesten Stelle, im Atharva - pari9ishta
(Weber's Verz. I. p. 91 unten) zwischen Kapila und
Asuri. Auf diese Reihenfolge ist indessen kaum ein
grosses Gewicht zu legen, zumal da im Brhat-Pärä9ara
Dharma9ästra (Weber's Verz. IL p. 336) Asuri
gegen alle sonstige Ueberlieferung vor Kapila genannt
ist. Herr Professor Weber hat mir brieflich die Ver-
muthung geäussert, dass in dem Namen Vodhu oder
Vodha eine Brahmanisirung Buddha's zu sehen sein
möge, und hat diese Vermuthung mit dem Hinweis darauf
begründet, dass die Jaina die brahmanischen Namen
1) Vgl. Hall, Prefacep. 14; Weber, Ind. Stud. I. 385, Anm. 2.
2) S.Hall, Pref. p. 25, Anm. *.
3*
— 36 —
in ähnlicher Weise zu entstellen pflegen; doch muss ich
gestehen, dass ich von der Richtigkeit dieses Gedankens
noch nicht ganz überzeugt bin. — Wenn schliesslich noch
in der Purä na- Literatur eine Anzahl alter Namen zu
Sämkhya- Lehrern gestempelt werden '), so sind das reine
Phantastereien, über die wir ohne weiteres hinweggehen
können.
Bei einigen in Sämkhya- Werken uns begegnenden
Namen können wir zweifelhaft sein, ob mit ihnen Ver-
treter unseres Systems bezeichnet sind oder nicht vielmehr
Lehrer der Yoga- Philosophie. Jaigishavya, von dem
wir das ziemlich werthlose Zeugniss des Kürmapuräna
haben, dass er ein Mitschüler Paiica9ikha's gewesen
sei-), wird zwar in der Sämkhy a-tattva-kaumudi
zu Kärikä 5 citirt; doch habe ich in meiner Ueber-
setzung dieses Werkes S. 551 Anm, 3 bereits darauf hin-
gewiesen, dass Vacaspatimi9ra sich hier anVyäsa's
Yogabhäshya IIL 18 anlehnt. Und in dem Jaigi-
shavya-Fragment, welches sich im Yogabhäshya
IL 54 findet, handelt es sich um eine Definition des Y o g a -
Terminus mdriya-jaya, den Jaigishavya als ,Nichtwahr-
nehmung (der Objekte) wegen der Concentration des Denk-
organs'erklärt. Damit stimmt überein, dass Jaigishavya
im Mahäbhärata (IX. 2859 ff., XIIL 1333) undHari-
vam9a (Y. 951 ff.) als ein Anhänger des Yoga und als
Yoga- Lehrer auftritt. Die Mahäbhärata-Stellen be-
weisen ausserdem, dass dieser berühmte Lehrer spätestens
den ersten Jahrhunderten nach Chr. angehört haben muss.
Während somit Jaigishavya's Zugehörigkeit zur
Yoga- Schule gesichert erscheint, finde ich bei dem gleich-
falls im Mahäbhärata erwähnten Värshaganya (den
ich nicht mit dem Säma- Lehrer dieses Namens im
V a m 9 a b r ä h m a n a und bei Lätyäyana zu identificiren
wage) keinen Anhaltspunkt, um ihn vermuthungs weise
1) S. Hall, Pref. p. 15.
•^) S. Hall, Pref. p. 15 Anm., 22 Anm. f.
37
einem der beiden in Betracht kommenden Systeme zu vin-
diciren. Mir sind nur zwei den Namen Värshaganya's
tragende Citate begegnet, die beide nicbt erkennen lassen,
ob das Werk, dem sie entstammen, ein Sämkhya- oder
Yoga- Lehrbuch gewesen ist. Das erste Citat findet sich
im Yogabhäshya III. 52 am Ende und enthält eine
Polemik gegen die Theorie der Vai9eshika's, dass die
materiellen Grundursachen, unter denen jene die Atome
verstehen, von einander verschiedene Substanzen seien;
das zweite steht in der Sämkhya-tattva-kaumudi
zu K ä r i k ä 47 und handelt von dem fänftheiligen Nicht-
wissen, einem Gegenstande, der sowohl der Yoga- wie
der Sämkhya- Philosophie eigen ist.
Unzweifelhaft dagegen gehört in die Reihe der alten
Sämkhya- Autoritäten ein Lehrer, von dem uns an einer
Stelle berichtet wird, die ich übersehen haben würde, wenn
nicht Herr Hofrath Bühl er mich gütigst auf sie auf-
merksam gemacht hätte: in Wassiljew's Buddhismus
S. 240. Bühl er gebührt auch das Verdienst, die Identität
der dort genannten cliinesischen Umschreibung Seng ke
lun mit Sämkhya- 9ästra festgestellt zu haben.
In der Biographie des berühmten buddhistischen
Lehrers Vasubandhu, die zwischen 557 und 588 ins
Chinesische übersetzt worden ist (s. Wassiljew S. 230),
finden wir a. a. 0. folgende Legende :
„Neun hundert Jahre nach dem Tode des Buddha
„lebte ein Tirthika (Asket) Vindhyaka väsa i);
dieser erbat sich von einem in einem See am Fuss des
„Berges Vindhyaka (sie) lebenden Drachen das Werk
„Seng ke lun, änderte es sei n.e n Ansichten ge-
„mäss, kam alsdann nach A y o d h y ä und bat den König
„Vikramäditya, ilun zu verstatten, eine Disputation
„mit den buddhistischen Geistlichen zu halten. Zu dieser
„Zeit befanden sich die grossen Lehrer, wie Manirata,
„Vasubandhu und andere in anderen Königreichen ; ein-
«
^) Wohl fehlerhaft für Viudhy aväsaka.
- 38 -
„ zig B u cl d h a m i t r a , der Lehrer des Vasubaiidhu, war
„zurückgeblieben, ein Mann von zwar tiefen Kenntnissen,
„aber bereits ausserordentlich alt und schwach ; zur Dispu-
„tation herausgefordert, konnte er das von dem Tirthika
„Gesagte nicht wiederholen und wurde besiegt. Der König
„belohnte den Tirthika; dieser kehrte zu dem Berge
„ V i n d h y a zurück und verwandelte sich in eine steinerne
„ Säule. Sein Werk Seng kelunist aber bis auf den
„heutigen Tag erhalten. Als Vasubandhu nach seiner
„Rückkehr diesen Vorgang erfuhr, sandte er aus, um den
„Tirthika aufzusuchen; da dieser sich aber in einen
„Stein verwandelt hatte, so verfasste Vasubandhu das
„Tsi schi tschang schi lun, in welchem er alle
„Sätze des Seng kelun umstiess Nach diesem
„wurde die wahre Lehre (d. i. der Buddhismus) wiederum
„hergestellt."
Es ist ohne weiteres klar, dass die Grundlage dieser
Legende eine Bedrängving der buddhistischen Religion
durch die Sämkhya- Philosophie ist und dass diese Be-
drängung nur in einer Zeit möglich war, in der das S ä m -
khya- System sich einer besonderen Blüthe erfreute. Unsere
Quelle setzt den berichteten Vorgang 900 Jahre nach dem
Tode des Buddha an, d. h. verlegt ihn, da die Chinesen
in der Zeit, der diese Quelle angehört, für das Nirväna
Buddha's nach Beal das Jahr 850 vor Chr. annehmen,
in das erste Jahrhundert nach Chr. AVir gelangen damit in
der That gerade mitten in die Zeit, die wir alle Ursache
haben als die Blüthezeit der S ä m k h y a - Philosophie an-
zusehen. Gegen diese Zeitbestimmung wird man nicht
ernstlich geltend machen können, dass ein König V i k r a -
mäditya im ersten Jahrhundert nach Chr. nicht existirt
hat; selbstverständlich handelt es sich in dem chinesischen
Text um einen ganz fabelhaften König oder um einen König,
dem später der Name V i k r a m ä d i t y a gegeben worden ist.
Der Schwerpunkt unserer Legende liegt in den von
mir durch gesperrten Druck ausgezeichneten Worten, die
die (Angabe enthalten, dass das Seng ke lun von Vin-
— 39 —
dhyaväsaka seinen Ansichten gemäss geändert sei. Ich
glaube, wir müssen uns hüten, die Bedeutung dieser Nach-
richt zu überschätzen, zumal Was siljew seine chinesische
Quelle nicht vollständig übertragen, sondern nur auszugs-
weise mitgetheilt hat (s. S. 231); wir wissen also nicht
einmal, ob der Wortlaut des Originals an dieser Stelle
genau wiedergegeben ist. Meines Erachtens können wir
in jenen Worten keinen anderen Sinn suchen, als dass
Vindhyaväsaka ein vorhandenes Sämkhya-Werk
umgearbeitet oder vervollständigt habe. Wenn er das
System materiell geändert hätte, so könnte diese That-
sache unmöglich in der S am khya -Literatur vollständig
unerwähnt geblieben sein, V i n d h y a v ä s a k a ist zweifel-
los identisch mit dem Sämkhya- Lehrer Vindhya-
väsin, von dem uns zwei Citate neben einander in
Bhojaräja's Commentar zum Yogasütra IV. 22 er-
halten sind '). Ohne auf die Thatsache besonderes Gewicht
zu legen, möchte ich doch darauf hinweisen, dass Vin-
dhyaväsin sich hier in einem der wichtigsten Punkte
des Sämkhya -Systems, d. h. in Betreff der zwischen
Seele und Innenorgan obwaltenden Beziehungen, mit allen
andern Sämkhya- Lehrern in voUer Uebereinstinmiung
befindet. Im übrigen spielt der Mann in der Geschichte
des Sämkhya gar keine Rolle; gegen die Buddhisten
mag er sich mit Heftigkeit gewendet haben und diesen
unbequem geworden sein; aus der angeführten buddhis-
tischen Notiz aber zu scliliessen, dass er ein Reformator
des Sämkhya- Systems gewesen sei oder an demselben
einschneidende Aenderungen vorgenommen habe, würde
mir bei dem Mangel weiterer Nachrichten über diesen
Gegenstand übereilt erscheinen.
In unseren S ä m k h y a - Schriften werden mehrfach
alte Autoritäten des Systems (Sämkhya -vrddhäh,
vrddliäh , Sämhhyäcäryäh , 'purvdcäryäli , dcärydh) Qx\Axi\
Sämkhya-tattva-kaumudi Einl. und Comm. zu
1) S. 104 unten in Käjendraläla's Ausgabe.
— 40 —
Kärikä 9, Conmi. zu Kärikä 33 (S. 558/59, 561, 595
meiner Uebersetzung), Sämkliyasütra V. 31, VI. 30;
Aniruddha L 110; Aniruddha und Mahadeva III.
41; VijnänabhikshuII. 32; Mahadeva III. 42. Es
wäre bei der Lückenhaftigkeit unserer Ueberlieferung
müssig, Yermuthungen darüber aufzustellen, Avas für Namen
unter jenen allgemeinen Bezeichnungen verborgen sein
könnten.
Vor die Zeit, in der uns Sämkhy a-Lehren in der
Literatur entgegentreten, Mit dasjenige Ereignis«, welches
für die Verbreitung unseres Systems von der grössten Be-
deutung gewesen ist, die Begründung — oder richtiger
gesagt : die literarische Fixirung — der Yoga- Philosophie,
Da ich, wie schon oben S. 26 Anm, angedeutet, mit
Lassen den Grammatiker und Philosophen Pataüjali
für einunddieselbe Person halte, setze ich dieses Ereigniss
in das zweite Jahrhundert vor Chr. Der Begriff des Yoga,
die Abwendung der Sinne von der Aussenwelt und die
Concentrirung des Geistes nach innen, war schon viele
Jahrhunderte früher in Indien bekannt und in die Praxis
umgesetzt. Ist doch — von anderen Spuren abgesehen —
der Zustand der Versenkung von je her in der buddliis-
tischen Gemeinde ein hochgepriesener gewesen. Patahjali
aber hat die Lehre von der Versenkung in ein System ge-
bracht, er hat die Mittel beschrieben um diesen Zustand
zu erreichen und auf das höchste Mass zu steigern, auch
die übernatürlichen Kräfte behandelt, die als Lohn der
Yoga- Praxis gelten. Die metaphysische Grundlage dieser
mystischen Theorien ist fth- Patahjali die Sämkhya-
Philosophie, deren Lehren er sich in einem LTmfange zu
eigen gemacht hat, dass sein System mit Recht in der in-
dischen Literatur allgemein als ein Zweig des S ä m k h v a
CD O • »/
bezeichnet wird. Sämmtliche S ä m k h y a - Anschauungen
von principieller Bedeutung, mit Ausnahme der Gottes-
leugnung, sind in das Yoga- System übergegangen, und
die Einfügung des persönlichen Gottes, die später den
— 41 —
Charakter des Systems in entscheidender Weise bestimmte,
ist — nach den Yogasütra's zu urtheilen — zunächst
in ganz lockerer äusserlicher Weise vorgenommen worden,
ohne dass dadurch der Inhalt und das Ziel dieser Philoso-
phie irgendwie verändert wurde. Man kann geradezu
sagen, dass die Yogasütra's I. 23 — 27, IL 1, 45, die
von Gott handeln, ausser Zusammenhang mit den übrigen
Theilen des Lehrbuchs stehen, ja den Grundlagen des
Systems widersprechen. Das Endziel mensclilichen Strebens
ist nach dem Lehrbuch nicht die Vereinigung mit oder
das Aufgehen in Gott, sondern einfach, wie in der Säm-
k h y a - Philosophie, die absolute Isolirung (kaivalya) der
Seele von der Materie. AVeun L. v. S c h r o e d e r (Indiens
Literatur und Cultur S. 687) sagt : „ der Yoga trägt durchaus
„einen theistischen Charakter; er nimmt einen Urgeist an,
„aus welchem die einzelnen Geister stammen u. s. w.", so
ist das unrichtig; denn die Einzelseelen sind ebenso an-
fangslos, wie die ,besondere Seele' (purusha-viceslia, Y o g a -
s ü t r a I. 24), welche ,Gott' heisst. Selbst Deussen's Worte
(System des Vedänta S. 20), Patanjali habe das Säni-
k h y a - System ,theistisch umgedeutet', gehen etAvas zu weit.
Der Behandlung des Yoga dient eine grosse Reihe
von jüngeren U p a n i s h a d ' s, die meines Erachtens sämmt-
lich später sind als die Yogasütra's. Es sind die von
Weber (Ind. Lit. Gesch/^ 180—183) als die ,zweite
Klasse der Atharvopanishad' bezeichneten, ,w eiche die
Versenkung in den Atman zum Gegenstande haben.' Wenn
schon in diesen Upanishad's, die übrigens nicht frei
von Yedänta -Anschauungen sind, die Person Gottes
stärker hervortritt, so ist das in noch viel höherem Masse
der Fall bei der ,dritten Klasse' (s. Weber, S. 183), den
sektarischen Upanishad's, ,welche dem Atman eine
der Formen des Vishnu oder Civa substituiren', dabei
aber doch im wesentlichen dem Yoga- System folgen.
Was die Yogasütra's, das Hauptwerk der Schule,
anlangt, so sehe ich keinen Grund Patanjali's Autor-
schaft zu bezweifeln. Der term'lnus ad quem wird zwar
— 42 —
erst durch das Yogabhäshy a des Vyäsa bezeichnet,
den wir — vier Generationen vor ^amkara') — in das
siebente Jahrhundert nach Chr. zu setzen haben ; dass aber
1) Vgl. Colebrooke, Mise. Ess.- 1. 93 niiton, Hall, Sänkhya
SäraPrL'face89p. Aiim. f, Weber, Ind. Lit. Geseh.2 260. — lieber
^amkara's Lebenszeit (Ende des achten und Anfang des neunten
Jahrhunderts) vgl. besonders Deussen, System des Vedixnta
S. 36 ff. und Bühler, Contributions to the liistory of the Ma-
häbhärata p. 5. Gegen die Annahme Telang's (Indian Antiquary
XIII, p. 95 ff.) und Fleet's (Ind. Ant. XVI, p. 41, 42), dass
Qamkara .schon um 600 n. Chr. gelebt habe, ist zu bemerken,
dass der erstere sieh auf ganz belanglose Punkte bezieht und der
letztere auf die Märchen der nepalesischen Chronik, die wahr-
scheinlich erst in unserem Jahrhundert verfasst ist. Die Richtig-
keit der einheimischen Tradition über Qamkara's Lebenszeit ist
durch die beiden neuesten Abhandlungen Path ak's (über Bhar-
trhari und Kuniärila im Journal der Royal Asiatic Society,
Bombay Branch, und in den Verhandlungen des neunten inter-
nationalen Orientalisten-Congresses) über jeden Zweifel erhoben
worden. Da mir diese beiden Arbeiten nicht zugänglich waren,
hat Herr Hofrath Bühler die Güte gehabt, mir in einem Briefe
vom 3. Januar 1892 die Ergebnisse der Untersuchungen Päthak's
mitzutheilen : 1) dass Ku märila das Väkyapadiy a desBhar-
trhari (650 n. Chr.) citirt und dass er gegen Jai na -Lehrer
polemisirt, die um 700 n. Chr. gelebt haben, sowie dass deren
Schüler gegen Kumarila polemisireu, woraus folgt, dass er kurz
nach 700 geschrieben hat; 2) dass Qarnkara den Kumarila
erwähnt und citirt, mithin später als 750 gelebt haben muss. Man
hat an der Tradition, die berichtet, dass Qanikara 788 geboren
und 820 gestorben sei, Anstoss genommen, weil der grosse V e -
dänta- Lehrer danach nur 32 Jahrj alt geworden wäre und in
einem so kurzen Leben unm(>glich seine zahlreichen grossen Werke
verfasst haben könnte. Schon Burgess, Ind. Ant. XI, p. 263 hat
deshalb die Vermuthung ausgesprochen, dass eines der beiden
Daten sich nicht auf die Geburt oder den Tod ^ainkara's,
sondern auf den Anfang oder das Ende seiner wissenschaftlicbtu
Thätigkeit (active career) beziehe. Ueber diesen Punkt schreibt
mir Herr Hofrath Bühl er folgendes: „Das traditionelle Datum ist
„absolut von Absurdität frei, wenn man die Angabe über Cam-
„kara's Geburt auf seine geistliche Geburt, d. h. seine Asketen-
„weihe (wie Bhandarkai'^'will) bezieht. Das ist ganz unver-
— 43 —
die Yogasütra's viel älter sind, geht mir aus einem
Moment hervor, das meines Wissens bisher unbeachtet ge-
blieben ist. Die Yogasütra's sind die einzigen unter
den philosophischen S ü t r a ' s , die das System entwickeln,
ohne gegen die andern Systeme z upolemisiren.
Ich halte sie aus diesem Grunde für älter als die Lehr-
bücher der fünf anderen Schulen. Wenn nun Bühl er
damit Recht hat, dass er ^abarasvämin's Commentar
zur Pürvamimämsä nicht lange nach Beginn unserer
Zeitrechnung ansetzt (Uebersetzung des Manu, Einleitung
p. CXII) — und die Betrachtung der Sprache lehrt, dass
^abarasvämin weit älter sein muss als Vyäsa — , so
würden die gleichzeitig mit einander abgeschlossenen Mi-
mämsä- und Vedänta-sütra's etwa in den Anfang
oder nicht lange vor den Anfang unsrer Aera fallen. Für
die meiner Ansicht nach diesen beiden Sütra's voran-
gehenden loffasütra's würde sich uns mithin das Datum
des Grammatikers Patanjali als eine durchaus wahr-
scheinliche Abfassungszeit ergeben, — ein Gesichtspunkt,
der gewiss die einheimische Tradition, dass der Grammatiker
Pataüjali der Verfasser der Yogasütra's gewesen sei,
nachdrücklich unterstützt.
Ein näheres Eingehen auf die Y o g a - Literatur muss
ich mir hier versagen, weil dieser Gegenstand eine be-
sondere Abhandlung verlangt und verdient. Die rein
philosophische Seite des Systems ist in klarer Weise
von Paul Markus erörtert worden in seiner Doktor-
dissertation (Leipzig 1886).
Da das Yoga- System fast alle die Elemente enthält,
die dem Sämkhya eigen sind, ist es nicht immer mög-
lich zu entscheiden, welches der beiden Systeme in der
„fänglich, da ähnliche Ausdrücke bei den Buddhisten, Vishnuiten
„und Qiviten oft vorkommen. In der C i n t r a - Inschrift (Epigraphia
„ludica I. p. 282, Vers 20) heisst es, dass Välmikirä^i seine
„Greburt aus den Lotushänden [des Kärttikarä§i] erhielt (tena sva-
„hasta-kamalä-^nugrMta-janmä)."
— 44 —
brahmanischen Literatur da, wo wir charakteristischen
Sämkhya- Lehren begegnen, seinen Einfluss aasgeübt
hat. Wenn ich im Folgenden dazu übergehe, die uns dort
erhaltenen Quellen des Sänikhya- Systems im engeren
Sinne zu besprechen, werde ich der Sicherheit halber den
Kreis meiner Betrachtungen eher zu weit als zu eng
ziehen.
Zunächst haben wir unsere Blicke auf die ersten der
oben S. 22 angeführten U p an ish ad- Stellen zu richten.
Wir findeii hier nirgends die Lehren der Sämkhya-
Philosophie im Zusammenhange entwickelt, sondern nur
Bruchstücke des Svstems in Vermischung mit Vedänta-
Lehren, zum Theil auch mit mythologischen Anschauungen;
doch genügen diese Stellen — die wichtigste ist Maitri
Up. VL 10. — um uns erkennen zu lassen, dass sich das
Sämkhya -System zur Zeit der Entstehung der in Be-
tracht kommenden U]Danishad's in den grundlegenden
Ideen nicht von dem in den späteren Lehrbüchern uns
entgegentretenden System unterschieden hat. Li der
9vetä9vatara L^^p. begegnet uns YL 13 bekanntlich
schon die in Zukunft so beliebte enge Verbindung von
Sämkhya- und Yoga- Lehren, die selbst sprachlich
durch das Compositum sdinhhya-yoga zum Ausdinick ge-
bracht wird. Bei dieser Vereinigung wird von Anfang an
mit yoga nicht bloss die contemplative, sondern auch die
moralische Seite hervorgehoben sein, die im Sämkhya-
Sy.stem zu kura gekommen ist ^). In der Bhagavadgitä
(besonders im dritten und fiiuften Gesang) ist yoga geradezu
die Lehre vom pflichtgemässen Handeln, sämkhya die ab-
strakte Theorie von der richtigen Erkenntniss.
Wohl gleichzeitig mit einem Theü derjenigen üpani-
shads, von denen ich soeben gesprochen, ist das Gesetz-
buch des Manu in der Form, wie es endgütig festgestellt
1) Vgl. Yogasütra H. -30.
r
— 45 —
ist; denn Bühl er hat mit gewolintem Scharfsinn in der
Einleitung zu seiner Uebersetzung des Werkes wahrschein-
lich sremacht, dass die untere Grenze für unsern Manu-
Text das zweite Jahrhundert nach Chr. ist ^) : und alles
spricht dafür, dass die wirkliche Zeit der Redaktion dem
terminus ad quem nicht fern gelegen hat. Die Stellen
nun, in denen Manu sich auf Lehren der Sämkhya-
Philosophie stützt (I. 11, 14—20 und in grossen Partien
des zwölften Buches) zeigen stärkere Abweichungen von
unserm System als die eben erwähnten Upanishad's.
Reine S ä m k h y a -Doctrin tritt uns in der Lehre von den drei
Guna's XIL 24—52 entgegen, im Anschluss woran Y.
53—81 die Theorie der Sündenvergeltung durch Wieder-
geburt in niederen Organismen im Einzelnen entwickelt
wird; ferner in dem, was XU. 85 über die Erlösung und
Vers 105 über die drei Erkenntnissmittel gesagt ist. Dieser
letzte Punkt, die übereinstimmende Annahme von nur drei
Quellen der Erkenntniss, ist um so bedeutungsvoller, als
Manu ebenso wie die S ä m k h y a - Philosophie besonderen
Werth auf die Schlussfolgei-ung legt-). Andere Stellen
des Gesetzbuches dagegen, die Beziehungen zu unserem
System haben, namentlich die eben angeführten Verse des
ersten Buches und XII. 14, sind ganz verworren und auch
durch die neuen vortrefflichen Uebersetzungen von Burnell
und Bühl er nicht zu befriedigender Klarheit gebracht
worden. Und dann befinden sich hier die Sämkhya-
Lehren in einer solchen Vermischung mit Mimämsä-
Lehren (s. XII. 88, 90, 107, 116, wo auch dem ,Werk' er-
lösende Kraft zugeschrieben wird), mit Ve da nta- An-
schauungen (s. z. B. Xn. 91, 102, 118, 125) und mit
populären mythologischen Vorstellungen, dass die gewöhn-
liche Meinung, Manu's Gesetzbuch stehe ganz auf dem
1) S. jedoch die Besprechung von E.W.Hopkins in den Pro-
ceedings of the American Oriental Society, May lrf»7, p. XLVIIl ff.
2) S. Johaentgen, Ueber das Gesetzbuch des Manu S. 63,
und in diesem Werke unten, Zweiter Abschnitt I. 4.
— 46 —
Boden der S am khya- Philosophie, zum mindesten einige
Einschränkung verdient. Der Grad von Berücksichtigungr,
welcher den Sämkhya- Ideen bei Manu erwiesen wird,
erklärt sich daraus, dass die letzte Redaktion des Gesetz-
buches — mag sich das Datum auch noch etwas verschieben
— unter allen Umständen in der Blüthezeit des Sämkhya-
Systems vorgenommen wurde. Da das Wort sämkhya in
dem Texte des Manu nicht vorkommt, sollte man viel-
leicht wegen der ausgesprochen theistischen Grundlage des
AVerkes eher von einem Zusammenhang mit der Yoga-
Philosophie reden. Jedenfalls, glaube ich, wird heute Nie-
mand mehr der Ansicht Johaentgen's beipflichten, die
dieser in seiner für ihre Zeit verdienstvollen Schrift ,Ueber
das Gesetzbuch des Manu' (Berlin 1863) vertritt, dass uns
nämlich in dem berühmten Gesetzbuch eine ältere und ur-
sprünglichere Form der Sämkhya- Philosophie, resp. der
Keim des eigentlichen Systems, erhalten sei. Wie schon
Coleb rooke (Mise. Ess.- I. 249) und nach ihm besonders
Burnell (Manu p. XXII) betont hat, stehen die Säm-
khya-Lehren in dem Gesetzbuch ganz auf der Stufe des
mythologisch umgedeuteten Sämkhya- Systems , wie es
uns in der P u r ä n a - Literatur entgegentritt
Auch die anderen Gesetzbücher sind in bemerkens-
Averther Weise von Sämkhya -Lehren beeinflusst. Herr
Prof Jolly hatte die Freundlichkeit, mir mitzutheilen,
dass aus der weiteren juristischen Literatur in erster Reihe
die Vishnusmrti in Betracht konunt, und mich auf die
folgenden Stellen aufinerksam zu machen Im Anfang von
Adhyäya 97 wird die Verschiedenheit der Seele von den
24 materiellen Principien behandelt, und auch sonst ist
dieser Abschnitt von Sämkhy a-Ideen durchdrungen (vgl.
die drei Guna's in V. 16). In Adhyäya 96, wo die
Pflichten des Asketen aufgeführt sind, finden wir — übrigens
ähnlich wie in anderen Gesetzbüchern — von Vers 25 an
die pessimistischen Betrachtungen, denen sich der Bliik-
shu widmen soll; und diese Betrachtungen sind voll von
Anklängen an den Pessimismus der Sämkhy a- Philo-
— 47 —
Sophie 1). Einen andern Anlass zu solchen Erwägungen
bieten die Bestattungscerenionien (Adhy. 19—22). Dass
von den aus Adhyäya 20 uns hier angehenden Versen
22 ff. einer, nämlich V. 25, sich fast wörtlich in Gauda-
päda's Commentar zur Sämkhyakärikä 2 wieder-
findet, darf uns als ein äusserer Beweis für den hier ob-
waltenden Zusammenhang gelten. Vgl. übrigens hierzu
Manu VI. 61-64, 76—78, Yäjnavalkya EL 8—11.
Leider sind wir noch immer nicht in der Lage die
Schlussredaktion des Mahäbhärata mit Sicherheit zu
datiren; doch habe ich schon oben S. 34 angeführt, dass
als untere Grenze für dieselbe das fünfte Jahrhundert mit
der unbezweifelbaren Gewissheit feststeht, die auf diesen
dunkeln Gebieten allein die indische Inschriftenkunde zu
gewähren vermag-). Dass das Mahäbhärata — und
1) S. die Einleitung zu meiner Uebersetzung der Säinkhya-
tattva-kaumudi S. 523, 524.
-) Für die Feststellung der oberen Grenze ist ein Gesichtsjiunkt
von Bedeutung, den Weber in seiner interessanten Schrift „Ueber
Bähli, Bäblika" (in den Sitzungsberichten der Königlieh Preus-
sischen Akademie XLVII, S. 987, 988) hervorgehoben hat. Er
sagt daselbst, „dass die Entstehung der Namensform Bahr, Bähl
„zur Bezeichnung von Baktra nicht wohl über Christi Geburt
„zurückversetzt werden kann, dass sie resp. ausserhalb Indiens zu-
,,erst in der Avesta-Uebersetzung der Parseu des vierten Jahrh.
,, nachweisbar ist. Da nun immerhin doch auch noch ein gewisser
„Zeitraum für die Herüberkunft dieser Namensform nach Indien
,,anzunehmen ist, so dürften sich hiernach die ersten vier Jahr-
,, hunderte n. Chr. als die denkbar früheste Zeit hierfür ergeben.
„Alle indischen Texte somit, resp. Stellen darin, welche den Namen
,,in der Form Vähli (B"), oder hieraus weiter gebildete Wörter, wie
„Vähläyana (B^), Vählika(B'^') enthalten, verfallen somit dem Ver-
„dict, nicht in eine frühere Zeit gesetzt werden zu können." Zu diesen
Werken gehört in erster Reihe das Mahäbhärata, in dem die
Bählika oftmals genannt sind. — In ein neues Stadium ist die
Frage nach dem Alter des Mahäbhärata durch ßühler's grund-
legende Contributions to the history of the Mahäbhärata (Wien
1892) gerückt. Die Ergebnisse dieser gelehrten und scharfsinnigen
Untersuchungen sind S. 26, 27 in folgenden Worten zusammen-
— 48 —
insbesondere das (erst der Sclilussredaktion angeliörige)
zwölfte Buch desselben — voll von S ä m k li y a - Lehren
ist, dass Avir hier zum ersten Mal in der indischen Literatur
diese Lehren im Zusammenhang entwickelt finden, ist be-
kannt. Wir können geradezu sagen, dass in dem interes-
santen Mokshadharma- Abschnitt, der religionsgescliicht-
lich noch nicht genügend gewürdigt ist, das Sämkhya
die Hauptrolle spielt. Bhishma nennt in seiner Be-
lehrung Yudhishthira's XIL 11101 die Sämkhya-
Philosophie dasjenige System, „in welchem keinerlei Irr-
„thümer erscheinen, dem viele Vorzüge eigen sind und
„kein einziger Fehler", und Vers 11197, 98 sagt er: „Es
„giebt keine Erkenntniss, die dieser gleich ist. Darüber
„sei kein Zweifel: die Erkenntniss des Sämkhya ist die
„höchste Lehre, ist unvergänglich und ewig"; (vgl. auch
noch die folgenden Verse, besonders 11205, 6). In ähn-
licher Werthschätzung wird das System in der Bhaga-
V a d g i t ä gehalten, in der Gott X. 26, wie er sich mit dem
ersten jeder Art identificirt, von sich sagt: „Ich bin unter
den Heiligen der Seher Kapila"; womit die bemerkens-
werthe Thatsache übereinstimmt, dass der Verfasser der
theistischen Bhagavadgitä in weitem Umfange die
Anschauungen unseres ausgesprochen atheistischen Systems
vertritt.
Wenn wir nun auch in dem grossen Epos die ältesten,
wirklich als solche zu bezeichnenden Quellen vor uns haben
und mithin von vorn herein geneigt sein werden die
Wichtigkeit derselben sehr hoch anzuschlagen, so verringert
sich diese Bedeutung bei näherer Betrachtung; denn wir
gefasst: "The rrsults of the preceding enqiiiry are sufficient to
"Warrant the assertiou that the Mahäbhärata certainly was a
"Smriti or Dharmasästra from A. D. 300, and that about A. D.
"500 it certainly did not differ esscntially in size and in charaeter
"from the present text. Further researches, I must add, will in
"all probability enable us to push back the lower limits, which
"have been thus established provisionally, by four to five centuries
"and perhaps even further."
— 49 —
sehen bald, dass diese Quellen, welche der Zeit nach
unseren systematischen Sämkhya- Schriften vorangehen,
der Idee nach denselben Rang nicht beanspruchen
können. Die Verhältnisse sind, wenn auch das Sämkhya
im Mahäbhärata in etwas grösserer Klarheit auftritt,
im Princip doch dieselben wie bei Manu's Gesetzbuch.
Ich glaube behaupten zu dürfen, dass fast jede Einzel-
heit — selbst des Ausdrucks — , die uns in den syste-
matischen S ä m k h y a - Schriften begegnet, auch irgendwo
in den wüsten Massen des gewaltigen Epos erwähnt ist ^).
Um nur ein paar entlegenere Dinge anzufiihren, will ich
bemerken, dass die (schon eine recht schulmässige Aus-
bildung des Systems Toraussetzende) Lehre von den 8
^ra^r^i und 16 mkära in Sämkhyakärikä 3 sich be-
reits im Mahäbhärata XE. 11396 und 11552 ff. vor-
findet, und dass ferner die Theorie von der Siebzehnthei-
ligkeit des inneren Körpers (Imga-qarira) in Sänikhya-
sütra III. 9 uns Mbh. XU. 13756 entgegentritt. Sobald
wir aber im Mbh. Abweichungen von dem in der
Kärikä und in den Sütra's gelehrten antreffen, erweisen
sich diese Abweichungen — grösstentheils auf den ersten
Blick, jedenfalls aber bei näherer Betrachtung — als sekun-
därer Natur. Die Einschiebung des jnäna ,des Erkennens'
z. B. zwischen die Urmaterie und die Ivddhi XII. 7449,
7450 ist deshalb so zu beurtheüen, weü wir mit jnäna gar
keinen neuen Begriff in der Reihe der Principien erhalten ;
diese Einschiebung hatte an jener Stelle die Eliminirung
des aharnkära zwischen buddhi und manas zur Folge, da
die aUgemein anerkannte Zalil 25 (vgl. XII. 11403, 410,
411, 480, 12888) nicht überschritten werden durfte. Wenn
XII. 12681 und 13035 die Entstehung der Urmaterie aus
dem Ätman gelehrt wird, so steht dieser Gedanke mit den
1) Nur die wunderliche pedantische Lehre von den einzelnen
Formen der acahti, tushti und siddhi, von der im dritten Abschnitt
II. 10 gehandelt werden wird, erinnere ich mich nicht im Mahä-
bhärata angetroffen zu haben.
Garbe, Sämkhya-Philosophic. 4
— 50 —
Voraussetzungen und dem Endzweck des Systems in schi'offem
Widerspruch; denn die Erkenntniss der absoluten Ver-
schiedenheit von Materie und Geist ist das einzige Mittel
zur Erlösung. Wie könnten wir dem Begründer des
Systems zutrauen, dass er jene beiden Dinge als wesens-
verschieden und zugleich eines als Produkt des
andern erklärt habe! Die Sämkhya- Lehre ist ihrer Natur
nach dualistisch, und an den vereinzelten Stellen des M a -
häbhärata, an denen dieser Dualismus durch die Auf-
stellung eines einzigen Grundprincips aufgelöst wird, liegt
nicht etwa eine ältere Form unseres Systems vor, sondern
eine spätere Entstellung. Das gleiche gilt von den Ab-
schnitten, die das materielle Grundprincip der Särakhya's
personificiren. XII. 6776, 77 wird dieses Grundprincip, die
QueUe des mahant^ aus dem hinwiederum der ahamkära
hervorgeht — es ist also die Sämkhya- Basis des Ab-
schnitts nicht zu bezweifeln — , als avyakto devah bezeichnet;
Vers 7874 und sonst wird dieser avyakta mit Vishnu iden-
tificirt, und Vers 11636 erhält bhagavant das Epitheton
avyakta-rüpa, das zwar an sich ,von nicht-wahi-nehmbarer
Gestalt' bedeuten könnte, aber an dieser Stehe, wo von
den drei Guna's der Urmaterie (pradhäna) die Rede ist,
so nicht aufgefasst werden kann. Seiner Idee nach und
ursprünglich ist avyakta ,das Unentfaltete' unzweifelhaft
ein Neutrum, und als solches erscheint es stets in der
technischen Ausdrucksweise der systematischen Sämkhya-
Schrifben. Wenn man im Mahäbhärata daraus hie und
da ein Masculinum und eine götthche Person gemacht
hat, so müssen wir hier genau denselben Vorgang erkennen,
wie bei der Entstehung des männlichen Gottes B r a h -
man, in dem man mit Recht eine volksthümliche Personi-
ficirung des auf spekulativem Wege gewonnenen neutralen
Brahman-Begriflfe erbhckt. Was für den Vedänta als
richtig erkannt ist, muss auch für die Sämkhya- Philo-
sophie gelten.
Wie die Urmaterie, so werden auch schon im Mahä-
bhärata die nächstfolgenden materiellen Principien, buddhi
— 51 —
und ahamJmra (z. B. XII. 6777, 80) in ähnlicher Weise
individualisirt ; es zeigen sich also in dem Epos schon
dieselben Tendenzen wie in den P u r ä n a ' s , einer Literatur-
gattung, die überhaupt zeitlich wie inhaltlich mit dem
Mahäbhärata in näherer Vei'bindung steht, als heute
gewöhnlich angenommen wird. Findet sich doch schon
bei Camkara^) eine ganze Reihe von P u r ä n a - Citaten.
So wenig Jemand geneigt sein wird bei einer Darstellung
der S am khya- Philosophie die Zeugnisse der Puräna's
über die unserer systematischen Schriften zu stellen,
ebenso wenig vermag ich denen des Mahäbhärata —
es kommen im wesentlichen die Bhagavadgitä und
der M oks ha dh arm a- Abschnitt in Betracht — einen
Vorrang zuzuerkennen. Die Vermischung der distinktiven
Säni khya -Lehren mit pantheistischen Ideen und die
mythologische Personificirung der materiellen Grundbegriffe
1) Auch die Polemik, die dieser berühmte Vedänta- Lehrer
gegeu das Sä in khya übt, ist imter die Quellen unseres Systems
zu rechnen. Schon die Brahmasütra's, die wir oben (S 43)
gegen den Anfang unserer Zeitrechnung glaubten ansetzen zu
müssen, berücksichtigen die Säinkhya- Lehre mehr als irgend
ein anderes System, woraus Deussen (System des Vedänta S. 23)
mit Recht schliesst, dass das Sämkhya zu Bädaräyana's Zeit
in hohem Ansehen stand. Wenn auch die Brahmasütra's weder
imser System mit Namen nennen noch sich der technischen Aus-
drücke desselben bedienen, so ist doch wegen der Uebereinstimmung,
mit der die zahlreichen Commentare zu den Brahmasütra's die
von Deussen a. a. 0. genannten Stellen als gegen die Särakhya-
Philosophie gerichtet bezeichnen, kaum ein Zweifel darüber möglich,
dass jene Stellen wirklich diesen Sinn haben. Ihr Wortlaut an
sich fi-eüich könnte hie und da auch alles mögliche sonst besagen.
Die Polemik Qamkara's gegen die Sämkhya- Lehren ist
im allgemeinen recht dürftig. Im Wesentlichen leitet er seine
Gründe gegen dieses System aus der , Schrift' ab und deutet dazu
noch die technischen Sämkhya- Ausdrücke, die sich in derselben
finden, fort; auch wo er sich auf , Vernunftgründe' einlässt (11. 2,
1 fi".), kann man nicht sagen, dass der ,grosse Vedantist' nait Glück
operirt.
4*
— 52 —
des S ä m k li y a - Systems ist im Mahäbhärata so gut
wie in den Puräna's etwas unursprüngliches. Eine
detaülirte Feststellung der Differenzen, die zwischen dem
S ä m k h y a des Mahäbhärata und dem der speziellen
Literatur des Systems bestehen, ist für unsere Zwecke
unnothig, da die Abweichungen des Epos in keiner Hin-
sicht die Priorität des Gedankens beanspruchen können.
Die Darstellung der Särnkhya- Philosophie muss auf die
Kärikä und die Siitra's gegründet werden, und wenn
wir die Erklärungen der Commentatoren zu diesen beiden
Werken richtig benutzen und die individuellen Anschau-
ungen der einzelnen Ausleger sowie die aus dem Vedänta,
Yoga und Vai^eshika-Nyäya eingedrungenen Ele-
mente auszuscheiden wissen, so können wir sicher sein,
ein richtiges Bild von dem Sämkhya-System, wie es
von Hause aus beschaffen war, zu gewinnen. Unurspiüng-
liche Abweichungen von der echten Särnkhya- Lehre
sind natürlich im Verlaufe meiner Darstellung überall als
solche gekennzeichnet worden.
Wir sind hier in unserer historischen Betrachtung
der sich mit dem Särnkhya beschäftigenden Werke an
die eigentliche Literatur des Systems gelangt; doch möchte
ich noch, bevor ich auf diese eingehe, im Anschluss an
das Mahäbhärata kurz bemerken , was ich über den
Einfluss des Särnkhya auf die Puräna's und auf die
indischen Sekten zu sagen habe.
Ich kann die Stellung unseres Systems in der Puräna-
Literatui" nicht besser als mit W i 1 s o n ' s Worten charakte-
risiren (Visbuu Puräna translated, ed. by F. E. Hall,
L p. XCIV ') : "The course of the elemental creation is, in the
"Vishnu, as in other Puränas, taken from the Sänkhya pliilo-
"sophy; but the agency that operates upon passive matter
1) Vgl. auch p. XII, XIII: "They d. h. die Puräna's; combine
"the interposition of a creator with the indepeudent evolution of
"matter, in a somewhat contradictory and unintelligible style."
— 53 —
"is confüsecUy exhibited, in consequence of a partial adoption
"of the illusoi7 theory of tlie Vedänta philosophy, and the
"prevalence of the Pauränik doctrine of pantheism. How-
"ever incompatible with the independent existence of Pra-
"dhäna or crude matter, and however incongruous with
"the separate condition of pure spirit or Purusha, it is
"declared, repeatedly, that Vishnu, as one with the supreme
"being, is not only spirit, but crude matter, and not only
"the latter, but all visible substance, and Time." Eine
Ergänzung hierzu liefert die Bemerkung Coleb rooke's
(Mise. Ess.2 I. 254), dass die Bvddhi oder das Matiat von
dem mythologischen Sämkhya 'with the Hindu triad of
Gods' identificirt werde. Coleb rooke führt zum Beleg
eine Stelle aus dem Matsya Puräna an, die "after de-
"claring that the great principle is produced 'from modified
"nature', proceeds to affirm, that the great one becomes
"distinctly known as three Gods, through the influence
"of the three qualities of goodness, foulness, and darknesss i);
"'being one person, and three Gods' (ekd mürtis trayo
^^devdk), namely, Brahma, Vishnu, and Maheswara. In
"the aggregate it is the deity; but, distributive, it apper-
"tains to individual beings."
An diesen beiden Stellen -) sind die fiir das Verhältniss
der Sämkhya- Philosophie zu den Puräna' s charak-
teristischsten Züge zusammengefasst : die unklare Um-
deutung der wichtigsten Begriffe des Systems, ihre Identi-
ficirung mit den Hauptgestalten der Volksreligion und die
Verbindung dieser Elemente mit vedantistischen Lehren,
insbesondere mit der Theorie von der kosmischen Illusion
(mdyä). Wir sahen oben, dass solche Vorstellungen sich
1) Zur Sache vgl. noch Vijnänabhikshu zum Säinkhya-
sütra VI. 66.
2) Mit denen noch zu vergleichen ist Banerjea, Einleitung
zur Ausgabe des Märkandeya Puräna (Bibl. Ind., Calcutta
1862) S. 13—15 und Nilmani Mukhopädhyäya Nyäyälan-
kära, Einleitiing zur Ausgabe des Kürma Puräna (Bibl. Ind.,
Calcutta 1890) S. XIII.
— 54 —
bereits im Mahäbhärata entwickeln, und dürfen diese
schon dort mit demselben Rechte P u r ä n i s c h e s S ämkhy a
nennen, mit dem Colebrooke und Burnell diesen
Namen auf die S ä m k h y a - artigen Bestandtheile von
Manu's Gesetzbuch angewendet haben. Wenn übrigens
Colebrooke (Mise. Ess. ^ I. 249) dieses Pauränika
S ä m k h y a geradezu als eine besondere Schule neben dem
atheistischen Sämkhya Kapila's und dem theistischen
Patahjali's (d. h. dem Yoga-System) bezeichnet, so
scheint mir damit diesem Gemengsei verschwommener und
verschobener Begriffe zu viel Ehre angethan zu sein; so
viel mir bekannt ist, hat auch in Indien das Pauränika
Sämkhya nicht den Anspruch erhoben ein besonderes
System (darcana) zu sein.
Colebrooke sagt an der eben angeführten Stelle,
dass in verschiedenen Puräna's, wie in dem Matsya,
Kürma und Vishnu Puräiia, die Kosmogonie in
Uebereinstimmung mit dem (Puränischen) Sämkhya
entwickelt werde. In der That aber reicht der Einfluss
des Sämkhya- Systems in der P u r ä n a - Literatur viel
weiter; und ich zweifle, ob selbst Burnell's Behauptung
(Uebersetzung des Manu, XXII, Anm. 4): "Nearly half
the existing Puräiias, including tlie oldest, follow tliis
System" den Kreis weit genug zieht, da ja auch diejenigen
Puräna's, welche stärkere Vedänta- als Sämkhya-
Färbung aufweisen, wie das Bhägavata Puräna^), hier
mit in Betracht kommen.
Wenn ich erst nachträglich eine andere Besonderheit
des Purä irischen S ä m k h y a erwähne, nämlich die Auf-
fassung des Purusha als des männlichen und derPrakrti
als des weiblichen Schöpfangsprincips -), resp. die Identifi-
cirung der Prakrti mit weiblichen Gottheiten, so ge-
schieht dies, weil dieser Punkt das wesentlichste Bindeglied
') Vgl. Wilson, Vishnu Puräna translated, ed. by F. E.
Hall, I. p. XLI.
2) S. schon Mahäbhärata XII. 11328 ff.
— 55 —
zwischen der P u r ä n a - und der späteren T a n t r a - Literatur
ist. DieTantra's, eine von Aberglauben, Beschwörungen
und Zauberformeln strotzende Schriftenklasse, huldigen
dem Kulte des ^iva und namentlich seiner Gattin Durgä
(Pärvati, Devi, Bhairavi, Umä); sie verehren in
dieser Göttin die gahti^ d. h. die schöpferische Kraft und
Energie des Gottes, die mythologisch als eine Hälfte seiner
Person aufgefasst wird. Der ^'akti-Kult bildet allerdings
bereits den Gegenstand mehrerer ^i va-sektarischer Upa-
nishad's (s. Weber, Ind. Lit. Gesch.- 189), ist aber zu
seiner für das religiöse Leben des indischen Volkes ver-
hängnissvollen Bedeutung erst in den Tantra's ent-
wickelt. Die 9 a k t i -Diener (Qäkfa) sind die ausschweifendste
aller indischen Sekten geworden, scheinen aber, Avenn sie
sich in der Neuzeit bei ihren Ceremonien einer nackten
Frau als des Sinnbilds der ^akti bedienen, sich noch
dessen bewusst zu sein, dass ihr Kultus aus der Lehre
K a p i 1 a ' s von der schöpferischen Urmaterie abgeleitet ist ^).
Aber nicht bloss die ^äkta's, sondern auch andere
^ivitische Sekten, die Mähegivara's und die Pä9upata's,
sind in ihren Lehren stark von der Säiiikhya- Philosophie
beeinflusst, wie bereits von Coleb rooke, Mise. Ess.^ L
430 ff. festgestellt ist ^j ; insbesondere die Pägupata's
stehen in ihrer Aufzählung der materiellen Principien
ganz auf dem Boden der S am khya- Philosophie. Ferner
hat auch der Vishnuismus, der im Uebrigen auf dem
Vedänta fusst, nicht dem Eindringen von Sämkhya-
Elementen Widerstand geleistet; die Sekte der Mädhva's,
von Anandatirtha, einem Commentator der Brahma-
sütra's, (gegen 1200 nach Chr.) gestiftet, bekennt sich
^) Pratäpa Chandra Ray sagt in seiner Uebersetzung des
Mahäbhärata, Qänti Parva Vol. 11, p. 146, 147 Anm.: "Women,
"in almost all the dialects of India derived from Sanskrit, are
"commonly called Prahriti or symbols of Prahriti, thus illustrating
"the extraordinary popularity of the philosophical doctriue about
'■'Prahriti and Purushay
2) S. auch Barth, Religion» of India« 198.
— 56 —
zu einem Dualismus von Materie und Geist, der seine
Sämkhya- Abstammung deutlich verräth ^). Barth findet
Spuren dieser dualistischen Weltanschauung allerorts in
den vishnuitischen Schriften und kommt zu dem Schluss:
"We cannot doubt that there existed early a Vishnuism
with a Sämkhya metaphysics". Ich wage es nicht zu ent-
scheiden, ob wir wirklich zu einem solchen Schlüsse be-
rechtigt sind, möchte aber die Vermuthung äussern, dass
dieser ,alte Vishnuismus mit einer Sämkhya- Metaphysik'
die Religion der Bhägavata-Pä&carätra gewesen ist,
die sicher weit in vorchristliche Zeit hinaufreicht und sowohl
Sämkhya- wie Yoga- Lehren in sich aufgenommen hat "-) ;
denn es ist bekannt, dass der ursprünglich unbrahmanische
Monotheismus der Bhägavata's nach seiner Brahmani-
sirung vishnuitische Gestalt angenommen hat.
Doch genug! Wir sehen, dass von dem Anfang
unserer Zeitrechnung an bis auf die neueste Zeit das ge-
sammte philosophische und religiöse Leben des indischen
Volkes von Sämkhya -Ideen beeinflusst ist. In dieser
Hinsicht steht an Bedeutung unser System nur der Vedänta-
Philosophie nach '^). Einzelne Anschauungen des Sämkhya,
wie z. B. die Theorie von den drei G u n a ' s , sind geradezu
Gemeingut der ganzen Sanskrit-Literatur geworden, soweit
sie Berührungspunkte mit solchen Gedanken hat. Auch
glaube ich die sonderbare VorKebe für ZalJen, die sich in
den Lehrbüchern fast aller Disciplinen, in den Werken
über Poetik, Politik, Medicin, Jurisprudenz u. s. w. beobachten
lässt, auf den Einfluss des Sämkhya- Systems zurück-
führen zu dürfen.
1) Vgl. Barth, ebendaselbst S. 195.
') Vgl. Lassen, Indische Alterthumskunde - II. 1123.
^) Dass das Sämkhya -System in Indien heutzutage, wo
Vedänta und Nyäya die anderen Systeme fast ganz aus dem
Lehrplan der höheren Schulen und des privaten Unterrichts ver-
drängt haben, nur noch verhältnissmässig wenig studirt wird,
beweist natürlich nichts gegen den Einfluss, den die Sämkhya-
Philosophie mittelbar auch auf das moderne Geistesleben des
Landes noch ausübt.
— 57 —
Noch heute nehmen die alten S ä m k h y a - Leln-er in
der Rshitarpana- (oder Pitrtarpana-)Ceremonie
eine Stellung ein, die keinem auch noch so berühmten
Weisen der Vorzeit sonst eingeräumt wird. Sie allein
werden ausser den Göttern bei der täglichen Wasserspende
angerufen. Jeder Brahmane in Indien giesst Tag für Tag
zuerst mit dem Gesicht nach Norden gewendet Wasser
als eine Darbringung für die Götter zur Erde, darauf wendet
er sich nach Osten, lullt die zusammengelegten Handflächen
zweimal mit Wasser und lässt es unter Recitirung des
folgenden Spruches herabfliessen, dessen zwei erste Zeilen
schon von Gaudapäda am Anfang seiner Einleitung zum
Commentar zur Sämkhyakärikä und an den anderen
oben S. 35 genannten Stellen (mit mehrfacher Umstellung
der Namen) angeführt werden:
Sanahag ca Sanandac ca trtiyag ca Sanätanah \
Kapilae cd 'surig cai 'va Vodhuh Pancagiklias tathd j
sarve te trptim äyäntu inad-dattenä 'mhunä sadä ||
„Sanaka, Sananda und Sanätana als dritter, Kapila und
„Äsuri, Vodhu und Panca9ikha, sie alle mögen immerdar
„herbeikommen, sich an dem von mir dargebrachten Wasser
„zu laben !"^) Dass diese den Grhyasütra's noch nicht
bekannte Form der Ceremonie mit der Beschränkung auf die
Sämk h y a- Lehrer nur in den ersten Jahrhunderten nach Chr.
entstanden sein kann, in denen das S ä m k h y a - System dem
indischen Volke mehr galt als irgend ein anderes, liegt
auf der Hand. Auch in diesem Falle hat, wie es zu gehen
pflegt, der Ritus unverändert die Umgestaltung der Vor-
stellungen überdauert.
Wenn ich nun zu der wissenschaftlichen Literatur des
S ä m k h y a - Systems übergehe, so will ich zunächst daran
erinnern, dass ich bereits oben S. 32 ff. von den bis auf ein
paar dürftige Reste verloren gegangenen Werken P a fi c a -
9ikha's — vermuthlich den ältesten LehrlDüchern unseres
1) Vgl. auch Colebrooke, Mise. Ess.^ I. 162.
— 58 -
Systems — gesprochen habe. Wir finden aber noch Spuren
eines weiteren S ä m k h y a - Werkes aus den Zeiten vor der
Abfassung der Säiiikhy akärikä, nämlich des Shash-
titantra oder des ,Systems der sechzig Begriffe'. Das
Werk wird in Kärikä 72 angeführt, und Stellen aus
demselben sind von Vyäsa im Yogabhäshya IV. 13
(nach Väcaspatimi^ra's Tikä) und von Gaudapäda
zu Kärikä 17 citirt; möglicherweise ist das Shashti-
tantra auch von Gaudapäda zu Kärikä 50 unter dem
Ausdruck cästräntara ,das andere Lehrbuch' gemeint. Da,
wie wir durch das Citat im Yogabhäshya lernen, das
Shashtitantra ein metrisches, in (^loka's abgefasstes
Werk war ^), werden wir nicht auf die Vermuthung kommen
dürfen, dass dasselbe zu den Lehrbüchern PafLca9iklia's
gehöre, der nach dem Ausweis seiner Fragmente nur in Prosa
geschrieben hat (s. oben S. 32 Anm. 1). Das Petersburger
Wörterbuch sieht in dem Worte shashtitantra nicht den
Namen eines bestimmten Buches, sondern eine Bezeichnung
der S am khya- Lehre überhaupt, wahrscheinlich dadurch
verführt, dass man in Indien selbst, nachdem das Shashti-
tantra lange verloren war, in dem Ausdruck nicht mehr
den Titel eines Werkes erkannt hat. So erklärt die Säm-
khya-krama-dipikä in Nr. 70 (Ballantyne, aLec-
ture on the Sänkhya Phüosophy, Mirzapore 1850, S. 45)
shashtitantra nur für eine Bezeichnung der ,sechzig Gegen-
stände' (shashti-paddrthäh) des Systems ^). Wenn aber in
den heiligen Texten der Jaina das Satt hitam tarn
o • • • »
neben dem Kävilam (= skt. Käpilam, was für ein
^) Das Citat bei Gaudapäda ^jmrushädliishtMtam pradhänam
pravartate' scheint lückenhaft gegeben zu sein, doch weist das letzte
Wort die Quantitätsverhältnisse des Qloka-Schlusses auf. — Zu
der ganzen Frage über das Shashtitantra vgl. meine Ueber-
setzung der Sämkhya-tattva-kaumudi S. 627, Anm. 3.
^) Ueber welche die vorangehenden Nummern der Säinkhya-
krama-dipikä sowie die Verse des Räjavärtt ika in der Sämkhya-
tattva-kaumudi zu Kärikä 72 und der Schluss von Näräyana
T i r t h a ' s Candrikä zu vergleichen sind.
— 59 —
S ä m k li 3' a - Werk könnte damit gemeint sein ?) aufgeführt
wird ^) , so liegt darin unverkennbar die Kunde aus-
gesprochen, dass das Shashtitantra ein besonderes
Buch war.
Das älteste uns erhaltene Werk der Sämkhya-
Schule ist bekannthch die Sämkhy akärikä des l9vara-
krshna, der spätestens im ftinften Jhdt. n. Chr. gelebt
haben muss ; denn sein Werk ist schon zwischen Ö57 und
583 ins Chinesische übersetzt worden ^). Daraus folgt
natürlich nicht, dass die Kärikä erst im fünften Jahr-
hundert verfasst sein muss; es ist mir im Gegentheil wahr-
scheinlich, dass ihre Entstehung ein bis zwei Jahrhunderte
vor den terminus ad quem föUt.
Die Kärikä behandelt das Sämkhya- System in
einer so gedrängten, aber dabei methodisch höchst an-
erkennenswerthen Weise, dass wir schon aus ihrer Dar-
stellung allein, wenn wir keine anderen Spuren hätten,
auf das einstige Vorhandensein älterer Sämkhya- Werke
schliessen müssten, die eben durch die Kärikä verdrängt
und in Vergessenheit gebracht worden sind. Dass das
Werk ursprünghch nur aus 69 Versen bestanden hat, da
die Verse 70 — 72 noch nicht von Gau dapä da commentirt
sind, ist längst erkannt worden.
Ueber das Verhältniss der K ä r i k ä zu den Sämkhya-
sütra's, auf das ich bei der Besprechung des letzteren
Werkes unten zurückkommen muss, hat schon Cole-
brooke, Mise. Ess. - I. 246 richtig bemerkt: "both ....
do not. upon any material point, appear to disagree". Ich
möchte aber doch einen Punkt zur Sprache bringen, der
mir für die Gescliichte des Systems bemerkenswerth erscheint.
Li Kärikä 4, 5 ist zwar als das letzte der drei Erkennt-
nissmittel — in Uebereinstimmung mit der schon früher
1) S. Weber, Ind. Lit. Gesch."^ 253, Anm. 249, und M. Müller,
Indien in seiner weltgeschichtlichen Bedeutung S. 315, 316.
■-) S. Telang, Indian Antiquary 1884, S. 102, und Kasawara
bei M. Müller, Indien S. 313, 314.
- 60 —
in der S am khya- Schule geltenden Theorie (vgl. Manu
XII. 105) — das äpta-vacana ,der zuverlässige Ausspruch'
angeführt; in Kärikä 5 wird dieses dpia-vacmia durch
äpta-^niti ,die zuverlässige TJeberlieferung' erklärt, und in
Kärikä 6 heisst es: „Was auch durch induktive Schi ass-
„folgerung nicht ermittelt wird, das geheimnissvolle, ergiebt
„sich aus der zuverlässigen TJeberlieferung (dptdgamaj.^^
Unverkennbar liegt hier ein Zugeständniss vor, das die
Sä mkhya- Philosophie nach ihrer Brahmanisirung zu
machen genöthigt war. Aber dieses Zugeständniss trägt
in der Kärikä noch einen nominellen Charakter; denn
in der Folge berujpt sich das Werk — in bemerkenswerthem
Gegensatz zu den späteren S ü t r a ' s — nicht ein einziges
Mal auf die ,Schrift' und leitet aus dieser keinen Lehrsatz
ab. Von den Veden, die in den Sütra's V. 40 — 51 be-
handelt werden, nimmt die Kärikä keine Notiz. Ich
muss die Möglichkeit zugeben, dass schon der geringere
Umfang der Kärikä die Nichtberücksichtigung der ,Schrift'
ebenso wie die anderer untergeordneter Materien bedinge ;
aber wahrscheinlicher ist mir doch, dass zu den Zeiten
l9varakrshna's in der Sä mkhya- Schule die brah-
manische Ueberlieferung noch nicht dieselbe Geltung gehabt
hat wie später, und dass diese Thatsache sich in der Haltung
der Kärikä verräth. Bralimanischen Einfluss finde ich
nur noch in Kärikä 54, wo es von der Schöpfung heisst,
dass „sie bei Bralunan beginne und bei dem Grashalm
endige (Brahnd-di-staniba-part/anfa)", — eine Wendung,
die schon im Mahäbhärata auftritt und in der späteren
Literatur oftmals wiederkehrt.
Von Dingen, die in den späteren Sämkhya- Schriften
eingehend erörtert werden, vermissen wir in der Kärikä
die Leugnung Gottes ^) und die Theorie von dem Reflektiren
des Innenorgans in der Seele — das Wort pratihimha
kommt noch nicht bei I^varakrshna vor, und chdyd
steht Kärikä 41 in anderem Sinne und Zusammenhange — ;
1) Vgl. Hall, Sänkhya Sara Pref. p. 39, Anm. *
— 61 —
aber beide für das S ä m k h y a - System wesentliche Lehren
sind implicite deutlich genug in der Kärika verkündet,
namentlich in den Strophen 20, 21. Wenn hier gesagt
wird, dass „durch die Verbindung der Seelen mit der
Materie die Schöpfung hervorgebracht ist", so ist klar,
dass l9varakrshiia genau auf dem Standpunkt aller
anderen S ä ra k h y a - Lehrer gestanden, d. h. keinen Schöpfer
und Regierer der Welt anerkannt hat; und wenn „in
Folge der Verbindung mit der Seele der ungeistige innere
Körper (Unga) scheinbar geistig" genannt wird, so ist
damit die pratibimba-T\xeox\Q auf das offenkundigste voraus-
gesetzt.
Ausser dem bereits erwähnten Commentare Gau da -
päda's, der gegen 700 oder in der ersten Hälfte des
achten Jahrhunderts — zwei Generationen vor ^ a m k a r a
— verfasst sein muss, besitzen wir zum Verständniss der
Kärika den sehr viel klareren und inhaltsreicheren Com-
mentar Väcaspatimi9ra's, die Sämkhy a-tattva-
kaumudi, aus dem ersten Drittel des zwölften Jahr-
hunderts ^). Von zwei weiteren modernen Commentaren,
der Candrikä des Näräyana Tirtha und der Säm-
khya-kaumudl des Rämakrshna Bhattäcärya'^),
kann der erstere, eine sehr einfache Exposition, (heraus-
gegeben in der Benares Sanskrit Series 1883) keinen wissen-
schaftlichen Werth beanspruchen ; der andere scheint noch
unbedeutender gewesen und gänzlich verloren zu sein.
Väcaspatimi^ra's Commentar aber, der mehrfach in
Indien gedruckt ist und in zahllosen Abschriften existirt,
gilt in seinem Heimatlilande mit Recht ftir das beste
^) S. meine Abhandlung über ,die Theorie der indischen
llationalisten von den Erkenntnissmitteln', Berichte der sächs.
( resellschaft der Wiss. , Philologisch-historische Classe, 1888, S. 9.
Nach Colebrooke, Mise. Ess.'^ I. 246 war Väcaspatimicjra
'h native of Tirhüt'; doch weiss ich nicht, worauf diese Angabe
sich gründet.
->) S. Hall, Sänkhya Sara Pref. p. 41.
— 62 —
methodische Werk der ganzen Sämkhy a-Literatur; es
sind nicht Aveniger als sechs Supercommentare zu demselben
nachweisbar ').
Die Säiiikhyakärika scheint mehr als ein halbes
Jahrtausend lang sich eines solchen Ansehens erfreut zu
haben, dass man in Indien nicht das Bedürfniss spürte,
ein anderes Werk über das System zu schreiben. Erst im
Anfang des elften Jahrhunderts ist ein neues Lehrbuch
(in ^loka's) entstanden, um sehr bald wieder zu verschwinden:
das Räjavärttika, dem Ranaranga Malla, d. h.
König Bhoja von Dhärä, zugeschrieben-). Meines
Wissens sind von dem Werke nur drei Verse erhalten,
und zwar in der Sämkhya-tattva-kaumudi zu Kä-
rikä 72 (abgedruckt bei Hall, Sänkhya Sara Pref. p. 43).
Ein Zeitgenosse Bhoja' s ist der berühmte muham-
medanische Schriftsteller Alberüni, der in seinem um-
fassenden Werke über Indien so eingehende Nachrichten
1) Vgl. Hall, Pref. 40, 41.
■2) S. Hall, Coutributions towards an Index to the Bibliography
of the Indian Philosophical Systems p. 8, wo mit Recht vermuthet
wird, dass das Werk ,iinter den Auspicien jenes Königs' verfasst
ist, und Colebrooke, Mise. Ess. " 1.247. Wenn Colebrooke
an dieser Stelle noch ein anderes Sämkhy a- Werk unter dem
Titel Samgraha erwähnt, „being an abridged exposition of the
same doctrines, in the form of a select compilation", so liegt meines
Erachtens hier ein Irrthum vor, dessen Quelle ersichtlich ist. Ich
glaube, dass eine falsche Eintragung in dem Katalog der Asiatic
Society of Bengal Colebrooke verführt hat das Sarva-dar-
§ana-samgraha, dessen letzte zwei Kapitel von dem Sämkhya-
und Yoga- System handeln, für ein specielles Sämkhy a- Werk
anzusehen. Hall, Index 8 berichtet nämlich: "Among the trea-
"tises enumerated under the head of Sänkhya, in the^ Sanskrit
"Catalogue of the Asiatic Society of Bengal, are the Atmopa -
"desa and the Sarva-dar sana-sangraha. These composi-
"tions, which are thus wrongly indicated, etc." Meine Vermuthuug
findet eine Stütze darin, dass Colebrooke das Sarva-dar9ana-
saragraha sonst nicht erwähnt; die acht Citate s. v. in dem
Index zu den Mise. Essays '^ beziehen sich auf Zusätze von Co well.
— 63 —
über indische Philosophie und insbesondere über das Säm-
khya-System hat, dass ich jetzt, da uns das Buch durch
S a c h a u ' s verdienstvolle Uebersetzung zugänglich gemacht
ist, nicht glaube daran vorübergehen zu dürfen.
Alberüni sagt Preface 8: "I have already translated
"two books into Arabic, one about the origines and a de-
"scription of all created beings, called Sämkhya, and another
"about the emancipation of the soul from the fetters of
"the body, called Patanjali (Pätanjala?)''. Das letztere ist
höchst wahrscheinlich das in Indien allgemein mit dem
Namen Pätanjala bezeichnete Yogasütra nebst dem
Commentare Vyäsa's; das erstere kann schon den Zeit-
verhältnissen nach kein anderes Werk sein, als die Säm-
khyakärikä mit Gaudapäda's Bhäshya. Dieses
'book Sämkhya (so noch I. 30, 48, 64 citirt) wird zwar
I. 132 als "composed by Kapila, on divine subjects" cha-
rakterisirt und neben dem "book composed by Gau da
the anchorite, wliich goes by his name" aufgeführt. Da
es aber in der indischen Literatur kein Sämkhya- Werk
eines Gau da giebt, so ist an der Identität Gauda's mit
Gaudapäda nicht zu zweifeln; und die Identität des
'book Sämkhya mit Gaudapäda's Commentar folgt hin-
wiederum daraus, dass alle Angaben Alberüni's über
das Sämkhya- System sich in dem Inhalt jenes Werkes
nachweisen lassen i). Ja selbst ein paar Gleichnisse, die
in der übrigen S ä m k h y a - Literatur nicht vorkommen,
sind Gaudapäda und Alberüni gemeinsam; nur sind
sie, wie alle Gleichnisse, von dem letzteren mit der Phantasie
1) Alberüni sagt I. 62: "Therefore the author of the book
'■'•Sämkhya does not eonsider the reward of paradise a special gain,
"because it has an end and is not eternal, and because this kind
"of life resembles the life of this our world." Hierzu bemerkt
Sa c hau 11.280, dass er etwas diesem Gedanken correspondirendes
weder in der Säinkhy akärikä noch in Gaudapäda's Com-
mentar gefunden habe, und vergleicht nur eine Parallele aus den
Sütra's. In der That aber ist der Gedanke deutlich genug in
Kärikä 2 ausgesprochen und von Gaudapäda näher begründet.
— 64 —
des Muhammedaners weiter ausgeführt und ausgeschmückt.
Bei Gaudapäda zu Kärikä20 findet sich folgende
Stelle: „Wie Jemand, der kein Dieb ist, ftir einen Dieb
„gilt, wenn er mit Dieben zusammen ergrifPen wird, so gilt
„auch die mit den thätigen drei Guna's verbundene Seele,
„obwohl sie [in Wirklichkeit] nicht thätig ist, für thätig
„wegen der Verbindung mit den thätigen." Diesen ein-
fachen Satz giebt Alber üni I. 48, 49 in folgender an-
schaulicher Schilderung wieder: "The book of Sämkhya
"brings action into relation with the soul, though the
"soul has nothing to do with action, only in so far as it
"resembles a man who happens to get into the Company
"of people whom he does not know. They are robbers
"returning from a village which they have sacked and
"destroyed, and he has scarcely marched with them a short
"distance, when they are overtaken by the avengers. The
"whole party are taken prisoners, and together with them
"the innocent man is dragged off; and being treated pre-
"cisely as they are, he receives the same punishment, with-
"out having taken part in their action."
In ganz ähnlicher Weise ist eine Stelle aus Gauda-
päda's Commentar zu Kärikä 30 von Alber üni be-
handelt. Es heisst daselbst: „Jemand, der auf der Strasse
„geht, erblickt etwas aus der Entfernung und ist im Zweifel,
„ob es ein Pfahl oder ein Mensch sei; dann sieht er, dass
„sich an diesem Gegenstand eine Schlingpflanze ^) befindet
„oder dass ein Vogel auf ihm sitzt. Damit ist der Zweifel
„durch den inneren Sinn dieses [Menschen] entschieden,
„und es entsteht die unterscheidende Erkenntniss, dass es
„ein Pfahl ist," Aus diesem Beispiel Gaudapäda's hat
Alberüni I. 84 eine vollständige Parabel gemacht: "A
"man is travelling together with his pupils for some bu-
^) Lies valUin anstatt tal-lingam und vgl. die Parallelstelle im
Comm. zu Kärikä 36 und die Notiz in den Variations and Cor-
rections bei Colebrooke-Wilson.
— 65 —
"siness or other towards the end of the night. Tlien
"there appears sometlimg standing erect before them on
"the road, the nature of which it is impossible to recogiiise
"on account of the darkiiess of night. The man turns
"towards his pupils, and asks them, one after the other,
"what it is. The first says: 'I do not know what it is'.
•'The second says: 'I do not know, and I have no means
"of learning what it is.' The third says: 'It is useless to
"examine what it is, for the rising of the day will reveal
"it. If it is something terrible , it will disappear at day-
"break; if it is something eise, the nature of the thing
"will anyhow be clear to us.' Now , none of them had
"attained to knowledge, the first, because he was ignorant ;
"the second, because he was incapable, and had no means
"of knowing; the third, because he was indolent and ac-
"quiesced in his ignorance. The fourth pupil, however,
"did not give an answer. He stood still, and then he
"went on in the direction of the object. On Coming near,
"he found that it was pumpkins on which there lay a
"tangled mass of something. Now he knew that a living
"man, endowed Avith free will, does not stand still in his
"place until such a tangled mass is formed on his head,
"and he recognised at once that it was a lifeless object
"standing erect. Further he could not be sure if it was
"not a hidden place for some dunghill. So he went quite
"close to it, Struck against it with his foot tül it feU to
"the ground. Thus all doubt having been removed, he
"returned to liis master and gave him the exact account.
"In such a way the master obtained the knowledge through
"the intermediation of his pupils."
Diese beiden Parallelen illustriren das Yerhältniss
Alber üni's zu seiner Vorlage vortrefflich. S a c h a u aber
bestreitet, dass Gaudapäda's Bhäshya Alberüni's
Vorlage gewesen sei. Obwolil er in den Annotations IL 267
zugiebt, dass "most of the quotations given by Alberüni
are found only slightly differing in Gaudapäda, and some
agree literally", dass ferner "almost all the illustrative tales
Garbe, Sämkhya-Philosophie. 5
— 66 —
mentioned by A 1 b e r ü n i are fouiid in G a u d a p a cl a ", so
behauptet S a c h a u doch, dass G a u d a p ä d a ' s B h ä s h y a
nicht mit A 1 b e r u n i ' s S ä ni k h y a identisch, sondern nur
'a near i-elative of it' sei. "Gaudapäda" , sagt er a. a. 0.,
"seems to have taken his information from a Avork neav
"akin to, or identical with, that Sämhhya book which was
"used by Alberüni". Diese Ansicht ist völlig unbegründet,
da es ein solches dem Bhäshya Gaudapäda's nahe
verwandtes Werk in der S ä m k h y a - Literatur vor Alb e-
r ü n i ' s Zeiten nicht gegeben hat. Wenn S a c h a u gewusst
hätte , dass Gaudapäda's Commentar thatsächlich das
ein/Äge Werk ist, welches als Alberüni 's Quelle in
Betracht kommen kann, so würde er in den von ihm
selbst anerkannten Uebereinstimmungen gewiss einen hin-
reichenden Grund gefunden haben, das ,Buch Sämkhya'
mit Gaudapäda's Bhashya zu identificiren , ohne an
der freien Behandlung der Quelle durch Alberüni Anstoss
zunehmen. Sind doch von Alberüni in genau derselben
Weise andere Werke der Sanskrit-Literatur behandelt worden,
über deren Identität mit unsern Texten nicht der geringste
Zweifel bestehen kann, z. B. die Bhagavadgitä. Wo
Alberüni auf dieses berühmte Gedicht unter Anführung
des Namens Bezug nimmt, übersetzt er gleichfalls nicht
wörtlich, sondern giebt die Gedanken in der freiesten
Umschreibung wieder: vgl. S ach au IL 275: "Of the
"other quotations . . . ., I do not see how they could l)e
"compared Avith any passage in Bhagavad-Gttd ^ except
"for the general tenor of the ideas", und sonst ').
^) Ich möchte bei dieser Gelegenheit einen anderen Irrthuin
Sachau's berichtigen. In den Annotations vergleicht Sa c hau
IL 266 den Inhalt der Sän.ikhy asiit ra's mit dem von Albe-
rüni unter dem Namen Sämkhya dargestellten philosophischen
System und findet, dass dieses in various and essential points von
dem der Sutra's verschieden .sei. "It seems", sagt er, "altogether
"to have had a totally difFerent tendency. The Sütras treat of the
'■'■complete cessation of puin\ the first one runs thus: Well, the com-
"plete cessation of pain, (which is) of three kinds, is the complete
— 67 —
Die klare und ausführliclie Darstellung , die Albe-
r IT n i von dem S ä m k h y a - System giebt , macht dem
muhammedanisclien Gelehrten in Anbetracht des seinen
Vorstellungen so entlegenen Gedankenkreises alle Ehre.
Er behandelt das System im Zusammenhange von I. 40
— 49 ; ausserdem gehört dazu die Klassificirung der Wesen
I. 89 und eine Hauptstelle I. 31 , wo der Grundgedanke
des Sämkhya mit treffenden Worten ausgedrückt wird
und ganz in derselben Weise wie oftmals in der Literatur
dieses Systems : "The truth is, that action entirely belongs
"to matter, for matter binds the soul, causes it to wander
"about in different shapes, and then sets it free. Therefore
"matter is the agent, all that belongs to matter helps it
"to accomplish action. But the soul is not an agent,
"because it is devoid of the different faculties." Doch darf
ich nicht verschweigen, dass Alberüni zu einem Ver-
ständniss der psychologischen Seite des Sämkhya-
Systems nicht vorgedrungen zu sein scheint. Wenn er
I. 49 nur bemerkt: "The soul does not influence matter
"in any way, except in this, that it gives matter life by
"being in close contact with it" ') , so wäre dabei fiir ihn
Anlass gewesen die Erklärung der psychischen Vorgänge
zu erwähnen, die nach der Sämkhya- Philosophie zunächst
"end of man ; whilst the Sämkhya of Alberüni teaches mohsha
"by means of knowledge". Wenn S ach au einen mit der indischen
Philosophie nur oberflächlich vertrauten Sanskritisten zu Rathe ge-
zogen hätte , so würde er erfahren haben , dass moksJia und the
complete cessation of pain im Sänikhya völlig identische Be-
griffe sind (cf jetzt z. B. Mahädeva zum Säinkhyasütra I. 5:
because liberation is identical with the removal of all pains). Zu-
dem wird das Wort mohsha fünfmal in den Sämkhyasütra's gebraucht,
das identische mukti ebenso fünfmal, von dem überaus häufigen
Vorkommen beider Worte in den Commentaren zu dem Werk ganz
zu schweigen. Es ist also keine Rede davon, dass die Sämkhya-
sütra's eine andere Tendenz haben, als das Sämkhya bei Albe-
rüni oder in irgend einem andern Werk der einschlägigen Literatur.
V Vgl. hiermit den Anfang von Chapter IV. auf S. 45.
.*
— 68 —
rein mechanische Processe in dem materiellen inneren
Organ sind und nur durch die Einwirkung der Seele zu
bewussten gemacht werden. Auch ein paar direkte Irr-
thiimer hat sich A 1 b e r ü n i in der Darstellung des Systems
zu Schulden kommen lassen. Das Wort ahamkära über-
setzt er I. 41 mit 'nature', obwohl er gleich darauf die
richtige etymologische Erklärung mit 'self-assertion' giebt ;
und die hvddhi, die erste Entfaltung der Urmaterie, hat
er ganz übersehen ; denn er bringt I. 44 die 25 Principien
des Systems dadurch zusammen, dass er die prakrti in
'abstract vXrf und 'shaped matter' zerlegt. Dass er I. 42
den Ausdruck panca tanmäträni ,die fünf feinen Elemente'
missverstanden und daraus panca mätaras ,fünf Mütter'
gemacht hat (vgl. auch die matres simphces I. 45 unten),
ist bereits von S ach au in den Annotations 11. 273 be-
merkt worden. Schliesslich sei noch das Versehen I. 321
erwähnt, wo Alberüni dem Kapila eine vollkommen
theistische Lehi-e in den Mund legt.
Wir haben nun nur noch zwei Hauptwerke der S a m -
k h y a - Literatur mit ihren Commentaren ins Auge zu
fassen, sind aber dabei in der misslichen Lage, nicht
entscheiden zu können, welchem der beiden die Priorität
zukommt; ich meine den Tattvasamäsa und die Sä m-
khyasütra's. Cole brocke, Mise. Ess. - L 244, findet
es walu-scheinhch ^) , dass der Tattvasamäsa zu den
Sütra's erweitert wurde; es wäre ebenso möghch, dass er
aus den letzteren als Kern herausgeschält ist. Mir scheint
jedoch die singulare Terminologie des nur aus 54 Worten
bestehenden Traktats dafür zu sprechen, dass er weder mit
den Sütra's noch mit einem früheren Sämkhy a-Lehr-
buch in direktem Zusammenhang steht. Wenn ich hier
1) In Uebereiustimmung mit den Angaben der Sarvopa-
kärini; s. Hall, Pref. p. 8, 9 Anna.
— 69 —
den Tattvasainäsa voranstelle, so geschieht dies einfach,
um dieselbe Reihenfolge einzuhalten, die F. E. Hall in
seiner Aufeählung dieser Werke (Sänkhya Sara, Pref. p.
39 ff.) beobachtet hat. Man findet die 22 — resp. 25 —
kleinen Sütra's, die den Tattvasainäsa bilden, bei
Hall a. a. 0. S. 42 abgedruckt, sowie bei Ballantyne,
A Lecture on the Sänkhya Philosophy (Mirzapore 1850).
Hall nennt fiinf verschiedene Commentare zu denselben,
von denen aber nur einer, die Sämkhy a-krama-dipikä,
herausgegeben ist und zwar von Ballantyne in dem
eben sfenaunten Werkchen. Leider finde ich keinen Anhalt
um zu bestinunen, wie lange vor der Mitte des löten Jhdts
der Tattvasamäsa entstanden ist. Dieser tenninus ad
quem aber wenigstens steht fest, weil Bhäväganecja
Dikshita, der Verfasser des Tattva-yäthärthya-
dipana genannten Commentars zum Tattvasamäsa.
sich selbst als einen Schüler Vijnänabhikshu's be-
zeichnet. Denn über Vij&änabhikshu's Lebenszeit
sind wir im Klaren (s. unten S. 74).
Was nun die Sämkhy asütra's betrifft, so haben
in frülierer Zeit aUe Forscher , Röer^), Barthelemy
Saint-Hilaire u. s. w. , dieselben für das älteste auf
uns gekommene Lehrbuch der S am khya- Schule ange-
sehen, vermuthlich weil es den Namen des K a p i 1 a trägt.
Nun hatte aber schon Coleb rooke Mise. Ess. - I. 244
bemerkt, dass das Werk mit Unrecht dem Begründer des
Systems zugeschrieben wird, "since it contains references
"to former authorities for particulars which are but briefly
"hinted in the sütras; and it cpotes some by name, and
"among them P ancha9ikha, the disciple of the reputed
"author's pupil : an anachronism which appears decLsive -)".
Vielleicht ist das Alter der Sämkhy asvitra's auch
deshalb überschätzt worden, weil in der Literatur der
^) A Lecture on the Sänkhya Philosophy, Calcutta 1854.
"-) Vgl. dazu die Anm. 11, welche Co well auf S. 354 hinzu-
gefügt hat, und Hall, Pref. p. 47, Anm. unten.
— 70 —
anderen Systeme die Sütra's jedesmal das grundlegende
Werk sind. Jedenfalls hat man die Säm k hy asütra's
trotz ihrer augenscheinlich jungen Sprache und trotzdem
in ihnen gegen die Lehren der Vai9eshika- und Nyäya-
Philosophie polemisirt wird, für älter als die Kärikä
gehalten, bis Hall (Pref p. 12) — leider nicht mit der
nötliigen Entschiedenheit des Ausdrucks — den Nachweis
geliefert hat, dass die Kärikä in den Sämkhyasütra's
mehrfach wörtlich benutzt ist. Diese Uebereinstimmungen
anders zu erklären, ist in Anbetracht dessen, dass die
Kärikä in dem complicirten A r y ä - Metrum, das S ü t r a -
Werk dagegen in Prosa abgefasst ist, unmöglich. Schon
Barthelemy Saint-Hilaire, Premier Memoire sur le
Sänkhya p. 114 (vgl. auch p. 128, 314 und sonst) hat
diese wörtlichen Uebereinstimmungen bemerkt, aber den
falschen Schluss daraus gezogen: "quand le rhythme s'y
"prete, eile (d. h. die Kärikä) se contente de reproduire
"textuellement les expressions de Kapila (d. h. der Sü-
"tra's)".
Hall (Pref p. 8— 11) hat festgestellt, dass die Säm-
khyasütra's ebenso wie der Tattvasamäsa weder
von C a m k a r a noch von Väcaspatimi^ra noch über-
haupt von irgend einem Schriftsteller beträchtlichen Alters
citirt werden, ja selbst nicht einmal im 14ten Jahrhundert
von Mädliaväcäry a in dem S ä m k h y a - Abschnitt des
Sarva-dar9ana-samgraha. In einer Note zu seiner
Uebersetzung des letztgenannten Werkes (S. 222, Anm. 2)
findet es Co well sonderbar, dass Mädhava's Sämkhya-
Autorität die Kärikä ist und nicht die Sütra's. Ich
bin aber im Gegentheil <ler Ansicht, dass man in diesem
Falle das argumentum ex silentio für beweiskräftig halten
und die Abfassmig der Sämkhy asiitra's später als
Mädhaväcärya ansetzen muss. Denn Mädhava geht
bei den anderen orthodoxen Systemen, die er behandelt,
jedesmal von den Sütra's aus; warum soUte er da bei
dem Sämkhy a- System eine Ausnahme gemacht und die
Sütra's dieser Schule ganz ignorirt haben, wenn er sie
— 71 —
gekannt hätte? Die Inder pflegen in solchen Dingen doch
stets sehr systematisch zu verfahren. Die Erinnerung an die
moderne Entstehung des Werkes hat sich übrigens bis
auf den heutigen Tag unter den Pandits in Benares
erhalten.
Als obere Grenze für die Abfassung der Sütra's
würde sich uns also nach dem eben bemerkten etwa das
Jahr 1380 ergeben, als untere etAva 1450, daAniruddha
seinen Commentar zu dem Werke um 1500 geschrieben
hat ^). Bis zu diesem eng umgrenzten Zeitraum also hat
die Kärikä — vielleicht ein Jahrtausend lang — un-
bestritten als Standard work der Sämkhya-Schule ge-
o-olten; erst vor ca. 500 Jahren hat man es in Indien als
einen Mangel empfunden, dass dieses System keine Sü-
tra's besass wie die anderen orthodoxen Schulen -).
Die Sämkhyasütra' s fähren denselben Namen wie
die Yogasütra's, nämlich Sämkhya-pravacana,
„ ausführliche Darstellung des S ä m k h y a - Systems " '^). Ihr
Inhalt unterscheidet sich nicht wesentlich von dem der
Kärikä, wie bereits oben (S. 59) bemerkt ist; aber der
philosophische Standpunkt des unbekannten Verfassers der
Sütra's ist ein anderer als der 1 9 v a r a k r s h n a ' s. Durch
das ganze Werk hindurch sucht der Sütrakära die Gegen-
sätze zwischen den Lehren der Scluiffc und denen des
Sämkhya- Systems fortzudeuten ; er bemüht sich mit
abenteuerlichen Mitteln zu beweisen, dass die Lehren von
der Persönlichkeit Gottes, von der All-Einheit des Brah-
man, von der Wonnenatur des B rahm an und von der
') S. meine Ausgabe der Aniruddhavitti, Pref. p. IX.
"') Umgekehrt wurde dieses Verhältniss , den älteren Anschau-
ungen entsprechend, beurtheilt von Weste rgaard, Ueber den
ältesten Zeitraum der indischen Geschichte S. 67: „Die Regeln, in
„welchen Kapila die S an khya- Philosophie darstellte, haben in
„den Schatten treten müssen gegen die von Icvarakrshna ver-
,,sificirte Sänkhy akärikä."
^) S. Vijiiänabhikshu in der Einleitimg seines Commentars
(S. 10 meiner Uebersetzung) und Hall, Pref. p. 11 Anm. unten.
— 72 —
Erreichung des höchsten Zieles in der Himmelswelt nicht
mit den Anschauungen des Sä mkhya- Systems in Wider-
spruch stehen ^). Auch sonst lassen die S ü t r a ' s eine
starke vedantistische Färbung erkennen; z. B. in der Lelii-e,
dass die vom Gesetz vorgeschriebenen Werke als Hilfs-
mittel zur Erreichung der Erkenntniss nützlich seien (III.
35, IV. 21) ^) ; noch deutlicher vielleicht in dem Ausspruch
>) Sutra I. 95, 154; V. 64, 68, 110; VT. 51, 58, 59.
^) Die Erwähnung der Schülerpflichten IV. 19 scheint mir
gleichfalls eine spätere, dem Sämkhya- System ursprünglich nicht
angehörende Zuthat zu sein, die eine stärkere Brahmanisirung
verrätli. Dasselbe gilt sicher von dem Abschnitt V. 40 — 51, in
dem die brahmanische Anschauung über den Veda unserem
System einverleibt und mit Beweisen aus dem Gedankengange der
Sämkhya- Philosophie begründet ist. Die Veda 's sind nicht
das Werk einer Person, weil es keine Person giebt, die sie gemacht
haben könnte (46). Da das System keinen Gott anerkennt, so
gehören alle Wesen entweder der Kategorie der Erlösten oder der
der Gebundenen an. Ein Erlöster nun kann die Veda's nicht
verfasst haben, weil dazu ein Wille nöthig gewesen wäre und die
Erlösten wunschlos sind; ein Gebundener aber war dazu nicht be-
fähigt, weil ein solcher nicht im Besitze des ganzen Wissens ist,
das zur Abfassung der Veda's erforderlich gewesen wäre (47).
Der Gedanke, dass die Veda's das Werk vieler Personen sind,
liegt der brahmanischen Anschaming ganz fern; er wird nicht
einmal aufgestellt, um widerlegt zu werden. Daraus, dass der
Veda nicht geschaffen ist, folgt aber für den Verfasser der Säm-
khyasütra's doch nicht, dass er von Ewigkeit her existirt haben
muss; denn auch Pflanzen und andere Naturprodukte sind weder
das Werk einer Person noch ewig (45, 48). Hier haben wir eint'
bemerkenswerthe Abweichung von der Lehre der Mimämsä
zu constatiren , welche die Existenz des Veda für eine anfangs-
lose erklärt. Nach der Anschauung der Sämkhyasütra's
entstehen die Veda's am Anfang einer Weltperiode jedes-
mal ohne jede Variante von selbst, oder — um mit Vijiiäna-
bhikshu's echt brahmanischen Worten (zu Svitra 50) zu reden —
,sie gehen dem Aushauch vergleichbar in Folge der unsichtbaren
„Kraft [des angesammelten Verdienstes] von selbst aus Brahman
„hervor, ohne dass eine Absicht desselben vorliegt." Aus diesem
Grunde ist auch der Veda infallibel. Ausserdem kann man aus
dem Erfolg der vedischen Ceremonien und Zaubersprüche schliessen.
— 78 —
V. 116: „In der Versenkung, im Tiefschlaf und in der
„Erlösung haben [die Seelen] die Natur des Brahman",
denn hier hat der Verfasser einen Vedänta- Terminus
(brahnarilpatd) anstatt der feststehenden Sä mkhya -Aus-
drücke verwendet. Der Einfluss der Vedänta-Philosophie
zeigt sich ferner darin, dass aus den Brahmas ütra's
eines, nämlich IV. 1. 1, wörtlich als Sämkhyasütra IV. 3
wiederkehrt, und dass auch die Werke ^amkaräcärya's
von dem Verfasser der S ä m k h y a s ü t r a ' s in erkennbarer
Weise benutzt sind. So ist 1. 19 die Seele mit dem Epi-
theton nitya-cuddha-huddha-mukta-svabhdva ,ihrem Wesen
nach ewig rein, erkennend und frei' bezeichnet; und wenn
wir diesen Ausdruck mit genau derselben Reihenfolge der
CompositionsgUeder mehrfach in den Werken ^a^^kara's
vorfinden — z. B. in der Einleitung zu seinem Commentare
zur Bhagavadgita^) — , so wird hier Niemand an eine
zufällige Uebereinstimmung glauben wollen. Ebenso ist
das Gleichniss von den Bewohnern Srughna's und Pä-
taliputra's, das im Säinkhyasütra I. 28 zur Ver-
anschaulichung der räumlichen Getrenntheit gebraucht ist,
aus ^amkara's Commentar zu den B r a h m a s ü t r a ' s IL
1. 18 entnommen.
Dass der Verfasser der Sämkhyasütra's auch die
dass sämmtliche Veda's durch sich selbst Mittel zu richtiger Er-
kenutniss sind (51). — Was das Verständuiss des Veda anbetrifft,
so wird der Grundsatz der Mimämsä anerkannt, dass die Wort-
bedeutungen des täglichen Lebens auch die des Veda sind, dass
mithin derjenige den Sinn des Veda versteht, der in den Bedeu-
tungen der Worte des täglichen Lebens bewandert ist (40). Trotz-
dem kann man nicht ohne eine gewisse Gelehrsamkeit (vyutpatti, 43j
auskommen, und diese Einschränkung giebt Vijiiänabhikshu
Gelegenheit, den Werth der heiligen Ueberlieferung zu betonen.
Im Commentar zu Sütra 44 bemerkt er jedoch, dass nur der
Wortsinn, nicht aber auch der Satzsinn aus der Tradition zu er-
lernen sei.
*) S. 5 der Ausgabe von Pandit Jagannätha, Calcutta,
Samvat 1927. — Das oben genannte lange Compositum findet sich
noch nicht in den Brahmasütra's.
— 74 —
Yogasütra's benutzt hat, verrath sich nicht nur im all-
gemeinen überall da, wo er Lehren und Vorschriften des
Yoga- Systems zur Sprache bringt, sondern auch im
speciellen dadurch, dass er das Yogasütra I. 5 als Säm-
khyas Vitra IL 33 und das Yogasütra IL 46 als Säni-
khyasütra's lU. 33 (34 Vijiiänabhikshu) und YI. 24
wörtlich wiedergegeben hat.
Der älteste Commentar zu unseren Svitra's ist die
oben S. 71 erwähnte Aniruddhavrtti, eine etwas un-
fertige Arbeit, die aber neben manchen gesuchten und
sophistischen Erklärungen eine grosse Zahl von Deutungen
bietet, die den Auffassungen der anderen Commentatoren
gegenüber entschieden den Vorzug verdienen. A n i r u d d h a
bemüht sich die Lehren der S ä m k h y a - Philosophie ob-
jektiv vorzutragen, verräth aber doch bei einer -Gelegenheit,
im Commentar zu VI. 50 nämlich, dass er seiner persön-
lichen Ueberzeugung nach zu den Materialisten gehört.
Wie sehr er sich an die Sämkhya-tattva-kaumudi
angeschlossen hat, ist aus der Einleitung zu meiner Aus-
gabe der Aniruddhavrtti S. VIII zu ersehen.
Einen viel weniger objektiven Standpunkt in der Er-
klärung der Sütra's nimmt Aniruddha's Nachfolger,
Vijnänabhikshu, ein , der in der zweiten Hälfte des
löten Jahrhunderts ') seinen eingehenden Commentar unter
dem Titel S ä m k h y a-p r a v a c a n a-b h ä s h y a verfasst hat.
Es ist dies das ausführlichste Werk der Sämkhya-Literatur,
das als solches für die Darstellung der Einzellieiten des
Systems von grossem Werthe ist, aber doch in aUen den
Punkten unberücksichtigt bleiben muss, wo der Verfasser
seine individuellen Ueberzeugungen ausspricht und damit
die für das Sämkhya -System charakteristischen Auf-
fassungen entstellt.
Wenn wir schon in den Sütra's vedantistische Ein-
flüsse deutlich hei-vortreten sahen, so gut dies in noch viel
1) S. Hall, Prof. p. 37, Aiim. f-
— 75 —
höherem Masse von ihrem berühmten Commentare. Vijnä-
nabhikshu kämpft liier, ebenso wie in seinen anderen
Werken , mit der grössten Entschiedenheit ftir seinen der
Yoga-Philosophie nahe stehenden theistischen Vedänta,
der für ihn der alte, echte und ursprünghche Vedänta
ist, während er die Lehre von der Zweitlosigkeit des B r a h -
man und von der kosmischen Illusion ftir eine moderne
Verfälschung erklärt ^). Daneben äussert er oftmals sein
Missfallen über die Auslegungen Väcaspatimi^ra's inid
Aniruddha's, ohne jedoch einen der beiden mit Namen
zu nennen.
Der Standpunkt V i j n ä n a b h ik s h u ' s ist bereits von
Gougli, The Philosophy of the üpanishads p. 259, 260
dargelegt worden, und es ist dort die völlige Haltlosigkeit
der Darstellung, die der Commentator von dem Inhalt der
Upanishad's und von dem Verhältniss der pliiloso-
pliischen Systeme zu einander giebt, in sachkundiger Weise
erwiesen. Ich glaube aber das dort gesagte noch in einigen
Punkten ergänzen zu können. Um den Gegensatz, in dem
das Sämkhya-System zu seinem"(angeblich vedantistischen)
Theismus steht, zu überbrücken, sucht Vijnänabhikshu
einen der Grundpfeiler unseres Systems, die Gottesleugnung,
mit den wunderbarsten Mitteln liimvegzuräumen. Er meint
in der Einleitung zu seinem Commentar und auch sonst
an mehreren Stellen, dass der Atheismus der S ä m k h y a ' s
nicht ernst zu nelunen sei; diese Lehi-e sei aufgestellt,
um Gleichgiltigkeit gegen die Erreichung göttlicher Würde
zu erzeugen ; denn der Glaube an Gott und das Verlangen,
sich in kommenden Existenzen zu göttlichem Range empor-
zuschwingen, hindere nach der Meinung der Sämkhya's
die Uebung der unterscheidenden Erkenntniss. Weiterhin
1) Er nennt die Anhänger dieses echten Vedänta ,Pseudo-
Vedantisten' (vedänti-bruva im Comm. zu I. 22, 43, 151, 158) und
im AnscMuss an eine in der Einleitung von ihm citirte Stelle
des Padma Puräna .verkappte 'Rw&dh.i^.tau' (pracclianna-bauddha,
zu I. 22).
— 76 —
bezeichnet er die Gottesleiignung als eine Concession an
die landläufige Anschauung und als eine „kühne Be-
hauptung" (praudha-vdda) ; und schliesslich bemächtigt er
sich gar eines ungeheuerlichen Gedankens, den er im
Padma Puräna vorgefunden, nämlich dass diese Lehre
aufgestellt sei, um schlechten Menschen die Erkenntniss
der Wahrheit zu verscliliessen. Durch nichts hätte V i j n ä-
nabhikshu seine Verlegenheit diesem Grunddogma des
S ä m k h y a - Systems gegenüber deutlicher verrathen können,
als durch eine solche Häufung unmöglicher Gründe, die
er den Sämkhya's imputirt. Nachdem er aber einmal
so den Atheismus aus unserem System getilgt hat, scheut
er sich nicht, seinen Theismus ohne weiteres in die
Sämkhyasütra's hineinzutragen (z. B. am Schluss des
Commentars zu I. 122); und wenn er dann wieder ge-
nöthigt ist, die Beweise gegen die Existenz Gottes in
den Sütra's V. 2 — 12 zu besprechen, so thut er dies
zwar in sachgemässer Weise, aber in einem Anhang zu
V. 12 widerruft er alle auf den vorangehenden Seiten
abgegebenen Erklärungen.
Noch zwei andere thatsächlich bestehende Gegensätze
bemüht sich Vijfi.änabhikshu auf seine Art aus-
zugleichen.
Die Lehre der Schrift von der Zweitlosigkeit des
ßrahman und die Sämkhya-Lehre von der Vielheit
individueller Seelen sollen sich seiner Meinung nach nicht
widersprechen; denn das Wort B rahm an bezeichne die
Gesammtheit der qualitätlosen Seelen ^) ; und wenn in der
Schrift von der Nichtverschiedenheit oder Einheit
der Seelen die Rede sei, so sei damit die Nicht ver-
schiedenartigkeit derselben gemeint -). Der ursprüng-
liche (d. h. der von Vijnänabhikshu, resp. von seiner
Sekte, fingirte) Vedänta nelune gleich dem Sämkhya
eine unendliche Vielheit der Einzelseelen an. Ebenso wie
^) S. den Commi'iitar zu VI. 66.
*) S. den Schlussvers der Einleitung, den Commentar zu V. 61
und sonst.
— 77 —
die in den Upanishad's gelehrte Seelen einheit, deutet
Vijnänabhiksliu die absolute All-Einheit hinweg.
Im Anschluss an Sütra V. 64 sagt er, dass dieser Monismus
in der Schrift für den Standpunkt der „ nicht-unterscheiden-
den", für die einfältigen Menschen zurecht gemacht sei;
an anderen Stellen jedoch (z. B. im Commentar zu V. 65
und zu VI. 52) spricht er sich daliin aus, dass die Schrift
mit der AU-Einheit die räumliche Ungetrenntheit
der Seelen und der Materie meine und also auch in dieser
Hinsicht nicht der Lehre der Sämkhya's, nach der so-
wohl die Seelen wie die Materie aUdurchdringend sind,
widerstreite.
Der andere Punkt betrifft die Schriftlehre von der
illusorischen Natur (mäyä) der Erscheinungswelt und die
Sämkhya -Doktrin von der Realität der Materie. Auch
diesen Gegensatz beseitigt Vijnänabhikshu durch Be-
rufung auf seinen „ursprünglichen" Vedänta, der die
Wirklichkeit der Welt gelehrt habe. Da schon in der
(^vetä9vatara Upanishad IV. 10 von einem Geistes-
verwandten Vijnänabhikshu's die Mäyä des Vedänta
mit der Prakrti des Sä mkhya -Systems identificirt war,
so brauchte unser Commentator keinen Anstand zu nehmen,
diese angebliche Identität als schriftgemäss auszugeben.
Er wiederholt die Erklärung, dass die Schrift unter Mäyä
nichts anderes als die reale Materie verstehe, an verschiedenen
Stellen seines Werkes (z. B. zu I. 26, 69 und sonst).
Nach allem dem darf es uns nicht wundern, dass
Vijfiänabhikshu auch sonst allerlei heterogene Dinge
vermengt und die Eigenart der einzelnen Systeme ver-
wischt. Er vertritt eben die Ansicht, dass alle sechs ortho-
doxen Systeme in ihren Hauptlehren die absolute Wahrheit
enthalten. Bezeichnend für seinen Standpunkt ist es auch,
dass er in seinen Beweisftihrungen der Pu r an a- Literatur
und anderen apokryphen Werken dieselbe Bedeutung bei-
misst, wie den Upanishad's.
Eine ftk die Geschichte des Sämkhya-Systems
nicht unwichtige Notiz enthält der fünfte Einleitungsvers
— 78 —
von V i j II a n a b li i k s h n s Commeiitar, in dem gesagt ist,
dass damals „die Sämkliya -Lehre von der Sonne der Zeit
aufgezehrt" und dass „von dem Monde der Erkenntniss
nur noch eine kleine Sichel übrig geblieben war", d. h. in
unserer Sprache, dass in dem geistigen Leben des 16ten
Jahrhunderts die S ä m k h y a - Philosophie keine Rolle mehr
gespielt hat. Das älteste mir bekannte Zeugniss für den
Verfall der S ä m k h y a - Philosophie findet sich Bhäga-
vata Puräna L 3. 10, wo es heisst, dass die Sämkhya-
Lehi-e „im Laufe der Zeit verloren gegangen" (käla-vipluta)
sei. V i j u ä n a b h i k s h u scheint nun durch seine Arbeiten
das Studium des Sämkhya in Lidien neu belebt zu haben.
Seine frülieren Werke behandeln die beiden Systeme, auf
die seine religiöse Ueberzeugung gegründet ist; das (bisher
noch nicht herausgegebene) Vijnänämrta ist ein Com-
mentar zu den Brahmasütra's, das Yogavärttika *)
ein Supercormiientar zu Vyäsa's Yogabhäshya. Von
grösserer Bedeutung als diese beiden Arbeiten ist flir uns
ein Compendium der Sämkhya-Lehre, das Vijnänabhik-
shu später als das Sämkhy a-pravacana-bhäsliya
unter dem Titel STinikliy asära verfasst hat. Das
Werkchen stellt das System kurz in geschickter Anordnung
dar, bietet aber gegenüber dem Commentar zu den Sütra's
nichts neues -).
Der nächste Erklärer der Sütra's ist Vedäntin
Mahädeva, der gegen Ende des 17ten Jahrhunderts ge-
schrieben hat •"). Sein Commentar ist im ersten Buche ein
einfacher Auszug aus Vijnänabhikshu's Bhäshya,
während die übrigen fünf Bücher sich stark an die
Aniruddhavrtti anlehnen. Trotzdem bietet Mahä-
deva in diesen letzten Büchern eine ganze Reihe von
selbständigen und bemerkenswerthen Erklärungen, so dass
1) S. oben S. 32, Aiim. 1.
*) S. über dasselbe Hall, Pref. p. 49—51.
-) S. Weber, Verzeichuiss der Sanskrit- und Prakrit-Hand-
ßcbriften der Königl. Bibliothek zu Berlin, Bd. II. S. 113.
— 79 —
ein Erforscher der Sämkhya -Lehren sein Werk nicht un-
beachtet lassen darf.
Anders steht es mit dem Commentare des N ä g o j i
oder Näge^a Bhatta, der L a g h u - s ä m k h y a - s ü t r a -
vrtti, die im Anfange des 18ten Jahrhunderts in Benares
compilirt sein soll ^) ; liier haben wir es lediglich mit einem
gedankenlosen Auszug aus dem Sämkhya-pravacana-
bhäshya zu thun. Wie dieses Machwerk, so sind auch
die übrigen modernen Schriften über das S am khya- System,
die noch von Hall in seinem Index to the Bibliography
of the Indian Phüosophical Systems und in seiner Vorrede
zum Sämkhyasära erwähnt werden, für uns werthlos.
Anhang.
Im folgenden verzeichne ich die bisherigen Ausgaben
und Uebersetzungen der Sämkhya-Texte sowie die euro-
päischen oder von europäisch gebildeten Indern geschrie-
benen Arbeiten über dieses System; ich übergehe dabei
die Werke allgemeineren Inhalts, in denen die Sämkhya-
Philosophie nur gelegentlich behandelt ist.
Gymnosophista sive Indicae philosophiae documenta
collegit, edidit, enarravit Christianus Lassen. Voluminis I
Fasciculus I, Isvaracrishnae Sankhya-Caricam
tenens. Bonn 1832.
Das Heft i-nthält ausser dem Texte der Kärikä eineu Wort-
iiidex, einen Commentar und eine Uebersetzung in lateinischer
Sprache. Die deutsche Uebersetzung Windischmann 's (Die
Philosophie im Fortgang der Weltgeschichte, Zweites Buch, IIT
S. 1812—1846, Bonn 1834) und die französische Pauthier's
(Essays sur la philosophie des Hindous, Paris 1833) dürfen ohne
Nachtheil heutzutage unberücksichtigt bleiben.
The Sänkhya Kärikä or memorial verses on the
Sänkhya philosophy by I'swarakrishna; translated
from the Sanscrit by Henry Thomas Coleb rooke.
Also the bhäshya or commentary of Gaurapäda; trans-
1) S. Hall, Index 2.
— 80 —
lated, and illustrated by an original comment, by Horace
Ha y man Wilson. Oxford 1837.
Ein Neudruck dieses Werkes ohne den Sanskrittext Bombay
(Theosoph. Publication Fund) 1887.
The Sänkhyakärikä, with an exposition called
Chandrikä by Näräyaua Tirtlia, and Gaudapä-
dächärya's commentary. Edited by Pandit Bechana-
r a m a T r i p ä t h i. (Benares Sanskrit Series No. 9) Benares
1883.
John Davies, Hindu Philosophy. The Sänkhya
Kärikä oflswarakrishna. An exposition of the System
of Kapila. With an appendix on the Nyäya and Vaise-
shika Systems. (Trübner's Oriental Series) London 1881.
Enthält eine Uebersetzuug und Erläuterung der Kärikä.
Tattvakaumudl ^ri -Väcaspatimi9ra- viracitä
Gavarnament [= Government] -samsthäp ita-samskrta-pätha-
9älä - 'dliyaksha - 9riyuta - Bäbu -Rasamayadatta- maho-
dayänäm anujnayä samskrta-yantre mudritä. Calcutta, Sam-
vat 1905 = 1848 a. D.
Sankhyatattwa Koumudi bj^ Bachaspati Misra.
Edited with a commentary by Pundit Taranatha Tar-
kavachaspati. Calcutta 1871.
Dasselbe Werk, edited by Dharmädhikäri
Dhundhiräia Pantasharman. Benares 1873.
• • • ti
Ausserdem giebt es noch eine grössere Benares- Ausgabe dieses
Werkes mit Glossen , deren genauen Titel ich leider nicht an-
geben kann.
Richard Garbe, Der Mondschein der Sämkhya-
Wahrheit, Väcaspatimi9ra's Sänikhy a-tattva-
kaumudi in deutscher Uebersetzung , nebst einer Ein-
leitung über das Alter und die Herkunft der Sämkhya-
Philosophie. (Aus den Abhandlungen der k. bayer. Akademie
der Wiss. I. Cl. XIX. Bd. HI. Abth.) München 1892.
The Aphorisms of the Sankhya Philosophy
of Kapila, with illustrative extracts from the commen-
taries. Book I — VI. Sanskrit and English. Translated
— 81 —
by James R. Ballantyne. Printed for the use of
the Benares College. AUaliabad 1852, 1854, 1856.
Zweite Ausg-abe flieses Werkes in der Bibliotheca
Indica unter dem Titel : The Sänkbya Aphorisms of
Kapila, with extracts from Vijnäna Bhikshu's com-
mentary. Calcutta 1865.
In dieser Ausgabe ist der Sanskrittext der Commentarauszüge
fortgelassen.
Dritte Ausgabe desselben Werkes, von F. E. Hall
besorgt. (Trübner's Oriental Series) London 1885.
The Sänkhya-pravachana-bhäshya,a commen-
tary on the aphorisms of the Hindu atheistic philosophy, by
Vijnäna Bhikshu. Edited by Fitz-Edward Hall.
(Bibl. Ind.) Calcutta 1856.
Die erste Ausgabe dieses Textes, Serampore 1821, und der
Neudruck der Hall'schen Ausgabe durch Jibananda Vidya-
sagara, Calcutta 1872, sind werthlos.
Dasselbe Werk, neu herausgegeben von Richard
Garbe als Vol. II. der Harvard Oriental Series. Boston,
London, Leipzig 1894.
Dasselbe Werk, aus dem Sanskrit übersetzt und
mit Anmerkungen versehen von Richard Garbe. (Ab-
handlungen für die Kunde des Morgenlandes) Leipzig 1889.
The Sämkhya Sütra Vritti or Aniruddha's
commentary and the original parts ofVedäntin Mahä-
d e V a ' s commentary to the Sämkhya S ü t r a s , edited
with indices by R i c h a r d G a r b e. (Bibl. Ind.) Calcutta 1888.
Dasselbe Werk, translated, with an introduction
on the age and origin of the Sämkhya System, by
Richard Garbe. (Bibl. Ind.) Calcutta 1892.
Sänkhya-Sära; a treatise of Sänkhya Philosophy,
by Yijnana Bhikshu. Edited by Fitz -Edward
Hall. (Bibl. Ind.) Calcutta 1862.
üeber die Einleitung zu dieser Ausgabe s. oben S. 25.
Garbe, Sftmkhya-Philosophie. 6
— 82 —
Dasselbe Werk, ins Englische übersetzt von W.
Ward, A view of tbe history, literature, and religioii
of the Hindoos. A new edition, carefully abridged and
greatly improved, London 1822, Vol. IL 121—172.
Nach F. E. Hall, Prcf. p. i")l Ainn., ist diese mir iiiclit zu-
gänglicb gewesene üebersetzung 'with ;ill its imperfeutioiis of
some vaUie'.
Säiiikhya-tattva-pradipa, Text und üebersetzung
von Grovindadeva9ästrin, Pandit IX, p. 43, 44, 68 — 70,
117, 118, 240—242, X, p. 263—266.
Wohl unvollständig, weil mehrere wichtige Bestandthiüle des
Systems hier nicht erörtert sind.
H. T. Colebrooke, On tlie philosophy of the Hindus.
Part. I, On the Sankhya system. Ein Vortrag aus dem
Jahre 1823 in den Transactions of the Royal Asiatic
Society I. 19 — 43; wieder abgedruckt in den Miscellaneous
Essays, by H. T. Colebrooke. A new edition, with notes,
by E. B. Co well. London 1873. Vol. I. 239—279.
Dem Aufsatz ist die Üebersetzung der Samkhyakjirika
beigegeben.
I J. R. B a 1 1 a n t y n e ] , A lecture on the Sankhya
philosophy, embracing the text of the Tattvasamäsa.
Printed for the use of the Benares College. Mirzapore 1850.
Enthält im wesentlichen eine Ausgabe und üebersetzung
des Tattvasamäsa und des Commentars Sa in khy a - k rama -
dipi kä.
J. R. Ballantyne,* On the drift of the Sankhya
philosophy.
Diese Abhandlung kenne ich nur dureli die Notiz Ind. Stud.
I. 478.
Barthelemy Saint-Hilaire, Premier Memoire
sur le Sankhya, in den Memoires de TAcademie des sciences
morales et politiques, Tome VIII (Paris 1852), p. 105—
560. Premiere partie : Bibliographie du Sankhya, p. 107 —
121. Deuxieme partie: Analyse du Sankhya, p. 123 — 36(5
(üebersetzung und Erläuterung der Sämkhyakarika). Troi-
— 8B —
sieme partie: Examen critique du Säiikhya, p. 369 — 488.
Quatrieme partie: histoire du Sänkhya, p. 489 — 523.
Dieses Werk — die umfangreichste unter allen Arbeiten über
das Säinkhya- System — war für seine Zeit, in der die wenigen
damals zugänglichen Quellen ihrem historischen Zusammenhange
nach nicht richtig beurtheilt wurden, entschieden verdienstvoll und
kann auch heute noch mit Nutzen zu Rathe gezogen werden.
Aber die Gedanken sind zu einer wahrhaft unerträglichen Breite
Husgesponnen. Auch bietet die Arbeit nicht sowohl eine objektive
Darstellung der Sanikhya -Philosophie, als Urtheile Barthe-
IcMTiy's Überdieselbe. Für dfcn Verfasser ist alles, was sich nicht
mit dem katholischen Christenthum in Einklang bringen lä.sst, er-
reur, aberration criminelle, deplorable u. s. w. Trotz der grossen
Anerkennung, die er der Sanikhya- Philosophie im Einzelnen
spendet, schliesst er S. 484 mit den Worten: nous la condamnons
sans reserve.
E. R ö 6 r , Lecture on the S ä n k h y a pliilosopliy,
delirered to the members of the Bethune society , oii the
13"^ April, 1854. Calcutta 1854.
Neheniiah Nilakaiitha Sästri Gore, A rational
refiitation of the Hindu philosophical Systems. Translated
from the original Hindi by Fitz-Edward Hall. Cal-
cutta 1862. Section I, Chapter 3 — 5.
Eine allgemeine Darstellung der Sämkhya-Lehren findet
sich S. 43—67.
K. M. Banerjea, Dialogues on the Hindu philosophy,
comprising the Nyaya, the Sankhya, the Vedant.
London-Edinburgh 1861.
Trotz seines rein christlich-apologetischen Charakters enthält
auch dieses Werk viele lehrreiche Auseinandersetzungen. Die
Sanikhya- Anschauungen werden in Dialogue VI luid an zahl-
reichen anderen Stellen besprochen.
F ]•. .J 0 h a e n t g e n , Ueber das Gresetzbuch des M a n u.
Eine philosophisch-litteraturhistorische Studie. Berlin 1 863.
Behandelt im wesentlichen die Beziehungen des Gesetzbuches
zur Sämkhya- Philosophie.
R. G. B h a n d a r k a r , The Sänkhya Philosophy. Bom-
bay 1871.
Diese Arbeit ist mir nur durch ein Citat aus dc^r folgenden
Abhandlung bekannt.
6*
— 84 —
Tb. Goldstücker, Artikel Saiikliya in Cli am-
bers' Encj'clopaedia , wieder abgedruckt in den Literary
Remains. London 1879. Vol. I. 170—176.
The Sarva-darsana-samgraha or review of
the different Systems of Hindu pliilosophy by Madhava
A'c h a r y a. Trauslated by E. B. C o w e 1 1 and A. E. G o u g li
(Trübner's Oriental Series) London 1882. Cbapter XIV.
The Sänkhya-darsana. P. 221—230.
Richard Garbe, Die Theorie der indischen Ratio-
nalisten von den Erkeuntnissmitteln. Berichte der königl.
sächs. Gesellschaft der Wissenschaften. Philologisch-
historische Classe. 1888, S. 1 — 30.
^^
III. Ueber den Zusaiiiineiihang der Siimkliya-
Lehre mit der grieclüsclien Philosophie.
Die Uebereiiistimmungen in den Lehren der indischen
und griechischen Philosophie sind so zaUreich und tief-
gehend, dass sie sogleich hei dem Bekannbverdeu der
indischen Systeme bemerkt wurden.
Am auffallendsten ist die Aehnlichkeit — man Avürde
besser sagten: Gleichheit — der Lehre von dem AU-Einen
in den Upanishad's und bei den Eleaten. Die Lehre
des Xenophanes von der Einheit Gottes und des Welt-
ganzen und von der Ewigkeit und Unveränderlichkeit
dieses Einen, noch mehr aber die des Parmenides, dass
allein dem einheitlichen, ungewordeuen , unzerstörbaren
und allgegenwärtigen Realität zukommt, dass dagegen alles,
was in der Vielheit existirt und der Veränderung unter-
liegt, nur ein Schein ist, dass ferner Sein und Denken
identisch sind, — diese Sätze decken sich vollständig mit
dem wesentlichen Inhalt der Upanishad's und des aus
diesen herausgewachsenen Vedänta- Systems '). Analogien
^) Die Lehren von der illusorischen Natur der empirischen
Welt und von der Identität von Sein und Denken sind noch nicht
in den älteren Upanishad's direkt ausgesprochen, sondern erst
in Werken, die viel jünger sind als Xenophanes und Par-
menides. Aber schon in den ältesten Upanishad's begegnen
uns Ideen, aus denen diese Lehren sich entwickeln mussten; denn
wir finden schon dort die Einheit und Unwandelbarkeit desBrah-
man sowie die Gleichheit des Denkens (mjnäna) und des Brah-
ma n betont. Es würde mithin meines Erachtens kein Grund vor-
liegen, in der Herleitung der Philosophie der Eleaten aus Indien
einen Anachronismus zu sehen.
— 86 —
mit der indischen Gedankenwelt lassen sich jedoch schon
früher, bei den ionischen Naturphilosopheii nachweisen.
Die Anschauung des Thaies, des Vaters der griechischen
Philosophie, dass Alles aus dem Wasser geworden sei,
erinnert uns an die in der vedischen Zeit in Indien sfe-
läufige mythologische Vorstellung von dem Urwasser, aus
dem die ganze Welt hervorgegangen ^).
Auch Grundanschauungen des S am khya- Systems
begegnen uns bei den Naturphilosophen. Wenn A n a x i -
man der als den Grund (ä^x'/) aller Dinge einen ewigen,
unendlichen und unbestimmten Urstoff, das utzeiqov , an-
nimmt, aus dem die bestimmten Stoffe hervorgehen und
in das sie wieder zurücksinken, so liegt die Analogie mit
der Prakrti, der Urmaterie der Sämkhya's, aus der
sich ebenso in eigner Bewegung die materielle Welt
entwickelt, mn sich wieder, wenn ihre Zeit um ist, in die
Urmaterie zurückzubilden , auf der Hand. Ferner bietet
Heraklit, der ,dunkle Ephesier', dessen Lehre freilich
hauptsächlich an iranische Ideen anklingt, in verschiedenen
Hinsichten Parallelen mit Anschauungen der Sämkhya-
Philosophie. Sein ndvra gel ist ein treffender Ausdruck
für den von den Sämkhya's gelehrten unablässigen
Wandel und Wechsel der ganzen Erscheinungswelt, und
seine Lehre von den unzäliligen Weltvernichtungen und
Erneuerungen ist eine der bekanntesten Theorien des
S-ä ni khya- Systems (sysliti-pralayaiL) -).
Von den jüngeren Naturphilosophen kommt für uns
zunächst Empedokles in Betracht, dessen Seelen wan-
derungs- und Entwickelungstheorie sich mit den ent-
sprechenden Anschauungen der Sämkhya- Philosophie
vergleichen lässt. Hauptsächlich aber stimmt seine Lehre,
dass nichts entstehen könne, das nicht schon vorher war,
') S. oben S. 11.
-) Weitere Analogien zwischen der Philosophie Heraklit's
und den Sän.ikya- Lehren glaubte Colebrooke, Älisc. Ess. "^
I. 437 zu entdecken.
— 87 —
und dass niclits existirendes vergehen könne, mit einer
charakteristischen Sämkhya -Theorie überein, der Lehre
von der anfangs- und endlosen Reahtät der Produkte (sai-
kdrya-väda). In ähnlicher Weise lässt sich auch der Dua-
hsnius des Anaxagoras mit dem der Särakhya-
Philosophie in Verbindung bringen. Ja selbst Demokrit
erinnert trotz seiner Atomistik ^) in den — allerdings
wohl auf Empedokles zurückgehenden — Grundsätzen
seiner Metaphysik ,Aus nichts wird nichts ; -) nichts , was
ist, kann vernichtet werden' an die fast wörtlich so im
Sämkhya ausgesprochenen Lehrsätze. Desgleichen stimmt
seine Auffassung der Götter, die für ihn nicht unsterblich
sind, sondern nur glückhcher und langlebiger als die
Menschen, völlig mit der Stellung überein, die den Göttern
im Sämkhya- System und überhaupt in Lidien an-
gewiesen wird ; denn die Götter unterliegen nach indischer
Anschauung ebenso wie die irdischen Wesen der Metem-
psychose und müssen, wenn die nachwirkende Kraft
früher erworbenen Verdienstes erschöpft ist, wieder ab-
wärts steigen •').
Dass dann auch bei Epikur die gleichen Ideen uns
begegnen, ist durch seine Abhängigkeit von Demokrit
bedingt. Aber Epikur hat auch noch über andre Dinge
Ansichten aufgestellt, die sowohl als solche wie in ihrer
Begründung merkwürdige Uebereinstimmungen mit S ä in -
khya-Lehren aufweisen. Wenn Epikur die Welt-
regierung durch einen Gott leugnet, weü bei einer solchen
1) Die unter keinen Umständen aus Indien hergeleitet werden
darf, da die indischen atomistischen .Systeme (Vaiceshika und
Nyäya) zweifellos viel jünger sind als das Zeitalter des Leukipp
und Demokrit.
■^1 Vgl. Sainkhyasütra I. 78.
•") „Solche Worte wie Indra u. s. w. bedeuten, ähnlich wie
„z. B. das Wort ,General', nur das Innehaben eines bestimmten
„Postens. Wer also gerade den betreffenden Posten bekleidet, der
„führt den Titel Indra u. s. w." ^amkara zu dem Brahma-
siitra I. 3. 28 nach Deussen's Uebersetzung.
- 88 —
Annahme der Gottheit Eigenschaften und Thätigkeiteu
zugeschrieben würden, die mit dem Begriffe der göttlichen
Natur unvereinbar seien, so spricht er aus, was dieSäni-
khya -Lehrer nicht müde werden eindringlich zu wiedei-
holen. Auch die bei ihm beliebte Beweisfbrmel „dann
könnte ja aus allem alles entstehen" *) finden wir mehrfach
in den Werken der Sämkhya-Philosophie.
Ob nun die hier aufgeführten und andere Ideen der
griecliischen Philosophie wirklich auf einer Beeinflussung
von Seiten der indischen Gedankenwelt beruhen oder ob
sie, weil in der Natur des menschlichen Denkens begründet,
in Indien und in Griechenland selbständig von einander
entstanden sind, das ist eine Frage, welche die vorsichtigste
Behandlung erfordert. Ich bekenne, dass ich mich der
ersten Seite dieser Alternative zuneige, möchte mir aber
kein apodiktisches Urtheil erlauben. Das Werk Ed. Röth's
(Geschichte unsrer abendländischen Philosojihie * 1846 ,
- 1862), die zahkeichen Arbeiten von Aug. Gladisch und
die Schrift C. B. Schlüter 's (Aristoteles' Metaphysik
eine Tochter der Sämkhya- Lehre desKapila, 1874)-)
1) Vgl. Lange, Geschichte des Materialismus ^ Tl. 46.
^) Vgl. auch die Abhandlung des Baron v. Eckstein ,Ueber
die Grundlagen der Indischen Philosophie und deren Zusammen-
hang mit den Philosophemen der westlichen Völker' Ind. Stud.
II. 369 — 388. — In noch früherer Zeit behandelte man solelic
Fragen mit einer erstaunlichen Kühnheit. Sir William Jones
(Works, 4to ed. 1799, I. 360, 361) erblickte mit der ihm eigenen
Leichtigkeit der Auffassung folgende Analogien: "Of the Philo-
"sophical Schools it will be sufficient, here, to remark that the
"first Nyäya seems analogous to the Peripatetic ; the second, some-
"times called Vaisesliika, to the lonic; the two Mimänsäs, of which
"the second is often distinguished by the name of Vedänta, to the
"Piatonic; the first Sänkhya, to the Italic; and the second, or
"Pätanjala, to the Stoic philosophy: so that Gautama corresponds
"with Aristotle; Kanada, with Thaies; Jaimini, with Socrates;
"Vyäsa, with Plato; Kapila, with Pythagoras; and Patanjali, with
"Zeno. But ;ui accurate comparison between the Grecian and
"Indian Schools would require a considerable volume." Aus Hall,
Pref. j). 5 Anm.
— 89 —
scliiessen mit ihrer Ueberscliätzung des orientalisclieri Ein-
flusses und ihren phantastischen Combinationen jedenfalls
über das Ziel hinaus, beruhen auch auf einer völlig un-
genügenden Kenntniss der orientalischen Quellen. Trotz-
dem scheint mir in diesen Werken ein Kern Wahrheit
zu stecken, der aber schwerlich je mit wissenschaftlicher
Genauigkeit herauszulösen sein wird. Die historische
Möglichkeit eines indischen, durch Persien vermittelten
Einflusses auf die griechische Gedankenwelt und damit
einer Uebertragung der eben erwähnten Ideen aus Indien
ist unbedingt zuzugeben. Die Verbindungen der klein-
asiatischen lonier mit den östlicheren Ländern waren in
den Zeiten, um die es sich hier handelt, so mannigfaltig
und zahlreich, dass es an Gelegenheit zum Gedankenaus-
tausch zwischen Griechen und in Persien weilenden Indern
nicht gefehlt haben kann '). Dazu kommt, dass von den
meisten der hier in Betracht kommenden griechischen
Philosophen, von Thaies, Empedokles, Anaxagoras,
Demokrit und anderen, ausdrücklich berichtet ist, dass
sie — zum Theil lange — Reisen nach orientalischen
Ländern unternommen hätten, um dort philosophische Studien
zu machen. Die Wahrscheinlichkeit, dass sich jene grie-
chischen Philosophen indische Ideen auf persischem Boden
') Ich freue mich iii ücbcrweg's Grundriss der Geschichte
der Philosophie, bearbeitet und herausgegeben von Hcinze, ® I. 36
den folgenden Satz zu finden: „Weit eher könnte ein wesentlicher
„orientalischer Einfluss in der Form einer direkten Berührung der
„älteren griechischen Philosophen mit orientalischen Völkern nii-
„genommen werden." Die auf derselben Seite ausgesprochene
Ansicht, dass eine volle und gesicherte Lösung dieses Problems
von dem Fortgang der orientalischen Forschungen gehofft werden
darf, vermag ich leider nicht zu theilen, weil auch bei der ge-
nauesten Bekanntschaft mit den orientalischen Systemen und
Religionen die von mir oben S. 88 erwähnte Alternative bestehen
bleibt, und weil uns — mit einer einzigen, gleich näher zu be-
sprechenden Ausnahme — die Mittel zu einer scharfen Umgrenzung
des fremden Einflusses auf die ältere griechische Philosophie fehlen.
— 90 —
angeeignet haben, wird siclierlich durch diese Nachrichten
erhöht. Jedenfalls aber haben sie es, wenn sie fi'emde Ge-
danken entlehnten, verstanden denselben das Gepi'äge
griechischen Geistes aufzudrücken.
Ich habe bisher absichtlich einen Namen bei Seite
gelassen, der enger mit dieser ganzen Frage verknüpft ist
als irgend einer der bisher genannten. Während ich bei
den griechischen Naturphilosophen, bei den Eleaten und
bei Epikur nicht über die Annahme einer gewissen
Wahrscheinlichkeit der Anlehnung an indische Ideen hin-
auskomme, scheint mir die völlige Abhängigkeit des Pytha-
goras, dessen Lelu'en ja auch in Griechenland als etwas
fremdartiges empfunden wurden, von indischer Philosophie
und Wissenschaft gesichert zu sein. Auf die Analogien
zwischen dem S ä m k h y a - System und der Pythagoreischen
Philosoijhie hat zuerst Sir William Jones, Works,
8vo ed., IIl. 236 ') hingewiesen, indem er an den von dem
Worte samkhyä ,Zahl' abgeleiteten Namen des indischen
Systems und an die fundamentale Bedeutung der Zahl bei
P y t h a g o r a s anknüpfte. Dann hat Coleb rooke, Mise.
Ess. 2 1. 436, 437, den Gedanken, dass pythagoreische Lehren
aus Indien stammen könnten, mit grösserer Entschiedenheit
ausgesprochen: " . . . . adverting to Avhat has come to us
"of the history of Pythagoras, I shall not hesitate to
"acknowledge an inclination to consider the Grecian to
"have been .... indebted to Indian instructors." Diese
Ansicht begründet Coleb rooke weiterhin, a. a. 0. 441 ff.,
mit den folgenden Worten, die mir beachtensAverth genug
erscheinen um sie hier anzuführen:
"It may be here remarked by the way, that the Py-
"thagoreans, and Ocellus in particular, distingaish
•'as parts of the world, the heaven, the earth, and the
"interval betweeii them , which they term lofty and
"aerial .... Here we have precisely the heaven, earth,
"and (transpicuous) intermediate region of the Hindus.
1) S. Colebrooke, Mise. Ess.- I. 241.
— 91 —
"Pythagoras, as affcer him Ocellus, peoples tlie
"'middle or aerial regioii witli demons, as lieaveii with
"gods, and the earth with men. Here again they agree
"precisely with the Hindus, who place the gods above,
•'man beneath, and spiritual creatures, flitting unseen, in
"the intermediate region ....
"Nobody needs to be reminded, that Pythagoras
''and his successors held the doctrine of metempsychosis, as
•'the Hindus universally do the same tenet of transinigration
•'of souls.
"They agree likewise generally in distinguishing the
"sensitive, material organ (manas), from the rational and
•'conscious living soul (ßväfman) : x}-vu6g and <fQ)ji' of
"Pythagoras; one perishing with the body, the other
"immortal.
„Like the Hindus, Pythagoras, with other Greek
"philosophers, assigned a subtle etherial clothing to the
"soul apart from the corporeal part, and a grosser clothing
•'to it when united with body; the silhshna for Imga)
'•^sarira and sthiila sarira of the Sänkhyas and the
"rest .... I should be disposed to conclude that the
"Indians were in this instance teachers rather than learners. "
Wilson (Quarterly Oriental Magazine IV. 11, 12 und
Sänkhya Karikä p. XI) streift diese von Jones und
Coleb rooke hervorgehobenen Analogien nur im Vorbei-
gehen. Etwas eingehender wird ein einzelner Punkt be-
handelt von Barthelemy Saint-Hilaire, der in seinem
Premier Memoire sur le Sänkhya S, 512, 513, 521, 522
die Seelenwanderungstheorie bei Pythagoras bespricht
und mit Recht bemerkt, dass die Wahrscheinlichkeit für
deren indische Herkunft grösser ist, als für ihre egyp-
tische. Barthelemy findet ferner Sämkhy a-Ideen bei
Plato, im Phädon, Phädrus, Timaeus und in der
Republik: „les analogies sont assez nombreuses et assez
"profondes pour qu'il soit impossible de les regarder comme
•'accidentelles" (S. 514). Er wei-st darauf hin, dass die Be-
oriffe 'Erlösung:' und 'Gebundensein' bei Plato und in
— 92 —
tler S a m k h y a - Philosopliie übereinstimmen, insofern sie
die Befreiung der Seele von der Materie und das Gefesselt-
sein der Seele an die Materie bezeichnen , und dass die
Idee der Metempsychose soAvie die der anfangs- und end-
losen Existenz der Seele beiden gemeinsam ist. Auf S. 521
erklärt Barthelemy dann, dass Plato, der grosse Be-
wunderer der pythagoreischen Schule, diese seine Lehren
von Pythagoras entlehnt habe; wenn man aber frage,
woher Pythagoras dieselben habe, so wiesen uns die
Anzeichen nach Indien. In weit gründlicherer und um-
fassenderer Art hat — anscheinend ohne seine Vorgänger
zu kennen ^) — L. v. S c h r o e d e r diese Frage behandelt
in seiner Schrift 'Pythagoras und die Inder (Leipzig 1884),
die mir in den Hauptsachen trotz Weber 's gegentheiliger
Ansicht -) durchaus das richtige getroffen zu haben scheint.
Aus Schroeder's Zusammenstellungen geht hervor, dass
fast sämmtliche Pythagoras zugeschriebenen Lehren,
die philosophisch-religiösen sowolil wie die mathematischen,
in Indien bereits im sechsten Jahrhundert vor Chr. und
früher geläufig waren. Da nun die wichtigsten dieser
Lehren bei Pythagoras unvermittelt und ohne eine er-
klärende Vorgeschichte auftreten, während sie in Indien
aus dem geistigen Leben jener Zeiten heraus verständlich
werden, zieht Schroeder mit Recht den Schluss, dass
Indien das Heimatliland der pythogoreischen Lehren ist.
^) Aus Lucian Scherman's Materialien zur Geschichte der
Indischen Visionsliteratur S. 26 Anm. 1 ersehe ich, dass die Ver-
muthung, Pythagoras habe seine Lehre von der Seelenwanderung
aus Indien herübergenommen, in älteren Werken noch öfter
geäussert ist. Scherman verweist auf F. v. Schlegel, Ueber
die Sprache und Weisheit der Indier p. 1 11 tF., C h e z y in S c h 1 e g e F s
Ind. Bibliothek I. p. 261, Dubois, Moeurs, institutions et cere-
monies des peuples de l'Inde II. p. 312 ff., Upham, The history
and doctrine of Buddhism, popularly illustrated p. 27 ff., Coli in
de Plancy, Dictionnaire Infernal I. p. 86.
■-) Im Literarischen Centralblatt 1884, S. 1563—65. Vgl. auch
„die Griechen in Indien", Sitzungsberichte der Kgl. Preassischen
Akademie der Wissenschaften zu Berlin, XXXVII, S. 923—926.
— 93 —
Einzelne Ueberein Stimmungen würden natürlich keine
zwingende Beweiskraft haben — und deshalb habe ich
auch nicht gewagt, mich bei den andern vorher bespro-
chenen Philosophen für ihre Abhängigkeit von Indien mit
Bestimmtheit zu erklären — ; aber bei Pythagoras
wirkt die M a s s e ; und um so mehr, als es sich bei diesen
Uebereinstimmungen zum Theil um geringfügige und
wunderliche Dinge handelt, bei denen man nicht gut an-
nehmen kann, dass sie unabhängig an zwei verschiedenen
Orten aufgetreten seien. Ich muss hier auf die eingehende
Arsfumentation in Schroeder's Schrift verweisen und
kann nur die hauptsächlichsten Punkte herausheben, die
Pythagoras und den alten Indern gemeinsam sind:
die Theorie der Seelenwanderung, die selbst in bemerkens-
werthen Einzelheiten hüben und drüben übereinstimmt
und von Pythagoras nicht aus Egypten entlehnt sein
kann aus dem einfachen Grunde, Aveü uns die Egyptologie
lehrt, dass trotz der bekannten Herodot- Stelle die alten
Egypter den Glauben an die Seelenwanderang nicht ge-
kannt haben; das merkwürdige Verbot des Bohnenessens;
das TTQoq i'/hov tEtoauLÜvov fii] bitiyüv; die Lehre von
den fünf Elementen 1); dann vor allen Dingen der in den
Culvasütra's-) entwickelte sogenannte pythagoreische
1) D. h. die in der pythagoreischen Schule ebenso wie allgemein
in Indien herrschende Annahme des Aethers als des fünften Elements.
Sehroeder sagt S. 65 Anm. 2: „Sollte am Ende gar in der ....
„Stelle des Philolaus [bei Zeller, die Philosophie der Griechen
„I-* 876 Anm. 3J in dem seltsamen olttas als Bezeichnung des
„fünften Elementes, das schon so viele Conjekturen, aber keine
„befriedigende hervorgerufen hat, sich eine Verstümmelung der
„indischen Bezeichnung des Aethers, d. i. dkäca, erhalten haben ? !"•
Es ist das eine Vermuthung, die durchaus nicht von der Hand zu
weisen ist.
- W e b e r ' s Polemik gegen Schroeder's Schrift basirt haupt-
sächlich auf einer ünterschätzung des Alters der gulvasütra's,
deren Messungen auf dem Opferplatze zu der Entdeckung des be-
rühmten Lehrsatzes geführt haben. Die Qulvasütra's sind nicht
— 94 —
Lehrsatz; die irrationale Zahl Y'ö; ferner der ganze Cha-
rakter des von Pythagoras gestifteten religiös-philoso-
phischen Bundes, der den indischen Orden jener Zeit
analog ist, sowie die der pythagoreischen Schule eigene
mystische Spekulation, die eine überraschende Aehnlichkeit
mit den in der Brahma na- Literatur beliebten phantas-
tischen Combinationen hat.
Schroeder führt noch ein paar weitere Analogien
an, die von geringerer Bedeutung und zweifelhafter Natur
sind; und schliesslich hat er in folgenden zwei Punkten
ohne Zweifel fehlgegriffen. Er ist nämlich der Ansicht,
dass Pythagoras in Indien selbst seine Kenntnisse er-
worben habe, — ein Gedanke, den die Geschichte der
ältesten Verkehrs Verbindungen einfach ausschliesst'). Das
einzige Land, in dem Pythagoras seine indischen Lehrer
angetroffen haben kann, ist Persien, dem ich schon oben
die eventuelle Vermittelung indischer Ideen an die grie-
chischen Naturphilosophen und an die Eleaten glal^bte zu-
schreiben zu müssen. Der andere Punkt, um dessentAvillen
die Frage nach der Herkunft der pythagoreischen Lehren
hier erörtert werden musste, betriffb den von Schroeder
angenommenen Zusammenhang dieser Lehren mit der
Sämkhya- Philosophie. Die Metempsychose und die ftinf
Elemente mag Pythagoras von Anhängern dieses Systems
kennen gelernt haben; aber weitergehende Beziehungen
sind nicht zu entdecken. Schroeder sucht-) S. 72—71)
die Grundanschauung der pythagoreischen Philosophie,
'dass die Zahl das Wesen aller Dinge sei', mit einer älteren
Anhängsel zu den Qrautasiitra's, sondern intogrirende Bestand-
theile der grossen, je von einem Verfasser herrührenden Ritiuil-
complexe, und das in den Qulvasütra's gebotene Material ist
natürlich noch Aveit älter als die Lehrbücher selbst.
^) Die griechische Tradition, dass Pythagoras Indien bi'-
sueht habe, ist erst in der alexandrinischen Zeit entstanden; vgl.
Lassen, Indische Alterthumskunde III. .379.
2) Wie vor ihm Sir William Jones; s. oben S. 90.
— 95 —
(von ihm fingirten) Form der S am khya- Philosophie m
Verbindung zu bringen. Er sagt S. 74: „Mir scheint es
„aus dem Namen sämhhya deutlich hervorzugehen, dass
„in diesem System die Zahl (samhJiyd) ursprünglich eine
„entscheidende, grundlegende Bedeutung hatte, wenn auch
„das spätere System, dessen bezügliche Lehrbücher mehr
„als ein Jahrtausend jünger sind als die vorbuddhistische
„Särnkliya lehre des Kapila, diesen Charakterzug voll-
„ ständig verloren und verwischt hat. " Dabei hat Schroeder
übersehen, dass die nur ein paar Jahrhunderte später als
Buddha anzusetzenden Upanishad's, die voll von
Samkhya- Lehren sind, an den in Betracht kommenden
Stellen ebenso wenig diesen angeblich ursprünglichen
Charakterzug aufweisen, sondern mit dem von ihm als das
,spätere' bezeichneten System übereinstimmen. Schroeder
selbst nennt seine Combination eine sehr kühne, aber in
der That ist sie vollständig grundlos; denn wir besitzen
nicht den entferntesten Anhaltspunkt für die Annahme,
dass es einmal ein anderes Samkhya -System als das in
unsern Quellen vorliegende und nach der sonderbaren in
ihm herrschenden Aufzähluugssucht benannte gegeben hat.
Im Gegentheil, triftige Gründe sprechen dagegen, dass
unser System im Laufe der Zeit nennenswerthe Abände-
rungen erfahren habe. So abgerundet und bis in alle
Einzelheiten logisch zusammenhängend, wie uns die Sam-
khya- Lehre entgegentritt, kann sie nur in einem Kopfe
entstanden sein; und das ganze System fällt zusammen,
sobald wir uns ein wichtigeres Glied desselben anders oder
fehlend denken. — Wenn man die pythagoreische Zahl-
Philosophie in einen historischen Zusammenhang mit dem
Samkhya- System bringen will, so könnte man höchstens
auf folgenden Gedanken kommen. Die Lehre des P y t h a-
goras, dass die Zalil das Wesen der Dinge sei, dass man
die Elemente der Zahlen als die Elemente alles Seienden
zu betrachten habe und dass die ganze Welt Harmonie
und Zahl sei, steht 'in der Geschichte des menschlichen
Denkens vereinzelt da und dürfte ein unphilosophischei-
- 96 -
Gedanke sein, wenn etwas anderes in ihm liegen sollte,
als dass alles existirende von dem mathematischen Gesetz
heheiTscht wird. Es erscheint mir deshalb nicht «"anz
unmöglich, dass dieser Gedanke aus einem Missverständniss
des Pythagoras entstanden ist, der die Worte seines
indischen Lehrers, die Sämkhya- Philosophie trage ihren
Namen nach der Aufzählung der materiellen Principien,
irrthümlich so aufgefasst haben kann, dass in der Säm-
khya - Philosophie die Zahl für das Wesen der materiellen
Principien gelte. Doch ist dies natürlich nichts weiter
als eine Vermuthung.
Lassen bestreitet in seiner Indischen Alterthums-
kunde jeden indischen Einfluss auf die griechische Philo-
sophie in vorchristlicher Zeit, nimmt dagegen 111. 379 ff.
einen solchen für die christliche Gnosis und den N e u -
p 1 a t o n i s m US an. Da uns aus dieser Zeit rege Beziehungen
zwischen Alexan dria und Lidien zur Genüge beglaubigt
sind, so ist allerdings an dem indischen Einfluss auf die
Lehren der Gnostiker und Neupiatoni ker nicht zu
zweifeln. Verweilen wir zunächst bei den Gnostikern.
Lassen ist der Meinung, dass die indischen Elemente in
den Systemen derselben aus dem Buddhismus stammen,
der (in seiner damahgen, unursprünglichen Form) einen
unbestreitbaren Einfluss auf das geistige Leben AI ex an -
dria's ausgeübt hat. Am deutlichsten erscheint dieser
Einfluss bei den Vorstellungen der Gnostiker von den
zahlreichen Geisterwelten und Himaneln, die aus der Kos-
mogonie des späteren Buddhismus abgeleitet sind. Aber ich
glaube nicht, dass bei der Ausbildung der gnostischen
Systeme der Buddhismus in dem Umfange betheiligt ge-
wesen ist, wie Lassen annimmt; denn meines Erachtens
kommt bei L a s s e n die S am k h y a-Philosophie nicht ganz
zu ihrem Rechte. Wenn Avir uns gegenwärtig halten, dass
die Jahrhunderte, in denen der Gnosticismus sich entwickelte,
— d. h. das zweite und dritte Jhdt. n. Chr. — zusammen-
fallen mit der Blüthezeit des Sämkhya- Systems in Indien,
so Averden uns manche Dinge in anderem Lichte erscheinen.
— 97 —
als sie Lassen erschienen sind '). Lassen bringt S. 385
den bei den Gnostikern erscheinenden Gegensatz zwischen
Geist und Materie in Zusammenhang mit buddhistischen
Lehren, während es doch viel näher läge hier an die An-
schauung zu denken, die das Fundament der Sämkhya-
Philosophie bildet. Ein anderer Punkt, der hierher gehört,
betrifft die bei den meisten Gnostikern sich findende Iden-
tificirung von Geist und Licht -). Hierüber bemerkt Lassen
S. 385 folgendes: „Es unterscheidet zwar im Allgemeinen
,,die buddhistische Religionsphilosophie scharf Geist und
, Licht und betrachtet das letztere nicht als immateriell;
,es findet sich jedoch auch bei ihnen eine Ansicht vom
Licht, welche der gnostischen verwandt ist. Das Licht ist
,nach ihr das Vehikel der Erscheinungen in der Materie;
, die von Licht umhüllte Intelligenz kommt mit der Materie
,in Verbindung, in welcher der Lichtstoff sich vermindern
,und ganz verdunkeln kann, wo dann die Intelligenz zu-
, letzt cranz in ßewusstlosigkeit versinkt. Von der höchsten
, Intelligenz wird au.sgesagt, dass sie weder Licht noch
, Nichtlicht, weder Finsterniss noch Nichtfinsterniss sei,
.denn alles dieses deutet auf Beziehungen der Intelligenz
.zum Lichte hin, welches zwar vom Anfange an frei von
„diesen Beziehungen ist, jedoch nachher die Intelligenz
, einschliesst und ihre Verbindung mit der Materie vermittelt.
,Aus dieser Stelle folgt, dass der höchsten Intelligenz nach
,der buddhistischen Ansicht die Fähigkeit beigelegt wird,
Licht aus sich zu entwickeln, so dass auch in dieser
, Hinsicht eine Uebereinstimmung des Buddhismus mit dem
Gnosticismus vorliegt."
1) Andererseits kann ich nicht in der Lehre der Valentinianer
von der Entstehung der Materie die von Lassen 'S. 400, 401 ge-
fundenen Aehnlichkeiten mit der Sämkhya- Philosophie entdecken;
auch die auf den folgenden Seiten zusammengestellten Ueberein-
stimmungen unseres Systems mit dem der Ophiten erscheinen
mir sehr zweifelhaft.
■-) Schon Aristoteles hat übrigens den Geist mit dem Licht
verglichen.
Garbe, Sämkhya-Philosophie. 7
— 98 —
Hier hat Lassen entlegene und ganz vereinzelte
Spekulationen aus dem wirren Vorstellungskreis des späteren
Buddhismus herangezogen, um den buddhistischen Einfluss
auf die eben angeführte Lehre der Gnostiker von der
Identität des Geistes und des Lichtes glaubhaft zu machen.
Gelungen scheint mir dieser Versuch nicht zu sein. Wie
unendlich viel einfacher und natürlicher erscheint die Com-
bination, die sich uns hier bei einem Blick auf die Säm-
k h y a - Philosophie darbietet! Denn diese lehrt — was
Lassen jedenfalls nicht bekannt war — , dass derGeist
Licht (prakaQa) s e i ^) , womit gemeint ist , dass er die
mechanischen Vorgänge der inneren Organe erleuchtet,
d. h. zum Bewusstsein bringt. Diese Vorstellung der S ä m -
khya's, dass Denken und Licht dasselbe seien — mit
anderen Worten : dass der Geist aus Licht bestehe — , haben
wir zweifellos als die Quelle der gleichen Anschauung bei
den Gnostikern anzusehn.
In einer andern Hinsicht hat Lassen (S. 384, 398 ff.)
den Einfluss des S ä m k h y a - Systems auf den Gnosticismus
richtig betont. Schon Ferd. Chr. Baur (die christliche
Gnosis S. 54, 158 ff.) hatte die merkwürdige Ueberein-
stimmung der mehreren Gnostikern eigenthümlichen Ein-
theilung der Menschen in die drei Klassen der nvevfiartxoi,
\pv)(^LXoi und vhxoi mit der S am khya- Lehre von den
drei G u n a ' s bemerkt. Ueber diese Theorie wird eingehend
im dritten Abschnitt (L 3) gehandelt werden ; hier sei nur
^) Vgl. Sämkhyasutra I. 145: ^[Der Geist] ist Licht, weil die
„Begriffe des ungeistigen und des Lichtes sich ausschliessen" und
VL 50 : „das aus Denken bestehende , von dem unbeseelten ver-
„schiedene erleuchtet das unbeseelte". Vijriänabhikshu bemerkt
zu der ersten Stelle : „Der Geist ist seinem Wesen nach Licht wie
„die Sonne und die anderen Gestirne", und zu der zweiten mit
einem Mangel an Consequenz: „An dem Geiste haftet das Licht
,, nicht als Eigenschaft , wie an der Sonne u. s. w. , sondern [der
„Geist ist] ein aus [Licht = ] Denken bestehendes, d. h. seinem
„Wesen nach Denken seiendes Ding, [und] erleuchtet [als solches]
„das unbeseelte."
— 99 —
so viel bemerkt, dass die S ä m k h y a - Philosophie die Indi-
viduen als in die Sphäre einer dieser drei Potenzen gehörig
betrachtet, je nachdem in ihnen das lichthaft-friedlich-freudige
oder das leidenschaftlich-thätig-schmerzhafte oder das dunkel-
unbeweglich-stumpfe Element überwiegt.
Noch eine weitere interessante Parallele finde ich bei
F. E. Hall, 'a rational reftitation of the Hindu philoso-
phical Systems, by NehemiahNilakaiitha, translated
etc.' S. 84 erwähnt. Hall weist nämlich darauf hin, dass
die S ä m k h y a - Doktrin von der Selbständigkeit der Buddhi,
des Ahamkära und des Manas, d. h. der Substrate der
psychischen Vorgänge, ein Analogon in der Lehre der
Crnostiker habe, der zufolge dem Intellekt, dem Willen u. s. w.
persönliche Existenz zukomme. Ich bin überzeugt, dass
bei einem eingehenden Studium der gnostischen Systeme
Kenner der Sänikhya- Philosophie noch mehrere derartige
Berührungspunkte auffinden würden.
Was nun den Neuplatonismus betrifft, so hat
.schon Lassen S. 417 ff. den Einfluss der Sämkhya-
Philosophie auf denselben in vollem Umfange gewürdigt.
Die Anschauungen PI o t i n ' s , (204—269), des bedeutendsten
Neupiaton ikers, decken sich zum Theil vollständig mit
Sämkhya- Lehren. Hierher gehören die Sätze, dass die
Seele von Leiden und Alterationen frei sei, dass sie von
allem derartigen nicht berührt werde, dass vielmehr das
Leiden der Welt der Materie angehöre. TJeberraschend ist,
dass PI ot in nicht nur, wie die Sämkhya -Philosophie, die
Seele dem Lichte gleicksetzt, sondern auch bei der Er-
klärung der bewussten Erkenntniss das andere in den
Sämkhya- Schriften ebenso übliche Gleichniss von dem
Spiegel gebraucht, in dem die Bilder der Objekte erscheinen ^).
Plotin verspricht, durch seine Philosophie die Menschen
1) S. Georg Biedenkapp 's Doktordissertation „Beiträge zu
den Problemen des Selbstbewusstseins, der Willensfreiheit und der
Geselzmässigkeit des Geistes, teilweise mit Bezug auf die Philo-
sophie der Inder" (Halle a/S. 1893) S. 15, 16.
7*
- 100 —
von ilirem Elend zu befreien, und stellt damit dasselbe
Ziel in Aussicht wie das Sämkhya- System, das den
Menschen zur unterscheidenden Erkenntniss und damit zur
Erlösung, d. h. zur absoluten Schmerzlosigkeit führen will.
Zwar haben sich alle brahmanischen Systeme die Aufgabe
gestellt, den Menschen durch Erweckung einer bestimmten
Erkenntniss von den Leiden weltlichen Daseins zu erlösen ;
aber in keinem ist der Grundsatz, dass dieses Leben ein
Leben der Schmerzen sei, nur annähernd so sehr betont,
wie im Sämkhya -System; in keinem andern ist der
Begriff Erlösung mit gleicher Entschiedenheit als „das
absolute Aufhören des Schmerzes" definirt.
Den Ausspruch Plotin's, dass der Mensch auch im
Schlafe glücklich sein könne, weil die Seele nicht schlafe,
bringt Lassen S. 428 mit einer vedantistischen Anschauung
in Zusammenhang. Aber es liegt dazu keine Nöthigung
vor; denn die Lehre, dass der tiefe, traumlose Schlaf mit
(der Versenkung und) der Erlösung insofern gleichartig
sei, als die Seele in allen drei Zuständen in ihrem eignen
Wesen ruhe, da dann die Affektionen des inneren Organs
und mithin die Schmerzen geschwunden seien, gehört
ebenso dem Sämkhya- System an ^) ; wir werden also in
Anbetracht der in so vielen Punkten sich zeigenden Ab-
hängigkeit Plotin's von der S ä m k h y a - Philosophie kein
Bedenken zu tragen brauchen, auch diesen Gedanken aus
der gleichen Quelle abzuleiten. Freilich haben wir uns
bei so zahlreichen Uebereinstimmungen doppelt zu hüten,
dass wir die Grenzen dieser Abhängigkeit nicht zu weit
stecken, und ich glaube deshalb bemerken zu müssen, dass
die von Lassen S. 418 ff. zwischen der Emanationslehre
Plotin's und der Entwickelungstheorie des Sämkhya-
Systems gezogenen Parallelen mir sehr bedenklich und
kaum in den Kreis der hier behandelten LTeberein Stimmungen
gehörig erscheinen.
1) S. Sämkhyasütra V. 116.
— 101 —
Noch enger als mit der reinen Sämkhya- Lehre ist
der Zusammenhang von Plotin's Philosophie mit dem
im theistischen und asketischen Sinne ausgestalteten Zweige
des Sämkhya -Systems, der unter dem Namen der Yoga-
Philosopliie sich eine selbständige Stellung in der Reihe
der brahmanischen Systeme errungen hat. Plotin's Moral
ist durchaus asketischer Natur, und wenn auch dieser Zug
durch Anlehnung an den Stoicismus erklärt werden könnte,
so ist er doch wolil wegen des Zusammenhangs mit den
folgenden Punkten direkt auf den Einfluss des Yoga-
Systems zurückzuführen. Plotin erklärt alle weltlichen
Dinge für nichtig und werthlos und verlangt deshalb, dass
man sich dem Einfluss der Sinnenwelt entziehe. Wenn
man alle äusseren Eindrücke von sich fernhält und die
auf diesen beruhende Mannigfaltigkeit der Ideen durch
Concentration des Denkens überwindet, so tritt nach ihm
die höchste Erkenntniss in der Form eines plötzlichen
ekstatischen Erschauens Gottes ein. Zwischen dieser Theorie
und den Lehren der Y o g a - Philosophie besteht nicht die
geringste Verschiedenheit; die 'ixaraOLg oder änlojöig (das
Einswerden mit dem Göttlichen) bei Plotin ist die pra-
tiblid oder das pi-ätibliam jnänam des Yoga- Systems (die
durch methodische Uebung der asketischen Yoga-PraxLs
plötzlich erreichte unmittelbare, universelle Erkenntniss der
Wahi-heit) ').
Neben Plotin kommt hier für uns hauptsäcliHch
dessen bedeutendster Schüler Porphyr ins (232 — 304) in
Betracht -), der sich in noch höherem Grade als sein Lehrer
an die S ä m k h y a - Philosophie angeschlossen hat. Bei
Porphyr ins ist uns der indische Einfluss auch äusserlich
dadurch beglaubigt, dass er die Schrift des Bardesanes
benutzt und aus dieser eine wichtige SteUe über die Brah-
manen herausgeschrieben hat. Bardesanes aber hatte
authentische Nachrichten über Indien von den indischen
1) S. Yogasütra III. 33.
2) Vgl. Lassen S. 430 ff.
— 102 —
Gesandten, die an deTi Kaiser Antoninus Pius geschickt
waren, erhalten. In den Hauptsachen, auch in der Forderung
der Sinnenwelt zu entsagen und durch Contemplation der
Wahrheit zuzustreben, stimmt Porphyrius mit Plotin
überein; aber er giebt reiner als dieser die Sämkhya-
Lehre von dem Gegensatze, der zwischen dem Geistigen
und Materiellen besteht, wieder; desgleichen zeigt sich
seine Anlehnung an die S ä rn k h y a - Philosopliie in den
Lehren von der Herrschaft des Geistigen über das Materielle,
von der Allgegenwart der von der Materie befreiten Seele
und von der Anfangslosigkeit der Welt ^). Ebenso gehört
hierher das Verbot des Porphyrius Thiere zu tödten
und seine Verwerfung der Opfer. Lassen meint zwar
S. 432, dass Porphyrius dabei das buddhistische Gesetz
vor Augen gehabt habe; aber es handelt sich hier um
Dinge, die Buddha aus dem Sämkhya- System über-
nommen hat -) ; es liegt also kein Grund vor, dieselben eher
aus einer sekundären als aus der primären Quelle herzuleiten.
Die Aehnlichkeiten mit indischen Ideen, die Lassen
dann noch S. 434 ff. bei dem späteren Neuplatoniker
Abammon (um 300) findet, können wir bei Seite lassen,
da die jenem phantastischen und abergläubischen Lehrer
speciell angehörigen Anschauungen nur zAveifelhafte An-
knüpfungspunkte an indische Vorbilder darbieten. Von
Belang ist allein hier die Ansicht Abammon 's, die
übrigens schon bei seinen Vorgängern angedeutet erscheint,
„dass die vom heiligen Enthusiasmus erfüllten Menschen
Wunderkräffce erlangen" '^) ; denn hier liegt die Ueberein-
stimmung mit der in Indien allgemein verbreiteten Ueber-
zeugung, dass durch die vorschriftsmässige Ausübung der
Yoga -Praxis wunderbare Kräfte zu gewinnen sind, auf
der Hand. Die Yoga- Philosophie verheisst als die Frucht
') Dieser letzte Punkt ist von Lassen nicht erwähnt.
^) Vgl. die Einleitung zu meiner Uebersetzung der Sämkhya-
tattva-kaumudi S. 524, 526.
3) Lassen S. 438.
— 103 —
solcher Uebung die Erlangung der Fähigkeit, sich unsichtbar,
unendlich gi-oss oder unendlich leicht zu machen, andere
Körper anzunehmen, den Lauf der Natur nach Belieben
zu ändern, und sonstiger übernatürlicher Kräfte.
Ich kann von dem Neuplatonismus nicht Abschied
nehmen, ohne eine sehr wichtige Uebereinstimmung mit
der indischen Gedankenwelt zu erwähnen, die zwar nicht
das Sämkhya- System betrifft, aber doch als ein be-
deutungsvolles Glied in der Kette der griechischen Ent-
lehnungen aus Indien unsere ganze Beweisführung nach-
drücklich stützt. Weber hat in einem kleinen Aufsatz
„mc und löyoq'' Ind. Stud. IX. 473—480 — mit aUer
Vorsicht „ohne irgend über diese Frage ein Urtheil damit
abgeben zu wollen" — die Yermuthung ausgesprochen,
dass die indische Vorstellung von der vdc (,Stimme', ,Rede',
,Wort') auf die im Neuplatonismus auftretende und von
da in das J o h a n n e s - Evangelium übergegangene Idee
des loyoq von Einfluss gewesen sei. Weber geht von
dem Hymnus Rigveda X. 125 aus, in dem bereits die
V ä c als eine thätige Kraft auftritt, und weist auf die auch
sonst im Veda vorkommende Personificirung der ,göttlichen
Väc', der Sprache als des Vehikels der priesterlichen
Beredsamkeit und Weisheit, hin. Er verfolgt dann die
Entwickelung dieses Begriffs durch die Brahma na- Lite-
ratur, wo die Väc dem Xdyog im Eingang des Johannes-
Evangeliums immer ähnlicher wird. Hier erscheint nämlich
in den zahlreichen von Weber angeführten Belegstellen
die Väc als die Genossin Prajäpati's (des Schöpfers),
„im Verein mit welchei* und durch welche er seine Schöpftmg
vollzieht"; ,.ja sie ist in letzter Instanz als die geistigste
Zeugerin hie und da geradezu an den Anfang aller Dinge
überhaupt, sogar noch über den persönlichen Träger
ihrer selbst, gestellt."
Weber schlies.st diesen inhaltsschweren Artikel mit
den Worten : „Jedenfalls nun lässt sich die kosmogonische
„Stellung der Väc so, indem man sie nämlich als Höhe-
„punkt der Verherrlichung priesterKchen Dichtens und
— 104 —
„Wissens ansieht, leicht und einfach begreifen, während
„die gleiche Stellung des Xöyog ohne Vorstufen erscheint,
„die uns das Entstehen derselben erklärlich machen." Ich
halte diesen Gedanken Weber's für einen ausserordentlich
glücklichen und meine, dass er einen anderen Namen als
den einer blossen ,Vermuthung' verdient. Es sei mir aber
die Berichtigung gestattet, dass die Idee des Xoyog nicht
erst im Neuplatonismus erscheint, sondern ihre eigentliche
Stelle in den Leliren P h i 1 o ' s hat, die ja überhaupt zum
grossen Theil dem Neuplatonismus zu Grunde liegen.
Philo seinerseits hat die Lehre vom Logos von den
Stoikern entlehnt und diese hinwiederum von Heraklit,
bei dem der Xoyog bereits das ewige Gesetz des Weltlaufs
ist^). Meine oben geäusserte Vermuthung, dass Heraklit
durch indische Ideen beeinflusst sei, findet also hier eine
erwünschte Bekräftigung. Wenn die ganze Combination
richtig ist, so würde die Entlehnung des Logos-Begriffs
aus Indien um mehr als ein halbes Jahrtausend früher
anzusetzen sein, als es nach Weber's Darstelhmg scheinen
könnte.
Unter den indischen Lehren, die wir glaubten in der
griechischen Philosophie wiederzufinden, nehmen die des
Sämkhya -Systems die erste Stelle ein; sie waren auch
ihrer Natur nach am ehesten auf einen fi-emden Boden zu
übertragen und einem andern Gedankenkreis einzuverleiben,
lieber die Neuplatoniker reicht der Einfluss des Sämkhya
und überhaupt der indischen Philosophie auf die Philosophie
des Abendlandes nicht hinaus; und auch die neueste Zeit
lässt — wenn man von der buddhistischen Färbung der
Philosophie Schopenhauer's und von Hartmann's
absieht — keine wirkliche Beeinflussung von Seiten der
altindischen Gedankenwelt erkennen. Selbst die historischen
Darstellungen der gesammten Philosophie pflegen die in-
dischen Systeme unberücksichtigt zu lassen. Dass dies mit
^) Vgl. M;ix Heiiize, die Lehre vom Logos in der griechischen
Philosophie, Oldenburg 1872.
— 105 —
Unrecht geschieht, bedarf keines Beweises mehr. Es findet
aber diese Gleichgiltigkeit gegen die indischen Systeme
darin ihre Erklärung, dass dieselben in unserem Jahrhundert
erst in den äussersten Umrissen in Europa bekannt ge-
worden sind und mit Ausnalune der Vedänta- Philosophie,
die seit 1883 in Deussen's trefflicher Darstellung zu-
gänglich gemacht ist, noch keine eingehende Bearbeitung
gefunden haben.
Ich habe mich in diesem Kapitel darauf beschränkt,
die historischen Zusammenhänge zwischen den Säm-
k h y a - Lehren und der griechischen Philosophie aufzu-
suchen und wahrscheinlich zu machen. Die Aufgabe, die
inneren Beziehungen der ganzen abendländischen Philo-
sophie zu jenen Lehren und die zufölligen Uebereinstim-
mungen in Einzelheiten festzustellen, liegt ausserhalb des
Rahmens dieser Arbeit ').
^) Zwei Punkte der Art sind von John Davies in dem An-
hang zu seiner Uebersetzung der Sämkhyakärikä behandelt:
On the connection of the Sänkhya system with the philosophy
of Spinoza p. 139 ff. und On the connection of the system of
Kapila with that of Schopenhauer and von Hartmann p.
143 ff. Einige interessante Parallelen finden sich bei Gr. Bieden-
kapp, Beiträge zu den Problemen des Selbstbewusstseins u. s.w.;
s. besonders S. 56, 57 Anm.
IV. üeberblick über die anderen philo-
sophischen Systeme Indiens.
Zu einem vollen Verständniss und einer richtigen
Würdigung der S ä m k li y a - Philosophie ist ein Einblick
in die Lehren der übrigen philosophischen Schulen Indiens
unerlässlich , zumal da die Sämkhya- Schriften sich auf
Schritt und Tritt mit den anderen Systemen, sie mehr oder
weniger bekämpfend ^) , beschäftigen. Denjenigen Lesern,
die diesen Studien ferner stehen, glaube ich deshalb eine
orientirende Uebersicht, in selbstverständlicher Beschränkung
auf die Hauptsachen, schuldig zu sein.
Schon in den frühesten Zeiten lassen die Inder einen
eigenthümlichen Hang zu metaphysischer Spekulation er-
kennen. Alte Lieder des Rigveda, die im übrigen noch
ganz in dem Boden des ausgebildeten Polytheismus wurzeln,
zeigen bereits die Neigung, mannigfache Erscheinungen
als Einheit zusammenzufassen und dürfen so als die ersten
Schritte auf dem Wege angesehen werden, der das altindische
Volk zum Pantheismus fährte. Auch monotheistische Ideen
begegnen uns in jüngeren vedischen Liedern, sind aber
^) Eine zusammenfassende Vertheidigung des Sämkhya- Yoga-
Standpunkts gegen die Lehren der anderen Schulen bietet der
Schluss von Bhojaräja's Commentar zu den Yogasütra's (heraus-
gegeben und ins Englische übersetzt von Rajendraläla Mitra,
Calcutta 1883, Bibl. Ind.).
— 107 —
nicht mit der Consequenz entwickelt, die erforderlich ge-
wesen wäre, um die vielgestaltige Götterwelt aus dem
Bewusstsein des Volkes zu verdrängen.
Die eigentlich philosophischen Lieder, die uns der
Rigveda in geringer und der Atharvaveda in nicht
viel reicherer Zahl bietet, gehören zu den jüngsten Erzeug-
nissen der vedischen Hymnendichtung. Sie beschäftigen
sich mit dem Problem von dem Ursprünge der Welt
und mit dem ewigen, die Welt schaffenden und er-
haltenden Princip, freilich in dunkler Redeweise und in
unklarem, widerspruchsvollem Gedankengange, wie das
bei den frühen Anfängen der Spekulation kaum anders
sein konnte. Auch die Yajurveden enthalten merk-
würdige, höchst phantastische kosmogonische Legenden,
in denen der Weltschöpfer durch das allmächtige Opfer
die Dinge hervorbringt. Bemerkens werth ist, dass der
Ideenkreis dieser Theile des Veda mit dem der älteren
Upanishad's eng verwandt, ja theü weise identisch ist ^j ;
auch darin zeigt sich der Zusammenhang beider, dass uns
in diesen Upanishad's ebenso wie in den kosmogo-
nischen Hymnen und Legenden des Veda die erörterten
Gegenstände noch völlig ungeordnet entgegentreten. Trotz-
dem sind die vorbuddhistischen Upanishad's, zum Theil
auch schon deren Vorläufer (die im wesentlichen rituell-
theologischen Brahma na's und die mehr spekulativen
Ä r an y a k a ' s ) , für unsere Betrachtungen von der grössten
Wichtigkeit; denn sie repräsentiren eine Zeit (etAva vom
8ten bis zum 6ten Jahrhundert), in der sich diejenigen
Ideen entwickeln, die flir die ganze Richtung des indischen
Denkens in der späteren Zeit bestimmend wurden-): vor
1) Vgl. hierüber Lucian Scherman, Philosophische Hymnen
aus der Rig- und Atharva- Veda-Sanhitä verglichen mit den
Philosophemen der älteren Upanishads, Strassburg-London 1887.
") Vgl. A. E. Gough, The Philosophy of the Upanishads and
Ancient Indian Metaphysics, London 1882. Das wunderliche ab-
fällige Urtheil über die Philosophie der Upanishad's im All-
gemeinen, mit dem Gough sein im übrigen werthvoUes Buch
— 108 —
allen Dingen die Lehre von der Seelenwanderung und die
eng mit dieser zusammenhängende Theorie von der nach-
wirkenden Kraft des Werkes (karman) '). Die Ueberzeugung,
dass jedes Individuum nach dem Tode immer wieder einer
neuen Existenz entgegengeht, in der es die Früchte früher
erworbenen Verdienstes geniesst und die Folgen früher
begangenen Unrechts zu tragen hat, beherrscht seit jener
alten Zeit das indische Volk bis auf den heutigen Tag.
Der Gedanke ist niemals Gegenstand einer philosophischen
Beweisführung gewesen, sondern als etwas selbstverständ-
liches betrachtet, Avoran — mit Ausnahme der Cärväka's,
der Materialisten — keine philosophische Schule und keine
religiöse Sekte in Indien jemals gezweifelt hat.
Das Hauptthema der IJpanishad's, dessen Be-
handlung alle anderen Betrachtungen in den Hintergrund
drängt, ist die Frage nach dem Ewig-Einen, dem Atman
oder B rahm an. Der Atman — das Wort bedeutet
ursprünglich den Athem, dann das Lebensprincip , das
innerste Selbst, die Seele — wird in einer Legende der
Brhadäranyaka Upanishad noch als ein mytho-
logisches Urwesen dargestellt, aus dem die Geschöpfe stufen-
weise hervorgehen; aber diese rohen kosmogonischen Vor-
stellungen fallen bald von dem Begriffe ab, und der Atman
wird das ,eine Unvergängliche', das ohne alle Attribute und
Qualitäten ist, die Allseele, die Weltseele, oder wie man
sonst das Wort übersetzen will. B rahm an dagegen be-
deutete zuerst das Gebet, dann die Kraft, die dem Gebete
und allem anderen heiligen Werke innewohnt, und schliess-
lich die ewige unendliche Kraft, die der Grund alles Seins
ist. Als das inhaltsschwere Wort in seiner Bedeutungs-
entwicklung dahin gelangt war, wurde es völlig identisch
mit Atman; das ursprünglich objektive Brahman floss
eröffnet, darf wohl durch den krankhaften Widerwillen gegeu alles
Indische erklärt werden, den schwere aufreibende Arbeit so überaus
häufig bei länger in Indien lebenden Europäern erzeugt.
') S. das nähere in dem zweiten Abschnitt dieses Buches, II. 1.
— 109 —
mit dem ursprünglich subjektiven Atman in den einen
höchsten metaphysischen Begriff zusammen. In dieser Identi-
ficirung liegt schon die Lehre von der Einheit des Subjekts
und Objekts beschlossen. In zahlreichen Gleichnissen suchen
die Upanishad's das Wesen des Brahman zu be-
schreiben, aber diese Betrachtungen gipfeln in dem Satze,
dass das innerste Selbst des Individuums eins ist mit jener
alles durchdringenden ürkraft (tat tvam asi ,das bist du'J.
Dieser idealistische Monismus der Upanishad's
forderte den Widerspruch Kapila's heraus, der in ratio-
nalistischer Art nicht sowohl das Einheitliche als das Ver-
schiedene im Weltganzen erblickte. Kapila begründete,
wie wir bereits sahen, das älteste wirkliche System Indiens
in der S ä m k h y a - Philosophie, deren Darstellung das vor-
liegende Werk gewidmet ist. Dieses System hat in der
Hauptsache die Fundamente dem Buddhismus und Jin Is-
mus geliefert, zAvei philosophisch verbrämten Religionen,
die von dem Gedanken ausgehen, dass dieses Leben nichts
ist als Leiden, und immer wieder zu diesem Gedanken
zurückkehren. Als die Ursache des Leidens gilt ihnen
das Verlangen zu leben und die Freuden der Welt zu
geniessen und in letzter Instanz ein ,Nichtwissen', aus dem
dieses Verlangen hervorgeht; das Mittel zur Aufhebung
dieses Nichtwissens und damit des Leidens ist die Er-
tödtung jenes Verlangens, die Weltflucht und die schranken-
loseste Bethätigung der praktischen Liebe allen Geschöpfen
gegenüber. In der Folgezeit haben sich allerdings Buddhis-
mus und .Jinismus derartig entwickelt, dass einige ihrer
Lehren in den S ä m k h y a - Schriften energisch bekämpft
wurden i). Diese beiden pessimistischen ReKgionen sind
^) Es handeh sich dabei um die Lehre der Jaina, dass die
Seele dieselbe Ausdehnung habe wie der Körper (Anir. zu Säm-
khyasütra I. 48—50, vgl. auch Bhojaraja zu den Yogasütra's
S. 115 unten), — ein Gedanke, der (wahrscheinlich im Anschluss
an ^ainkara zum Brahmasütra II. 2. 34) dadurch widerlegt wird,
dass alles begrenzte vergänglich sei, und dass dies um so mehr
— 110 —
sich so ausserordentlich ähnlich , dass man lange Zeit die
.1 a i n a (d. h. die Anhänger J i n a ' s) für eine buddhistische
Sekte halten konnte, bis sich herausstellte, dass die Be-
gründer beider Religionen Zeitgenossen waren, die wiederum
nur als die bedeutendsten der zalilreichen , im sechsten
Jahrhundert vor Chr. im mittleren Nordindien das Cere-
monial- und Kastenwesen des Brahmanenthums bekämpfen-
den Lehrer anzusehen sind. Die eigentliche Bedeutung
dieser Religionen liegt in der hohen Entwickelung der
Ethik, die in der schulmässigen indischen Philosophie fast
unberücksichtigt geblieben ist. Mit der letzteren stimmen
jedoch Buddhismus und Jinismus darin überein, dass sie
ebenso wie alle eigentlichen Systeme Indiens versprechen,
den Menschen von den Qualen des fortgesetzten weltlichen
Daseins zu erlösen und dass sie als die Wurzel des Welt-
übels ein bcvstimmtes ,Nichtwissen' zu ei'kennen glauben;
von der Seele gelten würde, als sie bei der Wanderung durch ver-
schiedene Körper sich diesen angleichen, d. h. sich ausdehnen und
zusammenziehcMi müsste, was nur etwas aus Theilen bestehendes
thun kann. Hauptsächlich aber handelt es sich um folgende An-
schauungen des Buddhismus. Die Sämkhya's wenden sich
vor allen Dingen gegen die Leugnung der Seele als eines in sich
geschlossenen., beharrenden Princips (Sütra I. 20, V. 77), ferner
gegen die Lehre, dass allen Dingen nur eine momentane Existenz
zukomme (Sütra I. 27 ff., 34—40), und dass die Erlösung die Ver-
nichtung des Selbstes sei (Sutra V. 77, 78, Vijn. zu Sütra I. 7).
Auch die speciellen Lehren der buddhistischen Sekten werden
bekämpft; so die der Yogäcära's, dass allein das Denken
Realität besitze (Sütra L 42, 43, 79), und diederMädhyamika^s,
dass nur das Nichts existire (Sütra I. 44—47). Selbst gegen bud-
dhistische Theorien und Erklärungen von untergeordneter Be-
deutung wird polemisirt: gegen die Leugnung des Genus — oder
wie wir sagen würden: gegen den Nominalismus — (Sütra V. 91
—93), gegen die Leugnung der Bewegung (Sütra V. 101), gegen
die Erklärung des Begriffes Aehnlichkeit (Sütra V. 94, 95) und
gegen die Definition der Wahrnehmung (Anir. zu Sütra I. 89).
Aus allem dem geht hervor, dass die Säinkhya's der späteren
Zeit in dem Buddhismus, der doch im wesentlichen aus ihrem
System erwachsen war, einen ihrer Hauptgegner erblickten.
— 111 —
in der philosophisclien Begründung ilirer Sätze aber lassen
sie Methode und Klarheit des Denkens vermissen i).
In welchem Zusammenhang das Yoga-System Pa-
tanjali's mit der S am khya- Philosophie steht und
welchen Charakter es trägt, ist bereits oben S. 40 ff. erörtert
worden -).
Im Gegensatz zu diesen beiden nahe verwandten
Systemen, Sämkhya und Yoga, sind die alten echt
brahmanischen Elemente, das Ritual und die idealistische
Spekulation der Upanishad's, in methodischer Weise
ausgebildet in den beiden folgenden eng zusammengehören-
den Systemen, deren Entstehung wir etwa an den Anfang
unserer Zeitrechnung verlegen können'').
Die von Jaimini begründete Pürva- oder Karma-
mimämsä ,die erste Untersuchung oder die Untersuchung
über den Werkdienst', gewöhnlich kurz M i m ä m s ä genannt,
ist wohl nur wegen ihrer Form und ihrer Verbindung mit
der Ve da nta -Lehre zu den philosophischen Systemen
1) Mau vergleiche besonders die buddhistische Formel vom
Causalnexus bei Oldenberg, Buddha, zweiter Abschnitt, zweites
Kapitel.
-) Wenn die Sä m khy a- Lehrer sich gegen die Annahme eines
persönlichen Gottes wenden (Gaudapäda zu Kärikä 61, Väcas-
patimi^ra zu Kärikä 57, Sämkhyasütra I. 92—94, V. 2—12, 46,
126, 127, VI. 64), so ist wohl vorauszusetzen, dass die Polemik
ebenso gegen die Anhänger des Yoga- Systems, als gegen die der
Nyäya-Vaiceshika- Philosophie gerichtet ist. Abgesehen davon
aber controvertiren die Sämkhya's nur eine einzige Yoga-Lehre,
nämlich die Theorie des Sphota. Darunter ist in der Yoga-
Philosophie das Wortganze verstanden, das von dem durch die
einzelnen Buchstaben gebildeten Worte verschieden gedacht wird.
Der Sphota ist einheitlich und ewig und manifestirt sich in dem
ausgesprochenen Worte, d. h. er ist — in tmserer Sprache — die
durch den Buchstabencomplex zum Ausdruck gebrachte Vorstellung
(vgl. Deussen, Vedänta S. 76 ff.). Dieser richtige, aber in unklarer
Weise formulirte Gedanke wird Sämkhyasütra V. 57 mit äusser-
lichen Gründen zurückgewiesen.
3) S. oben S. 43.
— 112 —
gerechnet worden; denn sie beschäftigt sich mit der Inter-
pretation des Veda, der für sie ungeschaffen ist und von Ewig-
keit her existirt, klassificirt seine Bestandtheile, und handelt
von den Regeln zur Vollziehung der Ceremonien, sowie von
den im einzelnen für diese in Aussicht stehenden Belohnungen.
Das letzte ist das hauptsächliche Thema dieses Systems, in
dem die eigentliche Schriftgelehrtheit des Brahmanenthums
condensirt ist ^). Bei den europäischen Indologen hat die
M 1 m ä m s ä bis jetzt wenig Beachtung gefunden ; die beste
Beschreibung ihres Inhalts bieten die Introductory Remarks
in G. Thibaut's Ausgabe des Arthasamgraha (Be-
nares Sanskrit Series, 1882).
Die Uttara- oder Brahma-mimämsä ,die zweite
Untersuchung oder die Untersuchung über das Brahman' -),
meist mit dem Namen Vedänta bezeichnet, verhält sich
^) Mit dem S am khya- System stimmt die Mimämsä mir in-
sofern überein, als sie keinen Gott annimmt; sonst sind alle charak-
teristischen Mimämsä- Lehren denen unseres Systems entgegen-
gesetzt. Mehrere derselben werden in den Sämkhya- Schriften
bekämpft: so die von den Erkenntnissmitteln, deren Jaimini ausser
den von den S ä in khya's anerkannten (Perception, Schlussfolgerung
und autoritative Ueberlieferung) noch die Analogie, die Selbstver-
ständlichkeit, das Nichtsein, das Enthaltensein in etwas und die
Sage constatirt (s. Säipkhya-tattva-kaumudi zu Kärikä 5, Vijn. zu
Sütra I. 88). Die Lehre Jaimini 's von der Ewigkeit des Veda
wird Sütra V. 45 widerlegt. Am entschiedensten jedoch wendet
sich unser System gegen den Satz der Mimämsä, dass die Laute
ewig seien, und gegen die darauf gegründete Theorie, dass die
Verbindung von Wort und Bedeutung nicht von menschlicher Ueber-
einkunft abhängig sei, sondern dass die Bedeutung dem Worte
(fi'ii^i innehafte. (Vgl. Ballantyne, Christianity contrasted with
Hindu Philosophy, London 1859, p. 176-195: 'The eternity of
sound, a dogma of the Mimänsä')- L>ie Polemik dagegen findet
sich Sütra V. 58—60, 97, 98. Auch wo die Säinkhy a- Schriften
sich gegen das brahmanische Ceremonialwesen wenden (Kärikä 2
und Sütra I. 82—85), dürfen ihre Ausführungen als gegen die
Lehren der Mi mä in sä gerichtet gelten.
*) Auch ^äriraka-mimämsä ,die Untersuchung über die
Verkörperung (des Brahman)' genannt.
— 113 —
zu den älteren Upanishad's — um einen Ausdruck
Deussen's^) zu gebrauclien — wie die christliche Dog-
matik zum neuen Testament. Ihr Begründer, Bäda-
räyana, hat die vorher besprochenen Lehren von dem
Brahman-Atman aufgenommen und zu dem System
weiter entwickelt, das bis auf den heutigen Tag die Welt-
anschauung der indischen Denker bestimmt. Dieses System
hat eine vortreffliche und erschöpfende Behandlung in dem
schon mehrfach citirten Werke Deussen's gefunden, das
einem Jeden , der sich für indische Philosophie interessirt,
auf das angelegenthchste zu empfehlen ist -). Die Basis
des V e d ä n t a ist der Satz von der Identität unseres Selbstes
mit dem B rahm an. Da nun das ewige unendliche Brah-
ma n nicht aus Theilen bestehen und keiner Veränderung
unterliegen kann, so ist unser Selbst nicht ein Theil oder
eine Emanation desselben, sondern das ganze untheilbare
B r a h m a n. Ein anderes Seiendes ausser diesem giebt es
nicht, und deshalb wird der Inhalt des Vedänta-Systems
in dem Ausdi-uck advaita-väda ,Lehre von der Zweitlosig-
keit' zusammengefasst. Der Widerspruch, den die Erfaln-ung
und der überlieferte Glaube an die Seelenwanderung und
an die Vergeltung gegen diesen Satz erheben, bedeutet für
Bädaräyana nichts; die Erfahrung und die Lehre von
der Vergeltung werden erklärt durch das dem Menschen
angeborene Nichtwissen (avidyä), das die Seele verliindert,
sich von dem Leibe und den Organen zu unterscheiden
und die empirische Welt als eine Illusion (mäyä) zu er-
kennen. Nach dem Grunde und Ursprung dieses Nicht-
wissens forscht die Vedänta- Philosophie nicht ; sie lehrt
uns nur, dass es da ist und dass es durch das Wissen
1) System des Vedänta S. 22.
2) Wem es an Zeit gebricht, das umfangreiche Werk dui-ch-
zustudiren, der sollte sich wenigstens nicht die Mühe verdriessen
lassen, die anhangsweise hinzugefügte , Kurze Uebersicht der Ve-
däntalehre' S. 487—514, die eine klare Darstellung der Haupt-
lehren des Systems bietet, zu lesen.
Garbe, Säipkhya-Philosophie. 8
— 114 —
(vidyä) vernichtet wird, d. h. durch die universelle Er-
kenntniss, welche die illusorische Natur alles dessen, was
nicht Seele ist, und die absolute Identität der Seele mit
dem Brahman erfasst. Mit dieser Erkenntniss sind die
Bedingungen für die Fortsetzung des Weltdaseins der Seele
aufgehoben — denn dieses ist ja nur ein Schein, eine
Täuschung — , und die Erlösung ist erreicht ').
In dieser Weise sind die Brahmas ütra's, das Lehr-
buch des Bädaräyaua, von dem berühmten Exegeten
Caiiikara (über dessen Zeit oben S. 42 Anm. zu ver-
gleichen ist) ausgelegt worden, und auf dessen Commentar-')
gründet sich Deussen's Darstellung des Systems. Da
nun dieses Lehrbuch — ebenso wie die Hauptwerke der
anderen Schulen — in die Form an sich unverständlicher
Aphorismen gekleidet ist, können wir aus seinem Wort-
laute nicht nachweisen, dass ^amkara mit seinen Er-
klärungen immer das richtige getroffen hat; aber innere
Gründe machen es im höchsten Grade wahrscheinlich, dass
1) Es liegt auf der Hand, dass die Sämkhya- Schriften die
Widerlegung der Vedänta- Philosophie sich ganz besonders an-
gelegen sein lassen mussten. Die Sänikhyasütra's Avenden sich
wiederholt (I. 150—154, V. 61—65, VI. 46—51) gegen die Lehre
von der Einheit der Seele und sowohl dabei, als auch besonders
I. 20—22, gegen die Anschauung, dass diese einheitliche Seele das
einzig reale sei. Auch die Stellen, an denen die Realität der
Materie direkt gelehrt wird (Sütra I. 79, VI. 52), sind gegen das
Vedanta- System gerichtet. Die Verbindung der Seele mit dem
Nichtwissen, auf der nach dem Vedä nta die ganze Empirie beruht,
wird Sutra V. 13—19, 65 bekämpft; und schliesslich wird die
Vedänta- Lehre, dass die erlöste Seele (oder — was dasselbe
ist — das Brahman) nicht nur aus Sein und Denken, sondern
auch aus Wonne bestehe, Sütra V. 66—68 mit der Begründung
zurückgewiesen, dass sich die Begriffe Denken oder Geist und
Wonne gegenseitig ausschliessen. lieber diesen letzten Punkt vgl.
Paul Markus, die Yoga -Philosophie § 17.
2) Jetzt vollständig von Deussen ins Deutsche übersetzt
(Leipzig 1887) und von G. Thibaut ins Englische (Sacred Books
of the East, Vol. XXXIV, Oxford 1890, Vol. XXXVIII, XLVI;
die beiden letzten Bände sind noch nicht erschienen.
— 115 —
die Ausführungen ^amkara's in allen wesentlichen
Funkten mit dem System übereinstimmen , das in den
Brahmas ütra's niedergelegt ist. Die spätere Zeit hat
eine grosse Reihe von anderen Commentaren zu den Brah-
mas ütra's hervorgebracht, die zum Theil den religiös-
philosophischen Standpunkt bestimmter Sekten zum Aus-
druck bringen. Der bedeutendste unter diesen Commentaren
ist der des Rämänuja, aus der ersten Hälfte des zwölften
Jahrhunderts. Rämänuja gehörte einer der ältesten
indischen Sekten an, den Bhägavata's oder Pänca-
rätra' s, die sich zu einem ursprünglich unb rahmanischen,
populären Monotheismus bekannten und das Heil allein in
der Gottesliebe (bhakti) erblickten. Bei der Brahmani-
sirung dieser Sekte ist ihr Gott (Bhagavant, Väsudeva,
Purushottama oderNäräyana genannt) mit Vishnu
identificii't worden, und seitdem gelten die Bhägavata's
ftir eine vishiiuitische Sekte. Ihre Lehi'e, welche christlichen
Anschauungen nahe verwandt, aber meines Erachtens vom
Christenthum nicht beeinflusst ist, tritt uns namentlich in
der Bhagavadgitä, in den Cändilyas ütra's, im
Bhägavata Puräna und in den eigentlichen Lehr-
büchern der Sekte entgegen, zu denen wir auch Rämä-
nuja's Commentar zu den Brahmas iitra's rechnen
dürfen. Nach der Meinung der Bhägavata's sind die
individuellen Seelen nicht mit der höchsten Seele oder Gott
identisch und auch nicht durch eine Art ,Nichtwissen' in
das Weltdasein verstrickt, sondern durch den Unglauben.
Gläubige Liebe zu Gott ist das Mittel zur Erlösung, das
heisst: zur Vereinigung mit dem Höchsten. Das System,
das Rämänuja in die Brahmasütra's hineingetragen
hat, findet man am besten dargestellt bei R. G. Bhan-
darkar, Report on the search for Sanski-it Manuscripts
during the year 1883—84, Bombay 1887, p. 68 ff.
Wie von den bisher besprochenen Systemen je zwei
in enger Verbindung stehen, Sämkhya-Yoga auf der
einen und Mimänisä-Vedänta auf der anderen Seite,
so sind auch die beiden letzten als orthodox geltenden
— 116 —
Systeme, Vai^eshika und Nyäya, in späterer Zeit
geradezu mit einander verschmolzen worden. Den Anlass
dazu hat offenbar der Umstand gegeben, dass beide die
Entstehung der Welt aus Atomen lehren und sich durch
eine scharfe Klassificirung der Begriffe auszeichnen; doch
ist das Vai9 es hika- System sicher von sehr viel höherem
Alter, als das des Nyäya. Gegen das erstere wird bereits
in den Brahmasütra's 11. 2. 12 — 17 polemisirt, wo sich
zum Schluss die interessante Bemerkung findet, dass es
keine Beachtung verdiene, weil doch Keiner es annehme.
Diese Geringschätzung hat sich jedenfalls im späteren
Indien in grosse Beliebtheit verwandelt.
Als Begründer desVai9eshika- Systems gilt Kanada
(Kanabhuj oder Kanabhaksha); doch scheint dieser
Name, der etymologisch ,Atom-Esser' bedeutet, ursprünglich
ein auf den Charakter des Systems sich beziehender Spott-
name gewesen zu sein, der den wirklichen Namen des
Stifters verdrängt hat.
Die Stärke des Systems beruht in der Aufstellung der
Kategorien, unter die sich nach K a n ä d a ' s Meinung alles
Existirende subsumiren lässt: Substanz, Qualität, Bewegung
(oder Handlung), Gemeinsamkeit, Verschiedenheit und In-
härenz. Diese Begriffe werden sehr genau definirt und in
ihre Unterabtheüungen zerlegt. Von besonderem Interesse
ist für uns die Kategorie derlnhärenz oder Untrenn-
bar keit (samavdya). Dieses Verhältniss, das streng von
der gelegentlichen, lösbaren Verbindung (samyoga) ge-
schieden wird, besteht zwischen einem Ding und seinen
Eigenschaften, zwischen dem Ganzen und seinen Theüen,
zwischen der Bewegung und dem sich Bewegenden, zwischen
der Species und dem Genus ^).
Spätere Anhänger des Vai9eshika-Systems haben
den sechs Kategorien eine siebente hinzugefügt, die auf
1) Vgl. Max Müller, ,Beiträge zur Kenntuiss der indischen
Philosophie' in der Zeitschrift der Deutschen Morgenl. Gesellschaft
VT. 13, 14, 33, 34.
— 117 —
die Entwickelung der logischen Untersuchungen einen ver-
hängnissvollen Einfluss ausgeübt hat: die Nichtexistenz
(abhäva). Auch diese Kategorie ist mit indischer Sub-
tilität in Unterarten eingetheilt, nämlich in die priore,
posteriore, bedingte und absolute Nichtexistenz. Wir würden
in positiver Weise anstatt ,priore Nichtexistenz' zukünftige
Existenz, anstatt ,posteriore Nichtexistenz' vergangene
Existenz sagen ; die ,bedingte' oder ,reciproke Nichtexistenz'
ist dasjenige Verhältniss, das zwischen zwei nicht-iden-
tischen Dingen besteht (z, B. die Thatsache, dass ein Topf
nicht ein Kleid ist und umgekehrt); die ,absolute Nicht-
existenz' wird durch das Beispiel von der Unmöglichkeit
des Feuers im Wasser erläutert.
Kanada hat sich nun aber keineswegs darauf be-
schränkt , die Kategorien aufzustehen und zu speciahsiren.
Bei ihrer Erörtemng bemüht er sich, die verschiedensten
Probleme des Seins und des Denkens zu lösen und so zu
einer umfassenden philosophischen Weltanschauung zu ge-
langen. Die Kategorie Substanz, unter vrelchen Begriff
nach ihm Erde, Wasser, Licht, Luft, Aether, Zeit, Raum,
Seele und Denkorgan fallen, giebt ihm Gelegenheit, seine
Theorie von der Entstehung der Welt aus Atomen zu
entwickeln; die Kategorie Qualität, zu der ausser den
Eigenschaften der Materie auch die geistigen Eigenschaften:
Erkennen, Freude, Schmerz, Wünschen, Abneigung, Energie,
Verdienst, Schuld und Anlage gerechnet werden, führt
ihn dazu, seine Psychologie zu entwickeln und seine Lehre
von den Quellen der Erkenntniss darzustellen.
Die psychologische Seite dieses Systems ist sehr merk-
würdig und zeigt gewisse Analogien mit den entsprechen-
den Anschauungen der S am khya-Philosophie. Die Seele
ist nach Kanada anfangslos, ewig und alldurchdringend,
also weder an Zeit noch Raum gebunden. Wenn nun die
Seele unmittelbar mit den Objekten der Erkenntniss in Ver-
bindung träte, so würden ihr alle Objekte gleiclizeitig zum
Bewusstsein kommen. Dass dies nicht der Fall ist, erklärt
Kanada durch die Annahme des Denkorgans oder inneren
— 118 —
Sinnes (manas) ^ mit dem die Seele in der engsten Ver-
bindung steht. Durch dieses Manas allein erkennt die
Seele, und zwar nimmt sie durch dasselbe nicht nur die
Aussendinge, sondern auch ihre eigenen Qualitäten wahr.
Das Manas ist im Gegensatz zur Seele ein Atom und als
solches nur im Stande, ein einziges Objekt in jedem ge-
gebenen Augenblick zu erfassen.
Die Vai9eshikasütra's sind von Röer ins Deutsche
übersetzt (in Bd. 21 und 22 der Zeitschrift der Deutschen
Morgenl. Gesellschaft) und — leider nicht in mustergiltiger
Weise — mit reichlichen Auszügen aus den Commentaren
ins Englische von A. E. Gougli, Benares 1873.
Das letzte der sechs brahmanischen Systeme, die
N y ä y a - Philosophie Gotama's, ist eine Weiterbildung
und Ergänzung der Lehren K a n ä d a ' s. Seine eigentliche
Bedeutung beruht in der ausserordentlich eingehenden und
scharfsinnigen Darstellung der formalen Logik, die bis auf
den heutigen Tag in Indien unangetastet geblieben ist
und allen philosophischen Studien als Basis dient. Die
Lehre von den Erkenntnissmitteln (Perception, Schluss-
folgerung, Analogie und glaubwürdiges Zeugniss), den
Syllogismen, den Trugschlüssen und dergl. ist mit der
grössten Ausführlichkeit behandelt. Welches Gewicht der
Logik im Nyäya- System beigemessen wird, geht schon
aus dem ersten Sütra von Gotama's Lehrbuch hervor,
in dem 16 logische Begriffe mit dem Bemerken aufgezählt
werden, dass von der richtigen Erkenntniss ihrer Natur
die Erreichung des höchsten Heiles abhänge. Die Psycho-
logie des Nyäya stimmt völlig mit der des Vai9eshika-
Systems überein. Auch die metaphysischen Grundlagen
sind hier dieselben wie dort; in beiden Systemen gilt die
Welt für ein Conglomerat von ewigen, unveränderlichen
und ursachlosen Atomen. In späterer Zeit sind beide
Systeme zum Theismus übergegangen, wenn sie auch nicht
dahin gelangt sind, einen Schöpfer der Materie anzunehmen.
Ihre Theologie ist erst in Udayanäcärya's Kusumäh-
j ali (gegen 1300 n. Chr.) und in denjenigen Werken ent-
— 119 —
wickelt, welche die Nj^äya- und Vai9esliika- Lehren
gemeinsam behandeln ^). Gott ist nach denselben eine
bestimmte Seele wie alle übrigen individuellen, gleich ihm
ewigen Seelen , nur mit dem Unterschiede , dass ihm die-
jenigen Qualitäten fehlen, die das Wandern der anderen
Seelen, soweit sie noch nicht erlöst sind, bedingen oder
durch das Wandern bedingt sind (Verdienst, Schuld, Ab-
neigung, Freude, Schmerz), und dass er allein die besonderen
Eigenschaften der Allmacht und der Allwissenheit besitzt,
durch die er zum Leiter und Ordner des Universums
befähigt ist ^).
1) Schon Nilakantha-Hall, Rational Refutation p. 5 — 8,
bezweifeln, ob die Vai^eshika- und Nyäya-sütra's selbst die
Existenz Gottes anerkennen. Da dieser Zweifel vollständig berechtigt
ist (vgl. darüber noch Banerjea's Dialogues on the Hindu philo-
sophy p. IX, 141 if.), so nehme ich keinen Anstand, den ursprüng-
lichen Atheismus des Vaiceshika und Nyaya auf den Einfluss
der Särnkhya- Philosophie zurückzuführen. Obwohl jene beiden
Schulen in einem starken Gegensatz zu unserem System stehen,
verrathen sie doch in manchen und wichtigen Anschauungen ihre
Anlehnung an Grundlehren des Särnkhya. Ausser dem oben
erwähnten Dogma, das die Seelen für anfaugslos und alldurch-
dringend erklärt, nenne ich die bemerkenswerthe pessimistische
Färbung der Nyaya- VaiQeshika-Literatur, die Verwerfung der
himmlischen Glückseligkeit als eines vergänglichen, zu neuem
Elend führenden Erfolges, die Lehre, dass selbst gute Werke ein
Hiuderuiss für die Erreichung der Erlösung seien, und die An-
schauung, dass die Erlösung eine Aufhebung der Freude ebenso
wie des Schmerzes bedeute. Belegstellen für diese Anschauungen
aus den Nyäya- und Vaiceshika-Schriften findet man bei Nila-
kantha-Hall, Rational Refutation p. 15—22. Hierher gehört
auch wohl die Vorliebe für die ziffernmässige Feststellung der
Kategorien und die Lehre, dass der Körper nicht aus den fünf
Elementen, sondern allein aus dem Element Erde bestehe (s. unten
im dritten Abschnitt II. 9).
■^) Welche unbestimmten Vorstellungen die heutigen Anhänger
der Nyäya -Philosophie mit dem Gottesbegriff verbinden, ist aus
H. Jacobi's interessantem Aufsatz „die Gottesidee in der indischen
Philosophie" zu ersehen (Philosophische Monatshefte XIII. 417
-438).
— 120 —
Die Nyäyasütra's sind bis auf das letzte (fünfte)
Buch mit erklärenden Auszügen aus dem Commentar des
Vi9vanätlia von J. R. Ballantyne ins Englische
übersetzt (drei Theüe, Allahabad 1850, 1853, 1854) ')•
') Die meisten Lebren der Nyäya- Vai^eshika-Philosophie
werden in den Sämkhya- Schriften bekämpft. Da sie nur in Aus-
nahmefällen von einander getrennt sind, sollen sie auch hier ge-
meinschaftlich erwähnt werden. Gegen die Aufstellung der 6,
resp. 16, Kategorien wenden sich die Sämkhyasütra's I. 25, V. 85,
86 mit der Bemerkung, dass sie nicht erschöpfend sei; gegen die
Lehre, dass es nur 9 Substanzen gebe, VI. 38 mit dem Hinweis
auf die (von den Naiyäyika's und Vai^eshika's nicht an-
erkannte) Urmaterie; gegen die Atomistik und gegen die Zulässig-
keit des Begriffes Atom überhaupt V. 87, 88 (vgl. auch Vijnä-
nabhikshu zu I. 62, der — wie schon vor ihm Qanikara zum
Brahmasütra II. 2. 12 — den Einwand erhebt, dass durch die
Verbindung von Atomen, die keine Ausdehnung haben, nie ein
ausgedehntes Aggregat entstehen könne). Die Säinkhya- Lehre
von der steten Realität der Produkte (sat-Mrya-väda) wird mit
besonderer Beziehung auf die entgegengesetzte Theorie desNyäya-
Vaiceshika, der zufolge das Produkt vor der Entstehung und
nach der Vernichtung keine Realität besitzt, in der Säinkhya-
tattva-kaumudi zu Kärikä 9 und in den Sütra's I. 113, 114, 121
dargestellt. Wegen der Polemik gegen die Annahme eines persön-
lichen Gottes vgl. oben S. 111, Anm. 2. Ausserdem sind noch die
folgenden Sämkhyasütra's direkt gegen bestimmte Nyäya-Vai-
Qeshika- Lehren gerichtet: V. 46, 47 gegen den Satz, dass der
Veda von Gott verfasst sei; V. 55 gegen die anyathä-khyäti, d. h.
gegen die Vorstellung, dass ein Ding unter einer andern als seiner
eignen' Form erscheinen könne (vgl. auch Vijiiänabhikshu zu II.
33); V. 71 gegen die Lehre, dass der innere Sinn (manas) ein
Atom sei, denn derselbe trete gleichzeitig mit mehreren äusseren
Sinnen in Verbindung (vgl. auch Vijiiänabhikshu zu TI 32); V. 72
gegen die Lehre, dass der innere Sinn, Zeit, Raum, Aether und
die Atome von Erde, Wasser, Feuer und Luft ewig seien; V. 75
gegen die Erklärung der Erlösung als der Aufhebung besonderer
Eigenschaften der Seele; V. 84 gegen den Satz, dass die Sinne
aus den Elementen gebildet seien; und V. 99 gegen die Be-
rechtigung des Begriffes der Inhärenz (samaväija) , wofür nach der
Ansicht der Sämkhya 's einfach ,das Wesen (svarCipa) des Dinges'
zu sagen ist.
— 121 —
Es ist bereits erwähnt worden, dass die sechs Systeme
Mlmämsä, Vedänta, Sämkhya, Yoga, Vai9e-
shika und Ny äya von dem Brahmanenthum als orthodoxe
(ästiha) anerkannt sind ; aber der Leser wird bemerkt haben,
dass diese Bezeichnung in Indien eine andere Bedeutung
hat als bei uns. Es hat in jenem Lande nicht nur zu
allen Zeiten die absoluteste Gedankenfreiheit geherrscht,
sondern die philosophische Spekulation hat sich auch —
selbst in ihren kühnsten Formen — in einer Eintracht
mit der Volksreligion beftinden, wie sie auf Erden nicht
wieder zwischen diesen beiden feindlichen Machten be-
standen hat. Nur ein Zugeständniss verlangte die Brah-
manenkaste : die Anerkennung ihrer Vorrechte und der
Infallibilität des Veda. Wer sich dazu verstand, galt als
Da die Psychologie der Nyäya-Vai§eshika -Philosophie
auf der Anschauung beruht , dass die Seele als solche Qualitäten
besitze, so sind zweifellos gegen diese Lehre alle diejenigen Stellen
der Säinkhya- Schriften gerichtet, an denen die Qualitätlosigkeit,
die absolute Unberührtheit und Unthätigkeit der Seele constatirt
und bewiesen wird (Kärikä 19, 20, Sütra I. 15, 146, 164, V. 13,
VI. 10, 62; vgl. auch die zahlreichen Stellen s. v. kartar in den
Indices zu meinen Textausgaben). Vijiiänabhikshu polemisirt oftmals
in seinem Commentar unter ausdrücklicher Bezeichnung der Nai-
yäyika's und Vai^eshika^s als seiner Widersacher dagegen,
dass die Seele Qualitäten habe, dass sie unmittelbar Freude oder
Schmerz empfinde und in irgend einer Weise thätig sei (s. in dem
Index zu meiner Ausgabe des Sämkhya-pravacaua-bhäshya). Im
Zusammenhang damit steht seine Widerlegung der Nyäya-
Vai^eshika- Lehre von dem Zustandekommen der Wahrnehmung
und Erkenntniss (im Comm. zu I. 87, 91, 145—147), über
deren Einzelheiten ich auf meine Uebersetzung des Werkes ver-
weisen kann.
Von speciellen Lehren jener Schulen finde ich noch die
folgenden beiden bei Vijnänabhikshu bekämpft: 1) dass eine Com-
bination mehrerer Kategorien (jäti-sämkarija) unzulässig sei (im
Comm. zu I. 109, II. 32 ) und 2) dass die Leitung der Körper-
bildung von Seiten der Seele durch das adrshta ,die nachwirkende
Kraft von Verdienst und Schuld' vermittelt werde (Einl. zu
VI. 62).
— 122 —
orthodox, und damit war ihm ein viel grösserer Lehrerfolg
gesichert, als wenn er sich durch Verweigerung jener An-
erkennung offen als Ketzer (ndstika) bekannt hätte. Die
von den Bralunanen geforderte Concession brauchte, soweit
sie sich auf die Schrift bezog, nur eine nominelle zu sein;
sie nöthigte weder zu einer Uebereinstimmung mit den
Lehren des Veda noch zu dem Bekenntniss irgend eines
Gottesglaubens.
Neben den bisher in diesem Kapitel erwähnten brah-
manischen und unbrahmanischen Systemen finden wir auch
in Indien die Weltanschauung, die ,so alt ist als die Philo-
sophie, aber nicht älter' ') : den Materialismus. Das Sans-
kritwort für Materialismus ist lokdyata (,auf die Sinnen-
welt gerichtet') und die Materialisten heissen lohäyatika
oder laukäyatika^ werden aber gewöhnlich nach dem Namen
des Begründers ihrer Lehre Cärväka's genannt. Wir
haben schon oben (S. 19, 20) ein paar Spuren angetroffen,
die dafür zeugen, dass bereits in dem vorbuddhistischen
Indien Verkündiger rein materialistischer Lehren aufgetreten
sind; und es ist kein Zweifel darüber, dass diese seitdem
zu allen Zeiten wie heute zahlreiche heimliche Anhänger
gehabt haben. Wenn uns auch eine Quelle (Bhäskarä-
c ä r y a zum Brahmasütra 111. 3. 53) ^) das einstmalige
Vorhandensein eines Lehrbuchs des Materialismus, der
Siitra's des Brhaspati (des mythischen Begründers),
bezeugt, so hat der Materialismus doch sonst in Indien
keine literarische Gestaltung gefunden. Wir sind somit
zum Verständniss desselben wesentlich auf die Polemik
angewiesen, die gegen ihn in den Lehrbüchern der anderen
philosophischen Schulen geübt wird, und auf das seiner
Darstellung gewidmete erste Kapitel des Sarva-dar9ana-
samgraha, eines im 14ten Jahrhundert von dem be-
kannten Vedänta- Lehrer Mädhaväcärya verfassten
') Die ersten Worte von Lange's Geschichte des Materialismus.
^) S. Colebrooke, Mise. Ess.'^ I. 429.
— 123 —
Compendiums aller pliilosopliischen Systeme (ins Englische
übersetzt von Co well und Gough, London 1882). Mä-
dliaväcärya beginnt seine Ausfülirungen mit dem Be-
dauern darüber, dass die Melirzahl der lebenden
Menschen dem von C ä r v ä k a vertretenen Materialismus
anhänge.
Ein anderer Vedänta- Lehrer, Sadänanda, spricht
in seinem Vedäntasära § 148 — 151 von vier mate-
rialistischen Schulen, die sich von einander durch die Auf-
fassung der Seele unterscheiden; nach der ersten sei die
Seele identisch mit dem groben Leib, nach der zweiten
mit den Sinnen, nach der dritten mit dem Athem und
nach der vierten mit dem Denkorgan oder dem inneren
Sinn (manas). Eine principielle Verschiedenheit besteht
zwischen diesen vier Anschauungen nicht; denn die Sinne,
der Athem und das innere Organ sind ja nur Attribute
oder Theile des Körpers. An verschiedene Richtungen
innerhalb des indischen Materialismus ist deshalb nicht
zu denken.
Die Cärväka's lassen als Erkenntnissmittel allein
die Perception gelten und verwerfen die Schlussfolgerung.
Als das einzig reale erkennen sie die vier Elemente an,
d. h. die Materie. Wenn durch die Verbindung der Ele-
mente der Körper gebildet ist, so entsteht nach ihrer Lehre
der Geist ebenso wie die berauschende Kraft aus der
Mischung bestimmter Stoffe. Mit der Vernichtung des
Körpers ist auch der Geist wieder vernichtet. Die Seele
ist also nichts anderes als der Körper mit dem Attribute
der Intelligenz, da eine vom Körper verschiedene Seele
durch Sinneswahrnehmung nicht festzustellen ist. Natürlich
werden auch alle anderen übersinnlichen Dinge geleugnet
und zum Theil mit Ironie behandelt. Die Hölle ist irdischer
Schmerz, durch irdische Ursachen hervorgerufen ; das höchste
Wesen ist der König des Landes, dessen Dasein durch die
Wahrnehmung der ganzen Welt erwiesen wird; die Er-
lösung ist die Auflösung des Körpers. Die nachwirkende
Kraft des Verdienstes und der Schuld, die nach dem
— 124 —
Glauben aller anderen Schulen das Schicksal eines Jeden
bis in die kleinsten Einzelheiten hin bestimmt, existirt für
den C ä r V ä k a nicht, weil dieser Begriff nur durch Schluss-
folgerung gewonnen wird. Auf den Einwand eines ortho-
doxen Philosophen, dass für den, der diesen allmächtigen
Faktor negire, die verschiedenartigen Erscheinungen dieser
Welt keine Ursache haben, erwidert der Cärväka, die
eigne Natur der Dinge sei die Ursache, aus der die Er-
scheinungen hervorgehen.
Die praktische Seite dieses Systems zeigt uns den
rohesten Eudämonismus ; denn Sinnenlust wird als das
einzig erstrebenswerthe Gut hingestellt. Der Einwand,
dass sinnliche Freuden nicht das höchste Ziel des Menschen
sein können, weü ihnen stets ein gewisses Maass von
Schmerz beigemischt sei, wird mit der Bemerkung zurück-
gewiesen, dass es Sache unsrer Klugheit ist, die Freuden
so rein wie möglich zu geniessen und sich dem mit der
Lust untrennbar verbundenen Schmerz so viel wie möglich
zu entziehen. Der Mensch, der Fische wünsche, nehme
ihre Schuppen und Gräten , und wer Reis haben wolle,
die Halme mit in den Kauf. Darum habe es keinen
Sinn, aus Furcht vor dem Schmerz auf die Last zu
verzichten, die wir instin ctiv als unserer Natur zusagend
empfinden.
Die Veden werden für ein Geschwätz von Schelmen
erklärt, das mit den drei Fehlern der Unwahrheit, des
inneren Widerspruchs und der nutzlosen Wiederholung
behaftet sei, und die Vertreter vedischer Wissenschaft für
Betrüger, deren Lehren sich gegenseitig aufheben. Das
brahmanische Ritual ist für die Cärväka's ein Schwindel,
und die kostspieligen und mühevollen Opfer haben nur
den einen Nutzen, den Schlauköpfen, die sie vollziehen,
den Lebensunterhalt zu verschaffen. „Wenn ein beim
„Jyotishtoma geopfertes Thier in den Himmel gelangt,
„warum sclilachtet der Opferer da nicht lieber seinen
„eigenen Vater ?" Kein Wunder, dass für den rechtgläubigen
— 125 —
Inder die Lehre der Cärväka's die schlimmste aller
Ketzereien ist ^).
Aasser den Systemen, die ich hier kurz besprochen habe,
nennt der vorher erwähnte Sarva-dar9ana-samgraha
noch sechs weitere Schulen, die jedoch in dieser Uebersicht
1) Wie die Lehrbüclier der anderen orthodoxen Schulen, suchen
auch die Sämkhya- Schriften diesen gefährlichen Materialismus
zu widerlegen. Die Lehre, dass es ausser der Perception kein
anderes Erkenntnissmittel gebe, wird in der Säinkhya-tattva-kau-
mudi zu Kärikä 5 und in den Sutra's V. 28, 29 entkräftet^ an
ersterer Stelle in der folgenden drastischen Weise: „Wenn der
„Materialist erklärt: ,Die Schlussfolgerung ist kein Erkcnntniss-
„mittel", wie kann von ihm dann ein Mensch als unwissend, im
,. Zweifel oder Irrthum seiend erkannt werden? Denn an einem
„andern Menschen sind ja Unwissenheit, Zweifel und Irrthum un-
„möglich durch Sinneswahrnehmung zu erkennen
„Demnach muss auch von Jenem die Unwissenheit u. s. w. an
„anderen Menschen aus der Art ihres Vorhabens oder aus ihrer
„Redeweise erschlossen, also selbst wider Willen die Schluss-
„folgerung als Erkenntnissmittel anerkannt werden." Auch die
Ca rväka- Theorie, dass nur farbige Objekte durch Perception
erkannt werden können, wird im Sütra V. 89 bekämpft. Aniruddha
giebt dazu die Erklärung, dass z. B. in den Worten „der Vogel
ist hier" der Ausdruck ,hier' zeige, dass auch der Raum wahr-
genommen werde, und verweist ausserdem — ebenso wie Vijüä-
nabhikshu — auf die angebliche Wahrnehmung übersinnlicher
Gegenstände durch den Yogin, üb das Sütra V. 80 die materia-
listische Lehre, dass nur sinnliche Freuden ein vernünftiges Lebens-
ziel seien, widerlegt (wie Vijnä,nabhikshu und Mahädeva meinen),
wird durch die andersartige Auslegung Aniruddha's zweifelhaft.
Von Wichtigkeit aber sind die Sutra's III. 20—22, V. 130 (129
Vijnänabhikshu), die den hauptsächlichsten Lehrsatz der Cär-
väka's, dass der Geist nichts von dem Körper verschiedenes sei,
bekämpfen. Das bei den Materialisten beliebte Gleichniss von der
berauschenden Kraft, die nicht in den einzelnen Stoffen vorhanden
sei und trotzdem in der Mischung sich zeige, wird als unzutreffend
bezeichnet; denn es stehe fest, dass die berauschende Kraft in
jedem der einzelnen Stoffe in feinem Zustande existire , und dass
sie in der Mischung nicht entstehe, sondern nur zur Erscheinung
komme. Das Erkenntnissvermögen aber sei in keinem der Elemente,
aus denen der Körper gebildet ist, nachweisbar.
— 126 —
wegen ihrer untergeordneten Bedeutung und ihres nicht
eigentlich philosophischen Charakters übergangen werden
können. Es handelt sich zunächst um eine vishnui-
tische, von Änandatirtha (oder Pürnaprajfia) be-
gründete Sekte und um vier 9ivitische, deren Systeme
mit den Namen Nakuli9a-Pä9upata, ^aiva, Pra-
tyabhijnä und Rase9vara bezeichnet sind. Die Lehren
dieser fünf Sekten sind stark von vedantistischen und
Sämkhya- Philosophemen durchsetzt. Das sechste System
ist dasjenige P ä n i n i ' s , d. h. die grammatische Wissen-
schaft, die in M ä d h a V a ' s Compendium deshalb unter die
Philosophie gerechnet wird, weil die indischen Grammatiker
sich zu dem in der M i m ä m s ä gelehrten Dogma von der
Ewigkeit des Lautes ^) bekannten, und weil sie die Theorie
des S p h o t a , d. h. des mitheilbaren einheitlichen Faktors,
der in jedem Worte als der Träger seiner Bedeutung
ruht -), in philosophischer Weise entwickelten.
Ueberblicken wir die grosse Fülle der in Indien ge-
machten Versuche, die Räthsel der Welt und unseres Daseins
zu erklären, so lenkt die S ä m k h y a - Philosophie vor allen
anderen schon deshalb unsere Blicke auf sich, weil sie
allein ihre Aufgabe lediglich mit den Mitteln des Ver-
standes lösen wUl. Der wahrhaft philosophische Geist,
mit dem sie die Methode handhabt, auf dem Wege logischer
Beweisführung von den bekannten, uns durch die Erfahrung
gebotenen Grössen zu unbekannten aufzusteigen, um so
zu der Erkenntniss der letzten Ursachen zu gelangen, ist
mit Bewunderung von allen Forschern anerkannt, die sich
ernstlich mit diesem System beschäftigt haben =^). Zum
ersten Male in der Welt hat sich in Kapila's Lehre die
1) Vgl. oben S. 112 Anm. 1.
2) S. darüber S. 111 Anm. 2 und vgl. noch Ballantyne,
Christianity coutrasted witli Hindu Philosopby, p. 189 ff.
3) S. z. B. Barth^lemy Saint-Hilaire, Premier Memoire
sur le Sänkhya p. 488, und Röer, Lecture on the Sänkhya Philo-
sophy p. 5, 12, 20, 24.
— 127 —
ganze Unabhängigkeit und Freilieit des menschlichen Geistes,
das volle Vertrauen auf die eigene Kraft gezeigt. Wenn
auch von John Davies (Sänkhya Kärikä, p. V) zu viel
behauptet ist mit den Worten: "The System of Kapila
" contains nearly all that India has produced in the
"department of pure philosophy", so darf doch das in den
folgenden Abschnitten dargestellte System mehr als irgend
ein anderes Erzeugniss der fruchtbaren indischen Speku-
lation das Interesse derjenigen Zeitgenossen beanspruchen,
deren Weltanschauung auf die Resultate der modernen
Naturwissenschaft gegründet ist.
Denen aber, die von einem monistischen Standpunkte
auf die dualistische Weltanschauung geringschätzig herab-
blicken zu dürfen meinen, seien die Worte E. Röer's (in
der Einleitung zur Ausgabe des Bhäshäpariccheda, p. XVI)
entgegengehalten: "Though a higher development ofphilo-
"sophy may destroy the distinctions between soul and
"matter, that is, may recognise matter, or what is perceived
"as matter, as the same with the soul (as for instance,
"Leibniz did), it is nevertheless certain, that no true
"knowledge of the soul is possible, without first drawing
"a most decided line of demarcation between the pheno-
"mena of matter and of the soul." Diese scharfe Grenz-
linie zwischen den beiden Gebieten ist zum ersten Male
von Kapila gezogen worden.
1^^
Zweiter Abschnitt.
Der Charakter der Sämkliya-Philosophie.
Garbe, Sämkhya-Philosophie.
13>I
I. All2:emeines.
1. Der Name smnkhya.
Das Wort sdmhhya erscheint erst in der jüngeren
Upanishad- Literatur (nach J a c o b ' s Concordance über-
haupt nur je einmal in der ^vetä9vatara, Cülikä,
Garbha und Muktikä Upanishad) und dann häufiger
im Mahäbhärata. Dass auch die grammatische Büdung
des Wortes uns in spätere Zeiten weist, hat Weber,
Indische Studien II. 184 hervorgehoben, aber dabei betont,
dass man daraus nicht etwa auf die späte Existenz der
Spekulationsweise, die dieser Name bezeichnet, schliessen
dürfe. Wenn Kapila und seine ältesten Nachfolger
ihrem System überhaupt einen Namen gegeben haben, so
ist dieser verloren gegangen und später durch den uns
geläufigen ersetzt worden.
Sämhliya ist von sainkliyä ,Zahl' abgeleitet und be-
deutet zunächst ,aufzählend , Aufzählung', dann aber ,Unter-
suchung, Unterscheidung, genaues Abwägen, Erwägung'.
Die gewöhnliche Annahme ist nun, dass man von der
zweiten Bedeutung ausgehend dem System Kapila's den
Namen Sämkhya gegeben habe i). Ich halte das nicht
1) S. Colebrooke, Miscellaneous Essays^ I. 241 , Ballan-
tyne, Lecture on the Sänkhya PhUosophy p. 52, Röer, Lecture
p. 8, 9, Barthelemy St.-Hilaire, Premier Memoire p. 123,
Hall, Sänkhya Sara Preface p. 3, John Davies, Sänkhya Kä-
rikä p. 9.
9*
— 132 -
för richtig. Zwar hat schon im Mahäbhärata das Wort
sämhhya die übertragene Bedeutung ,Unterscheidung u. s. w.'
angenommen — die im Petersburger Wörterbuch s. v. ge-
sammelten Stellen genügen, um dies zu constatiren — ,
doch wird durch andere Stellen klar, dass es sich dabei
um eine Umdeutung des Wortes handelt, die erst durch
den Charakter des Sämkhya- Sj'stem herbeigeführt worden
ist. Weil das Sä mkhya- System methodische Erschliessung
der Principien und vor allen Dingen scharfe Unter-
scheidung von Geist und Materie lehrte, ist im Laufe der
Zeit dem Worte sämkhya die Bedeutung ,methodische Er-
schliessung, Unterscheidung' beigelegt worden. Ursprüng-
lich aber bedeutete das Wort nichts anderes als .aufzählend';
die Lehre Kapila's wurde wegen der Aufzählung der
25 Principien, auf welche die Anhänger des Systems seit
jeher grosses Gewicht legten, und „vielleicht auch wegen
der absonderlichen Vorliebe dafür, abstrakte Begriffe in
trockene Zahlen Verhältnisse zu zerlegen" ^), die ,Ä.ufzählungs-
Philosophie' genannt -). Es ist dies allerdings eine Be-
zeichnung, die dem wahren Wesen und Werthe des Säm-
khya-Systems sehr wenig gerecht wird. Dadurch bin
ich auf einen Gedanken gekommen, der mit meiner Be-
urtheilung der ältesten Geschichte des Systems im Einklang
steht. Wenn man bedenkt, was für eine Rolle die ,nick-
names' in der indischen Namengebung spielen und wie
oft der spöttische, verächtliche Inhalt dieser Namen in
späterer Zeit in Vergessenheit geratheu ist, so scheint mir
die Vermuthung nahe genug zu liegen, dass die Brahmanen
die ihnen feindliche S ä m k h y a - Philosophie mit dem
Spottnamen der ,Au£f;älilungslehre' (sämkhya neutr.j und
deren Anhänger al^ die ,Zahlmenschen' (sämkhya masc.^
^) S. meine Uebersetzung der Sänikhya-tattva-kaumudi S.
622, 523.
2) S. Mahäbh. XII. 11393, 11409—10, 11673, Cülikä Upa-
nishad 14, Weber, Indische Studien IX, 17 und Max Müller,
Upanishads translated II. p. XXXV, XLI.
— 133 —
bezeichnet haben, und dass, als dann die S am khya- Lehre
von dem Brahmanenthum anerkannt und übernommen wurde,
der Käme bestehen blieb, den man sich gewöhnt hatte zu
gebrauchen. Unter dieser Voraussetzung erklärt sich auch
die Umdeatung des Namens, von der eben gehandelt wurde,
am natürlichsten.
Dass in der indischen Literatur einige Male Sänikhya
als nomen proprium oder Beiname eines alten Weisen ')
sowie als einer der 1000 Namen Civa's vorkommt-),
scheint keine greifbaren Beziehungen zu unserem System
zu haben.
2. Die Aufgabe des Systems.
Die Weltanschauung, die in den S ä m k h y a - Schriften
zum Ausdiuck kommt, ist consequenter Pessimismus. Alles
bewusste Leben ist Leiden. Das Glück, von dem uns die
Erfahrung zu zeugen scheint, existirt nicht in Wahrheit;
denn auch die Lust ist mit Schmerzen durchsetzt und
fuhrt schliesslich zu Leid; darum wird auch sie „von den
unterscheidenden zu den Sclunerzen gerechnet-^)". Das
schlimmste der Leiden aber ist die Nothwendigkeit der
Wiederkehr von Alter und Tod in jeder neuen Existenz.
„AUe lebenden Wesen ohne Unterschied leiden den durch
„Alter und Tod bewirkten Schmerz; allen, selbst dem
„Wurm, ist die Todesfurcht gemeinsam, die sich in dem
„Wunsche darstellt: ,Möge ich nicht aufhören zu existiren,
„möge ich leben!' Und was Furcht hervorruft, ist Schmerz;
„deshalb ist der Tod Schmerz*)."
1) S. Weber, Ind. Stud. II. 292 und im Petersburger Wörter-
buch s. V. 1, b.
2) S. Weber, Ind. Stud. I. 426 Anm.
3) S. Säinkhyasutra VI. 6—9, Yogasutra II. 15 und meine
Uebersetzung der Sämkhya-tattva-kaumudi S. 523 , 524; vgl. auch
Paul Markus, die Yoga-Philosophie S. 56 ff.
-*) S. T. Kaumudi zu Kärikä 55 ; vgl. auch Sütra III. 53. Bei
Aniruddha zu Sütra III. 3 wird der Begriff der Seelenwauderung
(samsarana) durch den der fortgesetzten Vernichtung (näca) erklärt.
— 134 —
Die beiden Hauptwerke der Sämkliy a- Schule, die
Kärikä und die Siitra's, bezeichnen in den ersten
Worten die vollständige Aufhebung des Schmerzes als
die Aufgabe der Lehre, die sie vortragen. Dem wunder-
lichen Schematismus des Systems entsprechend, wird sogleich
gesagt , dass es einen dreifachen Schmerz gebe '). Damit
ist nach der übereinstimmenden Erklärung sämmtlicher
Commentare gemeint 1) der in der eignen Person ent-
stehende (ädhyätmika)^ d. h. der durch körperliche Leiden
und Beschwerden des Gemüths verursachte, 2) der von
anderen Wesen (auch Pflanzen) uns zugefügte (ädhibhau-
tika) und 3) der auf übernatürliche Einflüsse zurückge-
führte (ädhidaivika). Bedarf es nun aber einer schwer
verständlichen philosophischen Lehre, um diese Schmerzen
zu heilen? Giebt es nicht — so fragt ein Materialist —
mit leichter Mühe zu beschaffende Mittel zu seiner Abwehr?
Medikamente zur Stillung körperlicher Schmerzen; schöne
Frauen, Getränke, Speisen, Kleidung und Schmuck zur
Heilung der Leiden des Gemüths ; Erfahrung und Vorsicht
zum Schutz gegen Schaden, der von aussen kommt; und
selbst Zaubermittel gegen übernatürliche Einflüsse? Auf
diese Frage lautet die Antwort: Nein! denn alle diese
Mittel wirken nicht mit Sicherheit und gewähren selbst
im besten Falle nur zeitweilig Schutz und Erleichterung.
„Aber wir haben doch ausser diesen weltlichen Mitteln,
die uns allerdings keinen genügenden Schutz gegen
den Schmerz bieten, die sicheren und zuverlässigen, deren
Anwendung die Religion uns lehrt. Li der Schrift sind
ja die Opfer vorgeschrieben, durch deren Vollziehung wir
uns nach dem Tode einen Platz im Himmel sichern können,
wo aller Schmerz ein Ende hat!" Der strenggläubige
Brahmane, der diesen Einwand macht, erhält darauf dieselbe
Antwort wie der Materialist; von den rituellen Mitteln
\
1) S. ausserdem Tattvasamäsa Sütra 25 und Säinkhya-krama-
dipikä Nr. 80—83 in Ballantyne's Bearbeitung. Aniruddha zu
II. 1 rechnet sogar 21 Arten von Schmerz heraus.
— 135 —
zui- Abwehr des Schmerzes gilt das gleiche wie von den
weltlichen; auch sie beseitigen den Schmerz nicht absolut
und für alle Zeit. Die Opfer sind unrein, denn sie erfordern
Blutvergiessen ; und das Tödten von Thieren ist unter
allen Umständen eine Schuld, che nach dem Gesetz der
Vergeltung ihre Frucht tragen, d. h. einen Schmerz im
Grefolge haben muss. Selbst wenn Jemand durch das Opfer
in eine der himmlischen Welten gelangt ist , so sieht er
mit Schmerzen, dass es dort droben höhere Stufen giebt
als die von ilun erreichte. „Und es ist natürlich, dass das
höhere Glück eines andern dem weniger Glücklichen
Schmerzen bereitet*)." Die Hauptsache aber ist, dass der
in den Himmel aufgestiegene nur einen vergänglichen
Erfolg erzielt hat; denn auch die Götter und die andern
Bewohner jener Welten unterliegen noch der Metempsy-
chose -). Und schliesslich haftet an den Opfern die Un-
gerechtigkeit, dass nur reiche Leute die grossen Kosten,
die ihre Vollziehung erfordert, bestreiten können; den
Armen ist dieser Weg zur zeitweiligen Befreiung vom
Schmerz ebenso verschlossen als die von dem Materialisten
empfohlene Anwendung der weltlichen Mittel-^).
^) Säinkhya-tattva-kaumridi zu Kärikä 2, S. 540 meiner Ueber-
setzung. Auch Vijiiänabhikshu hält am Schluss des Commentars
zu Sutra IV. 67 die Möglichkeit für ganz ausgeschlossen, „dass
man Freude über das Glück eines andern empfinden könne."
-) Die auf dieser Erwägung beruhende Geringschätzung der
himmlischen Freuden hat sich nicht nur dem Buddhismus, sondern
später auch in weitem Umfange der brahmanischen Literatur mit-
getheilt. Vgl. darüber Lucian Scherman's Materialien zur
Geschichte der Indischen Visionslitteratur S. 16 — 18.
3) S. Kärikä 2 und Sütra I. 82—85, ID. 52, 53, IV. 22, 32, V.
76, 83 , VI. 56 nebst den Erklärungen der Commentatoren (auch
I. 6 und VI. 58 nach Vijiiänabhikshu) und vgl. das Gespräch
zwischen Kapila und dem in eine Kuh gefahrenen Rishi Syü-
maracmi Mbh. XII, Adhy. 269—271. — Vijn. zu IV. 22 und VI.
58 macht der brahmanischen Religion das Zugestand niss, dass die
definitive Erlösung von den Bewohnern der himmlischen Welten
leichter und häufiger erreicht werde als von denen der Erdenwelt,
— 136 —
Noch zwei weitere Hoffnungen auf Befreiung vom
Schmerz halten die Särakhyasütra's für nöthig zu
zerstreuen. Nach V. 82 soll der Yogin, der durch die
Ausübung der Yoga -Praxis in den Besitz der viel be-
sprochenen übernatürlichen Kräfte gelangt ist und über
alle Naturgesetze Gewalt hat, nicht wähjien damit das Ziel
erreicht zu haben; denn auch der Besitz dieser Kräfte ist
vergänglich, wie jeder andere Besitz. Und wer da meint,
dass über kurz oder lang so wie so aller Schmerz zu Ende
sei, wenn die Schöpfung sich zurückbildet und in der Zeit
der Weltauflösung alles bewusste Leben erlischt, dem wird
III. 54 folgendes vorgehalten: auch auf die Perioden der Welt-
auflösung folgen immer wieder neue Schöpfungen, und
„wie ein Mann, der ins Wasser getaucht ist, wieder empor-
taucht", so treten beim Beginn der neuen Schöpfungs-
periode die Wesen wieder ihre qualvolle Wanderung durch
unzählige Existenzen an.
Wer die wirkliche Erlösung vom Schmerz erzielen
will, muss nicht sowohl den Schmerz beseitigen (unter-
drücken , verhüllen) ^) , als sein Auftreten für aUe Zukunft
unmöglich machen. Da nun der Schmerz nothwendig so
lange währt, als die Seele sich mit Körpern und Organen
verbindet^), so ist das Heil nur dann erreicht, wenn der
Wanderung der Seele ein Ende gesetzt ist. Zu diesem
Ziel, dem ,absoluten Aufhören' (atyanta-nivrtii) des Schmerzes,
ist allein die Philosophie im Stande dem Menschen zu
verhelfen. Mit diesem Gedanken stimmen alle orthodoxen
Systeme, ausschliesslich der ritualistischen Mimärusä,
überein; nur wird in keinem andern das Elend des Welt-
daseins mit derselben Entschiedenheit, wie in der Säm-
khya- Philosophie, betont, und das Verlangen nach Er-
lösung vom Schmerz tritt uns deshalb in der brahmanischen
Philosophie nirgends so deutlich entgegen wie hier.
Eine weitere Uebereinstimmung mit demVedänta-,
1) Vijn. zu Sütra I. 11.
2) Kärikä 55.
— 137 —
Vai^eshika- und N y ä y a - System ist die Ueberzeugung,
dass nur eine bestimmte Erkenntniss die Kraft habe,
den Menschen zu erlösen.
In der V e d ä n t a - Philosophie ist es die Erkenntniss
der Identität der Seele mit dem B r a h m a n , in den beiden
atomistischen Systemen die scharfe Erfassung aller erkenn-
baren Dinge, die im yai9eshika in sechs, im Nyäya
in sechzehn Kategorien zerlegt sind. Die Sämkhya-
Philosophie dagegen erfordert „die richtige Erkenntniss
des entfalteten, des unentfalteten und des Erkenners" *),
d. h. die Erkenntniss der absoluten Verschiedenheit, die
zwischen der ganzen materiellen Welt und der Urmaterie,
aus der sie hervorgegangen, einerseits und der Seele, des
wahren Selbstes, andererseits besteht^). „Wenn in Folge
dieser Unterscheidung der Schmerz bis auf den letzten
Rest zu Ende ist, hat man das Ziel erreicht ; durch nichts
anderes ■^). " Um diese unterscheidende Erkenntniss (viveha,
viveka-jnänaj herbeizuführen, entwickelt die Sämkhya-
Lehre ihre Theorie der Weltentfaltuiig , indem sie nicht
nur die Entstehung der Erscheinungswelt in ihrem Kausal-
zusammenhang, sondern auch die psychischen Vorgänge
zu erklären unternimmt. Was der S ä m k h y a - Philosophie
') Kärikä 2.
") Zu dem Zweck ist es erforderlich, das Weseu der 25 vou
der S am khya- Philosophie aufgestellten Principien (panca-vimcati-
tattva) genau zu verstehen, d. h. ausser der geistigen Seele die
folgenden 24 ungeistigen, materiellen Principien richtig zu be-
urtheilen: die Urmaterie, die drei inneren Organe Buddhi, Aham-
kära, Manas, die fünf Sinne der Wahrnehmung und die fünf
Fähigkeiten des Handelns, die fünf Grundstoffe (tanmätra) und die
fünf groben Elemente. Von diesen 25 Principien ist in unseren
Texten sehr viel die Eede , ja die S am khya -Philosophie wird
geradezu ,die Wissenschaft von den 25 Principien' genannt. Wenn
als das höchste Ziel des Menschen das tattva-jnäna ,die Erkenntniss
der Principien' bezeichnet wird, so heisst das für den Inder
zugleich ,die Erkenntniss der Wahrheit' 5 die beiden Bedeutungen
von tattva fliessen hier vollständig zusammen.
3) Sutra III. 84.
— 138 —
lediglich Mittel zum Zweck ist — Kosmologie, Physiologie
und Psychologie — , erscheint freilich uns Abendländern,
die wir nicht in dem Dogma von der Metempsychose be-
fangen sind und das Erlösungsbedürfniss im Sinne der
indischen Philosophie nicht theilen können, als der eigent-
lich bedeutungsvolle Theil ihrer Lehren. Bleiben wir aber
zunächst noch ganz auf indischem Boden stehen mit
der Frage, wer nach der Anschauung der Sämkhya-
Philosophie dazu berufen ist, die erlösende Erkenntniss zu
erreichen und andere durch Belehrung zu ihr zu führen.
Ein Blick auf die entsprechenden Verhältnisse im Vedänta
lässt uns den menschhch höheren Standpunkt, den hier
die S ä m k h y a - Lehre einnimmt, erkennen. Aus Deussen's
System des Vedänta S. 63 erfahren w4r, „dass alle die-
„jenigen, welche durch das Sakrament des üpanayanam
„(der Einführung bei einem Leln-er unter feierlicher Um-
„ gürtung mit der Opferschnur) wiedergeboren (dvija) sind,
„also, falls sie diese Bedingung erfüllen, alle Brähmana's,
„Kshatriya's und Vai9ya's, dass ferner auch die
„Götter und die (abgeschiedenen) Rishi's zur Vidyä
„[d. h. zur erlösenden Heilslehre] berufen sind; dass hin-
„ gegen die Cüdra's (die Angehörigen der vierten, nicht-
„ arischen Kaste) von derselben ausgeschlossen bleiben."
Es liegt auf der Hand, dass die ursprünglich uubrahma-
nische Sämkhya- Philosophie, die dem alles Lebende mit
der gleichen Liebe umfassenden Buddhismus zur Grundlage
gedient hat, bei ihrer Begründung diese brahmanische
Einschränkung nicht gekannt haben kann ; aber es gereicht
ihr zur Ehre, dass sie auch in späterer Zeit sich nicht
dazu verstanden hat, irgend einer Menschenklasse den Weg
zum ewigen Heil zu verschliessen. So selbstverständlich
uns dieser Standpunkt erscheint, so bewundernswerth ist
er bei einem System, das zwei Jahrtausende lang äusserhch
im Einklang mit dem Brahmanenthum gestanden und
mehrere Jahrhunderte hindurch in ihm eine geistige Herr-
schaft ausgeübt hat.
In Kärikä 53 werden die Wesen folgendermassen
— 189 —
eingetheilt 1) : „Die göttliche [Schöpfung] ist achtfältig, die
thierische fünffach, die menschliche von einer Art."
Wenn hier die überirdischen Geschöpfe, je nachdem sie
in der Welt des Gottes Brahman, des Prajäpati, des
Indra leben oder zu den Ahnen, den Gandharva's,
Yaksha's, Räkshasa's oder Pi9äca's gehören, für acht
verschiedene Arten erklärt werden, so wird dadurch die
Zusammenfassung der Menschenwelt in eine einzige Klasse
um so bedeutungsvoller. Ein System, das gerade mit be-
sonderer Vorliebe Abtheilungen und Unterabtheilungen
ziffernmässig feststellt, würde bei dieser Gelegenheit gewiss
nicht versäumt haben, auch die Menschen in der üblichen
nahe liegenden Weise zu klassificiren, wenn ihm nicht die
Kasten- und Rassenunterschiede als nichtig gegolten hätten.
Wären zu irgend einer Zeit die^üdra's von dem Studium
der S am khya- Philosophie ausgeschlossen gewesen, so
würde dieser Grundsatz zweifellos in den Lehrbüchern des
Systems verkündet worden sein, wie er in den Lehrbüchern
des Vedänta aufgestellt und ausführlich begründet ist.
An keiner der zahlreichen Stellen aber, an denen die
S ä m k h y a - Schriften die Vorbedingungen für die Er-
reichuncr der erlösenden Erkenntniss erörtern — wir werden
sie gleich im Zusammenhang betrachten — ist überhaupt
von dem Stande oder der Abstammung des Erlösungsbe-
dürftigen die Rede. Mehrfach -) werden die zur Erkennt-
niss Berufenen in drei Klassen eingetheilt, aber nicht etwa
nach irgend einem äusserlichen Gesichtspunkt, sondern nur
nach dem Grade ihrer moralischen und intellektuellen Be-
fähigung in wenig, mittelmässig und hervorragend begabte.
Damit gilt ein Jeder als berufen, der im Stande ist, dem
Gedankengange des Systems zu folgen und gewült, den an
ihn gestellten Forderungen zu genügen. In Sütra IV. 2
^) Genau so wird aucli in Sutra III. 46 und in der Sämkhya-
krama-dii)ikä (Ballantyne's Lecture No. 72) der hhüta- oder bhau-
tiha-sarga ,die Schöpfung der Wesen' dargestellt.
2) Sütra I. 70, IH. 76, VI. 22.
— 140 —
wird berichtet, dass einstmals ein im Gebüsch verborgener
Dämon unbemerkt mit anhörte, wie ein Lehrer seinem
Schüler Unterricht in der Heilslelu-e ertheilte, — Vij&ä-
n a b h i k s h u bezieht dies auf A r j u n a ' s Belehrung durch
K r s h n a in der Bhagavadgitä — und dass auf solche
Weise der Dämon die Erlösung gewann. Diese Legende
giebt Vijiiänabhikshu Gelegenheit zu erklären, dass
auch Frauen, ^üdra's und andere das höchste Ziel
erreichen können ^). Wenn noch im sechzehnten Jahrhundert
dies von einem strenggläubigen Anhänger des Brahmanen-
thums bei der Erklärung eines Sämkhya- Textes aus-
gesprochen ist, so brauchen wir nach keinen weiteren
Beweisen dafür zu suchen, dass die Sämkhya- Philo-
sophie niemals das nationale Vorurtheil des Vedänta
getheilt hat.
Ein Jeder nun, der die unterscheidende Erkenntniss
gewonnen hat , ist zur Belehrung anderer berufen ; die
Beschränkung auf professionelle Lehrer wird ausdrücklich
in unserem System zurückgewiesen -). Wiederum ein un-
brahmanischer Zug! Aber nur wer zur unmittelbaren
Erschauung (säkshdtkära) der Wahrheit gelangt und in
Folge dessen bei Lebzeiten erlöst (jivan-mulcta) ist, soll
die Unterweisung anderer unternehmen ^). Denn wenn
Jemand als Lehrer auftreten wollte, der blos die richtige
Lehre vortragen gehört, aber durch Reflektiren und Me-
ditiren noch nicht jenes Ziel erreicht hat, so würde endlose
Verwirrung die Folge sein; oder um mit Vijnänabhik-
shu zu reden: „wenn Jemand das Wesen des Selbstes,
„ohne es ganz vollständig zu kennen, lehrte, so würde er
„hinsichtlich dieses oder jenes Theiles wegen des eignen
„Irrthums wiederum seinen Schüler in Irrthum versetzen,
„der wieder einen andern und so fort; auf diese Weise
^) Das gleiche ist mit Bezug auf das Yoga- System gesagt
Mbh. XII. 8801.
2) Aniruddha und Mahädeva zu Sütra IV. 4.
«) Sütra III. 79.
— 141 —
„würde eine Tradition entstehen, die einer Reihe von sich
„gegenseitig führenden Blinden vergleichbar wäre (andha-
,,parampard) i)."
Die NothAvendigkeit der Belehrung als solcher
wird S ü t r a IV. 1 durch die Erzählung von dem Königs-
sohn veranschaulicht, der zu einer Unglück verheissenden
Stunde geboren und deshalb Verstössen, aber von einem
Waldbewohner aufgezogen wird. Der Königssohn wächst
natürlich in dem Wahne auf, ein Waldmensch zu sein,
bis ihn eines Tages ein Minister nach dem Tode des ohne
weitere Kinder gestorbenen Königs aufsucht und über
seine Herkunft belehrt. In demselben Augenblick lässt
dieser seine Wahnvorstellung fahren und weiss, dass er
ein König ist. Ebenso ahnungslos ist im alltäglichen
Leben der Mensch in Betreff seines inneren Wesens, seiner
wahren Natur, und ebenso plötzlich geht ihm die intellek-
tuelle Selbsterkenntniss auf, wenn er die rechte Belehrung
empfängt. Aber nur in dem Falle, dass er zu den im
höchsten Masse befähigten gehört. — Wo die Erkenntniss
durch einmalige Belehrang nicht entsteht, wird ihre
Wiederholung anempfohlen -).
3. Die Anforderungen.
Die V e d ä n t a - Philosophie steht der Lehi-e von der
Werkgerechtigkeit nicht consequent gegenüber; so ent-
schieden sie feststellt, dass die Erlösung allein durch das
Wissen und nicht durch Werke zu gewinnen ist, so erklärt
sie doch die Opfer und sonstigen frommen Werke keines-
wegs für überflüssig; sie gelten ihr vielmehr als ein uiit-
wirkendes Hilfsmittel zur Erlangung des Wissens. Ja, in
Folge der engen Verbindung mit der ritualistischen Mi-
m ä m s ä geht sie so weit , die im bralunanischen Gesetz
vorgeschriebenen Pflichten auch für den nach dem Wissen
1) Viju. zu Sütra IH. 81.
2) Sütra IV. 3.
— 142 —
strebenden als verbindlich zu erklären. Nur wer das
Wissen erlangt hat, ist nach dem Vedänta der Beobach-
tung dieser Pflichten enthoben *).
Dass die S ä m k h y a - Philosophie nicht nur, so lange
sie dem Bralunanenthum feindlich gegenüber stand, sondern
auch noch später diese Theorie bekämpft hat, ist nicht zu
bezweifeln. Noch in der Kärikä ist mit keinem Worte
davon die Rede, dass der Werkdienst eine nützliche Vor-
bereitung zur Erreichung der Erkenntniss sei; in Kärikä 2
wird einfach die Vollziehung von Opfern widerrathen.
Erst die Sütra's, deren Abfassung wir oben S. 71 gegen
1400 ansetzen zu müssen glaubten, haben sich ausser
anderen vedantistischen Lehren auch diese Theorie von dem
Nutzen des Werkdienstes zu eigen gemacht -). Dieselbe
wird hier genau so formulirt wie im Vedänta. Zwar
ist die unterscheidende Erkenntniss ausnahmslos das einzige
Mittel zur Erlösung-'), und doch wird die Erfüllung der
im brahmanischen Gesetz vorgeschriebenen Pflichten em-
pfohlen*). Die Commentatoren führen dann mit grösserer
oder geringerer Entschiedenheit aus, dass die Werke nur
als Hilfsmittel zu betrachten seien und dass sie an Werth
nicht den unumgänglichen Mitteln zur Erreichung der
Erkenntniss, von denen gleich gehandelt werden soll, nahe
kommen. Diese Vedänta- Lehre von der Bedeutung des
Werkdienstes ist nun aber in rein äusserlicher Weise in
die Sämkhyasütra's eingefügt, nicht organisch mit
unserem System verschmolzen; denn an verschiedenen
Stellen bricht auch noch in den Sütra's der echte, mit
jener Lehre im Gegensatz stehende Standpunkt des Säm-
khya durch. Sütra L 84 heisst es, dass aus der Voll-
ziehung des im Gesetz vorgeschriebenen Werkes Schmerz
1) S. Deussen, System des Vedänta S. 86—90, 434—440.
443—445.
2) Vgl. oben S. 72.
3) Sütra I. 56, UI. 25—28, VI. 15; s. auch Kärikä 44.
*) Sütra m. 32, 35, IV. 19, 21.
— 143 —
über Schmerz sich ergiebt, und nicht etwa das Aufhören
der Nichtunterscheidung, „wie aus dem Uebergiessen mit
[kaltem] Wasser nicht Befreiung von der Erstarrung er-
folgt." Und im folgenden Sütra wird hinzugefügt, dass
es sich ganz gleich bleibt, ob man mit dem Werke einen
Wunsch verbindet oder nicht; auch aus dem wunschlosen,
im Innern geübten Opfer entstehe Schmerz über Schmerz.
Derselbe Gedanke wird mit anderen Worten in Sütra
IV. 8 zum Ausdruck gebracht: „Denken an das, was kein
Mittel ist, führt zum Gebundensein, wie bei B h a r a t a ^) ",
und Vijnänabhikshu bemerkt dazu: „Was kein direktes
„Mittel zur unterscheidenden Erkenntniss ist, auf dieses
„hat man, auch wenn es eine Vorschrift der Moral sein
„sollte, doch sein Denken nicht zu richten, d. h. nicht den
„Wunsch des Herzens auf die Ausübung desselben zu
„lenken." In Sütra IV. 12 wird gar die Arbeit zum
Zwecke der Selbsterhaltung für überflüssig erklärt.
Die echte Sämkhya- Lehre also lautet: selbst gute
Werke befördern nicht, sondern hindern die Erreichung
der unterscheidenden Erkenntniss. Von einer Moral ist
also im Sämkhya- System nicht die Rede ^) — diese
*) Der Vergleich bezieht sich auf eine dem Vishnu Puräna
entlehnte Erzählung: der königliche Weise Bharata, der nahe
vor der Erreichung der erlösenden Erkenntniss stand, pflegte aus
Mitleid eine elende junge Gazelle und ging dadurch des ihm
winkenden Lohnes seiner Bemühungen verlustig.
^) Wenn wir in einem alten Jaina- Texte die Angabe finden,
dass , Mitleid mit den Wesen' die Quintessenz von Kapila's Lehre
gewesen sei (s. meine Uebersetzung von Aniruddha's Commentar,
Introduction p. X, Note und vgl. dazu dayä hhüteshu Mbh. XIL
1104.5, sarva-bliüta-dayä ebendas. 11167), so widerspricht dies dem
obigen Satze nicht; denn die Schonung der Thiere kann lediglich
durch das egoistische Verlangen bedingt sein, sich vor einer
Verschuldung zu bewahren, die einen Schmerz im Gefolge haben
muss. Und einen solchen egoistischen, sich in rein negativer Weise
bethätigeuden Gedanken wird man nicht als ein Moralprincip
gelten lassen wollen.
— 144 —
Lücke hat erst sein Tochtersystem , der Buddhismus, in
bewundernswerther Weise ausgefüllt — , und es darf deshalb
bei einer unparteiischen Beurtheilung nicht verschwiegen
werden, dass die unverfälschte Sämkhya- Philosophie, die
für die Schärfung des Verstandes der indischen Denker
von hoher Bedeutung gewesen ist, einen gewissen Antheil
an der ungünstigen Entwickelung des indischen National-
charakters gehabt haben Avird. Selbst in den Lehr-
büchern des Systems lässt sich an einzelnen Stellen dieser
sittlich schädigende Einfluss erkennen ^).
Mit der Verwerfung moralischer Werke als eines Hilfs-
mittels zur Erkenntniss steht im engsten Zusammenhang
dasjenige Erforderniss zur Erreichung des erlösenden Wissens,
das der Sämkhya -Lehre als conditio sine qua non gut:
die Gleichgiltigkeit gegen alle weltlichen Dinge (viräga, vai-
rägya). Denn auch das Ausüben guter Werke ist mit dieser
Gleichgiltigkeit nicht zu vereinigen. Der mit Begierde
oder Kummer behaftete ist absolut unfähig die Belehrung
in sich aufzunehmen; „in einem, dessen Sinn auf solche
Weise verdüstert ist, geht der Same der Belehrung nicht
auf 2)". Die Begierden nun aber werden nicht durch den
Genuss gestillt"^), sondern nur durch die Erkenntniss der
Felller und Mängel, die allem Materiellen anhaften *). Eine
solche Erkenntniss führt den Menschen dazu, seinem Besitz
und allen weltlichen Genüssen zu entsagen. Und nur das
freiwillige Aufgeben der weltlichen Güter und der
Hoffnungen erzeugt den Zustand des Gemüthes, den die
Philosophie verlangt, während erzwungenes Aufgeben
1) S. oben S. 135.
■^ Sütra IV. 29—31.
3) Sütra IV. 27.
*) Sütra IV. 28. Vijnäiiabbikshu zu IV. 4 hebt besonders die
Hinfälligkeit des Körpers hervor: „Wenn man erkennt, dass, wie
„der eigene Vater gestorben und der eigene Sohn geboren ist, man
„auch selbst geboren ist und sterben muss, so tritt die Gleich-
„giltigkeit ein und durch sie die unterscheidende Erkenntniss."
— 145 —
den Beraubten leidvoll macht '). Wer diese Welt mit voller
Gleichgiltigkeit gegen ihre Genüsse aufgiebt und sich dem
Streben nach der Erkenntniss widmet, wird dem Flamingo
verglichen 2), der es nach dem indischen Volksglauben ver-
steht, aus einer Mischung von Milch und Wasser nur die
werthvoUe Milch zu sich zu nelunen und das werthlose
Wasser zurückzulassen. Die errungene Gleichgiltigkeit ist
fi-eilich ein verlierbares Gut ; um es zu bewahren, wird die
Vermeidung menschlicher Gesellschaft — ja selbst eines
einzigen Gefährten, wofern dieser nicht im Besitze der
höchsten Erkenntniss ist-'') — anempfohlen, da das Zu-
sammenleben mit anderen leicht zur Entstehung von
Leidenschaften, zu Zank und Streit führt*); keinenfalls
aber soll man aus freien Stücken Gemeinschaft mit Leuten
halten, die noch von Begierden erftült sind^).
Das Sämkhya- System unterscheidet eine niedere und
eine höhere Gleichgiltigkeit (apara- und para-vairägya) ^'').
Unter den ersten Begriff fällt diejenige, die als Vorbereitung
auf das Streben nach der Erkenntniss gefordert wird,
während die ,höhere Gleichgiltigkeit' erst eintreten kann,
nachdem die unterscheidende Erkenntniss erreicht ist ").
Auf dem Standpunkt der ,niederen Gleichgiltigkeit' hat
man der Freude an den Sinnesobjekten und der Theilnahme
1) Sütra IV. 5—7, 11.
') Sütra IV. 23.
ä) Sütra IV. 24.
*) Sütra IV. 9, 10.
5) Sütra IV. 25, 26.
6) Wenn in der Sämkhya-tattva-kaumudi zu Kärikä 23 und
im Anschluss daran von Aniruddha zu Sütra II. 1 gar vier ver-
schiedene Stufen der Gleichgiltigkeit beschrieben und mit besonderen
technischen Ausdrücken benannt werden, so handelt es sich dabei
um die Weiterentwickelung eines dem Yoga -System entlehnten
Gegenstandes.
') Aniruddha's und Vijrianabhikshu's Einleitung zu Sütra I. 1,
Vijn.'s Einleitung zu III. 1 und Commeutar zu II. 2, 3, III. 84,
Yogasütra I. 16.
Garbe, Sämkhya-Philosophie. 10
— 146 —
an äusseren Vorgängen entsagt; die ,höhere Gleichgiltig-
keit' aber besteht darin, dass man nach der Erkenntniss
des Unterschiedes von Geist und Materie auch die feinsten
Modifikationen der Materie in Gestalt seiner eigenen
inneren Organe, die man dann als nicht zu dem Selbst
gehörig, sondern ihm wesensverschieden weiss, mit derselben
Indifi'erenz ansieht wie die Objekte der Aussen weit. Dieser
Zustand ist eine unmittelbare Vorstufe der Erlösung. Wir
haben es also hier nur mit der ,niederen Gleichgiltigkeit'
zu thun, die der Erreichung der unterscheidenden Er-
kenntniss vorangehen muss, aber nicht zu ihr zu führen
braucht. Da sie auch in dem letzteren Falle ein Verdienst
bleibt und jedes Verdienst nach dem Gesetz der Vergeltung
belohnt wird, so ist demjenigen, der diese Welt aufgegeben
und doch das erlösende Wissen nicht gewonnen hat, im
Sämkhya- System in Aussicht gestellt, dass er in die
Urmaterie aufgehen und bei Beginn einer neuen Welt-
periode als Gott wieder in das Weltdasein eintreten wird ').
Von der Nothwendigkeit der Belehrung war bereits
S. 141 die Rede. Schon die blosse Thatsache, dass Jemand
von einem competenten Lehrer in der Sämkhya- Philo-
sophie unterrichtet wird, gilt als ein Glück, dessen Ursache
grosses in vielen Existenzen erworbenes Verdienst sein
muss 2). Nur bei sehr Befähigten führt aber die Belehrung
oder, wie es technisch heisst, ,das Hören' (gravana) un-
mittelbar zum Ziel ^) ; in der Regel ist darauf die Reflexion
(manana) und anhaltende Meditation (nididhyäsana) er-
forderlich *) ; es finden sich deshalb in unseren Texten,
wenn von den Anforderungen an den Erlösungsbedürftigen
1) Kärikä 45, Sütra III. 54—56, Säiukhya-krama-dipika
Nr. 15 und meine Uebersetzuug des Sämkhya-pravacana-bhäsbya
S. 244, Anm. 2.
2) Vijn. zu IL 3.
^) S. die Commentare, besonders den Aniruddha's, zu I. 70,
III. 76, VI. 22.
4) Sutra IV. 17, VI. 23, 57.
— 147 —
gehandelt wird, diese drei Begriffe stehend in dem Com-
positum qravana-manana-nididhyäsana verbunden. Vijnä-
nabhikshu zu VI. 57 erklärt sogar, dass die Verhältnisse
bei den Bewohnern der himmlischen Welten ebenso liegen,
wie auf Erden.
Aber auch da, wo Reflexion und anhaltende Meditation
geübt werden, stehen — abgesehen von der Möglichkeit,
dass die Reflexion ganz falsche Wege einschlagen kann ^) —
der Erreichung der erlösenden Erkenntniss noch allerlei
Hindernisse im Wege, unter denen das grösste die anfangs-
lose felilerhafte Anlage (anddi-nüihyd-väsanä) -) unseres
Denkorgans ist. Die Nichtunterscheidung (aviveka) erzeugt
die Disposition zur Nichtunterscheidung in der folgenden
Existenz, und diese Disposition ist dann wiederum die Ursache
der Nichtunterscheidung ; so haben wir hier — nach rück-
wärts gesehen — eine Verkettung ohne Anfang, da der
Samsära von Ewigkeit her existirt, vergleichbar dem
Fall von Same und Spross (Mjänhura-vat) oder, wie wir
sagen würden: von Henne und Ei'^). Daraus, dass diese
Verkettung von Nichtunterscheidung und Disposition
anfangslos ist, darf man aber nicht schliessen, dass sie auch
bis in alle EAvigkeit hin währen müsse; denn durch die
eintretende Unterscheidung wird sie gelöst*).
Die in unsrer Naturanlage liegenden Hindernisse
werden erfolgreich bekämpft durch die Concentration des
Denkens ^). Ist diese Concentration auf das höchste Maass
gesteigert, so dass kein Abirren der Gedanken auf andere
Objekte hin mekr stattfindet, so tritt die unmittelbare
Erschauung (sälcshätkära) der Wahrheit ein.
Die Lelu-e von der Concentration bildet bekanntlich
den Hauptinhalt des Yoga- Systems, in dessen Lehrbüchern
^) Vijn. zu I. 65 Schluss.
2) VijS. zu n. 3.
"") Sütra VI. 12, Vijn. zu I. 57 Schluss.
*) Sütra VI. 13.
5) Sütra IV. 13, 14, VI. 26. '
10'
— 148 —
ausführlicli die Regeln über das äussere und innere Ver-
halten des Asketen gegeben sind. Bei der engen Verbindung
von Sämkhya und Yoga darf es uns nicht Wunder
nehmen, dass die Theorien des Yoga- Systems über diesen
Punkt in die S änikhya- Schriften eingedrungen sind.
Die Kärikä erwähnt zwar nichts von der Yoga- Praxis,
spricht aber einmal (in Strophe 45) von der aus der über-
natürlichen Kraft (aigvarya) resultirenden Erftillung eines
jeden Wunsches; auch die Commentatoren zur Kärikä
beschäftigen sich nur gelegentlich (bei Strophe 23) mit
der Yoga- Praxis und den wunderbaren durch sie zu
erreichenden Kräften. Die Sütra's dagegen behandeln
die Yoga- Praxis als einen integrirenden Tlieil der Säm-
khya - Lehre '), aber doch noch ohne auf die Einzelheiten
systematisch einzugehen. Erst die Commentatoren zu den
Sütra's operiren mit dem ganzen Apparat der acht
yogänga oder Bestandtheile der Yoga-Praxis 2), als da sind
Selbstbezwingung (yama), Einhaltung der Observanzen
(myama), Verharren in bestimmten Körperhaltungen (äsana)^
künstliche Beschränkung des Athmens (pratyähära)^ Samm-
lung (dJiäranä)., Meditation (dhyäna) und Versenkung (sa-
mädhi)'^); auch haben sie aus Yogasütra I. 17, 18 die
Lehre entlehnt, dass über die bewusste Concentration
(samprajndta-yoga) hinaus ein Zustand zu erstreben sei, in
dem die Concentration zu voller Bewusstlosigkeit gesteigert
ist und ,aus dem es kein Auferstehen gifebt' (asamprajnäta-
yoga). Erst in diesem Zustande der Bewusstlosigkeit ist
nach der von den späten Sämkhya- Lehrern übernommenen
Anschauung des Yoga- Systems das Ziel erreicht*).
Wenn nun auch diese ganze künstliche Methode zur
Gewinnung der Erkenntniss durch Absolvirung fest be-
1) Sütra m. 30—35, IV. 15, 16, VI. 24—26, 29—31. Vgl. oben S. 74
2) Yogasütra II. 29 ff.
3) S. besonders Aniruddha zu ITI. 32, VI. 57, Vijiiäna zu III.
30, 33—35.
*) Anir. zu VT. 50, Vijn. zu III. 77, VI. 30.
— 149 —
stimmter Vorstufen der ursprünglichen und reinen Säm-
khya -Lehre fi-emd ist, so haben wir doch gesehen, dass
auch von ihr — wenigstens als Regel — ein mühsames
Erarbeiten der unterscheidenden Erkenntniss vorausgesetzt
wird. Wie viel von dem Einzelnen zu leisten ist, wie
lange er die heisse Denkarbeit zu üben hat und ob er
überhaupt ans Ziel gelangt, hängt ganz von seiner indi-
viduellen Beanlagung ab *). Immer aber tritt die Erkennt-
niss da, wo sie erreicht wird, blitzartig, intuitiv ein, wie
bei einem, der über die Himmelsrichtungen in Verwirrung
ist, die Aufhebung des Irrthums wohl durch Belehrung
und Beweisführung vorbereitet werden kann, aber doch
nur durch die unmittelbare Erschauung bewirkt wird 2).
Mit dieser Vorstellung scheint die in den Sämkhya-
sütra's lU. 77 — 79 vorgetragene Lehre von den drei
Stufen der Erkenntniss, der geringen, mittelmässigen und
höchsten Unterscheidung, nicht zu stimmen. Da wir nun
in der Y oga- Philosophie drei solche Erkenntnissstationen
angenommen finden ^) und bei den Commentatoren zu den
eben citirten Sämkhyasütra's*) lesen, dass die Steigerung
der Unterscheidung auf die dritte und höchste Stufe (vi-
veha-nishpatti) erst bei derjenigen Concentration eintritt,
bei welcher das Bewusstsein vergangen ist, so ist wohl
nicht zu bezweifeln, dass auch diese Lehre von den drei
Graden der unterscheidenden Erkenntniss aus dem Yoga-
System entlehnt ist.
Ich habe hier nur dasjenige zur Sprache gebracht,
was zum Verständniss der von unserem System gestellten
Anforderungen zu wissen nöthig ist; der psychologische
Process, auf dem das Eintreten des erlösenden Wissens
beruht, kann erst in dem vierten Abschnitt dieses Werkes
erörtert werden.
1) Sutra I. 70, III. 76, IV. 20, VI. 22.
2) Sütra I. 59.
^) S. Paul Markus, die Yoga-Philosophie S. 66.
*) Vgl. auch noch Vijn. zu VI. 30.
150
4. Die Methode.
Stämmtliche indischen Systeme bekunden echt philo-
sophischen Sinn dadurch, dass sie es für nothwendig halten,
über die von ihnen angenommenen Quellen der Erkennt-
niss Rechenschaft zu geben. Das allgemein gebrauchte
Wort für Erkenntniss- und Beweismittel ist pramäna *),
etymologisch: dasjenige, wodurch etwas abgemessen, genau
festgestellt, also eine richtige Erkenntniss (pramd) ge-
wonnen wird 2).
Hinsichtlich der Zahl der Pramäna's weichen die
Systeme von einander ab ^) ; in der Erörterung des wich-
tigsten aber und von allen Schulen (ausscliliesslich der
Cärväka's) als das eigentlich philosophische Beweismittel
erkannten, der Schlussfolgerung nämlich, zeigen die Lehr-
bücher der orthodoxen Systeme die grösste Ueberein-
stimmung. Die ganze Terminologie, die Definitionen, die
Behandlung der Einzelheiten und die Beispiele sind auf
diesem Gebiete mit geringen Abweichungen überall die
gleichen. Dies erklärt sich daraus, dass dieser Gegenstand
von derVai9eshika-Nyäya- Schule bis zu der höchsten
für Indien erreichbaren Vollendung ausgearbeitet und
deshalb in der dort festgestellten Form von den anderen
Schulen übernommen ist*). Wenn also die Theorie der
Schlussfolgerung in den Sämkhya- Schriften eingehend
1) Seltener mäna, s. die Indices zu meinen Ausgaben der Säm-
khya-Texte.
2) Vgl. Sämkhya-tattva-kaumudi zu Kar. 4 und Sütra I. 87.
^) S. Deussen, System des Vedänta S. 94.
*) Darstellungen der indischen Theorie der Schlussfolgerung
findet man bei Max Müller, Zeitschrift der Deutschen Morgen-
ländischen Gesellschaft VI. 229 ff. und bei E. Röer in derselben
Zeitschrift XXI. 368 ff. Mit der europäischen Art der Erschliessung
ist die indische verglichen von J. Ballantyne, Lectures on the
Nyaya Philosophy, Allahabad 1849, p. 30 ff. und von E. Röer in
der Ausgabe des Bhäshapariceheda, Calcutta 1850 (Bibl. Ind.),
Introduction p. XXI ff.
— 151 ~
(am ausführlichsten in der Sämkhya-tattva-kaumndi
zu Kärikä 5 und im Sämkhya-pravacana-bhäshy a
zu Siitra I. 103) behandelt wird, so erkennen wir
hier ein fremdes Element, dessen Erörterung der indische
Geschmack verlangte ^) , von dem aber eine europäische
Darstellung der S ä m k h y a - Philosophie nur insoweit Notiz
zu nehmen hat, als es für die Methode dieses Systems von
Bedeutung ist.
Unser System erkennt drei Quellen der Erkenntniss
an : 1) die Perception (jyratyahsha, drshta), 2) die Schluss-
folgerung (anumdna), 3) die zuverlässige Mittheilung (dpta-
vacana, cabda) -). Die ausserdem noch im N y ä y a - System
angenommene Erkenntniss aus der Analogie (upamdna)
und die weiteren in der Mimämsä aufgestellten Pramäna's
(s. oben S. 112 Anm. 1) werden in Kärikä 4 und Siitra
I. 88 als entweder in jenen drei enthalten oder als nicht
dem Begriff des Pramäna entsprechend zurückgewiesen 3).
Die Perception wird in Kärikä 5 als ,Feststellung
der einzelnen Objekte [durch die Sinnesorgane]' definirt,
in Sütra I. 89 als ,diejenige Denkfunktion, welche [mit
1) Die indischen Philosophen scheinen, auch wenn sie über
andere Systeme schrieben, Werth darauf gelegt zu haben, ihre
Vertrautheit mit der formalen Logik des VaiQeshika-Nyäya
zu bekunden. Aus keinem anderen Grunde kann der Verfasser
der Säinkhyasütra's VI. 27 — 36 die verschiedenen Ansichten über
die vyäpti, den Begriff, auf dem die Theorie des Syllogismus auf-
gebaut ist, beleuchtet haben. Und Aniruddha hat bei V. 85,
86 die Gelegenheit benutzt, den Inhalt der Vai^eshika- und
Nyäyasutra's in einer Ausführlichkeit zum Besten zugeben, die
uns geradezu lächerlich erscheint. Bei solchen für das Säm-
khya- System bedeutungslosen Abschnitten unserer Quellen genügt
ein Hinweis auf meine Uebersetzungen.
-) Kärikä 4—8, Sutra I. 87—91, 100—104, Colebrooke,
Mise. Ess.'- I. 252, 253, Johaentgen, Das Gesetzbuch des Manu
S. 62—67.
') S. die ausführliche Polemik in der Sämkhya-tattva-kaumudi
zu Kärikä 5.
~ 152 —
einem Dinge] in Verbindung stehend die Form desselben
wiedergiebt'. Als ein Vorzug der Sinneswahrnelimung vor
den anderen Erkenntnissquellen gilt, dass sie alle Besonder-
heiten ihrer Objekte mit einem Male erfassen kann i),
während eine Beschreibung durch Worte immer noch so
und so viel« Einzelheiten übrig lässt, die nicht zur
Vorstellung kommen.
Versagt die Sinnes Wahrnehmung, so darf man die
Nichtexistenz des in Frage stehenden Dinges nur dann
constatiren, wenn dieses seiner Natur und den Umständen
nach wahrgenommen werden müsste; ,.denn sonst könnte
Jemand, der aus einem Hause herausgegangen die Ein-
wohner dieses Hauses nicht sieht, zu der Ueberzeugung
kommen, dass diese nicht existiren -) ". Das Versagen der
Sinneswahrnehmung kann nach Kärikä 7 (und Sütra I.
108) folgende verschiedene Gründe haben: zu grosse Ent-
fernung, zu grosse Nähe, Fehler an den Sinnesorganen,
Unaufmerksamkeit, zu grosse Feinheit, Dazwischenliegen
von etwas, Unterdrücktwerden (wie am Tage die Sterne
von der Sonne unterdrückt, d. h. verdunkelt werden) und
Vermengung mit gleichartigem (wie man die aus einer
Wolke in einen Teich gefallenen Wassertropfen oder die
mit Kuhmilch vermischte Büfifelmilch als solche nicht wahr-
nimmt). Welcher unter diesen sieben Gründen nun findet
auf die der Sinneswahi-nehmung sich entziehenden Principien
der S ä m k h y a - Philosophie Anwendung, d. h, auf die
Seele und auf die unsichtbaren Formen der Materie? Darauf
antwortet Kärikä 8 und Sütra I. 109: Die zu grosse
Feinheit. Und Vijnänabhikshu bemerkt dazu , dass
unter diesem Begriff weder atomistische Kleinheit noch
Unbegreiflichkeit oder Unbeschreibbarkeit zu verstehen sei,
^) Eine solche Sinneswahrnehmung heisst savikalpaka, im
Gegensatz zu dem nirvikalpaka jhäna , das die speciellen Eigen-
thümlichkeiten der Objekte nicht unterscheidet. S. Aniruddha zu
Sutra I. 89 und Vijiiänabh. zu I. 148, 154.
^) Sämkhya-tattva-kaumudi zu Kärikä 7.
— 153 —
sondern eine Eigenschaft allgemeiner Natur, die bei uns
gewöhnlichen Menschen ^) die Erkenntniss durch Sinnes-
wahrnehmung ausschliesst , — womit natürlich nur eine
Umschreibung, aber keine Erklärung gegeben ist.
Diese Betrachtungen der Sämkhya- Schriften, die
wohl hauptsäclilich gegen die Materialisten gerichtet sind,
flihren uns zu der zv,^eiten Erkenntnissquelle, der Schluss-
folgerung. Diese heisst ein Produkt der Sinneswahr-
nehmung-), weil das sinnlich wahrgenommene die Basis
ist, von der aus das nicht wahrnehmbare erschlossen wird.
In Kärikä 6 ist dieses Verhältniss mit den Worten aus-
gedrückt: „Die Schlussfolgerung setzt ein Merkmal und
den Träger dieses Merkmals voraus". Daran schliesst sich
die Definition der Säinkhya-krama-dipikä Nr. 77:
„Schlussfolgerung ist diejenige Erkenntniss, die bei der
Beobachtung eines Merkmals entsteht"; doch finden wir
den Begriff genauer erklärt in Sütra I. 100 als „die aus
der Beobachtung der Zusammengehörigkeit sich ergebende
Constatirung des Zugehörigen". Die Schlussfolgerung ist
von dreierlei Art=^): sie geht 1) von der Ursache auf die
Wirkung (piirvavat)^ wenn man z. B. aus dem Aufziehen
der Wolken einen bevorstehenden Regen erschliesst, 2) von
der Wirkung auf die Ursache (ceshavat) *), wenn man z. B.
aus dem Anschwellen der Flüsse schliesst, dass es geregnet
hat; 3) von dem Einzelnen auf das Allgemeine (sämänyato
^) Denn der Yogin erblickt jene Dinge nach indischer An-
schauung vermittelst einer übernatürlichen Sinneswahrnehmung.
''■) S.t.kaumudi zu Kärikä 6.
**) Kärikä 5 nebst den Commentaren, Aniruddha zu Sütra
I. 100, Vijnänabh. zu I. 103.
*) So in der Nyäya- Literatur; vgl. Vätsyäyana zu Nyäya-
butra I. 1. 5 und Ballantyne, Lecture on the Sänkhya Philo-
sophy p. 60, 64, Colebrooke, Mise. Ess.* I. 253, Deussen,
System des Vedänta S. 94. Die Commentatoren zu den Särnkhya-
Werken sind durch die Etymologie des Terminus geshavat zu
einer anderen Auslegung verführt worden, über die man sich in
den Uebersetzuugen Orientiren kann.
— 154 —
drshfn), wenn man x. B, aus dem Anblick eines blühenden
Manf^obaums scliliesst, dass die Mangobäume überhaupt in
Blüthe stehen ^), oder wenn man aus der Betrachtung der
einzelnen Sinne den allgemeinen Begriff des Wahrnehmungs-
werkzeugs gewinnt ^). Diese letzte Form , welche von
Väcaspatimi9ra als „das Erkennen eines bestimmten
allgemeinen Begriffs, dessen specifische Merkmale nicht
wahrnehmbar sind" definirt ist, entspricht also unserem
Induktionsschluss ; und deshalb habe ich in meinen Sä m-
k h y a - Arbeiten den bisher anders übersetzten Terminus
sdmdnyato drshta mit ,induktiv' wiedergegeben.
Die letzte Erkenntnissquelle, die zuverlässige Mit-
theilung, ist ursprünglich gewiss nichts anderes gewesen,
als die Unterweisung von Seiten eines competenten Lehrers.
Dafür spricht, dass in dem Gesetzbuch des Manu, welches
die Theorie der drei Erkenntnissquellen unserem System
entlehnt hat, XII. 105 neben Perception und Schluss-
folgerung an dritter Stelle die Gesetzsammlungen stehen,
d. h. die Aussprüche der Fachleute 3). Unsere Sämkhya-
^) Gaudapäda zu Kärikä 5.
2) S.t.kaumudi , S. 549, 550 meiner Uebersetzung, Vijnänabh.
zu Sütra I. 103.
^) Vgl. Johaentgen S. 64. — Die Aufstellung der dritten
Erkenntnissquelle hat übrigens in den Sämkhyasütra's Erörterungen
über den Zusammenhang von Wort und Bedeutung veranlasst.
Schon S. 112, Anm. 1 hatte ich Gelegenheit zu bemerken, dass für
die Sämkhya's dieser Zusammenhang nicht ewig, sondern von
menschlicher Uebereinkunft abhängig ist. Als Grund wird in
Sütra V. 97 dafür angegeben, dass die beiden in Verbindung
stehenden Dinge, die Bezeichnung und das Bezeichnete, vergänglich
seien, mithin auch ihre Verbindung vergänglich sein müsse. Auf
drei verschiedene Weisen wird nach Sütra V. 38 und der über-
einstimmenden Erklärung der Commentatoren der Zusammenhang
von Wort und Bedeutung erkannt: 1) Durch direkte Belehrung:
„Das heisst Topf. 2) Durch die Ausdrucksweise und das mit
dieser in Verbindung stehende Verfahren kundiger Leute (vrddha-
vi/avahära)] wenn z. B. der Sprachunkundige beobachtet, wie der
Eine sagt: „Bringe die Kuh" und der Andre den Auftrag ausführt
— 155 —
Texte freilich verstehen unter der ,zuverlässigen Mittheihmg'
das Zeugniss der heiligen Ueberliefening ^) ; und je jünger
sie sind, um so häufiger und eifriger bemühen sie sich,
ihre Beweisführung durch Berufung auf die Schrift zu
kräftigen. Dass dies ein Zugeständniss ist, mit dem die
S am k h y a - Philosophie die Anerkennung ihrer Orthodoxie
erkaufte, brauche ich kaum zu wiederholen 2), Wir dürfen
in der Folge diese unserem System ursprünglich fremde
und innerlich stets fr-emd gebliebene, wenn auch von den
jüngsten Sämkhya- Autoritäten nicht mehr als solche
empfundene Verwendung der Offenbarung als eines Be-
weismittels unberücksichtigt lassen.
In der That also reduciren sich, da die zuverlässige
Mittheilung doch nur für die Verbreitung der Lehre
in Betracht kommt und principiell nicht den beiden anderen
Erkenntnissquellen coordinirt Averden kann, die drei Pra-
mäna's der Sämkhya -Philosophie auf zwei. Aber wir
müssen noch einen Schritt weiter gehen. Im Vergleich
mit der Perception wird die Schlussfolgerung als das
stärkere, beweiskräftigere (drdhatara) Erkenntnissmittel
bezeichnet =') ; in Wirklichkeit jedoch ist das letztere ftir
unser System die alleinige Quelle der philosophischen
Erkenntniss *). Dieser Grundsatz ist offen in Sütral. 60
(vgl. hierzu Sämkhya-tattva-kaumudi zu Kärikä 6, S. 550 meiner
Uebersetzuug). 3) Dadurch, dass ein bis dahin noch unbekanntes
Wort zusammen mit bekannten Wörtern in demselben Satze vor-
kommt (prasiddha-pada-sämänddhikarauya); wie z. B. ein Kind,
das schon die Worte ,Mango' und , essen' kennt, beim Hören des
Satzes „Der Vogel isst den Mango" auch die Bedeutung des ihm
bisher unbekannten Wortes ,Vogel' kennen lernt.
1) Kärikä 5, 6 nebst den Commentaren , Sütra I. 101, Säm-
khya-krama-dipikä Nr. 78.
2) S. oben S. 4, 5, 60, 71, 72.
^) S.t.kaumudi zu Kärikä 8.
^) Vgl. Röer, Lecture p. 20. — Wenn in diesem Sinne das
Sämkhya-System als manana-cästra bezeichnet wird (Vijnänabh.
zu I. 19) , so ist damit zugleich seine Unabhängigkeit von der
religiösen üeberlieferung betont.
— 156 —
ausgesproclieii , und er wird noch Aveiter in Kärikä 6
und Sütra I. 103 dahin specialisirt , dass von den drei
oben angeführten Formen der Schlussfolgerung die beiden
letzte}!, die von der Wirkung auf die Ursache gehende und
die induktive, diejenigen Mittel seien, durch welche das
System aufgebaut ist '). Es lässt sich also die Methode
der S ä m k h y a - Philosophie kurz in folgender Weise
charakterisiren. Sie geht von dem Satze aus, dass die
Wirkung nichts anderes als die Ursache in einem be-
stimmten Entwickelungsstadium ist 2) , und dass von dem
uns sinnlich vorliegenden Stadium die vorangehenden zu
erschliessen sind, bis man bei einem Princip ankommt,
das nur den Charakter der Ursache und nicht auch den
der Wirkung hat. So gelangt sie von der groben Materie
zu den feinen Elementen oder Grundstoffen, von den feinen
Elementen und den Sinnen stufenweise zu den inneren
Organen und von diesen weiter zur Urmaterie. Daraus
ferner, dass alle diese materiellen Principien zusammen-
gesetzt sind und alles zusammengesetzte zum Zwecke eines
andern da ist, erschliesst sie die Existenz der Seele, ftir die
dann auch noch andere, später zu besprechende Beweise
beigebracht werden ■^).
Für die Kenntniss der Methode, wie sie im Einzelnen
in unserm System gehandhabt wird, dürfte es nicht über-
flüssig sein, die allgemeinen logischen Grundsätze, die in
den Sä mkhya- Schriften ausgesprochen werden, und die
stehenden Widerlegungsgründe zu beleuchten. Da unsere
Autoren nicht nur die anderen Systeme gut gekannt und
*) Die beiden Textstellen nennen zwar nur die induktive
Schlussfolgerung, aber Väcaspatimi^ra bemerkt mit Recht, dass
dies eine , elliptische Ausdrucksweise' ist und dass man auch die
zweite Form hinzuzudenken hat; denn faktisch stellt die Säm-
khya -Philosophie ihre Principien im Wesentlichen durch den
Schluss von der Wirkung auf die Ursache fest.
2) Karikä 9, Sütra I. 115—120.
^) Vgl. Röer, Lecture p. 12—14, Johaentgen S. 64.
— 157 —
zum Theil über dieselben geschrieben haben, sondern auch
in der Mehrzahl keine eigentlichen Anhänger des Säni-
k h y a - Systems gewesen sind, so ist es nur natürlich, dass
uns gelegentlich in ihren Werken solche Grundsätze
begegnen, die uns als das specieUe Eigenthum anderer
Schulen bekannt sind, mögen die Lehren dieser Schulen
auch sonst energisch bekämpft werden. So finden wir
z. B. bei Väcaspatimi9ra zu Kärikä 2 und bei
Vijnänabhikshu zu I. 154 das Princip der Mimämsä
ausgesprochen, dass der väkya-bheda zu vermeiden sei,
d. h. dass man, so lange eine Stelle auf andere Weise
befriedigend erklärt werden könne, nicht zu der Annalune
greifen dürfe, es seien zwei oder mehrere Gedanken in
demselben Satze zum Ausdruck gebracht i); oder bei Vijnä-
nabhikshu zu I. 142 den allerdings selbstverständlichen
Grundsatz der Nyäya- Philosophie, dass eine Verbindung
nur da eintreten kann, wo eine Verschiedenheit besteht.
Wer sich die Mühe giebt meine Uebersetzung der Säm-
khya- Texte durchzulesen, Avird noch allerlei den anderen
Systemen entlehnte Sätze antreffen, die als solche gekenn-
zeichnet sind.
Häufig ist es aber bei diesen Einzelheiten überaus
schwierig zu entscheiden, was der ureigne Besitz eines
Systems und was Entlehnung ist. Wenn die Systeme
sämmtlich bis in ihre feinsten Verzweigungen durchgearbeitet
und dargestellt sein werden, lässt sich hoffen, dass auch
auf diesem Gebiete die Grenzlinien scharf gezogen werden
können; aber zur Zeit dürfte kein europäischer Forscher
sich die Wege in dem Urwaldsdickicht der philosophischen
Literatur Indiens so weit gebahnt haben, um über diese
Dinge schon jetzt mit Sicherheit zu urtheilen. Wenn ich
also im Folgenden einige logische Grundsätze aufzälüe, die
ich nach der Anschauungsweise des Systems und aus
*) S. meiue Uebersetzung des Säiakhya-pravacana-bhäshya S. 168
Anm. 5.
— 158 —
anderen Gründen für das specielle Eigenthum der Säm-
k li y a - Philosophie halte, so thue ich dies mit der gebotenen
Reserve.
Eine theoretische Erwägung (kalpanä) hebt nicht
das durch die Erkenntnissmittel festgestellte auf. Sütra
11. 25>).
Die Theorie muss sich im Einklang mit der Empirie
(drshfa) halten. Sütra V. 49; Aniruddha zu Sütra
1.45, Vijfiänabhikshu zu 1.20, 81, 99, 111.60, V. 54,
VI. 39.
Wo die einfache, natürliche, nahe liegende Erklärung
(läghava) ausreicht, ist die complicirtere Erklärung (gaurava)
abzulehnen. Zu der letzteren darf man sich nur entscliliessen,
wenn die Beweise dazu zwingen 2).
Die Nichtexistenz eines Dinges ist nichts anderes als
der Ort, an dem das Ding sich nicht befindet 2). Vijuä-
nabhikshu zu Sütra 1. 113, V. 56 (S. 132 Anm. 1
und S. 292 Anm. 3 meiner Uebersetzung).
Kein Ding kann seines Wesens entkleidet werden;
denn das Wesen dauert so lange, als das Ding selbst.
Aniruddha zu Sütra 111. 66, Vijnänabhikshu zu
1. 7, 144.
Die Individuen und die Gesammtheit sind identisch
(vyasliti-samashtyar ekatä). Vijnänabhikshu zu 11. 18.
Eine Eigenschaft ist nicht etwas von ihrem Substrat
verschiedenes (dharma-dharmy-ablieda) *). V i j n ä n ab h i k -
shu zu 1. 61, 62, 11. 13, 16.
Dasselbe gilt von den Kräften ((^akti-gahtimad-cd)heda).
Vijnänabhikshu zu 1. 61, VI. 34.
*) Dass in dem Zusammenhange, iu dem dieses Sütra mit den
vorangehenden steht, die Schrift das Erkenntuissmittel ist, kommt
bei der allgemeinen Fassung des Satzes nicht in Betracht.
2) S. die Indices zu meinen Textausgabeu unter gaurava und
läghava.
'■^) Trotz Aniruddha zu Sütra I. 45.
*) Vgl. Nilakantha-Hall, Rational Refutation p. 94 Anm.
— 159 —
Ein und dasselbe Ding kann nicht zugleich Subjekt
und Objekt sein (karma-hartr-virodha oder kartr-karma-
virodha). Sütra VI. 49 i).
Da ich mir diejenigen Grundsätze unseres Systems, die
den Kausalnexus betreffen, auf Kapitel 5 des folgenden
Abschnitts versparen muss, so habe ich in diesem Zusammen-
hange nur noch die bei den S ä m k h y a ' s beliebten
Widerlegungsgründe anzuführen. Folgende logische Fehler
sind nach unsern Texten vor allem zu vermeiden-):
1) die Erklärung eines Dinges durch das Ding selbst
(ätmä(^raya) ^) ;
2) der circulus vitiosus (anyo^nyärraya) *) ;
3) der Mangel eines ausreichenden Grundes (niyämakd-
'bhäva)^);
4) die Unmöglichkeit, sich für eine der beiden Seiten
einer Alternative zu entscheiden (vmtgainakä-'bhäva j vini-
gamanä-viraha) ;
5) der regressus in infinitum (anavasthä, anavasthäna),
der jedoch dann nicht als logischer Feliler gilt, wenn er
sich beweisen lässt. Im Falle von Samen und Spross,
sowie bei allen ,begiaubigten' (prämänika) Verhältnissen
ähnlicher Art wird die Verkettung ohne Anfang anerkannt ^).
^) Und nicht selten bei den Commentatoren (s. die ludices).
Auf die philosophische Bedeutung dieses Gesetzes hat nachdrücklich
G. Biedenkapp hingewiesen in den ,, Beiträgen zu den Problemen
des Selbstbewusstseins u. s. w."
2) Ich gebe hier keine Belegstellen, weil die in Klammern
beigefügten Termini in den Indices zu meinen Ausgaben stehen.
3) Dieses Wort habe ich ausserhalb der Sänikhya- Literatur
nur in einem Citat aus der N yäya-sütra-vrtti (in Täranätha
Tarkavächaspati'sVächaspatya) gefunden; Bhimächärya
Jhalakikar hat das Wort in seinem Nyäyakosa nicht.
*) Gleichfalls als Nyäya- Terminus im Vächaspatya, aber
nicht im Nyäyakosa aufgeführt.
^) Vgl. G. Biedenkapp's Beiträge zu den Problemen des
Selbstbewusstseins u. s. w. S. 56, 60.
«) Vijn. zu I. 122, Einleitung zu III. 46.
- 160 —
6) die zu weit gehende Uebertragung, vermöge deren
man eine Eigenschafb, die nur bestimmten Dingen angehört,
fälschlich auch anderen zuschreibt (atiprasakti, atiprasaiuja,
ativyäpti).
Mit den unter 5) und 6) genannten Beweisfehlern
operiren allerdings auch die anderen Schulen, aber, so
viel ich sehen kann , nicht in demselben Umfang wie die
S ä m k h y a - Autoritäten. Und da der regressus in infinitum
benutzt wird, um die Urmaterie als das letzte Glied in der
Kette der materiellen Principien zu erweisen, und die ,zu
weit gehende Uebertragung', um die Verschiedenheit der
Seele von dem inneren Organ festzustellen, da also die
zwei Begrifife bei den wichtigsten Punkten unseres Systems
zur Begründung herangezogen sind, so ist es mir wahr-
scheinlich, dass die Ausdrücke in ihrer philosophischen
Bedeutung zuerst innerhalb der Sämkhya- Schule ge-
braucht wurden ^).
Ueberall im Orient sind bei der Darstellung und Ver-
breitung eines philosophischen Systems oder einer Religion
Gleichnisse und Beispiele in grosser Zahl verwendet worden.
Auch die philosophischen Systeme Indiens bilden trotz der
aphoristischen Kürze, deren man sich bei der Abfassung
ihrer Hauptwerke befleissigte, keine Ausnahme von dieser
Regel. Ueberraschend ist nur die grosse Armuth, welche
die indischen Philosophen bei der Erfindung der Beispiele
und Gleichnisse verrathen. Ein gewisser Bestand ist
sämmtlichen Schulen gemeinsam und wird bis zum Ueber-
druss immer und immer wieder verwendet. Den kläglichsten
Eindruck macht in dieser Hinsicht die N y ä y a - Philosophie:
in allen Schriften dieses Systems und auch in den Werken
^) An der einzigen Stelle, wo Qamkara (nach Deussen,
System des Vedänta S. 528) in seinem Commentar zu den Brahma-
sutra's (am Scliluss zu II. 3. 9) den Terminus anavasthä gebraucht,
zeigt der daneben stehende S Ti in khya- Ausdruck m ula-2'>rakrti, dass
Qanikara auf eine Theorie unseres Systems Bezug nimmt.
— 161 —
anderer Schulen, wenn sich dieselben mit N y ä y a - Gegen-
ständen beschäftigen, wird als Beispiel fiir einen Schluss
von der Wirkung auf die Ursache die Erschliessung des
Vorhandenseins von Feuer aus dem Rauch auf dem Berge
angeführt ; ebenso regelmässig werden als Beispiele sinnlich
wahrnehmbarer Objekte Töpfe (ghata) und Kleider (pata)
genannt ^).
Auch in der S ä m k h y a - Literatur finden wir einen
grossen Theil der in den Lehrbüchern der anderen Schulen
mehr oder weniger geläufigeii Gleichnisse wieder, wie aus
der nachstehenden Auswahl zu ersehen ist. Zuvor aber
sei bemerkt, dass die Sämkhy asütra's an solchem
Material mehr bieten als die Sütra's der übrigen ortho-
doxen Schulen; ausser den zahlreichen durch das ganze
Werk verstreuten Beispielen enthält das vierte Buch aus-
1) Pandit B hägavatächärya machte in Benares beim
Durcharbeiten eines Textes zu mir die ironische Bemerkung über
den Autor: ghata-smaranät pürvaiii samtoslio nä 'sti „bevor er [bei
der Erörterung eines Gegenstandes] die Töpfe nicht erwähnt hat,
ist er nicht zufrieden". Dass auch sonst verständigen Indern die
ewig wiederkehrenden Töpfe und Kleider zu viel geworden sind,
geht aus einem Spottverse hervor, dessen Kenntniss mir von meinem
Pandit vermittelt wurde:
sahhäydin vdccUäh cruti-katu ratanto ghata-patän
na lajjante mancläh, svayam api tu jihreti vibudhah.
„Die geschwätzigen Thoren schämen sich nicht, in der Versamm-
lung in einer Ohren zerreissenden Weise ihre Töpfe und Kleider
auszuschreien; der Weise aber, [der das hört,] schämt sich [seiner
Genossen]." Nach der Angabe des Pandit entstammt dieser Vers
dem ,Kävya Gunädar^a'. Herr Prof. Zachariae theilte
mir (unter Verweisung auf Aufrecht, Catal. Oxon. p. 150 und
Taylor, Catalogue raisonue I. 444) mit, dass darunter der
Vi^vagunädarca des Venkatäcärya oder Veiikatädhva-
rin, ein aus dem 16ten Jahrhundert stammendes und zu der Klasse
der Campü's gehöriges Werk, zu verstehen ist. Dieses Buch ist
mit einem Commentar und erklärenden Noten von Shamarav
Vithal, Bombay (Karnatak Press), 1889 herausgegeben; der eben
angeführte Vers steht daselbst p. 223 als Nr. 770. Vgl. auch
Burnell's Taujore Katalog S. 162, Nr. LXXXIII.
Garbe, Sämkhya-Philosophie. 1 1
- 162 -
schliesslich eine Sammlung von Gleichnissen, die zur Er-
läuterung der Hauptpunkte dienen sollen. Hierzu sind
im Wesentlichen Erzählungen und Legenden aus den
Upanishad's, dem Mahäbhärata, dem Rämäyana
und der P u r ä n a - Literatur benutzt ^). Während von diesen
Dingen noch mancherlei in origineller Anwendung erscheint,
sind die folgenden Gleichnisse durchaus Waare aus zweiter
Hand. Den Strick, der im Halbdunkel für eine Schlange
angesehen wird und uns so lange in Schrecken versetzt,
bis er in seiner wahren Natur erkannt wird 2), nimmt
man noch gern in den Kauf, weil er ein ungewöhnlich
treffendes Beispiel für die falsche Vorstellung ist, die wir
auf ein Objekt übertragen und die nur durch die unmittel-
bare Erkenntniss der Wahrheit aufgehoben wird •'). Weniger
gut ist das Gleichniss von dem Perlmutter, das man für
Silber hält*), und das von der weissen Muschel, die dem
Gelbsüchtigen als gelb erscheint 5). Die zwei Menschen,
von denen der eine in Srughna, der andere in Päta-
1 i p u t r a lebt ^), stammen als Beispiel räumlicher Getrennt-
heit von (j^amkara her, wie bereits S. 73 erwähnt ist;
das Durchstechen der auf einander gelegten hundert Lotus-
blätter mit einer Nadel als ein Beispiel anscheinend
gleichzeitigen , thatsäclilich aber successiven Geschehens ")
aus dem Sähityadarpana. Als altbekannte Undinge
1) Dass eine derartige Sammlung erläuternder Erzählungen
schon dem Shashtitantra (s. oben S. 58, 59) einverleibt war,
geht aus Kärikä 72 hervor.
2) Sütra III. 66.
3) Vgl. Deussen, System des Vedänta S. 290 Anm.
*) Aniruddha zu Sütra I. 79, Anir. und Mahädeva zu V. 52,
55, Vijnänabh. zu I. 43, 56, VI. 14. — Diese beiden Gleichnisse
sind jedem Schüler in Indien unter den Namen rajju-sarpa und
cukti-rajata bekannt.
5) vijn. zu I. 79, VI. 52.
6) Sütra I. 28.
') Aniruddha zu II. 32. Vgl. die Einleitung zu meiner Ausgabe
der Aniruddhavrtti p. VIII, IX.
— 163 —
begegnen uns das Manneshorn, das Hasenliorn, die Luft-
blume, der Sohn der Unfruchtbaren ») ; als Gleichniss für
das Fortleben des durch die Erkenntniss Erlösten das
Weiterschwingen der Töpferscheibe in Folge des gegebenen
Anstosses auch nach der Vollendung des Topfös-).
Doch will ich die Liste der entlehnten Beispiele,
die sich mit Leichtigkeit vergrössern liesse, hier abbrechen
und mich zu denjenigen wenden, die im Gegensatz zu den
bisher angeführten als echte S am khya- Gleichnisse be-
zeichnet werden dürfen und deshalb grössere Beachtung
verdienen. Hierher rechne ich alle diejenigen Gleichnisse,
welche distinktiveSämkhya-Lehren iUustriren sollen ,
insbesondere das Verhältniss von Seele und Materie, die
Natur der materiellen Welt, wie sie dem Blicke derSäni-
khya's erscheint, und das Wesen des inneren Körpers
{Imga-carira) , dessen Construirung eine charakteristische
Eigenthümlichkeit unseres Systems ist. Dass diese Gleich-
nisse der specielle Besitz der S am khya -Schule sind,
liegt auf der Hand ; und bemerkenswerth ist, dass fast alle
in der Sämkhyakärikä sich findenden Gleichnisse zu
dieser Klasse gehören. Ich glaube, dass dieselben aus alter
Zeit stammen, zum Theil gewiss aus der Entstehungszeit
des Sämkhya- Systems. Li einem Falle wenigstens lässt
sich die metaphorische Ausdrucksweise sogar mit der
grössten Wahrscheinlichkeit bis auf den Stifter zurück-
führen. Die Vorstellung von den drei G u n a ' s oder Con-
stituenten der Materie nämlich, ohne welche die Säm-
khya-Philosophie nicht zu denken ist, beruht auf dem
Bilde des aus drei Strähnen bestehenden Strickes, unter
dem die Materie gedacht ist, die die Seelen bindet. So
1) S. die Indices zu meinen Textausgaben unter nr-grüga,
manushya-crnga, caca-crnga, kha-jiushpa und handliyä-j)utra. —
Eine erfreuliche Abwechslung bietet das Haar der Schildkröte bei
Väcaspatimi^ra in der Einleitung zu Kärikä 7 und der siebente
Geschmack bei demselben zu Kärikä 8.
2) Kärikä 67, Sütra lU. 82.
11*
— 164 —
vvunderlicli dieses Bild auf den uistcu Blick ersolieiiii, so
darf man doch nicht verkennen, dass für denjenigen, der
ununterbrochen von dem Gebundensein der Seele durch
die Materie redete, das Gleichniss eines Strickes ausser-
oi'dentlich nahe lag; und wenn nun der Begründer der
S ä m k h y a - Philosophie in der Materie drei verschiedene
Potenzen wirken sah, so gestaltete er jenes Bild nur natur-
gemäss aus, indem er diese Potenzen die drei Strähnen
des Strickes nannte. Auch die anderen hierher gehörigen
Gleichnisse sind grösstentheils gut gewälilt. Die Ver-
bindung der ungeistigen, aber schöpferischen Materie mit
der geistigen, aber nicht schöpferischen Seele wird dem
Bündniss zAvischen dem Blinden und Lahmen ver-
glichen, von denen der erstere den letztereji auf seine
Schultern nahm und aus dem Waldesdickicht trag, in dem
sich beide hilflos befanden *). Der Lahme ist die Seele,
die sehen, aber nach der Lehre des S ä rii k h y a - Systems
sich nicht bewegen, d. h. nicht handeln kann ; der Blinde
ist die Materie, die sich bewegt und alle Thätigkeit in
der Welt vollzieht, aber nicht sehen, d. h. erkennen kann.
Diese unbewusste Wirksamkeit der Materie wird durch
das Beispiel der Milch erläutert, die unbewusst dem Euter
der Kuh zu Gunsten des Kalbes entströmt ^). Alles Wirken
der Materie geht lediglich im Interesse der Seelen vor
sich, zum Zwecke des Genusses (bhoga) und der Befi-eiung
(apavarga), d. h. um die Objekte des Empfindens und Er-
kennens den Seelen darzubieten und diese so zur Selbst-
erkenntniss zu führen. Darum wird die Materie einem
vortrefflichen uneigennützigen Diener verglichen, der für
seine Leistungen von seinem Herrn (der Seele) Aveder
Dank noch Lohn zu erwarten hat '•^) ; ferner einem Koch,
^) Kärikä 21 und Gaui1a|3ridaV Commeiitar.
2) Kärikä 57, Sütra II." 37, III. 59.
^) Kärikä 60, Sütra III. 61. Im entgegengesetzten Sinne
äussert sich Vijnänabhikshu zu III. 58, indem er einen sich selbst
gemachten Einwand widerlegt: ,,Wenn die Materie einem Diener
- 165 -
fler seinem Gebieter die Speisen zubereitet '), und einem
geborenen Sklaven, der vermöge seiner Anlage nicht anders
kann als dem Herrn dienen -). Der nämliche Gedanke
wird zum Ausdruck gebracht durch das Gleiclniiss von dem
Safran tragenden Kamel, das nicht für sich selbst, sondern
lediglich für seinen Besitzer arbeitet-^). Die Wirksamkeit
der Materie wird nun aber nicht etwa durch den WUlen
der Seelen angeregt ■ — denn diese sind qualitätlos — ,
sondern nur durch die Nähe, in der sie sich bei der Materie
befinden. Dieses Verhältniss wird durch das Beispiel des
. Magneten versinnbildlicht, in dem kein Wille wohnt und
der doch das Eisen anzieht, wenn es ihm nahe ist *). Ob-
wohl aber die Materie unbewusst ist und nur in Folge des
blinden in ihr ruhenden Triebes wirkt, wird sie doch in
poetischer Weise immer wieder mit beseelten Wesen ver-
glichen. In siebenfacher Weise, mit Verdienst, Schuld,
Nichterkenntniss u. s. w., bindet sich die Materie durch
ihr eigenes Werk, gleichwie die Seidenraupe sich mit dem
Cocon umspinnt '"). Wenn eine Seele des Treibens der
Materie überdrüssig ist und sich mit Verachtung von ihr
abwendet, so stellt die Materie ihre Thätigkeit für diese Seele
ein mit dem Gedanken: „Ich bin erkannt""); sie hat ge-
leistet, was zu leisten ihre Bestimmung war, und zieht
sich von der an dem höchsten Ziele angelangten Seele
zurück, wie eine Tänzerin aufhört zu tanzen, wenn sie
„vergleichbar ist, wie kann sie dann auch zum Zwecke des Leidens
„ihres Herrn wirken? Darauf antworten wir: Das ist nicht richtig;
„denn obwohl [die Materie] nur zum Zwecke der Freude [ihres
„Herrn, der Seele] thätig ist, muss doch das Leid entstehen, welches
„[dem Genuss der Freude] iuhärirt; oder [man kann auch sagen:
„die Materie] ist einem schlechten Diener vergleichbar."
1) Siitra I. 105, IIL 63.
*) Sütra III. 51.
3) Sütra III. 58, VI. 40.
-») Sütra I. 9G.
■^) Sütra III. 73.
«) Kärika 66.
— 166 —
ihre Aufgabe erfüllt hat und die Zuschauer genug haben i).
Aber in einem Punkte gleicht die Materie der Tänzerin
oder Schauspielerin nicht; denn während diese auf Ver-
langen ihr Spiel aufs neue beginnt, ist die Materie „zart-
fülilend wie eine Frau aus guter Familie", die, wenn sie
von einem Manne gesehen ist, sich schamhaft nicht Avieder
dessen Blicken aussetzt -). Diesem letzten Gleichnisse kommt
in den Originaltexten sehr zu Statten, dass das Sanskrit
für Seele und Mann dieselbe Bezeichnung (pums, puriisha)
hat % Das Beispiel der Frau finden wir ferner *) verwendet,
um die kürzlich erwähnte Lehre von den drei Gruiia's
zu veranschaulichen. Nach der Ansicht der Sämkhya's
durchdringen diese drei Substanzen alle materiellen Dinge
und rufen dadurch, dass je eine derselben über die beiden
andern das Uebergewicht gewinnt, verschiedenartige Em-
pfindungen in dem Gemüthe der Menschen hervor, die
mit den Dingen zu thun haben. So wird mit einer merk-
würdigen Umkelu-ung des wahren Sachverhalts die Quelle
der Empfindungen nicht in das Subjekt, sondern in das
Objekt verlegt. Wenn ein Ding erfreut, so äussert sich
in ihm die Constituente S a 1 1 v a ; wenn es Schmerz erregt,
die Constituente R a j a s ; wenn es gleichgütig lässt , die
Constituente Tamas. Im Gleichniss tritt uns die schöne
Frau entgegen, die durch ihr blosses Dasein ihrem Gatten
1
1) Kärikä 59, Sütra IH. 69; oder nach Sütra III. 63, wie der
Kocb nach der Herstellung der Mahlzeit mit seiner Arbeit aufliört.
2) Kärikä 61, Sütra III. 70.
^) Die Vorstellung aber, dass die Verbindung von Purusha
und Prakrti eine Vereinigung des männlichen und weiblichen
Princips'sei — die Johaentgen, Ueber das Gesetzbuch des Manu
S. 5, für den Grundgedanken der Philosophie des Kapila erklärt
— tritt erst in der P u r ä n a - und T a n t r a - Literatur auf und ist allen
systematischen S ä ni k h y a - Texten fern geblieben. Dieser Gedanke
war in der Sämkhya- Literatur schon deshalb unmöglich, weil er
der Lehre von der absoluten Unthätigkeit des Purusha widerspricht.
*) Säinkhya-tattva-kaumudi zu Kärikä 12; vergl. auch Sarva-
dar^ana-samgraha S. 227 der Uebersetzung, Anir. zu I. 69 und
Vijn. zu I. 65.
— 167 -
Freude, aber ihren Nebenfrauen Schmerz bereitet, während
ein fi-emder Mann ihr gleichgiltig, apathisch gegenüber steht.
Von hoher Bedeutung ist in der Sämkhya- Philo-
sophie das linga-carira, der feine innere Körper, weil auf
ihm bei der eigenthümlichen indifferenten Stellung, welche
die Seele in dem System einnimmt, die Persönlichkeit des
Individuums beruht. Der innere Körper begleitet die Seele
auf ihrer Wanderung durch alle die zahllosen groben
Leiber, ist also das eigentliche Princip der Metempsychose.
Dieses Wandern des inneren Körpers aus einem groben
Leib in den andern wird dem Rollenwechsel eines Schau-
spielers ^) und dem geschäftigen Herumlaufen der Köche
in den Küchen des Königs verglichen '-). Der feine Körper
nun besteht aus dem Innenorgan, den Sinnen und
den fünf Grandstoffen-'); ohne den letzten Faktor wäre
er ein haltloser Complex. Dieser Gedanke wird durch
das Gleichniss von dem Bilde ausgedrückt, welches ohne
eine Grundlage nicht selbständig existiren kann, und durch
das von dem Schatten, der durch das Vorhandensein eines
Pfahles oder dgl. bedingt ist^).
Die ganze Psychologie unseres Systems ruht auf der
Vorstellung, dass die sich ewig gleiche, unveränderliche
Seele einen Abglanz auf das durch die mannigfachen
Funktionen alterirte Innenorgan wirft und dadurch die
inneren an sich rein mechanischen Vorgänge zu bewussten
macht. Für dieses zwischen Seele und Innenorgan be-
stehende Verhältniss wird als Gleichniss das Reflektiren
der rothen Hibiscus-Blüthe in einem der Blume nahe ge-
brachten Kry stall verwendet 5). Ebenso wenig, wie hier
in dem Krystall irgend eine Veränderang vor sich geht.
1) Kärikä 42.
2) Sütra III. 16.
3) Kärikä 40, Sütra III. 9.
1) Kärikä 41, Sütra III. 12.
») Sütra II. 35, VI. 28 und nicht selten in Vijnänabhikshu's
Commentar (s. den Index zu meiner Ausgabe s. v. ja2xi).
— 1()8 —
ist auch die Seele durch die Processe, die sich in den
Organen vollziehen, irgendwie afficirt. Wenn trotzdem
die Thätigkeit der Organe der Seele zugeschrieben wird,
so] ist das so zu verstehen, wie man den Sieg, den ein
Heer gewinnt, oder die Niederlage, die es erleidet, dem
in behaglicher Ruhe in seiner Hauptstadt thronenden
König zuschreibt '). Und die Organe werden wegen ihrer
grösseren und geiingeren Bedeutung dem Beamtenstande
verglichen, in dem einer immer über dem andern und der
Minister über allen steht -). Ich glaube hiermit die unserem
System speciell angehörenden Gleichnisse in ziemlicher
Vollständigkeit aufgezählt zu haben •'). Bei einem Rück-
blick wird man sich kaum dem Urtheil verschliessen können,
dass diese Gleichnisse einen ausgesprochen weltlichen Cha-
rakter tragen; in höherem Grade, als die Natur der Sache
es bedingt. Während die Beispiele in anderen Schulen
zum grossen Theil der Mythologie und dem Gebiet des
Aberglaubens entnommen sind, erscheinen hier vor unseren
Blicken Könige, Minister, Beamte, Herren, Diener, schöne
Frauen, Schauspieler, Tänzerinnen, Soldaten, Köche, Blinde,
Lahme, Kamele, Bilder, Blumen, Krystalle u. s. w., so dass
man aus den Sämkhya- Gleichnissen fast ein indisches
Kulturbild gewinnen könnte. Allem Anschein nach haben
wir den Ursprung dieser weltlichen Bildersprache in einer
Zeit und Gegend zu suchen, in der das Brahmanenthum
und seine Lehren erst geringe Bedeutung gewonnen hatten.
5. Die Terminologie.
Die Schwierigkeiten, die sich den Versuchen entgegen-
stellen, die Kunstausdrücke der indischen Philosophie zu
übersetzen, sind mehrfach von sachkundigen Beurtheilern
1) Vijfi. zu I. 76, II. 5, 46.
2) Sütra II. 47.
^) Wenn das eine oder andere, was ich für möglich halte, in
den Schriften anderer Schulen sich wiederfinden s(jllte, so ist es
eben dem Gleichuissschatze des Säinkhya-Systems entlehnt.
— 169 —
hervorgehoben worden. So sagt Max Müller (Zeit-
schrift der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft VI. 22) :
„Die Worte und technischen Ausdrücke unserer Sprache,
„die wir in ihrer geschichtlichen Bedeutungsentwickelung
„so vielfach aus Griechenland oder Rom empfangen haben,
„werfen oft unAvillkürlich ein falsches Licht auf indische
„Ideen Dies ist ein Uebelstand, der schwer zu
„vermeiden ist, wenn wir nicht eine Anzalil technischer
„Ausdrücke aus dem Sanskrit entlehnen wollen, was
„wiederum dem allgemeinen Verständniss Eintrag thun
„würde" ^). Das letzte Bedenken theile ich nicht. Wenn
die technischen Ausdrücke, für die sich kein zweifelloses
Aequivalent in unsrer Sprache findet, in solcher Weise
erklärt werden, dass ihr Bedeutungsinhalt genau festge-
gestellt und abgegrenzt ist, so sehe ich in der Beibehaltung
der Originale keinen Nachtheil; denn die in Betracht
kommenden Worte sind nicht so zahlreich, dass ein Laie,
der sich für indische Philosophie interessirt, Mühe haben
könnte sie dem Gedächtniss einzuprägen. Ich lasse aus
diesem Grunde einige schwerfällige Uebersetzungen wie
Urtheilsorgan , Subjektivirungsorgan u. s. w. , die ich in
meine Bearbeitungen der S ä m k h y a - Texte eingeführt habe,
weil sie mir am besten den Begriffen der Originale zu
entsprechen schienen, in diesem Buche fallen und behalte
die kurzen Termini des Sanskrit bei.
Neue Worte sind aller Wahrscheinlichkeit nach von
Kapila und seinen Nachfolgern nicht gebildet worden.
Eine beträchtliche Anzahl philosophischer Ausdrücke hat
^) Aehnlich hat sich, speciell über die Kunstausdrücke des
Säiiikhya- Systems, B um eil in der Einleitung zur Uebersetzung
des Man u p. XLVI geäussert. Er hält es für ganz unmöglich die
Termini dieses Systems in einer europäischen Sprache auszudrücken:
"All possible renderings couvey much more than the primitive
"and rüde [?] original siguifies , and it is impossible to limit each
"word so as to provide against a too wide siguification beiug
"attached to it."
— 170 —
das Sämkhya- System aus dem in Indien schon vorher
erarbeiteten Bestände ohne jede Bedeutungsver<änderung
übernommen ; andere dagegen hat es zwar dem vorhandenen
Wortschatze entlehnt, aber zur Bezeichnung neu und
selbständig gebildeter Begriffe verwendet. Zu der ersten
Klasse gehören die folgenden Ausdrücke, die sich in der-
selben Bedeutung entweder aus vorbuddhistischer Zeit be-
legen oder für diese Zeit voraussetzen lassen:
dtman, purusha Seele, cit, cid, cef%na ^) Geist, citta
Denkorgan, harana Organ, indriya Sinn, präna Odem,
samsära Seelenwanderung, Weltdasein, handha Gebunden-
sein, mohsha, vimolcslia, muhti Erlösung, blioga Genuss
(und Leiden), hhogya das zu geniessende (und zu erleidende),
llioktar Geniesser (Bezeichnung der Seele), jnäna Erkennt-
jiiss, vidyä Wissen, avidyä Nichtwissen, pramuna Norm,
Erkenntnissmittel, pralyaksha Sinnes Wahrnehmung, ablii-
mäna Wahn, yoga Concentration, vtblm alldurchdringend,
unendlich gross; wohl auch tca, icvara Gott, kärana Ur-
sache, nimitta Veranlassung, vishaya Objekt, bhüta Element
und anderes.
Im Gegensatz zu diesen Ausdrücken sind die folgenden
Worte für die speciellen Zwecke des Sämkhya-Systems
umgedeutet worden; sie entstammen zum grössten Tlieil
nicht dem alten philosophischen Sprachschatze, sondern
dem des täglichen Lebens:
prakrti, i^radhäna, avyakta Urmaterie, guna die (drei)
Constituenten der Materie, Namens sattva, rajas und tamas,
triguna aus den drei Constituenten bestehend, materiell,
btiddhi, mahant das Organ des Urtheils, der Entscheidung,
des Entschlusses, ahamkära das Organ, durch welches
körperliche Attribute und innere Vorgänge fälsclilich auf
die Seele übertragen werden, manas das Organ des Wahr-
nehmens, Empfindens, Wünschens und Ueberlegens, der
innere Sinn, tanmätra die Grundstoffe oder feinen Elemente,
linga-(carira, — deha) der innere Körper, ficimskära, vusanä
^) Wozu später caitanj/a tritt.
— 171 —
Anlage, Disposition, jiva (im Veclänta die individuelle
Seele) ') die empirische, d. h. mit dem inneren Körper und
dem Lebensprincip verbundene Seele; und schliesslich alle
die wunderlichen Bezeichnungen für die einzelnen Formen
der sogenannten Befriedigung und Vollkommenheit -).
Dass unsere jüngeren S ä m k h y a - Quellen ausserdem
von den technischen Ausdrücken der übrigen Systeme,
insbesondere des Vedänta und des Nyäya-Vai9e-
shika, einen ausgiebigen Gebrauch machen, hat seinen
Grund in der dominirenden Stellung, die diese Schulen
zur Zeit der Abfassung jener Schriften in der philosophischen
Spekulation Indiens einnahmen.
Unübersetzt bleiben in diesem Buche von den vorher
angeführten Worten sattva, rajas, tamas (gewöhnlich auch
qmia) , huddln, ahamkära , manas und der vielleicht der
Nyäya- Philosophie entlehnte Terminus upädJü (etymo-
logisch appositio). Während aber upädhi in den Nyäya-
Schriften die Bedingung bedeutet, durch die ein zu weit
gefasster MittelbegrifF im Syllogismus eingeschränkt werden
muss''), hat das Wort in der Sämkhya- ebenso wie in
der V e d ä n t a - Literatur eine weitere Bedeutung. Hier
wird alles Upädhi genannt, was zu einem Dinge in Be-
ziehung steht, ohne ihm wesentlich anzugehören oder eine
innere Verbindung mit ihm einzugehen. Wie das Kleid ein
Upädhi des Menschen ist, so sind die inneren Organe,
die Sinne und der Körper Upädhi' s der Seele.
1) In der S ä in khya- Philosophie ist auch die Seele an sich
(kevalutman, cuddhätman) schon individuell, und deshalb deckt sich
der Begri& jiva in den beiden Systemen nicht; im Vedänta wird
durch den Terminus hauptsächlich die anscheinende Differenzirung
der Allseele zum Ausdruck gebracht.
2) S. die Commentare zu Kärikä 50, 51 und zu Sütra III. 43,
44; ferner die Einleitung zu meiner Uebersetzung der S.t.kau-
mudi S. 527, 528 und in diesem Buche, dritter Abschnitt II. 10, C.
3) Vgl. E. B. Co well in dem Appendix zur Uebersetzung des
Sarva-darcana-samgraha, p. 275 — 281.
IT. Die allgeinein-iiidisclien Bestaiultlieile
des Systems.
1. Der Samsära und die Macht der Tliat.
Als allgemeiii-iiulisch bezeichne ich in Ermangehiiig
eines treffenderen Ausdrucks diejenigen Anschauungen, die
den orthodoxen Systemen und den heterodoxen Religionen
Buddhismus und Jinismus gemeinsam angehören. Um Miss-
verständnissen vorzubeugen, muss ich diese einschränkende
Erklärung voranschicken; denn wenn man die ältere
vedische Literatur oder die Lehren der Cärväka's, welche
die Seelenwanderung und das Dogma von der Vergeltung
leugnen, oder gar die religiösen Vorstellungen der nicht
brahmanisirten indischen Aboriginer mit in Betracht zieht,
so ist wohl kein einziger Gedanke zu finden, der allgemein-
indisch genannt werden könnte. Versteht man aber den
Ausdruck in der Beschränkung auf die eigentlich philo-
so^jlnschen Schulen und auf die philosophisch fundirten
Religionen Lidiens, so ist noch die Frage aufzuwerfen,
ob diese gemeinsamen Anschauungen nicht etwa in dem
Sämkhya- System, das der Zeit nach an der Spitze steht,
entstanden sind. Wäre dies der Fall, so würde es keinen
Sinn haben, die hierher gehörigen Dinge ausserhalb des
Zusammenhangs des Systems zu behandeln; denn die
Bestimmung dieses Kapitels ist natürlich, die vor der
Begründung des Sämkhy a-Systems in Indien vorhandenen
und von dem System übernommenen Vorstellungen zu-
sammenzufassen. Da hier im Wesentlichen die Lehre von
I'-r»
'^ —
dem Saiiisära und von der Vergeltung in Betracht kommt
— denn die in den folgenden Paragraphen zu besprechenden
Vorstellungen sind minder Avichtig und offenkundig nicht
innerhalb des S ä m k h y a - Systems entstanden — , so
wird es genügen das nachweisliche Alter jener beiden
Lehi'en festzustellen. In der Chändogya und B r h a d ä -
ranyaka Upanishad, die ich — wohl in Ueber-
einstimmung mit den meisten Indologen — fiir beträchtlich
älter als Buddha halte, ist bereits die Lehre von der
Seelenwanderung vollständig entwickelt ^) ; aber sie tritt
uns schon früher, im (^atapatha Brähmana, in Ver-
bindung mit der Lehre von der Macht der ihren Lohn
oder ihre Strafe verlangenden That entgegen, und zwar
zuerst in der Form des quälenden Gedankens an die fort-
gesetzte Wiederkehr des Todes '■^). Daraus folgt , dass die
Entstehung dieser beiden Lehren, die sich mit Nothwendig-
keit bald zu einer einheitlichen Vorstellung zusammen-
schliessen mussten, mehrere Jahrhunderte vor Buddha
vor sich gegangen ist. Und da wir uns Buddha von
Kapila nicht durch einen grossen Zeitraum getrennt
denken dürfen, hat sicher schon der letztere diese indischste
aller indischen Ideen als Gemeingut der Bevölkerung seines
Heimatlilandes vorgefunden.
Barthelemy Saint-Hilaire, Premier Memoire
sur le Sänkhya p. 397, 398, macht Kapila den Vorwurf,
dass er zwar die Theorie der Erkenntnissmittel vorgetragen
und begründet, aber nicht gesagt habe, durch welches dieser
Mittel er dazu gekommen sei die Lehre von der Seelen-
wanderung aufzustellen. Dass Kapila dies nicht gethan,
hat seinen guten Grund ; denn für ihn, wie für alle Kinder
seiner Zeit, Avar eben schon die SeelenAvanderungslehre
ein Axiom, das keines Beweises bedurfte •^).
') S. Weber, Indische Literaturgeschichte" S. 80.
•-) Vgl. Oldenberg, Buddha- S. 45—49, Schröder, Indiens
Literatur und Cultur S. 245—252.
^) Weber unterschätzt entschieden das AUcr der Quellen, in.
— 174 —
Der Ursprung des indischen Glaubens an die Met-
empsycliose ist leider immer noch nicht mit voller Klar-
heit zu erkennen. In der alten vedischen Zeit herrschte
in Indien eine heitere Lebensanschauung, in der wir
keinerlei Keime der späteren, das Denken des ganzen
Volkes beherrschenden und bedrückenden Vorstellung wahr-
nehmen ^); man empfand das Leben noch als keine Bürde,
sondern als das grösste der Güter, und seine ewige Fort-
dauer nach dem Tode wurde als der Lohn eines frommen
Lebens erhofft. Mit einem Male tritt ohne für unsere
Blicke deutlich erkennbare Uebergangsstufen an die Stelle
dieser harmlosen Lebensfreudigkeit die TJeberzeugung, dass
das Dasein des Individuums eine cpialvolle Wanderung
von Tod zu Tod sei. Es lag deshalb nahe genug, äussere
Einflüsse in dieser unvermittelten Umwälzung zu ver-
muthen.
Dass Voltaire 's stark rationalistische Erklärung
des Urspungs der indischen SeelenAvanderungstheorie heute
noch in Fachkreisen Anhänger zählt, glaube ich nicht;
doch ist sie merkwürdig genug, um nicht mit Stillschweigen
denen uns zuerst die Vorstellung der Seelenwanderung begegnet,
und hat deshalb mehrfach (Indische Streifen I. 23, Die Griechen
in Indien S. 29 des Separatabdrucks) die Ansicht ausgesprochen,
dass vor Buddha das Dogma in Indien nicht bestanden habe.
Wenn Weber aber andererseits stets die Ueberzeugung vertreten
hat, dass der Buddhismus aus der Sämkhya- Philosophie her-
vorgegangen und „ursprünglich nur als eine Form derSämkhya-
lehre anzusehen" sei (Indische Literaturgeschichte " S. 183, 252 ff.,
Ind. Studien I. 298, 435 und sonst), so stehen diese beiden An-
sichten in einem nicht auszugleichenden Gegensatz. Denn eine
Sämkhya -Philosophie ohne Seelenwanderungs- und Erlösungs-
lehre kann es niemals gegeben haben; das wäre ein System ohne
Basis und ohne Zweck gewesen.
^) Böhtlingk glaubt jedoch die Lehre von der Seelen-
wanderung schon in den beiden Räthselsprüchen Rigveda I. 164.
30, 38 vorzufinden; Berichte der königl. sächs. Gesellschaft der
Wissenschaften (philologisch-historische Classe) vom 23. April 1893,
S. 88—92.
— 175 —
übergangen zu werden. Nach der Meinung des geistvollen
Franzosen soll die Erkenntniss, dass in dem indischen
Klima der Fleischgenuss im allgemeinen gesundlieits-
scliädlicli ist, das Verbot veranlasst haben Thiere zn tödteii.
Diese ursprünglich rein hygienische Maassregel sei in ein
religiöses Gewand gekleidet, und das Volk habe sich auf
diese Weise gewöhnt die Thiere zu verehren und anzu-
beten. Die weitere Ausdehnung dieses Thierkultus habe
dann zur Folge gehabt, dass das ganze Thierreich als eine
Art Zubehör zu dem Menschengeschlecht empfunden und
diesem in der Vorstellung des Volkes assimilirt wurde;
von da aus sei es dann nur noch ein Schritt gewesen, die
Fortdauer des eignen Daseins in Thierkörpern anzunehmen.
Diese ganze Hypothese ist mit Recht schon von ß a r t h e -
lemy Saint-Hilaire, Premier Memoire p. 467, 468,
zurückgewiesen; die Erklärung aber, die dieser Gelehrte
unmittelbar darauf selbst vorschlägt, ist haltlos; denn sie
geht "du sein meme de la doctrine sänkhya" aus, während
die Theorie der Metempsychose , wie Avir gesehen haben,
älter ist als das S ä m k h y a - System. Barthelemy
meint, dass die Inder durch die S ä m k h y a - Lehre von der
indifferenten und qualitätlosen mensclilichen Seele, die
nicht von der Thierseele und kaum von leblosen Dingen
als verschieden habe gelten können, dazu geführt seien
sich mit der Thier- und Pflanzenwelt für gleichartig zu
halten, und dass die Beobachtung des beständigen Wech-
sels in den Vorgängen der Natur dann den Gedanken der
Transmigration zur Reife gebracht habe.
Ernstere Berücksichtigung erheischt ein anderer Er-
klärungsversuch, der sich bei Gough, The Philosophy
of the Upanishads p. 24, 25 findet. Es ist bekannt, dass
bei halbwilden Völkerschaften der Glaube, die menscliliche
Seele gehe nach dem Tode in Baumstämme und Thierleiber
über, ausserordentlich weit verbreitet ist '). Auf Grund
^) "The Sonthals are said to believe tlie souls of the good
"to enter into fruit-bearing trees. The Powhattans believed
— 176 -
dessen nimmt Gougli an, dass die Arier bei ihrer Ver-
schmelzung mit den indischen Ureinwohnern von diesen
die Vorstellung der Fortdauer in Thieren und Bäumen
übernommen haben. Obwohl sich diese Voraussetzung
nicht beweisen lässt '), ist mir der Gedanke doch im höch-
sten Maasse wahrscheinlich, weil er erklärt, was alle sonstigen
Conibinationen nicht genügend erklären. Aber man muss
sich hüten, den Einfluss der rohen Vorstellungen der
Aboriginer zu überschätzen. Bei allen auf niedriger Kul-
turstufe stehenden Völkerschaften handelt es sich nicht um
eine Seelenwanderungslehre im indischen Sinne, sondern
einfach um die Fortsetzung des menschlichen Daseins in
Thieren und Bäumen; damit ist das Nachdenken über
diese Dinge am Ziel angelangt; Aveitere Consequenzen
werden aus der Vorstellung nicht gezogen. Unter allen
Umständen also können die arischen Inder nur den ersten
Antrieb zur Entwickelung der Theorie der Transmigration
von der Urbevölkerung erhalten haben; als ihr eignes
Werk muss immer gelten die Ausbildung des empfangenen
Gedankens zu der Annahme einer beständigen, wech-
selvollen Fortdauer des Lebens und ihre Verbindung
mit der die Befriedigung des moralischen Bewusstseins
"the souls of their chiefs to pass into particular wood-birds, whicli
"they therefore spared. The Tlascalans of Mexico thouglit
"that tbe souls of their nobles migrated after deatb into beautiful
"singing birds, and the spirits of plebeians into beetles, weasels,
"and other insignificant creatures. The Zulus of South Afi-ica
•'are said to believe the passage of the dead into snakes , or into
"wasps and lizards. The Dayaks of Borneo imagine themselves
"to find the souls of the dead, damp and bloodlike, in the trunks
"of trees." Gough a. a. 0. nach Tylor, Primitive Culture,
vol. II. p. 6 ff.
1) Eine beachtenswerthe Stelle findet sieh in B a u d h ä y a n a ' s
Dharma9ästra II. 8. 14. 9, 10, wo gelehrt wird, dass man den
Vögeln einen Mehlkloss geben solle, wie er sonst im Manenopfer
für die abgeschiedenen Vorfahren darzubringen ist; „denn es heisst,
dass die Väter in der Gestalt von Vögeln (vayusäiii pratimayä)
umherziehen''.
— 177 —
bezweckenden Lehre von der Macht der That. Die leitende
Idee dieser Lehre ist die feste Ueberzeugung, dass Keinen
unverschuldetes Unglück treffen kann. Man suchte auf
Grund dieser Ueberzeugung nach einer Erklärung für die
täglich zu beobachtende Thatsache, dass es dem Schlechteji
wohl ergeht und dem Guten schlecht, dass das Tliier und
oft selbst das neugeborene Kind, das noch keine Gelegen-
heit gehabt hat eine Schuld auf sich zu laden, die grössten
Schmerzen leiden muss; und man fand keine andere Er-
klärung als die Annalnne, dass in diesem Leben die guten
und bösen Thaten einer früheren Existenz gesühnt werden.
Was aber von dieser Existenz galt, musste auch von der
früheren gelten; wiederum konnte der Grund für einstmals
erfahi'enes Glück und Elend nur in einem vorangehenden
Leben liegen, und damit gab es überhaupt keine Grenze
für das Dasein des Individuums in der Vergangenheit ^).
Der S a m s ä r a , der Kreislauf des Lebens, hat also keinen
Anfang; denn, heisst es im Sämkhyasütra III. 62,
„das Werk (d. h. das Handeln und Thun der Wesen) ist
anfangslos -) ". Was aber keinen Anfang hat, das hat nach
einem allgemein anerkannten Gesetz auch kein Ende. Der
S a m s ä r a also hört ebenso wenig jemals auf, als er jemals
begonnen hat-^). Wenn das Lidividuum die Vergeltung
für seine guten und bösen Werke empfängt, so bleibt
immer noch ein Rest von Verdienst und Schuld übrig,
der nicht aufgebraucht wird und seinen Lohn oder seine
^) ^g^- Ballantyne, A lecture on the Sänkhya Philosophy
p. 56, 57, Nilakantha-Hall, Rational Refutation p. 124, 125
und Räjendraläla Mitra, The Yoga Aptorisms, Preface p.
LXIII ff.
^) Wo im Gegensatz hierzu in den Sämkhya- Schriften der
Samsära als einen Anfang habend bezeichnet wird (s. die Indices
zu meinen Textausgaben s.v.sädi), ist allein die gegenwärtige
Schöpfung ins Auge gefasst, die nach Ablauf der letzten Periode
der Weltauflösung begonnen hat.
3) Vgl. Sämkhyasütra I. 158, 159 nach Aniruddha's Inter-
pretation.
Garbe, Sämkhya-Philosophie. 12
— 178 —
Strafe erfordert, mithin als Keim eines neuen Daseins
wirkt '). Ungebüsst oder unbelolmt bleibt keine Tliat ;
denn „wie unter tausend Kuben ein Kalb seine Mutter
herausfindet, so folgt die früher gethane That dem Thäter
nach", sagt das Mahäbhärata XII. 6760, indem es die
seit langer Zeit in Indien allgemein gewordene Anschauung
zum Ausdruck bringt. Weil nun die Ursache aUes Han-
delns die Begierde ist, wurde auch diese als die treibende
Kraft für die ewige Fortdauer des Lebens bezeichnet-).
Da indessen die Begierde nach indischer Anschauung auf
einem Nichtwissen, auf einem Verkennen des wahren
Wesens und Werthes der Dinge beruht, so hat man ge-
glaubt in ihm die letzte Ursache des Samsära zu
finden •^). Ebenso alt ist die Ueberzeugung, dass das Ge-
setz, welches die Wesen an das Weltdasein bindet, durch-
brochen werden kann. Es giebt eine Befreiung aus dem
Samsära, und das Mittel dazu ist das erlösende Wissen,
das von jeder Schule in einer besonderen Form des Er-
kennens gefunden wurde.
Die hier entwickelten Dogmen sind von Deussen,
System des Vedänta S. 381, 382, in folgenden treffenden
Worten zusammengefasst: „Die Anschauung ist die, dass
„das Leben sowohl seiner Qualität wie seiner Quantität
„nach die genau abgemessene und ihren Zweck vollständig
„erfüllende Sühnung der Werke des vorigen Daseins ist.
„Diese Sühnung geschieht durch hliokb-tvam und kartrtvam
„(Geniesserschaft und Thäterschaft) , wobei das letztere
1) Vgl. Deussen, System des Vedänta S. 417 ff. Wegen der
entsprechenden Anschauungen im Buddhismus s. Oldenberg,
Buddha'^ S. 249—251.
■') Kärikä 45, Sütra II. 9.
3) Dass diese die Vedänta-, Säinkhya- und Yoga-Philo-
sophie beherrschende Anschauung auch für den Buddhismus gilt,
hat Oldenberg, Buddha- S. 53, 54, 258 ff. erwiesen. Belege aus
den Schriften der orthodoxen Systeme (auch der Nyäya- Philo-
sophie) findet man bei N ila kau tha- Hall, Rational Refutation
p. 10 ff
— 179 —
„wiederum unausbleiblich in Werke ausschlägt, welche
„aufs neue in einem folgenden Dasein gesülmt werden
„müssen, so dass das Uhrwerk der Vergeltung, indem es
„abläuft, sich jedesmal selbst wieder aufzieht; und dieses
„ins Unendliche fort, — es sei denn, dass die universelle
„Erkenntniss eintrete, welche nicht auf Verdienst
„beruht, sondern in das Dasein ohne Zusammenhang mit
„demselben hereinbricht, um es seinem innersten Bestände
„nach aufzulösen, den Samen der Werke zu verbrennen
„und so eine Fortsetzung der Wanderung für alle Zukunft
„unmöglich zu machen".
Was D e u s s e n hier als eine Lehre des Vedänta-
Systems darstellt, ist Punkt für Punkt allgemein-
indisch in dem zu Anfang dieses Kapitels präcisirten
Sinne ^). Nun reicht aber die Kraft, die dem Thun der
Wesen innewohnt, nach indischer Anschauung noch Aveiter,
als im vorstehenden ausgeführt wurde. Diese nachwirkende,
den indischen SchicksalsbegrifP darstellende Kraft der Ver-
schuldung und des Verdienstes, die geAvöhnlich adrshta
,das unsichtbare', oft auch einfach karman ,That, Werk'
und in den beiden Mionäm sä 's apürva ,das neue, filiher
nicht dagew^esene Moment' -) genannt wird, bestimmt nicht
nur das Maass von Glück und Leid, das dem Lidividuum
zu Theil wird, sondern bedingt auch das Entstehen und
Werden aller Dinge im Universum. Lu Grunde ist dieser
letzte Gedanke nur eine nothwendige Conseciuenz der Theo-
rie, dass jedes Wesen sich sein eigenes Geschick bis in
^) Dagegen wird man kaum einwenden dürfen, dass die Lehre
von der Erlösung in der Pürvamimämsä keine Stelle habe und
also nicht als allgemein-indisch gelten könne; denn die Pürva-
mimämsä ist zusammen mit der Utt aramimämsä entstanden;
beide Systeme bilden ein zusammengehöriges Ganzes in der Weise,
dass das erstere die ritualistische Werklehre, das letztere die Heils-
lehre von der Erkenntniss darstellt, jedes der beiden mit Be-
schränkung auf das besondere Gebiet und unter Bezugnahme auf
das andere.
■^) S. Deussen, System des Vedänta S. 22, 407.
12*
— 180 —
die kleinsten Ereignisse hinein selbst bereite; denn was
auch immer in der Welt vorgeht, irgend ein Wesen wird
stets davon betroffen , muss also nach dem Gesetze der
Vergeltung durch seine früheren Thaten diesen Vorgang
herbeigeführt haben '). Das Walten der Natur ist mithin
eine Wirkung des guten und bösen Thuns der lebenden
Wesen. So finden wir in den Särnkhyasütra's unter
den Gründen, durch welche die Existenz des Verdienstes
bewiesen wird, als ersten {V. 20; s. auch III. 51, VI. 41)
die Verschiedenartigkeit der Naturprodukte genannt, für
die der Inder keine andere Erklärung hat. Und die Com-
mentatoren lehren uns, dass, wenn die Bäume Frucht tragen
oder das Getreide auf den Feldern reift, dabei das mensch-
liche Verdienst die treibende Kraft ist -).
Selbst in denjenigen Systemen, die einen Gott aner-
kennen, hat dieser nichts anderes zu thun als die Welt
und die Geschicke der Wesen genau nach dem Gesetze
der Retribution zu leiten, an dem auch er nicht zu rütteln
vermag. Für alle die Mächte, denen in der übrigen Welt
Gläubige und Ungläubige einen bestimmenden Einfluss
auf das Loos des Einzelnen und (^r Völker wie auf das
Walten der Naturkräfte zuschreiben : göttliche Gnade und
Strafe, Weltordnung, Vorsehung, Schicksal, Zufall — ist
in Indien kein Raum neben der mit eiserner Nothwendig-
keit alles beherrschenden Macht der That.
2. Die Erlösung bei Lebzeiten.
Welcher Art auch die Erkenntniss ist, deren Er-
reichung für die einzelnen Systeme die Befreiung aus den
Banden des S a m s ä r a bedeutet, überall begegnen wir der
Anschauung, dass derjenige, der die Erkenntniss gewonnen
1) Vgl. die von Nilakantha-Hall, Rational Refutation p.
36 — 38 für diese Anschauung aus derSämkhya-, Vedänta- und
Nyäya- Literatur beigebrachten Belegstellen.
■^) Aniruddha zu III. 51, 62, Mahädeva zu III. 60.
— 181 —
hat, des erreichten Zieles nicht mehr verlustig gehen kann.
Mit dem Augenblicke, in dem das Wesen der Dinge in
voller Klarheit vor dem inneren Auge erscheint und damit
die unerschütterliche Gewissheit der errungenen Erlösung
eintritt, hat das Gesetz der Vergeltung über den Weisen
seine Macht verloren. Die allseitige Uebereinstimmung
nöthigt uns, auch diese Idee zu den allgemein-indischen
zu rechnen, obschon die geläufigen technischen Ausdrücke
jivanmukta 'bei Lebzeiten erlöst' und jivanmukti 'Erlösung
bei Lebzeiten' erst in späterer Zeit gebildet und noch
nicht einmal bei ^ a m k a r a nachzuweisen sind '). Ein
direktes Zeugniss für den Glauben an die jivanmukti aus
alter Zeit haben wir in der Stelle Chändogya Upani-
shad VI. 14. 2: „Nur so lange dauert es bei ihm, als er
„fflaubt, dass er nicht erlöst werden und sein Ziel er-
„reichen werde".
Ich belege im Folgenden die liier in Betracht kom-
menden Vorstellungen ausschliesslich aus der Sämkhya-
Literatur ■-), da man sich von dem Vorhandensein der
gleichen Anschauungen in den anderen Systemen aus
Nllakantha-Hall, Rational Refutation p. 29— 34 und
Deussen's System des Vedänta S. 452— 460 (vgl. auch
S. 382) überzeugen kann.
Den Beweis für die Existenz von Jivanmukta's,
den das Sämkhyasütra IIL 79 in der Thatsache er-
blickt, dass es Lehrer der Wahrheit gegeben hat und giebt,
als welche nur bei Lebzeiten Erlöste auftreten könnten,
dürfen wir wie so manche andere Wunderlichkeiten
unserer Texte auf sich beruhen lassen.
Der Einwand, dass nach dem Zusammenhange des
Systems unmittelbar, nachdem die Erkenntniss der Wahrheit
eingetreten, das Leben des Erlösten erlöschen müsse, wird
durch das auch in den V e d ä n t a - Schriften geläufige
^) S. Deussen, System des Vedänta S. 460.
2) Vgl. die Darstellung bei Barthelemy Saint-Hilai r e,
Premier Memoire p. 473—476.
— 182 ~
Gleichniss von der Töpferscheibe zurückgewiesen, die in
Folge des gegebenen Anstosses auch nach der Fertigstellung
des Topfes noch fortschwingt'). Väcaspatiini9ra be-
merkt dazu 2): „In Folge des Entstehens der Erkenntniss
„der Wahrheit ist die Menge der Werkansammlungen,
„obwohl sie anfangslos ist und die Zeit für ihr Heranreifen
„[zum Zwecke der Vergeltung] nicht feststeht, nicht mehr
„ fifeeitrnet Früchte — d. h. die Leiden einer neuen Existenz
„ — zu zeitigen, weil die Keimkraft der Werke verbrannt
„ist. Denn wenn der Boden des Innenorgans mit dem
„Wasser der Fehler [d. h. des Nichtwissens, der Begierde
„u. s. w.] getränkt ist, so treiben die Werksamen ihre
„Sprossen; wie aber können die Werksamen auf einem
„unfruchtbaren Salzboden, auf dem das gesammte Wasser
„der Fehler von der Gluth der Erkenntniss der Wahrheit
„aufgesogen ist, ihre Sprossen treiben?" Und im Anschluss
daran führt er aus, dass das gegenwärtige Leben auf
solchen früheren Werken beruht, deren Samen schon
vor der Erreichung der erlösenden Erkennt-
niss aufgegangen ist und begonnen hat zu
reifen^). Diese Werke also sind die Triebfeder für die
Fortdauer des Leibeslebens der Erlösten; ihre Frucht ist
bis auf den letzten Rest zu geniessen, und darum erfährt
der Jivanmukta auch noch Freude und Schmerz wie
alle anderen Wesen, obschon nicht in demselben Grade*).
„Wenn in Folge eines [im Innenorgan hervorgebrachten]
„Eindrucks" — sagt Vijnänabhikshu zu Sütra V. 120
mit Bezug auf den bei Lebzeiten Erlösten — „im Körper
„der Götter oder [Menschen] eine Empfindung begonnen
„hat, so wirkt dieser Eindruck so lange, bis die Empfindung,
„welche angefangen hat sich geltend zu machen und von
1) Kärikä 67, Sutra III. 82.
2) Sämkhya-tattva-kaumudi zu Kärikä 67.
') S. auch Vijnänabhikshu zu Sütra I. 1, Seite 13, 14 meiner
Uebersetzung.
*) Vgl. Vijnänabhikshu zu Sütra III. 77, 83, und seine Ein-
leitung zu V. 120.
— 183 —
„dem betreffenden Körper auszukosten ist, ihr Ende erreicht
„hat; und dieser [Eindruck] wird nur durch das Ende der
„Empfindung vernichtet, ebenso wie die [Kraft der] Werke
„ [nur durch das Ende des Resultats, das sie gezeitigt haben] ".
Was nun aber auch der Jivanmukta nach dem
entscheidenden Wendepunkt in seinem Dasein noch thun
und treiben möge, — und wenig genug kann es ja nur
sein, da er von absoluter Gleichgiltigkeit gegen die Dinge
dieser Welt (der Vorbedingung für die Erreichung des
erlösenden Wissens) erfüllt ist — , aus seinen Handlungen
erwächst kein Verdienst und keine Schuld mehr; die Er-
kenntniss löst die nachwirkende Kraft seines Thuns auf,
ebenso wie sie das Verdienst und die Schuld aller früheren
Werke, die noch nicht angefangen haben Frucht zu tragen,
vernichtet hat. Wenn dann endlich die Werke, welche
die Fortsetzung des gegenwärtigen Lebens bedingen, ab-
gebüsst sind und „die Trennung vom Körper erreicht ist,
„so erlangt die Seele die unbedingie und absolute Isoli-
„rungi)". Erst dann, mit der Vernichtung des inneren
Organs im Tode des Erlösten, ist der Schmerz vollständig
und für alle Ewigkeit aufgehoben -).
Anhangsweise sei hier eine der spätesten Entwicke-
lung des Sämkhya- Systems angehörende Vorstellung
erwähnt, durch welche die klaren soeben dargelegten An-
schauungen etwas verwischt wurden.
Wie wir S. 149 erkannten, hat die mit der echten
Sämkhya- Lehre nicht zu vereinigende Theorie der Y o g a -
Philosophie von den drei Stufen der unterscheidenden
Erkenntniss Eingang in die Sämkhyas ütra's (IIL
77 — 79) gefunden. Die Folge davon war, dass man eine
dieser drei Stufen für den Standpunkt des Jivanmukta
erklären musste. Die niedere konnte es nicht sein, weil
1) Kärikä 68.
2) Dadurch unterscheidet sich die videliamuhti , die definitive
Erlösung nach dem Tode, von der jivannmhti. Vijnänabhikshu zu
I. 1, Mahädeva zu III. 77.
— 184 —
der auf ihr angelangte noch weiterer Aufklärung bedarf;
die höchste war deshalb ausgeschlossen, weil auf ihr die
Concentration bis zu der Bewusstlosigkeit gesteigert ist,
„aus der es kein Auferstehen giebt", mithin der Tod un-
mittelbar bevorsteht. So blieb, als für den Ji vanmukta
in Anspruch zu nelnnen, allein die ,mittlere Unterschei-
dung' übrig, in der nur noch die Eindrücke der früheren
Erfahrung bestehen bleiben, aber alle Begierden ge-
schwunden sind und der Weise in der Gewissheit lebt,
dass er durch Geniessen und Leiden (Ue Kraft der-
jenigen Werke aufbraucht, deren Frucht heranzureifen be-
gonnen hat ^).
3. Der Werth der Askese.
Barthelemy S aint-Hilaire, Premier Memoire
p. 389 erhebt gegen Kapila den Vorwurf, dass er, wie
alle Kinder seiner Zeit und seines Landes, an die Magie
geglaubt habe, d. h. an die wunderbaren, angeblich durch
die Askese zu gewinnenden Kräfte, durch die man Herr
über die Naturgesetze wird und den natürlichen Lauf der
Dinge zu ändern vermag. Dass der Begründer der Säm-
k h y a - Philosophie diesen Aberglauben getheilt hat, lässt
sich nicht mit wissenschaftlicher Genauigkeit beweisen;
denn das einfache System, das wir auf ihn zurückführen
müssen, schliesst nicht die Nothwendigkeit solcher Aus-
wüchse ein ; und die Schriften, die uns die S ä m k h y a -
Philosophie mit jenen phantastischen Vorstellungen durch-
setzt zeigen, sind ja erst viele Jahrhunderte nach K a p i 1 a
entstanden. Gleichwohl lässt sich nicht bezweifeln, dass
Kapila wirklich an die übernatürliche Macht der Askese
geglaubt hat; er wäre sonst kein echter Lider gewesen.
Denn dieser Wahn hat seit Alters her, wie wenige Ideen
sonst, dem ganzen indischen Volk bis auf die neuesten
1) Aniruddha zu TIT. 77.
— 185 —
Zeiten für eine selbstverständliche Wahrheit ffeffolten. Das
Wort fiir Askese, tapas (etymologisch , Hitze, Gluth', dann
, Schmerz, Selbstj)einigung') , tritt uns bereits in jüngeren
Liedern des Rigveda, dann häufiger im Yajur- und
Atharvaveda entgegen ; und in der Literatur der B r ä h-
mana's und Upanishad's ist der Begriff bereits ganz
geläufig. Oftmals "wird das Tapas hier als eine kosmo-
gonische Potenz behandelt, durch die der Weltenschöpfer
die Wesen und Dinge hervorbringt; der beste Beweis
dafür, dass schon in dieser Zeit der Askese kaum eine
geringere Macht zugeschrieben wurde als später in der
klassischen Sanskritliteratur, wo dieser Glaube den aben-
teuerlichen Ausdruck gefanden hat, dass alle Götter vor
der Busski'aft des Asketen in Entsetzen gerathen und
dieser geradezu ein allmächtiger Zauberer ist. Ursprüng-
lich hat die indische Askese zweifellos nur in Enthaltsam-
keit, Fasten und Kasteiungen bestanden; erst als die reli-
giösen Bedürfnisse des Volkes sich verinnerlichten und
nicht mehr ihre Befriedigung in der Vollziehung endloser
Ceremonien und in der Beobachtung zahlloser Aeusserlich-
keiten fanden, Avurde auch der Schwerpunkt der Askese in
die Meditation und Versenkung verlegt. Der Begriff des
Yoga oder der geistigen Askese trat in den Vordergrund,
und das Tapas oder die körperliche Askese wurde zu
einem Hilfsmittel zur Steigerung des Yoga herabgedrückt ^);
doch lag es in der Natur der Sache, dass die beiden Be-
griffe in der Folgezeit nicht immer von einander ge-
schieden wurden.
Gough, Philosophy of the Upanishads p. 18, 19,
^) Das Wort yoga tritt in dieser Bedeutung erst beträchtlich
später auf als tapas, ist aber immerhin, wie aus Jacob 's Concor-
dauce zu ersehen, in den Upanishad's mittleren Alters ziemlich
häufig. In der Mai tri Up. (VI. 18) finden wir bereits die in
dem späteren Yoga -System vorgeschriebene Technik fast voll-
ständig entwickelt. Dass der Buddhismus die Uebung der
Versenkung sehr hoch schätzte, aber die leibliche Askese verwarf,
auf die der Ji nismus grosses Gewicht legte, ist allgemeiu bekannt.
— 186 —
sucht die Entstehung der Yoga- Praxis, ebenso wie den
Glauben an die Seelenwanderung i) , auf den Einfluss der
halbwilden Völkerschaften, mit denen die eingewanderte
Rasse versclunolz, zurückzuführen. Er beruft sich auch in
diesem Falle auf Tylor's Primitive Culture (I. p. 277),
wo ausgeführt ist, dass bei tiefer stehenden Völkern die
durch Meditation, Fasten, Narkotisiiamg , Erregung oder
Kranklieit hervorgerufene Ekstase ein gewöhnlicher und
in hoher Werthschätzung gehaltener Zustand sei. Ich
erachte es nicht für unmöglich, dass bei der künstlichen
Ausbildung der Yoga-Lehre etwaige fremde Vorbilder
eine gewisse Einwirkung ausgeübt haben können; aber
ich sehe doch nicht ein, warum diese Vorstellungen und
Gebräuche bei den arischen Indern, die von jeher so ernst
um das höchste Heil gerungen, nicht unabhängig von
äusseren Einflüssen entstanden sein sollen, wie sie z. B.
innerhalb der christlichen Kirche sich zu verschiedenen
Zeiten selbständig herausgebildet haben.
Die Askese wird in Indien allgemein nicht nur als ein
Mittel zur Erreichung der wunderbaren Kräfte angesehen,
sondern auch als das wirksamste Hilfsmittel zur Gewinnung
der erlösenden Erkenntniss. Das besondere Hervortreten
dieser Anschauung in den S am khya- Schriften beruht
sicherlich darauf, dass die literarische Festlegung der über
den Yoga herrscheiiden Anschauungen durch Pataiijali
auf unser System basirt ist. Es war nur zu natürlich,
dass nach der Abfassung und Verbreitung der Yoga-
sütra's die Anhänger der S am khya- Philosophie sich
die in jenem Werke niedergelegten Anschauungen, soweit
sie nicht den Lehren ihres Systems widersprachen, zu eigen
machten. Ein Theil der hier in Betracht kommenden
Vorstellungen hat bereits bei der Erörterung der An-
forde r u n g e n des S ä ni k h y a - Systems S. 148 zur Sprache
gebracht werden müssen; der Rest möge hier seine Stelle
finden.
1) Vgl. obeu S. 175, 176.
— 187 —
Der Yogin, d. li. derjenige Asket, der durch die
Ausübun g der Yoga- Praxis die in P a t a n j a 1 i ' s System
in Aussicht gestellten Ziele erreicht hat, bringt durch
seinen blossen Willen alles, was er wünscht, zu Stande.
Diese Macht wird aus dem von dem Yogin erworbenen
Verdienst oder aus der Stärke seiner Contemplation ab-
geleitet, und es wird ausdriicklich bemerkt, dass die von
ihm geschaffenen Dinge nicht etwa illusorisch, sondern
real seien'). Wie der Yogin allmächtig ist, so ist er
auch allwissend; er sieht nicht nur die Dinge, die der
Wahrnehmung gewöhnlicher Menschenkinder durch da-
zwischen liegendes entrückt sind; er schaut auch in die
Vergangenheit und Zukunft. Diese Vorstellung wird durch
die S ä m k h y a - Lehre von der steten Realität der Produkte
(sat-härya-väda) begründet; auch das gewesene, d. h. das
in seine Ursache aufgegangene, und das zukünftige, d. h.
das noch nicht aus seiner Ursache hervorgegangene, existirt
ebenso gut Avie das gegenwärtige, nur in einem anderen
Stadium. Das innere Organ des Yogin nun steht in
unmittelbarer Verbindung mit der Urmaterie, aus der alles
entsteht und in die alles zurücksinkt, und dadurch zugleich
„mit jeder Zeit, mit allem Raum und mit allen Objekten" -).
Noch in anderer Weise denkt man sich bei dem Yogin
die Kräfte der Organe in übernatürlicher Weise gesteigert.
Diejenigen Dinge, die für andere Menschen unsichtbar
sind — die Seelen, die Urmaterie und die Grundstoffe,
die sich noch nicht durch gegenseitige Verbindung zu
grobem Stoff entwickelt haben — werden von dem Yogin
gesehen, nicht durch innere Anschauung, sondern durch
wirkliche Sinneswahrnehmung ^). Der Yogin nimmt also
auch in Bezug auf den Körper eine Sonderstellung unter
1) Sämkhyasütra III. 28, 29 nach Aniruddha's und Mahadeva's
Erklärungen.
-) Sütra I. 90, 91 nebst den Commentaren und Vijnänabhikshu
zu I. 121.
') Vijn. zu Sutra I. 109, III. 1.
■ — 188 —
allen Wesen ein. Das S ä m k h y a - System unterscheidet
drei Kategorien von Körpern mit Rücksicht auf deren
vorwaltende Eigenthümliclikeit : handelnde (karrna-deha)^
geniessende, resp. leidende (upahhoga-delia) , und Körper
beiderlei Art (uhhaya-dcha). Der Leib des Yogin aber
ist von allen dreien verschieden, da seine charakteristischste
Eigenthümlichkeit weder Handeln noch Geniessen ist,
sondern das Zeitigen der Erkenntniss ^).
4. Das Mythologische.
Die philosophischen Systeme haben ebenso wenig Avie
die Religionen Buddha's und Jina's mit den mytho-
logischen Anschauungen des Volkes gebrochen. Die Existenz
der Götter, Halbgötter und Dämonen wird nicht bestritten,
wohl auch nicht bezweifelt, ist aber von geringer Be-
deutung. Zwar sind die Götter höher organisirte und
glücklichere Wesen als die Menschen ; aber sie stehen
ebenso wie diese innerhalb des Samsära und müssen,
wenn sie nicht die erlösende Erkenntniss gewinnen und
damit aus dem Weltdasein ausscheiden, wieder ihre Leiber
wechseln 2). Der Macht des Todes sind auch sie nicht ent-
ronnen, und deshalb stehen sie tiefer als derjenige Mensch,
der das höchste Ziel erreicht hat. Viel leichter als die
Erreichung dieses Zieles ist es, sich durch Tugend und
gute Werke zu göttlichem Range zu erheben und nach
dem Tode auf dem Monde oder in der Welt Indra's,
Brahman's u. s. w. — auch wohl in der Person eines
1) Sutra V. 125, 126 (124, 125 Vijii.). Hier ist der Yogiu
mit dem seiteneu Worte anugayin bezeichnet, d. b. uacb Vijii. ,der
Gleicbgiltige', nach den anderen Commentatoreu besser , derjenige,
von dessen Werken nur noch ein Rest übrig geblieben ist'.
^) Immer und immer wieder wird in den S ä lu kh 3^ a- Texten
versichert, dass auch aus den himmlischen Welten eine Wiederkehr
zu neuen Daseinsformen stattfinde. S. in den Indices zu meinen
Textausgaben unter ävrtti, anävrtti und punarävrtti. Ueber die
entsprechenden Anschauungen im Vedanta vgl. Deussen S. 68 ff.
— 189 —
dieser Götter — wiedergeboren zu werden ; und nur thöriclite
Menschen trachten nach solchem vergänglichen Glück.
Wie der Glaube an überirdische Wesen und himm-
lische Stätten, ist natürlich auch der an Höllen, in die der
Böse herabsinkt um seine Sünden abzubüssen, in die
Systeme übergegangen ^). Alle diese mythologischen Vor-
stellungen aber werden in den Lehrbüchern des Vedänta-
Systems, das sich in der aparä vidyd, der ,niederen Wissen-
schaft' auf den religiösen Standpunkt stellt, viel eingehender
berücksichtigt als in den Sänikhya- Schriften. Hier
werden sie eigentlich nur herangezogen, wo es sich um
den Lohn des Frommen und die Strafe des Unfi'ommen
handelt, oder wo die Bedeutung der Erlösung, des absoluten
und endgiltigen Aufhörens des Schmerzes, durch Ver-
gleichung mit den untergeordneteren Zielen, denen die
Religion zustrebt, in das rechte Licht gesetzt werden soll.
Für das Sämkhya- System als solches ist die indische
Mythologie belanglos.
Unter den Sämkhya- Lehrern hat allein V i j n ä -
nabhikshu, der, wie wir schon mehrfach sahen, kein
consequenter Vertreter unseres Systems war, an einigen
Stellen Gelegenheit genommen, die volksthümlichen An-
schauungen des Brahmanenthums mit den Lehren der
S ä m k h y a - Philosophie auf die in den Puräna's übliche
Art und Weise zu verschmelzen. Er erklärt -) den A d i -
p u r u s h a , den Urgeist , d. h. V i s h n u , für diejenige
Seele, die beim Beginn dieser Schöpfung vor allen anderen
gleich ewigen Seelen wegen früher erworbener Verdienste
sich mit der B u d d h i , der ersten Entfaltung der Urmaterie
und der Trägerin der höheren psychischen Vorgänge, ver-
bunden hat. Die Buddhi Vishnu's ist nach Vijüä-
]iabhikshu nicht von derselben Art, wie bei uns
gewöhnlichen Menschen, sondern von universeller Natur;
^) Vgl. Sämkhyakärikä 44, und wegen des VedäntaDeussen
S. 412—414.
2) Zu Sutra I. 96, 154, V. 5, VI. 64, 66.
— 190 —
sie besteht aus reinem Sattva und ist deshalb nur der
auf Güte und Wohlwollen beruhenden Funktionen fähig;
ausserdem befindet sie sich im Besitz des höchsten Maasses
von Erkennen, Stärke und übernatürHcher Kraft. Das
höchste aber, was unser Autor von Vishnu aussagen
kann ^), ist, dass er an der Spitze der bei Lebzeiten Erlösten
stehe; denn über den Rang eines Jivanmukta kann
kein Wesen, auch der grösste der Götter nicht, hinaus-
gelangen. Im Kreise dieser Glücklichen, die die unter-
scheidende Erkenntniss errungen haben, ist selbst Vishnu
nur ein primus inter pares.
In ähnlicher Weise werden von Vijn an abhikshu-)
B rahm an (oder Hirany agarbha) ^') und ^iva als
diejenigen Seelen bezeichnet, die sich mit dem kosmischen
Ahamkära, der zweiten Entfaltung der Urmaterie und
dem Träger des zum Handeln antreibenden Ichbewusstseins,
verbunden haben *). Dadurch soll die schaffende Thätigkeit
Brahman's und das zerstörende Wirken ^ i v a ' s erklärt
werden.
Schliesslich erwähnt Vijnänabhikshu noch^) die
gangbare Vorstellung von den (zugleich als Lenker der
Sinnesorgane geltenden) Göttern der Erde, der Luft, des
Feuers und des Wassers, indem er diese für Geister erklärt,
die durch den Wahn gebunden sind, dass die Natur-
elemente ihr Selbst seien.
Nur der Vollständigkeit wegen sind diese sich nicht
durch Klarheit auszeichnenden Vorstellungen hier mit an-
geführt worden.
1) Zu Sütra V. 47.
2) Zu Sütra VI. 64.
") Vgl. meinen Iudex zum Sämkhya-pravacana-bhäshya s. v.
*) S. schon oben S. 53.
5) Zu Sütra II. 13, 18, 21. Vgl. Deussen, System des Ve-
dänta S. 70.
>c^^
III. Wie specielleii Grundaiiscliauuiigen
des Systems.
1. Der Atheismus. '
Einer der cliarakteristisclisten Züge der Sämkliya-
Philosophie ist die Entschiedenheit, mit der das Dasein
Gottes geleugnet wird. Dass die Anerkennung der Volks-
götter diesem Atheismus keinen Eintrag thut, ergiebt sich
schon aus dem eben bemerkten und wird noch ausdrücklich
im Sämkhyasütra III. 56, 57 begründet. Der Glaube
an gewordene und vergängliche Götter (janyegvara, lcärye(^-
vara) ^) hat nichts mit der Frage nach dem ewigen Gott
(nityecvara) zu thun, von dem andere annehmen, dass er
die Welt durch seinen Willen geschaffen habe. Der Ge-
brauch eines besonderen Wortes (ievara ,der Mächtige') in
der indischen Philosophie ist offenbar aus dem Bestreben
hervorgegangen, diesen Gott von den Göttern (deva) auch
im sprachhchen Ausdruck zu unterscheiden.
Die Gottesleugnung (niricvara-väda) des Sämkhya-
Systems ist im wesentlichen die Consequenz folgender
Anschauungen : 1) der Lehre, dass der bewusstlosen Materie
die sich mit Naturnoth wendigkeit bethätigende Kraft inne-
wohne, für die rein receptiven Seelen sich zu entfalten,
1) D. h. Götter, die ein Produkt (der in früheren Existenzen
vollbrachten guten Werke) sind. Vgl. den Index zu meiner Ausgabe
des Sämkhya-pravacana-bhäshya.
— 192 —
und 2) der allgemein-indischen Vorstellung von der Nach-
wirkung des Thuns der lebenden Wesen, die nicht nur
jene Naturkraft anregt, sondern auch ihrer Thätigkeit die
Bahnen weist. Andere Gründe scheinen dazu getreten zu
sein, vor allem Avohl die Erkenntniss, dass auf dem Boden
des Theismus das Problem der Entstehung des Unglücks
nicht zu lösen ist, — ein Gedanke, den wir in der be-
deutungsvollen Stelle Sämkhya-tattva-kaumudi zu
Kärikä 57 als eine Hauptstütze der atheistischen Welt-
erklärung verwendet finden. Es heisst daselbst: „[Jedes]
„bewusste Handeln ist ausnahmslos bedingt entweder darch
„einen egoistischen Zweck oder durch Güte. Und da diese
„beiden [Motive] bei der Weltschöpfung ausgesclilossen
„sind, machen sie auch [die Annahme] unmöglich, dass
„[die Erschaffung der Welt] auf bewusstem Handeln be-
„ruht. Denn ein Gott, dessen Wünsche doch alle erfüllt
„sind, kann an der Erschaffung der Welt [schlechthin]
„kein [persönliches] Interesse gehabt haben; [die Mög-
„lichkeit eines egoistischen Zweckes fällt also fort. Aber]
„auch aus Güte kann [Gott] nicht die Schöpfung unter-
„nommen haben; denn da vor dem Schöpfungsakt die
„Seelen keinen Schmerz litten, weil noch keine Sinne,
„Körper und Objekte entstanden waren, wovon konnte die
„Güte [Gottes die Seelen] befi-eit zu sehen wünschen?
„Wenn man [aber] meint, [dass] die Güte [Gottes sich
„später zeigte,] als er nach dem Schöpfungsakt [seine
„Geschöpfe] leidvoll sah, so wird man schwerlich über den
„circulus vitiosus hinwegkommen: in Folge der Güte die
„Schöpfung und in Folge der Schöpfung die Güte! Ferner
„würde ein durch Güte getriebener Gott nur freudvolle
„Geschöpfe schaffen, [aber] nicht solche in verschieden-
„artigen Lagen. Wenn [uns hierauf eingewendet wird:]
„,die Verschiedenartigkeit folgt aus der Verschiedenartig-
„keit des Werkes, [dessen Lohn die Individuen von Gott
„empfangen]', so [antworten wir: Dann aber] ist doch die
„Leitung des Werkes von Seiten jenes bewussten [höchsten
„Wesens vollständig] überflüssig; denn die Wirksamkeit
— 193 —
„des [von den Individuen vollbrachten] Werkes [d. h. die
„nachwirkende Kraft des Verdienstes und der Schuld] er-
„klärt sich trotz der Ungeistigkeit [des Werkes] völlig
„ohne eine Oberleitung von Seiten jenes [Gottes]; auch
„das Nichtwiederentstehen des Schmerzes, [nachdem die
„Erlösung erreicht ist,] begreift sich sehr wohl [auf Grund
„dieser Theorie], da, [wenn die nachwirkende Kraft des
„Werkes durch die unterscheidende Erkenntniss aufgehoben
„ist], die Produkte jener [Kraft], d. h. Körper, Sinne und
„Objekte, [mithin auch die Schmerzen] nicht [wieder]
„entstehen können. — Das [von uns angenommene]
„Wirken der ungeistigen Materie dagegen birgt weder
„einen egoistischen Zweck in sich, noch ist die Güte sein
„Motiv; und deshalb kann man gegen [unsere Theorie]
„nicht geltend machen, dass die genannten Widerlegungs-
„gründe [auch] auf sie Anwendung finden. Vielmehr ist
„als Motiv allein die [unbewusste] Betreibung der Zwecke
„eines andern [d. h. der Seele] berechtigt ^)".
Eine gewisse Ergänzung zu diesen bemerkenswerthen
Ausführungen liefert Vij nana bhiks hu in seinem Com-
mentar zu S ü t r a VI. 65 : „Auch auf dem theistischen
„Standpunkt kann man nicht sagen, dass die Manifestirung
„der Produkte einfach durch Gott bewirkt werde, weil
„Gott dann parteiisch [im Vertheilen von Freude und
„Sclunerz] und grausam [weil den Schmerz erschaffend]
„sein würde. Diese Parteilichkeit und [Grausamkeit]
„müssen die Theisten dadurch widerlegen, [dass sie lehren,]
„Gott berücksichtige [bei der Vertheüung von Freude und
„Schmerz] die Werke [der Individuen]. Wenn nun Gott
^) Diese Beweisführung Väcaspatimigra's ist fast voll-
ständig von Mädhaväcärya im Sämkhya-Kapitel des Sarva-dar-
Qana-samgraha (S. 228 der Uebersetzung) wiederholt. Auch finden
sich dieselben Gründe zerstreut in denjenigen Sämkhyasütra's , in
welchen die Existenz Gottes geleugnet wird (I. 92 — 94, V. 2 — 12,
46, 126, 127, VI. 64) und namentlich bei den Commentatoren zu
diesen Stellen.
Garbe, Sämkhya-Philosophie. 13
— 194 —
„diese Werke lenkte , so würde er | wiederum dem Vor-
„wurf] der Parteilichkeit und [Grausamkeit] ausgesetzt sein".
Solche und ähnliche Erwägungen hatten sich gewiss schon
dem Begründer der S ä m k h y a - Philosophie aufgedrängt,
als er sich zu dem kühnen Schritte entschloss, offen den
Atheismus zu bekennen. Dass nach der Brahmanisirung
des Sänikhy a-Systems keine andere Lehre desselben so
oft und so heftig angegriffen sein wird als diese, dürfen
wir schon aus der Einfügung des persönlichen Gottes
schliessen, durch die P a t a h j a li das System K a p i 1 a 's
seinen Landsleuten annehmbarer zu machen suchte. Die
strengen Anhänger der Sämkhya -Philosophie bemühten
sich auf der anderen Seite, aus ihrem eigenen System neue
Gründe zur Abwehr der Angriffe gegen die Gottesleugnung
abzuleiten. Sie stellten vor allen Dingen die sophistische
Alternative: soll Gott eine erlöste oder eine gebundene
Seele sein ? Als erlöste, d. h. mit keinem Leibe und keinem
Innenorgan verbundene Seele würde Gott ohne alle Quali-
täten und besonders ohne Wunsch und Willen, der noth-
wendigen Vorbedingung für alle schöpferische Thätigkeit,
sein; es würde ihm ebenso jeglicher Beweggrund für die
Leitung der Welt fehlen. Als gebundene Seele würde Gott
dem S a m s ä r a angehören und, wäe alle anderen Wesen,
bethört und mit weltlichen Schwächen behaftet sein, in
welchem Falle er wiederam nicht Schöpfer und Leiter der
Welt, sondern nur ein nomineller (päribhdshika) Gott sein
könnte, der mit dem Anfang dieser Weltperiode entsteht
und mit ihrem Ende vergeht ^). Wenn ein Theist gegen
diese Beweisfühning den nahe liegenden Einwand erhebt,
dass Gott dann eben weder zu den erlösten noch zu den
gebundenen Seelen gehören könne, sondern eine Aus-
nahmestellung einnehmen müsse, so erhält er die Antwort:
Wo ein in seiner Art einziges Ding statuirt wird, fehlt
1) Sämkhyasütrji I. 93, 94, V. 5—7; vgl. auch Gaudapäda zu
Kärikä 61.
— 195 —
jede Argumentationsbasis *). So und so oft wird in den
S ä mk hy a s ü t r a 's constatirt , dass sich die Existenz
Gottes nicht beweisen lässt -). Wenn man die aphoristische
Kürze des Werkes in Betracht zieht, so geht aus dieser
mehrfachen Wiederholung deutlich hervor, welches Gewicht
auf diesen Punkt, auf den thatsächlichen Mangel eines
stringenten Gottesbeweises, gelegt worden ist.
Der ganze Zusammenhang des S ä m k h y a - Systems
sclüiesst den Gottesglauben aus, und nur eine oberflächliche
Betrachtung kann zu dem hie und da ■') ausgesprochenen
Urtheil gelangen, dass der Begründer der Sämkhya-
Philosophie seine Lehren auf diejenigen Principien be-
schränkt habe, die nach seiner Meinung zu demonstriren
waren, und dass er demzufolge nur die Unbeweisbar-
k e i t Gottes dargethan , aber nicht seine Existenz ge-
leugnet habe.
2. Der übrige Inhalt^).
Am Schluss der Einleitung zum Sämkhy a-prava-
cana-bhäshya wird der Inhalt unseres Systems in
folgende vier Theile zerlegt:
1) dasjenige, wovon man sich befreien muss, d. h. der
Sclimerz ;
2) die Befreiung, d. h. das Aufhören des Schmerzes;
3) die Ursache desjenigen, wovon man sich befi*eien
muss, d. h. die Nichtunterscheidung, die auf der Ver-
bindung der Seele mit der Materie beruht und den
Schmerz bewirkt;
4) das Mittel zur Befreiung, d. h. die unterscheidende
Erkenntniss.
1) Aniruddha iu der Einleitung zu I. 94 und im Commentar
zur V. 11.
2) S. die Stellen S. 193 Anm.
^) Z. B. von Goldstücker, Literary Kemains T. 174.
^) Vgl. hierzu die kurze Uebersicht der distinktiven Säni-
khya- Lehren oben S. 15.
13*
— 196 —
Diese Viertheiluiig ist aus dem alten Commentar des
Vyäsa zum Yogasütra IL 15 entnommen und beruht
höchst wahrscheinlich auf noch viel älterer Tradition ; denn
sie zeigt eine unverkennbare Uebereinstimmung mit dem
ältesten Dogma des Buddhismus, dem der ,vier heiligen
Wahrheiten' vom Leiden, von der Entstehung des Leidens,
von der Aufhebung des Leidens und von dem Wege zur
Aufhebung des Leidens. Oldenberg, Buddha ^ S. 226,
Anm. 2 bemerkt darüber: „Ob mit Bezug auf diese vier-
„ fache Gliederung der Buddhismus der entlehnende Theil
„ist, wird nicht festgestellt werden können ; dass im Uebrigen
„die Formulirung der vier Sätze sein Eigenthum ist, scheint
„unzweifelhaft," Gewiss ist der Wortlaut dieser Sätze
Eigenthum des Buddhismus; den Gedanken hingegen
halte ich auf Grund meiner Anschauungen über die Ab-
hängigkeit des Buddhismus von der S ä m k h y a - Philosophie
für entlehnt.
Neben diese alte Viertheilung, die sich nur mit dem
Endziel des Sämkhya- Systems beschäftigt, aber von
seinem Gesammtinhalt keine rechte Vorstellung erweckt,
wurde in späterer Zeit eine erschöpfendere Zehntheilung
gesetzt. In einem Fragment des Räjavärttika, das in
der Sämkhya-tattva-kaumudi zu Kärikä 72 er-
halten ist'), finden wir die folgende Angabe der zehn
Hauptlehren oder besser Grundbegriffe (mülikärtlia) unseres
Systems:
1) die Realität (von Seele und Materie),
2) die Einheit (der Materie),
3) die Zweckdienlichkeit (der Materie),
4) die Verschiedenheit (von Seele und Materie),
5) das Wirken (der Materie) im Dienste der andern
(d. h. der Seele),
6) die Vielheit (der Seelen),
7) die Verbindung (von Seele und Materie),
1) Es ist auch mit einigen Varianten in Nr. 68 der Säinkhya-
krama-dipikä (zu Sütra 18 des Tattvasamäsa) reproducirt.
— 197 —
8) die (Möglichkeit der definitiven) Trennung (beider),
9) das Vorhandensein (der ganzen Fülle) materieller
Entfaltungen (viceslia-vrtti) ^),
10) die Unthätigkeit (der Seele). ^
Im Anschluss hieran sind dann noch imRäjavärttika
als dem Sämkhya- System eigenthümlich die Lehren von
dem ftinffachen Irrthum, den neun Befriedigungen, den
achtundzwanzig Formen des Unvermögens und den acht
Vollkommenheiten angeführt.
Unter jene zehn Grundlehren lässt sich in der That
der ganze Inhalt des Systems einreilien, soweit er positiver
Natur ist; doch würde es sich nicht empfehlen, einer
europäischen Darstellung, von der man mit Fug und Recht
einheitlichere Gesichtspunkte erwarten kann, diese Anord-
nung des Inhalts zu Grunde zu legen. Ein Blick auf das
obige Schema lehrt, dass alle dort angeführten Sätze aus-
schliesslich das Wesen und gegenseitige Verhältniss zweier
Dinge betreffen, der Materie und der Seele. Beide sind
unerschaffen, ohne Anfang und ohne Ende, und beide sind
ihrem innersten Wesen nach von einander verschieden;
es giebt also kein höheres einheitliches Princip, aus dem
man sie ableiten könnte. Unter diesen Umständen müssen
wir uns die Frage vorlegen, welcher der zwei Begriffe für
das System von maassgeb ender er Bedeutung ist. So wenig
wir ein Recht haben bei der klaren Stellung, die der
Seele, dem geistigen Princip, in der S ä m k h y a - Philosophie
angewiesen ist, das System als ein materialistisches zu
bezeichnen, so lässt sich doch nicht verkennen, das uns
aus demselben eher ein materialistischer als ein spiritua-
listischer Hauch entgegen weht. Barthelemy Saint-
Hilaire, Premier Memoire p. 485 — 487, findet es zwar
schwierig, dem Sämkhya- System seinen richtigen Platz
in der Geschichte der Philosophie anzuweisen, meint aber
1) In der Sämkhya-krama-dipikä cesha-vrttl , d. h. nach Bal-
lantyne ,die Fortdauer des Körpers (nach der Erreichung der
erlösenden Erkenntniss)'.
— 198 —
schliesslich, es sei am ehesten als idealistisch zu be-
zeichnen ; denn welchen anderen Namen könne man einem
System geben , "qui fait sortir le monde de Tintelligence
et du moi?" Das ist durchaus unrichtig; die beiden Prin-
cipien, die Bart helemy mit ,intelligence' und ,moi' über-
setzt, die huddhi und der ahamlcära, sind die ersten
Entwickelungsstufen der TJrmaterie; sie gehören kosmisch
wie individuell ausschliesslich der Welt des Stoffes an, wie
bald des näheren ausgeführt werden wird.
Um die Vorstellungen, die das Sämkhya-System
mit dem Begriff der Seele verbindet, und den Einfluss,
den es den Seelen im Makrokosmos und Mikrokosmos zu-
schreibt, recht zu verstehen, ist eine genaue Kenntniss der
S am khya -Lehren von dem Wesen der Materie und den
Eigenschatten ihrer Produkte erforderlich. Der folgende
Abschnitt muss deshalb der Darstellung der Kosmologie
und Physiologie unseres Systems gewidmet sein.
o{\
Dritter Abschnitt.
Die Lehre von der Materie.
^o\
I. Kosmologie.
1. Die Realität der Ersclieinungswelt.
Schon in den vedischen Samhitä's und mehrfach
in den älteren Upanishad's wird das Verhältniss von
Sein und Nichtsein erwogen; am besten in der berühmten
Stelle Chan dogya Up. VI. 2. 1, 2: „Seiend, o Lieber, war
„dieses am Anfang, nur eines, ohne ein zweites. Einige
„sagen zwar: ,Nichtseiend war dieses am Anfang, nur
„eines, ohne ein zweites; aus diesem Nichtseienden entstand
„das Seiende'. Wie könnte es aber so sein, o Lieber ?
„Wie könnte aus dem Nichtseienden das Seiende entstehen?
„Seiend vielmehr, o Lieber, war dieses am Anfang, nur
„eines ohne ein zweites!" i). Diese Frage hat dann in
der Folgezeit das indische Denken mächtig bewegt, und
für den Standpunkt der philosopliischen Systeme ist die
Art, wie das Verhältniss von Sein und Nichtsein aufge-
fasst wurde, geradezu entscheidend. So sagt Väcaspati-
mi9ra') in seiner Einleitung zu Sämkhy akärikä 9
kurz und bestimmt: „Nach der Ansicht der Buddhisten
„geht das Seiende aus dem Nichtseienden hervor, nach
1) Ebenso Chäud. Up. VI. 8. 4, umgekehrt III. 19. 1, Taitt.
Up. IL 7. 1.
») Und nach ihm Mädhaväcärya im Sämkhya-Kapitel des
Sarva-dar^ana-samgraha (S. 224 der Uebersetzuug). Vgl. auch
Sämkhya-tattva-pradipaimPandit IX, p. 117, 118, 240,241.
— 202 —
„der der Vedantisteii das scheinbar, aber nicht wirk-
„lich Seiende aus dem Seienden, nach der der Vai9e-
„s h i k a ' s und Naiyäyika's das noch nicht Seiende aus
„dem Seienden, nach der der Sämkhya's (ohne jede Ein-
,, schränkung) das Seiende aus dem Seienden". Nun hat
zwar V i j ü ä n a b h i k s h u an verschiedenen Stellen ') aus-
geführt, dass Realität und Nichtrealität keine festen Be-
griffe seien : Traumbilder seien nicht * real im Verhältniss
zu den im Wachen gesehenen Dingen — aber auch die
Traumbilder seien nicht absolut unwirklich, weil sie be-
stimmte Alterationen des inneren Organs voraussetzen ^) — ;
die im Wachen gesehenen Dinge hinwiederum seien wegen
ihrer Unbeständigkeit nicht real im Vernältniss zu der
ewig unveränderlichen Seele. So läuft bei Vijfiäna-
bhikshu die Betrachtung über die Relativität dieser beiden
Begriffe stehend •') darauf hinaus, dass Realität im höchsten
Sinne (päramärthika-sattva) Un Veränderlichkeit , dagegen
Realität nach der landläufigen Auffassung (vydvahärika-
sattva) Veränderlichkeit bedeute*). Diese ganzen Erörte-
rungen Vijnänabhikshu's, die offenbar aus seinem
Streben zwischen Sämkhya und Vedänta zu ver-
mitteln erwachsen sind, haben für das Sämkhya- System
geringe Bedeutung. So wesentlich auch die Begriffe Ver-
änderlichkeit und UnVeränderlichkeit als solche sind, in-
sofern sie einen der wichtigsten Unterschiede zwischen der
Welt des Geistigen und der des Materiellen darstellen,
so wenig sind, sie doch für die Frage nach dem
objektiven Dasein der Sinnenwelt entscheidend. Unreal
^) Am deutlichsteu zu Sutra III. 26.
^) Vijn. zu Sütra II. 6.
3) S. seinen Commentar zu Sütra I. 26, 43, 79, II. 6, V. 54,
.56, VI. 52.
^) Nach der Meinung unseres Commentators ist diese Auf-
fassung auch schon in Sütra V. 56 ausgesprochen, was jedoch durch
den Zusammenhang und die Erklärungen der anderen Commen-
tatoreu sehr uuwahrscheinHch gemacht wird.
— 203 —
sind für den Sämkbya nur diejenigen Dinge, denen
Vijnänabhikshu absolute Nicbtrealität (imramdrthihä-
'sattva oder atyantäsattva) zuschreibt und die überhaupt
von keinem Menschen vorgestellt werden ') : das Mannes-
horn, das Hasenhorn, die Blume in der Luft, der Sohn
der Unfruchtbaren und dergl. Die Wahrnehmung eines
Objektes ist unter der Bedingung, dass die Sinne des wahr-
nelmienden gesund sind, für den Sämkhya ein Beweis
für die Realität des Objektes; ebenso wie von ihm durch
die sinnliche Wiedererkennung die Constanz eines Gegen-
standes dargethan und die buddhistische Theorie von der
momentanen Dauer aller Dinge widerlegt wird-). Ausser
den Hauptstellen für die Realität der materiellen Welt=^)
verdient hier die Widerlegung der abweichenden Lehren
anderer Systeme Beachtung; vor allem die derVedänta-
Lehre von der alleinigen Existenz des Brahman oder
technisch von seiner ,Zweitlosigkeit' *), dann aber auch die
zweier buddhistischer Sekten, der Yogäcära's, die alles
mit Ausnahme des Denkens für illusorisch erklären % und
der Mädhyamika's, denen das Nichts als die einzige
Realität gilt ^). Die Theorien dieser beiden buddhistischen
Sekten werden im wesentlichen in materialistischer Weise
durch Berufung auf die Perception bekämpft, die letztere
auch durch das Sophisma: entweder giebt es kein Mittel
das Nichts zu beweisen; oder es giebt ein solches Mittel,
und dann ist das Mittel selbst etwas positives und damit
ein Beweis gegen die Theorie von der alleinigen Existenz
des Nichts.
Sehr bemerkens werth ist, dass dieSämkhyakärikä
zwar die Lehre von der ewigen Realität der Produkte,
1) Sütra V. 52.
2) Sütra I. 35.
3) Sütra I. 79, VI. 52; vgl. auch I. 42, V. 26, 27.
*) Sütra V. 61-65, VI. 46-48.
») Sütra I. 42, 43.
ß) Sütra L 44—47.
— 204 —
d. h. von ihrer Realität vor und nach der Manifestation,
behandelt ^) , im übrigen aber die Frage nach der Wirk-
lichkeit der Erscheinungswelt gar nicht berührt. Diese
galt zur Zeit der Kärikä offenbar für den Sämkhya
noch als etwas selbstverständliches, das keines Beweises
bedurfte. Erst nachdem durch (^ a m k a r a im Anfange des
neunten Jahrhunderts der Vedänta zu seiner noch jetzt
von ihm behaupteten dominirenden Stellung erhoben und
die Lehre von der kosmischen Illusion scharfsinnig begründet
war, sehen sich die durch ^-arakara's Wirken hart be-
drängten und an Zahl stark verringerten Anhänger des
Sämkhya -Systems zu einer Vertheidigung jenes funda-
mentalen Princips genöthigt.
2. Die Urmaterie.
Die Welt der Erscheinungen befindet sich in einem
beständigen Wechsel und Wandel; das unablässige Sich-
verändern (parinäma) ist ihre charakteristischste Eigenschaft.
Die Umbildung der Dinge verläuft dabei oftmals im Kreise;
z. B. wenn der verfaulende Baumwollenfaden zu Erde, die
Erde zur Baumwollenstaude wird und diese wiederum
Blüthe, Frucht und Faden zeitigt 2). Unsere Weltanschauung
nun würde einem regressus in infinitum verfallen, wenn
wir nicht annähmen, dass dem materiellen Weltganzen
ein einheitliches ursprüngliches Princip zu Grunde liegt,
das selbst nicht mehr aus einer anderen Ursache abgeleitet
werden kann. Dieses Princip heisst in der Sämkhya-
Philosophie prakrti ,Grundform' (im Gegensatz zu vikrti
,Umformung') % müla-prakrti ,Wurzel-Grundform', pradhäna
1) Kärikä 9.
*) Aniruddlia zu Sutra I. 121.
*) Das Wort ^jj-a/^-iz" wird in den Sämkhya-Tcxten vereinzelt
(Kärikä 3, Tattvasamäsa 1 ; s. auch die im Petersburger Wörter-
bucli aus dem Maliäbhärata und Bliägavata Puräua s. v. 3 b an-
— 205 —
,Grniiclbestand', müla-kdrana ,Wurzelursache' oder avyakta
,das unentfaltete' (im Gegensatz zu vyalda^ der entfalteten
Welt). Schon die etymologische Bedeutung dieser Termini
lehrt, wie es auch weiterhin der Zusammenhang des ganzen
Systems thut, dass es sich hier um den Begriff der Ur-
materie handelt, nicht um den der Natur, der häufig
in jene Ausdrücke hineingetragen ist ^). Die Sämkhya-
krama-dipikä führt in Nr. 7, nachdem sie im voran-
gehenden Paragraphen das Wesen der Urmaterie beschrieben
hat, noch folgende Synonyma an : brahman ,das Absolute' (des
Ve dänta-Systems), pura ,Stadt, Wohnort, Behälter', dhruva
,das beständige', pradhänaka ( = pradhdna) ^ akshara ,das
unvergängliche', kshetra ,Feld, Gebiet der Wirksamkeit',
tamas (Name des dritten Guna), prasüta ,das hervor-
bringende'. Dass hiermit nicht wirkliche Synonyma geboten
sind, ist für denjenigen, der die maassgebenden Sämkhya-
texte gelesen hat, ohne weiteres klar; die Liste enthält
zum Theil Epitheta der Urmaterie, zum Theil Worte, die
in Folge irgend welcher Begriffsvermengung in Puräna's
oder in sonstiger apokrypher Literatur zur Bezeichnung
der Urmaterie gebraucht sein mögen.
Betrachten wir nun zunächst die Schlussfolgerungen,
durch welche die S ä m k h y a - Philosopliie zu dem Begriff
der Urmaterie gelangt"-). Sie geht von dem Grundsatze
geführten Stellen) in seiner Grundbedeutung zur Bezeichnung der
acht materiellen Principien verwendet, aus denen ein neues Princip
hervorgeht, d. h. der Urmaterie, der Buddhi, des Ahamkära und
der fünf feinen Elemente ; dagegen habe ich die Angabe Aniruddha's
(zu Sütra I. 61), dass mit dem Worte auch jeder einzelne der drei
Guiia's Sattva, Rajas und Tamas benannt werde, nirgends be-
stätigt gefunden.
1) Schon Nilakantha-Hall, Rational Refutation, Preface
p. IX wenden sich gegen die Uebersetzung von prakrti als 'nature'
und in einer Anmerkung dazu ist gesagt: "Originant" might answer,
or "evolvent"; and "originate", or "evolute" for vikrti.
2) Vgl. Kärikä 15, 16, Sütra I. 62—65, 103, ilO, 135, 136;
Colebrooke, Mise. Ess.^ I. 266, 267, Ballautyne, Lecture on
the Sänkhya Philosophy Nr. 88, 89, Röer, Lecture p. 12, 13.
— 206 —
aus, dass alles grobe aus etwa.s feinerem gebildet ist.
Die sinnlich wahrnehmbaren Dinge, die grobe Materie
oder die fünf groben Elemente (sthüla-bhüta) , d. h.
Erde, Wasser, Feuer, Luft und Aether'), müssen also —
selbst wenn man das kleinste mit unseren Sinnen fest-
zustellende Theilchen ins Auge fasst — , weil sie auch an
jener Grenze noch ,grob' sind, aus Dingen hervorgegangen
sein, welche die speciellen Characteristica eines jeden groben
Elements besitzen. Das sind die sogenannten Grundstoffe
(tanmätra) oder feinen Elemente (sülcshma-bhüta), die noch
keine Vermischung mit einander eingegangen sind und
jenseits der Wahrnehmung unserer Sinne stehen. Aber
auch diese Grundstoffe noch sind begrenzt, und alles be-
grenzte ist aus einem anderen hervorgegangen. Bevor
wir jedoch sehen, welcher Art dieses weiter zu erschliessende
Prnicip ist, habe ich der Auffassung zu gedenken, dass die
Sinne mit den fünf feinen Elementen auf derselben Stufe
in dem Entwickelungsgange der Welt stehen. Die S ä m -
khya- Philosophie lehrt, dass die Objekte der Wahr-
nehmung und Empfindung und die Organe, mit denen
wir die Objekte wahrnehmen und empfinden, denselben
Ursprung haben. Dasjenige Princip also, aus dem die
Sinne entstanden sind, muss zugleich die Quelle der feinen
Elemente sein. Es ist der Ahamkära, der ,Ichmacher',
d. h. die feine Substanz desjenigen inneren Organs, das
die Funktion hat die Dinge in Beziehung zu dem Ich
(oder der Seele) zu setzen. Die Existenz einer solchen
Substanz wird dadurch bewiesen, dass, ebenso wie die
Wahrnehmungsfunktionen ihre materielle Basis in den
Sinnen haben, auch solche Denkfunktionen wie „Ich bin
dies und das; dieses gehört mir; dies ist von mir zu
verrichten" eine materielle Basis haben müssen. Der
\
') Um den Aether in die groben Elemente einreihen zu können,
ist der Begriff des groben Elements dabin zu definiren, dass dessen
Characteristicum (im Falle des Aethers der Ton) von einem Sinne
wahrgenommen wird. Vijn. zu Sütra I. 62.
— 207 —
A h H m k ä r a würde als Aequivalent unseres Selbstbewusst-
seins gelten können, wenn er nicht in der Sämkhya-
Philosophie etwas ungeistiges, ein rein materielles Princip
wäre. Da nun der A li a m k ä ra auf Objekte Bezug nimmt,
ohne die er nicht fiinktioniren kann, so werden wir von
ihm aus auf ein höheres Princip hingeführt, das diese
Objekte dem Ahamkära bietet. Das ist die Buddhi,
d. h. die Substanz desjenigen inneren Organs, welches die
Funktion der Feststellung, der Unterscheidung, des Urtheils
besitzt. Jedermann stellt zuerst ein Ding seinem Wesen
nach fest und setzt es erst dann zu seiner Person in
Beziehung. Daraus nun, dass diese beiden Thätigkeiten
in dem Verhältniss von Ursache und Produkt stehen, wird
das gleiche Verhältniss für ihre Substrate, Buddhi
und Ahamkära, erschlossen i). Nun ist aber auch die
Buddhi noch etwas begrenztes und kann deshalb nicht
die letzte Ursache der Dinge sein ; der Urgrund der mate-
riellen Welt muss ewig, unendlich, unbegrenzt sein-).
Damit sind wir bei der Urmaterie angelangt, aus der die
Sänikhya- Philosophie die Buddhi unmittelbar ent-
stehen lässt. Mit Ausnahme dieser Urmaterie sind alle
materiellen Dinge Produkte und gehören in die Kategorie
des entfalteten. Es ist irrelevant, wie man dieses letzte
erreichbare materielle Princip, das unentfaltet und kein
Produkt ist, benennt; es kommt nur darauf an, dass mit
ihm ein letztes Glied in der Reihe der zu erschliessenden
Principien, ein Abschluss (paryavasdna) oder ein Halte-
punkt (parinislitliä) gewonnen ist ^). Dieses letzte Glied
muss einerseits die Qualitäten besitzen, die zur Hervor-
bringung der ganzen Welt des Stoffes erforderlich sind,
andererseits muss es sich auch von allen materiellen Pro-
dukten dadurch unterscheiden, dass ihm diejenigen Eigen-
schaften fehlen, die den Begriff des Produkts ausmachen.
1) Vijfi. zu Sütra I. 64, II. 16.
'') Sütra I. 76.
3) Sütra I. 68.
— 208 —
Diese letzteren Eigenschaften sind in Kärikä 10 aufge-
zählt '). Alles entfaltete oder producirte ist veranlasst
(oder durch eine Ursache bedingt), nicht-ewig, nicht-
allgegenwärtig, sich bewegend, in der Vielheit existirend,
auf etwas beruhend, sich auflösend (Unga) ^), in Verbindung
tretend und von einem anderen abhängig. In allen diesen
Hinsichten ist die Urmaterie das Gegentheil von ihren
Produkten. Auch die Bewegung, von der man meinen
könnte, dass sie der Urmaterie als einer der UmAvandelung
unterliegenden Substanz mit den Produkten gemeinsam
sei, darf ihr nicht zugeschrieben werden, da sie wegen
ilu'er Allgegenwart nicht ihre Stelle wechseln kann. Wenn
der Urmaterie Bewegung zukäme, so ginge sie damit des
Charakters der ersten Ursache verlustig. Allgegenwärtig
ist sie deshalb, weil es keinen Punkt im Universum giebt,
an dem nicht eine ihrer Umwandelungen — und sei es
auch nur in Gestalt des Aethers — vorhanden ist. Die
Urmaterie ist somit in allem stofflichen enthalten und
wirkt in allen Produkten. 3) Hieraus und aus der Säm-
khya- Lehre von der Identität der materiellen Ursache
und des Produkts erklärt es sich, dass in den Sämkhya-
Schriften die Worte prahrti und pradhäna (und die Adjec-
tiva präkrfa, präkrtika) auch zur Bezeichnung alles
materiellen gebraucht werden, so dass es nicht immer
ganz leicht ist zu entscheiden, ob die unentfaltete Ur-
materie gemeint ist oder ihre Entfaltungen.
Dass die Urmaterie nur auf dem Wege der Induktion
zu erschliessen ist und nicht sinnlich wahrgenommen
werden kann, sollte selbstverständlich sein; ist doch selbst
die dritte Stufe ihrer Evolution in der Gestalt der feinen
Elemente nach der Meinung der Sämkhya's nur für die
1) Vgl. auch Sütra I. 124, 125, 129—132, 136.
2) Nach Väcaspatimi^ra ,eiD Merkmal (zur Erschliessung der
Urmaterie)'.
8) Sütra VI. 35—37.
— 209 —
übernatürlichen Sinne der Götter und der Y o gin's wahr-
nehmbar. Trotzdem wird die Unsichtbarkeit der Urmaterie
in K ä r i k ä 8 ausdrücklich durch ihre ,Feinheit' begründet.
Die wichtigste von der Sämkhya- Philosophie mit
dem Begriff der Urmaterie verbundene Vorstellung ist die-
jenige, durch welche ihre Entfaltung und die Mannig-
faltigkeit des Weltganzen erklärt wu'd; die Vorstellung
nämlich, dass die Urmaterie trotz ihrer Einheitlichkeit und
Tintheilbarkeit ^) aus drei verschiedenen Substanzen be-
steht, deren Wesen uns in dem folgenden Kapitel be-
schäftigen soll.
"O"-
3. Die drei Oima's.
Schon mehrfach-) habe ich die merkwürdige Theorie
der drei Guna's, die ebenso alt ist wie das Sämkhya-
System selbst, jedoch nicht älter •^), berühren müssen. Es
ist auch schon S. 14 Anm. 1 ein Hauptgrund gegen die
geläufige Uebersetzung des Wortes mit ,Qualität' zur
Sprache gekommen, nämlich dass diese sekundäre Be-
deutung erst lange nach der Begründung derSämkhya-
Phüosophie nachweisbar ist ; in der Zeit, als das Säm-
khya- System und die Lehre von den drei Guna's
entstand, hatte das Wort noch keine andere als seine alte
ursprüngliche Bedeutung ,Bestandtheil' (vgl. dviguna und
caturguna im ^'atapatha Brähmana). Dass auch in
unseren Sämkhya- Texten das Wort, wenn es sich um
die drei Guna's handelt, in dieser Bedeutung gebraucht
ist, lässt sich unschwer erweisen *). Das Sämkhyasütra
1) Sütra V. 73.
2) S. 13, 14, 18, 163, 166.
^) Die frühesten Erwähnungen derselben finden sich in Yäska's
Nirukta XIV. 3 (im Paricishta) und in den ersten der S. 22 auf-
gezählten Upanishad^s. Vgl. auch P. Begnaud, Materiaux
pour servir ä l'histoire de la philosophie de Tlude II. 128 — 129.
*) In poetischen Werken, insbesondere in der P u ran a- Literatur,
scheint dagegen bei der Erwähnung der drei Guna's hie und da
Garbe, Sämkhya-PMlosopTiie. 14
— 210 —
VI. 39 lautet : „S a 1 1 v a u. s. w. sind nicht Qualitäten (oder
„Attribute) [der Urmaterie], weil sie dieselbe bilden'^ Und
Vi jüänabliikshu sagt zu Sütra I. 61: „Sattva und
„die [beiden] andern [Guna's] sind Substanzen (drav-
^^dni), nicht Qualitäten im Sinne der Vai9eshika's"
und begründet dies hauptsäclilich damit, dass sie succes-
sive die Eigenschaften des Leicht-, Beweglich- und Schwer-
seins haben, was man unmöglich von Qualitäten aussagen
könne. In demselben Sinne, nur etwas ausführlicher,
äussert er sich darüber im Commentar zu I. 127 : „Die
„Guna's, d. h. die drei Substanzen Sattva u. s. w.,
„unterscheiden sich qualitativ von einander durch Freude,
„Schmerz u. s. f. ; denn man beobachtet diesa Unterscliieds-
„merkmale an den Produkten Daraus, dass hier
„Wohlbehagen und andere [Zustände] als Eigenschaften
„der Constituenten angeführt sind und dass im folgenden
„Sütra Leichtigkeit und anderes von ihnen ausgesagt
„werden wird, folgt, dass Sattva und die beiden [andern
„Guna's] Substanzen sind. Wenn aber die Guna's
„mit Freude u. s. w. [d. h. mit ihren Eigenschaften] identi-
„ficirt werden, so erklärt sich das einfach aus der Nicht-
„verschiedenheit der Eigenschaft und des Trägers der
„Eigenschaft ^)". Ferner erklärt Vijnänabhikshu zu
Sütra L 126: „In der Urmaterie ruhen Sattva und die
„[beiden] andern in der Form der Vereinigung dreier
„Bestandtheile (guna), geradeso wie die Bäume sich in dem
„Walde befinden [welchen sie bilden]", und mit Anwen-
dung desselben Gleichnisses im Särukhyasära L 3.-):
„Der Ausdruck ,die Guna's der Urmaterie' ist so zu ver-
„ stehen, als wenn wir von den Bäumen des Waldes
sprechen ".
Ich glaube nach keinen weiteren Belegstellen suchen
die Bedeutung ,Qualität' mit der philosophisch-technischen zu-
sammengeflossen zu sein.
1) Vgl. oben S. 158.
») S. 12, Z. 2 von Hall's Ausgabe.
— 211 —
zu brauchen, um zu beweisen, class die auf die etymologische
Bedeutung von Sattva,Rajas und T a m a s ,Güte, Leiden-
schaft und Finsterniss' sich gründende Uebersetzung von
trayo gunäh mit ,drei Qualitäten' falsch ist und dass ich
recht gethan habe in meinen Bearbeitungen der Sämkhya-
Texte anstatt dessen ,die drei Constituenten [der Urmaterie']
zu sagen ^).
Windisch, der sich in seiner Recension meiner
Uebersetzung des Sämkhya-pravacana-bhäshya (im
Literar. Centralblatt 1891, Nr. 28, S. 955) mit dieser meiner
Auffassung noch nicht befreunden zu können erklärt, findet
einen Ausweg in der Annahme, dass nach der Anschauung
der Sämkhya's die Urmaterie entsprechend ihrem trans-
cendenten Charakter ,aus als Materie gedachten Qualitäten
bestehe'. So hatte schon früher Colebrooke, Mise.
Ess. 2 I. 261 , gesagt : "These three qualities are not mere
"accidents of nature, but are of its essence and enter into
"its composition" ; und Johaentgen, Ueber das Gesetz-
buch des Manu S. 39, 40, hatte die drei „Qualitäten"
direkt als „Urstoffe" bezeichnet! Das ist meines Erachtens
ein so unlogischer Gedanke, dass wir ihn dem Begründer
und den Vertretern der S ä m k h y a- Philosophie, des tnanana-
cästra (d. h. des auf logischer Erwägung und Begründung
beruhenden Systems) xar' k'S.oyrjv nicht zutrauen dürfen.
Sobald die Inder überhaupt anfingen methodisch zu denken,
haben sie auch zwischen den Begriffen des Stoffes und
seiner Qualitäten zu unterscheiden gewusst. Das muss
auch H, Jacobi gedacht haben, wenn er in den Philo-
sophischen Monatsheften XIII, S. 419 unten trayo gunäh
nicht „die drei Qualitäten", sondern „die drei Aspekte"
übersetzt hat; aber auch dieser Ausdruck, der die drei
Guna's als etwas rein subjektives erscheinen lässt, ist
nicht glücklich gewählt, wie sich schon daraus ergiebt, dass
1) Ueber die Entstellung dieser Bezeichnung aus dem Bilde des
Strickes und seiner Strähnen s. oben S. 163, 164.
14*
— 212 —
Jacobi gleich darauf genöthigt ist, von dem „Gleichgewicht
der drei Aspekte" zu sprechen. Wer überhaupt das Wort
guna^ wenn es zur Bezeichnung von Sattva, Rajasund
Tamas dient, sachgemäss übersetzen will, wird sich der
„ Constituenten " oder eines ähnlichen Ausdrucks bedienen
müssen ^).
Weder die etymologische 2) noch irgend eine andere
Uebersetzang der Namen dieser drei Guna's, Sattva,
Rajas und Tamas, kann meines Erachtens den Anspruch
erheben, auch nur irgendwie das Wesen der bezeichneten
Dina'e zu treffen. Dieses lässt sich nicht einmal in der
Form einer Definition beschreiben, sondern bedarf einer
näheren Erläuterung. Der Begründer der Sämkhya-
1) In diesem Sinne haben sich übrigens schon mehrere Forscher,
die sich mit dem Sämkhya-System eingehender beschäftigt haben,
ausgesprochen. H.H.Wilson, Sänkhya Kärikä p. 52, 53 bemerkt:
"In speaking of qualities, however, the term guna is not to be re-
"garded as an insubstantial or accidental attribute, but as a sub-
"stance disceruible by soul through the medium of the faculties.
*'It is, in fact, natiu'e, or pralcriti, in one of its three consti-
"tuent parts or conditions, unduly prominent 'Ingredients
"or constituents of nature' , therefore , would be a preferable term
"perhaps to 'quality'." (Vgl. hierzu Ballantyne, Christiauity
contrasted with Hindu philosophy, p. 132 if.) Ebenso Nilakan-
t ha- Hall, Rational Refutation p. 43, 44: "And here it should be
"borne in mind, that it is not the goodness, passion, and darkness,
"popularly reckoued qualities or particular states of the soul, that
"are iutended in the Sänkhya. In it they are unintelligent
"substances. Otherwise, how could they be the material cause
"of earth and like gross things?" Noch bestimmter drückt sich
John Davies, Sänkhya Kärikä p. 36 aus: "They [d. h. the three
"gunas] are not qualities, . . . but the constituent elements of
"Nature (Prakriti)" und spricht mehrfach in der Folge von den
"constituent or formative elements of Kature". P. Markus in
seiner Abhandlung über die Yoga- Philosophie sagt .Essenzen',
was zwar viel besser imd richtiger ist als ,Qualitäten' , aber doch
nicht die eigentliche Stellung der drei Guna's im System der
Sämkhya- Philosophie zur Vorstellung bringt.
2) S. vorher S. 211 oben.
— 213 —
Philosophie erkannte als die für den Menschen wichtigsten
Eigenschaften aller Dinge, dass sie entweder Freude, Schmerz
oder Gleichgiltigkeit (Apathie) erwecken. Jeder dieser drei
Begriife coordinirte sich in seiner Vorstellung mit anderen :
die Freude mit Licht und Leichtheit i), der Schmerz mit
Anregung und Beweglichkeit (Thätigkeit), die Apathie mit
Schwere und Hemmung. K a p i 1 a folgerte nun, dass alles
materielle aus drei unterschiedenen Substanzen bestehe,
deren jede sich vorzugsweise in den genannten Richtungen
äussere. Diese drei Substanzen sind für ihn in jedem zu der
Welt des Stoffes gehörigen Dinge enthalten, aber in un-
gleicher und wechselvoller Mischung; denn sie haben die
Eigenschaft „sich gegenseitig zu unterdrücken, anzuregen,
„hervorzubringen und zu paaren" 2). Je nachdem es nun
einer oder zweien gelingt, an einem bestimmten Orte die
dritte oder die beiden* andern zu unterdrücken, bringen
sie ihr Wesen mehr oder weniger rein zur Geltung. „Aus
„dem mannigfaltigen Ergebniss des Kampfes der Guna's
„geht die Mannigfaltigkeit der Produkte [d. h. der ganzen
„empirischen Welt] hervor;"-^) eben daraus wird auch die
FüUe der verschiedenartigen Eindrücke erklärt. Die drei
Guna's bilden jede ftir sich wegen der Verschiedenheit
ihrer Einzelformen (vyaTcti) eine unendliche Vielheit, und
diese Einzelformen sind je nachdem von der grössten, von
geringerer oder von unendlich kleiner Ausdehnung ^).
Das Zusammenwirken der drei Substanzen wird von
Väcaspatimi9ra zu Kärikä 13: „Sattva gilt als
^) Diese Coordinirung von Freude, Licht und Leichtheit scheint,
nach einem in unseren Sämkhya- Texten geläufigen Beispiel zu
schliessen, darauf zu beruhen, dass diese drei Eigenschaften gleich-
zeitig an der Feuerflamme zu beobachten sind, welche 1) den
frierenden erwärmt, also Freude erzeugt, 2) leuchtet, 3) nach oben
züngelt, also Leichtheit manifestirt.
2) Kärikä 12.
3) Vijn. zu Sütra I. 127.
•*) Vijn. zu Sutra I. 127. V. 90.
)J
— 214 —
„leicht und erleuchtend, Rajas als anregend und beweglich,
„Tamas als schwer und hindernd" mit folgenden Worten
veranschaulicht: „Die Qualität Leichtheit, die der Schwere
„entgegenwirkt, ist die Ursache für das Entstehen der
„Produkte. Dieselbe Leichtheit, in Folge deren das Feuer
„aufAvärts flackert, ist die Ursache für die wagerechte Be-
„wegung mancher Dinge, wie z. B. des Windes. Ebenso
„ist die Leichtheit die Ursache dafür, dass die Organe für
„ihre Funktionen befähigt sind; denn wenn sie schwer
„wären, so würden sie träge und unfähig sein. Aus diesem
„Grunde [nämlich weil die inneren Organe und die Sinnes-
„ Organe erleuchten, d. h. die Erkenntniss hervorrufen,]
ist das Sattva als erleuchtend bezeichnet. Sattvaund
„Tamas, welche beide nicht von selbst thätig und
„deshalb nicht zur Ausübung ihrer eignen Geschäfte fähig
„sind, werden vom Rajas angeregt, d. h. von ihrer Un-
„fähigkeit befreit und zur Wirksamkeit angetrieben
„Obwohl nun aber das Rajas seiner Beweglichkeit wegen
„allerwärts alle drei Guna's [also auch sich selbst] in
„Bewegung setzt, wirkt es doch nur hier und da wegen
„[des Einflusses] des schweren und hindernden Tamas,
„welches dessen Thätigkeit bald hier bald dort hemmt.
„Deshalb wird das Tamas, weil es [das Rajas] von
„diesem und jenem abhält, als liindernd bezeichnet."
Stellen wir nun die Eigenschaften und Wirkungen
der drei Guna's im Einzelnen fest ^).
Das Sattva äussert sich, wenn es in dem Kampf mit
den beiden andern Guna's zur fi-eien Entfaltung kommt,
in der Welt der Objekte, wie wir schon sahen, durch
Licht und Leichtheit; im Subjekt dagegen als Tugend,
1) S. Maitri Upanishad III. 5, das Panca(^ikba-Fragmeüt bei
Vijn. zu Sütra I. 127, Kärikä 12, 13 und Sütra I. 127, 128 nebst
den dazu gebörigen Commentaren, Sämkbya-krama-dipikä (inBal-
lantyne's Lecture) Nr. 39—41, 50—53, Mabäbbärata XII. 7956
—61, 8992—97, 11623—34, Colebrooke, Mise. Ess.'^ I. 261, 267,
P. Markus, die Yoga-Pbilosophie S. 21, 22.
- 215 —
Selbstbeherrschung, Gemüthsruhe, Wohlwollen, Freundlich-
keit des Wesens, Reinheit, Glück, Heiterkeit, Zufriedenheit,
als Thätigkeit der Sinnesorgane und des Verstandes, als
Erreichung der übernatürlichen Kräfte. Es dominirt deshalb
in den Welten der Götter.
Bei dieser Gelegenheit muss ich die schon oben S. 166
angedeutete Vorstellung zur Sprache bringen, dass die
Freude nicht nur als Empfindung in dem Innern des
Individuums, sondern auch als etwas objektiv reales in den
Aussendingen existire. Dasselbe gut im Princip natürhch
auch von den Hauptwirkungen der beiden anderen Guna's,
dem Schmerz und der Apathie ; doch wird dies nur beiläufig
erwähnt. Die objektive Realität der Freude wird von
Vijnänabhikshu zu Sütra V. 27 auf seine Weise syl-
logistisch bewiesen, und mehrfach ^) führt er aus, dass wir
ebenso wie von der Topffarbe (ghata-rüpa) ^ so auch von
der Frauen-, Blumenkranz- oder Sandelholz-Freude (stri-,
sraJe-, candana-sukka) sprechen und mithin annehmen
müssen, dass die Freude und dergl den Objekten inhärire.
Hall, Rational Refutation p. 80 Anm., bemerkt hierzu:
"Vijnäna is here a victim to phraseology on which, plainly
"enough, he did not reflect with sufficient attention. For
'"jar-colour means 'the colour of a jar; whereas 'sandal-
"pleasure' means 'the pleasure derived from the use of
"sandal"'. Wenn auch Hall darin Recht hat, dass "such
"fallacies far from uncommon among the Pandits" sind,
so darf doch die in Frage kommende Vorstellung weder
auf eine missverstandene Wortbildung zurückgeführt noch
als individuelle Anschauung eines einzelnen Sämkhya-
Lehrers angesehen werden. Vielmehr liegt dieser Vorstel
lung der Gedanke zu Grunde, dass das Wirken eines G u n a
— in unserem Falle des Freude erweckenden Sattva — in
dem inneren Organ des Subjekts ein Correlat in dem eben-
falls aus den drei Guna's bestehenden Objekt haben
1) Zu Sutra I. 65, 127 und im Samkhyasära I. 3 (S. 15 der
Hall'schen Ausgabe).
— 216 —
müsse. Da gewisse Dinge bei allen Wesen entweder Freude
oder Schnierz oder Bestürzung erregen, so konnte der an
die Theorie der drei Guna's glaubende kaum umhin das
Vorwalten des betreffenden Guna in dem Objekte selbst
anzunehmen.
Das Rajas äussert sich, wenn es die beiden anderen
Guna's unterdrückt , in der Welt der Objekte in Kraft
und Bewegung; im Subjekt als jede Art von Schmerz, als
Kummer, Sorge, Angst, Aerger, Unzufriedenheit, Abhängig-
keit, als Eifersucht, Neid, Unstätheit, Aufi-egung, Leiden-
schaft, Begierde, Liebe und Hass, als Bosheit, Streit- und
Tadelsucht, Ungestüm, Wildheit und Unfreundlichkeit des
Benehmens, aber auch als Ehrgeiz, Streben und Thätigkeit,
Es dominirt in der Menschenwelt.
Wenn das Tamas überwieget, so kommt es in der
Welt der Objekte als Schwere, Starrheit und Dunkel zur
Geltung; im Subjekt als Niedergeschlagenheit, Furcht, Be-
stürzung, Verzweiflung, Theilnahmlosigkeit, Unentschlossen-
heit, Bethörung, Stumpfsinn, Unwissenheit, Trunkenheit,
Wahnsinn, Ekel, Trägheit, Naclilässigkeit, Bewusstlosigkeit,
Schlaf und Ohnmacht, als Hartherzigkeit, Schamlosigkeit,
Liederlichkeit, Unreinheit, Schlechtigkeit im Allgemeinen
und Nihilismus '). Es dominirt im Thier-, Pflanzen- und
iVIineralreich -).
Die merkwürdigste Seite dieser ganzen Theorie ist,
wie man sieht, die Zurückführung der mensch-
lichen Individualität auf physische Ursachen.
Das Verhältniss der drei Guna's zu dem Glauben, der
Gesinnung, der Lebens- und Handlungsweise des Menschen
1) nästihya Maitr. Up. III. 5 und Sänikhya-krama-dipikä Nr. 41
ist sowohl von CoweU als auch von Ballantyne fälschlich mit
'atheism' übersetzt worden; danach würde die Sänikbya- Philo-
sophie ein Erzeugniss des Tamas sein! Uebrigens sind in der
Stelle der Maitr. Up. verschiedene Eigenschaften als Aeusserungen
des Tamas genannt, die im System zu denen des Rajas gehören:
Hunger, Durst, Zorn, Hochmuth, Neid und Unbeständigkeit.
2) Kärikä 54, Sütra III. 48—50.
— 217 —
ist in poetischer Weise in dem siebzehnten Gesänge der
Bhagavadgltä geschildert; doch würde ein näheres
Eingehen auf diese Dinge zu weit von der Darstellung
des eigentlichen Systems abführen.
Zu diesem ganzen Anschauungskreis stimmt auch die
Lehre von der Entstehung der Farben durch die verschieden-
artige ]\Iischung der drei Guna's. Wenn ich auch diese
Theorie nicht aus der eigentlichen Literatur des Säm-
khy a-Systems, sondern nur aus Nilakantha's Com-
mentar zum Mahäbhärata nachweisen kann, so macht
sie doch nicht den Eindruck einer späteren Erfindung.
Nilakantha sagt zu Mbh. XIL 10058: „Wenn das
„Tamas überwiegt, das Sattva gering ist und das Rajas
„die Mitte hält, so ergiebt sich die Farbe Schwarz; bei
„Umkehrung des Verhältnisses von Sattva und Rajas
„Grau; wenn das Rajas überwiegt, das Sattva gering
„ ist und das Tamas die Mitte hält, so ergiebt sich Blau ;
„bei Umkehrung des Verhältnisses von Sattva und
„Tamas Roth; wenn das Sattva überwiegt, das Rajas
„gering ist und das Tamas die Mitte hält, so ergiebt
„sich Gelb; bei Umkehrung des Verhältnisses von Rajas
„und Tamas Weiss "i).
Jede Erscheinung, jeder Vorgang in der materiellen
Welt hat also seinen Grund in dem Wirken emes oder
mehrerer Guna's. Trotz der unendlichen Verschiedenheit
der zahllosen Modifikationen lässt sich doch alles durch
die Eigenschaften dieser drei Substanzen erklären. Wenn
nun aber Sattva, Rajas und Tamas sich in allen
materiellen Produkten befinden, so müssen sie nach dem
Grundsatz, dass das Produkt nichts anderes als die mate-
1) Yadä tamasa ädJäkyam sattva-rajasor nyünatva-samatve,
tadä Jcrshno va7-nah , antyayor vaiparitye dhümrah; tathä rajasa
ädhikye sattva-tama^or nyünatva-samatve nila-vai-nah, antyayor vai-
paritye madhyam madhyamo varnah , tac ca rahtam . . . .; sat-
tvasyä 'dhikye rajas-tamasor nyünatva-samatve liäridrah pita-varnah
. . . . , antyayor vaiparitye gullam.
— 218 —
rielle Ursache in einem bestimmten Entwickelungsstadium
ist, auch bereits in dieser Ursache, d. h. in der Urmaterie,
vorhanden gewesen sein. Da schon der ersten Entfaltung
der Urmaterie — d. h. der Buddhi — Freude, Schmerz
und Apathie als charakteristische Eigenthümlichkeiten an-
gehören, so muss auch der Stoff, aus dem die Buddhi
hervorgegangen ist, ebenso die charakteristischen Eigen-
thümlichkeiten der Freude, des Schmerzes und der Apathie
(in latentem Zustande) besitzen; denn die Qualitäten des
Produkts müssen sich in Uebereinstimmung mit den
Qualitäten der Ursache befinden *).
Wenn also in den S ä m k h y a - Schriften — was oft-
mals der Fall ist — die drei Guna's in der Form der
Ursache (kdrana-rüpa) den drei Guna's in der Form des
Produkts (kdrya-rüpa) gegenübergestellt werden, so ist das
so zu verstehen, dass Sattva, Rajas undTamas Inder
ersten Form die unentfaltete Urmaterie, in der zweiten die
entfaltete Welt bilden. Wie kann nun aber die unbegrenzte
Urmaterie, deren Einheitlichkeit so entschieden betont
wird, aus Theilen bestehen, aus drei begrenzten Substanzen?
Darauf ist zunächst zu erwidern, dass die drei Guna's
nur insofern begrenzt (parimita, paricchinna) sind, als
das ganze Sattva, Rajas und Tamas sich nicht
überall befindet; sie sind aber nicht in demselben Sinne
begrenzt, wie ,Töpfe und dergleichen Produkte'; denn es
giebt keinen Punkt im Universum, an dem nicht wenigstens
ein Minimum von jeder dieser drei Substanzen vorhanden
ist, oder technisch ausgedrückt: „Sattva, Rajas und
„Tamas fallen nicht unter einen allgemeinen Begriff, der
„sie als positive Gegenstücke zu einem lokalen Nichtsein cha-
„rakterisirt (dai<^iku-bhäva-pratiyogitd-'vacchedaka-jäti) " •^).
„Wenn jeder der drei Guna's" — sagt V i j nä n a b hi k-
shu in seiner Einleitung zu Sütra I. 128 — „eine ge-
„schlossene Einheit büdete, so könnte von einem Zu- und
1) Vijn. zu Sütra I. 65; vgl. auch Kärikä 11.
2) Vijn. zu Sütra I. 76, 130.
— 219 —
„Abnehmen derselben oder [von dem Siege des einen
„und dem Unterliegen der andern] keine Rede sein, und
„ebenso wenig wäre dann, da bei der Begrenztheit [der
„Guna's] auch die durch ihre Vereinigung gebildete
„Urmaterie begrenzt sein müsste, die .... Lehre berechtigt,
„dass gleichzeitig zahllose Welten [und innerhalb dieser
„Welten zahllose verschiedenartige Dinge aus der Urmaterie
„hervorgehen]." Der Einwand, dass die einheitliche un-
theilbare Urmaterie überhaupt nicht aus drei Theilen
bestehen könne, wird durch den Vergleich mit drei Flüssen,
die nach ihrer Vereinigung einen einheitlichen Strom
bilden , abgelehnt i). Ein europäischer Autor -) gebraucht
anstatt dessen das Bild von dem einfachen farblosen Sonnen-
licht, das durch die Vereinigung der farbigen Lichtstralilen
gebildet wird, die ihre Eigenart in dem von uns wahr-
genommenen Licht verlieren oder nicht entfalten.
Die Urmaterie ist also im Sämkhy a-System „der
Zustand des Gleichgewichts (sätnyä-vasiJiä) von Sattva,
Rajas und Tamas"^^), d.h. der Zustand, in dem keiner
der drei Guna's weniger oder mehr ist als jeder der
beiden andern, in dem sie in vollster Gleichmässigkeit und
ohne Beziehung zu einander verharren. So lange dieser
Zustand des Gleichgewichts nicht gestört ist, bleibt die
Urmaterie eine feine unterschiedslose Masse, in der alle
die Kräfte und Eigenschaften, die in der entfalteten Welt
zur Erscheinung kommen, keimartig ohne Bethätigung
ruhen.
Es ist klar, dass diese ganze Theorie der drei Guna's
eine reine Hypothese ist, die mit sehr vielen anderen philo-
sophischen Hypothesen das Schicksal theilt, vor dem modernen
Standpunkt der Naturwissenschaft nicht bestehen zu können;
aber sie ist immerhin ein interessanter Erklärungsversuch,
1) Vijn. zu I. 61 Schluss.
2) John Davies, Sankhya Kärikä p. 37.
») Sütra I. 61, VI. 42; vgl. auch Väcaspatimi^ra zu Kärikä 3
und Qamkara zum Brahmasütra II. 2. 8.
— 220 —
der für die Inder eine so überzeugende Kraft besessen hat,
dass der Gedanke noch heute den allgemeinen philosophischen
Vorstellungskreis beherrscht. Obwohl ^amkara die Lehre
von den drei Guna's mit der Begründung abgewiesen
hat, dass es diesen „an einem bewegenden Princip fehlt,
„welches sie aus der vorweltlichen sämyd-vasihd zum Zu-
„ stände des vaishamya [der Gleichgewi chtslosigkeit] treibt" ^),
hat sich doch der neuere V e d ä n t a mit der Theorie
vollständig befreundet.
4. Die EYolution und Reabsorptiou der Welt.
Ist der Gleichgewichtszustand der drei Guna's gestört,
und fangen diese an mit einander um das Uebergewicht
zu ringen, so entfaltet sich die Welt in dem Entwicke-
lungsgange, der auf S. 206, 207 in umgekehrter Reihen-
folge dargestellt worden ist -). Wenn die Evolution (sarga,
srshii, saincara) '■^) des Weltganzen zum Abschluss gelangt
ist, so folgt eine Periode des Bestehens (stJnti), während
deren sich die schaffende Kraft in der Einzelschöpfting
(visarga^ m/ashü'-srshH)*), d. h. in der Hervorbringung der
Individuen und der einzelnen Produkte, bethätigt.
Wenn die Zeit des Bestehens zu Ende ist, so löst
sich das Universum auf, und zwar in der Weise, dass von
den groben Elementen an in rückläufiger Bewegung die
Produkte je in der materiellen Ursache, aus der sie ent-
standen sind, wieder aufgehen. Durch diesen Process der
1) Deussen bei Weber, Indische Studien XVIT. 160.
2) Kärikä 22, Sütra I. 61, VI. 42.
^) Tattvasamäsa Sütra 2 und Sämkhya-krama-dipikä dazu
Nr. 54.
*) Vijn. zu Sütra I. 97 und Einleitung zu III. 46. Vi/ashti-
srshti, wofür jedoch auch öfter einfach sarga oder srshti gesagt
wird, ist der Gegensatz zu samashti-srshti ,Gesammtschöpfung' oder
ädi-sarga ,Anfangsschöpfung'.
— 221 —
Reabsorption (laya, pralaya^), pratisarga-) , samhära ''^)^
lyratisamcara) *) gelangen schliesslich die drei G u n a ' s
wieder in den Zustand des Gleichgewichts; die Urmaterie
befindet sich wieder in derselben Lage, wie in der Zeit
vor der Entfaltung, und verharrt so, bis die Periode der
neuen Weltbildung anbricht.
Als ich oben im zweiten Abschnitt die allgemein-
indischen Lehren der S ä in k h y a - Philosoj)hie , soweit sie
bereits vor der Begründung des Systems vorhanden
waren, zusammenstellte, habe ich geschwankt, ob nicht
in jenem Zusammenhange auch die Lehre von der Evolution
und Reabsorption der Welt erwähnt werden müsste, da die
Vorstellung einer unendlichen Zahl von Weltperioden
(kalpa) allen orthodoxen Systemen °\ sowie dem Buddhismus
und Jinismus gemeinsam ist. Doch bin ich bald zu der
Ueberzeugung gelangt, dass diese Vorstellung vor der
Begründung der S ä ui k h y a - Philosophie in Indien nicht
existirt hat. Die Lehi-e von den periodischen Zer-
störungen und Erneuerungen der Welt findet sich noch
nicht in den älteren Upanishad's'^). Die Idee der
Emanation tritt freilich in mythologischem Gewände schon
früher auf, in dem berühmten Purusha-Liede des Rig-
V e d a (X, 90) '), in verschiedenen kosmogonischen Berichten
^) In unseren Texten wird pralaya in demselben Sinne wie
mahd-pralaya gebraucht. In nicht-philosophischen, aber durch das
Sämkhya- System beeinflussteu Werken wird der mahä-pralaya
,die Vernichtung des Universums' dem einfachen pralaya oder
aväntara-pralaya ,der Vernichtung der Individuen' gegenüber-
gestellt. Vgl. Johaentgen, Ueber das Gesetzbuch des Manu
S. 9, Anm. 12.
^) Sämkhya-tattva-kaumudi zu Kärikä 16.
8) Vijn. zu Sütra I. 154, 157.
■*) Tattvasamäsa Sütra 6 und Sämkhya-krama-dipikä dazu
Nr. 55.
^) Wegen des Vedänta s. Deussen, System d. V. S. 248
— 256 und sonst.
6) Vgl. Deussen, System des Vedänta S. 302.
') Vgl. Schröder, Indiens Literatur und Cultur S. 214 ff.
— 222 —
der B r ä h m a n a - Literatur und in der Legende Brliad-
äranyaka Upanishad 14, wo erzählt wird, dass sich
der Atman in seiner Einsamkeit fürchtete und nach
einem Gefährten verlangte, dass er sich deshalb theilte
und in Mann und Weib, die sich umarmt hielten, ver-
wandelte und auf diese Weise Menschen hervorbrachte;
dass er dann weiter die Formen von Stier und Kuh, von
Hengst und Stute und so fort annahm, um die verschieden-
artigen Wesen zu erzeugen. Alle diese Schöpfungsberichte
aber gehen von dem Gedanken aus, dass der geschilderte
Vorgang den ersten Anfang der Welt darstelle. Auch
findet sich in ihnen keine Spur von der Kehrseite der
Emanationslehre, der Vorstellung der Reabsorption. Dieser
letztere Gedanke konnte auch erst entstehen, nachdem die
Evolutionstheorie in wirklich philosopliischer Weise er-
dacht und methodisch begründet war; nur nachdem man
den ikausalen Zusammenhang der materiellen Principien
zu erkennen geglaubt hatte, nicht auf Grund phantastischer
mythologischer Vorstellungen konnte der Gedanke der
Rückbildung der Welt auftreten. Sobald aber die Theorie
des gesetzmässigen Entstehens und Vergehens des Universums
aufgestellt war, musste sie sich unter dem Einfluss der
Lehren von dem Samsära und der Macht der That zu
der Annahme ausgestalten, dass dieser Process der Welt-
bildung und -Vernichtung nicht ein einmaliger sei, sondern
dass er sich von Ewigkeit her unendliche Male vollzogen
habe und in alle Ewigkeit hin wiederholen werde.
Die Lehre von den Weltperioden ist also in der Säm-
k h y a - Philosophie entstanden und von hier aus zunächst
in den Jinismus und Buddhismus übergegangen; nach
der Brahmanisirung unseres Systems hat sie dann auch
Eingang in die brahmanische Literatur gefunden.
Welche Ursache nun wird von der S ä m k h y a - Phi-
losophie für das Heraustreten der Urmaterie aus ihrem
stabilen Gleichgewicht angegeben? Die Urmaterie steht
von Ewigkeit her in einem Abhängigkeitsverhältniss zu
den gleich ihr ewigen Seelen; es ruht in ihr der unbe-
— 223 —
wusste Trieb, für die Seelen thätig zu sein. Diese üben
auf die Urmaterie einen Anreiz aus, sich zu entfalten; doch
ist diese Anregung keine bewusste, sondern eine mecha-
nische, die öfter mit der Einwirkung des Magnets auf
das Eisen, das er anzieht, verglichen wird. Wie zur Zeit
des Weltbestehens das Walten der Natur bis in die klein-
sten Einzelheiten hinein durch die Kraft bedingt ist, die
den Werken der beseelten Wesen entspringt, so wird auch
die Entfaltung der Urmaterie durch diese Kraft veran-
lasst; denn Verdienst und Schuld schlafen während des
Pralaya und erwachen, um eine neue Schöpfung ins Leben
zu rufen ^), wenn die Zeit gekommen ist, da die in der
vorigen Weltperiode noch nicht abgebüssten Werke ihre
Vergeltung erheischen. Deshalb wird auch die Zeit neben
der nachwirkenden Kraft des Werkes (adrshta) als eine
begleitende Ursache für die Bewegung erklärt, in welche
die Urmaterie beim Beginn einer neuen Weltperiode ge-
räth-). Diese Bewegung, die in einer Verschiebung des
Gleichgewichts der drei Gruna's besteht, heisst technisch
ksJiohlia ,Erschütterung' ^).
1) Mahädeva zu Siitra III. 6.
-) Auiruddha zu Sutra III. 62, V. 22, Vijn. zu VI. 65.
^) Vijn. zu Sütra I. 19, Einleitung zu V. 101: „Es ist ein
„Lehrsatz [unseres Systems], dass in Folge einer Erschütterung der
„Urmaterie die Verbindung der Urmaterie und der Seelen eintritt,
„und in Folge deren die Schöpfung". In welcher Weise wir uns
die jVerbindung' (samyoga) , von welcher hier und oftmals sonst
gesprochen wird , vorzustellen haben , ist in Anbetracht der All-
gegenwart, die der Urmaterie zugeschrieben wird, nicht ganz klar.
In der Sämkhya-tattva-kaumudi , Einleitung zu Kärikä 66, finden
wir folgende Erklärung: „[In Kärikä 21] ist gelehrt, dass die
„Schöpfung durch die Verbindung [der Seelen und der Urmaterie]
„hervorgebracht wird. Und diese Verbindung besteht darin, dass
„[die Seelen] berufen [und geeignet] sind [zu empfinden, und die
„Materie empfunden zu werden]; und das Berufensein der Seelen
„zu empfinden bedeutet: dass sie geistig sind, das Berufensein der
„Materie empfunden zu werden bedeutet: dass sie ungeistig und
„Objekt ist." Ich glaube, dass der Begründer der Sämkhya-
— 224 —
Die Schöpfung, die nach dem eben bemerkten auf
einer besonderen, nicht näher beschriebenen Verbindung
der Urmaterie mit den Seelen beruht i), dient lediglich
den Interessen der letzteren; denn sie hat den Zweck,
zunächst den Seelen die Objekte der Erfahrung (wörtlich:
des Genusses, bhoga) zu schaffen, und zweitens, die Seelen
zur Erkenntniss des Unterschiedes ihrer selbst von allem
materiellen und damit zur Erlösung (apavarga) zu führen.
Von diesen beiden Bestimmungen des Schöpfungsprocesses
ist die erste freilich nicht Zweck in demselben Sinne wie
die zweite, sondern — trotz der häufigen Coordinirung in
dem Compositum bhogäpavargau — nur das Mittel, ohne
welches die Erreichung des Endzweckes, der Erlösung,
nicht möglich ist. Das erste Resultat der Entfaltung der
Urmaterie ist also das Gebundensein (bandha) sämmt-
1 ich er Seelen, die noch nicht aus dem Weltdasein aus-
geschieden sind; das zweite Resultat ist die Befreiung
einiger weniger Seelen. Für diese wenigen stellt die
Materie ihre schöpferische Thätigkeit ein, sobald dieselben
das höchste Ziel erreicht haben; sie zieht sich von den
zur Erkenntniss gelangten Seelen zurück, um für alle
Ewigkeit keine neue Verbindung mit ihnen einzugehen.
Hierdurch ist aber nicht etwa eine Verminderung in der
Bethätigung ihrer schöpferischen Kraft bedingt, da für
alle übrigen Seelen das bestehende Verhältniss fortdauert -).
Philosophie in der That keine andere VorsteHung, als die hier von
Väcaspatimicra dargelegte, mit der die Weltentfaltung anregenden
Beziehung der Seelen zur Urmaterie verbunden hat. Vijnänabhik-
shu bestreitet allerdings im Commentar zu Sütra I. 19 (S. 33, 34
meiner üebersetzvmg) diese Auslegung mit verschiedenen Gründen
und setzt an deren Stelle eine Erklärung, die mir indessen nur
ein Nothbehelf zu sein scheint.
1) Kärikä 21, 66, Sarva-dar9ana-samgraba S. 219 der Ueber-
setzung, Vijii. zu Sütra I. 19.
2) Kärikä 21, 56-61, 66, Sütra II. 1, 3, 4, 7, 11, 23, 24, III.
47, 58, 63, 64, 66, 69, 70, VI. 43, 44, Yogasütra n. 22. Vgl. auch
in diesem Buche oben S. 164 — 166.
— 225 —
Wird nun aber nicht einmal in der fernsten Zukunft
eine Zeit kommen, in der alle Seelen ans Ziel gelangt
und von den Banden der Materie befi-eit sind? Wenn
diese Frage zu bejahen wäre — und man soUte denken,
dass sie bejaht werden müsse, da sich ja die Zahl der un-
erlösten Seelen beständig verringert — , so würde einst-
mals jeder Grund für das Wirken der Naturki'äfte, für die
Evolution der Urmaterie fortfallen. Nach der Erlösung
der letzten Seele würde die Urmaterie nicht mehr aus dem
Zustand des Gleichgewichts heraustreten und zu einer
neuen Welt sich entfalten können. Dieser Fall aber wird
niemals eintreten; denn die S ä m k h y a - Philosophie be-
antwortet die eben gestellte Frage mit Nein. Das Säm-
k h y a s ü t r a I. 158 sagt (nach Aniruddha's Erklärung) :
„Wie [die völlige Leere] in dem anfangslosen Kreislauf
„bis auf den heutigen Tag nicht eingetreten ist, so wird
„es auch in Zukunft bleiben"; und als Grund dafür findet
man bei Vij&änabhikshu zu II. 4 angegeben, dass
die Zahl der Seelen unendlich ist.
Zu meiner Verwunderung habe ich in den Säm-
khya- Texten keine ernsthafte Erklärung ftir die ange-
nommene Nothwendigkeit des Reabsorptionsprocesses ge-
funden. Auf die Frage „woher kommt die Weltauflösung?"
wird erwidert, dass ebenso wie die Schöpfung aus einer
Störung des Gleichgewichts der drei Guna's hervorgehe,
der Pralaya dadurch entstehe, dass die di'ei Guna's
wieder in den Zustand des Gleichgewichts gerathen ^).
Weshalb aber gerathen die Guna's wieder in denselben
Zustand, in dem sie sich vor der Weltentfaltung befanden?
Dafür wird zwar von Aniruddha und Mahädeva-)
ein Grund angeführt ; doch widerspricht derselbe nicht nur
direkt dem Zusammenhange ihrer eigenen Ausführungen,
sondern auch den wichtigsten Voraussetzungen des Systems.
Man ist sich zur Zeit der beiden Commentatoren offenbar
1) Sütra VI. 42.
2) Zu Sütra III. 5.
Garbe, Sämkhya-Philosophie. 15
— 226 —
nicht mehr über die Gründe der in Rede stehenden An-
schauung klar gewesen; und merkwürdiger Weise ver-
sagen hinsichtlich dieses Punktes die älteren Quellen.
Die genannten Commentatoren erklären, dass die Welt-
Vernichtung dann eintrete, wenn die noch nicht zur Er-
lösung gelangten Seelen die Früchte ihrer Thaten voll-
ständig genossen und demnach in Zukunft weder Lohn
noch Strafe mehr zu erwarten haben. Unmittelbar darauf
aber^) lehren Aniruddha und Mahädeva, dass diese
Seelen nicht aus dem Weltdasein ausgeschieden sind, dass
sie während des Pralaya mit Verdienst und Schuld
umkleidet bleiben, und dass diese beiden mächtigen
Faktoren am Beginn des neuen Weltalters die Materie
wieder anregen, schöpferisch für eben dieselben Seelen
thätig zu sein, die angeblich durch Abbüssung aller ihrer
Werke das Ende der vorigen Weltperiode bewirkt haben!
Aniruddha, dem Mahädeva an dieser Stelle ge-
dankenlos nachspricht, hat hier eine Confusion angerichtet,
die in der S am khya- Literatur kaum ihres Gleichen hat;
er hat sich in dem ersten Theil semer Ausführungen
achtlos über den fundamentalen Grundsatz der Erlösungs-
lehre hinweggesetzt, dass der Mensch dem Gesetze der
Vergeltung nur durch die Gewinnung der unterscheidenden
Erkenntniss entrinnen kann, aber nicht dadurch, dass er
in der Unwissenheit verharrend die Früchte seiner Werke
aufbraucht. Vijüänabhikshu hat deshalb auch den
beiden S ü t r a ' s eine vollständig andere Deutung gegeben.
Es unterliegt für mich keinem Zweifel, dass bei der
Begründung der S ä m k h y a - Philosophie auch das Ein-
treten der Weltauflösung durch einen Grund erklärt worden
ist, der sich aus dem Zusammenhang der allgemeinen An-
schauungen des Systems ergab und in denselben einfügte;
aber wir sind in diesem Fall ausnalunsweise auf Ver-
muthungen angewiesen, bei deren Aufstellung wir wohl
1) Zu Sütra UI. 6.
— 227 —
am sichersten gehen werden, wenn wir an die Lehren des
Buddhismus, des Tochtersystems, anknüpfen. Wir hatten
oben als einen allgemein-indischen, in das Sämkhya-
System übergegangenen Gedanken die Vorstellung kennen
gelernt, dass der Zustand der Aussenwelt, das Walten der
Natur abhängig sei von dem Thun der Wesen. Wie nun
im Buddhismus der Glaube herrscht, dass diese rein mora-
lische Ursache — die Sünde und das Verdienst der lebenden
Wesen — auch die Vernichtung und Erneuerung des
Universums bewirke in der Weise, dass die Sünde die
zersetzende, die Tugend die erneuernde und schaffende Kraft
sei ') , so dürfen wir vielleicht auch schon ftlr die S ä m -
k h y a - Philosophie dieselbe Vorstellung voraussetzen. Wo
man überzeugt ist, dass eine moralische Kraft den Verlauf
des Weltprocesses regiert, liegt der Gedanke nahe genug,
dass ein überwiegendes Maass von Sünde die Auflösung
des Universums herbeiführe.
Doch kehren wir von dieser Hypothese zu unsern
Quellen zurück. Wenn die Welt sich im Zustand des
Pralaya befindet und die drei Guna's damit in dem
des Gleichgewichts, so darf man doch nicht glauben, dass
die letzteren in völliger Ruhe verharren; das würde ihrer
Natur widersprechen. In dieser Zeit — so heisst es in
der Sämkhya-tattva-kaumudi zu Kärikä 16 —
„unterliegen Sattva, Rajas und Tamas [nur der Ver-
„änderang] zu gleichartigem; denn die Guna's, deren
„Wesen das Sichverändern ist, bestehen auch nicht einen
„Augenblick, ohne sich zu verändern. Darum entfaltet
„sich auch, [wenn die Welt] im Zustande der Auflösung
„[ist], das Sattva nur in der Form des Sattva, das
„Rajas nur in der des Rajas, das Tamas nur in der
„des Tamas." Diese isolirte Bewegving innerhalb jedes
einzelnen Guna aber ist völlig unabhängig von der Be-
wegung, die sich der Urmaterie als Ganzem beim Beginn
der neuen Weltperiode mittheüt.
^) Vgl. Koppen, Religion des Buddha I. 285—287.
15«
— 228 —
Wälirend der Zeit des Pralaya sind die unerlösteii
Seelen ebenso schmerzfrei wie die erlösten, weil die ihnen
zugehörigen inneren Organe, die materiellen Grundlagen
jeder Empfindung, nicht mehr als solche existiren *). Aber
diese inneren Organe sind dann nicht etwa zu Grunde
gegangen, sondern haben sich nur zur Urmaterie zurück-
gebildet und bestehen ,in feinem Zustande' (sühshnäva-
sthai/ä) fort. Dasselbe gilt auch von ihren verhängnissvollen
Attributen, der moralischen Bestimmtheit, die auf den in
der vorigen Weltperiode noch nicht vergoltenen Werken
beruht, und der Nichtunterscheidung, die während der
Weltauflösung als Disposition (väsanä) verharrt. Denn
jedes dieser beiden Attribute, welche die Ursache alles
Leidens in der Welt sind, besteht in der Form einer an-
fangslosen, auch durch die Weltvernichtung nicht unter-
brochenen Conti nuität ^).
Bevor wir nun die Produkte in der Reihenfolge be-
trachten, in der sie nach der Sämkhy a-Lehre bei jeder
Weltentfaltung aus der Urmaterie hervorgehen, haben wir
noch das Verhältniss im Allgemeinen ins Auge zu fassen,
das unser System zwischen jedem Produkt und seiner
Ursache constatirt.
5. Der Begriff der Kausalität.
In der indischen Philosophie werden überall streng
zwei Arten von Ursachen (kärana) unterschieden: die
materielle (upädäna) und die bewirkende (nimitta). Die
materielle Ursache eines Dinges ist der Stoff, aus dem es
hervorgeht und besteht; als bewirkende Ursache gilt nicht
1) VijJi. zu Sütra I. 16, 18, 19.
') Vijn. zu Sütra VI. 12, 68, 69. Ueber das verhältnissmässig
günstige G-eschick derjenigen Individuen, welche die ,niedere
Gleichgiltigkeit' gewonnen und diese Welt aufgegeben haben, aber
noch nicht zur unterscheidenden Erkenntniss gelangt sind, hat
schon oben S. 146 gehandelt werden müssen.
— 229 —
nur die Veranlassung seines Entstehens, sondern auch das
Mittel, durch welches es hervorgebracht wird ^). Da upä-
dana und nimitta unter dem Begriff kärana zusammen-
gefasst werden, hat die philosophische Terminologie Indiens
auch für Produkt und Wirkung nur den einen Ausdruck
Mrya: der Topf ist das Mrya des Thons, aber ebenso ist
auch der Tod des getroffenen Thieres das hdrya des Schusses.
Nur in Ausnahmefällen, wenn zwischen den Begriffen des
Produkts und des Effekts genau unterscliieden werden soll,
sind zu diesem Zwecke die Adjektiva awpäddnika und
naimittika verwendet.
Das Eintreten eines Ereignisses ist gewöhnlich durch
eine ganze Reihe bewirkender Ursachen bedingt,
die keineswegs in analogen Fällen die gleichen zu sein
brauchen; die materielle Ursache eines Dinges da-
gegen ist stets dieselbe: ein bestimmtes Produkt kann
immer nur aus einer bestimmten materiellen Ursache her-
vorgehen; der Topf nur aus Thon, das Tuch nur aus
Fäden "-). Deshalb wird auch die materielle als die Haupt-
ursache für die Hervorbringung eines Produkts angesehen,
^) Die VaiQeshika-Nyäya- Philosophie nimmt dreierlei Ur-
sachen an, d. h. ausser den beiden genannten eine dritte, die man
als formale bezeichnen kann. Anstatt upadäna-kärana, aber genau
in der gleichen Bedeutung, gebraucht sie den Terminus samaväyi-
kärana ,inhärirende Ursache' und stellt daneben das asamaväyi-
härana ,die nicht-inhärirende Ursache'. Die Fäden sind die in-
härirende (d. h. materielle), die Verbindung der Fäden ist die
nicht-inhärirende (d. h. formale) Ursache des Tuches. Die Werk-
zeuge des Webers, seine persönliche Geschicklichkeit, seine Thätig-
keit, ja der Weber selbst sind die bewirkenden Ursachen des
Tuches. Das Tuch selbst ist die inhärirende Ursache seiner
Qualitäten, die Qualitäten der Fäden sind die nicht-inhärirende
Ursache der Qualitäten des Tuches. Vgl. hierüber unter anderm
Ballantyne, Lectures on the Nyäya Philosophy, Allahabad 1849,
p. 22 ff., Röer, Bhäshäpariccheda Introd. p. VIII, Hall, Rational
Refutation p. 94, Anm. f.
2) Vgl. (auch zu den folgenden Ausführungen) Sämkhyakärikä
9, Sütra I. 115—117.
— 230 —
während die bewirkenden als begleitende oder Nebenur-
sachen (sakakäri-hdrana) gelten.
Weil die bewirkenden Ursachen kein neues Ding
hervorbringen, sondern allein die Entstehung von Ver-
änderungen an dem schon vorhandenen veranlassen ^), so
beschäftigt sich die S ä m k h y a - Lehre von dem Kausal-
zusammenhang der Dinge lediglich mit dem Begriff und
Wesen der materiellen Ursache.
Unser System geht von dem Grundsatze aus : ex niliilo
nihil fit (nd 'vastuno vastu-siddhih) ^), mit anderen Worten :
„Es giebt keine Verbindung zwischen dem Seienden und
Nichtseienden" (sad-asatoli sambandhänupapattih) '^) oder :
„Ein Ding kann nicht die Ursache seiner selbst sein"
(svasya sva-käranänwpapattih) *). Mit der noch entschie-
deneren Formulirung dieses Grundsatzes: „Eine Substanz
kann nur aus einer Substanz hervorgehen" (dravyasi/ai
'va dravyopädänatvam) ^) wendet sich das Sänikhya-
System zunächst gegen die theologische Erklärung der
Weltentstehung durch einen Schöpfungsakt; ein solcher
Akt könnte nur die bewirkende, aber nicht die materielle
Ursache der Welt sein, da das Handeln eine Qualität ist '').
Es wird aber weiterhin der Satz, dass Qualitäten nicht
materielle Ursachen von Substanzen sein können, auch
zur Bekämpfung der Vedänta -Lehre benutzt, nach der
die Erscheinungswelt auf dem Nichtwissen beruht.
Das Verhältniss von Ursache und Wirkung (resp.
Produkt) ist für unser System nicht einfach der Zusam-
menhang des zeitHch vorangehenden und nachfolgenden '').
Auf Grund der Erwägung, dass jedes Produkt seine mate-
rielle Ursache in sich begreift, dass das erstere nicht ohne
1) Vijn. zu Sütra I. 120.
2) Sütra I. 78, 80.
3) Vijii. zu Sütra I. 113.
*) Vijn. zu Sütra I. 62.
5) Vijn. zu Sütra 1. 63,
6) Sütra I. 81.
') Sütra I. 41.
— 231 —
»die Fortdauer der letzteren möglich ist, hat die Säm-
khya-Philosophie die Lehre von der Identität beider
(kärya-härand-bheda) aufgestellt, womit gemeint ist, dass
das Produkt sich von seiner Ursache nicht der Substanz,
sondern nur den Qualitäten nach unterscheidet. Das
Diadem ist nichts anderes als das Grold, das irdene Gefäss
nichts anderes als der Thon, das Tuch nichts anderes als
die Fäden, aus denen es besteht i). Aus dieser Identität
— oder, wie wir sagen würden: Coexistenz — von Ur-
sache und Produkt folgt, 'dass von der Entstehung
(utpatti) eines Produktes nicht gesprochen werden darf,
dass vielmehr die sogenannte Entstehung eine Manifesta-
tion, ein In-die-Erscheinung-treten (abhivyakti) ist. Und
wie das Produkt nicht entsteht, weil es bereits in seiner
materiellen Ursache existirt, bevor es in die Erscheinung
tritt, so geht es auch nicht zu Grunde, sondern tritt nur
aus der Erscheinung, indem es in seiner Ursache wieder
verschwindet oder aufgeht (laya, tirohhäva). Die Mani-
festation ist also der gegenwärtige Zustand (var-
tamänävasthä) des Produkts, das angebliche frühere Nicht-
sein der zukünftige (andgatävasthä) miA das angebliche
spätere Nichtsein der vergangene Zustand (aätd-
vastM) -). Die materielle Ursache ist vor der Manifestation
des Produkts nichts anderes als dieses Produkt im Zustande
der Zukunft, und das Produkt nach dem Ende der Manifes-
tation nichts anderes als die materielle Ursache im Zustande
der Vergangenheit. Jedes stoffliche Ding ist also, bevor es
in die Erscheinung und nachdem es aus der Erscheinung
getreten ist, genau so real als während der zwischen diesen
beiden Grenzen hegenden Zeit; nur seine Form oder sein
^) In der Sämkliya-tattva-kaumudi zit Kärikä 9 (S. 562 meiner
Uebersetzung) sind hierfür nicht weniger als vier syllogistische
Beweise beigebracht worden.
2) Die Vai9eshika-Nyäya-Lehre von der prioren und
posterioren Nichtexistenz (pürväbhäva , dhvmisa oder pradhvamsa)
wird in den S am khya- Schriften mit grosser Energie bekämpft.
— 232 —
Zustand ändert sich. Durch diesen Gedankengang ') ist
die S ä m k h y a - Philosophie zu der ,Lehre von der ewigen
Realität der Produkte' (sat-kdrya-väda) gelangt, einer für
das System so charakteristischen Theorie, dass dieses nicht
selten mit dem eben angeführten technischen Ausdrucke
bezeichnet wird 2).
Da der Satz von der Ewigkeit und Unzerstörbarkeit
des Stoffes ein Grundpfeiler unseres philosophischen Ge-
bäudes ist, so werden wir auch die Lehre, aus welcher
dieser Satz abgeleitet ist, für ebenso alt halten müssen
als das Sämkhya -System selbst. Es ist für die Ge-
schichte der indischen Philosophie im Allgemeinen von
Wichtigkeit, diesen Punkt festzustellen, weil die Theorie
der Identität von Ursache und Produkt sich auch im
Vedänta- System findet, und zwar mit genau derselben
Begründung wie in den Sämkhya- Schriften. Man ver-
gleiche in Deussen's System des Vedänta auf S. 275 —
280 besonders die Abschnitte „die Ursache besteht in der
Wirkung fort", „die Wirkung besteht schon vor ihrem
Entstehen, nämlich als „Ursache", „die Wirkung liegt in
der Ursache präformieii", „Allgemeinheit der Identität von
Ursache und Wirkung". Die V e d ä n t a - Philosophie hat
diesen Gedanken benutzt um die Lehre der Identität von
B rahm an und Welt zu beweisen. Darüber bemerkt
Deussen S. 275: „So grändet sich die Identitätslehre
„unserer Autoren auf eine Untersuchung des Kausalitäts-
„begriffes, und es ändert an diesem Verhältnisse nichts,
„dass in dem uns vorliegenden Werke [den Brahma-
1) Vgl. über denselben Kärikä 9, Sutra I. 113—123, V. 60,
VI. 58, Anir. und Vijn. zu I. 45, 91, Vijn. zu I. 1, Sarva-dar9ana-
samgraha p. 224, 225 der Uebersetzung, Colebrooke, Mise. Ess. 2
I. 265, 266.
2) Dementsprechend beissen die Anhänger des Sämkhya-
Systems sat-kärya-vädin im Gegensatze zu den asat-kärya-vädin
genannten Vertretern der Vai^eshika-Nyäya -Philosophie, nach
deren Meinung das Produkt vor seiner Hervorbriugung nicht existirt.
Vgl. Hall, Rational Refutation p. 94 Anm.
— 233 —
-„sütra's nebst ^anikara's Commentar] zuerst 2, 1, 14
„die Lehre der Identität von Braliman und Welt mit vor-
„wiegend theologischer Begründung, und sodann 2, 1,
„15 — 20 gleichsam als ein CoroUarium derselben der Beweis
„der Innern Identität von Ursache und Wirkung auftritt".
Wenn auch D e u s s e n hinzufügt , dass die logische Ord-
nung vielmehr umgekehrt sei, dass aus der Identität der
Ursache und der Wirkung die Identität des B r a h m a n
und der Welt folge, so dürfen wir doch annehmen, dass
die Behandlung dieses Gegenstandes in dem Hauptwerk
der Vedänta- Schule sich durchaus an die historische
Entwickelung der Beweise für die Identitätslehre anschliesst.
Die Vedänta- Lehrer haben mit richtigem Blick für das,
was ihre Ansichten stützen konnte, der ursprünglich ,vor-
wiegend theologischen Begründung', d. h. den aus der Schrift
abgeleiteten Gründen, als ,Corollarium' die Begründung durch
einen von der Sänikhy a- Philosophie erarbeiteten Lehr-
satz hinzugefüg-t. Wenn wir vor der Alternative stehen,
ob die Argumentirung mit dem Beharren der Sub-
stanz zuerst in einem Systeme gehandhabt ist, dem die
Erscheinungswelt für illusorisch gilt, oder in einem Systeme,
das diese für real erklärt, so werden wir kaum zweifeln
dürfen uns für das letztere zu erklären.
6. Die Produkte, besonders die feinen und
groben Elemente.
Allen Produkten sind mit der Urmaterie die folgenden
Eigenthümlichkeiten gemeinsam. Sie bestehen aus den
drei G u n a ' s , sind stofflich nicht von einander zu unter-
scheiden, stehen als Objekte den Subjekten, d. h. den
Seelen, gegenüber — und zwar in der Weise, dass ein
jedes für mehrere oder viele Seelen gemeinschaftliches
Objekt ist — , und schliesslich sind sie ungeistig und
produktiv (oder der Veränderung unterworfen) ^). Anderer-
1) Kärikä 8, 11, 14, Sütra I. 126. Gaurlapäda zu Kärikä 11
— 234 —
seits giebt es eine ganze Reihe von Qualitäten, durch welche
die Verschiedenheit der Produkte von der Urmaterie be-
dingt ist; diese sind bereits bei der Beschreibung der
Urmaterie S. 208 aufgezälilt worden.
Wie wir bei derselben Gelegenheit sahen, findet nach
der S am khya -Lehre die Weltentfaltung in der Weise
statt, dass aus der .Urmaterie zuerst die Buddhi, aus
dieser der A h a m k ä r a , aus diesem die Sinnesorgane und
die Grundstoffe, und aus den letzteren die groben Elemente
hervorgehen. Bei jedem einzelnen Evolutionsakt werden
die hervorbringenden Principien — d. h. die Buddhi,
wenn sie den Ahamkära, der Ahamkära, wenn er
seine Produkte entstehen lässt, u. s. w. — von der Urmaterie
mit der zur Weiterentwickelung erforderlichen Kraft erfüllt ;
denn wenn die einzelnen Principien aus eigener Kraft
je das nächstfolgende hervorbringen könnten, so würde
dieser Process zu jeder Zeit stattfinden müssen, da die in
Betracht kommenden Produkte ihrem Wesen nach wieder
produktiv sind ^).
Ehe sich aus der groben Materie die Leiber der be-
seelten Wesen entwickelt haben, sind bereits die feinen
Substanzen vorhanden gewesen, aus denen die inneren
Organe der Wesen bestehen. In welcher Weise dieSäm-
k h y a - Philosophie sich die selbständige Existenz der
Buddhi, des Ahamkära und der Sinnesorgane denkt,
wird nirgends in unsern Texten gesagt und ist auch aus
dem Zusammenhang der Lehren nicht zu ersehen. V i j n ä -
nabhikshu sagt am Schluss seines Commentars zu Sütra
L 63, dass die Schöpfung aus der kosmischen Buddhi
(samaslid-buddM)^ nicht aus einer individuellen (vyashti-
huddhi) hervorgegangen sei, und deutet durch ein ,u. s. w.'
erklärt avivehin (.[stofflich] nicht [von einander] zu unterscheiden')
als jkein Unterscheidungsvermögen besitzend'. Das ist deshalb
unrichtig, weil das Unterscheidungsvermögen die charakteristische
Eigenthümlichkeit der Buddhi ist.
^) Aniruddha zu Sütra I. 132.
— 235 —
(ddi) an, dass auch die nächsten Evolutionsstadien in dem-
selben Sinne zu verstehen sind. Wie aber eine solche
feine Substanz — wir würden sagen ,die Nervensubstanz',
da die Funktionen von Buddhi, Ahamkära, Manas
und Indriya's den Funktionen des Nervensystems ent-
sprechen — ohne einen animalischen Organismus bestehen
und sich fortentwickeln kann, wie sie sich ferner in Theile
spaltet, um bei der Entstehung der Leiber die individuellen
inneren Organe zu bilden, das sind Räthsel, die unser
System ungelöst lässt ^\ Es wird einfach gelehrt, dass der
innere Leib (linga)^ der im wesentlichen aus den Organen
besteht, von denen hier die Rede ist, ursprünglich nur
einer gewesen sei, dass aber eine Spaltung in Individuen
(vyokti-bheda) eingetreten sei, ,wegen der Verschiedenheit
des Werkes', d. h. der den einzelnen Seelen eigenen mora-
lischen Bestimmtheit -). Hiernach ist also die Spaltung durch
das Gesetz der Vergeltung bedingt, aber eine Erklärung
des Vorgangs selbst wird uns nicht gegeben. Wir müssen
uns damit bescheiden zu constatiren, dass für die Säui-
khya -Philosophie die Substanzen der inneren Organe als
die ersten und feinsten Entfaltungen der Urmaterie gelten.
Da im übrigen die Buddhi, der Ahamkära und die
Sinnesorgane für das System nur als Theile des animalischen
Organismus von Bedeutung sind, so werden wir gut thun
ihre nähere Betrachtung für das folgende Kapitel ,Physio-
logie' aufzusparen und uns zu den Grundstoffen zu wenden.
Die Sämkhya- Lehre lässt die Grundstoffe zusammen
mit den Sinnesorganen aus dem kosmischen Ahamkära
hervorgehen und erklärt die Verschiedenaiiigkeit seiner
Produkte folgendermaassen. Wenn der Ahamkära den
inneren Sinn (das innere Wahrnehmungsorgan, manas)
1) Die schon S. 189, 190 erwähnten naythologischen Spielereien
Vijnänabhikshu's, der die kosmische Buddhi mit Vishnu,
den kosmischen Ahaiiikara mit Brahmau und Qiva identificirt,
sind flir die Frage bedeutungslos.
*) Sütra m. 10.
— 236 —
aus sich entlässt, so stellt er unter dem Einfluss des (in
allen Erkenntnissfunktionen wirkenden) S a 1 1 v a und heisst
in diesem Fall vaikrta oder vaikäriha ,modilicirt' ; wenn
er die fünf Sinne der Wahrnehmung und die fünf Sinne
des Handelns hervorbringt, so steht er unter dem Einfluss
des (zur Thätigkeit anregenden) Rajas und heisst dann
taijasa ,wirksam'; wenn er die Grundstoffe hervorbringt,
so steht er unter dem Einfluss des (in allem leblosen weit
überwiegenden) Tamas und wird in diesem Zustande
bhütddi , Ausgangspunkt der Elemente' genannt ^).
Die feinen Elemente (sukshma-bhüta, hhida-sukshma)
oder Grundstoffe führen gewöhnlich den Namen tanmätra,
etymologisch ,nur dieses', womit ausgedrückt werden soll,
dass in jedem Grundstoff einzig und allein dessen specielle
Eigenthümlichkeit raht -). Das ist so zu verstehen. Während
von den fünf groben Elementen das nachfolgende jedesmal
die Eigenschaft des vorangehenden mitbesitzt in der Weise,
dass der Aether (als Träger des Tons) gehört, die Luft
gehört und gefühlt, das Feuer gehört, gefühlt und gesehen,
das Wasser gehört, geftihlt, gesehen und gescluneckt, die
Erde gehört, gefülilt, gesehen, geschmeckt und gerochen
wird, haben die fiinf Grundstoffe nur je eine Eigenschaft
und heissen deshalb nach der Reihe der Gmndstoff des
Tons, des Gefühls, der Farbe, des Gesclnnacks und des
Geruchs (^abda-, sparca-, rüpa-, rasa-, gandha-tanmdtra)^).
1) Kärikä 24, 25, Sütra II. 17, 18, Sarva-dargana-samgraha
p. 222 der Uebersetzung, Sämkhya-ki-ama-dipikä Nr. 18, 19, 54, 61.
2) Sämkhya-tattva-kaumudi zu Kärikä 38, Vijn. zu Sütra 1.62,
Wilson, Sänkhya Kärikä p. 121, Ballantyne, Lectui-e on the
Sänkhya Philosophy p. 10 unten. Es ist mir jedoch nicht ganz
sicher, ob nicht F. E. Hall (in seiner Ausgabe von Wilson' s
Uebersetzung des Vishnu Puräiia I. 37 Anm.) damit Recht hat, dass
er tan-mätra als eine Verstümmelung von tanu-mätra ,geringe
Ausdehnung habend' erklärt.
^) Sämkhya-tattva-kaumudi zu Kärikä 22 ; Vijii. zu Sutra I. 62
schreibt bereits den feinen Elementen die Characteristica der
groben in der gleichen Häufung zu.
— 237 —
Diese Grundstoffe sind als solche nur von den Göttern
und Y 0 g i n ' s , aber nicht von uns gewöhnlichen Menschen-
kindern wahrzunehmen ^) ; wir erkennen nur ihre Wir-
kungen in den Eigenschaften der Derivate, d. h. der gi-oben
Elemente. Die Grundstoffe besitzen ihre Characteristica
nur in abstracto: der Ton-Grundstoff den Ton, aber noch
nicht die verschiedenen möglichen Töne, die wir hören;
der Gefühls-Grundstoff das Gefühl, aber noch nicht die
Varietäten w^eich, hart, rauh, schlüpfrig, kalt, warm u. s. w.;
der Farben- Grundstoff die Farbe, aber noch nicht die
Varietäten weiss, roth, schwarz, grün, gelb u. s. w.;
desgleichen der Geschmacks-Grundstoff noch nicht die ver-
schiedenen Arten des Geschmacks, der Geruchs-Grundstoff
noch nicht die verschiedenen Arten des Geruchs. Darum
theilen auch die feinen Elemente noch nicht die Eigen-
schaft der groben Materie, je nach dem Vorwalten eines
der drei Guna's entweder Freude oder Schmerz oder
Apathie zu erregen; oder technisch: sie sind noch nicht
Qänta, ghora oder müdha. Aus diesem Grunde werden sie
avicesha ,die unterschiedslosen Substanzen' genannt, im
Gegensatz zu den vicesha oder den mit Unterschieden
behafteten groben Elementen 2). Wenn auch die Grund-
stoffe von ausserordentlich kleiner Ausdehnung sind, so
darf man ihnen doch nicht Untheilbarkeit zuschreiben;
denn kein Produkt ist untheilbar. Die Tanmätra's
sind also etw^as ganz anderes als die ewigen und unend-
lich kleinen Atome (anu, paramänu) der Vai9eshika-
N y ä y a - Philosophie und des Jinismus, und die Lehre von
1) Vijn. zu Sütra I. 62, III. 1.
«) Sämkhya-krama-dipikä Nr. 19—24, Kärikä 38 nebst den
Commentaren, Vijn. zu Sütra I. 62. — Die weiteren Synonyma,
die man noch in der Särnkbya-krama-dipikä Nr. 25 angeführt
findet (prakrti, ahhogya, anu, acäntä-''ghorä-''müdha), sind nichts als
gelegentlich in unsern Texten gebrauchte Epitheta ; mahä-bhüta ist
dort irrthümlich dazu gerechnet und bezeichnet in Wirklichkeit
die groben Elemente.
- 238 -
den Atomen wird deshalb im Sämkhya- System mit Ent-
schiedenheit zurückgewiesen. Die Anhänger der atomis-
tischen Systeme nelmien an, dass ein Aggregat von drei
an sich keine Ausdehnung besitzenden Atomen (try-anuka)
— nach einigen: von drei Doppel- Atomen (dvy-anuka) —
■eine gewisse Ausdehnung habe und als das im Sonnen-
licht zitternde Staubkörnchen (trasa-renu) sichtbar sei.
Diese Ansicht und deren Begründung, dass die heterogene
Natur der sich verbindenden Atome die Ursache der Aus-
dehnung und Sichtbarkeit sei, wird von der Sämkhya-
Philosophie ') durch Berufung auf das Gesetz bekämpft,
demzufolge jede Eigenschaft eines Produkts durch eine
gleichartige Eigenschaft der materiellen Ursache bedingt
ist ; wenn die einzelnen Atome keine Ausdehnung besitzen,
kann auch das Aggregat nicht ausgedehnt sein -).
Woher stannnen aber die charakteristischen Eigen-
schaften der Tanmätra's, Farbe, Geschmack, Geruch
u. s. w,, da doch die in dem Entwickelungsgange der Welt
vorausliegenden Produkte solche Eigenschaften nicht be-
sitzen ? Auf diese Frage antwortet Vijnänabhikshu-'):
„Die Ursache für die Farbe und die anderen Characteristica
„der feinen Elemente ist lediglich die besondere Art, in
„der sich die Substanzen, welche die materielle Ursache
„jener sind [d. h. die Substanzen der Buddhi und des
„Ahamkära] mit einander verbinden, — entsprechend
„den Thatsachen der Empirie, wie z. B. der, dass die Ver-
„ bin düng von Gelb würz mit anderen [Stoffen, wie Kalk
„u. dergl.] die Ursache für die rothe Farbe an der durch
„[die Mischung] zweier solcher [Stoffe] entstandenen Sub-
„ stanz ist."
Die Lehre von den Tanmätra's begegnet uns selbst-
1) Ebenso wie im Vedänta; s. (^amkara zu dem Brahma-
süü-a Tl. 2. 12: „Alles zusammen könnte nur die Grösse eines
■einzigen Atoms haben."
2) Sütra V. 87, 88, Yiju. zu I. 62.
3) Zu Sütra I. 62.
— 239 —
verständlicli in der Yoga-Philosopliie wieder, ist aber im
übrigen das specielle Eigenthum der Sänikbya- Schule
geblieben ; auch im Vedänta wird sie nicht anerkannt i).
Ihre älteste Erwähnung findet sich Katha Upanishad
IV. 8 und Maitri Up. EL 2 2).
Aus den Grundstoffen entstehen die groben Elemente
(sthüla-hhüta ^ mahä-hhüta , auch bloss bhüta, vigesha)^) in
folgender Weise. Ohne irgend eine Verbindung einzu-
gehen, nur durch die Urmaterie gestärkt *), entwickelt sich
der Ton-Grundstofi" zu dem groben Element Aether (äkäga,
Jcha); aus' der Verbindung des Ton-Grundstoffs mit dem
Gefülils-Grundstoff geht die Luft (väyu) hervor; durch das
Hinzutreten des Farben-Grundstoffs entsteht das Feuer
(tejas)^ durch das des Gesclunacks-Grundstoffs das Wasser
(ap), durch das des Geruchs-Grundstoffs die Erde (prthivi) ^).
Diese fünf Elemente vermischen sich, um die materielle
Welt zu bilden und wirken in dieser, indem ein jedes
durch Bethätigung seiner besonderen Eigenschaft die vier
anderen unterstützt. Das Element Erde ist bei der Ent-
stehung der Produkte die allgemeine Grundlage (dliärana),
das Wasser wirkt befeuchtend und befruchtend (kledana),
das Feuer, resp. das Licht und die Wärme, reifend (päcaha)^
die Luft trocknend (goshana) und der Aether dadurch, dass
er für alle Dinge den Raum giebt (avakäca-dänena) '^).
Bei dieser Gelegenheit ist zu bemerken, dass die S ä m -
k h y a - Lehre (in LTebereinstimmung mit dem Mimämsä-,
Vedänta- und Yoga- System und vielleicht unter An-
eignung eines ihr ursprünglich fremden Gedankens) nicht
1) Vgl. Deusseu bei Weber, Indische Studien XVII. 160.
-) Vgl. Regnand, Materiaux pour servir ä l'histoire de la
Philosophie de l'Inde IL 31, 32.
^) Die weiteren Namen in der Liste Sämkhya-krama-dipikä
Nr. 33 (vikära, cikrti, tanu, vigraha, cänta-ghora-müdlia) sind keine
wirklichen Synonyma.
^) S. S. 2.34.
^) Sämkhya-tattva-kaumudi zu Kärikä.22.
^) Sämkhya-krama-dipikä Nr. 32.
— 240 —
nur das Licht, sondern auch dessen Gegentheil, die Finster-
niss, für etwas reales erklärt; ihre Anhänger suchen die
vernünftige Anschauung derVai9eshika-Nyäya- Philo-
sophie, nach der die Finsterniss nichts anderes als die
Negation des Lichtes ist, dadurch zu widerlegen, dass sie
behaupten, die Finsterniss werde als eine schwarze Farbe
oder gar Substanz wahrgenommen, und dass sie diesen
Satz durch allerlei scholastische Gründe vertheidigen ^).
Die aus den fünf groben Elementen gebildete an-
organische Welt heisst technisch anugraha-sarga ,die
Schöpfung [der Objekte] zu Gunsten [der Subjekte]' 2), —
eine Bezeichnung, die das Yerhältniss wiederspiegelt, welches
gewöhnlich durch die Gegenüberstellung von bhogya ,das
zu geniessende' und bhoktar ,Geniesser' zum Ausdruck ge-
bracht wird.
Zwischen der anorganischen und der organischen Natur
besteht eine unüberbrückbare Kluft; denn wenn auch die
Materie in der letzteren aus denselben Elementen be-
steht, wie in der ersteren, so besitzt doch jedes lebende
Wesen etwas, das nun und nimmermehr aus den ftinf
Elementen hervorgehen kann : den Geist, die Seele. Wenn
der Geist eine dem organischen Körper wesentliche Eigen-
schaft wäre, so „würde es für die Gesammtheit [der Lebenden]
„keinen Tod, keinen Tiefschlaf und keine [Ohnmacht]
„geben. Denn Tod, Tiefschlaf und [Ohnmacht] bedeute/i';;.
„die Ungeistigkeit des Körpers, und diese könnte nicht
1) Anir. und Vijii. zu Sütra I. 62.
-) Wenigstens nach Sämkhya-krama-dipikä Nr. 71 , wo gesagt
ist, dass der (im Tattvasamäsa Sütra 19 genannte) anugraha-sarga
durch die Entstehung der Aussendinge aus den fünf feinen Elementen
zu Stande komme. Inder P u r ä n a - Literatur wird anugraha-sarga
mit pratyaya-sarga verwechselt, unter welchem Terminus, wie wir
weiter unten sehen werden, die vier Zustände des Nichtwissens,
des Unvermögens, der Befriedigung und der Vollkommenheit zu-
sammengefasst werden. S. die Belege in Wilson' s Uebersetzung
desVishnu P u r ä n a (herausgegeben von F. E. Hall) I. 76 Anm.,
wo übrigens die Verwechselung der Worte nicht erkannt ist.
— 241 — ^
„eintreten, wenn der Geist dem Körper wesentlich wäre,
„da das Wesen eines Gegenstandes so lange währt als
„dieser selbst i)."
In dem folgenden Kapitel haben wir uns zunäclist
mit den ungeistigen Bestandtheilen der organischen Körper
und ihrer Funktionsweise zu beschäftigen.
1) Vijii. zu Sutra III. 21. Ueber die weitere Polemik der
Sämkhya- Schriften gegen den Grundsatz der Materialisten, dass
der Geist nichts von dem Körper verschiedenes sei, sondern durch
die Vermischung der fünf Elemente entstehe, ist schon oben S. 125
Anm. gehandelt worden.
Garbe, Sämkhya-Philosophie. 16
n. Physiologie.
1. Der Organismus im Allgemeinen.
Die höhere und niedere Organisation bedeutet keine
principielle Verschiedenheit der Leiber. Alle Körper, in
denen eine Seele wohnt, d. h. die der übermenschlichen
Wesen, der Menschen, Thiere und Pflanzen, sind aus den
gleichen Bestandtheilen zusammengesetzt. Wenn auch die
Pflanzen nicht die Fähigkeit Aussendinge wahrzunehmen,
sondern nur ein innerliches Bewusstsein besitzen (antali-
sainj'fia), wenn sie auch in rein passiver Weise zum Aufent-
halte von Seelen dienen, die bestimmte Vergehen früherer
Existenzen abzubüssen haben, und nicht selbst zu handeln,
d. h. aufs neue Verdienst und Schuld anzuhäufen ver-
mögen, so haben sie doch einen Körper so gut wie Menschen
und Thiere; denn in gleicher Weise, wie der animalische
Leib, wächst auch der Pflanzenleib und hat ein Ziel seines
Wachsthums; wie der animalische Leib nach dem Tode
in Verwesung übergeht, so verdorrt oder verfault auch
der Pflanzenleib nach seiner Zerstörung ^).
Die organische Welt (bhüta-sarga, bliautika-sarga^dhätu-
samsarga) 2) wird gewöhnlich in drei Haupttheile zerlegt,
1) Siitra V. 122—124 (121—123 Vijfi.). Vgl. auch Vijn. zu
Sütra VI. 7 , wo Gräser und Bäume mit Thieren , Menschen und
Göttern vollständig coordinirt sind, und den Sämkliya- Abschnitt
im Mahäbhärata XII. 6830—38, in dem freilich abweichend vom
System den Vegetabilien auch äussere Sinne zugeschrieben werden.
2) Tattvasamäsa Sütra 21 ; vgl. Sämkhya-krama-dipikä Nr. 72
am Schluss.
— 243 —
in das Reich der Götter, Menschen und Thiere (unter Ein-
schliessung der Pflanzenwelt) ^) ; doch findet sich auch die
folgende, von der Entstehungsart ausgehende Eiutheilung
in sechs Erlassen, von denen freilich die Hälfte dem land-
läufigen Aberglauben auf Rechnung zu setzen sind: die
Wesen sind entweder 1) aus der Hitze geboren (i7shma-ja),
wie Moskitos und andere Insekten, 2) aus dem Ei (anda-
ja)^ wie Vögel und Sclilangen, 3) aus dem Mutterschooss
(jaräyu-ja)^ wie Menschen u. s. w., 4) aus dem Keim (vd-
hhij-ja)^ wie Bäume und Pflanzen, ö) durch den blossen
Willen geschaffen (samkalpa-ja) ^ wie Sanaka, Manu
und andere, oder 6) durch die Benutzung der zauberischen
Kraft von Sprüchen, Kräutern und dergleichen ins Leben
gerufen (sämsiddliika) -).
Ausser dem grob-materiellen Körper, der gewöhnlich
(präyacah) von Vater und Mutter erzeugt wird und unter
allen Umständen vergänglich ist •^), besitzt jedes organische
Wesen einen feinen oder inneren Körper, der zusammen
mit der Seele aus einem groben Leibe in den anderen
zieht. Dieser innere Körper, welcher Sitz und Ursprung
aller derjenigen Zustände und Funktionen ist, die wir als
psychische zu bezeichnen pflegen, wird nach der Säm-
khya- Lehre durch die Buddhi, den Ahamkära, das
M a n a s , die zehn Indriya's und die fünf feinen Elemente
gebildet. Bevor wir ihn als Ganzes ins Auge fassen, sind
die einzelnen Organe, aus denen er sich zusammensetzt,
in der angeblichen Reihenfolge ihrer Entstehung zu
betrachten.
1) Kärikä 53, Sütra UI. 46.
') Sütra V. 111. Ueber die weitere Klassificirung der Unter-
abtheiltuigen , die nicht wichtig genug ist um hier reproducirt zu
werden, handeln die Commentare zu Kärikä 53 und Sütra III. 46,
Sämkhya-krama-dipikä Nr. 72, Colebrooke, Mise. Ess.^ I. 258.
Wegen der correspondirenden Anschauungen im Vedänta vgl.
Deussen, S. 257—259.
3) Kärikä 89, Sütra III. 7.
16*
244
2. Die Buddhi.
Das erste der inneren Organe ist das der Unter-
scheidung, der Feststellung, des Urtlieils und der Ent-
schliessung (adliyavasäya) ^). Es führt den Namen huddhi
,Verstand', doch darf die etymologische Wortbedeutung
nicht, wie häufig geschehen ist, zur Uebersetzung des
Terminus gebraucht werden, da wir uns unter ,V erstand'
ein geistiges Vermögen vorstellen und die Buddhi
ein physisches Ingrediens des Organismus ist. Sein-
häufig findet sich in unsern Texten anstatt huddhi die
Bezeichnung malmt ,das grosse' (nämlich Princip, tattvd)
oder masc. mahän ,der Grosse' 2). Diese Benennung gründet
1) Kärikä 23, Sutra I. 64, H. 13, Samkhya-krama-dipikä Nr. 8.
2) Die übrigen Synonyma, welche die Sänikhya-krama-dipikä
in Nr. 16 noch anführt (manas , mati, brahmän, khyäti, prajnü,
gruti, dhrti, prajnäna-samtati, smrti, dhi), sind der Purän a- Lite-
ratur entnommen (s. W i 1 s 0 n ' s Uebersetzung desVishnu Puräna,
herausgegeben von F. E. Hall, I. 30—32 Anm.)- Diese fingirte
Synonymik ist in letzter Instanz zum Theil gewiss aus Stellen in
älteren Werken abgeleitet (wie Maitri Up. VI. 31), wo das Wort
buddhi in Aufzählungen von Begriffen neben einigen der genannten
Ausdrücke steht.
lieber das Wort malmt bemerkt Wilson au dem eben an-
geführten Orte I. 33 Anm.: "The word itself suggests some rela-
"tionship to the Phoenician Mot, which, like Mahat, was the first
"product of the mixture of spirit and matter, and the first rudi-
"ment of creation they agree in their place in the cosmo-
"gony, and are something alike in name." Dass aber die Aehn-
lichkeit der Worte auf einem Zufall und die Uebereinstimmung
der Ideen auf einem Missverständniss beruht, lehrt ein Blick in
Movers' Phönizier I. 134. Hier erfahren wir, dass die Angabe
Sanchoniathon's, der die Mö;t aus der Vereinigung des Geistes
mit der Materie entstehen lässt und über dieselbe sagt: tovzo
xives (pnoiv iXvv, oi Ss vSarcJSov? ui^sws arjxpiv, durch ein Miss-
verständniss der egyptischeu Quelle zu erklären sei. Mmt heisst
im Egyptischen Mutter und ist Beiname der Isis, weil diese die
alle Wiesen aus ihrem Schoosse hervorbringende Erde repräsentirt ;
— 245 —
sich auf die hervorragende Stellung, welche die Buddhi
im Kreise der Organe einnimmt. Zwar ist die Wirksam-
keit aller Organe auf ein und dasselbe Ziel gerichtet, in-
sofern sie sämmtlich der Seele dienen; aber es besteht
dabei eine förmliche Stufenleiter grösserer und geringerer
Bedeutung. Ueber den äusseren Sinnen und den Organen
des Handelns steht als Oberorgan das M a n a s , der innere
Sinn, über diesem der Ahamkära, über dem Aham-
k ä r a die B u d d h i i). In dem Vergleiche des animalischen
Organismus mit dem Beamtenstaate ist die Seele der in
vollständiger Passivität verharrende König und die B u d d h i
der alles leitende Minister. Ein solcher Vorrang kommt
der Buddhi deshalb zu, weil sie, obwohl sie der Thätigkeit
der übrigen Organe nicht entrathen kann, in unmittelbarer
Verbindung mit der Seele steht und dieser die Objekte
des Erkennens und Empfindens darbietet; weil ferner die
Wirksamkeit der übrigen Organe ohne das Eingreifen der
Buddhi resultatlos verlaufen würde, und weil die Buddhi
der Sitz sämmtlicher früheren Eindrücke, die unserm Denken
und Handeln die Richtung anweisen, und damit auch des
Gedächtnisses ist-). Kurz, wir haben in der Buddhi das
insbesondere aber hat man die Isis als den Theil der Erde ge-
dacht, welchen der Nil überschwemmt und befruchtet.
^) Vgl. hierüber Sämkhya-tattva-kaumudi zuKärikä23: ^ Jeder
^Mensch des praktischen Lebens gebraucht [zuerst] die äusseren
y Sinne, dann überlegt er [mit dem inneren SinnJ , dann setzt er
.[mit dem Ahamkära den betreffenden Gegenstand] zu seiner
^eigenen Person in Beziehung: .Ich bin dazu berufen', dann ent-
. scheidet er sich [mit der Buddhi]: ,Dies ist von mir zu thun',
„und darauf handelt er, wie das aus dem täglichen Leben bekannt
^ist." In Wirklichkeit aber geht der Antrieb zur Thätigkeit der
Sinne von der Buddhi aus, nach der sich die Sinne richten, ,wie
die Bienen nach ihrem König' (Bhojaräja zu Yogasütra II. 54).
Siehe näheres weiter unten in § 6.
-) Säinkhya-tattva-kaumudi zu Kärikä 37, Sütra I. 71, II. 40
— 45 (von Aniruddha irrthümlich auf das Manas bezogen), 47,
Vijn. zu 11. 13, Mahäd. zu II. 39.
— 246 —
eigentliche Werkzeug des Denkens zu sehen i), und des-
halb wird sie auch hie und da mit dem in der Yoga-
Philosophie beliebten -) Ausdruck citta ,Denkorgan' be-
nannt % Wie die B u d d h i dadurch , dass sie in Folge
ihres Wirkens der Seele zum Empfinden von Freude und
Schmerz verhilft, die unmittelbare Veranlassung des Gre-
bundenseins ist, so bringt sie andererseits auch die Er-
kenntniss des Unterschiedes zwischen Geist und Materie
zu Wege und bewirkt so die Erlösung 4).
Wenn auch eine unendliche Verschiedenheit hinsicht-
lich der Natur der einzelnen Buddhi's besteht, so lassen
sich doch zwei grosse Kategorien unterscheiden. Allgemein
betrachtet, giebt es kein zweites Produkt der Materie, in
dem das Sattva in so hohem Grade die beiden anderen
Guna's, insbesondere das Tamas, an Machtfülle über-
ragt, als es in der Buddhi der Fall ist; trotzdem macht
sich auch hier ein relatives Vorwalten entweder des Sattva
oder des Tamas in entscheidender Weise geltend. Wenn
in der Buddhi eines Individuums das Sattva so viel
als möglich von der Beimischung des Tamas geläutert
ist, so äussert sich dieser Zustand in Tugend, Erkenntniss,
Gleichgiltigkeit gegen die Sinnenwelt und übernatürlicher
Kraft. Die oft erwähnten wunderbaren Kräfte, von denen
namenthch in der Y o g a - Pliilosophie gehandelt wird,
1) Sütra I. 71, Vijn. zii II. 43.
2) Vgl. Paul Markus, Die Yoga-Philosophie S. 28.
3) Sutra I. 58, VI. 31, Vijn. zu I. 64', II. 43, Mahäd. zu III.
26, 74. Da das Denken (manana) alle Funktionen der Buddhi
in sich begreift, wird diese auch vereinzelt (Sutra I. 71, II. 40)
mit dem Namen des dritten luneuorgaus tnanas bezeichnet. Ferner
wird recht häufig buddhi in übertragener Bedeutung zur Benennung
des dreifachen G-esammt-Innenorgans (antahkarana-sämänya) ver-
wendet, also der hervorragendste Theil zur Bezeichnung des Ganzen.
In diesem Sinne steht auch einmal (^Sütra VI. 62) ahainkära. Vgl.
hierüber Vijn. zu I. 64 (S. 82 meiner Uebersetzung) und Hall,
Rational Refutation p. 11 Anm.
*) Kärikä 37, Sütra I. 58.
— 247 —
sind') eine derBuddhi wesentliclie Eigenthümliclikeit,
die nur durch die beiden anderen Guna's , verhüllt' wird.
Wer durch erfolgreiche Ausübung der Yoga-Praxis die
übernatürlichen Kräfte erlangt, gewinnt also nach dieser
Anschauung keinen neuen Besitz, sondern räumt nur die
Hindernisse hinweg, die der Bethätigung der einem Jeden
ureigenen Fähigkeiten im Wege stehen. Gelangt in der
Buddhi anstatt des Sattva das Tamas zu vorwiegen-
dem Einfluss, so äussert sich dieser in Lastei'haftigkeit
sowie als Mangel der Erkenntniss, der Gleichgiltigkeit und
der übernatürlichen Kräfte. Es werden also an der Buddhi
acht verschiedene Seiten als besonders bemerkenswerth
hervorgehoben, von denen vier die Natur des Sattva
und vier die des Tamas repräsentiren. Diese acht Seiten
werden als Formen (rüpa) , Attribute (clharma)^ Produkte
(Tcärya) und Zustände (bhäva) der Buddhi bezeichnet-).
Sieben derselben , vor allem Tugend und Lasterhaftigkeit
(oder Verdienst und Schuld, dharmädharmau) verstricken
die Seele in das Weltdasein; nur eine, die Erkenntniss,
führt zur Erlösung ■^).
Wenn auch das Wort buddhi in der Sanskritliteratur
sehr oft zur Bezeichnung verschiedener geistiger Fähig-
keiten und Thätigkeiten dient, so ist doch seine Verwen-
dung im Sinne eines bestimmten Organs aus-
schliesslich auf das Sämkhya- System beschränkt ; wo wir
das Wort in dieser Bedeutung finden, liegt eine Beein-
flussung durch Sämkhya- Lehren vor. Die Buddhi
begegnet uns bereits in der Upanishad- Literatur da, wo
wir auch sonst das Eindringen von Sämkhya- Anschau-
ungen constatiren konnten, d.h. in der Katha, Pra9na,
Maitri, ^"^etä^vatara und in späteren Upanishad's.
^) Nach VijS. zu Sütra II. 15 im Gegensatz zu Kärikä 4-3.
2) Kärikä 23, 40, 48—45, Sütra II. 14, 15, V. 25, Sämkhya-
krama-dipikä Nr. 9 — 15, Coleb rooke, Mise. Ess. ^ I. 262, 263,
Röer, Lecture p. 15, 16.
3) Kärikä 63, Sütra in. 73.
— 248 —
Dasselbe gilt, um dies gleich im Zusammenhang zu
erledigen, von dem zweiten inneren Organ der Sämkhya-
Philosophie, dem Ahamkära^). Die Erwähnung des
Ahamkära als eines speciellen Organs mit bestimmter
Funktion ist ebenso ein untrügliches Zeichen dafür, dass
der Verfasser des betreffenden Werkes unter dem Einfluss
unseres Systems gestanden hat -). Gehen wir nun zur
Betrachtung dieses Organs über.
3. Der Ahamkära.
Wenn Wilson, Sänkhya Kärikä S. 92 sagt, dass der
Ahamkära einen physischen, keinen metaphysischen
Charakter hat, so trifft dies mit Bezug auf die anderen
Organe, die hier behandelt werden, genau so zu; aber es
ist von Interesse zu sehen, dass die wahre Natur dieser
Principien zuerst nur an einem einzigen unter ihnen
erkannt worden ist. Eine richtige Definition des oft miss-
verstandenen Ahamkära hat H. Jacobi, Philosophische
Monatshefte XIII. 420 gegeben , der ihn als das Princip
bezeichnet, „vermöge dessen wir uns für handelnd und
leidend etc. halten, während wir selbst, d. h. unsere Seele,
davon ewig frei bleiben".
Die Funktion des Ahamkära ist also die Hei-vor-
^) S. Jacob 's Coucordauce unter den beiden Worten, Re-
gnaud, Materiaux 11.91, 92, 96, Deussen, System des Vedäuta
S. 357.
*) Dass in der Chändogya Up. VII. 25. 1 aharnkära eine ganz
andere Bedeutung hat, als im S ä m k h y a - System , ist schon oben
S. 17, 18 ausgeführt worden. — Merkwürdig ist die von Hall, Rational
Refvitation p. 13 Anm. citirte Stelle aus der Nyäya-sütra-vi-tti
p. 198: ahamharo ^ham ity abhimünah, sa ca carirädi-vishayako
mithyä-jndnain ucyate\ denn hier finden wir die beiden eng zu-
sammengehörigen Termini der Sä m khya- Schule ahcunkdra und
abhimäna neben einander; ein weiterer Beleg für die von mir
S. 119 Anm. 1 behauptete Abhängigkeit der Nyäya- von der
S ä m k h y a - Philosophie.
— 249 —
bringung von Wahnvorstellungen (abhimänaj, und zwar
dei;jenigen Wahnvorstellungen, welche die Idee des Ich in
rein materielle Dinge und Processe hineintragen ^). Solcher
Art sind z. B. die Gedanken „I c h höre, fühle, sehe, schmecke,
rieche, ich besitze, bin reich, mächtig, ich geniesse, er
ist von mir getödtet worden, ich werde von den starken
Feinden getödtet werden" -) ; denn alle derartigen Vor-
stellungen verwechseln unsern Leib und unsere Organe
mit dem von beiden grundwesentlich verschiedenen Ich,
der Seele.
Bei der Betrachtung der von dem Ahamkära her-
vorgebrachten Produkte lernten wir S. 236 drei verschiedene
Formen dieses Organs, die durch das Vorwalten je eines
der drei G u n a ' s bedingt sind, kennen, unter den Namen
vailcrta (vaihärika)^ taijasa und hhütädi. Diese drei Formen
bethätigen aber ihren speciellen Charakter nicht nur kos-
misch durch die Erzeugung neuer Principien, sondern auch
in der Handlungsweise der Individuen. Eine der jüngsten
Quellen des S ä m k h y a - Systems '■^) erhöht die Zahl dieser
im Handeln sich äussernden (karmätman) Formen des
Ahamkära auf fünf, durch Hinzufügung zweier in der
ganzen übrigen Literatur unbekannter Arten, des sänu-
mäna und niranumäna, d. h. des ,schlussfolgernden' und
,niclit-schlussfolgernde]i' (?) Ahamkära. Es ist das eine
spätere Ergänzung, die jedoch, wie wir aus den gleich
folgenden Erklärungen sehen werden, aus der Natur des
individuellen Verhaltens ihre Berechtigung ableitet. Der
unter dem vorwiegenden Einfluss des Sattva stehende
vaihta- Ah amkäva ist der Thäter der guten Werke
(cubha-harma-kartar); der toyasa- Ahamkära, in dein
das Rajas dominirt, ist der Thäter der bösen Werke
(aquhha-karma-kartar)\ der von Tamas erfüllte hlmtädi-
Ahamkära ist der Thäter der heimlichen Werke (nigüdha-
1) Kärikä 24, Sütra I. 72, II. 16.
2) Samkliya-krama-dipikä Nr. 17, 43; Vijn. zu Siitra I. 19, 141.
3) Tattvasamäsa Sutra 13 und Sämkhya-krama-dipikä Nr. 18, 61.
— 250 —
karma-kartar) , die wahrscheiiilicli ihrer Qualität nach
ebenso wohl gut als böse sein können i); der sänumäna-
Ahamkära ist der Thäter dessen, was gut aber thöricht
ist ((^ubha-müdlia-kartar) ^ der ?^^Van^^?na?^a- Aha mkära
dessen, was böse und thöricht ist (acubha-müdha-kartar) 2).
Obwolil unsere Quelle nichts daniber bemerkt, so dürfen
wir doch aus dem Zusammenhang der Anschauungen
schliessen, dass bei der Hinzufügung der beiden letzten
Formen die Vorstellung geherrscht hat, dass der sänumäna-
Zustand des Ahamkära auf einem gleichmässigen Prä-
ponderiren des Sattva und Tamas über das Rajas,
der w«ra?m??iana-Zustand auf einem ebenso gleichmässigen
Präponderiren des Rajas und Tamas über das Sattva
beruhe.
Wichtiger als diese ganze Schematisirung ist für uns
die ihr zu Grunde liegende Idee, dass der Ahanikära
das innere Thatorgan ist 3) und als solches seine Stelle
zunächst der Buddhi, dem Denkorgan hat. Wie —
von allen Verschiedenheiten im Einzelnen abgesehen —
1) Ballantyne sagt in der Uebersetzung der Sämkhya-krama-
dipikä S. 33 unten "producer of thiugs good bat obscure".
-) Es ist nicht recht verständlich, warum Ballantyne trotz
dieser deutliehen Erklärungen der Sämkhy a-krama-dipikä (in
Nr. 61) auf S. 57 seiner Lecture in Nr. 95 die folgenden Be-
trachtungen über die Bedeutung von sänumäna und niranumana
anstellt: "We can get no account anywhere of this application of
"these terms. Self-cousciousness 'not associated with iuference'
"might possibly refer to the simple consciousness of existeuce;
"whilst the consciousness 'associated with inference^ might refer
"to the notion of the Egoist who has reasoned himself into the
"belief that he himself constitutes all that is; but then the diffi-
"culty would remain of tracing the connexion between this sense
"and the functions assigned to these aspects of self-consciousness
"under No. 61". Woher die wunderlichen Bezeichnungen stammen,
ist freilich einstweilen dunkel; dass sie aber niemals einen von dem
angegebenen wesentlich abweichenden Sinn gehabt haben können,
lehrt der Zusammenhang, in dem sie auftreten.
3) Sütra VI. 54.
— 251 —
die B u d d h i ihren Charakter hauptsächlich dem lichthaften
Sattva, so verdankt der Ahamkära den seinigen im
wesentlichen dem anregenden R a j a s.
Wenn wir bedenken, dass nach der Lehre der S ä ni -
khja -Philosophie die moralische Qualität des Handelns
der Wesen von der jeweiligen Mischung der drei Guna's
in dem Ahamkära abhängig ist und dass Wollen und
Sichentschliessen an sich keine geistigen, sondern physische
Funktionen sind, so sollten wir meinen hier einen mecha-
nischen Determinismus vor uns zu haben. Denn ein
Handeln, das durch das LFeberwiegen einer bestimmten
Substanz im inneren Organ in diese oder jene Richtung
gedi'ängt wird, ist doch rein instinktiv. Dieser Annahme
aber widerstreitet die Thatsache, dass die Sämkhya-
Philosophie wie jedes andere indische System das Indivi-
duum für seine Handlungsweise verantwortlich macht und
dass sie zum Zwecke der Erlösung eine Reihe von An-
forderungen stellt, deren Erfüllung nur unter der Voraus-
setzung der Willensfreiheit möglich ist. Hier liegt
also ein offenbarer Widerspruch zwischen einer charak-
teristischen S ämkhya- Lehre und den allgemein-indischen
in das System übernommenen Anschauungen vor; — ein
Widerspmch , der in unseren Texten nicht gelöst wird
und vielleicht den Vertretern des Systems selbst nicht
völlig zum Bewusstsein gekommen ist.
Das Handeln wird in neuerer Zeit i) aus fünf ver-
schiedenen Quellen (karma-yoni) abgeleitet: 1) aus der
Energie (dhrti) im Allgemeinen, mit der etwas einmal
beschlossenes durchgeführt wird; 2) aus der rituahstischen
Frömmigkeit (craddhä)\ 3) aus dem Verlangen nach zu-
künftigem Heil [sukhä sie!)-); 4) aus dem Mangel des
1) Nach Tattvasamasa Sutra 11 und Sämkhya-krama-dipikä
Nr. 59.
2) Das sich freilich auch nach den Erläuterungen der Sätn-
khya-krama-dipikä wenig von dem vorangehenden Motiv unter-
scheidet.
— 252 —
Strebens nach Erkenntniss (avividishä), womit die Lust an
sinnlichen Freuden gemeint ist; 5) aus dem Streben nach
Erkenntniss (vimdishä).
4, Das Mauas oder der innere Sinn.
Das dritte innere Organ ist aus dem Ahamkära
zusammen mit den äusseren Sinnen hervorgegangen und
vermittelt die von diesen dargebotenen Objekte dem Aham-
kära und der B u d d h i. Seine Name manas ist von
den Commentatoren oft mit äntaram indriyam .innerer
Sinn' erklärt und am besten so zu übersetzen. Das Wort
bezeichnet, wie in allen philosophischen Systemen Indiens,
so bereits in den ältesten Upanishad's i) ein Organ; im
Sämkhya- System aber ist seine Bedeutung enger begrenzt
als irgendwo anders. Wenn die Sämkhya-Lehrer dem
Manas nicht die Funktionen des Wünschens und des
zweifelnden Ueberlegens (samhalpa-vikalpau) zuschrieben -),
so würde es lediglich ein an sich indifferentes Central-
organ sein, das seinen jeweiligen Charakter den Funktionen
der äusseren Sinne verdankt, denen es sich in dem Augen-
blick angleicht, wenn diese in Thätigkeit treten. Ohne
diese Verbindung mit dem inneren Sinn können weder
die Wahrnehmungssinne noch die Thatsinne fanktionu-en.
Die Anpassungsfähigkeit des Manas wird dem wechseln-
^) Und schon dort gilt als eine seiner vorzüglichsten Funk-
tionen das Wünschen (samJcalpa) ; vgl. Regnaud, Materiaux IL
85—91, 93, 94.
2) S. unter anderm Sarva-dar^ana-samgraha (Ausgabe in der
Bibl. Ind.) p. 148, 17, Anir. und Vijii. zu Sütra II. 30, Sämkhya-
krama-dipikä Nr. 58. Wenn die Sämkhya-tattva-kaumudi zu
Kärikä 27 samhalpaka als ,bestimmend' fasst und meint, dass es
die Funktion des inneren Sinnes sei, die von den äusseren Sinnen
nicht in voller Deutlichkeit erfassten Gegenstände nach ihren
charakteristischen Eigenthümlichkeiten zu unterscheiden, so ist
dies sicher unrichtig; denn Väcaspatimi9ra schreibt damit dem
Manas die Thätigkeit der Buddhi zu.
— 253 —
den Benelunen eines Mannes verglichen, der sicli beim
Verkehr mit einer Geliebten verliebt, mit einer gleichgiltigen
Person gleichgiltig und mit einer andern noch anders
zeigt >). Wenn auch die Lehre der Vai9eshika-Ny äy a-
Philosophie, dass das Manas ein Atom sei, von unserem
den Begriff des Atoms nicht anerkennenden System be-
stritten wird, so lehrt dieses doch, dass das Manas eine
geringe Ausdehnung besitze und nicht etwa den ganzen
Körper erfülle. . Dies wird damit begründet, dass ver-
schiedene Empfindungen nicht gleichzeitig entstehen.
Wenn zu derselben Zeit im Kopf eine andere Empfindung
wahrgenommen wird, als im Fuss, so liegt nur eine schein-
bare Gleichzeitigkeit, in der That aber ein unmerkliches
Aufeinanderfolgen vor ^).
5. Das innere Organ als Einheit.
Wiewohl Buddhi, Aharakära und Manas sich
in der geschilderten Weise specifisch von einander
unterscheiden =^) und in der Aufzählung der Principien
ausnahmslos als besondere, weil successive entstandene,
Wesenheiten gerechnet werden, finden wir sie in unseren
Quellen doch überaus häufig als ein einheitliches inneres
Organ (antahharana) zusammen gefasst. Ich glaube hierin
einen Einfluss des Vedänta- Systems zu erkennen, für
welches es nur ein — gewöhnlich manas genanntes —
Innenorgan giebt''). Am entschiedensten tritt für die
Einheitlichkeit des inneren Organs der vedantistische Ek-
lektiker Vijüanabhikshu ein 5) ; er meint, dass dasselbe
nur aus Bequemlichkeit nach dem Unterschiede der Funk-
tionen als ein dreifaches behandelt werde und dass, wenn
1) Kärikä 27, Sütra II. 26, 27.
2) Sütra III. 14, V. 69—71 mit Aniruddha's Commentar.
3) Kärikä 29, Sütra IL 30.
*) S. Deussen, System des Vedänta S. 357.
^) Zu Sütra I. 64, n. 16.
— 254 —
diese drei Formen als in dem Verhältniss von Ursache
und Produkt zu einander stehend bezeichnet werden, damit
nur der Unterschied dreier Zustände gemeint sei, ver-
gleichbar den drei Zuständen von Same, Spross und Baum
oder den aus einander entstehenden Absätzen des Rohres,
das doch nichtsdestoweniger ein einheitliches Ganzes sei.
Wenn das innere Organ nicht bloss seinen Funktionen
nach, sondern realiter in verschiedene Theüe zerfiele, so
würde wegen der zahlreichen Funktionen, wie Irrthum,
Zweifel, Schlaf, Zorn u. s. w. noch eine viel grössere Zahl
innerer Organe anzunehmen sein. Hiermit aber hat Vi-
jfiänabhikshu, wie auch sonst, eine charakteristische
Lehre unseres Systems verwischt, das von Hause aus die
drei inneren Organe als zwar zusammenhängend, aber doch
verschiedengeartet ansieht.
Die drei Organe werden in unseren Texten als Einheit
vorzugsweise dann behandelt, wenn ihre Verscliiedenheit
von der Seele, ihre Zugehörigkeit zu der materiellen Welt
betont wird.
Dem Gesammt-Innenorgan (antahkarana-sämdnya) ge-
hören nach der Sämkhya -Lehre diejenigen Qualitäten
an, welche in der V a i 9 e s h i k a - und N y ä y a - Philosophie
der Seele zugeschrieben werden : Freude, Schmerz, Begierde,
Abneigung u. s. w. 1). Die Verwechslung von Seele und
Innenorgan, die in unserm System als das am schwersten
zu überwindende Hinderniss für die Erreichung der er-
lösenden Erkenntniss gilt, — d. h. der landläufige Irrthum,
der dem Lmenorgan geistige Natur, der Seele Thätigkeit
und Willen zuschreibt, — wird nach der Sämkhya-
Lehre durch die Nähe verursacht, in der das Innenorgan
1) Sütra VI. 62. Eine Entlelinimg aus dem Yoga -System,
in Folge deren zum Theil specielle Eigenthümlichkeiten der
Buddhi als ein Besitz des Gesammt-Innenorgans behandelt werden,
ist die Theorie von den fünf Affektionen des Innenorgans, die
,entweder qualvoll oder nicht qualvoll' sind (Erkenntnissprocess,
Irrthum, Einbildung, Schlaf und Erinnerung) ; Sutra 11. 33 = Yoga-
sütra I. 5.
— 255 —
sich bei der Seele befindet. Weil die Seele ihr Licht auf
das Innenorgan ausgiesst, erscheint allen, denen der wahre
Sachverhalt unbekannt ist, das Innenorgan als geistig und
die Seele als handelnd, d. h. als wollend. Dass in Wirk-
lichkeit aber kein innerlicher Zusammenhang zwischen
beiden besteht und bestehen kann, wird in dem letzten
Abschnitt dieses Buches erörtert werden.
Ueber den Sitz und Umfang des Innenorgans handeln
unsere Quellen nicht; wir lesen nur, dass dasselbe von
,mittlerer Ausdehnung' (madhyama-parimdna) sei , womit
gesagt sein soll, dass es weder unendlich klein noch un-
endlich gross ist 1). Wenn wir die Funktionen überblicken,
die den drei inneren Organen zugeschrieben werden, und
uns dabei gegenwärtig halten, dass diese Organe für rein
physisch erklärt werden, so ergiebt sich — wie schon
oben S. 235 angedeutet wurde — , dass das Gesammt-Innen-
organ der S ä m k h y a - Philosophie in dem animalischen
Organismus genau die Stellung einnimmt, die von der
modernen Wissenschaft dem Nervensystem angewiesen ist.
Ich brauche, wenn ich diese Parallele ziehe, wohl kaum
hinzuzufügen, dass keiner unter den Verfassern der Sä m-
k h y a - Schriften eine Ahnung von der Physiologie des
Nervensystems gehabt hat. Wenn es hierfür noch eines
Beweises bedürfte, so würde er darin zu finden sein, dass
nach der Sämkhya- Lehre die A t h m u n g als eine Thätig-
keit oder Wesensausserung des Gesammt-Innenorgans zu
betrachten ist ^).
Der Athem (prcinaj gilt in Indien als das Lebens-
princip ; und zwar herrscht allgemein, schon in den älteren
Upanishad's, die Anschauung, dass er den ganzen
1) Vijn. zu I. 65.
2) Kärikä 29, Sütra II. 31. Wenn es in Sütra V. 113 heisst,
dass der Athem ,aus der Kraft der Sinne hervorgeht', so ist dies
eine Erweiterung der oben angegebenen Theorie auf sämmtliche
dreizehn Organe, die sich übrigens schon bei Gaudapäda zu
Kar. 29 findet.
— 256 —
Körper in fünf verschiedenen Formen durchdringe, die
unter dem Gattungsnamen präna zusammengefasst werden.
Diese fünf ,Lebenshauche' (wie man wohl am besten das
Wort übersetzen wird) führen aber daneben noch besondere
Namen. Der eigenthche Athem, der präna xar i^O'/hv,
zieht nach Sämkhya-tattva-kaumudi zuKärikä 29
— es ist dies die Quelle, welche in der Sämkhya-
Literatur die Wirkungsgebiete der Lebenshauche am aus-
führlichsten beschreibt — von der Nasenspitze durch das
Herz und den Nabel bis zu den grossen Zehen ; der ,Ab-
hauch' (apäna) wirkt in den Halswirbeln, im Rücken, in den
Beinen, im After (von wo er entAveicht), in den Genitalien
und den Rippengegenden; der ,Mithauch' [samäna, in der
indischen Medicin das Princip der Verdauung) im Herzen,
im Nabel und in allen Gelenken ; der ,Aufhauch' (udäna) im
Herzen, Hals, Gaumen, Schädel und zwischen den Augen-
brauen ; der ,Durclihauch' (vyäna) in der Haut (als ,das Princip,
welches die Cirkulation der Säfte vermittelt und Schweiss
und Blut in Bewegung setzt', Petersburger Wörterbuch) ^).
JohnDavies, Bhagavadgltä translated, Introd. p. 15,
bemerkt über diese Theorie, freilich unter der irrigen
Annahme, dass sie das specielle Eigenthum der Sämkhya-
Philosophie sei : "These inventions are not more crude
"than that of the vital spirits, of which physicians and
"men of science used to speak, even in the last Century,
"Tliey denote that Kapila had a dim perception of the
"fact that there are vital forces at work in the human
"System more subtle than inanimate matter."
Wenn der Athem nach indischer Anschauung den
ganzen Organismus durchströmt, ihn ernährend und er-
haltend, so lag es nahe genug, ihm auch den grössten
Einfluss auf die Bildung des Körpers zuzuschreiben;
und so lehrt die Sämkhya- Philosophie, dass der Athem
!
^) Vgl. noch Gaudapäda zu Kar. 29, Sämkhya-krama-dipikä
Nr. 60; Regnaud, Materiaux 11. 43—78, Deussen, System des
Vedänta 353—56, 359—63.
— 257 —
zwar nicht unmittelbar, aber durch die Verbindung mit
der Seele — oder technisch: unter der Leitung der mit
ihm verbundenen Seele — das den Körper bildende Princip
sei. Dabei ist jedoch nicht zu vergessen, dass die , Leitung'
(adhishthdna, adMshthätrtva) der Seele nicht in einer aktiven
Antheilnahme besteht, sondern dass mit diesem Worte
lediglich der Gedanke zum Ausdruck gebracht werden soll,
dass der Körper durch den Athem um der Seele willen,
im Interesse der Seele gebildet wird '). Da die Seele dem-
., nach schon von dem Augenblick der Vereinigung des
"■ Sperma und des Ovulum mit dem Athem in Verbindung
steht, so ist diese Verbindung die Ursache, die aus der für
sich seienden (hevala) Seele die empirische Seele (jwa) macht.
I| Wenn auch der Begriff der empirischen Seele in den Texten
gewöhnlich dahin erklärt wird, dass die Seele durch das
Innenorgan, die Sinne und den Körper charakterisirt (vi-
gishta) sei, so scheint doch der Besitz des Athems als des
deutlichsten Merkmals animalischen Lebens bei dieser Vor-
stellung die Hauptrolle gespielt zu haben -).
6. Die Indriya's oder die äusseren Sinne.
Von dem inneren Sinn abhängig, aber auch in jedem
Augenblick dessen Wirksamkeit bestimmend, sind die zehn
äusseren Sinne, die den Namen indriya (oder specieller
hähyendriya) führen, was etymologisch einfach ,Vermögen'
bedeutet, und nicht — wie die emheimische Erklärung
will — , Werkzeug für den Indra, d. h. für den Herrn
des Körpers, nämlich die Seele' =^), oder ,Merkmal zur Er-
schliessung der Seele'*). Die zehn Sinne zerfallen in die
1) Sütra V. 113—115.
2) Vijn. zu VI. 63.
3) Vijn. zu II. 19, 29.
*) Sämkhya-tattva-kaumudi zu Kar. 26. — Von den Synonymen
in der Sämkliya-krama-dipikä Nr. 30 (karana, vaiJcärika, niyata,
pada, avadhrta, aksha) findet sich nur das erste und letzte in
Garbe, Sämkhya-Philosophie. 17
— 258 —
beiden Klassen der Wahrnehmungssinne (buddhindrlya,
jnänendriya) und der Thatsinne (Icarviendriya). Die fünf
Wahrnehmungssinne sind Gesicht (cakshus)^ Gehör (grotra)^
Geruch (ghräna)^ Geschmack (rasa, rasana, jihvä) und
Gefühl (oder Tastsinn, tvac, sjyarca, sparqana); in Betreif
ihrer Objekte, die in unsern Texten schematisch aufgezählt
werden , ist nur zu bemerken , dass als Objekte des Ge-
sichtssinnes nicht Form und Gestalt, sondern lediglich die
Farben (riipa) gelten. Die fünf Thatsinne oder Fähigkeiten
des Handelns sind Reden (väc), Greifen (pdni), Gehen
(päda) , Entleeren (pdyu) und Zeugen (upastha) ^). Diese
zehn Sinne sind ja nicht zu verwechseln mit den sichtbaren
Organen (golaJca) , in denen sie ihren Sitz (adhishthdna)
haben; sie sind selbst etwas übersinnliches (atindriya) und
nur aus ihren Funktionen zu erscliliessen '■'). Es war mit-
hin ein Fehler, wenn früher zuweilen die Namen der fönf
Thatsinne mit ,Stimme, Hände, Füsse' u. s. w. übersetzt
wurden •^).
Wie die Existenz der Sinne aus ihren Funktionen
gefolgert wird, so werden die Funktionen ihrerseits durch
die Erkenntniss der erreichten Objekte bewiesen ; denn nur
diejenigen Objekte, mit denen die Sinne durch ihre Funk-
wirklichem Gebrauch; pada ist eine reine Fiktion, und die drei
übrigen Worte sind gelegentlich von den Sinnen gebrauchte Ad-
jectiva. Dagegen verdient als ein belegbares Synonymon upagraha
notirt zu werden (auf der von Kielhorn herausgegebenen und
übersetzten Inschrift ya90varman's vom Jahre 953 — 54 , Epi-
graphia Indica, Part. III, p. 125, Vers 5; cf. p. 130, Anm. 67).
Als Särnkhy a-Terminus ist mir upagraha sonst nur noch einmal
begegnet, und zwar als nomen actionis in dem Panca9ikha-
Fragment Yogabhäshya II. 20 und IV. 22 (s. bei Hall, Sänkhya
Sara, Pref. p. 25 Anm.)
1) Kärikä 26, 28, 34, Sütra II. 19, 28, Sämkhya-krama-dipikä
Nr. 27—29.
2) Sütra II. 23, Vijii. zu V. 104 und zu I. 62.
3) Vgl. meine Uebersetzung des Sämkhya-pravacana-bhäshya
S. 72 Anm. 1.
— 259 —
tionen in Verbindung treten, kommen zur Kenntniss, da
andernfalls alle Dinge, ob sie auch durch dazwischen-
liegendes getrennt oder in unendlicher Ferne befindlich
sind, wahrnehmbar sein müssten ^). lieber den Begriff der
Funktion (vrtti)'^) der Sinne scheinen die Sämkhya-
Lehrer zu keiner völlig klaren Vorstellung gelangt zu sein,
da die von ihnen gegebene Definition negativ ist. „Die
Funktion", heisst es in Sütra V. 107, „ist ein anderes
„Princip als Theil oder Qualität, weil sie zum Zwecke der
„Verbindung [mit den Objekten zu dem Orte, wo diese
„sich befinden] hineilt." Und Vi j n ä n a b h i k s hu bemerkt
dazu 3), dass die Funktion eine Modifikation des Sinnes und
etwas von ihm unlösliches sei; man hat sich also unter
den Funktionen ein Hinauswachsen (sarpana) *) der Sinne
aus ihren körperlichen Sitzen gedacht und den Ursprung
der Funktionen in dem Individuum, nicht in einem
von Aussen kommenden Reiz gesucht. — Wenn auch
die Funktionen der Sinne gewöhnlich nach einander
stattfinden, so kann doch auch von mehreren Sinnen
gleichzeitig eine Affektion des inneren Organs bewirkt
werden ^).
Da der innere Sinn nicht als wesensverschieden von
den äusseren Sinnen gilt und diesen in der Entwicklungs-
geschichte des Sämkhya -Systems coordinirt ist, so ist
elf die feststehende Zahl der Sinne 6). Die Meinung, dass
es nur einen einzigen Sinn gebe, der durch verschiedene
Kräfte die mannigfachen Thätigkeiten ausübt, wird mit
der Bemerkung abgelehnt, dass dies gar keine andere Theorie
1) Sütra V. 104, 106.
2) Ueber die Etymologie handelt Vijn. zu V. 108.
^) Vgl. auch seineu Commentar zu V. 105.
*) Vgl. Bhojaräja zu Yogasütra II. 54 (ähliimuhhyena pravar-
tanam) und III. 47 (indriyänäm vishayäbhimukM vrttih).
s) Sütra II. 32 nebst VijSänabhikshu's Erklärung.
ß) Kärikä 25, Sütra II. 18, 19.
17*
— 260 —
sei; denn dasjenige, was mit dem Namen der Kräfte be-
zeichnet werde, seien eben die Sinne ').
Wie wir schon gesehen haben, sind die elf Sinne
nach der S am khya- Lehre Ausläufer des Ahamkära;
und zwar wird die Verschiedenartigkeit der Wahrnehmungs-
sinne und der Thatsinne dadurch erklärt, dass bei der
Entstehung der ersteren das Sattva und bei der der
letzteren das R a j a s in überwiegender Weise seinen Ein-
fluss ausgeübt habe 2). Die widersprechende Lehre der
Nyäya- Philosophie, dass die Sinne aus den Elementen
entstanden seien und bestehen, also der Gesichtssinn aus
Licht U.S.W. =^), wird in den Sämkhyasütra's*) nicht mit
sachlichen Gründen, sondern in höchst mangelhafter Weise
durch Berufting auf die Schrift bekämpft, die angeblich
lehre, dass die Sinne dem Ahamkära entstammen, —
ein Beweis dafür, dass die Polemik über diesen Punkt
erst in moderner Zeit in die Sämkhya- Schule hinein-
getragen ist. Da sich nun in der Schrift im Gegentheil
Stellen finden, die mit der Nyäya- Lehre über diesen
Punkt übereinstimmen 5) , so ist im Sämkhyasütra V.
110 ein Ausweg in der Erklärung gefunden, dass an solchen
Up an ishad- Stellen die Elemente nicht als materielle,
sondern nur als begleitende Ursachen gedacht seien. In
anderer Weise sucht Vij fiänabhikshu '') den Wider-
spruch zu lösen, indem er sagt: „Die Schriftstellen aber,
„welche lehren, dass die Sinne den Elementen entsprossen
„sind, sind bildlich zu verstehen, da sie nur meinen, dass die
„individuellen inneren und äusseren Sinne, welche ja nur
„in der Verbindung mit den Elementen [d. h. mit den
^) Sütra II. 24, 25. In ähnlicher Weise wird in der Nyäya •
Philosophie argumentirt; s. Nyäyasütra III. 53 — 59.
2) Anir. zu II. 27.
*) Nyäyasütra III. 60.
*) II. 20, V. 84, 105, 109.
^) Vgl. zum Beispiel Chäudogya Up. VI. 5. 4; 6. 4.
«) Zu IL 20.
— 261 —
„groben aüimalischen Körpern] Bestand haben, aus diesen
„Elementen heraus sich manifestiren. " Kurz vorher findet
sich bei Vijfiänabhikshu der meines Wissens einzige
Versuch, die Sämkhya- Lehre von der Entstehung der
Sinne aus dem Ahamkära sachlich zu begründen. Es
heisst dort nämlich, dass „man, da das Erleuchten [d. h.
„das Hervorrufen der Erkenntniss dem Innenorgan und
„den Sinnen] gemeinsam ist, nur annehmen könne, dass
„das Innenorgan die materielle Ursache der Sinne sei."
Die ganze Vorstellung der S ä m k h y a - Philosophie über
diesen Punkt kommt dem von der Wissenschaft unserer
Zeit festgestellten Thatbestande sehr nahe, wenn wir uns
daran erinnern, dass wir das Lmenorgan als Aequivalent
des Nervensystems erkannt haben.
7. Die dreizelin Organe als Gesammtheit.
Zwischen den äusseren Sinnen und den inneren Or-
ganen besteht die Verschiedenheit, dass die Thätigkeit der
ersteren auf die Gegenwart beschränkt ist, während die
letzteren sich ebenso mit der Vergangenheit und Zukunft
beschäftigen wie mit der Gegenwart. Wäln-end — um
bloss je einen Wahrnehmungs- und Thatsinn in Betracht
zu ziehen — das Gehör nur gegenwärtige Töne wahr-
nimmt und die Stimme nur gegenwärtige Worte artikulirt,
folgert das Innenorgan nicht nur aus dem Rauche, dass
zur nämlichen Zeit das Buschwerk auf dem Berge brennt,
sondern auch aus der Anschwellung eines Flusses, dass es
geregnet hat, und aus dem Herumlaufen der Ameisen mit
ihren Eiern, dass es regnen wird^). Ein weiterer Unter-
schied zwischen den äusseren Sinnen und den inneren
Organen ist in das Gleichniss von den Thoren und den
Thorhütern gekleidet. Die äusseren Sinne sind mit Thoren
verglichen, die als solche alles hineinlassen, was hinein
1) Kärikä 33 mit den Commentaren Gaudapäda^s und Väcas-
patimi^ra's.
— 262 —
will; die inneren Organe mit Thorhütern, welche nicht
nur die Thore öffnen und schliessen, sondern auch die
hineingelangenden Wahrnehmungen und Empfindungen
kontroUiren und ordnen ^). Wenn wir dieses Gleichniss
in dem Sinne, wie es von den Indern verstanden wurde,
ergänzen wollen, so müssen wir uns den Leih als einen
Palast und die Seele als den im Innern des Palastes
wohnenden und nach orientalischer Weise unthätigen
Herren denken. Dieses Gleichniss leitet uns auch zu der
Vorstellung hinüber, durch welche die drei inneren Organe
und die zehn äusseren Sinne unter einen Begriff sub-
sumirt wurden, nämlich unter den des Werkzeugs (karana)
der Seele, von dem wiederum im Bilde als von einer wohl-
organisirten Dienerschaft oder Beamtenschaft gesprochen
wird. „Wie die Dorfältesten von den Hausvorständen die
„Steuer erheben und dem Gouverneur des Distrikts über-
„ geben, der Gouverneur des Distrikts dem obersten Leiter
„[der Finanzen] und dieser dem König, ebenso liefern die
„äusseren Sinne, wenn sie ihre Wahrnehmung gemacht
„haben, diese dem inneren Sinn, der innere Sinn, nachdem
„er sie festgestellt, dem Ahamkära, und der Aham-
„ k ä r a , nachdem er sie zur eignen Person in Beziehung
„gesetzt, der Buddhi, welche die RoUe des obersten
„ Leiters spielt ^). " Insofern sind sich aUe dreizehn Organe
^) Kärikä 35 mit Wilson 's Erläuterungen.
^) Sänikhya-tattva-kaumudi zu Kärikä 36, Sütra 11. 29, 40, 47.
Im siebenten Sütra des Tattvasamäsa werden die dreizehn Organe
unter dem Namen adhyätma zusammengefasst, was nach den Aus-
führungen der Säinkhya-krama-dipikä in Nr. 56 trotz der neutralen
Form etwas wie ,Diener der Seele' bedeutet. Ebendaselbst sind
auch die mit dem Ausdruck adhibhüta bezeichneten Wirkungskreise
der Organe specialisirt und ferner die Götter angeführt, die in den
mythologischen Vorstellungen der modernen Sämkhya's als die
Vorsteher der einzelnen Organe gelten (Brahman als Vorsteher
der Buddhi, Rudra als der des Ahamkära, der Mondgott als
der des Manas u. s. w.). Diese göttlichen Vorsteher der Organe
heissen dort adhidaivata. Der Verfasser des Tattvasamäsa (Sütra
— 263 —
gleich, als sie aus einundderselben Ursache und zu ein-
unddemselben Zwecke in Thätigkeit treten. Die Ursache
ihrer Wirksamkeit ist die Entfaltung der unsichtbaren
Kraft der Werke, die zwar nicht in der Seele selbst, sondern
in der B u d d h i ruht, aber als etwas der Seele zugehöriges
betrachtet wird ^) ; der Zweck ihrer Wirksamkeit ist einzig
und allein, der Seele zur Erreichung ihrer Ziele — des
Genusses (resp. des Leidens) und schliesslich der Erlösung —
zu verhelfen. Zu diesem Zwecke wirken sämmtliche Or-
gane spontan; einen Leiter, der Wesen, Fälligkeit und
Zweck der Organe kennt und ihre Thätigkeit regulirt,
giebt es nicht-). Li ihren Funktionen collidiren trotzdem
die dreizehn Organe nicht mit einander, sondern unter-
stützen und ergänzen sich gegenseitig, ganz als ob sie
auf Verabredung und unter Kenntniss des gegenseitigen
Vorhabens handelten-^). „Zwar sind die Organe Modifi-
„kationen der drei Guiia's, deren Natur es ist einander
„entgegen zu wirken, aber sie werden einmüthig gemacht
„durch die [von ihnen gemeinsam zu erfüllenden] Anforde-
„rungen der Seele; vergleichbar dem Docht, dem Oel und
„dem Feuer, welche, vereinigt um durch Entfernung
„der Finsterniss die Farben zu erleuchten, eine Lampe
„bilden 4)."
Nach dem gewöhnlichen Verlauf der Dinge folgen
7 — 9) hat diese drei technischen Ausdrücke generis neutrius ver-
muthlich aus Bhagavadgitä VIII. 1, 3, 4 entlehnt, wo sie ebenfalls
als Neutra, aber in ganz anderer Bedeutung neben einander stehen.
1) Sütra n. 36.
2) Kärikä 81, Sütra TL. 37.
^) Kärikä 31. — Im Tattvasamäsa Sütra 10 und in der Sämkhya-
krama-dipikä dazu (Nr. 58) ist die Funktionsweise sämmtlicher
dreizehn Organe mit dem sonst nicht belegbaren Terminus abhi-
buddhi benannt, den Ballantyne (nicht mit Glück) 'intelligent
function' übersetzt hat; vgl. übrigens Ballantyne's Bemerkung
in Nr. 97.
*) Särakhya-tattva-kaumudi zu Kärikä 86.
— 264 —
die Funktionen der einzelnen Organe auf einander, indem
zuerst die äusseren Sinne in Thätigkeit treten; „wenn z. B.
„Jemand im Halbdunkel zu Anfang nur einen Gegenstand
„undeutlich [mit dem Gesichtssinn] wahrnimmt, darauf
„mit angespannter Aufmerksamkeit des inneren Sinnes
„feststellt: ,Da ist ein grimmiger Räuber mit einem Bogen,
„der [schussbereit] gekrümmt ist durch die mit einem Pfeil
„belegte, bis an das Olu* zurückgezogene Sehne', darauf
„[mit dem Ahamkära] die Beziehung zu seiner eigenen
„Person herstellt: ,Er kommt auf mich los', und darauf [mit
„der Buddhi] den Entschluss fasst: ,Ich will von diesem
„Orte forteilen'^)." Doch kann es auch vorkommen, dass
die Funktionen der Organe gleichzeitig eintreten;
„wenn z. B. Jemand in dichter Finsterniss in Folge eines
„Blitzstrahls einen Tiger ganz nahe vor sich sieht. Dann
„treten bei demselben Wahrnehmung, Feststellung, Be-
„zugnahme auf die eigene Person und Entschliessung zu-
„gleich ins Leben, da er [sofort] darnach aufspringt und
„von jenem Orte im Nu enteilt." Ebenso liegen die Ver-
hältnisse, wenn es sich um sinnlich nicht wahrnehmbare
Dinge handelt, also allein die Funktionen der drei inneren
Organe in Betracht kommen, die der äusseren Sinne aber
fortfallen; auch in diesem Falle können die Funktionen
der drei inneren Organe ebenso wohl gleichzeitig sein als
auf einander folgen. Nach dem deutlichen Wortlaut von
Kärikä 30 ist dies unzweifelhaft die echte Sämkhya-
Lehre , wogegen die Vai9eshika- Philosophie die Mög-
lichkeit einer gleichzeitigen Thätigkeit der Organe bestreitet
und behauptet, dass sie in jedem Falle successive fank-
tioniren. Diese abweichende Theorie hat ein späterer
Sämkhya-Lehrer -) sich zu eigen gemacht und unter
Ignorirung der älteren Quellen seines Systems die Er-
I
^) Sänikhya-tattva-kaumudi zu Kärikä 30. Dies ist auch die
Quelle für die folgenden Sätze meiner Darstellung.
2) Aniruddha zu II. 32.
I
— 265 —
klärung abgegeben, dass die scheinbare Gleichzeitigkeit der
Funktionen in derselben Weise zu beurtheilen sei, wie die
Durchbohrung von hundert auf einander gelegten Lotus-
blättern mit einer Nadel. Auch in diesem FaU scheine
es, als ob die Nadel sämmtliche Blätter gleichzeitig durch-
steche, während doch in der That ein ausserordentlich
schnelles Nacheinander vorliege.
Nicht nur durch ihren gemeinsamen Zweck sind die
dreizehn Organe .zu einer Einheit verbunden; es besteht
auch eine wichtige Uebereinstimmung hinsichtlich ihrer
Natur. Alle Organe werden durch physische Ernährung
erhalten und gestärkt ; wenn sie durch Fasten oder andere
Ursachen geschwächt sind, so kann man sie durch Speise
und Trank wieder kräftigen, weil diese Theile enthalten,
die den Substanzen der Organe homogen sind »).
8. Der feine oder innere Körper.
Die dreizehn Organe sind nicht vergänglich wie der
grob-materielle Leib, sondern begleiten die Seele auf ihrer
Wanderung durch alle wechselnden Existenzen. Zu diesem
Zwecke bedürfen sie nach der Säinkhya- Lehre einer
Basis, da sie ohne eine solche ein haltloser Complex wären,
„wie ein Bild ohne eine Grundlage oder ein Schatten ohne
den schattenwerfenden Gegenstand -) ". Diese den Organen
Halt und Bestand verleihende Basis hat unser System in
den fünf feinen Elementen gefunden ; mit ihnen zusammen
bilden die Organe den inneren Körper % das Unga. Dieses
1) Sütra I. 131, III. 15 nebst Vijnänabhikshu's Erläuterungen.
2) Kärikä41, Sütra III, 12, 13. — Die ähnlichen Anschauungen
des Vedänta über den feinen Leib (s. Deussen, System des
Vedänta S. 899—404) scheinen im Wesentlichen aus dem Säm-
khya- System herübergenommen zu sein. Die Vedänta -Lehrer
gebrauchen das technische linga und dessen Zusammensetzungen
nicht, wohl aber sukshma-carira, bhütäcraya und Umschreibungen.
3) Der innere Körper ist also durch achtzehn Bestandtheile
gebildet, wie Aniruddha und Mahädeva zu Sütra HI. 9 richtig
— 266 —
Wort bedeutet nicht, wie die einheimische Erklärung ')
sagt, ,das [bei der Befreiung der Seele in die Urmaterie]
aufgehende (layam gacchat)\ sondern das charakteristische
Merkmal, d. h. dasjenige, was Wesen und Charakter des
Individuums bestimmt. Denn da die Sämkhya- Philo-
sophie nicht die geringste qualitative Verschiedenheit
zwischen den einzelnen Seelen anerkennt, ist der innere
Körper das Princip der Persönlichkeit in diesem Leben
und das Princip der Identität der Person in den zahllosen
Existenzen. Gebräuchliche Weiterbildungen aus linga sind
linga-deha oder ^carira ,charakterisirender Körper', Syno-
nyma sind sühshma-deha ('^carira) ,feiner Körper' und
dtivähika-carira ,liinübergeleitender Körper'. Dem letzten
Ausdruck ist in neuerer Zeit allerdings eine etwas ab-
weichende Bedeutung gegeben. Die ursprüngliche und echte
Sämkhya- Lehre von der Verschiedenheit des feinen und
groben Körpers hat nämlich durch Vijfiänabhikshu-)
eine spitzfindige Erweiterung dahin erfahren, dass der
innere Körper wiederum in zwei Leiber zerlegt ist, in
das eigentliche aus den dreizehn Organen bestehende linga
und den ,die Grundlage oder den Sitz desselben darstellenden
Körper' (adhishthäna-Qarira) , der durch die fünf feinen
Elemente gebildet ist. Nach Vijfiänabhikshu soll
utwdhika-carira so viel wie adhishthäna^ sein, obwohl aus
dem Wortlaut von S ü t r a V. 103 deutlich hervorgeht, dass
dtivähika^ im Gegensatz zu dem groben Körper, also im
Sinne von linga^ steht. Wenn der Commentator 3) die
zählen. Das Sutra selbst rechnet nur siebzehn, was Vijnänabhikshu
dadurch zu erklären sucht, dass Buddhi und Ahamkära als eins
gedacht seien.
1) Sämkhya-tattva-kaumudi zu Kärikä 40, Aniruddha zu Sutra
VI. 69.
2) Im Commentar zu Sutra III. 11, 12, V. 103; vgl. auch
Colebrooke, Mise. Ess.^ I. 258 und Wilson, Sänkhya Kärikä
p. 1.34—136.
^) Am Schluss seiner Ausführungen zu III. 11.
— 267 —
Erklärung abgiebt, dass zuweilen das linga- und adM-
shthäna-gartra wegen ihrer Feinheit in der Literatur als eins
behandelt werden, so dürfen wir dies dahin berichtigen,
dass die älteren Sämkhya- Schriften ausser dem groben
Leibe überhaupt nur einen einheitlichen inneren Körper
kennen. In Kärikä 40 heisst es ausdrücklich, dass der
innere Körper aus den materiellen Principien von der
Buddhi an „bis herunter zu den feinen Elementen" ge-
bildet ist. Ebendaselbst findet sich auch die ausführlichste
zusammenhängende Beschreibung des inneren Körpers.
Er ist „im Anfang entstanden, unbeschränkt [hinsichtlich
der groben Leiber, in welche er eingeht,] und constant",
d. h. er bildet sich am Beginn eines Weltaltei's und währt,
bis die erlösende Erkenntniss erreicht ist oder die Welt-
auflösung eintritt ^). Aber nur im ersten Fall wird er
für immer von der Urmaterie absorbirt ; für alle diejenigen
Seelen, welche bei der Reabsorption des Universums noch
nicht die Erlösung gewonnen haben, entsteht der innere
Körper bei Beginn der folgenden Weltperiode aufs neue.
Die Ursache seiner Neubildung liegt in der Nichtunter-
scheidung, in der Kraft von Verdienst und Schuld und in den
Dispositionen, welche Faktoren Avährend der Zeit der Welt-
auflösung in der Urmaterie bestehen bleiben-). „Der
„innere Körper wandert" — so schliesst Kärikä 40 —
„[aus einem groben Körper in den andern], weil er [sonst]
„nicht empfinden kann, afficirt von den Zuständen". Aus
diesen Worten ergiebt sich zunächst, dass sowohl die
^) Vgl. hierüber noch Vijn. zu III. 7. Ueber die (in der Kärikä
noch nicht vorgetragene) Lehre, dass es im Anbeginn der Schöpfung
nur einen inneren Körper gegeben habe und und dass erst später
eine Spaltung in Individuen eingetreten sei (Sütra III. 10), sowie
über die bei dieser Anschauung herrschenden Unklarheiten siehe
oben S. 235. — Eine selbstverständliche Consequenz der über den
inneren Körper gebildeten Vorstellungen ist, dass dieser im Gegen-
satz zur allgegenwärtigen Seele als in seiner Ausdehnung beschränkt
betrachtet wird (vgl. Sütra HI. 13, 14).
2) Vijn. zu VI. 69.
— 268 —
Metempsychose wie die Empfindung durch den
inneren Körper bewirkt wird ^). Da aber das Zustande-
kommen der Empfindung von seiner Vereinigung mit einem
groben Leibe abhängig ist, so folgt, dass in dem Augen-
blicke der Wanderung, d. h. während der kurzen Zeit,
welche der innere Körper nach dem Eintritt des Todes
unterwegs ist, um in einen andern groben Körper zu ge-
langen, keinerlei Empfindung stattfinden kann 2).
Zu den letzten Worten des eben angeführten Citats
„afficirt von den Zuständen" bemerkt die Sämkhya-
tattva-kaumudi folgendes : „ Die Zustände sind Verdienst
„und Schuld, Erkenntniss und Nichterkenntniss , Gleich-
„giltigkeit und Nichtgleichgiltigkeit [gegen die Sinnen weit],
„übernatürliche Kraft und Mangel der übernatürlichen Kraft.
„Mit diesen [Zuständen] ist die Buddhi behaftet, und da
„ der feine Körper diese in sich begreift, ist derselbe gleich-
„ falls von den Zuständen afficirt'^) [eigentlich: durchduftet],
„ebenso wie ein Kleid, wenn es mit schönduftenden C am -
„ p a k a - Blüthen versehen ist , von dem Wohlgeruch der-
„ selben durchduftet wird."
Diese Zustände und der innere Körper bedingen sich
gegenseitig: ohne den inneren Körper sind die Zustände
nicht möglich, und ohne die Zustände würde der innere
Körper nicht das gegenwärtige Leben überdauern. So
stehen beide zu einander in dem Verhältniss einer anfangs-
losen Continuität, vergleichbar derjenigen von Samen und
Spross *).
1) Vgl. dazu Sütra III. 3, 8, 16 und Vijfiänabhikshu's Ein-
leitung zu III. 11.
2) Vijn. zu III. 6.
^) Die Attribute und Qualitäten, die den einzelnen Bestand-
theilen des inneren Körpers eigen sind, werden begreifliclier Weise
auch sonst dem ganzenLiäga^arira zugeschrieben. Was z. B.
in Kärikä 20 über den inneren Körper gesagt ist, dass er nämlich
wegen der Verbindung mit der Seele scheinbar geistig sei, bezieht
sich nur auf das Innenorgau und die Sinne.
^) Kärikä 52.
— 269 —
ImSämkhya- System ist also niclit die Seele, sondern
der innere Körper gut oder sclilecht, weise oder thöricht,
entsagend oder leidenschaftlich, stark oder schwach; nicht
in der Seele, sondern in dem inneren Körper haftet die
moralische Verantwortlichkeit, auf welcher die Metem-
psychose beruht. Der innere Körper wird mit einem seine
Rollen wechsehiden Schauspieler verglichen, weil er in
Folge einer besonderen Naturkraft die verschiedenartigsten
Formen annimmt, „veranlasst durch das Ziel der Seele",
d. h. damit diese den Lohn der ihr aufgebürdeten Thaten
empfange. „Gleichwie ein Schauspieler, der diese oder
..jene Rolle spielt, entweder Para^uräma oder Ajäta-
„ 9 a t r u oder der König der V a t s a wird , so wird der
„feine Körper, wenn er diesen oder jenen groben Körper
„annimmt, entweder ein Gott oder ein Mensch oder ein
„Thier oder ein Baum *)." Und der innere Körper ist ge-
meint, wenn es von der Materie in Kärikä 62 heisst:
„Keine [Seele] fürwahr ist gebunden, wird erlöst oder
„wandert; die von den verschiedenen [Seelen] abhängige
„Materie [allein] wandert, ist gebunden und wird erlöst".
So lange der innere Körper auf seiner Wanderung beharrt,
dauert der Schmerz, da es sein Wesen ist Schmerzen her-
vorzubringen. Erst wenn der innere Körper sich endgiltig
in der Urmaterie auflöst und das Leben ft\r alle Zeiten
erlischt, ist die Befi'eiung vom Schmerz gewonnen -).
Ich glaube, dass hier der Ort ist, noch eine wichtige
und für das Sämkhya- System charakteristische Lehre
anzuführen, nämlich die von den hinterlassenen Eindrücken
und den auf diesen beruhenden Dispositionen (samskära,
väsand) =^). Denn wenn auch die B u d d h i der eigentliche
Sitz dieser Eindrücke ist^), durch welche der Instinkt, die
^) Kärikä 42 und Sämkhya-tattva-kaumudi dazu.
2) Kärikä 55.
^) S. die Indices zu meinen Textausgaben unter den beiden
Worten.
*) S. besonders Sütra II. 42.
— 270 —
Triebe, Fähigkeiten, Talente und das Gedächtniss erklärt
werden, so wirken doch sämmtliche Organe bei ihrer Her-
vorbringung mit; und ferner sind die Dispositionen, die
ebenso wenig wie das Weltdasein einen Anfang haben,
für die Individualität der durch den inneren Körper reprä-
sentirten Person von so hoher Bedeutung, dass sie füglich
in diesem Zusammenhang zur Sprache zu bringen sind.
Die ganze Theorie ist, wie die meisten distinktiven Säm-
khya-Lehren, in das Yoga- System übergegangen i) und
deshalb von Paul Markus in seiner Schrift über die
Y o g a - Philosophie S. 36 — 44 eingehend behandelt. Wenn
auch hier im Anschluss an die Vorlage (Bhojaräja's
Commentar zum Yogasütra) die specielle Sämkhya-
Yoga- Lehre von den Spuren, die jede Empfindung, Wahr-
nehmung und Erfahrung in der B u d d h i zurücklässt, eng
mit der allgemein-indischen Vorstellung von der nach-
wirkenden Kraft des Werkes verschmolzen ist, so glaube
ich doch meine Leser auf Markus' wohldurchdachte Dar-
stellung verweisen zu können, aus der ich im Folgenden
die Hauptsachen heraushebe. „Ein jeder Vorgang prägt
„eine entsprechende Spur ein in den Boden des Denk-
„ Organs, und diese Spur verharrt da als ein Keim im
„Ackergrund (bija im lashetra) oder als eine Disposition
„{samskära, d. i. passende Vorbereitung oder Zurüstung,
,,dxo(j^ia) für die künftige Reproduction dieses Vorganges
„ Diese Dispositionen .... bilden bei ihrer un-
„ endlichen Menge ein sehr wesentliches Attribut des Denk-
„ Organs .... Das Denkorgan ist förmlich bunt davon,
„so verschieden sind die zahllosen einzelnen Anlagen, welche
1) Auch in V e d ä n t a - Schriften ist, wiewohl selten, von den
Samskära's die Rede; und in modificirter Form hat die Theorie
in den Buddhismus (s. die Einleitung zu meiner Uebersetzung der
Särnkhya-tattva-kaumudi S. 530) sowie in die Vai9eshika-
Nyäya- Philosophie (vgl. hauptsächlich Ballautyne, Lectures
on the Nyäya Philosophy, embracing the text of the Tarka-
sangraha, Allahabad 1849, p. 54, 55) Eingang gefunden.
— 271 —
„sich im Laufe der Geburten darin Bürgerrecht erwerben
„oder .... es usurpiren (ä-rabh)^ mit jener rücksichts-
„losen Nothwendigkeit des Naturgesetzes, welcher das Indi-
„viduum willenlos unterliegen muss. Aber trotz all dieser
„steten Beeinflussung bleibt das Denkorgan was es ist:
„der nährende Boden, das verknüpfende, einheitgebende
„Band, das Substrat, zu welchem sämmtliche Dispositionen
„nur Attribute sind Die Lebensgeschichte einer
„solchen Disposition ist folgende. Zunächst ist sie latent,
„virtuell, die reine Möglichkeit, allerdings mit der Tendenz,
„mit der unentrinnbaren Bestimmung, die ihr gebührende
„Wirkung zu üben, aber noch nicht mit der ausgereiften
„Energie dazu. Als solche sind sie noch nicht näher er-
„ fassbar, definirbar. Unmittelbar wahrzunehmen sind ja
„immer nur ihre actuellen Aeusserungen, von denen man
„ dann rückwärts auf die Beschaffenheit der Samskära's
„schliessen kann. . . . Wenn ihre Zeit gekommen ist, da
„tauchen sie auf, werden lebendig, um endlich — nicht
„zu vergehen, sondern — in die Ruhe des Gewesenen, der
„ewig stillen Vergangenheit einzutreten. . . . Diese An-
„lagen bleiben ein stetes Eigenthum des Individuums, nur
„in verschiedener Daseinsform, je nachdem sie ihren be-
„ stimmten Zweck schon erfüllt haben oder nicht. Erst
„als gebundene Kräfte, die der Lösung, des Umsatzes in
„lebendige Kraft harren, um entscheidend für das prak-
„ tische Thun des Lidividuums zu werden; als ungeahnte
„schlummernde Triebe, die nur erst erweckt, erregt werden
„sollen, um zu mächtigem Einfluss auf uns zu gelangen
„Alle für das physische Leben unentbehrhchen Fertigkeiten,
„die Gewohnheiten und Anlagen, die wir, wie man sagt,
„mit auf die Welt bringen, sind das Erbtheil fi-üherer
„Geburten; sie sind Eindrücke, welche in der Zwischenzeit
, im Verborgenen fortbestehen und ihre latente Kraft be-
, wahren , um sie einst zur passenden Stunde frisch und
,.jung zu bethätigen, — wie Samenkörner, welche Jahre
„lang aufbewahrt worden sind, aber dann, wenn sie in
„die ftirs Keimen günstigen Verhältnisse versetzt werden.
— 272 —
„ihre Keimkraft entwickeln, als wären sie erst jüngst
,. geerntet. Daraus erklärt es sich im Grunde auch, dass
„wir uns unserer Schicksale im Himmel, in der Hölle, in
„früheren Geburten nicht erinnern; die Eindrücke davon
„sind eben für unsre gegenwärtige Existenz ohne Belang;
„verloren gehen können sie aber nicht."
Unter allen Dispositionen ist die verhängnissvoUste
die einem jeden Wesen angeborene Anlage zum Nicht-
wissen (avidyä-samskära) , d. h. zur Verwecliselung von
Geist und Materie. Sie ist die Wurzel alles Uebels; denn
da sie die Ursache des Verlangens nach weltlichen Freuden
und mittelbar der Erwerbung von Verdienst und Schuld
ist, verstrickt sie die Wesen immer aufs neue in das Welt-
dasein ').
9. Der grobe Körper.
Der sichtbare vergängliche Leib (sthüla-deha, ^garira),
der in der animalischen Welt von Vater und Mutter erzeugt
wird — das Pflanzenreich kommt nur nebensächlich in
Betracht ^j — , besteht aus sechs Hüllen (shdtkaugika)^ näm-
lich Haaren, Blut, Fleisch, Sehnen, Knochen und Mark,
von denen die drei ersten der Mutter, die drei letzten dem
Vater entstammen •^).
Die Verbindung des groben Leibes mit dem feinen
Körper und der Seele nennen wir Leben ■*), ihre Trennung
Tod. Das Leben in einer bestimmten Existenz (janman)
kann nicht eher durch den Tod ausgelöscht werden, als
bis das Resultat der früheren Werke, deren Frucht zu
reifen begonnen hat (prärabdha)^ vollständig ausgekostet ist 5).
^) S. besonders Aniruddha zu II. 1.
2) Sütra V. 121 Vijn.
3) Kärikä 39 und Sütra III. 7, 11 nebst den beiderseitigen
Commentareu. Ebenso (nur Haut statt Haare) in dem Sänikhya-
Abschnitt Mbh. XII. 11332, 33.
*) Vijn. zu VI. 63.
5) Vijn. zu I. 24.
— 273 —
Obschon die unsichtbare Kraft der Werke (adrslita)
die Gattung des groben Körpers bestimmt, in welche
die von dem feinen Körper umkleidete Seele nach dem
Ablauf einer Existenz einzieht, ist diese Kraft doch nicht
das den groben Leib bildende Princip '). Vielmehr
lernten wir als solches schon oben S. 257 den Athem
(prdna) oder richtiger : die mit dem Athem als dem Lebens-
princip verbundene Seele kennen. Man war der Meinung,
dass im Mutterleibe zuerst ein Flöckchen (kalala)^ daraus
ein Bläschen (hudbuda) und weiter ein Fleischklumpen
(mämsa-pegi) ^ der Rumpf (karanda)^ die Glieder (anga),
d. h. Kopf, Arme und Beine, und und schliesslich die
Nebenglieder (pratyanga, s. im Petersburger Wöi-terbuch),
d. h. Stirn, Nase, Kinn, Ohren, Finger u. s. w., entstehen -).
Ueber den Stoff, aus dem dieser grobe Körper sich bildet,
ist in Indien gestritten worden. Die Einen, d. h. die
Vertreter der landläufigen Anschauung-^), sagen, dass er
aus den fünf groben Elementen bestehe; Andere scheiden
den Aether aus und nennen nur vier*); wieder Andere,
d. h. die Vedantisten, lehren, dass der Körper aus drei Ur-
elementen, Feuer, Wasser und Nahrung, zusammengesetzt
sei 5); und schliesshch existirt auch die Ansicht, dass er
nur aus zweien (d. h. wohl Erde und Wasser) sich bilde 6).
Aber alle diese Anschauungen sind nicht richtig. Zwar
besteht das Substrat des inneren Körpers, wie wir sahen,
aus den fünf feinen Elementen; aber der grobe Körper
hat nach der auch von derVai9eshika-Nyäya- Philo-
1) Sütra VI. 61, 62. Dies ist eine Polemik gegen die Lehre
der Vai^eshika-Nyäya- Philosophie, nach der die Seele durch
Vermittlung des Adrshta die Bildung des Körpers leitet.
2) Sänikhya-tattva-kaumudi zu Kärikä 43.
3) Vgl. die üblichen Ausdrücke pancatä, pancatva ,Auflösung
des Körpers in die fünf Elemente, s. v. a. Tod'.
^) Sütra III. 17, 18.
») S. Deussen, System des Vedänta S. 259, 260.
ö) Vijn. zu V. 102.
Garbe, Säipkhya-Philosopliie. 18
— 274 —
Sophie getlieilten ') Säiiikhya- Lehre lediglich das Element
Erde zur materiellen Ursache -). Die verbreitete Anschauung,
dass der Leib aus den fünf groben Elementen gebildet sei,
beruht darauf, dass die übrigen vier Elemente die Stabilität
des Körpers bewirken, indem das Blat durch das Wasser,
die Körperwärme durch das Feuer, der Athem durch die
Luft und die Luftröhre durch den Aether erhalten wird ■^).
Das gleiche gilt selbst von den überirdischen Wesen in
den Welten des Sonnen-, Wasser- und Luftgottes; denn
auch hier dienen die feurigen, resp. wässrigen und luftigen,
Bestandtheile nur dazu, die überwiegende Masse der erdigen
Bestandtheile zu conserviren. Nur die letzteren befähigen
den Körper, Freude und Schmerz zu empfinden; wenn sie
an Masse geringer wären als das, was die anderen Elemente
zur Erhaltung des Körpers beitragen, so würde jede Em-
pfindung unmöglich sein *).
10. Die Zustände.
Unter diesem Titel haben wir von drei verschiedenen
Kategorien zu handeln, 1) von den Zuständen, auf deren
regelmässigem Wechsel die Erhaltung der Lebensthätigkeit
in der ganzen animalischen Welt beruht, 2) von den in-
dividuellen Daseinszuständen , und 3) von denjenigen Zu-
ständen, welche die Grade der Entfernung von dem höchsten
Ziele darstellen.
A. Die regelmässig wechselnden Zustände, Wachen
und Schlafen, beeinflussen nach dem S ä m k h y a - System ^)
1) Vai^eshikasütra IV. 2. 2, 3 und Nyäyasütra III. 28—32.
•-) Sütralll. 19, V. 102, 112 im Gegensatz zu der Mbh. XII. 7936
— 38 Panca(;ikha in den Mund gelegten landläufigen Anschauung.
3) Vijn. zu V. 102.
^) Anir. und Mahäd. zu V. 112; etwas anders Vijii. zu III. 19.
•^) Die Vedänta- Anschauungen über diesen Gegenstand s.
bei Deussen, System S. 369 — 381, und vgl. auch Regnaud,
Materiaux II. 107—122.
— 275 —
nicht etwa die Natur der Seele, sondern nur die ihrer
Upädhi's, des inneren Organs und der Sinne. Hervor-
gerufen werden diese Zustände durch die Guna's in der
Weise, dass im Schlaf das Tamas, im Wachen das Sattva
und R a j a s ihre Kraft zur Geltung bringen. Das Wachen
( jägara , jägarana , jägrat , jägarita) wh'd definirt als die
durch die Sinne vermittelte Veränderung des inneren Or-
gans zur Form der Objekte ') ; das wesentlichste Charac-
teristicum dieses Zustands ist also die sinnliche Wahrnehmuns:
der Aussendinge. Der Schlaf wird in der indischen
Philosophie allgemein in zwei verschiedene Zustände zerlegt,
in den Traumschlaf (svapna) und den traumlosen oder
tiefen Schlaf (sushupti)^ so dass stehend von einer Dreiheit
— nicht, wie bei uns, von einer Zweiheit — der Zustände
gesprochen wird.
Der Traumschlaf ist ebenso eine Veränderung des
inneren Organs zur Form der Objekte, wie das Wachen,
nur mit dem Unterschiede, dass diese Veränderung im
Traumschlaf nicht durch die Thätigkeit der Sinne, sondern
nur durch die in der B u d d h i ruhenden Eindrücke (sam-
shdra) hervorgerufen wird "-). Weil so die Wahrnehmung
der Traumbilder auf AflFektionen des inneren Organs beruht,
sind diese nicht absolut unwirklich wie eine Luftblume
oder ein ähnliches Unding, sondern nur unwirklich im
Verhältniss zu den im Wachen gesehenen, objektiv realen
Dingen. Bei der absoluten Un Wirklichkeit der Traumbilder
würde die Vorstellung, dass man geträumt habe, unmöglich
sein. Im Traume werden also frühere Wahrnehmungen
durch die in der B u d d h i zurückgelassenen Spuren ohne
äusseren Anreiz reproducirt ; aus niemals wahrgenommenen
Dingen aber setzt sich kein Traumbild zusammen ■^).
Der Tiefschlaf ist die Negation aller Affektionen
1) Vijii. zu I. 148.
2) Vijn. a. a. 0.
3) Aniruddha zu III. 27.
18*
— 276 —
des inneren Organs, d. h. der Zustand völliger Bewusst-
losigkeit, da die Seele die Eigenschaft hat nur die Alfek-
tionen, aber nicht die in der Buddhi vorhandenen
Saniskära's oder die ebendaselbst aufgespeicherten An-
sammlungen von Verdienst und Schuld zum Bewusstsein
zu bringen. Diese einfache und echte Sämkhya- Lehre
ist durch das Sütra I. 148 complicirt, welches — einen
Satz der V e d ä n t a - Philosophie adoptirend — sagt, dass
die Seele Zeuge oder Zuschauer des Tiefschlafes ebenso wie
des Wachens und des Traumschlafes sei; womit behauptet
ist, dass auch etwas im Tiefschlaf vorhandenes zum Be-
wusstsein gebracht werde. Vijnänabhikshu hilft sich
in seiner ausführlichen Besprechung dieses Sütra in der
Weise aus der Verlegenheit, dass er zwei Arten von Tief-
schlaf constatirt, nach dem Unterschiede des halben und
vollständigen Schwindens der Modifikationen des inneren
Organs. „ Bei dem halben Schwinden (ardha-laya) ", sagt
er, „existirt zwar keine Affektion, welche [dem Innen-
,.organ] die Form der Objekte verleiht, wohl aber ist das
„Innenorgan so afficirt, dass es die Form der in ihm
„selbst befindlichen Freude, des in ihm befindlichen
„Schmerzes oder der in ilmi befindlichen Betäubung hat;
„denn sonst [d. h. wenn nicht eine derartige Affektion
„vorläge] wäre bei dem Erwachten die Erinnerung an die
„zur Zeit des Tiefsclilafs vorhandene Freude u. s. w. un-
„ erklärlich, die sich z. B. in den Worten äussert : ,Ich habe
„gut geschlafen' .... Bei dem vollständigen Schwin-
„den [der Veränderungen] (samagra-laya) aber existirt
„überhaupt keine Affektion des Innenorgans, ebenso wenig
„wie im Tode, .... und deshalb ist die Seele nicht Zeuge
„dieser [Art von Tiefschlaf]."
Wir müssen von diesen Spekulationen absehen, wenn
wir die Sämkhya- Philosophie in unverfälschter Reinheit
reconstruiren wollen. Alle älteren Sämkhya- Schriften
kennen nur einen Tiefschlaf, und das ist derjenige , den
Vijnänabhikshu als die zweite Art beschreibt, in
welchem die Modifikationen des inneren Organs vollständig
— 277 —
gescliwuiideii sind und nichts vorhanden ist, dessen die
Seele Zeuge sein könnte. Nur auf diesen Zustand passt,
was sonst von dem Tiefschlaf ausgesagt wird, nämlich dass
in ihm die Seele vorübergehend erlöst sei, da keine Em-
pfindung und vornehmlich kein Schmerz existire. Diese
Ungebundenheit oder Schmerzlosigkeit, in Folge deren die
im Weltdasein stehende Seele zur Zeit des Tiefschlafes sich
in demselben Zustande befindet wie die erlöste Seele in
der Isolirung nach dem Tode, wird in Sütra V. 116 mit
dem Vedänta- Ausdruck ') ,N'atur des Brahman' (bralima-
rüpatä) bezeichnet ; und V i j h ä n a b h i k s h u bemerkt dazu,
dass in unserem System das Wort Brahman die Ge-
sammtheit der Seelen in ihrem Fürsichsein und in der
Freiheit von der durch die Upädhi's bedingten Be-
schränktheit bedeute -).
Da nun die Bewusstlosigkeit das Wesen des Tief-
schlafes ist, so mussten selbstverständlich die krankhaften
und nur ausnahmsweise zu beobachtenden Zustände der
Ohnmacht (7nürchä) und der bis zur Bewusstlosigkeit ge-
steigerten Versenkung (samädhi) als mit dem Tiefschlaf
gleichwerthig angesehen werden. Das über diesen gesagte
gilt auch von den beiden abnormen Zuständen ^).
Die Ohnmacht wird in den S am khya- Texten nur
sehr selten direkt erwähnt, sondern gewöhnlich durch ein
ädi ,u. s. w.' hinter sushupti angedeutet; und die Ver-
senkung ist ein durch die Ausübung der Yoga -Praxis
künstlich herbeigeflihrter Zustand, mit dem unser System
sich nur aus Rücksicht auf die ihm eng verbundene Yoga-
Pliilosophie beschäftigt. Wenn im Y o g a s ü t r a I. 51 die
^) Oder , was nach ^anikara zum Brahmasütra I. 3. 15 als
möglich erscheint : mit einem landläufigen , volksthümlichen Aus-
druck, dessen Herkunft aus der Vedänta -Philosophie der Ver-
fasser der Sämkhyasütra's vielleicht nicht mehr empfand.
Vgl. jedoch oben S. 173.
■^) Vgl. zur Sache noch Sutra II. 34.
3) Sütra V. 116, 117, Vijn. zu I. 16.
— 278 —
bewusstlose (asamprajMta) Versenkung als ,frei von dem
Samen [des Gebundenseins]' (nirbija) bezeichnet und mithin
der Erlösung vollständig gleichgestellt wird, so ist hier
kein Avirklicher Widerspruch mit der entgegengesetzten,
im Sämkhyasütra V. 117 vorgetragenen Lehre zu
constatiren, weil imYogasütra allein die dem Tode des
Erlösten unmittelbar vorangehende Versenkung gemeint
ist. Weniger glücklich sucht Vijnänabhikshu den
anscheinenden Widerspruch zu lösen, wenn er sagt: „Nur
„in der Absicht zu lehren, dass in der bewusstlosen [Ver-
„ Senkung] die Zerstörung des Samens allmählich vor
„sich gehe, ist [dieser Zustand] dort [im Yogasütra]
„samenlos genannt; denn sonst müssten ja alle die einzelnen
„bewusstlosen Zustände [in dem Leben des Yogin] samen-
„los sein, [also jeder unmittelbar zur absoluten Isolirung
„der Seele führen], und das Wiedererwachen [zu bewusstem
„Leben] würde unmöglich sein."
B. Die acht individuellen Daseinszustände (blidva),
Tugend und Lasterhaftigkeit, Erkenntniss und Nichter-
kenntniss, Gleichgiltigkeit und Nichtgleichgütigkeit gegen
die Sinnenwelt, übernatürliche Kraft und Mangel der über-
natürlichen Kraft, sind schon in anderem Zusammenhang,
besonders S. 246, 247 und 268, zur Sprache gekommen. Hier
ist noch zu erwähnen, dass diese Zustände der Buddhi
sowohl ursprünglich (sämsiddhika) oder natürlich (präkrtika)
als auch geworden oder erworben (vaikrta) sein können ^).
Das letztere ist bei den vier erstrebenswerthen Zuständen
die Regel. Die Ausnahme, d. h. die Ursprünglichkeit, das
Angeborensein dieser Zustände, wird belegt 2) durch den
1) Kärikä 43. Gaudapäda leitet aus den drei angeführten Ad-
jektiven auch drei verschiedene Kategorien ab, indem er zwischen
säinsiddhika und präkrtika eine minutiöse Unterscheidung macht
imd diese mythologisch begründet. Selbst wenn er damit Recht
haben sollte, ist doch der Unterschied für uns zu unwesentlich,
um berücksichtigt zu werden.
2) In den Commentaren zu Kärikä 43.
— 279 —
Hinweis auf den Stifter des Sämkliya- Systems Kapila,
der angeblich am Beginn dieses Weltalters im vollen Besitz
der Tugend, der Erkenntniss, der Gleichgiltigkeit gegen
weltliche Freuden und der übernatürlichen Kraft hervortrat.
Häufiger erscheinen die entgegengesetzten Zustände an-
geboren. Im höheren Sinne aber ist bei allen acht nach
den Voraussetzungen des Systems kein Unterschied zwischen
angeboren und erworben. Wenn die erworbenen Zustände
den angeborenen gegenübergestellt werden, so geschieht
dies in ausnahmsweiser Beschränkung des Gesichtskreises
auf das gegenwärtige Leben; der Philosoph, der sich über
den empirischen Standpunkt erhoben hat, weiss, dass auch
die sogenannten angeborenen Zustände durch Verdienst
oder Schuld in früheren Existenzen erworben sind.
C. Die Zustände, durch welche die Grade der
Entfernung von dem höchsten Ziele bezeichnet werden,
sind Irrthum (viparyaya)^ Unvermögen (acahti)^ Befriedigung
(tushti) und Vollkommenheit (siddlii). In dieser Stufen-
leiter kommt der Gedanke zum Ausdruck, dass sich der
Mensch nach dem natürlichen Lauf der Dinge zuerst in
dem Zustand des Irrthums befindet und in Folge dessen
an Unfähigkeit zur Meditation leidet, dass er aber dann
beim Beginn der Meditation zur Befriedigung und schliess-
lich zur Vollkommenheit gelangt. Diese vier Zustände
werden unter der Bezeichnung pratyaya-sarga ,intellek-
tuelle Schöpfung' zusammengefasst ^) und dadurch in Gegen-
1) Kärikä 46, Vijn. zu Sütra III. 23,46. Colebrooke, Mise.
Ess.- I. 259, nennt noch nach Karikä 52 (bhäväJchyah sargah) das
Synouymon bhäva-sarga. Eine ganz andere Bedeutung ist den
vier Zuständen in einem Verse des Väyu Puräna bei Wilson,
VishnuPuräna translated (ed. by F.E.Hall) 1.76 Anm. gegeben.
Wilson sagt auf Grund dieses Verses a. a. 0., ohne die Lehren
der von ihm selbst herausgegebenen Säinkhyakärikä zu be-
rücksichtigen, über den jrratyaya-sarga folgendes: "In its specific
"subdivisions, it is the notion of certain inseparable properties in
"the four different Orders of beings: obstruction or stolidity in in-
— 280 —
satz zu der ,elemeiitaren Schöpfung' oder der ,Scliöpfung
der Wesen aus den Elementen' (hliCda ^)-, bhautika '-)- oder
tanmätra-sarga) =^) gesetzt. In der Beschreibung dieser Zu-
stände zeigt sich die Klassificirungssucht der Sämkhya-
Philosophie im hellsten Lichte; ihre Zahlenmanie nimmt
hier geradezu den Charakter des Albernen an. Der ganze
Gegenstand darf als die schwache Seite des Systems be-
zeichnet werden.
Die ,intellektuelle Schöpfung' zerfällt wegen der Un-
Q-leichheit in den Mischungsverhältnissen der drei G u n a ' s
in fünfzig Theile*), weil der Irrthum in fünf, das Un-
vermögen in achtundzwanzig, die Befriedigung in neun,
die Vollkommenheit in acht verschiedenen Formen auftritt.
Die fünf Arten des Irrthum s sind Nichtwissen
(avidyä)^ Subjektivismus (asmitä)^ Verlangen (rciga)^ Ab-
neigung (dvesha) und Besorgniss (abkimoem) ^ oder auch
nach der Reihe ,Dunkel (tavias)^ Bethörung (molia) grosse
Bethörung (mahämoha) ^ Finsterniss {tdmisra) und dichte
Finsterniss (andlia-tdmisray genannt. Jede dieser fünf
Arten wird nun wieder in ihre Unterabtheilungen zerlegt.
Das ,Nichtwissen' , der viparyaya (d. h. wörtlich: Um-
kehrung des wahren Sachverhaltes) x«r' i^ox^jv und dem-
nach die eigentliche Ursache des Gebundenseins ^) , ist
achtfach, weil es bewirkt, dass man die Urmaterie, die
Buddhi, den Ahamkära oder eines der fünjF feinen
Elemente für das Selbst hält. Der ,Subjektivismus' ist
ebenso achtfach, weil die mit ihm behafteten Götter die
acht übernatürlichen Kräfte •'), welche sie besitzen, als ihrem
"animate things; inability or imperfection in animals; perfecti-
"bility in man; and acquiescence or tranquil enjoyment in gods."
1) Tattvasamäsa Sütra 20 und Särakhya-krama-dipikä Nr. 72.
'■*) Kärikä 53, Mahädeva zu Sütra III. 46.
2) Gaudapäda und Väcaspatimi^ra zu Kärikä 52.
*) Kärikä 46.
5) Sütra III. 24.
•*) S. Räjendraläla Mitra, Yoga Aphorisms, Translation
p. 121, und vgl. in diesem Buche S. 103 oben.
— 281 —
Selbst angeliörig und für unvergänglich ansehen und sich
mithin in ihrem gegenwärtigen Dasein für unsterblich
halten. Das ,Verlangen' ist zehnfach, da es sich auf die
Sinnesobjekte richtet, die nach der Zahl der Sinne in fünf
Kategorien zerfallen und wegen der Verschiedenheit der
himmlischen und irdischen Dinge als zehnerlei gerechnet
werden. Die ,Abneigung' ist achtzehnfach mit Bezug auf
die eben erwähnten zehnerlei Sinnesobjekte und die acht
übernatürlichen Kräfte; denn sie ist gegen die achtzehn
denkbaren Faktoren gerichtet, welche störend auf den
Genuss dieser Objekte und Kräfte einwirken. Die ,Be-
sorgniss' ist ebenso achtzehnfach, da sie aus der Wahr-
nehmung hervorgeht, dass jene achtzehn Gegenstände des
Besitzes vergänglich sind und geraubt werden können;
sie involvirt die Furcht vor Tod und Gefahr und den Hang
zum Leben. In dieser Weise werden zweiundsechzig Unter-
arten des Irrthums herausgerechnet ^).
Die achtund zwanzig Arten des Unver-
mögens kommen dadurch heraus, dass die Defekte der
elf Sinnesorgane — Taubheit, Aussatz (der Defekt des
Gefühlssinnes), Blindheit, Stumpfheit des Geschmacks und
des Geruchs, Stummheit, Lahmheit der Hände und der
Füsse, Impotenz, Verstopfung und Stumpfsinn (der Defekt
des inneren Sinnes) — und die den gleich zu beschreibenden
neun Befriedigungen und acht Vollkommenheiten entgegen-
gesetzten Zustände (viparyaya), resp. die Störungen (vi-
ghäta) derselben, zusammengezählt werden. Die elf ersten
gelten als mittelbare, die siebzehn letzten als unmittelbare
Defekte (vadha) oder Unvermögen des Innenorgans -).
1) Kärikä 47, 48, Sütra III. 37, 41 nebst den beiderseitigen
Commentaren, Sämkhya-krama-dipikä Nr. 62, Colebrooke, Mise.
Ess.'2 I. 259, 260.
•^) Kärikä 47, 49, Sütra III. 38, 42, Sämkhya-krama-dipikä
Nr. 63 — 65 (in Nr. 64 und 65 sind die Gegenstücke zu den Be-
friedigungen und Vollkommenheiten beschrieben), Colebrooke,
Mise. Ess.'^ I. 260 (auch für die beiden folgenden Abschnitte zu
vergleichen).
— 282 —
Die neun Arten derBefriedigang zerfallen in
vier subjektive (ädhyätmika) und fünf objektive
(bahya). „Wer gelernt hat, dass das Selbst von der Materie
„verschieden ist, darauf aber sich nicht bemüht durch
„weiteres Studium zur unmittelbaren Erschauung der Yer-
„schiedenheit desselben zu gelangen, weil er sich mit einer
„unrichtigen Belehrung zufi-ieden giebt, bei dem liegen
„die vier subjektiven Befriedigungen vor*)." Die erste
derselben besteht in dem Vertrauen auf die Materie, d. h.
in der Ueberzeugung , dass die unmittelbare Erschauung
des Unterschiedes von Geist und Materie nur eine Modi-
fikation der letzteren (d. h. ein mechanischer Process) sei
und allein von der Materie (in der Gestalt des inneren
Organs) auch ohne weitere Meditationsübung zu Wege
gebracht werde. Die zweite Form setzt die Uebernalune
des Asketenlebens voraus and ist auf die Meinung ge-
gründet, dass zwar nicht die Materie eo ipso die erlösende
Erkenntniss hervorbringe, dass aber die Weltentsagung zu
diesem Ziele führe und dabei jede Meditation überflüssig
sei. Die dritte Form unterscheidet sich von der vorigen
durch die Zuversicht des Asketen, dass, wenn auch die
Erlösung in Folge der Weltentsagung nicht auf einmal
eintrete, doch jede Sorge unbegründet sei; man müsse nur
die Zeit abwarten, die den ersehnten Erfolg bringen werde.
Als die vierte und letzte Form der subjektiven Befi-iedigungen
gilt das Sichgenügenlassen an dem Glauben, dass die Er-
reichung der Erlösung Glückssache sei. — Die fünf ob-
jektiven Befriedigungen finden sich bei Leuten,
welche die Erkenntniss der höchsten Wahrheit noch nicht
erreicht haben, aber auf den Genuss der Sinnesobjekte aus
folgenden fünf Ursachen — oder besser: auf Grund der
folgenden, in fünffacher Weise specialisirten Erkenntniss
1) Sämkhya-tattva-kaumudi zu Kärikä 50. Die nachfolgende
Beschreibung der einzelnen Formen weicht etwas von Gaudapäda's
Auffassung ab und wird von Vijnänabhikshu zu Sütra III. 43
bekämpft.
— 283 —
— verzichten; wenn sie nämlicli zu der Einsicht gelangt
sind, dass 1) das Erwerben, 2) das Erhalten, 3) die Ver-
gänglichkeit, 4) der Geniiss der Objekte sinnlicher Freude
(weil die durch den Genuss wachsenden Begierden nicht
zu stillen sind) und 5) das zum Zwecke des Genusses er-
forderliche Tödten und Quälen anderer Wesen vom Uebel
und mit Schmerzen verbunden ist ').
Die acht Arten der Vollkommenheit unter-
scheiden sich als' drei eigentliche Vollkommenheiten und
fünf uneigentliche, welche nur als Mittel zur Erreichung
jener drei zu betrachten sind. Die drei wirklichen Voll-
kommenheiten bestehen in der Beseitigung der drei Arten
von Schmerz '-), d, h. in der Erfüllung der höchsten mensch-
lichen Aufgabe. Unter den fünf hierzu empfohlenen Mitteln
steht an erster Stelle die vernunftgemässe Ueberlegung
(üha) als die höchste Instanz, welche die Sänikhya-
Philosophie bei der Erforschung der Wahrheit kennt.
Darauf folgen die mündliche Unterweisung (<;abcla), das
Studium (adhyayana)^ die Gewinnung weiser Freunde und
der Verkehr mit ihnen (suhrt-präpti) und schliesslich —
eine offenbare Entlehnung aus dem Kreise der brahmanischen
Anschauungen — die Freigebigkeit (däna)'"^).
Den einzelnen Formen der Befriedigung und Voll-
kommenheit sind eigenthümliche Namen gegeben, die
grösstentheils Beziehungen zu den Begriffen Wasser, Fluth
1) Kärikä 47, 50, Sütra III. 39, 43, Sämkhya-krama-dipika
Nr. 66, wo die vier subjektiven Befriedigungen in falscher Weise
erklärt werden, wie die Vergleichung mit den älteren Kärikä- und
Sütra-Commentaren zeigt.
2) Von denen oben S. 134 gehandelt ist.
ä) ISach Vijn. zu III. 43 geradezu die Bezahlung eines Lehrers.
Väcaspatimi9ra zu Kärikä 51 giebt dem Worte däna die fingirte
Bedeutung ,Reinheit, Läuterung' und versteht darunter die Klarheit
des Innenorgans, die durch Beseitigung aller Irrthümer und Zweifel
erzielt wird. — Zu der Lehre von den acht Vollkommenheiten
überhaupt vgl. Kärikä 47, 51, Sütra III. 40, 44, Sämkhya-krama-
dipikä Nr. 67.
— 284 —
und Ueberfahrt haben und sich in allen unsern Lehr-
büchern mit nicht erheblichen Abweichungen vorfinden.
Da ich fürchte bei diesen Zuständen, die zwar eine Specia-
lität des Sämkhya-Systems sind, aber dem Geschmack
europäischer Leser schwerlich entsprechen werden, schon
zu lange verweilt zu haben, möchte ich wegen dieser Be-
zeichnungen ^) auf die Uebersetzungen der S ä m k h y a -
Texte und auf die Einleitung zu meiner Bearbeitung der
Sämkhya-tattva-kaumudi S. 527, 528 verweisen,
woselbst ich glaube den Zusammenhang dieser Metaphern
mit dem bei den Buddhisten beliebten Bilde von der Ueber-
fahrt über den Ocean des Samsära in den Hafen des
Nirväna wahrscheinlich gemacht zu haben.
^) Die Systematisirangswutli der Sämkhya- Lehrer hat es
fertig gebracht, selbst den Zuständen, die den Befriedigungen und
Vollkommenheiten entgegengesetzt sind und deshalb für Formen
des Unvermögens gelten, mit a privativum gebildete Namen zu
geben: anambhas, asalila, anogha (Nichtwasser, Nichtwoge, Nicht-
fluth!), atära, asutära, atäratära u. s. w. Diese Geschmack-
losigkeit Gaudapäda's (zu Kärikä 50, 51) oder eines seiner
Vorgänger ist freilich bei allen späteren Autoren unberücksichtigt
geblieben, mit Ausnahme des Verfassers der Säiukhya-krama-dipikä,
der in Nr. 64, 65 diese ungeheuerlichen Bildungen mit Behagen
aufzählt. In Ballantyne's Text steht dabei fälschlich anantd
statt anambhas, tämasalinä statt asalila, avedyä statt anogha.
ni. Die Materie als einlieitlicher Begriff.
Nachdem wir alle Entfaltungen, Funktionen und Zu-
stände der Materie in kosmologisclier und physiologischer
Hinsicht betrachtet haben, liegt es uns ob, die Materie als
Ganzes, als Einheit ins Auge zu fassen, wie sie oft in den
Sämkhya- Texten — gewöhnlich im Gegensatz zu den
Seelen — behandelt wird. Die nachfolgenden Zeilen finden
deshalb am zweckmässigsten hier ihren Platz, weil sie alles
in den beiden vorangehenden Kapiteln erörterte als be-
kannt voraussetzen und zugleich eine Einleitung zu dem
letzten Abschnitt unserer Betrachtungen, der Psychologie
des Sämkhya-Sytems, bieten.
Für den Begriff der Materie im Allgemeinen werden
dieselben Bezeiclmungen gebraucht, wie für den der Ur-
materie, den sie nach ihrer etymologischen Geltung ur-
sprünglich zum Ausdruck brachten : iwatcrU und pradhäna ').
1) S. oben S. 208. — Vor etwa sechzig Jahren wurde zwischen Co-
lonel Vans Kennedy und Sir Gr aves Haughton ein Streit über
die Frage geführt, ob das Sanskrit überhaupt ein dem philosophischen
Terminus 'matter' entsprechendes Wort besitze. Man vergleiche über
diesen Streit den interessanten Dialog in Ballantyne's Christia-
nity contrasted with Hindu philosophy, p. 114—138. Der grössere
Theil der von Haughton als Aequivalente für ,Materie' aufge-
zählten Worte ist allerdings auszuscheiden, nämlich vastu, vasu,
carira, mürti, tattva und padärtha. Die beiden Sämkhya -Aus-
drücke prakrti und pi'adhäna aber, mit denen alles nicht-
geistige bezeichnet wird, entsprechen dem Begriff , Materie' bei
unsern Dualisten so genau als möglich; nur, weil man nach Cole-
brooke's und Wilson 's Vorgang die beiden Worte mit , Natur'
— 286 —
Nicht selten sind mit diesen Worten specielle Ent-
wickelungsformen der Materie bezeichnet; am häufigsten
die inneren Organe, wenn nämlich diejenigen Funktionen
oder Zustände, welche wir als diesen angehörend kennen
gelernt haben , Attribute der Materie (prahrti'-dharma) ^)
genannt werden; oder der gesammte innere Leib, wenn
es heisst , dass die Materie wandere , gebunden sei und
erlöst werde -) , und dass der Schmerz wesentlich mit der
Materie verbunden sei •'). Mit solchen Stellen in unseren
Texten haben wir es hier nicht zu thun, sondern nur mit
denen, welche von der Materie als dem grossen Ganzen
der stofflichen Welt handeln.
Zwei charakteristische Qualitäten der als Einheit be-
trachteten Materie (pvahrter guna-vtgeshau) sind Raum
(die) und Zeit (käla); beide gelten im metaphysischen
Sinne als ewig und allgegenwärtig*). In der empirischen
zu übersetzen pflegte, konnte dies bestritten werden. Wer noch
jetzt an der Uebersetzung ,Materie' anf Grund der in den Säin-
khya-Texten gegebenen Beschreibung (s. besonders Kärikä 11)
Anstoss nimmt, sollte nicht übersehen, in wie verschiedener Weise
die europäischen Philosophen je nach ihrer Weltanschauung die
Materie definirt haben.
Anders steht es mit dem Worte dravtja, das von Haughtoii
auch als Aequivalent für ,Materie' angeführt wurde; denn dravya
ist gegenüber pralcrti und pradhäna das Allgemeinere , das sowohl
die Seelen wie die materiellen Dinge in sich begreift und deshalb
als jSubstanz' übersetzt werden muss. Auch in den Sämkhya-
Texten ist gelegentlich von dem Citma-dravya , der seelischen,
geistigen, immateriellen Substanz die Rede.
1) Z. B. bei Vijii. zu II. 9.
2) Kärikä 62.
3) Vijn. zu I. 144, Mahädeva zu II. 7.
*) Die Sämkhya- Lehre steht also in dieser Frage auf einem
höheren philosophischen Standpunkte als der Vedänta, der den
Raum aus dem Ätman entstanden sein lässt (s. Deussen, System
S. 250—254), und als die Vaiceshika-Ny äya-Philosophie,
welche Zeit und Raum für (allerdings ewige) Substanzen (dravya)
erklärt. Bei der Beurtheilung dieser VaiQeshika-Nyäya-An-
schammg darf man freilich nicht übersehen, worauf Max Müller,
— 287 —
Welt indessen ersclieinen Raum und Zeit als begrenzt und
erfordern in dieser Eigenschaft nach unserm System eine
andere Erklärung. Hier sind offenbar zwei unabhängig
von einander entstandene Auffassungen combinirt. „Soweit
„Zeit und Raum begrenzt sind, entstehen sie aus dem
„Aether in Folge seiner Verbindung mit diesem oder jenem
,.Upädhi", oder — was dasselbe ist — „sie sind nichts
anderes als der durch die Upädhi's bestimmte Aether".
Im Falle des Raumes sind die Upädhi's die körperlichen
Dinge, im Falle der Zeit die Bewegungen der Himmels-
gestirne ^). Merkwürdiger Weise wird das schwierige Problem
in der S ä m k h y a - Literatur — wie überhaupt in der
indischen Philosophie — nur ganz beiläufig und neben-
sächlich behandelt.
Das Verhältniss der gesammten Materie zu den Seelen
wird oftmals als das des Besitzes und des Besitzers (sva-
svämi-hhäva oder sva-svämi-samhandha) bezeichnet, was
nach den Commentaren dem Verhältniss von Genossenem
und Geniesser (bhogya-hhokir-hhäva) gleichkormnt, oder —
wie wir sagen würden — dem von Objekt und Subjekt.
Obwohl dieses Verhältniss anfangslos ist, kann es doch
gelöst werden, und seine Lösung ist nichts anderes als die
Erlösung der Seele 2). Die Frage, wodurch dieser von
Ewigkeit her bestehende Zusammenhang zwischen den
Seelen und der Materie bedingt sei, ist von den Autori-
täten des Sämkhya-Systems verschieden beantwortet
worden; die Einen sagen: durch das Werk, d. h. durch
die ebenso anfangslose Ansammlung von Verdienst und
Schuld; der berühmte Pafica9ikha geht der Sache tiefer
Zeitschrift der deutsclien Morgenl. Ges. VI. 24 hinweist, dass
dravya iu diesen beiden Systemen „nichts weiter bedeutet als was
Eigenschaft oder Bewegung besitzt und der innige, unmittelbare
Grund der Erscheinung ist". Jedenfalls aber leugnen die beiden
Systeme, dass Zeit und Raum Qualitäten seien.
1) Sütra IT. 12 nebst den Commentaren; vgl. auch den Schluss
der Sämkhya-tattva-kaumudi zu Kärikä 33.
2) Sütra VI. 70.
— 288 —
auf den Grund und c.^"irt, da ja auch das Werk eine
bestimmte Ursache hab^n muss: durch die Nichtunter-
scheidung; und schUessUch lehrt Sanandanäcärya, dass
das zwischen Seelen und Materie obAvaltende Verhältniss
von Genossenem und Geniesser durch den inneren Körper
veranlasst sei, weil man nur durch Vermittlung des inneren
Körpers geniesse ^). Diese letzte Auslegung ist ganz ober-
flächlich und belanglos; denn der innere Körper gehört
ja in allen seinen Bestandtheilen der Materie an. Pah-
ca9ikha's Erklärung dürfen wir als die maassgebende
öämkhya- Lehre über diesen Punkt betrachten, da auch
sonst das Nichtwissen oder die Nichtunterscheidung als die
letzte Ursache des Weltdaseins der Seelen genannt wird.
Das besprochene Verhältniss äussert sich in der Weise,
dass die Materie im Interesse ihrer Besitzer oder Herren,
d. h. der noch nicht zur Erlösung gelangten Seelen, in
der schon mehrfach besprochenen Weise thätig ist 2). Wenn
eine Seele in den Besitz der erlösenden Erkenntniss
gekommen ist, so erleidet dadurch das Verhältniss der
Materie zu allen übrigen Seelen keine Aenderung. „Gleich-
„wie die Schlange [d. h. der irrthümlich für eine Schlange
„gehaltene Strick], wenn sie auch aufgehört hat mit
„Bezug auf den erkennenden zu wirken, doch nicht davon
„absteht denjenigen, welchem die wahre Natur des Stricke
„noch nicht klar geworden ist, durch das Schaffen vo'«
„Furcht u. s. w. zu beeinflussen, geradeso steht auch die
„Materie, obschon sie aufgehört hat für die Seele, welche
„im Besitz der Erkenntniss ist, zu wirken, doch nicht von
„ der Beeinflussung der nicht-erkennenden durch das Schaffen
„der Buddhi und der übrigen Dinge ab -5)."
Nun entsteht ja aber die unterscheidende Erkenntniss
nicht etwa in der Seele, sondern in der Buddhi. Die
Materie, deren feinste Entwickelungsform die B u d d h i ist,
1) Sütra VI. 67—69.
2) S. oben S. 164,' 165, 224.
3) Vijn. zu III. 66.
_ 289 — ^-
wird mithin ganz consequent nicht nur als die Fesslerin,
sondern auch als die Befreierin der Seele bezeichnet und
dafür verantwortlich gemacht, dass die gebundenen Seelen
noch nicht erlost sind, dass „sie ihnen noch nicht zur
Erreichung ihres Zieles verholfen hat^)." Wenn durch
die erlösende Erkenntniss der Zusammenhang zwischen
einer Seele und der Materie aufgehoben wird, so ist dies
ebensowohl im Interesse der Materie wie der Seele; denn
der Sclimerz gehört wie alle Gefühle dem materiellen Innen-
organ an, und nur ein Reflex von ihm fällt in den Spiegel
der Seele. So heisst es in S ü t r a IL 1 : „ [das Wirken] der
„Materie dient zum Zwecke der Erlösung der [thatsächlich]
„freien [Seele] oder zum Zwecke der eigenen"; und Vi-
jnänabhikshu bemerkt hierzu: „Die Urmaterie schafft
„die Welt zu dem Zwecke, um die ihrem wahren Wesen
„nach von den Banden des Schmerzes freie Seele von dem
„Schmerz in der Form des Reflexes zu erlösen oder
„[kann man sagen] : von dem Schmerz, der durch die Yer-
„bindung des Reflektirens [mit der Seele in Zusammen-
„hang getreten ist]; oder [die Urmaterie schafft] zum
„Zwecke der eigenen [Erlösung], d. h. zu dem Zwecke,
„um sich selbst von dem wirklichen Schmerz zu er-
„lösen".
Die Wesensverschiedenheit der Materie von der Seele
ist der Ausgangs- und Angelpunkt des S ä m k hy a- Systems.
Nur in einer Hinsicht sind diese beiden Dinge einander
gleich, nämlich darin, dass sie weder einen Anfang noch
ein Ende haben; aber diese Ewigkeit involvirt schon den
hauptsächlichsten Unterschied, der zwischen Materie und
Seele besteht : die erstere ist ewig der Veränderung unter-
worfen (parindmi-nitya) ^ die letztere ewig unveränderlich
(kütastha-nüya). Jeder Wechsel und Wandel in der Welt
gehört einzig und allein der Materie und ihren Modifi-
kationen an 2).
1) Vijfi. zu m. 64.
2) S. z. B. Vijn. zu I. 75, Einleitung zu III. 75.
Garbe, Sämkhya-Philosophie. 19
— 290 —
Die weiteren unterschiede der Materie von der Seele
sind inKärikä 11 aufgezählt '). Die Materie besteht nach
der Sämkhya- Lehre 1) aus den drei Guna's, Sattva,
Rajas und Tamas, und besitzt demnach die charakte-
ristischen Eigenschaften der Freude, des Schmerzes und
der Apathie. 2) wirkt sie nur in der Gemeinschaft (avive-
hhiy sambliüya-lcärin^ sarnhatya-härin). „Nichts ist allein
„[für sich] zu seinem Geschäft befähigt, sondern [nur] in
„der Gemeinschaft [mit etwas anderm]; aus einem allein
„kann nichts auf irgend eine Weise entstehen '-)." Die
Materie ist 3) Objekt (visliaya) oder — wie es gewöhnlich
in unseren Texten heisst — sie ist zum Zwecke des andern
(d. h. der Seele) da (jjardrtha). Sie ist in dieser Eigen-
schaft 4) vielen Seelen gemeinsam zugehörig, d. h. ein
einziges Objekt kann von vielen Personen zugleich erftisst
werden. Sie ist 5) ungeistig und 6) produktiv. In allen
diesen Hinsichten ist die Seele das Gegentheil von der
Materie.
^) Vgl. u. a. auch noch Vijn. Einl. zu I. 82.
2) Sämkhya-tattva-kaumudi zu Kärikä 11. Väcaspatimicra
giebt für aviveldn noch eine andere Bedeutung au, über die oben
S. 233, 234 zu vergleichen ist.
7
^\
Vierter Abschnitt.
Die Lehre von der Seele.
19^
7
^
I. Die Seele an sich.
1. Yorbemerkung über die Bezeiclimiiigen der Seele.
Das Säinkhya- System gebraucht zur Bezeiclinung
der Seele keine anderen Worte als die in der indischen
Philosophie allgemein üblichen : ätman, pums und. purusha'^).
Dass das Wort ätman ursprünglich den Sinn ,Hauch,
Athem' hatte und von hier aus die Bedeutungen ,eigene
Person, Selbst, Seele' annahm, ist schon S. 108 erwähnt
worden. Etymologisch ist es weder mit Grassmann
und Curtius auf die Wurzel vä , wehen', noch mit BÖlit-
lingk-Roth auf an ,athmen' zurückzuführen, sondern
mit Weber-) auf ai ,wandern' ; die Grundbedeutung wäre
also ,der hin- und hergehende'. Doch schimmert in der
philosophischen Literatur nicht mehr der etymologische
Sinn durch, und ebenso wenig die aus dem R i g v e d a zu
belegende älteste Bedeutung ,Hauch, Athem',
Fums nnd purusha heissen ursprünglich ,Mann, Mensch,
Person', bezeichnen also im philosophischen Sinne das-
jenige, was an dem Menschen das wesentliche ist. Dass
1) Die angeblichen Synonyma, welche die Sämkhya-krama-
dipikä noch in Nr. 37 anführt (purn-guna-jantu-jiva , hshetra-jna,
nara, kavi, brahman, akshara, präna, ya, ka , sa, esha) sind theils
Attribute der Seele, theils reine Fiktionen.
2) Jen. Lit.-Zeit. 1878, S. 82b oben. Weber stellt ätman
hier, wie auch andere gethan haben, mit «t^os (cf. dhüma d'vfiöi)
zusammen und bemerkt, dass nach dem Ausweis des vedischen
tman die Grundform ätman anzusetzen ist.
— 294 —
die einheimisch-indischen Ableitungen von pumsha sämmt-
lich ungenügend sind, lehrt schon das Petersburger Wörter-
buch. Die in unseren philosophischen Texten gegebenen
Etymologien leiden zudem an dem Fehler, dass sie nicht
von der Grundbedeutung ,Mann', sondern von der über-
tragenen Bedeutung ,Seele' ausgehen. Der ältesten und
geläufigsten Erklärung durch puri gete ,der in der [Leibes-]
Stadt befindlich ist' sind in der Sämkhya-krama-di-
p i k ä Nr. 35 zwei andere Etymologien von derselben Be-
schaffenheit zur Seite gestellt: die Ableitung von puräna
,alt' (was so viel als ,ewig' bedeuten soll) und von piiro-
liita ,vorangestellt, vorstehend'^). Die richtige Etymologie
von pums und purusha hat Leumann, Zeitschr. f. vergl.
Sprachf, XXXII, S. 10 — 12, gefunden, indem er sowohl
pums, 2J'U'-77iäms wie pu-rusha iur ^pu-vrsha als aus zwei
Elementen bestehend erkannt hat, von denen schon jedes
für sich allein den Begiiff ,Mann' ausdrückt.
2. Beweise für die Existenz der Seele.
Obwohl in Sütra I. 138 gesagt ist, dass die Existenz
der Seele keines Beweises bedürfe, da sie von Niemand
bestritten werde, und obwohl die Seele gelegentlich als
durch sich selbst evident (svatah siddha, svayam-prakäca)
bezeichnet wird, sind an anderen Stellen in unseren Texten
doch Beweise angeftüirt. Die Existenz der Seele wird aus
der Idee des Ich, besonders aus der allgemeinen Vorstellung
,Ich erkenne' abgeleitet, mit der Begründung, dass ohne
die Seele das Ichbewusstsein ebenso unmöglich sei wie der
Schatten ohne den Schatten werfenden Gegenstand oder
das Bild ohne seine Grundlage "-), Verschiedene andere
') Dieses Wort ist vou Ballantyne in wunderbarer Weise
missdeutet worden: "because it is that towards which the 'highest
affection' (purohüa) is entertaiucd [— seeing tliat each one loves
seif, if loving nought eise — ]".
'-) Auir. und Mab. zu III. 12, VijS. zu VI. 1.
— 295 —
Gründe finden wir in Kärikä 17 (und Sütra I. 140 —
144) zusammengestellt. Die Seele ist deshalb anzunehmen,
„weü das zusammengesetzte zum Zwecke eines andern da
„ist, und weil es ein Gegentheil von dem geben muss,
„was aus den dreiGuna's besteht und die sonstigen Eigen-
„ Schäften der Materie besitzt" i). Die Urmaterie und alle
ihre Produkte sind zusammengesetzt ; alles zusammengesetzte
£,ber dient zum Zwecke eines andern, wie z. B. das Bett
für den Körper des Schläfers. Der Körper ist wiedenun
zum Zwecke eines anderen da, weil er gleichfalls eine
Zusammensetzung aus Theilen ist; dieses andere dagegen
muss unzusammengesetzt und mithin von allem materiellen
wesensverschieden sein, da wir sonst einen regressus in
infinitum erhalten würden-).
Die Existenz der Seele ist ferner deshalb nothwendig,
„weil es einen Regierer (adhishthätar) geben muss". Wie
der ungeistige Wagen von dem mit Intelligenz begabten
Lenker geleitet wird, so muss die gesammte ungeistige
Materie von einem geistigen Princip regiert werden ; andern-
falls wären die zweckmässigen Entfaltungen und Verbin-
dungen der Materie unerklärlich. Diese Leitung von Seiten
des geistigen Princips, d. h. der Gesarmntheit der Seelen,
beruht aber nach der Sämkhya-Lehre nicht auf einem
bewussten WiUen, sondern auf dem blossen Vorhandensein
der Seelen, das auf die Materie einen mechanischen Ä.nreiz
ausübt, wie der Magnet auf das Eisen =^). — Der nächste
Grund flir die Existenz der Seele ist die Nothwendigkeit
der Annahme eines Empfinders (hhoktar). Die Objekte
der Empfindung, Freude, Schmerz u. s. w., werden von
jedem Einzelnen gefühlt. Da nun die materiellen Produkte
(insbesondere die inneren Organe) die Freude, den Schmerz
u. s. w. als etwas ihnen wesentlich angehöriges besitzen,
1) Vgl. oben S. 290.
•-) S. ausser den Commentaren zu Kärikä 17 noch die Com-
mentare zu Sütra I. 66, 140.
3) Vijn. zu III. 57, Y. 9.
— 296 —
mithin empfundenes Objekt sind, können sie nicht zu-
gleich empfindendes Subjekt sein; denn ein anerkannter
Grundsatz der Logik erklärt es für eine Unmöglichkeit,
dass einunddasselbe Ding gleichzeitig Subjekt und Objekt
sei (karma-kartr-virodha). „Deshalb muss etwas, das nicht
„das Wesen von Freude u. s. w. hat, dasjenige sein, auf
„welches angenehm, resp. widerwärtig eingewirkt wird;
„und dies ist die Seele ^)."
Diesen Gründen haben unsere Texte noch einen aus
der Erfahrung und dem Traditionsglauben entnonmienen
hinzugefügt, der hier erwähnt sei als ein Beispiel dafür,
wie wahrhaft philosophische Betrachtung in diesen Büchern
auf das engste mit den Erzeugnissen einer kindlichen
Naivität verknüpft ist. Es wird ein Beweis für die Existenz
der Seele in der Thatsache gefunden, dass das allgemeine
Streben der Menschen auf die Erlösung von dem Schmerze
des Weltdaseins, d. h. auf die Isolirung der Seele von der
Materie, gerichtet ist. Wenn es keine Seele gäbe, so würde
dieses Streben sinnlos, und die Autorität der Lehrbücher
und der ,grossen Seher mit den göttlichen Augen' hin-
föUig sein, — was für unsere Autoren ausgeschlossen ist ^).
3. Das Wesen der Seele.
Die absolute, an sich seiende (kevala) Seele ist von
der empu'ischen, zur Materie in Beziehung stehenden Seele
(jiva) zu unterscheiden ; nicht als ob eine Verschiedenheit
zwischen beiden existire, sondern weil die Stellung, welche
die Seele in dem empirischen Dasein des Individuums ein-
nimmt, nur dann genau präcisirt werden kann, wenn die
Natur der Seele an sich festgestellt ist. Ueberall, wo in
^) Sämkliya-tattva-kaumudi zu Kärikä 17; Vijii. zu Sutra I.
66, 99, 141, 143; Anir. und Mab. zu V. 66. — Zu alleu diesen
Beweisgründen vgl. Colebr 00 ke, Mise. Ess.- 1. 267, 268, Barthe-
lemy Sain t-Hilaire, Premier Memoire 169 ff., 444.
^) Säinkhya-tattva-kaumudi zu Kärikä 17.
— 297 —
f\ der S ä m k h y a - Literatur die Frage nach dem Wesen
(svarüpa) der Seele aufgeworfen ist, wird die Antwort
gegeben: die Seele ist Geist (cit, citi, cetana, caitanya)^
und zwar reiner Geist, Denken schlechthin (cin-viätra),
oder — was nach der Ausdrucks weise unserer Texte auf
^ dasselbe hinausläuft — stetiges Licht (prakaQa). Da dieses
K das Wesen der Seele ausmachende Denken objektlos ist
' und sich nicht selbständig zu bethätigen vermag, so ist
die Seele im Zustande des absoluten Daseins — um einen
Ausdruck Röer's (Lecture p. 22) zu gebrauchen — know-
ledge of nothing ^). Hiermit ist die Definition der Seele
erschöpft ; es giebt nach der Sämkhya- Lehre kein Attribut,
welches den Begriff der Seele positiver gestaltet. In Ueber-
einstimmung mit dem berühmten Ausspruch der B r h a d ä -
ranyaka Upanishad (IL 3. 6; IIL 9. 26; IV. 2. 4;
4, 22; 5. 15): „[Sie ist] nicht so, nicht so" wird die Seele
als qualität- und attributlos (nirguna, nirdharma, nirdhar-
maka) bezeichnet 2). Wenn auch diese Lehre in erster Linie
gegen die Theorie der Vai9eshika-Nyäya- Philosophie
gerichtet sein wird, der zufolge die psychischen Processe,
Wahrnehmen, Erkennen, Wollen u. s. w. , Attribute der
Seele sind, so ist doch der Satz von der Qualitätlosigkeit
der Seele stets in allgemeinster Form ausgesprochen, so
dass er nicht bloss in jener Beschränkung aufgefasst werden
kann. IVIit dieser Lehre scheint beim ersten Blick im
Widerspruch zu stehen, dass Vijfiänabhikshu in dem
Verse, mit dem er seinen Commentar eröffnet, von den
,hunderterlei Eigenschaften' der Seele spricht und dass
verschiedentlich in unseren Lehrbüchern die Eigenschaften
der Seele aufgezälilt werden ■^). Diese Qualitäten sind jedoch
alle negativer Natur, soweit sie nicht für die Stufe des
^) Welche Rolle aber dieses objektlose Denken im Haushalt
der Natur spielt, wird weiter unten in II. 3 erörtert werden.
*) Z. B. Sütra I. 54, 146; V. 74.
3) Kärikä 19, Sütra I. 19, Säinkhya-krama-dipikä Nr. 34, 86.
Vgl. auch Colebrooke, Mise. Ess.2 I. 270.
— 298 —
Weltdaseins aus der Geistigkeit der Seele abgeleitet sind.
Doch sind diese Negationen nichts weniger als bedeutungs-
los; da sie für uns ihre positive Kehrseite haben, gewähren
sie uns einen Einblick in die Vorstellungen, welche die An-
hänger des S ä m k h y a - Systems mit dem Begriff der Seele
verbanden.
Die Seele ist anfangslos (anädi) und endlos (ananta),
d. h. ewig (nitya). Die Lehre, dass die Seele von Ewigkeit
her und in alle Ewigkeit hin existirt, ist der S ä m k h y a -
Philosophie mit allen orthodoxen Systemen gemeinsam.
Die Unsterblichkeit der Seele bedarf keines Beweises ;
aber das Wort wird hier in einem andern Sinne verstanden
als in den Religionen. Wohl ist die Seele an sich ewig und
unzerstörbar, aber nicht ewig ist die empirische Existenz
eines selbstbewussten Individuums, als welche die Fort-
dauer im Himmel oder in göttlicher Würde von der Volks-
religion gedacht wird. Dies ist nur eine Unsterblichkeit
im uneigentlichen Sinne (gauna) ^ da sie im günstigsten
FaUe nur bis zu dem Ablauf einer Weltperiode währt ^).
Die Seele ist theillos (nirbhäga) 2) und schon aus dem
Grunde unvergänglich ; denn nur dasjenige, was aus Theilen
besteht, ist der Vernichtung ausgesetzt. Diese Lehre von
der Theillosigkeit der Seele steht im engsten Zusammen-
hang mit der Vorstellung von ihrer Grösse. Li welcher
Weise die Theorie der J a i n a ' s , dass die Seele so gross
sei wie der Körper, widerlegt wird, haben wir oben S. 109
Anm. gesehen. Die Seele kann, nicht von begrenzter Aus-
dehnung (madliyama-2}arimdna, pariccMnna-parimäna) sein,
weil sie in dem Falle aus Theilen zusammengesetzt sein
würde. So bleibt, da die S ä in k h y a - Philosophie zu der
Vorstellung von der Raumlosigkeit des an sich seienden
ebenso wenig wie der V e d ä n t a '^j oder irgend ein anderes
indisches System gelangt ist, nur die Alternative, die Seele
*) Vijn. zu I. 6.
2) Sütra V. 73.
3) S. Deusseu, System des Vedänta S. 329,
— 299 —
entweder für unendlich klein oder für unendlich syoss zu
erklären. Beide Anschauungen haben innerhalb der Säna-
khya-Schule geherrscht, und zwar ist die Annahme der
unendlichen Kleinheit die ursprüngliche. Freilich ist
diese Ansicht nur aus einem einzigen Fragment des alten
Säiukhya-Lehrers Panca9ikha nachzuweisen, in Vyä-
sa's Yogabhäshya I. 36: „Wenn er dieses atomgrosse
,,(anu-mätra)^) Selbst erkannt hat, so ist er sich dessen
„bewusst, was es heisst ,Ich bin'." Aber diese Stelle ist
ganz unverdächtig; denn kein späterer Sämkhya- oder
Yoga-Lehrer konnte auf den Gedanken kommen, einer
so hoch verehrten Autorität wie Panca9ikha einen mit
den Lehren des Systems im Widerspruch stehenden Satz
in den Mund zu legen. Gerade die abweichende Lehre
ist ein Beweis für die Echtheit des Fragments. Zudem
passt die Theorie von der unendlichen Kleinheit der Seele
besser in den Zusammenhang des Systems als die spätere
Anschauung; denn sie ist mit der Sämkhya -Lehre von
der unzähligen Menge individueller Seelen aufs schönste
vereinbar, während dies bei der Theorie, dass eine jede
Seele unendlich gross sei, Schwierigkeiten macht; man
müsste ja auf Grund dieser Theorie mit Vijnänabhik-
shu^) zugleich eine Nichtverschiedenheit der einzelnen
Seelen im Sinne von räumlicher Ungetrenntheit (avibhäga)
und eine Verschiedenheit im Sinne von gegenseitiger
Nichtexistenz (anyonyä-hhäva) constatiren.
Alle anderen Sämkhya- Lehrer also von 1 9 v a r a -
k r s h n a •^) an erklären im Widerspruche mit Pafica9ikha
^) Die der späteren Ansicht huldigenden Ausleger des Yoga-
bhäshya suchen das anu-mätra Panca§ikha's hinwegzudeuten ;
Vacaspatimi^ra erklärt es in der Tikä durch dur-adhigama und
Vij iiänabhikshu im Yogavärttika p. 67 dui'ch sühshmatama.
Die Bedeutung ,schwer erkennbar' könnte wohl anu au sich haben,
aber anu-mätra nimmermehr.
2) Zu Sütra I. 151 und sonst.
3) S. Kärikä 10, 11.
— 300 —
die Seele für alldurchdringend, allgegenwärtig, unendlich
gi'oss (vibhu, vydpaka, parama-mahant)^ und hierin ist der
Einfluss der V e d ä n t a - Philosophie auf unser System kaum
zu verkennen. Dieser Einfluss muss sich zwischen dem
ersten Jahrhundert n. Chr., der muthmasslichen Lebenszeit
Panca9ikha's, und dem fünften Jahrhundert, in welches,
wie wir oben S. 59 sahen, dieSämkhyakärikä spätestens
zu verlegen ist, geltend gemacht haben. Wenn die späteren
Autoren ihre Polemik gegen die ursprünghche Lehre von
der atomistischen Grösse der Seele vorzugsweise damit be-
gründen, dass dieser Anschauung die Thatsache der den
ganzen Körper durchdringenden, d. h. an jedem Theile
des Körpers wahrnehmbaren Empfindung widerstreite ^),
so ist auch dieser Grund aus dem Gedankenkreise der
Vedänta- Philosophie entlehnt ^).
Sobald das Dogma der Allgegenwart der Seele an-
erkannt war, musste diese auch für bewegungslos (nish-
hriya) erklärt werden. Dieser Grund wird vorzugsweise
gegen die volksthümliche Anschauung ins Feld geführt,
die für den Standpunkt des Sämkhya auch aus anderen
Gründen unmöglich ist, dass nämlich die Seele ,wandere' 3).
Wie wir früher gesehen haben, ist in unserem System der
innere Körper das Princip der Metempsychose.
Die Seele ist ferner unveränderlich (aparinäminy hü-
tastha)^ und hieraus wird eine Reihe weiterer Negationen
abgeleitet. Sie ist absolut unthätig (akartar)^ d. h. willen-
los. Wenn die Seele thätig wäre, so würde sie, weil nicht
aus den drei G u n a ' s bestehend, nur gute Werke thun *).
Sie ist unberührt (asanga) von Freude, Schmerz und allen
sonstigen Affektionen ^) ; wie sie an deren Entstehung
unbetheiligt ist, so steht sie ihnen auch vollkommen gleich-
1) Vijn. zu I. 51.
2) S. Deussen, Vedänta S. 333, 334.
3) Sütra I. 48—51, V. 76.
*) Sämkhya-krama-dipikä Nr. 38; vgl. auch Nr. 42, 43.
6) Sütra I. 15.
— 301 —
giltig, neutral (udasma, viadhyastha) gegenüber. Da sie
somit ihrem Wesen nach rein (cuddha^ amala) oder ewig
frei (nitya-mukta) ist ^) , darf man ihr direkt weder ein
Gebundensein noch ein Erlöstsein zuschreiben; denn das
letztere setzt ein früheres Gebundensein voraus.
Die V e d ä n t a - Philosophie lehrt, dass die Seele ihrer
Natur nach Sein, Denken und Wonne (sac-cid-dnanda)
sei; aber das ist ein Irrthum. Die Wonne gehört dem
Wesen der Seele nicht an; denn ein und dasselbe Ding
kann nicht beides, Wonne und Denken, sein, da rein
geistiges Wesen und Wonnenatur sich gegenseitig aus-
schliessen. Schon auf dem Standpunkt des Vedänta
verbietet sich jene Annahme, die das Zugeständniss einer
Dualität in sich begreift; denn die Wonne ist etwas em-
pfundenes und ohne ein zweites, d. h. ohne ein empfindendes,
nicht möglich -). Zwar sprechen auch die Anhänger der
Sämkhya- Philosophie von einer ,Freude der Seele' (ätma-
suhha); denn sie nennen so die höchste Wonne, die der
Mensch geniessen kann, d. h. die der Ruhe, in der das
reinste S a 1 1 v a wirkt, im Schlafe und ähnlichen Zuständen,
und das Glück der Entsagung. Aber jener Ausdruck ist nur
bildlich zu verstehen; denn auch diese Wonne ruht nicht
in der Seele, sondern in dem inneren Organ ^).
Die Seele ist schliesslich, obwohl eine Substanz (dravya),
immateriell (aguna)*), und mithin von der Urmaterie so-
wohl als von allen Produkten wesensverschieden s), wie das
schon oben S. 289, 290 im Einzelnen ausgefühi-t wurde.
Die Vedänta -Lehre, dass die Seele nicht nur causa effi-
ciens, sondern auch causa materialis der Welt sei, wird
1) Sütra I. 19, 162, 163; Särpkhya-krama-dipikä Nr. 34, 36.
2) Sütra y. 66, 67. Die eingehendere Polemik gegen diese
Vedänta -Theorie ist in den Commentaren zu den beiden Sütra's
zu finden.
3) Vijn. zu I. 65, IV. 11.
*) Sämkhya-krama-dipikä Nr. 34, 36.
5) Kärikä 11, 17, Sütra I. 139—144, lU. 75, VI. 2-4.
— 302 —
durch diesen Fimdamentalsatz des Sämkliya- Systems
zurückgewiesen'). Die unproduktive a-prasava-dharmin)-)
Seele besitzt nicht die Fähigkeit, sich in irgend einer Weise
zu entfalten.
Nachdem wir hiermit alles zusammengestellt haben,
was unsere Texte über das Wesen der Seele aussagen, ist
ein Missverständniss des Resume's in Kärikä 64 aus-
geschlossen: „So entsteht aus dem Studium der Principien
„die abschliessende, geläuterte, weil iirthumslose, absolute
„Erkenntnisse ,lch [d. h. das Selbst, die Seele] bin nicht;
„nichts ist mein; [das] ist nicht Ich'." Der wahre Sinn
dieses Satzes wird erst durch die erforderlichen Ergänzungen
,Ich bin nicht [nämlich thätig]' u. s. w. verständlich. Schon
Wilson sagt in seinen Anmerkungen zu dieser Kärikä
S. 181, dass man in dem etwas auffalligen Satze nicht
eine Negation der Seele finden dürfe, und giebt auf Grund
der Auslegungen der Commentatoren die richtige Er-
klärung: "It is merely intended as a negation of the
"soul's having any active participation , any individual
"interest or property, in human pains, possessions, or feel-
"ings". Auch Röer, Lecture p. 22, äussert den Verdacht,
dass alle hohen Aussprüche der Sämkhya-Texte ein
reiner Hohn seien und dass das System in Wirklichkeit ein
krypto-materialistisches sei, nur um diese Annalnue sofort zu
widerlegen. Obwohl die Seele von der Sämkhya- Philo-
sophie fast vollständig des Charakters entkleidet ist, den
Religion und Philosophie gewohnt sind ihr zuzuschreiben,
so ist doch der Begriff der Seele für dieses System ebenso
wesentlich als der der Materie. Erst der Stifter des Bud-
dhismus, der in so wichtigen Punkten auf den Lehren des
Sämkhya-Systems fusst, ist einen Schritt weiter gegangen
und hat die Seele geleugnet '^).
1) Sutra VI. SS.
2) Kärikä 11, Sämkhya-krama-dipikä Nr. 34, 86.
3) In welcher Weise er dies gethan hat, ist bei Oldenberg,
Buddha-^ S. 274 ff. nachzusehen.
303
4. Die Yiellieit der Seelen.
Die Annahme einer Vielheit individueller Seelen, die
einen der wichtigsten Unterschiede unseres Systems von
dem spirituellen Monismus des Vedänta darstellt, wird
in dreifacher Weise begi-ündet. Die Hauptstelle istKärikä 18:
„Die Vielheit der Seelen ergiebt sich 1) aus der Vertheilung
„von Geburt, Tod und Organen, 2) aus dem nicht-gleich-
„ zeitigen Wirken und 3) schon aus dem verschiedenen
„Zustand der drei Guna's." Zur Erläuterung dieser drei
Gründe glaube ich nichts besseres thun zu können als die
eingehenden — übrigens offenbar auf Gaudapäda's
kürzerem Commentar basirenden — Erklärungen Väcas-
patimi9ra's, soweit sie für uns wesentlich sind, anzu-
führen ^).
1) „Geburt ist die Verbindung der Seele mit den
„folgenden neuen, als Wohnstätte charakterisirten Dingen:
„Körper, äussere Sinne, innerer Sinn, Ahainkära, Buddhi
„und Empfindung; sie ist aber keine Veränderung an der
„Seele, weil diese unveränderlich ist. Tod ist das Ver-
„ lassen eben dieser angenommenen Dinge, des Körpers
„u. s. w. , aber nicht die Vernichtung des Selbstes, weil
„dieses unwandelbar und ewig ist. Unter den Organen
„sind die dreizehn von der Buddhi an [bis zu den
„ Organen der Wahrnehmung und des Handelns] verstanden.
„Die Vertheilung von Geburt, Tod und Organen be-
„ deutet das Je-anders-sein ; [und] dieses [in Wirklichkeit
„bestehende Je-anders-sein] ist doch unvereinbar mit [der
„Annalune], dass ein und dieselbe Seele in allen Körpern
„sei. Dann müssten ja, wenn einer geboren wird, alle
^) Die übrigen Stellen in unseren Texten, die sich mit der
Vielheit der Seelen beschäftigen (Sutra I. 149 — 154, VI. 45, Säm-
khya-krama-dipikä Nr. 45) bringen nichts neues hinzu. Cole-
brooke's Erörterung (Mise. Ess.'^ I. 268) ist ganz auf Kar. 18
gegründet.
— 304 —
„geboren werden, wenn einer stirbt, alle sterben, wenn
„einer z. B. erblindet, alle erblinden, und wenn einer be-
„wusstlos wird, alle bewusstlos werden. Es würde also,
„[wenn es nur eine Seele gäbe,] keine Vertheilung be-
„ stehen können; diese ist vielmehr nur möglich, wenn
„entsprechend den einzelnen Leibern die Seelen verschieden
„sind "
2) „Wenn auch das Wirken — d. h. die Tliätigkeit
„ — dem inneren Organ angehört, so wird dasselbe doch
„auf die Seele übertragen; und demnach müsste, wenn
„diese in einem einzigen Körper thätig ist, dieselbe unter
„der Voraussetzung, dass es nur eine [Seele] in allen
„Körpern giebt, überall thätig sein und in Folge dessen
j,alle Körper gleichzeitig in Bewegung setzen ^). Bei der
„[Annahme einer] Vielheit [der Seelen] aber fiillt dieser
„Einwand fort."
3) „Einige Wohnstätten der Existenz [d. h. einige
„Körper] sind reich an Sattva, wie die aufwärts ge-
„stiegenen [d. h. die Götter]; einige sind reich an Rajas,
„wie die Menschen; einige reich an Tamas, wie die
„Thiere. Solch ein verschiedener Zustand — d. h. solch
„ein Anderssein — der drei Guna's in diesen und jenen
„Wohnstätten der Existenz wäre nicht möglich, wenn es
„nur eine Seele gäbe."
Wenn die ungeheure Zahl der individuellen Seelen
begrenzt wäre, so würden, da die Erlösung wie in der
Gegenwart auch in der Zukunft immer Einzelnen zu Theil
werden wird, in der fernsten Zeit einmal alle Individuen
zur Erlösung gelangt sein müssen, und damit würde das
Ende der Welt gekommen sein. Dies aber widerspricht
den Voraussetzungen des Systems, nach dem der Sam-
sära ewig währt. Die Annahme einer unendlichen
Vielheit von Seelen war mithin unerlässlich -).
^) Gaudapäda verlegt den Schwerpunkt auf die Verschieden-
artigkeit der menschlichen Handlungen.
2) Anir. zu I, 159, Vijn. zu II. 4.
n. Die empirische Seele.
1. Das Yerliältniss der Seele zu den Organen und
zum Leibe.
Die an sicli seiende Seele wird zur empirischen (jiva)
durch die Verbindung rait den Upädhi's, d.h. mit dem
Innenorgan, den Sinnen und dem Körper, durch die hierauf
beruhende Verbindung mit den Fähigkeiten des Empfindens
und Handelns, und durch die ebenfalls auf den Beziehungen
zum Innen organ beruhende Verbindung mit dem Athem,
die das den Körper bildende und das animalische Leben
hervorbringende Princip ist ^). Dieser Zusammenhang einer
jeden Seele mit ihren Upädhi's besteht in der Form
einer anfangslosen Continuität -), die nur in den Perioden
der Weltauflösung unterbrochen wird und bis zur Er-
reichung der unterscheidenden Erkenntniss währt. Vermöge
dieses Zusammenhangs ist die Seele Herr (svämin) und
Leiter (adhishthätar) ihrer Upädhi's. Aber sie übt keinen
aktiven Einfluss auf die Organe aus und weist ihnen nicht
an, was sie zu thun haben; denn sie ist, wie wir gesehen
haben, willenlos und ihrem Wesen nach ewig unveränder-
lich. Die Organe andererseits arbeiten für die Seele, ohne
zu wissen, was sie thun, und folgen dabei nm" den blinden
Trieben der Materie. Es ist mithin ganz consequent, wenn
1) Sütra I. 97, V. 113—115, VI. 63; vgl. auch oben S. 257.
2) Sämkbya-tattva-kaumudi zu Kärikä 21, Viju. zu I. 19.
Garbe, Sämkhya-Philosophie. 20
— 306 —
das Innenorgan wegen des ihm angeliörenden Willens als
der eigentliche, wirkliche (anupacarita, muhhya) Leiter be-
zeichnet wird '). Was also ist die Herrschaft und Leitung
der Seele? Darauf erhalten wir die Antwort: Die That-
sache, dass die Seele durch ihr blosses Dasein die Ursache
einer Veränderung in den Organen ist auf Grund einer
besonderen Verbindung (samyoga-viQesha) 2). Diese ,be-
sondere Verbindung' ist nun nicht etwa eine innige Ver-
einigung, ein Verschmelzen der Seele mit ihren Organen,
sondern besteht lediglich darin, dass die Seele, die ihrer
Natur nach Licht ist, die inneren Organe erleuchtet oder
durchglüht. Wie die Sonne, wenn sie die Erde bescheint,
oder das Feuer, wenn es das Eisen durchglüht, oder die
rothe Hibiscus-Blüthe , wenn sie durch den Krystall hin-
durchschimmert, keine Veränderung erleidet, ebenso wenig
wird die Seele durch den Einfluss, den sie auf die Organe
ausübt, selbst irgendwie alterirt=^). Wenn demnach die
vielbesprochene , Verbindung' einzig und allein darin beruht,
dass die Seele, ohne im Geringsten aus ihrer Indifferenz
herauszutreten, durch das von ihr ausstrahlende Licht den
ganzen Organismus mit bewusstem Leben erfüllt — es
wird darüber des näheren unten in Kapitel 3 zu handeln
sein — , so ergiebt sich, dass eine w i r k 1 i c h e Verbindung
der Seele mit den Organen und dem Leibe gar nicht
existirt, und dass nur derjenige von einer solchen Ver-
bindung sprechen kann, der noch nicht zur Erkenntniss
der Wahrheit gelangt ist. Das ist in Sütra L 55 mit
den Worten ausgedrückt: „Die Verbindung [der Seele]
„mit jener [d. h. der Materie] beruht auf der Nichtunter-
„scheidung." In Wahrheit also giebt es gar keine empi-
rische Seele ; und wenn in den Texten von einer empirischen
Seele die Rede ist und dieser Attribute zugeschrieben
werden, die dem Wesen der an sich seienden Seele wider-
1) Sütra I. 99 nebst den Commentaren.
2) S. besonders Mahädeva zu I. 142, V. 114.
3) Sütra I. 99, 145, 146, VI. 50 nebst den Commentaren.
— 307 —
streiten — wie z. B. die Begrenztheit ') oder Gebundensein
und Erlösung, Unterscheidung und Nichtunterscheidung — ,
so „ist das nur ein Ausdruck, aber keine Realität, da
„diese im Denkorgan ruhen-)." Das bedeutet, dass unter
der ,empirischen Seele' einfach der von der Seele durch-
leuchtete Complex von Upädhi's zu verstehen ist, oder
— was, wie wir sehen werden, auf dasselbe hinauskooimt —
die Seele mit dem Spiegelbild des Innenorgans. Die Seele
selbst aber ist immerdar unabhängig von ihren Upädhi's
und deren Aflfektionen ; und das Eintreten aus dem Zustand
des Gebundenseins in den der Erlösung ist nichts anderes
als die Erreichung der Erkenntniss, dass die Seele realiter
niemals gebunden war und gebunden sein kann.
Dieser ganze Vorstellungskreis ist den entsprechenden
Anschauungen des Vedänta-Systems so nahe verwandt,
dass man sich kaum der Annahme einer gegenseitigen
Beeinflussung verschliessen kann. Ganz offenbar ist der
vedantistische Einfluss auf die jüngeren Sämkhya- Texte
da, wo der Unterschied der an sich seienden und empirischen
Seele durch die Bezeichnung ,das höhere (oder höchste,
para, parama) und niedere (apara) Selbst' ausgedrückt
wird"^); liier liegt die Entlehnung aus der Terminologie
des Vedänta (para und apara brahman) auf der Hand.
2. Das Yerhältniss der Seele zum Handeln.
Aus dem eben gesagten geht auch hervor, dass die-
jenigen Stellen, welche von dem Handeln der Seele oder
von ihren Werken sprechen, nicht wörtlich zu verstehen
sind*); denn die Seele ist immerdar unfähig zu jeglicher
Thätigkeit ^) und hat nicht die Macht einen Grashalm zu
1) Vijn. zu VI. 63.
2) Sütra I. 58; vgl. auch I. 7.
s) Anir. zu II. 1, Vijn. zu VI. 63; s. auch schon Mbh. XII. 6921.
*) Sütra I. 97 (Anir.), II. 8.
5) Kärikä 19.
20*
— 308 —
krümmen (trnasya hubji-harane 'py anicvarah) '). „Der
„Seele wird die Tliätigkeit auf Grund ihres Herrseins [nurj
„in uneigentlicliem Sinne zugeschrieben, wie z. B. Sieg
„und Niederlage, welche doch den Soldaten angehören,
„uneigentlich dem König zugeschrieben werden, weil dieser
„die Folgen des [Sieges oder der Niederlage] , die Freude
„oder den Schmerz, empfindet und Herr über jene [Soldaten]
„ist", sagt Vijiiänabhikshu zu Sütra I. 76 2). Das
in Wirklichkeit handelnde Princip ist das zweite der
inneren Organe, der Ahamkära, wie wir schon oben
S. 250 erkannten. Wie kommt es dann aber, dass uns,
bevor wir nicht den wahren Sachverhalt begriffen haben,
die Seele als handelnd erscheint? Weil — antwortet
Kärikä20^), in welcher Strophe die Quintessenz der
Sämkhya- Lehre beschlossen liegt, — „in Folge der Ver-
„bindung mit der [Seele] der ungeistige innere Körper
„scheinbar geistig, und ebenso die am Handeln unbetheiligte
„[Seele] scheinbar handelnd wird." Oder specieller: weil
der ungeistige Ahamkära nur in Folge des belebenden
Lichtes wirkt, das die Seele auf ihn wirft, und weil es
eine Funktion des Aha m k ä r a ist den Wahn zu erzeugen,
dass unser Ich, unsere Seele das handelnde und leidende
Subjekt sei.
Wiewohl nun aber die Seele keinen Theü an dem
Handeln hat und die Werke ihr nur durch die Nicht-
unterscheidung aufgebürdet werden, so genügt dieses Ver-
hältniss für unser System doch zur Erklärung der Thatsache,
dass nur ein bestimmtes Innenorgan Werkzeug für eine
bestimmte Seele ist, und dass die Seele Maitra's nicht
geniessen kann, was das Innenorgan C a i t r a ' s zubereitet.
Die Werke, die auf die eben beschriebene Art zu der Seele
in Beziehung gesetzt werden, gelten als ilir Eigenthum,
durch welches sie ein specielles nur für sie wirkendes
1) Sämkhya-krama-dipikä Nr. 43.
^) S. aucli seinen Commentar zu II. 5, 46.
3) Vgl. auch Sutra I. 164.
— 309 —
Innenorgan , erwirbt' (ctrj)^ „gleichwie im täglichen Leben,
„wenn von einem Manne durch das Werk etwa des Kaufens
„z. B. eine Axt erworben ist, die Thätigkeit dieser [Axt],
„das Spalten u, dgl. , nur fiir diesen bestimmten Mann
„stattfindet Wenn [man uns darauf fragt] : ,Was
„ist denn aber der bestimmende Faktor dafür, dass ein
„Werk zu einer [speciellen] Seele in Beziehung tritt?', so
„antworten wir: ein, anderes [früheres] Werk von derselben
„Art. Wegen der Anfangslosigkeit [der Werke] aber be-
„deutet [in diesem Falle] der regressus in infinitum keinen
„Fehler i)."
Die Werke sind also zwar ein sich ewig durch sich
selbst erneuerndes Eigenthum der Seele, aber dieser Besitz
wird ihr ohne eigenes Zuthun zu Theil. Wie die Seele
deshalb keine Verantwortung iiir die Werke trägt, so ist
sie auch über Lohn und Strafe erhaben -).
3. Die Aufgabe der Seele.
Bei seiner Besprechung der Lehre von der Seele sagt
Barthelemy Saint-Hilaire im Premier Memoire
S. 449, 450 folgendes: „Si c'est la nature qui s'enchaine
"et se delivre, si ce n'est plus l'äme ; si c'est la nature qui
"agit, et si Täme est si parfaitement inerte, j'avoue que je
"ne comprends plus pourquoi Kapila n'a pas complete-
"ment supprime Täme." Barthelemy ist mithin nicht
zum Verständniss der überaus wichtigen Aufgabe gelangt,
welche nach der S ä m k h y a - Philosophie die Seele in dem
empirischen Dasein des Individuums zu erfüllen hat; und
merkwürdiger Weise ist dies auch nicht dem scharfsinnigsten
Forscher gelungen, den die Geschichte des Sänikhya-
Studiums aufzuweisen hat : F i t z - E d w a r d H a 1 1 3). Der
^) Sütra II. 46 und Vijn.'s Commentar.
2) Vgl. oben S. 269.
") Rational Refutation p. 54 heisst es: "Attention should be
'paid to the circumstance that, in the Sänkhya, the term ,cog-
— 310 —
Leser weiss schon aus früheren Andeutungen, um was es
sich handelt. Kapila' s Auffassung der Seele bezweckt
die Beantwortung einer Frage, die vielleicht wissenschaft-
lich nie befriedigend beantwortet werden wird : wie entsteht
"nition' (jnäna) denotes two distinct things. One of them is that
"which we all so denominate. This is really the apprehending
"of objects; and, to us, this alone deserves the name it bears
"But, again, the Sänkhyas apply the appellation of Cognition to
"the soul itself, which they also style intelligence , the intelligent
"one, etc. Here, however, Cognition is so but nominally, as it is
"not one with apprehension of objects. Cognition as denoting soul,
"it is laid down, is eternal That this Cognition, by which
"the soul itself is intended, is Cognition only in name etc."
Es ist richtig, dass in unseren Sämkhya- Texten mit dem
Worte jnäna zwei verschiedene Dinge bezeichnet werden, 1) die
imter dem Einfluss der Objekte entstehenden mechanischen Er-
kenntnissfunktionen der inneren Organe und 2) die objektlose Er-
kenntniss oder das Wesen der Seele , das gewöhnlich durch die
Worte cit, citi, cetana, caitanya oder prakäga benannt ist. Miss-
verständnisse sind übrigens dabei ausgeschlossen, da durch den
Zusammenhang in jedem Falle vollkommen klar ist, in welcher der
beiden Bedeutungen jnäna verstanden werden muss. Aber Hall
befindet sich im Irrthum, wenn er meint, dass die objektlose Er-
kenntniss nur eine nominelle Erkenntniss sei, bei der man sich gar
nichts denken könne. Ich will es auf sich beruhen lassen, ob der
indische Ausdruck (nirvishaya jnäna) glücklich gewählt ist; aber
darüber, was mit ihm gemeint ist, kann kein Zweifel sein. Die
ewige objektlose Erkenntniss, die identisch ist mit dem BegritF der
Seele, ist das Princip, welches die an sich unbewussten vergäng-
lichen Denkfunktionen zu bewussten macht; jnänal wird erst
durch jnäna 2 zu dem, was wir Erkenntniss nennen.
Ich sehe mich genöthigt noch auf eine andere Stelle der Ra-
tional Refutation einzugehen, an der ebenfalls die Unkenntniss der
Aufgabe, die das Sämkhya- System der Seele zuschreibt, zu einem
völligen Missverständniss der Terminologie und zur Erhebung eines
unberechtigten Vorwurfs geführt hat. Wir lesen S. 99: "First,
"however, I must bestow a few words on the great error, com-
"mitted by the Sänkhyas, of distinguishing between happiness and
"the like, and their experiences. Who is conscious of any such
"distinction? From experience of happiness deduct experience: can
"one then form any idea what happiness is by itself? Not at all.
— 311 —
und worauf beruht das Bewusstsein? Die Sämkhya-
Philosophie hat die Lösung dieses Problems in den von
ihr angenommenen Beziehungen der Seele zu dem Innen-
organ zu finden gemeint. Wenn das Innenorgan die von
der Aussenwelt dargebotenen Objekte durch Vermitt-
litng der Sinne empfangt, so nimmt es die Form dieser
Objekte an (arthäkära^ visliayakära) \ es entsteht also ein
Bild der Objekte in unserm Innern. Dies hat die ver-
schiedenartigsten Folgen; es kann dadurch ein in dem
inneren Organ ruhender Eindruck angeregt und so die
Erinnerung an früher erlebtes geweckt werden; die Bilder
der Aussenobjekte und die Erinnerung zusammen können
abstrakte Schlussfolgerungen bewirken, aber auch Zuneigung,
Abneigung, Freude, Schmerz, Begierde und andere Leiden-
schaften hervorrufen ; diese hinwiederum können den Willen,
die Entschliessung zum Handeln rege machen und in eine
■'Consequently, all the qualities of the soul, towit, Cognition,
•'will, activity, happiness , and so on, ought to be regarded as so
■'many diflferent sorts of experience; as was previously exemplified,
•'in the case of will. Or, should there be some very nice distinc-
•'tion between happiness, or the like, and the experience of it, the
"two, at all events, are inseparable. It follows, that there is no
•'foundation for the theory of separating Cognition etc. from their
■'experiences, on which the doctrine depends, that the internal
•'organ is the subject of happiness and so forth, and that the soiil
•'is their experiencer."
Die Verhältnisse liegen hier genau so wie bei dem eben be-
sprochenen Punkt, und der Unterschied, der zwischen Freude,
Schmerz u. s. w. einerseits und deren Empfindung (experience,
blioga) andererseits gemacht wird (z. B. bei Vijn. zu I. 106), ist in
dem Dualismus des Sämkhya-Systems begründet. Unter Freude,
Schmerz und dgl. sind die mechanischen Affektionen der inneren
Organe, welche als die materielle Basis solcher Gefühle gelten,
zu verstehen; mit der Empfindung ist das Bewusstsein dieser Affek-
tionen gemeint, das durch den Einfluss der Seele erklärt wird.
Es handelt sich also in der That um zwei verschiedene Begriffe,
und es wäre ein Mangel, wenn diese Verschiedenheit nicht so, wie
es in den Sänikhya- Texten geschieht, zum Ausdruck gebracht
würde.
— 312 —
bestimmte Richtung drangen. Alle diese mannigfaltigen
Processe bestehen — ebenso wie einfache Wahmehmungen —
in Veränderungen oder Modifikationen (vikära, parinäma)
des Innenorgans, so dass dieses in jedem Augenblick eine
andere Form annimmt. Die beständige Umgestaltung, die
so an dem Innenorgan durch Wahrnehmung, Denken,
Fühlen und Wollen bewirkt wird, ist nun im Princip
nichts anderes als der Wechsel und Wandel, der sich un-
ablässig in der Aussenwelt vollzieht ; hier wie dort handelt
es sich um rein materielle Veränderungen. Die Ver-
schiedenheit der inneren Alterationen aber von allen andern,
stofi'lichen Umgestaltungen beruht darin, dass dieselben
einen scheinbar geistigen Charakter durch das auf sie fallende
Licht des Bewusstseins erhalten. Zunäclist könnte man
denken, dass das in der Buddhi befindliche und diese
vorzugsweise bildende S a 1 1 v a der Träger dieses Lichtes
sei; ist doch das Wesen des Sattva als lichtartig oder
erleuchtend (pralcä(^aka) geschildert. Diese Voraussetzung
aber ist ein Irrthum: das Licht des Sattva ist nicht
geistiger Natur, sondern nur eine Eigenschaft der Materie,
zur Hervorbringung der mechanischen Denkfanktionen
(jnäna-vrtti) geeignet und berufen, aber unfähig das Be-
wusstsein hineinzutragen. Die Buddhi ist — um das
unvermeidliche Beispiel unsrer Texte zu gebrauchen —
ebenso rein materiell (jada) ,wie Töpfe und dergleichen',
also ein Objekt^), dessen sich wohl ein anderer, das sich
aber nicht seiner selbst bewusst werden kann. Das ,Auf-
leuchten'^*) der Buddhi muss mithin von einer andern
Stelle aus bewirkt werden, d. h. , wie wir schon S. 306
sahen, von der Seele; denn das Objekt bedarf eines Sub-
jekts: die Wahrnehmungs- und Denkfunktionen eines
Zeugen (sdkshin) oder Zuschauers (drashtar) '^) , die Ge-
1) Kärika 11.
2) S. in den Indices zu meinen Textausgaben unter bhana,
hhäs, pra-Mc und den Ableitungen von diesen beiden Wurzeln.
3) Kärika 19, Sütra I. 161.
— 313 —
fühle und Affekte eines Geniessers oder Empfinders
(bhoktar) ^).
Die Seele bringt also den jeweiligen Zustand der
inneren Organe dadurch ins Bewusstsein, dass sie ,vermöge
ihres blossen Naheseins' ihr Licht auf dieselben wirft-).
Welcher Art nun aber ist die Lichthaftigkeit der Seele?
Sie ist „ein mit Worten nicht zu beschreibendes Merkmal"
(akhandopädhi)^ sagt Vijhänabhikshu^^) mit Benutzung
eines Terminus der N y ä y a -Philosophie ; doch bietet er
selbst uns ausführlichere Auslassungen, mit denen wir
etwas weiter kommen. Sütra I. 146 lehrt, dass das Licht
nicht eine Eigenschaft der Seele sei, weü diese quali-
tätlos ist*). Hierzu giebt Vijnänabhikshu folgende
Erläuterungen: „Wenn [gefragt wird:] ,Welchen Grund
„giebt es denn für die Qualitätlosigkeit [der Seele]?', so
„antworten wir: Erstens können die Wünsche und [Wahr-
„ nehmungen] der Seele nicht ewig angehören, weil man
„sieht, dass dieselben erzeugt werden ; und wenn man [der
„Seele] erzeugte [also zeitweilige] Qualitäten zuschreiben
„woUte, so wäre damit die Veränderlichkeit [der Seele]
„gegeben 5). . . . Und wenn [die Seele] gelegenthch —
„durch eine Veränderung in den Zustand der Blindheit
j^ — cler Möglichkeit ausgesetzt wäre, nicht-erkennend zu
„sein, so würde sich ein Zweifel liinsichthch [der Wirk-
„lichkeit] der Erkenntnissakte, Wünsche u. s. w. erheben."
Man hat also einen Beweis für die Beharrlichkeit des
seelischen Lichtes in der Erwägung gefunden, dass wir
gar keine Bürgschaft für die Wirklichkeit der Wahr-
nehmungen und inneren Vorgänge haben würden, wenn
1) Kärikä 17, Sütra I. 143; vgl. auch oben S. 295, 296.
2) VijS. zu I. 17, 19, 99, IL 29 und sonst.
3) Zu I. 88, 145.
*) Vgl. S. 297.
5) Die Unveräuderliclikeit der Seele wird auch zu II. 44 als
Grund dafür augegeben, dass die Denkfunktioneu der Seele selbst
nicht angehören können.
— 314 —
das Leuchten der Seele jemals eine Unterbrecliung erleiden
könnte. Dieser Gedanke wird von Vijnänabhikshu
noch näher an einer andern Stelle ^) ausgeführt , die ich
der Wichtigkeit des Gegenstandes halber gleichfalls hier-
her setze:
„Die UnVeränderlichkeit der Seele wird daraus er-
„ schlössen, dass diese zu jeder Zeit die [ihr von dem
„Innenorgan dargebotenen] Objekte erkennt. Denn also
„verhält es sich: gleichwie nur die Farbe das Objekt des
„Gesichtssinnes ist, [aber] nicht — auch bei gleicher
„Nähe — der Geschmack oder etwas anderes, ebenso ist
„das Objekt der Seele nur die Affektion des derselben zu-
„ gehörigen Innenorgans Alles andere wird für die
„Seele zum Gegenstand des Genusses [d. h. der bewussten
„Erkenntniss oder Empfindung] nur dadurch, dass es in
„das afficirte Innenorgan Eingang findet, [aber] nicht von
„selbst; denn [sonst] müsste alles immerdar zur Erkennt-
„niss gelangen. Diese Affektionen des Innenorgans nun
„bleiben niemals unerkannt [von der Seele] ; denn wenn
„man anninmit, dass Denkprocesse, Wünschen, Freude und
„dgl. [zuweilen] unerkannt bleiben [d. h. nicht zum Be-
„wusstsein kommen] können, so würde hinsichtlich dieser
„[Vorgänge] geradeso gut wie z. B. bei einem [nicht
„deutlich wahrgenommenen] Topfe, ein Zweifel oder [Irr-
„thum] folgender Art obwalten können: ,Erkenne ich
„oder nicht? freue ich mich oder nicht? u. s. w.*" Es
giebt also nach der S am khya- Lehre keine unbe-
wusst bleibenden inneren Vorgänge, weder Denk-
processe, noch Empfindungen oder Affekte; die Theorie
des Unbewussten beschränkt sich auf die noch nicht zum
Leben erweckten Eindrücke, die in der Buddhi hinter-
lassen sind, und die auf ihnen beruhenden Dispositionen-).
^) Zu VI. 2; vgl. ferner seinen Commentar zu I. 75, auch
Yogasütra IV. 17 (Bhojaräja, 18 Vyäsa) und P. Markus, Die
Yoga-Philosophie S. 10.
2) S. oben S. 269 fF.
— 315 —
Wenn die Liclithaftigkeit keine Eigenschaft, kein
Attribut der Seele sein kann, so bleibt nur die Annahme
übrig, dass das Licht die Seele selbst sei, d. h. ihr Wesen
ausmache ^). Es ist dabei ohne weiteres klar, dass die
Sämkhya- Philosophie unter der Seele nicht eine wirklich
leuchtende Substanz versteht, sondern dass sie sich nur
eines Bildes — und zwar eines ganz vortrefflichen — be-
dient, um den Begriff des Geistes zu veranschaulichen 2).
Der Gebrauch dieses Bildes wird durchkreuzt durch den
eines anderen, das in gleicher Weise die Unberührtheit
des Geistes durch die inneren Affektionen und den eigen-
artigen Zusammenhang beider verdeutlichen soll. Die Seele
wird nämlich auch einem Spiegel verglichen, in dem die
inneren Organe reflektiren. Für beide Gleichnisse kommen
dieselben Worte zur Verwendung: sowohl das Licht, das
von der Seele auf die inneren Organe fällt, wie die Spiegelung
der inneren Organe in der Seele wird mit den Worten
,Reflex, Abbild' (chäyä, pratibimha) bezeichnet'^). Das
bewusste Erkennen, Empfinden, Wollen ist also — um in
dieser Bildersprache zu reden — nichts anderes als der
Reflex der betreffenden Lmenorgansaffektionen in der Seele,
oder umgekehrt der Reflex der Seele in dem Innenorgan.
Eines solchen Reflexes bedarf es auch zur Erkenntniss der
Seele selbst, da diese ohne Hilfe des Innenorgans nichts
erkennen kann. Wie bei der Wahrnehmung der Aussen-
dinge das Innenorgan ein Bild der Objekte in sich auf-
nimmt, so nimmt es in diesem Falle unter Ausschliessung
alles anderen ein Bild der Seele in sich auf Wenn die
Seele sich so in dem Innenorgan abspiegelt, bringt sie
1) Sütra I. 145 und oben S. 98 Anm.
2) Daraus, dass diese Metapher nicht in der Kärikä nachzu-
weisenist, darf man kaum schliessen, dass dieselbe I§varakrshna
noch nicht geläufig war. Die Kärikä ist ein so kurzes Compendium,
dass naturgemäss nicht alle Einzelheiten in ihi- erwähnt werden
konnten.
3) S. die Indices zu meinen Textausgaben.
— 316 —
ihren Reflex und damit sich selbst zur bewussten Er-
kenntniss ^).
Dieser Reflex oder dieses Reflektiren (cliäyd-patti, pra-
tibimhana) gilt für illusorisch (mitliyä)^ womit nicht die
Existenz geleugnet, sondern nur gesagt werden soll, dass
der Vorgang nicht das ist, was er zu sein scheint, nämlich
eine Affektion der Seele selbst. Wenn das Gleichniss von
der rotlien Färbung des Krystalls durch eine ihm nahe
gebrachte Hibiscus-Blüthe gebraucht wird, so heisst diese
Färbung (uparäga) gleichfalls ,LUusorisch' , weil sie nicht
eine Veränderung in dem Krystall ist, die sie dem naiven
Betrachter zu sein scheint 2). Die gelegentlich gebrauchten
Ausdrücke ,AssiDiilation der Seele an die Afi'ektion des
Innenorgans' (purnshe vrtti-särüpya) ^) und ,Eintreten des
Geistes in das Innenorgan' (cid-äveqa) *) sind nach allem
dem nicht mehr misszuverstehen : es giebt ebenso wenig
eine Materialisirung des Geistes wie eine Vergeistigung
der Materie ; beides ist scheinbar (iva) ^). Der kurze Sinn
der zahlreichen und ausführlichen Erläuterungen, die unsere
Texte dem Verhältniss zwischen Seele und Innenorgan
widmen, ist also, dass von der geistigen Natur der Seele
eine anregende, das Bewusstsein erzeugende Kraft aus-
strömt, oline dass die Seele selbst dabei irgend etwas wirkt
oder leidet.
4. Das Gebundeusein und seine TJrsaclie, die Nicht-
unterscheiduu
Die Vorstellungen von dem Wesen und der Ursache
des Gebundenseins (bandha) haben im Verlaufe meiner
1) Sütra VI. 49, 50.
2) Vijn. zu I. 1, 58, 87, 99, 104; Nilakantha-Hall, Eatio-
nal Refutation p. 51 — 56.
3) Vijn. zu I. 148.
i) Vijn. zu I. 99.
5) Kärikä 20, Sütra I. 164.
— 317 —
Darstellung schon so oft erwähnt werden müssen, dass ich
mich hier auf eine Rekapitulation der Hauptsachen und
auf eine Ergänzung durch die bisher noch nicht zur Sprache
gebrachten Einzelheiten beschränken kann. Der Zustand
des Gebundenseins ist gleichbedeutend mit dem bewussten
Leben ; denn er besteht nicht während des tiefen , traum-
losen Schlafes, der Ohnmacht, der bis zur Bewusstlosigkeit
gesteigerten Versenkung und zur Zeit der Weltauflösung ^).
Das Gebundensein ist nun nichts anderes als ,die Ver-
bindung mit dem Schmerz' (duJikha-yoga) ^) , oder , da der
Pessimismus der S ä m k h y a - Philosophie auch die Freude
zu den Schmerzen rechnet ") , als die Verbindung mit den
Gefühlen überhaupt. Nun wissen wir bereits, dass die
Gefühle nicht der Seele angehören, sondern dem inneren
Organ, welches durch das Vorwalten des S a 1 1 v a freudige,
durch das Vorwalten des Rajas schmerzvolle Affektionen
ei-föhrt.
In Wahrheit ist also das Gebundensein den Upädhi's
der Seele eigen *) , dem inneren Organ oder dem dasselbe
enthaltenden Complex des feinen Körpers, und zwar als
etwas wesentliches eigen; d. h. der Schmerz währt
mit den oben erwähnten Unterbrechungen so lange, als
der feine Körper besteht und das empirische Dasein. Mit
dieser einfachen Verweisung des Gebundenseins in den
materiellen Theil des Individuums ist aber der Thatbestand
nur zur Hälfte erklärt; aus folgendem Grunde, der in der
Fassung angeftihrt sei, die ihm Vijnänabhikshu ge-
geben hat 5): „Wenn das Gebundensein, d. h. die Verbin-
„ düng mit dem Schmerz, lediglich dem Denkorgan angehörte,
„so würde das mannigfache Empfinden unerklärlich sein.
„Denn auf Grund der Annahme, dass das Empfinden, d. h.
1) Sütra V. 116, Vijii. zu I. 19.
") Vijn. zu I. 7, 17 und sonst.
3) S. oben S. 133.
*) Und heisst deshalb aupädhiha; Vijn. zu I. 12, 19, 54.
°) Zu I. 17.
— 318 —
„das unmittelbare Erfahren des Schmerzes, auch ohne die
„Verbindung der Seele [d. h. des Ich, des individualisiren-
„den Princips] mit dem Schmerz existire, müssten die
„Schmerzen und [Freuden] aller Menschen von allen
„Menschen empfunden werden, weil es dann keinen [die
„ Vertheilung] bestimmenden Faktor (niyämaka) gäbe. Und
„deshalb würde die [thatsächliche] Mannigfaltigkeit des
„Empfindens, die sich darin äussert, dass Dieser Schmerz
„und Jener Freude empfindet u. s. w., unerklärlich sein. . . .
„Darum muss zur Erklärung der Mannigfaltigkeit des
J.Empfindens das Gebundensein auch der Seele zugeschrieben
„werden, weil damit ein [die Vertheilung] des Empfindens
„bestimmender Faktor gegeben ist. Und diese Verbindung
„des Schmerzes mit der Seele existirt nur in der Form
„eines Reflexes (pratibimba). ... Da nun lediglich die
„Affektion des Upädhi [d. h. des Innenorgans] der be-
„treff enden [Seele] reflektirt wird, empfinden nicht
„alle Menschen alle Schmerzen. . . . Wenn aber in der
„Schrift und Tradition gelehrt wird, dass Gebundensein
„und Erlösung nur dem Denkorgan und nicht der Seele
„angehören, so ist das von dem wirklichen (-päramär-
^fliika) Gebundensein zu verstehen, d. h. von der Ver-
„bindung mit dem Schmerz in der Form seiner objektiven
„Realität (himba).'' An dieser Stelle i) ist deutlich erklärt,
in welcher Weise wir das oft behauptete und oft negirte
Gebundensein der Seele zu verstehen haben. Der aus dem
Innenorgan auf die Seele fallende Reflex des Gebunden-
seins oder des Schmerzes — wir dürfen diese beiden Worte
als Synonyma behandeln — ist zwar illusorisch in dem
oben S. 316 angegebenen Sinne, aber doch etwas that-
sächliches. Er übt zwar keinen wirklichen Einfluss auf
die Seele aus, hat aber einen Erfolg, der einem solchen
Eijifluss vergleichbar ist 2); insofern er nämlich die natür-
1) Vgl. ferner Vijii. zu I. 19, III. 74, VI. 11, 27, 28, Anir.
zu n. 5.
ä) Vijn. zu VI. 27, 28.
— 319 — •
liehe Schmerzlosigkeit der Seele verdeckt in derselben
Weise, wie die durch die Hibiscus-Blüthe veranlasste Röthe
nur die natürliche Farblosigkeit des Krystalls verdeckt.
Wie dabei die Farblosigkeit des Krystalls weder bei der
Annäherung der rothen Blume zu Grunde geht noch bei
Entfernung derselben wieder entsteht, ebenso wenig ent-
steht der Schmerz in der Seele bei der Annäherung des
Innenorgans , noch vergeht er bei dessen Entfernung ^).
Die Verbindung der Seele mit dem Sclmierz beruht also —
um den stehenden bildlichen Ausdruck unserer Texte in
die uns geläufige Sprache zu übertragen — darin, dass
die Seele den im Körper befindlichen Schmerz zum Be-
wusstsein bringt. Dies ist das eigentliche Weltübel, dessen
Beseitigung die höchste Aufgabe menschlichen Strebens ist.
Wodurch nun aber ist diese eigenthümliche Verbindung
der Seele mit dem Schmerz bedingt? Sie ist weder der
Seele wesentlich, denn dann könnte sie überhaupt nicht
gelöst werden -) ; noch wird sie durch besondere Veran-
lassungen hervorgerufen, denn in dem Falle müssten wir,
auch nachdem sie durch die von der Philosophie ge-
lehrten Mittel aufgehoben ist, stets befürchten, dass diese
Veranlassungen aufs neue die verhängnissvolle Verbindung
bewirken werden ^). Doch giebt es ausser diesem allge-
meinen Grunde noch besondere, durch welche die speciellen
Veranlassungen, an die man in Indien denken konnte,
ausgeschlossen werden *). Das Gebundensein der Seele kann
nicht durch Zeit und Raum veranlasst sein, weil beide
allgegenwärtig und ewig sind und deshalb auf die erlösten
Seelen ebenso wirken müssten wie auf die gebundenen;
auch nicht durch einen bestimmten Zustand, da Zustände
nur Eigenthümlichkeiten des Ungeistigen sind ; auch nicht
durch die Werke oder durch deren nachwirkende Kraft,
1) Vijn. zu VI. 20.
2) Sütra I. 7—11.
^) Vijn.'s Einleitung zu I. 12.
^) Sütra I. 12—54.
— 320 —
da diese beiden Dinge nicht der Seele, sondern dem inneren
Organ angehören und man sich des logischen Fehlers der
zu weit gehenden Uebertragung (atiprasakti) schuldig
machen würde, wenn man das Gebundensein des Einen
auf etwas einem Andern gehöriges zurückführte; ebenso
wenig durch das mystische Nichtwissen, welches die kos-
mogonische Potenz des späteren Buddhismus und des Ve-
d ä n t a ist, weil etwas unreales keine positiven Wirkungen
erzeugen kann; ferner nicht durch eine anfangslose Be-
einflussung von Seiten der Objekte, weil ein Zusammen-
hang zwischen der Seele und den Objekten unmöglich ist ;
und schliesslich auch nicht durch irgend eine Art von
Wandern, weil die Seele bewegungslos ist. Was also ist
in Wahrheit die Ursache des Gebundenseins der Seele?
Sagt man : die Verbindung von Seele und Materie ^) , so
ist das nur eine Umschreibung des Ausdrucks ,Gebunden-
sein', aber keine Feststellung der Ursache. Das Gebundensein
wird nach der Sämkhya- Lehre einzig und allein bewirkt
durch die ,Nichtunterscheidung' {aviveka, auch viparyaya,
viparyäsa, viparita-jnäyia ,irrthümliche Umkehrung des
wahren Sachverhalts' genannt) -). Diese Nichtunterscheidung
wird definirt als eine „Auffassung der beiden Begriffe
Materie und Seele, bei welcher das Nichtverschmolzensein
beider unerkannt bleibt^)". Danach kann die Nichtunter-
scheidung von zweierlei Art sein, je nachdem man nämlich
den Gegensatz von Seele und Urmaterie oder die Ver-
schiedenheit der Seele von den Umwandelungen der Ur-
materie, d. h. von den inneren Organen, den Sinnen und
den Elementen nicht erkennt. Praktisch äussert sich zudem
die Nichtunterscheidung bei unphilosophischen Leuten,
die es im Uebrigen mit dem Streben nach der Erlösung
ernst nehmen, in der Vollziehung von Opfern und der
Ausübung fi'ommer Werke. Es w^ird deshalb von einem
1) Vijn.'s Einleitung zu I. 55.
2) Kärikä 44, Sütra I. 55, III. 24.
3) Vijn. zu I. 55, VI. 12.
— 321 —
dreifachen Gebundensein geredet, einem Gebundensein durch
die Urmaterie (prahrti- oder präkrta handha)^ durch die
TJmwandelungen der Urmaterie (vaikdrika bandha) und
durch das Ritual (dakshinä- oder dakshinaka bandha) *).
Diese Dreitheilung aber, ein Ausfluss der Schematisirangs-
sucht unseres Systems, ist von untergeordneter Bedeutung;
denn bloss bei einer Art von Nichtunterscheidung erfordert
die Beseitigung ernste. Anstrengungen. Das ist die Nicht-
unterscheidung der Seele von den inneren Organen, die
Nichtunterscheidung des Geistes von dem scheinbar geistigen
S a 1 1 V a , das die Erkenntnissfunktionen bewirkend in den
inneren Organen und besonders in der Buddhi sich be-
findet. Diese Verschiedenheit von Sattva und Seele
(sativa-purxishä-nyatä) "-) ist diejenige Form des Unter-
schiedes zwischen Materiellem und Geistigem, die am
schwersten zu begreifen ist, mit deren Erkenntniss aber
auch das höchste Ziel erreicht ist; denn die Verschiedenheit
der Seele von allem anderen sonst ergiebt sich von selbst,
wenn dieser eine Unterschied erkannt ist.
Die Nichtunterscheidung ist nun die Ursache aller
Leidenschaften und Begierden, die den Menschen an das
Leben fesseln, sie ist die Ursache des Handelns, also der
Erwerbung von Verdienst und Schuld, und damit die Ur-
sache des Wirkens der Materie überhaupt, d. h. des ganzen
empirischen Daseins ^). In allen diesen Hinsichten ist die
Nichtunterscheidung nur mittelbare Veranlassung des
Gebundenseins; wir haben also noch festzustellen, wie sie
unmittelbar das Gebundensein der Seele bewirkt. Dies
thut sie dadurch, dass sie das Reflektiren der Innenorgans-
afifektionen und insbesondere — worauf es hier ankommt
1) Sämkhya-tattya-kaumudi zu Kärikä 44, Tattvasamäsa Sütra
22 und Sämkhya-krama-dipikä Nr. 73; vgl. auch Vijn. zu I. 57.
2) Mah. zu I. 1, Yogasütra III. 35, Mahäbhärata XII. 7103—
7111, 7703, 7847, 7893.
3) Sütra ni. 68, Vijn. zu I. 55; s. auch oben S. 178—180.
Garbe, Sämkhya-Philosophie. 21
— 322 —
— des Schmerzes in der Seele verursacht ^). Die Thatsache
also, dass wir das völlige Unbetheiligtsein der Seele an
den inneren Vorgängen nicht erkennen, hat nach der
Sänikhya- Lehre zur Folge, dass der Schmerz in der
Form eines Reflexes Eingang in die Seele findet, d. h. zum
Bewusstsein kommt. Wenn die Nichtunterscheidung gerade-
zu mit dem Gebundensein identificirt wird 2), so Lst das eine
uneigentliche Ausdrucksweise, durch welche die unmittelbare
Veranlassung an die Stelle der Wirkung gesetzt wird '^).
Glaubten wir die Nichtunterscheidung als das Anfangs-
Sflied in der Kausalitätsreihe zu erkennen, so ist dabei
doch folgendes nicht zu übersehen. Auch die Nichtunter-
scheidung kann noch auf eine Ursache zumckgeführt werden,
und das ist die Disposition (samshära^ vdsanä) zur Nicht-
unterscheidung, die auch während der Zeit der Weltauf-
lösung bestehen bleibt und somit die Wurzel alles Uebels
von Ewigkeit her bis in Ewigkeit ist *). Da diese unheil-
volle Disposition ein Erbtheil aus der vorangehenden
Existenz, die Nachwirkinig der damaligen Nichtunterschei-
dung ist, die ihrerseits wiederum aus der entsprechenden
Disposition hervorgegangen sein muss u. s. f., so liegt hier
eine anfangslose Continuität vor^). „Wenn die Nicht-
„ Unterscheidung einen Anfang hätte, so würde in dem
„Falle, dass sie von selbst entstehen soll, auch der Erlöste
„wieder gebunden werden können; und in dem Falle, dass
„sie durch Werke oder etwas anderes hervorgerufen sein
„soll, müssten wir nach einer neuen Nichtunterscheidung
„als Ursache für diese Werke oder für das andere suchen,
„und damit würden wir einen regressus in infinitum er-
„ halten 6)." An dem regressus in infinitum jedoch, den
1) Vijn. zu III. 74, VI. 11, 27, 28.
2) Sütra VI. 16.
3) Sütra III. 74.
*) Anir. zu II. 1, Vijn. zu I. 55, 56.
5) S. oben S. 147.
6) Vijn. zu VI. 12.
— 323 —
die Annahme der Verkettung von Nichtunterscheidung
und Disposition zur Nichtunterscheidung nöthig macht,
nimmt die S ä m k h y a - Philosophie keinen Anstoss.
5. Die Erlösung und ihi-e Ursache, die Unterscheidung.
In älteren Werken, die sich mit der Sämkhya-
Philosophie beschäftigen, ist zuweilen das Erstaunen darüber
ausgedrückt, dass von den Lehrern des Systems nicht der
Zustand der Seele nach der Befreiung vom Weltdasein
(mukti , moksha , nirmukti, vimukti, vimoksha, apavarga)
beschrieben ist. Wohin geht die Seele und was wird aus
ihr? fragt Barthelemy Saint-Hilaire im Premier
Memoire p. 476 und findet auf diese Fragen keine Antwort').
Und doch lassen unsere Texte keinen Zweifel über das
Schicksal der erlösten Seele. Selbst wenn sie darüber
schwiegen — was sie nicht thun — , würde aus allem
über das Wesen der Seele gesagten ohne weiteres klar
sein, wie der Zustand der Seele, nachdem ihi-e Verbindung
mit der Materie gelöst ist, gedacht werden soll. Schon
die negativen Angaben in Sütra V. 74 — 83-), die ich
zunächst mit der einheimischen Begründung anftihren will,
weisen den richtigen Weg zum Verständniss. Die Erlösung
ist weder, wie die Vedantisten meinen, eine Manifestirung
der Wonne, weü die Seele qualitätlos ist und sich deshalb
nichts an ihr manifestiren kann; noch — aus demselben
Grunde — die Vernichtung der besonderen Eigenschatten,
welche die Seele nach der Meinung der Vai9eshika's
und Naiyäyika's im Zustande des Gebundenseins be-
sitzt und im Augenblicke der Erlösung verliert 2). Auch
kann die Erlösung nicht in der Erlangung irgend eines
1) Aehnlich Johaentgen, üeber das Gesetzbuch des Manu
S. 55.
-) Vgl. hierzu auch Bhojaräja's Commentar zum Yogasütra
IV. 33.
^) S. die Aufzählung dieser Eigenschaften oben S. 117.
21*
— 324 —
realen Gutes bestehen ; denn jeder Besitz, seien es die über-
natürlichen Kräfte, die man durch die Ausübung der Yoga-
Praxis zu gewinnen meinte, oder göttliche Würde und
Macht, oder gar der irdische Besitz, in dem die Materialisten
die Erlösung finden, ist vergänglich; die Erlösung aber
muss ein unvergängliches Gut sein *). Ferner ist die Er-
lösung nicht das Wandern der Seele zu höheren Welten,
da die Seele bewegungslos ist und deshalb nicht wandern
kann. Auch die Lehre der Buddhisten, dass die Seele
nichts als eine Continuität momentanen Erkennens sei
und dass die Erlösung in dem Aufhören des von den
Objekten auf die Seele ausgeübten Einflusses bestehe,
scheitert an der falschen Auffassung der Seele und an der
Erwägung, dass auf Grund dieser Theorie die Verbindung
des Erkennens mit den Objekten ja so wie so in jedem
Augenblick zu Grunde gehen, mithin die Erlösung un-
unterbrochen von selbst eintreten müsste. Ebensowenig
kann die Erlösung die ,Verbindung des Theils mit dem
Ganzen', d. h. das Aufgehen der Einzelseele in die göttliche
Seele, sein, weil es keinen Gott giebt und weil, wenn es
einen Gott gäbe, eine solche Erlösung vergänglich sein
müsste nach dem Gesetz, dass jede Verbindung wieder zur
Trennung führt; ausserdem leidet diese Theorie an der
falschen Voraussetzung, dass eine Seele aus Theilen be-
stehe. Scliliesslich ist die Erlösung weder die Vernichtung
der Seele noch die des Weltganzen, weil die Erfahrung
lehrt, dass das Streben des erlösungsbedürftigen Menschen
nicht auf die Vernichtung gerichtet ist. Alles dies also
ist die Erlösung nicht, was aber ist sie? Bei der Er-
klärung A n i r u d d h a ' s -) , dass sie ein mit Worten nicht
1) Sütra VI. 17—19.
2) Zu Sütrca VI. 59. Anirudclha hat überhaupt in seinen
ausführlichen Erläuterungen zu diesem Sütra und schon vorher
zu VI. 50 Behauptungen aufgestellt, die sich mit seinen sonstigen
Darlegungen und den feststehenden Lehren des Systems im Wider-
spruch befinden. Von diesen Behauptungen gehört in unsern Zu-
— 325 —
zu beschreibender (a-väg-gocara) Zustand sei, brauchen wir
uns nicht zu beruhigen, da wir direktere Angaben in
unsern Texten finden. Aniruddha selbst sagt an einer
anderen Stelle, dass die Erlösung die vollkommenste aller
Schmerzbeseitigungen sei ') ; und oftmals wird dieselbe als
das absolute Aufhören des Schmerzes oder als die Unmög-
lichkeit seiner Wiederkehr definirt. Da die Schmerz-
empfindung auf der in den vorigen Kapiteln behandelten
,Yerbindung' der Seele mit der Materie beruht, besteht
die Erlösung in der völligen Trennung beider, in der
definitiven Isolirung (kaivalya) der Seele -). Diese Trennung
bedeutet, dass der in dem inneren Organ befindliche
Schmerz aufliört seinen Reflex auf die Seele zu werfen
oder — um das andere Bild zu gebrauchen — dass das
schmerzvoll afficirte innere Organ nicht mehr von dem
Lichte der Seele beschienen wird ^).
Wenn nun der Zusammenhang des inneren Organs
mit der Seele aufgehoben ist und in Folge dessen der
Schmerz aufhört in der Seele zu reflektiren, so gilt dies
selbstverständlich auch von allen anderen Affektionen;
und daraus folgt, dass nach der Sämkhya- Lehre die
Seele in der Erlösung zwar individuell fort-
dauert, aber in dem Zustand absoluter Bewusst-
losigkeit*). Könnte darüber noch ein Zweifel bestehen,
so wird er durch die Erklärung beseitigt, dass schon bei
Lebzeiten derselbe Zustand erreicht wird, wie er in der
Erlösung nach dem Tode besteht, nämlich während des
sammenhang die entschiedene Irrlehre, dass die erlöste Seele ihrer Natur
nach Erkenntniss des ganzen Universums (jagat-praMca-rüpa) sei.
1) Zu I. 5.
2) Sütra III, 65.
3) Vijfi. zu m. 72, 74, VI. 11, 21.
*) Dieselbe Anschauung findet sich in der Vaiceshika-
Nyäya- Philosophie, wofür die Belege bei Nilakantha- Hall,
Rational Refutation p. 152—155 nachzusehen sind. Höchst wahr-
scheinlich liegt hier eine Beeinflussung von Seiten unseres Systems
vor; s. oben S. 119 Anm. 1.
— 326 —
tiefen traumlosen Schlafes, der Ohiimaclit und der bis auf
das höchste Maass gesteigerten Versenkung, kurz jedesmal
dann , wenn das Bewusstsein geschwunden ist '). Der
einzige Unterschied dieser Zustände von der Erlösung
liegt darin, dass in ihnen noch der Keim des Gebunden-
seins existirt, während derselbe beim Eintritt der Erlösung
zu Grunde geht -).
Wenn unsere Texte den Zustand der isolirten Seele
beschreiben, so sagen sie, dass die Seele dann in sich selbst
ruhe (svastha) •^) oder in ihrem eigenen Wesen (svarüpe
'vasthäna , svaritpa-'pyatishfhä) *) oder in der Fülle ihres
eigenen Wesens (sva-svarilpa-pürnatayä 'vasthänaj ^) , also
ausserhalb jedes Zusammenhangs mit Objekten der Er-
kenntniss. Ganz deutlich ist dies in einigen Strophen des
Yogaväsishtha ausgesprochen ^), welche die Anschauung
des Sänikhya- und Yoga- Systems über diesen wichtigen
Punkt am klarsten zum Ausdruck bringen:
„So ungetrübt das Licht erscheinen würde, wenn
,. alles beleuchtete, d. h. Raum, Erde, Aether, nicht
„existirte, derart ist der isolirte Zustand des Sehers,
„des reinen Selbstes, wenn die Drei weit, du und ich,
„kurz [alles] sichtbare vergangen ist."
„Wie der Zustand eines Spiegels ist, in den ledig-
„lich kein Reflex fällt , weder von einer Bildsäule noch
„von sonst etwas, — allein das Wesen [des Spiegels]
„an sich darstellend — ,"
„So ist die Isolirung des Sehers, der ohne zu
„schauen verharrt, nachdem der Wirrwarr der
„Erscheinungen, ich, du, die Welt u. s. w., ge-
„schwunden ist."
Wenn die Seele so zum Fürsichsein gelangt ist, löst
1) Sütra V. 116, Vijn. zu II. 34, V. 15.
2) Sutra V. 117; s. auch Vijn. zu I. 16, 19, V. 119.
3) Sütra II. 34.
*) Yogasütra I. 3, IV. 33.
^) Vijn. zu V. 116 5 vgl. auch pürnätman bei Vijiü. zu I. 154.
6) Citirt bei Vijfi. zu I. 146 und II. 34.
— 327 —
sich das Innenorgan, das ihr zugehörte, auf^), und der
feine Körper, der bis dahin die Wanderung von einer
Existenz zur andern bedingte, vergeht 2). Das Trauerspiel
des Lebens ist zu Ende.
Die S ä m k h y a - Philosophie verfolgt keinen anderen
Zweck als dem nach der Erlösung vom Schmerz trachten-
den Menschen zu zeigen, wie dieses höchste Ziel zu er-
reichen ist. Wir haben schon oben im zweiten Abschnitt
gesehen, dass weder weltliche noch rituelle Mittel geeignet
sind die Befreiung vom Schmerz herbeizuführen, dass es
zu diesem Zwecke nur ein einziges Mittel giebt : die unter-
scheidende Erkenntniss. Wir haben ebendaselbst auch die
Anforderungen kennen gelernt, welche die Sämkhya-
Philosophie an denjenigen stellt, der Jiach dieser Erkennt-
niss strebt: die Gleichgiltigkeit gegen die Sinnenwelt und
die Entsagung schaffen die Stimmung des Denkens, aus
der bei der nöthigen Begabung und Anstrengung durch
das Studium der materiellen Principien und des Kausal-
zusammenhanges die unterscheidende Erkenntniss ent-
springen kann; auch ^vird die üebung der Askese und
der Versenkung empfohlen. Aber das sind nur Förderungs-
mittel, die oft angewendet werden, ohne zum Ziel zu führen.
Wie die Finsterniss nur in Folge einer einzigen Ursache
verschwindet, nämlich wenn das Licht sie vertreibt, so
wird auch die Nichtunterscheidung, auf welcher das Ge-
bundensein beruht, allein durch die Unterscheidung be-
seitigt 3). „Auf sieben Arten bindet sich die Materie,"
1) Vijfi. zu VI. 22, 28.
2) Sämkhya-tattva-kaumudi zu Kärikä 55. Die Gleichnisse,
in welche diese Lehre gekleidet ist, sind oben S. 165, 166 besprochen.
3) Sütra I. 56, III. 4, Kärikä 44, 64—66. Wenn im Tattva-
samäsa Sütra 23 und in der Sänikhya-krama-dipikä Nr. 74 gelehrt
wird, dass man die Erlösung auf dreifache Art gewinnt, 1) durch
die Erkenntniss, 2) durch Entsagung und Selbstbezwingung, 3) durch
die allgemeine Vernichtung, so sind die Verfasser dieser jungen
Texte auf Bahnen gerathen, die dem wahren Wesen der Sämkhya-
Philosophie schnurstracks zuwiderlaufen.
— 328 —
d. h. durch Verdienst , Gleicligiltigkeit ^) , übernatürliche
Kraft, Verschuldung, Nichtwissen, Nichtgleichgiltigkeit und
Nichtbesitz der übernatürlichen Kraft, „nur auf eine Art
erlöst sie sich", durch das Wissen, d. h. durch die unter-
scheidende Erkenntniss -). Wenn auch die ersten drei von
jenen sieben den Menschen erheben, zum höchsten Heile
flihren sie ihn nicht.
Nach dem vorher gesagten ist klar, dass die unter-
scheidende Erkenntniss nicht den Schmerz unmittelbar
aufhebt, sondern nur die Ursache des Schmerzes, die Nicht-
unterscheidung von Seele und Materie'^). Sie räumt nur
das Hinderniss hinweg, welches die natürliche, der Seele
zu allen Zeiten eigene Schmerzlosigkeit vor unsern Blicken
verhüllt^). Wenn die absolute Verschiedenheit von Seele
und Materie erkannt ist, so ist damit der Wahn beseitigt,
dass die Seele gebunden sei, und dadurch bewirkt, dass
der Schmerz nicht mehr in der Seele reflektirt.
Wie imVedänta auf dem Standpunkte der höheren
Wissenschaft keine Seelen Wanderung anerkannt wird, weil
die empirische Existenz nur eine Illusion und die Seele
mit dem B r a h m a n identisch ist ^) , ebenso giebt es auch
nach der Sämkhya-Lehre keine Seelenwanderung, wenn
die Wahrheit erkannt ist; weil man weiss, dass die Seele
ewig frei ist, und dass Gebundensein und Erlösung, die
bis zum Eintreten der Erleuchtung irrthümlich der Seele
zugeschrieben wurden, der Materie angehören ''). Dasselbe
gilt natürlich auch von der Nichtunterscheidung und der
Unterscheidung, die lediglich zwei bestimmte Affektionen
der Buddhi sind. Wenn, wie zuweilen gescliieht, die
^) S. oben S. 145, 146.
■-) Kärikä 63, Sütra III. 73.
^) Vijfi. zu I. 1, Einleitung zu I. 7.
*) Sütra VI. 20, 21.
''■) Vgl. Deussen, System des Vedänta S. 388.
«) Kärikä 62; Sütra I. 107, III. 71, 72, 74; Auir. zu I. 160,
II. 1 ; vgl. oben S. 307.
— 329 —
Seele als das nicht-unterscheidende oder unterscheidende
Subjekt bezeichnet wird i), so ist das in übertragenem Sinne
gesagt, weil die Seele einen Reflex der beiden Affektionen
empfängt und diese dadurch gleichsam Attribute des
Geistes werden'-). Auch der häufig gebrauchte Ausdruck
,Ziel der Seele' (purushärtha) ist nicht misszuverstehen ;
denn er bedeutet nichts anderes als den ,Wunsch des der
Seele zugehörigen Innenorgans' ^).
lieber die Fortdauer des Leibeslebens nach dem Ein-
tritt der erlösenden Erkenntniss und die Ursache dieser
Fortdauer musste in anderem Zusammenhange schon oben
S. 181—183 gehandelt werden. Die Erlösung bei Lebzeiten
(jivanmukti) ist die unmittelbare Vorstufe der wahren
definitiven Erlösung, die in dem Augenblicke des Todes
eintritt (videliamukti), wenn das Innenorgan des Weisen
sich in die Urmaterie zurückbildet. Erst dann ist die Ruhe
bewusstlosen Daseins für alle Ewigkeit gewonnen.
Das ist die Eschatologie des Sämkhya- Systems. Sie
umfasst nur das Geschick des Einzelnen, nicht das der
Menschheit und des Weltganzen. Mögen noch so viele
Götter und Menschen das höchste Ziel erreichen, die Welt
rollt doch nach den ewigen Gesetzen in unablässigem leid-
vollem Wandel und Wechsel fort in Unendlichkeit.
1) Z. B. bei Anir. zu III. 64.
2) Vijfi. zu VI. 12.
3) So definirt von Vijü. zu I. 1.
Indices.
L Namenindex.
Atharvapari^ishta 35.
Atharvaveda 13, 14, 107, 185.
Atharvopanishad's 22, 41.
Auiruddha 71, 74, 75, 81, 125
u. s. w.
Aniruddhavrtti 74, 78.
Arjuna 140.
Arthasamgraha 112.
Auandatirtha 55, 126.
Aranyaka's 107.
Äsuri 29, 30, 33, 35, 57.
Indra 139, 188.
Indraprastha 28.
I^ä Upanishad 19.
I9varaki-slina 59 ff., 79, 80.
Uttaramimämsä s. u. Vedänta.
Udayanäcärya 118.
Upanishad's 85, 95, 107—109, 111,
162, 185, 201, 209, 221, 247,
252; vgl. auch unter Atharva",
Yoga^ und den Namen der ein-
zelnen Upanishad's.
Umä 55.
1. Sanskrituamen.
Uvata 19, 20.
Rgveda 11, 103, 106, 107, 174,
185, 221, 293.
Katha (Käthaka) Upanishad 21,
22, 239, 247.
Kanabhaksha 116.
Kanabhuj 116.
Kanada 116—118.
Kapila 3 ff., 25 ff., 35, 57, 109,
135 u. s. w.
Kapilavastu 3, 29.
Kapilä 31.
Kardama 28.
Karmamimämsä s. u. Mimämsä.
Käpileya 31.
Käpya s. u. Pataiicala.
Kälägnirudra Upanishad 22.
Kävilam (Jaina-Prakrit) 58.
Kumärila 42.
Kusumänjali 118.
Kürma Puräna 36, 53, 54.
Krshna 140.
Krshna Upanishad 22.
Gaügäsägara 28.
331 —
Garbha Upanishad 22, 131.
Gunädar^a 161.
Gotama 118.
Gopicandana Upanishad 22.
Gauda 63.
Gaufiapäda 35, 47, 57—59, 61,
63 S., 79, 80 u. s. w.
Candrikä 58, 61, 80.
Cärväka 108, 122—125, ISO, 172.
Cülikä Upanishad 22, 131, 132.
Chändogya Upanishad 17, 18,
173, 181, 201, 260.
Janaka 30, 31.
Jäbäla Upanishad 22.
Jina 110, 188.
Jaigishavya 36.
Jaina 35, 109, 110, 143, 298.
Jaimini 111, 112.
Tattvayäthärthyadipana 69.
Tattvasamäsa 32, 68—70, 82
u. s. w.
Tantra's 55, 166.
Taittiriya Aranyaka 14.
Taittiriya Upanishad 14, 201.
Taittiriya Brähmana 21.
Durgä 55.
Devahüti 28.
Devi 55.
Dvivedagaüga 19.
Nakidi^a-Pä^upata 126.
Naciketas 21.
Naräci 28.
Näge^a oder Nägoji Bhatta 79.
Nädabindu Upanishad 22.
Näräyana 115.
Näräyaiia Tirtha 58, 61, 80.
Ninikta 209.
Nilakantha (Commentator zum Ma-
häbhärata) 217;
Nrsimhatäpaniya Upanishad 22.
Naiyäyika s. u. dem folgenden Wort.
Nyaya 33, 70, 87, 111, 116, 118
—121, 137, 150, 151, 153, 157,
159—161, 171, 178, 180, 202,
229, 231, 232, 237, 240, 253,
254, 260, 270, 273, 286, 297,
313, 823, 325.
Nyäyasütra 120, 260, 274.
Nyäyasütravrtti 159, 248.
Paiicarätra 4.
Panca^ikha 30 ff., 35, 36, 57, 69,
214, 258, 274, 287, 288, 299,
300.
Patancala Käpya 25, 26.
Patanjali 25, 26, 40, 43, 186,
187, 194.
Padma Puräna 75, 76.
Parä^ara 31.
Päncarätra 56, 115.
Pätaliputra 73, 162.
Päuini 126.
Pätaiijala 63.
Pärvati 55.
Pä^upata 4, 55.
Puräna's 52—54, 166, 209, 240,
244.
Purushottama 115.
Pushkara 28.
Pürnaprajna 126.
Pürvamimärnsä s. u. Mimärasä.
Pauränika Sämkhya 54.
Prajäpati 103, 139.
Pratyabhijnä 126.
Pragna Upanishad 16, 18, 21, 22,
247.
Pränägnihotra Upanishad 22.
Bädaräyana 7, 113, 114.
Buddha 3, 5, 16, 95, 102, 173,
174, 188.
Buddhamitra 38.
Bihat-Pärä9ara Dharma^ästra 35.
332
Brhadäranyaka Upanishad 19,
30, 108,' 173, 222, 297.
Brhaspati 122.
Baudhäyana 176.
Brahmajäla Sutta (Päli) 5—7, 20.
Brahman masc. 60, 72, 139, 188,
190, 235, 262; neutr. s. unten
II. 1.
Brahmamimäipsä s. u. Vedänta.
Brahmasütra 43, 51, 73, 78, 114
—116, 120, 122, 219, 238,
277.
Brähmana's 94, 103, 107, 185,
222.
Bbagavadgitä 9, 10, 44, 48, 51,
66, 115, 140, 217, 263.
Bhagavant 115.
Bharata 143.
Bhartrhari 42.
Bhägavata 56, 115.
Bhägavata Puräna 28, 54, 78,
115, 204.
Bhäväganeca Dikshita 69.
Bhäskaräcärya 122.
Bbishma 48.
Bhairavi 55.
Blioja(räja) 39, 62, 106, 245, 259,
270, 323.
Manirata 37.
Matsya Puräna 53, 54.
Madra 25.
Manu 44—47, 54, 60, 154, 243.
Mahä Upanishad 22.
Mahädeva s. u. Vedäntin Mahä-
deva.
Mahänäräyana Upanishad 14, 22.
Mahäbhärata 30, 31, 33, 35, 36,
47 ff., 60, 131, 132, 135, 140,
143, 162, 178, 204, 214, 217,
242, 272, 274, 307, 321.
Mahäbhäshya 26.
Mabidhara 19, 20.
Mädbava (Mädhavacärya) 70, 84,
122, 123, 126, 193, 201.
Mädbyamika 110, 203.
Mädbva 55.
Mära 21.
Märkandeya Puräna 53.
MäbcQvara 55.
Mitbilä 30.
Mimäinsä 72, 73, 111, 112, 136,
141, 151, 157, 179, 239.
Mimämsäsütra 43.
Muktikä Upanishad 131.
Mokshadbarma 31, 33, 48, 51.
Maitri Upanishad 18, 21, 22, 44,
185, 214, 216, 244, 247.
Yajurveda 107, 185.
ya90varman 258.
Yäjnavalkiya Kända 25.
Yäjiiavalkya 30, 31; (Jurist) 47.
Yäjniki Upanishad 14.
Yäska 209.
Yudbishthira 48.
Yoga 4, 6, 25, 26, 36, 37, 40—
44, 74, 75, 101—103, 111, 136,
140, 145, 147—149, 170, 178,
183, 185, 186, 2.39, 246, 247,
254, 270, 277, 324, 326; Yoga
Upanisbad's 22, 41.
Yogabbäsbya 32— 34, 36, 37, 42,
58, 78, 258, 299.
Yogavärttika 32, 78, 299.
Yogaväsishtha 326.
Yogasütra 26, 41—43, 63, 71, 74
Yogäcära 110, 203. [u. s. w.
Ranaranga Malla 62.
Kase§vara 126.
Räjavärttika 58, 62, 196, 197.
Rämakishna Bhattäcärya 61.
Rämatäpaniya Upanishad 22.
Rämänuja 115.
Rämäyana 162.
Rudra 262.
— 333
Laghusämkhyasütravrtti 79.
Vasudeva 28.
Vasubandhu 37.
Väkyapadiya 42.
Väcaspatimi^ra 61, 70, 75, 80
u. s. w.
Vätsyäyana 153.
Väyu Puräna 279.
Värshaganya 36, 37.
Vasudeva 115.
Vijnänabhikshu 28, 32, 69—78,
81, 98, 120 u. s. w.
Vijnänämrta 78.
Vitatha 28.
Vindhyaväsaka 37, 39.
Vindhyaväsin 39.
ViQvagunädar^a 161.
Vi^vanätha 120.
Vishnu 50, 115, 189, 190, 235.
Vishuu Puräna 52, 54, 143.
Vishnusmrti 46.
Veiikatäcärya (Veükatädhvarin)
161.
Veda 72, 73, 120, 121, 124.
Vedänta 7, 85, 111 ff., 136—142,
171, 178—181, 188, 189, 202—
205, 220, 221, 2.30, 232, 233,
2.38, 239, 243, 253, 265, 270,
273, 274, 276, 277, 286, 298,
300, 301, 303, 307, 320, 323, 328.
Vedäntasära 123.
Vedäntasütra s. u. Brahmasütra.
Vedäntin Mahädeva 78, 81, 125
u. s. w.
VaiQeshika -37, 70, 87, 111, 116
—121, 137, 150, 151, 171, 202,
210, 229, 231, 232, 237, 240,
253, 254, 264, 270, 273, 286,
297, 323, 325.
Vaiceshikasütra 118, 274.
Vodha, Vodhu 35, 57.
Vyäsa 32, 33, 36, 42, 43, 58, 63,
78, 196, 299. ■
Qakti 55.
Qlamkara (Qamkaräcärya) 4, 19,
27, 42, 51, 61, 70, 73, 87, 114,
115, 120, 159, 162, 181, 204,
219, 220, 2.38, 277.
^atapatha Brähmana 16, 25, 29,
173, 209.
Qabarasvämin 33, 43.
Qäkta 55.
Qäükhäyana Brähmana 16.
Qändilyasütra 115.
Qärirakamimämsä s. u. Vedänta.
giva 55, 133, 190, 235.
gulvasütra 93, 94.
gaiva 126.
Qrautasütra 94.
gvetaketu 16.
Qvetä9vatara Upanishad 9, 10,
18, 21, 22, 27, 77, 131, 247.
Shashtitantra 58, 59, 162.
Saragralia 62.
Satthitanitam (Jaina-Prakrit) 58.
Sadänanda 123.
Sana 35.
Sanaka 35, 57, 243.
Sanatkumära 35.
Sanatsujäta 35.
Sananda 57.
Sanandana (Sanandanäcärya) 34,
35, 288.
Sanätana 35, 57.
SarvadarQanasanigraha 62, 70, 84,
122, 125, 193, 201, 224, 2.32,
2.36.
Sarvopakärini 68.
Säiiikliya (Bedeutung des Wortes)
95, 96; (Personenname) 133; vgl.
auch unten II. 3.
Sämkhyakärikä 59 ff., 79, 80, 82
u. s. w.
Sämkhyakaumudi 61.
— 334 —
Sämkhyakramadipikä 32, 58, 69,
82 u. s. w.
Sämkhyatattvakaumudi 61, 62,
74, 80 u. ß. w.
Säinkhyatattvapradipa 82, 201.
Sämkhyapravacana 71.
Sämkhyapravacanabliäshya 74 ff.,
78, 79 u. s. w.
Sämkhyasära 78, 210, 215.
Sämkhyasütra 34, 59, 60, 68-74
Sämkhyasütravi-tti 81.
Sähityadarpana 162.
Skanda Upanishad 22.
Syumara^mi 135.
Srughna 73, 162.
Svapue9vara 34.
Harivam^a 28, 36.
Hiranyagarbha 27, 190.
u. s. w.
2. Andere Namen.
Abammon 102.
Alberüni 62 ff.
Alexandria 96.
Anaxagoras 87, 89.
Anaximander 86.
Antoninus Pius 102.
Aristoteles 97.
Aufrecht, Th. 161.
Ballantyiie, J. R. 32, 69, 81, 82,
112, 120, 126, 131, 134, 1.39,
150, 153, 177, 197, 205, 212,
214, 216, 229, 236, 250, 263,
270, 284, 285, 294.
Banerjea, K. M. 53, 83, 119.
Bardesanes 101.
Barth, A. 10, 55, 56.
Barthelemy Saint-Hilaire 69, 70,
82, 83, 91, 92, 126, 131, 173,
175,181,184,197,198,296,309,
323.
Baur, Ferd. Chr. 98.
Bechanaräma Tripäthi 80.
Bhägavatächärya 161.
Bhandarkar, R. G. 42, 83, 115.
Bhimächärya Jhalakikar 159.
Biedenkapp, G. 99, 105, 159.
Böhtlingk, 0. V. 18—20, 174, 293
Bühler, G. 5, 33, 37, 42, 43, 45, 47
Burgess, J. 42.
Burneil, A. C. 24, 45, 46, 54,
161, 169.
Chezy, A. L. de 92.
Colebrooke, H. Th., 22, 27, 28,
42, 46, 53 ff., 59, 61, 62, 64,
68, 69, 79, 82, 86, 90, 91, 122,
131, 151, 153, 205, 211, 214,
232, 243, 247, 266, 279, 281,
285, 296, 297, 303.
Collin de Plancy 92.
Cowell, E. B. 62, 69, 70, 82, 84.
171, 216.
Curtius, G. 293.
Davies, John 4, 28, 80, 105, 127,
131, 212, 219, 256.
Demokrit 87, 89.
Deussen, P. 7, 41, 42, 51 , 87,
105, 111, 113, 114, 138, 142,
150, 153, 160, 162, 178, 179,
181, 188—190, 220, 221, 232,
233, 239, 243, 248, 253, 256,
265, 273, 274, 286, 298, -300, 328.
Dharmädhikäri DhundhiräjaPan-
tasharman 80.
Dubois, J. A. 92.
Eckstein, Baron v. 88.
335
Eleaten 85, 90.
Empedokles 86, 87, 89.
Epikur 87, 90.
Fausböll, V. 29.
Fleet, J. F. 34, 42.
Garbe, R. 80, 81, 84.
Gladisch, Aug. 88.
Gogerly, G. 5.
Goldstücker, Th. 84, 195.
Gough, A. E. 8-10, 75, 84, 107,
118, 175, 176, 185.
Govindadeva^ästrin 82.
Grassmann, H. 29-3.
Grimblot, P. 5.
Hall, Fitzedward 25, 28 ff., 42,
52, 54, 60 ff., 68 ff., 78, 79,81-
83, 99, 119, 131, 158, 177, 178,
180, 181, 205, 210, 212, 215,
229, 236, 240, 244, 246, 248,
258, 309—311, 316, 325.
Hartmann, Ed. v. 104, 105.
Haughton, Sir Graves 285, 286.
Heinze, M. 89, 104.
Heraklit 86, 104.
Herodot 93.
Hopkins, E. W. 45.
Jacob, G. A. 131, 185, 248.
Jacobi, H. 119, 211, 212, 248.
Johaentgen, F. 45, 46, 83, 151,
154, 156, 166, 211, 221, 323.
Johannes (Evangelist) 103.
JoUy, J. 46.
Jones, Sir William 88, 90, 91, 94.
Kasawara 59.
Kennedy, Vans 285.
KeQava^ästrin 32.
Kielhorn, Fr. 258.
Koppen, C. F. 227.
Lange, F. Alb. 88, 122.
Lassen, Chr. 26, 56, 79, 94, 96
—102.
Leukipp 87.
Leumann, E. 294.
Ludwig, A. 11.
Markus, P. 43, 114, 133, 149,
212, 214, 246, 270, 314.
Mot (egyptisch) 244.
Movers, C. Fr. 244.
Muir, J. 13.
Müller, Max 8, 20, 21, 27, 59,
116, 132, 133, 150, 169, 286.
Nilakantha Sastri Gore, Nehe-
miah' 8, 83, 99, 119, 158, 177,
178, 180, 181, 205, 212, 316, 325.
Nilmani Mukhopädhyäya Nyäyä-
lankära 53.
Ocellus 90, 91.
Oldenberg, H. 3, 21, 111, 173,
178, 196, 302.
Ophiteu 97.
Parmenides 85.
Päthak, K. B. 42.
Pauthier, G. 79.
Phädon 91.
Phädrus 91.
Philo 104.
Philolaus 93.
Plato 91, 92.
Plotin 99—102.
Porphyrius 101, 102.
Pratäpa Chandra Ray 30, 55.
Pythagoras 90—96.
Räjendraläla Mitra 106, 177, 280.
RämakishnaQästrin Patavardha-
na 32.
Regnaud, P. 22, 209, 239, 248,
252, 256, 274.
Röer, E. 9, 69, 83, 88, 118, 126,
— 336 —
127, 131, 150, 155, 156, 205, Tylor, E. B. 176, 186.
229, 247, 297, 302.
Ueberweg, Fr. 89.
Upham, Edw. 92.
Valcntinianer 97.
Voltaire 174.
Ward, W. 82.
Sachau, Ed. 63, 65 ff.
Sanchoniathon 244.
Scherman, L. 11, 92, 107, 135.
Schlegel, F. v. 92.
Schlüter, C. B. 88.
Schopenhauer, A. 104, 105.
Schroeder, L. v. 41, 92—95, 173, Wassiljew, W. 37, 39.
221. Weber, A. 7, 10 ff., 25 ff., 35, 41,
Seng ke lun (chinesisch) 37, 38. 42, 47, 59, 78, 92, 93, 103, 104,
Shamarav Vithal 161. 131—133, 173, 174, 220, 239,
Spinoza 105. 293.
Westergaard, N. L. 71.
Täranatha Tarkavächaspati 80, Wilson, H. H. 52, 54, 64, 80, 91,
159. 212, 236, 240, 244, 248, 262,
Taylor, W. 161. 266, 279, 285, 302.
Tolang, K. T. 42, 59. Windisch, E. 211.
Thaies 86, 89. Windischmann, F. H. 79.
Thibaut, G. 112, 114.
Timäus 91.
Tsi schi tschang schi lun (chine-
sisch) 38.
Xenophanes 85.
Zachariae, Th. 161.
II. Sachindex.
1. Sanskrit.
akartar 300.
aksha 257.
akshara 205, 293.
akhaudopädhi 313.
aguna 301.
anga 273.
anu 237, 299.
anumätra 299.
andaja 243.
atära 284.
atäratära 284.
atiprasakti, atiprasaiiga 160, 320.
ativyäpti 160.
atitävasthä 231.
atindriya 258.
atyantanivi'tti 136.
atyantäsattva 203.
adrshta 121, 179, 223, 273.
advaitaväda 113.
adhidaivata 262.
adhibhüta 262.
adhishthätar 295, 305.
adhishthätrtva 257.
adhiehthilna 1) Sitz, Stätte 'i-')"^;
2) Leitung 257.
adhishthänä^arira 266, 267.
— 337
adhyayana 283.
adhyavasäya 244.
adhyätma 262.
ananta 298.
anantä 284.
anambhas 284.
anavasthä, anavasthäna 159, 160.
anägatävasthä 231.
anädi 147, 298.
anävi-tti 188.
anugrahasarga 240.
anupacarita 806.
anumäna 151.
anu9ayin 188.
anogha 284.
antahkarana 253.
antalikaranasämänya 246, 254.
antahsamjiia 242.
andhatämisra 280.
andhaparainparä 140.
anyathäkhyäti 120.
anyo'nyäbhäva 299.
anyo'nyäcraya 159.
ap 239.
apara 307.
aparavairägya 145.
apara vidyä 189.
apariiiämin 300.
apavarga 164, 224, 323.
apäna 256.
apürva 179.
aprasavadharmin 302.
abhäva 117.
abhiniveca 280.
abhibuddhi 263.
abhimäna 170, 248, 249.
abbivyakti 231.
abhogya 237.
amala 301.
arthäkära 311.
ardbalaya 276.
avakä9adäna 239.
avadhrta 257.
avastu 230.
Garbe, Sämkhya-Philosophie.
aväggocara 325.
aväntarapralaya 221.
avidyä 113, 170, 280.
avidyäsamskära 272.
avibhäga 299.
avividishä 252.
aviveka 147, 320.
avivekin 234, 290.
avi^esba 237.
avedyä 284.
avyakta 50, 170, 205.
a9akti 49, 279.
a9äiitäghorämüdha 237.
a^ubhakarmakartar 249.
a9ubhamüdhakartar 250.
asaüga 300.
asatkäryavädin 232.
asamaväyikärana 229.
asamprajnäta 278.
asamprajiiätayoga 148.
asambhüti 19, 20.
asalila 284.
asutära 284.
asmitä 280.
ahamkära 17, 68, 170, 171, 190,
198, 206, 207, 234—236, 238,
245, 246, 248—253, 260—262,
264, 280, 303, 308; personificirt
51, 53.
äkä9a 93, 239.
äkrti 239.
ätivähika9arira 266.
ätmadravya 286.
ätman 108, 109, 113, 170, 286, 293.
ätmasukha 301.
ätmä9raya 159.
ädipurusha 189.
ädividvams 33.
ädisarga 220.
ädhidaivika 134.
ädhibhautika 134.
ädhyätmika 134, 282.
äntara indriya 252.
22
— 338
äptavacana 60, 151.
äpta^ruti 60.
äptagiima 60.
ävrtti 188.
asana 148.
ästika 121.
indriya 170, 235, 257.
indriyajaya 36.
iva 316.
i^a 170.
icvara 170, 191.
iitpatti 231.
udäua 256.
udäsina 301.
udbhijja 243.
upagraha 258.
upanayana 138.
iipabhogadelia 188.
upamäna 151.
uparäga 316.
upastha 258.
upädana(kärana) 228 — 230.
upädhi 171, 275, 277, 287, 305-
307, 317, 318.
ubhayadeha 188.
üshmaja 248.
üha 283.
ishitarpana 35, 37.
esha 298.
ai§varya 148.
aupädänika 229.
aupädhika 317.
ka 293.
karana 170, 257, 262.
karanda 273.
kartar 121.
kartrkarmavirodha 159,
kartrtva 178.
karmakarti-virodha 159, 296.
karmadeha 188.
karman 108, 179.
karmayoni 251.
karmätman 249.
karmendriya 258.
kalala 273.
kalpa 221.
kalpanä 158.
karana 170, 228—230.
käranarüpa 218.
kärya 229, 247.
käryakäranäbhcda 231.
käryarupa 218.
käryeQvara 191.
käla 286.
kä9 mit pra 312.
kütastha 300.
kütasthanitya 289.
kevala 257, 296.
kevalätman 171.
kaivalya 41, 825.
kledana 239.
kshetra 205.
ksbetrajna 293.
kshobha 223.
kha 239.
khapushpa 163.
khyäti 244.
gandhatanmätra 236.
gandharva 139.
guna (drei) 13, 18, 45, 46, 56,
98, 163, 166, 170, 171, 205,
209—221, 225, 227, 233, 237,
246, 247, 249—251, 275, 280,
290, 295, 300, 303, 304.
golaka 258.
gauna 298.
gaurava 158.
339 —
ghora 237.
ghräna 258.
cakshus 258.
cit 170, 297, 310.
citi 170, 297, 310.
citta 170, 246.
cidaveca 316.
cinmätra 297.
cetana 170, 297, 310.
caitanya 170, 297, 310.
chayä 60, 315.
chayäpatti 316.
jagatprakä^arüpa 325.
jada 312.
janman 272.
janyecvara 191.
japä 166.
jaräyuja 243.
jägara, jägarana, jägarita, jägrat
275.
jätisänikarya 121.
jihvä 258.
jiva 171, 257, 296, 305.
jivanmukta 140, 181—184, 190.
jivanmukti 181, 183, 329.
jivätman 91.
jnäna 170, 310.
jiiänavrtti 312.
jiiänendriya 258.
tattva 137, 285.
tattvajnäna 137.
tanu 239.
tauumätra 236.
tanmätra 170, 206, 236—239.
tanmätrasarga 280.
tapas 185.
tamas 1) Name des dritten Guna
18, 166, 170, 171, 205, 211,
212, 214, 216—219, 227, 236,
246, 247, 249, 250, 275, 290,
304; 2) Bezeichnung des Nicht-
wissens 280.
tarka 22.
tämasalinä 284.
tämisra 280.
tirobhäva 231.
tushti 49, 279.
tejas 239.
taijasa 236, 249.
trasarenu 238.
triguna 14, 170.
tryanuka 238.
tvac 258.
dakshinäbandha 321.
dayä bhüteshu 143.
däkshinaka bandha 321.
däna 283.
die 286.
duhkhayoga 317.
duradhigama 299.
drshta 151, 158.
deva 191.
daicikäbhäva - pratiyogitävacche-
daka-jäti 218.
dravya 210, 230, 286, 287, 301.
drashtar 312.
dvesha 280.
dvyanuka 238.
dharma (Attribut) 247, 286.
dharmadharmyabheda 158.
dharmädharmau 247.
dbätusamsarga 242.
dhärana 239.
dhäranä 148.
dhi 244.
dhrti 244, 251.
dhyäna 148.
dhruva 205.
dhvamsa 231.
nara 293.
näca 133.
nästika 122.
nästikya 216.
22*
340
nigüdhakarmakartar 249.
nitya 298.
nityamukta 301.
nitya-Quddha-buddha-mukta-sva-
bhäva 73.
nitycQvara 191.
nididhyäsana 146, 147.
iiimitta(karana) 170, 228, 229.
niyata 257.
niyama 148.
niyämakäbliäva 159, 318.
niranumäna 249, 250.
niri9varaväda 191.
nirguna 297.
nirdharma 297.
nirdharmaka 297.
iiirbija 278.
nirbbäga 298.
nirmukti 323.
üirvikalpaka jnäna 152.
nirvishaya jnäna 310.
nishkriya 300.
nr9riiga 163.
naimittika 229.
paiicatä, pancatva 273.
panca mätaras bei Alberüni 68.
paucavim^atitattva 137.
pada 257.
padärtha 285.
para 307.
parama 307.
paramamahant 300.
paramänu 237.
paravairägya 145.
parärtha 290.
paricchinna 218.
paricchinnaparimäna 298.
parinama 204, 312.
parinäminitya 289.
parinishthä 207.
parimita 218.
paryavasäna 207.
päcaka 239.
päni 258.
päda 258.
päyu 258.
päramärthika 318.
paramärthikasattva 202.
päramärthikäsattva 203.
päribhashika 194.
pitrtarpana 35, 57.
pi^äca 139.
pums 166, 293, 294.
pumgunajantujiva 293.
punarävrtti 188.
pura 205.
puräna 294.
puri Qete 294.
purusha 166, 177, 293, 294; als
männliches Schöpfungsprincip auf-
gefasst 54.
purusbavi^esha 41.
purushärtba 329.
purohita 294.
pürnätman 326.
pÜTvavat (anumäna) 153.
pürväcäryäh 39.
pürväbhäva 231.
prtbivi 239.
prakä9a 297, 310.
prakä9aka 312.
praki-ti 68, 77, 86, 166, 170, 204,
205, 208, 237, 285, 286; acht 49;
als weibliches Schöpfungsprincip
aufgefasst 54, 55 ; Bezeichnung der
Frau in den indischen Volks-
dialekten 55.
prakitibandha 321.
praki'tilina 14.
pracchannabauddha 75.
prajnä 244.
prajnänasamtati 244.
pratibimba 60, 61, 315, 318.
pratibimbana 316.
pratibhä 101.
pr atisam cara 221.
pratisarga 221.
341 —
pratyaksha 151, 170.
pratyanga 273.
pratyayasarga 240, 279. .
pratyähara 148; s. 347 unter
(Verbesserungen'.
pradhäna 170, 204, 208, 285, 286.
pradhänaka 205.
pradhvamsa 231.
pramä 150.
pramäna 150, 170.
pralaya 86, 221 fiF.
prasiddhapada - sämänädhikaran-
ya 155.
prasüta 205.
präki-ta 14, 208; — bandha 321.
präki-tika 208, 278.
präna 170, 255, 256, 293.
pränäyäma 347.
prätibha jnäna 101.
prämänika 159.
prärabdha 272.
praudhaväda 76.
bandba 170, 224, 316.
bandhyäputra 163.
bähya 282.
bähyendriya 257.
bimba 318.
bijäükuravat 147.
buddhi 68, 170, 171, 189, 198,
207, 218, 234, 235, 238, 244—
248, 250—254, 262—264, 269,
270, 275, 276, 278, 280, 288,
303, 312, 314, 321, 328; perso-
nificirt 50, 51, 53.
buddhindriya 258.
budbuda 273.
brähman neutr. 71, 75, 76, 85,
108, 109, 112—114, 203, 205,
232, 233, 277, 293, 307, 328.
brahmän masc. 244; vgl. im Index
I. 1.
brahmarüpatä 73, 277.
bhakti 115.
bhäna 312.
bhäva 247, 278.
bhävasarga 279.
bhäs 312.
bbüta 170, 239.
bhütasarga 139, 242, 280.
bhutasükshma 236.
bhütädi 236, 249.
bbütä^raya 265.
bhoktar 170, 240, 295, 313.
bboktrtva 178.
bhoga 164, 170, 224, 311.
bhogya 170, 240.
bhogyabhoktrbhäva 287.
bbautikasarga 139, 242, 280.
mati 244.
madhyamaparimäna 255, 298.
madhyastha 301.
manana 146, 147, 246.
manana9ästra 155, 211.
manas 91, 118, 170, 171, 235,
244—246, 252, 253, 262.
manushyacriiga 163.
mahat, mahän 170, 244.
mahäpralaya 221.
mahäbhüta 237, 239.
mahämoha 280.
mamsape^i 273.
mäna 150.
mäyä 53, 77, 113.
mithyä 316.
mithyäväsanä 147.
mukti 170, 323.
mukhya 306.
müdha 237.
mürchä 277.
mürti 285.
mülakärana 205.
mülaprakrti 160, 204.
mülikartha 196.
moksha 170, 323.
moha 280.
342 —
ya 293.
yaksha 139.
yama 148.
yoga s. im Index I. 1.
yogänga 148.
yogin 125, 136, 153, 187, 188,
209, 237.
rajas 18, 166, 170, 171, 205, 211,
212, 214, 216—219, 227, 236,
249—251, 260, 275, 290, 304,
317.
rajjusarpa 162; vgl. 288.
rasa 258.
rasatanmätra 236.
rasana 258.
räkshasa 139.
räga 280.
rüpa 247.
rüpatanmätra 236.
Iaya221,231,276; layam gacchat
266.
läghava 158.
Häga neutr. 91, 163, 167, 170,
235, 265—267; adj. 208.
liiigadeha 1 §. unter dem vorigen
lingacarira / Wort.
lokäyata 122.
lokayatika, laukäyatika 19, 122.
vadha 281.
vartamänävasthä 231.
vasu 285.
vastu 230, 285.
väkyabheda 157.
väc 103, 258.
väyu 239.
väsana 147, 170, 228, 269.
vikalpa 252.
vikara 49, 239, 312.
vikrti 204, 205.
vigraha 239.
vighäta 281.
vijnäna 85.
vidt'hamukti 183, 329.
vidya 114, 138, 170.
vinigamakäbhäva, vinigamanävi-
raha 159.
viparitajnäna 320.
viparyaya 279—281, 320.
viparyäsa 320.
vibhu 170, 300.
vimukti 323.
vimokslia 170, 323.
viräga 144.
vividishä 252.
viveka 137.
vivekajnäna 137.
vivekanishpatti 149.
vi^ishta 257.
vi^esha 237, 239.
viQeshavi'tti 197.
vishaya 170, 290.
vishayäkära 311.
visarga 220.
vrtti 259.
vrttisärüpya 316.
vrddhavyavahära 154.
vrddhäh 39.
vedantibruva 75.
vaikärika 236, 249, 257; — baii-
dha 321.
vaikrta 236, 249, 278.
vairägya 144.
vaishamya 220.
yyakta 205.
vyakti 213.
vyaktibbeda 235.
vyashtibuddhi 234.
vyaslatisamashtyor ekatä 158.
vyashtisrshti 220.
vyana 256.
vyäpaka 300.
vyäpti 33, 151.
vyävahärikasattva 202.
vyutpatti 73.
343 —
^akticaktimadabheda 158.
^atasähasri samhitä 34.
cabda 151, 283.
cabdatanmätra 236.
carira 285.
9aca9rnga 163.
^änta 237.
^antaghoramüdlia 239.
Quktirajata 162.
cuddha 301.
9uddhätman 171.
§ubliakarmakartar 249.
^ubhamüdhakartar 250.
QÜdra 138—140.
^eshavat (anumäna) 153.
^eshavrtti 197.
coshana 239.
9raddhä 251.
cravaiia 146, 147.
cruti 244.
erotra 258.
shashtitantra 58; vgl. im Iudex
I. 1.
shätkaucika 272.
sa 293.
samyoga 116, 223.
samyogavicesba 306.
sainsarana 133.
samsära'l47, 170, 172flF., 188,
194, 222, 284, 304.
samskära 170, 269—272, 275,
276.
samhatyakärin 290.
.sainhära 221.
samkalpa 252.
samkalpaka 252.
samkalpaja 243.
samkhya 90, 95, 131.
saccidänanda 301.
saincara 220.
satkäryaväda 5, 13, 87, 120, 187,
232.
satkäryavädin 232.
sattva 18, 166, 170, 171, 190,
205, 210—215, 217—219, 227,
236, 246, 247, 249—251, 260,
275, 290, 301, 304, 312, 317,
321.
sattvapurushänyatä 321.
sattva9uddhi 18.
' samagralaya 276.
samaväya 116, 120.
samaväyikärana 229.
samashtibuddhi 234.
samashtisrsliti 220.
samädhi i48, 277.
samäna 256.
samprajnätayoga 148.
sambhüyakärin 290.
sarga 220.
sarpana 259.
sarvabhutadayä 143.
savikalpaka jnäna 152.
sassataväda (Päli) 5, 6.
sahakärikärana 230.
samsiddhika 243, 278.
säkshätkära 140, 147.
säksbin 312.
samkhya 131 ff.
sämkhya-yoga 44.
sämkbyavrddhäh 39.
sämkhyäcäryäh 39.
sädi 177.
sänumäna 249, 250.
sämänyato drsbta (anumäna) 153,
154.
sämyävasthä 219, 220.
siddhi 49, 279.
sukhä 251.
sushupti 275.
subrtpräpti 283.
sükshma 299.
sükshmadeha 266.
sükshmabhüta 206, 236.
süksbma9arira 91, 265, 266.
sükshmävasthä 228.
— 344 —
srshti 86, 220.
sthiti 220.
sthüladeha 272.
sthülabhüta 206, 239.
sthüla^arira 91, 272.
spar^a 258.
spar^atanmätra 236.
spar^ana 258.
sphota 111, 126.
smrti 244.
svatah siddha 294.
svapna 275.
svayamprakä^a 294.
svarüpa 120, 297.
svarüpapratishthä 326.
svarüpe 'vasthäna 326.
svastha 326.
svasvarüpapürnatayä 'vasthäna
326.
svasvämibhäva, svasvämisamban-
dha 287.
svämin 305.
2. Griechisch.
aneiQov 86.
anXcoats 101.
cLQxri 86.
exaraats 101.
d'vfiös 91.
Uyos 103, 104.
oXxas 93.
nävrn qbI 86.
TivevftftTixoi 98.
vXixoi 98.
fQV/V 91.
ipvj^iicoi 98.
8. Deutsch.
Aether 93, 206, 208, 236, 239.
Analogie 151.
Anlage s. Disposition.
Askese 184—188, 282.
Atheismus 60, 61, 75, 76, 87, 88,
111, 112, 191—195; auch in
der Vai^eshika-Nyäya- Philo-
sophie ursprünglich herrschend
gewesen 119.
Athem 255—257, 305.
Atome, Atomistik 37, 87, 116—
118,120; der Begriff des Atoms
im Särnkhya-System nicht an-
erkannt 237, 238, 253.
Befriedigung 279, 280, 282, 283.
Bewusstlosigkeit 148, 277, 278,
317, 325, 326, 329.
Bewusstsein 310 — 316.
Buddhismus , Buddhisten 21 , 96,
109, 110, 178, 185, 196, 201,
203, 221, 222, 227, 270, 284,
302, 320, 324; s. auch oben
Buddha im Index I. 1.
Circulus vitiosus 159.
Concentration des Denkens 147,
148.
Denkorgan 246, 250.
Disposition 147, 267, 269—272,
314, 322.
Elemente, fünf 93, 94, 206 u. s. w. ;
feine 206, 235—239, 265—267,
280; grobe 206, 239, 273, 274.
Embryo, Bildung des 273.
Empirie, Werth der 158.
Entwickelungstheorie 86, 220 ff.
Erkenntniss als einziges Mittel
zur Erlösung 137, 142; vgl. auch
Unterscheidung.
— 345
Erkenntnissmittel 45, 112, 118,
150-156, 158.
Erlösung 91, 134 ff., 287, 289,
301, 304, 323-329; bei Leb-
zeiten 180—184.
Eschatologie 329.
Ethik in der indischen Philo-
sophie wenig berücksichtigt 44,
110, 143, 144.
Farben allein Objekte des Ge-
sichtssinnes 258,314; ihre Ent-
stehung 217
Fehler, logische 159.
Finsterniss, Erklärung der 240.
Gebundensein 91, 224, 301, 315
—323, 326.
Geburt 303.
Gedächtniss 245, 270.
Gedankenfreiheit 121.
Gleichgiltigkeit gegen weltliche
Dinge 144—146, 183.
Gleichnisse 160—168.
Guosis, Gnostiker 96 ff.
Gottesleugnung s. Atheismus.
Götter der Volksreligion 87, 139,
146, 188—191, 209, 237, 243,
304.
Grundsätze, logische 156 — 159.
Grundstoffe s. feine Elemente.
Himmel , himmlische Freuden
gering geschätzt 134, 135, 188,
189, 298.
Höllen 189.
Identität der Einzeldinge und der
Gesammtheit 158, — der Ur-
sache und der Wirkung (resp.
des Produkts) 208, 231—233.
Induktionsschluss , induktiv 154,
155.
Inhärenz, eine Kategorie der Vai-
yeshika-Philosophie 116, 120.
Instinkt 269.
Irrthum 254, 279—281.
Jinismus 109, 110, 185, 221, 222,
237 ; vgl. auch oben Jina, Jaina
im Index I. 1.
Kastenunterschiede nichtig 189.
Kategorien der Vaicjeshika-Phi-
losophie 116, 117.
Körper, innerer 49, 163, 167, 235,
265—272, 827 ; grober 272—274 ;
Bildung des Körpers 121, 256.
Kraft, nachwirkende von Ver-
dienst und Schuld 177 ff., 193,
223, 267, 319; übernatürliche
102, 103, 136, 148, 184—187,
280, 281.
Leben 272, 817; Lebenshauche,
Lebensprincip 255, 256.
Lehrer, professionelle nicht noth-
wendig 140.
Logik der Nyäya-Philosophie 118.
Materialismus , Materialisten 19,
20, 108, 122—125, 1.34, 153, 324.
Meditation 146—148, 185, 186,
279.
Mittheiluug, zuverlässige als Er-
kenntnissmittel 151, 154, 155.
Monismus der Vedänta - Philo-
sophie 109.
Monotheismus der Bhägavata-
Päiicarätra's 115.
Neuplatonismus 96, 99 ff.
Nichtexistenz, eine Kategorie der
Vai^eshika - Philosophie 117 ;
im Säinkhya-System nicht an-
erkannt 158, 231.
Nichtunterscheidung, Nichtwissen
37, 109, 110, 113—115, 147,
178, 182, 228, 267, 272, 280,
288, 306, 308, 320-323, 328.
22**
— 346 —
Ohnmacht 240, 277, 317, 826. 220, 232, 233, auf die Vai9e-
Orgaiie, iimere oder Iiinenorgan shika-Nyäya- Philosophie 119,
91, 167, 168, 234, 235, 253— 248, auf die griechische Philo-
257, 261—265, 275, 276, 281, sophie 86 ff.; ihr Verfall 56, 78.
301, 305—321, 325, 327, 329; Schicksal 179, 180.
vgl. auch ahainkära, buddhi. Schlaf 254, 275 — 277.
manas im Index II. 1. Schlussfolgerung 150, 151, 153,
154.
Perception 151—153, 155, 203. Schmerz 133 ff., 269, 277, 283,
Pessimismus 46, 133 ff. 289, 317—319, 322, 325, 327, 328.
Pflanzeuleib und Pflauzenseele Schrift, d. h. heilige Ueberliefe-
242. rung des Brahmanenthums
Principien, fünfundzwanzig 132, (gruti), ihre Geltung in der
137. Säinkhya-Philosophie 4, 5, 60,
Produkt, sein Wesen 233, 237; 71—73, 155.
anfangs- und endlose Realität Seelenwanderung 86, 87, 91 — 93,
der Produkte 13, 87, 120, 187, 133, 167, 173 ff., 265-269,
203, 232; vgl. auch unter Iden- .800, 327, 328.
tität. Sinne 252, 257—265, 303, 305.
Raum 117, 286, 287, 319. Talente 270.
Realität der Materie 77, 114, Thatorgan 250.
201 — 204. Theismus der Yoga-Philosophie
Reflex des Innenorgans in der 40, 41, 111, der späteren Vai-
Seele 60, 289, 315, 316, 318, §eshika-Nyäya-Philosophiell8,
321, 322, 325, 328, 329. 119.
ReÜexion 146, 147. Thierleib und Thierseele 242;
Regressus in iufinitum 159, 160, Schonung der Thiere 135, 143,
204, 295, 309, 322. 283.
Tiefschlaf 100, 240, 275—277,
Säinkhya-Philosophie, Ursprung- 317, 326.
lieh uubrahmanisch 4, 5, 60, Tod 240, 272, 303.
71, 72, 132, 133, 138 ff., 155; Traum, Traumschlaf 202, 275.
ihre Ablehnung des brahma-
nischen Opferwesens 112, 134, Uebertragung , zu weit gehende
135, 320, 321; ihre Stellung in als logischer Fehler 160, 320.
denUpanishad's21,22, 44, Inder Unsterblichkeit 298.
juristischen Literatur 45 — 47, Unterscheidung von Seele und
im Mahäbhärata 48— 52, in den Materie 149, 282, 288, 327—
Puräua's 51 — 54, in den Tantra's 329.
und in den Sekten 55, 56; ihr Unvermögen 279 — 281, 284.
Einfluss auf den Buddhismus Urmaterie 12, 19, 20, 86, 156,
3, 109, auf die Yoga-Philosophie 160 , 205—209 , 218—228 , 233,
40, 41, 43, auf den Vedänta 234, 320, 321, 329; ihre Ver-
347
bindung mit den Seelen 223,
224; ihre Erschütterung 223;
personificirt 50.
Urwasser als kosmogonisches
Princip in der brahmanischen
Mythologie 11, 12, 15, 86.
Vedäuta-Philosophie s. Index I. 1 ;
ihr Einfiuss auf jüngere Säni-
khya-Werke 72, 73, 75—77.
Vergeltung, Gesetz der 146, 172 fF.
Versenkung 148, 185, 277, 278,
317, 326, 327.
Vollkommenheit 279, 283, 284.
Yoga-Philosophie s. im Index 1. 1.
Yogin s. im Index II. 1.
Wachen 275.
Welt, ihr Dasein anfangs- und
endlos 147, 177, 225, 304, 329;
ihre Entfaltung 137, 220 ff.;
ihre Rückbildung und Auf-
lösung 136, 177, 220 ff., 267,
317; Weltperioden 136, 221,
222, 298.
Werkdienst, seine Behandlung
in den Säinkhyasütra's 72, 141
—143.
Wesen eines Dinges 158.
Widerlegungsgründe 159.
Willensfreiheit 251.
Wort, sein Zusammenhang mit
der Bedeutung 112, 154, 155.
Zahl, ihre Bedeutung in der
Säinkhya-Philosophie 95 , 96,
119, 131, 132, 280.
Zeit 117, 286, 287, 319.
Zustände 274—284, 319.
Verbesserungen.
S. 148, Z. 20 ist hinter „Athmens" eine Zeile ausgefallen:
„(pränäyäma), Abwendung der Sinne von den Sinnesobjekten".
S. 151, Z. 25 lies V. 28—36 anstatt VI. 27—36.
o
Dnick von G. Kieysing in Leipzig.
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UNIVERSITY OF TORONTO LIBRARY
B
132
S3G3
Garbe, Richard von
Die Samkhya-Philo Sophie