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Full text of "Die Sâmkhya-Philosophie; eine Darstellung des indischen Rationalismus"

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PI* 


DIE  'T; 

SÄIKHYA-PHILOSOPHIE. 

EINE  DARSTELLUNG  DES 

INDISCHEN  RATIONALISMUS 


NACH  DEN  QUELLEN 


VON 

RICHARD  GARBE. 


LEIPZIG 
VERLAG  VON  H.   HAESSEL 

1894. 


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GEORG  THIBAUT 

GEWIDMET 

IN  DANKBARER  ERINNERUNG 

AN  ALLE  DEM  VERFASSER  IN  BENARES  ERWIESENEN 

FREUNDLICHKEITEN. 


\) 


Vorwort. 

Für  die  nachfolgende  Darstellung  der  Sämkhya- 
Philosophie  habe  ich  das  gesammte  uns  erhaltene  Quellen- 
material verwerthet,  soweit  es  für  das  Verständniss  des 
Systems  und  seiner  Gescliichte  von  Bedeutung  ist.  Trotz- 
dem haben  die  Grundsätze,  nach  denen  ich  arbeitete,  den 
Umfang  des  Buches  innerhalb  massiger  Grenzen  gehalten. 

Ich  bin  erstens  der  Meinung  gewesen ,  dass  dem 
Interesse  der  Sache  am  meisten  mit  einer  schlichten,  ob- 
jektiven Darlegung  der  S am khya- Lehren  gedient  sei, 
und  habe  deshalb  weder  eine  Kritik  an  diesen  Lehren 
geübt  noch  meine  Darstellung  durch  Vergleiche  mit  ähn- 
lichen Ideen  in  der  europäischen  Philosophie  zu  beleben 
gesucht.  Die  Gefahr  ist  kaum  zu  vermeiden,  dass  durch 
solche  Ausblicke  die  Besonderheiten  eines  indischen  Systems 
verwischt  werden.  „Indische  Dinge",  sagt  Max  Müller 
in  der  Zeitschrift  der  Deutschen  Morgenländischen  Gesell- 
schaft VI.  22,  „haben  so  viel  von  Vergleichung  zu  leiden, 
„dass  es  nothwendig  ist,  ihre  charakteristische  Eigenthüm- 
„lichkeit  so  viel  als  möglich  hervorzuheben.  Wir  lernen 
„durchaus  nicht  die  Individualität  des  indischen  Volkes 
„erkennen,  wenn  wir  seine  Sprache,  sein  Denken  und 
„Forschen  nur  immer  als  Analogon  oder  als  Complement 
„der  griechischen  und  römischen  Welt  betrachten".  Anderer- 
seits ist  der  Parallelismus  der  Grundlehren  des  Säm- 
khya-Systems  mit  denen  der  europäischen  Dualisten 
so  deutlich,  dass  kein  Leser  der  Hinweise  auf  die  Ueber- 
einstimmungen  bedarf. 

Zweitens  habe  ich  nicht  durch  die  vorHegende  Arbeit 
meine  im  Laufe  der  letzten  fünf  Jahre  veröffentlichten 
Uebersetzungen  der  Sämkhya-Texte  überflüssig  machen 
wollen.  Wer  die  Fragen,  zu  deren  Aufwerfung  die  Lehi-en 
der  Sämkhya- Philosophie  in  Indien  geführt  haben,  bis 
in  aUe  Einzelheiten  verfolgen  will,  sei  auf  diese  Ueber- 
setzungen verwiesen. 


—     VI     — 

In  der  Hoffnung,  für  meine  Arbeit  auch  Leser  ausser- 
halb des  engen  Kreises  der  Indologen  zu  finden*),  habe 
ich  nach  Kräften  das  Beweismaterial  und  philologische  Er- 
örteningen  in  Anmerkungen  unter  den  Text  verwiesen. 
In  den  beiden  ersten  Kapiteln  des  einleitenden  Abschnitts, 
die  sich  der  Natur  der  Sache  nach  vorzugsweise  an  Sans- 
kritisten wenden,  waren  freilich  derartige  Auseinander- 
setzungen auch  im  Text  nicht  zu  vermeiden. 

Im  Ausdruck  habe  ich  mich,  soweit  es  mit  der  an- 
gestrebten Klarheit  der  Darstellung  vereinbar  war,  an  den 
Wortlaut  der  Quellen  gehalten.  Vollkommen  unindisch 
dagegen  ist  meine  Anordnung  des  Materials;  in  dieser 
Hinsicht  konnte  mir  keines  der  Originalwerke  als  Vorbild 
dienen;  denn  Uebersichtlichkeit  in  der  Behandlung  des 
Stoffes  ist  in  Indien  selten  erreicht  und  von  den  meisten 
philosophischen  Autoren  nicht  einmal  erstrebt  worden. 

Möge  dieses  Buch  dazu  beitragen,  die  Gleichgiltigkeit 
der  abendländischen  Philosophie  gegen  ihre  indische 
Schwester  zu  beseitigen.  Diesem  Wunsche  habe  ich  nur 
noch  den  Ausdruck  meines  ehrerbietigsten  Dankes  für  die 
Unterstützungen  hinzuzufügen,  durch  welche  die  Kgl.  Preus- 
sische  Regierung  und  die  Akademie  der  Wissenschaften 
zu  Berlin  mir  das  Studium  der  indischen  Philosophie  unter 
der  Leitung  einheimischer  Lehrer  in  Benares  ermöglicht 
haben.  Ohne  diese  Vergünstigung  hätte  ich  mir  die  Aus- 
führung meiner  Arbeiten  über  das  Sä mkhya- System, 
die  mit  dem  vorliegenden  Werke  ihren  Abschluss  erreichen, 
nicht  zutrauen  dürfen.  Herrn  Professor  A.  Hillebrandt 
in  Breslau  danke  ich  herzlich  für  seine  freundliche  Hilfe 
bei  der  Correctur. 


^)  Für  solche  Leser  sei  bemerkt,  das  in  indischen  Worten  c 
und  ch  wie  tsch ,  j  wie  dsch ,  9  und  sh  wie  seh,  s  scharf  wie  unser 
SS ,  r  wie  r  mit  leichter  vocalischer  Beimischung  (als  ri) ,  e  und  0 
stets  lang  auszusprechen  sind. 

Königsberg  i/Pr.  R.  Garbe. 


Inhaltsverzeichniss. 

Seite 

Erster  Abschnitt.     Einleitung 1 

I.     Ueber    das    Alter    und    die    Herkunft    der 

Sämkhya-Philosophie 3 

II.  Zur  Geschichte  und  Literatur  der  Säm- 
khya-Philosophie     24 

m.     Ueber    den  Zusammenhang   der  Sämkhya- 

Lehre  mit   der    griechischen   Philosophie  85 

IV.  Ueberblick  über  die  anderen  philoso- 
phischen Systeme  Indiens 106 

Zweiter  Abschnitt.    Der  Charakter  der  Sämkhya-Philo- 
sophie        129 

I.  Allgemeines 131 

1.  Der  Name  sämMiya 131 

2.  Die  Aufgabe  des  Systems 133 

3.  Die  Anforderungen 141 

4.  Die  Methode 150 

5.  Die  Terminologie 168 

II.  Die     allgemein-indischen     Bestandtheile 

des  Systems 1"2 

1.  Der  Samsära  und  die  Macht  der  That     .     .  172 

2.  Die  Erlösung  bei  Lebzeiten 180 

3.  Der  Werth  der  Askese 184 

4.  Das  Mythologische 188 

III.     Die     speciellen     Grundanschauungen     des 

Systems 191 

1.  Der  Atheismus 191 

2.  Der  übrige  Inhalt 195 

Dritter  Abschnitt.     Die  Lehre  von  der  Materie       .     .199 

I.     Kosmologie 201 


—     VIII     — 

Seite 

1.  Die  Realität  der  Erscheinungswelt  ....  201 

2.  Die  Urmaterie 204 

3.  Die  drei  Guna's 209 

4.  Die  Evolution  und  Reabsorption  der  Welt  .  220 

5.  Der  Begriff  der  Kausalität 228 

6.  Die  Produkte,  besonders  die  feinen  und  groben 
Elemente 233 

II.    Physiologie 242 

1.  Der  Organismus  im  Allgemeinen       ....  242 

2.  Die  Buddhi 244 

3.  Der  Aharnkära 248 

4.  Das  Manas  oder  der  innere  Sinn       ....  252 

5.  Das  innere  Organ  als  Einheit 253 

6.  Die  Indriya''s  oder  die  äusseren  Sinne  .     .     .  257 

7.  Die  dreizehn  Organe  als  Gesammtheit      .     .  261 

8.  Der  feine  oder  innere  Körper 265 

9.  Der  grobe  Körper 272 

10.     Die  Zustände 274 

III.     Die  Materie  als  einheitlicher  Begriff    .     .  285 

Vierter  Abschnitt.     Die  Lehre  von  der  Seele     ...  291 

I.  Die  Seele  an  sich 293 

1.  Vorbemerkung  über  die   Bezeichnungen  der 
Seele 293 

2.  Beweise  für  die  Existenz  der  Seele  ....  294 

3.  Das  Wesen  der  Seele 296 

4.  Die  Vielheit  der  Seelen 303 

II.  DieempirischeSeele 305 

1.  Das   Verhältniss  der  Seele   zu  den  Organen 

und  zum  Leibe 305 

2.  Das  Verhältniss  der  Seele  zum  Handeln  .    .  307 

3.  Die  Aufgabe  der  Seele 309 

4.  Das   Gebundensein  und  seine  Ursache ,   die 
Nichtunterscheidung 316 

5.  Die  Erlösung  und  ihre  Ursache,  die  Unter- 
scheidung       823 

Inclices 330 


Erster  Abschnitt. 


Einleitung. 


Garbe,  Sämkhya-Philosophie. 


>1 


-J 


I.  lieber  das  Alter  und  die  Herkunft  der 
Sämkhya-Philosophie. 

Die  erste  Aufgabe  für  den  Darsteller  eines  philoso- 
phischen Systems  ist  die  Erforschung  seines  historischen 
Zusammenhanges  mit  anderen  Ideenkreisen  und  der 
Stellung,  die  es  in  dem  grossen  Ganzen  der  Spekulation 
seines  Heimathlandes  einnimmt.  Diese  Aufgabe  habe  ich 
zum  Theil  bereits  an  einem  andern  Orte  erfüllt.  Ich 
glaube  nämlich  in  der  Einleitung  zu  meiner  Uebersetzung 
der  Sämkhya-tattva-kaumudi')  durch  Zusammen- 
stellung einer  ganzen  Reilie  von  Uebereinstimmungen  die 
Richtigkeit  der  einheimischen  Tradition  erwiesen  zu  haben, 
nach  der  das  Sämkhya- System  alter  als  Buddha  ist 
und  diesem  als  eine  Hauptquelle  bei  der  Begründung 
seiner  Lehre  gedient  hat.  Damit  ist  ein  fester  Anhalts- 
punkt gegeben,  der  uns  zugleich  den  Namen  von  Buddhas 
Vaterstadt,  K  apilavastu  ,Kapila's  Wohnsitz',  als 
einen  bedeutungsvollen  erscheinen  lässt;  denn  wir  dürfen 
uns  diese  Stadt  als  zu  dem  Wirkungskreise  Kapila's, 
des  Begründers  der  S  ä  m  k  h  y  a-Philosophie,  gehörig  denken. 

Wenn  nun  Oldenberg  in  dem  ersten  Excurse  zu 
seinem  Werke  über  Buddha  (1.  Aufl.)  den  Nachweis  ge- 
liefert hat,  dass  das  Heimatliland  des  Buddhismus,  die 
Gegend  östlich  von  dem  Zusammenflusse  von  Gaiigä  und 
Y  a  m  u  n  ä ,  zwar  schon  in  der  Zeit,  als  im  Nordwesten  der 
Halbinsel  die  vedische  Kultur  sich  entwickelte,  von  Ariern 


^)  Abhandlungen  der  1.  Classe  derKgl.  bayerischen  Akademie 
der  Wissenschaften,  XIX.  Bd.     III.  Abth.     S.  :.17  ff. 

1* 


_     4     — 

bewohnt,    aber   noch   im    sechsten   Jahrhundert    vor   Chr. 
weniff  brahmanisirt  war,    so    hat   dies    mit   besonderer  Be- 
ziehnng  auf  den  Buddhismus  gesagte  eine  noch  grössere  Be- 
deutung für  dessen  Vorläuferin,  die  Sämkhya- Philosophie. 
Wenn    auch    Kapila    in    späterer   Zeit    zu    den    grossen 
Weisen    des    Brahmanenthums    gezälilt   wird,    so    ist   seine 
Lehre   ursprünglich    doch   zweifellos    eine  unbrahmanische, 
aus  der   freieren  Denkweise    seines    Heimathlandes   hervor- 
gegangene   gewesen.     Wir   finden   dies   noch  geradezu  im 
Mahäbhärata  ausgesprochen,  wo  XII.  13702  die  Veden 
als  eines,  die  Sämkhya-,    Yoga-,    Pancarätra-  und 
Pä9upata- Lehren  als  etwas  anderes  neben  ihnen  gelten, 
und  wo  XIL  13711  Säiukhya  und  Yoga  als  zwei  uralte 
Systeme   (sanätane   dve)^)    neben    ,allen    Veden'    angeführt 
werden.     Ja  sogar  zu  einer  Zeit,   in   der   das  Sämkhya- 
System  längst  vom  Brahmanenthum  appropriirt  und  unter 
die  orthodoxen  Systeme  eingereiht  war,  um  800  nach  Chr., 
hat  ^amkaräcärya,    der   grosse  Vedäntalehrer,    an  ver- 
schiedenen Stellen   seines  Commentars   zu   den  Brahma- 
sütra's  (1.1.5;  IL  1.  1,  2)  eingehend  ausgeführt,   dass  die 
Lehre  Kapila's  schriftwidrig  (acabdaj,   dem  Veda  wider- 
streitend (veda-viruddha)  und  im  Veda  unbekannt  (a-veda- 
prasiddha)  sei,  sowohl  wegen  der  Annahme  der  Urmaterie 
und   ihrer  Entfaltungen    als   auch   wegen   der   Aufstellung 
einer    Vielheit    individueller    Seelen.       Dieser    Erklärung 
^amkaräcärya's  gegenüber  stehen  allerdings  zahlreiche 
Berufungen  auf  die  ,Schrift'  in  den  systematischen  S  ä  m  khy  a- 
Texten;    aber  diese  Texte  sind   lange   nach  der  Brahmani- 
sirung    des  Systems,  ja  selbst   nach   dessen   Blüthezeit    im 
Schosse  des  Bralunanenthums,  entstanden ;   und  da  darf  es 
uns  nicht  Wunder  nehmen,  dass  die  Verfasser  dieser  Texte 
bemüht   gewesen   sind  das  System    als    ,schriftgemäss'    dar- 
zustellen   und   zu    empfehlen.    Keinem,  der  die  Sämkhya- 


1)  Vgl.  auch  noch  Mbh.  XII.  10467,  13639.  Ein  anderer  Be- 
weis für  das  hohe  Alter,  das  man  schon  zur  Zeit  des  Mahäbhä- 
rata dem  Sämkhya -System  zuschrieb,  liegt  in  der  Legende 
Mbh.  I.  3131  ff.;  cf.  J.  Davies,  Sänkhya  Kärikä  p.  6. 


I 


—    5    — 

Texte  aufmerksam  durchliest,  kann  entgehen,  dass  die  Be- 
rafungen  auf  die  Schrift  etwas  künstliches,  nicht  zur  Sache 
gehöriges  sind,  und  dass  die  Versuche,  die  Sämkhya- 
Lehren  mit  dem  Vedänta  der  Upanishad's  zu  ver- 
mitteln, misslungen  sind. 

Aus    dem   vorbuddhistischen   Alter  ^)  der  Sämkhya- 
Philosophie    folgt,    dass    diese    das    älteste   philosophische 

1)  Weitere  Gründe  für  dasselbe  lassen  sich  aus  dem  Brahma- 
jäla  Sutta  gewinnen,  auf  das  Herr  Hofrath  Bühl  er  mich  gütigst 
aufmerksam  gemacht  hat.  Dieses  merkwürdige  Werk  (herausge- 
geben von  G-rimblot  in  'Sept  Suttas  Pälis,  tir^s  du  Digha-Nikäya, 
Paris  1876'  nebst  einer  englischen  Einleitung  und  Uebersetzung 
von  Gogerly)  enthält  eine  Aufzählung  der  zu  Buddha 's  Zeit  vor- 
handenen und  von  Buddha  bekämpften  philosophischen  Schulen. 
Mag  nun  das  geistige  Leben  Indiens  um  500  vor  Chr.  noch  so 
rege  und  mannigfaltig  gewesen  sein,  so  ist  doch  nicht  daran  zu 
denken,  dass  die  im  Brahmajäla  Sutta  beschriebenen  Schulen, 
deren  Zahl  sich  auf  62  beläuft,  wirklich  bei  Buddha's  Auftreten 
existirt  haben ;  vielmehr  sind  hier  deutlich  mit  echt-indischer  Syste- 
matisirungssucht  die  theoretisch  möglichen  Lehrmeinungen  über 
bestimmte  Gegenstände  der  Spekulation  erschöpft  und  als  de  facto 
vorhanden  hingestellt  worden.  Dabei  aber  werden  einige  Ansichten 
erwähnt,  die  sich  mit  den  Lehren  uns  bekannter  Schulen  auf  den 
ersten  Blick  identificiren  lassen.  Zu  diesen  gehören  die  Haupt- 
lehren des  Samkhya- Systems.  Dieselben  werden  im  Brahma- 
jäla Sutta  als  eine  Kategorie  der  zweiten  Abtheilung  mit  folgen- 
den Worten  beschrieben  (nach  Gogerly's  Uebersetzung  S.  72): 
•Priests,  some  Samanas  and  Brahmans  hold"  —  es  ist  dies  die 
stehende  Einkleidung  einer  jeden  Lehrmeinung  —  "the  eternity  of 
"existences  (sassata-väda),  and  in  four  forms  aförm  t h a t  the  soul 
and  the  world  are  of  eternal  duration".  In  einer  Anmer- 
kung dazu  sagt  Gogerly:  "The  Sassata- Wäda  therefore  held, 
"that  both  mind  and  matter  existed  from  eternity  and  would 
"exist  to  eternity",  anscheinend  ohne  zu  erkennen,  dass  er  mit  diesen 
Worten  die  Quintessenz  der  Säinkhya- Philosophie  zum  Ausdruck 
gebracht  hat.  Bemerkenswerth  ist  ausserdem  die  Thatsache,  dass 
sa^sata-väda  ('skt.  cäcvata-väda)  ein  Synonymon  von  sat-kärya-väda 
ist,  mit  Avelchem  Worte  die  Sämkhya's  in  ihren  Schriften  gern 
ihr  System  charakterisiren. 

An  der  angeführten  Stelle  werden  dann  weiter  die  vier  Unter- 
abtheilungen beschrieben,  in  welche    die  Anhänger  des  Sassata- 


6     — 


System  Indiens  überhaupt  ist,  eine  Thatsache,  die  Weber 
seit  jeher  richtig  erkannt  und  betont  hat.  In  frühere 
Zeit  dagegen  weisen  uns  nicht   nur  die  ersten  Anfänge 


väda  zerfallen:  „die  drei  ersten",  heisst  es,  „haben  ihre  Leiden- 
„schaften  bezwungen  und,  ausdauernd  und  beharrlich  in  der  Aus- 
„übung  der  Tugend,  diejenige  Ruhe  des  Geistes  erreicht,  durch 
„welche  sie  sich  die  verschiedenartigen  Zustände  früherer  Existenzen 
„in  unendlichen  Zeiträumen  vergegenwärtigen.  Eaher  wissen  sie, 
„dass  die  Seele  und  die  Welt  ewig  sind." 

Mit  diesen  drei  Kategorien  scheinen  die  Anhänger  des  Yoga 
gemeint  zu  sein,  die  durch  Concentration  des  Denkens  zu  dem 
ekstatischen  Erschauen  der  Wahrheit  zu  gelangen  glauben,  wo- 
gegen die  vierte  Kategorie  deutlich  die  Vertreter  der  Särnkhya- 
Philosophie  im  engeren  Sinne  umfasst.  Ueber  diese  letzteren  wird 
nämlich  S.  77  gesagt: 

"Priests,  there  are  some  Samanas  and  Brahmaus  who  are 
"reasoners  and  inquirers.  Such  a  one  from  a  course  of  reason- 
"ing  and  investigation  forms  his  opinion  and  says:  The  soul 
"and  the  world  are  eternal,  unproductive  of  new  existences, 
"like  a  mountain  peak  (kutattho  :=  skt.  kutastha,  ein  specieller 
"Sämkhya -Terminus),  unshaken,  imperishable.  Living  be- 
"ings  pass  away,  they  transmigrate,  they  die,  they  are  born 
"but  they  continue,  as  being  eternal.  Priests,  this  is  the  fourth 
"reason  why  some  Samanas  and  Brahmans  are  Sassata-wädä, 
"and  teach  that  the  soul  and  the  world  are  of  eternal  duration." 
Weiterhin  wird  dann  noch  S.  83  diesen  Philosophen  folgende 
Lehre,  die  in  jedem  Sä  mkhya- Texte  stehen  könnte,  in  den 
Mund  gelegt: 

"This  Seif  which  is  named  the  eye,  the  ear,  the  nose,  the 
"tongue,  the  body  is  impermanent,  mutable,  is  not  eternal,  but 
"is  subject  to  continued  change  (viparinäma-dhamnio)\ 
"but  this  Seif  which  is  named  Mind  or  Intellect  or  conscious- 
"ness  is  everduring,  immutable,  eternal  and  remains  unchan- 
"geably  the  same  (nicco  dhuvo  sassato  aj)arinäma-dhammo 
"sassati-samam  tatli'  eva  thassaUy\ 

Schliesslich  könnte  noch  die  zweite  (aus  acht  Unterabtheilungen 
bestehende)  Kategorie  der  angeblich  44  Schulen,  die  „über  die 
Zukunft  philosophiren",  auf  die  Anhänger  des  Sämkhya -Systems 
gedeutet  werden ;  denn  von  ihr  heisst  es  S.  95,  dass  sie  unconscious 
existence  after  death  (nach  der  Erlösung  annehme.  Die  acht 
Unterabtheilungen  freilich  sind  rein  theoretisch  aufgestellt  nach  den 
verschiedenen  Anschauungen,  die  über  die  Natur  der  Seele  möglich 


—     7     — 

religiös-philosophischer  Spekulation  in  der  vedischen  Lite- 
ratur, sondern  auch  die  vorgeschritteneren  Betrachtungen 
über  das  All-Eine  in  den  älteren  Upanishad's.  Diese 
Upanishad's  werden  mit  dem  Namen  V e d ä n t a  ' Ende 
oder  Endziel  des  Veda'^)  bezeichnet;  ihr  wesentlicher 
Inhalt  aber,  die  Lehre  vom  Brahma n-Atman,  ist  noch 
ungeordnet  und  stellt  eine  viel  ursprünglichere  Stufe  der 
Spekulation  dar  als  der  schulmässige  Vedänta,  wie  er 
uns  in  dem  ältesten  wirklichen  Lehrbuch  dieses  Systems, 
in  den  Brahmasütra's  des  Bädaräyana,  vorliegt. 
Obschon  also  das  Sämkhya- System  älter  ist  als  der 
systematisch  dargestellte  Vedänta,  so  kann  doch 
kaum  bezweifelt  werden,  dass  es  jünger  ist  als  der  un- 
systematische Vedänta  der  alten  Upanishad's. 
Vielmehr  dürfen  wir  annehmen,  dass  die  geistige 
Strömung,  die  von  den  enthusiastischen  Verkündern  der 
Lehre  vom  AU-Einen  ausging  und  sich  über  Nordindien 
verbreitete,  erst  in  dem  wenig  brahmanisirten  Lande,  von 
dem  oben  die  Rede  war,  das  spekulative  Nachdenken  ge- 
weckt, dann  aber  bald  bei  dessen  nüchterner  angelegten 
Bewohnern  die  Opposition  hervorgerufen  hat,  die  in  dem 
System  Kapila' s  ihre  methodische  Gestaltung  fand.  In 
wie  weit  Kapila  dabei  unter  dem  Einfluss  der  brah- 
manischen  Weltanschauung  stand  und  in  wie  weit  sein 
System  die  Physiognomie  allgemein  -  indischen  Deniens 
trägt,  soll  weiter  unten  in  einem  besonderen  Abschnitte 
erörtert  werden. 


sind,  wobei  sich  jedoch  die  Meinung,  dass  die  Seele  immaterial 
and  infinite  sei,  mit  der  Lehre  des  Sämkhya- Systems  decken 
würde. 

Bei  dem  unzweifelhaft  hohen  Alter  des  Brahmajäla  Sutta 
und  der  hervorragenden  Stellung,  welche  das  Werk  in  der  Sutta - 
Literatur  einnimmt,  sind  diese  nicht  misszuverstehenden  Angaben 
von  der  grössten  Bedeutung;  sie  würden  allein  schon  genügen,  um 
die  Priorität  des  Sämkhya -Systems  vor  dem  Buddhismus  zu 
beweisen. 

1)  Das  nähere  über  diesen  Namen  ist  im  Eingange  von  Deus- 
sen's  ,System  des  Vedänta'  nachzusehen. 


—     8     — 

Einen  von  den  eben  dargelegten  Anschauungen  völlig 
abweichenden  Gedanken  hat  Gough,  Philosophy  of  the 
Upanishads  S.  198,  geäussert,  indem  er  aus  dem  Charakter 
des  Sämkhya- Systems  folgert,  dass  dieses  gestiftet  sei 
"with  the  purpose  of  presenting  a  firmer  front  against 
the  Buddhists".  Diese  Behauptung  wird  von  Gough  nicht 
weiter  begriindet,  steht  aber  offenbar  im  Zusammenhang 
mit  seiner  —  ich  kann  nicht  anders  sagen  als  —  wunder- 
lichen Vorstellung  von  der  Entstehung  unseres  Systems 
überhaupt.  Er  hält  nämlich  (S.  212)  das  Sämkhya  ur- 
sprünglich nur  für  "a  nomenclature  for  the  principles  of 
the  philosophy  of  the  Upanishads";  es  ist  ihm  von  Hause 
aus  nichts  anderes  als  „eine  Aufzählung  der  successiven 
Emanationen  der  Mäyä,  eine  Reihe  genauer  Ausdrücke, 
um  die  primitive  Philosophie  der  Upanishad's  zu  be- 
schreiben " ;  die  eigentlichen  Lehren  der  Sämkhya- Philo- 
sophie erklärt  er  für  spätere  Ent Wickelungen  '). 

Noch  auf  derselben  Seite  nennt  Gough  unser  System 
„eine  Philosophie,  welcher  in  ihrer  ältesten  Form  nur  eine 
neue  klare  Darstellung  der  Emanation  der  Welt  aus  der 
Mäyä  zu  sein  scheine".  Diese  —  merkwürdiger  Weise 
von  Max  Müller,  Upanishads  translated.  Part  IL  p. 
XXXV  anerkannte  —  Theorie  wiederholt  Gough  dann 
S.  228  mit  fast  den  gleichen  Worten  und  fügt  die  folgende 
Bemerkung  hinzu :  „Die  Verschiedenheit  der  Ausdrucksweise 
„(the  divergence  of  phraseology)  muss  später  zu  einer  Ver- 
„ schiedenheit  der  Anschauungen  geführt  haben;  und  so 
„fonnulirte  die  S  ä  m  k  h  y  a  -  Philosophie  sich  mit  ihrer  Be- 

^)  In  ähnlicher  Weise  hatte  schon  früher  Nehemiah  Nila- 
kantha  S'ästri  Gore  (Rational  Refutation,  translated  by  F.  E. 
Hall,  Calcutta  1862,  p.  82— 85)  versucht,  die  Entstehung  der  wich- 
tigsten Begriffe  der  Sänikhya-Philosophie  zu  erklären.  Dieser 
gelehrte  Inder  ist  der  Ansicht,  dass  im  Laufe  der  Zeit  der  wahre 
Inhalt  bestimmter  Begriffe,  mit  denen  man  sich  allgemein  be- 
schäftigt habe,  vergessen  worden  sei,  und  dass  sich  durch  allerlei 
Ideen- Veränderungen  und  Verschiebungen  die  Gnmdzüge  des  S  ä  ra - 
khya-Systems  gebildet  haben. 


—     9     — 

„seitigung  des  I^vara  (d.  h.  Gottes),  mit  ihrer  Aufstellung 
,,der  Realität  und  Unabhängigkeit  der  Prakrti  (d.  h.  der 
„  Urmaterie) ,  der  Realität  der  Zweiheit  und  Vielheit  der 
„empirischen  Welt  und  der  Vielheit  der  Purusha's  oder 
„Seelen."  Diese  letzten  Sätze  klingen  mir  wie  eine  Ironie 
auf  die  vorangehenden  Behauptungen. 

Nach  Gough's  Ansicht  dienten  die  Worte  nicht  zur 
Bezeichnung  der  Ideen,  sondern  zuerst  waren  die  Kunst- 
ausdrücke vorhanden,  und  aus  ihnen  gingen  die  Ideen 
hervor!  Wir  sollen  glaaben,  dass  die  Hauptbegriffe  des 
Idealismus  der  älteren  Upanishad's  plötzlich  —  man 
weiss  nicht,  weshalb  und  wozu  —  mit  anderen  Termini 
benannt  wurden,  und  dass  aus  diesen  neuen  technischen 
Ausdrücken  sich  die  originellste  und  unabhängigste  Philo- 
sophie entwickelte,  die  Indien  hervorgebracht  hat;  eine 
Lehre,  die  in  allen  wesentlichen  Stücken  die  entschiedenste 
Gegnerin  desjenigen  Gedankenkreises  ist,  aus  dessen  Kunst- 
ausdrücken sie  hervorgegangen!  Ich  glaube,  dass  selten 
das  Verhältniss  zweier  Weltanschauungen  zu  einander  in 
einer  so  widersinnigen  Weise  verkannt  worden  ist,  wie 
hier.  Dieser  sonderbare  Irrthum  ist  bei  G  o  u  g  h  durch  die 
Betrachtung  der  ^vetä9vatara  Upanishad  und  in 
zweiter  Linie  auch  durch  die  der  Bhagavadgitä  her- 
vorgerufen vrorden.  Beide  VV^erke  suchen  bekannter  Massen 
verschiedene  Philosopheme  mit  einander  auszusöhnen,  vor 
allen  Dingen  das  Sämkhya  mit  dem  Vedänta.  Aber 
Gough  leugnet  ihren  ausgleichenden,  eklektischen  Charakter, 
der  mit  Bezug  auf  die^vetä9vatara  Upanishad  schon 
vor  40  Jahren  von  R  ö  e  r  in  der  Einleitung  zu  seiner  Ueber- 
setzung  dieses  Werkes  so  anschaulich  dargelegt  worden  ist ; 
die^vetä9vataraUpanishad  enthält  nach  Gough  ledig- 
lich dieselben  Lehren  wie  die  älteren  Upanishad's,  d.h. 
die  Lehren  von  der  Einheit  der  individuellen  Seele  (Atman) 
mit  der  Allseele  (B  rahm  an)  und  von  der  illusorischen 
Natur  der  empirischen  Welt  (S.  211).  Ebenso  ist  ihm  die 
Bhagavadgitä,  in  der  sich  noch  deutlicher  die  ver- 
schiedensten   geistigen    Elemente    zu    einem    Ganzen  ver- 


—     10    - 

einigen,  ein  ausschliesslich  vedantistisches  Werk,  dessen 
Lehren  durchaus  die  nämlichen  seien  wie  die  der  U  p  a  n  i  - 
shad's  (S.  226—228).  Diese  verkehrte  Anschauung,  die 
durch  jede  unbefangene  Betrachtung  der  beiden  Werke 
widerlegt  wird,  hat  Gough  dazu  verführt,  zunächst  den 
Sämkhya-Termini  in  der  ^'vet.  Up.  und  in  der  Bha- 
gavadgitä  ihren  Inhalt  zu  nehmen  und  dann  den  Inhalt 
als  etwas  später  dazu  gewachsenes  hinzustellen. 

Aus  meinen  vorher  dargelegten  Anschauungen  über 
das  Heimathland  der  S  am khya- Philosophie  und  über 
den  ursprünglich  unvedischen  Charakter  dieses  Systems 
geht  schon  hervor,  dass  ich  in  der  älteren  vedischen  Literatur 
nicht  eine  Vorgeschichte  der  Sämkhya- Gedanken  habe 
finden  können.  Weber  sagt  Indische  Literaturgeschichte- 
252,  dass  „ in  den  filiheren  Upanishad  und  Brähmana 
„die  Lehren,  welche  später  dem  Sämkhyasysteme  ange- 
„ hören,  noch  in  bunter  Vermischung  mit  Lehren  entgegen- 
„ gesetzter  Ansicht  stehen  und  mit  denselben  unter  den 
„  gleichen  Namen  M  i  m  ä  m  s  ä  (]/man,  Spekulation),  A  d  e  9  a 
„(Lehre),  U  p  a  n  i  s  h  a  d  (Sitzung)  etc.  aufgeführt  werden"^). 
Auch  sonst  hat  Weber  verschiedentlich  auf  Vorstufen  der 
Sämkhy a-Lehren  in  vedischen  Schriften  hingewiesen. 
Verhielte  sich  die  Sache  wirklich  so,  wie  Weber  sie  an- 
sieht, Hessen  sich  Vorstufen  bestimmter  Sämkhya- Ideen 
in  vedischen  Schriften  älteren  Datums  nachweisen,  so  wäre 
meine  Theorie  von  der  Entstehung  der  Sämkhya- Philo- 
sophie hinfällig  oder  wenigstens  zu  modificiren.  Ich  glaube 
jedoch  im  Stande  zu  sein,  eine  durchgreifende  sachliche 
Verschiedenheit  zwischen  den  scheinbaren  Anklängen  an 
das  Sämkhya,  die  sich  in  vorbuddhistischen  vedischen 
Werken  finden,  und  den  Lehren  Kapila's  darzulegen. 


*)  Vgl.  auch  Ind.  Stud.  II.  184.  —  In  ähnlicher  Weise,  wohl 
unter  dem  Einfluss  von  Webe  r 's  Worten,  hat  sich  auch  Barth  aus- 
gesprochen, der  Religions  of  India^  69  an  Stellen  wie  Chänd.  Up.  III. 
19,  Taitt.  Up.U.  1,  7  die  Keime  der  Särnkhya-Philosophie  findet  und 
S.  70  gar  behauptet,  dass  in  den  ältesten  Upanishad 's  "the  ideas 
that  have  come  out  in  the  Sänkhy  a  are  already  in  general favour". 


—   11   — 

Die  pliilosopliischen  oder  philosophisch  geförbten  Lieder 
des  Rig-  1111  d  Atharvaveda  enthalten  pantheistische 
und  monotheistische  Ideen  und  sind  deshalb  für  die  Vor- 
geschichte des  Vedänta  von  grosser  Wichtigkeit.  Ge- 
danken aber  mit  historischen  Beziehungen  zum  Sämkhya- 
System  habe  ich  in  den  beiden  Liedersammlungen  nicht 
entdecken  können.  Li  Betracht  würden  zunächst  Vers  3 
und  4  des  berühmten  und  vielbesprochenen  ^)  Liedes  RV. 
X.  129  über  den  Anfang  der  Dinge  kommen: 

3.  „Finsterniss  war  in  Finsterniss  verhüllt  am  Anfang; 
„eine  ununterscheidbare  Wasserfluth  war  dieses  alles.  [Da] 
„entstand  das  eine  gewaltige,  das  von  der  Leere  bedeckt 
„war,  durch  die  Kraft  der  Wärme. 

4.  „Dann  entsprang  [in  ihm]  zuerst  der  Wille,  der 
„des  Denkens  erster  Same  war.  Den  Zusammenhang  des 
„  Seienden  mit  dem  Nichtseienden  fanden  die  Weisen,  nach- 
„dem  sie  im  Herzen  einsichtig  danach  geforscht." 

Die  ,ununterscheidbare  Wasserfluth'  (apraketam  salilam) 
ist  hier  also  das  Princip,  aus  welchem  die  Schöpfung  her- 
vorgeht; und  das  ist  ein  Gedanke,  der  sich  durch  die  ganze 
vedische  Literatur  hindurchzieht  und  auch  noch  in  der 
späteren  Mythologie  erhalten  hat.  Das  Urwasser  bringt 
entweder  selbst  die  Dinge  hervor,  oder  der  Schöpfer  lässt 
sie  aus  ihm  entstehen  ^). 

Dieses  weltschafiFende  Urwasser  bringt  Weber,  Lid. 
Stud.  LK.  74  in  Zusammenhang  mit  dem  Sämkhya- 
Princip  der  Urmaterie,  für  welches  dasselbe  'nur  ein  plas- 
tischerer Ausdruck'  sei.  Ich  halte  das  nicht  für  richtig. 
Die  Idee  des  Urwassers  ist  eine  kosmogonische  Vorstel- 


^)  S.  Scherman,  Philosophische  Hymnen  aus  der  Rig-  und 
Atharva-Veda-Sanhitä  S.  2. 

2)  S.  RV.  VI.  50.  7;  X.  30.  10;  82.  6;  121.  7,  8;  AV.  IV.  2. 
6;  X.  7.  10;  Taitt.  S.  V.  6.  4.  2;  VII.  1.  5.  1;    Qat.  Br.  XI.  1.  6. 

1,  2;  XIV.  8.  6.  1  =  Brh.  Up.  V.  5.  1;  Taitt.  Br.  I.  1.  3.  5;  Taitt. 
Ar.  I.  23.  1;  X.  1.  1;  10.  22;  Ait.  Ar.  I.  1.  8.  1;  Kath.  Up.  IV. 
6;  Nrs.  Täp.  Up.  I.  1.  1  und   sonst.     Vgl.  Weber,  Ind.  Stud.  IX. 

2,  74,  Ludwig,  Rigveda  übersetzt  V.  435,  Scherman  S.  6 — 9. 


—     12     — 

lung  rein  mythologischer  Natur,  wogegen  in  dem  S  ä  m  k hy  a  - 
System  die  Idee  der  Urmaterie  auf  dem  AVege  der  philo- 
sophischen Abstraktion  gCAvonnen  ist.  Dass  alte  mythisch- 
religiöse Gedanken  später  von  der  Philosophie  verwerthet 
und  ausgebildet  werden,  ist  freilich  anderweitig  zur  Genüge 
beglaubigt.  In  unserem  Falle  aber  wird  ein  solcher  Zu- 
sammenhang weder  durch  eine  Uebereinstimmung  im  Aus- 
druck noch  im  Inhalt  wahrscheinlich  gemacht.  Die  Ur- 
materie der  S  ämk  h  y  a '  s  hat  keine  sachlichen  Beziehungen 
zu  dem  Wasser;  denn  im  Sämkhya- System  geht  aus 
der  Urmaterie  zuerst  die  Buddhi  hervor,  aus  der  Buddhi 
der  Ahamkära,  und  aus  diesem  entspringen  neben  dem 
Manas  und  den  äusseren  Sinnen  die  feinen  Elemente  des 
Aethers,  der  Luft,  des  Wassers,  des  Feuers  und  der  Erde. 
Aus  diesen  feinen  Elementen  entwickeln  sich  dann  durch 
gegenseitige  Vermischung  die  fünf  grob-materiellen  Stoffe. 
Das  Wasser  steht  also  mit  den  übrigen  Elementen  auf 
der  gleichen  Stufe  und  am  Ende  des  Schöpfungsprocesses, 
während  die  vedische  Mythologie  es  an  den  Anfang  des- 
selben setzt.  Wenn  man  dagegen  einwenden  wollte,  dass 
bei  Manu  I.  11  die  Urmaterie  der  Sämkhya's  in  un- 
mittelbarem Zusammenhang  mit  dem  mythologischen  Ur- 
wasser  (v.  8,  10)  erwähnt  ist,  so  muss  ich  die  Beweiskraft 
eines  solchen  Aro^uments  bestreiten.  Die  im  Einganff  des 
berühmten  Gesetzbuches  vorgetragenen  Anschauungen  sind 
verworrene  Combinationen  von  mythologischen  und  philo- 
sophischen Ideen,  deren  ganzem  Charakter  es  durchaus 
entspricht,  dass  die  Lehre  der  S  ä  m  k  h  y  a  -  Philosophie  von 
dem  primordium  rerum  mit  der  landläufigen  mythologischen 
Vorstellung  über  denselben  Gegenstand  verknüpft  ist. 
Wer  trotzdem  in  den  —  immer  noch  nicht  zu  völliger 
Klarheit  gebrachten  —  Versen  RV.  X.  129.  3,  4  die  Vor- 
geschichte einer  Grundanschauung  der  Sämkhya-Philo- 
sophie  zu  finden  geneigt  ist,  sei  daran  erinnert,  das  dort 
ein  Gedanke  ausgesprochen  ist,  der  den  Voraussetzungen 
des  Sämkhya-  Systems  schnurstracks  widerspricht,  nämlich 
der  auch  sonst  in   der   vedischen  Literatur  verbreitete  Ge- 


I 


-     13    — 

danke,  dass  das  Seiende  aus  dem  Nichtseienden  hervorge- 
gangen sei  ^).  Das  Sämkhya  lehrt  dagegen,  dass  die 
Materie  ebensowohl  wie  die  Seelen  ohne  Anfang,  von 
Ewigkeit  her  real  gewesen  sei,  und  hat  den  Grundsatz 
ex  nihilo  nihil  fit  mit  solcher  Entschiedenheit  betont,  wie 
kein  anderes  indisches  System;  denn  es  ist  das  einzige, 
welches  die  Lehre  von  der  steten  Kealität  der  Produkte 
(sat-kärya-vüda)  —  mit  anderen  Worten:  die  Lehre  von 
der  Anfangslosigkeit  und  Unzerstörbarkeit  des  sich  be- 
ständig verändernden  Stoffes  —  proklamirt  hat. 

Eine    zweite    Stelle,    die    aus    der    Zeit   der   vedischen 
Hymnendichtung  für  die  Geschichte  der  Sämkhya- Philo- 
sophie herangezogen  worden  ist  und  die  in  der  That,  äusser- 
lich  betrachtet,  Beziehungen  zu  einem  wesentlichen  Gedanken 
unseres  Systems    zu  enthalten    scheint,    ist  AV.  X.  8.  43: 
„Der  neun  thorige  Lotus  ist  dreifach  (trihhir  gunehhih)  um- 
„ hüllt;  das  beseelte  Ding,  das  in  ihm  ist,  das  fiirwahr  kennen 
„die  Brahma- Kenner ".     Ich  habe  diesen  Vers  bereits  in 
der  Einleitung   zu   meiner  Uebersetzung   der  Sämkhya- 
tattva-kaumudi    S.   529    (S.    13    des    Separatabzuges) 
Anm.  1  besprochen  und  die  Beziehung,  welche  M  u  i  r  und 
W  e b  e  r  ^)    hier    zu    den    drei   Gu  n  a '  s ,    dem   besonderen 
Eigenthum    der   S  ä  ni  k  h  y  a  -  Philosophie,   finden,    im  An- 
schluss    an    die  Auffassung   des  Petersburger  Wörterbuchs 
geleugnet.     Die  zweite  Zeile   des  Verses  enthält  die  offen- 
kundigsten Beziehungen  zumVedänta,  wogegen  meiner 
Ansicht  nach  die  erste  in  mystischer  Ausdrucksweise  nichts 
anderes  als  die  triviale  Wahrheit  aussagt,    dass    der  neun- 
thorige  Lotus,  d.  h.  der  menschliche  Leib,  von  Haut,  Nägeln 
und    Haaren    bedeckt    ist.      Wollte    man    den    Ausdruck 
tribhir  gunebhih  technisch  im  Sämkhya -Sinne  auffassen, 
so  würde   er  bedeuten:    ,mit  den  drei  Constituenten',  d.  h. 
,mit  Materie' ;  denn  dass  dies  der  Sinn  des  philosophischen 
Terminus  ist,  wird  weiter  unten  (im  dritten  Abschnitt  L  3) 


1)  Vgl.  EV.  X.  72.  2,  3;  AV.  X.  7.  21,  25;  XVII.  1.  19;  Brh. 
üp.  I.  2.  1;  Chänd.  Up.  VI.  2.  1;  Taitt.  Up.  II.  7.  1. 
•')  Ind.  Stud.  IX.  11,  Jenaer  Liter.  Zeit.  1878,  S.  82. 


—     14     — 

dargelegt  werden.  Es  müsste  also  die  erste  Zeile  jenes 
Verses  nach  Weber' s  Voraussetzung  besagen,  dass  der 
menschliche  Leib  mit  Materie  bedeckt,  von  Materie  ver- 
hüllt sei,  während  doch  nur  gesagt  werden  kann,  dass 
der  Leib  aus  Materie  besteht.  Das  Wort  triguna  ,aus 
den  drei  Constituenten  bestehend'  wird  in  den  Sämkhya- 
Schriften  als  ein  Synonymon  von  prdkrta  ,materieir  ge- 
braucht ^). 

Andere  Stellen,  die  zu  der  Vermuthung  Anlass  geben 
könnten,  dass  in  ihnen  S  ä  m  k  h  y  a  -  ähnliche  Gedanken 
angedeutet  liegen,  sind  mir  aus  den  vedischen  Liedersamm- 
lungen nicht  bekannt.  Aber  auch  in  den  nächstfolgenden 
Literaturkreisen  der  Brähmana's  und  Aranyaka's-) 
habe    ich    solche   Ideen   nicht  finden  können.     Die  Mühe, 


1 


^)  Uebrigens  müssen  wir  bei  der  Erklärung  jenes  Atharva- 
veda -Verses  die  Bedeutung  ,Qualität'  für  pnna  deshalb  ganz 
ausser  Betracht  lassen,  weil  das  Wort  zu  der  Zeit,  als  der  Athar- 
vaveda  zusammengestellt  wurde,  noch  nicht  diese  Bedeutung 
hatte,  die  erst  in  der  jüngeren  Sütra-Literalur  auftritt.  Bis 
dahin  heisst  guria  durchaus  ,Teil,  Bestandtheil,  Strähne  u.  s.  w.' 
Die  ältesten  Belege  für  den  Gebrauch  des  Wortes  guna  im  Sinne 
von  jQualität'  sind  nach  dem  Petersburger  Wörterbuch  Lätyäyan  a 
^rauta  I.  1.  8  und  ^äükhäyana  Gyhya  I.  2. 

-)  Im  zehnten  Prapäthaka  des  Taittiriya  Aranyakn 
sind  Särrikhya- Lehren  an  zwei  Stellen  ausgesprochen.  In  dem 
Schlussverse  von  X.  10.  1  ajäm  ehäm  loJdta-cukla-krshnäni  etc.,  der 
übrigens  hier  zusammenhangslos  steht  und  aus  Qvetäcvatara 
Up.  IV.  5  entlehnt  ist  (umgekehrt  Weber,  Ind.  Stud.  II.  91), 
kann  kein  anderer  Sinn  gefunden  werden,  als  die  Lehre  von  der 
schöpferischen,  aus  Sattva,  Rajas  und  Tamas  bestehenden  Ur- 
materie  und  die  von  der  Vielheit  individueller,  in  die  Materie  ver- 
strickter Seelen.  Ebenso  weist  der  Schlussvers  von  X.  10.  3  mit 
seinem  pralrti-lina  einen  deutlichen  Einfluss  der  S am khya- Phi- 
losophie auf.  Dass  aber  dieser  zehnte  Prapäthaka,  Yäjniki  oder 
Mahanäräyana  Upanishad  genannt,  ein  spätes  Anhängsel  des 
Aranyaka  ist  und  aus  der  Zeit  der  sektarisehen  Upanishad's 
stammt,  ist  längst  erkannt  worden.  Weder  in  den  rituellen  Pra- 
päthaka's  I— VI  noch  in  den  die  Taittiriya  Upanishad  bilden- 
den Frap.  VII — IX  ist  mir  ein  Anklang  an  Säiakhya- Lehren 
begegnet. 


—     15     - 

die  ich  auf  diesen  Gegenstand  verwendete,  hat  ein  durchaus 
negatives  Resultat  ergeben,  so  dass  ich  im  Gegensatz  zu 
Web  er' s  oben  S.  10  herausgehobenen  Worten  den  Satz 
aufstellen  muss,  dasssichin  der  vedischenLiteratur, 
so  weit  sie  vorbuddhistisch  ist,  keine  Sämkhya- 
Lehren  vorfinden.  Unter  Sämkhya- Lehren  verstehe 
ich  hier  natürlich  die  distinktiven  Lehrsätze  dieses 
Systems,  deren  Inhalt  die  folgenden  Gedanken  bilden:  die 
absolute  Verschiedenheit  des  geistigen  und  des  ungeistigen 
Princips;  die  Vielheit  der  Seelen;  die  Unabhängigkeit  und 
Ewigkeit  der  Materie:  ihr  Bestehen  aus  den  Constituenten 
Sattva,  Rajas  und  Tamas;  die  Entfaltung  der  Welt 
aus  der  Urmaterie;  die  Vorstellung,  dass  dabei  zunächst 
die  psychischen  Organe  und  dann  die  Aussendinge  ent- 
stehen; die  Dreiheit  der  psychischen  Organe;  die  fünfund- 
zwanzig Principien;  die  Lehre  von  den  feinen  Elementen 
(tanmätra),  von  dem  inneren  Körper  (Uhga-garira),  von  den 
Dispositionen  (samskdra);  die  Auffassung  der  psychischen 
Vorgänge  als  zunächst  rein  mechanischer  und  nur  durch 
die  geistige  Kraft  der  Seele  ins  Bewusstsein  erhobener 
Processe;  die  Gottesleugnung;  der  Satz,  dass  die  Erlösung 
allein  durch  die  Unterscheidung  (viveka)  von  Geist  und 
Materie  erreichbar  ist.  Von  allen  diesen  Gedanken  findet 
sich,  so  viel  ich  sehen  kann,  nichts  in  den  Brähmana's 
und  Aranyaka's;  es  ist  mir  deshalb  nicht  ganz  klar, 
was  für  Stellen  Weber  gemeint  hat,  als  er  von  der  bunten 
Vermischung  der  Sämkhya -Lehren  mit  Lehren  der  ent- 
gegengesetzten Art  in  den  Brähmana's  sprach.  Ich 
vermuthe,  dass  er  mythologisch-kosmogonische  Ideen  im 
Sinne  gehabt  hat,  namentlich  wohl  die  verbreitete  Vor- 
stellung von  dem  L^rwasser,  die  schon  oben  S.  11, 12  erwähnt 
war^).     Aeussere  Anklänge  an  den  Wortlaut  der  Säm- 


^)  Wenn  ich  annehmen  darf,  dass  Weber  sich  noch  zu  den 
im  ersten  Bande  der  Indischen  Studien  ausgesprochenen  Anschau- 
ungen bekennt,  so  möchte  ich  aus  S.  455  Anm.  ft  schliessen,  dass 
er  jeden   Schöpfungsbericht   mit    dem   Sämkhya-System   in   Ver- 


-     16    — 

khya- Texte  finden  sich  wohl  zuweilen;  aber  bei  näherer 
Betrachtung  lässt  sich  daraus  doch  kein  innerer  Zusammen- 
hajig  ableiten.  Ich  bin  deshalb  überzeugt,  dass  Kapila 
durch  keine  Stelle  unserer  vedischen  Texte  zur  Begrün- 
dung seines  Systems  angeregt  worden  ist. 

Weber  hat  Ind.  Stud.  V.  375,  Anm.  **,  die  Stellen 
des  ^atapatha  und  ^änkhäyana  Brähniana  zu- 
sammengestellt, an  denen  das  Selbst,  der  Atman,  als  , der 
fünfundzwanzigste'  {pancavlrnca)  bezeichnet  ist.  Hier  scheint 
nun  eine  überraschende  Uebereinstimmung  mit  den  Lehren 
der  Sämkhya- Philosophie  vorzuKegen,    nach    denen   der 


bindung  zu  setzen  geneigt  ist.  Pra^na  Up.  VI.  4  heisst  es:  „Er 
„(der  höcliste  Geist)  schuf  den  Hauch  (präna).  Aus  dem  Hauch 
„[entstanden]  der  Glaube  (craddha),  der  Aether,  die  Luft,  das  Licht, 
,,das  Wasser  u.  s.  w."  Hierzu  bemerkt  Weber  a.  a.  0.:  „Als 
„schöpferisches  Element  ist  mir  die  graddhä  noch  nirgendwo  be- 
„gegnet;  dem  Range  nach  steht  sie  hier  mit  dem  ahainMra  der 
„Sänkhya  auf  gleicher  Stufe,  während  der  präna  dem  mahat 
„entspricht,  der  Er  deren  purusha  zusammt  der  prakrti.^^  Es  sind 
das  Combinationen,  die  ich  mir  ebenso  wenig  zu  eigen  machen 
kann,  wie  die  Beziehungen  zwischen  Sämkhya  und  Buddhis- 
mus, die  Weber  Ind.  Stud.  III.  132  findet.  Auch  noch  in  einem 
anderen  Punkte  bringt  Weber  meiner  Meinung  nach  nicht  zu- 
sammengehöriges zusammen.  Ind.  Stud.  II.  76  Anm.  -*  sagt  er, 
dass  nach  der  buddhistischen  Legende  Qäkyamuni  „vor  seinem 
..Erscheinen  auf  der  Erde  als  Qvetaketu  in  der  Tushita -Region 
„wiedergeboren  ward  und  den  versammelten  Göttern  die  Lehre  vor- 
„trug,  was  wohl  so  viel  heisse,  als  dass  seine  Lehren  mit  denen 
„des  Qvetaketu  übereinstimmten,  d.  i.  dass  beide  buddha  waren 
„und  der  Sänkhyalehre  angehörten;  dazvi  passe  denn  auch,  dass 
„Qvetaketu  in  den  vedantistischen  Brahma nas  fast  stets  unter- 
„richtet  wird,  seine  Ansichten  als  unhaltbar  bekämpft  werden." 
Schlägt  man  nun  aber  diese  Stellen  nach,  so  findet  man,  dass  die 
dem  ^vetaketu  in  den  Mund  gelegten  Worte  weder  zum  Säin- 
khya  noch  zum  Buddhismus  die  geringste  Beziehung  haben.  Der 
buddhistische  Mythendichter,  der  von  dieser  früheren  Existenz 
Buddha's  berichtete,  wählte  dazu  den  in  der  vedischen  Literatur 
geläufigen  Namen  Cvetaketu  und  hätte  ebenso  gut  anstatt  dessen 
Yäjnavalkya,  Asuri,  ^ärulilya  oder  sonst  irgend  einen  alten 
Namen  gebrauchen  können. 


—     17    — 

Ätman  oder  Purusha  als  das  25ste  Princip  (tattva)  den 
24  materiellen  Principien  gegenüber  steht  (s.  Sämkhya- 
kärikä  3,  S.  Sütra  I.  61).  Dass  aber  in  der  That  an 
den  Brahma  na -Stellen  etwas  ganz  anderes  gemeint  ist, 
dass  doli  der  Purusha  oder  der  Mensch  als  solcher  als 
der  25ste  zu  seinen  24  Gliedern,  den  Händen,  Füssen, 
Fingern  und  Zehen,  gerechnet  wird,  ist  schon  von  Weber 
gesagt  worden. 

Wenn  ich  eben  bemerkte,  dass  die  vorbuddhis- 
tische Literatur  nach  meinen  Untersuchungen  keine 
Sämkhya- Ideen  aufweist,  so  habe  ich  damit  schon  er- 
klärt, dass  ich  solche  Ideen  auch  vergeblich  in  den  älteren 
Upanishad's  gesucht  habe.  Dies  gilt  von  der  ganzen 
Schicht  derjenigen  Upanishad's,  die  nur  den  drei 
älteren  Veden  zugerechnet  werden,  (aufgezählt  von  Weber, 
Ind.  Literaturgeschichte-  172,  Anm.).  Einige  Stellen  in 
diesen  Werken  scheinen  beim  ersten  Anbhck  gegen  meine 
Behauptung  zu  sprechen;  ich  glaube  dieselben  deshalb  im 
folgenden  einer  Erörterung  unterziehen  zu  müssen,  um 
meine  Gründe  gegen  die  nahe  liegenden  Einwände  vor- 
zubringen. 

Der  Ahamkära,  bekanntlich  einer  der  Hauptbegriflfe 
der  Sämkhya -Philosophie,  ist  in  der  Chändogya 
Upanishad  VIL  25.  1  genannt.  Hier  liegt  allerdings 
eine  Uebereinstimmung  des  Ausdrucks  vor;  aber  die 
Bedeutung  des  Wortes  ist  im  Sänikhya- System  eine 
so  vollständig  andere,  dass  man  nur  von  der  Benutzung 
eines  vorhandenen  —  wenn  auch  bis  dahin  nicht  geläufigen 
—  Wortes  durch  Kapila  sprechen  kann.  Die  ganze 
Terminologie  Kapila's  ist  ja  dem  zu  seiner  Zeit  vor- 
handenen Sprachschatze  entnoiomen  und  nur  insofern 
originell,  als  mit  einem  grossen  Theil  der  gewählten  Aus- 
drücke andere  Bedeutungen  verbunden  sind').  Im  Säm- 
khya-System  ist  ahamkära   ein    beschränktes  Organ  mit 


1)  Vgl.  unten  im  zweiten  Abschnitt  I.  5. 
Garbe,  Sämkhya-Philosopbie. 


—     18     — 

ganz  bestimmter  Funktion;  in  der  Stelle  der  Chan dogya 
Up.  dagegen  bezeichnet  das  Wort  das  Ich,  das  Selbst  im 
reinsten  Vedänta- Sinne;  denn  ahamkära  wird  hier  so- 
gleich durch  aham  aufgenommen  und  ebenso  beschrieben 
wie  der  Ätman  im  folgenden  Paragraphen  (s.  besonders 
aham  eve  'dam  sarvam,  dtmai  've  'dam  sarvam).  Dies  ist 
um  so  beachtenswerther,  als  ahamkära  in  den  jüngeren 
Upanishad's  (Pra^na  IV.  8,  Maitri  VI.  5,  Cvetä9v. 
V.  8  und  sonst)  nicht  in  dieser  Bedeutung,  sondern  durchaus 
im  Sämkhya- Sinne  verwendet  wird. 

Die  nächste  SteUe  ist  Chan  d.  Up.  VII.  26.  2:  dhdra- 
euddkau  sattva-cuddhih ,  sattva-cuddhau  dhruvd  smriih. 
Hier  liegt  die  Zusammenstellung  mit  dem  in  den  Säm- 
khya-Texten  öfter  gebrauchten  sattva-guddhi  ,Läuterung 
des  [im  Innenorgan  befindlichen]  Sattva  [durch  Unter- 
drückung der  beiden  anderen  Substanzen  Rajas  und 
Tamas]'  sehr  nahe,  und  ich  selbst  würde  keinen  Augen- 
blick anstehen,  diesen  Inhalt  in  das  sattva-cuddhi  der 
Chänd.  U p.  hineinzutragen,  wenn  die  Upanish ad  sonst 
irgend  welche  Bekanntschaft  mit  der  Theorie  der  drei 
Guna's  verriethe.  Da  aber  das  Wort  sattva  sonst  nicht, 
die  Worte  guna  und  rajas  überhaupt  nicht  in  ihr  vor- 
kommen und  tamas  an  den  drei  Stellen,  an  denen  es  er- 
scheint, (I.  3.  1;  III.  17.  7;  VU.  26.  2)  nicht  im  tech- 
nischen Sinne,  sondern  in  der  Grundbedeutung  ,Finsterniss' 
gebraucht  ist,  so  wird  man  auch  dem  Worte  sattva  VII. 
26.  2  nicht  die  technische  Bedeutung,  die  es  in  der  S  ä  m- 
khya-Philosophie  hat,  zuschreiben  dürfen ').  Ich  glaube 
also,  dass  Böhtlingk  Recht  hat,  wenn  er  das  Wort  an 
jener  Stelle  in  seiner  ursprünglichen  Bedeutung  als 
Abstractum  fasst  und  übersetzt:  „Auf  reiner  Speise 
beruht  reines  Wesen,  auf  reinem  Wesen  ein  sicheres  Ge- 
dächtniss. " 


1)    Wer    dies    dennoch  thun  will,  wird  aus  dem  angeführten 
Grunde    in     der    besprochenen     Stelle     eine     Interpolation    sehen 


müssen. 


—     19     — 

Ebenso  stimme  icli  B  ölitlingk  bei,  wenn  er  Brhad- 
äranyaka  Up.  IV.  4.  8  (Mädhy.,  IV.  4.  6  Känva) 
lihga  neben  manas  nicht  im  Sinne  von  hnga-carira  ,innerer 
Leib'  nimmt,  sondern  als  Adjektiv  ,gekennzeichnet'  also  = 
tal-Uhga  i).  Schon  ^amkara  hat  nicht  gewagt  die  erste 
Auffassung  mit  Bestimmtheit  zur  Geltung  zu  bringen, 
sondern  auch  die  zweite  für  zulässig  erklärt. 

Sonst  würden  aus  der  Brhad.  Up.  noch  zwei  Stellen 
in  Betracht  kommen;  zunächst  I.  4.  15  (Mädhy.,  I.  4.  7 
Känva):  tad  dhe  'dam  tarliy  avydhrtam  ctsU,  tan  näma- 
rupäbhydm  eva  vyakriyata  „damals  war  dieses  hier  noch 
ungesondert;  dann  wurde  es  durch  Name  und  Gestalt  ge- 
sondert." In  diesen  Worten  liegt  einfach  die  Vorstellung 
eines  Chaos  ausgesprochen,  welche  uns  ja  schon  in  den 
kosmogonischen  Liedern  des  Veda  entgegentritt  und  — 
wie  ich  bereits  oben  ausführte  —  mit  der  Sämkhya-Idee 
der  Urmaterie  nichts  zu  thun  hat.  Die  Urmaterie  der 
Sämkhya- Philosophie  ist  nichts  weniger  als  eine  chaotische 
Masse,  sondern  etwas  durchaus  stabiles,  aus  dem  die  mate- 
rielle Welt  in  gesetzmässiger  Entwicklung  hervorgeht  und 
in  das  sie  durch  einen  ebenso  gesetzmässigen  Process  wieder 
zurücksinkt;  sie  ist  das  absolute  ,Gleichge wicht  der  drei 
Substanzen  Sattva,  Rajas  und  Tamas'-). 

Die  andere  SteUe  ist  Brhad.  Up.  IV.  4.  13  (Mädhy.): 
andham  tamah  pravicanfi,  ye  'samhhüiim  upäsaie,  ein  Vers, 
der  i9ä  Up.  12  (=  VS.  40.  9)  wiederkehrt  und  in  Folge 
dessen  von  verschiedenen  Commentatoren  besprochen  worden 
ist.  Cainkara  undDvivedaganga  erklären  asainbhüti durch, 
prahrti  und  sehen  in  dem  Verse  demzufolge  eine  Polemik 
gegen  die  Sämkhya's;  Mahidhara  lässt  zwar  dieselbe 
Erklärung  für  asambhüti  zu,  sagt  aber  an  erster  SteUe, 
dass  der  Satz  gegen  die  Buddhisten  gerichtet  sei;  Uvata 
meint,    dass    er    sich    gegen   die  Materialisten    (lokäyatika) 


^)  Vgl.  Böhtlingk's  Wörterbuch  in  kürzerer  Fassung  s.  v.  14. 

•')  Sämkhyasütra  I.  61. 

2* 


—     20     - 

wende').  Weber  schliesst  sich  Ind.  Stud.  I.  298,  299  der 
Ansicht  Mahidhara's  an  und  sieht  in  der  Stelle  eine 
Zurückweisun«^  der  buddhistischen  und  dadurch  mittelbar 
auch  der  Sämkhya-Lehre -).  Damit  wäre  die  Brhad. 
—  resp.  die  19a  —  IJpanishad  nicht  nur  in  die  Zeit  nach 
Buddha  hinabgerückt,  sondern  sogar  in  eine  Zeit,  in  der 
der  Buddhismus  sich  schon  kräftig  entwickelt  und  ver- 
breitet hatte;  und  was  bleibt  dann  von  der  Upani- 
s  h  a  d  -  Literatur  noch  für  die  vorbuddhistische  Zeit  übrisr? 
Ist  es  femer  anzunehmen,  dass  die  Brahmanen,  wenn  sie 
gegen  den  Buddhismus  polemisirten,  sich  zur  Bezeichnung 
der  feindlichen  Lehre  eines  gänzlich  unbuddhistischen  Ter- 
minus bedient  haben  werden,  den  die  Gegner  keinen  Grund 
hatten  auf  sich  zu  beziehen?  Ich  bin  überzeugt,  dass 
Uvata  das  richtige  getroffen  hat,  und  unterschreibe  auch 
hier  Böhtlingk's  Uebersetzung :  „In  dichte  Finsterniss 
treten  diejenigen  ein,  welche  die  Vernichtung  verehren;" 
denn  Matei'ialisten,  die  da  meinen,  dass  mit  dem  Erlöschen 
dieses  Lebens  aUes  zu  Ende  sei,  hat  es  sicher  schon  in  vor- 
buddliistischer  Zeit  in  Indien  gegeben  -^j.  Für  die  von  den 
anderen  Commentatoren  gelehrte  Identität  von  asambhüü 
mit  der  unentfalteten  Urmaterie  der  Sämkhya's  ist 
weder  aus  dem  Zusammenhang  noch  sonst  irgendwoher 
ein  Grund  zu  entnehmen. 

Dies  wären  sämmthche  Stellen   der   älteren   L^  p  a  n  i  - 


^)  Vgl.  Max  Müller,  Upanishads  translated  I.  p.  318. 

2)  Später  (Ind.  Lit.  Gesch.-  329,  Anm.  *)  ist  Weber  dies 
wieder  zweifelhaft  geworden.  Er  meint,  „es  könnte  eben  die  dortige 
Polemik  auch  gegen  die  Sämkhya- Ansichten  im  Allgemeinen 
gerichtet  sein." 

^)  Auch  das  Brahmajäla  Sutta  erwähnt  solche  zu  Buddha's 
Zeit  ihr  Wesen  treibende  Irrlehrer,  die  da  sprechen  (nach  Gogerly's 
Uebersetzung  bei  Grimblot  S.  97  unten):  "The  soul  is  material, 
"formed  of  the  four  elements,  generated  by  the  parents:  upon  the 
"dissolution  of  the  body,  it  is  cut  off,  destroyed,  and  after  death 
"will  no  longer  exist:  at  that  time  the  soul  is  completely  anni- 
„hilated." 


—     21     — 

shad's,  in  denen  man  Sämkhya-Leliren  vermuthen 
könnte ;  doch  habe  ich  im  vorstehenden  die  Schwierigkeiten 
dargelegt,  die  sich  bei  näherer  Betrachtung  gegen  solche 
Combinationen  erheben.  Meine  Ansicht,  dass  die  ange- 
führten Stellen  keinerlei  Beziehung  zu  unserem  System 
haben,  findet  noch  darin  eine  Stütze,  dass  in  den  Upa- 
nishad's  der  zweiten  Schicht  auf  Schritt  und  Tritt 
S am khya- Ideen  in  dem  Gewände  der  technischen  Aus- 
drücke dieser  Philosophie  auftreten  und  sich  von  da  an 
durch  die  jüngeren  und  jüngsten  Werke  dieses  Namens 
hindurchziehen.  Während  die  Begründung  der  Sä m- 
khya-Philosophie  wegen  der  unverkennbaren  Anleh- 
nung des  Buddhismus  an  dieselbe  in  vorbuddhistischer  Zeit 
stattgefunden  haben  muss,  fällt  die  Beeinflussung  des 
Brahmanismus  durch  das  Sämkhya-System  erst 
in  die  Zeit,  welche  zwischen  der  Entstehung 
derjenigen  Upanishad's,  die  nur  den  älteren 
drei  Veden  zugehören,  und  der  Abfassung  der 
Katha^),  Maitri,  ^vetä9vatara,  Pra9na  und  ähn- 
licher Upanishad's  liegt.  Das  plötzliche  Auftreten 
der  Sämkhya-  Terminologie  jenseits  einer  fest  bestimmten 
Grenze  macht  eine  andere  Beurtheilung  des  Thatbestandes 
unmöglich. 

Ich  lasse  hier  ein  Verzeichniss  der  SteUeii  folgen,  an 


1)  Oldenberg,  Buddha^  S.  56  uud  Max  Müller,  Anthro- 
pological  Religion  p.  345  nehmen  für  die  Katha  (oder  Käthaka) 
Upanishad  vorbuddhistischen  Ursprung  in  Anspruch,  weil  sie  in 
der  Erzählung  von  der  Versuchung  des  Naciketas  durch  den 
Todesgott  einen  wichtigen  Beitrag  zur  Vorgeschichte  der  buddhis- 
tischen Gedankenkreise  erblicken.  Davon  bin  ich  auch  überzeugt, 
dass  der  Inhalt  dieser  Erzählung  als  vorbuddhistisch  anzusehen 
ist  —  findet  sich  doch  bekanntlich  eine  ältere  Version  derselben 
im  Taittiriya  Brähmana  III.  11.  8  —  und  dass  die  Gestalt 
des  hier  auftretenden  Todesgottes  der  Prototyp  des  buddhistischen 
Mära  ist.  Weshalb  aber  soll  aus  diesem  Grunde  die  uns  vor- 
liegende Atharva-Recensiou  der  Katha  Upanishad  in  so 
frühe  Zeit  hinaufreichen? 


—     22     — 

welchen  in  den  Atharva-,  Yoga-  und  sektarischen 
Upanishad's  auf  Lehren  der  Sämkhya- Philosophie 
Bezug  genommen  ist: 

Katha  IL  9  (falls  Weber,  Ind.  Stud.  IL  184  iii 
dem  Worte  tarha  mit  Recht  eine  Anspielung  auf  die  Säm- 
khya's  sieht),  IIL  10,  11.  VL  7,  8;  Maitri  IL  5.  IIL 
2-5.  IV.  3.  V.  2.  VL  5,  10,  19,  28,  30,  34.  VU.  1 
(cf.  Weber,  Ind.  Lit.  Gesch.-  107);  (^Neik<^Ya,i2iX2i  I. 
8,  10.  m.  12.  IV.  5,  10.  V.  2,  7,  8.  VI.  10,  13,  16 
(cf.  Weber,  Ind.  Lit.  Gesch.  "^  106,  Ind.  Stud.  L  422, 
430 fle.,  438,  439);  Pra9na  IV.  8  (cf  Weber,  Ind.  Stud. 
L  451);  Garbha  3,  4  (cf.  Ind.  Stud.  IL  69,  70,  Cole- 
brooke,  Mise.  Ess.  ^  L  257  Anm.  1);  Cülika  E.  14,15 
(cf.  Ind.  Stud.  IX.  16,  17);  Pranägnihotra  1,  4;  Nä- 
dabindu  2,  18;  Nrsimhatäpaniya  I.  4.  3.  11.  9.  5 
(cf.  Ind.  Stud.  IX.  58  Anm.,  106,  108,  167);  Rämatä- 
panlya  I.  15,  88.  U.  3,  5;  MahänäräyanaX.  1,  3; 
Jäbäla4;Krshna5,  6;Kälägnirudra2;Skanda2; 
Mahä  1;  Gopicandana  2. 

Hiermit  glaube  ich  meine  von  W  e  b  e  r '  s  Standpunkt 
abweichenden  Anschauungen  in  hinreichender  Ausführlich- 
keit gerechtfertigt  zu  haben.  Mit  dem  verehrten  Meister 
so  oft  in  Gegensatz  zu  treten  konnte  ich  schon  deshalb 
nicht  vermeiden,  weil  ich  den  Vorwurf  voraussah,  den  unter 
anderen  Umständen  Weber  gegen  mich  erheben  musste. 
In  seiner  eingehenden  Besprechung  von  Regnaud's 
Materiaux  pour  servil  ä  l'histoire  de  la  philosophie  de 
rinde,  Premiere  Partie  (Paris  1876)  macht  Weber  (Jenaer 
Literaturzeitung  1878,  S.  82)  mit  vollem  Recht  die  Aus- 
stellung, dass  diese  Untersuchung  erst  mit  den  Upani- 
shad's beginnt,  und  weist  insbesondere  auf  die  zahl- 
reichen Upanishad- artigen,  wiewohl  nicht  den  Namen 
einer  Upanishad  tragenden  Stücke  in  den  Brahma  na's 
und  Aranyaka's  hin.  Weber  tadelt  somit  Regnaud 
deshalb,  weil  er  seine  Untersuchung  über  die  philoso- 
phische Spekulation  in  Indien  „nicht  gleich  ab  ovo,  son- 
dern  von   einem  willkürlich   gewählten  Punkte  innerhalb 


—     23     — 

der  betreffenden  Entwickelung  aus"  begonnen  habe.  Ich 
hoffe  erwiesen  zu  haben,  dass  dieser  im  Falle  einer  his- 
torischen Behandlung  der  ganzen  indischen  Philosophie 
wohlbegründete  Vorwurf  nicht  in  gleicher  Weise  eine 
Darstellung  der  Sämkhya- Philosophie  trifft,  die  von  den 
Upanishad's  ausgeht,  welche  in  dem  eben  angeführten 
Verzeichniss  an  die  Spitze  gestellt  sind. 


II.  Zur  Glescliichte  und  Literatur  der  Säm- 
khya-Philosophie. 

Aus  meinen  bisherigen  Ausfuhrungen  ergiebt  sieh,  dass 
die  Sämkhya- Lehren  mehrere  hundert  Jahre  lang  von 
den  literarisch  wirkenden  Kreisen  des  Brahmanenthums  un- 
beachtet gelassen  worden  sind ').  In  den  letzten  vorchristlichen 
Jahrhunderten  —  so  können  wir  mit  einiger  Sicherheit 
sagen  —  hört  diese  Zurückhaltung  auf;  und  ZAvar  werden 
die  Lehren  der  S  ä  m  k  h  y  a  -  Philosophie  nicht  bekämpft, 
sondern  von  Anfang  an  als  brahmanische  Anschauung, 
als  etwas  dem  Vedänta  nicht  widersprechendes  behandelt. 
Nur  in  den  wenigen,  oben  S.  4  angeführten  Stellen  ist 
die  Erinnerung  an  den  einstmals  vorhandenen  Gegensatz 
zum  Ausdruck  gekommen.  Wir  müssen  daraus  scliliessen, 
dass  diese  heterodoxen  Ideen  im  Laufe  der  Zeit  sich  so  viel 
Geltung  verschajfft  hatten  und  dass  die  rationalistische 
Weltanschauung  der  spiritualistischen  ein  so  gefährlicher 
Concurrent  in  dem  Geistesleben  jener  Zeiten  geworden 
war,  dass  die  in  solchen  Fragen  stets  sehr  scharfsichtigen 
Brahmanen  die  Versöhnung  fllr  zweckmässiger  erachteten 
als  den  Kampf. 


^)  Burnell  in  seiner  Uebersetzung  des  Manu,  S.  XXII,  XXIII 
zieht  aus  dieser  Thatsache  den  meiner  Ansicht  nach  irrigen  Schhiss, 
dass  das  Sämkhya- System  nicht  vor  dem  ersten  Jahrhundert 
ante  Chr.  existirt  habe:  "The  late  Professor  Goldstücker  pointed 
"out  that  Pänini  did  not  loiow  this  System-,  it  is,  therefore, 
"subsequent  to  about  300  B.  C,  when  Pänini  probably  lived, 
"and  no  trace  of  it  appears  in  the  Mahäbhä^ya,  about  150 
"years  later,  etc." 


—    25     — 

Wenn  ich  im  folgenden  versuche  die  Geschichte  und 
Literatur  der  S  am khya- Philosophie  in  den  Hauptzügen 
darzustellen,  so  habe  ich  über  die  Lehrer  des  Systems  und 
über  die  Verfasser  der  eigentlichen  Sämkhya- Schriften 
nur  verhältnissmässig  wenig  zu  bemerken.  Das  Literar- 
historische ist  von  F.  E.  Hall  in  seiner  Vorrede  zum 
Sämkhyasära  (Bibl.  Ind.,  Calcutta  1862)  —  der  ver- 
besserten Wiederholung  der  Einleitung  zum  Sämkhya- 
pravacana-bhäshy a  (Bibl.  Ind.,  Calcutta  1856)  — mit 
der  gründlichsten  Gelehrsamkeit  und  so  ausgezeichnetem 
Scharfeinn  erörtert  worden,  dass  für  spätere  Forschungen 
auf  diesem  Gebiete  nur  noch  Raum  zu  Ergänzungen  und 
Berichtigungen  in  Einzelheiten  gelassen  ist. 

In  der  ganzen  Sanskritliteratur  wird  als  Begründer 
des  Sämkhya-Systems  Kapila  genannt:  doch  ist  nichts 
von  ihm  verfasstes  erhalten;  denn  dass  die  Sämkhya- 
sütra's  ein  modernes  Produkt  sind  und  den  berühmten 
Namen  Kapila 's  mit  Unrecht  tragen,  bedarf  heute  keines 
Beweises  mehr.  Wir  haben  nicht  einmal  einen  Anhalt 
für  die  Annahme,  dass  Kapila  überhaupt  irgend  welche 
Werke  verfasst  habe.  lieber  seine  Zeit  können  wir  nur 
sagen,  dass  er  wegen  der  Abhängigkeit  des  Buddhismus 
von  seinen  Lehren  vor  der  IVlitte  des  sechsten  Jahrhunderts 
vor  Chr.  gelebt  haben  muss. 

Nun  hat  Weber  an  verschiedenen  Stellen  der  In- 
dischen Literaturgeschichte  '^  (S.  152,  239  Anm.,  253,  254, 
303;  vgl.  auch  Ind.  Stud.  I.  84)  gemeint,  dass  in  dem 
Namen  desPatahcala  Käpya,  der  indem  Yäjhaval- 
kiya  Kända  des  ^atapatha  Brähmana  als  ein  um 
die  brahmanische  Theologie  besonders  verdienter  Lehrer 
im  Lande  der  Madra  genannt  ist,  Beziehungen  zu  Kapila 
und  Patahjali,  den  traditionellen  Gründern  der  Säm- 
khya- und  Yoga -Lehre,  nicht  zu  verkennen  seien. 
Diese  Combination  gründet  sich  lediglich  auf  die  Aehn- 
lichkeit  der  Worte  und  ist  mit  der  Vorstellung,  dass 
Kapila  und  Patanjali  wirkliche  Personen  gewesen  sind, 
kaum  zii   vereinis^en.     Ich  sehe  keinen  Grund  die  Realität 


—     26     — 

dieser  beiden  Männer  zu  bezweifeln ') ;  denn  andernfalls 
müssten  wir,  da  ein  in  sich  geschlossenes  System  nicht 
ohne  einen  Stifter  entstehen  kann,  annehmen,  dass  die 
Erinnerung  an  die  wirklichen  Begründer  verloren  gegangen 
sei  und  dass  man  in  späterer  Zeit  Stifternamen  fingirt 
habe.  Aber,  selbst  dies  letztere  zugegeben,  dürfen  wir  es 
als  wahrscheinlich  erachten,  dass  in  diesem  Falle  die  An- 
hänger des  atheistischen,  rationalistischen  Säm- 
khya- Systems,  wenn  sie  um  einen  Namen  für  ihren 
Stifter  in  Verlegenheit  waren,  den  Namen  eines  Mannes 
gewählt  haben  werden,  der  in  der  orthodoxen  b rah- 
manischen Theologie  eine  Rolle  gespielt  hat?  Nach 
Ind.  Stud.  I.  435  und  Ind.  Lit.  Gesch.  '^  254  denkt  Weber 
an  genealogische  Beziehungen  Pata&jali's  zu  jenem 
Käpya  Patancala,  Sollen  wir  ebenso  glauben,  dass 
auch  Kapila  ein  Nachkomme  dieses  brahmanischen 
Lehrers  gewesen  sei  ?  Aus  keinem  andern  Grunde,  als  wegen 
der  Aehnlichkeit  der  Namen?  Man  sieht,  wir  gerathen 
nach  allen  Seiten  hin,  wenn  wir  die  Consequenzen  aus 
W  e  b  e  r '  s  Combination  ziehen,  zu  unwahrscheinlichen  An- 
nahmen. Den  Käpya  Pataficala  geradezu  mit  Kapila 
zu  identificiren  —  woran  Weber,  Ind.  Stud.  I.  434  ver- 
muthungsweise  gedacht  hat^  aber  gewiss  heute  nicht  mehr 
denkt  —  werden  wir  uns  noch  viel  weniger  entschliessen 
können. 

Ich    sehe    mich    genöthigt,    mich    in    dieser    Frage 


1)  Den  Zeitverhältnissen  nach  steht  nichts  der  Annahme 
Lassen's  (Ind.  Alterthumskunde  I.^  999)  entgegen,  dass  Pataii- 
jali,  der  Begründer  des  Yoga-Systems,  und  Patafijali,  der  Gram- 
matiker, ein  und  dieselbe  Person  waren.  Auch  innere  Gründe 
werden  sich  nicht  dagegen  geltend  machen  lassen;  denn  warum 
sollte  der  Verfasser  des  Mahäbhäshya  nicht  einen  Ausbau  des 
S am khya -Systems  unternommen  haben?  Dass  die  Sprache  der 
Yogasütra's  keine  Uebereinstimraung  mit  der  des  Mahäbhä- 
shya aufweist,  ist  einfach  durch  die  Verschiedenheit  des  Stoffes 
und    des  Stiles  beider  Werke  bedingt. 


—     27     — 

noch  gegen  die  Anschauungen  einer  andern  Autorität  zu 
wenden.  Max  Müller,  Upanishads  translated  U.  p. 
XXVIII-XLI,  geht  von  der  Stelle  Cvet.  Up.  V.  2  aus: 
„Der  allein  eine  jede  Ursprungsstätte  lenkt,  alle  Formen 
„und  alle  Ursprungsstätten,  der  seinen  Solni,  den  Weisen 
„Kapila,  am  Anbeginn  [der  iSchöpfang]  in  seinen  Ge- 
„ danken  heafte  und  bei  dessen  Geburt  erblickte."  Max 
Müller  ist  mit  ^amkara  der  Meinung,  dass  unter  dem 
Weisen  Kapila  hier  nicht  der  Begründer  des  Sämkhya- 
Systems,  sondern  die  göttliche  Person  Hiranyagarbha's 
zu  verstehen  sei.  Bei  der  Neigung  der  Inder,  die  ver- 
schiedenen Zweige  ihres  Wissens  auf  göttliche  Urheber- 
schaft zurückzuftihren,  sei  es  nur  natürlich  gewesen  Hira- 
nyagarbha  die  Begründung  des  Sämkhya- Systems  zu- 
zuschreiben; und  da  bereits  der  Name  Hiranyagarbha 
anderweitig  in  solchem  Zusammenhange  benutzt  war,  sei 
es  ebenso  natürlich  gewesen,  einen  anderen  Namen  für 
Hiranyagarbha,  d.  h.ebenKapila,  zu  diesem  Zwecke  zu 
verwenden.  Nachdem  man  so  K  a  p  i  1  a  als  den  Stifter  des 
Sämkhya-  Systems  festgestellt  habe,  sei  die  Reaktion  ge- 
kommen. Die  Inder  hätten  nun  gelernt  an  einen  wirk- 
lichen Kapila  zu  glauben  und  auf  der  Umschau  nach 
Zeugnissen  ftir  ihii  diese  überall  gefunden,  wo  in  alten 
Schriften  das  Wort  Kapila  vorkam.  An  eine  historische 
Persönlichkeit,  die  das  Sämkhya- System  gegründet, 
glaubt  Max  Müller  nicht,  wie  schon  vor  ihm  Cole- 
brooke,  Mise.  Ess.  '  I.  243  ähnliche  Zweifel  geäussert 
hat;  Max  Müller  meint  vielmehr,  dass  die  eben  angeführte 
Stelle  der  Cvet.  Up.  zuerst  dazu  verführt  habe  den  Namen 
Kapila  als  verschieden  von  Hiranyagarbha  Kapila 
zu  gebrauchen,  und  dass  man  sich  später  auf  eben  die- 
selbe Stelle  berufen  habe,  um  die  uranföngliche  Existenz 
eines  Kapila  als  des  Begründers  der  Sämkhya -Philo- 
sophie zu  beweisen. 

Ich  muss  gestehen,  diese  ganze  Construktion  erscheint 
mir  in  einer  Weise  unnatürlich  und  gekünstelt,  dass  mich 
die   harten  Worte  doppelt  überraschen,    mit   denen   Max 


-     28    — 

Müller  Weber 's  Anschauungen  über  diesen  Punkt  ver- 
urtheilt  (S.  XLI):  "What  vast  conclusions  may  be  drawn 
"from no  facts,  may  be  seen  in  Weber's  Indische  Studien, 
"vol.  I,  p.  430,  and  even  in  his  History  of  Indian  Literature, 
"published  in  1878". 

Ich  bemerkte  schon,  dass  ich  in  Kapila  eine  his- 
torische Person  sehe  ^) ;  doch  ist  alles  über  ihn  in  der  in- 
dischen Literatur  berichtete  ganz  legendenhaft.  Dass  Kapila 
unter  die  Söhne  B  rahm  an 's  gerechnet  wird,  dass  er  für 
eine  Incarnation  Vishnu's  oder  Agni's  gilt  und  auch 
sonst  zu  göttlichem  Range  erhoben  erscheint  -},  ist  für  uns 
nur  insofern  bemerkenswerth,  als  hieraus  die  hohe  Bedeu- 
tung ersichtlich  ist,  die  man  in  Indien  bis  in  das  Puräna- 
Zeitalter  dem  Sämkhya-  System  beilegte.  Selbst  denjenigen 
Nachrichten,  die  von  Kapila' s  Geburt  als  einer  natür- 
lichen zu  erzählen  wissen,  ist  wenig  Gewicht  beizumessen, 
da  sie  sich  gegenseitig  widersprechen.  Nach  einer  Stelle 
des  H a r i V a m 9 a  ist  er  ein  Sohn  Vitatha's,  nach  einer 
andern  Vasudeva's  und  der  Naräci,  und  iiach  dem 
Bhägavata  Puräna  heisst  sein  Vater  Kardama.  Die 
letztgenannte  Quelle  nennt  seine  Mutter  Devahüti, 
womit  auch  andere  Puräna- Texte  und  neuere  Autoren 
(z.  B.  Vij&änabhikshu  am  Schluss  des  Sämkhya- 
pravacana-bhäshya)  übereinstimmen. 

Von  derselben  unzuverlässigen  Beschaffenheit  sind  die 
Nachrichten,  die  den  Aufenthalt  Kapila' s  nach  Indra- 
prastha  (Delhi)  oder  Gangäsägara  (der  Gangesmün- 
dung) und  seine  Geburt  nach  Pushkara  (bei  Ajmir) 
verlegen  '^').  Grössere  Bedeutung  haben  die  b u  d  dh  i  s  ti s  ch  e n 


1)  Cf.  Hall,  SänkhyaSära,  Preface  p.  2):  "The  Mahäbha- 
"rata,  despite  its  plentiful  alloy  of  fiction,  sufficiently  attests,  it 
"should  seem,  the  reality  of  tbe  sage." 

2)Cf.  Colebrooke,Misc.Ess.n.  241,  242;  Weber,  Ind.  Studieu 
I.  430  ff.;  Hall,  SänkhyaSära,  Pref.  21ff.;  Davies,  Sänkhya  Kä- 
rikä  p.  5  ff. 

3)  Cf.  Hall,  SänkhyaSära,  Pref.  20;  Davies,  S.  Kärikä  p.  6. 


-    29    — 

Nachrichten  über  Kapila  deshalb,  weil  sie  seine  Person 
mit  dem  Namen  der  Stadt  Kapilavastu  in  Zusammen- 
hang bringen  ^)  und  ihm  somit  eine  Wirkungsstätte  zu- 
schreiben, deren  geographische  Lage  vortrefflich  zu  den 
inneren  Beziehungen  stimmt,  die  zwischen  der  Sä mkhya- 
Philosophie  und  dem  Buddhismus  obwalten. 

Eine  Zusammenstellung  der  Legenden,  die  im  Ma- 
häbhärata,  im  Rämäy ana  und  in  den  Puräna's  an 
den  Namen  Kapila's  geknüpft  sind,  scheint  mir  für  die 
Zwecke,  die  dieses  Buch  verfolgt,  überflüssig  zu  sein. 

Als  unmittelbarer  Schüler  Kapila's  wird  von  der 
Tradition  (Panca9ik ha  in  Vyäsa's  Commentar  zu  den 
Yogasütra's  I  25,  Sämkhyakärikä  70  und  sonst) 
ein  Lehrer  Namens  Äsuri  genannt,  über  dessen  Person 
für  uns  das  gleiche  Dunkel  schwebt  wie  über  der  des 
Stifters  der  Sämkhya -Lehre.  Der  eine  Vers,  den  Hall 
(Preface  p.  21  unten)  in  einem  ganz  modernen  Werke 
dem  Äsuri  zugeschrieben  gefunden  hat,  bietet  keine 
Garantie  dafür,  dass  eine  alte  S  ämkhya- Autorität  dieses 
Namens  wirklich  literarisch  thätig  gewesen  ist.  Weber 
hat  in  Folge  seiner  Neigung,  das  Sämkhya  mit  der 
vedischen  Literatur  in  Verbindung  zu  bringen,  an  ver- 
schiedenen SteUen  (Ind.  Lit.  Gesch. -^  152,  253,  Ind.  Stud.  I. 
434)  unsern  Asuri  mit  dem  im  ^atapatha  Brähmana 
oft  genannten  Rituallehrer  gleichen  Namens  zu  identifi- 
ciren  gesucht :  aber  er  wirft  selbst  in  einer  Anmerkung  zu 
der  zuletzt  citirten  Stelle  den  vollberechtigten  Zweifel  auf, 
ob  dies  derselbe  Äsuri  sei  wie  der  Schüler  desKapila^ 
und  begründet  diesen  Zweifel  mit  der  Bemerkung,  dass  die 
SteUen  des  Qat  Br.,  an  denen  Ä s u r i  genannt  wird,  sich 
sämmtlich  auf  Fragen  des  Ceremoniells,  nicht  der  Speku- 
lation beziehen.  Dass  ftir  mich  eine  Identificirung  der 
beiden  Äsuri  unmöglich  ist,   geht  schon  zur  Genüge  aus 


1)  Vgl.  Fausböll  und  Weber,  Ind.  Stud.  V.  412  ff.  und  die 
Einleitung  zu  meiner  Uebersetzung  der  Sämkhya-tattva-kaumudi 
S.  531. 


—     30     — 

der  obigen  Darlegung  meiner  Anschauungen  über  die 
Entstehung  des  S  ä  ra  k  h  y  a  -  Systems  und  aus  dessen  Feind- 
seligkeit gegen  das  brahmanische  Ritualwesen  hervor.  Auch 
halte  ich  das  ^at.  Br.  für  beträchtlich  älter  als  die  Zeit, 
in  die  wir  einen  Schüler  Kapila' s  versetzen  müssten. 
Im  übrigen  scheint  mir  auch  die  Anzahl  und  Qualität  der 
Zeugnisse  nicht  genügend  zu  sein,  um  den  Sämkhya- 
lehrer  Asuri  mit  einiger  Sicherheit  für  eine  wirkliche 
Person  zu  erklären. 

Festeren  Boden  betreten  wir  bei  dem  nächst  K  a  p  i  1  a 
berühmtesten  Namen  in  der  Gescliichte  der  Sämkhya- 
Philosopliie,  bei  Panca9ikha,  der  in  Sämkhyakä- 
r  i  k  ä  70  als  der  hauptsächlichste  Verbreiter  unseres  Systems 
bezeichnet  ist.  Ebendaselbst  und  im  Mahäbhärata ') 
wird  Panca9ikha  zu  einem  Schüler  Asuri's  gemacht: 
doch  werden  wir  weiter  unten  gewichtige  Gründe  gegen 
die  Richtigkeit  dieser  Tradition  kennen  lernen.  Im  zwölften 
Buche  des  Mahäbhärata,  Adhyäya  218,  219  (vgl.  auch 
Adhy.  321)  erscheint  Panca§ikha  zAvar  als  der  Lehrer 
des  altberühmten  Videha- Königs  Janaka,  den  er  in 
Mithilä  im  S ä in khya- System  unterweist  und  vollständig 
zu  diesem  bekehrt  -) ;  ich  halte  dies  jedoch  fiir  eine  zur  Be- 
stimmung  von  Panca9ikha's  Zeit  nicht  verwerthbare, 
tendenziöse  Geschichte,  die  von  den  Sämkhya's  nach  der 
Brahmanisirung  ihrer  Lehren  erfunden  ist  in  maiorem 
gloriam  ihres  Systems  und  eines  ihrer  grössten  Vorkämpfer. 
Sie  konnten  zu  dem  Zwecke  kaum  etwas  besseres  thun  als 
die  aus  der  Brhadäranyaka  Upanishad  bekannten 
Zustände  an  dem  Hofe  des  Königs  Janaka,  wo  in  den 
Redekämpfen  der  grosse  Ritualkenner  und  Verkünder  des 
All-Einen,  Yäjnavalkya,    die  erste  RoUe  spielt,  in  der 


M  S.  Hall,  Preface  p.  22,  Anm.  *. 

-)  Vgl.  Weber,  Ind.  Stud.  I.  433,  482.  —  Pratapa  Chandra 
Ray  hat  in  seiner  Uebersetzung  des  Mahäbhärata  in  den  oben 
angeführten  Adhyäya's  aus  Janaka  janadeva  einen  König 'Jan  ade  va 
of  the  race  of  Janaka'  gemacht. 


—     31     — 

Weise  verwerthen,  dass  sie  das  Sämkliya  an  die  Stelle 
des  Yedänta  und  Panca9iklia  an  die  Stelle  Yäj&a- 
valkya's  setzen.  Eine  Vorstufe  in  der  Geschichte  dieser 
Legendenbildung  finde  ich  in  Adliyäya  312 — 320,  wo 
Yäjnavalkya  den  König  Janaka  in  der  (übrigens 
vieKach  mythologisch  umgedeuteten)  S  ä  ni  k  h  y  a  -  und  Y  o  g  a  - 
Philosophie  unterweist  ^).  Dass  uns  diese  verschiedenen 
Stufen  der  tendenziösen  Umgestaltung  einer  berühmten 
alten  UeberKeferang  neben  einander  erhalten  sind,  darf 
uns  bei  dem  eigenthümlichen  Charakter  des  Moksha- 
dharma -Abschnitts  nicht  Wunder  nehmen;  ist  doch  in 
diesem  Abschnitt  alles  nur  erreichbare  reliffionscreschicht- 
liehe  Material  zusammengetragen  worden. 

Dieselbe  QueUe  weist  Panca9ikha  dem  Geschlechte 
des  Parä9ara  zu-)  und  nennt  ihn  Käpileya  (XII. 
7886,  7895  —  99) ;  wenn  sie  aber  diesen  Beinamen  als  ein 
Metronymikon  von  Kapilä  erklärt,  so  ist  die  Mutter  jeden- 
falls aus  Käpileya  heraus  destillirt;  denn  Käpileya 
hiess  ursprünglich  oflFenbar  .der  K  a  p  i  1  a  -  artige',  da  Paii- 
ca9ikha  ja  auch  geradezu  (XII.  7889,  7983)  als  eine  Er- 
scheinungsform Kapila' s  angesehen  A\Tirde '').  Dass  die 
Buddhisten  Pahca9ikha  zu  göttlicher  Würde  erhoben 
haben  *),  ist  ein  Beweis  dafür,  dass  auch  in  ihrer  Tradition 
Panca9ikha  als  die  zweite  Haupt- Autorität  der  Säin- 
khya- Philosophie  galt. 

Ich  komme  nun  zu  dem  Punkte,  der  mich  bestimmt 
die  Lebenszeit  Panca9ikha's  wesentlich  später  anzusetzen, 
als  die  Ueberlieferung  es  thut.  Hall,  Preface  21 — 25  hat 
in  dankenswerther  Weise  die  dürftigen  Reste  gesammelt, 
die  von  den  verlorenen  Werken  Panca9ikha's  in  den 
Schriften  der  S  ä  m  k  h  y  a  -  und  Yoga-  Literatur  erhalten 
sind. 


1)  Vgl.  Weber,  Ind.  Stud.  I.  482. 

2)  S.  Weber,  Ind.  Stud.  I.  433. 
^j  Anders  Weber  a.  a.  0. 

*)  S.  Weber,  Ind.  Stud.  U.  404,  Ind.  Lit.  Gesch.  "^  303. 


—    32    — 

Die  Citate  in  Vyäsa's  Yogabhäshya  werden  mit 
einer  solchen  Uebereinstimmnng  von  den  späteren  Com- 
mentatoren  Panca9ikha  zugeschrieben,  dass  an  seiner 
Autorschaft  kaum  zu  zweifeln  ist ').  Merkwürdiger  Weise 
hat  Hall  a.  a.  0.  die  Panca9ikha-Fragmente  in  den 
Sämkhyasütra's  V.  32—35,  VI.  68  unerwähnt  ge- 
lassen -),  (obAvohl  er  von  ihnen  in  seiner  Einleitung  zum 
Sämkhy a-prav. -bhäshya  S.  8,  9  spricht);  und  doch 
sind  sie  gerade   von    besonderer  Bedeutung    für    die  Beur- 


^)  Dagegen  muss  ich  mich  gegen  die  Authenticität  des 
von  Hall  S.  23  angeführten  ^loka  ädyas  tu  violcslio  etc.  ent- 
schiedener erklären  als  Hall  es  thut.  Vijnjinabhikshu  schreibt 
diesen  Vers  Panca9ikha  sowohl  in  seinem  bisher  unedirten 
Commentar  zu  den  Brahmas ütra's  zu,  als  auch  viermal  in 
seinem  Yogavärttika  (herausgegeben  von  Rämakrshiia  und 
Ke9ava9ästrin.  Benares  1884),  nämlich  S.  126,  295,  298,  300. 
Der  Grund  ist  ersichtlich.  Dieser  Qloka  findet  sich  in  der  Säm- 
khya-krama-dipikä,  d.  h.  in  demjenigen  Commentar  zum 
Tattvasamasa,  den  Ballantyne  'A  lecture  on  the  Sänkhya 
philosophy^  (Mirzapore  1850)  herausgegeben  hat,  und  zwar  S.  47, 
48  Nr.  74.  Die  Sämkhya-krama-dipikä  nun  ist  in  allen 
Handschriften  —  auch  in  einer  mir  gehörigen  —  als  ein  Werk 
Panca9ikha's  bezeichnet,  v^ie  man  ja  so  oft  in  Indien  modernen 
Arbeiten  dadurch  ein  Ansehen  hat  verleihen  wollen,  dass  man  ihnen 
einen  alten  berühmten  Namen  vorsetzte;  und  Vij  ii  an  abhikshu 
ist  unkritisch  genug  geveesen  diese  Täuschung  nicht  zu  erkennen, 
obwohl  die  S.  kr.  dipikä  ausdrücklich  in  Nr.  46  Parica9ikha 
als  eine  ihrer  Autoritäten  nennt.  Der  moderne  Ursprung  der  S. 
kr.  dipikä  verräth  sich  durch  Sprache  und  Inhalt  avif  den  ersten 
Blick,  und  selbst  die  25  kleinen  (den  Namen  Tattvasamasa 
tragenden)  Sütra's,  zu  deren  Erklärung  das  Werkchen  dient, 
können  kein  viel  höheres  Alter  beanspruchen.  Nun  ist  ja  freilich 
unser  ^loka  in  der  S. kr. dipikä  durch  das  vorgesetzte  uktamca 
als  ein  Citat  gekennzeichnet;  da  aber  keine  Autorität,  die  älter 
wäre  als  dieses  Werk,  den  Vers  Parte a9ikha  zuschreibt,  werden 
wir  um  so  weniger  dazu  geneigt  sein  dies  zu  thun,  als  alle  übrigen 
auf  uns  gekommenen  Panca9ikha-Fragmente  nicht  metrisch  sind. 

-)  Und  ebenso  merkwürdig  ist,  dass  er  das  Citat  aus  Pan- 
ca9ikha  im  Sä  in  khya-pravaca  na -bhäshya  I.  127  über- 
sehen hat. 


—     33     — 

theilung  von  Pafi.ca9ikha's  Lebenszeit.  In  den  S ü t r a ' s 
V.  32 — 35  definirt  Panca^ikha  nämlich  einen  der 
Ny  äya-Philosopliie  speciell  angehörigen  Terminus,  vyäpti\ 
und  wenn  er  dies  auch  in  einer  von  den  schulmässigen 
Definitionen  abweichenden  Weise  thut,  so  beweist  die 
Thatsache  doch,  dass  zu  Panca9ikha 's  Zeiten  nicht  nur 
logische  Untersuchungen  allgemeiner  Natur  geläufig  waren, 
sondern  dass  bereits  die  N  y  ä  y  a  -  Philosophie  mit  ihrer 
ausgeprägten  Terminologie  bestand.  Das  Nyäya- System 
aber  ist  zweifellos  das  jüngste  der  seclis  orthodoxen  Systeme, 
und  keine  Spur  weist  darauf  hin,  dass  es  schon  in 
vorchristlicher  Zeit  vorhanden  gewesen  sei.  Sehen  wir  uns 
dann  ferner  die  in  V  y  ä  s  a '  s  Y  o  g  a  -  Commentar  erhaltenen 
Pahcacikha-Fragmente  an,  so  legt  auch  ilu'e  Sprache 
einen  entschiedenen  Protest  dagegen  ein,  dass  ihr  Ver- 
fasser ein  Vorgänger  oder  Zeitgenosse  Buddha's  ge- 
wesen sei;  denn  als  solchen  müssten  wir  ihn  ansehen, 
Avenn  die  Lehrerreihe  Kapila  -  Asuri-Paiica9ikha 
historische  Realität  besässe.  Vergleicht  man  die  Sprache 
der  Paiica9ikha-Fragmente  mit  der  annähernd  datir- 
barer  philosophischer  Autoren,  so  scheint  mir  wegen  der 
Kürze  des  Satzbaus  am  nächsten  ^abarasvämin's 
Commentar  zur  Pürvamimämsä  zu  liegen,  der  von 
B  ü  h  1  e  r  (Einleitung  zur  Uebersetzung  des  M  a  n  u  p.  CXIl) 
nicht  lange  nach  Beginn  unserer  Zeitrechnung  angesetzt 
wird.  So  bedenklich  jedes  argumentum  ex  silentio  auch 
ist,  möchte  ich  doch  in  diesem  Zusammenhange  anführen, 
dass  Panca9ikha  am  Schlüsse  des  Yogabhäshya  zu 
I.  25  zwar  constatirt,  dass  K  a  p  i  1  a,  der  , Weise  der  Urzeit' 
(ädi-vidvän),  dem  A  s  u  r  i  seine  Lehre  mitgetheilt  hat,  nicht 
aber  auch,  dass  Äsuri  ihm  selbst  das  gleiche  gethan. 
Die  Bezeichnung  ädi-vidvän^  welche  Panca9ikha  hier 
auf  Kapila  anwendet,  scheint  den  Gedanken  auszu- 
schliessen,  dass  dieser  der  Lehrer  seines  eignen  Lehrers  ge- 
wesen sein  könne,  und  spricht  vielmehr  dafür,  dass  Kapila 
und  Äsuri  für  Panca9ikha  in  nebelhafter  Ferne 
standen 

Garbe,  Sämkhya-Pbilosophie.  3 


—     34 

Ich  bin  nach  allem  dem  geneigt,  Panca^ikha  etwa 
in  das  erste  Jahrhundert  nach  Chr.  zu  setzen.  Die  Zeit 
vmi  da  an  bis  zur  Schlussredaktion  des  Mahäbhärata, 
welcher  aer  Mokshadharma- Abschnitt  sicher  angehört, 
würde  vollauf  genügen  um  den  Nimbus  hohen  Alters,  von 
dem  Pahca^ikha  dort  umgeben  erscheint,  begreiflich 
zu  machen;  obwohl  die  letzte  Redaktion  des  Mahäbhä- 
rata  spätestens  im  4.  oder  5.  Jahrhundert  nach  Chr.  vor- 
genommen worden  sein  muss,  da  das  Vorhandensein 
unseres  Mali äbhä rata- Textes,  der  sogenannten  (}ata- 
sahasri  samhitd  ,der  aus  100,000  [Versen]  bestehenden 
Sammlung'  uns  inschriftlich  durch  eine  Landschenkungs- 
urkunde für  das  Jahr  533/534  bezeugt  ist  ^). 

Pafica9ikha  hat  verschiedene  Werke  geschrieben, 
Avie  von  Hall,  Preface  p.  22  festgestellt  worden  ist.  Dass 
er  als  der  Verfasser  der  ursprünglichen,  durch  die  Säm- 
khyakärikä  verdrängten  Sütra's  anzusehen  ist"-), 
ergiebt  sich  nicht  nur  aus  dem  im  Yogabhashya  I.  4 
uns  erhaltenen  Sütra  (s.  Hall,  a.  a.  0.  Anm.  f),  sondern 
auch  aus  den  Sänikhy  asütra's  V.  32—35,  VI.  68,  wenn 
man  nicht  etwa  annehmen  will,  dass  in  diesen  die  Lehren 
Panca9ikha's  über  die  betreffenden  Gegenstände  sütra- 
mässig  verkürzt  worden  seien  ^). 

Von  dem  nächstfolgenden  S  ä  m  k  h  y  a  -  Lehrer,  S  a  - 
nandanäcäry a,   ist   uns  nichts    erhalten,   als   das   eine 


1)  S.  Fleet,  Corpus  Inscriptionum  Indicarum,  Vol.  lU,  p. 
137,  139,  und  in  diesem  Buche  S.  47  Anm.  2. 

-)  Diese  Kunde  wird  auch  den  Worten  Svapne^vara's  ])ei 
Hall,  Einl.  zum  Sämkhya-prav.-bhäshya  S.  10,  zu  Grunde 
liegen.     S.  ferner  Hall,  Sänkhya  Sara,  Preface  p.  8  Anm. 

2)  Dagegen  ist  die  Möglichkeit,  mit  Svapne^vara  (s.  Hall, 
a.  a.  0.)  in  den  ersten  vier  Worten  des  Fragments  Yogabhashya 
II.  13  zwei  Sutra's  zu  finden,  durch  den  Zusammenhang  mit  den 
folgenden  Sätzen  ganz  ausgeschlossen;  Svapne^vara  würde  sicher 
nicht  auf  diesen  G-edanken  gekommen  sein,  wenn  ihm  das  voll- 
ständige Citat  —  und  nicht  nur  die  Abkürzung  in  der  Säiakhya- 
tattva-kaumudi  —  bekannt  gewesen  wäre. 


—     35     — 

Wort   im   Sanikliy asütr a    VI.  69.     Immerhin    wird    er 
dadurch,    für    uns     eine    greifbarere    Person    als    die    — 
zum    Theil     gewiss    rein    mythologischen    —    Träger    der 
Namen,    die    noch    im    Mbh.    XII.    13078—80    und    in 
Gaudapäda's  Commentar  zu  Sanikhy akärikä  1  an- 
geführt sind^):  Sana,  Sanatsujäta,  Sanaka,  Sanat- 
kumära,    Sanätana    und    Vodhu.     Die    ersten    fünf, 
deren  Realität    schon    durch   den    Gleichklang    der  Namen 
höchst  verdächtig  wird,  gelten  mit  Kapila  und  Sanan- 
dana  zusammen   für   die  sieben    geistigen  Söhne  Brah- 
man's;  nur  bei  einem  unter   ihnen,    Sanätana,  haben 
wir  in  modernen  Werken    schwache  Zeugnisse  dafür,  dass 
er  ein  Autor  —  und  zwar  über  Gegenstände   der  Yoga- 
Philosophie  —  gewesen    sei  2).     Der    Name    Vodhu  oder 
Vodha,  über  den  Weber,  Ind.  Lit.  Gesch.- 253  Anm.  *, 
zu  vergleichen  ist,   macht    nicht   den   Eindruck,   als  ob  er 
fingirt  sei;  doch  lässt  sich  über  seinen  Inhaber  nichts  be- 
stimmtes ermitteln.  Vodhu  oder  Vodha  erscheint  stehend 
als  Gegenstand  der  Anrufung  bei  der  weiter  unten  zu  be- 
handelnden Rshitarpana-  (oder  Pitrtarpana-)  Cere- 
monie,   und   zwar   meist    zwischen   Asuri    und   Paiica- 
9ikha  (s.  Weber's  Verzeichniss   der   Berliner  Sanskrit- 
Handschriften  I.  p.  46,  327,  II.  p.  78,  344,  1152),  ja  sogar 
an     der     ältesten     Stelle,      im     Atharva  -  pari9ishta 
(Weber's   Verz.   I.    p.  91  unten)    zwischen  Kapila  und 
Asuri.     Auf  diese   Reihenfolge    ist    indessen    kaum    ein 
grosses  Gewicht  zu  legen,  zumal  da  im  Brhat-Pärä9ara 
Dharma9ästra    (Weber's   Verz.    IL    p.    336)    Asuri 
gegen  alle  sonstige  Ueberlieferung   vor  Kapila  genannt 
ist.     Herr   Professor   Weber  hat   mir   brieflich   die   Ver- 
muthung   geäussert,    dass    in    dem    Namen  Vodhu    oder 
Vodha  eine   Brahmanisirung   Buddha's    zu   sehen  sein 
möge,  und  hat  diese  Vermuthung  mit  dem  Hinweis  darauf 
begründet,  dass  die  Jaina  die  brahmanischen  Namen 


1)  Vgl.  Hall,  Prefacep.  14;  Weber,  Ind.  Stud.  I.  385,  Anm.  2. 

2)  S.Hall,  Pref.  p.  25,  Anm.  *. 

3* 


—     36     — 

in  ähnlicher  Weise  zu  entstellen  pflegen;  doch  muss  ich 
gestehen,  dass  ich  von  der  Richtigkeit  dieses  Gedankens 
noch  nicht  ganz  überzeugt  bin.  —  Wenn  schliesslich  noch 
in  der  Purä na- Literatur  eine  Anzahl  alter  Namen  zu 
Sämkhya- Lehrern  gestempelt  werden '),  so  sind  das  reine 
Phantastereien,  über  die  wir  ohne  weiteres  hinweggehen 
können. 

Bei  einigen  in  Sämkhya-  Werken  uns  begegnenden 
Namen  können  wir  zweifelhaft  sein,  ob  mit  ihnen  Ver- 
treter unseres  Systems  bezeichnet  sind  oder  nicht  vielmehr 
Lehrer  der  Yoga- Philosophie.  Jaigishavya,  von  dem 
wir  das  ziemlich  werthlose  Zeugniss  des  Kürmapuräna 
haben,  dass  er  ein  Mitschüler  Paiica9ikha's  gewesen 
sei-),  wird  zwar  in  der  Sämkhy a-tattva-kaumudi 
zu  Kärikä  5  citirt;  doch  habe  ich  in  meiner  Ueber- 
setzung  dieses  Werkes  S.  551  Anm,  3  bereits  darauf  hin- 
gewiesen, dass  Vacaspatimi9ra  sich  hier  anVyäsa's 
Yogabhäshya  IIL  18  anlehnt.  Und  in  dem  Jaigi- 
shavya-Fragment,  welches  sich  im  Yogabhäshya 
IL  54  findet,  handelt  es  sich  um  eine  Definition  des  Y  o  g  a  - 
Terminus  mdriya-jaya,  den  Jaigishavya  als  ,Nichtwahr- 
nehmung  (der  Objekte)  wegen  der  Concentration  des  Denk- 
organs'erklärt.  Damit  stimmt  überein,  dass  Jaigishavya 
im  Mahäbhärata  (IX.  2859  ff.,  XIIL  1333)  undHari- 
vam9a  (Y.  951  ff.)  als  ein  Anhänger  des  Yoga  und  als 
Yoga- Lehrer  auftritt.  Die  Mahäbhärata-Stellen  be- 
weisen ausserdem,  dass  dieser  berühmte  Lehrer  spätestens 
den  ersten  Jahrhunderten  nach  Chr.  angehört  haben  muss. 

Während  somit  Jaigishavya's  Zugehörigkeit  zur 
Yoga-  Schule  gesichert  erscheint,  finde  ich  bei  dem  gleich- 
falls im  Mahäbhärata  erwähnten  Värshaganya  (den 
ich  nicht  mit  dem  Säma- Lehrer  dieses  Namens  im 
V  a  m  9  a  b  r  ä  h  m  a  n  a  und  bei  Lätyäyana  zu  identificiren 
wage)   keinen   Anhaltspunkt,    um    ihn    vermuthungs weise 


1)  S.  Hall,  Pref.  p.  15. 

•^)  S.  Hall,  Pref.  p.  15  Anm.,  22  Anm.  f. 


37 


einem  der  beiden  in  Betracht  kommenden  Systeme  zu  vin- 
diciren.  Mir  sind  nur  zwei  den  Namen  Värshaganya's 
tragende  Citate  begegnet,  die  beide  nicbt  erkennen  lassen, 
ob  das  Werk,  dem  sie  entstammen,  ein  Sämkhya-  oder 
Yoga-  Lehrbuch  gewesen  ist.  Das  erste  Citat  findet  sich 
im  Yogabhäshya  III.  52  am  Ende  und  enthält  eine 
Polemik  gegen  die  Theorie  der  Vai9eshika's,  dass  die 
materiellen  Grundursachen,  unter  denen  jene  die  Atome 
verstehen,  von  einander  verschiedene  Substanzen  seien; 
das  zweite  steht  in  der  Sämkhya-tattva-kaumudi 
zu  K  ä  r  i  k  ä  47  und  handelt  von  dem  fänftheiligen  Nicht- 
wissen, einem  Gegenstande,  der  sowohl  der  Yoga-  wie 
der  Sämkhya- Philosophie  eigen  ist. 

Unzweifelhaft  dagegen  gehört  in  die  Reihe  der  alten 
Sämkhya- Autoritäten  ein  Lehrer,  von  dem  uns  an  einer 
Stelle  berichtet  wird,  die  ich  übersehen  haben  würde,  wenn 
nicht  Herr  Hofrath  Bühl  er  mich  gütigst  auf  sie  auf- 
merksam gemacht  hätte:  in  Wassiljew's  Buddhismus 
S.  240.  Bühl  er  gebührt  auch  das  Verdienst,  die  Identität 
der  dort  genannten  cliinesischen  Umschreibung  Seng  ke 
lun   mit  Sämkhya- 9ästra  festgestellt  zu  haben. 

In  der  Biographie  des  berühmten  buddhistischen 
Lehrers  Vasubandhu,  die  zwischen  557  und  588  ins 
Chinesische  übersetzt  worden  ist  (s.  Wassiljew  S.  230), 
finden  wir  a.  a.  0.  folgende  Legende : 

„Neun  hundert  Jahre  nach  dem  Tode  des  Buddha 
„lebte  ein  Tirthika  (Asket)  Vindhyaka  väsa  i); 
dieser  erbat  sich  von  einem  in  einem  See  am  Fuss  des 
„Berges  Vindhyaka  (sie)  lebenden  Drachen  das  Werk 
„Seng  ke  lun,  änderte  es  sei n.e n  Ansichten  ge- 
„mäss,  kam  alsdann  nach  A  y o  d h y  ä  und  bat  den  König 
„Vikramäditya,  ilun  zu  verstatten,  eine  Disputation 
„mit  den  buddhistischen  Geistlichen  zu  halten.  Zu  dieser 
„Zeit  befanden  sich  die  grossen  Lehrer,  wie  Manirata, 
„Vasubandhu  und  andere  in  anderen  Königreichen ;  ein- 


« 


^)  Wohl  fehlerhaft  für  Viudhy aväsaka. 


-     38     - 

„ zig  B u cl d h a m  i t r a ,  der  Lehrer  des  Vasubaiidhu,  war 
„zurückgeblieben,  ein  Mann  von  zwar  tiefen  Kenntnissen, 
„aber  bereits  ausserordentlich  alt  und  schwach ;  zur  Dispu- 
„tation  herausgefordert,  konnte  er  das  von  dem  Tirthika 
„Gesagte  nicht  wiederholen  und  wurde  besiegt.  Der  König 
„belohnte  den  Tirthika;  dieser  kehrte  zu  dem  Berge 
„  V  i  n  d  h  y  a  zurück  und  verwandelte  sich  in  eine  steinerne 
„ Säule.  Sein  Werk  Seng  kelunist  aber  bis  auf  den 
„heutigen  Tag  erhalten.  Als  Vasubandhu  nach  seiner 
„Rückkehr  diesen  Vorgang  erfuhr,  sandte  er  aus,  um  den 
„Tirthika  aufzusuchen;  da  dieser  sich  aber  in  einen 
„Stein  verwandelt  hatte,  so  verfasste  Vasubandhu  das 
„Tsi    schi    tschang    schi   lun,    in   welchem    er  alle 

„Sätze   des   Seng   kelun  umstiess Nach  diesem 

„wurde  die  wahre  Lehre  (d.  i.  der  Buddhismus)  wiederum 
„hergestellt." 

Es  ist  ohne  weiteres  klar,  dass  die  Grundlage  dieser 
Legende  eine  Bedrängving  der  buddhistischen  Religion 
durch  die  Sämkhya- Philosophie  ist  und  dass  diese  Be- 
drängung nur  in  einer  Zeit  möglich  war,  in  der  das  S  ä  m  - 
khya- System  sich  einer  besonderen  Blüthe  erfreute.  Unsere 
Quelle  setzt  den  berichteten  Vorgang  900  Jahre  nach  dem 
Tode  des  Buddha  an,  d.  h.  verlegt  ihn,  da  die  Chinesen 
in  der  Zeit,  der  diese  Quelle  angehört,  für  das  Nirväna 
Buddha's  nach  Beal  das  Jahr  850  vor  Chr.  annehmen, 
in  das  erste  Jahrhundert  nach  Chr.  AVir  gelangen  damit  in 
der  That  gerade  mitten  in  die  Zeit,  die  wir  alle  Ursache 
haben  als  die  Blüthezeit  der  S  ä  m  k  h  y  a  -  Philosophie  an- 
zusehen. Gegen  diese  Zeitbestimmung  wird  man  nicht 
ernstlich  geltend  machen  können,  dass  ein  König  V  i  k  r  a  - 
mäditya  im  ersten  Jahrhundert  nach  Chr.  nicht  existirt 
hat;  selbstverständlich  handelt  es  sich  in  dem  chinesischen 
Text  um  einen  ganz  fabelhaften  König  oder  um  einen  König, 
dem  später  der  Name  V  i  k  r  a  m  ä  d  i  t  y  a  gegeben  worden  ist. 

Der  Schwerpunkt  unserer  Legende  liegt  in  den  von 
mir  durch  gesperrten  Druck  ausgezeichneten  Worten,  die 
die  (Angabe  enthalten,  dass  das  Seng  ke  lun  von  Vin- 


—    39     — 

dhyaväsaka  seinen  Ansichten  gemäss  geändert  sei.  Ich 
glaube,  wir  müssen  uns  hüten,  die  Bedeutung  dieser  Nach- 
richt zu  überschätzen,  zumal  Was siljew  seine  chinesische 
Quelle  nicht  vollständig  übertragen,  sondern  nur  auszugs- 
weise mitgetheilt  hat  (s.  S.  231);  wir  wissen  also  nicht 
einmal,  ob  der  Wortlaut  des  Originals  an  dieser  Stelle 
genau  wiedergegeben  ist.  Meines  Erachtens  können  wir 
in  jenen  Worten  keinen  anderen  Sinn  suchen,  als  dass 
Vindhyaväsaka  ein  vorhandenes  Sämkhya-Werk 
umgearbeitet  oder  vervollständigt  habe.  Wenn  er  das 
System  materiell  geändert  hätte,  so  könnte  diese  That- 
sache  unmöglich  in  der  S  am khya -Literatur  vollständig 
unerwähnt  geblieben  sein,  V  i  n  d  h  y  a  v  ä  s  a  k  a  ist  zweifel- 
los identisch  mit  dem  Sämkhya- Lehrer  Vindhya- 
väsin,  von  dem  uns  zwei  Citate  neben  einander  in 
Bhojaräja's  Commentar  zum  Yogasütra  IV.  22  er- 
halten sind  ').  Ohne  auf  die  Thatsache  besonderes  Gewicht 
zu  legen,  möchte  ich  doch  darauf  hinweisen,  dass  Vin- 
dhyaväsin  sich  hier  in  einem  der  wichtigsten  Punkte 
des  Sämkhya -Systems,  d.  h.  in  Betreff  der  zwischen 
Seele  und  Innenorgan  obwaltenden  Beziehungen,  mit  allen 
andern  Sämkhya- Lehrern  in  voUer  Uebereinstinmiung 
befindet.  Im  übrigen  spielt  der  Mann  in  der  Geschichte 
des  Sämkhya  gar  keine  Rolle;  gegen  die  Buddhisten 
mag  er  sich  mit  Heftigkeit  gewendet  haben  und  diesen 
unbequem  geworden  sein;  aus  der  angeführten  buddhis- 
tischen Notiz  aber  zu  scliliessen,  dass  er  ein  Reformator 
des  Sämkhya- Systems  gewesen  sei  oder  an  demselben 
einschneidende  Aenderungen  vorgenommen  habe,  würde 
mir  bei  dem  Mangel  weiterer  Nachrichten  über  diesen 
Gegenstand  übereilt  erscheinen. 

In  unseren  S  ä  m  k  h  y  a  -  Schriften  werden  mehrfach 
alte  Autoritäten  des  Systems  (Sämkhya -vrddhäh, 
vrddliäh  ,  Sämhhyäcäryäh ,  'purvdcäryäli ,  dcärydh)  Qx\Axi\ 
Sämkhya-tattva-kaumudi     Einl.    und    Comm.     zu 


1)  S.  104  unten  in  Käjendraläla's  Ausgabe. 


—     40     — 

Kärikä  9,  Conmi.  zu  Kärikä  33  (S.  558/59,  561,  595 
meiner  Uebersetzung),  Sämkliyasütra  V.  31,  VI.  30; 
Aniruddha  L  110;  Aniruddha  und  Mahadeva  III. 
41;  VijnänabhikshuII.  32;  Mahadeva  III.  42.  Es 
wäre  bei  der  Lückenhaftigkeit  unserer  Ueberlieferung 
müssig,  Yermuthungen  darüber  aufzustellen,  Avas  für  Namen 
unter  jenen  allgemeinen  Bezeichnungen  verborgen  sein 
könnten. 

Vor  die  Zeit,  in  der  uns  Sämkhy a-Lehren  in  der 
Literatur  entgegentreten,  Mit  dasjenige  Ereignis«,  welches 
für  die  Verbreitung  unseres  Systems  von  der  grössten  Be- 
deutung gewesen  ist,  die  Begründung  —  oder  richtiger 
gesagt :  die  literarische  Fixirung  —  der  Yoga-  Philosophie, 
Da  ich,  wie  schon  oben  S.  26  Anm,  angedeutet,  mit 
Lassen  den  Grammatiker  und  Philosophen  Pataüjali 
für  einunddieselbe  Person  halte,  setze  ich  dieses  Ereigniss 
in  das  zweite  Jahrhundert  vor  Chr.  Der  Begriff  des  Yoga, 
die  Abwendung  der  Sinne  von  der  Aussenwelt  und  die 
Concentrirung  des  Geistes  nach  innen,  war  schon  viele 
Jahrhunderte  früher  in  Indien  bekannt  und  in  die  Praxis 
umgesetzt.  Ist  doch  —  von  anderen  Spuren  abgesehen  — 
der  Zustand  der  Versenkung  von  je  her  in  der  buddliis- 
tischen  Gemeinde  ein  hochgepriesener  gewesen.  Patahjali 
aber  hat  die  Lehre  von  der  Versenkung  in  ein  System  ge- 
bracht, er  hat  die  Mittel  beschrieben  um  diesen  Zustand 
zu  erreichen  und  auf  das  höchste  Mass  zu  steigern,  auch 
die  übernatürlichen  Kräfte  behandelt,  die  als  Lohn  der 
Yoga-  Praxis  gelten.  Die  metaphysische  Grundlage  dieser 
mystischen  Theorien  ist  fth-  Patahjali  die  Sämkhya- 
Philosophie,  deren  Lehren  er  sich  in  einem  LTmfange  zu 
eigen  gemacht  hat,  dass  sein  System  mit  Recht  in  der  in- 
dischen Literatur  allgemein  als  ein  Zweig  des  S  ä  m  k  h  v  a 

CD  O  •  »/ 

bezeichnet  wird.  Sämmtliche  S  ä  m  k  h  y  a  -  Anschauungen 
von  principieller  Bedeutung,  mit  Ausnahme  der  Gottes- 
leugnung,  sind  in  das  Yoga- System  übergegangen,  und 
die    Einfügung    des   persönlichen    Gottes,    die    später  den 


—     41     — 

Charakter  des  Systems  in  entscheidender  Weise  bestimmte, 
ist  —  nach  den  Yogasütra's  zu  urtheilen  —  zunächst 
in  ganz  lockerer  äusserlicher  Weise  vorgenommen  worden, 
ohne  dass  dadurch  der  Inhalt  und  das  Ziel  dieser  Philoso- 
phie irgendwie  verändert  wurde.  Man  kann  geradezu 
sagen,  dass  die  Yogasütra's  I.  23 — 27,  IL  1,  45,  die 
von  Gott  handeln,  ausser  Zusammenhang  mit  den  übrigen 
Theilen  des  Lehrbuchs  stehen,  ja  den  Grundlagen  des 
Systems  widersprechen.  Das  Endziel  mensclilichen  Strebens 
ist  nach  dem  Lehrbuch  nicht  die  Vereinigung  mit  oder 
das  Aufgehen  in  Gott,  sondern  einfach,  wie  in  der  Säm- 
k  h  y  a  -  Philosophie,  die  absolute  Isolirung  (kaivalya)  der 
Seele  von  der  Materie.  AVeun  L.  v.  S  c  h  r  o  e  d  e  r  (Indiens 
Literatur  und  Cultur  S.  687)  sagt :  „  der  Yoga  trägt  durchaus 
„einen  theistischen  Charakter;  er  nimmt  einen  Urgeist  an, 
„aus  welchem  die  einzelnen  Geister  stammen  u.  s.  w.",  so 
ist  das  unrichtig;  denn  die  Einzelseelen  sind  ebenso  an- 
fangslos, wie  die  ,besondere  Seele'  (purusha-viceslia,  Y  o  g  a  - 
s ü t r  a I.  24),  welche  ,Gott'  heisst.  Selbst  Deussen's  Worte 
(System  des  Vedänta  S.  20),  Patanjali  habe  das  Säni- 
k  h  y  a  -  System  ,theistisch  umgedeutet',  gehen  etAvas  zu  weit. 

Der  Behandlung  des  Yoga  dient  eine  grosse  Reihe 
von  jüngeren  U  p  a  n  i  s  h  a  d '  s,  die  meines  Erachtens  sämmt- 
lich  später  sind  als  die  Yogasütra's.  Es  sind  die  von 
Weber  (Ind.  Lit.  Gesch/^  180—183)  als  die  ,zweite 
Klasse  der  Atharvopanishad' bezeichneten,  ,w eiche  die 
Versenkung  in  den  Atman  zum  Gegenstande  haben.'  Wenn 
schon  in  diesen  Upanishad's,  die  übrigens  nicht  frei 
von  Yedänta -Anschauungen  sind,  die  Person  Gottes 
stärker  hervortritt,  so  ist  das  in  noch  viel  höherem  Masse 
der  Fall  bei  der  ,dritten  Klasse'  (s.  Weber,  S.  183),  den 
sektarischen  Upanishad's,  ,welche  dem  Atman  eine 
der  Formen  des  Vishnu  oder  Civa  substituiren',  dabei 
aber  doch  im  wesentlichen  dem  Yoga-  System  folgen. 

Was  die  Yogasütra's,  das  Hauptwerk  der  Schule, 
anlangt,  so  sehe  ich  keinen  Grund  Patanjali's  Autor- 
schaft   zu   bezweifeln.     Der  term'lnus   ad  quem  wird  zwar 


—     42     — 

erst  durch  das  Yogabhäshy a  des  Vyäsa  bezeichnet, 
den  wir  —  vier  Generationen  vor  ^amkara')  — in  das 
siebente  Jahrhundert  nach  Chr.  zu  setzen  haben ;  dass  aber 


1)  Vgl.  Colebrooke,  Mise.  Ess.- 1.  93  niiton,  Hall,  Sänkhya 
SäraPrL'face89p.  Aiim.  f,  Weber,  Ind.  Lit.  Geseh.2  260.  —  lieber 
^amkara's  Lebenszeit  (Ende  des  achten  und  Anfang  des  neunten 
Jahrhunderts)  vgl.  besonders  Deussen,  System  des  Vedixnta 
S.  36  ff.  und  Bühler,  Contributions  to  the  liistory  of  the  Ma- 
häbhärata  p.  5.  Gegen  die  Annahme  Telang's  (Indian  Antiquary 
XIII,  p.  95  ff.)  und  Fleet's  (Ind.  Ant.  XVI,  p.  41,  42),  dass 
Qamkara  .schon  um  600  n.  Chr.  gelebt  habe,  ist  zu  bemerken, 
dass  der  erstere  sieh  auf  ganz  belanglose  Punkte  bezieht  und  der 
letztere  auf  die  Märchen  der  nepalesischen  Chronik,  die  wahr- 
scheinlich erst  in  unserem  Jahrhundert  verfasst  ist.  Die  Richtig- 
keit der  einheimischen  Tradition  über  Qamkara's  Lebenszeit  ist 
durch  die  beiden  neuesten  Abhandlungen  Path  ak's  (über  Bhar- 
trhari  und  Kuniärila  im  Journal  der  Royal  Asiatic  Society, 
Bombay  Branch,  und  in  den  Verhandlungen  des  neunten  inter- 
nationalen Orientalisten-Congresses)  über  jeden  Zweifel  erhoben 
worden.  Da  mir  diese  beiden  Arbeiten  nicht  zugänglich  waren, 
hat  Herr  Hofrath  Bühler  die  Güte  gehabt,  mir  in  einem  Briefe 
vom  3.  Januar  1892  die  Ergebnisse  der  Untersuchungen  Päthak's 
mitzutheilen :  1)  dass  Ku märila  das  Väkyapadiy  a  desBhar- 
trhari  (650  n.  Chr.)  citirt  und  dass  er  gegen  Jai  na -Lehrer 
polemisirt,  die  um  700  n.  Chr.  gelebt  haben,  sowie  dass  deren 
Schüler  gegen  Kumarila  polemisireu,  woraus  folgt,  dass  er  kurz 
nach  700  geschrieben  hat;  2)  dass  Qarnkara  den  Kumarila 
erwähnt  und  citirt,  mithin  später  als  750  gelebt  haben  muss.  Man 
hat  an  der  Tradition,  die  berichtet,  dass  Qanikara  788  geboren 
und  820  gestorben  sei,  Anstoss  genommen,  weil  der  grosse  V  e  - 
dänta- Lehrer  danach  nur  32  Jahrj  alt  geworden  wäre  und  in 
einem  so  kurzen  Leben  unm(>glich  seine  zahlreichen  grossen  Werke 
verfasst  haben  könnte.  Schon  Burgess,  Ind.  Ant.  XI,  p.  263  hat 
deshalb  die  Vermuthung  ausgesprochen,  dass  eines  der  beiden 
Daten  sich  nicht  auf  die  Geburt  oder  den  Tod  ^ainkara's, 
sondern  auf  den  Anfang  oder  das  Ende  seiner  wissenschaftlicbtu 
Thätigkeit  (active  career)  beziehe.  Ueber  diesen  Punkt  schreibt 
mir  Herr  Hofrath  Bühl  er  folgendes:  „Das  traditionelle  Datum  ist 
„absolut  von  Absurdität  frei,  wenn  man  die  Angabe  über  Cam- 
„kara's  Geburt  auf  seine  geistliche  Geburt,  d.  h.  seine  Asketen- 
„weihe    (wie    Bhandarkai'^'will)    bezieht.     Das    ist   ganz   unver- 


—     43     — 

die  Yogasütra's  viel  älter  sind,  geht  mir  aus  einem 
Moment  hervor,  das  meines  Wissens  bisher  unbeachtet  ge- 
blieben ist.  Die  Yogasütra's  sind  die  einzigen  unter 
den  philosophischen  S  ü  t  r  a '  s ,  die  das  System  entwickeln, 
ohne  gegen  die  andern  Systeme  z  upolemisiren. 
Ich  halte  sie  aus  diesem  Grunde  für  älter  als  die  Lehr- 
bücher der  fünf  anderen  Schulen.  Wenn  nun  Bühl  er 
damit  Recht  hat,  dass  er  ^abarasvämin's  Commentar 
zur  Pürvamimämsä  nicht  lange  nach  Beginn  unserer 
Zeitrechnung  ansetzt  (Uebersetzung  des  Manu,  Einleitung 
p.  CXII)  —  und  die  Betrachtung  der  Sprache  lehrt,  dass 
^abarasvämin  weit  älter  sein  muss  als  Vyäsa  — ,  so 
würden  die  gleichzeitig  mit  einander  abgeschlossenen  Mi- 
mämsä-  und  Vedänta-sütra's  etwa  in  den  Anfang 
oder  nicht  lange  vor  den  Anfang  unsrer  Aera  fallen.  Für 
die  meiner  Ansicht  nach  diesen  beiden  Sütra's  voran- 
gehenden loffasütra's  würde  sich  uns  mithin  das  Datum 
des  Grammatikers  Patanjali  als  eine  durchaus  wahr- 
scheinliche Abfassungszeit  ergeben,  —  ein  Gesichtspunkt, 
der  gewiss  die  einheimische  Tradition,  dass  der  Grammatiker 
Pataüjali  der  Verfasser  der  Yogasütra's  gewesen  sei, 
nachdrücklich  unterstützt. 

Ein  näheres  Eingehen  auf  die  Y  o  g  a  -  Literatur  muss 
ich  mir  hier  versagen,  weil  dieser  Gegenstand  eine  be- 
sondere Abhandlung  verlangt  und  verdient.  Die  rein 
philosophische  Seite  des  Systems  ist  in  klarer  Weise 
von  Paul  Markus  erörtert  worden  in  seiner  Doktor- 
dissertation (Leipzig  1886). 

Da  das  Yoga-  System  fast  alle  die  Elemente  enthält, 
die  dem  Sämkhya  eigen  sind,  ist  es  nicht  immer  mög- 
lich zu  entscheiden,    welches    der  beiden  Systeme  in  der 


„fänglich,  da  ähnliche  Ausdrücke  bei  den  Buddhisten,  Vishnuiten 
„und  Qiviten  oft  vorkommen.  In  der  C  i  n  t  r  a  -  Inschrift  (Epigraphia 
„ludica  I.  p.  282,  Vers  20)  heisst  es,  dass  Välmikirä^i  seine 
„Greburt  aus  den  Lotushänden  [des  Kärttikarä§i]  erhielt  (tena  sva- 
„hasta-kamalä-^nugrMta-janmä)." 


—     44     — 

brahmanischen  Literatur  da,  wo  wir  charakteristischen 
Sämkhya- Lehren  begegnen,  seinen  Einfluss  aasgeübt 
hat.  Wenn  ich  im  Folgenden  dazu  übergehe,  die  uns  dort 
erhaltenen  Quellen  des  Sänikhya- Systems  im  engeren 
Sinne  zu  besprechen,  werde  ich  der  Sicherheit  halber  den 
Kreis  meiner  Betrachtungen  eher  zu  weit  als  zu  eng 
ziehen. 


Zunächst  haben  wir  unsere  Blicke  auf  die  ersten  der 
oben  S.  22  angeführten  U p an ish ad- Stellen  zu  richten. 
Wir  findeii  hier  nirgends  die  Lehren  der  Sämkhya- 
Philosophie  im  Zusammenhange  entwickelt,  sondern  nur 
Bruchstücke  des  Svstems  in  Vermischung  mit  Vedänta- 
Lehren,  zum  Theil  auch  mit  mythologischen  Anschauungen; 
doch  genügen  diese  Stellen  —  die  wichtigste  ist  Maitri 
Up.  VL  10.  —  um  uns  erkennen  zu  lassen,  dass  sich  das 
Sämkhya -System  zur  Zeit  der  Entstehung  der  in  Be- 
tracht kommenden  U]Danishad's  in  den  grundlegenden 
Ideen  nicht  von  dem  in  den  späteren  Lehrbüchern  uns 
entgegentretenden  System  unterschieden  hat.  Li  der 
9vetä9vatara  L^^p.  begegnet  uns  YL  13  bekanntlich 
schon  die  in  Zukunft  so  beliebte  enge  Verbindung  von 
Sämkhya-  und  Yoga- Lehren,  die  selbst  sprachlich 
durch  das  Compositum  sdinhhya-yoga  zum  Ausdinick  ge- 
bracht wird.  Bei  dieser  Vereinigung  wird  von  Anfang  an 
mit  yoga  nicht  bloss  die  contemplative,  sondern  auch  die 
moralische  Seite  hervorgehoben  sein,  die  im  Sämkhya- 
Sy.stem  zu  kura  gekommen  ist  ^).  In  der  Bhagavadgitä 
(besonders  im  dritten  und  fiiuften  Gesang)  ist  yoga  geradezu 
die  Lehre  vom  pflichtgemässen  Handeln,  sämkhya  die  ab- 
strakte Theorie  von  der  richtigen  Erkenntniss. 

Wohl  gleichzeitig  mit  einem  Theü  derjenigen  üpani- 
shads,  von  denen  ich  soeben  gesprochen,  ist  das  Gesetz- 
buch des  Manu  in  der  Form,  wie  es  endgütig  festgestellt 


1)  Vgl.  Yogasütra  H.  -30. 


r 


—     45     — 

ist;  denn  Bühl  er  hat  mit  gewolintem  Scharfsinn  in  der 
Einleitung  zu  seiner  Uebersetzung  des  Werkes  wahrschein- 
lich sremacht,  dass  die  untere  Grenze  für  unsern  Manu- 
Text  das  zweite  Jahrhundert  nach  Chr.  ist  ^) :  und  alles 
spricht  dafür,  dass  die  wirkliche  Zeit  der  Redaktion  dem 
terminus  ad  quem  nicht  fern  gelegen  hat.  Die  Stellen 
nun,  in  denen  Manu  sich  auf  Lehren  der  Sämkhya- 
Philosophie  stützt  (I.  11,  14—20  und  in  grossen  Partien 
des  zwölften  Buches)  zeigen  stärkere  Abweichungen  von 
unserm  System  als  die  eben  erwähnten  Upanishad's. 
Reine  S  ä  m  k  h  y  a  -Doctrin  tritt  uns  in  der  Lehre  von  den  drei 
Guna's  XIL  24—52  entgegen,  im  Anschluss  woran  Y. 
53—81  die  Theorie  der  Sündenvergeltung  durch  Wieder- 
geburt in  niederen  Organismen  im  Einzelnen  entwickelt 
wird;  ferner  in  dem,  was  XU.  85  über  die  Erlösung  und 
Vers  105  über  die  drei  Erkenntnissmittel  gesagt  ist.  Dieser 
letzte  Punkt,  die  übereinstimmende  Annahme  von  nur  drei 
Quellen  der  Erkenntniss,  ist  um  so  bedeutungsvoller,  als 
Manu  ebenso  wie  die  S  ä  m  k  h  y  a  -  Philosophie  besonderen 
Werth  auf  die  Schlussfolgei-ung  legt-).  Andere  Stellen 
des  Gesetzbuches  dagegen,  die  Beziehungen  zu  unserem 
System  haben,  namentlich  die  eben  angeführten  Verse  des 
ersten  Buches  und  XII.  14,  sind  ganz  verworren  und  auch 
durch  die  neuen  vortrefflichen  Uebersetzungen  von  Burnell 
und  Bühl  er  nicht  zu  befriedigender  Klarheit  gebracht 
worden.  Und  dann  befinden  sich  hier  die  Sämkhya- 
Lehren  in  einer  solchen  Vermischung  mit  Mimämsä- 
Lehren  (s.  XII.  88,  90,  107,  116,  wo  auch  dem  ,Werk'  er- 
lösende Kraft  zugeschrieben  wird),  mit  Ve da nta- An- 
schauungen (s.  z.  B.  Xn.  91,  102,  118,  125)  und  mit 
populären  mythologischen  Vorstellungen,  dass  die  gewöhn- 
liche Meinung,  Manu's  Gesetzbuch   stehe    ganz  auf  dem 


1)  S.  jedoch  die  Besprechung  von  E.W.Hopkins  in  den  Pro- 
ceedings  of  the  American  Oriental  Society,  May  lrf»7,  p.  XLVIIl  ff. 

2)  S.  Johaentgen,  Ueber  das  Gesetzbuch  des  Manu  S.  63, 
und  in  diesem  Werke  unten,  Zweiter  Abschnitt  I.  4. 


—     46     — 

Boden  der  S  am khya- Philosophie,  zum  mindesten  einige 
Einschränkung  verdient.  Der  Grad  von  Berücksichtigungr, 
welcher  den  Sämkhya- Ideen  bei  Manu  erwiesen  wird, 
erklärt  sich  daraus,  dass  die  letzte  Redaktion  des  Gesetz- 
buches —  mag  sich  das  Datum  auch  noch  etwas  verschieben 
—  unter  allen  Umständen  in  der  Blüthezeit  des  Sämkhya- 
Systems  vorgenommen  wurde.  Da  das  Wort  sämkhya  in 
dem  Texte  des  Manu  nicht  vorkommt,  sollte  man  viel- 
leicht wegen  der  ausgesprochen  theistischen  Grundlage  des 
AVerkes  eher  von  einem  Zusammenhang  mit  der  Yoga- 
Philosophie  reden.  Jedenfalls,  glaube  ich,  wird  heute  Nie- 
mand mehr  der  Ansicht  Johaentgen's  beipflichten,  die 
dieser  in  seiner  für  ihre  Zeit  verdienstvollen  Schrift  ,Ueber 
das  Gesetzbuch  des  Manu'  (Berlin  1863)  vertritt,  dass  uns 
nämlich  in  dem  berühmten  Gesetzbuch  eine  ältere  und  ur- 
sprünglichere Form  der  Sämkhya- Philosophie,  resp.  der 
Keim  des  eigentlichen  Systems,  erhalten  sei.  Wie  schon 
Coleb rooke  (Mise.  Ess.-  I.  249)  und  nach  ihm  besonders 
Burnell  (Manu  p.  XXII)  betont  hat,  stehen  die  Säm- 
khya-Lehren  in  dem  Gesetzbuch  ganz  auf  der  Stufe  des 
mythologisch  umgedeuteten  Sämkhya-  Systems ,  wie  es 
uns  in  der  P  u  r  ä  n  a  -  Literatur  entgegentritt 

Auch  die  anderen  Gesetzbücher  sind  in  bemerkens- 
Averther  Weise  von  Sämkhya -Lehren  beeinflusst.  Herr 
Prof  Jolly  hatte  die  Freundlichkeit,  mir  mitzutheilen, 
dass  aus  der  weiteren  juristischen  Literatur  in  erster  Reihe 
die  Vishnusmrti  in  Betracht  konunt,  und  mich  auf  die 
folgenden  Stellen  aufinerksam  zu  machen  Im  Anfang  von 
Adhyäya  97  wird  die  Verschiedenheit  der  Seele  von  den 
24  materiellen  Principien  behandelt,  und  auch  sonst  ist 
dieser  Abschnitt  von  Sämkhy  a-Ideen  durchdrungen  (vgl. 
die  drei  Guna's  in  V.  16).  In  Adhyäya  96,  wo  die 
Pflichten  des  Asketen  aufgeführt  sind,  finden  wir  —  übrigens 
ähnlich  wie  in  anderen  Gesetzbüchern  —  von  Vers  25  an 
die  pessimistischen  Betrachtungen,  denen  sich  der  Bliik- 
shu  widmen  soll;  und  diese  Betrachtungen  sind  voll  von 
Anklängen    an   den   Pessimismus    der   Sämkhy a- Philo- 


—     47     — 

Sophie  1).  Einen  andern  Anlass  zu  solchen  Erwägungen 
bieten  die  Bestattungscerenionien  (Adhy.  19—22).  Dass 
von  den  aus  Adhyäya  20  uns  hier  angehenden  Versen 
22  ff.  einer,  nämlich  V.  25,  sich  fast  wörtlich  in  Gauda- 
päda's  Commentar  zur  Sämkhyakärikä  2  wieder- 
findet, darf  uns  als  ein  äusserer  Beweis  für  den  hier  ob- 
waltenden Zusammenhang  gelten.  Vgl.  übrigens  hierzu 
Manu  VI.  61-64,  76—78,  Yäjnavalkya  EL  8—11. 

Leider  sind  wir  noch  immer  nicht  in  der  Lage  die 
Schlussredaktion  des  Mahäbhärata  mit  Sicherheit  zu 
datiren;  doch  habe  ich  schon  oben  S.  34  angeführt,  dass 
als  untere  Grenze  für  dieselbe  das  fünfte  Jahrhundert  mit 
der  unbezweifelbaren  Gewissheit  feststeht,  die  auf  diesen 
dunkeln  Gebieten  allein  die  indische  Inschriftenkunde  zu 
gewähren   vermag-).     Dass    das    Mahäbhärata    —   und 


1)  S.  die  Einleitung  zu  meiner  Uebersetzung  der  Säinkhya- 
tattva-kaumudi  S.  523,  524. 

-)  Für  die  Feststellung  der  oberen  Grenze  ist  ein  Gesichtsjiunkt 
von  Bedeutung,  den  Weber  in  seiner  interessanten  Schrift  „Ueber 
Bähli,  Bäblika"  (in  den  Sitzungsberichten  der  Königlieh  Preus- 
sischen  Akademie  XLVII,  S.  987,  988)  hervorgehoben  hat.  Er 
sagt  daselbst,  „dass  die  Entstehung  der  Namensform  Bahr,  Bähl 
„zur  Bezeichnung  von  Baktra  nicht  wohl  über  Christi  Geburt 
„zurückversetzt  werden  kann,  dass  sie  resp.  ausserhalb  Indiens  zu- 
,,erst  in  der  Avesta-Uebersetzung  der  Parseu  des  vierten  Jahrh. 
,, nachweisbar  ist.  Da  nun  immerhin  doch  auch  noch  ein  gewisser 
„Zeitraum  für  die  Herüberkunft  dieser  Namensform  nach  Indien 
,,anzunehmen  ist,  so  dürften  sich  hiernach  die  ersten  vier  Jahr- 
,, hunderte  n.  Chr.  als  die  denkbar  früheste  Zeit  hierfür  ergeben. 
„Alle  indischen  Texte  somit,  resp.  Stellen  darin,  welche  den  Namen 
,,in  der  Form  Vähli  (B"),  oder  hieraus  weiter  gebildete  Wörter,  wie 
„Vähläyana  (B^),  Vählika(B'^')  enthalten,  verfallen  somit  dem Ver- 
„dict,  nicht  in  eine  frühere  Zeit  gesetzt  werden  zu  können."  Zu  diesen 
Werken  gehört  in  erster  Reihe  das  Mahäbhärata,  in  dem  die 
Bählika  oftmals  genannt  sind.  —  In  ein  neues  Stadium  ist  die 
Frage  nach  dem  Alter  des  Mahäbhärata  durch  ßühler's  grund- 
legende Contributions  to  the  history  of  the  Mahäbhärata  (Wien 
1892)  gerückt.  Die  Ergebnisse  dieser  gelehrten  und  scharfsinnigen 
Untersuchungen    sind  S.   26,   27   in    folgenden    Worten    zusammen- 


—     48     — 

insbesondere  das  (erst  der  Sclilussredaktion  angeliörige) 
zwölfte  Buch  desselben  —  voll  von  S  ä  m  k  li  y  a  -  Lehren 
ist,  dass  Avir  hier  zum  ersten  Mal  in  der  indischen  Literatur 
diese  Lehren  im  Zusammenhang  entwickelt  finden,  ist  be- 
kannt. Wir  können  geradezu  sagen,  dass  in  dem  interes- 
santen Mokshadharma-  Abschnitt,  der  religionsgescliicht- 
lich  noch  nicht  genügend  gewürdigt  ist,  das  Sämkhya 
die  Hauptrolle  spielt.  Bhishma  nennt  in  seiner  Be- 
lehrung Yudhishthira's  XIL  11101  die  Sämkhya- 
Philosophie  dasjenige  System,  „in  welchem  keinerlei  Irr- 
„thümer  erscheinen,  dem  viele  Vorzüge  eigen  sind  und 
„kein  einziger  Fehler",  und  Vers  11197,  98  sagt  er:  „Es 
„giebt  keine  Erkenntniss,  die  dieser  gleich  ist.  Darüber 
„sei  kein  Zweifel:  die  Erkenntniss  des  Sämkhya  ist  die 
„höchste  Lehre,  ist  unvergänglich  und  ewig";  (vgl.  auch 
noch  die  folgenden  Verse,  besonders  11205,  6).  In  ähn- 
licher Werthschätzung  wird  das  System  in  der  Bhaga- 
V  a  d  g  i  t  ä  gehalten,  in  der  Gott  X.  26,  wie  er  sich  mit  dem 
ersten  jeder  Art  identificirt,  von  sich  sagt:  „Ich  bin  unter 
den  Heiligen  der  Seher  Kapila";  womit  die  bemerkens- 
werthe  Thatsache  übereinstimmt,  dass  der  Verfasser  der 
theistischen  Bhagavadgitä  in  weitem  Umfange  die 
Anschauungen  unseres  ausgesprochen  atheistischen  Systems 
vertritt. 

Wenn  wir  nun  auch  in  dem  grossen  Epos  die  ältesten, 
wirklich  als  solche  zu  bezeichnenden  Quellen  vor  uns  haben 
und  mithin  von  vorn  herein  geneigt  sein  werden  die 
Wichtigkeit  derselben  sehr  hoch  anzuschlagen,  so  verringert 
sich  diese  Bedeutung  bei  näherer  Betrachtung;    denn   wir 


gefasst:  "The  rrsults  of  the  preceding  enqiiiry  are  sufficient  to 
"Warrant  the  assertiou  that  the  Mahäbhärata  certainly  was  a 
"Smriti  or  Dharmasästra  from  A.  D.  300,  and  that  about  A.  D. 
"500  it  certainly  did  not  differ  esscntially  in  size  and  in  charaeter 
"from  the  present  text.  Further  researches,  I  must  add,  will  in 
"all  probability  enable  us  to  push  back  the  lower  limits,  which 
"have  been  thus  established  provisionally,  by  four  to  five  centuries 
"and  perhaps  even  further." 


—    49    — 

sehen  bald,  dass  diese  Quellen,  welche  der  Zeit  nach 
unseren  systematischen  Sämkhya- Schriften  vorangehen, 
der  Idee  nach  denselben  Rang  nicht  beanspruchen 
können.  Die  Verhältnisse  sind,  wenn  auch  das  Sämkhya 
im  Mahäbhärata  in  etwas  grösserer  Klarheit  auftritt, 
im  Princip  doch  dieselben  wie  bei  Manu's  Gesetzbuch. 

Ich  glaube  behaupten  zu  dürfen,  dass  fast  jede  Einzel- 
heit  —    selbst    des   Ausdrucks  — ,    die   uns  in  den  syste- 
matischen S  ä  m  k  h  y  a  -  Schriften  begegnet,   auch  irgendwo 
in  den  wüsten  Massen  des  gewaltigen  Epos  erwähnt  ist  ^). 
Um  nur  ein  paar  entlegenere  Dinge   anzufiihren,  will  ich 
bemerken,    dass    die    (schon    eine   recht  schulmässige  Aus- 
bildung   des    Systems    Toraussetzende)    Lehre    von    den   8 
^ra^r^i  und  16  mkära  in    Sämkhyakärikä   3  sich  be- 
reits  im  Mahäbhärata  XE.    11396   und   11552 ff.   vor- 
findet, und  dass  ferner  die  Theorie   von   der  Siebzehnthei- 
ligkeit des  inneren  Körpers  (Imga-qarira)   in  Sänikhya- 
sütra  III.  9  uns  Mbh.  XU.  13756  entgegentritt.    Sobald 
wir     aber    im    Mbh.    Abweichungen     von      dem    in     der 
Kärikä  und  in  den  Sütra's  gelehrten  antreffen,  erweisen 
sich  diese  Abweichungen  —  grösstentheils   auf  den  ersten 
Blick,  jedenfalls  aber  bei  näherer  Betrachtung  —  als  sekun- 
därer Natur.    Die  Einschiebung  des  jnäna  ,des  Erkennens' 
z.  B.  zwischen    die   Urmaterie   und   die  Ivddhi  XII.  7449, 
7450  ist  deshalb  so  zu  beurtheüen,  weü  wir  mit  jnäna  gar 
keinen  neuen  Begriff  in  der  Reihe  der  Principien  erhalten ; 
diese  Einschiebung  hatte   an  jener  Stelle  die  Eliminirung 
des  aharnkära  zwischen  buddhi  und  manas   zur  Folge,    da 
die  aUgemein  anerkannte   Zalil  25   (vgl.  XII.  11403,  410, 
411,  480,  12888)  nicht  überschritten  werden  durfte.    Wenn 
XII.  12681  und  13035  die  Entstehung  der  Urmaterie  aus 
dem  Ätman  gelehrt  wird,  so  steht  dieser  Gedanke  mit  den 


1)  Nur  die  wunderliche  pedantische  Lehre  von  den  einzelnen 
Formen  der  acahti,  tushti  und  siddhi,  von  der  im  dritten  Abschnitt 
II.  10  gehandelt  werden  wird,  erinnere  ich  mich  nicht  im  Mahä- 
bhärata angetroffen  zu  haben. 

Garbe,  Sämkhya-Philosophic.  4 


—    50    — 

Voraussetzungen  und  dem  Endzweck  des  Systems  in  schi'offem 
Widerspruch;  denn  die  Erkenntniss  der  absoluten  Ver- 
schiedenheit von  Materie  und  Geist  ist  das  einzige  Mittel 
zur  Erlösung.  Wie  könnten  wir  dem  Begründer  des 
Systems  zutrauen,  dass  er  jene  beiden  Dinge  als  wesens- 
verschieden und  zugleich  eines  als  Produkt  des 
andern  erklärt  habe!  Die  Sämkhya- Lehre  ist  ihrer  Natur 
nach  dualistisch,  und  an  den  vereinzelten  Stellen  des  M  a  - 
häbhärata,  an  denen  dieser  Dualismus  durch  die  Auf- 
stellung eines  einzigen  Grundprincips  aufgelöst  wird,  liegt 
nicht  etwa  eine  ältere  Form  unseres  Systems  vor,  sondern 
eine  spätere  Entstellung.  Das  gleiche  gilt  von  den  Ab- 
schnitten, die  das  materielle  Grundprincip  der  Särakhya's 
personificiren.  XII.  6776,  77  wird  dieses  Grundprincip,  die 
QueUe  des  mahant^  aus  dem  hinwiederum  der  ahamkära 
hervorgeht  —  es  ist  also  die  Sämkhya- Basis  des  Ab- 
schnitts nicht  zu  bezweifeln — , als  avyakto  devah  bezeichnet; 
Vers  7874  und  sonst  wird  dieser  avyakta  mit  Vishnu  iden- 
tificirt,  und  Vers  11636  erhält  bhagavant  das  Epitheton 
avyakta-rüpa,  das  zwar  an  sich  ,von  nicht-wahi-nehmbarer 
Gestalt'  bedeuten  könnte,  aber  an  dieser  Stehe,  wo  von 
den  drei  Guna's  der  Urmaterie  (pradhäna)  die  Rede  ist, 
so  nicht  aufgefasst  werden  kann.  Seiner  Idee  nach  und 
ursprünglich  ist  avyakta  ,das  Unentfaltete'  unzweifelhaft 
ein  Neutrum,  und  als  solches  erscheint  es  stets  in  der 
technischen  Ausdrucksweise  der  systematischen  Sämkhya- 
Schrifben.  Wenn  man  im  Mahäbhärata  daraus  hie  und 
da  ein  Masculinum  und  eine  götthche  Person  gemacht 
hat,  so  müssen  wir  hier  genau  denselben  Vorgang  erkennen, 
wie  bei  der  Entstehung  des  männlichen  Gottes  B r a h - 
man,  in  dem  man  mit  Recht  eine  volksthümliche  Personi- 
ficirung  des  auf  spekulativem  Wege  gewonnenen  neutralen 
Brahman-Begriflfe  erbhckt.  Was  für  den  Vedänta  als 
richtig  erkannt  ist,  muss  auch  für  die  Sämkhya- Philo- 
sophie gelten. 

Wie  die  Urmaterie,  so  werden  auch  schon  im  Mahä- 
bhärata die  nächstfolgenden  materiellen  Principien,  buddhi 


—    51     — 

und  ahamJmra  (z.  B.  XII.  6777,  80)  in  ähnlicher  Weise 
individualisirt ;  es  zeigen  sich  also  in  dem  Epos  schon 
dieselben  Tendenzen  wie  in  den  P  u  r  ä  n  a '  s ,  einer  Literatur- 
gattung, die  überhaupt  zeitlich  wie  inhaltlich  mit  dem 
Mahäbhärata  in  näherer  Vei'bindung  steht,  als  heute 
gewöhnlich  angenommen  wird.  Findet  sich  doch  schon 
bei  Camkara^)  eine  ganze  Reihe  von  P u r ä n a - Citaten. 
So  wenig  Jemand  geneigt  sein  wird  bei  einer  Darstellung 
der  S am khya- Philosophie  die  Zeugnisse  der  Puräna's 
über  die  unserer  systematischen  Schriften  zu  stellen, 
ebenso  wenig  vermag  ich  denen  des  Mahäbhärata  — 
es  kommen  im  wesentlichen  die  Bhagavadgitä  und 
der  M oks ha dh arm a- Abschnitt  in  Betracht  —  einen 
Vorrang  zuzuerkennen.  Die  Vermischung  der  distinktiven 
Säni khya -Lehren  mit  pantheistischen  Ideen  und  die 
mythologische  Personificirung  der  materiellen  Grundbegriffe 


1)  Auch  die  Polemik,    die  dieser  berühmte  Vedänta- Lehrer 
gegeu  das  Sä  in  khya  übt,    ist    imter  die  Quellen  unseres  Systems 
zu    rechnen.     Schon    die    Brahmasütra's,    die    wir   oben   (S    43) 
gegen    den    Anfang    unserer    Zeitrechnung    glaubten     ansetzen    zu 
müssen,    berücksichtigen    die  Säinkhya- Lehre    mehr    als  irgend 
ein  anderes  System,  woraus  Deussen  (System  des  Vedänta  S.  23) 
mit  Recht  schliesst,  dass  das  Sämkhya  zu  Bädaräyana's  Zeit 
in  hohem  Ansehen  stand.    Wenn  auch  die  Brahmasütra's  weder 
imser  System  mit  Namen  nennen   noch   sich   der   technischen  Aus- 
drücke desselben  bedienen,  so  ist  doch  wegen  der  Uebereinstimmung, 
mit  der  die  zahlreichen  Commentare  zu  den  Brahmasütra's  die 
von  Deussen  a.  a.  0.  genannten  Stellen  als  gegen  die  Särakhya- 
Philosophie  gerichtet  bezeichnen,  kaum  ein  Zweifel  darüber  möglich, 
dass   jene    Stellen    wirklich    diesen  Sinn    haben.     Ihr  Wortlaut  an 
sich  fi-eüich  könnte  hie  und  da  auch  alles  mögliche  sonst  besagen. 
Die   Polemik   Qamkara's    gegen   die    Sämkhya- Lehren  ist 
im    allgemeinen    recht    dürftig.     Im   Wesentlichen    leitet    er   seine 
Gründe  gegen  dieses  System  aus  der  , Schrift'   ab  und  deutet  dazu 
noch  die  technischen  Sämkhya- Ausdrücke,  die  sich  in  derselben 
finden,  fort;    auch  wo   er  sich   auf  , Vernunftgründe'  einlässt  (11.  2, 
1  fi".),  kann  man  nicht  sagen,  dass  der  ,grosse  Vedantist'  nait  Glück 

operirt. 

4* 


—    52    — 

des  S  ä  m  k  li  y  a  -  Systems  ist  im  Mahäbhärata  so  gut 
wie  in  den  Puräna's  etwas  unursprüngliches.  Eine 
detaülirte  Feststellung  der  Differenzen,  die  zwischen  dem 
S ä m k h y a  des  Mahäbhärata  und  dem  der  speziellen 
Literatur  des  Systems  bestehen,  ist  für  unsere  Zwecke 
unnothig,  da  die  Abweichungen  des  Epos  in  keiner  Hin- 
sicht die  Priorität  des  Gedankens  beanspruchen  können. 
Die  Darstellung  der  Särnkhya- Philosophie  muss  auf  die 
Kärikä  und  die  Siitra's  gegründet  werden,  und  wenn 
wir  die  Erklärungen  der  Commentatoren  zu  diesen  beiden 
Werken  richtig  benutzen  und  die  individuellen  Anschau- 
ungen der  einzelnen  Ausleger  sowie  die  aus  dem  Vedänta, 
Yoga  und  Vai^eshika-Nyäya  eingedrungenen  Ele- 
mente auszuscheiden  wissen,  so  können  wir  sicher  sein, 
ein  richtiges  Bild  von  dem  Sämkhya-System,  wie  es 
von  Hause  aus  beschaffen  war,  zu  gewinnen.  Unurspiüng- 
liche  Abweichungen  von  der  echten  Särnkhya- Lehre 
sind  natürlich  im  Verlaufe  meiner  Darstellung  überall  als 
solche  gekennzeichnet  worden. 

Wir  sind  hier  in  unserer  historischen  Betrachtung 
der  sich  mit  dem  Särnkhya  beschäftigenden  Werke  an 
die  eigentliche  Literatur  des  Systems  gelangt;  doch  möchte 
ich  noch,  bevor  ich  auf  diese  eingehe,  im  Anschluss  an 
das  Mahäbhärata  kurz  bemerken ,  was  ich  über  den 
Einfluss  des  Särnkhya  auf  die  Puräna's  und  auf  die 
indischen  Sekten  zu  sagen  habe. 

Ich  kann  die  Stellung  unseres  Systems  in  der  Puräna- 
Literatui"  nicht  besser  als  mit  W  i  1  s  o  n '  s  Worten  charakte- 
risiren  (Visbuu  Puräna  translated,  ed.  by  F.  E.  Hall, 
L  p.  XCIV  ') :  "The  course  of  the  elemental  creation  is,  in  the 
"Vishnu,  as  in  other  Puränas,  taken  from  the  Sänkhya  pliilo- 
"sophy;  but  the  agency  that  operates  upon  passive  matter 


1)  Vgl.  auch  p.  XII,  XIII:  "They  d.  h.  die  Puräna's;  combine 
"the  interposition  of  a  creator  with  the  indepeudent  evolution  of 
"matter,  in  a  somewhat  contradictory  and  unintelligible  style." 


—     53    — 

"is  confüsecUy  exhibited,  in  consequence  of  a  partial  adoption 
"of  the  illusoi7  theory  of  tlie  Vedänta  philosophy,  and  the 
"prevalence  of  the  Pauränik  doctrine  of  pantheism.  How- 
"ever  incompatible  with  the  independent  existence  of  Pra- 
"dhäna  or  crude  matter,  and  however  incongruous  with 
"the  separate  condition  of  pure  spirit  or  Purusha,  it  is 
"declared,  repeatedly,  that  Vishnu,  as  one  with  the  supreme 
"being,  is  not  only  spirit,  but  crude  matter,  and  not  only 
"the  latter,  but  all  visible  substance,  and  Time."  Eine 
Ergänzung  hierzu  liefert  die  Bemerkung  Coleb rooke's 
(Mise.  Ess.2  I.  254),  dass  die  Bvddhi  oder  das  Matiat  von 
dem  mythologischen  Sämkhya  'with  the  Hindu  triad  of 
Gods'  identificirt  werde.  Coleb rooke  führt  zum  Beleg 
eine  Stelle  aus  dem  Matsya  Puräna  an,  die  "after  de- 
"claring  that  the  great  principle  is  produced  'from  modified 
"nature',  proceeds  to  affirm,  that  the  great  one  becomes 
"distinctly  known  as  three  Gods,  through  the  influence 
"of  the  three  qualities  of  goodness,  foulness,  and  darknesss  i); 
"'being  one  person,  and  three  Gods'  (ekd  mürtis  trayo 
^^devdk),  namely,  Brahma,  Vishnu,  and  Maheswara.  In 
"the  aggregate  it  is  the  deity;  but,  distributive,  it  apper- 
"tains  to  individual  beings." 

An  diesen  beiden  Stellen  -)  sind  die  fiir  das  Verhältniss 
der  Sämkhya- Philosophie  zu  den  Puräna' s  charak- 
teristischsten Züge  zusammengefasst :  die  unklare  Um- 
deutung  der  wichtigsten  Begriffe  des  Systems,  ihre  Identi- 
ficirung  mit  den  Hauptgestalten  der  Volksreligion  und  die 
Verbindung  dieser  Elemente  mit  vedantistischen  Lehren, 
insbesondere  mit  der  Theorie  von  der  kosmischen  Illusion 
(mdyä).     Wir  sahen  oben,    dass  solche  Vorstellungen  sich 


1)  Zur  Sache  vgl.  noch  Vijnänabhikshu  zum  Säinkhya- 
sütra  VI.  66. 

2)  Mit  denen  noch  zu  vergleichen  ist  Banerjea,  Einleitung 
zur  Ausgabe  des  Märkandeya  Puräna  (Bibl.  Ind.,  Calcutta 
1862)  S.  13—15  und  Nilmani  Mukhopädhyäya  Nyäyälan- 
kära,  Einleitiing  zur  Ausgabe  des  Kürma  Puräna  (Bibl.  Ind., 
Calcutta  1890)  S.  XIII. 


—    54     — 

bereits  im  Mahäbhärata  entwickeln,  und  dürfen  diese 
schon  dort  mit  demselben  Rechte  P  u  r  ä  n  i  s  c  h  e  s  S  ämkhy  a 
nennen,  mit  dem  Colebrooke  und  Burnell  diesen 
Namen  auf  die  S  ä  m  k  h  y  a  -  artigen  Bestandtheile  von 
Manu's  Gesetzbuch  angewendet  haben.  Wenn  übrigens 
Colebrooke  (Mise.  Ess.  ^  I.  249)  dieses  Pauränika 
S  ä  m  k  h  y  a  geradezu  als  eine  besondere  Schule  neben  dem 
atheistischen  Sämkhya  Kapila's  und  dem  theistischen 
Patahjali's  (d.  h.  dem  Yoga-System)  bezeichnet,  so 
scheint  mir  damit  diesem  Gemengsei  verschwommener  und 
verschobener  Begriffe  zu  viel  Ehre  angethan  zu  sein;  so 
viel  mir  bekannt  ist,  hat  auch  in  Indien  das  Pauränika 
Sämkhya  nicht  den  Anspruch  erhoben  ein  besonderes 
System  (darcana)  zu  sein. 

Colebrooke  sagt  an  der  eben  angeführten  Stelle, 
dass  in  verschiedenen  Puräna's,  wie  in  dem  Matsya, 
Kürma  und  Vishnu  Puräiia,  die  Kosmogonie  in 
Uebereinstimmung  mit  dem  (Puränischen)  Sämkhya 
entwickelt  werde.  In  der  That  aber  reicht  der  Einfluss 
des  Sämkhya-  Systems  in  der  P  u  r  ä  n  a  -  Literatur  viel 
weiter;  und  ich  zweifle,  ob  selbst  Burnell's  Behauptung 
(Uebersetzung  des  Manu,  XXII,  Anm.  4):  "Nearly  half 
the  existing  Puräiias,  including  tlie  oldest,  follow  tliis 
System"  den  Kreis  weit  genug  zieht,  da  ja  auch  diejenigen 
Puräna's,  welche  stärkere  Vedänta-  als  Sämkhya- 
Färbung  aufweisen,  wie  das  Bhägavata  Puräna^),  hier 
mit  in  Betracht  kommen. 

Wenn  ich  erst  nachträglich  eine  andere  Besonderheit 
des  Purä irischen  S ä m k h y a  erwähne,  nämlich  die  Auf- 
fassung des  Purusha  als  des  männlichen  und  derPrakrti 
als  des  weiblichen  Schöpfangsprincips -),  resp.  die  Identifi- 
cirung  der  Prakrti  mit  weiblichen  Gottheiten,  so  ge- 
schieht dies,  weil  dieser  Punkt  das  wesentlichste  Bindeglied 


')  Vgl.  Wilson,  Vishnu  Puräna   translated,   ed.  by  F.  E. 
Hall,  I.  p.  XLI. 

2)  S.  schon  Mahäbhärata  XII.  11328  ff. 


—    55    — 

zwischen  der  P  u  r  ä  n  a  -  und  der  späteren  T  a  n  t  r  a  -  Literatur 
ist.  DieTantra's,  eine  von  Aberglauben,  Beschwörungen 
und  Zauberformeln  strotzende  Schriftenklasse,  huldigen 
dem  Kulte  des  ^iva  und  namentlich  seiner  Gattin  Durgä 
(Pärvati,  Devi,  Bhairavi,  Umä);  sie  verehren  in 
dieser  Göttin  die  gahti^  d.  h.  die  schöpferische  Kraft  und 
Energie  des  Gottes,  die  mythologisch  als  eine  Hälfte  seiner 
Person  aufgefasst  wird.  Der  ^'akti-Kult  bildet  allerdings 
bereits  den  Gegenstand  mehrerer  ^i  va-sektarischer  Upa- 
nishad's  (s.  Weber,  Ind.  Lit.  Gesch.-  189),  ist  aber  zu 
seiner  für  das  religiöse  Leben  des  indischen  Volkes  ver- 
hängnissvollen Bedeutung  erst  in  den  Tantra's  ent- 
wickelt. Die  9  a  k  t  i  -Diener  (Qäkfa)  sind  die  ausschweifendste 
aller  indischen  Sekten  geworden,  scheinen  aber,  Avenn  sie 
sich  in  der  Neuzeit  bei  ihren  Ceremonien  einer  nackten 
Frau  als  des  Sinnbilds  der  ^akti  bedienen,  sich  noch 
dessen  bewusst  zu  sein,  dass  ihr  Kultus  aus  der  Lehre 
K  a  p  i  1  a '  s  von  der  schöpferischen  Urmaterie  abgeleitet  ist  ^). 
Aber  nicht  bloss  die  ^äkta's,  sondern  auch  andere 
^ivitische  Sekten,  die  Mähegivara's  und  die  Pä9upata's, 
sind  in  ihren  Lehren  stark  von  der  Säiiikhya- Philosophie 
beeinflusst,  wie  bereits  von  Coleb rooke,  Mise.  Ess.^  L 
430  ff.  festgestellt  ist  ^j ;  insbesondere  die  Pägupata's 
stehen  in  ihrer  Aufzählung  der  materiellen  Principien 
ganz  auf  dem  Boden  der  S am khya- Philosophie.  Ferner 
hat  auch  der  Vishnuismus,  der  im  Uebrigen  auf  dem 
Vedänta  fusst,  nicht  dem  Eindringen  von  Sämkhya- 
Elementen  Widerstand  geleistet;  die  Sekte  der  Mädhva's, 
von  Anandatirtha,  einem  Commentator  der  Brahma- 
sütra's,  (gegen  1200  nach  Chr.)  gestiftet,  bekennt  sich 


^)  Pratäpa  Chandra  Ray  sagt  in  seiner  Uebersetzung  des 
Mahäbhärata,  Qänti  Parva  Vol.  11,  p.  146,  147  Anm.:  "Women, 
"in  almost  all  the  dialects  of  India  derived  from  Sanskrit,  are 
"commonly  called  Prahriti  or  symbols  of  Prahriti,  thus  illustrating 
"the  extraordinary  popularity  of  the  philosophical  doctriue  about 
'■'Prahriti  and  Purushay 

2)  S.  auch  Barth,  Religion»  of  India«  198. 


—    56    — 

zu  einem  Dualismus  von  Materie  und  Geist,  der  seine 
Sämkhya-  Abstammung  deutlich  verräth  ^).  Barth  findet 
Spuren  dieser  dualistischen  Weltanschauung  allerorts  in 
den  vishnuitischen  Schriften  und  kommt  zu  dem  Schluss: 
"We  cannot  doubt  that  there  existed  early  a  Vishnuism 
with  a  Sämkhya  metaphysics".  Ich  wage  es  nicht  zu  ent- 
scheiden, ob  wir  wirklich  zu  einem  solchen  Schlüsse  be- 
rechtigt sind,  möchte  aber  die  Vermuthung  äussern,  dass 
dieser  ,alte  Vishnuismus  mit  einer  Sämkhya- Metaphysik' 
die  Religion  der  Bhägavata-Pä&carätra  gewesen  ist, 
die  sicher  weit  in  vorchristliche  Zeit  hinaufreicht  und  sowohl 
Sämkhya-  wie  Yoga-  Lehren  in  sich  aufgenommen  hat "-) ; 
denn  es  ist  bekannt,  dass  der  ursprünglich  unbrahmanische 
Monotheismus  der  Bhägavata's  nach  seiner  Brahmani- 
sirung  vishnuitische  Gestalt  angenommen  hat. 

Doch  genug!  Wir  sehen,  dass  von  dem  Anfang 
unserer  Zeitrechnung  an  bis  auf  die  neueste  Zeit  das  ge- 
sammte  philosophische  und  religiöse  Leben  des  indischen 
Volkes  von  Sämkhya -Ideen  beeinflusst  ist.  In  dieser 
Hinsicht  steht  an  Bedeutung  unser  System  nur  der  Vedänta- 
Philosophie  nach  '^).  Einzelne  Anschauungen  des  Sämkhya, 
wie  z.  B.  die  Theorie  von  den  drei  G  u  n  a '  s ,  sind  geradezu 
Gemeingut  der  ganzen  Sanskrit-Literatur  geworden,  soweit 
sie  Berührungspunkte  mit  solchen  Gedanken  hat.  Auch 
glaube  ich  die  sonderbare  VorKebe  für  ZalJen,  die  sich  in 
den  Lehrbüchern  fast  aller  Disciplinen,  in  den  Werken 
über  Poetik,  Politik,  Medicin,  Jurisprudenz  u.  s.  w.  beobachten 
lässt,  auf  den  Einfluss  des  Sämkhya- Systems  zurück- 
führen zu  dürfen. 


1)  Vgl.  Barth,  ebendaselbst  S.  195. 

')  Vgl.  Lassen,  Indische  Alterthumskunde  -  II.  1123. 

^)  Dass  das  Sämkhya -System  in  Indien  heutzutage,  wo 
Vedänta  und  Nyäya  die  anderen  Systeme  fast  ganz  aus  dem 
Lehrplan  der  höheren  Schulen  und  des  privaten  Unterrichts  ver- 
drängt haben,  nur  noch  verhältnissmässig  wenig  studirt  wird, 
beweist  natürlich  nichts  gegen  den  Einfluss,  den  die  Sämkhya- 
Philosophie  mittelbar  auch  auf  das  moderne  Geistesleben  des 
Landes  noch  ausübt. 


—     57     — 

Noch  heute  nehmen  die  alten  S  ä  m  k  h  y  a  -  Leln-er  in 
der  Rshitarpana-  (oder  Pitrtarpana-)Ceremonie 
eine  Stellung  ein,  die  keinem  auch  noch  so  berühmten 
Weisen  der  Vorzeit  sonst  eingeräumt  wird.  Sie  allein 
werden  ausser  den  Göttern  bei  der  täglichen  Wasserspende 
angerufen.  Jeder  Brahmane  in  Indien  giesst  Tag  für  Tag 
zuerst  mit  dem  Gesicht  nach  Norden  gewendet  Wasser 
als  eine  Darbringung  für  die  Götter  zur  Erde,  darauf  wendet 
er  sich  nach  Osten,  lullt  die  zusammengelegten  Handflächen 
zweimal  mit  Wasser  und  lässt  es  unter  Recitirung  des 
folgenden  Spruches  herabfliessen,  dessen  zwei  erste  Zeilen 
schon  von  Gaudapäda  am  Anfang  seiner  Einleitung  zum 
Commentar  zur  Sämkhyakärikä  und  an  den  anderen 
oben  S.  35  genannten  Stellen  (mit  mehrfacher  Umstellung 
der  Namen)  angeführt  werden: 

Sanahag  ca  Sanandac  ca  trtiyag  ca  Sanätanah  \ 
Kapilae  cd  'surig  cai  'va  Vodhuh  Pancagiklias  tathd  j 
sarve  te  trptim  äyäntu  inad-dattenä  'mhunä  sadä  || 
„Sanaka,   Sananda   und  Sanätana   als  dritter,   Kapila  und 
„Äsuri,  Vodhu  und  Panca9ikha,  sie  alle  mögen  immerdar 
„herbeikommen,  sich  an  dem  von  mir  dargebrachten  Wasser 
„zu  laben !"^)   Dass  diese  den  Grhyasütra's  noch  nicht 
bekannte  Form  der  Ceremonie  mit  der  Beschränkung  auf  die 
Sämk  h  y  a- Lehrer  nur  in  den  ersten  Jahrhunderten  nach  Chr. 
entstanden  sein  kann,  in  denen  das  S  ä  m  k  h  y  a  -  System  dem 
indischen  Volke  mehr   galt  als  irgend   ein  anderes,   liegt 
auf  der  Hand.    Auch  in  diesem  Falle  hat,  wie  es  zu  gehen 
pflegt,  der  Ritus  unverändert   die  Umgestaltung  der  Vor- 
stellungen überdauert. 


Wenn  ich  nun  zu  der  wissenschaftlichen  Literatur  des 
S  ä  m  k  h  y  a  -  Systems  übergehe,  so  will  ich  zunächst  daran 
erinnern,  dass  ich  bereits  oben  S.  32  ff.  von  den  bis  auf  ein 
paar  dürftige  Reste  verloren  gegangenen  Werken  P  a  fi  c  a  - 
9ikha's  —  vermuthlich  den  ältesten  LehrlDüchern  unseres 

1)  Vgl.  auch  Colebrooke,  Mise.  Ess.^  I.  162. 


—    58     - 

Systems  —  gesprochen  habe.  Wir  finden  aber  noch  Spuren 
eines  weiteren  S  ä  m  k  h  y  a  -  Werkes  aus  den  Zeiten  vor  der 
Abfassung  der  Säiiikhy akärikä,  nämlich  des  Shash- 
titantra  oder  des  ,Systems  der  sechzig  Begriffe'.  Das 
Werk  wird  in  Kärikä  72  angeführt,  und  Stellen  aus 
demselben  sind  von  Vyäsa  im  Yogabhäshya  IV.  13 
(nach  Väcaspatimi^ra's  Tikä)  und  von  Gaudapäda 
zu  Kärikä  17  citirt;  möglicherweise  ist  das  Shashti- 
tantra  auch  von  Gaudapäda  zu  Kärikä  50  unter  dem 
Ausdruck  cästräntara  ,das  andere  Lehrbuch'  gemeint.  Da, 
wie  wir  durch  das  Citat  im  Yogabhäshya  lernen,  das 
Shashtitantra  ein  metrisches,  in  (^loka's  abgefasstes 
Werk  war  ^),  werden  wir  nicht  auf  die  Vermuthung  kommen 
dürfen,  dass  dasselbe  zu  den  Lehrbüchern  PafLca9iklia's 
gehöre,  der  nach  dem  Ausweis  seiner  Fragmente  nur  in  Prosa 
geschrieben  hat  (s.  oben  S.  32  Anm.  1).  Das  Petersburger 
Wörterbuch  sieht  in  dem  Worte  shashtitantra  nicht  den 
Namen  eines  bestimmten  Buches,  sondern  eine  Bezeichnung 
der  S am khya- Lehre  überhaupt,  wahrscheinlich  dadurch 
verführt,  dass  man  in  Indien  selbst,  nachdem  das  Shashti- 
tantra lange  verloren  war,  in  dem  Ausdruck  nicht  mehr 
den  Titel  eines  Werkes  erkannt  hat.  So  erklärt  die  Säm- 
khya-krama-dipikä  in  Nr.  70  (Ballantyne,  aLec- 
ture  on  the  Sänkhya  Phüosophy,  Mirzapore  1850,  S.  45) 
shashtitantra  nur  für  eine  Bezeichnung  der  ,sechzig  Gegen- 
stände' (shashti-paddrthäh)  des  Systems  ^).  Wenn  aber  in 
den   heiligen   Texten    der   Jaina    das    Satt hitam tarn 

o  •   •  •  » 

neben  dem  Kävilam  (=  skt.  Käpilam,    was   für  ein 


^)  Das  Citat  bei  Gaudapäda  ^jmrushädliishtMtam  pradhänam 
pravartate'  scheint  lückenhaft  gegeben  zu  sein,  doch  weist  das  letzte 
Wort  die  Quantitätsverhältnisse  des  Qloka-Schlusses  auf.  —  Zu 
der  ganzen  Frage  über  das  Shashtitantra  vgl.  meine  Ueber- 
setzung  der  Sämkhya-tattva-kaumudi  S.  627,  Anm.  3. 

^)  Ueber  welche  die  vorangehenden  Nummern  der  Säinkhya- 
krama-dipikä  sowie  die  Verse  des  Räjavärtt  ika  in  der  Sämkhya- 
tattva-kaumudi  zu  Kärikä  72  und  der  Schluss  von  Näräyana 
T  i  r  t  h  a '  s  Candrikä  zu  vergleichen  sind. 


—    59    — 

S  ä  m  k  li  3'  a  -  Werk  könnte  damit  gemeint  sein  ?)  aufgeführt 
wird  ^) ,  so  liegt  darin  unverkennbar  die  Kunde  aus- 
gesprochen, dass  das  Shashtitantra  ein  besonderes 
Buch  war. 

Das  älteste  uns  erhaltene  Werk  der  Sämkhya- 
Schule  ist  bekannthch  die  Sämkhy  akärikä  des  l9vara- 
krshna,  der  spätestens  im  ftinften  Jhdt.  n.  Chr.  gelebt 
haben  muss ;  denn  sein  Werk  ist  schon  zwischen  Ö57  und 
583  ins  Chinesische  übersetzt  worden  ^).  Daraus  folgt 
natürlich  nicht,  dass  die  Kärikä  erst  im  fünften  Jahr- 
hundert verfasst  sein  muss;  es  ist  mir  im  Gegentheil  wahr- 
scheinlich, dass  ihre  Entstehung  ein  bis  zwei  Jahrhunderte 
vor  den  terminus  ad  quem  föUt. 

Die  Kärikä  behandelt  das  Sämkhya- System  in 
einer  so  gedrängten,  aber  dabei  methodisch  höchst  an- 
erkennenswerthen  Weise,  dass  wir  schon  aus  ihrer  Dar- 
stellung allein,  wenn  wir  keine  anderen  Spuren  hätten, 
auf  das  einstige  Vorhandensein  älterer  Sämkhya- Werke 
schliessen  müssten,  die  eben  durch  die  Kärikä  verdrängt 
und  in  Vergessenheit  gebracht  worden  sind.  Dass  das 
Werk  ursprünghch  nur  aus  69  Versen  bestanden  hat,  da 
die  Verse  70 — 72  noch  nicht  von  Gau dapä da  commentirt 
sind,  ist  längst  erkannt  worden. 

Ueber  das  Verhältniss  der  K ä r i k ä  zu  den  Sämkhya- 
sütra's,  auf  das  ich  bei  der  Besprechung  des  letzteren 
Werkes  unten  zurückkommen  muss,  hat  schon  Cole- 
brooke,  Mise.  Ess.  -  I.  246  richtig  bemerkt:  "both  .... 
do  not.  upon  any  material  point,  appear  to  disagree".  Ich 
möchte  aber  doch  einen  Punkt  zur  Sprache  bringen,  der 
mir  für  die  Gescliichte  des  Systems  bemerkenswerth  erscheint. 
Li  Kärikä  4,  5  ist  zwar  als  das  letzte  der  drei  Erkennt- 
nissmittel —    in  Uebereinstimmung   mit   der  schon  früher 


1)  S.  Weber,  Ind.  Lit.  Gesch."^  253,  Anm.  249,  und  M.  Müller, 
Indien  in  seiner  weltgeschichtlichen  Bedeutung  S.  315,  316. 

■-)  S.  Telang,  Indian  Antiquary  1884,  S.  102,  und  Kasawara 
bei  M.  Müller,  Indien  S.  313,  314. 


-     60     — 

in  der  S am khya- Schule  geltenden  Theorie  (vgl.  Manu 
XII.  105)  —  das  äpta-vacana  ,der  zuverlässige  Ausspruch' 
angeführt;  in  Kärikä  5  wird  dieses  dpia-vacmia  durch 
äpta-^niti  ,die  zuverlässige  TJeberlieferung'  erklärt,  und  in 
Kärikä  6  heisst  es:  „Was  auch  durch  induktive  Schi ass- 
„folgerung  nicht  ermittelt  wird,  das  geheimnissvolle,  ergiebt 
„sich  aus  der  zuverlässigen  TJeberlieferung  (dptdgamaj.^^ 
Unverkennbar  liegt  hier  ein  Zugeständniss  vor,  das  die 
Sä mkhya- Philosophie  nach  ihrer  Brahmanisirung  zu 
machen  genöthigt  war.  Aber  dieses  Zugeständniss  trägt 
in  der  Kärikä  noch  einen  nominellen  Charakter;  denn 
in  der  Folge  berujpt  sich  das  Werk  —  in  bemerkenswerthem 
Gegensatz  zu  den  späteren  S  ü  t  r  a '  s  —  nicht  ein  einziges 
Mal  auf  die  ,Schrift'  und  leitet  aus  dieser  keinen  Lehrsatz 
ab.  Von  den  Veden,  die  in  den  Sütra's  V.  40 — 51  be- 
handelt werden,  nimmt  die  Kärikä  keine  Notiz.  Ich 
muss  die  Möglichkeit  zugeben,  dass  schon  der  geringere 
Umfang  der  Kärikä  die  Nichtberücksichtigung  der  ,Schrift' 
ebenso  wie  die  anderer  untergeordneter  Materien  bedinge ; 
aber  wahrscheinlicher  ist  mir  doch,  dass  zu  den  Zeiten 
l9varakrshna's  in  der  Sä  mkhya- Schule  die  brah- 
manische  Ueberlieferung  noch  nicht  dieselbe  Geltung  gehabt 
hat  wie  später,  und  dass  diese  Thatsache  sich  in  der  Haltung 
der  Kärikä  verräth.  Bralimanischen  Einfluss  finde  ich 
nur  noch  in  Kärikä  54,  wo  es  von  der  Schöpfung  heisst, 
dass  „sie  bei  Bralunan  beginne  und  bei  dem  Grashalm 
endige  (Brahnd-di-staniba-part/anfa)",  —  eine  Wendung, 
die  schon  im  Mahäbhärata  auftritt  und  in  der  späteren 
Literatur  oftmals  wiederkehrt. 

Von  Dingen,  die  in  den  späteren  Sämkhya- Schriften 
eingehend  erörtert  werden,  vermissen  wir  in  der  Kärikä 
die  Leugnung  Gottes  ^)  und  die  Theorie  von  dem  Reflektiren 
des  Innenorgans  in  der  Seele  —  das  Wort  pratihimha 
kommt  noch  nicht  bei  I^varakrshna  vor,  und  chdyd 
steht  Kärikä  41  in  anderem  Sinne  und  Zusammenhange  — ; 


1)  Vgl.  Hall,  Sänkhya  Sara  Pref.  p.  39,  Anm.  * 


—     61     — 

aber  beide  für  das  S  ä  m  k  h  y  a  -  System  wesentliche  Lehren 
sind  implicite  deutlich  genug  in  der  Kärika  verkündet, 
namentlich  in  den  Strophen  20,  21.  Wenn  hier  gesagt 
wird,  dass  „durch  die  Verbindung  der  Seelen  mit  der 
Materie  die  Schöpfung  hervorgebracht  ist",  so  ist  klar, 
dass  l9varakrshiia  genau  auf  dem  Standpunkt  aller 
anderen  S  ä  ra  k  h  y  a  -  Lehrer  gestanden,  d.  h.  keinen  Schöpfer 
und  Regierer  der  Welt  anerkannt  hat;  und  wenn  „in 
Folge  der  Verbindung  mit  der  Seele  der  ungeistige  innere 
Körper  (Unga)  scheinbar  geistig"  genannt  wird,  so  ist 
damit  die  pratibimba-T\xeox\Q  auf  das  offenkundigste  voraus- 
gesetzt. 

Ausser  dem  bereits  erwähnten  Commentare  Gau  da - 
päda's,  der  gegen  700  oder  in  der  ersten  Hälfte  des 
achten  Jahrhunderts  —  zwei  Generationen  vor  ^  a  m  k  a  r  a 
—  verfasst  sein  muss,  besitzen  wir  zum  Verständniss  der 
Kärika  den  sehr  viel  klareren  und  inhaltsreicheren  Com- 
mentar  Väcaspatimi9ra's,  die  Sämkhy a-tattva- 
kaumudi,  aus  dem  ersten  Drittel  des  zwölften  Jahr- 
hunderts ^).  Von  zwei  weiteren  modernen  Commentaren, 
der  Candrikä  des  Näräyana  Tirtha  und  der  Säm- 
khya-kaumudl  des  Rämakrshna  Bhattäcärya'^), 
kann  der  erstere,  eine  sehr  einfache  Exposition,  (heraus- 
gegeben in  der  Benares  Sanskrit  Series  1883)  keinen  wissen- 
schaftlichen Werth  beanspruchen ;  der  andere  scheint  noch 
unbedeutender  gewesen  und  gänzlich  verloren  zu  sein. 
Väcaspatimi^ra's  Commentar  aber,  der  mehrfach  in 
Indien  gedruckt  ist  und  in  zahllosen  Abschriften  existirt, 
gilt    in    seinem    Heimatlilande    mit    Recht    ftir    das    beste 


^)  S.  meine  Abhandlung  über  ,die  Theorie  der  indischen 
llationalisten  von  den  Erkenntnissmitteln',  Berichte  der  sächs. 
( resellschaft  der  Wiss. ,  Philologisch-historische  Classe,  1888,  S.  9. 
Nach  Colebrooke,  Mise.  Ess.'^  I.  246  war  Väcaspatimicjra 
'h  native  of  Tirhüt';  doch  weiss  ich  nicht,  worauf  diese  Angabe 
sich  gründet. 

->)  S.  Hall,  Sänkhya  Sara  Pref.  p.  41. 


—     62     — 

methodische  Werk  der  ganzen  Sämkhy a-Literatur;  es 
sind  nicht  Aveniger  als  sechs  Supercommentare  zu  demselben 
nachweisbar  '). 

Die  Säiiikhyakärika  scheint  mehr  als  ein  halbes 
Jahrtausend  lang  sich  eines  solchen  Ansehens  erfreut  zu 
haben,  dass  man  in  Indien  nicht  das  Bedürfniss  spürte, 
ein  anderes  Werk  über  das  System  zu  schreiben.  Erst  im 
Anfang  des  elften  Jahrhunderts  ist  ein  neues  Lehrbuch 
(in  ^loka's)  entstanden,  um  sehr  bald  wieder  zu  verschwinden: 
das  Räjavärttika,  dem  Ranaranga  Malla,  d.  h. 
König  Bhoja  von  Dhärä,  zugeschrieben-).  Meines 
Wissens  sind  von  dem  Werke  nur  drei  Verse  erhalten, 
und  zwar  in  der  Sämkhya-tattva-kaumudi  zu  Kä- 
rikä  72  (abgedruckt  bei  Hall,  Sänkhya  Sara Pref.  p.  43). 

Ein  Zeitgenosse  Bhoja' s  ist  der  berühmte  muham- 
medanische  Schriftsteller  Alberüni,  der  in  seinem  um- 
fassenden Werke   über   Indien  so  eingehende  Nachrichten 


1)  Vgl.  Hall,  Pref.  40,  41. 

■2)  S.  Hall,  Coutributions  towards  an  Index  to  the  Bibliography 
of  the  Indian  Philosophical  Systems  p.  8,  wo  mit  Recht  vermuthet 
wird,  dass  das  Werk  ,iinter  den  Auspicien  jenes  Königs'  verfasst 
ist,  und  Colebrooke,  Mise.  Ess. "  1.247.  Wenn  Colebrooke 
an  dieser  Stelle  noch  ein  anderes  Sämkhy a- Werk  unter  dem 
Titel  Samgraha  erwähnt,  „being  an  abridged  exposition  of  the 
same  doctrines,  in  the  form  of  a  select  compilation",  so  liegt  meines 
Erachtens  hier  ein  Irrthum  vor,  dessen  Quelle  ersichtlich  ist.  Ich 
glaube,  dass  eine  falsche  Eintragung  in  dem  Katalog  der  Asiatic 
Society  of  Bengal  Colebrooke  verführt  hat  das  Sarva-dar- 
§ana-samgraha,  dessen  letzte  zwei  Kapitel  von  dem  Sämkhya- 
und  Yoga- System  handeln,  für  ein  specielles  Sämkhy a- Werk 
anzusehen.  Hall,  Index  8  berichtet  nämlich:  "Among  the  trea- 
"tises  enumerated  under  the  head  of  Sänkhya,  in  the^  Sanskrit 
"Catalogue  of  the  Asiatic  Society  of  Bengal,  are  the  Atmopa - 
"desa  and  the  Sarva-dar sana-sangraha.  These  composi- 
"tions,  which  are  thus  wrongly  indicated,  etc."  Meine  Vermuthuug 
findet  eine  Stütze  darin,  dass  Colebrooke  das  Sarva-dar9ana- 
saragraha  sonst  nicht  erwähnt;  die  acht  Citate  s.  v.  in  dem 
Index  zu  den  Mise.  Essays '^  beziehen  sich  auf  Zusätze  von  Co  well. 


—     63     — 

über  indische  Philosophie  und  insbesondere  über  das  Säm- 
khya-System  hat,  dass  ich  jetzt,  da  uns  das  Buch  durch 
S  a  c  h  a  u '  s  verdienstvolle  Uebersetzung  zugänglich  gemacht 
ist,  nicht  glaube  daran  vorübergehen  zu  dürfen. 

Alberüni  sagt  Preface  8:  "I  have  already  translated 
"two  books  into  Arabic,  one  about  the  origines  and  a  de- 
"scription  of  all  created  beings,  called  Sämkhya,  and  another 
"about  the  emancipation  of  the  soul  from  the  fetters  of 
"the  body,  called  Patanjali  (Pätanjala?)''.  Das  letztere  ist 
höchst  wahrscheinlich  das  in  Indien  allgemein  mit  dem 
Namen  Pätanjala  bezeichnete  Yogasütra  nebst  dem 
Commentare  Vyäsa's;  das  erstere  kann  schon  den  Zeit- 
verhältnissen nach  kein  anderes  Werk  sein,  als  die  Säm- 
khyakärikä  mit  Gaudapäda's  Bhäshya.  Dieses 
'book  Sämkhya  (so  noch  I.  30,  48,  64  citirt)  wird  zwar 
I.  132  als  "composed  by  Kapila,  on  divine  subjects"  cha- 
rakterisirt  und  neben  dem  "book  composed  by  Gau  da 
the  anchorite,  wliich  goes  by  his  name"  aufgeführt.  Da 
es  aber  in  der  indischen  Literatur  kein  Sämkhya- Werk 
eines  Gau  da  giebt,  so  ist  an  der  Identität  Gauda's  mit 
Gaudapäda  nicht  zu  zweifeln;  und  die  Identität  des 
'book  Sämkhya  mit  Gaudapäda's  Commentar  folgt  hin- 
wiederum daraus,  dass  alle  Angaben  Alberüni's  über 
das  Sämkhya- System  sich  in  dem  Inhalt  jenes  Werkes 
nachweisen  lassen i).  Ja  selbst  ein  paar  Gleichnisse,  die 
in  der  übrigen  S  ä  m  k  h  y  a  -  Literatur  nicht  vorkommen, 
sind  Gaudapäda  und  Alberüni  gemeinsam;  nur  sind 
sie,  wie  alle  Gleichnisse,  von  dem  letzteren  mit  der  Phantasie 


1)  Alberüni  sagt  I.  62:  "Therefore  the  author  of  the  book 
'■'•Sämkhya  does  not  eonsider  the  reward  of  paradise  a  special  gain, 
"because  it  has  an  end  and  is  not  eternal,  and  because  this  kind 
"of  life  resembles  the  life  of  this  our  world."  Hierzu  bemerkt 
Sa c hau  11.280,  dass  er  etwas  diesem  Gedanken  correspondirendes 
weder  in  der  Säinkhy akärikä  noch  in  Gaudapäda's  Com- 
mentar gefunden  habe,  und  vergleicht  nur  eine  Parallele  aus  den 
Sütra's.  In  der  That  aber  ist  der  Gedanke  deutlich  genug  in 
Kärikä  2  ausgesprochen  und  von  Gaudapäda  näher  begründet. 


—     64     — 

des  Muhammedaners  weiter  ausgeführt  und  ausgeschmückt. 
Bei    Gaudapäda    zu    Kärikä20    findet    sich    folgende 
Stelle:    „Wie  Jemand,  der  kein  Dieb  ist,   ftir  einen  Dieb 
„gilt,  wenn  er  mit  Dieben  zusammen  ergrifPen  wird,  so  gilt 
„auch  die  mit  den  thätigen  drei  Guna's  verbundene  Seele, 
„obwohl  sie  [in  Wirklichkeit]  nicht  thätig  ist,  für  thätig 
„wegen  der  Verbindung   mit   den  thätigen."     Diesen  ein- 
fachen Satz  giebt  Alber üni    I.  48,    49    in  folgender  an- 
schaulicher  Schilderung   wieder:     "The   book  of  Sämkhya 
"brings    action   into    relation    with  the   soul,   though  the 
"soul  has  nothing  to  do  with  action,  only  in  so  far  as  it 
"resembles  a  man  who  happens   to  get  into  the  Company 
"of  people    whom   he   does   not   know.     They  are  robbers 
"returning  from   a   village   which   they    have   sacked   and 
"destroyed,  and  he  has  scarcely  marched  with  them  a  short 
"distance,  when  they  are  overtaken  by  the  avengers.    The 
"whole  party  are  taken  prisoners,  and  together  with  them 
"the  innocent  man  is  dragged  off;  and  being  treated  pre- 
"cisely  as  they  are,  he  receives  the  same  punishment,  with- 
"out  having  taken  part  in  their  action." 

In  ganz  ähnlicher  Weise  ist  eine  Stelle  aus  Gauda- 
päda's  Commentar  zu  Kärikä  30  von  Alber  üni  be- 
handelt. Es  heisst  daselbst:  „Jemand,  der  auf  der  Strasse 
„geht,  erblickt  etwas  aus  der  Entfernung  und  ist  im  Zweifel, 
„ob  es  ein  Pfahl  oder  ein  Mensch  sei;  dann  sieht  er,  dass 
„sich  an  diesem  Gegenstand  eine  Schlingpflanze  ^)  befindet 
„oder  dass  ein  Vogel  auf  ihm  sitzt.  Damit  ist  der  Zweifel 
„durch  den  inneren  Sinn  dieses  [Menschen]  entschieden, 
„und  es  entsteht  die  unterscheidende  Erkenntniss,  dass  es 
„ein  Pfahl  ist,"  Aus  diesem  Beispiel  Gaudapäda's  hat 
Alberüni  I.  84  eine  vollständige  Parabel  gemacht:  "A 
"man  is  travelling   together  with    his  pupils  for  some  bu- 


^)  Lies  valUin  anstatt  tal-lingam  und  vgl.  die  Parallelstelle  im 
Comm.  zu  Kärikä  36  und  die  Notiz  in  den  Variations  and  Cor- 
rections  bei  Colebrooke-Wilson. 


—    65    — 

"siness    or    other   towards   the    end   of  the    night.      Tlien 

"there   appears   sometlimg   standing  erect  before  them  on 

"the  road,  the  nature  of  which  it  is  impossible  to  recogiiise 

"on  account   of  the   darkiiess   of  night.     The   man   turns 

"towards  his  pupils,  and  asks  them,    one  after   the  other, 

"what  it  is.     The  first  says:    'I   do  not   know  what  it  is'. 

•'The  second  says:  'I  do  not  know,  and  I  have  no  means 

"of  learning  what  it  is.'     The  third  says:  'It  is  useless  to 

"examine  what  it  is,  for  the  rising  of  the  day  will  reveal 

"it.     If  it  is  something  terrible ,  it  will  disappear  at  day- 

"break;   if  it   is   something  eise,   the  nature  of  the  thing 

"will   anyhow   be   clear   to  us.'     Now ,    none  of  them  had 

"attained  to  knowledge,  the  first,  because  he  was  ignorant ; 

"the  second,  because  he  was  incapable,  and  had  no  means 

"of  knowing;  the  third,  because  he  was  indolent  and  ac- 

"quiesced  in   his  ignorance.     The  fourth  pupil,   however, 

"did   not   give   an   answer.     He   stood   still,   and  then  he 

"went  on  in  the  direction  of  the  object.    On  Coming  near, 

"he   found   that    it   was   pumpkins   on   which  there  lay  a 

"tangled  mass  of  something.     Now  he  knew  that  a  living 

"man,  endowed  Avith  free  will,  does  not  stand  still  in  his 

"place   until   such  a  tangled  mass   is  formed  on  his  head, 

"and  he   recognised   at   once   that  it  was  a  lifeless  object 

"standing   erect.     Further  he   could  not  be  sure  if  it  was 

"not  a  hidden  place  for  some  dunghill.    So  he  went  quite 

"close  to  it,   Struck  against   it  with  his  foot  tül  it  feU  to 

"the    ground.     Thus   all   doubt   having   been  removed,  he 

"returned  to  liis  master  and   gave   him  the  exact  account. 

"In  such  a  way  the  master  obtained  the  knowledge  through 

"the  intermediation  of  his  pupils." 

Diese  beiden  Parallelen  illustriren  das  Yerhältniss 
Alber  üni's  zu  seiner  Vorlage  vortrefflich.  S a c h a u  aber 
bestreitet,  dass  Gaudapäda's  Bhäshya  Alberüni's 
Vorlage  gewesen  sei.  Obwolil  er  in  den  Annotations  IL  267 
zugiebt,  dass  "most  of  the  quotations  given  by  Alberüni 
are  found  only  slightly  differing  in  Gaudapäda,  and  some 
agree  literally",  dass  ferner  "almost  all  the  illustrative  tales 

Garbe,  Sämkhya-Philosophie.  5 


—     66     — 

mentioned  by  A 1  b e r ü n i  are  fouiid  in  G a u d a p a cl a ",  so 
behauptet  S  a  c  h  a  u  doch,  dass  G  a  u  d  a  p  ä  d  a '  s  B  h  ä  s  h  y  a 
nicht  mit  A 1  b  e  r  u  n  i '  s  S  ä  ni  k  h  y  a  identisch,  sondern  nur 
'a  near  i-elative  of  it'  sei.  "Gaudapäda" ,  sagt  er  a.  a.  0., 
"seems  to  have  taken  his  information  from  a  Avork  neav 
"akin  to,  or  identical  with,  that  Sämhhya  book  which  was 
"used  by  Alberüni".  Diese  Ansicht  ist  völlig  unbegründet, 
da  es  ein  solches  dem  Bhäshya  Gaudapäda's  nahe 
verwandtes  Werk  in  der  S  ä  m  k  h  y  a  -  Literatur  vor  Alb  e- 
r  ü  n  i '  s  Zeiten  nicht  gegeben  hat.  Wenn  S  a  c  h  a  u  gewusst 
hätte ,  dass  Gaudapäda's  Commentar  thatsächlich  das 
ein/Äge  Werk  ist,  welches  als  Alberüni 's  Quelle  in 
Betracht  kommen  kann,  so  würde  er  in  den  von  ihm 
selbst  anerkannten  Uebereinstimmungen  gewiss  einen  hin- 
reichenden Grund  gefunden  haben,  das  ,Buch  Sämkhya' 
mit  Gaudapäda's  Bhashya  zu  identificiren ,  ohne  an 
der  freien  Behandlung  der  Quelle  durch  Alberüni  Anstoss 
zunehmen.  Sind  doch  von  Alberüni  in  genau  derselben 
Weise  andere  Werke  der  Sanskrit-Literatur  behandelt  worden, 
über  deren  Identität  mit  unsern  Texten  nicht  der  geringste 
Zweifel  bestehen  kann,  z.  B.  die  Bhagavadgitä.  Wo 
Alberüni  auf  dieses  berühmte  Gedicht  unter  Anführung 
des  Namens  Bezug  nimmt,  übersetzt  er  gleichfalls  nicht 
wörtlich,  sondern  giebt  die  Gedanken  in  der  freiesten 
Umschreibung  wieder:  vgl.  S  ach  au  IL  275:  "Of  the 
"other  quotations  .  .  .  .,  I  do  not  see  how  they  could  l)e 
"compared  Avith  any  passage  in  Bhagavad-Gttd ^  except 
"for  the  general  tenor  of  the  ideas",  und  sonst '). 


^)  Ich  möchte  bei  dieser  Gelegenheit  einen  anderen  Irrthuin 
Sachau's  berichtigen.  In  den  Annotations  vergleicht  Sa c  hau 
IL  266  den  Inhalt  der  Sän.ikhy asiit ra's  mit  dem  von  Albe- 
rüni unter  dem  Namen  Sämkhya  dargestellten  philosophischen 
System  und  findet,  dass  dieses  in  various  and  essential  points  von 
dem  der  Sutra's  verschieden  .sei.  "It  seems",  sagt  er,  "altogether 
"to  have  had  a  totally  difFerent  tendency.  The  Sütras  treat  of  the 
'■'■complete  cessation  of  puin\  the  first  one  runs  thus:  Well,  the  com- 
"plete  cessation  of  pain,  (which  is)  of  three  kinds,  is  the  complete 


—     67     — 

Die  klare  und  ausführliclie  Darstellung ,  die  Albe- 
r  IT  n  i  von  dem  S  ä  m  k  h  y  a  -  System  giebt ,  macht  dem 
muhammedanisclien  Gelehrten  in  Anbetracht  des  seinen 
Vorstellungen  so  entlegenen  Gedankenkreises  alle  Ehre. 
Er  behandelt  das  System  im  Zusammenhange  von  I.  40 
— 49 ;  ausserdem  gehört  dazu  die  Klassificirung  der  Wesen 
I.  89  und  eine  Hauptstelle  I.  31 ,  wo  der  Grundgedanke 
des  Sämkhya  mit  treffenden  Worten  ausgedrückt  wird 
und  ganz  in  derselben  Weise  wie  oftmals  in  der  Literatur 
dieses  Systems :  "The  truth  is,  that  action  entirely  belongs 
"to  matter,  for  matter  binds  the  soul,  causes  it  to  wander 
"about  in  different  shapes,  and  then  sets  it  free.  Therefore 
"matter  is  the  agent,  all  that  belongs  to  matter  helps  it 
"to  accomplish  action.  But  the  soul  is  not  an  agent, 
"because  it  is  devoid  of  the  different  faculties."  Doch  darf 
ich  nicht  verschweigen,  dass  Alberüni  zu  einem  Ver- 
ständniss  der  psychologischen  Seite  des  Sämkhya- 
Systems  nicht  vorgedrungen  zu  sein  scheint.  Wenn  er 
I.  49  nur  bemerkt:  "The  soul  does  not  influence  matter 
"in  any  way,  except  in  this,  that  it  gives  matter  life  by 
"being  in  close  contact  with  it"  ') ,  so  wäre  dabei  fiir  ihn 
Anlass  gewesen  die  Erklärung  der  psychischen  Vorgänge 
zu  erwähnen,  die  nach  der  Sämkhya-  Philosophie  zunächst 


"end  of  man ;  whilst  the  Sämkhya  of  Alberüni  teaches  mohsha 
"by  means  of  knowledge".  Wenn  S  ach  au  einen  mit  der  indischen 
Philosophie  nur  oberflächlich  vertrauten  Sanskritisten  zu  Rathe  ge- 
zogen hätte ,  so  würde  er  erfahren  haben ,  dass  moksJia  und  the 
complete  cessation  of  pain  im  Sänikhya  völlig  identische  Be- 
griffe sind  (cf  jetzt  z.  B.  Mahädeva  zum  Säinkhyasütra  I.  5: 
because  liberation  is  identical  with  the  removal  of  all  pains).  Zu- 
dem wird  das  Wort  mohsha  fünfmal  in  den  Sämkhyasütra's  gebraucht, 
das  identische  mukti  ebenso  fünfmal,  von  dem  überaus  häufigen 
Vorkommen  beider  Worte  in  den  Commentaren  zu  dem  Werk  ganz 
zu  schweigen.  Es  ist  also  keine  Rede  davon,  dass  die  Sämkhya- 
sütra's  eine  andere  Tendenz  haben,  als  das  Sämkhya  bei  Albe- 
rüni oder  in  irgend  einem  andern  Werk  der  einschlägigen  Literatur. 
V  Vgl.  hiermit  den  Anfang  von  Chapter  IV.  auf  S.  45. 


.* 


—    68     — 

rein  mechanische  Processe  in  dem  materiellen  inneren 
Organ  sind  und  nur  durch  die  Einwirkung  der  Seele  zu 
bewussten  gemacht  werden.  Auch  ein  paar  direkte  Irr- 
thiimer  hat  sich  A 1  b  e  r  ü  n  i  in  der  Darstellung  des  Systems 
zu  Schulden  kommen  lassen.  Das  Wort  ahamkära  über- 
setzt er  I.  41  mit  'nature',  obwohl  er  gleich  darauf  die 
richtige  etymologische  Erklärung  mit  'self-assertion'  giebt ; 
und  die  hvddhi,  die  erste  Entfaltung  der  Urmaterie,  hat 
er  ganz  übersehen ;  denn  er  bringt  I.  44  die  25  Principien 
des  Systems  dadurch  zusammen,  dass  er  die  prakrti  in 
'abstract  vXrf  und  'shaped  matter'  zerlegt.  Dass  er  I.  42 
den  Ausdruck  panca  tanmäträni  ,die  fünf  feinen  Elemente' 
missverstanden  und  daraus  panca  mätaras  ,fünf  Mütter' 
gemacht  hat  (vgl.  auch  die  matres  simphces  I.  45  unten), 
ist  bereits  von  S  ach  au  in  den  Annotations  11.  273  be- 
merkt worden.  Schliesslich  sei  noch  das  Versehen  I.  321 
erwähnt,  wo  Alberüni  dem  Kapila  eine  vollkommen 
theistische  Lehi-e  in  den  Mund  legt. 


Wir  haben  nun  nur  noch  zwei  Hauptwerke  der  S  a  m  - 
k  h  y  a  -  Literatur  mit  ihren  Commentaren  ins  Auge  zu 
fassen,  sind  aber  dabei  in  der  misslichen  Lage,  nicht 
entscheiden  zu  können,  welchem  der  beiden  die  Priorität 
zukommt;  ich  meine  den  Tattvasamäsa  und  die  Sä m- 
khyasütra's.  Cole brocke,  Mise.  Ess.  -  L  244,  findet 
es  walu-scheinhch  ^) ,  dass  der  Tattvasamäsa  zu  den 
Sütra's  erweitert  wurde;  es  wäre  ebenso  möghch,  dass  er 
aus  den  letzteren  als  Kern  herausgeschält  ist.  Mir  scheint 
jedoch  die  singulare  Terminologie  des  nur  aus  54  Worten 
bestehenden  Traktats  dafür  zu  sprechen,  dass  er  weder  mit 
den  Sütra's  noch  mit  einem  früheren  Sämkhy a-Lehr- 
buch   in   direktem  Zusammenhang  steht.     Wenn  ich  hier 


1)    In    Uebereiustimmung   mit    den    Angaben    der    Sarvopa- 
kärini;  s.  Hall,  Pref.  p.  8,  9  Anna. 


—     69    — 

den  Tattvasainäsa  voranstelle,  so  geschieht  dies  einfach, 
um  dieselbe  Reihenfolge  einzuhalten,  die  F.  E.  Hall  in 
seiner  Aufeählung  dieser  Werke  (Sänkhya  Sara,  Pref.  p. 
39  ff.)  beobachtet  hat.  Man  findet  die  22  —  resp.  25  — 
kleinen  Sütra's,  die  den  Tattvasainäsa  bilden,  bei 
Hall  a.  a.  0.  S.  42  abgedruckt,  sowie  bei  Ballantyne, 
A  Lecture  on  the  Sänkhya  Philosophy  (Mirzapore  1850). 
Hall  nennt  fiinf  verschiedene  Commentare  zu  denselben, 
von  denen  aber  nur  einer,  die  Sämkhy  a-krama-dipikä, 
herausgegeben  ist  und  zwar  von  Ballantyne  in  dem 
eben  sfenaunten  Werkchen.  Leider  finde  ich  keinen  Anhalt 
um  zu  bestinunen,  wie  lange  vor  der  Mitte  des  löten  Jhdts 
der  Tattvasamäsa  entstanden  ist.  Dieser  tenninus  ad 
quem  aber  wenigstens  steht  fest,  weil  Bhäväganecja 
Dikshita,  der  Verfasser  des  Tattva-yäthärthya- 
dipana  genannten  Commentars  zum  Tattvasamäsa. 
sich  selbst  als  einen  Schüler  Vijnänabhikshu's  be- 
zeichnet. Denn  über  Vij&änabhikshu's  Lebenszeit 
sind  wir  im  Klaren  (s.  unten  S.  74). 

Was  nun  die  Sämkhy asütra's  betrifft,  so  haben 
in  frülierer  Zeit  aUe  Forscher ,  Röer^),  Barthelemy 
Saint-Hilaire  u.  s.  w. ,  dieselben  für  das  älteste  auf 
uns  gekommene  Lehrbuch  der  S am khya- Schule  ange- 
sehen, vermuthlich  weil  es  den  Namen  des  K  a  p  i  1  a  trägt. 
Nun  hatte  aber  schon  Coleb rooke  Mise.  Ess.  -  I.  244 
bemerkt,  dass  das  Werk  mit  Unrecht  dem  Begründer  des 
Systems  zugeschrieben  wird,  "since  it  contains  references 
"to  former  authorities  for  particulars  which  are  but  briefly 
"hinted  in  the  sütras;  and  it  cpotes  some  by  name,  and 
"among  them  P  ancha9ikha,  the  disciple  of  the  reputed 
"author's  pupil :  an  anachronism  which  appears  decLsive  -)". 

Vielleicht  ist  das  Alter  der  Sämkhy asvitra's  auch 
deshalb    überschätzt   worden,    weil   in    der    Literatur   der 


^)  A  Lecture  on  the  Sänkhya  Philosophy,  Calcutta  1854. 
"-)  Vgl.  dazu  die  Anm.  11,    welche  Co  well  auf  S.  354  hinzu- 
gefügt hat,  und  Hall,  Pref.  p.  47,  Anm.  unten. 


—     70     — 

anderen  Systeme  die  Sütra's  jedesmal  das  grundlegende 
Werk  sind.  Jedenfalls  hat  man  die  Säm  k  hy  asütra's 
trotz  ihrer  augenscheinlich  jungen  Sprache  und  trotzdem 
in  ihnen  gegen  die  Lehren  der  Vai9eshika-  und  Nyäya- 
Philosophie  polemisirt  wird,  für  älter  als  die  Kärikä 
gehalten,  bis  Hall  (Pref  p.  12)  —  leider  nicht  mit  der 
nötliigen  Entschiedenheit  des  Ausdrucks  —  den  Nachweis 
geliefert  hat,  dass  die  Kärikä  in  den  Sämkhyasütra's 
mehrfach  wörtlich  benutzt  ist.  Diese  Uebereinstimmungen 
anders  zu  erklären,  ist  in  Anbetracht  dessen,  dass  die 
Kärikä  in  dem  complicirten  A  r  y  ä  -  Metrum,  das  S  ü  t  r  a  - 
Werk  dagegen  in  Prosa  abgefasst  ist,  unmöglich.  Schon 
Barthelemy  Saint-Hilaire,  Premier  Memoire  sur  le 
Sänkhya  p.  114  (vgl.  auch  p.  128,  314  und  sonst)  hat 
diese  wörtlichen  Uebereinstimmungen  bemerkt,  aber  den 
falschen  Schluss  daraus  gezogen:  "quand  le  rhythme  s'y 
"prete,  eile  (d.  h.  die  Kärikä)  se  contente  de  reproduire 
"textuellement  les  expressions  de  Kapila  (d.  h.  der  Sü- 
"tra's)". 

Hall  (Pref  p.  8— 11)  hat  festgestellt,  dass  die  Säm- 
khyasütra's ebenso  wie  der  Tattvasamäsa  weder 
von  C a m k a r a  noch  von  Väcaspatimi^ra  noch  über- 
haupt von  irgend  einem  Schriftsteller  beträchtlichen  Alters 
citirt  werden,  ja  selbst  nicht  einmal  im  14ten  Jahrhundert 
von  Mädliaväcäry  a  in  dem  S  ä  m  k  h  y  a  -  Abschnitt  des 
Sarva-dar9ana-samgraha.  In  einer  Note  zu  seiner 
Uebersetzung  des  letztgenannten  Werkes  (S.  222,  Anm.  2) 
findet  es  Co  well  sonderbar,  dass  Mädhava's  Sämkhya- 
Autorität  die  Kärikä  ist  und  nicht  die  Sütra's.  Ich 
bin  aber  im  Gegentheil  <ler  Ansicht,  dass  man  in  diesem 
Falle  das  argumentum  ex  silentio  für  beweiskräftig  halten 
und  die  Abfassmig  der  Sämkhy  asiitra's  später  als 
Mädhaväcärya  ansetzen  muss.  Denn  Mädhava  geht 
bei  den  anderen  orthodoxen  Systemen,  die  er  behandelt, 
jedesmal  von  den  Sütra's  aus;  warum  soUte  er  da  bei 
dem  Sämkhy a- System  eine  Ausnahme  gemacht  und  die 
Sütra's   dieser  Schule  ganz  ignorirt  haben,   wenn  er  sie 


—     71     — 

gekannt  hätte?  Die  Inder  pflegen  in  solchen  Dingen  doch 
stets  sehr  systematisch  zu  verfahren.  Die  Erinnerung  an  die 
moderne  Entstehung  des  Werkes  hat  sich  übrigens  bis 
auf  den  heutigen  Tag  unter  den  Pandits  in  Benares 
erhalten. 

Als  obere  Grenze  für  die  Abfassung  der  Sütra's 
würde  sich  uns  also  nach  dem  eben  bemerkten  etwa  das 
Jahr  1380  ergeben,  als  untere  etAva  1450,  daAniruddha 
seinen  Commentar  zu  dem  Werke  um  1500  geschrieben 
hat  ^).  Bis  zu  diesem  eng  umgrenzten  Zeitraum  also  hat 
die  Kärikä  —  vielleicht  ein  Jahrtausend  lang  —  un- 
bestritten als  Standard  work  der  Sämkhya-Schule  ge- 
o-olten;  erst  vor  ca.  500  Jahren  hat  man  es  in  Indien  als 
einen  Mangel  empfunden,  dass  dieses  System  keine  Sü- 
tra's besass  wie  die  anderen  orthodoxen  Schulen  -). 

Die  Sämkhyasütra' s  fähren  denselben  Namen  wie 
die  Yogasütra's,  nämlich  Sämkhya-pravacana, 
„  ausführliche  Darstellung  des  S  ä  m  k  h  y  a  -  Systems  "  '^).  Ihr 
Inhalt  unterscheidet  sich  nicht  wesentlich  von  dem  der 
Kärikä,  wie  bereits  oben  (S.  59)  bemerkt  ist;  aber  der 
philosophische  Standpunkt  des  unbekannten  Verfassers  der 
Sütra's  ist  ein  anderer  als  der  1 9  v  a  r  a  k  r  s  h  n  a '  s.  Durch 
das  ganze  Werk  hindurch  sucht  der  Sütrakära  die  Gegen- 
sätze zwischen  den  Lehren  der  Scluiffc  und  denen  des 
Sämkhya- Systems  fortzudeuten ;  er  bemüht  sich  mit 
abenteuerlichen  Mitteln  zu  beweisen,  dass  die  Lehren  von 
der  Persönlichkeit  Gottes,  von  der  All-Einheit  des  Brah- 
man,   von  der  Wonnenatur  des  B  rahm  an  und  von  der 


')  S.  meine  Ausgabe  der  Aniruddhavitti,  Pref.  p.  IX. 

"')  Umgekehrt  wurde  dieses  Verhältniss ,  den  älteren  Anschau- 
ungen entsprechend,  beurtheilt  von  Weste rgaard,  Ueber  den 
ältesten  Zeitraum  der  indischen  Geschichte  S.  67:  „Die  Regeln,  in 
„welchen  Kapila  die  S an khya- Philosophie  darstellte,  haben  in 
„den  Schatten  treten  müssen  gegen  die  von  Icvarakrshna  ver- 
,,sificirte  Sänkhy akärikä." 

^)  S.  Vijiiänabhikshu  in  der  Einleitimg  seines  Commentars 
(S.  10  meiner  Uebersetzung)  und    Hall,  Pref.    p.   11   Anm.  unten. 


—     72     — 

Erreichung  des  höchsten  Zieles  in  der  Himmelswelt  nicht 
mit  den  Anschauungen  des  Sä mkhya- Systems  in  Wider- 
spruch stehen  ^).  Auch  sonst  lassen  die  S  ü  t  r  a '  s  eine 
starke  vedantistische  Färbung  erkennen;  z.  B.  in  der  Lelii-e, 
dass  die  vom  Gesetz  vorgeschriebenen  Werke  als  Hilfs- 
mittel zur  Erreichung  der  Erkenntniss  nützlich  seien  (III. 
35,  IV.  21)  ^) ;  noch  deutlicher  vielleicht  in  dem  Ausspruch 


>)  Sutra  I.  95,  154;  V.  64,  68,  110;  VT.  51,  58,  59. 
^)  Die  Erwähnung  der  Schülerpflichten  IV.  19  scheint  mir 
gleichfalls  eine  spätere,  dem  Sämkhya- System  ursprünglich  nicht 
angehörende  Zuthat  zu  sein,  die  eine  stärkere  Brahmanisirung 
verrätli.  Dasselbe  gilt  sicher  von  dem  Abschnitt  V.  40 — 51,  in 
dem  die  brahmanische  Anschauung  über  den  Veda  unserem 
System  einverleibt  und  mit  Beweisen  aus  dem  Gedankengange  der 
Sämkhya- Philosophie  begründet  ist.  Die  Veda 's  sind  nicht 
das  Werk  einer  Person,  weil  es  keine  Person  giebt,  die  sie  gemacht 
haben  könnte  (46).  Da  das  System  keinen  Gott  anerkennt,  so 
gehören  alle  Wesen  entweder  der  Kategorie  der  Erlösten  oder  der 
der  Gebundenen  an.  Ein  Erlöster  nun  kann  die  Veda's  nicht 
verfasst  haben,  weil  dazu  ein  Wille  nöthig  gewesen  wäre  und  die 
Erlösten  wunschlos  sind;  ein  Gebundener  aber  war  dazu  nicht  be- 
fähigt, weil  ein  solcher  nicht  im  Besitze  des  ganzen  Wissens  ist, 
das  zur  Abfassung  der  Veda's  erforderlich  gewesen  wäre  (47). 
Der  Gedanke,  dass  die  Veda's  das  Werk  vieler  Personen  sind, 
liegt  der  brahmanischen  Anschaming  ganz  fern;  er  wird  nicht 
einmal  aufgestellt,  um  widerlegt  zu  werden.  Daraus,  dass  der 
Veda  nicht  geschaffen  ist,  folgt  aber  für  den  Verfasser  der  Säm- 
khyasütra's  doch  nicht,  dass  er  von  Ewigkeit  her  existirt  haben 
muss;  denn  auch  Pflanzen  und  andere  Naturprodukte  sind  weder 
das  Werk  einer  Person  noch  ewig  (45,  48).  Hier  haben  wir  eint' 
bemerkenswerthe  Abweichung  von  der  Lehre  der  Mimämsä 
zu  constatiren ,  welche  die  Existenz  des  Veda  für  eine  anfangs- 
lose erklärt.  Nach  der  Anschauung  der  Sämkhyasütra's 
entstehen  die  Veda's  am  Anfang  einer  Weltperiode  jedes- 
mal ohne  jede  Variante  von  selbst,  oder  —  um  mit  Vijiiäna- 
bhikshu's  echt  brahmanischen  Worten  (zu  Svitra  50)  zu  reden  — 
,sie  gehen  dem  Aushauch  vergleichbar  in  Folge  der  unsichtbaren 
„Kraft  [des  angesammelten  Verdienstes]  von  selbst  aus  Brahman 
„hervor,  ohne  dass  eine  Absicht  desselben  vorliegt."  Aus  diesem 
Grunde  ist  auch  der  Veda  infallibel.  Ausserdem  kann  man  aus 
dem  Erfolg  der  vedischen  Ceremonien  und  Zaubersprüche  schliessen. 


—    78     — 

V.  116:  „In  der  Versenkung,  im  Tiefschlaf  und  in  der 
„Erlösung  haben  [die  Seelen]  die  Natur  des  Brahman", 
denn  hier  hat  der  Verfasser  einen  Vedänta- Terminus 
(brahnarilpatd)  anstatt  der  feststehenden  Sä mkhya -Aus- 
drücke verwendet.  Der  Einfluss  der  Vedänta-Philosophie 
zeigt  sich  ferner  darin,  dass  aus  den  Brahmas ütra's 
eines,  nämlich  IV.  1. 1,  wörtlich  als  Sämkhyasütra  IV.  3 
wiederkehrt,  und  dass  auch  die  Werke  ^amkaräcärya's 
von  dem  Verfasser  der  S  ä  m  k  h  y  a  s  ü  t  r  a '  s  in  erkennbarer 
Weise  benutzt  sind.  So  ist  1.  19  die  Seele  mit  dem  Epi- 
theton nitya-cuddha-huddha-mukta-svabhdva  ,ihrem  Wesen 
nach  ewig  rein,  erkennend  und  frei'  bezeichnet;  und  wenn 
wir  diesen  Ausdruck  mit  genau  derselben  Reihenfolge  der 
CompositionsgUeder  mehrfach  in  den  Werken  ^a^^kara's 
vorfinden  —  z.  B.  in  der  Einleitung  zu  seinem  Commentare 
zur  Bhagavadgita^)  — ,  so  wird  hier  Niemand  an  eine 
zufällige  Uebereinstimmung  glauben  wollen.  Ebenso  ist 
das  Gleichniss  von  den  Bewohnern  Srughna's  und  Pä- 
taliputra's,  das  im  Säinkhyasütra  I.  28  zur  Ver- 
anschaulichung der  räumlichen  Getrenntheit  gebraucht  ist, 
aus  ^amkara's  Commentar  zu  den  B r a h m a s ü t r a ' s  IL 
1.  18  entnommen. 

Dass   der  Verfasser   der  Sämkhyasütra's  auch  die 


dass  sämmtliche  Veda's  durch  sich  selbst  Mittel  zu  richtiger  Er- 
kenutniss  sind  (51).  —  Was  das  Verständuiss  des  Veda  anbetrifft, 
so  wird  der  Grundsatz  der  Mimämsä  anerkannt,  dass  die  Wort- 
bedeutungen des  täglichen  Lebens  auch  die  des  Veda  sind,  dass 
mithin  derjenige  den  Sinn  des  Veda  versteht,  der  in  den  Bedeu- 
tungen der  Worte  des  täglichen  Lebens  bewandert  ist  (40).  Trotz- 
dem kann  man  nicht  ohne  eine  gewisse  Gelehrsamkeit  (vyutpatti,  43j 
auskommen,  und  diese  Einschränkung  giebt  Vijiiänabhikshu 
Gelegenheit,  den  Werth  der  heiligen  Ueberlieferung  zu  betonen. 
Im  Commentar  zu  Sütra  44  bemerkt  er  jedoch,  dass  nur  der 
Wortsinn,  nicht  aber  auch  der  Satzsinn  aus  der  Tradition  zu  er- 
lernen sei. 

*)  S.  5  der  Ausgabe  von  Pandit  Jagannätha,  Calcutta, 
Samvat  1927.  —  Das  oben  genannte  lange  Compositum  findet  sich 
noch  nicht  in  den  Brahmasütra's. 


—     74     — 

Yogasütra's  benutzt  hat,  verrath  sich  nicht  nur  im  all- 
gemeinen überall  da,  wo  er  Lehren  und  Vorschriften  des 
Yoga- Systems  zur  Sprache  bringt,  sondern  auch  im 
speciellen  dadurch,  dass  er  das  Yogasütra  I.  5  als  Säm- 
khyas Vitra  IL  33  und  das  Yogasütra  IL  46  als  Säni- 
khyasütra's  lU.  33  (34  Vijiiänabhikshu)  und  YI.  24 
wörtlich  wiedergegeben  hat. 

Der  älteste  Commentar  zu  unseren  Svitra's  ist  die 
oben  S.  71  erwähnte  Aniruddhavrtti,  eine  etwas  un- 
fertige Arbeit,  die  aber  neben  manchen  gesuchten  und 
sophistischen  Erklärungen  eine  grosse  Zahl  von  Deutungen 
bietet,  die  den  Auffassungen  der  anderen  Commentatoren 
gegenüber  entschieden  den  Vorzug  verdienen.  A  n  i  r  u  d  d  h  a 
bemüht  sich  die  Lehren  der  S  ä  m  k  h  y  a  -  Philosophie  ob- 
jektiv vorzutragen,  verräth  aber  doch  bei  einer -Gelegenheit, 
im  Commentar  zu  VI.  50  nämlich,  dass  er  seiner  persön- 
lichen Ueberzeugung  nach  zu  den  Materialisten  gehört. 
Wie  sehr  er  sich  an  die  Sämkhya-tattva-kaumudi 
angeschlossen  hat,  ist  aus  der  Einleitung  zu  meiner  Aus- 
gabe der  Aniruddhavrtti  S.  VIII  zu  ersehen. 

Einen  viel  weniger  objektiven  Standpunkt  in  der  Er- 
klärung der  Sütra's  nimmt  Aniruddha's  Nachfolger, 
Vijnänabhikshu,  ein ,  der  in  der  zweiten  Hälfte  des 
löten  Jahrhunderts  ')  seinen  eingehenden  Commentar  unter 
dem  Titel  S  ä m k h  y  a-p  r  a  v  a  c  a  n a-b  h  ä  s h y  a  verfasst  hat. 
Es  ist  dies  das  ausführlichste  Werk  der  Sämkhya-Literatur, 
das  als  solches  für  die  Darstellung  der  Einzellieiten  des 
Systems  von  grossem  Werthe  ist,  aber  doch  in  aUen  den 
Punkten  unberücksichtigt  bleiben  muss,  wo  der  Verfasser 
seine  individuellen  Ueberzeugungen  ausspricht  und  damit 
die  für  das  Sämkhya -System  charakteristischen  Auf- 
fassungen entstellt. 

Wenn  wir  schon  in  den  Sütra's  vedantistische  Ein- 
flüsse deutlich  hei-vortreten  sahen,  so  gut  dies  in  noch  viel 


1)  S.  Hall,  Prof.  p.  37,  Aiim.  f- 


—     75     — 

höherem  Masse  von  ihrem  berühmten  Commentare.  Vijnä- 
nabhikshu  kämpft  liier,  ebenso  wie  in  seinen  anderen 
Werken ,  mit  der  grössten  Entschiedenheit  ftir  seinen  der 
Yoga-Philosophie  nahe  stehenden  theistischen  Vedänta, 
der  für  ihn  der  alte,  echte  und  ursprünghche  Vedänta 
ist,  während  er  die  Lehre  von  der  Zweitlosigkeit  des  B  r  a  h  - 
man  und  von  der  kosmischen  Illusion  ftir  eine  moderne 
Verfälschung  erklärt  ^).  Daneben  äussert  er  oftmals  sein 
Missfallen  über  die  Auslegungen  Väcaspatimi^ra's  inid 
Aniruddha's,  ohne  jedoch  einen  der  beiden  mit  Namen 
zu  nennen. 

Der  Standpunkt  V  i  j  n  ä n  a b  h ik  s  h u '  s  ist  bereits  von 
Gougli,  The  Philosophy  of  the  üpanishads  p.  259,  260 
dargelegt  worden,  und  es  ist  dort  die  völlige  Haltlosigkeit 
der  Darstellung,  die  der  Commentator  von  dem  Inhalt  der 
Upanishad's  und  von  dem  Verhältniss  der  pliiloso- 
pliischen  Systeme  zu  einander  giebt,  in  sachkundiger  Weise 
erwiesen.  Ich  glaube  aber  das  dort  gesagte  noch  in  einigen 
Punkten  ergänzen  zu  können.  Um  den  Gegensatz,  in  dem 
das  Sämkhya-System  zu  seinem"(angeblich  vedantistischen) 
Theismus  steht,  zu  überbrücken,  sucht  Vijnänabhikshu 
einen  der  Grundpfeiler  unseres  Systems,  die  Gottesleugnung, 
mit  den  wunderbarsten  Mitteln  liimvegzuräumen.  Er  meint 
in  der  Einleitung  zu  seinem  Commentar  und  auch  sonst 
an  mehreren  Stellen,  dass  der  Atheismus  der  S  ä  m  k  h  y  a '  s 
nicht  ernst  zu  nelunen  sei;  diese  Lehi-e  sei  aufgestellt, 
um  Gleichgiltigkeit  gegen  die  Erreichung  göttlicher  Würde 
zu  erzeugen ;  denn  der  Glaube  an  Gott  und  das  Verlangen, 
sich  in  kommenden  Existenzen  zu  göttlichem  Range  empor- 
zuschwingen, hindere  nach  der  Meinung  der  Sämkhya's 
die  Uebung  der  unterscheidenden  Erkenntniss.     Weiterhin 


1)  Er  nennt  die  Anhänger  dieses  echten  Vedänta  ,Pseudo- 
Vedantisten'  (vedänti-bruva  im  Comm.  zu  I.  22,  43,  151,  158)  und 
im  AnscMuss  an  eine  in  der  Einleitung  von  ihm  citirte  Stelle 
des  Padma  Puräna  .verkappte  'Rw&dh.i^.tau' (pracclianna-bauddha, 
zu  I.  22). 


—     76     — 

bezeichnet  er  die  Gottesleiignung  als  eine  Concession  an 
die  landläufige  Anschauung  und  als  eine  „kühne  Be- 
hauptung" (praudha-vdda) ;  und  schliesslich  bemächtigt  er 
sich  gar  eines  ungeheuerlichen  Gedankens,  den  er  im 
Padma  Puräna  vorgefunden,  nämlich  dass  diese  Lehre 
aufgestellt  sei,  um  schlechten  Menschen  die  Erkenntniss 
der  Wahrheit  zu  verscliliessen.  Durch  nichts  hätte  V  i  j  n  ä- 
nabhikshu  seine  Verlegenheit  diesem  Grunddogma  des 
S  ä  m  k  h  y  a  -  Systems  gegenüber  deutlicher  verrathen  können, 
als  durch  eine  solche  Häufung  unmöglicher  Gründe,  die 
er  den  Sämkhya's  imputirt.  Nachdem  er  aber  einmal 
so  den  Atheismus  aus  unserem  System  getilgt  hat,  scheut 
er  sich  nicht,  seinen  Theismus  ohne  weiteres  in  die 
Sämkhyasütra's  hineinzutragen  (z.  B.  am  Schluss  des 
Commentars  zu  I.  122);  und  wenn  er  dann  wieder  ge- 
nöthigt  ist,  die  Beweise  gegen  die  Existenz  Gottes  in 
den  Sütra's  V.  2 — 12  zu  besprechen,  so  thut  er  dies 
zwar  in  sachgemässer  Weise,  aber  in  einem  Anhang  zu 
V.  12  widerruft  er  alle  auf  den  vorangehenden  Seiten 
abgegebenen  Erklärungen. 

Noch  zwei  andere  thatsächlich  bestehende  Gegensätze 
bemüht  sich  Vijfi.änabhikshu  auf  seine  Art  aus- 
zugleichen. 

Die  Lehre  der  Schrift  von  der  Zweitlosigkeit  des 
ßrahman  und  die  Sämkhya-Lehre  von  der  Vielheit 
individueller  Seelen  sollen  sich  seiner  Meinung  nach  nicht 
widersprechen;  denn  das  Wort  B  rahm  an  bezeichne  die 
Gesammtheit  der  qualitätlosen  Seelen  ^) ;  und  wenn  in  der 
Schrift  von  der  Nichtverschiedenheit  oder  Einheit 
der  Seelen  die  Rede  sei,  so  sei  damit  die  Nicht  ver- 
schiedenartigkeit derselben  gemeint  -).  Der  ursprüng- 
liche (d.  h.  der  von  Vijnänabhikshu,  resp.  von  seiner 
Sekte,  fingirte)  Vedänta  nelune  gleich  dem  Sämkhya 
eine  unendliche  Vielheit  der  Einzelseelen  an.     Ebenso  wie 


^)  S.  den  Commi'iitar  zu  VI.  66. 

*)  S.  den  Schlussvers  der  Einleitung,  den  Commentar  zu  V.  61 
und  sonst. 


—     77     — 

die  in  den  Upanishad's  gelehrte  Seelen einheit,  deutet 
Vijnänabhiksliu  die  absolute  All-Einheit  hinweg. 
Im  Anschluss  an  Sütra  V.  64  sagt  er,  dass  dieser  Monismus 
in  der  Schrift  für  den  Standpunkt  der  „  nicht-unterscheiden- 
den",  für  die  einfältigen  Menschen  zurecht  gemacht  sei; 
an  anderen  Stellen  jedoch  (z.  B.  im  Commentar  zu  V.  65 
und  zu  VI.  52)  spricht  er  sich  daliin  aus,  dass  die  Schrift 
mit  der  AU-Einheit  die  räumliche  Ungetrenntheit 
der  Seelen  und  der  Materie  meine  und  also  auch  in  dieser 
Hinsicht  nicht  der  Lehre  der  Sämkhya's,  nach  der  so- 
wohl die  Seelen  wie  die  Materie  aUdurchdringend  sind, 
widerstreite. 

Der  andere  Punkt  betrifft  die  Schriftlehre  von  der 
illusorischen  Natur  (mäyä)  der  Erscheinungswelt  und  die 
Sämkhya -Doktrin  von  der  Realität  der  Materie.  Auch 
diesen  Gegensatz  beseitigt  Vijnänabhikshu  durch  Be- 
rufung auf  seinen  „ursprünglichen"  Vedänta,  der  die 
Wirklichkeit  der  Welt  gelehrt  habe.  Da  schon  in  der 
(^vetä9vatara  Upanishad  IV.  10  von  einem  Geistes- 
verwandten Vijnänabhikshu's  die  Mäyä  des  Vedänta 
mit  der  Prakrti  des  Sä mkhya -Systems  identificirt  war, 
so  brauchte  unser  Commentator  keinen  Anstand  zu  nehmen, 
diese  angebliche  Identität  als  schriftgemäss  auszugeben. 
Er  wiederholt  die  Erklärung,  dass  die  Schrift  unter  Mäyä 
nichts  anderes  als  die  reale  Materie  verstehe,  an  verschiedenen 
Stellen  seines  Werkes  (z.  B.  zu  I.  26,  69  und  sonst). 

Nach  allem  dem  darf  es  uns  nicht  wundern,  dass 
Vijfiänabhikshu  auch  sonst  allerlei  heterogene  Dinge 
vermengt  und  die  Eigenart  der  einzelnen  Systeme  ver- 
wischt. Er  vertritt  eben  die  Ansicht,  dass  alle  sechs  ortho- 
doxen Systeme  in  ihren  Hauptlehren  die  absolute  Wahrheit 
enthalten.  Bezeichnend  für  seinen  Standpunkt  ist  es  auch, 
dass  er  in  seinen  Beweisftihrungen  der  Pu r an a- Literatur 
und  anderen  apokryphen  Werken  dieselbe  Bedeutung  bei- 
misst,  wie  den  Upanishad's. 

Eine  ftk  die  Geschichte  des  Sämkhya-Systems 
nicht  unwichtige  Notiz  enthält  der  fünfte  Einleitungsvers 


—    78    — 

von  V  i  j  II  a  n  a  b  li  i  k  s  h  n  s  Commeiitar,  in  dem  gesagt  ist, 
dass  damals  „die  Sämkliya -Lehre  von  der  Sonne  der  Zeit 
aufgezehrt"  und  dass  „von  dem  Monde  der  Erkenntniss 
nur  noch  eine  kleine  Sichel  übrig  geblieben  war",  d.  h.  in 
unserer  Sprache,  dass  in  dem  geistigen  Leben  des  16ten 
Jahrhunderts  die  S  ä  m  k  h  y  a  -  Philosophie  keine  Rolle  mehr 
gespielt  hat.  Das  älteste  mir  bekannte  Zeugniss  für  den 
Verfall  der  S ä m k h  y  a  -  Philosophie  findet  sich  Bhäga- 
vata  Puräna  L  3.  10,  wo  es  heisst,  dass  die  Sämkhya- 
Lehi-e  „im  Laufe  der  Zeit  verloren  gegangen"  (käla-vipluta) 
sei.  V  i  j  u  ä  n  a  b  h  i  k  s  h  u  scheint  nun  durch  seine  Arbeiten 
das  Studium  des  Sämkhya  in  Lidien  neu  belebt  zu  haben. 
Seine  frülieren  Werke  behandeln  die  beiden  Systeme,  auf 
die  seine  religiöse  Ueberzeugung  gegründet  ist;  das  (bisher 
noch  nicht  herausgegebene)  Vijnänämrta  ist  ein  Com- 
mentar  zu  den  Brahmasütra's,  das  Yogavärttika  *) 
ein  Supercormiientar  zu  Vyäsa's  Yogabhäshya.  Von 
grösserer  Bedeutung  als  diese  beiden  Arbeiten  ist  flir  uns 
ein Compendium  der  Sämkhya-Lehre,  das  Vijnänabhik- 
shu  später  als  das  Sämkhy a-pravacana-bhäsliya 
unter  dem  Titel  STinikliy asära  verfasst  hat.  Das 
Werkchen  stellt  das  System  kurz  in  geschickter  Anordnung 
dar,  bietet  aber  gegenüber  dem  Commentar  zu  den  Sütra's 
nichts  neues  -). 

Der  nächste  Erklärer  der  Sütra's  ist  Vedäntin 
Mahädeva,  der  gegen  Ende  des  17ten  Jahrhunderts  ge- 
schrieben hat  •").  Sein  Commentar  ist  im  ersten  Buche  ein 
einfacher  Auszug  aus  Vijnänabhikshu's  Bhäshya, 
während  die  übrigen  fünf  Bücher  sich  stark  an  die 
Aniruddhavrtti  anlehnen.  Trotzdem  bietet  Mahä- 
deva in  diesen  letzten  Büchern  eine  ganze  Reihe  von 
selbständigen  und  bemerkenswerthen  Erklärungen,  so  dass 


1)  S.  oben  S.  32,  Aiim.  1. 
*)  S.  über  dasselbe  Hall,  Pref.  p.  49—51. 
-)  S.  Weber,   Verzeichuiss   der   Sanskrit-    und  Prakrit-Hand- 
ßcbriften  der  Königl.  Bibliothek  zu  Berlin,  Bd.  II.     S.  113. 


—    79    — 

ein  Erforscher  der  Sämkhya -Lehren  sein  Werk  nicht  un- 
beachtet lassen  darf. 

Anders  steht  es  mit  dem  Commentare  des  N  ä  g  o  j  i 
oder  Näge^a  Bhatta,  der  L a g h u - s ä m k h y a - s ü t r a - 
vrtti,  die  im  Anfange  des  18ten  Jahrhunderts  in  Benares 
compilirt  sein  soll  ^) ;  liier  haben  wir  es  lediglich  mit  einem 
gedankenlosen  Auszug  aus  dem  Sämkhya-pravacana- 
bhäshya  zu  thun.  Wie  dieses  Machwerk,  so  sind  auch 
die  übrigen  modernen  Schriften  über  das  S am khya- System, 
die  noch  von  Hall  in  seinem  Index  to  the  Bibliography 
of  the  Indian  Phüosophical  Systems  und  in  seiner  Vorrede 
zum  Sämkhyasära  erwähnt  werden,  für  uns  werthlos. 

Anhang. 

Im  folgenden  verzeichne  ich  die  bisherigen  Ausgaben 
und  Uebersetzungen  der  Sämkhya-Texte  sowie  die  euro- 
päischen oder  von  europäisch  gebildeten  Indern  geschrie- 
benen Arbeiten  über  dieses  System;  ich  übergehe  dabei 
die  Werke  allgemeineren  Inhalts,  in  denen  die  Sämkhya- 
Philosophie  nur  gelegentlich  behandelt  ist. 

Gymnosophista  sive  Indicae  philosophiae  documenta 
collegit,  edidit,  enarravit  Christianus  Lassen.  Voluminis  I 
Fasciculus  I,  Isvaracrishnae  Sankhya-Caricam 
tenens.     Bonn  1832. 

Das  Heft  i-nthält  ausser  dem  Texte  der  Kärikä  eineu  Wort- 
iiidex,  einen  Commentar  und  eine  Uebersetzung  in  lateinischer 
Sprache.  Die  deutsche  Uebersetzung  Windischmann 's  (Die 
Philosophie  im  Fortgang  der  Weltgeschichte,  Zweites  Buch,  IIT 
S.  1812—1846,  Bonn  1834)  und  die  französische  Pauthier's 
(Essays  sur  la  philosophie  des  Hindous,  Paris  1833)  dürfen  ohne 
Nachtheil  heutzutage  unberücksichtigt  bleiben. 

The  Sänkhya  Kärikä  or  memorial  verses  on  the 
Sänkhya  philosophy  by  I'swarakrishna;  translated 
from  the  Sanscrit  by  Henry  Thomas  Coleb rooke. 
Also  the  bhäshya  or  commentary  of  Gaurapäda;    trans- 


1)  S.  Hall,  Index  2. 


—     80     — 

lated,  and  illustrated  by  an  original  comment,  by  Horace 
Ha y man  Wilson.     Oxford  1837. 

Ein  Neudruck  dieses  Werkes  ohne  den  Sanskrittext  Bombay 
(Theosoph.  Publication  Fund)  1887. 

The  Sänkhyakärikä,  with  an  exposition  called 
Chandrikä  by  Näräyaua  Tirtlia,  and  Gaudapä- 
dächärya's  commentary.  Edited  by  Pandit  Bechana- 
r  a  m  a  T  r  i  p  ä  t  h  i.  (Benares  Sanskrit  Series  No.  9)  Benares 
1883. 

John  Davies,  Hindu  Philosophy.  The  Sänkhya 
Kärikä  oflswarakrishna.  An  exposition  of  the  System 
of  Kapila.  With  an  appendix  on  the  Nyäya  and  Vaise- 
shika  Systems.     (Trübner's  Oriental  Series)  London  1881. 

Enthält  eine  Uebersetzuug  und  Erläuterung  der  Kärikä. 

Tattvakaumudl  ^ri -Väcaspatimi9ra- viracitä 
Gavarnament  [=  Government] -samsthäp ita-samskrta-pätha- 
9älä  -  'dliyaksha  -  9riyuta  -  Bäbu  -Rasamayadatta-  maho- 
dayänäm  anujnayä  samskrta-yantre  mudritä.  Calcutta,  Sam- 
vat  1905  =  1848  a.  D. 

Sankhyatattwa  Koumudi  bj^  Bachaspati  Misra. 
Edited  with  a  commentary  by  Pundit  Taranatha  Tar- 
kavachaspati.     Calcutta  1871. 

Dasselbe  Werk,  edited  by  Dharmädhikäri 
Dhundhiräia  Pantasharman.     Benares  1873. 

•  •      •  ti 

Ausserdem  giebt  es  noch  eine  grössere  Benares- Ausgabe  dieses 
Werkes  mit  Glossen ,  deren  genauen  Titel  ich  leider  nicht  an- 
geben kann. 

Richard  Garbe,  Der  Mondschein  der  Sämkhya- 
Wahrheit,  Väcaspatimi9ra's  Sänikhy  a-tattva- 
kaumudi  in  deutscher  Uebersetzung ,  nebst  einer  Ein- 
leitung über  das  Alter  und  die  Herkunft  der  Sämkhya- 
Philosophie.  (Aus  den  Abhandlungen  der  k.  bayer.  Akademie 
der  Wiss.  I.  Cl.     XIX.  Bd.     HI.  Abth.)     München  1892. 

The  Aphorisms  of  the  Sankhya  Philosophy 
of  Kapila,  with  illustrative  extracts  from  the  commen- 
taries.     Book  I — VI.     Sanskrit   and  English.     Translated 


—    81     — 

by   James    R.    Ballantyne.      Printed    for  the   use   of 
the  Benares  College.     AUaliabad  1852,  1854,  1856. 

Zweite  Ausg-abe  flieses  Werkes  in  der  Bibliotheca 
Indica  unter  dem  Titel :  The  Sänkbya  Aphorisms  of 
Kapila,  with  extracts  from  Vijnäna  Bhikshu's  com- 
mentary.     Calcutta  1865. 

In  dieser  Ausgabe  ist  der  Sanskrittext  der  Commentarauszüge 
fortgelassen. 

Dritte   Ausgabe   desselben  Werkes,   von   F.   E.  Hall 

besorgt.     (Trübner's  Oriental  Series)  London  1885. 

The  Sänkhya-pravachana-bhäshya,a commen- 
tary  on  the  aphorisms  of  the  Hindu  atheistic  philosophy,  by 
Vijnäna  Bhikshu.  Edited  by  Fitz-Edward  Hall. 
(Bibl.  Ind.)     Calcutta  1856. 

Die  erste  Ausgabe  dieses  Textes,  Serampore  1821,  und  der 
Neudruck  der  Hall'schen  Ausgabe  durch  Jibananda  Vidya- 
sagara,  Calcutta  1872,  sind  werthlos. 

Dasselbe  Werk,  neu  herausgegeben  von  Richard 
Garbe  als  Vol.  II.  der  Harvard  Oriental  Series.  Boston, 
London,  Leipzig  1894. 

Dasselbe  Werk,  aus  dem  Sanskrit  übersetzt  und 
mit  Anmerkungen  versehen  von  Richard  Garbe.  (Ab- 
handlungen für  die  Kunde  des  Morgenlandes)  Leipzig  1889. 

The  Sämkhya  Sütra  Vritti  or  Aniruddha's 
commentary  and  the  original  parts  ofVedäntin  Mahä- 
d  e  V  a '  s  commentary  to  the  Sämkhya  S  ü  t  r  a  s ,  edited 
with  indices  by  R  i  c  h  a  r  d  G  a  r  b  e.  (Bibl.  Ind.)  Calcutta  1888. 

Dasselbe  Werk,  translated,  with  an  introduction 
on  the  age  and  origin  of  the  Sämkhya  System,  by 
Richard  Garbe.    (Bibl.  Ind.)    Calcutta  1892. 

Sänkhya-Sära;    a  treatise  of  Sänkhya  Philosophy, 

by    Yijnana    Bhikshu.      Edited    by    Fitz -Edward 

Hall.     (Bibl.  Ind.)    Calcutta  1862. 

üeber  die  Einleitung  zu  dieser  Ausgabe  s.  oben  S.  25. 
Garbe,  Sftmkhya-Philosophie.  6 


—     82     — 

Dasselbe  Werk,  ins  Englische  übersetzt  von  W. 
Ward,  A  view  of  tbe  history,  literature,  and  religioii 
of  the  Hindoos.  A  new  edition,  carefully  abridged  and 
greatly  improved,  London  1822,  Vol.  IL  121—172. 

Nach  F.  E.  Hall,  Prcf.  p.  i")l  Ainn.,  ist  diese  mir  iiiclit  zu- 
gänglicb  gewesene  üebersetzung  'with  ;ill  its  imperfeutioiis  of 
some  vaUie'. 

Säiiikhya-tattva-pradipa,  Text  und  üebersetzung 
von  Grovindadeva9ästrin,  Pandit  IX,  p.  43,  44,  68 — 70, 
117,  118,  240—242,  X,  p.  263—266. 

Wohl  unvollständig,  weil  mehrere  wichtige  Bestandthiüle  des 
Systems  hier  nicht  erörtert  sind. 

H.  T.  Colebrooke,  On  tlie  philosophy  of  the  Hindus. 

Part.  I,  On  the  Sankhya  system.     Ein  Vortrag  aus  dem 

Jahre    1823    in    den    Transactions    of   the    Royal    Asiatic 

Society  I.  19 — 43;  wieder  abgedruckt  in  den  Miscellaneous 

Essays,  by  H.  T.  Colebrooke.    A  new  edition,  with  notes, 

by  E.  B.  Co  well.     London  1873.    Vol.  I.    239—279. 

Dem  Aufsatz  ist  die  Üebersetzung  der  Samkhyakjirika 
beigegeben. 

I J.  R.  B  a  1 1  a  n  t  y  n  e  ]  ,  A  lecture  on  the  Sankhya 
philosophy,  embracing  the  text  of  the  Tattvasamäsa. 
Printed  for  the  use  of  the  Benares  College.    Mirzapore  1850. 

Enthält  im  wesentlichen  eine  Ausgabe  und  üebersetzung 
des  Tattvasamäsa  und  des  Commentars  Sa  in  khy  a  -  k  rama - 
dipi  kä. 

J.  R.  Ballantyne,*  On  the  drift  of  the  Sankhya 
philosophy. 

Diese  Abhandlung  kenne  ich  nur  dureli  die  Notiz  Ind.  Stud. 
I.  478. 

Barthelemy  Saint-Hilaire,  Premier  Memoire 
sur  le  Sankhya,  in  den  Memoires  de  TAcademie  des  sciences 
morales  et  politiques,  Tome  VIII  (Paris  1852),  p.  105— 
560.  Premiere  partie :  Bibliographie  du  Sankhya,  p.  107 — 
121.  Deuxieme  partie:  Analyse  du  Sankhya,  p.  123 — 36(5 
(üebersetzung  und  Erläuterung  der  Sämkhyakarika).    Troi- 


—     8B    — 

sieme  partie:   Examen  critique  du  Säiikhya,   p.  369 — 488. 
Quatrieme  partie:  histoire  du  Sänkhya,  p.  489 — 523. 

Dieses  Werk  —  die  umfangreichste  unter  allen  Arbeiten  über 
das  Säinkhya- System  —  war  für  seine  Zeit,  in  der  die  wenigen 
damals  zugänglichen  Quellen  ihrem  historischen  Zusammenhange 
nach  nicht  richtig  beurtheilt  wurden,  entschieden  verdienstvoll  und 
kann  auch  heute  noch  mit  Nutzen  zu  Rathe  gezogen  werden. 
Aber  die  Gedanken  sind  zu  einer  wahrhaft  unerträglichen  Breite 
Husgesponnen.  Auch  bietet  die  Arbeit  nicht  sowohl  eine  objektive 
Darstellung  der  Sanikhya -Philosophie,  als  Urtheile  Barthe- 
IcMTiy's  Überdieselbe.  Für  dfcn  Verfasser  ist  alles,  was  sich  nicht 
mit  dem  katholischen  Christenthum  in  Einklang  bringen  lä.sst,  er- 
reur,  aberration  criminelle,  deplorable  u.  s.  w.  Trotz  der  grossen 
Anerkennung,  die  er  der  Sanikhya- Philosophie  im  Einzelnen 
spendet,  schliesst  er  S.  484  mit  den  Worten:  nous  la  condamnons 
sans  reserve. 

E.  R  ö  6  r ,  Lecture  on  the  S  ä  n  k  h  y  a  pliilosopliy, 
delirered  to  the  members  of  the  Bethune  society ,  oii  the 
13"^  April,  1854.     Calcutta  1854. 

Neheniiah  Nilakaiitha  Sästri  Gore,  A  rational 
refiitation  of  the  Hindu  philosophical  Systems.  Translated 
from  the  original  Hindi  by  Fitz-Edward  Hall.  Cal- 
cutta 1862.     Section  I,  Chapter  3 — 5. 

Eine  allgemeine  Darstellung  der  Sämkhya-Lehren  findet 
sich  S.  43—67. 

K.  M.  Banerjea,  Dialogues  on  the  Hindu  philosophy, 
comprising  the  Nyaya,  the  Sankhya,  the  Vedant. 
London-Edinburgh  1861. 

Trotz  seines  rein  christlich-apologetischen  Charakters  enthält 
auch  dieses  Werk  viele  lehrreiche  Auseinandersetzungen.  Die 
Sanikhya- Anschauungen  werden  in  Dialogue  VI  luid  an  zahl- 
reichen anderen  Stellen  besprochen. 

F  ]•.  .J  0  h  a  e  n  t  g  e  n ,  Ueber  das  Gresetzbuch  des  M  a  n  u. 
Eine  philosophisch-litteraturhistorische  Studie.    Berlin  1 863. 

Behandelt  im  wesentlichen  die  Beziehungen  des  Gesetzbuches 
zur  Sämkhya- Philosophie. 

R.  G.  B  h  a  n  d  a  r  k  a  r ,  The  Sänkhya  Philosophy.  Bom- 
bay 1871. 

Diese  Arbeit  ist  mir  nur  durch  ein  Citat  aus  dc^r  folgenden 
Abhandlung  bekannt. 

6* 


—     84    — 

Tb.  Goldstücker,  Artikel  Saiikliya  in  Cli am- 
bers' Encj'clopaedia ,  wieder  abgedruckt  in  den  Literary 
Remains.    London  1879.     Vol.  I.  170—176. 

The  Sarva-darsana-samgraha  or  review  of 
the  different  Systems  of  Hindu  pliilosophy  by  Madhava 
A'c  h  a  r  y  a.  Trauslated  by  E.  B.  C  o  w  e  1 1  and  A.  E.  G  o  u  g  li 
(Trübner's  Oriental  Series)  London  1882.  Cbapter  XIV. 
The  Sänkhya-darsana.     P.  221—230. 

Richard  Garbe,  Die  Theorie  der  indischen  Ratio- 
nalisten von  den  Erkeuntnissmitteln.  Berichte  der  königl. 
sächs.  Gesellschaft  der  Wissenschaften.  Philologisch- 
historische Classe.     1888,  S.  1 — 30. 


^^ 


III.  Ueber  den  Zusaiiiineiihang  der  Siimkliya- 
Lehre  mit  der  grieclüsclien  Philosophie. 

Die  Uebereiiistimmungen  in  den  Lehren  der  indischen 
und  griechischen  Philosophie  sind  so  zaUreich  und  tief- 
gehend, dass  sie  sogleich  hei  dem  Bekannbverdeu  der 
indischen  Systeme  bemerkt  wurden. 

Am  auffallendsten  ist  die  Aehnlichkeit  —  man  Avürde 
besser  sagten:  Gleichheit  —  der  Lehre  von  dem  AU-Einen 
in  den  Upanishad's  und  bei  den  Eleaten.  Die  Lehre 
des  Xenophanes  von  der  Einheit  Gottes  und  des  Welt- 
ganzen und  von  der  Ewigkeit  und  Unveränderlichkeit 
dieses  Einen,  noch  mehr  aber  die  des  Parmenides,  dass 
allein  dem  einheitlichen,  ungewordeuen ,  unzerstörbaren 
und  allgegenwärtigen  Realität  zukommt,  dass  dagegen  alles, 
was  in  der  Vielheit  existirt  und  der  Veränderung  unter- 
liegt, nur  ein  Schein  ist,  dass  ferner  Sein  und  Denken 
identisch  sind,  —  diese  Sätze  decken  sich  vollständig  mit 
dem  wesentlichen  Inhalt  der  Upanishad's  und  des  aus 
diesen  herausgewachsenen  Vedänta- Systems  ').  Analogien 

^)  Die  Lehren  von  der  illusorischen  Natur  der  empirischen 
Welt  und  von  der  Identität  von  Sein  und  Denken  sind  noch  nicht 
in  den  älteren  Upanishad's  direkt  ausgesprochen,  sondern  erst 
in  Werken,  die  viel  jünger  sind  als  Xenophanes  und  Par- 
menides. Aber  schon  in  den  ältesten  Upanishad's  begegnen 
uns  Ideen,  aus  denen  diese  Lehren  sich  entwickeln  mussten;  denn 
wir  finden  schon  dort  die  Einheit  und  Unwandelbarkeit  desBrah- 
man  sowie  die  Gleichheit  des  Denkens  (mjnäna)  und  des  Brah- 
ma n  betont.  Es  würde  mithin  meines  Erachtens  kein  Grund  vor- 
liegen, in  der  Herleitung  der  Philosophie  der  Eleaten  aus  Indien 
einen  Anachronismus  zu  sehen. 


—     86     — 

mit  der  indischen  Gedankenwelt  lassen  sich  jedoch  schon 
früher,  bei  den  ionischen  Naturphilosopheii  nachweisen. 
Die  Anschauung  des  Thaies,  des  Vaters  der  griechischen 
Philosophie,  dass  Alles  aus  dem  Wasser  geworden  sei, 
erinnert  uns  an  die  in  der  vedischen  Zeit  in  Indien  sfe- 
läufige  mythologische  Vorstellung  von  dem  Urwasser,  aus 
dem  die  ganze  Welt  hervorgegangen  ^). 

Auch  Grundanschauungen  des  S am khya- Systems 
begegnen  uns  bei  den  Naturphilosophen.  Wenn  A  n  a  x  i  - 
man  der  als  den  Grund  (ä^x'/)  aller  Dinge  einen  ewigen, 
unendlichen  und  unbestimmten  Urstoff,  das  utzeiqov  ,  an- 
nimmt, aus  dem  die  bestimmten  Stoffe  hervorgehen  und 
in  das  sie  wieder  zurücksinken,  so  liegt  die  Analogie  mit 
der  Prakrti,  der  Urmaterie  der  Sämkhya's,  aus  der 
sich  ebenso  in  eigner  Bewegung  die  materielle  Welt 
entwickelt,  mn  sich  wieder,  wenn  ihre  Zeit  um  ist,  in  die 
Urmaterie  zurückzubilden ,  auf  der  Hand.  Ferner  bietet 
Heraklit,  der  ,dunkle  Ephesier',  dessen  Lehre  freilich 
hauptsächlich  an  iranische  Ideen  anklingt,  in  verschiedenen 
Hinsichten  Parallelen  mit  Anschauungen  der  Sämkhya- 
Philosophie.  Sein  ndvra  gel  ist  ein  treffender  Ausdruck 
für  den  von  den  Sämkhya's  gelehrten  unablässigen 
Wandel  und  Wechsel  der  ganzen  Erscheinungswelt,  und 
seine  Lehre  von  den  unzäliligen  Weltvernichtungen  und 
Erneuerungen  ist  eine  der  bekanntesten  Theorien  des 
S-ä  ni  khya-  Systems  (sysliti-pralayaiL)  -). 

Von  den  jüngeren  Naturphilosophen  kommt  für  uns 
zunächst  Empedokles  in  Betracht,  dessen  Seelen wan- 
derungs-  und  Entwickelungstheorie  sich  mit  den  ent- 
sprechenden Anschauungen  der  Sämkhya- Philosophie 
vergleichen  lässt.  Hauptsächlich  aber  stimmt  seine  Lehre, 
dass  nichts  entstehen  könne,  das  nicht  schon  vorher  war, 


')  S.  oben  S.  11. 

-)  Weitere  Analogien  zwischen  der  Philosophie  Heraklit's 
und  den  Sän.ikya- Lehren  glaubte  Colebrooke,  Älisc.  Ess.  "^ 
I.  437  zu  entdecken. 


—    87    — 

und  dass  niclits  existirendes  vergehen  könne,  mit  einer 
charakteristischen  Sämkhya -Theorie  überein,  der  Lehre 
von  der  anfangs-  und  endlosen  Reahtät  der  Produkte  (sai- 
kdrya-väda).  In  ähnlicher  Weise  lässt  sich  auch  der  Dua- 
hsnius  des  Anaxagoras  mit  dem  der  Särakhya- 
Philosophie  in  Verbindung  bringen.  Ja  selbst  Demokrit 
erinnert  trotz  seiner  Atomistik  ^)  in  den  —  allerdings 
wohl  auf  Empedokles  zurückgehenden  —  Grundsätzen 
seiner  Metaphysik  ,Aus  nichts  wird  nichts ;  -)  nichts ,  was 
ist,  kann  vernichtet  werden'  an  die  fast  wörtlich  so  im 
Sämkhya  ausgesprochenen  Lehrsätze.  Desgleichen  stimmt 
seine  Auffassung  der  Götter,  die  für  ihn  nicht  unsterblich 
sind,  sondern  nur  glückhcher  und  langlebiger  als  die 
Menschen,  völlig  mit  der  Stellung  überein,  die  den  Göttern 
im  Sämkhya- System  und  überhaupt  in  Lidien  an- 
gewiesen wird ;  denn  die  Götter  unterliegen  nach  indischer 
Anschauung  ebenso  wie  die  irdischen  Wesen  der  Metem- 
psychose  und  müssen,  wenn  die  nachwirkende  Kraft 
früher  erworbenen  Verdienstes  erschöpft  ist,  wieder  ab- 
wärts steigen  •'). 

Dass  dann  auch  bei  Epikur  die  gleichen  Ideen  uns 
begegnen,  ist  durch  seine  Abhängigkeit  von  Demokrit 
bedingt.  Aber  Epikur  hat  auch  noch  über  andre  Dinge 
Ansichten  aufgestellt,  die  sowohl  als  solche  wie  in  ihrer 
Begründung  merkwürdige  Uebereinstimmungen  mit  S  ä  in  - 
khya-Lehren  aufweisen.  Wenn  Epikur  die  Welt- 
regierung durch  einen  Gott  leugnet,  weü  bei  einer  solchen 


1)  Die  unter  keinen  Umständen  aus  Indien  hergeleitet  werden 
darf,  da  die  indischen  atomistischen  .Systeme  (Vaiceshika  und 
Nyäya)  zweifellos  viel  jünger  sind  als  das  Zeitalter  des  Leukipp 
und  Demokrit. 

■^1  Vgl.  Sainkhyasütra  I.  78. 

•")  „Solche  Worte  wie  Indra  u.  s.  w.  bedeuten,  ähnlich  wie 
„z.  B.  das  Wort  ,General',  nur  das  Innehaben  eines  bestimmten 
„Postens.  Wer  also  gerade  den  betreffenden  Posten  bekleidet,  der 
„führt  den  Titel  Indra  u.  s.  w."  ^amkara  zu  dem  Brahma- 
siitra  I.  3.  28  nach  Deussen's  Uebersetzung. 


-    88    — 

Annahme  der  Gottheit  Eigenschaften  und  Thätigkeiteu 
zugeschrieben  würden,  die  mit  dem  Begriffe  der  göttlichen 
Natur  unvereinbar  seien,  so  spricht  er  aus,  was  dieSäni- 
khya -Lehrer  nicht  müde  werden  eindringlich  zu  wiedei- 
holen.  Auch  die  bei  ihm  beliebte  Beweisfbrmel  „dann 
könnte  ja  aus  allem  alles  entstehen"  *)  finden  wir  mehrfach 
in  den  Werken  der  Sämkhya-Philosophie. 

Ob  nun  die  hier  aufgeführten  und  andere  Ideen  der 
griecliischen  Philosophie  wirklich  auf  einer  Beeinflussung 
von  Seiten  der  indischen  Gedankenwelt  beruhen  oder  ob 
sie,  weil  in  der  Natur  des  menschlichen  Denkens  begründet, 
in  Indien  und  in  Griechenland  selbständig  von  einander 
entstanden  sind,  das  ist  eine  Frage,  welche  die  vorsichtigste 
Behandlung  erfordert.  Ich  bekenne,  dass  ich  mich  der 
ersten  Seite  dieser  Alternative  zuneige,  möchte  mir  aber 
kein  apodiktisches  Urtheil  erlauben.  Das  Werk  Ed.  Röth's 
(Geschichte  unsrer  abendländischen  Philosojihie  *  1846 , 
- 1862),  die  zahkeichen  Arbeiten  von  Aug.  Gladisch  und 
die  Schrift  C.  B.  Schlüter 's  (Aristoteles'  Metaphysik 
eine  Tochter  der  Sämkhya- Lehre  desKapila,  1874)-) 


1)  Vgl.  Lange,  Geschichte  des  Materialismus ^  Tl.  46. 

^)  Vgl.  auch  die  Abhandlung  des  Baron  v.  Eckstein  ,Ueber 
die  Grundlagen  der  Indischen  Philosophie  und  deren  Zusammen- 
hang mit  den  Philosophemen  der  westlichen  Völker'  Ind.  Stud. 
II.  369 — 388.  —  In  noch  früherer  Zeit  behandelte  man  solelic 
Fragen  mit  einer  erstaunlichen  Kühnheit.  Sir  William  Jones 
(Works,  4to  ed.  1799,  I.  360,  361)  erblickte  mit  der  ihm  eigenen 
Leichtigkeit  der  Auffassung  folgende  Analogien:  "Of  the  Philo- 
"sophical  Schools  it  will  be  sufficient,  here,  to  remark  that  the 
"first  Nyäya  seems  analogous  to  the  Peripatetic ;  the  second,  some- 
"times  called  Vaisesliika,  to  the  lonic;  the  two  Mimänsäs,  of  which 
"the  second  is  often  distinguished  by  the  name  of  Vedänta,  to  the 
"Piatonic;  the  first  Sänkhya,  to  the  Italic;  and  the  second,  or 
"Pätanjala,  to  the  Stoic  philosophy:  so  that  Gautama  corresponds 
"with  Aristotle;  Kanada,  with  Thaies;  Jaimini,  with  Socrates; 
"Vyäsa,  with  Plato;  Kapila,  with  Pythagoras;  and  Patanjali,  with 
"Zeno.  But  ;ui  accurate  comparison  between  the  Grecian  and 
"Indian  Schools  would  require  a  considerable  volume."  Aus  Hall, 
Pref.  j).  5  Anm. 


—    89    — 

scliiessen  mit  ihrer  Ueberscliätzung  des  orientalisclieri  Ein- 
flusses und  ihren  phantastischen  Combinationen  jedenfalls 
über  das  Ziel  hinaus,  beruhen  auch  auf  einer  völlig  un- 
genügenden Kenntniss  der  orientalischen  Quellen.  Trotz- 
dem scheint  mir  in  diesen  Werken  ein  Kern  Wahrheit 
zu  stecken,  der  aber  schwerlich  je  mit  wissenschaftlicher 
Genauigkeit  herauszulösen  sein  wird.  Die  historische 
Möglichkeit  eines  indischen,  durch  Persien  vermittelten 
Einflusses  auf  die  griechische  Gedankenwelt  und  damit 
einer  Uebertragung  der  eben  erwähnten  Ideen  aus  Indien 
ist  unbedingt  zuzugeben.  Die  Verbindungen  der  klein- 
asiatischen lonier  mit  den  östlicheren  Ländern  waren  in 
den  Zeiten,  um  die  es  sich  hier  handelt,  so  mannigfaltig 
und  zahlreich,  dass  es  an  Gelegenheit  zum  Gedankenaus- 
tausch zwischen  Griechen  und  in  Persien  weilenden  Indern 
nicht  gefehlt  haben  kann ').  Dazu  kommt,  dass  von  den 
meisten  der  hier  in  Betracht  kommenden  griechischen 
Philosophen,  von  Thaies,  Empedokles,  Anaxagoras, 
Demokrit  und  anderen,  ausdrücklich  berichtet  ist,  dass 
sie  —  zum  Theil  lange  —  Reisen  nach  orientalischen 
Ländern  unternommen  hätten,  um  dort  philosophische  Studien 
zu  machen.  Die  Wahrscheinlichkeit,  dass  sich  jene  grie- 
chischen Philosophen  indische  Ideen  auf  persischem  Boden 


')  Ich  freue  mich  iii  ücbcrweg's  Grundriss  der  Geschichte 
der  Philosophie,  bearbeitet  und  herausgegeben  von  Hcinze,  ®  I.  36 
den  folgenden  Satz  zu  finden:  „Weit  eher  könnte  ein  wesentlicher 
„orientalischer  Einfluss  in  der  Form  einer  direkten  Berührung  der 
„älteren  griechischen  Philosophen  mit  orientalischen  Völkern  nii- 
„genommen  werden."  Die  auf  derselben  Seite  ausgesprochene 
Ansicht,  dass  eine  volle  und  gesicherte  Lösung  dieses  Problems 
von  dem  Fortgang  der  orientalischen  Forschungen  gehofft  werden 
darf,  vermag  ich  leider  nicht  zu  theilen,  weil  auch  bei  der  ge- 
nauesten Bekanntschaft  mit  den  orientalischen  Systemen  und 
Religionen  die  von  mir  oben  S.  88  erwähnte  Alternative  bestehen 
bleibt,  und  weil  uns  —  mit  einer  einzigen,  gleich  näher  zu  be- 
sprechenden Ausnahme  —  die  Mittel  zu  einer  scharfen  Umgrenzung 
des  fremden  Einflusses  auf  die  ältere  griechische  Philosophie  fehlen. 


—     90     — 

angeeignet  haben,  wird  siclierlich  durch  diese  Nachrichten 
erhöht.  Jedenfalls  aber  haben  sie  es,  wenn  sie  fi'emde  Ge- 
danken entlehnten,  verstanden  denselben  das  Gepi'äge 
griechischen  Geistes  aufzudrücken. 

Ich  habe  bisher  absichtlich  einen  Namen  bei  Seite 
gelassen,  der  enger  mit  dieser  ganzen  Frage  verknüpft  ist 
als  irgend  einer  der  bisher  genannten.  Während  ich  bei 
den  griechischen  Naturphilosophen,  bei  den  Eleaten  und 
bei  Epikur  nicht  über  die  Annahme  einer  gewissen 
Wahrscheinlichkeit  der  Anlehnung  an  indische  Ideen  hin- 
auskomme, scheint  mir  die  völlige  Abhängigkeit  des  Pytha- 
goras,  dessen  Lelu'en  ja  auch  in  Griechenland  als  etwas 
fremdartiges  empfunden  wurden,  von  indischer  Philosophie 
und  Wissenschaft  gesichert  zu  sein.  Auf  die  Analogien 
zwischen  dem  S  ä  m  k  h  y  a  -  System  und  der  Pythagoreischen 
Philosoijhie  hat  zuerst  Sir  William  Jones,  Works, 
8vo  ed.,  IIl.  236  ')  hingewiesen,  indem  er  an  den  von  dem 
Worte  samkhyä  ,Zahl'  abgeleiteten  Namen  des  indischen 
Systems  und  an  die  fundamentale  Bedeutung  der  Zahl  bei 
P y  t h a g o r a s  anknüpfte.  Dann  hat  Coleb rooke,  Mise. 
Ess.  2 1.  436,  437,  den  Gedanken,  dass  pythagoreische  Lehren 
aus  Indien  stammen  könnten,  mit  grösserer  Entschiedenheit 
ausgesprochen:  "  .  .  .  .  adverting  to  Avhat  has  come  to  us 
"of  the  history  of  Pythagoras,  I  shall  not  hesitate  to 
"acknowledge  an  inclination  to  consider  the  Grecian  to 
"have  been  ....  indebted  to  Indian  instructors."  Diese 
Ansicht  begründet  Coleb  rooke  weiterhin,  a.  a.  0.  441  ff., 
mit  den  folgenden  Worten,  die  mir  beachtensAverth  genug 
erscheinen  um  sie  hier  anzuführen: 

"It  may  be  here  remarked  by  the  way,  that  the  Py- 
"thagoreans,  and  Ocellus  in  particular,  distingaish 
•'as  parts  of  the  world,  the  heaven,  the  earth,  and  the 
"interval  betweeii  them ,  which  they  term  lofty  and 
"aerial  ....  Here  we  have  precisely  the  heaven,  earth, 
"and  (transpicuous)  intermediate  region  of  the  Hindus. 


1)  S.  Colebrooke,  Mise.  Ess.-  I.  241. 


—    91    — 

"Pythagoras,  as  affcer  him  Ocellus,  peoples  tlie 
"'middle  or  aerial  regioii  witli  demons,  as  lieaveii  with 
"gods,  and  the  earth  with  men.  Here  again  they  agree 
"precisely  with  the  Hindus,  who  place  the  gods  above, 
•'man  beneath,  and  spiritual  creatures,  flitting  unseen,  in 
"the  intermediate  region  .... 

"Nobody  needs  to  be  reminded,  that  Pythagoras 
''and  his  successors  held  the  doctrine  of  metempsychosis,  as 
•'the  Hindus  universally  do  the  same  tenet  of  transinigration 
•'of  souls. 

"They  agree  likewise  generally  in  distinguishing  the 
"sensitive,  material  organ  (manas),  from  the  rational  and 
•'conscious  living  soul  (ßväfman) :  x}-vu6g  and  <fQ)ji'  of 
"Pythagoras;  one  perishing  with  the  body,  the  other 
"immortal. 

„Like  the  Hindus,  Pythagoras,  with  other  Greek 
"philosophers,  assigned  a  subtle  etherial  clothing  to  the 
"soul  apart  from  the  corporeal  part,  and  a  grosser  clothing 
•'to  it  when  united  with  body;  the  silhshna  for  Imga) 
'•^sarira  and  sthiila  sarira  of  the  Sänkhyas  and  the 
"rest  ....  I  should  be  disposed  to  conclude  that  the 
"Indians  were  in  this  instance  teachers  rather  than  learners. " 

Wilson  (Quarterly  Oriental  Magazine  IV.  11,  12  und 
Sänkhya  Karikä  p.  XI)  streift  diese  von  Jones  und 
Coleb rooke  hervorgehobenen  Analogien  nur  im  Vorbei- 
gehen. Etwas  eingehender  wird  ein  einzelner  Punkt  be- 
handelt von  Barthelemy  Saint-Hilaire,  der  in  seinem 
Premier  Memoire  sur  le  Sänkhya  S,  512,  513,  521,  522 
die  Seelenwanderungstheorie  bei  Pythagoras  bespricht 
und  mit  Recht  bemerkt,  dass  die  Wahrscheinlichkeit  für 
deren  indische  Herkunft  grösser  ist,  als  für  ihre  egyp- 
tische.  Barthelemy  findet  ferner  Sämkhy a-Ideen  bei 
Plato,  im  Phädon,  Phädrus,  Timaeus  und  in  der 
Republik:  „les  analogies  sont  assez  nombreuses  et  assez 
"profondes  pour  qu'il  soit  impossible  de  les  regarder  comme 
•'accidentelles"  (S.  514).  Er  wei-st  darauf  hin,  dass  die  Be- 
oriffe   'Erlösung:'   und  'Gebundensein'   bei   Plato   und   in 


—     92     — 

tler  S a m k h y a - Philosopliie  übereinstimmen,  insofern  sie 
die  Befreiung  der  Seele  von  der  Materie  und  das  Gefesselt- 
sein der  Seele  an  die  Materie  bezeichnen ,  und  dass  die 
Idee  der  Metempsychose  soAvie  die  der  anfangs-  und  end- 
losen Existenz  der  Seele  beiden  gemeinsam  ist.  Auf  S.  521 
erklärt  Barthelemy  dann,  dass  Plato,  der  grosse  Be- 
wunderer der  pythagoreischen  Schule,  diese  seine  Lehren 
von  Pythagoras  entlehnt  habe;  wenn  man  aber  frage, 
woher  Pythagoras  dieselben  habe,  so  wiesen  uns  die 
Anzeichen  nach  Indien.  In  weit  gründlicherer  und  um- 
fassenderer Art  hat  —  anscheinend  ohne  seine  Vorgänger 
zu  kennen  ^)  —  L.  v.  S  c  h  r  o  e  d  e  r  diese  Frage  behandelt 
in  seiner  Schrift  'Pythagoras  und  die  Inder  (Leipzig  1884), 
die  mir  in  den  Hauptsachen  trotz  Weber 's  gegentheiliger 
Ansicht  -)  durchaus  das  richtige  getroffen  zu  haben  scheint. 
Aus  Schroeder's  Zusammenstellungen  geht  hervor,  dass 
fast  sämmtliche  Pythagoras  zugeschriebenen  Lehren, 
die  philosophisch-religiösen  sowolil  wie  die  mathematischen, 
in  Indien  bereits  im  sechsten  Jahrhundert  vor  Chr.  und 
früher  geläufig  waren.  Da  nun  die  wichtigsten  dieser 
Lehren  bei  Pythagoras  unvermittelt  und  ohne  eine  er- 
klärende Vorgeschichte  auftreten,  während  sie  in  Indien 
aus  dem  geistigen  Leben  jener  Zeiten  heraus  verständlich 
werden,  zieht  Schroeder  mit  Recht  den  Schluss,  dass 
Indien    das  Heimatliland    der   pythogoreischen  Lehren    ist. 


^)  Aus  Lucian  Scherman's  Materialien  zur  Geschichte  der 
Indischen  Visionsliteratur  S.  26  Anm.  1  ersehe  ich,  dass  die  Ver- 
muthung,  Pythagoras  habe  seine  Lehre  von  der  Seelenwanderung 
aus  Indien  herübergenommen,  in  älteren  Werken  noch  öfter 
geäussert  ist.  Scherman  verweist  auf  F.  v.  Schlegel,  Ueber 
die  Sprache  und  Weisheit  der  Indier  p.  1 11  tF.,  C  h  e  z  y  in  S  c  h  1  e  g  e  F  s 
Ind.  Bibliothek  I.  p.  261,  Dubois,  Moeurs,  institutions  et  cere- 
monies  des  peuples  de  l'Inde  II.  p.  312  ff.,  Upham,  The  history 
and  doctrine  of  Buddhism,  popularly  illustrated  p.  27  ff.,  Coli  in 
de  Plancy,  Dictionnaire  Infernal  I.  p.  86. 

■-)  Im  Literarischen  Centralblatt  1884,  S.  1563—65.  Vgl.  auch 
„die  Griechen  in  Indien",  Sitzungsberichte  der  Kgl.  Preassischen 
Akademie  der  Wissenschaften  zu  Berlin,  XXXVII,  S.  923—926. 


—     93     — 

Einzelne  Ueberein Stimmungen  würden  natürlich  keine 
zwingende  Beweiskraft  haben  —  und  deshalb  habe  ich 
auch  nicht  gewagt,  mich  bei  den  andern  vorher  bespro- 
chenen Philosophen  für  ihre  Abhängigkeit  von  Indien  mit 
Bestimmtheit  zu  erklären  — ;  aber  bei  Pythagoras 
wirkt  die  M  a  s  s  e ;  und  um  so  mehr,  als  es  sich  bei  diesen 
Uebereinstimmungen  zum  Theil  um  geringfügige  und 
wunderliche  Dinge  handelt,  bei  denen  man  nicht  gut  an- 
nehmen kann,  dass  sie  unabhängig  an  zwei  verschiedenen 
Orten  aufgetreten  seien.  Ich  muss  hier  auf  die  eingehende 
Arsfumentation  in  Schroeder's  Schrift  verweisen  und 
kann  nur  die  hauptsächlichsten  Punkte  herausheben,  die 
Pythagoras  und  den  alten  Indern  gemeinsam  sind: 
die  Theorie  der  Seelenwanderung,  die  selbst  in  bemerkens- 
werthen  Einzelheiten  hüben  und  drüben  übereinstimmt 
und  von  Pythagoras  nicht  aus  Egypten  entlehnt  sein 
kann  aus  dem  einfachen  Grunde,  Aveü  uns  die  Egyptologie 
lehrt,  dass  trotz  der  bekannten  Herodot- Stelle  die  alten 
Egypter  den  Glauben  an  die  Seelenwanderang  nicht  ge- 
kannt haben;  das  merkwürdige  Verbot  des  Bohnenessens; 
das  TTQoq  i'/hov  tEtoauLÜvov  fii]  bitiyüv;  die  Lehre  von 
den  fünf  Elementen  1);  dann  vor  allen  Dingen  der  in  den 
Culvasütra's-)   entwickelte   sogenannte   pythagoreische 


1)  D.  h.  die  in  der  pythagoreischen  Schule  ebenso  wie  allgemein 
in  Indien  herrschende  Annahme  des  Aethers  als  des  fünften  Elements. 
Sehroeder  sagt  S.  65  Anm.  2:  „Sollte  am  Ende  gar  in  der  .... 
„Stelle  des  Philolaus  [bei  Zeller,  die  Philosophie  der  Griechen 
„I-*  876  Anm.  3J  in  dem  seltsamen  olttas  als  Bezeichnung  des 
„fünften  Elementes,  das  schon  so  viele  Conjekturen,  aber  keine 
„befriedigende  hervorgerufen  hat,  sich  eine  Verstümmelung  der 
„indischen  Bezeichnung  des  Aethers,  d.  i.  dkäca,  erhalten  haben  ?  !"• 
Es  ist  das  eine  Vermuthung,  die  durchaus  nicht  von  der  Hand  zu 
weisen  ist. 

-  W e  b e r ' s  Polemik  gegen  Schroeder's  Schrift  basirt  haupt- 
sächlich auf  einer  ünterschätzung  des  Alters  der  gulvasütra's, 
deren  Messungen  auf  dem  Opferplatze  zu  der  Entdeckung  des  be- 
rühmten Lehrsatzes  geführt  haben.     Die  Qulvasütra's  sind  nicht 


—     94    — 

Lehrsatz;  die  irrationale  Zahl  Y'ö;  ferner  der  ganze  Cha- 
rakter des  von  Pythagoras  gestifteten  religiös-philoso- 
phischen Bundes,  der  den  indischen  Orden  jener  Zeit 
analog  ist,  sowie  die  der  pythagoreischen  Schule  eigene 
mystische  Spekulation,  die  eine  überraschende  Aehnlichkeit 
mit  den  in  der  Brahma  na- Literatur  beliebten  phantas- 
tischen Combinationen  hat. 

Schroeder  führt  noch  ein  paar  weitere  Analogien 
an,  die  von  geringerer  Bedeutung  und  zweifelhafter  Natur 
sind;  und  schliesslich  hat  er  in  folgenden  zwei  Punkten 
ohne  Zweifel  fehlgegriffen.  Er  ist  nämlich  der  Ansicht, 
dass  Pythagoras  in  Indien  selbst  seine  Kenntnisse  er- 
worben habe,  —  ein  Gedanke,  den  die  Geschichte  der 
ältesten  Verkehrs  Verbindungen  einfach  ausschliesst').  Das 
einzige  Land,  in  dem  Pythagoras  seine  indischen  Lehrer 
angetroffen  haben  kann,  ist  Persien,  dem  ich  schon  oben 
die  eventuelle  Vermittelung  indischer  Ideen  an  die  grie- 
chischen Naturphilosophen  und  an  die  Eleaten  glal^bte  zu- 
schreiben zu  müssen.  Der  andere  Punkt,  um  dessentAvillen 
die  Frage  nach  der  Herkunft  der  pythagoreischen  Lehren 
hier  erörtert  werden  musste,  betriffb  den  von  Schroeder 
angenommenen  Zusammenhang  dieser  Lehren  mit  der 
Sämkhya- Philosophie.  Die  Metempsychose  und  die  ftinf 
Elemente  mag  Pythagoras  von  Anhängern  dieses  Systems 
kennen  gelernt  haben;  aber  weitergehende  Beziehungen 
sind  nicht  zu  entdecken.  Schroeder  sucht-)  S.  72—71) 
die  Grundanschauung  der  pythagoreischen  Philosophie, 
'dass  die  Zahl  das  Wesen  aller  Dinge  sei',  mit  einer  älteren 


Anhängsel  zu  den  Qrautasiitra's,  sondern  intogrirende  Bestand- 
theile  der  grossen,  je  von  einem  Verfasser  herrührenden  Ritiuil- 
complexe,  und  das  in  den  Qulvasütra's  gebotene  Material  ist 
natürlich  noch  Aveit  älter  als  die  Lehrbücher  selbst. 

^)  Die  griechische  Tradition,  dass  Pythagoras  Indien  bi'- 
sueht  habe,  ist  erst  in  der  alexandrinischen  Zeit  entstanden;  vgl. 
Lassen,  Indische  Alterthumskunde  III.  .379. 

2)  Wie  vor  ihm  Sir  William  Jones;  s.  oben  S.  90. 


—    95    — 

(von  ihm  fingirten)  Form  der  S am khya- Philosophie  m 
Verbindung  zu  bringen.  Er  sagt  S.  74:  „Mir  scheint  es 
„aus  dem  Namen  sämhhya  deutlich  hervorzugehen,  dass 
„in  diesem  System  die  Zahl  (samhJiyd)  ursprünglich  eine 
„entscheidende,  grundlegende  Bedeutung  hatte,  wenn  auch 
„das  spätere  System,  dessen  bezügliche  Lehrbücher  mehr 
„als  ein  Jahrtausend  jünger  sind  als  die  vorbuddhistische 
„Särnkliya lehre  des  Kapila,  diesen  Charakterzug  voll- 
„ ständig  verloren  und  verwischt  hat. "  Dabei  hat  Schroeder 
übersehen,  dass  die  nur  ein  paar  Jahrhunderte  später  als 
Buddha  anzusetzenden  Upanishad's,  die  voll  von 
Samkhya- Lehren  sind,  an  den  in  Betracht  kommenden 
Stellen  ebenso  wenig  diesen  angeblich  ursprünglichen 
Charakterzug  aufweisen,  sondern  mit  dem  von  ihm  als  das 
,spätere'  bezeichneten  System  übereinstimmen.  Schroeder 
selbst  nennt  seine  Combination  eine  sehr  kühne,  aber  in 
der  That  ist  sie  vollständig  grundlos;  denn  wir  besitzen 
nicht  den  entferntesten  Anhaltspunkt  für  die  Annahme, 
dass  es  einmal  ein  anderes  Samkhya -System  als  das  in 
unsern  Quellen  vorliegende  und  nach  der  sonderbaren  in 
ihm  herrschenden  Aufzähluugssucht  benannte  gegeben  hat. 
Im  Gegentheil,  triftige  Gründe  sprechen  dagegen,  dass 
unser  System  im  Laufe  der  Zeit  nennenswerthe  Abände- 
rungen erfahren  habe.  So  abgerundet  und  bis  in  alle 
Einzelheiten  logisch  zusammenhängend,  wie  uns  die  Sam- 
khya- Lehre  entgegentritt,  kann  sie  nur  in  einem  Kopfe 
entstanden  sein;  und  das  ganze  System  fällt  zusammen, 
sobald  wir  uns  ein  wichtigeres  Glied  desselben  anders  oder 
fehlend  denken.  —  Wenn  man  die  pythagoreische  Zahl- 
Philosophie  in  einen  historischen  Zusammenhang  mit  dem 
Samkhya-  System  bringen  will,  so  könnte  man  höchstens 
auf  folgenden  Gedanken  kommen.  Die  Lehre  des  P  y  t  h  a- 
goras,  dass  die  Zalil  das  Wesen  der  Dinge  sei,  dass  man 
die  Elemente  der  Zahlen  als  die  Elemente  alles  Seienden 
zu  betrachten  habe  und  dass  die  ganze  Welt  Harmonie 
und  Zahl  sei,  steht 'in  der  Geschichte  des  menschlichen 
Denkens   vereinzelt   da   und   dürfte    ein    unphilosophischei- 


-     96     - 

Gedanke  sein,  wenn  etwas  anderes  in  ihm  liegen  sollte, 
als  dass  alles  existirende  von  dem  mathematischen  Gesetz 
heheiTscht  wird.  Es  erscheint  mir  deshalb  nicht  «"anz 
unmöglich,  dass  dieser  Gedanke  aus  einem  Missverständniss 
des  Pythagoras  entstanden  ist,  der  die  Worte  seines 
indischen  Lehrers,  die  Sämkhya- Philosophie  trage  ihren 
Namen  nach  der  Aufzählung  der  materiellen  Principien, 
irrthümlich  so  aufgefasst  haben  kann,  dass  in  der  Säm- 
khya -  Philosophie  die  Zahl  für  das  Wesen  der  materiellen 
Principien  gelte.  Doch  ist  dies  natürlich  nichts  weiter 
als  eine  Vermuthung. 

Lassen  bestreitet  in  seiner  Indischen  Alterthums- 
kunde  jeden  indischen  Einfluss  auf  die  griechische  Philo- 
sophie in  vorchristlicher  Zeit,  nimmt  dagegen  111.  379  ff. 
einen  solchen  für  die  christliche  Gnosis  und  den  N  e  u  - 
p  1  a  t  o  n  i  s  m  US  an.  Da  uns  aus  dieser  Zeit  rege  Beziehungen 
zwischen  Alexan  dria  und  Lidien  zur  Genüge  beglaubigt 
sind,  so  ist  allerdings  an  dem  indischen  Einfluss  auf  die 
Lehren  der  Gnostiker  und  Neupiatoni ker  nicht  zu 
zweifeln.  Verweilen  wir  zunächst  bei  den  Gnostikern. 
Lassen  ist  der  Meinung,  dass  die  indischen  Elemente  in 
den  Systemen  derselben  aus  dem  Buddhismus  stammen, 
der  (in  seiner  damahgen,  unursprünglichen  Form)  einen 
unbestreitbaren  Einfluss  auf  das  geistige  Leben  AI  ex  an - 
dria's  ausgeübt  hat.  Am  deutlichsten  erscheint  dieser 
Einfluss  bei  den  Vorstellungen  der  Gnostiker  von  den 
zahlreichen  Geisterwelten  und  Himaneln,  die  aus  der  Kos- 
mogonie  des  späteren  Buddhismus  abgeleitet  sind.  Aber  ich 
glaube  nicht,  dass  bei  der  Ausbildung  der  gnostischen 
Systeme  der  Buddhismus  in  dem  Umfange  betheiligt  ge- 
wesen ist,  wie  Lassen  annimmt;  denn  meines  Erachtens 
kommt  bei  L  a s  s  e  n  die  S  am  k h  y  a-Philosophie  nicht  ganz 
zu  ihrem  Rechte.  Wenn  Avir  uns  gegenwärtig  halten,  dass 
die  Jahrhunderte,  in  denen  der  Gnosticismus  sich  entwickelte, 
—  d.  h.  das  zweite  und  dritte  Jhdt.  n.  Chr.  —  zusammen- 
fallen mit  der  Blüthezeit  des  Sämkhya-  Systems  in  Indien, 
so  Averden  uns  manche  Dinge  in  anderem  Lichte  erscheinen. 


—     97    — 

als  sie  Lassen  erschienen  sind  ').  Lassen  bringt  S.  385 
den  bei  den  Gnostikern  erscheinenden  Gegensatz  zwischen 
Geist  und  Materie  in  Zusammenhang  mit  buddhistischen 
Lehren,  während  es  doch  viel  näher  läge  hier  an  die  An- 
schauung zu  denken,  die  das  Fundament  der  Sämkhya- 
Philosophie  bildet.  Ein  anderer  Punkt,  der  hierher  gehört, 
betrifft  die  bei  den  meisten  Gnostikern  sich  findende  Iden- 
tificirung  von  Geist  und  Licht  -).  Hierüber  bemerkt  Lassen 
S.  385  folgendes:  „Es  unterscheidet  zwar  im  Allgemeinen 
,,die  buddhistische  Religionsphilosophie  scharf  Geist  und 
, Licht  und  betrachtet  das  letztere  nicht  als  immateriell; 
,es   findet   sich  jedoch   auch  bei  ihnen   eine  Ansicht  vom 

Licht,  welche  der  gnostischen  verwandt  ist.  Das  Licht  ist 
,nach  ihr  das  Vehikel  der  Erscheinungen  in  der  Materie; 
,  die  von  Licht  umhüllte  Intelligenz  kommt  mit  der  Materie 
,in  Verbindung,  in  welcher  der  Lichtstoff  sich  vermindern 
,und  ganz  verdunkeln  kann,  wo  dann  die  Intelligenz  zu- 
,  letzt  cranz  in  ßewusstlosigkeit  versinkt.  Von  der  höchsten 
,  Intelligenz  wird  au.sgesagt,  dass  sie  weder  Licht  noch 
, Nichtlicht,  weder  Finsterniss  noch  Nichtfinsterniss  sei, 
.denn  alles  dieses  deutet  auf  Beziehungen  der  Intelligenz 
.zum  Lichte  hin,  welches  zwar  vom  Anfange  an  frei  von 
„diesen  Beziehungen  ist,  jedoch  nachher  die  Intelligenz 
,  einschliesst  und  ihre  Verbindung  mit  der  Materie  vermittelt. 
,Aus  dieser  Stelle  folgt,  dass  der  höchsten  Intelligenz  nach 
,der  buddhistischen  Ansicht  die  Fähigkeit   beigelegt  wird, 

Licht  aus  sich  zu  entwickeln,  so  dass  auch  in  dieser 
,  Hinsicht  eine  Uebereinstimmung  des  Buddhismus  mit  dem 

Gnosticismus  vorliegt." 

1)  Andererseits  kann  ich  nicht  in  der  Lehre  der  Valentinianer 
von  der  Entstehung  der  Materie  die  von  Lassen  'S.  400,  401  ge- 
fundenen Aehnlichkeiten  mit  der  Sämkhya- Philosophie  entdecken; 
auch  die  auf  den  folgenden  Seiten  zusammengestellten  Ueberein- 
stimmungen  unseres  Systems  mit  dem  der  Ophiten  erscheinen 
mir  sehr  zweifelhaft. 

■-)  Schon  Aristoteles  hat  übrigens  den  Geist  mit  dem  Licht 
verglichen. 

Garbe,  Sämkhya-Philosophie.  7 


—     98    — 

Hier  hat  Lassen  entlegene  und  ganz  vereinzelte 
Spekulationen  aus  dem  wirren  Vorstellungskreis  des  späteren 
Buddhismus  herangezogen,  um  den  buddhistischen  Einfluss 
auf  die  eben  angeführte  Lehre  der  Gnostiker  von  der 
Identität  des  Geistes  und  des  Lichtes  glaubhaft  zu  machen. 
Gelungen  scheint  mir  dieser  Versuch  nicht  zu  sein.  Wie 
unendlich  viel  einfacher  und  natürlicher  erscheint  die  Com- 
bination,  die  sich  uns  hier  bei  einem  Blick  auf  die  Säm- 
k  h  y  a  -  Philosophie  darbietet!  Denn  diese  lehrt  —  was 
Lassen  jedenfalls  nicht  bekannt  war  — ,  dass  derGeist 
Licht  (prakaQa)  s  e  i  ^) ,  womit  gemeint  ist ,  dass  er  die 
mechanischen  Vorgänge  der  inneren  Organe  erleuchtet, 
d.  h.  zum  Bewusstsein  bringt.  Diese  Vorstellung  der  S  ä  m  - 
khya's,  dass  Denken  und  Licht  dasselbe  seien  —  mit 
anderen  Worten :  dass  der  Geist  aus  Licht  bestehe  — ,  haben 
wir  zweifellos  als  die  Quelle  der  gleichen  Anschauung  bei 
den  Gnostikern  anzusehn. 

In  einer  andern  Hinsicht  hat  Lassen  (S.  384,  398  ff.) 
den  Einfluss  des  S  ä  m  k  h  y  a  -  Systems  auf  den  Gnosticismus 
richtig  betont.  Schon  Ferd.  Chr.  Baur  (die  christliche 
Gnosis  S.  54,  158  ff.)  hatte  die  merkwürdige  Ueberein- 
stimmung  der  mehreren  Gnostikern  eigenthümlichen  Ein- 
theilung  der  Menschen  in  die  drei  Klassen  der  nvevfiartxoi, 
\pv)(^LXoi  und  vhxoi  mit  der  S am khya- Lehre  von  den 
drei  G  u  n  a '  s  bemerkt.  Ueber  diese  Theorie  wird  eingehend 
im  dritten  Abschnitt  (L  3)  gehandelt  werden ;  hier  sei  nur 


^)  Vgl.  Sämkhyasutra  I.  145:  ^[Der  Geist]  ist  Licht,  weil  die 
„Begriffe  des  ungeistigen  und  des  Lichtes  sich  ausschliessen"  und 
VL  50 :  „das  aus  Denken  bestehende ,  von  dem  unbeseelten  ver- 
„schiedene  erleuchtet  das  unbeseelte".  Vijriänabhikshu  bemerkt 
zu  der  ersten  Stelle :  „Der  Geist  ist  seinem  Wesen  nach  Licht  wie 
„die  Sonne  und  die  anderen  Gestirne",  und  zu  der  zweiten  mit 
einem  Mangel  an  Consequenz:  „An  dem  Geiste  haftet  das  Licht 
,, nicht  als  Eigenschaft ,  wie  an  der  Sonne  u.  s.  w. ,  sondern  [der 
„Geist  ist]  ein  aus  [Licht  =  ]  Denken  bestehendes,  d.  h.  seinem 
„Wesen  nach  Denken  seiendes  Ding,  [und]  erleuchtet  [als  solches] 
„das  unbeseelte." 


—    99     — 

so  viel  bemerkt,  dass  die  S  ä  m  k  h  y  a  -  Philosophie  die  Indi- 
viduen als  in  die  Sphäre  einer  dieser  drei  Potenzen  gehörig 
betrachtet,  je  nachdem  in  ihnen  das  lichthaft-friedlich-freudige 
oder  das  leidenschaftlich-thätig-schmerzhafte  oder  das  dunkel- 
unbeweglich-stumpfe Element  überwiegt. 

Noch  eine  weitere  interessante  Parallele  finde  ich  bei 
F.  E.  Hall,  'a  rational  reftitation  of  the  Hindu  philoso- 
phical  Systems,  by  NehemiahNilakaiitha,  translated 
etc.'  S.  84  erwähnt.  Hall  weist  nämlich  darauf  hin,  dass 
die  S  ä  m  k  h  y  a  -  Doktrin  von  der  Selbständigkeit  der  Buddhi, 
des  Ahamkära  und  des  Manas,  d.  h.  der  Substrate  der 
psychischen  Vorgänge,  ein  Analogon  in  der  Lehre  der 
Crnostiker  habe,  der  zufolge  dem  Intellekt,  dem  Willen  u.  s.  w. 
persönliche  Existenz  zukomme.  Ich  bin  überzeugt,  dass 
bei  einem  eingehenden  Studium  der  gnostischen  Systeme 
Kenner  der  Sänikhya- Philosophie  noch  mehrere  derartige 
Berührungspunkte  auffinden  würden. 

Was  nun  den  Neuplatonismus  betrifft,  so  hat 
.schon  Lassen  S.  417  ff.  den  Einfluss  der  Sämkhya- 
Philosophie  auf  denselben  in  vollem  Umfange  gewürdigt. 
Die  Anschauungen  PI  o  t  i  n '  s ,  (204—269),  des  bedeutendsten 
Neupiaton  ikers,  decken  sich  zum  Theil  vollständig  mit 
Sämkhya- Lehren.  Hierher  gehören  die  Sätze,  dass  die 
Seele  von  Leiden  und  Alterationen  frei  sei,  dass  sie  von 
allem  derartigen  nicht  berührt  werde,  dass  vielmehr  das 
Leiden  der  Welt  der  Materie  angehöre.  TJeberraschend  ist, 
dass  PI  ot  in  nicht  nur,  wie  die  Sämkhya -Philosophie,  die 
Seele  dem  Lichte  gleicksetzt,  sondern  auch  bei  der  Er- 
klärung der  bewussten  Erkenntniss  das  andere  in  den 
Sämkhya- Schriften  ebenso  übliche  Gleichniss  von  dem 
Spiegel  gebraucht,  in  dem  die  Bilder  der  Objekte  erscheinen  ^). 
Plotin  verspricht,  durch  seine  Philosophie  die  Menschen 


1)  S.  Georg  Biedenkapp 's  Doktordissertation  „Beiträge  zu 
den  Problemen  des  Selbstbewusstseins,  der  Willensfreiheit  und  der 
Geselzmässigkeit  des  Geistes,  teilweise  mit  Bezug  auf  die  Philo- 
sophie der  Inder"  (Halle  a/S.  1893)  S.  15,  16. 

7* 


-    100    — 

von  ilirem  Elend  zu  befreien,  und  stellt  damit  dasselbe 
Ziel  in  Aussicht  wie  das  Sämkhya- System,  das  den 
Menschen  zur  unterscheidenden  Erkenntniss  und  damit  zur 
Erlösung,  d.  h.  zur  absoluten  Schmerzlosigkeit  führen  will. 
Zwar  haben  sich  alle  brahmanischen  Systeme  die  Aufgabe 
gestellt,  den  Menschen  durch  Erweckung  einer  bestimmten 
Erkenntniss  von  den  Leiden  weltlichen  Daseins  zu  erlösen ; 
aber  in  keinem  ist  der  Grundsatz,  dass  dieses  Leben  ein 
Leben  der  Schmerzen  sei,  nur  annähernd  so  sehr  betont, 
wie  im  Sämkhya -System;  in  keinem  andern  ist  der 
Begriff  Erlösung  mit  gleicher  Entschiedenheit  als  „das 
absolute  Aufhören  des  Schmerzes"  definirt. 

Den  Ausspruch  Plotin's,  dass  der  Mensch  auch  im 
Schlafe  glücklich  sein  könne,  weil  die  Seele  nicht  schlafe, 
bringt  Lassen  S.  428  mit  einer  vedantistischen  Anschauung 
in  Zusammenhang.  Aber  es  liegt  dazu  keine  Nöthigung 
vor;  denn  die  Lehre,  dass  der  tiefe,  traumlose  Schlaf  mit 
(der  Versenkung  und)  der  Erlösung  insofern  gleichartig 
sei,  als  die  Seele  in  allen  drei  Zuständen  in  ihrem  eignen 
Wesen  ruhe,  da  dann  die  Affektionen  des  inneren  Organs 
und  mithin  die  Schmerzen  geschwunden  seien,  gehört 
ebenso  dem  Sämkhya- System  an  ^) ;  wir  werden  also  in 
Anbetracht  der  in  so  vielen  Punkten  sich  zeigenden  Ab- 
hängigkeit Plotin's  von  der  S  ä  m  k  h  y  a  -  Philosophie  kein 
Bedenken  zu  tragen  brauchen,  auch  diesen  Gedanken  aus 
der  gleichen  Quelle  abzuleiten.  Freilich  haben  wir  uns 
bei  so  zahlreichen  Uebereinstimmungen  doppelt  zu  hüten, 
dass  wir  die  Grenzen  dieser  Abhängigkeit  nicht  zu  weit 
stecken,  und  ich  glaube  deshalb  bemerken  zu  müssen,  dass 
die  von  Lassen  S.  418  ff.  zwischen  der  Emanationslehre 
Plotin's  und  der  Entwickelungstheorie  des  Sämkhya- 
Systems  gezogenen  Parallelen  mir  sehr  bedenklich  und 
kaum  in  den  Kreis  der  hier  behandelten  LTeberein Stimmungen 
gehörig  erscheinen. 


1)  S.  Sämkhyasütra  V.  116. 


—     101     — 

Noch  enger  als  mit  der  reinen  Sämkhya- Lehre  ist 
der  Zusammenhang  von  Plotin's  Philosophie  mit  dem 
im  theistischen  und  asketischen  Sinne  ausgestalteten  Zweige 
des  Sämkhya -Systems,  der  unter  dem  Namen  der  Yoga- 
Philosopliie  sich  eine  selbständige  Stellung  in  der  Reihe 
der  brahmanischen  Systeme  errungen  hat.  Plotin's  Moral 
ist  durchaus  asketischer  Natur,  und  wenn  auch  dieser  Zug 
durch  Anlehnung  an  den  Stoicismus  erklärt  werden  könnte, 
so  ist  er  doch  wolil  wegen  des  Zusammenhangs  mit  den 
folgenden  Punkten  direkt  auf  den  Einfluss  des  Yoga- 
Systems  zurückzuführen.  Plotin  erklärt  alle  weltlichen 
Dinge  für  nichtig  und  werthlos  und  verlangt  deshalb,  dass 
man  sich  dem  Einfluss  der  Sinnenwelt  entziehe.  Wenn 
man  alle  äusseren  Eindrücke  von  sich  fernhält  und  die 
auf  diesen  beruhende  Mannigfaltigkeit  der  Ideen  durch 
Concentration  des  Denkens  überwindet,  so  tritt  nach  ihm 
die  höchste  Erkenntniss  in  der  Form  eines  plötzlichen 
ekstatischen  Erschauens  Gottes  ein.  Zwischen  dieser  Theorie 
und  den  Lehren  der  Y  o  g  a  -  Philosophie  besteht  nicht  die 
geringste  Verschiedenheit;  die  'ixaraOLg  oder  änlojöig  (das 
Einswerden  mit  dem  Göttlichen)  bei  Plotin  ist  die  pra- 
tiblid  oder  das  pi-ätibliam  jnänam  des  Yoga- Systems  (die 
durch  methodische  Uebung  der  asketischen  Yoga-PraxLs 
plötzlich  erreichte  unmittelbare,  universelle  Erkenntniss  der 
Wahi-heit) '). 

Neben  Plotin  kommt  hier  für  uns  hauptsäcliHch 
dessen  bedeutendster  Schüler  Porphyr  ins  (232  —  304)  in 
Betracht  -),  der  sich  in  noch  höherem  Grade  als  sein  Lehrer 
an  die  S  ä  m  k  h  y  a  -  Philosophie  angeschlossen  hat.  Bei 
Porphyr  ins  ist  uns  der  indische  Einfluss  auch  äusserlich 
dadurch  beglaubigt,  dass  er  die  Schrift  des  Bardesanes 
benutzt  und  aus  dieser  eine  wichtige  SteUe  über  die  Brah- 
manen  herausgeschrieben  hat.  Bardesanes  aber  hatte 
authentische   Nachrichten    über  Indien    von  den  indischen 


1)  S.  Yogasütra  III.  33. 

2)  Vgl.  Lassen  S.  430  ff. 


—     102     — 

Gesandten,  die  an  deTi  Kaiser  Antoninus  Pius  geschickt 
waren,  erhalten.  In  den  Hauptsachen,  auch  in  der  Forderung 
der  Sinnenwelt  zu  entsagen  und  durch  Contemplation  der 
Wahrheit  zuzustreben,  stimmt  Porphyrius  mit  Plotin 
überein;  aber  er  giebt  reiner  als  dieser  die  Sämkhya- 
Lehre  von  dem  Gegensatze,  der  zwischen  dem  Geistigen 
und  Materiellen  besteht,  wieder;  desgleichen  zeigt  sich 
seine  Anlehnung  an  die  S  ä  rn  k  h  y  a  -  Philosopliie  in  den 
Lehren  von  der  Herrschaft  des  Geistigen  über  das  Materielle, 
von  der  Allgegenwart  der  von  der  Materie  befreiten  Seele 
und  von  der  Anfangslosigkeit  der  Welt  ^).  Ebenso  gehört 
hierher  das  Verbot  des  Porphyrius  Thiere  zu  tödten 
und  seine  Verwerfung  der  Opfer.  Lassen  meint  zwar 
S.  432,  dass  Porphyrius  dabei  das  buddhistische  Gesetz 
vor  Augen  gehabt  habe;  aber  es  handelt  sich  hier  um 
Dinge,  die  Buddha  aus  dem  Sämkhya- System  über- 
nommen hat  -) ;  es  liegt  also  kein  Grund  vor,  dieselben  eher 
aus  einer  sekundären  als  aus  der  primären  Quelle  herzuleiten. 
Die  Aehnlichkeiten  mit  indischen  Ideen,  die  Lassen 
dann  noch  S.  434  ff.  bei  dem  späteren  Neuplatoniker 
Abammon  (um  300)  findet,  können  wir  bei  Seite  lassen, 
da  die  jenem  phantastischen  und  abergläubischen  Lehrer 
speciell  angehörigen  Anschauungen  nur  zAveifelhafte  An- 
knüpfungspunkte an  indische  Vorbilder  darbieten.  Von 
Belang  ist  allein  hier  die  Ansicht  Abammon 's,  die 
übrigens  schon  bei  seinen  Vorgängern  angedeutet  erscheint, 
„dass  die  vom  heiligen  Enthusiasmus  erfüllten  Menschen 
Wunderkräffce  erlangen"  '^) ;  denn  hier  liegt  die  Ueberein- 
stimmung  mit  der  in  Indien  allgemein  verbreiteten  Ueber- 
zeugung,  dass  durch  die  vorschriftsmässige  Ausübung  der 
Yoga -Praxis  wunderbare  Kräfte  zu  gewinnen  sind,  auf 
der  Hand.    Die  Yoga-  Philosophie  verheisst  als  die  Frucht 


')  Dieser  letzte  Punkt  ist  von  Lassen  nicht  erwähnt. 
^)  Vgl.  die  Einleitung  zu   meiner  Uebersetzung   der  Sämkhya- 
tattva-kaumudi  S.  524,  526. 
3)  Lassen  S.  438. 


—     103     — 

solcher  Uebung  die  Erlangung  der  Fähigkeit,  sich  unsichtbar, 
unendlich  gi-oss  oder  unendlich  leicht  zu  machen,  andere 
Körper  anzunehmen,  den  Lauf  der  Natur  nach  Belieben 
zu  ändern,  und  sonstiger  übernatürlicher  Kräfte. 

Ich  kann  von  dem  Neuplatonismus  nicht  Abschied 
nehmen,  ohne  eine  sehr  wichtige  Uebereinstimmung  mit 
der  indischen  Gedankenwelt  zu  erwähnen,  die  zwar  nicht 
das  Sämkhya- System  betrifft,  aber  doch  als  ein  be- 
deutungsvolles Glied  in  der  Kette  der  griechischen  Ent- 
lehnungen aus  Indien  unsere  ganze  Beweisführung  nach- 
drücklich stützt.  Weber  hat  in  einem  kleinen  Aufsatz 
„mc  und  löyoq''  Ind.  Stud.  IX.  473—480  —  mit  aUer 
Vorsicht  „ohne  irgend  über  diese  Frage  ein  Urtheil  damit 
abgeben  zu  wollen"  —  die  Yermuthung  ausgesprochen, 
dass  die  indische  Vorstellung  von  der  vdc  (,Stimme',  ,Rede', 
,Wort')  auf  die  im  Neuplatonismus  auftretende  und  von 
da  in  das  J  o  h  a  n  n  e  s  -  Evangelium  übergegangene  Idee 
des  loyoq  von  Einfluss  gewesen  sei.  Weber  geht  von 
dem  Hymnus  Rigveda  X.  125  aus,  in  dem  bereits  die 
V  ä  c  als  eine  thätige  Kraft  auftritt,  und  weist  auf  die  auch 
sonst  im  Veda  vorkommende  Personificirung  der  ,göttlichen 
Väc',  der  Sprache  als  des  Vehikels  der  priesterlichen 
Beredsamkeit  und  Weisheit,  hin.  Er  verfolgt  dann  die 
Entwickelung  dieses  Begriffs  durch  die  Brahma  na- Lite- 
ratur, wo  die  Väc  dem  Xdyog  im  Eingang  des  Johannes- 
Evangeliums  immer  ähnlicher  wird.  Hier  erscheint  nämlich 
in  den  zahlreichen  von  Weber  angeführten  Belegstellen 
die  Väc  als  die  Genossin  Prajäpati's  (des  Schöpfers), 
„im  Verein  mit  welchei*  und  durch  welche  er  seine  Schöpftmg 
vollzieht";  ,.ja  sie  ist  in  letzter  Instanz  als  die  geistigste 
Zeugerin  hie  und  da  geradezu  an  den  Anfang  aller  Dinge 
überhaupt,  sogar  noch  über  den  persönlichen  Träger 
ihrer  selbst,  gestellt." 

Weber  schlies.st  diesen  inhaltsschweren  Artikel  mit 
den  Worten :  „Jedenfalls  nun  lässt  sich  die  kosmogonische 
„Stellung  der  Väc  so,  indem  man  sie  nämlich  als  Höhe- 
„punkt    der    Verherrlichung    priesterKchen    Dichtens    und 


—     104     — 

„Wissens  ansieht,  leicht  und  einfach  begreifen,  während 
„die  gleiche  Stellung  des  Xöyog  ohne  Vorstufen  erscheint, 
„die  uns  das  Entstehen  derselben  erklärlich  machen."  Ich 
halte  diesen  Gedanken  Weber's  für  einen  ausserordentlich 
glücklichen  und  meine,  dass  er  einen  anderen  Namen  als 
den  einer  blossen  ,Vermuthung'  verdient.  Es  sei  mir  aber 
die  Berichtigung  gestattet,  dass  die  Idee  des  Xoyog  nicht 
erst  im  Neuplatonismus  erscheint,  sondern  ihre  eigentliche 
Stelle  in  den  Leliren  P  h  i  1  o '  s  hat,  die  ja  überhaupt  zum 
grossen  Theil  dem  Neuplatonismus  zu  Grunde  liegen. 
Philo  seinerseits  hat  die  Lehre  vom  Logos  von  den 
Stoikern  entlehnt  und  diese  hinwiederum  von  Heraklit, 
bei  dem  der  Xoyog  bereits  das  ewige  Gesetz  des  Weltlaufs 
ist^).  Meine  oben  geäusserte  Vermuthung,  dass  Heraklit 
durch  indische  Ideen  beeinflusst  sei,  findet  also  hier  eine 
erwünschte  Bekräftigung.  Wenn  die  ganze  Combination 
richtig  ist,  so  würde  die  Entlehnung  des  Logos-Begriffs 
aus  Indien  um  mehr  als  ein  halbes  Jahrtausend  früher 
anzusetzen  sein,  als  es  nach  Weber's  Darstelhmg  scheinen 
könnte. 

Unter  den  indischen  Lehren,  die  wir  glaubten  in  der 
griechischen  Philosophie  wiederzufinden,  nehmen  die  des 
Sämkhya -Systems  die  erste  Stelle  ein;  sie  waren  auch 
ihrer  Natur  nach  am  ehesten  auf  einen  fi-emden  Boden  zu 
übertragen  und  einem  andern  Gedankenkreis  einzuverleiben, 
lieber  die  Neuplatoniker  reicht  der  Einfluss  des  Sämkhya 
und  überhaupt  der  indischen  Philosophie  auf  die  Philosophie 
des  Abendlandes  nicht  hinaus;  und  auch  die  neueste  Zeit 
lässt  —  wenn  man  von  der  buddhistischen  Färbung  der 
Philosophie  Schopenhauer's  und  von  Hartmann's 
absieht  —  keine  wirkliche  Beeinflussung  von  Seiten  der 
altindischen  Gedankenwelt  erkennen.  Selbst  die  historischen 
Darstellungen  der  gesammten  Philosophie  pflegen  die  in- 
dischen Systeme  unberücksichtigt  zu  lassen.    Dass  dies  mit 


^)  Vgl.  M;ix  Heiiize,  die  Lehre  vom  Logos  in  der  griechischen 
Philosophie,  Oldenburg  1872. 


—     105    — 

Unrecht  geschieht,  bedarf  keines  Beweises  mehr.  Es  findet 
aber  diese  Gleichgiltigkeit  gegen  die  indischen  Systeme 
darin  ihre  Erklärung,  dass  dieselben  in  unserem  Jahrhundert 
erst  in  den  äussersten  Umrissen  in  Europa  bekannt  ge- 
worden sind  und  mit  Ausnalune  der  Vedänta-  Philosophie, 
die  seit  1883  in  Deussen's  trefflicher  Darstellung  zu- 
gänglich gemacht  ist,  noch  keine  eingehende  Bearbeitung 
gefunden  haben. 

Ich  habe  mich  in  diesem  Kapitel  darauf  beschränkt, 
die  historischen  Zusammenhänge  zwischen  den  Säm- 
k  h  y  a  -  Lehren  und  der  griechischen  Philosophie  aufzu- 
suchen und  wahrscheinlich  zu  machen.  Die  Aufgabe,  die 
inneren  Beziehungen  der  ganzen  abendländischen  Philo- 
sophie zu  jenen  Lehren  und  die  zufölligen  Uebereinstim- 
mungen  in  Einzelheiten  festzustellen,  liegt  ausserhalb  des 
Rahmens  dieser  Arbeit '). 


^)  Zwei  Punkte  der  Art  sind  von  John  Davies  in  dem  An- 
hang zu  seiner  Uebersetzung  der  Sämkhyakärikä  behandelt: 
On  the  connection  of  the  Sänkhya  system  with  the  philosophy 
of  Spinoza  p.  139  ff.  und  On  the  connection  of  the  system  of 
Kapila  with  that  of  Schopenhauer  and  von  Hartmann  p. 
143  ff.  Einige  interessante  Parallelen  finden  sich  bei  Gr.  Bieden- 
kapp,  Beiträge  zu  den  Problemen  des  Selbstbewusstseins  u.  s.w.; 
s.  besonders  S.  56,  57  Anm. 


IV.    üeberblick  über  die  anderen  philo- 
sophischen Systeme  Indiens. 

Zu  einem  vollen  Verständniss  und  einer  richtigen 
Würdigung  der  S  ä  m  k  li  y  a  -  Philosophie  ist  ein  Einblick 
in  die  Lehren  der  übrigen  philosophischen  Schulen  Indiens 
unerlässlich ,  zumal  da  die  Sämkhya- Schriften  sich  auf 
Schritt  und  Tritt  mit  den  anderen  Systemen,  sie  mehr  oder 
weniger  bekämpfend  ^) ,  beschäftigen.  Denjenigen  Lesern, 
die  diesen  Studien  ferner  stehen,  glaube  ich  deshalb  eine 
orientirende  Uebersicht,  in  selbstverständlicher  Beschränkung 
auf  die  Hauptsachen,  schuldig  zu  sein. 

Schon  in  den  frühesten  Zeiten  lassen  die  Inder  einen 
eigenthümlichen  Hang  zu  metaphysischer  Spekulation  er- 
kennen. Alte  Lieder  des  Rigveda,  die  im  übrigen  noch 
ganz  in  dem  Boden  des  ausgebildeten  Polytheismus  wurzeln, 
zeigen  bereits  die  Neigung,  mannigfache  Erscheinungen 
als  Einheit  zusammenzufassen  und  dürfen  so  als  die  ersten 
Schritte  auf  dem  Wege  angesehen  werden,  der  das  altindische 
Volk  zum  Pantheismus  fährte.  Auch  monotheistische  Ideen 
begegnen    uns    in   jüngeren  vedischen   Liedern,   sind  aber 


^)  Eine  zusammenfassende  Vertheidigung  des  Sämkhya- Yoga- 
Standpunkts  gegen  die  Lehren  der  anderen  Schulen  bietet  der 
Schluss  von  Bhojaräja's  Commentar  zu  den  Yogasütra's  (heraus- 
gegeben und  ins  Englische  übersetzt  von  Rajendraläla  Mitra, 
Calcutta  1883,  Bibl.  Ind.). 


—     107     — 

nicht  mit  der  Consequenz  entwickelt,  die  erforderlich  ge- 
wesen wäre,  um  die  vielgestaltige  Götterwelt  aus  dem 
Bewusstsein  des  Volkes  zu  verdrängen. 

Die   eigentlich   philosophischen   Lieder,    die   uns    der 
Rigveda  in  geringer   und   der  Atharvaveda  in  nicht 
viel  reicherer  Zahl  bietet,  gehören  zu  den  jüngsten  Erzeug- 
nissen  der   vedischen  Hymnendichtung.     Sie   beschäftigen 
sich    mit    dem    Problem    von    dem    Ursprünge    der   Welt 
und    mit     dem    ewigen,    die    Welt    schaffenden    und    er- 
haltenden  Princip,    freilich   in    dunkler  Redeweise  und  in 
unklarem,    widerspruchsvollem    Gedankengange,     wie    das 
bei   den   frühen   Anfängen   der  Spekulation   kaum   anders 
sein   konnte.      Auch   die    Yajurveden    enthalten    merk- 
würdige,   höchst   phantastische    kosmogonische   Legenden, 
in    denen    der  Weltschöpfer  durch    das   allmächtige   Opfer 
die   Dinge   hervorbringt.      Bemerkens werth    ist,    dass    der 
Ideenkreis   dieser  Theile   des  Veda   mit    dem    der  älteren 
Upanishad's  eng  verwandt,  ja  theü weise  identisch  ist ^j ; 
auch  darin  zeigt  sich  der  Zusammenhang  beider,  dass  uns 
in   diesen   Upanishad's    ebenso   wie   in   den   kosmogo- 
nischen  Hymnen  und   Legenden   des  Veda   die   erörterten 
Gegenstände  noch  völlig  ungeordnet  entgegentreten.    Trotz- 
dem sind  die  vorbuddhistischen  Upanishad's,  zum  Theil 
auch  schon  deren  Vorläufer    (die   im   wesentlichen  rituell- 
theologischen  Brahma na's   und    die   mehr  spekulativen 
Ä  r  an  y  a k  a '  s ) ,  für  unsere  Betrachtungen  von  der  grössten 
Wichtigkeit;    denn   sie   repräsentiren   eine  Zeit  (etAva  vom 
8ten  bis  zum   6ten  Jahrhundert),   in   der   sich   diejenigen 
Ideen  entwickeln,  die  flir  die  ganze  Richtung  des  indischen 
Denkens   in   der  späteren  Zeit  bestimmend  wurden-):  vor 


1)  Vgl.  hierüber  Lucian  Scherman,  Philosophische  Hymnen 
aus  der  Rig-  und  Atharva- Veda-Sanhitä  verglichen  mit  den 
Philosophemen  der  älteren  Upanishads,  Strassburg-London  1887. 

")  Vgl.  A.  E.  Gough,  The  Philosophy  of  the  Upanishads  and 
Ancient  Indian  Metaphysics,  London  1882.  Das  wunderliche  ab- 
fällige Urtheil  über  die  Philosophie  der  Upanishad's  im  All- 
gemeinen,   mit    dem    Gough    sein    im    übrigen    werthvoUes  Buch 


—     108     — 

allen  Dingen  die  Lehre  von  der  Seelenwanderung  und  die 
eng  mit  dieser  zusammenhängende  Theorie  von  der  nach- 
wirkenden Kraft  des  Werkes  (karman)  ').  Die  Ueberzeugung, 
dass  jedes  Individuum  nach  dem  Tode  immer  wieder  einer 
neuen  Existenz  entgegengeht,  in  der  es  die  Früchte  früher 
erworbenen  Verdienstes  geniesst  und  die  Folgen  früher 
begangenen  Unrechts  zu  tragen  hat,  beherrscht  seit  jener 
alten  Zeit  das  indische  Volk  bis  auf  den  heutigen  Tag. 
Der  Gedanke  ist  niemals  Gegenstand  einer  philosophischen 
Beweisführung  gewesen,  sondern  als  etwas  selbstverständ- 
liches betrachtet,  Avoran  —  mit  Ausnahme  der  Cärväka's, 
der  Materialisten  —  keine  philosophische  Schule  und  keine 
religiöse  Sekte  in  Indien  jemals  gezweifelt  hat. 

Das  Hauptthema  der  IJpanishad's,  dessen  Be- 
handlung alle  anderen  Betrachtungen  in  den  Hintergrund 
drängt,  ist  die  Frage  nach  dem  Ewig-Einen,  dem  Atman 
oder  B  rahm  an.  Der  Atman  —  das  Wort  bedeutet 
ursprünglich  den  Athem,  dann  das  Lebensprincip ,  das 
innerste  Selbst,  die  Seele  —  wird  in  einer  Legende  der 
Brhadäranyaka  Upanishad  noch  als  ein  mytho- 
logisches Urwesen  dargestellt,  aus  dem  die  Geschöpfe  stufen- 
weise hervorgehen;  aber  diese  rohen  kosmogonischen  Vor- 
stellungen fallen  bald  von  dem  Begriffe  ab,  und  der  Atman 
wird  das  ,eine  Unvergängliche',  das  ohne  alle  Attribute  und 
Qualitäten  ist,  die  Allseele,  die  Weltseele,  oder  wie  man 
sonst  das  Wort  übersetzen  will.  B  rahm  an  dagegen  be- 
deutete zuerst  das  Gebet,  dann  die  Kraft,  die  dem  Gebete 
und  allem  anderen  heiligen  Werke  innewohnt,  und  schliess- 
lich die  ewige  unendliche  Kraft,  die  der  Grund  alles  Seins 
ist.  Als  das  inhaltsschwere  Wort  in  seiner  Bedeutungs- 
entwicklung dahin  gelangt  war,  wurde  es  völlig  identisch 
mit  Atman;  das  ursprünglich   objektive  Brahman  floss 


eröffnet,  darf  wohl  durch  den  krankhaften  Widerwillen  gegeu  alles 
Indische  erklärt  werden,  den  schwere  aufreibende  Arbeit  so  überaus 
häufig  bei  länger  in  Indien  lebenden  Europäern  erzeugt. 

')  S.  das  nähere  in  dem  zweiten  Abschnitt  dieses  Buches,  II.  1. 


—     109    — 

mit  dem  ursprünglich  subjektiven  Atman  in  den  einen 
höchsten  metaphysischen  Begriff  zusammen.  In  dieser  Identi- 
ficirung  liegt  schon  die  Lehre  von  der  Einheit  des  Subjekts 
und  Objekts  beschlossen.  In  zahlreichen  Gleichnissen  suchen 
die  Upanishad's  das  Wesen  des  Brahman  zu  be- 
schreiben, aber  diese  Betrachtungen  gipfeln  in  dem  Satze, 
dass  das  innerste  Selbst  des  Individuums  eins  ist  mit  jener 
alles  durchdringenden  ürkraft  (tat  tvam  asi  ,das  bist  du'J. 
Dieser  idealistische  Monismus  der  Upanishad's 
forderte  den  Widerspruch  Kapila's  heraus,  der  in  ratio- 
nalistischer Art  nicht  sowohl  das  Einheitliche  als  das  Ver- 
schiedene im  Weltganzen  erblickte.  Kapila  begründete, 
wie  wir  bereits  sahen,  das  älteste  wirkliche  System  Indiens 
in  der  S  ä  m  k  h  y  a  -  Philosophie,  deren  Darstellung  das  vor- 
liegende Werk  gewidmet  ist.  Dieses  System  hat  in  der 
Hauptsache  die  Fundamente  dem  Buddhismus  und  Jin  Is- 
mus geliefert,  zAvei  philosophisch  verbrämten  Religionen, 
die  von  dem  Gedanken  ausgehen,  dass  dieses  Leben  nichts 
ist  als  Leiden,  und  immer  wieder  zu  diesem  Gedanken 
zurückkehren.  Als  die  Ursache  des  Leidens  gilt  ihnen 
das  Verlangen  zu  leben  und  die  Freuden  der  Welt  zu 
geniessen  und  in  letzter  Instanz  ein  ,Nichtwissen',  aus  dem 
dieses  Verlangen  hervorgeht;  das  Mittel  zur  Aufhebung 
dieses  Nichtwissens  und  damit  des  Leidens  ist  die  Er- 
tödtung  jenes  Verlangens,  die  Weltflucht  und  die  schranken- 
loseste Bethätigung  der  praktischen  Liebe  allen  Geschöpfen 
gegenüber.  In  der  Folgezeit  haben  sich  allerdings  Buddhis- 
mus und  .Jinismus  derartig  entwickelt,  dass  einige  ihrer 
Lehren  in  den  S  ä  m  k  h  y  a  -  Schriften  energisch  bekämpft 
wurden  i).     Diese   beiden  pessimistischen   ReKgionen  sind 


^)  Es  handeh  sich  dabei  um  die  Lehre  der  Jaina,  dass  die 
Seele  dieselbe  Ausdehnung  habe  wie  der  Körper  (Anir.  zu  Säm- 
khyasütra  I.  48—50,  vgl.  auch  Bhojaraja  zu  den  Yogasütra's 
S.  115  unten),  —  ein  Gedanke,  der  (wahrscheinlich  im  Anschluss 
an  ^ainkara  zum  Brahmasütra  II.  2.  34)  dadurch  widerlegt  wird, 
dass  alles  begrenzte  vergänglich    sei,    und    dass    dies    um  so  mehr 


—     110    — 

sich  so  ausserordentlich  ähnlich ,  dass  man  lange  Zeit  die 
.1  a  i  n  a  (d.  h.  die  Anhänger  J  i  n  a '  s)  für  eine  buddhistische 
Sekte  halten  konnte,  bis  sich  herausstellte,  dass  die  Be- 
gründer beider  Religionen  Zeitgenossen  waren,  die  wiederum 
nur  als  die  bedeutendsten  der  zalilreichen ,  im  sechsten 
Jahrhundert  vor  Chr.  im  mittleren  Nordindien  das  Cere- 
monial-  und  Kastenwesen  des  Brahmanenthums  bekämpfen- 
den Lehrer  anzusehen  sind.  Die  eigentliche  Bedeutung 
dieser  Religionen  liegt  in  der  hohen  Entwickelung  der 
Ethik,  die  in  der  schulmässigen  indischen  Philosophie  fast 
unberücksichtigt  geblieben  ist.  Mit  der  letzteren  stimmen 
jedoch  Buddhismus  und  Jinismus  darin  überein,  dass  sie 
ebenso  wie  alle  eigentlichen  Systeme  Indiens  versprechen, 
den  Menschen  von  den  Qualen  des  fortgesetzten  weltlichen 
Daseins  zu  erlösen  und  dass  sie  als  die  Wurzel  des  Welt- 
übels ein  bcvstimmtes  ,Nichtwissen'   zu  ei'kennen    glauben; 


von  der  Seele  gelten  würde,  als  sie  bei  der  Wanderung  durch  ver- 
schiedene Körper  sich  diesen  angleichen,  d.  h.  sich  ausdehnen  und 
zusammenziehcMi  müsste,  was  nur  etwas  aus  Theilen  bestehendes 
thun  kann.  Hauptsächlich  aber  handelt  es  sich  um  folgende  An- 
schauungen des  Buddhismus.  Die  Sämkhya's  wenden  sich 
vor  allen  Dingen  gegen  die  Leugnung  der  Seele  als  eines  in  sich 
geschlossenen.,  beharrenden  Princips  (Sütra  I.  20,  V.  77),  ferner 
gegen  die  Lehre,  dass  allen  Dingen  nur  eine  momentane  Existenz 
zukomme  (Sütra  I.  27  ff.,  34—40),  und  dass  die  Erlösung  die  Ver- 
nichtung des  Selbstes  sei  (Sutra  V.  77,  78,  Vijn.  zu  Sütra  I.  7). 
Auch  die  speciellen  Lehren  der  buddhistischen  Sekten  werden 
bekämpft;  so  die  der  Yogäcära's,  dass  allein  das  Denken 
Realität  besitze  (Sütra  L  42,  43,  79),  und  diederMädhyamika^s, 
dass  nur  das  Nichts  existire  (Sütra  I.  44—47).  Selbst  gegen  bud- 
dhistische Theorien  und  Erklärungen  von  untergeordneter  Be- 
deutung wird  polemisirt:  gegen  die  Leugnung  des  Genus  —  oder 
wie  wir  sagen  würden:  gegen  den  Nominalismus  —  (Sütra  V.  91 
—93),  gegen  die  Leugnung  der  Bewegung  (Sütra  V.  101),  gegen 
die  Erklärung  des  Begriffes  Aehnlichkeit  (Sütra  V.  94,  95)  und 
gegen  die  Definition  der  Wahrnehmung  (Anir.  zu  Sütra  I.  89). 
Aus  allem  dem  geht  hervor,  dass  die  Säinkhya's  der  späteren 
Zeit  in  dem  Buddhismus,  der  doch  im  wesentlichen  aus  ihrem 
System  erwachsen  war,  einen  ihrer  Hauptgegner  erblickten. 


—  111  — 

in  der  philosophisclien  Begründung  ilirer  Sätze  aber  lassen 
sie  Methode  und  Klarheit  des  Denkens  vermissen  i). 

In  welchem  Zusammenhang  das  Yoga-System  Pa- 
tanjali's  mit  der  S am khya- Philosophie  steht  und 
welchen  Charakter  es  trägt,  ist  bereits  oben  S.  40  ff.  erörtert 
worden  -). 

Im  Gegensatz  zu  diesen  beiden  nahe  verwandten 
Systemen,  Sämkhya  und  Yoga,  sind  die  alten  echt 
brahmanischen  Elemente,  das  Ritual  und  die  idealistische 
Spekulation  der  Upanishad's,  in  methodischer  Weise 
ausgebildet  in  den  beiden  folgenden  eng  zusammengehören- 
den Systemen,  deren  Entstehung  wir  etwa  an  den  Anfang 
unserer  Zeitrechnung  verlegen  können''). 

Die  von  Jaimini  begründete  Pürva-  oder  Karma- 
mimämsä  ,die  erste  Untersuchung  oder  die  Untersuchung 
über  den  Werkdienst',  gewöhnlich  kurz  M  i  m  ä  m  s  ä  genannt, 
ist  wohl  nur  wegen  ihrer  Form  und  ihrer  Verbindung  mit 
der  Ve da nta -Lehre    zu    den    philosophischen    Systemen 


1)  Mau  vergleiche  besonders  die  buddhistische  Formel  vom 
Causalnexus  bei  Oldenberg,  Buddha,  zweiter  Abschnitt,  zweites 
Kapitel. 

-)  Wenn  die  Sä m khy  a- Lehrer  sich  gegen  die  Annahme  eines 
persönlichen  Gottes  wenden  (Gaudapäda  zu  Kärikä  61,  Väcas- 
patimi^ra  zu  Kärikä  57,  Sämkhyasütra  I.  92—94,  V.  2—12,  46, 
126,  127,  VI.  64),  so  ist  wohl  vorauszusetzen,  dass  die  Polemik 
ebenso  gegen  die  Anhänger  des  Yoga- Systems,  als  gegen  die  der 
Nyäya-Vaiceshika- Philosophie  gerichtet  ist.  Abgesehen  davon 
aber  controvertiren  die  Sämkhya's  nur  eine  einzige  Yoga-Lehre, 
nämlich  die  Theorie  des  Sphota.  Darunter  ist  in  der  Yoga- 
Philosophie  das  Wortganze  verstanden,  das  von  dem  durch  die 
einzelnen  Buchstaben  gebildeten  Worte  verschieden  gedacht  wird. 
Der  Sphota  ist  einheitlich  und  ewig  und  manifestirt  sich  in  dem 
ausgesprochenen  Worte,  d.  h.  er  ist  —  in  tmserer  Sprache  —  die 
durch  den  Buchstabencomplex  zum  Ausdruck  gebrachte  Vorstellung 
(vgl.  Deussen,  Vedänta  S.  76  ff.).  Dieser  richtige,  aber  in  unklarer 
Weise  formulirte  Gedanke  wird  Sämkhyasütra  V.  57  mit  äusser- 
lichen  Gründen  zurückgewiesen. 

3)  S.  oben  S.  43. 


—     112     — 

gerechnet  worden;  denn  sie  beschäftigt  sich  mit  der  Inter- 
pretation des  Veda,  der  für  sie  ungeschaffen  ist  und  von  Ewig- 
keit her  existirt,  klassificirt  seine  Bestandtheile,  und  handelt 
von  den  Regeln  zur  Vollziehung  der  Ceremonien,  sowie  von 
den  im  einzelnen  für  diese  in  Aussicht  stehenden  Belohnungen. 
Das  letzte  ist  das  hauptsächliche  Thema  dieses  Systems,  in 
dem  die  eigentliche  Schriftgelehrtheit  des  Brahmanenthums 
condensirt  ist  ^).  Bei  den  europäischen  Indologen  hat  die 
M 1  m  ä  m  s  ä  bis  jetzt  wenig  Beachtung  gefunden ;  die  beste 
Beschreibung  ihres  Inhalts  bieten  die  Introductory  Remarks 
in  G.  Thibaut's  Ausgabe  des  Arthasamgraha  (Be- 
nares Sanskrit  Series,  1882). 

Die  Uttara-  oder  Brahma-mimämsä  ,die  zweite 
Untersuchung  oder  die  Untersuchung  über  das  Brahman'  -), 
meist  mit  dem  Namen  Vedänta  bezeichnet,  verhält  sich 


^)  Mit  dem  S am khya- System  stimmt  die  Mimämsä  mir  in- 
sofern überein,  als  sie  keinen  Gott  annimmt;  sonst  sind  alle  charak- 
teristischen Mimämsä- Lehren  denen  unseres  Systems  entgegen- 
gesetzt. Mehrere  derselben  werden  in  den  Sämkhya- Schriften 
bekämpft:  so  die  von  den  Erkenntnissmitteln,  deren  Jaimini  ausser 
den  von  den  S ä in khya's  anerkannten  (Perception,  Schlussfolgerung 
und  autoritative  Ueberlieferung)  noch  die  Analogie,  die  Selbstver- 
ständlichkeit, das  Nichtsein,  das  Enthaltensein  in  etwas  und  die 
Sage  constatirt  (s.  Säipkhya-tattva-kaumudi  zu  Kärikä  5,  Vijn.  zu 
Sütra  I.  88).  Die  Lehre  Jaimini 's  von  der  Ewigkeit  des  Veda 
wird  Sütra  V.  45  widerlegt.  Am  entschiedensten  jedoch  wendet 
sich  unser  System  gegen  den  Satz  der  Mimämsä,  dass  die  Laute 
ewig  seien,  und  gegen  die  darauf  gegründete  Theorie,  dass  die 
Verbindung  von  Wort  und  Bedeutung  nicht  von  menschlicher  Ueber- 
einkunft  abhängig  sei,  sondern  dass  die  Bedeutung  dem  Worte 
(fi'ii^i  innehafte.  (Vgl.  Ballantyne,  Christianity  contrasted  with 
Hindu  Philosophy,  London  1859,  p.  176-195:  'The  eternity  of 
sound,  a  dogma  of  the  Mimänsä')-  L>ie  Polemik  dagegen  findet 
sich  Sütra  V.  58—60,  97,  98.  Auch  wo  die  Säinkhy  a- Schriften 
sich  gegen  das  brahmanische  Ceremonialwesen  wenden  (Kärikä  2 
und  Sütra  I.  82—85),  dürfen  ihre  Ausführungen  als  gegen  die 
Lehren  der  Mi  mä  in  sä  gerichtet  gelten. 

*)  Auch  ^äriraka-mimämsä  ,die  Untersuchung  über  die 
Verkörperung  (des  Brahman)'  genannt. 


—     113    — 

zu  den  älteren  Upanishad's  —  um  einen  Ausdruck 
Deussen's^)  zu  gebrauclien  —  wie  die  christliche  Dog- 
matik  zum  neuen  Testament.  Ihr  Begründer,  Bäda- 
räyana,  hat  die  vorher  besprochenen  Lehren  von  dem 
Brahman-Atman  aufgenommen  und  zu  dem  System 
weiter  entwickelt,  das  bis  auf  den  heutigen  Tag  die  Welt- 
anschauung der  indischen  Denker  bestimmt.  Dieses  System 
hat  eine  vortreffliche  und  erschöpfende  Behandlung  in  dem 
schon  mehrfach  citirten  Werke  Deussen's  gefunden,  das 
einem  Jeden ,  der  sich  für  indische  Philosophie  interessirt, 
auf  das  angelegenthchste  zu  empfehlen  ist  -).  Die  Basis 
des  V  e  d  ä  n  t  a  ist  der  Satz  von  der  Identität  unseres  Selbstes 
mit  dem  B  rahm  an.  Da  nun  das  ewige  unendliche  Brah- 
ma n  nicht  aus  Theilen  bestehen  und  keiner  Veränderung 
unterliegen  kann,  so  ist  unser  Selbst  nicht  ein  Theil  oder 
eine  Emanation  desselben,  sondern  das  ganze  untheilbare 
B  r  a  h  m  a  n.  Ein  anderes  Seiendes  ausser  diesem  giebt  es 
nicht,  und  deshalb  wird  der  Inhalt  des  Vedänta-Systems 
in  dem  Ausdi-uck  advaita-väda  ,Lehre  von  der  Zweitlosig- 
keit'  zusammengefasst.  Der  Widerspruch,  den  die  Erfaln-ung 
und  der  überlieferte  Glaube  an  die  Seelenwanderung  und 
an  die  Vergeltung  gegen  diesen  Satz  erheben,  bedeutet  für 
Bädaräyana  nichts;  die  Erfahrung  und  die  Lehre  von 
der  Vergeltung  werden  erklärt  durch  das  dem  Menschen 
angeborene  Nichtwissen  (avidyä),  das  die  Seele  verliindert, 
sich  von  dem  Leibe  und  den  Organen  zu  unterscheiden 
und  die  empirische  Welt  als  eine  Illusion  (mäyä)  zu  er- 
kennen. Nach  dem  Grunde  und  Ursprung  dieses  Nicht- 
wissens forscht  die  Vedänta- Philosophie  nicht ;  sie  lehrt 
uns   nur,    dass   es   da   ist   und   dass   es  durch  das  Wissen 


1)  System  des  Vedänta  S.  22. 

2)  Wem  es  an  Zeit  gebricht,  das  umfangreiche  Werk  dui-ch- 
zustudiren,  der  sollte  sich  wenigstens  nicht  die  Mühe  verdriessen 
lassen,  die  anhangsweise  hinzugefügte  , Kurze  Uebersicht  der  Ve- 
däntalehre'  S.  487—514,  die  eine  klare  Darstellung  der  Haupt- 
lehren des  Systems  bietet,  zu  lesen. 

Garbe,  Säipkhya-Philosophie.  8 


—     114    — 

(vidyä)  vernichtet  wird,  d.  h.  durch  die  universelle  Er- 
kenntniss,  welche  die  illusorische  Natur  alles  dessen,  was 
nicht  Seele  ist,  und  die  absolute  Identität  der  Seele  mit 
dem  Brahman  erfasst.  Mit  dieser  Erkenntniss  sind  die 
Bedingungen  für  die  Fortsetzung  des  Weltdaseins  der  Seele 
aufgehoben  —  denn  dieses  ist  ja  nur  ein  Schein,  eine 
Täuschung  — ,  und  die  Erlösung  ist  erreicht '). 

In  dieser  Weise  sind  die  Brahmas ütra's,  das  Lehr- 
buch des  Bädaräyaua,  von  dem  berühmten  Exegeten 
Caiiikara  (über  dessen  Zeit  oben  S.  42  Anm.  zu  ver- 
gleichen ist)  ausgelegt  worden,  und  auf  dessen  Commentar-') 
gründet  sich  Deussen's  Darstellung  des  Systems.  Da 
nun  dieses  Lehrbuch  —  ebenso  wie  die  Hauptwerke  der 
anderen  Schulen  —  in  die  Form  an  sich  unverständlicher 
Aphorismen  gekleidet  ist,  können  wir  aus  seinem  Wort- 
laute nicht  nachweisen,  dass  ^amkara  mit  seinen  Er- 
klärungen immer  das  richtige  getroffen  hat;  aber  innere 
Gründe  machen  es  im  höchsten  Grade  wahrscheinlich,  dass 


1)  Es  liegt  auf  der  Hand,  dass  die  Sämkhya- Schriften  die 
Widerlegung  der  Vedänta- Philosophie  sich  ganz  besonders  an- 
gelegen sein  lassen  mussten.  Die  Sänikhyasütra's  Avenden  sich 
wiederholt  (I.  150—154,  V.  61—65,  VI.  46—51)  gegen  die  Lehre 
von  der  Einheit  der  Seele  und  sowohl  dabei,  als  auch  besonders 
I.  20—22,  gegen  die  Anschauung,  dass  diese  einheitliche  Seele  das 
einzig  reale  sei.  Auch  die  Stellen,  an  denen  die  Realität  der 
Materie  direkt  gelehrt  wird  (Sütra  I.  79,  VI.  52),  sind  gegen  das 
Vedanta- System  gerichtet.  Die  Verbindung  der  Seele  mit  dem 
Nichtwissen,  auf  der  nach  dem  Vedä  nta  die  ganze  Empirie  beruht, 
wird  Sutra  V.  13—19,  65  bekämpft;  und  schliesslich  wird  die 
Vedänta- Lehre,  dass  die  erlöste  Seele  (oder  —  was  dasselbe 
ist  —  das  Brahman)  nicht  nur  aus  Sein  und  Denken,  sondern 
auch  aus  Wonne  bestehe,  Sütra  V.  66—68  mit  der  Begründung 
zurückgewiesen,  dass  sich  die  Begriffe  Denken  oder  Geist  und 
Wonne  gegenseitig  ausschliessen.  lieber  diesen  letzten  Punkt  vgl. 
Paul  Markus,  die  Yoga -Philosophie  §  17. 

2)  Jetzt  vollständig  von  Deussen  ins  Deutsche  übersetzt 
(Leipzig  1887)  und  von  G.  Thibaut  ins  Englische  (Sacred  Books 
of  the  East,  Vol.  XXXIV,  Oxford  1890,  Vol.  XXXVIII,  XLVI; 
die  beiden  letzten  Bände  sind  noch  nicht  erschienen. 


—     115     — 

die  Ausführungen  ^amkara's  in  allen  wesentlichen 
Funkten  mit  dem  System  übereinstimmen ,  das  in  den 
Brahmas ütra's  niedergelegt  ist.  Die  spätere  Zeit  hat 
eine  grosse  Reihe  von  anderen  Commentaren  zu  den  Brah- 
mas ütra's  hervorgebracht,  die  zum  Theil  den  religiös- 
philosophischen Standpunkt  bestimmter  Sekten  zum  Aus- 
druck bringen.  Der  bedeutendste  unter  diesen  Commentaren 
ist  der  des  Rämänuja,  aus  der  ersten  Hälfte  des  zwölften 
Jahrhunderts.  Rämänuja  gehörte  einer  der  ältesten 
indischen  Sekten  an,  den  Bhägavata's  oder  Pänca- 
rätra'  s,  die  sich  zu  einem  ursprünglich  unb rahmanischen, 
populären  Monotheismus  bekannten  und  das  Heil  allein  in 
der  Gottesliebe  (bhakti)  erblickten.  Bei  der  Brahmani- 
sirung  dieser  Sekte  ist  ihr  Gott  (Bhagavant,  Väsudeva, 
Purushottama  oderNäräyana  genannt)  mit  Vishnu 
identificii't  worden,  und  seitdem  gelten  die  Bhägavata's 
ftir  eine  vishiiuitische  Sekte.  Ihre  Lehi'e,  welche  christlichen 
Anschauungen  nahe  verwandt,  aber  meines  Erachtens  vom 
Christenthum  nicht  beeinflusst  ist,  tritt  uns  namentlich  in 
der  Bhagavadgitä,  in  den  Cändilyas ütra's,  im 
Bhägavata  Puräna  und  in  den  eigentlichen  Lehr- 
büchern der  Sekte  entgegen,  zu  denen  wir  auch  Rämä- 
nuja's  Commentar  zu  den  Brahmas iitra's  rechnen 
dürfen.  Nach  der  Meinung  der  Bhägavata's  sind  die 
individuellen  Seelen  nicht  mit  der  höchsten  Seele  oder  Gott 
identisch  und  auch  nicht  durch  eine  Art  ,Nichtwissen'  in 
das  Weltdasein  verstrickt,  sondern  durch  den  Unglauben. 
Gläubige  Liebe  zu  Gott  ist  das  Mittel  zur  Erlösung,  das 
heisst:  zur  Vereinigung  mit  dem  Höchsten.  Das  System, 
das  Rämänuja  in  die  Brahmasütra's  hineingetragen 
hat,  findet  man  am  besten  dargestellt  bei  R.  G.  Bhan- 
darkar,  Report  on  the  search  for  Sanski-it  Manuscripts 
during  the  year  1883—84,  Bombay  1887,  p.  68  ff. 

Wie  von  den  bisher  besprochenen  Systemen  je  zwei 
in  enger  Verbindung  stehen,  Sämkhya-Yoga  auf  der 
einen  und  Mimänisä-Vedänta  auf  der  anderen  Seite, 
so    sind    auch    die   beiden   letzten    als   orthodox   geltenden 


—     116    — 

Systeme,  Vai^eshika  und  Nyäya,  in  späterer  Zeit 
geradezu  mit  einander  verschmolzen  worden.  Den  Anlass 
dazu  hat  offenbar  der  Umstand  gegeben,  dass  beide  die 
Entstehung  der  Welt  aus  Atomen  lehren  und  sich  durch 
eine  scharfe  Klassificirung  der  Begriffe  auszeichnen;  doch 
ist  das  Vai9 es hika- System  sicher  von  sehr  viel  höherem 
Alter,  als  das  des  Nyäya.  Gegen  das  erstere  wird  bereits 
in  den  Brahmasütra's  11.  2.  12 — 17  polemisirt,  wo  sich 
zum  Schluss  die  interessante  Bemerkung  findet,  dass  es 
keine  Beachtung  verdiene,  weil  doch  Keiner  es  annehme. 
Diese  Geringschätzung  hat  sich  jedenfalls  im  späteren 
Indien  in  grosse  Beliebtheit  verwandelt. 

Als  Begründer  desVai9eshika- Systems  gilt  Kanada 
(Kanabhuj  oder  Kanabhaksha);  doch  scheint  dieser 
Name,  der  etymologisch  ,Atom-Esser'  bedeutet,  ursprünglich 
ein  auf  den  Charakter  des  Systems  sich  beziehender  Spott- 
name gewesen  zu  sein,  der  den  wirklichen  Namen  des 
Stifters  verdrängt  hat. 

Die  Stärke  des  Systems  beruht  in  der  Aufstellung  der 
Kategorien,  unter  die  sich  nach  K  a  n  ä  d  a '  s  Meinung  alles 
Existirende  subsumiren  lässt:  Substanz,  Qualität,  Bewegung 
(oder  Handlung),  Gemeinsamkeit,  Verschiedenheit  und  In- 
härenz.  Diese  Begriffe  werden  sehr  genau  definirt  und  in 
ihre  Unterabtheüungen  zerlegt.  Von  besonderem  Interesse 
ist  für  uns  die  Kategorie  derlnhärenz  oder  Untrenn- 
bar keit  (samavdya).  Dieses  Verhältniss,  das  streng  von 
der  gelegentlichen,  lösbaren  Verbindung  (samyoga)  ge- 
schieden wird,  besteht  zwischen  einem  Ding  und  seinen 
Eigenschaften,  zwischen  dem  Ganzen  und  seinen  Theüen, 
zwischen  der  Bewegung  und  dem  sich  Bewegenden,  zwischen 
der  Species  und  dem  Genus  ^). 

Spätere  Anhänger   des  Vai9eshika-Systems  haben 
den   sechs   Kategorien   eine   siebente  hinzugefügt,  die  auf 


1)  Vgl.  Max  Müller,  ,Beiträge  zur  Kenntuiss  der  indischen 
Philosophie'  in  der  Zeitschrift  der  Deutschen  Morgenl.  Gesellschaft 
VT.  13,  14,  33,  34. 


—     117     — 

die  Entwickelung  der  logischen  Untersuchungen  einen  ver- 
hängnissvollen  Einfluss  ausgeübt  hat:  die  Nichtexistenz 
(abhäva).  Auch  diese  Kategorie  ist  mit  indischer  Sub- 
tilität  in  Unterarten  eingetheilt,  nämlich  in  die  priore, 
posteriore,  bedingte  und  absolute  Nichtexistenz.  Wir  würden 
in  positiver  Weise  anstatt  ,priore  Nichtexistenz'  zukünftige 
Existenz,  anstatt  ,posteriore  Nichtexistenz'  vergangene 
Existenz  sagen ;  die  ,bedingte'  oder  ,reciproke  Nichtexistenz' 
ist  dasjenige  Verhältniss,  das  zwischen  zwei  nicht-iden- 
tischen Dingen  besteht  (z,  B.  die  Thatsache,  dass  ein  Topf 
nicht  ein  Kleid  ist  und  umgekehrt);  die  ,absolute  Nicht- 
existenz' wird  durch  das  Beispiel  von  der  Unmöglichkeit 
des  Feuers  im  Wasser  erläutert. 

Kanada  hat  sich  nun  aber  keineswegs  darauf  be- 
schränkt ,  die  Kategorien  aufzustehen  und  zu  speciahsiren. 
Bei  ihrer  Erörtemng  bemüht  er  sich,  die  verschiedensten 
Probleme  des  Seins  und  des  Denkens  zu  lösen  und  so  zu 
einer  umfassenden  philosophischen  Weltanschauung  zu  ge- 
langen. Die  Kategorie  Substanz,  unter  vrelchen  Begriff 
nach  ihm  Erde,  Wasser,  Licht,  Luft,  Aether,  Zeit,  Raum, 
Seele  und  Denkorgan  fallen,  giebt  ihm  Gelegenheit,  seine 
Theorie  von  der  Entstehung  der  Welt  aus  Atomen  zu 
entwickeln;  die  Kategorie  Qualität,  zu  der  ausser  den 
Eigenschaften  der  Materie  auch  die  geistigen  Eigenschaften: 
Erkennen,  Freude,  Schmerz,  Wünschen,  Abneigung,  Energie, 
Verdienst,  Schuld  und  Anlage  gerechnet  werden,  führt 
ihn  dazu,  seine  Psychologie  zu  entwickeln  und  seine  Lehre 
von  den  Quellen  der  Erkenntniss  darzustellen. 

Die  psychologische  Seite  dieses  Systems  ist  sehr  merk- 
würdig und  zeigt  gewisse  Analogien  mit  den  entsprechen- 
den Anschauungen  der  S am khya-Philosophie.  Die  Seele 
ist  nach  Kanada  anfangslos,  ewig  und  alldurchdringend, 
also  weder  an  Zeit  noch  Raum  gebunden.  Wenn  nun  die 
Seele  unmittelbar  mit  den  Objekten  der  Erkenntniss  in  Ver- 
bindung träte,  so  würden  ihr  alle  Objekte  gleiclizeitig  zum 
Bewusstsein  kommen.  Dass  dies  nicht  der  Fall  ist,  erklärt 
Kanada  durch  die  Annahme  des  Denkorgans  oder  inneren 


—    118     — 

Sinnes  (manas)  ^  mit  dem  die  Seele  in  der  engsten  Ver- 
bindung steht.  Durch  dieses  Manas  allein  erkennt  die 
Seele,  und  zwar  nimmt  sie  durch  dasselbe  nicht  nur  die 
Aussendinge,  sondern  auch  ihre  eigenen  Qualitäten  wahr. 
Das  Manas  ist  im  Gegensatz  zur  Seele  ein  Atom  und  als 
solches  nur  im  Stande,  ein  einziges  Objekt  in  jedem  ge- 
gebenen Augenblick  zu  erfassen. 

Die  Vai9eshikasütra's  sind  von  Röer  ins  Deutsche 
übersetzt  (in  Bd.  21  und  22  der  Zeitschrift  der  Deutschen 
Morgenl.  Gesellschaft)  und  —  leider  nicht  in  mustergiltiger 
Weise  —  mit  reichlichen  Auszügen  aus  den  Commentaren 
ins  Englische  von  A.  E.  Gougli,  Benares  1873. 

Das  letzte  der  sechs  brahmanischen  Systeme,  die 
N  y  ä  y  a  -  Philosophie  Gotama's,  ist  eine  Weiterbildung 
und  Ergänzung  der  Lehren  K  a  n  ä  d  a '  s.  Seine  eigentliche 
Bedeutung  beruht  in  der  ausserordentlich  eingehenden  und 
scharfsinnigen  Darstellung  der  formalen  Logik,  die  bis  auf 
den  heutigen  Tag  in  Indien  unangetastet  geblieben  ist 
und  allen  philosophischen  Studien  als  Basis  dient.  Die 
Lehre  von  den  Erkenntnissmitteln  (Perception,  Schluss- 
folgerung, Analogie  und  glaubwürdiges  Zeugniss),  den 
Syllogismen,  den  Trugschlüssen  und  dergl.  ist  mit  der 
grössten  Ausführlichkeit  behandelt.  Welches  Gewicht  der 
Logik  im  Nyäya- System  beigemessen  wird,  geht  schon 
aus  dem  ersten  Sütra  von  Gotama's  Lehrbuch  hervor, 
in  dem  16  logische  Begriffe  mit  dem  Bemerken  aufgezählt 
werden,  dass  von  der  richtigen  Erkenntniss  ihrer  Natur 
die  Erreichung  des  höchsten  Heiles  abhänge.  Die  Psycho- 
logie des  Nyäya  stimmt  völlig  mit  der  des  Vai9eshika- 
Systems  überein.  Auch  die  metaphysischen  Grundlagen 
sind  hier  dieselben  wie  dort;  in  beiden  Systemen  gilt  die 
Welt  für  ein  Conglomerat  von  ewigen,  unveränderlichen 
und  ursachlosen  Atomen.  In  späterer  Zeit  sind  beide 
Systeme  zum  Theismus  übergegangen,  wenn  sie  auch  nicht 
dahin  gelangt  sind,  einen  Schöpfer  der  Materie  anzunehmen. 
Ihre  Theologie  ist  erst  in  Udayanäcärya's  Kusumäh- 
j  ali  (gegen  1300  n.  Chr.)  und  in  denjenigen  Werken  ent- 


—    119    — 

wickelt,  welche  die  Nj^äya-  und  Vai9esliika- Lehren 
gemeinsam  behandeln  ^).  Gott  ist  nach  denselben  eine 
bestimmte  Seele  wie  alle  übrigen  individuellen,  gleich  ihm 
ewigen  Seelen ,  nur  mit  dem  Unterschiede ,  dass  ihm  die- 
jenigen Qualitäten  fehlen,  die  das  Wandern  der  anderen 
Seelen,  soweit  sie  noch  nicht  erlöst  sind,  bedingen  oder 
durch  das  Wandern  bedingt  sind  (Verdienst,  Schuld,  Ab- 
neigung, Freude,  Schmerz),  und  dass  er  allein  die  besonderen 
Eigenschaften  der  Allmacht  und  der  Allwissenheit  besitzt, 
durch  die  er  zum  Leiter  und  Ordner  des  Universums 
befähigt  ist  ^). 


1)  Schon  Nilakantha-Hall,  Rational  Refutation  p.  5 — 8, 
bezweifeln,  ob  die  Vai^eshika-  und  Nyäya-sütra's  selbst  die 
Existenz  Gottes  anerkennen.  Da  dieser  Zweifel  vollständig  berechtigt 
ist  (vgl.  darüber  noch  Banerjea's  Dialogues  on  the  Hindu  philo- 
sophy  p.  IX,  141  if.),  so  nehme  ich  keinen  Anstand,  den  ursprüng- 
lichen Atheismus  des  Vaiceshika  und  Nyaya  auf  den  Einfluss 
der  Särnkhya- Philosophie  zurückzuführen.  Obwohl  jene  beiden 
Schulen  in  einem  starken  Gegensatz  zu  unserem  System  stehen, 
verrathen  sie  doch  in  manchen  und  wichtigen  Anschauungen  ihre 
Anlehnung  an  Grundlehren  des  Särnkhya.  Ausser  dem  oben 
erwähnten  Dogma,  das  die  Seelen  für  anfaugslos  und  alldurch- 
dringend erklärt,  nenne  ich  die  bemerkenswerthe  pessimistische 
Färbung  der  Nyaya- VaiQeshika-Literatur,  die  Verwerfung  der 
himmlischen  Glückseligkeit  als  eines  vergänglichen,  zu  neuem 
Elend  führenden  Erfolges,  die  Lehre,  dass  selbst  gute  Werke  ein 
Hiuderuiss  für  die  Erreichung  der  Erlösung  seien,  und  die  An- 
schauung, dass  die  Erlösung  eine  Aufhebung  der  Freude  ebenso 
wie  des  Schmerzes  bedeute.  Belegstellen  für  diese  Anschauungen 
aus  den  Nyäya-  und  Vaiceshika-Schriften  findet  man  bei  Nila- 
kantha-Hall,  Rational  Refutation  p.  15—22.  Hierher  gehört 
auch  wohl  die  Vorliebe  für  die  ziffernmässige  Feststellung  der 
Kategorien  und  die  Lehre,  dass  der  Körper  nicht  aus  den  fünf 
Elementen,  sondern  allein  aus  dem  Element  Erde  bestehe  (s.  unten 
im  dritten  Abschnitt  II.  9). 

■^)  Welche  unbestimmten  Vorstellungen  die  heutigen  Anhänger 
der  Nyäya -Philosophie  mit  dem  Gottesbegriff  verbinden,  ist  aus 
H.  Jacobi's  interessantem  Aufsatz  „die  Gottesidee  in  der  indischen 
Philosophie"  zu  ersehen  (Philosophische  Monatshefte  XIII.  417 
-438). 


—     120    — 

Die  Nyäyasütra's  sind  bis  auf  das  letzte  (fünfte) 
Buch  mit  erklärenden  Auszügen  aus  dem  Commentar  des 
Vi9vanätlia  von  J.  R.  Ballantyne  ins  Englische 
übersetzt  (drei  Theüe,  Allahabad  1850,  1853,  1854)  ')• 


')  Die  meisten  Lebren  der  Nyäya- Vai^eshika-Philosophie 
werden  in  den  Sämkhya- Schriften  bekämpft.  Da  sie  nur  in  Aus- 
nahmefällen von  einander  getrennt  sind,  sollen  sie  auch  hier  ge- 
meinschaftlich erwähnt  werden.  Gegen  die  Aufstellung  der  6, 
resp.  16,  Kategorien  wenden  sich  die  Sämkhyasütra's  I.  25,  V.  85, 
86  mit  der  Bemerkung,  dass  sie  nicht  erschöpfend  sei;  gegen  die 
Lehre,  dass  es  nur  9  Substanzen  gebe,  VI.  38  mit  dem  Hinweis 
auf  die  (von  den  Naiyäyika's  und  Vai^eshika's  nicht  an- 
erkannte) Urmaterie;  gegen  die  Atomistik  und  gegen  die  Zulässig- 
keit  des  Begriffes  Atom  überhaupt  V.  87,  88  (vgl.  auch  Vijnä- 
nabhikshu  zu  I.  62,  der  —  wie  schon  vor  ihm  Qanikara  zum 
Brahmasütra  II.  2.  12  —  den  Einwand  erhebt,  dass  durch  die 
Verbindung  von  Atomen,  die  keine  Ausdehnung  haben,  nie  ein 
ausgedehntes  Aggregat  entstehen  könne).  Die  Säinkhya- Lehre 
von  der  steten  Realität  der  Produkte  (sat-Mrya-väda)  wird  mit 
besonderer  Beziehung  auf  die  entgegengesetzte  Theorie  desNyäya- 
Vaiceshika,  der  zufolge  das  Produkt  vor  der  Entstehung  und 
nach  der  Vernichtung  keine  Realität  besitzt,  in  der  Säinkhya- 
tattva-kaumudi  zu  Kärikä  9  und  in  den  Sütra's  I.  113,  114,  121 
dargestellt.  Wegen  der  Polemik  gegen  die  Annahme  eines  persön- 
lichen Gottes  vgl.  oben  S.  111,  Anm.  2.  Ausserdem  sind  noch  die 
folgenden  Sämkhyasütra's  direkt  gegen  bestimmte  Nyäya-Vai- 
Qeshika- Lehren  gerichtet:  V.  46,  47  gegen  den  Satz,  dass  der 
Veda  von  Gott  verfasst  sei;  V.  55  gegen  die  anyathä-khyäti,  d.  h. 
gegen  die  Vorstellung,  dass  ein  Ding  unter  einer  andern  als  seiner 
eignen'  Form  erscheinen  könne  (vgl.  auch  Vijiiänabhikshu  zu  II. 
33);  V.  71  gegen  die  Lehre,  dass  der  innere  Sinn  (manas)  ein 
Atom  sei,  denn  derselbe  trete  gleichzeitig  mit  mehreren  äusseren 
Sinnen  in  Verbindung  (vgl.  auch  Vijiiänabhikshu  zu  TI  32);  V.  72 
gegen  die  Lehre,  dass  der  innere  Sinn,  Zeit,  Raum,  Aether  und 
die  Atome  von  Erde,  Wasser,  Feuer  und  Luft  ewig  seien;  V.  75 
gegen  die  Erklärung  der  Erlösung  als  der  Aufhebung  besonderer 
Eigenschaften  der  Seele;  V.  84  gegen  den  Satz,  dass  die  Sinne 
aus  den  Elementen  gebildet  seien;  und  V.  99  gegen  die  Be- 
rechtigung des  Begriffes  der  Inhärenz  (samaväija) ,  wofür  nach  der 
Ansicht  der  Sämkhya 's  einfach  ,das  Wesen  (svarCipa)  des  Dinges' 
zu  sagen  ist. 


—     121     — 

Es  ist  bereits  erwähnt  worden,  dass  die  sechs  Systeme 
Mlmämsä,  Vedänta,  Sämkhya,  Yoga,  Vai9e- 
shika  und  Ny  äya  von  dem  Brahmanenthum  als  orthodoxe 
(ästiha)  anerkannt  sind ;  aber  der  Leser  wird  bemerkt  haben, 
dass  diese  Bezeichnung  in  Indien  eine  andere  Bedeutung 
hat  als  bei  uns.  Es  hat  in  jenem  Lande  nicht  nur  zu 
allen  Zeiten  die  absoluteste  Gedankenfreiheit  geherrscht, 
sondern  die  philosophische  Spekulation  hat  sich  auch  — 
selbst  in  ihren  kühnsten  Formen  —  in  einer  Eintracht 
mit  der  Volksreligion  beftinden,  wie  sie  auf  Erden  nicht 
wieder  zwischen  diesen  beiden  feindlichen  Machten  be- 
standen hat.  Nur  ein  Zugeständniss  verlangte  die  Brah- 
manenkaste :  die  Anerkennung  ihrer  Vorrechte  und  der 
Infallibilität  des  Veda.     Wer  sich  dazu  verstand,  galt  als 


Da  die  Psychologie  der  Nyäya-Vai§eshika -Philosophie 
auf  der  Anschauung  beruht ,  dass  die  Seele  als  solche  Qualitäten 
besitze,  so  sind  zweifellos  gegen  diese  Lehre  alle  diejenigen  Stellen 
der  Säinkhya- Schriften  gerichtet,  an  denen  die  Qualitätlosigkeit, 
die  absolute  Unberührtheit  und  Unthätigkeit  der  Seele  constatirt 
und  bewiesen  wird  (Kärikä  19,  20,  Sütra  I.  15,  146,  164,  V.  13, 
VI.  10,  62;  vgl.  auch  die  zahlreichen  Stellen  s.  v.  kartar  in  den 
Indices  zu  meinen  Textausgaben).  Vijiiänabhikshu  polemisirt  oftmals 
in  seinem  Commentar  unter  ausdrücklicher  Bezeichnung  der  Nai- 
yäyika's  und  Vai^eshika^s  als  seiner  Widersacher  dagegen, 
dass  die  Seele  Qualitäten  habe,  dass  sie  unmittelbar  Freude  oder 
Schmerz  empfinde  und  in  irgend  einer  Weise  thätig  sei  (s.  in  dem 
Index  zu  meiner  Ausgabe  des  Sämkhya-pravacaua-bhäshya).  Im 
Zusammenhang  damit  steht  seine  Widerlegung  der  Nyäya- 
Vai^eshika- Lehre  von  dem  Zustandekommen  der  Wahrnehmung 
und  Erkenntniss  (im  Comm.  zu  I.  87,  91,  145—147),  über 
deren  Einzelheiten  ich  auf  meine  Uebersetzung  des  Werkes  ver- 
weisen kann. 

Von  speciellen  Lehren  jener  Schulen  finde  ich  noch  die 
folgenden  beiden  bei  Vijnänabhikshu  bekämpft:  1)  dass  eine  Com- 
bination  mehrerer  Kategorien  (jäti-sämkarija)  unzulässig  sei  (im 
Comm.  zu  I.  109,  II.  32 )  und  2)  dass  die  Leitung  der  Körper- 
bildung von  Seiten  der  Seele  durch  das  adrshta  ,die  nachwirkende 
Kraft  von  Verdienst  und  Schuld'  vermittelt  werde  (Einl.  zu 
VI.  62). 


—     122    — 

orthodox,  und  damit  war  ihm  ein  viel  grösserer  Lehrerfolg 
gesichert,  als  wenn  er  sich  durch  Verweigerung  jener  An- 
erkennung offen  als  Ketzer  (ndstika)  bekannt  hätte.  Die 
von  den  Bralunanen  geforderte  Concession  brauchte,  soweit 
sie  sich  auf  die  Schrift  bezog,  nur  eine  nominelle  zu  sein; 
sie  nöthigte  weder  zu  einer  Uebereinstimmung  mit  den 
Lehren  des  Veda  noch  zu  dem  Bekenntniss  irgend  eines 
Gottesglaubens. 

Neben  den  bisher  in  diesem  Kapitel  erwähnten  brah- 
manischen  und  unbrahmanischen  Systemen  finden  wir  auch 
in  Indien  die  Weltanschauung,  die  ,so  alt  ist  als  die  Philo- 
sophie, aber  nicht  älter'  ') :  den  Materialismus.  Das  Sans- 
kritwort für  Materialismus  ist  lokdyata  (,auf  die  Sinnen- 
welt gerichtet')  und  die  Materialisten  heissen  lohäyatika 
oder  laukäyatika^  werden  aber  gewöhnlich  nach  dem  Namen 
des  Begründers  ihrer  Lehre  Cärväka's  genannt.  Wir 
haben  schon  oben  (S.  19,  20)  ein  paar  Spuren  angetroffen, 
die  dafür  zeugen,  dass  bereits  in  dem  vorbuddhistischen 
Indien  Verkündiger  rein  materialistischer  Lehren  aufgetreten 
sind;  und  es  ist  kein  Zweifel  darüber,  dass  diese  seitdem 
zu  allen  Zeiten  wie  heute  zahlreiche  heimliche  Anhänger 
gehabt  haben.  Wenn  uns  auch  eine  Quelle  (Bhäskarä- 
c ä r y a  zum  Brahmasütra  111.  3.  53)  ^)  das  einstmalige 
Vorhandensein  eines  Lehrbuchs  des  Materialismus,  der 
Siitra's  des  Brhaspati  (des  mythischen  Begründers), 
bezeugt,  so  hat  der  Materialismus  doch  sonst  in  Indien 
keine  literarische  Gestaltung  gefunden.  Wir  sind  somit 
zum  Verständniss  desselben  wesentlich  auf  die  Polemik 
angewiesen,  die  gegen  ihn  in  den  Lehrbüchern  der  anderen 
philosophischen  Schulen  geübt  wird,  und  auf  das  seiner 
Darstellung  gewidmete  erste  Kapitel  des  Sarva-dar9ana- 
samgraha,  eines  im  14ten  Jahrhundert  von  dem  be- 
kannten  Vedänta- Lehrer   Mädhaväcärya    verfassten 


')  Die  ersten  Worte  von  Lange's  Geschichte  des  Materialismus. 
^)  S.  Colebrooke,  Mise.  Ess.'^  I.  429. 


—    123    — 

Compendiums  aller  pliilosopliischen  Systeme  (ins  Englische 
übersetzt  von  Co  well  und  Gough,  London  1882).  Mä- 
dliaväcärya  beginnt  seine  Ausfülirungen  mit  dem  Be- 
dauern darüber,  dass  die  Melirzahl  der  lebenden 
Menschen  dem  von  C  ä  r  v  ä  k  a  vertretenen  Materialismus 
anhänge. 

Ein  anderer  Vedänta- Lehrer,  Sadänanda,  spricht 
in  seinem  Vedäntasära  §  148 — 151  von  vier  mate- 
rialistischen Schulen,  die  sich  von  einander  durch  die  Auf- 
fassung der  Seele  unterscheiden;  nach  der  ersten  sei  die 
Seele  identisch  mit  dem  groben  Leib,  nach  der  zweiten 
mit  den  Sinnen,  nach  der  dritten  mit  dem  Athem  und 
nach  der  vierten  mit  dem  Denkorgan  oder  dem  inneren 
Sinn  (manas).  Eine  principielle  Verschiedenheit  besteht 
zwischen  diesen  vier  Anschauungen  nicht;  denn  die  Sinne, 
der  Athem  und  das  innere  Organ  sind  ja  nur  Attribute 
oder  Theile  des  Körpers.  An  verschiedene  Richtungen 
innerhalb  des  indischen  Materialismus  ist  deshalb  nicht 
zu  denken. 

Die  Cärväka's  lassen  als  Erkenntnissmittel  allein 
die  Perception  gelten  und  verwerfen  die  Schlussfolgerung. 
Als  das  einzig  reale  erkennen  sie  die  vier  Elemente  an, 
d.  h.  die  Materie.  Wenn  durch  die  Verbindung  der  Ele- 
mente der  Körper  gebildet  ist,  so  entsteht  nach  ihrer  Lehre 
der  Geist  ebenso  wie  die  berauschende  Kraft  aus  der 
Mischung  bestimmter  Stoffe.  Mit  der  Vernichtung  des 
Körpers  ist  auch  der  Geist  wieder  vernichtet.  Die  Seele 
ist  also  nichts  anderes  als  der  Körper  mit  dem  Attribute 
der  Intelligenz,  da  eine  vom  Körper  verschiedene  Seele 
durch  Sinneswahrnehmung  nicht  festzustellen  ist.  Natürlich 
werden  auch  alle  anderen  übersinnlichen  Dinge  geleugnet 
und  zum  Theil  mit  Ironie  behandelt.  Die  Hölle  ist  irdischer 
Schmerz,  durch  irdische  Ursachen  hervorgerufen ;  das  höchste 
Wesen  ist  der  König  des  Landes,  dessen  Dasein  durch  die 
Wahrnehmung  der  ganzen  Welt  erwiesen  wird;  die  Er- 
lösung ist  die  Auflösung  des  Körpers.  Die  nachwirkende 
Kraft    des    Verdienstes    und    der    Schuld,    die    nach    dem 


—     124    — 

Glauben  aller  anderen  Schulen  das  Schicksal  eines  Jeden 
bis  in  die  kleinsten  Einzelheiten  hin  bestimmt,  existirt  für 
den  C  ä  r  V  ä  k  a  nicht,  weil  dieser  Begriff  nur  durch  Schluss- 
folgerung gewonnen  wird.  Auf  den  Einwand  eines  ortho- 
doxen Philosophen,  dass  für  den,  der  diesen  allmächtigen 
Faktor  negire,  die  verschiedenartigen  Erscheinungen  dieser 
Welt  keine  Ursache  haben,  erwidert  der  Cärväka,  die 
eigne  Natur  der  Dinge  sei  die  Ursache,  aus  der  die  Er- 
scheinungen hervorgehen. 

Die  praktische  Seite  dieses  Systems  zeigt  uns  den 
rohesten  Eudämonismus ;  denn  Sinnenlust  wird  als  das 
einzig  erstrebenswerthe  Gut  hingestellt.  Der  Einwand, 
dass  sinnliche  Freuden  nicht  das  höchste  Ziel  des  Menschen 
sein  können,  weü  ihnen  stets  ein  gewisses  Maass  von 
Schmerz  beigemischt  sei,  wird  mit  der  Bemerkung  zurück- 
gewiesen, dass  es  Sache  unsrer  Klugheit  ist,  die  Freuden 
so  rein  wie  möglich  zu  geniessen  und  sich  dem  mit  der 
Lust  untrennbar  verbundenen  Schmerz  so  viel  wie  möglich 
zu  entziehen.  Der  Mensch,  der  Fische  wünsche,  nehme 
ihre  Schuppen  und  Gräten ,  und  wer  Reis  haben  wolle, 
die  Halme  mit  in  den  Kauf.  Darum  habe  es  keinen 
Sinn,  aus  Furcht  vor  dem  Schmerz  auf  die  Last  zu 
verzichten,  die  wir  instin ctiv  als  unserer  Natur  zusagend 
empfinden. 

Die  Veden  werden  für  ein  Geschwätz  von  Schelmen 
erklärt,  das  mit  den  drei  Fehlern  der  Unwahrheit,  des 
inneren  Widerspruchs  und  der  nutzlosen  Wiederholung 
behaftet  sei,  und  die  Vertreter  vedischer  Wissenschaft  für 
Betrüger,  deren  Lehren  sich  gegenseitig  aufheben.  Das 
brahmanische  Ritual  ist  für  die  Cärväka's  ein  Schwindel, 
und  die  kostspieligen  und  mühevollen  Opfer  haben  nur 
den  einen  Nutzen,  den  Schlauköpfen,  die  sie  vollziehen, 
den  Lebensunterhalt  zu  verschaffen.  „Wenn  ein  beim 
„Jyotishtoma  geopfertes  Thier  in  den  Himmel  gelangt, 
„warum  sclilachtet  der  Opferer  da  nicht  lieber  seinen 
„eigenen  Vater  ?"  Kein  Wunder,  dass  für  den  rechtgläubigen 


—     125    — 

Inder    die    Lehre    der    Cärväka's    die    schlimmste    aller 
Ketzereien  ist  ^). 

Aasser  den  Systemen,  die  ich  hier  kurz  besprochen  habe, 
nennt  der  vorher  erwähnte  Sarva-dar9ana-samgraha 
noch  sechs  weitere  Schulen,  die  jedoch  in  dieser  Uebersicht 


1)  Wie  die  Lehrbüclier  der  anderen  orthodoxen  Schulen,  suchen 
auch  die  Sämkhya- Schriften  diesen  gefährlichen  Materialismus 
zu  widerlegen.  Die  Lehre,  dass  es  ausser  der  Perception  kein 
anderes  Erkenntnissmittel  gebe,  wird  in  der  Säinkhya-tattva-kau- 
mudi  zu  Kärikä  5  und  in  den  Sutra's  V.  28,  29  entkräftet^  an 
ersterer  Stelle  in  der  folgenden  drastischen  Weise:  „Wenn  der 
„Materialist  erklärt:  ,Die  Schlussfolgerung  ist  kein  Erkcnntniss- 
„mittel",  wie  kann  von  ihm  dann  ein  Mensch  als  unwissend,  im 
,. Zweifel  oder  Irrthum  seiend  erkannt  werden?  Denn  an  einem 
„andern  Menschen  sind  ja  Unwissenheit,   Zweifel  und  Irrthum  un- 

„möglich durch  Sinneswahrnehmung   zu   erkennen 

„Demnach    muss    auch    von    Jenem    die    Unwissenheit  u.  s.  w.    an 
„anderen  Menschen   aus  der  Art   ihres  Vorhabens   oder  aus  ihrer 
„Redeweise    erschlossen,    also    selbst    wider    Willen    die    Schluss- 
„folgerung    als    Erkenntnissmittel    anerkannt    werden."      Auch    die 
Ca rväka- Theorie,   dass  nur  farbige  Objekte  durch  Perception 
erkannt  werden  können,  wird  im  Sütra  V.  89  bekämpft.   Aniruddha 
giebt  dazu   die  Erklärung,    dass  z.  B.    in   den  Worten   „der   Vogel 
ist  hier"  der  Ausdruck    ,hier'    zeige,    dass    auch   der   Raum  wahr- 
genommen werde,   und  verweist   ausserdem  —   ebenso  wie  Vijüä- 
nabhikshu    —    auf   die    angebliche    Wahrnehmung    übersinnlicher 
Gegenstände  durch  den  Yogin,     üb   das   Sütra  V.  80  die   materia- 
listische Lehre,  dass  nur  sinnliche  Freuden  ein  vernünftiges  Lebens- 
ziel seien,  widerlegt  (wie  Vijnä,nabhikshu  und  Mahädeva  meinen), 
wird   durch  die  andersartige    Auslegung    Aniruddha's   zweifelhaft. 
Von  Wichtigkeit   aber  sind   die   Sutra's  III.  20—22,   V.  130  (129 
Vijnänabhikshu),    die    den    hauptsächlichsten    Lehrsatz    der   Cär- 
väka's, dass  der  Geist   nichts   von  dem  Körper  verschiedenes  sei, 
bekämpfen.     Das  bei  den  Materialisten  beliebte  Gleichniss  von  der 
berauschenden  Kraft,  die  nicht  in  den   einzelnen  Stoffen  vorhanden 
sei  und  trotzdem  in  der  Mischung  sich  zeige,  wird  als  unzutreffend 
bezeichnet;    denn    es    stehe    fest,   dass    die    berauschende  Kraft  in 
jedem  der  einzelnen  Stoffe   in  feinem  Zustande   existire ,   und   dass 
sie  in  der  Mischung  nicht  entstehe,   sondern   nur   zur   Erscheinung 
komme.    Das  Erkenntnissvermögen  aber  sei  in  keinem  der  Elemente, 
aus  denen  der  Körper  gebildet  ist,  nachweisbar. 


—     126    — 

wegen  ihrer  untergeordneten  Bedeutung  und  ihres  nicht 
eigentlich  philosophischen  Charakters  übergangen  werden 
können.  Es  handelt  sich  zunächst  um  eine  vishnui- 
tische,  von  Änandatirtha  (oder  Pürnaprajfia)  be- 
gründete Sekte  und  um  vier  9ivitische,  deren  Systeme 
mit  den  Namen  Nakuli9a-Pä9upata,  ^aiva,  Pra- 
tyabhijnä  und  Rase9vara  bezeichnet  sind.  Die  Lehren 
dieser  fünf  Sekten  sind  stark  von  vedantistischen  und 
Sämkhya- Philosophemen  durchsetzt.  Das  sechste  System 
ist  dasjenige  P  ä  n  i  n  i '  s ,  d.  h.  die  grammatische  Wissen- 
schaft, die  in  M  ä  d  h  a  V  a '  s  Compendium  deshalb  unter  die 
Philosophie  gerechnet  wird,  weil  die  indischen  Grammatiker 
sich  zu  dem  in  der  M  i  m  ä  m  s  ä  gelehrten  Dogma  von  der 
Ewigkeit  des  Lautes  ^)  bekannten,  und  weil  sie  die  Theorie 
des  S  p  h  o  t  a ,  d.  h.  des  mitheilbaren  einheitlichen  Faktors, 
der  in  jedem  Worte  als  der  Träger  seiner  Bedeutung 
ruht  -),  in  philosophischer  Weise  entwickelten. 

Ueberblicken  wir  die  grosse  Fülle  der  in  Indien  ge- 
machten Versuche,  die  Räthsel  der  Welt  und  unseres  Daseins 
zu  erklären,  so  lenkt  die  S  ä  m  k  h  y  a  -  Philosophie  vor  allen 
anderen  schon  deshalb  unsere  Blicke  auf  sich,  weil  sie 
allein  ihre  Aufgabe  lediglich  mit  den  Mitteln  des  Ver- 
standes lösen  wUl.  Der  wahrhaft  philosophische  Geist, 
mit  dem  sie  die  Methode  handhabt,  auf  dem  Wege  logischer 
Beweisführung  von  den  bekannten,  uns  durch  die  Erfahrung 
gebotenen  Grössen  zu  unbekannten  aufzusteigen,  um  so 
zu  der  Erkenntniss  der  letzten  Ursachen  zu  gelangen,  ist 
mit  Bewunderung  von  allen  Forschern  anerkannt,  die  sich 
ernstlich  mit  diesem  System  beschäftigt  haben  =^).  Zum 
ersten  Male  in  der  Welt  hat  sich  in  Kapila's  Lehre  die 


1)  Vgl.  oben  S.  112  Anm.  1. 

2)  S.  darüber  S.  111  Anm.  2  und  vgl.  noch  Ballantyne, 
Christianity  coutrasted  witli  Hindu  Philosopby,  p.  189  ff. 

3)  S.  z.  B.  Barth^lemy  Saint-Hilaire,  Premier  Memoire 
sur  le  Sänkhya  p.  488,  und  Röer,  Lecture  on  the  Sänkhya  Philo- 
sophy  p.  5,  12,  20,  24. 


—     127    — 

ganze  Unabhängigkeit  und  Freilieit  des  menschlichen  Geistes, 
das  volle  Vertrauen  auf  die  eigene  Kraft  gezeigt.  Wenn 
auch  von  John  Davies  (Sänkhya  Kärikä,  p.  V)  zu  viel 
behauptet  ist  mit  den  Worten:    "The   System  of  Kapila 

" contains  nearly  all  that  India  has  produced  in  the 

"department  of  pure  philosophy",  so  darf  doch  das  in  den 
folgenden  Abschnitten  dargestellte  System  mehr  als  irgend 
ein  anderes  Erzeugniss  der  fruchtbaren  indischen  Speku- 
lation das  Interesse  derjenigen  Zeitgenossen  beanspruchen, 
deren  Weltanschauung  auf  die  Resultate  der  modernen 
Naturwissenschaft  gegründet  ist. 

Denen  aber,  die  von  einem  monistischen  Standpunkte 
auf  die  dualistische  Weltanschauung  geringschätzig  herab- 
blicken zu  dürfen  meinen,  seien  die  Worte  E.  Röer's  (in 
der  Einleitung  zur  Ausgabe  des  Bhäshäpariccheda,  p.  XVI) 
entgegengehalten:  "Though  a  higher  development  ofphilo- 
"sophy  may  destroy  the  distinctions  between  soul  and 
"matter,  that  is,  may  recognise  matter,  or  what  is  perceived 
"as  matter,  as  the  same  with  the  soul  (as  for  instance, 
"Leibniz  did),  it  is  nevertheless  certain,  that  no  true 
"knowledge  of  the  soul  is  possible,  without  first  drawing 
"a  most  decided  line  of  demarcation  between  the  pheno- 
"mena  of  matter  and  of  the  soul."  Diese  scharfe  Grenz- 
linie zwischen  den  beiden  Gebieten  ist  zum  ersten  Male 
von  Kapila  gezogen  worden. 


1^^ 


Zweiter  Abschnitt. 


Der  Charakter  der  Sämkliya-Philosophie. 


Garbe,  Sämkhya-Philosophie. 


13>I 


I.    All2:emeines. 


1.    Der  Name  smnkhya. 


Das  Wort  sdmhhya  erscheint  erst  in  der  jüngeren 
Upanishad- Literatur  (nach  J a c o  b ' s  Concordance  über- 
haupt nur  je  einmal  in  der  ^vetä9vatara,  Cülikä, 
Garbha  und  Muktikä  Upanishad)  und  dann  häufiger 
im  Mahäbhärata.  Dass  auch  die  grammatische  Büdung 
des  Wortes  uns  in  spätere  Zeiten  weist,  hat  Weber, 
Indische  Studien  II.  184  hervorgehoben,  aber  dabei  betont, 
dass  man  daraus  nicht  etwa  auf  die  späte  Existenz  der 
Spekulationsweise,  die  dieser  Name  bezeichnet,  schliessen 
dürfe.  Wenn  Kapila  und  seine  ältesten  Nachfolger 
ihrem  System  überhaupt  einen  Namen  gegeben  haben,  so 
ist  dieser  verloren  gegangen  und  später  durch  den  uns 
geläufigen  ersetzt  worden. 

Sämhliya  ist  von  sainkliyä  ,Zahl'  abgeleitet  und  be- 
deutet zunächst  ,aufzählend ,  Aufzählung',  dann  aber  ,Unter- 
suchung,  Unterscheidung,  genaues  Abwägen,  Erwägung'. 
Die  gewöhnliche  Annahme  ist  nun,  dass  man  von  der 
zweiten  Bedeutung  ausgehend  dem  System  Kapila's  den 
Namen  Sämkhya   gegeben   habe  i).     Ich  halte  das  nicht 


1)  S.  Colebrooke,  Miscellaneous  Essays^  I.  241 ,  Ballan- 
tyne,  Lecture  on  the  Sänkhya  PhUosophy  p.  52,  Röer,  Lecture 
p.  8,  9,  Barthelemy  St.-Hilaire,  Premier  Memoire  p.  123, 
Hall,  Sänkhya  Sara  Preface  p.  3,  John  Davies,   Sänkhya  Kä- 

rikä  p.  9. 

9* 


—    132     - 

för  richtig.  Zwar  hat  schon  im  Mahäbhärata  das  Wort 
sämhhya  die  übertragene  Bedeutung  ,Unterscheidung  u.  s.  w.' 
angenommen  —  die  im  Petersburger  Wörterbuch  s.  v.  ge- 
sammelten Stellen  genügen,  um  dies  zu  constatiren  — , 
doch  wird  durch  andere  Stellen  klar,  dass  es  sich  dabei 
um  eine  Umdeutung  des  Wortes  handelt,  die  erst  durch 
den  Charakter  des  Sämkhya-  Sj'stem  herbeigeführt  worden 
ist.  Weil  das  Sä  mkhya- System  methodische  Erschliessung 
der  Principien  und  vor  allen  Dingen  scharfe  Unter- 
scheidung von  Geist  und  Materie  lehrte,  ist  im  Laufe  der 
Zeit  dem  Worte  sämkhya  die  Bedeutung  ,methodische  Er- 
schliessung, Unterscheidung'  beigelegt  worden.  Ursprüng- 
lich aber  bedeutete  das  Wort  nichts  anderes  als  .aufzählend'; 
die  Lehre  Kapila's  wurde  wegen  der  Aufzählung  der 
25  Principien,  auf  welche  die  Anhänger  des  Systems  seit 
jeher  grosses  Gewicht  legten,  und  „vielleicht  auch  wegen 
der  absonderlichen  Vorliebe  dafür,  abstrakte  Begriffe  in 
trockene  Zahlen  Verhältnisse  zu  zerlegen"  ^),  die  ,Ä.ufzählungs- 
Philosophie'  genannt  -).  Es  ist  dies  allerdings  eine  Be- 
zeichnung, die  dem  wahren  Wesen  und  Werthe  des  Säm- 
khya-Systems  sehr  wenig  gerecht  wird.  Dadurch  bin 
ich  auf  einen  Gedanken  gekommen,  der  mit  meiner  Be- 
urtheilung  der  ältesten  Geschichte  des  Systems  im  Einklang 
steht.  Wenn  man  bedenkt,  was  für  eine  Rolle  die  ,nick- 
names'  in  der  indischen  Namengebung  spielen  und  wie 
oft  der  spöttische,  verächtliche  Inhalt  dieser  Namen  in 
späterer  Zeit  in  Vergessenheit  geratheu  ist,  so  scheint  mir 
die  Vermuthung  nahe  genug  zu  liegen,  dass  die  Brahmanen 
die  ihnen  feindliche  S  ä  m  k  h  y  a  -  Philosophie  mit  dem 
Spottnamen  der  ,Au£f;älilungslehre'  (sämkhya  neutr.j  und 
deren  Anhänger   al^   die   ,Zahlmenschen'   (sämkhya  masc.^ 


^)  S.  meine  Uebersetzung  der  Sänikhya-tattva-kaumudi  S. 
622,  523. 

2)  S.  Mahäbh.  XII.  11393,  11409—10,  11673,  Cülikä  Upa- 
nishad  14,  Weber,  Indische  Studien  IX,  17  und  Max  Müller, 
Upanishads  translated  II.  p.  XXXV,  XLI. 


—     133    — 

bezeichnet  haben,  und  dass,  als  dann  die  S am khya- Lehre 
von  dem  Brahmanenthum  anerkannt  und  übernommen  wurde, 
der  Käme  bestehen  blieb,  den  man  sich  gewöhnt  hatte  zu 
gebrauchen.  Unter  dieser  Voraussetzung  erklärt  sich  auch 
die  Umdeatung  des  Namens,  von  der  eben  gehandelt  wurde, 
am  natürlichsten. 

Dass  in  der  indischen  Literatur  einige  Male  Sänikhya 
als  nomen  proprium  oder  Beiname  eines  alten  Weisen ') 
sowie  als  einer  der  1000  Namen  Civa's  vorkommt-), 
scheint  keine  greifbaren  Beziehungen  zu  unserem  System 
zu  haben. 

2.    Die  Aufgabe  des  Systems. 

Die  Weltanschauung,  die  in  den  S  ä  m  k  h  y  a  -  Schriften 
zum  Ausdiuck  kommt,  ist  consequenter  Pessimismus.  Alles 
bewusste  Leben  ist  Leiden.  Das  Glück,  von  dem  uns  die 
Erfahrung  zu  zeugen  scheint,  existirt  nicht  in  Wahrheit; 
denn  auch  die  Lust  ist  mit  Schmerzen  durchsetzt  und 
fuhrt  schliesslich  zu  Leid;  darum  wird  auch  sie  „von  den 
unterscheidenden  zu  den  Sclunerzen  gerechnet-^)".  Das 
schlimmste  der  Leiden  aber  ist  die  Nothwendigkeit  der 
Wiederkehr  von  Alter  und  Tod  in  jeder  neuen  Existenz. 
„AUe  lebenden  Wesen  ohne  Unterschied  leiden  den  durch 
„Alter  und  Tod  bewirkten  Schmerz;  allen,  selbst  dem 
„Wurm,  ist  die  Todesfurcht  gemeinsam,  die  sich  in  dem 
„Wunsche  darstellt:  ,Möge  ich  nicht  aufhören  zu  existiren, 
„möge  ich  leben!'  Und  was  Furcht  hervorruft,  ist  Schmerz; 
„deshalb  ist  der  Tod  Schmerz*)." 


1)  S.  Weber,  Ind.  Stud.  II.  292  und  im  Petersburger  Wörter- 
buch s.  V.  1,  b. 

2)  S.  Weber,  Ind.  Stud.  I.  426  Anm. 

3)  S.  Säinkhyasutra  VI.  6—9,  Yogasutra  II.  15  und  meine 
Uebersetzung  der  Sämkhya-tattva-kaumudi  S.  523 ,  524;  vgl.  auch 
Paul  Markus,  die  Yoga-Philosophie  S.  56  ff. 

-*)  S.  T.  Kaumudi  zu  Kärikä  55 ;  vgl.  auch  Sütra  III.  53.  Bei 
Aniruddha  zu  Sütra  III.  3  wird  der  Begriff  der  Seelenwauderung 
(samsarana)  durch  den  der  fortgesetzten  Vernichtung  (näca)  erklärt. 


—     134     — 

Die  beiden  Hauptwerke   der  Sämkliy  a- Schule,   die 
Kärikä    und   die    Siitra's,    bezeichnen    in    den    ersten 
Worten    die    vollständige    Aufhebung    des    Schmerzes    als 
die  Aufgabe  der  Lehre,    die   sie  vortragen.     Dem  wunder- 
lichen Schematismus  des  Systems  entsprechend,  wird  sogleich 
gesagt ,   dass  es  einen  dreifachen  Schmerz  gebe ').     Damit 
ist   nach   der    übereinstimmenden   Erklärung    sämmtlicher 
Commentare   gemeint    1)   der   in   der   eignen    Person   ent- 
stehende (ädhyätmika)^  d.  h.  der  durch  körperliche  Leiden 
und   Beschwerden   des   Gemüths    verursachte,    2)   der   von 
anderen  Wesen    (auch  Pflanzen)   uns  zugefügte  (ädhibhau- 
tika)   und    3)    der   auf  übernatürliche   Einflüsse    zurückge- 
führte  (ädhidaivika).      Bedarf   es    nun   aber    einer   schwer 
verständlichen  philosophischen  Lehre,  um  diese  Schmerzen 
zu  heilen?    Giebt  es  nicht  —  so  fragt  ein  Materialist  — 
mit  leichter  Mühe  zu  beschaffende  Mittel  zu  seiner  Abwehr? 
Medikamente  zur  Stillung  körperlicher  Schmerzen;  schöne 
Frauen,   Getränke,   Speisen,   Kleidung  und  Schmuck   zur 
Heilung  der  Leiden  des  Gemüths ;  Erfahrung  und  Vorsicht 
zum  Schutz  gegen  Schaden,  der  von  aussen  kommt;   und 
selbst  Zaubermittel   gegen   übernatürliche    Einflüsse?    Auf 
diese   Frage   lautet   die  Antwort:    Nein!    denn   alle   diese 
Mittel  wirken   nicht   mit  Sicherheit  und   gewähren  selbst 
im  besten  Falle  nur  zeitweilig  Schutz   und  Erleichterung. 
„Aber  wir  haben   doch   ausser  diesen   weltlichen   Mitteln, 
die   uns   allerdings   keinen    genügenden    Schutz   gegen 
den  Schmerz  bieten,  die  sicheren  und  zuverlässigen,  deren 
Anwendung   die   Religion   uns  lehrt.     Li  der  Schrift  sind 
ja  die  Opfer  vorgeschrieben,  durch  deren  Vollziehung  wir 
uns  nach  dem  Tode  einen  Platz  im  Himmel  sichern  können, 
wo    aller    Schmerz    ein    Ende    hat!"     Der    strenggläubige 
Brahmane,  der  diesen  Einwand  macht,  erhält  darauf  dieselbe 
Antwort   wie   der  Materialist;   von   den   rituellen   Mitteln 


\ 


1)  S.  ausserdem  Tattvasamäsa  Sütra  25  und  Säinkhya-krama- 
dipikä  Nr.  80—83  in  Ballantyne's  Bearbeitung.  Aniruddha  zu 
II.  1  rechnet  sogar  21  Arten  von  Schmerz  heraus. 


—    135     — 

zui-  Abwehr  des  Schmerzes  gilt  das  gleiche  wie  von  den 
weltlichen;  auch  sie  beseitigen  den  Schmerz  nicht  absolut 
und  für  alle  Zeit.  Die  Opfer  sind  unrein,  denn  sie  erfordern 
Blutvergiessen ;  und  das  Tödten  von  Thieren  ist  unter 
allen  Umständen  eine  Schuld,  che  nach  dem  Gesetz  der 
Vergeltung  ihre  Frucht  tragen,  d.  h.  einen  Schmerz  im 
Grefolge  haben  muss.  Selbst  wenn  Jemand  durch  das  Opfer 
in  eine  der  himmlischen  Welten  gelangt  ist ,  so  sieht  er 
mit  Schmerzen,  dass  es  dort  droben  höhere  Stufen  giebt 
als  die  von  ilun  erreichte.  „Und  es  ist  natürlich,  dass  das 
höhere  Glück  eines  andern  dem  weniger  Glücklichen 
Schmerzen  bereitet*)."  Die  Hauptsache  aber  ist,  dass  der 
in  den  Himmel  aufgestiegene  nur  einen  vergänglichen 
Erfolg  erzielt  hat;  denn  auch  die  Götter  und  die  andern 
Bewohner  jener  Welten  unterliegen  noch  der  Metempsy- 
chose  -).  Und  schliesslich  haftet  an  den  Opfern  die  Un- 
gerechtigkeit,  dass  nur  reiche  Leute  die  grossen  Kosten, 
die  ihre  Vollziehung  erfordert,  bestreiten  können;  den 
Armen  ist  dieser  Weg  zur  zeitweiligen  Befreiung  vom 
Schmerz  ebenso  verschlossen  als  die  von  dem  Materialisten 
empfohlene  Anwendung  der  weltlichen  Mittel-^). 


^)  Säinkhya-tattva-kaumridi  zu  Kärikä  2,  S.  540  meiner  Ueber- 
setzung.  Auch  Vijiiänabhikshu  hält  am  Schluss  des  Commentars 
zu  Sutra  IV.  67  die  Möglichkeit  für  ganz  ausgeschlossen,  „dass 
man  Freude  über  das  Glück  eines  andern  empfinden  könne." 

-)  Die  auf  dieser  Erwägung  beruhende  Geringschätzung  der 
himmlischen  Freuden  hat  sich  nicht  nur  dem  Buddhismus,  sondern 
später  auch  in  weitem  Umfange  der  brahmanischen  Literatur  mit- 
getheilt.  Vgl.  darüber  Lucian  Scherman's  Materialien  zur 
Geschichte  der  Indischen  Visionslitteratur  S.  16 — 18. 

3)  S.  Kärikä  2  und  Sütra  I.  82—85,  ID.  52,  53,  IV.  22,  32,  V. 
76,  83 ,  VI.  56  nebst  den  Erklärungen  der  Commentatoren  (auch 
I.  6  und  VI.  58  nach  Vijiiänabhikshu)  und  vgl.  das  Gespräch 
zwischen  Kapila  und  dem  in  eine  Kuh  gefahrenen  Rishi  Syü- 
maracmi  Mbh.  XII,  Adhy.  269—271.  —  Vijn.  zu  IV.  22  und  VI. 
58  macht  der  brahmanischen  Religion  das  Zugestand niss,  dass  die 
definitive  Erlösung  von  den  Bewohnern  der  himmlischen  Welten 
leichter  und  häufiger  erreicht  werde  als  von  denen  der  Erdenwelt, 


—    136    — 

Noch  zwei  weitere  Hoffnungen  auf  Befreiung  vom 
Schmerz  halten  die  Särakhyasütra's  für  nöthig  zu 
zerstreuen.  Nach  V.  82  soll  der  Yogin,  der  durch  die 
Ausübung  der  Yoga -Praxis  in  den  Besitz  der  viel  be- 
sprochenen übernatürlichen  Kräfte  gelangt  ist  und  über 
alle  Naturgesetze  Gewalt  hat,  nicht  wähjien  damit  das  Ziel 
erreicht  zu  haben;  denn  auch  der  Besitz  dieser  Kräfte  ist 
vergänglich,  wie  jeder  andere  Besitz.  Und  wer  da  meint, 
dass  über  kurz  oder  lang  so  wie  so  aller  Schmerz  zu  Ende 
sei,  wenn  die  Schöpfung  sich  zurückbildet  und  in  der  Zeit 
der  Weltauflösung  alles  bewusste  Leben  erlischt,  dem  wird 
III.  54  folgendes  vorgehalten:  auch  auf  die  Perioden  der  Welt- 
auflösung folgen  immer  wieder  neue  Schöpfungen,  und 
„wie  ein  Mann,  der  ins  Wasser  getaucht  ist,  wieder  empor- 
taucht", so  treten  beim  Beginn  der  neuen  Schöpfungs- 
periode die  Wesen  wieder  ihre  qualvolle  Wanderung  durch 
unzählige  Existenzen  an. 

Wer  die  wirkliche  Erlösung  vom  Schmerz  erzielen 
will,  muss  nicht  sowohl  den  Schmerz  beseitigen  (unter- 
drücken ,  verhüllen)  ^) ,  als  sein  Auftreten  für  aUe  Zukunft 
unmöglich  machen.  Da  nun  der  Schmerz  nothwendig  so 
lange  währt,  als  die  Seele  sich  mit  Körpern  und  Organen 
verbindet^),  so  ist  das  Heil  nur  dann  erreicht,  wenn  der 
Wanderung  der  Seele  ein  Ende  gesetzt  ist.  Zu  diesem 
Ziel,  dem  ,absoluten  Aufhören'  (atyanta-nivrtii)  des  Schmerzes, 
ist  allein  die  Philosophie  im  Stande  dem  Menschen  zu 
verhelfen.  Mit  diesem  Gedanken  stimmen  alle  orthodoxen 
Systeme,  ausschliesslich  der  ritualistischen  Mimärusä, 
überein;  nur  wird  in  keinem  andern  das  Elend  des  Welt- 
daseins mit  derselben  Entschiedenheit,  wie  in  der  Säm- 
khya- Philosophie,  betont,  und  das  Verlangen  nach  Er- 
lösung vom  Schmerz  tritt  uns  deshalb  in  der  brahmanischen 
Philosophie  nirgends  so  deutlich  entgegen  wie  hier. 

Eine  weitere  Uebereinstimmung  mit  demVedänta-, 


1)  Vijn.  zu  Sütra  I.  11. 

2)  Kärikä  55. 


—     137     — 

Vai^eshika-  und  N  y  ä  y  a  -  System  ist  die  Ueberzeugung, 
dass  nur  eine  bestimmte  Erkenntniss  die  Kraft  habe, 
den  Menschen  zu  erlösen. 

In  der  V  e  d  ä  n  t  a  -  Philosophie  ist  es  die  Erkenntniss 
der  Identität  der  Seele  mit  dem  B  r  a  h  m  a  n ,  in  den  beiden 
atomistischen  Systemen  die  scharfe  Erfassung  aller  erkenn- 
baren Dinge,  die  im  yai9eshika  in  sechs,  im  Nyäya 
in  sechzehn  Kategorien  zerlegt  sind.  Die  Sämkhya- 
Philosophie  dagegen  erfordert  „die  richtige  Erkenntniss 
des  entfalteten,  des  unentfalteten  und  des  Erkenners"  *), 
d.  h.  die  Erkenntniss  der  absoluten  Verschiedenheit,  die 
zwischen  der  ganzen  materiellen  Welt  und  der  Urmaterie, 
aus  der  sie  hervorgegangen,  einerseits  und  der  Seele,  des 
wahren  Selbstes,  andererseits  besteht^).  „Wenn  in  Folge 
dieser  Unterscheidung  der  Schmerz  bis  auf  den  letzten 
Rest  zu  Ende  ist,  hat  man  das  Ziel  erreicht ;  durch  nichts 
anderes  ■^). "  Um  diese  unterscheidende  Erkenntniss  (viveha, 
viveka-jnänaj  herbeizuführen,  entwickelt  die  Sämkhya- 
Lehre  ihre  Theorie  der  Weltentfaltuiig ,  indem  sie  nicht 
nur  die  Entstehung  der  Erscheinungswelt  in  ihrem  Kausal- 
zusammenhang, sondern  auch  die  psychischen  Vorgänge 
zu  erklären  unternimmt.    Was  der  S  ä  m  k  h  y  a  -  Philosophie 


')  Kärikä  2. 

")  Zu  dem  Zweck  ist  es  erforderlich,  das  Weseu  der  25  vou 
der  S am khya- Philosophie  aufgestellten  Principien  (panca-vimcati- 
tattva)  genau  zu  verstehen,  d.  h.  ausser  der  geistigen  Seele  die 
folgenden  24  ungeistigen,  materiellen  Principien  richtig  zu  be- 
urtheilen:  die  Urmaterie,  die  drei  inneren  Organe  Buddhi,  Aham- 
kära,  Manas,  die  fünf  Sinne  der  Wahrnehmung  und  die  fünf 
Fähigkeiten  des  Handelns,  die  fünf  Grundstoffe  (tanmätra)  und  die 
fünf  groben  Elemente.  Von  diesen  25  Principien  ist  in  unseren 
Texten  sehr  viel  die  Eede ,  ja  die  S  am  khya -Philosophie  wird 
geradezu  ,die  Wissenschaft  von  den  25  Principien'  genannt.  Wenn 
als  das  höchste  Ziel  des  Menschen  das  tattva-jnäna  ,die  Erkenntniss 
der  Principien'  bezeichnet  wird,  so  heisst  das  für  den  Inder 
zugleich  ,die  Erkenntniss  der  Wahrheit' 5  die  beiden  Bedeutungen 
von  tattva  fliessen  hier  vollständig  zusammen. 

3)  Sutra  III.  84. 


—     138     — 

lediglich  Mittel  zum  Zweck  ist  —  Kosmologie,  Physiologie 
und  Psychologie  — ,  erscheint  freilich  uns  Abendländern, 
die  wir  nicht  in  dem  Dogma  von  der  Metempsychose  be- 
fangen sind  und  das  Erlösungsbedürfniss  im  Sinne  der 
indischen  Philosophie  nicht  theilen  können,  als  der  eigent- 
lich bedeutungsvolle  Theil  ihrer  Lehren.  Bleiben  wir  aber 
zunächst  noch  ganz  auf  indischem  Boden  stehen  mit 
der  Frage,  wer  nach  der  Anschauung  der  Sämkhya- 
Philosophie  dazu  berufen  ist,  die  erlösende  Erkenntniss  zu 
erreichen  und  andere  durch  Belehrung  zu  ihr  zu  führen. 
Ein  Blick  auf  die  entsprechenden  Verhältnisse  im  Vedänta 
lässt  uns  den  menschhch  höheren  Standpunkt,  den  hier 
die  S  ä  m  k  h  y  a  -  Lehre  einnimmt,  erkennen.  Aus  Deussen's 
System  des  Vedänta  S.  63  erfahren  w4r,  „dass  alle  die- 
„jenigen,  welche  durch  das  Sakrament  des  üpanayanam 
„(der  Einführung  bei  einem  Leln-er  unter  feierlicher  Um- 
„  gürtung  mit  der  Opferschnur)  wiedergeboren  (dvija)  sind, 
„also,  falls  sie  diese  Bedingung  erfüllen,  alle  Brähmana's, 
„Kshatriya's  und  Vai9ya's,  dass  ferner  auch  die 
„Götter  und  die  (abgeschiedenen)  Rishi's  zur  Vidyä 
„[d.  h.  zur  erlösenden  Heilslehre]  berufen  sind;  dass  hin- 
„ gegen  die  Cüdra's  (die  Angehörigen  der  vierten,  nicht- 
„ arischen  Kaste)  von  derselben  ausgeschlossen  bleiben." 
Es  liegt  auf  der  Hand,  dass  die  ursprünglich  uubrahma- 
nische  Sämkhya- Philosophie,  die  dem  alles  Lebende  mit 
der  gleichen  Liebe  umfassenden  Buddhismus  zur  Grundlage 
gedient  hat,  bei  ihrer  Begründung  diese  brahmanische 
Einschränkung  nicht  gekannt  haben  kann ;  aber  es  gereicht 
ihr  zur  Ehre,  dass  sie  auch  in  späterer  Zeit  sich  nicht 
dazu  verstanden  hat,  irgend  einer  Menschenklasse  den  Weg 
zum  ewigen  Heil  zu  verschliessen.  So  selbstverständlich 
uns  dieser  Standpunkt  erscheint,  so  bewundernswerth  ist 
er  bei  einem  System,  das  zwei  Jahrtausende  lang  äusserhch 
im  Einklang  mit  dem  Brahmanenthum  gestanden  und 
mehrere  Jahrhunderte  hindurch  in  ihm  eine  geistige  Herr- 
schaft ausgeübt  hat. 

In    Kärikä   53    werden    die    Wesen    folgendermassen 


—     189     — 

eingetheilt  1) :  „Die  göttliche  [Schöpfung]  ist  achtfältig,  die 
thierische  fünffach,  die  menschliche  von  einer  Art." 
Wenn  hier  die  überirdischen  Geschöpfe,  je  nachdem  sie 
in  der  Welt  des  Gottes  Brahman,  des  Prajäpati,  des 
Indra  leben  oder  zu  den  Ahnen,  den  Gandharva's, 
Yaksha's,  Räkshasa's  oder  Pi9äca's  gehören,  für  acht 
verschiedene  Arten  erklärt  werden,  so  wird  dadurch  die 
Zusammenfassung  der  Menschenwelt  in  eine  einzige  Klasse 
um  so  bedeutungsvoller.  Ein  System,  das  gerade  mit  be- 
sonderer Vorliebe  Abtheilungen  und  Unterabtheilungen 
ziffernmässig  feststellt,  würde  bei  dieser  Gelegenheit  gewiss 
nicht  versäumt  haben,  auch  die  Menschen  in  der  üblichen 
nahe  liegenden  Weise  zu  klassificiren,  wenn  ihm  nicht  die 
Kasten-  und  Rassenunterschiede  als  nichtig  gegolten  hätten. 
Wären  zu  irgend  einer  Zeit  die^üdra's  von  dem  Studium 
der  S am khya- Philosophie  ausgeschlossen  gewesen,  so 
würde  dieser  Grundsatz  zweifellos  in  den  Lehrbüchern  des 
Systems  verkündet  worden  sein,  wie  er  in  den  Lehrbüchern 
des  Vedänta  aufgestellt  und  ausführlich  begründet  ist. 
An  keiner  der  zahlreichen  Stellen  aber,  an  denen  die 
S  ä  m  k  h  y  a  -  Schriften  die  Vorbedingungen  für  die  Er- 
reichuncr  der  erlösenden  Erkenntniss  erörtern  —  wir  werden 
sie  gleich  im  Zusammenhang  betrachten  —  ist  überhaupt 
von  dem  Stande  oder  der  Abstammung  des  Erlösungsbe- 
dürftigen die  Rede.  Mehrfach  -)  werden  die  zur  Erkennt- 
niss Berufenen  in  drei  Klassen  eingetheilt,  aber  nicht  etwa 
nach  irgend  einem  äusserlichen  Gesichtspunkt,  sondern  nur 
nach  dem  Grade  ihrer  moralischen  und  intellektuellen  Be- 
fähigung in  wenig,  mittelmässig  und  hervorragend  begabte. 
Damit  gilt  ein  Jeder  als  berufen,  der  im  Stande  ist,  dem 
Gedankengange  des  Systems  zu  folgen  und  gewült,  den  an 
ihn  gestellten  Forderungen  zu   genügen.     In  Sütra  IV.  2 


^)  Genau  so  wird  aucli  in  Sutra  III.  46  und  in  der  Sämkhya- 
krama-dii)ikä  (Ballantyne's  Lecture  No.  72)  der  hhüta-  oder  bhau- 
tiha-sarga  ,die  Schöpfung  der  Wesen'  dargestellt. 

2)  Sütra  I.  70,  IH.  76,  VI.  22. 


—     140     — 

wird  berichtet,  dass  einstmals  ein  im  Gebüsch  verborgener 
Dämon  unbemerkt  mit  anhörte,  wie  ein  Lehrer  seinem 
Schüler  Unterricht  in  der  Heilslelu-e  ertheilte,  —  Vij&ä- 
n  a  b  h  i  k  s  h  u  bezieht  dies  auf  A  r  j  u  n  a '  s  Belehrung  durch 
K  r  s  h  n  a  in  der  Bhagavadgitä  —  und  dass  auf  solche 
Weise  der  Dämon  die  Erlösung  gewann.  Diese  Legende 
giebt  Vijiiänabhikshu  Gelegenheit  zu  erklären,  dass 
auch  Frauen,  ^üdra's  und  andere  das  höchste  Ziel 
erreichen  können  ^).  Wenn  noch  im  sechzehnten  Jahrhundert 
dies  von  einem  strenggläubigen  Anhänger  des  Brahmanen- 
thums  bei  der  Erklärung  eines  Sämkhya- Textes  aus- 
gesprochen ist,  so  brauchen  wir  nach  keinen  weiteren 
Beweisen  dafür  zu  suchen,  dass  die  Sämkhya- Philo- 
sophie niemals  das  nationale  Vorurtheil  des  Vedänta 
getheilt  hat. 

Ein  Jeder  nun,  der  die  unterscheidende  Erkenntniss 
gewonnen  hat ,  ist  zur  Belehrung  anderer  berufen ;  die 
Beschränkung  auf  professionelle  Lehrer  wird  ausdrücklich 
in  unserem  System  zurückgewiesen  -).  Wiederum  ein  un- 
brahmanischer  Zug!  Aber  nur  wer  zur  unmittelbaren 
Erschauung  (säkshdtkära)  der  Wahrheit  gelangt  und  in 
Folge  dessen  bei  Lebzeiten  erlöst  (jivan-mulcta)  ist,  soll 
die  Unterweisung  anderer  unternehmen  ^).  Denn  wenn 
Jemand  als  Lehrer  auftreten  wollte,  der  blos  die  richtige 
Lehre  vortragen  gehört,  aber  durch  Reflektiren  und  Me- 
ditiren  noch  nicht  jenes  Ziel  erreicht  hat,  so  würde  endlose 
Verwirrung  die  Folge  sein;  oder  um  mit  Vijnänabhik- 
shu  zu  reden:  „wenn  Jemand  das  Wesen  des  Selbstes, 
„ohne  es  ganz  vollständig  zu  kennen,  lehrte,  so  würde  er 
„hinsichtlich  dieses  oder  jenes  Theiles  wegen  des  eignen 
„Irrthums  wiederum  seinen  Schüler  in  Irrthum  versetzen, 
„der  wieder   einen   andern   und   so   fort;   auf  diese  Weise 


^)  Das  gleiche   ist   mit  Bezug  auf  das  Yoga- System  gesagt 
Mbh.  XII.  8801. 

2)  Aniruddha  und  Mahädeva  zu  Sütra  IV.  4. 
«)  Sütra  III.  79. 


—     141     — 

„würde  eine  Tradition  entstehen,  die  einer  Reihe  von  sich 
„gegenseitig  führenden  Blinden  vergleichbar  wäre  (andha- 
,,parampard)  i)." 

Die  NothAvendigkeit  der  Belehrung  als  solcher 
wird  S  ü  t  r  a  IV.  1  durch  die  Erzählung  von  dem  Königs- 
sohn veranschaulicht,  der  zu  einer  Unglück  verheissenden 
Stunde  geboren  und  deshalb  Verstössen,  aber  von  einem 
Waldbewohner  aufgezogen  wird.  Der  Königssohn  wächst 
natürlich  in  dem  Wahne  auf,  ein  Waldmensch  zu  sein, 
bis  ihn  eines  Tages  ein  Minister  nach  dem  Tode  des  ohne 
weitere  Kinder  gestorbenen  Königs  aufsucht  und  über 
seine  Herkunft  belehrt.  In  demselben  Augenblick  lässt 
dieser  seine  Wahnvorstellung  fahren  und  weiss,  dass  er 
ein  König  ist.  Ebenso  ahnungslos  ist  im  alltäglichen 
Leben  der  Mensch  in  Betreff  seines  inneren  Wesens,  seiner 
wahren  Natur,  und  ebenso  plötzlich  geht  ihm  die  intellek- 
tuelle Selbsterkenntniss  auf,  wenn  er  die  rechte  Belehrung 
empfängt.  Aber  nur  in  dem  Falle,  dass  er  zu  den  im 
höchsten  Masse  befähigten  gehört.  —  Wo  die  Erkenntniss 
durch  einmalige  Belehrang  nicht  entsteht,  wird  ihre 
Wiederholung  anempfohlen  -). 

3.    Die  Anforderungen. 

Die  V  e  d  ä  n  t  a  -  Philosophie  steht  der  Lehi-e  von  der 
Werkgerechtigkeit  nicht  consequent  gegenüber;  so  ent- 
schieden sie  feststellt,  dass  die  Erlösung  allein  durch  das 
Wissen  und  nicht  durch  Werke  zu  gewinnen  ist,  so  erklärt 
sie  doch  die  Opfer  und  sonstigen  frommen  Werke  keines- 
wegs für  überflüssig;  sie  gelten  ihr  vielmehr  als  ein  uiit- 
wirkendes  Hilfsmittel  zur  Erlangung  des  Wissens.  Ja,  in 
Folge  der  engen  Verbindung  mit  der  ritualistischen  Mi- 
m  ä  m  s  ä  geht  sie  so  weit ,  die  im  bralunanischen  Gesetz 
vorgeschriebenen  Pflichten  auch  für  den  nach  dem  Wissen 


1)  Viju.  zu  Sütra  IH.  81. 

2)  Sütra  IV.  3. 


—     142     — 

strebenden  als  verbindlich  zu  erklären.  Nur  wer  das 
Wissen  erlangt  hat,  ist  nach  dem  Vedänta  der  Beobach- 
tung dieser  Pflichten  enthoben  *). 

Dass  die  S  ä  m  k  h  y  a  -  Philosophie  nicht  nur,  so  lange 
sie  dem  Bralunanenthum  feindlich  gegenüber  stand,  sondern 
auch  noch  später  diese  Theorie  bekämpft  hat,  ist  nicht  zu 
bezweifeln.  Noch  in  der  Kärikä  ist  mit  keinem  Worte 
davon  die  Rede,  dass  der  Werkdienst  eine  nützliche  Vor- 
bereitung zur  Erreichung  der  Erkenntniss  sei;  in  Kärikä  2 
wird  einfach  die  Vollziehung  von  Opfern  widerrathen. 
Erst  die  Sütra's,  deren  Abfassung  wir  oben  S.  71  gegen 
1400  ansetzen  zu  müssen  glaubten,  haben  sich  ausser 
anderen  vedantistischen  Lehren  auch  diese  Theorie  von  dem 
Nutzen  des  Werkdienstes  zu  eigen  gemacht  -).  Dieselbe 
wird  hier  genau  so  formulirt  wie  im  Vedänta.  Zwar 
ist  die  unterscheidende  Erkenntniss  ausnahmslos  das  einzige 
Mittel  zur  Erlösung-'),  und  doch  wird  die  Erfüllung  der 
im  brahmanischen  Gesetz  vorgeschriebenen  Pflichten  em- 
pfohlen*). Die  Commentatoren  führen  dann  mit  grösserer 
oder  geringerer  Entschiedenheit  aus,  dass  die  Werke  nur 
als  Hilfsmittel  zu  betrachten  seien  und  dass  sie  an  Werth 
nicht  den  unumgänglichen  Mitteln  zur  Erreichung  der 
Erkenntniss,  von  denen  gleich  gehandelt  werden  soll,  nahe 
kommen.  Diese  Vedänta- Lehre  von  der  Bedeutung  des 
Werkdienstes  ist  nun  aber  in  rein  äusserlicher  Weise  in 
die  Sämkhyasütra's  eingefügt,  nicht  organisch  mit 
unserem  System  verschmolzen;  denn  an  verschiedenen 
Stellen  bricht  auch  noch  in  den  Sütra's  der  echte,  mit 
jener  Lehre  im  Gegensatz  stehende  Standpunkt  des  Säm- 
khya  durch.  Sütra  L  84  heisst  es,  dass  aus  der  Voll- 
ziehung des  im  Gesetz  vorgeschriebenen  Werkes  Schmerz 


1)  S.  Deussen,    System    des   Vedänta   S.    86—90,   434—440. 
443—445. 

2)  Vgl.  oben  S.  72. 

3)  Sütra  I.  56,  UI.  25—28,  VI.  15;  s.  auch  Kärikä  44. 
*)  Sütra  m.  32,  35,  IV.  19,  21. 


—     143    — 

über  Schmerz  sich  ergiebt,  und  nicht  etwa  das  Aufhören 
der  Nichtunterscheidung,  „wie  aus  dem  Uebergiessen  mit 
[kaltem]  Wasser  nicht  Befreiung  von  der  Erstarrung  er- 
folgt." Und  im  folgenden  Sütra  wird  hinzugefügt,  dass 
es  sich  ganz  gleich  bleibt,  ob  man  mit  dem  Werke  einen 
Wunsch  verbindet  oder  nicht;  auch  aus  dem  wunschlosen, 
im  Innern  geübten  Opfer  entstehe  Schmerz  über  Schmerz. 
Derselbe  Gedanke  wird  mit  anderen  Worten  in  Sütra 
IV.  8  zum  Ausdruck  gebracht:  „Denken  an  das,  was  kein 
Mittel  ist,  führt  zum  Gebundensein,  wie  bei  B  h  a  r  a  t  a  ^) ", 
und  Vijnänabhikshu  bemerkt  dazu:  „Was  kein  direktes 
„Mittel  zur  unterscheidenden  Erkenntniss  ist,  auf  dieses 
„hat  man,  auch  wenn  es  eine  Vorschrift  der  Moral  sein 
„sollte,  doch  sein  Denken  nicht  zu  richten,  d.  h.  nicht  den 
„Wunsch  des  Herzens  auf  die  Ausübung  desselben  zu 
„lenken."  In  Sütra  IV.  12  wird  gar  die  Arbeit  zum 
Zwecke  der  Selbsterhaltung  für  überflüssig  erklärt. 

Die  echte  Sämkhya- Lehre  also  lautet:  selbst  gute 
Werke  befördern  nicht,  sondern  hindern  die  Erreichung 
der  unterscheidenden  Erkenntniss.  Von  einer  Moral  ist 
also    im    Sämkhya-  System    nicht    die    Rede  ^)    —    diese 


*)  Der  Vergleich  bezieht  sich  auf  eine  dem  Vishnu  Puräna 
entlehnte  Erzählung:  der  königliche  Weise  Bharata,  der  nahe 
vor  der  Erreichung  der  erlösenden  Erkenntniss  stand,  pflegte  aus 
Mitleid  eine  elende  junge  Gazelle  und  ging  dadurch  des  ihm 
winkenden  Lohnes  seiner  Bemühungen  verlustig. 

^)  Wenn  wir  in  einem  alten  Jaina- Texte  die  Angabe  finden, 
dass  , Mitleid  mit  den  Wesen'  die  Quintessenz  von  Kapila's  Lehre 
gewesen  sei  (s.  meine  Uebersetzung  von  Aniruddha's  Commentar, 
Introduction  p.  X,  Note  und  vgl.  dazu  dayä  hhüteshu  Mbh.  XIL 
1104.5,  sarva-bliüta-dayä  ebendas.  11167),  so  widerspricht  dies  dem 
obigen  Satze  nicht;  denn  die  Schonung  der  Thiere  kann  lediglich 
durch  das  egoistische  Verlangen  bedingt  sein,  sich  vor  einer 
Verschuldung  zu  bewahren,  die  einen  Schmerz  im  Gefolge  haben 
muss.  Und  einen  solchen  egoistischen,  sich  in  rein  negativer  Weise 
bethätigeuden  Gedanken  wird  man  nicht  als  ein  Moralprincip 
gelten  lassen  wollen. 


—     144    — 

Lücke  hat  erst  sein  Tochtersystem ,  der  Buddhismus,  in 
bewundernswerther  Weise  ausgefüllt  — ,  und  es  darf  deshalb 
bei  einer  unparteiischen  Beurtheilung  nicht  verschwiegen 
werden,  dass  die  unverfälschte  Sämkhya- Philosophie,  die 
für  die  Schärfung  des  Verstandes  der  indischen  Denker 
von  hoher  Bedeutung  gewesen  ist,  einen  gewissen  Antheil 
an  der  ungünstigen  Entwickelung  des  indischen  National- 
charakters  gehabt  haben  Avird.  Selbst  in  den  Lehr- 
büchern des  Systems  lässt  sich  an  einzelnen  Stellen  dieser 
sittlich  schädigende  Einfluss  erkennen  ^). 

Mit  der  Verwerfung  moralischer  Werke  als  eines  Hilfs- 
mittels zur  Erkenntniss  steht  im  engsten  Zusammenhang 
dasjenige  Erforderniss  zur  Erreichung  des  erlösenden  Wissens, 
das  der  Sämkhya -Lehre  als  conditio  sine  qua  non  gut: 
die  Gleichgiltigkeit  gegen  alle  weltlichen  Dinge  (viräga,  vai- 
rägya).  Denn  auch  das  Ausüben  guter  Werke  ist  mit  dieser 
Gleichgiltigkeit  nicht  zu  vereinigen.  Der  mit  Begierde 
oder  Kummer  behaftete  ist  absolut  unfähig  die  Belehrung 
in  sich  aufzunehmen;  „in  einem,  dessen  Sinn  auf  solche 
Weise  verdüstert  ist,  geht  der  Same  der  Belehrung  nicht 
auf  2)".  Die  Begierden  nun  aber  werden  nicht  durch  den 
Genuss  gestillt"^),  sondern  nur  durch  die  Erkenntniss  der 
Felller  und  Mängel,  die  allem  Materiellen  anhaften  *).  Eine 
solche  Erkenntniss  führt  den  Menschen  dazu,  seinem  Besitz 
und  allen  weltlichen  Genüssen  zu  entsagen.  Und  nur  das 
freiwillige  Aufgeben  der  weltlichen  Güter  und  der 
Hoffnungen  erzeugt  den  Zustand  des  Gemüthes,  den  die 
Philosophie  verlangt,   während  erzwungenes  Aufgeben 


1)  S.  oben  S.  135. 

■^  Sütra  IV.  29—31. 

3)  Sütra  IV.  27. 

*)  Sütra  IV.  28.  Vijnäiiabbikshu  zu  IV.  4  hebt  besonders  die 
Hinfälligkeit  des  Körpers  hervor:  „Wenn  man  erkennt,  dass,  wie 
„der  eigene  Vater  gestorben  und  der  eigene  Sohn  geboren  ist,  man 
„auch  selbst  geboren  ist  und  sterben  muss,  so  tritt  die  Gleich- 
„giltigkeit  ein  und  durch  sie  die  unterscheidende  Erkenntniss." 


—     145     — 

den  Beraubten  leidvoll  macht ').  Wer  diese  Welt  mit  voller 
Gleichgiltigkeit  gegen  ihre  Genüsse  aufgiebt  und  sich  dem 
Streben  nach  der  Erkenntniss  widmet,  wird  dem  Flamingo 
verglichen  2),  der  es  nach  dem  indischen  Volksglauben  ver- 
steht, aus  einer  Mischung  von  Milch  und  Wasser  nur  die 
werthvoUe  Milch  zu  sich  zu  nelunen  und  das  werthlose 
Wasser  zurückzulassen.  Die  errungene  Gleichgiltigkeit  ist 
fi-eilich  ein  verlierbares  Gut ;  um  es  zu  bewahren,  wird  die 
Vermeidung  menschlicher  Gesellschaft  —  ja  selbst  eines 
einzigen  Gefährten,  wofern  dieser  nicht  im  Besitze  der 
höchsten  Erkenntniss  ist-'')  —  anempfohlen,  da  das  Zu- 
sammenleben mit  anderen  leicht  zur  Entstehung  von 
Leidenschaften,  zu  Zank  und  Streit  führt*);  keinenfalls 
aber  soll  man  aus  freien  Stücken  Gemeinschaft  mit  Leuten 
halten,  die  noch  von  Begierden  erftült  sind^). 

Das  Sämkhya- System  unterscheidet  eine  niedere  und 
eine  höhere  Gleichgiltigkeit  (apara-  und  para-vairägya)  ^''). 
Unter  den  ersten  Begriff  fällt  diejenige,  die  als  Vorbereitung 
auf  das  Streben  nach  der  Erkenntniss  gefordert  wird, 
während  die  ,höhere  Gleichgiltigkeit'  erst  eintreten  kann, 
nachdem  die  unterscheidende  Erkenntniss  erreicht  ist "). 
Auf  dem  Standpunkt  der  ,niederen  Gleichgiltigkeit'  hat 
man  der  Freude  an  den  Sinnesobjekten  und  der  Theilnahme 


1)  Sütra  IV.  5—7,  11. 
')  Sütra  IV.  23. 
ä)  Sütra  IV.  24. 
*)  Sütra  IV.  9,  10. 

5)  Sütra  IV.  25,  26. 

6)  Wenn  in  der  Sämkhya-tattva-kaumudi  zu  Kärikä  23  und 
im  Anschluss  daran  von  Aniruddha  zu  Sütra  II.  1  gar  vier  ver- 
schiedene Stufen  der  Gleichgiltigkeit  beschrieben  und  mit  besonderen 
technischen  Ausdrücken  benannt  werden,  so  handelt  es  sich  dabei 
um  die  Weiterentwickelung  eines  dem  Yoga -System  entlehnten 
Gegenstandes. 

')  Aniruddha's  und  Vijrianabhikshu's  Einleitung  zu  Sütra  I.  1, 
Vijn.'s  Einleitung  zu  III.  1  und  Commeutar  zu  II.  2,  3,  III.  84, 
Yogasütra  I.  16. 

Garbe,  Sämkhya-Philosophie.  10 


—     146    — 

an  äusseren  Vorgängen  entsagt;  die  ,höhere  Gleichgiltig- 
keit'  aber  besteht  darin,  dass  man  nach  der  Erkenntniss 
des  Unterschiedes  von  Geist  und  Materie  auch  die  feinsten 
Modifikationen  der  Materie  in  Gestalt  seiner  eigenen 
inneren  Organe,  die  man  dann  als  nicht  zu  dem  Selbst 
gehörig,  sondern  ihm  wesensverschieden  weiss,  mit  derselben 
Indifi'erenz  ansieht  wie  die  Objekte  der  Aussen  weit.  Dieser 
Zustand  ist  eine  unmittelbare  Vorstufe  der  Erlösung.  Wir 
haben  es  also  hier  nur  mit  der  ,niederen  Gleichgiltigkeit' 
zu  thun,  die  der  Erreichung  der  unterscheidenden  Er- 
kenntniss vorangehen  muss,  aber  nicht  zu  ihr  zu  führen 
braucht.  Da  sie  auch  in  dem  letzteren  Falle  ein  Verdienst 
bleibt  und  jedes  Verdienst  nach  dem  Gesetz  der  Vergeltung 
belohnt  wird,  so  ist  demjenigen,  der  diese  Welt  aufgegeben 
und  doch  das  erlösende  Wissen  nicht  gewonnen  hat,  im 
Sämkhya- System  in  Aussicht  gestellt,  dass  er  in  die 
Urmaterie  aufgehen  und  bei  Beginn  einer  neuen  Welt- 
periode als  Gott  wieder  in  das  Weltdasein  eintreten  wird  '). 
Von  der  Nothwendigkeit  der  Belehrung  war  bereits 
S.  141  die  Rede.  Schon  die  blosse  Thatsache,  dass  Jemand 
von  einem  competenten  Lehrer  in  der  Sämkhya- Philo- 
sophie unterrichtet  wird,  gilt  als  ein  Glück,  dessen  Ursache 
grosses  in  vielen  Existenzen  erworbenes  Verdienst  sein 
muss  2).  Nur  bei  sehr  Befähigten  führt  aber  die  Belehrung 
oder,  wie  es  technisch  heisst,  ,das  Hören'  (gravana)  un- 
mittelbar zum  Ziel  ^) ;  in  der  Regel  ist  darauf  die  Reflexion 
(manana)  und  anhaltende  Meditation  (nididhyäsana)  er- 
forderlich *) ;  es  finden  sich  deshalb  in  unseren  Texten, 
wenn  von  den  Anforderungen  an  den  Erlösungsbedürftigen 


1)  Kärikä  45,  Sütra  III.  54—56,  Säiukhya-krama-dipika 
Nr.  15  und  meine  Uebersetzuug  des  Sämkhya-pravacana-bhäsbya 
S.  244,  Anm.  2. 

2)  Vijn.  zu  IL  3. 

^)  S.  die  Commentare,  besonders  den  Aniruddha's,  zu  I.  70, 
III.  76,  VI.  22. 

4)  Sutra  IV.  17,  VI.  23,  57. 


—     147     — 

gehandelt  wird,  diese  drei  Begriffe  stehend  in  dem  Com- 
positum qravana-manana-nididhyäsana  verbunden.  Vijnä- 
nabhikshu  zu  VI.  57  erklärt  sogar,  dass  die  Verhältnisse 
bei  den  Bewohnern  der  himmlischen  Welten  ebenso  liegen, 
wie  auf  Erden. 

Aber  auch  da,  wo  Reflexion  und  anhaltende  Meditation 
geübt  werden,  stehen  —  abgesehen  von  der  Möglichkeit, 
dass  die  Reflexion  ganz  falsche  Wege  einschlagen  kann  ^)  — 
der  Erreichung  der  erlösenden  Erkenntniss  noch  allerlei 
Hindernisse  im  Wege,  unter  denen  das  grösste  die  anfangs- 
lose felilerhafte  Anlage  (anddi-nüihyd-väsanä)  -)  unseres 
Denkorgans  ist.  Die  Nichtunterscheidung  (aviveka)  erzeugt 
die  Disposition  zur  Nichtunterscheidung  in  der  folgenden 
Existenz,  und  diese  Disposition  ist  dann  wiederum  die  Ursache 
der  Nichtunterscheidung ;  so  haben  wir  hier  —  nach  rück- 
wärts gesehen  —  eine  Verkettung  ohne  Anfang,  da  der 
Samsära  von  Ewigkeit  her  existirt,  vergleichbar  dem 
Fall  von  Same  und  Spross  (Mjänhura-vat)  oder,  wie  wir 
sagen  würden:  von  Henne  und  Ei'^).  Daraus,  dass  diese 
Verkettung  von  Nichtunterscheidung  und  Disposition 
anfangslos  ist,  darf  man  aber  nicht  schliessen,  dass  sie  auch 
bis  in  alle  EAvigkeit  hin  währen  müsse;  denn  durch  die 
eintretende  Unterscheidung  wird  sie  gelöst*). 

Die  in  unsrer  Naturanlage  liegenden  Hindernisse 
werden  erfolgreich  bekämpft  durch  die  Concentration  des 
Denkens  ^).  Ist  diese  Concentration  auf  das  höchste  Maass 
gesteigert,  so  dass  kein  Abirren  der  Gedanken  auf  andere 
Objekte  hin  mekr  stattfindet,  so  tritt  die  unmittelbare 
Erschauung  (sälcshätkära)  der  Wahrheit  ein. 

Die  Lelu-e  von  der  Concentration  bildet  bekanntlich 
den  Hauptinhalt  des  Yoga- Systems,  in  dessen  Lehrbüchern 


^)  Vijn.  zu  I.  65  Schluss. 

2)  VijS.  zu  n.  3. 

"")  Sütra  VI.  12,  Vijn.  zu  I.  57  Schluss. 

*)  Sütra  VI.  13. 

5)  Sütra  IV.  13,  14,  VI.  26.  ' 

10' 


—     148     — 

ausführlicli  die  Regeln  über  das  äussere  und  innere  Ver- 
halten des  Asketen  gegeben  sind.  Bei  der  engen  Verbindung 
von  Sämkhya  und  Yoga  darf  es  uns  nicht  Wunder 
nehmen,  dass  die  Theorien  des  Yoga-  Systems  über  diesen 
Punkt  in  die  S  änikhya- Schriften  eingedrungen  sind. 
Die  Kärikä  erwähnt  zwar  nichts  von  der  Yoga- Praxis, 
spricht  aber  einmal  (in  Strophe  45)  von  der  aus  der  über- 
natürlichen Kraft  (aigvarya)  resultirenden  Erftillung  eines 
jeden  Wunsches;  auch  die  Commentatoren  zur  Kärikä 
beschäftigen  sich  nur  gelegentlich  (bei  Strophe  23)  mit 
der  Yoga- Praxis  und  den  wunderbaren  durch  sie  zu 
erreichenden  Kräften.  Die  Sütra's  dagegen  behandeln 
die  Yoga- Praxis  als  einen  integrirenden  Tlieil  der  Säm- 
khya -  Lehre '),  aber  doch  noch  ohne  auf  die  Einzelheiten 
systematisch  einzugehen.  Erst  die  Commentatoren  zu  den 
Sütra's  operiren  mit  dem  ganzen  Apparat  der  acht 
yogänga  oder  Bestandtheile  der  Yoga-Praxis  2),  als  da  sind 
Selbstbezwingung  (yama),  Einhaltung  der  Observanzen 
(myama),  Verharren  in  bestimmten  Körperhaltungen  (äsana)^ 
künstliche  Beschränkung  des  Athmens  (pratyähära)^  Samm- 
lung (dJiäranä).,  Meditation  (dhyäna)  und  Versenkung  (sa- 
mädhi)'^);  auch  haben  sie  aus  Yogasütra  I.  17,  18  die 
Lehre  entlehnt,  dass  über  die  bewusste  Concentration 
(samprajndta-yoga)  hinaus  ein  Zustand  zu  erstreben  sei,  in 
dem  die  Concentration  zu  voller  Bewusstlosigkeit  gesteigert 
ist  und  ,aus  dem  es  kein  Auferstehen  gifebt'  (asamprajnäta- 
yoga).  Erst  in  diesem  Zustande  der  Bewusstlosigkeit  ist 
nach  der  von  den  späten  Sämkhya- Lehrern  übernommenen 
Anschauung  des  Yoga- Systems  das  Ziel  erreicht*). 

Wenn  nun  auch  diese   ganze  künstliche  Methode  zur 
Gewinnung   der  Erkenntniss   durch    Absolvirung   fest  be- 


1)  Sütra  m.  30—35,  IV.  15, 16,  VI.  24—26,  29—31.  Vgl.  oben  S.  74 

2)  Yogasütra  II.  29  ff. 

3)  S.  besonders  Aniruddha  zu  ITI.  32,  VI.  57,  Vijiiäna  zu  III. 
30,  33—35. 

*)  Anir.  zu  VT.  50,  Vijn.  zu  III.  77,  VI.  30. 


—     149     — 

stimmter  Vorstufen  der  ursprünglichen  und  reinen  Säm- 
khya -Lehre  fi-emd  ist,  so  haben  wir  doch  gesehen,  dass 
auch  von  ihr  —  wenigstens  als  Regel  —  ein  mühsames 
Erarbeiten  der  unterscheidenden  Erkenntniss  vorausgesetzt 
wird.  Wie  viel  von  dem  Einzelnen  zu  leisten  ist,  wie 
lange  er  die  heisse  Denkarbeit  zu  üben  hat  und  ob  er 
überhaupt  ans  Ziel  gelangt,  hängt  ganz  von  seiner  indi- 
viduellen Beanlagung  ab  *).  Immer  aber  tritt  die  Erkennt- 
niss da,  wo  sie  erreicht  wird,  blitzartig,  intuitiv  ein,  wie 
bei  einem,  der  über  die  Himmelsrichtungen  in  Verwirrung 
ist,  die  Aufhebung  des  Irrthums  wohl  durch  Belehrung 
und  Beweisführung  vorbereitet  werden  kann,  aber  doch 
nur  durch  die  unmittelbare  Erschauung  bewirkt  wird  2). 
Mit  dieser  Vorstellung  scheint  die  in  den  Sämkhya- 
sütra's  lU.  77 — 79  vorgetragene  Lehre  von  den  drei 
Stufen  der  Erkenntniss,  der  geringen,  mittelmässigen  und 
höchsten  Unterscheidung,  nicht  zu  stimmen.  Da  wir  nun 
in  der  Y  oga- Philosophie  drei  solche  Erkenntnissstationen 
angenommen  finden  ^)  und  bei  den  Commentatoren  zu  den 
eben  citirten  Sämkhyasütra's*)  lesen,  dass  die  Steigerung 
der  Unterscheidung  auf  die  dritte  und  höchste  Stufe  (vi- 
veha-nishpatti)  erst  bei  derjenigen  Concentration  eintritt, 
bei  welcher  das  Bewusstsein  vergangen  ist,  so  ist  wohl 
nicht  zu  bezweifeln,  dass  auch  diese  Lehre  von  den  drei 
Graden  der  unterscheidenden  Erkenntniss  aus  dem  Yoga- 
System  entlehnt  ist. 

Ich  habe  hier  nur  dasjenige  zur  Sprache  gebracht, 
was  zum  Verständniss  der  von  unserem  System  gestellten 
Anforderungen  zu  wissen  nöthig  ist;  der  psychologische 
Process,  auf  dem  das  Eintreten  des  erlösenden  Wissens 
beruht,  kann  erst  in  dem  vierten  Abschnitt  dieses  Werkes 
erörtert  werden. 


1)  Sutra  I.  70,  III.  76,  IV.  20,  VI.  22. 

2)  Sütra  I.  59. 

^)  S.  Paul  Markus,  die  Yoga-Philosophie  S.  66. 
*)  Vgl.  auch  noch  Vijn.  zu  VI.  30. 


150 


4.    Die  Methode. 


Stämmtliche  indischen  Systeme  bekunden  echt  philo- 
sophischen Sinn  dadurch,  dass  sie  es  für  nothwendig  halten, 
über  die  von  ihnen  angenommenen  Quellen  der  Erkennt- 
niss  Rechenschaft  zu  geben.  Das  allgemein  gebrauchte 
Wort  für  Erkenntniss-  und  Beweismittel  ist  pramäna  *), 
etymologisch:  dasjenige,  wodurch  etwas  abgemessen,  genau 
festgestellt,  also  eine  richtige  Erkenntniss  (pramd)  ge- 
wonnen wird  2). 

Hinsichtlich  der  Zahl  der  Pramäna's  weichen  die 
Systeme  von  einander  ab  ^) ;  in  der  Erörterung  des  wich- 
tigsten aber  und  von  allen  Schulen  (ausscliliesslich  der 
Cärväka's)  als  das  eigentlich  philosophische  Beweismittel 
erkannten,  der  Schlussfolgerung  nämlich,  zeigen  die  Lehr- 
bücher der  orthodoxen  Systeme  die  grösste  Ueberein- 
stimmung.  Die  ganze  Terminologie,  die  Definitionen,  die 
Behandlung  der  Einzelheiten  und  die  Beispiele  sind  auf 
diesem  Gebiete  mit  geringen  Abweichungen  überall  die 
gleichen.  Dies  erklärt  sich  daraus,  dass  dieser  Gegenstand 
von  derVai9eshika-Nyäya- Schule  bis  zu  der  höchsten 
für  Indien  erreichbaren  Vollendung  ausgearbeitet  und 
deshalb  in  der  dort  festgestellten  Form  von  den  anderen 
Schulen  übernommen  ist*).  Wenn  also  die  Theorie  der 
Schlussfolgerung   in   den  Sämkhya- Schriften  eingehend 


1)  Seltener  mäna,  s.  die  Indices  zu  meinen  Ausgaben  der  Säm- 
khya-Texte. 

2)  Vgl.  Sämkhya-tattva-kaumudi  zu  Kar.  4  und  Sütra  I.  87. 
^)  S.  Deussen,  System  des  Vedänta  S.  94. 

*)  Darstellungen  der  indischen  Theorie  der  Schlussfolgerung 
findet  man  bei  Max  Müller,  Zeitschrift  der  Deutschen  Morgen- 
ländischen Gesellschaft  VI.  229  ff.  und  bei  E.  Röer  in  derselben 
Zeitschrift  XXI.  368  ff.  Mit  der  europäischen  Art  der  Erschliessung 
ist  die  indische  verglichen  von  J.  Ballantyne,  Lectures  on  the 
Nyaya  Philosophy,  Allahabad  1849,  p.  30 ff.  und  von  E.  Röer  in 
der  Ausgabe  des  Bhäshapariceheda,  Calcutta  1850  (Bibl.  Ind.), 
Introduction  p.  XXI  ff. 


—    151     ~ 

(am  ausführlichsten  in  der  Sämkhya-tattva-kaumndi 
zu  Kärikä  5  und  im  Sämkhya-pravacana-bhäshy a 
zu  Siitra  I.  103)  behandelt  wird,  so  erkennen  wir 
hier  ein  fremdes  Element,  dessen  Erörterung  der  indische 
Geschmack  verlangte  ^) ,  von  dem  aber  eine  europäische 
Darstellung  der  S  ä  m  k  h  y  a  -  Philosophie  nur  insoweit  Notiz 
zu  nehmen  hat,  als  es  für  die  Methode  dieses  Systems  von 
Bedeutung  ist. 

Unser  System  erkennt  drei  Quellen  der  Erkenntniss 
an :  1)  die  Perception  (jyratyahsha,  drshta),  2)  die  Schluss- 
folgerung (anumdna),  3)  die  zuverlässige  Mittheilung  (dpta- 
vacana,  cabda)  -).  Die  ausserdem  noch  im  N  y  ä  y  a  -  System 
angenommene  Erkenntniss  aus  der  Analogie  (upamdna) 
und  die  weiteren  in  der  Mimämsä  aufgestellten  Pramäna's 
(s.  oben  S.  112  Anm.  1)  werden  in  Kärikä  4  und  Siitra 
I.  88  als  entweder  in  jenen  drei  enthalten  oder  als  nicht 
dem  Begriff  des  Pramäna  entsprechend  zurückgewiesen  3). 

Die  Perception  wird  in  Kärikä  5  als  ,Feststellung 
der  einzelnen  Objekte  [durch  die  Sinnesorgane]'  definirt, 
in  Sütra  I.  89  als  ,diejenige  Denkfunktion,  welche  [mit 


1)  Die  indischen  Philosophen  scheinen,  auch  wenn  sie  über 
andere  Systeme  schrieben,  Werth  darauf  gelegt  zu  haben,  ihre 
Vertrautheit  mit  der  formalen  Logik  des  VaiQeshika-Nyäya 
zu  bekunden.  Aus  keinem  anderen  Grunde  kann  der  Verfasser 
der  Säinkhyasütra's  VI.  27 — 36  die  verschiedenen  Ansichten  über 
die  vyäpti,  den  Begriff,  auf  dem  die  Theorie  des  Syllogismus  auf- 
gebaut ist,  beleuchtet  haben.  Und  Aniruddha  hat  bei  V.  85, 
86  die  Gelegenheit  benutzt,  den  Inhalt  der  Vai^eshika-  und 
Nyäyasutra's  in  einer  Ausführlichkeit  zum  Besten  zugeben,  die 
uns  geradezu  lächerlich  erscheint.  Bei  solchen  für  das  Säm- 
khya- System  bedeutungslosen  Abschnitten  unserer  Quellen  genügt 
ein  Hinweis  auf  meine  Uebersetzungen. 

-)  Kärikä  4—8,  Sutra  I.  87—91,  100—104,  Colebrooke, 
Mise.  Ess.'-  I.  252,  253,  Johaentgen,  Das  Gesetzbuch  des  Manu 
S.  62—67. 

')  S.  die  ausführliche  Polemik  in  der  Sämkhya-tattva-kaumudi 
zu  Kärikä  5. 


~     152     — 

einem  Dinge]  in  Verbindung  stehend  die  Form  desselben 
wiedergiebt'.  Als  ein  Vorzug  der  Sinneswahrnelimung  vor 
den  anderen  Erkenntnissquellen  gilt,  dass  sie  alle  Besonder- 
heiten ihrer  Objekte  mit  einem  Male  erfassen  kann  i), 
während  eine  Beschreibung  durch  Worte  immer  noch  so 
und  so  viel«  Einzelheiten  übrig  lässt,  die  nicht  zur 
Vorstellung  kommen. 

Versagt  die  Sinnes  Wahrnehmung,  so  darf  man  die 
Nichtexistenz  des  in  Frage  stehenden  Dinges  nur  dann 
constatiren,  wenn  dieses  seiner  Natur  und  den  Umständen 
nach  wahrgenommen  werden  müsste;  ,.denn  sonst  könnte 
Jemand,  der  aus  einem  Hause  herausgegangen  die  Ein- 
wohner dieses  Hauses  nicht  sieht,  zu  der  Ueberzeugung 
kommen,  dass  diese  nicht  existiren  -) ".  Das  Versagen  der 
Sinneswahrnehmung  kann  nach  Kärikä  7  (und  Sütra  I. 
108)  folgende  verschiedene  Gründe  haben:  zu  grosse  Ent- 
fernung, zu  grosse  Nähe,  Fehler  an  den  Sinnesorganen, 
Unaufmerksamkeit,  zu  grosse  Feinheit,  Dazwischenliegen 
von  etwas,  Unterdrücktwerden  (wie  am  Tage  die  Sterne 
von  der  Sonne  unterdrückt,  d.  h.  verdunkelt  werden)  und 
Vermengung  mit  gleichartigem  (wie  man  die  aus  einer 
Wolke  in  einen  Teich  gefallenen  Wassertropfen  oder  die 
mit  Kuhmilch  vermischte  Büfifelmilch  als  solche  nicht  wahr- 
nimmt). Welcher  unter  diesen  sieben  Gründen  nun  findet 
auf  die  der  Sinneswahi-nehmung  sich  entziehenden  Principien 
der  S ä m k h y  a -  Philosophie  Anwendung,  d.  h,  auf  die 
Seele  und  auf  die  unsichtbaren  Formen  der  Materie?  Darauf 
antwortet  Kärikä  8  und  Sütra  I.  109:  Die  zu  grosse 
Feinheit.  Und  Vijnänabhikshu  bemerkt  dazu ,  dass 
unter  diesem  Begriff  weder  atomistische  Kleinheit  noch 
Unbegreiflichkeit  oder  Unbeschreibbarkeit  zu  verstehen  sei, 


^)  Eine  solche  Sinneswahrnehmung  heisst  savikalpaka,  im 
Gegensatz  zu  dem  nirvikalpaka  jhäna ,  das  die  speciellen  Eigen- 
thümlichkeiten  der  Objekte  nicht  unterscheidet.  S.  Aniruddha  zu 
Sutra  I.  89  und  Vijiiänabh.  zu  I.  148,  154. 

^)  Sämkhya-tattva-kaumudi  zu  Kärikä  7. 


—    153    — 

sondern  eine  Eigenschaft  allgemeiner  Natur,  die  bei  uns 
gewöhnlichen  Menschen  ^)  die  Erkenntniss  durch  Sinnes- 
wahrnehmung  ausschliesst ,  —  womit  natürlich  nur  eine 
Umschreibung,  aber  keine  Erklärung  gegeben  ist. 

Diese  Betrachtungen  der  Sämkhya- Schriften,  die 
wohl  hauptsäclilich  gegen  die  Materialisten  gerichtet  sind, 
flihren  uns  zu  der  zv,^eiten  Erkenntnissquelle,  der  Schluss- 
folgerung. Diese  heisst  ein  Produkt  der  Sinneswahr- 
nehmung-), weil  das  sinnlich  wahrgenommene  die  Basis 
ist,  von  der  aus  das  nicht  wahrnehmbare  erschlossen  wird. 
In  Kärikä  6  ist  dieses  Verhältniss  mit  den  Worten  aus- 
gedrückt: „Die  Schlussfolgerung  setzt  ein  Merkmal  und 
den  Träger  dieses  Merkmals  voraus".  Daran  schliesst  sich 
die  Definition  der  Säinkhya-krama-dipikä  Nr.  77: 
„Schlussfolgerung  ist  diejenige  Erkenntniss,  die  bei  der 
Beobachtung  eines  Merkmals  entsteht";  doch  finden  wir 
den  Begriff  genauer  erklärt  in  Sütra  I.  100  als  „die  aus 
der  Beobachtung  der  Zusammengehörigkeit  sich  ergebende 
Constatirung  des  Zugehörigen".  Die  Schlussfolgerung  ist 
von  dreierlei  Art=^):  sie  geht  1)  von  der  Ursache  auf  die 
Wirkung  (piirvavat)^  wenn  man  z.  B.  aus  dem  Aufziehen 
der  Wolken  einen  bevorstehenden  Regen  erschliesst,  2)  von 
der  Wirkung  auf  die  Ursache  (ceshavat)  *),  wenn  man  z.  B. 
aus  dem  Anschwellen  der  Flüsse  schliesst,  dass  es  geregnet 
hat;  3)  von  dem  Einzelnen  auf  das  Allgemeine  (sämänyato 


^)  Denn  der  Yogin  erblickt  jene  Dinge  nach  indischer  An- 
schauung vermittelst  einer  übernatürlichen  Sinneswahrnehmung. 

''■)  S.t.kaumudi  zu  Kärikä  6. 

**)  Kärikä  5  nebst  den  Commentaren,  Aniruddha  zu  Sütra 
I.  100,  Vijnänabh.  zu  I.  103. 

*)  So  in  der  Nyäya- Literatur;  vgl.  Vätsyäyana  zu  Nyäya- 
butra  I.  1.  5  und  Ballantyne,  Lecture  on  the  Sänkhya  Philo- 
sophy  p.  60,  64,  Colebrooke,  Mise.  Ess.*  I.  253,  Deussen, 
System  des  Vedänta  S.  94.  Die  Commentatoren  zu  den  Särnkhya- 
Werken  sind  durch  die  Etymologie  des  Terminus  geshavat  zu 
einer  anderen  Auslegung  verführt  worden,  über  die  man  sich  in 
den  Uebersetzuugen  Orientiren  kann. 


—     154    — 

drshfn),  wenn  man  x.  B,  aus  dem  Anblick  eines  blühenden 
Manf^obaums  scliliesst,  dass  die  Mangobäume  überhaupt  in 
Blüthe  stehen  ^),  oder  wenn  man  aus  der  Betrachtung  der 
einzelnen  Sinne  den  allgemeinen  Begriff  des  Wahrnehmungs- 
werkzeugs gewinnt  ^).  Diese  letzte  Form ,  welche  von 
Väcaspatimi9ra  als  „das  Erkennen  eines  bestimmten 
allgemeinen  Begriffs,  dessen  specifische  Merkmale  nicht 
wahrnehmbar  sind"  definirt  ist,  entspricht  also  unserem 
Induktionsschluss ;  und  deshalb  habe  ich  in  meinen  Sä m- 
k  h  y  a  -  Arbeiten  den  bisher  anders  übersetzten  Terminus 
sdmdnyato  drshta  mit  ,induktiv'  wiedergegeben. 

Die  letzte  Erkenntnissquelle,  die  zuverlässige  Mit- 
theilung, ist  ursprünglich  gewiss  nichts  anderes  gewesen, 
als  die  Unterweisung  von  Seiten  eines  competenten  Lehrers. 
Dafür  spricht,  dass  in  dem  Gesetzbuch  des  Manu,  welches 
die  Theorie  der  drei  Erkenntnissquellen  unserem  System 
entlehnt  hat,  XII.  105  neben  Perception  und  Schluss- 
folgerung an  dritter  Stelle  die  Gesetzsammlungen  stehen, 
d.  h.  die  Aussprüche  der  Fachleute  3).    Unsere  Sämkhya- 


^)  Gaudapäda  zu  Kärikä  5. 

2)  S.t.kaumudi ,  S.  549,  550  meiner  Uebersetzung,  Vijnänabh. 
zu  Sütra  I.  103. 

^)  Vgl.  Johaentgen  S.  64.  —  Die  Aufstellung  der  dritten 
Erkenntnissquelle  hat  übrigens  in  den  Sämkhyasütra's  Erörterungen 
über  den  Zusammenhang  von  Wort  und  Bedeutung  veranlasst. 
Schon  S.  112,  Anm.  1  hatte  ich  Gelegenheit  zu  bemerken,  dass  für 
die  Sämkhya's  dieser  Zusammenhang  nicht  ewig,  sondern  von 
menschlicher  Uebereinkunft  abhängig  ist.  Als  Grund  wird  in 
Sütra  V.  97  dafür  angegeben,  dass  die  beiden  in  Verbindung 
stehenden  Dinge,  die  Bezeichnung  und  das  Bezeichnete,  vergänglich 
seien,  mithin  auch  ihre  Verbindung  vergänglich  sein  müsse.  Auf 
drei  verschiedene  Weisen  wird  nach  Sütra  V.  38  und  der  über- 
einstimmenden Erklärung  der  Commentatoren  der  Zusammenhang 
von  Wort  und  Bedeutung  erkannt:  1)  Durch  direkte  Belehrung: 
„Das  heisst  Topf.  2)  Durch  die  Ausdrucksweise  und  das  mit 
dieser  in  Verbindung  stehende  Verfahren  kundiger  Leute  (vrddha- 
vi/avahära)]  wenn  z.  B.  der  Sprachunkundige  beobachtet,  wie  der 
Eine  sagt:  „Bringe  die  Kuh"  und  der  Andre  den  Auftrag  ausführt 


—     155    — 

Texte  freilich  verstehen  unter  der  ,zuverlässigen  Mittheihmg' 
das  Zeugniss  der  heiligen  Ueberliefening  ^) ;  und  je  jünger 
sie  sind,  um  so  häufiger  und  eifriger  bemühen  sie  sich, 
ihre  Beweisführung  durch  Berufung  auf  die  Schrift  zu 
kräftigen.  Dass  dies  ein  Zugeständniss  ist,  mit  dem  die 
S  am  k h  y  a  -  Philosophie  die  Anerkennung  ihrer  Orthodoxie 
erkaufte,  brauche  ich  kaum  zu  wiederholen  2),  Wir  dürfen 
in  der  Folge  diese  unserem  System  ursprünglich  fremde 
und  innerlich  stets  fr-emd  gebliebene,  wenn  auch  von  den 
jüngsten  Sämkhya- Autoritäten  nicht  mehr  als  solche 
empfundene  Verwendung  der  Offenbarung  als  eines  Be- 
weismittels unberücksichtigt  lassen. 

In  der  That  also  reduciren  sich,  da  die  zuverlässige 
Mittheilung  doch  nur  für  die  Verbreitung  der  Lehre 
in  Betracht  kommt  und  principiell  nicht  den  beiden  anderen 
Erkenntnissquellen  coordinirt  Averden  kann,  die  drei  Pra- 
mäna's  der  Sämkhya -Philosophie  auf  zwei.  Aber  wir 
müssen  noch  einen  Schritt  weiter  gehen.  Im  Vergleich 
mit  der  Perception  wird  die  Schlussfolgerung  als  das 
stärkere,  beweiskräftigere  (drdhatara)  Erkenntnissmittel 
bezeichnet  =') ;  in  Wirklichkeit  jedoch  ist  das  letztere  ftir 
unser  System  die  alleinige  Quelle  der  philosophischen 
Erkenntniss *).     Dieser  Grundsatz  ist  offen  in  Sütral.  60 


(vgl.  hierzu  Sämkhya-tattva-kaumudi  zu  Kärikä  6,  S.  550  meiner 
Uebersetzuug).  3)  Dadurch,  dass  ein  bis  dahin  noch  unbekanntes 
Wort  zusammen  mit  bekannten  Wörtern  in  demselben  Satze  vor- 
kommt (prasiddha-pada-sämänddhikarauya);  wie  z.  B.  ein  Kind, 
das  schon  die  Worte  ,Mango'  und  , essen'  kennt,  beim  Hören  des 
Satzes  „Der  Vogel  isst  den  Mango"  auch  die  Bedeutung  des  ihm 
bisher  unbekannten  Wortes  ,Vogel'  kennen  lernt. 

1)  Kärikä  5,  6  nebst  den  Commentaren ,  Sütra  I.  101,  Säm- 
khya-krama-dipikä  Nr.  78. 

2)  S.  oben  S.  4,  5,  60,  71,  72. 
^)  S.t.kaumudi  zu  Kärikä  8. 

^)  Vgl.  Röer,  Lecture  p.  20.  —  Wenn  in  diesem  Sinne  das 
Sämkhya-System  als  manana-cästra  bezeichnet  wird  (Vijnänabh. 
zu  I.  19) ,  so  ist  damit  zugleich  seine  Unabhängigkeit  von  der 
religiösen  üeberlieferung  betont. 


—    156    — 

ausgesproclieii ,  und  er  wird  noch  Aveiter  in  Kärikä  6 
und  Sütra  I.  103  dahin  specialisirt ,  dass  von  den  drei 
oben  angeführten  Formen  der  Schlussfolgerung  die  beiden 
letzte}!,  die  von  der  Wirkung  auf  die  Ursache  gehende  und 
die  induktive,  diejenigen  Mittel  seien,  durch  welche  das 
System  aufgebaut  ist  ').  Es  lässt  sich  also  die  Methode 
der  S  ä  m  k  h  y  a  -  Philosophie  kurz  in  folgender  Weise 
charakterisiren.  Sie  geht  von  dem  Satze  aus,  dass  die 
Wirkung  nichts  anderes  als  die  Ursache  in  einem  be- 
stimmten Entwickelungsstadium  ist  2) ,  und  dass  von  dem 
uns  sinnlich  vorliegenden  Stadium  die  vorangehenden  zu 
erschliessen  sind,  bis  man  bei  einem  Princip  ankommt, 
das  nur  den  Charakter  der  Ursache  und  nicht  auch  den 
der  Wirkung  hat.  So  gelangt  sie  von  der  groben  Materie 
zu  den  feinen  Elementen  oder  Grundstoffen,  von  den  feinen 
Elementen  und  den  Sinnen  stufenweise  zu  den  inneren 
Organen  und  von  diesen  weiter  zur  Urmaterie.  Daraus 
ferner,  dass  alle  diese  materiellen  Principien  zusammen- 
gesetzt sind  und  alles  zusammengesetzte  zum  Zwecke  eines 
andern  da  ist,  erschliesst  sie  die  Existenz  der  Seele,  ftir  die 
dann  auch  noch  andere,  später  zu  besprechende  Beweise 
beigebracht  werden  ■^). 

Für  die  Kenntniss  der  Methode,  wie  sie  im  Einzelnen 
in  unserm  System  gehandhabt  wird,  dürfte  es  nicht  über- 
flüssig sein,  die  allgemeinen  logischen  Grundsätze,  die  in 
den  Sä mkhya- Schriften  ausgesprochen  werden,  und  die 
stehenden  Widerlegungsgründe  zu  beleuchten.  Da  unsere 
Autoren  nicht  nur  die  anderen  Systeme  gut  gekannt  und 


*)  Die  beiden  Textstellen  nennen  zwar  nur  die  induktive 
Schlussfolgerung,  aber  Väcaspatimi^ra  bemerkt  mit  Recht,  dass 
dies  eine  , elliptische  Ausdrucksweise'  ist  und  dass  man  auch  die 
zweite  Form  hinzuzudenken  hat;  denn  faktisch  stellt  die  Säm- 
khya -Philosophie  ihre  Principien  im  Wesentlichen  durch  den 
Schluss  von  der  Wirkung  auf  die  Ursache  fest. 

2)  Karikä  9,  Sütra  I.  115—120. 

^)  Vgl.  Röer,  Lecture  p.  12—14,  Johaentgen  S.  64. 


—     157     — 

zum  Theil  über  dieselben  geschrieben  haben,  sondern  auch 
in  der  Mehrzahl   keine    eigentlichen  Anhänger  des  Säni- 
k  h  y  a  -  Systems  gewesen  sind,  so  ist  es  nur  natürlich,  dass 
uns    gelegentlich     in     ihren    Werken     solche     Grundsätze 
begegnen,   die  uns   als   das   specieUe   Eigenthum    anderer 
Schulen  bekannt  sind,   mögen   die  Lehren    dieser  Schulen 
auch    sonst    energisch    bekämpft    werden.     So  finden    wir 
z.    B.    bei    Väcaspatimi9ra    zu    Kärikä   2    und    bei 
Vijnänabhikshu  zu  I.  154  das  Princip  der  Mimämsä 
ausgesprochen,    dass    der    väkya-bheda    zu    vermeiden    sei, 
d.  h.   dass   man,   so   lange   eine   Stelle  auf  andere  Weise 
befriedigend  erklärt  werden  könne,  nicht  zu  der  Annalune 
greifen    dürfe,    es    seien   zwei   oder    mehrere  Gedanken  in 
demselben  Satze  zum  Ausdruck  gebracht  i);  oder  bei  Vijnä- 
nabhikshu zu  I.  142  den  allerdings  selbstverständlichen 
Grundsatz  der  Nyäya- Philosophie,  dass  eine  Verbindung 
nur  da  eintreten  kann,   wo   eine  Verschiedenheit  besteht. 
Wer  sich  die  Mühe  giebt   meine  Uebersetzung  der  Säm- 
khya- Texte  durchzulesen,  Avird  noch  allerlei  den  anderen 
Systemen  entlehnte  Sätze  antreffen,  die  als  solche  gekenn- 
zeichnet sind. 

Häufig  ist  es  aber  bei  diesen  Einzelheiten  überaus 
schwierig  zu  entscheiden,  was  der  ureigne  Besitz  eines 
Systems  und  was  Entlehnung  ist.  Wenn  die  Systeme 
sämmtlich  bis  in  ihre  feinsten  Verzweigungen  durchgearbeitet 
und  dargestellt  sein  werden,  lässt  sich  hoffen,  dass  auch 
auf  diesem  Gebiete  die  Grenzlinien  scharf  gezogen  werden 
können;  aber  zur  Zeit  dürfte  kein  europäischer  Forscher 
sich  die  Wege  in  dem  Urwaldsdickicht  der  philosophischen 
Literatur  Indiens  so  weit  gebahnt  haben,  um  über  diese 
Dinge  schon  jetzt  mit  Sicherheit  zu  urtheilen.  Wenn  ich 
also  im  Folgenden  einige  logische  Grundsätze  aufzälüe,  die 
ich    nach    der    Anschauungsweise    des    Systems    und    aus 


*)  S.  meiue  Uebersetzung  des  Säiakhya-pravacana-bhäshya  S.  168 
Anm.  5. 


—     158    — 

anderen  Gründen  für  das  specielle  Eigenthum  der  Säm- 
k  li  y  a  -  Philosophie  halte,  so  thue  ich  dies  mit  der  gebotenen 
Reserve. 

Eine  theoretische  Erwägung  (kalpanä)  hebt  nicht 
das  durch  die  Erkenntnissmittel  festgestellte  auf.  Sütra 
11.  25>). 

Die  Theorie  muss  sich  im  Einklang  mit  der  Empirie 
(drshfa)  halten.  Sütra  V.  49;  Aniruddha  zu  Sütra 
1.45,  Vijfiänabhikshu  zu  1.20,  81,  99,  111.60,  V.  54, 
VI.  39. 

Wo  die  einfache,  natürliche,  nahe  liegende  Erklärung 
(läghava)  ausreicht,  ist  die  complicirtere  Erklärung  (gaurava) 
abzulehnen.  Zu  der  letzteren  darf  man  sich  nur  entscliliessen, 
wenn  die  Beweise  dazu  zwingen  2). 

Die  Nichtexistenz  eines  Dinges  ist  nichts  anderes  als 
der  Ort,  an  dem  das  Ding  sich  nicht  befindet  2).  Vijuä- 
nabhikshu  zu  Sütra  1.  113,  V.  56  (S.  132  Anm.  1 
und  S.  292  Anm.  3  meiner  Uebersetzung). 

Kein  Ding  kann  seines  Wesens  entkleidet  werden; 
denn  das  Wesen  dauert  so  lange,  als  das  Ding  selbst. 
Aniruddha  zu  Sütra  111.  66,  Vijnänabhikshu  zu 
1.  7,  144. 

Die  Individuen  und  die  Gesammtheit  sind  identisch 
(vyasliti-samashtyar  ekatä).    Vijnänabhikshu  zu  11.  18. 

Eine  Eigenschaft  ist  nicht  etwas  von  ihrem  Substrat 
verschiedenes  (dharma-dharmy-ablieda)  *).  V  i j  n  ä  n  ab  h  i  k  - 
shu  zu  1.  61,  62,  11.  13,  16. 

Dasselbe  gilt  von  den  Kräften  ((^akti-gahtimad-cd)heda). 
Vijnänabhikshu  zu  1.  61,  VI.  34. 


*)  Dass  in  dem  Zusammenhange,  iu  dem  dieses  Sütra  mit  den 
vorangehenden  steht,  die  Schrift  das  Erkenntuissmittel  ist,  kommt 
bei  der  allgemeinen  Fassung  des  Satzes  nicht  in  Betracht. 

2)  S.  die  Indices  zu  meinen  Textausgabeu  unter  gaurava  und 
läghava. 

'■^)  Trotz  Aniruddha  zu  Sütra  I.  45. 

*)  Vgl.  Nilakantha-Hall,  Rational  Refutation  p.  94  Anm. 


—     159    — 

Ein  und  dasselbe  Ding  kann  nicht  zugleich  Subjekt 
und  Objekt  sein  (karma-hartr-virodha  oder  kartr-karma- 
virodha).     Sütra  VI.  49  i). 

Da  ich  mir  diejenigen  Grundsätze  unseres  Systems,  die 
den  Kausalnexus  betreffen,  auf  Kapitel  5  des  folgenden 
Abschnitts  versparen  muss,  so  habe  ich  in  diesem  Zusammen- 
hange nur  noch  die  bei  den  S  ä  m  k  h  y  a '  s  beliebten 
Widerlegungsgründe  anzuführen.  Folgende  logische  Fehler 
sind  nach  unsern  Texten  vor  allem  zu  vermeiden-): 

1)  die  Erklärung  eines  Dinges  durch  das  Ding  selbst 
(ätmä(^raya)  ^) ; 

2)  der  circulus  vitiosus  (anyo^nyärraya)  *) ; 

3)  der  Mangel  eines  ausreichenden  Grundes  (niyämakd- 
'bhäva)^); 

4)  die  Unmöglichkeit,  sich  für  eine  der  beiden  Seiten 
einer  Alternative  zu  entscheiden  (vmtgainakä-'bhäva  j  vini- 
gamanä-viraha) ; 

5)  der  regressus  in  infinitum  (anavasthä,  anavasthäna), 
der  jedoch  dann  nicht  als  logischer  Feliler  gilt,  wenn  er 
sich  beweisen  lässt.  Im  Falle  von  Samen  und  Spross, 
sowie  bei  allen  ,begiaubigten'  (prämänika)  Verhältnissen 
ähnlicher  Art  wird  die  Verkettung  ohne  Anfang  anerkannt  ^). 


^)  Und  nicht  selten  bei  den  Commentatoren  (s.  die  ludices). 
Auf  die  philosophische  Bedeutung  dieses  Gesetzes  hat  nachdrücklich 
G.  Biedenkapp  hingewiesen  in  den  ,, Beiträgen  zu  den  Problemen 
des  Selbstbewusstseins  u.  s.  w." 

2)  Ich  gebe  hier  keine  Belegstellen,  weil  die  in  Klammern 
beigefügten  Termini  in  den  Indices  zu  meinen  Ausgaben  stehen. 

3)  Dieses  Wort  habe  ich  ausserhalb  der  Sänikhya- Literatur 
nur  in  einem  Citat  aus  der  N  yäya-sütra-vrtti  (in  Täranätha 
Tarkavächaspati'sVächaspatya)  gefunden; Bhimächärya 
Jhalakikar  hat  das  Wort  in  seinem  Nyäyakosa  nicht. 

*)  Gleichfalls  als  Nyäya- Terminus  im  Vächaspatya,  aber 
nicht  im  Nyäyakosa  aufgeführt. 

^)  Vgl.  G.  Biedenkapp's  Beiträge  zu  den  Problemen  des 
Selbstbewusstseins  u.  s.  w.     S.  56,  60. 

«)  Vijn.  zu  I.  122,  Einleitung  zu  III.  46. 


-     160     — 

6)  die  zu  weit  gehende  Uebertragung,  vermöge  deren 
man  eine  Eigenschafb,  die  nur  bestimmten  Dingen  angehört, 
fälschlich  auch  anderen  zuschreibt  (atiprasakti,  atiprasaiuja, 
ativyäpti). 

Mit  den  unter  5)  und  6)  genannten  Beweisfehlern 
operiren  allerdings  auch  die  anderen  Schulen,  aber,  so 
viel  ich  sehen  kann ,  nicht  in  demselben  Umfang  wie  die 
S  ä  m  k  h  y  a  -  Autoritäten.  Und  da  der  regressus  in  infinitum 
benutzt  wird,  um  die  Urmaterie  als  das  letzte  Glied  in  der 
Kette  der  materiellen  Principien  zu  erweisen,  und  die  ,zu 
weit  gehende  Uebertragung',  um  die  Verschiedenheit  der 
Seele  von  dem  inneren  Organ  festzustellen,  da  also  die 
zwei  Begrifife  bei  den  wichtigsten  Punkten  unseres  Systems 
zur  Begründung  herangezogen  sind,  so  ist  es  mir  wahr- 
scheinlich, dass  die  Ausdrücke  in  ihrer  philosophischen 
Bedeutung  zuerst  innerhalb  der  Sämkhya- Schule  ge- 
braucht wurden  ^). 

Ueberall  im  Orient  sind  bei  der  Darstellung  und  Ver- 
breitung eines  philosophischen  Systems  oder  einer  Religion 
Gleichnisse  und  Beispiele  in  grosser  Zahl  verwendet  worden. 
Auch  die  philosophischen  Systeme  Indiens  bilden  trotz  der 
aphoristischen  Kürze,  deren  man  sich  bei  der  Abfassung 
ihrer  Hauptwerke  befleissigte,  keine  Ausnahme  von  dieser 
Regel.  Ueberraschend  ist  nur  die  grosse  Armuth,  welche 
die  indischen  Philosophen  bei  der  Erfindung  der  Beispiele 
und  Gleichnisse  verrathen.  Ein  gewisser  Bestand  ist 
sämmtlichen  Schulen  gemeinsam  und  wird  bis  zum  Ueber- 
druss  immer  und  immer  wieder  verwendet.  Den  kläglichsten 
Eindruck  macht  in  dieser  Hinsicht  die  N  y  ä  y  a  -  Philosophie: 
in  allen  Schriften  dieses  Systems  und  auch  in  den  Werken 


^)  An  der  einzigen  Stelle,  wo  Qamkara  (nach  Deussen, 
System  des  Vedänta  S.  528)  in  seinem  Commentar  zu  den  Brahma- 
sutra's  (am  Scliluss  zu  II.  3.  9)  den  Terminus  anavasthä  gebraucht, 
zeigt  der  daneben  stehende  S Ti in khya- Ausdruck  m ula-2'>rakrti,  dass 
Qanikara  auf  eine  Theorie  unseres  Systems  Bezug  nimmt. 


—    161     — 

anderer  Schulen,  wenn  sich  dieselben  mit  N  y  ä  y  a  -  Gegen- 
ständen beschäftigen,  wird  als  Beispiel  fiir  einen  Schluss 
von  der  Wirkung  auf  die  Ursache  die  Erschliessung  des 
Vorhandenseins  von  Feuer  aus  dem  Rauch  auf  dem  Berge 
angeführt ;  ebenso  regelmässig  werden  als  Beispiele  sinnlich 
wahrnehmbarer  Objekte  Töpfe  (ghata)  und  Kleider  (pata) 
genannt  ^). 

Auch  in  der  S  ä  m  k  h  y  a  -  Literatur  finden  wir  einen 
grossen  Theil  der  in  den  Lehrbüchern  der  anderen  Schulen 
mehr  oder  weniger  geläufigeii  Gleichnisse  wieder,  wie  aus 
der  nachstehenden  Auswahl  zu  ersehen  ist.  Zuvor  aber 
sei  bemerkt,  dass  die  Sämkhy asütra's  an  solchem 
Material  mehr  bieten  als  die  Sütra's  der  übrigen  ortho- 
doxen Schulen;  ausser  den  zahlreichen  durch  das  ganze 
Werk  verstreuten  Beispielen  enthält   das  vierte  Buch  aus- 


1)  Pandit  B  hägavatächärya  machte  in  Benares  beim 
Durcharbeiten  eines  Textes  zu  mir  die  ironische  Bemerkung  über 
den  Autor:  ghata-smaranät  pürvaiii  samtoslio  nä  'sti  „bevor  er  [bei 
der  Erörterung  eines  Gegenstandes]  die  Töpfe  nicht  erwähnt  hat, 
ist  er  nicht  zufrieden".  Dass  auch  sonst  verständigen  Indern  die 
ewig  wiederkehrenden  Töpfe  und  Kleider  zu  viel  geworden  sind, 
geht  aus  einem  Spottverse  hervor,  dessen  Kenntniss  mir  von  meinem 
Pandit  vermittelt  wurde: 

sahhäydin  vdccUäh  cruti-katu  ratanto  ghata-patän 
na  lajjante  mancläh,  svayam  api  tu  jihreti  vibudhah. 
„Die  geschwätzigen  Thoren  schämen  sich  nicht,  in  der  Versamm- 
lung in  einer  Ohren  zerreissenden  Weise  ihre  Töpfe  und  Kleider 
auszuschreien;  der  Weise  aber,  [der  das  hört,]  schämt  sich  [seiner 
Genossen]."  Nach  der  Angabe  des  Pandit  entstammt  dieser  Vers 
dem  ,Kävya  Gunädar^a'.  Herr  Prof.  Zachariae  theilte 
mir  (unter  Verweisung  auf  Aufrecht,  Catal.  Oxon.  p.  150  und 
Taylor,  Catalogue  raisonue  I.  444)  mit,  dass  darunter  der 
Vi^vagunädarca  des  Venkatäcärya  oder  Veiikatädhva- 
rin,  ein  aus  dem  16ten  Jahrhundert  stammendes  und  zu  der  Klasse 
der  Campü's  gehöriges  Werk,  zu  verstehen  ist.  Dieses  Buch  ist 
mit  einem  Commentar  und  erklärenden  Noten  von  Shamarav 
Vithal,  Bombay  (Karnatak  Press),  1889  herausgegeben;  der  eben 
angeführte  Vers  steht  daselbst  p.  223  als  Nr.  770.  Vgl.  auch 
Burnell's  Taujore  Katalog  S.  162,  Nr.  LXXXIII. 

Garbe,  Sämkhya-Philosophie.  1 1 


-     162    - 

schliesslich  eine  Sammlung  von  Gleichnissen,  die  zur  Er- 
läuterung der  Hauptpunkte  dienen  sollen.  Hierzu  sind 
im  Wesentlichen  Erzählungen  und  Legenden  aus  den 
Upanishad's,  dem  Mahäbhärata,  dem  Rämäyana 
und  der  P  u  r  ä  n  a  -  Literatur  benutzt  ^).  Während  von  diesen 
Dingen  noch  mancherlei  in  origineller  Anwendung  erscheint, 
sind  die  folgenden  Gleichnisse  durchaus  Waare  aus  zweiter 
Hand.  Den  Strick,  der  im  Halbdunkel  für  eine  Schlange 
angesehen  wird  und  uns  so  lange  in  Schrecken  versetzt, 
bis  er  in  seiner  wahren  Natur  erkannt  wird  2),  nimmt 
man  noch  gern  in  den  Kauf,  weil  er  ein  ungewöhnlich 
treffendes  Beispiel  für  die  falsche  Vorstellung  ist,  die  wir 
auf  ein  Objekt  übertragen  und  die  nur  durch  die  unmittel- 
bare Erkenntniss  der  Wahrheit  aufgehoben  wird  •').  Weniger 
gut  ist  das  Gleichniss  von  dem  Perlmutter,  das  man  für 
Silber  hält*),  und  das  von  der  weissen  Muschel,  die  dem 
Gelbsüchtigen  als  gelb  erscheint  5).  Die  zwei  Menschen, 
von  denen  der  eine  in  Srughna,  der  andere  in  Päta- 
1  i  p  u  t  r  a  lebt  ^),  stammen  als  Beispiel  räumlicher  Getrennt- 
heit von  (j^amkara  her,  wie  bereits  S.  73  erwähnt  ist; 
das  Durchstechen  der  auf  einander  gelegten  hundert  Lotus- 
blätter mit  einer  Nadel  als  ein  Beispiel  anscheinend 
gleichzeitigen ,  thatsäclilich  aber  successiven  Geschehens ") 
aus   dem  Sähityadarpana.     Als   altbekannte  Undinge 


1)  Dass  eine  derartige  Sammlung  erläuternder  Erzählungen 
schon  dem  Shashtitantra  (s.  oben  S.  58,  59)  einverleibt  war, 
geht  aus  Kärikä  72  hervor. 

2)  Sütra  III.  66. 

3)  Vgl.  Deussen,  System  des  Vedänta  S.  290  Anm. 

*)  Aniruddha  zu  Sütra  I.  79,  Anir.  und  Mahädeva  zu  V.  52, 
55,  Vijnänabh.  zu  I.  43,  56,  VI.  14.  —  Diese  beiden  Gleichnisse 
sind  jedem  Schüler  in  Indien  unter  den  Namen  rajju-sarpa  und 
cukti-rajata  bekannt. 

5)  vijn.  zu  I.  79,  VI.  52. 

6)  Sütra  I.  28. 

')  Aniruddha  zu  II.  32.  Vgl.  die  Einleitung  zu  meiner  Ausgabe 
der  Aniruddhavrtti  p.  VIII,  IX. 


—     163     — 

begegnen  uns  das  Manneshorn,  das  Hasenliorn,  die  Luft- 
blume, der  Sohn  der  Unfruchtbaren  ») ;  als  Gleichniss  für 
das  Fortleben  des  durch  die  Erkenntniss  Erlösten  das 
Weiterschwingen  der  Töpferscheibe  in  Folge  des  gegebenen 
Anstosses  auch  nach  der  Vollendung  des  Topfös-). 

Doch  will  ich  die  Liste  der  entlehnten  Beispiele, 
die  sich  mit  Leichtigkeit  vergrössern  liesse,  hier  abbrechen 
und  mich  zu  denjenigen  wenden,  die  im  Gegensatz  zu  den 
bisher  angeführten  als  echte  S  am khya- Gleichnisse  be- 
zeichnet werden  dürfen  und  deshalb  grössere  Beachtung 
verdienen.  Hierher  rechne  ich  alle  diejenigen  Gleichnisse, 
welche  distinktiveSämkhya-Lehren  iUustriren  sollen , 
insbesondere  das  Verhältniss  von  Seele  und  Materie,  die 
Natur  der  materiellen  Welt,  wie  sie  dem  Blicke  derSäni- 
khya's  erscheint,  und  das  Wesen  des  inneren  Körpers 
{Imga-carira) ,  dessen  Construirung  eine  charakteristische 
Eigenthümlichkeit  unseres  Systems  ist.  Dass  diese  Gleich- 
nisse der  specielle  Besitz  der  S am khya -Schule  sind, 
liegt  auf  der  Hand ;  und  bemerkenswerth  ist,  dass  fast  alle 
in  der  Sämkhyakärikä  sich  findenden  Gleichnisse  zu 
dieser  Klasse  gehören.  Ich  glaube,  dass  dieselben  aus  alter 
Zeit  stammen,  zum  Theil  gewiss  aus  der  Entstehungszeit 
des  Sämkhya- Systems.  Li  einem  Falle  wenigstens  lässt 
sich  die  metaphorische  Ausdrucksweise  sogar  mit  der 
grössten  Wahrscheinlichkeit  bis  auf  den  Stifter  zurück- 
führen. Die  Vorstellung  von  den  drei  G  u  n  a '  s  oder  Con- 
stituenten  der  Materie  nämlich,  ohne  welche  die  Säm- 
khya-Philosophie  nicht  zu  denken  ist,  beruht  auf  dem 
Bilde  des  aus  drei  Strähnen  bestehenden  Strickes,  unter 
dem   die  Materie  gedacht  ist,   die   die  Seelen  bindet.      So 


1)  S.  die  Indices  zu  meinen  Textausgaben  unter  nr-grüga, 
manushya-crnga,  caca-crnga,  kha-jiushpa  und  handliyä-j)utra.  — 
Eine  erfreuliche  Abwechslung  bietet  das  Haar  der  Schildkröte  bei 
Väcaspatimi^ra  in  der  Einleitung  zu  Kärikä  7  und  der  siebente 
Geschmack  bei  demselben  zu  Kärikä  8. 

2)  Kärikä  67,  Sütra  lU.  82. 

11* 


—     164    — 

vvunderlicli    dieses  Bild   auf  den  uistcu  Blick  ersolieiiii,  so 
darf  man    doch    nicht  verkennen,  dass  für  denjenigen,  der 
ununterbrochen    von    dem  Gebundensein    der    Seele    durch 
die   Materie   redete,    das    Gleichniss    eines   Strickes    ausser- 
oi'dentlich   nahe   lag;    und  wenn    nun    der  Begründer  der 
S  ä  m  k  h  y  a  -  Philosophie    in  der  Materie    drei  verschiedene 
Potenzen  wirken  sah,  so  gestaltete  er  jenes  Bild  nur  natur- 
gemäss   aus,    indem    er    diese  Potenzen   die  drei  Strähnen 
des  Strickes  nannte.    Auch  die  anderen  hierher  gehörigen 
Gleichnisse    sind    grösstentheils    gut   gewälilt.      Die    Ver- 
bindung der  ungeistigen,  aber  schöpferischen  Materie  mit 
der  geistigen,   aber   nicht   schöpferischen  Seele   wird   dem 
Bündniss   zAvischen    dem   Blinden   und   Lahmen    ver- 
glichen,   von   denen    der    erstere  den   letztereji   auf   seine 
Schultern  nahm  und  aus  dem  Waldesdickicht  trag,  in  dem 
sich  beide   hilflos   befanden  *).     Der   Lahme   ist   die  Seele, 
die  sehen,   aber  nach    der  Lehre   des  S  ä rii k h y  a -  Systems 
sich  nicht  bewegen,  d.  h.  nicht  handeln  kann ;  der  Blinde 
ist   die  Materie,   die   sich  bewegt   und    alle  Thätigkeit   in 
der  Welt  vollzieht,  aber  nicht  sehen,  d.  h.  erkennen  kann. 
Diese    unbewusste  Wirksamkeit    der   Materie    wird   durch 
das  Beispiel  der  Milch  erläutert,  die  unbewusst  dem  Euter 
der  Kuh  zu  Gunsten  des  Kalbes  entströmt  ^).    Alles  Wirken 
der   Materie   geht    lediglich    im   Interesse   der   Seelen   vor 
sich,  zum  Zwecke  des  Genusses  (bhoga)  und  der  Befi-eiung 
(apavarga),  d.  h.  um  die  Objekte  des  Empfindens  und  Er- 
kennens  den  Seelen   darzubieten   und   diese  so  zur  Selbst- 
erkenntniss   zu   führen.      Darum    wird    die    Materie   einem 
vortrefflichen    uneigennützigen   Diener   verglichen,  der  für 
seine    Leistungen    von    seinem    Herrn    (der    Seele)    Aveder 
Dank  noch  Lohn   zu    erwarten  hat  '•^) ;  ferner  einem  Koch, 


^)  Kärikä  21  und  Gaui1a|3ridaV  Commeiitar. 

2)  Kärikä  57,  Sütra  II."  37,  III.  59. 

^)  Kärikä  60,  Sütra  III.  61.  Im  entgegengesetzten  Sinne 
äussert  sich  Vijnänabhikshu  zu  III.  58,  indem  er  einen  sich  selbst 
gemachten  Einwand  widerlegt:    ,,Wenn  die  Materie  einem  Diener 


-     165    - 

fler  seinem  Gebieter   die  Speisen   zubereitet '),   und   einem 
geborenen  Sklaven,  der  vermöge  seiner  Anlage  nicht  anders 
kann    als    dem   Herrn    dienen  -).      Der   nämliche    Gedanke 
wird  zum  Ausdruck  gebracht  durch  das  Gleiclniiss  von  dem 
Safran  tragenden  Kamel,  das  nicht  für  sich  selbst,  sondern 
lediglich  für  seinen  Besitzer  arbeitet-^).     Die  Wirksamkeit 
der  Materie  wird    nun  aber  nicht  etwa  durch  den  WUlen 
der   Seelen   angeregt  ■ —    denn   diese    sind   qualitätlos    — , 
sondern  nur  durch  die  Nähe,  in  der  sie  sich  bei  der  Materie 
befinden.      Dieses  Verhältniss  wird  durch  das  Beispiel  des 
.  Magneten  versinnbildlicht,  in  dem  kein  Wille  wohnt  und 
der  doch  das  Eisen  anzieht,  wenn  es  ihm  nahe  ist  *).    Ob- 
wohl aber  die  Materie  unbewusst  ist  und  nur  in  Folge  des 
blinden  in  ihr   ruhenden  Triebes    wirkt,  wird  sie  doch  in 
poetischer  Weise  immer  wieder  mit   beseelten  Wesen  ver- 
glichen.    In   siebenfacher  Weise,   mit  Verdienst,    Schuld, 
Nichterkenntniss   u.  s.  w.,  bindet   sich   die   Materie   durch 
ihr  eigenes  Werk,  gleichwie  die  Seidenraupe  sich  mit  dem 
Cocon   umspinnt '").     Wenn   eine   Seele   des   Treibens   der 
Materie  überdrüssig   ist  und  sich  mit  Verachtung  von  ihr 
abwendet,  so  stellt  die  Materie  ihre  Thätigkeit  für  diese  Seele 
ein  mit  dem  Gedanken:  „Ich  bin  erkannt"");   sie  hat  ge- 
leistet,  was   zu   leisten   ihre  Bestimmung   war,   und  zieht 
sich   von   der   an   dem    höchsten   Ziele  angelangten   Seele 
zurück,    wie  eine  Tänzerin   aufhört   zu  tanzen,   wenn   sie 


„vergleichbar  ist,  wie  kann  sie  dann  auch  zum  Zwecke  des  Leidens 
„ihres  Herrn  wirken?  Darauf  antworten  wir:  Das  ist  nicht  richtig; 
„denn  obwohl  [die  Materie]  nur  zum  Zwecke  der  Freude  [ihres 
„Herrn,  der  Seele]  thätig  ist,  muss  doch  das  Leid  entstehen,  welches 
„[dem  Genuss  der  Freude]  iuhärirt;  oder  [man  kann  auch  sagen: 
„die  Materie]  ist  einem  schlechten  Diener  vergleichbar." 

1)  Siitra  I.  105,  IIL  63. 

*)  Sütra  III.  51. 

3)  Sütra  III.  58,  VI.  40. 

-»)  Sütra  I.  9G. 

■^)  Sütra  III.  73. 

«)  Kärika  66. 


—    166    — 

ihre  Aufgabe  erfüllt  hat  und  die  Zuschauer  genug  haben  i). 
Aber  in  einem  Punkte  gleicht  die  Materie  der  Tänzerin 
oder  Schauspielerin  nicht;  denn  während  diese  auf  Ver- 
langen ihr  Spiel  aufs  neue  beginnt,  ist  die  Materie  „zart- 
fülilend  wie  eine  Frau  aus  guter  Familie",  die,  wenn  sie 
von  einem  Manne  gesehen  ist,  sich  schamhaft  nicht  Avieder 
dessen  Blicken  aussetzt  -).  Diesem  letzten  Gleichnisse  kommt 
in  den  Originaltexten  sehr  zu  Statten,  dass  das  Sanskrit 
für  Seele  und  Mann  dieselbe  Bezeichnung  (pums,  puriisha) 
hat  %  Das  Beispiel  der  Frau  finden  wir  ferner  *)  verwendet, 
um  die  kürzlich  erwähnte  Lehre  von  den  drei  Gruiia's 
zu  veranschaulichen.  Nach  der  Ansicht  der  Sämkhya's 
durchdringen  diese  drei  Substanzen  alle  materiellen  Dinge 
und  rufen  dadurch,  dass  je  eine  derselben  über  die  beiden 
andern  das  Uebergewicht  gewinnt,  verschiedenartige  Em- 
pfindungen in  dem  Gemüthe  der  Menschen  hervor,  die 
mit  den  Dingen  zu  thun  haben.  So  wird  mit  einer  merk- 
würdigen Umkelu-ung  des  wahren  Sachverhalts  die  Quelle 
der  Empfindungen  nicht  in  das  Subjekt,  sondern  in  das 
Objekt  verlegt.  Wenn  ein  Ding  erfreut,  so  äussert  sich 
in  ihm  die  Constituente  S  a  1 1  v  a ;  wenn  es  Schmerz  erregt, 
die  Constituente  R  a j  a  s ;  wenn  es  gleichgütig  lässt ,  die 
Constituente  Tamas.  Im  Gleichniss  tritt  uns  die  schöne 
Frau  entgegen,  die  durch  ihr  blosses  Dasein  ihrem  Gatten 


1 


1)  Kärikä  59,  Sütra  IH.  69;  oder  nach  Sütra  III.  63,  wie  der 
Kocb  nach  der  Herstellung  der  Mahlzeit  mit  seiner  Arbeit  aufliört. 

2)  Kärikä  61,  Sütra  III.  70. 

^)  Die  Vorstellung  aber,  dass  die  Verbindung  von  Purusha 
und  Prakrti  eine  Vereinigung  des  männlichen  und  weiblichen 
Princips'sei —  die  Johaentgen,  Ueber  das  Gesetzbuch  des  Manu 
S.  5,  für  den  Grundgedanken  der  Philosophie  des  Kapila  erklärt 
—  tritt  erst  in  der  P  u  r  ä  n  a  -  und  T  a  n  t  r  a  -  Literatur  auf  und  ist  allen 
systematischen  S  ä  ni  k  h  y  a  -  Texten  fern  geblieben.  Dieser  Gedanke 
war  in  der  Sämkhya- Literatur  schon  deshalb  unmöglich,  weil  er 
der  Lehre  von  der  absoluten  Unthätigkeit  des  Purusha  widerspricht. 

*)  Säinkhya-tattva-kaumudi  zu  Kärikä  12;  vergl.  auch  Sarva- 
dar^ana-samgraha  S.  227  der  Uebersetzung,  Anir.  zu  I.  69  und 
Vijn.  zu  I.  65. 


—     167     - 

Freude,  aber  ihren  Nebenfrauen  Schmerz  bereitet,  während 
ein  fi-emder  Mann  ihr  gleichgiltig,  apathisch  gegenüber  steht. 
Von  hoher  Bedeutung   ist  in  der   Sämkhya- Philo- 
sophie das  linga-carira,  der  feine  innere   Körper,  weil  auf 
ihm  bei  der  eigenthümlichen  indifferenten  Stellung,  welche 
die  Seele  in  dem  System  einnimmt,  die  Persönlichkeit  des 
Individuums  beruht.    Der  innere  Körper  begleitet  die  Seele 
auf   ihrer    Wanderung    durch    alle    die    zahllosen    groben 
Leiber,  ist  also  das  eigentliche  Princip  der  Metempsychose. 
Dieses  Wandern   des  inneren  Körpers   aus   einem   groben 
Leib  in  den  andern  wird  dem  Rollenwechsel  eines  Schau- 
spielers ^)   und   dem   geschäftigen  Herumlaufen   der  Köche 
in  den  Küchen  des  Königs  verglichen  '-).    Der  feine  Körper 
nun    besteht    aus     dem    Innenorgan,     den    Sinnen    und 
den    fünf   Grandstoffen-');   ohne  den   letzten   Faktor  wäre 
er    ein    haltloser    Complex.     Dieser    Gedanke    wird    durch 
das  Gleichniss    von   dem  Bilde   ausgedrückt,  welches  ohne 
eine  Grundlage  nicht  selbständig  existiren  kann,  und  durch 
das  von  dem  Schatten,  der  durch  das  Vorhandensein  eines 
Pfahles  oder  dgl.  bedingt  ist^). 

Die  ganze  Psychologie  unseres  Systems  ruht  auf  der 
Vorstellung,  dass  die  sich  ewig  gleiche,  unveränderliche 
Seele  einen  Abglanz  auf  das  durch  die  mannigfachen 
Funktionen  alterirte  Innenorgan  wirft  und  dadurch  die 
inneren  an  sich  rein  mechanischen  Vorgänge  zu  bewussten 
macht.  Für  dieses  zwischen  Seele  und  Innenorgan  be- 
stehende Verhältniss  wird  als  Gleichniss  das  Reflektiren 
der  rothen  Hibiscus-Blüthe  in  einem  der  Blume  nahe  ge- 
brachten Kry stall  verwendet  5).  Ebenso  wenig,  wie  hier 
in  dem  Krystall   irgend   eine  Veränderang   vor  sich  geht. 


1)  Kärikä  42. 

2)  Sütra  III.  16. 

3)  Kärikä  40,  Sütra  III.  9. 
1)  Kärikä  41,  Sütra  III.  12. 

»)  Sütra  II.  35,   VI.  28    und    nicht  selten  in  Vijnänabhikshu's 
Commentar  (s.  den  Index  zu  meiner  Ausgabe  s.  v.  ja2xi). 


—     1()8     — 

ist  auch  die  Seele  durch  die  Processe,  die  sich  in  den 
Organen  vollziehen,  irgendwie  afficirt.  Wenn  trotzdem 
die  Thätigkeit  der  Organe  der  Seele  zugeschrieben  wird, 
so]  ist  das  so  zu  verstehen,  wie  man  den  Sieg,  den  ein 
Heer  gewinnt,  oder  die  Niederlage,  die  es  erleidet,  dem 
in  behaglicher  Ruhe  in  seiner  Hauptstadt  thronenden 
König  zuschreibt ').  Und  die  Organe  werden  wegen  ihrer 
grösseren  und  geiingeren  Bedeutung  dem  Beamtenstande 
verglichen,  in  dem  einer  immer  über  dem  andern  und  der 
Minister  über  allen  steht  -).  Ich  glaube  hiermit  die  unserem 
System  speciell  angehörenden  Gleichnisse  in  ziemlicher 
Vollständigkeit  aufgezählt  zu  haben  •').  Bei  einem  Rück- 
blick wird  man  sich  kaum  dem  Urtheil  verschliessen  können, 
dass  diese  Gleichnisse  einen  ausgesprochen  weltlichen  Cha- 
rakter tragen;  in  höherem  Grade,  als  die  Natur  der  Sache 
es  bedingt.  Während  die  Beispiele  in  anderen  Schulen 
zum  grossen  Theil  der  Mythologie  und  dem  Gebiet  des 
Aberglaubens  entnommen  sind,  erscheinen  hier  vor  unseren 
Blicken  Könige,  Minister,  Beamte,  Herren,  Diener,  schöne 
Frauen,  Schauspieler,  Tänzerinnen,  Soldaten,  Köche,  Blinde, 
Lahme,  Kamele,  Bilder,  Blumen,  Krystalle  u.  s.  w.,  so  dass 
man  aus  den  Sämkhya- Gleichnissen  fast  ein  indisches 
Kulturbild  gewinnen  könnte.  Allem  Anschein  nach  haben 
wir  den  Ursprung  dieser  weltlichen  Bildersprache  in  einer 
Zeit  und  Gegend  zu  suchen,  in  der  das  Brahmanenthum 
und  seine  Lehren  erst  geringe  Bedeutung  gewonnen  hatten. 

5.    Die  Terminologie. 

Die  Schwierigkeiten,  die  sich  den  Versuchen  entgegen- 
stellen, die  Kunstausdrücke  der  indischen  Philosophie  zu 
übersetzen,   sind  mehrfach   von  sachkundigen  Beurtheilern 

1)  Vijfi.  zu  I.  76,  II.  5,  46. 

2)  Sütra  II.  47. 

^)  Wenn  das  eine  oder  andere,  was  ich  für  möglich  halte,  in 
den  Schriften  anderer  Schulen  sich  wiederfinden  s(jllte,  so  ist  es 
eben  dem  Gleichuissschatze  des  Säinkhya-Systems  entlehnt. 


—    169    — 

hervorgehoben  worden.  So  sagt  Max  Müller  (Zeit- 
schrift der  Deutschen  Morgenländischen  Gesellschaft  VI.  22) : 
„Die  Worte  und  technischen  Ausdrücke  unserer  Sprache, 
„die  wir  in  ihrer  geschichtlichen  Bedeutungsentwickelung 
„so  vielfach  aus  Griechenland  oder  Rom  empfangen  haben, 
„werfen  oft  unAvillkürlich    ein    falsches  Licht   auf  indische 

„Ideen Dies    ist  ein  Uebelstand,  der   schwer   zu 

„vermeiden  ist,  wenn  wir  nicht  eine  Anzalil  technischer 
„Ausdrücke  aus  dem  Sanskrit  entlehnen  wollen,  was 
„wiederum  dem  allgemeinen  Verständniss  Eintrag  thun 
„würde"  ^).  Das  letzte  Bedenken  theile  ich  nicht.  Wenn 
die  technischen  Ausdrücke,  für  die  sich  kein  zweifelloses 
Aequivalent  in  unsrer  Sprache  findet,  in  solcher  Weise 
erklärt  werden,  dass  ihr  Bedeutungsinhalt  genau  festge- 
gestellt  und  abgegrenzt  ist,  so  sehe  ich  in  der  Beibehaltung 
der  Originale  keinen  Nachtheil;  denn  die  in  Betracht 
kommenden  Worte  sind  nicht  so  zahlreich,  dass  ein  Laie, 
der  sich  für  indische  Philosophie  interessirt,  Mühe  haben 
könnte  sie  dem  Gedächtniss  einzuprägen.  Ich  lasse  aus 
diesem  Grunde  einige  schwerfällige  Uebersetzungen  wie 
Urtheilsorgan ,  Subjektivirungsorgan  u.  s.  w. ,  die  ich  in 
meine  Bearbeitungen  der  S  ä  m  k  h  y  a  -  Texte  eingeführt  habe, 
weil  sie  mir  am  besten  den  Begriffen  der  Originale  zu 
entsprechen  schienen,  in  diesem  Buche  fallen  und  behalte 
die  kurzen  Termini  des  Sanskrit  bei. 

Neue  Worte  sind  aller  Wahrscheinlichkeit  nach  von 
Kapila  und  seinen  Nachfolgern  nicht  gebildet  worden. 
Eine   beträchtliche   Anzahl   philosophischer  Ausdrücke  hat 


^)  Aehnlich  hat  sich,  speciell  über  die  Kunstausdrücke  des 
Säiiikhya- Systems,  B um  eil  in  der  Einleitung  zur  Uebersetzung 
des  Man  u  p.  XLVI  geäussert.  Er  hält  es  für  ganz  unmöglich  die 
Termini  dieses  Systems  in  einer  europäischen  Sprache  auszudrücken: 
"All  possible  renderings  couvey  much  more  than  the  primitive 
"and  rüde  [?]  original  siguifies ,  and  it  is  impossible  to  limit  each 
"word  so  as  to  provide  against  a  too  wide  siguification  beiug 
"attached  to  it." 


—     170    — 

das  Sämkhya- System  aus  dem  in  Indien  schon  vorher 
erarbeiteten  Bestände  ohne  jede  Bedeutungsver<änderung 
übernommen ;  andere  dagegen  hat  es  zwar  dem  vorhandenen 
Wortschatze  entlehnt,  aber  zur  Bezeichnung  neu  und 
selbständig  gebildeter  Begriffe  verwendet.  Zu  der  ersten 
Klasse  gehören  die  folgenden  Ausdrücke,  die  sich  in  der- 
selben Bedeutung  entweder  aus  vorbuddhistischer  Zeit  be- 
legen oder  für  diese  Zeit  voraussetzen  lassen: 

dtman,  purusha  Seele,  cit,  cid,  cef%na  ^)  Geist,  citta 
Denkorgan,  harana  Organ,  indriya  Sinn,  präna  Odem, 
samsära  Seelenwanderung,  Weltdasein,  handha  Gebunden- 
sein, mohsha,  vimolcslia,  muhti  Erlösung,  blioga  Genuss 
(und  Leiden),  hhogya  das  zu  geniessende  (und  zu  erleidende), 
llioktar  Geniesser  (Bezeichnung  der  Seele),  jnäna  Erkennt- 
jiiss,  vidyä  Wissen,  avidyä  Nichtwissen,  pramuna  Norm, 
Erkenntnissmittel,  pralyaksha  Sinnes  Wahrnehmung,  ablii- 
mäna  Wahn,  yoga  Concentration,  vtblm  alldurchdringend, 
unendlich  gross;  wohl  auch  tca,  icvara  Gott,  kärana  Ur- 
sache, nimitta  Veranlassung,  vishaya  Objekt,  bhüta  Element 
und  anderes. 

Im  Gegensatz  zu  diesen  Ausdrücken  sind  die  folgenden 
Worte  für  die  speciellen  Zwecke  des  Sämkhya-Systems 
umgedeutet  worden;  sie  entstammen  zum  grössten  Tlieil 
nicht  dem  alten  philosophischen  Sprachschatze,  sondern 
dem  des  täglichen  Lebens: 

prakrti,  i^radhäna,  avyakta  Urmaterie,  guna  die  (drei) 
Constituenten  der  Materie,  Namens  sattva,  rajas  und  tamas, 
triguna  aus  den  drei  Constituenten  bestehend,  materiell, 
btiddhi,  mahant  das  Organ  des  Urtheils,  der  Entscheidung, 
des  Entschlusses,  ahamkära  das  Organ,  durch  welches 
körperliche  Attribute  und  innere  Vorgänge  fälsclilich  auf 
die  Seele  übertragen  werden,  manas  das  Organ  des  Wahr- 
nehmens, Empfindens,  Wünschens  und  Ueberlegens,  der 
innere  Sinn,  tanmätra  die  Grundstoffe  oder  feinen  Elemente, 
linga-(carira,  — deha)  der  innere  Körper,  ficimskära,  vusanä 


^)  Wozu  später  caitanj/a  tritt. 


—     171     — 

Anlage,  Disposition,  jiva  (im  Veclänta  die  individuelle 
Seele) ')  die  empirische,  d.  h.  mit  dem  inneren  Körper  und 
dem  Lebensprincip  verbundene  Seele;  und  schliesslich  alle 
die  wunderlichen  Bezeichnungen  für  die  einzelnen  Formen 
der  sogenannten  Befriedigung  und  Vollkommenheit  -). 

Dass  unsere  jüngeren  S  ä  m  k  h  y  a  -  Quellen  ausserdem 
von  den  technischen  Ausdrücken  der  übrigen  Systeme, 
insbesondere  des  Vedänta  und  des  Nyäya-Vai9e- 
shika,  einen  ausgiebigen  Gebrauch  machen,  hat  seinen 
Grund  in  der  dominirenden  Stellung,  die  diese  Schulen 
zur  Zeit  der  Abfassung  jener  Schriften  in  der  philosophischen 
Spekulation  Indiens  einnahmen. 

Unübersetzt  bleiben  in  diesem  Buche  von  den  vorher 
angeführten  Worten  sattva,  rajas,  tamas  (gewöhnlich  auch 
qmia) ,  huddln,  ahamkära ,  manas  und  der  vielleicht  der 
Nyäya- Philosophie  entlehnte  Terminus  upädJü  (etymo- 
logisch appositio).  Während  aber  upädhi  in  den  Nyäya- 
Schriften  die  Bedingung  bedeutet,  durch  die  ein  zu  weit 
gefasster  MittelbegrifF  im  Syllogismus  eingeschränkt  werden 
muss''),  hat  das  Wort  in  der  Sämkhya-  ebenso  wie  in 
der  V  e  d  ä  n  t  a  -  Literatur  eine  weitere  Bedeutung.  Hier 
wird  alles  Upädhi  genannt,  was  zu  einem  Dinge  in  Be- 
ziehung steht,  ohne  ihm  wesentlich  anzugehören  oder  eine 
innere  Verbindung  mit  ihm  einzugehen.  Wie  das  Kleid  ein 
Upädhi  des  Menschen  ist,  so  sind  die  inneren  Organe, 
die  Sinne  und  der  Körper  Upädhi' s  der  Seele. 


1)  In  der  S  ä  in  khya- Philosophie  ist  auch  die  Seele  an  sich 
(kevalutman,  cuddhätman)  schon  individuell,  und  deshalb  deckt  sich 
der  Begri&  jiva  in  den  beiden  Systemen  nicht;  im  Vedänta  wird 
durch  den  Terminus  hauptsächlich  die  anscheinende  Differenzirung 
der  Allseele  zum  Ausdruck  gebracht. 

2)  S.  die  Commentare  zu  Kärikä  50,  51  und  zu  Sütra  III.  43, 
44;  ferner  die  Einleitung  zu  meiner  Uebersetzung  der  S.t.kau- 
mudi  S.  527,  528  und  in  diesem  Buche,  dritter  Abschnitt  II.  10,  C. 

3)  Vgl.  E.  B.  Co  well  in  dem  Appendix  zur  Uebersetzung  des 
Sarva-darcana-samgraha,  p.  275 — 281. 


IT.    Die  allgeinein-iiidisclien  Bestaiultlieile 

des  Systems. 

1.    Der  Samsära  und  die  Macht  der  Tliat. 

Als  allgemeiii-iiulisch  bezeichne  ich  in  Ermangehiiig 
eines  treffenderen  Ausdrucks  diejenigen  Anschauungen,  die 
den  orthodoxen  Systemen  und  den  heterodoxen  Religionen 
Buddhismus  und  Jinismus  gemeinsam  angehören.  Um  Miss- 
verständnissen vorzubeugen,  muss  ich  diese  einschränkende 
Erklärung  voranschicken;  denn  wenn  man  die  ältere 
vedische  Literatur  oder  die  Lehren  der  Cärväka's,  welche 
die  Seelenwanderung  und  das  Dogma  von  der  Vergeltung 
leugnen,  oder  gar  die  religiösen  Vorstellungen  der  nicht 
brahmanisirten  indischen  Aboriginer  mit  in  Betracht  zieht, 
so  ist  wohl  kein  einziger  Gedanke  zu  finden,  der  allgemein- 
indisch genannt  werden  könnte.  Versteht  man  aber  den 
Ausdruck  in  der  Beschränkung  auf  die  eigentlich  philo- 
so^jlnschen  Schulen  und  auf  die  philosophisch  fundirten 
Religionen  Lidiens,  so  ist  noch  die  Frage  aufzuwerfen, 
ob  diese  gemeinsamen  Anschauungen  nicht  etwa  in  dem 
Sämkhya- System,  das  der  Zeit  nach  an  der  Spitze  steht, 
entstanden  sind.  Wäre  dies  der  Fall,  so  würde  es  keinen 
Sinn  haben,  die  hierher  gehörigen  Dinge  ausserhalb  des 
Zusammenhangs  des  Systems  zu  behandeln;  denn  die 
Bestimmung  dieses  Kapitels  ist  natürlich,  die  vor  der 
Begründung  des  Sämkhy  a-Systems  in  Indien  vorhandenen 
und  von  dem  System  übernommenen  Vorstellungen  zu- 
sammenzufassen.    Da  hier  im  Wesentlichen  die  Lehre  von 


I'-r» 
'^     — 

dem  Saiiisära  und  von  der  Vergeltung  in  Betracht  kommt 
—  denn  die  in  den  folgenden  Paragraphen  zu  besprechenden 
Vorstellungen  sind  minder  Avichtig  und  offenkundig  nicht 
innerhalb  des  S  ä  m  k  h  y  a  -  Systems  entstanden  —  ,  so 
wird  es  genügen  das  nachweisliche  Alter  jener  beiden 
Lehi'en  festzustellen.  In  der  Chändogya  und  B r h a d ä - 
ranyaka  Upanishad,  die  ich  —  wohl  in  Ueber- 
einstimmung  mit  den  meisten  Indologen  —  fiir  beträchtlich 
älter  als  Buddha  halte,  ist  bereits  die  Lehre  von  der 
Seelenwanderung  vollständig  entwickelt  ^) ;  aber  sie  tritt 
uns  schon  früher,  im  (^atapatha  Brähmana,  in  Ver- 
bindung mit  der  Lehre  von  der  Macht  der  ihren  Lohn 
oder  ihre  Strafe  verlangenden  That  entgegen,  und  zwar 
zuerst  in  der  Form  des  quälenden  Gedankens  an  die  fort- 
gesetzte Wiederkehr  des  Todes  '■^).  Daraus  folgt ,  dass  die 
Entstehung  dieser  beiden  Lehren,  die  sich  mit  Nothwendig- 
keit  bald  zu  einer  einheitlichen  Vorstellung  zusammen- 
schliessen  mussten,  mehrere  Jahrhunderte  vor  Buddha 
vor  sich  gegangen  ist.  Und  da  wir  uns  Buddha  von 
Kapila  nicht  durch  einen  grossen  Zeitraum  getrennt 
denken  dürfen,  hat  sicher  schon  der  letztere  diese  indischste 
aller  indischen  Ideen  als  Gemeingut  der  Bevölkerung  seines 
Heimatlilandes  vorgefunden. 

Barthelemy  Saint-Hilaire,  Premier  Memoire 
sur  le  Sänkhya  p.  397,  398,  macht  Kapila  den  Vorwurf, 
dass  er  zwar  die  Theorie  der  Erkenntnissmittel  vorgetragen 
und  begründet,  aber  nicht  gesagt  habe,  durch  welches  dieser 
Mittel  er  dazu  gekommen  sei  die  Lehre  von  der  Seelen- 
wanderung aufzustellen.  Dass  Kapila  dies  nicht  gethan, 
hat  seinen  guten  Grund ;  denn  für  ihn,  wie  für  alle  Kinder 
seiner  Zeit,  Avar  eben  schon  die  SeelenAvanderungslehre 
ein  Axiom,  das  keines  Beweises  bedurfte  •^). 


')  S.  Weber,  Indische  Literaturgeschichte"  S.  80. 
•-)  Vgl.  Oldenberg,  Buddha-  S.  45—49,  Schröder,  Indiens 
Literatur  und  Cultur  S.  245—252. 

^)  Weber  unterschätzt  entschieden  das  AUcr  der  Quellen,  in. 


—     174    — 

Der  Ursprung  des  indischen  Glaubens  an  die  Met- 
empsycliose  ist  leider  immer  noch  nicht  mit  voller  Klar- 
heit zu  erkennen.  In  der  alten  vedischen  Zeit  herrschte 
in  Indien  eine  heitere  Lebensanschauung,  in  der  wir 
keinerlei  Keime  der  späteren,  das  Denken  des  ganzen 
Volkes  beherrschenden  und  bedrückenden  Vorstellung  wahr- 
nehmen ^);  man  empfand  das  Leben  noch  als  keine  Bürde, 
sondern  als  das  grösste  der  Güter,  und  seine  ewige  Fort- 
dauer nach  dem  Tode  wurde  als  der  Lohn  eines  frommen 
Lebens  erhofft.  Mit  einem  Male  tritt  ohne  für  unsere 
Blicke  deutlich  erkennbare  Uebergangsstufen  an  die  Stelle 
dieser  harmlosen  Lebensfreudigkeit  die  TJeberzeugung,  dass 
das  Dasein  des  Individuums  eine  cpialvolle  Wanderung 
von  Tod  zu  Tod  sei.  Es  lag  deshalb  nahe  genug,  äussere 
Einflüsse  in  dieser  unvermittelten  Umwälzung  zu  ver- 
muthen. 

Dass  Voltaire 's  stark  rationalistische  Erklärung 
des  Urspungs  der  indischen  SeelenAvanderungstheorie  heute 
noch  in  Fachkreisen  Anhänger  zählt,  glaube  ich  nicht; 
doch  ist  sie  merkwürdig  genug,  um  nicht  mit  Stillschweigen 


denen  uns  zuerst  die  Vorstellung  der  Seelenwanderung  begegnet, 
und  hat  deshalb  mehrfach  (Indische  Streifen  I.  23,  Die  Griechen 
in  Indien  S.  29  des  Separatabdrucks)  die  Ansicht  ausgesprochen, 
dass  vor  Buddha  das  Dogma  in  Indien  nicht  bestanden  habe. 
Wenn  Weber  aber  andererseits  stets  die  Ueberzeugung  vertreten 
hat,  dass  der  Buddhismus  aus  der  Sämkhya- Philosophie  her- 
vorgegangen und  „ursprünglich  nur  als  eine  Form  derSämkhya- 
lehre  anzusehen"  sei  (Indische  Literaturgeschichte  "  S.  183,  252  ff., 
Ind.  Studien  I.  298,  435  und  sonst),  so  stehen  diese  beiden  An- 
sichten in  einem  nicht  auszugleichenden  Gegensatz.  Denn  eine 
Sämkhya -Philosophie  ohne  Seelenwanderungs-  und  Erlösungs- 
lehre kann  es  niemals  gegeben  haben;  das  wäre  ein  System  ohne 
Basis  und  ohne  Zweck  gewesen. 

^)  Böhtlingk  glaubt  jedoch  die  Lehre  von  der  Seelen- 
wanderung schon  in  den  beiden  Räthselsprüchen  Rigveda  I.  164. 
30,  38  vorzufinden;  Berichte  der  königl.  sächs.  Gesellschaft  der 
Wissenschaften  (philologisch-historische  Classe)  vom  23.  April  1893, 
S.  88—92. 


—     175    — 

übergangen  zu  werden.  Nach  der  Meinung  des  geistvollen 
Franzosen  soll  die  Erkenntniss,  dass  in  dem  indischen 
Klima  der  Fleischgenuss  im  allgemeinen  gesundlieits- 
scliädlicli  ist,  das  Verbot  veranlasst  haben  Thiere  zn  tödteii. 
Diese  ursprünglich  rein  hygienische  Maassregel  sei  in  ein 
religiöses  Gewand  gekleidet,  und  das  Volk  habe  sich  auf 
diese  Weise  gewöhnt  die  Thiere  zu  verehren  und  anzu- 
beten. Die  weitere  Ausdehnung  dieses  Thierkultus  habe 
dann  zur  Folge  gehabt,  dass  das  ganze  Thierreich  als  eine 
Art  Zubehör  zu  dem  Menschengeschlecht  empfunden  und 
diesem  in  der  Vorstellung  des  Volkes  assimilirt  wurde; 
von  da  aus  sei  es  dann  nur  noch  ein  Schritt  gewesen,  die 
Fortdauer  des  eignen  Daseins  in  Thierkörpern  anzunehmen. 
Diese  ganze  Hypothese  ist  mit  Recht  schon  von  ß  a  r  t  h  e  - 
lemy  Saint-Hilaire,  Premier  Memoire  p.  467,  468, 
zurückgewiesen;  die  Erklärung  aber,  die  dieser  Gelehrte 
unmittelbar  darauf  selbst  vorschlägt,  ist  haltlos;  denn  sie 
geht  "du  sein  meme  de  la  doctrine  sänkhya"  aus,  während 
die  Theorie  der  Metempsychose ,  wie  Avir  gesehen  haben, 
älter  ist  als  das  S ä m k h y  a -  System.  Barthelemy 
meint,  dass  die  Inder  durch  die  S  ä  m  k  h  y  a  -  Lehre  von  der 
indifferenten  und  qualitätlosen  mensclilichen  Seele,  die 
nicht  von  der  Thierseele  und  kaum  von  leblosen  Dingen 
als  verschieden  habe  gelten  können,  dazu  geführt  seien 
sich  mit  der  Thier-  und  Pflanzenwelt  für  gleichartig  zu 
halten,  und  dass  die  Beobachtung  des  beständigen  Wech- 
sels in  den  Vorgängen  der  Natur  dann  den  Gedanken  der 
Transmigration  zur  Reife  gebracht  habe. 

Ernstere  Berücksichtigung  erheischt  ein  anderer  Er- 
klärungsversuch, der  sich  bei  Gough,  The  Philosophy 
of  the  Upanishads  p.  24,  25  findet.  Es  ist  bekannt,  dass 
bei  halbwilden  Völkerschaften  der  Glaube,  die  menscliliche 
Seele  gehe  nach  dem  Tode  in  Baumstämme  und  Thierleiber 
über,   ausserordentlich   weit   verbreitet  ist ').     Auf  Grund 


^)  "The  Sonthals  are  said  to  believe   tlie  souls  of  the  good 
"to    enter    into    fruit-bearing    trees.     The  Powhattans   believed 


—     176     - 

dessen  nimmt  Gougli  an,  dass  die  Arier  bei  ihrer  Ver- 
schmelzung mit  den  indischen  Ureinwohnern  von  diesen 
die  Vorstellung  der  Fortdauer  in  Thieren  und  Bäumen 
übernommen  haben.  Obwohl  sich  diese  Voraussetzung 
nicht  beweisen  lässt '),  ist  mir  der  Gedanke  doch  im  höch- 
sten Maasse  wahrscheinlich,  weil  er  erklärt,  was  alle  sonstigen 
Conibinationen  nicht  genügend  erklären.  Aber  man  muss 
sich  hüten,  den  Einfluss  der  rohen  Vorstellungen  der 
Aboriginer  zu  überschätzen.  Bei  allen  auf  niedriger  Kul- 
turstufe stehenden  Völkerschaften  handelt  es  sich  nicht  um 
eine  Seelenwanderungslehre  im  indischen  Sinne,  sondern 
einfach  um  die  Fortsetzung  des  menschlichen  Daseins  in 
Thieren  und  Bäumen;  damit  ist  das  Nachdenken  über 
diese  Dinge  am  Ziel  angelangt;  Aveitere  Consequenzen 
werden  aus  der  Vorstellung  nicht  gezogen.  Unter  allen 
Umständen  also  können  die  arischen  Inder  nur  den  ersten 
Antrieb  zur  Entwickelung  der  Theorie  der  Transmigration 
von  der  Urbevölkerung  erhalten  haben;  als  ihr  eignes 
Werk  muss  immer  gelten  die  Ausbildung  des  empfangenen 
Gedankens  zu  der  Annahme  einer  beständigen,  wech- 
selvollen Fortdauer  des  Lebens  und  ihre  Verbindung 
mit   der   die   Befriedigung    des    moralischen   Bewusstseins 


"the  souls  of  their  chiefs  to  pass  into  particular  wood-birds,  whicli 
"they  therefore  spared.  The  Tlascalans  of  Mexico  thouglit 
"that  tbe  souls  of  their  nobles  migrated  after  deatb  into  beautiful 
"singing  birds,  and  the  spirits  of  plebeians  into  beetles,  weasels, 
"and  other  insignificant  creatures.  The  Zulus  of  South  Afi-ica 
•'are  said  to  believe  the  passage  of  the  dead  into  snakes ,  or  into 
"wasps  and  lizards.  The  Dayaks  of  Borneo  imagine  themselves 
"to  find  the  souls  of  the  dead,  damp  and  bloodlike,  in  the  trunks 
"of  trees."  Gough  a.  a.  0.  nach  Tylor,  Primitive  Culture, 
vol.  II.  p.  6  ff. 

1)  Eine  beachtenswerthe  Stelle  findet  sieh  in  B  a  u  d  h  ä  y  a  n  a '  s 
Dharma9ästra  II.  8.  14.  9,  10,  wo  gelehrt  wird,  dass  man  den 
Vögeln  einen  Mehlkloss  geben  solle,  wie  er  sonst  im  Manenopfer 
für  die  abgeschiedenen  Vorfahren  darzubringen  ist;  „denn  es  heisst, 
dass  die  Väter  in  der  Gestalt  von  Vögeln  (vayusäiii  pratimayä) 
umherziehen''. 


—     177     — 

bezweckenden  Lehre  von  der  Macht  der  That.  Die  leitende 
Idee  dieser  Lehre  ist  die  feste  Ueberzeugung,  dass  Keinen 
unverschuldetes  Unglück  treffen  kann.  Man  suchte  auf 
Grund  dieser  Ueberzeugung  nach  einer  Erklärung  für  die 
täglich  zu  beobachtende  Thatsache,  dass  es  dem  Schlechteji 
wohl  ergeht  und  dem  Guten  schlecht,  dass  das  Tliier  und 
oft  selbst  das  neugeborene  Kind,  das  noch  keine  Gelegen- 
heit gehabt  hat  eine  Schuld  auf  sich  zu  laden,  die  grössten 
Schmerzen  leiden  muss;  und  man  fand  keine  andere  Er- 
klärung als  die  Annalnne,  dass  in  diesem  Leben  die  guten 
und  bösen  Thaten  einer  früheren  Existenz  gesühnt  werden. 
Was  aber  von  dieser  Existenz  galt,  musste  auch  von  der 
früheren  gelten;  wiederum  konnte  der  Grund  für  einstmals 
erfahi'enes  Glück  und  Elend  nur  in  einem  vorangehenden 
Leben  liegen,  und  damit  gab  es  überhaupt  keine  Grenze 
für  das  Dasein  des  Individuums  in  der  Vergangenheit  ^). 
Der  S  a  m  s  ä  r  a ,  der  Kreislauf  des  Lebens,  hat  also  keinen 
Anfang;  denn,  heisst  es  im  Sämkhyasütra  III.  62, 
„das  Werk  (d.  h.  das  Handeln  und  Thun  der  Wesen)  ist 
anfangslos  -) ".  Was  aber  keinen  Anfang  hat,  das  hat  nach 
einem  allgemein  anerkannten  Gesetz  auch  kein  Ende.  Der 
S  a  m  s  ä  r  a  also  hört  ebenso  wenig  jemals  auf,  als  er  jemals 
begonnen  hat-^).  Wenn  das  Lidividuum  die  Vergeltung 
für  seine  guten  und  bösen  Werke  empfängt,  so  bleibt 
immer  noch  ein  Rest  von  Verdienst  und  Schuld  übrig, 
der   nicht  aufgebraucht  wird   und  seinen  Lohn  oder  seine 


^)  ^g^-  Ballantyne,  A  lecture  on  the  Sänkhya  Philosophy 
p.  56,  57,  Nilakantha-Hall,  Rational  Refutation  p.  124,  125 
und  Räjendraläla  Mitra,  The  Yoga  Aptorisms,  Preface  p. 
LXIII  ff. 

^)  Wo  im  Gegensatz  hierzu  in  den  Sämkhya- Schriften  der 
Samsära  als  einen  Anfang  habend  bezeichnet  wird  (s.  die  Indices 
zu  meinen  Textausgaben  s.v.sädi),  ist  allein  die  gegenwärtige 
Schöpfung  ins  Auge  gefasst,  die  nach  Ablauf  der  letzten  Periode 
der  Weltauflösung  begonnen  hat. 

3)  Vgl.  Sämkhyasütra  I.  158,  159  nach  Aniruddha's  Inter- 
pretation. 

Garbe,  Sämkhya-Philosophie.  12 


—     178     — 

Strafe  erfordert,  mithin  als  Keim  eines  neuen  Daseins 
wirkt ').  Ungebüsst  oder  unbelolmt  bleibt  keine  Tliat ; 
denn  „wie  unter  tausend  Kuben  ein  Kalb  seine  Mutter 
herausfindet,  so  folgt  die  früher  gethane  That  dem  Thäter 
nach",  sagt  das  Mahäbhärata  XII.  6760,  indem  es  die 
seit  langer  Zeit  in  Indien  allgemein  gewordene  Anschauung 
zum  Ausdruck  bringt.  Weil  nun  die  Ursache  aUes  Han- 
delns die  Begierde  ist,  wurde  auch  diese  als  die  treibende 
Kraft  für  die  ewige  Fortdauer  des  Lebens  bezeichnet-). 
Da  indessen  die  Begierde  nach  indischer  Anschauung  auf 
einem  Nichtwissen,  auf  einem  Verkennen  des  wahren 
Wesens  und  Werthes  der  Dinge  beruht,  so  hat  man  ge- 
glaubt in  ihm  die  letzte  Ursache  des  Samsära  zu 
finden  •^).  Ebenso  alt  ist  die  Ueberzeugung,  dass  das  Ge- 
setz, welches  die  Wesen  an  das  Weltdasein  bindet,  durch- 
brochen werden  kann.  Es  giebt  eine  Befreiung  aus  dem 
Samsära,  und  das  Mittel  dazu  ist  das  erlösende  Wissen, 
das  von  jeder  Schule  in  einer  besonderen  Form  des  Er- 
kennens  gefunden  wurde. 

Die  hier  entwickelten  Dogmen  sind  von  Deussen, 
System  des  Vedänta  S.  381,  382,  in  folgenden  treffenden 
Worten  zusammengefasst:  „Die  Anschauung  ist  die,  dass 
„das  Leben  sowohl  seiner  Qualität  wie  seiner  Quantität 
„nach  die  genau  abgemessene  und  ihren  Zweck  vollständig 
„erfüllende  Sühnung  der  Werke  des  vorigen  Daseins  ist. 
„Diese  Sühnung  geschieht  durch  hliokb-tvam  und  kartrtvam 
„(Geniesserschaft    und    Thäterschaft) ,    wobei    das    letztere 


1)  Vgl.  Deussen,  System  des  Vedänta  S.  417  ff.  Wegen  der 
entsprechenden  Anschauungen  im  Buddhismus  s.  Oldenberg, 
Buddha'^  S.  249—251. 

■')  Kärikä  45,  Sütra  II.  9. 

3)  Dass  diese  die  Vedänta-,  Säinkhya-  und  Yoga-Philo- 
sophie beherrschende  Anschauung  auch  für  den  Buddhismus  gilt, 
hat  Oldenberg,  Buddha-  S.  53,  54,  258  ff.  erwiesen.  Belege  aus 
den  Schriften  der  orthodoxen  Systeme  (auch  der  Nyäya- Philo- 
sophie) findet  man  bei  N ila kau tha- Hall,  Rational  Refutation 
p.  10  ff 


—     179    — 

„wiederum  unausbleiblich  in  Werke  ausschlägt,  welche 
„aufs  neue  in  einem  folgenden  Dasein  gesülmt  werden 
„müssen,  so  dass  das  Uhrwerk  der  Vergeltung,  indem  es 
„abläuft,  sich  jedesmal  selbst  wieder  aufzieht;  und  dieses 
„ins  Unendliche  fort,  —  es   sei  denn,  dass  die  universelle 

„Erkenntniss  eintrete,  welche nicht  auf  Verdienst 

„beruht,  sondern  in  das  Dasein  ohne  Zusammenhang  mit 
„demselben  hereinbricht,  um  es  seinem  innersten  Bestände 
„nach  aufzulösen,  den  Samen  der  Werke  zu  verbrennen 
„und  so  eine  Fortsetzung  der  Wanderung  für  alle  Zukunft 
„unmöglich  zu  machen". 

Was  D e u s s e n  hier  als  eine  Lehre  des  Vedänta- 
Systems  darstellt,  ist  Punkt  für  Punkt  allgemein- 
indisch in  dem  zu  Anfang  dieses  Kapitels  präcisirten 
Sinne  ^).  Nun  reicht  aber  die  Kraft,  die  dem  Thun  der 
Wesen  innewohnt,  nach  indischer  Anschauung  noch  Aveiter, 
als  im  vorstehenden  ausgeführt  wurde.  Diese  nachwirkende, 
den  indischen  SchicksalsbegrifP  darstellende  Kraft  der  Ver- 
schuldung und  des  Verdienstes,  die  geAvöhnlich  adrshta 
,das  unsichtbare',  oft  auch  einfach  karman  ,That,  Werk' 
und  in  den  beiden  Mionäm  sä 's  apürva  ,das  neue,  filiher 
nicht  dagew^esene  Moment'  -)  genannt  wird,  bestimmt  nicht 
nur  das  Maass  von  Glück  und  Leid,  das  dem  Lidividuum 
zu  Theil  wird,  sondern  bedingt  auch  das  Entstehen  und 
Werden  aller  Dinge  im  Universum.  Lu  Grunde  ist  dieser 
letzte  Gedanke  nur  eine  nothwendige  Conseciuenz  der  Theo- 
rie,  dass  jedes  Wesen    sich   sein    eigenes  Geschick  bis  in 


^)  Dagegen  wird  man  kaum  einwenden  dürfen,  dass  die  Lehre 
von  der  Erlösung  in  der  Pürvamimämsä  keine  Stelle  habe  und 
also  nicht  als  allgemein-indisch  gelten  könne;  denn  die  Pürva- 
mimämsä ist  zusammen  mit  der  Utt aramimämsä  entstanden; 
beide  Systeme  bilden  ein  zusammengehöriges  Ganzes  in  der  Weise, 
dass  das  erstere  die  ritualistische  Werklehre,  das  letztere  die  Heils- 
lehre von  der  Erkenntniss  darstellt,  jedes  der  beiden  mit  Be- 
schränkung auf  das  besondere  Gebiet  und  unter  Bezugnahme  auf 
das  andere. 

■^)  S.  Deussen,  System  des  Vedänta  S.  22,  407. 

12* 


—     180    — 

die  kleinsten  Ereignisse  hinein  selbst  bereite;  denn  was 
auch  immer  in  der  Welt  vorgeht,  irgend  ein  Wesen  wird 
stets  davon  betroffen ,  muss  also  nach  dem  Gesetze  der 
Vergeltung  durch  seine  früheren  Thaten  diesen  Vorgang 
herbeigeführt  haben ').  Das  Walten  der  Natur  ist  mithin 
eine  Wirkung  des  guten  und  bösen  Thuns  der  lebenden 
Wesen.  So  finden  wir  in  den  Särnkhyasütra's  unter 
den  Gründen,  durch  welche  die  Existenz  des  Verdienstes 
bewiesen  wird,  als  ersten  {V.  20;  s.  auch  III.  51,  VI.  41) 
die  Verschiedenartigkeit  der  Naturprodukte  genannt,  für 
die  der  Inder  keine  andere  Erklärung  hat.  Und  die  Com- 
mentatoren  lehren  uns,  dass,  wenn  die  Bäume  Frucht  tragen 
oder  das  Getreide  auf  den  Feldern  reift,  dabei  das  mensch- 
liche Verdienst  die  treibende  Kraft  ist  -). 

Selbst  in  denjenigen  Systemen,  die  einen  Gott  aner- 
kennen, hat  dieser  nichts  anderes  zu  thun  als  die  Welt 
und  die  Geschicke  der  Wesen  genau  nach  dem  Gesetze 
der  Retribution  zu  leiten,  an  dem  auch  er  nicht  zu  rütteln 
vermag.  Für  alle  die  Mächte,  denen  in  der  übrigen  Welt 
Gläubige  und  Ungläubige  einen  bestimmenden  Einfluss 
auf  das  Loos  des  Einzelnen  und  (^r  Völker  wie  auf  das 
Walten  der  Naturkräfte  zuschreiben :  göttliche  Gnade  und 
Strafe,  Weltordnung,  Vorsehung,  Schicksal,  Zufall  —  ist 
in  Indien  kein  Raum  neben  der  mit  eiserner  Nothwendig- 
keit  alles  beherrschenden  Macht  der  That. 


2.    Die  Erlösung  bei  Lebzeiten. 

Welcher  Art  auch  die  Erkenntniss  ist,  deren  Er- 
reichung für  die  einzelnen  Systeme  die  Befreiung  aus  den 
Banden  des  S  a  m  s  ä  r  a  bedeutet,  überall  begegnen  wir  der 
Anschauung,  dass  derjenige,  der  die  Erkenntniss  gewonnen 


1)  Vgl.  die  von  Nilakantha-Hall,  Rational  Refutation  p. 
36 — 38  für  diese  Anschauung  aus  derSämkhya-,  Vedänta-  und 
Nyäya- Literatur  beigebrachten  Belegstellen. 

■^)  Aniruddha  zu  III.  51,  62,  Mahädeva  zu  III.  60. 


—     181    — 

hat,  des  erreichten  Zieles  nicht  mehr  verlustig  gehen  kann. 
Mit  dem  Augenblicke,  in  dem  das  Wesen  der  Dinge  in 
voller  Klarheit  vor  dem  inneren  Auge  erscheint  und  damit 
die  unerschütterliche  Gewissheit  der  errungenen  Erlösung 
eintritt,  hat  das  Gesetz  der  Vergeltung  über  den  Weisen 
seine  Macht  verloren.  Die  allseitige  Uebereinstimmung 
nöthigt  uns,  auch  diese  Idee  zu  den  allgemein-indischen 
zu  rechnen,  obschon  die  geläufigen  technischen  Ausdrücke 
jivanmukta  'bei  Lebzeiten  erlöst'  und  jivanmukti  'Erlösung 
bei  Lebzeiten'  erst  in  späterer  Zeit  gebildet  und  noch 
nicht  einmal  bei  ^  a  m  k  a  r  a  nachzuweisen  sind  ').  Ein 
direktes  Zeugniss  für  den  Glauben  an  die  jivanmukti  aus 
alter  Zeit  haben  wir  in  der  Stelle  Chändogya  Upani- 
shad  VI.  14.  2:  „Nur  so  lange  dauert  es  bei  ihm,  als  er 
„fflaubt,  dass  er  nicht  erlöst  werden  und  sein  Ziel  er- 
„reichen  werde". 

Ich  belege  im  Folgenden  die  liier  in  Betracht  kom- 
menden Vorstellungen  ausschliesslich  aus  der  Sämkhya- 
Literatur  ■-),  da  man  sich  von  dem  Vorhandensein  der 
gleichen  Anschauungen  in  den  anderen  Systemen  aus 
Nllakantha-Hall,  Rational  Refutation  p.  29— 34  und 
Deussen's  System  des  Vedänta  S.  452— 460  (vgl.  auch 
S.  382)  überzeugen  kann. 

Den  Beweis  für  die  Existenz  von  Jivanmukta's, 
den  das  Sämkhyasütra  IIL  79  in  der  Thatsache  er- 
blickt, dass  es  Lehrer  der  Wahrheit  gegeben  hat  und  giebt, 
als  welche  nur  bei  Lebzeiten  Erlöste  auftreten  könnten, 
dürfen  wir  wie  so  manche  andere  Wunderlichkeiten 
unserer  Texte  auf  sich  beruhen  lassen. 

Der  Einwand,  dass  nach  dem  Zusammenhange  des 
Systems  unmittelbar,  nachdem  die  Erkenntniss  der  Wahrheit 
eingetreten,  das  Leben  des  Erlösten  erlöschen  müsse,  wird 
durch    das    auch    in    den    V  e  d  ä  n  t  a  -  Schriften    geläufige 


^)  S.  Deussen,  System  des  Vedänta  S.  460. 
2)  Vgl.   die  Darstellung  bei  Barthelemy   Saint-Hilai r e, 
Premier  Memoire  p.  473—476. 


—    182    ~ 

Gleichniss  von  der  Töpferscheibe  zurückgewiesen,  die  in 
Folge  des  gegebenen  Anstosses  auch  nach  der  Fertigstellung 
des  Topfes  noch  fortschwingt').  Väcaspatiini9ra  be- 
merkt dazu  2):  „In  Folge  des  Entstehens  der  Erkenntniss 
„der  Wahrheit  ist  die  Menge  der  Werkansammlungen, 
„obwohl  sie  anfangslos  ist  und  die  Zeit  für  ihr  Heranreifen 
„[zum  Zwecke  der  Vergeltung]  nicht  feststeht,  nicht  mehr 
„  fifeeitrnet  Früchte  —  d.  h.  die  Leiden  einer  neuen  Existenz 
„ —  zu  zeitigen,  weil  die  Keimkraft  der  Werke  verbrannt 
„ist.  Denn  wenn  der  Boden  des  Innenorgans  mit  dem 
„Wasser  der  Fehler  [d.  h.  des  Nichtwissens,  der  Begierde 
„u.  s.  w.]  getränkt  ist,  so  treiben  die  Werksamen  ihre 
„Sprossen;  wie  aber  können  die  Werksamen  auf  einem 
„unfruchtbaren  Salzboden,  auf  dem  das  gesammte  Wasser 
„der  Fehler  von  der  Gluth  der  Erkenntniss  der  Wahrheit 
„aufgesogen  ist,  ihre  Sprossen  treiben?"  Und  im  Anschluss 
daran  führt  er  aus,  dass  das  gegenwärtige  Leben  auf 
solchen  früheren  Werken  beruht,  deren  Samen  schon 
vor  der  Erreichung  der  erlösenden  Erkennt- 
niss aufgegangen  ist  und  begonnen  hat  zu 
reifen^).  Diese  Werke  also  sind  die  Triebfeder  für  die 
Fortdauer  des  Leibeslebens  der  Erlösten;  ihre  Frucht  ist 
bis  auf  den  letzten  Rest  zu  geniessen,  und  darum  erfährt 
der  Jivanmukta  auch  noch  Freude  und  Schmerz  wie 
alle  anderen  Wesen,  obschon  nicht  in  demselben  Grade*). 
„Wenn  in  Folge  eines  [im  Innenorgan  hervorgebrachten] 
„Eindrucks"  —  sagt  Vijnänabhikshu  zu  Sütra  V.  120 
mit  Bezug  auf  den  bei  Lebzeiten  Erlösten  —  „im  Körper 
„der  Götter  oder  [Menschen]  eine  Empfindung  begonnen 
„hat,  so  wirkt  dieser  Eindruck  so  lange,  bis  die  Empfindung, 
„welche  angefangen  hat  sich  geltend  zu  machen  und  von 

1)  Kärikä  67,  Sutra  III.  82. 

2)  Sämkhya-tattva-kaumudi  zu  Kärikä  67. 

')  S.  auch  Vijnänabhikshu  zu  Sütra  I.  1,  Seite  13,  14  meiner 
Uebersetzung. 

*)  Vgl.  Vijnänabhikshu  zu  Sütra  III.  77,  83,  und  seine  Ein- 
leitung zu  V.  120. 


—     183    — 

„dem  betreffenden  Körper  auszukosten  ist,  ihr  Ende  erreicht 
„hat;  und  dieser  [Eindruck]  wird  nur  durch  das  Ende  der 
„Empfindung  vernichtet,  ebenso  wie  die  [Kraft  der]  Werke 
„  [nur  durch  das  Ende  des  Resultats,  das  sie  gezeitigt  haben]  ". 

Was  nun  aber  auch  der  Jivanmukta  nach  dem 
entscheidenden  Wendepunkt  in  seinem  Dasein  noch  thun 
und  treiben  möge,  —  und  wenig  genug  kann  es  ja  nur 
sein,  da  er  von  absoluter  Gleichgiltigkeit  gegen  die  Dinge 
dieser  Welt  (der  Vorbedingung  für  die  Erreichung  des 
erlösenden  Wissens)  erfüllt  ist  — ,  aus  seinen  Handlungen 
erwächst  kein  Verdienst  und  keine  Schuld  mehr;  die  Er- 
kenntniss  löst  die  nachwirkende  Kraft  seines  Thuns  auf, 
ebenso  wie  sie  das  Verdienst  und  die  Schuld  aller  früheren 
Werke,  die  noch  nicht  angefangen  haben  Frucht  zu  tragen, 
vernichtet  hat.  Wenn  dann  endlich  die  Werke,  welche 
die  Fortsetzung  des  gegenwärtigen  Lebens  bedingen,  ab- 
gebüsst  sind  und  „die  Trennung  vom  Körper  erreicht  ist, 
„so  erlangt  die  Seele  die  unbedingie  und  absolute  Isoli- 
„rungi)".  Erst  dann,  mit  der  Vernichtung  des  inneren 
Organs  im  Tode  des  Erlösten,  ist  der  Schmerz  vollständig 
und  für  alle  Ewigkeit  aufgehoben  -). 

Anhangsweise  sei  hier  eine  der  spätesten  Entwicke- 
lung  des  Sämkhya- Systems  angehörende  Vorstellung 
erwähnt,  durch  welche  die  klaren  soeben  dargelegten  An- 
schauungen etwas  verwischt  wurden. 

Wie  wir  S.  149  erkannten,  hat  die  mit  der  echten 
Sämkhya-  Lehre  nicht  zu  vereinigende  Theorie  der  Y  o  g  a  - 
Philosophie  von  den  drei  Stufen  der  unterscheidenden 
Erkenntniss  Eingang  in  die  Sämkhyas  ütra's  (IIL 
77  —  79)  gefunden.  Die  Folge  davon  war,  dass  man  eine 
dieser  drei  Stufen  für  den  Standpunkt  des  Jivanmukta 
erklären  musste.      Die   niedere   konnte  es  nicht  sein,  weil 


1)  Kärikä  68. 

2)  Dadurch  unterscheidet  sich  die  videliamuhti ,  die  definitive 
Erlösung  nach  dem  Tode,  von  der  jivannmhti.  Vijnänabhikshu  zu 
I.  1,  Mahädeva  zu  III.  77. 


—    184    — 

der  auf  ihr  angelangte  noch  weiterer  Aufklärung  bedarf; 
die  höchste  war  deshalb  ausgeschlossen,  weil  auf  ihr  die 
Concentration  bis  zu  der  Bewusstlosigkeit  gesteigert  ist, 
„aus  der  es  kein  Auferstehen  giebt",  mithin  der  Tod  un- 
mittelbar bevorsteht.  So  blieb,  als  für  den  Ji  vanmukta 
in  Anspruch  zu  nelnnen,  allein  die  ,mittlere  Unterschei- 
dung' übrig,  in  der  nur  noch  die  Eindrücke  der  früheren 
Erfahrung  bestehen  bleiben,  aber  alle  Begierden  ge- 
schwunden sind  und  der  Weise  in  der  Gewissheit  lebt, 
dass  er  durch  Geniessen  und  Leiden  (Ue  Kraft  der- 
jenigen Werke  aufbraucht,  deren  Frucht  heranzureifen  be- 
gonnen hat  ^). 

3.    Der  Werth  der  Askese. 

Barthelemy  S  aint-Hilaire,  Premier  Memoire 
p.  389  erhebt  gegen  Kapila  den  Vorwurf,  dass  er,  wie 
alle  Kinder  seiner  Zeit  und  seines  Landes,  an  die  Magie 
geglaubt  habe,  d.  h.  an  die  wunderbaren,  angeblich  durch 
die  Askese  zu  gewinnenden  Kräfte,  durch  die  man  Herr 
über  die  Naturgesetze  wird  und  den  natürlichen  Lauf  der 
Dinge  zu  ändern  vermag.  Dass  der  Begründer  der  Säm- 
k  h  y  a  -  Philosophie  diesen  Aberglauben  getheilt  hat,  lässt 
sich  nicht  mit  wissenschaftlicher  Genauigkeit  beweisen; 
denn  das  einfache  System,  das  wir  auf  ihn  zurückführen 
müssen,  schliesst  nicht  die  Nothwendigkeit  solcher  Aus- 
wüchse ein  ;  und  die  Schriften,  die  uns  die  S  ä  m  k  h  y  a  - 
Philosophie  mit  jenen  phantastischen  Vorstellungen  durch- 
setzt zeigen,  sind  ja  erst  viele  Jahrhunderte  nach  K  a  p  i  1  a 
entstanden.  Gleichwohl  lässt  sich  nicht  bezweifeln,  dass 
Kapila  wirklich  an  die  übernatürliche  Macht  der  Askese 
geglaubt  hat;  er  wäre  sonst  kein  echter  Lider  gewesen. 
Denn  dieser  Wahn  hat  seit  Alters  her,  wie  wenige  Ideen 
sonst,   dem  ganzen   indischen  Volk   bis   auf  die   neuesten 


1)  Aniruddha  zu  TIT.  77. 


—     185    — 

Zeiten  für  eine  selbstverständliche  Wahrheit  ffeffolten.  Das 
Wort  fiir  Askese,  tapas  (etymologisch  , Hitze,  Gluth',  dann 
, Schmerz,  Selbstj)einigung') ,  tritt  uns  bereits  in  jüngeren 
Liedern  des  Rigveda,  dann  häufiger  im  Yajur-  und 
Atharvaveda  entgegen ;  und  in  der  Literatur  der  B  r  ä  h- 
mana's  und  Upanishad's  ist  der  Begriff  bereits  ganz 
geläufig.  Oftmals  "wird  das  Tapas  hier  als  eine  kosmo- 
gonische  Potenz  behandelt,  durch  die  der  Weltenschöpfer 
die  Wesen  und  Dinge  hervorbringt;  der  beste  Beweis 
dafür,  dass  schon  in  dieser  Zeit  der  Askese  kaum  eine 
geringere  Macht  zugeschrieben  wurde  als  später  in  der 
klassischen  Sanskritliteratur,  wo  dieser  Glaube  den  aben- 
teuerlichen Ausdruck  gefanden  hat,  dass  alle  Götter  vor 
der  Busski'aft  des  Asketen  in  Entsetzen  gerathen  und 
dieser  geradezu  ein  allmächtiger  Zauberer  ist.  Ursprüng- 
lich hat  die  indische  Askese  zweifellos  nur  in  Enthaltsam- 
keit, Fasten  und  Kasteiungen  bestanden;  erst  als  die  reli- 
giösen Bedürfnisse  des  Volkes  sich  verinnerlichten  und 
nicht  mehr  ihre  Befriedigung  in  der  Vollziehung  endloser 
Ceremonien  und  in  der  Beobachtung  zahlloser  Aeusserlich- 
keiten  fanden,  Avurde  auch  der  Schwerpunkt  der  Askese  in 
die  Meditation  und  Versenkung  verlegt.  Der  Begriff  des 
Yoga  oder  der  geistigen  Askese  trat  in  den  Vordergrund, 
und  das  Tapas  oder  die  körperliche  Askese  wurde  zu 
einem  Hilfsmittel  zur  Steigerung  des  Yoga  herabgedrückt  ^); 
doch  lag  es  in  der  Natur  der  Sache,  dass  die  beiden  Be- 
griffe in  der  Folgezeit  nicht  immer  von  einander  ge- 
schieden wurden. 

Gough,   Philosophy    of  the    Upanishads   p.  18,    19, 


^)  Das  Wort  yoga  tritt  in  dieser  Bedeutung  erst  beträchtlich 
später  auf  als  tapas,  ist  aber  immerhin,  wie  aus  Jacob 's  Concor- 
dauce  zu  ersehen,  in  den  Upanishad's  mittleren  Alters  ziemlich 
häufig.  In  der  Mai  tri  Up.  (VI.  18)  finden  wir  bereits  die  in 
dem  späteren  Yoga -System  vorgeschriebene  Technik  fast  voll- 
ständig entwickelt.  Dass  der  Buddhismus  die  Uebung  der 
Versenkung  sehr  hoch  schätzte,  aber  die  leibliche  Askese  verwarf, 
auf  die  der  Ji  nismus  grosses  Gewicht  legte,  ist  allgemeiu  bekannt. 


—     186     — 

sucht  die  Entstehung  der  Yoga- Praxis,  ebenso  wie  den 
Glauben  an  die  Seelenwanderung  i) ,  auf  den  Einfluss  der 
halbwilden  Völkerschaften,  mit  denen  die  eingewanderte 
Rasse  versclunolz,  zurückzuführen.  Er  beruft  sich  auch  in 
diesem  Falle  auf  Tylor's  Primitive  Culture  (I.  p.  277), 
wo  ausgeführt  ist,  dass  bei  tiefer  stehenden  Völkern  die 
durch  Meditation,  Fasten,  Narkotisiiamg ,  Erregung  oder 
Kranklieit  hervorgerufene  Ekstase  ein  gewöhnlicher  und 
in  hoher  Werthschätzung  gehaltener  Zustand  sei.  Ich 
erachte  es  nicht  für  unmöglich,  dass  bei  der  künstlichen 
Ausbildung  der  Yoga-Lehre  etwaige  fremde  Vorbilder 
eine  gewisse  Einwirkung  ausgeübt  haben  können;  aber 
ich  sehe  doch  nicht  ein,  warum  diese  Vorstellungen  und 
Gebräuche  bei  den  arischen  Indern,  die  von  jeher  so  ernst 
um  das  höchste  Heil  gerungen,  nicht  unabhängig  von 
äusseren  Einflüssen  entstanden  sein  sollen,  wie  sie  z.  B. 
innerhalb  der  christlichen  Kirche  sich  zu  verschiedenen 
Zeiten  selbständig  herausgebildet  haben. 

Die  Askese  wird  in  Indien  allgemein  nicht  nur  als  ein 
Mittel  zur  Erreichung  der  wunderbaren  Kräfte  angesehen, 
sondern  auch  als  das  wirksamste  Hilfsmittel  zur  Gewinnung 
der  erlösenden  Erkenntniss.  Das  besondere  Hervortreten 
dieser  Anschauung  in  den  S am khya- Schriften  beruht 
sicherlich  darauf,  dass  die  literarische  Festlegung  der  über 
den  Yoga  herrscheiiden  Anschauungen  durch  Pataiijali 
auf  unser  System  basirt  ist.  Es  war  nur  zu  natürlich, 
dass  nach  der  Abfassung  und  Verbreitung  der  Yoga- 
sütra's  die  Anhänger  der  S am khya- Philosophie  sich 
die  in  jenem  Werke  niedergelegten  Anschauungen,  soweit 
sie  nicht  den  Lehren  ihres  Systems  widersprachen,  zu  eigen 
machten.  Ein  Theil  der  hier  in  Betracht  kommenden 
Vorstellungen  hat  bereits  bei  der  Erörterung  der  An- 
forde r  u  n  g  e  n  des  S  ä  ni  k  h  y  a  -  Systems  S.  148  zur  Sprache 
gebracht  werden  müssen;  der  Rest  möge  hier  seine  Stelle 
finden. 


1)  Vgl.  obeu  S.  175,  176. 


—    187    — 

Der  Yogin,  d.  li.  derjenige  Asket,  der  durch  die 
Ausübun  g  der  Yoga-  Praxis  die  in  P  a  t  a  n j  a  1  i '  s  System 
in  Aussicht  gestellten  Ziele  erreicht  hat,  bringt  durch 
seinen  blossen  Willen  alles,  was  er  wünscht,  zu  Stande. 
Diese  Macht  wird  aus  dem  von  dem  Yogin  erworbenen 
Verdienst  oder  aus  der  Stärke  seiner  Contemplation  ab- 
geleitet, und  es  wird  ausdriicklich  bemerkt,  dass  die  von 
ihm  geschaffenen  Dinge  nicht  etwa  illusorisch,  sondern 
real  seien').  Wie  der  Yogin  allmächtig  ist,  so  ist  er 
auch  allwissend;  er  sieht  nicht  nur  die  Dinge,  die  der 
Wahrnehmung  gewöhnlicher  Menschenkinder  durch  da- 
zwischen  liegendes  entrückt  sind;  er  schaut  auch  in  die 
Vergangenheit  und  Zukunft.  Diese  Vorstellung  wird  durch 
die  S  ä  m  k  h  y  a  -  Lehre  von  der  steten  Realität  der  Produkte 
(sat-härya-väda)  begründet;  auch  das  gewesene,  d.  h.  das 
in  seine  Ursache  aufgegangene,  und  das  zukünftige,  d.  h. 
das  noch  nicht  aus  seiner  Ursache  hervorgegangene,  existirt 
ebenso  gut  Avie  das  gegenwärtige,  nur  in  einem  anderen 
Stadium.  Das  innere  Organ  des  Yogin  nun  steht  in 
unmittelbarer  Verbindung  mit  der  Urmaterie,  aus  der  alles 
entsteht  und  in  die  alles  zurücksinkt,  und  dadurch  zugleich 
„mit  jeder  Zeit,  mit  allem  Raum  und  mit  allen  Objekten"  -). 
Noch  in  anderer  Weise  denkt  man  sich  bei  dem  Yogin 
die  Kräfte  der  Organe  in  übernatürlicher  Weise  gesteigert. 
Diejenigen  Dinge,  die  für  andere  Menschen  unsichtbar 
sind  —  die  Seelen,  die  Urmaterie  und  die  Grundstoffe, 
die  sich  noch  nicht  durch  gegenseitige  Verbindung  zu 
grobem  Stoff  entwickelt  haben  —  werden  von  dem  Yogin 
gesehen,  nicht  durch  innere  Anschauung,  sondern  durch 
wirkliche  Sinneswahrnehmung  ^).  Der  Yogin  nimmt  also 
auch  in  Bezug  auf  den  Körper   eine  Sonderstellung  unter 


1)  Sämkhyasütra  III.  28,  29  nach  Aniruddha's  und  Mahadeva's 
Erklärungen. 

-)  Sütra  I.  90,  91  nebst  den  Commentaren  und  Vijnänabhikshu 

zu  I.  121. 

')  Vijn.  zu  Sutra  I.  109,  III.  1. 


■    —     188    — 

allen  Wesen  ein.  Das  S  ä  m  k  h  y  a  -  System  unterscheidet 
drei  Kategorien  von  Körpern  mit  Rücksicht  auf  deren 
vorwaltende  Eigenthümliclikeit :  handelnde  (karrna-deha)^ 
geniessende,  resp.  leidende  (upahhoga-delia) ,  und  Körper 
beiderlei  Art  (uhhaya-dcha).  Der  Leib  des  Yogin  aber 
ist  von  allen  dreien  verschieden,  da  seine  charakteristischste 
Eigenthümlichkeit  weder  Handeln  noch  Geniessen  ist, 
sondern  das  Zeitigen  der  Erkenntniss  ^). 

4.    Das  Mythologische. 

Die  philosophischen  Systeme  haben  ebenso  wenig  Avie 
die  Religionen  Buddha's  und  Jina's  mit  den  mytho- 
logischen Anschauungen  des  Volkes  gebrochen.  Die  Existenz 
der  Götter,  Halbgötter  und  Dämonen  wird  nicht  bestritten, 
wohl  auch  nicht  bezweifelt,  ist  aber  von  geringer  Be- 
deutung. Zwar  sind  die  Götter  höher  organisirte  und 
glücklichere  Wesen  als  die  Menschen ;  aber  sie  stehen 
ebenso  wie  diese  innerhalb  des  Samsära  und  müssen, 
wenn  sie  nicht  die  erlösende  Erkenntniss  gewinnen  und 
damit  aus  dem  Weltdasein  ausscheiden,  wieder  ihre  Leiber 
wechseln  2).  Der  Macht  des  Todes  sind  auch  sie  nicht  ent- 
ronnen, und  deshalb  stehen  sie  tiefer  als  derjenige  Mensch, 
der  das  höchste  Ziel  erreicht  hat.  Viel  leichter  als  die 
Erreichung  dieses  Zieles  ist  es,  sich  durch  Tugend  und 
gute  Werke  zu  göttlichem  Range  zu  erheben  und  nach 
dem  Tode  auf  dem  Monde  oder  in  der  Welt  Indra's, 
Brahman's  u.  s.  w.   —    auch  wohl  in  der  Person  eines 


1)  Sutra  V.  125,  126  (124,  125  Vijii.).  Hier  ist  der  Yogiu 
mit  dem  seiteneu  Worte  anugayin  bezeichnet,  d.  b.  uacb  Vijii.  ,der 
Gleicbgiltige',  nach  den  anderen  Commentatoreu  besser  , derjenige, 
von  dessen  Werken  nur  noch  ein  Rest  übrig  geblieben  ist'. 

^)  Immer  und  immer  wieder  wird  in  den  S  ä  lu  kh  3^  a- Texten 
versichert,  dass  auch  aus  den  himmlischen  Welten  eine  Wiederkehr 
zu  neuen  Daseinsformen  stattfinde.  S.  in  den  Indices  zu  meinen 
Textausgaben  unter  ävrtti,  anävrtti  und  punarävrtti.  Ueber  die 
entsprechenden  Anschauungen  im  Vedanta  vgl.  Deussen  S.  68  ff. 


—     189    — 

dieser  Götter  —  wiedergeboren  zu  werden ;  und  nur  thöriclite 
Menschen  trachten  nach  solchem  vergänglichen  Glück. 

Wie  der  Glaube  an  überirdische  Wesen  und  himm- 
lische Stätten,  ist  natürlich  auch  der  an  Höllen,  in  die  der 
Böse  herabsinkt  um  seine  Sünden  abzubüssen,  in  die 
Systeme  übergegangen  ^).  Alle  diese  mythologischen  Vor- 
stellungen aber  werden  in  den  Lehrbüchern  des  Vedänta- 
Systems,  das  sich  in  der  aparä  vidyd,  der  ,niederen  Wissen- 
schaft' auf  den  religiösen  Standpunkt  stellt,  viel  eingehender 
berücksichtigt  als  in  den  Sänikhya- Schriften.  Hier 
werden  sie  eigentlich  nur  herangezogen,  wo  es  sich  um 
den  Lohn  des  Frommen  und  die  Strafe  des  Unfi'ommen 
handelt,  oder  wo  die  Bedeutung  der  Erlösung,  des  absoluten 
und  endgiltigen  Aufhörens  des  Schmerzes,  durch  Ver- 
gleichung  mit  den  untergeordneteren  Zielen,  denen  die 
Religion  zustrebt,  in  das  rechte  Licht  gesetzt  werden  soll. 
Für  das  Sämkhya-  System  als  solches  ist  die  indische 
Mythologie  belanglos. 

Unter  den  Sämkhya-  Lehrern  hat  allein  V  i  j  n  ä  - 
nabhikshu,  der,  wie  wir  schon  mehrfach  sahen,  kein 
consequenter  Vertreter  unseres  Systems  war,  an  einigen 
Stellen  Gelegenheit  genommen,  die  volksthümlichen  An- 
schauungen des  Brahmanenthums  mit  den  Lehren  der 
S  ä  m  k  h  y  a  -  Philosophie  auf  die  in  den  Puräna's  übliche 
Art  und  Weise  zu  verschmelzen.  Er  erklärt  -)  den  A  d  i  - 
p  u  r  u  s  h  a ,  den  Urgeist ,  d.  h.  V  i  s  h  n  u ,  für  diejenige 
Seele,  die  beim  Beginn  dieser  Schöpfung  vor  allen  anderen 
gleich  ewigen  Seelen  wegen  früher  erworbener  Verdienste 
sich  mit  der  B  u  d  d  h  i ,  der  ersten  Entfaltung  der  Urmaterie 
und  der  Trägerin  der  höheren  psychischen  Vorgänge,  ver- 
bunden hat.  Die  Buddhi  Vishnu's  ist  nach  Vijüä- 
]iabhikshu  nicht  von  derselben  Art,  wie  bei  uns 
gewöhnlichen  Menschen,  sondern  von  universeller  Natur; 


^)  Vgl.  Sämkhyakärikä  44,  und  wegen  des  VedäntaDeussen 
S.  412—414. 

2)  Zu  Sutra  I.  96,  154,  V.  5,  VI.  64,  66. 


—    190    — 

sie  besteht  aus  reinem  Sattva  und  ist  deshalb  nur  der 
auf  Güte  und  Wohlwollen  beruhenden  Funktionen  fähig; 
ausserdem  befindet  sie  sich  im  Besitz  des  höchsten  Maasses 
von  Erkennen,  Stärke  und  übernatürHcher  Kraft.  Das 
höchste  aber,  was  unser  Autor  von  Vishnu  aussagen 
kann  ^),  ist,  dass  er  an  der  Spitze  der  bei  Lebzeiten  Erlösten 
stehe;  denn  über  den  Rang  eines  Jivanmukta  kann 
kein  Wesen,  auch  der  grösste  der  Götter  nicht,  hinaus- 
gelangen. Im  Kreise  dieser  Glücklichen,  die  die  unter- 
scheidende Erkenntniss  errungen  haben,  ist  selbst  Vishnu 
nur  ein  primus  inter  pares. 

In  ähnlicher  Weise  werden  von  Vijn an abhikshu-) 
B  rahm  an  (oder  Hirany  agarbha)  ^')  und  ^iva  als 
diejenigen  Seelen  bezeichnet,  die  sich  mit  dem  kosmischen 
Ahamkära,  der  zweiten  Entfaltung  der  Urmaterie  und 
dem  Träger  des  zum  Handeln  antreibenden  Ichbewusstseins, 
verbunden  haben  *).  Dadurch  soll  die  schaffende  Thätigkeit 
Brahman's  und  das  zerstörende  Wirken  ^ i v a ' s  erklärt 
werden. 

Schliesslich  erwähnt  Vijnänabhikshu  noch^)  die 
gangbare  Vorstellung  von  den  (zugleich  als  Lenker  der 
Sinnesorgane  geltenden)  Göttern  der  Erde,  der  Luft,  des 
Feuers  und  des  Wassers,  indem  er  diese  für  Geister  erklärt, 
die  durch  den  Wahn  gebunden  sind,  dass  die  Natur- 
elemente ihr  Selbst  seien. 

Nur  der  Vollständigkeit  wegen  sind  diese  sich  nicht 
durch  Klarheit  auszeichnenden  Vorstellungen  hier  mit  an- 
geführt worden. 


1)  Zu  Sütra  V.  47. 

2)  Zu  Sütra  VI.  64. 

")  Vgl.  meinen  Iudex  zum  Sämkhya-pravacana-bhäshya  s.  v. 
*)  S.  schon  oben  S.  53. 

5)  Zu  Sütra  II.  13,   18,  21.    Vgl.  Deussen,   System  des  Ve- 
dänta  S.  70. 


>c^^ 


III.    Wie  specielleii  Grundaiiscliauuiigen 

des  Systems. 


1.    Der  Atheismus.  ' 

Einer  der  cliarakteristisclisten  Züge  der  Sämkliya- 
Philosophie  ist  die  Entschiedenheit,  mit  der  das  Dasein 
Gottes  geleugnet  wird.  Dass  die  Anerkennung  der  Volks- 
götter diesem  Atheismus  keinen  Eintrag  thut,  ergiebt  sich 
schon  aus  dem  eben  bemerkten  und  wird  noch  ausdrücklich 
im  Sämkhyasütra  III.  56,  57  begründet.  Der  Glaube 
an  gewordene  und  vergängliche  Götter  (janyegvara,  lcärye(^- 
vara)  ^)  hat  nichts  mit  der  Frage  nach  dem  ewigen  Gott 
(nityecvara)  zu  thun,  von  dem  andere  annehmen,  dass  er 
die  Welt  durch  seinen  Willen  geschaffen  habe.  Der  Ge- 
brauch eines  besonderen  Wortes  (ievara  ,der  Mächtige')  in 
der  indischen  Philosophie  ist  offenbar  aus  dem  Bestreben 
hervorgegangen,  diesen  Gott  von  den  Göttern  (deva)  auch 
im  sprachhchen  Ausdruck  zu  unterscheiden. 

Die  Gottesleugnung  (niricvara-väda)  des  Sämkhya- 
Systems  ist  im  wesentlichen  die  Consequenz  folgender 
Anschauungen :  1)  der  Lehre,  dass  der  bewusstlosen  Materie 
die  sich  mit  Naturnoth wendigkeit  bethätigende  Kraft  inne- 
wohne,  für  die   rein    receptiven  Seelen   sich  zu  entfalten, 


1)  D.  h.  Götter,  die  ein  Produkt  (der  in  früheren  Existenzen 
vollbrachten  guten  Werke)  sind.  Vgl.  den  Index  zu  meiner  Ausgabe 
des  Sämkhya-pravacana-bhäshya. 


—    192    — 

und  2)  der  allgemein-indischen  Vorstellung  von  der  Nach- 
wirkung  des  Thuns   der  lebenden  Wesen,   die   nicht   nur 
jene  Naturkraft  anregt,  sondern  auch  ihrer  Thätigkeit  die 
Bahnen  weist.     Andere  Gründe  scheinen  dazu  getreten  zu 
sein,  vor  allem  Avohl  die  Erkenntniss,  dass  auf  dem  Boden 
des  Theismus   das  Problem   der  Entstehung  des  Unglücks 
nicht   zu   lösen   ist,  —  ein  Gedanke,    den  wir    in  der  be- 
deutungsvollen Stelle  Sämkhya-tattva-kaumudi  zu 
Kärikä  57  als  eine  Hauptstütze   der  atheistischen  Welt- 
erklärung verwendet  finden.     Es  heisst  daselbst:  „[Jedes] 
„bewusste  Handeln  ist  ausnahmslos  bedingt  entweder  darch 
„einen  egoistischen  Zweck  oder  durch  Güte.    Und  da  diese 
„beiden    [Motive]    bei    der    Weltschöpfung  ausgesclilossen 
„sind,   machen   sie  auch    [die  Annahme]    unmöglich,  dass 
„[die  Erschaffung   der  Welt]    auf  bewusstem  Handeln  be- 
„ruht.     Denn  ein  Gott,  dessen  Wünsche  doch  alle  erfüllt 
„sind,    kann    an    der  Erschaffung    der    Welt    [schlechthin] 
„kein    [persönliches]   Interesse   gehabt  haben;    [die   Mög- 
„lichkeit  eines  egoistischen  Zweckes  fällt  also  fort.    Aber] 
„auch  aus  Güte   kann  [Gott]    nicht   die  Schöpfung  unter- 
„nommen   haben;    denn   da    vor   dem   Schöpfungsakt    die 
„Seelen   keinen    Schmerz    litten,   weil   noch   keine   Sinne, 
„Körper  und  Objekte  entstanden  waren,  wovon  konnte  die 
„Güte    [Gottes    die    Seelen]    befi-eit    zu    sehen    wünschen? 
„Wenn   man  [aber]   meint,  [dass]    die   Güte  [Gottes   sich 
„später   zeigte,]    als    er  nach   dem   Schöpfungsakt   [seine 
„Geschöpfe]  leidvoll  sah,  so  wird  man  schwerlich  über  den 
„circulus  vitiosus   hinwegkommen:   in  Folge  der  Güte  die 
„Schöpfung  und  in  Folge  der  Schöpfung  die  Güte!  Ferner 
„würde    ein   durch    Güte   getriebener    Gott   nur   freudvolle 
„Geschöpfe    schaffen,    [aber]    nicht   solche    in   verschieden- 
„artigen  Lagen.      Wenn    [uns  hierauf  eingewendet  wird:] 
„,die  Verschiedenartigkeit  folgt  aus   der  Verschiedenartig- 
„keit  des  Werkes,  [dessen  Lohn    die  Individuen  von  Gott 
„empfangen]',  so  [antworten  wir:  Dann  aber]  ist  doch  die 
„Leitung  des  Werkes  von  Seiten  jenes  bewussten  [höchsten 
„Wesens   vollständig]    überflüssig;   denn    die  Wirksamkeit 


—     193     — 

„des  [von  den  Individuen  vollbrachten]  Werkes  [d.  h.  die 
„nachwirkende  Kraft  des  Verdienstes  und  der  Schuld]  er- 
„klärt  sich  trotz  der  Ungeistigkeit  [des  Werkes]  völlig 
„ohne  eine  Oberleitung  von  Seiten  jenes  [Gottes];  auch 
„das  Nichtwiederentstehen  des  Schmerzes,  [nachdem  die 
„Erlösung  erreicht  ist,]  begreift  sich  sehr  wohl  [auf  Grund 
„dieser  Theorie],  da,  [wenn  die  nachwirkende  Kraft  des 
„Werkes  durch  die  unterscheidende  Erkenntniss  aufgehoben 
„ist],  die  Produkte  jener  [Kraft],  d.  h.  Körper,  Sinne  und 
„Objekte,  [mithin  auch  die  Schmerzen]  nicht  [wieder] 
„entstehen  können.  —  Das  [von  uns  angenommene] 
„Wirken  der  ungeistigen  Materie  dagegen  birgt  weder 
„einen  egoistischen  Zweck  in  sich,  noch  ist  die  Güte  sein 
„Motiv;  und  deshalb  kann  man  gegen  [unsere  Theorie] 
„nicht  geltend  machen,  dass  die  genannten  Widerlegungs- 
„gründe  [auch]  auf  sie  Anwendung  finden.  Vielmehr  ist 
„als  Motiv  allein  die  [unbewusste]  Betreibung  der  Zwecke 
„eines  andern  [d.  h.  der  Seele]  berechtigt  ^)". 

Eine  gewisse  Ergänzung  zu  diesen  bemerkenswerthen 
Ausführungen  liefert  Vij nana bhiks hu  in  seinem  Com- 
mentar  zu  S  ü  t  r  a  VI.  65 :  „Auch  auf  dem  theistischen 
„Standpunkt  kann  man  nicht  sagen,  dass  die  Manifestirung 
„der  Produkte  einfach  durch  Gott  bewirkt  werde,  weil 
„Gott  dann  parteiisch  [im  Vertheilen  von  Freude  und 
„Sclunerz]  und  grausam  [weil  den  Schmerz  erschaffend] 
„sein  würde.  Diese  Parteilichkeit  und  [Grausamkeit] 
„müssen  die  Theisten  dadurch  widerlegen,  [dass  sie  lehren,] 
„Gott  berücksichtige  [bei  der  Vertheüung  von  Freude  und 
„Schmerz]  die  Werke  [der  Individuen].     Wenn  nun  Gott 


^)  Diese  Beweisführung  Väcaspatimigra's  ist  fast  voll- 
ständig von  Mädhaväcärya  im  Sämkhya-Kapitel  des  Sarva-dar- 
Qana-samgraha  (S.  228  der  Uebersetzung)  wiederholt.  Auch  finden 
sich  dieselben  Gründe  zerstreut  in  denjenigen  Sämkhyasütra's ,  in 
welchen  die  Existenz  Gottes  geleugnet  wird  (I.  92 — 94,  V.  2 — 12, 
46,  126,  127,  VI.  64)  und  namentlich  bei  den  Commentatoren  zu 
diesen  Stellen. 

Garbe,  Sämkhya-Philosophie.  13 


—     194    — 

„diese  Werke  lenkte ,  so  würde  er  |  wiederum  dem  Vor- 
„wurf]  der  Parteilichkeit  und  [Grausamkeit]  ausgesetzt  sein". 
Solche  und  ähnliche  Erwägungen  hatten  sich  gewiss  schon 
dem  Begründer  der  S  ä  m  k  h  y  a  -  Philosophie  aufgedrängt, 
als  er  sich  zu  dem  kühnen  Schritte  entschloss,  offen  den 
Atheismus  zu  bekennen.  Dass  nach  der  Brahmanisirung 
des  Sänikhy a-Systems  keine  andere  Lehre  desselben  so 
oft  und  so  heftig  angegriffen  sein  wird  als  diese,  dürfen 
wir  schon  aus  der  Einfügung  des  persönlichen  Gottes 
schliessen,  durch  die  P  a t a h j a li  das  System  K a p i  1  a 's 
seinen  Landsleuten  annehmbarer  zu  machen  suchte.  Die 
strengen  Anhänger  der  Sämkhya -Philosophie  bemühten 
sich  auf  der  anderen  Seite,  aus  ihrem  eigenen  System  neue 
Gründe  zur  Abwehr  der  Angriffe  gegen  die  Gottesleugnung 
abzuleiten.  Sie  stellten  vor  allen  Dingen  die  sophistische 
Alternative:  soll  Gott  eine  erlöste  oder  eine  gebundene 
Seele  sein  ?  Als  erlöste,  d.  h.  mit  keinem  Leibe  und  keinem 
Innenorgan  verbundene  Seele  würde  Gott  ohne  alle  Quali- 
täten und  besonders  ohne  Wunsch  und  Willen,  der  noth- 
wendigen  Vorbedingung  für  alle  schöpferische  Thätigkeit, 
sein;  es  würde  ihm  ebenso  jeglicher  Beweggrund  für  die 
Leitung  der  Welt  fehlen.  Als  gebundene  Seele  würde  Gott 
dem  S  a  m  s  ä  r  a  angehören  und,  wäe  alle  anderen  Wesen, 
bethört  und  mit  weltlichen  Schwächen  behaftet  sein,  in 
welchem  Falle  er  wiederam  nicht  Schöpfer  und  Leiter  der 
Welt,  sondern  nur  ein  nomineller  (päribhdshika)  Gott  sein 
könnte,  der  mit  dem  Anfang  dieser  Weltperiode  entsteht 
und  mit  ihrem  Ende  vergeht  ^).  Wenn  ein  Theist  gegen 
diese  Beweisfühning  den  nahe  liegenden  Einwand  erhebt, 
dass  Gott  dann  eben  weder  zu  den  erlösten  noch  zu  den 
gebundenen  Seelen  gehören  könne,  sondern  eine  Aus- 
nahmestellung einnehmen  müsse,  so  erhält  er  die  Antwort: 
Wo  ein   in   seiner  Art    einziges  Ding  statuirt  wird,   fehlt 


1)  Sämkhyasütrji  I.  93,  94,  V.  5—7;   vgl.   auch  Gaudapäda  zu 

Kärikä  61. 


—     195    — 

jede  Argumentationsbasis  *).  So  und  so  oft  wird  in  den 
S  ä  mk  hy  a  s  ü  t  r  a 's  constatirt ,  dass  sich  die  Existenz 
Gottes  nicht  beweisen  lässt  -).  Wenn  man  die  aphoristische 
Kürze  des  Werkes  in  Betracht  zieht,  so  geht  aus  dieser 
mehrfachen  Wiederholung  deutlich  hervor,  welches  Gewicht 
auf  diesen  Punkt,  auf  den  thatsächlichen  Mangel  eines 
stringenten  Gottesbeweises,  gelegt  worden  ist. 

Der  ganze  Zusammenhang  des  S  ä  m  k  h  y  a  -  Systems 
sclüiesst  den  Gottesglauben  aus,  und  nur  eine  oberflächliche 
Betrachtung  kann  zu  dem  hie  und  da  ■')  ausgesprochenen 
Urtheil  gelangen,  dass  der  Begründer  der  Sämkhya- 
Philosophie  seine  Lehren  auf  diejenigen  Principien  be- 
schränkt habe,  die  nach  seiner  Meinung  zu  demonstriren 
waren,  und  dass  er  demzufolge  nur  die  Unbeweisbar- 
k e i t  Gottes  dargethan ,  aber  nicht  seine  Existenz  ge- 
leugnet habe. 

2.    Der  übrige  Inhalt^). 

Am  Schluss  der  Einleitung  zum  Sämkhy a-prava- 
cana-bhäshya  wird  der  Inhalt  unseres  Systems  in 
folgende  vier  Theile  zerlegt: 

1)  dasjenige,  wovon  man  sich  befreien  muss,  d.  h.  der 
Sclimerz ; 

2)  die  Befreiung,  d.  h.  das  Aufhören  des  Schmerzes; 

3)  die  Ursache  desjenigen,  wovon  man  sich  befi*eien 
muss,  d.  h.  die  Nichtunterscheidung,  die  auf  der  Ver- 
bindung der  Seele  mit  der  Materie  beruht  und  den 
Schmerz  bewirkt; 

4)  das  Mittel  zur  Befreiung,  d.  h.  die  unterscheidende 
Erkenntniss. 

1)  Aniruddha  iu   der  Einleitung  zu  I.   94  und  im  Commentar 
zur  V.  11. 

2)  S.  die  Stellen  S.  193  Anm. 

^)  Z.  B.  von  Goldstücker,  Literary  Kemains  T.  174. 
^)  Vgl.   hierzu    die   kurze  Uebersicht    der   distinktiven   Säni- 
khya- Lehren  oben  S.  15. 

13* 


—    196    — 

Diese  Viertheiluiig  ist  aus  dem  alten  Commentar  des 
Vyäsa  zum  Yogasütra  IL  15  entnommen  und  beruht 
höchst  wahrscheinlich  auf  noch  viel  älterer  Tradition ;  denn 
sie  zeigt  eine  unverkennbare  Uebereinstimmung  mit  dem 
ältesten  Dogma  des  Buddhismus,  dem  der  ,vier  heiligen 
Wahrheiten'  vom  Leiden,  von  der  Entstehung  des  Leidens, 
von  der  Aufhebung  des  Leidens  und  von  dem  Wege  zur 
Aufhebung  des  Leidens.  Oldenberg,  Buddha ^  S.  226, 
Anm.  2  bemerkt  darüber:  „Ob  mit  Bezug  auf  diese  vier- 
„  fache  Gliederung  der  Buddhismus  der  entlehnende  Theil 
„ist,  wird  nicht  festgestellt  werden  können ;  dass  im  Uebrigen 
„die  Formulirung  der  vier  Sätze  sein  Eigenthum  ist,  scheint 
„unzweifelhaft,"  Gewiss  ist  der  Wortlaut  dieser  Sätze 
Eigenthum  des  Buddhismus;  den  Gedanken  hingegen 
halte  ich  auf  Grund  meiner  Anschauungen  über  die  Ab- 
hängigkeit des  Buddhismus  von  der  S  ä  m  k  h  y  a  -  Philosophie 
für  entlehnt. 

Neben  diese  alte  Viertheilung,  die  sich  nur  mit  dem 
Endziel  des  Sämkhya- Systems  beschäftigt,  aber  von 
seinem  Gesammtinhalt  keine  rechte  Vorstellung  erweckt, 
wurde  in  späterer  Zeit  eine  erschöpfendere  Zehntheilung 
gesetzt.  In  einem  Fragment  des  Räjavärttika,  das  in 
der  Sämkhya-tattva-kaumudi  zu  Kärikä  72  er- 
halten ist'),  finden  wir  die  folgende  Angabe  der  zehn 
Hauptlehren  oder  besser  Grundbegriffe  (mülikärtlia)  unseres 
Systems: 

1)  die  Realität  (von  Seele  und  Materie), 

2)  die  Einheit  (der  Materie), 

3)  die  Zweckdienlichkeit  (der  Materie), 

4)  die  Verschiedenheit  (von  Seele  und  Materie), 

5)  das   Wirken   (der   Materie)   im   Dienste   der   andern 
(d.  h.  der  Seele), 

6)  die  Vielheit  (der  Seelen), 

7)  die  Verbindung  (von  Seele  und  Materie), 


1)  Es  ist  auch  mit  einigen  Varianten  in  Nr.  68  der  Säinkhya- 
krama-dipikä  (zu  Sütra  18  des  Tattvasamäsa)  reproducirt. 


—     197     — 

8)  die  (Möglichkeit  der  definitiven)  Trennung  (beider), 

9)  das   Vorhandensein    (der   ganzen   Fülle)   materieller 
Entfaltungen  (viceslia-vrtti)  ^), 

10)  die  Unthätigkeit  (der  Seele).  ^ 

Im  Anschluss  hieran  sind  dann  noch  imRäjavärttika 
als  dem  Sämkhya- System  eigenthümlich  die  Lehren  von 
dem  ftinffachen  Irrthum,  den  neun  Befriedigungen,  den 
achtundzwanzig  Formen  des  Unvermögens  und  den  acht 
Vollkommenheiten  angeführt. 

Unter  jene  zehn  Grundlehren  lässt  sich  in  der  That 
der  ganze  Inhalt  des  Systems  einreilien,  soweit  er  positiver 
Natur  ist;  doch  würde  es  sich  nicht  empfehlen,  einer 
europäischen  Darstellung,  von  der  man  mit  Fug  und  Recht 
einheitlichere  Gesichtspunkte  erwarten  kann,  diese  Anord- 
nung des  Inhalts  zu  Grunde  zu  legen.  Ein  Blick  auf  das 
obige  Schema  lehrt,  dass  alle  dort  angeführten  Sätze  aus- 
schliesslich das  Wesen  und  gegenseitige  Verhältniss  zweier 
Dinge  betreffen,  der  Materie  und  der  Seele.  Beide  sind 
unerschaffen,  ohne  Anfang  und  ohne  Ende,  und  beide  sind 
ihrem  innersten  Wesen  nach  von  einander  verschieden; 
es  giebt  also  kein  höheres  einheitliches  Princip,  aus  dem 
man  sie  ableiten  könnte.  Unter  diesen  Umständen  müssen 
wir  uns  die  Frage  vorlegen,  welcher  der  zwei  Begriffe  für 
das  System  von  maassgeb  ender  er  Bedeutung  ist.  So  wenig 
wir  ein  Recht  haben  bei  der  klaren  Stellung,  die  der 
Seele,  dem  geistigen  Princip,  in  der  S  ä  m  k  h  y  a  -  Philosophie 
angewiesen  ist,  das  System  als  ein  materialistisches  zu 
bezeichnen,  so  lässt  sich  doch  nicht  verkennen,  das  uns 
aus  demselben  eher  ein  materialistischer  als  ein  spiritua- 
listischer  Hauch  entgegen  weht.  Barthelemy  Saint- 
Hilaire,  Premier  Memoire  p.  485 — 487,  findet  es  zwar 
schwierig,  dem  Sämkhya- System  seinen  richtigen  Platz 
in  der  Geschichte  der  Philosophie  anzuweisen,  meint  aber 


1)  In  der  Sämkhya-krama-dipikä  cesha-vrttl ,  d.  h.  nach  Bal- 
lantyne  ,die  Fortdauer  des  Körpers  (nach  der  Erreichung  der 
erlösenden  Erkenntniss)'. 


—     198    — 

schliesslich,  es  sei  am  ehesten  als  idealistisch  zu  be- 
zeichnen ;  denn  welchen  anderen  Namen  könne  man  einem 
System  geben ,  "qui  fait  sortir  le  monde  de  Tintelligence 
et  du  moi?"  Das  ist  durchaus  unrichtig;  die  beiden  Prin- 
cipien,  die  Bart helemy  mit  ,intelligence' und  ,moi'  über- 
setzt, die  huddhi  und  der  ahamlcära,  sind  die  ersten 
Entwickelungsstufen  der  TJrmaterie;  sie  gehören  kosmisch 
wie  individuell  ausschliesslich  der  Welt  des  Stoffes  an,  wie 
bald  des  näheren  ausgeführt  werden  wird. 

Um  die  Vorstellungen,  die  das  Sämkhya-System 
mit  dem  Begriff  der  Seele  verbindet,  und  den  Einfluss, 
den  es  den  Seelen  im  Makrokosmos  und  Mikrokosmos  zu- 
schreibt, recht  zu  verstehen,  ist  eine  genaue  Kenntniss  der 
S am khya -Lehren  von  dem  Wesen  der  Materie  und  den 
Eigenschatten  ihrer  Produkte  erforderlich.  Der  folgende 
Abschnitt  muss  deshalb  der  Darstellung  der  Kosmologie 
und  Physiologie  unseres  Systems  gewidmet  sein. 


o{\ 


Dritter  Abschnitt. 


Die  Lehre  von  der  Materie. 


^o\ 


I.    Kosmologie. 


1.    Die  Realität  der  Ersclieinungswelt. 

Schon  in  den  vedischen  Samhitä's  und  mehrfach 
in  den  älteren  Upanishad's  wird  das  Verhältniss  von 
Sein  und  Nichtsein  erwogen;  am  besten  in  der  berühmten 
Stelle  Chan dogya  Up.  VI.  2.  1,  2:  „Seiend,  o  Lieber,  war 
„dieses  am  Anfang,  nur  eines,  ohne  ein  zweites.  Einige 
„sagen  zwar:  ,Nichtseiend  war  dieses  am  Anfang,  nur 
„eines,  ohne  ein  zweites;  aus  diesem  Nichtseienden  entstand 

„das  Seiende'.    Wie  könnte  es  aber  so  sein,  o  Lieber  ? 

„Wie  könnte  aus  dem  Nichtseienden  das  Seiende  entstehen? 
„Seiend  vielmehr,  o  Lieber,  war  dieses  am  Anfang,  nur 
„eines  ohne  ein  zweites!"  i).  Diese  Frage  hat  dann  in 
der  Folgezeit  das  indische  Denken  mächtig  bewegt,  und 
für  den  Standpunkt  der  philosopliischen  Systeme  ist  die 
Art,  wie  das  Verhältniss  von  Sein  und  Nichtsein  aufge- 
fasst  wurde,  geradezu  entscheidend.  So  sagt  Väcaspati- 
mi9ra')  in  seiner  Einleitung  zu  Sämkhy akärikä  9 
kurz  und  bestimmt:  „Nach  der  Ansicht  der  Buddhisten 
„geht    das  Seiende   aus   dem   Nichtseienden   hervor,   nach 


1)  Ebenso  Chäud.  Up.  VI.  8.  4,  umgekehrt  III.  19.  1,  Taitt. 
Up.  IL  7.  1. 

»)  Und  nach  ihm  Mädhaväcärya  im  Sämkhya-Kapitel  des 
Sarva-dar^ana-samgraha  (S.  224  der  Uebersetzuug).  Vgl.  auch 
Sämkhya-tattva-pradipaimPandit  IX,  p.  117,  118,  240,241. 


—     202     — 

„der  der  Vedantisteii  das  scheinbar,  aber  nicht  wirk- 
„lich  Seiende  aus  dem  Seienden,  nach  der  der  Vai9e- 
„s h i k a ' s  und  Naiyäyika's  das  noch  nicht  Seiende  aus 
„dem  Seienden,  nach  der  der  Sämkhya's  (ohne  jede  Ein- 
,, schränkung)  das  Seiende  aus  dem  Seienden".  Nun  hat 
zwar  V  i  j  ü  ä  n  a  b  h  i  k  s  h  u  an  verschiedenen  Stellen  ')  aus- 
geführt, dass  Realität  und  Nichtrealität  keine  festen  Be- 
griffe seien :  Traumbilder  seien  nicht  *  real  im  Verhältniss 
zu  den  im  Wachen  gesehenen  Dingen  —  aber  auch  die 
Traumbilder  seien  nicht  absolut  unwirklich,  weil  sie  be- 
stimmte Alterationen  des  inneren  Organs  voraussetzen  ^)  — ; 
die  im  Wachen  gesehenen  Dinge  hinwiederum  seien  wegen 
ihrer  Unbeständigkeit  nicht  real  im  Vernältniss  zu  der 
ewig  unveränderlichen  Seele.  So  läuft  bei  Vijfiäna- 
bhikshu  die  Betrachtung  über  die  Relativität  dieser  beiden 
Begriffe  stehend  •')  darauf  hinaus,  dass  Realität  im  höchsten 
Sinne  (päramärthika-sattva)  Un Veränderlichkeit ,  dagegen 
Realität  nach  der  landläufigen  Auffassung  (vydvahärika- 
sattva)  Veränderlichkeit  bedeute*).  Diese  ganzen  Erörte- 
rungen Vijnänabhikshu's,  die  offenbar  aus  seinem 
Streben  zwischen  Sämkhya  und  Vedänta  zu  ver- 
mitteln erwachsen  sind,  haben  für  das  Sämkhya-  System 
geringe  Bedeutung.  So  wesentlich  auch  die  Begriffe  Ver- 
änderlichkeit und  UnVeränderlichkeit  als  solche  sind,  in- 
sofern sie  einen  der  wichtigsten  Unterschiede  zwischen  der 
Welt  des  Geistigen  und  der  des  Materiellen  darstellen, 
so  wenig  sind,  sie  doch  für  die  Frage  nach  dem 
objektiven   Dasein   der   Sinnenwelt    entscheidend.     Unreal 


^)  Am  deutlichsteu  zu  Sutra  III.  26. 

^)  Vijn.  zu  Sütra  II.  6. 

3)  S.  seinen  Commentar  zu  Sütra  I.  26,  43,  79,  II.  6,  V.  54, 
.56,  VI.  52. 

^)  Nach  der  Meinung  unseres  Commentators  ist  diese  Auf- 
fassung auch  schon  in  Sütra  V.  56  ausgesprochen,  was  jedoch  durch 
den  Zusammenhang  und  die  Erklärungen  der  anderen  Commen- 
tatoreu  sehr  uuwahrscheinHch  gemacht  wird. 


—    203     — 

sind  für  den  Sämkbya  nur  diejenigen  Dinge,  denen 
Vijnänabhikshu  absolute  Nicbtrealität  (imramdrthihä- 
'sattva  oder  atyantäsattva)  zuschreibt  und  die  überhaupt 
von  keinem  Menschen  vorgestellt  werden ') :  das  Mannes- 
horn,  das  Hasenhorn,  die  Blume  in  der  Luft,  der  Sohn 
der  Unfruchtbaren  und  dergl.  Die  Wahrnehmung  eines 
Objektes  ist  unter  der  Bedingung,  dass  die  Sinne  des  wahr- 
nelmienden  gesund  sind,  für  den  Sämkhya  ein  Beweis 
für  die  Realität  des  Objektes;  ebenso  wie  von  ihm  durch 
die  sinnliche  Wiedererkennung  die  Constanz  eines  Gegen- 
standes dargethan  und  die  buddhistische  Theorie  von  der 
momentanen  Dauer  aller  Dinge  widerlegt  wird-).  Ausser 
den  Hauptstellen  für  die  Realität  der  materiellen  Welt=^) 
verdient  hier  die  Widerlegung  der  abweichenden  Lehren 
anderer  Systeme  Beachtung;  vor  allem  die  derVedänta- 
Lehre  von  der  alleinigen  Existenz  des  Brahman  oder 
technisch  von  seiner  ,Zweitlosigkeit'  *),  dann  aber  auch  die 
zweier  buddhistischer  Sekten,  der  Yogäcära's,  die  alles 
mit  Ausnahme  des  Denkens  für  illusorisch  erklären  %  und 
der  Mädhyamika's,  denen  das  Nichts  als  die  einzige 
Realität  gilt  ^).  Die  Theorien  dieser  beiden  buddhistischen 
Sekten  werden  im  wesentlichen  in  materialistischer  Weise 
durch  Berufung  auf  die  Perception  bekämpft,  die  letztere 
auch  durch  das  Sophisma:  entweder  giebt  es  kein  Mittel 
das  Nichts  zu  beweisen;  oder  es  giebt  ein  solches  Mittel, 
und  dann  ist  das  Mittel  selbst  etwas  positives  und  damit 
ein  Beweis  gegen  die  Theorie  von  der  alleinigen  Existenz 
des  Nichts. 

Sehr  bemerkens werth  ist,  dass  dieSämkhyakärikä 
zwar   die   Lehre   von   der    ewigen   Realität   der   Produkte, 


1)  Sütra  V.  52. 

2)  Sütra  I.  35. 

3)  Sütra  I.  79,  VI.  52;  vgl.  auch  I.  42,  V.  26,  27. 
*)  Sütra  V.  61-65,  VI.  46-48. 

»)  Sütra  I.  42,  43. 
ß)  Sütra  L  44—47. 


—     204     — 

d.  h.  von  ihrer  Realität  vor  und  nach  der  Manifestation, 
behandelt  ^) ,  im  übrigen  aber  die  Frage  nach  der  Wirk- 
lichkeit der  Erscheinungswelt  gar  nicht  berührt.  Diese 
galt  zur  Zeit  der  Kärikä  offenbar  für  den  Sämkhya 
noch  als  etwas  selbstverständliches,  das  keines  Beweises 
bedurfte.  Erst  nachdem  durch  (^  a  m  k  a  r  a  im  Anfange  des 
neunten  Jahrhunderts  der  Vedänta  zu  seiner  noch  jetzt 
von  ihm  behaupteten  dominirenden  Stellung  erhoben  und 
die  Lehre  von  der  kosmischen  Illusion  scharfsinnig  begründet 
war,  sehen  sich  die  durch  ^-arakara's  Wirken  hart  be- 
drängten und  an  Zahl  stark  verringerten  Anhänger  des 
Sämkhya -Systems  zu  einer  Vertheidigung  jenes  funda- 
mentalen Princips  genöthigt. 


2.    Die  Urmaterie. 

Die  Welt  der  Erscheinungen  befindet  sich  in  einem 
beständigen  Wechsel  und  Wandel;  das  unablässige  Sich- 
verändern (parinäma)  ist  ihre  charakteristischste  Eigenschaft. 
Die  Umbildung  der  Dinge  verläuft  dabei  oftmals  im  Kreise; 
z.  B.  wenn  der  verfaulende  Baumwollenfaden  zu  Erde,  die 
Erde  zur  Baumwollenstaude  wird  und  diese  wiederum 
Blüthe,  Frucht  und  Faden  zeitigt  2).  Unsere  Weltanschauung 
nun  würde  einem  regressus  in  infinitum  verfallen,  wenn 
wir  nicht  annähmen,  dass  dem  materiellen  Weltganzen 
ein  einheitliches  ursprüngliches  Princip  zu  Grunde  liegt, 
das  selbst  nicht  mehr  aus  einer  anderen  Ursache  abgeleitet 
werden  kann.  Dieses  Princip  heisst  in  der  Sämkhya- 
Philosophie  prakrti  ,Grundform'  (im  Gegensatz  zu  vikrti 
,Umformung')  %  müla-prakrti ,Wurzel-Grundform',  pradhäna 


1)  Kärikä  9. 

*)  Aniruddlia  zu  Sutra  I.  121. 

*)  Das  Wort  ^jj-a/^-iz"  wird  in  den  Sämkhya-Tcxten  vereinzelt 
(Kärikä  3,  Tattvasamäsa  1 ;  s.  auch  die  im  Petersburger  Wörter- 
bucli  aus  dem  Maliäbhärata  und  Bliägavata  Puräua  s.  v.   3  b   an- 


—    205    — 

,Grniiclbestand',  müla-kdrana  ,Wurzelursache'  oder  avyakta 
,das  unentfaltete'  (im  Gegensatz  zu  vyalda^  der  entfalteten 
Welt).  Schon  die  etymologische  Bedeutung  dieser  Termini 
lehrt,  wie  es  auch  weiterhin  der  Zusammenhang  des  ganzen 
Systems  thut,  dass  es  sich  hier  um  den  Begriff  der  Ur- 
materie  handelt,  nicht  um  den  der  Natur,  der  häufig 
in  jene  Ausdrücke  hineingetragen  ist  ^).  Die  Sämkhya- 
krama-dipikä  führt  in  Nr.  7,  nachdem  sie  im  voran- 
gehenden Paragraphen  das  Wesen  der  Urmaterie  beschrieben 
hat,  noch  folgende  Synonyma  an :  brahman  ,das  Absolute'  (des 
Ve dänta-Systems),  pura  ,Stadt,  Wohnort,  Behälter',  dhruva 
,das  beständige',  pradhänaka  ( =  pradhdna) ^  akshara  ,das 
unvergängliche',  kshetra  ,Feld,  Gebiet  der  Wirksamkeit', 
tamas  (Name  des  dritten  Guna),  prasüta  ,das  hervor- 
bringende'. Dass  hiermit  nicht  wirkliche  Synonyma  geboten 
sind,  ist  für  denjenigen,  der  die  maassgebenden  Sämkhya- 
texte  gelesen  hat,  ohne  weiteres  klar;  die  Liste  enthält 
zum  Theil  Epitheta  der  Urmaterie,  zum  Theil  Worte,  die 
in  Folge  irgend  welcher  Begriffsvermengung  in  Puräna's 
oder  in  sonstiger  apokrypher  Literatur  zur  Bezeichnung 
der  Urmaterie  gebraucht  sein  mögen. 

Betrachten  wir  nun  zunächst  die  Schlussfolgerungen, 
durch  welche  die  S  ä  m  k  h  y  a  -  Philosopliie  zu  dem  Begriff 
der  Urmaterie  gelangt"-).      Sie   geht   von   dem  Grundsatze 


geführten  Stellen)  in  seiner  Grundbedeutung  zur  Bezeichnung  der 
acht  materiellen  Principien  verwendet,  aus  denen  ein  neues  Princip 
hervorgeht,  d.  h.  der  Urmaterie,  der  Buddhi,  des  Ahamkära  und 
der  fünf  feinen  Elemente ;  dagegen  habe  ich  die  Angabe  Aniruddha's 
(zu  Sütra  I.  61),  dass  mit  dem  Worte  auch  jeder  einzelne  der  drei 
Guiia's  Sattva,  Rajas  und  Tamas  benannt  werde,  nirgends  be- 
stätigt gefunden. 

1)  Schon  Nilakantha-Hall,  Rational  Refutation,  Preface 
p.  IX  wenden  sich  gegen  die  Uebersetzung  von  prakrti  als  'nature' 
und  in  einer  Anmerkung  dazu  ist  gesagt:  "Originant"  might  answer, 
or  "evolvent";  and  "originate",  or  "evolute"  for  vikrti. 

2)  Vgl.  Kärikä  15,  16,  Sütra  I.  62—65,  103,  ilO,  135,  136; 
Colebrooke,  Mise.  Ess.^  I.  266,  267,  Ballautyne,  Lecture  on 
the  Sänkhya  Philosophy  Nr.  88,  89,  Röer,  Lecture  p.  12,  13. 


—    206    — 

aus,  dass  alles  grobe  aus  etwa.s  feinerem  gebildet  ist. 
Die  sinnlich  wahrnehmbaren  Dinge,  die  grobe  Materie 
oder  die  fünf  groben  Elemente  (sthüla-bhüta) ,  d.  h. 
Erde,  Wasser,  Feuer,  Luft  und  Aether'),  müssen  also  — 
selbst  wenn  man  das  kleinste  mit  unseren  Sinnen  fest- 
zustellende Theilchen  ins  Auge  fasst  — ,  weil  sie  auch  an 
jener  Grenze  noch  ,grob'  sind,  aus  Dingen  hervorgegangen 
sein,  welche  die  speciellen  Characteristica  eines  jeden  groben 
Elements  besitzen.  Das  sind  die  sogenannten  Grundstoffe 
(tanmätra)  oder  feinen  Elemente  (sülcshma-bhüta),  die  noch 
keine  Vermischung  mit  einander  eingegangen  sind  und 
jenseits  der  Wahrnehmung  unserer  Sinne  stehen.  Aber 
auch  diese  Grundstoffe  noch  sind  begrenzt,  und  alles  be- 
grenzte ist  aus  einem  anderen  hervorgegangen.  Bevor 
wir  jedoch  sehen,  welcher  Art  dieses  weiter  zu  erschliessende 
Prnicip  ist,  habe  ich  der  Auffassung  zu  gedenken,  dass  die 
Sinne  mit  den  fünf  feinen  Elementen  auf  derselben  Stufe 
in  dem  Entwickelungsgange  der  Welt  stehen.  Die  S  ä  m  - 
khya- Philosophie  lehrt,  dass  die  Objekte  der  Wahr- 
nehmung und  Empfindung  und  die  Organe,  mit  denen 
wir  die  Objekte  wahrnehmen  und  empfinden,  denselben 
Ursprung  haben.  Dasjenige  Princip  also,  aus  dem  die 
Sinne  entstanden  sind,  muss  zugleich  die  Quelle  der  feinen 
Elemente  sein.  Es  ist  der  Ahamkära,  der  ,Ichmacher', 
d.  h.  die  feine  Substanz  desjenigen  inneren  Organs,  das 
die  Funktion  hat  die  Dinge  in  Beziehung  zu  dem  Ich 
(oder  der  Seele)  zu  setzen.  Die  Existenz  einer  solchen 
Substanz  wird  dadurch  bewiesen,  dass,  ebenso  wie  die 
Wahrnehmungsfunktionen  ihre  materielle  Basis  in  den 
Sinnen  haben,  auch  solche  Denkfunktionen  wie  „Ich  bin 
dies  und  das;  dieses  gehört  mir;  dies  ist  von  mir  zu 
verrichten"    eine    materielle    Basis    haben    müssen.      Der 


\ 


')  Um  den  Aether  in  die  groben  Elemente  einreihen  zu  können, 
ist  der  Begriff  des  groben  Elements  dabin  zu  definiren,  dass  dessen 
Characteristicum  (im  Falle  des  Aethers  der  Ton)  von  einem  Sinne 
wahrgenommen  wird.     Vijn.  zu  Sütra  I.  62. 


—    207     — 

A  h  H  m  k  ä  r  a  würde  als  Aequivalent  unseres  Selbstbewusst- 
seins  gelten  können,  wenn  er  nicht  in  der  Sämkhya- 
Philosophie  etwas  ungeistiges,  ein  rein  materielles  Princip 
wäre.  Da  nun  der  A  li  a  m  k  ä  ra  auf  Objekte  Bezug  nimmt, 
ohne  die  er  nicht  fiinktioniren  kann,  so  werden  wir  von 
ihm  aus  auf  ein  höheres  Princip  hingeführt,  das  diese 
Objekte  dem  Ahamkära  bietet.  Das  ist  die  Buddhi, 
d.  h.  die  Substanz  desjenigen  inneren  Organs,  welches  die 
Funktion  der  Feststellung,  der  Unterscheidung,  des  Urtheils 
besitzt.  Jedermann  stellt  zuerst  ein  Ding  seinem  Wesen 
nach  fest  und  setzt  es  erst  dann  zu  seiner  Person  in 
Beziehung.  Daraus  nun,  dass  diese  beiden  Thätigkeiten 
in  dem  Verhältniss  von  Ursache  und  Produkt  stehen,  wird 
das  gleiche  Verhältniss  für  ihre  Substrate,  Buddhi 
und  Ahamkära,  erschlossen  i).  Nun  ist  aber  auch  die 
Buddhi  noch  etwas  begrenztes  und  kann  deshalb  nicht 
die  letzte  Ursache  der  Dinge  sein ;  der  Urgrund  der  mate- 
riellen Welt  muss  ewig,  unendlich,  unbegrenzt  sein-). 
Damit  sind  wir  bei  der  Urmaterie  angelangt,  aus  der  die 
Sänikhya- Philosophie  die  Buddhi  unmittelbar  ent- 
stehen lässt.  Mit  Ausnahme  dieser  Urmaterie  sind  alle 
materiellen  Dinge  Produkte  und  gehören  in  die  Kategorie 
des  entfalteten.  Es  ist  irrelevant,  wie  man  dieses  letzte 
erreichbare  materielle  Princip,  das  unentfaltet  und  kein 
Produkt  ist,  benennt;  es  kommt  nur  darauf  an,  dass  mit 
ihm  ein  letztes  Glied  in  der  Reihe  der  zu  erschliessenden 
Principien,  ein  Abschluss  (paryavasdna)  oder  ein  Halte- 
punkt (parinislitliä)  gewonnen  ist  ^).  Dieses  letzte  Glied 
muss  einerseits  die  Qualitäten  besitzen,  die  zur  Hervor- 
bringung der  ganzen  Welt  des  Stoffes  erforderlich  sind, 
andererseits  muss  es  sich  auch  von  allen  materiellen  Pro- 
dukten dadurch  unterscheiden,  dass  ihm  diejenigen  Eigen- 
schaften fehlen,  die   den  Begriff  des  Produkts  ausmachen. 


1)  Vijfi.  zu  Sütra  I.  64,  II.  16. 

'')  Sütra  I.  76. 
3)  Sütra  I.  68. 


—     208     — 

Diese  letzteren  Eigenschaften  sind  in  Kärikä  10  aufge- 
zählt ').  Alles  entfaltete  oder  producirte  ist  veranlasst 
(oder  durch  eine  Ursache  bedingt),  nicht-ewig,  nicht- 
allgegenwärtig, sich  bewegend,  in  der  Vielheit  existirend, 
auf  etwas  beruhend,  sich  auflösend  (Unga)  ^),  in  Verbindung 
tretend  und  von  einem  anderen  abhängig.  In  allen  diesen 
Hinsichten  ist  die  Urmaterie  das  Gegentheil  von  ihren 
Produkten.  Auch  die  Bewegung,  von  der  man  meinen 
könnte,  dass  sie  der  Urmaterie  als  einer  der  UmAvandelung 
unterliegenden  Substanz  mit  den  Produkten  gemeinsam 
sei,  darf  ihr  nicht  zugeschrieben  werden,  da  sie  wegen 
ilu'er  Allgegenwart  nicht  ihre  Stelle  wechseln  kann.  Wenn 
der  Urmaterie  Bewegung  zukäme,  so  ginge  sie  damit  des 
Charakters  der  ersten  Ursache  verlustig.  Allgegenwärtig 
ist  sie  deshalb,  weil  es  keinen  Punkt  im  Universum  giebt, 
an  dem  nicht  eine  ihrer  Umwandelungen  —  und  sei  es 
auch  nur  in  Gestalt  des  Aethers  —  vorhanden  ist.  Die 
Urmaterie  ist  somit  in  allem  stofflichen  enthalten  und 
wirkt  in  allen  Produkten.  3)  Hieraus  und  aus  der  Säm- 
khya- Lehre  von  der  Identität  der  materiellen  Ursache 
und  des  Produkts  erklärt  es  sich,  dass  in  den  Sämkhya- 
Schriften  die  Worte  prahrti  und  pradhäna  (und  die  Adjec- 
tiva  präkrfa,  präkrtika)  auch  zur  Bezeichnung  alles 
materiellen  gebraucht  werden,  so  dass  es  nicht  immer 
ganz  leicht  ist  zu  entscheiden,  ob  die  unentfaltete  Ur- 
materie gemeint  ist  oder  ihre  Entfaltungen. 

Dass  die  Urmaterie  nur  auf  dem  Wege  der  Induktion 
zu  erschliessen  ist  und  nicht  sinnlich  wahrgenommen 
werden  kann,  sollte  selbstverständlich  sein;  ist  doch  selbst 
die  dritte  Stufe  ihrer  Evolution  in  der  Gestalt  der  feinen 
Elemente  nach  der  Meinung  der  Sämkhya's  nur  für  die 


1)  Vgl.  auch  Sütra  I.  124,  125,  129—132,  136. 

2)  Nach  Väcaspatimi^ra   ,eiD  Merkmal   (zur  Erschliessung   der 
Urmaterie)'. 

8)  Sütra  VI.  35—37. 


—     209    — 

übernatürlichen  Sinne  der  Götter  und  der  Y  o  gin's  wahr- 
nehmbar. Trotzdem  wird  die  Unsichtbarkeit  der  Urmaterie 
in  K  ä  r  i  k  ä  8  ausdrücklich  durch  ihre  ,Feinheit'  begründet. 
Die  wichtigste  von  der  Sämkhya- Philosophie  mit 
dem  Begriff  der  Urmaterie  verbundene  Vorstellung  ist  die- 
jenige, durch  welche  ihre  Entfaltung  und  die  Mannig- 
faltigkeit des  Weltganzen  erklärt  wu'd;  die  Vorstellung 
nämlich,  dass  die  Urmaterie  trotz  ihrer  Einheitlichkeit  und 
Tintheilbarkeit  ^)  aus  drei  verschiedenen  Substanzen  be- 
steht, deren  Wesen  uns  in  dem  folgenden  Kapitel  be- 
schäftigen soll. 


"O"- 


3.    Die  drei  Oima's. 

Schon  mehrfach-)  habe  ich  die  merkwürdige  Theorie 
der  drei  Guna's,  die  ebenso  alt  ist  wie  das  Sämkhya- 
System  selbst,  jedoch  nicht  älter  •^),  berühren  müssen.  Es 
ist  auch  schon  S.  14  Anm.  1  ein  Hauptgrund  gegen  die 
geläufige  Uebersetzung  des  Wortes  mit  ,Qualität'  zur 
Sprache  gekommen,  nämlich  dass  diese  sekundäre  Be- 
deutung erst  lange  nach  der  Begründung  derSämkhya- 
Phüosophie  nachweisbar  ist ;  in  der  Zeit,  als  das  Säm- 
khya- System  und  die  Lehre  von  den  drei  Guna's 
entstand,  hatte  das  Wort  noch  keine  andere  als  seine  alte 
ursprüngliche  Bedeutung  ,Bestandtheil'  (vgl.  dviguna  und 
caturguna  im  ^'atapatha  Brähmana).  Dass  auch  in 
unseren  Sämkhya- Texten  das  Wort,  wenn  es  sich  um 
die  drei  Guna's  handelt,  in  dieser  Bedeutung  gebraucht 
ist,  lässt  sich  unschwer  erweisen *).    Das  Sämkhyasütra 


1)  Sütra  V.  73. 

2)  S.  13,  14,  18,  163,  166. 

^)  Die  frühesten  Erwähnungen  derselben  finden  sich  in  Yäska's 
Nirukta  XIV.  3  (im  Paricishta)  und  in  den  ersten  der  S.  22  auf- 
gezählten Upanishad^s.  Vgl.  auch  P.  Begnaud,  Materiaux 
pour  servir  ä  l'histoire  de  la  philosophie  de  Tlude  II.  128 — 129. 

*)  In  poetischen  Werken,  insbesondere  in  der  P u ran  a- Literatur, 
scheint  dagegen  bei  der  Erwähnung  der   drei  Guna's  hie  und  da 

Garbe,  Sämkhya-PMlosopTiie.  14 


—     210     — 

VI.  39  lautet :  „S  a  1 1  v  a  u.  s.  w.  sind  nicht  Qualitäten  (oder 
„Attribute)  [der  Urmaterie],  weil  sie  dieselbe  bilden'^  Und 
Vi jüänabliikshu  sagt  zu  Sütra  I.  61:  „Sattva  und 
„die  [beiden]  andern  [Guna's]  sind  Substanzen  (drav- 
^^dni),  nicht  Qualitäten  im  Sinne  der  Vai9eshika's" 
und  begründet  dies  hauptsäclilich  damit,  dass  sie  succes- 
sive  die  Eigenschaften  des  Leicht-,  Beweglich-  und  Schwer- 
seins haben,  was  man  unmöglich  von  Qualitäten  aussagen 
könne.  In  demselben  Sinne,  nur  etwas  ausführlicher, 
äussert  er  sich  darüber  im  Commentar  zu  I.  127 :  „Die 
„Guna's,  d.  h.  die  drei  Substanzen  Sattva  u.  s.  w., 
„unterscheiden  sich  qualitativ  von  einander  durch  Freude, 
„Schmerz  u.  s.  f. ;  denn  man  beobachtet  diesa  Unterscliieds- 

„merkmale   an   den   Produkten Daraus,   dass  hier 

„Wohlbehagen  und  andere  [Zustände]  als  Eigenschaften 
„der  Constituenten  angeführt  sind  und  dass  im  folgenden 
„Sütra  Leichtigkeit  und  anderes  von  ihnen  ausgesagt 
„werden  wird,  folgt,  dass  Sattva  und  die  beiden  [andern 
„Guna's]  Substanzen  sind.  Wenn  aber  die  Guna's 
„mit  Freude  u.  s.  w.  [d.  h.  mit  ihren  Eigenschaften]  identi- 
„ficirt  werden,  so  erklärt  sich  das  einfach  aus  der  Nicht- 
„verschiedenheit  der  Eigenschaft  und  des  Trägers  der 
„Eigenschaft  ^)".  Ferner  erklärt  Vijnänabhikshu  zu 
Sütra  L  126:  „In  der  Urmaterie  ruhen  Sattva  und  die 
„[beiden]  andern  in  der  Form  der  Vereinigung  dreier 
„Bestandtheile  (guna),  geradeso  wie  die  Bäume  sich  in  dem 
„Walde  befinden  [welchen  sie  bilden]",  und  mit  Anwen- 
dung desselben  Gleichnisses  im  Särukhyasära  L  3.-): 
„Der  Ausdruck  ,die  Guna's  der  Urmaterie'  ist  so  zu  ver- 
„ stehen,  als  wenn  wir  von  den  Bäumen  des  Waldes 
sprechen  ". 

Ich  glaube  nach  keinen  weiteren  Belegstellen  suchen 


die    Bedeutung    ,Qualität'    mit    der   philosophisch-technischen    zu- 
sammengeflossen zu  sein. 

1)  Vgl.  oben  S.  158. 

»)  S.  12,  Z.  2  von  Hall's  Ausgabe. 


—    211     — 

zu  brauchen,  um  zu  beweisen,  class  die  auf  die  etymologische 
Bedeutung  von  Sattva,Rajas  und  T a m a s  ,Güte,  Leiden- 
schaft und  Finsterniss'  sich  gründende  Uebersetzung  von 
trayo  gunäh  mit  ,drei  Qualitäten'  falsch  ist  und  dass  ich 
recht  gethan  habe  in  meinen  Bearbeitungen  der  Sämkhya- 
Texte  anstatt  dessen  ,die  drei  Constituenten  [der  Urmaterie'] 
zu  sagen  ^). 

Windisch,  der  sich  in  seiner  Recension  meiner 
Uebersetzung  des  Sämkhya-pravacana-bhäshya  (im 
Literar.  Centralblatt  1891,  Nr.  28,  S.  955)  mit  dieser  meiner 
Auffassung  noch  nicht  befreunden  zu  können  erklärt,  findet 
einen  Ausweg  in  der  Annahme,  dass  nach  der  Anschauung 
der  Sämkhya's  die  Urmaterie  entsprechend  ihrem  trans- 
cendenten  Charakter  ,aus  als  Materie  gedachten  Qualitäten 
bestehe'.  So  hatte  schon  früher  Colebrooke,  Mise. 
Ess.  2  I.  261 ,  gesagt :  "These  three  qualities  are  not  mere 
"accidents  of  nature,  but  are  of  its  essence  and  enter  into 
"its  composition" ;  und  Johaentgen,  Ueber  das  Gesetz- 
buch des  Manu  S.  39,  40,  hatte  die  drei  „Qualitäten" 
direkt  als  „Urstoffe"  bezeichnet!  Das  ist  meines  Erachtens 
ein  so  unlogischer  Gedanke,  dass  wir  ihn  dem  Begründer 
und  den  Vertretern  der  S  ä  m  k  h  y  a- Philosophie,  des  tnanana- 
cästra  (d.  h.  des  auf  logischer  Erwägung  und  Begründung 
beruhenden  Systems)  xar'  k'S.oyrjv  nicht  zutrauen  dürfen. 
Sobald  die  Inder  überhaupt  anfingen  methodisch  zu  denken, 
haben  sie  auch  zwischen  den  Begriffen  des  Stoffes  und 
seiner  Qualitäten  zu  unterscheiden  gewusst.  Das  muss 
auch  H,  Jacobi  gedacht  haben,  wenn  er  in  den  Philo- 
sophischen Monatsheften  XIII,  S.  419  unten  trayo  gunäh 
nicht  „die  drei  Qualitäten",  sondern  „die  drei  Aspekte" 
übersetzt  hat;  aber  auch  dieser  Ausdruck,  der  die  drei 
Guna's  als  etwas  rein  subjektives  erscheinen  lässt,  ist 
nicht  glücklich  gewählt,  wie  sich  schon  daraus  ergiebt,  dass 


1)  Ueber  die  Entstellung  dieser  Bezeichnung  aus  dem  Bilde  des 
Strickes  und  seiner  Strähnen  s.  oben  S.  163,  164. 

14* 


—    212     — 

Jacobi  gleich  darauf  genöthigt  ist,  von  dem  „Gleichgewicht 
der  drei  Aspekte"  zu  sprechen.  Wer  überhaupt  das  Wort 
guna^  wenn  es  zur  Bezeichnung  von  Sattva,  Rajasund 
Tamas  dient,  sachgemäss  übersetzen  will,  wird  sich  der 
„  Constituenten "  oder  eines  ähnlichen  Ausdrucks  bedienen 
müssen  ^). 

Weder  die  etymologische  2)  noch  irgend  eine  andere 
Uebersetzang  der  Namen  dieser  drei  Guna's,  Sattva, 
Rajas  und  Tamas,  kann  meines  Erachtens  den  Anspruch 
erheben,  auch  nur  irgendwie  das  Wesen  der  bezeichneten 
Dina'e  zu  treffen.  Dieses  lässt  sich  nicht  einmal  in  der 
Form  einer  Definition  beschreiben,  sondern  bedarf  einer 
näheren    Erläuterung.     Der    Begründer    der    Sämkhya- 


1)  In  diesem  Sinne  haben  sich  übrigens  schon  mehrere  Forscher, 
die  sich  mit  dem  Sämkhya-System  eingehender  beschäftigt  haben, 
ausgesprochen.  H.H.Wilson,  Sänkhya  Kärikä  p.  52,  53  bemerkt: 
"In  speaking  of  qualities,  however,  the  term  guna  is  not  to  be  re- 
"garded  as  an  insubstantial  or  accidental  attribute,  but  as  a  sub- 
"stance  disceruible  by  soul  through  the  medium  of  the  faculties. 
*'It  is,  in  fact,  natiu'e,  or  pralcriti,   in   one  of  its  three  consti- 

"tuent  parts  or  conditions,  unduly  prominent 'Ingredients 

"or  constituents  of  nature' ,  therefore ,  would  be  a  preferable  term 
"perhaps  to  'quality'."  (Vgl.  hierzu  Ballantyne,  Christiauity 
contrasted  with  Hindu  philosophy,  p.  132  if.)  Ebenso  Nilakan- 
t ha- Hall,  Rational  Refutation  p.  43,  44:  "And  here  it  should  be 
"borne  in  mind,  that  it  is  not  the  goodness,  passion,  and  darkness, 
"popularly  reckoued  qualities  or  particular  states  of  the  soul,  that 
"are  iutended  in  the  Sänkhya.  In  it  they  are  unintelligent 
"substances.  Otherwise,  how  could  they  be  the  material  cause 
"of  earth  and  like  gross  things?"  Noch  bestimmter  drückt  sich 
John  Davies,  Sänkhya  Kärikä  p.  36  aus:  "They  [d.  h.  the  three 
"gunas]  are  not  qualities,  .  .  .  but  the  constituent  elements  of 
"Nature  (Prakriti)"  und  spricht  mehrfach  in  der  Folge  von  den 
"constituent  or  formative  elements  of  Kature".  P.  Markus  in 
seiner  Abhandlung  über  die  Yoga- Philosophie  sagt  .Essenzen', 
was  zwar  viel  besser  imd  richtiger  ist  als  ,Qualitäten' ,  aber  doch 
nicht  die  eigentliche  Stellung  der  drei  Guna's  im  System  der 
Sämkhya- Philosophie  zur  Vorstellung  bringt. 

2)  S.  vorher  S.  211  oben. 


—    213     — 

Philosophie  erkannte  als  die  für  den  Menschen  wichtigsten 
Eigenschaften  aller  Dinge,  dass  sie  entweder  Freude,  Schmerz 
oder  Gleichgiltigkeit  (Apathie)  erwecken.  Jeder  dieser  drei 
Begriife  coordinirte  sich  in  seiner  Vorstellung  mit  anderen : 
die  Freude  mit  Licht  und  Leichtheit  i),  der  Schmerz  mit 
Anregung  und  Beweglichkeit  (Thätigkeit),  die  Apathie  mit 
Schwere  und  Hemmung.  K  a  p  i  1  a  folgerte  nun,  dass  alles 
materielle  aus  drei  unterschiedenen  Substanzen  bestehe, 
deren  jede  sich  vorzugsweise  in  den  genannten  Richtungen 
äussere.  Diese  drei  Substanzen  sind  für  ihn  in  jedem  zu  der 
Welt  des  Stoffes  gehörigen  Dinge  enthalten,  aber  in  un- 
gleicher und  wechselvoller  Mischung;  denn  sie  haben  die 
Eigenschaft  „sich  gegenseitig  zu  unterdrücken,  anzuregen, 
„hervorzubringen  und  zu  paaren"  2).  Je  nachdem  es  nun 
einer  oder  zweien  gelingt,  an  einem  bestimmten  Orte  die 
dritte  oder  die  beiden*  andern  zu  unterdrücken,  bringen 
sie  ihr  Wesen  mehr  oder  weniger  rein  zur  Geltung.  „Aus 
„dem  mannigfaltigen  Ergebniss  des  Kampfes  der  Guna's 
„geht  die  Mannigfaltigkeit  der  Produkte  [d.  h.  der  ganzen 
„empirischen  Welt]  hervor;"-^)  eben  daraus  wird  auch  die 
FüUe  der  verschiedenartigen  Eindrücke  erklärt.  Die  drei 
Guna's  bilden  jede  ftir  sich  wegen  der  Verschiedenheit 
ihrer  Einzelformen  (vyaTcti)  eine  unendliche  Vielheit,  und 
diese  Einzelformen  sind  je  nachdem  von  der  grössten,  von 
geringerer  oder  von  unendlich  kleiner  Ausdehnung  ^). 

Das   Zusammenwirken   der  drei  Substanzen   wird  von 
Väcaspatimi9ra   zu   Kärikä  13:     „Sattva  gilt   als 


^)  Diese  Coordinirung  von  Freude,  Licht  und  Leichtheit  scheint, 
nach  einem  in  unseren  Sämkhya- Texten  geläufigen  Beispiel  zu 
schliessen,  darauf  zu  beruhen,  dass  diese  drei  Eigenschaften  gleich- 
zeitig an  der  Feuerflamme  zu  beobachten  sind,  welche  1)  den 
frierenden  erwärmt,  also  Freude  erzeugt,  2)  leuchtet,  3)  nach  oben 
züngelt,  also  Leichtheit  manifestirt. 

2)  Kärikä  12. 

3)  Vijn.  zu  Sütra  I.  127. 

•*)  Vijn.  zu  Sutra  I.  127.  V.  90. 


)J 


—    214     — 

„leicht  und  erleuchtend,  Rajas  als  anregend  und  beweglich, 
„Tamas  als  schwer  und  hindernd"  mit  folgenden  Worten 
veranschaulicht:  „Die  Qualität  Leichtheit,  die  der  Schwere 
„entgegenwirkt,  ist  die  Ursache  für  das  Entstehen  der 
„Produkte.  Dieselbe  Leichtheit,  in  Folge  deren  das  Feuer 
„aufAvärts  flackert,  ist  die  Ursache  für  die  wagerechte  Be- 
„wegung  mancher  Dinge,  wie  z.  B.  des  Windes.  Ebenso 
„ist  die  Leichtheit  die  Ursache  dafür,  dass  die  Organe  für 
„ihre  Funktionen  befähigt  sind;  denn  wenn  sie  schwer 
„wären,  so  würden  sie  träge  und  unfähig  sein.  Aus  diesem 
„Grunde  [nämlich  weil  die  inneren  Organe  und  die  Sinnes- 
„ Organe  erleuchten,  d.  h.  die  Erkenntniss  hervorrufen,] 
ist  das  Sattva  als  erleuchtend  bezeichnet.  Sattvaund 
„Tamas,  welche  beide  nicht  von  selbst  thätig  und 
„deshalb  nicht  zur  Ausübung  ihrer  eignen  Geschäfte  fähig 
„sind,  werden  vom  Rajas   angeregt,   d.  h.  von  ihrer  Un- 

„fähigkeit   befreit    und  zur  Wirksamkeit  angetrieben 

„Obwohl  nun  aber  das  Rajas  seiner  Beweglichkeit  wegen 
„allerwärts  alle  drei  Guna's  [also  auch  sich  selbst]  in 
„Bewegung  setzt,  wirkt  es  doch  nur  hier  und  da  wegen 
„[des  Einflusses]  des  schweren  und  hindernden  Tamas, 
„welches  dessen  Thätigkeit  bald  hier  bald  dort  hemmt. 
„Deshalb  wird  das  Tamas,  weil  es  [das  Rajas]  von 
„diesem  und  jenem  abhält,  als  liindernd  bezeichnet." 

Stellen  wir  nun  die  Eigenschaften  und  Wirkungen 
der  drei  Guna's  im  Einzelnen  fest  ^). 

Das  Sattva  äussert  sich,  wenn  es  in  dem  Kampf  mit 
den  beiden  andern  Guna's  zur  fi-eien  Entfaltung  kommt, 
in  der  Welt  der  Objekte,  wie  wir  schon  sahen,  durch 
Licht  und  Leichtheit;   im  Subjekt   dagegen  als  Tugend, 


1)  S.  Maitri  Upanishad  III.  5,  das  Panca(^ikba-Fragmeüt  bei 
Vijn.  zu  Sütra  I.  127,  Kärikä  12,  13  und  Sütra  I.  127,  128  nebst 
den  dazu  gebörigen  Commentaren,  Sämkbya-krama-dipikä  (inBal- 
lantyne's  Lecture)  Nr.  39—41,  50—53,  Mabäbbärata  XII.  7956 
—61,  8992—97,  11623—34,  Colebrooke,  Mise.  Ess.'^  I.  261,  267, 
P.  Markus,  die  Yoga-Pbilosophie  S.  21,  22. 


-     215     — 

Selbstbeherrschung,  Gemüthsruhe,  Wohlwollen,  Freundlich- 
keit des  Wesens,  Reinheit,  Glück,  Heiterkeit,  Zufriedenheit, 
als  Thätigkeit  der  Sinnesorgane  und  des  Verstandes,  als 
Erreichung  der  übernatürlichen  Kräfte.  Es  dominirt  deshalb 
in  den  Welten  der  Götter. 

Bei  dieser  Gelegenheit  muss  ich  die  schon  oben  S.  166 
angedeutete  Vorstellung  zur  Sprache  bringen,  dass  die 
Freude  nicht  nur  als  Empfindung  in  dem  Innern  des 
Individuums,  sondern  auch  als  etwas  objektiv  reales  in  den 
Aussendingen  existire.  Dasselbe  gut  im  Princip  natürhch 
auch  von  den  Hauptwirkungen  der  beiden  anderen  Guna's, 
dem  Schmerz  und  der  Apathie ;  doch  wird  dies  nur  beiläufig 
erwähnt.  Die  objektive  Realität  der  Freude  wird  von 
Vijnänabhikshu  zu  Sütra  V.  27  auf  seine  Weise  syl- 
logistisch  bewiesen,  und  mehrfach  ^)  führt  er  aus,  dass  wir 
ebenso  wie  von  der  Topffarbe  (ghata-rüpa)  ^  so  auch  von 
der  Frauen-,  Blumenkranz-  oder  Sandelholz-Freude  (stri-, 
sraJe-,  candana-sukka)  sprechen  und  mithin  annehmen 
müssen,  dass  die  Freude  und  dergl  den  Objekten  inhärire. 
Hall,  Rational  Refutation  p.  80  Anm.,  bemerkt  hierzu: 
"Vijnäna  is  here  a  victim  to  phraseology  on  which,  plainly 
"enough,  he  did  not  reflect  with  sufficient  attention.  For 
'"jar-colour  means  'the  colour  of  a  jar;  whereas  'sandal- 
"pleasure'  means  'the  pleasure  derived  from  the  use  of 
"sandal"'.  Wenn  auch  Hall  darin  Recht  hat,  dass  "such 
"fallacies  far  from  uncommon  among  the  Pandits"  sind, 
so  darf  doch  die  in  Frage  kommende  Vorstellung  weder 
auf  eine  missverstandene  Wortbildung  zurückgeführt  noch 
als  individuelle  Anschauung  eines  einzelnen  Sämkhya- 
Lehrers  angesehen  werden.  Vielmehr  liegt  dieser  Vorstel 
lung  der  Gedanke  zu  Grunde,  dass  das  Wirken  eines  G  u  n  a 
—  in  unserem  Falle  des  Freude  erweckenden  Sattva  — in 
dem  inneren  Organ  des  Subjekts  ein  Correlat  in  dem  eben- 
falls   aus   den    drei   Guna's    bestehenden   Objekt    haben 


1)  Zu  Sutra  I.  65,  127  und  im  Samkhyasära    I.  3   (S.   15  der 
Hall'schen  Ausgabe). 


—    216    — 

müsse.  Da  gewisse  Dinge  bei  allen  Wesen  entweder  Freude 
oder  Schnierz  oder  Bestürzung  erregen,  so  konnte  der  an 
die  Theorie  der  drei  Guna's  glaubende  kaum  umhin  das 
Vorwalten  des  betreffenden  Guna  in  dem  Objekte  selbst 
anzunehmen. 

Das  Rajas  äussert  sich,  wenn  es  die  beiden  anderen 
Guna's  unterdrückt ,  in  der  Welt  der  Objekte  in  Kraft 
und  Bewegung;  im  Subjekt  als  jede  Art  von  Schmerz,  als 
Kummer,  Sorge,  Angst,  Aerger,  Unzufriedenheit,  Abhängig- 
keit, als  Eifersucht,  Neid,  Unstätheit,  Aufi-egung,  Leiden- 
schaft, Begierde,  Liebe  und  Hass,  als  Bosheit,  Streit-  und 
Tadelsucht,  Ungestüm,  Wildheit  und  Unfreundlichkeit  des 
Benehmens,  aber  auch  als  Ehrgeiz,  Streben  und  Thätigkeit, 
Es  dominirt  in  der  Menschenwelt. 

Wenn  das  Tamas  überwieget,  so  kommt  es  in  der 
Welt  der  Objekte  als  Schwere,  Starrheit  und  Dunkel  zur 
Geltung;  im  Subjekt  als  Niedergeschlagenheit,  Furcht,  Be- 
stürzung, Verzweiflung,  Theilnahmlosigkeit,  Unentschlossen- 
heit,  Bethörung,  Stumpfsinn,  Unwissenheit,  Trunkenheit, 
Wahnsinn,  Ekel,  Trägheit,  Naclilässigkeit,  Bewusstlosigkeit, 
Schlaf  und  Ohnmacht,  als  Hartherzigkeit,  Schamlosigkeit, 
Liederlichkeit,  Unreinheit,  Schlechtigkeit  im  Allgemeinen 
und  Nihilismus  ').  Es  dominirt  im  Thier-,  Pflanzen-  und 
iVIineralreich  -). 

Die  merkwürdigste  Seite  dieser  ganzen  Theorie  ist, 
wie  man  sieht,  die  Zurückführung  der  mensch- 
lichen Individualität  auf  physische  Ursachen. 
Das  Verhältniss  der  drei  Guna's  zu  dem  Glauben,  der 
Gesinnung,  der  Lebens-  und  Handlungsweise  des  Menschen 


1)  nästihya  Maitr.  Up.  III.  5  und  Sänikhya-krama-dipikä  Nr.  41 
ist  sowohl  von  CoweU  als  auch  von  Ballantyne  fälschlich  mit 
'atheism'  übersetzt  worden;  danach  würde  die  Sänikbya- Philo- 
sophie ein  Erzeugniss  des  Tamas  sein!  Uebrigens  sind  in  der 
Stelle  der  Maitr.  Up.  verschiedene  Eigenschaften  als  Aeusserungen 
des  Tamas  genannt,  die  im  System  zu  denen  des  Rajas  gehören: 
Hunger,  Durst,  Zorn,  Hochmuth,  Neid  und  Unbeständigkeit. 

2)  Kärikä  54,  Sütra  III.  48—50. 


—     217     — 

ist  in  poetischer  Weise  in  dem  siebzehnten  Gesänge  der 
Bhagavadgltä  geschildert;  doch  würde  ein  näheres 
Eingehen  auf  diese  Dinge  zu  weit  von  der  Darstellung 
des  eigentlichen  Systems  abführen. 

Zu  diesem  ganzen  Anschauungskreis  stimmt  auch  die 
Lehre  von  der  Entstehung  der  Farben  durch  die  verschieden- 
artige ]\Iischung  der  drei  Guna's.  Wenn  ich  auch  diese 
Theorie  nicht  aus  der  eigentlichen  Literatur  des  Säm- 
khy a-Systems,  sondern  nur  aus  Nilakantha's  Com- 
mentar  zum  Mahäbhärata  nachweisen  kann,  so  macht 
sie  doch  nicht  den  Eindruck  einer  späteren  Erfindung. 
Nilakantha  sagt  zu  Mbh.  XIL  10058:  „Wenn  das 
„Tamas  überwiegt,  das  Sattva  gering  ist  und  das  Rajas 
„die  Mitte  hält,  so  ergiebt  sich  die  Farbe  Schwarz;  bei 
„Umkehrung  des  Verhältnisses  von  Sattva  und  Rajas 
„Grau;  wenn  das  Rajas  überwiegt,  das  Sattva  gering 
„  ist  und  das  Tamas  die  Mitte  hält,  so  ergiebt  sich  Blau ; 
„bei  Umkehrung  des  Verhältnisses  von  Sattva  und 
„Tamas  Roth;  wenn  das  Sattva  überwiegt,  das  Rajas 
„gering  ist  und  das  Tamas  die  Mitte  hält,  so  ergiebt 
„sich  Gelb;  bei  Umkehrung  des  Verhältnisses  von  Rajas 
„und  Tamas  Weiss "i). 

Jede  Erscheinung,  jeder  Vorgang  in  der  materiellen 
Welt  hat  also  seinen  Grund  in  dem  Wirken  emes  oder 
mehrerer  Guna's.  Trotz  der  unendlichen  Verschiedenheit 
der  zahllosen  Modifikationen  lässt  sich  doch  alles  durch 
die  Eigenschaften  dieser  drei  Substanzen  erklären.  Wenn 
nun  aber  Sattva,  Rajas  und  Tamas  sich  in  allen 
materiellen  Produkten  befinden,  so  müssen  sie  nach  dem 
Grundsatz,    dass  das  Produkt  nichts  anderes  als  die  mate- 


1)  Yadä  tamasa  ädJäkyam  sattva-rajasor  nyünatva-samatve, 
tadä  Jcrshno  va7-nah ,  antyayor  vaiparitye  dhümrah;  tathä  rajasa 
ädhikye  sattva-tama^or  nyünatva-samatve  nila-vai-nah,  antyayor  vai- 
paritye madhyam  madhyamo  varnah ,  tac  ca  rahtam  .  .  .  .;  sat- 
tvasyä  'dhikye  rajas-tamasor  nyünatva-samatve  liäridrah  pita-varnah 
.  .  .  .  ,  antyayor  vaiparitye  gullam. 


—     218     — 

rielle  Ursache  in  einem  bestimmten  Entwickelungsstadium 
ist,  auch  bereits  in  dieser  Ursache,  d.  h.  in  der  Urmaterie, 
vorhanden  gewesen  sein.  Da  schon  der  ersten  Entfaltung 
der  Urmaterie  —  d.  h.  der  Buddhi  —  Freude,  Schmerz 
und  Apathie  als  charakteristische  Eigenthümlichkeiten  an- 
gehören, so  muss  auch  der  Stoff,  aus  dem  die  Buddhi 
hervorgegangen  ist,  ebenso  die  charakteristischen  Eigen- 
thümlichkeiten der  Freude,  des  Schmerzes  und  der  Apathie 
(in  latentem  Zustande)  besitzen;  denn  die  Qualitäten  des 
Produkts  müssen  sich  in  Uebereinstimmung  mit  den 
Qualitäten  der  Ursache  befinden  *). 

Wenn  also  in  den  S  ä  m  k  h  y  a  -  Schriften  —  was  oft- 
mals der  Fall  ist  —  die  drei  Guna's  in  der  Form  der 
Ursache  (kdrana-rüpa)  den  drei  Guna's  in  der  Form  des 
Produkts  (kdrya-rüpa)  gegenübergestellt  werden,  so  ist  das 
so  zu  verstehen,  dass  Sattva,  Rajas  undTamas  Inder 
ersten  Form  die  unentfaltete  Urmaterie,  in  der  zweiten  die 
entfaltete  Welt  bilden.  Wie  kann  nun  aber  die  unbegrenzte 
Urmaterie,  deren  Einheitlichkeit  so  entschieden  betont 
wird,  aus  Theilen  bestehen,  aus  drei  begrenzten  Substanzen? 
Darauf  ist  zunächst  zu  erwidern,  dass  die  drei  Guna's 
nur  insofern  begrenzt  (parimita,  paricchinna)  sind,  als 
das  ganze  Sattva,  Rajas  und  Tamas  sich  nicht 
überall  befindet;  sie  sind  aber  nicht  in  demselben  Sinne 
begrenzt,  wie  ,Töpfe  und  dergleichen  Produkte';  denn  es 
giebt  keinen  Punkt  im  Universum,  an  dem  nicht  wenigstens 
ein  Minimum  von  jeder  dieser  drei  Substanzen  vorhanden 
ist,  oder  technisch  ausgedrückt:  „Sattva,  Rajas  und 
„Tamas  fallen  nicht  unter  einen  allgemeinen  Begriff,  der 
„sie  als  positive  Gegenstücke  zu  einem  lokalen  Nichtsein  cha- 
„rakterisirt  (dai<^iku-bhäva-pratiyogitd-'vacchedaka-jäti)  "  •^). 
„Wenn  jeder  der  drei  Guna's"  —  sagt  V  i j  nä  n  a  b  hi k- 
shu  in  seiner  Einleitung  zu  Sütra  I.  128  —  „eine  ge- 
„schlossene  Einheit  büdete,  so  könnte  von  einem  Zu-  und 


1)  Vijn.  zu  Sütra  I.  65;  vgl.  auch  Kärikä  11. 

2)  Vijn.  zu  Sütra  I.  76,  130. 


—    219    — 

„Abnehmen  derselben  oder  [von  dem  Siege  des  einen 
„und  dem  Unterliegen  der  andern]  keine  Rede  sein,  und 
„ebenso  wenig  wäre  dann,  da  bei  der  Begrenztheit  [der 
„Guna's]  auch  die  durch  ihre  Vereinigung  gebildete 
„Urmaterie  begrenzt  sein  müsste,  die  ....  Lehre  berechtigt, 
„dass  gleichzeitig  zahllose  Welten  [und  innerhalb  dieser 
„Welten  zahllose  verschiedenartige  Dinge  aus  der  Urmaterie 
„hervorgehen]."  Der  Einwand,  dass  die  einheitliche  un- 
theilbare  Urmaterie  überhaupt  nicht  aus  drei  Theilen 
bestehen  könne,  wird  durch  den  Vergleich  mit  drei  Flüssen, 
die  nach  ihrer  Vereinigung  einen  einheitlichen  Strom 
bilden ,  abgelehnt  i).  Ein  europäischer  Autor  -)  gebraucht 
anstatt  dessen  das  Bild  von  dem  einfachen  farblosen  Sonnen- 
licht, das  durch  die  Vereinigung  der  farbigen  Lichtstralilen 
gebildet  wird,  die  ihre  Eigenart  in  dem  von  uns  wahr- 
genommenen Licht  verlieren  oder  nicht  entfalten. 

Die  Urmaterie  ist  also  im  Sämkhy a-System  „der 
Zustand  des  Gleichgewichts  (sätnyä-vasiJiä)  von  Sattva, 
Rajas  und  Tamas"^^),  d.h.  der  Zustand,  in  dem  keiner 
der  drei  Guna's  weniger  oder  mehr  ist  als  jeder  der 
beiden  andern,  in  dem  sie  in  vollster  Gleichmässigkeit  und 
ohne  Beziehung  zu  einander  verharren.  So  lange  dieser 
Zustand  des  Gleichgewichts  nicht  gestört  ist,  bleibt  die 
Urmaterie  eine  feine  unterschiedslose  Masse,  in  der  alle 
die  Kräfte  und  Eigenschaften,  die  in  der  entfalteten  Welt 
zur  Erscheinung  kommen,  keimartig  ohne  Bethätigung 
ruhen. 

Es  ist  klar,  dass  diese  ganze  Theorie  der  drei  Guna's 
eine  reine  Hypothese  ist,  die  mit  sehr  vielen  anderen  philo- 
sophischen Hypothesen  das  Schicksal  theilt,  vor  dem  modernen 
Standpunkt  der  Naturwissenschaft  nicht  bestehen  zu  können; 
aber  sie  ist  immerhin  ein  interessanter  Erklärungsversuch, 


1)  Vijn.  zu  I.  61   Schluss. 

2)  John  Davies,  Sankhya  Kärikä  p.  37. 

»)  Sütra  I.  61,  VI.  42;   vgl.  auch  Väcaspatimi^ra  zu  Kärikä  3 
und  Qamkara  zum  Brahmasütra  II.  2.  8. 


—     220    — 

der  für  die  Inder  eine  so  überzeugende  Kraft  besessen  hat, 
dass  der  Gedanke  noch  heute  den  allgemeinen  philosophischen 
Vorstellungskreis  beherrscht.  Obwohl  ^amkara  die  Lehre 
von  den  drei  Guna's  mit  der  Begründung  abgewiesen 
hat,  dass  es  diesen  „an  einem  bewegenden  Princip  fehlt, 
„welches  sie  aus  der  vorweltlichen  sämyd-vasihd  zum  Zu- 
„ stände  des  vaishamya  [der Gleichgewi chtslosigkeit]  treibt"  ^), 
hat  sich  doch  der  neuere  V  e  d  ä  n  t  a  mit  der  Theorie 
vollständig  befreundet. 


4.    Die  EYolution  und  Reabsorptiou  der  Welt. 

Ist  der  Gleichgewichtszustand  der  drei  Guna's  gestört, 
und  fangen  diese  an  mit  einander  um  das  Uebergewicht 
zu  ringen,  so  entfaltet  sich  die  Welt  in  dem  Entwicke- 
lungsgange,  der  auf  S.  206,  207  in  umgekehrter  Reihen- 
folge dargestellt  worden  ist  -).  Wenn  die  Evolution  (sarga, 
srshii,  saincara)  '■^)  des  Weltganzen  zum  Abschluss  gelangt 
ist,  so  folgt  eine  Periode  des  Bestehens  (stJnti),  während 
deren  sich  die  schaffende  Kraft  in  der  Einzelschöpfting 
(visarga^  m/ashü'-srshH)*),  d.  h.  in  der  Hervorbringung  der 
Individuen  und  der  einzelnen  Produkte,  bethätigt. 

Wenn  die  Zeit  des  Bestehens  zu  Ende  ist,  so  löst 
sich  das  Universum  auf,  und  zwar  in  der  Weise,  dass  von 
den  groben  Elementen  an  in  rückläufiger  Bewegung  die 
Produkte  je  in  der  materiellen  Ursache,  aus  der  sie  ent- 
standen sind,  wieder  aufgehen.     Durch  diesen  Process  der 


1)  Deussen  bei  Weber,  Indische  Studien  XVIT.  160. 

2)  Kärikä  22,  Sütra  I.  61,  VI.  42. 

^)  Tattvasamäsa  Sütra  2  und  Sämkhya-krama-dipikä  dazu 
Nr.  54. 

*)  Vijn.  zu  Sütra  I.  97  und  Einleitung  zu  III.  46.  Vi/ashti- 
srshti,  wofür  jedoch  auch  öfter  einfach  sarga  oder  srshti  gesagt 
wird,  ist  der  Gegensatz  zu  samashti-srshti  ,Gesammtschöpfung'  oder 
ädi-sarga  ,Anfangsschöpfung'. 


—    221    — 

Reabsorption  (laya,  pralaya^),  pratisarga-) ,  samhära ''^)^ 
lyratisamcara)  *)  gelangen  schliesslich  die  drei  G  u  n  a '  s 
wieder  in  den  Zustand  des  Gleichgewichts;  die  Urmaterie 
befindet  sich  wieder  in  derselben  Lage,  wie  in  der  Zeit 
vor  der  Entfaltung,  und  verharrt  so,  bis  die  Periode  der 
neuen  Weltbildung  anbricht. 

Als  ich  oben  im  zweiten  Abschnitt  die  allgemein- 
indischen Lehren  der  S  ä  in  k  h  y  a  -  Philosoj)hie ,  soweit  sie 
bereits  vor  der  Begründung  des  Systems  vorhanden 
waren,  zusammenstellte,  habe  ich  geschwankt,  ob  nicht 
in  jenem  Zusammenhange  auch  die  Lehre  von  der  Evolution 
und  Reabsorption  der  Welt  erwähnt  werden  müsste,  da  die 
Vorstellung  einer  unendlichen  Zahl  von  Weltperioden 
(kalpa)  allen  orthodoxen  Systemen  °\  sowie  dem  Buddhismus 
und  Jinismus  gemeinsam  ist.  Doch  bin  ich  bald  zu  der 
Ueberzeugung  gelangt,  dass  diese  Vorstellung  vor  der 
Begründung  der  S  ä  ui  k  h  y  a  -  Philosophie  in  Indien  nicht 
existirt  hat.  Die  Lehi-e  von  den  periodischen  Zer- 
störungen und  Erneuerungen  der  Welt  findet  sich  noch 
nicht  in  den  älteren  Upanishad's'^).  Die  Idee  der 
Emanation  tritt  freilich  in  mythologischem  Gewände  schon 
früher  auf,  in  dem  berühmten  Purusha-Liede  des  Rig- 
V  e  d  a  (X,  90)  '),  in  verschiedenen  kosmogonischen  Berichten 


^)  In  unseren  Texten  wird  pralaya  in  demselben  Sinne  wie 
mahd-pralaya  gebraucht.  In  nicht-philosophischen,  aber  durch  das 
Sämkhya- System  beeinflussteu  Werken  wird  der  mahä-pralaya 
,die  Vernichtung  des  Universums'  dem  einfachen  pralaya  oder 
aväntara-pralaya  ,der  Vernichtung  der  Individuen'  gegenüber- 
gestellt. Vgl.  Johaentgen,  Ueber  das  Gesetzbuch  des  Manu 
S.  9,  Anm.  12. 

^)  Sämkhya-tattva-kaumudi  zu  Kärikä  16. 

8)  Vijn.  zu  Sütra  I.  154,  157. 

■*)  Tattvasamäsa  Sütra  6  und  Sämkhya-krama-dipikä  dazu 
Nr.  55. 

^)  Wegen  des  Vedänta  s.  Deussen,  System  d.  V.  S.  248 
— 256  und  sonst. 

6)  Vgl.  Deussen,  System  des  Vedänta  S.  302. 

')  Vgl.  Schröder,  Indiens  Literatur  und  Cultur  S.  214 ff. 


—     222     — 

der  B r  ä  h  m  a  n  a  -  Literatur  und  in  der  Legende  Brliad- 
äranyaka  Upanishad  14,  wo  erzählt  wird,  dass  sich 
der  Atman  in  seiner  Einsamkeit  fürchtete  und  nach 
einem  Gefährten  verlangte,  dass  er  sich  deshalb  theilte 
und  in  Mann  und  Weib,  die  sich  umarmt  hielten,  ver- 
wandelte und  auf  diese  Weise  Menschen  hervorbrachte; 
dass  er  dann  weiter  die  Formen  von  Stier  und  Kuh,  von 
Hengst  und  Stute  und  so  fort  annahm,  um  die  verschieden- 
artigen Wesen  zu  erzeugen.  Alle  diese  Schöpfungsberichte 
aber  gehen  von  dem  Gedanken  aus,  dass  der  geschilderte 
Vorgang  den  ersten  Anfang  der  Welt  darstelle.  Auch 
findet  sich  in  ihnen  keine  Spur  von  der  Kehrseite  der 
Emanationslehre,  der  Vorstellung  der  Reabsorption.  Dieser 
letztere  Gedanke  konnte  auch  erst  entstehen,  nachdem  die 
Evolutionstheorie  in  wirklich  philosopliischer  Weise  er- 
dacht und  methodisch  begründet  war;  nur  nachdem  man 
den  ikausalen  Zusammenhang  der  materiellen  Principien 
zu  erkennen  geglaubt  hatte,  nicht  auf  Grund  phantastischer 
mythologischer  Vorstellungen  konnte  der  Gedanke  der 
Rückbildung  der  Welt  auftreten.  Sobald  aber  die  Theorie 
des  gesetzmässigen  Entstehens  und  Vergehens  des  Universums 
aufgestellt  war,  musste  sie  sich  unter  dem  Einfluss  der 
Lehren  von  dem  Samsära  und  der  Macht  der  That  zu 
der  Annahme  ausgestalten,  dass  dieser  Process  der  Welt- 
bildung und  -Vernichtung  nicht  ein  einmaliger  sei,  sondern 
dass  er  sich  von  Ewigkeit  her  unendliche  Male  vollzogen 
habe  und  in  alle  Ewigkeit  hin  wiederholen  werde. 

Die  Lehre  von  den  Weltperioden  ist  also  in  der  Säm- 
k  h  y  a  -  Philosophie  entstanden  und  von  hier  aus  zunächst 
in  den  Jinismus  und  Buddhismus  übergegangen;  nach 
der  Brahmanisirung  unseres  Systems  hat  sie  dann  auch 
Eingang  in  die  brahmanische  Literatur  gefunden. 

Welche  Ursache  nun  wird  von  der  S  ä  m  k  h  y  a  -  Phi- 
losophie für  das  Heraustreten  der  Urmaterie  aus  ihrem 
stabilen  Gleichgewicht  angegeben?  Die  Urmaterie  steht 
von  Ewigkeit  her  in  einem  Abhängigkeitsverhältniss  zu 
den  gleich  ihr   ewigen  Seelen;   es   ruht  in  ihr   der  unbe- 


—     223     — 

wusste  Trieb,  für  die  Seelen  thätig  zu  sein.  Diese  üben 
auf  die  Urmaterie  einen  Anreiz  aus,  sich  zu  entfalten;  doch 
ist  diese  Anregung  keine  bewusste,  sondern  eine  mecha- 
nische, die  öfter  mit  der  Einwirkung  des  Magnets  auf 
das  Eisen,  das  er  anzieht,  verglichen  wird.  Wie  zur  Zeit 
des  Weltbestehens  das  Walten  der  Natur  bis  in  die  klein- 
sten Einzelheiten  hinein  durch  die  Kraft  bedingt  ist,  die 
den  Werken  der  beseelten  Wesen  entspringt,  so  wird  auch 
die  Entfaltung  der  Urmaterie  durch  diese  Kraft  veran- 
lasst; denn  Verdienst  und  Schuld  schlafen  während  des 
Pralaya  und  erwachen,  um  eine  neue  Schöpfung  ins  Leben 
zu  rufen  ^),  wenn  die  Zeit  gekommen  ist,  da  die  in  der 
vorigen  Weltperiode  noch  nicht  abgebüssten  Werke  ihre 
Vergeltung  erheischen.  Deshalb  wird  auch  die  Zeit  neben 
der  nachwirkenden  Kraft  des  Werkes  (adrshta)  als  eine 
begleitende  Ursache  für  die  Bewegung  erklärt,  in  welche 
die  Urmaterie  beim  Beginn  einer  neuen  Weltperiode  ge- 
räth-).  Diese  Bewegung,  die  in  einer  Verschiebung  des 
Gleichgewichts  der  drei  Gruna's  besteht,  heisst  technisch 
ksJiohlia  ,Erschütterung'  ^). 


1)  Mahädeva  zu  Siitra  III.  6. 

-)  Auiruddha  zu  Sutra  III.  62,  V.  22,  Vijn.  zu  VI.  65. 

^)  Vijn.  zu  Sütra  I.  19,  Einleitung  zu  V.  101:  „Es  ist  ein 
„Lehrsatz  [unseres  Systems],  dass  in  Folge  einer  Erschütterung  der 
„Urmaterie  die  Verbindung  der  Urmaterie  und  der  Seelen  eintritt, 
„und  in  Folge  deren  die  Schöpfung".  In  welcher  Weise  wir  uns 
die  jVerbindung'  (samyoga) ,  von  welcher  hier  und  oftmals  sonst 
gesprochen  wird ,  vorzustellen  haben ,  ist  in  Anbetracht  der  All- 
gegenwart, die  der  Urmaterie  zugeschrieben  wird,  nicht  ganz  klar. 
In  der  Sämkhya-tattva-kaumudi ,  Einleitung  zu  Kärikä  66,  finden 
wir  folgende  Erklärung:  „[In  Kärikä  21]  ist  gelehrt,  dass  die 
„Schöpfung  durch  die  Verbindung  [der  Seelen  und  der  Urmaterie] 
„hervorgebracht  wird.  Und  diese  Verbindung  besteht  darin,  dass 
„[die  Seelen]  berufen  [und  geeignet]  sind  [zu  empfinden,  und  die 
„Materie  empfunden  zu  werden];  und  das  Berufensein  der  Seelen 
„zu  empfinden  bedeutet:  dass  sie  geistig  sind,  das  Berufensein  der 
„Materie  empfunden  zu  werden  bedeutet:  dass  sie  ungeistig  und 
„Objekt   ist."     Ich    glaube,    dass    der    Begründer    der    Sämkhya- 


—     224    — 

Die   Schöpfung,   die   nach   dem   eben   bemerkten   auf 
einer  besonderen,  nicht   näher  beschriebenen  Verbindung 
der  Urmaterie   mit   den   Seelen   beruht  i),    dient   lediglich 
den   Interessen    der   letzteren;    denn    sie   hat   den   Zweck, 
zunächst  den  Seelen  die  Objekte  der  Erfahrung  (wörtlich: 
des  Genusses,  bhoga)  zu  schaffen,  und  zweitens,  die  Seelen 
zur  Erkenntniss   des  Unterschiedes   ihrer  selbst  von  allem 
materiellen  und  damit  zur  Erlösung  (apavarga)  zu  führen. 
Von  diesen  beiden  Bestimmungen  des  Schöpfungsprocesses 
ist  die  erste  freilich  nicht  Zweck  in  demselben  Sinne  wie 
die  zweite,  sondern  —  trotz  der  häufigen  Coordinirung  in 
dem  Compositum  bhogäpavargau  —  nur  das   Mittel,    ohne 
welches   die  Erreichung    des    Endzweckes,   der  Erlösung, 
nicht  möglich  ist.      Das  erste  Resultat  der  Entfaltung  der 
Urmaterie   ist   also    das   Gebundensein   (bandha)   sämmt- 
1  ich  er  Seelen,  die  noch   nicht   aus  dem  Weltdasein  aus- 
geschieden  sind;    das    zweite   Resultat    ist   die   Befreiung 
einiger  weniger  Seelen.    Für  diese  wenigen  stellt  die 
Materie  ihre  schöpferische  Thätigkeit  ein,  sobald  dieselben 
das  höchste  Ziel    erreicht   haben;   sie   zieht   sich   von  den 
zur   Erkenntniss   gelangten    Seelen   zurück,    um    für   alle 
Ewigkeit  keine   neue  Verbindung   mit  ihnen   einzugehen. 
Hierdurch  ist   aber  nicht  etwa  eine  Verminderung  in  der 
Bethätigung   ihrer   schöpferischen   Kraft  bedingt,    da  für 
alle  übrigen  Seelen  das  bestehende  Verhältniss  fortdauert  -). 


Philosophie  in  der  That  keine  andere  VorsteHung,  als  die  hier  von 
Väcaspatimicra  dargelegte,  mit  der  die  Weltentfaltung  anregenden 
Beziehung  der  Seelen  zur  Urmaterie  verbunden  hat.  Vijnänabhik- 
shu  bestreitet  allerdings  im  Commentar  zu  Sütra  I.  19  (S.  33,  34 
meiner  üebersetzvmg)  diese  Auslegung  mit  verschiedenen  Gründen 
und  setzt  an  deren  Stelle  eine  Erklärung,  die  mir  indessen  nur 
ein  Nothbehelf  zu  sein  scheint. 

1)  Kärikä  21,  66,  Sarva-dar9ana-samgraba  S.  219  der  Ueber- 
setzung,  Vijii.  zu  Sütra  I.  19. 

2)  Kärikä  21,  56-61,  66,  Sütra  II.  1,  3,  4,  7,  11,  23,  24,  III. 
47,  58,  63,  64,  66,  69,  70,  VI.  43,  44,  Yogasütra  n.  22.  Vgl.  auch 
in  diesem  Buche  oben  S.  164 — 166. 


—    225    — 

Wird  nun  aber  nicht  einmal  in  der  fernsten  Zukunft 
eine  Zeit  kommen,  in  der  alle  Seelen  ans  Ziel  gelangt 
und  von  den  Banden  der  Materie  befi-eit  sind?  Wenn 
diese  Frage  zu  bejahen  wäre  —  und  man  soUte  denken, 
dass  sie  bejaht  werden  müsse,  da  sich  ja  die  Zahl  der  un- 
erlösten  Seelen  beständig  verringert  — ,  so  würde  einst- 
mals jeder  Grund  für  das  Wirken  der  Naturki'äfte,  für  die 
Evolution  der  Urmaterie  fortfallen.  Nach  der  Erlösung 
der  letzten  Seele  würde  die  Urmaterie  nicht  mehr  aus  dem 
Zustand  des  Gleichgewichts  heraustreten  und  zu  einer 
neuen  Welt  sich  entfalten  können.  Dieser  Fall  aber  wird 
niemals  eintreten;  denn  die  S  ä  m  k  h  y  a  -  Philosophie  be- 
antwortet die  eben  gestellte  Frage  mit  Nein.  Das  Säm- 
k h y a s ü t r a  I.  158  sagt  (nach  Aniruddha's  Erklärung) : 
„Wie  [die  völlige  Leere]  in  dem  anfangslosen  Kreislauf 
„bis  auf  den  heutigen  Tag  nicht  eingetreten  ist,  so  wird 
„es  auch  in  Zukunft  bleiben";  und  als  Grund  dafür  findet 
man  bei  Vij&änabhikshu  zu  II.  4  angegeben,  dass 
die  Zahl  der  Seelen  unendlich  ist. 

Zu  meiner  Verwunderung  habe  ich  in  den  Säm- 
khya- Texten  keine  ernsthafte  Erklärung  ftir  die  ange- 
nommene Nothwendigkeit  des  Reabsorptionsprocesses  ge- 
funden. Auf  die  Frage  „woher  kommt  die  Weltauflösung?" 
wird  erwidert,  dass  ebenso  wie  die  Schöpfung  aus  einer 
Störung  des  Gleichgewichts  der  drei  Guna's  hervorgehe, 
der  Pralaya  dadurch  entstehe,  dass  die  di'ei  Guna's 
wieder  in  den  Zustand  des  Gleichgewichts  gerathen  ^). 
Weshalb  aber  gerathen  die  Guna's  wieder  in  denselben 
Zustand,  in  dem  sie  sich  vor  der  Weltentfaltung  befanden? 
Dafür  wird  zwar  von  Aniruddha  und  Mahädeva-) 
ein  Grund  angeführt ;  doch  widerspricht  derselbe  nicht  nur 
direkt  dem  Zusammenhange  ihrer  eigenen  Ausführungen, 
sondern  auch  den  wichtigsten  Voraussetzungen  des  Systems. 
Man  ist  sich  zur  Zeit  der  beiden  Commentatoren  offenbar 


1)  Sütra  VI.  42. 

2)  Zu  Sütra  III.  5. 

Garbe,  Sämkhya-Philosophie.  15 


—     226     — 

nicht  mehr  über   die  Gründe   der   in  Rede  stehenden  An- 
schauung  klar   gewesen;    und    merkwürdiger   Weise   ver- 
sagen   hinsichtlich    dieses    Punktes    die    älteren    Quellen. 
Die   genannten  Commentatoren   erklären,   dass   die   Welt- 
Vernichtung  dann    eintrete,  wenn    die  noch  nicht  zur  Er- 
lösung  gelangten  Seelen    die   Früchte   ihrer   Thaten   voll- 
ständig  genossen   und   demnach   in  Zukunft   weder   Lohn 
noch  Strafe  mehr  zu  erwarten  haben.    Unmittelbar  darauf 
aber^)  lehren  Aniruddha  und  Mahädeva,   dass  diese 
Seelen  nicht  aus  dem  Weltdasein  ausgeschieden  sind,  dass 
sie  während  des  Pralaya  mit  Verdienst  und  Schuld 
umkleidet   bleiben,   und   dass   diese    beiden    mächtigen 
Faktoren    am   Beginn   des   neuen   Weltalters    die  Materie 
wieder  anregen,   schöpferisch    für    eben   dieselben   Seelen 
thätig  zu  sein,  die  angeblich  durch  Abbüssung  aller  ihrer 
Werke  das  Ende  der  vorigen  Weltperiode  bewirkt  haben! 
Aniruddha,    dem     Mahädeva    an    dieser    Stelle    ge- 
dankenlos nachspricht,  hat  hier  eine  Confusion  angerichtet, 
die  in  der  S am khya- Literatur  kaum  ihres  Gleichen  hat; 
er    hat    sich    in    dem    ersten    Theil    semer    Ausführungen 
achtlos  über  den  fundamentalen  Grundsatz  der  Erlösungs- 
lehre  hinweggesetzt,   dass   der  Mensch   dem    Gesetze    der 
Vergeltung  nur  durch  die  Gewinnung  der  unterscheidenden 
Erkenntniss  entrinnen   kann,   aber    nicht  dadurch,  dass  er 
in  der  Unwissenheit  verharrend  die  Früchte  seiner  Werke 
aufbraucht.     Vijüänabhikshu    hat    deshalb    auch   den 
beiden  S  ü  t  r  a '  s  eine  vollständig  andere  Deutung  gegeben. 
Es  unterliegt   für  mich  keinem  Zweifel,    dass  bei  der 
Begründung   der   S  ä  m  k  h  y  a  -  Philosophie    auch    das  Ein- 
treten der  Weltauflösung  durch  einen  Grund  erklärt  worden 
ist,  der  sich  aus  dem  Zusammenhang  der  allgemeinen  An- 
schauungen des  Systems  ergab  und  in  denselben  einfügte; 
aber    wir    sind    in    diesem   Fall    ausnalunsweise   auf  Ver- 
muthungen   angewiesen,   bei   deren  Aufstellung  wir  wohl 


1)  Zu  Sütra  UI.  6. 


—     227     — 

am  sichersten  gehen  werden,  wenn  wir  an  die  Lehren  des 
Buddhismus,  des  Tochtersystems,  anknüpfen.  Wir  hatten 
oben  als  einen  allgemein-indischen,  in  das  Sämkhya- 
System  übergegangenen  Gedanken  die  Vorstellung  kennen 
gelernt,  dass  der  Zustand  der  Aussenwelt,  das  Walten  der 
Natur  abhängig  sei  von  dem  Thun  der  Wesen.  Wie  nun 
im  Buddhismus  der  Glaube  herrscht,  dass  diese  rein  mora- 
lische Ursache  —  die  Sünde  und  das  Verdienst  der  lebenden 
Wesen  —  auch  die  Vernichtung  und  Erneuerung  des 
Universums  bewirke  in  der  Weise,  dass  die  Sünde  die 
zersetzende,  die  Tugend  die  erneuernde  und  schaffende  Kraft 
sei ') ,  so  dürfen  wir  vielleicht  auch  schon  ftlr  die  S  ä  m  - 
k  h  y  a  -  Philosophie  dieselbe  Vorstellung  voraussetzen.  Wo 
man  überzeugt  ist,  dass  eine  moralische  Kraft  den  Verlauf 
des  Weltprocesses  regiert,  liegt  der  Gedanke  nahe  genug, 
dass  ein  überwiegendes  Maass  von  Sünde  die  Auflösung 
des  Universums  herbeiführe. 

Doch  kehren  wir  von  dieser  Hypothese  zu  unsern 
Quellen  zurück.  Wenn  die  Welt  sich  im  Zustand  des 
Pralaya  befindet  und  die  drei  Guna's  damit  in  dem 
des  Gleichgewichts,  so  darf  man  doch  nicht  glauben,  dass 
die  letzteren  in  völliger  Ruhe  verharren;  das  würde  ihrer 
Natur  widersprechen.  In  dieser  Zeit  —  so  heisst  es  in 
der  Sämkhya-tattva-kaumudi  zu  Kärikä  16  — 
„unterliegen  Sattva,  Rajas  und  Tamas  [nur  der  Ver- 
„änderang]  zu  gleichartigem;  denn  die  Guna's,  deren 
„Wesen  das  Sichverändern  ist,  bestehen  auch  nicht  einen 
„Augenblick,  ohne  sich  zu  verändern.  Darum  entfaltet 
„sich  auch,  [wenn  die  Welt]  im  Zustande  der  Auflösung 
„[ist],  das  Sattva  nur  in  der  Form  des  Sattva,  das 
„Rajas  nur  in  der  des  Rajas,  das  Tamas  nur  in  der 
„des  Tamas."  Diese  isolirte  Bewegving  innerhalb  jedes 
einzelnen  Guna  aber  ist  völlig  unabhängig  von  der  Be- 
wegung, die  sich  der  Urmaterie  als  Ganzem  beim  Beginn 
der  neuen  Weltperiode  mittheüt. 


^)  Vgl.  Koppen,  Religion  des  Buddha  I.  285—287. 

15« 


—     228    — 

Wälirend  der  Zeit  des  Pralaya  sind  die  unerlösteii 
Seelen  ebenso  schmerzfrei  wie  die  erlösten,  weil  die  ihnen 
zugehörigen  inneren  Organe,  die  materiellen  Grundlagen 
jeder  Empfindung,  nicht  mehr  als  solche  existiren  *).  Aber 
diese  inneren  Organe  sind  dann  nicht  etwa  zu  Grunde 
gegangen,  sondern  haben  sich  nur  zur  Urmaterie  zurück- 
gebildet und  bestehen  ,in  feinem  Zustande'  (sühshnäva- 
sthai/ä)  fort.  Dasselbe  gilt  auch  von  ihren  verhängnissvollen 
Attributen,  der  moralischen  Bestimmtheit,  die  auf  den  in 
der  vorigen  Weltperiode  noch  nicht  vergoltenen  Werken 
beruht,  und  der  Nichtunterscheidung,  die  während  der 
Weltauflösung  als  Disposition  (väsanä)  verharrt.  Denn 
jedes  dieser  beiden  Attribute,  welche  die  Ursache  alles 
Leidens  in  der  Welt  sind,  besteht  in  der  Form  einer  an- 
fangslosen, auch  durch  die  Weltvernichtung  nicht  unter- 
brochenen Conti  nuität  ^). 

Bevor  wir  nun  die  Produkte  in  der  Reihenfolge  be- 
trachten, in  der  sie  nach  der  Sämkhy a-Lehre  bei  jeder 
Weltentfaltung  aus  der  Urmaterie  hervorgehen,  haben  wir 
noch  das  Verhältniss  im  Allgemeinen  ins  Auge  zu  fassen, 
das  unser  System  zwischen  jedem  Produkt  und  seiner 
Ursache  constatirt. 


5.    Der  Begriff  der  Kausalität. 

In  der  indischen  Philosophie  werden  überall  streng 
zwei  Arten  von  Ursachen  (kärana)  unterschieden:  die 
materielle  (upädäna)  und  die  bewirkende  (nimitta).  Die 
materielle  Ursache  eines  Dinges  ist  der  Stoff,  aus  dem  es 
hervorgeht  und  besteht;  als  bewirkende  Ursache  gilt  nicht 


1)  VijJi.  zu  Sütra  I.  16,  18,  19. 

')  Vijn.  zu  Sütra  VI.  12,  68,  69.  Ueber  das  verhältnissmässig 
günstige  G-eschick  derjenigen  Individuen,  welche  die  ,niedere 
Gleichgiltigkeit'  gewonnen  und  diese  Welt  aufgegeben  haben,  aber 
noch  nicht  zur  unterscheidenden  Erkenntniss  gelangt  sind,  hat 
schon  oben  S.  146  gehandelt  werden  müssen. 


—    229    — 

nur  die  Veranlassung  seines  Entstehens,  sondern  auch  das 
Mittel,  durch  welches  es  hervorgebracht  wird  ^).  Da  upä- 
dana  und  nimitta  unter  dem  Begriff  kärana  zusammen- 
gefasst  werden,  hat  die  philosophische  Terminologie  Indiens 
auch  für  Produkt  und  Wirkung  nur  den  einen  Ausdruck 
Mrya:  der  Topf  ist  das  Mrya  des  Thons,  aber  ebenso  ist 
auch  der  Tod  des  getroffenen  Thieres  das  hdrya  des  Schusses. 
Nur  in  Ausnahmefällen,  wenn  zwischen  den  Begriffen  des 
Produkts  und  des  Effekts  genau  unterscliieden  werden  soll, 
sind  zu  diesem  Zwecke  die  Adjektiva  awpäddnika  und 
naimittika  verwendet. 

Das  Eintreten  eines  Ereignisses  ist  gewöhnlich  durch 
eine  ganze  Reihe  bewirkender  Ursachen  bedingt, 
die  keineswegs  in  analogen  Fällen  die  gleichen  zu  sein 
brauchen;  die  materielle  Ursache  eines  Dinges  da- 
gegen ist  stets  dieselbe:  ein  bestimmtes  Produkt  kann 
immer  nur  aus  einer  bestimmten  materiellen  Ursache  her- 
vorgehen; der  Topf  nur  aus  Thon,  das  Tuch  nur  aus 
Fäden "-).  Deshalb  wird  auch  die  materielle  als  die  Haupt- 
ursache für  die  Hervorbringung  eines  Produkts  angesehen, 


^)  Die  VaiQeshika-Nyäya- Philosophie  nimmt  dreierlei  Ur- 
sachen an,  d.  h.  ausser  den  beiden  genannten  eine  dritte,  die  man 
als  formale  bezeichnen  kann.  Anstatt  upadäna-kärana,  aber  genau 
in  der  gleichen  Bedeutung,  gebraucht  sie  den  Terminus  samaväyi- 
kärana  ,inhärirende  Ursache'  und  stellt  daneben  das  asamaväyi- 
härana  ,die  nicht-inhärirende  Ursache'.  Die  Fäden  sind  die  in- 
härirende  (d.  h.  materielle),  die  Verbindung  der  Fäden  ist  die 
nicht-inhärirende  (d.  h.  formale)  Ursache  des  Tuches.  Die  Werk- 
zeuge des  Webers,  seine  persönliche  Geschicklichkeit,  seine  Thätig- 
keit,  ja  der  Weber  selbst  sind  die  bewirkenden  Ursachen  des 
Tuches.  Das  Tuch  selbst  ist  die  inhärirende  Ursache  seiner 
Qualitäten,  die  Qualitäten  der  Fäden  sind  die  nicht-inhärirende 
Ursache  der  Qualitäten  des  Tuches.  Vgl.  hierüber  unter  anderm 
Ballantyne,  Lectures  on  the  Nyäya  Philosophy,  Allahabad  1849, 
p.  22  ff.,  Röer,  Bhäshäpariccheda  Introd.  p.  VIII,  Hall,  Rational 
Refutation  p.  94,  Anm.  f. 

2)  Vgl.  (auch  zu  den  folgenden  Ausführungen)  Sämkhyakärikä 
9,  Sütra  I.  115—117. 


—    230    — 

während  die  bewirkenden   als   begleitende    oder  Nebenur- 
sachen (sakakäri-hdrana)  gelten. 

Weil  die  bewirkenden  Ursachen  kein  neues  Ding 
hervorbringen,  sondern  allein  die  Entstehung  von  Ver- 
änderungen an  dem  schon  vorhandenen  veranlassen  ^),  so 
beschäftigt  sich  die  S  ä  m  k  h  y  a  -  Lehre  von  dem  Kausal- 
zusammenhang der  Dinge  lediglich  mit  dem  Begriff  und 
Wesen  der  materiellen  Ursache. 

Unser  System  geht  von  dem  Grundsatze  aus :  ex  niliilo 
nihil  fit  (nd  'vastuno  vastu-siddhih)  ^),  mit  anderen  Worten : 
„Es  giebt  keine  Verbindung  zwischen  dem  Seienden  und 
Nichtseienden"  (sad-asatoli  sambandhänupapattih)  '^)  oder : 
„Ein  Ding  kann  nicht  die  Ursache  seiner  selbst  sein" 
(svasya  sva-käranänwpapattih)  *).  Mit  der  noch  entschie- 
deneren Formulirung  dieses  Grundsatzes:  „Eine  Substanz 
kann  nur  aus  einer  Substanz  hervorgehen"  (dravyasi/ai 
'va  dravyopädänatvam)  ^)  wendet  sich  das  Sänikhya- 
System  zunächst  gegen  die  theologische  Erklärung  der 
Weltentstehung  durch  einen  Schöpfungsakt;  ein  solcher 
Akt  könnte  nur  die  bewirkende,  aber  nicht  die  materielle 
Ursache  der  Welt  sein,  da  das  Handeln  eine  Qualität  ist ''). 
Es  wird  aber  weiterhin  der  Satz,  dass  Qualitäten  nicht 
materielle  Ursachen  von  Substanzen  sein  können,  auch 
zur  Bekämpfung  der  Vedänta -Lehre  benutzt,  nach  der 
die  Erscheinungswelt  auf  dem  Nichtwissen  beruht. 

Das  Verhältniss  von  Ursache  und  Wirkung  (resp. 
Produkt)  ist  für  unser  System  nicht  einfach  der  Zusam- 
menhang des  zeitHch  vorangehenden  und  nachfolgenden  ''). 
Auf  Grund  der  Erwägung,  dass  jedes  Produkt  seine  mate- 
rielle Ursache  in  sich  begreift,  dass  das  erstere  nicht  ohne 


1)  Vijn.  zu  Sütra  I.  120. 

2)  Sütra  I.  78,  80. 

3)  Vijii.  zu  Sütra  I.  113. 
*)  Vijn.  zu  Sütra  I.  62. 

5)  Vijn.  zu  Sütra  1.  63, 

6)  Sütra  I.  81. 
')  Sütra  I.  41. 


—    231    — 

»die   Fortdauer   der  letzteren   möglich  ist,  hat   die   Säm- 
khya-Philosophie   die  Lehre    von    der    Identität    beider 
(kärya-härand-bheda)  aufgestellt,  womit    gemeint  ist,  dass 
das  Produkt  sich  von   seiner  Ursache    nicht  der  Substanz, 
sondern    nur    den    Qualitäten    nach    unterscheidet.      Das 
Diadem  ist  nichts  anderes  als  das  Grold,  das  irdene  Gefäss 
nichts  anderes  als  der  Thon,   das  Tuch  nichts  anderes  als 
die  Fäden,  aus  denen   es   besteht  i).      Aus   dieser  Identität 
—  oder,   wie  wir   sagen  würden:  Coexistenz  —  von  Ur- 
sache   und    Produkt   folgt,   'dass   von    der   Entstehung 
(utpatti)   eines   Produktes    nicht   gesprochen   werden   darf, 
dass  vielmehr  die   sogenannte  Entstehung  eine  Manifesta- 
tion,   ein  In-die-Erscheinung-treten  (abhivyakti)  ist.     Und 
wie  das  Produkt  nicht  entsteht,  weil  es  bereits  in  seiner 
materiellen  Ursache  existirt,  bevor   es   in  die  Erscheinung 
tritt,  so  geht  es  auch   nicht   zu  Grunde,  sondern  tritt  nur 
aus  der  Erscheinung,   indem   es  in  seiner  Ursache  wieder 
verschwindet    oder   aufgeht   (laya,    tirohhäva).      Die  Mani- 
festation  ist   also    der   gegenwärtige  Zustand   (var- 
tamänävasthä)   des  Produkts,  das  angebliche  frühere  Nicht- 
sein der  zukünftige  (andgatävasthä)  miA  das  angebliche 
spätere    Nichtsein    der   vergangene   Zustand    (aätd- 
vastM)  -).    Die  materielle  Ursache  ist  vor  der  Manifestation 
des  Produkts  nichts  anderes  als  dieses  Produkt  im  Zustande 
der  Zukunft,  und  das  Produkt  nach  dem  Ende  der  Manifes- 
tation nichts  anderes  als  die  materielle  Ursache  im  Zustande 
der  Vergangenheit.    Jedes  stoffliche  Ding  ist  also,  bevor  es 
in  die  Erscheinung  und  nachdem  es  aus  der  Erscheinung 
getreten  ist,  genau  so  real  als  während  der  zwischen  diesen 
beiden  Grenzen  hegenden  Zeit;  nur  seine  Form  oder  sein 


^)  In  der  Sämkliya-tattva-kaumudi  zit  Kärikä  9  (S.  562  meiner 
Uebersetzung)  sind  hierfür  nicht  weniger  als  vier  syllogistische 
Beweise  beigebracht  worden. 

2)  Die  Vai9eshika-Nyäya-Lehre  von  der  prioren  und 
posterioren  Nichtexistenz  (pürväbhäva ,  dhvmisa  oder  pradhvamsa) 
wird  in  den  S am khya- Schriften  mit  grosser  Energie  bekämpft. 


—     232     — 

Zustand  ändert  sich.  Durch  diesen  Gedankengang  ')  ist 
die  S  ä  m  k  h  y  a  -  Philosophie  zu  der  ,Lehre  von  der  ewigen 
Realität  der  Produkte'  (sat-kdrya-väda)  gelangt,  einer  für 
das  System  so  charakteristischen  Theorie,  dass  dieses  nicht 
selten  mit  dem  eben  angeführten  technischen  Ausdrucke 
bezeichnet  wird  2). 

Da  der  Satz  von  der  Ewigkeit  und  Unzerstörbarkeit 
des  Stoffes  ein  Grundpfeiler  unseres  philosophischen  Ge- 
bäudes ist,  so  werden  wir  auch  die  Lehre,  aus  welcher 
dieser  Satz  abgeleitet  ist,  für  ebenso  alt  halten  müssen 
als  das  Sämkhya -System  selbst.  Es  ist  für  die  Ge- 
schichte der  indischen  Philosophie  im  Allgemeinen  von 
Wichtigkeit,  diesen  Punkt  festzustellen,  weil  die  Theorie 
der  Identität  von  Ursache  und  Produkt  sich  auch  im 
Vedänta- System  findet,  und  zwar  mit  genau  derselben 
Begründung  wie  in  den  Sämkhya-  Schriften.  Man  ver- 
gleiche in  Deussen's  System  des  Vedänta  auf  S.  275 — 
280  besonders  die  Abschnitte  „die  Ursache  besteht  in  der 
Wirkung  fort",  „die  Wirkung  besteht  schon  vor  ihrem 
Entstehen,  nämlich  als  „Ursache",  „die  Wirkung  liegt  in 
der  Ursache  präformieii",  „Allgemeinheit  der  Identität  von 
Ursache  und  Wirkung".  Die  V  e  d  ä  n  t  a  -  Philosophie  hat 
diesen  Gedanken  benutzt  um  die  Lehre  der  Identität  von 
B  rahm  an  und  Welt  zu  beweisen.  Darüber  bemerkt 
Deussen  S.  275:  „So  grändet  sich  die  Identitätslehre 
„unserer  Autoren  auf  eine  Untersuchung  des  Kausalitäts- 
„begriffes,  und  es  ändert  an  diesem  Verhältnisse  nichts, 
„dass   in   dem   uns  vorliegenden   Werke    [den  Brahma- 


1)  Vgl.  über  denselben  Kärikä  9,  Sutra  I.  113—123,  V.  60, 
VI.  58,  Anir.  und  Vijn.  zu  I.  45,  91,  Vijn.  zu  I.  1,  Sarva-dar9ana- 
samgraha  p.  224,  225  der Uebersetzung,  Colebrooke,  Mise.  Ess.  2 

I.  265,  266. 

2)  Dementsprechend  beissen  die  Anhänger  des  Sämkhya- 
Systems  sat-kärya-vädin  im  Gegensatze  zu  den  asat-kärya-vädin 
genannten  Vertretern  der  Vai^eshika-Nyäya -Philosophie,  nach 
deren  Meinung  das  Produkt  vor  seiner  Hervorbriugung  nicht  existirt. 
Vgl.  Hall,  Rational  Refutation  p.  94  Anm. 


—     233     — 

-„sütra's  nebst  ^anikara's  Commentar]  zuerst  2,  1,  14 
„die  Lehre  der  Identität  von  Braliman  und  Welt  mit  vor- 
„wiegend  theologischer  Begründung,  und  sodann  2,  1, 
„15 — 20  gleichsam  als  ein  CoroUarium  derselben  der  Beweis 
„der  Innern  Identität  von  Ursache  und  Wirkung  auftritt". 
Wenn  auch  D  e  u  s  s  e  n  hinzufügt ,  dass  die  logische  Ord- 
nung vielmehr  umgekehrt  sei,  dass  aus  der  Identität  der 
Ursache  und  der  Wirkung  die  Identität  des  B  r  a  h  m  a  n 
und  der  Welt  folge,  so  dürfen  wir  doch  annehmen,  dass 
die  Behandlung  dieses  Gegenstandes  in  dem  Hauptwerk 
der  Vedänta- Schule  sich  durchaus  an  die  historische 
Entwickelung  der  Beweise  für  die  Identitätslehre  anschliesst. 
Die  Vedänta- Lehrer  haben  mit  richtigem  Blick  für  das, 
was  ihre  Ansichten  stützen  konnte,  der  ursprünglich  ,vor- 
wiegend  theologischen  Begründung',  d.  h.  den  aus  der  Schrift 
abgeleiteten  Gründen,  als  ,Corollarium'  die  Begründung  durch 
einen  von  der  Sänikhy  a- Philosophie  erarbeiteten  Lehr- 
satz hinzugefüg-t.  Wenn  wir  vor  der  Alternative  stehen, 
ob  die  Argumentirung  mit  dem  Beharren  der  Sub- 
stanz zuerst  in  einem  Systeme  gehandhabt  ist,  dem  die 
Erscheinungswelt  für  illusorisch  gilt,  oder  in  einem  Systeme, 
das  diese  für  real  erklärt,  so  werden  wir  kaum  zweifeln 
dürfen  uns  für  das  letztere  zu  erklären. 


6.    Die  Produkte,  besonders  die  feinen  und 
groben  Elemente. 

Allen  Produkten  sind  mit  der  Urmaterie  die  folgenden 
Eigenthümlichkeiten  gemeinsam.  Sie  bestehen  aus  den 
drei  G  u  n  a '  s ,  sind  stofflich  nicht  von  einander  zu  unter- 
scheiden, stehen  als  Objekte  den  Subjekten,  d.  h.  den 
Seelen,  gegenüber  —  und  zwar  in  der  Weise,  dass  ein 
jedes  für  mehrere  oder  viele  Seelen  gemeinschaftliches 
Objekt  ist  — ,  und  schliesslich  sind  sie  ungeistig  und 
produktiv  (oder  der  Veränderung  unterworfen)  ^).    Anderer- 


1)  Kärikä  8,  11,  14,   Sütra  I.  126.     Gaurlapäda  zu  Kärikä  11 


—     234     — 

seits  giebt  es  eine  ganze  Reihe  von  Qualitäten,  durch  welche 
die  Verschiedenheit  der  Produkte  von  der  Urmaterie  be- 
dingt ist;  diese  sind  bereits  bei  der  Beschreibung  der 
Urmaterie  S.  208  aufgezälilt  worden. 

Wie  wir  bei  derselben  Gelegenheit  sahen,  findet  nach 
der  S am khya -Lehre  die  Weltentfaltung  in  der  Weise 
statt,  dass  aus  der  .Urmaterie  zuerst  die  Buddhi,  aus 
dieser  der  A  h  a  m  k  ä  r  a ,  aus  diesem  die  Sinnesorgane  und 
die  Grundstoffe,  und  aus  den  letzteren  die  groben  Elemente 
hervorgehen.  Bei  jedem  einzelnen  Evolutionsakt  werden 
die  hervorbringenden  Principien  —  d.  h.  die  Buddhi, 
wenn  sie  den  Ahamkära,  der  Ahamkära,  wenn  er 
seine  Produkte  entstehen  lässt,  u.  s.  w.  —  von  der  Urmaterie 
mit  der  zur  Weiterentwickelung  erforderlichen  Kraft  erfüllt ; 
denn  wenn  die  einzelnen  Principien  aus  eigener  Kraft 
je  das  nächstfolgende  hervorbringen  könnten,  so  würde 
dieser  Process  zu  jeder  Zeit  stattfinden  müssen,  da  die  in 
Betracht  kommenden  Produkte  ihrem  Wesen  nach  wieder 
produktiv  sind  ^). 

Ehe  sich  aus  der  groben  Materie  die  Leiber  der  be- 
seelten Wesen  entwickelt  haben,  sind  bereits  die  feinen 
Substanzen  vorhanden  gewesen,  aus  denen  die  inneren 
Organe  der  Wesen  bestehen.  In  welcher  Weise  dieSäm- 
k  h  y  a  -  Philosophie  sich  die  selbständige  Existenz  der 
Buddhi,  des  Ahamkära  und  der  Sinnesorgane  denkt, 
wird  nirgends  in  unsern  Texten  gesagt  und  ist  auch  aus 
dem  Zusammenhang  der  Lehren  nicht  zu  ersehen.  V  i j  n  ä  - 
nabhikshu  sagt  am  Schluss  seines  Commentars  zu  Sütra 
L  63,  dass  die  Schöpfung  aus  der  kosmischen  Buddhi 
(samaslid-buddM)^  nicht  aus  einer  individuellen  (vyashti- 
huddhi)  hervorgegangen  sei,  und  deutet  durch  ein  ,u.  s.  w.' 


erklärt  avivehin  (.[stofflich]   nicht  [von  einander]  zu  unterscheiden') 
als    jkein   Unterscheidungsvermögen    besitzend'.      Das    ist    deshalb 
unrichtig,  weil  das  Unterscheidungsvermögen  die   charakteristische 
Eigenthümlichkeit  der  Buddhi  ist. 
^)  Aniruddha  zu  Sütra  I.  132. 


—    235    — 

(ddi)  an,  dass  auch  die  nächsten  Evolutionsstadien  in  dem- 
selben Sinne  zu  verstehen  sind.  Wie  aber  eine  solche 
feine  Substanz  —  wir  würden  sagen  ,die  Nervensubstanz', 
da  die  Funktionen  von  Buddhi,  Ahamkära,  Manas 
und  Indriya's  den  Funktionen  des  Nervensystems  ent- 
sprechen —  ohne  einen  animalischen  Organismus  bestehen 
und  sich  fortentwickeln  kann,  wie  sie  sich  ferner  in  Theile 
spaltet,  um  bei  der  Entstehung  der  Leiber  die  individuellen 
inneren  Organe  zu  bilden,  das  sind  Räthsel,  die  unser 
System  ungelöst  lässt  ^\  Es  wird  einfach  gelehrt,  dass  der 
innere  Leib  (linga)^  der  im  wesentlichen  aus  den  Organen 
besteht,  von  denen  hier  die  Rede  ist,  ursprünglich  nur 
einer  gewesen  sei,  dass  aber  eine  Spaltung  in  Individuen 
(vyokti-bheda)  eingetreten  sei,  ,wegen  der  Verschiedenheit 
des  Werkes',  d.  h.  der  den  einzelnen  Seelen  eigenen  mora- 
lischen Bestimmtheit  -).  Hiernach  ist  also  die  Spaltung  durch 
das  Gesetz  der  Vergeltung  bedingt,  aber  eine  Erklärung 
des  Vorgangs  selbst  wird  uns  nicht  gegeben.  Wir  müssen 
uns  damit  bescheiden  zu  constatiren,  dass  für  die  Säui- 
khya -Philosophie  die  Substanzen  der  inneren  Organe  als 
die  ersten  und  feinsten  Entfaltungen  der  Urmaterie  gelten. 
Da  im  übrigen  die  Buddhi,  der  Ahamkära  und  die 
Sinnesorgane  für  das  System  nur  als  Theile  des  animalischen 
Organismus  von  Bedeutung  sind,  so  werden  wir  gut  thun 
ihre  nähere  Betrachtung  für  das  folgende  Kapitel  ,Physio- 
logie'  aufzusparen  und  uns  zu  den  Grundstoffen  zu  wenden. 
Die  Sämkhya- Lehre  lässt  die  Grundstoffe  zusammen 
mit  den  Sinnesorganen  aus  dem  kosmischen  Ahamkära 
hervorgehen  und  erklärt  die  Verschiedenaiiigkeit  seiner 
Produkte  folgendermaassen.  Wenn  der  Ahamkära  den 
inneren    Sinn    (das    innere   Wahrnehmungsorgan,    manas) 


1)  Die  schon  S.  189,  190  erwähnten  naythologischen  Spielereien 
Vijnänabhikshu's,  der  die  kosmische  Buddhi  mit  Vishnu, 
den  kosmischen  Ahaiiikara  mit  Brahmau  und  Qiva  identificirt, 
sind  flir  die  Frage  bedeutungslos. 

*)  Sütra  m.  10. 


—     236     — 

aus  sich  entlässt,  so  stellt  er  unter  dem  Einfluss  des  (in 
allen  Erkenntnissfunktionen  wirkenden)  S  a  1 1  v  a  und  heisst 
in  diesem  Fall  vaikrta  oder  vaikäriha  ,modilicirt' ;  wenn 
er  die  fünf  Sinne  der  Wahrnehmung  und  die  fünf  Sinne 
des  Handelns  hervorbringt,  so  steht  er  unter  dem  Einfluss 
des  (zur  Thätigkeit  anregenden)  Rajas  und  heisst  dann 
taijasa  ,wirksam';  wenn  er  die  Grundstoffe  hervorbringt, 
so  steht  er  unter  dem  Einfluss  des  (in  allem  leblosen  weit 
überwiegenden)  Tamas  und  wird  in  diesem  Zustande 
bhütddi  , Ausgangspunkt  der  Elemente'  genannt  ^). 

Die  feinen  Elemente  (sukshma-bhüta,  hhida-sukshma) 
oder  Grundstoffe  führen  gewöhnlich  den  Namen  tanmätra, 
etymologisch  ,nur  dieses',  womit  ausgedrückt  werden  soll, 
dass  in  jedem  Grundstoff  einzig  und  allein  dessen  specielle 
Eigenthümlichkeit  raht  -).  Das  ist  so  zu  verstehen.  Während 
von  den  fünf  groben  Elementen  das  nachfolgende  jedesmal 
die  Eigenschaft  des  vorangehenden  mitbesitzt  in  der  Weise, 
dass  der  Aether  (als  Träger  des  Tons)  gehört,  die  Luft 
gehört  und  gefühlt,  das  Feuer  gehört,  gefühlt  und  gesehen, 
das  Wasser  gehört,  geftihlt,  gesehen  und  gescluneckt,  die 
Erde  gehört,  gefülilt,  gesehen,  geschmeckt  und  gerochen 
wird,  haben  die  fiinf  Grundstoffe  nur  je  eine  Eigenschaft 
und  heissen  deshalb  nach  der  Reihe  der  Gmndstoff  des 
Tons,  des  Gefühls,  der  Farbe,  des  Gesclnnacks  und  des 
Geruchs  (^abda-,  sparca-,  rüpa-,  rasa-,  gandha-tanmdtra)^). 


1)  Kärikä  24,  25,  Sütra  II.  17,  18,  Sarva-dargana-samgraha 
p.  222  der  Uebersetzung,  Sämkhya-ki-ama-dipikä  Nr.  18,  19,  54,  61. 

2)  Sämkhya-tattva-kaumudi  zu  Kärikä  38,  Vijn.  zu  Sütra  1.62, 
Wilson,  Sänkhya  Kärikä  p.  121,  Ballantyne,  Lectui-e  on  the 
Sänkhya  Philosophy  p.  10  unten.  Es  ist  mir  jedoch  nicht  ganz 
sicher,  ob  nicht  F.  E.  Hall  (in  seiner  Ausgabe  von  Wilson' s 
Uebersetzung  des  Vishnu  Puräiia  I.  37  Anm.)  damit  Recht  hat,  dass 
er  tan-mätra  als  eine  Verstümmelung  von  tanu-mätra  ,geringe 
Ausdehnung  habend'  erklärt. 

^)  Sämkhya-tattva-kaumudi  zu  Kärikä  22 ;  Vijii.  zu  Sutra  I.  62 
schreibt  bereits  den  feinen  Elementen  die  Characteristica  der 
groben  in  der  gleichen  Häufung  zu. 


—     237     — 

Diese  Grundstoffe  sind  als  solche  nur  von  den  Göttern 
und  Y  0  g  i  n '  s ,  aber  nicht  von  uns  gewöhnlichen  Menschen- 
kindern wahrzunehmen  ^) ;  wir  erkennen  nur  ihre  Wir- 
kungen in  den  Eigenschaften  der  Derivate,  d.  h.  der  gi-oben 
Elemente.  Die  Grundstoffe  besitzen  ihre  Characteristica 
nur  in  abstracto:  der  Ton-Grundstoff  den  Ton,  aber  noch 
nicht  die  verschiedenen  möglichen  Töne,  die  wir  hören; 
der  Gefühls-Grundstoff  das  Gefühl,  aber  noch  nicht  die 
Varietäten  w^eich,  hart,  rauh,  schlüpfrig,  kalt,  warm  u.  s.  w.; 
der  Farben- Grundstoff  die  Farbe,  aber  noch  nicht  die 
Varietäten  weiss,  roth,  schwarz,  grün,  gelb  u.  s.  w.; 
desgleichen  der  Geschmacks-Grundstoff  noch  nicht  die  ver- 
schiedenen Arten  des  Geschmacks,  der  Geruchs-Grundstoff 
noch  nicht  die  verschiedenen  Arten  des  Geruchs.  Darum 
theilen  auch  die  feinen  Elemente  noch  nicht  die  Eigen- 
schaft der  groben  Materie,  je  nach  dem  Vorwalten  eines 
der  drei  Guna's  entweder  Freude  oder  Schmerz  oder 
Apathie  zu  erregen;  oder  technisch:  sie  sind  noch  nicht 
Qänta,  ghora  oder  müdha.  Aus  diesem  Grunde  werden  sie 
avicesha  ,die  unterschiedslosen  Substanzen'  genannt,  im 
Gegensatz  zu  den  vicesha  oder  den  mit  Unterschieden 
behafteten  groben  Elementen  2).  Wenn  auch  die  Grund- 
stoffe von  ausserordentlich  kleiner  Ausdehnung  sind,  so 
darf  man  ihnen  doch  nicht  Untheilbarkeit  zuschreiben; 
denn  kein  Produkt  ist  untheilbar.  Die  Tanmätra's 
sind  also  etw^as  ganz  anderes  als  die  ewigen  und  unend- 
lich kleinen  Atome  (anu,  paramänu)  der  Vai9eshika- 
N  y  ä  y  a  -  Philosophie  und  des  Jinismus,  und  die  Lehre  von 


1)  Vijn.  zu  Sütra  I.  62,  III.  1. 

«)  Sämkhya-krama-dipikä  Nr.  19—24,  Kärikä  38  nebst  den 
Commentaren,  Vijn.  zu  Sütra  I.  62.  —  Die  weiteren  Synonyma, 
die  man  noch  in  der  Särnkbya-krama-dipikä  Nr.  25  angeführt 
findet  (prakrti,  ahhogya,  anu,  acäntä-''ghorä-''müdha),  sind  nichts  als 
gelegentlich  in  unsern  Texten  gebrauchte  Epitheta ;  mahä-bhüta  ist 
dort  irrthümlich  dazu  gerechnet  und  bezeichnet  in  Wirklichkeit 
die  groben  Elemente. 


-     238     - 

den  Atomen  wird  deshalb  im  Sämkhya- System  mit  Ent- 
schiedenheit  zurückgewiesen.  Die  Anhänger  der  atomis- 
tischen  Systeme  nelmien  an,  dass  ein  Aggregat  von  drei 
an  sich  keine  Ausdehnung  besitzenden  Atomen  (try-anuka) 
—  nach  einigen:  von  drei  Doppel- Atomen  (dvy-anuka)  — 
■eine  gewisse  Ausdehnung  habe  und  als  das  im  Sonnen- 
licht zitternde  Staubkörnchen  (trasa-renu)  sichtbar  sei. 
Diese  Ansicht  und  deren  Begründung,  dass  die  heterogene 
Natur  der  sich  verbindenden  Atome  die  Ursache  der  Aus- 
dehnung und  Sichtbarkeit  sei,  wird  von  der  Sämkhya- 
Philosophie ')  durch  Berufung  auf  das  Gesetz  bekämpft, 
demzufolge  jede  Eigenschaft  eines  Produkts  durch  eine 
gleichartige  Eigenschaft  der  materiellen  Ursache  bedingt 
ist ;  wenn  die  einzelnen  Atome  keine  Ausdehnung  besitzen, 
kann  auch  das  Aggregat  nicht  ausgedehnt  sein  -). 

Woher   stannnen    aber    die   charakteristischen    Eigen- 
schaften  der   Tanmätra's,   Farbe,    Geschmack,    Geruch 
u.  s.  w,,  da  doch  die  in  dem  Entwickelungsgange  der  Welt 
vorausliegenden   Produkte  solche  Eigenschaften    nicht  be- 
sitzen ?  Auf  diese  Frage  antwortet  Vijnänabhikshu-'): 
„Die  Ursache  für  die  Farbe  und  die  anderen  Characteristica 
„der   feinen   Elemente   ist  lediglich  die  besondere  Art,  in 
„der  sich   die   Substanzen,   welche   die   materielle  Ursache 
„jener   sind    [d.  h.   die  Substanzen  der  Buddhi  und  des 
„Ahamkära]    mit   einander   verbinden,  —  entsprechend 
„den  Thatsachen  der  Empirie,  wie  z.  B.  der,  dass  die  Ver- 
„  bin  düng   von  Gelb  würz   mit  anderen  [Stoffen,   wie  Kalk 
„u.  dergl.]  die  Ursache  für   die  rothe  Farbe  an  der  durch 
„[die  Mischung]  zweier  solcher  [Stoffe]  entstandenen  Sub- 
„ stanz  ist." 

Die  Lehre  von  den  Tanmätra's  begegnet  uns  selbst- 


1)  Ebenso  wie  im  Vedänta;  s.  (^amkara  zu  dem  Brahma- 
süü-a  Tl.  2.  12:  „Alles  zusammen  könnte  nur  die  Grösse  eines 
■einzigen  Atoms  haben." 

2)  Sütra  V.  87,  88,  Yiju.  zu  I.  62. 

3)  Zu  Sütra  I.  62. 


—    239    — 

verständlicli  in  der  Yoga-Philosopliie  wieder,  ist  aber  im 
übrigen  das  specielle  Eigenthum  der  Sänikbya- Schule 
geblieben ;  auch  im  Vedänta  wird  sie  nicht  anerkannt i). 
Ihre  älteste  Erwähnung  findet  sich  Katha  Upanishad 
IV.  8  und  Maitri  Up.  EL  2  2). 

Aus  den  Grundstoffen  entstehen  die  groben  Elemente 
(sthüla-hhüta  ^  mahä-hhüta ,  auch  bloss  bhüta,  vigesha)^)  in 
folgender  Weise.  Ohne  irgend  eine  Verbindung  einzu- 
gehen, nur  durch  die  Urmaterie  gestärkt  *),  entwickelt  sich 
der  Ton-Grundstofi"  zu  dem  groben  Element  Aether  (äkäga, 
Jcha);  aus'  der  Verbindung  des  Ton-Grundstoffs  mit  dem 
Gefülils-Grundstoff  geht  die  Luft  (väyu)  hervor;  durch  das 
Hinzutreten  des  Farben-Grundstoffs  entsteht  das  Feuer 
(tejas)^  durch  das  des  Gesclunacks-Grundstoffs  das  Wasser 
(ap),  durch  das  des  Geruchs-Grundstoffs  die  Erde  (prthivi)  ^). 
Diese  fünf  Elemente  vermischen  sich,  um  die  materielle 
Welt  zu  bilden  und  wirken  in  dieser,  indem  ein  jedes 
durch  Bethätigung  seiner  besonderen  Eigenschaft  die  vier 
anderen  unterstützt.  Das  Element  Erde  ist  bei  der  Ent- 
stehung der  Produkte  die  allgemeine  Grundlage  (dliärana), 
das  Wasser  wirkt  befeuchtend  und  befruchtend  (kledana), 
das  Feuer,  resp.  das  Licht  und  die  Wärme,  reifend  (päcaha)^ 
die  Luft  trocknend  (goshana)  und  der  Aether  dadurch,  dass 
er  für  alle  Dinge  den  Raum  giebt  (avakäca-dänena)  '^). 

Bei  dieser  Gelegenheit  ist  zu  bemerken,  dass  die  S  ä  m  - 
k  h  y  a  -  Lehre  (in  LTebereinstimmung  mit  dem  Mimämsä-, 
Vedänta-  und  Yoga- System  und  vielleicht  unter  An- 
eignung eines  ihr  ursprünglich   fremden  Gedankens)  nicht 


1)  Vgl.  Deusseu  bei  Weber,  Indische  Studien  XVII.  160. 

-)  Vgl.  Regnand,  Materiaux  pour  servir  ä  l'histoire  de  la 
Philosophie  de  l'Inde  IL  31,  32. 

^)  Die  weiteren  Namen  in  der  Liste  Sämkhya-krama-dipikä 
Nr.  33  (vikära,  cikrti,  tanu,  vigraha,  cänta-ghora-müdlia)  sind  keine 
wirklichen  Synonyma. 

^)  S.  S.  2.34. 

^)  Sämkhya-tattva-kaumudi  zu  Kärikä.22. 

^)  Sämkhya-krama-dipikä  Nr.  32. 


—     240     — 

nur  das  Licht,  sondern  auch  dessen  Gegentheil,  die  Finster- 
niss,  für  etwas  reales  erklärt;  ihre  Anhänger  suchen  die 
vernünftige  Anschauung  derVai9eshika-Nyäya-  Philo- 
sophie, nach  der  die  Finsterniss  nichts  anderes  als  die 
Negation  des  Lichtes  ist,  dadurch  zu  widerlegen,  dass  sie 
behaupten,  die  Finsterniss  werde  als  eine  schwarze  Farbe 
oder  gar  Substanz  wahrgenommen,  und  dass  sie  diesen 
Satz  durch  allerlei  scholastische  Gründe  vertheidigen  ^). 

Die  aus  den  fünf  groben  Elementen  gebildete  an- 
organische Welt  heisst  technisch  anugraha-sarga  ,die 
Schöpfung  [der  Objekte]  zu  Gunsten  [der  Subjekte]'  2),  — 
eine  Bezeichnung,  die  das  Yerhältniss  wiederspiegelt,  welches 
gewöhnlich  durch  die  Gegenüberstellung  von  bhogya  ,das 
zu  geniessende'  und  bhoktar  ,Geniesser'  zum  Ausdruck  ge- 
bracht wird. 

Zwischen  der  anorganischen  und  der  organischen  Natur 
besteht  eine  unüberbrückbare  Kluft;  denn  wenn  auch  die 
Materie  in  der  letzteren  aus  denselben  Elementen  be- 
steht, wie  in  der  ersteren,  so  besitzt  doch  jedes  lebende 
Wesen  etwas,  das  nun  und  nimmermehr  aus  den  ftinf 
Elementen  hervorgehen  kann :  den  Geist,  die  Seele.  Wenn 
der  Geist  eine  dem  organischen  Körper  wesentliche  Eigen- 
schaft wäre,  so  „würde  es  für  die  Gesammtheit  [der  Lebenden] 
„keinen  Tod,  keinen  Tiefschlaf  und  keine  [Ohnmacht] 
„geben.  Denn  Tod,  Tiefschlaf  und  [Ohnmacht]  bedeute/i';;. 
„die  Ungeistigkeit   des   Körpers,   und    diese   könnte  nicht 


1)  Anir.  und  Vijii.  zu  Sütra  I.  62. 

-)  Wenigstens  nach  Sämkhya-krama-dipikä  Nr.  71 ,  wo  gesagt 
ist,  dass  der  (im  Tattvasamäsa  Sütra  19  genannte)  anugraha-sarga 
durch  die  Entstehung  der  Aussendinge  aus  den  fünf  feinen  Elementen 
zu  Stande  komme.  Inder  P  u  r  ä  n  a  -  Literatur  wird  anugraha-sarga 
mit  pratyaya-sarga  verwechselt,  unter  welchem  Terminus,  wie  wir 
weiter  unten  sehen  werden,  die  vier  Zustände  des  Nichtwissens, 
des  Unvermögens,  der  Befriedigung  und  der  Vollkommenheit  zu- 
sammengefasst  werden.  S.  die  Belege  in  Wilson' s  Uebersetzung 
desVishnu  P u  r  ä n a  (herausgegeben  von  F.  E.  Hall)  I.  76  Anm., 
wo  übrigens  die  Verwechselung  der  Worte  nicht  erkannt  ist. 


—    241     —  ^ 

„eintreten,  wenn  der  Geist  dem  Körper  wesentlich  wäre, 
„da  das  Wesen  eines  Gegenstandes  so  lange  währt  als 
„dieser  selbst i)." 

In  dem  folgenden  Kapitel  haben  wir  uns  zunäclist 
mit  den  ungeistigen  Bestandtheilen  der  organischen  Körper 
und  ihrer  Funktionsweise  zu  beschäftigen. 


1)  Vijii.  zu  Sutra  III.  21.  Ueber  die  weitere  Polemik  der 
Sämkhya- Schriften  gegen  den  Grundsatz  der  Materialisten,  dass 
der  Geist  nichts  von  dem  Körper  verschiedenes  sei,  sondern  durch 
die  Vermischung  der  fünf  Elemente  entstehe,  ist  schon  oben  S.  125 
Anm.  gehandelt  worden. 


Garbe,  Sämkhya-Philosophie.  16 


n.    Physiologie. 


1.    Der  Organismus  im  Allgemeinen. 

Die  höhere  und  niedere  Organisation  bedeutet  keine 
principielle  Verschiedenheit  der  Leiber.  Alle  Körper,  in 
denen  eine  Seele  wohnt,  d.  h.  die  der  übermenschlichen 
Wesen,  der  Menschen,  Thiere  und  Pflanzen,  sind  aus  den 
gleichen  Bestandtheilen  zusammengesetzt.  Wenn  auch  die 
Pflanzen  nicht  die  Fähigkeit  Aussendinge  wahrzunehmen, 
sondern  nur  ein  innerliches  Bewusstsein  besitzen  (antali- 
sainj'fia),  wenn  sie  auch  in  rein  passiver  Weise  zum  Aufent- 
halte von  Seelen  dienen,  die  bestimmte  Vergehen  früherer 
Existenzen  abzubüssen  haben,  und  nicht  selbst  zu  handeln, 
d.  h.  aufs  neue  Verdienst  und  Schuld  anzuhäufen  ver- 
mögen, so  haben  sie  doch  einen  Körper  so  gut  wie  Menschen 
und  Thiere;  denn  in  gleicher  Weise,  wie  der  animalische 
Leib,  wächst  auch  der  Pflanzenleib  und  hat  ein  Ziel  seines 
Wachsthums;  wie  der  animalische  Leib  nach  dem  Tode 
in  Verwesung  übergeht,  so  verdorrt  oder  verfault  auch 
der  Pflanzenleib  nach  seiner  Zerstörung  ^). 

Die  organische  Welt  (bhüta-sarga,  bliautika-sarga^dhätu- 
samsarga)  2)  wird  gewöhnlich   in   drei  Haupttheile  zerlegt, 


1)  Siitra  V.  122—124  (121—123  Vijfi.).  Vgl.  auch  Vijn.  zu 
Sütra  VI.  7 ,  wo  Gräser  und  Bäume  mit  Thieren ,  Menschen  und 
Göttern  vollständig  coordinirt  sind,  und  den  Sämkliya- Abschnitt 
im  Mahäbhärata  XII.  6830—38,  in  dem  freilich  abweichend  vom 
System  den  Vegetabilien  auch  äussere  Sinne  zugeschrieben  werden. 

2)  Tattvasamäsa  Sütra  21 ;  vgl.  Sämkhya-krama-dipikä  Nr.  72 
am  Schluss. 


—     243     — 

in  das  Reich  der  Götter,  Menschen  und  Thiere  (unter  Ein- 
schliessung  der  Pflanzenwelt)  ^) ;  doch  findet  sich  auch  die 
folgende,  von  der  Entstehungsart  ausgehende  Eiutheilung 
in  sechs  Erlassen,  von  denen  freilich  die  Hälfte  dem  land- 
läufigen Aberglauben  auf  Rechnung  zu  setzen  sind:  die 
Wesen  sind  entweder  1)  aus  der  Hitze  geboren  (i7shma-ja), 
wie  Moskitos  und  andere  Insekten,  2)  aus  dem  Ei  (anda- 
ja)^  wie  Vögel  und  Sclilangen,  3)  aus  dem  Mutterschooss 
(jaräyu-ja)^  wie  Menschen  u.  s.  w.,  4)  aus  dem  Keim  (vd- 
hhij-ja)^  wie  Bäume  und  Pflanzen,  ö)  durch  den  blossen 
Willen  geschaffen  (samkalpa-ja) ^  wie  Sanaka,  Manu 
und  andere,  oder  6)  durch  die  Benutzung  der  zauberischen 
Kraft  von  Sprüchen,  Kräutern  und  dergleichen  ins  Leben 
gerufen  (sämsiddliika)  -). 

Ausser  dem  grob-materiellen  Körper,  der  gewöhnlich 
(präyacah)  von  Vater  und  Mutter  erzeugt  wird  und  unter 
allen  Umständen  vergänglich  ist  •^),  besitzt  jedes  organische 
Wesen  einen  feinen  oder  inneren  Körper,  der  zusammen 
mit  der  Seele  aus  einem  groben  Leibe  in  den  anderen 
zieht.  Dieser  innere  Körper,  welcher  Sitz  und  Ursprung 
aller  derjenigen  Zustände  und  Funktionen  ist,  die  wir  als 
psychische  zu  bezeichnen  pflegen,  wird  nach  der  Säm- 
khya- Lehre  durch  die  Buddhi,  den  Ahamkära,  das 
M  a  n  a  s ,  die  zehn  Indriya's  und  die  fünf  feinen  Elemente 
gebildet.  Bevor  wir  ihn  als  Ganzes  ins  Auge  fassen,  sind 
die  einzelnen  Organe,  aus  denen  er  sich  zusammensetzt, 
in  der  angeblichen  Reihenfolge  ihrer  Entstehung  zu 
betrachten. 


1)  Kärikä  53,  Sütra  UI.  46. 

')  Sütra  V.  111.  Ueber  die  weitere  Klassificirung  der  Unter- 
abtheiltuigen ,  die  nicht  wichtig  genug  ist  um  hier  reproducirt  zu 
werden,  handeln  die  Commentare  zu  Kärikä  53  und  Sütra  III.  46, 
Sämkhya-krama-dipikä  Nr.  72,  Colebrooke,  Mise.  Ess.^  I.  258. 
Wegen  der  correspondirenden  Anschauungen  im  Vedänta  vgl. 
Deussen,  S.  257—259. 

3)  Kärikä  89,  Sütra  III.  7. 

16* 


244 


2.    Die  Buddhi. 

Das  erste  der  inneren  Organe  ist  das  der  Unter- 
scheidung, der  Feststellung,  des  Urtlieils  und  der  Ent- 
schliessung  (adliyavasäya)  ^).  Es  führt  den  Namen  huddhi 
,Verstand',  doch  darf  die  etymologische  Wortbedeutung 
nicht,  wie  häufig  geschehen  ist,  zur  Uebersetzung  des 
Terminus  gebraucht  werden,  da  wir  uns  unter  ,V erstand' 
ein  geistiges  Vermögen  vorstellen  und  die  Buddhi 
ein  physisches  Ingrediens  des  Organismus  ist.  Sein- 
häufig  findet  sich  in  unsern  Texten  anstatt  huddhi  die 
Bezeichnung  malmt  ,das  grosse'  (nämlich  Princip,  tattvd) 
oder  masc.  mahän  ,der  Grosse'  2).    Diese  Benennung  gründet 


1)  Kärikä  23,  Sutra  I.  64,  H.  13,  Samkhya-krama-dipikä  Nr.  8. 

2)  Die  übrigen  Synonyma,  welche  die  Sänikhya-krama-dipikä 
in  Nr.  16  noch  anführt  (manas ,  mati,  brahmän,  khyäti,  prajnü, 
gruti,  dhrti,  prajnäna-samtati,  smrti,  dhi),  sind  der  Purän a- Lite- 
ratur entnommen  (s.  W  i  1  s  0  n '  s  Uebersetzung  desVishnu  Puräna, 
herausgegeben  von  F.  E.  Hall,  I.  30—32  Anm.)-  Diese  fingirte 
Synonymik  ist  in  letzter  Instanz  zum  Theil  gewiss  aus  Stellen  in 
älteren  Werken  abgeleitet  (wie  Maitri  Up.  VI.  31),  wo  das  Wort 
buddhi  in  Aufzählungen  von  Begriffen  neben  einigen  der  genannten 
Ausdrücke  steht. 

lieber  das  Wort  malmt  bemerkt  Wilson  au  dem  eben  an- 
geführten Orte  I.  33  Anm.:  "The  word  itself  suggests  some  rela- 
"tionship  to  the  Phoenician  Mot,  which,  like  Mahat,  was  the  first 
"product  of  the   mixture  of  spirit  and  matter,   and   the   first   rudi- 

"ment  of  creation they  agree  in  their  place  in  the  cosmo- 

"gony,  and  are  something  alike  in  name."  Dass  aber  die  Aehn- 
lichkeit  der  Worte  auf  einem  Zufall  und  die  Uebereinstimmung 
der  Ideen  auf  einem  Missverständniss  beruht,  lehrt  ein  Blick  in 
Movers'  Phönizier  I.  134.  Hier  erfahren  wir,  dass  die  Angabe 
Sanchoniathon's,  der  die  Mö;t  aus  der  Vereinigung  des  Geistes 
mit  der  Materie  entstehen  lässt  und  über  dieselbe  sagt:  tovzo 
xives  (pnoiv  iXvv,  oi  Ss  vSarcJSov?  ui^sws  arjxpiv,  durch  ein  Miss- 
verständniss der  egyptischeu  Quelle  zu  erklären  sei.  Mmt  heisst 
im  Egyptischen  Mutter  und  ist  Beiname  der  Isis,  weil  diese  die 
alle  Wiesen  aus  ihrem  Schoosse  hervorbringende  Erde  repräsentirt ; 


—     245    — 

sich  auf  die  hervorragende  Stellung,  welche  die  Buddhi 
im  Kreise  der  Organe  einnimmt.  Zwar  ist  die  Wirksam- 
keit aller  Organe  auf  ein  und  dasselbe  Ziel  gerichtet,  in- 
sofern sie  sämmtlich  der  Seele  dienen;  aber  es  besteht 
dabei  eine  förmliche  Stufenleiter  grösserer  und  geringerer 
Bedeutung.  Ueber  den  äusseren  Sinnen  und  den  Organen 
des  Handelns  steht  als  Oberorgan  das  M  a  n  a  s ,  der  innere 
Sinn,  über  diesem  der  Ahamkära,  über  dem  Aham- 
k  ä  r  a  die  B  u  d  d  h  i  i).  In  dem  Vergleiche  des  animalischen 
Organismus  mit  dem  Beamtenstaate  ist  die  Seele  der  in 
vollständiger  Passivität  verharrende  König  und  die  B  u  d  d  h  i 
der  alles  leitende  Minister.  Ein  solcher  Vorrang  kommt 
der  Buddhi  deshalb  zu,  weil  sie,  obwohl  sie  der  Thätigkeit 
der  übrigen  Organe  nicht  entrathen  kann,  in  unmittelbarer 
Verbindung  mit  der  Seele  steht  und  dieser  die  Objekte 
des  Erkennens  und  Empfindens  darbietet;  weil  ferner  die 
Wirksamkeit  der  übrigen  Organe  ohne  das  Eingreifen  der 
Buddhi  resultatlos  verlaufen  würde,  und  weil  die  Buddhi 
der  Sitz  sämmtlicher  früheren  Eindrücke,  die  unserm  Denken 
und  Handeln  die  Richtung  anweisen,  und  damit  auch  des 
Gedächtnisses  ist-).    Kurz,  wir  haben  in  der  Buddhi  das 


insbesondere  aber  hat  man  die  Isis  als  den  Theil  der  Erde  ge- 
dacht, welchen  der  Nil  überschwemmt  und  befruchtet. 

^)  Vgl.  hierüber  Sämkhya-tattva-kaumudi  zuKärikä23:  ^  Jeder 
^Mensch  des  praktischen  Lebens  gebraucht  [zuerst]  die  äusseren 
y Sinne,  dann  überlegt  er  [mit  dem  inneren  SinnJ ,  dann  setzt  er 
.[mit  dem  Ahamkära  den  betreffenden  Gegenstand]  zu  seiner 
^eigenen  Person  in  Beziehung:  .Ich  bin  dazu  berufen',  dann  ent- 
. scheidet  er  sich  [mit  der  Buddhi]:  ,Dies  ist  von  mir  zu  thun', 
„und  darauf  handelt  er,  wie  das  aus  dem  täglichen  Leben  bekannt 
^ist."  In  Wirklichkeit  aber  geht  der  Antrieb  zur  Thätigkeit  der 
Sinne  von  der  Buddhi  aus,  nach  der  sich  die  Sinne  richten,  ,wie 
die  Bienen  nach  ihrem  König'  (Bhojaräja  zu  Yogasütra  II.  54). 
Siehe  näheres  weiter  unten  in  §  6. 

-)  Säinkhya-tattva-kaumudi  zu  Kärikä  37,  Sütra  I.  71,  II.  40 
— 45  (von  Aniruddha  irrthümlich  auf  das  Manas  bezogen),  47, 
Vijn.  zu  11.  13,  Mahäd.  zu  II.  39. 


—     246     — 

eigentliche  Werkzeug  des  Denkens  zu  sehen  i),  und  des- 
halb wird  sie  auch  hie  und  da  mit  dem  in  der  Yoga- 
Philosophie  beliebten  -)  Ausdruck  citta  ,Denkorgan'  be- 
nannt %  Wie  die  B  u  d  d  h  i  dadurch ,  dass  sie  in  Folge 
ihres  Wirkens  der  Seele  zum  Empfinden  von  Freude  und 
Schmerz  verhilft,  die  unmittelbare  Veranlassung  des  Gre- 
bundenseins  ist,  so  bringt  sie  andererseits  auch  die  Er- 
kenntniss  des  Unterschiedes  zwischen  Geist  und  Materie 
zu  Wege  und  bewirkt  so  die  Erlösung  4). 

Wenn  auch  eine  unendliche  Verschiedenheit  hinsicht- 
lich der  Natur  der  einzelnen  Buddhi's  besteht,  so  lassen 
sich  doch  zwei  grosse  Kategorien  unterscheiden.  Allgemein 
betrachtet,  giebt  es  kein  zweites  Produkt  der  Materie,  in 
dem  das  Sattva  in  so  hohem  Grade  die  beiden  anderen 
Guna's,  insbesondere  das  Tamas,  an  Machtfülle  über- 
ragt, als  es  in  der  Buddhi  der  Fall  ist;  trotzdem  macht 
sich  auch  hier  ein  relatives  Vorwalten  entweder  des  Sattva 
oder  des  Tamas  in  entscheidender  Weise  geltend.  Wenn 
in  der  Buddhi  eines  Individuums  das  Sattva  so  viel 
als  möglich  von  der  Beimischung  des  Tamas  geläutert 
ist,  so  äussert  sich  dieser  Zustand  in  Tugend,  Erkenntniss, 
Gleichgiltigkeit  gegen  die  Sinnenwelt  und  übernatürlicher 
Kraft.  Die  oft  erwähnten  wunderbaren  Kräfte,  von  denen 
namenthch    in    der    Y  o  g  a  -  Pliilosophie    gehandelt    wird, 


1)  Sütra  I.  71,  Vijn.  zii  II.  43. 

2)  Vgl.  Paul  Markus,  Die  Yoga-Philosophie  S.  28. 

3)  Sutra  I.  58,  VI.  31,  Vijn.  zu  I.  64',  II.  43,  Mahäd.  zu  III. 
26,  74.  Da  das  Denken  (manana)  alle  Funktionen  der  Buddhi 
in  sich  begreift,  wird  diese  auch  vereinzelt  (Sutra  I.  71,  II.  40) 
mit  dem  Namen  des  dritten  luneuorgaus  tnanas  bezeichnet.  Ferner 
wird  recht  häufig  buddhi  in  übertragener  Bedeutung  zur  Benennung 
des  dreifachen  G-esammt-Innenorgans  (antahkarana-sämänya)  ver- 
wendet, also  der  hervorragendste  Theil  zur  Bezeichnung  des  Ganzen. 
In  diesem  Sinne  steht  auch  einmal  (^Sütra  VI.  62)  ahainkära.  Vgl. 
hierüber  Vijn.  zu  I.  64  (S.  82  meiner  Uebersetzung)  und  Hall, 
Rational  Refutation  p.  11  Anm. 

*)  Kärikä  37,  Sütra  I.  58. 


—    247     — 

sind')  eine  derBuddhi  wesentliclie  Eigenthümliclikeit, 
die  nur  durch  die  beiden  anderen  Guna's  , verhüllt'  wird. 
Wer  durch  erfolgreiche  Ausübung  der  Yoga-Praxis  die 
übernatürlichen  Kräfte  erlangt,  gewinnt  also  nach  dieser 
Anschauung  keinen  neuen  Besitz,  sondern  räumt  nur  die 
Hindernisse  hinweg,  die  der  Bethätigung  der  einem  Jeden 
ureigenen  Fähigkeiten  im  Wege  stehen.  Gelangt  in  der 
Buddhi  anstatt  des  Sattva  das  Tamas  zu  vorwiegen- 
dem Einfluss,  so  äussert  sich  dieser  in  Lastei'haftigkeit 
sowie  als  Mangel  der  Erkenntniss,  der  Gleichgiltigkeit  und 
der  übernatürlichen  Kräfte.  Es  werden  also  an  der  Buddhi 
acht  verschiedene  Seiten  als  besonders  bemerkenswerth 
hervorgehoben,  von  denen  vier  die  Natur  des  Sattva 
und  vier  die  des  Tamas  repräsentiren.  Diese  acht  Seiten 
werden  als  Formen  (rüpa) ,  Attribute  (clharma)^  Produkte 
(Tcärya)  und  Zustände  (bhäva)  der  Buddhi  bezeichnet-). 
Sieben  derselben ,  vor  allem  Tugend  und  Lasterhaftigkeit 
(oder  Verdienst  und  Schuld,  dharmädharmau)  verstricken 
die  Seele  in  das  Weltdasein;  nur  eine,  die  Erkenntniss, 
führt  zur  Erlösung  ■^). 

Wenn  auch  das  Wort  buddhi  in  der  Sanskritliteratur 
sehr  oft  zur  Bezeichnung  verschiedener  geistiger  Fähig- 
keiten und  Thätigkeiten  dient,  so  ist  doch  seine  Verwen- 
dung im  Sinne  eines  bestimmten  Organs  aus- 
schliesslich auf  das  Sämkhya- System  beschränkt ;  wo  wir 
das  Wort  in  dieser  Bedeutung  finden,  liegt  eine  Beein- 
flussung durch  Sämkhya- Lehren  vor.  Die  Buddhi 
begegnet  uns  bereits  in  der  Upanishad- Literatur  da,  wo 
wir  auch  sonst  das  Eindringen  von  Sämkhya- Anschau- 
ungen constatiren  konnten,  d.h.  in  der  Katha,  Pra9na, 
Maitri,  ^"^etä^vatara  und  in  späteren  Upanishad's. 


^)  Nach  VijS.  zu  Sütra  II.  15  im  Gegensatz  zu  Kärikä  4-3. 

2)  Kärikä  23,  40,  48—45,  Sütra  II.  14,  15,  V.  25,  Sämkhya- 
krama-dipikä  Nr.  9 — 15,  Coleb rooke,  Mise.  Ess. ^  I.  262,  263, 
Röer,  Lecture  p.  15,  16. 

3)  Kärikä  63,  Sütra  in.  73. 


—     248     — 

Dasselbe  gilt,  um  dies  gleich  im  Zusammenhang  zu 
erledigen,  von  dem  zweiten  inneren  Organ  der  Sämkhya- 
Philosophie,  dem  Ahamkära^).  Die  Erwähnung  des 
Ahamkära  als  eines  speciellen  Organs  mit  bestimmter 
Funktion  ist  ebenso  ein  untrügliches  Zeichen  dafür,  dass 
der  Verfasser  des  betreffenden  Werkes  unter  dem  Einfluss 
unseres  Systems  gestanden  hat  -).  Gehen  wir  nun  zur 
Betrachtung  dieses  Organs  über. 

3.    Der  Ahamkära. 

Wenn  Wilson,  Sänkhya  Kärikä  S.  92  sagt,  dass  der 
Ahamkära  einen  physischen,  keinen  metaphysischen 
Charakter  hat,  so  trifft  dies  mit  Bezug  auf  die  anderen 
Organe,  die  hier  behandelt  werden,  genau  so  zu;  aber  es 
ist  von  Interesse  zu  sehen,  dass  die  wahre  Natur  dieser 
Principien  zuerst  nur  an  einem  einzigen  unter  ihnen 
erkannt  worden  ist.  Eine  richtige  Definition  des  oft  miss- 
verstandenen Ahamkära  hat  H.  Jacobi,  Philosophische 
Monatshefte  XIII.  420  gegeben ,  der  ihn  als  das  Princip 
bezeichnet,  „vermöge  dessen  wir  uns  für  handelnd  und 
leidend  etc.  halten,  während  wir  selbst,  d.  h.  unsere  Seele, 
davon  ewig  frei  bleiben". 

Die  Funktion   des  Ahamkära   ist   also   die  Hei-vor- 


^)  S.  Jacob 's  Coucordauce  unter  den  beiden  Worten,  Re- 
gnaud,  Materiaux  11.91,  92,  96,  Deussen,  System  des  Vedäuta 
S.  357. 

*)  Dass  in  der  Chändogya  Up.  VII.  25.  1  aharnkära  eine  ganz 
andere  Bedeutung  hat,  als  im  S  ä  m  k  h  y  a  -  System ,  ist  schon  oben 
S.  17, 18  ausgeführt  worden.  —  Merkwürdig  ist  die  von  Hall,  Rational 
Refvitation  p.  13  Anm.  citirte  Stelle  aus  der  Nyäya-sütra-vi-tti 
p.  198:  ahamharo  ^ham  ity  abhimünah,  sa  ca  carirädi-vishayako 
mithyä-jndnain  ucyate\  denn  hier  finden  wir  die  beiden  eng  zu- 
sammengehörigen Termini  der  Sä  m  khya- Schule  ahcunkdra  und 
abhimäna  neben  einander;  ein  weiterer  Beleg  für  die  von  mir 
S.  119  Anm.  1  behauptete  Abhängigkeit  der  Nyäya-  von  der 
S  ä  m  k  h  y  a  -  Philosophie. 


—     249     — 

bringung  von  Wahnvorstellungen  (abhimänaj,  und  zwar 
dei;jenigen  Wahnvorstellungen,  welche  die  Idee  des  Ich  in 
rein  materielle  Dinge  und  Processe  hineintragen  ^).  Solcher 
Art  sind  z.  B.  die  Gedanken  „I  c  h  höre,  fühle,  sehe,  schmecke, 
rieche,  ich  besitze,  bin  reich,  mächtig,  ich  geniesse,  er 
ist  von  mir  getödtet  worden,  ich  werde  von  den  starken 
Feinden  getödtet  werden"  -) ;  denn  alle  derartigen  Vor- 
stellungen verwechseln  unsern  Leib  und  unsere  Organe 
mit  dem  von  beiden  grundwesentlich  verschiedenen  Ich, 
der  Seele. 

Bei    der  Betrachtung    der  von  dem  Ahamkära  her- 
vorgebrachten Produkte  lernten  wir  S.  236  drei  verschiedene 
Formen  dieses  Organs,    die    durch   das  Vorwalten  je  eines 
der  drei  G  u  n  a '  s  bedingt  sind,  kennen,  unter  den  Namen 
vailcrta  (vaihärika)^  taijasa  und  hhütädi.   Diese  drei  Formen 
bethätigen  aber  ihren  speciellen  Charakter  nicht  nur  kos- 
misch durch  die  Erzeugung  neuer  Principien,  sondern  auch 
in  der  Handlungsweise  der  Individuen.   Eine  der  jüngsten 
Quellen  des  S  ä  m  k  h  y  a  -  Systems  '■^)  erhöht  die  Zahl  dieser 
im    Handeln    sich    äussernden    (karmätman)    Formen    des 
Ahamkära   auf  fünf,   durch  Hinzufügung  zweier  in  der 
ganzen    übrigen   Literatur   unbekannter  Arten,   des   sänu- 
mäna  und   niranumäna,    d.  h.    des  ,schlussfolgernden'   und 
,niclit-schlussfolgernde]i'  (?)  Ahamkära.     Es  ist  das  eine 
spätere   Ergänzung,    die  jedoch,    wie    wir   aus    den  gleich 
folgenden  Erklärungen   sehen  werden,    aus   der  Natur  des 
individuellen  Verhaltens   ihre  Berechtigung   ableitet.     Der 
unter   dem    vorwiegenden   Einfluss   des    Sattva   stehende 
vaihta- Ah amkäva    ist    der   Thäter    der    guten   Werke 
(cubha-harma-kartar);    der    toyasa- Ahamkära,    in   dein 
das   Rajas    dominirt,    ist   der  Thäter    der    bösen   Werke 
(aquhha-karma-kartar)\    der   von   Tamas  erfüllte  hlmtädi- 
Ahamkära  ist  der  Thäter  der  heimlichen  Werke  (nigüdha- 


1)  Kärikä  24,  Sütra  I.  72,  II.  16. 

2)  Samkliya-krama-dipikä  Nr.  17,  43;  Vijn.  zu  Siitra  I.  19,  141. 

3)  Tattvasamäsa  Sutra  13  und  Sämkhya-krama-dipikä  Nr.  18,  61. 


—     250    — 

karma-kartar) ,  die  wahrscheiiilicli  ihrer  Qualität  nach 
ebenso  wohl  gut  als  böse  sein  können  i);  der  sänumäna- 
Ahamkära  ist  der  Thäter  dessen,  was  gut  aber  thöricht 
ist  ((^ubha-müdlia-kartar) ^  der  ?^^Van^^?na?^a- Aha mkära 
dessen,  was  böse  und  thöricht  ist  (acubha-müdha-kartar)  2). 
Obwolil  unsere  Quelle  nichts  daniber  bemerkt,  so  dürfen 
wir  doch  aus  dem  Zusammenhang  der  Anschauungen 
schliessen,  dass  bei  der  Hinzufügung  der  beiden  letzten 
Formen  die  Vorstellung  geherrscht  hat,  dass  der  sänumäna- 
Zustand  des  Ahamkära  auf  einem  gleichmässigen  Prä- 
ponderiren  des  Sattva  und  Tamas  über  das  Rajas, 
der  w«ra?m??iana-Zustand  auf  einem  ebenso  gleichmässigen 
Präponderiren  des  Rajas  und  Tamas  über  das  Sattva 
beruhe. 

Wichtiger  als  diese  ganze  Schematisirung  ist  für  uns 
die  ihr  zu  Grunde  liegende  Idee,  dass  der  Ahanikära 
das  innere  Thatorgan  ist  3)  und  als  solches  seine  Stelle 
zunächst  der  Buddhi,  dem  Denkorgan  hat.  Wie  — 
von   allen  Verschiedenheiten  im  Einzelnen   abgesehen  — 


1)  Ballantyne  sagt  in  der  Uebersetzung  der  Sämkhya-krama- 
dipikä  S.  33  unten  "producer  of  thiugs  good  bat  obscure". 

-)  Es  ist  nicht  recht  verständlich,  warum  Ballantyne  trotz 
dieser  deutliehen  Erklärungen  der  Sämkhy a-krama-dipikä  (in 
Nr.  61)  auf  S.  57  seiner  Lecture  in  Nr.  95  die  folgenden  Be- 
trachtungen über  die  Bedeutung  von  sänumäna  und  niranumana 
anstellt:  "We  can  get  no  account  anywhere  of  this  application  of 
"these  terms.  Self-cousciousness  'not  associated  with  iuference' 
"might  possibly  refer  to  the  simple  consciousness  of  existeuce; 
"whilst  the  consciousness  'associated  with  inference^  might  refer 
"to  the  notion  of  the  Egoist  who  has  reasoned  himself  into  the 
"belief  that  he  himself  constitutes  all  that  is;  but  then  the  diffi- 
"culty  would  remain  of  tracing  the  connexion  between  this  sense 
"and  the  functions  assigned  to  these  aspects  of  self-consciousness 
"under  No.  61".  Woher  die  wunderlichen  Bezeichnungen  stammen, 
ist  freilich  einstweilen  dunkel;  dass  sie  aber  niemals  einen  von  dem 
angegebenen  wesentlich  abweichenden  Sinn  gehabt  haben  können, 
lehrt  der  Zusammenhang,  in  dem  sie  auftreten. 

3)  Sütra  VI.  54. 


—     251     — 

die  B  u  d  d  h  i  ihren  Charakter  hauptsächlich  dem  lichthaften 
Sattva,  so  verdankt  der  Ahamkära  den  seinigen  im 
wesentlichen  dem  anregenden  R  a  j  a  s. 

Wenn  wir  bedenken,  dass  nach  der  Lehre  der  S  ä  ni  - 
khja -Philosophie  die  moralische  Qualität  des  Handelns 
der  Wesen  von  der  jeweiligen  Mischung  der  drei  Guna's 
in  dem  Ahamkära  abhängig  ist  und  dass  Wollen  und 
Sichentschliessen  an  sich  keine  geistigen,  sondern  physische 
Funktionen  sind,  so  sollten  wir  meinen  hier  einen  mecha- 
nischen Determinismus  vor  uns  zu  haben.  Denn  ein 
Handeln,  das  durch  das  LFeberwiegen  einer  bestimmten 
Substanz  im  inneren  Organ  in  diese  oder  jene  Richtung 
gedi'ängt  wird,  ist  doch  rein  instinktiv.  Dieser  Annahme 
aber  widerstreitet  die  Thatsache,  dass  die  Sämkhya- 
Philosophie  wie  jedes  andere  indische  System  das  Indivi- 
duum für  seine  Handlungsweise  verantwortlich  macht  und 
dass  sie  zum  Zwecke  der  Erlösung  eine  Reihe  von  An- 
forderungen stellt,  deren  Erfüllung  nur  unter  der  Voraus- 
setzung der  Willensfreiheit  möglich  ist.  Hier  liegt 
also  ein  offenbarer  Widerspruch  zwischen  einer  charak- 
teristischen S  ämkhya- Lehre  und  den  allgemein-indischen 
in  das  System  übernommenen  Anschauungen  vor;  —  ein 
Widerspmch ,  der  in  unseren  Texten  nicht  gelöst  wird 
und  vielleicht  den  Vertretern  des  Systems  selbst  nicht 
völlig  zum  Bewusstsein  gekommen  ist. 

Das  Handeln  wird  in  neuerer  Zeit  i)  aus  fünf  ver- 
schiedenen Quellen  (karma-yoni)  abgeleitet:  1)  aus  der 
Energie  (dhrti)  im  Allgemeinen,  mit  der  etwas  einmal 
beschlossenes  durchgeführt  wird;  2)  aus  der  rituahstischen 
Frömmigkeit  (craddhä)\  3)  aus  dem  Verlangen  nach  zu- 
künftigem Heil    [sukhä  sie!)-);    4)    aus    dem    Mangel    des 


1)  Nach  Tattvasamasa    Sutra  11   und    Sämkhya-krama-dipikä 

Nr.  59. 

2)  Das  sich  freilich  auch  nach  den  Erläuterungen  der  Sätn- 
khya-krama-dipikä  wenig  von  dem  vorangehenden  Motiv  unter- 
scheidet. 


—     252     — 

Strebens  nach  Erkenntniss  (avividishä),  womit  die  Lust  an 
sinnlichen  Freuden  gemeint  ist;  5)  aus  dem  Streben  nach 
Erkenntniss  (vimdishä). 

4,    Das  Mauas  oder  der  innere  Sinn. 

Das  dritte  innere  Organ  ist  aus  dem  Ahamkära 
zusammen  mit  den  äusseren  Sinnen  hervorgegangen  und 
vermittelt  die  von  diesen  dargebotenen  Objekte  dem  Aham- 
kära und  der  B  u  d  d  h  i.  Seine  Name  manas  ist  von 
den  Commentatoren  oft  mit  äntaram  indriyam  .innerer 
Sinn'  erklärt  und  am  besten  so  zu  übersetzen.  Das  Wort 
bezeichnet,  wie  in  allen  philosophischen  Systemen  Indiens, 
so  bereits  in  den  ältesten  Upanishad's  i)  ein  Organ;  im 
Sämkhya-  System  aber  ist  seine  Bedeutung  enger  begrenzt 
als  irgendwo  anders.  Wenn  die  Sämkhya-Lehrer  dem 
Manas  nicht  die  Funktionen  des  Wünschens  und  des 
zweifelnden  Ueberlegens  (samhalpa-vikalpau)  zuschrieben  -), 
so  würde  es  lediglich  ein  an  sich  indifferentes  Central- 
organ  sein,  das  seinen  jeweiligen  Charakter  den  Funktionen 
der  äusseren  Sinne  verdankt,  denen  es  sich  in  dem  Augen- 
blick angleicht,  wenn  diese  in  Thätigkeit  treten.  Ohne 
diese  Verbindung  mit  dem  inneren  Sinn  können  weder 
die  Wahrnehmungssinne  noch  die  Thatsinne  fanktionu-en. 
Die  Anpassungsfähigkeit  des  Manas  wird  dem  wechseln- 


^)  Und  schon  dort  gilt  als  eine  seiner  vorzüglichsten  Funk- 
tionen das  Wünschen  (samJcalpa) ;  vgl.  Regnaud,  Materiaux  IL 
85—91,  93,  94. 

2)  S.  unter  anderm  Sarva-dar^ana-samgraha  (Ausgabe  in  der 
Bibl.  Ind.)  p.  148,  17,  Anir.  und  Vijii.  zu  Sütra  II.  30,  Sämkhya- 
krama-dipikä  Nr.  58.  Wenn  die  Sämkhya-tattva-kaumudi  zu 
Kärikä  27  samhalpaka  als  ,bestimmend'  fasst  und  meint,  dass  es 
die  Funktion  des  inneren  Sinnes  sei,  die  von  den  äusseren  Sinnen 
nicht  in  voller  Deutlichkeit  erfassten  Gegenstände  nach  ihren 
charakteristischen  Eigenthümlichkeiten  zu  unterscheiden,  so  ist 
dies  sicher  unrichtig;  denn  Väcaspatimi9ra  schreibt  damit  dem 
Manas  die  Thätigkeit  der  Buddhi  zu. 


—    253    — 

den  Benelunen  eines  Mannes  verglichen,  der  sicli  beim 
Verkehr  mit  einer  Geliebten  verliebt,  mit  einer  gleichgiltigen 
Person  gleichgiltig  und  mit  einer  andern  noch  anders 
zeigt  >).  Wenn  auch  die  Lehre  der  Vai9eshika-Ny äy  a- 
Philosophie,  dass  das  Manas  ein  Atom  sei,  von  unserem 
den  Begriff  des  Atoms  nicht  anerkennenden  System  be- 
stritten wird,  so  lehrt  dieses  doch,  dass  das  Manas  eine 
geringe  Ausdehnung  besitze  und  nicht  etwa  den  ganzen 
Körper  erfülle.  .  Dies  wird  damit  begründet,  dass  ver- 
schiedene Empfindungen  nicht  gleichzeitig  entstehen. 
Wenn  zu  derselben  Zeit  im  Kopf  eine  andere  Empfindung 
wahrgenommen  wird,  als  im  Fuss,  so  liegt  nur  eine  schein- 
bare Gleichzeitigkeit,  in  der  That  aber  ein  unmerkliches 
Aufeinanderfolgen  vor  ^). 

5.    Das  innere  Organ  als  Einheit. 

Wiewohl  Buddhi,  Aharakära  und  Manas  sich 
in  der  geschilderten  Weise  specifisch  von  einander 
unterscheiden  =^)  und  in  der  Aufzählung  der  Principien 
ausnahmslos  als  besondere,  weil  successive  entstandene, 
Wesenheiten  gerechnet  werden,  finden  wir  sie  in  unseren 
Quellen  doch  überaus  häufig  als  ein  einheitliches  inneres 
Organ  (antahharana)  zusammen  gefasst.  Ich  glaube  hierin 
einen  Einfluss  des  Vedänta- Systems  zu  erkennen,  für 
welches  es  nur  ein  —  gewöhnlich  manas  genanntes  — 
Innenorgan  giebt'').  Am  entschiedensten  tritt  für  die 
Einheitlichkeit  des  inneren  Organs  der  vedantistische  Ek- 
lektiker Vijüanabhikshu  ein 5) ;  er  meint,  dass  dasselbe 
nur  aus  Bequemlichkeit  nach  dem  Unterschiede  der  Funk- 
tionen als  ein  dreifaches  behandelt  werde  und  dass,  wenn 


1)  Kärikä  27,  Sütra  II.  26,  27. 

2)  Sütra  III.  14,  V.  69—71  mit  Aniruddha's  Commentar. 

3)  Kärikä  29,  Sütra  IL  30. 

*)  S.  Deussen,  System  des  Vedänta  S.  357. 
^)  Zu  Sütra  I.  64,  n.  16. 


—     254     — 

diese  drei  Formen  als  in  dem  Verhältniss  von  Ursache 
und  Produkt  zu  einander  stehend  bezeichnet  werden,  damit 
nur  der  Unterschied  dreier  Zustände  gemeint  sei,  ver- 
gleichbar den  drei  Zuständen  von  Same,  Spross  und  Baum 
oder  den  aus  einander  entstehenden  Absätzen  des  Rohres, 
das  doch  nichtsdestoweniger  ein  einheitliches  Ganzes  sei. 
Wenn  das  innere  Organ  nicht  bloss  seinen  Funktionen 
nach,  sondern  realiter  in  verschiedene  Theüe  zerfiele,  so 
würde  wegen  der  zahlreichen  Funktionen,  wie  Irrthum, 
Zweifel,  Schlaf,  Zorn  u.  s.  w.  noch  eine  viel  grössere  Zahl 
innerer  Organe  anzunehmen  sein.  Hiermit  aber  hat  Vi- 
jfiänabhikshu,  wie  auch  sonst,  eine  charakteristische 
Lehre  unseres  Systems  verwischt,  das  von  Hause  aus  die 
drei  inneren  Organe  als  zwar  zusammenhängend,  aber  doch 
verschiedengeartet  ansieht. 

Die  drei  Organe  werden  in  unseren  Texten  als  Einheit 
vorzugsweise  dann  behandelt,  wenn  ihre  Verscliiedenheit 
von  der  Seele,  ihre  Zugehörigkeit  zu  der  materiellen  Welt 
betont  wird. 

Dem  Gesammt-Innenorgan  (antahkarana-sämdnya)  ge- 
hören nach  der  Sämkhya -Lehre  diejenigen  Qualitäten 
an,  welche  in  der  V  a  i  9  e  s  h  i  k  a  -  und  N  y  ä  y  a  -  Philosophie 
der  Seele  zugeschrieben  werden :  Freude,  Schmerz,  Begierde, 
Abneigung  u.  s.  w.  1).  Die  Verwechslung  von  Seele  und 
Innenorgan,  die  in  unserm  System  als  das  am  schwersten 
zu  überwindende  Hinderniss  für  die  Erreichung  der  er- 
lösenden Erkenntniss  gilt,  —  d.  h.  der  landläufige  Irrthum, 
der  dem  Lmenorgan  geistige  Natur,  der  Seele  Thätigkeit 
und  Willen  zuschreibt,  —  wird  nach  der  Sämkhya- 
Lehre  durch  die  Nähe  verursacht,   in  der  das  Innenorgan 


1)  Sütra  VI.  62.  Eine  Entlelinimg  aus  dem  Yoga -System, 
in  Folge  deren  zum  Theil  specielle  Eigenthümlichkeiten  der 
Buddhi  als  ein  Besitz  des  Gesammt-Innenorgans  behandelt  werden, 
ist  die  Theorie  von  den  fünf  Affektionen  des  Innenorgans,  die 
,entweder  qualvoll  oder  nicht  qualvoll'  sind  (Erkenntnissprocess, 
Irrthum,  Einbildung,  Schlaf  und  Erinnerung) ;  Sutra  11.  33  =  Yoga- 
sütra  I.  5. 


—    255     — 

sich  bei  der  Seele  befindet.  Weil  die  Seele  ihr  Licht  auf 
das  Innenorgan  ausgiesst,  erscheint  allen,  denen  der  wahre 
Sachverhalt  unbekannt  ist,  das  Innenorgan  als  geistig  und 
die  Seele  als  handelnd,  d.  h.  als  wollend.  Dass  in  Wirk- 
lichkeit aber  kein  innerlicher  Zusammenhang  zwischen 
beiden  besteht  und  bestehen  kann,  wird  in  dem  letzten 
Abschnitt  dieses  Buches  erörtert  werden. 

Ueber  den  Sitz  und  Umfang  des  Innenorgans  handeln 
unsere  Quellen  nicht;  wir  lesen  nur,  dass  dasselbe  von 
,mittlerer  Ausdehnung'  (madhyama-parimdna)  sei ,  womit 
gesagt  sein  soll,  dass  es  weder  unendlich  klein  noch  un- 
endlich gross  ist  1).  Wenn  wir  die  Funktionen  überblicken, 
die  den  drei  inneren  Organen  zugeschrieben  werden,  und 
uns  dabei  gegenwärtig  halten,  dass  diese  Organe  für  rein 
physisch  erklärt  werden,  so  ergiebt  sich  —  wie  schon 
oben  S.  235  angedeutet  wurde  — ,  dass  das  Gesammt-Innen- 
organ  der  S  ä  m  k  h  y  a  -  Philosophie  in  dem  animalischen 
Organismus  genau  die  Stellung  einnimmt,  die  von  der 
modernen  Wissenschaft  dem  Nervensystem  angewiesen  ist. 
Ich  brauche,  wenn  ich  diese  Parallele  ziehe,  wohl  kaum 
hinzuzufügen,  dass  keiner  unter  den  Verfassern  der  Sä m- 
k  h  y  a  -  Schriften  eine  Ahnung  von  der  Physiologie  des 
Nervensystems  gehabt  hat.  Wenn  es  hierfür  noch  eines 
Beweises  bedürfte,  so  würde  er  darin  zu  finden  sein,  dass 
nach  der  Sämkhya-  Lehre  die  A  t  h  m  u  n  g  als  eine  Thätig- 
keit  oder  Wesensausserung  des  Gesammt-Innenorgans  zu 
betrachten  ist  ^). 

Der  Athem  (prcinaj  gilt  in  Indien  als  das  Lebens- 
princip ;  und  zwar  herrscht  allgemein,  schon  in  den  älteren 
Upanishad's,    die    Anschauung,    dass    er   den  ganzen 


1)  Vijn.  zu  I.  65. 

2)  Kärikä  29,  Sütra  II.  31.  Wenn  es  in  Sütra  V.  113  heisst, 
dass  der  Athem  ,aus  der  Kraft  der  Sinne  hervorgeht',  so  ist  dies 
eine  Erweiterung  der  oben  angegebenen  Theorie  auf  sämmtliche 
dreizehn  Organe,  die  sich  übrigens  schon  bei  Gaudapäda  zu 
Kar.  29  findet. 


—    256    — 

Körper    in    fünf   verschiedenen    Formen  durchdringe,    die 
unter  dem  Gattungsnamen  präna  zusammengefasst  werden. 
Diese  fünf  ,Lebenshauche'   (wie  man   wohl   am  besten  das 
Wort  übersetzen  wird)  führen  aber  daneben  noch  besondere 
Namen.      Der  eigenthche  Athem,   der  präna   xar    i^O'/hv, 
zieht  nach  Sämkhya-tattva-kaumudi  zuKärikä  29 
—    es    ist   dies    die    Quelle,   welche    in    der    Sämkhya- 
Literatur  die  Wirkungsgebiete  der   Lebenshauche  am  aus- 
führlichsten beschreibt  —  von  der  Nasenspitze  durch  das 
Herz  und  den  Nabel  bis  zu  den  grossen  Zehen ;   der  ,Ab- 
hauch'  (apäna)  wirkt  in  den  Halswirbeln,  im  Rücken,  in  den 
Beinen,  im  After  (von  wo  er  entAveicht),  in  den  Genitalien 
und  den  Rippengegenden;  der  ,Mithauch'  [samäna,  in  der 
indischen  Medicin  das  Princip  der  Verdauung)  im  Herzen, 
im  Nabel  und  in  allen  Gelenken ;  der  ,Aufhauch'  (udäna)  im 
Herzen,  Hals,  Gaumen,  Schädel  und  zwischen  den  Augen- 
brauen ;  der  ,Durclihauch'  (vyäna)  in  der  Haut  (als  ,das  Princip, 
welches  die  Cirkulation    der  Säfte  vermittelt  und  Schweiss 
und  Blut  in  Bewegung  setzt',  Petersburger  Wörterbuch)  ^). 
JohnDavies,  Bhagavadgltä  translated,  Introd.  p.  15, 
bemerkt   über    diese   Theorie,    freilich    unter   der   irrigen 
Annahme,  dass  sie  das  specielle  Eigenthum  der  Sämkhya- 
Philosophie   sei :     "These    inventions    are   not   more    crude 
"than  that   of  the   vital  spirits,    of  which   physicians  and 
"men  of  science  used  to  speak,   even  in  the  last  Century, 
"Tliey    denote   that   Kapila   had   a   dim   perception   of  the 
"fact   that   there   are    vital   forces    at   work  in  the  human 
"System  more  subtle  than  inanimate  matter." 

Wenn  der  Athem  nach  indischer  Anschauung  den 
ganzen  Organismus  durchströmt,  ihn  ernährend  und  er- 
haltend, so  lag  es  nahe  genug,  ihm  auch  den  grössten 
Einfluss  auf  die  Bildung  des  Körpers  zuzuschreiben; 
und  so  lehrt  die  Sämkhya- Philosophie,  dass  der  Athem 


! 


^)  Vgl.  noch  Gaudapäda  zu  Kar.  29,  Sämkhya-krama-dipikä 
Nr.  60;  Regnaud,  Materiaux  11.  43—78,  Deussen,  System  des 
Vedänta  353—56,  359—63. 


—    257     — 

zwar  nicht  unmittelbar,  aber  durch  die  Verbindung  mit 
der  Seele  —  oder  technisch:  unter  der  Leitung  der  mit 
ihm  verbundenen  Seele  —  das  den  Körper  bildende  Princip 
sei.  Dabei  ist  jedoch  nicht  zu  vergessen,  dass  die  , Leitung' 
(adhishthdna,  adMshthätrtva)  der  Seele  nicht  in  einer  aktiven 
Antheilnahme  besteht,  sondern  dass  mit  diesem  Worte 
lediglich  der  Gedanke  zum  Ausdruck  gebracht  werden  soll, 
dass  der  Körper  durch  den  Athem  um  der  Seele  willen, 
im  Interesse  der  Seele  gebildet  wird  ').  Da  die  Seele  dem- 
.,  nach  schon  von  dem  Augenblick  der  Vereinigung  des 
"■  Sperma  und  des  Ovulum  mit  dem  Athem  in  Verbindung 
steht,  so  ist  diese  Verbindung  die  Ursache,  die  aus  der  für 
sich  seienden  (hevala)  Seele  die  empirische  Seele  (jwa)  macht. 
I|  Wenn  auch  der  Begriff  der  empirischen  Seele  in  den  Texten 
gewöhnlich  dahin  erklärt  wird,  dass  die  Seele  durch  das 
Innenorgan,  die  Sinne  und  den  Körper  charakterisirt  (vi- 
gishta)  sei,  so  scheint  doch  der  Besitz  des  Athems  als  des 
deutlichsten  Merkmals  animalischen  Lebens  bei  dieser  Vor- 
stellung die  Hauptrolle  gespielt  zu  haben  -). 

6.    Die  Indriya's  oder  die  äusseren  Sinne. 

Von  dem  inneren  Sinn  abhängig,  aber  auch  in  jedem 
Augenblick  dessen  Wirksamkeit  bestimmend,  sind  die  zehn 
äusseren  Sinne,  die  den  Namen  indriya  (oder  specieller 
hähyendriya)  führen,  was  etymologisch  einfach  ,Vermögen' 
bedeutet,  und  nicht  —  wie  die  emheimische  Erklärung 
will  —  , Werkzeug  für  den  Indra,  d.  h.  für  den  Herrn 
des  Körpers,  nämlich  die  Seele' =^),  oder  ,Merkmal  zur  Er- 
schliessung der  Seele'*).     Die  zehn  Sinne  zerfallen  in  die 


1)  Sütra  V.  113—115. 

2)  Vijn.  zu  VI.  63. 

3)  Vijn.  zu  II.  19,  29. 

*)  Sämkhya-tattva-kaumudi  zu  Kar.  26.  —  Von  den  Synonymen 
in  der  Sämkliya-krama-dipikä  Nr.  30  (karana,   vaiJcärika,  niyata, 
pada,   avadhrta,   aksha)    findet    sich    nur    das    erste    und  letzte  in 
Garbe,  Sämkhya-Philosophie.  17 


—    258     — 

beiden  Klassen  der  Wahrnehmungssinne  (buddhindrlya, 
jnänendriya)  und  der  Thatsinne  (Icarviendriya).  Die  fünf 
Wahrnehmungssinne  sind  Gesicht  (cakshus)^  Gehör  (grotra)^ 
Geruch  (ghräna)^  Geschmack  (rasa,  rasana,  jihvä)  und 
Gefühl  (oder  Tastsinn,  tvac,  sjyarca,  sparqana);  in  Betreif 
ihrer  Objekte,  die  in  unsern  Texten  schematisch  aufgezählt 
werden ,  ist  nur  zu  bemerken ,  dass  als  Objekte  des  Ge- 
sichtssinnes nicht  Form  und  Gestalt,  sondern  lediglich  die 
Farben  (riipa)  gelten.  Die  fünf  Thatsinne  oder  Fähigkeiten 
des  Handelns  sind  Reden  (väc),  Greifen  (pdni),  Gehen 
(päda) ,  Entleeren  (pdyu)  und  Zeugen  (upastha)  ^).  Diese 
zehn  Sinne  sind  ja  nicht  zu  verwechseln  mit  den  sichtbaren 
Organen  (golaJca) ,  in  denen  sie  ihren  Sitz  (adhishthdna) 
haben;  sie  sind  selbst  etwas  übersinnliches  (atindriya)  und 
nur  aus  ihren  Funktionen  zu  erscliliessen  '■').  Es  war  mit- 
hin ein  Fehler,  wenn  früher  zuweilen  die  Namen  der  fönf 
Thatsinne  mit  ,Stimme,  Hände,  Füsse'  u.  s.  w.  übersetzt 
wurden  •^). 

Wie  die  Existenz  der  Sinne  aus  ihren  Funktionen 
gefolgert  wird,  so  werden  die  Funktionen  ihrerseits  durch 
die  Erkenntniss  der  erreichten  Objekte  bewiesen ;  denn  nur 
diejenigen  Objekte,  mit  denen  die  Sinne  durch  ihre  Funk- 


wirklichem Gebrauch;  pada  ist  eine  reine  Fiktion,  und  die  drei 
übrigen  Worte  sind  gelegentlich  von  den  Sinnen  gebrauchte  Ad- 
jectiva.  Dagegen  verdient  als  ein  belegbares  Synonymon  upagraha 
notirt  zu  werden  (auf  der  von  Kielhorn  herausgegebenen  und 
übersetzten  Inschrift  ya90varman's  vom  Jahre  953 — 54 ,  Epi- 
graphia  Indica,  Part.  III,  p.  125,  Vers  5;  cf.  p.  130,  Anm.  67). 
Als  Särnkhy  a-Terminus  ist  mir  upagraha  sonst  nur  noch  einmal 
begegnet,  und  zwar  als  nomen  actionis  in  dem  Panca9ikha- 
Fragment  Yogabhäshya  II.  20  und  IV.  22  (s.  bei  Hall,  Sänkhya 
Sara,  Pref.  p.  25  Anm.) 

1)  Kärikä  26,  28,  34,  Sütra  II.  19,  28,  Sämkhya-krama-dipikä 
Nr.  27—29. 

2)  Sütra  II.  23,  Vijii.  zu  V.  104  und  zu  I.  62. 

3)  Vgl.   meine   Uebersetzung   des  Sämkhya-pravacana-bhäshya 
S.  72  Anm.  1. 


—    259    — 

tionen  in  Verbindung  treten,  kommen  zur  Kenntniss,  da 
andernfalls  alle  Dinge,  ob  sie  auch  durch  dazwischen- 
liegendes getrennt  oder  in  unendlicher  Ferne  befindlich 
sind,  wahrnehmbar  sein  müssten  ^).  lieber  den  Begriff  der 
Funktion  (vrtti)'^)  der  Sinne  scheinen  die  Sämkhya- 
Lehrer  zu  keiner  völlig  klaren  Vorstellung  gelangt  zu  sein, 
da  die  von  ihnen  gegebene  Definition  negativ  ist.  „Die 
Funktion",  heisst  es  in  Sütra  V.  107,  „ist  ein  anderes 
„Princip  als  Theil  oder  Qualität,  weil  sie  zum  Zwecke  der 
„Verbindung  [mit  den  Objekten  zu  dem  Orte,  wo  diese 
„sich  befinden]  hineilt."  Und  Vi j  n  ä  n  a  b  h i  k  s  hu  bemerkt 
dazu  3),  dass  die  Funktion  eine  Modifikation  des  Sinnes  und 
etwas  von  ihm  unlösliches  sei;  man  hat  sich  also  unter 
den  Funktionen  ein  Hinauswachsen  (sarpana)  *)  der  Sinne 
aus  ihren  körperlichen  Sitzen  gedacht  und  den  Ursprung 
der  Funktionen  in  dem  Individuum,  nicht  in  einem 
von  Aussen  kommenden  Reiz  gesucht.  —  Wenn  auch 
die  Funktionen  der  Sinne  gewöhnlich  nach  einander 
stattfinden,  so  kann  doch  auch  von  mehreren  Sinnen 
gleichzeitig  eine  Affektion  des  inneren  Organs  bewirkt 
werden  ^). 

Da  der  innere  Sinn  nicht  als  wesensverschieden  von 
den  äusseren  Sinnen  gilt  und  diesen  in  der  Entwicklungs- 
geschichte des  Sämkhya -Systems  coordinirt  ist,  so  ist 
elf  die  feststehende  Zahl  der  Sinne  6).  Die  Meinung,  dass 
es  nur  einen  einzigen  Sinn  gebe,  der  durch  verschiedene 
Kräfte  die  mannigfachen  Thätigkeiten  ausübt,  wird  mit 
der  Bemerkung  abgelehnt,  dass  dies  gar  keine  andere  Theorie 


1)  Sütra  V.  104,  106. 

2)  Ueber  die  Etymologie  handelt  Vijn.  zu  V.  108. 
^)  Vgl.  auch  seineu  Commentar  zu  V.  105. 

*)  Vgl.  Bhojaräja  zu  Yogasütra  II.  54  (ähliimuhhyena  pravar- 
tanam)  und  III.  47  (indriyänäm  vishayäbhimukM  vrttih). 
s)  Sütra  II.  32  nebst  VijSänabhikshu's  Erklärung. 

ß)  Kärikä  25,  Sütra  II.  18,  19. 

17* 


—    260    — 

sei;    denn  dasjenige,   was  mit  dem  Namen  der  Kräfte  be- 
zeichnet werde,  seien  eben  die  Sinne '). 

Wie  wir  schon  gesehen  haben,  sind  die  elf  Sinne 
nach  der  S am khya- Lehre  Ausläufer  des  Ahamkära; 
und  zwar  wird  die  Verschiedenartigkeit  der  Wahrnehmungs- 
sinne und  der  Thatsinne  dadurch  erklärt,  dass  bei  der 
Entstehung  der  ersteren  das  Sattva  und  bei  der  der 
letzteren  das  R  a  j  a  s  in  überwiegender  Weise  seinen  Ein- 
fluss  ausgeübt  habe  2).  Die  widersprechende  Lehre  der 
Nyäya- Philosophie,  dass  die  Sinne  aus  den  Elementen 
entstanden  seien  und  bestehen,  also  der  Gesichtssinn  aus 
Licht  U.S.W.  =^),  wird  in  den  Sämkhyasütra's*)  nicht  mit 
sachlichen  Gründen,  sondern  in  höchst  mangelhafter  Weise 
durch  Berufting  auf  die  Schrift  bekämpft,  die  angeblich 
lehre,  dass  die  Sinne  dem  Ahamkära  entstammen,  — 
ein  Beweis  dafür,  dass  die  Polemik  über  diesen  Punkt 
erst  in  moderner  Zeit  in  die  Sämkhya- Schule  hinein- 
getragen ist.  Da  sich  nun  in  der  Schrift  im  Gegentheil 
Stellen  finden,  die  mit  der  Nyäya- Lehre  über  diesen 
Punkt  übereinstimmen 5) ,  so  ist  im  Sämkhyasütra  V. 
110  ein  Ausweg  in  der  Erklärung  gefunden,  dass  an  solchen 
Up an ishad- Stellen  die  Elemente  nicht  als  materielle, 
sondern  nur  als  begleitende  Ursachen  gedacht  seien.  In 
anderer  Weise  sucht  Vij  fiänabhikshu '')  den  Wider- 
spruch zu  lösen,  indem  er  sagt:  „Die  Schriftstellen  aber, 
„welche  lehren,  dass  die  Sinne  den  Elementen  entsprossen 
„sind,  sind  bildlich  zu  verstehen,  da  sie  nur  meinen,  dass  die 
„individuellen  inneren  und  äusseren  Sinne,  welche  ja  nur 
„in   der  Verbindung   mit   den   Elementen    [d.  h.   mit  den 


^)  Sütra  II.  24,  25.     In  ähnlicher  Weise  wird  in  der  Nyäya • 
Philosophie  argumentirt;  s.  Nyäyasütra  III.  53 — 59. 
2)  Anir.  zu  II.  27. 
*)  Nyäyasütra  III.  60. 
*)  II.  20,  V.  84,  105,  109. 

^)  Vgl.  zum  Beispiel  Chäudogya  Up.  VI.  5.  4;  6.  4. 
«)  Zu  IL  20. 


—    261     — 

„groben  aüimalischen  Körpern]  Bestand  haben,  aus  diesen 
„Elementen  heraus  sich  manifestiren. "  Kurz  vorher  findet 
sich  bei  Vijfiänabhikshu  der  meines  Wissens  einzige 
Versuch,  die  Sämkhya- Lehre  von  der  Entstehung  der 
Sinne  aus  dem  Ahamkära  sachlich  zu  begründen.  Es 
heisst  dort  nämlich,  dass  „man,  da  das  Erleuchten  [d.  h. 
„das  Hervorrufen  der  Erkenntniss  dem  Innenorgan  und 
„den  Sinnen]  gemeinsam  ist,  nur  annehmen  könne,  dass 
„das  Innenorgan  die  materielle  Ursache  der  Sinne  sei." 
Die  ganze  Vorstellung  der  S  ä  m  k  h  y  a  -  Philosophie  über 
diesen  Punkt  kommt  dem  von  der  Wissenschaft  unserer 
Zeit  festgestellten  Thatbestande  sehr  nahe,  wenn  wir  uns 
daran  erinnern,  dass  wir  das  Lmenorgan  als  Aequivalent 
des  Nervensystems  erkannt  haben. 

7.    Die  dreizelin  Organe  als  Gesammtheit. 

Zwischen  den  äusseren  Sinnen  und  den  inneren  Or- 
ganen besteht  die  Verschiedenheit,  dass  die  Thätigkeit  der 
ersteren  auf  die  Gegenwart  beschränkt  ist,  während  die 
letzteren  sich  ebenso  mit  der  Vergangenheit  und  Zukunft 
beschäftigen  wie  mit  der  Gegenwart.  Wäln-end  —  um 
bloss  je  einen  Wahrnehmungs-  und  Thatsinn  in  Betracht 
zu  ziehen  —  das  Gehör  nur  gegenwärtige  Töne  wahr- 
nimmt und  die  Stimme  nur  gegenwärtige  Worte  artikulirt, 
folgert  das  Innenorgan  nicht  nur  aus  dem  Rauche,  dass 
zur  nämlichen  Zeit  das  Buschwerk  auf  dem  Berge  brennt, 
sondern  auch  aus  der  Anschwellung  eines  Flusses,  dass  es 
geregnet  hat,  und  aus  dem  Herumlaufen  der  Ameisen  mit 
ihren  Eiern,  dass  es  regnen  wird^).  Ein  weiterer  Unter- 
schied zwischen  den  äusseren  Sinnen  und  den  inneren 
Organen  ist  in  das  Gleichniss  von  den  Thoren  und  den 
Thorhütern  gekleidet.  Die  äusseren  Sinne  sind  mit  Thoren 
verglichen,   die   als   solche  alles  hineinlassen,   was  hinein 


1)  Kärikä  33  mit  den  Commentaren  Gaudapäda^s  und  Väcas- 
patimi^ra's. 


—     262     — 

will;    die   inneren    Organe   mit  Thorhütern,   welche  nicht 
nur   die   Thore   öffnen    und  schliessen,   sondern   auch  die 
hineingelangenden   Wahrnehmungen    und    Empfindungen 
kontroUiren   und   ordnen  ^).     Wenn    wir   dieses  Gleichniss 
in  dem  Sinne,   wie  es  von  den  Indern  verstanden  wurde, 
ergänzen    wollen,   so  müssen  wir  uns  den  Leih  als  einen 
Palast    und    die    Seele    als    den    im   Innern    des    Palastes 
wohnenden     und    nach    orientalischer   Weise    unthätigen 
Herren  denken.     Dieses   Gleichniss  leitet  uns  auch  zu  der 
Vorstellung  hinüber,  durch  welche  die  drei  inneren  Organe 
und  die   zehn   äusseren  Sinne   unter   einen  Begriff  sub- 
sumirt  wurden,  nämlich  unter  den  des  Werkzeugs  (karana) 
der  Seele,  von  dem  wiederum  im  Bilde  als  von  einer  wohl- 
organisirten   Dienerschaft   oder   Beamtenschaft  gesprochen 
wird.     „Wie  die  Dorfältesten  von  den  Hausvorständen  die 
„Steuer   erheben  und  dem  Gouverneur   des  Distrikts  über- 
„ geben,  der  Gouverneur  des  Distrikts  dem  obersten  Leiter 
„[der  Finanzen]  und  dieser  dem  König,  ebenso  liefern  die 
„äusseren  Sinne,   wenn   sie   ihre   Wahrnehmung  gemacht 
„haben,  diese  dem  inneren  Sinn,  der  innere  Sinn,  nachdem 
„er   sie   festgestellt,    dem  Ahamkära,   und  der  Aham- 
„  k  ä  r  a ,  nachdem   er  sie  zur  eignen  Person  in  Beziehung 
„gesetzt,    der   Buddhi,    welche    die    RoUe    des   obersten 
„  Leiters  spielt  ^). "    Insofern  sind  sich  aUe  dreizehn  Organe 


^)  Kärikä  35  mit  Wilson 's  Erläuterungen. 

^)  Sänikhya-tattva-kaumudi  zu  Kärikä  36,  Sütra  11.  29,  40,  47. 
Im  siebenten  Sütra  des  Tattvasamäsa  werden  die  dreizehn  Organe 
unter  dem  Namen  adhyätma  zusammengefasst,  was  nach  den  Aus- 
führungen der  Säinkhya-krama-dipikä  in  Nr.  56  trotz  der  neutralen 
Form  etwas  wie  ,Diener  der  Seele'  bedeutet.  Ebendaselbst  sind 
auch  die  mit  dem  Ausdruck  adhibhüta  bezeichneten  Wirkungskreise 
der  Organe  specialisirt  und  ferner  die  Götter  angeführt,  die  in  den 
mythologischen  Vorstellungen  der  modernen  Sämkhya's  als  die 
Vorsteher  der  einzelnen  Organe  gelten  (Brahman  als  Vorsteher 
der  Buddhi,  Rudra  als  der  des  Ahamkära,  der  Mondgott  als 
der  des  Manas  u.  s.  w.).  Diese  göttlichen  Vorsteher  der  Organe 
heissen  dort  adhidaivata.     Der  Verfasser   des  Tattvasamäsa  (Sütra 


—    263     — 

gleich,  als  sie  aus  einundderselben  Ursache  und  zu  ein- 
unddemselben  Zwecke  in  Thätigkeit  treten.  Die  Ursache 
ihrer  Wirksamkeit  ist  die  Entfaltung  der  unsichtbaren 
Kraft  der  Werke,  die  zwar  nicht  in  der  Seele  selbst,  sondern 
in  der  B  u  d  d  h  i  ruht,  aber  als  etwas  der  Seele  zugehöriges 
betrachtet  wird  ^) ;  der  Zweck  ihrer  Wirksamkeit  ist  einzig 
und  allein,  der  Seele  zur  Erreichung  ihrer  Ziele  —  des 
Genusses  (resp.  des  Leidens)  und  schliesslich  der  Erlösung  — 
zu  verhelfen.  Zu  diesem  Zwecke  wirken  sämmtliche  Or- 
gane spontan;  einen  Leiter,  der  Wesen,  Fälligkeit  und 
Zweck  der  Organe  kennt  und  ihre  Thätigkeit  regulirt, 
giebt  es  nicht-).  Li  ihren  Funktionen  collidiren  trotzdem 
die  dreizehn  Organe  nicht  mit  einander,  sondern  unter- 
stützen und  ergänzen  sich  gegenseitig,  ganz  als  ob  sie 
auf  Verabredung  und  unter  Kenntniss  des  gegenseitigen 
Vorhabens  handelten-^).  „Zwar  sind  die  Organe  Modifi- 
„kationen  der  drei  Guiia's,  deren  Natur  es  ist  einander 
„entgegen  zu  wirken,  aber  sie  werden  einmüthig  gemacht 
„durch  die  [von  ihnen  gemeinsam  zu  erfüllenden]  Anforde- 
„rungen  der  Seele;  vergleichbar  dem  Docht,  dem  Oel  und 
„dem  Feuer,  welche,  vereinigt  um  durch  Entfernung 
„der  Finsterniss  die  Farben  zu  erleuchten,  eine  Lampe 
„bilden  4)." 

Nach   dem   gewöhnlichen   Verlauf  der  Dinge    folgen 


7 — 9)  hat  diese  drei  technischen  Ausdrücke  generis  neutrius  ver- 
muthlich  aus  Bhagavadgitä  VIII.  1,  3,  4  entlehnt,  wo  sie  ebenfalls 
als  Neutra,  aber  in  ganz  anderer  Bedeutung  neben  einander  stehen. 

1)  Sütra  n.  36. 

2)  Kärikä  81,  Sütra  TL.  37. 

^)  Kärikä  31.  —  Im  Tattvasamäsa  Sütra  10  und  in  der  Sämkhya- 
krama-dipikä  dazu  (Nr.  58)  ist  die  Funktionsweise  sämmtlicher 
dreizehn  Organe  mit  dem  sonst  nicht  belegbaren  Terminus  abhi- 
buddhi  benannt,  den  Ballantyne  (nicht  mit  Glück)  'intelligent 
function'  übersetzt  hat;  vgl.  übrigens  Ballantyne's  Bemerkung 
in  Nr.  97. 

*)  Särakhya-tattva-kaumudi  zu  Kärikä  86. 


—     264    — 

die  Funktionen  der  einzelnen  Organe  auf  einander,  indem 
zuerst  die  äusseren  Sinne  in  Thätigkeit  treten;  „wenn  z.  B. 
„Jemand  im  Halbdunkel  zu  Anfang  nur  einen  Gegenstand 
„undeutlich  [mit  dem  Gesichtssinn]  wahrnimmt,  darauf 
„mit  angespannter  Aufmerksamkeit  des  inneren  Sinnes 
„feststellt:  ,Da  ist  ein  grimmiger  Räuber  mit  einem  Bogen, 
„der  [schussbereit]  gekrümmt  ist  durch  die  mit  einem  Pfeil 
„belegte,  bis  an  das  Olu*  zurückgezogene  Sehne',  darauf 
„[mit  dem  Ahamkära]  die  Beziehung  zu  seiner  eigenen 
„Person  herstellt:  ,Er  kommt  auf  mich  los',  und  darauf  [mit 
„der  Buddhi]  den  Entschluss  fasst:  ,Ich  will  von  diesem 
„Orte  forteilen'^)."  Doch  kann  es  auch  vorkommen,  dass 
die  Funktionen  der  Organe  gleichzeitig  eintreten; 
„wenn  z.  B.  Jemand  in  dichter  Finsterniss  in  Folge  eines 
„Blitzstrahls  einen  Tiger  ganz  nahe  vor  sich  sieht.  Dann 
„treten  bei  demselben  Wahrnehmung,  Feststellung,  Be- 
„zugnahme  auf  die  eigene  Person  und  Entschliessung  zu- 
„gleich  ins  Leben,  da  er  [sofort]  darnach  aufspringt  und 
„von  jenem  Orte  im  Nu  enteilt."  Ebenso  liegen  die  Ver- 
hältnisse, wenn  es  sich  um  sinnlich  nicht  wahrnehmbare 
Dinge  handelt,  also  allein  die  Funktionen  der  drei  inneren 
Organe  in  Betracht  kommen,  die  der  äusseren  Sinne  aber 
fortfallen;  auch  in  diesem  Falle  können  die  Funktionen 
der  drei  inneren  Organe  ebenso  wohl  gleichzeitig  sein  als 
auf  einander  folgen.  Nach  dem  deutlichen  Wortlaut  von 
Kärikä  30  ist  dies  unzweifelhaft  die  echte  Sämkhya- 
Lehre ,  wogegen  die  Vai9eshika- Philosophie  die  Mög- 
lichkeit einer  gleichzeitigen  Thätigkeit  der  Organe  bestreitet 
und  behauptet,  dass  sie  in  jedem  Falle  successive  fank- 
tioniren.  Diese  abweichende  Theorie  hat  ein  späterer 
Sämkhya-Lehrer -)  sich  zu  eigen  gemacht  und  unter 
Ignorirung   der    älteren   Quellen    seines   Systems    die   Er- 


I 


^)  Sänikhya-tattva-kaumudi   zu  Kärikä  30.     Dies   ist  auch  die 
Quelle  für  die  folgenden  Sätze  meiner  Darstellung. 
2)  Aniruddha  zu  II.  32. 


I 


—    265    — 

klärung  abgegeben,  dass  die  scheinbare  Gleichzeitigkeit  der 
Funktionen  in  derselben  Weise  zu  beurtheilen  sei,  wie  die 
Durchbohrung  von  hundert  auf  einander  gelegten  Lotus- 
blättern mit  einer  Nadel.  Auch  in  diesem  FaU  scheine 
es,  als  ob  die  Nadel  sämmtliche  Blätter  gleichzeitig  durch- 
steche, während  doch  in  der  That  ein  ausserordentlich 
schnelles  Nacheinander  vorliege. 

Nicht  nur  durch  ihren  gemeinsamen  Zweck  sind  die 
dreizehn  Organe  .zu  einer  Einheit  verbunden;  es  besteht 
auch  eine  wichtige  Uebereinstimmung  hinsichtlich  ihrer 
Natur.  Alle  Organe  werden  durch  physische  Ernährung 
erhalten  und  gestärkt ;  wenn  sie  durch  Fasten  oder  andere 
Ursachen  geschwächt  sind,  so  kann  man  sie  durch  Speise 
und  Trank  wieder  kräftigen,  weil  diese  Theile  enthalten, 
die  den  Substanzen  der  Organe  homogen  sind »). 

8.    Der  feine  oder  innere  Körper. 

Die  dreizehn  Organe  sind  nicht  vergänglich  wie  der 
grob-materielle  Leib,  sondern  begleiten  die  Seele  auf  ihrer 
Wanderung  durch  alle  wechselnden  Existenzen.  Zu  diesem 
Zwecke  bedürfen  sie  nach  der  Säinkhya- Lehre  einer 
Basis,  da  sie  ohne  eine  solche  ein  haltloser  Complex  wären, 
„wie  ein  Bild  ohne  eine  Grundlage  oder  ein  Schatten  ohne 
den  schattenwerfenden  Gegenstand  -) ".  Diese  den  Organen 
Halt  und  Bestand  verleihende  Basis  hat  unser  System  in 
den  fünf  feinen  Elementen  gefunden ;  mit  ihnen  zusammen 
bilden  die  Organe  den  inneren  Körper  %  das  Unga.    Dieses 


1)  Sütra  I.  131,  III.  15  nebst  Vijnänabhikshu's  Erläuterungen. 

2)  Kärikä41,  Sütra  III,  12,  13.  —  Die  ähnlichen  Anschauungen 
des  Vedänta  über  den  feinen  Leib  (s.  Deussen,  System  des 
Vedänta  S.  899—404)  scheinen  im  Wesentlichen  aus  dem  Säm- 
khya- System  herübergenommen  zu  sein.  Die  Vedänta -Lehrer 
gebrauchen  das  technische  linga  und  dessen  Zusammensetzungen 
nicht,  wohl  aber  sukshma-carira,  bhütäcraya  und  Umschreibungen. 

3)  Der  innere  Körper  ist  also  durch  achtzehn  Bestandtheile 
gebildet,   wie  Aniruddha   und   Mahädeva  zu  Sütra  HI.   9  richtig 


—     266     — 

Wort  bedeutet  nicht,  wie  die  einheimische  Erklärung ') 
sagt,  ,das  [bei  der  Befreiung  der  Seele  in  die  Urmaterie] 
aufgehende  (layam  gacchat)\  sondern  das  charakteristische 
Merkmal,  d.  h.  dasjenige,  was  Wesen  und  Charakter  des 
Individuums  bestimmt.  Denn  da  die  Sämkhya- Philo- 
sophie nicht  die  geringste  qualitative  Verschiedenheit 
zwischen  den  einzelnen  Seelen  anerkennt,  ist  der  innere 
Körper  das  Princip  der  Persönlichkeit  in  diesem  Leben 
und  das  Princip  der  Identität  der  Person  in  den  zahllosen 
Existenzen.  Gebräuchliche  Weiterbildungen  aus  linga  sind 
linga-deha  oder  ^carira  ,charakterisirender  Körper',  Syno- 
nyma sind  sühshma-deha  ('^carira)  ,feiner  Körper'  und 
dtivähika-carira  ,liinübergeleitender  Körper'.  Dem  letzten 
Ausdruck  ist  in  neuerer  Zeit  allerdings  eine  etwas  ab- 
weichende Bedeutung  gegeben.  Die  ursprüngliche  und  echte 
Sämkhya-  Lehre  von  der  Verschiedenheit  des  feinen  und 
groben  Körpers  hat  nämlich  durch  Vijfiänabhikshu-) 
eine  spitzfindige  Erweiterung  dahin  erfahren,  dass  der 
innere  Körper  wiederum  in  zwei  Leiber  zerlegt  ist,  in 
das  eigentliche  aus  den  dreizehn  Organen  bestehende  linga 
und  den  ,die  Grundlage  oder  den  Sitz  desselben  darstellenden 
Körper'  (adhishthäna-Qarira) ,  der  durch  die  fünf  feinen 
Elemente  gebildet  ist.  Nach  Vijfiänabhikshu  soll 
utwdhika-carira  so  viel  wie  adhishthäna^  sein,  obwohl  aus 
dem  Wortlaut  von  S  ü  t  r  a  V.  103  deutlich  hervorgeht,  dass 
dtivähika^  im  Gegensatz  zu  dem  groben  Körper,  also  im 
Sinne   von    linga^   steht.      Wenn    der    Commentator  3)    die 


zählen.  Das  Sutra  selbst  rechnet  nur  siebzehn,  was  Vijnänabhikshu 
dadurch  zu  erklären  sucht,  dass  Buddhi  und  Ahamkära  als  eins 
gedacht  seien. 

1)  Sämkhya-tattva-kaumudi  zu  Kärikä  40,  Aniruddha  zu  Sutra 
VI.  69. 

2)  Im  Commentar  zu  Sutra  III.  11,  12,  V.  103;  vgl.  auch 
Colebrooke,  Mise.  Ess.^  I.  258  und  Wilson,  Sänkhya  Kärikä 
p.  1.34—136. 

^)  Am  Schluss  seiner  Ausführungen  zu  III.  11. 


—     267     — 

Erklärung   abgiebt,    dass    zuweilen    das    linga-   und   adM- 
shthäna-gartra  wegen  ihrer  Feinheit  in  der  Literatur  als  eins 
behandelt   werden,    so    dürfen    wir  dies  dahin  berichtigen, 
dass  die  älteren   Sämkhya- Schriften   ausser  dem  groben 
Leibe  überhaupt  nur   einen   einheitlichen  inneren  Körper 
kennen.     In  Kärikä  40  heisst   es  ausdrücklich,  dass  der 
innere   Körper    aus    den    materiellen    Principien   von  der 
Buddhi  an  „bis  herunter  zu  den  feinen  Elementen"  ge- 
bildet ist.   Ebendaselbst  findet  sich  auch  die  ausführlichste 
zusammenhängende    Beschreibung     des    inneren     Körpers. 
Er  ist  „im  Anfang  entstanden,  unbeschränkt  [hinsichtlich 
der  groben  Leiber,  in  welche  er  eingeht,]  und  constant", 
d.  h.  er  bildet  sich  am  Beginn  eines  Weltaltei's  und  währt, 
bis  die  erlösende  Erkenntniss   erreicht   ist   oder  die  Welt- 
auflösung  eintritt  ^).     Aber   nur   im    ersten   Fall   wird   er 
für  immer  von  der  Urmaterie  absorbirt ;  für  alle  diejenigen 
Seelen,  welche  bei  der  Reabsorption  des  Universums  noch 
nicht  die  Erlösung  gewonnen  haben,    entsteht    der  innere 
Körper  bei  Beginn   der   folgenden  Weltperiode  aufs  neue. 
Die  Ursache   seiner  Neubildung  liegt   in   der  Nichtunter- 
scheidung, in  der  Kraft  von  Verdienst  und  Schuld  und  in  den 
Dispositionen,  welche  Faktoren  Avährend  der  Zeit  der  Welt- 
auflösung   in    der    Urmaterie    bestehen    bleiben-).      „Der 
„innere  Körper   wandert"  —  so  schliesst  Kärikä  40   — 
„[aus  einem  groben  Körper  in  den  andern],  weil  er  [sonst] 
„nicht  empfinden  kann,  afficirt  von  den  Zuständen".    Aus 
diesen    Worten    ergiebt    sich    zunächst,    dass    sowohl   die 


^)  Vgl.  hierüber  noch  Vijn.  zu  III.  7.  Ueber  die  (in  der  Kärikä 
noch  nicht  vorgetragene)  Lehre,  dass  es  im  Anbeginn  der  Schöpfung 
nur  einen  inneren  Körper  gegeben  habe  und  und  dass  erst  später 
eine  Spaltung  in  Individuen  eingetreten  sei  (Sütra  III.  10),  sowie 
über  die  bei  dieser  Anschauung  herrschenden  Unklarheiten  siehe 
oben  S.  235.  —  Eine  selbstverständliche  Consequenz  der  über  den 
inneren  Körper  gebildeten  Vorstellungen  ist,  dass  dieser  im  Gegen- 
satz zur  allgegenwärtigen  Seele  als  in  seiner  Ausdehnung  beschränkt 
betrachtet  wird  (vgl.  Sütra  HI.  13,  14). 

2)  Vijn.  zu  VI.  69. 


—     268     — 

Metempsychose  wie  die  Empfindung  durch  den 
inneren  Körper  bewirkt  wird  ^).  Da  aber  das  Zustande- 
kommen der  Empfindung  von  seiner  Vereinigung  mit  einem 
groben  Leibe  abhängig  ist,  so  folgt,  dass  in  dem  Augen- 
blicke der  Wanderung,  d.  h.  während  der  kurzen  Zeit, 
welche  der  innere  Körper  nach  dem  Eintritt  des  Todes 
unterwegs  ist,  um  in  einen  andern  groben  Körper  zu  ge- 
langen, keinerlei  Empfindung  stattfinden  kann  2). 

Zu  den  letzten  Worten  des  eben  angeführten  Citats 
„afficirt  von  den  Zuständen"  bemerkt  die  Sämkhya- 
tattva-kaumudi  folgendes :  „ Die  Zustände  sind  Verdienst 
„und  Schuld,  Erkenntniss  und  Nichterkenntniss ,  Gleich- 
„giltigkeit  und  Nichtgleichgiltigkeit  [gegen  die  Sinnen  weit], 
„übernatürliche  Kraft  und  Mangel  der  übernatürlichen  Kraft. 
„Mit  diesen  [Zuständen]  ist  die  Buddhi  behaftet,  und  da 
„  der  feine  Körper  diese  in  sich  begreift,  ist  derselbe  gleich- 
„ falls  von  den  Zuständen  afficirt'^)  [eigentlich:  durchduftet], 
„ebenso  wie  ein  Kleid,  wenn  es  mit  schönduftenden  C  am - 
„  p  a  k  a  -  Blüthen  versehen  ist ,  von  dem  Wohlgeruch  der- 
„ selben  durchduftet  wird." 

Diese  Zustände  und  der  innere  Körper  bedingen  sich 
gegenseitig:  ohne  den  inneren  Körper  sind  die  Zustände 
nicht  möglich,  und  ohne  die  Zustände  würde  der  innere 
Körper  nicht  das  gegenwärtige  Leben  überdauern.  So 
stehen  beide  zu  einander  in  dem  Verhältniss  einer  anfangs- 
losen  Continuität,  vergleichbar  derjenigen  von  Samen  und 
Spross  *). 


1)  Vgl.  dazu  Sütra  III.  3,  8,  16  und  Vijfiänabhikshu's  Ein- 
leitung zu  III.  11. 

2)  Vijn.  zu  III.  6. 

^)  Die  Attribute  und  Qualitäten,  die  den  einzelnen  Bestand- 
theilen  des  inneren  Körpers  eigen  sind,  werden  begreifliclier  Weise 
auch  sonst  dem  ganzenLiäga^arira  zugeschrieben.  Was  z.  B. 
in  Kärikä  20  über  den  inneren  Körper  gesagt  ist,  dass  er  nämlich 
wegen  der  Verbindung  mit  der  Seele  scheinbar  geistig  sei,  bezieht 
sich  nur  auf  das  Innenorgau  und  die  Sinne. 

^)  Kärikä  52. 


—     269    — 

ImSämkhya- System  ist  also  niclit  die  Seele,  sondern 
der  innere  Körper  gut  oder  sclilecht,  weise  oder  thöricht, 
entsagend  oder  leidenschaftlich,  stark  oder  schwach;  nicht 
in  der  Seele,  sondern  in  dem  inneren  Körper  haftet  die 
moralische  Verantwortlichkeit,  auf  welcher  die  Metem- 
psychose  beruht.  Der  innere  Körper  wird  mit  einem  seine 
Rollen  wechsehiden  Schauspieler  verglichen,  weil  er  in 
Folge  einer  besonderen  Naturkraft  die  verschiedenartigsten 
Formen  annimmt,  „veranlasst  durch  das  Ziel  der  Seele", 
d.  h.  damit  diese  den  Lohn  der  ihr  aufgebürdeten  Thaten 
empfange.  „Gleichwie  ein  Schauspieler,  der  diese  oder 
..jene  Rolle  spielt,  entweder  Para^uräma  oder  Ajäta- 
„  9  a  t  r  u  oder  der  König  der  V  a  t  s  a  wird ,  so  wird  der 
„feine  Körper,  wenn  er  diesen  oder  jenen  groben  Körper 
„annimmt,  entweder  ein  Gott  oder  ein  Mensch  oder  ein 
„Thier  oder  ein  Baum  *)."  Und  der  innere  Körper  ist  ge- 
meint, wenn  es  von  der  Materie  in  Kärikä  62  heisst: 
„Keine  [Seele]  fürwahr  ist  gebunden,  wird  erlöst  oder 
„wandert;  die  von  den  verschiedenen  [Seelen]  abhängige 
„Materie  [allein]  wandert,  ist  gebunden  und  wird  erlöst". 
So  lange  der  innere  Körper  auf  seiner  Wanderung  beharrt, 
dauert  der  Schmerz,  da  es  sein  Wesen  ist  Schmerzen  her- 
vorzubringen. Erst  wenn  der  innere  Körper  sich  endgiltig 
in  der  Urmaterie  auflöst  und  das  Leben  ft\r  alle  Zeiten 
erlischt,  ist  die  Befi'eiung  vom  Schmerz  gewonnen  -). 

Ich  glaube,  dass  hier  der  Ort  ist,  noch  eine  wichtige 
und  für  das  Sämkhya- System  charakteristische  Lehre 
anzuführen,  nämlich  die  von  den  hinterlassenen  Eindrücken 
und  den  auf  diesen  beruhenden  Dispositionen  (samskära, 
väsand)  =^).  Denn  wenn  auch  die  B  u  d  d  h  i  der  eigentliche 
Sitz  dieser  Eindrücke  ist^),  durch  welche  der  Instinkt,  die 


^)  Kärikä  42  und  Sämkhya-tattva-kaumudi  dazu. 
2)  Kärikä  55. 

^)  S.  die   Indices  zu  meinen  Textausgaben   unter   den   beiden 
Worten. 

*)  S.  besonders  Sütra  II.  42. 


—     270    — 

Triebe,  Fähigkeiten,  Talente  und  das  Gedächtniss  erklärt 
werden,  so  wirken  doch  sämmtliche  Organe  bei  ihrer  Her- 
vorbringung mit;  und  ferner  sind  die  Dispositionen,  die 
ebenso  wenig  wie  das  Weltdasein  einen  Anfang  haben, 
für  die  Individualität  der  durch  den  inneren  Körper  reprä- 
sentirten  Person  von  so  hoher  Bedeutung,  dass  sie  füglich 
in  diesem  Zusammenhang  zur  Sprache  zu  bringen  sind. 
Die  ganze  Theorie  ist,  wie  die  meisten  distinktiven  Säm- 
khya-Lehren,  in  das  Yoga- System  übergegangen  i)  und 
deshalb  von  Paul  Markus  in  seiner  Schrift  über  die 
Y  o  g  a  -  Philosophie  S.  36 — 44  eingehend  behandelt.  Wenn 
auch  hier  im  Anschluss  an  die  Vorlage  (Bhojaräja's 
Commentar  zum  Yogasütra)  die  specielle  Sämkhya- 
Yoga- Lehre  von  den  Spuren,  die  jede  Empfindung,  Wahr- 
nehmung und  Erfahrung  in  der  B  u  d  d  h  i  zurücklässt,  eng 
mit  der  allgemein-indischen  Vorstellung  von  der  nach- 
wirkenden Kraft  des  Werkes  verschmolzen  ist,  so  glaube 
ich  doch  meine  Leser  auf  Markus'  wohldurchdachte  Dar- 
stellung verweisen  zu  können,  aus  der  ich  im  Folgenden 
die  Hauptsachen  heraushebe.  „Ein  jeder  Vorgang  prägt 
„eine  entsprechende  Spur  ein  in  den  Boden  des  Denk- 
„  Organs,  und  diese  Spur  verharrt  da  als  ein  Keim  im 
„Ackergrund  (bija  im  lashetra)  oder  als  eine  Disposition 
„{samskära,  d.  i.  passende  Vorbereitung  oder  Zurüstung, 
,,dxo(j^ia)  für  die  künftige  Reproduction  dieses  Vorganges 

„ Diese  Dispositionen  ....  bilden  bei  ihrer  un- 

„  endlichen  Menge  ein  sehr  wesentliches  Attribut  des  Denk- 
„  Organs  ....  Das  Denkorgan  ist  förmlich  bunt  davon, 
„so  verschieden  sind  die  zahllosen  einzelnen  Anlagen,  welche 


1)  Auch  in  V  e  d ä n t a -  Schriften  ist,  wiewohl  selten,  von  den 
Samskära's  die  Rede;  und  in  modificirter  Form  hat  die  Theorie 
in  den  Buddhismus  (s.  die  Einleitung  zu  meiner  Uebersetzung  der 
Särnkhya-tattva-kaumudi  S.  530)  sowie  in  die  Vai9eshika- 
Nyäya- Philosophie  (vgl.  hauptsächlich  Ballautyne,  Lectures 
on  the  Nyäya  Philosophy,  embracing  the  text  of  the  Tarka- 
sangraha,  Allahabad  1849,  p.  54,  55)  Eingang  gefunden. 


—    271     — 

„sich  im  Laufe  der  Geburten  darin  Bürgerrecht  erwerben 
„oder  ....  es  usurpiren  (ä-rabh)^  mit  jener  rücksichts- 
„losen  Nothwendigkeit  des  Naturgesetzes,  welcher  das  Indi- 
„viduum  willenlos  unterliegen  muss.  Aber  trotz  all  dieser 
„steten  Beeinflussung  bleibt  das  Denkorgan  was  es  ist: 
„der  nährende  Boden,  das  verknüpfende,  einheitgebende 
„Band,  das  Substrat,  zu  welchem  sämmtliche  Dispositionen 

„nur   Attribute    sind Die   Lebensgeschichte    einer 

„solchen  Disposition  ist  folgende.  Zunächst  ist  sie  latent, 
„virtuell,  die  reine  Möglichkeit,  allerdings  mit  der  Tendenz, 
„mit  der  unentrinnbaren  Bestimmung,  die  ihr  gebührende 
„Wirkung  zu  üben,  aber  noch  nicht  mit  der  ausgereiften 
„Energie  dazu.  Als  solche  sind  sie  noch  nicht  näher  er- 
„ fassbar,  definirbar.  Unmittelbar  wahrzunehmen  sind  ja 
„immer  nur  ihre  actuellen  Aeusserungen,  von  denen  man 
„ dann  rückwärts  auf  die  Beschaffenheit  der  Samskära's 
„schliessen  kann.  .  .  .  Wenn  ihre  Zeit  gekommen  ist,  da 
„tauchen  sie  auf,  werden  lebendig,  um  endlich  —  nicht 
„zu  vergehen,  sondern  —  in  die  Ruhe  des  Gewesenen,  der 
„ewig  stillen  Vergangenheit  einzutreten.  .  .  .  Diese  An- 
„lagen  bleiben  ein  stetes  Eigenthum  des  Individuums,  nur 
„in  verschiedener  Daseinsform,  je  nachdem  sie  ihren  be- 
„  stimmten  Zweck  schon  erfüllt  haben  oder  nicht.  Erst 
„als  gebundene  Kräfte,  die  der  Lösung,  des  Umsatzes  in 
„lebendige  Kraft  harren,  um  entscheidend  für  das  prak- 
„ tische  Thun  des  Lidividuums  zu  werden;  als  ungeahnte 
„schlummernde  Triebe,  die  nur  erst  erweckt,  erregt  werden 

„sollen,  um  zu  mächtigem  Einfluss  auf  uns  zu  gelangen 

„Alle  für  das  physische  Leben  unentbehrhchen  Fertigkeiten, 
„die  Gewohnheiten  und  Anlagen,  die  wir,  wie  man  sagt, 
„mit  auf  die  Welt  bringen,  sind  das  Erbtheil  fi-üherer 
„Geburten;  sie  sind  Eindrücke,  welche  in  der  Zwischenzeit 
,  im  Verborgenen  fortbestehen  und  ihre  latente  Kraft  be- 
,  wahren ,  um  sie  einst  zur  passenden  Stunde  frisch  und 
,.jung  zu  bethätigen,  —  wie  Samenkörner,  welche  Jahre 
„lang  aufbewahrt  worden  sind,  aber  dann,  wenn  sie  in 
„die  ftirs  Keimen  günstigen  Verhältnisse  versetzt  werden. 


—     272     — 

„ihre  Keimkraft  entwickeln,  als  wären  sie  erst  jüngst 
,. geerntet.  Daraus  erklärt  es  sich  im  Grunde  auch,  dass 
„wir  uns  unserer  Schicksale  im  Himmel,  in  der  Hölle,  in 
„früheren  Geburten  nicht  erinnern;  die  Eindrücke  davon 
„sind  eben  für  unsre  gegenwärtige  Existenz  ohne  Belang; 
„verloren  gehen  können  sie  aber  nicht." 

Unter  allen  Dispositionen  ist  die  verhängnissvoUste 
die  einem  jeden  Wesen  angeborene  Anlage  zum  Nicht- 
wissen (avidyä-samskära) ,  d.  h.  zur  Verwecliselung  von 
Geist  und  Materie.  Sie  ist  die  Wurzel  alles  Uebels;  denn 
da  sie  die  Ursache  des  Verlangens  nach  weltlichen  Freuden 
und  mittelbar  der  Erwerbung  von  Verdienst  und  Schuld 
ist,  verstrickt  sie  die  Wesen  immer  aufs  neue  in  das  Welt- 
dasein '). 

9.    Der  grobe  Körper. 

Der  sichtbare  vergängliche  Leib  (sthüla-deha,  ^garira), 
der  in  der  animalischen  Welt  von  Vater  und  Mutter  erzeugt 
wird  —  das  Pflanzenreich  kommt  nur  nebensächlich  in 
Betracht  ^j  — ,  besteht  aus  sechs  Hüllen  (shdtkaugika)^  näm- 
lich Haaren,  Blut,  Fleisch,  Sehnen,  Knochen  und  Mark, 
von  denen  die  drei  ersten  der  Mutter,  die  drei  letzten  dem 
Vater  entstammen  •^). 

Die  Verbindung  des  groben  Leibes  mit  dem  feinen 
Körper  und  der  Seele  nennen  wir  Leben  ■*),  ihre  Trennung 
Tod.  Das  Leben  in  einer  bestimmten  Existenz  (janman) 
kann  nicht  eher  durch  den  Tod  ausgelöscht  werden,  als 
bis  das  Resultat  der  früheren  Werke,  deren  Frucht  zu 
reifen  begonnen  hat  (prärabdha)^  vollständig  ausgekostet  ist  5). 


^)  S.  besonders  Aniruddha  zu  II.  1. 

2)  Sütra  V.  121  Vijn. 

3)  Kärikä  39  und  Sütra  III.  7,  11  nebst  den  beiderseitigen 
Commentareu.  Ebenso  (nur  Haut  statt  Haare)  in  dem  Sänikhya- 
Abschnitt  Mbh.  XII.  11332,  33. 

*)  Vijn.  zu  VI.  63. 
5)  Vijn.  zu  I.  24. 


—     273     — 

Obschon  die  unsichtbare  Kraft  der  Werke  (adrslita) 
die  Gattung  des  groben  Körpers  bestimmt,  in  welche 
die  von  dem  feinen  Körper  umkleidete  Seele  nach  dem 
Ablauf  einer  Existenz  einzieht,  ist  diese  Kraft  doch  nicht 
das  den  groben  Leib  bildende  Princip ').  Vielmehr 
lernten  wir  als  solches  schon  oben  S.  257  den  Athem 
(prdna)  oder  richtiger :  die  mit  dem  Athem  als  dem  Lebens- 
princip  verbundene  Seele  kennen.  Man  war  der  Meinung, 
dass  im  Mutterleibe  zuerst  ein  Flöckchen  (kalala)^  daraus 
ein  Bläschen  (hudbuda)  und  weiter  ein  Fleischklumpen 
(mämsa-pegi)  ^  der  Rumpf  (karanda)^  die  Glieder  (anga), 
d.  h.  Kopf,  Arme  und  Beine,  und  und  schliesslich  die 
Nebenglieder  (pratyanga,  s.  im  Petersburger  Wöi-terbuch), 
d.  h.  Stirn,  Nase,  Kinn,  Ohren,  Finger  u.  s.  w.,  entstehen  -). 
Ueber  den  Stoff,  aus  dem  dieser  grobe  Körper  sich  bildet, 
ist  in  Indien  gestritten  worden.  Die  Einen,  d.  h.  die 
Vertreter  der  landläufigen  Anschauung-^),  sagen,  dass  er 
aus  den  fünf  groben  Elementen  bestehe;  Andere  scheiden 
den  Aether  aus  und  nennen  nur  vier*);  wieder  Andere, 
d.  h.  die  Vedantisten,  lehren,  dass  der  Körper  aus  drei  Ur- 
elementen,  Feuer,  Wasser  und  Nahrung,  zusammengesetzt 
sei 5);  und  schliesshch  existirt  auch  die  Ansicht,  dass  er 
nur  aus  zweien  (d.  h.  wohl  Erde  und  Wasser)  sich  bilde  6). 
Aber  alle  diese  Anschauungen  sind  nicht  richtig.  Zwar 
besteht  das  Substrat  des  inneren  Körpers,  wie  wir  sahen, 
aus  den  fünf  feinen  Elementen;  aber  der  grobe  Körper 
hat  nach  der  auch  von  derVai9eshika-Nyäya- Philo- 


1)  Sütra  VI.  61,  62.  Dies  ist  eine  Polemik  gegen  die  Lehre 
der  Vai^eshika-Nyäya- Philosophie,  nach  der  die  Seele  durch 
Vermittlung  des  Adrshta  die  Bildung  des  Körpers  leitet. 

2)  Sänikhya-tattva-kaumudi  zu  Kärikä  43. 

3)  Vgl.  die  üblichen  Ausdrücke  pancatä,  pancatva  ,Auflösung 
des  Körpers  in  die  fünf  Elemente,  s.  v.  a.  Tod'. 

^)  Sütra  III.  17,  18. 

»)  S.  Deussen,  System  des  Vedänta  S.  259,  260. 

ö)  Vijn.  zu  V.  102. 

Garbe,  Säipkhya-Philosopliie.  18 


—     274     — 

Sophie  getlieilten ')  Säiiikhya- Lehre  lediglich  das  Element 
Erde  zur  materiellen  Ursache  -).  Die  verbreitete  Anschauung, 
dass  der  Leib  aus  den  fünf  groben  Elementen  gebildet  sei, 
beruht  darauf,  dass  die  übrigen  vier  Elemente  die  Stabilität 
des  Körpers  bewirken,  indem  das  Blat  durch  das  Wasser, 
die  Körperwärme  durch  das  Feuer,  der  Athem  durch  die 
Luft  und  die  Luftröhre  durch  den  Aether  erhalten  wird  ■^). 
Das  gleiche  gilt  selbst  von  den  überirdischen  Wesen  in 
den  Welten  des  Sonnen-,  Wasser-  und  Luftgottes;  denn 
auch  hier  dienen  die  feurigen,  resp.  wässrigen  und  luftigen, 
Bestandtheile  nur  dazu,  die  überwiegende  Masse  der  erdigen 
Bestandtheile  zu  conserviren.  Nur  die  letzteren  befähigen 
den  Körper,  Freude  und  Schmerz  zu  empfinden;  wenn  sie 
an  Masse  geringer  wären  als  das,  was  die  anderen  Elemente 
zur  Erhaltung  des  Körpers  beitragen,  so  würde  jede  Em- 
pfindung unmöglich  sein  *). 

10.    Die  Zustände. 

Unter  diesem  Titel  haben  wir  von  drei  verschiedenen 
Kategorien  zu  handeln,  1)  von  den  Zuständen,  auf  deren 
regelmässigem  Wechsel  die  Erhaltung  der  Lebensthätigkeit 
in  der  ganzen  animalischen  Welt  beruht,  2)  von  den  in- 
dividuellen Daseinszuständen ,  und  3)  von  denjenigen  Zu- 
ständen, welche  die  Grade  der  Entfernung  von  dem  höchsten 
Ziele  darstellen. 

A.  Die  regelmässig  wechselnden  Zustände,  Wachen 
und  Schlafen,  beeinflussen  nach  dem  S  ä  m  k  h  y  a  -  System  ^) 


1)  Vai^eshikasütra  IV.  2.  2,  3  und  Nyäyasütra  III.  28—32. 

•-)  Sütralll.  19,  V.  102,  112  im  Gegensatz  zu  der  Mbh.  XII.  7936 
— 38  Panca(;ikha  in  den  Mund  gelegten  landläufigen  Anschauung. 

3)  Vijn.  zu  V.  102. 

^)  Anir.  und  Mahäd.  zu  V.  112;  etwas  anders  Vijii.  zu  III.  19. 

•^)  Die  Vedänta- Anschauungen  über  diesen  Gegenstand  s. 
bei  Deussen,  System  S.  369 — 381,  und  vgl.  auch  Regnaud, 
Materiaux  II.  107—122. 


—    275    — 

nicht  etwa  die  Natur  der  Seele,  sondern  nur  die  ihrer 
Upädhi's,  des  inneren  Organs  und  der  Sinne.  Hervor- 
gerufen werden  diese  Zustände  durch  die  Guna's  in  der 
Weise,  dass  im  Schlaf  das  Tamas,  im  Wachen  das  Sattva 
und  R  a j  a  s  ihre  Kraft  zur  Geltung  bringen.  Das  Wachen 
( jägara ,  jägarana ,  jägrat ,  jägarita)  wh'd  definirt  als  die 
durch  die  Sinne  vermittelte  Veränderung  des  inneren  Or- 
gans zur  Form  der  Objekte ') ;  das  wesentlichste  Charac- 
teristicum  dieses  Zustands  ist  also  die  sinnliche  Wahrnehmuns: 
der  Aussendinge.  Der  Schlaf  wird  in  der  indischen 
Philosophie  allgemein  in  zwei  verschiedene  Zustände  zerlegt, 
in  den  Traumschlaf  (svapna)  und  den  traumlosen  oder 
tiefen  Schlaf  (sushupti)^  so  dass  stehend  von  einer  Dreiheit 
—  nicht,  wie  bei  uns,  von  einer  Zweiheit  —  der  Zustände 
gesprochen  wird. 

Der  Traumschlaf  ist  ebenso  eine  Veränderung  des 
inneren  Organs  zur  Form  der  Objekte,  wie  das  Wachen, 
nur  mit  dem  Unterschiede,  dass  diese  Veränderung  im 
Traumschlaf  nicht  durch  die  Thätigkeit  der  Sinne,  sondern 
nur  durch  die  in  der  B  u  d  d  h  i  ruhenden  Eindrücke  (sam- 
shdra)  hervorgerufen  wird "-).  Weil  so  die  Wahrnehmung 
der  Traumbilder  auf  AflFektionen  des  inneren  Organs  beruht, 
sind  diese  nicht  absolut  unwirklich  wie  eine  Luftblume 
oder  ein  ähnliches  Unding,  sondern  nur  unwirklich  im 
Verhältniss  zu  den  im  Wachen  gesehenen,  objektiv  realen 
Dingen.  Bei  der  absoluten  Un Wirklichkeit  der  Traumbilder 
würde  die  Vorstellung,  dass  man  geträumt  habe,  unmöglich 
sein.  Im  Traume  werden  also  frühere  Wahrnehmungen 
durch  die  in  der  B  u  d  d  h  i  zurückgelassenen  Spuren  ohne 
äusseren  Anreiz  reproducirt ;  aus  niemals  wahrgenommenen 
Dingen  aber  setzt  sich  kein  Traumbild  zusammen  ■^). 

Der  Tiefschlaf  ist   die  Negation   aller  Affektionen 


1)  Vijii.  zu  I.  148. 

2)  Vijn.  a.  a.  0. 

3)  Aniruddha  zu  III.  27. 

18* 


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des  inneren  Organs,  d.  h.  der  Zustand  völliger  Bewusst- 
losigkeit,  da  die  Seele  die  Eigenschaft  hat  nur  die  Alfek- 
tionen,  aber  nicht  die  in  der  Buddhi  vorhandenen 
Saniskära's  oder  die  ebendaselbst  aufgespeicherten  An- 
sammlungen von  Verdienst  und  Schuld  zum  Bewusstsein 
zu  bringen.  Diese  einfache  und  echte  Sämkhya- Lehre 
ist  durch  das  Sütra  I.  148  complicirt,  welches  —  einen 
Satz  der  V  e  d  ä  n  t  a  -  Philosophie  adoptirend  —  sagt,  dass 
die  Seele  Zeuge  oder  Zuschauer  des  Tiefschlafes  ebenso  wie 
des  Wachens  und  des  Traumschlafes  sei;  womit  behauptet 
ist,  dass  auch  etwas  im  Tiefschlaf  vorhandenes  zum  Be- 
wusstsein gebracht  werde.  Vijnänabhikshu  hilft  sich 
in  seiner  ausführlichen  Besprechung  dieses  Sütra  in  der 
Weise  aus  der  Verlegenheit,  dass  er  zwei  Arten  von  Tief- 
schlaf constatirt,  nach  dem  Unterschiede  des  halben  und 
vollständigen  Schwindens  der  Modifikationen  des  inneren 
Organs.  „  Bei  dem  halben  Schwinden  (ardha-laya)  ",  sagt 
er,  „existirt  zwar  keine  Affektion,  welche  [dem  Innen- 
,.organ]  die  Form  der  Objekte  verleiht,  wohl  aber  ist  das 
„Innenorgan  so  afficirt,  dass  es  die  Form  der  in  ihm 
„selbst  befindlichen  Freude,  des  in  ihm  befindlichen 
„Schmerzes  oder  der  in  ilmi  befindlichen  Betäubung  hat; 
„denn  sonst  [d.  h.  wenn  nicht  eine  derartige  Affektion 
„vorläge]  wäre  bei  dem  Erwachten  die  Erinnerung  an  die 
„zur  Zeit  des  Tiefsclilafs  vorhandene  Freude  u.  s.  w.  un- 
„  erklärlich,  die  sich  z.  B.  in  den  Worten  äussert :  ,Ich  habe 
„gut  geschlafen' ....  Bei  dem  vollständigen  Schwin- 
„den  [der  Veränderungen]  (samagra-laya)  aber  existirt 
„überhaupt  keine  Affektion  des  Innenorgans,  ebenso  wenig 
„wie  im  Tode,  ....  und  deshalb  ist  die  Seele  nicht  Zeuge 
„dieser  [Art  von  Tiefschlaf]." 

Wir  müssen  von  diesen  Spekulationen  absehen,  wenn 
wir  die  Sämkhya- Philosophie  in  unverfälschter  Reinheit 
reconstruiren  wollen.  Alle  älteren  Sämkhya- Schriften 
kennen  nur  einen  Tiefschlaf,  und  das  ist  derjenige ,  den 
Vijnänabhikshu  als  die  zweite  Art  beschreibt,  in 
welchem  die  Modifikationen  des  inneren  Organs  vollständig 


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gescliwuiideii  sind  und  nichts  vorhanden  ist,  dessen  die 
Seele  Zeuge  sein  könnte.  Nur  auf  diesen  Zustand  passt, 
was  sonst  von  dem  Tiefschlaf  ausgesagt  wird,  nämlich  dass 
in  ihm  die  Seele  vorübergehend  erlöst  sei,  da  keine  Em- 
pfindung und  vornehmlich  kein  Schmerz  existire.  Diese 
Ungebundenheit  oder  Schmerzlosigkeit,  in  Folge  deren  die 
im  Weltdasein  stehende  Seele  zur  Zeit  des  Tiefschlafes  sich 
in  demselben  Zustande  befindet  wie  die  erlöste  Seele  in 
der  Isolirung  nach  dem  Tode,  wird  in  Sütra  V.  116  mit 
dem  Vedänta-  Ausdruck  ')  ,N'atur  des  Brahman'  (bralima- 
rüpatä)  bezeichnet ;  und  V  i  j  h  ä  n  a  b  h  i  k  s  h  u  bemerkt  dazu, 
dass  in  unserem  System  das  Wort  Brahman  die  Ge- 
sammtheit  der  Seelen  in  ihrem  Fürsichsein  und  in  der 
Freiheit  von  der  durch  die  Upädhi's  bedingten  Be- 
schränktheit bedeute  -). 

Da  nun  die  Bewusstlosigkeit  das  Wesen  des  Tief- 
schlafes  ist,  so  mussten  selbstverständlich  die  krankhaften 
und  nur  ausnahmsweise  zu  beobachtenden  Zustände  der 
Ohnmacht  (7nürchä)  und  der  bis  zur  Bewusstlosigkeit  ge- 
steigerten Versenkung  (samädhi)  als  mit  dem  Tiefschlaf 
gleichwerthig  angesehen  werden.  Das  über  diesen  gesagte 
gilt  auch  von  den  beiden  abnormen  Zuständen  ^). 

Die  Ohnmacht  wird  in  den  S am khya- Texten  nur 
sehr  selten  direkt  erwähnt,  sondern  gewöhnlich  durch  ein 
ädi  ,u.  s.  w.'  hinter  sushupti  angedeutet;  und  die  Ver- 
senkung ist  ein  durch  die  Ausübung  der  Yoga -Praxis 
künstlich  herbeigeflihrter  Zustand,  mit  dem  unser  System 
sich  nur  aus  Rücksicht  auf  die  ihm  eng  verbundene  Yoga- 
Pliilosophie  beschäftigt.    Wenn  im  Y  o  g  a  s  ü  t  r  a  I.  51  die 


^)  Oder ,  was  nach  ^anikara  zum  Brahmasütra  I.  3.  15  als 
möglich  erscheint :  mit  einem  landläufigen ,  volksthümlichen  Aus- 
druck, dessen  Herkunft  aus  der  Vedänta -Philosophie  der  Ver- 
fasser der  Sämkhyasütra's  vielleicht  nicht  mehr  empfand. 
Vgl.  jedoch  oben  S.  173. 

■^)  Vgl.  zur  Sache  noch  Sutra  II.  34. 

3)  Sütra  V.  116,  117,  Vijn.  zu  I.  16. 


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bewusstlose  (asamprajMta)  Versenkung  als  ,frei  von  dem 
Samen  [des  Gebundenseins]'  (nirbija)  bezeichnet  und  mithin 
der  Erlösung  vollständig  gleichgestellt  wird,  so  ist  hier 
kein  Avirklicher  Widerspruch  mit  der  entgegengesetzten, 
im  Sämkhyasütra  V.  117  vorgetragenen  Lehre  zu 
constatiren,  weil  imYogasütra  allein  die  dem  Tode  des 
Erlösten  unmittelbar  vorangehende  Versenkung  gemeint 
ist.  Weniger  glücklich  sucht  Vijnänabhikshu  den 
anscheinenden  Widerspruch  zu  lösen,  wenn  er  sagt:  „Nur 
„in  der  Absicht  zu  lehren,  dass  in  der  bewusstlosen  [Ver- 
„ Senkung]  die  Zerstörung  des  Samens  allmählich  vor 
„sich  gehe,  ist  [dieser  Zustand]  dort  [im  Yogasütra] 
„samenlos  genannt;  denn  sonst  müssten  ja  alle  die  einzelnen 
„bewusstlosen  Zustände  [in  dem  Leben  des  Yogin]  samen- 
„los  sein,  [also  jeder  unmittelbar  zur  absoluten  Isolirung 
„der  Seele  führen],  und  das  Wiedererwachen  [zu  bewusstem 
„Leben]  würde  unmöglich  sein." 

B.  Die  acht  individuellen  Daseinszustände  (blidva), 
Tugend  und  Lasterhaftigkeit,  Erkenntniss  und  Nichter- 
kenntniss,  Gleichgiltigkeit  und  Nichtgleichgütigkeit  gegen 
die  Sinnenwelt,  übernatürliche  Kraft  und  Mangel  der  über- 
natürlichen Kraft,  sind  schon  in  anderem  Zusammenhang, 
besonders  S.  246,  247  und  268,  zur  Sprache  gekommen.  Hier 
ist  noch  zu  erwähnen,  dass  diese  Zustände  der  Buddhi 
sowohl  ursprünglich  (sämsiddhika)  oder  natürlich  (präkrtika) 
als  auch  geworden  oder  erworben  (vaikrta)  sein  können  ^). 
Das  letztere  ist  bei  den  vier  erstrebenswerthen  Zuständen 
die  Regel.  Die  Ausnahme,  d.  h.  die  Ursprünglichkeit,  das 
Angeborensein   dieser  Zustände,   wird  belegt  2)  durch  den 


1)  Kärikä  43.  Gaudapäda  leitet  aus  den  drei  angeführten  Ad- 
jektiven auch  drei  verschiedene  Kategorien  ab,  indem  er  zwischen 
säinsiddhika  und  präkrtika  eine  minutiöse  Unterscheidung  macht 
imd  diese  mythologisch  begründet.  Selbst  wenn  er  damit  Recht 
haben  sollte,  ist  doch  der  Unterschied  für  uns  zu  unwesentlich, 
um  berücksichtigt  zu  werden. 

2)  In  den  Commentaren  zu  Kärikä  43. 


—    279     — 

Hinweis  auf  den  Stifter  des  Sämkliya- Systems  Kapila, 
der  angeblich  am  Beginn  dieses  Weltalters  im  vollen  Besitz 
der  Tugend,  der  Erkenntniss,  der  Gleichgiltigkeit  gegen 
weltliche  Freuden  und  der  übernatürlichen  Kraft  hervortrat. 
Häufiger  erscheinen  die  entgegengesetzten  Zustände  an- 
geboren. Im  höheren  Sinne  aber  ist  bei  allen  acht  nach 
den  Voraussetzungen  des  Systems  kein  Unterschied  zwischen 
angeboren  und  erworben.  Wenn  die  erworbenen  Zustände 
den  angeborenen  gegenübergestellt  werden,  so  geschieht 
dies  in  ausnahmsweiser  Beschränkung  des  Gesichtskreises 
auf  das  gegenwärtige  Leben;  der  Philosoph,  der  sich  über 
den  empirischen  Standpunkt  erhoben  hat,  weiss,  dass  auch 
die  sogenannten  angeborenen  Zustände  durch  Verdienst 
oder  Schuld  in  früheren  Existenzen  erworben  sind. 

C.     Die    Zustände,    durch    welche    die    Grade    der 
Entfernung  von  dem  höchsten  Ziele  bezeichnet  werden, 

sind  Irrthum  (viparyaya)^  Unvermögen  (acahti)^  Befriedigung 
(tushti)  und  Vollkommenheit  (siddlii).  In  dieser  Stufen- 
leiter kommt  der  Gedanke  zum  Ausdruck,  dass  sich  der 
Mensch  nach  dem  natürlichen  Lauf  der  Dinge  zuerst  in 
dem  Zustand  des  Irrthums  befindet  und  in  Folge  dessen 
an  Unfähigkeit  zur  Meditation  leidet,  dass  er  aber  dann 
beim  Beginn  der  Meditation  zur  Befriedigung  und  schliess- 
lich zur  Vollkommenheit  gelangt.  Diese  vier  Zustände 
werden  unter  der  Bezeichnung  pratyaya-sarga  ,intellek- 
tuelle  Schöpfung'  zusammengefasst  ^)  und  dadurch  in  Gegen- 


1)  Kärikä  46,  Vijn.  zu  Sütra  III.  23,46.  Colebrooke,  Mise. 
Ess.-  I.  259,  nennt  noch  nach  Karikä  52  (bhäväJchyah  sargah)  das 
Synouymon  bhäva-sarga.  Eine  ganz  andere  Bedeutung  ist  den 
vier  Zuständen  in  einem  Verse  des  Väyu  Puräna  bei  Wilson, 
VishnuPuräna  translated  (ed.  by  F.E.Hall)  1.76  Anm.  gegeben. 
Wilson  sagt  auf  Grund  dieses  Verses  a.  a.  0.,  ohne  die  Lehren 
der  von  ihm  selbst  herausgegebenen  Säinkhyakärikä  zu  be- 
rücksichtigen, über  den  jrratyaya-sarga  folgendes:  "In  its  specific 
"subdivisions,  it  is  the  notion  of  certain  inseparable  properties  in 
"the  four  different  Orders  of  beings:   obstruction  or  stolidity  in  in- 


—     280    — 

satz  zu  der  ,elemeiitaren  Schöpfung'  oder  der  ,Scliöpfung 
der  Wesen  aus  den  Elementen'  (hliCda  ^)-,  bhautika '-)-  oder 
tanmätra-sarga)  =^)  gesetzt.  In  der  Beschreibung  dieser  Zu- 
stände zeigt  sich  die  Klassificirungssucht  der  Sämkhya- 
Philosophie  im  hellsten  Lichte;  ihre  Zahlenmanie  nimmt 
hier  geradezu  den  Charakter  des  Albernen  an.  Der  ganze 
Gegenstand  darf  als  die  schwache  Seite  des  Systems  be- 
zeichnet werden. 

Die  ,intellektuelle  Schöpfung'  zerfällt  wegen  der  Un- 
Q-leichheit  in  den  Mischungsverhältnissen  der  drei  G  u  n  a '  s 
in  fünfzig  Theile*),  weil  der  Irrthum  in  fünf,  das  Un- 
vermögen in  achtundzwanzig,  die  Befriedigung  in  neun, 
die  Vollkommenheit  in  acht  verschiedenen  Formen  auftritt. 

Die  fünf  Arten  des  Irrthum s  sind  Nichtwissen 
(avidyä)^  Subjektivismus  (asmitä)^  Verlangen  (rciga)^  Ab- 
neigung (dvesha)  und  Besorgniss  (abkimoem)  ^  oder  auch 
nach  der  Reihe  ,Dunkel  (tavias)^  Bethörung  (molia)  grosse 
Bethörung  (mahämoha)  ^  Finsterniss  {tdmisra)  und  dichte 
Finsterniss  (andlia-tdmisray  genannt.  Jede  dieser  fünf 
Arten  wird  nun  wieder  in  ihre  Unterabtheilungen  zerlegt. 
Das  ,Nichtwissen' ,  der  viparyaya  (d.  h.  wörtlich:  Um- 
kehrung des  wahren  Sachverhaltes)  x«r'  i^ox^jv  und  dem- 
nach die  eigentliche  Ursache  des  Gebundenseins  ^) ,  ist 
achtfach,  weil  es  bewirkt,  dass  man  die  Urmaterie,  die 
Buddhi,  den  Ahamkära  oder  eines  der  fünjF  feinen 
Elemente  für  das  Selbst  hält.  Der  ,Subjektivismus'  ist 
ebenso  achtfach,  weil  die  mit  ihm  behafteten  Götter  die 
acht  übernatürlichen  Kräfte  •'),  welche  sie  besitzen,  als  ihrem 


"animate    things;    inability    or    imperfection    in  animals;    perfecti- 
"bility  in  man;  and  acquiescence  or  tranquil  enjoyment  in  gods." 

1)  Tattvasamäsa  Sütra  20  und  Särakhya-krama-dipikä  Nr.  72. 
'■*)  Kärikä  53,  Mahädeva  zu  Sütra  III.  46. 

2)  Gaudapäda  und  Väcaspatimi^ra  zu  Kärikä  52. 
*)  Kärikä  46. 

5)  Sütra  III.  24. 

•*)  S.  Räjendraläla   Mitra,    Yoga  Aphorisms,   Translation 
p.  121,  und  vgl.  in  diesem  Buche  S.  103  oben. 


—    281    — 

Selbst  angeliörig  und  für  unvergänglich  ansehen  und  sich 
mithin  in  ihrem  gegenwärtigen  Dasein  für  unsterblich 
halten.  Das  ,Verlangen'  ist  zehnfach,  da  es  sich  auf  die 
Sinnesobjekte  richtet,  die  nach  der  Zahl  der  Sinne  in  fünf 
Kategorien  zerfallen  und  wegen  der  Verschiedenheit  der 
himmlischen  und  irdischen  Dinge  als  zehnerlei  gerechnet 
werden.  Die  ,Abneigung'  ist  achtzehnfach  mit  Bezug  auf 
die  eben  erwähnten  zehnerlei  Sinnesobjekte  und  die  acht 
übernatürlichen  Kräfte;  denn  sie  ist  gegen  die  achtzehn 
denkbaren  Faktoren  gerichtet,  welche  störend  auf  den 
Genuss  dieser  Objekte  und  Kräfte  einwirken.  Die  ,Be- 
sorgniss'  ist  ebenso  achtzehnfach,  da  sie  aus  der  Wahr- 
nehmung hervorgeht,  dass  jene  achtzehn  Gegenstände  des 
Besitzes  vergänglich  sind  und  geraubt  werden  können; 
sie  involvirt  die  Furcht  vor  Tod  und  Gefahr  und  den  Hang 
zum  Leben.  In  dieser  Weise  werden  zweiundsechzig  Unter- 
arten des  Irrthums  herausgerechnet  ^). 

Die  achtund  zwanzig  Arten  des  Unver- 
mögens kommen  dadurch  heraus,  dass  die  Defekte  der 
elf  Sinnesorgane  —  Taubheit,  Aussatz  (der  Defekt  des 
Gefühlssinnes),  Blindheit,  Stumpfheit  des  Geschmacks  und 
des  Geruchs,  Stummheit,  Lahmheit  der  Hände  und  der 
Füsse,  Impotenz,  Verstopfung  und  Stumpfsinn  (der  Defekt 
des  inneren  Sinnes)  —  und  die  den  gleich  zu  beschreibenden 
neun  Befriedigungen  und  acht  Vollkommenheiten  entgegen- 
gesetzten Zustände  (viparyaya),  resp.  die  Störungen  (vi- 
ghäta)  derselben,  zusammengezählt  werden.  Die  elf  ersten 
gelten  als  mittelbare,  die  siebzehn  letzten  als  unmittelbare 
Defekte  (vadha)  oder  Unvermögen  des  Innenorgans  -). 


1)  Kärikä  47,  48,  Sütra  III.  37,  41  nebst  den  beiderseitigen 
Commentaren,  Sämkhya-krama-dipikä  Nr.  62,  Colebrooke,  Mise. 
Ess.'2  I.  259,  260. 

•^)  Kärikä  47,  49,  Sütra  III.  38,  42,  Sämkhya-krama-dipikä 
Nr.  63 — 65  (in  Nr.  64  und  65  sind  die  Gegenstücke  zu  den  Be- 
friedigungen und  Vollkommenheiten  beschrieben),  Colebrooke, 
Mise.  Ess.'^  I.  260  (auch  für  die  beiden  folgenden  Abschnitte  zu 
vergleichen). 


—     282    — 

Die  neun  Arten  derBefriedigang  zerfallen  in 
vier    subjektive    (ädhyätmika)    und     fünf    objektive 
(bahya).    „Wer  gelernt  hat,  dass  das  Selbst  von  der  Materie 
„verschieden    ist,    darauf   aber    sich    nicht    bemüht    durch 
„weiteres  Studium  zur  unmittelbaren  Erschauung  der  Yer- 
„schiedenheit  desselben  zu  gelangen,  weil  er  sich  mit  einer 
„unrichtigen  Belehrung   zufi-ieden   giebt,   bei   dem   liegen 
„die   vier   subjektiven   Befriedigungen   vor*)."      Die   erste 
derselben  besteht  in  dem  Vertrauen  auf  die  Materie,  d.  h. 
in   der  Ueberzeugung ,   dass   die   unmittelbare  Erschauung 
des  Unterschiedes   von  Geist   und  Materie  nur  eine  Modi- 
fikation der  letzteren   (d.  h.   ein  mechanischer  Process)  sei 
und    allein  von   der   Materie   (in   der  Gestalt   des  inneren 
Organs)  auch    ohne   weitere   Meditationsübung   zu    Wege 
gebracht   werde.     Die  zweite  Form   setzt  die  Uebernalune 
des   Asketenlebens   voraus    and   ist    auf  die   Meinung  ge- 
gründet, dass  zwar  nicht  die  Materie  eo  ipso  die  erlösende 
Erkenntniss  hervorbringe,  dass  aber  die  Weltentsagung  zu 
diesem  Ziele   führe   und   dabei  jede  Meditation  überflüssig 
sei.     Die   dritte  Form   unterscheidet   sich  von  der  vorigen 
durch   die  Zuversicht   des   Asketen,   dass,    wenn   auch  die 
Erlösung   in   Folge   der  Weltentsagung   nicht  auf  einmal 
eintrete,  doch  jede  Sorge  unbegründet  sei;  man  müsse  nur 
die  Zeit  abwarten,  die  den  ersehnten  Erfolg  bringen  werde. 
Als  die  vierte  und  letzte  Form  der  subjektiven  Befi-iedigungen 
gilt  das  Sichgenügenlassen  an  dem  Glauben,  dass  die  Er- 
reichung der  Erlösung  Glückssache   sei.   —  Die  fünf  ob- 
jektiven  Befriedigungen   finden    sich    bei  Leuten, 
welche  die  Erkenntniss  der  höchsten  Wahrheit  noch  nicht 
erreicht  haben,  aber  auf  den  Genuss  der  Sinnesobjekte  aus 
folgenden   fünf  Ursachen  —  oder   besser:   auf  Grund   der 
folgenden,   in  fünffacher  Weise   specialisirten  Erkenntniss 


1)  Sämkhya-tattva-kaumudi  zu  Kärikä  50.  Die  nachfolgende 
Beschreibung  der  einzelnen  Formen  weicht  etwas  von  Gaudapäda's 
Auffassung  ab  und  wird  von  Vijnänabhikshu  zu  Sütra  III.  43 
bekämpft. 


—     283     — 

—  verzichten;  wenn  sie  nämlicli  zu  der  Einsicht  gelangt 
sind,  dass  1)  das  Erwerben,  2)  das  Erhalten,  3)  die  Ver- 
gänglichkeit, 4)  der  Geniiss  der  Objekte  sinnlicher  Freude 
(weil  die  durch  den  Genuss  wachsenden  Begierden  nicht 
zu  stillen  sind)  und  5)  das  zum  Zwecke  des  Genusses  er- 
forderliche Tödten  und  Quälen  anderer  Wesen  vom  Uebel 
und  mit  Schmerzen  verbunden  ist '). 

Die  acht  Arten  der  Vollkommenheit  unter- 
scheiden sich  als'  drei  eigentliche  Vollkommenheiten  und 
fünf  uneigentliche,  welche  nur  als  Mittel  zur  Erreichung 
jener  drei  zu  betrachten  sind.  Die  drei  wirklichen  Voll- 
kommenheiten bestehen  in  der  Beseitigung  der  drei  Arten 
von  Schmerz '-),  d,  h.  in  der  Erfüllung  der  höchsten  mensch- 
lichen Aufgabe.  Unter  den  fünf  hierzu  empfohlenen  Mitteln 
steht  an  erster  Stelle  die  vernunftgemässe  Ueberlegung 
(üha)  als  die  höchste  Instanz,  welche  die  Sänikhya- 
Philosophie  bei  der  Erforschung  der  Wahrheit  kennt. 
Darauf  folgen  die  mündliche  Unterweisung  (<;abcla),  das 
Studium  (adhyayana)^  die  Gewinnung  weiser  Freunde  und 
der  Verkehr  mit  ihnen  (suhrt-präpti)  und  schliesslich  — 
eine  offenbare  Entlehnung  aus  dem  Kreise  der  brahmanischen 
Anschauungen  —  die  Freigebigkeit  (däna)'"^). 

Den  einzelnen  Formen  der  Befriedigung  und  Voll- 
kommenheit sind  eigenthümliche  Namen  gegeben,  die 
grösstentheils  Beziehungen  zu  den  Begriffen  Wasser,  Fluth 


1)  Kärikä  47,  50,  Sütra  III.  39,  43,  Sämkhya-krama-dipika 
Nr.  66,  wo  die  vier  subjektiven  Befriedigungen  in  falscher  Weise 
erklärt  werden,  wie  die  Vergleichung  mit  den  älteren  Kärikä-  und 
Sütra-Commentaren  zeigt. 

2)  Von  denen  oben  S.  134  gehandelt  ist. 

ä)  ISach  Vijn.  zu  III.  43  geradezu  die  Bezahlung  eines  Lehrers. 
Väcaspatimi9ra  zu  Kärikä  51  giebt  dem  Worte  däna  die  fingirte 
Bedeutung  ,Reinheit,  Läuterung'  und  versteht  darunter  die  Klarheit 
des  Innenorgans,  die  durch  Beseitigung  aller  Irrthümer  und  Zweifel 
erzielt  wird.  —  Zu  der  Lehre  von  den  acht  Vollkommenheiten 
überhaupt  vgl.  Kärikä  47,  51,  Sütra  III.  40,  44,  Sämkhya-krama- 
dipikä  Nr.  67. 


—    284    — 

und  Ueberfahrt  haben  und  sich  in  allen  unsern  Lehr- 
büchern mit  nicht  erheblichen  Abweichungen  vorfinden. 
Da  ich  fürchte  bei  diesen  Zuständen,  die  zwar  eine  Specia- 
lität  des  Sämkhya-Systems  sind,  aber  dem  Geschmack 
europäischer  Leser  schwerlich  entsprechen  werden,  schon 
zu  lange  verweilt  zu  haben,  möchte  ich  wegen  dieser  Be- 
zeichnungen ^)  auf  die  Uebersetzungen  der  S  ä  m  k  h  y  a  - 
Texte  und  auf  die  Einleitung  zu  meiner  Bearbeitung  der 
Sämkhya-tattva-kaumudi  S.  527,  528  verweisen, 
woselbst  ich  glaube  den  Zusammenhang  dieser  Metaphern 
mit  dem  bei  den  Buddhisten  beliebten  Bilde  von  der  Ueber- 
fahrt über  den  Ocean  des  Samsära  in  den  Hafen  des 
Nirväna  wahrscheinlich  gemacht  zu  haben. 


^)  Die  Systematisirangswutli  der  Sämkhya- Lehrer  hat  es 
fertig  gebracht,  selbst  den  Zuständen,  die  den  Befriedigungen  und 
Vollkommenheiten  entgegengesetzt  sind  und  deshalb  für  Formen 
des  Unvermögens  gelten,  mit  a  privativum  gebildete  Namen  zu 
geben:  anambhas,  asalila,  anogha  (Nichtwasser,  Nichtwoge,  Nicht- 
fluth!),  atära,  asutära,  atäratära  u.  s.  w.  Diese  Geschmack- 
losigkeit Gaudapäda's  (zu  Kärikä  50,  51)  oder  eines  seiner 
Vorgänger  ist  freilich  bei  allen  späteren  Autoren  unberücksichtigt 
geblieben,  mit  Ausnahme  des  Verfassers  der  Säiukhya-krama-dipikä, 
der  in  Nr.  64,  65  diese  ungeheuerlichen  Bildungen  mit  Behagen 
aufzählt.  In  Ballantyne's  Text  steht  dabei  fälschlich  anantd 
statt  anambhas,  tämasalinä  statt  asalila,  avedyä  statt  anogha. 


ni.    Die  Materie  als  einlieitlicher  Begriff. 

Nachdem  wir  alle  Entfaltungen,  Funktionen  und  Zu- 
stände der  Materie  in  kosmologisclier  und  physiologischer 
Hinsicht  betrachtet  haben,  liegt  es  uns  ob,  die  Materie  als 
Ganzes,  als  Einheit  ins  Auge  zu  fassen,  wie  sie  oft  in  den 
Sämkhya- Texten  —  gewöhnlich  im  Gegensatz  zu  den 
Seelen  —  behandelt  wird.  Die  nachfolgenden  Zeilen  finden 
deshalb  am  zweckmässigsten  hier  ihren  Platz,  weil  sie  alles 
in  den  beiden  vorangehenden  Kapiteln  erörterte  als  be- 
kannt voraussetzen  und  zugleich  eine  Einleitung  zu  dem 
letzten  Abschnitt  unserer  Betrachtungen,  der  Psychologie 
des  Sämkhya-Sytems,  bieten. 

Für  den  Begriff  der  Materie  im  Allgemeinen  werden 
dieselben  Bezeiclmungen  gebraucht,  wie  für  den  der  Ur- 
materie,  den  sie  nach  ihrer  etymologischen  Geltung  ur- 
sprünglich zum  Ausdruck  brachten :  iwatcrU  und  pradhäna  '). 


1)  S.  oben  S.  208.  —  Vor  etwa  sechzig  Jahren  wurde  zwischen  Co- 
lonel  Vans  Kennedy  und  Sir  Gr  aves  Haughton  ein  Streit  über 
die  Frage  geführt,  ob  das  Sanskrit  überhaupt  ein  dem  philosophischen 
Terminus  'matter'  entsprechendes  Wort  besitze.  Man  vergleiche  über 
diesen  Streit  den  interessanten  Dialog  in  Ballantyne's  Christia- 
nity  contrasted  with  Hindu  philosophy,  p.  114—138.  Der  grössere 
Theil  der  von  Haughton  als  Aequivalente  für  ,Materie'  aufge- 
zählten Worte  ist  allerdings  auszuscheiden,  nämlich  vastu,  vasu, 
carira,  mürti,  tattva  und  padärtha.  Die  beiden  Sämkhya -Aus- 
drücke prakrti  und  pi'adhäna  aber,  mit  denen  alles  nicht- 
geistige bezeichnet  wird,  entsprechen  dem  Begriff  , Materie'  bei 
unsern  Dualisten  so  genau  als  möglich;  nur,  weil  man  nach  Cole- 
brooke's  und  Wilson 's  Vorgang  die  beiden  Worte  mit  ,  Natur' 


—    286    — 

Nicht  selten  sind  mit  diesen  Worten  specielle  Ent- 
wickelungsformen  der  Materie  bezeichnet;  am  häufigsten 
die  inneren  Organe,  wenn  nämlich  diejenigen  Funktionen 
oder  Zustände,  welche  wir  als  diesen  angehörend  kennen 
gelernt  haben ,  Attribute  der  Materie  (prahrti'-dharma)  ^) 
genannt  werden;  oder  der  gesammte  innere  Leib,  wenn 
es  heisst ,  dass  die  Materie  wandere ,  gebunden  sei  und 
erlöst  werde  -) ,  und  dass  der  Schmerz  wesentlich  mit  der 
Materie  verbunden  sei  •').  Mit  solchen  Stellen  in  unseren 
Texten  haben  wir  es  hier  nicht  zu  thun,  sondern  nur  mit 
denen,  welche  von  der  Materie  als  dem  grossen  Ganzen 
der  stofflichen  Welt  handeln. 

Zwei  charakteristische  Qualitäten  der  als  Einheit  be- 
trachteten Materie  (pvahrter  guna-vtgeshau)  sind  Raum 
(die)  und  Zeit  (käla);  beide  gelten  im  metaphysischen 
Sinne  als  ewig  und  allgegenwärtig*).    In  der  empirischen 


zu  übersetzen  pflegte,  konnte  dies  bestritten  werden.  Wer  noch 
jetzt  an  der  Uebersetzung  ,Materie'  anf  Grund  der  in  den  Säin- 
khya-Texten  gegebenen  Beschreibung  (s.  besonders  Kärikä  11) 
Anstoss  nimmt,  sollte  nicht  übersehen,  in  wie  verschiedener  Weise 
die  europäischen  Philosophen  je  nach  ihrer  Weltanschauung  die 
Materie  definirt  haben. 

Anders  steht  es  mit  dem  Worte  dravtja,  das  von  Haughtoii 
auch  als  Aequivalent  für  ,Materie'  angeführt  wurde;  denn  dravya 
ist  gegenüber  pralcrti  und  pradhäna  das  Allgemeinere ,  das  sowohl 
die  Seelen  wie  die  materiellen  Dinge  in  sich  begreift  und  deshalb 
als  jSubstanz'  übersetzt  werden  muss.  Auch  in  den  Sämkhya- 
Texten  ist  gelegentlich  von  dem  Citma-dravya ,  der  seelischen, 
geistigen,  immateriellen  Substanz  die  Rede. 

1)  Z.  B.  bei  Vijii.  zu  II.  9. 

2)  Kärikä  62. 

3)  Vijn.  zu  I.  144,  Mahädeva  zu  II.  7. 

*)  Die  Sämkhya- Lehre  steht  also  in  dieser  Frage  auf  einem 
höheren  philosophischen  Standpunkte  als  der  Vedänta,  der  den 
Raum  aus  dem  Ätman  entstanden  sein  lässt  (s.  Deussen,  System 
S.  250—254),  und  als  die  Vaiceshika-Ny äya-Philosophie, 
welche  Zeit  und  Raum  für  (allerdings  ewige)  Substanzen  (dravya) 
erklärt.  Bei  der  Beurtheilung  dieser  VaiQeshika-Nyäya-An- 
schammg  darf  man  freilich  nicht  übersehen,  worauf  Max  Müller, 


—    287     — 

Welt  indessen  ersclieinen  Raum  und  Zeit  als  begrenzt  und 
erfordern  in  dieser  Eigenschaft  nach  unserm  System  eine 
andere  Erklärung.  Hier  sind  offenbar  zwei  unabhängig 
von  einander  entstandene  Auffassungen  combinirt.  „Soweit 
„Zeit  und  Raum  begrenzt  sind,  entstehen  sie  aus  dem 
„Aether  in  Folge  seiner  Verbindung  mit  diesem  oder  jenem 
,.Upädhi",  oder  —  was  dasselbe  ist  —  „sie  sind  nichts 
anderes  als  der  durch  die  Upädhi's  bestimmte  Aether". 
Im  Falle  des  Raumes  sind  die  Upädhi's  die  körperlichen 
Dinge,  im  Falle  der  Zeit  die  Bewegungen  der  Himmels- 
gestirne ^).  Merkwürdiger  Weise  wird  das  schwierige  Problem 
in  der  S  ä  m  k  h  y  a  -  Literatur  —  wie  überhaupt  in  der 
indischen  Philosophie  —  nur  ganz  beiläufig  und  neben- 
sächlich behandelt. 

Das  Verhältniss  der  gesammten  Materie  zu  den  Seelen 
wird  oftmals  als  das  des  Besitzes  und  des  Besitzers  (sva- 
svämi-hhäva  oder  sva-svämi-samhandha)  bezeichnet,  was 
nach  den  Commentaren  dem  Verhältniss  von  Genossenem 
und  Geniesser  (bhogya-hhokir-hhäva)  gleichkormnt,  oder  — 
wie  wir  sagen  würden  —  dem  von  Objekt  und  Subjekt. 
Obwohl  dieses  Verhältniss  anfangslos  ist,  kann  es  doch 
gelöst  werden,  und  seine  Lösung  ist  nichts  anderes  als  die 
Erlösung  der  Seele  2).  Die  Frage,  wodurch  dieser  von 
Ewigkeit  her  bestehende  Zusammenhang  zwischen  den 
Seelen  und  der  Materie  bedingt  sei,  ist  von  den  Autori- 
täten des  Sämkhya-Systems  verschieden  beantwortet 
worden;  die  Einen  sagen:  durch  das  Werk,  d.  h.  durch 
die  ebenso  anfangslose  Ansammlung  von  Verdienst  und 
Schuld;  der  berühmte  Pafica9ikha  geht  der  Sache  tiefer 


Zeitschrift  der  deutsclien  Morgenl.  Ges.  VI.  24  hinweist,  dass 
dravya  iu  diesen  beiden  Systemen  „nichts  weiter  bedeutet  als  was 
Eigenschaft  oder  Bewegung  besitzt  und  der  innige,  unmittelbare 
Grund  der  Erscheinung  ist".  Jedenfalls  aber  leugnen  die  beiden 
Systeme,  dass  Zeit  und  Raum  Qualitäten  seien. 

1)  Sütra  IT.  12  nebst  den  Commentaren;  vgl.  auch  den  Schluss 
der  Sämkhya-tattva-kaumudi  zu  Kärikä  33. 

2)  Sütra  VI.  70. 


—    288    — 

auf  den  Grund  und  c.^"irt,  da  ja  auch  das  Werk  eine 
bestimmte  Ursache  hab^n  muss:  durch  die  Nichtunter- 
scheidung; und  schUessUch  lehrt  Sanandanäcärya,  dass 
das  zwischen  Seelen  und  Materie  obAvaltende  Verhältniss 
von  Genossenem  und  Geniesser  durch  den  inneren  Körper 
veranlasst  sei,  weil  man  nur  durch  Vermittlung  des  inneren 
Körpers  geniesse  ^).  Diese  letzte  Auslegung  ist  ganz  ober- 
flächlich und  belanglos;  denn  der  innere  Körper  gehört 
ja  in  allen  seinen  Bestandtheilen  der  Materie  an.  Pah- 
ca9ikha's  Erklärung  dürfen  wir  als  die  maassgebende 
öämkhya- Lehre  über  diesen  Punkt  betrachten,  da  auch 
sonst  das  Nichtwissen  oder  die  Nichtunterscheidung  als  die 
letzte  Ursache  des  Weltdaseins  der  Seelen  genannt  wird. 

Das  besprochene  Verhältniss  äussert  sich  in  der  Weise, 
dass  die  Materie  im  Interesse  ihrer  Besitzer  oder  Herren, 
d.  h.  der  noch  nicht  zur  Erlösung  gelangten  Seelen,  in 
der  schon  mehrfach  besprochenen  Weise  thätig  ist  2).  Wenn 
eine  Seele  in  den  Besitz  der  erlösenden  Erkenntniss 
gekommen  ist,  so  erleidet  dadurch  das  Verhältniss  der 
Materie  zu  allen  übrigen  Seelen  keine  Aenderung.  „Gleich- 
„wie  die  Schlange  [d.  h.  der  irrthümlich  für  eine  Schlange 
„gehaltene  Strick],  wenn  sie  auch  aufgehört  hat  mit 
„Bezug  auf  den  erkennenden  zu  wirken,  doch  nicht  davon 
„absteht  denjenigen,  welchem  die  wahre  Natur  des  Stricke 
„noch  nicht  klar  geworden  ist,  durch  das  Schaffen  vo'« 
„Furcht  u.  s.  w.  zu  beeinflussen,  geradeso  steht  auch  die 
„Materie,  obschon  sie  aufgehört  hat  für  die  Seele,  welche 
„im  Besitz  der  Erkenntniss  ist,  zu  wirken,  doch  nicht  von 
„  der  Beeinflussung  der  nicht-erkennenden  durch  das  Schaffen 
„der  Buddhi  und  der  übrigen  Dinge  ab -5)." 

Nun  entsteht  ja  aber  die  unterscheidende  Erkenntniss 
nicht  etwa  in  der  Seele,  sondern  in  der  Buddhi.  Die 
Materie,  deren  feinste  Entwickelungsform  die  B  u  d  d  h  i  ist, 


1)  Sütra  VI.  67—69. 

2)  S.  oben  S.  164,' 165,  224. 

3)  Vijn.  zu  III.  66. 


_    289     —  ^- 

wird  mithin  ganz  consequent  nicht  nur  als  die  Fesslerin, 
sondern  auch  als  die  Befreierin  der  Seele  bezeichnet  und 
dafür  verantwortlich  gemacht,  dass  die  gebundenen  Seelen 
noch  nicht  erlost  sind,  dass  „sie  ihnen  noch  nicht  zur 
Erreichung  ihres  Zieles  verholfen  hat^)."  Wenn  durch 
die  erlösende  Erkenntniss  der  Zusammenhang  zwischen 
einer  Seele  und  der  Materie  aufgehoben  wird,  so  ist  dies 
ebensowohl  im  Interesse  der  Materie  wie  der  Seele;  denn 
der  Sclimerz  gehört  wie  alle  Gefühle  dem  materiellen  Innen- 
organ an,  und  nur  ein  Reflex  von  ihm  fällt  in  den  Spiegel 
der  Seele.  So  heisst  es  in  S  ü  t  r  a  IL  1 :  „  [das  Wirken]  der 
„Materie  dient  zum  Zwecke  der  Erlösung  der  [thatsächlich] 
„freien  [Seele]  oder  zum  Zwecke  der  eigenen";  und  Vi- 
jnänabhikshu  bemerkt  hierzu:  „Die  Urmaterie  schafft 
„die  Welt  zu  dem  Zwecke,  um  die  ihrem  wahren  Wesen 
„nach  von  den  Banden  des  Schmerzes  freie  Seele  von  dem 
„Schmerz  in  der  Form  des  Reflexes  zu  erlösen  oder 
„[kann  man  sagen] :  von  dem  Schmerz,  der  durch  die  Yer- 
„bindung  des  Reflektirens  [mit  der  Seele  in  Zusammen- 
„hang  getreten  ist];  oder  [die  Urmaterie  schafft]  zum 
„Zwecke  der  eigenen  [Erlösung],  d.  h.  zu  dem  Zwecke, 
„um  sich  selbst  von  dem  wirklichen  Schmerz  zu  er- 
„lösen". 

Die  Wesensverschiedenheit  der  Materie  von  der  Seele 
ist  der  Ausgangs-  und  Angelpunkt  des  S  ä  m k hy  a- Systems. 
Nur  in  einer  Hinsicht  sind  diese  beiden  Dinge  einander 
gleich,  nämlich  darin,  dass  sie  weder  einen  Anfang  noch 
ein  Ende  haben;  aber  diese  Ewigkeit  involvirt  schon  den 
hauptsächlichsten  Unterschied,  der  zwischen  Materie  und 
Seele  besteht :  die  erstere  ist  ewig  der  Veränderung  unter- 
worfen (parindmi-nitya)  ^  die  letztere  ewig  unveränderlich 
(kütastha-nüya).  Jeder  Wechsel  und  Wandel  in  der  Welt 
gehört  einzig  und  allein  der  Materie  und  ihren  Modifi- 
kationen an  2). 


1)  Vijfi.  zu  m.  64. 

2)  S.  z.  B.  Vijn.  zu  I.  75,  Einleitung  zu  III.  75. 
Garbe,  Sämkhya-Philosophie.  19 


—    290    — 

Die  weiteren  unterschiede  der  Materie  von  der  Seele 
sind  inKärikä  11  aufgezählt ').  Die  Materie  besteht  nach 
der  Sämkhya- Lehre  1)  aus  den  drei  Guna's,  Sattva, 
Rajas  und  Tamas,  und  besitzt  demnach  die  charakte- 
ristischen Eigenschaften  der  Freude,  des  Schmerzes  und 
der  Apathie.  2)  wirkt  sie  nur  in  der  Gemeinschaft  (avive- 
hhiy  sambliüya-lcärin^  sarnhatya-härin).  „Nichts  ist  allein 
„[für  sich]  zu  seinem  Geschäft  befähigt,  sondern  [nur]  in 
„der  Gemeinschaft  [mit  etwas  anderm];  aus  einem  allein 
„kann  nichts  auf  irgend  eine  Weise  entstehen '-)."  Die 
Materie  ist  3)  Objekt  (visliaya)  oder  —  wie  es  gewöhnlich 
in  unseren  Texten  heisst  —  sie  ist  zum  Zwecke  des  andern 
(d.  h.  der  Seele)  da  (jjardrtha).  Sie  ist  in  dieser  Eigen- 
schaft 4)  vielen  Seelen  gemeinsam  zugehörig,  d.  h.  ein 
einziges  Objekt  kann  von  vielen  Personen  zugleich  erftisst 
werden.  Sie  ist  5)  ungeistig  und  6)  produktiv.  In  allen 
diesen  Hinsichten  ist  die  Seele  das  Gegentheil  von  der 
Materie. 


^)  Vgl.  u.  a.  auch  noch  Vijn.  Einl.  zu  I.  82. 

2)  Sämkhya-tattva-kaumudi  zu  Kärikä  11.  Väcaspatimicra 
giebt  für  aviveldn  noch  eine  andere  Bedeutung  au,  über  die  oben 
S.  233,  234  zu  vergleichen  ist. 


7 


^\ 


Vierter  Abschnitt. 


Die  Lehre  von  der  Seele. 


19^ 


7 


^ 


I.    Die  Seele  an  sich. 


1.   Yorbemerkung  über  die  Bezeiclimiiigen  der  Seele. 

Das  Säinkhya- System  gebraucht  zur  Bezeiclinung 
der  Seele  keine  anderen  Worte  als  die  in  der  indischen 
Philosophie  allgemein  üblichen :  ätman,  pums  und. purusha'^). 

Dass  das  Wort  ätman  ursprünglich  den  Sinn  ,Hauch, 
Athem'  hatte  und  von  hier  aus  die  Bedeutungen  ,eigene 
Person,  Selbst,  Seele'  annahm,  ist  schon  S.  108  erwähnt 
worden.  Etymologisch  ist  es  weder  mit  Grassmann 
und  Curtius  auf  die  Wurzel  vä  , wehen',  noch  mit  BÖlit- 
lingk-Roth  auf  an  ,athmen'  zurückzuführen,  sondern 
mit  Weber-)  auf  ai  ,wandern' ;  die  Grundbedeutung  wäre 
also  ,der  hin-  und  hergehende'.  Doch  schimmert  in  der 
philosophischen  Literatur  nicht  mehr  der  etymologische 
Sinn  durch,  und  ebenso  wenig  die  aus  dem  R  i  g  v  e  d  a  zu 
belegende  älteste  Bedeutung  ,Hauch,  Athem', 

Fums  nnd  purusha  heissen  ursprünglich  ,Mann,  Mensch, 
Person',  bezeichnen  also  im  philosophischen  Sinne  das- 
jenige,  was   an  dem  Menschen  das  wesentliche  ist.     Dass 


1)  Die  angeblichen  Synonyma,  welche  die  Sämkhya-krama- 
dipikä  noch  in  Nr.  37  anführt  (purn-guna-jantu-jiva ,  hshetra-jna, 
nara,  kavi,  brahman,  akshara,  präna,  ya,  ka ,  sa,  esha)  sind  theils 
Attribute  der  Seele,  theils  reine  Fiktionen. 

2)  Jen.  Lit.-Zeit.  1878,  S.  82b  oben.  Weber  stellt  ätman 
hier,  wie  auch  andere  gethan  haben,  mit  «t^os  (cf.  dhüma  d'vfiöi) 
zusammen  und  bemerkt,  dass  nach  dem  Ausweis  des  vedischen 
tman  die  Grundform  ätman  anzusetzen  ist. 


—    294    — 

die  einheimisch-indischen  Ableitungen  von  pumsha  sämmt- 
lich  ungenügend  sind,  lehrt  schon  das  Petersburger  Wörter- 
buch. Die  in  unseren  philosophischen  Texten  gegebenen 
Etymologien  leiden  zudem  an  dem  Fehler,  dass  sie  nicht 
von  der  Grundbedeutung  ,Mann',  sondern  von  der  über- 
tragenen Bedeutung  ,Seele'  ausgehen.  Der  ältesten  und 
geläufigsten  Erklärung  durch  puri  gete  ,der  in  der  [Leibes-] 
Stadt  befindlich  ist'  sind  in  der  Sämkhya-krama-di- 
p  i  k  ä  Nr.  35  zwei  andere  Etymologien  von  derselben  Be- 
schaffenheit zur  Seite  gestellt:  die  Ableitung  von  puräna 
,alt'  (was  so  viel  als  ,ewig'  bedeuten  soll)  und  von  piiro- 
liita  ,vorangestellt,  vorstehend'^).  Die  richtige  Etymologie 
von  pums  und  purusha  hat  Leumann,  Zeitschr.  f.  vergl. 
Sprachf,  XXXII,  S.  10 — 12,  gefunden,  indem  er  sowohl 
pums,  2J'U'-77iäms  wie  pu-rusha  iur  ^pu-vrsha  als  aus  zwei 
Elementen  bestehend  erkannt  hat,  von  denen  schon  jedes 
für  sich  allein  den  Begiiff  ,Mann'  ausdrückt. 

2.    Beweise  für  die  Existenz  der  Seele. 

Obwohl  in  Sütra  I.  138  gesagt  ist,  dass  die  Existenz 
der  Seele  keines  Beweises  bedürfe,  da  sie  von  Niemand 
bestritten  werde,  und  obwohl  die  Seele  gelegentlich  als 
durch  sich  selbst  evident  (svatah  siddha,  svayam-prakäca) 
bezeichnet  wird,  sind  an  anderen  Stellen  in  unseren  Texten 
doch  Beweise  angeftüirt.  Die  Existenz  der  Seele  wird  aus 
der  Idee  des  Ich,  besonders  aus  der  allgemeinen  Vorstellung 
,Ich  erkenne'  abgeleitet,  mit  der  Begründung,  dass  ohne 
die  Seele  das  Ichbewusstsein  ebenso  unmöglich  sei  wie  der 
Schatten  ohne  den  Schatten  werfenden  Gegenstand  oder 
das   Bild   ohne    seine   Grundlage "-),      Verschiedene   andere 


')  Dieses  Wort  ist  vou  Ballantyne  in  wunderbarer  Weise 
missdeutet  worden:  "because  it  is  that  towards  which  the  'highest 
affection'  (purohüa)  is  entertaiucd  [—  seeing  tliat  each  one  loves 
seif,  if  loving  nought  eise  — ]". 

'-)  Auir.  und  Mab.  zu  III.  12,  VijS.  zu  VI.  1. 


—     295    — 

Gründe  finden  wir  in  Kärikä  17  (und  Sütra  I.  140 — 
144)  zusammengestellt.  Die  Seele  ist  deshalb  anzunehmen, 
„weü  das  zusammengesetzte  zum  Zwecke  eines  andern  da 
„ist,  und  weil  es  ein  Gegentheil  von  dem  geben  muss, 
„was  aus  den  dreiGuna's  besteht  und  die  sonstigen  Eigen- 
„ Schäften  der  Materie  besitzt"  i).  Die  Urmaterie  und  alle 
ihre  Produkte  sind  zusammengesetzt ;  alles  zusammengesetzte 
£,ber  dient  zum  Zwecke  eines  andern,  wie  z.  B.  das  Bett 
für  den  Körper  des  Schläfers.  Der  Körper  ist  wiedenun 
zum  Zwecke  eines  anderen  da,  weil  er  gleichfalls  eine 
Zusammensetzung  aus  Theilen  ist;  dieses  andere  dagegen 
muss  unzusammengesetzt  und  mithin  von  allem  materiellen 
wesensverschieden  sein,  da  wir  sonst  einen  regressus  in 
infinitum  erhalten  würden-). 

Die  Existenz  der  Seele  ist  ferner  deshalb  nothwendig, 
„weil  es  einen  Regierer  (adhishthätar)  geben  muss".  Wie 
der  ungeistige  Wagen  von  dem  mit  Intelligenz  begabten 
Lenker  geleitet  wird,  so  muss  die  gesammte  ungeistige 
Materie  von  einem  geistigen  Princip  regiert  werden ;  andern- 
falls wären  die  zweckmässigen  Entfaltungen  und  Verbin- 
dungen der  Materie  unerklärlich.  Diese  Leitung  von  Seiten 
des  geistigen  Princips,  d.  h.  der  Gesarmntheit  der  Seelen, 
beruht  aber  nach  der  Sämkhya-Lehre  nicht  auf  einem 
bewussten  WiUen,  sondern  auf  dem  blossen  Vorhandensein 
der  Seelen,  das  auf  die  Materie  einen  mechanischen  Ä.nreiz 
ausübt,  wie  der  Magnet  auf  das  Eisen  =^).  —  Der  nächste 
Grund  flir  die  Existenz  der  Seele  ist  die  Nothwendigkeit 
der  Annahme  eines  Empfinders  (hhoktar).  Die  Objekte 
der  Empfindung,  Freude,  Schmerz  u.  s.  w.,  werden  von 
jedem  Einzelnen  gefühlt.  Da  nun  die  materiellen  Produkte 
(insbesondere  die  inneren  Organe)  die  Freude,  den  Schmerz 
u.  s.  w.  als  etwas   ihnen   wesentlich   angehöriges  besitzen, 


1)  Vgl.  oben  S.  290. 

•-)  S.   ausser   den  Commentaren  zu  Kärikä   17   noch  die  Com- 
mentare  zu  Sütra  I.  66,  140. 
3)  Vijn.  zu  III.  57,  Y.  9. 


—     296    — 

mithin  empfundenes  Objekt  sind,  können  sie  nicht  zu- 
gleich empfindendes  Subjekt  sein;  denn  ein  anerkannter 
Grundsatz  der  Logik  erklärt  es  für  eine  Unmöglichkeit, 
dass  einunddasselbe  Ding  gleichzeitig  Subjekt  und  Objekt 
sei  (karma-kartr-virodha).  „Deshalb  muss  etwas,  das  nicht 
„das  Wesen  von  Freude  u.  s.  w.  hat,  dasjenige  sein,  auf 
„welches  angenehm,  resp.  widerwärtig  eingewirkt  wird; 
„und  dies  ist  die  Seele  ^)." 

Diesen  Gründen  haben  unsere  Texte  noch  einen  aus 
der  Erfahrung  und  dem  Traditionsglauben  entnonmienen 
hinzugefügt,  der  hier  erwähnt  sei  als  ein  Beispiel  dafür, 
wie  wahrhaft  philosophische  Betrachtung  in  diesen  Büchern 
auf  das  engste  mit  den  Erzeugnissen  einer  kindlichen 
Naivität  verknüpft  ist.  Es  wird  ein  Beweis  für  die  Existenz 
der  Seele  in  der  Thatsache  gefunden,  dass  das  allgemeine 
Streben  der  Menschen  auf  die  Erlösung  von  dem  Schmerze 
des  Weltdaseins,  d.  h.  auf  die  Isolirung  der  Seele  von  der 
Materie,  gerichtet  ist.  Wenn  es  keine  Seele  gäbe,  so  würde 
dieses  Streben  sinnlos,  und  die  Autorität  der  Lehrbücher 
und  der  ,grossen  Seher  mit  den  göttlichen  Augen'  hin- 
föUig  sein,  —  was  für  unsere  Autoren  ausgeschlossen  ist  ^). 

3.    Das  Wesen  der  Seele. 

Die  absolute,  an  sich  seiende  (kevala)  Seele  ist  von 
der  empu'ischen,  zur  Materie  in  Beziehung  stehenden  Seele 
(jiva)  zu  unterscheiden ;  nicht  als  ob  eine  Verschiedenheit 
zwischen  beiden  existire,  sondern  weil  die  Stellung,  welche 
die  Seele  in  dem  empirischen  Dasein  des  Individuums  ein- 
nimmt, nur  dann  genau  präcisirt  werden  kann,  wenn  die 
Natur  der  Seele  an  sich  festgestellt  ist.     Ueberall,   wo  in 


^)  Sämkliya-tattva-kaumudi  zu  Kärikä  17;  Vijii.  zu  Sutra  I. 
66,  99,  141,  143;  Anir.  und  Mab.  zu  V.  66.  —  Zu  alleu  diesen 
Beweisgründen  vgl.  Colebr 00 ke,  Mise.  Ess.- 1.  267,  268,  Barthe- 
lemy  Sain  t-Hilaire,  Premier  Memoire  169  ff.,  444. 

^)  Säinkhya-tattva-kaumudi  zu  Kärikä  17. 


—    297     — 

f\  der  S  ä  m  k  h  y  a  -  Literatur  die  Frage  nach  dem  Wesen 
(svarüpa)  der  Seele  aufgeworfen  ist,  wird  die  Antwort 
gegeben:  die  Seele  ist  Geist  (cit,  citi,  cetana,  caitanya)^ 
und  zwar  reiner  Geist,  Denken  schlechthin  (cin-viätra), 
oder  —  was  nach  der  Ausdrucks  weise  unserer  Texte  auf 
^  dasselbe  hinausläuft  —  stetiges  Licht  (prakaQa).  Da  dieses 
K  das  Wesen  der  Seele  ausmachende  Denken  objektlos  ist 
'  und  sich  nicht  selbständig  zu  bethätigen  vermag,  so  ist 
die  Seele  im  Zustande  des  absoluten  Daseins  —  um  einen 
Ausdruck  Röer's  (Lecture  p.  22)  zu  gebrauchen  —  know- 
ledge  of  nothing  ^).  Hiermit  ist  die  Definition  der  Seele 
erschöpft ;  es  giebt  nach  der  Sämkhya-  Lehre  kein  Attribut, 
welches  den  Begriff  der  Seele  positiver  gestaltet.  In  Ueber- 
einstimmung  mit  dem  berühmten  Ausspruch  der  B  r  h  a  d  ä  - 
ranyaka  Upanishad  (IL  3.  6;  IIL  9.  26;  IV.  2.  4; 
4,  22;  5.  15):  „[Sie  ist]  nicht  so,  nicht  so"  wird  die  Seele 
als  qualität-  und  attributlos  (nirguna,  nirdharma,  nirdhar- 
maka)  bezeichnet  2).  Wenn  auch  diese  Lehre  in  erster  Linie 
gegen  die  Theorie  der  Vai9eshika-Nyäya- Philosophie 
gerichtet  sein  wird,  der  zufolge  die  psychischen  Processe, 
Wahrnehmen,  Erkennen,  Wollen  u.  s.  w. ,  Attribute  der 
Seele  sind,  so  ist  doch  der  Satz  von  der  Qualitätlosigkeit 
der  Seele  stets  in  allgemeinster  Form  ausgesprochen,  so 
dass  er  nicht  bloss  in  jener  Beschränkung  aufgefasst  werden 
kann.  IVIit  dieser  Lehre  scheint  beim  ersten  Blick  im 
Widerspruch  zu  stehen,  dass  Vijfiänabhikshu  in  dem 
Verse,  mit  dem  er  seinen  Commentar  eröffnet,  von  den 
,hunderterlei  Eigenschaften'  der  Seele  spricht  und  dass 
verschiedentlich  in  unseren  Lehrbüchern  die  Eigenschaften 
der  Seele  aufgezälilt  werden  ■^).  Diese  Qualitäten  sind  jedoch 
alle  negativer  Natur,   soweit  sie  nicht  für   die  Stufe   des 


^)  Welche  Rolle  aber  dieses  objektlose  Denken  im  Haushalt 
der  Natur  spielt,  wird  weiter  unten  in  II.  3  erörtert  werden. 

*)  Z.  B.  Sütra  I.  54,  146;  V.  74. 

3)  Kärikä  19,  Sütra  I.  19,  Säinkhya-krama-dipikä  Nr.  34,  86. 
Vgl.  auch  Colebrooke,  Mise.  Ess.2  I.  270. 


—    298    — 

Weltdaseins  aus  der  Geistigkeit  der  Seele  abgeleitet  sind. 
Doch  sind  diese  Negationen  nichts  weniger  als  bedeutungs- 
los; da  sie  für  uns  ihre  positive  Kehrseite  haben,  gewähren 
sie  uns  einen  Einblick  in  die  Vorstellungen,  welche  die  An- 
hänger des  S  ä  m  k  h  y  a  -  Systems  mit  dem  Begriff  der  Seele 
verbanden. 

Die  Seele  ist  anfangslos  (anädi)  und  endlos  (ananta), 
d.  h.  ewig  (nitya).  Die  Lehre,  dass  die  Seele  von  Ewigkeit 
her  und  in  alle  Ewigkeit  hin  existirt,  ist  der  S  ä  m  k  h  y  a  - 
Philosophie  mit  allen  orthodoxen  Systemen  gemeinsam. 
Die  Unsterblichkeit  der  Seele  bedarf  keines  Beweises ; 
aber  das  Wort  wird  hier  in  einem  andern  Sinne  verstanden 
als  in  den  Religionen.  Wohl  ist  die  Seele  an  sich  ewig  und 
unzerstörbar,  aber  nicht  ewig  ist  die  empirische  Existenz 
eines  selbstbewussten  Individuums,  als  welche  die  Fort- 
dauer im  Himmel  oder  in  göttlicher  Würde  von  der  Volks- 
religion gedacht  wird.  Dies  ist  nur  eine  Unsterblichkeit 
im  uneigentlichen  Sinne  (gauna)  ^  da  sie  im  günstigsten 
FaUe  nur  bis  zu  dem  Ablauf  einer  Weltperiode  währt  ^). 

Die  Seele  ist  theillos  (nirbhäga)  2)  und  schon  aus  dem 
Grunde  unvergänglich ;  denn  nur  dasjenige,  was  aus  Theilen 
besteht,  ist  der  Vernichtung  ausgesetzt.  Diese  Lehre  von 
der  Theillosigkeit  der  Seele  steht  im  engsten  Zusammen- 
hang mit  der  Vorstellung  von  ihrer  Grösse.  Li  welcher 
Weise  die  Theorie  der  J  a  i  n  a '  s ,  dass  die  Seele  so  gross 
sei  wie  der  Körper,  widerlegt  wird,  haben  wir  oben  S.  109 
Anm.  gesehen.  Die  Seele  kann,  nicht  von  begrenzter  Aus- 
dehnung (madliyama-2}arimdna,  pariccMnna-parimäna)  sein, 
weil  sie  in  dem  Falle  aus  Theilen  zusammengesetzt  sein 
würde.  So  bleibt,  da  die  S  ä  in  k  h  y  a  -  Philosophie  zu  der 
Vorstellung  von  der  Raumlosigkeit  des  an  sich  seienden 
ebenso  wenig  wie  der  V  e  d  ä  n  t  a  '^j  oder  irgend  ein  anderes 
indisches  System  gelangt  ist,  nur  die  Alternative,  die  Seele 


*)  Vijn.  zu  I.  6. 

2)  Sütra  V.  73. 

3)  S.  Deusseu,  System  des  Vedänta  S.  329, 


—    299     — 

entweder  für  unendlich  klein  oder  für  unendlich  syoss  zu 
erklären.  Beide  Anschauungen  haben  innerhalb  der  Säna- 
khya-Schule  geherrscht,  und  zwar  ist  die  Annahme  der 
unendlichen  Kleinheit  die  ursprüngliche.  Freilich  ist 
diese  Ansicht  nur  aus  einem  einzigen  Fragment  des  alten 
Säiukhya-Lehrers  Panca9ikha  nachzuweisen,  in  Vyä- 
sa's  Yogabhäshya  I.  36:  „Wenn  er  dieses  atomgrosse 
,,(anu-mätra)^)  Selbst  erkannt  hat,  so  ist  er  sich  dessen 
„bewusst,  was  es  heisst  ,Ich  bin'."  Aber  diese  Stelle  ist 
ganz  unverdächtig;  denn  kein  späterer  Sämkhya-  oder 
Yoga-Lehrer  konnte  auf  den  Gedanken  kommen,  einer 
so  hoch  verehrten  Autorität  wie  Panca9ikha  einen  mit 
den  Lehren  des  Systems  im  Widerspruch  stehenden  Satz 
in  den  Mund  zu  legen.  Gerade  die  abweichende  Lehre 
ist  ein  Beweis  für  die  Echtheit  des  Fragments.  Zudem 
passt  die  Theorie  von  der  unendlichen  Kleinheit  der  Seele 
besser  in  den  Zusammenhang  des  Systems  als  die  spätere 
Anschauung;  denn  sie  ist  mit  der  Sämkhya -Lehre  von 
der  unzähligen  Menge  individueller  Seelen  aufs  schönste 
vereinbar,  während  dies  bei  der  Theorie,  dass  eine  jede 
Seele  unendlich  gross  sei,  Schwierigkeiten  macht;  man 
müsste  ja  auf  Grund  dieser  Theorie  mit  Vijnänabhik- 
shu^)  zugleich  eine  Nichtverschiedenheit  der  einzelnen 
Seelen  im  Sinne  von  räumlicher  Ungetrenntheit  (avibhäga) 
und  eine  Verschiedenheit  im  Sinne  von  gegenseitiger 
Nichtexistenz  (anyonyä-hhäva)  constatiren. 

Alle   anderen  Sämkhya- Lehrer   also   von   1 9 v a r a - 
k r s h n a •^)  an  erklären  im  Widerspruche  mit  Pafica9ikha 


^)  Die  der  späteren  Ansicht  huldigenden  Ausleger  des  Yoga- 
bhäshya suchen  das  anu-mätra  Panca§ikha's  hinwegzudeuten ; 
Vacaspatimi^ra  erklärt  es  in  der  Tikä  durch  dur-adhigama  und 
Vij  iiänabhikshu  im  Yogavärttika  p.  67  dui'ch  sühshmatama. 
Die  Bedeutung  ,schwer  erkennbar'  könnte  wohl  anu  au  sich  haben, 
aber  anu-mätra  nimmermehr. 

2)  Zu  Sütra  I.  151  und  sonst. 

3)  S.  Kärikä  10,  11. 


—    300    — 

die  Seele  für  alldurchdringend,  allgegenwärtig,  unendlich 
gi'oss  (vibhu,  vydpaka,  parama-mahant)^  und  hierin  ist  der 
Einfluss  der  V  e  d  ä  n  t  a  -  Philosophie  auf  unser  System  kaum 
zu  verkennen.  Dieser  Einfluss  muss  sich  zwischen  dem 
ersten  Jahrhundert  n.  Chr.,  der  muthmasslichen  Lebenszeit 
Panca9ikha's,  und  dem  fünften  Jahrhundert,  in  welches, 
wie  wir  oben  S. 59 sahen,  dieSämkhyakärikä  spätestens 
zu  verlegen  ist,  geltend  gemacht  haben.  Wenn  die  späteren 
Autoren  ihre  Polemik  gegen  die  ursprünghche  Lehre  von 
der  atomistischen  Grösse  der  Seele  vorzugsweise  damit  be- 
gründen, dass  dieser  Anschauung  die  Thatsache  der  den 
ganzen  Körper  durchdringenden,  d.  h.  an  jedem  Theile 
des  Körpers  wahrnehmbaren  Empfindung  widerstreite  ^), 
so  ist  auch  dieser  Grund  aus  dem  Gedankenkreise  der 
Vedänta- Philosophie  entlehnt ^). 

Sobald  das  Dogma  der  Allgegenwart  der  Seele  an- 
erkannt war,  musste  diese  auch  für  bewegungslos  (nish- 
hriya)  erklärt  werden.  Dieser  Grund  wird  vorzugsweise 
gegen  die  volksthümliche  Anschauung  ins  Feld  geführt, 
die  für  den  Standpunkt  des  Sämkhya  auch  aus  anderen 
Gründen  unmöglich  ist,  dass  nämlich  die  Seele  ,wandere'  3). 
Wie  wir  früher  gesehen  haben,  ist  in  unserem  System  der 
innere  Körper  das  Princip  der  Metempsychose. 

Die  Seele  ist  ferner  unveränderlich  (aparinäminy  hü- 
tastha)^  und  hieraus  wird  eine  Reihe  weiterer  Negationen 
abgeleitet.  Sie  ist  absolut  unthätig  (akartar)^  d.  h.  willen- 
los. Wenn  die  Seele  thätig  wäre,  so  würde  sie,  weil  nicht 
aus  den  drei  G  u  n  a '  s  bestehend,  nur  gute  Werke  thun  *). 
Sie  ist  unberührt  (asanga)  von  Freude,  Schmerz  und  allen 
sonstigen  Affektionen  ^) ;  wie  sie  an  deren  Entstehung 
unbetheiligt  ist,  so  steht  sie  ihnen  auch  vollkommen  gleich- 


1)  Vijn.  zu  I.  51. 

2)  S.  Deussen,  Vedänta  S.  333,  334. 

3)  Sütra  I.  48—51,  V.  76. 

*)  Sämkhya-krama-dipikä  Nr.  38;  vgl.  auch  Nr.  42,  43. 
6)  Sütra  I.  15. 


—    301    — 

giltig,  neutral  (udasma,  viadhyastha)  gegenüber.  Da  sie 
somit  ihrem  Wesen  nach  rein  (cuddha^  amala)  oder  ewig 
frei  (nitya-mukta)  ist  ^) ,  darf  man  ihr  direkt  weder  ein 
Gebundensein  noch  ein  Erlöstsein  zuschreiben;  denn  das 
letztere  setzt  ein  früheres  Gebundensein  voraus. 

Die  V  e  d  ä  n  t  a  -  Philosophie  lehrt,  dass  die  Seele  ihrer 
Natur  nach  Sein,  Denken  und  Wonne  (sac-cid-dnanda) 
sei;  aber  das  ist  ein  Irrthum.  Die  Wonne  gehört  dem 
Wesen  der  Seele  nicht  an;  denn  ein  und  dasselbe  Ding 
kann  nicht  beides,  Wonne  und  Denken,  sein,  da  rein 
geistiges  Wesen  und  Wonnenatur  sich  gegenseitig  aus- 
schliessen.  Schon  auf  dem  Standpunkt  des  Vedänta 
verbietet  sich  jene  Annahme,  die  das  Zugeständniss  einer 
Dualität  in  sich  begreift;  denn  die  Wonne  ist  etwas  em- 
pfundenes und  ohne  ein  zweites,  d.  h.  ohne  ein  empfindendes, 
nicht  möglich  -).  Zwar  sprechen  auch  die  Anhänger  der 
Sämkhya- Philosophie  von  einer  ,Freude  der  Seele'  (ätma- 
suhha);  denn  sie  nennen  so  die  höchste  Wonne,  die  der 
Mensch  geniessen  kann,  d.  h.  die  der  Ruhe,  in  der  das 
reinste  S  a  1 1  v  a  wirkt,  im  Schlafe  und  ähnlichen  Zuständen, 
und  das  Glück  der  Entsagung.  Aber  jener  Ausdruck  ist  nur 
bildlich  zu  verstehen;  denn  auch  diese  Wonne  ruht  nicht 
in  der  Seele,  sondern  in  dem  inneren  Organ  ^). 

Die  Seele  ist  schliesslich,  obwohl  eine  Substanz  (dravya), 
immateriell  (aguna)*),  und  mithin  von  der  Urmaterie  so- 
wohl als  von  allen  Produkten  wesensverschieden  s),  wie  das 
schon  oben  S.  289,  290  im  Einzelnen  ausgefühi-t  wurde. 
Die  Vedänta -Lehre,  dass  die  Seele  nicht  nur  causa  effi- 
ciens,   sondern  auch  causa   materialis  der  Welt  sei,   wird 


1)  Sütra  I.  19,  162,  163;  Särpkhya-krama-dipikä  Nr.  34,  36. 

2)  Sütra  y.  66,  67.  Die  eingehendere  Polemik  gegen  diese 
Vedänta -Theorie  ist  in  den  Commentaren  zu  den  beiden  Sütra's 
zu  finden. 

3)  Vijn.  zu  I.  65,  IV.  11. 

*)  Sämkhya-krama-dipikä  Nr.  34,  36. 

5)  Kärikä  11,  17,  Sütra  I.  139—144,  lU.  75,  VI.  2-4. 


—     302     — 

durch  diesen  Fimdamentalsatz  des  Sämkliya- Systems 
zurückgewiesen').  Die  unproduktive  a-prasava-dharmin)-) 
Seele  besitzt  nicht  die  Fähigkeit,  sich  in  irgend  einer  Weise 
zu  entfalten. 

Nachdem  wir  hiermit  alles  zusammengestellt  haben, 
was  unsere  Texte  über  das  Wesen  der  Seele  aussagen,  ist 
ein  Missverständniss  des  Resume's  in  Kärikä  64  aus- 
geschlossen: „So  entsteht  aus  dem  Studium  der  Principien 
„die  abschliessende,  geläuterte,  weil  iirthumslose,  absolute 
„Erkenntnisse  ,lch  [d.  h.  das  Selbst,  die  Seele]  bin  nicht; 
„nichts  ist  mein;  [das]  ist  nicht  Ich'."  Der  wahre  Sinn 
dieses  Satzes  wird  erst  durch  die  erforderlichen  Ergänzungen 
,Ich  bin  nicht  [nämlich  thätig]'  u.  s.  w.  verständlich.  Schon 
Wilson  sagt  in  seinen  Anmerkungen  zu  dieser  Kärikä 
S.  181,  dass  man  in  dem  etwas  auffalligen  Satze  nicht 
eine  Negation  der  Seele  finden  dürfe,  und  giebt  auf  Grund 
der  Auslegungen  der  Commentatoren  die  richtige  Er- 
klärung: "It  is  merely  intended  as  a  negation  of  the 
"soul's  having  any  active  participation ,  any  individual 
"interest  or  property,  in  human  pains,  possessions,  or  feel- 
"ings".  Auch  Röer,  Lecture  p.  22,  äussert  den  Verdacht, 
dass  alle  hohen  Aussprüche  der  Sämkhya-Texte  ein 
reiner  Hohn  seien  und  dass  das  System  in  Wirklichkeit  ein 
krypto-materialistisches  sei,  nur  um  diese  Annalnue  sofort  zu 
widerlegen.  Obwohl  die  Seele  von  der  Sämkhya- Philo- 
sophie fast  vollständig  des  Charakters  entkleidet  ist,  den 
Religion  und  Philosophie  gewohnt  sind  ihr  zuzuschreiben, 
so  ist  doch  der  Begriff  der  Seele  für  dieses  System  ebenso 
wesentlich  als  der  der  Materie.  Erst  der  Stifter  des  Bud- 
dhismus, der  in  so  wichtigen  Punkten  auf  den  Lehren  des 
Sämkhya-Systems  fusst,  ist  einen  Schritt  weiter  gegangen 
und  hat  die  Seele  geleugnet  '^). 


1)  Sutra  VI.  SS. 

2)  Kärikä  11,  Sämkhya-krama-dipikä  Nr.  34,  86. 

3)  In  welcher  Weise  er  dies  gethan  hat,  ist  bei  Oldenberg, 
Buddha-^  S.  274  ff.  nachzusehen. 


303 


4.    Die  Yiellieit  der  Seelen. 

Die  Annahme  einer  Vielheit  individueller  Seelen,  die 
einen  der  wichtigsten  Unterschiede  unseres  Systems  von 
dem  spirituellen  Monismus  des  Vedänta  darstellt,  wird 
in  dreifacher  Weise  begi-ündet.  Die  Hauptstelle  istKärikä  18: 
„Die  Vielheit  der  Seelen  ergiebt  sich  1)  aus  der  Vertheilung 
„von  Geburt,  Tod  und  Organen,  2)  aus  dem  nicht-gleich- 
„  zeitigen  Wirken  und  3)  schon  aus  dem  verschiedenen 
„Zustand  der  drei  Guna's."  Zur  Erläuterung  dieser  drei 
Gründe  glaube  ich  nichts  besseres  thun  zu  können  als  die 
eingehenden  —  übrigens  offenbar  auf  Gaudapäda's 
kürzerem  Commentar  basirenden  —  Erklärungen  Väcas- 
patimi9ra's,  soweit  sie  für  uns  wesentlich  sind,  anzu- 
führen ^). 

1)  „Geburt  ist  die  Verbindung  der  Seele  mit  den 
„folgenden  neuen,  als  Wohnstätte  charakterisirten Dingen: 
„Körper,  äussere  Sinne,  innerer  Sinn,  Ahainkära,  Buddhi 
„und  Empfindung;  sie  ist  aber  keine  Veränderung  an  der 
„Seele,  weil  diese  unveränderlich  ist.  Tod  ist  das  Ver- 
„ lassen  eben  dieser  angenommenen  Dinge,  des  Körpers 
„u.  s.  w. ,  aber  nicht  die  Vernichtung  des  Selbstes,  weil 
„dieses  unwandelbar  und  ewig  ist.  Unter  den  Organen 
„sind  die  dreizehn  von  der  Buddhi  an  [bis  zu  den 
„  Organen  der  Wahrnehmung  und  des  Handelns]  verstanden. 
„Die  Vertheilung  von  Geburt,  Tod  und  Organen  be- 
„  deutet  das  Je-anders-sein ;  [und]  dieses  [in  Wirklichkeit 
„bestehende  Je-anders-sein]  ist  doch  unvereinbar  mit  [der 
„Annalune],  dass  ein  und  dieselbe  Seele  in  allen  Körpern 
„sei.     Dann   müssten  ja,   wenn   einer   geboren  wird,  alle 


^)  Die  übrigen  Stellen  in  unseren  Texten,  die  sich  mit  der 
Vielheit  der  Seelen  beschäftigen  (Sutra  I.  149 — 154,  VI.  45,  Säm- 
khya-krama-dipikä  Nr.  45)  bringen  nichts  neues  hinzu.  Cole- 
brooke's  Erörterung  (Mise.  Ess.'^  I.  268)  ist  ganz  auf  Kar.  18 
gegründet. 


—     304     — 

„geboren  werden,  wenn  einer  stirbt,  alle  sterben,  wenn 
„einer  z.  B.  erblindet,  alle  erblinden,  und  wenn  einer  be- 
„wusstlos  wird,  alle  bewusstlos  werden.  Es  würde  also, 
„[wenn  es  nur  eine  Seele  gäbe,]  keine  Vertheilung  be- 
„ stehen  können;  diese  ist  vielmehr  nur  möglich,  wenn 
„entsprechend  den  einzelnen  Leibern  die  Seelen  verschieden 
„sind " 

2)  „Wenn  auch  das  Wirken  —  d.  h.  die  Tliätigkeit 
„ —  dem  inneren  Organ  angehört,  so  wird  dasselbe  doch 
„auf  die  Seele  übertragen;  und  demnach  müsste,  wenn 
„diese  in  einem  einzigen  Körper  thätig  ist,  dieselbe  unter 
„der  Voraussetzung,  dass  es  nur  eine  [Seele]  in  allen 
„Körpern  giebt,  überall  thätig  sein  und  in  Folge  dessen 
j,alle  Körper  gleichzeitig  in  Bewegung  setzen  ^).  Bei  der 
„[Annahme  einer]  Vielheit  [der  Seelen]  aber  fiillt  dieser 
„Einwand  fort." 

3)  „Einige  Wohnstätten  der  Existenz  [d.  h.  einige 
„Körper]  sind  reich  an  Sattva,  wie  die  aufwärts  ge- 
„stiegenen  [d.  h.  die  Götter];  einige  sind  reich  an  Rajas, 
„wie  die  Menschen;  einige  reich  an  Tamas,  wie  die 
„Thiere.  Solch  ein  verschiedener  Zustand  —  d.  h.  solch 
„ein  Anderssein  —  der  drei  Guna's  in  diesen  und  jenen 
„Wohnstätten  der  Existenz  wäre  nicht  möglich,  wenn  es 
„nur  eine  Seele  gäbe." 

Wenn  die  ungeheure  Zahl  der  individuellen  Seelen 
begrenzt  wäre,  so  würden,  da  die  Erlösung  wie  in  der 
Gegenwart  auch  in  der  Zukunft  immer  Einzelnen  zu  Theil 
werden  wird,  in  der  fernsten  Zeit  einmal  alle  Individuen 
zur  Erlösung  gelangt  sein  müssen,  und  damit  würde  das 
Ende  der  Welt  gekommen  sein.  Dies  aber  widerspricht 
den  Voraussetzungen  des  Systems,  nach  dem  der  Sam- 
sära  ewig  währt.  Die  Annahme  einer  unendlichen 
Vielheit  von  Seelen  war  mithin  unerlässlich -). 


^)  Gaudapäda  verlegt  den  Schwerpunkt  auf  die  Verschieden- 
artigkeit der  menschlichen  Handlungen. 
2)  Anir.  zu  I,  159,  Vijn.  zu  II.  4. 


n.    Die  empirische  Seele. 


1.    Das  Yerliältniss  der  Seele  zu  den  Organen  und 

zum  Leibe. 

Die  an  sicli  seiende  Seele  wird  zur  empirischen  (jiva) 
durch  die  Verbindung  rait  den  Upädhi's,  d.h.  mit  dem 
Innenorgan,  den  Sinnen  und  dem  Körper,  durch  die  hierauf 
beruhende  Verbindung  mit  den  Fähigkeiten  des  Empfindens 
und  Handelns,  und  durch  die  ebenfalls  auf  den  Beziehungen 
zum  Innen  organ  beruhende  Verbindung  mit  dem  Athem, 
die  das  den  Körper  bildende  und  das  animalische  Leben 
hervorbringende  Princip  ist  ^).  Dieser  Zusammenhang  einer 
jeden  Seele  mit  ihren  Upädhi's  besteht  in  der  Form 
einer  anfangslosen  Continuität  -),  die  nur  in  den  Perioden 
der  Weltauflösung  unterbrochen  wird  und  bis  zur  Er- 
reichung der  unterscheidenden  Erkenntniss  währt.  Vermöge 
dieses  Zusammenhangs  ist  die  Seele  Herr  (svämin)  und 
Leiter  (adhishthätar)  ihrer  Upädhi's.  Aber  sie  übt  keinen 
aktiven  Einfluss  auf  die  Organe  aus  und  weist  ihnen  nicht 
an,  was  sie  zu  thun  haben;  denn  sie  ist,  wie  wir  gesehen 
haben,  willenlos  und  ihrem  Wesen  nach  ewig  unveränder- 
lich. Die  Organe  andererseits  arbeiten  für  die  Seele,  ohne 
zu  wissen,  was  sie  thun,  und  folgen  dabei  nm"  den  blinden 
Trieben  der  Materie.    Es  ist  mithin  ganz  consequent,  wenn 


1)  Sütra  I.  97,  V.  113—115,  VI.  63;  vgl.  auch  oben  S.  257. 

2)  Sämkbya-tattva-kaumudi  zu  Kärikä  21,  Viju.  zu  I.  19. 
Garbe,  Sämkhya-Philosophie.  20 


—     306     — 

das  Innenorgan  wegen  des  ihm  angeliörenden  Willens  als 
der  eigentliche,  wirkliche  (anupacarita,  muhhya)  Leiter  be- 
zeichnet wird  ').    Was  also  ist  die  Herrschaft  und  Leitung 
der  Seele?   Darauf  erhalten  wir  die  Antwort:   Die  That- 
sache,  dass  die  Seele  durch  ihr  blosses  Dasein  die  Ursache 
einer  Veränderung   in    den  Organen   ist   auf  Grund    einer 
besonderen    Verbindung    (samyoga-viQesha)  2).      Diese    ,be- 
sondere  Verbindung'  ist  nun  nicht  etwa  eine  innige  Ver- 
einigung, ein  Verschmelzen  der  Seele  mit  ihren  Organen, 
sondern   besteht  lediglich   darin,   dass  die  Seele,   die  ihrer 
Natur  nach  Licht  ist,   die  inneren  Organe  erleuchtet  oder 
durchglüht.    Wie  die  Sonne,  wenn  sie  die  Erde  bescheint, 
oder  das  Feuer,   wenn   es   das  Eisen  durchglüht,  oder  die 
rothe  Hibiscus-Blüthe ,   wenn   sie  durch  den  Krystall  hin- 
durchschimmert, keine  Veränderung  erleidet,  ebenso  wenig 
wird  die  Seele  durch  den  Einfluss,  den  sie  auf  die  Organe 
ausübt,   selbst   irgendwie   alterirt=^).     Wenn   demnach   die 
vielbesprochene  , Verbindung'  einzig  und  allein  darin  beruht, 
dass  die  Seele,    ohne   im  Geringsten   aus   ihrer  Indifferenz 
herauszutreten,  durch  das  von  ihr  ausstrahlende  Licht  den 
ganzen   Organismus   mit   bewusstem   Leben    erfüllt   —   es 
wird  darüber  des  näheren  unten  in  Kapitel  3  zu  handeln 
sein — ,  so  ergiebt  sich,  dass  eine  w  i  r  k  1  i  c  h  e  Verbindung 
der    Seele    mit    den    Organen   und   dem   Leibe   gar   nicht 
existirt,   und   dass   nur   derjenige   von   einer  solchen  Ver- 
bindung sprechen  kann,    der   noch  nicht  zur  Erkenntniss 
der  Wahrheit   gelangt   ist.     Das   ist  in  Sütra  L  55  mit 
den   Worten    ausgedrückt:    „Die   Verbindung   [der  Seele] 
„mit  jener  [d.  h.  der  Materie]  beruht   auf  der  Nichtunter- 
„scheidung."     In  Wahrheit  also   giebt   es  gar  keine  empi- 
rische Seele ;  und  wenn  in  den  Texten  von  einer  empirischen 
Seele    die    Rede    ist    und    dieser    Attribute    zugeschrieben 
werden,  die  dem  Wesen  der  an  sich  seienden  Seele  wider- 


1)  Sütra  I.  99  nebst  den  Commentaren. 

2)  S.  besonders  Mahädeva  zu  I.  142,  V.  114. 

3)  Sütra  I.  99,  145,  146,  VI.  50  nebst  den  Commentaren. 


—    307     — 

streiten  —  wie  z.  B.  die  Begrenztheit ')  oder  Gebundensein 
und  Erlösung,  Unterscheidung  und  Nichtunterscheidung  — , 
so  „ist  das  nur  ein  Ausdruck,  aber  keine  Realität,  da 
„diese  im  Denkorgan  ruhen-)."  Das  bedeutet,  dass  unter 
der  ,empirischen  Seele'  einfach  der  von  der  Seele  durch- 
leuchtete Complex  von  Upädhi's  zu  verstehen  ist,  oder 
—  was,  wie  wir  sehen  werden,  auf  dasselbe  hinauskooimt  — 
die  Seele  mit  dem  Spiegelbild  des  Innenorgans.  Die  Seele 
selbst  aber  ist  immerdar  unabhängig  von  ihren  Upädhi's 
und  deren  Aflfektionen ;  und  das  Eintreten  aus  dem  Zustand 
des  Gebundenseins  in  den  der  Erlösung  ist  nichts  anderes 
als  die  Erreichung  der  Erkenntniss,  dass  die  Seele  realiter 
niemals  gebunden  war  und  gebunden  sein  kann. 

Dieser  ganze  Vorstellungskreis  ist  den  entsprechenden 
Anschauungen  des  Vedänta-Systems  so  nahe  verwandt, 
dass  man  sich  kaum  der  Annahme  einer  gegenseitigen 
Beeinflussung  verschliessen  kann.  Ganz  offenbar  ist  der 
vedantistische  Einfluss  auf  die  jüngeren  Sämkhya- Texte 
da,  wo  der  Unterschied  der  an  sich  seienden  und  empirischen 
Seele  durch  die  Bezeichnung  ,das  höhere  (oder  höchste, 
para,  parama)  und  niedere  (apara)  Selbst'  ausgedrückt 
wird"^);  liier  liegt  die  Entlehnung  aus  der  Terminologie 
des  Vedänta  (para  und  apara  brahman)  auf  der  Hand. 

2.    Das  Yerhältniss  der  Seele  zum  Handeln. 

Aus  dem  eben  gesagten  geht  auch  hervor,  dass  die- 
jenigen Stellen,  welche  von  dem  Handeln  der  Seele  oder 
von  ihren  Werken  sprechen,  nicht  wörtlich  zu  verstehen 
sind*);  denn  die  Seele  ist  immerdar  unfähig  zu  jeglicher 
Thätigkeit  ^)   und  hat  nicht  die  Macht  einen  Grashalm  zu 


1)  Vijn.  zu  VI.  63. 

2)  Sütra  I.  58;  vgl.  auch  I.  7. 

s)  Anir.  zu  II.  1,  Vijn.  zu  VI.  63;  s.  auch  schon  Mbh.  XII.  6921. 
*)  Sütra  I.  97  (Anir.),  II.  8. 
5)  Kärikä  19. 

20* 


—     308     — 

krümmen   (trnasya   hubji-harane    'py   anicvarah) ').      „Der 
„Seele  wird  die  Tliätigkeit  auf  Grund  ihres  Herrseins  [nurj 
„in  uneigentlicliem  Sinne   zugeschrieben,   wie   z.  B.   Sieg 
„und   Niederlage,    welche   doch   den   Soldaten   angehören, 
„uneigentlich  dem  König  zugeschrieben  werden,  weil  dieser 
„die  Folgen  des  [Sieges  oder  der  Niederlage] ,  die  Freude 
„oder  den  Schmerz,  empfindet  und  Herr  über  jene  [Soldaten] 
„ist",   sagt   Vijiiänabhikshu   zu    Sütra   I.  76  2).     Das 
in   Wirklichkeit    handelnde    Princip    ist    das    zweite    der 
inneren   Organe,    der  Ahamkära,   wie   wir   schon  oben 
S.  250   erkannten.     Wie   kommt  es   dann  aber,   dass  uns, 
bevor  wir  nicht  den    wahren  Sachverhalt  begriffen  haben, 
die    Seele    als    handelnd   erscheint?    Weil    —    antwortet 
Kärikä20^),    in    welcher    Strophe   die    Quintessenz    der 
Sämkhya- Lehre  beschlossen  liegt,  —  „in  Folge  der  Ver- 
„bindung   mit    der    [Seele]    der  ungeistige   innere  Körper 
„scheinbar  geistig,  und  ebenso  die  am  Handeln  unbetheiligte 
„[Seele]  scheinbar  handelnd   wird."     Oder  specieller:   weil 
der  ungeistige  Ahamkära   nur  in  Folge  des  belebenden 
Lichtes  wirkt,   das  die  Seele   auf  ihn  wirft,   und   weil   es 
eine  Funktion  des  Aha  m  k  ä  r  a  ist  den  Wahn  zu  erzeugen, 
dass  unser  Ich,   unsere  Seele   das  handelnde  und  leidende 
Subjekt  sei. 

Wiewohl  nun  aber  die  Seele  keinen  Theü  an  dem 
Handeln  hat  und  die  Werke  ihr  nur  durch  die  Nicht- 
unterscheidung aufgebürdet  werden,  so  genügt  dieses  Ver- 
hältniss  für  unser  System  doch  zur  Erklärung  der  Thatsache, 
dass  nur  ein  bestimmtes  Innenorgan  Werkzeug  für  eine 
bestimmte  Seele  ist,  und  dass  die  Seele  Maitra's  nicht 
geniessen  kann,  was  das  Innenorgan  C  a  i  t  r  a '  s  zubereitet. 
Die  Werke,  die  auf  die  eben  beschriebene  Art  zu  der  Seele 
in  Beziehung  gesetzt  werden,  gelten  als  ilir  Eigenthum, 
durch    welches    sie    ein    specielles   nur    für  sie  wirkendes 


1)  Sämkhya-krama-dipikä  Nr.  43. 

^)  S.  aucli  seinen  Commentar  zu  II.  5,  46. 

3)  Vgl.  auch  Sutra  I.  164. 


—    309    — 

Innenorgan  , erwirbt'  (ctrj)^  „gleichwie  im  täglichen  Leben, 
„wenn  von  einem  Manne  durch  das  Werk  etwa  des  Kaufens 
„z.  B.  eine  Axt  erworben  ist,  die  Thätigkeit  dieser  [Axt], 
„das   Spalten   u,  dgl. ,    nur   fiir   diesen   bestimmten   Mann 

„stattfindet Wenn    [man  uns  darauf  fragt] :    ,Was 

„ist  denn  aber  der  bestimmende  Faktor  dafür,  dass  ein 
„Werk  zu  einer  [speciellen]  Seele  in  Beziehung  tritt?',  so 
„antworten  wir:  ein,  anderes  [früheres]  Werk  von  derselben 
„Art.  Wegen  der  Anfangslosigkeit  [der  Werke]  aber  be- 
„deutet  [in  diesem  Falle]  der  regressus  in  infinitum  keinen 
„Fehler  i)." 

Die  Werke  sind  also  zwar  ein  sich  ewig  durch  sich 
selbst  erneuerndes  Eigenthum  der  Seele,  aber  dieser  Besitz 
wird  ihr  ohne  eigenes  Zuthun  zu  Theil.  Wie  die  Seele 
deshalb  keine  Verantwortung  iiir  die  Werke  trägt,  so  ist 
sie  auch  über  Lohn  und  Strafe  erhaben  -). 

3.    Die  Aufgabe  der  Seele. 

Bei  seiner  Besprechung  der  Lehre  von  der  Seele  sagt 
Barthelemy  Saint-Hilaire  im  Premier  Memoire 
S.  449,  450  folgendes:  „Si  c'est  la  nature  qui  s'enchaine 
"et  se  delivre,  si  ce  n'est  plus  l'äme ;  si  c'est  la  nature  qui 
"agit,  et  si  Täme  est  si  parfaitement  inerte,  j'avoue  que  je 
"ne  comprends  plus  pourquoi  Kapila  n'a  pas  complete- 
"ment  supprime  Täme."  Barthelemy  ist  mithin  nicht 
zum  Verständniss  der  überaus  wichtigen  Aufgabe  gelangt, 
welche  nach  der  S  ä  m  k  h  y  a  -  Philosophie  die  Seele  in  dem 
empirischen  Dasein  des  Individuums  zu  erfüllen  hat;  und 
merkwürdiger  Weise  ist  dies  auch  nicht  dem  scharfsinnigsten 
Forscher  gelungen,  den  die  Geschichte  des  Sänikhya- 
Studiums  aufzuweisen  hat :  F  i  t  z  -  E  d  w  a  r  d  H  a  1 1 3).     Der 


^)  Sütra  II.  46  und  Vijn.'s  Commentar. 
2)  Vgl.  oben  S.  269. 

")  Rational   Refutation   p.   54  heisst  es:    "Attention  should  be 
'paid  to  the   circumstance   that,   in   the  Sänkhya,   the  term  ,cog- 


—    310    — 

Leser  weiss  schon  aus  früheren  Andeutungen,  um  was  es 
sich  handelt.  Kapila' s  Auffassung  der  Seele  bezweckt 
die  Beantwortung  einer  Frage,  die  vielleicht  wissenschaft- 
lich nie  befriedigend  beantwortet  werden  wird :  wie  entsteht 


"nition'  (jnäna)  denotes  two  distinct  things.  One  of  them  is  that 
"which  we   all   so   denominate.     This  is  really  the   apprehending 

"of  objects;  and,  to  us,  this  alone  deserves  the  name  it  bears 

"But,  again,  the  Sänkhyas  apply  the  appellation  of  Cognition  to 
"the  soul  itself,  which  they  also  style  intelligence ,  the  intelligent 
"one,  etc.  Here,  however,  Cognition  is  so  but  nominally,  as  it  is 
"not  one  with  apprehension  of  objects.    Cognition  as  denoting  soul, 

"it  is  laid    down,    is   eternal That  this  Cognition,  by  which 

"the  soul  itself  is  intended,  is  Cognition  only  in  name  etc." 

Es  ist  richtig,  dass  in  unseren  Sämkhya- Texten  mit  dem 
Worte  jnäna  zwei  verschiedene  Dinge  bezeichnet  werden,  1)  die 
imter  dem  Einfluss  der  Objekte  entstehenden  mechanischen  Er- 
kenntnissfunktionen der  inneren  Organe  und  2)  die  objektlose  Er- 
kenntniss  oder  das  Wesen  der  Seele ,  das  gewöhnlich  durch  die 
Worte  cit,  citi,  cetana,  caitanya  oder  prakäga  benannt  ist.  Miss- 
verständnisse sind  übrigens  dabei  ausgeschlossen,  da  durch  den 
Zusammenhang  in  jedem  Falle  vollkommen  klar  ist,  in  welcher  der 
beiden  Bedeutungen  jnäna  verstanden  werden  muss.  Aber  Hall 
befindet  sich  im  Irrthum,  wenn  er  meint,  dass  die  objektlose  Er- 
kenntniss  nur  eine  nominelle  Erkenntniss  sei,  bei  der  man  sich  gar 
nichts  denken  könne.  Ich  will  es  auf  sich  beruhen  lassen,  ob  der 
indische  Ausdruck  (nirvishaya  jnäna)  glücklich  gewählt  ist;  aber 
darüber,  was  mit  ihm  gemeint  ist,  kann  kein  Zweifel  sein.  Die 
ewige  objektlose  Erkenntniss,  die  identisch  ist  mit  dem  BegritF  der 
Seele,  ist  das  Princip,  welches  die  an  sich  unbewussten  vergäng- 
lichen Denkfunktionen  zu  bewussten  macht;  jnänal  wird  erst 
durch  jnäna  2  zu  dem,  was  wir  Erkenntniss  nennen. 

Ich  sehe  mich  genöthigt  noch  auf  eine  andere  Stelle  der  Ra- 
tional Refutation  einzugehen,  an  der  ebenfalls  die  Unkenntniss  der 
Aufgabe,  die  das  Sämkhya- System  der  Seele  zuschreibt,  zu  einem 
völligen  Missverständniss  der  Terminologie  und  zur  Erhebung  eines 
unberechtigten  Vorwurfs  geführt  hat.  Wir  lesen  S.  99:  "First, 
"however,  I  must  bestow  a  few  words  on  the  great  error,  com- 
"mitted  by  the  Sänkhyas,  of  distinguishing  between  happiness  and 
"the  like,  and  their  experiences.  Who  is  conscious  of  any  such 
"distinction?  From  experience  of  happiness  deduct  experience:  can 
"one  then  form  any  idea  what  happiness  is  by  itself?    Not  at  all. 


—     311     — 

und  worauf  beruht  das  Bewusstsein?  Die  Sämkhya- 
Philosophie  hat  die  Lösung  dieses  Problems  in  den  von 
ihr  angenommenen  Beziehungen  der  Seele  zu  dem  Innen- 
organ zu  finden  gemeint.  Wenn  das  Innenorgan  die  von 
der  Aussenwelt  dargebotenen  Objekte  durch  Vermitt- 
litng  der  Sinne  empfangt,  so  nimmt  es  die  Form  dieser 
Objekte  an  (arthäkära^  visliayakära)  \  es  entsteht  also  ein 
Bild  der  Objekte  in  unserm  Innern.  Dies  hat  die  ver- 
schiedenartigsten Folgen;  es  kann  dadurch  ein  in  dem 
inneren  Organ  ruhender  Eindruck  angeregt  und  so  die 
Erinnerung  an  früher  erlebtes  geweckt  werden;  die  Bilder 
der  Aussenobjekte  und  die  Erinnerung  zusammen  können 
abstrakte  Schlussfolgerungen  bewirken,  aber  auch  Zuneigung, 
Abneigung,  Freude,  Schmerz,  Begierde  und  andere  Leiden- 
schaften hervorrufen ;  diese  hinwiederum  können  den  Willen, 
die  Entschliessung  zum  Handeln  rege  machen  und  in  eine 


■'Consequently,  all  the  qualities  of  the  soul,  towit,  Cognition, 
•'will,  activity,  happiness ,  and  so  on,  ought  to  be  regarded  as  so 
■'many  diflferent  sorts  of  experience;  as  was  previously  exemplified, 
•'in  the  case  of  will.  Or,  should  there  be  some  very  nice  distinc- 
•'tion  between  happiness,  or  the  like,  and  the  experience  of  it,  the 
"two,  at  all  events,  are  inseparable.  It  follows,  that  there  is  no 
•'foundation  for  the  theory  of  separating  Cognition  etc.  from  their 
■'experiences,  on  which  the  doctrine  depends,  that  the  internal 
•'organ  is  the  subject  of  happiness  and  so  forth,  and  that  the  soiil 
•'is  their  experiencer." 

Die  Verhältnisse  liegen  hier  genau  so  wie  bei  dem  eben  be- 
sprochenen Punkt,  und  der  Unterschied,  der  zwischen  Freude, 
Schmerz  u.  s.  w.  einerseits  und  deren  Empfindung  (experience, 
blioga)  andererseits  gemacht  wird  (z.  B.  bei  Vijn.  zu  I.  106),  ist  in 
dem  Dualismus  des  Sämkhya-Systems  begründet.  Unter  Freude, 
Schmerz  und  dgl.  sind  die  mechanischen  Affektionen  der  inneren 
Organe,  welche  als  die  materielle  Basis  solcher  Gefühle  gelten, 
zu  verstehen;  mit  der  Empfindung  ist  das  Bewusstsein  dieser  Affek- 
tionen gemeint,  das  durch  den  Einfluss  der  Seele  erklärt  wird. 
Es  handelt  sich  also  in  der  That  um  zwei  verschiedene  Begriffe, 
und  es  wäre  ein  Mangel,  wenn  diese  Verschiedenheit  nicht  so,  wie 
es  in  den  Sänikhya- Texten  geschieht,  zum  Ausdruck  gebracht 
würde. 


—    312     — 

bestimmte  Richtung  drangen.  Alle  diese  mannigfaltigen 
Processe  bestehen  —  ebenso  wie  einfache  Wahmehmungen  — 
in  Veränderungen  oder  Modifikationen  (vikära,  parinäma) 
des  Innenorgans,  so  dass  dieses  in  jedem  Augenblick  eine 
andere  Form  annimmt.  Die  beständige  Umgestaltung,  die 
so  an  dem  Innenorgan  durch  Wahrnehmung,  Denken, 
Fühlen  und  Wollen  bewirkt  wird,  ist  nun  im  Princip 
nichts  anderes  als  der  Wechsel  und  Wandel,  der  sich  un- 
ablässig in  der  Aussenwelt  vollzieht ;  hier  wie  dort  handelt 
es  sich  um  rein  materielle  Veränderungen.  Die  Ver- 
schiedenheit der  inneren  Alterationen  aber  von  allen  andern, 
stofi'lichen  Umgestaltungen  beruht  darin,  dass  dieselben 
einen  scheinbar  geistigen  Charakter  durch  das  auf  sie  fallende 
Licht  des  Bewusstseins  erhalten.  Zunäclist  könnte  man 
denken,  dass  das  in  der  Buddhi  befindliche  und  diese 
vorzugsweise  bildende  S  a  1 1  v  a  der  Träger  dieses  Lichtes 
sei;  ist  doch  das  Wesen  des  Sattva  als  lichtartig  oder 
erleuchtend  (pralcä(^aka)  geschildert.  Diese  Voraussetzung 
aber  ist  ein  Irrthum:  das  Licht  des  Sattva  ist  nicht 
geistiger  Natur,  sondern  nur  eine  Eigenschaft  der  Materie, 
zur  Hervorbringung  der  mechanischen  Denkfanktionen 
(jnäna-vrtti)  geeignet  und  berufen,  aber  unfähig  das  Be- 
wusstsein  hineinzutragen.  Die  Buddhi  ist  —  um  das 
unvermeidliche  Beispiel  unsrer  Texte  zu  gebrauchen  — 
ebenso  rein  materiell  (jada)  ,wie  Töpfe  und  dergleichen', 
also  ein  Objekt^),  dessen  sich  wohl  ein  anderer,  das  sich 
aber  nicht  seiner  selbst  bewusst  werden  kann.  Das  ,Auf- 
leuchten'^*)  der  Buddhi  muss  mithin  von  einer  andern 
Stelle  aus  bewirkt  werden,  d.  h. ,  wie  wir  schon  S.  306 
sahen,  von  der  Seele;  denn  das  Objekt  bedarf  eines  Sub- 
jekts: die  Wahrnehmungs-  und  Denkfunktionen  eines 
Zeugen    (sdkshin)    oder  Zuschauers    (drashtar)  '^) ,    die    Ge- 


1)  Kärika  11. 

2)  S.  in   den    Indices    zu    meinen    Textausgaben    unter    bhana, 
hhäs,  pra-Mc  und  den  Ableitungen  von  diesen  beiden  Wurzeln. 

3)  Kärika  19,  Sütra  I.  161. 


—    313    — 

fühle     und    Affekte     eines     Geniessers     oder     Empfinders 
(bhoktar)  ^). 

Die    Seele   bringt    also   den    jeweiligen    Zustand   der 
inneren  Organe  dadurch  ins  Bewusstsein,  dass  sie  ,vermöge 
ihres   blossen   Naheseins'   ihr   Licht  auf  dieselben  wirft-). 
Welcher  Art  nun   aber   ist   die  Lichthaftigkeit  der  Seele? 
Sie  ist  „ein  mit  Worten  nicht  zu  beschreibendes  Merkmal" 
(akhandopädhi)^  sagt  Vijhänabhikshu^^)  mit  Benutzung 
eines   Terminus    der  N  y  ä  y  a -Philosophie ;   doch   bietet   er 
selbst  uns   ausführlichere   Auslassungen,    mit    denen    wir 
etwas  weiter  kommen.     Sütra  I.  146  lehrt,  dass  das  Licht 
nicht  eine  Eigenschaft   der  Seele  sei,  weü  diese  quali- 
tätlos  ist*).     Hierzu   giebt   Vijnänabhikshu    folgende 
Erläuterungen:    „Wenn  [gefragt  wird:]    ,Welchen  Grund 
„giebt   es   denn  für   die  Qualitätlosigkeit  [der  Seele]?',  so 
„antworten  wir:  Erstens  können  die  Wünsche  und  [Wahr- 
„ nehmungen]    der  Seele  nicht  ewig  angehören,  weil  man 
„sieht,  dass  dieselben  erzeugt  werden ;  und  wenn  man  [der 
„Seele]    erzeugte    [also  zeitweilige]  Qualitäten   zuschreiben 
„woUte,   so   wäre    damit   die  Veränderlichkeit   [der  Seele] 
„gegeben 5).  .  .  .     Und  wenn    [die  Seele]   gelegenthch  — 
„durch   eine  Veränderung   in  den   Zustand   der   Blindheit 
j^ —  cler  Möglichkeit  ausgesetzt   wäre,   nicht-erkennend  zu 
„sein,   so  würde   sich  ein  Zweifel  liinsichthch  [der  Wirk- 
„lichkeit]  der  Erkenntnissakte,  Wünsche  u.  s.  w.  erheben." 
Man   hat   also    einen  Beweis    für   die  Beharrlichkeit    des 
seelischen  Lichtes   in   der   Erwägung   gefunden,   dass  wir 
gar    keine    Bürgschaft    für     die   Wirklichkeit    der   Wahr- 
nehmungen und  inneren  Vorgänge  haben  würden,   wenn 


1)  Kärikä  17,  Sütra  I.  143;  vgl.  auch  oben  S.  295,  296. 

2)  VijS.  zu  I.  17,  19,  99,  IL  29  und  sonst. 

3)  Zu  I.  88,  145. 
*)  Vgl.  S.  297. 

5)  Die  Unveräuderliclikeit  der  Seele  wird  auch  zu  II.  44  als 
Grund  dafür  augegeben,  dass  die  Denkfunktioneu  der  Seele  selbst 
nicht  angehören  können. 


—    314    — 

das  Leuchten  der  Seele  jemals  eine  Unterbrecliung  erleiden 
könnte.  Dieser  Gedanke  wird  von  Vijnänabhikshu 
noch  näher  an  einer  andern  Stelle  ^)  ausgeführt ,  die  ich 
der  Wichtigkeit  des  Gegenstandes  halber  gleichfalls  hier- 
her setze: 

„Die  UnVeränderlichkeit  der  Seele  wird  daraus  er- 
„ schlössen,  dass  diese  zu  jeder  Zeit  die  [ihr  von  dem 
„Innenorgan  dargebotenen]  Objekte  erkennt.  Denn  also 
„verhält  es  sich:  gleichwie  nur  die  Farbe  das  Objekt  des 
„Gesichtssinnes  ist,  [aber]  nicht  —  auch  bei  gleicher 
„Nähe  —  der  Geschmack  oder  etwas  anderes,  ebenso  ist 
„das  Objekt  der  Seele  nur  die  Affektion  des  derselben  zu- 

„  gehörigen  Innenorgans Alles  andere  wird  für  die 

„Seele  zum  Gegenstand  des  Genusses  [d.  h.  der  bewussten 
„Erkenntniss  oder  Empfindung]  nur  dadurch,  dass  es  in 
„das  afficirte  Innenorgan  Eingang  findet,  [aber]  nicht  von 
„selbst;  denn  [sonst]  müsste  alles  immerdar  zur  Erkennt- 
„niss  gelangen.  Diese  Affektionen  des  Innenorgans  nun 
„bleiben  niemals  unerkannt  [von  der  Seele] ;  denn  wenn 
„man  anninmit,  dass  Denkprocesse,  Wünschen,  Freude  und 
„dgl.  [zuweilen]  unerkannt  bleiben  [d.  h.  nicht  zum  Be- 
„wusstsein  kommen]  können,  so  würde  hinsichtlich  dieser 
„[Vorgänge]  geradeso  gut  wie  z.  B.  bei  einem  [nicht 
„deutlich  wahrgenommenen]  Topfe,  ein  Zweifel  oder  [Irr- 
„thum]  folgender  Art  obwalten  können:  ,Erkenne  ich 
„oder  nicht?  freue  ich  mich  oder  nicht?  u.  s.  w.*"  Es 
giebt  also  nach  der  S am khya- Lehre  keine  unbe- 
wusst  bleibenden  inneren  Vorgänge,  weder  Denk- 
processe, noch  Empfindungen  oder  Affekte;  die  Theorie 
des  Unbewussten  beschränkt  sich  auf  die  noch  nicht  zum 
Leben  erweckten  Eindrücke,  die  in  der  Buddhi  hinter- 
lassen sind,  und  die  auf  ihnen  beruhenden  Dispositionen-). 


^)  Zu  VI.  2;  vgl.  ferner  seinen  Commentar  zu  I.  75,  auch 
Yogasütra  IV.  17  (Bhojaräja,  18  Vyäsa)  und  P.  Markus,  Die 
Yoga-Philosophie  S.  10. 

2)  S.  oben  S.  269  fF. 


—    315    — 

Wenn    die    Liclithaftigkeit    keine    Eigenschaft,    kein 
Attribut  der  Seele  sein  kann,  so  bleibt  nur  die  Annahme 
übrig,  dass  das  Licht  die  Seele  selbst  sei,  d.  h.  ihr  Wesen 
ausmache  ^).     Es    ist    dabei    ohne   weiteres    klar,   dass   die 
Sämkhya- Philosophie  unter  der  Seele  nicht  eine  wirklich 
leuchtende   Substanz   versteht,   sondern   dass  sie   sich  nur 
eines  Bildes  —  und  zwar  eines  ganz  vortrefflichen  —  be- 
dient,  um    den  Begriff  des  Geistes   zu  veranschaulichen  2). 
Der  Gebrauch    dieses    Bildes    wird    durchkreuzt   durch  den 
eines   anderen,   das   in   gleicher  Weise   die  Unberührtheit 
des  Geistes  durch  die  inneren  Affektionen  und  den  eigen- 
artigen Zusammenhang  beider  verdeutlichen  soll.    Die  Seele 
wird  nämlich  auch  einem  Spiegel  verglichen,   in  dem  die 
inneren  Organe  reflektiren.    Für  beide  Gleichnisse  kommen 
dieselben  Worte  zur  Verwendung:   sowohl  das  Licht,   das 
von  der  Seele  auf  die  inneren  Organe  fällt,  wie  die  Spiegelung 
der  inneren  Organe   in   der  Seele   wird   mit   den  Worten 
,Reflex,    Abbild'    (chäyä,   pratibimha)    bezeichnet'^).      Das 
bewusste  Erkennen,  Empfinden,  Wollen  ist  also  —  um  in 
dieser  Bildersprache   zu   reden   —   nichts   anderes    als  der 
Reflex  der  betreffenden  Lmenorgansaffektionen  in  der  Seele, 
oder  umgekehrt   der  Reflex  der  Seele  in  dem  Innenorgan. 
Eines  solchen  Reflexes  bedarf  es  auch  zur  Erkenntniss  der 
Seele  selbst,  da  diese  ohne  Hilfe   des   Innenorgans  nichts 
erkennen  kann.     Wie  bei  der  Wahrnehmung  der  Aussen- 
dinge  das  Innenorgan   ein  Bild  der  Objekte   in  sich  auf- 
nimmt, so  nimmt  es  in  diesem  Falle  unter  Ausschliessung 
alles  anderen  ein  Bild   der  Seele   in   sich  auf     Wenn  die 
Seele   sich   so  in   dem   Innenorgan  abspiegelt,   bringt  sie 


1)  Sütra  I.  145  und  oben  S.  98  Anm. 

2)  Daraus,  dass  diese  Metapher  nicht  in  der  Kärikä  nachzu- 
weisenist, darf  man  kaum  schliessen,  dass  dieselbe  I§varakrshna 
noch  nicht  geläufig  war.  Die  Kärikä  ist  ein  so  kurzes  Compendium, 
dass  naturgemäss  nicht  alle  Einzelheiten  in  ihi-  erwähnt  werden 
konnten. 

3)  S.  die  Indices  zu  meinen  Textausgaben. 


—    316     — 

ihren   Reflex    und    damit   sich    selbst    zur    bewussten  Er- 
kenntniss  ^). 

Dieser  Reflex  oder  dieses  Reflektiren  (cliäyd-patti,  pra- 
tibimhana)  gilt  für  illusorisch  (mitliyä)^  womit  nicht  die 
Existenz  geleugnet,  sondern  nur  gesagt  werden  soll,  dass 
der  Vorgang  nicht  das  ist,  was  er  zu  sein  scheint,  nämlich 
eine  Affektion  der  Seele  selbst.  Wenn  das  Gleichniss  von 
der  rotlien  Färbung  des  Krystalls  durch  eine  ihm  nahe 
gebrachte  Hibiscus-Blüthe  gebraucht  wird,  so  heisst  diese 
Färbung  (uparäga)  gleichfalls  ,LUusorisch' ,  weil  sie  nicht 
eine  Veränderung  in  dem  Krystall  ist,  die  sie  dem  naiven 
Betrachter  zu  sein  scheint  2).  Die  gelegentlich  gebrauchten 
Ausdrücke  ,AssiDiilation  der  Seele  an  die  Afi'ektion  des 
Innenorgans'  (purnshe  vrtti-särüpya)  ^)  und  ,Eintreten  des 
Geistes  in  das  Innenorgan'  (cid-äveqa)  *)  sind  nach  allem 
dem  nicht  mehr  misszuverstehen :  es  giebt  ebenso  wenig 
eine  Materialisirung  des  Geistes  wie  eine  Vergeistigung 
der  Materie ;  beides  ist  scheinbar  (iva)  ^).  Der  kurze  Sinn 
der  zahlreichen  und  ausführlichen  Erläuterungen,  die  unsere 
Texte  dem  Verhältniss  zwischen  Seele  und  Innenorgan 
widmen,  ist  also,  dass  von  der  geistigen  Natur  der  Seele 
eine  anregende,  das  Bewusstsein  erzeugende  Kraft  aus- 
strömt, oline  dass  die  Seele  selbst  dabei  irgend  etwas  wirkt 
oder  leidet. 

4.    Das  Gebundeusein  und  seine  TJrsaclie,  die  Nicht- 


unterscheiduu 


Die  Vorstellungen  von   dem  Wesen  und  der  Ursache 
des   Gebundenseins   (bandha)    haben    im   Verlaufe   meiner 


1)  Sütra  VI.  49,  50. 

2)  Vijn.  zu  I.  1,  58,  87,  99,  104;  Nilakantha-Hall,  Eatio- 
nal  Refutation  p.  51 — 56. 

3)  Vijn.  zu  I.  148. 
i)  Vijn.  zu  I.  99. 

5)  Kärikä  20,  Sütra  I.  164. 


—    317     — 

Darstellung  schon  so  oft  erwähnt  werden  müssen,  dass  ich 
mich  hier  auf  eine  Rekapitulation  der  Hauptsachen  und 
auf  eine  Ergänzung  durch  die  bisher  noch  nicht  zur  Sprache 
gebrachten  Einzelheiten  beschränken  kann.  Der  Zustand 
des  Gebundenseins  ist  gleichbedeutend  mit  dem  bewussten 
Leben ;  denn  er  besteht  nicht  während  des  tiefen ,  traum- 
losen Schlafes,  der  Ohnmacht,  der  bis  zur  Bewusstlosigkeit 
gesteigerten  Versenkung  und  zur  Zeit  der  Weltauflösung  ^). 
Das  Gebundensein  ist  nun  nichts  anderes  als  ,die  Ver- 
bindung mit  dem  Schmerz'  (duJikha-yoga)  ^) ,  oder ,  da  der 
Pessimismus  der  S  ä  m  k  h  y  a  -  Philosophie  auch  die  Freude 
zu  den  Schmerzen  rechnet ") ,  als  die  Verbindung  mit  den 
Gefühlen  überhaupt.  Nun  wissen  wir  bereits,  dass  die 
Gefühle  nicht  der  Seele  angehören,  sondern  dem  inneren 
Organ,  welches  durch  das  Vorwalten  des  S  a  1 1  v  a  freudige, 
durch  das  Vorwalten  des  Rajas  schmerzvolle  Affektionen 
ei-föhrt. 

In  Wahrheit  ist  also  das  Gebundensein  den  Upädhi's 
der  Seele  eigen  *) ,  dem  inneren  Organ  oder  dem  dasselbe 
enthaltenden  Complex  des  feinen  Körpers,  und  zwar  als 
etwas  wesentliches  eigen;  d.  h.  der  Schmerz  währt 
mit  den  oben  erwähnten  Unterbrechungen  so  lange,  als 
der  feine  Körper  besteht  und  das  empirische  Dasein.  Mit 
dieser  einfachen  Verweisung  des  Gebundenseins  in  den 
materiellen  Theil  des  Individuums  ist  aber  der  Thatbestand 
nur  zur  Hälfte  erklärt;  aus  folgendem  Grunde,  der  in  der 
Fassung  angeftihrt  sei,  die  ihm  Vijnänabhikshu  ge- 
geben hat 5):  „Wenn  das  Gebundensein,  d.  h.  die  Verbin- 
„  düng  mit  dem  Schmerz,  lediglich  dem  Denkorgan  angehörte, 
„so  würde  das  mannigfache  Empfinden  unerklärlich  sein. 
„Denn  auf  Grund  der  Annahme,  dass  das  Empfinden,  d.  h. 


1)  Sütra  V.  116,  Vijii.  zu  I.  19. 

")  Vijn.  zu  I.  7,  17  und  sonst. 

3)  S.  oben  S.  133. 

*)  Und  heisst  deshalb  aupädhiha;  Vijn.  zu  I.  12,  19,  54. 

°)  Zu  I.  17. 


—     318     — 

„das  unmittelbare  Erfahren  des  Schmerzes,  auch  ohne  die 
„Verbindung  der  Seele  [d.  h.  des  Ich,  des  individualisiren- 
„den   Princips]    mit    dem   Schmerz   existire,    müssten   die 
„Schmerzen    und     [Freuden]    aller    Menschen    von    allen 
„Menschen  empfunden  werden,   weil   es  dann  keinen  [die 
„  Vertheilung]  bestimmenden  Faktor  (niyämaka)  gäbe.    Und 
„deshalb   würde    die    [thatsächliche]    Mannigfaltigkeit   des 
„Empfindens,   die  sich  darin  äussert,  dass  Dieser  Schmerz 
„und  Jener  Freude  empfindet  u.  s.  w.,  unerklärlich  sein. . .  . 
„Darum    muss    zur    Erklärung    der    Mannigfaltigkeit    des 
J.Empfindens  das  Gebundensein  auch  der  Seele  zugeschrieben 
„werden,  weil  damit  ein  [die  Vertheilung]  des  Empfindens 
„bestimmender  Faktor  gegeben  ist.    Und  diese  Verbindung 
„des  Schmerzes   mit   der   Seele    existirt   nur   in   der  Form 
„eines   Reflexes    (pratibimba).  ...     Da   nun   lediglich  die 
„Affektion  des  Upädhi  [d.  h.  des  Innenorgans]   der  be- 
„treff enden    [Seele]    reflektirt    wird,    empfinden    nicht 
„alle  Menschen    alle  Schmerzen.  .  .  .     Wenn   aber  in  der 
„Schrift   und   Tradition   gelehrt   wird,    dass  Gebundensein 
„und  Erlösung   nur   dem  Denkorgan  und  nicht  der  Seele 
„angehören,  so  ist  das  von  dem   wirklichen   (-päramär- 
^fliika)   Gebundensein   zu   verstehen,    d.    h.   von  der   Ver- 
„bindung  mit  dem  Schmerz  in  der  Form  seiner  objektiven 
„Realität  (himba).''     An  dieser  Stelle  i)  ist  deutlich  erklärt, 
in  welcher  Weise  wir   das   oft  behauptete  und  oft  negirte 
Gebundensein  der  Seele  zu  verstehen  haben.    Der  aus  dem 
Innenorgan   auf  die   Seele   fallende  Reflex  des  Gebunden- 
seins oder  des  Schmerzes  —  wir  dürfen  diese  beiden  Worte 
als  Synonyma  behandeln   —   ist   zwar   illusorisch  in  dem 
oben   S.  316   angegebenen   Sinne,   aber    doch  etwas  that- 
sächliches.     Er   übt   zwar   keinen   wirklichen  Einfluss   auf 
die  Seele  aus,   hat   aber   einen  Erfolg,   der  einem  solchen 
Eijifluss  vergleichbar  ist  2);  insofern  er  nämlich  die  natür- 


1)  Vgl.  ferner  Vijii.    zu    I.  19,   III.  74,   VI.  11,  27,  28,   Anir. 
zu  n.  5. 

ä)  Vijn.  zu  VI.  27,  28. 


—    319    —  • 

liehe  Schmerzlosigkeit  der  Seele  verdeckt  in  derselben 
Weise,  wie  die  durch  die  Hibiscus-Blüthe  veranlasste  Röthe 
nur  die  natürliche  Farblosigkeit  des  Krystalls  verdeckt. 
Wie  dabei  die  Farblosigkeit  des  Krystalls  weder  bei  der 
Annäherung  der  rothen  Blume  zu  Grunde  geht  noch  bei 
Entfernung  derselben  wieder  entsteht,  ebenso  wenig  ent- 
steht der  Schmerz  in  der  Seele  bei  der  Annäherung  des 
Innenorgans ,  noch  vergeht  er  bei  dessen  Entfernung  ^). 
Die  Verbindung  der  Seele  mit  dem  Sclmierz  beruht  also  — 
um  den  stehenden  bildlichen  Ausdruck  unserer  Texte  in 
die  uns  geläufige  Sprache  zu  übertragen  —  darin,  dass 
die  Seele  den  im  Körper  befindlichen  Schmerz  zum  Be- 
wusstsein  bringt.  Dies  ist  das  eigentliche  Weltübel,  dessen 
Beseitigung  die  höchste  Aufgabe  menschlichen  Strebens  ist. 
Wodurch  nun  aber  ist  diese  eigenthümliche  Verbindung 
der  Seele  mit  dem  Schmerz  bedingt?  Sie  ist  weder  der 
Seele  wesentlich,  denn  dann  könnte  sie  überhaupt  nicht 
gelöst  werden  -) ;  noch  wird  sie  durch  besondere  Veran- 
lassungen hervorgerufen,  denn  in  dem  Falle  müssten  wir, 
auch  nachdem  sie  durch  die  von  der  Philosophie  ge- 
lehrten Mittel  aufgehoben  ist,  stets  befürchten,  dass  diese 
Veranlassungen  aufs  neue  die  verhängnissvolle  Verbindung 
bewirken  werden  ^).  Doch  giebt  es  ausser  diesem  allge- 
meinen Grunde  noch  besondere,  durch  welche  die  speciellen 
Veranlassungen,  an  die  man  in  Indien  denken  konnte, 
ausgeschlossen  werden  *).  Das  Gebundensein  der  Seele  kann 
nicht  durch  Zeit  und  Raum  veranlasst  sein,  weil  beide 
allgegenwärtig  und  ewig  sind  und  deshalb  auf  die  erlösten 
Seelen  ebenso  wirken  müssten  wie  auf  die  gebundenen; 
auch  nicht  durch  einen  bestimmten  Zustand,  da  Zustände 
nur  Eigenthümlichkeiten  des  Ungeistigen  sind ;  auch  nicht 
durch  die  Werke   oder   durch   deren   nachwirkende   Kraft, 


1)  Vijn.  zu  VI.  20. 

2)  Sütra  I.  7—11. 

^)  Vijn.'s  Einleitung  zu  I.  12. 
^)  Sütra  I.  12—54. 


—     320     — 

da  diese  beiden  Dinge  nicht  der  Seele,  sondern  dem  inneren 
Organ  angehören  und  man  sich  des  logischen  Fehlers  der 
zu  weit  gehenden  Uebertragung  (atiprasakti)  schuldig 
machen  würde,  wenn  man  das  Gebundensein  des  Einen 
auf  etwas  einem  Andern  gehöriges  zurückführte;  ebenso 
wenig  durch  das  mystische  Nichtwissen,  welches  die  kos- 
mogonische  Potenz  des  späteren  Buddhismus  und  des  Ve- 
d  ä  n  t  a  ist,  weil  etwas  unreales  keine  positiven  Wirkungen 
erzeugen  kann;  ferner  nicht  durch  eine  anfangslose  Be- 
einflussung von  Seiten  der  Objekte,  weil  ein  Zusammen- 
hang zwischen  der  Seele  und  den  Objekten  unmöglich  ist ; 
und  schliesslich  auch  nicht  durch  irgend  eine  Art  von 
Wandern,  weil  die  Seele  bewegungslos  ist.  Was  also  ist 
in  Wahrheit  die  Ursache  des  Gebundenseins  der  Seele? 
Sagt  man :  die  Verbindung  von  Seele  und  Materie  ^) ,  so 
ist  das  nur  eine  Umschreibung  des  Ausdrucks  ,Gebunden- 
sein',  aber  keine  Feststellung  der  Ursache.  Das  Gebundensein 
wird  nach  der  Sämkhya- Lehre  einzig  und  allein  bewirkt 
durch  die  ,Nichtunterscheidung'  {aviveka,  auch  viparyaya, 
viparyäsa,  viparita-jnäyia  ,irrthümliche  Umkehrung  des 
wahren  Sachverhalts'  genannt)  -).  Diese  Nichtunterscheidung 
wird  definirt  als  eine  „Auffassung  der  beiden  Begriffe 
Materie  und  Seele,  bei  welcher  das  Nichtverschmolzensein 
beider  unerkannt  bleibt^)".  Danach  kann  die  Nichtunter- 
scheidung von  zweierlei  Art  sein,  je  nachdem  man  nämlich 
den  Gegensatz  von  Seele  und  Urmaterie  oder  die  Ver- 
schiedenheit der  Seele  von  den  Umwandelungen  der  Ur- 
materie, d.  h.  von  den  inneren  Organen,  den  Sinnen  und 
den  Elementen  nicht  erkennt.  Praktisch  äussert  sich  zudem 
die  Nichtunterscheidung  bei  unphilosophischen  Leuten, 
die  es  im  Uebrigen  mit  dem  Streben  nach  der  Erlösung 
ernst  nehmen,  in  der  Vollziehung  von  Opfern  und  der 
Ausübung   fi'ommer  Werke.     Es   w^ird  deshalb  von  einem 


1)  Vijn.'s  Einleitung  zu  I.  55. 

2)  Kärikä  44,  Sütra  I.  55,  III.  24. 

3)  Vijn.  zu  I.  55,  VI.  12. 


—    321     — 

dreifachen  Gebundensein  geredet,  einem  Gebundensein  durch 
die  Urmaterie  (prahrti-  oder  präkrta  handha)^  durch  die 
TJmwandelungen  der  Urmaterie  (vaikdrika  bandha)  und 
durch  das  Ritual  (dakshinä-  oder  dakshinaka  bandha)  *). 
Diese  Dreitheilung  aber,  ein  Ausfluss  der  Schematisirangs- 
sucht  unseres  Systems,  ist  von  untergeordneter  Bedeutung; 
denn  bloss  bei  einer  Art  von  Nichtunterscheidung  erfordert 
die  Beseitigung  ernste.  Anstrengungen.  Das  ist  die  Nicht- 
unterscheidung der  Seele  von  den  inneren  Organen,  die 
Nichtunterscheidung  des  Geistes  von  dem  scheinbar  geistigen 
S  a  1 1 V  a ,  das  die  Erkenntnissfunktionen  bewirkend  in  den 
inneren  Organen  und  besonders  in  der  Buddhi  sich  be- 
findet. Diese  Verschiedenheit  von  Sattva  und  Seele 
(sativa-purxishä-nyatä) "-)  ist  diejenige  Form  des  Unter- 
schiedes zwischen  Materiellem  und  Geistigem,  die  am 
schwersten  zu  begreifen  ist,  mit  deren  Erkenntniss  aber 
auch  das  höchste  Ziel  erreicht  ist;  denn  die  Verschiedenheit 
der  Seele  von  allem  anderen  sonst  ergiebt  sich  von  selbst, 
wenn  dieser  eine  Unterschied  erkannt  ist. 

Die  Nichtunterscheidung  ist  nun  die  Ursache  aller 
Leidenschaften  und  Begierden,  die  den  Menschen  an  das 
Leben  fesseln,  sie  ist  die  Ursache  des  Handelns,  also  der 
Erwerbung  von  Verdienst  und  Schuld,  und  damit  die  Ur- 
sache des  Wirkens  der  Materie  überhaupt,  d.  h.  des  ganzen 
empirischen  Daseins  ^).  In  allen  diesen  Hinsichten  ist  die 
Nichtunterscheidung  nur  mittelbare  Veranlassung  des 
Gebundenseins;  wir  haben  also  noch  festzustellen,  wie  sie 
unmittelbar  das  Gebundensein  der  Seele  bewirkt.  Dies 
thut  sie  dadurch,  dass  sie  das  Reflektiren  der  Innenorgans- 
afifektionen  und  insbesondere  —  worauf  es  hier  ankommt 


1)  Sämkhya-tattya-kaumudi  zu  Kärikä  44,  Tattvasamäsa  Sütra 
22  und  Sämkhya-krama-dipikä  Nr.  73;  vgl.  auch  Vijn.  zu  I.  57. 

2)  Mah.  zu  I.  1,  Yogasütra  III.  35,  Mahäbhärata  XII.  7103— 
7111,  7703,  7847,  7893. 

3)  Sütra  ni.  68,  Vijn.  zu  I.  55;  s.  auch  oben  S.  178—180. 
Garbe,  Sämkhya-Philosophie.  21 


—    322     — 

—  des  Schmerzes  in  der  Seele  verursacht  ^).  Die  Thatsache 
also,  dass  wir  das  völlige  Unbetheiligtsein  der  Seele  an 
den  inneren  Vorgängen  nicht  erkennen,  hat  nach  der 
Sänikhya- Lehre  zur  Folge,  dass  der  Schmerz  in  der 
Form  eines  Reflexes  Eingang  in  die  Seele  findet,  d.  h.  zum 
Bewusstsein  kommt.  Wenn  die  Nichtunterscheidung  gerade- 
zu mit  dem  Gebundensein  identificirt  wird  2),  so  Lst  das  eine 
uneigentliche  Ausdrucksweise,  durch  welche  die  unmittelbare 
Veranlassung  an  die  Stelle  der  Wirkung  gesetzt  wird  '^). 

Glaubten  wir  die  Nichtunterscheidung  als  das  Anfangs- 
Sflied  in  der  Kausalitätsreihe  zu  erkennen,  so  ist  dabei 
doch  folgendes  nicht  zu  übersehen.  Auch  die  Nichtunter- 
scheidung kann  noch  auf  eine  Ursache  zumckgeführt  werden, 
und  das  ist  die  Disposition  (samshära^  vdsanä)  zur  Nicht- 
unterscheidung, die  auch  während  der  Zeit  der  Weltauf- 
lösung bestehen  bleibt  und  somit  die  Wurzel  alles  Uebels 
von  Ewigkeit  her  bis  in  Ewigkeit  ist  *).  Da  diese  unheil- 
volle Disposition  ein  Erbtheil  aus  der  vorangehenden 
Existenz,  die  Nachwirkinig  der  damaligen  Nichtunterschei- 
dung ist,  die  ihrerseits  wiederum  aus  der  entsprechenden 
Disposition  hervorgegangen  sein  muss  u.  s.  f.,  so  liegt  hier 
eine  anfangslose  Continuität  vor^).  „Wenn  die  Nicht- 
„ Unterscheidung  einen  Anfang  hätte,  so  würde  in  dem 
„Falle,  dass  sie  von  selbst  entstehen  soll,  auch  der  Erlöste 
„wieder  gebunden  werden  können;  und  in  dem  Falle,  dass 
„sie  durch  Werke  oder  etwas  anderes  hervorgerufen  sein 
„soll,  müssten  wir  nach  einer  neuen  Nichtunterscheidung 
„als  Ursache  für  diese  Werke  oder  für  das  andere  suchen, 
„und  damit  würden  wir  einen  regressus  in  infinitum  er- 
„ halten 6)."     An  dem  regressus  in  infinitum  jedoch,   den 


1)  Vijn.  zu  III.  74,  VI.  11,  27,  28. 

2)  Sütra  VI.  16. 

3)  Sütra  III.  74. 

*)  Anir.  zu  II.  1,  Vijn.  zu  I.  55,  56. 

5)  S.  oben  S.  147. 

6)  Vijn.  zu  VI.  12. 


—    323     — 

die  Annahme  der  Verkettung  von  Nichtunterscheidung 
und  Disposition  zur  Nichtunterscheidung  nöthig  macht, 
nimmt  die  S  ä  m  k  h  y  a  -  Philosophie  keinen  Anstoss. 

5.  Die  Erlösung  und  ihi-e  Ursache,  die  Unterscheidung. 

In  älteren  Werken,  die  sich  mit  der  Sämkhya- 
Philosophie  beschäftigen,  ist  zuweilen  das  Erstaunen  darüber 
ausgedrückt,  dass  von  den  Lehrern  des  Systems  nicht  der 
Zustand  der  Seele  nach  der  Befreiung  vom  Weltdasein 
(mukti ,  moksha ,  nirmukti,  vimukti,  vimoksha,  apavarga) 
beschrieben  ist.  Wohin  geht  die  Seele  und  was  wird  aus 
ihr?  fragt  Barthelemy  Saint-Hilaire  im  Premier 
Memoire  p.  476  und  findet  auf  diese  Fragen  keine  Antwort'). 
Und  doch  lassen  unsere  Texte  keinen  Zweifel  über  das 
Schicksal  der  erlösten  Seele.  Selbst  wenn  sie  darüber 
schwiegen  —  was  sie  nicht  thun  — ,  würde  aus  allem 
über  das  Wesen  der  Seele  gesagten  ohne  weiteres  klar 
sein,  wie  der  Zustand  der  Seele,  nachdem  ihi-e  Verbindung 
mit  der  Materie  gelöst  ist,  gedacht  werden  soll.  Schon 
die  negativen  Angaben  in  Sütra  V.  74 — 83-),  die  ich 
zunächst  mit  der  einheimischen  Begründung  anftihren  will, 
weisen  den  richtigen  Weg  zum  Verständniss.  Die  Erlösung 
ist  weder,  wie  die  Vedantisten  meinen,  eine  Manifestirung 
der  Wonne,  weü  die  Seele  qualitätlos  ist  und  sich  deshalb 
nichts  an  ihr  manifestiren  kann;  noch  —  aus  demselben 
Grunde  —  die  Vernichtung  der  besonderen  Eigenschatten, 
welche  die  Seele  nach  der  Meinung  der  Vai9eshika's 
und  Naiyäyika's  im  Zustande  des  Gebundenseins  be- 
sitzt und  im  Augenblicke  der  Erlösung  verliert  2).  Auch 
kann   die  Erlösung  nicht   in  der  Erlangung  irgend  eines 


1)  Aehnlich  Johaentgen,  üeber  das  Gesetzbuch  des  Manu 
S.  55. 

-)  Vgl.  hierzu  auch  Bhojaräja's  Commentar  zum  Yogasütra 

IV.  33. 

^)  S.  die  Aufzählung  dieser  Eigenschaften  oben  S.  117. 

21* 


—     324    — 

realen  Gutes  bestehen ;  denn  jeder  Besitz,  seien  es  die  über- 
natürlichen Kräfte,  die  man  durch  die  Ausübung  der  Yoga- 
Praxis  zu  gewinnen  meinte,  oder  göttliche  Würde  und 
Macht,  oder  gar  der  irdische  Besitz,  in  dem  die  Materialisten 
die  Erlösung  finden,  ist  vergänglich;  die  Erlösung  aber 
muss  ein  unvergängliches  Gut  sein  *).  Ferner  ist  die  Er- 
lösung nicht  das  Wandern  der  Seele  zu  höheren  Welten, 
da  die  Seele  bewegungslos  ist  und  deshalb  nicht  wandern 
kann.  Auch  die  Lehre  der  Buddhisten,  dass  die  Seele 
nichts  als  eine  Continuität  momentanen  Erkennens  sei 
und  dass  die  Erlösung  in  dem  Aufhören  des  von  den 
Objekten  auf  die  Seele  ausgeübten  Einflusses  bestehe, 
scheitert  an  der  falschen  Auffassung  der  Seele  und  an  der 
Erwägung,  dass  auf  Grund  dieser  Theorie  die  Verbindung 
des  Erkennens  mit  den  Objekten  ja  so  wie  so  in  jedem 
Augenblick  zu  Grunde  gehen,  mithin  die  Erlösung  un- 
unterbrochen von  selbst  eintreten  müsste.  Ebensowenig 
kann  die  Erlösung  die  ,Verbindung  des  Theils  mit  dem 
Ganzen',  d.  h.  das  Aufgehen  der  Einzelseele  in  die  göttliche 
Seele,  sein,  weil  es  keinen  Gott  giebt  und  weil,  wenn  es 
einen  Gott  gäbe,  eine  solche  Erlösung  vergänglich  sein 
müsste  nach  dem  Gesetz,  dass  jede  Verbindung  wieder  zur 
Trennung  führt;  ausserdem  leidet  diese  Theorie  an  der 
falschen  Voraussetzung,  dass  eine  Seele  aus  Theilen  be- 
stehe. Scliliesslich  ist  die  Erlösung  weder  die  Vernichtung 
der  Seele  noch  die  des  Weltganzen,  weil  die  Erfahrung 
lehrt,  dass  das  Streben  des  erlösungsbedürftigen  Menschen 
nicht  auf  die  Vernichtung  gerichtet  ist.  Alles  dies  also 
ist  die  Erlösung  nicht,  was  aber  ist  sie?  Bei  der  Er- 
klärung A  n  i  r  u  d  d  h  a '  s  -) ,  dass  sie  ein  mit  Worten  nicht 


1)  Sütra  VI.  17—19. 

2)  Zu  Sütrca  VI.  59.  Anirudclha  hat  überhaupt  in  seinen 
ausführlichen  Erläuterungen  zu  diesem  Sütra  und  schon  vorher 
zu  VI.  50  Behauptungen  aufgestellt,  die  sich  mit  seinen  sonstigen 
Darlegungen  und  den  feststehenden  Lehren  des  Systems  im  Wider- 
spruch befinden.     Von  diesen  Behauptungen  gehört  in  unsern  Zu- 


—    325    — 

zu  beschreibender  (a-väg-gocara)  Zustand  sei,  brauchen  wir 
uns  nicht  zu  beruhigen,  da  wir  direktere  Angaben  in 
unsern  Texten  finden.  Aniruddha  selbst  sagt  an  einer 
anderen  Stelle,  dass  die  Erlösung  die  vollkommenste  aller 
Schmerzbeseitigungen  sei ') ;  und  oftmals  wird  dieselbe  als 
das  absolute  Aufhören  des  Schmerzes  oder  als  die  Unmög- 
lichkeit seiner  Wiederkehr  definirt.  Da  die  Schmerz- 
empfindung auf  der  in  den  vorigen  Kapiteln  behandelten 
,Yerbindung'  der  Seele  mit  der  Materie  beruht,  besteht 
die  Erlösung  in  der  völligen  Trennung  beider,  in  der 
definitiven  Isolirung  (kaivalya)  der  Seele  -).  Diese  Trennung 
bedeutet,  dass  der  in  dem  inneren  Organ  befindliche 
Schmerz  aufliört  seinen  Reflex  auf  die  Seele  zu  werfen 
oder  —  um  das  andere  Bild  zu  gebrauchen  —  dass  das 
schmerzvoll  afficirte  innere  Organ  nicht  mehr  von  dem 
Lichte  der  Seele  beschienen  wird  ^). 

Wenn  nun  der  Zusammenhang  des  inneren  Organs 
mit  der  Seele  aufgehoben  ist  und  in  Folge  dessen  der 
Schmerz  aufhört  in  der  Seele  zu  reflektiren,  so  gilt  dies 
selbstverständlich  auch  von  allen  anderen  Affektionen; 
und  daraus  folgt,  dass  nach  der  Sämkhya- Lehre  die 
Seele  in  der  Erlösung  zwar  individuell  fort- 
dauert, aber  in  dem  Zustand  absoluter  Bewusst- 
losigkeit*).  Könnte  darüber  noch  ein  Zweifel  bestehen, 
so  wird  er  durch  die  Erklärung  beseitigt,  dass  schon  bei 
Lebzeiten  derselbe  Zustand  erreicht  wird,  wie  er  in  der 
Erlösung  nach   dem  Tode   besteht,   nämlich   während  des 


sammenhang  die  entschiedene  Irrlehre,  dass  die  erlöste  Seele  ihrer  Natur 
nach  Erkenntniss  des    ganzen  Universums  (jagat-praMca-rüpa)  sei. 

1)  Zu  I.  5. 

2)  Sütra  III,  65. 

3)  Vijfi.  zu  m.  72,  74,  VI.  11,  21. 

*)  Dieselbe  Anschauung  findet  sich  in  der  Vaiceshika- 
Nyäya- Philosophie,  wofür  die  Belege  bei  Nilakantha- Hall, 
Rational  Refutation  p.  152—155  nachzusehen  sind.  Höchst  wahr- 
scheinlich liegt  hier  eine  Beeinflussung  von  Seiten  unseres  Systems 
vor;  s.  oben  S.  119  Anm.  1. 


—    326     — 

tiefen  traumlosen  Schlafes,  der  Ohiimaclit  und  der  bis  auf 
das  höchste  Maass  gesteigerten  Versenkung,  kurz  jedesmal 
dann ,  wenn  das  Bewusstsein  geschwunden  ist ').  Der 
einzige  Unterschied  dieser  Zustände  von  der  Erlösung 
liegt  darin,  dass  in  ihnen  noch  der  Keim  des  Gebunden- 
seins existirt,  während  derselbe  beim  Eintritt  der  Erlösung 
zu  Grunde  geht  -). 

Wenn  unsere  Texte  den  Zustand  der  isolirten  Seele 
beschreiben,  so  sagen  sie,  dass  die  Seele  dann  in  sich  selbst 
ruhe  (svastha)  •^)  oder  in  ihrem  eigenen  Wesen  (svarüpe 
'vasthäna ,  svaritpa-'pyatishfhä)  *)  oder  in  der  Fülle  ihres 
eigenen  Wesens  (sva-svarilpa-pürnatayä  'vasthänaj  ^) ,  also 
ausserhalb  jedes  Zusammenhangs  mit  Objekten  der  Er- 
kenntniss.  Ganz  deutlich  ist  dies  in  einigen  Strophen  des 
Yogaväsishtha  ausgesprochen  ^),  welche  die  Anschauung 
des  Sänikhya-  und  Yoga-  Systems  über  diesen  wichtigen 
Punkt  am  klarsten  zum  Ausdruck  bringen: 

„So  ungetrübt  das  Licht  erscheinen  würde,  wenn 
,. alles  beleuchtete,  d.  h.  Raum,  Erde,  Aether,  nicht 
„existirte,  derart  ist  der  isolirte  Zustand  des  Sehers, 
„des  reinen  Selbstes,  wenn  die  Drei  weit,  du  und  ich, 
„kurz  [alles]  sichtbare  vergangen  ist." 

„Wie  der  Zustand  eines  Spiegels  ist,  in  den  ledig- 
„lich  kein  Reflex  fällt ,  weder  von  einer  Bildsäule  noch 
„von  sonst  etwas,  —  allein  das  Wesen  [des  Spiegels] 
„an  sich  darstellend  — ," 

„So    ist    die    Isolirung  des  Sehers,  der   ohne  zu 

„schauen  verharrt,   nachdem   der  Wirrwarr  der 

„Erscheinungen,    ich,    du,    die    Welt    u.    s.    w.,    ge- 

„schwunden  ist." 

Wenn    die    Seele    so    zum    Fürsichsein    gelangt    ist,    löst 


1)  Sütra  V.  116,  Vijn.  zu  II.  34,  V.  15. 

2)  Sutra  V.  117;  s.  auch  Vijn.  zu  I.  16,  19,  V.  119. 

3)  Sütra  II.  34. 

*)  Yogasütra  I.  3,  IV.  33. 

^)  Vijn.  zu  V.  116  5  vgl.  auch  pürnätman  bei  Vijiü.  zu  I.  154. 

6)  Citirt  bei  Vijfi.  zu  I.  146  und  II.  34. 


—     327     — 

sich  das  Innenorgan,  das  ihr  zugehörte,  auf^),  und  der 
feine  Körper,  der  bis  dahin  die  Wanderung  von  einer 
Existenz  zur  andern  bedingte,  vergeht  2).  Das  Trauerspiel 
des  Lebens  ist  zu  Ende. 

Die  S  ä  m  k  h  y  a  -  Philosophie  verfolgt  keinen  anderen 
Zweck  als  dem  nach  der  Erlösung  vom  Schmerz  trachten- 
den Menschen  zu  zeigen,  wie  dieses  höchste  Ziel  zu  er- 
reichen ist.  Wir  haben  schon  oben  im  zweiten  Abschnitt 
gesehen,  dass  weder  weltliche  noch  rituelle  Mittel  geeignet 
sind  die  Befreiung  vom  Schmerz  herbeizuführen,  dass  es 
zu  diesem  Zwecke  nur  ein  einziges  Mittel  giebt :  die  unter- 
scheidende Erkenntniss.  Wir  haben  ebendaselbst  auch  die 
Anforderungen  kennen  gelernt,  welche  die  Sämkhya- 
Philosophie  an  denjenigen  stellt,  der  Jiach  dieser  Erkennt- 
niss strebt:  die  Gleichgiltigkeit  gegen  die  Sinnenwelt  und 
die  Entsagung  schaffen  die  Stimmung  des  Denkens,  aus 
der  bei  der  nöthigen  Begabung  und  Anstrengung  durch 
das  Studium  der  materiellen  Principien  und  des  Kausal- 
zusammenhanges die  unterscheidende  Erkenntniss  ent- 
springen kann;  auch  ^vird  die  üebung  der  Askese  und 
der  Versenkung  empfohlen.  Aber  das  sind  nur  Förderungs- 
mittel, die  oft  angewendet  werden,  ohne  zum  Ziel  zu  führen. 
Wie  die  Finsterniss  nur  in  Folge  einer  einzigen  Ursache 
verschwindet,  nämlich  wenn  das  Licht  sie  vertreibt,  so 
wird  auch  die  Nichtunterscheidung,  auf  welcher  das  Ge- 
bundensein beruht,  allein  durch  die  Unterscheidung  be- 
seitigt 3).     „Auf   sieben   Arten    bindet    sich    die  Materie," 


1)  Vijfi.  zu  VI.  22,  28. 

2)  Sämkhya-tattva-kaumudi  zu  Kärikä  55.  Die  Gleichnisse, 
in  welche  diese  Lehre  gekleidet  ist,  sind  oben  S.  165, 166  besprochen. 

3)  Sütra  I.  56,  III.  4,  Kärikä  44,  64—66.  Wenn  im  Tattva- 
samäsa  Sütra  23  und  in  der  Sänikhya-krama-dipikä  Nr.  74  gelehrt 
wird,  dass  man  die  Erlösung  auf  dreifache  Art  gewinnt,  1)  durch 
die  Erkenntniss,  2)  durch  Entsagung  und  Selbstbezwingung,  3)  durch 
die  allgemeine  Vernichtung,  so  sind  die  Verfasser  dieser  jungen 
Texte  auf  Bahnen  gerathen,  die  dem  wahren  Wesen  der  Sämkhya- 
Philosophie  schnurstracks  zuwiderlaufen. 


—    328    — 

d.  h.  durch  Verdienst ,  Gleicligiltigkeit  ^) ,  übernatürliche 
Kraft,  Verschuldung,  Nichtwissen,  Nichtgleichgiltigkeit  und 
Nichtbesitz  der  übernatürlichen  Kraft,  „nur  auf  eine  Art 
erlöst  sie  sich",  durch  das  Wissen,  d.  h.  durch  die  unter- 
scheidende Erkenntniss  -).  Wenn  auch  die  ersten  drei  von 
jenen  sieben  den  Menschen  erheben,  zum  höchsten  Heile 
flihren  sie  ihn  nicht. 

Nach  dem  vorher  gesagten  ist  klar,  dass  die  unter- 
scheidende Erkenntniss  nicht  den  Schmerz  unmittelbar 
aufhebt,  sondern  nur  die  Ursache  des  Schmerzes,  die  Nicht- 
unterscheidung von  Seele  und  Materie'^).  Sie  räumt  nur 
das  Hinderniss  hinweg,  welches  die  natürliche,  der  Seele 
zu  allen  Zeiten  eigene  Schmerzlosigkeit  vor  unsern  Blicken 
verhüllt^).  Wenn  die  absolute  Verschiedenheit  von  Seele 
und  Materie  erkannt  ist,  so  ist  damit  der  Wahn  beseitigt, 
dass  die  Seele  gebunden  sei,  und  dadurch  bewirkt,  dass 
der  Schmerz  nicht  mehr  in  der  Seele  reflektirt. 

Wie  imVedänta  auf  dem  Standpunkte  der  höheren 
Wissenschaft  keine  Seelen  Wanderung  anerkannt  wird,  weil 
die  empirische  Existenz  nur  eine  Illusion  und  die  Seele 
mit  dem  B  r  a  h  m  a  n  identisch  ist  ^) ,  ebenso  giebt  es  auch 
nach  der  Sämkhya-Lehre  keine  Seelenwanderung,  wenn 
die  Wahrheit  erkannt  ist;  weil  man  weiss,  dass  die  Seele 
ewig  frei  ist,  und  dass  Gebundensein  und  Erlösung,  die 
bis  zum  Eintreten  der  Erleuchtung  irrthümlich  der  Seele 
zugeschrieben  wurden,  der  Materie  angehören '').  Dasselbe 
gilt  natürlich  auch  von  der  Nichtunterscheidung  und  der 
Unterscheidung,  die  lediglich  zwei  bestimmte  Affektionen 
der  Buddhi  sind.     Wenn,   wie    zuweilen   gescliieht,   die 


^)  S.  oben  S.  145,  146. 
■-)  Kärikä  63,  Sütra  III.  73. 
^)  Vijfi.  zu  I.  1,  Einleitung  zu  I.  7. 
*)  Sütra  VI.  20,  21. 

''■)  Vgl.  Deussen,  System  des  Vedänta  S.  388. 
«)  Kärikä  62;   Sütra  I.  107,    III.  71,  72,  74;   Auir.  zu  I.  160, 
II.  1 ;  vgl.  oben  S.  307. 


—     329    — 

Seele  als  das  nicht-unterscheidende  oder  unterscheidende 
Subjekt  bezeichnet  wird  i),  so  ist  das  in  übertragenem  Sinne 
gesagt,  weil  die  Seele  einen  Reflex  der  beiden  Affektionen 
empfängt  und  diese  dadurch  gleichsam  Attribute  des 
Geistes  werden'-).  Auch  der  häufig  gebrauchte  Ausdruck 
,Ziel  der  Seele'  (purushärtha)  ist  nicht  misszuverstehen ; 
denn  er  bedeutet  nichts  anderes  als  den  ,Wunsch  des  der 
Seele  zugehörigen  Innenorgans'  ^). 

lieber  die  Fortdauer  des  Leibeslebens  nach  dem  Ein- 
tritt der  erlösenden  Erkenntniss  und  die  Ursache  dieser 
Fortdauer  musste  in  anderem  Zusammenhange  schon  oben 
S.  181—183  gehandelt  werden.  Die  Erlösung  bei  Lebzeiten 
(jivanmukti)  ist  die  unmittelbare  Vorstufe  der  wahren 
definitiven  Erlösung,  die  in  dem  Augenblicke  des  Todes 
eintritt  (videliamukti),  wenn  das  Innenorgan  des  Weisen 
sich  in  die  Urmaterie  zurückbildet.  Erst  dann  ist  die  Ruhe 
bewusstlosen  Daseins  für  alle  Ewigkeit  gewonnen. 

Das  ist  die  Eschatologie  des  Sämkhya- Systems.  Sie 
umfasst  nur  das  Geschick  des  Einzelnen,  nicht  das  der 
Menschheit  und  des  Weltganzen.  Mögen  noch  so  viele 
Götter  und  Menschen  das  höchste  Ziel  erreichen,  die  Welt 
rollt  doch  nach  den  ewigen  Gesetzen  in  unablässigem  leid- 
vollem Wandel  und  Wechsel  fort  in  Unendlichkeit. 


1)  Z.  B.  bei  Anir.  zu  III.  64. 

2)  Vijfi.  zu  VI.  12. 

3)  So  definirt  von  Vijü.  zu  I.  1. 


Indices. 


L    Namenindex. 


Atharvapari^ishta  35. 
Atharvaveda  13,  14,  107,  185. 
Atharvopanishad's  22,  41. 
Auiruddha    71,   74,   75,   81,   125 

u.  s.  w. 
Aniruddhavrtti  74,  78. 
Arjuna  140. 
Arthasamgraha  112. 

Auandatirtha  55,  126. 

Aranyaka's  107. 

Äsuri  29,  30,  33,  35,  57. 

Indra  139,  188. 
Indraprastha  28. 

I^ä  Upanishad  19. 
I9varaki-slina  59  ff.,  79,  80. 

Uttaramimämsä  s.  u.  Vedänta. 

Udayanäcärya  118. 

Upanishad's  85,  95, 107—109, 111, 
162,  185,  201,  209,  221,  247, 
252;  vgl.  auch  unter  Atharva", 
Yoga^  und  den  Namen  der  ein- 
zelnen Upanishad's. 

Umä  55. 


1.    Sanskrituamen. 

Uvata  19,  20. 

Rgveda   11,   103,   106,   107,   174, 


185,  221,  293. 

Katha  (Käthaka)  Upanishad  21, 

22,  239,  247. 
Kanabhaksha  116. 
Kanabhuj  116. 
Kanada  116—118. 
Kapila  3  ff.,   25  ff.,  35,  57,   109, 

135  u.  s.  w. 
Kapilavastu  3,  29. 
Kapilä  31. 
Kardama  28. 

Karmamimämsä  s.  u.  Mimämsä. 
Käpileya  31. 
Käpya  s.  u.  Pataiicala. 
Kälägnirudra  Upanishad  22. 
Kävilam  (Jaina-Prakrit)  58. 
Kumärila  42. 
Kusumänjali  118. 
Kürma  Puräna  36,  53,  54. 
Krshna  140. 
Krshna  Upanishad  22. 

Gaügäsägara  28. 


331    — 


Garbha  Upanishad  22,  131. 
Gunädar^a  161. 
Gotama  118. 

Gopicandana  Upanishad  22. 
Gauda  63. 

Gaufiapäda  35,  47,  57—59,  61, 
63  S.,  79,  80  u.  s.  w. 

Candrikä  58,  61,  80. 

Cärväka  108,  122—125,  ISO,  172. 

Cülikä  Upanishad  22,  131,  132. 

Chändogya    Upanishad    17,    18, 
173,  181,  201,  260. 

Janaka  30,  31. 

Jäbäla  Upanishad  22. 

Jina  110,  188. 

Jaigishavya  36. 

Jaina  35,  109,  110,  143,  298. 

Jaimini  111,  112. 

Tattvayäthärthyadipana  69. 
Tattvasamäsa    32,    68—70,    82 

u.  s.  w. 
Tantra's  55,  166. 
Taittiriya  Aranyaka  14. 
Taittiriya  Upanishad  14,  201. 
Taittiriya  Brähmana  21. 

Durgä  55. 
Devahüti  28. 
Devi  55. 
Dvivedagaüga  19. 

Nakidi^a-Pä^upata  126. 
Naciketas  21. 
Naräci  28. 

Näge^a  oder  Nägoji  Bhatta  79. 
Nädabindu  Upanishad  22. 
Näräyana  115. 
Näräyaiia  Tirtha  58,  61,  80. 
Ninikta  209. 

Nilakantha  (Commentator  zum  Ma- 
häbhärata)  217; 


Nrsimhatäpaniya   Upanishad  22. 

Naiyäyika  s.  u.  dem  folgenden  Wort. 

Nyaya  33,  70,  87,  111,  116,  118 
—121,  137,  150,  151,  153,  157, 
159—161,  171,  178,  180,  202, 
229,  231,  232,  237,  240,  253, 
254,  260,  270,  273,  286,  297, 
313,  823,  325. 

Nyäyasütra  120,  260,  274. 

Nyäyasütravrtti  159,  248. 

Paiicarätra  4. 

Panca^ikha  30  ff.,  35,  36,  57,  69, 

214,  258,  274,  287,  288,  299, 

300. 
Patancala  Käpya  25,  26. 
Patanjali   25,   26,  40,  43,   186, 

187,  194. 
Padma  Puräna  75,  76. 
Parä^ara  31. 
Päncarätra  56,  115. 
Pätaliputra  73,  162. 
Päuini  126. 
Pätaiijala  63. 
Pärvati  55. 
Pä^upata  4,  55. 
Puräna's  52—54,   166,  209,  240, 

244. 
Purushottama  115. 
Pushkara  28. 
Pürnaprajna  126. 
Pürvamimärnsä  s.  u.  Mimärasä. 
Pauränika  Sämkhya  54. 
Prajäpati  103,  139. 
Pratyabhijnä  126. 
Pragna  Upanishad  16,  18,  21,  22, 

247. 
Pränägnihotra  Upanishad  22. 

Bädaräyana  7,  113,  114. 
Buddha  3,  5,  16,  95,  102,    173, 

174,  188. 
Buddhamitra  38. 
Bihat-Pärä9ara Dharma^ästra  35. 


332 


Brhadäranyaka    Upanishad     19, 

30,  108,'  173,  222,  297. 
Brhaspati  122. 
Baudhäyana  176. 
Brahmajäla  Sutta  (Päli)  5—7,  20. 
Brahman  masc.  60,  72,  139,  188, 

190,    235,  262;    neutr.    s.    unten 

II.  1. 
Brahmamimäipsä  s.  u.  Vedänta. 
Brahmasütra   43,  51,  73,  78,  114 

—116,    120,    122,    219,     238, 

277. 
Brähmana's    94,   103,    107,    185, 

222. 

Bbagavadgitä  9,  10,  44,  48,  51, 
66,  115,  140,  217,  263. 

Bhagavant  115. 

Bharata  143. 

Bhartrhari  42. 

Bhägavata  56,  115. 

Bhägavata  Puräna  28,  54,  78, 
115,  204. 

Bhäväganeca  Dikshita  69. 

Bhäskaräcärya  122. 

Bbishma  48. 

Bhairavi  55. 

Blioja(räja)  39,  62,  106,  245,  259, 
270,  323. 

Manirata  37. 

Matsya  Puräna  53,  54. 

Madra  25. 

Manu  44—47,  54,  60,  154,  243. 

Mahä  Upanishad  22. 

Mahädeva  s.  u.  Vedäntin  Mahä- 
deva. 

Mahänäräyana  Upanishad  14,  22. 

Mahäbhärata  30,  31,  33,  35,  36, 
47  ff.,  60,  131,  132,  135,  140, 
143,  162,  178,  204,  214,  217, 
242,  272,  274,  307,  321. 

Mahäbhäshya  26. 

Mabidhara  19,  20. 


Mädbava  (Mädhavacärya)  70,  84, 
122,  123,  126,  193,  201. 

Mädbyamika  110,  203. 

Mädbva  55. 

Mära  21. 

Märkandeya  Puräna  53. 

MäbcQvara  55. 

Mitbilä  30. 

Mimäinsä  72,  73,  111,  112,  136, 
141,  151,  157,  179,  239. 

Mimämsäsütra  43. 

Muktikä  Upanishad  131. 

Mokshadbarma  31,  33,  48,  51. 

Maitri  Upanishad  18,  21,  22,  44, 
185,  214,  216,  244,  247. 

Yajurveda  107,  185. 

ya90varman  258. 

Yäjnavalkiya  Kända  25. 

Yäjiiavalkya  30,  31;  (Jurist)  47. 

Yäjniki  Upanishad  14. 

Yäska  209. 

Yudbishthira  48. 

Yoga  4,  6,  25,  26,  36,  37,  40— 
44,  74,  75,  101—103,  111,  136, 
140,  145,  147—149,  170,  178, 
183,  185,  186,  2.39,  246,  247, 
254,  270,  277,  324,  326;  Yoga 
Upanisbad's  22,  41. 

Yogabbäsbya  32— 34,  36,  37,  42, 
58,  78,  258,  299. 

Yogavärttika  32,  78,  299. 

Yogaväsishtha  326. 

Yogasütra  26,  41—43,  63,  71,  74 

Yogäcära  110,  203.  [u.  s.  w. 

Ranaranga  Malla  62. 
Kase§vara  126. 

Räjavärttika  58,  62,  196,  197. 
Rämakishna  Bhattäcärya  61. 
Rämatäpaniya  Upanishad  22. 
Rämänuja  115. 
Rämäyana  162. 
Rudra  262. 


—     333 


Laghusämkhyasütravrtti  79. 

Vasudeva  28. 

Vasubandhu  37. 

Väkyapadiya  42. 

Väcaspatimi^ra  61,  70,  75,  80 
u.  s.  w. 

Vätsyäyana  153. 

Väyu  Puräna  279. 

Värshaganya  36,  37. 

Vasudeva  115. 

Vijnänabhikshu  28,  32,  69—78, 
81,  98,  120  u.  s.  w. 

Vijnänämrta  78. 

Vitatha  28. 

Vindhyaväsaka  37,  39. 

Vindhyaväsin  39. 

ViQvagunädar^a  161. 

Vi^vanätha  120. 

Vishnu  50,  115,  189,  190,  235. 

Vishuu  Puräna  52,  54,  143. 

Vishnusmrti  46. 

Veiikatäcärya  (Veükatädhvarin) 
161. 

Veda  72,  73,  120,  121,  124. 

Vedänta  7,  85,  111  ff.,  136—142, 
171,  178—181,  188,  189,  202— 
205,  220,  221,  2.30,  232,  233, 
2.38,  239,  243,  253,  265,  270, 
273,  274,  276,  277,  286,  298, 
300,  301,  303,  307,  320,  323,  328. 

Vedäntasära  123. 

Vedäntasütra  s.  u.  Brahmasütra. 

Vedäntin  Mahädeva  78,  81,  125 
u.  s.  w. 

VaiQeshika  -37,  70,  87,  111,  116 
—121,  137,  150,  151,  171,  202, 
210,  229,  231,  232,  237,  240, 
253,  254,  264,  270,  273,  286, 
297,  323,  325. 

Vaiceshikasütra  118,  274. 

Vodha,  Vodhu  35,  57. 

Vyäsa  32,  33,  36,  42,  43,  58,  63, 
78,  196,  299.     ■ 


Qakti  55. 

Qlamkara  (Qamkaräcärya)   4,  19, 

27,  42,  51,  61,  70,  73,  87,  114, 

115,  120,  159,  162,   181,  204, 

219,  220,  2.38,  277. 
^atapatha  Brähmana  16,  25,  29, 

173,  209. 
Qabarasvämin  33,  43. 
Qäkta  55. 

Qäükhäyana  Brähmana  16. 
Qändilyasütra  115. 
Qärirakamimämsä  s.  u.  Vedänta. 
giva  55,  133,  190,  235. 
gulvasütra  93,  94. 
gaiva  126. 
Qrautasütra  94. 
gvetaketu  16. 
Qvetä9vatara  Upanishad   9,   10, 

18,  21,  22,  27,  77,  131,  247. 

Shashtitantra  58,  59,  162. 

Saragralia  62. 

Satthitanitam  (Jaina-Prakrit)  58. 

Sadänanda  123. 

Sana  35. 

Sanaka  35,  57,  243. 

Sanatkumära  35. 

Sanatsujäta  35. 

Sananda  57. 

Sanandana  (Sanandanäcärya)  34, 

35,  288. 
Sanätana  35,  57. 
SarvadarQanasanigraha  62,  70,  84, 

122,  125,  193,  201,  224,   2.32, 

2.36. 
Sarvopakärini  68. 
Säiiikliya    (Bedeutung  des  Wortes) 

95,  96;  (Personenname)  133;  vgl. 

auch  unten  II.   3. 
Sämkhyakärikä  59  ff.,  79,  80,  82 

u.  s.  w. 
Sämkhyakaumudi  61. 


—    334    — 


Sämkhyakramadipikä  32,  58,  69, 

82  u.  s.  w. 
Sämkhyatattvakaumudi    61,    62, 

74,  80  u.  ß.  w. 
Säinkhyatattvapradipa  82,  201. 
Sämkhyapravacana  71. 
Sämkhyapravacanabliäshya  74  ff., 

78,  79  u.  s.  w. 
Sämkhyasära  78,  210,  215. 
Sämkhyasütra  34,  59,  60,  68-74 


Sämkhyasütravi-tti  81. 
Sähityadarpana  162. 
Skanda  Upanishad  22. 
Syumara^mi  135. 
Srughna  73,  162. 
Svapue9vara  34. 

Harivam^a  28,  36. 
Hiranyagarbha  27,  190. 


u.  s.  w. 


2.    Andere  Namen. 


Abammon  102. 
Alberüni  62  ff. 
Alexandria  96. 
Anaxagoras  87,  89. 
Anaximander  86. 
Antoninus  Pius  102. 
Aristoteles  97. 
Aufrecht,  Th.  161. 

Ballantyiie,  J.  R.  32,  69,  81,  82, 
112,  120,  126,  131,  134,  1.39, 
150,  153,  177,  197,  205,  212, 
214,  216,  229,  236,  250,  263, 
270,  284,  285,  294. 

Banerjea,  K.  M.  53,  83,  119. 

Bardesanes  101. 

Barth,  A.  10,  55,  56. 

Barthelemy  Saint-Hilaire  69,  70, 
82,  83,  91,  92,  126,  131,  173, 
175,181,184,197,198,296,309, 

323. 
Baur,  Ferd.  Chr.  98. 
Bechanaräma  Tripäthi  80. 
Bhägavatächärya  161. 
Bhandarkar,  R.  G.  42,  83,  115. 
Bhimächärya  Jhalakikar  159. 
Biedenkapp,  G.  99,  105,  159. 
Böhtlingk,  0.  V.  18—20,  174,  293 
Bühler,  G.  5,  33,  37,  42,  43,  45,  47 


Burgess,  J.  42. 

Burneil,  A.  C.  24,  45,  46,  54, 
161,  169. 

Chezy,  A.  L.  de  92. 

Colebrooke,  H.  Th.,  22,  27,  28, 
42,  46,  53 ff.,  59,  61,  62,  64, 
68,  69,  79,  82,  86,  90,  91,  122, 
131,  151,  153,  205,  211,  214, 
232,  243,  247,  266,  279,  281, 
285,  296,  297,  303. 

Collin  de  Plancy  92. 

Cowell,  E.  B.  62,  69,  70,  82,  84. 
171,  216. 

Curtius,  G.  293. 

Davies,  John  4,  28,  80,  105,  127, 
131,  212,  219,  256. 

Demokrit  87,  89. 

Deussen,  P.  7,  41,  42,  51 ,  87, 
105,  111,  113,  114,  138,  142, 
150,  153,  160,  162,  178,  179, 
181,  188—190,  220,  221,  232, 
233,  239,  243,  248,  253,  256, 
265,  273,  274,  286,  298,  -300,  328. 

Dharmädhikäri  DhundhiräjaPan- 
tasharman  80. 

Dubois,  J.  A.  92. 

Eckstein,  Baron  v.  88. 


335 


Eleaten  85,  90. 
Empedokles  86,  87,  89. 
Epikur  87,  90. 

Fausböll,  V.  29. 
Fleet,  J.  F.  34,  42. 

Garbe,  R.  80,  81,  84. 
Gladisch,  Aug.  88. 
Gogerly,  G.  5. 
Goldstücker,  Th.  84,  195. 
Gough,  A.  E.  8-10,  75,  84,  107, 

118,  175,  176,  185. 
Govindadeva^ästrin  82. 
Grassmann,  H.  29-3. 
Grimblot,  P.  5. 

Hall,  Fitzedward  25,  28 ff.,  42, 
52,  54,  60  ff.,  68  ff.,  78,  79,81- 
83,  99,  119,  131,  158,  177,  178, 
180,  181,  205,  210,  212,  215, 
229,  236,  240,  244,  246,  248, 
258,  309—311,  316,  325. 

Hartmann,  Ed.  v.  104,  105. 

Haughton,  Sir  Graves  285,  286. 

Heinze,  M.  89,  104. 

Heraklit  86,  104. 

Herodot  93. 

Hopkins,  E.  W.  45. 

Jacob,  G.  A.  131,  185,  248. 
Jacobi,  H.  119,  211,  212,  248. 
Johaentgen,  F.  45,  46,  83,  151, 

154,  156,  166,  211,  221,  323. 
Johannes  (Evangelist)  103. 
JoUy,  J.  46. 
Jones,  Sir  William  88,  90,  91,  94. 

Kasawara  59. 
Kennedy,  Vans  285. 
KeQava^ästrin  32. 
Kielhorn,  Fr.  258. 
Koppen,  C.  F.  227. 

Lange,  F.  Alb.  88,  122. 


Lassen,  Chr.  26,  56,  79,  94,  96 

—102. 
Leukipp  87. 
Leumann,  E.  294. 
Ludwig,  A.  11. 

Markus,    P.    43,    114,  133,  149, 

212,  214,  246,  270,  314. 
Mot  (egyptisch)  244. 
Movers,  C.  Fr.  244. 
Muir,  J.  13. 
Müller,  Max  8,   20,   21,  27,  59, 

116,  132,  133,  150,  169,  286. 

Nilakantha  Sastri  Gore,  Nehe- 
miah'  8,  83,  99,  119,  158,  177, 
178, 180, 181,  205,  212,  316,  325. 

Nilmani  Mukhopädhyäya  Nyäyä- 
lankära  53. 

Ocellus  90,  91. 

Oldenberg,  H.  3,  21,  111,  173, 

178,  196,  302. 
Ophiteu  97. 

Parmenides  85. 
Päthak,  K.  B.  42. 
Pauthier,  G.  79. 
Phädon  91. 
Phädrus  91. 
Philo  104. 
Philolaus  93. 
Plato  91,  92. 
Plotin  99—102. 
Porphyrius  101,  102. 
Pratäpa  Chandra  Ray  30,  55. 
Pythagoras  90—96. 

Räjendraläla  Mitra  106,  177,  280. 
RämakishnaQästrin    Patavardha- 

na  32. 
Regnaud,  P.  22,  209,  239,  248, 

252,  256,  274. 
Röer,  E.  9,  69,  83,  88,  118,  126, 


—     336     — 


127,  131,  150,  155,  156,   205,    Tylor,  E.  B.  176,  186. 
229,  247,  297,  302. 


Ueberweg,  Fr.  89. 
Upham,  Edw.  92. 

Valcntinianer  97. 
Voltaire  174. 

Ward,  W.  82. 


Sachau,  Ed.  63,  65  ff. 

Sanchoniathon  244. 

Scherman,  L.  11,  92,  107,  135. 

Schlegel,  F.  v.  92. 

Schlüter,  C.  B.  88. 

Schopenhauer,  A.  104,  105. 

Schroeder,  L.  v.  41,  92—95,  173,    Wassiljew,  W.  37,  39. 

221.  Weber,  A.  7,  10  ff.,  25  ff.,  35,  41, 

Seng  ke  lun  (chinesisch)  37,  38.  42,  47,  59,  78,  92,  93,  103,  104, 

Shamarav  Vithal  161.  131—133,  173,  174,  220,   239, 

Spinoza  105.  293. 

Westergaard,  N.  L.  71. 
Täranatha  Tarkavächaspati  80,    Wilson,  H.  H.  52,  54,  64,  80,  91, 

159.  212,  236,  240,  244,  248,   262, 

Taylor,  W.  161.  266,  279,  285,  302. 

Tolang,  K.  T.  42,  59.  Windisch,  E.  211. 

Thaies  86,  89.  Windischmann,  F.  H.  79. 

Thibaut,  G.  112,  114. 
Timäus  91. 
Tsi  schi  tschang  schi  lun  (chine- 


sisch) 38. 


Xenophanes  85. 
Zachariae,  Th.  161. 


II.    Sachindex. 


1.    Sanskrit. 


akartar  300. 

aksha  257. 

akshara  205,  293. 

akhaudopädhi  313. 

aguna  301. 

anga  273. 

anu  237,  299. 

anumätra  299. 

andaja  243. 

atära  284. 

atäratära  284. 

atiprasakti,  atiprasaiiga  160,  320. 

ativyäpti  160. 


atitävasthä  231. 

atindriya  258. 
atyantanivi'tti  136. 
atyantäsattva  203. 
adrshta  121,  179,  223,  273. 
advaitaväda  113. 
adhidaivata  262. 
adhibhüta  262. 
adhishthätar  295,  305. 
adhishthätrtva  257. 
adhiehthilna    1)    Sitz,    Stätte  'i-')"^; 

2)  Leitung  257. 
adhishthänä^arira  266,  267. 


—     337 


adhyayana  283. 

adhyavasäya  244. 

adhyätma  262. 

ananta  298. 

anantä  284. 

anambhas  284. 

anavasthä,  anavasthäna  159,  160. 

anägatävasthä  231. 

anädi  147,  298. 

anävi-tti  188. 

anugrahasarga  240. 

anupacarita  806. 

anumäna  151. 

anu9ayin  188. 

anogha  284. 

antahkarana  253. 

antalikaranasämänya  246,  254. 

antahsamjiia  242. 

andhatämisra  280. 

andhaparainparä  140. 

anyathäkhyäti  120. 

anyo'nyäbhäva  299. 

anyo'nyäcraya  159. 

ap  239. 

apara  307. 

aparavairägya  145. 

apara  vidyä  189. 

apariiiämin  300. 

apavarga  164,  224,  323. 

apäna  256. 

apürva  179. 

aprasavadharmin  302. 

abhäva  117. 

abhiniveca  280. 

abhibuddhi  263. 

abhimäna  170,  248,  249. 

abbivyakti  231. 

abhogya  237. 

amala  301. 

arthäkära  311. 

ardbalaya  276. 

avakä9adäna  239. 

avadhrta  257. 

avastu  230. 

Garbe,  Sämkhya-Philosophie. 


aväggocara  325. 

aväntarapralaya  221. 

avidyä  113,  170,  280. 

avidyäsamskära  272. 

avibhäga  299. 

avividishä  252. 

aviveka  147,  320. 

avivekin  234,  290. 

avi^esba  237. 

avedyä  284. 

avyakta  50,  170,  205. 

a9akti  49,  279. 

a9äiitäghorämüdha  237. 

a^ubhakarmakartar  249. 

a9ubhamüdhakartar  250. 

asaüga  300. 

asatkäryavädin  232. 

asamaväyikärana  229. 

asamprajnäta  278. 

asamprajiiätayoga  148. 

asambhüti  19,  20. 

asalila  284. 

asutära  284. 

asmitä  280. 

ahamkära  17,  68,  170,  171,  190, 
198,  206,  207,  234—236,  238, 
245,  246,  248—253,  260—262, 
264,  280,  303,  308;  personificirt 
51,  53. 

äkä9a  93,  239. 

äkrti  239. 

ätivähika9arira  266. 

ätmadravya  286. 

ätman  108,  109,  113, 170,  286,  293. 

ätmasukha  301. 

ätmä9raya  159. 

ädipurusha  189. 

ädividvams  33. 

ädisarga  220. 

ädhidaivika  134. 

ädhibhautika  134. 

ädhyätmika  134,  282. 

äntara  indriya  252. 

22 


—    338 


äptavacana  60,  151. 
äpta^ruti  60. 
äptagiima  60. 
ävrtti  188. 
asana  148. 
ästika  121. 

indriya  170,  235,  257. 
indriyajaya  36. 
iva  316. 

i^a  170. 

icvara  170,  191. 

iitpatti  231. 
udäua  256. 
udäsina  301. 
udbhijja  243. 
upagraha  258. 
upanayana  138. 
iipabhogadelia  188. 
upamäna  151. 
uparäga  316. 
upastha  258. 

upädana(kärana)  228 — 230. 
upädhi  171,  275,  277,  287,  305- 

307,  317,  318. 
ubhayadeha  188. 

üshmaja  248. 
üha  283. 

ishitarpana  35,  37. 

esha  298. 

ai§varya  148. 

aupädänika  229. 
aupädhika  317. 

ka  293. 

karana  170,  257,  262. 
karanda  273. 
kartar  121. 


kartrkarmavirodha  159, 

kartrtva  178. 

karmakarti-virodha  159,  296. 

karmadeha  188. 

karman  108,  179. 

karmayoni  251. 

karmätman  249. 

karmendriya  258. 

kalala  273. 

kalpa  221. 

kalpanä  158. 

karana  170,  228—230. 

käranarüpa  218. 

kärya  229,  247. 

käryakäranäbhcda  231. 

käryarupa  218. 

käryeQvara  191. 

käla  286. 

kä9  mit  pra  312. 

kütastha  300. 

kütasthanitya  289. 

kevala  257,  296. 

kevalätman  171. 

kaivalya  41,  825. 

kledana  239. 

kshetra  205. 

ksbetrajna  293. 

kshobha  223. 

kha  239. 
khapushpa  163. 

khyäti  244. 

gandhatanmätra  236. 

gandharva  139. 

guna  (drei)  13,  18,  45,  46,  56, 
98,  163,  166,  170,  171,  205, 
209—221,  225,  227,  233,  237, 
246,  247,  249—251,  275,  280, 
290,  295,  300,  303,  304. 

golaka  258. 

gauna  298. 

gaurava  158. 


339    — 


ghora  237. 
ghräna  258. 

cakshus  258. 
cit  170,  297,  310. 
citi  170,  297,  310. 
citta  170,  246. 
cidaveca  316. 
cinmätra  297. 
cetana  170,  297,  310. 
caitanya  170,  297,  310. 

chayä  60,  315. 
chayäpatti  316. 

jagatprakä^arüpa  325. 

jada  312. 

janman  272. 

janyecvara  191. 

japä  166. 

jaräyuja  243. 

jägara,  jägarana,  jägarita,  jägrat 

275. 
jätisänikarya  121. 
jihvä  258. 

jiva  171,  257,  296,  305. 
jivanmukta  140,  181—184,  190. 
jivanmukti  181,  183,  329. 
jivätman  91. 
jnäna  170,  310. 
jiiänavrtti  312. 
jiiänendriya  258. 

tattva  137,  285. 

tattvajnäna  137. 

tanu  239. 

tauumätra  236. 

tanmätra  170,  206,  236—239. 

tanmätrasarga  280. 

tapas  185. 

tamas  1)  Name  des  dritten  Guna 
18,  166,  170,  171,  205,  211, 
212,  214,  216—219,  227,  236, 
246,  247,  249,  250,  275,  290, 
304;  2)  Bezeichnung  des  Nicht- 
wissens 280. 


tarka  22. 
tämasalinä  284. 
tämisra  280. 
tirobhäva  231. 
tushti  49,  279. 
tejas  239. 
taijasa  236,  249. 
trasarenu  238. 
triguna  14,  170. 
tryanuka  238. 
tvac  258. 

dakshinäbandha  321. 

dayä  bhüteshu  143. 

däkshinaka  bandha  321. 

däna  283. 

die  286. 

duhkhayoga  317. 

duradhigama  299. 

drshta  151,  158. 

deva  191. 

daicikäbhäva  -  pratiyogitävacche- 

daka-jäti  218. 
dravya  210,  230,  286,  287,  301. 
drashtar  312. 
dvesha  280. 
dvyanuka  238. 

dharma  (Attribut)  247,  286. 

dharmadharmyabheda  158. 

dharmädharmau  247. 

dbätusamsarga  242. 

dhärana  239. 

dhäranä  148. 

dhi  244. 

dhrti  244,  251. 

dhyäna  148. 

dhruva  205. 

dhvamsa  231. 

nara  293. 
näca  133. 


nästika  122. 
nästikya  216. 


22* 


340 


nigüdhakarmakartar  249. 
nitya  298. 
nityamukta  301. 
nitya-Quddha-buddha-mukta-sva- 

bhäva  73. 
nitycQvara  191. 
nididhyäsana  146,  147. 
iiimitta(karana)  170,  228,  229. 
niyata  257. 
niyama  148. 

niyämakäbliäva  159,  318. 
niranumäna  249,  250. 
niri9varaväda  191. 
nirguna  297. 
nirdharma  297. 
nirdharmaka  297. 
iiirbija  278. 
nirbbäga  298. 
nirmukti  323. 
üirvikalpaka  jnäna  152. 
nirvishaya  jnäna  310. 
nishkriya  300. 
nr9riiga  163. 
naimittika  229. 

paiicatä,  pancatva  273. 
panca  mätaras  bei  Alberüni  68. 
paucavim^atitattva  137. 
pada  257. 
padärtha  285. 
para  307. 
parama  307. 
paramamahant  300. 
paramänu  237. 
paravairägya  145. 
parärtha  290. 
paricchinna  218. 
paricchinnaparimäna  298. 
parinama  204,  312. 
parinäminitya  289. 
parinishthä  207. 
parimita  218. 
paryavasäna  207. 
päcaka  239. 


päni  258. 

päda  258. 

päyu  258. 

päramärthika  318. 

paramärthikasattva  202. 

päramärthikäsattva  203. 

päribhashika  194. 

pitrtarpana  35,  57. 

pi^äca  139. 

pums  166,  293,  294. 

pumgunajantujiva  293. 

punarävrtti  188. 

pura  205. 

puräna  294. 

puri  Qete  294. 

purusha  166,  177,  293,  294;  als 
männliches  Schöpfungsprincip  auf- 
gefasst  54. 

purusbavi^esha  41. 

purushärtba  329. 

purohita  294. 

pürnätman  326. 

pÜTvavat  (anumäna)  153. 

pürväcäryäh  39. 

pürväbhäva  231. 

prtbivi  239. 

prakä9a  297,  310. 

prakä9aka  312. 

praki-ti  68,  77,  86,  166,  170,  204, 
205,  208, 237, 285, 286;  acht  49; 
als  weibliches  Schöpfungsprincip 
aufgefasst  54,  55 ;  Bezeichnung  der 
Frau  in  den  indischen  Volks- 
dialekten 55. 

prakitibandha  321. 

praki'tilina  14. 

pracchannabauddha  75. 

prajnä  244. 

prajnänasamtati  244. 

pratibimba  60,  61,  315,  318. 

pratibimbana  316. 

pratibhä  101. 

pr atisam cara  221. 

pratisarga  221. 


341     — 


pratyaksha  151,  170. 
pratyanga  273. 
pratyayasarga  240,  279.  . 
pratyähara     148;     s.     347     unter 

(Verbesserungen'. 
pradhäna  170,  204,  208,  285,  286. 
pradhänaka  205. 
pradhvamsa  231. 
pramä  150. 
pramäna  150,  170. 
pralaya  86,  221  fiF. 
prasiddhapada  -  sämänädhikaran- 

ya  155. 
prasüta  205. 

präki-ta  14,  208;   — bandha   321. 
präki-tika  208,  278. 
präna  170,  255,  256,  293. 
pränäyäma  347. 
prätibha  jnäna  101. 
prämänika  159. 
prärabdha  272. 
praudhaväda  76. 

bandba  170,  224,  316. 

bandhyäputra  163. 

bähya  282. 

bähyendriya  257. 

bimba  318. 

bijäükuravat  147. 

buddhi  68,  170,  171,  189,  198, 
207,  218,  234,  235,  238,  244— 
248,  250—254,  262—264,  269, 
270,  275,  276,  278,  280,  288, 
303,  312,  314,  321,  328;  perso- 
nificirt  50,  51,  53. 

buddhindriya  258. 

budbuda  273. 

brähman  neutr.  71,  75,  76,  85, 
108,  109,  112—114,  203,  205, 
232,  233,  277,  293,  307,  328. 

brahmän  masc.  244;  vgl.  im  Index 
I.   1. 

brahmarüpatä  73,  277. 


bhakti  115. 

bhäna  312. 

bhäva  247,  278. 

bhävasarga  279. 

bhäs  312. 

bbüta  170,  239. 

bhütasarga  139,  242,  280. 

bhutasükshma  236. 

bhütädi  236,  249. 

bbütä^raya  265. 

bhoktar  170,  240,  295,  313. 

bboktrtva  178. 

bhoga  164,  170,  224,  311. 

bhogya  170,  240. 

bhogyabhoktrbhäva  287. 

bbautikasarga  139,  242,  280. 

mati  244. 

madhyamaparimäna  255,  298. 
madhyastha  301. 
manana  146,  147,  246. 
manana9ästra  155,  211. 
manas   91,    118,    170,    171,   235, 

244—246,  252,  253,  262. 
manushyacriiga  163. 
mahat,  mahän  170,  244. 
mahäpralaya  221. 
mahäbhüta  237,  239. 
mahämoha  280. 
mamsape^i  273. 
mäna  150. 
mäyä  53,  77,  113. 
mithyä  316. 
mithyäväsanä  147. 
mukti  170,  323. 
mukhya  306. 
müdha  237. 
mürchä  277. 
mürti  285. 
mülakärana  205. 
mülaprakrti  160,  204. 
mülikartha  196. 
moksha  170,  323. 
moha  280. 


342     — 


ya  293. 
yaksha  139. 
yama  148. 

yoga  s.  im  Index  I.    1. 
yogänga  148. 

yogin  125,  136,  153,  187,  188, 
209,  237. 

rajas  18,  166,  170,  171,  205,  211, 
212,  214,  216—219,  227,  236, 
249—251,  260,  275,  290,  304, 
317. 

rajjusarpa  162;  vgl.  288. 

rasa  258. 

rasatanmätra  236. 

rasana  258. 

räkshasa  139. 

räga  280. 

rüpa  247. 

rüpatanmätra  236. 

Iaya221,231,276;  layam  gacchat 

266. 
läghava  158. 
Häga  neutr.   91,    163,    167,   170, 

235,  265—267;  adj.  208. 
liiigadeha     1   §.  unter  dem  vorigen 
lingacarira  /  Wort. 

lokäyata  122. 
lokayatika,  laukäyatika  19,  122. 

vadha  281. 

vartamänävasthä  231. 

vasu  285. 

vastu  230,  285. 

väkyabheda  157. 

väc  103,  258. 

väyu  239. 

väsana  147,  170,  228,  269. 

vikalpa  252. 

vikara  49,  239,  312. 

vikrti  204,  205. 

vigraha  239. 

vighäta  281. 


vijnäna  85. 

vidt'hamukti  183,  329. 
vidya  114,  138,  170. 
vinigamakäbhäva,  vinigamanävi- 

raha  159. 
viparitajnäna  320. 
viparyaya  279—281,  320. 
viparyäsa  320. 
vibhu  170,  300. 
vimukti  323. 
vimokslia  170,  323. 
viräga  144. 
vividishä  252. 
viveka  137. 
vivekajnäna  137. 
vivekanishpatti  149. 
vi^ishta  257. 
vi^esha  237,  239. 
viQeshavi'tti  197. 
vishaya  170,  290. 
vishayäkära  311. 
visarga  220. 
vrtti  259. 
vrttisärüpya  316. 
vrddhavyavahära  154. 
vrddhäh  39. 
vedantibruva  75. 
vaikärika  236,  249,   257;   — baii- 

dha  321. 
vaikrta  236,  249,  278. 
vairägya  144. 
vaishamya  220. 
yyakta  205. 
vyakti  213. 
vyaktibbeda  235. 
vyashtibuddhi  234. 
vyaslatisamashtyor  ekatä  158. 
vyashtisrshti  220. 
vyana  256. 
vyäpaka  300. 
vyäpti  33,  151. 
vyävahärikasattva  202. 
vyutpatti  73. 


343     — 


^akticaktimadabheda  158. 
^atasähasri  samhitä  34. 
cabda  151,  283. 
cabdatanmätra  236. 
carira  285. 
9aca9rnga  163. 
^änta  237. 

^antaghoramüdlia  239. 
Quktirajata  162. 
cuddha  301. 
9uddhätman  171. 
§ubliakarmakartar  249. 
^ubhamüdhakartar  250. 
QÜdra  138—140. 
^eshavat  (anumäna)  153. 
^eshavrtti  197. 
coshana  239. 
9raddhä  251. 
cravaiia  146,  147. 
cruti  244. 
erotra  258. 

shashtitantra   58;    vgl.    im   Iudex 
I.  1. 

shätkaucika  272. 

sa  293. 

samyoga  116,  223. 

samyogavicesba  306. 

sainsarana  133. 

samsära'l47,    170,    172flF.,    188, 

194,  222,  284,  304. 
samskära    170,    269—272,    275, 

276. 
samhatyakärin  290. 
.sainhära  221. 
samkalpa  252. 
samkalpaka  252. 
samkalpaja  243. 
samkhya  90,  95,  131. 
saccidänanda  301. 
saincara  220. 
satkäryaväda  5,  13,  87,  120,  187, 

232. 


satkäryavädin  232. 

sattva  18,  166,  170,  171,  190, 
205,  210—215,  217—219,  227, 
236,  246,  247,  249—251,  260, 
275,  290,  301,  304,  312,  317, 
321. 

sattvapurushänyatä  321. 

sattva9uddhi  18. 
'  samagralaya  276. 

samaväya  116,  120. 

samaväyikärana  229. 

samashtibuddhi  234. 

samashtisrsliti  220. 

samädhi  i48,  277. 

samäna  256. 

samprajnätayoga  148. 

sambhüyakärin  290. 

sarga  220. 

sarpana  259. 

sarvabhutadayä  143. 

savikalpaka  jnäna  152. 

sassataväda  (Päli)  5,  6. 

sahakärikärana  230. 

samsiddhika  243,  278. 

säkshätkära  140,  147. 

säksbin  312. 

samkhya  131  ff. 

sämkhya-yoga  44. 

sämkbyavrddhäh  39. 

sämkhyäcäryäh  39. 

sädi  177. 

sänumäna  249,  250. 

sämänyato  drsbta  (anumäna)  153, 
154. 

sämyävasthä  219,  220. 

siddhi  49,  279. 

sukhä  251. 

sushupti  275. 

subrtpräpti  283. 

sükshma  299. 

sükshmadeha  266. 

sükshmabhüta  206,  236. 

süksbma9arira  91,  265,  266. 

sükshmävasthä  228. 


—     344     — 


srshti  86,  220. 
sthiti  220. 
sthüladeha  272. 
sthülabhüta  206,  239. 
sthüla^arira  91,  272. 
spar^a  258. 
spar^atanmätra  236. 
spar^ana  258. 
sphota  111,  126. 
smrti  244. 
svatah  siddha  294. 


svapna  275. 
svayamprakä^a  294. 
svarüpa  120,  297. 
svarüpapratishthä  326. 
svarüpe  'vasthäna  326. 
svastha  326. 
svasvarüpapürnatayä      'vasthäna 

326. 
svasvämibhäva,  svasvämisamban- 

dha  287. 
svämin  305. 


2.  Griechisch. 


aneiQov  86. 
anXcoats  101. 
cLQxri  86. 
exaraats  101. 
d'vfiös  91. 
Uyos  103,  104. 


oXxas  93. 
nävrn  qbI  86. 
TivevftftTixoi  98. 
vXixoi  98. 
fQV/V   91. 
ipvj^iicoi  98. 


8.  Deutsch. 


Aether  93,  206,  208,  236,  239. 

Analogie  151. 

Anlage  s.  Disposition. 

Askese  184—188,  282. 

Atheismus  60,  61,  75,  76,  87,  88, 
111,  112,  191—195;  auch  in 
der  Vai^eshika-Nyäya- Philo- 
sophie ursprünglich  herrschend 
gewesen  119. 

Athem  255—257,  305. 

Atome,  Atomistik  37,  87,  116— 
118,120;  der  Begriff  des  Atoms 
im  Särnkhya-System  nicht  an- 
erkannt 237,  238,  253. 

Befriedigung  279,  280,  282,  283. 
Bewusstlosigkeit    148,  277,  278, 

317,  325,  326,  329. 
Bewusstsein  310 — 316. 
Buddhismus ,  Buddhisten  21 ,  96, 

109,  110,  178,  185,  196,  201, 


203,  221,  222,  227,  270,  284, 
302,  320,  324;  s.  auch  oben 
Buddha  im  Index  I.  1. 

Circulus  vitiosus  159. 
Concentration  des  Denkens   147, 
148. 

Denkorgan  246,  250. 
Disposition  147,  267,   269—272, 
314,  322. 

Elemente,  fünf  93,  94,  206  u.  s.  w. ; 

feine  206,  235—239,  265—267, 

280;  grobe  206,  239,  273,  274. 
Embryo,  Bildung  des  273. 
Empirie,  Werth  der  158. 
Entwickelungstheorie  86,  220  ff. 
Erkenntniss    als    einziges    Mittel 

zur  Erlösung  137, 142;  vgl.  auch 

Unterscheidung. 


—     345 


Erkenntnissmittel  45,  112,  118, 
150-156,  158. 

Erlösung  91,  134  ff.,  287,  289, 
301,  304,  323-329;  bei  Leb- 
zeiten 180—184. 

Eschatologie  329. 

Ethik  in  der  indischen  Philo- 
sophie wenig  berücksichtigt  44, 
110,  143,  144. 

Farben  allein  Objekte  des  Ge- 
sichtssinnes 258,314;  ihre  Ent- 
stehung 217 

Fehler,  logische  159. 

Finsterniss,  Erklärung  der  240. 

Gebundensein   91,  224,  301,  315 

—323,  326. 
Geburt  303. 
Gedächtniss  245,  270. 
Gedankenfreiheit  121. 
Gleichgiltigkeit  gegen   weltliche 

Dinge  144—146,  183. 
Gleichnisse  160—168. 
Guosis,  Gnostiker  96  ff. 
Gottesleugnung  s.  Atheismus. 
Götter  der  Volksreligion  87,  139, 

146,  188—191,  209,  237,   243, 

304. 
Grundsätze,  logische  156 — 159. 
Grundstoffe  s.  feine  Elemente. 

Himmel ,  himmlische  Freuden 
gering  geschätzt  134,  135,  188, 
189,  298. 

Höllen  189. 

Identität  der  Einzeldinge  und  der 
Gesammtheit  158,  —  der  Ur- 
sache und  der  Wirkung  (resp. 
des  Produkts)  208,  231—233. 

Induktionsschluss ,  induktiv  154, 
155. 

Inhärenz,  eine  Kategorie  der  Vai- 
yeshika-Philosophie   116,  120. 


Instinkt  269. 

Irrthum  254,  279—281. 

Jinismus  109,  110,  185,  221,  222, 
237 ;  vgl.  auch  oben  Jina,  Jaina 
im  Index  I.  1. 

Kastenunterschiede  nichtig  189. 

Kategorien  der  Vaicjeshika-Phi- 
losophie  116,  117. 

Körper,  innerer  49, 163,  167,  235, 
265—272, 827 ;  grober  272—274 ; 
Bildung  des  Körpers  121,  256. 

Kraft,  nachwirkende  von  Ver- 
dienst und  Schuld  177  ff.,  193, 
223,  267,  319;  übernatürliche 
102,  103,  136,  148,  184—187, 
280,  281. 

Leben  272,  817;  Lebenshauche, 
Lebensprincip  255,  256. 

Lehrer,  professionelle  nicht  noth- 
wendig  140. 

Logik  der  Nyäya-Philosophie  118. 

Materialismus ,  Materialisten  19, 
20, 108, 122—125,  1.34,  153,  324. 

Meditation  146—148,  185,  186, 
279. 

Mittheiluug,  zuverlässige  als  Er- 
kenntnissmittel 151,  154,  155. 

Monismus  der  Vedänta  -  Philo- 
sophie 109. 

Monotheismus  der  Bhägavata- 
Päiicarätra's  115. 

Neuplatonismus  96,  99  ff. 

Nichtexistenz,  eine  Kategorie  der 
Vai^eshika  -  Philosophie  117 ; 
im  Säinkhya-System  nicht  an- 
erkannt 158,  231. 

Nichtunterscheidung,  Nichtwissen 
37,   109,   110,   113—115,   147, 
178,  182,  228,  267,  272,  280, 
288,  306,  308,  320-323,  328. 
22** 


—     346     — 

Ohnmacht  240,  277,  317,  826.  220,  232,  233,  auf  die  Vai9e- 

Orgaiie,  iimere  oder  Iiinenorgan        shika-Nyäya- Philosophie    119, 

91,  167,  168,  234,  235,  253—        248,  auf  die  griechische  Philo- 

257,  261—265,    275,  276,  281,        sophie  86  ff.;  ihr  Verfall  56,  78. 

301,  305—321,  325,  327,  329;  Schicksal  179,  180. 

vgl.    auch   ahainkära,  buddhi.  Schlaf  254,  275 — 277. 

manas  im  Index  II.  1.  Schlussfolgerung   150,    151,  153, 

154. 

Perception  151—153,  155,  203.  Schmerz   133  ff.,   269,   277,   283, 
Pessimismus  46,  133  ff.  289, 317—319, 322, 325, 327,  328. 

Pflanzeuleib     und    Pflauzenseele  Schrift,  d.  h.  heilige  Ueberliefe- 

242.  rung      des     Brahmanenthums 

Principien,   fünfundzwanzig  132,         (gruti),    ihre    Geltung    in    der 

137.  Säinkhya-Philosophie  4,  5,  60, 

Produkt,  sein  Wesen  233,   237;        71—73,  155. 

anfangs-   und  endlose  Realität  Seelenwanderung  86,  87,  91 — 93, 

der  Produkte  13,  87,  120,  187,         133,     167,     173 ff.,     265-269, 

203,  232;  vgl.  auch  unter  Iden-         .800,  327,  328. 

tität.  Sinne  252,  257—265,  303,  305. 

Raum  117,  286,  287,  319.  Talente  270. 

Realität    der   Materie    77,     114,  Thatorgan  250. 

201 — 204.  Theismus   der   Yoga-Philosophie 
Reflex    des  Innenorgans    in    der        40,  41,  111,  der  späteren  Vai- 

Seele  60,  289,  315,   316,   318,        §eshika-Nyäya-Philosophiell8, 

321,  322,  325,  328,  329.  119. 

ReÜexion  146,  147.  Thierleib    und    Thierseele    242; 
Regressus  in  iufinitum  159,  160,        Schonung  der  Thiere  135,  143, 

204,  295,  309,  322.  283. 

Tiefschlaf   100,    240,    275—277, 
Säinkhya-Philosophie,  Ursprung-         317,  326. 

lieh  uubrahmanisch  4,   5,    60,  Tod  240,  272,  303. 

71,  72,  132,  133,  138  ff.,  155;  Traum,  Traumschlaf  202,  275. 

ihre    Ablehnung  des    brahma- 

nischen  Opferwesens  112,   134,  Uebertragung ,   zu  weit  gehende 

135,  320,  321;  ihre  Stellung  in        als  logischer  Fehler  160,  320. 

denUpanishad's21,22, 44,  Inder  Unsterblichkeit  298. 

juristischen   Literatur    45 — 47,  Unterscheidung    von    Seele    und 

im  Mahäbhärata  48— 52,  in  den        Materie  149,   282,  288,  327— 

Puräua's  51 — 54,  in  den  Tantra's        329. 

und  in  den  Sekten  55,  56;  ihr  Unvermögen  279 — 281,  284. 

Einfluss    auf  den  Buddhismus  Urmaterie    12,    19,   20,  86,  156, 

3, 109,  auf  die  Yoga-Philosophie        160 ,  205—209 ,  218—228 ,  233, 

40,  41,   43,   auf  den  Vedänta        234,   320,    321,  329;  ihre  Ver- 


347 


bindung  mit  den  Seelen  223, 
224;  ihre  Erschütterung  223; 
personificirt  50. 
Urwasser  als  kosmogonisches 
Princip  in  der  brahmanischen 
Mythologie  11,  12,  15,  86. 


Vedäuta-Philosophie  s.  Index  I.  1 ; 
ihr  Einfiuss  auf  jüngere  Säni- 
khya-Werke  72,  73,  75—77. 

Vergeltung,  Gesetz  der  146,  172  fF. 

Versenkung  148,  185,  277,  278, 
317,  326,  327. 

Vollkommenheit  279,  283,  284. 

Yoga-Philosophie  s.  im  Index  1. 1. 
Yogin  s.  im  Index  II.  1. 

Wachen  275. 

Welt,    ihr  Dasein   anfangs-    und 


endlos  147,  177,  225,  304,  329; 
ihre  Entfaltung  137,  220  ff.; 
ihre  Rückbildung  und  Auf- 
lösung 136,  177,  220 ff.,  267, 
317;  Weltperioden  136,  221, 
222,  298. 

Werkdienst,  seine  Behandlung 
in  den  Säinkhyasütra's  72,  141 
—143. 

Wesen  eines  Dinges  158. 

Widerlegungsgründe  159. 

Willensfreiheit  251. 

Wort,  sein  Zusammenhang  mit 
der  Bedeutung  112,  154,  155. 

Zahl,  ihre  Bedeutung  in  der 
Säinkhya-Philosophie  95  ,  96, 
119,  131,  132,  280. 

Zeit  117,  286,  287,  319. 

Zustände  274—284,  319. 


Verbesserungen. 

S.  148,  Z.  20  ist  hinter  „Athmens"  eine  Zeile  ausgefallen: 
„(pränäyäma),  Abwendung  der  Sinne  von  den  Sinnesobjekten". 
S.  151,  Z.  25  lies  V.  28—36  anstatt  VI.  27—36. 


o 


Dnick  von  G.  Kieysing  in  Leipzig. 


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B 

132 

S3G3 


Garbe,  Richard  von 

Die  Samkhya-Philo Sophie