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Full text of "Die Theologie des Johannes Duns Scotus : eine dogmengeschichtliche Untersuchung"

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A' 


Studien 


zur 


Grescliiclite  der  Theologie 
imd  der  Kirche 


lierausg-egeben 


von 


N.  Bonwetseh  und  R.  Seeberg 

Güttingen.  Berlin. 


Fünfter  Band. 


Leipzig. 

Dieterich' sehe    Yerlags-Buchhandlung 

Theodor  Weicher 
1900. 


Die  Theologie 


des 


Johannes  Duns  Seotus, 


Eine  dogmengesehiehtliche  Untersuchung 


von 


Keinhold  Seeberg. 


Leipzig. 

Dieterich'sche    Verlags-Buchhandlung 

Theodor  Weicher 
1900. 


THE  INSTITUTE  OF  MEDIAEVAL  STU0:£3 

10  ELMSLtV   PLACc: 
TORONTO  ö,  CANADA, 

0CT22ig31 

154 


Vorwort. 


Im  zweiten  Bande  meiner  Dogmengeschiclite  habe  ich  eine 
neue  Methode  der  Dogmengeschichte  des  späteren  Mittelalters 
und  der  Eeformationszeit  durchzuführen  versucht.  Ein  der- 
artiges umfassendes  Unternehmen  bedarf  naturgemäss  der  Nach- 
prüfung und  der  Bewährung  und  Erprobung  im  einzelnen. 
Diesem  Zwecke  dient  auch  die  vorliegende  Monographie,  deren 
Notwendigkeit  in  der  Einleitung  des  Werkes  auch  von  anderen 
Gesichtspunkten  her  erwiesen  wurde.  In  diesem  Zusammenhang 
ist  es  begründet,  dass  ich  auf  das  erwähnte  frühere  Werk  öfter 
habe  Bezug  nehmen  müssen.  Dort  Bewiesenes  sollte  nicht 
nochmals  bewiesen  werden.  Aber  ich  habe  in  dieser  Arbeit 
manches  zur  Befestigung  und  Vertiefung,  und  auch  zur  Ver- 
besserung des  früher  Dargelegten  beibringen  können.  Im  letzten 
Kapitel  kommt  die  dogmengeschichtliche  Bedeutung  des  Duns 
Scotus  zur  Sprache.  Lesern,  denen  es  zunächst  auf  diesen 
Gesichtspunkt  ankommt,  möchte  ich  raten,  die  Lektüre  des 
Buches  mit  dem  letzten  Kapitel  zu  beginnen.  Die  dort  ent- 
falteten allgemeinen  historischen  Zusammenhänge  werden  sich 
ihnen,  wie  ich  meine,  für  das  Verständnis  und  die  selbständige 
Beurteilung  der  Details  der  scotistischen  Theologie  als  förder- 
lich erweisen. 

Es  geschieht  meines  Wissens  durch  dies  Buch  zum  ersten- 
mal, dass  ein  protestantischer  Theologe  die  Theologie  eines  der 
grossen  Scholastiker  in  ihrem  ganzen  Umfang  darzustellen  ver- 
sucht. Aber  die  Missverständnisse  des  Duns  Scotus,  die  die  bis- 
herigen Darstellungen  bedrückten,  erklären  sich  gerade  daraus, 
dass  die  betreffenden  Gelehrten  nur  Bruchstücke  der  scotistischen 


—    VI     — 

Theologie  kauntcn.  So  anregend  es  ist,  die  Ansichten  einer 
historischen  Persönlichkeit  von  der  Geschichte  eines  besonderen 
Begriffes  her  (hier  also  des  Gottesbegriffes,  der  Sünden-  und 
Freiheitslehre)  zu  erfassen,  so  sehr  bedarf  dies  Unternehmen 
zur  Grundlage  eines  gesicherten  Verständnisses  der  Zusammen- 
hänge in  der  Gedankenwelt  des  betreffenden  Mannes.  Ich 
habe  dies  letztere  für  Duns  Scotus  zu  gewinnen  versucht.  In- 
wieweit es  zu  neuen  Einsichten  geführt  hat,  wird  der  kundige 
Leser  dem  Buch  selbst  leicht  entnehmen. 

Es  bestand  ursprünglich  die  Absicht,  die  Untersuchungen 
dieses  Werkes  fortzusetzen  und  sie  auf  die  ganze  Theologie 
des  ausgehenden  Mittelalters  auszudehnen.  Ich  vermag  heute 
nicht  zu  sagen,  ob  und  wann  ich  etwas  von  dieser  Absicht 
werde  ausführen  können.  Aber  ich  will  den  Wunsch  nicht 
unterdrücken,  dass  sich  für  die  Geschichte  der  scholastischen 
Theologie  in  der  Zukunft  etwas  mehr  Bearbeiter  finden  mögen 
als  in  der  Vergangenheit.  Es  wimmelt  hier  geradezu  von 
Problemen  der  verschiedensten  Art,  und  die  Schwierigkeiten, 
welche  Denkweise  und  Sprache  jener  Autoren  den  modernen 
Lesern  bieten,  sind  doch  nicht  unüberwindlich.  In  dem  vor- 
liegenden Buch  ist  ein  Anfang  dieser  Studien  gemacht  worden, 
möchte  es  an  Fortsetzern  und  Mitarbeitern,  die  sich  vor  un- 
gebahntem Wege  nicht  fürchten,  zumal  unter  den  jüngeren 
Fachgenossen,  nicht  fehlen! 

Die  Inhaltsangabe  ist  so  eingehend  gehalten,  dass  von 
einem  alphabetischen  Register  abgesehen  werden  konnte.  Der 
Leser  wird  das  Gewünschte  leicht  finden. 


Berlin,  Anfang  August  1900. 


R.  Seeberg. 


6Q 

Einleitung. 

Die  Aufgabe.    Leben  und  Schriften  des  Johannes 

Duns  Scotus. 


1.  Auf  den  folgenden  Bogen  soll  die  Theologie  des  Duns 
Scotus  einer  eingehenden  Untersuchung  unterzogen  werden. 
Es  wird  nicht  notwendig  sein,  für  dies  Unternehmen  nach  einer 
Rechtfertigung  zu  suchen.  Denn  dass  die  Theologie  des  Duns 
Scotus  einer  der  wirkungskräftigsten  Faktoren  in  dem  Geistes- 
leben des  ausgehenden  Mittelalters  und  deshalb  auch  noch  des 
Eeformationszeitalters  gewesen  ist,  diese  Beobachtung  wird  sich 
kaum  jemandem,  der  sich  mit  diesen  Dingen  etwas  eingehender 
zu  beschäftigen  Anlass  hatte,  entziehen.  Ebensowenig  dürfte 
aber  anzunehmen  sein,  dass  viele  die  wissenschaftliche  Genüg- 
samkeit bis  zu  der  Erklärung  treiben  werden,  durch  die  bis- 
herige Erkenntnis  der  Theologie  des  Duns  Scotus  befriedigt 
zu  sein.  Wie  wenig  das  berechtigt  wäre,  kann  man  an  der 
Mehrzahl  unserer  Dogmengeschichten  recht  deutlich  sehen. 
Die  Gemeinplätze,  die  man  dort  bisweilen  über  Duns  Scotus 
zu  lesen  bekommt,  lassen  es  begreiflich  erscheinen,  dass  die 
Verfasser  es  nicht  zu  einer  anschaulichen  Darstellung  seiner 
geschichtlichen  Bedeutung  bringen.  Von  den  Geschichten  der 
Ethik  möchte  ich  dabei  lieber  absehen,  da  dieselben  leider  bisher 
auf  weiten  Strecken  des  Mittelalters  kaum  über  eine  dankbare 
oder  auch  undankbare  Benutzung  von  des  alten  Stäudlin  „Ge- 
schichte der  Sittenlehre  Jesu"  (Bd.  IV,  Göttingen  1823)  hinaus- 

Seeberg,  Die  Theologie  des  Duns  Scotus.  1 


2  Einleitung. 

reichen.  —  Ebenso  kann  man  sich  aber  auch  nicht  immer  des 
berechtigten  Staunens  erwehren,  wenn  bei  der  Erläuterung  von 
Urkunden  oder  theologischen  Gedanken  der  Reformationszeit 
zwar  oft  Thomas  von  Aquino,  aber  sehr  selten  —  und  dazu 
nicht  selten  in  Formen,  die  die  Herkunft  aus  landläufigen  Se- 
kundärquellen sicher  stellen  —  Duns  Scotus,  Wilhelm  Occam 
und  Gabriel  Biel  citiert  werden. 

So  offenkundig  diese  Mängel  und  Lücken  sind,  so  sehr 
wird  sie  derjenige  zu  entschuldigen  wissen,  der  sich  mit  Duns 
Scotus  beschäftigt  hat.  Auf  sehr  vielen  der  deutschen  Biblio- 
theken fehlt  die  einzige  ältere  Gesamtausgabe  seiner  Werke  ^), 
wohl  auf  den  allermeisten  die  jüngst  erschienene  Pariser  Edition 
derselben  ^).  Dazu  kommt  aber  die  ungeheure  Schwierigkeit,  die 
die  Lektüre  des  Duns  Scotus  dem  mit  seiner  Denk-  und  Rede- 
weise nicht  Vertrauten  bereitet.  Es  darf  deshalb  für  Duns 
weniger  Wunder  nehmen  als  für  andere  Gebiete,  dass  viele, 
die  Beruf  oder  Bedürfnis  haben  über  ihn  zu  reden,  sich  nie 
auch  nur  oberflächlich  mit  seinen  Werken  abgegeben  haben. 
Aber  dem  sei,  wie  ihm  wolle,  dass  die  Aufgabe,  die  sich 
dieses  Buch  stellt,  ein  wissenschaftliches  Bedürfnis  ist,  dürfte 
nicht  abzuleugnen  sein. 

Ich  will  mit  diesen  Bemerkungen  selbstverständlich  den 
Verdiensten  der  Forscher,  die  sich  bisher  mit  Duns  Scotus 
beschäftigt  haben,  nicht  zu  nahe  treten.  Allein  die- 
selben genügen  den  vorhandenen  Bedürfnissen  doch  nicht. 
Sieht  man  von  den  älteren  Kontroversschriften  zwischen  Scotisten 
und  Thomisten,  die  sich  oft  ganz  in  dialektischem  Kleinkram 
verlieren,  ab,  so  hat  neuerdings,  ausser  etwa  dem  Programm 
von  Baumgarten-Crusius^),  nur  der  Katholik  Karl 
Werner  eine  zusammenhängende  Darstellung  der  scotistischen 
Theologie  dargeboten  *).  Aber  in  diesem  Werk,  wie  überhaupt 
in  den  Darstellungen  der  scholastischen  Theologie,  prävaliert  das 
philosophische  Interesse  in  dem  Grade,  dass  die  wichtigsten 
theologischen  Fragen,  wie  etwa  der  religiöse  Gottesgedanke,  der 

1)  ed  VVadding,  13  Bde.  fol.  Lyon  1639. 
^)  26  Bde.  4«,  Paris  1891—1895. 
*)  De  theologia  Scoti,  Jena  1816. 
*)  Joh.  Duns  Scotus,  Wien  1881. 


Die  Aufgabe.  3 

Gnadenbegriff,  das  Buss-  und  Abendmahlssakrament,  teils  gar 
keine,  teils  nur  eine  ganz  knappe  Erörterung  finden.  Die 
Einleitung  sowie  die  Darstellung  der  Philosophie  des  Duns 
Scotus  reicht  von  S.  1 — 331,  während  von  S.  331—496  die 
gesamte  Theologie  behandelt  wird.  Aber  es  liegt  nicht  bloss 
an  der  Kürze,  dass  dieses  wie  auch  andere  Werke  des  rast- 
losen Forschers  so  wenig  geniessbar  und  so  unfruchtbar  sind.  Ich 
erkläre  mir  dies  aus  anderen  Gründen.  Die  Geschichtsdar- 
stellung Werners  erschöpft  sich  nämlich  in  der  Aufführung 
der  technischen  Mittel  und  der  Resultate  der  Anwendung  dieser 
Mittel.  Werners  Werken  fehlt  das  dogmengeschichtliche  In- 
teresse, seine  Geschichte  ist  Geschichte  der  theologischen 
Technik.  Daher  wird  der  Leser,  der  erfahren  will,  welche 
religiösen  oder  geschichtlichen  Motive  die  Gestaltung  einer 
Lehre  bedingten,  in  welchem  Zusammenhang  diese  Lehre  mit 
der  Gesamtanschauung  des  betr.  Denkers  steht,  und  in  welche 
grosse  historische  Entwicklungsreihe  diese  Gestaltung  eingreift, 
sich  durch  Werner  immer  enttäuscht  finden.  Endlich  wird 
aber  die  Tugend  der  historischen  Unparteilichkeit  zur  Untugend 
der  Langweiligkeit,  wenn  die  Gestaltungen  der  Entwicklung 
nur  aneinandergereiht  und  weder  nach  dem  objektiven  Mass- 
stab der  geschichtlichen  Wirkungskraft  noch  nach  dem  sub- 
jektiven Massstab  des  Wahren  oder  Falschen,  des  Nützlichen 
oder  Schädlichen  gegen  einander  abgestuft  werden.  Indem 
aber  der  Protestant  sein  Verständnis  der  Erscheinungen  des 
Mittelalters  zuhöchst  au  ihrer  Bedeutung  für  die  Reformation 
bemisst,  wird  er  sich  notwendig  zu  einer  lebhaften  Anwendung 
dieser  beiden  Massstäbe  einem  der  einflussreichsten  Denker  des 
Mittelalters  gegenüber  aufgefordert  fühlen.  Also  hoffe  ich, 
dass  meine  Darstellung  neben  der  Werners  ihr  Recht  behaupten 
und  bewähren  wird  ^). 

Geschichtlich  wirkungsreicher  als  Werners  Bemühungen 
waren  die  Studien,  welche  zwei  grosse  Meister  der  Dogmen- 
geschichte in  unserem  Jahrhundert ,  F.  Chr.  B  a  u  r  und 
A.  R  i  t  s  c  h  1 ,  auf  die  scotistische  Lehre  gerichtet  haben.     Baur 


^)  Eine  im  wesentlichen  zutrefi'ende  kurze  Darstellung  der  einzelnen 
scotistischen  Lehren  s.  bei  Schwane,  Dogmengesch.  der  mittleren  Zeit, 
Freiburg  1882. 

1* 


4  Einleitung. 

lehrte  in  seiner  wenn  auch  nicht  überall  das  Richtige  treffenden, 
so  doch  immer  sinnreichen  und  scharfsinuigen  Darstellung  der 
scotistischeu  Gedanken  von  Gott,  der  Menschwerdung  und  der 
Versöhnung  ^),  die  scotistische  Theologie,  als  den  zweiten  grossen, 
dem  Thomismus  entgegengesetzten  Typus  der  mittelalterlichen 
Lehrentwicklung  verstehen.  Sodaun  hat  Ritschi  eindrücklich 
gemacht,  eine  wie  grosse  Bedeutung  der  scotistischen  Lehre 
für  das  ausgehende  Mittelalter  sowie  für  bestimmte  Ideen  des 
reformatorischen  Zeitalters  eignet  ^).  —  Es  wird  nicht  nötig 
sein,  den  gelegentlichen  Notizen  und  Bemerkungen  nachzu- 
gehen, die,  in  der  Regel  durch  diese  anregenden  Forschung 
hervorgerufen,  in  der  neueren  protestantischen  dogmen- 
historischen Litteratur  über  Duns  Scotus  gemacht  wurden. 
Trotz  aller  dieser  Arbeiten  wird  man  nicht  in  Abrede  stellen 
können,  dass  es  einer  Gesamtdarstellung  auch  heute  noch 
dringend  bedarf.  Denn  erstens  haben  Baur  und  Ritschi  nur 
Fragmente  der  scotistischen  Theologie  dargestellt,  zweitens 
haben  sie  eben  wegen  dieser  Beschränkung  ihrer  Absicht  weder 
den  Gesamtzusammenhang  der  scotistischen  Gedanken,  noch 
auch  den  Umfang  ihrer  historischen  Fortwirkungen  genügend 
anschaulich  zu  machen  vermocht.  Sonach  wird  trotz  des  hohen 
Verdienstes  der  beiden  massgebenden  Forscher  die  bezeichnete 
geschichtliche  Aufgabe  auch  heute  noch  als  eine  der  Lösung 
harrende  zu  bezeichnen  sein  •^). 

Die  gemachten  Bemerkungen  werden  auch  darüber  auf- 
klären, in  welcher  Weise  diese  Aufgabe  im  folgenden  auf- 
gefasst  und  gelöst  werden  soll.  Es  handelt  sich  nur  darum, 
die  scotistische  Theologie  in  ihrem  vollen  Umfang,  aber  auch 
in  ihrem  inneren  Zusammenhang  zu  verstehen  und  darzustellen. 
Die  Mannigfaltigkeit   seiner   Anschauungen  und   Auffassungen 

^)  S.  die  christl.  Lehre  von  der  Dreieinigkeit  und  Menschwerdung 
Gottes  Bd.  II  (Tübingen  1842),  S.  448  ff.,  589  ff.,  621  ff.,  642  ff.,  673  ff'.. 
690ff.,  727 ff.,  759  ff,  823 ff,  861  ff.,  8661". 

^)  S.  die  geschichtl.  Studien  zur  christl.  Lehre  von  Gott  in  den 
Jahrb.  für  deutsche  Theol.  1865,  S.  298  ff. ;  die  christl.  Lehre  von  der 
Rechtfertigung  und  Versöhnung  I^  73ff. ;  Geschichte  des  Pietismus  I,  470. 

^)  In  der  Kürze  habe  ich  die  Lösung  dieser  Aufgabe  versucht  in 
meiner  Dogmengeschichte  Bd.  II  (1898),  S.  129 ff.,  109  ff.,  116  f.,  vgl. 
Realencyclopädie  für  prot.  Theol.  V^,  62  ff'. 


Die  Methode,  5 

sowie  die  Einheit  seiner  religiösen  Weltanschauung  soll  dem 
Leser  vorgeführt  werden.  Hinsichtlich  der  philosophischen 
Lehren  des  Duns  als  solcher  glaube  ich  mich  mit  einer 
kürzeren  Betrachtung  begnügen  zu  können,  denn  einerseits 
müsste  durch  eine  weitere  Ausführung  dieser  Band  zu  sehr 
anschwellen,  andererseits  würde  ein  detailliertes  Eingehen  etwa 
auf  die  Physik  oder  Logik  des  Duns  meinen  Studien  zu  fern 
liegen  und  sich  auch  für  den  Hauptzweck  dieses  Buches  kaum 
als  besonders  förderlich  erweisen.  Indessen  sollen  doch  die  für 
die  theologische  und  religiöse  Weltanschauung  des  Duns  wesent- 
lichen philosophischen  Begriffe,  sei  es  in  dem  1.  Kapitel,  sei  es 
im  Verlaufe  der  Arbeit  selbst  etwas  eingehender  besprochen 
werden.  Ich  beabsichtige  also  die  Theologie,  und  nicht  die 
Philosophie  des  Duns  Scotus  darzustellen  und  bitte  den  Leser, 
dies  im  Auge  zu  behalten.  —  Was  endlich  die  geschichtlichen 
Zusammenhänge  der  scotistischen  Lehren  anlangt,  so  werden 
dieselben  gelegentlich  und  dann  zusammenfassend  im  letzten 
Kapitel  zur  Erörterung  kommen.  Aber  ich  müsste  ein  Buch 
für  sich  schreiben,  wenn  ich  diese  Aufgabe  in  umfassender 
Weise  lösen  wollte.  Ich  werde  mich  hier  also  auf  die  Fest- 
stellung der  Hauptzusammenhänge  beschränken  müssen,  welche 
nur  in  der  Detailuntersuchung  allmählich  werden  erprobt 
werden  können.  Hier  möchte  ich  aber  hervorheben,  dass  es 
sich  mir  weniger  handelt  um  die  Beziehungen,  welche  die  Theo- 
logie des  Duns  nach  rückwärts,  als  um  die,  welche  sie  nach 
vorwärts  einnimmt.  Erstere  deutet  Duns  selbst  häufig  an  und 
sie  ergeben  sich  auch  leichter  bei  einiger  Kenntnis  der  mittel- 
alterlichen Dogmengeschichte,  letztere  aber  stellen  die  ge- 
schichtliche Bedeutung  des  Mannes  in  das  entsprechende  Licht, 
wie  schon  Ritschi  erkannt  hat.  Es  werden  also  vor  allem  die 
Beziehungen  der  scotistischen  Theologie  zu  dem  Beformations- 
zeitalter  sein,  die  uns  in  dem  letzten  Kapitel  dieses  Buches 
beschäftigen  sollen.  Dieser  Gesichtspunkt  wird  auch  für  die 
Auswahl  des  zu  behandelnden  Stoffes  von  Bedeutung  sein 
müssen. 

Durch  diese  Bemerkungen  ist  die  Methode,  welche  in 
dieser  Untersuchung  befolgt  wird,  nach  der  allgemeinen  Seite 
hin  bezeichnet.     Was  nun    die  Form   der  Darstellung  im   ein- 


6  Einleitunp^. 

zelnen  anlangt,  so  ist  vor  allem  die  Frage  zu  erheben,  inwie- 
weit der  ü(;schichtsschreiber  verpflichtet  ist,  die  wissenschaft- 
liche Methode  seines  Helden  zum  Wort  kommen  zu  lassen. 
Im  allgemeinen  lässt  sich  darauf  antworten,  dass  das  insoweit 
zu  geschehen  hat,  als  es  notwendig  ist,  um  die  eigentümliche 
J3enkweise,  die  wissenschaftliche  Methode  und  den  Wert  der  Be- 
weise, sowie  die  historischen  Wirkungen  des  behandelten 
Theologen  verständlich  zu  machen.  Hieraus  ergibt  sich  aber, 
dass  die  methodische  Konstruktion  sowie  die  wesentlichen  Be- 
weise für  die  vorgetragenen  Lehren  eingehend  geschildert 
werden  müssen.  Es  wäre  für  den  Leser  gewiss  bequemer 
und  reizvoller,  wenn  nur  die  Hauptresultate  des  Duds  in  ihrer 
nicht  selten  paradoxen  Zuspitzung  —  etwa  mit  der  subjektiv 
gefärbten  Beurteilung  ihres  Wertes  oder  Unwertes  —  zur 
Aussage  gelangten.  Aber  abgesehen  davon,  dass  es  sich  hier 
um  Werke  handelt,  die  äusserlich  wie  innerlich  gleich  schwer 
zugänglich  sind,  würde  dies  Verfahren  den  Anforderungen  nicht 
gerecht  werden,  die  man  an  eine  umfassende  Monographie  zu 
stellen  berechtigt  ist.  Nun  sind  aber  in  der  Regel  die  Kon- 
struktionen und  Beweise  des  Duns  Scotus  so  unendlich  kom- 
pliziert, dass  eine  treue  Wiedergabe  nur  bei  Reproduktion  der 
einzelnen  dialektischen  Gänge  des  Autors  möglich  ist.  Ich 
werde  mich  bemühen,  das  Hauptresultat  zum  Schluss  der  ein- 
zelnen Erörterungen  möglichst  einfach  und  deutlich  auszu- 
sprechen, aber  ich  muss  schon  im  voraus  den  Leser  für 
manche  mühsam  zu  lesende  und  noch  mühsamer  zu  schreibende 
Erörterung  in  diesem  Werk  um  Entschuldigung  bitten.  Gerade 
weil  die  Resultate  in  mancher  Richtung  als  neu  und  über- 
raschend erscheinen  dürften,  muss  der  Leser  in  die  Lage  ver- 
setzt werden,  genaue  Kontrolle  an  ihnen  zu  üben.  Es  gereicht 
mir  zur  Bestätigung  der  gewählten  Darstellungs weise,  dass  auch 
Baur  und  Ritschi  auf  ihren  besonderen  Gebieten  dieselbe  zu 
wählen  sich  veranlasst  gesehen  haben,  und  dass  auch  die  Hi- 
storiker der  Philosophie  keinen  anderen  Weg  der  Darstellung 
einzuschlagen  gewagt  haben.  Das  gilt  nicht  nur  von  den 
Deutschen,  sondern  auch  von  den  an  Darstellungsgabe  uns  bis- 
weilen überlegenen  Franzosen,  ich  erinnere  anHaureau's  Hi- 
stoire  de  la  philosophie  scolastique  (II,  2),   an  Pluzanski' s 


Die  wissenschaftliche  Tendenz  der  Franziskaner.  7 

Essai  sur  la  philosophie  de  Duus  Scotiis  (Paris  1887),  ja  selbst 
an  Renan's  Bemerkungen  im  25.  Bande  der  Histoire  litter aire 
de  la  France.  So  mögen  denn  die  Schwierigkeiten,  die  die 
Lektüre  dieses  Buches  bereitet,  nicht  nur  mit  der  etwaigen 
Unfähigkeit  des  Verfassers  leichter  zu  schreiben,  sondern  auch 
mit  der  Natur  der  Sache  und  der  Aufgabe  freundlich  erklärt 
und  entschuldigt  werden. 

2.  Nach  diesen  einführenden  Bemerkungen  wollen  wir  einen 
Blick  auf  das  Leben  und  die  Schriften  des  Duns  Scotus  werfen. 
Duns  Scotus  war  ein  englischer  Minorit,  und  sein  Leben  fällt 
an  den  Schluss  einer  der  arbeitsreichsten  und  -  freudigsten 
Perioden  in  der  Geschichte  der  abendländischen  Theologie. 
Diese  beiden  geschichtlichen  Thatsachen  stellen  den  Rahmen 
für  sein  Leben  und  Wirken  dar.  Der  Minoritenorden  stand 
auf  der  Höhe  seiner  weltgeschichtlichen  Wirkungen.  Als  im 
Jahre  1224  die  ersten  Anhänger  des  heiligen  Franz  den  eng- 
lischen Boden  betraten,  erschöpfte  sich  ihre  Aufgabe  noch  in 
den  Arbeiten  der  „Evangelisation"  und  der  ,, inneren  Mission". 
Das  war  anders  geworden.  Die  ,, Armen  Christi'^  hatten  Macht 
und  Einfluss  gewonnen,  die  „Evangelisten"  streckten  die  Hand 
aus  nicht  nur  nach  dem  Steuer  der  Kirche,  sondern  auch  nach 
der  Palme  der  Wissenschaft.  Die  Dominikaner  gingen  diesen. 
Weg,  die  Minoriten  folgten,  nicht  zögernd,  sondern  entschlossen. 
Im  Jahre  1222  war  ein  gefeierter  Lehrer  der  Weltuniversität 
Paris,  der  aus  England  gebürtige  Alexander  von  Haies  in  den 
neuen  Orden  eingetreten.  Davon  sagt  Roger  Bacon:  quum 
intravit  ordinem  fratrum  minorum,  fuit  de  eo  maximus  rumor 
non  solum  propter  condiciones  suas  laudabiles,  sed  propter 
quod  novus  fuit  ordo  minorum  et  neglectus  a  mundo  illis  tem- 
poribus,  et  ille  aedificavit  mundum  et  ordinem  exaltavit.  Ex 
suo  ingressu  fratres  et  alii  exsultaverunt  in  coelum  et  ei  de- 
derunt  auctoritatem  totius  studii.  Er  ist  ein  Gelehrter  gewesen, 
wie  die  anderen  Theologen  seiner  Zeit  auch.  Aber  selbst  ein 
Bonaventura  hatte  trotz  der  mystischen  Grundstimmung  seiner 
Seele,  die  man  auch  bei  dem  Lesen  seines  Sentenzenkommentars 
empfindet,  doch  auch  in  diesem  Werk  ganz  der  dialektischen 
Kunst  seiner  Zeit  Rechnung  tragen  müssen.  Aber  man  hielt 
auf  der  Bahn  der  älteren  Theologie  an  der  Autorität  Augustins 


8  Einleitung. 

auch  auf  philosophischem  Gebiet  fest.  Es  war  ein  stark  reali- 
stischer Zug  in  dem  Denken  der  Franziskaner.  Man  glaubte 
an  die  Realität  der  Ideen  kriiftiger  und  unmittelbarer  als  die 
dem  Albert  und  Thomas  folgenden,  d.  h.  streng  und  aus- 
schliesslich aristotelisch  gerichteten  Dominikaner.  Dazu  kam 
ein  gewisser  freier  kritischer  Zug  den  Autoritäten  gegenüber. 
Im  Jahre  1284  wies  der  Franziskaner  Wilhelm  von  Marra  in 
seinem  Correctorium  oder  der  Summa  contra  Thomam,  dem 
theologischen  Haupt  der  Dominikaner  vom  Boden  des  franzis- 
kanischen Realismus  her  eine  Anzahl  Irrtümer  nach  ^).  Es  be- 
stand ein  lebhafter  Gegensatz.  In  Paris  und  überhaupt  auf 
dem  Festland  hatten  die  Thomisten  die  Oberhand.  Oxford 
war  die  Hochburg  der  franziskanischen  Realisten. 

Hier  hatte  der  mächtige  Protektor  der  franziskanischen 
Sache  in  England,  Robert  Grosseteste  (f  1253)^)  ihnen 
die  Wege  geebnet  und  durch  seine  eigenen  Anregungen  einen 
Typus  der  Theologie  herzustellen  geholfen,  der  für  die  eng- 
lische Theologie  der  nächsten  Zeit  massgebend  wurde  und 
dessen  Nachwirkungen  für  die  Geschichte  der  Theologie  in 
England  auch  für  spätere  Zeiten  belangreich  gewesen  sind. 
Er  selbst  hielt,  so  lange  er  in  Oxford  war,  den  Franziskanern 
Vorlesungen  ^). 

Man  kann  aber  diesen  geschichtlichen  Zusammenhang  noch 
weiter  zurückverfolgen.  Die  Theologie  der  Schule  von  Bec  ist 
durch  Anselm  von  Canterbury  nach  England  verpflanzt 
worden.  Die  anselraischen  Gedanken  haben  hier  kräftiger  und 
ungeteilter  als  anderwärts  fortgewirkt.  Die  Bedeutung  An- 
selms  besteht  darin,  dass  er  die  Begriffe  der  Überlieferung 
selbständig  durchdachte  und  sie  in  Formen  goss.  in  denen  sie 
den  Zeitgenossen  wieder  näher  kamen  und  verständ- 
lich wurden.  Man  redete  von  der  Erlösung  durch  Christi  Tod, 
Anselm  lehrte  diesen  Gedanken  in  den  geläufigen  Begriffen 
der  Busspraxis  (Satisfaktion)  denken  und  daher  verstehen. 
Durch  die  Zeit   ging   der   unausgeglichene  Zwiespalt  zwischen 


*)  Vgl.  Haureau,  Histoire  de  la  philosophie  scolastique  11  2.  100  f. 
2)  Vgl.  über  ihn  Feiten,  Robert  Grosseteste,  Freiburg  i.  ß.  1887. 
^)  Thomas  de  Eccleston,  de  adventu  minorum  coli.  10. 


Anselms  Bedeutung  für  die  englische  Theologie.  9 

dem  strengen  Grlauben  an  die  Überlieferung  und  der  Forde- 
rung nach  vernünftigen  Beweisen,  wie  es  etwa  die  Geschichte 
Berengars  oder  Abälards  zeigt.  Anselm  fand  und  h?hrte  die 
Kunst,  beides  mit  einander  zu  vereinigen,  „wissenschaftlich^^ 
und  .jkirchlich'^  in  einem  zu  sein.  Uli  ideo  ratiouem  quaerunt, 
quia  non  credunt,  nos  vero  quia  credimus ;  unumidemque 
tamen  est  quod  quaerimus  (cur  deus  homo?  I,  2).  Die 
Grundlage  der  Arbeit  des  Theologen  ist  der  Glaube  an  die 
überkommene  Lehre,  fides  et  mandatorum  obedientia.  Qui 
non  crediderit,  non  experietur  et  qui  expertus  non  fuerit,  non 
intelliget  (Anselm  de  fide  trinit.  2).  Die  dialectici  moderni 
dagegen:  nihil  esse  credunt,  nisi  quod  imaginationibus  com- 
prehendere  possunt  (ib.  3);  der  kirchliche  Theologe  glaubt, 
was  die  Kirche  lehrt,  so  gewinnt  er  davon  innere  Anschauung 
oder  Erfahrung  und  erweist  es  schliesslich  Judaeis  et  paganis 
als  sola  ratione  notwendig.  So  hat  es  Anselm  mit  den  christ- 
lichen Hauptdogmen,  mit  dem  Dasein  Gottes,  der  Dreieinig- 
keit, der  Menschwerdung  gethau  (ib.  4.  Cur  deus  homo?  I,  1  f. 
10.  20.  25.  II,  9.  11.  15.  23).  Gelingt  nun  freilich  dieser 
Beweis  nicht,  so  soll  der  Theologe  trotzdem  an  der  Kirchen- 
lehre festhalten  (Monolog.  64.  de  fide  trin.  2).  So  durfte  der 
Geist  sich  erheben  zu  den  kühnsten  Reisen  in  die  Gefilde  der 
Spekulation,  starke  Seile  hielten  ihn  doch  wieder  fest  auf  dem 
Boden  der  Wirklichkeit  oder  des  positiven  Dogmas.  Man  hat 
die  Kühnheit  des  anseimischen  Realismus  später  eingeschränkt, 
aber  doch  wird  es  nicht  Zufall  sein,  dass  es  zwei  Engländer 
- —  Duns  Scotus  und  Occam  —  waren,  welche  die  doppelte 
Tendenz  der  gekennzeichneten  Gedanken  am'  schärfsten  aus- 
geprägt haben.  Das  ist  der  erste  Punkt,  in  dem  hier  Anselm 
für  uns  in  Betracht  kommt.  Aber  seine  Bedeutung  für  die  Ge- 
schichte der  englischen  Theologie  reicht  weiter.  —  Wir  gedenken 
2)  der  starken  Betonung  des  Willens,  seines  Wesens  und  seiner 
Freiheit.  Velle  non  potest  invitus,  quia  velle  non  potest  no- 
lens  velle,  nam  omnis  volens  ipsum  suum  velle  vult  (de  lib. 
arb.  5).  Der  Wille  hat  für  seine  Entschliessungen  keinen 
anderen  Grund,  als  dass  er  will.  Cur  ergo  voluit?  Non  nisi 
quia  voluit,  nam  haec  voluntas  nullam  aliam  habuit  causam  qua 
impelleretur  aliquatenus  aut  attraheretur,  sed  ipsa  sibi  efficiens 


10  Einleitung. 

causa  fuit,  si  dici  potest,  et  effectus  (de  casu  diabol.  27).  — 
3)  Auch  in  Gott  wird  der  Wille  energisch  betont  (s.  den  Traktat 
de  voluntate  dei).  Im  übrigen  wendet  Anselm  auf  Gott  gern 
die  germanische  Anschauungsweise  an,  die  in  ihm  den  gütigen 
Herrn  erblickt,  den  potentissimus  dominus  et  sapientissimus 
rector  omnium  (Monolog.  79),  der  in  seinem  Reich  Zucht  und 
Ordnung  aufrecht  erhält  —  daher  die  Notwendigkeit  der  Satis- 
faktion (cur  deus  homo?  I,  12.  15.  23.  II,  16)  i)  —  und 
dazu  sowohl  Gerechtigkeit  als  Barmherzigkeit  walten  lässt  (ib. 
11,  2L  Proslog.  9).  Der  Wille  Gottes  beherrscht  die  Welt: 
nihil  est  necessarium  aut  impossibile,  nisi  quia  ipse  ita  vult  (cur 
deus  homo?  II,  17).  Gott  lässt  aber  das  eine  in  der  Welt  durch 
Notwendigkeit,  das  andere  durch  Freiheit  geschehen  (de  concord. 
praesc.  dei  c.  Hb.  arb.  quaest.  1,  3 f.;  quaest.  2,  3).  Gottes  Wille 
macht  eine  Handlung  zur  guten  oder  bösen :  id  solum  iustum 
est  quod  vis  et  non  iustum  quod  non  vis  (Proslog.  11).  — 
4.  Die  Sünde  bestimmt  Anselm  unzählige  Mal  als  carentia  iusti- 
tiae  debitae.  Dieser  Mangel  ist  es,  der  das  Wesen  der  Sünde  aus- 
macht, nichts  anderes.  Dieser  Mangel  haftet  aber  am  AVillen,  denn 
nur  der  Wille  ist  gerecht  oder  ungerecht  (de  concept.  virginal. 
2  ff.).  Deshalb  kann  auch  die  Sünde  nicht  eigentlich  in  den 
„unreinen  Samen^'  (Hiob  14,  4)  verlegt  werden:  non  tamen 
magis  est  in  semine  culpa  quam  est  in  sputo  vel  in  sanguine 
(ib.  7),  Die  Fortpflanzung  der  Sünde  kommt  dadurch  zu  stände, 
dass  die  Natur  der  Adamskinder  cum  debito  satisfaciendi  pro 
peccato  Adae  behaftet  ist  (8).  Durch  diese  Gedanken  aber 
ist  die  augustinische  Erbsündenlehre  faktisch  aufgehoben.  — 
5)  Dagegen  hat  Anselm  die  servitus  des  Willens  als  die  impotentia 
non  peccandi  recht  energisch  betont  (Hb.  arb.  11.  12).  Die 
Gn  ade  allein  gehe  dem  Willen  die  Richtung  der  rectitudo,  ver- 
möge welcher  er  das  Gute  wollen  kann  (de  conc.  praesc.  etc. 
qu.  3,  1  — 5).  In  diesem  Sinn  hat  Anselm  sehr  stark  betonen 
können,  dass  die  Erlösung  ganz  auf  die  Gnade  zurückzuführen 
^i.     —  6)  Zu  diesen  Einzelheiten  kommt  aber  weiter  ein  gewisser 


^)  Dass  auch  dies  auf  „germanische  Einflüsse"  zurückweist,  habe  ich 
schon  früher  bemerkt,  es  scheint  aber  keine  Beachtung  gefunden  zu 
haben. 


Grosseteste's  Bedeutung.  11 

grosser  und  kühner  Zug  geistiger  Selbständigkeit,  der  Anselms 
Gedankenwelt  kennzeichnet  uud  die  Vielseitigkeit  und  Feinheit 
seines  religiösen  Empfindens  (s.  z.  B.  die  ,, Meditationen^').  Das 
eine  wie  das  andere  weist  auf  Augustin  zurück.  So  wenig  An- 
selm  mit  Augustins  Prädestinations-  oder  Sündenlehre  anzu- 
fangen gewusst  hat,  so  kräftig  ist  bei  ihm  die  religiöse  Grund- 
stimmung Augustins  —  Gott  das  Heil  der  Seele  —  gewesen^). 
Es  würde  zu  weit  führen,  wenn  hier  gezeigt  werden  sollte, 
wie  die  Methode  Abälards  den  neuen  dialektischen  Betrieb 
der  Dogmatik  durchführte  und  durchsetzte.  Uns  handelt  es  sich 
nur  darum,  dass  die  Theologie  Anselms  mit  ihrem  kühnen 
Realismus  der  Ideen,  mit  ihrer  freien  und  doch  streng  kirch- 
lichen E-ichtung,  mit  der  augustinischen  Stimmung  ebenso  wie 
in  einer  Anzahl  von  einzelnen  Anschauungen  ein  wichtiger 
Faktor  für  die  Entwicklung  der  englischen  Theologie  geworden 
ist.  Man  kann  das  an  Grosseteste's  Gedankenwelt  studieren, 
aber  auch  bei  Duns  sind  die  Nachwirkungen  Anselms,  trotz 
der  Differenz  der  Methode,  im  einzelnen  noch  oft  wahrzunehmen. 
Wir  wenden  uns  nun  wieder  Grosseteste  zu.  Er  ist  ein 
mächtiger  Mann  gewesen,  gleich  gross  als  Charakter  mit  einer 
edlen  und  feinen  Seele  wie  als  kirchlicher  Organisator,  Seelsorger 
und  ritterlich  unerschrockener  Vorkämpfer  für  Recht  und  Wahr- 
heit in  der  Kirche,  wie  auch  als  selbständiger  und  kühner  Forscher. 
Ein  strenger  Kritiker  wie  Roger  Bacon  schreibt  über  ihn :  vul- 
gus  philosophantium  semper  est  imperfectum  et  pauci  sapien- 
tissimi  fuerunt  in  perfectione  philosophiae  ut .  .,  Salomon  et  deinde 
Aristoteles  ...  et  in  diebus  nostris  Robertus,  episcopus  nuper 
Lincolniensis,  Er  wie  sein  treuer  Genosse,  der  Professor  Adam 
von  Marsh  in  Oxford,  seien  der  Mathematik  mächtig  gewesen 
und  hätten  daher  verstanden  causas  omnium  explicare  et  tam 
humana  quam  divina  sufficienter  exponere  -).     Eine  der  wissen- 


^)  Augustinisch  war  es  aucli,  dass  die  Sündenvergebung  als  der 
Effekt  des  Werkes  Christi  verstanden  wird;  daher  bietet  die  Taufe  Ver- 
gebung, Aber  es  war  ebenso  augustinisch,  wenn  über  die  Vergebung 
hinaus  die  Umschaffung  des  Willens  gefordert  wurde  (s.  de  concord. 
praesc.  qu.  3).  Diese  beiden  Elemente  —  Vergebung  und  Eingiessung  — 
haben  der  späteren  Scholastik  schwere  Probleme  gestellt. 

')  S.  Opus  tertium  22.  28.  25.     Opus  malus  IV  dist.  1  c.  3  fin. 


12  Einleitung. 

schaftliclien  Eigentümlichkeiten  des  grossen  Bischofs  ist  durch 
diese  Bemerkungen  gekennzeichnet,  und  dieselbe  ist  nicht  nur 
für  Roger  Bacon  selbst,  sondern  auch  für  den  Betrieb  der 
Theologie  in  Oxford  massgebend  geworden.  Es  ist  die  mathe- 
matische Erudition  und  die  Richtung  auf  die  empirische  Natur- 
erkenntnis. Die  scharfe  an  mathematischen  und  physikalischen 
Problemen  geübte  Beobachtung  des  Wirklichen,  die  Betonung  der 
Erfahrung  für  die  Erkenntnis  spürt  man  nicht  nur  immer  wieder 
in  den  Schriften  des  Duns  —  es  gibt  mathematische  und  astro- 
nomische Erörterungen  bei  ihm,  die  nur  der  Mathematiker  ver- 
stehen dürfte  — ,  sondern  auch  bei  Occam  und  später  bei  dem 
grossen  Augustinianer  und  —  Mathematiker  Bradw^ardina. 
Derselbe  Empirismus  tritt  uns  an  dem  Sinn  des  grossen 
Bischofs  für  Sprachstudien  entgegen.  Er  berief  Griechen  nach 
England  und  Hess  sich  das  Studium  der  griechischen  Gram- 
matik angelegen  sein.  Er  übersetzte  resp.  Hess  von  Mitarbeitern 
griechische  Werke  in  das  Lateinische  übersetzen,  so  die  Werke 
des  Areopagiten  und  Damasceners,  die  ignatianischen  Briefe 
und  die  Testamente  der  zwölf  Patriarchen.  Ja  er  scheint  ein 
gewisses  dogmenhistorisches  Interesse  gehabt  zu  haben,  wenig- 
stens beruft  sich  Duns  für  die  Differenz  der  griechischen 
Theologie  bezüglich  des  Ausganges  des  heil.  Geistes  auf  die 
Autorität  Roberts  (s.  unten)  ^). 

Aber  mit  diesem  Realismus  im  modernen  Sinn  des  Wortes 
verband  sich  in  Robert  ein  nicht  minder  energischer  Realis- 
mus in  der  mittelalterlichen  Bedeutung  dieses  Ausdruckes.  Er 
glaubt  an  die  Universalien  im  Sinne  der  platonischen  Ideen 
und  er  erblickt  in  ihnen  die  Prinzipien  alles  Erkennens;  aus 
der  Welt  der  Erscheinungen  gewinnt  der  Geist  diese  ewigen 
Realitäten  als  die  eigentlichen  Objekte  der  Erkenntnis  -).  So 
wird  diese  Welt  zum  Gleichnis  der  ewigen  Welt,  und  diese 
wie  jene,  jene  durch  diese  und  diese  in  jener  lässt  sich  mit 
demselben  Mass  der  Gewissheit  als  real  erkennen.  Aber  diese 
eigentümliche  Kombination  der  geistigen  Interessen  war  mancher 


*)  S.  aber  schon  Anselm  de  iDrocess.  spirit.  s. 

-)  S.  die   Mitteilungen    aus    philosophischen    Traktaten    Roberts    bei 
Haureau.  Bist,  de  la  philos.  scol.  II  1.  178 ff. 


Grosseteste  und  die  Oxforder  Theologie.  13 

Abstufungen  und  Nuancen  fähig.  Aus  der  Schule  Roberts 
konnten  „Realisten"  sehr  verschiedener  Farbe  hervorgehen: 
empirische  Forscher  wie  Roger  Bacon  und  virtuose  Dialektiker 
wie  Duns  Scotus.  Mau  hob  unten  an,  man  beobachtete,  aber 
man  schloss  auch,  und  was  man  erschloss,  was  die  Logik  des 
denkenden  Geistes  folgerte,  das  war  AVahrheit  und  Wirklich- 
keit. So  blieb  man  Empiriker,  der  eine  in  Bezug  auf  die 
untere  Welt,  der  andere  in  Bezug  auf  die  obere  Welt.  Und 
dann:  der  Empirismus  wirkte  wieder  fort;  auch  wenn  die 
Dialektik  sich  noch  so  hoch  verstiegen,  führte  ein  kurzer  und 
einfacher  Weg  zurück  auf  den  Boden  des  Gegebenen  oder  der 
kirchlichen  Formel.  Es  ist  doch  nicht  nur  äusserlich  veran- 
lasst, oder  nur  Befolgung  der  anseimischen  Vorschrift  (s. 
S.  9),  sondern  innerlich  begründet,  dass  ein  Empiriker  und 
Realist  aus  dieser  Schule,  wie  Dans  Scotus,  zugleich  der  ener- 
gische Begründer  jenes  kirchlichen  Positivismus  der  römischen 
Formel  und  Praxis  wurde,  der  die  spätere  Scholastik  charak- 
terisiert. Aber  weiter:  ein  genaueres  Studium  des  Aristoteles, 
eine  schärfere  Beobachtung  der  Empirie,  und  —  jener  empi- 
ristische Nominalismus  Occams  ist  da,  der  nur  das  wirklich 
Erfahrene  und  Erfahrbare  gelten  lässt,  freilich  auch  die  For- 
meln des  positiven  Rechtes  des  römischen  Kirchenstaates. 
Aber  eins  ist  hinfort  in  dieser  Richtung  nicht  mehr  möglich, 
jener  uferlose  Realismus  früherer  Zeiten,  wie  etwa  des  An- 
selm  —  seine  Autorität  stand  im  übrigen  bei  den  englischen 
Theologen,  wie  man  bei  Duns  sehen  kann,  sehr  hoch  im 
Kurse  — ,  wo  man  sich  es  an  der  Wahrheit  genug  sein  Hess, 
ohne  sich  um  die  Wirklichkeit  viel  zu  kümmern.  Hinfort  war 
wahr  nur  das  Wirkliche.  Der  Realismus,  den  man  vertrat, 
war  nicht  mehr  Produkt  der  reinen  Spekulation,  eine  unbe- 
wiesene Voraussetzung,  man  erwarb  ihn  auf  den  Wegen  der 
Dialektik  auf  dem  Boden  der  Empirie.  Der  spekulative  aprio- 
ristische  Realismus  wird  ersetzt  durch  den  dialektischen  aposte- 
rioristischen  Realismus,  zum  Realismus  der  Ideen  kommt  der 
Realismus  der  Begriffe.  In  dieser  Richtung  ist  gerade  Duns 
Scotus  thätig  gewesen.  Aber  dieser  Vertreter  des  Realismus 
hat  —  man  wird  das  jetzt  verstehen  —  auch  denen  den  Spaten 


]4:  Einleitung'. 

in  die    Hand   gedrückt,    die    dem  Realismus    sein  Grab  graben 
sollten,  Occam  und  den  Nominalisten. 

Bei  der  geringen  Zahl  theologischer  Schriften  Grossetestes, 
die  bisher  gedruckt  sind  ^),  hält  es  nicht  ganz  leicht,  ein  Urteil 
über  seine  theologische  Stellung  abzugeben.  Er  hat  die  Auto- 
rität der  heil.  Schrift  kräftig  betont.  Der  Glaube  werde  — 
anders  als  das  Wissen  —  durch  die  Autorität  begründet,  die 
oberste  Autorität  ist  die  heil.  Schrift.  Daher  gilt  vom  Glauben 
im  engeren  Sinn :  fides  eorum  (est)  quae  sacrae  scripturae  auc- 
toritate  creduntur.  Vor  allem  komme  es  auf  die  Wahrheiten 
an,  in  deren  Schauung  die  Seligkeit  besteht.  Der  Glaube  an 
sie  rechtfertigt:  Inter  haec  autem  quae  sacrae  paginae  auc- 
toritate  creduntur  maxime  credenda  sunt  quae  iustifi- 
cant;  haec  autem,  ut  puto,  sunt  ea,  ex  quibus  speramus 
beatitudinem,  haec  autem  sunt  quorum  visio  in  patria  est 
vita  aeterna.  Das  ist  aber  der  Glaube  an  den  creator  und 
recreator,  den  das  apostolische  Symbolum  enthält.  Die 
Artikel  desselben  sind  fundamentum  iustificationis,  omnia  tamen 
quae  in  canone  scripturae  continentur  et  quae  credit  univer- 
salis ecclesia  extra  symbolum  contenta  possunt  per  accidens 
dici  causa  iustificationis,  quia  cum  contra  auctoritatem  scrip- 
turae vel  ecclesiae  discreduntur  sunt  causa  damnationis  -).  Es 
ist  interessant  zu  sehen,  wie  bei  der  stärksten  Betonung  der 
Autorität  der  Schrift  das  kirchliche  Symbol  ihr  doch  eben- 
bürtig zur  Seite  tritt.  Wir  werden  ähnlichem  auch  bei  Duns 
begegnen.  —  Die  Gnade  versteht  Grosseteste  als  die  bona 
voluntas  dei  sowie  als  die  von  dieser  ausgehende  Gabe.  Die 
Gnade  wirkt  in  uns  das  velle  et  facere,  die  aversio  a  malo  und 
die  conversio  ad  bonum.  Gott  wirkt  das  Gute  in  uns,  denn 
sein  velle  ist  ein  facere,  aber  auch  nostra  voluntas  libera  thut 
es.      Die    Gnade    ist   wie   die  Wärme   der  Sonne  und  wie  die 


^)  Bei  Brown  Fasciculus  rerum  fugiendarum  et  expetendarum,  Ap- 
pendix (Londini  1690).  Manches  Einschlägige  auch  in  seinen  Briefen  (ed. 
Luard,  London  1861).  Wichtige  Werke,  wie  eine  Summa  theologiae,  ein 
tractatus  de  Septem  sacramentis,  harren  noch  des  Herausgebers,  genaue 
Angaben  s.  bei  Wharton,  Anglia  sacra  11,  346. 

^)  S.  den  Traktat  de  fide  et  eins  articulis  bei  Brown  1.  c.  p.  281; 
vgl.  auch  epist.  123  p.  346 ff.;  ep.  115  p.  336. 


Grossetestes  Lehre.  15 

Feuchtigkeit  des  Bodens,  der  Wille  wie  die  Keimkraft  des 
Samens.  Der  ewige  Wille  Gottes  und  seine  Bestimmung  sind 
der  Grund  dafür,  dass  Gott  jetzt  diese  und  dann  jene  zur 
Rechtfertigung  kommen  lässt,  quia  sie  est  ordinatissimum  in 
rerum  universitate,  omnia  enim  sie  facit  deus,  sicut  sunt  in 
universitate  ordinatissima.  Aber  durch  dieses  alles  soll  der 
Freiheit  nicht  zu  nahe  getreten  sein  ^).  —  Gottes  Thaten  gehen 
immer  zugleich  aus  Gerechtigkeit  und  Barmherzigkeit  hervor. 
Misericordia  quae  est  in  deo  est  voluntas  praestandi  bonum 
immeritura.  Die  Gerechtigkeit  ist  die  Beschaffenheit  Gottes 
die  seiner  immensa  bonitas  gemäss  ist,  somit  wird  jedes  Werk 
der  Barmherzigkeit  auch  die  göttliche  Gerechtigkeit  bezeugen  ^). 
—  Der  Hierarchie,  besonders  dem  Papst,  hat  Grosseteste  alle 
Ehre  gewährt.  Aber  indem  er  den  päpstlichen  Thron  zur 
„Sonne  der  ganzen  Welt'^  erhebt,  thut  er  das  doch  nur,  um 
dem  Papst  einzuschärfen,  dass  er,  wie  Mose,  die  Stiftshütte 
nach  einem  himmlischen  Muster  einrichten  solle.  Nach  Christi 
und  der  Apostel  Beispiel  handelt  es  sich  in  der  Kirche  um 
die  Errettung  der  Seelen  (maximum  et  principalissimum  opus 
est  animas  salvare),  dem  muss  alles  übrige  dienen.  ^)  Das 
opus  curae  pastoralis  besteht  nicht  bloss  in  der  Celebration 
von  Messen  und  der  Administration  der  Sakramente,  sed  in 
veraci  doctrina  veritatis  vitae,  in  vitiorum  terrifica  condemnatione 
...  et  rigida  castigatione,  im  Besuch  und  der  Unterstützung  der 
Armen.  Durch  das  Beispiel  sei  das  Volk  in  vitae  activae 
sanctis  exercitiis  zu  unterweisen  *). 

Lässt  man  diese  Gedanken  und  die  Stimmung,  die  die 
Briefe  Grossetestes  kennzeichnet,  im  ganzen  auf  sich  wirken, 
so  wird  man  anerkennen,  dass  ein  gewisser  augustiuischer 
Zug  in  dem  Oxforder  Kreise  geherrscht  hat.  Kirche  und 
Frömmigkeit    sollten    sich    der    salus    animarum    unterordnen. 


^)  S.  De  gratia  et  iustificatione  hominis  a.  a.  0.  p.  282;  weiteres  aus 
diesem  Aufsatz  kommt  unten  bei  der  scotist,  ßechtfertigungslehre  zur  Sprache. 

^)  S.  Quod  in  omni  opere  dei  sint  simul  misericordia  et  iustitia  ib. 
p.  295  f. 

')  S.  die  Rede  Grossetestes  vor  dem  Papst  in  Lyon  1250,  a.  a.  O. 
p.  254  £f.,  vgl.  p.  400,  s.  auch  ep.  23.  124. 

*)  Ibid.  p.  253. 


IQ  Einleitung. 

Gott  ist  gnädiger  Wille,  unser  Heil  sein  Werk,  die  Welt  und 
der  Zusammenhang  des  Geschehens  die  Ordnung  eines  all- 
mächtigen AVillens.  Die  Betonung  der  Allwirksamkeit  Gottes 
und  der  Gnade  weist  freilich  für  das  genauer  prüfende  Auge 
andere  Schattierungen  auf,  als  sie  bei  Augustin  zu  finden  sind, 
aber  das  tliut  hier  nichts  zur  Sache.  Im  ganzen  kann  man 
in  dieser  Richtung  des  Interesses,  sowie  in  der  Innigkeit  und 
sittlichen  Höhe  der  Lebensanschauung  in  der  That  augustini- 
sierende  Stimmung  erblicken,  ßesässen  wir  reichlichere  Nach- 
richten über  Grossetestes  Theologie,  so  würde  man  vermutlich 
die  Beziehungen,  die  Duns  Scotus  mit  diesem  grossen  Theologen 
verbunden,  noch  mehr  in  das  einzelne  verfolgen  können.  So 
sind  wir  auf  Vermutungen  angewiesen.  Neben  der  Gnaden- 
lehre hat  Grosseteste  sehr  stark  die  Freiheit  des  Willens  be- 
tont. Auch  das  ist  für  die  Oxforder  Schule  massgebend  ge- 
worden. Das  gilt  von  Duns,  aber  ebenso  von  seinem  etwas 
älteren  Zeitgenossen,  dem  nach  der  Überlieferung  ebenfalls 
aus  Oxford  hervorgegangenen  Franziskaner  Richard  von 
Middleton.i) 

3.  Es  ist  für  unsere  Ausgabe  von  Interesse  wenigstens  in 
den  Grundzügen  die  Theologie  dieses  Mannes  kennen  zu  lernen. 
An  der  Lehre  dieses  Zeitgenossen,  der  derselben  Schule  wie 
Duns  entstammt,  wird  man  bemessen  können,  dass  bei  Duns 
die  gemeinsame  Schulrichtung  sich  mit  grosser  Originalität 
verband.  Die  folgende  Skizze  verweilt  naturgemäss  bei  den 
Punkten,  die  Beziehungen  zu  Duns  gewähren,    etwas  länger.  -) 

Die  Theologie  bestimmt  Richard  als  eine  praktische 
Wissenschaft,  die  uns  Gott  als  den  obersten  Zweck  unseres 
Handelns  kennen  lehrt  (Prolog,  quaest.  4,  1).  Und  zwar  ist 
es  die  heil.  Schrift,  die  uns  dei  proprietates  et  dei  operationem 
kennen  lehrt  (ib.  quaest.  6).  Die  Grundwahrheiten  der  Schrift 
sind  in  den  14  Artikeln  des  Apostolicums  zusammengefasst,  die 


^)  Über  sein  Leben  wissen  wir  so  gut  wie  nichts.  1283  lehrte  er  in 
Paris;  s.  Little,  the  Grey  Friars  in  Oxford,  Oxford  1892,  p.  214. 

^)  Mir  liegt  die  Ausgabe  des  Sentenzenkommentars  und  der  Quod- 
libeta  vom  J.  1509  Venetiis,  vor.  Die  folgende  Darstellung  ist  etwas 
ausführlicher  ausgefallen,  da  m.  W.  bisher  keine  Bemühungen  auf  diesen 
Gegenstand  gerichtet  wurden. 


Der  Vorläufer  des  Duns :  Richard  von  Middleton.  17 

von  den   übrigen  Bekenntnissen  erläutert   werden  (III  dist.  25 
principale    2  quaest.  1).     Der  Glaube   als   die  Zustimmung  zu 
den   praktischen   Wahrheiten   der   Religion   hat   seinen  Sitz  in 
intellectu   practico  und  ist  ein  eingegossene!"  Habitus  practicus 
(III  dist.   23  princ.    5  quaest  2).     Hierdurch  ist    das  Glauben 
etwas  Sichereres  als  jede  scientia  acquisi  ta(ib.  princ.  7  quaest.  1.  2). 
Nun    wirkt    aber   im  Glauben    auch    der   Wille    mit:    credere 
actus    est  intellectus   ad   imperium    voluntatis   oder   voluntarie 
assentire  summae  veritati.     Für  den  Fall,  dass  der  den  Intellekt 
antreibende  Wille  von  der  Liebe  bewegt  ist,  wird  die  fides  zur 
fides  formata    (ib.    princ.   4   quaest    2).      Es   bedarf  der   Ein- 
giessung  des  Glaubenshabitus,   weil  unsere  Erkenntnis   an  sich 
der  Erfassung  der  Glaubensobjekte  nicht  fähig  ist  (ib.  princ.  7 
quaest.  2).     Zweifel  an  dem  Begriff  des  Habitus  (s.  Duns  unten 
Kap.  I)   haben   Richard   nicht   bedrückt.     Ein   Vorläufer    des 
Duns  ist  er  aber  durch  seine  starke  Betonung  des  Willens  und 
seiner  Freiheit.     Voluntas  est  nobilissima  potentia  in 
anima    (I  dist.   17  princ.    1    quaest.    1  u.  3).     Voluntas  sim- 
pliciter  nobilior  est  quam  intellectus,  wie  denn  der  Begriff  der 
Güte,    auf    den    der    Wille    abzielt,    höher    steht    als    der    der 
Wahrheit,    mit  dem  es  der  Intellekt  zu  thun  hat,    das  diligere 
mehr   ist   als   das  intelligere   (II   dist.  24   princ.    1    quaest.  5). 
Intellectus  enim    se   habet   ad   voluntatem   sicut  serviens    qui 
portat    lucernam    ante    dominum    suum,    qui    nihil   facit   nisi 
ostendere  viam  et  persuadere   et   dominus  imperat  sibi  (  -  ei), 
et   divertat    quocunque  sibi   placuerit,    et  sicut  consiliarius   ad 
imperatorem  qui  ostendit  et  persuadet  quid  faciendum  sit,  im- 
perator  autem  quandoque  imperat  secundum  quod  sibi  consultum 
est   et   aliquando    contrarium   (II    dist.  38  princ.  2  quaest.  4). 
Daher    vollzieht    sich    auch    der    Genuss    Gottes    durch    den 
Willen    (I  dist.    1    princ.   2   quaest.   3).      Die    Seligkeit    wird 
nicht   als  ein  Zustand,    sondern   als   in  Thaten  sich  realisirend 
vorgestellt,  per  bonum  actum  magis  assimilatur  homo  deo,  qui 
est  purus  actus,  quam  per  habitum  tantum  (IV  dist.  49  princ.  1 
quaest.  4).     Die    Akte    der   Seligkeit   sollen   aber,    sofern   der 
Geist  Gott   als  die  summa  veritas   und  die  summa  bonitas  er- 
greift,  zugleich  Erkenntnis-  und  Willensakte  sein,    wobei  aber 
principaliter  die  Seligkeit  doch  mehr  in  den  Willensbewegimgen 

Seeberg,  Die  Theologie  des  Duns  Scotus.  2 


lg  Einleitung. 

erfahreu  wird  (ib.  quaest.  6  u.  7).  Dabei  ist  der  Wille  aber 
allerdings  mehr  passiv  oder  receptiv  als  aktiv  zu  denken: 
magis  est  passiva  quam  activa.  denn  recipere  est  quoddam 
pati  (ib.  princ.  2  quaest.  6). 

Wir  wenden  uns  den  einzelnen  Lehren  zu.  Die  Möglich- 
keit von  Beweisen  für  das  Dasein  Gottes  wird  zugestanden. 
Man  kann  es  erweisen  aus  der  ünwandelbaikeit  des  natur- 
gesetzlichen Geschehens,  das  einen  unwandelbaren  Schöpfer 
voraussetzt,  aus  dem  Trieb  der  Seele  in  einem  unerschaffenen 
Gut  zu  ruhen,  aus  der  Bewegung  in  der  Welt  und  der  Ziel- 
strebigkeit in  derselben  (I  dist.  3  princ.  1  quaest.  3).  Aber 
erst  die  Offenbarung  macht  die  allgemeine  und  dunkle  Gottes- 
erkenntnis, die  man  auf  diesem  Wege  erwirbt,  klar  und  deut- 
lich (ib.  princ.  2  quaest.  1).  Gottes  Wesen  wird  bestimmt  als 
Denken  und  Wollen.  Gott  denkt  und  will  als  actus  purus 
unter  Ausschluss  jeder  Potenzialität :  divina  scientia  semper 
est  in  actu,  deus  enim  est  purus  actus  summe  simplex 
et  summe  perfectus :  in  puro  actu  uuUa  est  potentialitas,  in 
summe  simplici  nulla  compositio,  in  summe  perfecto  nuUa  im- 
perfectio  (I  dist.  35  quaest  7).  Hinsichtlich  des  göttlichen 
Willens  stellt  Richard  fest,  dass  derselbe  allmächtig  ist.  Dabei 
wird  die  potentia  absoluta  von  derpotentia  ordiuata  unterschieden. 
Nach  ersterer  ist  Gott  alles  möglich,  was  nicht  einen  logischen 
Widerspruch  in  sich  schliesst,  wie  etwa  Geschehenes  ungeschehen 
oder  einander  ausschliessende  Grössen  zugleich  sein  zu  lassen 
(I  dist.  42  quaest.  4  u.  5  ;  dist.  43  quaest.  7);  dagegen  hält 
sich  die  potentia  ordinata  in  dem  von  Gott  geschaffenen  Spiel- 
raum der  regulären  Ordnung  (ib.).  Hieraus  ergibt  sich,  dass 
nichts  was  der  potentia  absoluta  möglich  ist,  nicht  auch  hätte 
von  der  potentia  ordinata  verwirklicht  werden  können.  Daher 
hätte  Gott  auch  früher  die  Welt  oder  eine  andere  Welt  schaffen 
können  (I  dist.  44  quaest.  3  u.  4).  Wie  also  der  göttliche 
Wille  der  einzige  Grund  der  Beschaffenheit  der  Welt  ist,  so 
ist  er  auch  der  alleinige  Grund  dessen,  dass  etwas  für  recht  oder 
unrecht  gilt  (I  dist.  43  quaest.  7).  —  Da  die  voluntas  Gottes 
rectissima  ist,  richtet  sie  sich  auf  das  maxime  volibile  oder  das 
nächste  Objekt  des  göttlichen  Wollens  ist  Gott  selbst.  Alles, 
was  sonst  Gott  will,  will  er,  indem  er  sich  selbst  will,  ohne  dass 


Richards  Theologie.  19 

er  es  also  wollen  müsste,  nur  ex  abundantia  bonitatis  suae, 
bonitatem  suam  decet  illa  velle  (I  dist.  45  princ.  1  quaest.  2 
u.  4).  Schöpfung  und  Erhaltung,  als  göttliche  Akte  gedacht, 
sind  daher  Gott  selbst,  quidquid  enim  est  in  deo  realiter  idem 
est  quod  deus  (II  dist.  1  princ.  1  quaest.  3).  Unter  diesem 
Gesichtspunkt  betrachtet,  sind  daher  auch  Schöpfung  und  Er- 
haltung identisch,  während  sie  vom  Standort  der  Kreatur  her 
sich  unterscheiden  als  accipere  esse  non  de  aliquo  und  als 
teneri  in  esse  praedicto  (ib.  princ.  2  quaest.  1).  Die  praktische 
Anschauung  Ton  Gott  vollzieht  sich  in  den  Begriffen  der  Ge- 
rechtigkeit und  der  Barmherzigkeit.  Wie  jene  sich  darin  offen- 
bart, dass  Gott  seinem  Wesen  nach  die  Verdienste  ultra  meri- 
tum  ])elohnt  und  die  demerita  citra  meritum  straft,  so  diese  in 
der  Hilfsbereitschaft  gegen  die  Elenden  (IV  dist.  46  princ.  1 
quaest.  1 ;  princ.  2  quaest.  1).  —  Den  Gedanken  der  Prä- 
destination hat  Richard  weit  weniger  straff  als  Duns  gefasst, 
indem  er  das  propositum  Gottes  abhängig  macht  von  der 
Präscienz  und  die  Prädestination  also  wesentlich  als  die  das 
Handeln  in  sich  schliessende  praescientia  practica  fasst  (I  dist.  40 
princ.  1  quaest.  1  u.  3 ;  dist.  41  princ.  1  quaest.  2,  vgl.  auch 
Quodlib.  II  quaest.  6  darüber,  dass  Gott  Prädestinierte  auch 
nicht  hätte  prädestinieren  können).  —  In  der  Lehre  vom  Menschen 
ist  zunächst  der  Urständ  zu  beleuchten.  Der  erste  Mensch 
konnte  ohne  die  gratia  gratum  faciens,  also  ohne  die  Gnade 
im  eigentlichen  Sinn,  vermöge  des  liberum  arbitrium  alle 
Sünde  meiden,  und  zwar  deshalb,  weil  ihm  die  iustitia  origi- 
nalis,  die  als  donum  superadditum  mehr  eine  sonderliche  Natur- 
ausrüstung oder  gratia  gratis  data  ist  ^),  zu  Teil  geworden 
war  und  durch  diese  das  sinnliche  Leben  dem  Geist  unter- 
worfen war  (II  dist.  24  princ.  1  quaest.  1).  Es  ist  also  nicht 
richtig  mit  einigen  die  Justitia  originalis  in  solis  naturalibus 
bestehen  zu  lassen.  Diese  bildeten  blos  die  Disposition  für 
das  jene  begründende  donum  naturalibus  superadditum  (II  dist.  30 
princ.  3  quaest.  1  u.  2.).  Der  Wille  ist  aber  seinem  Wesen 
nach  schlechtweg  frei,  denn  die  Freiheit  ist  der  Wille  selbst 
und    nicht    ein    zu    ihm    hinzutretender    Habitus    (II    dist.    24 


S.  zum  Sprachgebrauch  und  Gedanken  meine  DG.  II  77  f. 

2* 


20  Einleitung. 

priiic.  1  quaest.  3).  Der  Mensch  selbst  bewegt  seinen  Willen, 
und  nicht  thun  das  die  Objekte.  Keine  Kreatur  kann  den 
Willen  zwingen,  aber  auch  Gott  kann  das  nicht  thun,  solange 
er  eben  will,  dass  freier  Wille  sei,  denn  sonst  gerate  sein 
Handeln  in  einen  unmöglichen  Widerspruch  mit  sich  selbst  (II 
dist.  25  princ.  4  quaest.  1  u.  2 ;  dist.  38  princ.  2  quaest.  2).  Aus 
diesem  Gedanken  ergibt  sich,  dass  für  einen  durch  die  Sünde 
unfreien  Willen  im  System  Richards  kein  Platz  übrig  ist.  —  Die 
Erbsünde  wird  —  nach  Anselm  —  bestimmt  als  die  carentia 
alicuius  iustitiae  debitae.  Darin  besteht  ihr  Wesen  oder  das 
Formale;  aber  dazu  kommt  als  das  Materiale  der  Sünde  (wie 
bei  Thomas)  die  concupiscentia,  die  eine  gewisse  habilitas  zur 
inneren  Unordnung  im  Menschen  mit  sich  brachte,  und  des- 
halb als  Habitus  bezeichnet  werden  kann  (ü  dist.  30  princ.  1 
quaest.  1 ;  dist.  31  princ.  2  quaest.  1).  Durch  die  Kon- 
cupiscenz  natura  humana  in  suis  naturalibus  peiorata  est.  Dies 
ist  vermittelt  durch  die  moralische  Unordnung,  die  durch  die 
Verdrängung  der  gratia  gratis  data  entstand,  sowie  durch  die 
schädlichen  Folgen  des  Genusses  jener  ßaumfrucht  (dist.  30 
princ.  1  quaest.  2).  Die  Pejoration  der  Natur  erbt  sich  aber 
vermöge  der  Lust  bei  der  Zeugung  fort  (dist.  31  princ.  2 
quaest.  2),  und  zwar  entsteht  die  Erbsünde  in  der  Seele  in 
dem  Moment,  wo  diese  dem  Fötus  von  Gott  eingegossen  wird 
(dist.  32  princ.  4  quaest.  2)  ^).  Wiewohl  diese  Gedankenreihe 
die  wesentlichen  Elemente  der  augustinischen  Theorie  acceptiert, 
verlegt  Richard  doch  das  eigentliche  Wesen  der  Sünde  nicht 
in  die  sündhafte  Habitualität,  sondern  in  die  einzelneu  Akte 
wie  ihm  denn  diese  überhaupt  wichtiger  sind  als  der  Habitus 
(dist.  35  princ.  2  quaest.  4).  Das  eigentlich  Bleibende  von  der 
Sünde  ist  nicht  die  habituelle  Concupiscenz,  sondern  jene 
Carenz  einer  Gerechtigkeit,  zu  der  der  Mensch  verpflichtet 
bleibt  als  Nachkomme  Adams.  Diese  Carenz  begründet  eine 
obligatio  ad  poenam,  solange  als  für  die  Sünde  keine  Satis- 
faktion dargebracht  wurde  (II  dist.  42  princ.  2  quaest.  1). 

Die    Synderesis    endlich    ist    nach    Richard    zunächst    im 
Intellekt   und  dadurch  dann  im  Willen  wirksam:   in  intellectu 


^)  Richard  ist,  wie  alle  Scholastiker,  Creatianer. 


Richard  über  Sünde  und  Gnade.  21 

est  aliquod  quo  determinatiir  naturaliter  intellectus  ad  dictan- 
dum  boiium  absolute  esse  volendum  .  ,  .  Secundum  quod  est 
in  affectu  .  .,  est  illud  quo  formaliter  voluntas  determinatur 
naturaliter  ad  bonum  absolute  volendum.  Man  sieht,  dass 
Richard  bestrebt  ist,  die  Synderesis  rein  formal  zu  fassen  als 
die  der  praktischen  Vernunft  immanente  Regel,  dass  das  Gute 
jederzeit  zu  wollen  ist.  Auf  diesem  Wege  wird  sie  zu  einem 
Inclinativum  zum  Guten  für  den  Willen  (II  dist.  39  princ.  3 
quaest.  1  u.  2). 

Dem  Gang  des  Lombarden  folgend  kommt  im  3.  Buch 
die  Christologie  und  die  Gnadenlehre  zur  Sprache.  In  der 
Christologie  wird  die  übliche  scholastische  Lehre  vorgetragen, 
die  originellen  Lichter,  die  Dnns  auch  in  diesem  Zusammen- 
hang aufsteckte,  fehlen,  —  Persona  filii  dei  purus  actus  est. 
Dadurch  ist  jede  Veränderung  und  jedes  Werden  für  die  gött- 
liche Person  Christi  ausgeschlossen  (III  dist.  1  princ.  1  quaest.  1). 
Der  Logos  nahm  nicht  aliquem  hominem  an  (III  dist.  6  princ. 
1  quaest.  2),  sondern  er  nahm  die  menschliche  Natur  an,  die 
zwar  der  Potenz  nach  persönlich  war,  aber,  indem  sie  von  der 
Logosperson  angenommen  wurde,  nie  eigene  Personalität  erlangte 
(ib.  dist.  5  princ.  2  quaest  2).  Daher  ist  nur  ein  Subjekt  in 
Christo  anzunehmen  (dist.  6  priuc.  l  quaest.  1).  Die  ünio  ist 
eine  relatio,  in  welche  der  Logos  die  Menschennatur  zu  sich 
versetzt  (dist.  5  princ.  3  quaest.  1).  Eingehend  wird  von  den 
Problemen,  die  die  Erkenntnis  der  menschlichen  Seele  Jesu 
aufgab,  gehandelt.  Die  Seele  Jesu  schaut  alles  im  Logos,  und 
andererseits  ist  ihr  eine  besondere  scientia  der  species  der 
Dinge  anerschaffen.  Von  einem  Fortschritt  der  Erkenntnis 
kann  nur  insofern  die  Rede  sein,  als  zu  der  schon  an  sich 
klaren  Erkenntnis  der  Species  die  Bestätigung  durch  die  all- 
mähliche Erkenntnis  der  experientia  hinzukam  (III  dist.  14 
princ.  2  quaest.  2  u.  4).  —  Hinsichtlich  der  Maria  meint 
Bichard  noch  mit  der  älteren  Scholastik,  auch  ihre  Seele  sei 
durch  die  Verbindung  mit  dem  Fleisch  sündlich  befleckt  wor- 
den. Anima  virginis  ex  sui  unione  ad  illam  carnem  peccatum 
originale  contraxit  (III  dist.  3  princ.  1  quaest.  1).  Aber  er 
modifiziert  diesen  Gedanken,  indem  er  behauptet:  vor  ihrer 
Geburt,    noch   im   Mutterleibe   sei   Maria  geheiligt  worden,    da 


22  Einleitung. 

sonst  die  Kirche  ihre  Geburt  nicht  würde  festlich  begehen 
können!  In  ihrem  Leben  blieb  sie  von  jeder  Sünde  und  sünd- 
liaften  Regung  frei,  vollends  nach  der  Empfängnis  Christi  war 
jede  Möglichkeit  der  Sünde  ausgeschlossen  ^ib.  quaest.  3  u.  4). 
Als  Mutter  kommt  ihr  für  die  Entstehung  und  Geburt  Jesu 
ein  aktiver  Anteil  zu  (ib.  princ.  2  quaest  2 ;  dist.  4  princ.  2 
quaest.  1).  Die  unbefleckte  Empfängnis  hat  Richard  also  nicht 
gelehrt.  Die  Frage,  ob  der  Logos,  auch  ohne  die  Sünde, 
Mensch  geworden  wäre,  lässt  er  unentschieden  (III  dist.  1 
princ.  2  quaest.  4). 

Das  Leben  und  Leiden  Christi  wird  dem  Gesichtspunkt 
des  meritum  unterstellt.  Durch  conversatio  und  passio  konnte 
er  vermöge  seines  liberum  arbitrium  —  von  dem  Moment  seiner 
Konzeption  an  —  verdienen  (III  dist.  18  princ.  1  quaest.  1 — 4). 
Für  sich  selbst  verdiente  er  die  gloria  corporis  —  die  gloria 
animae  stand  ihm  schon  durch  die  Unio  zu  — ,  für  uns  die 
Eröffnung  des  Paradieses  und  durch  seine  condigna  satis- 
factio  die  gratia  gratum  faciens  (ib.  princ.  2  quaest.  1 — 4),  die 
Vergebung  der  Sünden,  die  Befreiung  vom  Teufel  und  der 
ewigen  Strafe  (dist.  19  princ.  1  quaest.  1 — 3).  An  diese  Zu- 
sammenstellung schliesst  Richard  eine  Erörterung  des  Satis- 
faktionsgedankens. Die  Satisfaktion  war  für  Gott  conveniens, 
weil  an  ihr  Gottes  Gerechtigkeit  und  Barmherzigkeit  offenbar 
wurde;  für  uns  war  sie  conveniens,  weil  es  dessen  bedurfte, 
dass,  nachdem  Gott  entehrt  worden  durch  die  Sünde,  ihm  seine 
Ehre  durch  das  Leiden  restituiert  wurde  (III  dist.  20  quaest.  3). 
Damit  sind  die  Hauptwendungen  von  Anseluis  Gedanken 
wiederholt.  Aber  dass  Richard  dieselben  keineswegs  im 
einzelnen  sich  aneignet,  zeigen  alsbald  die  Erörterungen  der 
Frage,  ob  der  Tod  Christi  nötig  war  zum  Zweck  der  Satis- 
faktion. Es  scheint  so,  denn  da  die  Sünde  als  Verfehlung 
gegen  den  unendlichen  Gott  unendlich  sei,  so  müsse  ein  Un- 
endliches Gott  als  Satisfaktion  dargebracht  werden.  Nun 
sagen  aber  einige,  dass  jede  Strafe  zur  Satisfaktion  genügend 
gewesen  wäre,  wenn  anders  Gott  sie  als  zu  diesem  Zweck  ge- 
nügend angeordnet  hätte.  Der  Tod  Christi  ist  es  nur,  weil 
Gott  ihn  dazu  verordnete.  Andere  dagegen  hätten  gemeint, 
dass  dieser  Tod  notwendig  war,    da   die  Menschheit  dem  Tode 


Richard  über  Christus  und  die  Kirche.  23 

verfallen  war  und  da  ausserdem  Christus  ja  zu  jeder  sonstigen 
Bethätigung  des  Gehorsams  gegen  Gott  an  sich  verpflichtet 
war.  Dagegen  ist  freilich  zu  sagen,  dass  er  zu  keiner  einzigen 
Form  der  Strafe  verpflichtet  war  (ib.  quaest.  4).  Die  Frage 
bleibt  unentschieden.  Man  sieht  aber,  wie  der  Gedanke  der 
göttlichen  Willkür  das  Auselmsche  Gedankengefüge  zerstört, 
und  dass  diese  Form  der  Kritik  schon  vor  Duns  bräuchlich  war. 
Wenn  durch  diese  Gedanken  die  sog.  objektive  Seite  im 
Erlösungswerk  bezeichnet  ist,  so  hat  Richard  die  subjektive 
Seite  durch  den  Gedanken  zum  Ausdruck  gebracht,  dass 
Christus  das  Haupt  der  Kirche  sei  und  ihre  Glieder  leitet 
(III  dist.  13  princ.  2  quaest.  1).  Christus  ist  aber  Haupt 
der  Kirche  nach  seiner  göttlichen  und  menschlichen  Natur: 
ratione  divinae  naturae  influit  effective  et  principaliter  membris 
ecclesiae  sensum  rectae  cognitionis  et  motum  rectae  affectionis, 
ratione  autem  humanae  naturae  non  influit  ista  nisi  meritorie 
et  dispositive;  ideo  magis  est  caput  ecclesiae  ratione  divinae 
naturae  quam  humanae  (ibid  quaest.  3).  In  diesem  Zusammen- 
hang hat  er  aber  eine  Betrachtung  über  die  Kirche  vorge- 
tragen, die  von  höchstem  Interesse  ist,  weil  der  durch  sie  aus- 
gedrückte Gedanke  in  der  lehrhaften  Litteratur  des  Mittelalters 
überaus  selten  ist.  Die  Kirche  wird,  wie  üblich,  als  coUectio 
fidelium  definiert.  Die  fidel  es  sind  dabei,  wie  stets,  die  Gläu- 
bigen im  Gegensatz  zu  den  „Ungläubigen",  d.  h.  Heiden  und 
Juden.  Nun  muss  aber  unter  den  fideles  ein  Unterschied  ge- 
macht werden :  Inter  autem  homines  quidam  sunt  iusti,  quidam 
peccatores.  Pideies  primi  simpliciter  pertinent  ad 
corpus  Christi  mysticum,  quia  inter  eos  est  naturae  con- 
formitas  et  coUigatio  per  fidei  iuncturas  et  sacramentorum  et 
communicantia  ^)  per  charitatem  et  omnes  vivificantur  uno  spiritu 
sancto,  et  ideo  istorum  Christus  est  caput  simpliciter.  Peccato- 
res autem  fi de  les^)  non  pertinent  ad  corpus  Christi 
mysticum  nisi  secundum  quid,  quia  quamvis  habeant 
conformitatem  in  natura  et  aliquo  modo  sint  coUi^^^ati  per  iunc- 
turas fidei  et  sacramentorum,  non   tamen  inter  se  habent  com- 


1)  sie! 

^)  Für  den  Begrifif  fideles  ist  diese  Bezeichnung'  lehrreich. 


24  Einleitung. 

municantiam  per  cbaritatem  neque  vivificaiitur  vita  spirituali 
per  spiritum  sanctum  et  ideo  istorum  Christus  non  est  caput 
nisi  secundum  quid.  — Nihilominus  autem  est  caput  infidelium, 
qui  ultra  conformitatem  in  natura  actu  non  habent  aliquid  quod 
pertinet  ad  corpus  Christi  mysticum  et  ideo  non  est  caput 
eorum  nisi  in  potentia  et  sie  patet,  quomodo  Christus  est  caput 
cuiuslibet  partis  ecclesiae  (ib.  quaest.  2).  Das  ist  die  Unter- 
scheidung Augustins  zwischen  den  wirklichen  und  schein- 
baren Gliedern  der  Kirche  ^). 

Christi  Wirken  hat  zum  Erfolg,  dass  Gott  durch  die  Sakra- 
mente die  gratia  gratum  faciens  dem  Sünder  schenkt.  Die 
Gnade  ist  wesentlich  der  eingegossenen  Liebe  gleich.  Sofern 
die  Seele  das  Gott  gefällige  esse  supernaturale  erlaugt,  reden 
wir  von  Gnade;  sofern  sie  verdienstlich  zu  handeln  vermag, 
von  Liebe.  Deshalb  kann  gesagt  werden,  dass  die  Gnade  un- 
mittelbar in  der  Essenz  der  Seele,  die  Liebe  nur  median te 
voluntate  in  jener  wohne  (II  dist.  26  quaest.  2  u.  4).  Die 
Gnade  wirkt  auf  den  Willen  in  der  Weise  der  excitatio  vel 
inclinatio  ein,  ohne  aber  alleinige  Ursache  eines  Willensaktes 
zu  werden,  da  zu  diesem  es  immer  der  Kooperanz  des  freien 
Willens  bedarf  (ib.  quaest.  5).  Die  Gnade  ist  als  übernatür- 
licher Habitus  zu  denken,  der  den  Handlungen  eine  höhere 
vollkommene  Qualität  verleiht.  Indem  Gott  aber  summa  veri- 
tas,  summum  arduum  und  summum  bonum  ist,  bedarf  es  eines 
dreifachen  Habitus:  des  Glaubens,  der  Hoffnung  und  der  Liebe 
(III  dist.  23  princ.  1  quaest.  2 ;  princ.  3  quaest.  2).  Die 
Gnade  befähigt  den  Menschen  zum  verdienstlichen  Handeln  im 
Sinn  des  meritum  de  condigno,  während  eine  Handlung  bloss 
als  Produkt  des  Willens  betrachtet,  nur  de  congruo  verdienst- 
lich wäre.  Deshalb  sind  auch  die  der  Gnade  vorangehenden 
Thaten  nur  de  congruo  verdienstlich,  tamen  ex  divina  liberali- 
tate  homini  facienti  quod  in  se  est  gratia  datur  (II  dist.  27 
princ.  2  quaest.  1 — 3). 

In  der  Sakramentslehre  befolgt  Richard  die  in  der  Pran- 
ziskanerschule  übliche  Unterscheidung  des  sinnlichen  Symbols 
und  der  demselben  parallel    laufenden  Einwirkung  der  Gnade. 


^)  Vgl.  noch  Alexander  v.  Haies  Summ.  IV  quaest.  4   membr.  1 — 3. 


Die  Sakramentslchrc  Richards.  26 

Die  Sakramente  sind  nicht  causa  instrumentalis,  und  sie  „ent- 
halten^'  nicht  die  Gnade,  sondern  der  Sachverhalt  ist  der,  dass 
das  äussere  Symbol  semper  habet  concomitantem  virtutem  di- 
vinam  gratiam  conferentem  (IV  dist.  1  princ.  4  quaest.  2). 
Den  sakramentalen  Charakter  hält  Richard  nicht  für  eine 
blosse  Relation,  sondern  für  etwas  Absolutes  in  der  Essenz  der 
Seele.  Character  est  signum  spirituale  indelebile  distinctivum 
et  spiritualis  potestas  iiidelebilis  deputata  ad  aliquod  sacra- 
mentum  (IV  dist.  5  princ.  1  quaest.  4.  1.  2).  —  Im  Abend- 
mahl gilt :  substantia  corporis  Christi  vere  et  realiter  continetur 
sub  speciebus  panis  (IV  dist.  10  princ.  1  quaest.  1)  ^).  Unter 
diesen  Species  ist  sonach  der  ganze  Leib  Christi  gegenwärtig, 
aber  eben  eigentlich  als  Substanz  und  nur  lolgeweise  —  durch 
Konkomitanz  —  auch  nach  seiner  Quantität.  Deshalb  ist  der 
Leib  an  sich  auch  nicht  an  einem  besonderen  Ort  der  Hostie 
vorhanden,  sondern  nur  sofern  er  zu  den  lokal  bestehenden 
Species  in  ein  quantitatives  Verhältnis  tritt.  Corpus  Christi 
est  in  loco  speciei  ut  in  loco,  non  per  se  sed  per  accidens,  in- 
quantum  continetur  sub  specie  quae  per  se  est  in  loco,  sicut 
anima  per  accidens  est  in  loco  corporis  (IV  dist.  10  princ.  2 
quaest.  1).  Das  kommt  im  Wesentlichen  auf  die  thomistische 
Auffassung  heraus,  nach  der  nur  die  Substanz,  nicht  aber  die 
Quantität  des  Leibes  Christi  im  Abendmahl  gegenwärtig  sei, 
nur  dass  Richard  ausdrücklich  die  Quantität  als  unabtrennbar 
von  der  Substanz  diese  begleiten  lässt  (ib.  princ.  1  quaest.  2). 
Trotzdem  soll  aber  die  lokale  Gegenwart  des  Leibes  nur  vom 
Standort  der  Species  aus  angenommen  werden. 

In  die  Darstellung  des  Busssakramentes  ist  die  Recht- 
fertigungslehre hineinverflochten.  Ich  referiere  die  Haupt- 
gedanken. Alle  Busse  ist  Selbstbestrafuug  (punire  proprium 
peccatum  IV  dist.  14  princ.  3  quaest.  1).  Im  Vollmass  kann 
man  die  Busse  nur  durch  Infusion  der  Gnade  erlangen.  Aber 
diese  erfolgt  auf  eine  vorangehende  Disposition  hin.  So  be- 
ginnt die  Busse  ex  fide  et  ex  spe  et  aliquo  amore  et  timore 
(princ.  4  quaest  2).     Das    ist    die    Attrition,    die    mit    innerer 


^)  Die  Consubstantiationstheorie.    für    die   Duns    eine   Vorliebe   hat, 
wird  verworfen  (Quodlib.  II  quaest.  12). 


26  Einleitung. 

Notwendigkeit  die  Führung  in  dem  Bussvorgang  übernimmt'), 
da  die  Kontrition  einerseits  erst  Produkt  der  Gnadeneingiessung, 
andererseits  an  sich  das  genügende  Mittel  zur  Zerstörung  der 
Sünde  ist.  Durch  die  Attrition  disponiert  sich  der  Sünder  auf 
den  Gnadeiiempfang  und  verdient  sich,  indem  er  thut  quod  in 
se  ist,  de  congruo  die  Gnade  (dist.  17  princ.  1  quaest.  1 — 3 
u.  7).  Durch  den  Vollzug  des  Sakramentes  wird  die  Liebe 
dem  Herzen  eingegossen  und  durch  sie  wird  der  informe 
Pönitenzakt  der  Attrition  verwandelt  in  den  formierten  Akt 
der  Kontrition.  Durch  diese  aber  als  Liebesakt  wird  die  Sünde 
aufgehoben  und  zerstört  (ib.  quaest.  2).  Die  Kontrition  ist 
also  nicht  die  Voraussetzung  des  Prozesses,  sondern  die  Folge 
(quaest.  7).  Die  informe  Attrition  mag  der  Sündenvergebung 
vorangehen,  die  Kontrition  ist  später  als  diese  und  die  Gnaden- 
eingiessung. Die  Frage,  ob  die  Gnadeneingiessung  der  Sünden- 
vergebung oder  letztere  ersterer  folgt,  hängt  mit  der  anderen 
zusammen,  ob  nämlich  beide  Begriffe  durch  eine  reale  Differenz 
von  einander  getrennt  sind.  Nimmt  man  eine  solche  an,  so  ist 
zu  sagen,  dass  die  Gnadeneingiessung  ihr  direktes  Ziel  an  der 
Formierung  der  Attrition  und  erst  das  weitere  Ziel  an  der  Sünden- 
vergebung hat.  Ist  man  dagegen  der  Meinung,  dass  Gnadeneingies- 
sung und  Vergebung  nicht  realiter  diversa,  sondern  nursecundum 
rationem  intelligendi  unterschieden  sind,  so  kann  man  sagen, 
dass  zuerst  die  Aufhebung  des  alten  Schuldverhältnisses  und 
dann  die  Herstellung  des  neuen  Verhältnisses  zu  denken  sei 
(IV  dist.  17  princ.  1  quaest.  4;  princ.  4  quaest.  4  ib. 
quaest.  7)  -). 

Der  Begriff  der  lustificatio  kann  in  engerem  und 
weiterem  Sinn  gebraucht  werden.  Im  weiteren  Sinn  begreift 
er  den  ganzen  inneren  Prozess  der  conversio  in  sich,  im 
engeren  Sinn  bezeichnet  er  die  in  einem  x\ugenblick  ge- 
schehende Rechtfertigung  als  Eingiessung  der  Gnade.  So  be- 
trachtet stellt  dann  die  conversio  die  subjektive  Disposition  für 
den  Empfang  der  Gnade  durch  die  Justifikation  dar.     Die  con- 


')  S.  unten  die  Bemerkungen  zur  Busslehre  des  Duns. 
^)  Bei  Darstellung  der  scotistisclien  Rechtfertigungslehre  komme  ich 
hierauf  zurück. 


Die  Kechtfertigungslehre  des  Kicliurd.  27 

versio  nostrae  voluntatis  ist  also  eine  voluntaria  dispositio  act 
susceptionem  gratiae.  Der  freie  Wille  bewirkt  die  aversio  a 
peccato  und  die  conversio  ad  deum  (IV  dist.  17  princ.  4 
quaest.  1  u.  3  vgl.  Quodlib.  III  quaest.  3).  Die  Bekehrung 
fasst  also  in  sich  die  Vorgänge  der  Attrition.  Nimmt  man 
diese  subjektiven  Regungen  zusammen  mit  der  Gnadenein- 
giessung,  so  fasst  die  Justifikation  —  im  weiteren  Sinn  —  in 
sich:  impietatis  destructio  quae  est  culpa e  remissio 
„et  gratiae  in fusio  et  dispositio  ad  destructionem 
impietatis  quae  est  culpae  detestatio  et  dispositio 
ad  susceptionem  gratiae,  quae  est  liberi  arbitrii 
ad  deum  conversio  (dist.  17  prir.c.  1  quaest.  2).  Während 
nun  der  Vorgang  der  Bekehrung  kein  momentaner  zu  sein  braucht, 
gilt  von  der  Justifikation  im  speziellen  Sinn  derGnadeneingiessung 
als  einem  schöpf  er  is  eben  Akt  Gottes  :  semper  eam  infundi  t 
in  instanti  (ib.  princ.  4  quaest.  6).  Diese  Darstellung  bringt 
in  klassischer  Weie  die  vulgäre  katholische  Lehre  von  der  Recht- 
fertigung zum  Ausdruck.  Das  gilt  auch  bezüglich  der  Ab- 
stufung der  Infusion  und  der  Vergebung,  indem  die  Recht- 
fertigung essentialius  in  der  gratia  infusioiiis  als  in  der  Sünden- 
vergebung bestehe  (ib.  quaest.  7). 

Hinsichtlich  des  Ablasses  verwirft  Richard  die  Meinung, 
dass  derselbe  sich  nur  beziehe  auf  poenas  taxatas  a  iure  vel  a 
iudice  d.  h.  auf  die  offiziellen  satisfaktorischen  Buss werke  (über 
diese  s.  dist.  15  princ.  1  quaest.  8),  und  nicht  auf  die  poena 
a  deo  taxata.  Da  die  Kirche  ciucli  letzteres  lehrt,  so  würden 
Bach  jener  Theorie  die  Ablässe  geradezu  schädlich  wirken. 
Folglich  ist  anzunehmen,  dass  sie  soviel  gelten,  als  die  amt- 
liche Leitung  der  Kirche  ex  rationabili  causa  seil,  pro  utili- 
tate  ecclesiae  ihnen  Geltung  beimisst:  per  eas  enim  remittitur 
ah  qua  portio  paenae  a  deo  taxatae  (IV  dist.  21  princ.  3 
quaest.  1). 

Im  einzelnen  die  Sakramentslehre  des  Richard  zu  behan- 
deln, griffe  über  unseren  Zweck  hinaus.  Nur  das  sei  bemerkt, 
dass  auch  er  dieselbe  zu  einer  Eundgrube  für  die  Ethik  seiner 
Zeit  gestaltet  hat.  Das  gilt  besonders  von  der  Busse,  wo  Al- 
mosen, Fasten.  Gebet,  die  Pflicht  der  Restitution,    Zinsen  und 


28  Einleitung. 

Kapital  ^),  Spiele  -)  etc.  behandelt  werden  (s.  bes.  IV  dist.  15 
u.  16),  sowie  von  der  Ehe;  s.  Doch  die  Betrachtungen  über 
das  aktive  und  kontemplative  Leben  (III  dist.  25  princ.  1) 
sowie  die  Lehre  vom  Gesetz,  wo  die  ethischen  Fragen  der 
zehn  Gebote^)  behandelt  siud  (III  dist.  3";  s.  noch  dist.  29 
u.  33)^).  Der  gesetzliche  Zug  der  Zeit  kennzeichnet  auch  die 
ethischen  Erörterungen  des  vorsichtigen  Mannes.  Die  peinliche 
Kasuistik  und  ethische  Advokatenkunst,  die  bei  Duns  auffällt, 
fehlt  auch  bei  ihm  nicht,  obwohl  sie  noch  nicht  so  stark  aus- 
gebildet ist.  Zum  Belege  seien  aufs  Geratewohl  einige  Bei- 
spiele herausgegriffen.  Das  Sabbatgebot  verbietet  die  Arbeit 
excepto  casu  necessitatis,  nicht  aber  die  opera  liberalia,  wie 
etwa  das  Studium  oder  die  Überlegung  seiner  Arbeiten  (III 
dist.  37  princ.  2  quaest.  4).  Im  Notfall  darf  man  stehlen  (ib. 
princ.  3  quaest.  4).  Der  Verkehr  mit  meretrices  ist  Sünde,  aber 
der  Staat  gestattet  ihn,  um  schlimmeren  Dingen  vorzubeugen 
(ib.  quaest.  3).  Die  Ausübung  des  debitum  coniugale  während 
der  Schwangerschaft  ist  gestattet,  wenn  nicht  die  Gefahr  des 
abortus  vorliegt,  sei  doch  die  geschlechtliche  Begierde  bei 
Schwangeren  besonders  lebhaft  (IV  dist.  32  princ.  2  quaest.  3). 
Richard  pflichtet  denen  nicht  bei,  die  den  Konkubitus  während 
der  Menstruation  verbieten,  weil,  wie  sie  sagen,  der  Körper 
des  Weibes  in  jener  Zeit  sich  in  einem  Zustand  der  corruptio 
befinde,  quam  ostendit  earum  foetor  illo  tempore  oder  weil 
die  dann  erzeugten  Kinder  oft  aussätzig  werden  (ib.  princ.  4 
quaest.  1)  usw. 

Statt  weitere  Details  aus  der  Theologie  Richards  anzuführen, 
möchte  ich  jetzt   nur   noch   in  Kürze   einen  für  seine  Gesamt- 


^)  Über  den  Handel  s.  interessante  Betrachtungen  Quodlib.  II 
quaest.  23. 

2)  Vgl.  Quodlib.  II  quaest.  29. 

^)  Die  eingehende  Behandlung,  die  Richard  aU  diesen  Fragen  widmet, 
lässt  den  Wunsch  als  gerechtfertigt  erscheinen,  dass  jemand  seine  Ethik 
einer  eingehenden  Untersuchung  unterziehen  wollte. 

*)  S.  noch  Quodlib.  III  quaest  12  über  die  Zauberei,  mit  z.  T.  recht 
naiven  Bemerkungen,  z.  B, :  quandoque  videbis  mulieres  turpes  et  oculos 
turpes  habentes  et  tarnen  quandoque  aspicientes  magis  ad  suum  amorem 
alliciunt  ex  aspectu  suo  quam  longe  pulchriores  mulieres  .  .  .,  unde  viris 
periculosum  est  tales  mulieres  respicere.     Das  war  also  auch  Hexerei! 


Ethik  und  Philosophie  des  Richard.  29 

anschauung  wichtigen  Punkt  aus  seiner  Philosophie  zur  Sprache 
bringen.  Es  ist  seine  Anschauung  von  den  Universalien  ^). 
Quidquid  a  deo  creatum  est  singulare  est,  universale  enim  est 
per  Operationen!  intellectus  (I  dist.  36  princ.  1  quaest.  1 ;  cf. 
Quodlib.  I  quaest.  1).  Das  Eeale  für  uns  ist  also  das  einzelne, 
das  Universale  besteht  für  uns  nur  in  der  Form  des  Gedankens. 
Das  greift  über  den  Kealismus  der  Späteren  noch  nicht  hinaus. 
Ebenso  gibt  Richard  nur  das  Übliche  wieder,  wenn  er  betont, 
dass  wir  die  species  increatae  der  Dinge  an  sich  nicht  erkennen, 
denn  dieselben  sind  unserem  Intellekt,  der  vielmehr  eine  leere 
Tafel  ist,  nicht  mitgegeben  und  sie  werden  uns  in  den  phan- 
tasmata,  die  unsere  Sinneswahrnehmung  von  den  Dingen  über- 
kommt, auch  nicht  unmittelbar  offenbar.  Also:  non  cognosci- 
mus  per  naturam  de  lege  communi  substantiam  per  propriam 
eins  speciem,  nisi  accipiatur  species  pro  verbo,  quod 
intellectus  concipit  de  ea  per  suas  proprietates  (II  dist.  24 
princ.  3  quaest.  3;  cf.  dist.  25  princ.  5  quaest.  1).  Wir  be- 
sitzen sonach  das  Universale  oder  die  Species  des  Dinges  nur 
als  subjektive  Vorstellung,  als  das  Wort,  das  wir  uns  unter 
dem  Eindruck  der  Merkmale  des  Dinges  bilden.  So  ist  unsere 
Erkenntnis  aber  beschaffen,  weil  wir  als  Sünder  nicht  die  volle 
und  unmittelbare  Gotteserkenntnis  besitzen.  Hätten  wir  diese, 
so  hätten  wir  auch  die  unmittelbare  Erkenntnis  der  Ideen, 
denn  diese  sind  mit  Gottes  Wesen  identisch  (ib.).  Die  Ideen 
sind  nämlich,  nach  Richard,  zwar  wirklich,  aber  nicht  an  sich 
seiende  oder  absolute  Realitäten,  sondern  sie  sind  im  göttlichen 
Intellekt,  indem  Gott  von  Ewigkeit  her  seine  Essenz  erkennt, 
in  welcher  plures  relationes  secundum  rationem  ad  diversas 
creaturas  gesetzt  sind  (I  dist.  36  princ.  2  quaest.  3).  Das 
heisst,  Gott  sieht  seine  Essenz  an  als  das  durch  die  Kreatur 
Dargestellte  oder  Nachgeahmte  und  Darzustellende  oder  Nach- 
zuahmende und  schuf  so  in  sich  die  Ideen  oder  Urbilder  der 
Kreaturen  nicht  nur  bezüglich  der  Species,  sondern  auch 
der  Individuen  (ib.  quaest.  4).  —  In  diesen  letzten  Gedanken 
biegt  Richard   freilich   von  den  geläufigen  Wegen  des  Realis- 

^)  Hierauf  ist  schon  Haureau  eingegangen  (Hist.  de  la  philos. 
scol.  II  2,  109  ff.),  aber  er  überschätzt  m.  E.  die  Hinneigung  zum  Nomi- 
nalismus bei  Richard. 


30  Einleitung. 

mus  ab.  Das  Gedaclite  oder  die  geistige  Species  des  Dinges 
ist  keine  an  sich  seiende  Realität,  sondern  es  ist  die  Relation 
des  Dinges  zu  Gottes  Wesen  als  seinem  Urbild. 

Demgcmäss  ist  die  Ansicht,  dass  das  Universale  als  etwas 
den  Intellekt  Bewegendes  real  sei,  ebenso  falsch  als  die  Meinung, 
dass  das  Universale  in  quolibet  singulari  real  bestehe.  Das 
Universale  kann  vierfach  vorgestellt  werden:  1.  als  Ursache 
aller  Dinge,  dann  ist  es  Gott;  2.  als  die  Form,  die  fähig  v/äre 
die  verschiedenen  Teile  der  Materie  zu  formen,  si  esset  actu 
existens  a  materia  separata;  3.  als  der  Begriff  von  der  intelli- 
giblen  Species,  den  wir  universal  nennen,  sofern  er  z.  B.  nicht 
nur  einen  bestimmten  Menschen,  sondern  den  Menschen  dar- 
stellt; 4)  nach  Porphyrius:  universale  est  quod  praedicatur  (die 
Ausg.  hat :  patitiir)  de  piuribus,  et  hoc  est  proprie  univer- 
sale, denn  die  drei  ersten  Gruppen  bezeichnen  eigentlich  Singula- 
ria.  Das  Universale  bezeichnet  also  die  Essenz  des  Dinges  in  seiner 
Einheit,  wie  sie  erkannt  wird  aus  der  Vielheit  seiner  Merkmale,  so- 
wie ipsam  universalitatem  quae  est  praedicabilis  de  piuribus. 
Aber  in  diesem  wie  jenem  Sinn  ist  das  Universale  für  uns  ein 
Gedankending,  quia  ipsa  universalitas  est  res  constituta  a  rati- 
one.  Das  Universale  non  potest  esse  actu  in  re  extra  (II 
dist.  3  princ.  3  quaest.  1).  Obgleich  nun  aber  das  Universale 
realiter  non  existat,  tamen  eins  species  realiter  in  intel- 
lectu  existit.  Es  existiert  in  keinem  Subiectum  corporale 
und  hat  keine  existentia  realis,  ist  aber  trotzdem  res  aliqua  und 
hat  an  der  geistigen  Existenz  eine  existentia  realior,  als  die 
der  Körper  ist.  Das  Universale  besteht  also  einerseits  in 
den  subjektiven  Begriffen,  die  wir  uns  von  den  Dingen  und 
ihren  Arten  machen,  und  andererseits  darin,  dass  die  Dinge 
Darstellungen  und  Abbilder  des  göttlichen  Seins  sind  und  als 
solche  unseren  Intellekt  bewegen  (ib.)  —  Hieraus  ergiebt  sich 
aber,  dass  Richard  dem  Peripatetismus  des  Thomas  weit 
näher  stand  als  jenem  formalen  Realismus  des  Duns.  Bei 
Duns  entspricht  jedem  Gedanken  eine  intelligible  Realität,  bei 
Richard  ist  der  Gedanke  rein  subjektiv  und  nicht  fähig,  das 
Wesen  des  Dinges  als  solches  zu  erfassen,  weil  dieses  nicht  eine 
besondere  intelHgible  Grösse  ist,  sondern  ein  Bestandteil  des 
göttlichen  Wesens  selbst,  denn  quidquid  est  in  divino  intellectu 


I 


Richard  über  die   üniversalien.  31 

realiter  idem  est  cum  eo  (I  dist.  19  prioc.  3  quaest.  3). 
Von  diesem  Standpunkt  aus  ist  es  begreiflich,  dass  Richard 
solche  Konsequenzen  des  Realismus  wie  die  seit  Bonaventura 
iu  der  franziskanischen  Dogmatik  vorgetragene  Lehre  von  der 
materia  prima  ebenso  zurückweist  (Quodlib.  II  quaest.  5),  wie 
er  den  realen  Unterschied  zwischen  dem  esse  actualis  existen- 
tiae  und  der  essentia  cuius  est  esse  verneint  (Quodlib.  I  quaest.  8). 
Zu  diesen  Fragen  hat  Duns  Scotus  ganz  anders  gestanden, 
aber  beide  Denker  treffen  sich  doch  in  dem  einen  Punkt, 
dass  das  Einzelne  und  Individuelle  das  Ziel  der  Schöpfung 
und  das  eigentlich  Bedeutende  in  der  Welt  sei.  Von  hier  aus 
bewährte  sich  dem  einen  Denker  die  intelligible  Realität,  die 
allem  einzelnen  zu  gründe  liegt,  den  andern  hingegen  trieb  das 
Bewusstsein  von  den  Bedingungen  des  wirklichen  Daseins  zur 
Behutsamkeit  bezüglich  des  intelligibeln  Seins  der  Dinge,  es 
schien  genug  daran  zu  sein,  dass  alle  Dinge  in  Gott  Urgrund 
und  Urbild  haben,  die  genauere  Erkenntnis  in  diesem  Leibes- 
leben unerreichbar  zu  sein. 

Richard  von  Middleton  hinterlässt  seinem  Leser  keinen  unan- 
genehmen Eindruck.  Mit  grosser,  sich  überall  gleichbleibender 
Gründlichkeit  und  Sorgfalt  behandelt  er  alle  dogmatischen  und 
ethischen  Fragen  seiner  Zeit.  Er  besitzt  eine  erhebliche  Be- 
iesenheit  und  deutet  durch  seine  Citationsweise  ^)  an,  dass  er 
die  Bücher,  die  er  citiert,  selbst  in  Händen  gehabt  hat.  Ebenso 
ist  er  ein  sorgfältiger  und  geschickter  Dialektiker.  Aber  der 
grosse  systematische  Zug,  der  manchen  seiner  Zeitgenossen 
kennzeichnete,  fehlt  ihm.  Der  Ansatz  zu  vielen  der  Gedanken, 
die  Duns  später  zu  den  originellbten  Konsequenzen  verwandte, 
war  ihm  wohl  bekannt  ^),  aber  er  hütete  sich  ängstlich  eine 
Ansicht  zu  acceptieren,  welche  die  kirchlichen  Autoritäten  wider 
sich  hatte.  Nicht  selten  betont  er,  dass  er  nur  unmassgeblich, 
sine  praeiudicio  etwas  lehre,  häufig  referiert  er  nur  die  üb- 
lichen Anschauungen,  ohne  eine  Entscheidung  zu  wagen.  Es 
ist  lehrreich  für  die  Stimmung  des  Mannes  aber  nicht  minder  für 


1)  Z.  B.  „gegen  Ende",  „in  der  Mitte"  etc.  des  betr.  Buches. 
^)  Man  ist  erstaunt,  wie  viel  Scotistisches  vor  Scotus  Bestandteil  der 
gelehrten  Tradition  war. 


32  Einleitung. 

den  Geist  der  Zeit  die  Erörterung  der  Frage,  ob  ein  Lehrer 
eine  Quaestio  aufnehmen  darf,  die  zwar  nützlich  zu  wissen  ist, 
ihm  aber  malivolentia  eintragen  würde,  zu  lesen,  s.  Quodlib.  III 
quaest.  22.  Es  ist  eine  Todsünde,  die  betreffende  Lehre  nicht 
vorzutragen,  wenn  durch  die  Unterlassung  Glauben  und  Sitten 
Schaden  leiden  würden.  Wenn  aber  letztere  Gefahr  nicht  vor- 
liegt, wohl  aber  es  den  auditores  nützlich  wäre  über  diese 
Frage  etwas  zu  hören,  so  begeht  der  aus  Furcht  sie  aus- 
lassende Dozent  eine  veniale  Sünde.  Wenn  aber  probabiliter 
sich  für  die  Kirche  keine  schlimmen  Folgen  aus  der  Auslassung 
ergeben,  und  der  Dozent  sie  vornimmt  pro  conservanda  chari- 
tate  et  pro  vitanda  turbatione  et  scandalo  et  malis  iudiciis  quae 
ex  receptione  et  determinatione  illius  quaestionis  oriri  possent : 
sie  dico,  quod  mereretur.  Aus  dieser  Stimmung  begreift  sich 
auch  das  Sclilusswort  des  Sentenzenkommentars :  si  quid  autem 
dixi  novum  in  hoc  quarto  vel  in  aliquo  aliorum  librorum  quod 
non  sit  confirmatum  auctoritate  solida  vel  ratione  necessaria 
vel  certa  experientia,  intendo,  quod  accipiatur,  ut  dictum  sine 
pertinaci  assertione  et  sine  praeiudicio  sententiae  melioris.  Et 
quamvis  non  recolam  nee  credam  me  alicubi  scripsisse  aliquid 
quod  retractatione  indigeat,  tarnen  si  aliquid  tale  inveniretnr 
in  libris  meis,  quod  non  credo,  paratus  sum  humiliter  retrac- 
tare.  Wie  lehrreich  sind  diese  Worte  doch  zur  Erklärung 
jener  Unterwerfung  unter  die  kirchliche  Glaubensautorität  bei 
Duns  Scotus  (s.  unten).  Aber  wie  charakterisieren  sie  doch 
auch  den  Gegensatz  der  beiden  Zeit-  und  Ordensgenossen! 
Richard  hatte  Recht,  er  hat  nichts  „Neues"  gebracht  und 
daher  nichts  zurückzunehmen,  er  war  kein  Häretiker.  \)  Aber 
Duns  hat,  unter  denselben  ungünstigen  Zeitverhaltnissen  arbeitend, 
eine  nicht  geringe  Anzahl  der  Lehren,  die  Richard  ängstlich 
als  zu  frei  mied,  aufgegriffen  und  sie  durch  die  Virtuosität 
seiner  Dialektik  und  seinen  wissenschaftlichen  Mut  zu  Schul- 
lehren seines  Ordens  ausgeprägt.  Er  hat  etwas  „Neues"  zu 
sagen  gewagt  und  hat  das  Denken  von  zwei  Jahrhunderten  in 
seine  Bahnen   gezwungen.      Der   hierarchischen   Beschränkung 


^)  Vgl.  Sent,  IV  dist.  13   princ.  5   quaest.  i :   baereticus   üle  e8t  qui 
profitetur  Christum  et  eius  dogmata  corrumpit. 


Duns  und  Richard.  33 

der  theologischen  Lehre,  wie  sie  damals  beliebt  zu  werden  anfing, 
hat  er  freilich  einen  Preis  zahlen  müssen,  um  den  sie  es  riskieren 
konnte,  der  Wissenschaft  bis  zu  einem  gewissen  Grade  Frei- 
heit zu  gewähren:  die  Theorie  des  kirchlichen  Positivismus. 

Die  Hauptmerkmale  der  Oxforder  Schule,  die  Richard 
und  Duns  gemeinsam  sind,  dürften  folgende  sein:  die  Erkennt- 
nis, dass  die  Theologie  eine  praktische  Wissenschaft  ist,  der 
Gedanke  vom  Willensprimat  im  Menschen,  die  Bestimmung  des 
göttlichen  Willens  als  absolute  Freiheit  und  Willkür  (potentia 
absoluta  und  ordinata),  die  anseimische  Fassung  der  Sünde, 
sowie  die  Ansicht  von  der  durch  sie  unbeeinträchtigten  Freiheit 
des  Willens,  der  symbolische  Sakramentsbegriff,  der  aber  über- 
haupt franziskanische  Doctrin  war.  Beide  vertreten  im  ganzen 
wie  in  vielen  Einzelheiten  die  Theologie  ihres  Ordens  wie  der 
besonderen  theologischen  Schule,  aus  der  sie  hervorgegangen 
sind.  Aber  wie  gross  sind  trotz  dieser  gemeinsamen  Grundlagen 
die  Unterschiede.  Der  eine  war  ein  tüchtiger  Professor,  dem 
spätere  Zeiten^)  nicht  ohne  Recht  die  Ehrentitel  Doctor  solidus 
oder  fundatissimus  beilegten,  der  andere  war  ein  genialer  Denker, 
gleich  gross  als  scharfer  Kritiker  wie  als  mutiger  Forscher,  ein 
bahnbrechender  Geist.  Gegenüber  diesen  grossen  Differenzen 
rücken  die  einzelnen  Abweichungen  in  ihren  Schatten. 

Ich  bedaure  lebhaft,  dass  mir  die  Sentenzenerläuterungen 
von  Männern  wie  Wilhelm  von  Ware  oder  Nikolaus  v.  Occam, 
Robert  Cowton  oder  die  verschiedenen  Werke  des  Johann 
von  Wales  ^)  nicht  zugänglich  waren.  Indessen  meine  ich,  dass 
wir  ihnen  kaum  mehr  als  weitere  Bestätigungen  für  den  er- 
kannten historischen  Zusammenhang  würden  entnehmen  können. 
Die  englische  Theologie  ist  von  Anselm  angebahnt  worden, 
sie  empfing  für  die  Zeit  der  späteren  Scholastik  ihre  Prägung 
durch  Robert  von  Lincoln.  In  diesem  historischen  Zusammen- 
hang hat  sich  die  Entwicklung  des  Duns  Scotus  vollzogen.  In 
welcher  Richtung  die  wissenschaftlichen  Fortschritte  seines 
Zeitalters  —  bes.    durch    Thomas   von   Aquino   und   Heinrich 


^)  Little,  Grrey  friars  p.  214. 

^)  Von  dieser  ganzen  Litteratur  ist  bisher  m.  W.  nichts  gedruckt 
Über  die  Handschriften  giebt  Auskunft  Little,  Grey  friars  p.  213  (Wil- 
helm).   158  (dieser  ältere  Occam).    222  (Robert). 

Seeberg,  Die  Theologie  des  Duns  Scotus.  3 


34  Einleitung. 

von  Gent  —  für  ihn  bedeutsam  wurden,  wird  in  anderem  Zu- 
sammenhang zu  berühren  sein. 

4.  Damit  ist  in  grossen  Zügen  der  geschichtliche  Rahmen 
bezeichnet,  innerhalb  welches  sich  das  Leben  des  Duns  abge- 
spielt hat.  Hinsichtlich  dieses  Lebens  selbst  sind  wir  fast  ganz 
im  Dunkeln.  Die  genaueren  Nachrichten,  welche  die  Bio- 
graphen, die  einige  hundert  Jahre  nach  ihm  schrieben,  bringen, 
sind  —  auch  falls  sie  auf  Ordenstraditionen  zurückgreifen  — 
im  höchsten  Grade  fragwürdig.  Die  Mehrzahl  verrät  nur  zu 
deutlich  die  Absicht,  Grosses  und  Wunderbares  von  dem  Mann 
zu  berichten,  den  die  Jahrhunderte  nur  immer  grösser  gemacht 
hatten.  Ich  stelle  zunächst  die  urkundlich  sicheren  Daten  aus 
dem  Leben  des  Duns  zusammen.  Es  sind  nur  wenige :  1)  Der 
Name:  Johannes  Duns  Scotus.  Ein  direkter  Schüler  des 
Duns,  der  Herausgeber  der  expositio  in  XTI  11.  Metaphys. 
Arist.  gibt  zum  Ende  dieses  Werkes  den  Namen  an:  magister 
Joannes  Duns  qui  fuit  natione  Scotus,  religione 
Minor.  Zwei  „Johannes  Scotus"  finden  sich  unter  den 
Unterschriften  der  1309  vollzogenen  Approbation  der  Werke 
des  Raymund  Lullus,  damals  war  aber  unser  Autor  bereits  tot. 
2)  Er  starb  am  8.  November  1308  zu  Köln.  So  berichtet 
Trithemius  und  so  stand  es  auch  auf  der  Tafel  der  verstorbenen 
Franciskaner  in  Köln :  D.  P.  Fr.  Joannes  Scotus,  sacrae  theo- 
logiae  Professor,  doctor  subtilis  nominatus,  quondam  lector 
Coloniae,  qui  obiit  anno  1308,  VI.  Idus  Novembris.  In  seiner 
positiven  Knappheit  kann  dies  Datum  nicht  wohl  bezweifelt 
werden  (s.  W  ad  ding,  Leben  des  Duns  zu  Anfang  des  1. 
Bandes  seiner  Ausg.  der  Werke  §  34.  47).  3)  Er  gehörte 
dem  Franziskanerorden  an,  studierte  in  Oxford,  docierte  hier 
und  in  Paris  und  verfasste  in  Oxford  wie  in  Paris  eine  Anzahl 
von  Schriften,  die  alsbald  näher  zu  besprechen  sein  werden. 
Diese  Daten  bedürfen  keiner  Belege.  4)  Ein  sehr  wichtiges 
Datum  bietet  eine  Oxforder  Urkunde  dar,  die  Wood  mitteilt  ^). 
Am  26.  Juli  1300  beantragt  der  Minoritenprovinzial  Hugo  de 
Hertelpol  bei  dem  Bischof  von  Lincoln  für  22  Minoriten  die 
Befugnis    zum   Beichtehören.      Der   Bischof  erteilt  das  Recht 


1)  Wood,  City  of  Oxford  ed.  Clark,  II,  p.  386 f. 


Die  sicheren  Daten  aus  dem  Leben  des  Duns.  35 

aber  nur  acht  Brüdern.  Unter  den  Vorgeschlagenen,  aber 
Zurückgewiesenen,  befindet  sich  auch  an  16.  Stelle  Johannes 
Do  uns.  üass  dies  unser  Duns  ist,  kann  schlechterdings  nicht 
bezweifelt  werden.  5)  Auf  die  Übersiedlung  von  Oxford  nach 
Paris  nimmt  Bezug  die  zweite  amtliche  Urkunde^  welche  des 
DuDS  ErwähnuDg  thut.  Es  ist  ein  Schreiben  des  Ordensgene- 
rals Gondisalvus  aus  Ascoli  an  den  Guardian  des  Pariser  Kon- 
ventes der  Franziskaner,  vom  18.  November  (XIV.  Kai.  Dec.) 
1304.  Hier  wird  die  statutenmässige  Präsentation  zweier, 
nicht  der  Ordensprovinz  Francia  angehörenden  Franziskaner 
zum  Magisterium  in  Paris  angeordnet  ^).  Der  General  empfiehlt 
sonderlich  zu  diesem  Zweck  Johannes  Scotus:  dilectum  in 
Christo  patrem  loannem  Scotum,  de  cuius  vita  laudabili, 
scientia  excellenti  ingenioque  subtilissimo  aliisque  insignibus 
condicionibus  suis  partim  experientia  longa,  partim  f am a 
quae  ubique  divulgata  est,  informatus  sum  ad  plenum, 
dilectioui  vestrae  assigno  etc.  Daneben  ward  der  andere  (Albert 
von  Metz),  obgleich  der  Altere,  nur  bedingungsweise  und  kurz 
erwähnt  (s.  Wadding  1.  c.  24).  Man  kann  gegen  diese  Urkunde 
Zweifel  erheben  ^).  Zwar  nicht  wegen  der  Namensform,  denn 
dieselbe  braucht  auch  der  Kölner  Konvent  in  dem  Verz'eichuis 
der  Toten,  wohl  aber  wegen  der  experientia  longa,  welche  der 
in  Italien  lebende  General  von  dem  —  nach  üblicher  Berech- 
nung des  Geburtsjahres  —  damals  erst  dreissigj ährigen  Mino- 
riten  zu  haben  behauptet.  Andrerseits  stimmt  aber  die  Charak- 
teristik und  auch  die  Zeit  so  vorzüglich  zu  allem,  was  wir 
sonst  wdssen,  dass  die  Beziehung  auf  unseren  Duns  Scotus  als 
sicher  bezeichnet  werden  kann.  Man  wird  aber  freilich  durch 
diese  Urkunde  geneigt  sein,  die  übliche  Tradition  des  Geburts- 
jahres in  Zweifel  zu  ziehen.  Lassen  wir  aber  diese  Frage  zu- 
nächst beiseite,  so  ergibt  sich  aus  der  Urkund  esoviel,  dass  Duns 
im  Jahre  1304  bereits  im  Orden  einen  bekannten  Namen  besass 


^)  Vgl.  hierzu  die  franzisk.  Generalkonstitutionen  v.  J.  1292  (bei 
Ehrle,  Archiv  f.  Litt.-  u.  Kirchengeschichte  des  Mittelalters  VI,  107 n): 
quod  illorum  qui  Parisius  sunt  lecturi  sententias  vel  ad  magisterium  prae- 
sentandi  tertius  semper  de  provincia  Franciae,  alii  vero  duo  de  aliis  pro- 
vinciis  ordinis  magis  idonei  assumantur. 

^)  Vgl.  Renan  in  der  Histoire  litteraire  de  la  France  XXV,  410. 

3* 


36  Einleitung. 

und  dass  er  —  der  Brief  kam  kaum  vor  Anfaüg  1305  nach 
Paris  —  etwa  im  Frühjahr  1305  nach  Paris  übersiedelte.  — 
Diese  Daten  empfangen  aber  eine  Erläuterung  aus  dem,  was 
wir  sonst  aus  dem  Studiengang  der  Oxforder  Franziskaner 
wissen  ^).  Die  philosophischen  Studien  sollten  in  der  Regel 
acht  Jahre  währen,  es  folgen  sechs  Jahre  theologischen  bes.  bib- 
lischen Studiums.  Drei  Jahre  über  bethätigte  der  Mönch  sich 
dann  als  theologischer  Opponent  und  Respondent.  Nach  diesem 
—  neunjährigen  —  theologischen  Studium  wurde  es  gestattet, 
über  die  Sentenzen  zu  lesen,  oder  das  theologische  ßaccalaureat 
zu  übernehmen.  Nach  dreijähriger  akademischer  Thätigkeit 
findet  dann  eine  grosse  akademische  Disputation  statt  und  nun 
wird  der  Baccalaureus  Doktor  der  Theologie.  Das  theologische 
Studium  bis  zum  ßaccalaureat  umfasst  also  einen  Zeitraum  von 
neun  Jahren,  bis  zum  Doktorat  von  etwa  zwölf  Jahren.  Die 
Situation  im  Leben  des  Duns  ist  nun  ohne  Frage  die,  dass  er 
in  Oxford  theologischer  Baccalaureus  war  und  in  Paris  dann 
den  theologischen  Doktorat  empfing.  Sowohl  die  Chronologie 
als  die  Verfügung  des  Ordensgenerals  beweisen  das  ^).  Duns 
hat  also,  äusserlich  angesehen,  in  Oxford  keine  irgendwie  leitende 
Stellung  eingenommen. 

Das  ist  es  also,  was  wir  aus  dem  Leben  des  Duns  mit 
Sicherheit  wissen.  Nun  erhebt  sich  aber  die  Frage,  ob  und 
inwieweit  den  sonstigen  Überlieferungen  positive  Daten  ent- 
nommen werden  können.  Es  handelt  sich  zunächst  um  Jahr 
und  Ort  seiner  Geburt.  Nach  Wadding  (§  12)  und  Hugo 
Cavellus^)  ist  Duns  geboren  im  Jahre  1274.  Wadding  er- 
blickt in  dem  Zusammenfallen  der  Geburt  des  Duns  und  des 
Todes  Bonaventuras  in  demselben  Jahre  ein  besonderes  Zeichen 
der  göttlichen  Gnade  gegen  die  Minoriten.  Renan  folgert 
daraus,    dass    dieses    Zusammentreffen    nicht   wohl  habe  unbe- 


^)  S.  Little,  The  grey  friars  p.  44  seqq. 

^)  Im  J.  1300  ist  Duns  nach  der  oben  S.  34  erwähnten  Urkunde^ 
nicht  Doktor,  da  ihm  nicht,  wie  zweien  von  den  Vorgeschlagenen,  diese  Würde 
ausdrücklich  beigelegt  wird. 

^)  In  seiner  Vita  Scoti  (4)  im  Anfang  zu  Scoti  ...  in  I  et  II  Sent. 
quaestiones  .  .  nunc  noviter  recognitae  per  Hugonem  Cavellum,  Ant- 
verp.  1620. 


Chronologie  des  Lebens  des  Duns.  37 

merkt  bleiben  können,  die  Richtigkeit  des  Datums  ^).  Es  ist 
gewiss  anzuerkennen,  dass  die  beiden  gelehrten  Franziskaner 
einer  Tradition  ihres  Ordens  folgten.  Indem  dieselbe  aber 
der  quellenmässigen  Begründung  entbehrt,  ist  sie  gerade  durch 
den  pragmatischen  Zusammenhang  mit  dem  Tode  Bonaventuras 
verdächtig.  Dazu  kommt  die  soeben  aus  dem  Schreiben  des 
Generals  von  1304  sich  ergebende  Beobachtung.  Dass  die 
Angabe  falsch  ist,  lässt  sich  aber  evident  und  nicht  nur  ver- 
mutungsweise zeigen.  Ende  Juli  1300  wurde  Duns  zum  Beichte- 
hören vorgeschlagen,  wie  wir  sahen.  Damals  muss  er  aber 
sein  dreissigstes  Lebensjahr  bereits  vollendet  haben.  Die 
Generalkonstitutionen  des  Ordens  von  1292  bestimmen,  dass 
erst  nach  vollendetem  25.  Lebensjahr  die  Brüder  Priester 
werden  dürfen  et  exsecutionem  confessionis  quarumcunque  per- 
sonarum  extra  nostrum  ordinem  existentium  et  praelationis  offi- 
cium nullus  habeat  de  cetero  nisi  qui  XXX  annos  com- 
pletos  habuit  in  aetate-).  Hieraus  folgt  unweigerlich, 
dass  Duns  nicht  nach  1270  geboren  sein  kann.  Da  es  aber 
doch  nicht  wahrscheinlich  ist,  dass  gerade  in  dem  Jahr,  wo  e  r 
das  30.  Lebensjahr  vollendete,  jene  22  Brüder  proponiert  wurden, 
so  werden  wir  an  das  Ende  der  sechziger  Jahre  gewiesen.  — 
Die  Entstehung  der  entgegenstehenden  Überlieferung  begreift 
sich  einfach.  Wusste  man,  dass  Duns  Scotus  jung  gestorben 
war,  so  lag  es  nahe,  um  das  Wunderbare  seiner  Lebensarbeit 
zu  erhöhen,  ihn  möglichst  jung  zu  machen  und  es  lag  auch 
nicht  zu  fern,  gerade  das  Todesjahr  Bonaventuras  zu  seinem 
Geburtsjahr  zu  machen.  Wie  wenig  Positives  von  seinem 
Leben  bekannt  war,  ergiebt  sich  daraus,  dass  Trithemius  einen 
ähnlichen,  von  Späteren  gedankenlos  nachgeschriebenen  Pragma- 
tismus konstruiert,  indem  er  ihn  zu  einem  Zuhörer  des  ersten 
grossen  Meisters  der  Franziskanerschule,  des  Alexander  von 
Haies  macht,  obwohl  Alexander  doch  schon  1245  starb !  Nun 
hat  aber  ein  anderer  Franziskaner,  Thevet,  eine  andere  Tra- 
dition gekannt.  Nach  dieser  ist  Duns  nicht  im  34.,  sondern  im 
43.  Lebensjahr  gestorben,  sonach  also  1266    geboren^).     Dann 

^)  1.  c.  p.  405.  —  1274  starb  übrigens  auch  Thomas  v.  Aquino. 

")  Ehrle,  Archiv  für  Litt.  u.  KG.  etc.  VI,  129 f.  Anm. 

^)  Lesvraies  portraits  et  vies  des  hommes  illustres,  Paris  1584,  p.  148  r. 


38  Einleitung. 

wäre  Duns  damals,  als  der  Provinzial  ihn  als  Beichtiger  vor- 
schlug, 34  Jahr  alt  gewesen,  und  als  sein  General  ihn  so  hoch 
pries,  immerhin  ein  Mann  von  38  Jahren  gewesen.  Wie  also 
bei  dieser  Datierung  die  beiden  uns  überlieferten  Urkunden 
erklärlich  sind,  so  auch  die  Riesenarbeit,  die  uns  in  den 
Werken  des  Duos  vorliegt.  Freilich  geschichtlich  kontrolier- 
bar  ist  auch  diese  Angabe  nicht,  aber  alle  uns  bekannten  Daten 
stimmen  zu  ihr:  Duns  war  im  Jahre  1300  vierunddreissig  Jahr 
alt.  Als  er  im  Jahre  1304  für  den  Pariser  Doktorat  vorge- 
schlagen wurde,  musste  ein  Studium  von  ca.  20  Jahren  hinter 
ihm  liegen  (vgl.  S.  36).  Er  hätte  also  mit  18  Jahren  seine  Studien  be- 
gonnen. Letztere  Kombination  lässt  es  auch  nicht  geraten  er- 
scheinen, weit  hinter  das  Jahr  1266  zurückzugehen.  Man  wird 
also  mit  einiger  Sicherheit  sagen  dürfen:  Duns  ist  zwischen 
1265 — 1270  geboren.  Dann  dürfte  aber  die  Angabe  1266  auf 
zuverlässiger  Tradition  beruhen  ^). 

Dasselbe  Dunkel,  das  über  dem  Datum  der  Geburt  lagert, 
erstreckt  sich  auch  auf  den  Ort  derselben.  England,  Schott- 
land und  Irland  streiten  sich  um  die  Ehre,  den  grossen  Lehrer 
hervorgebracht  zu  haben.  In  Oxford  stellte  1451 — 1455  ein 
deutscher  Abschreiber  neun  Abschriften  des  Sentenzenkommen- 
tars von  Duns  her.  Zum  Schluss  der  Abschriften  fügte  er 
ein  Explicit  an.  Das  erste  lautet:  Explicit  lectura  Doctoris 
Subtilis  in  universitate  Oxoniensi  super  primum  librum  Sen- 
tenciarum,  sc.  Doctoris  lohis.  Duns  nati  in  quadam 
villicula  pochiae  (=  parochiae)  de  Emyldon  vo- 
cata  Dunstan  in  Comitatu  Northumbrie  pertinente 
domui  Scolarium  de  Merton  halle  in  Oxonia,  et  quondam 
socii  dicte  domus.  ^)  Auf  Grund  dieses  Zeugnisses  wird  seit  Thevet 
(1.  c.  147  V)  von  manchen  Duns  als  Engländer  in  Anspruch  ge- 


^)  Könnte  nicht  eine  einfache  Umstellung  der  Zahlen  im  Gedächtnis 
—  sie  war  beeinflusst  vom  Eindruck  der  kurzen  Lebenszeit  des  grossen 
Mannes  —  die  Entstehung  der  34  Lebensjahre  aus  43  Jahren  erklären? 
Dann  spräche  indirekt  auch  die  landläufige  Tradition  für  die  von  uns 
befolgte. 

^)  Renan  1.  c.  p.  405;  Wadding  §  9.  Der  mitgeteilte  Text  (ge- 
schrieben 1451)  genau  nach  Henderson,  Merton-CoUege  (üxf.  1899) 
p.  289. 


Zeit  und  Ort  der  Geburt  des  Duns.  39 

nommen.  Nach  einer  anderen  alten  Überlieferung,  die  auf 
Schüler  des  Duns  zurückgeht,  war  er  Schotte  und  wurde  ge- 
boren zu  Duns,  einem  acht  Meilen  von  der  englischen  Grenze 
belegenen  Dorf  der  schottischen  Provinz  Marchia.  ^)  Mit  dieser 
Annahme  würde  das  bekannte  Epitaphium  des  Duns  über- 
einstimmen : 

Scotia  me  genuit, 

Anglia  me  suscepit, 

Gallia  me  docuit, 

Colonia  me  tenet»  ^) 

Dagegen  behaupten  die  irischen  Franziskaner,  wie  besonders 
Wadding  und  Cavellus,  Duns  Scotus  sei  geboren  zu  Dun  oder 
Dunum,  einer  alten  Stadt  der  irischen  Provinz  Ulster,  nämlich 
dem  heutigen  Down -Patrick.  Hier  soll  nach  alter  Sage  in 
einem  Grabe  die  Asche  des  heil.  Patrick,  des  heil.  Columban 
und  der  heil.  Brigitte  ruhen.  Da  nun  bekanntlich  Scotia  im 
früheren  Mittelalter  nicht  selten  für  Hibernia  gebraucht  wird, 
—  noch  1256  nannte,  gelegentlich  der  Einteilung  der  Ordens- 
provinzen, Bonaventura  die  provincia  Hiberniae  sive  Scotiae, 
wobei  nur  an  Irland  gedacht  ist,  da  die  wenigen  schottischen 
Minoritenklöster  der  Provinz  Anglia  zugeteilt  waren  — ,  so 
soll  der  Beiname  Scotus  einen  Iren  bezeichnen.  ^)  Dass  nun 
irische  Franziskaner  sich  um  die  Erklärung  und  Herausgabe 
der  Werke  des  Duns  hervorragend  verdient  gemacht  haben, 
bildet  natürlich  ebenso  wenig  eine  Instanz  für  diese  Annahme, 
als  dass  in  irischen  Klöstern  die  scotistische  Theologie  besonders 
eifrige  Anhänger  fand.  —  Es  ist  m.  E.  unfraglich,  dass  dieser 
dritte    Anspruch    als    unbegründet   zurückzuweisen    ist.      Was 


^)  Belege  bei  Renan  p.  406. 

^)  Renan,  p.  407  meint,  dass  diese  Verse  „fort  bien'' zusammenfassen 
was  wir  über  Duns'  Leben  wissen.  Das  ist  aber  ein  selir  unvorsichtiges 
Urteil.  Sicher  ist  nur  die  4.  Zeile.  Zeile  8  ist,  obgleich  in  ihr  ,,la  France 
est  en  possession  de  la  meilleure  pari",  offenbar  unrichtig.  Zeile  1  ist 
fraglich,  daher  natürlich  auch  das  suscepit  von  Z.  2. 

^)  S.  auch  den  Handschriftenkatalog  von  Assissi  v.  J.  1381,  wo  es 
heisst:  opus  super  quatuor  libros  Sententiarum  mag.  fratris  Johannis  Scoti 
de  ordine  Minorum  qui  et  doctor  subtilis  nuncupatur  de  provincia  Hi- 
berniae. 


40  Einleitung. 

aber  die  erste  und  die  zweite  Ansicht  anbetrifft,  so  spricht 
für  Schottland  der  Beiname  Scotus,  für  England  die  positive 
Notiz  jenes  Schreibers,  der  offenbar  eine  im  Merton  -  College 
herrschende  Tradition  bezüglich  des  Duns  wiedergibt.  Dazu 
kommt,  dass  nach  derselben  Notiz  Duns  selbst  zu  dem  ge- 
nannten College  gehört  habe.  Ist  dies  zutreffend,  so  würde 
die  Bestimmung  der  Statuten  des  Colleges,  dass  niemand  auf- 
genommen werden  dürfe,  der  nicht  aus  einer  Diöcese  stammt, 
in  der  das  College  Eigentum  besitzt  ^),  wohl  auch  für  die 
englische  Herkunft  des  Duns  sprechen.  -)  Die  Zugehörigkeit 
des  Duns  zum  Merton-College  ist  freilich  neuerdings  ^)  und  so 
zuletzt  von  Henderson  in  seiner  Geschichte  des  Merton- 
College  bestritten  worden  (S.  289  f.).  Aber  das  Resultat 
„that  the  Franciscan  monk  Duns  Scotus  was  not  a  scholar 
of  Merton"  scheint  mir  doch  etwas  zu  zuversichtlich  formuliert 
zu  sein.  Eür  die  Zugehörigkeit  zum  College  spricht  1.  die 
einhellige  Tradition,  2.  die  sehr  genaue  und  positive  Angabe 
jenes  Schreibers  von  1451.  Dass  kein  Mönch  zum  College  ge- 
hören durfte,  ist  richtig,  aber  Duns  kann  ja,  als  er  Mönch 
wurde,  das  College  verlassen  haben,  wie  etwa  Johann  von 
Wales  bereits  Baccalaureus  der  Theologie  war,  als  er  in  den 
Orden  eintrat  ^j.  Der  handschriftlich  vorhandene  Catalogus 
vetus  (ca.  1422,  Henderson  p.  287.  290)  führt  nun  wirklich  einen 
Doune  (korrigiert  in  Doun^)  an,  unter  Eduard  II.  (1307 — 27). 
Man  kann  nun  diese  Notiz  als  die  Quelle  der  —  falschen  — 
Tradition  ansehen.  Man  kann  aber  auch  hier  eine  zufällig 
oder  absichtlich  abweichende  Schreibung  des  Namens  an- 
nehmen. Dass  aber  auf  die  Chronologie  des  Kataloges  für  die 
älteste  Zeit  nicht  viel  Verlass  zu  sein  scheint,  folgt  schon  daraus, 
dass  auch  Roger  Bacon  in  ihm  aufgeführt  ward  (Henderson 
p.  288),  der  doch  schon  ca.  1214  geboren  ist,  während  die 
Anfänge  des  Colleges  in  das  J.  1264  fallen.  Demnach  kann 
m.  E.  nur  gesagt  werden,  dass  die  Tradition  über  die  Zuge- 
hörigkeit von  Duns  zum  Merton-College  unsicher  ist,  dass  aber. 


^)  Bei  Henderson.  Merton-Coll.  p.  15. 

^)  Das  scheint  die  Meinung  von  D  ö  1 1  i  n  g  e  r  zu  sein,  Kirchenlex.  X,^  2128. 
')  Z.  B.  Maxwell  Lyte.  hist.  of  university  of  Oxford,  1886,  p.  116. 
*)  S.  Monumenta  franciseana  ed.  Brewer  1  542. 


Herkunft  des  Duns.  41 

angesichts  des  präcisen  Zeugnisses  von  1451,  von  einer  ge- 
wissen Wahrscheinlichkeit  immerhin  wird  geredet  werden  dürfen. 

Alles  in  allem  scheint  also  doch  die  englische  Herkuuft 
des  Duns  als  die  wahrscheinlichste  zu  bezeichnen  zu  sein. 

Zur  Erklärung  des  Beinamens  Scotus  wären  verschiedene 
Möglichkeiten  denkbar:  vielleicht  konnte  man  einen  Northum- 
brier  im  13.  Jahrhundert  auch  als  Schotten  bezeichnen,  oder 
die  Familie  des  Duns  war  wirklich  schottischer  Herkunft  oder 
Duns  ist  in  einem  schottischen  Minoritenkloster  gewesen.  Letz- 
teres erscheint  am  wahrscheinlichsten.  Dazu  stimmt  S.  39  A  3. 
Jedenfalls  wird  der  Name  Duns  die  lokale  Herkunft  des  Mannes 
—  wie  die  Beinamen  Aquinas,  Alesius,  Gandavensis  etc.  —  bezeich- 
nen, während  Scotus  auf  die  Stammeszugehörigkeit  oder  auf 
klösterliche  Beziehungen  zu  Schottland  ginge.  In  der  amtlichen 
Bezeichnung  konnte  man  von  dem  unbekannten  Dun  oder  Dunstan 
absehen  und  ihn  einfach  Scotus  nennen,  wie  ja  auch  andere  Männer 
der  Zeit  bezeichnet  wurden.  Aber  aus  der  Häufigkeit  letzterer 
Benennung  ist  es  erklärlich,  dass  die  Bezeichnung  Duns  sich 
neben  Scotus  behauptete.  ^)  Schliesslich  sei  noch  bemerkt,  dass 
jedenfalls  die  schottische  und  englische  Tradition  mit  einander 
gegen  die  irische  Herkunft  des  Duns  sprechen,  denn  beiden 
liegt  offenbar  eine  und  dieselbe  Kunde  zu  Grunde,  nämlich 
dass  Duns  Scotus  nicht  weit  von  der  schottischen  Grenze  ge- 
boren ist.  Ob  nördlich  oder  südlich  von  derselben,  das  wird 
sich  allerdings  kaum   je   zur   vollen  Gewissheit  erheben  lassen. 

Auch  die  Kindheit  und  der  Bildungsgang  des  Duns  liegen 
im  Dunkeln.  Die  Erzählungen  aus  seiner  Kindheit,  etwa  dass 
er  auffallend  unbegabt  und  stumpfsinnig  gewesen,  die  heilige 
Jungfrau  ihm  aber  auf  sein  Gebet  und  Flehen  hin  erschienen 
sei  und  ihm  unter  der  Bedingung,  dass  er  ihr  hinfort  sonder- 
lich dienen  solle,  wunderbaren  Scharfsinn  und  Gelehrsamkeit 
verliehen  haben,  diese  und  ähnliche  Erzählungen  sind  natürlich 
historisch   vollständig   wertlos.     Dass   er    zum   Merton-College 


')  In  der  gelehrten  Sprache  des  Mittelalters  sprach  man  in  der 
Regel  von  Scotus.  Dann  wurde  in  Analogie  zu  dem  Doppelnamen  der 
anderen  Scholastiker  Duns  Scotus  üblich,  fast  so  als  wäre  Duns  ein  Vor- 
name, und  neuerdings  sagen  wir  in  der  Regel  nur  Duns  und  nicht  Jo- 
hannes. 


42  Einleitung. 

gehörte,  kann  höchstens  als  wahrscheinlich  bezeichnet  werden. 
Ebenso  unsicher  ist  die  Tradition,  dass  er  den  Wilhelm  von 
Ware  zum  Lehrer  hatte.  ^)  In  welcher  Richtung  diese  Ox- 
forder Studien  auf  ihn  eingewirkt  haben,  wurde  bereits  oben 
erörtert.  Auch  darüber  wann  und  wo  er  in  den  Minoriten- 
orden  eintrat,  fehlen  alle  sicheren  Nachrichten.  Die  Irländer 
meinen  in  Down-Patrick,  die  Schotten  in  Dunfries,  wieder 
andere  zu  Oxford  oder  zu  Newcastle  oder  zu  Ware.  ^)  — 
Wilhelm  von  Ware  mag  in  Oxford  gelehrt  haben,  dass  er  in 
Paris  wirkte,  ist  sicher.  Dass  aber  Duns  an  seiner  Stelle  in 
Oxford  Magister  wurde,  wie  die  übliche  Angabe  will,  ist  schon 
dadurch  ausgeschlossen ,  dass  er  in  Oxford  überhaupt  nur 
Baccalaureus  war.  Damit  fällt  auch  die  Angabe  hin,  dass  die 
Schärfe  seiner  Dialektik  viele  Studierende  nach  Oxford  ge- 
zogen haben  soll,  ihre  Zahl  sei  von  3000  auf  30  000  gestiegen.-^) 
In  Oxford  werden  seine  philosophischen  Schriften  (s.  unten) 
entstanden  sein,  aber  der  Hauptsache  nach  auch  der  grössere 
Sentenzenkommentar,  das  sog.  Opus  Oxoniense.  Wadding  hat 
einige  Anhaltspunkte  zur  Zeitbestimmung  dieses  Werkes  aus- 
findig gemacht.  Darnach  ist  der  Prolog  zum  ersten  Buch  mit 
grosser  Wahrscheinlichkeit  nach  1300  geschrieben  (§  19).  Dazu 
stimmt  nun,  dass  IV  dist.  6  quaest,  8  eine  Bulle  Bonifaz  VIII. 
vom  Jahre  1398  citiert  ist,  sowie  IV  dist.  25  quaest.  1  eine 
Bulle  seines  Nachfolgers  Benedikt  XI.,  der  seit  20.  Oktober  1303 
die  päpstliche  Gewalt  innehatte.  Da  nun  Duns,  wie  wir 
sahen,  im  Jahre  1305  nach  Paris  kam,  so  ist  das  Opus 
Oxoniense  ca.  1301 — 1304  entstanden^)  und  wohl  erst  in  Paris 
zum  Abschluss  gekommen.     Am  18.  November  1304  hatte  der 


1)  S.  Little.  Grey  friars  in  Oxf.  p.  213. 

^)  S.  die  Angaben  bei  Renan  1.  c.  p.  408. 

^)  Das  ist  natürlich  Fabel,  aber  es  verdient  vielleicht  angemerkt 
zu  werden,  dass  wir  eine  päpstliche  Verfügung  vom  J.  1295  besitzen, 
welche  der  Klage  der  Minoriten,  dass  die  scolares  ad  studium  in  sacra 
pagina  und  auch  die  anderen  Gläubigen  am  Hören  des  Wortes  durch  za 
enge  Räumlichkeiten  behindert  würden,  dadurch  Abhilfe  schafft,  dass 
ihnen  die  Gebäude  der  Brüder  de  poenitentia  überwiesen  werden,  s. 
Annales  minorum  V,  575. 

*)  1301  mag  Duns  zum  ersten  Male  über  die  Sentenzen  gelesen  haben. 


Thätigkeit  in  Oxford  und  Paris.  43 

Ordensgeneral  angeordnet,  dass  Duns  in  Paris  zum  Doktorat 
vorgestellt  werde.  Bald  darauf  wird  er  in  Paris  die  Doktor- 
würde erworben  haben.  Nach  dem  Bericht  der  Biographen 
wurde  er  auf  einem  Generalkapitel  der  Minoriten  in  Toulouse 
im  J.  1307  zum  zweiten  Regens  in  dem  Pariser  Konvent  seines 
Ordens  ernannt. 

Wenn  nach  den  späteren  Biographen  die  Übersiedlung  nach 
Paris  mit  einer  grossen  Disputation,  die  zwischen  Franziskanern 
und  Dominikanern  über  die  unbefleckte  Empfängnis  der  Maria 
stattfinden  sollte,  zusammenhängen  und  Duns  hierbei  wegen 
seiner  siegreichen  Führung  der  Sache  der  Maria  den  Bei- 
namen eines  Doctor  subtilis  erhalten  haben  soll,  so  ist  dies 
alles  sagenhaft,  denn  1)  die  „Subtilität"  des  Duns  rühmt  schon 
das  Schreiben  des  Generals  vom  Jahre  1304;  einer  besonderen 
Probe  desselben  bedurfte  es  also  zur  Entstehung  jenes  Beinamens 
nicht;  2)  schon  d'Argentre  macht  darauf  aufmerksam,  dass 
erst  im  Jahre  1480  der  Minorit  Bernhardin  von  Busti  von 
dieser  Disputation  berichtet  und  dass  in  einem  Dekret  vom 
Jahre  1496  die  theologische  Fakultät  in  Paris  erklärt,  dass  in 
dem  letzten  (d.  h.  dem  15.)  Jahrhundert  die  Streitigkeiten  über 
die  puritas  conceptionis  der  Maria  häufiger  zu  werden  be- 
ginnen ^) ;  somit  ist  also  der  mariologische  Gegensatz  der  beiden 
grossen  Bettelorden  späteren  Ursprungs  ^).  3)  Dazu  kommt 
aber,  dass  Duns  selbst  keineswegs  über  die  volle  Sicherheit 
in  Betreff  jener  Lehre,  die  der  Orden  später  zeigt,  verfügte. 
Mehr  als  eine  „probable"  Hypothese  war  ihm  die  Annahme 
im  Grunde  nicht  3).  Also  ist  die  ganze  Disputation  mitsamt 
allem,  was  sich  an  Folgen  an  sie  geschlossen  habe,  als  Legende 
aufzugeben. 

Dagegen  ist  als  sicher  anzusehen,  dass  Duns  der  Pariser 
Sitte  entsprechend  sich  um  den  Pariser  Doktorat  durch  eine 
Disputation  über  verschiedene  theologische  Themata  bewarb. 
Quaestiones  quodlibetales  oder  Quodlibeta  nannte  man  diese 
Erörterungen.  Wie  wir  von  fast  allen  hervorragenden  Scholas- 
tikern   Quodlibeta   erhalten   haben,   so  auch  von  Duns  Scotus. 

1)  Collectio  iudiciorum  (Paris  1728)  I,  275 f. 

'^)  Vgl.  auch  Döllinger   im   Freiburger  Kirchenlexikon   X^.   2129. 

^)  Die  Belege  s.  unten  im  3.  Kapitel. 


44  Einleitung. 

In  Paris  entstanden  auch  die  sog.  Reportata  Parisiensia,  ein 
kürzerer  Sentenzenkommentar.  Die  Reportata  bieten  die  dog- 
matischen Vorlesungen  des  Duns,  die  er  in  Paris  gehalten  hat, 
dar.  Das  folgt  aus  den  Worten,  mit  denen  die  18.  Dist.  des 
3.  Buches  schliest :  et  sie  iinis  disputationis  in  aula.  Wadding 
hat  die  scharfsinnige  Beobachtung  gemacht,  dass  Duns  in  den 
Vorlesungen  auf  das  erste  Buch  sofort  das  4.  hat  folgen  lassen, 
und  sich  dann  erst  dem  2.  und  3.  Buch  zuwandte  ^),  wobei  er 
in  letzterem  mit  der  Erklärung  der  18.  Dist.  schloss.  Dies 
wird  wohl  mit  seinem  Fortgang  von  Paris  zusammenhängen ; 
ein  Schüler  hat  später  die  Lücke  nach  dem  grossen  Oxforder 
Kommentar  geschlossen.  Das  Werk,  wie  es  uns  vorliegt,  ist 
freilich  nicht  viel  mehr  als  eine  verkürzte  Wiedergabe  jenes 
grösseren  Werkes.  Es  verhält  sich  zu  demselben  wie  ein 
Kollegheft  zu  einem  grösseren  Werk.  Manches  ist  vereinfacht 
worden,  anderes  ist  fortgelassen,  die  Beweise  sind  zusammen- 
gezogen worden,  das  Interesse  mehr  auf  die  theologischen 
Gegenstände  und  das  Sichere  konzentriert  worden.  Aber  die 
Eorschung  wird  doch  nach  wie  vor  —  selbst  die  Echtheit  der 
Reportata  ist  angezweifelt  worden  —  aus  dem  grösseren  Werk 
die  Lehre  des  Duns  darstellen,  wie  denn  auch  die  geschicht- 
liche Bedeutung  seiner  Theologie  sich  an  dasselbe  geschlossen 
bat  2). 

Im  Jahre  1308  hat  Duns  Paris  verlassen.  Er  soll  mit 
einigen  Schülern  zur  Erholung  einen  Spaziergang  auf  das 
Land  gemacht  haben.  Unterwegs  erreichte  ihn  ein  Bote  mit 
dem  Befehl  des  Ordensgenerals,    sich   nach  Köln  zu  begeben. 


^)  Der  Beweis  besteht  darin ,  dass  im  4.  Buch  häufig-  Rückver- 
weisungen  auf  das  erste  Buch,  nicht  aber  auf  das  2.  und  3.  sich  finden. 
Ferner  verweist  er  aber  in  dem  4.  Buch  häufig  auf  solches,  was  im  2.  und 
3.  Buch  zur  Erörterung  kommen  soll.  Das  zeigt  sich  besonders  deutlich 
an  solchen  Stellen,  wo  auch  im  4.  Buch  auf  Lehren  des  2.  und  3.  Buches 
verwiesen  wird,  die  aber  dann  später  in  demselben  gar  nicht  zur  Dar- 
stellung gelangten,  z.  B.  IV  dist.  15  quaest.  4,  24;  dist.  49  quaest.  1,  9; 
dist.  29  qu.  un.  §  9  fin:  hoc  forte  dicetur  in  secundo  libro;  ähnlich 
dist.  4  quaest.  3,  6,  wo  die  Ausgaben  zwar  dicitur  haben  (Pariser  Ausg- 
Bd.  23,  600;  Wadding  XI.  590),  Aielleicht  aber  dicetur  zu  lesen  ist. 

^)  Vgl.  hierzu  Waddings  Einleitung  zu  den  Report..  Pariser  Ausg. 
Bd.  22  S.lfi". 


Duns  kommt  nach  Köln.  45 

Er  machte  sich  sofort  auf.  Die  Frage  der  Schüler,  ob  er 
nicht  zuvor  sich  von  dem  Konvent  verabschieden  wolle,  habe 
er  mit  den  Worten  beantwortet:  pater  generalis  Coloniam  ire 
iubet,  non  in  conventum  ad  salutandos  fratres  i-edire.  Er 
gehorchte  in  mönchischem  Gehorsam,  obgleich  diese  Versetzung 
für  ihn  ein  schwerer  Schlag  sein  musste.  Die  glänzende 
Stellung  eines  Pariser  Professors  musste  er  mit  der  eines 
Lektors  bei  dem  Kölner  Konvent  vertauschen  (s.  Wadding, 
Annal.  1308  n.  10),  eine  Universität  hatte  Köln  damals  noch 
nicht.  Die  Biographen  ergehen  sich  in  Vermutungen  zur  Er- 
klärung diesen  auffallenden  Massregel.  Das  ist  wohlverständlich 
und  berechtigt.  Renan  freilich  meint,  que  l'importance  de  son  role  a 
ete  exaggeree  apres  sa  mort  und  dass  daher  an  dieser  V^ersetzung 
nichts  Aussergewöhnliches  sei  (l.  c.  p.  417).  Allein  letzterem 
widerspricht  doch  schon  das  oft  erwähnte  Schreiben  des 
Ordensgenerals.  —  Jene  Vermutungen  gehen  in  verschiedene 
Richtungen  auseinander:  es  habe  eine  Universität  gegründet 
werden  sollen,  es  hätte  die  Mariologie  der  Dominikaner  bekämpft 
werden  sollen,  der  Frechheit  der  Begarden  habe  der  grosse 
unüberwundene  Disputator  steuern  sollen.  An  letzterem  mag 
ja  etwas  sein.  Aber  mehr  als  Vermutungen  erhalten  wir  da- 
mit nicht.  Nun  sagt  aber  der  Franziskaner  Ferchi  ^),  es  fände 
sich  in  vetustis  codicibus  ein  anderer  Grund  angeführt.  Der 
Ordensprovinzial  und  Regens  primus,  Reginald,  der  ebenfalls 
Vorlesungen  hielt,  sei  durch  den  ungeheuren  Erfolg,  den  der 
zweite  Regens  Duns  hatte,  mit  Neid  erfüllt  worden  und  habe 
deshalb  jenes  Schreiben  des  Generals  erwirkt.  Er  habe  ihm 
mitgeteilt,  dass  in  Köln  eine  Universität  zu  errichten  beab-. 
sichtigt  werde  und  habe  Duns  zum  Leiter  dieser  Bestrebungen 
empfohlen.  Das  bezügliche  Schreiben  des'  Generals  habe  er 
dann  sofort  dem  auf  dem  Spaziergang  befindlichen  Duns  — 
morae  impatiens  —  nachgesandt.  Das  Verhalten  des  letzteren 
bei  Empfang  des  Schreibens  rückte,  so  betrachtet,  in  ein  neues 
Licht.  Die  Angabe  Ferchis  und  seines  Gewährsmannes  ist  für 
uns  freilich  unkontrolierbar,  aber  dass  die  innere  Wahrschein- 
lichkeit für  sie  spricht,  wird  nicht  abgeleugnet  werden  können. 


^)  Apologia  pro  Joanne  Duns  Scoto  libri  tres,  1620,  c.  7. 


46  Einleitung. 

So  mag  also  der  Neid  die  letzte  Triebfeder  zur  EntfernuDg 
des  Duns  aus  Paris  gewesen  sein,  selbst  wenn  auch  andere 
Gründe  mitgewirkt  haben,  wie  allgemeine  Pläne  über  die  Be- 
gründung einer  Hochschule  oder  der  Streit  gegen  die  Begarden. 
—  In  Köln  soll  er  mit  hohen  Ehren  empfangen  worden  sein. 
Er  hielt  im  Minoritenkloster  Vorlesungen  und  soll  über  die 
unbefleckte  Empfängnis,  sowie  mit  den  Häretikern  disputiert 
haben.  Diese  Angaben  beruhen  durchw^eg  auf  unsicheren 
Kombinationen,  die  durch  die  breiten  Ausführungen  der  Bio- 
graphen nicht  sicherer  werden. 

Lange  hat  diese  Wirksamkeit  nicht  gedauert,  denn  bereits 
am  8.  November  1308  ist  er  gestorben.  Auch  hinsichtlich  des 
Todes  des  Duns  Scotus  variiert  die  Überlieferung.  Spätere 
meinen,  er  sei  an  einem  Schlagfluss  gestorben.  Von  grösserem 
Interesse  ist  nun  aber  eine  merkwürdige  Überlieferung,  die 
zwar  auch  für  uns  erst  spät  auftritt,  immerhin  aber  ernster 
Erwägung  wert  ist.  Paul  Jovius  ^)  und  der  Annalist  Bzovius  -) 
erzählen  nämlich,  Duns  sei  in  eine  Lethargie  verfallen  und 
darauf  lebendig  begraben  worden.  Im  Grabe  wieder  zum  Be- 
"wusstsein  gekommen,  habe  er  um  Hilfe  geschrieen,  dann  seine 
eigenen  Hände  verzehrt^)  und  habe  schliesslich  den  Schädel 
an  den  Steinen  zertrümmert.  Dadurch  habe  er  die  Strafe 
manifesti  aut  certe  occulti  criminis  getragen.  In  der  Sache 
läuft  eine  Bemerkung,  die  in  den  Predigten  des  heil.  Bern- 
hardin von  Siena  (1380—1444)  ganz  gelegentlich  vorkommt, 
doch  wesentlich  auf  das  Nämliche  hinaus :  oportet  sublevare 
mentem  ab  istis  sensualibus  ad  insensualia,  sicut  accidit  magistro 
subtiliscil.  Scoto  qui  ita  fuit  extractus  de  sensualibus  ad  insensualia 
et  ita  fuit  elevatus,  quod  fratres  qui  ignorabant  hunc  eins  solitum 
morem,  credentes  ipsum  fore  mortuum  subterraverunt  eum 
vivum;  et  postea  venieutes  eins  discipuli  scientes  id  sibi  saepe 
accidere,    quid   foret   de    eins   modo   interrogantes    reperuerunt 


^)  Elogia  virorum  litteris  illustrium,  ßasil.  1577,  p.  6. 

2)  Annales  ecclesiastici,  Colon.  1616,  XIII,  1029. 

')  Dieser  Zug  bei  Bzovius  in  der  2.  Ausg.,  der  sich  dafür  auf  Gene- 
brardus  beruft,  der  aber  nach  Wadding  (§  37),  nur  mit  einem  „ferunt'' 
von  dem  unnatürlichen   Tode  erzähle. 


Tod  und  Todesart  des  Duns.  47 

eum  vivum  subterratum  fore,  est  suffocatum  ^).  Es  ist  ziem- 
lich gleichgiltig,  ob  der  4.  Band  der  Predigten  Bernhardins 
von  ihm  selbst  herrührte  oder  auf  einen  gewissen  Daniel  de 
Purziliis  zurückgeht,  wie  Ferchi  und  Wadding  behaupten.  Die 
Überlieferung  j  dass  Duns  Scotus  lebendig  begraben  wurde^ 
empfängt  jedenfalls  durch  diese  Stelle  eine  selbständige  Be- 
stätigung. Ich  sehe  nicht,  dass  die  Gegengründe  Waddings 
durchschlagen  (§  33  ff.).  Dass  die  Überlieferung  im  Lauf  der 
Zeit  mit  immer  grausigeren  Einzelheiten  ausgemalt  wurde,  ist 
verständlich,  und  dass  die  moralische  Erklärung  dieses  Schick- 
sals historisch  irrelevant  ist,  ist  einleuchtend.  Die  gegen  die 
Einzelheiten  bei  Jovius  und  Bzovius  gerichteten  Bemerkungen 
tragen  daher  nichts  aus.  Die  Thatsache  selbst,  die  von  drei 
von  einander  unabhängigen  Quellen  dargeboten  wird,  ist  nicht 
von  diesen  Details  abhängig.  Vor  allem  müsste  aufgezeigt 
werden,  wie  und  wodurch  diese  Tradition  hat  entstehen  können. 
Was  aber  Ferchi  und  Wadding  in  der  Hinsicht  bieten  ^),  ist 
durchaus  nicht  überzeugend. 

Die  in  Rede  stehende  Tradition  wird  aber  noch  von  einer 
Anzahl  anderer  Schriftsteller,  darunter  auch  Minoriten,  be- 
zeugt. '^)  Für  sie  scheint  übrigens  noch  ein  weiteres  Zeugnis 
angeführt  werden  zu  können.  Wadding  beruft  sich  auf  aliquot 
carmina,  ex  variis  vetustis  epitaphiis,  ad  tumulum  appensis(§46). 
Allein  in  Wirklichkeit  handelt  es  sich  um  ein  zusammen- 
hängendes Elogium,  wie  aus  dem  von  Wadding  selbst  ange- 
führten Text  §  50  hervorgeht  ^).  Das  Gedicht  beginnt  mit  den 
Worten : 

Doctor  subtilis  solvens  sua  lustra  Joannes 
Scotus  in  obiectis  ultima  verba  dedit. 

Das  erklärt  Wadding  so:  Duns  sei  erhitzt  von  einer  Dispu- 
tation mit  den  Begarden  heimgekehrt,   habe   sich  erkältet  und 


^)  Bernard.  Sen.  Opp.  IV  (Venet.  1591),  serm.  extraord.  p.  5  b. 

2)  Ferchi  c.  10;  Wadding  §  40  f. 

^)  S.  die  Angaben  bei  Braun,  das  Minoritenkloster  und  das  neue 
Museum  zu  Xöln,  Köln  1862,  S.  93. 

'^)  Wie  die  meisten,  habe  ich  auch  die  beiden  folgenden  Verse  — 
nach  Wadding  —  fälschlich  auf  den  Tod  des  Duns  bezogen,  Prot.  Real- 
encycl.  V,  65. 


48  Einleitung. 

sei  bald  darauf  gestorben.  An  dem  Tage  seiner  Erkrankung 
habe  er  also  disputiert  (§  46).  Nun  folgen  aber  Verse  über 
die  Keuschheit,  Weisheit,  Gelehrsamkeit  und  wissenschaftliche 
und  kirchliche  Bedeutung  des  Duns,  besonders  hinsichtlich  der 
Erbsündenfreiheit  der  Maria  und  seines  Gegensatzes  zu  den 
moderni  oder  Nominalisten : 

Artibus  egit  opem  tuto,  nunc  ille  moderuos 
Prosequitur  pandens,  quae  via  sit  veterum  ^). 

Dann  erst  folgen  Verse,  die  sich  sicher  auf  den  Tod  des  Duus 
beziehen,  diese  Beziehung  wird  dann  bis  zum  Schluss  fest- 
gehalten. Nach  diesem  Zusammenhang  scheint  es  mir  unzweifel- 
haft zu  sein,  dass  die  obigen  Verse  mit  dem  Tode  des  Duns 
nichts  zu  thun  haben.  Es  soll  nur  gesagt  sein,  dass  der  grosse 
Lehrer  sein  Leben  damit  zugebracht  habe,  in  den  Gegenständen 
seiner  theologischen  Arbeit  die  letzten,  d.  h.  die  definitiven 
und  entscheidenden  Worte  auszusprechen.  Von  dem  Tode 
reden  die  Verse: 

Tempora  post  Christi  propria  dulcedine  lethum 
Venit  atrox,  raptim  carcere  composito. 

Man  hat  die  tempora  Christi  propria  auf  das  Lebensalter 
Jesu  beziehen  wollen.  Oder  man  hat  gemeint,  da  die  Jahres- 
zahl sich  dem  Verse  nicht  einfügte,  so  habe  der  Dichter  ein 
nach  Christi  zu  ergänzendes:  ann.  1308  an  den  E,and 
geschrieben  gehabt  ^).  Allein  in  letzterem  Fall  würde  man 
wenigstens  das  Wort  annus  im  Verse  erwarten  und  in  beiden 
Fällen  bleibt  das  dulcedine  völlig  unerklärt.  Ich  meine,  dass 
der  Autor  sagen  wollte:  Nach  den  Zeiten  Christi  ist  der  Tod 


^)  Der  Nominalismus  steht  in  Blüte  und  die  Immaculata  conceptio 
ist  bereits  anerkannte  üntersclieidungslehre.  Das  ist  wichtig  für  die  Ent- 
stehungszeit des  Gedichtes,  es  kann  schwerlich  vor  dem  15.  Jahrhundert 
entstanden  sein.  Ich  vermute,  dass  es  gedichtet  ist  gelegentlich  der 
Transferierung  der  Gebeine  des  Duns  zum  Schmuck  der  neuen  Begräbnis- 
stätte, entweder  in  den  siebziger  oder  achtziger  Jahren  des  15.  Jahrh. 
oder  1509  (s.  unten).  Jedenfalls  ist  es  nicht  von  Anfang  an  am  Grabe  des 
Duns  angebracht  gewesen,  wie  Braun  (a.  a.  O.  S.  94)  anzunehmen 
scheint. 

2)  So  Wadding. 


Art  des  Todes  des  Duns  Scotus,  49 

etwas  Süsses,  aber  trotzdem  kam  er  iu  diesem  Fall  doch  in 
erschrecklicher  Weise,  und  rasch  wurde  der  Kerker,  d.  h.  das 
Grab,  hergestellt.  Es  liegt  ein  Oxymoron  vor:  die  dem  Tode 
eigentümliche  geistliche  Süssigkeit  fehlte  also  auch  in  diesem 
Fall  nicht,  obwohl  äusserlich  er  schrecklich  auftrat.  Kennten 
wir  die  in  Frage  stehende  Tradition  nicht,  so  würden  wir  ver- 
mutlich deuten :  weil  der  Tod  so  plötzlich  eintrat,  war  er  schreck- 
lich. Aber,  wenn  der  Tod  wirklich  unter  harmlosen  Umstän- 
den eintrat,  wozu  dann  die  Bezeichnung  atrox?  Wer  wird 
diese  auf  jeden  unerwarteten  Todesfall  anwenden  ?  Ich  glaube 
daher,  dass  auch  diese  Verse  die  Tradition  bezeugen,  dass 
Duns  lebendig  begraben  worden  ist.  Dann  wird  man  aber, 
glaube  ich,  berechtigt  sein,  diese  Tradition  für  begründet  zu 
halten.  Und  zwar  ist  die  Form,  in  der  sie  Bernhardin  oder 
auch  jener  Daniel  berichtet,  für  die  ursprüngliche  anzusehen. 
Eine  etwaige  böse  Absicht  bei  der  schnellen  Bestattung  ist 
nicht  anzunehmen,  da  keiner  der  Gewährsmänner  derartiges 
andeutet  ^).  Der  Bericht  des  Jovius  versteht  sich  leicht  als 
Ausschmückung.  Aber  gerade  die  Richtung,  in  der  sich  diese 
Ausschmückung  bewegt  (Selbstmord  als  Strafe  für  geheime 
Sünden),  beweist,  warum  diese  Tradition  nicht  offiziell  geworden 
ist  und  vom  Orden  unterdrückt  wurde. 

Die  Gebeine  des  Duns  haben  ihre  letzte  Ruhestätte  in  der 
Minoritenkirche  zu  Köln  gefunden.  Das  Grab  ist  mehrfach 
geöffnet  worden  und  die  Gebeine  haben  ihren  Platz  nicht  selten 
gewechselt  (zuerst  einmal  vor  dem  Jahre  1489  -),  dann  1509  ^), 


^)  Die  „Strafe",  an  die  Jovius  denkt,  soll  doch  nicht  als  von 
Menschen  vollzogen  angesehen  werden. 

^)  Das  Datum  ist  unsicher.  Der  Terminus  ad  quem  ist  die  im  J. 
1489  herausgegebene  Kölner  Chronik,  die  die  Leiche  an  einem  anderen 
Platz  liegen  lässt  als  dem  von  Trithemius  angegebenen  ursprünglichen  ad 
introitum  sacristiae.  Man  hat  an  das  Jahr  1476  gedacht  wegen  einer  zu 
gunsten  der  unbefleckten  Empfängnis  erscheinenden  Bulle  Cum  praecelso 
Sixtus'  IV.  (Wadding  §  53,  die  Bulle  in  den  Annal.  minor.  XVI,  171. 
Braun  (das  Minoritenkloster  S.  98)  erinnert  daran,  dass  im  J.  1483  die 
Ubereste  des  Albertus  Magnus  von  den  Dominikanern  in  ein  neues  präch- 
tiges Grab  transferiert  worden  seien  und  meint,  die  Franziskaner  hätten 
daraus  den  Anlass  zu   einer   ähnlichen  Ehrung   ihres  Lehrers   genommen. 

^)  In  dem  amtlichen  Bericht  heisst  es :  inventa  sunt  eius  ossa  integra 
Seeberg,  Die  Theologie  des  Duus  Scotus.  4 


50  Einleitung. 

1619,  1642,  1706,  1858,  1870).  Das  Grabmal,  das  sein  letztes 
Grab  hinter  dem  Hochaltar  schmückt,  ist  in  dem  Jahr  1870 
errichtet  worden.  In  den  Jahren  1706  und  1707  haben  die 
Franziskaner  den  Versuch  gemacht,  Duns  Scotus  den  Titel 
eines  „Heiligen"  zu  verschaffen.  Dies  Unternehmen  scheitert 
aber  daran,  dass  es  nicht  möglich  war  zu  erweisen,  dass  ihm 
jemals  öffentlicher  Kultus  erwiesen  und  dass  er  sich  zu  Leb- 
zeiten des  Eufes  der  Heiligkeit  erfreut  habe'). 

5.  So  "viel  oder  richtiger  so  wenig  wissen  wir  von  dem 
Leben  des  grossen  Scholastikers.  Mit  Recht  sagt  Renan: 
les  traces  qu'avait  laissees  sur  la  terre  le  docteur  franciscain 
etaient  dejä  bien  effacees,  lorsqu'on  se  mit  ä  les  rechercher  -). 
Man  wusste  eben  nur,  was  ein  dankbarer  unmittelbarer  Schüler 
des  Duns  so  ausdrückte:  secutus  sum  doctrinam  illius  subti- 
lissimi  et  excellentissimi  docton's,  cuius  fama  et  memoria  in 
benedictione  est,  utpote  qui  sua  sacra  et  profunda  doctrina 
totum  orbem  adimplevit  et  fecit  resonare.  (Am  Schluss  des 
Exposit.  in  Metaphys.)  Aber  je  weniger  man  positiv  wusste, 
desto  üppiger  wucherte  die  Legende,  mit  ihren  Ranken  das 
Bild  des  Meisters  zu  schmücken.  Sie  lehrt  uns  aber  nur  ein 
Doppeltes,  nämlich  dass  der  Ruhm  des  Duns  sich  im  Lauf  der 
Jahrhunderte  nur  gesteigert  hat,  und  dass  er  zu  seinen  Leb- 
zeiten doch  ein  relativ  unbekannter  Mann  gewesen  sein  muss.  Ein 
Abälard  und  ein  Bernhard,  ein  Thomas  und  ein  Bonaventura 
haben  während  ihres  Lebens  die  Blicke  der  Zeitgenossen  in  un- 
gleich höherem  Masse  auf  sich  gezogen  als  Duns.  Dass  er  aber  trotz- 
dem die  Dornen,  die  grosse  Erfolge  mit  sich  zu  bringen  pflegen^ 
zu  empfinden  bekam,  sahen  wir.  —  Das  einzige  zuverlässige 
Denkmal,  das  er  hinterlassen,  sind  seine  Werke.  Aber  die 
Hoffnung,    aus    denselben  etwas  über   sein  persönliches  Leben 


et  admodum  redolentia,  subrubra  et  in  iuncturis  alba,  ad  instar  lactis 
uncta  (bei  AVadding  §  55). 

^)  S.  hierüber  Braun,  Minoritenkloster  S.  98fi'.  sowie  Jos.  Müller, 
Biographisches  über  Duns  Scotus,  Köln  1881,  S.  17  ff.,  20  ff.  Über  den 
Kult,  der  Duns  erwiesen,  wusste- man  nur,  dass  ein  eifriger  Bonner  Pro- 
fessor im  17.  Jahrh.  betete:  „Seliger  Johannes  Scotus,  bitte  für  mich'^ 
(Braun  S.  108). 

2)  1.  c.  p.  424. 


Der  Charakter  des  Duns  Scotus.  51 

und  Wesen  zu  erfahren,  täuscht,  wenn  auch  keineswegs  in  dem 
Grade,  wie  etwa  Renan  annimmt.  Ich  kenne  nicht  viele  Schrift- 
steller, die  in  dem  Masse  wie  Duns  auf  persönliche  Züge  in 
ihren  Werken  verzichtet  haben.  Von  sich  redet  er  nie,  per- 
sönlichen Eindrücken  und  Stimmungen  begegnet  man  bei  ihm 
selten.  Er  tritt  nie  anders  auf  als  der  von  Kopf  zu  Fuss  ge- 
panzerte, von  Waffen  starrende  Ritter  der  strengen  Wissen- 
schaft. Der  Wissenschaft  gehört  sein  Herz,  das  logische 
Turnier  ist  seine  Freude.  Er  besass  all  die  Kenntnisse  aus 
der  Bibel  und  den  Vätern,  aus  den  Philosophen  und  den 
scholastischen  Theologen  seiner  Zeit  und  der  Vorzeit,  aus  dem 
Kirchenrecht  und  der  Physik,  Astronomie  und  Mathematik, 
die  zur  gelehrten  Rüstung  des  Theologen  der  Zeit  gehörten,  und 
er  besass  sie  wohl  in  reicherem  Umfang  und  mit  kräftigerer 
innerer  Beherrschung  als  viele  seiner  Arbeitsgenossen.  Aber 
nicht  auf  diesem  Boden  liegt  seine  eigentümliche  Grösse.  Gross 
ist  er  in  der  Konsequenz  und  der  Schärfe  seines  Denkens,  in 
der  Virtuosität  seiner  Dialektik  und  Kritik  und  in  der  Beweg- 
lichkeit seiner  Logik.  Duns  liebt  es,  seine  Leser  in  ein  wahres 
Labyrinth  von  Gründen  und  Gegengründen,  von  Beweisen  und 
Gegenbeweisen  zu  stürzen.  Es  gehört  Übung  und  Fleiss  dazu, 
in  diesem  scheinbaren  Gewirr  den  Faden  nicht  aus  der  Hand 
zu  verlieren,  die  Tendenz  des  Autors  sich  nicht  verschieben 
zu  lassen.  Aber  wer  sich  durch  all  diese  Gedankengänge  hin- 
durcharbeitet, der  wird  mit  wachsendem  Staunen  gewahr,  wie 
kein  Gegen grund  ohne  Gegenbeweis  und  auch  guten  Gegen- 
beweis angeführt  und  wie  kein  Gegenbeweis  unwiderlegt  bleibt, 
und  wie  schliesslich  all  die  mühsamen  dialektischen  Kreuz-  und 
Quergänge  zu  einem  einfachen  und  klaren  Gedanken  hinaus- 
führen, und  endlich  wie  ein  starker  Geist  alle  diese  Gedanken 
zusammenhält  zur  strengen  Einheit  einer  wissenschaftlichen 
Gesamtanschauung.  Duns  ist  wirklich  ein  grosser  Systematiker. 
Er  thut  keinen  Schritt  umsonst  und  verliert  bei  keinem  Schritt 
das  Ziel  aus  dem  Auge,  er  weiss  immer,  was  er  will.  Er 
thut  nicht  bloss,  als  wenn  er  bewiese,  sondern  er  arbeitet  wirk- 
lich. Je  grösser  die  Schwierigkeiten,  desto  staunenswerter  die 
dialektische  Anstrengung,  desto  subtiler  die  logischen  Unter- 
scheidungen,   aber    sie  dienen  immer  einem  positiven  Resultat. 

4* 


52  Einleitung-. 

Man  kann  allerdings  Duns  nicht  so  leicht  lesen  wie  etwa  Tho- 
mas, denn  man  kann  nie  nach  dem  Anfang  eines  Abschnittes 
erraten,  was  weiter  folgen  wird,  dazu  ist  sein  Beweisgang  zu 
originell,  man  begegnet  immer  wieder  neuen,  überraschenden 
Wendungen  des  Gedankens.  Ohne  Gewaltsamkeiten  geht  es 
bei  Denkern  dieser  Art  in  der  Regel  nicht  ab.  —  Gewiss  ist  uns 
seine  Methode  fremdartig  geworden,  man  begreift  es.  wenn  ein 
oberflächlicher  moderner  Leser  seinen  Spott  hat  an  den  end- 
losen logischen  Distinktionen,  an  der  Häufung  der  Beweise, 
an  den  neuen  barbarischen  Wortbildungen^).  Aber  man  wird 
auch  begreifen,  dass,  bemessen  an  den  Methoden  des  wissen- 
schaftlichen Betriebes  seiner  Zeit,  Duns  das  höchste,  was 
überhaupt  zu  erreichen  war,  erreicht  hat. 

Uns  handelt  es  sich  aber  in  diesem  Zusammenhang  um 
die  geistige  Eigenart  des  Duns  Scotus.  Es  sind  vor  allem 
folgende  Züge,  die  zur  Charakterisierung  derselben  verwandt 
werden  können:  die  nie  ruhende  und  rastende  Neigung  zur 
Kritik.  Alles  wird  in  Frage  gezogen,  es  seien  philosophische 
oder  theologische  Theoreme,  es  seien  kirchliche  oder  w^eltliche 
Ordnungen;  mit  einem  nie  versagenden  Scharfsinn  weiss  der 
Autor  logische  Fehler  und  Inkonsequenzen  in  ihnen  aufzu- 
zeigen. Aber  dieser  kritischen  Neigung  hält  die  Wagschale 
die  Absicht  des  Verfassers  nur  die  Lehre  der  römischen 
Kirche  gelten  zu  lassen.  Für  ihn  war  die  Kirche  ein  Staat, 
der  zu  seinem  Bestand  der  positiven  Gesetze  und  Ordnungen 
bedarf.  An  diesen  zu  rütteln  lag  ihm  fern.  Er  lässt  sie 
durchaus  als  solche  gelten,  hier  schweigt  die  Kritik.  Und  doch 
ist  das  Bestreben  des  Duns  auch  darauf  ausgegangen,  das 
Dogma  zu  rationalisieren.  Die  Anerkennung  desselben  beruht 
freilich  nicht  auf  dem  Erfolg  dieses  Unternehmens.  Aber  das 
wissenschaftliche  Verständnis  erfordert  diesen  Versuch.  So 
wenig  Wunder  als  angeht,  so  psychologisch  verständlich  als 
denkbar,  und  immer  so  positiv  orthodox  als  möglich  —  das 
sind  die  Massstäbe  der  scotistischen  Dogmatik.  Die  Kritik 
und  der  Positivismus  des  kirchlich  Gegebenen,  das  sind  die  Ele- 


^)  S.  z.  B.  die  Urteile  von  Rabelais  „barbouillamenta  Scoti"   oder 
von  Diderot:    „sophisticaillerie  puerile"   bei  Haureau  1.  c.    II  2,  182. 


Wissenschaftliche  Eigenart  des  Duns.  53 

mente,    durch   die   Duns   seine   eigene  Weltanschauung  zu  be- 
gründen unternimmt.     Indem  er  den  lebhaften  Trieb  empfand, 
seine  eigenen  Gedanken  zur  Geltung  zu  bringen,  zertrümmerte 
er  die  Theorien    anderer   und   bog  und    zerlegte  er  die  kirch- 
lichen   Formeln    so    lange,    bis    sie   sich   zu  seiner  Auffassung 
schickten.     Nicht   immer '  war   das  möglich,  dann  blieb  es  ein- 
fach bei  der  gegebeneu  Formel,  dann  hatte  Gott  es  so  gerade 
gewollt.     Man  könnte  diesen  kirchlichen  Positivismus  als  unehr- 
lich bezeichnen  wollen,  wie  man  das  nicht  selten  Occams  dem 
Duns  abgesehener  Methode  gegenüber    gethan  hat.     Das  wäre 
aber    unbillig.      Die   ganze  Auffassung  ist  eine  einfache  Folge 
der  praktischen  Anschauung  von  der  Kirche.     Ist  die  Kirche  der 
Staat  Gottes  auf  Erden,  so  müssen  ihre  Satzungen  gelten,  wie 
die  Satzungen   des   Staates   bestehen  müssen,   wenn   das  Wohl 
der   Bürger    nicht   leiden    soll.      Dazu   kam    ein  anderes.     Es 
herrschte  in  dem  Zeitalter  des  Duns  in  den  Kreisen  der  Hier- 
archie eine  scharfe  kritische  Stimmung  gegen  moderne  Gedanken 
in  der  Theologie  ^),  denn  jeder  Blütezeit  in  der  Theologie  folgt 
eine  juristische   Orthodoxie   der   Hierarchen.     Es  ist  lehrreich 
zu  lesen,  wie  grammatische  und  logische  Detailfragen,  von  dem 
dogmatischen    Gebiet    zu    schweigen,    von   Stephan  von   Paris 
1270   und   1276,   sowie  von  Bobert  Kilwardbi,  Erzbischof  von 
Canterbury    und    seinem    Nachfolger    Johann    Peccham    1279, 
entschieden    oder    doch    verdammt   werden  ^).     Unter  den  ver- 
dammten Sätzen  befindet  sich  auch  der:  quod  homo  non  debet 
esse  contentus   auctoritate   ad   habendam    certitudinem  alicuius 
quaestionis  ^).      Man   muss  diese   Lage    der   Dinge   mit  in  An- 
schlag   bringen    —    wir    sahen    oben,    S.  32,    wie  dieselbe  auf 
Richard    von  Middleton   gewirkt   hat  — ,   um  die  Stellung  des 
Duns  zu  verstehen  *).     Aber  es  wäre  nicht  nur  unbillig,  sondern 


^)  Dieselbe  richtet  sich  zunächst  gegen  die  strengere  Handhabung 
des  Aristotehsmus,  vgl.  E  h  r  1  e  im  Arch.  f.  Litt.  u.  KG.  des  Mittelalt.  VI, 
610  ff. 

2)  S.  d'Argentre,  Collectio  iudiciorum  I,  175  ff.  234  ft'. 

3)  1.  c.  p.  182. 

*)  Hier  sei  noch  darauf  hingewiesen,  wie  Richard  von  Middleton, 
die  Aussprüche  des  Pariser  Bischofs  als  massgebend  braucht,  z.  B.  Sent.  I 
dist.   44   quaest.   4;   dist.  45  principale   2   quaest.  3;    II   dist.  24   princ.  3 


54  Einleitung. 

auch  gründlich  verkehrt,  unsere  modernen  Vorstellungen  von 
der  „Freiheit  der  Wissenschaft"  in  jenes  Zeitalter  einzuführen. 
In  dem  Mass,  als  die  amtlichen  Vertreter  der  Kirche  auf  die 
Reinheit  der  Lehre  Acht  gaben,  mussten  die  Männer  der 
Wissenschaft  bereit  sein,  dieselbe  sorgfältig  zu  erhalten.  So 
und  nicht  anders  hat  Duns  die  Situation  aufgefasst.  Nicht 
Charakterschwäche,  sondern  nüchternen,  praktischen  Sinn  be- 
zeugt sein  Positivisraus,  vgl.  oben  S.  13.  Dass  er  dabei  der 
Freiheit  einen  Spielraum  doch  zu  wahren  wusste,  sahen  wir 
schon  früher  (oben  S.  32  f.). 

Ein  strenger  kritischer  Geist,  ein  reiner  Gelehrter,  ein 
nüchterner,  praktischer  Mann,  das  wären  die  Züge,  die  etwa 
wir  uns  aus  der  bisherigen  Erörterung  für  den  Charakter  des 
Duns  bilden  können.  Und  dem  entspricht  der  Stil,  den  er 
schreibt,  recht  genau.  Ohne  Begeisterung,  ohne  Schwung 
werden  mit  erschreckender  Kälte  und  Nüchternheit  die  einzelnen 
Lehren  behandelt^).  Nur  hier  und  da  wird  ein  grimmiger  Witz 
eingeflochten ;  so  wenn  etwa  der  Leugner  der  Freiheit  so  lange 
gefoltert  werden  soll,  bis  er  einsieht,  dass  es  auch  möglich 
wäre,  nicht  gefoltert  zu  werden ;  oder  wenn  die  physische  Fort- 
pflanzung der  Sünde  persifliert  wird,  indem  dann  auch  der 
Löwe,  der  einen  Menschen  frisst,  Erbsünde  überkommen  müsse 
etc.  Auch  an  treffenden  Gleichnissen  fehlt  es  Duns  nicht. 
Aber  derartiger  Schmuck  der  Rede  kommt  nur  selten  zur 
Anwendung. 

Um  den  Stil  des  Duns  gerecht  zu  würdigen,  darf  aber 
nicht  ausser  Acht  gelassen  werden,  dass  er  an  manche  seiner 
Schriften  offenbar  nicht  die  letzte  Feile  gelegt  hat;  das  gilt 
besonders    von    den    theologischen   Werken.      Das    ergibt  sich 


quaest.   5.     Vgl.    eine    ähnliche    Bemerkung    des   Wilhelm    v.   Falgar    bei 
flaureau,  Hist,  de  la  phil.  scol.  II  2,  107 n, 

^)  Henan  p.  424  sagt :  Duns  Scotus,  s'y  montre,  en  general,  avec  une 
nature  violente,  avec  un  genie  inculte  et  neglige.  II  n'est  pas  aussi  mo- 
dere que  Saint  Thomas.  II  ä  le  ton  severe,  rüde,  tranchant;  il  se  laisse 
entrainer  jusqu-ä  l'invective;  il  est  generalement  tres-intolerant.  Dies  Ur- 
teil ist  im  einzelnen,  besonders  was  die  Intoleranz  angeht,  übertrieben, 
aber  es  gibt  im  ganzen  den  Eindruck,  den  die  Schriften  des  Duns  machen, 
richtig'  wieder. 


Duns  Scotus  als  Schriftsteller.  55 

einesteils  daraus,  dass  in  manchen  Partien  der  Beweis  nur 
ganz  flüchtig  skizziert  ist,  anderenteils  aber  auch  aus  manchen 
unausgeglichenen  Widersprüchen  in  den  Details  seiner  Behaup- 
tungen ^).  Auf  Rechnung  dieses  Umstandes  wird  auch  etwas 
von  der  rauhen  und  ud gefügen  Darstellungsweise  des  Duns  zu 
setzen  sein.  Dass  Duns  auch  wärmere  Worte  zu  Gebote  stan- 
den, zeigen  die  Gebete,  von  denen  die  Darstellung  in  der 
Schrift  de  primo  principio  eingerahmt  ist,  sowie  die  uds  erst 
jetzt  bekannt  gewordene  Schrift  de  perfectione  statuum.  Mit 
mächtigen  und  beredten  Worten  tritt  der  Bettelmönch  hier  für 
die  weltgeschichtliche  Aufgabe  seines  Ordens  ein,  nicht  ohne 
zugleich  das  Treiben  des  Klerus  einer  schneidenden  Kritik  zu 
unterziehen.  Die  leidenschaftliche  Bewegung  der  grossen 
Kämpfe  zwischen  Hierarchie  und  Mendikantentum  zittert  in 
diesem  Büchlein  nach,  durch  das  man  sich  an  Marsilius  und. 
Occam  erinnert  fühlt.  Und  so  wird  man  sagen  dürfen,  dass 
der  strenge  und  nüchterne  Forscher  doch  auch  eine  stark  und 
kräftig  empfindende  Seele  gehabt  hat.  Die  harte  und  schmuck- 
lose Arbeit  seines  Lebens  war  das  Mittel,  um  die  Ideale  reali- 
sieren zu  helfen,  an  denen  sein  Geist  hing^).  Aber  man 
kann  noch  mehr  sagen.  Liest  man  die  stetige  Betonung  des 
Willenslebens  als  des  massgebenden  Faktors  im  Menschen  und 
vergleicht  man  damit  etw^a  den  Gedanken,  dass  der  Schmerz 
Christi  in  der  Hemmung  seines  Willens  und  nicht  im  sinnlichen 
Leiden  als  solchem  bestand,  oder  das  Ideal  von  willensstarken, 
im  Gehorsam  gegen  Gott  als  seinen  Herrn  handelnden  Menschen 
oder  die  Vorstellung  von  der  in  Willensakten  sich  rea- 
lisierenden Seligkeit :  so  wird  man  wohl  annehmen  dürfen,  dass 
Duns  auch  hierin  ein  Stück  seiner  eigenen  Seele  offenbart  hat. 
Wie  er  es  lehrt,  so  wird  auch  in  seinem  Leben  der  Intellekt 
im  Dienst  des  Willens  gestanden  haben.  Der  wunderbare 
Fleiss  des  Mannes,  den  seine  Werke  bezeugen,   der  rauhe  und 


^)  In  einer  besonderen  Schrift  hat  der  Franziskaner  Gruido  ßar- 
tolucci  nicht  weniger  als  243  Widersprüche  in  den  Werken  des  Duns 
aufgezeigt  und  deren  Lösung  versucht;  abgedruckt  in  der  Pariser  Ausg. 
Bd.  26,  403ff. 

^)  Die  Schrift  de  perfect.  statuum  (s.  Genaueres  im  6,  Kapitel)  ofien- 
bart  uns  am  meisten  von  dem  Seelenleben  des  Duns. 


56  Einleitung. 

bittere  Ernst  seines  Denkens  und  seiner  Kritik,  sie  waren  der 
Ausdruck  eines  eisernen  Willens.  Auch  bei  diesem  Engländer 
fügte  —  nach  dem  bekannten  Sprichwort  —  sich  der  Weg 
dem  Willen.  Darf  man  die  oben  (S.  46)  angeführte  Über- 
lieferung, nach  der  Duns  an  einem  schweren  chronischen  Leiden 
laborierte  (etwa  Epilepsie?),  als  historisch  annehmen,  so  würde 
die  Macht  dieses  Willens  in  ein  besonders  helles»  Licht  rücken, 
man  denke  nur  an  die  wunderbare  Lebensarbeit  des  jung  Ver- 
storbenen ^). 

Täuschen  wir  uns  nicht,  so  kann  man  also  aus  den  Schriften 
des  Duns  doch  mehr  über  seine  Persönlichkeit  entnehmen,  als 
es  auf  den  ersten  Blick  möglich  erschien.  Duns  war  eine 
kalte,  harte,  verschlossene,  mannhafte  Persönlichkeit,  ausge- 
rüstet mit  einem  scharfen  und  hellen  Verstände,  der  gleich 
mächtig  war,  das  Ganze  wie  alle  seine  einzelnen  Teile  zu 
durchschauen,  gleich  stark  in  ätzender  Kritik,  in  kühnen  Kon- 
struktionen wie  in  der  nüchternen  Anerkennung  des  Gegebenen. 
Aber  all  diese  Gaben  standen  in  dem  Dienst  eines  starken 
energischen  Willens,  der  sie  hinzwang  zu  seinen  Zwecken,  dem 
Dienst  des  Gottes,  der  Wille  ist,  und  der  Förderung  der  Sache 
seines  Ordens  und  dadurch  der  Kirche  Gottes  auf  Erden.  Die 
Leiden  haben  ihn  nicht  müde,  die  Erfolge  nicht  satt,  der  Neid 
nicht  ungehorsam  gemacht.  Sehen  wir  recht,  so  ist  es  doch 
ein  mächtiger  und  starker  Idealismus,  der  die  herbe  und 
strenge  Gestalt  dieses  Bettelmönches  ziert.  An  eisernem  Fleiss 
werden  ihn  wenige  in  der  Geschichte  der  Kirche  übertroffen 
haben,  und  noch  geringer  wird  die  Zahl  derer  sein,  die  ihm 
an  unbeugsamer  Kraft  des  Denkens  gleichgekommen  sind.  Von 
den  offiziellen  Tugenden  der  Heiligen  seines  Ordens  spürt  man 
an  ihm  wenig,  obschon  die  Legende  ihm  derartiges  natürlich 
auch  beilegte.  Die  Mystik  des  Empfindens,  wie  sie  Franz  oder 
Bonaventura  hatten,  war  ihm  sicher  fremd ;  auch  die  weichliche 
Marienschwärmerei,  um  derentwillen  Spätere  ihn  hoch  priesen, 
sucht  man  in  seinen  Schriften  vergeblich.  Wadding  hat  dem 
ersten    Band    seiner    Ausgabe    der    Werke    des  Duns  ein  Bild 


^)  Soyons  sincöres,   pour  nous   cela   tient  du  prodige,   Haureau  II 
2,  173. 


Die  Persönlichkeit  des  Duns.  57 

desselben  voraDgestellt :  in  enger  Zelle,  in  der  Hand  die  Feder, 
ein  aufgeschlagenes  Buch  vor  sich,  sitzt  Duns  —  den  Rücken 
dem  offenen  Fenster  zugewandt  —  im  Franziskanergewand  an 
seinem  Tisch.  Es  ist  eine  Pause  im  Schreiben  eingetreten, 
wie  Rat  suchend,  was  weiter  zu  sagen,  blickt  der  Doktor  mit 
verzückten  Blicken  aus  verdrehten  Augen  empor  zu  einem  an- 
mutigen, mit  dem  Heiligenschein  geschmückten  Marienbilde  in 
der  Ecke  des  Zimmers  über  dem  Bücherschrein.  Unter  dem 
Bild  stehen  die  Verse: 

Miraris,  Doctor,  puram  sine  labe  Mariam 
Quae  de  non  pura  stirpe  creata  fuit. 
Esse  dedit  puram  Christus :  da,  Doctor,  haberi 
Et  sciri  decus  hoc  debeat  illa  tibi. 

Das  ist  die  heilige  Idealgestalt,  den  die  Legende  seines  Ordens 
aus  Duns  Scotus  gemacht  hat:  der  doctor  Marianus,  wie  er 
wohl  auch  genannt  wurde.  Aber  ich  bezweifle,  dass  diese  ver- 
zückte Jammergestalt  irgend  etwas  mit  der  geistigen  Art  des 
geschichtlichen  Duns  Scotus  gemein  hat  ^). 

6.  Nachdem  wir  in  allj^jemeinen  Zügen  Duns  als  Schrift- 
steller und  Mensch  charakterisiert  haben,  erübrigt  noch,  einen 
Überblick  über  seine  Schriften  zu  geben.  Da  eine  genaue 
Chronologie  kaum  möglich  sein  dürfte,  halten  wir  uns  an  die 
Reihenfolge  der  Werke  in  der  neuen  Pariser  Ausgabe  ^). 

Der  erste  Band  enthält  den  Tractatus  de  modis 
significandi  sive   grammatica  speculativa.    Die  von 


^)  Ein  anderes  Bild  des  Duns  Scotus  befindet  sich  zu  Oxford  in  dem 
Merton-CoUege.  Aber  die  derbe  Gestalt  mit  dem  in  nervöser  Spannung 
auf  ein  Buch  blickenden  Kopf  ist  zwar  charakteristisch,  aber  leider  nur 
für  die  bekannte  Art  des  mutmasslichen  Malers  des  Bildes,  Spagnoletto 
(f  1656).  Mit  dem  Bilde  hängt  die  Legende  zusammen:  Duns  habe  ein 
Uelübde  gethan,  die  Bibel  abzuschreiben  und  nicht  eher  zu  essen  und  zu 
trinken,  als  bis  er  mit  dieser  Arbeit  fertig  geworden.  Aber,  als  er  die 
Arbeit  vollendet  hatte,  sei  er  tot  zusammengebrochen.  Ich  verdanke 
diese  Notiz  wie  die  Kenntnis  des  Bildes  der  Güte  des  Herrn  Dr.  Sanday 
in  Oxford.     Ein  Pantasiebild,  s.  auch  in  Thevet's  „Portraits-'. 

2)  Vgl.  besonders  Renan  in  der  Hist.  litt,  de  la  France  XXV,  425  ff., 
wo  auch  über  die  ältesten  Ausgaben  und  die  Handschriften  das  Nähere 
nachzulesen  ist. 


58  *  Einleitung. 

Wadding  benutzte  Handschrift  (geschrieben  1456)  bezeichnet 
ihn  als  von  Duns  Scotus  herrührend,  der  älteste  Druck  vom 
Jahre  1480  legt  ihn  einem  Augustinereremiten  Albert  (von 
Sachsen)  bei.  Die  Echtheit  kann  daher  bezweifelt  werden, 
um  so  mehr  als  auch  der  Minorit  Heinrich  Willot  schwankt  ^). 
Eingehend  handelte  neuerdings  Werner  über  die  interessante 
Schrift  -).  —  Es  folgen  Kommentare  über  die  logischen  Schriften 
des  Aristoteles  samt  der  Isagoge  des  Porphyrius.  Diese  In 
universam  logicam  quaestiones  enthalten  1)  super 
Universalia  Porphyrii,  2)  in  librum  Praedicamen- 
torum,  3)  Aristotelis  in  primum  librum  Periher- 
menias  quaestiones,  sowie  in  duos  libros  Periher- 
menias  .  .  quod  appellant  quaestiones  octo. 

Sodann  im  zweiten  Bande  die  Fortsetzung  der  logischen 
Quästionen,  4)  in  libros  Elenchorum  Aristotelis,  5) 
in  librum  primum  und  in  librum  secundum  priorum 
Analyticorum  Aristotelis,  6)  in  librum  primum 
und  in  librum  secundum  posteriorumAnalyticorum 
Aristotelis.  Die  Echtheit  dieser  Schriften  ist  unangefochten. 
—  In  dem  zweiten  Bande  sind  dann  noch  enthalten  die  drei 
ersten  Bücher  der  Schrift:  Quaestiones  in  YIII  libros 
Physicorum  Aristotelis. 

Der  dritte  Band  enthält  Buch  4 — 8  dieser  Schrift. 
Wadding  hat  die  Schrift  für  unecht  erklärt,  w^eü  das  Explicit 
sie  im  Jahr  1300  in  Paris  vergetragen  sein  lässt,  damals  war 
aber  Duns  noch  nicht  in  Paris,  und  weil  lib.  VIII  quaest.  1,  7 
der  Oxforder  Sentenzenkommentar  mit  einem:  vide  Scotum 
citiert  wird  und  weil  die  Lehre  mit  der  scotistischen  nicht  über- 
einkomme •^).  Nun  ist  aber  Carolus  Josephus  a  S.  Floriano  in 
seinem  Buch  loannis  Duns  Scoti  philosophia  nunc  primum  re- 
centibus  placitis  accomodata,  1782^)  für  die  Echtheit  des 
Werkes  gegen  Waddiug  eingetreten.  Seine  Gründe  sind  aller 
Beachtung  wert ;  vor  allem  der,  dass  Duns  selbst  auf  seine  Er- 


^)  Athenae  orthodoxer  um  sodalitii   franciscani.   Leodii  1598,   p.   220. 
2)  Die  SpracUogik  des  Duns  Scot.,  Wien  1877. 
^)  S.  die  Censura  zu  Anfang  des  2.  Bandes  seiner  Ausg. 
^)  Die   bezügliche  Erörterung  ist   abgedruckt   von   den  Pariser   Edi- 
toren Bd.  26.  491  ff. 


Philosophische  Schriften  des  Duns  Scotus.  59 

örterungen  in  diesem  Werk  anderwärts  Bezug  nehme  ^).  Die 
Gegengründe  Waddings  dürften  nicht  unüberwindlich  sein.  Die 
Frage  bedürfte  einer  erneuten  eingehenden  Untersuchung,  die 
aber  unserem  Zweck  zu  fern  liegt.  —  Im  3.  Band  steht  ausser- 
dem noch  die  wichtige  Schrift :  in  libros  Aristotelis  de 
a  n  i  m  a.     Die  Echtheit  steht  fest. 

Der  vierte  Band  bietet:  Meteor ologicorum  libri  IV. 
Wadding  hat  Zweifel  an  der  Echtheit  geäussert,  und  in  der 
That  dürfte  die  Authentie  dieses  durch  astronomische,  optische 
und  mathematische  Gelehrsamkeit  ausgezeichneten  Werkes 
wenigstens  als  fraglich  zu  bezeichnen  sein,  worauf  auch  die 
handschriftliche  Überlieferung  weist  ^).  —  In  diesem  Bande 
findet  man  auch  die  Schriften:  de  rerum  principio  und 
de  primo  rerum  omnium  principio.  Der  Titel  der 
ersteren  Schrift  ist  irreführend  und  irrig.  Das  Explicit  gibt 
den  Inhalt  richtig  wieder:  Quaestiones  istae  fuerunt  disputatae 
Oxonii  per  magistrum  loannem  Scotum  de  ordine  fratrum  mi- 
norum  et  sunt  quaestiones  generales  super  philoso- 
phiam.  Die  Schrift  ist  einfacher  und  klarer  als  die  übrigen 
Werke  des  Duns  geschrieben,  auch  ist  sie  nicht,  wie  so  viele 
Schriften  des  Duns,  ein  Kommentar.  Deshalb  eignet  sie  sich 
vorzüglich  als  Einführung  in  das  Studium  der  scotistischen 
Philosophie.  In  26  Quaestionen  handelt  Duns  von  vei'schiedenen 
philosophischen  und  auch  dogmatischen  Problemen.  Die  wesent- 
lichen sind  die  Lehre  von  Gott,  von  der  Materie,  von  der 
menschlichen  Seele  und  der  Erkenntnis,  von  der  Zahl,  Zeit 
und  Ewigkeit,  ob  Christus  unum  vel  plura  gewesen,  ob  die 
Kreatur,  bevor  sie  in  effectu  ist,  der  Gnade  oder  eines  Acci- 
denz  fähig  sei.  —  In  der  Schrift  de  primo  rerum  omnium 
principio  wird  auf  dem  Wege  der  Kausalität  das  Dasein  und 
das  unendhche  Wesen  Gottes  erwieseuo  Anfang  und  Schluss 
des  Büchleins  bildet  ein  Gebet. 

Im  fünften  Bande  sind  abgedruckt  die  Theoremata 
subtilissima,   eine  knappe  Behandlung  der  philosophischen 

^)  S.  die  Stellen  in  der  Pariser  Ausg.  ßd.  26,  493,  oder  ist,  wie 
Werner  112  annimmt,  das  echte  Werk  des  Duns  über  die  Physica  ver- 
loren gegangen? 

2)  Bei  ßenan  p.  431. 


60  Einleitung. 

Grundfragen ;  Collationes  seu  disputationes  subtilis- 
simae,  das  sind  Untersuchungen  über  Intellekt  und  Wille  im 
Menschen  und  in  Gott,  wobei  auch  die  Trinitätslehre  berührt 
wird  und  zwar  in  der  Weise,  dass  die  Gründe  und  Gegen- 
gründe der  einzelnen  Fragen  dargelegt  werden,  ohne  dass  die 
positive  Lösung  besonders  vorgenommen  würde.  Mehrere  Hand- 
schriften bezeichnen  die  Schrift  als  Collationes  Parisienses, 
vielleicht  haben  wir  daher  in  ihnen  in  Paris  gehaltene  akade- 
mische Übungen  zu  erblicken.  —  Es  folgt  der  unvollendete 
Traktat  de  cognitione  dei,  sowie  eine  ebenfalls  unvollendete 
Abhandlung,  die  Wadding  Quaestiones  miscellaneae 
de  formalitatibus  genannt  hat.  In  letzterem  Traktat 
werden  Erörterungen  über  verschiedene  innerlich  nicht  zusam- 
menhängende Fragen  angestellt.  Zunächst  handelt  es  sich 
darum,  dass  den  Unterschieden,  die  unser  Denken  zwischen 
Gottes  Wesen  und  Attributen  macht,  ein  wirklicher  formaler 
Unterschied  in  Gott  korrespondiert;  das  ist  eine  Konsequenz 
des  Realismus,  Von  diesen  Fragen  hat  der  Traktat  seineu 
Namen  erhalten.  Dann  wird  darüber  gehandelt,  ob  ein  Priester, 
der  mit  einer  Todsünde  behaftet,  kirchliche  Akte  ausführt, 
hierdurch  Todsünde  begeht,  ferner  vom  x^blass,  von  der  natür- 
lichen Erkenntnis  etc.  —  Derselbe  Band  enthält  noch  die  vier 
ersten  Bücher  der  Expositio  in  duodecim^)  libros  Me- 
taphysicae  Aristotelis. 

Der  sechste  Band  bringt  die  Fortsetzung  der  Expositio. 
Die  Echtheit  dieses  Werkes  wird  mit  starken  Gründen  ange- 
zweifelt. Dempster  und  Ferchi  fochten  dieselbe  seinerzeit  be- 
sonders deshalb  an,  weil  aus  der  Stelle  VII,  17  (in  definitione 
Francisci  vel  sancti  Patricii)  die  Iren  die  irische  Ab- 
kunft des  Duns  ableiteten,  denn  als  schottischer  oder  englischer 
Minorit  hätte  er  nicht  den  heiligen  Patrick,  sondern  den  heil. 
Andreas  oder  Georg  neben  Franz  genannt.  Nach  ihnen  rührt 
das  Werk  von  einem  Aragonier,  dem  Minoriten  Antonius  An- 
dreas her,  der  ein  Schüler  des  Duns  war.  Dieses  findet  seine 
Bestätigung  daran,  dass  am  Ende  des  Werkes  die  Bemerkung 


^)  Das  13.  und  14.  Buch    des    Aristoteles    ist   nicht  besprochen,    was 
am  Schluss  des  Werkes  aus  der  Tradition  erklärt  wird. 


Philosophische  Schriften  des  Duns.  61 

gemacht  wird,  der  Verfasser  sei  sowohl  senteutiando  als  no- 
tando  der  Lehre  des  berühmten  Duns  Scotus  gefolgt:  unde  et 
verba  eins  in  isto  scripto  frequenter  reperies,  sicut  ab  ipso 
traditae  scripturae  reperiuntur.  Das  Gute  sei  ihm,  das  Mangel- 
hafte meae  imperitiae  zuzuschreiben.  Nam  ego  quantum  sapio 
quantumcunque  capio,  quidquid  est  hie  quod  ipse  exprimere 
intendebat,  pes  meus  eins  vestigia  secutus  est.  Dazu  kommt, 
dass  die  hervorragenderen  älteren  Bibliographen  (wie  Trithemius, 
Pitsius,  Possevinus,  Willot)  die  umfängliche  Schrift  nicht  unter 
den  Werken  des  Duns  anführen,  sowie  dass  auch  Handschriften 
Quaestiones  super  Metaphysica  Aristotelis  von  Antonius  An- 
dreas kennen  ^).  Da  aber  andrerseits  die  echten  Quaestiones 
subtilissimae  in  Metaphysicam  auf  das  in  Frage  stehende  Werk 
Bezug  nehmen,  so  wird  der  Sachverhalt  wohl  der  seiü,  dass 
Antonius  ihm  vorliegende  Bemerkungen  des  Duns  ausgeführt 
und  bearbeitet  hat  ^).  Als  ein  Werk  des  Duns  im  eigentlichen 
Sinn  wird  also  die  Schrift  nicht  zu  bezeichnen  sein.  —  Diesen 
Band  beschliessen  die  Conclusiones  utilissimae  ex  XII 
libris  Metaphysicorum  Aristotelis,  eine  knappe 
Zusammenfassung  des  scotistischen  Verständnisses  der  aristo- 
telischen Methaphysik,  die  wohl  einen  Scotisten,  und  nicht  den 
Meister  selbst  zum  Verfasser  haben  wird. 

Der  siebente  Band  ist  ausgefüllt  von  den  Quaestiones 
subtilissimae  in  Metaphysicam  Aristotelis.  Von 
den  zwölf  Büchern,  welche  kommentiert  zu  werden  pflegten, 
fehlt  das  11.  Buch=^). 

Band  8—21*)  der  Pariser  Ausgabe  enthalten  das  bedeu- 
tendste Werk  des  Duns  Scotus:  Super  libros  quatuor 
Magistri  Sententiarum  Quaestiones,  auch  Scriptum 
Oxoniense  oder  Anglicanum  genannt.  Sowohl  für  die  Theo- 
logie als  die  Philosophie  des  Duns  ist   dies  Werk   die  Haupt- 


^)  Renan  p.  435. 

^)  vgl,  Werner  S.  13,  der  aber  die  Bedeutung  der  Schlussworte 
unterschätzt. 

')  s.  Genaueres  bei  Renan  p.  436  f. 

■*)  Der  grosse  Umfang  erklärt  sich  aus  den  eingehenden  Schollen 
von  Lychetus,  Poncius,  Cavellus,  Hiquäus,  die  in  den  beiden  Gesamt- 
ausgaben mit  abgedruckt  sind. 


62  Einleitung. 

quelle.  Wir  werden  unsere  Darstellung  seiner  Lehre  daher 
in  allem  wesentlichen  an  dasselbe  schliessen. 

Band  22 — 24  bieten  die  Reportata  Parisiensia,  über 
die  schon  S.  44  gehandelt  wurde. 

Band  25  und  26  endlich  enthalten  die  Quaestiones 
quodlibetales.  Es  sind  theologische  und  philosophische  Pro- 
bleme, die,  nach  der  Pariser  Sitte,  Duns  bei  Antritt  seines 
Lehramtes  daselbst  in  öffentlicher  Disputation  behandelt  und 
dann  nach  weiterer  Ausführung  herausgegeben  hat.  —  Hier- 
zu kommt  nun  in  der  Pariser  Ausgabe  endlich  die  Schrift  de 
perfectione  statuum.  Sie  lag  schon  Wadding  vor,  aber 
die  schneidende  Kritik  der  Schrift  machte  ihn  an  der  Echtheit 
zweifelhaft.  Sbaraglia  erwähnt  einen  Tractatus  de  paupertate 
Christi  et  apostolorura,  der  vom  Verfasser  des  Fundamentum 
trium  ordinum  am  Ende  des  Defensoriums  von  Occam  als 
von  Scotus  herrührend  angeführt  wird.  Er  bestreitet  seine 
Echtheit^).  Ist  er  aber  identisch  mit  de  periect.  stat.,  so  ist 
die  Echtheit  m.  E.  unzweifelhaft.  Nicht  nur  wird  diese  Schrift 
von  Pitsäus,  Baleus,  Wiilot  unter  den  Werken  des  Duns  auf- 
gezählt, sondern  sie  ist  auch  in  mehreren  Handschriften  unter 
seinem  Namen  neben  zweifellos  echten  Werken  enthalten  ^). 
Die  Tendenz  der  Schrift  gilt  nicht  dem  Armutsideal  als  solchem, 
sondern  der  Verfasser  will  zeigen,  dass  die  Kirche  der  Mendi- 
kanten  notwendig  bedarf  und  dass  sie  dem  Klerus  nicht  nur 
gleich  stehen,  sondern  für  die  Kirche  —  als  Prediger  —  von 
höherer  Bedeutung  sind  (s.  Genaueres  im  6.  Kap.  unten). 
Nun  wissen  wir,  dass  Bonifatius  VIII.  den  Versuch  machte, 
die  Vorrechte  der  Bettelmönche  etwas  einzuschränken.  Die 
Mönche  sollen  in  den  Stunden,  in  denen  in  der  Pfarrkirche 
gepredigt  wird,  nicht  predigen ;  in  den  Parochialkirchen  dürfen 
sie  nur  predigen,  wenn  sie  dazu  aufgefordert  werden.  Sie 
sollen  sich  demütig  das  Recht  des  Beichtehörens  vom  Pfarr- 
klerus erbitten.  Letzterer  aber  soll  sie  ansehen  als  coope- 
ratores  besonders  in  praedicationis  officio  et  propositionibus 


^)  Supplementum  et  castigatio  ad  scriptores  trium  ordinum  St.  Fran- 
cisci  a  Waddingo  aliisque  descriptos,  E-om  1806. 

2)  S.  die  Pariser  Ausg.  26,  499  f. 


Theologische  Werke  des  Duns  Scotus.  63 

verbi  dei  ^).  Den  Erfolg  dieser  Verfügungen  spricht  der  Nach- 
folger des  Papstes,  Benedikt  X.,  indem  er  diese  Vorschriften 
abmildert,  in  den  Worten  aus :  pro  qua  intendebat  quiete  tur- 
batio  nata  est  ^).  In  die  Kämpfe,  welche  sich  hiernach  an  den 
Erlass  des  Bonifatius  geschlossen  haben,  wird  unsere  Schrift 
fallen,  sie  wird  also  etwa  1296 — 1300  verfasst  sein. 

Das  sind  die  uns  bekannten  Schriften  des  Duns.  Die 
Mehrzahl  derselben  ist  in  Oxford  abgefasst,  nur  die  Quodlibeta 
und  die  K,eportata  sind  sicher,  vielleicht  aber  auch  die  CoUa- 
tiones,  in  Paris  entstanden. 

Ist  das  alles,  was  Duns  geschrieben  hat?  Es  ist  nicht 
leicht,  auf  diese  Frage  zu  antworten.  Die  alten  Bibliographen 
führen  nämlich  noch  weitere  Schriften  an.  Trithemius 
(1495)  nennt  Sermones  de  tempore  lib.  1,  Sermon  es 
de  sanctis  lib.  1.  Von  den  sermones  de  temp.  führt  er  so- 
gar das  Incipit  an :  „Erunt  sigua  etc.  In  hoc."  Er  setzt  hin- 
zu, er  soll  (dicitur)  auch  in  Evangelium  etApostolum, 
sowie  verschiedene  andere  Traktate  geschrieben  haben,  die 
aber  zu  seiner  (des  Trith.)  Kenntnis  nicht  gelangt  sind.  Dies 
Zeugnis  ist  um  so  bemerkenswerter,  als  Trithemius  sonst 
keineswegs  alle  uns  bekannten  Schriften  des  Duns  aufführt. 
Wilh.  Eysengrein  (1565)  sagt  gar,  Duns  sei  in  sacris  scrip- 
turis  absolutissimus  gewesen.  Er  führt  von  exegetischen 
Werken  an:  Lucubrationes  in  sacra  quatuor  evangelia  et  epis- 
tolas  Pauli,  ferner  Sermones  in  honorem  sanctorum.  Sixtus 
Senensis  (1610)  redet  von  dem  Evangelien-  und  Apostel- 
kommentar mit  einem  „fertur".  Selbst  gelesen  hat  er  ein 
Fragment  aus  der  Erklärung  des  Römerbriefes,  das  tenebrico- 
sum,  obscurum  et  vix  in  eius  schola  detritis  pervium  ist.  Das 
Werk  fing  an:  „Circa  epistolam  Pauli  ad  Romanos".  Ein 
Lyoner  Typograph  trug  sich  mit  der  Absicht,  es  in  den 
nächsten  Jahren  drucken  zu  lassen.  Willot  (1598)  erklärt 
die  Existenz  des  Evangelien-  und  Pauluskommentars  für  extra 
omnem    controversiam.      Aber   gerade    diese   Form    der    Rede 


^)  S.  die  Bulle  Super  cathedram  vom  J.  1295  in  den  Annales  minorum, 
tlf. 


V,  341  f. 

*)  Annal.  minorum  VI,  58 


64  Einleitung, 

macht  es  sehr  zweifelhaft,  ob  er  sie  selbst  gesehen.  In  dem 
eigentlichen  Verzeichnis  der  Werke  sind  sowohl  die  beiden 
Predigtsammlungen  erwähnt,  als  auch  eine  Lee  tu  ra  in  Gene- 
sim,  Tetragramm  ata  quaedam,  endlich  Commenta- 
riorum  imperfectorum  lib.  1.  Possevin  endlich  nennt 
im  Apparatus  sacer  (1608) :  Tetragrammata  quaedam,  Sermo- 
nes  de  tempore  (Incipit:  Erunt  signa),  Sermones  de  sanctis, 
Commentaria  super  IV  evaugelistas,  Commentaria  super  epis- 
tolas  Pauli:  (Inc.:  Circa  epistolam  Pauli  ad  Romanos),  Lectura 
super  Genesim  ad  litteram.  Bei  Pitsäus  (1619)  kehren  die- 
selben Schriften  —  mit  Ausoahme  der  Tetragrammata  — 
wieder.  Auch  er  führt  unter  ihnen  nur  bei  den  Sermones  de 
tempore  die  uns  bekannten  Anfangsworte  an,  —  Es  ist  merk- 
würdig, dass  Initien  immer  wieder  von  denselben  unter  den 
uns  nicht  bekannten  Schriften  angeführt  werden.  Geht  man 
hiervon  aus,  so  kann  als  sicher  gelten  1)  dass  Trithemius  einen 
Band  Sermones  de  tempore  gesehen  hat,  die  dem  Duns  zuge- 
schrieben waren,  2)  dass  ein  Lyoner  Buchdrucker  dem  Sixtus 
Seneusis  eine  Handschrift  oder  die  ersten  Blätter  einer  solchen 
mit  einer  Erklärung  des  Böinerbriefes,  die  man  irgendwie  als 
scotistisch  glaubte  erkennen  zu  können,  vorlegte.  Auf  diese 
beiden  Punkte  schrumpfen  die  beiden  Zeugnisse  zusammen, 
oder  wenigstens  wird  nur  dies  als  sicher  in  Anspruch  ge- 
nommen werden  können. 

Damit  ist  natürlich  keineswegs  ausgemacht,  dass  diese 
Schriften  wirklich  von  Duns  Scotus  herstammten.  Noch  zu 
Anfang  unseres  Jahrhunderts  sah  Sbaraglia  in  Rom  ein  de- 
fektes gedrucktes  Exemplar  von  Commentarii  in  cantica 
canticorum.  Er  hat  sich  nicht  getäuscht,  aber  das  Werk, 
das  wirklich  im  Jahre  1653  als  Eigentum  des  Duns  heraus- 
gegeben wurde,  gehört,  wie  alsbald  amtlich  konstatiert  worden 
ist,  dem  Cistercienser  Thomas  de  Perseigne  an^).  Sollten 
derartige  Täuschungen  nicht  auch  für  andere  der  angeführten 
Schriften  anzunehmen  sein?  Hinsichtlich  des  Pauluskommen- 
tars machen  die  Pariser  Editoren  auf  ein  Buch:  Sedulii  Scoti 


^)  S.  Haureau   in  Notices  et   extraits   des   quelques  Manuscrits   de 
la  Bibl.  nat.  II,  144  und  die  Pariser  Ausg.  Bd.  26,  565. 


Zweifelhafte  Schriften.  65 

Hibernensis  in  omnes  b.  Pauli  Epistolas  annotationes  aufmerk- 
sam (gedruckt  Basel  1538;  ebenso  Sedulii  Scoti  Hibernensis: 
in  omnes  epistolas  Pauli  collectaneum,  Basel  1528  fol.  und 
eiusdem  in  epistolam  Pauli  ad  Romanos,  Basel  1528  fol.  ^). 
Wunderlicherweise  denken  die  Pariser,  wohl  Tritliemius  folgend, 
als  Verfasser  den  Dichter  Sedulius  Cälius  aus  dem  Anfang  des 
5.  Jahrhunderts,  während  natürlich  der  Sedulius  Scotus,  der  im  8. 
oder  9.  Jahrhundert  schrieb,  gemeint  ist.  Von  ihm  besitzen 
wir  ausser  den  angeführten  Werken  noch  Breviarium  secundum 
Matthaeum  und  Erläuterungen  zu  einem  Argumentum  in  Mat- 
thaeum :  In  argumentum  secundum  Matth.  expositiuncula,  eben- 
so zu  den  Argumenten  zu  Markus  und  Lukas  expositiunculae. 
Aus  einer  Handschrift  des  9.  Jahrhunderts  gab  sie  Mai  her- 
aus ^).  Es  gab  sonach  einen  Scotus  Hibernensis,  der  Paulus 
und  Matthäus  exegetisch  behandelt  hatte.  Diese  Beobachtungen 
dürften  wenigstens  den  Pauluskommentar  des  Duns  aus  der 
Welt  schaffen^).  —  Zu  Oxford  befindet  sich  eine  Handschrift 
sec. XIV*),  die  Johann is  Scoti  super  apocalypsim  no- 


^)  a.  a.  0.  564.  Bei  Migne  Patrol,  lat.  103,9  wird  angegeben  Col- 
lectaneura  sive   explanatio  in   epistolas  Pauli,    Basel  1528   und  1534  in  8^. 

^)  Scriptorum  collectio  nova  IX  und  Migne  Lat.  103.  Das  Argu- 
mentum in  Mattli.  s.  schon  bei  Sabatier,  Vulgat.  vers.  III,  1. 

^)  Allerdings  stimmt  das  Init.,  das  Sixtus  und  Possevin  anführen 
(circa  epistolam  Pauli  ad  Romanos),  nicht  mit  dem  Init.  des  in  Basel  ge- 
druckten Kommentars  (Paulus  servus  lesu  Christi).  Da  aber  letzterer 
mit  den  paulinischen  Worten  selbst  anhebt,  so  wäre  die  Einfügung  eines 
einleitenden  Satzes  nicht  unwahrscheinlich.  —  Sollten  die  Commentaria 
imperf  ecta  Willots  sich  nicht  auf  diese  Argumenta  der  vier  Evangelien 
beziehen  ?  Ist  diese  Vermutung  richtig,  dann  wird  man  den  wirklichen 
oder  vermeintlichen  exegetischen  Nachlass  des  Sedulius  zur  Erklärung 
der  Tradition  von  exegetischen  Werken  des  Duns  Scotus  heranziehen 
dürfen. 

'*)  Cod.  Laud.  Mise.  434  fol.  75 — 222  der  Kommentar  zu  Matthäus, 
Inc.:  Matheus  ex  iudea  sicut  in  ordine  primus  ponitur  ita  euangelium  in 
iudea  primus  scripsit  (dies  stimmt  mit  dem  alten  Argum.  bei  Sabatier 
und  Sedulius,  s.  Anm.  2).  Presens  prologus  in  tres  partes  diuiditur,  in 
quarum  prima  actor  describitur,  in  secunda  opus  distinguitur  ibi  Duorum 
in  generacione,  tertio  fructus  promittitur  ibi  In  quo  euangelio  utile 
est  (fol.  75  r).  Eine  weitere  Probe :  Liber  generacionis  ihu  xpi.  Sicut  flu- 
uius  de  loco  uoluptatis  egrediens  ad  irrigandum  paradysum  diuisus  est  in 
quatuor  capita,  sie  euangelium  mathei  egrediens  ad  ii-rigandam  animam 
Seeberg,  Die  Theologie  des  Duns  Scotus.  5 


66  Einleitung. 

tulae  und  Eiusdem  super  S.  Matthaei  Evangelium 
notae  enthält,  aber  die  Pariser  Franziskaner  haben  sich  nicht 
davon  überzeugen  können,  dass  diese  pulcherrimi  commentarii 
von  Duns  herstammen  ^).  Was  sonst  handschriftlich  unter  dem 
Namen  des  Duns  Scotus  überliefert  ist,  sind  belanglose  Frag- 
mente, insbesondere  alchymistische  Schriften  über  den  Stein 
der  Weisen  ^),  es  ist  dieselbe  Gruppe,  wie  die  Tetragrammata 
Willots  und  Posse vins ;  für  derartiges  borgte  man  häufig  illustre 
Namen. 

Wadding  gab  in  der  Einleitung  zu  seiner  Ausgabe  die 
Absicht  kund,  in  einer  zweiten  Abteilung  drucken  zu  lassen 
die  Lectura  in  Genesim,  die  Comm.  in  evangelia,  die  Comm. 
in  ep.  Pauli,  die  Sermones  de  tempore  und  de  sanctis,  den 
Tractatus  de  perfectione  statuum.  Aber  ausser  letzterer  Schrift 
hatte    der    gelehrte    Mann    nichts  von  diesen  Werken  gesehen. 


doctrina  regalem  dignitatem  xpi  hominis  indicante  diuiditur  in  quatuor 
partes  (fol.  76 r).  Expl.:  Item  cum  dicit  in  celo  et  in  terra,  quare  non 
dicit  in  Inferno  ?  Responsio  quia  potestas  in  illis  duobus  inferunt  phil.  II  ut 
in  nomine  ihu  omne  genu  flectatur  celestium  etc.  Item  queritur  de  fonna 
baptismi.  Explicit  liber  Mathei  (fol.  222  v).  In  derselben  Handschrift 
geht  unmittelbar  voran  (fol.  1 — 74)  der  Kommentar  zur  Apokalypse. 
Inc.:  Apocalipsis  ihu  xpi  quam  dedit  illi  deus  palam  facere  seruis  suis 
que  oportet  fieri  cito  et  significauit  mittens  per  angelum  suum  seruo  suo 
iohanni  qui  testimonium  perhibuit  uerbo  dei  et  testimonium  ihu  xpi  in 
hiis  quecunque  uidit.  Liber  iste  principaliter  diuiditur  in  tres  partes  In 
exordium  et  narrationem  quae  incipit  eodem  capitulo  :  Ego  Johes  frater 
vester,  et  conclusio  in  qua  ponitur  infra  ultimo  capitulo.  Et  dixit  mihi 
hec  uerba  fidelissima.  Exordium  uero  continet  tria  scilicet  prohemium 
salutationum.  Johes  VII  ecclesiis  xpi  (fol.  Ir).  Expl.:  ad  felicitatem 
quam  nobis  concedat  ille  qui  dat  omnibus  aftluenter  et  non  improperat 
qui  nee  loco  capitur  nee  tempore  mutatur,  immensus.  infinitus  et  eternus 
qui  est  deus  bens  in  sei.  sclorum.  Amen.  Expliciunt  notule  super  apo- 
calips.  p.  John  Scotü.  Explicit  apocalips?  Die  vorstehenden  Stellen  hat 
Herr  Dr.  Sanday  in  Oxford  für  mich  abzuschreiben  die  Güte  gehabt. 

^)  Jedenfalls  ist  der  Matthäuskommentar  nicht  identisch  mit  der 
Expositiuncula  des  Sedulius.  Die  beiden  Kommentare  haben  die  mo- 
derne Kapiteleinteilung,  wie  mir  Dr.  Sanday  mitteilt.  Mit  welchem  Recht 
die  beiden  Werke,  die  darnach  allerdings  der  Zeit  des  Duns  Scotus  ent- 
stammen werden,  dem  Duns  selbst  zugeschrieben  wurden,  kann  ich  zur 
Zeit  nicht  entscheiden. 

«)  Pariser  Ausg.  26,  S.  567  f.  564. 


Zweifelhafte  Schriften.  .67 

deren  Titel  er  den  älteren  Geschichtsschreibern  der  G-elehrten- 
geschichte  entnahm.  Die  Pariser  Herausgeber  bekennen  :  Atta- 
men,  non  obstantibus  quae  efficere  potuimus  investigationibus, 
nobis  non  fuit  possibile  supradictos  tractatus  invenire  ^).  An- 
gesichts dieser  Erklärung  wird  man  sich  dem  Urteil  Renans 
gegenüber  sehr  skeptisch  zu  verhalten  haben :  II  parait  donc 
certain  que  Duns  Scot  avait  ecrit  des  commentaires  sur  le 
Nouveau  et  peut-etre  (?)  aussi  sur  l'Ancien  Testament  =^),  Schon 
der  Umstand,  dass  Duns,  der  sich  nicht  ganz  selten  citiert, 
m.  W.  in  seinen  gedruckten  Schriften  nie  auf  seine  Kommen- 
tare verweist,  macht  stutzig.  Die  Geschichte  der  Erklärung 
des  Hohenliedes  zeigt,  dass  man  den  guten  Willen  hatte,  den 
Duns  auch  als  Exegeten  seinem  Rivalen  Thomas  gleichzustellen. 
Mit  einigem  Nachdruck  könnte,  wie  wir  Oben  zeigten,  nach  der 
Überlieferungsgeschichte  der  Werke  des  Duns,  nur  die  Existenz 
des  Paulinenkommentars  und  der  Sermones  de  tempore  be- 
hauptet werden.  Ersterer  kommt,  nach  den  angeführten  Beob- 
achtungen, sicher  in  Wegfall.  Es  bleiben  also  nur  letztere.  Die 
Forschung  hätte  sich  also  vor  allem  darauf  zu  richten,  was  für 
ein  Buch  es  war,  das  Trithemius  unter  jenem  Titel  las  und  ob 
dasselbe,  wenn  es  wieder  aufgefunden  wird,  mit  Gründen  als 
dem  Duns  angehörig  erwiesen  werden  kann.  Daran  schlösse 
sich  die  Frage  nach  Alter  und  Herkunft  der  beiden  Oxforder 
Kommentare.  Einen  Kommentar  über  die  Apokalypse  erwähnt 
übrigens  keiner  der  Bibliographen. 


1)  Bd.  26,  S.  564. 
^)  p.  447. 


5* 


Erstes   Kapitel. 

Philosophische  und  theologische  Prinzipienfragen. 


1.   Die  philosophischen  Hauptlehren. 

Die  Aufgabe,  die  wir  uns  gestellt  haben,  bezieht  sich  auf 
die  Theologie  des  Duns  Scotus.  Diese  Beschränkung  erscheint 
um  so  mehr  berechtigt,  als  seine  Philosophie  öfter  und  glück- 
licher als  seine  Theologie  dargestellt  worden  ist.  Indessen 
werden  wir  dennoch  gut  thun,  bei  dem  engen  Zusammenhang 
vieler  theologischer  und  philosophischer  Probleme  in  der  Scho- 
lastik, uns  zuvörderst  wenigstens  über  die  Grundfragen  der 
scotistischen  Philosophie  zu  orientieren,  während  anderes  später 
dort,  wo  es  in  die  theologische  Lehre  eingreift,  besprochen 
werden  soll. 

1.   Die    Universalien  und   die   Individuation. 

Wir  gehen  aus  von  der  Stellung  des  Duns  zu  den  Uni- 
versalien. Der  Nominalismus  war  um  der  häretischen  Kon- 
sequenzen willen,  die  Roscellin  aus  ihm  gezogen  hatte, 
schon  vor  der  Blütezeit  der  Scholastik  unterdrückt  worden. 
Erst  Occam  hat  ihn  wieder  aufgenommen  und  zur  Anerkennung 
gebracht.  Andererseits  war  aber  auch  der  Realismus  eines 
Anselm,  nach  der  Abälardischen  Kritik,  nicht  möglich.  So 
war  ein  gemässigter  Realismus  zur  Anerkennung  gekommen, 
wie  ihn  zuerst  die  Araber,  dann  Albert  und  Thomas  vertreten 
haben.  Auf  dieser  Linie  hält  sich  im  ganzen  auch  Duns 
Scotus.  Aber  er  hat  doch  auch  den  realistischen  Standpunkt 
energischer  und  konsequenter  vertreten  als  Thomas. 

1.  Die  erste  Frage  ist  die,  ob  den  Universalia,  d.  h.  den 
Ideen  und  Gemeinbegriffen,  nur  subjektive  oder  auch  objektive 


Die  philosophischen  Prinzipien.  69 

Wirklichkeit  zukomme.  Das  Universale  ist  ein  Seiendes,  weil 
es  gedacht  wird,  denn  sub  ratione  non  entis  nihil  intelligitur, 
quia  intelligibile  movet  intellectum.  Cum  enim  intellectus  sit 
virtus  passiva  non  operatur,  nisi  moveatur  ab  obiecto.  Demnach 
muss  das  Universale  als  gedacht  auch  eine  objektive  Realität 
sein  (super  universalia  Porphyr,  quaest.  4,  2 ;  Quaest.  in  me- 
taph.  1.  VII  quaest.  14,  5 ;  q.  18,  5  u.  o).  Die  objektive 
Wirklichkeit  wird  also  behauptet,  aber  so,  dass  das  Universale 
als  solches  seine  Ursache  an  dem  Intellekt  hat,  indem  freilich 
diese  Produktion  des  Intellekts  durch  etwas  ausserhalb  des 
Intellektes  Belegenes  veranlasst  wird.  Daher  sind  die  Univer- 
salia keineswegs  nur  fictiones  intellectus,  quod  universale  est 
ab  intellectu;  sondern  es  entspricht  ihnen  ein  Objektives.  Et 
cum  dicitur  ergo  est  figmentum,  dico,  quod  non  sequitur,  quia 
figmento  nihil  correspondet  in  re  extra,  universali  autem  ali- 
quid extra  correspondet,  a  quo  movetur  intellectus  ad  causan- 
dum  talem  intentiouem  (ib.  §  4;  de  anima  quaest.  17,  14).  Die 
Universalien  sind  somit  die  Kausalität  für  unsere  Begriffe 
von  ihnen.  Die  Realität  letzterer  bezeugt  die  Wirklichkeit 
ersterer.  Eine  Eigentümlichkeit  des  scotistischen  Denkens 
gibt  sich  hierin  kund.  Auf  Grund  der  psychologischen  Beob- 
achtung oder  der  logischen  Analyse  wird  objektives  Sein  er- 
schlossen und  eine  übersinnliche  Welt  erschaffen.  Das  ist  der 
starke  „realistische"  Zug  in  seiner  Weltanschauung,  aber  man 
geht  viel  zu  weit,  wenn  man  sagt,  der  Centaur  und  die  Chi- 
märe nähmen  für  ihn  die  gleiche  Stellung  ein  wie  ein  Sokrates 
und  Kallias  d.  h.  wirkliche  Menschen  ^).  Gewiss  spielen  „ab- 
stractions  realisees"  in  seinem  Denken  eine  grosse  Rolle,  aber 
nie  handelt  es  sich  dabei  um  blosse  Phantasiegebilde,  immer 
wieder  stellt  der  Kausalitätsbegriff  die  Beziehung  zur  wirklichen 
Welt  her  und  nur  nach  sorgfältiger  Überlegung  des  Wirk- 
lichen werden  jene  Schlüsse  aufgestellt.  Das  zeigt  sich  gerade 
in  der  Behandlung  der  Universalienfrage.  Duns  hält  an  der 
Realität   der   üniversalien   fest,   weil  ohne  diese  Annahme  die 


^)  So  Haureau,  Histoire  de  la  philosophie  scolastique  II  2,  p.  182. 
210.  Eine  zutreffende  Darstellung  gibt  Pluzanski,  Essai  sur  la  philos. 
de  Duns  Scot.  p.  214  £f. 


70  Kap.  I:  Philosophische  und  theologische  Prinzipien. 

ganze  Metaphysik,  ja  die  Wissenschaft  überhaupt  aufhören 
oder  nur  die  Logik  nachbleiben  würde  (Theoremata  4,  1). 
Obwohl  er  an  einer  merkwürdigen  Stelle  erklärt,  die  plato- 
nische Auffassung  der  Ideen  als  besonderer  mit  einer  spezi- 
fischen Natur  ausgerüsteter  Substanzen  non  potest  bene  impro- 
bari,  und  Aristoteles  habe  nur  die  Nichtnotwendigkeit  dieser 
Annahme  behaupten  wollen  (Quaestion.  in  Metaphys.  1.  VII 
quaest.  18,  3;  dagegen  aber  Metaphys.  YII  summ.  2  c.  14, 
110  ff. ;  c.  15,  119  etc.),  hat  er  doch  auf  Grund  der  Beobach- 
tung der  Entstehung  der  Universalien,  von  keiner  anderen  für 
uns  seienden  Verwirklichung  derselben  als  der  im  Intellekt 
etwas  wissen  wollen.  Das  Universale  als  Gegenstand  des  Be- 
griffes ist  die  quidditas  rei  absoluta  und  diese  ist  an  sich  nee 
universalis  nee  singularis,  sed  de  se  est  indifferens  .  .  .,  non 
autem  est  in  intellectu  subiective,  sed  tantum  obiective  d.  h. 
nicht  gegenständlich,  sondern  nur  vorstellungsweise  (de  anima 
quaest.  17,  14). 

Die  Ideen  und  Begriffe  werden  also  freilich  von  dem  In- 
tellekt erzeugt,  aber  nicht  willkürlich,  sondern  notwendig. 
Wären  nämlich  die  Objekte  lediglich  in  ihrer  Singularität  real, 
so  wäre  unverständlich,  wie  der  Geist  sie  in  der  ihrem  Wesen 
widersprechenden  universalen  Form  sollte  denken  können; 
ebenso  wäre  alle  Gruppenbildung  unter  den  Objekten  ausser 
der  durch  die  Zahl  ausgeschlossen.  Sokrates  und  Plato 
verhielten  sich  also  nicht  anders  zu  einander  als  Sokrates  und 
ein  Strich,  Oder  bei  der  Generation  gäbe  es  keine  reale  und 
und  besondere  Beziehung  zwischen  dem  Erzeuger  und 
dem  Erzeugten.  Indessen  kann  um  deswillen  doch  die 
Universalität  dem  Objekt  an  sich  so  wenig  beigelegt  werden 
als  die  Singularität.  Vielmehr  wird  beides  an  das  Objekt 
oder  die  Materie  von  aussen  herangebracht  (Sent.  II  dist.  3 
quaest.  1  §  6.  7 ;  Theorem.  4).  Non  solum  autem  ipsa  natura 
est  de  se  indifferens  ad  esse  in  intellectu  et  in  particulari  ac 
per  hoc  ad  esse  universale  et  singulare,  sed  et  ipsa  habens  esse 
in  intellectu,  non  habet  primo  ex  se  universalitatem ;  licet 
enim  ipsa  intelligatur  sub  universalitate  ut  sub  modo  intelligendi 
ipsam,  tarnen  universalitas  non  est  pars  conceptus  eius  primi, 
quia  non  conceptus  metaphysici,  sed  logici.     Die  metaphysische 


Die  Realität  der  Universalien.  71 

Eetraclitung  würde  das  Objekt  ausserhalb  dieser  Kategorien 
fassen,  die  Betrachtung  des  Dinges  als  Universale  erwächst 
aus  der  Natur  des  menschlichen  Geistes.  Indem  aber  etwas 
in  den  Objekten  dieser  Betrachtung  entspricht^  erweist  sich,  dass 
die  Natur  fähig  ist,  wie  die  Singularität  so  auch  die  Pluralität 
anzunehmen  (Sent.  II  dist.  3  quaest.  1  §  7.  Quaest.  in  Meta- 
phys.  VII  quaest.  13  §  8  ff.).  —  Nur  so  ist  eine  Wissenschaft 
vom  Wirklichen  denkbar,  sonst  blieben  nur  noch  subjektive 
logische  Operationen.  Nur  so  sind  die  Aussagen  über  die  Be- 
ziehungen und  Verhältnisse  der  Objekte  unter  einander  vollziehbar. 
2.  Es  ist  aber  nicht  leicht  zu  sagen,  wie  die  objektive 
Realität  der  Universalien  eigentlich  zu  denken  sei.  Die  seit 
Wilhelm  von  Champeaux  geläufige  Auffassung,  dass  das  Uni- 
versale das  sei,  was  nachbleibt,  wenn  die  rein  individuellen 
Züge  in  der  Vorstellung  von  einem  Ding  abgestrichen  werden, 
wird  missbilligt.  Auf  diesem  Wege  findet  man  nur  das  com- 
mune, nicht  das  universale.  Beide  Begriffe  aber  unterscheiden 
sich  so,  dass  das  commune  ein  den  Individuen  Gemeinsames, 
das  universale  etwas  an  jedem  Individuum  der  Gattung  schlechthin 
Identisches  bezeichnet  (Sent.  II  dist.  3  quaest.  1,  9).  Die 
Kommunität  ist  das  allen  einzelnen  Individuen  objektiv  Gemein- 
same, es  existiert  objektiv  in  der  Natur.  Von  ihr  unterscheidet 
sich  sowohl  die  Singularität  d.  h.  das  wodurch  bestimmte  ge- 
meinsame Naturmerkmale  zu  Individuen  zusammen gefasst  sind, 
als  auch  die  Universalität  oder  das  wodurch  das  gegebene  Sein 
allgemein  und  notwendig  ist  (1.  c.  §  10).  Wie  nun  der  Natur 
ein  Prinzip  einwohnt,  das  individualisiert,  so  auch  ein  anderes 
Prinzip,  durch  das  der  Intellekt  zur  Begriffsbildung  genötigt 
wird.  Wir  müssen  uns  natürhch  gegenwärtig  erhalten,  dass  diese 
Prinzipien  —  für  den  Realismus  —  reale  Grössen  sind;  z.  B. 
die  communitas  stellt  eine  reale  Einheit  dar,  die  freilich  minder 
real  ist  als  die  numerische  Einheit  (in  creaturis  est  aliquod 
commune  unum  unitate  reali  minori  unitate  numerali,  ib.  §  9 
u.  I  dist.  7  quaest.  unica  §  23  fin.),  sofern  letztere  in  sich  eins 
ist,  erstere  aber  an  dem  einen  und  anderen  haftet.  In  diesem 
Sinn  wird  also  auch  die  Universalität  etwas  sein,  was  der 
Natur  anhaftet,  es  ist  eine  Unitas  realis,  welche  sich  von  der 
Einheit  der  Zahl  ebenso  wie  von  der  Einheit  der  Kommunität 


72  Kap,  I :  Philosophische  und  theologische  Prinzipien. 

unterscheidet  (Sent.  II  dist.  3  quaest.  1,  4).  Dieser  Wirklich- 
keit korrespondieren  aber  die  Begriffe  des  Intellekts.  Mehr  ist  also 
mit  der  Realität  der  Universalien  kaum  ausgesagt  als  dass  zur 
Erklärung  der  Begriffe  wir  die  Hypothese  von  einer  ihnen  irgend- 
wie entsprchenden  Einheit  in  deu  Dingen  brauchen.  Die  Meinung 
des  Duns  ist  somit  erörtert ;  aber  sie  ist  so  subtil,  dass  man  be- 
greift, dass  auch  Anhänger  seiner  Lehre  ihn  dahin  missdeuten 
konnten,  als  werde  das  Universale  einfach  a  parte  rei  gegeben^). 
3.  Von  den  Univeraalien  wenden  wir  uns  der  Frage 
nach  dem  Prinzip  derlndividuationzu.  Wodurch  werden 
aus  der  substantia  materialis  Individuen?  Nicht  um  die  Einheit 
der  Quantität  handelt  es  sich  hier,  sondern  um  das,  wodurch 
ausgechlossen  wird,  dass  ein  Ding  in  seine  Teile  zerfalle.  Per 
individuationem  intelligo  istam  indivisibilitatem  sive  repugnan- 
tiam  ad  divisibilitatem.  Heinrich  von  Gent  versuchte  es  rein 
negativ  zu  bestimmen.  Allein  wenn  das  Ding  der  Zerteilung 
widerstrebt,  so  kann  dies  seinen  Grrund  nur  an  einem  Positiven 
und  nicht  an  einer  Privation  haben  (Sent.  II  dist.  3  quaest. 
2,  2.  4).  Ein  Stein  wird  also  zum  Individuum  per  aüquod 
positivum  intrinsecum  huic  lapidi.  Dies  ist  die  causa  indivi- 
duationis  (1.  c.  §  4).  Aber  w^as  ist  es  um  diese  ?  Thomas 
hat  die  Materie  selbst  zum  Prinzip  der  Individuation  gemacht 
und  zwar  die  materia  signata  d.  h.  die  Materie,  sofern  sie 
quantitativ  und  räumlich  bestimmt  ist.  Allein  dieselbe  Materie 
könnte  auch  ein  anderes  Individuum,  also  kann  sie  nicht  die 
Individualität  des  einen  bedingen;  w^eiter  könnte  die  Materie 
durch  Zusammendrängung  oder  Ausdehnung  ihre  besondere 
Bestimmtheit  verlieren  (Quaest.  in  Metaph.  VII  quaest.  13 
§  5.  6).  —  Nach  seiner  eigenen  Ansicht  wird  also  die  Indivi- 
duation durch  ein  positives  Prinzip  bedingt.  Wie  nämlich  dem 
Begriff  der  Einheit  eine  wirkliche  Einheit  korrespondiert,  so 
muss  auch  dem  Gedanken  der  einfachen  Einheit  des  Individu- 
ums eine  solche  entsprechen.  Wir  können  ferner  die  Differenzen 
zwischen  den  Dingen  nicht  aus  ihrer  Natur  oder  Materie  er- 
klären, denn  diese  bezeichnet  gerade  das  den  Dingen  Gemein- 
same (Sent.  I  dist,  3  quaest.  6,  9).       Die   spezifische  Differenz 


^)  Vgl.  Pluzanski,  Phil,  de  D.  Scot.  p.  222. 


Die  Individuation.  73 

der  Individuen    kann    aber  nur  hergestellt  werden  durch  enti- 
tates  individuantes  (ib.  14).     Dies  Seiende,    was  die  Individua- 
lität und  dadurch  die  Differenz  bewirkt,  wird  genauer  bezeich- 
net  als    etwas,    was   weder  Materie   noch  Form  noch  eine  Zu- 
sammensetzung ist.     Es  ist  die  besondere  entitas  (haec  et  illa) 
gegenüber    der    entitas    quidditativa.      Die   entitas  quidditativa 
bezeichnet  überhaupt  und  allgemein  das  Sein^    die    „Washeit" 
eines    Dinges    (z.  B.    quidditas  =  essentia  quid  est   Socrates? 
homo    est),    die    besondere    entitas    stellt    die    ultima  realitas 
entis  von  allem  Daseienden,  es  sei  Form  oder  Materie,  dar.  Durch 
diese  Entität,    die  jedem  Individum  anhaftet,   ist  dasselbe  was 
es  ist  und  unterscheidet  sich  dasselbe,  trotz  der  sonstigen  Gemein- 
samkeit mit  den  Individuen  der  nämlichen  Gattung,  von  denselben       / 
(ib.  15).     Nun  ist  hieran  noch  die  Beoabachtung  zu  schliessen,      l 
dass   auch   die  Engel   individuell  sind.      Es   kann  nämlich  mit 
keinem  Grunde  geleugnet  werden,  dass  Engel  derselben  Species       '; 
im  Plural  vorkommen  (gegen  Thomas).     Sonst  könnte  ja  über-       ! 
haupt  kein   Begriff   der  Engel  gebildet  werden.     Hieraus  aber       { 
folgt,    dass    auch    den  Engeln    das   Individuationsprinzip    ein-        \ 
wohnt.     Ist    das    der   Fall,    so  kann  dasselbe  unmöglich  etwas        \ 
Materielles    oder    Quantitatives    sein    (Sent.    dist.    3  quaest.  7,         | 
3.   4).  \ 

4.  Auch  hier  ist  es  für  uns  aber  schwer  festzustellen, 
wie  man  sich  dies  Individuationsprinzip  eigentlich  denken  soll. 
Es  ist  ein  gewisses  Etwas,  was  das  Individuum  zum  Indivi- 
duum macht,  die  haecceitas,  wie  die  Scotisten  später  sagten, 
oder  das  Sein  des  Dinges  als  hoc  ^).  Aber  nicht  eine  UnvoU- 
kommenheit  der  Kreatur  wird  hiedurch  bezeichnet ,  sondern 
etwas,  was  Gott  gewollt  hat.  Das  Wesen  der  Natur  vollendet 
sich  in  dem  Individuum.  Der  göttliche  Wille  will  die  Welt 
und  damit  die  Verschiedenheit  der  Arten  sowie  die  relative 
Gleichheit  ihrer  Individuen,  nicht  mehr  als  die  vielen  einzelnen 
von  einander  verschiedenen  Individuen.  Gerade  diese  will  und 
braucht  Gott:  propter  bonitatem  suam  communicandam  et 
propter  suam  beatitudinem  plura  in  eadem  specie  produxit 
(es  handelt   sich  zunächst   um  Engel);   in  principalibus  autem 


^)  haecceitas  bei  Duns  selbst  Quaest.  in  Metaph.  VII  quaest.  13  §  9. 


74  Kap.  I :  Philosophische  und  theologische  Prinzipien, 

entibus  est  a  deo  inteutum  inclividuum  principaliter  (1.  c.  §  10). 
Darnach  kann  man  aber  sagen,  dass  nach  Duns  im  Individu- 
ellen und  Einzelnen  die  höhere  Form  des  Daseins  gegenüber 
dem  Allgemeinen  zu  erblicken  ist  (Reportat.  T  dist.  36  quaest. 
4,  14).  Indem  aber  das  Ding  nicht  nur  ein  Sonderdasein 
führt,  sondern  auch  die  allgemeine  Natur  darstellt,  kann  man 
von  formell  unterschiedenen  Realitäten  im  Ding  reden,  der 
entitas  quidditativa  und  der  entitas  individui;  jene  bedingt  die 
allgemeine  Natur,  diese  die  besondere  Individualität  des  Dinges. 
Ihren  Zusammenhang  kann  man  mit  dem  von  Materie  und 
Form  in  einem  Ding  vergleichen  (Sent.  II  dist.  3  quaest.  6, 
15.     Report.  II  dist.   12  quaest.  8,  9.  3  f.). 

Also  können  wir  kurz  sagen :  das,  wodurch  Petrus  Mensch 
wird,  und  das,  wodurch  er  dieser  besondere  Mensch  wird,  ist 
von  einander  formell  zu  unterscheiden.  Wie  beides  eine  reale 
Entität  darstellt,  so  weist  beides  auf  eine  besondere  Ursache 
zurück.  Aber  gerade  dieses  Etwas,  durch  das  Petrus  dies 
Individuum  wird,  die  Haecceitas  oder  Petreitas  ist  das,  was 
die  Natur  vollendet.  Das  individuelle  Dasein  ist  die  höchste 
Form  kreatürlicher  Existenz.  Dies  das  wichtige  Resultat  dieses 
Abschnittes. 

2.     Die   Einheit   der   Materie. 

1.  Mit  diesem  Resultat  kontrastiert  in  eigentümlicher  Weise 
eine  andere  Gedankenreihe  der  scotistischen  Metaphysik.  Es  ist 
die  Anschauung  von  der  Einheit  und  Identität  der  Materie  in 
der  ganzen  Kreatur.  Duns  Scotus  hat  sich  gegen  die  Auf- 
fassung erklärt,  dass  die  Materie  reine  Potenz  sei,  die  nur 
durch  die  hinzutretende  Form  aktualisiert  werde,  ohne  diese 
aber  nicht  real  sei  (de  rerum  principio  quaest.  7  art.  1  §  1). 
Dagegen  sagt  Duns :  Die  Materie  ist  von  Gott  geschaffen,  des- 
halb kommt  ihr  auch  ein  selbständiges  Sein  zu :  ihr  Sondersein, 
nicht  aber  ihr  Sein  wird  durch  die  Form  gesetzt.  Sonst  wäre 
die  Materie  überhaupt  nichts.  Also  eignet  ihr  eine  gewisse 
Aktualität,  nämlich  die  vom  Sein  unabtrennbare  actualitas  essendi. 
Das  ist  ein  actus  debilis,  indeterminatus,  determinabilis.  Eine 
konkrete  Form  gewinnt  die  Materie  freilich  erst  dadurch,  dass 
sie  von  einer  von  aussen  herankommenden  Form  formiert  wird. 


Die  Einheit  der  Materie.  75 

Daraus  erklärt  es  sich,  dass  man  sie  einfach  als  Potenzialität 
glaubte  bezeichnen  zu  können.  Aber  —  und  darauf  kommt  es 
hier  an  —  als  seiend  eignet  ihr  eine  wenn  auch  nur  minime 
Aktivität,  vermöge  welcher  sie  fähig  wird  Formen  und  Be- 
stimmungen aufzunehmen  (1.  c.  §  3.  8)^). 

2.  Nun  erhebt  sich  die  Frage,  ob  eine  solche  Materie 
auch  in  den  geistigen  Substanzen  nachzuweisen  ist.  Thomas 
hat  dies  verneint  unter  Berufung  darauf,  dass  alles  Materielle 
nur  durch  quantitative  Differenzen  geschieden  werde,  von 
solchen  könne  aber.  z.  B.  bei  den  Engeln,  nicht  die  Rede  sein. 
Duns  dagegen  erweist  in  einer  scharfsinnigen  Erörterung,  dass 
die  Frage  bejaht  werden  müsse.  Sein  Gedankengang  ist  kurz 
folgender.  Alles  Erschaffene  hat  notwendigerweise  eine  po- 
tentia  passiva  in  sich,  denn  nur  durch  diese  kann  es  als  von 
Grott  abhängig  gedacht  werden.  Es  ist,  mit  anderen  Worten, 
die  Fähigkeit  von  Gi-ott  absolut  bestimmt  zu  werden.  Diese 
Potenz  ist  mit  der  res  creata  einfach  gegeben,  da  diese  als 
geschaffen  schlechtweg  von  Gott  determiniert  wird.  Sie  ist 
also  in  allem  Erschaffenen  und  bewirkt  in  jedem,  indem  ihr 
eine  besondere  Aktivität  an  die  Seite  tritt,  die  eigentümliche 
Mischung  von  Passivität  und  Aktivität,  die  aller  Kreatur  an- 
haftet. Dieses  an  sich  Unbestimmte,  auf  die  Bestimmung  durch 
ein  anderes  Angelegte  kann  nur  als  Substanz  oder  Materie, 
nicht  aber  als  Form  gedacht  werden,  denn  nach  Aristoteles 
ist  die  Form  das  Prinzip  des  Aktiven,  die  Materie  das  Prinzip 
des  Passiven.  Handelt  es  sich  aber  hier  um  die  Passivität 
und  Determinabilität  des  Erschaffenen,  so  kann  dies  nur  als 
Materie  bezeichnet  werden.  Indem  aber  das  Geschaffene  als 
solches  diesem  Gesichtspunkt  untersteht,  wird  ihm  auch  die 
geistige  Substanz  unterliegen.  Zur  Erläuterung  bemerkt  Duns, 
dass  man  die  materia  für  nicht  similis  materiae  corporali 
denken  dürfe.  Endlich  aber  gesteht  er  zwar  die  Möglichkeit 
zu,  dass  Gott  eine  schlechthin  immaterielle  geistige  Substanz 
schaffen  könnte.  Dieselbe  aber  könnte  dann  nicht  Gott  gegen- 
über  schlechthin  passibel   und   alterabel  sein  (1.  c.  §  10 — 28). 


^)  cf.  Sent.  II  dist.  12  quaest.  1,  13:    materia    dicit   entitatem 
secuudum  quam  entitatem  est  capax  formarum  substantialium. 


76  Kap.  I:  Philosophische  und  theologische  Prinzipien. 

Der  Gedanke  ist  also  der:  alles  Kreatürliche  hat  die  Po- 
tenz schlechthiniger  Abhängigkeit  von  Gott.  Hiemit  ist  in 
ihm  Materie  gesetzt,  denn  die  Materie  ist  das  Passible  und 
Rezeptive.  Gilt  das  von  jeder  Kreatur  als  solcher,  so  auch 
von  den  Seelen  der  Menschen  und  den  Engeln. 

3.  Nun  muss  aber  der  Begriff  der  Materie  selbst  genauer 
erläutert  werden.  Nach  Aristoteles  ist  die  Materie  das  Sub- 
strat, in  dem  sich  die  Form  realisiert.  Aber  der  Begriff  muss 
folgen dermassen  genauer  bestimmt  werden.  Die  materia  primo 
prima  ist  dasjenige  in  der  Zusammensetzung  des  konkreten 
Seins,  was  in  stärkster  Weise  die  Passivität  desselben  ausdrückt, 
das  schlechthin  Formlose,  was  daher  fast  nur  Materie  ist  und  so 
als  ein  medium  zwischen  dem  ens  und  nihil  bezeichnet  werden 
kann.  Die  materia  secundo  prima  ist  die  Materie,  an  der  sich 
die  Generation  vollzieht;  diese  ist  schon  konkreter  als  die 
vorige  Materie,  sie  kann  daher  einer  gewissen  forma  substan- 
tialis  nicht  entraten.  Die  materia  tertio  prima  bezeichnet  end- 
lich den  Stoff,  wie  er  bei  einer  künstlerischen  oder  sonstigen 
Thätigkeit  als  Gegenstand  vorausgesetzt  wird  (1.  c.  quaest.  8 
art.  3  §  20). 

4.  Nachdem  diese  Voraussetzungen  ins  Reine  gebracht, 
beantwortet  sich  die  Hauptfrage  nach  der  Einheit  der  Materie 
leicht.  Die  Einheit  ist  nämlich,  wie  schon  Heinrich  von  Gent 
angenommen  hat,  gegeben  in  der  Identität  jenes  Materiellen, 
das  alles  zur  Abhängigkeit  von  Gott  befähigt,  oder  der  materia 
primo  prima.  Diese  liegt  ja  in  der  Mitte  zwischen  Sein  und 
Nichtsein,  also  kann  sie  nur  eine  sein,  denn  nähme  man  auch 
nur  zwei  solche  Materien  an,  so  müsste  die  eine  der  Mitte 
näher  sein  als  die  andere,  diese  andere  wäre  aber  dann  nicht 
das,  was  sie  doch  sein  soll.  Weil  alle  passio  in  dem  hier  in 
Frage  kommenden  Sinn  schlechthin  identisch,  muss  auch  der 
Grund  identisch  sein.  Und  indem  die  ganze  Welt  in  der  Viel- 
heit ihrer  Erscheinungen  in  Aktion  und  Passion  unausgesetzt 
in  dem  Verhältnis  der  Wechselwirkung  ihrer  Teile  sich  bewegt, 
ist  die  ursprüngliche  Einheit  letzterer  anzunehmen  (1.  c.  §  24 
bis  27).  So  ist  die  ganze  Welt  hervorgegangen  aus  der  von 
Gott  erschaffenen  materia  primo  prima,  etwa  wde  die  Zweige 
eines  Baumes  aus  der  nämlichen  Wurzel  hervorgehen,  oder  der 


Identität  der  Materie  alles  Seienden.  77 

Same  alle  Glieder  des  künftigen  Leibes  in  sich  fasst.  In  toto 
mundo  ex  materia  una  homogenea  communis  omnis  multitudo 
rerum  procedit,  cum  non  possit  esse  nisi  unum  primum  indeter- 
minatum,  cuius  natura  salvatur  in  omnibus  posterioribus,  sicut 
substantia  et  quantitas  seminis  in  omnibus  membris  (§  29). 
Indem  aber  diese  erste  Materie  als  schlechthin  unbestimmt  ge- 
dacht wird,  ist  vorausgesetzt,  dass  sie  nur  von  einer  schranken- 
losen Kraft  verändert  werden  kann.  Oder  die  Entwicklung 
derselben  durch  ihre  Informierung  ist  das  Werk  Gottes  (§  40). 
Wie  Gott  ihr  Sein  bewirkt,  so  gibt  er  demselben  auch  beson- 
dere Formen.  Das  ist  die  unica  materia,  an  der  alles  geschöpf- 
liche Sein,  es  sei  geistig  oder  körperlich,  teil  hat.  Duns 
bekennt  sich  zu  dieser  Aufstellung  Avicebron's  (1.  c.  art.  4,  24). 
Materia  prima  est  idem  cum  omni  materia  particulari  (ib.  art. 
5,   38). 

5.  Schliesslich  behauptet  Duns,  diese  erste  Materie  könne 
auch  an  sich  ohne  Verbindung  mit  einer  Form  existieren.  Das 
esse  kann  nämlich  in  dem  Sinn,  dass  es  dies  und  das  ist,  sofern 
Gott  die  Idee  davon  hat,  genommen  werden,  oder  so,  dass  es 
als  wirklicher  effectus  dei  gedacht  wird,  oder  endlich  so,  dass 
es  konkret  als  Komposition  aus  Materie  und  Form  vorgestellt 
wird.  In  den  beiden  ersten  Bedeutungen  kann  das  esse  auch 
auf  die  erste  Materie  angewandt  werden ;  dieselben  haben  keine 
Beziehung  zur  Form,  sondern  werden  lediglich  durch  Gott  be- 
wirkt. Somit  hätte  diese  erste  Materie  als  die  Potenz  der 
ganzen  Welt  eine  besondere  Existenz  gehabt  oder  doch  haben 
können.  Warum  sollte  das  unmöglich  sein ,  wenn  doch  die 
Species  der  Abendmahlselemente  ohne  ihre  Substanz  fort- 
bestehen, fragt  Duns  (1.  c.  art.  6  §  43). 

Seine  ganze  Auffassung  fasst  Duns  in  einem  grossartigen 
Bilde  zusammen:  Ex  his  apparet,  quod  mundus  est  arbor  quae- 
dam  pulcherrima,  cuius  radix  et  seminarium  est  materia  prima, 
folia  fluentia  sunt  accidentia,  frondes  et  rami  sunt  creata  cor- 
ruptibilia,  flos  rationalis  anima,  fructus  naturae  consilimis  et 
perfectionis  natura  angelica.  Unicus  autem  hoc  seminarium 
dirigens  et  formans  a  principio  est  manus  dei  aut  immediate, 
ut  coelos  et  angelos  et  animam  rationalem,  aut  mediantibus 
agentibus  creatis,  sicut  producantur  generabiHa  et  corruptibilia 


78  Kap.  I:  Philosophische  und  theolog^ische  Prinzipien. 

De  isto  igitur  totius  universalis  naturae  fundamento  materia 
seil,  primo  prima  rerum  est,  quod  in  fundamento  naturae  nihil 
est  distinctum.  Dividitur  radix  ista  immediate  in  duos  ramos, 
in  corporalem  et  spiritualem  ....  Pars  autem  ramorum  flaute 
vento  superbiae  fuit  in  nmndi  principio  arefacta  ....  Et 
sie  patet,  quod  unitas  uuiversi  et  collectio  oius  claudit  et  con- 
cludit  unitatem  in  principio  indeteiminato  seu  in  materia  prima 
(1.  e.  §  30). 

6.  Man  hat  diese  Ansieht  des  Duns  nicht  selten  als 
Spinozismus  bezeichnet  ^).  Gewiss  mit  Unrecht.  Es  ist  näm- 
lich klar,  dass  bei  Duns  die  materia  prima  keineswegs  als  die 
alleine  Substanz,  aus  der  alles  Geschehen  als  Modifikation  und 
Wirkung  hervorgeht,  gedacht  werden  kann,  sondern  wie  Gott 
der  Schöpfer  jener  Materie  ist,  so  ist  ihre  Gestaltung  und  Ent- 
wicklung bedingt  durch  von  aussen  her  geschehende  Einwir- 
kungen Gottes  wie  die  Informierung.  Dazu  kommt,  dass  das 
Interesse,  das  Duns  mit  der  Einführung  dieser  Theorie  verfolgt, 
dem  des  Spinoza  nicht  konform  ist.  Man  hat  das  bisher  über- 
sehen, es  scheint  mir  aber  den  Schlüssel  zum  Verständnis  der 
Ideen  des  Duns  darzureichen.  Duns  will  feststellen,  dass  die 
Kreatur  als  solche  ein  Etwas  in  sich  hat,  das  sie  der  gött- 
lichen Determination  fähig  und  bedürftig  macht ;  oder  im  Grunde 
ihrer  natürlichen  Essenz  ist  die  Natur  etwas  Rezeptives,  was 
der  Einwirkungen  Gottes  bedarf,  sie  ist  angelegt  auf  schlecht- 
hinige Abhängigkeit  von  Gott.  Da  nun  nur  die  Materie 
schlechthiniger  Determinabilität  fähig  ist,  so  ist  alle  Kreatur 
materiell.  Da  aber  die  Determinabilität  in  allen  Individuen 
schlechtweg  dieselbe  ist,  so  ist  sie  ein  identischer  Bestandteil 
in  aller  Kreatur,  oder  es  ist  dieselbe  Materie,  aus  der  alle  und 
alles  her  sind.  —  Ist  dieser  Zusammenhang  richtig,  so  ist  ein- 
leuchtend, dass  die  Ansicht  des  Duns  Scotus  von  der  des  Spi- 
noza in  einem  durch  die  differente  Absicht  messbaren  Abstand 
steht.  Spinoza  eliminiert  Gott  durch  den  Gedanken  der  Natur- 
notwendigkeit, Duns  behauptet  die  in  allen  identische  materia 
prima  als   das  Mittel,    durch   das   sich  die   Abhängigkeit    der 


^)  Soviel    ich    weiss    zuerst   Bayle.    s,  noch    Haureau,    Hist.  de  la 
philos.  scol.  II  a  225.  235, 


Der  religiöse  Sinn  der  Einheit  der  Materie.  79 

Kreatur  von  Gott  realisiert  ^).  Und  er  steigert  diesen  Gedanken 
durch  die  Behauptung,  dass  Geschöpf-sein  an  sich  eine  Realität 
in  aller  Kreatur  bedeutet,  die  Einheit  der  Materialität  und  da- 
mit der  Determinabilität  durch  Gott.  Die  physische  Grundlage 
des  Seins  bediugt  die  überall  gleiche  Empfänglichkeit  des  Sei- 
enden den  Einwirkungen  Gottes  gegenüber,  denn  stünde  das 
Sondersein  am  Anfang  des  Daseins,  so  wäre  diese  Rezep- 
tivität  keine  absolute.  Es  ist  der  eine  schlechthin  abhängige 
Ton,  aus  dem  der  himmlische  Töpfer  alles  nach  seinem  Willen 
gestaltet.  Mir  scheint  sich  hieraus  zu  ergeben,  wie  Duns  zu 
dem  auffallenden  Satz  vou  der  Einheit  der  ersten  Materie  in 
allen  kam. 

Dem  metaphysichen  Satz  von  der  Einheit  der  ersten  Ma- 
terie in  allem  Seienden  steht  aber  der  andere  Satz  gegenüber, 
dass  das  Sein  sein  Wesen  vollende  in  dem  individuellen  Dasein 
der  Haecceität.  Beide  Sätze  bezeichnen  freilich  eine  Differenz 
des  Gesichtskreises,  aber  keinen  Widerspruch.  Duns  hat  ein 
starkes  Interesse  an  der  Individualität,  das  Individuum  ist  die 
Ej'one  der  Schöpfung.  Nun  ist  aber  alles  Daseiende  und  so- 
mit die  Gesamtheit  der  Individuen  nur,  wie  wir  später  sehen 
werden,  Mittel  zur  Realisierung  des  Zweckes  Gottes.  Deshalb 
muss  an  jedem  Daseienden  die  Fähigkeit  schlechthin  entsprechen- 
des Mittel  zu  sein,  aufgezeigt  werden.  Das  geschieht  aber  durch 
den  Nachweis  eines  Elementes  schlechthiniger  Rezeptivität  in 
in  ihm.  So  lassen  sich  beide  Sätze  mit  einander  verknüpfen. 
Sie  gewähren  uns  aber,  so  angesehen,  einen  Fingerzeig  auf 
die  beiden  Grundelemente  in  der  Weltanschauung  unseres 
Denkers.  Es  ist  die  nie  versagende  Lebhaftigkeit,  mit  der 
Duns  das  individuelle,  persönliche  Element  am  Menschen,  die 
uneingeschränkte  Freiheit  des  Wollens  betont,  und  es  ist  der 
ebenso  starke  Gedanke  von  Gott  dem  absoluten  Herrn,  der 
mit  seinem  allmächtigen  Willen  alles  lenkt  und  leitet  als 
Mittel  zur  Realisierung  seines  Weltzweckes :  schlechthinige 
Freiheit  und  schlechthinige  Abhängigkeit ! 


^)  Vgl.  unten    die    Erörterung   darüber,    dass   Gottes    Sein  dem  der 
Kreatur  nicht  univok  ist. 


80  Kap.  I:  Philosophische  und  theologische  Prinzipien. 

3.     Die   scotistische   Psychologie. 

1.  Dies  führt  uns  aber  auf  ein  neues  Problem.  Während 
bisher  der  Mensch  mit  aller  Kreatur  unter  den  Regriff  des 
Seienden  subsumiert  wurde,  muss  nun  deutlich  gemacht  werden, 
was  es  um  das  spezifische  Sein  des  Menschen  ist.  Die  Be- 
trachtung, von  der  wir  herkommen,  stellte  bereits  fest,  dass 
wie  bei  allem  Lebendigen  auch  im  Menschen  Aktivität  und  Pas- 
sivität sich  zur  Einheit  verbinden.  Wie  überall,  so  ist  auch 
im  Menschen  das  Wesen  durch  die  aktive  Form  bedingt,  die 
als  forma  actuans  die  materia  suscipiens  informiert  (s.  de  prin- 
cip.  rerum  quaest.  9  art.  1  §  2.  4.  8.  10).  Das  aktive  Prinzip, 
welches  die  menschliche  Materie  mit  der  besonderen  Form  des 
Lebens  versieht,  ist  die  Seele.  Hiebei  ist  an  die  anima  ratio- 
nalis  zu  denken,  nicht  au  eine  blosse  anima  sensitiva,  die  aus 
der  Potenz  der  Materie  hervorginge  (gegen  Aristoteles,  ib.  a. 
2,  12).  Die  Übermaterialität  der  Seele  ergibt  sich  nämlich 
aus  der  Selbstbeobachtung.  Wir  denken  nicht  nur  die  sinn- 
lichen und  räumlich  begrenzten  Einzeldinge,  sondern  die  allge- 
meinen UniversaHen  samt  einer  Anzahl  abstrakter  rein  logischer 
Beziehungen  zwischen  den  Dingen.  Ebenso  beobachtet  der 
Mensch  an  sich  die  Freiheit  des  Handelns.  Diese  kann  nicht 
erklärt  werden  aus  den  sinnlichen  Trieben,  da  diese  der  Natur- 
notwendigkeit unterliegen;  ist  das  geeignete  Objekt  da,  so 
muss  der  Trieb  darauf  reagieren.  Nun  aber  wird  der  Wille 
durch  kein  Objekt  determiniert,  er  ist  also  übersinnlich  oder 
geistig :  ergo  voluntas,  qua  sie  indeterminate  volumus,  est  appe- 
titus  non  alicuius  talis  formae  seil,  materialis,  et  per  consequens 
est  alicuius  excedentis  omnem  talem,  huiusmodi  ponimus  in- 
tellectivam  (Sent.  IV  dist.  43  quaest.  2,  10.  12).  Wollte  aber 
jemand  die  Existenz  dieser  Faktoren  leugnen,  so :  non  est  cum 

eo  ulterius  disputandum,  sed  dicendum,  quod  est  brutum , 

quia  non  habet  illam  visionem  interiorem   quam  alii  experiun- 
tur  se  habere  (ib.  §  11). 

Nun  sind  aber  in  dem  Leben  der  Seele  neben  den  geistigen 
noch  der  vegetative  und  der  sensitive  Faktor  zu  unterscheiden. 
Dies  darf  aber  nicht  so  gedeutet  werden,  als  ob  hierdurch  drei 
substanziell  verschiedene  Seelenteile   bezeichnet  werden,   wobei 


Die  Psychologie.  81 

die  geistige  Seele  durch  die  vegetative  und  sensitive  Seele  mit 
dem  Körper  verbunden  würde.  Auf  diesem  Wege  würde  die 
Verbindung  zwischen  der  rationalen  Seele  und  der  Materie 
nur  als  eine  Konsubstantiation  zu  denken  sein,  etwa  in  der 
Art  wie  Christi  Gottheit  mit  seinem  Körper  verbunden  war 
(de  princ.  rer.  quaest.  9  art.  2,  16.  42).  Allein  dann  könnte 
die  Seele  unmöglich  die  Form  des  Körpers  sein,  sowenig  als 
etwa  Nase  und  Ohren,  die  dem  übrigen  Leibe  ebenfalls  konsub- 
stanziell  sind,  denselben  informieren  können  (ib.  §  27). 

2.  Ist  nun  das  ganze  Sein  des  Menschen  bedingt  durch 
die  geistige  Form  der  Seele,  so  ist  diese  als  Form  so  mit  der 
Materie  verbunden,  dass  sie  mit  ihr  eine  feste  Zusammensetzung, 
ein  Kompositum  bildet.  Demnach  gehen  alle  Aktionen  des 
Menschen  a  toto  composito  aus.  Daher  werden  auch  alle  Ver- 
dienste vom  ganzen  Menschen,  nicht  von  der  Seele  als  solcher 
erworben.  Die  Form  teilt  eben  der  Materie  ihre  Thätigkeit 
nur  durch  diese  Vereinigung  mit  ihr  mit.  Die  spe- 
zifische Thätigkeit  des  so  informierten  ganzen  Menschen  ist 
iutelhgere  und  libere  agere  (ib.  §  31.  46).  Der  Mensch  ist 
ein  compositum  intelligens,  also  ist  die  forma  intellectiva  das, 
was  ihn  informiert  oder  ihm  sein  Wesen  verleiht  (32).  Das 
Subjekt  der  intellektiven  Thätigkeit  (quod  intelHgit)  ist  also  der 
ganze  Mensch,  das  Mittel  dieser  Thätigkeit  (quo  intelligit)  ist 
die  intellektive  Seele  als  solche,  denn  nicht  der  Körper  als 
solcher  denkt  oder  will  (57.  60,  quaest.  10,  29).  Da  also  der 
Mensch  in  seinem  eigentümlichen  Wesen  nur  verstanden  werden 
kann  von  der  intellektiven  Seele  aus,  so  ist  diese  seine  Form 
(36).  Sie  ist  das  Aktive  in  ihm,  also  ist  sie  die  Form  und 
nicht  die  Materie  des  Menschen  (39), 

Hieraus  ergibt  sich  dann  der  weitere  Gedanke,  dass,  da 
die  ganze  Lebensbewegung  des  Menschen  geleitet  wird  von 
seiner  Form,  das  sensitive  und  intellektive  Leben  in  der  näm- 
lichen Form  enthalten  ist.  Es  ist  im  Menschen  als  die  ihn 
bewegende  Form  eine  materia  spiritualis  vorhanden,  die  den 
ganzen  Menschen  bewegt,  denn  nur  sofern  sie  da  ist,  ist  der 
Mensch  Mensch  (44).  So  ist  der  Mensch  ein  Kompositum  oder 
ein  Organismus,  so  ist  auch  sein  Körper  eine  substantia  mixta, 
indem    die   geistige  Seele   ihn  informiert.     Er  kann  aber  auch 

Seeberg,  Die  Theologie  des  Duns  Scotus.  6 


82  Kap.  1:  Philosophische  und  theologische  Prinzipien. 

als  körperlicher  Organismus  betrachtet  werden,  sofern  seine 
körperliche  Organisation  ihn  befähigt,  sinnliche  Eindrücke  zu 
empfangen  (55).  Aber  die  ihn  bewegende  und  belebende  Form 
ist  in  dieser  wie  jener  Richtung  die  intellektive  Seele.  Indes 
gilt  das  nur  so,  dass  die  geistige  Seele  ihre  Thätigkeit  im 
Körper  hat,  aber  nicht  so,  als  wenn  die  rein  geistige  Thätig- 
keit des  Denkens  und  Wollens  an  sich  durch  den  Körper  und 
seine  Organe  gegeben  wäre  (63).  Hier  ist  aber  noch  hervor- 
zuheben, dass,  obgleich  die  eigentliche  Form  des  Körpers  die 
Seele  ist,  nach  Duns  noch  in  einem  anderen  Sinn  von  einer 
Form  des  Körpers  geredet  werden  muss,  nämlich  der  corpo- 
reitas  oder  der  besonderen  Zusammensetzung  des  Körpers 
(forma  mixtionis),  durch  die  er  zu  einem  Granzen  wird.  Als 
lebendiger  Körper  hat  er  die  Seele  zur  Form,  als  zusammen- 
hängeuder  Organismus  die  corporeitas.  Der  Hauptbeweis  hie- 
für ist,  dass  wenn  im  Tode  die  Seele  den  Leib  verlässt,  dieser 
zunächst  doch  bleibt  was  er  war.  Also :  forma  animae  non 
manente  corpus  manet,  et  ideo  universaliter  in  quolibet  ani- 
mato  necesse  est  ponere  illam  formam  qua  corpus  est  corpus, 
aliam  ab  illa  qua  est  animatum  (Sent.  IV  dist.  11  quaest.  3,  54). 
Auch  hier  weicht  Duns  von  Thomas  ab,  indem  letzterer  die 
Form  des  Leibes  schlechtweg  der  Seele  zuschreibt. 

Damit  sind  die  Grundzüge  der  scotistischen  Psychologie 
klar  gestellt.  Der  Mensch  ist  lebendiger  Mensch  durch  die 
geistige  Seele,  die  die  Form  seiner  Materie  ist.  Also  ist  die 
Seele  die  nämliche  in  den  rein  geistigen  wie  in  den  sinnlichen 
Bewegungen  des  Menschen.  Der  Mensch  hat  nur  eine  Seele, 
nicht  drei  Seelen,  wie  anzunehmen  wäre,  wenn  man  den  vege- 
tativen und  sensitiven  Regungen  des  Menschen  besondere  Prin- 
zipien oder  Formen  zuschreiben  würde.  Man  soll  nicht  meh- 
rere Prinzipien  einführen,  wo  eins  ausreicht  (de  prinio  princ. 
rer.  quaest.  11,  7.  9).  Indem  Duns  in  dieser  Erörterung  das 
ganze  sinnliche  Gefühls-  und  Triebleben  der  geistigen  Seele 
direkt  unterzuordnen  versucht,  hat  er  einen  bedeutenden  Fort- 
schritt über  die  alte  Psychologie  hinaus  gemacht.  Das  Seelen- 
leben wird  wahrer  und  tiefer  erfasst  dadurch,  dass  das  geistige 
Element  und  das  Gefühlselement  eine  Seele  bilden.  Es  ent- 
steht ein  konkreteres  Bild  des  Innenlebens,    als  die  Scheidung 


Die  Seele    Form  der  menschlichen  Materie.  83 

der  beiden    Sphären    es    ermöglichte.     Freilich   hat  Duns  dies 
nicht  einzuhalten  vermocht. 

3.  Aber  der  Gedanke  von  der  Einheit  der  Seele  führt  zu 
einer  Schwierigkeit.  Der  Kreatianismus  oder  der  Gedanke^ 
dass  die  menschlichen  Seelen  von  Gott  direkt  erschaffen  werden, 
hatte  im  Mittelalter  dogmatische  Giltigkeit  und  wird  daher 
auch  von  Duns  anerkannt  (1.  c.  quaest.  10  art.  1).  Aber  die 
Frage  ist  dann,  was  bei  der  Erzeugung  eines  Menschen  ge- 
schehe? Die  Erzeugung  versetzt  aus  dem  Nichtsein  in  das 
Sein.  Da  nun  der  Mensch,  wie  wir  sahen,  ein  Kompositum 
ist,  so  wird  dies  zusammengesetzte  Sein  das  Ziel  der  Erzeugung 
sein,  nicht  aber  brauchen  notwendig  alle  Bestandteile  der  Kom- 
position direktes  Produkt  der  Erzeugung  zu  sein,  da  an  den- 
selben Merkmale  vorhanden  sein  können,  die  diese  Entstehung 
ausscbliessen.  In  der  Zeugung  entsteht  also  der  leibliche  Or- 
ganismus, jene  forma  mixtionis  (S.  82),  und  zwar  mit  seiner 
Disposition  für  die  Einwirkungen  der  Seele.  Diese  wird  aber 
von  Gott  erschaffen  (ib.  quaest.  10  art.  2,  9.  11;  Sent.  IV 
dist.  11  quaest.  3,  55).  Nach  Thomas  wohnt  dem  Embryo  zu- 
nächst die  eigene  Seele  als  vegetative,  dann  als  sensitive  ein, 
dann  erst  wendet  sich  Gott  dem  werdenden  Menschen  zu,  in- 
dem er  die  intellektive  Seele  erschafft;  diese  absorbiert  dann 
jene  auf  natürlichem  Wege  entstandene  Seele  in  sich  ^).  Das 
zeitliche  Verhältnis  dieser  Zeugungen  zu  einander  wird  nicht 
recht  deutlich,  doch  scheint  es  ^),  dass  sie  zeitlich  zusammen- 
fallen oder  doch  hart  bei  einander  liegen.  Es  ist  einleuchtend, 
dass  Duns  die  Seele  als  sensitive  wie  als  intellektive  in  einem 
entstehen  lassen  muss ;  diese  eine  Seele  wird  von  Gott  er- 
schaffen und  dem  erzeugten  Leibe  inspiriert  (1.  c.  quaest.  10 
art.  4,   23). 

Hiebei  erhebt  sich  aber  die  Frage  nach  dem  Moment  der 
Erschaffung  der  Seele.  Man  kann  die  Frage  sicher  beantworten. 
Nach  Ansicht  des  Duns  geht  die  Bedeutung  der  menschlichen 
Zeugung  darin  auf,  das  Substrat  für  die  erschaffene  Seele  her- 


1)  Thomas  c.  gentil.  II,  89. 

*)  Summa  theol.  I  quaest.  118  art.  2 :  Quod  anima  intellectiva  crea- 
tur  a  deo  in  fine  generationis  humanae. 

6* 


84  Kap.  I:  Philosophische  und  theologische  Prinzipien. 

zustellen;  homo  hominem  generans  non  acquirit  esse  formae 
in  esse  nee  ut  est  in  composito  sive  in  materia  nisi  formando 
et  disponendo  corpus,  quo  disposito  agens  supernaturale  infun- 
dit  animam  ex  creatione  (1.  c.  quaest.  10  art.  2,  11).  Dem- 
nach sieht  er  aber  die  Erzeugung  mehr  für  eine  That  Gottes 
als  des  Menschen  an.  Quoad  actionem,  qua  homini  acquiritur 
esse  humanum  quod  principaliter  est  ab  anima  sua,  generatio 
seil,  hominis  potest  dici  supernaturalis  quodammodo  et 
magis  quam  naturalis,  imo  potius  creatio  quam  generatio 
et  divina  operatio  quam  humana  generatio  (ib.  11).  Diese 
Auffassung  rückt  die  göttliche  Erschaffung  der  Seele  auf 
das  nächste  zusammen  mit  der  menschlichen  Erzeugung  des 
Leibes.  Nimmt  man  hinzu,  dass  die  Seele  das  allgemeine 
Prinzip  der  Lebendigkeit  —  auch  schon  der  vegetativen  —  ist, 
so  kann  kaum  bezweifelt  werden,  dass  nach  Duns  die  Erzeu- 
gung des  Leibes  und  die  Erschaffung  der  Seele  zeitlich  zusam- 
menfallen, logisch  aber  letztere  auf  erstere  folgt.  Dieser  Schluss 
wird  aber  von  Duns  ausdrücklich  bestätigt.  ^)  Die  materia  und 
die  forma  mixtionis  d.  h.  also  die  Leiblichkeit  stellen  ein  passum  pro- 
portionatum  compositum  her  für  das  agens  superius  und  dies 
statim  inducit  in  illud  illam  formam  cuius  est  capax;  früher 
hiess  es:  statim  sequatur  eam  (die  corporeitas)  intellectiva  in 
generatione  (Sent.  IV  dist.  11  quaest.  3,  56).  Ebenso  sagt  Duns : 
quod  enim  tunc  in  eodem  instanti  deus  creat  animam,  hoc 
non  est  prius  naturaliter  quam  propagans  inducat  formam  mix- 
tionis, imo  est  posterius  naturaliter,  sicut  forma  ad  quam  est 
dispositio,  sequitur  dispositionem  (ib.  §  39). 

Während  die  menschliche  Seele  geistig  und  unräumHch 
ist,  ist  die  Tierseele  an  die  Materie  gebunden,  wird  von  der 
Kreatur  erzeugt  und  hat  in  den  verschiedenen  Teilen  des  Kör- 
pers ihren  Sitz  (de  princ.  rer.  quaest.  13  art.  4,  13). 

4.  Nachdem  wir  uns  über  die  Entstehung  sowie 
über  das  Verhältnis  der  Seele  zum  Leibe  orientiert  haben, 
wenden  wir  uns  der  Frage  zu,  ob  die  Essenz  der  Seele 
real  von  ihren  Kräften,  etwa  dem  Denken  und  Wollen,  zu 
unterscheiden  ist  ?  Thomas  hat  diese  Frage  bejaht,  indem  er 
das  Verhältnis  mit  dem  verglich,  das  zwischen  den  Accidenzien 

^)  Gegen  Pluzanski,  Philos.  de  D.  Scot.  p.  113. 


Essenz  und  Kräfte  der  Seele.  85 

der  Wärme  und  des  Lichtes  und  der  Substanz  des  Feuers  be- 
steht. Anders  Duns.  Die  Kräfte  der  Seelen  unterscheiden 
sich  realiter  weder  von  einander  noch  von  der  Seelenessenz. 
Bei  dieser  Annahme  erweist  sich  die  Seele  als  ens  nobilissimum, 
indem  sie  durch  eine  Essenz  verschiedenes  wirkt;  sie  selbst  und 
nicht  nur  ihre  Kräfte  erreichen  ihr  Ziel,  sie  und  nicht  nur  eine 
ihrer  Kräfte  wird  selig  (Sent.  II  dist.  16  quaest.  unic.  §  15). 
Aus  diesen  und  anderen  Gründen  könne  nichts  dagegen  einge- 
wandt werden,  dass  dieselbe  Seelenessenz  das  Prinzip  mehrerer 
seelischen  Aktionen  ist,  ohne  reale  Unterscheidung  der  Kräfte. 
Die  Pluralität  der  Wirkung  erfordert  nämlich  mit  nichten  Plu- 
ralität  der  Ursache.  Auf  diese  Weise  würde  dann  Denken  und 
Wollen  nur  durch  die  verschiedene  Beziehung  zu  den  Objekten 
unterschieden  sein,  essentiell  aber  dasselbe  sein  (16).  Um  nun 
den  Autoritäten  entgegenzukommen,  die  von  einem  Hervortreten 
der  Kräfte  aus  der  Seele  reden,  stelle  man  sich  die  Sache  so 
vor.  Die  Aktionen  verhalten  sich  zur  Seele  wie  die  Begriffe 
des  Einen,  Wahren,  Guten  zu  dem  Begriff  des  Seins,  sie  sind 
also  mit  dem  Grundbegriff  zugleich  gegeben,  unitive  in  ihm 
enthalten.  Denken  und  Wollen  sind  enthalten  in  der  Seele 
gleichsam  als  passiones  d.  h.  Eigenschaften  derselben  (17.  18). 
Essentiell  sind  sie  dann  mit  der  Seele  eins,  aber  formell  sind 
sie  etwas  anderes,  indem  sie  eine  besondere  Thätigkeit  der 
Seele  bezeichnen.  Diese  Besonderheit  kann  aber  unmöglich  in 
der  Essenz  der  Seele  begründet  sein,  sie  rührt  her  von  den  be- 
sonderen Beziehungen,  in  die  die  Objekte  der  Aussenwelt  zur 
Seele  treten.  Die  beschränkten  und  sinnlich  wahrnehmbaren 
Objekte  lösen  in  der  Seele  die  sinnlichen  Wahrnehmungen, 
die  unbegrenzten  und  immateriellen  Objekte  das  Denken  aus. 
Und  je  nachdem  ob  letztere  Objekte  mit  der  Erkenntnis  oder 
dem  Affekt  erfasst  werden  wollen,  wird  sich  die  erkennende  und 
wollende  Thätigkeit  in  der  Seele  differenzieren  (de  rerum  princ. 
quaest.  11  art.  2,  27.  28).  Der  Unterschied  beider  Funktionen 
lässt  sich  nach  Duns  so  ausdrücken :  sicut  velle  est  motus  ab 
anima  ad  rem  amatam  ^),  sie  intelligere  est  motus  a  re  ad  ani- 
mam;  sed  voluntas  vere  attingit  per  actum  volendi  rem  quam 


*)  So  und  nicht  animatam  wird  nach  dem  Folgenden  zu  lesen  sein. 


86  Kap.  1:  Philosophische  und  theologische  Prinzipien. 

amat,  ergo  res  cognita  vere  attingit  intellectum,  quem  excitat 
(ib.  quaest.  14  act.  3,  36). 

Das  Resultat  ist  somit,  dass  die  eine  Seele  das  Subjekt  aller 
ihrer  Operationen  und  in  allen  derselben  gleichmässig  gegen- 
wärtig ist,  dass  aber  die  besondern  Beziehungen  zwischen  der 
Seele  und  den  Dingen  die  Operationen  derselben  differenzieren. 
Die  scotistische  Formel  ist  also,  dass  die  Seele  mit  ihren  Akten 
zwar  essentiell  identisch  ist,  dass  aber  diese  Akte  unterein- 
ander wie  von  der  Seele  formell  verschieden  seien. 

Denkt  man  die  Seele  als  Substanz  oder  Materie,  so  ist 
dieselbe  unteilbar  und  unräumlich,  überall  dieselbe ;  denkt  man 
sie  aber  als  wirksam  d.  h.  als  Form,  so  wird  je  nach  der  Art 
der  betr.  Objekte  eine  besondere  Weise  der  ßethätigung  der 
Seele  erfordert  sein.  Dieser  Gedanke  bezeichnet  nur  eine  Folge 
aus  der  Erkenntnis  der  Einheit  des  Seelenlebens.  Die  Unter- 
scheidung der  Seelenkräfte  ist,  genau  genommen,  schärfer  und 
durchgreifender  als  bei  Thomas,  aber  freilich  nicht  durchge- 
arbeitet und  durchgeführt. 

4.    Der  Willensprimat. 

1.  Hiemit  haben  wir  uns  bis  zu  dem  Denken  und  Wollen 
hindurchgearbeitet.  Damit  sind  die  letzten  Probleme,  denen  wir 
nachgehen  wollen,  bezeichnet:  die  Anschauung  des  Duns  vom 
Willen  und  seine  Erkenntnistheorie. 

Wir  kommen  jetzt  zu  einem  für  die  Weltanschauung  des 
Duns  besonders  bedeutsamen  Faktor,  dem  Primat  des  freien 
Willens.  Zunächst  ist  daran  zu  erinnern,  dass  der  Wille  nicht 
minder  als  die  Erkenntnis  rein  geistiger  Art  ist.  Er  darf 
also  nicht  verwechselt  werden  mit  den  sinnlichen  Trieben  oder 
den  appetitus  organici,  die  durch  sinnliche  Anreize  mit  Not- 
wendigkeit hervorgerufen  werden.  Der  Wille  trägt,  wie  wir 
sahen,  den  intellektiven  Charakter  an  sich  (vgl.  Sent.  IV  dist.  43 
quaest.  2,  12).  Dieser  appetitus  rationalis  ist  im  Unterschied 
zum  appetitus  sensitivus  ein  appetitus  cum  ratione  liber 
(Sent.  III  dist  17  quaest.  unica  2).  Dieser  geistige  Wille  ist 
frei.  Dass  es  überhaupt  Freiheit  geben  könne,  braucht  nicht 
theoretisch  bewiesen  zu  werdeü.  Es  kann  jedem  empfindlich 
gemacht  werden:   isti  qui  negant  aliquod  ens  contingens  expo- 


Der  Primat  des  Willens.  87 

Dendi  sunt  tormentis,  quousque  concedant,  quod  possibile  est 
eos  non  torqueri  (Seut.  1  dist.  39  quaest.  un.  §  13).  Diese 
Kontingenz  oder  Freiheit  eignet  also  auch  dem  menschlichen 
Willen.  Sie  besteht  darin,  dass  der  Wille  frei  ist  ad  oppositos 
actus,  indem  er  jederzeit  auf  einander  entgegengesetzte  Objekte 
oder  Erfolge  sich  zu  richten  vermag.  Ergo  voluntas  perfecta 
potest  tendere  in  omne  illud  quod  natuui  est  esse  volibile 
(ib.  §  15).  Hiebei  ist  natürlich  vorzubehalten,  dass  der  Wille 
nicht  gleichzeitig,  sondern  nacheinander  nach  Entgegengesetztem 
streben  kann.  Das  Verhältnis  ist  vielmehr  dies,  dass  auf  das- 
velle  des  einen  Objektes,  das  noUe  desselben  und  das  velle  eines 
anderen  eintreten  kann.  Es  ist  also  der  Wille  eine  potentia 
ad  opposita  manifesta.  Logisch  liegt  hierin  kein  Widerspruch, 
sofern  das  Vorhandensein  eines  Accidenz  in  der  Seele  nicht 
das  spätere  Vorhandensein  des  entgegengesetzten  Accidenz 
ausschliesst  (16).  Demnach  wäre  der  Satz,  dass  wer  A  will, 
nicht  B  wollen  kann,  nicht  richtig  im  Sinne  der  Komposition, 
aber  richtig  im  Sinn  der  Division.  Für  den  Moment,  wo  der 
Wille  sich  auf  A  richtet,  ist  die  Möglichkeit  B  zu  wollen  für 
die  Kreatur  ausgeschlossen,  wohl  aber  vermag  der  Wille  das 
Wollen  von   A  aufzugeben  und  dafür  B  zu  wollen  (17). 

2.  Der  Wille  vermag  Entgegengesetztes  zu  wollen.  Ist  er 
nun  die  einzige  und  ganze  Ursache  seiner  einzelnen  Volitionen? 
Diese  Frage  wird  von  Duns  bejaht.  Es  sei  keine  andere  Ur- 
sache denkbar,  ohne  den  Willen  zu  zerstören.  Wenn  nämlich 
eine  andere  Ursache  eingeführt  würde,  so  wäre  das  Wollen 
ein  Erleiden,  dann  wäre  es  aber  auch  nicht  frei.  Voluntas  si 
est  solum  receptiva  et  passiva  respectu  suae  volitionis,  nulla 
volitio  est  in  potestate  eins  (II  dist.  25  quaest.  un.  §  2).  Dem- 
nach wird,  wenn  auch  nicht  ohne  ein  gewisses  Schwanken  (II 
dist.  37  quaest.  2,  8)  selbst  bezüglich  Gottes  die  unmittelbare 
Wirkung  auf  den  Willen  geleugnet,  denn  sonst  wäre  die  Kon- 
tingenz für  uns  ausgeschlossen,  indem  wir  nur  Wirkung,  nie 
aber  selbständige  Ursache  wären  (ib.  §  2.  3).  Deshalb  sei  für 
den  Willen  als  die  oberste  aller  aktiven  Ursachen  anzunehmen, 
dass  sein  Vermögen  die  Totalursache  aller  einzelnen  Voliti- 
onen sei  (ib.  4). 

Diese  Auffassung  bewährt  sich  an  der  Kritik  der  übrigen 


88  Kap.  I:  Philosophische  und  theologische  Prinzipien. 

scholastischen  Theorien.  Ein  doctor  modernus,  Gottfried, 
habe  gelehrt,  das  phantasma,  d.  h.  das  aus  den  sinnlichen 
Dingen  gewonnene  Phantasiebild,  sei  die  bewirkende  Ursache 
einer  Volition,  denn  movens  und  motum  müssen  im  Subjekt 
unterschieden  sein.  Ein  doctor  antiquior,  Heinrich  v.  Gent, 
habe  dagegen,  dem  Averroes  folgend,  gelehrt,  dass  das  erkannte 
Objekt  den  Willen  bewege.  Allein  wäre  das  eine  oder  das 
andere  richtig,  so  wäre  das  Wollen  ebenso  natürlich  und  not- 
wendig, als  die  Entstehung  von  Phantasiebildern  und  Begriffen. 
Nun  könnte  aber  auf  diesem  Wege  höchstens  die  Entstehung 
eines  velle  oder  nolle  in  Bezug  auf  ein  Objekt  erklärt  werden, 
aber  nicht  dass  der  Wille  für  das  nämliche  Ding  velle  und 
nolle  verursachen  kann  (II  dist.  25  qu.  un.  §  6).  Man  kann 
der  falschen  Theorie  auch  dadurch  nicht  aufhelfen,  dass  man 
sagt,  sofern  der  Wille  den  Intellekt  auf  die  Betrachtung  der 
Objekte  hinlenke,  habe  er  Gewalt  über  seine  Wollungen,  denn 
diese  Lenkung  selbst  müsste  doch  von  aussen  her,  rein  natür- 
lich veranlasst  sein.  So  lange  aber  der  Willensakt  rein 
natürlich  erklärt  wird,  erreicht  man  nicht  das  Verständnis  der 
vorausgesetzten  Freiheit  (7).  Wollte  man  aber  darauf  ver- 
weisen, dass  doch  mehrere  Objekte,  nicht  nur  eins,  vom  In- 
tellekt dem  Willen  vorgestellt  werden,  er  also  doch  wählen 
könne,  so  genügt  auch  dies  nicht,  es  sei  denn  die  Kausalität 
an  dem  vorgestellten  Begriffsbild  ausdrücklich  negiert,  denn 
sonst  komme  es  wieder  nur  zu  einer  notwendigen  Wirkung,  das 
eine  Objekt  wirkt  eben  stärker  als  die  anderen.  Das  ist  aber 
keine  Freiheit:  eodem  enim  modo  est  de  appetitu  bruti,  nam 
bos  videt  herbam  quae  movet  appetitum  suum  et  ex  illo  appe- 
titu movetur  progressive  ad  herbam,  sed  si  in  motu  illo  oc- 
currit  obiectum  magis  delectabile  fortius  movens  appetitum, 
tunc  sistitur  a  primo  motu  et  tamen  non  libere,  quia  necessa- 
rio  movetur  ab  illo  maiori  delectabili  occurrente,  quanquam 
casualiter  occurrat  (ib.  8).  —  Und  ebensowenig  verfängt  es, 
wenn  Heinrich  die  Objekte  unter  die  Kategorien  des  Erfreu- 
lichen oder  Unerlaubten  zu  stellen  anrät,  auch  dann  würden 
sie  als  Ursachen  gedacht  die  Freiheit  aufheben,  den  Willens- 
entschluss  natürlich  produzieren  (8).  Ebensowenig  reicht  es 
aus  zu  sagen,  das  Ziel  als  erkanntes  bewege  den  Willen,  denn 


Der  Wille  bewegt  sich  selbst.  89 

als  Ziel  kommt  ihm  keine  effektive  Bewegung  zu.  Ebenso- 
wenig kommt  man  dadurch  weiter,  dass  man  die  Objekte  die 
Affekte  erregen  und  diese  auf  den  Willen  einwirken  lässt 
Auch  dawider  würden  die   angeführten  Gründe  sprechen   (11). 

Daraus  ergibt  sich,  dass  es  keine  Beantwortung  unserer 
Frage  gibt  als  die:  quod  nihil  aliud  a  voluntate  est  causa 
totalis  volitionis  in  voluntate  (ib.  22).  Das  Vermögen  des 
Willens  ist  aber  eine  indeterminierte  Ursache.  Sie  wird  nicht 
von  aussen  her  bestimmt  zu  einer  notwendigen  Wirkung  wie 
eine  natürliche  oder  mechanische  Ursache,  sondern  sie  vollzieht 
ihre  Wahl  schlechthin  unabhängig  von  dem  natürlichen  Zu- 
sammenhang der  Dinge^  d.  h.  contingenter  vel  non  inevitabiliter. 
Es  ist  Duns  mit  dieser  Auskunft  voller  Ernst  gewesen,  denn 
mit  der  grössten  Energie  wird  betont,  dass  der  Mensch  frei 
ist  und  dass  frei  handeln  unabhängig  von  allen  äusseren  Ur- 
sachen handeln  heisst. 

Nun  kann  freilich  die  Frage  aufgeworfen  werden,  ob  diese 
Gedanken  vereinbar  sind  mit  der  Determination  des  Weltlaufes 
durch  den  göttlichen  Willen.  Wir  können  erst  später  hierauf 
eingehen,  hier  genüge  die  Bemerkung,  dass  Gott  selbst  als  freie 
Ursache  den  Willen  zu   kontingenter  Kausalität  bestimmt  hat. 

3.  Aber  das  eigentlich  Charakteristische  in  der  Willens- 
lehre des  Duns  besteht  darin,  dass  dem  Willen  unbedingt  der 
Primat  und  die  Führung  im  geistigen  Haushalt  des  Menschen 
zukommt^).  Nicht  eine  neue  psychologische  Theorie  ist  zu- 
nächst in  diesen  Sätzen  zu  erblicken,  sondern  eine  neue  Welt- 
stellung des  Menschen,  eine  neue  Stimmung  bringen  sie  zum 
Ausdruck.  Noch  Thomas  und  Heinrich  waren  dem  hellenischen 
Intellektualismus  gefolgt.  Das  Erkennen  ist  die  höchste 
Seelenkraft,  das  Erkennen  leitet  den  Willen.  Demgemäss  be- 
steht die  Seligkeit  im  intellektuellen  Schauen  Gottes.  Indem 
der  Intellekt  Gott  ergreift,  wird  dem  Menschen  die  höchste 
Befriedigung  zuteil.  Der  Intellekt  aber  ist  eine  höhere  Seelen- 
kraft als  der  Wille,  indem  er  in  direkte  Beziehung  zu  dem 
höchsten  Gut  tritt.     Steht  doch  die  Wahrheit  dem  Sein  näher 


^)  Vgl.  hierzu  Kahl,  der  Primat  des  Willens  bei  Augustinus,  Duns 
Scotus  u.  Descartes,  Strassburg  1886. 


90  Kap.  I :  Philosophische  und  theologische  Prinzipien. 

als  das  Gute,  und  ist  doch  der  Intellekt  als  Ursache  der 
Wollungen  dem  AVillen  übergeordnet.  —  Diesen  Gedanken 
kann  Duns  nicht  beipflichten.  Die  eigentümliche  Grösse  des 
Menschen,  die  ihn  über  die  Natur  und  das  natürliche  Leben 
erhebt,  besteht  nicht  in  dem  Intellekt,  sondern  im  Willen. 
Die  Thätigkeit  des  Intellektes  ist  nämlich  natürlich  d.  h.  sie 
erfolgt  als  ein  notwendiges  Produkt  der  Einwirkungen  der 
Weltobjekte  auf  den  Intellekt.  Dagegen  erhebt  sich  der  Mensch 
durch  seinen  freien  Willen  über  die  Natur  und  den  gesetz- 
mässigen  Naturzusammenhang  (z.  B.  Sent.  II  dist.  25  qu.  un.  22  ; 
IV  dist.  46  qu.  i,  7.  11;  I  dist.  39  qu.  un.  7.  14;  Metaphys. 
IX  summ.  1  c.  5  §  22).  Der  Intellekt  wird  von  aussen  her 
bestimmt,  der  Wille  ist  das  Vermögen  der  Selbstbestimmung. 
Diese  Freiheit  über  sich  selbst  und  über  den  natürlichen 
Kausalzusammenhang,  in  dem  der  Mensch  steht,  bedingt  den 
Wert  des  Menschen  und  seine  Stellung  in  der  Welt.  Wenn 
nun  der  Wille  selbst  die  alleinige  Ursache  seiner  Bethätigung 
ist,  dann  kann  er  natürlich  weder  dem  Intellekt  als  solchem 
noch  den  Reizen  der  Natur  untergeordnet  werden,  sondern  er 
ist  ganz  frei.  Weil  er  aber  frei  ist  und  seine  Akte  nur  von 
seinem  freien  Vermögen  kausiert  werden,  darum  ist  der  Wille 
das  Prinzip  zur  sittlichen  Beurteilung  des  Menschen.  Ob  eine 
Handlung  meritorischen  oder  demeritorischen  Charakter  hat, 
das  hängt  davon  ab,  ob  sie  frei  gewollt  ist.  Die  Gnade  kann 
das  Handein  der  Freiheit  irgendwie  erleichtern  und  aus- 
schmücken (s.  unten),  aber  sie  erzeugt  es  nicht.  Der  Mensch 
selbst  trägt  die  Schuld  und  erwirbt  das  Verdienst,  weil  er  eben 
frei  ist  (II  dist.  25  qu.  un.  §  6 ;  dist.  4  quaest.  4).  Dem- 
gemäss  ist  auch  der  tugendhafte  Habitus  des  Menschen  ganz 
wesentlich  aus  der  Selbstbestimmung  des  Willens  zu  verstehen, 
denn  er  kommt  dadurch  zu  stände,  dass  der  Wille  sich  für 
die  Dauer  selbst  bestimmt  zur  Verwirklichung  bestimmter 
Ideale,  die  ihm  die  praktische  Vernunft  vorhält,  und  dass  er 
sich  selbst  hierin  eine  Gewöhnung  erwirbt  (III  dist.  33  quaest. 
un.  8  ff.;  dist.  36  quaest.  un.  11.  14  vgl.  die  Tugendlehre 
unten).  Ebenso  realisiert  sich  aber  auch  das  Beste  im  Menschen, 
die  übernatürliche  Liebe  nicht  anders  als  durch  Willensakte 
(II  dist.  25  q.  un.  13  f.  cf.  IV  dist.  49  quaest.  ex  lat.  19.  20).  — 


Der  freie  Wille  und  der  Intellekt.  91 

Ist  nun  der  Wille  das  Organ  der  Freiheit  und  daher  das 
Prinzip  der  Sittlichkeit  im  Menschen,  sodass  das  Beste  und 
Schlimmste  durch  ihn  verwirklicht  wird,  so  ist  es  verständlich, 
dass  auch  die  Seligkeit  durch  den  Willen  erleht  wird.  Nicht 
die  Erkenntnis,  sondern  der  Wille  ist  zunächst  auf  das  Ziel 
der  Seligkeit  gerichtet,  der  frei  handelnde  Mensch  erstrebt  die 
Seligkeit.  Deshalb  ist  es  auch  der  Wille ,  der  in  Gott  die 
höchste  quietatio  findet.  Oder  die  Seligkeit  besteht  in  der 
Liebe  zu  dem  vollkommen  ergriffenen  höchsten  Gut  (IV  dist.  49 
quaest.  4,  6  ff.  vgl.  unten  die  Eschatologie). 

4.  Man  versteht  die  vorstehenden  Gedanken  leicht,  be- 
wegen sie  sich  doch  in  einer  Richtung,  die  uns  seit  Kant  ge- 
läufig ist.  Der  Wille  ist  das  Höchste  im  Menschen,  der  das 
Höchste  leistet  und  erlebt.  Aber  das  Thema  des  Primates 
des  Willens  schliesst  im  Rahmen  der  scotistischen  Psychologie 
vor  allem  die  Frage  nach  dem  Verhältnis  des  Willens  zum 
Intellekt  in  sich.  Wir  haben  bisher  nur  das  nepjative  Ver- 
hältnis kennen  gelernt,  dass  der  Intellekt  den  Willen  nicht 
kausiert.  Aber  wie  ist  das  positive  Verhältnis  beider  Begriffe 
auszudrücken?  Auch  hierüber  hat  Duns  sich  mehrfach  ge- 
äussert, wie  das  bei  einem  so  scharfen  Denker  nicht  anders  zu 
erwarten  ist.  Man  begegnet  bei  Duns  nicht  ganz  selten  dem  Satz : 
voluntas  imperat  intellectui.  Was  heisst  das,  wird  dadurch  das  sonst 
angenommene  Kausalverhältnis  einfach  umgekehrt,  sodass  der 
Wille  die  Ursache  der  Intellektionen  würde?  Darauf  ant- 
wortet Duns :  Es  sei  überhaupt  nicht  richtig,  zwischen  Denken 
und  Wollen  ein  direktes  Kausal  Verhältnis  zu  setzen,  denn 
weder  sei  ein  intellektueller  Akt  ganze  Ursache  des  Willens- 
aktes noch  umgekehrt.  Aber  freilich  selbst  wenn  das, 
wie  Thomas  annimmt,  wahr  wäre,  so  würde  gerade  dadurch 
seine  Folgerung  widerlegt,  denn  wenn  der  Intellekt  als  Ur- 
sache dem  Willen  vorausgeht,  so  würde  er  ja  dem  Willen 
dienen  (IV  dist.  49  quaest.  ex  lat.  §  16).  Aber  weder  dies 
noch  das  Entgegengesetzte  ist  der  Fall.  Und  doch  besteht 
ein  deutlicher  Zusammenhang  zwischen  Wollen  und  Denken. 
Indem  nämlich  die  geistige  Funktion  des  WoUens  es  nicht 
mit  den  sinnlichen  Objekten  als  solchen,  sondern  mit  von  diesen 
abgezogenen   Begriffen   zu  thun  hat,    empfängt   der  AVille   die 


92  Kap.  1:  Philosophische  und  theologische  Prinzipien. 

Objekte  seiner  Wahl  von  dem  Intellekt.  Es  geht  also  dem 
Willensakt  notwendig  ein  Erkenntnisakt  zeitlich  voran.  In- 
sofern kann  der  Wille  als  abhängig  von  der  Erkenntnis  an- 
gesehen werden.  Aber  diese  Abhängigkeit  ist  nur  scheinbar, 
da  in  Wirklichkeit  sich  die  Erkenntnis  gerade  hier  dem 
Willen  unterordnet  als  das  Mittel  zum  Zweck  und  die  Materie 
für  die  Form.  Von  einer  Kausierung  des  Willens  durch  die 
Erkenntnis  des  Intellekts  kann  in  diesem  Zusammenhang  also 
nicht  geredet  werden.  Denn,  wenn  man  das  Verhältnis  in 
das  Kausalschema  rücken  will,  so  würde  die  Erkenntnis  doch 
nur  dienende  Partialursache  für  die  Volition  sein,  während  der 
Wille  selbst  die  obere  und  entscheidende  Ursache  wäre  (so  lY 
dist.  49  quaest.  ex  lat.  §  18).  —  Wir  werden  also  sagen  können, 
dass  der  Wille  freilich  das  Denken  voraussetzt  und  dass  er 
auf  dies  von  ihm  vorausgesetzte  Denken  (cogitatio  prima)  nicht 
influieren  kann.  De  prima  (cogitatione)  probo,  quod  non  potest 
esse  in  potestate  voluntatis,  quia  aliqua  cogitatio  praecedit 
necessario  omne  veUe  (saltem  natura),  sed  quod  praecedit 
omne  velle,  natura  saltem  non  est  in  potestate  nostra  (II  dist. 
42  quaest.  4,  5).  Sofern  also  der  Intellekt  den  Spielraum  für 
die  Wahl  des  Willens  schafft,  geht  er  dem  Willen  notwendig 
voran;  von  einer  Beeinflussung  des  Willens  kann  um  so 
weniger  die  Rede  sein  ,  als  der  Intellekt  überhaupt  nur 
denkt,  d.  h.  das  Wahre  oder  Falsche  erkennt,  ohne  aber  das 
Sein  unter  den  Gesichtspunkt  des  Strebens  zu  rücken  (II  dist. 
25  quaest.  un.  22). 

Nun  muss  aber  auf  der  andern  Seite  behauptet  werden, 
dass  der  Intellekt  auch  vom  Willen  abhängt,  ohne  freilich,  wie 
wir  sahen,  durch  ihn  direkt  kausiert  zu  werden.  Diese  Be- 
hauptung gründet  sich  darauf,  dass  sonst  der  Intellekt,  sobald 
er  das  höchste  Objekt  gefunden,  unausgesetzt  demselben  zuge- 
wandt bleiben  würde  (11  dist.  42  quaest.  4,  5).  Allein  dies 
Verhältnis  genauer  zu  bestimmen,  bereitet  nicht  geringe 
Schwierigkeiten,  denn  da  immer  der  Gedanke  älter  ist  als  die 
Wollung,  scheint  ersterer  in  keiner  Weise  von  letzterer  ab- 
hängen zu  können.  Duns  weist  zunächst  fünf  Versuche,  den 
Einfluss  des  WoUens  auf  das  Denken  zu  erweisen,  als  unge- 
nügend zurück.     Man  sagt   erstens:   es  genüge  zur  Bewegung 


Wollen  und  Denken.  93 

des  Willens  die  habituelle,  nicht  die  aktuelle  Erkenntnis  der 
Objekte;  offenbar  soll  dann  die  aktuelle  Erkenntnis  unter 
den  Einfluss  des  Willens  gerückt  werden.  Aber,  sagt 
Duns,  die  Voraussetzung  trifft  nicht  zu,  denn  in  Wirklichkeit 
wird  der  Wille  sich  doch  nur  in  Bezug  auf  eine  besondere 
aktuelle  Intellektion  bewegen.  —  Zweitens:  eine  allgemeine 
Erkenntnis  genüge  als  Voraussetzung  der  Volitionen.  Aber 
auch  dies  ist  falsch,  denn  sollte  es  genügen,  um  meinen  Willen 
auf  den  Stein  zu  richten,  dass  mein  Intellekt  den  Gremein- 
begriff:  substantia  corporea  bildet,  könnte  dieser  Begriff  den 
Willen  nicht  ebensogut  auf  einen  Ochsen  oder  Vogel  hinweisen? 
Also  muss  die  Erkenntniss  notwendig  sich  auch  auf  die  Species 
erstrecken.  —  Drittens :  Eine  Intellektion  des  Subjektes  wird 
zurückgeschoben  und  an  ihre  Stelle  ein  neues  cogitabile  ein- 
geführt. Aber  warum  soll  es  der  Wille  sein,  der  diese  Ver- 
schiebung bewirkt,  warum  nicht  der  Intellekt  selbst?  Zudem 
könnte  der  Wille,  falls  der  Intellekt  ihm  keinen  neuen  Begriff 
darböte,  doch  auch  nur  von  sinnlichen  Bildern  bewegt  werden.  — 
Viertens:  Der  Wille  bewegt  den  Intellekt  zum  Festhalten  der 
einen  Objekte  im  Vergleich  zu  anderen.  Aber  diese  Be- 
schränkung taugt  nichts,  indem  der  Wille  auch  ohne  sie  den 
Intellekt  von  der  Betrachtung  der  Objekte  ablenkt.  —  Fünftens: 
Der  Intellekt  habe  es  mit  den  Einzelbegriffen  zu  thun,  der 
Wille  nötigt  ihn  aber,  dieselben  mit  einander  zu  verbinden. 
Aber  wie  sollte  der  Wille  über  die  Verbindung  der  Objekte 
bestimmen  können,  wenn  ihm  über  sie  als  einzelne  keine  Ver- 
fügung zusteht?  Zudem  sei  allen  diesen  Lösungsversuchen 
der  Mangel  gemeinsam,  dass  keiner  einen  intellektuellen  Akt 
zu  bestimmen  weiss,  der  jene  Abhängigkeit  vom  Willen  auf- 
wiese (1.  c.  6 — 9). 

Zur  Darstellung  seiner  positiven  Ansicht  bahnt  sich  Duns 
den  Weg  durch  drei  Sätze.  1)  Neben  einer  klaren  und  voll- 
ständigen Intellektion  können  in  dem  Intellekt  gegenwärtig 
sein  eine  Anzahl  undeutlicher  und  unvollständiger  Intellektionen, 
gerade  ebenso  wie  in  der  sinnlichen  Wahrnehmung  Analoges 
vorkommt.  2)  Diesen  Intellektionen  kann  der  Wille  Beifall 
oder  Missfallen,  Zustimmung  oder  Widerspruch  widmen. 
3)   Durch   diese  Bestätigung  des  Willens   werden  die  betr.  In- 


94  Kap.  1 :  Pliilosophisclie  und  theologische  Prinzipien. 

tellektionen  gestärkt  und  befestigt,  bezw.  geschwächt  und  ge- 
lockert. Es  ist  nämlich  klar,  dass  eine  [utellektion  in  dem 
Mass  sicher  sein  wird,  als  sie  durch  alle  Kräfte  der  geistigen  Seele 
Bestätigung  findet.  Die  Seele  ist  kräftiger  etwas  zu  behaupten, 
wenn  alle  Kräfte  zu  demselben  Zweck  konkurrieren,  als  wenn 
diese  Kräfte  sich  unter  einander  zersplittern  (ib.  10).  Nun 
können  also  die  undeutlichen  und  schwächeren  Intellektionen 
durch  die  Zustimmung  des  Willens  gestärkt  werden,  in  diesem 
Sinn  kann  dann  behauptet  werden:  et  sie  potest  (voluntas) 
iraperare  cogitationem  et  convertere  intellectum  ad  illam. 
Ebenso  wird  umgekehrt  eine  Intellektion  dadurch,  dass  der 
Wille  ihr  widerstrebt,  schwach  und  schwächer  werden  und 
schliesslich  aufhören :  et  sie  dicitur  voluntas  avertere  intellectum 
ab  intellectione  (11).  Schliesslich  bemerkt  Duns,  es  würde 
mehr  Schwierigkeit  machen  eine  unmittelbare  Gewalt  des 
Willens  über  den  Intellekt  zu  erweisen  (12).  Diesen  Versuch 
hat  er  aber  nicht  unternommen. 

5.  Das  Resultat  dieser  wichtigen  Erörterung  wird  zunächst 
auf  den  Leser  einen  überraschenden  Eindruck  machen,  denn 
der  Primat  des  Willens  kommt  nicht  in  so  deutlicher  und 
krasser  Weise  zur  Aussage,  als  man  nach  der  Ankündigung 
erwarten  möchte.  Die  beherrschenden  Gedanken  sind  also 
diese:  der  Wille  ist  frei,  die  geistige  Freiheit  über  den  Welt- 
zusammenhang bildet  das  Charakteristikum  des  Menschen. 
Nun  erfahren  diese  Gedanken  aber  eine  doppelte  Beschränkung: 
1)  Wie  die  Freiheit  von  Gott  gesetzt  ist,  so  erfolgt  die  Be- 
thätigung  derselben  stets  so,  dass  sie  den  göttlichen  Heils-  und 
Weltplan  realisiert.  Diese  Bethätigimg  ist  von  Gott  vorher- 
gewusst,  indem  vorherbestimmt.  Die  Unabhängigkeit  vom 
Weltzusammenhaug  schliesst  also  nicht  in  sich  die  Unabhängig- 
keit von  Gott.  In  dieser  Beziehung  erscheint  der  Mensch  viel- 
mehr als  durchaus  abhängig.  2)  Die  Vorherrschaft  des 
Willens  schliesst  nicht  aus,  dass  er  die  Sphäre  seiner  Be- 
thätigung  in  den  vom  Intellekt  ihm  dargebotenen  Ideen  und 
Begriffen  findet.  Da  aber  dieser  einen  umfassenden  Komplex 
durch  das  Mass  ihrer  Deutli-chkeit  und  Bestimmtheit  gegen 
einander  abgestufter  Vorstellungen  enthält,  behauptet  der 
WiUe  seine  Freiheit  und  Macht  dem  Intellekt  gegenüber  durch 


Wille  und  Intellekt.  % 

die  schlechthin  freie  Wahl  und  die  hieraus  resultierende  Kräf- 
tigung oder  Schwächung  der  intellektuellen  Ideen  und  Begriffe. 
Allein  diese  Schwächung  kann  nie  bis  zur  völligen  Eliminierung 
von  Teilen  des  Vernunftinhaltes  fortgehen ,  da  dieser  einen 
angeborenen  und  daher  unzerstörbaren  Bestand  im  Menschen 
darstellt.  Ebensowenig  kann  der  Wille  dem  Intellekt  schlecht- 
weg Vernunftwidriges  aufdrängen.  Das  ist  durchaus  begreiflich, 
denn  nach  dem  ganzen  Zusammenhang  kann  nur  Gedachtes, 
also  Denkbares  und  der  Vernunft  Kommensurables  den  Willen 
zur  Wahl  bewegen.  Allein  an  diesem  Punkt  macht  sich  eine 
gewisse  Unklarheit  in  der  Psychologie  unseres  Denkers  geltend. 
Jene  verw^orrenen  und  undeutlichen  Gebilde,  welche  neben 
den  klaren  Begriffen  in  dem  Intellekt  angenommen  werden, 
entsprechen  etwa  dem,  was  wir  als  Vorstellungen,  Empfindungen, 
Ahnungen  bezeichnen  könnten.  Allein  wegen  der  schroffen  und 
abstrakten  Scheidung  des  intellektiven  und  des  sinnlich  gefühls- 
mässigen  Elementes  in  der  Vorstellung  muss  ihnen  der  streng 
intellektive  Charakter  gewahrt  bleiben;  es  ist  aber  schwer  zu 
sagen  —  man  beachte  die  Kritik  des  Duns  den  anderen  An- 
sichten gegenüber  — ,  wie  die  Undeutlichkeit  und  Verworren- 
heit der  Vorstellungen  mit  ihrer  streng  intellektiven  Art  sollte 
vereinbart  werden  können?  Ebenso  bezeichnet  die  uns  hier, 
trotz  dem  S.  82  Bemerkten,  entgegentretende  abstrakte 
Scheidung  des  Trieb-  und  Willenslebens  eine  Schranke  der 
scotistischen  Psychologie.  Indem  nämlich  das  gesamte  sinn- 
liche Triebleben  an  sich  weder  den  Willen  beeinflussen  und 
drängen,  noch  auch  für  den  Willen  wählbare  d.  h.  rein  in- 
tellektive Vorstellungen  erzeugen  kann,  bleibt  die  Macht  der 
Triebe  für  das  sittliche  Leben  des  Willens  im  Unklaren  und 
kommt  die  Einheit  des  Seelenlebens  ins  Schwanken. 

Und  diese  Schwierigkeiten  werden,  wie  einleuchten  wird, 
nur  erheblich  verstärkt,  wenn  man  weiter  in  Anschlag  bringt, 
dass  dem  Intellekt  bestimmte  praktisch  vernünftige  Ideen  im- 
manent sind  und  für  ihn  daher  massgebend  bleiben.  Duns 
hat  dieselben  freilich  sehr  viel  vorsichtiger,  d.  h.  möglichst 
formal,  bestimmt  (s.  unten),  als  die  „Aufklärung",  gegen  die 
Kants  Kritik  sich  wandte.  Aber  immerhin  wächst  die 
Schwierigkeit,   die  Selbständigkeit  des  Willens  gegenüber  dem 


96  Kap.  I:  Philosophische  und  theologische  Prinzipien. 

Intellekt  und  seine  Beeinflussung  desselben  sich  vorzustellen, 
wenn  dieser  einen  schlechtweg  sicheren  und  un verdrängbaren 
moralischen  Inhalt  besitzt. 

Dazu  kommt  weiter,  dass  Duns  bei  der  Erwägung  der 
Determinabilität  des  Willens  den  Gedanken  seiner  Aktivität 
nicht  nur  durch  den  Ausschluss  seiner  Passivität,  sondern  auch 
seiner  Rezeptivität  erläuterte.  So  wenig  nun  diese  beiden  Be- 
griffe identisch  sind,  sowenig  hat  Duns  die  Leugnung  jeder 
Rezeptivität  des  Willens  durchführen  können.  Denn  ich  sehe 
nicht,  wie,  ohne  irgend  eine  Annahme  letzterer,  der  Gedanke 
von  dem  übernatürlichen  Habitus  der  Liebe  im  Willen  (s.  unten) 
sollte  aufrecht  erhalten  werden  können?  Nun  schlägt  aber, 
das  Obige  bewährt  das,  diese  Leugnung  der  Rezeptivität  des 
Willens  um  in  eine  übermässige  Beschränkung  des  Willens 
durch  die  intellektuellen  Ideen.  In  Wirklichkeit  hat  also 
Duns  durch  die  Betonung  der  reinen  Aktivität  des  Willens 
die  Anschauung  von  dem  Willensprimat,  die  ihn  leitete,  nicht 
gefördert,  sondern  beschränkt.  Daher  hat  aber  auch  seine 
Anschauung  des  religiösen  Lebens  —  s.  seinen  Glaubensbegriff 
unten  —  den  Bann  des  Intellektualismus  weniger  überwunden, 
als  man  nach  den  Voraussetzungen  erwarten  dürfte. 

5.   Die  Erkenntnislehre. 

1.  Wir  wollen  schliesslich  die  Erkenntnistheorie  des 
Duns  Scotus  betrachten  ^).  Im  allgemeinen  hat  er  die  im 
Mittelalter  gebräuchlichen  aristotelischen  Grundlagen  einge- 
halten, aber  er  hat  doch  auch  eine  Anzahl  eigenartiger  Be- 
obachtungen ausgesprochen.  Zunächst  ist  zu  bemerken,  dass 
ein  starker  empiristischer  Zug  seine  Theorie  leitet.  Er  hängt 
mit  der  Betonung  des  Einzelnen  und  Individuellen  zusammen. 
Sein  „Realismus"  gilt  nicht  nur  der  oberen,  sondern  auch  der 
unteren  Welt.  Nur  die  Erkenntnis  des  Konkreten  ist  wirk- 
liche Erkenntnis.     Sodann  ist  bei  ihm   das  Bemühen   wahrzu- 


^)  ^gl-  hierzu  Werner,  Die  Psychol.  und  Erkenntnislehre  des  Duns 
Scot.  Wien  1877;  Prantl,  Gesch.  der  Logik  III,  202 ff.  Pluzanski 
a.  a.  0.  p.  41  ff.  Aloys  Schmid,  Die  Thomist.  u.  Scotist.  Gewissheits- 
lehre,  Diliingen  1859. 


Die  Erkenntnislehre.  97 

nehmen,  die  Aktivität  des  Subjekts  bei  dem  Zustandekommen  der 
Erkenntnis  zu  wahren.  Der  Blinde  oder  der  schlafende  Hase  sehen, 
trotz  offener  Augen,  nichts,  weil  ihnen  diese  Aktivität  fehlt  (de 
anim.  quaest.  12).  Auch  das  hängt  mit  den  Grundlagen  seiner 
Weltanschauung  zusammen.  Alle  Erkenntnis  entstammt  sonach 
der  Wechselwirkung  zwischen  Subjekt  und  Objekt,  sie  ist  a 
cognoscente  et  cognito  (de  princ.  rerum  quaest.  15  §  33). 

2.  Als  psychologische  Voraussetzung  kommt  für  die  Er- 
kenntnistheorie zunächst  in  Betracht  die  Unterscheidung 
zwischen  der  cognitio  sensitiva  und  intellectiva  (de  rer.  princ. 
quaest.  13  art.  1,  1).  Dieser  Unterschied  entspricht  der 
geistigen  und  körperlichen  Natur  des  Menschen.  Beide  Fak- 
toren sind  bei  dem  Erkenntnisakt  beteihgt  (z.  B.  Sent.  I  dist. 
3  quaest.  6,  5.  13;  quaest.  7,  20.  24).  Erkenntnis  kommt  nur 
zu  stände  auf  Grund  bestimmter  sinnlicher  Eindrücke  von 
Seiten  der  Objekte.  Es  ist  die  Thätigkeit  der  fünf  Sinne  so- 
wie des  ihre  Wahrnehmungen  von  einander  unterscheidenden 
sensus  communis  (de  anima  quaest.  10).  So  entstehen  im 
Menschen  zunächst  die  apprehensiones  sensitivae  und  sodann  die 
imaginationes  oder  phantasiae.  Diese  einzelnen  Sinneseindrücke 
samt  den  mit  ihnen  zusammenhängenden  verworrenen  partiku- 
laren Vorstellungen  der  Phantasie  sind  also  origo  et  semina- 
rium  aller  Erkenntnis  (de  rer.  princ.  quaest.  13  art.  1,  4.  9 ; 
art.  2,  19.  27;  quaest.  15,  20).  So  sehr  steht  diese  peripate- 
tische  Grundlage  fest,  dass  selbst  für  die  Engel  und  die  ab- 
geschiedenen Seelen  ein  Vermögen  die  aktuale  Existenz  eines 
Dinges  zu  erfassen  postuliert  wird,  das  zwar  nicht  sinnlich,  aber 
doch  auch  nicht  rein  erkenntnismässig  sein  soll  (ib.  quaest. 
13,  10). 

3.  Nun  ist  aber  bei  dem  Menschen  in  den  sinnlichen  Wahr- 
nehmungen und  Empfindungen  der  Intellekt  gegenwärtig  und 
zwar  nicht  in  der  Weise  wie  die  Sonne  die  Erde  bescheint 
und  erwärmt,  sondern  so  wie  die  Seele  dem  Körper  als  ganzem 
immanent  ist  (ib.  art.  2,  15).  Also  ist  auch  in  den  Appre- 
hensionen  der  Sinnlichkeit  die  eine  Seele,  die  auch  das  Denken 
in  sich  fasst,  wirksam  (vgl.  oben  S.  81  f.).  So  wenig  es  ohne 
jene  zur  Erkenntnis  kommen  könnte,  so  sehr  ist  der  Intellekt 
-das  Element,    durch   das  diese  Erkenntnis   erst  geistige   d.  h. 

Seeberg,  Die  Theologie  des  Duns  Scotus.  7 


98  Kap.  1:  Philosophische  und  theologische  Prinzipien. 

perfecta  cognitio  wird.  Daher  kann  die  intellektive  Kraft  als 
die  Hauptursache  der  Erkenntnis  als  solcher  bezeichnet 
werden,  für  die  die  äussere  Welt  nur  die  occasio  zur  Bethätigung 
hergibt  (Quaest.  in  praedicam.  3),  denn  ohne  diese  Kraft  ent- 
stehen nur  unzusammenhängende  und  verworrene  Einbildungen, 
wie  etwa  im  Schlaf  oder  bei  Wahnsinnigen  (ib.  19).  Aber 
dies  hat  natürlich  nicht  den  Sinn,  als  wäre  ohne  sinnliche  Ein- 
drücke eine  Erkenntnis  zu  erlangen,  oder  der  Intellekt  die 
Totalursache  dieser.  Beide  gehören  zusammen,  numerisch 
sind  sensatio  und  intellectio  ein  Akt.  Auch  die  Sonne  ist 
die  Hauptursache  zur  Erzeugung  der  Früchte  am  Baum,  aber 
nur,  indem  sie  zusammen  und  zugleich  mit  dem  Baum  wirkt, 
entstehen  Früchte  (ib.  21).  Blosse  Anschauungen  würden 
tierartig  verworren  sein,  blosse  Begriffe  könnten  niemals  das 
esse  reale  extrinsecum  huius  rei  sensibilis  ergreifen  und  ver- 
stehen :  non  cognoscit  ipsum,  nisi  ut  est  sub  sensu  seu  in  ipsa 
sensatione  (ib.  cf.  Sent.  I  dist.  3  quaest.  7,  20.  24 ;  quaest.  8,  2). 
Aber  wir  vermögen  doch  deutlich  die  organische  sinnliche  Er- 
kenntnis von  der  geistigen  Erkenntnis  zu  unterscheiden,  indem 
der  Gedanke  sich  nicht  erschöpft  in  dem  Umfang  und  der 
Bichtung  des  sinnlichen  Eindruckes.  Die  Erkenntnis  umfasst 
das  Allgemeine  und  die  nicht  sinnlich  wahrnehmbaren  Eelationen 
der  Dinge  unter  einander,  die  rein  logischen  Zusammenhänge, 
sowie  das  Denken  selbst  (Sent.  IV  dist.  43  quaest.  1,  7.  10  f.). 
Demnach  kann  man  im  allgemeinen  sagen,  dass  die  sinn- 
lichen Empfindungen  und  Erfahrungen  dem  Denken  den  Stoff 
liefern,  der  vom  Intellekt  die  Form  erhält,  indem  er  den  Be- 
griff prägt  d.  h.  das  Einzelne  in  geistiger  Weise  auffasst  und 
seine  Eigenart  durch  Vergleichung  und  Unterscheidung,  durch 
Feststellung  der  Quiddität,  des  Genus  und  der  Eigen- 
schaften begreift.  Und  zwar  erkennt  der  Intellekt  zuerst  die 
einfachen  Elemente  des  Daseienden  (simplicia),  dann  ordnet  er 
diese  zusammen.  Der  Intellekt  aber  ist  befähigt,  diesem  Kom- 
plex, wenn  er  die  Art  eines  ersten  Prinzips  hat,  zuzustimmen, 
und  in  ihm  auszuruhen.  Dazu  befähigt  ihn  aber  das  lumen 
naturale  oder  der  habitus  principiorum,  quo  adhaeret  primis 
principiis  (In  Metaph.  quaest.  subtiliss.  II  qu.  1,  2  cf.  de  princ. 
rer.  quaest.  14  a.  3,  35).     Nun  soll  der  Intellekt  freilich,   wie 


Die  sinnliche  Wahrnehmung  und  der  Begrifi'.  99 

schon  Aristoteles  lehrte,  an  sich  eine  tabula  rasa  vel  nuda  sein. 
Dieser  Gedanke  wird  aber  dahin  verstanden ,  dass  der  In- 
tellekt von  Natur  Inhaber  der  metaphysischen  und  logischen, 
sowie  bestimmter  moralischer  Prinzipien  (Naturrecht)  ist.  Es 
sind  dem  Intellekt  immanente  formale  Grundideen,  an  denen 
er  alles  von  aussen  au  ihn  Herangebrachte  bemisst.  Demnach 
sind  die  ersten  notwendigen  Begriffsbestimmungen  (incom- 
pilexa)  und  Urteile  (complexa)  schlechthin  sicher,  denn  sie  folgen 
aus  dem  natürlichen  Bestand  des  Geistes.  Schlechthin  gewiss 
ist  aber  dem  Geist  das  Seiende,  sowie  dass  das  Seiende  eins, 
wahr  und  gut  ist,  und  der  Widerspruchssatz,  der  sich  daraus 
ergibt,  dass  das  Seiende  nicht  auch  in  derselben  Richtung  das 
Nichtseiende  sein  kann.  Das  ist  sowohl  thomistische  als  sco- 
tistische  Lehre.  Sofern  also  auf  dem  Wege  der  Sensation  und 
Intellektion  erworbene  Begriffe  oder  Urteile  jenen  obersten  Prinzi- 
pien konform  sind,  ist  der  Intellekt  von  ihnen  befriedigt.  Alle 
wirkliche  Erkenntnis  trägt  also,  streng  genommen,  analytischen 
Charakter.  Apriorische  synthetische  Urteile  gibt  es  nicht. 
Man  sieht  auch  hier  wieder,  wie  stark  das  subjektive  Moment 
bei  der  Erkenntnis  in  Anschlag  kommt.  Übrigens  vermisst 
man  eine  klare  abgegrenzte  Einsicht  in  das  Wiesen  und  die 
Bethätigung  dieses  Habitus  des  natürlichen  Lichtes. 

Die  rein  geistige  Thätigkeit  kann  auch  dann  fortgesetzt 
werden,  wenn  der  sinnliche  Eindruck  geschwunden  ist,  aber 
zur  konkreten  Erkenntnis  des  besonderen  Dinges  gehört  die 
Fortdauer  der  sensatio  (de  rer.  princ.  22  cf.  Sent.  I  dist.  3 
quaest.  6,  5).  Hierbei  muss  aber  in  Acht  behalten  werden, 
dass  der  Intellekt  keineswegs  immer  das  von  der  Sinnlichkeit 
dargebotene  Material  einfach  acceptiert.  Er  übt  an  demselben 
auch  eine  rektifizierende  Thätigkeit  aus.  Diese  beruht  einer- 
seits darauf,  dass  er  sonstige  Sinneswahrnehmungen  bezüglich 
des  Objektes  mit  in  Anschlag  bringt,  andererseits  auf  den  ihm 
immanenten  logischen  Prinzipien.  Der  Stock  erscheint  dem 
Auge  im  Wasser  gebrochen,  aber  der  Tastsinn  widerlegt  diese 
Sinneswahrnehmung,  ebenso  wie  die  logische  Erwägung,  dass 
das  Wasser  den  Stock  nicht  zerbrochen  haben  kann.  Ebenso 
steht   es   z.  B.    mit  dem  sinnlichen  Eindruck,   dass   die  Sonne 


100  Kap.  I:  Philosophische  und  theologische  Prinzipien. 

nur   zwei   Fuss   im   Durchmesser   habe   (Sent.  I  dist.  3  quaest. 
4,  11). 

4.  Also  die  Erkenntnis  des  Dinges  haftet  am  sinnlichen 
Eindruck  desselben.  Auch  die  rektifizierende  Thätigkeit,  die 
der  Intellekt  an  bestimmten  Sinneswahrnehmungen  vornimmt, 
kann  doch  nicht  ausser  Zusammenhang  mit  anderweitigen  sinn- 
lichen Erfahrungen  gedacht  werden.  Hier  nun  erhebt  sich 
eine  Frage,  die  für  die  Erkenntnistheorie  des  Mittelalters  von 
grösster  Bedeutung  ist.  Das  Ding  ist  eine  einzeln  ausgedehnte 
sinnliche  Grösse,  der  Intellekt  erfasst  das  Allgemeine  und 
Nichtsinnliche :  wie  kommt  nun  das  sinnliche  Ding  in  den  In- 
tellekt? Dasselbe  Problem  aber  kehrt  wieder  bei  der  ima- 
ginatio,  denn  auch  diese  vermag  das  Ding  als  solches  in  seiner 
quantitativen  Ausdehnung  nicht  in  sich  aufzunehmen.  Man 
kann  nun  weder  Atome  aus  den  Dingen  in  die  Seele  einströmen 
lassen,  noch  auch  einfach  auf  die  so  beschaffene  Wirkung  des 
Dinges  auf  die  Seele  rekurrieren,  denn  ersteres  ist  unmöglich 
und  letzteres  erklärt  nichts.  Man  versucht  nun,  diese  Schwierig- 
keit durch  einen  neuen  Begriff  zu  heben,  durch  die  An- 
nahme der  species.  Species  ist  die  Erscheinung  oder 
das  Abbild  des  Dinges.  Sofern  nun  der  Mensch  das  Ding 
erfasst,  aber  das  Ding  an  sich  nicht  erfassen  kann,  ist 
anzunehmen,  dass  jedem  Ding  eine  doppelte  species  imma- 
nent ist,  die  species  sensibilis  als  das  Bild  eines  sinnlichen  und 
ausgedehnten  Dinges,  und  die  species  intelligibilis  als  das  im 
Ding  gegebene  geistige  Erkenntnisbild  desselben  ^).  Es  ist  nun 
nicht  so,  als  wenn  die  Species  blos  von  den  Dingen  abgezogene 
subjektive  Bilder  wären,  sie  sind  vielmehr  als  Ursachen  der 
besonderen  Wirkungen  der  Dinge  auf  den  Menschen  als  den 
Dingen  anerschaffene  und  ihnen  immanente  Eealitäten  zu  be- 
greifen. Die  species  intelligibilis  ist  eine  forma  simplex  im- 
materialis  vel  spirituaKs,  die  unausgedehnt  und  uuausdehnbar 
in  jedem  sinnlichen  Ding  vorhanden  ist.  Diese  species  —  das- 
selbe gilt  von  der  species  sensibilis  oder  imaginabilis  —  ist  es, 
die  den  Intellekt  beeinflusst  und  ihn  anregt  zur  Erfassung  dieser 
ihm  kommensurabeln    Grösse.     Nicht   das   Ding,   sondern   die 

^)  Viele  Beispiele  aus  Thomas  s.  bei  Schütz,  Thomas -Lexikon, 
2.  Aufl.  1895,  S.  762  f. 


Species  sensibilis  und  intelligibilis.  101 

species  desselben  nimmt  die  Seele  auf  und  behält  sie  in  sich 
(Sent.  IV  dist.  45  quaest.  1,  3.  5 ;  III  dist.  14  quaest.  3,  7), 
denn  das  Phantasma  kann  ebensowenig  als  das  sinnliche  Ding 
den  Intellekt  bewegen,  und  ausserdem  bleibt  ja  Begriff  und 
Imagination,  auch  wenn  ihr  Ding  weit  von  uns  entfernt  ist  (de 
rer.  princ.  quaest.  14  art.  3,  37).  Die  Seele  empfängt  also 
Einwirkungen  von  aussen.  Diese  sind  so  beschaffen,  dass  sie 
von  den  Sinnen  gespürt  werden  und  zugleich  in  der  Seele  ein 
Phantasma  erzeugen  (Sent.  II  dist.  11  qu.  un.  §  4),  zugleich  aber 
auch  so,  dass  der  Intellekt  aus  der  sinnlichen  Empfindung  wie 
aus  diesem  Phantasma  eine  species  intelligibilis  abnehmen  kann. 
Das  Phantasma  und  der  Begriff  resp.  die  s]Decies  sensibilis  und 
intelligibilis  unterscheiden  sich  also  folgendermassen.  Ersteres 
befasst  in  sich  das  sinnliche  Bild  des  Dinges,  d.  h.  die  Vor- 
stellung von  einem  besonderen  Quantum,  einer  Figur  mit  ihren 
Farben  etc.;  letzterer  enthält  die  von  allen  konkreten  Merk- 
malen abgezogene  Erkenntnis.  In  letzterem  Fall  wird  also 
z.  B.  der  abstrakte  Gedanke  gedacht:  Das  Ganze  ist  grösser 
als  sein  Teil,  in  erst  crem  Fall  wird  dies  von  einem  hölzernen 
oder  steinernen  Ding  mit  allen  seinen  Accidenzien  empfunden 
(Sent.  I  dist.  3  quaest.  4,  22).  Nun  ist  aber  die  species  in- 
telligibilis nicht  etwa  eingeschlossen  in  das  Phantasma  oder  das 
Vorstellungsbild,  denn  letzteres  hat  das  Besondere  und  Einzelne 
zum  Gegenstand,  erstere  das  Universale.  Da  aber  das  Uni- 
versale seine  Realisierung  stets  in  dem  Denken  findet,  das 
Denken  aber  durch  die  Phantasmen  angeregt  wird,  so  ent- 
nimmt der  Intellekt  oder  erzeugt  er  sich  die  species  intelli- 
gibilis aus  der  species  sensibilis:  intellectus  agens  facit  aliquid 
repraesentativum  universalis  (d.  h.  eben  die  species  intellig.) 
de  eo  quod  fuit  repraesentativum  singularis.  Wo  also  das 
Phantasma  und  der  intellectus  agens  (über  diesen  Begriff  s.  unten 
Genaueres)  zusammentreffen,  da  wird  durch  die  Thätigkeit  des 
letzteren  aus  ersterem  die  species  intelligibilis  hergeleitet  und 
dadurch  das  Ding  denkbar  —  im  strengeren  Sinn  —  gemacht 
(Sent.  I  dist.  3  quaest.  6,  8.  10.  16).  —  Allein  mit  alledem 
soll  nicht  gesagt  sein,  dass  die  intelligible  Species  formal 
identisch  sei  mit  der  sensibeln  Species.  Es  ist  die,  konkret 
angesehen,    einheitliche   Seele,    welche   sich    zunächst  auf  das 


102  Kap.  I:  Philosophische  und  theologische  Prinzipien. 

Phantasma  richtet^  aber  so,  dass  sie  demselben  nicht  nur  Vor- 
stellungen ,  sondern  auch  den  Begriff  entnimmt.  Wie  nun 
ersteres  eine  objektive  Realität  am  Ding  voraussetzt,  nämlich 
die  sensible  Species,  so  auch  letzteres,  nämlich  die  dem  Uni- 
versale entsprechende  intelligible  Species.  Auch  letztere  muss 
daher  eine  forma  realis  in  existentia  sein,  denn  da  der  Denk- 
akt sie  und  nicht  das  Phantasma  zum  Ziel  hat  und  in  ihr 
und  nicht  im  Phantasma  zur  Ruhe  kommt,  so  muss  sie  real 
vor  dem  Denkakt  existieren,  mag  sie  immerhin  erst  durch 
diesen  zur  subjektiven  Existenz  im  Menschen  gelangen.  Das 
intelligible  Bild  des  Universale  ist  das  dem  Intellekt  kom- 
possible  Objekt  seiner  Thätigkeit  (s.  ib.  quaest.  6,  5.  8.  11). 
Diese  ganze  Vorstellung  begreift  sich  also  als  eine  Konsequenz 
aus  dem  metaphysischen  Lehrsatz  von  der  objektiven  Existenz 
der  Universalien.  Der  ganzen  Betrachtung  liegt  zu  G-runde  das 
Postulat,  dass  in  den  Dingen  etwas  Objektives  sein  muss,  was  sie 
der  geistigen  Erfassung  fähig  macht  oder  auch  etwas,  wodurch 
wir  die  Vielheit  der  Erscheinungen  an  einem  Ding  zur  Einheit 
der  Vorstellung  und  des  Begriffes  zusammenfassen.  Diese  Be- 
trachtung wäre  aber  noch  erschwert  worden,  wenn  Duns  auf 
letztere  Wendung  des  Gedankens  —  von  den  Dingen  gehen 
auch  species  specialissimae  aus,  die  aber  durch  die  logischen 
Schemata  der  Kausalität,  der  Eigenschaften  etc.  zur  Einheit 
zusammengehalten  werden  (1.  c.  quaest.  7,  41)  —  weiter  ein- 
gegangen wäre.  Aber  sein  Realismus  hob  ihn  über  diese 
Fragen  hinweg.  Erst  Occam  hat  mit  dem  Realismus  der 
Universalien  auch  die  Species  abgethan. 

5.  Nun  hat  aber  Duns,  trotz  seiner  Übereinstimmung  im 
allgemeinen  mit  der  thomistischen  Erkenntnislehre,  doch  auch 
im  Verfolg  seiner  Grundanschauung  seine  Auffassung  gegen  die 
thomistische  abgegrenzt.  Nach  Thomas  erfasst  der  Intellekt 
die  species  intelligibilis  oder  das  Universale,  und  zwar  so,  dass 
der  intellectus  agens  die  species  intelligibilis  dem  Phantasiebild 
entnimmt  und  dann  diese  species  dem  intellectus  possibilis 
zur   Annahme   darbietet^).     Letzterer   ergreift   dann   das   üni- 


*)  Diese  Unterscheidung  gibt  die  aristotelischen  Begriffe   i-ovg  noirj' 
ri-KOs  und  vovg  dvvdus/,  wieder.     Ersterer  bezeichnet  die  Vernunft,  sofern 


Der  Begriff  und  die  Erfahrung-.  103 

versale  direkt  und  durch  sich.  Allein  Duns,  der  dem  im  ali- 
gemeinen zustimmt  (s.  Sent.  I  dist.  3  quaest.  6,  8.  16),  nimmt 
an,  dass  der  Intellekt  auch  das  einzelne  Ding  erreicht,  und 
zwar  deshalb,  weil,  wie  wir  sahen,  der  Intellekt  ja  von  der 
Sensatio  konkret  nicht  getrennt  werden  kann.  Daher  wird 
der  Intellekt  nicht  nur  eine  blos  schematische  Erkenntnis  er- 
langen, sondern  sich  auch  auf  das  Einzelne  richten  (de  princ. 
rer.  quaest.  13,  28 — 33),  um  dann  in  diesem  das  Allgemeine 
zu  ergreifen.  Die  Leugnung  dessen,  dass  der  Intellekt  das  Kon- 
krete und  Einzelne  erfasse,  führt  geradezu  auf  häretische  Konse- 
quenzen. Es  war  doch  ein  besonderer  konkreter  Mensch,  den 
die  Apostel  sahen  und  betasteten  und  den  ihr  Intellekt  als 
Gott  erkannte  (33).  Ebensowenig  kann  gesagt  werden,  dass 
der  intellectus  possibilis  es  nur  mit  dem  Abstraktum  zu  thun 
habe,  denn  wenn  der  Intellekt  aus  den  Dingen  Begriffe  ge- 
winnt, so  kann  das  nur  unter  Wahrnehmung  des  Dinges  ge- 
schehen. Man  bildet  auf  Grund  der  Wahrnehmung  eines 
Menschen  eben  den  Begriff  Mensch,  und  nicht  den  Begriff 
Esel  (34).  Also  hat  es  auch  der  intellectus  possibilis  mit  der 
sensatio  und  dem  phantasma,  und  nicht  nur  mit  dem  Univer- 
sale zu  thun,  denn  das,  was  der  intellectus  agens  aus  dem 
Phantasma  entnimmt,  wird  Gegenstand  des  intellectus  possi- 
bilis (35).  Wieder  betont  unser  Denker,  dass  die  Begriffe  auf 
der  Erfahrung  von  dem  sinnlichen  Eindruck  der  Objekte  be- 
ruhen. Der  Intellekt  freilich  hat  bei  diesem  Prozess  als 
solcher  nur  das  cognoscere  zu  besorgen,  aber  die  volle  Ge- 
wissheit von  der  Realität  eines  Seienden  kann  nur  durch 
die  Erfahrung  und  die  sinnliche  Berührung  erworben  werden. 
Das  zeigt  die  Aufforderung  Christi  an  Thomas,  seine  Wunden- 
male zu  betasten  (42).  Und  zwar  muss  hier  gesagt  werden, 
dass  die  Gewissheit  nicht  einmal  an  der  sinnlichen  species 
haftet,  sondern  nur  an  der  sensatio  selbst  oder  der  sinnlichen 


sie  aus  den  Phantasmata  Begriffe  abstrahiert,  letztere  die  Vernunft,  wie 
sie  fähig  ist  diese  Begriffe  aufzunehmen  und  zu  bewahren.  Von  ersterem 
unterscheidet  sich  übrigens  d  voiJg  d  xar'  iv^Q-ysiav ,  welcher  nur  Er- 
scheinungsform des  Denkvermögens  oder  des  vovg  övvdfiet  ist.  Vgl. 
z.  B.  die  notitia  actualis  des  intellectus  possibilis  bei  Duns  Sent.  Prol. 
quaest.  1,  21. 


104  Xap.  I:  Philosophische  und  theologische  Prinzipien. 

Berührung  mit  dem  Objekt,  denn  die  species  würde  nur  das 
Bild  Petri  darbieten,  für  das  es  indifferent  ist,  ob  Petrus 
lebendig  oder  tot  ist  (43). 

Demnach  urteilt  Duns  Scotus,  dass  der  Intellekt  zuerst 
das  Einzelne  und  Besondere  und  erst  dann  das  Universale  er- 
kennt, prius  cognoscit  intellectus  singulare  quam  universale ; 
und  dass  das  eigentliche  Fundament  alles  Erkennens  das 
einzelne  Ding  in  seiner  Aktualität  ist.  Unde  fundamentum 
originale,  a  quo  movetur  omnis  cognitio,  dico  radicaliter  est 
esse  actuale.  Et  dico  radicaliter,  quia  facta  apprehensione 
actualitatis  rei,  ipsa  detracta  re,  ipsa  remauet  cognitio  secun- 
dum  aliquem  modum  tarn  in  intellectu  quam  in  imaginatione 
(44).  Die  Erkenntnis  wird  also  wirkliche  Erkenntnis  nur  ver- 
möge ihres  rein  geistigen  Charakters,  aber  sie  ist  Erkenntnis 
des  Wirklichen  nur  vermöge  ihres  Zusammenhanges  mit  der 
Sensation  des  besonderen  Dinges.  Zwischen  diesen  beiden 
Endpunkten  bewegt  sich  die  Erkenntnis  so,  dass  dieselben  zu- 
gleich die  Hauptpunkte  im  Erkenntnisvorgang  sind.  Das 
Empfinden  des  einzelnen  Dinges  und  seiner  Realität  ist  der 
Ausgang,  dann  folgt  die  Entstehung  des  phantasma  durch  die 
species  sensibilis,  sodann  ergreift  der  Intellekt  diese  einzelne 
species  als  geistige  und  dann  erst  erhebt  er  dies  Einzelne  und 
Besondere  auf  die  Stufe  des  Universale,  dies  ist  der  Endpunkt 
(vgl.  1.  c.  §  45.  46).  Die  Erkenntnis  ist  rein  geistig  und  doch 
auch  ganz  konkret. 

Die  volle  Gewissheit  haftete,  wie  wir  sahen,  an  der  Sen- 
sation. Letztere  kann  durch  die  Imagination  oder  durch  das 
Gedächtnis  vertreten  werden.  Indem  aber  diese  beiden 
Potenzen  nur  subjektive  Zustände  repräsentieren,  können  sie 
die  Realität  des  Objektiven  nicht  mit  der  Gewissheit  der  Sen- 
sation bewähren.  Das  Gedächtnis  nämlich  ist  nicht  aus 
direkten  Fortwirkungen  der  betreffenden  Objekte  zu  erklären, 
sondern  daraus,  dass  dem  Geist  sein  eigenes  auf  jene  Objekte 
gerichtetes  Handeln  und  insofern  auch  die  Objekte  gegenwärtig 
bleiben.  Nicht  also  erinnere  ich  mich  dessen,  dass  einer  ge- 
sessen hat,  sondern  der  wirkliche  Vorgang  wird  wiedergegeben 
durch  die  Formel:  recordor  me  vidisse  vel  nosse  te  sedisse. 
Nicht  das   Ding  als   solches    kann  also    festgehalten    werden, 


Gedächtnis,  Selbsterkenntnis  der  Seele.  105 

sondern  nur  die  Ergreifung  seiner  Species  seitens  des  Geistes. 
Aber  indem  das  sinnliche  wie  intellektive  Gedächtnis  besteht, 
werden  in  ihm  die  sensibeln  wie  intelligibeln  Species  fort- 
erhalten, auch  wenn  die  Aktualität  des  auf  sie  gerichteten 
Gedankens  aufhört.  Auch  hierbei  hat  Duns  die  Frage,  wozu 
es  denn  der  Imagination  bedürfe,  wenn  doch  die  species  intelli- 
gibilis  zur  Erklärung  des  Gedächtnisses  ausreiche,  beantwortet 
durch  den  Hinweis  auf  den  engen  und  notwendigen  Zusammen- 
hang beider  psychischer  Funktionen  (Sent.  I  dist.  3  quaest.  6,  28). 
In  dieser  geistigen  Art  liege  das  Spezifische  der  menschlichen 
im  Gegensatz  zur  tierischen  Erinnerung  (Sent.  IV  dist.  45 
quaest.  3,  4.  5.  8  ff. ;  I  dist.  3  quaest.  6,  14.  26). 

6.  Indessen  führt  uns  diese  Betrachtungsweise  schon  weiter 
zu  dem  letzten  Punkt,  den  wir  aus  der  scotistischen  Erkenntnis- 
theorie hervorheben  wollen.  Es  ist  die  Frage,  ob  die  Seele 
sich  und  ihre  Habitus  erkenne  direkt  aus  ihrer  essentia  oder 
aus  ihren  Akten,  oder  auch  durch  die  Vermittlung  von  species  ? 
Duns  beginnt  seine  Erörterung  mit  der  Bemerkung,  dass  man 
hier  an  eine  dreifache  Erkenntnis  denken  könne:  die  argui- 
tive,  die  in  der  Wirkung  die  Ursache  erkennt,  die  intuitive 
oder  direkt  schauende  und  die  spekulative  oder  auf  die  Quid- 
dität  der  Seele  gerichtete.  Die  Existenz  der  Seele  in  uns  er- 
kennen wir  zunächst  auf  arguitivem  Wege  d.  h.  durch  den  Schluss 
von  den  Funktionen  der  Seele  auf  ihr  Wesen.  Ut  dum  ex- 
perior  me  velie,  scio  animam  meam  certissime  esse  et  dum 
considero,  quod  velle  et  intelligere  sunt  actus  spirituales  et 
immateriales,  concludo,  quod  anima  est  substantia  spiritualis 
et  immaterialis  et  sie  procedendo  quicquid  sciri  potest  per 
effectum  (de  rer.  princ.  quaest.  15,  2.  7).  Indem  nun  diese 
Selbstgewissheit  sich  auf  eine  experimentatio  intrinseca  stützt, 
zeichnet  sie  sich  durch  einen  besonders  hohen  Grad  der  Festig- 
keit aus.  Beruht  doch  auch  alle  andere  Gewissheit  schliesslich 
irgendwie  auf  der  Gewissheit  von  dem  subjektiven  Erleben  der 
betr.  Eindrücke  und  Species.  Das  gilt  auch  vom  religiösen 
Leben:  non  aliunde  scio  me  credere  nee  certus  sum  me  velle 
credere  et  velle  articulis  assentire  (ib.  3).  Aber  dieser  Zu- 
sammenhang schliesst  nicht  aus  sondern  ein,  dass  wir  des 
Seins  unserer  Seele  erst  dadurch  gewiss  werden,  dass  wir  ihre 


106  Kap.  I:  Philosophische  und  theologische  Prinzipien. 

Funktionen  in  der  Richtung  auf  bestimmte  Objekte  wahr- 
nehmen :  pervenit  anima  ad  percipiendum  se  esse  per  illud 
quod  actu  intelligit  et  sentit  (ib.  9). 

Doch  was  ist  es  mit  den  beiden  anderen  Formen  der  Er- 
kenntnis? Was  zunächst  die  spekulative  anlangt,  so  ist  leicht 
ersichtlich,  dass  wir  dieselbe  von  unserer  eigenen  Seele  in  ge- 
nau der  Weise  wie  von  jeder  anderen  Seele  erlangen  werden, 
denn  die  Untersuchung  über  die  Quiddität  wird  hier  und  dort 
mit  den  gleichen  Mitteln  geführt  werden  müssen  (4).  Gibt 
es  eine  intuitive  Erkenntnis  der  eigenen  Seele?  Dies  wird  von 
vielen  verneint.  Duns  will  es  aber  bejahen,  unter  Berufung 
auf  die  Autorität  Augustins.  Er  meint,  dass  die  Seele  sich 
selbst  unmittelbar  wahrnimmt.  Durch  die  Erkenntnis  ihrer 
innersten  Akte,  wie  etwa,  dass  sie  lebt,  will,  strebt,  erkennt 
sie  nicht  nur,  dass  sie  ist,  sondern  auch  was  sie  ist  (et  quia 
est  et  quid  est,  19.  25).  Hierfür  kann  man  einen  inneren 
geistigen  Sinn  annehmen,  der,  ebenso  w^ie  die  fünf  Sinne  sich 
nach  aussen  richten,  sich  nach  innen  wendet  (20).  Nun  ist  es 
aber  Duns  nicht  entgangen,  dass  auch  bei  dieser  Betrachtungs- 
weise zunächst  die  seelischen  Funktionen,  wie  sie  auf  bestimmte 
äussere  Objekte  gehen,  und  dann  erst  die  Seele  selbst  Gegen- 
stand der  Erkenntnis  werden  könnte.  Was  er  dagegen  ein- 
wendet, ist  nicht  überzeugend,  Er  hält  es  für  angemessen, 
dess  die  Seele  von  der  unvollkommeneren  durch  die  Sinnlich- 
keit vermittelten  Erkenntnis  fortschreite  zu  der  vollkommeneren 
Art  der  direkten  Selbsterkenntnis  (21).  Aber  wer  sieht  nicht, 
dess  dies  Argument  sehr  wohl  gegen  die  intuitive  und  für  die  argui- 
tive  Entstehung  der  Selbsterkenntnis  ausgebeutet  werden  könnte? 

Was  nun  weiter  die  Erkenntnis  der  seelischen  Habi- 
tualitäten  anbetrifft,  so  meinte  man,  dass  während  die  Seele 
ihre  Essenz  durch  den  Fortschritt  vom  Dass  zum  Was 
kennen  lerne,  die  Erkenntnis  des  Habitus  vom  Was  aus  sich 
des  Dass  bemächtige.  Man  müsse  also  zuerst  wissen,  was 
Keuschheit  ist,  ehe  man  das  Dasein  dieses  Habitus  in  sich 
feststelle.  Das  ist  nach  Duns  falsch.  Man  wird  nämlich  die 
Keuschheit  in  sich  zunächst  an  Akten  und  dann  erst  an  dem 
aus  diesen  hervorgegangenen  regelmässigen  und  ordentlichen 
Besitz,  dem  Habitus,  zu  erkennen  haben.     Wie  also  zuerst  der 


Selbsterkenntnis  der  Seele  und  ihrer  Habitus.  107 

Akt  und  dann  der  Habitus  ist,  so  wird  auch  zuerst  in  Bezug 
auf  den  Akt  und  dann  erst  in  Bezug  auf  den  Habitus  sich 
erkennen  lassen ,  was  man  an  ihnen  als  keusch  bezeichnet. 
Das  ist  das  logische  Verhältnis,  während  zeitlich  jene  Er- 
kenntnis vom  Was  zugleich  gewonnen  wird  vom  Akt  wie  vom 
Habitus  (22).  Jedenfalls  aber  ist  bei  dieser  Sachlage  die 
obige  Unterscheidung  unveranlasst.  Das  ist  sie  freilich,  wenn 
man  sie  so  deutet,  dass  in  Bezug  auf  den  Habitus  jene  Er- 
kenntnis des  Was  erst  neugewonnen  werden  muss,  statt  dass 
sie  von  den  Akten   her  für  den  Habitus   vorausgesetzt  würde. 

Das  Resultat  der  ganzen  Betrachtung  ist  also  folgendes. 
Auf  dem  arguitiven  Wege  d.  h.  durch  Schlüsse  gewinnt  die 
Seele  die  Erkenntnis,  dass  sie  ist  und  dann  was  sie  ist.  Sie 
schreitet  also  fort  von  der  Beobachtung  ihrer  Akte  z.  B.  des 
Denkens  zu  der  Erkenntnis  ihrer  Potenz,  z.  B.  dass  sie  in- 
tellektiv  ist,  dann  zur  Erkenntnis  ihrer  Substanz,  etwa  dass  sie 
immateriell  ist.  Aber  die  Seele  bedient  sich  auch  des  Weges 
der  unmittelbaren  Intuition  in  Bezug  auf  das  Was  ihrer  Essenz 
und  ihres  Habitus  (vgl.  24  ff.). 

Aber  wie  steht  es  hier  mit  der  Frage  nach  den  Species  ? 
Duns  meint,  es  sei  klar,  dass  wenn  die  Seele  ihre  Essenz 
oder  ihre  Habitus  erkennen  soll,  von  diesen  etwas  in  sie 
hineingesandt  werden  muss.  Das  sind  species,  aber  nicht  species 
impressae,  die  von  aussen  in  die  Seele  hineingeführt  werden, 
sondern  species  expressae  d.  h.  Gestaltungen,  in  denen  die 
Seele  sich  selbst  ausprägt.  Soll  also  die  Seele  sich  erkennen, 
so  muss  sie  in  sich  selbst  eine  similitudo  ihres  Seins  und 
Wesens  erzeugen,  auf  die  sich  der  Intellekt  richten  kann. 
Aber  diese  Thätigkeit  des  Intellektes  ist  trotzdem  intuitiv 
oder  direkt  (27).  Mit  anderen  Worten :  In  dem  Akt  der  Selbst- 
erkenntnis wird  die  Seele  als  Subjekt  wie  Objekt  gesetzt.  Sie 
kann  also  den  Erkenntnisakt  in  Bezug  auf  sich  selbst  nur  voll- 
ziehen, indem  sie  sich  selbst  objektiviert  d.  h.  ein  Bild  von 
sich  erzeugt,  auf  welches  als  Objekt  sich  dann  der  Intellekt 
als  Subjekt  richten  kann.  Das  ist  die  species  expressa.  Und 
hieraus  ergibt  sich  dann,  dass  und  in  welchem  Sinn  man  eine 
intuitive  Selbsterkenntnis  der  Seele  annehmen  kann. 

Es  braucht  kaum  besonders  hervorgehoben  zu  werden,  dass 


108  Kap.  I:  Philosophische  und  theologische  Prinzipien. 

diese  intuitive  Erkenntnis  nur  in  Bezug  auf  das  Selbstleben 
der  Seele  Geltung  hat,  dass  aber  jede  Erkenntnis  des  ausser- 
halb unser  Gelegenen  nur  auf  dem  oben  beschriebenen  Wege 
durch  die  species  impressae  erlangt  werden  kann. 

7.  Es  mag  an  diesen  Grandzügen  der  Erkenntnistheorie 
des  Duns  Scotus  für  unseren  Zweck  genug  sein.  Es  hat  sich 
uns  bestätigt,  dass  dieselbe  im  Ganzen  die  Linie  der  aristo- 
telisch-thomistischen  Lehre  einhält.  Aber  nicht  minder  muss 
es  einleuchten,  dass  auch  hier  die  eigene  Weltanschauung 
unseres  Denkers  sich  geltend  macht.  Ich  verweise  auf  die 
Hauptzüge.  Mit  grosser  Energie  wird  ein  Empirismus  des 
Erkennens  verfochten.  Gewisse  Erkenntnisse  lassen  sich  nur 
erwerben  auf  Grund  der  sinnHchen  Wahrnehmung  und  in 
steter  Berührung  mit  den  Objekten  derselben.  Die  Erfahrung 
ist  die  dauernde  Grundlage  aller  Erkenntnis.  Nicht  die  Spe- 
kulation, sondern  die  Empirie  begründet  und  erhält  die  Er- 
kenntnis. Ereilich  diese  Gedanken  werden  limitiert  durch 
andere  Elemente  der  scotistischen  Philosophie:  Die  schwer  zu 
kontrolierende  Thätigkeit  des  intellektuellen  Habitus  principi- 
orum,  sowie  die  mit  dem  Realismus  zusammenhängende  An- 
nahme der  species.  Aber  trotzdem  wird  in  dieser  Seite  der 
scotistischen  Erkenntnistheorie  ein  Element  eines  gewissen 
Fortschrittes  wahrgenommen  werden  müssen. 

Neben  den  Empirismus  tritt  der  Subjektivismus.  Das 
Erkennen  ist  eine  That  des  Menschen.  Wir  selbst  erkennen, 
obgleich  alle  Erkenntnis  sich  an  sich  in  einem  naturnot- 
wendigen Kausalzusammenhang  (s.  oben  S.  90)  vollzieht. 
Aber  innerhalb  dieses  Zusammenhanges  hat  der  Intellekt  doch 
die  Möglichkeit  die  sinnlichen  Eindrücke  zu  verbessern  und 
vermöge  seines  Zusammenhanges  mit  dem  Willen  (oben  S.  93  f.) 
sie  zurückzudrängen.  Die  empirisch  erw^orbenen  Gedanken- 
bilder sind  Inhalt  des  Menschen  nur,  sofern  er  selbst  sie  in 
sich  intellektuell  realisiert,  sie  sind  ein  schlechthin  subjektiver 
Besitz.  Nicht  im  Sinne  aprioristischer  Spekulation  ist  der 
Subjektivismus  hier  zu  verstehen,  sondern  als  geistige  Aneignung 
des  objektiv  Gegebenen.  So  schliesst  sich  dieser  Zug  mit  dem 
Empirismus  zusammen  und  ist  gerade  in  diesem  Zusammen- 
hang  zu    einem    wichtigen    geschichtlichen  Faktor    geworden. 


Empirismus,  Subjektivismus,  Positivismus.  109 

Trotz  seines  „Realismus"  ist  Duns  auch  hierin  als  Vorläufer 
des  Occam  und  der  modernen  Theorien  der  Erkenntnis  zu  be- 
zeichnen. 

Ein  dritter  Punkt,  der  auch  hier  zu  erwähnen  ist,  betrifft 
die  feine  und  sorgfältige  Beobachtung  des  Seelenlebens  bei 
Duns.  Auch  hier  begegnet  uns  wieder  eine  gewisse  Konkretheit 
der  Anschauung.  Immer  wieder  spielen  die  Sinneseindrücke  in 
das  intellektuelle  Gebiet  und  dieses  in  jenes  hinein,  wiewohl 
die  Theorie  an  der  abstrakten  Scheidung  beider  Gebiete  fest- 
hält. Aber  das  Bild  des  Menschen  mit  seinen  Empfindungen, 
Vorstellungen  und  dem  Denken,  mit  seinen  Trieben  und  dem 
Herrscher  Willen  ist  doch  belebter,  einheitlicher  und  frischer 
geworden  als  bei  den  Vorgängern  des  Duns.  Das  bewährt 
auch  die  Erkenntnistheorie  etwa  durch  die  Erörterungen  über 
die  Entstehung  der  Erkenntnis  sowie  über  die  Selbster- 
kenntnis. 

Diese  erkenntnistheoretische  Methode  verleugnet  sich  auch 
in  der  theologischen  Spekulation  nicht.  Überall  setzt  der 
Denker  bei  der  Analyse  des  wirklich  Gegebenen  ein.  Gegeben 
ist  die  Kirchenlehre,  gegeben  ist  aber  auch  das  Empfinden  und 
Erleben  der  Christenheit  und  des  religiösen  denkenden  Menschen 
überhaupt.  Hier  liegt  der  Ausgangspunkt  und  ^zugleich  der 
Kontroiapparat  für  die  theologische  Spekulation.  Von  unten 
steigt  sie  nach  oben.  Aber  es  werden  nun  für  die  obere  Welt 
Schlüsse  gezogen  und  Eormeln  gebaut,  die  den  uns  nicht  mehr 
verständlichen  Glauben  des  „Realisten"  an  seine  Metaphysik 
bezeugen.  Gleich  die  Lehre  von  Gott  und  seinen  Eigenschaften 
bestätigt  in  lehrreicher  Weise  diese  Methode  des  Duns  nach 
beiden  Seiten  hin.  Das  Ineinanderlaufen  von  Empirismus  und 
dogmatischem  Positivismus  und  von  ungemessener  Vernunft- 
kritik und  kühnster  Spekulation  in  der  Dogmatik  des  Duns 
Scotus  erklärt  sich  von  diesen  erkenntnistheoretischen  und 
metaphysischen  Eigentümlichkeiten  seines  Denkens  her. 

8.  Fast  scheint  es,  als  wenn  die  Erkenntnistheorien  der 
Theologen  mit  einem  eigentümlichen  Geschick  behaftet  sind. 
Entweder  sind  sie  so  beschaffen,  dass  sie  keine  Lehre  vom  Er- 
kennen aufstellen,  oder  aber  sie  werden  recht  rationell  ge- 
zimmert, um  aber  über  der  Anwendung  auf  die   theologischen 


110  Kap.  I:  Philosophische  und  theologische  Prinzipien. 

Objekte  bald  iu  Vergessenheit  zu  kommen.  Es  geht  beinahe 
her  wie  bei  den  Biblizisteu  aller  Zeiten:  wenn  ihre  schönsten 
Einfälle  zur  Perzeption  kommen  sollen,  werden  die  Grundsätze 
über  die  rechte  Auslegung  der  Bibel  nicht  ganz  selten  suspen- 
diert. Um  so  reizvoller  ist  es,  sich  zu  fragen,  wie  ein  Fürst 
in  der  Theologie  und  Philosophie,  wie  Duds  Scotus,  sich  mit 
seiner  Erkenntnislehre  seiner  Theologie  gegenüber  abgefunden 
hat?  Diese  Frage  führt  uns  hinüber  zu  den  theologischen 
Prinzipien  des  Duns  Scotus. 

Wir  sahen,  dass  es  keine  andere  gewisse  Erkenntnis  gibt, 
als  die  auf  Grund  der  sinnlichen  Erfahrungen  durch  vernunft- 
notwendige Begriffe,  Urteile  und  Schlüsse  gewonnene.  Lassen 
sich  die  theologischen  Begriffe  auf  diesem  Wege  gewinnen  ? 
Der  beherrschende  Begriff  der  Theologie  ist  der  Gottesbegriff. 
Ist  eine  Erkenntnis  Gottes  erreichbar?  Diese  Frage  ist  zu 
bejahen.  Indem  nämlich  auf  dem  Wege  der  zurückverfolgten 
Kausalbetrachtung  der  Erscheinungen  in  der  Welt,  der  Be- 
griff des  unendlichen  Seins,  das  als  wollende  Ursache  wirksam 
ist,  gewonnen  werden  kann  (s.  unten),  ist  der  Gedanke  des 
persönlichen  unendlichen  Gottes  als  notwendige  Folgerung  an- 
zunehmen. Allein  Duns  schränkt  dies  Resultat  alsbald  wieder 
ein.  Die  Begriffe  von  Gott,  die  auf  diesem  Wege  erworben 
werden,  sind  nämlich  univok  oder  gleichartig  unseren  sonstigen 
an  Naturobjekten  gebildeten  Begriffen ,  da  sie  ja  auch  an 
solchen  ihren  Ursprung  genommen  haben.  Ist  nun  Gottes  Sein 
dem  allgemeinen  Sein  so  zu  subsumieren,  dass  Gott  mit  der 
Kreatur  univokes  Sein  zukommt?  Daran  scheinen  sich  be- 
denkliche Konsequenzen  knüpfen  zu  können.  Heinrich  und 
die  Thomisten  hatten  die  Frage  daher  verneint.  Wie  stellt 
sich  Duns  Scotus  zu  ihr?  Er  stellt  zunächst  fest,  dass  die 
causa  vor  dem  causatum  voraus  habe  das  jarius  et  principalius 
esse.  Wenn  nun  trotzdem  der  Seinsbegriff  ebenso  auf  den 
Schöpfer  wie  das  Geschöpf  angewandt  wird,  so  soll  damit 
keineswegs  Gottes  Sein  dem  der  Kreatur  gleichgesetzt  werden: 
non  est  unitas  geueris,  sed  est  unitas  analogiae.  Nach  Aristo- 
teles ist  das  ens  kein  genus.  Die  unitas  generis  ist  die  Aus- 
sage von  der  natürlichen  Einheit,  wie  sie  in  all  den  Individuen 
des  Genus   vorliegt.     Die    unitas    analogi   kommt    dadurch   zu 


Die  Erkenntnis  Gottes.  IIX 

stände,  dass  man  zwei  Dinge  zu  einem  Begriff  so  in  Beziehung 
setzt,  dass  dieser  eine  gemeinsame  Beschaffenheit  beider  be- 
zeichnet; z.  B.  die  Gesundheit  in  Beziehung  auf  die  Speise 
wie  auf  den  Urin.  Oder  auch  so,  dass  von  dem  einen  Ding 
die  Beschaffenheit  des  anderen  vermöge  seiner  Beziehung  zu 
demselben  ausgesagt  wird ;  so  wird  z.  B.  von  dem  Accidenz 
das  Sein  ausgesagt,  sofern  es  Teil  hat  an  dem  Sein  der  Sub- 
stanz, wodurch  aber  eine  eigene  Entität  desselben  nicht  aus- 
geschlossen ist  (de  princ.  rerum  quaest.  1  art.  3,  15).  Da  nun 
das  Sein  kein  Genus  ist,  indem  sonst  alles  Seiende  gleichartig 
sein  müsste,  da  die  Differenz  durch  das  Genus  ausgeschlossen 
wird,  so  kann  die  Gemeinsamkeit  des  Seins  auch  nicht  als  ge- 
nerische,  sondern  nur  als  analoge  Einheit  aufgefasst  werden 
(ib.  16).  Gott  und  die  Kreatur  haben  das  Sein  nicht  in 
gleicher  Weise,  denn  Gott  ist  das  schlechthin  reine  und  ein- 
fache Sein,  das  Sein  der  Kreatur  ist  abgeleitetes  Sein,  sie  hat 
das  Sein  als  von  einem  anderen  überkommen :  de  se  non  habet 
esse,  sed  ab  efficiente.  Es  kann  also  nicht  von  einem  univoken 
Sein  Gottes  und  der  Welt  geredet  werden  (deo  et  creaturae  nihil 
reale  est  commune),  sondern  nur  das  Verhältnis  der  Analogie 
zwischen  dem  an  sich  seienden  Sein  Gottes  und  dem  ge- 
setzten Sein  der  Welt  angenommen  werden  (1.  c.  quaest.  19 
art.  1,  4.  7). 

Aber  trotz  dieser  Widerlegung  der  Univozität  des  Seins 
vermag  Duns  nicht  in  Abrede  zu  stellen,  dass  die  Erkenntnis 
Gottes,  indem  sie  auf  dem  Boden  der  wahrnehmbaren  Wir- 
kungen Gottes  in  der  Welt  erfolgt,  nach  ihrer  positiven  Seite 
sich  in  Vorstellungen,  die  dem  Weltsein  univok  sind,  ergehen 
wird.     Das  hängt  mit  ihrem  Ursprung  zusammen. 

Indem  wir  ausgehen  von  dem  innerweltlichen  Kausal- 
zusammenhang, denken  wir  Gott  als  unendliche  Ursache  des- 
selben, und  zwar  so,  dass  wir  ihn  von  den  Unvollkommenheiten 
der  endlichen  Ursachen  entschränken  und  die  Vollkommen- 
heiten letzterer  für  ihn  auf  das  äusserste  steigern.  Aber 
gerade  diese  Beobachtung  beweist  die  Univozität  unseres 
Gottesbegriffes  mit  unseren  weltlichen  Begriffen  (s.  Sent.  I 
dist.  3  quaest.  2,  8.  10).  Dazu  kommt,  dass  wir  auch  formell 
Gott  nur  in  Begriffe  fassen  können,  die  uns  als  species  dieser 


112  Kap.  I:  Philosophische  und  theologische  Prinzipien. 

Welt  eingedrückt  wurden,  wie  die  Begriffe  bonum,  summum, 
actus,  die  wir  zusammenordnen,  um  den  Begriff  summum 
bonum  actualissimum  zu  bilden.  Nun  kann  man  allerdings  den 
Gottesbegriff,  indem  man  ihn  schlechthin  vollkommen  fasst, 
auf  eine  alle  Kreatur  überragende  Höhe  steigern,  nämlich  zum 
Begriff  des  ens  simpliciter  infinitum.  Der  Begriff"  der  Un- 
endlichkeit würde  dann  nicht  nur  negativen  Sinn  haben,  sondern 
positiv  den  modus  intrinsecus  illius  entitatis  ausdrücken  (ib.  17). 
Er  bringt  etwas  zum  Ausdruck,  was  nur  Gott  und  keiner 
Kreatur  eigen  ist.  So  versteht  es  sich,  dass  Duns  den  Begriff 
des  unendlichen  Seins  als  den  entsprechendsten  Ausdruck  für 
Gottes  Wesen  bezeichnen  kann ;  es  ist  die  Formel ,  die  sich 
am  höchsten  über  die  kreatürlichen  Species  erhebt.  Aber 
trotz  des  Vertrauens,  das  Duns  zu  dieser  Formel  hegt,  bleibt 
es  dabei,  dass  das  Wesen  Gottes  erkenntnismässig  nur  in 
seiner  Univozität  mit  dem  kreatürlichen  Sein  erfasst  werden 
kann:  quod  deus  non  est  a  nobis  cognoscibilis  naturaliter  nisi 
ens  sit  univocum  creato  et  increato  (1.  c.  quaest.  3,  9). 

Im  übrigen  ist  klar,  dass  die  geistigen  Wesen,  also  auch 
Gott  für  den  Geist  erkennbar  sind;  nur  das  bedeutet  die  Be- 
ziehung der  Erkenntnis  zu  sinnlichen  Eindrücken,  dass  der 
modus  cognoscendi  an  sinnliche  Eindrücke  gebunden  ist.  Ich 
erkenne  den  Stein,  indem  die  sinnliche  Wahrnehmung  für  mich 
Trägerin  einer  göttlichen  Idee  wird  (ib.  §  2 — 4). 

Demnach  ist  eine  Erkenntnis  Gottes  für  den  Geist  er- 
reichbar, mag  dieselbe  auch  nicht  schlechthin  adäquat  sein 
(vgl.  noch  1.  c.  §  26.  27).  Aber  die  theoretische  Erkenntnis 
Gottes,  die  auf  diesem  Wege  erreicht  werden  kann,  ist  nicht 
spezifisch  theologische  Erkenntnis.  In  der  Theologie  handelt 
es  sich  nämlich  nicht  um  die  theoretische  Erkenntnis  Gottes 
als  der  causa  prima,  sondern  um  die  praktische  Erkenntnis 
Gottes  als  des  finis  ultimus.  Und  in  der  Theologie  ist  eben- 
falls nicht  das  allen  gemeinsame  Resultat  der  spekulativen 
Weltbetrachtung  massgebend,  sondern  die  positive  Lehre  der 
Bibel  und  der  Kirche,  die  von  besonderen  kontingenten  Thaten 
Gottes  berichtet,  die  als  solche  für  die  auf  dem  Weg  der 
Kausalität  einherschreitende  Metaphysik  unzugänglich  sind. 
Somit  unterscheidet   sich  der  Begriff  der   scientia  philosophica 


Die  theologischen  Erkenntnisprinzipien.  113 

auf  das  deutlichste  von  der  scientia  theologica.  Letzterer  Be- 
griff bezeichnet  also  bei  Duris  nicht  das,  was  wir  „theologische 
Wissenschaft"  nennen,  sondern  vielmehr  das  „religiöse  Erkennen" 
im  Unterschied  zum  theoretischen  Erkennen.  Die  genauere 
Bestimmung  dieses  Gegensatzes  kann  erst  unten  erfolgen.  Hier 
genügt  es  festzustelleD,  dass  Duns  folgerichtig  den  besonderen 
Charakter  des  religiösen  Erkennens  gegenüber  der  Wissenschaft 
aufrecht  erhalten  hat.  Demgemäss  wird  aber  in  der  Religion 
ein  anderer  Weg  des  Erkennens  und  eine  andere  Gewissheit 
anzunehmen  sein  als  die  der  wissenschaftlichen  Evidenz.  Das 
ist  klar,  weil  es  sich  in  der  Eeligion  um  kontingente  geschicht- 
liche Thatsachen  handelt,  während  die  an  Aristoteles  ange- 
knüpfte Erkenntnislehre  eigentlich  nur  dem  naturwissenschaft- 
lichen und  metaphysischem  Erkennen  entnommen  ist.  Demnach 
hat  Duns  darüber  keinen  Zweifel  gelassen,  dass  in  der  Religion 
eine  andere  Erkenntnismethode  waltet,  als  in  der  Metaphysik 
und  Physik. 

Indem  aber  der  wissenschaftliche  Beweis  der  Richtigkeit 
theologischer  Sätze  aus  ihrer  Übereinstimmung  mit  dem  Natur- 
recht  geführt  werden  soll  (s.  unten),  wird  freilich  in  der  theo- 
logischen Darstellung  das  rationale  Element  eine  selbständige 
Bedeutung  beanspruchen.  Dazu  kommt  als  selbstverständlich, 
dass  die  Theologie  als  Wissenschaft  die  dialektische  Methode 
auf  das  strengste  zu  handhaben  hat. 

Wir  wenden  uns  nun  der  Frage  nach  den  Quellen  und 
dem  Wesen  der  religiösen  oder  theologischen  Erkenntnis  zu. 


II.  Die  theologischen  Erkenntnisprinzipien. 

1.  Die  Offenbarung  in  der  heiligen  Schrift  unddie 

Lehre  der  Kirche. 

1.  Der  Bestand  der  Theologie  als  der  Wissenschaft  des 
religiösen  Erkennens  der  Kirche  hängt  ab  vom  Bestand  einer 
besonderen  Offenbarung.  Dieser  Begriff  weist  aber  sofort 
in  eine  bestimmte  Richtung.  Nicht  um  abstrakte  Erkenntnis, 
sondern  um  die  praktische  Regelung  des  Lebens  handelt  es 
sich.     Nach  philosophischer  Anschauung  kann  der  Mensch,  ver- 

Seeberg,  Die  Theologie  des  Duns  Scotus.  8 


114  Kap.  I:  Philosophische  und  theologische  Prinzipien. 

möge  seiner  Vernunft,  aus  der  Thätigkeit  der  natürlichen  Ur- 
sachen, die  zur  Lebensführung  nötige  praktische  Erkenntnis 
erlangen.  Allein  der  Theologe  muss  sagen,  dass  auf  diesem 
Wege  der  Mensch  nicht  zur  deutlichen  Erkenntnis  seines  Zweckes 
gelangen  kann.  Das  zeigt  sich  daran,  dass  die  Philosophie  es 
zu  keiner  übereinstimmenden  Fixierung  dieses  Zweckes  hat 
bringen  können.  Als  wollendes  Wesen  strebt  der  Mensch  aber 
einem  letzten  Zwecke  nach.  Welches  ist  dieser  Zw^eck?  Ent- 
spricht ihm  derselbe,  durch  welche  Mittel  ist  er  zu  erreichen? 
Darüber  muss  er  sich  als  denkendes  Wesen  klar  werden.  Hier 
wird  die  Offenbarung  notwendig.  Sie  verständigt  den  Menschen 
darüber,  über  den  Zweck  und  wie  er  zu  erreichen  ist,  was  hier- 
zu erforderlich  ist  und  dass  die  vorhandenen  Mittel  dem  Zweck 
entsprechen.  Daher  heisst  es:  quod  sacra  scriptura  est  quaedam 
notitia  divinitus  data  ad  dirigendum  homines  in  finem 
supernaturalem  (Miscell.  quaest.  6,  18).  Indem  aber  Gottes 
freier  Wille  die  Seligkeit  als  den  letzten  Zweck  setzt  und  unsere 
Thaten  als  Verdienste  d.  h.  als  Mittel  zu  diesem  Zweck  gelten 
lässt,  wird  deutlich,  dass  nur  eine  direkte  göttliche  Offenbarung 
über  die  bezeichneten  Punkte  belehren  kann.  Gott  ist  frei 
und  handelt  nach  seinem  freien  Willen,  also  kann  nur  eine 
Selbstmitteilung  Gottes  über  seine  Absichten  aufklären.  Hoc 
antem  non  est  naturaliter  scibile,  ut  videtur,  quia  in  hoc  errabant 
philosophi  ponentes  omnia  quae  sunt  a  deo  imraediate,  esse 
ab  eo  necessario  (Sent.  Prolog,  quaest.  1  §  6—8  cf.  IV  dist.  14. 
quaest.  3,  3).  Und  zwar  gilt  die  Notwendigkeit  einer  Offen- 
barung nicht  so  sehr  für  die  einzelnen  Wahrheiten ,  als  für 
ihren  Zusammenhang.  Der  einzelne  Begriff  wird  nämlich  im 
intellectus  possibilis  durch  das  Zusammenwirken  des  Phantasma 
und  des  intellectus  agens  erzeugt;  auf  diese  Weise  können  aber 
auch  die  einzelnen  Begriffe  der  religiösen  Anschauung  im 
Menschen  hervorgebracht  werden,  ohne  dass  es  einer  Offen- 
barung, etwa  durch  einen  raptus  bedürfte.  Dagegen  wäre  die 
Verbindung  dieser  Begriffe  unter  einander  ohne  Offenbarung 
nicht  aufzufinden.  Es  könnte  also  jemand  die  Begriffe  Gott 
und  Dreieinigkeit  auf  natürlichem  Wege  überkommen.  Es  ist 
aber  nicht  möglich,  dass  er  auf  dem  Wege  der  natürlichen 
Erfahrung  die  richtige  Komplexion  diese  Begriffe  mit  Sicherheit 


Die  Notwendigkeit  der  Offenbarung.  115 

entdeckt  (vgl.  Sent.  prol.  qu.  1, 16.  21).  Also  bedurfte  es  der  Offen- 
barung als  eines  testimonium  supernaturale  der  Wahrheiten,  welche 
die  natürliche  Weltbetrach  tun  g  nicht  zu  erreichen  vermochte. 
Prima  traditio  talis  doctrinae  dicitur  revelatio. 

Diese  Offenbaruug  der  richtigen  Lehre  liegt  in  der 
heiligen  Schrift  vor.  Sie  ist  übernatürlich,  weil  sie  von  einem 
agens  ausgeht,  welches  nicht  der  natürliche  Beweger  unseres 
Geistes  ist.  Nun  schliesst  diese  Deutung  der  Übernatür- 
lichkeit  der  Schrift  eine  andere  in  sich.  Das  Agens  kann  ge- 
dacht werden  als  Vertreter  des  Objektes,  von  dem  es  handelt. 
Es  wird  vollkommen  diese  Vertretung  ausüben,  sofern  es  voll- 
kommene Erkenntnis  von  dem  Objekt,  als  wenn  dieses  selbst 
sie  gewirkt  hätte,  zu  erzeugen  vermag;  es  wird  sie  unvoll- 
kommen leisten,  wenn  es  nur  eine  unvollkommene  Erkenntnis 
zu  wecken  vermag.  Nun  erzeugt  aber  die  Schrift  etwa  von 
der  Trinität  nur  eine  gewisse  dunkle  Erkenntnis.  Sofern  diese 
aber  enthalten  ist  in  der  klaren  Erkenntnis,  die  von  Gott  selbst 
als  dem  Objekt  ausgeht,  vertritt  die  Schrift  die  Wirkungen 
von  Gottes  Gegenwart.  Pro  quanto  igitur  haec  notitia  obscui'a 
in  illa  clara  includitur  eminenter,  sicut  imperfectum  in  perfecto, 
pro  tanto  revelans  hanc  obscuram  et  causans  supplet  vicem 
obiecti  illius  clarae  notitiae  causativi  .  .  .  Oportet,  quod  in 
causando  etiam  istam  obscuram  aliqualiter  suppleat  vicem  obiecti 
super  naturalis  (ib.  22).  Die  Schrift  oder  die  in  ihr  enthalten« 
Lehre  ist  also  der  Vertreter  Gottes,  und  in  diesem  Sinn  und 
sofern  sie  Gottes  Wesen  unter  den  Menschen  bekannt  macht, 
übernatürlich  und  göttlich.  Freilich  ist  der  Inhalt  der  Schrift 
eine  Lehre,  die  rechte  Lehre  von  Gott,  aber  von  ihr  geht  nicht 
eine  Wirkung  aus,  als  wenn  ein  agens  supernaturale  einem 
Menschen  etwa  die  ganze  Geometrie  plötzhch  eingösse,  sondern 
es  sind  menschliche  Worte,  die  ein  freilich  nur  dunkles  Bild 
von  Gott  zu  geben  versuchen  und  so  Vertreter  Gottes  und  um 
deswillen  auch  übernatürlich  sind.  Wie  ruhig  und  rational 
ist  diese  Betrachtungsweise  der  Schrift  gehalten. 

Aber  nicht  eine  Theorie  will  die  Schrift  darbieten,  sondern 
positive  und  praktische  Wahrheiten  (necessaria  ad  salutem,  prol. 
quaest.  2,  6). 

2.  Was  nun   weiter   die  Frage   nach   der    Entstehung   der 

8* 


116  Kap.  I:  Philosophische  und  theologische  Prinzipien. 

heil.  Schrift  anbetrifft,  so  gilt  die  ganze  Schrift  als  von  Gott  in- 
spiriert, für  wahr  (quod  deus  inspiravit  totam  sacrara  scrip- 
turam,  et  quod  ipse  est  veritas  infaUibilis  (IV  dist.  14,  quaest. 
3,  5).  Wie  aber  die  Inspiration  stattgefunden  hat:  an  ex 
locutione  iuteriore  an  exteriore,  an  cum  aliquibus  signis  adhibitis 
sufficientibus  ad  causandum  assensum,  das  erklärt  Duns  für 
dubium.  Beides  ist  möglich,  nicht  aber  könne  in  diesem 
oder  jenem  Fall  ein  Mensch  als  Offenbarungsmittler  gedacht 
werden  (sed  neutro  modo  potuit  ab  homine  sine  errore,  primo 
tradi,  prol.  quaest.  1,  23).  Eine  feste  Inspirationstheorie  gab 
es  noch  nicht,  nur  darum  handelte  es  sich,  dass  die  Schrift 
als  die  Offenbarung  Gottes  anerkannt  wird. 

Da  nun  aber  die  Juden  das  Neue,  die  Manicbäer  das  Alte 
Testament  leugnen,  die  Sarazenen  aus  beiden  einiges  annehmen, 
immunditias  innumeras  hinzumengend,  die  Häretiker  schlecht 
verstandene  Schriftlehren  in  den  Vordergrund  rücken,  die  übrigen 
dafür  vernachlässigend  (ib.  quaest.  2,  1),  so  muss  auch  auf  ge- 
schichtlichem Wege  der  Nachweis  für  die  Glaubwürdigkeit  der 
heil.  Schrift  erbracht  werden.  Die  Gründe  für  die  Wahrheit  der 
Schrift  sind  folgende.  1.  Nur  Gott  kann  Kontingentes  vorher- 
sehen, also  nur  er  oder  ein  von  ihm  Unterwiesener  (ab  illo 
instructus)  kann  es  vorhersagen.  Nun  sind  Weissagungen  er- 
füllt, also  ist  der  Beweis  erbracht  (ib.  3).  —  2.  Die  Überein- 
stimmung der  vielen  Verfasser,  die  doch  diversimode  dispositi 
waren,  begreift  sich  nicht,  nisi  a  causa  superiori  ipsorum 
intellectus  inclinentur  ad  assensum;  wollte  man  diese  aus  der 
Abhängigkeit  der  jüngeren  von  den  älteren  Autoren  erklären, 
so  trägt  das  nichts  aus,  denn  in  den  Schulen  der  natürlichen 
Weisheit  widersprechen  nicht  selten  die  Jünger  dem  Meister 
(Aristoteles  u.  Plato)  oder  schlagen  ganz  verschiedene  Wege 
ein  (Aristipp  u.  Antisthenes).  Ferner  haben  Jeremia  und  Ezechiel 
gleichzeitig  und  ohne  von  einander  zu  wissen,  Übereinstimmendes 
geweissagt  (4).  —  3.  Die  Glaubwürdigkeit  der  Verfasser,  welche 
selbst  die  Lüge  verdammen,  also  doch  nicht  selbst  lügnerisch 
Gott  Worte  in  den  Mund  gelegt  haben  werden,  zumal  sie 
bereit  waren,  für  ihre  Lehre  Verfolgung  zu  ertragen.  Sollten 
aber  doch  diese  Bücher  von  anderen  herrühren,  wer  sollte  sie 
dann  geschrieben  haben?    Nichtchristen  werden   sie  doch  nicht 


Die  Wahrheit  der  inspirierten  Schrift.  117 

verfasst  haben ,  da  sie  zur  VerherrlichuDg  des  Christeütums 
dienen ;  und  Christen :  quomodo  illi  christiani  mendaciter  tales 
eis  adscripserunt,  cum  lex  eorum  damnet  mendacium?  Auch 
sei  die  Überlieferung  der  Bücher  unter  ihren  Namen  bei  jener 
Voraussetzung  unerklärlich  (5).  —  4.  Ein  weiterer  Beweis  ergiebt 
sich  aus  der  Sorgfalt,  mit  welcher  Synagoge  wie  Kirche  über 
den  kanonischen  Schriften  gewacht  haben.  Will  man  nun  nicht 
auf  jenen  Standpunkt  treten,  der  jede  Überlieferung  von  kon- 
tingentem  Geschehen  in  Frage  stellt,  so  wird  man  dem,  was 
die  communitas  aufbewahrt  hat  und  in  höchsten  Ehren  hält, 
sein  Vertrauen  schenken  müssen  (6).  —  5.  Weiter,  die  ganze 
Schrift  enthält  nur  honesta  et  rationi  consona.  Was  kann 
es  Vernünftigeres  geben  als  das  Gebot  Gott  und  den  Nächsten 
zu  lieben?  Und  sowohl  die  moralischen  Ordnungen  als  die 
Sakramente  erweisen  sich  nach  allen  Seiten  hin  als  quasi 
quaedam  explicatio  legis  naturae.  Der  Inhalt  der  Schrift  ist 
also  wegen  seiner  Vernünftigkeit  glaubwürdig  (9).  —  6.  Wie 
unvernünftig  sind  dagegen  die  Lehren  der  Widersacher  der 
Schrift!  Wie  thöricht  die  Juden,  die  das  Neue  Testament  ver- 
werfen, obwohl  das  Alte  es  bezeugt,  wie  insipid  ihre  Cere- 
monien  ohne  Christus!  Ebenso  die  asini  Manichaei  mit  der 
Thorheit  vom  primum  malum,  cum  ipsi  etsi  von  primi,  tarnen 
valde  mali  essent.  Oder:  Quid  Saraceni  vilissimi  porci, 
Mahometi  discipuli,  pro  suis  scripturis  allegabunt,  exspectantes 
pro  beatitudine  quod  porcis  convenit  seil,  gulam  et  coitum! 
Sinnlos  aber  ist  es  auch  nur  Teile  des  Kanons  oder  einzelne 
Sprüche  anzunehmen,  cum  ecclesia  catholica  cui  credendo 
canonem  recipio,  recipiat  totum  aequaliter  (8).  —  7.  Die  Kirche 
ist  beständig  und  bleibt  stets  dieselbe,  während  die  Sekten  ver- 
gehen und  auch  die  secta  Mahometi  im  Jahr  1300  erheblich 
geschwächt  ist  und  nach  einer  ihrer  Weissagungen  bald  zu 
Grunde  gehen  wird  (9).  —  8.  Dazu  kommen  die  Wunder,  welche 
die  Wahrheit  der  Schriftlehre  bezeugen,  sowohl  die  in  der 
Schrift  berichteten  als  das  grosse  Wunder  des  Sieges  des 
Christentums :  quid  enim  incredibilius  quam  ut  ad  legem  con- 
trariam  carni  et  sanguini  doctores  pauci  et  rüdes  et  pauperes 
possent  plurimos  potentes  ac  sapientes  convertere,  man  denke  an 
den  Manichäer  Augustinus,  an   den  Philosophen  Dionysius,    an 


118  Kap.  I:  Philosophische  und  theologische  Prinzipien. 

den  Magier  Cyprian  (10) !  Diese  Wunder  wurden  als  Zeugnisse 
begehrt.  Wegen  der  AVahrhaftigkeit  Gottes  ist  es  nun  nicht 
denkbar,  dass  Gott  sie,  auch  wenn  sie  nicht  Zeugnisse  wären, 
sollte  in  Geltung  bleiben  lassen.  Dass  aber  die  Wunder  nicht 
dämonischer  Provenienz  sind,  beweisen  Wunder  wie  der  Raptus 
des  Paulus  oder  die  Vorhersagungen,  die  ihrem  Wesen  nach 
nur  von  Gott  herrühren  können  (11  f.)-  —  Schliesslich  9.  beruft 
sich  Duns  aut  das  bekannte  Zeugnis  des  Josephus  (Antiq. 
XVIII,  9),  auf  das  sibyllinische  Akrostichon  Augustins  (de  civ. 
dei  XVIII,  23),  sowie  10.  auf  die  Vielen,  welche  in  der  Wahr- 
heit der  Schrift  ihr  Heil  gefunden  haben  (13). 

Das  Resultat  dieser  Betrachtung  ist:  quod  doctrina 
canonis  est  vera.  Indem  aber  die  Schrift  sowohl  das 
Ziel  des  Menschen,  nämlich:  visio  et  fruitio  dei,  als  auch  die 
zur  Erreichung  desselben  nötigen  und  ausreichenden  Mittel 
(credenda,  speranda,  operanda)  aufzeigt,  ist  weiter  zu  urteilen: 
qtiod  Sacra  scriptura  sufficienter  continet  doc- 
trinam  necessariam  viatori  (14).  Hiegegen  darf  nicht 
eingewandt  werden,  dass  manches  in  der  Schrift  unnötig  zu 
sein  scheine.  Die  Geschichten  sind  im  einzelnen  oft  exempla 
legis  declarativa  und :  similiter  ex  toto  processu  scrip- 
tura e  patet  ordinata  dei  gubernatio  respectu  hominis 
et  totius  creaturae  (ib.   15). 

3.  Um  Missverständnisse  zu  verhüten,  möchte  ich  nur  be- 
merken, dass  diese  Anschauung  von  der  Schrift  im  allgemeinen 
der  im  Mittelalter  giltigen  konform  ist  (vgl.  z.  B.  Thomas 
Summ,  theol.  I  quaest.  1  art.  5.  10.  8;  II.  II  quaest.  171.  a.  6. 
2.  qu.  172  a.  3.  Bonaventura  Breviloq.  5,  7),  im  einzelnen  geht 
Duns  hier  oft  auf  augustinische  Aussprüche  zurück.  —  Gott 
hat  sich  in  der  Schrift  offenbart,  sie  enthält  die  ganze  Heils- 
wahrheit, d.  h.  die  Lehre  von  Gott.  Demgemäss  kann  dann 
auch  die  Behauptung  ausgesprochen  werden,  dass  die  heilsnot- 
wendige Lehre  notwendig  in  der  Schrift  stehen  müsse:  quae 
autem  sunt  necessaria  ad  salutem  oportet  esse  expresse  in 
Sacra  scriptura  (Miscell.  quaest.  6,  18).  Dabei  wird  ausdrück- 
lich festgestellt,  dass  zu  diesem  autoritativen  Zweck  nur  die 
kanonischen  Schriften,  nicht  aber  auch  die  alttestamentüchen 
Apokryphen   —   nach  Hieronymus   und  Augustin  —  zur  Ver- 


Schrift,  Symbol,  Tradition.  119 

wencluDg  kommen  dürfen  (ib.  3)  und  dass  man  den  Schrift- 
beweis nur  aus  dem  "Wortlaut  der  Schrift  entnehmen  darf: 
solum  potest  argui  aliquid  seu  probari  ex  sensu  litterali  (ib.  4). 
Es  scheint  Duns  also  sehr  Ernst  mit  der  Lehrautorität  der  Schrift 
zu  sein.  Dieser  Gesichtspunkt  bewährt  sich  auch  an  der 
Behauptung,  dass  diese  Wahrheit  in  knapper  Form  zusammen- 
gefasst  ist  in  den  14  articuli  fidei  oder  dem  apostolischen 
Symbolum  (Sent.  III  dist.  25  quaest.  1,  4)  oder  auch  in  den 
drei  Symbolen  der  Kirche  (I  dist.  26  quaest.  unic.  25).  Doch 
ist  Duns  auf  diesen  Gedanken  nicht  weiter  eingegangen,  wie 
etwa  Thomas  oder  Bonaventura  u.  A.  Doch  hat  er  I  dist.  11 
quaest.  1,  5  seine  Anschauung  klar  angedeutet.  Was  im 
Apostolikum  steht,  ist,  auch  wenn  das  Evangelium  es  nicht 
lehrt,  wie  die  Höllenfahi-t:  tenendum  est  sicut  articulus 
fidei,  quia  ponitur  in  symbolo  apostolorum.  Die 
übrigen  Symbole  entstanden  contra  diversas  haereses  de  novo 
Orientes,  quia  quando  iusurgebat  nova  haeresis,  necessarium 
erat  declarare  veritatem,  contra  quam  erat  illa  haeresis. 

4.  Der  zuletzt  bezüglich  des  Apostolikums  angeführte 
Satz  weist  aber  bereits  über  die  alleinige  Autorität  der  Schrift 
hinaus.  Ebenso  hat  nun  Duns  sehr  oft  als  entscheidende 
Autorität  auch  das  Urteil  nicht  nur  älterer  und  neuerer  Väter 
der  Kirche,  sondern  vor  allem  die  Meinung  der  römischen 
Kirche  eingeführt.  Die  Kirche  besitzt  die  Wahrheit,  mag  sie 
sie  aus  der  Schrift  oder  aus  den  Traditionen  der  apostolischen 
Zeit  oder  aus  den  Feststellungen  von  Konzilien  und  Päpsten 
beziehen.  Neben  die  biblische  Überlieferung  als  Wahrheits- 
quelle tritt  mit  aller  Deutlichkeit  die  kirchliche  Tradition. 
Vieles  aus  der  Sakramentslehre  geht  nicht  auf  Christus  zu- 
rück: et  tamen  ecclesia  tenet  illa  esse  tradita  certitudinaliter 
ab  apostolis  et  periculosum  esset  errare  circa  illa  quae  non 
tantum  ab  apostolis  descendunt  per  scripta,  sed  etiam  quae 
per  consuetudinem  universalis  ecclesiae  tenenda 
sunt.  Aus  dem  Wort  Joh.  16,  12  f.  wird  gefolgert:  multa 
igitur  docuit  eos  Spiritus  sanctus  quae  non  sunt  scripta  in 
evangelio  et  illa  multa  quaedam  per  scripturam,  quaedam  per 
consuetudinem  tradidit.  Es  hält  sich  doch  auf  der  gleichen 
Linie,   wenn   etwa  die  Höllenfahrt  nur  auf  Grund  des  aposto- 


120  Kap.  I:  Philosophische  und  theologische  Prinzipien. 

lischen  Symbols  als  Glaubensartikel  auerkaDnt  wird,  wie  wir 
soeben  hörten. 

Die  Schrift  und  die  Kirche  entscheiden  also  über  Wahr- 
heit und  Irrtum  der  Lehre,  nicht  nur  die  Schrift,  sondern 
auch  die  Kirche.  Nihil  est  tenendum  tan  quam  de  substantia 
fidei  nisi  quod  potest  expresse  haberi  de  scrijitura  vel 
expresse  declaratum  est  per  ecclesiam  vel  evidenter 
sequitur  ex  aliquo  plane  contento  in  scriptura,  vel  plane 
determinato  ab  ecclesia  (ib.  IV  dist.  11  quaest.  3,5;  ebenso 
I.  dist.  26  quaest.  unica  §  26).  Ob  eine  Meinung  häretisch 
ist  oder  nicht,  hängt  somit  blos  vom  Spruch  der  Kirche  ab. 
"Was  zur  Zeit  des  Lombarden  nicht  häretisch  war,  ist  es  in- 
zwischen geworden  (III  dist.  6  quaest.  2,  1).  Denn  es  kann 
eine  Meinung  zwar  gegen  den  Glauben  Verstössen ,  ohne  aber 
mit  der  fides  declarata  d.  h.  dem  kirchlich- symbolisch  festge- 
stellten Glauben  zu  kollidieren  (vgl.  I  dist.  11  quaest.  1,  5). 

Bisweilen  wird  das  so  motiviert,  dass  ein  Teil  des  ius 
divinum  auch  sine  scriptura,  per  consuetudinem  promulgiert 
worden  sei.  JFür  die  strittigen  Stellen  gilt  die  Regel:  eo 
spiritu  expositae  sunt  scripturae  quo  conditae,  das  ist  aber 
der  Geist  der  katholischen  Kirche.  Et  ita  supponendum  est, 
quod  ecclesia  catholica  eo  spiritu  exposuit,  quo  tradita  est 
nobis  fides:  spiritu  seil,  veritatis  edocta  et  ideo  hunc  intel- 
lectum  eligit  quia  verus  est.  Zwar  macht  die  Erklärung  der 
Kirche  etwas  nicht  wahr ;  was  aber  die  Kirche  erklärt  ist  wahr, 
weil  die  Kirche  ihr  Verständnis  von  dem  heil.  Geist  empfängt  (III 
dist.  11  quaest.  3,  15).  Auch  wenn  eine  Lehre  von  allen  Autori- 
täten und  jeder  rationalen  Begründung  verlassen  ist,  muss  sie  auf 
die  Autorität  der  römischen  Kirche  hin  angenommen  worden  (IV 
dist.  6  quaest.  9,  11.4.  16 — 17).  Schliesslich  hat  Duns  echt  mit- 
telalterlich im  Anschluss  an  ein  berühmtes  Wort  Augustins  (c. 
epist.  Manichaei  5,  6)  erklärt,  dass  unser  Glaube  an  die  Schrift 
abhängig  ist  von  dem  Glauben  an  die  Kirche :  patet  igitur  per 
eum  quod  libris  canonis  sacri  non  est  credendum ,  nisi  quia 
primo  credendum  est  ecclesiae  approbanti  et  auctorizanti 
libros  istos  et  contenta  in  eis.  Quamvis  aliqui  libri  auctori- 
tatem  habeant  ex  auctoribus  suis,  non  tamen  adhaeremus  eis 
firmiter,   nisi  quia  creditur  ecclesiae  approbanti  et  testificanti 


Die  kirchliche  Autorität.  121 

veraces  esse  eoriim  auctores  (Sent.  III  clist.  23  quaest.  1 ,  4). 
Die  Kirche  hat  festgestellt,  qui  libri  habendi  sunt  in  canone 
bibliae  (I  dist.  5  quaest.  1 ,  8).  ^)  Und  die  Kirche  bestimmt 
auch  darüber,  qui  libri  habendi  sunt  authentici  in  libris  docto- 
rum ,  ihr  steht  das  authenticare  dicta  eorum  zu  (I  dist.  26 
quaest.  unic.  25).  Ob  etwas  als  christlich  zu  gelten  hat,  hängt 
davon  ab,  ob  es  durch  die  Schrift,  eine  Erklärung  der  Kirche 
oder  eines  doctor  authenticus  belegt  werden  kann  (I  dist.  26 
quaest.  unic.  §  26 ;  s.  auch  III  dist.  34  quaest.  unic.  §  6). 
Diese  Autoritäten  werden  also  in  praxi  koordiniert.  Selbst 
die  Einsetzung  des  Abendmahls  hat  die  Kirche  nach  ihrem 
Gutdünken  bald  in  gesäuertem  Brot,  bald  in  ungesäuertem 
begangen  nach  der  promulgatio  des  vicarius  Christi.  Nicht 
weil  die  griechische  Praxis  der  Einsetzung  Christi  zuwider- 
läuft, sondern  weil  sie  der  päpstlichen  Festsetzung  wider- 
spricht, ist  sie  Duns  bedenklich  (IV  dist.  11  quaest.  6,  6). 
Ebenso  ist  es  gleichgiltig ,  ob  Christus  den  Priestercölibat  ge- 
boten hat  oder  nicht,  die  Kirche  tritt  für  ihn  ein  und  sie 
hat  ,, vernünftig"  entschieden:  quod  statutum  fuerit  rationabile, 
sive  habitum  fuerit  a  Christo  sive  non  (IV  dist.  37  quaest. 
unic.  §  4).  Gerade  ebenso  wird  zwar  nach  1.  Kor.  7  das 
,, göttliche  Recht''  der  Ehe  zwischen  Christen  und  Nichtchristen 
anerkannt,  dann  aber  kurzerhand  erklärt,  die  Kirche  habe  es 
rationabiliter  anders  angeordnet  (IV  dist.  39  quaest.  unic.  §  5). 
—  An  und  für  sich  sind  die  Gebote  des  neutestamentlichen  Ge- 
setzes nicht  so  schwer;  dies  Gesetz  ist  wesentlich  eine  Er- 
läuterung und  Vertiefung  des  alttestamentlichen  Gesetzes  (III 
dist.  40  quaest.  unic.  §  3  ff.).  Eigentliche  Rechtsordnungen 
hat  Christus  überhaupt  nicht  auferlegt.  Dafür  aber  haben 
die  christlichen  Richter  um  so  mehr  Gesetze  geschaffen,  für 
ihre  ,,Unterthanen'^  Und  auch  diese  gelten  als  Bestandteile 
des  neuen  Gesetzes.  So  rückt  für  Duns  die  kirchliche  Satzung 
auf  eine  Linie  mit  den  Aussagen  der  Schrift.     Sic  ergo  quan- 


^)  Beachte  noch  die  rein  juristische  Betrachtungsweise  an  dieser 
Stelle:  Die  Autorität  des  Lombarden  steht  fest,  weil  das  Corpus  iuris 
nächst  der  Schrift  kein  Buch  für  so  „authentisch"  hält  als  das  des  Lom- 
barden. 


122  Kap.  I:  Philosophische  und  theologische  Prinzipien. 

tum  ad  hoc  videtur^  quod  pauciora  (nämlich  als  die  alttesta- 
mentlichen)  sunt  onera  legis  christianae ,  inquantum  ipsa  est  a 
Christo  tradita ,  sed  forte  plura  inquantum  ipsi  postea  sunt 
addita  alia  per  eos  qui  habeiit  regere  populum  christianum 
(ib.  §  6).  Diesen  Worten  scheint  sich  doch  fast  ein  Seufzer 
zu  entringen,  eine  Ahnung,  dass  es  einst  vielleicht  anders 
und  —  besser  war. 

Nicht  anders,  als  etwa  bei  Thomas,  setzt  auch  Duns  trotz 
der  Anerkennung  der  obersten  Autorität  der  Schrift  neben 
sie  die  jeweilige  Kirchenlehre  als  gleichberechtigte  oder  schliess- 
lich übergeordnete  Autorität. 

5.  In  der  Kirche  gilt  das  göttliche  Recht,  es  sei  in  der 
Bibel  oder  in  den  Symbolen  der  Kirche,  in  dem  Kirchenrecht 
oder  in  den  Werken  der  kirchlich  anerkannten  Väter  enthalten. 
Aber  dieser  kirchliche  Positivismus  wird  doch  erweicht  und 
gebrochen  durch  die  energische  Verwertung  der  ratio.  Aucto- 
ritas  und  ratio,  das  waren  nach  Abälards  Vorgang  die  Beweis- 
mittel der  Scholastik.  Duns  hat  beide  reichlich  gebraucht. 
Er  hat  sich  —  obwohl  er  mahnt  auch  der  philosophorum  antiqua 
auctoritas  . . .  non  debet  facile  contradici  (IV  dist.  13  quaest. 
1,  9)  —  nicht  gescheut,  auch  bei  Autoritäten  Irrtümer  aufzu- 
decken (Aristoteles:  prol.  quaest.  4,  42;  I  dist.  8  quaest.  5,  8. 
III  dist.  36  quaest.  unica  §  11  und  oft;  Augustin:  I  dist.  10 
quaest.  un.  §  14;  II  dist.  27  quaest.  1,  18.  Anselm:  III  dist. 
20  quaest.  unic.)  und  er  hat  mit  dem  Behagen  des  überlegenen 
Verstandes  die  Grründe  seiner  Vorgänger,  besonders  des  Thomas 
und  des  Heinrich  von  Gent,  zerpflückt.  Er  hat  kaum  etwas 
gelehrt,  was  von  auctoritates  ganz  entblösst  gewesen  wäre,  aber 
sein  Herz  hing  am  rationalen  Element,  am  Beweis.  Si  sint 
rationes  aliquae  necessariae  pro  creditis,  non  est  periculosum 
eas  adducere  nee  propter  fideles  nee  propter  infideles  (Sent.  II 
dist.  1  quaest.  3,  9).  Und  auch  der  Fall  ist  sehr  wohl  denk- 
bar, dass  eine  Lehre  eingeführt  wird,  die  zwar  die  Autorität 
nicht  für  sich  aber  auch  nicht  wider  sich  hat.  Licet  tenendum 
sit  pro  vero  quidquid  tradidit  auctoritas,  non  tamen  est 
negandum  esse  verum  quidquid  ipsa  non  tradidit 
(I  dist.  26  quaest.  un.  26).  Hiefür  beruft  sich  Duns  auf 
Joh.    20,   30.      Ein    merkwürdiger    Gedanke,    der  konsequent 


Die  Aufgabe  der  Theologie.  123 

durchgeführt,  den  ganzen  Positivismus  aufheben  müsste.  In- 
dessen hat  Duns  derartige  Konsequenzen  nicht  gezogen.  Duns 
war  ein  dialektisches  Genie,  aber  das  erklärt  nicht  das  rationale 
Element  in  seiner  Lehre.  Ihm  war  das  Wunderbare  etwas  inner- 
lich Fremdes.  Seine  innere  Stellung  zum  Wunderbaren  spricht  sich 
unübertrefflich  in  seiner  Behandlung  der  Transsubstantiation  aus : 
concedo  quod  etiam  in  creditis  non  sunt  plura  ponenda  sine 
necessitate ^),  nee  plura  miracula  quam  oportet.  (IV 
dist.  11  quaest.  3,  14  vgl.  unten).  Nun  ist  aber  in  der  Kirche 
wie  im  Staat  ein  positives  Gesetz  vorhanden.  An  Aufhebung 
desselben  hat  Duns  nie  gedacht,  so  klar  er  oft  seine  Schwächen 
angedeutet  hat.  Wie  das  staatliche  Gesetz  gedeutet  und  der 
Vernunft  näher  gebracht  wird  durch  das  Naturrecht,  so  auch 
das  Dogma  und  das  Kirchenrecht  durch  die  Übereinstimmung 
mit  der  ratio.  Das  Vernünftige  und  das  Kirchliche  stehen  zu- 
sammen. Dass  etwa  ein  votum  solemne  Ehehindernis  ist,  wird 
so  begründet:  quod  ecclesia  illegitimavit  sie  voventem,  et  hoc 
fuit  rationabile,  quia  ipse  posuit  se  in  potestate  ecclesiae  (ib. 
dist.  38  quaest.  unic.  §  6).  —  Die  Theologie  behandelt  also 
das  positive  Recht  der  Kirche,  nicht  ohne  es  zu  erläutern  und 
zu  begründen  aus  der  ratio  oder  dem  natürlichen  Recht.  Die 
Schrift,  das  Dogma  und  das  Kirchenrecht  sind  ihre  Quellen, 
die  Vernunft  aber  nur  formales  Organ  des  Verständnisses. 

Wenden  wir  uns  jetzt  einer  genaueren  Bestimmung  des 
Wesens  und  der  Aufgabe  der  Theologie  zu. 

2.    Die  Aufgabe  der  Theologie. 

1.  Was  ist  das  subiectum  d.  h.  der  eigentliche  Gegenstand 
oder  das  Prinzip  im  Sinn  des  Mittelbegriffes  in  der  Theologie? 
Es  sind  nicht  die  opera  restaurationis,  wie  Hugo  wollte,  aber 
auch  nicht  Christus,  wie  Bonaventura  und  Robert  von  Lincoln 
lehrten  (Sent.  prol.  quaest.  2  lateral.  §  14 — 16),  da  in  diesem 
Fall  aus  dem  Menschgewordenen  sich  die  Trinität  nicht  ab- 
leiten liesse.  Nun  gilt  aber  die  Regel:  quod  ratio  primi 
subiecti  est  continere  in  se  primo  virtualiter  omnes  veritates 
illius  habitus  cuius  est,    d.  h.  primo   continere  est  ab  aliis  non 


^)  Ein  aristotelischer  Grundsatz. 


124  Kap.  I:  Philosophische  und  theologische  Prinzipien. 

dependerc  in  continendo  (ib.  4).  Hieraus  folgt,  dass  Gott 
der  erste  und  eigentliche  Gegenstand  der  Theologie  ist  (7). 
Denn  nur  in  Gott  als  solchem,  und  nicht  in  Christo  oder  einer 
anderen  trinitarischen  Person,  kann  die  Gesamtheit  aller  Wahr- 
heiten enthalten  sein.  Demnach  wird  die  Theologie  auszugehen 
haben  von  der  Aussage  über  das  Wesen  Gottes,  wird  von  dort 
die  trinitarischen  Personen  ergreifen  und  sodann  das  Verhält- 
nis Gottes  wie  auch  der  einzelnen  Personen  zur  Welt  erfassen 
(15).  Aber  als  Ausgang  muss  streng  das  göttliche  Wesen  an- 
gesehen werden,  nicht  die  Relationen  desselben,  auch  nicht 
seine  Unterordnung  unter  irgend  welche  Gemeinbegriffe  (9 — 11). 
Der  Habitus  der  theologischen  oder  religiösen  Erkenntnis  hat 
zum  ersten  Objekt  Gott  und  zwar  ist  der  höchste  Gedanke 
von  Gott  der,  dass  er  ens  iniinitum  ist.  Sofern  nun  in  Gott 
alle  Wahrheiten  enthalten  sind,  werden  dieselben  von  der 
Theologie  befasst  (23).  Nun  ist  aber  die  Theologie  an  sich 
d.  h.  das  Wissen  Gottes  von  sich  zu  unterscheiden  von  der 
Theologie  der  Seligen  und  von  unserer  gegenwärtigen  Theologie. 
Während  Gott  schlechthin  alles  Wissbare  in  seinem  Wesen 
erschaut,  umfasst  die  Theologie  der  Seligen  gerade  so  viel  als 
Gott  sie  in  seinem  Wesen  erschauen  lässt.  Dagegen  ist  für 
die  irdische  Theologie  in  letzterem  Sinn  das  Objekt  nach  Gottes 
Willen  auf  einen  bestimmten  Umfang,  nämlich  den  der  bib- 
lischen Offenbarung  beschränkt.  Igitur  theologia  nostra  de  facto 
uon  est  nisi  de  bis  quae  continentur  in  scriptura  et  de  bis  quae 
possint  elici  ex  ipsis  (ib.  24).  Dieser  Umfang  schliesst  aber  neben 
den  notwendigen,  Gottes  Wesen  betreffenden  Wahrheiten  (dass 
Gott  dreieinig,  Christus  vom  Vater  erzeugt,  der  Geist  spiriert)  auch 
kontingente  Wahrheiten  ein,  wie  die  geschichtlichen  Thaten 
Gottes,  z.  B.  die  Schöpfung,  Erhaltung,  die  lukarnationc  Jene  be- 
treffen das  göttliche  Wesen  wie  es  ist,  können  also  nur  notwendig 
sein,  während  letztere  kontingent  sind  als  Ausdruck  der  freien 
Beziehungen  Gottes  zur  Welt  (6.  13).  Die  kontingenten  That- 
sachen  können  nun  aber  nicht  als  notwendig  aus  dem  primum 
subiectum  hergeleitet  werden-,  wdewohl  sie  in  demselben  ent- 
halten sind.  Andererseits  kann  aber  die  Theologie  dieser 
Thatsachen  gewiss  werden.  Diese  kontingenten  Thatsachen 
sind  nämlich  so  beschaffen,  dass  sie  eine  certa  et  evidens  cog- 


Theologie  und  Welterkennen.  125 

nitio  zulassen.  Und  zwar  deshalb,  weil  sie  sämtlich  sich  in 
dem  ersten  Objekt  der  Theologie  oder  in  Gott  sehen  lassen, 
woselbst  zugleich  ihre  Verbindung  untereinander  wahrnehmbar 
wird  (28).  Indem  also  der  Christ  Gott  erkennt,  erkennt  er  die 
Übereinstimmung  der  Gott  beigelegten  Thaten  mit  Gottes 
Wesen  und  begreift  den  Zusammenhang  dieser  Thaten  als  in 
Gott  begründet.  Sofern  aber  die  kontingenten  Thaten  Gottes 
unter  diesen  Ausgangspunkt  und  in  diesen  Zusammenhang 
rücken,  wird  eine  evidente  Gewissheit  von  ihnen  gewonnen  (ib.). 

Allein  so  gewiss  immer  der  Christ  dieser  Erkenntnis 
Gottes  werden  kann,  so  sehr  kann  unter  diesem  Gesichtspunkt 
der  Charakter  der  Theologie  als  Wissenschaft  bezweifelt  werden, 
da  es  die  Wissenschaft  mit  dem  logisch  Notwendigen,  und 
nicht  mit  Kontingentem  zu  thun  habe.  Duns  meint,  immerhin 
könne  man  sie  Wissenschaft  nennen,  weil  sie  ein  Habitus  ist, 
quo  determinate  verum  dicimus.  Indessen  erscheint  es  ihm 
noch  zutreffender,  die  Theologie  als  eine  sapientia  zu  be- 
zeichnen, da  sie  ihrer  Art  nach  mehr  intellectus  principiorum 
als  scientia  conclusionum  sei  (28).  Mit  anderen  Worten:  die 
religiöse  Erkenntnis  ist  wesentlich  unmittelbare  Erkenntnis 
Gottes  und  seines  Wesens,  und  nicht  durch  Syllogismen  er- 
worbene Kenntnis  der  Welt.  —  Hieraus  ergibt  sich  aber  die 
Folgerung,  dass  das  religiöse  Erkennen  oder  die  theologische 
Wissenschaft  zu  keiner  anderen  Erkenntnis  oder  Wissenschaft 
in  einem  Verhältnis  der  Unterordnung  steht.  Obwohl  ihr 
Gegenstand  gewissermassen  auch  in  der  Metaphysik  enthalten 
ist:  nuUa  tamen  accepit  principia  a  metaphysica,  denn  die 
Metaphysik  hat  es  nur  mit  dem  Sein  als  solchem  zu  thun. 
Aber  ebensowenig  kann  eine  andere  Wissenschaft  der  Theo- 
logie subordiniert  sein,  da  alle  anderen  Wissenschaften  cognitio 
naturalis  sind,  die  sich  ergibt  aus  aliqua  principia  immediata 
naturaliter  nota  (29).  Duns  strebt  also  darnach,  der  Theologie 
eine  selbständige,  gegen  die  übrigen  Wissenschaften  abgegrenzte 
Stellung  zu  sichern.  Auch  hierin  gibt  sich  ein  charakteristischer 
Unterschied  zu  der  thomistischen   Denkweise  kund. 

2.  Dieses  bestätigt  sich  auch  bei  der  Beantwortung  der 
Frage,  ob  die  Theologie  ein  spekulatives  oder  praktisches 
Wissen    sei?       Nun    ist     ein    habitus    practicus    ein    solcher 


126  Kap.  I:  Philosophische  und  thfiologische  Prinzipien. 

welcher  Beziehungen  zur  Praxis  hat,  d.  h.  auf  Willensakte  ab- 
zweckt (prol.  quaest.  4,  4).  Da  die  Theologie  es  mit  der  Er- 
kenntnis eines  besonderen  Zieles  zu  thun  hat,  so  dass  diese 
Erkenntnis  zur  Liebe  dieses  Zieles  anregt  (17),  ist  die  theo- 
logische Erkenntnis  eine  cognitio  practica,  die  Theologie  prak- 
tisches Wissen.  Sie  befasst  also  in  sich  die  praktische  Er- 
kenntnis des  Zieles  und  hat  an  diesem  das  Prinzip  ihres  ge- 
samten Erkennens.  Somit  wird  sie  alles  übrige  als  Mittel  zur 
Erreichung  dieses  Zieles  ansehen.  Das  heisst  die  theologische 
Weltbetrachtung  verläuft  in  praktischen  Konklusionen,  die  sich 
ergeben  aus  der  praktischen  Erkenntnis  der  Beziehung  alles 
Geschehenden  auf  den  letzten  Zweck  (18).  Da  es  aber  klar  ist, 
dass  alle  Erkenntnis  in  der  Theologie  nur  Mittel  ist,  um 
den  obersten  Zweck  zu  verstehen  und  die  Mittel  zu  seiner 
Verwirklichung  zu  erfassen,  so  ist  es  nicht  richtig  die  reli- 
giöse Erkenntnis  als  spekulativ  oder  kontemplativ  oder  speku- 
lativ und  praktisch  zugleich  zu  bezeichnen,  wie  Duns  in  längerer 
Erörterung  gegen  Heinrich,  Thomas  u.  a.  zeigt,  man  könnte 
höchstens  (mit  Bonaventura)  von  einer  affektiven  Erkenntnis 
reden,  die  aber  sachlich  mit  der  praktischen  Erkenntnis  über- 
einkommt. Ergo  ex  primo  subiecto  sequitur  tam  conformitas 
quam  prioritas  theologiae  ad  voiitionem  et  ita  extensio  ad  praxim, 
a  qua  extensione  cognitio  dicenda  sit  practica.  Confirmatur 
ratio  ista,  quia  cum  primum  obiectum  theologiae  sit  ultimus 
finis  et  principia  in  intellectu  creato  sumpta  a  line  ultimo  sint 
principia  practica :  igitur  principia  theologiae  sint  practica,  ergo 
et  conclusiones  sunt  practicae  (31).  Das  eigentümliche  Objekt 
des  religiösen  Erkennens  kommt  also  unter  dem  Gesichts- 
punkt des  ultimus  finis  in  Betracht.  Es  ist  Gott.  Die  erste 
praktische  Erkenntnis,  die  sich  aus  der  Gotteserkenntnis  er- 
gibt, ist  die  cognitio  fruitionis  finis.  Und  so  tragen  alle  aus 
diesem  Prinzip  abgeleiteten  Prinzipien  und  Schlüsse  praktischen 
Charakter,  indem  ihre  Erkenntnis  abzielt  auf  die  volitio  recta 
des  Menschen  (32).  Auch  solche  Lehren,  wie  die  Trinität 
oder  die  Zeugung  des  Sohües  verleugnen  nicht  den  prak- 
tischen —  nicht  metaphysischen  —  Charakter,  indem  nämlich 
die  Erkenntnis  dieser  Lehren  abzielt  auf  die  rechte  Liebe  zu 
den    durch  jene  Sätze    gekennzeichneten   Objekten   (32).      So- 


Die  Theologie  als  praktische  Erkenntnis  und  als  Wissenschaft.       127 

mit  ist  die  Theologie  eine  praktische  Wissenschaft  in  dem 
Sinne,  dass  das  von  ihr  behandelte  Erkennen  praktisches  Er- 
kennen ist.  Damit  ist  zugleich  die  Selbständigkeit  der  Theo- 
logie gegenüber  der  Philosophie  erwiesen.  In  dem  Mass 
aber,  als  ihr  Objekt  ein  höheres  und  die  Gewissheit  von  dem- 
selben eine  grössere  ist,  ist  sie  die  höhere  Erkenntnis  der 
Philosophie  gegenüber.  Dabei  müsste  es  bleiben,  auch  wenn 
man  überhaupt  den  streng  wissenschaftlichen  Charakter  der 
Theologie  leugnen  wollte,  (ib.  42;  Eeport.  prol.  quaest.  2,  8). 
3.  Dieser  praktische  Charakter  des  theologischen  Er- 
kennens  verhindert  natürlich  nicht,  dass  formell  in  der  Theo- 
logie die  sonstige  wissenschaftliche  Erkenntnis  und  Methode 
zur  Verwendung  kommt.  Der  Glaube  schliesst  zwar  das 
"Wissen  in  dem  Sinne  aus,  dass  etwas  nicht  zugleich  geglaubt 
und  gewusst  werden  kann  (gegen  Thomas  und  Heinrich).  Das 
Wissen  hat  nämlich  seine  Wesensmerkmale  an  der  Sicherheit, 
Notwendigkeit,  der  causa  evidens  und  der  Evidenz  der  syllo- 
gistischen  Verknüpfung  der  Sätze  (Sent.  III  dist.  24  quaest. 
unic.  §  13).  Diesen  Forderungen  fügt  sich  die  theologische 
und  religiöse  Erkenntnis  nicht  ein,  indem  sie  auch  Kontin- 
gentes in  sich  befasst,  also  nicht  der  logischen  Evidenz  unter- 
liegen kann.  Man  könnte  hiernach  folgerichtig  zweifeln ,  ob 
die  Theologie  überhaupt  eine  Wissenschaft  in  strengem  Sinne 
sei.  Aber  die  Antwort  auf  diese  Frage  hat  Duns  (ib.  2)  ver- 
sagt. Wohl  aber  zeigt  er,  dass  neben  der  nichtwissenschaft- 
lichen Form  der  Schrift  (ib.  14  fin.)  in  der  Theologie  die 
wissenschaftliche  Arbeit  bestehen  kann.  Und  zwar  sowohl  in 
der  exegetischen  Arbeit  (exponit  scripturam  per  scripturam 
scilicet  unum  locum  per  alium  et  obscurum  per  manifestum), 
als  auch  durch  Erläuterung  der  Schrift  vermöge  anderer 
Wissenschaften :  immiscendo  philosophiam  scripturae  sacrae, 
quod  sine  dubio  multum  valet,  et  praecipue  metaphysicalia,  ut 
veritas  scripturae  de  trinitate  et  intelligentiis  et  abstractis  in- 
telligatur),  oder  weiter  die  solutio  contrariorum  oder  endlich 
der  intellectus  exponendi  moraliter  ad  aedificationem.  x\.ber 
hierbei  hat  Duns  auf  das  schärfste  betont  ^  dass  durch  dieses 
Verfahren  keineswegs  das  Geglaubte  zum  Gegenstand  des 
Wissens  im  Sinn   der  theoretischen  Wissenschaft   wird.     Denn 


1 28  Kap.  I :  Philosophische  und  the^lop^ische  Prinzipien. 

der  Wert  des  auf  diesem  Wege  Erschlossenen  ist  natürlich 
von  der  Evidenz  der  Prämissen  durchaus  abhängig.  Ist  nun 
die  Schriftlehre  diese  Prämisse,  die  also  nicht  in  wissenschaft- 
lichem Sinn  evident  ist,  so  kann  ein  auf  sie  gebauter  Schluss 
auch  nicht  auf  theoretische  Evidenz  Anspruch  erheben  (ib.  16). 

Man  kann  nicht  umhin,  die  Schärfe  dieser  Betrachtung  zu 
bewundern. 

4.  Die  Absicht  des  grossen  Theologen  ist  ebenso  klar  als 
einleuchtend.  Die  reUgiöse  Erkenntnis  ist  nicht  eine  Abart 
oder  Unterart  des  wissenschaftlichen  spekulativen  Welterkennens. 
Der  religiösen  Erkenntnis  eignet  vielmehr  ein  besonderes  Ziel 
und  somit  besondere  Prinzipien  und  Schlüsse.  Indem  es  sich 
auf  Gott  als  das  höchste  Ziel  für  den  Grenuss  des  Willens 
richtet,  betrachtet  es  alles  als  Mittel  zu  diesem  Zweck  und  hält 
dem  Willen  das  Ziel  als  das  zu  erreichende  höchste  Gut  vor. 
Der  Ort  des  religiösen  Erkennens  ist  also  nicht  die  theoretische, 
sondern  die  praktische  Vernunft.  Nun  sind  aber  diese  Ge- 
danken mit  dem  kirchlichen  Positivismus  unseres  Theologen 
verbunden.  Die  biblischen  Lehren  sowie  der  Komplex  kirch- 
licher Dogmen  und  Gesetze  haben  a  priori  zu  gelten  als  die 
legitimen  Mittel  zur  Erreichung  jenes  höchsten  praktischen 
Zieles.  Der  praktische  Charakter  der  Theologie  bedeutet  im  Sinn 
des  Duns  also  nicht  nur  die  Beziehung  der  religiösen  Erkenntnis 
auf  die  Erreichung  des  höchsten  Gutes,  sondern  auch  die 
Unterwerfung  unter  die  positiven  Lehren  und  Regeln  der  Kirche. 
Diese  Kombination  vermittelt  sich  durch  den  Gedanken,  dass 
jene  praktische  Erkenntnis  des  höchsten  Gutes  der  Menschheit 
nur  durch  die  Offenbarung  in  der  Kirche  dargeboten  worden 
ist.  Deshalb  ist  die  praktische  religiöse  Erkenntnis  nur  im 
Gehorsam  gegen  die  Kirche  zu  erreichen.  Die  innere  Be- 
rechtigung dieser  Kombination  kann  aber  erwiesen  werden 
durch  die  Übereinstimmung  der  kirchlichen  Lehre  mit  der 
praktischen  Vernunft  als  der  angeborenen  natürlichen  An- 
schauung von  dem  Guten  und  Rechten.  —  Das  ist  es,  nach 
Duns  Scotus,  um  die  Theologie.  Die  Betonung  des  praktischen 
Elementes  im  Geist  des  Menschen,  der  kirchliche  Positivismus 
und  das  Naturrecht  sind  die  Punkte,  an  denen  seine  Gedanken 
von   der   Theologie   orientiert   sind.     Die   kirchliche   Theologie 


Der  Glaube.  ^29 

hat  also  die  Wahrheit;  dass  es  wirklich  so  ist,  bewährt  sich 
daran,  dass  sie  den  praktischen  Bedarf  des  Menschengeistes  zu 
decken  vermag,  denn  sie  bietet  dem  Willen  das  höchste  ihn 
schlechthin  befriedigende  Gut  dar  und  gibt  ihm  die  notwendigen 
und  entsprechenden  Mittel  zu  seiner  Erreichung  an. 

3.  Der  Glaube. 

1.  Die  praktische  religiöse  Erkenntnis,  welche  den  Gegen- 
stand der  Theologie  ausmacht,  wird  im  Leben  durch  den 
Glauben  ausgeübt.  Wir  kommen  hiemit  zum  Begriff  des 
Glaubens  bei  Duns  ^).  Er  geht  aus  von  dem  Unterschied  der 
fides  acquisita  und  fides  infusa.  Die  fides  acquisita  ist  der 
Glaube  im  natürlichen  Sinn  wie  er  sich  auf  rein  psychologischem 
Wege  im  Menschen  entwickelt.  Firmiter  inhaeremus  historiis 
et  gestis  scriptis  de  rebus  bellicis  et  aliis  quae  scribuntur  in 
chronicis  fide  acquisita,  per  hoc  quod  credimus  veraces  eos  esse 
qui  talia  referunt.  So  kann  man  auch  fest  anhangen  historiae 
scripturae  sacrae  et  evangelio  auf  Grund  der  Überzeugung  von  der 
Wahrhaftigkeit  der  betr.  Schriftsteller.  Es  ist  also  unzweifelhaft, 
quod  in  nobis  est  fides  revelatorum  credibilium  acquisita.  Wir 
glauben  den  Büchern  der  Schrift,  indem  wir  der  Kirche  glauben, 
die  sie  als  wahr  bezeugt.  Wir  können  also  selbst  den  Glauben 
erwerben  auf  Grund  jener  Überzeugung.  Wenn  ein  Juden- 
knabe unter  Christen  erzogen  würde ,  so  würde  er  die  unter 
ihnen  gangbaren  religiösen  Vorstellungen  sich  ebenso  aneignen, 
wie  getaufte  Cbristenkinder  es  thun.  Oder  der  getaufte  Häre- 
tiker, der  bei  Eintritt  der  Häresie  den  eingegossenen  Glauben 
verloren  hat,  glaubt  mit  erworbenem  Glauben  alles,  ausser  etwa 
die  Trinitätslehre.  Ausdrücklich  sagt  Paulus :  ex  auditu  fides. 
Dieser  Glaube  kann  doch  nur  der  erworbene  Glaube  sein. 
Soviel  ist  also  sicher,  dass  der  Glaube  an  die  „offenbarten 
Artikel'^  der  Religion  zu  seinem  Bestand  nicht  einer  Ein- 
giessung  bedürftig  ist.  Dieser  Glaube  ist  die  Zustimmung  zu 
dem,  was  uns  durch  Berichte  glaubwürdiger  Zeugen  versichert 
wird.     Daher  eignet  ihm  ein  höherer  Grad   der  Gewissheit  als 


^)  Die  Erörterung  von  Ritschl,    Fides    implicita   S.  20 £f.  ist  nicht 
immer  zutreffend. 

Seeberg,  Die  Theologie  des  Duus  Scotus.  9 


130  Kap.  I:  Philosophische  und  theologische  Prinzipien. 

einer  blossen  opinio,  wie  er  andrerseits  unter  dem  Wissen  steht, 
welches  ihn  durch  die  evidentia  obiecti  scibilis  übertrifft.  Wie 
Duns  es  meint,  zeigen  seine  Beispiele  deutlich :  ich  glaube,  da8s 
Rom  und  dass  andere  Weltteile  da  sind,  wiewohl  ich  sie  nicht  ge- 
sehen, und  ich  glaube,  dass  es  schon  vor  mir  Welt  gab,  obwohl 
ich  das  nicht  erlebt  habe.  Ich  nehme  das  aber  an,  weil  glaub- 
würdige Menschen  es  mir  versichern.  So  ergreifen  wir  also 
auch  die  Glaubensartikel,  weil  wir  der  Kirche  glauben  was  sie 
über  den  göttlichen  Ursprung  der  Schrift,  die  jene  Artikel 
enthält,  lehrt.  Hoc  igitur  tenendum  est  tanquam  certum,  quod 
revelatorum  in  scriptura  est  nobis  fides  acquisita,  generata  ex 
auditu  et  ex  actibus  nostris,  qua  eis  firmiter  adhaeremus.  — 
Es  scheint  also  Glaube  an  alle  Artikel  der  offenbarten  Religion 
entstehen  zu  können,  ohne  dass  man  eines  anderen,  als  dieses 
natürlichen  Glaubens  bedürfte  (III  dist.  23  quaest.  unic.  §  1.  4  f.). 
2.  Was  ist  es  dann  mit  dem  eingegossenen  Glauben, 
wie  er  dem  Christen  in  der  Taufe  schon  (ib.  dist.  24  quaest. 
unic.  §  12)  mitgeteilt  wird?  Duns  spricht  sich  hierüber  mit 
bemerkenswertem  Schwanken  aus.  Man  kann  die  fides  infusa 
etwa,  parallel  dem  ,, erworbenen  Glauben^^,  so  finden:  der 
Gläubige  ,, assentiert"  dem  Offenbarten,  weil  er  Gottes  Wahr- 
haftigkeit glaubt.  Nun  vollzieht  sich  Gottes  Offenbarung  in 
übernatürlicher  Weise,  also  muss  der  dem  Offenbarten  zu- 
stimmende Glaube  ein  habitus  supernaturahs  sein,  revelat  autem 
credibilia,  quando  infundit  habitum.  Oder  der  habitus  der 
Überzeugung,  dass  Gott  wahrhaftig  ist,  muss  zuerst  dem 
Menschen  eingegossen  sein,  ehe  er  der  göttlichen  Offenbarung 
glaubt.  Demgemäss  würde  die  Gewissheit  des  Glaubens  sich 
nicht  aus  dem  Objekt  selbst,  sondern  aus  der  Zuverlässigkeit 
Gottes  als  des  Zeugen  dieser  Wahrheiten  ergeben.  Hieraus  sei 
es  auch  zu  verstehen,  dass  Paulus  den  Glauben  mit  Dunkelheit 
und  Rätselhaftem  behaftet  sein  lässt,  weil  nämhch  der  Gläubige 
non  credit  articulum  esse  verum  ex  evidentia  obiecti,  sed  propter 
hoc  quod  assentit  veracitati  infundentis  habitum  et  in  hoc 
revelantis  credibilia.  Also  Gott  giesst  uns  ein  den  habitus  der 
Überzeugung  von  seiner  Wahrhaftigkeit,  hiedurch  wird  die 
Lehre  und  Überlieferung  für  uns  zur  Offenbarung,  der  wir  zu- 
stimmen (ib.  quaest.  23,  6).     Diese  Anschauung  hat  Duns   zur 


Der  erworbene  und  der  eingegossene  Glaube.  131 

Wahl  gestellt  (§  3  extr.).     Aber  sie  gefällt  ihm  nicht.     Gesetzt 
es    stände   so,   so    wäre    der  Glaube   damit  keineswegs  erklärt. 
Wenn  nämlich  der    eingegossene   Glaube    sein  Objekt    an    der 
Wahrhaftigkeit  Gottes  hat,  so  ist  nicht  klar,  wie  es  zum  Glauben 
an  die   einzelnen  Glaubensartikel  komme.     Ich   glaube   an   die 
Dreieinigkeit.     Warum?    Weil   Gott   sie    offenbart  hat.     Aber 
woher    weiss   ich,    dass    Gott    sie    offenbart    hat?    Weil   Gott 
offenbart  hat,   dass   er  sie   offenbart  hat.     Man    könnte    so    in 
infinitum  fortgehen.     Daraus  aber  ergibt  sich,  dass  die  einzelne 
Glaubenswahrheit  nicht  das  direkte  und  sichere  Objekt  unseres 
Glaubens  wird,  sondern  nur  das  indirekte  Objekt.     Also  kann 
es  bei  dieser  Annahme  zu  keiner  Glaubensgewissheit  bezüglich 
der  credibilia  kommen.  —  Sodann :  Der  Glaube  als  habitus  realis 
muss   ebenso   wie   eine    potentia    realis    ein   reales  Objekt  und 
Ziel  haben.     Nun  ist  aber  in  dem  obigen  Zusammenhang  nicht 
Gott  selbst,  sondern  der  Satz,  dass  die  Offenbarung  Gott  lehrt, 
das  eigentliche  Glaubensobjekt.     Diese  Kritik  enthält,  wie  nicht 
ausgeführt  zu  werden  braucht,  eine  feine  Beobachtung  (1.  c.  §  8).  — 
Ferner:  Dem  ersten^  dem  ein  Glaubensartikel  offenbart  wurde, 
also  etwa  dem  Paulus,  genügte  der  erworbene  Glaube,  um  ihm 
zuzustimmen,    also   muss   er   auch  für  alle  Späteren   genugsam 
sein.     Es  ist    möglich,    dass    ein  Mann    wie  Paulus,    Gott    für 
wahrhaftig,  also  auch  die  Offenbarung  —  ex  puris  naturalibus 
—  für  wahr  hielt,  also  ist  die  fides  infusa  nicht  notwendig.  — 
Weiter:    wie    jemand,    der    nicht    im    stände    ist    die    Sätze 
der  Geometrie  zu  erfinden,  sie  doch,   wenn  sie  ihm  überliefert 
werden,  zu  begreifen  und  anzuerkennen  vermag,  so  müsste  auch 
jemand,  dem  die  Dreieinigkeit   aus  der  Offenbarung  überliefert 
wird,  sie  anzuerkennen  im  stände  sein  ohne  fides  infusa.  —  Endlich : 
die  fides  infusa  soll  den  Gtauben  sicherer  machen  als  die  fides  ac- 
quisita ;  aber  das  ist  falsch,  denn  die  Gewissheit  des  Prinzips  ist 
grösser  als  die  von  einem  aus  ihm  erst  abgeleiteten  Schluss,  und  nur 
diese  letztere  Gewissheit  gewährt  der  eingegossene  Glaube.    Zu- 
dem wäre  mein  Glaube  gewisser,  wenn  ich  ihn  selbst  von  den 
Trägern  der  Offenbarung  erworben  hätte,  als  der  mir  jetzt  einge- 
gossene Glauben  sein  kann  (8).  —  Fassen  wir  diese  Gegengründe 
zusammen :  es  bedarf  keines  eiDgegossenen  Glaubens,  denn  indem 
er  nur  eine  indirekte  durch  einen  Schluss  gewonnene  Glaubens- 

9* 


132  Kap.  I:  Philosophische  und  theolpgische  Prinzipien. 

gewissheit  herzustellen  vermag,  wäre  die  Gewissheit  des  er- 
worbenen Glaubens  eine  grössere.  Es  ist  aber  möglich,  dass 
der  natürliche  Mensch  den  Glauben  an  die  Offenbarung  gewinnt. 
Folglich  ist  kein  Grund  da  den  eingegossenen  Glauben  anzu- 
nehmen. Duns  leitet  die  richtige  Empfindung,  dass  wir  direkt 
an  Gott  selbst  glauben  müssen,  nicht  aber  indirekt  durch  den 
Schluss:  weil  wahrhaftige  Menschen  die  Offenbarung  Gottes 
bezeugen,  deshalb  glauben  wir  an  Gott. 

3.  Duns  zeigt  nun  einen  zweiten  Weg  zur  Verteidigung 
der  fides  infusa  auf.  Wir  vermögea  die  Glaubensobjekte  nur 
im  allgemeinen,  sofern  sie  in  die  gemeinmenschlichen  Begriffe 
des  Seienden  und  des  Wahren  gefasst  werden,  zu  erkennen. 
Wir  erfassen  also  die  Begriffe  Einheit  der  Essenz,  Dreiheit 
der  Personen  etc.  in  ihrem  allgemeinen  logischen  Sinn.  Aber 
diese  Erkenntnis  ist  keine  evidente  und  eigentliche,  so  lange 
wir  es  bloss  mit  allgemeinen  Begriffen  zu  thun  haben  und 
diese  Gedanken  nicht  von  der  besonderen  Eigenart  der  Be- 
griffe aus  verstanden  werden:  nunquam  cognoscimus  evidenter, 
nisi  termini  eins  apprehendantur  a  nobis  in  particulari  sub 
propriis  rationibus.  Erst  dann,  wenn  jene  Begriffe  in  ihrer 
besonderen  Eigenart  erfasst  sind,  kann  man  zu  einem  Urteil 
darüber,  ob  sie  wahr  oder  falscli  sind,  gelangen.  Duns  will 
also  sagen:  das  Wesen  Gottes  kann  nicht  erkannt  werden  ver- 
möge der  allgemeinen  aus  der  Natur  abstrahierten  Begriffe 
(vgl.  oben  S.  110).  Nun  offenbaren  die  Objekte  der  Welt  uns 
nicht  jene  Begriffe  des  göttlichen  Seins  sub  propriis  rationi- 
bus. Wenn  wir  also  den  aus  diesen  Begriffen  gebildeten 
Glaubenssätzen  zustimmen,  so  geschieht  das  nicht,  weil  sich 
uns  aus  der  Erkenntnis  der  Begriffe  die  Notwendigkeit  dieser 
Sätze  ergibt,  sondern  weil  durch  die  häufige  Wiederholung 
dieser  Begriffe  ein  gewisser  Habitus  oder  eine  Denkgewohn- 
heit in  Bezug  auf  die  Glaubenssätze  entsteht  (ib.  9).  Sonach 
kann,  indem  wir  aus  der  Welt  nicht  die  besondere  Erkenntnis 
des  göttlichen  Wesens  gewinnen,  die  Gewissheit  von  den  aus 
weltlichen  Allgemeinbegriffen  gebildeten  Glaubenssätzen  nur 
die  Gewissheit  einer  gewissen  Denkgewöhnung  sein.  Diese 
scharfsinnige  Betrachtung  legt  eine  Lücke  in  der  Bestimmung 
des  Glaubens   als   erworbenen  blos.     Der   natürlich   erworbene 


Die  Notwendigkeit  des  eingegossenen  Grlaubens.  133 

Glaube  bringt  es  zu  keiner  innerlich  notwendigen  Anerkennung 
der  übernatürlichen  Glaubenssätze. 

Hier  setzt  Duns  ein.  Da  wir  einen  kräftigen  Assensus 
zu  den  Glaubenssätzen  empfinden,  so  muss  eine  entsprechende 
Ursache  dieser  Kräftigkeit  des  Glaubens  gefunden  werden. 
Da  nichts  in  der  AVeit,  diese  Ursache  sein  kann,  so  wird  es 
Gott  sein.  Gott  giesst  uns  den  Glaubenshabitus  ein,  der 
unseren  Intellekt  auf  Gott  hinrichtet  und  ihn  geneigt  macht 
der  Komplexion  der  Begriffe,  die  in  den  Glaubenssätzen  vor- 
liegt, beizustimmen.  Deus  infundit  nobis  habitum  fidei  incli- 
nantem  intellectum  nostrum  in  assensum  articulorum,  ita  quod 
fides  respiciat  ipsum  deum,  de  quo  formantur  articuli,  quibus 
sicut  obiectis  secundariis  assentimus  per  habitum.  Dies  hat 
aber  nicht  den  Sinn ,  als  wenn  wir  durch  diesen  Habitus  die 
evidente  Erkenntnis  der  von  Gott  handelnden  Begriffe  gewönnen ; 
hätten  wir  eine  solche,  so  würden  wir  nicht  mehr  glauben, 
sondern  wissen  (cf.  III  dist.  24  quaest.  unic.  §  17).  Also 
kann  auch  die  Erkenntnis  der  Glaubenssätze  nicht  eine  schlecht- 
hin vollkommene  ex  evidentia  terminorum  erwachsende  sein. 
Diese  Sätze  bezeichnen  nämlich  in  Bezug  auf  das  inwendige 
Wesen  Gottes  schlechthin  Notwendiges,  in  Bezug  auf  Gottes 
nach  aussen  gerichtete  Thaten  kontingente  Ordnungen  des 
göttlichen  Willens.  Nun  sind  aber  die  Aussagen  von  dem 
einen  wie  anderen  für  uns  nicht  evident.  Also  ist  der  Glaube 
—  in  diesem  Sinn  —  eine  unvollkommene  Erkenntnis   (§  10). 

Diese  Auffassung  unterscheidet  sich  von  der  zuerst  dar- 
gelegten vor  allem  dadurch,  dass  hier  nicht  die  Wahrheit  der 
Offenbarung,  sondern  Gott  selbst  das  direkte  Objekt  des  Glau- 
benshabitus ist.  Es  wird  eine  Anschauung  Gottes,  eine  Bich- 
tung  auf  ihn  im  Menschen  erzeugt,  die  diesen  befähigt  und  an- 
treibt den  Glaubenssätzen  beizupflichten:  fides  respicit 
deum  sicut  primum  obiectum,  de  quo  sicut  de  obiecto 
primo  continente  huiusmodi  veritates  formamus  huiusmodi 
veritates  complexas:  deus  est  trinus  et  unus.  Nee  credo 
hocesse  verum,  quia  prius  credo  hoc  esse  revela- 
tum  a  deo,  sed  ille  habitus  immediate  inclinat  in 
articulos  fidei  (11).  Niemand  wird  diese  Sätze  ohne  ein 
gewisses  Staunen  lesen.     Der  Autor  scheint  hart  an  das  Rieh- 


134  Kap.  I:  Philosophische  und  theologische  Prinzipien. 

tige  herangekommen  zu  sein.  Der  Satz:  wir  glauben  an 
Gott,  weil  wir  an  die  Schrift  glauben^  ist  überwunden;  der 
Glaube  wird  dadurch  erweckt,  dass  Gott  den  Geist  auf  sich 
selbst  hinrichtet.  Aber  —  eine  Wendung,  und  wir  stehen 
wieder  im  Mittelalter!  Was  ist  der  Zweck  von  alle  dem? 
Dass  wir  den  intellektuellen  Assensus  zu  den  technischen  For- 
meln der  Theologie  zu  leisten  vermögen. 

Aber  Duns  selbst  führt  gegen  diese  Auffassung  eine  An- 
zahl von  Gründen  in  das  Feld.  Erstens :  in  diesem  Sinne  ver- 
standen ist  der  Glaube  kein  Habitus,  wie  die  Kirche  lehrt, 
sondern  eine  Potenz.  Der  Habitus  erleichtert  das  Handeln, 
die  Potenz  ist  der  alleinige  Möglichkeitsgruud  desselben. 
Hierauf  aber  scheint  dieser  Glaubensbegriff  zu  führen  :  Man 
kann  nicht  glauben  ohne  diese  fides  infusa.  Preilich  kanu 
man  dagegen  sagen,  dass  die  Potenz  auf  Seiten  der  Seele 
liegt,  der  Glaube  aber  nur  in  Bezug  auf  Objekte  besteht,  als 
die  Partialursache  seiner  Akte.  Aber  wäre  letzteres  richtig, 
so  müsste,  wenn  undeutliche  Vorstellungen  von  Glaubens- 
artikeln einem  Neugetauften  vor  die  Seele  treten,  derselbe  in 
Kraft  des  in  der  Taufe  empfangenen  Habitus  und  der  Ein- 
wirkung jener  Vorstellungen  —  ohne  jede  Belehrung  — 
Glaubensakte  bezüglich  der  Artikel  hervorbringen  können. 
Aber  ohne  fides  acquisita  kommt  es  nicht  zu  solchen.  — 
Zweitens :  Die  Akte  des  eingegossenen  und  die  Akte  des  er- 
worbenen Glaubens  würden  total  different  sein,  da  sie  auf  ver- 
schiedene Prinzipien  zurückgingen,  jene  auf  den  Intellekt  und 
den  Habitus,  diese  auf  den  Intellekt  und  das  Zutrauen  zu  der 
Wahrhaftigkeit  der  Überlieferung.  Hierdurch  empfängt  die 
im  vorigen  Punkt  zuletzt  geübte  Kritik  erst  volles  Licht.  — 
Drittens:  so  könnte  man  ganz  ohne  den  Willen  glauben,  aber 
der  Wille  gehört  nach  Augustin  zum  Glauben.  —  Viertens: 
der  eingegossene  Glaube  bringt  den  Assensus  hervor,  aber  es 
trägt  nicht  die  credibilia  in  sich.  Folglich  müsste  ein  zweiter 
Habitus  angenommen  werden,  der  die  credibilia  in  sich  fasste, 
um  sie  dem  ersten  Habitus  zum  Assens  darzubieten.  Sonach 
würde  jeder  perfecte  credens,  z.  B.  ein  Theologe,  zwei  intellek- 
tuelle Habitus  des  Glaubens  haben  müssen:  das  uninteressierte 


Die  Bedeutung  des  eingegossenen  Glaubens.  135 

Wissen  von  den  Glaubensgegenständen   und   die  Neigung  zum 
Assens  (so  §  12.  13). 

4.  Diese  Folgerungen  stellen  nun  auch  die  zweite  Methode 
des  Beweises  für  den  eingegossenen  Grlauben  in  Frage,  denn  sie 
führen  auf  Unmögliches  und  Unwahrscheinliches.  Die  positive 
Erörterung  geht  aus  von  dem  Satz:  quod  oportet  ponere 
fidem  infusam  propter  auctoritatem  scripturae 
et  sanctorum,  sed  non  potest  demonstrari  fidem  infusam 
inesse  alicui,  uisi  praesupposita  fide,  quod  velit  credere  scrip- 
turae et  sanctis,  sed  infideli  nunquam  ostenderetur  (14).  Der 
Positivismus  gibt  also  die  Grundlage  für  die  Betrachtung  her. 
Wie  ich  an  Gott  glaube,  so  glaube  ich,  dass  er  den  Glaubens- 
habitus mir  eiugeflösst  hat.  Das  heisst  nach  dem  Zusammen- 
hang aber  nur:  ich  glaube  beides,  sofern  beides  kirchlicher 
Glaubenssatz  ist.  Nun  soll  der  eingegossene  Glaube  freilich 
ebenso  den  Intellekt  heilen,  wie  die  Liebe  den  Willen  (14). 
AVeiter  wird  behauptet,  dass  durch  die  fides  infusa  die  Inten- 
sität der  Glaubensakte  gesteigert  werde ,  und  dass  dieselbe 
auch  überhaupt  notwendig  sei  für  den  Assensus.  Denn  käme 
dieser  nur  durch  die  Willensenergie  zu  stände,  so  wäre  die 
Bitte  um  Mehrung  des  Glaubens  sinnlos.  Ebenso  verlangt  die 
Gewissheit  des  Glaubens  die  fides  infusa,  denn  der  erworbene 
Glaube  beruht  auf  der  Glaubwürdigkeit  an  sich  irrtumsfähiger 
Menschen,  kann  also  nie  zur  völligen  Gewissheit  führen  (15). 
Aber  dies  letzte  Argument  scheint  unsicher  zu  sein.  Setzen 
wir  ein  Glauben,  das  firmiter  und  infallibiliter  geschieht,  so 
ist  zu  sagen :  firmiter  geschieht  auch  das  erworbene  Glauben, 
denn  das  liegt  im  Wesen  des  Glaubens,  man  kann  in  demselben 
Akt  nicht  zugleich  zweifeln  und  zustimmen.  Also  bedarf  es  hier- 
zu nicht  der  fides  infusa.  Die  Infallibilität  des  Glaubens  aber 
hängt  überhaupt  nicht  mit  den  subjektiven  Zuständen  zusammen, 
sondern  ist  abhängig  von  der  Art  der  Objekte  des  Glaubens. 
Sind  diese  falsch,  so  werden  sie  durch  den  subjektiven  Glauben 
nicht  richtig,  er  sei  eingegossen  oder  erworben.  Man  wird 
also,  wenn  man  diese  Gründe  nicht  auflösen  kann,  gut  thun, 
die  Notwendigkeit  der  fides  infusa  nur  auf  die  beiden  ersten 
Argumente  zu  stützen.  Sie  ist  nötig,  damit  es  überhaupt  zum 
Glaubensakt    kommen    könne    und    damit    die   Intensität    der 


136  Kap.  I:  Philosophische  und  theologische  Prinzipien. 

Glaubensakte  gesteigert  werde  (16).  Wollte  man  sich  aber 
auf  die  Selbstgewissheit  des  Glaubens  berufen,  so  kann  nur 
gesagt  werden,  dass  diese  ihn  zwar  dessen,  dass  er  glaubt,  ver- 
gewissert, aber  nicht  dessen,  dass  er  das  Wahre  glaubt;  er 
habe  denn  hiefür  eine  besondere  Offenbarung. 

Somit  muss  es  seine  Bewandtnis  bei  dem  Resultat  haben, 
dass  wir  den  eingegossen en  Glauben  um  der  Autorität  der 
Kirche  willen  ebenso  glauben,  wie  wir  an  Gott  glauben.  Den 
Einwänden  gegenüber  gilt,  dass  der  eingegossene  Glaube  die 
Seele  in  vollkommenerem  Mass  vollendet  als  der  natürlich  er- 
worbene Glaube  (18).  Gott  wollte  es,  dass  nur  der  durch  den 
Habitus  vollendete  Glaubensakt  als  acceptabel  gelte  (III  dist. 
25  quaest.  un.  §  2).  Doch  das  ist  wieder  nur  einer  jener  posi- 
tivistischen Gründe,  die  nicht  beweisen,  sondern  bloss  eine 
Voraussetzung  umschreiben.  —  Von  Wichtigkeit  ist  es  aber, 
dass  man  nicht  vergisst,  dass  die  beiden  ersten  —  freilich 
mit  Gegengründen  vorgetragenen  —  Gedankenreihen  von  Duns 
ausdrückKch  dem  Leser  zur  Auswahl  empfohlen  waren.  Nun 
richtet  sich  seine  Sympathie  fraglos  auf  die  zweite  Gedanken- 
reihe (S.  132 f.);  wir  werden  dieselbe  also  hier  zur  Ergänzung 
heranziehen  dürfen,  zumal  dieselbe  der  später  entwickelten  An- 
schauung von  Liebeshabitus  konform  ist.  Dann  können  wir 
etwa  sagen:  der  eingegossene  Glaube  ist  für  Duns  die  von 
Gott  im  Menschen  erschaffene  Neigung  und  Richtung  des  In- 
tellektes auf  Gott  und  seine  Offenbarung.  Hieraus  wird  so- 
wohl verständlich,  dass  aus  diesem  Habitus  der  erste  reine 
und  gottgefällige  Glaubensakt  hervorgeht,  als  dass  er  die  In- 
tensität der  Glaubensakte  steigert.  Aber  diese  Richtung  auf 
Gott  realisiert  sich  bloss  im  Assens  zur  überlieferten  Kirchen- 
lehre. Und  schliesslich  darf  auch  das  nicht  vergessen  werden, 
dass  der  entscheidende  Grund  zur  Annahme  der  fides  infusa 
die  Autorität  der  Kirchenlehre  war. 

Vor  allem  dürfen  wir  aber  nicht  ausser  Acht  lassen,  dass 
der  Glaube,  wie  er  sich  als  eine  Reihe  konkreter  Akte  in 
unserem  Leben  realisiert,  niemals  bloss  Wirkung  der  fides  in- 
fusa ist,  sondern  erworben  wird,  indem  man  die  christliche 
Lehre,  die  in  den  14  Glaubensartikeln  zusammengefasst  ist 
(III  dist.  25  quaest.  1,  4),   hört   und  ihr  in   der   Überzeugung 


Der  psychologische  Sitz  des  Grlaubens,  137 

von  der  Glaubwürdigkeit  der  Kirche  und  ihrer  Lehrer  zustimmt. 
Diesen  Glauben  kann  der  Habitus  nicht  erzeugen,  da  er  die 
credibilia  nicht  in  sich  fasst,  diese  müssen  von  aussen  heran- 
gebracht und  vom  natürlichen  Glauben  erworben  werden,  wo- 
bei freilich  der  eingegossene  Glaube  mithilft.  Ideo  necessario 
requiritur  cum  fide  infusa  fides  acquisita  ex  auditu  (ib.  9.  11). 
Die  eigentliche  Realität  des  christlichen  Lebens  bleibt  doch 
der  erworbene  Glaube,  der  eingegossene  Glaube  gibt  ihm  nur 
eine  gewisse  Leichtigkeit  und  Kräftigkeit.  Der  erworbene 
Glaube  bestand  aber  darin,  dass  wir  die  christliche  Lehre  für 
wahr  halten,  indem  wir  ihren  Verkündigern  glauben. 

5.  Nur  eine  Frage  bedarf  noch  der  Erörterung,  welche 
Rolle  der  Wille  bei  dem  Zustandekommen  des  Glaubensaktes 
inne  hat.  Thomas  von  Aquino  lehrte,  dass  der  Wille  den 
Intellekt  zum  Assensus  antreibe  (s.  quaestio  disput.  de  fide 
art.  1).  Nach  Duns  scheint  die  Beteiligung  des  Willens  am 
Glaubensakt  eine  geringere  zu  sein.  Dem  Intellekt  werden 
bestimmte  Objekte  vorgelegt,  es  ist  damit  zur  Wahl  und  Ent- 
scheidung angeregt.  Eine  solche  ist  aber  psychologisch  unvoll- 
ziehbar ohne  einen  Willensakt  (ib.  11).  Die  Sache  wird  also 
so  hegen.  Damit  es  zum  Glauben  komme,  bedarf  es  1)  einer 
Lehre,  d.  h.  wirksamer  Objekte,  2)  eines  für  deren  Wirkungen 
empfänglichen  Intellekts,  3)  des  eingegossenen  Habitus  in  ihm, 
der  den  Glaubensakt  erleichtert,  4)  des  Willens.  Die  Objekte 
bewegen  den  Intellekt,  da  sie  aber  nicht  logisch  evident  sind, 
so  wird  seine  Zustimmung  nicht  nur  durch  sie,  sondern  zu- 
gleich vom  Willen  veranlasst.  Der  Wille  ergänzt  also  sub- 
jektiv, was  den  objektiven  Motiven  an  Wirkungskraft  abging. 
Ohne  diesen  Willensakt  würde  wirklicher  Glaube  nicht  da  sein, 
aber  der  Wille  vermag  andrerseits  den  Intellekt  auch  nicht 
zum  Dissens  gegen  die  vorgelegten  Objekte  zu  zwingen;  er 
könnte  nur  es  zum  Glaubensakte  nicht  kommen  lassen,  sofern 
er  seinen  Einfluss  nicht  zur  Verstärkung  der  Wirkungskraft 
der  gerade  vorliegenden  Glaubensobjekte  einsetzte.  Verstehe 
ich  Duns  richtig,  so  ist  sein  Gedanke  feiner  als  der  des  Tho- 
mas: was  dem  Glauben  an  objektiver  Evidenz  dem  Wissen 
gegenüber  fehlt,  dass  wird  durch  den  subjektiven  Willen  er- 
gänzt.     Ohne    Willen   käme    der    Glaube    über    ein    unklares 


138  Kap.  I:  Philosophische  und  theologische  Prinzipien. 

Meinen  nicht  heraus,  erst  durch  den  Willen  wird  er  auf  die 
Höhe  des  kräftigen  Assenses  gerückt.  Es  ist  in  diesem  Zu- 
sammenhang verständlich,  dass  Duns  erklärt,  dass,  wenn  erst 
auf  diesem  Wege  die  fides  acquisita  bezüglich  eines  Objektes 
erlangt  ist,  bei  den  folgenden  auf  dasselbe  Objekt  gerichteten 
Akten  eine  positive  Wirkung  des  Willens  nicht  mehr  erforder- 
lich, sondern  das  uon  contramovere  genügend  sei  (ib.  11  und 
quaest.  2  lateral.  §  1). 

Für  die  Stellung,  die  Duns  zu  dem  eingegossenen  Glauben 
einnimmt,  ist  dies  Resultat  sehr  interessant.  Indem  nämlich 
der  Wille  dem  Glaubensakt  eine  gewisse  subjektive  Festigkeit 
verleiht,  wird  erst  recht  unverständlich,  wozu  es  noch  in  dem 
so  entstehenden  Glauben  des  übernatürlichen  Habitus  bedürfen 
soll.  Duns  selbst  hat  diese  Frage  nicht  gestellt.  Er  hat  aber 
gefragt,  ob  nicht  auch  der  Wille  zu  der  geschilderten  Wirkung 
eines  übernatürlichen  Habitus  bedürfe.  Soll  er  den  Intellekt 
auf  die  übernatürlichen  Objekte  hinlenken,  so  scheint  er  als 
Haupt agens  eines  übernatürlichen  Habitus  noch  mehr  bedürftig 
zu  sein,  als  der  Intellekt,  der  nur  sein  Mittel  ist  (ib.  quaest.  2 
lateral.  §  1).  Aber  diese  Frage  ist  verneint  worden  von  den 
Erwägungen  her,  die  wir  soeben  wiedergegeben  haben.  Dar- 
nach hat  der  Wille  nicht  die  Stellung  des  Hauptagens  inne, 
sondern  diese  steht  den  Objekten  zu.  In  seiner  Bedeutung 
aber  als  den  Intellekt  mit  zur  Zustimmung  antreibend,  wird  er 
an  seiner  natürlichen  Kraft  genug  haben. 

Der  Glaube  ist  also  der  intellektive  Assensus  zur  Lehre 
der  Schrift  oder  der  vierzehn  Artikel.  Über  diese  seine  Art 
führt  auch  seine  weitere  Entwicklung  nicht  hinaus.  Die  fides 
imperfecta  ist  die  notitia  articulorum  primorum  und  die 
fides  perfecta  ist  explicita  notitia  de  articulis  (III  dist.  34  quaest. 
un.  §  20).  Der  Gedanke,  dass  Gott  selbst  das  direkte  Objekt  des 
Glaubens  sein  soll,  ist  vergessen.  Die  Beteihgung  des  Willens  am 
Glaubensakt  ist  doch  nur  eine  subsidiäre.  So  läuft  die  Anschau- 
ung  schliesslich   auf  den   landläufigen  Assensusglauben  hinaus. 

6.  Es  ist  in  der  Natur  der  Sache  begründet,  dass  der  in- 
tellektualistische  Glaubensbegriff  in  der  Praxis  eine  Abstumpfung 
erfährt.  Im  Mittelalter  ist  für  dieselbe  die  Formel  der  fides 
implicita   geprägt   worden.      Dens   nuUum   obhgat   ad   impossi- 


Die  fides  implicita.  139 

bile,  et  ideo  si  sit  aliquis  rudis  qui  iion  possit  concipere,  quid 
est  natura  et  quid  persona,  non  est  necesse,  quod  habeat  actum 
explicitum  de  articulo  pertinente  ad  essentiae  unitatem  et  per- 
sonarum  trinitatem  distincte,  sicut  habent  clerici  litterati,  sed 
sufficit  quod  si  non  potest  talia  intelligere  quia  nee  terminos, 
quod  credat  sicut  ecclesia  credit  (ib.  dist.  25  quaest. 
1,  6).  Jeder  soll  also  die  religiösen  Glaubenssätze  annehmen, 
sofern  sein  Verstand  dazu  fähig  ist,  sonst  aber  bereit  sein,  ut 
credat  quod  ecclesia  credit.  Von  dem  trinitarischen  Dogma 
gilt  ausdrücklich,  dass  die  Laien  es  nur  durch  fides  implicita 
erfassen  können,  während  Thomas  für  die  Dreieinigkeit  und  die 
Menschwerdung  sowie  für  alia  huiusmodi,  de  quibus  ecclesia 
festa  facit,  auch  von  den  Laien  fides  explicita  verlangt  hat 
(de  fide  art.  11).  Nach  Duns  sind  es  nur  die  grossa  ad  capi- 
endum  und  Lehren,  die  überall  und  allgemein  gepredigt  werden, 
die  auch  jeder  Laie  explicite  glauben  muss,  etwa  die  Geburt 
Christi  von  der  Jungfrau,  oder  die  Erlösung  durch  seinen  Tod. 
Die  kirchlichen  Lehrer  sind  verpflichtet  ad  veritatem  scripturae 
capiendam  et  explicite  credendam.  Nun  können  aber  hiegegen 
verschiedene  Einwendungen  erhoben  werden.  Man  kann  sagen, 
dass  auf  diese  Weise  die  Simplices  überhaupt  jeden  den  Ar- 
tikeln entgegengesetzten  L-rtum  glauben  dürfen,  da  sie  zum 
explizierten  Glauben  nicht  verpflichtet  sind.  Oder  man  kann 
sagen :  wenn  der  Simplex  etwas  Falsches  glaubt,  so  würde  er 
zugleich  gläubig  und  ungläubig  sein,  gläubig,  weil  er  ja  den 
explizierten  Akt  nicht  braucht,  ungläubig,  weil  er  Falsches 
glaubt.  Aber  die  Einwände  trefi'en  nicht  zum  Ziel;  der  erste 
nicht,  weil  jeder  Christ  verpflichtet  ist  zu  meiden,  was  der 
Schrift  widerspricht.  Auch  die  Pflicht  die  Todsünde  zu 
meiden,  wird  dadurch  nicht  aufgehoben,  dass  jemand  nicht  ge- 
nau weiss,  von  welchem  Grade  an  Hochmut  Todsünde  sei.  — 
Dem  zweiten  muss  entgegengehalten  werden,  dass  bestimmte 
Dinge  gewöhnlich  in  der  Kirche  gepredigt  werden,  wie  also  die 
Geburt  Christi  oder  die  Kreuzigung  zum  Zwecke  der  Erlösung; 
diese  kann  und  soll  jeder  explicite  glauben.  Wenn  aber  ein 
Glaubenssatz  für  gewöhnlich  nicht,  wohl  aber  an  einem  Ort 
gepredigt  wird,  so  wird  der  Laie  gut  thun,  mit  seinem  Glauben 
an  diese  Lehre  zurückzuhalten,  bis  er  sich  vergewissert:   credi 


X40  Kap.  1:  Philosopliiscbe  und  theologische  Prinzipien. 

ab  ecclesia  taiiquam  verum.  Hier  ist  Thomas  gegenüber  eine 
Keduktion  der  Objekte  des  explizierten  Glaubens  nicht  zu  ver- 
kennen, aber  dieselbe  erfolgt,  um  Konfusion  und  Irrglauben 
nach  Möglichkeit  zu  beschränken. 

Andererseits  könnte  gesagt  werden,  dass  auch  die  Maiores 
in  der  Kirche  an  der  fides  implicita  genug  haben,  denn  die 
Verpflichtungen  bezüglich  des  Heils  sind  für  alle  Glieder  der 
Gemeinde  die  nämlichen  und  die  Taufe  hat  sie  in  derselben 
Weise  wie  die  Laien  zum  Glauben  verpflichtet.  Dies  ist  ja 
richtig,  aber  die  besondere  Lehrpflicht  legt  den  Leitern  der 
Gemeinden  die  Aufgabe  auf,  die  explizierte  Erkenntnis  der 
Schriftwahrheit  sich  zu  erwerben  (6 — 9). 

Die  Annahme  einer  fides  impKcita  verzichtet  ausdrücklich 
auf  den  Glauben  der  Gemeindeglieder  bezüglich  einer  grossen 
Anzahl  kirchlicher  Lehren.  Dieser  Begriff  ist  daher  die 
schärfste  Kritik,  die  die  Geschichte  am  int ellektualis tischen 
Glaubensgedanken  geübt  hat. 

7.  Mit  diesem  Abschnitt  über  den  Glauben  verlassen  wir 
die  Prinzipienlehre  und  wenden  uns  nunmehr  den  einzelnen 
theologischen  Anschauungen  des  Duns  zu.  Zuvor  noch  einige 
allgemeine  Bemerkungen  über  den  Glauben,  Der  Glaube  ist 
also  nach  Duns  die  Zustimmung  zu  den  Wahrheiten  der  Offen- 
barung auf  Grund  der  Überzeugung  von  der  Autorität  und  Zuver- 
lässigkeit der  Schrift  oder  der  kirchlichen  Verkündigung.  Wir 
werden  dies  nach  dem  vorigen  Abschnitt  (S.  126)  dahin  ergänzen 
können,  dass  diese  intellektuelle  Zustimmung  mit  der  praktischen 
Vernunft  vollzogen  wird,  d.  h.  in  dem  Bewusstsein  geschieht 
durch  sie  zu  einer  bestimmten  Handlungsweise  verpflichtet  zu 
werden.  So  angesehen,  hat  der  Glaube  doch  eine  engere  Be- 
ziehung zum  Wülen,  als  es  nach  dem  oben  Bemerkten  er- 
schien. In  dem  Glauben  sind  nun  aber  zwei  Bestandteile  zu 
unterscheiden :  die  Akte  des  Assensus  selbst  und  die  demselben 
logisch  vorausgehende  Überzeugung  von  der  Autorität  der 
Glaubensverkündigung.  Jener  erste  Bestandteil  wird  durchaus 
in  der  Form  der  fides  acquisita  vorgestellt  werden  müssen,  denn 
nur  durch  diese  vermag  der  Mensch  den  assensus  im  einzelnen 
zu  erwerben.  Aber  Duns  will  auch  die  fides  infusa  festhalten. 
Den  nächstliegenden  Gedanken,  dass  jene  Überzeugung  von  der 


Beurteilung  des  scotistischen  Glaubensbegriffes. '  l4l 

Autorität  eingegossen  werde,  hat  Duns  verworfen  in  der  Be- 
fürchtung dadurch  der  direkten  Beziehung  des  Glaubens  zu 
Gott  zu  nahe  zu  treten.  Indem  aber  die  Entstehung  jener 
Überzeugung  auch  nicht  aus  der  Kraft  oder  der  lebendigen 
Autorität  Gottes  in  seiner  Offenbarung  hergeleitet  wird,  bleibt 
ihr  Ursprung  im  Dunkeln.  Man  glaubt  also  das  Einzelne,  weil 
man  der  Schrift  oder  der  Kirche  glaubt,  aber  es  wird  nicht 
einleuchtend,  wodurch  es  zu  letzterem  kommt,  auch  nicht,  wenn 
man  darin  einen  rein  natürlichen  Vorgang,  wie  Duns  anzunehmen 
scheint,  erblickt. 

Also  hat  Duns  die  Entstehung  des  christlichen  Glaubens 
in  keiner  Weise  klar  gemacht.  Die  fides  infusa  soll  schliesslich 
dem  Zweck  dienen  die  einzelnen  Akte  des  Glaubens  mit  einer 
grösseren  Kräftigkeit  und  Plerophorie  auszurüsten,  als  sie  durch 
die  fides  acquisita  erreicht  werden  könnte.  Aber  dass  durch 
diesen  Gedanken  jener  Begriff  im  Zusammenhang  der  ganzen 
Erörterung  gesichert  ist,  kann  nicht  behauptet  werden.  Also 
was  soll  die  fides  infusa  und  was  ist  sie  ?  Es  ist  von  Bedeutung, 
dass  Duns  hierauf  keine  stichhaltige  Antwort  gibt.  Der  wirk- 
liche Glaube  ist  der  an  der  Verkündigung  der  Kirche  „er- 
worbene Glaube^',  der  seinerseits  die  Überzeugung  von  der 
Autorität  der  Kirche  voraussetzt.  Dieser  Zweifel  an  der 
fides  infusa  ist  der  Theologie  geblieben  (s.  Occam  und  Biel). 
Darf  man  zwischen  den  Zeilen  lesen,  so  kann  vielleicht  be- 
hauptet werden,  dass  neben  dem  kirchlichen  Positivismus  Duns 
doch  auch  ein  gewisses  inneres  Motiv  zur  Beibehaltmig  des 
Begriffes  empfunden  hat.  Seine  Argumente  für  den  Begriff 
laufen  nämlich  alle  schliesslich  hinaus  auf  die  Empfindung,  dass 
das  Objekt  des  Glaubens  etwas  Übernatürliches  der  Vernunft 
an  sich  nicht  Kommensurables  sei.  Der  Mensch  wird  also  nur 
dann  jene  Objekte  wirklich  ergreifen  und  behaupten  können, 
wenn  ein  auf  sie  gerichtetes  übernatürliches  Leben  in  ihm 
erzeugt  wird.  In  diesem  Gefühl  davon,  dass  der  Gläubige  auch 
in  Bezug  auf  seine  Erkenntnis  von  Gott  angeregt  ist  und  ein 
übernatürliches  Leben  führt,  scheint  mir  das  Wahrheitsmoment 
in  dem  Begriff'  der  fides  infusa  zu  liegen.  Es  soll  der  religiöse 
Glaube  irgendwie  in  seiner  Besonderheit  gegenüber  dem  natür- 


142  Kap.  I:  Philosophische  und  theologische  Prinzipien. 

liehen  Erkennen  abgegrenzt  werden.  ^)  Freilich  lässt  es  die 
Kritik  des  Duns  über  dies  „irgendwie"  nicht  hinauskommen. 

Aber  etwas  ist  freilich  klar:  was  evangelischer  Heilsglaube 
ist  und  wie  er  entsteht,  das  hat  auch  dieser  Scholastiker  nicht 
verstanden.  Der  Glaube  ist,  wenn  wir  alles  zusammennehmen, 
der  Assensus  zu  der  Lehre,  die  der  kirchliche  Staat  als  von 
Gott  offenbart,  positiv  vorschreibt.  Es  ist  die  gehorsame  Unter- 
werfung unter  die  Gesetze  dieses  Staates,  aber  es  ist  auch  ein 
praktisches  Erkennen,  sofern  es  abzielt  auf  die  Erlangung  des 
höchsten  Gutes.  Somit  ist  aber  der  Glaube  nur  die  Vorstufe 
und  Vorbedingung  zur  Liebe.  Man  kann  die  Genialität  des 
Duns  auch  hier  bewundern.  Gegenüber  der  theoretischen 
Fassung  des  Glaubens,  wie  sie  von  alters  her  üblich  war,  be- 
deutet es  gewiss  einen  Fortschritt  der  Erkenntnis,  wenn  Duns 
den  Glauben  bestimmt  und  deutlich  der  praktischen  Vernunft 
beilegt.  Aber  was  er  will,  kann  doch  nur  im  Rahmen  der 
Kirche  seiner  Zeit  verstanden  werden.  Dass  es  im  Christentum 
auf  ,,gute  Werke"  ankommt,  wird  durch  die  Betrachtung  des 
Duns  bestätigt.  Indem  der  Glaube  als  Mittel  für  das  mora- 
lische Handeln  gefasst  wird,  wird  ihm  —  in  diesem  Zusammen- 
hang —  jeder  Rest  selbständiger  religiöser  Bedeutung  abge- 
sprochen. Und  so  wird  der  Fortschritt  zum  Rückschritt  — 
am  absoluten  Massstab  bemessen. 

Wenn  wir  im  Folgenden  die  „Glaubenslehre'*  des  Duns 
darstellen,  so  wird  man  diese  massgebenden  Gesichtspunkte 
nie  aus  dem  Auge  verlieren  dürfen. 


^)  Vgl.  die  Erörterung  bei  Biel  Sent.  III  dist.  24  quaest.  un.  art.  2 
conclusio  5  und  dazu  meine  Bemerkung,  Dogmengesch.  II,  180.  Hieraus, 
aber  besonders  aus  der  in  der  Scholastik  seit  Duns  üblichen  rein  natürlichen 
Erklärung  der  Entstehung  des  Glaubens  versteht  es  sich,  dass  Luther  zu- 
nächst eifrig  gegen  die  fides  acquisita  zu  gunsten  der  fides  infusa  sich 
ausgesprochen  hat,  obgleich  die  von  ihm  gelehrte  Auifassung  der  Ent- 
stehung des  Glaubens  doch  nur  auf  einen  —  freilich  geistlich  —  „er- 
worbenen Glauben"  hinwies,  s,  hierüber  Dogmengesch.  II,  215  f.  238. 


Zweites  Kapitel. 

Der  Gottesbegriff.    Die  Lehre  von  dem  Menschen 

und  der  Sünde. 


I.  Der  GotteslbegrifF. 

1.  Der  Beweis  für  das  Dasein  Gottes. 

1.  Wir  beginnen  mit  der  Darstellung  der  Gotteslehre,  als 
des  Hauptgegenstandes  der  Theologie.  Indem  die  Theologie 
als  Wissenschaft  ihre  Sätze  vor  der  Vernunft  legitimiert,  ist  es 
hegreiflich,  dass  Duns  seine  Darstellung  mit  einem  metaphy- 
sischen Beweis  des  Daseins  Gottes  eröffnet.  Nun  wurden  wir 
bereits  (s.  oben  s.  112)  auf  den  Gedanken  geführt,  dass  die 
höchste  Formel  zur  BezeichnuDg  des  göttlichen  Wesens  die  des 
unendlichen  Seins  ist.  Aber  sind  wir  nun  des  Seins  Gottes  u  n  - 
mittelbar  gewiss?  Dies  wird  verneint  (I  dist.  2  quaest.  2,  5) 
Somit  muss  das  Dasein  Gottes  a  posteriori  aus  seinen  Wir- 
kungen in  der  Welt,  bewiesen  werden  (ib.  §  10).  Dieser 
Aufgabe  unterzieht  sich  Duns  in  einer  durch  Scharfsinn  und 
Feinheit  ausgezeichneten  Erörterung^). 

Zunächst  wird  erwiesen,  dass  der  höchste  Begriff,  den 
unser  Denken  erreicht,  nämlich  das  ens  infioitum,  nicht  a  priori 
als  existierend  behauptet  werden  kann.    Der  Satz  „ens  infinitum 


^)  Vgl.  auch  ßaur,  die  christliche  Lehre  von  der  Dreieinigkeit  und 
Menschwerdung  Gottes  Bd.  II  (1842),  S.  589£f.  Werner,  Duns  Scot. 
S.  331  ff. 


144     Kap.  II:  Der  Gottesbegriff.     Die  Lehre  v.  d.  Menschen  u.  d.  Sünde. 

est"  ist  nämlich  nicht  veiTaoge  der  ihn  bildenden  Begriffe  not- 
wendig, da  wir  die  beiden  Begriffe  bilden  und  sie  erst  dann 
zusammenfügen.  Unser  Begriff  von  Gott  ist  nicht  eigentlich 
und  daher  nicht  schlechthin  einfach.  Nur  aus  einem  derartigen 
Begriff  Hesse  sich  das  per  se  notum  herleiten.  Ebensowenig 
streben  aber  die  verschiedenen  Begriffe,  die  wir  von  Gott 
haben,  durch  sich  selbst  zur  Einheit  (ib.  5).  Folglich  lässt  sich 
die  Existenz  nicht  als  analytisches  Urteil  aus  unseren  Begriffen 
von  Gott  gewinnen.  Wir  können  sie  nur  in  der  TVeise  eines 
synthetischen  Urteils  zu  dem  Gottesgedanken  hinzufügen.  Mit 
anderen  Worten :  die  apriorische  Herleitung  der  Existenz  Gottes 
aus  seinem  Wesen,  d.  h.  der  Weg  propter  quid,  ist  uns  ver- 
schlossen. Wir  können  die  Existenz  Gottes  nur  a  posteriori, 
d.  h.  auf  dem  Wege  quia,  von  der  Kreatur  aus  erschliessen 
(§  10).  Damit  sind  aber  andere  Wege  zum  Beweise  des  Daseins 
Gottes  erfordert,  als  sie  Alexander,  der  eine  angeborene 
habituelle  Gotteserkenntnis  annahm,  oder  Heinrich,  der  von 
einer  natürlichen  unmittelbaren  Anschauung  von  Gott  in  der 
Seele  ausging,  einschlugen. 

Indem  wir  an  den  Beweis  herantreten,  ist  es  zunächst 
deutlich,  dass  wir  nicht  von  den  absoluten  Proprietäten  des 
Unendlichen  ausgehen  dürfen,  sondern  vielmehr  von  den  Pro- 
prietäten, die  wir  als  auf  das  Endliche  bezogen  denken 
müssen.  Als  solche  relative  Proprietäten  des  ens  infiui- 
tum  denken  wir  aber  die  Kausalität,  die  entw^eder  effi- 
zient oder  final  sein  kann,  sowie  die  eminentia.  Die  Frage 
ist  also,  ob  in  dem  so  gedachten  Verhältnis  des  Unend- 
lichen zur  Kreatur ,  d.  h.  der  Kausalität ,  der  Finalität 
und  der  absoluten  Erhabenheit,  die  Bedingungen  enthalten 
sind,  aus  denen  sich  die  Existenz  des  Unendlichen  und  damit 
auch  dieses  ganzen  vorausgesetzten  Zusammenhanges  erweisen 
lässt.  Dieser  Nachweis  vollzieht  sich  nun  so,  dass  erwiesen 
wird  1)  Die  Existenz  eines  schlechthin  Ersten  hinsichtlich  der 
Efficienz,  der  Finalität  und  der  Eminenz ;  2)  dass  das  schlecht- 
hin Erste  in  einer  der  genannten  Beziehungen  identisch  ist  mit 
den  schlechthin  Ersten  der  beiden  anderen  Beziehungen,  und 
dass  3)  diese  dreifache  Primität  einem  Wesen  zukommt.  In 
dem  ersten  Gliede  kehrt  dabei  für  alle  drei  Begriffe  das  Schema 


Der  Beweis  für  das  Dasein  Gottes.  145 

wieder:    1)  Notwendigkeit  der  Primität,    2)  Inkausabilität  der- 
selben, 3)  Realität  der  Existenz  (§  11). 

2.  Es  ist  zuerst  nachzuweisen,  dass  ein  schlechthin  erstes 
Effektivum,  dass  von  allen  sonstigen  Ursachen  unabhängig  ist, 
notwendig  anzunehmen  ist :  wir  nehmen  ein  ens  effectibile  d.  h. 
ein  Ding,  das  veranlagt  ist,  verursacht  zu  werden,  an.  Als 
Verursachendes  desselben  kann  —  rein  abstrakt  —  gedacht 
werden  das  Ding  selbst,  kein  Ding  oder  ein  anderes  Ding. 
Es  kann  das  Verursachende  nicht  kein  Ding  sein,  weil  das 
Nichts  keine  Ursache  sein  kann.  Es  kann  aber  auch  nicht 
das  Ding  selbst  sein,  weil  nichts  sich  selbst  erzeugt.  Die  Ur- 
sache jenes  Effectibile  muss  ein  aliud  effectivum  sein.  Dies 
ist  entweder  sogleich  die  erste  Ursache,  oder  aber  ich  kann 
zurückgehen,  bis  ich  auf  das  erste  Verursachende  komme.  Nun 
kann  aber  nicht  in  infinitum  zurückgegangen  werden,  also  muss 
das  Denken  wirklich  eine  erste  Verursachung  als  primitas 
necessaria  annehmen  (1.  c.  11). 

Es  fragt  sich  aber,  ob  wirklich  der  Regressus  in  infinitum 
in  Bezug  auf  die  Kausalität  unmöglich  ist.  Hierbei  wird  ein 
Unterschied  eingeführt  zwischen  der  accidentellen  Ordnung 
oder  Reihe  der  Ursachen  und  der  essentiellen  Ordnung  der- 
selben. Die  essentielle  Ordnung  der  Ursachen  besteht  darin, 
dass  jede  folgende  Ursache  Wirkung  der  vorhergehenden  Ur- 
sache ist,  indem  sie  sofern  Ursache  zugleich  Wirkung  ist.  Die 
zufällige  Ordnung  der  Ursachen  ist  die,  dass  eine  Ursache  nicht 
in  derselben  Hinsicht  kausiert,  in  der  sie  kausiert  wurde  oder 
ihre  Wirkung  ist  nicht  direkt  als  Wirkung  ihrer  Ursache  zu 
begreifen,  wie  etwa  der  Sohn  seine  Ursache  zwar  an  seinem 
Vater  hat,  die  Erzeugung  seines  Sohnes  aber  nicht  als  Wirkung 
seines  Vaters  erscheint.  Es  ist  klar,  dass  die  essentielle  Reihe 
die  strengste  Kausalordnung  gibt,  indem  jedes  Wirkende  wirkt, 
sofern  es  gewirkt  ist.  Hieraus  ist  aber  die  Folgerung  zu  ziehen, 
dass  die  Ursachen  in  dieser  Ursachenordnung  schlechthin  zu- 
gleich wirken.  Zur  Verdeutlichung  wollen  wir  an  ein  Ding 
in  dieser  Ursachenordnung  denken,  das  kausiert  wird.  Da 
nun  seine  Ursache  nur  als  Wirkung  ihrer  Ursache  wirkt  und 
so  weiter  zurück,  so  ist  die  ganze  Kausalreihe  notwendig  als 
simultan    mit    dieser    letzten    Kausioruiig   zu    denken.      Diese 

Seeberg,  Die  Theologie  des  Duns  Scotus.  10 


146   J^ap,  TI :  Der  Gottesbegrifl".   Die  Lehre  -v.  d.  Menschen  u.  d.  Sünde. 

Simultaiieität  ist  aber  füi*  die  accidentelle  Ursachenreihe  nicht 
anzunehmen  (12). 

Hieraus  ergibt  sich  die  Antwort  auf  die  obige  Frage. 
Indem  jeder  Ursache  die  ganze  essentielle  Ursachenreihe  simultan 
ist,  kann  letztere  natürlich  nicht  als  in  unendlichem  Regress 
begriffen  und  nicht  als  unendlich  angesehen  werden.  Infinitas 
essentialiter  ordinatorum  (d.  h.  dieser  Ursachenordnung)  est 
impossibilis.  Dies  wird  besonders  bewiesen.  Und  zwar  so: 
Die  Gesamtheit  der  essentiellen  Ursachenordnung  ist  kausiert; 
dies  muss  herrühren:  ab  aliqua  causa  quae  non  est  aliquid 
illius  universitatis,  quia  tunc  esset  causa  sui.  Die  Gesamtheit 
des  Abhängenden  muss  von  etwas,  was  ausserhalb  dieser  Ge- 
samtheit ist,  abhängen.  Der  Beweis  scheint  so  zu  verstehen 
zu  sein :  da  jede  (essentiell  geordnete)  Ursache  im  Universum 
mit  allen  übrigen  simultan  wirkt,  kann  keine  von  ihnen  die 
Ursache  des  Ganzen  sein,  daher  kann  aber  auch  keine  in  einen 
unendlichen  Abstand  zu  den  übrigen  gerückt  werden.  Also 
kann  eine  Infinität  der  Kausalreihe  nicht  angenommen  werden, 
sofern  man  sie  auf  die  Welt  beschränkt.  Wenn  Duns  dabei 
die  Folgerung  zieht,  dass  also  für  das  Universum  eine  ausser- 
halb desselben  belegene  Ursache  nötig  ist,  so  ist  das  nicht 
eine  Erschleichung,  ^)  sondern  wenn  ich  ihn  richtig  verstehe, 
eine  notwendige  Folgerung  aus  der  Simultaneität  der  innerwelt- 
lichen Kausalität.  —  Diese  Gedankenreihe  wird  durch  einige 
weitere  Gründe  für  den  obigen  Satz  unterstützt:  es  ist  un- 
möglich, dass  unendlich  viele  Ursachen  zugleich  wirken ;  es 
gäbe  kein  prius,  weil  kein  primum.  Da  die  Verursachung 
keinerlei  Unvollkommenheit  mit  sich  bringt,  so  ist  es  sehr  wohl 
möglich,  dass  ein  Wesen  in  höchster  Vollkommenheit  die 
schlechthin  erste  Verursachung  in  sich  hat  (14). 

Damit  wäre  erwiesen,  dass  im  Zusammenhang  der  essen- 
tiellen Ursachenordnung  an  eine  Unendlichkeit  der  Kausalreihe 
überhaupt  nicht  gedacht  werden  kann,  dass  aber  nichts  dem 
entgegensteht,  dass  man  die  notwendige  ausserweltliche  erste 
Ursache  der  Welt  einem  höchsten  Wesen  zuschreibt.  —  Letz- 
terer Gedanke  findet  aber   eine  Bestätigung   auch  an  der  Er- 


^)  Gegen  Baur  a.  a.  0.  II,  596. 


Keine  unendliche  Ursachenreihe  in  der  Welt.  147 

wäguiig  der  accideii teilen  Ursaclienordnung.  Nach  dieser  würde 
eine  etwa  aiizunehmende  unendliche  Kausalreihe  in  zufälliger 
Aufeinanderfolge  (nicht  Simultaneität !)  fortschreiten ,  wie  ein 
Mann  einen  Sohn  zeugt,  obgleich  sein  eigener  Vater  seit  lange 
tot  ist.  Nun  ist  aber  eine  solche  infinitas  successionis  nur 
denkbar,  sofern  sie  von  einem  beständig  währenden  Wesen 
gesetzt  und  erhalten  wird  oder  auch  sofern  der  Bestand  der 
ruhenden  essentiellen  Ordnung  vorausgesetzt  ist;  Duns  denkt 
dieses  und  jenes  zusammen  d.  h.  die  essentielle  Ursachenordnung 
ist  das  entsprechende  Korrelat  zu  der  göttlichen  Kausalität. 
Denn  es  kann  keine  Mannigfaltigkeit  (difformitas)  als  dauernd 
vorgestellt  werden,  wenn  sie  nicht  als  durch  die  Kraft  eines 
Dauernden  bewirkt  gedacht  ist.  Dies  Dauernde  kann  aber 
kein  Glied  in  der  Kette  der  Succession  sein,  sondern  muss 
ausserhalb  derselben  stehen  (15). 

Nun  könnte  aber  die  essentielle  Ursachenreihe  überhaupt 
geleugnet  werden,  aber  auch  dann  wäre  die  Unendlichkeit  der 
Kausalreihe  nicht  zu  erweisen.  Da  kein  Ding  a  nihilo  sein 
kann,  muss  es  auch  dann  ein  erstes  verursachendes  Wesen, 
das  in  eigener  Kraft  kausiert,  geben.  Und  selbst  wenn  man 
zugestände,  dass  dasselbe  in  dem  einen  und  anderen  selbst 
kausiert  würde,  so  würde  es  in  anderem  auch  unkausiert  sein 
können,  da  das  ganze  System  dieser  Ursachenreihe  ein  absolutes 
Bestimmtsein  durch  anderes  nicht  in  sich  schliesst.  Sonach 
läge  auch  so  kein  Grrund  vor  eine  unendliche  Ursachenreihe 
anzunehmen  (15). 

Wenn  wir  die  vielfach  sehr  dunkle  Darstellung  des  Duns 
richtig  begreifen,  so  ist  seine  Meinung  in  der  Kürze  folgende. 
Es  gibt  zwei  Kausalitätssysteme.  Das  eine  ist  das  empirisch 
zeitliche,  nach  dem  zwar  jede  Wirkung  eine  Ursache  hat,  ohne 
dass  aber  diese  Ursache  selbst  das,  was  sie  verursacht,  gerade 
als  Wirkung  ihrer  Ursache  verursacht.  Neben  diesem  System 
steht  ein  zweites  unzeitlich  ideelles ;  nach  diesem  wird  — 
unter  Absehung  von  der  konkreten  Beobachtung  —  die  Welt 
abstrakt  als  eine  Summe  von  Reihen  schlechthin  notwendiger 
und  direkter  Kausalität  gedacht,  in  denen  alles  nur  gedacht 
wird  sofern  es  den  Kausalitätsgedanken  ausdrückt,  d.  h.  so, 
dass    es    sofern    Ursache    AVirkung  und    sofern    Wirkung   Ur- 

10* 


148  Kap.  II:  Der  Gottesbegrifif.   Die  Lehre  v:  d.  Menschen  u.  d.  Sünde. 

Sache  ist.  Während  jenes  erste  System  sich  in  der  zufälligen 
zeitlichen  Entwicklung  darstellt,  ist  das  zweite  System  als  reine 
Abstraktion  zeitlos  zu  denken,  indem  jede  Ursache  oder  Wirkung 
das,  was  sie  ist,  nur  ist,  sofern  die  Gesamtheit  der  Ursachen 
und  Wirkungen  zugleich  wirksam  gedacht  werden.  So  begreift 
es  sich  auch,  dass  Duns  sagen  kann,  der  Bestand  des  ersten 
Systems  sei  nur  aufrecht  zu  erhalten  durch  Hineinziehung  des 
zweiten.  —  Was  aber  der  Denker  mit  dieser  Erörterung  er- 
reichen will,  ist  dies :  oben  S.  145  waren  wir  zum  Schluss  ge- 
kommen: es  muss  ein  erstes  Verursachendes  geben.  Des  Ein- 
wandes  nun,  der  diesem  Schluss  aus  dem  Gedanken  des 
Regresses  in  infinitum  erwuchs,  hat  Duns  sich  dadurch  erw^ehrt, 
dass  er  die  Unmöglichkeit  oder  wenigstens  die  Nichtnotwendigkeit 
dieses  Gedankens  an  seinen  beiden  Kausalitätssystemen  erweist. 
Dabei  wurde  nebenher  der  Gedanke  gewonnen,  dass  das  erste 
Verursachende  ausserhalb  des  schlechtweg  gleichzeitigen  inner- 
weltlichen Kausalzusammenhanges  stehen  müsse.  Damit  wäre 
das  Hindernis  aus  dem  Wege  geräumt;  der  Satz  ist  erwiesen, 
dass  es  ein  primum  effectivum  geben  muss. 

Daran  schliesst  sich  nach  dem  dargelegten  Schema  (S.  145) 
der  Nachweis,  dass  das  erste  Verursachende  keine  Ursache 
haben  kann:  quod  simpliciter  primum  effectivum  est  incau- 
sabile.  Denken  wir  nämlich  dies  schlechthin  erste  Verursachende 
von  einem  anderen  abhängig,  so  wäre  es  ab  alio  effectibile. 
Dies  ist  aber  durch  das  erste  Glied  des  Beweises  einfach  aus- 
geschlossen. Ist  es  nun  aber  ineffectibile,  so  ist  natürlich  auch 
incausabile  und  weiter  auch  nicht  fähig  Form  oder  Materie 
in  sich  selbst  zu  erzeugen^),  d.  h.  informabile  und  immate- 
riabile.  Dabei  gilt  das  incausabile  auch  bezüglich  der  Final- 
ursache, das  erste  Verursachende  ist  infinibile,  weil  die  Finalur- 
sache das  Verursachende  zu  einem  efficere  bewegt.  Dasselbe  kann 
dann  auch  bezüglich  des  immateriabile  und  informabile  bewiesen 
werden,  indem  das  was  hinsichtlich  der  äusserlich  wirksamen 
Ursache  inkausabel  ist,  überhaupt  der  Kausalität,  also  auch  der 
innerlichen    wirksamen    Ursache    nicht    untersteht    (§  16).    — 


1)  Diese  Beschränkung  scheint  mir  aus  dem  gleich  folgenden  Beweise 
sich  zu  ergeben. 


pas  erste  Verursachende  ist  inkausabel  und  wirklich.         "   149 

Somit  ist   bewiesen,   dass  das   erste  Verursachende  schlechthin 
inkausabel  ist. 

Drittens  wird  gezeigt,  dass  das  erste  Verursachende  nicht 
nur  nötig  und  möglich,  sondern  dass  es  auch  ahqua  natura 
existens  actu  ist.  Ein  Ding,  dessen  Wesen  es  widerspricht,  von 
einem  anderen  zu  sein,  wird,  wenn  es  sein  kann,  auch  von  sich 
sein  können,  denn  sein  Sein  ist  ein  Vonsichsein.  Das  erste 
Verursachende  kann  a  se  sein,  also  ist  es  a  se.  Dies  wird 
erwiesen :  Was  nicht  von  sich  ist,  kann  auch  nicht  von  sich 
sein,  da  sonst  gedacht  werden  müsste,  dass  es  in  einer  Be- 
ziehung, in  der  es  nicht  ist,  sich  zu  etwas  machen  könnte, 
d.  h.  dass  es  als  Nichtseiendes  ein  Seiendes  hervorbringen 
könnte,  was  unmöglich  ist.  Dächte  mau  a.ber  das  Ding,  das 
von  sich  sein  kann,  als  nicht  von  sich  seiend,  so  müsste  es 
sich  selbst  kausieren.  Diese  Annahme  widerspricht  jedoch  dem 
Satz  von  der  absoluten  Inkausabilität  des  ersten  Verursachenden. 
Dies  der  Beweis.  Da  also  nichts  nicht  von  sich  ist,  es  könne 
denn  nicht  von  sich  sein  und  da  das  was  von  sich  sein  kann, 
wenn  es  nicht  von  sich  wäre,  sich  seiner  Art  nach  zu  dem 
Vonsichsein  kausieren  müsste,  Kausalität  aber  hier  nicht  möglich 
ist,  so  ist  anzunehmen,  dass  das  erste  Verursachende,  indem 
es  von  sich  sein  kann,  wirklich  von  sich  ist  (16).  Bei  diesem 
Beweise  ist  es  noch  von  Interesse  zu  beobachten,  wie  streng 
der  Begriff  der  Inkausabilität  gefasst  wird;  nicht  einmal  das 
darf  gesagt  werden,  dass  das  erste  Bewirkende  der  von  ihm 
selbst  ausgehenden  Kausation  fähig  ist.  Es  wirkt  kausierend 
nur  nach  aussen  hin,  dagegen  ist  es  nicht  als  sich  selbst  kau- 
sierend oder  erzeugend  zu  denken. 

Damit  ist  der  Nachweis  für  das  Dasein  Gottes  in  seinem 
ersten  und  Hauptteil  erbracht :  Es  muss  ein  erstes  Verursachendes 
geben,  dies  ist  unkausabel  und  es  existiert  wirklich. 

3.  Der  zweite  Teil  des  Beweises  behandelt  den  Begriff  der 
causa  finalis  unter  denselben  drei  Gesichtspunkten.  Es  muss 
ein  schlechthin  erstes  finitivum  geben  d.  h.  eine  Zwecksetzung, 
die  von  keinem  anderen  abhängt,  indem  sie  in  seiner  Kraft 
wirkt.  Wie  also  die  ganze  Welt  von  einem  ersten  Verur- 
sachenden ausgeht,  so  bewegt  sie  sich  auch  einem  letzten  Zweck 


150    Kap.  II:  Der  Gottesbegriü".    Die  Lehre  v.  d.  Menschen  u.  d.  Sünde, 

ZU.     Der  Beweis  hierfür  wäre,   sagt  Duns,    in  derselben  Weise 
wie  für  das  erste  Verursachende  zu  führen. 

Es  wird  dann  weiter  von  dem  schlechthin  ersten  (vom 
Standpunkt  der  Welt  aus:  letzten)  Zweck  erwiesen,  dass  er 
inkausabel  ist.  Wäre  er  das  nicht,  so  wäre  er  eben  nicht 
infinibel  d.  h.  der  erste  keiner  höheren  Zweckbeziehung  fähige 
Zweck.  Dann  wäre  er  aber  auch  nicht  ineffektibel.  —  Drittens 
endlich  wird  gesagt,  dass  dieser  erste  Zweck  ein  actu  existens 
ist.  Für  den  Beweis  wird  auch  hier  wieder  auf  den  ersten 
Hauptabschnitt  verwiesen  (17). 

4.  Wir  kommen  zum  dritten  Teil  des  Bew^eises.  Es  gibt 
ein  alles  schlechthin  Überragendes,  das  hinsichtlich  der  Per- 
fektion das  schlechthin  Erste  ist.  —  Dasselbe  ist  inkausabel, 
da  es  notwendig  ineffektibel  und  infinibel  gedacht  werden  muss, 
denn  hätte  es  Zweck  oder  Ursache  an  etwas  anderem,  so  wäre 
dies  an  Eminenz  ihm  überlegen.  —  Endlich  ist  auch  dies 
schlechthin  Eminente  ein  wirklich  existierendes  Wesen  (18). 

5.  Wir  schreiten  jetzt  fort  zu  dem  Nachweis  des  Duns, 
dass  die  dreifache  Primität,  die  wir  gefunden  haben,  eine 
Quiddität  ausmacht.  Dies  folgt  einfach  aus  der  bisherigen 
Erörterung.  Das  primum  efficiens  ist  nämlich  zugleich  der 
ultimus  finis.  Das  primum  efficiens  ist  nämlich  per  se  efficiens. 
Der  Zweck,  zu  dem  hin  es  handelt,  kann  also  nicht  ausser- 
halb seiner  gelegen  sein,  denn  sonst  fiele  das  per  se.  Also 
handelt  es  aus  sich  und  auch  zu  sich,  und  zwar  so,  dass  der 
selbstgesetzte  Zweck  seines  Handelns  die  Ursache  desselben 
ist.  Somit  ist  das  primum  efficiens  der  ultimus  finis.  —  Nun  muss 
nur  noch  gezeigt  werden,  dass  das  primum  efficiens  identisch 
ist  mit  dem  primum  eminentia.  Das  erste  Verursachende  ist 
nicht  die  univoke  (d.  h.  die  gleichartige),  sondern  die  äquivoke 
(d.  h.  die  ungleichartige)  Ursache  seiner  Wirkungen,  also  ist  es 
eminentius  als  letztere.  Da  es  aber  das  schlechthin  erste  Verur- 
sachende ist,  ist  es  efficiens  eminentissimum  und  somit  alles  Ge- 
wirkte an  eminentia  schlechthin  übertreffend  (18).  Da  also  die  Kau- 
salität mit  der  Finalität  identisch  ist  und  ebenso  mit  der  Eminenz, 
so  ist  bewiesen,  dass  diese  drei  Primitäten  eine  Quiddität  sind. 

6.  Dieser  Satz  wird  noch  genauer  präzisiert.  Nicht  so 
soll  er  nämlich  verstanden  werden,  als  wenn  die  drei  Primitäten 


Die  absolute  Kausalität,  Finalität  und  Eminenz  eine.  Quiddität»  151 

sich  so  in  einem  Wesen  befinden,  dass,  wo  die  eine  ist,  auch 
die  beiden  anderen  wären  .  sondern  es  ist  eine  schlechthinige 
Identität  secundum  quidditatem  ot  naturam,  d.  h.  also  so,  dass 
die  eine  das  ist,  was  die  andere  ist.  Dies  wird  nun  noch  be- 
sonders bewiesen,  obwohl  es  eigentlich  von  selbst  aus  dem 
Vorhergehenden  folgt.  Das  primum  efficiens  hat  ein  ex  se 
necesse  esse,  sofern  es  schlechthin  inkausabel  ist.  Ist  es  aber 
schlechthin  notwendig,  so  kann  nichts  ihm  Inkompossibles  in 
ihm  sein,  weder  kann  ein  solches  von  ihm  selbst,  noch  von 
etwas  anderem  ausgehen.  Ginge  das  Inkompossible  von  ihm 
•selbst  aus,  so  würde  es  dadurch  sich  selbst  aufheben.  Das  ist 
unmöglich,  da  das  erste  Verursachende  notwendiges  Sein  ist. 
Ginge  es  von  einem  andern  aus,  so  würde  nach  der  Regel,  dass 
kein  Ding  ein  anderes  Ding  wegen  der  Repugnanz  seiner 
"Wirkung  zu  jenem  zerstören  kann,  es  sei  denn,  dass  es  seiner 
Wirkung  ein  vollkommeneres  und  intensiveres  Sein  gibt  als  das 
zerstörbare  Ding  hat,  anzunehmen  sein,  dass  es  vollkommeres 
Sein  gäbe,  als  das  primum  efficiens  aii.  Das  ist  aber  unmög- 
lich. Also  ist  das  erste  verursachende  Sein  frei  von  jeder 
Inkompossibilität.  Hieraus  ergibt  sich  die  unitas  naturae  primae. 
Denkt  man  nämlich  zwei  Naturen  als  schlechthin  notwendiges 
Sein,  so  müssten  sie  das  durch  irgend  welche  rationes  propriae 
■reales  sein.  Nun  sind  beide  schlechthin  notwendig,  also  müsste 
eins  das  andere  bedingen,  während  doch  jedes  an  sich  schlecht- 
hin notwendig  ist.  Wir  kämen  also  auf  eine  unmögliche 
Inkompossibilität.  Demnach  kann  nur  ein  schlechthin  not- 
wendiges Wesen  gedacht  werden.  Ebensowenig  wäre  es  aber 
jnöglich,  dass  man  mehr  als  eine  natura  eminentissima,  daher  auch 
mehr  als  ein  schlechthin  erstes  Verursachendes  oder  mehr  als  einen 
schlechthin  letzten  Zweck  denkt.  Also  ist  bewiesen  was  zu  be- 
weisen war :  es  gibt  ein  schlechthin  höchstes  Wesen,  das  sowohl 
-das  erste  Verursachende  als  der  erste  (resp.  letzte)  Zweck  ist. 
7.  Der  Beweis  für  das  Dasein  Gottes,  den  wir  kennen 
gelernt  haben,  berührt  sich  im  allgemeinen  mit  den  üblichen 
Formen  des  kosmologischen  Argumentes.  Doch  überragt  er 
dieselben  durch  die  Schärfe  der  Logik  und  die  umfassende 
Absicht  seines  Urhebers.  Er  hat  sich  nicht  damit  begnügt 
aus   dem  Kausalzusammenhang    in    der   Welt    auf  eine  erste 


152     Kap.  II:  Der  Gottesbegriff.  Die  Lehre  v.  d.  Menschen  u.  d.  Sünde. 

Ursache  zu  schliessen,  sondern  er  hat  auch  die  Art  dieses 
Kausalzusammenhanges  genau  erwogen  und  hat  denselben 
mit  dem  Finalzusammenhang  kombiniert,  er  hat  sodann  die 
Frage  nach  der  Wirklichkeit  der  Existenz  der  ersten  Ur- 
sache von  dem  Postulat  ihrer  Notwendigkeit  unterschieden 
und  er  hat  endlich  den  sorgfältigen  Beweis  geführt,  dass  der 
gekennzeichnete  Zusammenhang  zur  Welt  die  Annahme  eines 
"wirklichen  höchsten  Wesens  verlange.  —  Für  den  Gottesbegriff 
des  Duns  ist  hierbei  von  besonderer  Bedeutung  die  Erwägung 
der  Kausalität  in  der  Welt.  Indem  Duns  die  empirische  Be- 
obachtung der  Kausalreihe  von  der  essentiellen  Kausalordnung 
unterscheidet  und  jene  diese  voraussetzen  lässt,  ist  nämlich 
klar,  dass  er  die  ideale  und  wirkliche  Form  der  Kausalordnung 
in  der  essentiellen  Reihe  erblickt.  Denkt  man  sich  also  die 
Welt  vom  Standort  Gottes  aus,  so  ist  sie  als  eine  durch  die 
direkte  Beziehung  aller  ihrer  Glieder  untereinander  schlechthin 
notwendige  Kausalreihe  vorzustellen.  Diese  ganze  Kausalreihe 
kann  aber  in  der  Simultaneitat  ihrer  Wirkungen  im  Grunde 
als  eine  Wirkung  angesehen  werden,  deren  eine  allbeherr- 
schende Ursache  Gott  ist.  Aus  diesem  Verhältnis  ergeben 
sich  zwei  Folgerungen  zur  Bestimmung  des  göttlichen  Wesens: 
1.  Gott  ist  die  absolute  Ursache  des  Kausalsystems  der  Welt, 
dadurch  stellt  er  die  Welt  in  das  Verhältnis  schlechthiniger 
Abhängigkeit  von  sich.  2.  Da  der  Kausalzusammenhang  in 
der  Welt  so  beschaffen  ist,  dass  jede  Ursache  auch  Wirkung 
ist,  so  muss  die  erste  Ursache  als  etwas,  das  nicht  Welt  ist, 
vorgestellt  werden.  Nicht  also  wird  Gott  als  innerweltliche 
Kausalität  gedacht,  sondern  Gott  ist  die  ausserweltliche  Ur- 
sache, die  die  Welt  als  ein  Kausalsystem  setzt. 

2.  DasWesenGottes. 

1.  Der  Beweis  für  das  Dasein  Gottes  ging  aus  von  det 
Annahme,  dass  wenn  es  ein  unendliches  höchstes  Wesen  gibt, 
die  Existenz  desselben  nur  aus  seiner  Wirkung  an  der  Welt 
a  posteriori  erwiesen  werden  kann.  Dieser  Nachweis  ist  nun 
geführt,  also  jene  Annahme  gerechtfertigt.  Wir  haben  zu 
Ende  des  vorigen  Abschnittes  schon  darauf  verwiesen,  dass  aus 
dem   Beweise    des   Daseins    Gottes   sich   bereits   eine   gewisse 


Das  Wesen  Gottes.  153 

positive  Erkenntnis  des  Wesens  Gottes  ergibt.  Der  Begriff 
von  Gott  auf  den  wir  geführt  wurden,  war  die  ausserweltliche 
unendliche  absolute  Ursache  der  Welt.  Aber  als  christlicher 
Theologe  hat  Duns  dieses  Schema  in  einer  Weise  ausgeführt, 
die  eine  Anzahl  wertvoller  positiver  Gedanken  über  das  Wesen 
Gottes  erbringt.  Dies  geschieht,  indem  Duns  aus  dem  Begriff 
des  primum  efficiens  und  seiner  Beschaffenheit  als  per  se 
agens  weitere  Schlüsse  zieht.  Handelt  das  erste  Verursachende 
per  se,  so  handelt  es  propter  finem.  Hieraus  ergiebt  sich  aber 
der  Satz,  quod  primum  efficiens  est  intelligens  et  volens 
(20).  Dieses  kann  so  bewiesen  werden.  Das  primum  agens 
handelt  propter  finem.  Nun  dient  alles  Handeln  in  der  Welt 
Zwecken,  und  zwar  auch  dann,  wenn  der  Handelnde  ohne  solche 
handelte,  also  ist  das  primum  agens  als  vernünftig  anzusehen. 
Weiter:  handelt  das  primum  ageus  propter  finem,  so  bewegt 
der  Zweck  es.  Dann  wird  dieser  entweder  mit  freiwilliger 
oder  mit  natürlicher  Liebe  geliebt.  Letzteres  ist  unmöglich, 
denn  dann  wäre  das  agens  hingezogen  zu  dem  Ziel  wie  die 
Schwere  zum  Zentrum.  Das  verträgt  sich  aber  nicht  mit  seiner 
Art  als  Ursache,  folglich  bleibt  ersteres  nach  und  dadurch  wird 
der  Wille  als  die  erste  Ursache  erwiesen.  —  Sodann :  Es  gibt 
in  der  Welt  zufällige  verursachende  Erscheinungen.  Da  nun 
jede  causa  secunda  kausiert  in  quantum  movetur  a  prima,  so 
muss  die  erste  Ursache  in  kontingenter  Weise  wirksam  sein. 
Kontingent  ist  das,  was  sein  oder  auch  nicht  sein  kann,  was 
also  nicht  schlechtweg  notwendig  ist  d.  h.  cuius  oppositum 
posset  fieri  quando  illud  fit  (21).  Nun  ist  es  unzweifelhaft,  dass 
vieles,  was  in  der  Welt  geschieht,  hätte  nicht  oder  anders  ge- 
schehen können.  Dieser  Satz  wird  von  Duns  nie  bewiesen, 
sondern  als  einfaches  Axiom  aulgestellt.  Da  nun  alles  in  der 
Welt  von  dem  ersten  Verursachenden  abhängt,  so  muss  dieses 
als  in  kontingenter  Weise  wirksam  gedacht  werden.  Kontingent 
wirkt  aber  nur  der  Wille,  denn  alles  andere,  wie  etwa  die  Er- 
kenntnis, wirkt  natürlich  d.  h.  notwendig  (§  20).  Also  ist 
Gott  ein  wollendes  Wesen.  —  Es  ist  wichtig  darüber,  was 
Duns  hier  sagt,  völlig  in  das  Klare  zu  kommen.  Die  Kontingent 
des  Geschehens  besteht  darin,  das  etwas  geschehen  das  auch 
nicht   geschehen    kann.     Die   Kontingenz  der    ersten   Ursache 


154    -Kap.  11:  Der  Gottesbegriff.  Die  Lehne  v.  d.  Menschen  u.  d,  Sünde. 

'wird  also  so  zu  denken  sein^  dass  sie  statt  dieses  Geschehens 
auch  ein  anderes  Geschehen  hätte  wirken  können.  Yel  igitur 
nihil  fit  contingenter  id  est  evitabiliter  causatur,  vel  primum 
sie  causat  immediate  quod  possit  etiam  non 
causare  (ib.  21).  Hiermit  sagt  Duns  aber  nicht  mehr,  als 
dass  Gott  das  wirklich  Geschehende  bewirkt,  dass  er  aber  auch 
durch  unmittelbare  Kausation  etwas  anderes  hätte  bewirken 
können,  indem  die  Ordnung  des  Geschehens  auf  dem  freien 
göttlichen  Wollen  beruht.  Keineswegs  ist  aber  in  diesem  Zu- 
sammenhang gesagt,  dass  die  kontingenten  Akte  und  Gescheh- 
nisse im  Leben  der  Welt  in  dem  Sinn  frei  wären,  dass  sie  der 
göttlichen  Kausalität  gegenüber  eine  eigene  Kausalität  aus- 
üben. Ihre  Freiheit  besteht  doch  nur  insofern,  als  sie  auch 
hätten  anders  ausfallen  können,  wenn  nämlich  Gott  anders 
gewollt  hätte.  Nicht  eigentlich  an  eine  subjektive  Freiheit, 
sondern  an  ein  objektives  Andersseinkönnen  denkt  Duns,  indem 
er  hier  von  dem  Kontingenten  in  der  Welt,  sofern  es  von  Gott 
kausiert  wird,  redet. 

Weiter  entledigt  sich  Duns  einiger  Einwendungen.  Man 
könnte  nämlich  sagen,  nur  unser  Wille,  nicht  aber  das  erste 
Verursachende  handle  kontingent,  oder  man  kann  die  Kontingenz 
des  Geschehens  bedingt  sein  lassen  durch  die  Mannigfaltigkeit 
der  vielen  Wirkungen  in  ihrem  Zusammensein.  Oder  man 
kann  endlich  sagen,  es  bedürfe  für  die  Kontingenz  nicht  der 
Existenzform  des  Willens,  sofern  z.  B.  ein  Wille  in  seiner 
Bethätigung  durch  etwas  anderes  gehemmt  werden  kann.  BQer 
liegt  etwas  Kontingentes  vor,  ohne  dass  es  als  Wille  zu  denken 
wäre.  —  Gegen  das  erste  dieser  Argumente  führt  Duns  aus: 
wenn  Gott  das  erste  Verursachende  auch  bezüglich  unseres 
Willens  ist,  so  verhält  sich  dieser  so  wie  alles  andere  zu  Gott 
d.  h.  Gott  bewegt  den  Willen  unmittelbar  oder  durch  Ver- 
mittlung eines  anderen  notwendig,  der  Wille  wird  daher  not- 
wendig wollen.  Dann  müsste  aber  alles  notwendig  kausiert 
werden  und  kein  Kontingentes  bestehen.  Das  ist  aber  falsch. 
Auch  hier  wird  noch  nichts  Positives  über  die  Freiheit  des 
Willens  gelehrt.  —  Gegen  das  zweite  ist  zu  sagen,  dass  wenn 
eine  Bewegung  von  einer  notwendigen  Ursache  gesetzt  wird, 
diese  Notwendigkeit  sich  selbstverständlich  auf  alle   einzelnen 


.  Die  Kontingenz  in  der  Welt  durchi  Gottes  Willen.  155 

Teile  der  Wirkung  erstrecken  wird.  Es  kann  daher  die  Kon- 
tingenz  der  zweiten  (kreatürlichen)  Ursachen  nur  gehalten  werden 
unter  der  Voraussetzung,  dass  auch  die  erste  Ursache  un- 
mittelbar kontiugente  Wirkungen  ausübt.  —  Was  den  letzten 
Einwand  aa betrifft,  so  wäre  eine  derartige  Hemmung  des  Willens 
nur  durch  eine  höhere  Ursache,  die  schliesslich  auf  die  erste 
Ursache  hinführt ,  möglich.  Dann  würde  aber  einfach  Not- 
wendiges geschehen  und  die  Freiheit  ganz  aus  dem  Spiel 
bleiben  (§  21). 

Duns  hat  also  gezeigt,  dass  das  erste  Verursachende  als 
Wille  und  Intellekt  gedacht  werden  muss.  Drei  Gründe  waren 
dafür  entscheidend :  dass  die  Natur  Zwecke  verwirklicht,  indem 
sie  abhängt  von  etwas  was  Zweck  erkennt;  dass  dieses  primum 
agens  handelt  propter  finnem;  und  dass  es  kontingente  Wir- 
kungen, also  auch  Kontingenz  der  ersten  Ursache  gibt. 

2.  Wir  sind  hier  auf  einen  der  wichtigsten  Gedanken  des 
Duns  gestossen.  Es  wird  sich  empfehlen  denselben  gleich  jetzt 
genauer  ins  Auge  zu  fassen.  Duns  ist  also  von  der  Erfahrungs- 
thatsache  ausgegangen,  dass  es  Kontingenz  d.  h.  freies  nicht 
naturnotwendiges  Geschehen  in  der  Welt  gibt.  Durch  Folter 
und  Stock  liesse  sich  dafür  der  Beweis  erbringen  (s.  oben  S.  87). 
Aber  dieser  Erfahrungssatz  kann  nur  aufrecht  erhalten  werden 
unter  der  Voraussetzung  der  Kontingenz  der  AVirkungen  der 
ersten  Ursache.  Notwendige  Wirkungen  der  absoluten  ersten 
Ursache  sind  nämlich  nicht  denkbar,  denn  dann  wäre  diese 
abhängig  von  der  Welt.  Denn  wenn  eine  Wirkung  der  ersten 
Ursache  notwendig  wäre,  so  hinge  letztere  von  ersterer  ab, 
indem  sie  nicht  wäre,  wenn  jene  nicht  wäre.  —  Wenn  weiter 
die  erste  Ursache  mit  Notwendigkeit  wirkte,  so  müssten  alle 
folgenden  causae  secundae  durchaus  notwendig  wirken.  Es 
müsste  also  auch  die  Sünde  in  die  Notwendigkeit  dieses 
Kausalnexus  eingeschlossen  und  von  der  ersten  Ursache  ab- 
hängig gemacht  werden  (I  dist.  8  quaest.  5,  19).  —  Sodann: 
Denkt  man  sich  die  erste  Ursache  als  notwendig  wirkend,  so 
müsste  dieselbe  jederzeit  das  Vollmass  ihrer  Kraft  entfalten. 
Der  Spielraum  der  letzteren  ist  aber  die  Gesamtheit  des  Seins. 
Darnach  wäre  aber  jede  Wirkung  der  zweiten  Ursache  über- 
flüssig und  ausgeschlossen.     Es  würde   also   das   gesamte  Sein 


156    Kap.  II:  der  Gottesbegriff.   Die  Lehre  v.  d.  Menschen  u.  d.  Sünde. 

unum  causatum  sein,  alles  wäre  das  eine,  indem  alles  in  einem 
durch  die  erste  Ursache  gesetzt  wäre  (ib.  §  21).  Wir  wurden 
auf  diese  Gedanken  allerdings  oben  S.  146  bei  Erwägung  der 
essentiellen  Ursachenordnung  hingewiesen.  Aber  Duns  scheint  hier 
den  Rahmen  des  Determinismus  zerbrechen  zu  wollen.  Es  gibt  ja 
freies  Geschehen.  Es  ist  nach  dem  Obigen  nicht  möglich  dieses 
aus  den  zweiten  Ursachen  als  solchen  zu  erklären,  wie  Aristoteles 
und  Thomas  wollen,  denn  werden  diese  notwendig  bewegt,  so 
werden  auch  sie  mit  Notwendigkeit  weiter  bewegen.  Tota  ergo 
ordinatio  causarum  usque  ad  ultimum  effectum  necessario  pro- 
duceret,  si  habitudo  primae  causae  ad  sibi  proximam  sit  necessaria 
(I  dist.  39  quaest.  unic.  §  12).  Also  kann  man  der  Folgerung  nicht 
entgehen,  quod  nulla  causatio  alicuius  causae  potest  salvare 
contingentiam,  nisi  prima  causa  ponatur  immediate  contingenter 
causare  (ib.  §  14  vgl.  I  dist.  8  quaest.  5,  12).  Diese  Freiheit 
kann  nicht  in  die  Erkenntnis  verlegt  werden,  denn  jeder  intellek- 
tuelle Akt,  der,  abgesehen  vom  Willen,  besteht,  ist  rein  natür- 
lich, also  nicht  frei;  die  Freiheit  ist  daher  in  dem  aktiven 
Prinzip  des  Willens  zu  suchen  (ib.).  —  Indem  ich  also  Gott 
als  Ursache  des  Weltzusammenhanges  denke,  denke  ich  nicht 
eine  unendliche  abstrakte  Kraft,  sondern  ich  denke  den  persön- 
lichen freien  und  allmächtigen  Willen  oder  ich  denke  den 
freien  Herrn  der  Welt,  der  eine  Welt  mit  freien  Subjekten 
gesetzt  hat  und  erhält. 

Das  ist  der  scotistische  Gottesbegriff.  Man  sieht,  dass  er 
die  Ausführung  in  den  biblischen  persönlichen  Attributen,  die 
wir  später  kennen  lernen  werden,  zulässt:  Gott  ist  der  gerechte 
und  gnädige  Herr  der  Welt. 

3.  Ehe  wir  diesem  Gedankenzusammenhang  weiter  nach- 
denken, müssen  wir  aber  versuchen  den  Widerspruch  auszu- 
gleichen, in  dem  zwei  wesentliche  Gedanken  des  Duns  Scotus 
mit  einander  zu  geraten  scheinen:  Das  Korrelat  zu  dem  Ge- 
danken Gottes  als  der  ersten  Ursache  war  der  Weltzusammen- 
hang im  Sinn  der  essentiellen  Ursachenreihe  (S.  145  f.).  Andrer- 
seits soll  es  aber  in  der  Welt  freien  Willen  geben,  welcher 
der  alleinige  Grund  seiner  Wollungen  ist.  Die  Freiheit  hier 
scheint  mit  der  Notwendigkeit  dort  in  Widerspruch  zu  stehen. 
Nun  ist   es  klar,    dass  Duns    die  Freiheit    nicht    nur   in  dem 


Die  göttliclie  Kausalität  und  die  menschliche  Freiheit.  157 

objektiven  Sinn,  dass  statt  dieses  aucli  etwas  anderes  hätte  ge- 
schehen können  (S.  157)  denkt,  sondern  dass  er  sie  als  die  sub- 
jektive Möglichkeit  so  oder  anders  zu  wollen  fasst  (oben  S.  87). 
Ebenso  scheint  es,  dass  er  das  Gebiet  des  Kontingenten  oder 
des  Willens  nicht  in  die  essentielle  Ursachenreihe  mit  ein- 
rechnet. Wir  werden  demnach  auf  Grrund  des  bisher  uns 
bekannt  gewordenen  Materials  etwa  so  urteilen  müssen:  Gott 
als  erste  schlechthin  freie  Ursache  setzte  sowohl  frei  den  in 
Notwendigkeit  sich  vollziehenden  Kausalzusammenhang  der 
Welt  als  auch  freie  Subjekte,  die  sich  kontingent  bethätigen.  Wie 
die  Notwendigkeit  jenes,  so  hat  die  Kontingenz  dieses  Ge- 
schehens ihre  Ursache  an  der  freien  Bestimmung  Gottes,  beide 
sind  also  frei  von  Gott  kausiert,  aber  zu  einer  verschiedenen 
Seins-  und  Wirkungsweise,  jenes  zur  Notwendigkeit,  dieses 
zur  Kontingenz.  Dies  ergibt  sich,  wie  gesagt,  aus  den  bisher 
angestellten  Beobachtungen. 

Die  Sache  will  aber  doch  noch  genauer  erwogen  sein  und 
zwar  von  einem  doppelten  Gesichtspunkt  aus.  Die  Freiheit 
des  kreatürlichen  Willens  muss  bewährt  werden  sowohl  der 
Allmacht  des  all  wirksamen  Gotteswillens  als  auch  der  distinkten 
Präscienz  Gottes  gegenüber,  von  der  wir  weiter  hören  werden. 

Man  könnte  ja  meinen,  erstere  Schwierigkeit  sei  sehr  ein- 
fach dadurch  gelöst,  dass  man  sagt:  Gott  will  Freiheit,  also 
ist  Freiheit.  Nun  ist  aber  der  Wille  Gottes  die  Ursache  nicht 
nur  einzelner  freier  Faktoren,  sondern  eines  Weltsystems  von 
Ursachen  und  Wirkungen,  durch  das  der  Plan  der  Prädestination 
realisiert  wird.  Ist  denn  nicht  die  Freiheit  des  Handelns  der 
Menschen  nur  der  Form  nach  kontingent,  weil  nicht  durch  eine 
Naturursache  veranlasst,  in  Wirklichkeit  aber  lediglich  Folge 
einer  göttlichen  Bestimmung  und  Mittel  zur  Realisierung  der- 
selben? Und  erhält  dies  Urteil  nicht  seine  direkte  Bestätigung 
durch  die  Annahme  der  absoluten  göttlichen  Präscienz?  Es 
ist  begreiflich,  dass  das  Gewicht  dieser  Fragen  an  keinem 
Punkt  des  Systems  so  lebhaft  empfunden  wird,  als  bei  der 
Sündenlehre.  Dort  werden  wir  der  Frage  also  wieder  begegnen. 
Aber  sie  will  auch  hier  erwogen  werden. 

Duns  spricht  die  Beobachtung  aus,  dass  Gottes  Intellekt 
Notwendiges  und  Kontingentes  werden  sieht,  indem  der  Wille 


158    Kap.  II:  Der  Gottesbegriff.  Die  Lehre  v.  d.  Menschen  u.  d.  Sünde. 

Gottes  Notwendiges  wie  KontiDgentes  —  in  kontingenter  Weise  — 
will.  Es  giebt  kontingente  Handlungen  und  Geschehnisse,  die 
Gott  eben  als  kontingente  voraus  wollte  und  -wusste.  Quam- 
vis  autem  haec  volitain  se  et  in  suis  causisproximis 
habeant  contingentiam,  relata  tarnen  ad  divinum 
intuitum  et  beneplacitum  sie  eveniunt,  ut  sunt 
praevolita  et  praevisa  (de  rerura  princ.  quaest.  3  art.  3 
§  21).  Dieser  Satz  bestätigt  in  überraschender  Weise  unsere 
soeben  ausgesprochenen  Bedenken.  Es  giebt  also  freies  Handeln 
bei  den  Kreaturen.  Wir  hörten  früher  (S.  89),  der  Wille  habe 
keinen  anderen  Grund  als  eben  sein  Wollen.  Das  ist  für  die 
empirische  Betrachtung  des  Selbstbewusstseins  ganz  zutreffend, 
indem  freilich  das  Gefüge  des  Naturzusamraenhanges  den  Willen 
nicht  kausiert  und  dieser  sich  daher  frei  selbst  bestimmt.  Aber 
wenn  man  die  Sache  vom  Standort  Gottes  aus  ansieht,  so  kann 
doch  nur  geurteilt  werden,  nicht  nur  dass  der  Wille  frei  will, 
weil  Gott  ihn  dazu  bestimmte,  sondern  auch  dass  der  Wille 
eben  nur  das  will,  was  Gott  vorherbestimmt  oder  zu  dessen 
Wollen  er  ihm  freien  Willen  gab.  Der  Effekt  des  Willens  ist 
also  an  sich  frei,  aber  er  ist  per  accidens  notwendig.  Dies 
Accidens  ist  aber  die  Beziehung  auf  Gottes  Willen,  so  ange- 
sehen ist  die  Yolition  notwendig  (ib.  quaest.  4  art.  2  §  37). 

Das  wird  erläutert  durch  das  analoge  Verhältnis  bei  einem 
Prädestinirten.  An  sich,  d.  h.  von  seinem  kreatürlichen  Sein 
her,  kann  er  verdammt  oder  selig  werden.  Aber  er  wird  selig, 
weil  ihn  Gott  dazu  bestimmt  hat  (ib.  §  38).  So  ist  denn,  so 
angesehen,  unser  gesamtes  Wollen  und  Nichtwollen  diesem  oder 
jenem  gegenüber  in  dem  ewigen  Willen  Gottes  enthalten 
(ib.  46).  —  Man  kann  angesichts  dieser  Gedanken  über  die 
wahre  Meinung  des  Duns  keinen  Zweifel  hegen :  Es  gibt  freien 
Willen,  sofern  der  Wille  empirisch  und  formal  kontingent  d.  h. 
nicht  natumotwendig  wirkt,  aber  material  wirkt  er  nichts  anderes, 
als  was  die  oberste  Ursache  Gott  ihn  wirken  lässt,  freilich  in 
der  Form  der  Kontingenz.  Der  Determinismus  des  Systems 
ist  also  nur  verborgen  worden  durch  die  Wendung  des  Ge- 
dankens, dass  die  freie  Kreatur  nicht  der  immanenten  Natur- 
notwendigkeit, sondern  einem  besonderen  Willen  Gottes  folgt. ^) 

*)  Aber   selbst   diese   Differenz   kann   bezweifelt   werden.     Erinnert 


Die  kreatürliche  Freiheit  untersteht  Gottes  Kausalität.  15^ 

Duns  selbst  hat  dies  keineswegs  als  Beschränkung  der  Freiheit 
empfunden.  Dass  der  Mensch  dem  Gefüge  der  innerweltlichen 
Kausalität  entnommen  ist,  das  macht  seine  Freiheit  aus.  Dasa 
aber  ein  höherer  Faktor  dieselbe  bestimmt,  hemmt  sie  nicht, 
geradeso  wie  Duns  es  ausdrücklich  in  Abrede  stellt,  dass  die 
göttliche  Einwirkung  auf  den  Willen  zur  Ergreifung  der  Selig- 
keit im  ewigen  Leben  die  Freiheit  aufhebe,  da  ein  höherer 
und  nicht  ein  niederer  Faktor  hier  auf  den  Willen  einwirke 
(IV  dist.  49  quaest.  6,  15).  Dass  aber  unser  Denker  bei  der 
Sündenlehre  und  dem  Prädestinationsbegriff  allen  Scharfsinn 
aufbietet,  um  den  Konsequenzen  des  Determinismus  auszu- 
weichen, ist  nur  selbstverständlich.  Wir  werden  darüber  au 
seinem  Ort  berichten. 

Nun  wenden  wir  uns  der  zweiten  der  oben  aufgeworfenen 
Fragen  zu,  wie  kann  neben  der  Kontingenz  die  certitudo 
scientiae  in  Gott  aufrecht  erhalten  werden?  Die  Antwort  ist 
jetzt  leicht  zu  geben.  Gottes  Intellekt  hat  kein  anderes  Objekt 
als  seine  Willensbestimmung.  Diese  ist  unwandelbar  und  inim- 
pedibel.  Daher  ist  Gottes  Erkenntnis  der  Welt  schlechthin 
sicher  und  gewiss  (Sent.  I  dist.  39  quaest.  unic.  §  22).  Man 
kann  aber  auch  vom  Intellekt  ausgehen  und  sagen,  dieser  biete 
dem  göttlichen  Willen  die  Ideen  dar  entweder  als  einfache  oder 
in  einer  Anzahl  möglicher  Kombinationen  derselben.  Der  Wille 
wählt  nun  in  absoluter  Freiheit  eine  dieser  Kombinationen  als 
in  einer  bestimmten  Zeit  zu  realisierende.  Und  zwar  wird  sie 
in  kontingenter  Weise  —  nach  Gottes  Willen  —  realisiert. 
Weil  Gott  es  so  will,  wird  es.  Daher  aber  erkennt  der  Intellekt 
dies  Werden  mit  absoluter  Sicherheit  (ib.  §  23.  24).  Gott 
sieht  also  auch  das  Freie  als  absolut  notwendig,  weil  er  es 
eben  so  gewollt  hat  (25).  Somit  erkennt  es  auch  der  Intellekt 
als  etwas  vermöge  jener  Bestimmung  Notwendiges.  Es  ist  aber 
diese  Notwendigkeit  für  den  Intellekt  die  necessitas  conse* 
quentiae,  nicht  die  necessitas  consequentis  (ib.  35).    Das  heisst, 


man  sich  nämlich  aus  der  scotistischen  Metaphysik  der  Lehre  von  der 
prima  materia  als  der  Potenz  schlechthiniger  Abhängigkeit  von  Gott,  so 
wird  man  diese  Determination  des  Willens  mit  jener  Idee  in  Zusammen-^ 
hang  zu  bringen  geneigt  sein.  Doch  darf  das  nur  angedeutet  werden,  so- 
fern es  von  Duns  nicht  direkt  gelehrt  wird. 


1(;0     Kap.  II:  Der  Gottesbegriff.  Die  Lehre  v.  d.  Menschen  u.  d.  Sünde. 

es  ist  eine  Notwendigkeit  der  Abfolge,  des  Schlusses,  der  durch 
die  Prämissen  unumgänglich  ist,  es  ist  aber  nicht  eine  Not- 
wendigkeit, mit  der  etwas  aus  einem  anderen,  als  seinem  un- 
mittelbaren Grunde,  hervorgeht.  Also  nicht  macht  die  Er- 
kenntnis Gottes  dies  Geschehen  notwendig,  sondern  es  er- 
scheint der  Erkenntnis  als  notwendig  in  der  Konsequenz  der 
göttlichen  Willensbestimmung. 

Damit  ist  die  schwierige  Frage  im  Sinn  des  Duns  Scotus 
gelöst.  Das  Resultat  ist  in  der  Kürze  folgendes :  da  die  Welt 
sich  nicht  erschöpft  in  einer  schlechthin  notwendigen  essentiellen 
Ursachenreihe,  sondern  kontingentes  Handeln  umfasst,  so  kann 
die  für  jene  wie  dieses  massgebende  erste  Ursache  selbst  nur 
als  kontingent  wirksam  gedacht  werden.  Diese  erste  Ursache 
setzt  nun  die  Welt  sowohl  in  ihrer  Notwendigkeit  als  in  ihrer 
Freiheit  als  Mittel  zur  Realisierung  ihres  Selbstzweckes.  ^) 
Sie  gewährt  einem  Teil  der  Kreatur  die  Freiheit  im  denkbar 
umfassendsten  Masse.  Indem  aber  die  Freiheit  nur  gegeben  wird 
als  ein  Mittel,  durch  das  der  göttliche  Selbstzweck  verwirklicht 
wird,  ist  es  im  Zusammenhang  der  Gedanken  des  Duns  einfach 
undenkbar,  dass  die  Freiheit  etwas  anderes  wirkte,  als  was  Gott 
will  oder  wozu  sie  von  ihm  erschaffen  wurde.  —  So  versteht 
es  sich,  wenn  ich  recht  sehe  —  Duns  selbst  hat  den  Zusammen- 
hang nie  recht  durchsichtig  gemacht  — ,  dass  neben  dem  nicht 
selten  durchblickenden  Determinismus  Duns  in  so  krasser  Weise 
die  absolute  Freiheit  des  Willens  behauptet  hat.  Der  Wille 
ist  in  der  That  frei  nicht  nur  von  der  Notwendigkeit  des 
Naturzusammenhanges,  sondern  auch  von  einer  ihn  im  einzelnen 
bestimmenden  und  zwingenden  Einwirkung  Gottes.  Die  Frage 
aber,  ob  der  Wille  im  stände  sei  sich  schlechtweg  gegen  Gottes 
Willen  zu  wenden,  hat  er  sich  nicht  gestellt  und  konnte  er 
sich  —  genau  genommen  —  auch  nicht  stellen,  indem  er  ja 
die  Freiheit  desselben  nur  dachte  als  verursacht  von  Gott  be- 
hufs Realisierung  des  göttlichen  Selbstzweckes.  So  wenig  je 
der  Naturzusammenhang  gegen  Gottes  Willen  Verstössen  kann, 
so  wenig  die  Gesamtheit  des  freien  Wollens  der  Menschheit, 
denn  das  eine  wie  das  andere  haben  ja  ihre  Ursache  an  Gott 


^)    Genaueres    hierüber    wird    einige    Seiten    später   zur   Mitteilung 
kommen. 


Der  Wille   Gottes.  161 

und  zwar  ihre  freie  Ursache,  die  sie  zu  ganz  bestimmtem  Zweck, 
nämlich  dem  ultimus  finis  Gottes,  schuf  und  bestimmte. 

4.  Nachdem  wir  so  über  das  Verhältnis  des  göttlichen 
Willens  zur  menschlichen  Freiheit  ins  Reine  gekommen  sind, 
wenden  wir  uns  einer  etwas  genaueren  Betrachtung  des  gött- 
lichen Willens  und  seiner  Freiheit  selbst  zu. 

Zunächst  muss  die  göttliche  Freiheit  abgegrenzt  werden 
gegen  die  Freiheit,  wie  die  Kreatur  sie  hat.  Die  Freiheit  der 
Kreatur  besteht  in  der  Möglichkeit  eines  velle  oppositos  actus 
(s.  oben  S.  87).  Wollte  man  nun  auch  Gott  ein  indifferentes 
Wollen  beilegen,  so  trüge  man  damit  kreatürliche  UnvoU- 
kommenheit  in  Gott  hinein.  Unser  Wille  hat  es  nämlich  immer 
mit  einer  Vielheit  wählbarer  Objekte  und  ihnen  proportionierter 
Handlungen  zu  thun.  Dadurch  ist  er  stets  dem  Gegensatz 
unterstellt,  denn  er  kann  in  vielen  einzelnen  Volitionen  die 
verschiedenen  Objekte  nur  in  ihrer  Gegensätzlichkeit  ergreifen. 
Der  unendliche  Wille  Gottes  aber  vermag  in  einer  Volition 
das  zu  Wollende  zu  ergreifen  und  festzuhalten.  lila  voluntas 
potest  unica  volitione  simplici  illimitata  tendere  in  quaecunque 
volibilia,  ita  quod  si  voluntas  illa  vel  illa  volitio  esset  tantum 
unius  volibilis  et  non  posset  esse  opposita,  quod  tamen  est  de 
se  volibile,  hoc  esset  imperfectionis  in  voluntate  (I  dist.  39 
quaest.  unica  §  21).  Also  Gott  ergreift  in  einem  Willensakt 
das  Wollbare  schlechthin,  daher  richtet  sein  Wille  sich  nicht 
auf  Gegensätze,  er  ergeht  sich  nicht  in  fortdauerndem  Wählen 
zwischen  Vielem  und  Gegensätzlichem. 

Hieraus  ergibt  sich  für  die  logische  Betrachtung  eine  ge- 
wisse Schranke  im  göttlichen  Willen.  Unsere  voluntas  ist 
productiva  actuum,  indem  sie  an  sich  frei  und  befähigt  ist  zu 
entgegengesetzten  Akten.  Diese  voluntas  operativa  ist  aber 
auch  receptiva,  sofern  dies  Vermögen  eine  der  möglichen  Vo- 
litionen oder  Wollungen  annimmt  und  sie  dann  verwirklicht. 
Die  eigentliche  Freiheit  haftet  am  Willensvermögen  oder  der 
voluntas  operativa.  Diese  Freiheit  ist  nun  auch  in  vollem  Um- 
fang in  Gott.  Indem  aber  die  Wahl  für  Gott  fortfällt,  gilt 
die  rezeptive  und  produktive  Willensfreiheit  zunächst  nicht  von 
ihm.  Aber  nur  zunächst,  denn  in  gewissem  Sinn  können,  auch 
diese  auf  Gott  übertragen  werden.     Denkt   man  nämlich  Gott 

Seeberg,  Die  Theologie  des  Diins  Scotus.  11 


162     Kap.  II:  Der  Gottesbegriff.  Die  Lehre  v,  d.  Menschen  u,  d.  Sünde. 

als  Schöpfer  der  Welt,  so  ist  die  productio  in  esse  volito,  so- 
fern Grott  von  Ewigkeit  her  will,  dass  Welt  sei,  notwendig. 
Aber  es  ist  an  sich  nicht  notwendig  die  productio  in  esse 
existentiae  d.  h.  die  Erschaffung  der  Welt  als  zeitlich  be- 
stehender. Man  kann  also  hier  von  einer  relativen  produktiven 
Freiheit  reden,  sofern  aus  dem  Wollen  der  Welt  an  sich  noch 
nicht  das  Wollen  dieser  zeitlichen  Welt  folgt,  letzteres  also 
gewissermassen  eine  besondere  Volition  ersterem  gegenüber  be- 
dingt (ib.  §  21).  Duns  hat  aber  ganz  Recht,  wenn  er  diesen 
Gedanken  verklausuliert,  denn  an  sich  könnte  ja  auch  gedacht 
werden,  dass  jene  erste  und  einzige  Volition  nicht  nur  das  Sein, 
sondern  auch  das  Sosein  der  Welt  in  sich  fasste.  Diese  Be- 
trachtungsweise kann  in  unserem  Zusammenhang  dadurch  ge- 
stützt werden,  dass  ja  Duns  selbst  seine  ganze  Deduktion  nicht 
nur  an  das  Dasein,  sondern  an  das  Sosein  der  Welt  geknüpft 
hat.  Allein  Duns  hat  dennoch  an  seinem  Gedanken  festge- 
halten und  zwar  mit  gutem  Grunde.  Denkt  man  nämlich  Gott 
an  sich,  so  kann  als  an  sich  notwendig  nur  das  Wollen  seiner 
selbst,  natürlich  dann  mit  Einschuss  seiner  Ideen,  also  auch  der 
Weltideen,  gedacht  werden.  Dagegen  kann  man  nicht  als  not- 
wendig bezeichnen  das  Wollen  der  besonderen  zeitlichen  Ge- 
staltung dieser  Welt;  hier  kann  vielmehr  Kontingenz  ange- 
nommen werden,  da  Gott  seinen  Zweck  durch  viele  einander 
entgegengesetzte  Mittel  zeitlich  verwirklichen  konnte  (ib.  22). 
Man  kann  also  sagen:  indem  Gott  will,  will  er  seine  bo- 
nitas,  alles  andere  will  er  nur,  sofern  es  zu  dieser  in  Beziehung 
steht,  also  kann  Gott  nichts  Böses  wollen  (de  rerum  princ. 
quaest.  4  art.  2,  15.  17).  Der  Wille  Gottes  ist  in  jenem  Sinn 
unveränderlich;  indem  aber  die  zeitliche  Verwirklichung  des- 
selben nicht  an  äussere  Verhältnisse  gebunden  ist,  kann  er  hier 
kontingent  handeln  und  dadurch  die  Kontingenz  der  Kreatur 
ermöglichen  (ib.  29  f.)  Fragt  man  aber,  warum  Gott  so  will, 
wie  er  will,  so  ist  diese  Frage  nur  ein  Zeichen  der  Unbildung. 
Wie  die  Wärme  wärmt,  weil  sie  Wärme  ist,  so  will  der  Wille 
weil  er  Wille  ist.  Et  ideo  huius  quare  voluntas  voluit 
hoc,  nulla  est  causa,  nisi  quia  voluntas  est  volun- 
tas; es  gibt  dafür  keine  causa  prior  (Sent.  I  dist.  8  quaest. 
5,  24). 


Gottes  Wille  nicht  Willkür.  l63 

Nun  ist  es  aber  docli  fehlerhaft,  wenn  man  etwa  in  An- 
knüpfung an  diese  Stelle  sich  zufrieden  gibt  mit  der  Formel: 
der  Gott  des  Duns  ist  schlechthinige  und  regellose  Willkür^). 
Das  ist  ganz  einseitig.  Geradeso  wie  der  menschliche  Wille 
seinen  Spielraum  an  dem  objektiv  Gegebenen  und  daher  Denk- 
baren hat,  so  ist  der  göttliche  Wille  gebunden  an  das  göttliche 
Sein.  Gott  will,  das  heisst  zunächst,  er  will  sich  wie  er  ist; 
er  will  also  auch  die  Welt ,  wie  sie  als  seine  Idee  ein  Bestand- 
teil seiner  selbst  ist.  In  dieser  Hinsicht  ist  der  Wille  Gottes 
also  gebunden  durch  sein  Wesen.  Dagegen  ist  er  frei  zu 
Differentem  in  Bezug  auf  die  zeitliche  Gestaltung  der  Welt. 
Hier  war  eine  andere  Ordnung  als  die  wirkliche  an  sich  mög- 
lich. Doch  auch  diese  bleibt  an  einen  bestimmten  Spielraum 
geschlossen,  nämlich  an  die  bonitas  Gottes.  Dies  darf  nicht 
übersehen  werden,  wenngleich  Duns  selbst,  etwa  durch  seine 
Leugnung,  dass  etwas  an  sich  als  gut  gelten  könne  für  die 
Kreatur,  und  ähnliche  Schulwitze,  dazu  auffordert.  Aber  ihn 
leitet  bei  solchen  Erwägungen  —  wir  kommen  gleich  zu  ihnen 

—  ein  anderer  Gesichtspunkt.  Er  will  einschärfen,  dass  inner- 
halb der  positiven  Grösse  der  christlichen  Religion  (s.  S.  113  f.) 
nichts  gilt  als  der  positive  Wille  Gottes  als  des  Herrn.  Die 
Erwägung  anderer  Möglichkeiten,  etwa  in  der  christlichen 
Moral,  soll  doch  nur  eindrücklich  machen,  dass  es  nur  ein 
positiv  Wirkliches  für  den  Christen  gibt,  das  was  Gott  wirk- 
lich will.  Innerhalb  seiner  Gesamtanschauung  sind  jene  Mög- 
lichkeiten der  sog.  potentia  absoluta  daher  für  seine  Theologie 

—  streng  genommen  —  nichtssagend,  sofern  sein  Positivismus 
jede  Geltung  derselben  ausschliesst.  Er  hat  als  Philosoph  mit 
solchen  Möglichkeiten  rechnen  können,  aber  sie  haben  inner- 
halb seiner  Theologie  schliesslich  nur  die  Bedeutung,  die 
Eigenart  des  positiven  Christentums  schärfer  zu  beleuchten. 

5.  Wir  wurden  auf  die  Begriffe  der  potentia  absoluta 
und  der  potentia  ordinata  geführt.     Der  Spielraum  dieser 


^)  Diese  Auffassung  ist  durch  die  einseitige  und  keineswegs  er- 
schöpfende Darstellung  von  B  a  u  r  (Lehre  von  der  Dreieinigkeit  II,  654  ff.) 
zu  einem  Dogma  der  Dogmenhistoriker  und  Dogmatiker  unseres  Jahr- 
hunderts geworden. 

11* 


164    Kap.  II:  Der  Gottesbegriff.  Die  Lehre  v.  d.  Menschen  u.  d.  Sünde. 

Begriffe  ist  also  in  den  Wirkungen  Gottes  in  der  Welt  zu 
suchen,  indem  Gott  dieser  neben  der  wirklich  erfolgten  auch 
andere  Gestaltungen  hätte  gewähren  können.  Dieser  Unter- 
schied ist  in  analoger  Weise  bei  jedem  agens  libere  vorhanden, 
sofern  es  sowohl  nach  Gesetz  und  Vernunft  als  auch  unter 
Absehung  von  diesen  Normen  handeln  kann  (I  dist.  44  quaest. 
un.  §  1).  Nun  ist  klar,  dass  Gott  an  sich  an  kein  über  ihm 
stehendes  Gesetz  gebunden  ist.  An  sich  hat  jene  Unterscheidung 
für  Gott  also  einen  anderen  Sinn  als  für  die  Menschen,  denn 
auch  das  gegen  die  Regel  verstossende  Thun  Gottes  würde 
einer  anderen  gleich  guten  Regel  folgen.  Wir  reden  von  der 
absoluten  Macht  Gottes,  sofern  sie  der  regelmässigen  Ordnung 
nicht  entsprechen  würde  (ib.)  Sie  bezeichnet  also  die  schlecht- 
hin unbeschränkte  Macht  Gottes  so  oder  anders  in  der  Welt  zu 
handeln.  Die  potentia  ordinata  ist  dagegen  die  göttliche  Macht, 
wie  sie  sich  auf  Grund  und  in  Zusammenhang  bestimmter  von 
Gott  fixierter  Gesetze  und  Ordnungen  bethätigt.  Diese  Ord- 
nungen haben  ihren  Grund  in  Gottes  Willen.  Gottes  Gesetz 
und  Ordnung  ist  recht,  weil  Gott  es  gerade  so  gewollt  hat. 
Das  Gute  ist  gut,  weil  Gott  es  will,  nicht  will  es  Gott,  weil 
es  gut  ist  (III  dist.  19  quaest.  unic.  §  7).  Was  immer  Gott 
will,  ist  als  von  ihm  gewollt  gut,  da  nämlich  sein  Wille  der 
oberste  Massstab  zur  Unterscheidung  von  Gut  und  Böse  ist: 
nou  potest  aliquid  velle  quod  non  possit  recte  velle,  quia  vo- 
luntas  sua  est  prima  regula  (IV  dist.  46  quaest.  1,  6).  Dass 
aber  Gott  nicht  etwa  im  Sinne  des  Duns,  auch  Böses  und 
Thörichtes  wollen  könnte,  folgt  aus  den  oben  S.  162  f.  gemachten 
Bemerkungen.  Es  ist  aber  in  der  potentia  absoluta  begründet, 
dass  Gott  auch  von  seinen  eigenen  Ordnungen  absehen  und 
anders  handeln  könnte.  Sicut  potest  aliter  agere,  ita  potest 
aliam  legem  statuere  rectam,  quia  si  statueretur  a  deo,  recta 
esset,  quia  nulla  lex  est  recta,  nisi  quatenus  a  voluntate  divina 
acceptatur.  Darnach  ist  etwa  die  von  Gott  gegebene  Ordnung, 
quod  omnis  glorificandus  prius  est  gratificandus,  zu  beurteilen. 
Die  göttliche  Macht  kennt  dabei,  abgesehen  von  den  in  dem 
göttlichen  Wesen  begründeten  Schranken,  als  von  aussen  ge- 
geben nur  eine  Schranke:  das  logisch  Unmögliche.  Quodhbet 
tenendum  est  esse  deo  possibile  quod  nee  est  ex  terminis  mani- 


Potentia  absoluta  und  ordinata.  165 

festum  impossible  nee  ex  eo  impossibilitas  vel  coiitradictio  evi- 
denter concluditur  (IV  dist.  10  quaest.  2  §  5.  11).  Gott  kann 
den  Sünder,  der  in  Todsünden  stirbt,  erretten,  er  kann  auch 
den  bereits  verdammten  Judas  retten ,  er  kann  aber  nicht 
etwa  einen  Stein  selig  machen,  weil  das  logisch  unmöglich  ist 
(I  dist.  44  quaest.  un.  §  2 — 4;  cf.  dist.  42  quaest.  un.  §  2). 
Auch  kann  Gott  Geschehenes  nicht  ungeschehen  machen  (IV 
dist.  1,  quaest.  6,  5).  Ebenso  kann  Gott  zwar  Kalte  erzeugen, 
aber  nicht  in  der  Weise,  dass  die  Wärme  die  causa  activa 
bezüglich  der  Kälte  wäre  (IV  dist.  1.  quaest.  1,  26). 

Wir  haben  also  erkannt,  dass  Gott  als  primum  agens 
Vernunft  und  Wille  ist.  Das  selige  Leben  Gottes  besteht  somit 
darin,  dass  er  denkt  und  will  (I  dist.  8  quaest.  4,  7). 

6.  Ehe  wir  aber  weitergehen,  müssen  wir  zu  dem  Zu- 
sammenhang zurückbiegen,  in  den  Duns  seine  ganze  Erörte- 
rung über  Gottes  Willen  und  Intellekt  gerückt  hat.  Die 
zweite  Distinktion  des  1.  Buches  der  Sentenzen  ging  aus  von 
dem  !N  achweis,  dass  es  eine  erste  und  letzte  Ursache,  sowie 
ein  schlechthin  Eminentes  in  Gott  gebe.  Diese  Betrachtung 
führte  zu  dem  Resultat,  von  dem  wir  herkommen,  dass  Gott 
Denken  und  Wollen  ist.  Aber  für  Duns  ist  letzteres  formal 
nur  ein  Zwischengedanke.  Er  führt  seine  Erörterung  weiter 
fort  zu  dem  Begriff  der  Unendlichkeit  Gottes.  Der  Weg 
ist  folgender.  Da  wir  erkannten,  dass  Gott  erste  Ursache  und 
sofern  erste  Ursache  Willen  ist,  so  ist  hiermit  der  Ausdruck 
für  Gottes  Wesen  gefunden.  Da  nun  aber  der  sich  selbst 
wollende  Gott  als  geistig  sich  selbst  erkennt,  so  ist  das  gött- 
liche Sein  gleich  Wollen  und  Erkennen,  oder  mit  anderen 
Worten  geistiges  Leben,  denn  jene  beiden  Begriffe  vertragen 
ja  auch  eine  Zusammenfassung  (oben  S.  85).  Ist  nun  Denken 
und  Wollen  die  göttliche  Essenz  (quod  eius  intellectus  et  vo- 
litio  non  est  aliud  ab  essentia  eius),  so  ist  kein  Gedanke  und 
keine  Wollung  in  Gott  denkbar,  die  accidentell  oder  von  aussen 
veranlasst  sein  könnte,  denn  dadurch  würde  ja  eine  Modifikation 
der  göttlichen  Natur  selbst  veranlasst.  Vor  allem  aber  ist 
nichts  vorhanden  oder  denkbar,  was  Gott  einen  neuen  Ge- 
danken oder  Antrieb  bringen  könnte,  denn  alles  was  ist,  ist 
ja   nur    als   von   ihm    der   prima   causa   gedacht    und    gewollt 


166    Kap.  II:  Der  Gottesbegriff.  Die  Lehre  v.  d.  Menschen  u.  d.  Sünde. 

(I  dist.  2  quaest.  2,  22.  23).  Also  entstehen  in  Gott  keine 
neuen  Gedanken  und  Anregungen.  Endlich  muss  festgestellt 
werden,  dass  der  göttliche  Intellekt  immer  denkt  und  unaus- 
gesetzt distinkte  und  aktuelle  Erkenntnis  alles  Erkennbaren  hat, 
da  ja  alles  vom  göttlichen  Willen  gesetzt  wird  und  das  distinkte 
Erkennen  zur  Klarheit  dem  Einzelnen  gegenüber  gehört  (24). 
Diese  Sätze  stellen  die  Praeambula  her  für  den  Nachweis 
der  Unendlichkeit  Gottes.  Der  Nachweis  gestaltet  sich  folgen- 
dermassen.  Zuerst  wird  aus  der  causa  efficiens  bewiesen.  Das 
Erste  bewegt  motu  infinito,  denn  das  Sein  ist  endlos,  dann  ist 
das  Erste  aber  selbst  unendlich.  Indem  es  omnes  effectus 
possibiles  in  sich  fasst,  muss  ihm  eine  unendliche  Kraft  zuge- 
schrieben werden  (§  25).  —  Zweitens:  da  Gottes  Intellekt  alles 
zumal  aktuell  und  distinkt  erkennt,  ist  er  auch  von  hier  aus 
als  unendlich  zu  bezeichnen  (§  30).  —  Drittens :  unser  Wille 
kann  das  Unendliche  erstreben  und  lieben,  wir  machen  die  un- 
mittelbare Erfahrung  vom  Unendlichen,  experimur  de  actu 
amandi  bonum  infinitum  (§  31).  —  Viertens :  das  schlechthin 
Eminente  verträgt  nichts  Vollkommeneres  neben  sich,  es  ist 
ihm  inkompossibel,  dagegen  ist  das  Endliche  nicht  inkompossibel 
einem  Vollkommeneren.  Also  ist  das  schlechthin  Eminente 
nicht  endlich,  sondern  unendlich  (§  31).  Mit  diesem  letzten 
Satze  kombinirt  Duns  den  anseimischen  Beweis  für  das  Dasein 
Gottes.  Das  summe  cogitabile  kann  nicht  nur  im  Intellekt  sein, 
dann  könnte  es  eben  nur  denkmöglich,  aber  zugleich  so  sein, 
dass  es  nicht  wirklich  sein  kann.  Daher  ist  es  freilich  ein 
maius  cogitabile,  wenn  es  wirklich  und  nicht  nur  intellektuelle 
Fiktion  ist.  Das  hat  nicht  den  Sinn,  als  wenn  das  Gedachte 
dadurch  mehr  denkbar  würde,  dass  es  ist,  sondern  es  bedeutet, 
dass  grösser  als  alles  Übrige  im  Intellekt  nur  ein  solches 
cogitabile  sein  wird,  das  wirklich  existiert.  Dies  kann  auch 
so  erläutert  werden,  dass  die  wirkliche  Existenz  des  Dinges 
erst  die  Bedingungen  zu  wirklich  vollkommener  denkender  Er- 
fassung desselben  darbietet  (l..c.  §  32).  —  Somit  ist  bewiesen, 
dass  der  persönliche  Gott  der  unendliche  Gott  ist.  Den  Ver- 
such des  Thomas,  diesen  Nachweis  aus  der  Immaterialität  Gottes 
zu  führen,  verwirft  Duns,  da  etwa  die  Engel  immateriell,  aber 
nicht  unendlich  sind  (§33). 


Gottes  Unendlichkeit  und  Einheit.  167 

7.  Schliessen  wir  liier  die  hiermit  eng  zusammeDhängende 
Aussage  von  Gottes  Einheit  gleich  an.  Wilhelm  Varro  hat 
die  Beweisbarkeit  derselben  geleugnet.  Dem  gegenüber  führt 
Duns  einen  siebenfachen  Beweis  für  die  Einheit  Gottes:  1.  Gott 
hat  den  unendlichen  Intellekt,  dieser  muss  alles  schlechthin 
vollkommen  erkennen,  ein  Gott  könnte  aber  den  anderen  nie 
mit  der  Vollkommenheit  des  Erkennen s  durchschauen  wie  die 
von  ihm  geschaffene  Welt  (I  dist.  2  quaest.  3,  2).  2.  Als 
schlechthin  gerecht  liebt  Gott  alles  nach  Verdienst,  also  müsste 
er  einen  anderen  Gott  unendlich  lieben,  er  würde  aber  sich 
selbst  mehr  und  eher  unendlich  lieben,  was  unmöglich  ist  (§  3). 
3.  Der  Wille  des  Menschen  könnte  nicht  Ruhe  finden  im  Unend- 
lichen, wenn  er  zwischen  dem  einen  und  anderen  Gott  abwechseln 
müsste  (§  4).  4.  Zwei  Totalursachen  eines  Effektes  (der  Welt) 
sind  undenkbar  (ib.).  5.  Das  Unendliche  ist  schlechthin  voll- 
kommen, aber  zwei  Unendliche  müssten  vollkommener  sein,  das 
ist  Unsinn.  6.  Ebenso  müsste  das  schlechthin  Notwendige  pluri- 
ficabel  sein  (§  5).  7.  Ein  Gott  könnte  zerstören  was  der  andere 
schafft,  eine  doppelte  Allmacht  ist  undenkbar  (§  6).  —  Ist  also 
eine  Mehrheit  von  Göttern  nicht  denkbar,  so  ist  der  unendliche 
Gott  schlechthin  einer. 

Diese  Betrachtung  stellt  den  wissenschaftlichen  Zusammen- 
hang in  der  Konstruktion  der  Gotteslehre  des  Duns  Scotus 
fest.  Duns  geht  aus  von  dem  Gedanken  der  ersten  Ursache 
und  erweist  die  PersonaUtät  derselben.  Gottes  Sein  ist  Denken 
und  Wollen.  Daran  schliesst  sich  an  der  Nachweis  der 
Unendlichkeit  Gottes,  nicht  nur  in  Bezug  auf  die  Kau- 
salität, sondern  ebenso  auch  in  Bezug  auf  die  Personalität  Gottes. 
Der  persönliche,  denkende  und  wollende,  Gott  ist  schlechthin  un- 
beschränkt durch  die  Welt  und  bedingt  alles  in  der  Welt.  Der 
persönliche    Gott    ist    also     der    absolute    Gott. ^) 


^)  Dieser  Begriff  entspricht  dem  Gedanken  des  ens  infinitum  bei 
Duns,  denn  letzterer  Begriff  soll,  wie  Duns  ausdrücklich  hervorhebt,  nicht 
nur  in  negativem  Sinne  (non  dicit  quid  est  deus,  sed  quid  non  est)  ver- 
standen werden,  sondern  positiv.  Dann  ist  sein  Sinn  folgender:  per 
„infinitum"  intenditur  significari  illud  poni  in  perfectione  divina,  ad  quod 
consequitur  exclusio  sive  negatio  cuiuslibet  termini  et  finis  tarn   intrinsecl 


168    Kap.  II :  Der  Gottesbegriff.  Die  Lehre  v.  d,  Menschen  u.  d,  Sünde. 

Das  ist  der  systematische  ZusammeDhang  in  der  Konstruktion 
unseres  Dogmatikers. 

Der  Gottesbegriff  wurde  also  aus  dem  Verhältnis  Gottes 
zur  Welt  abgeleitet.  Nun  hat  Duos  hierbei  allerdings  seine 
Gedanken  nicht  so,  wie  Luther,  an  die  positive  Heilsoffenbarung 
in  Christo  angeschlossen,  sondern  an  das  allgemeine  Kausalitäts- 
verhältnis Gottes  zur  Welt  angeknüpft.  Indem  man  aber  ge- 
nauer seine  Bemerkungen  über  das  Verhältnis  Gottes  zur  Welt 
studiert,  kommt  man  zu  dem  Resultat,  dass  trotz  der  schwer- 
fälligen metaphysischen  Formen,  in  denen  er  sich  bewegt,  im 
Hintergrund  eine  lebhafte  religiöse  Anschauung  von  Gottes 
Wirken  wahrnehmbar  wird. 

8.  Wir  sahen,  dass  das  göttliche  Wesen  geistiger  Wille 
ist.  Dieser  Wille  ist  der  Welt  schlechthin  mächtig,  indem  er 
als  allmächtiger  die  direkte  und  unmittelbare  Gewalt  Gottes 
über  alle  Dinge  darstellt,  sodass  alles,  was  ist  und  wird,  direkt 
oder  durch  die  causae  secundae,  auf  den  allmächtigen  Willen 
Gottes  als  letzte  Ursache  zurückgeht  (Sent.  I  dist.  42  quaest. 
un.  §  2).  Dem  unendlichen  Spielraum  der  Bethätigung  der 
göttlichen  Allmacht  entspricht  die  Unendlichkeit  Gottes  (de 
princ.  rer.  quaest.  3  art.  3,  18).  Nun  schliesst  aber  die  Un- 
endlichkeit Gottes  jede  zeitUche  Succession  in  Gott  ebenso  aus 
wie  die  Beziehung  auf  einzelne  Objekte  als  solche.  Wie  der 
göttliche  Intellekt  alles  Einzelne  in  einer  Intuition  zugleich 
erschaut,  ohne  eine  Succession  und  Wiederholung  der  Gedanken, 
so  ergreift  auch  der  AVille  in  einem  Akt  alles  Wollbare: 
sie  voluntas  uno  actu  volendi  non  innovato  nee  diviso  vult 
omnia  opposita,  omnia  volita  esse  idem  et  non  esse  respectu 
diversorum  temporum  vel  respectu  eiusdem  nunc  divisim  (1.  c. 
§  20).     Der  Wille   ergreift  also  in   einem  Akt   die  Objekte, 


quam  extrinseci.  Per  „infinitum"  enim  dictum  de  deo  intelligitur  iUud 
significare,  quo  deus  omne  finitum  excedit,  quod  non  potest 
esse  negatio  tantum,  sed  necessario  est  aliquid  positivum 
maximae  dignitatis  et  perfeotionis.  Quod  autem  talia  positiva 
et  tales  perfectiones  significentur  per  nomina  negativa  hoc  est,  quia  talia 
positiva  et  tales  perfectiones  sunt  nobis  magis  ignotae  quam  eorum  con- 
traria et  ideo  talia  positiva  significamus  per  nomina  negativa  et  eorum 
contraria  significamus  per  nomina  positiva  (Miscellan.  quaest.  5  §  20). 


Gott  ist  actus  purus.  169 

ohne  dass  ihre  zeitliche  Entfernung  oder  die  Gegensätzlichkeit 
unter  ihnen  hindernd  in  den  Weg  kämen.  Der  Wille  will  die 
also  getrennten  Objekte  zugleich  (simul  vult),  aber  er  will  sie 
nicht  als  gleichzeitige  (simul  esse,  1.  c.  20).  Der  Wille  setzt 
in  der  Ewigkeit  die  zeitliche  Welt,  bestimmt  von  Ewigkeit  her 
den  zeitlichen  Anfang  und  Fortgang  derselben.  Dens  ia 
aeternitate  voluit  aliquid  aliud  a  se  esse  pro  aliquo  tempore 
et  tunc  illud  creavit  pro  quando  voluit  illud  esse  (Sent.  I 
dist.  8  quaest.  5,  23).  Aus  diesen  Gedanken  folgt,  dass  aus 
dem  Entstehen  der  Dinge  und  ihrem  Wandel  in  der  Zeit  kein 
Wandel  oder  Wechsel  und  keine  Zeitfolge  des  Handelns  in 
Gott  abgeleitet  werden  kann.  Ist  nun  das  Sein  und  W^erden 
der  Dinge  in  dem  einen  ewigen  Willensakt  Gottes  beschlossen, 
dann  wird  Gott  schlechthinige  Aktualität  sein.  Indem 
das  Spätere  nicht  das  Frühere  und  das  Zweite  nicht  das  Erste 
in  Gott  verdrängt,  gibt  es  in  Gott  keine  Potenzialität.  Diese 
brächte  zeitliche  Aufeinanderfolge  und  damit  UnvoUkommenheit 
in  Gott  hinein.  Gott  aber  ist  actus  purus  d.  h.  schlecht- 
hinige Aktivität  (vgl.  z.  B.  I  dist.  27  quaest.  3,  10 ;  III  dist,  32 
quaest.  un.  §  2).  Mit  dieser  Formel,  die  Duns  mit  den  übrigen 
Scholastikern  gemein  hat,  ist  aber  die  absolute  Unveränder- 
lichkeit  des  unendlichen  Gotteswillens  erwiesen.  —  Was  ist  es 
aber  nun  um  den  Inhalt  dieses  Willens? 

9.  Auf  diese  Frage  hat  Thomas  die  Antwort  gegeben,  dass 
der  gütige  die  Welt  bewegende  Wille  Gottes  Liebe  ist.  ^)  Eine 
ähnliche  Betrachtung  hat  auch  Duns  angestellt. 

Die  32.  Distinktion  des  3.  Buches  behandelt  nämlich  die 
Frage:  Utrum  deus  diligat  ex  caritate  omnia  aequaliter?  In 
dem  Zusammenhang  dieser  Erörterung  ist  nun  Duns  zu  dem 
wichtigen  Kesultat  gelangt,  die  Gesamtheit  der  Beziehungen 
Gottes  zur  Welt  unter  den  Gesichtspunkt  der  Liebe  zu  stellen. 
Duns  geht,  wie  Thomas,  von  dem  Satz  aus,  dass  Gott  als  ver- 
nünftiges und  wollendes  Wesen,  in  dem  es  den  Wechsel  von 
Potenz  und  Aktus  nicht  gibt,  sich  selbst  erkennt  und  liebt  und 
zwar  actu  (1.  c.  quaest.  unic.  §  2).    Nun  kann  sich  aber  der  Wille 


^)    S.    hierüber    Ritschi    in    Jahrbücher    f.   Deutsche    Theol.  1865, 
S.  279  ff.  sowie  m.  Dogmengesch.  II  S.  90. 


170    Kap.  II:  Der  Gottesbegriff,  Die  Lehre  v.  d.  Menschen  u.  d.  Sünde. 

auf  jedes  volibile  richten:  igitur  voluntas  divina  potest  diligere 
omnia  diligibilia  alia  a  se.  Diese  Liebe  ist  nun  eine  wirksame 
(dilectio  efficax)  all  dem  gegenüber,  das  Gott  zum  Sein  führt  (1.  c). 
Oder  der  Grund  der  Schöpfung  sowie  aller  Bethätigung  Gottes 
an  der  Kreatur  ist  der  göttliche  Liebeswille.  Diese  Liebe  darf 
aber  nicht  auf  eine  der  trinitarischen  Personen  beschränkt 
werden.  Dächte  man  etwa,  sie  wäre  ein  Proprium  des  heiligen 
Geistes,  so  müsste  entweder  gefolgert  werden,  dass  der  heilige 
Geist  nicht  notwendig  aus  dem  Vater  hervorgeht,  was  falsch 
wäre  (s.  unten),  oder  man  müsste  von  einer  nicht  freien,  sondern 
notwendigen  Liebe  Gottes  zur  Kreatur  reden,  was  ebenfalls 
irrig  wäre,  denn  keine  Beziehung  auf  ein  ausserhalb  seiner 
selbst  gelegenes  Sein,  kann  für  Gott  als  notwendig  bezeichnet 
werden  (§  3).  Es  ist  sonach  Gott,  welcher  liebt,  wobei  dann 
freilich  gesagt  werden  kann,  dass  wie  der  Vater  alles  im  Wort 
sagt,  er  alles  im  Geist  liebt,  doch  so,  dass  diese  Liebe  den 
drei  Personen  gemeinsam  ist  (4). 

Diese  Liebe  ist  nun,  nach  dem  oben  Entwickelten,  als 
ein  auf  alles  zugleich  gerichteter  göttlicher  Akt  zu  denken. 
Von  hier  aus  beantwortet  sich  die  zum  Eingang  aufgeworfene 
Frage.  Setzt  man  die  Handlung  zum  Handelnden  in  Beziehung, 
so  ist  Gleichheit  des  Liebens  vorhanden,  denkt  man  an  die  von 
jener  Handlung  betroffenen  Objekte,  so  ist  Ungleichheit  da, 
sofern  dieselben  untereinander  im  Verhältnis  der  Abstufung 
stehen.  Das  vernünftige  Wollen  hat  nämlich  zum  nächsten  un- 
mittelbaren Objekt  das  gewollte  Ziel,  das  nächstfolgende  Objekt 
ist  dann  das,  was  unmittelbar  an  das  Ziel  heranreicht ;  es  folgt 
drittens  das ,  was  mittelbar  zur  Erreichung  dieses  Zieles  be- 
stimmt ist.  Der  göttliche  Wille  also  hat  zum  nächsten  Objekt 
sein  Ziel,  das  ist  Gott  selbst.  In  sich  als  dem  Unendlichen 
ruht  der  göttliche  Wille  in  Seligkeit  aus.  Zweitens  richtet 
sich  der  göttliche  Wille  auf  dasjenige,  was  unmittelbar  Be- 
ziehung zu  diesem  göttlichen  Selbstzweck  hat.  Das  ist  die 
göttliche  Prädestination,  welche  andere  dazu  erwählt,  dass  sie 
thun,  was  Gott  thut,  nämlich  ihn  zu  lieben  und  darin  Seligkeit 
zu  haben.  Secundo  vult  illa  quae  immediate  ordinantur  in 
ipsum  praedestinando  scilicet  electos  qui  immediate  attingunt 
ipsum,    et  hoc    quasi   reflectendo,   volendo   aliis   diligere   idem 


Gott  ist  Liebe.  171 

obiectum  secum  ...  et  hoc  est  velle  aliis  habere  amorem  suum 
in  se,  et  hoc  est  praedestinare  eos,  si  velit  eis  hoc  bonum  fin- 
aliter.  Drittens  befasst  dann  der  göttliche  Wille  in  sich  die 
Mittel,  vermöge  welcher  die  Prädestinierten  das  Heil  erlangen, 
das  sind  die  Erweisungen  der  Gnade :  quae  sunt  necessaria  ad 
attingendum  tunc  finem  scilicet  bona  gratiae.  Viertens  will 
Gott  um  der  Erwählten  willen ,  die  noch  ferner  liegenden 
Mittel,  also  diese  Welt,  welche  ihre  Beschaffenheit  in  Beziehung 
auf  die  Erwählten  erhalten  hat,  indem  diese  den  Zweck  der 
Welt  darstellen.  Quarto,  schreibt  Duns:  vult  propter  illos 
alia  quae  sunt  remotiora,  puta  hunc  mundum  sensibilem,  ut 
serviat  eis  .  .  .  Sive  igitur  quia  deus  vult  mundum  sensibilem 
in  ordine  ad  hominem  praedestinatum,  sive  quia  quodammodo 
vult  immediatius  hominem  amare  se  quam  mundum  sensibilem 
esse,  homo  erit  finis  mundi  sensibilis  (1.  c.  §  6  vgl.  denselben 
Gedanken  II  dist.  20  quaest.  2,  2).  Sonach  ist  die  Abstufung 
der  Liebe  Gottes  zu  der  Kreatur  bedingt  durch  das  Verhältnis, 
das  die  Kreatur  zur  Verwirklichung  des  göttlichen  Selbstzweckes 
einnimmt.  Indem  hierfür  nicht  nur  die  generelle  Differenz  der 
Daseinsgruppen,  sondern  auch  die  individuelle  Differenz  von 
Prädestiniert-  und  Nichtprädestiniertsein  in  Betracht  kommt, 
verwirklicht  sich  die  eine  göttliche  Liebe  in  verschiedener  Weise 
an  der  Welt,  non  solum  quantum  ad  gradus  specificos,  sed 
etiam  in  individuis   eiusdem   speciei  (III  dist.  32  qu.  un.  §  6). 

Hierdurch  ist  die  von  Duns  aufgeworfene  Frage  beant- 
wortet. Es  gibt  nur  eine  göttliche,  das  Weltall,  sein  Sein  und 
Werden,  umspannende  göttliche  Liebe.  Indem  aber  die  Objekte 
in  der  Welt  eine  nähere  oder  fernere  Beziehung  zum  letzten 
Ziel  jenes  Liebeswillens  haben,  kann  gesagt  werden,  dass 
Gott  das  eine  mehr  als  das  andere  liebt.  Das  hat  nicht  den 
Sinn,  als  wenn  das  eine  eine  grössere  Liebe  verdiente  als  das 
andere,  der  Grund  liegt  lediglich  im  göttlichen  Willen,  der 
diese  Abstufung  mit  der  von  ihm  gewollten  Weltordnung  setzt: 
ratio  est  in  ipsa  voluntate  divina,  quia  sicut  ipsa  acceptat  alia 
in  gradu,   ita  sunt  bona  in   tali  gradu   et  non  e  converso  (ib.). 

Bei  einer  Entwicklung  wie  der  eben  mitgeteilten,  vermisst 
man  es  besonders  schmerzlich,  dass  es  dem  Duns  Scotus  nicht 
vergönnt  gewesen   ist,   seine  Gedankenwelt  in   einer  „Summa" 


172    Kap.  II:  Der  Gottesbegriff.  Die  Lehre  v.  d.  Menschen  u.  d.  Sünde. 

zum  System  zusammenzuordnen.  Mitten  in  jenem  2.  Teil  des 
3.  Buches  des  Sentenzenkomraentars,  der  mit  seinen  ethischen 
Fragen  den  ursprünglich  christologischen  Zusammenhang  ganz 
vergessen  hat,  stehen  diese  Ausführungen.  Und  doch,  hätte 
Duns  ein  System  geliefert,  so  hätte  ihnen  eine  auch  systematisch 
durchgreifende  Bedeutung  zukommen  müssen.  Was  es  um  das 
Grundverhältnis  Gottes  als  des  absoluten  Willens  zur  Welt 
ist,  darüber  spricht  sich  Duns  hier  aus.  Gott  wiU  sich  oder 
er  liebt  sich.  Indem  nun  alles  Sein  und  Werden  auf  Gott 
zurückgeht,  ist  es  diesem  letzten  Zweck  untergeordnet  und  teilt 
sonach  mit  jenem  die  auf  ihn  gewandte  göttliche  Liebe.  Gott 
hebt,  indem  er  sich  liebt,  die  Erwählten,  welche  in  ihm  ihr 
Ziel  finden  und  er  liebt,  weil  er  die  Erwählten  liebt,  alle  Dinge, 
sofern  sie  diese  zu  ihrem  Ziel  führen.  Die  Liebe  ist  das  Grund- 
verhältnis Gottes  zur  Welt.  Alles  Geschehen  in  ihr  dient 
dem  Zweck  seines  Liebeswillens,  darum  sind  alle  Dinge  in 
dieser  Welt  dem  Menschen  untergeordnet.  Durch  diese  Ge- 
danken erhält  die  Anschauung  des  Duns  vom  persönlichen  Gott 
noch  deutlichere  und  lebhaftere  Formen,  als  es  durch  die  obigen 
Feststellungen  schon  der  Fall  war.  Oder  Duns  hat  den  im 
Rahmen  der  natürlichen  Betrachtung  gewonnenen  Begriff  von  Gott 
ergänzt  durch  den  christlichen  Gedanken,  dass  Gott  Liebe  ist. 

10.  Die  Liebe  Gottes  zu  der  Welt  ist  also  abgestuft  je 
nach  dem  Grade  der  Beziehung,  den  die  Weltwesen  zu  Gott 
und  seinem  Zweck  haben.  Alles  Daseiende  wird  von  Gottes 
Willen  gefördert,  sofern  es  dazu  dient,  dass  Gott  von  ihm  ge- 
liebt werde,  wie  er  sich  selbst  liebt.  Nun  sind  aber  die  Be- 
dürfnisse und  die  Beziehungen  der  Menschen  zu  Gott  sehr 
mannigfaltige.  Daher  wird  sich  jene  Liebe  auch  in  verschiedener 
Weise  an  den  Menschen  offenbaren.  Hier  greift  die  Betrachtung 
über  Gottes  Gerechtigkeit  und  Barmherzigkeit  ein, 
die  Duns  wieder  in  anderem  Zusammenhang  vorgetragen  hat, 
dort  wo  er  von  dem  letzten  Gericht  handelt.  In  diesen  Ge- 
danken kommt  der  positive  Gottesgedanke  des  Duns  zur  Voll- 
endung. 

Die  Gerechtigkeit  wird  im  Anschluss  an  Anselm^  definirt 

^)  S.  Anselm  de  veritate  12:  iustitia  est  rectitudo  voluntatis  propter 
se  servata. 


Gottes  CTerechtigkcit.  '  173 

als  rectitudo  volimtatis  propter  se  servata  und  zwar  bezüglich 
des  esse  ad  alterum.  Dieser  Begriff  ist  auf  Gott  anwendbar, 
denn  der  göttliche  Wille  ist  an  sich  recht,  da  er  die  erste 
Regel  zur  Bemessung  des  Rechten  bildet,  und  dieser  Wille  kann 
auch  nur  so  bleiben.  Ist  aber  Gottes  Wille  in  sich  gerecht,  so  wird 
er  es  auch  in  Bezug  auf  andere  sein  (IV  dist.  46  quaest.  1,  2). 
Diese  Gerechtigkeit  Gottes  kann  aber,  streng  genommen,  nicht 
wie  die  menschliche  Gerechtigkeit  als  Übereinstimmung  mit  einer 
von  aussen  gegebenen  Norm,  d.  h.  als  iustitia  legali^  gedacht 
werden,  es  sei  denn,  dass  man  etwa  den  Satz :  deus  diligendus 
est,  als  solch  eine  Norm  ansieht,  sofern  diese  veritas  practica 
jeder  Bestimmung  des  göttlichen  Willens  voraogeht  (§  3).  Wir 
yerstehen  diesen  Satz  aus  den  vorhergehenden  Betrachtungen 
über  die  göttliche  Liebe.  Ist  nämlich  die  Selbstliebe  der  Zweck 
Gottes  und  ergeht  Liebe  über  die  Kreatur  nur  sofern  sie  jenem 
Zweck  dient,  so  kann  man  freilich  sagen,  dass  jede  Willens- 
bethätigung  Gottes  der  Norm  „deus  diligendus  est''  untersteht.  — 
Weiter  kann  die  göttliche  Gerechtigkeit  noch  unter  folgende 
Gesichtspunkte  gestellt  werden.  Da  der  göttliche  Wille  recht 
ist,  bedingt  seine  Beschaffenheit,  dass  er  nur  solches  will,  was 
seiner  bonitas  gemäss  ist.  Indem  Gott  so  d.  h.  gut  will,  voll- 
führt er  gewissermassen  eine  redditio  debiti  sibi  ipsi,  id  est  suae 
bonitati,  also  er  bewährt  seine  Gerechtigkeit  vor  sich  selbst 
wie  vor  einem  anderen.  Wird  hier  Gott  selbst  gleichsam  zum 
Objekt  der  Erzeigung  der  göttlichen  Gerechtigkeit  gemacht, 
so  ist  weiter  als  Objekt  die  Welt  zu  denken.  So  betrachtet 
ist  von  der  iustitia  commutativa  et  distributiva  zu  reden  (§  3). 
Jene  richtet  sich  auf  die  dem  Verdienst  eines  jeden  korre- 
spondierende Belohnung  oder  Bestrafung,  diese  lässt  jedem  das 
seiner  Natur  Gemässe  zukommen,  wie  etwa  im  Staatswesen 
Ehren  und  Würden  je  nach  dem  Stande  verteilt  werden;  es 
sind  perfectiones  superadditae,  die  diese  Gerechtigkeit  spendet  (4). 
Diese  zweite  Form  der  Gerechtigkeit  kann  einfach  auf  Gott  über- 
tragen werden.  Dagegen  aber  leugnet  Duns,  wie  Thomas,  —  und 
das  ist  von  grösster  Wichtigkeit  — ,  dass  man  das  erste  Verhält- 
nis der  commutativen  Gerechtigkeit  einfach  auf  Gott  übertragen 
darf.  Von  einer  wirklichen  Korrespondenz  der  menschlichen 
That  und  der  göttlichen  Vergeltung  kann  nicht  geredet  werden, 


174    Kap.  II:  Der  Gottesbegriff.  Die  Lehre  v.  d.  Menschen  u.  d.  Sünde. 

sondern  das  Verhältnis  Gottes  zu  den  Menschen  ist  vorzustellen 
in  der  Weise  wie  das  Verhältnis  des  Herrn  zu  seinen  Knechten, 
Hier  waltet  nun  nicht  die  Regel  streng  rechtlicher  Äquivalenz, 
sondern  hier  gilt  die  Billigkeit,  da  der  dominus  liberalis  ein 
maius  bonum  geben  muss  (decet),  quam  servus  possit  mereri. 
Thut  der  servus  quod  suum  est,  so  wird  der  Herr  das  gleiche 
thun  (§  4).  Diese  Betrachtung  zeigt  also,  dass  im  Sinn  des 
Duns  die  Verdienste  der  Menschen  keinen  rechtlichen  Anspruch 
an  Gott  begründen  —  das  ist  begreiflich,  da  sie  ja  nur  gelten, 
sofern  Gott  sie  „acceptierf'  — ,  und  dass  überhaupt  zwischen 
Gott  und  Mensch  nicht  ein  streng  rechtliches,  sondern  das 
patriarchalische  Verhältnis  eines  wohlwollenden  Herrn  zu  seinen 
Knechten  besteht.  Wenn  Gott  die  Seligkeit  für  die  Ewigkeit  ver- 
leiht, so  ist  das  nicht  durch  den  Wert  der  menschlichen  Verdienste 
bedingt,  sondern  Gottes  liberalitas  gewährt  den  Menschen  mehr 
als  sie  verdienen  (cf.  IV  dist.  49  quaest.  6,  21 ;  dist.  50  quaest. 
6,  16).  Das  ist  Gottes  „Milde'',  die  schon  die  altdeutsche 
Dichtung  an  dem  Himmelsfürsten  zu  rühmen  fand. 

Sehen  wir  von  dem  zuerst  behandelten  Gesichtspunkt  (Ge- 
rechtigkeit als  Normrichtigkeit)  ab,  so  sind  zwei  Gesichtspunkte 
anzuwenden:  die  Gerechtigkeit  Gottes  1)  als  die  der  Art  des 
göttlichen  Willens  entsprechende  rechte  Willensbethätigung  und 
2)  als  die  rechte  Willensbethätigung  den  Bedürfnissen  der 
Kreatur  gegenüber  (§  5).  Um  den  Unterschied  zwischen  beiden 
Arten  eindrücklich  zu  machen,  hebt  Duns  besonders  hervor, 
dass  Gott  nicht  gegen  die  erste,  wohl  aber  gegen  die  zweite 
handeln  könne  (§  6).  Das  ist  selbstverständlich,  denn  dass  das 
göttliche  Handeln  dem  göttlichen  Willen  nicht  konform  sein 
könnte,  ist  undenkbar,  dagegen  kann  man  sich  —  in  abstracto  — 
vorstellen  (nach  der  potentia  absoluta),  dass  jener  Wille  eben 
einen  anderen  Inhalt  gehabt,  Gott  also  auch  anders  an  der 
Welt  gehandelt  hätte. 

Diese  beiden  Gesichtspunkte  können  aber  bei  Gott  auch 
auf  einen  reduziert  werden.  Das  Handeln  Gottes  hat  nämlich, 
wie  wir  sahen  (oben  S.  162),  nur  eine  notwendige  Beziehung,  das 
ist  die  zu  Gottes  bonitas;  die  Beziehung  zu  allen  einzelnen 
Objekten  der  Welt  ist  rein  zufällig.  Somit  wird  allen  mög- 
lichen Beziehungen  genug  geschehen,    wenn  man   Gottes  Ge- 


Gottes  Gerechtigkeit  abhängig  von  seiner  Güte.  175 

rechtigkeit  sich  erschöpfen  lässt  ad  reddendum  suae  bonitati 
vel  voluntati  quod  eam  condecet  (§  7).  Die  Gerechtigkeit 
Gottes  kann  sonach  im  Sinn  des  Duns  bestimmt  werden  als  die 
Handlungsweise,  vermöge  welcher  Gott  sich  selbst  d.  h.  seinem 
Gutsein  treu  bleibt.  Indem  sein  Handeln  sich  auf  einzelne 
Objekte  richtet,  ist  es  auch  diesen  gegenüber  gerecht.  Aber 
Gott  hängt  von  diesen  nicht  ab,  er  wird  nicht  etwa  diesem 
oder  jenem  gegenüber  gerecht,  sondern  sofern  sein  Wille  handelt, 
handelt  er  als  der  gute  gerecht  (8.  9).  Wie  nun  der  Staat 
zur  Erhaltung  des  iustum  boni  publici  absehen  kann  von  der 
partikularen  Gerechtigkeit  dem  einzelnen  gegenüber,  so  kann 
bei  Gott,  sofern  es  dem  Gutsein  seines  Wesens  nicht  wider- 
spricht, die  partikulare  Gerechtigkeit  dem  einzelnen  gegenüber 
zurücktreten  gegen  das  iustum  publicum  oder  die  condecentia 
divinae  bonitatis  (11).  Die  göttliche  Gerechtigkeit  ist  sonach 
die  gute  Handlungsweise  Gottes,  durch  die  er  seinem  Wesen 
entspricht.  Sein  Handeln  ist  also  auch  im  einzelnen  Fall  ge- 
recht, auch  dann,  wenn  es  um  seinem  Wesen  zu  entsprechen, 
zum  Unheil  des  einzelnen,  auf  den  es  gerade  trifft,  dient. 

Hiernach  ist  es  aber  deutlich,  dass  Duns  die  göttliche  Ge- 
rechtigkeit nicht  im  Rahmen  eines  privatrechtlichen  Verhältnisses 
versteht.  Denken  wir  an  das  Beispiel  vom  Herrn  und  seinen 
Knechten  sowie  an  die  Parallele  mit  dem  öffentlichen  Recht, 
so  werden  wir  sagen,  die  in  der  Konsequenz  seines  Gutseins 
geschehende  Handlungsweise  ist  Gottes  Gerechtigkeit,  die  dann 
den  einen  nach  der  Billigkeit  mehr  Gutes  gewährt  als  sie  ver- 
dienten, aber  auch  anderen  Übel  zumisst.  Das  eine  wie  das 
andere  geschieht  aber,  weil  Gottes  Handeln  gut  ist  wie  sein 
Wille.  Hieraus  begreift  sich  sowohl,  dass  die  Gerechten  über 
ihr  Verdienst  belohnt  werden,  als  dass  die,  welche  in  der  Sünde 
verbleiben  ohne  Busse  zu  thun,  der  Strafe  verfallen  (1.  c. 
quaest.  4,  7).  Könnte  an  sich  Gott  auch  ohne  Verschulden 
einzelne  verdammen,  so  ist  doch  konkret  im  Zusammenhang 
der  potestas  ordinata  die  Sache  so  zu  denken,  dass  sein  gutes 
Handeln  die  verdammt,  die  den  von  ihm  gesetzten  Heilsbe- 
dingungen nicht  entsprechen. 

1 1 .  Wir  wenden  uns  nun  der  göttlichen  Barmherzigkeit 
zu.     Die  Barmherzigkeit  ist   die   sittliche  Form,   qua  nolumus 


17fi     Kap.  II:  Der  Gottesbegriff.  Die  Lehr'e  v.  d.  Menschen  u.  d.  Sünde. 

miseriam  alterius,  diese  sei  gegenwärtig  oder  zukünftig.  Daraus 
ergeben  sich,  actus  nolendi  miseriam  alterius,  die  verbunden 
sind  mit  den  Affekten  der  Unlust  und  des  Mitleides  bezüglich 
des  Leides,  das  dem  anderen  droht  oder  ihn  trifft.  Diese 
Affekte  können,  wie  schon  die  Etymologie  zeigt  (miserum  cor 
habens,  quia  compatiens  miseriae  alienae),  von  Gott  nicht  aus- 
gesagt werden,  wohl  aber  jenes  Nichtwollen  eines  drohenden 
oder  schon  eingetretenen  Elendes  (IV  dist.  46  quaest.  2,  2). 
Wie  kein  Gut  dem  Menschen  zu  Teil  wird,  es  sei  denn  durch 
Gottes  Wollen,  so  kann  auch  kein  Übel  abgewandt  oder  auf- 
gehoben werden,  anders  als  durch  Gottes  Nichtwollen  (2). 
Wie  nun  das  allgemeine  Wollen  des  Guten  von  dem  besonderen 
(voluntas  antecedens  et  subsequens)  unterschieden  wird,  so  kann 
man  auch  denselben  Unterschied  bezüglich  des  NichtwoUens 
des  Übels  machen.  Also  Gott  will  im  allgemeinen  nicht,  dass 
Übel  den  Menschen  triff't  und  er  will  im  besonderen  nicht,  dass 
dieses  Übel  diesen  Menschen  trifft.  Nur  dies  zweite  ist  als 
Barmherzigkeit  zu  bezeichnen.  Sie  kann  aber  eine  doppelte 
sein:  Gott  will  überhaupt  diesen  Menschen  von  allem  Übel 
befreien  (misericordia  liberans),  und  Gott  will  für  diesen 
Menschen  einen  Teil  der  verdienten  Übel  aufheben  (misericordia 
parcens  oder  mitigans),  ib.  §  3. 

Die  Barmherzigkeit  ist  also  stets  ein  die  einzelnen  Krea- 
turen treffendes  Handeln,  während  die  Gerechtigkeit  die  Art 
des  göttlichen  Handelns  schlechthin  bezeichnet.  Bei  dieser  ver- 
schiedenen Orientierung  der  Begriffe  sei  nicht,  wie  Thomas 
versuchte,  die  Barmherzigkeit  als  der  Güte  Gottes  entsprechend 
der  Gerechtigkeit  unterzuordnen.  Die  Barmherzigkeit  blickt 
eben  nur  auf  den  Bedarf  des  anderen,  wie  die  Gerechtigkeit 
nur  auf  die  göttliche  Würde.  Daher  sind  beide  Begriffe  in 
Gott  formell  unterschieden  zu  denken  (IV  dist.  46  quaest.  3,  2  ff.). 
—  Im  Übrigen  erscheint  es  als  gekünstelt,  an  jedem  göttlichen 
Handeln  eine  Konkurrenz  von  Gerechtigkeit  und  Barmherzigkeit 
zu  erweisen.  Man  thut  dies,  indem  man  die  Begriffe  zu  sehr 
verallgemeinert.  Die  Schöpfung  z.  B.  kann  doch  nicht  als  eine 
spezifische  Offenbarung  der  Gerechtigkeit  gedacht  werden,  und 
dass  Gott  die  Bedürfnisse  der  Kreatur  erfüllt,  ist  doch  auch 
kein  Werk  seiner  Barmherzigkeit  (ib.  quaest.  4,  3).     Aber  das 


Gottes  Barmherzigkeit.  177 

Argument  gegen  die  Gerechtigkeit,  das  Duns  bringt,  gründet 
sich  seinerseits  wieder  auf  eine  Verengerung  des  gewonnenen 
Begriffes  (proprie  iustitia  est  in  reddendo  debitum).  Im  Sinn 
der  ursprünglichen  Anlage  würde  man  daher  wohl  zu  sagen 
haben,  dass  zwar  die  Gerechtigkeit  jedes  göttliche  Handeln 
begleitet,  dass  aber  die  Barmherzigkeit  nur  von  dem  Handeln, 
das  auf  besondere  Objekte  trifft,  gilt. 

12.  Indem  wir  die  praktische  Anwendung  dieser  Gedanken 
der  Darstellung  der  Eschatologie  überlassen,  möchten  wir  hier 
nur  auf  ihre  Stellung  in  der  scotistischen  Gotteslehre  hinweisen. 
Der  Wille  Gottes  hat  zum  letzten  Zweck  die  Liebe  Gottes  zu 
sich  selbst.  Hieraus  ergibt  sich,  dass  alles,  was  Gott  schuf, 
der  Verwirklichung  jener  Selbstliebe  dient  und  durch  diese 
Zwechbeziehung  und  je  nach  der  Nähe  derselben  von  Gott 
gehebt  wird.  Es  kann  also  die  Gesamtheit  der  Wirkungen 
Gottes  als  Bethätigung  seines  Liebeswillens  bezeichnet  werden. 
Dies  kann  jetzt  nach  Obigem  dahin  ergänzt  werden,  dass  die 
Bethätigung  Gottes  immer  dem  göttlichen  Wesen  entspricht; 
Gottes  Liebe  ist  also  gerechte  Liebe,  sowohl  wenn  sie  Billig- 
keit als  wenn  sie  Strenge  walten  lässt.  Es  ist  keine  Gottesthat 
denkbar,  die  nicht  als  gottgewollte  der  Durchsetzung  des  „deus 
diligendus  est"  diente.  Das  wird  mit  dem  Titel  „Gerechtig- 
keit" ausgedrückt.  Kann  so  die  Gerechtigkeit  als  Begleiterin 
der  Liebe  oder  als  die  Quahfizierung  der  Liebe  als  gottge- 
mässer  angesehen  werden,  so  lernen  wir  eine  Äusserung  der 
Liebe  auch  in  der  Barmherzigkeit  kennen  als  dem  Willen, 
dass  Übel  nicht  kommen  oder  doch  vorübergehen.  Hiedurch 
werden  dem  alldurchherrschenden  Liebeswillen  die  milderen 
Züge  der  Bücksichtnahme  auf  Leid  und  Not  angefügt.  Und 
hiezu  kommt  jene  praktische  Näherbestimmung  der  Gerechtig- 
keit als  der  fürstlichen  „Liberalität"  oder  „Milde",  auf  die  wir 
hinwiesen  (S.  174).  Das  wird  aber  der  Begriff  gewesen  sein, 
nach  dem  Duns  Gott  praktisch  gedacht  hat.  Er  empfindet 
hierin,  wie  auch  Anselm,  germanisch.  Der  „Hberale"  Himmels- 
herr ist  Gott,  „manno  miltisto",  wie  bereits  das  Wessobrunner 
Gebet   sagt  ^).     Diese   Auffassung   des   praktischen   Gedankens 


^)  Auf  die  „(xermanisierung"  des  Gottesbegriffes  —  sie  wirkt  in  sehr 
Seeberg,  Die  Theologie  des  Duns  Scotus.  12 


178     Kap.  II:  Der  Gottesbegriff,     Die  Lehre  v.  d.  Menschen  u.  d.  Sünde. 

von  Gott  bei  Duns  empfängt  eine  lehrreiche  Bestätigung  an 
seiner  Auffassung  der  Gebetspfiicht.  Sie  richtet  sich  auf  die 
dankbare  Anerkennung  Gottes  als  des  Herrn,  der  uns  alles 
Gute  gibt.  Vor  diesem  Herrn  beugen  wir  unsere  Kniee,  um 
dadurch  zu  bekennen  summam  esse  dominationem  in 
e 0 ,  cui  taüa  exhibentur,  et  subiectionem  esse  ad  illum  in 
exhibente  (III  dist.  9  quaest.  un.  §  2).  Dominatio  — 
subiectio:  das  ist  das  religiöse  Verhältnis 
zwisiehen   Gott  und   der  Seele. 

Das  fragmentarische  Material,  auf  das  wir  für  die  Gottes- 
lehre des  Duns  gewiesen  sind,  gestattet  hier  keine  weiteren 
Aussagen,  trägt  doch  schon  die  zuletzt  vorgetragene  Ver- 
knüpfung der  Begriffe  hypothetischen  Charakter,  da  Duns 
diese  Kombinationen  selbst  nicht  ausgeführt  hat.  Aber  für  die 
Methode  der  scotistischen  Theologie  ist  der  ganze  Aufbau  von 
grösster  Bedeutung.  Duns  hat  also  den  natürlichen  Gottes- 
gedanken aus  dem  Weltzusammenhang  abgeleitet.  Damit  hat 
er  den  Bahmen  gewonnen,  in  den  die  positiv  christliche  Er- 
kenntnis von  Gottes  Liebe,  Gerechtigkeit  und  Barmherzigkeit 
gestellt  werden  kann.  Indem  dieser  Zusammenhang  möglich 
ist,  ist  sowohl  der  Christlichkeit  des  Gedankens  als  der  Wissen- 
schaftlichkeit des  Begriffes  Rechnung  getragen. 

Hiemit  können  wir  die  Lehre  vom  Wesen  Gottes  be- 
schliessen.  Ich  hoffe,  dass  man  erkennen  wird,  wie  wenig  die 
in  der  Dogmengeschichte  beliebte  Formel,  Gott  sei  nach  Duns 
Scotus  die  absolute  Willkür,  die  Sache  wiedergibt,  denn  diese 
Formel  bringt  eigentlich  nur  die  hypothetische  Annahme  der 
Möglichkeit  unendlich  verschiedener  Welten  nach  der  absoluten 
Macht  Gottes  zur  Geltung.  Aber  so  bedeutsam  diese  Hypo- 
these als  Handhabe  der  scotistischen  Kritik  gewesen  ist,  so 
wenig  Bedeutung  kommt  ihr  innerhalb  des  positiven  Entwurfes 
der  Weltanschauung  des  Duns  zu.  Sie  empfiehlt  sich  deshalb 
aber  nicht  als  Stichwort  für  die  scotistische  Theologie.  Die 
wirklich  massgebenden  Gedanken  in  der  Gotteslehre  des  Duns 


modern  klingenden  Gedanken  nach  —  habe  ich  schon  vor  Jahren  auf- 
merksam gemacht,  vgl.  m.  Untersuchungen  über  das  german.  Christentum 
in  Ztschr.  f.  kirchl.  Wiss.  1888,  S.  92,  100  f.,  147,  161. 


Die  göttlichen  Eigenschaften.  179 

sind  vielmehr  folgende :  Gott  ist  unendlicher  freier  Geist,  allmäch- 
tiger Wille,  schlechthinige  Aktivität.  Dieser  Gott  setzt  eine  freie 
Welt.  Aber  Zweck,  Zusammenhang  und  Erfolg  der  Welt  und 
des  freien  Handelns  in  ihr  sind  von  Gott  prädeterminiert.  Die 
Leitung  des  Weltlaufes,  die  hiemit  festgestellt  wird,  fasst  sich 
zusammen  in  die  Formel  der  Liebe,  und  die  Art  dieser  wird 
gekennzeichnet  durch  den  Gedanken,  dass  Gott  sein  Regiment 
in  Gerechtigkeit  führt  als  der  gütige  und  milde  König  des 
Weltstaates.  Diese  Gedanken  stellen  einen  gewissen  Abschluss 
der  Entwicklung  dar,  die  der  Gottesbegriff  seit  Anselm  —  mit 
unter  dem  Einfluss  germanischer  Vorstellungen  —  durchge- 
macht hat.  Die  Differenzen  zwischen  Thomas  und  Duns  sind 
in  dieser  Richtung  gering.  Das  Resultat  war  der  Gedanke, 
dass  Gott  der  die  Welt  durchherrschende  geistige  Wille  ist. 
Dieser  Gottesbegriff  war  auch  für  die  Reformatoren  massgebend. 

3.   Die  göttlichen  Eigenschaften. 

1.  Die  Rücksicht  auf  den  Raum  verbietet  die  scotistische 
Gotteslehre  in  alle  Einzelheiten  zu  verfolgen.  Immerhin  können 
wir  an  der  Lehre  von  Gottes  Eigenschaften  nicht  vorübergehen, 
obgleich  manches  Einschlägige  schon  im  vorigen  Abschnitt  vor- 
kam. Der  Eigenschaftslehre  schicken  wir  voran  die  Lehre  von 
der  absoluten  Simpl  ici tat  Gottes.  Sie  ergibt  sich  leicht 
aus  den  gewonnenen  Gedanken.  Gott  kann  kein  Kompositum 
sein,  da  jede  Art  der  Komposition  seinem  Wesen  widerstrebt. 
Er  kann  nicht  aus  Materie  und  Form  zusammengesetzt  sein, 
da  in  ihm  keine  Potenz  ist  (I  dist.  8  quaest.  1,  2).  Er  kann 
nicht  aus  quantitativen  Teilen  komponiert  sein,  denn  das  wird 
durch  die  Unendlichkeit  ausgeschlossen  (3),  auch  nicht  aus  Sub- 
jekt und  Accidenz,  denn,  da  körperliche  Accidenzien  an  ihm  nicht 
denkbar  sind,  so  müssten  es  das  Denken  und  Wollen  betreffende 
Accidenzien  sein,  da  aber  Gottes  Essenz  Denken  und  Wollen 
ist,  sind  solche  nicht  denkbar  (4).  Ebenso  wäre  es  ein  Wider- 
spruch, das  schlechthin  Notwendige  anders  denn  als  absolute 
Einheit  zu  denken.  Ebenso  ist  aber  die  Zusammensetzung 
dadurch  absolut  ausgeschlossen,  dass  sie  nicht  endliche  Teile 
befassen  kann,  denn  Gott  ist  unendlich;  aber  auch  nicht  unend- 
liche, da  das  Unendliche  keinen  Plural  verträgt  (5). 

12* 


180     Kap.  II:  Der  Gottesbegriff.     Die  Lehre  v.  d.  Menschen  u.  d.  Sünde. 

2.  In  diesem  Zusammenhange  hat  Duns  (I  dist.  8  quaest.  4) 
die  Frage  aufgeworfen,  ob  eine  Unterscheidung  der  perfectiones 
essentiales  im  göttlichen  Wesen  an  sich  anzunehmen  sei,  oder 
ob  die  göttlichen  Eigenschaften  als  Vielheit  nur  subjektiv 
in  unserm  Verstände  existieren,  indem  sie  per  respectum  ad 
extra,  durch  Vergleichung  mit  der  Kreatur  gewonnen  werden  ? 
AVährend  Thomas  und  ähnlich  Heinrich  von  Gent  sich  in 
letzterem  Sinne  äusserten  eben  wegen  der  Einfachheit  des  gött- 
lichen Wesens,  hat  er  sich  für  ersteres  ausgesprochen. 

Die  entgegenstehende  Auffassung  unterzieht  Duns  einer 
eingehenden  Kritik.  Folgende  Gegengründe  werden  angeführt. 
1)  Was  an  Vollkommenheiten  in  der  Kreatur  vorhanden  ist, 
muss  urbildlich  in  Gott  vorhanden  sein.  2)  Da  alle  Attribute 
Gottes  die  göttliche  Vollkommenheit  bezeichnen,  können  diese 
Attribute  nicht  durch  Beziehungen  nach  aussen  distinguiert 
werden.  Wenn  nämlich  etwas  die  absolute  Fülle  der  Idee  in 
sich  fasst,  so  steht  es  in  dem  gleichen  Verhältnis  zu  allen 
einzelnen  Dingen,  die  von  dieser  Idee  bestimmt  sind.  Man 
kann  also  zwischen  der  göttlichen  Weisheit  und  der  Weisheit 
der  Kreatur  kein  andersartiges  Verhältnis  annehmen  als  zwischen 
jener  und  der  Farbe  etwa,  denn  beide  sind  durch  die  Weisheit 
Gottes  bestimmt.  Dann  aber  wird  man  unmöglich  von  der 
menschlichen  Weisheit  auf  die  göttliche  Weisheit  schliessen 
und  so  letztere  gegen  andere  Eigenschaften  Gottes  abgrenzen 
können  (1.  c.  §  6).  —  3)  Die  Unterscheidung  der  Attribute 
steht  in  einem  fundamentalen  Verhältnis  zu  den  personalen 
Emanationen  der  Trinität.  Indem  nämlich  vom  Sohn  die  Ent- 
stehung durch  den  Intellekt  naturaliter  nascendo,  vom  Geist 
durch  den  Willen  libere  spirando  feststeht,  wird  in  Gott  der 
Unterschied  von  Denken  und  Willen  als  objektiv  real  gesetzt. 
4)  Gott  erkennt  sein  Wesen,  sofern  es  wahr  ist,  und  will  es, 
sofern  es  gut  ist.  Ohne  jede  äussere  Beziehung  ist  dies  daraus, 
dass  er  denkt  und  will,  zu  folgern.  Da  Gott  sich  von  Ewig- 
keit her  als  den  weiss,  der  dieses  weiss  und  will,  sind  die 
Kategorien  gut  und  böse,  erkennend  und  erkannt,  wollend  und 
gewollt  objektive  Realitäten  in  Gott.  —  5)  In  der  Ausführung 
von  vollkommenen  Akten  des  Denkens  und  Wollens  besteht 
Gottes  Seligkeit.    Nun   beziehen  sich  alle  Attribute  auf  diese 


Die  göttlichen  Eigenschaften  eine  Healität  in  Gott.  IQl 

beiden  Funktionen  des  göttlichen  Geistes;  würde  also  ein 
Attribut  abhängig  von  äusseren  Beziehungen,  so  würde  damit 
auch  die  göttliche  Seligkeit  unter  diesen  Gesichtspunkt  ge- 
stellt (7). 

3.  Das  Resultat  dieser  Kritik  ist,  dass  die  göttlichen 
Eigenschaften  nicht  bloss  ideell  oder  durch  eine  differentia 
rationis  von  einander  unterschieden  sein  können.  Sie  haben 
ihren  Grund  nicht  an  den  diversi  modi  concipiendi  idem  obiectum 
formale,  wie  wir  also  etwa  einen  solchen  rein  subjektiven  Unter- 
schied bilden,  indem  wir  vom  sapiens  die  sapientia,  oder  von 
der  sapientia  die  veritas  unterscheiden.  Dann  müssen  wir  aber 
annehmen,  dass  die  Unterscheidung  der  Eigenschaften  vor 
unseren  subjektiven  Begriffen  erfolgt  und  dass  sie  somit  ob- 
jektiv real  ist.  Wir  denken  die  Weisheit  und  die  Güte  Gottes, 
weil  sie  in  re  und  ex  natura  rei  dasind.  Nach  Thomas  werden 
von  der  Erkenntnis  der  realen  Unterschiede  der  Vollkommen- 
heiten in  der  Welt  aus  diese  Vollkommenheiten  in  der  höchsten 
Potenz  als  unendliche  Vollkommenheiten  der  Gottheit  beigelegt. 
Es  entspricht  diese  Fülle  aller  Vollkommenheit  freilich  dem 
göttlichen  Wesen,  aber  der  vielheitliche  Ausdruck  hiefür  ist 
nur  subjektiver  Art.  Duns  Scotus  führt  den  Gedanken  von 
einer  formalen  Differenz  der  Attribute  ein.  Es  liegen 
begrifflich  notwendige,  weil  im  Wesen  der  Sache  begründete, 
Unterschiede  vor.  Wollte  man  nämlich  formaliter  die  unend- 
liche Güte  der  unendlichen  Weisheit  gleich  setzen,  dann  müsste 
man  überhaupt  Weisheit  gleich  Güte  setzen.  Denn  das  Attribut 
der  Unendlichkeit  könne  doch  die  Art  des  Begriffes,  zu  dem 
es  tritt,  nicht  aufheben,  müsste  doch  sonst  die  Entwicklungs- 
reihe der  Vollkommenheit  eines  Dinges  eine  fortlaufende  Meta- 
morphose desselben  darstellen  (ib.  17).  Da  auch  nicht  nach- 
gewiesen werden  kann,  dass  die  Weisheit  die  Güte  oder  um- 
gekehrt diese  jene  formaliter  in  sich  schliesse  —  das  müsste 
sonst  in  der  Definition  der  Begriffe,  die  auch  ihre  Quiddität 
betrifft,  hervortreten  — :  so  ist  der  Gedanke  von  der  wesent- 
lichen Unterscheidung  der  Eigenschaften  notwendig  (18). 

4.  Diese  Pluralität  besteht  aber  zusammen  mit  der  ab- 
soluten Simplicität  Gottes,  ebenso  wie  auch  die  Unterscheidung 
zwischen  Innascibilität    und   Paternität  im  Vater  seine  hypo- 


182     Kap.  II:  Der  Gottesbegrifif.    Die  Lehre  v.  d.  Menschen  u.  d.  Sünde. 

statische  Einheit  nicht  behindert.  Und  dies  ist  um  so  eher 
miiglich,  als  die  trinitarischen  Proprietäten  an  sich  nicht  ewig 
sind,  wie  die  hier  in  Rede  stehenden  Attribute  (21).  Auf 
die  hiedurch  angeregte  Analogie  zur  Trinität  muss  später  ein- 
gegangen werden.  Hier  ist  nur  das  klar  zu  machen,  dass  ähn- 
lich wie  Duns  Scotus  die  trinitarischen  Hypostasen  nicht  nur 
auf  Relationen,  sondern  auf  etwas  im  göttlichen  Wesen  real 
Seiendes  zurückführt,  er  auch  die  Differenzierung  der  gött- 
lichen Eigenschaften  auf  formal  in  Gott  Seiendes  zurückführt. 
Während  aber  bei  uns  Menschen  die  Weisheit  eine  Form  ist, 
die  uns  weise  macht,  so  ist  sie  —  wie  die  übrigen  Eigen- 
schaften —  für  Gott  nicht  etwas  Zweites,  von  Aussen  Hinzu- 
kommendes, sondern  quo  illud,  in  quo  est,  est  sapiens.  Gott 
ist  in  sich  einfach  und  einheitlich,  es  kommt  nichts  zu  ihm 
hinzu,  sondern  es  besteht  in  ihm  vera  identitas  (22).  Aber 
Gottes  Wesen  ist  so  beschaffen,  dass  es  uns  nötigt  zu  der 
Aussage  vieler  Attribute.  Diese  sind  daher  in  seinem  Wesen 
begründet.  Da  wir  sie  so  empfinden  und  denken  müssen, 
muss  ihnen  eine  formale  Distinktion  in  Gott  entsprechen.  Hier 
macht  sich  der  eigentümliche  Realismus  des  Duns  und  seine 
Vorliebe  für  den  Formbegriff  geltend.  Das  Denken  ist  das 
Abbild  des  Wirklichen.  Man  kann  nicht  urteilen,  dass  die 
thomistische  Auffassung  der  Eigenschaften  durch  Duns  wirklich 
widerlegt  sei,  aber  die  eigentümliche  Verbindung  von  Empiris- 
mus und  Idealismus  bei  unserem  Denker  tritt  in  diesem  Ab- 
schnitt besonders  klar  hervor.^) 

4.    Die  Lehre  von  der  Trinität. 

1.  Wir  kommen  zu  der  Trinitätslehre  des  Duns.  Für 
ihn  ist,  ebenso  wie  für  die  grossen  Scholastiker  vor  ihm,  eine 
selbstverständliche  Voraussetzung,  dass  die  Begriffe  der  zweiten 
und  dritten  trinitarischen  Person  aus  dem  göttlichen  Denken 
und  Wollen  herzuleiten  sind.  Mit  dieser  dem  Augustin  folgenden 
psychologischen  Betrachtungsweise  der  Trinität  verbindet  sich 
der    dem   Begriff  „Sohn"    entlehnte   Generationsgedanke,    dem 


^)  Vgl.  Schwane,  Dogmeng-esch.  der  mittleren  Zeit  S,  130  f. 


Die  Lehre  von  der  Trinität.  183 

analog  eine  Spiration  des  Geistes  aDgenommen  wird.  Mit 
diesem  Material  wird  also  der  trinitarische  Gedanke  bear- 
beitet. 

Nach  Duns  ist,  wie  wir  sahen,  Gott  denkender  und 
wollender  Geist.  Somit  muss  angenommen  werden,  dass  im 
Geist  überhaupt,  also  auch  im  menschlichen  Geist,  Trinitarisches 
ist  oder  dass  das  kreatürliche  Geistleben  die  Trinität  wieder- 
spiegle. Dies  gilt  von  unserem  Denken  und  Wollen  nicht 
nur  bezüglich  seiner  Aktivität,  sondern  auch  seiner  Poten- 
zialität.  Wie  in  der  Trinität  sowohl  reale  Unterscheidung  als 
Konsubstantialität  der  Hypostasen  anzunehmen  ist,  so  sind  die 
aktiven  Bethätigungen  unseres  Intellektes  und  Willens  distinkt, 
während  die  Seele  sie  alle  in  der  Potenz  konsubstantiell  in  sich 
fasst  (I  dist.  3  quaest.  9,  3). 

2.  Duns  erörtert  zunächst  die  Frage,  ob  in  Gott  eine 
productio  stattfinden  kann.  Die  Frage  wird  bejaht.  Wenn 
nämKch  etwas,  seinem  Begriff  nach,  ein  principium  productivum 
sufficiens  ist,  so  ist  es  das  überall,  wo  es  von  sich  aus  und 
ohne  ünvollkommenheit  ist.  Nun  ist  der  Intellekt  ein  pro- 
duktives Prinzip  in  Bezug  auf  die  notitia  genita;  also  ist  er 
das  auch  in  Gott.  Somit  ist  in  Gott  eine  productio  notitiae 
genitae  anzunehmen.  Und  ebenso  wird  der  Wille  zu  dem  vom 
Denken  ihm  dargebotenen  Objekt  Liebe  fassen ;  so  ist  die 
voluntas :  productiva  amoris  perfecti  producti  (I  dist.  2  quaest. 
7,  3).     Dieser  Produktionen  gibt  es  aber  in  Gott  nur  zwei. 

Heinrich  von  Gent  meint,  dies  könne  dadurch  bewiesen 
werden,  dass  die  actus  notionales  auf  actus  essentiales  beruhen, 
d.  h.  dass  die  charakteristischen  trinitarischen  Bethätigungen 
dem  Sein  der  Gottheit  entsprechen.  Nun  ist  dies  Sein  aber 
Denken  und  Wollen,  also  kann  auch  die  Trinität  nur  hierin 
bestehen.  Das  Denken  und  Wollen  ist  nicht  nur  in  den  auf 
bestimmte  Objekte  gerichteten  Akten  wirksam,  sondern  es  ist 
zugleich  eine  intelligentia  und  volitio  conversiva,  d.  h.  Denken 
und  Wollen  richten  sich  auf  ihre  eigene  Thätigkeit  (intelligendo 
se  intelligere ,  volendo  se  velle) ,  wie  auf  diese  in  Bezug 
auf  das  bestimmte  Objekt  und  dieses  selbst  als  erkanntes  oder 
gewolltes  (§  13).  Dieser  Doppelheit  würde  nun  auch  das  gött- 
liche Denken  und  Wollen    in   seinem  Verhältnis    zum    trinita- 


184     Kap.  II:  Der  Gottesbegriff.     Die  Lehre  v.  d.  Menschen  u.  d.  Sünde. 

rischen  Denken  und  Wollen  entsprechen.^)  Diese  Betrachtungs- 
weise widerlegt  Duns.  Soll  nämlich  die  notitia  genita  erst 
entstehen,  nachdem  die  positive  Erkenntnis  eines  Objektes 
stattgehabt,  als  Reflexion  über  die  Erkenntnis  dieses  Objektes, 
so  müsste  ein  solches  Objekt  dasein,  also  müsste  vor  der  Er- 
zeugung des  Sohnes  das  Vorhandensein  einer  zweiten  Person 
in  Gott  angenommen  werden,  was  offenbar  häretisch  ist  (14). 
Ebenso  ist  es  falsch,  den  von  aktualer  Erkenntnis  erfüllten 
Intellekt  zum  hervorbringenden  Prinzip  der  notitia  genita  zu 
machen.  Nach  Augustin  wird  das  Wort  von  der  Memoria  und 
nicht  von  der  Intelligenz  als  solcher  hervorgebracht.  Sollte 
aber  wirklich  jene  Intellektion  eines  Objektes  der  Grund  zu 
dem  den  Sohn  setzenden  reflektirenden  Denkakt  werden,  so 
würde  eigentlich  das  jener  Reflexion  voraufgehende  Erinnerungs- 
bild von  jenem  Objekt  eher  als  Sohn  oder  Wort  bezeichnet 
werden  müssen  (15  f.).  Überhaupt  ist  diese  ganze  Betrachtung 
unnütz,  da  der  Intellekt  Gottes  als  genügendes  Prinzip  zur 
Hervorbringung  der  notitia  genita  erscheint  (17). 

Nun  muss  allerdings  überall  in  der  Wissenschaft  die  Pluraütät 
der  Prinzipien  so  viel  als  möglich  reduziert  werden.  Jedoch  ist 
es  in  unserem  Fall  nicht  möglich,  die  beiden  Formen  der  Pro- 
duktion auf  einander  zurückzuführen.  Denn  indem  der  Intellekt 
natürlich  und  notwendig,  der  Wille  aber  frei  und  kontingent 
produziert,  müssen  diese  beiden  Prinzipien  neben  einander 
erhalten  werden,  d.  h.  es  gibt  ein  principium  productivum  per 
modum  naturae  und  ein  principium  productivum  per  modum 
voluntatis.  Diese  beiden  Prinzipien  sind  nun  als  productiva 
ad  intrazu  denken,  denn  das  Denken,  wie  der  Wille  des  un- 
endlichen Gottes  erfordert  unendliche  Grössen  als  nächstes 
Objekt  (§  18  f.).  Die  Kreatur  aber  ist  nur  secundarium  volitum 
et  productum  a  voluntate  dei  (33).  So  nun  kommt  es  zu  der 
Dreizahl  der  Personen:  sunt  tantum  duae  productae  et  una 
improducta,   ergo  tantum  tres  sunt  personae  (34).     Sonach  ist 


1)  G.  A.  Meier,  Die  Lehre  von  der  Trinität  I  (1844),  283  hat  diese 
Gedanken  reproduziert  und  dem  Duns  anlässlich  derselben  Lob  gespendet. 
Er  hat  übersehen,  dass  hier  nur  Gedanken  des  Heinrich  von  Gent  repro- 
duziert sind,  die  gleich  darauf  „improbiert"  werden,  s.  §  14flf. 


Die  Trinität  durch  das  göttliche  Denken  und  Wollen.  185 

der  Sohn  das  Produkt  des  göttlichen  Denkens,  der  Geist  des 
göttlichen  Wollens. 

Es  gibt  also  eine  Person,  die  durch  einen  Akt  des  In- 
tellektes produziert  wird.  Der  Intellekt  kommt  dabei  als  per- 
fecta memoria  in  Betracht  d.  h.  als  eine  Intellektion,  die  ein 
obiectum  intelligibile  actu  in  sich  gegenwärtig  hat.  Sie  ist  nun 
fähig  aus  sich  etwas  zu  erzeugen.  Dies  Erzeugte  ist  unendlich 
gemäss  der  Essenz  des  Erzeugers.  Und  nur  so  kann  die  Pro- 
duktion des  unendlichen  Intellekts  als  vollkommen  bezeichnet 
werden.  Es  ist  aber  auch  von  letzterem  verschieden,  denn 
Erzeuger  und  Erzeugtes  sind  immer  von  einander  verschieden. 
Es  gibt  also  eine  unendliche  durch  einen  intellektiven  Akt  er- 
zeugte Person  (34).  Ahnlich  kann  der  Beweis  für  den  Willen 
erbracht  werden  (ib.).  Diese  beiden  erzeugten  Personen  müssen 
aber  alia  et  alia  sein,  weil  eine  Person  nicht  auf  zweierlei  ver- 
schiedene "Weise  erzeugt  werden  kann  (ib.). 

3.  Der  Vater  erzeugt  den  Sohn  durch  einen  Denkakt. 
Das  Denken  ist  natürlich.  Da  erhebt  sich  die  Frage,  ob  die 
Erzeugung  des  Sohnes  willentlich  (volens)  geschieht?  Wenn  dies 
zu  bejahen  ist,  so  wird  sich  weiter  fragen,  woher  diese  Er- 
zeugung nicht  voluntate  geschehe? 

Nach  Heinrich  und  ähnlich  auch  nach  Thomas  erzeugt 
der  Vater  den  Sohn  necessitate  naturae  (I  dist.  6  quaest. 
un.  §  3  f.).  Nach  Duns  selbst  vollzieht  der  Vater  den  be- 
treffenden Denkakt,  indem  er  so  will  (5).  Aber  der  Wille  soll 
dabei  nicht  als  principium  productivum  in  Betracht  kommen, 
denn  als  solches  wirkt  er  bei  der  Spiration  des  Geistes.  Es 
sei  aber  nicht  möglich,  dass  ein  produktives  Prinzip  in  Gott 
zu  verschiedenem  Zweck  wirksam  sei.  Also  wird  der  Sohn 
nicht  voluntate  erzeugt  (6).  Der  Wille  kommt  bei  dieser 
Zeugung  nur  als  complacens,  nicht  als  principians  zur  Wirkung. 
Logisch  geht  also  der  intellektive  Zeugungaskt  dem  Wollen 
des  Sohnes  voraus  (7). 

Hiermit  hängt  nun  eine  weitere  Frage  zusammen.  Ist 
nämlich  die  potentia  generandi  etwas  Absolutes  oder  ist  sie 
eine  Eigentümlichkeit  des  Vaters?  Nach  Thomas  ist  das,  wo- 
durch der  Vater  zeugt,  seine  Essenz,  weil  der  Zeugende  das 
Erzeugte  in  der  Essenz,  nicht  in  einer  Proprietät  sich  ähnlich 


186     Kap.  II:  Der  Gottesbegriff,     Die  Lehre  v.  d.  Menschen  u.  d.  Sünde. 

macht  (ib.  dist.  7,  2).  Dies  wird  mit  mehreren  Gründen  von 
Duns  widerlegt.  Vor  allem  müsste  sonst  die  göttliche  Essenz 
an  sich  zeugen,  und  nicht  die  Hypostase  des  Vaters  (ib.  3). 
Nach  Heinrich  kann  die  Relation  nicht  Prinzip  der  Produktion 
sein,  weil  Relation  nicht  Prinzip  von  Bewegung  sein  kann; 
ebensowenig  aber  kann  die  unbestimmte  Essenz  an  sich  pro- 
duzieren, weil  sie  allen  Personen  gleicherweise  gemeinsam  ist. 
Also  wird  die  durch  die  Relation  bestimmte  Essenz  das  Pro- 
duktionsprinzip sein  (4).  Auch  diese  Auffassung  wird  abgelehnt. 
Was  soU  die  indeterminierte  Essenz  sein  ?  Denkt  man  an  eine 
illimitierte  virtus  productiva,  so  bedarf  dieselbe  keiner  Deter- 
mination zum  Handeln.  Soll  dagegen  an  eine  unbestimmte 
Materie  gedacht  sein,  so  passt  diese  Vorstellung  nicht  auf 
Gott  (5). 

Duns  selbst  erörtert  jetzt  den  Begriff  der  potentia.  Er 
kann  gefasst  werden  als  Möglichkeit.  Aber  Potenz  im  Gegen- 
satz zum  Akt  darf  in  Gott  nicht  angenommen  werden.  Sonach 
bleibt  nur  die  potentia  realis  als  das  principium  agendi  et 
patiendi.  Letzteres  fällt  für  Gott  fort.  Die  Macht  zu  handeln 
aber  bezieht  sich  auf  eine  relatio,  also  ist  sie  die  potentia 
generandi  relationem.  Die  Macht  eine  Relation  zu  setzen 
muss  nun  ihr  Fundament  in  einem  Absoluten  des  göttlichen 
Wesens  haben.  Es  ist  die  potentia  productiva  (7.  8).  Jetzt 
muss  aber  bewiesen  werden,  dass  die  potentia  generandi  in 
Gott  keine  Relation,  sondern  etwas  an  sich  Seiendes  oder 
Absolutes  ist.  Jede  Relation  stellt  ein  gegenseitiges  Verhältnis 
zwischen  den  korrelativen  Grössen  her.  Nach  dieser  Voraus- 
setzung wäre  dann  eine  Produktion  durch  den  freien  Willen  — 
als  Relation  —  nicht  möglich.  Zweitens  wäre  dann  diese 
Relation,  etwa  das  Verhältnis  zwischen  Vater  und  Sohn,  das 
Prinzip  ihrer  selbst,  da  nichts  gedacht  ^iirde  was  diese  Relation 
begründet.  Drittens  wäre  bei  dieser  Voraussetzung  der  Stand 
der  Filiation  einfach  unvollkommener  als  der  der  Paternität, 
weil  das  Produzierende,  wenn  es  nicht  dieselbe  Form  mit  dem 
Produzierten  hat,  es  virtualiter'  in  sich  enthält,  also  vollkommener 
ist.  Zudem  würde  der  Vater  in  der  Relation  als  handelnd 
vorgestellt,  während  die  Filiation  an  sich  noch  kein  Handeln 
enthielte  (9).     Sonach  führt  die  Bestimmung  der  Produktivität 


Produktion  des  Sohnes  und  Geistes.  187 

als  Relation  zu  unhaltbareu  Folgerungen.  Also  muss  sie  etwas 
Absolutes  sein.  Dies  ist  nun  weiter  positiv  zu  beweisen.  Der, 
welcher  sich  selbst  in  der  Vollkommenheit  seiner  Natur  mit- 
teilt, ist  vollkommener  als  der,  welcher  ein  zweites  und  drittes 
durch  Relation  herstellt.  Das  Feuer,  das  sich  selbst  mit  dem 
Holz  vereinigt,  ist  Prinzip  der  Wärme  in  vollkommenerer  Weise, 
als  wenn  es  bloss  in  Relation  zu  dem  Holz  träte  (10).  Von 
Gott  ist  aber  nur  das  Vollkommene  auszusagen. 

Die  potentia  generandi  ist  somit  nicht  die  göttliche  Essenz 
des  Vaters.  Sie  ist  aber  auch  nicht  die  durch  Relation  be- 
stimmte Essenz.  Die  potentia  generandi  ist  ein  Absolutes  in 
der  göttlichen  Essenz,  indem,  diese  durch  sich  selbst  die  trini- 
tarischen  Hypostasen  herstellt. 

4.  Ahnliche  Fragen  kehren  in  der  Lehre  von  der  Pro- 
duktion des  heiligen  Geistes  wieder.  Gott  hat  Willen  und  sein 
Wille  ist  produktives  Prinzip.  Gottes  Wille  ist  Liebe,  als 
göttliche  Liebe  ist  es  unendliche  Liebe.  Die  unendliche  Liebe 
bedarf  eines  unendlichen  Objektes  oder  stellt  ein  solches  her. 
Das  ist  der  amor  productus,  das  unendliche  Objekt  der  gött- 
lichen Liebe.  Als  unendlich  ist  es  Gott,  als  Produkt  ist  es 
nicht  identisch  mit  dem  Produzierenden,  sondern  ein  per  se 
subsistens  oder  eine  Person  (I  dist.  10  quaest.  un.  §  2). 

Hier  erheben  sich  etliche  Fragen. 

Zuerst:  wie  kann  hier  der  Wille  das  Prinzip  zur  Mit- 
teilung von  Natur  sein,  während  er  doch  bei  Kreaturen  nicht 
in  dieser  Weise  produziert?  Heinrich  beantwortet  die  Frage 
so,  dass  der  Wille  als  Wille  auch  hier  nicht  produziert,  so- 
wenig als  der  Litellekt,  sondern  dass  beide  mit  Hilfe  der  Natur 
produzieren,  d.  h.  so,  dass  sie  die  Natur  zu  produktiven  Akten 
bestimmen  (2).  Diese  Gedanken  sind  offenbar  nach  der  Beob- 
achtung des  menschlichen  Produzierens  gebildet.  —  Es  ist 
aber,  wie  Duns  zeigt,  diese  Koasisstenz  der  Natur  überflüssig. 
Der  allmächtige  Wille  Gottes  fasst  in  sich  das  Subjekt  des 
Handelns,  die  Vollkommenheit  und  das  Geeignetsein  zum 
Handeln.  Wozu  bedarf  es  da  einer  Koassistenz?  Nach 
Heinrich  w^ürde  ausserdem  die  Natur  das  eigentliche  Prinzip 
der  Handlung  sein  und  doch  soll  sie  nur  koassistieren  ?  (6). 
Weiter  kann  die  Ansicht  auch  deshalb  nicht  aufrecht  erhalten 


188     Kap.  IT:  Der  Gottesbegriff.    Die  Lehre  v.  d.  Menschen  u.  d.  Sünde. 

werden,  da  der  Wille  logisch  der  Essenz  oder  Natur  folgt^ 
diese  also  als  produzierend  ganz  —  ohne  den  Willen  —  pro- 
duzieren würde  (7).  Es  werden  noch  weitere  Gegenargumente 
auf  einander  gehäuft.  —  Duns  selbst  macht  zunächst  darauf 
aufmerksam,  dass  der  Wille,  von  dem  hier  die  Rede  ist,  der 
unendliche  Wille  Gottes  ist.  Der  Wille,  der  unendlicher  Liebe 
fähig  ist,  ist  auch  fähig  unendliche  Liebe  zu  produzieren.  Was 
aber  unendlich  ist,  ist  göttliche  Natur  oder  Essenz.  Man  müsste 
den  Willen  irgendwie  als  beschränkt  gegenüber  der  Natur 
fassen,  wenn  man  ihm,  der  doch  produktives  Prinzip  ist,  die 
Fähigkeit  Unendliches  zu  produzieren,  absprechen  will  (8). 

Die  zweite  Frage  ist  die,  ob  und  wie  der  Wille  notwendig 
produzieren  könne  ?  Heinrich  antwortet,  indem  er  ein  dreifaches 
Wollen  in  Gott  unterscheidet:  das  freie  Wollen  in  der  Liebe 
zum  bonum  finitum;  das  freie  und  notwendige  Wollen  in  der 
Liebe  zum  summum  bonum,  das  frei  ist  als  vom  Willen  aus- 
gehend und  notwendig  wegen  seiner  Unwandelbarkeit;  das 
Wollen  in  der  Produktion  des  heiligen  Geistes,  das  frei  ist  als 
Wollen,  aber  notwendig  wegen  seiner  Unwandelbarkeit  und 
wegen  der  Verbindung  mit  der  Natur  bei  Hervorbringung  des 
Geistes  (ib.  5).  —  Duns  sagt,  dass  die  Produktion  des  Geistes 
allerdings  als  notwendig  bezeichnet  werden  muss.  Wenn  näm- 
lich der  unendliche  Wille  ein  Unendliches  produziert,  so  kann 
dies  als  unendlich  nur  notwendig  sein,  quia  nullum  infinitum 
potest  esse  possibile  non  necessarium.  Wird  aber  das  Produkt 
als  notwendig  erkannt,  so  folgt,  dass  auch  die  Produktion  des- 
selben notwendig  sein  wird  (ib.  9).  Hier  ist  aber  die  Not- 
wendigkeit der  Produktion  nur  durch  einen  Schluss  gewonnen, 
es  ist  aber  auch  zuzusehen,  wie  sie  aus  dem  Wesen  des 
Willens  selbst  begründet  werden  kann.  Dieser  Nachweis  kann 
nur  auf  Grund  der  Unendlichkeit  sowohl  des  geliebten  Objektes 
als  des  Liebesaktes  erbracht  werden.  Setzt  man  das  Objekt 
endlich,  so  könnte  unmöglich  von  einer  Notwendigkeit  dasselbe 
zu  lieben  geredet  werden,  weil  Gott  sonst  alles  Endliche  lieben 
müsste.  Der  unendliche  Wille  aber  ist  notwendig  recht  und 
befindet  sich  daher  nur  in  der  Ausübung  rechter  Akte.  Dies 
ist  notwendig.  Hierdurch  wird  dieser  Wille  aber  noch  nicht 
an  bestimmte  Objekte  gebunden,  ausser  an  die  göttliche  Essenz^ 


Der  heil.  Geist  durch  den  Willen  und  notwendig  produziert.     189 

die  ex  se  volenda  ist.  Igitur  voluntas  illa  de  necessitate  est 
in  actu  recto  voleudi  illud  obiectum  quod  est  ex  se  recte 
volendiim,  et  sicut  ex  necessitate  est  principium  volendi  ita  ex 
necessitate  est  principium  producendi  amorem  illius.  Daraus 
ergibt  sich  dann,  dass  weder  der  unendliche  Wille  an  sich, 
noch  das  unendliche  Objekt  an  sich  die  Notwendigkeit  des 
WoUens  als  Totalursache  bedingen,  sondern  der  Wille,  der 
dies  Objekt  hat,  ist  die  Ursache  der  Notwendigkeit  (11).  Also 
das  Resultat  der  Erörterung  ist  dies.  Der  unendliche  Wille 
hat  das  rechte  Wollen,  das  rechte  Wollen  ist  die  Liebe  des 
unendlichen  Gutes.  Folglich  ist  es  notwendig,  dass  Gott  das 
unendliche  Gut,  seine  eigene  Essenz  will.  Also  ist  die  willent- 
liche Produktion  des  Geistes  zugleich  eine  Notwendigkeit. 

Die  Frage  endlich,  ob,  wenn  die  Notwendigkeit  der  Pro- 
duktion des  Geistes  gelehrt  wird,  dieselbe  nicht  per  modum 
naturae  geschehen  müsse,  wird  hier  nicht  behandelt.  Aber 
Quodlib.  XVI,  8  f.  zeigt  Duns,  quod  cum  necessitate  ad  volendum 
stat  libertas  in  voluntate.  Dass  die  göttliche  Natur  bestimmte 
auf  das  Unendliche  bezogene  Akte  notwendig  vollzieht,  gehört 
ebenso  zu  ihrer  Vollkommenheit,  als  es  unvollkommen  wäre, 
wenn  sie  zu  etwas  Endlichem  in  dem  gleichen  Verhältnis  stände. 
Indem  aber  Gott  dies  notwendige  Wollen  mit  Lust  und  frei 
wählend  (delectabiliter  et  eligibiliter)  vollzieht,  ist  es  freies 
Wollen  (1.  c.  §  10). 

5.  Die  Spiration  des  Geistes  geht  aus  vom  Vater  und  dem 
Sohn.  Dass  die  Griechen  sie  nur  auf  den  Vater  zurückführen, 
wird,  unter  Berufung  auf  Robert  von  Lincoln,  anerkannt,  aber 
als  Wortstreit  erklärt.  Die  Sache  sei  einfach.  Da  dem  Sohn 
bei  der  Zeugung  die  ganze  göttliche  Vollkommenheit  mitgeteilt 
wurde,  so  empfing  er  auch  einen  Willen.  Da  er  an  diesem 
Willen  das  produktive  Prinzip  zur  Setzung  von  Unendlichem 
hat,  wird  er  dasselbe  auch  brauchen :  ergo  potest  ea  producere, 
igitur  et  ea  producit  (I  dist.  11  quaest.  1,  2).  Dass  aber  die 
Zeugung  des  Sohnes  der  Spiration  des  Geistes  logisch  voran- 
geht, versteht  sich  daraus,  dass  jeder  Willensakt  eine  intellek- 
tive  Thätigkeit  voraussetzt,  da  erst  diese  ihm  die  Objekte  seiner 
Wahl  präsentiert  (ib.  4).  —  Übrigens  verwirft  Duns  die  Auf- 
fassung Gottfrieds,   dass   die  Frage,  ob,   wenn  der  Geist   nicht 


190     Xap.  II:  Der  (iottesbegriff.     Die  Lehre  v.  d.  Menschen  u.   d.  Sünde. 

auch  vom  Sohn  ausginge,  Sohn  und  Geist  noch  unterschieden 
werden  könnten,  als  Inkompossibles  in  sich  fassend,  überhaupt 
indiskutabel  sei.  Das  sei  nur  eine  fuga  quaestionis,  die  um  so 
Aveniger  berechtigt  ist,  als  die  verworfene  Auffassung  keineswegs 
von  vornherein  unlogisch  sei,  da  ja  der  Begriff  Sohn  an  und 
für  sich  die  aktive  Spiration  garnicht  notwendig  in  sich  fasst 
(I  dist.  10  quaest.  2,  1.  2).  Wollte  man  derartige  Fragen 
verwehren,  so  würde  die  "Wissenschaft  aufgehoben ;  auch  ein 
Augustin,  Richard  oder  Aristoteles  sind  ähnlichen  Fragen  nach- 
gegangen (ib.  3.  4). 

Also  war  Thomas  ganz  im  Recht  die  Frage  zu  erörtern. 
Nach  seiner  Meinung  würde,  wenn  der  Geist  nur  vom  Yater  — 
wie  der  Sohn  —  ausginge ,  zwischen  Geist  und  Sohn  kein 
Unterschied  zu  finden  sein.  Denn  1.  sind  Sohn  und  Geist 
durch  relatioues  oppositae  unterschieden,  fallen  diese,  so  fällt 
der  Unterschied ;  2.  wenn  der  Unterschied  nicht  auf  diesen 
Relationen,  sondern  auf  jeder  beliebigen  relatio  disparata  — 
d.  h.  einer  solchen  Beziehung,  die  nicht  zu  einer  anderen  in 
fester  logischer  Verbindung  resp.  Gegensatz  steht  —  beruhen 
könnte,  so  würde  der  Vater,  da  in  ihm  sowohl  die  Relation 
der  aktiven  Generation  als  der  aktiven  Spiration  anzunehmen 
ist,  zwei  Personen  ausmachen  (I  dist.  11  quaest.  2,  5).  —  Gegen 
beide  Argumente  hat  Duns  sich  gekehrt.  Jedes  Ding,  zeigt 
er,  habe  sein  unterscheidendes  Merkmal  daran,  wodurch  sein 
Sein  konstituiert  wird,  der  Sohn  also  an  der  passiven  Filiation. 
Diese  ist  das  ihn  vom  Geist  Unterscheidende,  nicht  aber  das 
Vorhandensein  der  aktiven  Spiration  (ib.  6).  Gegen  den  zweiten 
der  Gründe  des  Thomas  richtet  sich  der  Gedanke,  dass  der 
eigentliche  Grund  der  Unterscheidung  nicht  sowohl  in  der 
aktiven  als  in  der  passiven  Produktion  zu  suchen  sei.  Es  ist 
nämlich  unmöglich,  dass  ein  Ding  von  zwei  gegensätzlichen 
Produktionen  hervorgebracht  wird,  während  es  freilich  möglich 
ist,  dass  ein  Ding  durch  zwei  aktive  Produktionen  sein  Sein 
verschiedenen  Personen  mitteilt  (ib.  11). 

Dafür  aber,  dass,  auch  wenn  nicht  ein  Ausgang  des  Geistes 
vom  Sohn  anzimehmen  wäre,  der  Sohn  vom  Vater  persönlich 
unterschieden  gedacht  werden  könnte,  beruft  sich  Duns  auf  das 
Zeugnis  Anselms,   der    (de  process.  spirit.  s.  1)   ausführt:    der 


Zusammenwirken  von  Vater  und  Sohn  zur  Erzeugung  des  Geistes,      191 

Unterschied  beider  beruhe  darauf,  dass  der  eine  nascendo,  der 
andere  procedendo  das  Sein  vom  Vater  erhalte.  Ginge  aber 
der  Geist  nicht  vom  Sohn  aus,  so  müsste  der  Sohn  vom  Geist 
ausgehen.  Sonach  kann  zwar  das  als  notwendig  hingestellt 
werden,  dass  die  zweite  oder  dritte  Hypostase  von  zwei  Prin- 
zipien hervorgebracht  werden,  keineswegs  aber  das  filioque  als 
absolute  logische  Notwendigkeit  bezeichnet  werden. 

Nun  stellt  aber  das  6.  Buch  der  Dekretahen  fest,  dass 
Vater  und  Sohn  als  ein  Prinzip  den  Geist  hervorbringen. 
Dieser  Satz  ist  also  zu  begründen.  Der  Vater  besitzt  die 
zeugungskräftige  Fruchtbarkeit  des  Intellektes  vor  der  des 
Willens.  Nun  teilt  der  Vater  dem  Sohn  sein  Wesen,  also 
auch  seinen  Willen  bezw.  die  fecunditas  voluntatis  mit.  Indem 
erst  Vater  und  Sohn  gemeinsam  den  Geist  produzieren,  ist  es 
ein  Willensprinzip,  das  dies  bewirkt.  Duns  will  offenbar  sagen, 
die  Wirkung  des  Intellektes  erzeugt  den  Sohn  samt  seinem 
Wollen.  Auf  diese  Wirkung  folgt  erst  die  Produktion  des 
Geistes.  Letztere  setzt  also  das  Zusammenwirken  des  Willens 
des  Vaters  mit  dem  des  Sohnes  voraus. 

Damit  ist  die  Sache  aber  noch  nicht  klar  gestellt.  Es 
sind  ja  zwei  Subjekte  mit  zwei  Willen  da.  Soll  die  eben 
dargelegte  Einheit  in  der  Weise  strenger  Einheit  oder  nur  der 
Übereinstimmung  gedacht  werden  (una  oder  Concors ;  I  dist.  12 
quaest.  1,  2)?  Nach  Heinrich  wäre  una  vis  spirativa  anzunehmen, 
die  aber  sub  ratione  concordis  voluntatis  zu  verstehen  ist,  so- 
fern Vater  und  Sohn  in  der  Vereinigung  ihrer  gegenseitigen 
Liebe  den  Geist  spirieren  (3).  Dem  gegenüber  zeigt  Duns, 
dass  dann  zu  folgern  ist,  dass  der  Vater  einen  und  der  Sohn 
den  anderen  heiligen  Geist  spiriert  (5).  —  Seiner  Meinung 
nach  muss  daher  gesagt  werden,  dass  Vater  und  Sohn  den 
Geist  so  spirieren,  inquantum  voluntas  omnino  una  est  in  patre 
et  filio,  da  der  beiderseitige  Wille  schlechtweg  das  nämliche 
Prinzip  zur  Erzeugung  des  Geistes  ist.  Die  Einheit,  von  der  hier 
geredet  wird,  ist  aber  weder  die  Einheit  der  Essenz,  denn  diese 
zeugt  nicht,  noch  der  Personen,  denn  diese  sind  verschiedene 
Subjekte,  sondern  die  Einheit  in  vi  spirativa  (ib.  17). 

Da  aber  auch  Richard  v.  St.  Viktor  von  einer  concordia 
der  beiden  Hypostasen   geredet  hat,   so  soll  ein  Weg,    der  zur 


192     Kap.  II:  Der  Gottesbegriff.     Die  Lehre  v.  d.  Menschen  u.  d.  Sünde. 

Rettung  dieser  Autorität  betreten  werden  kann,  namhaft  ge- 
macht werden.  Es  kann  nämlich  die  concordia  als  zwischen 
den  einzelnen  hervorgelockten  Akten  (actus  secundi  eliciti)  be- 
stehend gedacht  werden  und  sie  kann  mehr  als  ein  habitueller 
Zustand  zwischen  beiden  Grössen  gedacht  werden.  Im  ersteren 
Sinn  kann  hier  von  keiner  „Concordia"  geredet  werden,  also 
als  wenn  Vater  und  Sohn  besondere  Akte  ausführen,  indem  sie 
dieselben  freiwillig  in  Übereinstimmung  setzen.  "Wohl  aber  kann 
man  von  Concordia  reden,  wenn  man  an  eine  Zuständlichkeit, 
eine  Richtung  denkt  (d.  h.  an  einen  actus  primus).  Das  heisst 
man  kann  also  sagen,  die  beiden  Willen  seien  derartig  bei 
einander,  dass  sie  den  Geist  einmütig  hervorbringen  (11). 

Denkt  man  sich  die  Ordnung,  in  der  sich  die  Erzeugung 
des  Sohnes  und  die  Hervorbringung  des  Geistes  vollzieht,  in 
einer  zeitlichen  Folge,  so  ergeben  sich  folgende  Stufen:  1.  in 
patre  utraque  fecunditas  a  se,  2.  in  patre  actus  primae  fecun- 
ditatis,  und  damit  zugleich :  in  filio  secunda  fecunditas,  3.  actus 
secundae   fecunditatis   simul  a  patre  et  filio   (ib.  quaest.  2,  2). 

Somit  ist  der  orthodoxe  Satz,  dass  der  Vater  und  der 
Sohn  als  ein  Prinzip  den  Geist  hervorbringen,  erwiesen.  Aller- 
dings wird  man  die  Stringenz  dieses  Beweises  anfechten  dürfen. 
Die  dialektische  Kunst  unseres  Autors  vermag  nämlich  nicht 
darüber  hinwegzutäuschen,  dass  gerade  die  schärfere  Betonung 
der  Personunterschiede ,  die  der  skotistischen  Lehre  eigen- 
tümlich ist,  deutlich  die  Auffassung  Richards  oder  Heinrichs 
erfordert. 

Es  erübrigt  nur  noch  hinzuzufügen,  dass  nach  der  tra- 
ditionellen Lehre  die  Zeugung  als  ewig  bezeichnet  wird  wegen 
der  Vollkommenheit  und  Ewigkeit  Gottes  (I  dist.  9  quaest. 
un.  §  2),  sowie  dass  die  Hypostasen  wegen  der  ihnen  eignenden 
LTnendlichkeit  mit  einander  vollkommen  gleicher  Grösse  sind, 
wobei  natürlich  nicht  an  eine  materielle  quantitas  molis,  sondern 
an  die  quantitas  virtutis  zu  denken  ist  (I  dist.  19  quaest.  1,  4.  7). 
Das  Zahlverhältnis  findet  an  sich  auf  die  Gottheit  keine  An- 
w^endung  wegen  der  Unendlichkeit  Gottes.  Die  Anwendung 
von  numerischen  Verhältnissen  auf  Gott  ist  also  nur  als  Form 
unserer  Auffassung  anzusehen.  Wir  denken  drei  Personen  zu- 
gleich (I  dist.  24  quaest.  un.) 


iSubstimz  und  Hypostase.  193 

Wir  haben  uns  nunmehr  über  die  Fragen,  die  durch  Er- 
wägung der  Art  der  einzelnen  Hypostasen  angeregt  werden, 
verständigt.  In  Gott  ist  potentia  productiva.  Diese  ist  etwas 
Absolutes,  welches  die  Relationen  der  trinitarischen  Hypostasen 
herstellt.  In  der  göttlichen  Essenz  ist  die  Memoria,  aus  der 
der  Sohn  hervorgeht.  Von  dem  Yater  wie  dem  Sohn  wird  in 
der  Weise  eines  Willensaktes  der  Geist  gesetzt. 

6.  Nun  erhebt  sich  eine  Anzahl  von  Fragen,  die  den 
Problemen  gelten,  welche  dem  Verhältnis  von  Essenz  und 
Hypostasen  zu  einander  entstammen.  Die  Pluralität  der  Per- 
sonen hebt  die  Einheit  der  Essenz  nicht  auf.  Um  die  zwischen 
beiden  Begriffen  seiende  Kompossibilität  zu  verstehen,  müssen 
die  Begriffe  Natur  und  Subjekt  (suppositum)  erläutert  werden. 
Die  Begriffe  verhalten  sich  nicht  zu  einander  wie  das  Uni- 
versale zum  Singulare,  denn  Singularität  können  auch  Acci- 
denzien  haben,  ohne  dass  sie  die  Art  eines  Subjektes  an  sich 
tragen,  ja  selbst  Substanzen,  wie  die  vom  Logos  angenommene 
menschliche  —  subjektlose  —  Natur.  Auch  die  Unterscheidung 
von  quo  und  quod  reicht  nicht  aus,  da  jedes  quo  auch  irgend- 
wie ein  quod  ist.  Dagegen  ist  es  richtig,  dass  jedes  Subjekt 
immer  auch  ein  Singulare  sein  muss  und  dass  es  niemals  ein 
quo  im  Hinblick  auf  ein  anderes  sein  kann,  denn  indem  es 
selbst  ein  subsistens  ist,  kann  es  nicht  zum  Akt  eines  anderen 
subsistens  werden. 

Auf  Grund  dessen  kann  man  sagen,  dass  die  Art  eines 
Subjektes  durch  eine  doppelte  Inkommunikabilität  festgestellt 
w^erde.  Komunikabel  ist  etwas  durch  Identität  des  Wesens  oder 
durch  Information.  In  ersterem  Sinn  ist  das,  dem  etwas  mit- 
geteilt wird,  ipsum,  im  anderen  wird  es  ipso.  Oder  die  erste 
Weise  ist  die,  in  welcher  das  Allgemeine  dem  Einzelnen  mit- 
teilbar ist,  die  zweite  die,  in  der  die  Form  der  Materie  mit- 
geteilt wird.  Die  Natur  ist  nun  in  diesem  wie  jenem  Sinn 
kommunikabel,  dagegen  ist  das  Subjekt  in  diesem  wie  jenem 
Sinn  in  kommunikabel  (I  dist.  2  quaest.  7,  38). 

7.  Zur  Bestimmmung  der  Eigentümlichkeit  der  Hypostasen 
dient  auch  die  später  angestellte  Erörterung  der  Frage,  ob  die 
Hypostasen  primae  oder  secundae  intentiones  seien.  Mit  anderen 
Worten :  ob  der  Begriff  Person  direkt  von  seinem  Gegenstand 

Seeberg,  Die  Theologie  des  Duns  Scotus.  13 


194     Kap.  II:  Der  Gottesbegriff.     Die  Lehre  v.  d.  Menschen  u.  d.  Sünde, 

abgezogen  werden  kann,  oder  ob  es  ein  Begriff  ist,  der  durch 
Reflexion  auf  das  Verhältnis  des  Begriffes  zu  einem  Allgemeinen 
gewonnen  wird.  Solche  intentiones  secundae  wären  die  Species 
oder  das  Besondere,  die  nur  gebildet  werden  können  im  Zu- 
sammenhang mit  den  Begriff'en  des  Genus  und  des  Allgemeinen 
(I  dist.  23  quaest.  un.  §  2). 

Bichard  von  St.  Viktor  definiert  die  Person  (de  trinit.  22) 
als  intellectualis  naturae  incommunicabilis  exis- 
tentia.  Hiernach  ist  die  Definition  des  Boetius  zu  berichtigen, 
der  von  individua  substantia  sprach.  Dann  nämlich  wären 
auch  die  Seele  oder  die  deitas  Personen ;  ^)  auch  könnte  man, 
genau  genommen  von  göttlichen  Personen  nicht  reden,  da  das 
Individuum  ein  dividuum  jedenfalls  als  logisch  möglich  setzt. 
Ist  aber  die  Definition  Richards  richtig,  dann  liegt  kein  Grund 
vor,  die  Person  als  intentio  secunda  zu  fassen.  Die  Person 
ist  nicht  kommunikabel  wie  das  Universale,  das  in  vielen  ein- 
zelnen identisch  ist,  oder  wie  die  Form,  die  sich  der  Materie 
mitteilt.  Diese  doppelte  Inkommunikabilität  bestimmt  grade 
das  Wesen  der  Person,  während  die  Natur  kommunikabel  ist 
(4).  Nun  scheint  aber  der  Begriff  der  Person  hierdurch  rein 
negativ  bestimmt  zu  sein,  denn  die  Inkommunikabilität  ist 
Negation.  Jede  Negation  ist  aber  intentio  secunda,  da  sie 
durch  Reflexion  auf  ein  Positives  gebildet  wird. 

Aber  dieser  Schluss  ist  falsch,  denn  der  Begriff  der  Person 
ist  nicht  nur  durch  ein  Negatives,  sondern  auch  durch  das 
positive  Element  der  Intellektualität  konstituiert.  Aber  auch 
wenn  man  dies  Element  ganz  in  die  Natur  verlegen  wollte  und 
die  Personalität  auf  Inkommunikabilität  beschränkte,  wäre  jener 
Schluss  falsch.  Jede  intentio  secunda  wird  nur  durch  die 
reflektierende  Beschäftigung  des  Intellekts  mit  Vorstellungen 
erzeugt.  Ist  nun  vor  einer  solchen  vergleichenden  Reflexion 
der  betreffende  Begriff  da,  so  ist  er  nicht  intentio  secunda, 
sondern  intentio  prima.  Dies  ist  aber  möglich,  da  doch  die 
doppelte  Negation,  die  unserem  Personbegriff  anhaftet,  nur  auf 


^)  Es  wird  also  ausdrücklich  verneint,  dass  die  Gottheit  als  Person 
bezeichnet  wird,  so  stark  haftet  die  Tradition  an  diesem  Begriff,  wiewohl 
Duns  von  der  Persönlichkeit  Gottes  ein  lebhaftes  Empfinden  hat  I 


Der  Personbegriff.  195 

Grund  einer  positiven  Beschaffenheit  des  betr.  Dinges  entsteht. 
Man  kann  eine  Negation  weder  anbeten,  noch  vermag  sie  zu 
handeln,  und  beides  gilt  doch  von  den  göttlichen  Hypostasen! 
AVenn  man  vom  Menschen  sagt,  er  sei  nicht  Esel,  so  ruht 
dieser  negative  Begriff  auf  der  positiven  Erkenntnis  seines 
Wesens.  So  beruht  die  doppelte  Negation  im  Personbegriff 
auch  auf  einer  doppelten  Position,  nämlich  auf  der  Erkenntnis 
der  Natur  und  der  besonderen  Art  Natur  zu  haben. 

Haben  nun  aber  die  drei  Hypostasen  die  Negation  des 
Personbegriffes  gemeinsam,  so  kann  gefragt  werden,  ob  sie 
nicht  auch  ein  gemeinsames  Positives  haben.  Es  müsste  das 
etwas  sein,  was  sich  aus  den  drei  Personen  abstrahieren  lässt. 
bevor  man  die  ihnen  anhaftende  Negation  denkt.  Es  kann 
nun  aber  nicht  die  Gottheit  sein,  da  diese  nicht  in  einem 
numerisch  zu  fassenden  Verhältnis  zu  den  drei  Personen  als 
solchen  steht.  Das  heisst  der  Begriff  der  Gottheit  konstituiert 
nicht  an  sich  die  Persondreiheit.  —  Aber  die  ganze  Frage- 
stellung ist  falsch,  da  es  nicht  notwendig  ist,  dass  einer  Negation 
eine  bestimmte  positive  Grösse  entspricht.  Wenn  ich  sage : 
non-homo,  so  kann  das  auf  Pferd  und  Esel,  ja  auf  ein  ens 
oder  non-ens  sich  beziehen.  Sonach  ist  ein  allgemeiner  positiver 
Begriff  nicht  zu  finden.  Es  muss  bei  der  allgemeinen  negativen 
Bestimmung  des  Personbegriffes  sein  Bewenden  haben.  Positiv 
Hesse  sich  die  Person  vielleicht  in  dieser  Weise  durch  ein 
proprium  bestimmen  (ib.  5.  7).  Duns  führt  dies  nicht  weiter 
aus.  Liesse  sich  etwa  im  Sinn  des  Duns  an  die  Geistigkeit 
der  Person  denken,  sodass  die  besondere  Bestimmtheit  dieser 
in  den  Personen  ihre  Inkommunikabilität  bedingte? 

Der  Begriff  Person  ist  also  direkt  gebildet.  Wiewohl  ihm 
eine  positive  Grösse  zu  Grunde  liegt,  stehen  für  unser  Be- 
wusstsein  doch  die  negativen  Merkmale  der  Inkommunikabilität 
im  Vordergrund. 

8.  Wir  nehmen  jetzt  wieder  die  Frage  auf  nach  dem  Ver- 
hältnis der  drei  zu  dem  Einen.  Die  göttliche  Natur  ist  kommu- 
nikabel,  ohne  freilich  der  Teilung  zu  unterliegen.  Es  kann 
also  dieselbe  Natur  in  mehreren  Subjekten  zugleich  sehi 
(I  dist.  2  quaest.  7,  38).  Ein  analoges  A^erhältnis  wie  zwischen 
der  Essenz    und    den  Subjekten  liegt    vor    zwischen    der  Seele 

13* 


196     Kap.  II:  Der  Gottesbegriff.    Die  Lehre  v.  d.  Menschen  u.  d.  Sünde. 

und  den  einzelnen  Teilen  des  Körpers.  Die  eine  Seele  formiert 
und  vollendet  nämlich  gleichzeitig  verschiedene  Körperteile. 
Dies  erscheint  aber  als  ein  Zeichen  ihrer  Vollkommenheit ;  dass 
aber  die  Seele  Materie  formiert  nnd  diese  die  Form  nur  in 
vielen  Teilen  empfängt,  das  erscheint  uns  als  unvollkommen. 
Wenn  man  nun  diese  doppelte  Un Vollkommenheit  fortdenkt, 
also  dass  Materie  informiert  wird  und  dass  Teile  informiert 
werden,  so  bleibt  nach  eine  schlechthin  einfache  Form,  die 
nicht  eine  vorhandene  Materie  informiert,  sondern  Sein  setzt  und 
zwar  mehreren  Subjekten,  die  aber  nicht  wie  Teile  sich  zu 
einander  verhalten,  sondern  durch  sich  selbst  bestehen.  Wir 
geben  die  Worte  unseres  Autors :  remanebit  forma  habens  per- 
fectam  unitatem,  sed  non  informans  materiam,  sed  dans  totale 
esse  et  hoc  pluribus  distinctis,  quae  non  erunt  partes  unius 
totius,  sed  erunt  per  se  subsistentes ;  et  tunc  erit  una 
natura  dans  totale  esse  pluribus  distinctis:  ergo 
essentia  divina  quae  est  penitus  illimitata,  a  qua  aufertur  quid- 
quid  est  imperfectionis,  potest  dare  totale  esse  pluribus 
suppositis  distinctis  (§  40). 

Aber  hier  wird  eine  Näherbestimmung  gebracht.  Es  ist 
nämlich  schwer  zu  verstehen,  wie  imd  wodurch  die  Subjekte 
in  der  Mehrzahl  vorhanden  sind,  ohne  dass  auch  die  Essenz 
pluralisiert  wird.  Sine  assertione  et  praeiudicio  sententiao 
melioris,  meint  Duns,  dass  zwischen  dem  Begriff  des  formaliter 
inkommunikabeln  Subjekts  und  dem  Begriff  der  Essenz  als 
solcher  eine  Unterscheidung  bestehe,  die  jedem  Akt  des  In- 
tellekts vorhergehe.  Dies  wird  so  bewiesen.  Das  erste  Sub- 
jekt hat  eine  mitteilbare  Entität,  sonst  könnte  es  nicht  mit- 
teilen ;  aber  es  hat  auch  eine  unmitteilbare  Entität,  sonst 
wäre  es  nicht  wirklich  und  positiv  Subjekt.  Ehe  also  ein 
Denkakt  dieses  Subjektes  eintritt,  ist  diese  Entität  da ;  und  sie 
wäre  da,  auch  wenn  überhaupt  kein  Denkakt  vollzogen  würde. 
Nun  gibt  es  aber  keine  Entität  vor  dem  Denkakt,  die  so  be- 
schaffen wäre,  dass  sie  nicht  durch  den  Denkakt  kommunikabel 
werden  könnte,  und  es  gibt  keine  Entität,  die  an  sich  derartig 
inkommunikabel  wäre,  dass  es  ihr  widerspräche ,  kommuni- 
kabel zu  sein  ausser  vor  dem  Denkakt.  Also  ist  vor  dem 
intellektiven    Akt    bereits    ein    gewisser    Unterschied  zwischen 


Die  Essenz  und  die  Absolutheit  der  Personen.  197 

Natur  und  Subjekt  anzunehmeu.  Wollte  man  dagegen  sagen, 
dass  im  Vater  vor  dem  den  Sohn  zeugenden  intellektiven  Akt 
nur  unterschiedsloses  Sein  bestände ,  so  müsste  der  Vater 
auch  dieses  dem  Sohn  mitteilen,  er  würde  dann  mit  der  Essenz 
auch  die  Paternität  dem  Sohn  mitteilen  (41).  Man  kann  an- 
nehmen, dass  der  Vater  im  Uranfang  seine  Essenz  und  in 
dieser  seine  Personalität  denkt,  oder  dass  er  die  Essenz  und 
die  Personalität  als  unterschieden  denkt.  Ersteres  führt  dazu, 
dass  der  Vater  dem  Sohn  nicht  nur  die  Essenz,  sondern  auch 
seine  eigene  Personalität  mitteilt.  Da  das  unmöglich  ist,  muss 
die  zweite  Annahme  gelten  (42).  Also  hat  der  Vater  die 
Personalität  in  sich  als  etwas  von  der  Essenz  logisch  Ver- 
schiedenes. 

Nach  Duns  Scotus  werden  also  die  Hypostasen  genau  von 
der  Essenz  unterschieden.  Letztere  gibt  ersteren  das  Sein. 
Aber  dies  Sein  ist  so  beschaffen,  dass  in  ihm  Essenz  wie 
Personalität  als  besondere  Grössen  vorhanden  sind.  Also  ist 
die  Personahtät  etwas  Besonderes  und  Absolutes. 

9.  Dies  Resultat  erfährt  aber  in  den  der  Trinität  gewid- 
meten Quästionen  mehrfach  Näherbestimmungen.  Zunächst 
bezüglich  der  Frage,  wie  aus  der  einen  Essenz  die  Pluralität 
von  Subjekten  hervorgeht.  Wir  wenden  uns  diesem  Pro- 
blem zu. 

Einleitend  mag  die  Frage  nach  dem  Sinn  einer  Gene- 
ration in  Gott  erörtert  werden.  Man  habe  allgemein  seit 
Augustin  das  generare  und  generari  auf  die  trinitarischen 
Vorgänge  angewandt;  indem  die  göttliche  Essenz  sich  mit- 
teile, erzeuge  sie  (I  dist.  5  quaest.  1,  If.).  Trotzdem  hat  Duns 
die  Anwendung  des  generare  und  generari  auf  die  göttliche 
Essenz  für  logisch  unzulässig  erklärt,  weil  die  konkrete  Aus- 
sage der  Generation  nicht  gut  als  Prädikat  zu  der  allgemeinen 
Essenz  treten  könne  (§  5).  Dies  wurde  ein  Streitpunkt  der 
scotistischen  Theologie  der  Folgezeit.  Duns  gesteht  aber  zu. 
dass  man  sagen  dürfe:  deus  generat  (7). 

Nun  erhebt  sich  aber  die  Frage,  wie  das  zu  denken  sei, 
(»der  wie  sich  die  drei  Hypostasen  zu  der  einen  Essenz  ver- 
halten? Nach  Heinrich  und  Gottfried  soll  der  Sohn  aus  der 
g()ttlichen  Substanz   so   erzeugt  werden,    dass    diese    quasi   als 


198     Kap,  II:  Der  Gottesbegritf.    Die  Lehre  v.  d.  Menschen  u.  d.  Sünde. 

Materie  anzusehen  ist  (I  clist.  5  quacst.  2,  2  ff.).  Duns  mis- 
billigt  das.  Von  einer  solchen  Materie  oder  Quasimaterie 
hätten  die  Väter  nicht  geredet.  Der  Sohn  ist  de  substantia 
patris.  Damit  werde  sowohl  die  Konsubstantialität.  als  die 
Origination  bezeichnet,  der  Sohn  ist  so  de  substantia  patris. 
ut  sit  homousion  cum  patre  (ib  II.  12).  Es  tritt  der  Einheit 
des  Sohnes  mit  dem  Vater  zu  nahe,  wenn  man  ihn  von  jenem 
in  der  Weise  der  Schöpfung  aus  einer  Materie  gebildet  werden 
lässt. 

Nun  ist  aber  die  Einheit  der  Essenz  ebenso  einleuchtend 
als  die  Differenzierung^  die  durch  die  hypostatischen  Beziehungen 
bewirkt  wird.  Ist  die  Sache  also  nicht  doch  so  zu  denken, 
dass  die  göttliche  Essenz  das  Materiale  bildet  für  die  personalen 
Delationen?  Allein  diese  Beobachtungsweise  würde  selbst  be- 
züglich der  menschlichen  Natur  einzuschränken  sein.  Die  Quiddi- 
tät  des  Menschen  oder  sein  Menschsein,  nicht  anders  als  die 
natürliche  Individualität  des  Einzelnen  darf  nicht  einfach  als 
„Materie"  im  logischen  Sinn  angesehen  werden,  sondern  dieser 
wie  jener  eignet  eine  gewisse  unvollkommene  Aktualität,  sie  ist 
gewissermassen  Form,  nämlich  sofern  sie  irgendwie  die  Natur 
aktiv  zu  diesem  oder  jenem  Sondersein  bestimmt.  Nun  ist 
Gott  von  jeder  UnvoUkommenheit  frei.  Ist  jetzt  —  das  will 
Duns  sagen  —  bereits  das  menschliche  Wesen  nicht  einfach 
unvollkommene  passive  Materie,  sondern  irgendwie  formartig. 
so  wird  es  völlig  verkehrt  sein,  die  vollkommene  göttliche 
Essenz  als  Materie  zu  fassen.  Es  darf  vielmehr  in  Gott  nichts 
Unvollkommenes,  keine  Potenzialität  (s.  oben)  oder  Materialität 
gedacht  werden,  also  ist  die  göttliche  Essenz  selbst  formaliter 
actus  infinitus.  Dann  aber  kann  davon  nicht  die  Bede  sein, 
dass  die  personalen  Relationen  die  Essenz  aktuieren  oder  dass 
diese  als  Materie,  jene  als  Form  zu  denken  seien  (I  dist.  5 
quaest.  2,  14). 

Es  ist  ein  Satz  von  grosser  Bedeutung,  der  uns  hier  ent- 
gegentritt. Die  überlieferte  Lehre  sah  in  der  That  nicht  selten 
darnach  aus,  als  wenn  die  drei  Hypostasen  die  Formprinzipien 
für  die  göttliche  Materie  oder  Substanz  seien.  Dem  gegenüber 
will  Duns  mit  voller  Bestimmtheit  die  eine  göttliche  Essenz 
selbst  als  schlechthinige  Aktivität,   d.  h.   als  persönliches  Seia 


.  Die  Einheit  der  Essenz  und  die  personalen  Differenzen.  199 

fassen.^)  .Das  folgt  wie  aus  der  VorstelluDg  von  Gott  als 
actus  purus,  so  aus  der  lebhaften  Empfindung  von  Gott  als 
persönlichem  Leben.  Gottes  Natur  ist  aktives  Personleben, 
nicht  irgendwie  eine  ruhende  Naturpotenz. 

Aber  —  so  fragt  Duns  weiter  —  wie  können  nun  die 
beiden  Faktoren  der  göttlichen  Essenz  und  der  personalen 
Relationen  eine  Einheit  bilden,  ohne  in  dem  Verhältnis  von 
Form  und  Materie  zu  einander  zu  stehen  ?  An  das  Verhältnis 
der  Komposition  kann  hier  nicht  gedacht  werden,  weil  keine 
göttliche  Hypostase  Teil  der  Gottheit  ist,  ist  diese  doch  schlecht- 
weg unteilbar.  Die  beiden  Begriffe,  deren  Verhältnis  hier  zur 
Erörterung  steht,  sind  allerdings  formaliter  von  einander  ver- 
schieden. Die  Relation  zwischen  Vater  und  Sohn  ist  logisch 
different  von  dem  Begriff  der  absoluten  Essenz.  Indem  aber 
letzterer  Begriff  als  unendlich  zu  denken  ist,  kann  nichts  mit 
ihm  und  an  ihm  Seiendes  anders  denn  als  schlechthin  voll- 
kommen gedacht  werden.  Wenn  also  mit  der  absoluten  Essenz 
zugleich  die  Relation  von  Vater  und  Sohn  gedacht  werden 
soll,  so  ist  letztere  notwendig  als  ebenso  vollkommen  oder  un- 
endlich zu  denken  wie  erstere.  Daraus  folgt  aber,  dass  jedes 
Verhältnis  der  Komposition  oder  von  Akt  und  Potenz  zwischen 
beiden  Grössen  undenkbar  ist,  denn  es  besteht  Identität  der 
Vollkommenheit  zwischen  ihnen. 

Andererseits  aber  schliesst  die  gemeinsame  Infinität  beider 
Begriffe  formelle  Unterschiede  zwischen  ihnen  nicht  aus.  Also 
das  Resultat  ist  dies,  dass  die  göttliche  Essenz  wie  die  Person- 
verhältnisse gleichermassen  unendlich  und  vollkommen  sind, 
dass  aber  diese  Identität  bezüglich  ihrer  Infinität  die  logische 
Unterscheidung  der  Personen  nicht  aufhebe :  unum  simpli- 
cissimum  ex  istis,  quia  una  ratio  est  perfecte,  imo  perfectissime 
eadem  alteri  et  tamen  non  est  formaliter  eadem  (ib.  §  15). 

10.  Die  Relationen  sollen  demnach  zwar  eine  reale  Unter- 
scheidung der  Personen  bedeuten,  nicht  aber  die  Einheit  der 
Essenz  einschränken.  Ist  es  aber  möglich,  dass  sie  letzteres 
nicht  wirken,  wenn  sie  ersteres  thun?  Duns  versucht  diese 
Möglichkeit  nachzuweisen.     Die  Relationen  sind  anzusehen  als 


^)  Vgl.  Essentia  est  actus  quidditativus  (1.  c.  §  16). 


200     Kap.  II :  Der  Gottes  begriff.     Die  Lehre  v.  d.  Menschen  u.  d.  Sünde. 

personale  Akte,  nicht  aber  als  quidditative  Akte,  d.  h.  solche, 
in  denen  die  Essenz  lebt.  Letztere  Akte  können  nur  als  un- 
endlich gedacht  werden,  sofern  die  Unendlichkeit  dem  Begriff 
der  göttlichen  Essenz  einfach  iuhäriert.  Dagegen  ist  ein  Person- 
akt an  sich  keineswegs  unendlich :  non  sie  autem  est  actus  per- 
sonalis  de  se  formaliter  infinitus.  Dies  würde  freilich  zu 
nichts  führen,  wenn  bei  Gott  ebenso  wie  bei  der  Kreatur  die 
Individualität  zur  Determinierung  der  Essenz  diente.  Dies  ist 
aber  nicht  der  Fall;  also  bestimmen  die  personalen  Proprie- 
täten in  keiner  Weise  die  göttliche  Essenz  (§  16).  Man  sieht 
an  dieser  Betrachtung,  wie  lebhaft  Duns  bedacht  ist  auf 
Wahrung  des  Gedankens  der  göttlichen  Einheit  als  Person. 
Ewig  und  unendlich  ist  das  göttliche  Wesen  in  seiner  Aktua- 
lität. Dies  einheitliche  Wesen  wird  nicht  determiniert  oder 
distinguiert  durch  die  personalen  Differenzen.  Ja  Duns  geht 
hier  fort  bis  zum  Satz,  dass  die  persönlichen  Akte  an  sich 
nicht  unendlich  sind.  Nun  sahen  wir  aber  soeben,  dass  sie 
doch  auch  unendlich  sind.  Die  Lösung  wird  sich  daraus  er- 
geben, dass  diese  Akte,  sofern  sie  an  der  Gottheit  gedacht 
werden,  Teil  haben  an  der  Infinität,  nicht  aber  an  sich.  Aber 
bedeutet  dies  nicht  schliesslich,  dass  die  trinitarische  Anschauung 
an  sich  eine  menschlich  endliche  ist,  dass  wir  bloss  endliche 
Ausdrücke  von  der  Gottheit  brauchen,  wenn  wir  die  Relationen 
der  Trinität  auf  sie  anwenden? 

Diese  Folgerung  liegt  nahe,  dass  sie  aber  nicht  im  Sinn 
des  Duns  wäre,  zeigt  die  weitere  Erörterung  über  das  Funda- 
ment der  triuitarischen  Relationen.  Der  Weg.  dass  man  die 
Essenz  wie  Materie  den  formgebenden  Relationen  gegenüber- 
stellt, ist  ja  abgeschnitten  (s.  oben).  Diese  Betrachtung  über- 
trägt nämlich  auf  Gott  den  Entwicklungsgedanken,  nach  dem 
dies  Unvollkommenere  wie  die  Materie  dem  Vollkommeneren  wie 
der  Form  vorangeht.  Da  aber  der  göttlichen  Essenz  ein  esse 
per  se  et  de  se  zukommt,  ist  nicht  Entwicklung  in  Gott. 
Werden  also  die  drei  Personen  von  Gott  ausgesagt,  so  können 
sie  nicht  als  etwas  zur  göttlichen  Substanz  Hinzukommendes 
gedacht  werden,  sondern  auch  ihnen  eignet  das  ewige  esse  per 
se.  Dann  aber  werden  sie  ihr  Fundament  an  der  göttlichen 
•Essenz   haben.      Das    soll    aber    nicht    heissen,    dass    letztere 


Die  göttliche  Essenz  als  Realgrund  der  Hypostasen.  201 

potenziell  sei,  sondern  sie  ist  Fundament  quasi  per  modum 
formae,  in  qua  istae  formae  natae  sunt  subsistere.  Es  ist  ein 
Verhältnis  wie  Sokrates  in  der  humanitas,  ein  subsistens  in  der 
natura  ist  (§  16).  Man  vergesse  hierbei  nicht  den  Realismus 
des  Duns  Scotus.  Die  Menschheit  ist  ein  real  Seiendes,  das 
sich  in  gleicher  Weise  in  Plato  wie  in  Sokrates  offenbart. 
Man  kann  also  sagen:  die  ewig  aktive  göttliche  Natur  ist  so 
beschaffen,  dass  die  trinitarischen  persönlichen  Relationen  in 
ihr  möglich  sind.  Denkt  man  dies  als  einen  logischen  Prozess. 
so  teilt  nicht  etwa  die  Gottheit  sich  als  Materie  den  form- 
gebenden Relationen  mit,  sondern  die  Relationen  werden  gött- 
lich, sofern  sie  in  der  Gottheit  sind.  Ita  intelligitur  deitas  non 
communicari  quasi  materia,  sed  relationibus  subsistentibus,  si 
personae  ponantur  relative,  communicatur  deitas  per  modum 
formae  non  informantis,  sed  qua  relatio  vel  relativum  subsistens 
est  deus  (ib.  17).  Doch  soll  nun  nicht  die  Essenz  zur  wirk- 
lichen Form  der  hypostatischen  Relationen  werden,  sondern  sie 
steht  eher  in  einem  form-,  als  in  einem  materien artigen  Ver- 
hältnis zu  derselben.  Konkret  —  in  der  Person  —  betrachtet 
sind  aber  Essenz  und  hypostatische  Relation  in  Gott  durchaus 
identisch.  Diese  Relationen  sind  in  der  göttlichen  Essenz  und 
diese  in  ihnen.  Dico  igitur  breviter,  quod  relatio  et  essentia 
ita  sunt  in  persona,  quod  neutra  est  forma  informans  alteram, 
sed  sunt  perfecte  idem,  licet  non  formaliter  (17). 

Wir  haben  also  gesehen,  das  Duns  Einheit  und  Dreiheit 
neben  einander  aufrecht  erhält.  Die  Relationen,  die  die  per- 
sönlichen Unterschiede  in  Gott  bezeichnen,  sind  also  in  und 
mit  dem  göttlichen  Wesen  gesetzt.  In  dem  persönlichen  Leben 
der  göttlichen  Essenz  ist  der  Realgrund  der  trinitarischen  Hypo- 
stasen zu  erblicken.  Das  ist  der  wichtigste  Fortschritt,  den 
dieser  Abschnitt  erbringt.  . 

11.  Hieran  werden  wir  füglich  die  weitere  Frage  nach 
der  Seinsart  der  trinitarischen  Hypostasen  schliessen  können. 
Die  übliche  scholastische  Lehre  (s.  bes.  Thomas)  fasst  die 
trinitarischen  Hypostasen  als  innergöttliche  Relationen.  Dem 
ist  auch  Duns  bisher  gefolgt.  Die  Beziehungen,  die  in  Gott 
als  selbstdenkendem  und  selbstgedachtem,  als  selbstwollendem 
und    selbstgewolltem    bestehen ,    machen    die   Hypostasen    aus. 


202     Kap.  II:  Der  Gottesbegriff,     Die  Lehre  v.  d.  Menschen  u.  d.  Sünde. 

Diese  Ansicht  kann  durch  Autoritäten  ebenso  wie  durch  Gründe 
bewiesen  werden.  Wären  nämlich  die  Personen  nicht  Rela- 
tionen, so  müssten  sie  etwas  Absolutes ,  d.  h.  etwas  an  sich 
Seiendes  sein.  Da  sie  in  der  absoluten  göttlichen  Essenz  sind, 
so  würde  zu  einem  Absoluten  Absolutes  gefügt;  dann  müsste 
aber  Gott  zusammengesetzt  sein.  Dies  ist  unmöglich  (I  dist.  26 
quaest.  un.  §  5).  Ebenso  kann  gesagt  werden,  dass  die  Hypo- 
stasen als  etwas  für  sich  Seiendes  oder  Absolutes  die  gött- 
liche Natur  nur  als  etwas  von  einander  Geschiedenes  oder 
Besonderes  in  sich  fassen  könnten.  Es  würde  also  die  Natur 
um  ihre  Einheit  gebracht  und  numerisch  geteilt  (ib.).  Weiter 
wären  aber  die  Relationen,  wenn  sie  nicht  die  Personen  kon- 
stituieren, blosse  Accidenzien  derselben;  dadurch  würde  die 
Simplicität  der  Personen  gefährdet.  Sodann  aber  würden  die 
Personen,  wenn  sie  als  absolut  oder  für  sich  seiend  gedacht 
würden,  die  Relation,  in  der  sie  nach  der  Kirchenlehre  zu 
einander  stehen,  nicht  zulassen  oder  jedenfalls  nicht  fordern. 
Denkt  man  also  Vater  und  Sohn  als  für  sich  seiend,  so  denkt 
man  nicht  die  wechselseitige  Abhängigkeit  beider  von  einander 
mit  (ib.  6).  Man  wird  also  kurz  sagen  können,  die  absolute 
Fassung  der  Hypostasen  zerstört  (nach  Meinung  des  Thomas) 
die  Einheit  des  göttlichen  Wesens,  sie  führt  zum  Tritheismus. 
Demnach  wäre  also  die  Setzung  und  Unterscheidung  der  Hypo- 
stasen zurückzuführen  auf  die  mit  der  innergöttlichen  Pro- 
duktivität gegebenen  Relationen  von  Setzung  und  Gesetztem. 
Dies  ist  aber  auf  die  relationes  originis  zu  beschränken,  d.  h. 
auf  die  Fruchtbarkeit  der  göttlichen  Natur  als  intellectus  in- 
finitus  und  voluntas  infinita  (8.  9). 

Duns  Scotus  hat  dieser  üblichen  Anschauung  eine  andere 
gegenübergestellt.  Der  Begriff  der  Relation  bezeichnet  näm- 
lich nur  das  Mittel  zur  Beziehung  einer  Grösse  auf  die  andere, 
nicht  aber  diese  Beziehung  selbst.  Das  bezogene  Ding  wird 
also  freilich  als  etwas  für  sich  Seiendes  angesehen  werden 
müssen.  Also  müssen  auch  in .  Gott  zuerst  die  für  sich  seienden 
Subjekte  und  dann  erst  die  Relationen  derselben  gedacht 
werden.  Die  Relation  von  Leib  und  Seele  macht  den  Menschen 
aus,  aber  diese  Relation  setzt  das  Sein  von  Leib  und  Seele 
voraus  (10).     Somit   wird  auch  in  Gott  das  absolute  Sein  von 


Der  Personbegriff  und  die  Relationen.  203 

Person  und  Person  die  Voraussetzung  der  Relation  von  Person 
zu  Person  sein  (12).  —  Der  zweite  Weg  der  Bekämpfung  geht 
aus  vom  Begriff  der  Origination.  Das  principium  originans  ist 
notwendig  vor  dem  originatum  wie  vor  der  origo  selbst  da. 
Denkt  man  dagegen  Vater  und  Sohn  bloss  durch  Pelation  ver- 
bunden, so  ist  zwar  eine  Korrelation  zwischen  beiden  gesetzt^ 
nicht  aber  eine  Origination.  Das  originatum  setzt  also  das 
absolute  Sein  eines  originans  voraus.  Es  wäre  zudem  unmög- 
lich, die  differente  Produktion  von  Sohn  und  Geist  aufrecht 
zu  erhalten ,  wenn  beide  ebenmässig  nur  im  Verhältnis  der 
Korrelation  zum  Vater  ständen  (13). 

Drittens  stellt  Duns  den  Satz  auf:  alles  was  in  einem 
Ersten  das  Sein  formaliter  und  als  Einheit  konstituiert,  wider- 
strebt durch  sich  selbst  jeder  Unterscheidung,  die  der  Einheit 
dieses  Seins  entgegengesetzt  ist.  Wenn  also  das  Pationale  das 
Sein  und  die  Einheit  des  Menschen  konstituiert,  so  widerstrebt 
dies  einer  Teilung  in  ihrer  Art  nach  unterschiedene  Naturen. 
Hieraus  wird  also  folgen,  dass  der  Paternität  die  Kommuni- 
kabilität  widerspricht.  Dieser  Satz  wird  aber  als  falsch  er- 
wiesen. Erstens:  diejenigen,  welche  diese  Auffassung  vertreten, 
seien  doch  selbst  der  Meinung,  dass  keine  Quiddität,  also  auch 
nicht  die  Paternität,  inkomunikabel  sei.  —  Zweitens  sei  die 
Paternität  in  Gott  garnicht  isoliert  als  au  sich  seiend  gedacht, 
sondern,  indem  sie  als  unendlich  gedacht  wird,  wird  sie  in  den 
Zusammenhang  des  unendlichen  Gottes  gestellt.  Ist  nun  die 
Paternität  nicht  an  sich,  so  ist  sie  auch  nicht  inkommunikabel.  — 
Drittens :  jede  relatio  divina  originis  muss  der  anderen  gleich 
sein,  ermangelt  die  eine  der  Kommunikabilität,  so  auch  die 
andere.  Nun  ist  aber  die  spiratio  activa  oder  die  Hervor- 
bringung des  Geistes  jedenfalls  kommunikabel,  da  Vater  und 
Sohn  sie  gemeinsam  haben.  Sonach  ist  die  Voraussetzung 
falsch.  —  Viertens :  auf  einander  bezogene  Gegensätze  müssen 
dieselbe  Stellung  zur  Kommunikabilität  einnehmen,  wäre  also 
die  spiratio  activa  nicht  kommunikabel,  so  wäre  es  auch  nicht 
die  spiratio  passiva.  Das  ist  nun  falsch,  wenn  man  der  Relation 
das  Constituere  beilegt.  —  Fünftens:  der  Generationsweg  in 
der  Trinität  fordert  die  Kommunikabilität  (§  15).  —  Gegen 
das  Resultat  dieser  Erörterung,  d.  h.  dass  die  Paternität  ihrem 


204     Kap.  II :  Der  Gottesbegriff.    Die  Lehre  v.  d.  3ren8chen  u.  d.  Sünde. 

Begriff  nach  als  kommunikabel  zu  denken  ist,  werden  zwei 
Gegengründe  aufgeführt,  aber  von  Duns  widerlegt  (§  16  ff). 
Demnach  kann  als  Resultat  dieses  dritten  Argumentes  der 
Satz  ausgesprochen  werden^  dass  das  absolute  Sein  der  trini- 
tarischen  Hypostasen  ihre  Kommunikabilität  nicht  behindert. 
Dies  wurde  aber  so  erwiesen,  dass  die  entgegengesetzte  Fol- 
gerung der  In  kommunikabilität  als  unrichtig  aufgezeigt  wurde. 

Viertens  endlich  wird  die  Richtigkeit  der  in  Frage  stehenden 
These  durch  verschiedene  Autoritäten  bewährt,  besonders 
Augustiii,  der  z.  B.  sagt:  omne  relativum  est  aliquid  excepta 
relatione.  Also  scheint  erwiesen  zu  sein ,  dass  die  in  der 
Trinität  durch  Relation  verbundenen  Pej'sonen,  den  Grund  ihres 
Seins  nicht  an  der  Relation,  sondern  an  ihrem  eigenen  absoluten 
oder  selbständigen  Sein  haben. 

Diese  Erörterung  scheint  nun  ihren  Abschluss  zu  erhalten 
in  der  Erörterung  des  Duns  Scotus  über  die  Lehre  des  Bona- 
ventura und  des  Johannes  de  Ripis.  Nach  diesen  wären  die 
trinitarischen  Personen  nicht  nur  Relationen,  sondern  absolut, 
d.  h.  ihnen  kommt  ein  selbständiges  an  sich  seiendes  Bestehen 
zu.  Die  Personen  würden  also  als  Substanzen  gedacht.  Nun 
kann  aber,  nach  Richard  von  St.  Viktor,  der  Begriff  Substanz 
doppelt  gebraucht  werden,  zur  Bezeichnung  entweder  eines 
quid  oder  eines  aliquid.  Im  ersteren  Fall  wird  die  allgemeine 
natürliche  Beschaffenheit,  im  anderen  Fall  das  besondere  Sein 
gemeint.  So  kann  der  Substanzbegriff  von  Menschen  gebraucht 
werden  im  Hinblick  auf  die  gemeinsame  Natur  des  Menschen- 
geschlechtes wie  auf  sein  besonderes  Wesen.  Im  ersteren  Sinn 
ist  der  Substanzbegriff*  zu  verwenden,  wenn  wir  von  Gottes 
Essenz  reden,  in  letzterem  Sinn,  wenn  wir  an  die  Personen 
denken.  Nun  ist  es  klar,  dass  die  Substanz  in  ersterem  Sinn 
schlechtweg  absolut  ist  und  ihr  Sein  an  sich  in  keiner  positiven 
Relation  zu  anderem  steht.  Dagegen  ist  das  hypostatische 
Sein  auf  Relation  angelegt.  Hiernach  empfingen  also  die  Per- 
sonen ihre  Eigenart  aus  bestimmten  inkommunikabeln  und 
selbständigen  Realitäten,  die  aber  auf  Relation  angelegt  sind. 
Duns  selbst  schreibt:  Secundum  hoc  igitur  poneretur,  quod 
personae  divinae  distiuguerentur  per  aliquas  realitates  incommuni- 
cabiles  absolutas,   non  tarnen  illa  constituentia  et  distinguentia 


Verhältnis  zu  Bonaventura.  205 

essent  absoluta  primo  modo  secl  secundo  modo,  quia  etsi  non 
esseiit  formaliter  relationes,  constituta  tarnen  per  ipsas  essent 
referibilia  (1.  c.  §  23).  ^) 

Diese  Anschauung  lässt  sich  mit  der  üblichen,  dass  die 
Personen  durch  die  Relationen  geschieden  werden ,  dadurch 
ausgleichen,  dass  man  (mit  Bonaventura)  die  bezüglichen 
Proprietäten  die  Personen  unterscheiden  lässt,  nicht  sofern  sie 
Beziehungen,  sondern  sofern  sie  Ursprünge  ausdrücken.  Dies 
kann  nun  so  verstanden  werden,  ^)  dass  die  Ursprünge  die  Per- 
sonen nicht  formaliter  unterscheiden,  sondern  in  der  Weise 
eines  Prinzips  oder  einer  wirksamen  Ursache.  Wenn  also  die 
vielen  Menschen  ihre  Natur  durch  die  Zeugung  von  dem  ersten 
Menschen  erhalten,  so  würden  die  verschiedenen  Zeugungen 
nicht  einen  formalen  Unterschied  zwischen  den  einzelnen 
Menschen  konstituieren,  wohl  aber  hätten  alle  die  Ursache 
ihrer  Art  an  ihrem  Ursprung.  Übertragen  wir  das  auf  das 
trinitarische  Leben  Gottes.  Die  göttlichen  Personen  haben  an 
der  göttlichen  Natur  nur  durch  ihren  Ursprung  Teil.  Dieser 
Ursprung  unterscheidet  andererseits  die  Personen,  indem  jede 
ihn  für  sich  hat,  sodass  sie  das  Prinzip  ihres  Seins  an  der  gött- 
lichen Natur  hat.  Demnach  ist  die  Sache  also  etwa  so  vor- 
zustellen. Die  drei  Hypostasen  sind  absolutes  oder  substanzielles 
Sein.  Dies  Sein  geht  gemeinsam  auf  die  göttliche  Natur  zu- 
rück. Somit  sind  sie  sowohl  einander  gleich,  sofern  sie  ihren 
Ursprung  in  Gott  haben,  als  auch  ungleich,  sofern  jede  von 
ihnen  einen  besonderen  Ursprung  in  Gott  hat.  Die  Selb- 
ständigkeit ihres  Seins  ist  damit  ebenso  gewahrt,  als  die  Selb- 
ständigkeit der  Existenz  der  einzelnen  Menschen  trotz  ihres 
gemeinsamen  Ursprunges.  Indem  nun  aber  der  Kausalitäts- 
zusammenhang zwischen  Person  und  Natur  gedacht  wird,   sind 


')  Letztere  Worte  erklärt  B  a  u  r  (Lehre  von  der  Dreieinigkeit  II, 
712  Anm.)  nicht  verstanden  zu  haben.  Der  Sinn  ist  aber  doch  einfach 
der:  die  trinitarischen  Personen  werden  konstituiert  durch  bestimmte  ab- 
solute Merkmale.  So  wenig  letztere  ihrem  Wesen  nach  (formaliter)  Re- 
lationen sind,  so  wird  doch  das  durch  sie  bestimmte  Wesen  der  Relation 
fähig  sein  (referibilia),  indem  sie  ja  nicht  die  Art  der  Substanz  erster, 
sondern  zweiter  Ordnung  haben. 

^)  Duns  setzt  hinzu:  licet  forte  ipse  non  sie  intelligat. 


206     Kap.  II:  Der  Gottesbegrifl".    Die  Lehre  v.  d.  Menschen  u.  d.  Sünde. 

die  Relationen  auch  gewahrt.  Ja  man  kann  sagen:  Non  enim 
minus  salvantur  relationes,  sed  magis,  ut  videtur,  si  ponantur 
aliqua  absoluta  quae  possent  referri,  quam  si  non  ponantur 
aliqua  talia  absoluta  (24). 

Somit  scheint  das  Problem  gelöst  zu  sein.  Man  hat  die 
Hypostasen  als  absolut  zu  denken  und  sie  andererseits  —  wie 
die  Orthodoxie  fordert  —  zu  einander  in  Relation  zu  setzen. 

12.  Duns  zeigt,  dass  man  gegen  dieses  Resultat  Bedenken 
haben  kann.  Die  Namen,  welche  die  Schrift  und  die  kirch- 
lichen Symbole  zur  Bezeichnung  der  Hypostasen  brauchen, 
drücken  nämlich  Relationen  aus,  z.  B.  Vater  und  Sohn.  Allein 
hieraus  lässt  sich  kein  entscheidender  Grund  gewinnen.  Denn 
da  wir  auch  Vater,  Sohn  und  Geist  in  Relation  zu  einander 
stellen,  kommen  wir  mit  der  Autorität  überein,  haben  aber 
keinen  Aulass  etwas  zu  unterdrücken,  was  die  Autorität  zwar 
nicht  für  sich,  aber  auch  nicht  gegen  sich  hat  (26).  Aber  man 
kann  auch  die  positive  Übereinstimmung  mit  der  Schrift  auf- 
zeigen (27).  Dass  aber  Christus  bei  der  Einsetzung  der  Taufe 
die  massgebend  gewordene  relative  Nomination  anwandte,  er- 
klärt sich  aus  seinem  Absehen  auf  Gemeinverständlichkeit  (28). 
Noch  andere  Einwände  gegen  jene  Theorie  werden  abgelehnt 
und  aufgelöst  (28  ff.  31  f.).  Weiter  werden  die  für  die  übliche 
Theorie  aufgeführten  Gründe  entkräftet  (33  ff.). 

Dies  alles  würde  für  die  Anerkennung  der  Lehre  des 
Bonaventura  durch  Duns  sprechen.  Nun  hat  er  aber  §  41ff\ 
Kritik  geübt  an  der  Kritik  gegen  die  übliche  Theorie,  die  er 
selbst  §  10  ff.  gegeben  hat  (oben  S.  202  f.).  Zwar  sei  es  richtig, 
dass  jede  Relation  ein  zu  Beziehendes  voraussetzt,  aber  dies 
ist  das  zu  Grunde  liegende  Subjekt,  das  nicht  eine  relatio, 
aber  doch  relativ  und  nicht  absolut  ist  (41  f.).  Hinsichtlich 
der  Origination  (S.  203)  sagt  Duns,  quod  patrem  originäre  filium 
est  patrem  habere  filium  pro  correlativo,  non  quocunque  sed 
tali  correlativo.  Das  heisst  die  Relation  zwischen  Vater  und 
Sohn  ist  die  Relation  der  Origination;  sonach  könnte  man  es 
bei  der  Formel  Relation  sein  Bewenden  haben  lassen  (44). 
Sodann  wird  der  Satz,  dass  die  Paternität  die  Inkommuni- 
kabilität  in  sich  fasse  (S.  203  f.),  bewiesen,  und  zwar  die  Paterni- 
tät als  solche  nicht  nur  in  Gott,  sondern  auch  bei  der  Kreatur. 


Schwanken  zwischen  Bonaventura  und  Thomas.  207 

Jene  Realität,  die  die  Paternität  ausmacht  und  die  nicht  mit 
der  Essenz  selbst  identisch,  aber  in  ihr  ist,  ist  nicht  kommuni- 
kabel.  Denn  sie  ist  wie  die  Essenz  selbst  actus  ultimus,  d.  h. 
vollkommenes  Sein,  also  unfähig  der  Potenzialität  oder  Deter- 
minabilität,  deren  es  zur  Kommunikabilität  bedürfte  (45). 
Ebenso  ist  der  Satz  falsch,  dass  auf  einander  bezogene  Gegen- 
sätze in  gleicher  Weise  komunikabel  oder  inkommunikabel 
sind,  denn  wenn  die  aktive  Spiration,  indem  zweien  eigen, 
mitteilbar  sein  muss,  kann  sie  diese  Beschaffenheit  nicht  ver- 
lieren dadurch,  dass  die  passive  Spiration  inkommunikabel 
ist  (46). 

Es  würde  zu  weit  führen,  und  trüge  auch  nichts  aus,  vv^enn 
wir  auf  all  die  übrigen  Gegengründe  des  Duns  eingehen  wollten. 
Es  ist  genug  an  dem  Resultat,  dass  Duns  ebenso  die  Auffassung 
des  Thomas  als  die  des  Bonaventura  mit  Gründen  empfiehlt 
und  durch  Gründe  widerlegt.  Es  liegt  ein  logisches  Exerzitium 
vor,  das  zu  keiner  Lösung  führt.  Es  ist  daher  begreiflich, 
dass  seine  Schüler  und  seine  Gegner  ihm  diese  oder  jene  Auf- 
fassung zugeschrieben  haben.  Wir  können  nur  sageu,  dass  er 
sowohl  für  möglich  hält,  dass  man  die  trinitarischen  Personen 
als  Relationen  in  der  göttlichen  Essenz  fasst,  als  auch  dass 
man  sie  für  etwas  Absolutes  hält,  das  aber  Relationen  setzt 
und  bedingt.  Sehe  ich  richtig,  so  hat  Duns  doch  für  letztere 
Möglichkeit  mehr  Sympathie  empfunden.^)  Hier  ist  au  die  frühere 
Betrachtung  zu  erinnern,  nach  der  die  Personalität  im  Vater 
als  etwas  Besonderes  besteht  vor  der  durch  die  denkende  Er- 
zeugung des  Sohnes  bewirkten  Relation  zu  diesem  (s.  S.  196  f.). 
In  anderem  Zusammenhang  bemerkt  Duns  ausdrücklich,  dass 
die  göttlichen  Personen  positive  Entitäten  in  Gott  seien 
(III  dist.  1  quaest.  1,  10). 

13.  Ist  das  richtig,  dann  hat  Duns  Scotus  das  trinitarische 
Problem  weitergeführt,  indem  er  es  verschärfte.  In  der  gött- 
lichen Essenz  gibt  es  eine  dreifache  Relation,  diese  bildet  die 
trinitarischen  Hypostasen.  Das  ist  die  seit  Augustin  übliche 
Theorie.     ISHm  betont  Duns  1.  die  Personalität   der  göttlichen 


^)  Anders  urteilt  Werner,  Duns  Scotus  S.  358.     Baur,  Dreieinig- 


keit II,  712  verzichtet  auf  eine  Lösung. 


208     Kap.  LI :  Der  Gottesbegriff.    Die  Lehre  v.  d.  Menschen  u.  d.  Sünde. 

Essenz,  sie  ist  schlechthin  persönlicher  Akt;  2.  er  bezeichnet 
die  Hypostasen  als  etwas  was  an  sich  als  Absolutes  in  dieser 
Essenz  ist  und  die  hypostatischen  Relationen  hervorbringt. 
Daraus  würde  sich  eine  neue  Problemstellung  ergeben,  nämlich 
wie  es  möglich  ist,  dass  persönliche  Aktivität  dreifaltige  Aktivi- 
tät oder  eine  Person  drei  Personen  ist.  Hierdurch  aber  ist 
das  Problem  schärfer  formuliert.  Auf  dem  Boden  des  Person- 
lebens entscheiden  sich  die  Probleme  der  Trinität  wie  der 
Christologie,  nicht  im  Rahmen  des  „Natur-"  und  „Substanz"- 
Begriffes.  Die  Annahme  der  dreifachen  Relation  in  der  einen 
Substanz  vermochte  die  Personalität  aller  drei  Relata  niemals 
klar  zu  machen.  Das  praktische  Denken  ging  daher  den  um- 
gekehrten Weg  —  wir  treffen  zuerst  die  Kappadozier  auf  dieser 
Bahn,  —  man  fing  an  bei  drei  Personen  und  dachte  sie  zu- 
sammen in  der  unpersönlichen  Einheit  der  Substanz.  Das  führte 
zum  Tritheismus.  Duns  empfindet  das  Wahrheitsmoment  in 
dieser  Betrachtung.  Es  sind  die  drei  Personen  wirklich  an 
sich  seiende  absolute  Subjekte,  aber  er  fasst  die  Essenz,  in 
der  sie  sind,  ebenfalls  deutlich  als  persönliches  Leben.  Nun 
ist  freilich  zu  sagen,  dass  er  weder  das  so  bezeichnete  Problem 
klar  ausgedrückt,  noch  dass  er  die  Mittel,'  die  ihm  zu  seiner 
Lösung  zu  Gebot  standen  —  die  Personalität  der  göttlichen 
Essenz  und  die  Zv^^eckbeziehung  Gottes  auf  das  Sein  und 
Gotteswerden  der  Welt  —  in  der  Richtung  der  bezeichneten 
Fragestellung  verwandt  hat.  —  Aber  es  lohnte  sich  doch  viel- 
leicht darauf  aufmerksam  zu  machen,  dass  auch  diese  Abschnitte, 
die  von  allen  Dornen  scholastischer  Dialektik  umrankt  sind, 
Gedanken  und  Ahnungen  offenbaren,  die  des  Nachdenkens 
wäirdig  sind. 

Wir  haben  gesehen,  dass  die  Essenz  die  Personen  hervor- 
bringt. Diese  Personen  sind  an  sich  etwas  Absolutes,  aber 
sie  sind  dazu  bestimmt  mit  einander  in  Relation  zu  treten. 
Die  göttliche  Essenz  ist  also  so  beschaffen,  dass  die  Hypostasen 
als  etwas  Absolutes  in  ihr  sind.  Aber  nicht  anders  verwirk- 
lichen sich  diese  Hypostasen  als  dadurch  dass  sie  von  der  gött- 
lichen Essenz  als  zur  Korrelation  bestimmt,  als  Relationen  aus 
sich  herausgesetzt  werden. 

14.  Die  überkommene  Lehre  stellt  nun  eine  weitere  Formel 


Die  gegenseitige  Inexistenz  der  Hypostasen.  209 

für  die  BeziehuDg  der  Hypostasen  unter  einander  her.  Wie 
sie  aus  derselben  Essenz  hervorgehen ,  so  stehen  sie  im  Ver- 
hältnis der  Perichoresis  zu  einander,  die  Hypostasen  sind  in 
einander.  Was  ist  hierunter  zu  verstehen?  Es  ist  klar, 
dass  der  Gedanke,  dass  die  eine  Hypostase  in  der  anderen 
ist,  nicht  in  der  Weise  gemeint  sein  kann,  wie  die  Form  in 
der  Materie  oder  die  Natur  im  Subjekt  ist.  Es  soll  ein  sub- 
sistens  in  dem  anderen  subsistens  sein.  Nun  ist  aber  das 
Merkmal  der  Person  oder  des  Subjektes  ein  incommunicabiliter 
in  se  esse.  Man  muss  also  sagen,  es  ist  eine  inexistentia  qua 
totus  filius  inexistit  praesentialiter  et  intime  in  toto  patre  (I  dist. 
19  quaest.  2,  7).  Das  ,,in''  bezeichnet  also  nicht  ein  Darinent- 
haltensein  (continentia),  sondern  praesentiam  subsistentis  in  sub- 
sistente  (8).  Dadurch  wird  die  Inexistenz  zu  einer  gegenseitigen, 
wenn  ein  Subjekt  in  dem  anderen  enthalten  sein  soll,  so  ist 
auch  dieses  in  jenem  vorhanden.  Es  mangelt  uns  an  den  ge- 
hörigen Analogien  für  diesen  Zustand,  doch  kann  versuchsweise 
das  eine  und  andere  angeführt  werden.  Man  könnte  etwa 
denken  an  eine  Seele,  wie  sie  im  Körper  im  Augenblick  des 
Todes  ist,  einem  Moment  also,  wo  sie  in  ihm  ist,  ihm  aber 
nicht  mehr  als  Form  gegenwärtig  ist,  oder  auch  an  einen  Engel, 
der  in  einem  Körper  ist,  ohne  ihn  aber  zu  informieren.  In- 
dessen fehlt  bei  diesen  Beispielen  die  Anschaulichkeit  der 
Gegenseitigkeit  des  Ineinanderseins.  Besser  noch  denke  man 
an  verklärte  Leiber  in  ihrem  Verhältnis  zu  einander,  oder  an 
das  Ineinandersein  der  einzelnen  Seelenkräfte  in  der  einen 
Seelenessenz:  una  erit  in  alia,  quia  in  alia  est  essentia  animae, 
cui  illa  potentia  est  eadem.  Denkt  man  diese  Kräfte  als  per 
se  subsistentes,  so  würde  ein  per  se  subsistens  im  anderen  und 
dies  in  jenem  sein  (§  10). 

Fragt  man  aber  nach  dem  Grund  dieser  Inexistenz,  so 
kann  es  weder  die  Essenz  noch  die  Helation  für  sich  sein. 
Nicht  die  Essenz,  denn  sonst  wäre  der  Vater,  abgesehen  von 
den  Belationen,  in  sich.  Nicht  die  Relationen,  denn  da  diese 
in  den  verschiedenen  Subjekten  verschieden  sind,  so  würde  das 
Ineinandersein  nicht  ein  schlechthin  gleiches  sein.  Ausserdem 
sind  diese  Relationen  des  Ursprungs  auch  bei  den  Kreaturen 

Seeberg,  Die  Theologie  des  Duns  Scotiis.  14 


210     Kap.  II:.  Der  Gottesbegriff.     Die  Lehre  v.  d.  Menschen  u.  d.  Sünde. 

vorhandeD,  ohne  dass  diese  ineinander  sind.  Es  bleibt  also  nur 
noch,  da  kein  anderer  Grund  ausser  den  genannten  erfindlich 
ist,  und  keiner  von  diesen  beiden  Totalgrund  sein  kann,  sie  in 
ihrem  Zusammenwirken  als  Grund  des  Ineinanderseins  anzu- 
nehmen. Eine  Analogie  bietet  der  Begriff  der  Ähnlichkeit  dar. 
Alle  Ähnlichkeit  gründet  sich  auf  die  Einheit  wie  die  Differenz 
der  Qualität  der  Dinge  und  durch  das  Zusammenwirken  dieser 
beiden  entsteht  sie.  So  steht  es  auch  in  unserem  Fall.  Weder 
die  Einheit  der  Substanz  noch  die  Differenz  der  Hypostasen 
erklärt  die  Sache,  sondern  das  Zusammenwirken  beider.  Wie 
aber  zur  Konstituierung  der  Ähnlichkeit  die  Einheit  wichtiger 
ist  als  die  Differenz,  so  ist  auch  für  das  Ineinandersein  der 
Hypostasen  die  Einheit  der  Essenz  wesentlicher  als  die  Unter- 
schiede der  Hypostasen  (ib.  9). 

Das  Resultat  dieser  Erörterung  ist  also :  die  Hypostasen 
gehen  hervor  aus  der  einen  Essenz,  daher  können  sie  in  ein- 
ander sein,  sofern  die  Essenz  in  allen  identisch  ist;  aber  nur 
sofern  sie  als  Subjekte  different  sind,  entsteht  dies  besondere 
Ineinandersein  von  Hypostasen. 

15.  Wir  wollen  hiermit  die  Gotteslehre  des  Duns  Scotus 
beschliessen.  Die  Gedanken  über  die  Trinität,  die  wir  kennen 
lernten,  können  sich  an  Bedeutung  nicht  messen  mit  den 
grossen  Grundgedanken  seiner  allgemeinen  Gottesiehre.  Der 
nie  versagende  Scharfsinn  und  die  dialektische  Meisterschaft 
treten  dem  Leser  in  der  Trinitätslehre  wieder  entgegen. 

Aber  indem  unser  Theologe  hier  in  ein  festes  Gehege  über- 
kommener Lehren  gebannt  ist,  kommen  seine  originalen  Auf- 
fassungen nicht  zur  klaren  Anschauung.  Und  aus  dem  näm- 
lichen Grunde  wird  die  Dialektik  oft  gesucht  und  gezwungen 
und  deshalb  nicht  selten  stumpf.  Die  Diskussion  ist  herab- 
gedrückt auf  das  Niveau  des  dialektischen  Schulbetriebes.  Es 
muss  diskutiert  werden  und  es  wird  daher  das  Pro  et  contra 
reichlich  und  kunstvoll  dargeboten.  Immerhin  scheint  aber 
auch  auf  diesem  Gebiet  es  an.  einer  Fortführung  der  Gedanken 
nicht  zu  fehlen.  In  der  scharfen  Bestimmung  des  Person- 
begriffes sowie  in  der  Empfindung  dafür,  dass  die  trinitarischen 
Personen  absolutes  in  der  persönlichen  göttlichen  Essenz  wur- 
zelndes Sein  sind,  dürfte  dieser  Fortschritt  —  er  erhebt  übrigens 


Der  Begriff  des  Schaffens.  .      .  211 

wesentlich  Gedanken  von  Vorgängern  zur  Bedeutung,  die  ihnen 
als  scotistische  Theologie  eignet,  empor  —  bestehen. 

Aber  das  historisch  Bedeutsame  an  der  Gotteslehre  des 
Duns  Scotus  ist  die  Sicherheit,  mit  welcher  er  Gott  als  persön- 
liches Leben,  als  geistigen  Willen  erfasst  hat.  Alles  Sein 
lässt  sich  einteilen  in  voluntarium  und  involuntarium.  Letzteres 
ist  unvollkommen,  ersteres  vollkommen.  Gott  ist  schlechthin 
auf  der  Seite  des  vollkommenen  wollenden  und  freien  Seins. 
Er  ist  in  absoluter  Vollkommenheit  freier  geistiger  Wille 
(cf.  III  dist.  32  quaest.  uuic.  §  2).  Zwar  findet  man  schon 
bei  Thomas  darauf  zielende  Gedanken,  aber  Duns  hat  doch 
mit  grösserer  Bestimmtheit  und  umfassender  Tendenz  das 
Wesen  Gottes  als  Person  gedacht.  „Der  Fortschritt  von  der 
Substanz  zum  Subjekt  ist  unstreitig  durch  Duns  Scotus  ge- 
schehen" (Baur,  Lehre  v.  der  Dreieinigkeit  II,  655). 


II.   Die  Schöpfung  der  Welt. 

1.    Der  Begriff  des  Schaffens. 

1.  Es  gibt  in  Gott,  wie  wir  gesehen  haben,  ein  principium 
productionis  intrinsecae,  quae  est  necessaria.  Dem  steht  ein 
principium  productionis  extrinsecae,  quae  est  contingens  gegen- 
über. Indem  die  trinitarischen  Personen  von  der  nach  innen 
gerichteten  Fruchtbarkeit  des  göttlichen  Wesens  hervorgebracht 
werden,  haben  sie  alle  drei  teil  an  dieser  Fruchtbarkeit.  Da 
nun  das  endliche  Sein  der  Welt  eine  unendliche  Ursache  vor- 
aussetzt (vgl.  S.  144  ff.),  so  ist  Gott  das  Prinzip  zur  Schöpfung 
der  Welt;  insonderheit,  sind  die  trinitarischen  Hypostasen  zu- 
sammen das  principium  productivum  causationis  ad  extra  (II  dist. 
1  quaest,  1,  8.  11).  Kein  Zug  in  der  perfectio  Gottes  kann 
nur  einer  trinitarischen  Person  beigelegt  werden.  Denn  dann 
wäre  die  schlechthinige  Notwendigkeit  dieses  Zuges  für  die 
Gottheit  ausgeschlossen.  Dann  wäre  aber  auch  die  Person, 
welcher  dieser  Zug  eignet,  nicht  absolut  notwendig  (cf.  III 
dist.  32  quaest.  unica  §  3). 

Die  iunertrinitarische  Bewegung  geht  also  voraus  der 
schöpferischen    Thätigkeit    Gottes    an    der   Welt.     Wie    Gott 

14* 


212     Kap.  II:  Der  Gottesbegriff.    Die  Lehre  v.  d.  Menschen  u.  d.  Sünde. 

denkend  und  wollend  sich  zu  einer  dreifachen  Subsistenz  setzt^ 
so  ist  das  göttliche  Denken  und  Wollen,  wie  es  in  diesen 
Hypostasen  gesetzt  wurde,  auch  weiter  Ursache  alles  Seienden 
ausserhalb  seiner  selbst.  Es  besteht  also  ein  fester  Zusammen- 
hang zwischen  der  nach  innen  produktiven  göttlichen  Fekundität 
und  der  nach  aussen  gerichteten.  Creare  est  aliquid  de  nihilo 
producere  in  effectu  (ib.  quaest.  2,  3).  Die  Frage,  ob  Gott 
von  Ewigkeit  her  habe  schaffen  können,  die  Thomas  bejaht, 
Heinrich  von  Grent,  Bonaventura  und  E-ichard  verneint  hatten, 
hat  Duns  nicht  entschieden  (ib.  quaest.  3,  9  ff.).  Für  das  eine 
wie  das  andere  lassen  sich  G-ründe  anführen ;  z.  B.  dem  Wesen 
des  Steins  widerspricht  die  ewige  Existenz,  also  muss  er  einen 
Anfang  gehabt  haben.  Aber  andererseits  ist  der  Gedanke  der 
ewigen  Schöpfung  von  keinem  logischen  Fehler  bedrückt  (16). 
Das  erschaffene  Ding  hat  als  solches  eine  doppelte  Beziehung, 
sowohl  zu  Gott,  als  der  bewirkenden  Ursache,  als  zu  dem 
seinem  Sein  vorangehenden  Nichtsein.  Denkt  man  letzteres 
Verhältnis  als  ein  dauerndes,  so  kann  von  einer  andauernden 
Schöpfung  die  Rede  sein  (ib.  quaest.  4,  27).  —  Das  Verhältnis 
der  Welt  zu  Gott  muss  nun  als  eine  dependentia  essen- 
tialis  d.  h.  als  wesentliche  oder  sachliche  Abhängigkeit  be- 
zeichnet werden.  Diese  Erkenntnis  ergibt  sich  ebenso  aus  der 
Erwägung  der  creatio  als  der  conservatio.  Hinsichtlich  des 
realen  Verhältnisses  Gottes  zur  Welt  bezeichnen  nämlich  diese 
Begriffe  keine  Differenz.  Denn  es  ist  derselbe  göttliche  Wille, 
der  die  absolute  Ursache  des  Seins  der  Welt  ist,  man  denke 
diese  nun  als  erschaffen  oder  erhalten  und  es  ist  auch  keine 
Differenz  der  realen  Abhängigkeit  in  diesem  oder  jenem  FaU 
denkbar  (s.  Quodlib.  quaest.  12,  2.  3).  Die  Differenz,  welche 
die  Begriffe  der  Schöpfung  und  Erhaltung  bezeichen,  ist  so- 
nach keine  reale  auf  das  Wesen  des  Verhältnisses  bezügliche, 
sondern  nur  eine  rein  logische.  In  dem  ersten  Fall  denken 
wir  an  das  Werden,  im  zweiten  an  das  Sein  der  Welt,  in  dem 
ersten  Fall  setzen  wir  die  absolute  Ursache  in  E-elation  zu 
einem  vorhergehenden  Nichtsein,  in  dem  zweiten  zu  einem  vor- 
hergehenden Sein.  Das  ist  logisch  eine  verschiedene  Art  der 
Dependenz,  aber  es  ist  sachlich  in  beiden  Fällen  dasselbe  Ver- 
hältnis schlechthiniger  Abhängigkeit  bezeichnet  (ib.  6.  7).  Durch 


Die  schlechthinige  Abhängigkeit  der  Welt  von  Grott.  213 

diese  Betrachtung  ist  das  Verhältnis  der  Welt  zu  Gott  zum 
Ausdruck  gekommen,  das  dem  Gedanken  Gottes  als  des  schlecht- 
hin freien  allmächtigen  Herrn  der  "Welt  korrelat  ist.  Damit 
hat  aber  auch  die  Lehre  von  der  Schöpfung  und  Erhaltung 
in  der  religiösen  Weltanschauung  des  Duns  Scotus  ihre  Be- 
gründung empfangen. 

Zu  demselben  Resultat  ist  aber  Duns  auch  in  einem 
anderen  Zusammenhang  gekommen.  Unter  Verwendung  des  Ge- 
dankens von  der  materia  prima  (oben  S.  76  f.)  hat  Duns  den 
Gedanken  gebildet,  dass  die  Schöpfung  von  Gott  im  logischen 
Fortschritt  de  imperfecto  ad  perfectum  erfolgt  sei  (de  rerum 
princ.  quaest.  8  arte  4,  2).  Darnach  ist  alles  Sein  der  Welt 
ex  materia  una  homogenea  communi,  der  von  Gott  erschaffenen 
ersten  Materie,  durch  Gottes  formgebende  Wirkung  hervor- 
gegangen, wie  etwa  aus  dem  Samen  der  Leib  mit  allen  seinen 
Gliedern  entsteht  (ib.  29).  Nur  Gottes  schlechthin  unbestimmte 
und  schrankenlose  Macht  kann  aber  als  das  ausreichende 
Prinzip  zur  Informierung  der  schlechthin  unbestimmten  ersten 
Materie  vorgestellt  werden  (ib.  art.  5,  40).  Durch  diese  Ge- 
danken ist  aber  zugleich  der  wissenschaftliche  Beweis  für  die 
absolute  Abhängigkeit  der  Welt  von  ihrem  Schöpfer  erbracht 
(vgl.  S.  79).  —  Man  kann  sonach  von  einem  dreifachen  Sein 
der  Dinge  reden.  Sie  existieren  als  zu  verwirklichende  Idee 
in  Gott,  oder  sie  sind  als  effectus  dei  im  esse  actuale  der 
ersten  Materie  objektiv  real  vorhanden,  oder  sie  sind  die  von 
Gott  besonders  informierte  Materie  d.  h.  dieses  und  jenes 
konkrete  Ding.  Während  nun  die  dritte  Art  des  Seins  ihr 
Prinzip  an  den  Formen,  die  Gott  gibt,  hat,  bestehen  die  beiden 
ersten  Arten,  nach  der  Meinung  des  Duns,  ohne  jede  Beziehung 
zu  Formen,  sofern  die  göttliche  Kausalität  als  solche  der  ge- 
nügende unmittelbare  Grund  für  ihr  —  nicht  individuelles  — 
Sein  ist  (ib.  art.  6,  43  vgl.  Sent.  II  dist.  12  quaest.  2,  3  f.). 

2.  Das  grösste  Interesse  bei  der  Besprechung  der  erschaffenen 
Welt  hat  Duns  den  Engeln  zugewandt.^)  Allein  das  hat 
keineswegs  den  Sinn,  als  wenn  er  ihnen  eine  besondere  religiöse 
Bedeutung  beilegte,   vielmehr  hat   ihm   dieser  abgelegene  Stoff 


^)  Vgl.  ßaur,  Lehre  von  der  Dreieinigkeit  II,  759  ff. 


214     Kap.  II:  Der  Gottesbegriff.    Die  Lehre  v.  d.  Menschen  u.  d.  Sünde. 

Gelegenheit  gegeben  zu  einer  Menge  von  abstrakten  Unter- 
suchungen über  Raum,  Zeit,  Bewegung  oder  über  die  Er- 
kenntnistheorie. Vieles  von  diesen  zum  Teil  sehr  scharf- 
sinnigen Erörterungen,  ist  bereits  oben  (Kapitel  I)  verwandt 
worden.  Hier  müssen  wir  uns  mit  wenigen  Bemerkungen  be- 
gnügen. Ob  die  Engel  leiblich  sind,  ob  sie  räumlich  sind,  ob 
ein  Engel  zu  gleicher  Zeit  an  verschiedenem  Orten  sein  kann, 
oder  ob  mehrere  Engel  gleichzeitig  an  einem  Ort  sein  können, 
die  Bewegung  der  Engel  —  das  sind  die  Probleme,  die  in  der 
2.  Distinktion  des  2.  Buches  behandelt  werden.  Da  werden 
auch  im  Zusammenhang  der  Erkenntnis  der  Engel  die  Grund- 
züge der  Erkenntnistheorie  entwickelt.  —  Auch  die  Engel 
haben  ihre  Seligkeit  verdient.  Jede  auf  das  Ziel  bezogene 
Handlung,  ist  entweder  factiva  fiuis  oder  meritoria  linis,  letzteres, 
wenn  das  Ziel  den  Kräften  des  ihm  Nachstrebenden  nicht 
proportional  ist.  Die  Seligkeit  kann  also  nur  unter  diesem 
letzteren  Gesichtspunkt  als  etwas  Verdientes  angesehen  werden 
(n  dist.  5  quaest.  1,  3). 

Ausgerüstet  mit  dem  freien  Willen  konnten  die  Engel,  die 
ihnen  eingegossene  übernatürliche  Gerechtigkeit  bewahren  oder 
aufgeben,  sie  konnten  also  sündigen  (quaest.  2,  11).  Die  erste 
Sünde  der  Engel  will  Duns  nicht  eigentlich  als  Hochmut, 
sondern  als  eine  gewisse  luxuria  bezeichnen,  die  zurückgeht  auf 
ungezügelte  Selbstliebe  (dist.  6  quaest.  2,  14  f.).  Die  gefallenen 
Engel  können  ihren  Willen  nicht  mehr  auf  das  Gute  richten, 
denn  es  fehlt  ihnen  an  der  Kraft,  die  das  Prinzip  eines 
solchen  Wiillens  sein  könnte.  Der  Wille,  der  sich  für  das 
Böse  entschieden  hat,  kann  nur  unter  Mitwirkung  der  Gnade 
Gutes  wollen,  oder  Verdienstliches  wollen,  er  kann  es  aber 
nicht  von  sich  aus  (dist.  7  quaest.  unica  §  14  ff.).  Es  ist  aber 
weiter  unmöglich,  dass  Gott  einem  gefallenen  Engel  Gnade 
verleihe,  nämlich  nach  der  potentia  ordinata.  Dieses  wird  aus 
Aussprüchen  der  Schrift  und  Augustins  erwiesen  (18).  Nach- 
dem dann  eine  genaue  Untersuchung  über  die  locutio  angelorum 
unter  einander  angestellt  worden  (dist.  9  quaest.  2),  wird  nur 
kurz  über  die  missio  angelorum  und  ihre  Thätigkeit  unter  den 
Menschen  gesprochen  (dist.  11). 

Die   Lehre  vom  Teufel  wird   von  Duns   natürlich   aner- 


.     .  Engel,  Teufel,  Mensch.  215 

kanut  und  gelegentlich  verwandt.  Aber  eine  besondere  Theorie 
vom  Teufel  und  seinem  Wirken  hat  er  nicht  dargeboten.  Wie 
das  Apostolikum  und  die  von  ihm  bedingte  Anlage  der  Dog- 
matik  hierzu  keinen  Anlass  boten,  so  sind  auch  die  Lehren 
von  der  Sünde,  der  Erlösung  und  der  Heilsaneignung  ohne  prin- 
zipielle Bezugnahme  auf  die  Teufelslehre  entworfen.  Mochte 
das  praktische  kirchliche  Leben  noch  so  reichlich  Teufels- 
spekulationen zeitigen,  in  der  Theorie  empfingen  sie  keinen 
festen  Platz.  Für  die  geschichtliche  Stellung  dieser  Lehre  ist 
dieser  Umstand  von  grosser  Bedeutung  gewesen. 

2.  Der  Mensch. 

Wir  wenden  uns  dem  Menschen  zu.  Die  imago  dei  hat 
ihren  Sitz  nicht  in  den  Kräften  der  Seele,  sondern  in  Akten. 
Indem  die  Seele  denkt  und  will,  ist  sie  ein  Abbild  des  gött- 
lichen Lebens  (II  dist.  15  quaest.  unic.  §  20).  Hier  soll 
der  wichtige  Begriff  der  Synderesis  bei  Duns  erörtert 
werden.  Die  älteren  Franziskanertheologen,  wie  Alexander  und 
Bonaventura,  verlegten  dieselbe  sowohl  in  den  Intellekt  als  den 
Willen.  Heinrich  von  Gent  lehrte  (Quodlib.  I  quaest.  18)  sie  im 
Willen  finden.  Die  Synderesis  sei  die  dem  Willen  einwohnende 
natürliche  Übereinstimmung  mit  dem  dictamen  legis  naturae, 
die  Conscientia  die  daraus  abfolgende  mit  dem  Naturgesetz 
übereinkommende  spezielle  electio  deliberativa.  Dagegen  macht 
Duns  geltend,  dass  der  hier  vorausgesetzte  natürliche  WiUens- 
trieb  auf  Gott  notwendiger  Weise  die  partialen  Willensmotive 
beherrschen  und  bestimmen  müsste.  Dann  würde  aber  das 
Zustandekommen  böser  Thaten  undenkbar.  Ebenso  werde  für 
die  Conscientia  eine  Willenshabitualität  postuliert,  die  zum 
Grunde  nicht^  wie  es  notwendig  wäre,  Willensakte  sondern 
intellektuelle  Akte  hätte.  Auch  würde  so  die  Freiheit  des 
Willens  beschränkt,  da  er  von  den  natürlichen  Akten  des 
Intellektes  abhängig  werde  (II  dist.  39  quaest.  2,  2).  Die  Frei- 
heit des  Willens  und  seine  Unabhängigkeit  vom  Intellekt  ist 
auch  hier  das  leitende  Motiv  der  Kritik.  Nach  Duns  hat  die 
Synderesis  ebenso  wie  die  Conscientia  ihren  psychologischen  Ort 
in  dem  Denken  des  Menschen.  Die  Synderesis  ist  die  praktische 
Vernunft  als   der  habitus  principiorum  qui  semper  est  rectus 


216     Kap.  II:  Der  Gottesbegriff.    Die  Lehre  v.  d.  Menschen  u,  d.  Sünde. 

quia  ex  ratione  terminorum  virtute  luminis  intellectus  naturalis 
statim  intellectus  acquiescit  illis.  Der  Wille  ist  fähig  sich  von 
diesen  schlechthin  vernünftigen  praktischen  Prinzipien  des  In- 
tellekts leiten  zu  lassen,  wobei  seine  Freiheit  aber  jeden  Zwang 
ausschliesst.  Im  Unterschied  hiervon  ist  die  conscientia  der 
habitus  proprius  conclusionis  practicae,  welcher  bestimmend  auf 
die  Wahl  der  rechten  einzelnen  Handlungen  einwirkt  und  so 
zum  Gruten  stimuliert,  bezw.  gegen  das  Böse  ein  remurmurare 
ausübt  (ib.  §  4).  Es  befasst  also  die  Synderesis  die  der  prak- 
tischen Vernunft  immanenten  ethischen  Prinzipien,  welche  dann 
die  Consicentia  im  gegebenen  Fall  auf  das  menschliche  Handeln 
anwendet.  Oder  man  kann  auch  sagen:  Die  Synderesis  be- 
zeichnet den  Besitz  der  angeborenen  Ideen  des  ^^natürlichen 
Rechtes^',  von  welchen  die  Conscientia  die  Anwendung  macht 
auf  die  einzelne  Handlung.  So  tritt  der  Zusammenhang  dieser 
Gedanken  mit  ihrer  Wurzel,  den  fÄeQTq  %ov  Xöyov  in  der  Seele 
bei  den  alten  Apologeten,  wieder  deutlich  hervor.  —  Im  Üb- 
rigen soll  hier  nur  daran  erinnert  werden  (Genaueres  s.  in  der 
Tugendlehre),  dass  der  Primat  des  Willens  die  Vorstellung 
von  angeborenen  sittlichen  Ideen  sprengt,  denn  kann  überhaupt 
die  praktische  Vernunft  vom  AVillen  beeinflusst  werden,  warum 
kann  dann  diese  Beeinflussung  keine  dauernde  sein  und  schliess- 
lich jenes  Naturrecht  überhaupt  aufheben? 


IIL   Die  Sünde. 

1.  Die  Entstehung  der  Sünde. 

1.  Die  erste  Sünde  hätte  auch  eine  veniale,  d.  h.  die  Über- 
tretung eines  Eates,  nicht;  eines  positiven  Gebotes  sein  können 
(n  dist.  21  quaest.  1,  3).  Die  erste  Sünde  Adams  war  eine  über- 
mässige Liebe  zu  Eva,  welche  er  durch  eine  Abweisung 
nicht  beleidigen  wollte  (ib.  quaest.  2,  2).  Weit  schwerer  war 
Evas  Sünde,  nämlich  die  Begierde  nach  der  Gleichheit  mit 
Gott  und  seinem  Wissen  (ib.  4).  Der  Grund  der  Sünde  kann 
aber  nicht  in  Unwissenheit  erblickt  werden:  prius  peccavit 
quam  erravit  (dist.  22  quaest.  unic.  §  2).  Ihren  Grund  hat 
die  Sünde  im  Willen.     Der  Wille  schliesst  notwendig  die  Mög- 


Die  Entstehung  der  Sünde.  217 

lichkeit,  so  oder  anders  zu  wollen  in  sich.  Ein  Wille,  welcher 
von  Natur  nicht  fähig  zur  Sünde  wäre,  ist  undenkbar.  Voluntas 
creata  in  puris  naturalibus  non  potest  necessario  immobilitari 
in  summo  bono  (dist.  23  quaest.  unic.  §  6).  Aber  es  ist  eben- 
so undenkbar,  dass  der  natürliche  Wille  als  solcher  der  Sünde 
entginge.  Er  findet  nämlich  in  keinem  natürlichen  Objekt  Ruhe, 
80  lange  aber  das  ihn  befriedigende  unendliche  Gut  nicht  gegen» 
wärtig  ist,  kann  er  immer  wieder  von  Gott  nicht  gefallenden 
Gütern  angezogen  werden.  Daher  kann  die  im  Paradies  be- 
stehende positive  Sündlosigkeit  nur  durch  ein  donum  supernatu- 
rale Gottes  erklärt  werden  (ib.  7). 

Diese  ursprüngliche  Gerechtigkeit  hätten  aber  die  Eltern, 
als  nicht  zur  Natur  gehörig,  nicht  an  und  für  sich  auf  ihre 
Kinder  übertragen  können. 

2.  Die  an  diesem  Ort  von  Duns  besprochene  Lehre  von 
der  Willensfreiheit  haben  wir  schon  früher  dargestellt  (S.  86  ff.). 
Der  Mensch  bedurfte,  das  folgt  aus  Obigem,  schon  im  status 
purorum  naturalium  der  Unterstützung  der  Gnade.  Die  Gnade, 
als  der  vom  heiligen  Geist  gewirkte  Habitus  der  Liebe  zu  Gott, 
befähigt  erst  den  Menschen  verdienstlich  zu  handeln  (dist.  27 
quaest.  un.  §  3).  Von  Natur  nämlich  lehnt  sich  das  niedere 
Triebleben  im  Menschen  gegen  die  Vernunft  auf.  Ebenso  ist 
der  Wille  von  Natur  darauf  angelegt,  sich  in  den  sinnlichen 
Trieben  zu  ergehen.  So  besteht  von  Natur  im  Menschen  eine 
innere  rebellio.  Nur  die  übernatürliche  Gnade  kann  dieselbe 
heben,  indem  sie  die  niedere  Sphäre,  ohne  ihr  Trauer  zu  he- 
reiten,  der  oberen  unterwirft  und  dem  Willen  ein  Ziel  vorhält, 
das  ihm  ergötzlicher  erscheint  als  die  sinnliche  Lust  (dist.  29 
quaest.  unic.  §  4).  —  Da  nun  von  Anfang  an  Gott  zur  Ein- 
giessung  der  Gnade  bereit  und  der  Wille  ihrer  fähig  war,  so 
ist  der  Mensch  von  Anfang  an  positiv  zur  Gerechtigkeit  ver- 
pflichtet oder  schuldig,  nämlich  auf  Grund  seines  freien  Willens. 
Dico  igitur,  quod  iustitia  ista,  ratione  cuius  debitor  est  homo 
vel  angelus  iustitiae,  non  est  nisi  potentia  naturalis  voluntatis 
moderandi  inclinationem  naturalem  quae  est  contra  iustitiam 
infundendam,  et  illud  est  liberatas  quae  non  est  aliquid  super- 
additum  voluntati  imo  de  per  se  ratione  eins.  Also  ist  die 
Freiheit  gegenüber  der  gratia  infundenda   der  Grund,  durch 


218     Kap,  II:  Der  Gottesbegriff.     iJie  Lehre  v.  d.  Menschen  u.  d.  Sünde. 

den  die  Kreatur  debitor  Gottes  wird,  sofern  diese  natürliche 
Beschaffenheit  den  Menschen  befähigt,  gottgefällig  zu  werden  als 
die  iustitia  naturalis,  qua  potuit  conservare  iustitiam  infusam  sibi 
(II  dist.  5  quaest.  2,  11).  Die  Willensfreiheit  rüstet  den 
Menschen  also  aus  Gnade  zu  empfangen  und  sie  zu  behalten. 
Empfängt  oder  behält  er  sie  nicht,  so  ermangelt  er  der  über- 
natürlichen Gerechtigkeit,  aber  dieser  Maugel  ist  ein  verschul- 
deter, indem  sein  Wille  sich  der  Eiiigiessung  derselben  wider- 
setzte. Sonach  kann  vom  ersten  Moment  der  bewussten  Existenz 
her  die  Schuld  als  möglich  bezeichnet  werden  (ib.).  Zugleich 
aber  zeigt  diese  Erwägung,  dass  die  Sünde  Schuld  wird  wegen 
des  Bestandes  der  Freiheit. 

2.  Die  Erbsünde. 

1.  Gehört  nun  aber  der  Widerstreit  des  sinnlichen  und 
geistigen  Lebens,  sowie  die  Beeinflussung  dieses  durch  jenes 
zur  Natur  des  Menschen,  so  ist  klar,  dass  darin  die  Erbsünde 
nicht  bestehen  kann.  Nicht  Konkupiszenz  also  macht  das 
AVesen  derselben  aus,  denn  die  ist  natürlich  und  zudem  auf 
dem  sinnlichen,  der  Sünde  nicht  zugäuglichen  Gebiet  wirksam. 
Nein,  die  Erbsünde  ist  nichts  anderes  als  carentia  iustitia e 
originalis  (II  dist.  30  quaest.  2,  3).  "Wenn  oft  von  Autori- 
täten die  Konkupiszenz  als  Wesen  der  Sünde  angesehen  wird, 
so  kann  das  nur  in  dem  Sinn  gelten,  dass  sie  das  Materiale 
der  Erbsünde  ist,  welches  aber  erst  durch  das  Fehlen  des 
frenum  cohibens  übermässig  und  Sünde  wird  (dist.  32  quaest. 
unic.  §  7). 

Wodurch  aber  pflanzt  sich  die  Sünde  als  Erbsünde  fort? 
Dürfte  man  die  Erbsünde  für  eine  qualitas  morbida  halte,  von 
welcher  auch  das  Fleisch  infiziert  wurde,  so  wäre  diese  Frage 
sehr  einfach  zu  beantworten,  sofern  im  Augenblick  der  Ein- 
giessung  der  Seele  diese  von  dem  infizierten  Fleisch  befleckt 
würde  (so  Heinrich  von  Gent).  Aber  Duns  widerlegt  diese 
Theorie.  Die  Sünde  haftet  am-  Willen,  sie  besteht  in  Willens- 
akten, wie  könnte  der  geistige  Wille  Adams  den  ganzen  Körper 
krank  machen  und  umwandeln?  Es  ist  aber  auch  nicht 
zu  verstehen,  warum  der  Same  mehr  von  der  Sünde  sollte  in- 
fiziert sein,    als  Blut  oder  Speichel.     Und   sollte  sich  auf  dem 


Die  Erbsünde.  219 

blos  leiblichen  Wege  die  Sünde  fortpflanzen,  so  müsste  ein 
Löwe,  der  einen  Menschen  frisst,  auch  den  fomes  in  sich  auf- 
nehmen! Ferner  ist  nicht  zu  begreifen,  wie  die  physische  Be- 
schaffenheit den  Willen  sollte  umwandeln  können.  Gesetzt 
aber  auch,  Adam  hätte  sein  Fleisch  infiziert  durch  seinen 
Willen  und  vererbte  diese  Beschaffenheit,  so  müssten  die  Nach- 
kommen nun  ihrerseits  wieder  zu  der  überkommenen  Infektion 
willentlich  ein  Neues  hinzufügen  und  dann  müsste  die  Erbsünde 
in  jeder  neuen  Generation  grösser  werden  (dist.  32  quaest. 
un.  §  4 — 6). 

2.  Indem  Duns  mit  Anselm  die  Erbsünde  lediglich  als 
carentia  iustitiae  debitae  fasst,  ergibt  sich  ihm  eine  andere 
Lösung.  Diese  Gerechtigkeit  ist  nämlich  debita,  sofern  Adam 
sie  für  sich  und  das  ganze  in  ihm  beschlossene  Menschenge- 
schlecht empfing,  Gott  dieselbe  also  gerechtermassen  von  allen 
Menschen  verlangen  kann.  Denn  Gott  hätte,  wenn  Adam 
nicht  gefallen  wäre,  die  Gerechtigkeit  sine  speciali  dono  auf 
die  Kinder  übertragen.  Dadurch  wird  der  früher  ausgesprochene 
Gedanke,  dass  Adam  die  Gerechtigkeit  auf  die  Kinder  hätte 
fortpflanzen  können,  ergängt:  sed  quod  deus  cooperaretur  regu- 
lariter  dando  iustitiam  propagato.  Man  wird  übrigens  kaum 
irre  gehen,  wenn  man  in  dieser  Ergänzung  nur  ein  Produkt 
dogmatischer  Not  erblickt. 

Doch  dem  sei,  wie  ihm  wolle,  Duns  stellt  die  Regel  auf: 
ex  tali  datione  fit  voluntas  cuiuscunque  filii  debitrix  (ib.  §  8 — 11). 
Aber  die  Erbsünde  wird  nicht  so  fortgepflanzt,  als  wenn  das 
sündliche  Fleisch  die  Sünde  in  der  Seele  verursachte,  sed  ex 
hoc  quod  caro  concupiscibiliter  seminatur  et  ex  ipsa  formatur 
corpus  orgauicum,  cui  infunditur  anima  constituens  personam 
quae  est  filius  Adae.  Ista  ergo  persona,  quia  naturalis  filius 
Adae,  ideo  debitrix  est  iustitiae  originalis  datae  a  deo  ipsi  Adae 
pro  Omnibus  filiis  et  caret  ea  (12).  Man  sieht,  dass  es  nur  täu- 
schender Schein  ist,  wenn  Duns  hier  die  augustinische  Theorie 
festzuhalten  versucht ;  die  Einmengung  der  Konkupiszeuz  in  den 
letzten  Sätzen  ist  sachlich  ganz  unveranlasst.  Duns  selbst 
sagt  später,  es  sei  nicht  nötig  eine  infectio  in  carne  anzunehmen, 
dass  aber  die  caro  doch  als  causa  instrumentalis  in  Betracht 
komme,   in  quantum  in  ipso   semine   est  vis   activa  producendi 


220     Kap.  II :  Der  Gottesbegi'ifi'.    Die  Lehre  v.  d.  Menschen  u.  d.  Sünde. 

filium  Adae  qui  per  hoc  est  debitor  (17).  Faktisch  kann  der 
Gedanke  nur  der  sein,  Gott  sehe  die  Seele  für  sündhaft  an, 
indem  sie  in  ein  Fleisch  kommt,  das  von  Adam  herrührt  und 
indem  sie  vermöge  dieses  Zusammenhanges  ideell  die  Schuldig- 
keit zur  Gerechtigkeit  gegen  Gott  übernimmt.  Aber  der  Be- 
griff kommt  noch  mehr  ins  Schwanken,  wenn  man  sich  dessen 
erinnert,  dass  schon  die  Einführung  der  Vererbung  der  Schul- 
digkeit Adams  eigentlich  dem  Gedanken  von  der  Unvererb- 
lichkeit des  donum  supernaturale  widerspricht.  Man  wird  nicht 
zuviel  sagen  mit  der  Behauptung,  dass  Duns  die  Erbsünden- 
lehre in  dem  Sinn  Augustins,  aufgegeben  und  dafür  nur  mühsam 
einen  formellen  Ersatz  in  einer  Art  Erbschuld  gefunden  hat. 
Entsprechend  seiner  Anschauung  wird  dann  in  der  Taufe  der 
Mensch  ausgerüstet  mit  der  Gnade  als  dem  Ersatz  für  die 
iustitia  originalis  und  freigesprochen  von  dem  debitum  habendi 
istud  donum,  d.  h.  die  ursprüngliche  Gerechtigkeit  (13).  Das 
heisst  also  die  Taufe  bringt  die  Sündenvergebung  in  dem  Sinn, 
dass  Gott  von  der  dem  Menschen  ideell  vermöge  seines  Zu- 
sammenhanges mit  Adam  aufliegenden  Verpflichtung  zur  ur- 
sprünglichen Gerechtigkeit  absieht,  indem  er  die  Neuerzeugung 
dieser  Gerechtigkeit  im  Menschen  erfolgen  lässt.  Über  den 
Zusammenhang  beider  Begriffe  wird  bei  der  Rechtfertigungs- 
lehre (s.  unten)  w^eiter  zu  reden  sein.  —  An  diesem  Ort  des 
Systems  ist  nur  dies  von  Bedeutung,  dass  jeder  positive  und 
konkrete  Sinn  der  Erbsünde  oder  auch  der  Erbschuld  bei  Duns 
ausgeschlossen  *  ist.  Das  Nichtvorhandensein  der  Erfüllung 
einer  ideellen  Verpflichtung  ist  die  Erbschuld.  Jedes  lebhaftere 
Empfinden  für  die  konkrete  Art  der  Schuld  als  culpa  fehlt, 
und  das  kann  nicht  verwundern,  wenn  man  die  Bedingungen 
der  Schuld  (S.  217)  in  Erwägung  zieht.  Es  waren  die  Bereit- 
schaft Gottes  Gnade  zu  geben  und  die  Freiheit  dieselbe  anzu- 
nehmen. Indem  nun  für  die  Erbschuld  ersterer  Faktor  in 
Wegfall  kommt,  kann  Duns  die  Verschuldung  der  Adams- 
sprossen nicht  deutlich  machen.  Es  bleibt  bei  der  farblosen 
Formel  einer  objektiven  Karenz  d.  h.  eines  historischen  Ver- 
hängnisses. —  Aber  im  Rahmen  der  Gesamtanschauung  des 
Duns  ist  dieser  Mangel  nicht  unverständlich.  Indem  das  Gute 
und  Böse  bei  der  Kreatur  von  der  göttlichen  Acceptation  allein 


I 


Die  aktualen  Sünden.  221 

abliäugt,  hat  er  kein  Bedürfnis  für  eine  genauere  positive  Er- 
kenntnis der  Art  und  der  Tenazität  der  Sünde.  Jene  Formel 
eines  objektiven  Mangels  genügte.  Und  ^da  er  weiter  bei  dem 
sittlichen  Leben  hauptsächlich  an  die  einzelnen  Willensakte  dachte, 
fehlte  ihm  das  Verständnis  für  die  tiefsten  Tendenzen  Augustins. 
Er  hat  mit  scharfer  Kritik  das  physische  Element  in  Augustins 
Hamartiologie  bekämpft,  aber  er  hat  keine  positive  Sünden- 
lehre zu  geben  vermocht.  Endlich  aber  wurde  durch  seinen  kirch- 
lichen Positivismus  sein  Interesse  durchaus  auf  die  kirchliche 
Neuschöpfung  des  Menschen  gelenkt,  es  genügte  tabula  rasa 
gemacht  zu  haben,  um  ein  nichts  als  Voraussetzung  jener 
Schöpfung  gewonnen  zu  haben;  die  subjektiven  Zustände  des 
Sünders  vor  der  kirchlichen  Gnadenmitteilung  interessierten 
ihn  daher  wenig. 

Es  ist  aber  andererseits  dieser  starken  Depotenzierung  der 
Erbsünde  ganz  gemäss,  wenn  Duns  ausdrücklich  von  denen,  die 
nur  mit  der  Erbsünde  behaftet  sterben,  sagt:  nullam  habebunt 
poenam  sensus  exterioris,  puta  ignis;  ebensowenig  würden  sie 
innere  Strafe,  wie  die  Traurigkeit,  erleiden.  Sie  würden  nur 
ewig  entbehren  der  visio  dei  supernaturalis ,  aber  aliqualem 
beatitudinem  naturalem  de  deo  cognito  in  universali  poterunt 
attingere  (dist.  33  quaest.  un.  §  2.  5.  3). 

3.    Die  aktualen  Sünden. 

1.  Etwas  lebhafter  als  die  Erbsündenlehre  ist  der  Begriff 
der  aktualen  Sünde  bei  Duns  ausgefallen,  wiewohl  erst 
hier  die  tiefsten  Gründe  für  die  obigen  Bestimmungen  uns  ganz 
einleuchten  werden. 

Jede  Sünde  ist  in  ihrem  Wesen  Verfehlung  gegen  das 
göttliche  Gesetz.  Diese  Verfehlung  ist  sündhaft,  quia  peccans 
potuit  concordari  legi  superioris  agentis  et  discordavit.  Nicht 
eigentlich  die  positive  Handlung  macht  etwas  zur  Sünde,  sondern 
die  privatio  illius  concordiae  (11  dist.  37  quaest.  1,  3).  Nun 
fragt  es  sich  aber,  welches  Gutes  der  Mensch  durch  die 
Sünde  beraubt  werde  ?  Es  können  weder  die  natürlichen  Güter 
sein  (Bonaventura),  denn  dann  könnte  durch  Wiederholung 
der  Sünde  die  Natur  des  Menschen  ganz  zerstört  werden, 
aber  nur  Gott,   der  die  Natur  erschaffen  hat,   kann   sie   zer- 


222     Xap.  II:  Der  Gottesbegriff.     Die  Liebe  v.  d.  3Ienschen  u.  d.  Sünde. 

stören.  Noch  kann  es  das  übernatürliche  Gut  der  Gnade  sein 
(Thomas),  denn  da  Gott  dieses  erschaffen  hat,  kann  nur  er 
es  zerstören.  Ebensowenig  können  es  die  Tugendhabitus  sein, 
denn  ein  solcher  wird  durch  eine  Todsünde  nicht  zerstört, 
könnte  also  neben  ihr  fortbestehen  (ib.  4.  5).  Nach  Duns 
selbst  ist  die  Sünde  eine  corruptio  rectitudinis  in  actu  secundo 
d.  h.  eine  Zerstörung  der  Gerechtigkeit  der  einzelnen  und  be- 
sonderen Akte,  nicht  aber  eine  Zerstörung  der  rectitudo  natu- 
ralis oder  auch  habitualis,  somit  keine  mutatio  de  esse  ad  nou 
esse.  Sonach  vernichtet  die  einzelne  Sündenthat  nicht  die 
Güte  oder  Gerechtigkeit  des  Menschen  überhaupt,  sondern  die 
Gerechtigkeit  dieser  besonderen  That,  und  das  formaliter, 
denn  peccatum  est  formaliter  corruptio  rectitudinis  in  actu 
secundo  quae  opponitur  illi  rectitudini,  dadurch  ist  sie  dann 
auch  eine  privatio  habitui  d.  h.  keine  Vernichtung,  sondern 
eine  Minderung  an  dem  betr.  Tugendhabitus.  Dass  eine  solche 
Handlungsweise  aber  sündhaft  ist,  ergibt  sich  daraus,  dass  der 
Wille  verpflichtet  ist  seine  einzelnen  Akte  gemäss  dem  gött- 
lichen Verbot  aus  sich  herauszulocken.  Die  Sünde  realisiert 
sich  also  in  einzelnen  Willensakten.  Daher  kann  nichts  sündig 
genannt  werden  als  ein  freiwilliger  Willensakt.  Peccatum  est 
omnis  actus  vitiosus,  adeo  est  peccatum  quo  voluntarium; 
quodsi  uon  est  voluntarium,  non  est  peccatum  (Sent.  IV 
dist.  15  quaest.  3  §  3).^)  Weicht  also  der  durch  das  Gebot 
verpflichtete  Wille  in  einem  Akt  vom  Gesetz  ab :  caret  iu- 
stitia  actuali  debita,  haec  est  iustitia  quae  deberet  in  esse  actui 
et  non  inest,  et  haec  carentia,  inquantum  est  actus  voluntatis 
deficientis  ...  est  formaliter  peccatum  actuale  (II  dist.  37 
quaest.  1  §  6).  Nochmals  wird  betont,  dass  nicht  eigentlich 
der  positive  Willensakt  die  Sündhaftigkeit  bedingt,  sed  carentia 
debiti  ordinis  in  actu  illo,  sofern  nämlich  dieser  Akt  statt  sich 
auf  das  höchste  Gut  zu  richten,  seine  Ruhe  in  einem  irdischen 
Gut  findet.  Für  diese  Auffassung  beruft  sich  Duns  auf 
augustinische  Aussprüche  (7).  • 

2.  Nach   dieser  Betrachtung   sind   die  Sünden   also    unter 


^)  cf.    Aristotel.    Eth.    Nicom.  V.  10:    dSiy.r^fca    öh    y.cd   Sty.atoTToryrj/iia 
iOQLOrai  xo}  iaovauo  y.al  dy.oioiqj. 


Das  Wesen  der  Sünde.  223 

den  negativen  Gesichtspunkten  der  aversio,  des  nolle  und  der 
Übertretung  der  Gebote  anzusehen.  Diese  Aversion  ist  in  jeder 
Todsünde  vorhanden  und  sie  macht  das  eigentUche  Wesen  der- 
selben aus.  Nun  ist  die  Aversion  das  Widerspiel  einer  positiven 
Stellung  zu  dem  höchsten  Gut.  Da  letztere  eine  verschieden- 
artige sein  kann,  wird  auch  der  Gegensatz  die  entsprechende 
Mannigfaltigkeit  in  sich  tragen  (ib.  8).  Folglich  können  die 
einzelnen  Sünden  als  carentiae  diversae  specie  bezeichnet 
werden.  Ebenso  ergibt  sich  von  diesem  Gesichtspunkt  her  die 
Beurteilung  der  Gnade  und  des  Schwergewichtes  der  Sünden. 
Wie  schwer  eine  Art  von  Sünde  wiegt,  hängt  ab  von  dem 
sittlichen  Gewicht  der  ihr  entgegengesetzten  Tugend,  gerade 
ebenso  wie  die  Grösse  des  Irrtums  von  der  Grösse  der  durch 
ihn  verkannten  Wahrheit  abhängt.  Wenn  so  eine  Al)stufung 
der  Sünden  gegeneinander  gewonnen  wird,  so  lassen  sich  die 
gleichen  Sünden  ihrer  Gradation  nach  von  einander  nach  dem 
Mass  der  auf  die  betr.  That  gewandten  libido  des  Willens 
unterscheiden,  indem  dem  Mass  der  an  die  Sünde  gewandten 
Willenskraft  das  Mass  der  Tugend,  die  durch  jenen  Kraft- 
aufwand hätte  verwirklicht  w^erden  können,  korrespondiert  (9). 
3.  Indem  die  Sünde  in  dieser  Weise  keine  corruptio  der 
Natur,  sondern  nur  eine  privatio  bewirkt  und  zwar  nicht  des 
Guten  quod  infuit,  sed  quod  deberet  inesse,  ist  klar,  dass  die 
Sünde  die  Natur  nicht  aufzehrt,  und  dass  sie  deshalb  in  iu- 
finitum  fortgesetzt  werden  kann.  Nur  von  einer  Verwundung 
der  Natur  durch  die  Sünde  kann  geredet  werden,  und 
zwar  von  dem  Gesichtspunkt  her,  dass  die  crebra  carentia 
rectitudinis  actualis  die  Natur  inhabilis  ad  usum  rectum  macht. 
Mit  anderen  Worten :.  die  Wiederholung  der  bösen  Handlungen 
erzeugt  eine  Habitualität  des  Bösen,  durch  welche  der  Mensch 
in  der  natürlichen  Ausübung  der  Wahlfreiheit  dem  Guten 
gegenüber  gehemmt  ist.  So  wenig  die  Natui-  durch  die  Sünde 
zerstört  wird,  so  wenig  vermag  dieselbe  an  sich  die  Gnade  zu 
zerstören.  Gnade  und  Sünde  könnten  an  sich  zu  gleicher  Zeit 
im  Menschen  bestehen.  Wenn  aber  wo  Sünde  ist,  die  Gnade 
weicht,  so  geschieht  das  nicht  wegen  Inkompossibilität  beider 
Grössen,  sondern  ut  demeritum,  d.  h.  indem  Gott  zur  Strafe 
für  die  Sünde  die  Gnade  dem  Sünder  entzieht  (10). 


224    Kap.  II:  Der  Gottesbegriff.     Die  Lehre  v.  d.  Menschen  u.  d.  Sünde. 

4.  Was  macht  also  eine  Handlung  sündhaft?  die  Antwort 
lautet,  dass  sie  abweicht  von  der  positiven  Norm  des  göttUchen 
Willens  und  dass  dadurch  das  höchste  Gut  nicht  gewollt  wird, 
sondern  statt  seiner  ein  kreatürliches  Gut.  Der  Mensch  hat 
die  Pflicht  Gottes  Willen  zu  erfüllen,  eine  Handlung,  die  von 
dieser  Norm  abweicht,  ist  dadurch  sündhaft,  und  zwar  zunächst 
nur  diese  besondere  Handlung,  nicht  der  Mensch  als  solcher, 
nicht  die  Richtung  seines  Willens,  denn  erst  allmählich  auf 
dem  Wege  der  Wiederholung  könnte  eine  sündhafte  Habitualität 
des  Willens  entstehen.  Also  das  Merkmal  der  Diskordanz  mit 
Gottes  Gesetz  kennzeichnet  eine  Handlung  als  sündhaft.  In- 
dem also  die  Sünde  lediglich  an  den  Handlungen  als  einzelnen 
haftet,  ohne  eine  andere  als  die  natürlich  und  allmählich  habituell 
werdende  Korruption  des  Menschen  zu  bewirken,  ist  klar,  dass 
Duns  die  genuin  pelagianische  Theorie  von  der  Sünde  vertritt, 
denn  gerade  in  dieser  Isolierung  der  einzelnen  Sünden  besteht 
das  Eigentümliche  dieser  Theorie.^)  Durch  eine  Sünde  trennt 
sich  also  der  Sünder  nicht  von  Gott,  er  hebt  die  Lebens- 
gemeinschaft mit  ihm  nicht  auf  durch  eine  jener  entgegen- 
gestetzte  Hichtungnahme ,  sondern  er  übertritt  einmal  irgend 
ein  Gebot.  —  Hier  blickt  man  tief  in  die  religiöse  und  sitt- 
liche Anschauung  des  Duns  hinein.  Das  Verhältnis  des  Menschen 
zu  Gott  ist  nicht  das  persönliche  Verhältnis  einer  Lebens- 
gemeinschaft, sondern  es  ist  die  Befolgung  bestimmter  Gebote. 
Dem  gemäss  besteht  auch  die  Sünde  lediglich  in  der  Nicht- 
befolgung  jener  Gebote.  Weder  wird  der  Mensch  an  sich  da- 
durch verändert,  noch  ergibt  sich  mit  innerer  Notwendigkeit 
eine  Veränderung  des  Verhältnisses  zu  Gott.  Hier  greift  der 
Gottesbegriff  in  den  Zusammenhang  ein.  Die  willkürlich  ge- 
gebenen Gebote  sind  zu  erfüllen,  w^erden  sie  nicht  erfüllt,  so 
entzieht  Gott  nicht  in  der  Konsequenz  des  inneren  Verhält- 
nisses zwischen  sich  und  dem  Menschen,  sondern,  weil  er  so 
will,  dem  Menschen  die  Gnade. 

Hiedurch  freilich  scheidet  sich  der  Weg  des  Duns  von 
dem  des  Pelagius.  Nach  Pelagius  bleibt  die  Gnade;  es  ist 
daher  unverständlich,  wie  Sünden  den  Sünder  und  wie  Sünder 


^)  Vgl.  m.  Dogmengesch.  I,  261  f. 


Wodurch  eine  Handlung  sündhaft  ist.  225 

eine  sündhafte  Menschheit  erzeugen.  Nach  Duns  wird  dem  Sünder 
die  Gnade  genommen  und  dies  Verhängnis  Gottes  erklärt  bis 
zu  einem  gewissen  Grade,  weshalb  der  Mensch  und  die  Mensch- 
heit der  Sünde  verfallen.  So  wird  dann  die  Notwendigkeit  der 
Gnade  und  der  Erlösung  auch  wieder  erkennbar.  In  dem 
Mass  aber  als  kein  innerer  Grund  für  die  Entziehung  der 
Gnade  angeführt  werden  kann,  gerät  doch  auch  der  Erlösungs- 
gedanke ins  Schw^anken.  Aber  obgleich  dies  Urteil  an  der 
scotistischen  Kritik  (s.  unten)  seine  Bestätigung  empfängt, 
rückt  der  scotistische  Positivismus  doch  immer  wieder  alles 
zurecht. 

Es  wird  endlich  aus  dieser  Auffassung  der  einzelnen  Sünden 
erhellen,  weshalb  die  Erbsündentheorie  des  Duns  nicht  anders 
hat  ausfallen  können,  als  sie  wirklich  ist.  Wenn  nämlich  das 
Sündhafte  ausschliesslich  in  der  Nichtkonkord anz  der  zufälligen 
einzelnen  Handlungen  mit  dem  Gesetz  besteht,  so  kann  eine 
Erbsünde  überhaupt  nicht  gedacht  werden.  Eine  Erbschuld 
kann  aber  nur  in  der  künstlichen  Weise  der  Karenz  einer 
ideell  geschuldeten  adamitischen  Gerechtigkeit  vorstellig  ge- 
macht werden.  Man  thut  also  nicht  zu  viel,  wenn  raa.n  nicht 
nur  die  augustinische ,  sondern  jede  Erbsündenlehre  in  dem 
scotistischen  System  streicht.  Dass  Gott  um  der  That  Adams 
willen  der  Menschheit  bis  auf  Christum  nicht  mehr  Gnade  oder 
übernatürliche  Gerechtigkeit  einflösst,  und  dass  daher  die  Hand- 
lungen der  Menschen,  sowie  ihre  Handlungsweise  der  super- 
naturalen und  gesetzmässigen  Beschaffenheit,  die  Gott  will, 
ermangeln,  —  das  ist  in  Kürze  die  Ansicht. 

5.  Hier  nun  ist  der  Ort,  auf  eine  Frage  einzugehen,  auf 
die  wir  schon  in  der  Gotteslehre  gestossen  sind  (S.  159),  die 
Frage,  wie  sich  das  Vorhandensein  der  Sünde  mit  der  absoluten 
Herrschaft  des  göttlichen  Willens  vertrage?  Im  allgemeinen 
ist  es  leicht  hierauf  zu  antworten.  Sofern  das  Böse  überhaupt 
eine  positive  letzte  Ursache  haben  kann,  ist  es  a  bono,  da  es 
kein  summum  malum  gibt.  Denn  die  Einführung  eines  solchen 
hat  den  Umstand  gegen  sich,  dass  nur  dem  summum  bouum 
die  höchste  Vollkommenheit  absoluter  Kausalität  zustehen 
kann  (II  dist.  37  quaest.  1,  12).  Nun  hat  Bonaventura  ge- 
lehrt: bonum  est  causa  per  accidens  mali.     Diese  Formel  kann 

Seeberg,  Die  Theologie  des  Duns  Scotus.  15 


226     Kap.  II:  Der  Gottesbegriö'.     Die  Lehre  v.  d.  Menschen  u.  d.  Sünde. 

heissen,  dass  der  Wille,  sofern  er  aus  dem  Nichts  stammt  und 
daher  defectibilis  ist,  Ursache  des  Bösen  wird,  oder  sie  kann 
bedeuten,  dass  der  Wille  einem  Effekt  nachstrebt,  wobei  sich 
ihm  als  Accidenz  das  Böse  anheftet.  Aber  beide  Möglich- 
keiten widersprechen  einander:  ist  der  zweite  Weg  richtig,  so 
kann  es  der  erste  nicht  sein  und  umgekehrt.  Der  erste  Weg 
würde  übrigens  dazu  nötigen,  den  Schöpfer  zur  direkten  Ur- 
sache des  Bösen  zu  macheu  (ib.  §  13.  14).  Der  zweite  würde 
die  Sünde,  die  blosser  Zufall  wäre,  gradezu  aufheben  (17).  — 
Aber  auch  Augustins  berühmte  Formel,  die  Sünde  gehe  auf 
eine  causa  deficiens,  nicht  efficiens  im  Menschen  zurück,  kann 
so  verstanden  werden,  dass  Gott  Ursache  des  Bösen  wird, 
denn  non  efficere  rectitudinem  quae  deberet  effici,  est  quasi 
causare  effective  vel  defective  peccatum  (18). 

Zunächst  scheinen  zur  Lösung  zwei  Voraussetzungen  in 
Betracht  zu  kommen,  dass  nämlich  1)  die  Sünde  in  einem  Er- 
mangeln der  Gerechtigkeit  besteht,  und  2)  dass  der  Wille  die 
Totalursache  seiner  Wollungen  ist.  Dann  scheint  man  sagen 
zu  können,  dass  Gott  nicht  Ursache  des  Bösen  sein  könne,  da 
sowohl  material  als  formal  jede  Handlung  vom  Willen  kausiert 
werde;  Gott  kann  also  nur  mittelbar  als  Schöpfer  des  wahl- 
freien Willens  in  Betracht  kommen.  Wollte  man  einwenden, 
dass  dann  Gott  auch  nicht  Ursache  der  Verdienste  sein  könne, 
so  ist  dagegen  zu  sagen,  dass  letztere  doch  in  einem  anderen 
und  näheren  Verhältnis  zur  göttlichen  Kausalität  stehen,  so- 
fern erst  die  besonders  eingegossene  Gnade  Verdienste  ermög- 
licht und  zu  ihnen  die  Seele  hinneigt  (1.  c.  quaest.  2,  6).  — 
Es  könnte  aber  weiter  jemand  sagen,  dass  nach  dieser  Theorie 
die  Sünde  von  den  Wirkungen  der  causa  prima  völlig  eximiert 
sei.  Aber  in  diesem  Fall  kann  man  die  Regel  angewandt 
denken,  dass  die  causa  prima  und  die  causa  secunda  gelegent- 
lich neutral  gegen  einander  bleiben,  sodass  jede  von  beiden 
hinsichtlich  des  Effektes  als  ganze  Ursache  zu  bezeichnen  ist. 
Z.  B.  der  Bestand  eines  Sohnes  hängt  von  seinem  Vater  wie 
auch  von  der  Sonne  ab ;  obgleich  erstere  Ursache  von  letzterer 
abhängt  und  jene  daher  mehr  wdrkt  als  diese,  wirkt  diese  zweite 
Ursache  doch  selbständig  (7).  Aber  dem  grossen  Kritiker 
entgeht  nicht,  dass  diese  Lösungen  nicht  ausreichen.     Er  fühlt 


Die  Ursachen  der  Sünde.  227 

sich  durch  die  Vordersätze  seines  Gedankenbaues  verhindert 
sie  zu  acceptieren.  So  nämlich  wäre  Gott  nicht  im  absoluten 
Sinn  naturaliter  praescius  futurorum  und  er  wäre  ebenso  wenig 
omnipotens.  Kann  nämlich  der  Wille  als  alleinige  Ursache 
seines  Wollens  schlechthin  alles  wollen,  so  ist  nicht  einzusehen, 
wie  Gott  die  besonderen  Erscheinungen  der  Kontingenz  voraus- 
wissen und  wie  er  die  göttliche  Yorherbestimmung  aufrecht  er- 
halten könnte,  es  sei  denn  violentando.  Wegen  dieser  Unaus- 
kömmlichkeit  ist  der  ganze  Weg  aufzugeben  (8). 

Duns  selbst  nimmt  seinen  Ausgang  von  dem  Gedanken, 
dass  in  jeder  Todsünde  zwei  Momente  konkurrieren,  ein  posi- 
tives als  das  Materiale  der  Handlung  und  ein  negatives  oder 
die  privatio  iustitiae  debitae  als  das  Formale  der  Handlung. 
In  Bezug  auf  letzteres  ist  keine  causa  efficiens,  sondern  nur 
eine  causa  deficiens  zu  denken.  Der  Wille  ermangelt  in  seiner 
Handlung  der  kausalen  Einwirkung  der  Gerechtigkeit  und  so 
sündigt  er  formaliter.  Hier  darf  man  nun  an  den  oben  be- 
sprochenen Gedanken  sich  erinnern,  dass  eine  Handlung  sündig 
werde  durch  eine  causa  per  accidens.  Das  Nichtvorhanden- 
sein der  Gerechtigkeit  ist  an  sich  eine  causa  deficiens ;  indem 
es  aber  eine  positive  Wirkung,  nämlich  die  formal  sündhafte 
Handlung,  hervorbringt,  kann  es  auch  als  ein  efficere  von  etwas 
Positivem  angesehen  werden.  Dann  ist  es  aber  eine  accidentelle 
Ursache  der  Sünde  als  positiver  Handlung  (9).  Daher  ist  nun 
aber  auch  der  Wille  als  solcher  nicht  schlechtweg  die  Ursache 
der  Sünde.  Zwar  steht  er  kausal  der  Sünde  näher  als  jener 
Defekt  der  Gerechtigkeit,  aber  dass  er  wirklich  Ursache  der 
Sünde  wird,  beruht  auf  der  Defektibilität,  die  ihm  eignet  als 
kreatürlich  beschränktem  Willen  (10).  Demnach  hat  die 
Sünde  als  positive  Handlung  ihre  Ursache  sowohl  daran,  dass 
der  Wille  der  Gerechtigkeit  ermangelt,  als  daran,  dass  der 
kreatürliche  Wille  defektibel  ist.  Aber  das  eine  wie  das  andere 
ist  an  sich  causa  deficiens;  von  einer  effektiven  Wirkung  ist 
nur  die  Eede  angesichts  des  positiven  Effektes  dieser  Wirkungen. 

Indem  nun  die  eine  Kausation  auf  Gottes  Willen,  die 
andere  auf  den  menschlichen  Willen  zurückgeht  ^),   erhebt  sich 


^)  An  sich  könnte   doch  auch  —  wovon  Duns  schweigt  —  die  De- 

15* 


228     J^ap.  II:  Der  Gottesbegriff.     Die  Lehre  v,  d.  Menschen  u.  d.  Sünde. 

die  Frage,  ob  und  wie  denn  doch  nur  der  menschliche  Will& 
als  Ursache  der  Sünde  bezeichnet  werden  kann?  Man  kann 
darauf,  mit  Augustin,  antworten,  Gott  kann,  da  er  weiser  ist 
als  die  Menschen,  nicht  die  Ursache  der  Verschlechterung  der 
Menschen  sein;  oder,  mit  demselben,  als  Ursache  des  Seins 
kann  Gott  nicht  Ursache  des  Nichtseins  d.  h.  der  Sünde,  sein  ; 
oder  endlich,  mit  Anselm,  Gott  könne  zwar  den  Willen  ver- 
nichten, aber  ihm  nicht  die  Gerechtigkeit  fortnehmen  (11). 
Allein  das  ist  logisch  nicht  genügend.  Denn  Gott  kann  dem 
kreatürlichen  Willen  zum  Guten  kooperieren,  er  kann  es  aber 
auch  nicht  thun.  Und  Gott  kann  daher  deficiendo  freilich 
Ursache  des  Bösen  sein,  da  er  nicht  die  alleinige  ausschliess- 
liche Ursache  des  Seins  und  Werdens  hat  sein  wollen.  Es 
steht  fest,  dass  Gott  durch  Strafen  das  malum  über  die 
Menschen  verhängt.  Warum  kann  nun  Gott  nicht  sowohl  die 
Ursache  der  Sünde  als  Schuld  als  ihre  Ursache,  sofern  sie 
Strafe  ist,  sein,  so  dass  er  die  gratia  im  Sünder  annihiliert? 
Sagt  man  aber,  mit  Anselm,  Gott  könne  die  Gerechtigkeit 
nicht  nehmen,  so  scheint  die  Sünde  überhaupt  unmöglich  zu 
werden  (12.  13). 

Nun  kann  aber  die  Beobachtung  festgestellt  werden,  dass, 
indem  zwei  Fartialur Sachen  zu  einem  gemeinsamen  Effekt  zu- 
sammenwirken, der  Defekt  an  diesem  Effekt  auf  die  eine  oder 
andere  der  Partialursachen  zurückgehen  kann.  So  steht  es 
auch  bei  der  Sünde.  Nach  der  Art  des  Willens  muss  jeder 
durch  ihn  gewirkte  Defekt  in  ihm  selbst  begründet  sein.  Nun 
kann  die  andere  Ursache  dem  Willen  nur  kooperieren,  sofern 
der  Wille  diese  Kooperation  zulässt.  Da  aber  die  obere  Ur-^ 
Sache  (Gott)  kausieren  würde,  wenn  die  niedere  Ursache  (der 
Wille)  kausierte,  dieser  aber  diese  Bedingung  bezüglich  des 
Guten  nicht  erfüllt,  so  setzt  die  obere  Ursache  ihre  Kooperanz 
aus ;  der  WiUe  ist  aber  dann  die  alleinige  und  direkte  Ursache 
des  sündhaften  Defekts  an  seinen  Handlungen  (14).  Da  aber 
diese  beiden  Partialursachen  durchaus  gleichzeitig  kausieren, 
gilt   der  Einwand  nichts,    dass   doch  Gott  als  der  oberen  Ur- 


fektibilität  des  kreatürlichen  Willens  bis  zu  der  schöpferischen  Kausalität 
zrurückverfolsft  werden. 


Der  Wille,  nicht  Gott,  Ursache  der  Sünde.  229 

Sache  die  Priorität  auch  bezüglich  des  Defektes  zukommen 
müsse  (15). 

Duns  meint  also,  dass  der  Wille  des  Menschen  die  Ursache 
der  Sündhaftigkeit  seiner  Handlungen  sei.  Nun  wäre  freilich 
keine  Sünde  da,  wenn  Gott  nicht  dem  Willen  die  Gerechtigkeit 
eingeflösst  oder  wenn  er  sie  ihm  grundlos  genommen  hätte, 
denn  dann  gäbe  es  keine  iustitia  debita,  sonach  auch  keine 
carentia  derselben,  also  keine  Sünde.  Es  hat  aber  Gott  Adam 
die  Gerechtigkeit  gegeben  und  sie  ihm  nur  aus  demeritorischeu 
Ursachen  genommen:  daher  ist  Sünde  da  (17).  Diese  Sünde 
ist  aber  Schuld,  da  der  Mensch  vermöge  seiner  Freiheit  dem 
Willen  Gottes  gemäss  leben  konnte  (20).  So  betrachtet  ist 
die  Sünde  Strafe  Gottes,  denn  die  Strafe  ist  carentia  boni 
convenientis  voluntati  et  volenti,  Gott  nahm  aber  dem  Menschen 
die  Kooperanz  der  Gerechtigkeit,  weil  der  Mensch  nicht  ge- 
recht wollen  wollte  (22).  Also  ist  die  Sünde  wirklich  Schuld, 
denn,  wenn  auch  ihr  Wesen  in  der  Karenz  der  übernatürlichen 
Gerechtigkeit  besteht,  so  ist  dieser  Mangel  eben  veranlasst 
durch  den  freien  Willen  als  die  causa  activa  (23). 

So  scheint  die  Frage  ausreichend  beantwortet  zu  sein. 
Den  Scharfsinn  und  die  systematische  Umsicht  unseres  Autors 
lehrt  auch  diese  Betrachtung  bewundern.  Die  komplizierte 
Aufgabe  ist  gelöst,  dass  dieselbe  Sünde,  die  zunächst  nichts 
anderes  ist  als  die  von  Gott  verhängte  Karenz  der  Gerechtig- 
keit, doch  wieder  Schuld  des  Menschen,  weil  lediglich  durch 
seinen  Willen  veranlasst,  sein  soll.  Theologisch  betrachtet, 
gipfelt  die  Sündenlehre  des  Duns  fraglos  in  diesen  Betrach- 
tungen. Wie  Gott  und  Mensch  sich  bezüglich  der  Sünde  ver- 
halten, wird  gezeigt,  und  was  wir  bisher  über  Gott,  Mensch 
und  Sünde  gehört   haben,   findet  dabei  Platz  und  Verwertung. 

6.  Aber  trotzdem  sind  die  Probleme  der  Sündenlehre  durch 
diese  Erörterungen  kaum  erledigt.  Zunächst  ist  es  wenig  ein- 
leuchtend, trotz  aller  dialektischen  Kunst,  die  Duns  darauf 
verwandt  hat,  wie  die  göttliche  Determination,  die  Präscienz 
und  die  Omnipotenz  auf  diesem  Wege  aufrecht  erhalten  bleibt. 
Wenn  wirklich  der  Mensch  schlechthin  frei  sich  für  die  Sünde 
bestimmt  —  dieser  Gedanke  ist  hier  von  Duns  freilich  etwas 
eingeschränkt  worden  — ,  wo  bleiben  dann  die  Mittel  zur  Durch- 


230     Kap.  II:  Der  Gottesbegriff.     Die  Lehre  v.  d.  Menschen  u.  d,  Sünde. 

führung  der  göttlichen  Präscienz  ?  Ich  finde  bei  Duns  auf  diese 
bekannten  Fragen  keine  Antwort.  Nun  wird  aber  die  Frage 
dadurch  etwas  modifiziert,  dass  Duns  die  vorliegende  Betrach- 
tung offenbar  nur  an  Adams  Sünde  orientiert  hat.  Wegen  der 
ersten  Sünde  wurde  der  Menschheit  der  Gnadenhabitus  im 
Willen  entzogen  und  sie  ihrem  natürlichen  Geschick  überlassen. 
So  scheint  es  verständlich  zu  werden,  dass  Gott  von  der  durch 
ihn  selbst  der  Gnade  beraubten  Menschheit  die  Karenz  der 
Gnade  oder  die  Sündhaftigkeit  des  Handelns  vorherweiss  und  — 
als  Strafe  —  vorherbestimmt.  Aber  diese  Lösung  ist  von  einer 
doppelten  Schwierigkeit  bedrückt,  erstens  von  der  Undeutlichkeit 
des  Zusammenhanges  zwischen  Adams  Sünde  und  der  Sünde 
der  Menschheit  (oben  S.  219),  zweitens  aber  davon,  dass  doch 
auch  der  Eintritt  der  ersten  Sünde  der  göttlichen  Präscienz 
dieselben  Schwierigkeiten  bereitet,  wie  überhaupt  die  Gesamt- 
heit der  Sünden.  Wie  konnte  Gott  Adams  Sünde  vorherwissen, 
ohne  sie  vorherzuwollen?  Mit  der  Defektibilität  des  Willens 
war  doch  nur  die  Möglichkeit,  nicht  aber  die  Notwendigkeit 
zu  sündigen  bei  dem  Menschen,  der  die  Gnade  erhalten  hatte, 
gesetzt.  Zwar  kann  man  diese  Schwierigkeit  nicht  dadurch 
steigern,  dass  man  die  Gnade  des  ersten  Menschen  als  ein  seine 
Sünde  erschwerendes  Moment  veranschlagt,  denn,  da  die  Sünde, 
nach  Duns,  das  rein  natürliche  Handeln  ist  und  die  Gnade  die 
Natur  ebensowenig  als  die  Sünde  beeinflusst,  so  erwuchs  dem 
Sündigen  aus  dem  Vorhandensein  der  Gnade  keine  Hemmung. 
Aber  auch  so  bleibt  die  angeführte  Schwierigkeit  deutlich 
genug  bestehen.  Die  Defektibilität  ist  von  Gott;  weiss  Gott 
alles  vorher,  so  wusste  er,  dass  sie  zur  Sünde  führen  würde; 
wusste  er  das,  woher  wollte  er  es  nicht,  wenn  doch  Wollen  und 
Wissen  in  ihm  in  keinem  Gegensatz  sein  können  (S.  159)?  — 
Aber  weiter:  Hat  die  Sünde,  wie  Duns  will,  zur  aktiven  und 
Hauptursache  den  freien  Willen,  muss  dann  nicht  ihr  Wesen 
in  der  positiven  Beschaffenheit  des  bösen  Willens  aufgezeigt 
werden  und  nicht  in  der  negativen  Formel  der  Karenz  über- 
natürlicher Gerechtigkeit?  Aber  hier  greift  der  scotistische 
Gottesgedanke,  wie  wir  sahen,  bestimmend  in  die  Entwicklung 
ein.  Und  von  hier  aus  lösen  sich  für  das  scotistische  Denken 
wirklich   alle   Schwierigkeiten:    Gott   wollte    es   so,    es   ist   ein 


Beurteilung  der  scotistisclien  Sündenlehre.  231 

positiver  Thatbe stand,  wir  mögen  ihn  verstehen  oder  nicht. 
Aber  wozu  dann  alle  dialektische  Mühe  in  der  Dogmatik? 
Stat  pro  ratione  voluntas! 

Es  ist  merkwürdig,  in  der  Formel  carentia  iustitiae  trifft 
sich  das  schlimmste  Element  der  scotistischen  Sündenlehre  mit 
einer  wirklichen  religiösen  Erkenntnis.  Die  Sünde  ändert  den 
Menschen  nicht,  sie  depraviert  nicht  sein  Wesen  und  seinen 
Charakter,  sie  tötet  nicht,  sie  verwundet  höchstens.  Das  ist 
der  Pelagianismus  des  Duns,  der  die  besten  religiösen  Empfin- 
dungen in  der  abendländischen  Sündentheorie  preis  gibt.  Dem 
gegenüber  behält  Augustinus  recht  und  der  grosse  Kampf  gegen 
den  Pelagianismus  im  ausgehenden  Mittelalter  und  in  der  Re- 
formationszeit ist  ein  Kampf  Augustins  wider  Duns  Scotus. 
Aber  andererseits  kommt  doch  auch  wieder  in  jener  Formel 
zum  ersten  Mal  auf  das  schärfste  der  rein  geistige  Charakter 
der  Sünde  zum  Ausdruck.  Das  Dasein  ohne  Gott,  das  bloss 
natürliche  Leben  ist  Sünde.  Nicht  die  Sinnlichkeit,  nicht  die 
Unwissenheit  bewirkt  die  Sünde,  sondern  die  neue  Lage  in  die 
der  Mensch  sich  dadurch  versetzte,  dass  er  gottlos  wurde.  Der 
Spielraum  der  natürlichen  Möglichkeiten,  die  dem  Menschen 
gesetzt  sind,  blieb  der  gleiche  und  die  rein  natürlichen  Potenzen 
seiner  Bethätigung  wurden  nicht  verändert.  Aber  indem  die 
Gnade  ihm  genommen  wurde,  verlor  er  das  übernatürliche  Ziel 
und  das  übernatürliche  Motiv  zu  seiner  Erreichung.  Dies  auf 
sich  selbst  Gestelltsein,  das  „Gehen  der  eigenen  Wege",  die  Gott- 
losigkeit  —  das  ist  die  Sünde.  Aber  freilich  diese  Richtung 
der  Gedankenbildung  konnte  nur  eingehalten  und  reicher  und 
kräftiger  befolgt  werden,  bei  einer  tieferen  Beobachtung  und 
einer  positiveren  Bestimmung  des  Wesens  der  Sünde,  als  Duns 
sie  hat  geben  können  und  wollen.  Und  so  sind  wir  wieder  auf 
den  Grundmangel  der  scotistischen  Sündenlehre  zurückgeführt 
worden.  Die  Heillosigkeit  und  Korruption  der  Sünde  ist  ihm, 
trotz  allem,  nicht  aufgegangen.  Der  Mensch  bleibt,  trotz  der 
Sünde,  was  er  ist;  dass  jene  Karenz  alle  Schrecken  und  alle 
Verderbnis  der  HcHle  in  sich  fasst,  das  kommt  nicht  zur  Aus- 
sage. Denn  es  ist  eine  freie  Ordnung  des  göttlichen  Willens, 
dass  er  Adams  That  durch  jene  Karenz  bestraft. 


232     Kap.  II:  Der  Gottesbcgriff.    Die  Lehre  v.  d.  Mensehen  u,  d.  Sünde. 

4.    Die  Einteilung  der  Sünden. 

1.  Was  die  Einteilung  der  Sünde  anlangt,  so  geht  Duns 
aus  von  dem  Gedanken,  quod  malitia  primo  et  formaliter  non 
est  nisi  in  aliquo  actu  voluntatis.  Formal  oder  ihrem  Wesen 
nach  ist  also  jede  Sünde  ein  Willensakt,  aber  material  an- 
gesehen, kann  dieselbe  sich  in  den  verschiedenen  Formen 
menschlicher  Bethätigung  ergehen,  wie  im  Gedanken,  im  Wort 
und  im  Werk  (II  dist.  42  quaest.  4,  1.  2).  Der  AVille  kooperiert 
in  allem,  diesen,  wie  im  Einzelnen  nachgewiesen  wird  (ib.  §  13  f. 
16);  ebenso  unterstehen  das  sinnliche  Gebiet  und  die  Triebe 
der  Gewalt  des  Willens,  der  diesen  Formen  der  Bethätigung 
einen  geistigen  und  ethischen  Charakter  aufdrückt  (ib.  §  18.  19). 

Genau  unterschieden  wird  in  der  bekannten  W^eise  auch 
zwischen  den  Todsünden  und  den  venialen  Sünden. 
Nur  für  erstere  bedarf  es  der  Busse,  letztere  werden  in  der 
Regel  durch  gute  Handlungen  ausgetilgt.  De  peccato  autem 
veniali  non  oportet  dubitare,  quia  de  illo  non  est  necessitas 
poenitentiae  (IV  dist.  9  qu.  unic.  §  4).  Dabei  erscheint  es 
aber  Duns  als  sehr  wohl  denkbar,  dass  ein  Christ  während 
eines  Jahres,  d.  h.  in  der  Zeit  von  einer  Beichte  bis  zur 
anderen,  überhaupt  keine  Todsünde  begeht.  Nee  est  incredibile 
multos  esse  in  ecclesia  qui  per  aunum  vivant  sine  mortali,  imo 
per  dei  gratiam  multi  multo  maiori  tempore  sine  peccato  mortali 
se  custodiunt  et  multa  opera  perfectionis  exercent,  de  quorum 
meritis  thesaurus  ecclesiae  congregatur  (IV  dist.  17  quaest.  un. 
§  32).  Der  Zusammenhang  des  werkheiligen  Wesens  mit  der 
Sündenlehre  tritt  hier  scharf  hervor. 

2.  Über  die  sieben  Todsünden  s.  dist.  42  quaest  5.  — 
Grade  diese  Unterscheidung  von  Tod-  und  venialen  Sünden 
hat  für  die  praktische  Anschauung  die  verhängnisvollsten  Folgen 
gehabt,  wie  man  an  der  Ethik  des  Duns  —  noch  besser  später 
an  der  Jesuitenmoral  —  studieren  kann.  Ernsthaft  kommt 
überhaupt  nur  die  Todsünde  in. Betracht.  Mit  den  venialen 
Sünden  kann  man  sich  nebenher  abfinden,  man  beachte  den 
Ton,  in  dem  Duns  von  ihnen  redet  (z.  B.  IV  dist.  38  quaest. 
un.  §  11.  14),  Aber  hieraus  ergab  sich  w^eiter  auch  jene 
juristische   Abmessung   der    Sünde,   jene    ethische    Schlauheit, 


Die  Einteilung  der  Sünden.  233 

mit  der  eine  Sünde  so  lange  psychologisch  analysiert  wird,  bis 
sie  sich  zur  Beruhigung  des  Sünders  als  veniale  Sünde  entpuppt 
(s.  z.  B.  IV  dist.  39  quaest.  un.  §  4 ;  111  dist.  38  quaest.  un. 
§  12  und  unten  die  Darstellung  der  ethischen  Fragen). 

Die  Sünde  wider  den  heiligen  Geist  wird  erklärt  als  das 
peccatum  ex  certa  malitia,  indem  sie  sich  wider  die  göttliche 
bonitas  oder  den  heiligen  Geist  richtet  (II  dist.  43  quaest.  1,  4). 
Doch  ist  diese  Bestimmung  zu  allgemein,  da  sie  auf  jede  be- 
wusste  Sünde  passt.  Da  diese  Sünde  die  höchste  Stufe  der 
Sünde  darstellt,  müssen  folgende  Merkmale  zu  jenem  hinzu- 
kommen: Diese  Sünde  muss  Verfehlung  gegen  die  Gebote  der 
ersten  Tafel,  oder  Abwendung  vom  höchsten  Ziel  sein.  Und 
zwar  eine  Abwendung,  welche  actus  oppositus  perspectissimo 
actui  conversivo  ist.  Da  der  Mensch  Gott  nicht  fassen  kann, 
so  wird  jene  Sünde  nicht  im  Widerspiel  der  Liebe,  sondern 
der  Hoffnung  bestehen :  et  hoc  est  peccatum  desperationis  sive 
abstinationis  in  malo  cum  desperatione  et  proposito  non  poeni- 
tendi;  et  hoc  est  peccatum  in  spiritum  sanctum  (ib.  §  5).  Un- 
vergeblich ist  diese  Sünde  aber  nicht  nur  in  dem  Sinne,  wie 
es  jede  Todsünde,  der  keine  Busse  folgt,  ist,  sondern  deshalb, 
weil  sie  das  Prinzip  der  Vergebung,  d.  h.  die  göttlichen  Barm- 
herzigkeit, für  sich  aufhebt  und  Gott  nur  als  gerecht  beurteilt, 
talis  enim  diffidit  et  desperat  de  misericordia  dei ;  sodann  aber, 
weil  die  Voraussetzung  nicht  Busse  zu  thun,  jede  subjektive 
Disposition  auf  den  Empfang  der  Sündenvergebung  aufhebt 
(ib.  §  7). 

3.  Auch  in  der  Sündenlehre  wird  der  aufmerksame  Leser 
die  Abweichungen  von  der  überkommenen  Lehre  nicht  ver- 
kennen. Die  der  augustinischen  Auffassung  anhaftende  Ver- 
quickung der  Sünde  mit  dem  physischen  Leben  ist  prinzipiell 
aufgehoben.  Die  Sünden  sind  die  verkehrten  Handlungen  des 
Willens  und  nichts  anderes.  Eine  Erbsünde  gibt  es  eigentlich 
nicht,  denn  nur  sehr  uneigentüch  kann  die  carentia  iustitiae 
als  solche  bezeichnet  werden,  nicht  die  Sünde  erbt  fort,  sondern 
der  Anspruch  Gottes  an  die  menschliche  Natur. 


Drittes  Kapitel. 

Die  Person  Christi  und  die  Erlösung. 


I.   Jesus  Christus  der  Gottmenscli. 

1.   Der  Begriff  der  Unio  und   der  Menschwerdung. 

1.  Indem  wir  uns  den  christologischen  Ideen  des  Duns 
zuwenden,  mag  gleich  hier  bemerkt  werden  was  Duns  später 
behandelt,  dass  es  nicht  die  göttliche  Natur  ist,  die  die  mensch- 
liche annimmt  (III  dist.  5,  quaest.  1,  2),  und  dass  ebensowenig 
eine  menschliche  Person  assumiert  werden  kann,  da  diese 
Personalität  die  natürliche  Dependenz  von  einer  andern  Person 
ausschlösse,  ist  die  Person  doch  gerade  die  Negation  der 
Abhängigkeit  von  einem  anderen,  wie  sich  später  zeigen  wird 
(ib.  quaest.  2,  4).  Die  Menschwerdung  bewegt  sich  also  zwischen 
den  beiden  Termini:  Logosperson  und  Menschennatur.  Die- 
selben werden  durch  eine  Unio  verbunden. 

Die  christologische  Darstellung  hat  Duns  mit  der  Frage 
eröffnet,  ob  und  wie  die  unio  personahs  vorstellbar  sei,  sowohl 
von  Seiten  der  persona  quae  assumit,  als  der  natura  quae 
assumitur  (III  dist.  1  quaest.  1,  2)?  Die  unio  ist  zu  denken 
als  eine  relatio.  Diese  Besiehung  ist  aber  nicht  kausabel  vor- 
zustellen, es  ist  eine  relatio  ordinis  und  zwar  ein  Verhältnis 
der  Abhängigkeit  der  menschlichen  von  der  göttlichen  Natur. 
Man  kann  dieselbe  etwa  vergleichen  mit  der  Beziehung  des 
Accidenz  zu  der  Substanz,  wobei  aber  nicht  daran,  dass  das 
Accidenz  seinem  Subjekt  etwas  hinzugefügt,  sondern  daran, 
dass  es  von  diesem  getragen  wird,  zu  denken  ist  (ib.  3).    Dieses 


Der  Begriff  der  Unio  und  der  Menschwerdung.  236 

Verhältnis  beschränkt  nun  in  keiner  Weise  die  göttliche  Natur, 
sofern  diese,  als  die  menschliche  Natur  zur  Abhängigkeit  be- 
stimmend, ihrerseits  weder  der  compositio  noch  der  potentialitas 
oder  limitatio  unterliegt  (ib.  4). 

Auch  kann  nicht  gesagt  werden,  dass  notwendig  alle  drei 
Personen  die  Assumption  ausführen  müssen.  Denn  obgleich 
alles  auf  die  göttliche  Natur  Bezügliche  wie  die  schöpferische 
Kausalität  den  drei  Hypostasen  durchaus  gemeinsam  ist,  ist 
doch  kein  Grund  dagegen  anzuführen,  dass  nicht  jede  Person 
für  sich  das  in  Rede  stehende  Abhängigkeitsverhältnis  sollte 
herstellen  können  (ib.). 

2.  Hieran  schliesst  sich  aber  weiter  die  Frage,  ob  die 
menschliche  Natur  fähig  ist  in  dies  Verhältnis  einzutreten. 
Dabei  handelt  es  sich  vor  allem  um  die  Frage,  wie  die  an 
sich  seiende  Menschennatur  in  solch  ein  naturhaftes  Abhängig- 
keitsverhältnis geraten  kann?  Hier  kommt  zunächst  der  Unter- 
schied der  Person  und  der  Natur  als  singulären  zur  Sprache. 
Die  Lösung  wurde  von  Varro  und  Heinrich  folgendermassen 
versucht.  1.  Die  natürliche  Singularität  geht  der  Personalität 
vorher,  also  konnte  in  dem  Augenblick,  wo  die  Singularität 
zur  natürlichen  Personalität  werden  sollte,  der  Logos  eingreifen 
und  die  Personierung  der  menschlichen  Natur  von  sich  aus 
ausführen.  2.  Wie  im  Abendmahl  Accidenzien  für  sich,  d.  h. 
in  der  Weise  der  Substanz,  bestehen,  so  könnte  auch  eine 
Substanz  die  Art  eines  Accidenz  annehmen,  also  in  diesem 
Fall  die  menschliche  Natur  der  göttlichen  wie  ein  Accidenz  an- 
haften. 3.  Die  Differenz  der  Art  ist  nicht  ein  Grund  gegen 
die  TJnibilität  der  beiden  Dinge,  da  gerade  artgleiche  Dinge 
nicht  vereinbar  sind,  dagegen  die  schärfsten  Gegensätze  als 
Subjekt  und  Prädikat  Zusammensein  können.  Warum  soll 
dann  die  Vereinigung  des  Erschaffenen  mit  dem  Unerschaffenen 
nicht  auch  möglich  sein? 

Mit  Recht  weist  Duns  diese  Gründe  ab.  Der  erste  gilt 
nicht,  denn  wenn  die  Natur  ohne  Singularität  bestehen  kann, 
könnte  sie  auch  ohne  Personalität  sein.  Gegen  den  zweiten 
bemerkt  er,  dass  die  Übertragung  dessen  was  einmal  vom 
Accidenz  gilt,  auf  die  Substanz  unbefugt  sei.  Und  das  dritte 
Argument  beweist  nichts,  weil  der  Begriff  der  Unio  eine  Distanz 


236  Kap.  III:  Die  Person  Christi  und  die  Erlösung-, 

zwischen  imibeln  Elementen  nur  fordert,  wenn  die  Potenzialität 
des  einen  der  Aktualität  des  anderen,  wie  etwa  bei  Subjekt 
und  Accidenz  entspricht,  wo  letzteres  sich  zu  ersterem  wie  der 
Akt  zur  Potenz  verhält.  Da  aber  die  Distanz  in  unserem 
Pall  nicht  durch  das  Verhältnis  von  Akt  und  Potenz  bemessen 
werden  kann,  so  gilt  jener  Beweis  nicht  (1.  c.  §  5). 

Duns  selbst  stellt  die  Frage  so:  wie  verhält  sich  das, 
wodurch  die  intellektuelle  Natur  Person  wird  zu  dem,  wodurch 
sie  diese  singulare  und  individuelle  Natur  ist?  Um  den  Grund 
der  Personalität  zu  finden,  sind  zwei  Wege  gangbar.  Man  kann 
die  Personahtät  als  etwas  Positives,  was  zu  der .  natürhchen 
Individualität  hinzukommt,  ansehen  und  es  dann  entweder  als 
etwas  Absolutes  und  Substanzielles  oder  als  eine  Relation 
fassen.  Der  andere  Weg  lehrt,  dass  die  Natur  durch  den 
blossen  Hinzutritt  einer  Negation  Person  wird.  Die  letzte 
positive  Entität  wäre  die,  welche  die  Natur  zu  dieser  besonderen 
macht,  dagegen  würde  durch  eine  Negation  der  weitere  Gedanke 
gewonnen ,  dass  diese  Natur  persönliches  Subjekt  sei  (6).  — 
Duns  versucht  nun  die  CJngangbarkeit  des  ersten  Weges  nach- 
zuweisen :  1.  Unter  Voraussetzung  desselben  wäre  in  der  mensch- 
lichen Natur  eine  positive  Entität,  die  vom  Logos  nicht  an- 
genom-men  werden  könnte,  denn  die  menschliche  Person  könnte 
nicht  in  die  natürliche  Union  mit  dem  Logos  treten.  2.  Wäre 
aber  die  menschliche  Natur  doch  vom  Logos  angenommen,  so 
würde  sie  —  unter  jener  Voraussetzung  —  ihrer  vollen  und 
höchsten  Realität  entbehren  müssen.  3.  Diese  Natur  könnte 
nicht  (vom  Logos)  entlassen  werden  und  doch  personiert  bleiben, 
da  eine  Realität,  wie  die  der  Personalität,  nicht  in  einer  Natur 
enthalten  sein  kann,  die  nicht  mit  ihr  identisch  ist.  4.  Die 
intellektuelle  Natur  müsste  diese  besondere  wirklich  existierende 
werden  können,  ohne  personiert  zu  sein,  denn  da  die  Persona- 
lität nicht  zur  Natur  gehört,  könnte  diese  letztere  ohne  jene 
zur  Entfaltung  kommen  (7). 

Aber  auch  gegen  den  zweiten  Weg  werden  Gründe  an- 
geführt. 1.  Die  Negation  würde  erfolgen  in  Bezug  auf  eine 
andere  Person,  dann  aber  müsste  auch  eine  abgeschiedene  Seele 
Person  sein,  weil  sie  nicht  diese  oder  jene  bestimmte  Person 
ist.    Aber  Richard  (de  trin.  X,  23)  habe  das  geleugnet.    2.  Jede 


Individualität  und  Personalität,  237 

Person  ist  inkommuriikabel,  keine  Negation  ist  inkommunikabel, 
also  muss  die  Personalität  etwas  Positives  sein.  3.  Diese 
Negation  müsste  ihren  Grund  an  der  positiven  Beschaffenheit 
des  Subjekts  haben.  4.  Teilbarkeit  ist  Un Vollkommenheit. 
Die  Personalität  ist  unteilbar,  also  ist  sie  vollkommenes  d.  h. 
positives  8ein.  Dieselbe  Linie  könnte  auch  für  den  Nachweis 
benutzt  werden,  dass  es  unvollkommen  sei  von  einer  äusseren 
Person  abzuhängen,  dass  also  nur  eine  positive  Entität  sich 
von  dieser  Abhängigkeit  frei  halten  könne  (8). 

3.  So  scheinen  beide  Wege  nicht  zum  Ziel  zu  führen. 
Der  erste  Weg  ist  ausgeschlossen,  weil  die  positive  Entität 
der  Persönlichkeit  das  Mass  an  Abhängigkeit,  das  die  Christo- 
logie  für  die  Menschennatur  fordert^  unmöglich  erscheinen  lässt. 
Der  zweite  Weg,  dass  eine  Person  dadurch  Person  wird,  dass 
sie  nicht  diese  andere  Person  ist,  würde  auch  die  Natur  zu 
Personen  machen.  —  Duns  erklärt  nun  aber,  dass  das  Verhältnis 
der  Abhängigkeit  verschieden  verstanden  werden  könne,  nämlich 
als  dependentia  actualis,  potentialis  et  aptitudinalis.  Die  aptitu- 
dinale  Abhängigkeit  ist  diejenige,  die  von  sich  aus  immer  ist, 
wenn  sie  nicht  durch  etwas  von  aussen  herankommendes  auf- 
gehoben wird.  So  gravitiert  das  Schwere  immer  zum  Centrum^ 
wenn  er  nicht  von  aussen  behindert  wird.  Die  Potenziale  Ab- 
hängigkeit ist  die,  welche  durch  Kompossibilität  der  in  Betracht 
kommenden  Beziehungen  jederzeit  möglich  ist.  ^-  Nun  ist  es  klar, 
dass  eine  kreatürliche  Person  in  ihrem  Verhältnis  zum  Logos  durch 
die  Negation  der  aktualen  Abhängigkeit  nicht  ausreichend  be- 
stimmt wird,  während  die  Negation  der  Potenzialen  Abhängigkeit 
zu  weit  ginge,  da  keinem  Erschaffenen  die  Abhängigkeit  vom 
Logos  schlechtweg  inkompossibel  ist.  Dagegen  kann  freilich  die 
Negation  der  aptitudinalen  Abhängigkeit  als  charakteristisch  für 
die  geschaffene  Person  in  ihrem  Verhältnis  zur  Logosperson  zu- 
gestanden werden.  Nicht  aber  kann  dabei  von  der  Potenzialen 
Abhängigkeit  Umgang  genommen  werden,  denn  sonst  würde  der 
Logos  gewaltsam  in  einer  Menschenseele  Platz  nehmen,  wie 
auch  nur  auf  dem  Wege  der  Gewalt  der  Stein  oben  in  der 
Höhe  zum  Stillstand  gebracht  werden  kann.  Indem  aber  die 
aptitudinale  Abhängigkeit  in  Wegfall  kommt,  wird  die  Mög- 
lichkeit einer  wirklichen  Abhängigkeit  nicht  negiert.   Die  Natur 


238  Kap.  III:  Die  Person  Christi  und  die  Erlösung. 

als  meDschliche  steht  nämlich  in  einem  Verhältnis  des  Ge- 
horsams zu  Gott,  das  sie  bereit  hält  in  das  von  Gott  durch 
übernatürliche  Aktion  hergestellte  Abhängigkeitsverhältnis  ein- 
zutreten. Auf  diese  Weise  sei  die  menschliche  Natur  Christi 
fähig  gewesen  von  dem  Logos  personiert  zu  werden.  Wo  da- 
gegen dies  nicht  eintritt,  bei  allen  übrigen  Menschen,  da  voll- 
zieht sich  die  Personierung  auf  dem  Wege  der  Negation  und 
nicht  durch  eine  positive  Entität  (9).  Das  Resultat  dieser  Er- 
örterung ist  also  dies,  dass  die  kreatürliche  Person  zu  der 
Logosperson  im  Verhältnis  nur  potenzialer  Abbängigkeit  steht, 
lind  dass  die  Natur  des  Menschen  fähig  ist  gehorsam  in  das 
Verhältnis  völliger  Abhängigkeit  zu  treten,  in  dem  sie  von  der 
Logosperson  personiert  wird.  Ehe  wir  an  dies  iu  mancher 
Beziehung  auffallende  Resultat  einige  Bemerkungen  knüpfen, 
wollen  wir  unseren  Autor  weiter  begleiten. 

Zunächst  werden  die  gegen  den  negativen  Charakter  der 
Personalität  gerichteten  Gründe  entkräftet.  Bezüglich  des 
Einwandes,  dass  die  Negation  nicht  inkommunikabel  ist,  bemerkt 
Duns,  dass  letzterer  Begriff  die  Kommunikabilität  des  Quod 
und  Quo  ausschliesse  (oben  S.  193),  und  dass  die  erschaffene 
Natur,  als  singulare,  in  der  That  die  Kommunikation  des  Quod 
ausschüesse.  Dagegen  eignet  ihr  nicht  die  Tnkommunikabilität 
bezüglich  des  Quo.  Nun  aber  kommt  der  göttlichen  Person 
die  doppelte  Inkommunikabilität  zu  (S.  194),  folglich  ist  der 
Personbegriff  in  kräftigerer  und  vollkommenerer  Weise  auf  Gott 
als  auf  die  Menschen  anzuwenden.     Et  hoc  modo  concedo  non 

€sse   personam   in  creatis. Nulla    erit   perfecte    persona 

nisi  divina  (10).  Die  göttliche  Person  hat  nämlich  schlechtweg 
und  überall  die  absolute  Repugnanz  gegen  Kommunikation 
sowohl  hinsichtlich  des  Quod  als  des  Quo,  während  die  mensch- 
liche Person  nur  in  erster  Hinsicht  inkommunikabel  ist.  Daher 
kann  eine  göttliche  Person  nie  anders  denn  als  positive  personale 
Entität  gedacht  werden,  während  es  zur  Konstituierung  der 
menschlichen  Person  nur  jener  Negation  bedarf  (10).  Jeden- 
falls ist  es  aber  einleuchtend,  dass  die  Kreatur  stets  der  er- 
forderten Abhängigkeit  von  Gott  fähig  ist. 

4.  Noch  eine  Frage  kann  in  diesem  Zusammenhang  ge- 
stellt werden.     Indem  nämlich  die  menschüche  Natur  Jesu  zu 


Die  Unio  nicht  durch  ein  neues  Absolutes  im  Menschen.         239 

dem  Logos  in  ein  Verhältnis  der  Abhängigkeit  tritt,  kann  man 
als  Fundament  dieser  Beziehung  eine  neue  absolute  Entität 
fordern.  Man  kann  dies  damit  begründen,  dass  sonst  die 
Folge  wäre  eine  mutatio  ad  relationem  et  a  relatione,  d.  h. 
eine  solche  Veränderung ,  die  von  einem  Bezogensein  zum 
Nichtbezogensein  oder  umgekehrt  führt,  sodass  also  die  Natur 
als  solche  ohne  inneren  Grund  die  Relation  wechseln  würde. 
Denn,  wenn  das  Wort  die  angenommene  absolute  Natur  aus 
der  Beziehung  zu  sich  entliesse,  wäre  die  Beziehung  der  Unio 
nicht  mehr  und  es  wäre  auch  kein  neues  Absolutes  da.  Und 
wenn  der  Logos  eine  Natur  annähme,  die  in  Petrus  personiert 
war,  so  würde  die  Veränderung  bestehen  in  einer  neuen  relatio 
ad  aliquid.  Nun  sagt  aber  Aristoteles:  in  „ad  aliquid",  non 
est  motus  nee  mutatio.  Mit  anderen  Worten  die  Veränderung 
kann  nicht  durch  blossen  Relationswechsel  erklärt  werden,  in- 
dem dieser  Wechsel  durch  etwas  Absolutes  im  Subjekt  ver- 
anlasst sein  müsste.  Weiter  sagt  Duns,  dass  die  Relation  eben 
nicht  neu  werden  könne,  es  entspreche  ihr  dann  ein  neues 
Absolutes.  Da  das  Neue  nicht  im  Logos  sein  kann,  so  müsste 
es  in  der  menschlichen  Natur  sein  (12). 

Aber  trotz  dem  scheint  das  Gegenteil  probabilius  zu  sein. 
Denn  wenn  ein  solches  Absolute  in  der  Menschennatur  Funda- 
ment der  Relation  wäre,  so  erwartet  man,  dass  es  notwendig 
Relationen  zum  Logos  setzt.  Aber  eine  derartige  Entität  ist 
unmöglich.  Zudem  wäre  nicht  klar  zu  machen,  wie  man  sie 
sich  vorstellen  könnte.  Sie  kann  kein  Accidenz  sein,  weil 
die  intellektuelle  Natur  an  sich  personabel  zu  sein  scheint, 
also  keine  Accidenz  zwischeneintreten  muss,  wenn  sie  in  einem 
anderen  personiert  werden  soll.  Aber  sie  kann  auch  nicht 
Substanz  sein,  denn  dann  würde  die  Menschheit  Christi  anders 
komponiert  sein  als  die  aller  übrigen  Menschen,  ja  einen  Be- 
standteil mehr  enthalten  (13).  Also  ist  das  neue  Absolute  in 
der  menschlichen  Natur  Christi  undenkbar.  Ohne  diese  Ver- 
mittlung nimmt  die  göttliche  Person  Christi  die  Beziehung  zu 
der  menschlichen  Natur  ein.  Nicht  an  eine  Zusammensetzung 
von  Unendlichem  und  Endlichem  ist  also  zu  denken,  denn  das 
Unendliche  non  est  componibile.  Aber  es  ist  unibile,  sofern 
ea  potest  termioare  dependentiam  alterius   ad  ipsum  (ib.  16). 


240  Kap.  III:  Die  Person  Christi  und  die  Erlösung. 

Diese  Einigung  zur  Abhängigkeit  ist  die  Mensch- 
werdung. Quod  incarnatum  esse  est  unitum  esse  carni  in 
unitate  personae  (IV  dist.  11  quaest.  2,  5). 

5.  Halten  wir  hier  für  einen  Moment  stille.  Die  Entwick- 
lung hat,  wie  der  letzte  Satz  es  ausspricht,  auf  die  orthodoxe 
abendländische  Theorie  hinausgeführt.  Die  Logosperson  assu- 
miert  die  unpersönliche  menschliche  Natur,  indem  sie  sich  die 
Relation  des  Subjektes  zu  ihr  gibt.  Diese  Theorie  hatte  Abä- 
lard  nicht  eigentlich  umgebildet,  wohl  aber  neu  accentuiert,  in- 
dem er  die  Formel  homo  assumptus  a  Verbo  so  anwandte, 
dass  die  personale  Art  der  Menschennatur  samt  ihren  Be- 
thätigungen  Raum  behielten.  Demselben  Zuge  begegnet  man 
auch  bei  seinem  Schüler,  dem  Petrus  Lombardus.^)  Auf  dieser 
Linie  bewegt  sich  aber  auch  die  Anschauung  des  Duns  Scotus. 
Es  kann  bei  seiner  dialektischen  Virtuosität  nicht  befremdeo, 
dass  er  das  erwünschte  Resultat  der  orthodoxen  Formel  er- 
reichte. Aber  eine  genauere  Erwägung  der  Sache  kann  nicht 
umhin  die  Spuren  der  abälardischen  Tendenz  aufzudecken. 
Es  ist  zunächst  auffallend,  dass  Duns  den  positiven  Charakter 
der  Personalität  leugnet.  Zwar  hatte  er  dies  auch  bezüglich 
der  göttlichen  Hypostasen  anempfohlen.  Aber  wie  uns  dieser 
Gedanke  schon  oben  S.  195  zweifelhaft  erschien,  so  begegnet 
uns  hier  die  ausdrückliche  Versicherung,  dass  die  göttlichen 
Personen  allerdings  positive  Entitäten  seien.  Man  kann  aber 
den  Verdacht  nicht  unterdrücken,  dass  wie  in  der  Trinitätslehre 
nur  der  Orthodoxie  zu  Gefallen  die  Person  als  blosse  Relation 
bestimmt  wurde,  auch  hier  derselbe  Grund  zu  gleichem  Resultat 
wirksam  wird.  Dazu  kommt  nun  aber,  dass  es  im  Zusammen- 
hang der  scotistischen  Denkweise  in  hohem  Grade  auffällt,, 
dass  die  menschliche  Personalität  nur  negativ  bestimmt  wird, 
während  doch  die  natürliche  Individualität  eine  positive  Entität 
sein  soll.  Da  Duns  die  Personalität  scharf  als  eine  Realität 
empfand,  so  führte  die  Konsequenz  seiner  Ideen  darauf,  auch 
sie  als  eine  positive  Form  zu  verstehen.  Alle  Dialektik  bringt 
über  diese  Forderung  und  ihr  Recht  nicht  hinweg,  denn  die 
Gründe,  die  dagegen  aufgeführt  werden  (S.  238),  greifen  über 


*)  Vgl.  meine  Dogmengesch.  II,  49. 


Duns  Begriff  der  Menschwerdung-.  241 

eine  Petitio  piincipii  nicht  hinaus :  die  menschliche  Natur  wird 
vom  Logos  als  unpersönliche  personiert,  also  muss  sie  freilich 
unpersönlich  sein,  oder  aber  die  Personalität  darf  doch  keine 
positive  Realität  in  ihr  sein!  Denn  wird  sie  nur  negativ  als 
das  Nichtsein  von  anderem  bestimmt,  so  hindert  das  nicht  ihre 
Annahme  durch  den  Logos.  Es  kann  als  ein  Zeichen  des 
wissenschaftlichen  Taktes  und  der  systematischen  Virtuosität 
unseres  Autors  bezeichnet  werden,  dass  er  nicht  etwa  den  Satz 
bildet:  an  sich  ist  die  menschliche  Personalität  eine  positive 
Entität,  aber  nur  in  Christo  war  sie  es  nicht.  Indem  er  das 
Problem  bezüglich  der  Person  Christi  den  allgemeinen  Be- 
dingungen einordnen  will,  beweist  er  wissenschaftlichen  Ernst. 
Aber  es  wäre  freilich  nicht  sehr  schwer  den  Spiess  umzukehren 
und  aus  den  Voraussetzungen  des  Duns  den  Satz  herzuleiten, 
dass  volle  und  wirkliche  Personalität  überhaupt  nur  den  gött- 
lichen Personen  eignet.  Und  die  Depotenzierung  der  mensch- 
lichen Personalität,  deren  Duns  sich  schuldig  macht,  wiese 
wirklich  in  diese  Richtung. 

Bei  dieser  Betrachtung  muss  allerdings  in  Acht  behalten 
werden,  dass  auch  Duns  einen  umfassenden  Begriff  der  Person 
nicht  erlangt  hat.  Nach  der  von  ihm  gebilligten  Definition 
des  Richard  ist  sie  intellectualis  naturae  incommunicabilis 
existentia  (oben  S.  194)  d.  h.  etwa  das  geistige  Fürsichsein. ^) 
Aber  auch  von  dieser  Definition  aus  wird  es  unklar  bleiben, 
wie  menschliche  Natur  ohne  dieses  Fürsichsein  real  gedacht 
werde  könne,  oder  wie  unverkürzt  menschliche,  aber  Impersonale 
Natur  in  Christo  sein  soll.  Dazu  kommt  aber  weiter,  dass 
Duns  die  menschliche  Natur  Jesu  wirklich  mit  Merkmalen  der 
Personalität  ausgestattet  hat.  Wenn  nämlich  Duns  von  einem 
Gehorsam  dieser  Natur  redet,  durch  den  sie  sich  dem  Logos 
unterordnen  kann  (oben  S.  239  f.),  so  ist  dieser  Gehorsam  doch 
nicht  irgendwie  denkbar  ohne  jenes  geistige  Fürsichsein,  oder 
anders  denn  als  Akt  persönlichen  Lebens.  Duns  entgeht  ja 
freilich  dieser  Folgerung  dadurch,    dass  er  das  Personale   rein 


^)  Vgl.  aber  III  dist.  2  quaest.  3,  3:  corpus  animatum.  si  in  aliquo 
tempore  est  in  se  subsistens  est  persona  (von  Jesu  Anfängen  im  Mutter- 
leibe ist  die  Rede).  Aber  die  intellectualis  natura  ist  jedenfalls  im  Person- 
begriff konnotiert,  s.  III  dist.  5  quaest.  2,  5. 

Seeberg,  Die  Theologie  des  Duns  Scotus.  16 


242  Kap.  III:  Die  Person  Christi  und  die  Erlösung. 

negativ  bestimmt.  Aber  dies  ist  nur  ein  Produkt  dogmatischer 
!Not.  In  Wirklichkeit  weist  uns  die  eben  gemachte  Beobachtung 
wieder  auf  dasselbe  Resultat  hin,  dass  Duns  nämlich  das 
menschliche  Leben  Jesu  als  persönliches  Leben  und  persön- 
liche Natur  —  in  unserem  Sinn  —  gedacht  hat.  Aber  dann 
bleibt  doch  kaum  eine  andere  Christologie  nach,  als  die  von 
Abälard  angedeutete:  der  Logos  vereinigte  sich  mit  einem 
persönlichen  Menschen,  den  er  anregte,  durchdrang  und  be- 
lebte und  der  sich  in  vollendetem  Gehorsam  mit  ihm  zu  schlecht- 
hiniger  Abhängigkeit  vereinigen  liess.  Duns  hat  das  nicht 
„gelehrt",  aber  er  hat  so  empfunden  und  gedacht. 

Sind  wir  mit  diesen  Bemerkungen  im  Recht,  so  ist  die 
Christologie  des  Duns  Scotus  doch  wieder  eigenartiger,  als  man 
gemeinhin  annimmt.^)  Jedenfalls  ist  mit  diesen  Gedanken  das 
dogmenhistorische  Problem  bezeichnet,  das  die  scotistische 
Christologie  stellt.  Wir  müssen  also  dieses  Gesichtspunktes 
im  folgenden  eingedenk  bleiben. 

6.  Lehrreich  für  diese  Gesamtauffassung  der  Christologie 
ist  weiter  die  Behandlung  der  Formel:  deus  est  factus  homo. 
Die  Factio  passiva,  von  der  dieser  Satz  redet,  schliesst  logisch 
in  sich  eine  Beziehung  des  Gemachten  zum  Machenden,  sowie 
zu  einem  vorangegangenen  Nichtsein.  Gott  wurde  Mensch, 
da  er  es  früher  nicht  war  und  indem  er  dazu  von  einem 
Machenden  gemacht  wurde  (III  dist.  7  quaest.  2,  3).  In 
mathematischen  Verhältnissen  geschieht  die  factio  in  der  Weise 
einer  Änderung,  indem  das  Gemachte  aus  der  Potenzialität 
durch  die  Thätigkeit  des  Machenden  in  die  Aktualität  versetzt 
wird.  Hier  dagegen  hat  das  agens  supernaturale  dem  unver- 
änderlichen Logos  die  menschliche  Natur  vereinigt.  Also  es 
ist  eine  factio  realis,  die  von  der  Trinität  gewirkt  wird,  vor- 
handen ;  ebenso  eine  factio  passiva,  qua  homo  est  factus  deus^ 
quae  fuit  unio  passiva  naturae  humanae  ad  Verbum.  Real  ist 
also  die  Gottwerdung,   resp.  die  Einigung   der  Menschheit  mit 


^)  Schwane  hat  also  von  seinem  Standpunkt  aus  ganz  Recht,  wenn 
er  urteilt  (Dogmengesch.  der  mittleren  Zeit  S.  288) :  „Duns  Scotus  hat 
sich  in  der  Lehre  von  der  Person  und  dem  Werk  des  Herrn  keine  Lor- 
beeren errungen,  auf  diesem  Gebiet  vielmehr  mit  seinen  kritischen  Auf- 
stellungen am  meisten  Fiasko  gemacht". 


Das  Resultat  der  Unio  oder  der  Gottmensch.  243 

der  Gottheit.  Nur  eine  factio  passiva  secundum  dici  ist 
es,  wenn  man  sagt,  das  Wort  sei  Fleisch  geworden.  Die 
Änderung,  welche  das  Werden  mit  sich  bringt,  vollzog  sich 
somit  lediglich  mit  dem  Menschen,  nicht  am  Logos  (ib.  5.  6). 
Beide  Sätze  aber,  sowohl  der,  dass  der  Mensch  Gott  wurde, 
als  dass  Gott  Mensch  wurde,  sind  zu  verstehen  und  herzuleiten 
aus  dem  Satz :  natura  humana  unita  est  personaliter  Verbo 
(ib.  8).  Der  Sinn  der  Formel  ist  wirklich  doch  nur  der,  dass 
der  Mensch  Gott  wurde,  nicht  aber  dass  Gott  in  irgend 
einem  Sinn  Mensch  wurde.  Diese  Gedanken  weisen  uns  auf 
das  obige  Resultat  zurück. 

Zwar  tritt  Duns  der  Meinung  des  Thomas  entgegen,  dass 
drei  Personen  eine  Natur  annehmen  könnten,  denn,  sagt  er, 
in  jeder  dependentia  essentialis  sei  nur  die  Beziehung  zu  einer 
Person  vorstellbar  (III  dist.  1  quaest.  2,  5).  Dagegen,  erklärt 
Duns,  sei  die  andere  Frage,  ob  eine  Person  mehrere  mensch- 
liche Naturen  annehmen  könne,  zu  bejahen,  denn  das  Ab- 
hängigkeitsverhältnis derselben  würde  sich  unter  einander  nicht 
ausschliessen,  ist  doch  jede  Kreatur  von  der  Gottheit  abhängig 
(ib.  quaest.  3,  2).  Ja  auch  das  wird  als  möglich  erwiesen, 
dass  die  Logosperson  sich  auch  mit  anderen,  unvernünftigen 
Kreaturen  vereinigte  (III  dist.  2  quaest.  1,  5.  6).  Wie  diese 
Möglichkeiten  die  berüchtigten  Formeln  Occams:  deus  est 
asinus,  deus  est  lapis  (m.  Dogmengesch.  II,  176)  anbahnen,  so 
erweisen  sie  andererseits,  wie  völlig  fern  Duns  dem  Gedanken 
einer  wirklichen  Menschwerdung  stand.  Die  Vereinigung 
des  Logos  mit  der  Menschheit  Jesu  ist  nur  s  o  beschaffen  ge- 
wesen, dass  dieselbe  VereiniguDg  gleichzeitig  mit  vielen  anderen 
Menschen  hätte  statthaben  können. 

2.     Das   Resultat   der   Unio   oder   der   Gottmensch. 

1.  Was  ist  es  aber  weiter  um  das  Produkt  jener  unio  oder 
relatio?  Es  kann  keine  unitas  naturae  entstehen,  denn  dann 
würde  die  natura  assumens  als  mit  der  natura  assumpta  identisch 
anzusehen  sein.  Aber  auch  nicht  eine  unitas  personae,  denn 
nicht  die  Person,  sondern  die  Essenz  ist  das  Ziel  dieser 
Einigung.  Diese  unitas  besteht  in  Wirklichkeit  in  der  unio 
naturae  huius  ad  illam,  nicht  so,  als  wenn  dadurch  eine  neue 

16* 


244  Kap.  III:  Die  Person  Christi  und  die  Erlösung. 

durch  Verwandlung  oder  Zusammensetzung  seiende  Natur  ent- 
stünde, sondern  so,  dass  die  Einheit  in  der  Vereinigung  liegt: 
dico  quod  non  est  concedendum,  quod  sit  ad  unitatem  naturae, 
sed  tantum  est  ibi  unio  ad  naturam  vel  ad  unitatem  unionis 
naturae  cum  natura  (III  dist.  1  quaest.  2,  10).  Nicht  eine 
unitas  naturae  wird  also  hergestellt,  sondern  eine  Unio,  welche 
in  dem  Verhältnis  schlechthiniger  Abhängigkeit  besteht,  sodass 
die  Menschennatur  von  der  göttlichen  Natur  so  abhängig  ist, 
wie  sie  es  jetzt  von  ihrer  eigenen  Person  ist  (specialis  depen- 
dentia  naturae  ad  naturam,  ib.). 

In  diesem  Abhängigkeitsverhältnis  der  menschlichen  Natur, 
könnte  nun,  wie  Heinrich  von  Gent  annahm,  beschlossen  sein 
ein  ständiges  Geniessen  der  menschlichen  Natur  durch  und  an 
der  ihr  gegenwärtigen  göttlichen  Natur,  indem  sie  durch  die 
Vereinigung  mit  dem  Logos  verklärt  und  in  den  Zustand  der 
ewigen  Seligkeit  versetzt  würde.  Duns  meint  dieses  mit  einer 
Anzahl  von  Gründen,  unter  anderen  auch  dem,  dass  unter  Vor- 
aussetzung jenes  frui,  eine  Eingiessung  des  übernatürlichen 
Habitus  in  die  Seele  Jesu  unnütz  wird  (III  dist.  2  quaest.  l, 
3  f.),  abweisen  zu  können.  Es  ist  auch  nicht  notwendig,  dass 
die  menschliche  Natur  verwandelt  werde,  um  die  Wirkungen 
des  Logos  empfangen  zu  können,  sondern  der  Logos  ver- 
setzt sie,  wie  sie  ist,  in  das  Abhängigkeitsverhältnis  zu  sich 
(ib.  9). 

2.  Da  nicht  eine  Natur,  sondern  nur  zwei  zu  einander 
in  Relation  stehende  Naturen  das  Resultat  der  Unio  sind,  so 
ist  es  nur  konsequent,  zu  lehren,  dass  auch  nach  der  Inkar- 
nation von  einem  doppelten  esse  essentiae  zu  reden,  dagegen 
nur  ein  esse  subsistentiae  anzunehmen  sei.  Strittig  ist  dagegen 
ein  drittes,  ob  nämHch  ein  besonderes  kreatürliches  esse  actualis 
existentiae  in  Christo  anzusetzen  sei?  Mit  anderen  Worten, 
es  fragt  sich,  ob  die  menschliche  und  göttliche  Natur  in  Christo 
nicht  nur  als  abstrakt,  sondern  auch  konkret  besondere  und 
different  seiende  Grössen  vorzustellen  sind.  Auch  hier  verlässt 
Duns  die  üblichen  gebahnten  Pfade  der  übrigen  Meister  der 
Scholastik,  insonderheit  auch  des  Thomas.  Heinrich  von  Gent 
hat  die  Frage  verneint,  denn,  da  die  göttliche  Natur  bei  der 
menschlichen  Personstelle   vertrete,    sei    auch   von   einem  kon- 


Die  Existenz  der  menschlichen  Natur  Christi.  245 

kreten  Fortbestand  der  menschlichen  Natur  nach  der  Mensch- 
werdung nicht  zu  reden.  Duns  lässt  das  nicht  gelten.  Die 
Personierung  der  menschlichen  Natur  durch  die  göttliche  Person 
setzt  erstere  nur  in  ein  Abhängigkeitsverhältnis,  wandelt  aber 
nicht  ihr  esse  existentiae ;  ist  die  Personalität  nur  eine  Negation 
des  Abhängigkeitsverhältnisses,  so  wird  das  konkrete  Sein  der 
Natur  durch  Wegfall  derselben  nicht  modifiziert  werden.  Ergo 
quantumcunque  persona  tollatur,  esse  naturae  uon  tolletur. 
Weiter:  wenn  zu  einem  Ganzen  ein  neuer  Teil  hinzukommt, 
so  wird  dieser  das  Sein  des  Ganzen  nicht  verändern,  sondern 
nur  eine  neue  Beziehung  des  Ganzen  begründen.  Der  Gedanke 
empfängt  hiermit  eine  neue  Nuance.  Wäre  Heinrich  im  Recht, 
so  würde  das  göttliche  Sein  in  Christo  durch  den  Hinzutritt 
des  menschlichen  Seins  irgendwie  zu  einem  gottmenschlichen 
Sein  modifiziert.  Das  erste  Argument  wahrte  mehr  die  Sache 
der  menschlichen,  das  zweite  die  der  göttlichen  Natur.  Zu 
dem  Sein  der  göttlichen  Natur  kommt  das  Sein  der  mensch- 
lichen Natur,  und  obwohl  letzteres  durch  ersteres  personiert 
wird,  also  aus  ihm  sein  hypostatisches  Sein  hat,  bleibt  ihm  doch 
ein  besonderes  Sein  der  Existenz  (III  dist.  6  quaest.  1,  2). 
Hierdurch  stellt  Duns  sich  nicht  nur  zu  Heinrich,  sondern  auch 
zu.  Thoraas  in  Gegensatz.  Er  führt  aber  den  Gedanken  noch 
weiter  fort.  So  wenig  verliert  die  menschliche  Natur  ihre 
Existenz,  dass  sie  sogar  für  die  Existenzweise  des  Logos  wirk- 
sam wird.  Die  Existenz  meines  Fusses  ist  nicht  meine  Existenz, 
weil  ich  nicht  der  Fuss  bin,  auch  nicht  sein  Subjekt  im  be- 
sonderen, weil  ich  das  Suppositum  meiner  Natur  überhaupt  bin. 
Eher  existiert  der  Fuss  durch  meine  Existenz,  so  dass  er 
partiell  an  ihr  Teil  hat.  Aber  anders  verhält  es  sich  in  Christo. 
Der  Logos  ist  als  Subjekt  der  menschlichen  Natur  wirksam, 
weshalb  er  Mensch  genannt  wird.  Also  existiert  er  in  der 
Existenz  dieser  Natur  (proprie  est  existens  existentia  huius 
naturae,  ib.  §  5).  Indem  also  der  Logos  Person  der  Mensch- 
heit Jesu  wird,  hat  er  seine  existentia  an  der  existentia  creata 
des  Menschen  Jesus.  —  Somit  ist  das  Menschliche  in  Christo 
als  eine  konkrete  und  reale  Grösse  zu  denken,  nicht  bloss  als 
ideelles  oder  potenzielles  Sein.  Der  von  der  Jungfrau  Maria 
Geborene,    der   den  Tod    erlitt,    der    eine    von  Gott   aus   dem 


246  Kap.  III:  Die  Person  Christi  und  die  Erlösung-, 

Nichts  geschaffene  Seele  hatte,    der  war   wirklicher   konkreter 
Mensch,  wie  wir  auch  (cf.  Report.  III  dist.  6  quaest.  1). 

3.  Spezielle  Probleme  der  Christologie,  besonders 
hinsichtlich     des     wahren     menschlichen     Lebens 

Jesu. 

Nachdem  wir  im  allgemeinen  den  Begriff  der  unio  be- 
sprochen haben,  wenden  wir  uns  der  Erörterung  der  einzelnen 
Züge  der  Menschwerdung  zu. 

1.  Da  steht  obenan  die  Frage,  ob  der  Logos  sofort  und 
unmittelbar  die  ganze  menschliche  Natur  annahm,  oder  ob  er 
den  Leib  mediante  anima  annahm,  sodass  diese  zuerst  und 
dann  erst  jener  angenommen  wurde  ?  Duns  bekämpft  diese  von 
Varro  vertretene  Auffassung,  würde  doch  so  der  Mensch- 
gewordene nicht  sofort  ein  ganzer  Mensch,  ja  überhaupt  nicht 
Mensch.  Und  weiter  könnte  man  in  Frage  ziehen^  ob  er  jemals 
wirklich  Mensch  genannt  werden  kann,  denn  der  Leib  bliebe 
nur  ein  später  Hinzutretendes,  für  seine  Menschheit  bloss  poten- 
zielles Element.  Auch  müsste  bei  dem  Tode  Christi  —  unter 
jener  Voraussetzung  —  eine  neue  Assumption  stattgefunden 
haben,  denn  da  Leib  und  Seele  sich  hier  von  einander  trennen, 
hätte  der  Leib  jetzt  direkt  angenommen  werden  müssen  vom 
Logos.  Aber  auch  das  ist  nicht  ersichtlich,  warum  die  Gott- 
heit nicht  sollte  direkt  den  Leib  angenommen  haben  (III  dist.  2 
quaest.  2,  2 f.).  Nur  in  dem  Sinne  kann  jene  These  aufrecht 
erhalten  werden,  dass  die  Seele  die  Form  der  menschlichen 
Natur  ist;  sie  ist  somit  dasjenige,  worin  und  wodurch  die 
menschliche  Natur  und  somit  auch  das  Fleisch  angenommen 
werden  kann  (ib,  5.  6). 

Man  hat  andererseits  (so  Bonaventura)  der  Gnade  eine 
solche  Mittlerstellung  bei  der  Menschwerdung  zugewiesen.  Das 
sei  unmöglich.  Die  menschliche  Natur  kann  nicht  als  unpersön- 
liche bestehen.  Im  Moment  ihres  Entstehens  muss  sie  somit 
durch  die  göttliche  Person  personiert  werden,  oder  sie  wird 
—  was  ausgeschlossen  sein  soll  —  eine  menschliche  Person. 
Nun  ist  die  Gnade  ein  habitus  als  principium  operandi;  ihre 
Mitteilung  setzt  also  ein  operari  und  somit  die  Personalität 
<des   Begnadigten   voraus.      Also   würde    die   Gnadenmitteilung 


Spezielle  Probleme  der  Christologie  etc.  247 

die  menschliche  Person  fertig  vorfinden,  sie  könnte  also  nicht 
Mittel  zur  Personierung  derselben  durch  den  Logos  sein.  So- 
mit ist  jener  Satz  falsch  (ib.  12).  Aus  dem  genannten  Grunde 
darf  auch  die  Belebung  des  Leibes  Jesu  im  Mutterleibe  nicht 
vorangehen  der  Inkarnation :  corpus  enim  animatum,  si  in  aliquo 
tempore  est  in  se  subsistens,  est  persona  (ib.  quaest.  3,  3). 

2.  Von  hier  aus  kommt  Duns,  den  Bahnen  des  Lombarden 
folgend,  zur  Erörterung  der  Frage,  ob  Maria  in  der  Erbsünde 
empfangen  sei?  Da  Christus  auch  ihr  Erlöser  sei,  und  da  sie 
aus  menschlichem,  d.  h.  sündlich  infiziertem  Samen  entstand, 
sowie  den  natürlichen  Übeln,  welche  Strafe  der  Sünden  sind, 
unterlag,  wird  diese  Frage  für  gewöhnlich  bejaht  (III  dist.  3 
quaest.  1,  3).  Allein  gegen  diese  Gründe  können  Einwände 
erhoben  werden.  Christus,  als  der  schlechthin  vollkommene 
Mittler  kann  in  Bezug  auf  eine  Person  auch  eine  schlechthin 
vollkommene  Vermittlung  anwenden.  Diese  besteht  darin,  dass 
er  verdiente,  dass  die  ihm  am  nächsten  stehende  Person  von 
der  Erbsünde  bewahrt  blieb  (4).  Das  zweite  Argument  fällt 
für  Duns,  vermöge  seiner  oben  dargelegten  Erbsündenlehre, 
von  selbst  fort,  zudem  hätte  Gott  auch  im  Moment  der  Er- 
zeugung in  der  Maria  die  Infektion  durch  Mitteilung  der  Gnade 
tilgen  können.  Wenn  man  schliesslich  auf  die  Leiden  rekurriert, 
so  ist  es  doch  nicht  undenkbar,  dass  Gott  jemanden  die  ihm 
nützlichen  Leiden  treffen  lässt,  ihn  aber  von  den  ihm  schäd- 
lichen befreit.  Da  die  Erbsünde  schädlich  ist,  so  wäre  dieses 
somit  erklärlich  (ib.  8).  Aus  dieser  Betrachtung  ergibt  sich 
also  die  Möglichkeit  der  Freiheit  der  Maria  von  der  Erbsünde. 
Es  kann  Gott,  wie  er  sonst  in  der  Taufe  die  Sünde  tilgt, 
es  auch  im  Moment  der  Konzeption  thun  (9).  Sicut  posset  post 
primum  instans  conferre  ei  gratiam,  ita  posset  et  in  primo  in- 
stant! (14).  Aber  hiemit  ist  im  Sinne  des  Duns  nur  eine  Mög- 
lichkeit bezeichnet.  Ausdrücklich  stellt  er  dem  Leser  die  Mög- 
lichkeiten zur  Auswahl:  dass  Maria  von  Erbsünde  frei  war, 
dass  sie  ihr  nur  für  einen  Moment  unterstand  und  dass  sie 
per  tempus  aliquod  in  der  Erbsünde  war.  Freilich  ist  ihm 
selbst  die  erste  Möglichkeit  die  sympathischste:  Quod  autem 
horum  trium  quae  ostensa  sunt  esse  possibilia  factum  sit, 
deus  novit;    si   auctoritati   ecclesiae   vel  auctoritati 


248  Kap.  III:  Die  Person  Christi  und  die  Erlösung. 

scripturae  non  repugnet,  videtur  probabile,  quod 
excellentius  est  attribuere  Mariae  (10).  Die  positive 
MeinuDg  des  Duns  tritt  auch  an  einer  anderen  Stelle  recbt 
deutlich  hervor,  Report.  III  dist.  18  quaest.  1,  14:  virgo  beata 
quae  nunquam  fuit  inimica  actualiter  respectu  peccati  actualis 
et  forte  nee  pro  peccato  originali,  quia  fuit  praeservata,  ut 
supra  dictum  est. 

Aber  auch  bei  dieser  Annahme  habe  Maria  natürlich 
des  Erlösers  bedurft,  sofern  nur  durch  seine  Gnade  sie  vor 
der  Erbsünde  bewahrt  blieb,  er  war  ihr  mediator  praeveniens 
(ib.).  Christi  Passion  war  von  Gott  im  voraus  speziell  als  Er- 
lösungsmittel  für  sie  acceptiert  (ib.  17).  —  Wollte  man  aber 
sagen,  dass  sie  doch  jedenfalls  zuerst  Adams  Tochter  und  als 
solche  Sünderin,  und  dann  erst  eine  Begnadigte  war,  so  ist 
auch  das  nach  Duns  kein  zwingender  Schluss :  aus  der  Her- 
kunft von  Adam  folge  an  und  für  sich  weder  die  Gerechtigkeit 
noch  der  Mangel  derselben.  Aber  wenn  sie  erst  durch  einen 
göttlichen  Akt  gerecht  wurde,  war  sie  dann  nicht  früher  un- 
gerecht? Auch  das  ist  falsch,  da  hier  letzteres  durch  ersteres 
eben  ausgeschlossen  werden  soll  (ib.  17)  u.  s.  w.  Ja,  selbst 
wenn  man  die  Seele  im  Moment  der  Konzeption,  durch  die 
fleischliche  Zeugung  entstehen  lässt,  ist  keine  Nötigung  von 
erbsündlicher  Infektion  zu  reden,  vorhanden,  da,  wenn  Gott 
in  demselben  Moment  die  Gnade  der  Seele  eingoss,  diese  vom 
Fleisch  nicht  infiziert  werden  konnte  (ib.  20). 

Einen  Lehrsatz  über  die  immaculata  conceptio  hat  Duns, 
genau  genommen,  nicht  entwickelt,  er  hat  nur,  mit  der  ihm 
eigenen  Disputationslust,  wie  so  oft  die  Erbsündentheorie  an- 
gegriffen und  die  Möglichkeit  der  gegenteiligen  Ansicht  erwiesen» 
Denn  es  ist  deutlich,  dass  seine  Auffassung  auf  das  engste 
mit  seiner  Erbsündenlehre  zusammenhängt;  ebenso  aber,  dass 
an  dieser  bemessen  der  Vorzug  der  Maria  vor  den  übrigen 
Sterblichen  als  ein  relativ  geringer  erscheint.  Duns  hat  die 
Möglichkeit  derSündlosigkeit  der  Maria  als  Hypothese  empfohlen, 
ohne  ein  sonderliches  Interesse  an  derselben  zu  verraten.  Die 
Gründe,  die  er  bietet,  sind  seinem  Orden  später  zu  pass  ge- 
kommen, aber  es  ist  nicht  genau,  wenn  man  ihn  selbst  die 
Lehre   von    der    immaculata   conceptio-  zur    „allgemeinen   An- 


Immaculata  conceptio,  Gottesmutter.  249 

nähme"  bringen  und  zu  einer  „Ehrensache  für  den  Orden"  er- 
heben lässt.  ^) 

3.  Die  Sündlosigkeit  der  Geburt  Christi  wird  nur  kurz 
behandelt  (ib.  quaest.  2).  Indem  Duns  dann  fortschreitet  zur 
Besprechung  des  Titels  „Gottesmutter",  sieht  er  sich  ver- 
anlasst eine  Theorie  über  das  Verhältnis  von  Mann  und  Weib 
bei  der  Zeugung  zu  entwerfen.  Die  Ansicht  des  Thomas, 
dass  der  Vater  die  aktive  Ursache  bei  der  Erzeugung  sei, 
während  die  Mutter  sich  nur  passiv  verhalte,  wird  widerlegt. 
Mann  und  Weib  gehören  zu  derselben  Spezies,  also  können 
ihre  natürlichen  Kräfte  einander  nicht  schlechthin  als  aktiv 
und  passiv  entgegengesetzt  sein.  Man  mag  es  sich  nun  so 
denken,  dass  der  männliche  Samen  bei  der  Erzeugung  sofort 
in  das  Kind  verwandelt  wird,  oder  dass  der  Same  als  aktive 
Kraft  im  Moment  der  Erzeugung  bleibt,  in  keinem  Fall  ist  die 
Aktivität  der  Mutter  ausgeschlossen,  ja  dieselbe  erscheint  sogar 
erheblicher  als  die  des  Vaters.  Dazu  kommt,  dass  der  Vater 
eben  nur  den  Samen  hergibt,  während  die  ganze  weitere  Ent- 
wicklung bis  zur  Geburt  unter  dem  Einfluss  der  condiciones 
matris  (Zustand  der  Gebärmutter  etc.)  erfolgt.  Ferner,  die 
Mutter  liebt  die  Kinder  von  Natur  mehr  als  der  Vater,  sie 
können  ihr  mehr  als  ihm  ähnhch  sehen.  Auch  diese  Züge 
weisen  auf  aktiven  Anteil  der  Mutter  bei  der  Empfängnis 
zurück.  Die  Rolle,  welche  jene  Theorie  der  Mutter  zuweist, 
entspricht  also  nicht  dem  Thatbestand;  die  Mutter  wird  wie 
ein  blosses  Gefäss  gedacht,  oder  ihr  wird  keine  erheblich 
andere  Holle  zugewiesen,  als  die  ein  Mensch  hat,  in  dem  an 
einer  faulen  Stelle  des  Körpers  ein  Wurm  entsteht  (III  dist.  4 
quaest.  unic.  §  3  f.  13).  Auch  dem  Weibe  eignet  also  eine 
virtus  activa  bei  der  Empfängnis.  Hierbei  bleibt  es  auch  den 
Auffassungen  des  Bonaventura  und  Varro  gegenüber.  Nach 
ersterem  kommt  der  weiblichen  Natur  eine  gewisse  Aktivität 
bei  der  Empfängnis  zu,  die  aber  nicht  zur  Auswirkung  gelangt 
sei,  indem  der  heilige  Geist  ihr  zuvorkam.  Der  Grund  für 
diese  Einschränkung  liegt    in   der  Erbsünde,    die   nach  Bona- 


^)  Z.  B.  Schwane,  Dogmengesch.  der  mittleren  Zeit  S.  424  f..  vgl. 
oben  S.  43. 


250  Kap.  III:  Die  Person  Christi  und  die  Erlösunpr. 

Ventura  der  Maria  anhaftete.  Varro  dagegen  meinte ,  der 
heiligen  Jungfrau  sei  im  Konzeptionsmoment  eine  übernatürliche 
Kraft  mitgeteilt  worden,  vermöge  deren  sie  dem  heiligen  Geist 
habe  kooperieren  können.  Gegen  beide  Ansichten  wendet  Duns 
ein,  dass  sie  die  wirkliche  Mutterschaft  der  Maria  aufheben; 
hat  sie  überhaupt  keinen  aktiven  Anteil  an  der  Entstehung 
Jesu,  so  ist  sie  ebensow^enig  seine  Mutter,  als  wenn  ein  solcher 
Anteil  ihr  durch  das  Accidenz  einer  übernatürlichen  Kraft  ver- 
liehen würde;  sie  wäre  nicht  per  se  et  vere,  sicut  aliae  matres 
Mutter  Jesu  (ib.  5.  6). 

Nun  kann  angenommen  werden,  dass  die  drei  Momente 
zur  Erzeugung  eines  Körpers,  nämlich  die  Versetzung  des 
Samens  resp.  des  Blutes,  aus  dem  der  Körper  des  Kindes  gebildet 
wird,  an  den  hiefür  geeigneten  Ort,  so^Yie  die  Gestaltung  und 
die  Verdichtung  des  Körpers  (ib.  7),  bei  Maria  in  einen 
Moment  fielen,  sodass  ihr  Blut  nicht  zur  Gebärmutter  strömte, 
auch  keine  allmähliche  Figuration  eintrat,  sed  in  ultimo  instanti 
illius  temporis  erat  in  loco  isto  corpus  iiguratam  et  densum  (8). 
Auch  in  diesem  Fall  hat  die  heilige  Jungfrau  nach  Art  aller 
Weiber  aktiv  zur  Entstehung  des  Kindes  mitwirken  können. 
Der  heilige  Geist  konnte  dabei  ,,die  Rolle  eines  natürlichen 
Vaters  ausfüllen'^,  und  Maria  vermochte  mitzuwirken  in  der 
Kraft  der  weiblichen  Kausalität  bei  der  Zeugung.  Ihre 
Thätigkeit  war  demgemäss  die  ihrer  Art  natürliche,  indem  der 
heilige  Geist  das  für  die  erste,  männliche  Kausalität  erforder- 
liche von  sich  aus  leistete  (12).  So  betrachtet,  kann  Maria 
die  natürliche  Mutter  Jesu  genannt  werden. 

Indem  aber  ihre  natürliche  Anlage  auf  nicht  natürlichem 
Wege  in  Thätigkeit  gesetzt  wurde,  ist  sie  auch  in  wunderbarer 
Weise  Mutter  Jesu.  Das  gilt  auch  im  Hinblick  auf  die  der 
Geburt  vorausgehenden  Momente,  die  entweder  in  einen  Augen- 
blick, oder  doch  in  einen  sehr  viel  kürzeren  Zeitraum  als  ge- 
wöhnlich und   natürlich  ist,    zusammengedrängt  waren  (14). 

Diese  Betrachtungen  bieten  ein  wunderliches  Gemenge 
dar  von  ungezügeltem  Wunderglauben,  logischem  Fanatismus, 
gynäkologischer  Gelehrsamkeit  und  —  gewissen  rationalistischen 
Neigungen.  Ein  Wunder  über  alle  Wunder  verlegt  das  fertige 
Kind  in  den  Leib  der  Mutter,  aber  diese  muss  doch  dabei  die 


Die  Gottgebärerin.     Prädestination  Jesu.  251 

ganze  Aktivität  ihrer  natürlichen  Fruchtbarkeit  entfaltet  haben ! 
Und  doch  ermangelt  auch  dieser  Abschnitt,  trotz  aller  krausen 
und  abstrusen  Ideen ,  nicht  der  Wichtigkeit.  Wenn  unser 
Denker  —  im  Gegensatz  zu  den  Zeitgenossen  —  dem  Weibe 
eine  gewisse  Aktivität  bei  dem  Empfänguisakt  zuschreibt,  so 
hat  das  für  die  Christologie  den  Erfolg,  dass  Avirklich  mensch- 
liche Faktoren  bei  der  Entstehung  Jesu  wirksam  waren. 

4.  Duns  wendet  sich  sodann  der  Besprechung  einer  Anzahl 
von  Fragen  zu,  welche  die  menschliche  Natur  Jesu  betreffen. 
Hier  lässt  sich  wieder  die  Beobachtung  feststellen,  dass  er  für 
das  rein  menschliche  Leben  Jesu  mehr  Verständnis  gehabt  hat, 
als  etwa  Thomas.  Aber  daran,  dass  all  die  Anregungen,  welche 
die  mittelalterliche  Erbauungslitteratur  —  man  denke  an  die 
Anschauung  des  Menschen  Jesus,  welche  Bernhard  und  Franz 
gewonnen  hatten  —  in  dieser  Hinsicht  darbot,  ausgebeutet 
worden  wären,  kann  nicht  die  Rede  sein.  Aber  die  folgenden 
Erörterungen  werden  uns  eine  Bestätigung  für  die  oben  (S.  240  f.) 
ausgesprochene  Beobachtung  über  das  persönliche  menschliche 
Leben  Jesu  bringen. 

Der  Mensch  Jesus  ist  prädestiniert  Gottes  Sohn  zu  werden, 
lehrt  Duns,  mit  Augustin  (III  dist.  7  quaest.  3).  Die  Prä- 
destination ist  praeordinatio  alicuius  ad  gloriam  principaliter 
et  ad  alia  in  ordine  ad  gloriam  (1.  c.  §  2).  So  ist  auch  die 
menschliche  Natur  Jesu  präordiniert  zur  Herrlichkeit  und  zu 
der  Unio  mit  dem  Logos,  die  dadurch  Beziehung  zur  gloria 
hat,  dass  diese  durch  jene  vergrössert  wird.  Die  Unio  bedeutet 
für  die  Person  Christi  in  diesem  Zusammenhang  etwa  das,  was 
die  merita  de  congruo  für  uns  besagen.  Also  Jesus  war  prä- 
destiniert. Duns  selbst  erhebt  jetzt  den  Einwand:  nur  Per- 
sonen können  prädestiniert  werden.  Da  an  die  Logosperson 
natürlich  nicht  zu  denken  ist,  so  tritt  die  menschliche  Persona- 
lität Jesu  wieder  in  Sicht.  Duns  hilft  sich  durch  die  Unter- 
scheidung, dass  während  sonst  die  Personen  präordiniert  werden, 
hier,  da  die  Person  nicht  prädestinabel  ist,  die  Natur  Gegen- 
stand der  Prädestination  ist. 

Wichtiger  als  diese  fragwürdige  Auskunft  ist  eine  hieraus 
abgeleitete  Hypothese,  die  Duns  mit  vielen  mittelalterlichen 
Lehrern    teilt,    nämlich,    dass    auch    ohne    Eintritt    der   Sünde 


252  Kap.  III:  Die  Person  Christi  und  die  Erlösung. 

Christus  Mensch  geworden  wäre.  ^)  Der  Wille  richtet  sich  zu- 
erst auf  das  dem  letzten  Zweck  Nächstgelegene.  Es  ist  also 
im  göttlichen  Willen  die  gloria  einer  Seele  vor  der  gratia  für 
dieselbe,  gewollt.  Nun  steht  die  Seele  Christi  zum  letzten 
Zweck  in  einer  näheren  Beziehung  als  die  übrigen  Seelen. 
Also  will  Gott  für  die  Seele  Jesu  die  gloria,  bevor  er  sie  für 
die  übrigen  Menschen,  somit  für  Adam,  wdll.  Dann  ist  aber 
jener  göttliche  Wille  auch  früher  als  die  Voraussicht  des  Falles 
Adams :  ergo  a  primo  prius  vult  animae  Christi  gloriam  quam 
})raevideat  Adam  casurum  (ib.  §  3).  Wie  diese  Seele,  so  hat 
Gott  auch,  alle  Engel  und  Menschen  ad  illam  curiam  coelestem 
quos  voluit  habere,  erlesen,  ohne  Beziehung  zur  Sünde;  nullus 
est  praedestinatus  tantum,  quia  alius  praevisus  est  casurus 
(ib.  4). 

5.  Die  grössere  Selbständigkeit  der  menschlichen  Natur 
Jesu,  wie  sie  im  Zusammenhang  mit  der  aktiven  Thätig- 
keit  seiner  Mutter  bei  der  Empfängnis  sich  ergab,  tritt  auch 
bei  der  Erörterung  der  Frage,  ob  eine  oder  zwei  Sohnschaften 
(filiatio)  in  Christo  anzunehmen  seien?  Thomas,  Bonaventura, 
Heinrich,  Gottfried  nehmen  eine  Sohnschaft  an,  weil  diese 
am  Subjekt  hafte  und  in  Christo  nur  ein  Subjekt  sein,  sowie 
deshalb  w^eil  zwei  Dispositionen  derselben  Art  nicht  in  einem 
sein  können.  Duns  bestreitet  beide  Gründe.  Gegen  den  ersten 
gilt,  dass  wenn  das  Fundament  der  Filiatiou  plurifiziert  werden 
kann,  auch  diese  selbst  des  Plurals  fähig  sein  müsse.  Das 
könnte  nur  dadurch  entgründet  werden,  dass  entw^eder  jede 
Kelation  in  Christo  oder  die  besondere  Relation  des  Ursprunges 
Christi  als  nicht  plurifikabel  erwiesen  w^ürden.  Aber  ersteres 
ist  unmöglich,  weil  sonst  Christus  keine  Relation  mit  anderen 
gemein  haben  könnte ;  letzteres,  weil  wir  mit  dem  Damascener 
von  zwei  Generationen  Christi  reden  müssen.  Ausserdem  hat 
der  Vater  zwei  Relationen  des  Ursprunges,  nämlich  zum  Sohn 
und  zum  Geist,  also  kann  auch  die  Möglichkeit  eines  doppelten 
Ursprunges  in  positivem  Sinn  für  Christus  nicht  in  Abrede 
genommen  werden  (III  dist.  8  quaest.  un.  §  3.  4).  —  Was 
aber  den  zweiten  Hauptgrund  anlangt,  so  ist  er  einfach  falsch. 


*)  Vgl.  Dorner,  Lehre  von  der  Person  Christi  II,  437 fif. 


Doppelte  Filiation.     Anbetung  Christi.  253 

da  etwa  eine  Ursache  zu  verschiedenen  Effekten  Beziehung 
haben  kann,  oder  viele  Phantasiebilder  zugleich  in  dem  näm- 
lichen Phantasieorgan  sein  können.  Das  gilt  auch  von  der 
Filiation  bezw.  der  Paternität.  Zudem  ist  es  auch  nicht  richtig, 
wenn  Thomas  die  ewige  und  zeitliche  Filiation  in  eine  Spezies 
zusammenfasst  (5  ff.). 

Demgemäss  ist  positiv  zu  sagen,  quod  alia  est  filiatio  in 
Christo  ad  patrem  et  alia  ad  matrem  et  utraque  est  realis. 
Indem  Christus  einen  doppelten  Ursprung  hat,  ist  er  Sohn  im 
doppelten  Sinn,  nämlich  ewig  und  zeitlich.  So  wenig  die  ewige 
Paternität  des  Vaters  sich  auf  den  Menschensohn  als  solchen 
beziehen  kann,  so  wenig  kann  die  zeitliche  Filiation  dasselbe 
mit  der  ewigen  sein.  Neben  die  ewige  Paternität  tritt  daher 
die  zeitliche  Maternität  der  Maria,  und  dem  entspricht  die 
zeitliche  und  ewige  Generation  und  Filiation.  Die  eine  ist  nicht 
minder  real  als  die  andere.  Bezüglich  der  ewigen  Sohnschaft 
wird  das  zugestanden.  Aber  es  gilt  auch  von  der  zeitlichen 
Sohnschaft.  Maria  war  bei  Jesu  Empfängnis  nicht  minder 
thätig,  als  wenn  sie  einen  blossen  Menschen  hätte  gebären  sollen; 
und  Jesus  empfing  nicht  minder  die  menschliche  Natur  von 
ihr,  als  wenn  er  ein  blosser  Mensch  hätte  werden  sollen  (10  f.). 
Liegt  hier  also  dasselbe  Sohnesverhältnis  wie  bei  allen  Menschen 
vor,  so  ist  Christo  ebenso  wie  ihnen  die  volle  menschliche  Filia- 
tion zuzusprechen.  Auch  hier  ist  das  Interesse  des  Duns  an  der  un- 
geschmälerten Realität  der  menschlichen  Natur  Christi  ersichtlich. 

6.  Aus  diesen  Gedanken  ergeben  sich  zwei  Folgerungen. 
Die  erste  betrifft  die  Anbetung  Christi.  Auch  hier  macht  sich 
die  strenge  Unterscheidung  zwischen  Gottheit  und  Menschheit 
geltend.  Der  menschlichen  Natur  kommt  nur  die  hyperdulia 
zu,  quae  est  extrema  reverentia  exhibita  creaturae  (ib.  dist.  9 
quaest.  un.  §  9.  11  f.).  Die  anbetende  Verehrung  kann  ent- 
weder aus  der  bonitas  intrinseca  des  Angebeteten  abgeleitet 
werden,  oder  daraus,  dass  durch  dieselbe  als  causa  secunda 
dem  Anbetenden  ein  grosses  Gut  zu  teil  wird.  In  diesem 
Sinn  ist  der  Mensch  Jesus  causa  meritoria  salutis  nostrae 
und  als  caput  ecclesiae  in  der  letzten  Weise  zu  verehren 
(1,  c).  Dagegen  gebührt  Christo  als  Gott  und  als  dem, 
der  in  sich  die   bonitas  infinita   intrinseca  hatte   und  als  causa 


254  Kap.  III:  Die  Person  Christi  und  die  Erlösung. 

principalis    die    Erlösung    bewirkte,    natürlich,   wie    auch    dem 
Schöpfer,  die  adoratio  (ib.  §  8). 

7.  Die  zweite  Folgerung  betrifft  die  Frage,  ob  Christus 
Gottes  Adoptivsohn  genannt  werden  könne?  Die  Frage 
wäre  mit  Sicherheit  zu  verneinen,  wenn  der  Begriff  der  Sohn- 
schaft ausschliesslich  an  der  Person,  und  nicht  auch  an  der 
Natur  haftete.  Der  Begriff  der  Adoption  hat  bei  den  Juristen 
eine  dreifache  Beziehung:  die  Extraneität  infolge  Mangels  der 
natürlichen  Erzeugung,  den  freien  gütigen  AVillen  des  Adop- 
tierenden und  die  Bestimmung  des  Adoptierten  zur  Erbschaft 
und  zum  ius  succedendi.  Es  ist  klar,  dass  der  Begriff  auf  die 
göttliche  Natur  Christi  keine  Anwendung  finden  kann;  aber 
es  scheint,  dass  die  Extraneität  auch  zu  der  menschlichen 
Natur  Jesu  wegen  ihrer  Unschuld  nicht  passe  (III  dist.  10  quaest. 
un.  §  2).  Doch  dies  letztere  lässt  sich  nicht  halten.  Denn 
sonst  wäre  die  von  der  Erbsünde  frei  gebliebene  Maria,  oder 
wären  auch  die  sündlosen  Engel  mehr  als  Adoptivkinder  Gottes. 
Zudem  wird  hier  ein  dem  Begriff  der  Adoption  fremdes  Ele- 
ment hineingetragen,  als  wenn  die  Feindseligkeit  zur  Extraneität 
gehöre,  während  diese  doch  bloss  den  durch  die  Generation 
bedingten  Mangel  eines  natürlichen  Anrechtes  auf  die  Erbschaft 
bezeichnen  soll.  Nun  hat  aber  kein  zeitliches  Wesen,  also  auch 
nicht  der  Mensch  Jesus  als  solcher,  ein  Anrecht  auf  das  ewige 
Erbe.  Also  kommt  ihm  diese  Extraneität  zu,  deren  es  zur 
Adoption  bedarf.  Sonach  ist  Jesus  seiner  Menschheit  nach 
als  Adoptivsohn  Gottes  zu  bezeichnen  (3).  Wollte  man  dem 
dadurch  entgehen,  dass  ja  Christus  im  ersten  Moment  seines 
Daseins  schon  die  Gnade  und  damit  das  Recht  der  Erbschaft 
hatte,  also  nie  der  Extraneität  unterstand,  so  würde  doch  da- 
gegen sprechen,  dass  auch  ein  etwa  in  der  Gnade  erschaffener 
Engel  nicht  mehr  als  ein  Adoptivsohn  Gottes  sein  könnte,  vor 
allem  aber,  dass  es  sich  hier  nur  darum  handelt,  ob  die  Gene- 
ration als  Generation  das  Erbrecht  verleiht  oder  nicht.  Dies 
würde  aber  von  dem  zeitlich  entstandenen  Menschen  Jesus  nicht 
gelten  können  (4).  Somit  bleibt  es  bei  dem  gewonnenen  Re- 
sultat, zu  dem  sich  Duns  auch  in  den  Reportata  ausdrücklich 
bekennt.  Ein  Adoptivsohn  Gottes  war  also  der  Mensch  Jesus. 
Duns  sieht  sich  genötigt,  das  auf  die  menschliche  Natur  des 


Christus  Adoptivsohn;  ob  Kreatur?  255 

Herrn  einzuschränken.  An  sich  läge  es  nur  nahe  an  die 
menschliche  Person  zu  denken. 

8.  An  die  entwickelten  Gedanken  schliesst  sich  nun  weiter 
die  Frage  an,  ob  Christus  Kreatur  genannt  werden  könne. 
Bonaventura  hat  das  verneint,  da  eine  Kommunikation  der 
Idiome  nicht  möglich  sei ,  wenn  dieselben  sich  direkt  wider- 
sprechen, wie  etwa  in  diesem  Fall  der  zeitliche  Anfang  der 
Ewigkeit  widerspräche.  Varro  dagegen  bejahte  die  Frage,  so- 
fern diese  Bejahung  auf  die  Menschheit  Jesu  bezogen  wird,  an 
sich  aber  sei  die  Frage  wegen  der  häretischen  Misdeutung  zu 
verneinen.  Duns  kommt  eigentlich  auf  dasselbe  heraus,  es 
handelt  sich  um  einen  belanglosen  Wortstreit,  da  die  Kreatür- 
lichkeit  der  Menschheit  natürlich  festgehalten  wird  (III  dist.  11 
quaest.  l).  —  Ahnlich  liegt  es  mit  der  anderen  Frage,  ob 
Christus  Kreatur  sei?  Subjekt  und  Prädikat  dürfen  einander 
nicht  einfach  ausschliessen,  das  wird  auch  dadurch  nicht  er- 
möglicht, dass  mau  das  Subjekt  verdoppelt.  Wohl  aber  ist  es 
möglich  die  Spannung  dadurch  zu  heben,  dass  das  Prädikat 
als  nur  in  bestimmter  Beziehung  giltig  gesetzt  wird.  Ich  kann 
weder  sagen:  der  Äthiopier  ist  weiss,  noch:  der  Äthiopier,  der 
Zähne  hat,  ist  weiss,  wohl  aber:  der  Äthiopier  ist  weiss  hin- 
sichtlich seiner  Zähne.  In  diesem  Sinn  kann  die  Kreatür- 
Hchkeit  von  der  Menschheit  Christi,  nicht  aber  von  Christus 
an  sich  oder  auch  Christus  dem  Menschen  prädiziert  werden 
(III  dist.  11  quaest.  2,  3  f.) 

Die  Frage,  ob  Jesus  sündigen  konnte,  kann,  wenn  man 
rein  abstrakt  an  die  Wandelbarkeit  seiner  menschlichen  Natur 
denkt,  bejaht  werden.  Indem  aber  Christus  durch  die  Union 
mit  der  göttlichen  Natur  selig  wird,  ist  auch  seine  menschliche 
Natur  in  derselben  Weise  zum  Sündigen  unfähig  wie  es  die 
Seligen  sind^)  (III  dist.  12  quaest.  un.  §  2.  3).  Diese  Un- 
fähigkeit zu  sündigen  soll  aber  nicht  eigentlich  aus  der  An- 
schauung des  Logos  oder  der  gloria  und  gratia  abgeleitet  werden, 
denn  erstere  könnte  als  Erkenntnis  den  Willen  nicht  bestimmen 
und  letztere  machten  die  Sünde  zwar  unwahrscheinlich  aber 
nicht  unmöglich.    Die  Sündlosigkeit  erklärt  sich  aus  der  völligen 


*)  Vgl.  weiter  unten  die  Eschatologie. 


256  Kap.  III:  Die  Person  Christi  und  die  Erlösung. 

Befriedigung,  die  der  Wille  Jesu  als  Liebe  in  Gott  fand: 
pleuissima  fruitio  quam  Christus  habuit  (Report.  III  dist  12 
quaest.  un.  2).  Auch  hier  wird  also  ein  Versuch  rein  psycho- 
logischer Erklärung  gemacht. 

9.  Von  grösserem  Interesse  als  diese  logischen  Exerzitien 
sind  wieder  die  folgenden  Fragen,  die  sich  auf  die  Ausstattung 
Jesu  mit  Gnade  und  auf  die  Art  und  den  Umfang  seines  Er- 
kennens  beziehen,  denn  hier  erlangt  man  einen  gewissen  Ein- 
blick in  das  konkrete  Christusbild  unsers  Autors.  In  vier 
Fragen  verläuft  der  Abschnitt,  der  der  Gnadenausrüstung  ge- 
widmet ist  {III  dist.  13). 

1)  Konnte  Christus  die  höchste  Gnade,  deren  die  Kreatur 
fähig  ist,  zugeteilt  werden?  Da  die  menschliche  Natur  Christi 
der  höchsten  Union  mit  Gott  fähig  ist  bezüglich  des  Seins,  so 
auch  bezüglich  des  Handelns.  Die  Union  in  dieser  Hinsicht 
vollzieht  sich  aber  durch  die  Mitteilung  des  Habitus  der  Gnade. 
Und  entsprechend  der  Seinseinigung  konnte  auch  dieser  im 
höchsten  Mass  der  menschlichen  Natur  Jesu  zu  Teil  werden 
(quaest.  1).  —  2)  War  diese  höchstmögliche  Gnade  wirklich 
der  Seele  Christi  mitgeteilt?  Unter  Berufung  auf  Bibelstellen 
und  andere  Autoritäten  wird  das  kurz  bejaht  (quaest.  2).  — 
3)  War  es  möglich,  dass  der  Wille  Christi  den  der  Kreatur 
höchstmöglichen  Genuss  hatte?  Ja,  denn  Christus  hatte,  wie 
gezeigt,  die  höchstmögliche  Gnade.  Die  Gnade  ist  aber  die 
übernatürliche  Ursache,  die  den  Akt  der  Fruition  bewirkt 
(quaest.  3).  —  4)  Konnte  aber  die  Seele  Christi  den  höchsten 
Geuuss  Gottes  ohne  die  höchste  Gnade  haben?  Da  die  höchste 
Gnade  durch  einen  Akt  geschaffen  werden  konnte,^)  so  konnte 
sie  auch  sofort  zu  Anfang  der  Seele  Christi  ganz  eingegossen 
werde©.  Es  ist  probabile  zu  sagen,  dass  Gott  Christo  die 
höchstmögliche  Gnade  mitteilte,  das  ist  die  summa  gratia 
creabilis  (quaest.  4,  5.  9).  Die  Gnade  ist  aber  Christo  in 
einzigartigem  Mass  mitgeteilt  worden ;  dies  ist  aus  der  potentia 
ordinata  Gottes  zu  erklären,  die  nur  das  Haupt  der  Kirche, 
von  dem  die  Gnade  in  die  Glieder  der  Kirche  einströmt,   mit 


^)  Über   den   Gnadenbegriff  ist   in    anderem   Zusammenbang   unten 
zu  reden. 


Christus  empfing  Gnade.  257 

<lein  höchstmöglichen  Grade  der  Gnade  ausrüstete,  wiewohl 
de  potentia  absoluta  natürlich  auch  anderen  Kreaturen  dieser 
Gnadengrad  hätte  zu  Teil  werden  können  (ib.  8).  Nun  wäre 
es  ja  an  sich  auch  möglich,  dass  Gott  der  Seele  Christi  die 
höchste  Fruitio  ohne  Vermittlung  der  Gnade  mitteilte,  da  die 
Seele  eines  solchen  Accidenz  fähig  ist.  Die  Seligkeit  besteht 
aber  in  Willensakten,  welche  zur  causa  secunda  den  Habitus 
der  Gnade  haben.  Will  man  die  obige  Frage  bejahen,  so 
müsste  man  Gott,  als  die  erste  Ursache,  irgendwie  die  Gnade 
in  der  Seele  Christi  supplieren  lassen.  Aber  Duns  ist  doch 
der  anderen  Ansicht  zugethan,  nach  der  die  Gnade  so  auf 
den  Willen  Christi  einwirkte,  dass  dieser  in  sich  die  Willens- 
akte des  Genusses  der  Gottheit  erzeugte  und  zu  erzeugen  ver- 
mochte (ib.  19). 

Dies  Resultat  ist  wieder  von  grosser  Bedeutung.  Der 
Mensch  Jesus  empfing  also  von  Gott  zu  seinem  sittlichen 
Handeln  wie  zum  Vollzug  der  Willensakte  der  Seligkeit  den 
übernatürlichen  Habitus  der  Gnade.  Es  kam  somit  in  ihm 
zum  Handeln  auf  demselben  Wege  der  Vermittlung  wie  bei 
allen  Menschen.  Nur  besass  er  die  Gnade  und  die  durch  die- 
selbe vermittelte  ethische  Vollkommenheit  und  Seligkeit  in  dem 
höchstmöglichen  Grade  oder  in  der  Weise,  wie  sie  den  Seligen 
zu  eigen  ist.  Die  Absicht  unseres  Dogmatikers  ist  also  darauf 
gerichtet,  das  sittliche  und  religiöse  Leben  des  Menschen  Jesus 
psychologisch  zu  erklären.  Er  denkt  sich  dies  Innenleben 
so,  wie  er  sich  das  Leben  der  seligen  V^ollendeten  vorstellt. 
Zu  dieser  Betrachtung  treten  aber  erläuternd  und  weiterführend 
die  Erörterungen  über  das  verdienstliche  Handeln  Christi,  denn 
dieselben  zeigen,  dass  Christus  sich  auch  in  den  Formen  der 
menschlichen  Sittlichkeit  bewegt  hat.  Wir  kommen  weiter 
unten  hierauf  zu  sprechen. 

10.  Hier  ist  zunächst  die  Frage  nach  der  Erkenntnis  Christi 
zu  untersuchen. 

Es  sind  zwei  Fragen  zu  stellen,  ob  der  Intellekt  der  Seele 
Jesu  unmittelbar  vollendet  wurde  durch  die  vollkommenste  für 
die  Kreatur  erreichbare  Schauung  des  Logos,  und  ob  dieses 
Erkennen  fähig  war,  im  Logos  alles  zu  schauen,  was  der  Logos 
schaut?  (III  dist.  14  quaest.  1,  1).  —  Die   erste  Frage  ist  zu 

Seeberg,  Die  Theologie  des  Duns  Scotus.  17 


258  Kap.  III:  Die  Person  Christi  und  die  Erlösung, 

bejahen.  Der  Seele  Jesu  kam  die  summa  fruitio  zu ,  dieser 
setzt  aber  voraus  die  summa  visio.  Diese  kann  aber  der 
Seele  Christi  uninitcelbac  zu  Teil  geworden  sein,  da  sie 
die  fotenz  zu  derselben  oder  diese  Periektibilität  besass,  es 
also  irgend  welcher  Mittel  nicht  bedurfte  (ib.  quaest.  1,  2).  Auf 
diese  Schauung  ist  der  Geist  angelegt  und  in  ihr  findet  der 
Intellekt  erst  seine  volle  Befriedigung.  Der  Logos  selbst  ist 
es,  der  in  der  Seele  Christi,  indem  er  ihr  gegenwärtig  ist,  un- 
mittelbar und  supernatural  die  Schauimg  des  Intellekts  er- 
zeugt. Diese  Schauung  hat  zum  Gregenstand  den  unendlichen 
Inhalt  des  Intellekts  des  Logos;  das  widerstrebt  aber  nicht 
der  Natur  des  Geistes ,  da  der  Intellekt  darauf  angelegt  ist 
das  Unendliche  zu  ergreifen :  Itaque  posset  dici,  quod  intellectus 
animae  Christi  potest  passive  recipere  visionem  Verbi  prima 
et  immediate,  et  hoc  ita,  quod  non  perficiatur  prius  aliquo 
lumine  tanquam  forma  absoluta  alia  a  visione  (ib.  quaest.  2. 
3.  4). 

In  Bezug  auf  die  zweite  Frage  hat  Thomas  behauptet,  die 
Seele  Jesu  habe  aicht  alles  erkennen  können,  was  der  Logos 
erkennt,  wenigstens  nicht  'm  Sinne  einer  scientia  simplicis 
notitiae,  sonderr  nur  in  der  Weise  der  scientia  visionis.  Jene 
ist  die  ruhende  Erkenntnis  alles  Seienden,  des  Wirklichen  wie 
des  Möglichen,  sie  ist  auj  de?  göttlichen  >Tatur  uiöglich.  Diese 
ist  die  durch  Vision  vermittelte  Erkenntnis  dessen  was  in  einer 
besonderen  Zeit  wirklic'i  st.  Ohne  diese  'Beschränkung  müsste 
nämlich  vom  geschöpflicher  "ntellekt  gesagt  werden,  dass  er 
in  den  unendlich  vielen  Wirkungen  die  unendliche  Ursache 
oder  Gott  selbst  begreife.  Das  ist  aber  unmöglich  (9).  Gerade 
hier  setzt  die  Polemik  (-es  Duns  ein.  Das  Erkennen  der  Un- 
endlichkeit Gottes  ist  nicht  dasselbe  wie  das  Begreifen  oder 
Verstehen  des  unendlichen  Gottes.  Wer  in  den  unendlich 
vielen  möglichen  Wirkungen  die  Unendlichkeit  Gottes  erkennt^ 
hat  sie  darum  noch  lange  nicht  begriffen.  Wer  im  Logos 
etwas  als  Gewirktes  erkennt,  hat  dadurch  noch  nicht  begriffen, 
wie  und  wodurch  diese  Wirkung  entstand  (10  f.).  Also  die 
Seele  Christi  erkennt  oder  nimmt  wahr  alles  Mögliche  im 
Logos,  nicht  nur  Vergangenes,  sondern  auch  Zukünftiges,  aber 
sie  begreift   das   Erkannte   nicht.     Damit  soll  aber  nicht   ge- 


Das  Erkennen  Christi.  259 

sagt  sein,  dass  die  Seele  Christi  Dur  habituell  in  einer  Schauung, 
nicht  aktuell  alles  im  Logos  schaue,  wie  Heinrich  und  Bona- 
ventura lehren.  Aber  dann  -  -  wendet  Duns  ein  -  müsste  es 
einen  erschaffenen  Habitus  geben ,  der  auf  unendlich  viele 
Objekte  gerichtet  ist :  aber  das  Erschaffene  ist  nicht  unendlich. 
Meint  man  aber,  der  Habitus  sei  nicht  an  sich  unendlich, 
sondern  begründe  blos  unendlich  viele  Beziehungen  zu  der  un- 
endlichen Anzahl  von  Objekten,  so  v/ürde  man  gerade  darauf 
geführt,  was  man  vermeiden  wollte,  nämlich  die  aktuelle  Er- 
kenntnis von  unendlich  vielen  Objekten  (13  f.). 

Duns  legt  daher  eine  andere  Auffassung  vor.  Die  Seele 
sieht  alles  actualiter  im  Logos.  Dem  Intellekt  ist  der  Trieb 
zur  Erkenntnis  jedes  Objektes  eigen  und  diese  ist  ihm  möglich. 
So  steht  es  auch  mit  der  Erkenntnis  im  Logos,  die  die  voll- 
kommenste Erkenntnis  ist.  Und  zwar  kann  der  Intellekt  un- 
endlich viele  Objekte  erkennen.  Kann  er  nämlich  von  zwei 
zugleich  Erkenntnis  gewinnen,  so  auch  von  unendlich  vielen. 
Nun  kann  aber  die  unendliche  Zahl  dieser  Objekte  als  dem 
kreatürlichen  Intellekt  inkompossibel  bezeichnet  werden.  Dem 
begegnet  Duns  durch  eine  subtile  Erörterung.  Ein  an  sich 
rezeptives  Vermögen  ist  ebenso  vollkommen  in  seiner  Art, 
wenn  es  potenziell  bleibt  gegenüber  den  vielen  möglichen  Akten, 
als  wenn  es  die  Potenzen  in  Akte  umsetzt,  denn  die  Akte 
fallen  eigentlich  nicht  unter  den  Begriff  des  Rezeptiven.  Nun 
befindet  sich  der  Intellekt  jederzeit  und  zwar  gleichzeitig  in  der 
Potenzialität  für  alle  möglichen  Bethätigungen,  etwa  Visionen. 
"Wenn  nun  diese  Potenzialität  in  unendlich  viele  Akte  um- 
gesetzt wird,  so  ist  dadurch  der  Seele  keine  grössere  Infinität 
mitgeteilt,  als  sie  an  sich  hatte  (ib.  16).  Also  konnte  die 
Seele  Jesu  UQbeschadet  ihrer  Kreatürlichkeit  gleichzeitig  un- 
endlich viele  Objekte  im  Logos  schauen.  Dies  kann  aber  ver- 
schieden vorgestellt  werden.  Erstens  so,  dass  die  Seele  eine 
Vision  hatte,  in  der  sie  den  Logos  als  primäres  Objekt  schaute 
und  in  ihm  als  sekundäre  Objekte  alle  sonstigen  Erkenntnis- 
objekte, zu  denen  sie  besondere  Beziehungen  einnimmt.  Der 
Einwand,  dass  dann  der  Akt  der  Vision  unendlich  sein  müsse, 
sofern  er  diese  unendlich  vielen  Beziehungen  herstelle,  wird 
dadurch  widerlegt,    dass   diese  Beziehungen  nicht  aktuell   sind, 

17* 


260  Kap.  III:  Die  Person  Christi  und  die  Erlösung. 

also  jener  Akt  nicht  unendlich  viel  Relationen  wirklich  real 
macht.  Zweitens  könnte  man  aber  auch  sagen,  dass  die  Seele 
vom  Logos  zugleich  unendlich  viel  Visionen  des  Objekts  em- 
pfängt. Da  aber  der  Seele  Christi  hier  Unendliches  beigelegt 
wird,  scheint  diese  Meinung  —  gemäss  der  Autorität  der  Theo- 
logen und  Philosophen  —  nicht  richtig  zu  sein  (18).  Aber 
bei  dieser  oder  jeuer  Auffassung  bleibt  doch  immer  die  Schwierig- 
keit, dass  der  menschliche  Intellekt  irgendwie  zu  dem  Un- 
endlichen in  zu  nahe  Beziehung  rückt,  sei  es  dass  er  eine 
Vision  bezüglich  unendlich  vieler  Objekte  oder  dass  er  unend- 
lich viele  Visionen  hatte.  Man  versteht  nicht,  wie  der  end- 
liche Intellekt  sollte  unendliche  Visionen  aus  sich  hervorrufen 
können  (19). 

Da  also  gegen  die  entwickelte  Auffassung  Zweifel  erhoben 
werden  können,  weist  Duns  auf  einen  weiteren  Weg  der  Lösung 
hin:  Die  Seele  Jesu  sieht  alles  im  Logos  habitualiter,  nicht 
aber  actualiter.  Aber  diese  Formel  Bonaventuras  (oben  S.  259) 
ist  anders  zu  deuten,  als  dieser  es  that.  Durch  die  Schauung, 
w^elche  die  Seele  auf  den  Logos  richtet,  wird  ihr  die  ganze 
Welt  der  Objekte,  die  sich  in  ihm  widerspiegelt,  potenziell 
gegenwärtig  und  dadurch  habituell  bekannt.  Das  Wort  be- 
wirkt aber  diese  Schauung  als  willentlich  wirksamer  Spiegel 
des  Weltalls  (ut  speculum  voluntarium  repraesentans  omnia). 
Nicht  also  schaut  die  Seele  distinkt  und  im  einzelnen  die  un- 
endlich vielen  Objekte,  sondern  eine  allgemeine  und  habituelle 
Erkenntnis  derselben  wird  ihr  zu  Teil.  Die  besondere  und  ge- 
nauere Erkenntnis  erwirbt  sie  aus  der  Berührung  mit  den 
wirklichen  Objekten.  Diese  Erkenntnis  ist  also  nicht  aktuell, 
und  deshalb  sind  ihre  Akte  auch  nicht  simultan.  Es  ist  näm- 
lich nicht  möglich,  dass  eine  endliche  Kraft  mit  gleich  kräftiger 
Aufmerksamkeit  gleichzeitig  mehrere  oder  gar  unendlich  viele 
Objekte  schaut.  Ebenso  würden  aber  die  seelischen  Funktionen 
Jesu  unter  Voraussetzung  einer  simultanen  Schauung  aller 
Objekte  in  einen  Abstand  zu  der  übrigen  Menschheit  gesetzt 
werden,  der  nicht  wohl  angenommen  werden  zu  können  scheint.  — 
Das  Resultat  der  Erörterung  lässt  sich  dahin  zusammenfassen, 
dass  die  Seele  Christi  habituell  und  potenziell  alle;  Dinge  er- 
kennt,   dass    aber   die   konkrete  Erkenntnis    sich   in   einzelnen 


Christi  Erkenntnis  der  LJniversalien  und  des  Einzelnen.  261 

Akten  und  an  einzelnen  Objekten,  je  nach  dem  gerade  vor- 
liegenden Interesse  der  Seele,  allmählich  vollzieht,  licet  Verbum 
ut  voluntarie  ostendens  omnia  sit  praesens  voluntarie  illi  animae, 
ipsa  tamen  non  potest  simul  omnia  recipere ,  sed  quodlibet 
singillatim  et  ita  potest  videre  quodcunque  de  numero  infini- 
torum  ad  quod  se  convertit  (ib.  20). 

11.  Man  unterscheidet  eine  cognitio  abstractiva  und  in- 
tuitiva.  Beide  können  sich  sowohl  auf  die  Natur  als  auf  das 
einzelne  Ding  erstrecken.  Unter  der  abstraktiven  Erkenntnis 
versteht  Duns  eine  von  der  wirklichen  Existenz  des  Dinges 
abgelöste  Erkenntnis  desselben  als  Sein ;  unter  der  intuitiven 
die  Erkenntnis  der  Quiddität  des  Dinges  nach  seiner  konkreten 
Existenz  (s.  II  dist.  3  quaest.  9,  6).  In  dieser  Hinsicht  ist  nun 
zu  sagen,  dass,  vermöge  der  abstraktiven  Erkenntnis,  die  Seele 
Jesu  habitualiter  alle  üniversalien  erkennt  und  zwar  vermöge 
gewisser,  der  Seele  mitgeteilter,  species  infusae.  Diese  ein- 
gegossene Erkenntnis  vom  Sein  der  Dinge  muss  für  die  Seele 
Christi  ähnlich  wie  für  die  Engel  angenommen  werden.  Da- 
gegen ist  nicht  eine  solche  eingegossene  abstraktive  Erkenntnis 
bezüglich  der  einzelnen  Dinge  anzunehmen,  da  das  —  ebenso 
wie  die  Mitteilung  dieser  Erkenntnis  durch  species  propriae  — 
auf  eine  Wirkung  unendlich  vieler  Spezies  in  einem  kreatür- 
lichen  Geist  führen  würde.  Wohl  aber  kann  die  Eingiessung 
einiger  species  propriae  zugestanden  werden  (III  dist.  14 
quaest.  3,  4.  5).  Darnach  wäre  also  zu  sagen,  dass  Christus 
eine  doppelte  habituale  Erkenntnis  hatte,  die  durch  die  An- 
schauung des  Logos  gewirkte  und  die  durch  die  species  infusae 
in  seiner  Seele  erzeugte  Erkenntnis  von  den  Universalien. 
Beide  sollen  nach  einem  Wort  Augustins  einander  kompossibel 
sein,  ohne  dass  allerdings  einleuchtet,  wozu  es  dieser  zweiten 
Erkenntnisquelle  neben  der  ersten  bedürfte.  Durch  die  Be- 
schränkung aber,  die  Duns  dieser  eingegossenen  Erkenntnis 
auferlegt,  tritt  er  wieder  in  Gegensatz  zu  Thomas,  der  sie 
für  eine  vollkommene  und  umfassende  ansah. 

Die  intuitive  Erkenntnis  von  dem  Ding  als  einem  konkret 
existierenden  ist  vollkommen,  wenn  sie  ein  gegenwärtiges  Ding 
erfasst,  dagegen  unvollkommen^  sofern  sie  opinio  de  futuro  vel 
memoria  de  praeterito   ist.     Es   liegt   in    der  Sache,   dass   die 


262  Kap.  III:  Die  Person  Christi  und  die  Erl«>sung. 

Seele  Jesu  diese  Erkenntnis  von  den  konkreten  Vorgängen  der 
Vergangenheit  oder  Zukunft  nicht  durch  die  Anschauung  des 
Logos  erlangen  konnte,  denn  diese  intuitive  Erkenntnis  besteht 
eben  im  Erfassen  der  konkreten  und  gegenwärtigen  Existenz 
des  Dinges.  Eine  solche  Erkenntnis  von  der  sessio  Petri 
konnte  also  nicht  durch  Anschauung  des  Logos,  sondern  nur 
durch  die  Anschauung  des  gegenwärtigen  historischen  Faktums 
erworben  werden.  Aber  auch  durch  species  infusae  konnte 
diese  geschichtliche  Erkenntnis  nicht  erlangt  werden,  denn 
ihrem  Wesen  nach  sind  diese  nur  abstrakte  Begriffe,  können 
also,  ebensowenig  wie  etwa  angeborene  Ideen,  ein  Bild  er- 
zeugen von  dem  kontingenten  und  konkreten,  sagen  wir  ge- 
schichtlich werdenden  Zusammenhang  jener  Begriffe.  Von 
diesen  kontingenten  Wahrheiten  konnte  die  Seele  Jesu  also 
Erkenntnis  nur  erwerben  durch  die  Einwirkung  derselben  als 
gegenwärtiger  oder  durch  die  konkrete  Anschauung  derselben. 
Deshalb  muss  die  Erkenntnis  Jesu  auf  diesem  Gebiet  als  eine 
fortschreitende ,  allmählich  sich  entwickelnde ,  wie  die  aller 
Menschen  es  ist,  bezeichnet  werden :  profecit  sicut  et  alia  anima, 
quia  alia  et  alia  obiecta  alio  et  alio  modo  cognovit.  Auch  das 
Vergangene  war  für  ihn  nicht  Gegenwart,  sondern  konnte  nur 
im  Gedächtnis  festgehalten  werden,  als  unvollkommene  Er- 
kenntniS;  bemessen  an  der  Vollkommenheit  der  Erkenntnis  des 
gegenwärtigen  Objekts.  Hoc  modo  Christus  per  experientiam 
didicisse  dicitur  multa,  hoc  est  per  cognitiones  intuitivas,  id  est 
illarum  cognitorum  quantum  ad  existentiam  et  per  memorias 
derelictas  ab  eis  (6  f.).  Demnach  sind  auch  die  Worte  des 
Lukas-Evangeliums  (2,  52) ,  dass  Jesus  fortgeschritten  sei  an 
Weisheit,  wörtlich  zu  nehmen:  texias  ev."»'^elii  i^  o  i  est 
ex^JO  '  e '•  d  ü  s,  vi  tr  >la*>\  pjOj'ecit  secutd.'in  appa- 
re»»i;?am.  Die  Sache  liegt  also  so,  dass  die  Seele  Christi 
zwar  Erkenntnis  aller  Ideen  besass,  aber  hinsichtlich  der  in- 
tuitiven Erkenntnis  der  einzelnen  Dinge  Fortschritte  machte: 
non  quod  aliquorum  cognitionem  abstractivam  habitualem  ac- 
quisivit,  sed  intuitivam  tam  actualem  quam  habitualem  (ib.  8).  — 
Das  Eesultat  dieser  Betrachtung  ist  also:  Wiewohl  die  Seele 
Ohristi  vermöge  ihrer  Gemeinschaft  mit  dem  Logos  die  Er- 
kenntnis von  allen  Ideen  habitualiter  besitzt,  muss  sie  doch  das 


Jesu  Erkennen  des  Kontingenten,  263 

einzelne  Ding  als  solches  in  allmählichem  Fortschritt  kennen 
lernen.  Ein  Stück  ,, wahrer  Menschheit''  bricht  hier  aus  dem 
dogmatischen  ßegriffsapparat  wie  ein  Strahl  hervor. 

12.    Wir  haben  jetzt   die  Ansicht   des  Duns  Scotus  über 
die  Erkenntnis  Jesu  kennen  gelernt.     Die  Seele  Jesu  empfängt 
Erkenntnis   aus   der  Anschauung   des  Logos,    sowie    durch  die 
wunderbare   Eingiessung  geistiger  Bilder,  die  ihr  zu  Teil  Avird. 
Beides  ist  wunderbar  wenigstens  für  dieses  Erdenleben  und  ist 
in   dieser   zeitlichen  Welt  für  uns  nicht  erreichbar,   indem  wir 
hienieden  Begriffe  nur  auf  Grund  sinnlicher  Eindrücke  zu  bilden 
vermögen   (1.  c.    §  9).     Aber    der    Erfolg    dieser   wunderbaren 
Ausrüstung  ist  doch  geringer,  als  man  erwarten  möchte.     Die 
Anschauung    des  Logos    bewirkt   nur   eine   habituale   und  all- 
gemeine Erkenntnis  der  Objekte,  die  sich  im  Logos  abspiegeln. 
Die  species  infusae  aber  sind  nur  abstrakte  Begriffe.    Dagegen 
vermag  auch  die  Seele  Jesu  die  Erkenntnis  vom  kontingenten, 
konkreten  und  geschichtlichen  Geschehen  nur  durch  die  gegen- 
wärtiq^e  Einwirkung  jener  Objekte,  bezw.  die  durch  sie  gewirkte 
Anschauung   zu   erwerben.     Der  Vorzug   der   Erkenntnis  Jesu 
vor  unse^'er  besteht  also  darin,   dass   sie  reichlicher  und  klarer 
mit  abstrakten  Begriffen  ausgerüstet  ist,  dagegen  steht  sie  der 
unseren  hinsichtlich  der  Erkenntnis  des  konkreten  Geschehens 
gleich.    —    Es    ist   einleuchtend,    dass    diese   Entwicklung    im 
höchsten   Mass   bedeutsam  ist.     Zunächst   durch    die   Sorgfalt 
und   Konsequenz,    mit  der   Duns   die   psychologischen  und  er- 
kenntnistheoretischen    Kategorien    auf    Jesu    Seele    anwendet. 
Er  wirft  nicht  mit  Wundern  um  sich,  er  lässt  den  Logos  nicht 
das   menschliche  Seelenleben  zerstören,    er   will   nüchtern  und 
deutlich  erklären,  wie  die  Erkenntnis  in  Jesu  Seele  wurde  und 
war.     Sehen  wir  für  einen  Augenblick  von  dem  scholastischen 
Begriffsapparat  ab,   so   lässt   sich   die  Auffassung  des  Duns  in 
sehr   einfacher  Weise    wiedergeben.     Die  Seele  Jesu,   die   sich 
der  heiligen  Anschauung  des  Logos  ergab,  empfing  aus  dieser 
Anschauung  ein  gewisses  allgemeines  Verständnis  des  Weltalls 
und  seiner  Begriffe.     Andererseits  besass  sie  eine  Fülle  reiner 
und   scharfer   Begriffe;    wie    die   ältere    Auffassung   von   aner- 
schaffenen Ideen  redete,  so  war  diesem  Kind  ein  grösserer  und 
reicherer   Schatz    solcher   Ideen    mitgegeben.     So    trat  Jesus, 


264  -Kap.  III:  Die  Person  Christi  und  die  Erlösung. 

"wmiclerbar  begabt  und  stetig  durch  die  Gemeinschaft  mit  dem 
Logos  von  Ideen  und  Idealen  erfüllt,  auf  den  Schauplatz  dieser 
Welt;  zu  den  Ideen  und  Begriffen  fügte  er  hier  lernend  und 
fortschreitend  Erkenntnis  des  wirklichen  Lebens,  nicht  ohne 
dass  auch  für  ihn  die  Bilder  der  Vergangenheit  blasser  als  die 
der  Gegenwart  und  die  Erscheinungen  der  Zukunft  in  ihrer 
geschichtlichen  Besonderheit  undeutlich  gewesen  wären.  Man 
überlege  nur,  in  welchem  Grade  diese  Sätze  der  üblichen  Auf- 
fassung zuwiderlaufen  mussten!  Aber  auch  bei  der  Erwerbung 
dieser  positiven  Erkenntnis  wurde  Jesus  natürlich  durch  seine 
wunderbare  Ausrüstung  gefördert.  —  Das  sind  die  Gedanken 
unseres  Autors.  Biegen  wir  aber  von  hieraus  zurück  in  die 
theoretischen  Hauptgeleise  seiner  Christologie,  dann  ist  diese 
sich  entwickelnde,  allmählich  Erkenntnis  erwerbende  Seele  nicht 
etwa  persönlich  zu  denken,  sondern  es  ist  nur  eine  Funktions- 
reihe in  den  Bethätigungen  der  Logosperson  gemeint!  Es  ist 
klar,  wie  wenig  das  zu  den  scotistischen  Gedanken  stimmen 
will  und  wie  energisch  auch  hier  wdeder  die  Personalität  der 
Menschennatur  sich  hervordrängt. 

13.  Die  folgende  15.  Distinktion  ist  der  Frage  gewidmet^ 
ob  auch  in  dem  oberen  Teil  der  Seele  Christi  Schmerz  ge- 
wesen sei?  Dies  Leiden  bezieht  sich  auf  den  Willen  und  den 
Intellekt.  Dem  Schmerz  im  sinnlichen  Leben,  den  auch  Christus 
empfand,  entspricht  im  höheren  Leben  die  Traurigkeit.  Duns 
hat  seine  Ansicht  im  Gegensatz  zu  Heinrich  entworfen.  Nach 
diesem  habe  die  Seele  Jesu  in  ihrem  oberen  Teil  Schmerz 
empfunden,  sofern  dieser  Natur  war,  nicht  aber  sofern  er  Geist 
(ratio)  war.  Dagegen  erinnert  Duns  daran,  dass  der  obere 
Teil  der  Seele  unmöglich  als  der  eigentliche  Träger  der  Schmerz- 
empfindung angesehen  werden  darf,  da  der  Schmerz  als  solcher 
zunächst  an  der  Sensation  haftet.  Ebensowenig  kann  die 
Natur  der  Seele  als  Subjekt  des  Schmerzes  bezeichnet  werden, 
denn  dann  müsste  der  Schmerz  naturgemäss  dort  eintreten,  wo 
die  Seele  die  natürliche  Verbindung  mit  dem  Leibe  verliert. 
Aber  Jesu  Seele  war  gerade  nach  dieser  Trennung  schmerzlos 
(III  dist.  15  quaest.  un.  §  3).  —  Man  müsse,  um  ins  Reine 
zu  kommen,  zunächst  die  Begriffe  Schmerz  und  Traurigkeit 
richtig    bestimmen.     Nach    Heinrich    soll    der    Schmerz    zwei 


Schmerz  und  Traurigkeit  in  Jesu,  265 

Wurzeln  haben:  1)  die  verletzende  oder  verderbende  Ver- 
änderung der  der  Natur  zustehenden  Verfassung,  und  2)  Per- 
zeption  dessen  durch  die  Seele,  die  einen  von  den  Sinnen  durch 
Apprehension  erfahrenen  Vorgang  als  Diskonvenienz  empfindet 
(ib.  5).  Das  ist  wieder  falsch  nach  Duns.  Die  erste  Wurzel 
kann  logisch  überhaupt  nicht  als  Wurzel  des  Schmerzes  an- 
gesehen werden,  denn  die  Konvenienz  oder  Diskonvenienz  er- 
zeugt nicht  die  Perzeption  des  Schmerzes,  sondern  ist  ein  Urteil, 
das  dieser  Empfindung  folgt,  also  kann  hieraus  die  Schmerz- 
empfindung als  solche  nicht  abgeleitet  sein  (6). 

Nach  Duns  selbst  soll  ausgegangen  werden  von  der  Be- 
obachtung, dass  unsere  Organe  sich  zu  den  Objekten  wie  ein 
Passives  zum  Aktiven  verhalten;  so  empfängt  z.  B.  der  Ge- 
sichtssinn die  Einwirkungen  der  weissen  Farbe.  So  bald  ein 
Objekt  als  Perfektivum  auf  die  rezeptive  Seele  einwirkt, 
empfindet  diese  ein  Lustgefühl  (delectatio).  Um  dieses  zu  er- 
klären, muss  angenommen  werden  ein  appetitus  sensitivus,  denn 
erst  aus  ihm  entsteht  die  Neigung  (inclinatio)  der  Seele  zur 
Annäherung  an  jenes  Objekt.  Diese  Lustempfindung  hat  keinen 
anderen  Grund,  als  das  was  jene  Neigung  hervorbringt.  Wenn 
dagegen  der  Seele  ein  Objekt  nahe  tritt,  das  jener  Inklination 
widerspricht,  so  tritt  die  Schmerzempfindung  ein  (9  ff.).  Lust 
und  Schmerz  sind  also  Empfindungen  des  sinnlichen  Triebes, 
die  Hinneigung  zu  dem  betreffenden  Objekt  oder  die  Abneigung 
vor  ihm. 

Ganz  ähnlich  verhält  es  sich  auf  geistigem  Gebiet  mit  der 
Traurigkeit.  Ihr  Gebiet  ist  der  Wille.  Auch  der  appetitus 
intellectivus  erleidet  etwas.  Löst  das  in  ihm  ein  nolle  aus,  so 
haben  wir  die  Traurigkeit.  Tristitia  est  de  bis  quae  nobis 
nolentibus  accidunt  (12).  In  diesem  Erleiden  ist  der  Wille 
allerdings  nicht  frei,  sondern  erleidet  etwas  als  Bestandteil  der 
menschlichen  Natur,  doch  wird  dadurch  seine  Freiheit  nicht 
aufgehoben.  Das  Nichtwollen  ist  ja  nur  die  Folge  eines  freien 
Wollens.  Indem  der  Wille  an  dem  Wollen  eines  positiven 
Zieles  festhält,  erwächst  ihm  aus  der  Verhinderung  der  Er- 
reichung desselben  das  Nichtwollen  in  Bezug  auf  jenes  Hinder- 
,nis.  Er  will  nicht,  weil  er  will.  Die  Notwendigkeit  dieses 
Nichtwollens   ist  also   die  Folge  des  freien  Wollens.     Es  liegt 


266  Kap.  III:  Die  Person  Christi  und  die  Erlösung. 

nur  eine  necessitas  consequentiae  vor,  ähnlich  jener,  von  der 
man  sagen  kann:  wenn  ich  einmal  will,  will  ich  notwendig  (13). 
Zur  Traurigkeit  ist  es  also  genügend,  dass  ein  Objekt  das  nolle 
des  Willens  hervorruft.  Das  kann  eintreten,  indem  ein  Objekt 
für  dies  Subjekt  ein  nolitum  libere  ist,  oder  indem  ein  01)jekt 
dem  Subjekt  naturaliter  disconveniens  ist,  oder  auch  indem  ein 
Objekt  nur  im  sinnlichen  Triebleben  Abneigung  hervorruft  und 
der  Wille,  der  auf  das  Wohl  des  ganzen  Menschen  aus  ist, 
hierdurch  zu  einem  nolle  veranlasst  wird.  Die  Traurigkeit  kann 
aber  auch  hervorgerufen  werden  durch  das  nolle  condiciouatum, 
d.  h.  ein  beziehungsweises  Nichtwollen.  Z.  B.  ein  Kaufmann 
will  seine  Ware  behalten.  Aber  die  Gefahr  des  Schiffes  bringt 
es  mit  sich,  dass  er  sie  über  Bord  werfen  muss,  sie  also  be- 
ziehungsweise nicht  will.  Indem  dieses  bedingte  Nichtwollen 
einem  positiven  Wollen  widerspricht,  vermag  es  auch  Traurig- 
keit zu  erzeugen,  denn  nur  traurig  wirft  der  Kaufmann  die 
Ware  über  Bord  (17). 

Wie  sieht  es  nun  mit  dem  Schmerz  und  der  Traurigkeit 
der  Seele  Jesu?  Zunächst  ist  klar,  dass  in  der  sinnlichen  Seite 
der  Seele  Jesu  wirklich  Schmerz  vorhanden  war  (18).  Auch 
darf  hierbei  nicht,  unter  Absehung  von  wirklichen  Sinnes- 
empfindungen, an  einen  von  der  Einbildungskraft  hervorge- 
rufenen Schmerz  gedacht  werden,  denn  dieser  wäre  ebenso- 
wenig wirklich  Schmerz  als  der  Schmerz,  den  man  im  Traum 
fühlt  (cf.  lY  dist.  10  quaest.  5,  4).  —  Unter  der  portio  animae 
superior,  von  der  hier  die  Rede  ist,  ist  die  Seele  in  ihrer  un- 
mittelbaren Beziehung  zum  Ewigen  zu  verstehen,  dann  aber 
die  Seele  als  denkende  und  wollende,  sofern  diese  Funktionen 
die  Mittel  jener  Beziehung  sind  (ib.  20).  Nun  wird  eine  solche 
Traurigkeit  in  Beziehung  auf  Gott  veranlasst  durch  die  Ent- 
behrung des  Genusses  Gottes  oder  durch  unsere  Sünde  oder  die 
anderer  und  durch  sonstige  hemmende  Übel,  die  uns  oder  andere 
geliebte  Personen  bedrücken  (ib.).  Traurigkeit  hinsichtlich  der 
Sünde  konnte  Christus  nur  in  Bezug  auf  die  Sünden  anderer, 
wie  den  Unglauben  der  Jünger  und  der  Juden  und  die  Grau- 
samkeit letzterer,  empfinden  (21).  Dies  ist  die  Hauptquelle 
der  Traurigkeit  Jesu.  Auch  die  Passion  samt  dem  Tode  regten 
in   dem  natürlichen  Wollen   Jesu   Traurigkeit   an,    indem   der 


Der  Schmerz  Christi  ist  Nichtwollen  der  Sünde.  267 

Wille  eine  natürliche  Abneigung  hiergegen  empfindet  und  das 
sinnliche  Leiden  mitempfindet.  So  entstand  auch  in  seiner 
Seele  das  nolle  der  Traurigkeit.  Indem  aber  der  Wille  zugleich 
freier  Wille  ist ,  hat  dies  nicht  den  Sinn ,  als  wenn  Jesus 
schlechthin  das  Leiden  nicht  wollte.  Er  wollte  es  als  Mittel 
zur  Erlösung,  aber  das  schliesst  jenes  natürliche  Nichtwollen 
nicht  aus  (23  ff.).  Dies  Nichtwollen  kann  als  ein  kondizioniertes 
Nichtwollen  bezeichnet  werden,  indem  Christus  freilich  be- 
dingungsweise —  d.  h.  wenn  die  Erlösung  es  nicht  erfordert 
hätte  —  -  das  Leiden  nicht  wollte  (vgl.  oben  das  Gleichnis  vom 
Kaufmann).  Aber  das  darf  nicht  so  verstanden  werden,  als 
-wenn  nur  der  höhere,  direkt  auf  Gott  gerichtete  Wille  Jesu 
leiden  wollte,  Avogegen  der  niedere  Wille  absolut  vom  Leiden 
nichts  wissen  wollte,  denn  der  Wille  ist  einer  und  die  Kraft 
des  Entschlusses  jenes  höheren  Wollens  bestimmt  daher  das 
Wollen  überhaupt.  Mit  allen  Kräften  seines  Wollens  wollte 
Christus  somit  zum  Heil  der  Menschheit  leiden  und  sterben. 
Aber  der  Wille  als  natürliche  Potenz  empfand  freilich  auch 
das  nolle,  wenn  auch  nur  in  der  bezeichneten  bedingten  Weise  (26). 
Und  auch  die  Auffassung  wird  als  möglich  zugestanden,  dass 
wenn  man  das  niedere  Wollen  streng  für  sich  fasst,  das  nolle 
desselben  der  Grund  der  tristitia  sein  konnte  (ib.  31  init). 

Aber  die  Tendenz  des  Duns  ist  darauf  gerichtet,  das  eigent- 
liche Leiden  Christi  nicht  in  der  Empfindung  physischer 
Schmerzen,  sondern  in  dem  Leid  über  die  Sünde  der  Mensch- 
heit oder  dem  Nichtwollen  derselben  aufzuzeigen.  Daher  hat 
sein  Empfinden  sich  auch  nicht  auf  die  sinnlichen  Schrecken 
des  Leidens  Jesu  gerichtet.  Der  leidende  Christus  ist  ihm  der 
starke  Herr,  der  mit  grossem  ungebrochenem  Willen,  trotz  aller 
natürlichen  Regungen  dawider,  leiden  und  sterben  will  zur 
Erlösung  der  Menschheit.  Dieser  Tod  ist  eine  Willensthat. 
Nicht  der  Tod  an  sich,  sondern  dass  die  Sünde  ihn  vernot- 
wendigte,  ist  des  Leidens  tiefster  Grund.  —  Verstehe  ich  diese 
Gedanken  richtig,  so  gewähren  sie  auch  einen  Einblick  in  die 
männliche,  strenge  und  herbe  Seele  ihres  Urhebers  selbst. 

14.  Musste  Christus  sterben  ?  Diese  Frage  wird  in  der  16. 
Distinktion  behandelt.  Der  Logos  hat  die  Menschennatur  da- 
durch, dass  er  sie  annahm,  verklärt.     Dabei  ist  aber  durch  ein 


268  Kap.  III:  Die  Person  Christi  und  die  Erlösung. 

besonderes  Wunder  diese  Glorie  nicht  auf  den  Leib  überge- 
gangen. Hierin  liegt  begründet  die  Notwendigkeit  der  Auf- 
lösung dieses  Körpers  und  der  Abtrennung  dieser  Seele  vom 
Körper.  Unrichtig  ist  es  aber,  mit  .der  Mehrzahl  der  Theologen 
(Varro,  Bonaventura,  Thomas),  die  Sterblichkeit  des  Leibes 
Christi  auf  seine  Materialität  zurückführen.  Indem,  meinen 
jene,  die  Materie  des  Leibes  Christi  ihrer  Formen  beraubt 
wird,  wird  sie  wie  alle  nicht  informierte  Materie  causa  corrup- 
tionis.  Aber  das  ist  falsch,  weil  es  auch  von  dem  Leib  Christi 
im  Himmel  und  unserem  Leib  nach  dem  Gericht  gesagt  werden 
könnte  (III  dist.  16  quaest.  2,  3.  4).  Nicht  die  Materialität, 
sondern  das  wunderbare  Fehlen  der  Glorie,  die  nicht  den 
Leib  Jesu  überströmte,  erklärt  die  Sterblichkeit  desselben. 
Auch  hatte  dieser  Körper  nicht,  wie  vor  dem  Fall  Adam,  die 
iustitia  originalis  praeservans  corpus  a  corruptione.  Dieser 
Körper  war  also  notwendig  sterblich,  war  er  doch  auch  bloss 
ein  corpus  animale  (1  Kor.  15,  44)  und  deshalb  nicht  unter 
einer  so  völligen  Herrschaft  der  Seele,  dass  dadurch  etwa  seine 
Leiden  verhindert  werden  konnten.  Hierzu  kommt  weiter  der 
sinnliche  Erhaltungsprozess  durch  Nahrungszufuhr  (5).  Diese 
irdische  Nahrung  nun  ist  unrein,  sie  erzeugt  schlechtes  Blut 
und  einen  schwächlichen  Körper.  So  war  auch  die  Nahrung 
eine  causa  extrinseca  corruptiva  (6).  Gegen  dieses  Resultat 
der  Sterblichkeit  des  Leibes  Christi  kann  auch  nicht  auf  die 
Vereinigung  mit  dem  Logos  rekurriert  werden,  da  ja  von  der 
der  menschlichen  Natur  mitgeteilten  Herrlichkeit  der  Leib 
durch  ein  besonderes  Wunder  ausgeschlossen  blieb  und  dem- 
gemäss  vergänglich  sein  musste.  Auch  dieser  Leib  hat  ge- 
schwitzt und  Abgang  erfahren  durch  das  Beschneiden  der  Nägel 
oder  der  Haare  etc.  (7.  8).  Schliesslich  sei  bemerkt,  dass  die 
natürliche  Notwendigkeit  des  Todes  Christi  die  Yerdienstlichkeit 
seines  Sterbens  nicht  beeinträchtigt,  indem  der  Wille  freiwillig  com- 
placendo  und  acceptando  diese  Notwendigkeit  bejahte  (ib.  14). 
15.  Hier  wird  sich  am  besten  eine  Erörterung  der  Fragen 
nach  der  Verweslichkeit  des  Leibes  und  nach  dem  Hadeszu- 
stand Christi  anschliessen.  Heinrich  meint,  der  Leib  Christi 
sei  an  sich  freilich  verweslich  gewesen,  aber  Gott  habe  die 
Verwesung  durch  die  Unio  verhindert,  eines  besonderen  Wunders 


Christi  Leib  sterblich;  nicht  Mensch  im  Triduum.  269 

hierzu  habe  es  nicht  bedurft.  Duns  verneint  letzteres,  da  ja 
die  Unio  nicht  einmal  im  Stande  war,  das  Schweissvergiessen 
des  Körpers  zu  verhindern  ;  folglich  sei  ein  besonderes  neues 
Wunder  nötig  gewesen,  um  Christi  Leib  vor  der  Verwesung 
zu  bewahren  (III  dist.  21  quaest.  un.  §  2  ff.). 

Bei  Besprechung  der  Frage,  ob  Christus  während  des 
Triduums  Mensch  war,  handelt  es  sich  um  einen  Wortstreit. 
Es  ist  die  Frage,  ob  man  diese  Formel  zu  brauchen  logisch 
berechtigt  sei.  Hugo  und  der  Lombarde  thun  es  im  Hinblick 
darauf,  dass  die  Seele  Jesu  auch  während  des  Triduums  mit 
dem  Logos  vereint  blieb.  Aber  Duns  weist  in  eingehender 
Erörterung  nach,  dass  die  Materie  als  ein  Teil  der  Qiüddität 
eines  materiellen  Dinges  anzusehen  sei.  Es  ist  kein  Wesen 
Mensch  zu  nennen,  in  dem  nicht  Materie  und  Form  als  die 
inneren  Ursachen  seines  Bestandes  zusammen  sind.  Das  gehört 
zur  Quiddität  des  Menschen  (III  dist.  22  quaest.  un.  §  5  f.  13). 
Da  nun  der  volle  Bestand  der  huraanitas  in  Christo  während 
des  Triduums  nicht  vorhanden  war,  so  ist  von  der  in  Frage 
stehenden  Formel  abzusehen  (18).  —  Dieselbe  ist  auch,  rein 
logisch  angesehen,  zweifelhaften  Wertes.  Eine  notwendige 
Zusammengehörigkeit  von  Subjekt  und  Prädikat  ist  nur  dann 
anzunehmen,  wenn  das  Subjekt  einen  einheitlichen  Begriff 
enthält  oder  wenn  die  Zusammensetzung  des  Begriffes  dem 
Prädikat  gemäss  ist.  Aber  „Christus"  ist  ein  zusammenge- 
setzter Begriff.  Er  fügt  sich  der  Verbindung:  Christus  fuit 
homo;  nicht  aber  passt  er  in  den  Satz  Christus  est  homo  oder 
auch  Chr.  est  homo  in  triduo.  Also  ist  dieser  Satz  logisch 
falsch  gebildet  (19  ff.). 

16.  Die  Erwägungen  der  letzten  Abschnitte  haben  uns  einer- 
seits die  Art  des  sittlichen  und  intellektuellen  Lebens  Jesu 
kennen  gelehrt  und  haben  andererseits  uns  einen  Blick  in  sein 
Leiden  gewährt.  Der  eine  wie  der  andere  Gesichtspunkt  führte 
auf  die  Annahme  eines  menschlichen  Willens.  Ist  ein  solcher 
für  Jesus  anzunehmen,  und  wenn  die  Frage  bejaht  wird,  hat 
er  durch  diesen  Willen  Verdienste  erwerben  können?  Zu 
diesen  Fragen  schreiten  wir  weiter  fort.  Duns  konstatiert  ge- 
mäss der  dogmatischen  Tradition  zwei  Willen  in  Christo,  ent- 
sprechend der  Vollständigkeit  der  beiden  Naturen.     Es  handelt 


270  Kap.  IIJ :  Die  Person  Christi  und  die  Erlösung. 

sich  dabei  für  die  menschliclie  Natur  um  den  rationalen  Willen ^ 
nicht  den  sinnlichen  Trieb ,  der  im  weiteren  Sinn  auch  als 
Willen  bez(^ichüet  wird  (III  dist.  17  quaest.  un.  §  2).  Hierbei 
behauptet  Duns  die  völlige  Freiheit  des  menschlichen  Willens^ 
denn  der  menschliche  AVille  in  Christo  steht  zu  dem  Logos  in 
keinem  anderen  Verhältnis  als  zu  der  ganzen  Trinität,  folglich 
ist  seine  Freiheit  in  der  Vereinigung  mit  dem  Logos  keine 
geringere,  als  sie  ausserhalb  dieser  Vereinigung  gewesen  wäre. 
Aber  die  Kausalität  der  Trinität  bezieht  sich  hierbei  aur  auf 
das  esse  des  freien  Willens,  nicht  aber  auf  ein  besonderes 
operari,  welches  durchaus  frei  bleibt  (4).  Es  ist  ja  von  einer 
Mitwirkung  Gottes  bei  der  Bethätigung  des  freien  Willens  zu 
reden  (oben  S.  L58ff.),  in  unserem  Fall  wegen  der  communicatio 
idiomatum  speziell  des  Logos ;  aber  dieselbe  ist  so  beschaffen, 
dass  der  Freiheit  des  Willens  durch  sie  kein  Abbruch  ge- 
geschieht. —  Dico,  quod  voluntas  in  Christo  (natürlich  der 
menschliche  Wille)  ita  libere  elicit  et  dominatur  actui  suo, 
sicut  voluntas  mea  suo,  quia  deus  non  operatur  ad  operationem 
illam ,  nisi  voluntate  libere  agente  et  determinante  se  ad 
operandum  et  tunc  deus  operatur  cum  ea.  Es  ist  eine  Freiheit 
so  gross,  als  sie  überhaupt  bei  einer  Kreatur  möglich  ist  (5). 
Und  diese  menschliche  Natur  mit  dem  freien  Willen,  der  zum 
Logos  kein  anderes  Verhältnis  hat,  als  jeder  andere  Menschen- 
wille, sollte  die  wirklich  unpersönlich  vorgestellt  werden  tonnen  ? 
17.  In  der  18.  Distinktion  wird  das  Problem  behandelt,  ob 
die  menschliche  Natur  ,, verdient'^  habe?  Übersetzen  wir  diese 
Formel  in  unsere  Sprache,  so  bedeutet  sie  etwa,  ob  die  Seele 
Jesu  in  einem  ethischen  Verhältnis  zu  Gott  stand.  Zimächst 
wird  der  Begriff  des  meritum  bestimmt:  quod  meritum 
est  aliquid  acceptatum  vel  acceptandum  in  alio,  pro  quo  ab 
acceptante  est  aliquid  retribuendum  illi,  in  quo  est  quasi 
debitum  illi  pro  illo  merito  vel  alteri,  pro  quo  meruit  (quaest. 
unic.  §  4).  Man  erkennt  die  Spuren  des  Gottesbegriffes  deut- 
lich an  der  acceptatio.  Weil  es  von  Gottes  Willen  allein  ab- 
hängt, ob  etwas  gut  oder  böse  ist,  ist  das,  was  eine  Handlung 
zum  meritum  macht,  auch  nur  der  Wille  Gottes.  —  Alles  Ver- 
dienen hat  seine  Wurzel  an  einem  Willensaffekt;  verdienstlich 
ist  aber  nur   eine   solche   Handlung,   welche   vom  Wollen   der 


Christi  freier  Wille  und  sein  Verdienen.  271 

Gerechtigkeit  hervorgerufen  wird,  Dicht  aber  eine  solche,  welche 
auf  den  Vorteil  abzielt.  Das  erste  Objekt  nun,  welches  bei 
einer  verdienstlichen  Handlung  in  das  Auge  gefasst  wird,  ist 
Gott,  in  dem  Sinn,  dass  man  gewissermassen  sein  Gutes  wünscht : 
vult  deo  bonum.  Meritum  est  ordinatus  motus  circa  deum 
volendo  sibi  (=  ei)  bonum  et  post  volendo  cum  debitis  circum- 
stantiis  sibi  coniungi  ipsum  in  se  et  in  aliis.  Man  wird  diesen 
Gedanken  dahin  ausdrücken  dürfen,  dass  nach  Meinung  des 
Duns  verdienstlich  ist  die  Liebe  zu  Gott  und  der  Wille  zur 
Gemeinschaft  mit  ihm.  Diesem  gerechten  und  selbstlosen 
Willen  steht  gegenüber  die  affectio  commodi,  d.  i.  der  immo- 
deratus  appetitus  proprii  boni,  der  das  Widerspiel  des  Ver- 
dienstes oder  das  demeritum  begründet.  —  Die  Retribution 
des  Verdienstes  braucht  endlich  nicht  dem  zu  Gute  zu  kommen^ 
der  es  frei  vollbringt.  Er  kann  nämlich  mit  der  Absicht  ver- 
dienstlich handeln,  dass  ein  anderer  davon  den  Nutzen  habe. 
Dann  nimmt  Gott  das  Verdienst  an  im  Hinblick  auf  den,  für 
den  es  geschah,  ut  retribuat  ei  pro  quo  acceptatur.  Wenn  aber 
der  Verdienende  selbst  keiner  Retribution  bedarf,  so  wird  die- 
selbe naturgemäss  denen  zu  Teil,  für  die  er  verdiente. 

Durch  einen  solchen  Willen  hat  nun  Christus  verdient, 
und  zwar  nicht  für  sich,  sondern  für  uns.  Er  war  ja  ein 
irdischer  Mensch  (viator),  sein  Sinnenleben,  sowie  der  niedere 
Wille  stellten  ihm  eine  Anzahl  von  Objekten  vor,  die  er 
contra  affectionem  commodi  verwerfen  konnte.  So  konnte  er 
ieiunando,  vigilando,  orando  et  multis  aliis  talibus  verdienen. 
Da  nun  aber  der  Wille  in  Wirklichkeit  nur  einer  ist,  so 
empfiehlt  es  sich  auch  den  oberen  Willen,  und  nicht  nur  die 
auf  die  Sinnlichkeit  bezogenen  Akte  des  niederen  Willens  als 
verdienstlich  handelnd  anzusehen ;  denn  obgleich  jener  obere 
Teil  des  Willens  in  Christo  mit  Gott  vollkommen  verbunden 
war,  wird  doch  der  ganze  Wille  als  Einheit  als  Träger  der 
sittlichen  Handlung  anzusehen  sein  (1.  c.  §  4 — ö).  Allerdings 
erhebt  sich  hier  die  Schwierigkeit,  dass  doch  die  Seligen,  in 
denen  nur  jener  obere  Teil  des  Willens  in  Wirkung  ist,  nicht 
verdienen,  da  sonst  ihr  Verdienst  und  Lohn  unendlich  werden 
müssten.  Nun  kann  aber  jeder  geschöptliche  Akt  vor  Gott 
als  Verdienst  gelten,    sofern   Gott  ihn  als   solches   acceptiert. 


272  Kap.  III:  Die  Person  Christi  und  die  Erlösung, 

Er  wollte  aber  Christi  Akte,  die  doch  hier  Akte  eines  viator 
waren,  allesamt  als  verdienstlich  gelten  lassen.  Darin  lag  auch 
nichts  Unlogisches,  könnte  doch  Gott  auch  den  Engeln  ihre 
Thaten  als  Verdienste  anrechnen,  was  aber  deshalb  nicht  ge- 
schieht, weil  sie  sich  nicht  im  Status  merendi  befinden  (9).  — 
Weiter  wird  ausgeführt,  dass  Christus  vom  ersten  Augenblick 
seines  kreatürlichen  Daseins  an  verdienen  konnte,  denn  alles 
dazu  Gehörige  war  da:  die  natürliche  potentia,  die  perfecta 
gratia  und  Gott  als  Objekt.  Wollte  man  urgieren,  dass  es 
an  der  gehörigen  Deliberation  doch  gefehlt  habe,  so  konnte  die 
Seele  Jesu  doch  vermöge  der  ihr  eigenen  cognitio  abstractiva 
von  Anfang  an,  ohne  zeitraubende  Deliberation,  das  Rechte  er- 
kennen und  also  verdienstlich  handeln  (11).  Also  Jesus  ver- 
mochte im  ersten  Moment  seiner  Konzeption  schon  verdienst- 
lich zu  handeln!  Man  bedauert,  bei  dem  ernsten  Denker  auf 
eine  solche  Abgeschmacktheit  stossen  zu  müssen.  Das  ver- 
dienstliche Handeln  Christi  ist  uns  zu  Gute  gekommen,  nicht 
ihm  selbst,  der  Mensch  Jesu  hat  nicht  sich  selbst  die  fruitio 
der  Trinität  verdient,  denn  der  Genuss  der  Trinität  ging  all 
seinem  Handeln  voran  vermöge  der  Vereinigung  seiner  Natur 
mit  dem  Logos:  igitur  deus  liberaliter  sine  aliquo  merito  prae- 
cedente  coniunxit  voluntatem  istam  per  fruitionem  ultimo  fini, 
et  ita  non  meruit  sibi  fruitionem  (ib.  §  12).  Aber  auch  dass 
er  sich  die  Impassibilität  von  Leib  und  Seele  verdient  habe, 
wie  der  Lombarde  meint,  könnte  nur  in  beschränkter  Weise 
gesagt  werden.  Denn  an  sich  stand  ja  die  Glorie  seinem 
ganzen  Wesen  zu,  und  nur  absichtlich  wurde  ihre  Erstreckung 
auf  den  Leib  verhindert.  Man  könnte  also  höchstens  die  Auf- 
hebung jenes  Hindernisses  als  Erfolg  seines  Verdienstes  ansehen. 

18.  Lassen  wir  hier  einen  Ruhepunkt  eintreten,  indem  wir 
auf  die  scotistische  Christologie  zurückblicken. 

Der  Gesamteindruck,  den  die  Christologie  des  Duns  ge- 
währt, ist  dem  ähnlich,  den  man  so  oft  bei  dem  Studium  seiner 
Lehren  empfindet:  er  trägt  die  orthodoxe  Lehre  seiner  Zeit 
vor,  auf  weiten  Strecken  begegnet  man  nur  dialektischen  Diffe- 
renzen zu  Thomas  oder  Bonaventura.  Und  doch  geht  durch 
seine  ganze  Darstellung  ein  anderer  mehr  rationaler,  psycho- 
logisch  deutender  Zug.     Er   wird   greifbar    in    vielen    Einzel- 


Beurteilung  der  Christologie  des  Duns.  273 

heiten,  und  man  empfindet  ihn  auch  im  Ganzen.  Der  abend- 
ländischen Tradition  folgend  (Augustin,  Abälard),  wird  die 
Menschwerdung  darin  erkannt,  dass  der  Logos  den  Menschen 
Jesus  annimmt,  die  Logosperson  die  Menschheit  Jesu  personiert. 
Eine  Relation  stellt  diese  Verbindung  her,  die  menschliche 
Natur  soll  ihrer  Art  nach  unverändert  bleiben,  nur  die  Per- 
sonalität fehlt  ihr.  Das  war  die  zur  Annahme  gelangte  Lehre. 
Die  "Weiterbildung,  die  bei  Duns  wahrnehmbar  ist,  besteht  darin, 
dass  er  durchweg  bemüht  erscheint,  eine  möglichst  grosse  Voll- 
ständigkeit resp.  kreatürliche  Beschränktheit  der  Menschennatur 
zu  erzielen  und  deshalb  die  Vereinigung  mit  dem  Logos  auf  das 
schärfste  im  Sinn  blosser  Relation  zu  fassen.  Das  Vorwiegen 
dieses  Gesichtspunktes  bedingt  dann  die  unbewusst  immer  wieder 
eintretende  persönliche  Fassung  der  Menschennatur.  Man  be- 
greift es  von  hier  aus,  dass  das  Interesse  des  Duns  nicht  eigent- 
lich an  dem  Logos  haftet,  sondern  durchaus  auf  den  Menschen 
Jesus  geht,  dessen  Beziehungen  zum  Logos  auf  dem  Wege 
psychologischer  Analyse  einleuchtend  gemacht  werden  sollen. 
Nicht  wie  der  Logos  den  Menschen  ergreift  und  durchdringt, 
sondern  wie  der  Mensch  sich  den  Logos  zu  eigen  macht,  ist 
der  Gesichtspunkt. 

Wir  haben  auf  die  einzelnen  Lehren  schon  im  Lauf  der 
Einzeluntersuchung  aufmerksam  gemacht.  Es  dürfte  einleuch- 
tend sein,  dass  sie  sich  den  bezeichneten  Gesichtspunkten 
unterordnen.  Man  denke  au  die  aktive  Rolle  der  Maria  bei 
der  Empfängnis  Jesu,  an  die  aktuale  Existenz  seiner  Menschen - 
natur  und  die  Adoption  derselben  durch  Gott,  an  seine  sitt- 
liche Ausrüstung  durch  die  Gnade,  an  die  Beschränkung  seiner 
Erkenntnis  durch  die  Anschauung  des  Logos,  sowie  an  die  Ent- 
wicklung seiner  Erkenntnis  des  Wirklichen,  an  die  Beteiligung 
des  ganzen  Geistes  an  Schmerz  und  Leiden  und  an  die  Frei- 
heit seines  menschlichen  Willens,  der  von  dem  göttlichen 
Willen  nicht  mehr  und  nicht  anders  als  auch  jeder  andere 
menschliche  Wille  bestimmt  wird,  an  den  Gehorsam,  in  dem 
Jesus  sich  dem  Logos  zur  Vereinigung  unterwirft,  an  die  Be- 
gründung der  ünsündlichkeit  durch  die  Sättigung  des  Willens 
an  Gott.     Diese  Gedanken  hängen   deutlich  von  seineu  Richt- 

Seeberg,  Die  Theologie  des  Duns  3cotus.  18 


274  Kap.  III:  Die  Person  Christi  und  die  Erlösung. 

punkten  ab.  Sie  leiten  durchweg  an  Jesu  menschliches  Leben 
möglichst  menschlich  psychologisch  zu  verstehen  und  sie  führen 
alle  zur  Forderung  einer  wahren,  d.  h.  personalen  Menschheit 
Jesu.  Dass  aber  mit  diesen  ßeoba'chtungen  unterscheidende 
Eigentümlichkeiten  der  scotistischen  Christologie  bezeichnet 
sind,  ergibt  sich  aus  dem  geschichtlichen  Faktum,  dass  die 
herausgehobenen  Punkte  fast  durchweg  Differenzen  zur  tho- 
mistischen  Lehre  darstellen.^)  Bis  zu  einem  gewissen  Grade 
kann  man  selbst  den  von  Duns  im  Gegensatz  zu  Thomas  ge- 
lehrten Eintritt  der  Erscheinung  Christi,  auch  abgesehen  von 
der  Sünde,  hieb  er  rechnen,  denn  diese  Hypothese  tritt  bei  Duns 
nur  als  eine  Folge  der  Prädestination  des  Menschen  Jesus  auf. 
Man  kann  sich  einen  Augenblick  über  versucht  fühlen,  die 
Christologie  des  Duns  Scotus  so  w^iederzugeben ,  dass  man 
Jesus  als  einen  Menschen  denkt,  der  sich  mit  freiem  Willen 
Gott  ergibt  und  von  Gott  in  ein  Verhältnis  einzigartiger  Ge- 
meinschaft und  schlechthiniger  Abhängigkeit  eingesetzt  wird,  und 
der  in  Gott  die  Wahrheit  hat,  die  er  im  einzelnen  erst  allmählich 
fortschreitend  ergreift,  und  der  aus  der  Gemeinschaft  mit  Gott 
die  Kraft  bezieht,  vermöge  welcher  er  unentwegt  wie  die  Seligen 
droben  das  Gute  will  und  thut.^)  Dies  Bild  wäre  gar  nicht 
direkt  falsch,  aber  es  würde  die  „Lehre"  des  Duns  freilich 
nicht  wiedergeben,  ja  nicht  einmal  genau  seine  Empfindungen  — 
in  die  Sprache  der  Modernen  übersetzt  —  ausdrücken.  Man 
vergesse  nicht,  dass  Duns  es  für  möglich  gehalten  hat,  dass 
Jesus  vom  ersten  Moment  seiner  Konzeption  an  die  sittliche 
Bethätigung  des  Verdienen s  ausübte,  und  dass  er  —  in  der 
Theorie  wenigstens  —  trotz  aUem  die  menschliche  Natur  als  im- 
personal behauptete.  Ferner  muss  man  sich  aber  gegenwärtig 
halten,  dass  die  Lehre  entworfen  ist  ohne  eine  prinzipielle 
Unterscheidung  der  Zustände  und  Bedingungen  des  Lebens 
Jesu  auf  Erden  und  im  Himmel.  Durch  diesen  Mangel  wird 
aber  die  geschichtliche  Gestalt  Jesu  notwendig  in  ein  falsches 


^)  Vgl.  in  der  Kürze  Schwane,  Dogmengesch.  der  mittl.  Zeit 
S.  288—294. 

*)  Darauf,  dass  Duns  der  Macht  Jesu  nicht  eine  besondere  Er- 
örterung gewidmet  hat,  ist  kein  Gewicht  zu  legen.  Er  wird  sie  sich 
analog  der  Erkenntnis  gedacht  haben. 


Christi  AVerk.  275 

Licht  gerückt.^)  —  Doch  soviel  dürfte  nun  klar  sein,  dass  wir 
oben  S.  241  f.  das  Problem  der  Christologie  des  Duns  richtig 
bestimmt  hatten. 


II.   Das  Werk  Christi. 

1 .    Christi   Verdienst. 

1.  Indem  wir  jetzt  zur  Untersuchung  der  Lehre  vom  Werk 
Christi  fortschreiten,  müssen  wir  zuerst  dessen  eingedenk  sein, 
dass  der  mittelalterlichen  Lehre  die  Unterscheidung  der  Person 
und  des  Werkes  Christi  nicht  geläufig  ist.  Das  Werk  Christi 
wird  seit  dem  Lombarden  in  der  18.,  19.  und  20.  Distinktion 
des  3.  Buches  der  Sentenzen,  dort  wo  von  Christi  Verdienst 
und  seinem  Tode  zu  handeln  war,  besprochen.  Der  enge  Zu- 
sammenhang von  AVerk  und  Person  Christi  wird  durch  diese 
Verbindung  besonders  anschaulich.  Da  nun  in  der  christlichen 
Dogmatik  die  Christologie  als  Lehre  vom  Erlöser  in  Betracht 
kommt,  wird  die  Probe  für  die  Berechtigung  und  Brauchbar- 
keit der  Anschauungen  von  Christi  Person  darin  bestehen,  dass 
dieselben  als  fruchtbar  und  wirksam  zur  Erlösung  erkannt 
werden.  Die  abendländische  Theologie  hat  im  ganzen,  an 
diesem  Gesichtspunkt  bemessen,  die  Menschheit  des  Herrn  leb- 
hafter und  energischer  als  seine  Gottheit  zu  erfassen  verstanden. 
Der  Versuch  des  Anselm ,  auch  letztere  für  die  Erlösung 
fruchtbar  zu  machen,  erschien  in  unserem  Zeitalter  der  Mehr- 
zahl der  Theologen  als  unsicher.  In  einer  glänzenden  Dar- 
stellung hatte  Thomas  immerhin  die  objektive  Versöhnung  auf- 
recht zu  erhalten  versucht.  Wie  stellte  sich  unser  Denker  zu 
diesen  Fragen? 

2.  Die  19.  Distinktion  des  3.  Buches  des  grossen  Sen- 
tenzenkommentars handelt  von  Christi  Verdienst  für  uns  und 
seiner  Thätigkeit  als  Mittler.  Nach  Thomas  soll  Christus  durch 
sein  Verdienst,  der  Suffizienz  nach,  für  alle  die  Zerstörung  der 


^)  Aus  diesem  Mangel  in  der  älteren  Theologie  begreift  sich  auch, 
dass  noch  Luther  die  schärfere  Unterscheidung  des  Standes  der  Er- 
niedrigung von  der  Erhöhung  abgeht;  andere  Momente  kommen  bei  ihm 
hinzu  (s.  meine  Dogmengesch.  II,  312  Anm.). 

18* 


276  Kap.  III:  Die  Person  Christi  und  die  Erlösung-. 

Schuld  und  die  Mitteilung  der  Gnade  und  Herrlichkeit  verdient 
haben,  aber  die  Efficacität  des  Verdienstes  sich  nicht  auf  alle 
erstreckt  haben.  Das  Verdienst  Christi  wird  also  nach  Thomas 
gewissermassen  unendlich  sein,  denn  indem  das  göttliche  Sub- 
jekt die  Handlungen  der  menschlichen  Natur  leitete,  empfingen 
die  Bethätigungen  und  Leiden  des  Menschen  Jesus  quandam 
infinitatem,  sodass  sie  genügend  waren  zur  Erwerbung  der 
Aufliebung  unendlich  vieler  Sünden  und  der  Darbietung  un- 
endlich vieler  Gnaden.  Ebenso  habe  Anselm  dem  Leben  Christi 
einen  unendlichen  Wert  zugemessen,  sodass  sein  Leben  Gott 
liebenswerter  erschien,  als  die  Sünden  unendlich  vieler  Menschen 
hassenswert  waren  (1.  c.  quaest.  un.  §  2).  Dass  aber  die  Effi- 
cacität des  Verdienstes  nicht  allen  zu  gute  kommt,  habe  an 
ihrer  mangelnden  subjektiven  Disposition  seinen  Grund  (3).  — 
Nun  handelt  es  sich  aber  bei  dem  Verdienst  Christi  um  das 
bonum  velle  Christi,  und  zwar  seiner  menschlichen  Natur  (vgl. 
S.  271).  Der  Inhalt  dieses  Willens  ist  der  Gehorsam  Christi. 
Unter  diesen  Gesichtspunkt  fällt  das  ganze  Wirken  und  Leiden 
Christi.  Um  seines  Gehorsams  willen  liebte  ihn  Gott  (s.  Sent.  IV 
dist.  2  quaest.  1,  7).  Christi  Gehorsam  ist  das  Verdienst,  um 
des  willen  Gott  dem  Sünder  Gnade  gibt  (IV  dist.  15  quaest. 
1,  7).  Es  ist  aber  falsch,  dieses  velle  abzuschätzen  nach  dem 
Wert  des  Wollens  des  Logos,  wie  überhaupt  jene  ganze  Dar- 
stellung falsch  orientiert  ist:  genügte  Christi  Verdienst  zur 
Erlösung,  so  war  es  unendlich  und  zwar  wegen  der  Unend- 
lichkeit der  Logosperson;  oder  es  war  nicht  unendlich,  dann 
genügte  es  nicht  für  die  Schuld  unendlich  vieler.  Sagt  man: 
Gott  nimmt  nichts  an,  nisi  quantum  habet  de  acceptabilitate, 
und  nimmt  er  in  diesem  Fall  ideell  nur  Unendliches,  konkret 
Christi  Verdienst  an,  so  würde  das  dem  Logos  eigentümliche 
unendliche  Wollen  an  Wert  dem  Wollen  des  Menschen  Jesus 
einfach  gleich  gesetzt.  Das  ist  aber  falsch,  quia  hoc  est  ponere 
creatum  habere  tantam  diligibilitatem  sicut  increatum  (III  d.  19  q. 
un.  5).  Soll  aber  dies  verdienstliche  Wollen  des  Menschen  Jesus  an 
Wert  dem  Logos  gleichgesetzt  werden,  so  müsste  dies  in  der  Re- 
lation zur  Logosperson  geschehende  kreatürliche  Wollen  formal 
unendlich  sein,  und  Jesu  Seele  würde  gemessen  wie  der  Logos, 
d.  h.  man  müsste  die  Seele  Jesu  dem  Logos  gleichsetzen  (ib.). 


Christi  Verdienst  war  endlich.  277 

Also  ist  zu  sagen,  dass  das  Wollen  und  das  Verdienst  Jesu  nicht 
unendlich  war.  Denn  das  Prinzip  des  verdienstlichen  Willens 
Christi,  nämlich  sein  menschlicher  Wille,  ist  endlich  und  bleibt 
es,  trotz  aller  Relationen  zum  Logos.  Auch  kann  diesem 
Willen  in  keiner  Weise  vom  Logos  zur  Unendlichkeit  verholten 
werden,  denn  als  Kreatur  untersteht  er  keineswegs  mehr  der 
Kausalität  des  Logos  als  der  der  ganzen  Trinität.  Aber  ge- 
setzt auch,  der  Logos  übte  auf  die  Wirkungen  dieses  WoUens 
eine  besondere  Einwirkung  aus,  so  würde  daraus  noch  keines- 
wegs die  formale  Infinität  der  betr.  Akte  folgen,  denn  es  kann 
endliche  und  unendliche  Kausalität  so  zusammenwirken,  dass 
erstere  die  wesentliche  Ursache,  letztere  nur  accidentelle  Ur- 
sache ist ;  das  ist  aber  hier  der  Fall,  sofern  gerade  der  mensch- 
liche endliche  Willen  es  ist,  vermöge  welches  Verdienst  er- 
worben wird.  Also  war  Christi  Verdienst  nicht  unendlich  und 
wurde,  weil  endlich,  auch  nicht  als  unendlich  von  Gott  accep- 
tiert  (5). 

Wenn  aber  Thomas  weiter  meint,  Christus  habe  secundum 
efficaciam  nicht  für  alle  verdient  und  das  damit  begründet, 
quia  agens  non  agit  nisi  in  disposito  et  unito,  so  ist  auch  das 
verkehrt;  denn  dann  würde  Christus  uns  ja  nicht  die  Be- 
gnadigung, sondern  nur  die  Verherrlichung  verdient  haben, 
ohne  das  klar  würde,  woher  die  Taufgnade,  überhaupt  die 
gratia  prima  komme,  denn  diese  stellt  ja  die  Disposition  her, 
die  Thomas  für  die  Wirkungen  Christi  voraussetzen  will.  Viel- 
mehr ist  es  richtig,  gerade  darauf  den  Ton  zu  legen,  dass 
Christus  uns  die  erste  Gnade  verdiente.  Meruit  nobis  gratiam 
primam  qua  coniuncti  essemus  sibi  (=  ei) :  Igitur  meruit,  ut 
non  coniuncti  coniungerentur  sibi  et  in  hoc  potissime  consistebat 
meritum;  igitur  non  solum  meruit,  ut  coniuncti  sibi  ulterius 
cooperarentur  ei  et  sie  tandem  glorificarentur,  sed  meruit,  ut 
non  uniti  unirentur,  etiam  qui  nunquam  se  disposuerunt.  Unde 
magis  meruit  gratiam  baptismalem  et  primam  quam  quod- 
cunque  opus  postea  ex  gratia  (5).  —  Also  das  ist  das  positive 
—  dem  Thomas  entgegengestellte  —  Resultat:  Christi  Ver- 
dienst war,  weil  von  seinem  kreatürlichen  Willen  allein  ge- 
wirkt, endlich,  und  es  diente  der  Absicht  uns  vor 
allem  die  gratia  prima  zu  erwerben. 


278  Kap.  III:  Die  Person  Christi  und  die  Erlösung. 

2.  Hier  erheben  sich  nun  aber  drei  Fragen:  1)  Wie  ver- 
diente Jesus  quantum  ad  efficaciam,  2)  quantum  ad  sufficientiam, 
3)  quid  moruit?  (6). 

Die  Antwort  auf  die  erste  Frage  ist  folgende:  Logisch 
betrachtet  geht  in  der  göttlichen  Prädestination  und  dem  gött- 
lichen Vorherwisseu,  wie  bereits  gezeigt  wurde,  die  Mensch- 
werdung Christi  und  seine  Prädestination  ad  gloriam  et  gratiam, 
sowie  die  Prädestination  aller  Erwählten  voraus  der  Voraus- 
sicht des  Falles  und  der  Erlösung  der  Gefallenen  durch 
Christum,  wie  der  Arzt  zuerst  die  Gesundheit  des  Kranken 
und  dann  erst  die  zu  demselben  dienliche  Medizin  in  das 
Auge  fasst.  Zuerst  also  sind  die  Erwählten  zu  gloria  et  gratia 
bestimmt,  dann  erst  ist  die  Passion  Christi  als  Mittel  zur  Ver- 
wirklichung dieses  Zweckes  angesetzt.  Demgemäss  sah  der 
Logos  vorher  seine  für  die  praedestinati  et  electi  dem  Vater 
darzubringende  Passion  und  brachte  sie  dann  efficaciter  dar 
in  effectu,  wie  denn  auch  die  Trinität  sie  so  annahm,  und 
zwar  so,  dass  sie  nur  für  die  Erwählten  als  wirkungskräftig 
acceptiert  wurde.  Demnach  hat  Christus,  gemäss  der  göttlichen 
Prädestination  und  Prävidenz,  für  die  Erwählten  sein  Leiden 
als  ein  wirkungskräftiges,  d.  h.  gemäss  jener  Vorherbestimmung 
annehmbares,  dargebracht,  und  unter  diesem  Gesichtspunkt  ist 
es  von  Gott  angenommen  worden.  Also  die  gehörige  Effi- 
cacität  eignet  dem  Leiden  Christi  nicht  an  sich,  sondern  ver- 
möge der  Vorherbestimmung  des  göttlichen  Willens,  die  das- 
selbe als  wirkungskräftig  acceptiert  (§  6).  Duns  hat  hiemit 
einen  Gedanken  Augustins  aufgenommen,  freilich  in  der  be- 
sonderen Prägung,  welche  durch  seinen  Gottesbegriff  erfordert 
war.  Gott  wollte  das  Heil  der  Prädestinierten  und  Christus 
als  ihren  Erlöser,  wegen  dieser  göttlichen  Ordnung  erstreckt 
Christi  Thun  und  Leiden  als  verdienstlich  seine  Efficacität 
auf  die  zu  Erlösenden,  nämlich  die  Erwählten. 

Genügte  (sufficientia)  nun  aber  dieses  Verdienst  Christi 
als  Mittel  zur  Erreichung  des  besagten  Zweckes?  Es  war 
endlich,  so  sahen  wir,  weil  von  dem  endlichen  Prinzip  der 
menschlichen  Natur  Jesu  ausgehend.  Hier  gilt  nun  die  Ant- 
wort: dico,  quod  sicut  omne  aliud  a  deo  ideo  est  bonum,  quia 
a   deo   volitum   et  non   e  converso,  sie  meritum  illud  tantum 


Efficacität  und  Sufficienz  des  Verdienstes  Christi.  279 

bonum  erat  pro  quanto  acceptatum ,,  non  autem  e  converso 
quia  meritum  est  et  bonum  ideo  acceptatum,  et  tantum  potuit 
acceptari  passive,  quantum  tota  trinitas  potuit  et  voluit  acceptare 
active  (ib.  §  7).  Also  nicht  das  Verdienst  Christi  als  solches 
genügt,  sondern  nur  sofern  es  der  göttliche  Wille  als  genügend 
annimmt.  Nach  seinem  AVesen  konnte  aber  dieses  Verdienst 
nicht  für  unendlich  angenommen  werden :  non  potuit  acceptari 
in  infinitura  et  pro  infinitis,  sed  pro  finitis.  Doch  lag  angesichts 
des  Subjektes  der  verdienenden  Person  ein  äusserer  Grund  vor, 
der  es  angemessen  erscheinen  Hess,  dass  Gott  das  Verdienst 
als  unendliches  annahm ,  scilicet  extensive  pro  infinitis.  Nur 
muss  daran  festgehalten  werden,  dass  das  Verdienst  an  sich 
nur  endlich  war,  und  dass  es  nur  vermöge  der  göttlichen  Accep- 
tation  galt,  und  zwar  für  so  viele  als  Gott  wollte,  also  auch 
für  unendlich  viele  (7).  Im  Grunde  genommen,  geht  also  die 
eben  gemachte  Konzession  nicht  hinaus  über  die  Zulassung 
einer  volltönenden  Redensart,  die  freilich  in  der  Sache  nicht 
genau  ist. 

Im  Übrigen  hat  schon  Duns  die  richtige  Beobachtung 
gemacht,  dass  es,  streng  gefasst,  auch  falsch  ist,  von  der  Un- 
endlichkeit der  Sünde  in  intensivem  Sinn  zu  reden;  das  führe 
auf  Manichäismus  hinaus.  Aber  auch  der  Anseimische  Satz, 
dass  die  Sünde  so  gross  sei  als  der,  wider  welchen  sie  gerichtet 
ist,  ist  nicht  richtig.  Gesetzt,  es  wäre  möglich  das  Unendliche 
zu  zerstören,  so  könnte  diese  Zerstörung  unendlich  nur  in  dem 
Sinne  genannt  werden,  dass  sie  sich  gegen  Unendliches  richtete, 
ohne  aber  wirklich  unendlich  zn  sein.  Wie  ein  Vergehen  gegen 
den  König  schwerer  gilt,  als  das  gegen  einen  seiner  Soldaten, 
so  könnte  man  also  in  ungenauer  Kede  wohl  von  der  Unend- 
lichkeit der  Schuld  reden,  an  sich  ist  die  Sünde  aber  endlich 
(ib.  §  13).  Ebenso  ist  von  der  Strafe  für  die  Sünde  nur  in 
dem  extensiven  Sinn  die  Unendlichkeit  auszusagen,  dass  Gott 
sie  über  ein  Subjekt  ergehen  lässt,  solange  und  sofern  es 
sündigt.  Es  wäre  aber  an  sich  keine  Ungerechtigkeit,  wenn 
Gott  für  eine  Todsünde  die  Seele  nur  einen  Tag  strafte  und 
dann  vernichtete  (et  annihilaret  animam).  Wieder  solch  ein 
merkwürdiger  Einfall,  der  aufflammt,  um  sofort  wieder  zu 
verschwinden!    Das   Verdienst  Christi  genügt    also,    vermöge 


280  Kap.  III:  Die  Person  Christi  und  die  Erlösung. 

(1er  göttlichen  Acc(*ptati()n  für  so  viele,  als  Gott  es  gelten  lassen 
will.  An  sich  könnte  es  ja  für  alle  Menschen  gelten,  aber 
Gottes  Wille  beschränkte  seine  Geltung  auf  die  Erwählten. 
Das  bonum  velle  Christi  oder  seine  passio  wurde  angenommen 
und  dargebracht  pro  electis  et  praedestinatis  tantum,  et  non 
pro  aliis  (ib.  §  14).  —  Wie  also  das  Verdienst  Christi  nur  für 
die  Erwählten  zum  Mittel  der  Erlösung  verordnet,  also  nur 
in  dieser  Richtung  wirksam  war,  so  eignete  dic^se  Wirkung 
dem  Verdienst  Christi  lediglich  durch  Gottes  Ordnung  und 
Acceptation. 

Endlich  bleibt  die  Frage :  quid  et  quibus  meruit  ?  Christus- 
hat  zunächst  die  Zuteilung  der  prima  gratia  an  alle,  die  ge- 
rettet werden,  verdient,  und  zwar  ita  quod  ibi  non  cooperatur 
voluntas  nostra.  ausser  etwa  bei  erwachsenen  Täuflingen,  wo 
mit  innerer  Notwendigkeit  eine  gewisse  gute  Willensdisposition 
vorauszusetzen  ist.  Hinsichtlich  der  gratia  poenitentialis  (also 
nach  dem  Fall  in  eine  Todsünde)  kommt  das  Verdienst  Christi 
als  principale  in  merendo  et  totalis  causa  de  condigno  in  Be- 
tracht, doch  wird  von  dem  Büssenden  de  congruo  irgend  etwas, 
wie  etwa  die  Beue,  gefordert.  Endlich  eröffnet  das  Verdienst 
Christi  als  totalis  causa  uns  die  Thür  zum  Paradies.  Wiewohl 
nun  lediglich  Christi  Verdienst  das  Hindernis  des  Eintrittes 
fortschafft,  so  kommt  doch  niemand  herein,  der  nicht  cooperiert 
und  sich  der  prima  gratia  bedient:  nos  autem  passioni  exhibitae 
et  amoto  obstaculo  cooperamur  ad  actualem  ingressum,  nisi 
impotentia  excuset  sicut  in  parvulis  (§  8).  Das  Verdienst 
Christi  ist  also  nach  Gottes  Ordnung  die  alleinige  Ursache, 
um  die  erste  Gnade  in  der  Taufe,  und  die  prinzipale  Ursache, 
um  die  Gnade  der  Busse,  sowie  die  ewige  Herrlichkeit  den 
Prädestinierten  zu  erteilen. 

3.  Doch  hier  erheben  sich  einige  Bedenken.  Ihre  Lösung 
dient  der  weiteren  Klärung  des  Problems,  hat  doch  Duns  bis- 
her eigentlich  nur  gelehrt,  dass  Christi  Leiden  von  Gott  als 
genügendes  Verdienst  anerkannt  werde,  um  daraufhin  den 
Erwählten  die  Gnade  mitzuteilen.  Das  erste  Dubium  ist:  hat 
Christus  allen  Erwählten  die  erste  Gnade  verdient,  so  doch 
auch  Adam  und  den  Patriarchen,  d.  h.  es  hat  zeitlich  vor 
seiner   Passion   Gnadenmitteilung  gegeben.     Doch    wurde    das 


Die  Satisfaktionslehre.  281 

Yerdienst  Christi  von  Ewigkeit  her  von  Gott  vorhergesehen,  und 
daraufhin  konnte  den  vor  Christus  lebenden  Erwählten  die  Erb- 
sünde erlassen  und  Gnade  dargeboten  werden  (§  9.  10).  Dabei 
ist  einerseits  der  Glaube  dieser  Erwählten,  dass  einst  in  der 
Zeit  für  sie  Sühne  dargebracht  werden  würde,  vorausgesetzt, 
andrerseits  vorbehalten,  dass  keiner  derselben  vor  Vollzug  des 
Erlösungswerkes  die  Seligkeit  im  Paradiese  erlangt  habe  (10). 
Also  wurde  das  ganze  Heilsgut  ihnen  erst  nach  der  wirklichen 
Beschaffung  des  Heiles  zu  Teil.  Sie  konnten  sich  jenes,  ob- 
gleich mit  der  Gnade  ausgerüstet,  auch  nicht  selbst  verdienen, 
da  die  Hauptursache  zur  Öffnung  des  Paradieses  Christi 
Verdienst,    und    unser   Verdienst    nur  Nebenursache    ist    (11). 

Man  kann  aber  auch  einwenden,  dass,  wenn  die  von  Gott 
vorhergesehene  Passion  Christi  verdienstlich  und  Grund  der 
Gnadenerteilung  an  die  Patriarchen  war,  sie  auch  für  die  Trinität 
Anlass  zur  Prädestination  anderer  werden  konnte  und  somit 
die  Erwählung  durch  eine  causa  meritoria  bewirkt  werde  (§  9). 
Allein  diese  Folgerung  ist  logisch  fehlerhaft,  da  —  nach  dem 
oben  Bemerkten  —  die  Väter  früher  prädestiniert  waren,  als 
die  Passion  Christi  vorhergesehen  wurde.  Das  logisch  Erste  ist, 
dass  Gott  alle  Prädestinierten  mit  Gnade  und  Herrlichkeit  aus- 
rüsten will,  dann  erst  folgt  die  Voraussicht  ihres  Falles  und 
des  Mittels  zu  der  Erlösung.  Die  Passion  kommt  also  als 
Mittel  der  Sündenvergebung  und  der  Gnadenmitteilung  in  Be- 
tracht, unmöglich  aber  kann  sie  als  ratio  praedestinationis  an- 
gesehen werden  (§  11).  —  Es  ist  also  in  der  19.  Distinktion 
gelehrt,  dass  Gott  die  Passion  Christi  als  Mittel  zur  Begnadigung 
der  Prädestinierten  feststellte,  indem  er  sie  als  genügendes 
Verdienst  acceptieren  wollte,  um  welches  willen  er  jenen  nach 
ihrem  Fall  Gnade  schenkt. 

2.   Die  Satisfaktionslehre. 

1.  Duns  schreitet  nun  fort  zur  Stellungnahme  zu  der 
Satisfaktionslehre.  Es  wird  die  Frage  aufgeworfen,  ob  das 
Leiden  Christi  zur  Erlösung  der  Menschheit  notwendig  gewesen 
sei?  (III  dist.  20  quaest.  unic.  §  1).  Er  stellt  dar  und 
kritisiert  die  Meinung  des  Anselm  in  Cur  deus  homo  ?   Anselms 


282  Kap.  III:  Die  Person  Christi  und  die  Erlüsun"^. 

Thoorio  ist  bekannt;  ich  reproduzier^  sio  nichtsdestoweniger, 
<leDn  es  ist  doch  interessant  zu  sc.^hen^  wie  (»in  so  scharfsinniger 
Mann,  wie  Duns,  sie  verstanden  hat. 

In  vier  Gedankenreihen  gibt  er  Anselms  Lehre  wieder. 
1)  Gott  und  die  Natur  machen  nichts  umsonst.  Erreichte  nun 
der  Mensch  nicht  den  höchsten  Zweck,  nämHch  das  höchste 
Gut  um  sein  selbst  wiUen  zu  heben ,  so  wäre  er  umsonst 
erschaffen  worden,  also  ist  es  notwendig,  dass  Gott  den  in 
Sünde  gefallenen  Menschen  erlöse.  2)  Eine  Erlösung  ohne 
Satisfaktion  war  unmöglich,  denn  der  Mensch  hat  Gott  die 
Ehre,  die  er  ihm  schuldete,  nicht  gewährt.  Bevor  er  Gott 
dafür  Satisfaktion  gibt,  ist  er  ungerecht.  Dagegen  gelten  auch 
nicht  die  Einw^ände,  dass  der  Mensch  auch  ohne  Satisfaktion 
gerecht  w^erden  kann,  da  er  durch  sein  Unvermögen  entschuldigt 
werden  könne,  oder  aber  die  Barmherzigkeit  Gottes  ihm  ohne 
Satisfaktion  die  Sünde  vergeben  könne.  Der  erste  Einwand 
trifft  nicht  zu,  da  der  Mensch  seine  Impotenz  selbst  verschuldet 
hat :  ipsa  impotentia  est  peccatum,  quia  debet  eam  non  habere, 
debet  enim  posse  reddere  honorem  deo.  Der  zweite  Einw^and 
genügt  ebenfalls  nicht.  Dass  die  Schuld  durch  die  Barm- 
herzigkeit vergeben  werde,  kann  entweder  bedeuten,  dass  das 
debitum  Gott  die  Ehre  zu  erweisen  aufgehoben  werde,  da 
der  Mensch  es  nicht  leisten  kann,  oder  dass  die  Strafe  für  die 
Schuld  erlassen  werde  durch  Verleihung  der  Seligkeit.  In 
dem  einen  Fall  erlasse  Gott  das  debitum,  weil  es  der  Mensch 
nicht  leisten  könne;  eine  solche  Barmherzigkeit  annehmen 
heisse  aber  Gott  verhöhnen.  In  dem  andern  Fall  werde  dem 
Menschen  wegen  seiner  Unfähigkeit  die  Seligkeit  gewährt, 
d.  h.  —  nach  dem  Obigen  —  wegen  seiner  Sünde,  was  eben- 
falls unmöglich  ist.  3)  Die  notwendige  Satisfaktion  kann  nicht 
von  einem  reinen  Menschen  geleistet  werden,  da  der  Mensch 
als  Satisfaktion  etwas  darbieten  müsste,  was  grösser  ist  als  das, 
um  dessentwdllen  er  die  Sünde  nicht  thun  durfte.  Nun  durfte 
er  aber  die  Sündenthat  nicht  begehen,  um  aller  wirklichen 
oder  denkbaren  Kreaturen  willen,  folglich  musste  er  etwas  dar- 
bieten, was  grösser  als  die  wirkliche  oder  denkbare  Kreatur 
ist.  Das  konnte  kein  Mensch,  also  musste  Gott  es  leisten. 
Wenn  aber  ein  Sünder  nur  das  thäte,  w^ozu  er  als  Unschuldiger 


Duns  Wiedergabe  von  Anselms  Satisfaktionslelire.  283 

verpflichtet  gewesen  war,  so  würde  dieses,  sofern  er  dazu  an 
sich  verpflichtet  ist,  doch  nicht  die  Satisfaktion  ausmachen. 
Sodann:  der  Mensch  muss  Gott  restituieren  alles  was  er  fort- 
nahm. Er  nahm  Gott  das,  was  er  aus  der  menschlichen  Natur 
herzustellen  beschlossen  hatte,  nämlich  den  numerus  electorum, 
zu  dessen  Vollendung  jeder  Mensch  erschaffen  wurde.  Das 
konnte  kein  Mensch  wiedergeben,  weil  der  Sünder  einen  Sünder 
nicht  gerecht  machen  kann.  Auch  war  es  nicht  ziemlich,  dass 
ein  unschuldiger,  nicht  von  Adam  herstammender,  Mensch  die 
Menschen  durch  seinen  Tod  in  ihre  pristina  dignitas  restituierte, 
denn  dann  wären  die  Sünder  diesem  Menschen  doch  soviel  für 
die  Erlösung  verpflichtet  gewesen,  als  Gott  für  die  Schöpfung. 
Dazu  konnte,  wie  wir  sahen,  solch  ein  reiner  Mensch  nicht 
einmal  die  Satisfaktion  darbringen.  4)  Die  Vernunft  lehrt, 
dass  der  Genugthuer  etwas  darbringen  musste,  grösser  als 
alles,  was  unter  Gott  ist,  und  zwar  freiwillig  und  nicht  pflicht- 
mässig,  wie  die  Menschen  sich  freiwillig  dem  Teufel  unter- 
worfen haben.  Wie  nun  der  Mensch  sündigte,  indem  er  um 
der  Süssigkeit  willen  sich  dem  Teufel  unterwarf,  so  wird  diese 
Darbringung  durch  ihre  Bitterkeit  den  Teufel  überwinden 
müssen.  Das  Bitterste,  was  der  Mensch  zur  Ehre  Gottes  frei- 
willig leisten  kann,  ist  der  Tod.  Daher  musste  der  Mensch 
Christus,  der  grösser  als  alles  unter  Gott  ist,  durch  seinen 
freiwilligen  Tod  die  Satisfaktion  darbringen.  Indem  sein  Leben 
so  wertvoll  war,  wurde  die  Hingabe  desselben  oder  sein  Tod 
von  Gott  acceptiert  als  Satisfaktion.  Duns  schHesst  seinen 
Bericht:  haec  veraciter,  ut  potui,  ex  dictis  eins  (Anselms) 
collegi  (§  6).  1) 

2.  Mit  den  bescheidenen  Worten:  in  istis  dictis  Anselmi 
videntur  aliqua  dubia,  leitet  Duns  seine  schneidende  Kritik 
ein  (§  7).  Es  ist  gleich  zweifelhaft,  ob  die  Erlösung  nui* 
durch  Christi  Tod  oder  durch  die  Darbringung  von  etwas  alle 
Kreaturen  Überragendem  bewirkt  werden  konnte.  Augustin 
de  trinit.  XIII,  10  sage,    es  hätte  Gott   auch   die  Möglichkeit 

^)  Also  hat  Duns  diese  Darstellung  auf  Grund  eines  besonderen 
Studiums  der  anselmischen  Schrift  gegeben.  Das  legt  die  Frage  nahe, 
ob  sein  Verständnis  Anselms  richtig  war.  Doch  kann  dieser  interessanten 
Aufgabe  hier  nicht  näher  getreten  werden. 


284  Kap.  III:  Die  Person  Christi  und  die  Erlösung. 

einer  andern  Weise  der  Erlösung  gehabt.  Aber  auch  logisch 
kann  jene  Notwfmdigkeit  angefochten  werden.  Die  necessitas 
ist  nur  eine  necessitas  consequentiae,  d.  h.  sie  gilt  für  den 
Fall,  dass  Gott  vorher  diese  Art  der  Erlösung  festgesetzt  hätte. 
Duns  erläutert  das  an  einem  Beispiel:  wenn  ich  laufe,  so  bin 
ich  in  Bewegung.  Letzteres  stellt  freilich  eine  Notwendigkeit 
dar,  aber  eine  Notwendigkeit  der  Konsequenz.  Indem  aber 
ersteres  etwas  Kontingentes  ist,  ist  es  auch  letzteres.  So  ist 
auch  in  unserem  Fall  jene  Festsetzung  selbst  eine  kontingente 
Handlung,  also  ist  auch  der  Tod  Christi  kontingent.  —  Die 
Notwendigkeit  desselben  kann  also  nur  im  Sinne  der  Kon- 
sequenz aus  einer  freien  Vorausbestimmung  behauptet  werden.  — 
Sodann  ist  aber  von  der  Notwendigkeit  der  Erlösung,  also  auch 
des  Todes  Christi  nicht  zu  reden.  Die  Erlösung  hat  zum 
letzten  Grunde  die  göttliche  praedestinatio  ad  gloriam.  Die 
Prädestination  ist  nun  keinesfalls  eine  notwendige  Handlung, 
sofern  sie  durch  nichts  ausserhalb  Gott  Liegendes  bedingt  wird,, 
vielmehr  ist  sie  eine  rein  kontingente  Handlung.  Folglich 
kann  von  einer  absoluten  Notwendigkeit  weder  der  Prädesti- 
nation noch  der  Erlösung  durch  Christi  Tod  geredet  werden  (7), 
Es  ist  also  die  Notwendigkeit  der  Erlösung  nicht  erweisbar, 
somit  auch  nicht  die  Notwendigkeit  der  Satisfaktion. 

Gesetzt  aber,  die  Notwendigkeit  einer  Satisfaktion  wird 
zugestanden,  so  folgt  daraus  noch  keineswegs,  dass  der  Genug- 
thuende  Gott  sein  müsse.  Wenn  Anselm  sagt,  zur  Satisfaktion 
bedürfe  es  eines  Grösseren  als  die  ganze  Kreatur,  so  meint 
Duns  dazu:  credo,  salva  reverentia  sua,  quod  hoc  uon  est 
verum.  Es  wäre  durchaus  genug  gewesen,  wenn  für  die  Sünde 
des  ersten  Menschen  dargebracht  worden  wäre  ein  malus  bonum, 
quam  fuerit  malum  illius  hominis  peccantis.  Wenn  also  Adam^ 
vermöge  ihm  mitgeteilter  Gnade  einen  oder  mehrere  Akte  der 
Liebe  gegen  Gott  um  Gottes  selbst  willen  vollzogen  hätte,  sa 
würde  diese  Liebe  als  ein  grösseres  Unternehmen,  als  es  die 
erste  Sünde  war,  zur  Bewirkung  der  Sündenvergebung  und 
der  Satisfaktion  genügt  haben.  Jene  Liebe  zu  Gott  übersteigt, 
sofern  sie  an  Gott  ihr  Ziel  hat,  jede  Liebe  zur  Kreatur  in 
dem  Mass,  als  Gott  über  die  Kreatur  erhaben  ist.  Somit  wäre 
die  Liebe  zu  dem   kreatürüchen  Objekt  in  der  Sünde  gesühnt 


Kritik  der  anseimischen  Theorie.  285 

durch  die  ihr  absolut  überlegene  Liebe  zu  Gott.  Allerdings 
bedürfte  es  hierbei  zur  Satisfaktion  einer  Liebe,  die  die  Liebe 
zur  Kreatur,  d.  h.  die  Sünde  überragt.  Aber  diese  Liebe  ist, 
nach  ihrem  Wesen  betrachtet,  keineswegs  grösser  als  alle 
Kreatur,  war  doch  auch  die  „erschaffene  Liebe"  Christi  zu 
Gott  so  beschaffen  (§  8).  Aus  der  Thatsache  der  verdienstlichen 
Liebe  Christi  selbst,  die  ja  „erschaffen"  war  —  als  Mensch  ver- 
diente Christus  —  folgt,  dass  nicht  etwa  mehr  als  alles  Erschaffene 
Gott  darzubringen  war.  Der  Satz  Anselms,  dass  die  Genug- 
thuung  von  Gott  ausgehen  müsse,  ist  sonach  als  falsch  erwiesen. 
Vgl.  noch  die  Kritik  Anselms  IV  dist.  15  quaest.  1,  4  ff. 

Aber  auch  die  Notwendigkeit  dessen,  dass  die  Satisfaktion 
von  einem  Menschen  ausgehe,  ist  nicht  als  schlechthin  not- 
wendig zu  erweisen.  Kann  überhaupt  einer  für  den  andern 
Satisfaktion  darbieten ,  so  ist  nicht  einzusehen ,  warum  nicht 
auch  ein  guter  Engel  es  hätte  für  den  Menschen  thun  können. 
Nicht  in  dem  dargebrachten  Ding  liegt  ja  der  Wert,  sondern 
in  der  willkürlichen  göttlichen  Acceptation,  quia  tantum  valet 
omne  creatum  oblatum,  pro  quanto  deus  acceptat  illud.  Wie 
Gott  die  Tbat  eines  Engels  annehmen  konnte,  so  kätte  ein 
ohne  Sünde  empfangener  Mensch,  dem  Gott  die  höchste  Gnade 
mitgeteilt  hätte,  ebenfalls  die  Satisfaktion  leisten  können. 
Solch  ein  Mensch,  d.  h.  ein  Christus  ohne  die  Gottheit  Christi, 
geboren  wie  Christus  und  mit  dem  gleichen  Mass  der  Gnade 
"wie  er,  ohne  vorhergegangene  Verdienste,  ausgerüstet,  hätte 
auch  die  Zerstörung  der  Sünde  und  die  Seligkeit  verdienen 
können.  Und  wenn  Anselm  meint,  dann  würden  wir  jenem 
soviel  verdanken  wie  Gotte,  so  ist  das  falsch,  weil  jener  alles 
was  er  hat,  von  Gott  erhalten  hätte.  Wir  würden  ihm  soviel 
verdanken  wie  der  Maria  und  andern  Heiligen,  die  für  uns 
verdient  haben.  Schliesslich  kann  auch  das  noch  als  möglich 
betrachtet  werden,  dass  jeder  beliebige  Mensch  die  Satisfaktion 
für  sich  hätte  darbringen  können ,  wenn  Gott  ihm  nur  ohne 
vorausgegangene  Verdienste  die  gratia  prima  hätte  geben 
wollen.  Wie  nämlich  der  sündige  Mensch,  ohne  eigene  Ver- 
dienste die  gratia  prima  empfängt  und  sich  dann  die  Seligkeit 
verdient  (meretur  beatitudinem),  so  könnte  er  sich  dann  auch 
die  Zerstörung  der  Schuld  verdienen  (§  9). 


286  Kap.  111:  Die  Person  Christi  und  die  Erlösung. 

Diese  Kritik  ist  überaus  cliarakteristisch.  Für  Duns 
Theologie  ist  überall  massgebend  die  Idee  von  Gott  als  dem 
absolut  Freien.  Von  irgend  einer  absoluten  Notwendigkeit 
kann  nicht  die  E-ede  sein.  Alles  ist -so,  w(dl  Gott  es  so  wollte. 
Es  kann  etwas  als  notwendig  nur  unter  dem  Gesichtspunkt  der 
Konsequenz  bezeichnet  werden,  d.  h.  als  Folge  aus  einer  freien 
Ordnung  und  Verfügung  Gottes.  Logisch  denkbar  w^ären  auch 
noch  ganz  andere  Wege.  Gott  konnte  erlösen  durch  einen 
Christus,  der  ein  blosser  Mensch  w^ar,  durch  einen  Engel,  ja 
es  hätte  zur  Not  jeder  sein  eigner  Erlöser  werden  können.  — 
Anselm  und  sein  Kritiker  repräsentieren  hier  in  lehrreichster 
Weise  den  Geist  der  angehenden  und  der  ausgehenden  Theologie 
des  Mittelalters.  Dort  erscheint  alles  als  notwendig,  sola 
ratione  zu  begreifen,  hier  ist  alles  zufällig,  weil  eine  freie 
Fügung  des  persönlichen  Gottes. 

3.  Denn  es  ist  die  positive  Ansicht  des  Duns,  dass  alles,  was 
Christus  zu  unserer  Erlösung  gethan  hat,  an  sich  nicht  notwendig 
war,  sondern  dass  es  nur  vermöge  der  vorangehenden  göttlichen 
Anordnung  notwendig  wurde,  d.  h.  im  Sinne  der  necessitas  con- 
sequentiae:  Tantum  necessitate  consequentiae  necessarium  fuit 
Christum  pati,  sed  tamen  totum  fuit  contingens  simpliciter  et  an- 
tecedens et  consequens,  §  10  cf.  IV  dist.  15  quaest.  1,  7.  —  Wozu 
hat  denn  Christus  gelitten  ?  Er  litt  um  der  Gerechtigkeit  willen. 
Er  sah  die  Sünden  der  Juden,  ihre  verkehrte  Hingebung  an 
das  Gesetz,  etwa  dass  sie  zwar  den  Ochsen  am  Sabbat  aus 
dem  Brunnen  zu  retten  gestatten,  aber  den  Menschen  am 
Sabbat  zu  heilen  verbieten.  Christus  w^ollte  sie  ab  errore 
illo  revocare  per  opera  et  sermones.  Er  musste  ihnen  die 
Wahrheit  sagen,  er  wollte  lieber  sterben  als  schweigen,  und 
daher  ist  er  für  die  Gerechtigkeit  gestorben.  Hiezu  kommt, 
dass  er  seine  Passion  dem  Vater,  und  zwar  für  uns  dargebracht 
hat,  wofür  wir  ihm  zu  Dank  verpflichtet  wurden.  Passionem 
suam  ordinavit  et  obtulit  patri  pro  nobis,  et  ideo  multum  tene- 
mur  ei.  Diese  Dankespflicht  wird  nur  gesteigert  durch  die 
Erwägung,  dass  wir  nicht  notwendig  gerade  auf  diese  und  keine 
andere  Weise  erlöst  werden  mussten.  So  dient  also  diese  be- 
sondere Gestaltung  der  Erlösung  zur  Anreizung  zur  Liebe 
gegen  Gott  und  zur  Hingabe  an  Christus,  wie  etwa  ein  Mensch 


Die  Versöhnung.  287 

sich  dem,  der  ilm  erzeugte  und  auch  noch  zu  Zucht  uud 
Heiligkeit  erzogen  hat,  mehr  verpflichtet  fühlt,  als  dem,  welcher 
ihn  blos  erzeugte.  Ideo  ad  alliciendum  nos  ad  amorem  suum, 
ut  credo,  hoc  praecipue  fecit  et  quia  voluit  hominem  amplius 
teneri  deo  (§  10). 

Duns  hat  sich  leider  nur  sehr  kurz  (sowohl  im  Opus  Oxon. 
als  in  den  Report.  Paris.)  über  die  positive  Gestaltung  der 
Lehre  ausgesprochen.  Aber  es  kann  hiernach  doch  als  sicher  be- 
zeichnet werden,  dass  seine  Satisfaktionslehre  im  wesentlichen 
dem  Typus  des  Abälard  folgt :  Christus  ist  der  Lehrer  der  Ge- 
rechtigkeit, die  Offenbarung  der  Liebe  Gottes;  durch  ihn 
werden  wir  zur  Gegenliebe  und  zur  dankbaren  Hingabe  an 
Gott  angeregt.  Freilich  redet  er  von  einer  Darbringung  für 
uns,  hier  wie  auch  sonst  im  Obigen;  aber  durch  diesen  Ge- 
danken wird  nur  ein  relativer  Gegensatz  zu  dem  abälardischen 
Typus  hergestellt,  da  auch  Abälard  von  einem  betenden  Ein- 
treten Christi  für  uns  und  von  einer  Ergänzung  unserer  Verdienste 
durch  seine  Verdienste  geredet  hat.^)  Soviel  ist  jedenfalls  er- 
sichtlich, dass  Duns  eine  Satisfaktionstheorie  im  Sinne  Anselms 
nicht  lehrte.  —  An  der  Stelle  in  Sent.  IV.  dist.  2  quaest  1,  7 
entwickelt  Duns  folgenden  Zusammenhang:  Gott  will  dem 
Sünder  die  Sünde  nicht  vergeben,  es  würde  ihm  denn  etwas 
dargebracht,  was  ihm  mehr  gefällt,  als  ihm  die  Sünde  der 
Menschheit  missfiel.  Dies  konnte  nun  nichts  anderes  sein, 
als  der  Gehorsam  einer  Person,  die  von  Gott  mehr  geliebt 
wurde  als  die  ganze  Menschheit,  die  gesündigt  hat,  von  Gott 
geliebt  worden  wäre,  wenn  sie  nicht  gesündigt  hätte.  Talis 
persona  non  est  nisi  Christus,  cui  non  ad  mensuram  dedit 
deus  spiritum  caritatis  et  gratiae  (Job.  3),  et  tale  obsequium 
est  illud  in  quo  maxima  apparet  Caritas,  quod  est  offerre  se 
usque  ad  mortem  pro  iustitia.  Das  ist  die  objektive  Seite  in 
der  Versöhnungslehre  des  Duns.  Um  des  Gehorsams  Christi 
willen,  der  sich  in  seiner  Liebe  offenbart,  vergibt  Gott  der 
Menschheit  die  Sünde  und  rüstet  sie  mit  allen  Gaben  der 
Gnade  aus  —  es  handelt  sich  im  Zusammenhang  um  die  Ein- 


^)  Vgl.  meine  Abhandlung  über  die  Versöhnungslehre  Abälards  in 
den  Mitteilungen  und  Nachrichten  für  die  ev.  Kirche  in  Kussland  1888, 
S.  128  ff. 


288  Kap.  III :  Die  Person  Christi  und  die  Erlösung. 

Setzung  der  Sakramonte ;  hi(»rin  besteht  die  Gnadenerteilung. 
Im  Ansatz  ist  diese  Darstellung  möglichst  Anselm  angenähert. 
Der  Gedanke  läuft  aus  in  die  Erwägung,  dass  wie  in  der  Er- 
lösung, so  auch  in  dem  Gehorsam  Christi  zum  Zweck  derselben. 
Barmherzigkeit  und  Gerechtigkeit  zusammenwirken  (§  8).  Der 
Zusammenhang  zu  der  subjektiven  Seite  des  Begriffes  ist  auch 
hier  nicht  angedeutet. 

Zur  Rettung  des  Anselm  (si  autem  volumus  salvare  Ansel- 
mum)  wird  endlich  die  Bemerkung  gemacht,  man  könne  alle 
seine  Gründe  nur  unter  Annahme  einer  praesupposita  ordinatio 
divina  begreifen,  dann  ergäbe  sich  etwa  der  Gedanke,  dass 
Gott  zur  Erlösung  der  Menschheit  nur  den  Tod  seines  Sohnes 
acceptieren  wollte.  Jedenfalls  darf  von  einer  necessitas  ab- 
soluta nicht  die  Eede  sein  (III.  dist.  20  quaest.  unic.  §  10). 

4.  In  zwei  Gedankenreihen  vollzog  sich  die  positive  Ent- 
wicklung der  Erlösungslehre.  1)  Der  fromme  Wille  des  Menschen 
Jesus,  oder  sein  Gehorsam,  welcher  sich  auf  die  Förderung  der 
Sache  Gottes  richtet,  begründet  sein  Verdienst.  Dies  Ver- 
dienst kommt  den  Erwählten  zu  gute,  sofern  nämlich  Gott 
sich  dasselbe  —  nach  seinem  freien  Willen  —  zum  Anlass 
werden  lässt,  den  Erwählten  die  Gnade  und  die  Seligkeit  zu 
verleihen.  Das  heisst  aber  im  Sinn  des  Duns,  dass  Gott  um 
Christi  willen  und  durch  ihn  den  Menschen  die  Sakramente 
gibt.  2)  Im  Gegensatz  zu  Anselm  ist  die  Notwendigkeit 
des  Leidens  Christi  nicht  aus  der  Notwendigkeit  einer  gott- 
menschlichen Satisfaktion  zu  verstehen.  In  Wahrheit  gibt  es 
keine  absolute  Notwendigkeit  der  Passion.  Jesus  hat  gelitten 
in  der  Absicht,  seine  Lehre  durch  den  Tod  zu  besiegeln,  sowie 
uns  durch  diese  Selbstdarbringung  zur  Liebe  und  zum  Dank 
anzuregen.  —  Trotz  der  zerhackten  und  kompendiarischen  Dar- 
stellung bekommt  man  einen  innerlich  zusammenhängenden 
Gedanken.  Die  Frömmigkeit  des  Menschen  Jesus,  nicht  nur 
im  Leiden,  sondern  auch  im  Handeln,  das  freie  Wollen  Jesu 
begründet  sein  Verdienst.  Dieses  acceptiert  Gott  behufs  Be- 
gnadigung des  Sünders  durch  die  Sakramente.  Dieses  Handeln 
und  Leiden  Christi  gibt  aber  auf  der  anderen  Seite  den  An- 
stoss  zu  der  religiösen  und  ethischen  Erneuerung  des  Menschen- 
geschlechtes.    Das   fromme,    auf  den  Zweck  Gottes  gerichtete 


Zur  Beurteilung  der  scotistischen  Erlösungslehre.  289 

Leben  bewirkt  eioerseits,  dass  von  Gott  die  Gnade  zu  dem 
Menseben  berabkommt,  nnd  bewirkt  andererseits,  dass  die 
Menschenberzen  sich  zu  Gott  emporheben. 

Man  fühlt  sich  angetrieben,  einen  logischen  Zusammenhang 
zwischen  diesen  beiden  Gedankenreihen  herzustellen.  Es  scheint 
nahezuliegen,  den  ersten  Gesichtspunkt  dem  zweiten  unterzu- 
ordnen und  zu  sagen:  weil  das  Menschengeschlecht  durch 
Christus  sittlich  erneuert  wird,  so  ist  es  dadurch  auf  den 
Empfang  der  Gnade  seitens  Gottes  vorbereitet.  Aber  hie- 
durch  ist  der  Gedanke  des  Duns  sicher  nicht  richtig  wieder- 
gegeben, denn  Duns  legt  das  grösste  Gewicht  darauf,  dass  die 
Gnadenmitteilung  in  keiner  Weise  von  der  Disposition  der 
Sünder  abhängig  gemacht  werde  (oben  S.  280).  Dies  aber 
wäre  hier  notwendig,  da  Christi  Lehre  die  Verfassung  her- 
stellen würde,  die  den  Menschen  des  Gnadenempfanges  würdig 
macht.  Ausserdem  ergibt  sich  noch  die  Differenz  des  Gesichts- 
kreises, dass  die  der  subjektiven  Umwandlung  folgende  Gnade 
im  Sinn  Abälards  die  Vergebung  bezeichnet,  während  Duns 
in  unserem  Zusammenhang  nur  an  die  sakramentale  Gnade 
denkt.     Also  ist  die  obige  Kombination  verfehlt. 

Zur  positiven  Erkenntnis  der  Sachlage  kann  man  sich 
dessen  erinnern,  dass  das  Heils-  und  Gnadenwerk  von  Duns 
im  Schema  von  Mittel  und  Zweck  gedacht  war.  In  dem 
Willen  Gottes  kommt  nämlich  der  Glorifizierung  und  Grati- 
fizierung  der  Erwählten  die  Priorität  zu  vor  der  Sendung  Christi 
und  der  Verwirklichung  der  Erlösung  durch  ihn,  sofern  letztere 
nur  das  Mittel  darstellt  zur  Beschaffung  von  Gnade  und  Glorie. 
Wendet  man  diesen  selben  Gesichtspunkt  auf  das  Verhältnis 
an,  das  zwischen  Christi  Werk  nach  selten  seiner  Beziehung 
auf  Gott  einer-  und  seiner  Beziehung  zur  Menschheit  anderer- 
seits besteht,  so  ist  klar,  dass  logisch  der  der  Menschheit  zu- 
gewandten Seite  die  Priorität  gebührt.  Indem  nämlich  der 
Zweck  die  Glorifizierung  der  Erwählten  ist,  steht  die  direkte 
Einwirkung  auf  die  Menschen  diesem  Zweck  näher  als  die 
Wirkung  auf  Gott  behufs  Begnadigung  der  Menschheit.  Man 
könnte  dann  etwa  folgenden  Zusammenhang  konstruieren:  um 
in  den  Menschen  Liebe  und  Dankbarkeit  gegen  Gott  erregen 
zu   können,    wirkte  Christus   auf  den  Vater    ein,    damit   dieser 

Seeberg.  Die  Theologie  des  Duns  Scotus.  19 


290  Kap.  III :  Die  Person  Christi  und  die  Erlösung, 

den  Menschen  Gnade  schenke.  Dies  könnte  entweder  bedeuten^ 
dass  die  Kraft  der  sakramentalen  Gnadenmitteilung  die  Men- 
schen innerlich  disponierte  für  die  religiösen  Einwirkungen 
Christi,  oder  aber  dass  schon  die  .Thatsache  an  sich:  Gott 
hat  Gnade  gegeben,  die  Menschen  für  jene  Einwirkungen  er- 
weichte und  vorbereitete.  Wirklich  wird  man  doch  nur  an 
ersteres  denken  können.  Ich  bezweifle  aber  hiemit  die  Meinung 
des  Duns  zu  treffen,  denn  mit  keinem  Wort  wird  angedeutet, 
dass  erst  die  sakramentale  Gnadenverleihung  es  ermöglicht 
habe,  dass  Christus  als  Lehrer  und  Prediger  geistliche  Wir- 
kungen zu  erreichen  vermochte.  Dem  w^iderspricht  freilich, 
dass  er  schon  vor  seiner  Passion  —  also  bevor  Gnade  da 
war  —  derartige  Einwirkungen  versucht  und  ausgeübt  hat. 
Aber  dies  Argument  ist  nicht  durchschlagend,  denn  die  Frage- 
stellung muss  in  dieser  Sache  offenbar  an  den  gegenwärtigen 
Zuständen  orientiert  werden.  Nun  ist  aber  auch  für  diese 
nicht  nachweisbar,  dass  Duns  die  Wirkung  der  Predigt  von 
der  vorhergehenden  Einwirkung  der  sakramentalen  Gnade  ab- 
hängig gemacht  hat. 

Da  eine  Subordination  der  einen  unter  die  andere  Ge- 
dankenreihe auf  Schwierigkeiten  stösst,  so  wird  es  sich  empfehlen 
beide  mit  einander  zu  koordinieren.  Man  wird  also  die  An- 
schauung des  Duns  etwa  durch  die  Formel  wiedergeben  können : 
Christus  erwarb  Gnade  vom  Vater  für  die  Menschen,  die  er 
durch  sein  Lehren  und  Leben  für  den  Vater  gewann.  Hiebei 
gibt  weder  der  Nebensatz  den  Grund  für  den  Hauptsatz  her, 
noch  soll  durch  den  Hauptsatz  der  Nebensatz  ermöglicht 
werden.  Sondern  die  Meinung  ist  die:  Gottes  Vorherverord- 
nung bewirkt  die  Erscheinung  Christi  zum  Zweck  der  Er- 
lösung, diese  wird  von  Christo  einerseits  dadurch,  dass  er  von 
Gott  die  Einsetzung  der  Sakramente  erwirbt,  andererseits  da- 
durch, dass  er  die  Menschen  über  Gott  belehrt  und  sie  der 
göttlichen  Liebe  vergewissert,  verwirklicht.  Das  eine  wie  das 
andere  ist  aber  eine  Folge  des  ganzen  Lebens  Christi,  sowohl 
seines  aktiven  als  seines  passiven  Leidens-  und  Todesgeliorsams. 

Dieses  Urteil  empfängt  eine  überraschende  Bestätigung 
durch  eine  Erörterung,  die  Duns  in  ganz  anderem  Zusammen- 
hang, nämlich  in  der  Schrift  de  perfectione  statuum,  über  Christi 


Der  Zusammenhang  der  Erlösungslehre  des  Duns.  291 

Wirken  angestellt  hat  (vgl.  Genaueres  in  Kap.  5).  Christus 
führte  die  Schafe  zurück,  die  von  der  Wahrheit  abgeirrt  waren, 
insbesondere  die  aus  dem  Hause  Israel.  Dazu  besass  er  die 
Sana  doctrina,  sowie  die  perfecta  vita  und  die  pbtestas 
faciendi  miracula  (1.  c.  §  92).  Dies  sein  Wirken  setzen  die 
Prälaten,  aber  vor  allem  die  Minoriten  fort.  Christi  Werk  hat 
sich  in  keiner  anderen  Richtung  bewegt  als  diese  seine  Nach- 
folger —  so  auch  sein  vicarius  der  Papst  —  befolgten :  er 
gab  das  neue  Gesetz  und  setzte  die  Sakramente  ein,  und  er 
regte  an  und  begeisterte  die  Menschen  für  die  Wahrheit  durch 
die  Macht  seiner  Person,  durch  seine  Liebe  und  sein  vollkommenes 
Leben.  Also  ist  das  Werk  Christi  in  seiner  doppelten  Be- 
ziehung zu  verstehen  aus  der  Fortsetzung,  die  dasselbe  in  der 
Geschichte  der  Kirche  gefunden  hat.  Das  Heil  wird  den 
Menschen  zu  teil  durch  die  Sakramente,  über  die  die  Hier- 
archen Gewalt  haben,  und  durch  das  Wort,  welches  die  Bettel- 
mönche verkündigen.  Beide  sind  Nachfolger  Christi,  denn  er 
setzte  die  Sakramente  ein,  indem  er  sie  von  Gott  durch  sein 
Verdienst  erwarb,  und  er  lehrte  die  Wahrheit.  Das  Werk 
Christi  besteht  also  in  der  Erwerbung  der  Sakramente  und  in 
der  Predigt  des  Wortes,  die  durch  sein  persönliches  Leben 
Bestätigung  fand  und  kräftig  wurde. 

5.  Duns  Scotus  hat  also,  in  ähnlicher  Weise  wie  Thomas, 
den  Gedanken  Abälards  angewandt,  aber  in  abgeschwächter 
Weise ;  und  er  hat  daran  einen  gewissen  Ersatz  für  die  anseim- 
ischen Ideen  geschlossen.  Seine  Anschauung  vom  Verdienst 
oder  Gehorsam  Christi  und  dessen  Wirkung  ist  aber  an  innerer 
Geschlossenheit  der  thomistischen  Theorie  in  dem  Mass  über- 
legen, als  Thomas  ihn  an  diesem  Punkt  an  Reichtum  der  Ge- 
sichtspunkte überragt.^)  Es  war  ein  systematischer  Fortschritt, 
dass  die  unklare  Vorstellung  von  der  Unendlichkeit  des  Ver- 
dienstes Christi  abgethan  wurde,  und  dass  andererseits  dies  Ver- 
dienst —  dem  mittelalterlichen  Verständnis  des  Christentums  ge- 
mäss —  auf  den  Erfolg  der  Sakramentsstiftung  bezogen  wurde. 
Ebenso  ist  von  Duns  in  verständlicher  Weise  die  Begriffs- 
bildung   an    dem    Gottesbegriff    orientiert    worden:    nicht    an 


^)  S.  in  der  Kürze  m.  Dogmengesch.  II,  94  ff'. 

19* 


292  Kap.  III:  Die  Person  Christi  und  die  Erlösung. 

sich  sei  diese  Form  dos  Erlösuiigsworkes  notwendig  gewesen,  son- 
dern sie  ist  von  Gott  frei  als  das  entsprechende  Mittel  zum  Zweck 
gewählt  worden.  Dabei  stellt  der  Gedanke  der  Prädestination 
die  A'erbindung  zwischen  Christus  uud  den  Erlösten  her,  die 
Bonaventura  und  Thomas  durch  die  Ideen  von  Christus  als 
dem  Haupt  der  Gemeinde  zu  erreichen  versuchten.  —  Nur 
eine  Frage  ist  nicht  zur  Entscheidung  gekommen,  die  Frage 
nach  der  Begründung  der  Sündenvergebung.  Indem  aber  die 
ganze  Gnadenmitteilung  an  die  Sakramente  geschlossen  wird, 
ist  es  kein  systematischer  Fehler,  dass  Duns  hier  von  der  Ver- 
gebung nicht  ausdrücklich  redet.  Dieselbe  wird  erst  in  der 
Sakramentslehre  zur  Erörterung  gelangen  können,  wo  Duns  in 
der  That  von  ihr  handelt. 

6.  Die  Theorie  von  dem  Werk  Christi,  die  wir  kennen 
gelernt  haben,  entspricht  darin  der  Lehre  von  der  Person 
Christi,  dass  Duns  in  dieser  die  menschliche  Natur  Christi  mit 
ihrem  menschlichen  freien  Willen  und  seiner  Verdienstlichkeit 
energisch  betont  hat  und  demgemäss  für  seine  Erlösungslehre 
eigentlich  nur  mit  Motiven  operiert,  die  dem  menschlichen 
Leben  Jesu  entnommen  sind.  Denn  weder  die  Verdienstlichkeit 
seines  Handelns  noch  die  gesetzgebende  Lehrthätigkeit,  die  er 
geübt,  oder  das  Beispiel,  das  er  dargeboten  hat,  scheinen  die 
Union  des  Logos  mit  dem  Menschen  Jesus  zu  vernotwendigen. 
In  dieser  Richtung  bewegte  sich  ja  die  ganze  scholastische 
Theorie,  es  ist  Folge  der  Schärfe  und  Klarheit  des  Duns,  dass 
bei  ihm  die  dadurch  entstehende  Diskrepanz  zu  der  Christo- 
logie  besonders  fühlbar  wird.  Erst  viel  später  in  der  Escha- 
tologie  wird  ein  Gesichtspunkt  geltend  gemacht,  durch  den  die 
Gottheit  Christi  zu  praktischer  Bedeutung  gelangen  soll,  es  ist 
die  Thätigkeit  Christi  bei  dem  letzten  Gericht.  Wir  kommen 
bei  der  Eschatologie  darauf  zurück.  Man  hat  die  Fehler 
Anselms  erkannt,  aber  für  das  Grosse  in  seinem  Versuch, 
nämlich  die  Gottheit  Christi  aus  dem  Werk  Christi  als  religiös 
notwendig  zu  verstehen,  hat  man  kein  Verständnis  gehabt  und 
daher  keinen  Ersatz  dafür  gefunden  Eine  Ausnahme  machte 
etwa  Abälard,  indem  er  die  historische  Offenbarung  Christi 
auf   den    in   ihm   wirksamen  Logos   zurückführte.  —  Das  nun 


Gnade  und  Prädestination.  293 

gewonnene  Verständnis    des  Werkes   Christi   bei   Duns  Scotus 
bewährt  also  unsere  Auffassung  seiner  Christologie. 


III.   Der  Erfolg  des  Werkes  Christi  oder  die  Lehre  von 

der  Gnade. 

1.    Die  Prädestination. 

1.  Ehe  wir  dem  Hinweis,  den  wir  im  Vorstehenden  für 
die  Sakramentslehre  erhalten  haben,  nachgehen,  werden  wir 
gutthun  uns  über  den  Begriff  der  Gnade  in  der  Lehre  des 
Duns  Scotus  im  allgemeinen  zu  verständigen.  Der  Erfolg  des 
AVerkes  Christi  ist,  dass  wir  Gnade  erhalten,  d.  h.  dass  die 
Sakramente  eingesetzt  wurden.  Die  Gnade  wird  der  Mensch- 
heit dargeboten  in  den  Sakramenten  der  Kirche.  Sacramenta 
nostra  quae  habent  efficaciam  in  virtute  passionis  Christi  ex- 
hibitae  plus  conferunt  de  gratia  quam  sacramenta  veteris  legis. 
Praeter  haec  habemus  plura  adiutoria  gratiae,  quia  plura  sacra- 
menta (III  dist.  40  quaest.  unic.  §  7).  Dieser  letzte  Satz  zeigt 
in  lehrreicher  Weise  den  festen  Zusammenhang  von  Gnade 
und  Sakramenten.  Einfach :  deshalb  hat  man  im  neuen  Bund 
mehr  Gnadenhilfe,  weil  man  mehr  Sakramente  hat.  Erst  hier- 
auf gelangt  zur  Erwähnung,  dass  die  Christenheit  eine  doc- 
trina  magis  explicata  et  declarativa  veritatis  habe,  et  exempla 
San  Ctorum  plura  et  efficaciora  ad  imitandum,  sodann  plura 
merita  sanctorum  (1.  c).  So  ganz  fällt  der  Nachdruck  auf  die 
Sakramente.  Wir  untersuchen  also  zunächst  den  Begriff  der 
Gnade  bei  Duns. 

2.  Wir  sind  mehrfach  im  Obigen  dem  Begriff  der  Prä- 
destination, sowie  den  electi  begegnet.  Die  straffe  Be- 
handlung, welche  Duns  diesem  Begriff  in  der  32.  Dist.  des 
3.  Buches  hat  angedeihen  lassen,  ist  für  die  Anschauungen  der 
späteren  Dogmatik  ersichtlich  nicht  ohne  Einfluss  geblieben. 
Die  abgestufte  Begriffsfolge :  Gott  prädestiniert  die  Erwählten, 
deshalb  ist  Christus,  die  Erlösung  und  sind  die  Gnadenmittel 
für  sie  da,  und  alle  Dinge  um  ihretwillen  —  findet  sich  später 
auch  in  der  orthodoxen  reformierten  Dogmatik  wieder.  Duns 
entlehnte  den  Prädestinationsgedanken  der  theologischen  Rüst- 


294  Kap.  III:  Die  Person  ('liristi  und  die  Erlösunj^^. 

kammer  des  Mittelalters,  d.  h.  Augustins  Schriften.  Der  Ge- 
danke fügte  sich  seiner  eigenen  Anschauung  von  Gott  und 
seinem  Wirken  ein.  Die  Frage  ist  nun,  welche  Anwendung 
Duns  von  dieser  Idee  gemacht  hat  •  und  weshalb  er  andere 
Folgerungen  aus  ihr  herleitete  als  Augustin? 

Zur  Beantwortung  dieser  Fragen  holen  wir  einige  Erörte- 
rungen des  Duns  aus  dem  ersten  Buch  nach.  Zuerst  handelt 
es  sich  um  die  Frage^  ob  ein  Prädestinierter  verdammt  werden 
kann  (Sent.  I  dist.  40  quaest.  unica).  Diese  Frage  scheint 
verneint  werden  zu  sollen,  denn  alles  der  Vergangenheit  An- 
gehörige ist  als  solches  absolut  notwendig.  Hat  Gott  jemanden 
von  Ewigkeit  her  zum  Heil  prädestiniert,  so  muss  das  also 
eingetreten  sein.  Andererseits  muss  gesagt  werden,  dass  unter 
dieser  Voraussetzung  niemand  sich  um  sein  Heil  bemühen 
würde,  frustra  ergo  ponitur  tota  lex  divina  (§  1).  Zunächst 
wird  die  Prädestination  definiert,  sie  ist  actus  voluntatis  divinae 
videlicet  ordinem  electionis  per  voluntatem  divinam  alicuius 
creaturae  intellectuaHs  vel  rationalis  ad  gratiam  et  gloriam. 
Die  Prädestination  als  göttlicher  Willensakt  ist  eine  freie  und 
zufällige  Handlung.  Gott  kann  jemanden  prädestinieren  und 
er  kann  es  nicht  thun,  aber  er  kann  nicht  zugleich  das  eine 
und  das  andere  thun  (non  simul  ambo  opposita).  Er  kann 
auch  nicht  das  eine  auf  das  andere  folgen  lassen  —  beides 
wäre  logischer  Widerspruch  — ,  sondern  beides  besteht  in  Ewig- 
keit für  sich  in  Gott  (sed  utrumque  divisum  in  instanti  aeter- 
nitatis). 

Trotzdem  kann  die  Frage  an  und  für  sich  dahin  beant- 
wortet werden,  dass  ein  Prädestinierter  doch  verdammt  werden 
könne  (quod  iste  qui  est  praedestinatus,  potest  damnari),  denn 
seine  Prädestination  ist  noch  kein  Grund  dafür,  dass  sein  Wille 
befestigt  werde.  Hieraus  ergibt  sich  aber  die  Möglichkeit  der 
Sünde  und  des  Beharrens  in  der  Sünde  für  ihn,  demnach  muss 
es  auch  möglich  sein  :  in  peccato  stare  finaliter  et  ita  iuste 
damnari,  d.  h.  nämlich :  potest  non  praedestinari  (§  2).  Somit 
kann  von  demselben  Subjekt  ausgesagt  werden :  esse  praedesti- 
natum  und  posse  damnari.  Aber  dieses  ist  so  zu  verstehen^ 
dass  zwei  kategorische  Sätze  bezüglich  desselben  Subjektes  ge- 
bildet  werden     nicht  aber  so,   als  wenn  die  beiden  Sätze  eine 


Ob  ein  Prädestinierter  verdammt  werden  könne?  295 

einander  bedingende  Zusammensetzung  ausmachen.  Nun  sind 
jene  beiden  kategorischen  Sätze  richtig,  doch  nicht  in  dem 
Sinn,  als  wenn  die  durch  sie  ausgedrückten  Gegensätze  zugleich 
sein  könnten,  oder  als  wenn  der  eine  dem  anderen  folgen  könnte. 
Es  sind  beide  Sätze  zugleich  wahr,  sofern  das  göttliche  Wollen 
in  Betracht  gezogen  wird.  Der  Wille  ist  nämlich  von  Natur 
früher  als  seine  Kichtung  auf  das  Subjekt^  durch  die  diesem 
die  Herrlichkeit  zu  teil  wird.  In  diesem  Willen  entsteht  kein 
Widerspruch  durch  das  Sein  einer  entgegengesetzten  Richtung, 
freilich  können  aber  die  beiden  Richtungen  in  Bezug  auf  das- 
selbe Subjekt  nicht  zu  gleicher  Zeit  in  ihm  enthalten  sein.  Ich 
setze  die  schwierigen  Worte,  die  ich  zu  umschreiben  versucht 
habe,  zur  Kontrole  her:  sed  vera  simul  (nämlich:  sind  jene  beiden 
Sätze)  iuquantum  volitio  divina  consideratur ,  ut  prior  natura- 
liter  transitu  ipsius  super  illud  obiectum  quod  est  gloria  isti. 
In  illo  priori  naturaliter  non  repugnat  sibi  esse  oppositi  obiecti, 
imo  posset  aequaliter  esse  opposite,  licet  non  simul  amborum 
{§  2).  Es  ist  also  die  Meinung  nicht  die,  als  wenn  der  einmal 
Prädestinierte  hinterher  doch  noch  verdammt  werden  könnte,  wie 
man  zunächst  meinen  konnte,  sondern  Duns  will  sagen:  bevor 
Gottes  Wille  sich  gnädig  auf  den  Prädestinierten  richtete,  war 
es  möglich,  dass  im  göttlichen  Willen  die  entgegengesetzte 
Absicht,  nämlich  zu  verdammen,  eintrat.  Oder  mit  anderen 
Worten,  da  die  Prädestination  lediglich  Sache  des  göttlichen 
Willens  ist,  hätte  ein  Prädestinierter  ebenso  gut  verdammt 
werden  können.  Dass  wir  Duns  richtig  deuten,  empfängt  eine 
Bestätigung  durch  die,  gegen  den  oben  erwähnten  Gedanken, 
dass  die  Prädestination  zur  Unsittlichkeit  anleite,  gerichtete 
Widerlegung.  Der  menschliche  Wille  vermag  nämlich  die  gött- 
liche Anordnung  nicht  zu  hemmen  und  den  göttlichen  Beschluss 
nicht  zum  Stillstand  zu  bringen,  indem  er  ihm  sein  Gegen- 
teil verwirklicht  entgegenstellte.  Wenn  nämlich  ein  Mensch 
sich  die  Verdammnis  verdienen  kann,  so  kann  andererseits  eben 
hieraus  sich  ergeben,  dass  Gott  ihn  nicht  zur  Herrlichkeit  vor- 
herbestimmt hatte.  So  wenig  Gott  irren  kann,  so  wenig  ist  es 
möglich,  dass  sein  Wille  eine  Hemmung  von  aussen  her  erführe, 
quia  non  potest  stare  ordinatio  sui  cum  opposito  eius  quod 
ordinavit  (ib.  §  3).     Somit  geschieht,  was  geschieht  gemäss  der 


296  Kap.  III:  Die  Person  Christi  und  die  Erlösung. 

AnordiuiDg  des  göttlichen  Willens,  es  ist  nicht  möglich,  dass 
das  Gegenteil  dessen  wirklich  würde.  Angewandt  auf  jenen 
Einwand,  würde  also  zu  sagen  sein,  dass  jeder  sich  ethisch  so 
bethätigen  wird ,  wie  es  dem  göttlichen  Willensbeschluss  über 
ihn  gemäss  ist.  —  Weiter  wird  immer  als  selbstverständlich  an- 
gesehen, dass  die  Prädestinierten  errettet  werden.  Aus  dem 
Prädestinationsgedanken  ergibt  sich  also  die  Folge,  dass  alle 
Prädestinierten  Gnade  empfangen  und  dass  ihnen  die  Sünden 
vergeben  werden,  denn  niemand  kann  die  Glorifikation,  auf  die 
die  Prädestination  abzielt,  erlangen,  es  sei  denn  zuvor  die  Ver- 
haftung unter  die  Strafe  aufgehoben  (IV  dist.  14  quaest.  1,  8). 
3.  Wir  haben  also  in  der  Prädestination  eine  schlechthin 
freie  Willensverfügung  Gottes  zu  erblicken.  Die  absolute  Frei- 
heit dieser  Verfügung  wird  daran  anschaulich ,  dass  ein  Prä- 
destinierter,  wenn  Gott  es  anders  gewollt  hätte,  auch  hätte 
nicht  prädestiniert  werden  können.  Dies  findet  seine  Bestäti- 
gung an  den  Betrachtungen  der  folgenden  41.  Dist.  des  ersten 
Buches  über  die  Frage,  ob  Verdienste  der  Prädestination  oder 
Reprobation  vorausgingen  ?  Es  wird  die  Ansicht  des  Thomas 
reproduziert,  wonach  diese  Akte  lediglich  auf  Gottes  Willen 
beruhen,  der  aus  derselben  massa  perditionis  die  einen  zum 
Heil  erwählt^  die  anderen  aber  dem  Verderben  überlässt  zum 
Erweis  seiner  Gerechtigheit.  Daher  darf  die  Kreatur  nicht  nach 
dem  Grunde  forschen  (Summa  I  quaest.  23  art.  5).  Es  folgt 
sodann  die  Kritik,  welche  Heinrich  von  Gent  hiegegen  gerichtet 
hat,  sowie  die  positive  Anschauung  desselben  (Quodlibeta  IV 
quaest.  14).  Heinrich  wies  darauf  hin,  dass  die  Permission  zum 
Bösen,  genau  genommen,  selbst  böse  sei  und  daher  von  Gott 
nicht  ausgesagt  werden  dürfe.  Auch  sei  von  einer  Wahl  zu 
reden  unmöglich,  wenn  alle  einander  gleich  seien.  Heinrich 
selbst  meint,  dass  wenn  man  einen  göttlichen  Akt  in  Bezug 
auf  Gott  als  agens  betrachte ,  es  keinen  Grund  für  denselben 
gebe,  ausser  Gott.  Sofern  nun  abeT  der  Akt  auf  ein  Ziel  be- 
zogen werde ,  könne  ein  gewisser  Grund  angegeben  werden^ 
nämlich  bezüglich  der  Beziehung  des  Seins,  an  welchem  die 
göttliche  Thätigkeit  geschieht,  zum  Ziel  dieser  Thätigkeit,  oder 
konkret  gesprochen:  die  göttliche  Barmherzigkeit  erwählt 
Menschen,  aber  so^  dass  die  Beschaffenheit  derselben  mit  dafür 


Die  Prädestination  nicht  auf  vorhergesehene  Verdienste  begründet.     297 

in  Anschlag  kommt.  Es  steht  also  eigentlich  so,  dass  die  von 
Gott  vorhergesehene  freie  AVillensbethätigung  des  Menschen 
ein  mitwirkender  Grund  zur  Prädestination  oder  Verwerfung 
ist.  Das  ist  die  seit  Gregor  dem  Grossen  und  dann  seit  den 
Tagen  des  Hinkmar  und  Hraban  im  Mittelalter  übliche  Ab- 
plattung der  augustinischen  Lehre  (I.  dist.  41  quaest  unic.  §  8  f.).  — 
Aber  gegen  diese  Ansicht  ist  einzuwenden,  dass  Gott  die  gute 
Handlungsweise  eines  Menschen  nicht  anders  als  durch  seine 
(Gottes)  Ordnung  veranlasst  voraussieht,  indem  die  sichere  Vor- 
aussicht des  kontingenteu  Geschehens  bei  Gott  immer  auf  die 
Abhängigkeit  dieses  Geschehens  von  Gottes  Willen  gestützt  ist. 
Wenn  also  Gott  den  einen  dazu  verordnet  hat  seinen  freien 
AVillen  gut  zu  brauchen,  den  anderen  aber  nicht,  so  lässt  sich 
hiefiir  kein  Grund  ausser  dem  göttlichen  freien  Willen  an- 
führen (ib.  §  10).  Dann  kann  diese  Handlungsweise,  die  eine 
Folge  des  göttlichen  Willens  ist,  aber  nicht  als  Grund  desselben 
angesehen  werden.  Zudem  würde  die  Betrachtung  des  Heinrich 
auf  die  früh  sterbenden  Kinder,  die  doch  auch  erwählt  oder 
verworfen  sind,  ohne  dass  eine  Willensbethätigung  sich  ent- 
wickelt hat,  nicht  stimmen.  Aber  auch  die  beliebte  Wendung, 
dass  Gott  in  dem  Fall  voraussehe,  was  jene  gethan  haben 
würden,  wenn  sie  länger  gelebt  hätten,  hilft  zu  nichts,  denn 
dann  müsste  derselbe  Grundsatz  auch  auf  alle  erwachsenen  Ver; 
storbenen  angewandt  werden.  Durch  diese  Einführung  etwaiger 
künftiger  Verdienste  wird  aber  das  Verdienstschema  durch- 
löchert, nicht  wegen  seiner  wirklichen,  sondern  wegen  der  vor- 
hergesehenen Verdienste  erwürbe  sich  der  Mensch  Lohn  (ib.  10). 
Seine  eigene  Anschauung  hat  der  Lehrer  mit  einem :  potest 
aliter  dici,  eingeleitet.  Nicht  eine  fertige  Theorie,  sondern  eine 
Hypothese  will  er  dem  Leser  vorlegen.  Die  Prädestination 
hat  freilich  keinen  Grund  auf  selten  des  Menschen,  welcher 
der  Prädestination  voranginge.  Wohl  aber  hat  die  Reproba- 
tion  einen  Grund.  Nicht  als  wenn  Gott  durch  etwas  Äusseres, 
d.  h.  also  menschliche  Verdienste,  beeiuflusst  oder  in  Passivität 
versetzt  würde,  sondern  das  hat  einen  Grund,  dass  Gott  seine 
bezügliche  Thätigkeit  auf  dieses  und  nicht  ein  anderes  Objekt 
richtet  (§  11).  Das  erste  beweist  Duns  aus  der  Priorität  des 
gew^oUten  Zweckes  vor  den  demselben  untergeordneten  Mitteln. 


298  Kap,  III:  Die  Person  Christi  und  die  Erlösung. 

Zuerst  will  Gott,  dass  die  Kreatur  die  Seligkeit  erlange,  dann 
erst  folgen  gratia ,  fides ,  merita  €t  bonus  usus  liberi  arbitrii. 
Igitur  propter  nuUum  istorura  praevisum  vult  ei  beatudinem 
(ib.).  Der  Beweis  für  den  zweiten  Satz  bestellt  in  folgendem : 
Reprobare  beisst  velle  damnare,  die  Verdammung  scheint  gut 
nur  sein  zu  können ,  falls  sie  gerecht  ist :  videtur  enim  esse 
crudelitatis  punire  aliquem  non  praeexistente  in  eo  culpa; 
igitur  a  simili,  non  vult  prius  aliquem  punire  quam  videat  ali- 
quem esse  peccatorem.  Folglich  wird  auf  Seite  des  Objektes 
der  Strafe  ein  Grund  für  sie  anzunehmen  sein ,  nämlich  das 
peccatum  finale  praevisum  (ib). 

Einem  so  scharfsinnigen  Mann,  als  es  unser  Autor  ist,  ist 
natürlich  nicht  entgangen,  dass  dieses  Raisonnement  nicht  alle 
Schwierigkeiten  beseitigt.  Er  selbst  erhebt  sofort  Einrede. 
Petrus  und  Judas  sind  dem  göttlichen  Willen  gegenwärtig  und 
zwar  sofern  sie  aequales  in  naturalibus  von  Gott  gewollt  sind 
behufs  des  esse  existentiae.  Dem  Petrus  will  Gott  die  Seligkeit 
geben.  Was  will  er  in  Bezug  auf  Judas  ?  Sagt  man  die  Ver- 
dammnis, dann  reprobiert  Gott  doch  ohne  Grund;  sagt  man: 
die  Seligkeit,  dann  hätte  er  den  Judas  prädestiniert  (§  12). 
Duns  selbst  meint,  man  kann  auf  diese  Einwände  antworten, 
dass  Gott  im  ersten  Moment,  in  Bezug  auf  Judas  überhaupt 
nichts  gewollt  habe,  womit  die  negatio  volitionis  gloriae  gegeben 
ist.  Im  zweiten  Moment,  in  welchem  er  für  Petrus  die  Gnade 
will,  will  er  für  Judas  auch  noch  nichts.  Im  dritten  Moment 
will  er  gestatten,  dass  Petrus  zur  massa  perditionis  gehöre, 
also  des  Verderbens  würdig  werde.  Dasselbe  Wollen  gilt  in 
diesem  Moment  auch  dem  Judas.  Es  bleibt  nun  in  dieser 
Lage,  weil  der  göttliche  Wille  zur  Erteilung  von  gloria  und 
gratia  in  Bezug  auf  ihn  nicht  ergangen  ist.  Endlich  will  der 
göttliche  Wille,  dass  der  dauernde  Sünder  Judas  gerecht  be- 
straft und  verworfen  werde  (ib).  —  Seine  Anschauung  ver- 
deutlicht Duns  durch  ein  Gleichnis:  Es  sind  zwei  Menschen 
da,  die  mir  gegenüber  die  gleiche  freundliche  Stellung  haben. 
Ich  liebe  den  einen,  den  anderen  aber  nicht.  Den,  welchen 
ich  liebe,  verordne  ich  zu  einem  Gut,  vermöge  welches  er  mir 
gefallen  kann,  dagegen  wird  der  Ungeliebte  zu  nichts  derartigem 
verordnet.     Läge  es  nun  in  meiner  Gewalt  beiden  zu  gestatten 


Die  positive  Ansicht  von  der  Prädestination.  299 

mich  zu  beleidigen ,  so  würde ,  indem  ich  vorher  weiss ,  dass 
der  eine  nichts  hat,  um  mir  wieder  einmal  zu  gefallen,  die 
Beleidigung  dieses  eine  andauernde,  die  Strafe,  die  ich  etwa 
an  ihm  vollziehe,  eine  gerechte  sein.  Andererseits  wüsste  ich 
aber  vorher,  dass  der  andere,  vermöge  meiner  Verordnung,  in 
die  Lage  kommen  wird,  meine  Vergebung  zu  erwerben  (ib.).  — 

Aber,  wendet  Duns  ein,  weiss  denn  Gott  sicher  voraus, 
dass  Judas  fällt  ?  Daraus ,  dass  er  es  voraus  weiss ,  dass  er 
erlauben  wollen  wird,  dass  er  fällt,  ergibt  sich  doch  Dicht  im 
voraus  die  Gewissheit  vom  Fall  des  Judas  oder  auch  des 
Lucifer.  Und  schliesst  dieses  velle  permittere  peccare  nicht 
in  sich  einen  actus  positivus  voluntatis  respectu  peccati?  (§  13). 
Gegen  den  ersten  Einwand  ist  zu  sagen,  dass  Gott  voraus 
weiss  seine  Kooperanz  bezüglich  der  Substanz  menschlicher 
Handlungen,  indem  er  kooperieren  will.  Gott  weiss  also  Be- 
gehungssündeu  voraus,  sofern  jene  Handlungen  als  Handlungen 
nur  durch  seinen  kooperierenden  Willen  zu  stände  kommen. 
Er  weiss  die  Unterlassungssünden  voraus,  sofern  er  voraus 
weiss,  dass  er  zu  einer  notwendigen  Handlung  des  Menschen 
nicht  die  gehörige  Mitwirkung  erteilen  wird  (ib.).  Also  Gott 
weiss  die  Sünde  voraus,  weil  er  sein  eignes  Handeln  bezüglich 
des  menschlichen  Handelns  voraus  weiss.  —  Der  zweite  Einwand 
bleibt  unerledigt.  Zum  Schluss  erinnert  Duns  an  die  Worte 
des  Paulus  über  die  Tiefe  der  Weisheit  und  Erkenntnis  Gottes. 
Man  vertiefe  sich  nicht  in  Grübeleien,  sondern  wähle  die  einem 
zusagende  (quae  magis  placet)  Meinung.  Nur  müsse  gewahrt 
bleiben  die  göttliche  Freiheit  ohne  jeden  Zusatz  von  Un- 
gerechtigkeit, und  was  sonst  zu  wahren  ist  circa  deum  ut  libera- 
liter  eligentem.  Klar  hat  er,  wie  gesagt,  die  Sache  nicht  ge- 
stellt: et  qui  aliam  opinionem  tenuerit,  respondeat  ad  ea  quae 
tacta  sunt  contra  eam  (13). 

4.  Man  kann  auf  Grund  dieses  Materials  (vgl.  noch  S.  159. 
230)  sagen,  dass  Duns  wirklich  die  Lehre  von  der  göttlichen  Prä- 
destination gehabt  hat.  Dass  ein  Mensch  selig  wird,  das  hat 
seinen  Grund  an  einer  von  Ewigkeit  her  seienden  Willens- 
bestimmung Gottes.  Der  Realisierung  dieser  Willensbestimmung 
dient  alles  Geschehen  der  Welt,  sowie  auch  die  Lebensge- 
staltung  des   betreffenden   Menschen.     Ein   anderer   ward   ver- 


300  Kap.  III :  Die  Person  Christi  und  die  P>l()sung. 

dämmt,  das  hat  seinen  letzten  Grund  darin,  dass  er  nicht 
prädestiniert  ist.  Von  Anfang  an  schwebt  über  ihm  ein  Manko^ 
verglichen  mit  jenem  ersten.  Der  Gedanke  der  Freiheit  des 
göttlichen  Willens  erfordert  es,  dass  das  eine,  wie  das  andere 
lediglich  an  dem  freien ,  grundlos  handelnden  Gotteswilleu 
seinen  Ursprung  hat.  So  tritt  dieser  Gedanke  auch  hier  wieder 
hervor,  er  gibt  der  Prädestinationslehre  eine  neue  Färbung. 
Auch  hier  ist  Duns  für  eine  Anzahl  von  Erscheinungen  des 
früheren  Protestantismus  massgebend  geworden.  Duns  denkt 
nicht  an  eine  unendliche  alles  durchdringende,  in  allem  wirk- 
same Substanz,  wenn  er  von  der  Prädestination  redet,  er  denkt 
an  den  freien  geistigen  Willen ,  der  schlechthin  allmächtig, 
alles  Geschehen  in  der  Welt  bestimmt;  dann  ist  für  ihn  das 
praktisch  massgebende  Element  in  seinem  Gottesbegriff,  dass 
Gott  der  freie  Wille,  der  allmächtige  Herrscher  der  Welt  ist. 
Voluntas  dei  quantum  ad  omnia  semper  del3et 
impleri,  quiasicut  omnipotens  potest  omne  possi- 
bile,  ita  quando  voluntas  divina  determinat  se  ad 
ponendum  aliquid  in  esse  ultima  determinatione, 
illud  erit.  Velle  autem  illud  voluntate  beneplaciti  est  ultima 
determinatio  quae  potest  poni  ex  parte  voluntatis  ipsius  omni- 
potentis  volentis  ponere  effectum  in  esse.  Ergo,  respectu 
cuiuscunque  effectus,  si  deus  est  sie  volens,  illud 
erit  (I  dist.  46  quaest.  unic.  §  2).  Lediglich  als  eine  Kon- 
sequenz aus  dieser  Anschauungsweise  muss  man  den  Gedanken 
der  Prädestination  bei  Duns  begreifen.  Dieser  Gedanke  hat  ihn 
selbst  nicht  zu  augustinischen  Konsequenzen  geführt,  wurzelt 
er  doch  nicht  in  spezifisch  religiösen  Interessen;  er  mag  aber 
ein  Motiv  mehr  zur  Rückkehr  zu  Augustin  bei  den  englischen 
Theologen  der  Folgezeit  hergegeben  haben.  Duns  selbst  hat 
diese  Rückkehr  nicht  vollzogen. 

2.  Der  Begriff  der  Gnade. 
1.  Dieses  wird  sich  uns  bestätigen  an  der  Betrachtung 
der  Gnade  und  ihres  Wirkens  im  Menschen,  zu  der  wir  jetzt 
kommen.  Einerseits  ist  bei  Duns ,  wie  überhaupt  bei  den 
mittelalterlichen  Theologen,  die  Gnade,  als  gratia  increata,  die 
göttliche    Gunstgesinnung    (vgl.    z.    B.    Thomas    Summa  I.  II 


Der  Begriff  der  Gnade,  301 

quaest.  111  art.  2;  quaest.  110  art.  2,  quaest.  109  art.  9  ad  2). 
Aber  der  Hauptbegriff  ist  der  der  gratia  creata.  Nach 
Duns  ist  nun  die  gratia  derselbe  habitus,  den  man  auch  die 
dem  Menschen  eingegossene  Liebe  nennt.  Der  heilige  Geist 
wirkt  durch  diesen ,  dem  Menschen  eingeflössten  Habitus 
irgendwie  auf  den  Willen  des  Menschen^  so  dass  derselbe  da- 
durch fähig  wird,  verdienstliche  Akte  hervorzubringen:  eodera 
habitu,  quo  Spiritus  sanctus  inbabitat  animam,  inclinatur  voluntas 
in  suum  actum  meritorium  (Sent.  II  dist.  27  quaest.  unica  §  3). 
Der  Begriff  des  Habitus,  der  hier  und  im  folgenden  gebraucht 
wird,  ist  ein  spezifisch  theologischer;  nicht  um  die  auf  dem 
AVege  der  natürlichen  psychologischen  Entwicklung  erworbene 
moralische  e^ig  des  Aristoteles  handelt  es  sich,  sondern  um 
eine  übernatürliche  von  Gott  schöpferisch  im  Menschen  erzeugte 
ethische  Qualität,  die  den  einzelnen  Akten  vorangeht  und  sich 
nicht  als  Folge  aus  ihnen  erst  ergibt  (cf.  III  dist.  34  quaest. 
un.  §  8).  Die  Liebe  ist  ein  hölierer  und  vollkommenerer 
Habitus,  als  die  Habitus  des  Glaubens  (s.  oben  S.  129  ff.)  und 
der  Hoffnung  im  Menschen. 

Die  gratia  und  die  charitas  sind  nun  zwar  materiell  ein- 
ander gleich,  nichts  destoweniger  aber  formell  zu  unterscheiden. 
Der  Habitus  heisst  Liebe,  sofern  man  vermöge  seiner  Gott 
liebt,  er  heisst  Gnade,  sofern  vermöge  seiner  wir  Gott  lieb 
sind.  Caritas  dicitur,  qua  habens  eam  habet  deum  carum,  ita 
quod  respicit  deum  non  in  ratione  diligentis,  sed  in  ratione 
diligibilis ;  gratia  est,  qua  deus  habet  aliquem  gratum,  ita 
quod  ipsa  respicit  deum  acceptantem  sive  diligentem,  non 
autem  dilectum  (ib.  §  4).  Nicht  alles  freilich,  um  wessent- 
willeu  Gott  liebt,  kann  als  Gnade  bezeichnet  werden,  sonst 
wäre  auch  das  göttliche  Sein  des  Sohnes  Gnade,  liebt  Gott 
doch  den  Sohn,  um  desselben  willen:  sed  illud  propter  quod 
deus  acceptat  habentem  ut  dignum  beatitudinis  diguitate,  quae 
est  in  correspondentia  meriti  ad  praemium,  illud 
dicitur  gratia  (1.  c).  Sonach  ist  die  Gnade  diejenige  Be- 
schaffenheit, welche  dem  Menschen  mitgeteilt  wird,  um  Gott 
verdiensthch  lieben  zu  können,  und  sich  die  Anwartschaft  auf 
den  ewigen  Lohn  zu  erwerben.  Das  Verhältnis  des  Menschen 
zu  Gott,  wird  sonach  unter  dem  Gesichtspunkt  des  Verdienstes 


302  Kap.  III:  Die  Person  (yhristi  und  die  Erlösung. 

bemessen.  Diese  uralte  abendländische  Anschauung  ^)  wird 
von  Duns  auf  das  klarste  und  schärfste  ausgesprochen.  Der 
Wille  des  Menschen  muss  wirksam  werden,  aber  er  ist  nur 
eine  Teilursache  des  verdienstlichen  Handelns,  es  bedarf  not- 
wendig dazu  einer  Kooperanz.  Die  Gnade  ist  ein  principium 
cooperans.  Voluntas  quidem  respectu  rectae  volitionis  est 
principium  activum  partiale  .  .  .  Sed  istud  principium  non  est 
totale,  quia  non  sufficit  sola  voluntas  ad  meritorie  volendum, 
sed  requiritur  gratia  tanquam  principium  cooperans  (II  dist.  7 
quaest.  unic.  §  15).  Dabei  muss  aber  der  Wille  als  das  princi- 
pale  principium,  das  die  einzelnen  Akte  aus  sich  herauslockt^ 
angesehen  w^erden,  während  die  Gnade  oder  Caritas  das  principium 
secundarium  ist;  wollte  man  dieses  Verhältnis  umkehren,  so 
würde  der  Wille  nicht  in  geistig  freier  W^eise,  sondern  in  der 
Weise  der  Natur,  als  durch  eine  Ursache  notwendig  bedingt, 
wirken  (Collat.  XVIII,  2.  3).  Gnade  und  Wille  sind  also 
bezüglich  der  Kausalität  des  Aktes  koordiniert,  aber  so,  dass 
rein  psychologisch  betrachtet,  dem  Willen  die  erste  Stelle  zusteht. 

Nun  hat  aber  diese  Koordinierung  der  Gnade  und  des 
Willens  für  das  verdienstliche  Handeln,  nicht  den  Sinn,  als  ob 
die  Gnade  durch  den  Willen  erworben  oder  gesetzt  werden 
könne.  Der  Wille  kann  unter  Benutzung  der  Gnade  handeln, 
aber  sie  muss  ihm  zuvor  gegeben  sein.  Das  geschieht  durch 
einen  schöpferischen  Akt  Gottes,  indem  er  in  der  Seele  diesen 
neuen  ethischen  Habitus  erzeugt.  Quamvis  enim  gratia  iam 
habita  voluntas  utens  sit  principium  agens  respectu  actus,  tameu 
gratia  non  habita  ipsa  non  est  sufficiens  ad  ponendum  gratiam 
in  esse,  quia  gratia  non  potest  in  esse  nisi  a  solo  deo  creante 
(Sent.  1.  c.)2) 

2.  Wir  haben  damit  die  Grundlinien  gew^onnen  und  können 
uns  jetzt  der  zusammenhängenden  Darstellung  der  Sache  zu- 
wenden, die  Duns  in  der  17.  Distinktion  des  1.  Buches  vor- 
getragen hat,  anlässlich  der  Frage,  ob  der  heilige  Geist  die 
Liebe  im  Mensch  sei? 


^)  S.  meine  Dogmengesch.  I,  S.  93.  154. 

^)  Diese  Betrachtung  geht  zunächst  auf  die  Engel,  bezieht  sich  aber 
in  ihrer  Allofemeinheit  natürlich  auch  auf  den  Menschen. 


Der  Begriff  der  Gnade,  gegen  Heinrich  und  Gottfried.  303 

Die  Auffassungeu  Heinrichs  und  Gottfrieds  werden  ab- 
gelehnt. Nach  Heinrich  (Quodlib.  IV  qu.  10)  ist  der  habitus 
infusus  genau  vom  habitus  acquisitus  zu  unterscheiden.  Letz- 
terer ist  Vollendung  der  Natur  in  ihrer  Richtung  auf'  das 
Handeln,  ersterer  ruft  die  ganze  Handlung  hervor,  oder  der 
erworbene  Habitus  erleichtert  die  Handlung,  der  eingegossene 
Habitus  erzeugt  sie  (I  dist.  17  quaest.  2,  4).  Dieses  wird 
widerlegt,  denn  erstens  wäre  unter  jener  Voraussetzung  der 
eingegossene  Habitus  als  das,  was  das  Handeln  ermöglicht,  als 
Potenz  zu  fassen;  zweitens  könnte  man  von  einer  Güte  des 
Willens  ebensowenig  reden  bei  guten  Handlungen  wie  von  der 
Güte  des  Holzes,  wenn  es  von  der  Wärme  durchwärmt  wird, 
da  es  sich  in  dem  einen  so  wenig  als  in  dem  anderen  Fall  um 
eine  freie  That  handelt.  Auch  müsste  der  Habitus  gerade  so 
wie  die  Wärme  wärmt,  auch  wenn  sie  vom  Holz  abgetrennt 
wird,  gute  Thaten  auch  getrennt  vom  Willen  wirken,  d.  h. 
Potenz  sein  (4).  Drittens :  wird  der  Wille  von  einem  Natur- 
prinzip, wie  dieser  Habitus  es  wäre,  bestimmt,  so  kann  es  keine 
freien  Handlungen  geben.  Viertens  wäre  es  aber  auch  un- 
möglich, dass  jemand,  der  einmal  jenen  Habitus  empfing,  Tod- 
sünden beginge.  Fünftens  meine  sittlichen  Thaten  wären,  in- 
dem gewirkt  von  einem  Naturprinzip,  nicht  mein,  also  auch 
nicht  verdienstlich  (5).  Somit  ist  gezeigt ,  dass  der  super- 
naturale Habitus  nicht  als  der  Grund  der  Handlungen  anzu- 
sehen ist. 

Dagegen  hat  Gottfried  gelehrt,  dass  die  Handlung  ihre 
Substanz  von  der  Kraft  empfange,  ihre  Intensität  aber  durch 
den  Habitus  bestimmt  werde,  so  dass  also  Substanz  und  Inten- 
sität in  der  Handlung  unterschieden  sind  und  auch  auf  differente 
Prinzipien  zurückgreifen.  —  Auch  diese  Auffassung  wird  be- 
kämpft. Erstens  könne  man  nicht  die  Kräftigkeit  eines  Aktes 
von  seiner  Substanz  trennen,  da  die  Kraft  nichts  äusserlich 
Hinzutretendes  ist,  sondern  nur  die  Art  der  Substanz  kenn- 
zeichnet; dann  ist  aber  auch  eine  derartige  Spaltung  der  Ur- 
sächlichkeit unerlaubt  (ib.  6).  Zweitens:  soll  ein  natür- 
liches Prinzip  zugleich  mit  dem  freien  W^illen  agieren,  so  muss 
es  bei  jeder  Willensbewegung  mit  seiner  ganzen  natürlichen 
Kraft  in  Aktion  treten.    Sollte  nun  die  Intensität  des  Handelns 


304  Kap.  III:  Die  Person  Christi  und  die  Erlösung. 

abliäo^eu  von  einem  natürlichen  Prinzip,  so  würde  jede  Hand- 
lung den  gleichen  höchstmöglichen  Grad  der  Intensität  an  sich 
tragen.  Denn  auch  die  leisesten  Willensregungen  würden  von 
jenem  natürlichen  Prinzip  die  nämliche  natürliche  Intensität 
verlangen.  Drittens:  wiikt  der  Habitus  nur  die  Steigerung 
der  Kräftigkeit  der  Handlung,  so  würde  ein  entsprechend 
kräftigerer  Wille  ebenso  intensiv  wie  der  durch  den  Habitus 
verstärkte  Wille  wirken,  dann  kann  aber  die  obige  Unter- 
scheidung von  Substanz  und  Kräftigkeit  der  Handlung  nicht 
aufrecht  erhalten  werden  (7).  —  Also  auch  die  Auffassung, 
nach  der  der  Habitus  die  Kräftigkeit  der  Handlung  bewirkt, 
ist  abzulehnen. 

Die  dritte  Auffassung,  wie  sie  die  meisten  Scholastiker 
(z.  B.  Thomas)  vertreten,  welche  auch  Duns  für  acceptabel 
ansieht,  ist  nun  folgende.  Der  Habitus  ist  in  gewissem  Sinne 
als  aktives  Prinzip  der  Handlung  vorgestellt ,  indem  der 
Habitus  in  dem  Zusammenwirken  mit  der  natürlichen  Po- 
tenz, d.  h.  hier  dem  AYillens vermögen,  die  eine  aktive  Teil- 
ursache zur  Yollführung  eines  Aktes  ist  (quod  habitus  est 
causa  partialis  activa  cum  quo  ipsa  potentia  etiam  est  causa 
partialis  respectu  actus  perfecti,  I  dist.  17  quaest.  2,  8).  Indem 
nun  ein  Zusammenwirken  des  Willensvermögens  und  des  Habitus 
angesetzt  wird,  ergibt  sich  die  Frage,  welchem  dieser  beiden 
Faktoren  die  leitende  Stelle  zukommt.  Diese  gebührt  nach  Duns 
der  Potenz  des  Willens,  sofern  dieser  zum  Handeln  schlechter- 
dings keines  Habitus  bedarf.  Nur  das  kann  gesagt  werden, 
dass  letzterer  das  Handeln  vervollkommnen  werde;  minus  tamen 
perfecte  operabitur  (nämlich  potentia)  sine  habitu  quam  cum 
habitu  ...  Et  hoc  modo  salvatur,  quod  actus  est  intensior  a 
potentia  et  habitu  quam  a  potentia  sola  (ib.  §  9). 

Aber  auch  gegen  diese  Anschauung  sind  Einwendungen 
möglich  (s.  §  10  f.).  Ich  resümiere  dieselben.  Es  ist  unmög- 
lich, dass  zwei  Grössen,  die  zu  unterschiedenen  Arten  gehören, 
einander  gegenseitig  hervorbringen.  Ist  nun  der  Akt  die  Ur- 
sache des  Habitus  (wenigstens  des  erworbenen),  so  kann  der 
Habitus  nicht  den  Akt  erzeugen.  Zweitens:  gehen  zwei  Wir- 
kungen auf  dieselbe  Ursache  zurück,  so  muss  zwischen  beiden 
eine  feste  und  notwendige  Ordnung    bezüglich  der  Reihenfolge 


Ist  die  Gnade  ein  aktives  Prinzip  zum  Handeln  ^  305 

oder  der  Nähe  zu  der  Ursache  bestehen.  So  steht  es  etwa 
mit  dem  Subjekt  im  Verhältnis  zu  den  verschiedenen  Passionen 
desselben.  Nun  ist  die  natürliche  Veranlagung  (potentia)  die 
Ursache  sowohl  des  Aktes  als  des  Habitus.  Da  aber  der  Akt 
dem  Habitus  als  seine  Ursache  vorangeht,  kann  diese  Ordnung 
der  Wirkungen  nicht  dahin  verkehrt  werden,  dass  auch  der 
Habitus  dem  Akt  vorangehe  (10).  Drittens:  da  bei  äquivoken 
Ursachen  ^)  die  causa  causae  vollkommener  ist  als  die  causa 
causati,  und  der  Akt  die  Ursache  der  Entstehung  des  Habitus 
ist,  so  ist  der  Akt  vollkommener  als  der  Habitus.  Kann  nun 
der  Habitus  in  Verbindung  mit  der  natürlichen  Potenz  einen 
vollkommenen  Akt  wirken ,  so  müsste  derselbe  erst  recht 
zustande  kommen,  wenn  sich  jene  Potenz  mit  dem  den  Habitus 
erzeugenden  Akt  verbände.  Viertens:  soll  der  Habitus  als 
zweite  Ursache  gleichsam  die  Kraft  der  Kausalität  kompletieren, 
so  wäre  auch  denkbar,  dass  die  Kräftigkeit  des  Habitus  so 
stark  ist,  dass  sie  ohne  die  natürliche  Kausalität  wirkt.  Fünftens : 
würde  angenommen,  dass  ein  Ding  durch  Beschleunigung  oder 
Verlangsamung  seiner  Bewegung  vernichtet  würde,  so  könnte 
der  Habitus  nicht  die  Ursache  des  Aktes  sein,  da  er  durch 
den  von  ihm  erzielten  Akt  vernichtet  wird,  aber  nichts  kann, 
indem  es  vernichtet  wird,  Ursache  sein  (11). 

3.  Diese  Einwendungen  werden  Duns  zum  Anlass,  einen 
Weg  anzugeben,  auf  dem  denselben  Rechnung  getragen  werden 
könnte.  Nicht  eigentlich  als  ein  principium  activum  soll  der 
Habitus  für  das  Handeln  in  Betracht  kommen,  sondern  er 
rege  zum  Handeln  an,  wie  eine  Handlung,  die  bestimmend 
auf  eine  andere  einwirkt,  oder  wie  die  Schwere  des  Steines  ihn 
zu  einem  bestimmten  Ort  hintreibt,  ohne  dass  sie  doch  eigent- 
lich ein  aktives  Prinzip  ist  bezüglich  der  Raumlage  des  Steines. 
Sonach  wäre  das  Merkmal  der  aktiven  Kausalität  in  der  obigen 
Erörterung  zu  streichen.  Man  darf  ja  keinem  Ding  eine  solche 
Kausalität  beilegen,  wenn  dieselbe  nicht  aus  seiner  Beschaffen- 
heit evident  wird.  Nun  kommt  man  aber  bei  Erklärung  des 
Handelns  aus  mit  der  in  der  Potenz  oder  der  natürlichen  Aus- 


^)  D.  h,  homonyme  Ursachen,  wo  die  Wirkung  der  Ursache  ungleich- 
artig ist. 

Seeberg,  Die  Theologie  des  Duns  Scotus.  20 


306  Kap.  III :  Die  Person  Christi  und  die  E^rlösung-, 

rüstuu^  cnthaltonen  Kausalität,  es  bedarf  sonach  nicht  der 
Hiüzunahme  einer  weiteren  aktiven  Kausalität,  um  das  Zu- 
standekommen ein(T  Handlung  zu  erklären  (ib.  §  12).  Auf 
diesem  Wege  lassen  sich  aber  die  vier  Merkmale,  die  man  ge- 
wöhnlich von  dem  Habitus  aussagt,  aufrecht  erhalten:  videlicet 
quod  est  quo  habens  faciliter  operatur,  delectabiliter,  prompte 
et  expedite.  Denn  wir  können  den  Hal)itus  als  das  denken, 
was  der  Potenz  eine  gewisse  Hinneigung  verleiht  in  die  Aktion 
zu  kommen  (propter  solam  inclinationem  habitus  quam  tribuit 
potentiae,  ut  receptiva  est  operationis,  ib.). 

Der  Habitus  ist  also  etwas,  w^as  die  natürliche  Beschaffen- 
heit zur  Handlung  geneigt  macht.  Dies  ist  nicht  im  aktiven 
Sinn,  sondern  rezeptiv,  in  der  Weise  einer  Qualität  zu  ver- 
stehen. Diese  Beschaffenheit  bildet  eine  natürliche  Disposition 
für  das  Eintreten  der  Handlung.  Es  ist  verständlich,  wie  dann 
die  obigen  Merkmale  des  Habitus  zur  Geltung  gelangen.  Denn 
ist  in  der  Natur  eine  gewisse  Neigung  in  Aktion  versetzt  zu 
werden  vorhanden,  so  wird  durch  diese  Neigung  die  Aktion 
selbst  erleichtert  werden  und  Lust  erregen  und  ungehindert 
und  prompt  sich  vollziehen  (13). 

Der  erste  und  der  zweite  Weg  sind  als  ungangbar  ab- 
gewiesen. Dagegen  erklärt  Duns  den  dritten  und  vierten  für 
möglich  (13).  Nach  dem  dritten  ist  der  Habitus  eine  aktive 
Partialur Sache  für  das  Zustandekommen  einer  Handlung;  nach 
dem  vierten  aber  die  Steigerung  der  Rezeptivität  des  natür- 
lichen Vermögens  in  Aktion  gebracht  zu  werden  zur  Inklination 
hierzu.  Bei  dieser  Annahme  kommen  dann  die  gegen  die  dritte 
Auffassung  erhobenen  Einwendungen  —  sie  richteten  sich  samt 
und  sonders  gegen  die  aktive  Kausalität  des  Habitus  —  in 
Wegfall.  Trotzdem,  dass  Duns  diese  letztere  Auffassung  hier 
zu  bevorzugen  scheint,  greift  er  doch  im  folgenden  auf  die 
dritte  Anschauung  zurück,  quae  videtur  plus  attribuere  habitui 
(1.  c.  quaest.  3,  6).  Er  zieht  sie  vor,  erklärt  aber  wieder  auch 
die  andere  für  möglich  (cf.  quaest.  3,  11.  23).  Er  erläutert 
erstere  jetzt  durch  das  Beispiel  vom  Stein.  Wie  zum  Fallen 
des  Steines  sich  die  ihm  inhärente  Schwere  mit  einer  äusseren 
Ursache  verbinden  kann,  und  infolge  dieser  Verbindung  der 
Stein  rascher    hinabstürzt,    so    sei    die  Verbindung  der  Potenz 


Bedarf  es  des  eingegossenen  Gnadenhabitus  ?  307 

mit  dem  Habitus  vorzustelleD.  Er  verstärkt  das  aktive 
Willensvermogen,  welches  an  sich  Handlungen  erzeugen  kann, 
sodass  dieselben  leichter  zustande  kommen,  ohne  freilich  seiner- 
seits eine  Handlung  hervorrufen  zu  können.  Habitus  movet 
potentiam  quasi  quoddam  pondus,  qui  tarnen  ex  se  non  sufficit 
ad  eliciendum  active  ipsam  operationem,  sufficit  autem  sola 
virtus  potentiae  activae  sine  tali  pondere  (ib.). 

4.  Bedarf  es  nun  des  eingegossenen  Habitus  zum  verdienst- 
lichen Handeln?  Es  ist  die  entscheidende  Frage  in  der  mittel- 
alterlichen Gnadenlehre.  Wir  erinnern  uns  des  gezwungenen 
und  gequälten  Zuges  an  den  Betrachtungen  des  Duns  über  die 
^Notwendigkeit  des  eingegossenen  Glaubens  (S.  140  f.).  Kehrt 
derselbe  hier  wieder? 

Man  kann  jene  Frage  verneinen,  heisst  es  zuerst,  und 
zwar  dadurch,  dass  man,  wie  der  Lombarde,  den  heil.  Geist 
ohne  Vermittlung  eines  Habitus,  direkt  den  Willen  zum  Guten 
anregen  lässt.  Der  Habitus  sei  zum  Handeln  nicht  nötig,  wie 
wir  sahen,  und  dass  der  eingegossene  Habitus  das  Handeln 
leicht  mache,  bewährt  sich  nicht  an  der  christlichen  Erfahrung 
von  der  Schwierigkeit  bei  den  guten  Werken  zu  bleiben.  Also 
ist  kein  eingegossener  Habitus  im  Gerechtfertigten  anzunehmen, 
denn  sonst  würde  dieser  leicht  und  sicher  gut  handeln.  —  Oder 
es  scheint  doch  der  Wille,  der  von  Natur  fähig  ist,  übernatür- 
liche Güter  zu  ergreifen,  auch  in  diesem  Fall  das  höchste  Gut. 
wenn  es  ihm  nur  gezeigt  wird,  lieben  zu  können.  —  Ferner 
scheinen,  wenn  der  Habitus,  aus  dem  die  sittlichen  Akte 
hervorgehen,  übernatürlich  ist,  auch  diese  Akte  übernatürlich 
sein  zu  sollen.  Endlich  bewährt  sich  das  Vorhandensein  des 
Habitus  nicht,  da  sonst  die  Frommen  mit  Leichtigkeit  zu  jeder 
Zeit  die  höchsten  sittlichen  Akte  müssten  hervorrufen  können 
(1.  c.  §  16). 

Somit  scheint  der  Lombarde  im  Eecht,  und  der  Habitus 
infusus  unnütz  zu  sein.  Die  Annahme  des  Habitus  lässt  sich 
an  der  Beobachtung  des  ethischen  Lebens  nicht  bewähren. 
Eine  zweite  Gruppe  von  Gründen  weist  nach,  dass  auch  vom 
Standort  des  heil.  Geistes  her  der  Habitus  als  unnütz  erscheint : 
die  erste  Ursache  kann  auch  von  sich  aus  wirken,  was  sie  in 
den    zweiten   Ursachen   wirkt.     Deshalb    kann    der    heil.  Geist 

20* 


308  Kap.  III :  Die  Person  Christi  und  die  Erlösung. 

ohne  Habitus  dasselbe  wirken,  wie  mit  dem  Habitus.  —  Ferner : 
dem  Willen,  der  den  Habitus  hat,  soll  doch  auch  der  heil. 
Geist  kooperieren,  da  er  sonst  nicht  die  erste  Ursache  in  den 
Handlungen  aller  Kreatur  wäre.  Entweder  kooperiert  nur  der 
Habitus  oder  der  Geist.  —  Sodann:  der  Logos  war  so  mit 
einer  Menschennatur  verbunden,  dass  er  alle  Handlungen  der- 
selben leitete,  die  aber  trotzdem  frei  geschahen ;  könnte  nicht 
ebenso  der  heil.  Geist  mit  dem  Willen  aller  Menschen  sich 
irgendwie  vereinigen  zur  Bestimmung  ihres  sittlichen  Handelns  ? 
Schliesslich:  kann  der  Intellekt  ohne  informierende  übernatür- 
liche Form  die  selige  Anschauung  des  ihm  sich  gegenwärtig 
machenden  Gottes  erreichen ,  wozu  bedarf  es  da  einer  In- 
formierung des  von  Natur  mehr  zur  Aktion  geneigten  Willens? 

5.  Es  könnte  scheinen,  als  wenn  damit  die  Negation  des 
Habitus  erwiesen  wäre.  Duns  macht  nun  den  Versuch,  seine 
Notwendigkeit  zu  erweisen.  Auch  hier  werden  zwei  Beweis- 
gruppen vorgeführt.  Die  erste  ist  dem  Vorgang  der  Justi- 
fikation  entnommen,  die  andere  der  Verdienstlichkeit  des 
ethischen  Handelns. 

Diese  Gedaukenreihen  zerfallen  in  eine  Anzahl  von 
Gründen.  Die  erste  schHesst  sich  also  an  die  Justifikation 
an.  Vor  derselben  ist  der  Sünder  ungerecht,  nach  ihr  ist 
er  gerecht.  Die  Ungerechtigkeit  ist  eine  privatio ,  sie  kann 
nur  durch  den  entgegengesetzten  Habitus  aufgehoben  worden, 
quia  privare  privationem  est  habitum  ponere.  Es  muss  im 
Gerechtfertigten  etwas  Neues  im  Verhältnis  zu  früher  da  sein, 
sonst  wäre  jene  Privation  nicht  aufgehoben.  Si  enim  nihil 
inesset  sibi  formaliter  nunc  quam  prius,  non  magis  careret 
privatione  nunc  quam  prius  caruit  (1.  c.  §  18).  —  Sodann  ist 
der  Sünder  vor  der  Busse  unwürdig  des  ewigen  Lebens,  nach 
ihr  aber  desselben  würdig,  also  muss  etwas  in  ihm  vorgegangen 
sein,  cui  secundum  regulas  divinae  iustitiae  iudicatur  vita 
aeterna  reddenda.  —  Weiter:  deus  non  acceplat  peccatorem 
ad  vitam  aeternam,  iustum  tarnen  acceptat.  Gibt  also  Gott 
dem  Sünder  das  ewige  Leben,  das  ihm  früher  versagt  blieb, 
so  muss  im  Menschen  etwas  vorgegangen  sein,  was  diesen 
Wechsel  erklärt,  nicht  in  Gottes  schlechthin  unveränderlichem 
Willen  (ib.),    sowenig    als   in  Gott  ein  Wandel   vorgeht,   wenn 


Die  Notwendigkeit  des  Gnadenhabitus.  309 

er  liebt  oder  has8t.  —  Schliesslich  ist,  wie  anerkannt  wird, 
das  gegenseitige  Verhältnis  zwischen  Gott  und  Mensch  ver- 
ändert. Da  Gott  unveränderlich  ist,  ist  die  Veränderung  im 
Menschen  geschehen.  Da  aber  auch  im  Sünder  Glaube  und 
Liebe  erhalten  bleiben,  wird  die  Veränderung  durch  die  Mit- 
teilung der  Liebe  bedingt  sein.  Duns  bemerkt  noch,  dass  man 
ein  weiteres  Argument  so  bilden  könnte:  vergibt  Gott  dem 
Büsser  die  Sünde,  nachdem  er  ihm  zuvor  zürnte,  so  kann  die 
eingetretene  Veränderung  sich  nur  aus  etwas  im  Menschen 
Geschehenen  erklären  lassen.  Aber  dies  Argument  wird  zu- 
rückgewiesen, da  Gott  zuerst  die  Sünde  vergibt  und  dann  erst 
Gnade  gibt,  wie  wir  alsbald  sehen  werden.  Daher  müssen  alle 
vorangehenden  Argumente  nicht  auf  die  Sündenvergebung  be- 
zogen werden,  sondern  auf  die  Annahme  des  Gerechten  zum 
ewigen  Leben  (19). 

So  wäre  also  der  Habitus  erforderlich.  Zu  demselben 
Resultat  kommt  man,  wenn  man  die  Sache  vom  Standort  des 
meritorischeu  Aktes  her  betrachtet.  Leugnet  man  den  über- 
natürlichen Habitus,  so  sei  der  Mensch,  da  sein  Wille  die  ver- 
dienstliche freie  Handlung  ausführt,  allein  Ursache  des  sittlichen 
Verdienstes,  quod  videtur  error  Pelagii!  Dieser  Habitus  kann 
sich  aber  nicht  auf  die  Hoffnung  und  den  Glauben  beschränken, 
denn  diese  bleiben  auch  im  Sünder.  Also  ist  es  der  Habitus 
der  Liebe.  —  Weiter  wäre  eine  meritorische  Handlung  un- 
möglich, wenn  das  christliche  Handeln  durch  Hilfe  des  heil. 
Geistes,  d.  h.  durch  die  coassistentia  illius  extrinseci,  geschähe, 
denn  in  diesem  Fall  läge  keine  wirkliche,  in  eigener  Macht 
gethane  Handlung  des  Menschen  vor.  Es  gäbe  also  auch  kein 
Verdienst ;  folglich  bedarf  es  dessen,  dass  dem  Menschen  inner- 
lich eine  Form  gegeben  werde,  über  die  er  verfügen  und  in 
Gemässheit  derer  er  wirklich  handeln  und  gut  handeln  könne.  — 
Ebenso  könnte  die  Bewegung,  welche  der  heil.  Geit  dem  mensch- 
lichen Willen  mitteile,  nur  als  Schöpfung  gedacht  werden; 
damit  sei  die  eigene  Handlung  und  sonach  das  Verdienst  wieder 
aufgehoben  (§  19).  —  Endlich  die  Selbigkeit  zwischen  Vater 
und  Sohn  wird,  da  in  einer  Natur  bestehend,  jedenfalls  nicht 
geringer  sein  als  eine  Einigung  zwischen  dem  heil.  Geist  und 
dem  Willen  es  wäre;   aber  trotzdem  thut  der  Vater  nicht  das 


310  Kap.  111:  Die  Person  Christi  und  die  Erlösung. 

was  der  Sohn  thut.  Also  wäre  es  völlig  verkehrt,  weDn  man 
den  Geist  das  wirken  Hesse,  was  wir  thun. 

Es  bleibt  also  nur  ü])rig :  entweder  der  Habitus  oder 
der  Pelagianismus.  Dass  der  heil.  Geist  nicht  das  Prinzip  der 
guten  Handlungen  in  uns  sein  kann,  folgt  aus  der  Verdienst- 
lichkeit derselben ;  dass  der  Wille  als  rein  natürliches  Ver- 
mögen es  nicht  sein  könne,  ergibt  sich  daraus,  dass  das  Pela- 
gianismus  wäre.  Die  Lösung  bietet  jene  übernatürliche,  dem 
Menschen  eingegossene  Form  dar,  die  den  Willen  irgendwie 
beeinflusst,  aber  seine  Freiheit  und  die  Verdienstlichkeit  seines 
Handelns  in  nichts  beschränkt.  Das  sind  die  Hauptgedanken ! 
Wie  charakteristisch  sind  sie  doch  für  das  religiöse  Bewusst- 
sein  der  Kirche  des  ausgehenden  Mittelalters.  E  concessis 
argumentiert  die  Lehre  mit  vollster  Sicherheit:  Im  Busssakra- 
ment bei  der  Bechtfertigung  wird  der  Mensch  bekanntlich  ge- 
recht gemacht,  da  muss  doch  etwas  Übernatürliches  an  ihm 
vollzogen  werden.  Es  gibt  ein  im  Himmel  verdienstliches 
Handeln,  also  muss  es  einen  übernatürlichen  Grund  in  uns 
haben!  Pelagius  ist  verdammt,  also  muss  man  seiner  Lehre 
aus  dem  Wege  gehen ! 

6.  Die  Meinung  des  Lombarden  scheint  widerlegt  zu  sein. 
Aber  damit  ist  das  Problem  nicht  gelöst.  Die  Frage  muss 
genauer  erörtert  werden.  Da  ist  nun  zunächst  festzustellen, 
dass  die  Beobachtung  unseres  Handelns  und  sittlichen  Lebens 
den  Schluss  auf  solch  einen  habitus  supernaturalis  in  uns  in 
keiner  Weise  ermöglicht.  Denn  jeder,  der  die  Liebe  hat, 
könnte  zwar  mit  Gewissheit  erkennen,  dass  diese  Akte  der 
Liebe  in  ihm  sind,  dass  sie  eine  bestimmte  Intensität  haben, 
dass  sie  in  angenehmer  Weise  da  sind,  dass  sie  der  Vernunft 
gemäss  sind  etc.  Dagegen  wird  er  nie  dazu  kommen,  aus  diesen 
Akten  oder  ihren  Umständen  jenen  Habitus  zu  erkennen,  denn 
entweder  könnten  die  Akte  aus  dem  Willensvermögen  erklärt 
werden,  oder  ein  etwa  anzunehmender  Habitus  könnte  ein 
habitus  acquisitus  sein.  Aber  auch  durch  die  Plötzlichkeit 
der  Verwandlung  des  Willens  zu  leichtem,  intensivem  und  er- 
freulichem Handeln  lässt  sich  jener  Habitus  nicht  beweisen, 
da  das  gleiche  auch  unter  natürlichen  Bedingungen  geschieht 
(§  21). 


Der  Habitus  macht  uns  Gott  accoptabel.  311 

Duns  positive  Antwort  lautet:  Ausser  den  angeführten 
Relationen  der  sittlichen  Handlungen,  wie  Intensität,  Leichtigkeit, 
Güte,  Vernunftgemässheit,  ist  noch  eine  Relation  vorhanden, 
nämlich  diese  Handlungen  des  Christen  sind  Gott  acceptabel, 
d.  h.  Gott  setzt  sie  als  entsprechende  Verdienste  in  Beziehung 
zum  ewigen  Leben  als  ihrem  entsprechenden  Lohn  (ordinatio 
huius  actus  ad  vitam  aeternam  tanquam  meriti  coiidigni  ad 
praemium).  Nun  nehmen  wir  aber  auch  an,  dass  unsere  Natur 
von  Gott  habitualiter,  d.  h.  auch  dann,  wenn  sie  nicht  gerade 
Thaten  thut,  als  gerecht  acceptiert  und  vermöge  einer  ihr  ein- 
wohnenden Disposition  als  würdig  zum  ewigen  Leben  verordnet 
wird.  Diese  doppelte  Acceptation  von  Seiten  Gottes  erfordert 
als  Grund  im  Menschen  einen  derartigen  Habitus:  Propter 
haue  acceptationem  naturae  beatificabilis  habitualem ,  etiam 
quando  non  operatur,  et  propter  acceptationem  actualem  actus 
eliciti  a  tali  natura,  oportet  ponere  unum  habitum  supernatu- 
ralem, quo  habens  formaliter  acceptetur  a  deo  et  quo  actus 
elicitus  eins  acceptetur  tanquam  meritorius  (§  22). 

Aber  wodurch  macht  dieser  Habitus  den  Menschen  an- 
nehmbar bei  Gott?  Ist  er  ein  dem  göttlichen  Willen  gefallender 
geistlicher  Schmuck  ?  Er  ist  nicht  nur  dieses,  weil  er  sonst  zu 
dem  menschlichen  Handeln  keine  Beziehung  hätte.  Oportet  igitur 
dicere,  quod  iste  habitus  praeter  hoc,  quod  est  decor  spiritualis, 
etiara  est  inclinans  ad  determinatus  actus,  und  zwar  je  nachdem, 
für  welche  der  oben  gegebenen  Definitionen  des  Habitus  (S.  306) 
man  sich  entscheidet,  entweder  nicht  aktiv  oder  —  was  wahrschein- 
licher ist  —  aktiv  (§  23).  So  stimmt  man  mit  Augustin  überein, 
der  das  Verhältnis  der  Gnade  zum  freien  Willen,  dem  des 
Reiters  zum  Pferd  vergleicht,  nämlich  quia  sessor  active  regit 
et  movet  equum  qualiter  vult,  und  der  die  voluntas  als  pedisse- 
qua,  non  domina  gratiae  bezeichnet  (ib.). 

7.  Es  werden  also  die  Gnade  und  das  Willensvermögen 
die  Ursachen  des  Handelns  sein.  Die  Gnade  scheint  die  causa 
prima  zu  sein.  Hiegegen  aber  können  Einwände  erhoben 
werden.  Zunächst  die,  dass  die  Potenz  sich  des  Habitus  be- 
dient, nicht  umgekehrt;  ferner,  dass  unter  jener  Voraussetzung 
die  Handlung  keine  freie  wäre,  denn  der  Wille  würde  von 
der  Gnade  in  Bewegung  gesetzt  werden,  also  nicht  frei  handeln. 


312  Kap.  III:  Die  Person  Christi  und  die  Erlösung. 

Drittens  schiene  der  einmal  mit  der  Gnade  ausgerüstete  Wille 
nicht  sündigen  zu  können ,  indem  die  causa  secunda  doch 
immer  von  der  Bewegung  der  causa  prima  abhängt.  Endlich 
wird  angenommen  werden  müssen,  dass  der  Wille  sich  unbe- 
schränkter zum  Handeln  verhält  als  der  Habitus,  daher  also 
wohl  eine  nähere  Beziehung  zur  Handlung  haben  wird.  —  Zur 
Lösung  der  obigen  Frage  stellt  Duns  folgende  Erwägung  an. 
Im  meritorischen  Akt  ist  zweierlei  zu  unterscheiden:  1)  als 
dem  eigentlichen  Verdienst  voraufgeheud  die  Kräftigkeit 
(intensio)  und  die  Substanz  des  Aktes  samt  der  moralischen 
Korrektheit  (rectitudo  moralis) ;  2)  sodann  das  was  diesen 
Akt  real  zu  einem  meritorischen  macht,  nämlich  dass  Gott 
ihn  gnädig  für  annehmbar  ansehen  will.  Considero  et  ipsam 
rationem  meritorii  quod  est  sie  acceptum  a  divina  voluntate 
in  ordine  ad  praemium  vel  acceptabile  esse  sive  dignum  accep- 
tari  (1.  c.  §  24).  Es  ist  nicht  richtig,  dem  Akt  an  sich  etwas 
beizulegen,  was  ihn  schon  an  und  für  sich  verdienstlich  mache. 
Das  läuft  der  ganzen  Anschauungsweise  des  Duns  zuwider. 
Auch  hier  hängt  alles  am  göttlichen  Willen.  Dass  der  göttliche 
"Wille  eine  solche  That  gratuite  zum  Lohn  in  Beziehung  setzt, 
das,  und  nichts  anderes,  macht  sie  verdienstlich  (§  25).  Aber 
ist  irgend  eine  menschliche  Handlung  dann  überhaupt  ver- 
dienstlich oder  ist  nicht  vielmehr  das  Verdienst  Gottes,  sofern 
er  die  Handlung  erst  zum  Verdienst  macht?  Darauf  ist  zu 
sagen,  dass  allerdings  die  einzelne  Handlung  auch  als  ver- 
dienstliche in  meiner  Gewalt  steht,  sofern  ich  im  Besitz  des 
freien  Willens  und  der  Gnade  bin.  Dabei  ist  es  richtig,  dass 
das,  was  diese  Handlung  verdienstlich  macht,  von  Gott  als 
eine  Kompletion  derselben  herstammt,  aber  so,  dass  es  eine 
göttliche  Ordnung  ist,  dass  bestimmtes  Handeln  immer  als 
Verdienst  acceptiert  wird,  ähnlich  wie  der  Erzeugung  immer 
die  Animation  folgt.  Es  ist  eine  stetige  Ordnung  Gottes,  ver- 
möge welcher  Gott  festsetzte,  dass  bestimmte  Handlungen  zum 
Lohn  in  Beziehung  setzen  oder  Verdienste  sind.  Nicht  der 
innere  Wert  der  Handlungen  also,  sondern  lediglich  der  gnädige 
Wille  Gottes  lässt  jene  Handlungen  zu  Verdiensten  und  zu 
Mitteln  zur  Erwerbung  des  ewigen  Lebens  werden.  Deus 
praemiat  ultra  meritum  condignum,   universaliter  quidem  ultra 


Der  Habitus  als  Haupt-  und  Nebenursaclie  der  ethischen  Handlung.     313 

dignitatem  actus  qui  est  meritum,  quia  quod  ille  actus  sit  con- 
dignum  meritum,  lioc  est  ultra  uaturam  et  bonitatem  actus 
intrinsecam  ex  mera  gratuita  acceptatione  divina;  et  forte  ad- 
huc  ultra  illud  quod  de  commuui  lege  esset  actus  acceptandus, 
quandoque  deus  praemiat  ex  mera  liberalitate  (§  26  cf.  Report. 
I  dist.  17  quaest.  2,  5).  Gott  ist  eben  der  „liberale"  Herr 
seiner  Kreaturen. 

Wie  wir  nun  an  der  guten  Handlung  zwei  Seiten  unter- 
schieden haben ,  nämlich  die  Substanz  und  Korrektheit  der- 
selben, —  sowie  ihre  Geltung  als  Verdienst,  so  kann  auch  im 
Habitus  ein  doppeltes  unterschieden  werden,  was  zu  diesen 
zwei  Seiten  in  Beziehung  steht.  Habitus  gratiae  est  quaedam 
qualitas.  Indem  er  gut  ist,  beeinflusst  er  die  Güte  der  Hand- 
lung. Aber  er  hat  andererseits  auch  eine  besondere  Beziehung 
zu  dem  die  Handlung  als  gut  acceptierenden  göttlichen  Willen. 
Nach  der  ersten  Richtung  bewirkt  der  Habitus  als  Teilursache 
mit  dem  AYillensvermögen  zusammen  die  Handlung.  So  be- 
trachtet ist  er,  wie  wir  oben  sahen  (S.  302),  die  causa  secunda, 
das  Willenvermögen  die  causa  prima.  Aber  nach  der  anderen 
Richtung  betrachtet,  scheint  dem  Habitus  der  Vorrang  vor 
dem  Willen  zuzukommen,  denn  die  Handlung  wird  verdienstlich 
priucipaliter  durch  den  Habitus  und  minus  principaliter  durch 
den  Willen,  denn  die  Handlung  wird  doch  mehr  deshalb,  weil 
sie  von  der  Liebe  hervorgerufen  ist,  als  weil  sie  frei  vom  Willen 
erzeugt  wurde,  für  verdienstlich  angesehen.  Etwas  kleinlaut 
fügt  Duns  hinzu :  quamvis  utrumque  necessario  requiratur. 
Duns  verdeutlicht  dieses  durch  einige  Beispiele,  aus  denen 
hervorgeht,  dass  die  Hauptursache  nicht  immer  den  Wert  be- 
stimmt, welchen  ihr  Produkt  in  der  Schätzung  einer  Person 
findet.  AVenn  jemand  einen  Körper  mit  einem  Messer  in  seine 
Teile  zerlegt,  so  ist  natürhch  die  erste  Ursache  die  Kraft  des 
Armes,  aber  ob  diese  Arbeit  dem  Beschauer  gefällt,  dafür  wird 
in  vielen  Fällen  die  Schärfe  des  Messers,  das  dem  Arm  zu 
Gebote  steht,  entscheidend  sein.  So  ist  auch  der  Vater  die 
causa  principalis,  die  Mutter  non  principalis  des  Sohnes,  und 
doch  kann  es  geschehen,  dass  die  Mutter,  nicht  der  Vater,  die 
massgebende  Ursache  dafür  wird,  dass  jemand  den  Sohn  liebt 
(§27,  andere  Beispiele  siehe  Report.  I  dist.  17  quaest.  2,  8  f.). 


314  Kap.  111:  Die  Person  Christi  und  die  Erlösung, 

So  nun  kann  auch  Gott  dio  Anordnung  getroffen  haben,  dass 
eine  Handkmg  als  Verdienst  angenommen  wird,  nicht  um  des 
Willens  willen,  der  sie  hervorbrachte,  sondern  um  des  Habitus 
willen,  der  nur  als  Nebenursache  zur  Entstehung  der  Handlung 
wirksam  war.  Die  Acceptation  macht  zwar  die  Handlung 
verdienstlich,  aber  diese  Acceptation  erfolgt  nur  dann,  wenn 
die  That  des  freien  Willens  zu  dem  Gnadenbabitus  in  Beziehung 
steht.  Duns  kommt  hier  auf  das  Gleichnis  vom  Reiter  zurück. 
Das  Eoss  kann  irgend  jemandem  nur  insofern  wert  sein,  als 
es  dem  Zügel  des  Reiters  folgt,  würfe  es  den  Reiter  ab,  oder 
trüge  es  ihn  in  eine  andere,  als  die  von  ihm  gewollte  Richtung, 
so  würde  es  jenem  gar  nichts  oder  weniger  gelten.  Der  Wille 
ist  das  Ross,  der  Reiter  die  Gnade,  welcher  einwirkt  auf  das 
Ross  oder  den  Willen.  Sofern  der  Wille  der  Gnade  folgt, 
gefällt  er  Gott.  Ist  das  nicht  der  Fall,  ja  wirft  gar  das  Ross 
den  Reiter  ab,  d.  h.  handelt  der  Wille  gegen  den  Druck  jenes 
Habitus,  so  tritt  das  Misfallen  Gottes  ein  (§  28).  Man  kann 
also  sagen,  bezüglich  der  Handlung  als  Handlung  ist  der  Wille 
die  erste  Ursache,  bezüglich  derselben  Handlung  als  verdienst- 
licher oder  Gott  wohlgefälliger  ist  der  Gnadenhabitus  die  erste 
Ursache.  Nach  jenem  Gesichtspunkt  kommt  dem  Habitus,  nach 
diesem  dem  Willen  die  Mitwirkung  als  zweite  Ursache  zu. 

8.  Die  so  gewonnene  Bedeutung  des  Habitus  versucht 
Duns  zu  erläutern  und  zu  stützen  durch  die  Annahme  einer 
Beziehung  zwischen  dem  Habitus  und  dem  Objekt,  auf  welches 
er  hintreibt.  Wie  nämlich  jede  intellektuelle  Zuständlichkeit 
notwendig  das  intelhgible  Objekt  in  sich  gegenwärtig  hat,  so 
muss  auch  eine  Willenshabitualität  das  Objekt  als  diligibles 
Gut,  gewissermassen  in  sich  tragen.  Vor  den  einzelnen  auf 
das  Objekt  gerichteten  Akten  ist  also  vermöge  der  Einwirkung 
des  Objektes  im  Menschen  eine  innere  Neigung  imd  Richtung 
auf  dasselbe  anzunehmen.  Das  wäre  der  Habitus.  Regt  nun 
etwa  der  moralische  Habitus  zum  Handeln  an,  so  wird  die 
daraus  entstehende  Handlung  die  Richtung  auf  jenes  moralische 
Objekt  erhalten.  Hieraus  begreift  sich,  dass  der  Habitus  be- 
stimmter als  der  Wille  in  seinen  einzelnen  Akten  zu  dem 
moralischen  Objekt  hintreibt.  Indem  nun  der  Habitus  seine 
Kraft  wesentlich  aus    dem  Objekt  empfängt,  kann   man  sagen, 


Der  Habitus  als  ethische  llichtung.  315 

dass  die  ihm  zustehende  partielle  Kausalität  (s.  oben)  ihm, 
vermöge  der  Aktivität  des  Objektes  der  Handlung,  nicht  ver- 
möge der  Aktivität  des  Willensvermögens  zukommt  (§  28). 
Der  Gedanke  des  Duns  ist  somit  der:  der  ethische  Habitus 
der  Liebe  erscheint  nicht  sowohl  als  Produkt  der  Willens- 
bethätigungen  des  Menschen,  sondern  als  Produkt  des  Objektes, 
welches  seinerseits  wirksam  wurde  diese  Richtung  hervorzu- 
rufen. Denken  wir  uns  als  Objekt  der  Handlungen  der  Liebe 
Gott,  so  wird  der  Habitus  der  Liebe  im  Menschen  zu  diesem 
Objekt  eine  nähere  und  bestimmtere  Beziehung  haben,  als  der 
Wille  als  solcher.  Diese  scharfsinnige  Erörterung  dient  freilich 
dazu,  den  Gedanken  des  Duns  zu  verdeutlichen,  dass  es  der 
Habitus  ist,  welcher  die  Handlungen  Gott  gefällig  macht, 
denn  der  Habitus  leitet  und  treibt  die  Handlungen  auf  Gott 
als  ihr  Ziel  hin.  Noch  kürzer  und  einfacher  gesagt :  nicht  der 
Wille  als  solcher ,  sondern  die  habituelle  Pichtungnahme  des 
Willens  auf  sein  höchstes  Ziel  entscheidet  über  den  Wert  der 
ethischen  Handlung;  das  meint  Duns  doch. 

9.  Hier  schliessen  sich  aber  noch  einige  Fragen  an,  die 
um  der  Vollständigkeit  willen  nicht  übergangen  werden  können. 
Es  fragt  sich  nämlich,  ob,  wenn  die  dem  Menschen  mitgeteilte 
Gnade  oder  Liebe  eine  Steigerung  erfährt,  etwa  infolge  der 
guten  Werke,  die  neue  gesteigerte  Liebe  die  alte  Liebe  auf- 
hebt oder  in  welchem  Verhältnis  beide  zu  einander  stehen? 

Gottfried  (Quodlib.  VII  quaest.  7)  ist  in  der  That  für  die 
Ansicht  eingetreten,  dass  die  neue  vollkommenere  die  alte 
weniger  vollkommene  Liebe  ganz  aufhebe,  denn  man  müsse 
sich  die  erste  Liebe  als  Terminus  a  quo,  die  zweite  als  Terminus 
ad  quem  vorstellen;  die  beiden  sind  aber  in  einem  Ding 
inkompossibel.  Duns  hat  diese  Meinung  verworfen  und  sie 
mit  einer  Anzahl  von  Gründen  widerlegt.  Folgende  sind  die 
wichtigeren:  Obgleich  es  nicht  nötig  ist,  dass  Gott  immer  um 
eines  meritorischen  Aktes  wallen,  durch  den  eine  Gnadenmehrung 
verdient  wird,  die  Liebe  vermehrt,  so  kann  das  doch  geschehen. 
Dann  aber  ist  die  Mehrung  gleichzeitig  dem  sie  begründenden 
Liebesakt.  Folglich  ist  die  alte  Liebe  da,  indem  die  neue 
einzieht,  also  können  sie  einander  nicht  inkompossibel  sein 
(I  dist.  17  quaest.  4,  3).    —   In    den    actus    augmentativi   des 


316  Kap.  III:  Die  Person  Christi  und  die  Erlösung. 

Habitus  der  Liebe  kann  der  zehnte  unvollkommener  sein  als 
der  erste,  und  doch  vermehrt  er  den  Habitus  mehr  als  zehnter, 
denn  jener  als  erster;  das  wäre  unmöglich,  wenn  die  alte  Liebe 
jedesmal  zerstört  würde  (5).  Auch,  ist  es  nicht  einzusehen, 
warum  hier  andere  Gesetze  gelten  sollen,  als  bei  der  Mehrung 
der  sinnlichen  Materie  (7).  Duns  selbst  erklärt  sich  für  die 
übliche  Meinung,  dass  nämlich  die  positive  Realität  der  alten 
Liebe  bleibt,  auch  wenn  dieselbe  Mehrung  erfährt. 

Nun  kann  aber  die  weitere  Frage  aufgeworfen  werden, 
ob  nämlich  diese  positive  Realität  der  alten  Liebe  die  ganze 
Essenz  der  gesteigerten  Liebe  ausmache?  Hiefür  hat  sich 
Thomas  erklärt.  Duns  ist  dawider:  Dasselbe  Ding  kann  nicht 
zweimal  hervorgebracht  werden,  dann  kann  also  eine  bereits 
vorhandene  Realität  nicht  durch  eine  Änderung  hergestellt 
werden.  Ebenso  muss  ein  motus  realis  einen  terminus  realis 
haben,  also  der  Fortschritt  an  Liebe  eine  neue  Liebe  u.  s.  w. 
(ib.  quaest.  5,  3).  Positiv  ist  also  die  Meinung  unseres  Autors, 
dass  die  positive  Realität  der  alten  Liebe  der  positiven  Re- 
alität der  neuen  Liebe  nicht  ganz  gleich  ist.  Könnte  man 
die  beiden  Lieben  von  dem  sie  in  eins  fassenden  Subjekt  sondern, 
so  würde  die  zweite  um  so  viel  grösser  sein,  als  der  Zuw^achs 
über  die  Realität  der  ersten  ausmacht.  Diese  erste  blieb  ja 
erhalten  und  die  zweite  trat  hinzu  wie  ein  neuer  Teil  gleich- 
sam. Es  liegt  also  ein  ähnliches  Verhältnis  vor,  wie  auf  den 
Gebieten  der  quantitativen  materiellen  Welt  (ib.  6  cf.  quaest  6,  4). 

Somit  ist  die  mitgeteilte  Gnade,  d.  h.  die  Richtung  der 
Liebe  im  Menschen,  einer  Steigerung  fähig.  Diese  wird  von 
Gott  um  der  verdienstlichen  Werke  willen  verliehen.  Sie  kann 
aber  auch  durch  andere  Sakramente,  sofern  dieselben  nicht 
nur  restitutiven  Charakter  haben,  gewirkt  werden.  Man  hat 
sich  diese  Steigerung  aber  in  quantitativer  Weise,  wie  wir 
sahen,  vorzustellen. 

10.  Halten  wir  hier  einen  Augenblick  Rast.  Die  Frage, 
von  der  wir  ausgingen,  war  die:  bedarf  es  eines  eingegossenen 
Habitus  zum  verdienstlichen  Handeln  (S.  307)?  Der  Habitus 
wirkt  stärkend  und  anregend  auf  das  Willens  vermögen,  in  Be- 
zug auf  bestimmte  Handlungen,  so  sahen  wir  früher  (S.  306). 
Aber  die  Beobachtung  der  sittlichen  Handlungen  des  Christen 


Beurteilung  der  scotistischen  Gnadenlehre.  317 

nötigt  nicht  dazu,  eine  solche  übernatürliche  Zuständlich- 
keit  im  Menschen  anzusetzen ;  diese  Handlungen  können  vom 
freien  Willen  produziert  werden,  oder  jene  Zuständlichkeit  kann 
eine,  durch  die  Gewohnheit  des  Handehi  erworbene  sein,  und 
braucht  nicht  eine  von  Gott  schöpferisch  neu  mitgeteilte  zu 
sein.  Die  Bejahung  der  Frage  ergab  sich  nicht  von  diesem, 
sondern  von  einem  ganz  'anderen  Gesichtspunkt  her.  Vor  Gott 
verdienstlich  sind  diejenigen  Handlungen,  und  gerecht  sind  die- 
jenigen Menschen,  die  Gott  als  solche  acceptiert.  Das  eine 
wie  das  andere  erfordert  einen  eingegossenen  übernatürlichen 
Habitus,  der  den  Handlungen  des  Menschen  eine  besondere 
Richtung  gibt.  Wie  also  die  Hauptursache  einer  Handlung 
an  und  für  sich  immer  das  Willensvermögen  ist,  so  ist  die 
Hauptursache  der  Verdienstlichkeit  derselben  der  Habitus.  So 
verhält  es  sich  aber,  weil  der  Habitus  in  einer  unmittelbareren 
Beziehung  zum  Ziel  des  ethischen  Handelns  steht  als  das 
Willens  vermögen . 

So  scheint  es  dem  scharfsinnigen  Mann  abermals  gelungen 
zu  sein^  ein  Stück  der  überkommenen  Kirchenlehre  zu  retten 
vor  dem  kritischen  Heisshunger  seines  Verstandes.  Aber  ist 
es  ihm  wirklich  gelungen  ?  Die  christliche  Sittlichkeit  kann 
auch  ohne  die  Annahme  dieses  eingegossenen  Habitus  erklärt 
werden,  und  Gott  erklärt  als  verdienstlich  die  Handlungen,  die 
er  als  solche  gelten  lassen  will:  wozu  ist  dann  dieser  Habitus 
innerlich  notwendig?  Man  kann  das  christliche  Leben  auch 
ohne  ihn  begreifen.  Aber  wenn  wir  die  Wahrheit  des  zuletzt 
ausgesprochenen  Gedankens  von  Duns  zugestehen,  dass  in  der 
Gesamtrichtung  der  Liebe  die  Beziehung  auf  das  Ziel  des 
ethischen  Handelns  schärfer  und  deutlicher  hervortritt  als  in 
der  einzelnen  Handlung :  ist  dann  diese  Richtung  nicht  nur  wirk- 
lich in  den  Handlungen  selbst,  realisiert  sie  sich  nicht  so  in 
ihnen,  dass  sie  selbst  wieder  von  dem  Objekt  angeregt  werden 
und  sich  auf  dasselbe  wenden?  Weshalb  soll  dann  die  Rich- 
tung oder  der  Habitus  in  einer  direkteren  Beziehung  zum  Ziel 
stehen  als  die  Handlungen,  weshalb  soll  der  Habitus  von  Gott 
erschaffen  sein,  nicht  aber  die  Handlungen?  Wollte  man  übrigens 
auch  darin  einen  Mangel  erblicken,  dass  nicht  nur  der  Sünder, 
sondern   auch   der   Sündlose  dieser   Art   Gnade   bedürftig   sei. 


318  Kap,  JII:  Die  Person  Christi  und  die  Erlösung. 

SO  wäre  hiermit  doch  nur  eine  dem  katholischen  System  überhaupt 
anhaftende  Eigentümlichkeit  bezeichnet,  da  bekanntlich  schon 
zur  iustitia  originalis  die  gratia  gratum  faciens  hinzutreten 
musste. 

Doch  ich  breche  mit  der  Kritik  ab.  So  viel  wird  klar 
sein,  dass  Duns  nur  in  sehr  modifizierter  Form  die  katholische 
Gnadenlehre  beibehält.  Was  er  denkt,  scheint  sich  in  die  Sätze 
zusammenzufassen,  dass  der  Wert  des  sittlichen  Handelns  vor 
Gott  abhängt  von  der  Richtung  dieses  Handelns  auf  Gott,  dass 
die  Beziehung  des  Herzens  auf  seinen  höchsten  Zweck,  den 
einzelnen  Handlungen  ihren  sittlichen  Charakter  verleiht,  und 
dass  diese  Gesamtrichtung  des  Menschen  eine  Gabe  Gottes  ist. 
Es  ist  eine  schöpferische  That  Gottes,  welche  diese  Liebes- 
richtung auf  den  letzten  Zweck  im  Menschen  setzt,  oder  in  ihm 
die  Liebe  oder  die  gratia  creata,  den  habitus  supernaturalis 
erzeugt.  Duns  hat  gewiss  Recht  mit  seiner  ethischen  Beobach- 
tung, sie  bringt  einen  wertvollen  sittlichen  Gedanken  zur  Geltung, 
dass  die  Richtung  der  praktischen  Vernunft  auf  Gott  (Gesinnung) 
den  Charakter  und  Wert  des  Handelns  des  Menschen  bestimmt 
(s.  die  Ethik  des  Duns);  nur  das  muss  bezweifelt  werden,  dass 
der  katholische  Gedanke  von  der  gratia  infusa  durch  diese 
Idee  richtig  wiedergegeben  ist.  Man  wird  schwerlich  behaupten 
können,  dass  Duns  auf  einem  anderen  Wege  zur  Vertretung 
dieser  Formel  gelaugt  ist,  als  auf  dem  Wege  der  pflichtmässigen 
äusseren  Zustimmung  zu  der  überkommenen  Kircheulehre. 
Sind  wir  mit  unserer  Darstellung  im  Recht,  so  erhellt,  dass 
das  Urteil  von  Ritschi,  dass  die  Gnade  den  Stoff,  der  freie 
Wille  die  Form  des  Verdienstes  darbiete ,  ^)  in  seiner  An- 
wendung gerade  auf  Duns  verkehrt  ist.  Obwohl  Ritschis 
Formel  an  sich  die  katholische  Lehre  treffend  wiedergibt,  ist 
doch  für  Duns  ungefähr  das  Umgekehrte  richtig:  Die  „Sub- 
stanz der  Handlung''  (S.  312),  also  der  Stoff  derselben,  ist  pri- 
mär Sache  des  freien  Willens ,  die  besondere  Form  des  Ver- 
dienstes empfängt  jene  Handlung  durch  den  Habitus  der  ein- 
gegossenen Gnade  oder  der  Liebe. 

Das   spricht  Duns   im  weiteren  Verlauf  seiner  Erörterung 


^)  Rechtfertigung  und  Versöhnung  I  S.  101. 


Resultate  der  Gnadenlehre.  319 

selbst  aus,  nicht  ohne  eine  unserer  obigen  Einwendungen  zu 
bestätigen.  Er  sagt,  dass  Gott  nach  der  potentia  absoluta  sehr 
wohl  die  Natur  des  Menschen,  wie  die  sittlichen  Akte  desselben, 
abgesehen  von  der  Gnade,  hätte  als  verdienstlich  acceptieren 
können.  Sed  non  creditur  ita  disposuisse,  weil  sich  das  dem 
error  Pelagii  nähern  würde!  Ideo  verisimilius  creditur,  quod 
acceptat  naturam  et  actum  eins  tanquam  meritorium  per  habi- 
tum  super  naturalem  (1.  c.  §  29).  So  wenig  also  unter  dem 
Gesichtspunkt  der  potentia  absoluta  die  Notwendigkeit  der 
Gnade  sich  erweisen  lässt  —  konnte  Gott  doch  auch  den 
Menschen  an  sich,  ohne  jedes  voraufgehende  Verdienst,  selig 
machen  — ,  so  sehr  erfordert  die  empirische  Betrachtung  vom 
Standpunkt  der  potentia  ordinata  her  die  Annahme  der  Gnade : 
quam  ordinationem  colligimus  ex  scriptura  et  ex  dictis  sanc- 
torum,  ubi  habemus,  quod  peccator  est  indignus  vita  aeterna 
et  iustus  dignus  (ib.).  Das  Resultat  lässt  sich  also  kurz  so 
zusammenfassen :  quod  iste  habitus  simpliciter  dat  acceptabiliter 
operari  et  etiam  dat  ahquam  activitatem  respectu  actus  sicut 
aliqua  causa  secunda  respectu  eins ,  sed  non  dat  delectabiliter 
neque  faciliter,  quae  conveniunt  habitui  acquisito  inquantum 
distinguitur  ab  infuso  per  hoc  quod  acquiritur  ex  frequenter 
agere  (1.  c.  §  33).  Es  ist  nicht  eigentlich  der  verdienstliche 
Akt,  der  von  Gott  geschaffen  wird,  denn  der  Akt  wird  vom 
Willen  durchgeführt,  tamen  potest  dici  supernaturalis  ratione 
formae  sive  habitus  concurrentis  ad  eius  productionem,  licet 
non  immediate  creetur  (§  34).  Hier  wird  es  auch  dem  Wort- 
laut nach  deutlich,  dass  wir  mit  der  oben  gegen  Ritschl  gerich- 
teten Bemerkung  im  Eecht  bleiben. 

11.  Das  ist  die  Gnadenlehre  des  Duns.  Die  Auflösung  der 
wider  den  Habitus  vorgebrachten  Gründe  (S.  305.  307)  ergibt  sich 
nun  von  selbst,  zumal  das  faciliter  und  delectabiliter  Handeln  auf 
den  habitus  acquisitus  soll  zurückgeführt  werden.  Die  Lehre 
ist  leicht  zu  verteidigen,  nachdem  sie  ihres  spezifischen  Cha- 
rakters entkleidet  worden  ist  (§  34  ff.).  —  Ist  aber  unser  Autor 
eigentlich  Pelagianer  oder  Augustinianer  ?  Er  hat  sich  mit  Ab- 
scheu gegen  ersteres  verwahrt  und  mit  Befriedigung  letzteres 
konstatiert.  Aber  hätte  er  so  geurteilt,  wenn  der  Pelagianis- 
mus   nicht   offiziell   der   „error  Pelagii'*   gewesen  wäre?     Man 


320  Kap.  III :  Die  Person  Christi  und  die  Erlosunj?. 

konüte  sich  darauf  berufen ,  dass  Duns  selbst  die  Möglichkeit 
des  Pehigianismus  ziemlich  unverblümt  zugestanden  hat.  Aber 
derselbe  Duns  hat  andererseits  sich  die  augustinische  Prä- 
destiuatioDslehre  bis  zu  einem  gewissen  Grade  aneignen  können. 
Er  hat  den  durchaus  unpelagianischen  Gedanken  von  einer 
sittlichen  Gesamtrichtung  im  Christen,  die  den  einzelnen  Hand- 
lungen vorangeht,  mit  Ernst  angewandt.  Soll  man  dies  Zu- 
sammensein disparater  Elemente  aus  dem  Gottesbegriff  und  der 
potentia  absoluta  erklären  ?  Alles  was  ist,  ist  Setzung  des  gött- 
lichen Willens,  alles  Geschehen  ist  nur  eine  Auswirkung  dieser 
ersten  Ursache.  An  sich  kann  dieselbe  in  unendlich  verschie- 
dener Weise  wirksam  werden,  warum  nicht  auch  so,  dass  sie 
die  pelagianische  Heilslehre  ermöglicht?  Aber  es  wäre  nicht 
nur  unbillig,  sondern  auch  ein  methodischer  Fehler,  wollte  man 
aus  der  Hypothese  der  potentia  absoluta  —  sie  soll  nur  die 
Schrankenlosigkeit  der  göttlichen  Allmacht  veranschaulichen  — 
die  Lehre  des  Duns  konstruieren.  Gottes  Ordnung,  die  „Wahr- 
heit^' lässt  sich  nur  auf  dem  realen  Boden  der  potentia  ordi- 
nata  erkennen.  Der  göttliche  Wille  hat  eben  nicht  den  pela- 
gianischen  Weg  gewählt,  wie  die  kirchliche  Praxis  zeigt.  Damit 
ist  zu  rechnen.  Die  pelagianische  Theorie,  die  in  abstracto 
möglich  wäre,  ist  von  Gott  nicht  gewollt,  sonst  hätte  sie  die 
Kirche  nicht  verdammt!  Der  pelagianisierende  Zug,  der  die 
Sündenlehre  des  Duns  Scotus  kennzeichnet,  tritt  bei  seiner 
Gnadenlehre  ganz  zurück.  So  ist  Duns  Augustinianer?  Auch 
dieses  Urteil  trifft  nicht  zum  Ziel.  Zwar  spricht  er  von  einer 
Prädestination,  aber  sein  Gnadenbegriff  ist  ein  anderer.  Man 
möchte  sagen,  Duns  hat  den  substanziellen  Gnadenbegriff, 
wie  er  seit  Augustin  bräuchlich  wurde,  vergeistigt  und  ver- 
flüchtigt, „sublimiert^'  (mit  Goethe  zu  sprechen),  soweit  das 
möglich  war,  ohne  den  ganzen  Begriff  aufzugeben.  Nicht  wirk- 
liche neue  Kräfte,  einen  neuen  Lebensstoff  bedeutet  die  „er- 
schaffene Gnade,''  wie  etwa  Thomas  lehrt.  Sie  wird  allerdings 
dem  Menschen  einerschaffen,  aber  sie  ist  schliesslich  nur  eine 
habituelle  Richtung  der  Seele  auf  Gott,  welche  vor  und  über 
den  einzelnen  ethischen  Handlungen  im  Menschen  vorhanden 
ist  und  einerseits  den  Willen  zur  Ausführung  solcher  Hand- 
lungen anregt  und  unterstützt,  andererseits  das  Prinzip  ist,   au 


Die  Rechtfertigung,  321 

welchem  Gottes  Urteil  über  jene  Handlungen  sich  orientiert. 
Wie  spiritualisiert  ist  hier  der  Stoff  oder  die  Kraft  zum  Guten, 
als  die  mau  sonst  die  Gnade  bezeichnete!  Der  übernatürliche 
Habitus  wird  auf  dem  Wege  der  Psychologie  gefunden,  yom 
Dogma  ist  eigentlich  nur  eins  übrig  geblieben,  dass  dieser  Habi- 
tus oder  die  neue  Richtung  „geschaffen'*  wird  im  Menschen. 
Und  das  ist  ein  Wort! 

Hat  Duns  das  „Richtige^'  getroffen?  Die  protestantischen 
Darsteller  pflegen  durchweg  nur  herben  Tadel  zu  haben  für 
seine  Betonung  des  freien  Willens  und  seine  Verflüchtigung 
der  Einwirkung  der  Gnade.  Daran  ist  richtig,  dass  Duns  ge- 
wiss weniger  als  andere  mittelalterliche  Autoren  das  Bedürfnis 
empfand,  den  Begriff  der  eingegossenen  Gnade  in  seinen  Ge- 
dankenbau einzuführen.  Aber  hat  gerade  der  protestantische 
Dogmatiker  das  Recht,  ihn  um  deswillen  zu  schelten?  Wenn 
er  selbst  von  einer  von  Gott  gewirkten  ethischen  Habitualität, 
die  den  einzelnen  guten  Werken  des  Christen  vorangeht,  redet, 
sagt  er  damit  etwas  wesentlich  anderes  als  Duns?  Es  ist 
nicht  billig  zu  vergessen,  dass  Duns  dem,  dem  Denken  und  Empfin- 
den des  Evangeliums  durchaus  entgegengesetzten,  Begriff  der 
eingegosseneu  Gnade  eine  Korrektur  hat  angedeihen  lassen, 
welche  soweit  ging,  dass  dieser  Begriff  eigentlich  nur  dem  Wort- 
laut nach  aufrecht  erhalten  wurde.  Er  hat  dadurch,  wenn  ich 
recht  sehe,  die  Eliminierung  desselben  angebahnt.  Es  waren 
jene  augustinisch  gesinnten  Männer  vom  Schlage  Bradwardinas, 
welche  dem  16.  Jahrhundert  das  lebendige  Gefühl  des  sola 
gratia  übermachten,  aber  es  waren  Nachwirkungen  des  Geistes 
des  Duns  Scotus  mit  im  Spiel,  wenn  einem  neuen  Geschlechte 
die  alte  Form  der  Gnadenlehre  in  den  Händen  zerbrach  und 
die  neubelebte  Gnadenerfahrung  sich  auch  einen  neuen  Gnaden- 
begriff schuf. 

3.    Die  Rechtfertigung. 

1.  Nachdem  wir  uns  jetzt  über  den  Gnadengedanken  des 
Duns  belehrt  haben,  vermögen  wir  endlich  seinen  Begriff  von 
der  Rechtfertigung  festzustellen.  Schon  in  der  17.  Distinktion 
des  ersten  Buches  sind  einige  Bemerkungen  über  dieses  Thema 
gefallen.     So  lesen  wir  quaest.  3,  26 :  in  ratione  meriti  de  con- 

Seeberg,  Die  Theologie  des  Duns  Scotus.  21 


322  Kap.  III :  Die  Person  Christi  und  die  Erlösung. 

gruo,  quomodo  attritus  moretur  iustificari,  und  ebenso  §  19: 
quod  prius  natura  deus  remittit  offensam  quam  det  ei  gratiam  — 
und  dazu :  dass  die  Würdigkeit  zum  ewigen  Leben  dem  lustifi- 
catus  zukommt,  non  autem  ex  sola  remissione  offen sae,  quod 
secundum  se  est  minus  quam  iustum  esse.  Hier  nun  verweist 
Duns  selbst  auf  die  Erörterung  dieser  Frage  in  der  16.  Distink- 
tion  des  4.  Buches  —  der  Darstellung  des  Busssakramentes. 
Das  ist  der  solenne  Platz  der  Rechtfertigungslehre. 

Was  nun  den,  durch  das  erste  obige  Citat  angeregten,  Ge- 
danken anlangt,  so  ist  es  freilich  Anschauung  des  Duns,  dass 
nach  Begehung  einer  Todsünde  der  Mensch  durch  die  Erwä- 
gung derselben  als  einer  Beleidigung  gegen  Gott  vor  der  Ein- 
giessung  der  Gnade  zu  einer  gewissen  Reue  über  dieselbe 
kommen  kann.  Iste  autem  motus  dicitur  attritio  et  est  dis- 
positio  sive  meritum  de  congruo  ad  deletionem  peccati 
mortalis  quae  sequitur  in  ultimo  instanti  alicuius  temporis, 
in  quo  tempore  ista  attritio  duravit  (IV  dist.  14  quaest.  2,  14). 
Die  bekannte  durch  die  Erwägung  der  Sünde  und  ihrer 
Strafbarkeit  erzeugte  ,, Halbreue''  oder  ,, Galgenreue,"  wie  z.  B. 
Johann  v.  Paltz  und  Luther  sie  nannten,  ist  also  ein  meritum 
de  congruo  ad  iustificationem,  ihr  folgt  die  Eingiessung  der 
Gnade  und  dadurch  die  Zerstörung  der  Sünde.  Deus  dis- 
ponit  per  attritionem  in  aliquo  tempore  tanquam  per  aliquod 
meritum  de  congruo  in  aliquo  instanti  dare  gratiam  et  pro  illa 
attritione  ut  pro  merito  iustificat,  sicut  est  meritum  iustifica- 
tionis  (1.  c.  §  15  vgl.  dist.  19  quaest.  unic.  §  32:  adulti  per 
attritionem  tanquam  per  meritum  de  congruo  iustificantur  etc.). 

Das  ist  der  Anfang  der  Rechtfertigung  des  Sünders.  Es 
ist  also  Gottes  Ordnung,  dass  dieselbe  Reue,  zu  welcher  der 
Sünder  von  sich  aus  zu  kommen  vermag,  anerkannt  wird  von 
Gott  als  ein  gewisses  Verdienst,  um  welches  willen  Gott  dann 
dem  Sünder  die  Gnade  verleiht  und  dadurch  die  Sünde  in  ihm 
vernichtet.  Auch  ist  es  ferner  selbstverständlich  nicht  der 
innere  Wert  des  Verdienstes,  w^elcher  die  Begnadigung  erwirkt, 
sondern  es  ist  wieder  die  willkürliche  Anordnung  Gottes,  welche 
dieses  Handeln  als  meritum  de  congruo  gelten  lässt,  wie  sie 
das  Handeln  nach  Empfang  der  Gnade  als  meritum  de  condigno 
beurteilt. 


Sündenvergebung  und  Gnadeneingiessung  nicht  identisch.        323 

2.  Worin  besteht  die  RechtfertigiiDg?  Nach  Thomas  von 
Aquino  ist  dieser  Begriff  bekanntlich  so  angeordnet,  dass  auf 
die  vollzogene  Gnadeneingiessung  die  Anerkennung  der  dadurch 
erfolgten  Zerstörung  der  Sünde  durch  die  Sündenvergebung 
folgt  (Thomas  Summa  II,  I  quaest.  113.  art.  6  cf.  Bonaventura 
Breviloq.  5,  3  etc.).  Duns  geht  auch  hier  einen  andern  Weg. 
Zunächst  stellt  er  fest,  dass  die  Gnadeneingiessung  und  die 
Sündenvergebung  nicht  einfach  schlechthin  eine  Veränderung 
im  Menschen  sind  (IV  dist.  16  quaest.  2,  4).  Hierfür  führt 
er  vier  Gründe  an:  1)  dasselbe  Ding  kann  nicht  zu  gleicher 
Zeit  in  der  Einzahl  und  in  der  Mehrzahl  existieren.  Nun 
giebt  es  im  gegebenen  Fall  nur  eine  Gnadeneingiessung,  der 
aber  die  vielen  Vergebungen  der  einzelnen  Sünden  des  Menschen 
gegenüber  stehen,  also  besteht  eine  begriffliche  Differenz  zwischen 
den  beiden  Grössen.  2)  Wären  die  beiden  Dinge  identisch,  so 
könnten  sie  schlechterdings  nicht  von  einander  getrennt  werden. 
Nun  hat  aber  Got  den  nicht  gefallenen  Engeln  die  Gnade  ohne 
Sündenvergebung  eingegossen,  und  er  hätte  nach  seiner  potentia 
absoluta  den  Menschen  in  puris  naturalibus  erschaffen  können, 
sine  culpa  et  sine  gratia  und  demgemäss  nach  dem  Fall  ihn 
bloss  durch  Sündenvergebung,  ohne  Eingiessung  von  Gnade, 
Aviederherstellen  können  (1.  c.  §  4).  3)  Schuld  und  Gnade 
sind  nicht  formale  Gegensätze.  Das  Agens  nämlich,  welches 
effektiv  oder  defektiv  Gewalt  hat  über  das  Sein  des  einen 
solcher  Gegensätze,  hat  auch  effektiv  oder  defektiv  Gewalt  über 
das  Nichtsein  des  andern.  Nun  hat  der  Wille  Gewalt  über  die 
Schuld,  denn  aus  ihm  rührt  die  Schuld  her,  nicht  aber  vermag 
er  die  Gnade  zu  annihilieren,  denn  keine  Kreatur  kann  etwas 
zu  nichts  machen.  4)  Eine  Veränderung  zum  Ziel  einer  posi- 
tiven Form  geschieht  nur  von  der  Negation  dieser  als  Aus- 
gangspunkt her;  die  Schuld  ist  aber  nicht  eigentlich  die 
Negation  der  Gnade.  —  Sonach  sind  die  Sündenvergebung 
und  die  Gnadeneingiessung  nicht  formal  identisch. 

Auf  diesen  ersten  Satz  folgt  die  Behauptung,  dass  die 
Gnadeneingiessung  und  die  Sündenvergebung  nicht  zwei  reale 
Änderungen  sind.  Die  Gnadeneingiessung  ist  eine  reale  Änderung 
(mutatio  realis),  denn  sie  tritt  zwischen  das  Nichtvorhandensein 
einer   wirklichen   Form  und   das  Vorhandensein   dieser  Form; 

21* 


324  Kap.  III:  Die  Person  Christi  und  die  Erlösung, 

das  heisst  also,  da,  bevor  Gnade  eingegoasen  wird,  im  Menschen 
keine  Gnade  war,  so  ist  jene  Eingiessung  eine  wirksame 
Änderung  des  Menschen.  Dagegen  ist  die  Sündenvergebung 
keine  reale  Änderung.  Das  ist  zu  beweisen.  Da  nämlich  das 
peccatum  actuale  nicht  eine  Korruption  oder  eine  formale 
Vernichtung  der  menschlichen  Natur  oder  eines  Teiles  der- 
selben sein  kann  (s.  S.  223),  so  ist  klar,  dass  die  Vertreibung 
der  Schuld  (expulsio  culpae)  nicht  eine  reale  Veränderung 
im  menschlichen  Wesen  hervorruft  (ib.  §  6).  Die  sündige 
That  hinterlässt  im  Menschen  nicht  iniustitia  actualis,  sondern 
nur  die  iniustitia  habitualis,  quae  est  carentia  gratiae  (s.  S.  222). 
Ist  also  die  Sündenthat  vorübergegangen,  so  bleibt  im  Menschen 
nicht  eigentlich  die  Sünde,  sondern  die  Verhaftung  unter  eine 
der  durch  dieselbe  begangenen  Verschuldung  entsprechende 
Strafe  (ib.  §  7).  Hieraus  ergiebt  sich  aber,  dass  die  Schuld 
nicht  eine  reale  Grösse,  sondern  eine  ideelle  Beziehung  ist. 
Wird  nun  durch  die  Sündenvergebung  jene  Verhaftung  unter 
die  Strafe  in  ein  Nichtverhaftetseiu  verwandelt,  so  ist  jetzt 
klar,  dass  auch  diese  keine  mutatio  realis  ist. 

Nun  ist  freilich  zuzugestehen,  dass  ein  transitus  sich  am- 
Menschen  durch  die  Sündenvergebung  vollzieht,  da  der,  welcher 
eben  strafwürdig  und  zur  Strafe  bestimmt  war,  jetzt  der  Strafe 
nicht  mehr  würdig  und  nicht  zu  ihr  bestimmt  ist.  Aber  es 
ist  nicht  richtig,  wenn  man  auch  im  göttlichen  Geist  einen  dem 
entsprechenden  Transitus  von  einem  „illum  esse  puniendum" 
zu  einem  „illum  non  esse  puniendum"  annimmt.  Vielmehr  ist 
im  göttlichen  Geist  der  Wille  des  einen  wie  des  anderen  ein 
bedingter.  Gott  will,  dass  der  non  puniendus  unter  bestimmten 
Bedingungen  ein  puniendus  wird,  und  er  will,  dass  der  puniendus 
unter  bestimmten  Bedingungen  ein  non  puniendus  wird.  Indem 
dieses  doppelte,  auf  das  Objekt  gerichtete  Wollen  ein  bedingtes 
ist,  ist  es  in  Gott  in  Ewigkeit  bei  einander  und  in  einander, 
wiewohl  an  dem  Objekt  sich  in  zeitlicher  Folge  bald  das  eine 
und  bald  das  andere  auswirkt.  Gott  will  also  nie,  dass  einer 
gestraft  werde,  ohne  zugleich  zu  wollen,  dass  er  unter  be- 
stimmten Bedingungen  nicht  mehr  gestraft  werde,  und  er  will 
nie,  dass  er  nicht  gestraft  werde,  ohne  zugleich  zu  wollen,  dass 
er    unter    bestimmten   Bedingungen   gestraft    werde.     In    Gott 


Die  Sündenvergebung  keine  mutatio  realis.  325 

findet  also  freilich  kein  Übergang  aus  einem  Gegensatz  in  den 
andern  statt,  wenngleich  der  Mensch  bald  das  eine,  bald  das 
andere  Wollen  als  auf  sich  gerichtet  empfindet.  Hie  ergo 
non  est  transitus  aliquis  ab  uno  opposito  in  aliud  oppositum, 
sed  hie  est  circa  idem  obiectum  velle  condicionatum  affirma- 
tionis  pro  uno  instanti  et  velle  condicionatum  negationis  pro 
alio  instanti;  et  ista  duo  velle  in  aeternitate  simul  stant  et 
circa  obiectum  in  aeternitate  volitum,  licet  non  pro  aeternitate, 
sed  pro  alio  et  alio  nunc  (1.  c.  §  12).  Wäre  das  eine  oder 
andere  Wollen  in  Gott  nicht  ein  bedingtes^  so  würde  er  doch 
den  puniendus  sofort  strafen,  was  aber  nicht  der  Fall  ist  (§  13). 

Somit  findet  bei  der  Sündenvergebung  an  und  für  sich 
keine  reale  Änderung  statt,  weder  in  Gott,  noch  auch  an  dem 
Sünder.  Wohl  aber  ist  zu  sagen,  dass  die  Sündenvergebung 
begleitet  wird,  vermöge  der  göttlichen  potentia  ordinata,  von 
einer  realen  Veränderung,  indem  Gott  freilich  nicht  Sünden 
vergibt,  ohne  zugleich  die  Gnade  mitzuteilen,  wiewohl  vom 
Standpunkt  der  potentia  absoluta  aus  angesehen,  das  erste  sehr 
wohl  ohne  das  zweite  stattfinden  könnte  (§  15).  Demnach 
ergibt  sich  als  zweiter  Satz,  dass  die  Gnadeneingiessung  eine 
reale  Veränderung  des  Menschen  bewirkt,  während  die  Sünden- 
vergebung nur  einen  Übergang  aus  einem  ideellen  Zustand  in 
den  andern  bedeutet.  Nicht  eine  reale,  sondern  eine  ideelle 
Veränderung  bewirkt  sie  im  Menschen,  es  ist  ein  mutari 
mutatione  rationis  ab  obligatione  (zur  Strafe)  ad  non  obliga- 
tionem  (1.  c.  §  18). 

Ja,  nicht  einmal  das  darf  man  sagen,  dass  die  Sünden- 
vergebung eine  dispositio  realis  auf  die  Gnade  und  ihren 
Empfang  herstelle.  Die  remissio  ist  carentia  obligationis  ad 
poenam  .  .  .:  Si  ergo  accipias,  quod  remissio  mutatio  est, 
dispositio  ad  illam  mutationem  quae  est  Infusio  gratiae,  nego, 
quia  remissio  non  est  aliqua  mutatio  neque  activa  neque  passiva, 
nee  rei  nee  rationis  (§  17).  Letzteres  scheint  allerdings  der 
bald  darauf  folgenden  von  uns  zu  Ende  des  vorigen  Absatzes 
mitgeteilten  Stelle  zu  widersprechen,  wo  eine  mutatio  rationis 
zugestanden  war.  Aber  der  Unterschied  scheint  der  zu  sein, 
dass  §  17  eine  Veränderung  in  Gott  oder  in  dem  Objekt  als 
Objekt  abgewiesen  wird,    während  §  18  an  eine   den  zeitlichen 


326  Kap.  ITl:  Die  Person  Christi  und  die  Erlösung. 

libergang  von  dem  Moment  der  Verschuldung  zu  dem  des 
Nichtmehrverscliuldetseins  konkomiticrende  Änderung  denkt. 

3.  Nachdem  so  die  Differenz  der  beiden  in  Frage  stehenden 
Begriffe  genügend  klargestellt  ist,  erhebt  sich  zum  Schluss 
die  Frage,  welchem  von  beiden  die  Priorität  gebührt  ? 

Zunächst  stellt  Duns  nach  Aristoteles  fest,  dass  der  Be- 
griff der  Priorität  einen  doppelten  Sinn  haben  kann:  aliqua 
sunt  priora  generatione,  aliqua  perfectione.  Und  zwar  stehen 
diese  beiden  Prioritäten  in  der  Regel  im  umgekehrten  Ver- 
hältnis zu  einander,  sodass  bei  dem  Generationsverhältnis  das 
Unvollkommenere  zuerst  ist,  während  bei  dem  Perfektionsver- 
hältnis zuerst  das  Vollkommenere  ist.  Wäre  nun  die  expulsio 
culpae  ein  Seiendes,  wie  auch  die  Gnade neingiessung,  so  käme 
nach  dem  Generationsverhältnis  der  expulsio  culpae  die  Priorität 
zu.  Umgekehrt  wäre  auf  dem  Wege  der  Vollkommenheit  der 
Gnadeneingiessung  die  Priorität  zuzusprechen.  Auch  im  Ver- 
hältnis der  Folge  kann  das  Unvollkommenere  früher,  als  das 
Vollkommene  sein,  im  allgemeinen  aber  wird  das  Folgende 
unvollkommener  sein  als  das  Vorangehende.  Also  würde,  auch 
unter  diesem  Gesichtspunkt  betrachtet,  die  Gnadeneingiessung 
vor  der  Schuld  Vertreibung  die  Priorität  haben ;  die  andere 
Möglichkeit  im  Konsequenzverhältnis  würde  deshalb  nicht  gelten, 
weil  die  beiden  Begriffe  nicht  einander  ausschliessende  Gegen- 
sätze bezeichnen ,  also  braucht  auch  nicht  einer  den  andern 
abzulösen  (§  18).  Die  Priorität  scheint  also  der  Gnadenein- 
giessung zuzukommen.  Aber  es  kann  nun  doch  bezweifelt 
werden,  dass  darum  die  Vergebung  der  Eingiessung  folge,  und 
zwar  weil  —  wie  wir  gesehen  haben  —  beide  Begriffe  nicht 
formale  Gegensätze  darstellen.  Nun  kann  man  versuchen, 
diesen  Gegensatz  so  zu  erreichen,  dass  man  die  Gnade  als 
Gottes  Freund  sein,  die  Schuld  als  Gottes  Feind  sein  be- 
stimmt. Dann  würden  die  beiden  Begriffe  Gegensätze  bilden 
als  Aufhebung  der  Feindschaft  und  Einführung  der  Freund- 
schaft. Aber  dieser  Versuch  führt  nicht  zum  Ziel,  die  Freund- 
schaft durch  Gnade  bedeutet  zum  ewigen  Leben  verordnet 
werden ,  die  Feindschaft  durch  Schuld  zur  entsprechenden 
Strafe  verordnet  werden.  Dieses  beides  schliesst  aber  an  sich 
einander  nicht   aus,    wiewohl  es  zeitlich  nicht   neben  einander 


Ob  Vergebung  vor  der  Eingiessung  ?  327 

bestehen  kann.  Also  ist  der  obige  Gegensatz  logisch  inkorrekt 
gebildet.  Will  man  zwischen  beiden  Begriffen  das  Verhältnis 
der  formalen  Abfolge  herstellen,  so  folgt  eher  aus  dem  inesse 
gratiam  das  nou  inesse  culpam  als  das  umgekehrte  Verhältnis, 
während  aus  dem  Fehlen  der  Schuldverhaftung  in  keiner  Weise 
die  GnadeumJtteilung  folgen  könnte  (19).  Die  Priorität  der 
Konsequenz  steht  also  ebenfalls  der  Eingiessung  zu. 

Wenn  man  aber  weiter  die  Frage  nach  der  Priorität  der 
Kausalität  hinsichtlich  der  beiden  Begriffe  aufwirft,  so  ist  das 
überhaupt  keine  berechtigte  Frage  (non  est  quaestio),  denn 
weder  kann  die  Aufhebung  der  Schuldverhaftung  die  Ursache 
der  Gnade  sein,  noch  kann  das  Umgekehrte  der  Fall  sein. 
Letzteres  nicht,  weil  ja  lediglich  der  göttliche  Wille  die  Schuld- 
verhaftung, wie  die  Aufhebung  derselben  bestimmt,  jene  nach 
seiner  Gerechtigkeit,  diese  nach  seiner  Barmherzigkeit,  also 
die  eingegossene  Gnade  nicht  als  Ursache  erforderlich  ist. 
Ersteres  nicht,  weil  es  deutlich  ist,  dass  die  göttliche  Verfügung 
des  Schulderlasses  keineswegs  die  notwendige  Ursache  der 
Gnadeneingiessung  ist  (§  19). 

Endlich  ist  zu  fragen  nach  der  Abstufung  der  Sünden- 
vergebung und  der  Gnadeneingiessung,  sofern  sie  im  göttlichen 
Willen  enthalten  sind.  Hier  nun  gilt  die  Regel,  dass  im  gött- 
lichen Willen  das  dem  Ziel  Nächststehende  das  Erste  ist 
(vgl.  S.  170  f.).  Nach  diesem  Gesichtspunkt  will  Gott  dem  Sünder 
zunächst  die  Gnade  und  dann  erst  die  Sündenvergebung  geben, 
denn  die  Gnade,  welche  den  Menschen  bei  Gott  annehmbar 
macht,  steht  in  einem  direkteren  Verhältnis  zur  Seligkeit  als 
die  Vergebung.  Allein  für  die  wirkliche  Durchführung  dieser 
Absicht  gilt  natürlich  die  umgekehrte  Folge.  Wie  Gott  näm- 
lich an  und  für  sich  zuerst  für  einen  die  gloria  und  dann  erst 
als  Mittel  zu  jener  das  meritum  will,  so  will  er  an  sich  zu- 
nächst, dass  der  Mensch  begnadigt  werde  und  dann  die  Sünden- 
vergebung; aber  in  der  zeitlichen  wirklichen  Durchführung 
dieser  Absicht,  kehrt  sich  die  Folge  um:  zuerst  werden  die 
Sünden  vergeben,  dann  wird  die  Gnade  eingegossen.  Prius 
enim  vult  propinquius  fini  et  ita  simpliciter  prius  vult  isti  pro 
A,  postquam  seil,  peccavit,  gratiam  quam  non  vindictam 
loquendo  de  prioritate  intentionis.     Sed  exequendo  vult  e  con- 


328  Kap.  III:  Die  Person  ('hristi  und  die  Erlösung. 

verso,  sicut  enim  prius  vult  istum  habere  merita  quam  gloriam, 
ita  vult  prius  ordine  executionis  isti  non  inesse  culpam  quam 
inesse  gratiam  (§  19). 

Man  kann  demnach  sagen,  dass' zwischen  der  Sündenver- 
gebung und  der  Gnadeneingiessung,  bezüglich  der  Vollkommen- 
heit eine  Ordnung  besteht,  sofern  der  göttliche  Wille  sie  je 
nach  der  Unmittelbarkeit  ihrer  Beziehung  zum  letzten  Ziel 
wertet.  So  angesehen  gebührt  also  der  Gnadeneingiessung  vor 
der  Sündenvergebung  die  Priorität.  Dasselbe  ist  wohl  auch 
zu  sagen,  wenn  man  beide  Begriffe  durch  das  Konsequenz- 
verhältnis verknüpfen  will.  Dagegen  ist  unter  den  Gesichts- 
punkten der  Kausalität  und  Generation  überhaupt  kein  Zu- 
sammenhang zwischen  den  beiden  Begriffen  zu  erkennen.  Denkt 
man  sich  aber  die  Verwirklichung  des  Heils  in  der  Seele,  so  wird 
man  annehmen,  dass  Gott  zuerst  dem  Sünder  die  Schuld  vergibt 
und  dann  erst  die  Gnade  eingiesst  (vgl.  eine  andere  Stelle 
oben  S.  322). 

Die  ganze  Erörterung  verläuft  in  dem  grossen  Sentenzen- 
kommentar nicht  sonderlich  zuversichtlich.  Es  ist  fast,  als 
wenn  Duns  noch  schwankt,  ob  er  diese  Oxforder  Lehre  halten 
soll  oder  nicht.  Dagegen  hat  er  in  den  Report.  IV  dist.  16 
quaest.  2,  23  f.  den  Satz  sicherer  vertreten.  Dies  „non  ordinari 
ad  poenam"  sei  secundum  geueratiouem  et  naturam  et  rationem 
früher  als  das  ordinari  ad  gloriam,  das  zum  nächsten  Mittel 
die  Gnadeneingiessung  hat.  Dagegen  kommt  letzterem  die 
Priorität  der  Vollkommenheit  wegen  seiner  Nähe  zum  Zweck  zu. 

4.  Wie  kommt  Duns  zu  dieser  Anordnung:  zuerst  Ver- 
gebung, dann  Eingiessung  ?  Thomas  von  Aquino  und  Bonaven- 
tura hatten  umgekehrt  gelehrt:  Der  Gerechtmachung  des  Sünders 
folgt  die  Anerkennung  seiner  Gerechtigkeit  oder  die  Sünden- 
vergebung.^)    Aber  Duns  wird,  hier  offenbar  nicht  vom  Gegen- 


^)  S.  meine  Dogmengeseh.  II.  103 f.  Es  ist  kein  Widerspruch,  wie 
z.  B.  Ritschl  meint,  wenn  Thomas  die  Vergebung  der  Rechtfertigung 
gleichsetzt  und  dann  doch  die  Infusion  an  die  Spitze  des  Vorganges  stellt, 
denn  dadurch  soll  sie  als  das  Mittel  zur  Herstellung  der  Beschaffenheit,  die 
Vergebung  ermöglicht,  gedacht  werden.  Wenn  aber  Thomas  (Summ.  II,  I 
■qu.  113  art.  1)  die  Vergebung  als  Mittel  zur  Herstellung  der  transmutatio 


Grosseteste  über  Vergebung-  und  Eingiessung.  329 

satz  gegen  Thomas  geleitet.  Er  folgt  vielmehr,  so  viel  ich 
urteilen  kann,  dem  Vorgang  des  Robert  Grosseteste  (s. 
dessen  Abhandlung  do  gratia  et  iustificatione  hominis,  bei 
Brown,  Fasciculus  rerum  fugiendarum  et  expetendarum,  L'on- 
dini  1690,  II,  p.  282).  In  diesem  Traktat  wird  die  Gnade  als 
bona  voluntas  dei  sowie  als  donum,  quod  datnr  a  tali  volun- 
tate  definiert.  Et  tunc  dicitur  gratia  infundi,  cum  voluntas 
divina  in  nostram  voluntatem  incipit  oporari.  Die  Konformität 
unseres  Willens  mit  dem  göttlichen  Willen  ist  die  gratia  data, 
die  uns  Gott  angenehm  macht.  Es  ist  zu  unterscheiden  der 
Wille  Gottes,  sofern  er  gerecht  machen  will,  sofern  er  zu  diesem 
Zweck  die  Sünden  vergibt  und  sofern  er  als  wirksamer  Wille 
unseren  Willen  gerecht  macht.  Dies  dreifache  Wollen  ist  zeit- 
lich zugleich,  aber  logisch  abgestuft,  indem  das  erste  Wollen 
die  Ursache  des  zweiten  und  dritten  ist.  Haec  gratia  simul 
est  tempore  cum  peccatorum  remissione  et  ^)  cum  aversione 
voluntatis  a  malo  et  prius  est  natura  quam  sit  peccatorum 
remissio  utpote  eins  causa;  simul  etiam  tempore  cum  hac  est 
bona  voluntas  dei,  qua  vult  hominem  converti  ad  bonum.  Sed 
haec  voluntas  quae  est  gratia  gratificans  posterior  est  natura 
quam  sit  proximo  dicta  et  quam  sit  peccatorum  remissio :  prior 
causa  est  natura  2)  quam  sit  voluntatis  nostrae  ad  bonum  con- 
versio.  Dazu  kommt  dann  viertens  die  Erhaltung  des  Willens 
im  Guten.  Der  letzte  der  oben  citierten  Sätze  scheint  das 
Kausalverhältnis  nur  zwischen  dem  Gnaden  willen  und  der  ein- 
gegossenen Gnade ,  nicht  aber  zwischen  dieser  und  der  Ver- 
gebung zu  konstatieren.  Dann  besteht  zwischen  diesem  Ge- 
dankengefüge  und  dem  des  Duns  im  allgemeinen  —  aber  nur 
im  allgemeinen  —  eine  Analogie.  Abgesehen  von  unserer 
Frage  ist  noch  von  Interesse,  dass  auch  Grosseteste  die  Gnaden- 
eingiessung  möglichst  psychologisch  als  Anregung  des  Willens 
fasst.     Unter   den  älteren  Scholastikern  findet  man  die  Voran- 


bezeichnet,   so    denkt    er    offenbar    die    Vergebung    zusammen    mit    dem 
gnädigen  Willensentschluss,  der  aller  Gnadenwirkung  vorangeht. 
^)  Bei  Brown  steht  nur  ein  i. 

^)  Dafür  liest  eine  andere  Handschrift :  prior  tamen  est  natura  quod 
sit  vol. 


330  Kap.  111:  Die  Person  Christi  und  die  Erlösung. 

Stellung   der  non-imputatio  vor  die  Eingiessung  z.  B.  noch  bei 
Wilhelm  von  Paris  (de  sacramentis,  Opera  II  fol.  48v). 

Zur  Erläuterung  muss  aber  auch  die  Behandlung  der 
Frage  herangezogen  werden ,  die  ein  Zeit-  und  Schulgenosse 
des  Duns,  Richard  von  Middleton  ,  angestellt  hat.^j  Eichard 
führt  vier  Meinungen  an  (Sent.  IV  dist.  17  principale  4  quaest. 
4  u.  7).  Die  einen  lassen  die  Vergebung  der  Gnadeneingiessung 
als  Wirkung  folgen,  dies  sei  aber  falsch,  da  das  Kausalverhält- 
nis zwischen  den  beiden  Begriffen  nicht  angenommen  werden 
kann^  da  beide  göttliche  Thaten  bezeichnen.  —  Die  zweite 
Gruppe  lässt  die  Vergebung  der  Eingiessung  vorangehen.  Das 
wird  so  begründet:  Gott  will,  dass  wer  seine  Sünde  bereut, 
nicht  mehr  dem  Strafbann  untersteht.  Die  gratuita  voluntas 
dei  vergibt  ihm  —  d.  h.  dem  Sünder  im  Stand  der  attritio, 
denn  die  die  contritio  bewirkende  Gnadeneingiessung  hat  noch 
nicht  stattgefunden  —  die  Sünde,  et  hoc  vocant  gratiam,  per 
quam  remittitur  peccatum.  Das  wäre  also  eine  Anwendung  des 
ersten  Begriffes  von  der  Gnade  als  des  gnädigen  Willens 
Gottes  (oben  S.  300).  Dann  erst  folgt  die  Gnadeneingiessung, 
die  den  Sünder  der  göttlichen  Liebe  würdig  macht.  Aber  auch 
diese  Meinung  —  sie  trifft,  genau  genommen,  weder  mit  Duns 
noch  mit  Grosseteste  zusammen  —  wird  verworfen,  weil  Gnade 
nur  etwas  Positives  und  habituell  in  der  Seele  Bleibendes  ge- 
nannt werden  kann ,  was  nicht  auf  die  Vergebung  passt  und 
maxime  quod  sit  contra  dicta  sanctorum  et  contra  communem 
opinionem  doctorum  in  theologia.^)  —  Wieder  andere  lehren: 
die  infusio  sei  früher  zu  denken  bei  Gott;  bei  dem  Menschen 
aber  die  remissio.  Aber  die  Gnade  ist  überhaupt  nur  zu  denken 
als  etwas  was  als  wirksam  in  die  Seele  aufgenommen  wird.  — 
Die  vierte  Auffassung  leugnet  jede  reale  Priorität  und  nimmt 
nur  eine  logische  an.  Die  Eingiessung  ist  sachlich  identisch 
mit  der  Vergebung,  denn  sie  bezeichnen  nicht  zwei  reale 
Veränderungen ,  denn  da  die  Sünde  keine  positive  Essenz  ist, 
so  kann  sie  nicht  anders  zerstört  werden^  als  durch  die  Restitu- 


1)  Vgl.  oben  S.  16  ff. 

^)  Die  erste  Meinung  ist  die  tliomistische,  aber  wer  hat  die  zweite  ver- 
treten? Es  scheint  doch,  als  wenn  die  Ansicht  des  Grosseteste  gemeint 
ist.     Bei  der  Kürze  seiner  Äusserungen  ist  das  aber  nicht  klar  zu  erweisen. 


Richard  über  Vergebung  und  Eingiessung.  331 

tion  des  Gutes,  dessen  Negation  sie  ist,  also  ist  die  Gnaden- 
eingiessung  zugleich  Sündenvergebung.  Sachlich  kommt  dann 
der  Eingiessung,  wenn  man  die  beiden  Begriffe  unterscheidet^ 
die  Priorität  zu ,  aber  logisch  muss  die  Vergebung  zuerst  ge- 
dacht werden.  Quia  tarnen  infusio  gratiae  giatum  facientis 
est  remissio  peccati,  per  quod  anima  deo  displicebat  et  est 
quaedam  perfectio  animae,  per  quam  deo  placet,  et  prius  per 
rationem  intelligendi  est  animam  deo  displicere  quam  sibi 
(d.  h.  Gott)  placere :  ideo  ipsius  gratiae  infusio  prior  est  secundum 
rationem  intelligendi  sub  ratione  qua  est  peccati  remissio  quam 
sub  ratione  qua  per  eam  anima  pLicet  deo  illa  placentia  qua 
eam  reputat  dignam  vita  aeterna.  Hienach  ist  die  Meinung 
Richards  klar:  die  Gnadenmitteilung  ist  Gnadeneingiessung 
und  damit  und  dadurch  Sündenvergebung.  Da  wir  aber  die 
Aufhebung  des  alten  Verhältnisses  vor  dem  Eintritt  des  neuen 
Zustandes  denken  müssen,  wird  die  ratio  intelligendi  sich  zu- 
erst auf  die  Vergebung  und  dann  erst  auf  die  Eingiessung 
richten.  —  Diese  Erörterung  ist  deshalb  von  Wert,  weil  sie 
uns  den  Stand  der  Frage  in  der  Zeit  erkennen  lehrt  und  zu- 
gleich eine  deutliche  Lösung  derselben  vorbringt. 

Damit  ist  uns  aber  auch  ein  Fingerzeig  zum  Verständnis 
der  Ansicht  des  Duns  geworden.  Wir  müssen  aber  doch  ver- 
suchen, seine  Meinung  aus  dem  Zusammenhang  seiner  eigenen 
Lehre  zu  erklären.  Greifen  wir  zurück  auf  die  scotistische 
Sündenlehre.  Die  Sünde  besteht  in  dem  Fehlen  der  Gott 
schuldigen  Gerechtigkeit.  Diese  ideelle  Verpflichtung  hält 
Gott  aufrecht.  Soll  nun  der  Mensch  zum  Zweck  der  gloria 
aus  diesem  Schuldzustand  befreit  werden,  so  ist  das  diesem 
Zweck  zunächst  stehende  Mittel  die  Zerstörung  jener  carentia. 
Diese  geschieht  durch  die  Eingiessung  der  Gnade  als  Ersatz 
für  die  fehlende  iustitia  origiualis.  Indem  dies  aber  geschieht, 
ist  die  Verpflichtung,  die  ursprüngliche  Gerechtigkeit  zu  haben, 
aufgehoben  bezw.  ersetzt  durch  die  Pflicht  eine  andere  Gabe 
oder  die  neue  Gerechtigkeit  zu  haben.  Das  ist  die  Vergebung 
(s.  Duns  II  dist.  32  quaest.  un.  §  13).  In  dem  Gefüge  von 
Zweck  und  Mittel  vorgestellt,  ist  somit  die  Eingiessung  früher 
als  die  Vergebung,  weil  dem  Zweck  näherstehend.  Stellt  man 
sich    dagegen    die    konkrete  Erreichung    des  Zweckes    vor,    so 


332  Kap.  III:  Die  Person  Christi  und  die  Erlösung. 

wird  zunächst  das  Mittel  der  Vergebung,  dann  erst  das  der 
Eingiessung  in  Pereeption  kommen.  So  begreift  sich  die 
Meinung  des  Duns.  Die  Hauptsache  ist  die  Gnadeneingiessung, 
der  neue  ethische  Habitus.  Wird  aber  dieser  verliehen,  so  ist 
damit  die  Verpflichtung  zu  der  ursprünglichen  Gerechtigkeit 
aufgehoben.  Eine  zeitliche  Folge  soll  ebensowenig  wie  in  der 
thomistischen  Rechtfertigungslehre  für  diese  Vorgänge  ange- 
nommen werden.  Wir  vermögen  es  uns  aber  nur  so  vorzu- 
stellen, dass  zuerst  das  alte  Verhältnis  aufhört  und  dann  erst 
das  neue  eintritt.  Dasselbe  erkannten  wir  als  die  Auffassung 
Eichards.  Nichts  wäre  also  so  verkehrt,  als  wenn  man  aus 
dieser  Ordnung  der  Begriffe  eine  Bevorzugung  der  Sünden- 
vergebung —  etwa  im  Gegensatz  zu  Thomas  —  ableiten  wollte. 
Schön  das  ist  zuviel,  wenn  man  die  Sündenvergebung  hier 
als  „die  indifferente  Voraussetzung  der  effektiven  Begnadigung" 
gewertet  finden  will,  ^)  denn  „Voraussetzung"  ist  sie  —  genau 
geredet  —  garnicht.  Die  sachliche  Differenz  zu  Thomas 
schrumpft  also  an  diesem  Punkt  ganz  ein,  nur  ein  rein  formeller 
Gegensatz  ist  anzunehmen.  -) 


^)  Ritschi,  Rechtfertigung-  und  Versöhnung  I^,  99. 

^)  Trotzdem  hat  auch  diese  Lehrdifferenz  eine  langwährende  und 
nicht  uninteressante  Geschichte  gehabt.  Die  einen  unter  den  Theologen 
der  Folgezeit  folgten  dem  Duns,  wie  Occam  (Sent.  IV  quaest.  8  et  9  L: 
de  facto  tarnen  et  regulariter  prius  est  cxpulsio  culpae  quam  infusio  gratiae) ; 
die  anderen  hielten  sich  an  Thomas,  z.  B.  Johann  t,  Paltz  (Supplementum 
Coelifodinae,  Lips.  1516,  Bogen  R  5^),  und  auch  Gabriel  Biel  schreibt: 
Secundum  potentiam  ordinatam  non  sit  peccati  remissio,  nisi  per  infu-' 
sionem  novae  gratiae ,  per  quam  realiter  mutatur  qui  fuit  peccator  (in 
Sent.  IV.  dist.  14  quaest.  1  art.  1  not.  2;  cf.  not.  4:  sunt  enim  insepara- 
biles.  saltem  remissio  culpae  a  gratia.  Dazu  art.  2  concl.  5  Q:  Stante 
tarnen  ordinatione  divina  sie  infusio  gratiae  est  prior  remissione  culpae, 
quia  remissio  non  fit  sine  infusione  gratiae).  —  Aber  noch  in  den  Debatten 
des  Tridentiner  Konzils  machte  sich  auch  diese  Schuldifferenz  geltend, 
wie  ich  in  meinen  „Beiträgen  zur  Entstehungsgeschichte  der  Lehrdekrete 
des  Konzils  von  Trient"  gezeigt  habe  (Zeitschrift  für  kirchliche  Wissen- 
schaft 1889,  S.  651.  673.  678).  Aber  man  hat  die  scotistische  Formel  in- 
folge der  reformatorischen  Bewegung  mit  einem  neuen  und  reicheren  In- 
halt erfüllt.  An  den  beiden  zuletzt  angegebenen  Stellen  ist  von  der  Recht- 
fertigungsle'nre  des  Seripando,  sowie  des  Pighius  und  Gropper  die  Rede, 
welche  eine  Rechtfertigung  durch  imputatio  der  iustitia  Christi  von  der 
iustificatio  durch  die  iustitia  inhaerens  unterschieden,  wobei  sie  aber  erster e, 


Rückblick  auf  die  ünadenlehre.  333 

5.  Fassen  Avir  die  Giiadeulelire  in  einige  kurze  Sätze  zu- 
sammen. 1)  Gott  erschafft  im  Menschen  einen  übernatürlichen 
Habitus,  welcher  den  freien  Willen  zum  Guten  mitbestimmt, 
und  um  welches  willen  Gott  die  so  entstandene  Handlung,  als 
verdienstlich  acceptiert,  sofern  dieser  Habitus  zu  dem  letzten 
Ziel  des  sittlichen  Handelns  in  direkter  Beziehung  steht. 
2)  Die  Gnade  empfängt  der  Mensch  auf  folgendem  Wege  durch 
die  Sakramente,  zuerst  durch  die  Taufe ;  dann,  indem  er  immer 
wieder  in  Sünde  fällt,  durch  das  Busssakrament.  Durch  dies 
erlangt  er  die  Gerechtigkeit.  Daher  wird  hier  von  der  Recht- 
fertigung geredet:  In  der  attritio  erwirbt  er  sich  ein  meritum 
de  congruo.  Gott  erwidert  dies  Bemühen  durch  die  iustificatio. 
Diese  schliesst  in  sich  die  Gnadeneingiessung  und  die  Sünden- 
vergebung. Erstere  bezeichnet  eine  reale,  letztere  eine  bloss 
ideelle  Veränderung  am  Menschen.  Zwischen  beiden  besteht 
kein  kausaler  Zusammenhang.  Logisch  und  dem  Wert  nach 
geht  für  Gott  die  Gnadeneingiessung  der  Vergebung  voraus, 
für  die  Verwirklichung  müssen  wir  die  umgekehrte  Folge 
denken.  3)  Es  ist  selbstverständlich  und  daher  nicht  weiter 
auszuführen,  dass  der  Justifizierte ,  indem  er  den  Habitus 
empfing,  zu  verdienstlichem  Handeln  und  somit  zur  Glori- 
fizierung befähigt  wird  (s.  sub.  1).  4)  Aber  dieser  Prozess 
wird  nur  von  denen  durchgemacht,  die  Gott  erwählt  hat,  denn 
nur  für  sie  war  die  Gnade  und  Christus  bestimmt,  oder 
auch:  alle  Christen,  die  gerechtfertigt  sind,  waren  von  Gott 
erwählt. 

Sieht  man  von  letzterem  Punkt  hier  ab,  so  sind  besonders 
charakteristisch  an  dieser  Gnadenlehre  1)  die  Forderung  des 
meritum  de  congruo  als  einer  Vorbedingung  für  die  Justifikation. 
Dieser  Punkt  ist  für  die  Auffassung   des  späteren  Mittelalters 

d.  h.  die  Sündenvergebung,  nicht  nur  wie  Duns  äusserlich  voranstellen, 
sondern  auch  stark  betonen  und  praktisch  religiös  verwerten.  Dagegen 
muss  man  der  Versuchung  widerstehen,  auch  die  reformatorische  Recht- 
fertigungslehre wenigstens  äusserlich  sich  dem  scotistischen  Schema  an- 
lehnen zu  lassen,  denn  der  geschichtliche  Ursprung  des  Rechtfertigungs- 
gedankens bei  Luther  widerstrebt  dem  durchaus.  Eher  könnte  man  bei 
Melanchthons  Trennung  von  Rechtfertigung  und  Heiligung  an  unbewusste 
Nachwirkungen  eines  scotistischen  Schemas  denken. 


334  Kap.  III:  Die  Person  Christi  und  die  Erlösung. 

massgebend  geworden.  ^)  2)  Durch  die  klare  Abzweckung  der 
Gnadenmitteilung  auf  verdienstliche  Werke  bringt  Duns  die 
mittelalterliche  Frömmigkeit  trefflich  zum  Ausdruck.  3)  Die 
Trennung  der  Gnadeneingiessung  'von  der  Sündenvergebung 
und  die  sachliche  Überordnung  jener  über  diese,  sowie  die  um- 
gekehrte Folge  in  der  Verwirklichung.  4)  Die  Einordnung  der 
Justifikationslehre  in  das  Busssakrament  entspricht  ebenfalls 
der  praktischen  Frömmigkeit  des  Mittelalters,  denn  im  Zu- 
sammenhang des  Busssakraments  vollzog  sich  die  Eechtfertigung 
des  Sünders  vor  Gott.  Einem  neuen  Verständnis  des  religiösen 
Verhältnisses  der  Seele  zu  Gott  muss  daher  notwendig  eine 
]S^eugestaltung  der  im  Kahmen  des  Busssakraments  zusammen- 
geschlossenen Begriffe  folgen.  -) 

Indem  nun  der  Massstab  der  praktischen  religiösen  Selbst- 
beurteilung nach  Duns  in  den  verdienstlichen  Werken  zu  er- 
bhcken  ist,  ist  natürlich  der  Begriff,  welcher  letztere  ermöglicht, 
als  der  religiöse  Zentralgedanke  zu  beurteilen.  Das  ist  jener 
übernatürliche  Liebeshabitus.  Diese  Gedanken  hat  Duns  in 
straffem  Zusammenhang  entwickelt.  Man  kann  seine  Dar- 
stellung —  abgesehen  von  der  doch  stark  von  des  Gedankens 
Blässe  angekränkelten  Formulierung  des  Habitusbegriffes  — 
geradezu  als  den  klassischen  und  einfachen  Ausdruck  der 
Stimmung  der  offiziellen  Beligiosität  im  ausgehenden  Mittel- 
alter bezeichnen. 

6.  Zum  Schluss  thun  wir  gut,  noch  des  Verhältnisses  dieser 
Gnadenlehre  zur  Lehre  von  dem  Werk  Christi  zu  gedenken. 
Der  Zusammenhang  ist  in  der  Hauptsache  deutlich.  Das  Werk 
Christi    hat    seine  Spitze    darin,    dass   Christus    ein   Verdienst 


1)  Vgl.  z.  B.  Biel  in  Sent.  IV.  dist.  14  quaest.  1  T.  U.  Durandus 
in  Sent.  IV  dist.  17  quaest.  1.  Wäiirend  Duns  selbst  in  der  Taufe  die 
Gnade  allein  wirken  lässt,  hat  ßiel  —  in  der  Konsequenz  der  scotistischen 
Busstheorie  —  auch  für  die  Taufe  ein  meritum  de  congruo  konstruier.t, 
nämlich  das  Verdienst  der  den  Täufling  darbringenden  Personen  (IV  dist.  19 
art.  2  concl.  5).  Somit  ist  Christus  nie  sola  et  totalis  causa  meritoria. 
Duns  nimmt  dagegen  auch  an,  dass  Christus  als  totalis  causa  uns  das 
Paradies  verdiente  (III  dist.  19  quaest.  un.  §  8). 

^)  Vgl.  meinen  Versuch,  die  reformatorischen  Gedanken  Luthers  als 
Ersatz  für  die  Frömmigkeit  des  Busssakramentes  zu  verstehen  (Dogmen- 
gesch.  II). 


Die  Gnadenlehre  und  das  Werk  Christi.  335 

erwarb.  Dieses  Verdienst  nun  lässt  Gott  sich  zum  Anlass 
werden,  die  Menschen  mit  dem  Habitus  zu  verdienstlichem 
Handehi  auszurüsten.  Das  geschieht  aber  durch  die  Einsetzung 
der  Sakramente.  Der  Zusammenhang:  Verdienst  Christi  — 
Sakramentseinsetzung  —  Gnadenhabitus  —  verdienstliche  Werke 
ist  damit  klar  gestellt.  Nun  bietet  aber  das  Werk  Christi 
noch  eine  andere  Seite  dar:  die  heilige  Belehrung  und  An- 
regung. Dass  Duns  in  der  Fortwirkung  dieser  Bethätigung 
Jesu  ebenfalls  Gnadenmauifestation  erblickt  hat,  kann  nicht 
wohl  bezweifelt  werden.  Dann  ist  es  aber  eine  Lücke  in  seiner 
Gnadenlehre,  dass  er  dieselbe  nur  auf  die  Sakramente,  und 
nicht  auch  auf  das  Wort  hin  angelegt  hat.  Das  Verständnis 
vom  Werk  Christi,  das  Duns  hat,  erfordert  vielmehr,  dass  die 
Gnade  und  damit  die  Gnadenwirkungen  durch  die  augustinische 
Formel  verbo  et  sacraraento  ausgedrückt  werden ;  oder  nicht 
nur  eine  Lehre  vom  Sakrament,  sondern  auch  eine  Lehre  vom 
Wort  wäre  zu  entwickeln  gewesen.  Der  Gesichtspunkt  der 
Koordinierung  von  Wort  und  Sakrament  war  Duns  übrigens 
nicht  fremd,  wie  die  Schrift  „de  perfectione  statuum"  zeigt, 
nach  der  Bettelmönche  und  Prälaten  das  Werk  Christi  fort- 
führen, indem  jene  die  Predigt,  diese  die  Sakramente  versehen 
(vgl.  oben  S.  291).  Ebenso  war  es  ihm  ganz  geläufig,  dass 
die  eigentlich  zu  Gott  bekehrende q  Mächte  gewonnen  werden 
durch  audire  missas,  praedicationem,  correctionem,  instructionem, 
per  quae  convertitur  ad  diligendum  deum  (Sent.  III  dist.  30 
quaest.  uu.  §  3).  Aber  die  Macht  der  Tradition  hat  es  trotz 
alledem  auch  bei  Duns  zu  keiner  Theorie  vom  Worte  Gottes 
kommen  lassen.  ^)  —  Nur  ein  Gedanke  der  Gnadenlehre  findet 
keine  direkte  Anlehnung  im  Werke  Christi,  das  ist  der  Ge- 
danke der  Sündenvergebung.  Indessen  kann  uns  das  um  so 
weniger  überraschen,  als  wir  die  untergeordnete  Stellung  dieses 
Begriffes  in  der  Eechtfertigungslehre  des  Duns  soeben  erkannt 
haben.  Die  Vergebung  bildete  ja  nur  eine  selbstverständliche 
Folge    der   effektiven  Begnadigung,    also    bedurfte    es    für    sie 


^)  Erst  das  Tridentinum  macht  einen  gewissen  Ansatz ,  auch  dem 
Wort  eine  Rolle  bei  der  Rechtfertigung  zuzuweisen,  s.  Dogmengesch. 
II,  426.  428. 


336  Kap.  III:  Die  Person  Christi  und  die  Erlösung. 

keiner  besonderen  Begründung  in  Christi  Werk.  Die  durch 
Abälard  wieder  angedeutete  Begründung  der  Vergebung  auf 
die  „Nachfolge  Christi"  —  kurz  gesagt  — ,  hätte  der  Sünden- 
yergebung  eine  Bedeutung  vindiziert j  die  ihr  in  dem  Gedanken- 
zusammenhang  dos  Duns  nicht  zustand,  und  es  wäre  im  Zu- 
sammenhang damit  die  Bedeutung  des  Habitus  für  die  Recht- 
fertigung geschwächt  worden. 


Viertes  Kapitel. 

Die  Lehre  von  den  Sakramenten. 


I.    Die   allgemeine   Sakramentsielire. 

1.    Der   Begriff  Sakrament. 

1.  Nicht  nur  die  vom  Lombarden  hergestellte  Ordnung 
der  Begriffe,  sondern  auch  der  innere  Zusammenhang  führt 
Duns  im  4.  Buch  weiter  fort  zu  den  Sakramenten.  Denn  nach- 
dem wir  die  Begnadigung  des  Sünders  kennen  gelerot  haben, 
ist  in  VerbinduDg  mit  der  selbstverständlichen  Voraussetzung, 
dass  dieselbe  in  der  Kirche  sich  verwirklicht,  weiter  von  den 
kirchlichen  Mitteln  zur  Heilung  und  Heiligung  des  Sünders  zu 
reden.  Diese  weisen  über  sich  auf  die  Eschatologie  hinaus : 
nam  curatio  semiplena  fit  per  gratiam  sacramentorum  quae 
sunt  medicinae  salubres,  plena  autem  fit  per  collationem  prae- 
miorum,  quae  sunt  iucundae  refectiones  (in  Sent.  IV  dist.  1 
praef.  §  2). 

Indem  wir  von  der  Besprechung  des  Werkes  Christi  her- 
kommen, wird  zunächst  der  Zusammenhang  der  Sakramente 
mit  demselben  ausdrücklich  aufgezeigt.  Das  Christentum  ist 
die  höchste  Stufe  der  Offenbarungsreligion  (lex).  Nach  der 
historischen  Begel:  in  processu  ab  imperfecto  posteriora  sunt 
perfectiora,  werden  auch  die  Sakramente  des  neuen  Bundes  die 
besten  sein.  Auf  dasselbe  Resultat  führt  die  Erwägung,  dass 
Christus  durch  sein  Leben  und  Leiden  die  perfectissima  causa 
meritoria  gratiae  für  uns  geworden  ist.  Indem  Gott  hiedurch 
zur  Verleihung  von  Gütern   an  die  Menschen  geneigt  gemacht 

Seeberg,  Die  Theologie  des  Duns  Scotus.  22 


338  Kap.  IV:  Die  Lehre  von  den  Sakramenten. 

wird,  wird  er  auch  willig,  maxima  adiutoria  ad  gratiam 
liominibus  conferri  (IV  dist.  2  quaest.  I,  2  f.).  AVie  alle  guten 
Gaben,  die  der  Sünder  von  Gott  empiängt,  ihren  Grund  an 
der  verdienstlichen  Gehorsamsthat  Christi  haben,  so  auch  die 
Institution  der  Sakramente  (§  6.  7)  und  ihre  Wirksamkeit 
(§  9  ff.).  Diese  Vollkommenheit  der  neutestamentlichen  Sakra- 
mente ist  intensiv  und  extensiv  die  höchste ;  intensiv,  sofern 
sie  als  Zeichen,  in  vollkommener  Weise  für  die  menschliche 
Erkenntnis  das  Darzustellende  abbilden  und  sofern  sie  voll- 
kommen Gnade  bewirken.  So  kommt  die  „Gnade  und  Wahr- 
heit", die  Christus  gebracht  hat,  hier  zur  Geltung.  Zum 
andern  eignet  ihnen  in  extensivem  Sinn  die  Vollkommenheit, 
da  sie  das  ganze  Leben  mit  seinen  Bedürfnissen  und  Bezieh- 
ungen umspannen.  Geburt,  Ernährung,  Kräftigung,  Wieder- 
herstellung der  etwa  verlorenen  Gesundheit,  liegen  auf  jedem 
normalen  Lebensweg.  Auch  auf  dem  geistlichen  Gebiet  be- 
gegnet man  ihnen:  Taufe,  Eucharistie,  Konfirmation.  Busse. 
Da  aber  dieses  Leben  nur  eine  Vorbereitungsstufe  für  ein 
höheres  Leben  ist,  wird  der  Übergang  von  dem  einen  zum 
andern  durch  die  letzte  Ölung  gefördert.  Aber  andererseits 
hat  jedes  Leben  die  Aufgabe  der  Förderung  der  es  umgebenden 
Gemeinschaft.  Diese  geschieht  einerseits  durch  die  Zeugung, 
welche  die  notwendige  Voraussetzung  des  Bestandes  einer  geist- 
lichen Gemeinschaft  ist,  andererseits  durch  den  ordo  zur  Her- 
stellung von  letzterer.  So  ergibt  sich  die  Siebenzahl  der  Sakra- 
mente und  ihre  Bedeutung  für  alle  Seiten  des  Lebens:  Bap- 
tismus pertinens  ad  generationem  spiritualem,  eucharistia  neces- 
saria  ad  nutritionem,  confirmatio  ad  roborationem,  poenitentia 
ad  lapsi  reparationem,  extrema  unctio  ad  finalem  praeparationem, 
matrimonium  ad  multiplicationem  in  esse  naturae  vel  carnali  et 
ordo  ad  multiplicationem  in  esse  gratiae  vel  spirituali  (1.  c.  §  3). 

2.  Von  diesen  Sakramenten  wird  sodann  behauptet,  sie 
seien  samt  und  sonders  von  Christo  eingesetzt.  Hierfür  wird 
der  Versuch  eines  Schriftbeweises  gemacht,  s.  §  4.  5.^) 

Die  Gnade,  von  der  hier  die  Rede  ist,  ist  die  gratia  creata. 


^)  Es  entspricht  den  wirklichen  Verhältnissen,  wenn  Duns  gelegent- 
lich sagt:  Alia  sacramenta  a  baptismo  et  poenitentia  forte  non  sunt  neces- 


Der  Begrift"  Sakrament.  339 

Daraus  ergibt  sich  als  erstes  Problem  die  Frage,  ob  eine 
Kreatur  etwas  erschaifeu  könne.  Man  könnte  sagen,  dass  wie 
eine  Kreatur  etwas  vernichten  kann,  so  muss  sie  auch  schaffen 
können,  da  in  beiden  Fällen  es  sich  von  dem  Übergang  von 
dem  nichts  zu  etwas  handelt  (IV  dist.  1  quaest.  1,  2).  Da- 
gegen sprechen  aber  die  Autoritäten  des  Damasceners  und 
Augustins,  die  beide  selbst  den  Engeln  die  schöpferische 
Thätigkeit  absprechen  (§  4).  Und  dementsprechend  haben  auch 
Thomas,  Heinrich  von  Gent  und  Agidius  jene  Frage  verneint 
(§  5  f.).  Und  zwar  mit  verschiedenen  Gründen,  etwa  weil  die 
Schöpfung  ein  schlechthin  direkter  Akt  Gottes  sein  müsse,  da 
doch  das  esse  simpliciter  das  Ziel  der  Schöpfung  sei  und  des- 
halb nur  von  Gott  gegeben  werden  könne  (Thomas).  Aber  auch 
weil  der  unendliche  Gegensatz  von  einem  Seienden  und  einem 
Nichtseienden  nur  von  einer  virtus  infinita  überwunden  werden 
kann  (so  Heinrich  Quodlibet.  IV  quaest.  37).  Aber  auch  weil 
das  niedere  Agens  bei  seinem  Handeln  voraussetzt  ein  von 
einem  höheren  Agens  Gewirktes,  wie  etwa  die  Kunstbethätigung 
die  Existenz  der  Natur,  oder  alles  Menschenthun  ein  Gottes- 
thun  voraussetzt.  Endlich  aber,  da  alles  Erschaffene  in  seinem 
Handeln  Potenzialität,  folglich  auch  Bewegung  und  Verände- 
rung in  sich  hat,  daher  kann  es  auch  nicht  schaffen.  Da 
nämlich  das  Schaffen  ein  nichts  voraussetzt,  das  Subjekt  aber 
der  Bewegung  ausgesetzt  ist,  würde  der  Akt  des  Schaffens, 
der  absolute  Aktivität  sein  müsste,  indem  das  Nichtseiende 
seinerseits  keinerlei  Realität  beisteuert,  unmöglich  sein  (Agidius 
Quodlib.  I  quaest.  3.  4;  quia  creare  est  de  nihilo,  motus  autem 
in  subiecto  est). 

Nach  seiner  Weise  widerlegt  Duns  diese  Gründe  als  un- 
genügend. Was  den  ersten  Grund  anlangt,  so  wird  dagegen 
der  Satz  erwiesen,  dass  ein  zusammengesetztes  Sein  sehr  wohl 
von  einer  geschaffenen  Ursache  hervorgebracht  werden  kann 
(§  7).  Aber  auch  das  Argument  des  Heinrich  führt  nicht 
zum  Ziel.  Denkt  man  sich  zwei  äusserste  Gegensätze,  so  wird 
ihr  Abstand  untereinander  so  gross  sein,    als    der   eine  grösser 


saria  (IV   dist.  40  quaest.   unica   §  5).     Das   eigentliche   Hauptsakrament 
war  aber  doch  die  Busse. 

22* 


340  Kap.  IV:  Die  Lehre  von  den  Sakramenten. 

ist  als  der  andere.  Es  wird  also  z.  B.  der  A})stand  zwischen 
Gott  und  einer  belic^bigen  höchsten  Kreatur  ein  unendlich 
grosser  sein,  weil  Gott  unendlich  viel  grösser  ist  als  jede 
Kreatur.  Die  Distanz  wird  also  an  dem  Überschuss  der 
Quantität  des  einen  Gegensatzes  vor  dem  anderen  erkannt. 
Nun  ist  aber,  wenn  man  das  Nichtseiende  einem  geschaffenen 
Seienden  gegenüberstellt,  letzteres  ein  endliches,  also  kann  der 
Abstand  zwischen  beiden  nur  ein  endlicher  sein.  Wollte  man 
aber  bei  dem  Nichtseienden  einsetzen,  so  führte  das  nur  zu 
demselben  Resultat,  denn  da  das  nichts  nicht  ein  Seiendes  ist, 
so  wird  immer  das  Mass  des  Abstandes  gleich  dem  Überschuss 
an  Sein  bei  dem  Seienden,  d.  h.  endlich  sein  (§  11).  Das 
3.  Argument  läuft  entweder  auf  eine  petitio  principii  hinaus, 
weuQ  nämlich  der  Obersatz  im  Beweise  ebenso  lautet  wie  der 
zu  beweisende  Satz,  nämlich  dass  das  niedere  Agens  voraus- 
setzt als  Objekt  seiner  Thätigkeit  ein  Produkt  des  primum 
agens.  Oder  der  Satz  wird  allgemein  genommen,  dann  ist  er 
richtig  sofern  jedes  operari  ein  esse,  nämlich  das  des  Handelnden, 
voraussetzt;  dann  beweisst  der  Satz  hier  aber  nichts  (§  14). 
Der  4.  Beweis  taugt  endlich  deswegen  nichts,  weil  die  der 
Kreatur  eigene  Potenzialität  nicht  den  Schluss  begründet, 
dass  ihr  Handeln  der  Bewegung  und  Veränderung  im  Sinne 
des  Aufhörens  unterliegt,  sondern  nur  den,  dass  es  jeweilig 
auch  die  Form  der  Potenzialität  annimmt.  Aber  nur  jenes  und 
nicht  dieses  würde  den  Schluss,  dass  die  Kreatur  nicht  schöpfer- 
ische Ursache  eines  anderen  sein  kann,  rechtfertigen  (§  15). 
3.  Indem  also  jene  Argumente  nicht  ziehen ,  ist  ein 
anderer  Weg  zu  suchen  zur  Lösung  der  Frage.  Duns  geht 
aus  von  der  Unterscheidung  zwischen  dem  creare  instrumen- 
taliter  et  principaliter.  Agere  principaliter  kann  sowohl  heisseu, 
unabhängig  von  einer  höheren  wirksamen  Ursache  handeln,  als 
auch  vermöge  der  dem  Handelnden  einwohnenden  und  eigen- 
tümlichen Form  (per  formam  propriam  et  intrinsecam  agenti) 
handeln,  mag  immerhin  die  Handlung  auch  auf  eine  höhere 
Ursache  zurückweisen.  Im  ersten  Sinn  würde  jede  Handlung 
einer  causa  secuuda  ein  agere  instrumentaliter  sein.  Bemessen 
am  zweiten  Sinn  des  agere  principaliter  werden  wir  aber  jedes 
Handeln  ein  instrumentales   neuneu,   das   nicht   aus  einer  dem 


1 


1 


Keine  Kreatur  kann  Gnade  schaffen.  341 

HaDflelndeii  eigenen  aktiven  Form  erwächst,  sondern  durch  ein 
anderes  Subjekt  veranlasst  wird,  wie  etwa  bei  dem  Handeln 
des  Beils  oder  der  Säge  (§  26). 

Ein  prinzijDales  Handeln  im  erstgenannten  Sinn  kann  nur 
von  Gott  ausgesagt  werden.  Dagegen  ist  es  fraglich,  ob  das 
prinzipale  Handeln  im  zweiten  Sinn  auch  vom  Menschen  gelte. 
Man  versucht  das  zu  beweisen,  indem  man  zeigt,  dass  nichts 
gegen  die  Möglichkeit  spreche ,  dass  der  Mensch  derartige 
AVirkungen  frei  hervorbringe  (§  27).  Duns  selbst  aber  verneint 
das  creare  principaliter  auch  in  diesem  Sinne  für  die  Kreatur. 
Dieses  wird  durch  eine  Anzahl  Beobachtungen  bewiesen.  Die 
erste  lautet:  keine  erschaffene  rein  intellektuelle  Natur  kann 
eine  Substanz  erschaffen.  Und  zwar  deshalb,  weil  die  Jn- 
tellektion  im  Menschen  ein  Accidenz  ist.  Als  solches  kann  sie 
nun  nicht  eine  feste  und  notwendige  Beziehung  zwischen  dem 
Subjekt  und  einem  Objekt  herstellen.  Anders  ist  es  bei  Gott: 
cuius  intellectio  et  volitio  sunt  essentia  eins  et  ideo  per  in- 
tellectiouem  et  volitionem  potest  substantiam  producere,  creatura 
autem  non  sie  (§  28).  Der  zweite  Satz  heisst:  keine  forma 
materialis,  d.  h.  eine  an  die  Materie  gebundene  und  in  ihr 
bestehende  Form,  kann  von  einer  Kreatur  erschaffen  werden. 
Das  wird  so  bewiesen:  eine  geschaffene  Form  ist  naturgemäss 
früher  von  der  sie  bewirkenden  Ursache  abhängig,  ehe  sie  die 
Materie  informiert.  Die  in  der  Materie  sich  auswirkende  Form 
kann  nicht  von  irgend  einer  Kreatur  herkommen,  bevor  sie 
ihrer  Materie  zur  Form  wird,  also  kann  sie  nicht  von  einer 
Kreatur  erschaffen  sein.  Der  Obersatz  ist  klar,  der  Untersatz 
bewährt  sich  aber  daran,  dass  wenn  eine  Kreatur  die  Form  in 
ihrer  von  der  Materie  noch  getrennten  Substanz  erschaffen 
könnte,  sie  auch  diese  Form  an  und  für  sich,  unabhängig  von 
der  Materie,  irgend  müsste  erhalten  können,  sodass  wirklich 
eine  Weile  über  durch  die  Kraft  dieser  Kreatur  eine  Form 
ohne  Materie  bestände.  —  Der  dritte  Satz  endlich  wird  so 
ausgedrückt:  keine  forma  materialis  kann  das  Prinzip  zur 
Schöpfung  von  etwas  sein.  Das  ist  einleuchtend,  weil  wie 
jene  Form  nur  innerhalb  einer  Materie  besteht,  so  auch  bei 
ihrem  Handeln  eine  Materie,  auf  die  sich  dasselbe  bezieht,  vor- 
ausgesetzt ist  (§  28).     Aus  diesem  Satz   folgt,    dass  weder   ein 


342  Kap.  IV^:  Die  Lehre  von  den  Sakramenten. 

Engel  noch  eine  materielle  Substanz  —  denn  die  Materie  an 
und  für  sich  ist  nicht  Prinzip  einer  produktiven  Handlung  — , 
noch  auch  eine  materielle  Form  etwas  erschaffen  könne  (§  29). 
Damit  ist  aber  die  aufgestellte  Frage  beantwortet.  Ein  Schaffen 
im  Sinne  des  prinzipalen  Handelns  kommt  also  keiner  Krea- 
tur zu. 

Aber  auch  das  leugnet  Duns ,  dass  eine  Kreatur  ein 
instrumentaliter  creare  ausüben  könne,  in  dem  Sinn,  dass  sie 
dabei  ein  instrumentum  proprio  activum  ist.  Ein  Werkzeug 
kann  doch  nur  in  Bezug  auf  eine  vorangehende  Disposition 
oder  auf  das  fixierte  Ziel  thätig  werden.  Bei  der  Schöpfung 
ist  aber  etwas  Vorhandenes  nicht  gegeben,  und  andererseits 
kommt  dem  Werkzeug  als  solchem  eine  forma  activa  nicht  zu 
(§  31).  —  Ist  demnach  jedes  Schaffen  der  Kreatur  versagt 
geblieben,  so  kann  doch  der  Fall  eintreten,  dass  die  sonder- 
liche Beschaffenheit  einer  Kreatur  die  Disposition  zu  einer 
götthchen  Schöpfung  darbietet.  Das  gilt  —  nach  den  Grund- 
lagen der  scotistischen  Lehre  —  natürlich  nicht  an  und  für 
sich,  sondern  nur  relativ,  sofern  nämlich  es  Gottes  Verfügung 
so  ist.  Gott  kann  also  freilich  dem  Priester  die  Gewalt  geben, 
in  dem  Sünder  eine  Disposition  hervorzurufen,  die  ihrerseits 
einen  Erguss  der  göttlichen  Gnade  bedingt.  Aber  den  bedingt 
sie  nur,  weil  Gott  es  so  geordnet  hat,  dass  er  jedem  so  und 
so  Disponierten  die  Gnade  erteilen  wird.  Von  einer  schöpfe- 
rischen Thätigkeit  des  Priesters  kann  also  auch  in  diesem  Fall 
nicht  die  Bede  sein  (§  31). 

4.  Duns  kommt  in  der  zweiten  Quästion  zu  der  Frage 
nach  der  Definition  des  Sakramentes.  Hier  wird  zunächst 
festgestellt,  dass  das  Sakrament  definiert  werden  kann,  da  die 
Bedingungen,  unter  denen  eine  Definition  vorgenommen  werden 
kann,  bei  ihm  in  Erfüllung  gehen.  Es  sind  folgende,  dass  1) 
ein  Seiendes  da  ist,  2)  das  in  sich  eine  Einheit  bildet,  3)  das 
real  ist,  d.  h.  nicht  ein  blosses  Verstandesbild,  sondern  ein 
Abbild  des  Wirklichen,  4)  dass  es  nicht  ein  schlechthin  ein- 
faches Ding  ist,  und  5)  dass  es  nicht  etwas  schlechthin  Singuläres 
ist  (IV  dist.  1  quaest.  2,  2  f.).  Diese  fünf  Merkmale  der 
Definibilität  gelten  von  dem  Sakrament.  Dass  Gott  eine  un- 
sichtbare Wirkung   zum  Heile  des  Menschen  erschaffen  könne. 


Die  Definibilität  des  Sakramentes.  343 

ist  dem  Theologen  aus  der  göttlichen  Macht  an  sich  einleuchtend. 
Es  ist  aber  auch  möglich,  dass  Gott  ein  äusseres  Zeichen  ein- 
setzen kann  zur  Bezeichnung  jener  unsichtbaren  Wirkung. 
Solcher  Zeichen  bedienen  sich  auch  die  Menschen,  nämlich  der 
rememorativen,  die  auf  Vergangenes,  der  prognostischen,  die 
auf  Zukünftiges,  und  der  demonstrativen,  die  auf  Gegen- 
wärtiges hinweisen.  Es  ist  nun  nicht  unmöglich,  dass  Gott 
solche  Zeichen  einsetzte,  indem  er  sich  selbst  dazu  bestimmte, 
ut  cooperetur  ad  aliquod  Signum  ab  eo  institutum  ad  causandum 
effectum  signatum,  nisi  impediat  indispositio  eins  cui  adhibetur. 
Es  ist  etwas  Ahnliches,  wie  wenn  ein  Mensch  sich  etwa  vor- 
setzt, dass  er  z.  B.  die  Berührung  der  Hand  oder  das  Auf- 
heben des  Fingers  immer  mit  seinem  Wohlwollen  begleiten 
wolle,  es  sei  denn,  dass  der  durch  dieses  Zeichen  Ausgezeichnete 
ihn  daran  verhindere.  Ein  Zeichen  aber,  mit  dessen  An- 
wendung der  Einsetzende  zu  regelmässiger  Mitwirkung  sich 
bestimmt,  kann  ein  signum  verax  vel  certum  genannt  werden, 
im  Gegensatz  zum  signum  incertum  vel  aequivocum,  das  ebenso 
sehr  das  Bezeichnete  als  sein  Gegenteil  mit  sich  bringen  kann. 
Signum  efficax  nennen  wir  aber  das  Zeichen,  si  adhibito  signo 
sequitur  signatum  ordine  naturae,  sodass  also  die  Setzung  des 
Zeichens  den  Eintritt  des  Bezeichneten  bewirkt.  Wie  nun 
Gott  ein  sinnliches  Zeichen  einsetzen  konnte,  so  auch  mehrere 
(§4). 

Indem  nun  dieser  Gedankenzusammenhang  in  sich  eine 
Einheit  bildet  und  seine  Teile  einander  nicht  widersprechen, 
ist  deutlich,  dass  er  nicht  auf  etwas  Unmögliches,  d.  h.  ein 
Nichtseiendes  geht.  Somit  ist  dem  ersten  der  obigen  Merk- 
male entsprochen.  Auch  dem  2.  Merkmal  ist  das  Sakrament 
konform.  Denn  wenn  auch  mehrere  Dinge  zu  seinem  Bestand 
konkurrieren,  so  ist  dadurch  die  Einheit  des  Begriffes  nicht 
ausgeschlossen.  Was,  zum  dritten,  die  Forderung  der  Bealität 
xinbetrifft,  so  ist  zuzugestehen,  dass  der  Begriff  signum  ex 
institutione  —  das  ist  ja  das  Sakrament  —  solch  ein  direktes 
Fundament  in  der  äusseren  Welt  nicht  hat.  So  angesehen 
kann  also  eine  Definition  des  Sakramentes  nicht  gegeben 
werden,  wohl  aber  darf  es  definiert  werden,  sofern  es  einen 
einheitlichen  Begriff  im  Verstände  darstellt.     Duns  meint  also, 


344  Kap.  IV:  Die  Lehre  von  den  Sakramenten. 

(lass  das  Sakramont  nicht  so  definiert  worden  kann,  wie  die 
Objekte,  die  eine  quidditas  extra  animam  bilden,  sondern  so 
wie  die  logischen  Begriffe,  die  tantummodo  conceptus  in  anima 
sind.  Nicht  im  objektiven  Bestand,  sondern  für  den  subjektiven 
Verstand  ist  also  das  Sakrament  ein  einheitliches  und  daher 
definibles  Ding  (§  7).  Über  den  vierten  und  fünften  Punkt  geht 
Duns  schnell  hinweg,  da  es  klar  sei,  dass  das  Sakrament  weder 
etwas  schlechthin  Einfaches  noch  etwas  schlechthin  Singuläres 
ist  (ib.).  Das  ist  richtig,  da  nach  seinen  Erörterungen,  die  zum 
ersten  Punkt  vorgetragen  sind,  es  ebenso  einleuchtend  ist,  dass 
es  etwas  Zusammengesetztes,  wie  etwas  seine  Art  mit  anderen 
Zeichen  Teilendes  ist.  Somit  kann  das  Sakrament  definiert 
werden.  —  Es  ist  signum  sensibile  gratiam  dei  vel  effectum 
dei  gratuitum  ex  institutione  divina  efficaciter  significans  ordi- 
natum  ad  salutem  hominis  viatoris  (§  9  cf.  IV  dist.  19  quaest. 
un.  §  23). 

5.  Die  Frage  nach  der  Notwendigkeit  der  Einsetzung  der 
Sakramente  kann,  nach  dem  Gottesbegriff  des  Duns  natürlich 
nicht  in  absolutem  Sein  bejaht  werden,  quia  deus  extra  se 
nihil  agit  necessario  (IV  dist.  1.  quaest.  3,  2).  Wohl  aber 
war  es  congruum,  dass  Gott,  sofern  er  den  Menschen  zum 
Heil  verordnen  wollte,  die  unsichtbare  Wirkung  auf  den  Menschen 
an  ein  sinnliches  Zeichen  knüpfte,  damit  der  Mensch,  der  aus 
dem  Sinnlichen  die  Erkenntnis  sucht,  um  so  sicherer  jene  un- 
sichtbare Wirkung  erkennen  könne.  Je  praktischer  und  sicherer 
ein  solches  Zeichen  war,  desto  sicherer  wurde  die  Erkenntnis 
des  dadurch  Symbolisierten,  und  desto  stärker  dadurch  das 
Verlangen  des  Menschen  nach  jenem  wie  diesem  (ib.).  Aber 
nur  als  ein  besonderes  signum  institutum  war  es  zu  diesem 
Zweck  geeignet.  —  Noch  von  einem  anderen  Gesichtspunkt  her 
kann  die  relative  Notwendigkeit  der  Einsetzung  derartiger 
Zeichen  erwiesen  werden.  Solche  Zeichen  vereinigen  sow^ohl 
die  Anhänger  einer  religiösen  secta,  als  sie  dieselben  von 
anderen  sectae  unterscheiden,  zumal  wenn  von  der  Anwendung 
der  Zeichen  ein  praktischer  Erfolg  erwartet  wird  (ib.).  Aber 
sicher  ist  ein  solches  Zeichen  nur,  w^enn  die  es  einsetzende 
Person  schlechthin  zuverlässig  ist.  Das  ist  aber  der  Fall, 
wenn  Gott  es  ist,   der   seine  Kooperanz   zu  dem   angeordneten 


Die  Notwendigkeit  der  Sakramente.  345 

ZeicheD  zusagt  (§  4  f.).  Demnach  fasst  die  Einsetzung  der 
Sakramente,  genau  betrachtet,  zwei  göttliche  Akte  in  sich,  die 
Einsetzung  des  Zeichens  und  den  Willensentschluss ,  dieses 
Zeichen  mit  einer  ihm  entsprechenden  Wirkung  zu  begleiten. 
Ita  est  in  deo  alius  actus  rationis  ad  instituendum  signum 
sensibile  ad  practice  signandum  effectum  dei ,  et  alius  quo 
determinat  se  realiter  ad  cooperandum  tali  signo  regulariter, 
id  est  semper  quando  indispo.sitio  suscipientis  non  impedit  (§  6). 

Wenn  nach  dieser  Darstellung  die  Sakramente  formell 
den  Symbolen  der  übrigen  Religionen  gleichgestellt  werden 
können,  so  ist  doch  andererseits  klar,  dass  in  jeder  Religion 
(in  quacunque  lege)  es  besondere  Sakramente  geben  muss. 
Indem  Duns  hier  an  die  Offenbarungsreligion  denkt,  stellt  er 
zunächst  fest,  dass  in  processu  generationis  human ae  semper 
crevit  notitia  veritatis,  somit:  lex  autem  posterior  semper  fuit 
perfectior,  quia  deus  Ordinate  agens  procedit  de  imperfecto  ad 
perfectum.  Demnach  wird  die  Entwicklung  und  Verbesserung 
der  Religion  sich  auch  auf  die  Heilmittel  erstrecken,  d.  h.  die 
sakramentalen  Symbole  werden  immer  deutlichere  Zeichen  einer 
zunehmenden  Gnadenerweisung  w^erdeu  (quaest.  3,  8).  Hier- 
aus ergibt  sich  aber,  dass  besser  neue  Symbole  gewählt  werden, 
um  die  neue  Stufe  der  Gnadenerweisung  auszudrücken,  da 
sonst  Verwechslungen  in  der  Bedeutung  des  Zeichens  unver- 
meidlich wären  (ib.). 

6.  Die  Sakramente  sind  also  Symbole  der  durch  sie  ab- 
gebildeten Gnadenwirkungen  Gottes;  aber  sichere  Symbole,  so- 
fern ihre  äussere  Anwendung,  nach  Gottes  Ordnung,  sicher  die 
Gnadenwirksamkeit  mit  sich  führt.  In  diesen  Gedanken  stecken 
zwei  neue  Probleme :  wie  verhält  sich  die  Gnade  zum  äusseren 
Zeichen?  Utrum  sit  possibile  sacramentum  quantumcunque  per- 
fectum habere  causalitatem  activam  respectu  gratiae  conferendae? 
(IV  dist.  1  quaest.  4),  und :  an  possibile  sit  in  sacramento  esse 
virtutem  supernaturalem,  d.  h.  enthält  das  Symbol,  wie  etwa 
eine  Medizin,  formaliter  eine  gewisse  Kraft?  (quaest.  5,  1). 

Die  Theologen  des  Mittelalters  haben  diese  Fragen  bekannt- 
lich verschieden  beantwortet.  Mit  einem  derben  „continere" 
hat  Hugo  von  St.  Viktor  die  zweite  Frage  bejaht.  Spätere, 
allen  voran  Thomas,  haben  sich  vorsichtiger  ausgedrückt.    Nach 


346  Kap.  IV:  Die  Lehre  von  den  Sakramenten. 

der  Ansicht  des  Thomas,  die  ich  hier  h;diglich  nach  Diins 
(§  2.  3)  referiere,  müssen  die  Sakramente  eine  gewisse  Kau- 
salität hezüglich  der  Gnade  haben,  denn  wenn  sie  letztere  bloss 
symbolisierten,  so  würde  kein  realer' Unterschied  zu  den  alt- 
testamentlichen  Sakramenten  erkennbar  sein,  denn  dass  hier 
dieses,  dort  jenes  Symbol  ])räuchlich  war,  würde  einen  wirk- 
lichen Unterschied  nicht  l)egründen.  Die  Sakramente  haben  — 
als  äussere  Zeichen  betrachtet  —  eine  dispositive  Wirkung, 
sie  bewirken  im  Menschen  den  sakramentalen  Charakter,  oder 
einen  diesem  entsprechenden  Schmuck  der  Seele.  Das  ist  die 
Antwort  auf  die  erste  Frage.  Aber  auch  die  zweite  der  obigen 
Fragen  ist  im  Sinne  des  Thomas  zu  bejahen:  im  sinnenfälligen 
Sakrament  ist  eine  übernatürliche  Kraft,  zwar  nicht  in  der 
Weise  eines  ruhenden  Seins,  sondern  in  der  Weise  des  un- 
vollständigen Seins,  d.  h.  als  ein  Werden,  das  auf  das  Sein 
hinausstrebt.  Die  Kraft  wohnt  im  Sakrament,  wie  etwa  die 
Begriffe  in  den  sinnlich  vernehmbaren  Worten,  oder  wie  ge- 
wissermassen  die  Kunst  dem  vom  Künstler  bewegten  Werkzeug 
einwohnt.  Das  ist  also  die  Ansicht  des  Thomas :  das  äussere 
Zeichen  als  solches  wirkt  auf  den  Menschen  disponierend  für 
den  Empfang  der  sakramentalen  Gnade;  diese  Gnade  aber 
wird  dem  Menschen  nicht  anders  als  durch  Vermittlung  dieses 
Zeichens  zu  Teil. 

Gegen  beides  richtet  Duns  seine  zersetzende  Kritik.  Auch 
seine  Anschauung  hat  Vorgänger.  Die  grossen  Theologen  der 
Franziskanerschule  —  Alexander  und  Bonaventura  —  haben 
den  symbolischen  Sakramentsbegriff  Augustins  festgehalten,  so- 
weit derselbe  mit  der  mittelalterlichen  Orthodoxie  vereinbar 
war.  Sie  haben  das  äussere  Symbol  scharf  getrennt  von  der 
innerlichen,  von  ihm  unabhängigen  Gotteswirkung  in  der  Seele. 
Nicht  in  den  Sakramenten,  sondern  nur  in  der  Seele  kann  die 
Gnade  sein.  Die  Sakramente  sind  Symbole,  wie  das  königliche 
Siegel  an  einem  Brief.  Es  besteht  aber  eine  pactio  Gottes, 
dass  er  die  Anwendung  dieser  Symbole  mit  seinen  Wirkungen 
in  der  Seele  begleiten  werde.  Ex  tali  pactione  dominus  astrinxit 
se  quodammodo  ad  dandam  gratiam  suscipienti  sacramentum 
(Bonaventura  in  Sent.  IV  dist.  1  pars  1  art.  1  quaest.  2  seqq.). 
Auf  dieser  Bahn  geht  Duns  fort. 


Die  Gnade  ist  nicht  in  den  sakramentalen  Zeichen.  347 

Gegen  den  ersten  Gedanken  des  Thomas  wendet  er  ein, 
dass  die  Herstellung  dör  entsprechenden  Dispositionen  auf  die 
Gnade  ein  schöpferisches  Thun  wäre,  dies  aber  keiner,  am 
wenigsten  einer  materiellen  Kreatur  zukomme ,  wie  Thoinas 
selbst  lehrt.  Gesetzt  aber  nun  weiter,  das  Sakrament  vermittle 
als  äussere  Ursache  die  Gnadenmitteilung,  so  müsste,  da  jedes 
Sakrament  einem  allmählichen  A'oUzug  unterliegt,  auch  die 
Gnadenwirkung  allmählich  eintreten.  Das  ist  aber  nicht  mög- 
lich, da  sie  als  göttliche  Wirkung  in  instanti  gegeben  wird. 
Zudem  umfasst  jeder  Sakramentsvollzug  eine  grössere  Anzahl 
von  Wörtern,  bei  welchem  derselben  sollte  nun  jene  Wirkung 
eintreten  ?  Endlich  ist  es  ein  anerkannter  philosophischer  Satz, 
dass  man  nicht  ohne  Not  Pluralitäten  einführen  darf,  die 
thomistische  Annahme  einer  der  Sakramentsgabe  vorhergehen- 
den Disposition  sei  aber  durchaus  unnötig  (§  4 — 7). 

Bezüglich  des  zweiten  Satzes  des  Thomas  führt  Duns 
aus,  die  übernatürliche  Kraft,  die  irgendwie  im  sinnlichen 
Sakrament  sein  soll,  müsste  als  unteilbare  in  letzterem 
entweder  tota  in  toto  et  tota  in  qualibet  parte,  oder  tota 
in  toto  et  pars  in  parte  sein.  Aber  das  erstere  Verhältnis 
eignet  nur  der  Form  der  vernünftigen  Seele  in  ihrer  Materie 
oder  dem  Körper.  Das  letztere  kann  von  einer  geistigen  Kraft 
nicht  gelten,  indem  es  eine  Ausdehnunung  in  sich  schliesst. 
Weiter:  da  das  Sakrament  in  einer  Einheit  von  vielen  Wörtern 
besteht,  so  müsste  die  geistige  Kraft,  entweder  von  Wort  zu 
Wort  wandern,  oder  sich  in  die  vielen  Wörter  verteilen.  In 
ersterem  Fall  würde  ein  Accidenz  von  Subjekt  zu  Subjekt 
gehen  und  bestehen,  während  jene  untergehen,  im  anderen 
Falle  würde  es  sich  nicht  um  eine  schlechthin  einheitliche 
Kraft  handeln  (§  8).  —  Sodann:  nimmt  man  eine  solche  Ver- 
einigung an,  wann  soll  sie  eintreten,  vor  dem  Gebrauch  der 
Sakramente,  oder  während  desselben?  Sie  kann  nicht  vorher 
stattfinden,  denn  dann  müsste  jedesmal  durch  ein  neues  Wunder 
jene  übernatürliche  Kraft  erzeugt  werden,  ohne  dass  das  kirch- 
liche Thun  —  es  folgt  ja  erst  —  dafür  irgend  in  Betracht 
käme.  —  Aber  auch  nicht  in  der  Handlung  selbst,  denn  dann 
ergäbe  sich  der  unmögliche  Gedanke,  dass  ein  Werkzeug  erst 
durch  den  Gebrauch  zum  Werkzeug  wird,  während  die  Fähig- 


348  Kap.  IV :  Die  Lehre  von  den  Sakramenten. 

keit  AVerkzeug  zu  sein,  notwendig  der  Anwendung  als  Werkzeug 
vorangeht.  Endlich:  man  soll  auch  hier  nicht  die  Sache  unnütz 
und  mehr  als  der  Glaube  verlangt,  komplizieren.  Der  Glaube 
verlangt  aber  keineswegs,  in  das  Wasser  oder  die  Worte  irgend 
eine  übernatürliche  Kraft  zu  verlegen  und  einzuschliessen  (§  9). 
7.  Damit  ist  die  thomistische  Theorie  widerlegt.  Positiv 
lehrt  Duns  folgendes  zur  Beantwortung  der  beiden  S.  345 
aufgeworfenen  Fragen.  Der  Zweck  der  Sakramente  ist  die 
Gnade.  Von  einer  durch  das  äussere  Sakrament  gewirkten 
Vorbereitung  kann  deshalb  nicht  die  Rede  sein ,  weil  diese 
erschaffen  werden  müsste.  Hierzu  ist  aber  das  äussere 
Sakrament,  nach  den  S.  347  wiedergegebenen  Erörterungen 
ebenso  unfähig,  als  etwa  zur  Erschaffung  der  Gnade  selbst. 
Nun  aber  war  es  eine  kirchliche  Formel,  dass  das  Sakrament 
causa  gratiae  ist.  Dies  erkennt  Duns  natürlich  an.  Er  deutet 
diesen  Satz  folgendermassen  :  Jede  Beschaffenheit  eines  Dinges, 
welche  die  unmittelbare  Voraussetzung  der  Form  ist,  diese 
also  herbeinötigt,  kann  gewissermassen  in  Bezug  auf  diese 
Form  als  aktive  oder  instrumentale  Ursache  bezeichnet  werden, 
wie  z.  B.  das  Verdienst  als  eine  solche  Beschaffenheit  die 
Ursache  des  Lohnes  genannt  wird.  Nun  ist  das  äussere 
Sakrament  oder  auch  sein  Empfang  eine  derartige  Beschaffenheit : 
ergo  ipsa  potest  dici  quodammodo  causa  activa  vel  instrumen- 
talis  respectu  gratiae  (§  12).  Nämlich  so:  der  Empfang  des 
Sakraments  ist  die  gehörige  Beschaffenheit,  dispositio  necessitans, 
zum  Eintritt  der  durch  das  Sakrament  bezeichneten  Wirkung, 
natürlich  nicht  so,  als  wenn  das  Sakrament  als  solches  die 
Gnade  hervorbrächte ,  sondern  so ,  dass  Gott  es  so  geordnet 
hat,  dass  er  jedem,  der  dies  äussere  Zeichen  empfangen  werde, 
die  dadurch  bezeichnete  Gnade  eingiesst.  Nicht  ist  in  dem 
Zeichen  eine  Form,  welche  die  Gnade  hervorbringt,  sed  tan  tum 
per  assistentiam  dei  causantis  illum  effectum ,  non 
necessario  absolute,  sed  necessitate  respiciente  potentiam  ordi- 
natam.  Disposuit  enim  universaliter  et  de  hoc  ecclesiam  certi- 
iicavit,  quod  suscipienti  tale  sacramentum  ipse  conferret  effectum 
signatum  (§  13).  Nur  in  diesem  Sinn  kann  von  einer  Kausa- 
lität der  Sakramente  bezüglich  der  Gnade  geredet  werden, 
sofern  Gott   es  so  angeordnet  hat,    dass   der  Einwirkung  jener 


Symbole  und  reale  Wirkuno^en.  349 

Symbole  auf  die  Sinne  sich  unmittelbar  eine  direkte  über- 
natürliche Einwirkung  auf  die  Seele  anschliesse.  Haec  est 
enim  excellentia  sacramentorum  novae  legis ,  quod  eorum 
susceptio  est  dispositio  sufficiens  ad  gratiam  (1\'  dist.'  19 
quaest.  un.  §  24). 

Diese  zur  Beantwortung  der  ersten  Frage  angestellten 
Betrachtungen  lösen  auch  die  zweite  Frage.  Von  der  Ein- 
wohnung einer  übernatürlichen  Kraft  in  den  Sakramenten  kann 
nicht  die  Rede  sein.  Es  wäre  zwecklos,  dieselbe  so  und  so  oft 
entstehen  und  wieder  vergehen  zu  lassen.  Und  da  jenes  doch 
nur  in  der  Kraft  des  göttlichen  Paktes  mit  der  Kirche  ge- 
schehen könnte,  so  ist  nicht  einzusehen,  warum  dieser  Pakt 
sich  nicht  direkt  in  der  Seele  selbst  sollte  realisieren  können? 
Aber  auch  hier  ist  Duns  bereit,  dem  üblichen  Sprachgebrauch 
entgegenzukommen.  Man  kann  sagen,  dass  das  äusserste  an 
Kraft,  was  einem  wirksamen  Zeichen  (signum  practicum)  zu- 
kommen kann,  dieses  ist,  quod  significet  efficaciter,  hoc  est 
praevie  et  certitudinaliter.  Die  Kraft,  welche  so  dem  Sakra- 
mente einwohnt,  ist  nicht  eine  ihm  an  und  für  sich  eignende 
Form  (forma  absoluta),  sondern  nur  die  Beziehung  der  Gleich- 
förmigkeit zwischen  dem  äusseren  Zeichen  und  dem  dadurch 
Dargestellten  (relatio  conformitatis  signi  ad  signatum).  Damit 
ist  nicht  viel  gesagt ;  die  Kraft,  welche  dem  Symbol  einwohnt, 
ist  die  Beziehung  zu  dem  Objekt,  welches  es  abbildet.  Diese 
Beziehung  kann  im  Symbol  auch  äusserlich  begründet  sein  (z.  B. 
bei  der  Abwaschung  der  Taufe),  oder  sie  kann  eine  rein  ideelle 
sein,  wie  bei  den  meisten  Sakramenten ;  eine  weitere  Kraft 
über  diese  hinaus  kann  in  dem  Zeichen  oder  Symbol  nicht 
enthalten  sein  (quaest.  5,  16). 

8.  Wir  können  hier  gleich  einige  Bemerkungen  anschliessen, 
die  Duns  erst  im  Zusammenhang  der  Tauflehre  vorträgt.  Das 
sinnliche  Zeichen  und  die  Einsetzungsworte  verhalten  sich  nach 
der  üblichen  scholastischen  Theorie  bekanntlich  in  den  Sakra- 
menten so  zu  einander,  wie  Materie  und  Form.  Duns  zeigt 
aber,  dass  das  Verhältnis  an  und  für  sich  ein  anderes  ist.  Die 
Materie  ist,  genau  geredet,  die  gesamte  Grundlage  einer  sakra- 
mentalen Handlung,  und  die  Form  ist  die  besondere  Beziehung 
des  Zeichens,    welche  es  gerade  zu   diesem  Sakramente   macht 


350  Kap.  IV:  Die  Lclire  von  den  Sakramenten. 

(IV  clist.  3  quaest.  2,  3).  Diese  Betrachtungsweise  ist  ein- 
leuchtend. Die  Materie  im  Sakrament  sind  also  alle  die 
Elemente,  welche  bei  Vollzug  der  Handlung  in  Wirkung 
kommen,  also  das  Zeichen  und  die  •  Einsetzungsworte,  bozw. 
die  Worte  bei  dem  Vollzug,  sowie  das  Geben  und  Empfangen. 
Dagegen  besteht  das  Wesen  oder  die  Form  des  Sakraments  — 
ganz  richtig  —  in  dem  besonderen  Zweck,  an  welchem  jene 
Elemente  ihre  Einheit  haben.  Da  nun  aber  die  Materie  im 
Sakrament  aus  verschiedenen  und  für  das  Ganze  verschieden- 
artigen Teilen  besteht,  so  kann,  wie  Duns  weiter  ausführt,  der 
die  übrigen  Teile  bestimmende  Teil  wohl  auch  als  die  Form 
der  anderen  bezeichnet  werden.  Denn  es  ist  Art  der  Materie, 
voranzugehen  und  sich  bestimmen  zu  lassen,  während  die  Form 
folgt  und  bestimmt.  Ebenso  kann  ein  principalius  et  actualius 
oder  ein  spiritualius  als  Form  bezeichnet  werden,  gegenüber 
dem  mehr  potenziell  und  weniger  geistig  Beschaffenen.  In 
diesem  Sinn  ist  die  übliche  Unterscheidung  zu  verstehen.  Die 
Worte  sind  das  Bezeichnende  und  das  Geistige  im  Verhältnis 
zu  den  sinnlichen  Zeichen. 

9.  Weiter  sei  hier  auf  die  Lehre  von  der  Intention  des 
das  Sakrament  vollziehenden  Priesters  verwiesen.  Hievon 
handelt  Duns  IV  dist.  6  quaest.  6.  Zu  der  Unterscheidung 
einer  thatsächlichen  Intention  (intentio  actualis)  von  der  habi- 
tuellen Intention,  wo  ein  Habitus  auf  den  betreffenden  Akt 
hinweist,  fügt  Duns  die  intentio  virtualis.  Jene  Einteilung  ist 
nämlich  nicht  erschöpfend,  denn  es  ist  ein  weiterer  Fall  denkbar. 
Jemand  beginnt  etwa  eine  Messe  zu  lesen  mit  der  aktuellen 
Absicht,  die  Messe  zu  feiern.  Aber  über  der  Feier  wird  er 
zerstreut,  jene  Absicht  tritt  aus  seinem  Bewusstsein.  Und 
doch  liest  er  weiter.  Es  ist  aber  zu  wenig,  jetzt  bloss  eine 
habituelle  Intention  anzunehmen,  denn  eine  solche  wohnt  ja 
auch  dem  Schlafenden  bei.  Diese  Intention  nun,  da  jemand 
seine  Handlung  fortsetzt  in  der  Kraft  der  voraufgehenden 
aktuellen  Intention,  nennt  Duns  die  virtuelle  Intention.  Jene 
erste  wirksame  Intention  trägt  nämlich  potenziell  in  sich  die 
ganze  Beihe  der  folgenden  Akte.  Wenn  also  etwa  jemand 
eine  Wallfahrt  zum  heiligen  Jakobus  beschliesst,  so  ist  das 
eine  intentio   actualis,    welche  eine   grosse  Anzahl  von  Mitteln 


Materie,  Form,  Intention.  Charakter.  351 

in  sich  befasst.  Aber  nicht  während  jedes  Momentes  der 
Wallfahrt  denkt  er  an  den  heiligen  Jakobus,  trotzdem  ist  jeder 
Moment  ethisch  verdienstlich,  sofern  er  entweder  von  Inten- 
tionen bezüglich  der  Mittel  zur  Erreichung  des  Zweckes  oder 
von  aus  jenen  hervorgegangenen  Handlungen  ausgefüllt  ist. 
In  diesen  Intentionen  wie  Handlungen  wirkt  aber  virtuell  jene 
erste  Intention  fort  (§  2). 

Wendet  man  diese  Beobachtungen  auf  das  Sakrament  an, 
so  ist  zuerst  zu  sagen,  dass  die  habituelle  Intention  des  Priesters 
nicht  genügt,  denn  diese  allgemeine  Neigung  bewirkt  nichts  in 
Bezug  auf  eine  menschliche  Handlung.  Diese  kommt  durch 
sie  nicht  zu  stände.  Andererseits  ist  aber  auch  die  aktuelle 
Intention  nicht  vom  Priester  erfordert,  quia  non  obligavit  deus 
hominem  ad  impossibile  vel  nimis  difficile,  cuius  modi  est  non 
distrahi.  Gesetzt  also,  der  Priester  hat  die  aktuelle  Intention, 
das  Abendmahl  zu  celebrieren,  so  geschieht  das,  auch  wenn  er 
beim  Sprechen  der  Einsetzungsworte  zerstreut  sein  sollte.  Wer 
sich  also  ankleidet  mit  der  Absicht  die  Messe  secundum  usum 
romanae  ecclesiae  zu  begehen  und  die  betreffenden  notwendigen 
Handlungen  vornimmt,  führt  die  sakramentale  Handlung  wirk- 
lich aus,  mag  er  immerhin  noch  so  sehr  durch  andere  Dinge 
abgezogen  sein  (§  3).  Mit  anderen  Worten,  wo  der  wirkliche 
AVille  das  Sakrament  der  römischen  Kirche  zu  begehen  vor- 
liegt, da  wirkt  er  nach  als  virtuelle  Intention  und  das  genügt 
zum  Vollzug  des  Sakramentes.  Die  Handlung  geschieht  eben, 
gerade  so,  als  wenn  jemand  irgendwohin  gehen  will  und  sich 
unterw^egs  diesem  Entschluss  gemäss  vorwärts  bewegt,  mag 
seine  Phantasie  dabei  immerhin  auf  ganz  andere  Dinge  als  sein 
Ziel  gerichtet  sein  (§  4). 

2.  Der  sakramentale  Charakter. 
1.  Zum  Schluss  muss  hier  schon  die  Lehre  vom  sakra- 
mentalen Charakter  behandelt  werden,  die  Duns  erst 
unter  der  Taufe,  in  der  6.  Distinktion  quaest.  9,  darstellt. 
Duns  geht  aus  von  der  philologischen  Bemerkung,  dass  das 
griechische  Wort  Charakter  dem  lateinischen  figura  z.  B. 
Hebr.  1,  1  entspreche,  ebenso  könne  es  aber  auch  durch 
Signum  wiedergegeben  werden  (l.  c.  §  2).     Die  Theologen  ver- 


352  Kap.  IV:  Die  Lehre  von  den  Sakramenten. 

stehen  gewöhnlich  unter  diesem  Begriff  quoddam  spirituale 
Impressum  a  deo  suscipienti  sacramentum  non  iterahile.  Hieraus 
ergeben  sich  zwei  allgemeiue  Merkmale  des  Begriffes,  nämlich 
1)  es  ist  eine  Form,  die  eine  Ähnlichkeit  des  Inhabers  mit 
anderen  Inhabern  herstellt,  und  die  2)  den  Inhaber  von  dorn 
Nichtinhaber  unterscheidet.  Dazu  kommen  drei  spezielle  Merk- 
male :  der  Charakter  ist  1)  ein  signum  rememorativum,  2)  ein 
Signum  conformativum  Christo,  3)  und  Obligatorium  ei.  —  Der 
Charakter  ist  nun  nicht  eine  Gnade,  noch  eine  eingegossene 
geistliche  Kraft  (Glaube ,  Hoffnung,  Liebe),  da  nicht  jeder- 
mann, der  das  Sakrament  empfängt,  Gnade  oder  Tugend  mit- 
geteilt wird,  wohl  aber  die  bezüglichen  Sakramente  jedermann 
den  Charakter  geben.  Auch  ist  der  Charakter  deshalb  nicht 
Gnade  oder  Tugend,  weil  diese  zerstörbar  sind,  der  Charakter 
aber  indelebilis  ist. 

Mit  diesen  Bestimmungen  ist  lediglich  die  üblich  gewordene 
kirchliche  Anschauung  reproduziert  und  logisch  in  ihre  Elemente 
zerlegt.  Aber  was  ist  der  Charakter?  Setzt  er  etwas  Reales 
in  die  Seele  des  Sakramentsempfängers?  Man  verneint  diese 
Frage.  Wie  etwa  bei  einer  Weihe  dem  geweihten  Gegenstand 
keine  formale  Heiligkeit,  also  nichts  Reales  mitgeteilt  wird, 
so  ist  es  auch  mit  dem  Charakter.  Man  kann  dies  durch  den 
Gedanken  beweisen,  dass  man  nicht  unnütz  eine  Vielheit  von 
Wirkungen  setzen  muss,  wo  die  Einheit  genügt.  Nun  verlangt 
WTder  die  Schrift  noch  die  Autorität  der  Heiligen,  noch  auch 
das  Wesen  des  Sakraments,  welches  nur  durch  das  sichtbare 
Zeichen  eine  unsichtbare  Wirkung,  nämlich  die  Gnade,  hervor- 
bringen soll,  die  Annahme  dieses  Begriffes.  Also  scheint  von 
ihm  abzusehen  zu  sein  (§  4).  Es  hat  freilich  Thomas  sich 
auf  einige  Stellen  des  Areopagiten  und  des  Damasceners  zu 
gunsten  des  Charakters  berufen.  Aber  diese  Stellen  beweisen 
nichts  (§  5  f.).  Auch  auf  Augustin  kann  man  sich  nicht  be- 
rufen, denn  er  hat  diesen  Begriff  nicht  ausdrücklich  gelehrt; 
etwa  in  seinen  eingehenden  Erörterungen  über  die  Taufe  (§  8). 
—  Weiter  kann  man  gegen  diesen  Begriff  anführen,  dass  er 
unnütz  ist,  indem  man  nichts  Überflüssiges  in  dem  Wirken 
Gottes  annehmen  darf.  Beruft  man  sich  darauf,  dass  doch  um 
derentwillen,  die  heuchlerisch  die  Taufe  —  d.h.  ohne  Wirkung  — 


Gründe  wider  den  sakramentalen  Charakter.  353 

empfangen ,  der  Cbarakter  als  die  Disposition  für  etwaige 
künftige  Wirkungen  der  Taufe  notwendig  ist,  so  wird  diesem 
Bedürfnis  einfacher  entsprochen  durch  die  Annahme,  dass  Gott 
hier  später  seine  wirksame  Assistenz  eintreten  lässt,  die  in  der 
Regel  mit  der  Taufhandlung  zusammen  erfolgt  (§  9). 

Ebensowenig  bedarf  es  des  Charakters  von  dem  Gesichts- 
punkt  her,    dass   der  Empfänger   bestimmter  Sakramente   den 
übrigen  Empfängern  ähnlich  und  dem  Nichtempfänger  unähnlich 
werden   müsse ,   denn   bei   einem   professus   in   religione  gehen 
doch  jene  beiden  Merkmale  auch  in  Erfüllung,   ohne  jede  ihm 
inhärierende  Form,  bloss  wegen  des  von  ihm  vollzogenen  Aktes 
der    Profession    (§  10).      Auch    die    Verpflichtung    zur    Zuge- 
hörigkeit  zu  Christo   ist   schlechterdings   nicht   an  jene   Form 
gebunden,   wie  denn   etwa  einer,   der  das  Homagium   abgelegt 
hat,    auch   an  den   betreffenden   Herrn  —  ohne   Charakter  — 
gebunden  ist.    Aber  auch  die  Idee  des  rememorativen  Charakters 
trägt  nichts  aus,  denn  Glauben  und  Liebe,  die  doch  vorzüglichere 
Gaben   sind,    als    die   Annahme   etwa    der   Taufe,    hinterlassen 
nichts   derartiges.     Auch   für  Gott  oder  für  die  Gemeinschaft 
der  Seligen  bedarf   es    dieses  Erkennungszeichens   nicht,   denn 
Gott  braucht  derartiges  überhaupt  nicht,   und  in   der  Gemein- 
schaft  der  Seligen   werden    Glaube  und  Liebe   den  Ausschlag 
geben  (§  10).  —  Oder  sollte  eine  besondere  excellentia  gloriae 
dadurch    zum   Ausdruck    gelangen?     Aber   dann   würde   diese 
in  hervorragender  Weise  nur   den  Priestern  eignen,    die  allein 
alle  Charaktere  empfingen,  sie  würde  andererseits  Christo  und 
der    Maria    vollkommen    abgehen,    die    keinen     derselben    er- 
hielten. —  Sollte   ferner  Gott  einem  Heuchler,   der  die  Taufe 
nachsucht  und    dadurch    eine    Todsünde    begeht,    ein    donum 
speciale  schenken?    Jede  Gottesgabe  ist  gratis  data  oder  gratum 
faciens,    d.  h.  sie   dient   dem  Wohl    des  Empfängers   oder  der 
Kirche.     Aber   der  Charakter  erfüllt  weder  die   eine  noch  die 
andere  Bedingung  (§  11).     Schliesslich  aber  ist  zu  sagen,  dass 
der  Charakter  unmöglich   indelebilis  sein  kann,   denn  hat  Gott 
ihn  erschaffen ,    so  kann  er    ihn  doch   auch   zerstören.     WoUte 
man   aber  aus  der  Unwiederholbarkeit  bestimmter  Sakramente 
den  Charakter  begründen,  so  wäre  zu  sagen,  dass  sie  un wieder- 
holbar  sind,   weil  Gott   sie   so   eingesetzt  hat.     Ja,   man  kann 

Seeberg,  Die  Theologie  des  Duns  Scotus.  23 


354  Kap.  IV:  Die  Lehre  von  den  Sakramenten. 

hier  den  Spiess  umdrehen.  Gerade  dadurch  wird  das  Sakrament 
unwiederholbar,  dass  es  keinen  Charakter  einprägt.  Denn  in 
dem  Mass,  als  ein  solcher  gegeben  wäre,  wäre  er  allmählich 
zerstörbar.  Wird  aber  das  Sakrament  als  unwiederholbar 
gesetzt,  so  ist  es,  gerade  wenn  es  der  Vergangenheit  angehört, 
schlechthin  unwiederholbar,  da  selbst  die  potentia  absoluta 
Gottes  Geschehenes  nicht  ungeschehen  machen  kann  (s.  S.  165). 
Es  würde  sonach  der  Gedanke  der  Un Wiederholbarkeit  be- 
stimmter Sakramente  schärfer  begründet,  wenn  mau  von  dem 
Begriff  des  Charakters  absieht  (§  12). 

2.  Diese  glänzende  Kritik  stellt  den  Scharfsinn  ihres 
Urhebers  wieder  in  helles  Licht.  Nach  den  Vorstellungen  und 
Methoden  seiner  Zeit  hat  Duns  unwiderleglich  gezeigt,  dass 
kein  Zug  der  römischen  Sakramentslehre  den  Begriff  des 
Charakters  erfordert.  Weder  die  Autoritäten,  noch  das  Wesen 
der  sakramentalen  Gnade  und  ihr  Zweck,  noch  die  allgemeinen 
oder  speziellen  Merkmale,  die  an  dem  Begriff  des  Charakters 
haften ,  erfordern  diesen  Begriff.  Im  Gegenteil ,  man  kann 
diese  Instanzen  gegen  ihn  kehren.  Eine  leere  nichtssagende, 
von  allem  konkreten  religiösen  Gehalt  entblösste  Formel  ist 
der  Charakter! 

Und  doch!  der  Charakter  muss  gehalten  werden.  Der 
Prozess  ist  in  allen  Instanzen  verloren.  Das  gesteht  Duns 
selbst  ein  (§  13),  aber:  oportet  aliquam  auctoritatem  habere, 
cui  initatur  qui  ponit  eum,  et  tunc  facile  erit  solvere  quae 
obiiciuntur  (ib.) !  Merkwürdige  Worte,  die  einen  Blick  in  die 
Wissenschaft  des  Mannes  gewähren !  Die  Autorität  ist  der 
Archimedespunkt,  ist  er  gegeben,  dann  werden  alle  Einwürfe 
der  Vernunft  facile  sich  lösen  lassen. 

Was  er  hier  sucht,  findet  er  bald :  breviter  sentiendum  est 
de  sacramentis  ecclesiae,  sicut  sentit  romana  ecclesia.  Bomana 
autem  ecclesia  videtur  sentire  characterem  imprimi  in  anima 
in  baptismo.  Dafür  wird  ein  Satz  von  Innocenz  III.  ange- 
führt; dann  fährt  Duns  fort:  propter  ergo  solam  au- 
ctoritatem ecclesiae,  quantum  occurrit  ad  praesens,  est 
ponendum  characterem  imprimi  (§  14). 

3.  Jetzt  dreht  sich  plötzlich  die  ganze  Gedankenreihe 
unseres   Kritikers   um.     Es    erscheint   doch   „angemessen"  den 


Die  kirchliche  Autorität  allein  fordert  den  Charakter.  355 

Charakter  anzunehmen:  1)  Es  erscheint  als  angemessen,  dass 
für  die  supernaturale  Gnade,  eine  gewisse  superuaturale  Dispo- 
sition erschaffen  werde.  2)  Es  erscheint  als  angemessen,  dass 
Gott  niemand  das  Sakrament  umsonst  empfangen  lasse,  dass 
auch,  wenn  die  Gnade  fehlt,  ein  sonstiger  Effekt  verursacht 
werde.  3)  Es  erscheint  angemessen,  dass  die  Zugehörigkeit 
zur  Kirche  durch  ein  inneres  Zeichen  markiert  werde  (§  15). 
Das  letzte  dieser  Argumente  ist  magis  rationabilis,  es  bezieht 
sich  aber  nur  auf  die  Taufe  (§  15).  Auch  das  erste  lässt 
eigentlich  nur  die  Anwendung  auf  die  Taufe  zu.  Da  alle 
Sakramente  Gnade  bringen,  müsste  durch  alle  eine  derartige 
Disposition  erzeugt  werden,  man  kann  aber  bei  der  Be- 
schränkung auf  die  Taufe  sagen,  dass  für  sie,  als  für  das  erste 
Sakrament,  eine  solche  Disposition  notwendiger  sei.  Dagegen 
ist  das  zweite  Argument  nicht  stichhaltig,  wegen  der  Analogie 
zu  den  übrigen  Sakramenten  (§  16).  Somit  steht  die  Lehre 
lediglich  durch  die  Autorität  der  römischen  Kirche  fest,  aber 
man  kann  für  sie  doch  zwei  probable  Kongruenzgründe  in 
das  Feld  führen!  (ib.) 

Es  ergibt  sich  die  schwierige  Aufgabe  die  Gründe  zu 
entkräften,  die  er  selbst  aufgestellt  hatte.  Duns  leistet  auch 
in  dieser  Beziehung,  was  nach  Lage  der  Dinge  zu  leisten  war. 
Folgende  Selbstwiderlegungen  seien  erwähnt.  Wird  nicht  den 
Dingen  solch  ein  Charakter  aufgedrückt,  sondern  nur  dem  Men- 
schen, so  ist  auch  der  Mensch  allein  sein  fähig.  Lässt  sich 
auch  die  Notwendigkeit  nicht  erweisen,  so  genügt  doch  die 
Autorität  der  Kirche.  Könnte  Gott  nach  der  potentia  absoluta 
auch  vom  Charakter  absehen,  so  hat  seine  potentia  ordinata 
ihn  doch  gesetzt,  er  hat  eine  Vielheit  gewählt,  wo  eine  Einheit 
genügt  hätte  (§  17).  Könnte  Gott  auch  die  Verähnlichung 
und  Unterscheidung  des  Christen  dem  Nichtchristen  gegenüber 
durch  einen  vorübergehenden  Akt  hervorbringen,  so  erscheint 
es  doch  angemessen,  dass  sie  durch  eine  überbleibende  Form 
erhalten  werde.  Ebenso  kann  der  Seele  die  Verpflichtung  als 
feste  Form  eingedrückt  werden  (§  18).  Zwar  kann  Gott  sein 
Schaf  auch  ohne  dieses  Zeichen  erkennen,  aber  er  kann  es 
auch  mit  Zeichen  erkennen.  Das  Argument  mit  Christus  und 
Maria   hebt   sich   dadurch   auf,    dass   es   sich   hiebei    um   eine 

23* 


356  Kap.  IV:  Die  Lehre  von  den  Sakramenten. 

peifectio  supplens  imperfectionem  handelt  (§  19).  Auch  in 
Todsündern  will  Gott  einen  solchen  Effekt  verursachen.  Was 
die  Unzerstörbarkeit  anbetrifft,  so  lässt  Gott  übernatürliche 
Gaben  nur  durch  Sünden  zerstört  werden,  da  aber  der  Charakter 
selbst  Todsündern  mitgeteilt  wird,  so  kann  die  Sünde  ihm 
nichts  anhaben,  er  ist  somit  unzerstörbar  (§  28).  Man  liest 
diese  Ausführungen  mit  einem  gewissen  Mitleid.  Ein  so 
scharfer  Denker  wie  Duns  hat  natürlich  Zug  um  Zug  em- 
pfunden, dass  er  nichts  beweist,  sondern  dass  er  höchstens  das 
als  unnütz  und  unmöglich  Erwiesene  nun  doch  als  relativ  denkbar 
hinstellt. 

Duns  wendet  sich  sodann  der  Frage  zu,  ob  der  Charakter 
eine  forma  absoluta  sei.  Dies  hat  Thomas  behauptet.  Duns 
bestreitet  seine  Gründe  (quaest.  10).  Das  Resultat  ist,  dass 
der  Charakter  gemäss  der  Merkmale,  die  ihm  nach  der  Kirchen- 
lehre zukommen,  sehr  wohl  als  absolute  Form  gedacht  werden 
könne,  aber  ebenso  gut  als  respectus  realis  oder  eine  sachliche 
Beziehung  (§  13).  Warum  nur  drei  Sakramente  diese  un- 
verlierbare Relation  in  der  Seele  erzeugen,  beantwortet  Duns 
damit,  dass  diese  Sakramente  ihrer  Natur  nach  eine  Wieder- 
holung ausschliessen,  denn  die  Aufnahme  in  eine  Familie,  die 
Einstellung  in  den  Militärdienst  und  die  Erhebung  zum  Lehr- 
amt sind  einmalige  Akte,  die  nicht  wde  Nahrung,  Zeugung, 
Versöhnung  mit  Gott,  zu  wiederholen  sind  (§  12). 

4.  Wie  aber  eigentlich  der  Charakter  konkret  vorzustellen 
ist,  wird  hier  noch  nicht  ersichtlich.  Jetzt  aber  wendet  sich 
Duns  —  wieder  den  Thomas  bekämpfend  —  dem  neuen 
Problem  zu,  wo  der  psychologische  Sitz  des  Charakters  sei? 
Die  Gnade  ist  nach  Thomas  in  essentia  animae,  ist  nun  der 
Charakter  eine  potenzielle  Disposition  auf  die  Gnade,  so  wird 
er  in  potentia  animae  sein.  Da  aber  der  Charakter  eine  be- 
sondere Form  sein  soll,  so  kann  er  nur  in  einem  besonderen 
Seelenvermögen  sein.  Das  wird  aber  der  Intellekt  sein.  Da 
nun  aber  nach  Thomas  die  Vermögen  der  Seele  später  sind, 
als  ihre  Essenz,  gerät  er  in  Widerspruch  mit  sich  selbst,  da 
doch  die  dispositive  Wirkung  (des  Charakters)  unmöglich  an 
der  späteren  Seelenkraft  geschehen  kann  (dist.  6  quaest.  11,  2), 

Aber  auch  das  ist  nicht  richtig,   dass  die  Gnade  sich  un- 


Der  Charakter  im  Willen.  357 

mittelbar  in  der  Essenz  der  Seele  finde,  da  die  natürliche 
Seele  erst  vollendet  sein  muss,  ehe  Übernatürliches  in  ihr  ge- 
geschieht. Ist  sie  nun  vollendet,  so  fasst  sie  auch  die  Seelen- 
vermögen  in  sich,  diese  sind  also  früher  als  die  Gnade  (§  3). 
Und  auch  das  ist  falsch,  dass  Thoraas  den  Intellekt  vor  dem 
Willen  bevorzugt  (ib.).  —  Nun  ist  früher  festgestellt  worden, 
dass  die  Gnade  oder  Liebe  ihren  Sitz  im  Willen  habe  (S  304  ff.) ; 
da  der  Charakter  auf  den  Gnadenempfang  vorbereitet,  ist  er 
ebenfalls  in  den  Willen  zu  verlegen  (§  4).  Ist  aber  der 
Charakter  das  Zeichen  oder  die  Grundlage  der  Bindung  der 
Seele  an  Gott,  so  ist  es  ganz  richtig,  dass  er  in  die  Hauptkraft 
der  Seele  versetzt  ist. 

Hiernach  wäre  also  schliesslich  der  Charakter  eine  gewisse 
Bindung  der  Seele  an  Gott,  die  mit  bestimmten  Sakramenten 
zugleich  gewirkt  wird,  und  die  Seele  auf  den  Empfang  der 
Sakramente  selbst  vorbereitet.  Diese  Erörterung  verläuft  in 
ihrem  positiven  Teil  ebenso  unerfreulich,  wie  die  über  den 
Habitus  (s.  S.  307  ff.). 

5.  Das  sind  die  Grundzüge  der  scotistischen  Sakraments- 
lehre. Die  Sakramente  sind  an  sich  nur  symbolische  Hand- 
lungen. Keine  andere  Kraft  wohnt  ihnen  ein,  als  die,  dass  sie 
die  Seele  erinnern  und  hinweisen  auf  die  Gnade,  welche  sie 
abbilden.  Und  keine  andere  Kausalität  hinsichtlich  dieser 
Gnade  eignet  ihnen ,  als  die ,  dass ,  gemäss  der  Verfügung 
Gottes,  der  Anwendung  dieser  sinnlichen  Zeichen  eine  über- 
natürliche Wirkung  auf  die  Seele  parallel  laufen  soll.  Man 
sieht,  dass  diese  Anschauung  an  und  für  sich  durchaus  der 
Augustinischen  entspricht.  Das  Sakrament  als  solches  ist  nichts 
als  ein  Symbol  und  wirkt  nur  was  ein  solches  wirken  kann. 
Indem  aber  der  Gedanke  der  Zuverlässigkeit  Gottes  jene  Zeichen 
zu  sicheren  Zeichen  einer  mitwirkenden  Gnadeneinflössung  macht, 
ist  doch  wieder  das  mittelalterliche  Interesse  am  Sakrament 
gewahrt.  Aber  auch  hier  hat  man  den  Eindruck,  dass  Duns 
die  kirchlichen  Formeln  —  man  denke  vor  allem  an  den  Cha- 
rakter —  nur  konserviert,  weil  sie  eben  kirchlich  sind.  Die 
Prädestinationslehre  hat  er  in  diesem  Gedankengefüge  nicht 
benützt.  Die  „Sicherheit*^  der  sakramentalen  Zeichen  hätte 
dann  eine  andere  Deutung  erfahren  müssen. 


358  Kap.  IV:  Die  Lehre  von  den  Sakramenten;  die  Taufe. 

Aber  zum  vollen  Verständnis  dieser  Lehre  gehört  noch, 
dass  man  sich  gegenwärtig  erhält,  was  eigentlich  nach  Duns, 
der  durch  die  Sakramente,  genauer  geredet:  im  Anschluss  an 
sie,  eingeflösste  Gnadenhabitus  ist.  Nicht  sowohl  um  geistliche 
Kräfte,  einen  psychischen  „Stoff'^  oder  derartiges,  handelt  es 
sich,  sondern,  indem  Gott  der  Seele  gegenwärtig  wird,  erzeugt 
er  «ine  habituelle  Neigung  der  Seele  zu  sich  (oben  S.  315). 
Das  bewirken  die  Sakramente  also.  Das  äussere  Symbol  richtet 
die  Seele  hin  auf  Gott  und  seine  Gaben ;  dann  ist  Gott  gegen- 
wärtig der  Seele,  und  die  Seele  empfängt  die  Neigung  und  die 
Richtung  zu  ihm,  und  durch  diese  den  Antrieb  sich  zu  ergehen 
in  Thaten,  die  auf  ihn  als  Zweck  abzielen.  —  Man  muss  diese 
beiden  Seiten  des  Sakramentsbegriffes  nebeneinander  halten  — 
das  Symbol  und  die  Gnade,  wie  Duns  sie  versteht,  —  um  zu 
begreifen,  wie  sehr  er  in  diesem  Hauptpunkt  des  kirchlichen 
Lebens  seiner  Zeit,  wenn  man  der  Sache  auf  den  Grund 
sieht,  von  dem  Gehalt  der  Kirchenlehre  abweicht.  Dort  eine 
heilige  supernaturale  Naturkraft,  die  dujch  den  Spruch  des 
Priesters  in  ein  Ding  der  Sinnenwelt  gebannt,  eine  neue  geistliche 
Substanz  im  Menschen  erzeugt;  bei  Duns  ein  psychologischer 
Prozess:  heilige  Symbole  vermitteln  Gottes  Gegenwart  und 
diese  zieht  unser  Herz  zu  Gott  empor.  Man  muss  dieser  Grund- 
differenzen bei  den  einzelnen  Sakramenten  eingedenk  bleiben. 
Immer  wieder  wird  man  durch  psychologische  Erörterungen  über 
die  Wirkung  der  Sakramente  überrascht  (s.  bes.  die  Busse, 
aber  auch  das  Abendmahl);  darin  liegt  aber  für  den  nichts 
Auffallendes,  der  verstanden  hat,  dass  der  übernatürliche  Ha- 
bitus, den  die  Gnade  durch  die  Sakramente  erzeugt,  eben  nichts 
anderes  ist,  als  die  E-ichtung  der  Seele  auf  Gott. 


II.  Die  einzelnen  Sakramente. 

1.    Die  Taufe. 

1.  Bezüglich  einiger  Sakramente  können  wir  uns  im  Ein- 
zelnen kürzer  fassen,  da  unsere  Darstellung  natürlich  die  üb- 
liche Kenntnis  der  mittelalterlichen  Dogmengeschichte  vor- 
aussetzt. 


Form  und  Materie  der  Taufe.  359 

Zuerst  über  die  Taufe  einige  Bemerkungen.  Die  Form  — 
der  Ausdruck  in  ungenauerem  Sinn  (s.  S.  350)  gebraucht  — 
sind  die  Worte :  ego  baptizo  te  in  nomine  etc.  Diese  Form 
muss  der  Priester  der  ecclesia  romana  notwendig  befolgen 
(dist.  3  quaest.  2,  5).  Sie  ist  deshalb  genau  einzuhalten,  da 
die  Kirche  verfügt  hat,  quod  officia  ecclesiastica  dicantur  et 
sacramenta  ministrentur  in  latino  grammatico,  et  hoc  rationa- 
biliter,  quia  istud  distinctius  potest  scribi  et  proferri  (ib.  8). 
Es  ist  also  nicht  erlaubt,  für  die  drei  Personen  andere  Aus- 
drücke, wie  genitor  und  genitus  oder  das  zusammenfassende 
trinitas,  zu  brauchen.  Nun  ist  aber  in  der  ältesten  Zeit  auf 
den  Namen  Christi  allein  getauft  worden.  Da  Duns  nicht  sieht, 
ob  diese  ,, Dispensation''  von  der  Kirche  jemals  zurückgenommen 
wurde,  so  ist  es  ihm  zweifelhaft,  ob  heute  eine  so  vollzogene 
Taufe  giltig  ist  oder  nicht.  Es  scheint  also  sicher  zu  sein,  bei 
so  Getauften  eine  bedingungsweise  Wiedertaufe  vorzunehmen, 
wie  bei  solchen,  von  denen  nicht  bekannt  ist,  ob  sie  schon  ge- 
tauft, mit  der  Formel :  si  baptizatus  es,  non  baptizo  te ;  sed  si 
non  es  baptizatus,  ego  te  baptizo  in  nomine  patris  etc.  (§  10). 
Geringfügige  Auslassungen  (§  11)  oder  aus  Unkenntnis  her- 
rührende Sprachfehler  (z.  B.  in  nomine  patria  et  filia  et  sj^iritu 
sancta  §  12)  heben  dagegen  den  sakramentalen  Charakter 
nicht  auf. 

Wasser  ist  die  Materie,  nicht  künstliches  Wasser  (dist.  3 
quaest.  3,  3).  Ob  aber  Wasser,  welches  gekocht  wurde,  in 
das  Mehl  und  Fleisch  hineinkamen,  ob  Bier  noch  als  wirkKches 
Wasser  bezeichnet  werden  können,  das  zu  untersuchen  ist  Auf- 
gabe der  Naturphilosophen,  da  es  sich  darum  handelt,  ob  die 
species  des  Wassers  trotz  jener  Zusätze  erhalten  geblieben 
(ib.  §  5).  Durch  die  Taufe  wurde  die  Beschneidung  aufgehoben 
(dist.  3  quaest.  4).^)  Übrigens  wird  Gleichzeitigkeit  der  An- 
wendung des  Wassers  und  der  begleitenden  Worte  für  die 
Taufe,  wie  auch  für  die  übrigen  Sakramente  erfordert,  da  näm- 
lich nur  die  Vereinigung  beider  das  signum  bildet,  nicht  das 
eine  für  sich  ohne  das  andere.     In  den  Betrachtungen,  die  an- 


^)  S,  die  interessanten  Bemerkungen  über  den  Streit  zwischen  Petrus 
und  Paulus  in  Antiochien  IV  dist.  3  quaest,  4  §  14  ff. 


360  Kap.  IV :  Die  Lehre  von  den  Sakramenten ;  die  Taufe, 

lässlich  dieses  Gedankens  von  anderen  angestellt  wurden,  ob 
nämlich  ein  Esel  das  Sakrament  trinken  könne,  erblickt  Duns 
mit  Recht  subtilitates  asininae !  Er  macht  dem  gegenüber  die 
treffende  Bemerkung,  dass  es  nicht  auf  das  Wasser,  sondern 
auf  die  ablutio  in  aqua  ankomme,  und  dass  diese  sich  kein 
Esel  durch  Trinken  aneignen  könne  (dist.  6  quaest.  3,  2). 
Unter  Gleichzeitigkeit  ist  nicht  mehr  zu  verstehen,  als  man  in 
Anwendung  auf  menschliche  Handlungen  unter  diesem  Begriff 
versteht:  quando  incipit  unum,  antequam  totaliter  finiat  aliud 
(ib.  §  4). 

2.  Bei  der  Kindertaufe  setzt  sich  Duns  ziemlich  eingehend 
mit  den  gegen  sie  erhobenen  Einwendungen  auseinander  (ib. 
dist.  4  quaest.  2),  vor  allem  damit,  dass  der  Glaube  die  Vor- 
aussetzung des  Gnadenempfanges  sei,  weil  er  die  erste  Ver- 
bindung der  Seele  mit  Gott  sei  und  doch  eine  derartige  Ver- 
bindung notwendig  dem  Gnadenempfang  vorangehen  müsse  (ib. 
§  1.  2).  Wiewohl  das  Vorhandensein  des  Glaubens  im  ge- 
tauften Kind  nicht  beweisbar  ist,  ist  es  doch  anzunehmen,  da 
Gottes  Werke  vollkommen  sind.  Sagt  man  weiter,  es  müsse 
dem  Sakramentsempfaug  eine  erfüllte  Bedingung  vorangehen, 
so  ist  das  weder  auf  den  Glauben  der  Eltern  zu  beziehen  — 
sie  können  ja  Häretiker  und  Ungläubige  sein,  ohne  dass  da- 
durch die  Giltigkeit  der  Taufe  angetastet  wird  — ,  noch  auf 
den  Glauben  der  Kirche  —  denn  auch,  wenn  niemand  in  dieser 
gläubig  wäre,  könnte  man  eine  giltige  Taufe  sich  vorstellen. 
Duns  sagt,  dass  freilich  eine  meritorische  Ursache  für  die 
Gnadenerteilung  anzunehmen  sei,  dass  aber  als  solche  nur 
Christus  —  nicht  irgend  eine  innere,  dem  Guadenempfang  vor- 
angehende —  in  Betracht  komme  (ib.  §  3.  4).  — 

Duns  erörtert  weiter  die  Frage,  ob  ein  Kind  im  Mutter- 
leibe getauft  werden  könne.  Sie  wird  verneint  für  den  Fall, 
dass  das  ganze  Kind  noch  im  Mutterleib  ist,  da  die  Taufe 
eine  Abwaschung  mit  Wasser  oder  eine  Eintauchung  in  das- 
selbe verlange.  Dagegen  wäre  eine  Taufe  wohl  möglich,  wenn 
das  Haupt  oder  auch  nur  Hand  oder  Fuss  aus  dem  Mutter- 
schosse hervorgekommen  sind  (ib.  quaest.  3,  3). 

3.  Von  Interesse  ist  die  Besprechung  der  Frage,  ob  ein 
non  consentiens  die  Wirkung  der  Taufe  erhalten  könne  (quaest.  4). 


Die  Taufe  von  Kindern  und  Heuchlern,  361 

Hier  handelt  es  sich  um  Wahnsinnige  oder  Blödsinnige.  Die- 
selben sind  zu  taufen,  quia  nuHi  deus  excludit  remedium  ad 
salutem  (quaest.  4,  2);  nur  thut  man  gut,  auf  einen  lichten 
Moment  zu  warten,  falls  ein  solcher  überhaupt  zu  erwarten  ist. 
Bei  vernünftigen  erwachsenen  Menschen,  die  nicht  consen- 
tienties  sind,  muss  unterschieden  werden  die  Negation  des  actu- 
ahs  consensus  und  ein  actualis  dissensus.  Wer  nun  in  dieser 
doppelten  Weise  dissentiert,  der  empfängt  nicht  das  Sakrament, 
da  Gott  niemand  wider  seinen  Willen  der  Familie  Christi  ein- 
fügt (§  3).  Wenn  aber  jemand  nur  secundum  quid  dissentiat  — 
also  nur  aus  Furcht  — ,  im  übrigen  aber  den  sakramentalen 
Charakter  der  Handlung  anerkennt,  so  empfängt  er  wirklich  das 
Sakrament  (§  3).  Das  wäre  selbst  dann  der  Fall,  wenn  diese 
Zustimmung  in  ihm  nur  in  virtueller  Gestalt,  wie  etwa  im 
Schlaf,  vorhanden  wäre  (§  6).  Der  Heuchler,  der  in  Wirklich- 
keit das  Sakrament  im  Sinne  der  Kirche  nicht  will,  emptängt 
nicht  die  Wirkung  des  Sakraments  (quaest.  5,  2),  es  sei  denn, 
dass  er  in  der  Busse  seine  Heuchelei  bereut,  da  natürlich  die 
Taufe  an  ihm  nicht  wiederholt  werden  kann  (§  3).  In  diesem 
Fall  wird  dann  die  Taufgnade  an  ihm  wirksam  werden  und 
zwar  in  Bezug  auf  alle  vor  seiner  Taufe  begangenen  Sünden, 
natürlich  mit  Ausnahme  jener  Sünde  der  Heuchelei,  welche 
die  Taufgnade  behinderte  und  erst  durch  die  Busse  zu  tilgen 
war.  Sicut  deus  signo  suo  prius  astitisset  ad  causandum  effectum 
eins  vel  dandum,  quando  suscipiatur,  nisi  fuisset  impedimentum 
in  suscipiente,  ita  paratus  est  semper  post  susceptionem  eius 
signi  assistere  ei  qui  suscepit  ad  causandum  effectum  eius, 
quando  cessat  illud  impedimentum  .(§  4). 

4.  Der  Erfolg  der  Taufe  hängt  somit  ab  von  Gott  als  der 
causa  principalis,  von  Christi  Leiden  als  der  causa  meritoria 
und  vom  Empfänger  des  Sakraments.  Jeder  dieser  Faktoren 
ermöglicht  nun  eine  Abstufung  der  Gnadengabe.  Indem  Gott 
sich  dazu  bestimmt  hat,  die  Anwendung  des  Taufzeichens  mit 
seiner  Gegenwart  zu  begleiten,  ist  freilich  wegen  der  certitudo 
signi  ein  bestimmter  Gnadeneffekt  bei  jeder  Taufe  zu  erwarten, 
aber  warum  sollte  Gott  nicht  die  einen  Erwählten  zu  einer 
höheren,  die  anderen  zu  einer  niedrigeren  Stufe  der  Herrlich- 
keit  prädestiniert    haben?     Aber    dies    würde    nur    den    Sinn 


362         Kap.  IV:  Die  Lehre  von  den  Sakramenten;  die  Taufe. 

haben,  dass  Gott  dem  einen  eine  specialis  benevolentia  zu- 
wenden wollte,  nicht  aber,  dass  dies  das  Gewöhnliche  überragende 
Gnadenmass  an  die  Taufe  geschlossen  sei.  Sonach  kann  man 
unter  diesem  Gesichtspunkt  dabei  bleiben,  dass  das  gleiche 
Mass  der  Gnade  in  der  Taufe  allen  mitgeteilt  wird  (dist.  4 
quaest.  7,  3).  Ebenso  kann  man  in  Bezug  auf  Christus  sagen, 
dass  er  für  die  einen,  nämlich  die  Erwählten  und  die  zu  einer 
höheren  Gnade  Erwählten ,  in  vollerer  Weise  seine  Passion 
darzubringen  die  Absicht  hatte,  et  praecipue  cum  se  offerret 
pro  genere  humano  ad  hoc,  ut  de  eis  impleretur  divina  prae- 
destinatio  (§  4).  Ebenso  darf  man  sagen,  dass  für  uns,  die 
wir  uns  in  lege  evangelica  befinden,  der  Gehorsam  Christi,  als 
ein  bereits  eingetretener,  kräftiger  wirksam  ist,  als  für  die 
Patriarchen,  für  die  er  als  erst  zukünftig  in  Betracht  kam. 
Beschneidung  und  Taufe  haben  ja  propter  inaequalem  appli- 
cationem  causae  meritoriae  nicht  den  gleichen  Effekt.  Duns 
spricht  sich  hier  freilich  nicht  recht  deutlich  aus:  dubium  est 
de  facto,  sed  possibilitas  et  ostensa  (§  4).  Denkt  man  endlich 
an  die  gewöhnlichen  Emplänger  der  Taufe,  an  die  Kinder,  so 
ist  hier  die  Bedingung  zum  Empfang  die  gleiche,  also  kann 
von  hier  aus  nicht  auf  eine  Ungleichheit  der  Gabe  geschlossen 
werden.  Nimmt  man  aber  an,  dass  die  Eltern  des  einen 
Kindes  einen  maior  motus  als  die  des  anderen  haben,  oder  dass 
der  fromme  Priester  erhörlicher  betet  als  der  gottlose,  so 
kommt  die  durch  das  eine  oder  andere  etwa  bewirkte  Gnaden- 
mehrung nicht  sowohl  auf  die  Rechnung  des  Sakraments,  als 
des  meritum  der  Eltern  oder  des  Priesters  (ib.  5),  ist  doch 
der  Erfolg  des  Sakraments  von  der  sittlichen  Beschaffenheit 
des  redenden  Priesters  völlig  unabhängig  (dist.  5  quaest.  1,  5; 
2,  5).  Weiter  wird  gelehrt,  dass  die  erwachsenen  Täuflinge, 
indem  sie  vor  der  Taufe,  durch  das  Nichtvorschieben  des 
obex,  aliquem  motum  disponentem  und  ein  gewisses  Verdienst 
aufzubringen  vermögen,  also  zur  Taufe  besser  disponiert  sind 
als  die  Kinder  (§  5).  Dico,  quod  magis  et  minus  participant 
effectum  baptismi  secundum  quod  magis  et  minus  per  opera 
propria  sunt  dispositi  ad  fidem  et  devotionem  (Eeport.  IV 
dist.  4  quaest.  7  §  2). 

5.  Diese  zuletzt  gehörten  Bemerkungen  sind  in  ihrem  Zu- 


Das  Gnadenmass,  unfreiwillige  Taufen.  363 

sammenhaDg  überraschend.  Sie  zeigen,  dass  Duns,  trotz  aller 
Versicherungen  vom  signum  certum,  seinen  Gottesbegriff  nicht 
vergessen  hat.  Zwar  weist  Duns  zurück,  dass  Gott  durch  die 
Taufe  ein  verschiedenes  Mass  von  Gnade  erteile.  Aber,  wenn 
es  denkbar  ist,  dass  Christi  Werk  in  verschiedenem  Mass  für 
die  einzelnen  wirksam  wird,  warum  ist  jenes  erste  abzuweisen, 
ist  es  nicht  in  dem  zweiten  implicite  enthalten  ?  Ja,  müsste  nicht 
wenn  man  mit  dem  Gottes-  und  Prädestinationsgedanken  des 
Duns  Ernst  machte,  die  Sicherheit  der  Zeichen  nur  auf  die 
Erwählten  bezogen  werden  ?  Oder  sind  etwa  alle ,  die  zur 
Taufe  gelangen,  erwählt?  Aber  auch  hier  hat  die  kirchliche 
Praxis  die  Konsequenz  der  Gedanken  eingeschränkt.  Noch 
merkwürdiger  ist  die  Bemerkung  des  Duns  über  die  Möglichkeit 
einer  reicheren  Taufgnade  für  die  durch  ihre  Verdienste  — 
gemeint  ist  natürlich  das  meritum  de  congruo  s.  S.  322  — 
auf  dieselbe  prädisponierten  Erwachsenen.  Dieser  Gedanke 
beweist  ziemlich  deutlich  den  Zusammenhang  der  täuferischen 
Praxis  mit  der  scotistischen  Dogmatik.  Denn  wenn  wirklich 
die  Gnadenmitteilung  eine  grössere  wird,  wenn  der  Mensch 
sich  durch  Verdienste  auf  die  Taufe  vorbereitet,  und  wenn 
letzteres,  auch  abgesehen  von  der  Taufe  möglich  ist,  warum 
sollte  dann  nicht  die  Taufe  auf  eine  Zeit  verschoben  werden, 
da  die  Bethätigung  solcher  Verdienste  bereits  sicher,  und  die 
möglichst  gesteigerte  Wirkung  der  Taufe  dadurch  garantiert  ist  ? 
6.  In  der  9.  Quästion  beantwortet  Duns  sodann  die  Frage, 
ob  Kinder  von  Juden  und  Heiden  auch  gegen  den  Willen 
ihrer  Eltern  getauft  werden  dürfen  ?  Nun  kann  allerdings  gegen 
einen  Privatmann,  der  dies  thun  wollte,  geltend  gemacht  werden, 
dass  die  Eltern  ein  Recht  auf  ihre  Kinder  haben.  Allein 
diese  privatrechtliche  Beschränkung  kommt  in  Wegfall,  wenn 
man  den  Fürsten  als  den^  der  jene  Kinder  taufen  lässt,  denkt. 
Denn  der  Fürst  hätte  in  diesem  Falle  die  Aufgabe  das  höhere 
Recht  gegen  das  niedere  zur  Geltung  zu  bringen,  oder  das 
Recht  des  dominus  inferior  zu  gunsten  des  dominus  superior 
aufzuheben.  Der  Fürst  muss  also,  wenn  jemand  Knecht  des 
Titius,  Titius  aber  Knecht  des  Petrus  ist,  vor  allem  das  Recht 
des  Petrus  auf  den  betreffenden  ersten  Knecht  wahren,  für 
den  Fall,  dass  Titius  ihn^nur  für  sich  brauchen  wollte.    Folglich 


364  Kap.  IV:  Die  Lehre  von  den  Sakramenten;  die  Taufe. 

muss  er  auch  das  Recht  Gottes  über  das  Recht  der  Eltern  stellen 
(quaest.  9,  1).  Judenkinder  dürfen  sonach  zwangsweise  getauft 
werden,  wobei  allerdings  vorausgesetzt  ist  die  Vorsorge  für 
eine  christliche  Erziehung  (§  2),  das  heisst  aber  doch,  dass 
sie  den  Eltern  genomraen  worden.  ^)  Ja  selbst  das  erscheint 
Duns  als  richtig,  dass  man  auch  erwachsene  Juden  gewaltsam 
taufe,  denn  ob  sie  auch  ungläubig  blieben,  wäre  es  ihnen  doch 
besser  ihre  unerlaubte  Religion  nicht  ungestraft  ausüben,  als 
sie  frei  behalten  zu  dürfen :  Item  filii  eorum ,  si  bene  edu- 
carentur,  in  tertia  et  quarta  progenie  essent  vere  fideles  (§  2). 
Wendet  man  aber  hiegegen  ein ,  es  müsse  doch  bis  zu  Ende 
aller  Tage  Juden  geben  zur  Erfüllung  der  biblischen  Weissagung, 
indem  sie  sowohl  dann  Anhänger  des  Antichrists  sein  werden, 
als  sich  zu  Christo  bekehren  werden,  so  meint  Duns,  dazu 
bedürfte  es  doch  nicht  so  vieler  Juden  in  so  vielen  Welt- 
gegenden, quia  finalis  fructus  de  eis  ecclesiae  est  et  erit  modicus. 
Unde  sufficeret,  aliquos  paucos  in  aliqua  insula  sequestratos 
permitti  legem  suam  servare,  de  quibus  tandem  prophetia 
Isaiae  (Jes.  10,  22,  cf.  Rom.  9,  27)  impleretur  (§  3).  Auch 
eine  Lösung  der  „Judenfrage"  !  ^) 

7.  In  der  1.  und  2.  Quästion  der  5.  Distinktion  wdrd  die 
Frage  nach  der  sittlichen  Beschaffenheit  des  Täufers  dahin 
beschieden,  dass  dieselbe  an  und  für  sich  die  Taufe  nicht  be- 
einträchtigt. Wo  dagegen  der  Priester  Geld  für  den  actus 
baptizandi  verlangt,  also  völlig  der  Simonie  ergeben  ist,  da  ist 
es  Todsünde  für  sich  oder  sein  Kind  bei  ihm  die  Taufe  zu 
begehren.  Da  taufe  man  das  Kind  lieber  selbst.  Indessen 
wird  dieser  Fall  kaum  je  real  werden.  Denn  wenn  ein  Priester 
aquam   suam    durchaus    verkaufen    will,    so   kann    man    es  ja 


^)  Thomas  dagegen  hat  gemeint,  es  sei  ein  Verstoss  wider  das  Natur- 
recht, unmündige  Kinder  der  Sorge  und  Entscheidung  der  Eltern  zu  ent- 
ziehen. Obgleich  die  Juden  servi  principum  Servitute  civili  seien,  würde 
dadurch  der  ordo  iuris  naturalis  vel  divini  für  sie  nicht  aufgehoben 
(Samm.  II.  II  quaest.  10  art.  12). 

^)  Über  die  Juden  hat  Grosseteste  eingehend  gehandelt  in  der  Schrift 
De  cessatione  legalium  (Lugdun.  1652  und  London  1658),  vgl.  Feiten, 
Hob.  Grosseteste  S.  76 f.  91.  S.  noch  Guttmann,  Die  Beziehungen  des 
Joh.  D.  Scot.  zum  Judentum,  Jüd.  Monatsschrift  1893,  26  ff. 


Die  Konfirmation.  365 

kaufen,  indem  man  an  das  Wasser,  aber  keineswegs  an  die 
Weihe  denkt!  Und  ebenso,  falls  der  Priester  darauf  besteht, 
den  actus  baptizationis  zu  verkaufen,  so  denke  man  bei  der 
Bezahlung  nicht  an  den  Akt  als  Sakrament,  sondern  sofern  er 
dem  Priester  Mühe  verursacht,  gerade  so  wie  der  Priester  sonst 
für  die  Mühe  bezahlt  wird :  ipsi  vendunt  laborem  et  alii  emunt 
eum,  quia  oportet  unum  quemque  de  suo  labore  taliter  qualiter 
victitare  et  vitam  acquirere  (quaest.  2 ,  7).  Uns  begegnet 
hier  einer  jener  Vorläufer  jesuitischer  Kasuistik,  die  bei  Duns 
nicht  ganz  selten  sind. 

Über  die  Bedeutung  der  Intention  wurde  bereits  oben  das 
Hergehörige  referiert,  s.  S.  350. 

8.  Der  Grund  für  die  Unwiederholbarkeit  der  Taufe  ist 
die  göttliche  Einsetzung  oder  der  göttliche  Wille.  Doch  kann 
diese  Einrichtung  auch  als  vernünftig  erwiesen  werden.  Die 
Taufe  ist  nämlich  vor  allem  gegen  die  Erbsünde  eingesetzt; 
wie  diese  eine  und  un wiederholbar  ist,  so  auch  das  Mittel 
wider  sie.  Oder :  da  die  Taufe  plena  remissio  poenae  et  culpae 
bringt,  so  w^ürde  der  Mensch  —  wenn  er  öfter  diese  volle  Ver- 
gebung erlangen  könnte  —  leichter  sündigen,  als  bei  der  Ein- 
maligkeit. Es  wäre  dieses  Mittel  nämlich  bequemer  als  das 
Busssakrament,  das  eine  grosse  Strafe  für  die  Sünde  erlegen 
lässt.  Zum  dritten  ist  die  Taufe  einmalig,  weil  sie  den  Ein- 
tritt in  die  Familie  Christi  bezeichnet  (dist.  6  quaest.  7,  3). 
Den  Schluss  der  Tauflehre  bildet  eine  ausführliche  Definition: 
Baptismus  est  ablutio  hominis  viatoris  aliqualiter  consentientis 
vel  libero  arbitrio  nunquam  usi,  facta  in  aqua  elementari 
fluida  ab  alio  simul  abluente  et  verba  certa  actum  et  susci- 
pientem  cum  invocatione  trinitatis  designantia  proferente  tarn 
in  abluendo  quam  in  proferendo,  intendente  facere  quod 
Christus  instituit  faciendum,  vel  quod  inten dit  facere  ecclesia 
christiana,  efficaciter  signans  ex  institutione  divina  ablutionem 
animae  a  peccatis  (dist.  6  quaest.  11,  5). 

2.  Die  Konfirmation. 

Die  Konfirmation  wird  IV  dist.  7  quaest.  1,  1  definiert, 
dann  wird  von  Materie  und  Form  gehandelt  (§  2).  Die  Not- 
wendigkeit ist  keine    absolute,    es   wäre    aber  Verachtung,  das 


366     Kap.  IV:  Die  Lehre  von  den  Sakramenten;  das  Abendmahl. 

Sakrament  sich  nicht  erteilen  zu  lassen,  wo  die  Möglichkeit 
gegeben  ist  (quaest.  2,  1).  An  sich  ist  freilich  die  Taufe  an  Voll- 
kommenheit der  Konfirmation  überlegen,  doch  überragt  diese  jene 
durch  die  Person  des   sie  verwaltenden  Dieners  (quaest.  3,  2). 

3.  Das  Abendmahl. 

Wir  kommen  jetzt  zur  Lehre  vom  Abendmahl. 

1.  Die  Betrachtung  des  Duns  nimmt  ihren  Ausgang  von 
dem  Zweifel,  ob  das  Abendmahl,  wie  die  übrigen  Sakramente, 
ein  Symbol  sei,  das  am  Empfänger  durch  das,  was  es  abbildet, 
wirksam  wird  (IV  dist.  8  quaest.  1,  1).  Im  Abendmahl  ist  Leib 
und  Blut  Christi  sub  speciebus  panis  et  vini  gegenwärtig,  die 
ihrerseits,  nach  Gottes  Einrichtung,  Leib  und  Blut  bezeichnen. 
Dies  Verhältnis  des  Leibes  Christi  zum  Brot  ist  ebenso  mög- 
lich als  angemessen.  Und  zwar  sowohl  deshalb,  weil  hiedurch 
die  Messe  besondere  Bedeutung  erhält  (quasi  omnis  devotio 
in  ecclesia  est  in  ordine  ad  illud  sacramentum),  als  auch  weil 
Brot  und  Wein  schickliche  Symbole  der  geistlichen  Er- 
nährung, und  die  Priester  die  geeigneten  Personen  dazu 
sind:  per  cuius  actum  ministerialem  Christus  sie  incipiat  esse 
nobiscum  (§  2.  3).  Von  dem  Abendmahl  kann  nun  auf  Grund 
dieser  Verbindung  von  Zeichen  und  Sache  behauptet  werden, 
dass  es  die  übrigen  Sakramente  an  Vollkommenheit  überrage, 
sowohl  deshalb  weil  hier  schlechthin  immer  das  signatum  dem 
Signum  entspricht,  ganz  unabhängig  von  der  Disposition  der 
etwaigen  Empfänger ,  als  auch  deshalb :  quia  quod  significat 
istud  sacramentum,  hoc  realiter  continet  (§  5),  denn  hoc  modo 
instituit  istas  species,  ut  post  consecrationem  assistat  eis  ad 
praesentiam  corporis  Christi  (§  6).  Während  endlich  alle 
übrigen  Sakramente  consistunt  in  usu  et  in  fieri,  gilt  vom 
Abendmahl:  in  termino  prolationis  verborum  incipit  esse 
sacramentum.  Der  Leib  ist  ja  gegenwärtig  ante  und  post 
usum  (§  5). 

2.  Unter  „Brot"  ist  ungesäuertes  Weizenbrot  zu  verstehen. 
Die  Griechen  brauchen  auf  Grund  der  Annahme,  dass  Christus 
das  Passahlamm  schon  am  13.  Nisan  gegessen  habe,  gesäuertes 
Brot  (dist.  11  quaest.  6,  4.  5).  Da  aber  nach  Anselm  „de 
azymo     et    fermentato"     zwischen    beiden     ein     substanzieller 


Die  Elemente,  die  Konsekration.  367 

Unterschied  nicht  besteht,  so  haben  auch  die  Griechen  ein 
wirkliches  Abendmahl.  Wenn  zur  Zeit  Leos  man  auch  in  der 
römischen  Kirche  gesäuertes  Brot  brauchte ,  so  sei  das  ge- 
schehen, um  dem  iudaizare  der  Ebjoniten  zu  widerstehen. 
Später  sei  die  abendländische  Kirche  zurückgekehrt  zur  Ein- 
setzung Christi,  der  erst  am  14.  Nisan  das  Mahl  als  echte 
Passahmahlzeit  hielt,  et  promulgationi  factae  per  eins  vicarium 
Petrum.  Im  Abendland  ist  die  Feier  in  ungesäuertem  Brot 
jedenfalls  nötig,  et  forte  etiara  graviter  peccant  Graeci,  qui 
non  se  conformant  ecclesiae  Petri  (ib.  6).  Vinum  artificiale 
oder  vinum  pomorum  sind  nicht  das  rechte  Element  (qu.  7,  1). 
Wasser  dem  Wein  beizumengen  ist  an  sich  nicht  nötig;  jeden- 
falls soll  es  aber  nur  wenig  sein,  und  soll  die  Beifügung  so 
früh  geschehen,  dass  zur  Zeit  der  Konsekration  das  Wasser 
schon  in  Wein  verwandelt  sein  kann  (ib.  2). 

3.  Diese  G-egenwart  des  Leibes  wird  bewirkt  durch  die 
Worte  der  Konsekration,  deren  Substanz  das  hoc  est  corpus 
meum  ist  (dist.  8,  qu.  2,  4).  Die  Konsekrationsworte  werden, 
dabei  angesehen  als  das  sinnliche  Zeichen,  welches  die  Dispo- 
sition bildet,  deren  Eintritt  die  göttliche  Wirkung  folgt  vermöge 
des  Paktes  Gottes  mit  der  Kirche.  Theologo  sufficit,  quod 
ista  oratio,  ut  est  tale  signum  sensibile  institutum  a  deo,  est 
instrumentum  dei  ad  consecrationem  illam,  quae  aequitur  in 
ultimo  instanti,  ita  quod  deus  assistit  sibi  tanquam  cuidam 
dispositioni  praeviae  efficaci,  ut  ea  completa  causet  talem 
effectum  invisibilem  (§  23).  Also  sind  die  Konsekrationsworte 
freilich  signum  efficax,  respectu  consecrationis ,  quia  dispositio 
praevia  cui  deus  ex  pacto  assistit  ad  causandum  effectum  effi- 
caciter  in  termino  (24).  Indem  also  die  Konsekrationsworte 
gesprochen  werden,  vollzieht  Gott  die  Konsekration.  Da  nun 
aber  die  Verwandlung  unter  Voraussetzung  der  Einsetzung 
von  Gott  vollzogen  wird,  so  wird  sie  im  Verlauf  der  Rezitation 
der  Konsekrationsworte,  und  nicht  erst  nach  ihrer  Vollendung 
eintreten  (§  19  ff.).  Die  göttliche  Tliat  folgt  sonach  logisch 
dem  Menschenwort,  ist  ihm  aber,  zeitlich  betrachtet,  gleichzeitig. 

4.  Doch  dies  führt  uns  zu  der  Hauptsache.  Darin  besteht 
sie,  dass  der  Leib  Christi  in  der  Eucharistie  enthalten  ist 
(IV  dist.  10  init.).     Hiebei    erheben    sich    aber    drei   Fragen, 


368     Kap.  IV:  Die  Lohre  von  den  Sakramenten;  das  Abendmahl. 

nämlich  1)  ol)  die  Existenz  dos  Leibes  Christi  im  Abendmahl 
möglich  sei,  2)  die  Frage  darnach,  was  dem  Leibe  Christi  zu- 
kommt, und  3)  nach  der  dem  in  der  Hostie  beschlossenen 
Christo  etwa  zustehenden  Thätigkeit? 

Die  Erörterung  der  ersten  Frage  wird  eröffnet  durch  eine 
Anzahl  von  Gegengründen:  1)  da  die  Spezies  (les  Brotes  sich 
nicht  ändert  in  Beziehung  auf  den  von  ihr  beschlossenen  Leib, 
so  müsste  eine  Änderung  des  Leibes  in  Bezug  auf  das  Brot 
angenommen  werden,  was  aber  unmöglich  ist,  da  der  Leib  im 
Himmel  bleibt  (IV  d.  10  qu.  1,  1).  2)  Der  Leib  kann  als 
Quantum  oder  Nicht- quantum  vorgestellt  werden.  Da  er  im 
Himmel  Quantum  ist,  muss  er  es  auch  auf  Erden  sein.  Dies 
aber  scheint  unmöglich  zu  sein,  da  ein  Quantum  von  dem 
modus  quantitatis  nicht  getrennt  werden  kann.  Ein  solcher 
aber  ist  unannehmbar  für  Christi  Leib  im  Abendmahl,  müsste 
doch  sonst  das  grössere  Quantum  im  kleineren  enthalten  sein 
(ib.  §  2).  3)  Es  wäre  anzunehmen,  dass  die  Teile  des  Leibes 
den  Teilen  der  Hostie  korrespondieren ;  ist  dies  nicht  denkbar, 
so  kann  von  einem  quantitativen  Sein  des  Leibes  Christi  im 
Abendmahl  nicht  die  Rede  sein  (ib.). 

Die  eigentliche  Erörterung  der  Frage  beginnt  mit  der 
Bemerkung,  dass  zweierlei  festzustellen  sei:  1)  quid  tenendum 
est  et  propter  quam  auctoritatem,  dann  2)  declarandum  est, 
qualiter  illud  est  possibile  quod  creditur.  —  Die  Gegenwart 
des  Leibes  Christi  gehört  aber  zur  Glaubenssubstanz  wiegen 
der  Einsetzungsworte,  denn  es  ist  klar,  dass  diese  eigentlich, 
und  nicht  figurative  zu  verstehen  seien.  Zu  letzterer  Auf- 
fassung sei  man  nur  dort,  wo  es  der  Zusammenhang  erfordert, 
berechtigt.  Also  etwa  wenn  Christus  sich  den  Weinstock,  die 
Jünger  aber  die  Reben  nennt  (ib.  3).  Darnach  legen  mit  Recht 
alle  rechtgläubigen  Lehrer  die  Einsetzungsworte  de  reali  prae- 
sentia  corporis  Christi,  non  figurative  aus.  ünde  sit  simpliciter 
haeresis  hodie  sentire,  quod  non  sit  ibi  realiter  verum  corpus 
Christi  (4). 

5.  Aber  jetzt  erhebt  sich  die  schwierige  Frage,  wie  denn 
der  Leib  Christi,  der  im  Himmel  ist,  auf  dem  Altar  zu  sein 
anfange;  und  wie  derselbe  ohne  Quantität  in  quantitativer 
Weise  auf  dem  Altar  vorgestellt  w^erden  könne.  —  Hinsichtlich 


Der  himmlische  Leib  auf  dem  Altar.  369 

ersterer  Frage  hätten  Thomas  und  Varro  ein  Anfangen  des 
Seins  des  Leihes  auf  dem  Altar  in  Ahrede  gestellt,  die  Trans- 
substantiation  bewirke  nur  für  das  Brot  oder  den  lerminus  a 
quo  eine  Veränderung,  indem  es  zu  sein  aufhört,  dagegen  sei 
für  den  tcrminus  ad  quem  eine  Veränderung  nicht  erforderlich 
(§  5).  Dem  gegenüber  zeigt  nun  Duns,  dass  diese  Annahme 
freilich  erkläre ,  dass  das  Brot  in  die  Substanz  des  Leibes 
übergehe,  aber  durchaus  nicht  die  Gegenwart  dieses  Leibes 
deutlich  mache  (6),  könnte  doch,  trotz  der  Wandlung  des 
Brotes,  der  Leib  im  Himmel  an  seinem  Ort  bleiben  (8).  Dazu 
kommt,  dass  ja  Gott  den  Leib  auch  ohne  Transsubstantiation 
—  manente  substantia  panis  —  gegenwärtig  werden  lassen 
kcmnte  (7).  Ferner  w^ürde  bei  jener  Annahme  vom  Abend- 
mahlsleibe nicht  das  ubi  definitive  ausgesagt  werden  können. 
Wie  nämlich  der  durch  Wandlung  hergestellte  Leib  Christi 
nicht  das  ubi  circumscriptive,  d.  h.  das  Korrespondieren  zu  den 
Raumteilen  des  Brotes  hätte,  so  auch  nicht  das  ubi  definitive, 
d.  h.  das  Eingeschlossensein  in  einen  Baum  ohne  circumscrip- 
tives  Ausfüllen  seiner  Teile  (8).  —  Es  ist  sonach  nicht  nötig, 
zur  Lösung  des  vorliegenden  Problems  seine  Zuflucht  zur 
Transsubstantiation  zu  nehmen  (9).  Es  ist  auszugehen  von 
dem  Gedanken,  dass,  wenn  ein  Körper  sich  von  einem  Ort 
zum  anderen  bewegt  und  hiedurch  ein  anderer  Körper  ver- 
drängt wird,  sich  vier  Veränderungen  ergeben,  zwei  für  den 
verdrängenden  und  zwei  für  den  verdrängten  Körper,  nämlich 
die  deperditio  prioris  ubi  und  die  acquisitiva  ubi.  Wenn  aber 
der  Körper  durch  seine  Bewegung  keinen  anderen  verdrängt, 
so  würden  nur  für  ihn  diese  zwei  Bewegungen  zu  fordern  sein. 
Wenn  aber  endlich  ein  Körper,  ohne  sein  früheres  Wo  auf- 
zugeben, in  ein  neues  eintritt,  so  liegt  nur  die  eine  Verände- 
rung der  acquisitiva  ubi  vor.  Unter  Wahrung  dieser  Gedanken 
muss  eine  Veränderung  auch  bezüglich  des  im  Abendmahl 
gegemvärtig  werdenden  Leibes  Christi  angenommen  werden, 
denn  so  klar  es  ist,  dass  hier  etwas  ist,  was  früher  nicht  da 
war,  so  klar  ist  auch,  dass  dies  nur  durch  eine  Veränderung 
dieser  Grösse  zustande  kommen  kann  (9).  Dabei  aber  kann 
vom  Leibe  Christi  nicht  angenommen  werden,  dass  er  sein 
früheres  Wo    aufgibt.     Es   liegt   also    zwar    eine  Veränderung, 

Seeberg,  Die  Theologie  des  Duns  Scotus.  24 


370     Kap.  IV:  Die  Lehre  von  den  Sakramenten;  das  Abendmahl. 

aber  nicht  proprie  mutatio  localis  vor.  Das  Ziel  der  Ver- 
änderung ist  nicht  eigentlich  ein  zweites  Wo,  sondern  terminus 
est  quaedam  praesentia  simplex  ipsi  speciei,  vera  tarnen  et 
realis  (10).  Das  Sein  Christi  in  der  Gestalt  des  Brotes  kann 
also  verglichen  werden  mit  dem  repletiven  Sein  eines  Engels 
in  einem  Körper;  es  ist  freilich  eine  Änderung  da,  deren 
Wesen  aber  nicht  in  dem  lokalen  Wechsel  liegt.  Von  Christo 
gilt  das  in  noch  höherem  Mass,  da  ja  sein  Sein  in  einem  Wo  das 
Sein  in  einem  anderen  Wo  (dem  Himmel)  nicht  ausschliesst  (11). 
AVill  man  aber  vermeiden,  von  einer  Veränderung  hinsichtlich 
des  Leibes  Christi  zu  sprechen,  so  wird  immerhin  zur  Wahrung 
der  Realität  der  Gregenwart  Christi  im  Abendmahl  eine  neue 
Beziehung,  in  die  derselbe  tritt,  anzunehmen  sein.  Hierfür 
steht  unserem  Denken  nur  die  Kategorie  des  Ubi  zu  Gebote, 
man  könnte  freilich  eine  neue  Beziehungsform  für  das  Ver- 
hältnis postulieren  (ib.)  —  Also  wir  können  zusammenfassend, 
sagen:  der  Leib  Christi  bleibt  im  Himmel,  er  ist 
aber  auch  im  Abendmahl  gegenwärtig.  Dies  kann 
nun  nicht  aufrecht  erhalten  werden  ohne  die  Annahme  einer 
gewissen  Veränderung,  die  sich  an  Christi  Leibe  vollzieht,  so- 
fern er  in  ein  neues  räumliches  Verhältnis  eintritt. 

6.  Kann  nun  bei  dieser  Betrachtungsweise  Christi  Leib 
als  Quantum  vorgestellt  werden?  Duns  weist  zunächst  die 
Ansicht  von  Agidius,  Varro  und  Heinrich  zurück.  Diese 
meinten,  da  es  sich  im  Abendmahl  um  die  Gegenwart  der 
Substanz  des  Leibes  Christi  handle,  so  sei  die  Quantität  nur 
concomitanter  anzunehmen,  der  quantitative  Leib  sei  modo 
non  quantitativo  im  Abendmahl  vorhanden.  Dieser  Schluss 
erinnert  in  etwas  an  den  von  Duns  selbst  bezüglich  der  Raum- 
gegenwart gezogenen.  Er  wird  aber  scharf  kritisiert.  Da  eine 
Substanz  nicht  ohne  ihre  Proprietäten  gegenwärtig  sein  kann, 
die  Quantität  aber  eine  Proprietät  des  Leibes  ist,  so  ist  jene 
Betrachtung  abzuweisen.  Dazu  kommt,  dass  sie  die  Realität 
der  Verwandlung  in  Frage  stellen  würde  (12).  Sodann  wendet 
er  sich  gegen  eine  Auffassung,  nach  der  die  Teile  des  Leibes 
Christi  im  Abendmahl  ineinander  seien,  sodass  sie  auf  den  ge- 
ringsten Grad  der  Quantität  reduziert  würden.  Das  ist  die 
Ansicht   der   späteren  Nominalisten,    wer   sie   vor  Duns    schon 


Ob  Christi  Leib  ein  Quantum  ist?  371 

vertreten  hat,  weiss  ich  nicht,  oder  liegt  hier  ein  selbstgemachter 
Einwand,  wie  dist.  10  qu.  2,  4,  vor?  Dagegen  zeigt  Duns,  dass 
jeder  Körper  als  solcher  die  Unterscheidung  und  den  Abstand 
seiner  Teile  fordere  (13).  —  Steht  nun  dies  fest,  so  muss  die 
Lösung  des  Problems  auf  einem  anderen  Wege  gesucht  werden. 
Es  sei  denkbar,  dass  der  Körper  an  sich  quantitativ  ausgedehnt 
und  proportioniert  bleibt.  Und  zwar  sowohl  so,  dass  Gott  den 
quantitativen  Körper  ausserhalb  der  räumlichen  Welt  existieren 
liesse,  als  auch  so,  dass  er  zwar  in  der  räumlichen  Welt 
existiert  und  Beziehung  zu  den  Gegenständen  in  derselben  hat, 
nicht  aber  in  eine  Beziehung  seiner  einzelnen  Teile  zu  den 
einzelnen  Teilen  jener  tritt:  possibile  esset  deum  conservare 
quantum  et  coexistentiam  eins  ad  aliud  quantum,  et  tamen  sine 
ista  coexistentia  partium  unius  ad  partes  alterius  (14).  An 
sich  ist  nämlich  die  Relation  der  Quantität  eines  Dinges  zu 
den  räumlichen  Teilen  eines  anderen  Dinges  für  die  Existenz 
jenes  nicht  notwendig.  Besteht  nun  die  allgemeine  Eaum- 
relation  des  Dinges  fort,  so  bleibt  diese  zwar  erhalten,  während 
eine  andere  an  das  Ding  von  aussen  herantretende,  ihm  also 
nicht  wesentliche  Relation  nicht  zur  Verwirklichung  käme  (16). 
Duns  glaubt  hiedurch  den  Fehler  der  soeben  geschilderten 
Auffassung  des  Heinrich  etc.  vermeiden  zu  können.  Das 
quantitative  Ding  steht  zu  dem  anderen  räumlichen  Ding  frei- 
lich in  einem  allgemeinen  Quantitätsverhältnis  —  der  Leib 
Christi  ist  grösser  als  die  Hostie  — ,  aber  eine  Kommensuration 
oder  Koextension  der  Teile  des  einen  Dinges  mit  dem  anderen, 
die  simultas  partis  cum  parte,  ist  nicht  notwendig.  Jenes  Ver- 
hältnis ist  ein  innerlich  in  der  Sache  begründetes,  dieses  ein 
äusserlich  hinzukommendes.  Letzteres  kann  fortfallen,  ersteres 
steht  fest.  Hostie  und  Leib  stehen  demnach  in  einem  räum- 
lichen Verhältnis  zu  einander,  das  bezüglich  ersterer  als  eine 
mutatio  bezeichnet  werden  kann,  liegt  doch  wirklich  eine  nova 
praesentia  corporis  ad  species  vor,  aber  über  das  Verhältnis 
der  einzelnen  Teile  des  Leibes  zu  den  Teilen  der  Hostie  braucht 
man  sich  keine  Gedanken  zu  machen,  denn  ein  solches  Ver- 
hältnis ist  nicht  mit  logischer  Notwendigkeit  zu  postulieren; 
damit  erledigen  sich  auch  die  oben  gemachten  Einwände  (vgl. 
§  17).     Wie  so  oft,   hat  Duns   auch   hier  das  Problem  schein- 

24* 


372     Kap.  IV:  Dio  Lehre  von  den  Sakramenten;  das  Abendraah]. 

bar  kompliziert,  in  Wirklichkeit  vereinfacht.  Es  ist  genug, 
eine  Gegenwart  des  Leibes  Christi  imAbendmahl 
anzunehmen,  die  Logik  verlangt  dieselbe  quanti- 
tativ zu  denke U;  aber  sie  hebt  auch  hinweg  über 
die  peinliche  Frage  nach  dem  Wie  dieser  Gegen- 
wart in  dem  sinnlichen  Brot. 

7.  Aber  ein  neues  Problem  erhebt  sich  jetzt.  Ist  im 
ganzen  das  Sein  Christi  im  Abendmahl  verständlich  geworden, 
so  fragt  es  sich  nun,  wie  denn  der  nämliche  Leib  zugleich  an 
den  vielen  Orten,  wo  das  Abendmahl  begangen  wird,  gegen- 
wärtig sein  könne  (IV  dist.  10  qu.  2)?  Nachdem  zunächst  in 
gewohnter  Weise  einige  allgemeine  Gründe  gegen  jene  Möglich- 
keit vorgebracht  sind,  sodann  Gegengründe  von  Heinrich  und 
Thomas  erwähnt  (§  2.  3)  und  dem  eigene  angefügt  (4)  sind, 
erweist  Duns  negativ  und  positiv  die  Möglichkeit.  Alles  logisch 
nicht  Unmögliche  ist  ja  Gott  möglich  (oben  S.  164  f.).  Es  sei 
nicht  auffälliger,  dass  ein  Körper  an  zwei  Orten,  als  dass  zwei 
Körper  zugleich  an  einem  Orte  sind.  Ist  nun  letzteres  möglich, 
so  empfiehlt  sich  die  erstere  Annahme  vor  letzterer  noch  da- 
durch, dass  es  leichter  ist  die  ursprüngliche  Einheit  vielheitiich 
vorzustellen  als  das  Gegenteil  (ib.  5.  7).  Gegen  die  Auffassung 
aber,  dass  die  Gegenwart  des  Leibes  an  vielen  Orten  zwar 
sakramental,  aber  nicht  lokal  zu  denken  sei,  wendet  Duns  ein, 
dass  wenn  Gott  eine  Substanz  mit  anderen  als  den  ihr  eigen- 
tümlichen Merkmalen  erschaffe,  er  sie  doch  auch  einfacher  mit 
letzteren  herstellen  könne  (9).  Positiv  meint  Duns,  dass  kein 
Grund  erfindlich  sei,  um  jene  Frage  zu  verneinen.  Anders 
als  Thomas  will  er  die  Gegenwart  des  Leibes  wirklich  quanti- 
tativ verstehen.  Warum  sollte  aber  die  lokale  Gegenwart  eines 
Körpers  an  verschiedenen  Orten  undenkbar  sein?  Wird  doch 
nur  eine  neue  äussere  Beziehung  dem  betr.  Körper  beigelegt. 
Die  Vervielfältigung  der  Beziehungen  ändert  aber  nicht  das 
Wesen  der  Sache.  Das  Weisssein  kann  in  die  Beziehung  der 
Ähnlichkeit  mit  anderen  Dingen  treten,  ohne  verändert  zu 
werden.  Nichts  anderes  als  eine  äusserlich  hinzutretende  Be- 
ziehung sollte  aber,  wie  wir  sahen,  die  Räumlichkeit  des  Leibes 
Christi  sein  (S.  370).  Nur  die  Vorstellung  non  separat  locum 
a  corpore,  sie  vermag  daher  nicht  beide  auseinander  zu  halten. 


Der  Leib  zugleich  im  Himmel  und  in  der  Hostie.  373 

Dagegen  unterscheidet  die  vernünftige  Betrachtung  den  Raum 
vom  Körper.  Dann  ist  es  sehr  wohl  denkbar,  dass  Raum  wie 
Körper  bleiben  was  sie  sind,  und  nur  die  Beziehungen  dieses 
zu  jenem  vermehrt  werden  (§  11).  Die  Voraussetzung  dieser 
Argumentation  ist  natürlich  die  realistische  Auffassung  des 
Raumes,  als  eines  besonderen  Wesens.  Von  hieraus  könnte 
auch  gegen  die  Ubiquität  des  Leibes  Christi  kein  Widerspruch 
erhoben  werden,  da  Gott  auch  einem  von  sich  verschiedenen 
Ding  die  Ubiquität  geben  kann  (ib.  15),  und  da  er  auch  jeden 
Körper  des  Universums  in  Christi  Leib  verwandeln  könnte  (14). 
Duns  lässt  noch  eine  Auflösung  der  Gegenargumente  folgen. 
8.  Kann  nun  aber  dieser  Leib,  dessen  Sein  in  jedem 
Abendmahl  als  denkbar  erwiesen  wurde,  zugleich  im  Himmel 
sein?  Zunächst  ist  festzustellen,  dass  die  Christenheit  dies 
glaubt.  Aber  ebenso,  dass  dieser  Glaube  in  keinem  inneren 
Zusammenhang  mit  der  Wandlungslehre  steht,  da  der  Leib  auf 
dem  Altar  ebenso  gut  wie  mit  der  Quantität  des  Brotes  auch 
zugleich  mit  der  Substanz  desselben  auf  dem  Altar  gegenwärtig 
sein  könnte  (quaest.  3,  3.  4).  Genauer  genommen  ergibt  sich 
aber  hier  eine  Anzahl  von  Unterfragen.  Zunächst,  ob  die 
Teile  und  Proprietäten  im  himmlischen  und  sakramentalen 
Leibe  einander  gleichzusetzen  sind?  Dagegen  scheint  freilich 
zu  sprechen,  dass  eine  Verwandlung  in  die  Proprietäten  des 
Leibes  nicht  stattfindet,  oder  dass  die  Quantität  des  himm- 
lischen Leibes  nicht  in  und  mit  der  Brotquantität  bestehen 
könne,  dass  man  ohne  Not  nicht  eine  Pluralität  setzen  dürfe, 
es  also  an  der  substanziellen  Gegenwart  des  Leibes  genug  sei 
(quaest.  4,  1.  2).  Duns  erklärt  nun  —  zur  Beantwortung  sich 
wendend  —  zunächst,  dass  der  Leib  Christi  im  Himmel  modo 
naturali,  im  Abendmahl  modo  sacramentali  gegenwärtig  sei, 
dass  der  sakramentale  Leib  also  weder  die  Seele  noch  die 
Accidenzien,  wie  das  Blut,  enthalte  (3).  Sind  nun  aber  Teile 
oder  Eigenschaften  in  diesem  Leibe  anzunehmen?  Eine  ab- 
solute Notwendigkeit  ist  hierfür  nicht  beizubringen,  da  einer- 
seits wir  nach  der  Auferstehung  keine  Eucharistie  mehr  haben 
werden,  und  da  andererseits  die  Existenz  des  Leibes  Christi  an 
sich  indifferent  ist  gegen  die  besonderen  Formen  des  natür- 
lichen und  sakramentalen  Bestandes.     Sonach  ist  eine  absolute 


374     Kap.  IV:  Die  Lehre  von  den  Sakramenten;  das  Abendmahl, 

Notwendigkeit  nicht  erfindlich  (4).  Es  könnte  also  auch  vor- 
der Menschwerdung  der  sakramentale  Leib  dagewesen  sein,  oder 
der  Leib  Christi  könnte  jetzt  die  natürliche  Existenzweise  ver- 
lieren und  nur  in  der  sakramentalen,,  in  der  Eucharistie  fort- 
bestehen. Zum  Verständnis  dieser  paradoxen  Gedanken  muss 
man  sich  gegenwärtig  erhalten,  dass  sie  sich  auf  dem  Boden 
des  Nichtwirklichen  oder  des  für  die  potentia  absoluta  Mög- 
lichen bewegen,  freilich  ist  es  aber  interessant  an  ihnen  zu  sehen, 
wie  locker  der  Zusammenhang  zwischen  dem  wirklichen  und 
dem  sakramentalen  Christus  ist. 

Wendet  man  aber  nun  die  Betrachtungsweise  secundum 
quid  an  oder  denkt  an  die  relative  in  dem  Gewordensein  be- 
gründete Notwendigkeit,  so  ist  zu  sagen,  dass  die  sakramentale 
Leiblichkeit  die  Teile  und  Poprietäten  der  natürlichen  Leib- 
lichkeit an  sich  hat,  denn  da  erstere  durch  eine  besondere 
Beziehungsnahme  der  letzteren  zustande  kommt,  kann  letztere 
hiedurch  nicht  innerlich  verändert  werden  (ib.  §  10).  Gegen 
die  obigen  Gegenargumente  gilt,  dass  die  Wandlung  hier  über- 
haupt garnicht  in  Frage  kommt,  sondern  Gottes  Macht  be- 
wirkt, dass  der  Leib  Christi  auch  eine  anderweitige  als  die 
ihm  natürliche  Gegenwart  hat,  und  das  kann  natürlich  ebenso 
für  den  Leib  wie  seine  Teile  und  Proprietäten  bewirkt  werden. 
Man  erkennt  hier  wieder,  wie  die  ganze  Betrachtimg  an  dem 
Gedanken  orientiert  ist,  dass  die  sakramentale  Gegenwart 
Christi  durch  eine  besondere  Beziehung  des  Leibes  zu  der 
Hostie  hergestellt  wird. 

9.  Ist  jetzt  erwiesen,  dass  der  Leib  Christi  auch  nach 
seinen  Teilen  und  Proprietäten  im  Abendmahl  gegenwärtig  zu 
denken  ist,  so  erhebt  sich  die  weitere  Frage,  ob  auch  jede 
actio  immaneus  des  natürlichen  Christusleibes  im  sakramentalen 
Leibe  anzunehmen  ist?  Hierauf  wird  die  Antwort  in  drei 
Konklusionen  erteilt:  1)  Concomitanter  habe  Christus  im 
Abendmahlsleibe  jede  operatio,  die  er  im  Himmel  hat,  denn 
eine  absolute  Form,  wie  das  Handeln,  kann  nicht  aufgehoben 
werden  durch  eine  äussere  Beziehung  (ib.  quaest.  5,  2).  Gilt 
das  vom  Gedanken,  so  natürlich  auch  von  der  demselben 
vorausgehenden  Sinnesempfindung  (sensatio),  wde  auch  dem 
Schmerz  (§4).  —  2)  Die  zweite  Konklusion  besagt,  dass  keine 


Thätig-keit  und  Bewegung  des  sakramentalen  Leibes.  375 

sensatio  zuerst  dem  sakramentalen  Leibe  vor  dem  wirklichen 
zu  Teil  werden  könne ,  denn  eine  solche  kann  nur  den  wirk- 
lichen quantitativen  Leib  selbst  more  quantitativo  treffen,  nicht 
aber  den  sakramentalen  Leib,  weil  dieser  cuicunque  corpori 
ut  agenti,  ac  si  non  esset  praesens,  gegenwärtig  ist.  Daher 
kann  er  keine  sinnlichen  Eindrücke  empfangen  (§  5).  3)  Da- 
gegen lehrt  die  dritte  Konklusion,  dass  eine  geistige,  intellek- 
tuelle oder  voluutative ,  operatio  allerdings  zuerst  dem  sakra- 
mentalen Christus  zukommen  könne,  da  nämlich  die  Seele 
Christi  in  ihrem  Erkennen,  ebensowenig  wie  die  der  Engel, 
von  sensitiver  Vermittlung  abhängt,  vielmehr  über  eine  intuitive 
Erkenntnis  verfügt  (§  5).  So  werde  die  Operation  Christi 
durch  das  Abendmahl  vermehrt  und  vollendet.  Um  den  schein- 
baren Widerspruch  zwischen  der  3.  und  2.  Konklusion  zu  ver- 
stehen, muss  mau  sich  gegenwärtig  halten,  dass  der  sakramentale 
Leib  eigentlich  nur  eine  Beziehung  des  wirklichen  Leibes  ist. 
Diese  Beziehung  kann  nun  nicht  wohl  sensitive  Eindrücke 
empfangen,  wohl  aber  können  von  ihr  Gedanken  und  Wollungen 
ihren  Ausgang  nehmen. 

10.  Hat  man  diesen  Gesichtspunkt  aus  den  Gedanken  des 
Duns  herausgeschält,  so  wird  man  auch  den  abstrusesten  Er- 
örterungen mit  Interesse  folgen.  Immer  wieder  wird  jener 
Gesichtspunkt  Licht  in  sie  hineintragen.  So  schreitet  Duns  in 
der  6.  Quästion  der  10.  Dist.  fort  zur  Frage,  ob  in  dem  eu- 
charistischen  Leibe  ein  motus  corporalis  sein  könne?  Der  eu- 
charistische  Leib  kann  nicht  bewegt  oder  verändert  werden 
durch  eine  geschaffene  Kraft,  denn  eine  solche  bethätigt  sich 
nur  in  lokalen  Verhältnissen,  aber  corpus  Christi  est  hie  non 
ut  in  loco,  bewegt  kann  also  durch  Kreatur  nur  die  Spezies 
des  Brotes  werden  (qu.  6,  2.  3).  Wird  nun  aber  die  Hostie 
von  einem  Ort  zum  anderen  fortgetragen,  so  ist  nicht  an  eine 
konkomitierende  Bewegung  des  Leibes  zu  denken ,  wie  etwa 
dadurch,  dass  ein  Schiff  in  Bewegung  gesetzt  wird,  auch  eine 
schwere  Masse  in  ihm  fortbewegt  wird,  da  die  Kreatur  den 
Leib  als  solchen  ebenso  wenig  bewegen  kann,  als  ein  Engel 
dadurch  bewegt  würde,  dass  man  den  Stein,  dem  er  gegen- 
w^ärtig  sein  wollte,  weiter  rollte  (4.  5).  Der  Leib  Christi  bleibt 
also  der  fortgetragenen  Hostie  freilich  gegenwärtig,  aber  nicht 


376      Kap.  IV:  Die  Lehre  von  den  Sakramenten;  das  Abendmahl. 

durch  die  Vermittlung  der  sinnlichen  Bewegung  letzterer, 
sondern  weil  Gott  will,  dass  er  der  Hostie  gegenwärtig  sein 
soll  (6).  Der  Abendmahlsleib  kann  also  nur  immediate  a  deo 
fortbewegt  werden  (2).  Jeder  Veränderung  des  himmlischen 
Leibes  könnte  aber  eine  Änderung  im  eucharistischen  Leibe 
entsprechen  (7),  freilich  aber  wäre  es  auch  denkbar,  dass  jener 
der  Auflösung  verfiele ,  ohne  dass  in  diesem  eine  Änderung 
einträte,  da  ja  die  Beziehung  des  himmlischen  Leibes  zur 
Eucharistie  forterhalten  werden  kcinnte  auch  bei  der  Lösung 
der  internen  Beziehungen  von  jenem  (9).  —  Wie  einfach  ver- 
stehen sich  doch  auch  diese  Gedanken,  wenn  man  daran  fest- 
hält, dass  die  Gegenwart  Christi  im  Abendmahl  nichts  anderes 
ist,  als  eine  besondere  Beziehung,  die  Gott  dem  himmlischen 
Leibe  zur  Eucharistie  gibt. 

IL  Ist  nun  erkannt,  dass  eine  sinnliche  Bewegung  von 
aussen  her  nicht  an  den  eucharistischen  Leib  kommen  kann, 
so  fragt  sich  weiter,  ob  dieser  von  sich  Verschiedenes  durch 
seine  natürliche  Kraft  bewegen  kann?  Denkt  man  sich  nun 
den  Leib  Christi  im  Abendmahl  gegenwärtig,  so  scheint  damit 
auch  die  körperliche  Bewegungskraft  mitgesetzt  zu  sein 
(quaest.  7,  1).  Allein  diese  Erwägung  erweist  sich  als  un- 
haltbar, wenn  man  bedenkt,  dass  eine  körperliche  Kraftwirkung 
nur  in  lokalen  Verhältnissen  ergehen  kann.  Indem  nun  diese 
vom  Leibe  Christi  nach  Obigem  nicht  ausgesagt  werden  dürfen, 
kann  auch  von  jener  Wirkung  nicht  die  Rede  sein  (2).  Da- 
gegen ist  die  Wirkung  der  geistigen,  nicht  organisch  ver- 
mittelten Kraft  nicht  an  lokale  Verhältnisse  gebunden.  Indem 
nun  die  Seele  Christi  im  Abendmahl  gegenwärtig  ist.  kann 
eine  solche  geistige  Kraftwirkung  allerdings  von  dem  mit  ihr 
verbundenen  Abendmahlsleib  ausgehen.  Diese  geistige  Kraft 
könnte  nun  auch  Körperliches  in  Bewegung  setzen,  wie  es  die 
menschliche  Seele  und  auch  die  Engel  thun  (3).  Ergo  anima 
Christi  in  eucharistia  existens  poterit  uti  ista  potentia  movendo 
species  illas  vel  hostiam,  et  forte  sie  aliquando  mota  est  hostia 
a  Christo  (5).  Das  führt  unser  Verständnis  um  einen  Schritt 
weiter.  Jener  Beziehung  Christi  zur  Eucharistie  eignet  keine 
sinnlich  movierende  Kraft,  wohl  aber  der  geistigen  Gegenwart 
Christi    im    Abendmahl.      Gewiss,    denn    die    Gegenwart    des 


Wirkungen,  Unsichtbarkoit  des  Abendmahlleibes.  377 

Leibes  ist  schliesslich  nur  eine  logische  Beziehung,  wie  könnte 
dieselbe  eine  physische  Kraftwirkung  ausüben?  Aber  mit 
jener  Beziehung  ist  die  geistige  Gegenwart  Christi  verbürgt. 
Wie  von  dieser  Kraftwirkungen  ausgehen  können,  das  ist  ver- 
ständlich, könnte  doch  die  Seele  Christi  einen  bei  dem  Abend- 
mahl gegenwärtigen  Engel  geistig  erleuchten  (3).  In  der 
geistigen  Sphäre  ist  also  die  kräftige  Gegenwart  Christi  zu 
suchen. 

12.  Ist  aber  das  der  Fall,  kann  dann  ein  erschaffener 
Geist  die  Gegenwart  Christi  im  Abendmahl  in  natürlicher 
Weise  sehen  (naturaliter  videre)  ?  Thomas  und  Richard  haben 
die  Frage  verneint,  aber  sie  in  Bezug  auf  die  Seligen  bejaht, 
sei  doch  der  Leib  Christi  ein  Übernatürliches  und  daher  nur 
dem  Glauben  zugänglich  (quaest.  8,  1.  4).  Nun  ist  es  gewiss 
richtig,  dass  der  natürliche  Intellekt,  der  seine  Erkenntnis  aus 
den  sinnlichen  Erscheinungen  schöpft,  jenes  Sehen  nicht  voll- 
ziehen kann,  da  die  sinnliche  Erscheinung  des  Brotes  die 
gleiche  bleibt  vor  wie  nach  der  Konsekration  (6).  Dagegen 
ist  die  abstrakte  logische  Erkenntnis  des  Satzes :  „der  Leib  ist 
in  der  Eucharistie"  möglich,  da  sonst  jener  Satz  garnicht 
formuliert  werden  könnte  (5).  Aber  jenes  intuitive  „Schauen" 
des  Leibes  ist  als  möglich  nur  für  den  an  das  Sinnliche  nicht 
gebundeneu  Geist,  wie  den  der  Engel,  zugestanden  worden  (7) ; 
dagegen  verfängt  die  Übernatürlichkeit  des  Objektes  garnichts, 
da  das  Übernatürliche  sehr  wohl  unvollkommener,  d.  h.  leichter 
erkennbar  sein  kann  als  das  Natürliche,  so  wenn  dies  Substanz, 
jenes  aber  Accidenz  ist.  Zudem  kann  nicht  geleugnet  werden, 
dass  die  Engel  eine  intuitive  Erkenntnis  der  übernatürlichen 
theologischen  Tugenden  haben  (9).  Doch  das  ist  nur  eine  ab- 
strakte Betrachtung.  —  Interessanter  ist  es,  dass  Duns  leugnet, 
dass  die  Seligen  den  Körper  Christi  sehen  würden.  Der  Zu- 
stand der  Seligen  unterscheidet  sich  nämlich  offenbar  nur 
dadurch  vom  Zustand  der  Nichtseligen,  dass  sie  das  Obiectum 
beatificum  schauen.  Zur  Seligkeit  gehört  aber  das  Schauen 
der  Dreieinigkeit  und  des  Wortes,  keineswegs  aber  das  Er- 
kennen des  Zusammenhanges  der  einzelnen  Sakramente  oder 
auch  des  irdischen  Lebens  Christi.  So  wenig  das  Schauen 
des  Abendmahlsleibes,   sowenig  gehört  das  Schauen  des  natür- 


378     Kap.  IV:  Die  Lehre  von  den  Sakramenten;  das  Abendmahl. 

liehen  Christusleibes  im  Himmel  zur  Seligkeit  (10.  14).  Merk- 
würdige Gedanken!  So  wunderlich  immer  die  Form  ist,  so 
klar  ist  die  Absicht:  nicht  die  theoretische  Intuition,  sondern 
die  praktische  AnschauuDg,  der  innere  Besitz  Gottes  wird  die 
Seligkeit  begründen.  Das  sind  antihellenische  und  antitho- 
mistische  Gedanken !  Erinnert  man  sich  aber  an  das  uns  be- 
schäftigende Problem,  so  darf  man  vielleicht  im  Sinn  des  Duns 
sagen,  nicht  auf  das  Erkennen  kommt  es  l)ei  dem  Genuss  des 
Abendmahls  an,  sondern  auf  das  Bewusstsein  von  der  realen 
und  geistigen  Gegenwart  Christi,  des  Heilsgutes.  Doch  so  hat 
es  Duns  ja  nicht  ausgesprochen,  vielleicht  erlagen  wir  der 
Versuchung,  die  einen  so  oft  bei  ihm  überkommt,  zuviel  zu 
sagen. 

13.  Damit  sind  die  Hauptgedanken  der  10.  Distinktion 
reproduziert.  Wo  das  Zeichen  der  Abendmahlsworte  gesprochen 
wird,  da  lässt  Gott  den  Leib  Christi  gegenwärtig  sein.  Es  ist 
der  wirkliche  Leib  Christi,  der  an  sich  in  seinem  himmlischen 
lokalen  Sein  keine  Wandlung  erfährt,  sondern  nur  eine  neue 
Beziehung  mehr,  die  zur  Hostie,  annimmt.  Diese  Gegenwart 
kann  aber,  eben  weil  sie  nur  in  einer  Relation  des  Leibes  be- 
steht, nicht  im  einzelnen  quantitativ  gedacht  werden.  Sie 
kann  sich  natürhch  zugleich  auf  viele  Orte  beziehen,  aber  von 
einem  sinnlichen  Empfinden  oder  Bewegtwerden  des  Abend- 
mahlsleibes  kann  nicht  wohl  die  Rede  sein.  Das  sind  die 
Hauptgedanken.  Der  Leib  Christi  ist  der  Hostie  gegenwärtig, 
sofern  der  im  Himmel  befindliche  Leib  eine  besondere  Be- 
ziehung zur  Hostie  einnimmt. 

14.  Aber  was  wird  aus  der  Transsubstantiation? 
Die  Frage  erhebt  sich  hier  notwendig,  denn  es  ist  klar  — 
und  Duns  hat  es  deutlich  ausgesprochen  — ^  dass  diese  Gegen- 
wart Christi  auch  ohne  jede  Bezugnahme  zur  Transsubstan- 
tiation behauptet  werden  kann.  Der  Leser  wird  daher  mit 
grossem  Interesse  den  Ausführungen  der  11.  Distinktion  über 
die  Transsubstantiation  entgegensehen. 

Die  Transsubstantiation  ist  transitus  totalis  sub- 
stantiae  in  substantiam  (dist.  11  quaest.  1,  2).  Dieser  transitus 
totalis  kann  nun  im  Sinn  der  geueratio  gefasst  werden,  d.  h. 
so,    dass  totum  in  totum  übergeht   oder  ein  nach  Materie  und 


Der  Begriff  der  Transsubstantiation.  379 

Eorm  Neues  gesetzt  wird;  aber  auch  im  Sinn  der  alteratio, 
d.  h.  so,  dass  etwas  in  ein  anderes  übergeht,  indem  er  nur 
eine  neue  Form  empfängt,  wie  etwa  warmes  Holz  kaltes  Holz 
wird  (2).  Hier  sind  nun  die  Termini  zwischen  denen  sich  der 
Übergang  bewegt  offenbar  Substanzen :  transsubstantiatio,  nicht 
transaccidentatio  (3).  Die  logische  Möglichkeit  eines  solchen 
Überganges  kann  nicht  angezweifelt  werden,  denn  warum  sollte 
nicht  eine  Substanz  gerade  dort  und  dann  beginnen  können,  wo 
und  wann  eine  andere  aufhört  (4)?  Da  aber  die  Termini  Sein 
und  Nichtsein,  über  die  nur  Gott  Gewalt  hat,  vorliegen,  kann 
Gott  allein  dies  bewirken  (4).  Nach  dem  Obigen  kann  auch 
nicht  bloss  an  eine  Veränderung  gedacht  werden,  es  sei  denn, 
dass  man  an  die  Veränderung  eines  Subjektes  in  das  andere 
denkt  (10). 

Nachdem  so  der  Begriff  der  Transsubstantiation  in  der 
üblichen  und  orthodoxen  Weise  gewonnen  ist,  fragt  es  sich,  ob 
jedes  Ding  in  jedes  Ding  verwandelt  werden  könne?  Hier  ist 
die  Verwandlung  von  Gott  in  eine  Kreatur  zu  verneinen,  denn 
da  das  innere  Sein  Gottes  absolut  notwendig  ist,  kann  auch 
Gott  selbst  es  nicht  wandeln.  Wohl  aber  kann  jede  Kreatur 
in  jede  Kreatur  verwandelt  werden,  da  sowohl  das  Sein  als 
das  Nichtsein  jeder  Kreatur  in  Gottes  Gewalt  steht  (qu.  2,  3). 

Also  kann  auch  Brot  in  Leib  verwandelt  werden.  Aber 
geschieht  das  wirklich?  Drei  Ansichten  können  hier  geltend 
gemacht  werden,  deren  jede  die  reale  Gegenwart  des  Leibes 
Christi  voraussetzt,  da  die  Leugnung  hievon  Häresie  wäre. 
Die  erste  Ansicht  ist :  das  Brot  bleibt,  der  Leib  kommt  hinzu ; 
die  zweite:  eine  Annihilation  des  Brotes  findet  dabei  statt;  die 
dritte  ist  die  übliche  Transsubstantiationslehre  (qu.  3,  3).  Die 
erste  Ansicht  lässt  sich  sehr  wohl  hören,  da  der  Bestand  der 
Brotsubstana  der  Gegenwart  des  Leibes  nicht  entgegensteht, 
ja  die  Brotsubstanz  ein  geeigneteres  Signum  für  das  signatum 
des  Leibes  ist,  als  die  blossen  Accidenzien  des  Brotes.  Zudem 
entspricht  manhiedurch  besser,  als  durch  die  Transsubstantiation 
der  Lieblingsregel  unseres  Dogmatikers :  ponenda  sunt  pauciora 
miracula  quantum  possibile  est  (3).  Ausserdem  erwachsen 
unnütze  Schwierigkeiten  aus  der  Annahme  von  Accidenzien, 
die  ohne  Substanz  gedacht  werden  sollen :  est  occasio  avertendi 


380     Kap.  IV:  Die  Lehre  von  den  Sakramenten;  das  Abendmahl. 

omoes  philosophos  imo  fere  omncs  sequentes  rationem  naturalem 
a  fide  vel  saltem  impediendi  eos,  ne  convertaiitur  ad  fidom,  si 
dicatur  eis  talia  pertinere  ad  fidem  nostram  (4).  Schliesslich 
sei  die  Transsubstaritiation  auch  nicht  durch  die  Schrift  oder 
eine  ausdrückliche  Erklärung  der  Kirche  als  de  substantia 
fidei  seiend  festgestellt;  die  Einsetzungsworte  nötigen  nicht  zu 
ihr,  da  das  hoc  sich  nicht  auf  das  Brot,  sondern  auf  das  cou- 
tentum  in  pane  beziehe :  hoc  ens ,  will  Christus  sagen ,  con- 
tentum  sub  isto  visibili  est  corpus  meum  (5).  Es  ist  keine 
Frage ,  dass  schon  Duns  diese  Konsubstantiationstheorie  mit 
unverholenem  Wohlwollen  der  Transsubstantiation  gegenüber 
behandelt  hat.  Durch  seinen  Einfluss  ist  sie  bei  den  Späteren 
beliebt  gewesen  und  hat  durch  d'  Ailli  auch  auf  Luther  Ein- 
fluss gehabt.  ^) 

Ebenso  könnte  die  zweite  Annihilationstheorie  als  die  ein- 
fachere verteidigt  werden  (7). 

15.  Nun  hat  aber  Thomas  beide  Theorien  angefochten, 
und  zwar  die  erstere  mit  dem  Argument,  dass  das  Zusammen- 
sein von  Brot  und  Leib  wider  die  letzterem  schuldige  Ehrfurcht 
Verstösse,  ausserdem  aber  der  letzterem  gebührende  cultus 
latriae  leicht  auch  auf  die  Substanz  der  Hostie  ausgedehnt 
werden  könnte.  Dann  würde  aber  auch  leicht  als  das  zuerst  im 
Abendmahl  Bezeichnete  die  Brotsubstanz  angesehen  werden 
können ;  und  sodann  sei  das  Abendmahl  nur  geistliche,  nicht 
aber,  wie  bei  dem  Bleiben  der  Brotsubstanz  angenommen 
werden  müsste,  auch  leibliche  Speise  (7).  Ferner  kann  etwas 
dort,  wo  es  früher  nicht  war,  zu  sein  beginnen  nur  durch  eine 
Veränderung  seiner  selbst.  Da  Christus  unveränderlich  ist, 
das  Brot  nicht  verändert  werden  soll,  so  würde  schliesslich 
nichts  geschehen  und  nur  Brot  auf  dem  Altar  nachbleiben. 
Endlich  sei  die  ganze  Ansicht  häretisch,  da  die  Einsetzungs- 
worte nicht  ein  auf  das  Brot  bezogenes  hie,  sondern  ein  den 
Leib  bezeichnendes  hoc  bieten  (8).  Wesentlich  die  gleichen 
Argumente  werden  mutatis  mutandis  gegen  die  zweite  Theorie 
gerichtet. 

Die  Fadenscheinigkeit   dieser  Argumente  konnte  natürlich 


1)  S.  meine  Dogmengesch.  II,  S.  188  f.  273. 


Anerkennung  der  Transsubstantiation.  381 

einem  so  strengen  Denker  wie  Duns  nicht  entgehen.  Auch  bei 
der  Transsubstantiationstheorie  bestehen  die  Accidenzien  neben 
dem  Leib,  die  Anbetung  kann  auch  auf  sie  bezogen  werden. 
Überhaupt  müsse  man  sagen :  simplices  adorant  in  fide  ecclesiae 
et  hoc  sufficit  eis  ad  salutem  (9).  Ebenso  würden  auch  die 
blossen  Accidenzien  die  Gegenwart  des  Brotes  bedeuten  (ib.). 
Das  Brot  aber  bedeutet  den  Leib^  es  sei  nun  die  Substanz 
oder  die  Accidenzien  desselben  vorhanden.  Dass  aber  das 
Abendmahl  auch  leibliche  Nahrung  ist,  kann  angesichts  von 
1.  Kor.  11  nicht  bezweifelt  werden,  da  hier  von  einem  Trunkeu- 
werden  geredet  wird.  Das  contentum,  auf  das  es  ankommt, 
würde  auch  so  nur  geistliche  Speise  sein.  Auch  mit  dem  hoc 
ist  nichts  zu  machen,  da  auch  hie  auf  den  im  Brot  Enthaltenen 
gedeutet  werden  könnte,  was  freilich  durch  hoc  noch  deutlicher 
wird  (10).  Kommt  man  nun  mit  diesen  Gründen  freilich  nicht 
durch,  so  ist  doch  anzuerkennen,  dass  communiter  in  der 
Kirche  die  Transsubstantiationslehre  gilt,  und  dass  sich  auch 
die  Lehre  der  sancta  romana  ecclesia  dahin  ausspricht.  Dieses 
könne  noch  dadurch  bewährt  werden,  dass,  obgleich  der  Priester 
die  Messe  nüchtern  begehen  soll,  er  doch  mehrere  Messen 
hintereinander,  ohne  also  durch  leibliche  sakramentale  Speise 
um  die  Nüchternheit  zu  kommen,  celebrieren  dürfe  (13). 

So  wird  schliesslich  doch  auch  die  mit  sichtlicher  Vorliebe 
dargestellte  Konsubstantiationstheorie  reprobiert,  nicht  ohne 
dass  bemerkt  wird,  dass  Gott  es  auch  in  ihrem  Sinn  hätte 
einrichten  können.  Der  Positivismus  des  Duns  gibt  schliesslich 
das  einzige  Argument  zu  gunsten  der  Transsubstantiation  her, 
hat  doch  die  Kirche  die  Schrift  in  demselben  Geist  ausgelegt, 
aus  dem  sie  hervorgegangen  ist  (15). 

16.  Also  die  Transsubstantiation  bleibt  als  die  Kirchen- 
lehre nach.  Sie  ist,  weil  kirchlich,  auch  wirklich.  Doch  für 
den  Kenner  des  Duns  wird  die  Sache  jetzt  erst  spannend. 
Wie  wird  sich  der  kühne  Dialektiker  mit  einer  Theorie  ab- 
finden, die  ihm  offenbar  unsympathisch  ist?  Nachdem  die 
Wirklichkeit  festgestellt,  fragt  es  sich  nach  der  Möglichkeit. 
Die  beiden  Termini,  zwischen  denen  sich  die  Transsubstantiation 
vollzieht,  sind  Substanzen.  Gott  kann,  da  beide  Substanzen 
in  seiner  Gewalt  sind,  die  eine  in  die  andere  verwandeln,  was 


382     Kap.  IV:  Die  Lehre  von  den  Sakramenten;  das  Abendmahl. 

aber  keiner  Kreatur  möglich  wäre,  da  diese  nie  Gewalt  über 
die  Materie  als  solche  hat  (ib.  §§  16.  17).  Nun  erbebt  sich 
aber  bei  genauerem  Nachdenken  eine  Schwierigkeit  bezüglich 
des  Terminus  ad  quem.  Es  soll  nämlich  die  Verwandlung 
nicht  in  ein  beliebiges  neues  Ding,  sondern  in  ein  Präexis- 
tierendes vollzogen  werden,  das  sein  altes  Sein  behält  (22).  um 
dieser  Schwierigkeit  Herr  zu  werden,  führt  Duns  eine  Distinktion 
ein.  Es  kann  ein  Ding  in  ein  anderes  so  verwandelt  werden, 
dass  dies  andere  durch  die  Verwandlung  erst  sein  substanzielles 
Sein  erhält.  Es  kann  aber  auch  eine  Verwandlung  so  statt- 
finden, dass  die  Substanz,  in  die  verwandelt  wird,  nicht  das  Sein, 
sondern  nur  das  Hiersein  durch  die  Wandlung  empfängt  (23).  Es 
ist  also  zu  unterscheiden  eine  transubstantiatio  productiva 
und  adductiva:  Uno  modo  quod  sit  ad  substantiam  ut  per 
ipsam  (die  Transsubst.)  accipientem  esse;  alio  modo  ut  sit  ad 
substantiam  ut  per  ipsam  accipientem  esse  hie.  .  . 
Et  sub  aliis  verbis  potest  esse  vel  ad  entitatem  sui  termini  vel 
ad  praesentialitatem  eins  alicubi  (23). 

Der  aufmerksame  Leser  wird  merken,  worauf  diese  Unter- 
scheidung abzielt.  Die  Transsubstantiation,  die  dem  Wortlaut 
nach  erhalten  bleibt,  wird  sachte  zur  Seite  geschoben.  Es  handelt 
sich  in  ihr  nur  darum,  dass  der  Leib  gegenwärtig  werde.  Wir 
wissen  aber  aus  der  vorigen  Distinktion  genau,  was  das  be- 
deutet. Nur  das,  dass  der  Leib  zu  seinen  sonstigen  Eelationen 
die  Beziehung  zur  Hostie  hinzugefügt  erhält.  Ist  das  aber 
der  Fall,  dann  kann  vom  Standpunkt  der  Transsubstantiation 
her  nichts  dagegen  eingewandt  werden,  dass  das  Brot  im 
Abendmahl  erhalten  wird.  Nicht  sein  Sein  braucht  aufgehoben 
zu  werden,  wenigstens  nicht  vermöge  der  Transsubstantiation 
als  solcher,  sondern  nur  sein  Hiersein  (s.  ib.  quaest.  4,  14.  15). 
Die  Transsubstantiation  besteht  also  darin,  dass  das  Brot 
Platz  macht  dem  durch  sie  hinkommenden  Leib.  Soll  nun 
der  Leib  im  Brot  enthalten  sein,  und  soll  das  Brot  sein  Sein 
nicht  verlieren,  so  genügt  es  im  Brot  gleichsam  einen  leeren 
Hohlraum  vorzustellen,  in  den  der  Leib  einzieht.  Hier  hätte 
das  Hiersein  des  Brotes  aufgehört  und  dem  Hiersein  des  Leibes 
Platz  gemacht.  Aber  das  ist  noch  nicht  genug.  Vergegen- 
wärtigen  wir   uns,    dass  ja   der   himmlische  Leib   nicht    lokal, 


Produktive  und  adduktive  Transsubstantiation.  383 

sondern  nur  vermöge  einer  Relation  im  Abendmahl  gegenwärtig 
ist,  so  kann  man  noch  viel  weiter  gehen.  Letztlich  besteht  die 
Transsubstantiation  darin,  dass  das  Brot  Platz  gewährt  der 
Relation  des  Leibes  zur  Hostie.  Das  würde  heissen:  Das 
Brot  kann  bleiben  was  es  ist  und  wo  es  ist ;  es  ist  genug,  wenn 
der  Gedanke  möglich  bleibt :  hier  hat  eine  Relation  des  Leibes 
Platz.  Es  wäre  also  genug,  wenn  der  Gläubige  das  Bewusst- 
sein  empfängt:  hier  ist  Brot,  wie  ich  sehe  und  empfinde,  aber 
dies  Brot  fasst  ausser  den  konkreten  Relationen  des  Brotes 
auch  ein  anderes  in  sich,  die  Relation  Christi  za  dieser  Handlung. 
Wo  diese  ist,  da  ist  ein  neues  hie  esse  eingetreten,  dem  das 
entsprechende  hie  esse  des  Brotes  Platz  gemacht.  Ich  beziehe 
mein  Empfangen  nicht  auf  das  Brot  als  solches,  sondern  auf 
etwas  in  der  Handlung,  was  nicht  Brot  ist,  denn  in  dieser 
Handlung  wird  eine  Relation  Gottes  zu  mir  wirksam,  die  ausser 
und  über  den  besonderen  Relationen  des  Brotes  zu  mir  liegt, 
und  doch  nur  im  Zusammenhang  mit  diesem  Brot  mir  wird. 
Das  wäre  ungefähr  lutherisch  gedacht,  aber  ist  sicher  auch 
nicht  unscotistisch  gedacht!  Dass  wir  den  eigentlichen  Nerv  in 
der  scotistischen  Theorie  mit  diesen  Ausführungen  treffen,  wird 
niemand  leugnen,  der  die  scotistische  Vorhebe  für  die  Konsub- 
stantiation  und  die  Bestimmungen  der  Gegenwart  des  Leibes 
als  einer  Relation  des  himmlischen  Christus  zur  Hostie  ge- 
bührend in  Acht  behält.  Alles  ist  jetzt  klar,  die  Transsub- 
stantiation bleibt,  aber  sie  bleibt  in  einem  dem  eigentlichen 
Gedanken  fremden  Sinn.  Es  kommt  nur  auf  eins  an,  dass 
Christus  in  der  Abendmahlshandlung  gegenwärtig  gedacht  wird. 
Und  nicht  einmal  auf  die  Gegenwart  des  Leibes  kann  im 
Sinn   des    Duns    sonderliches    Gewicht   gelegt  werden. 

17.  So  ist  es  freilich  klar,  dass  und  wie  die  Verwandlung 
auch  in  eine  präexistierende  Substanz  stattfinden  kann.  Aber 
niemand  kann  Duns  nachsagen,  dass  er  es  sich  zu  leicht  mache. 
Der  gefundene  Gedanke  muss  noch  gegen  eine  Anzahl  von 
Einreden  geschützt  werden.  Man  konnte  nämlich  leugnen,  dass 
dies  wirklich  als  Transsubstantiation  bezeichnet  werden  könne, 
da  der  Terminus  nicht  die  Substanz ,  sondern  die  Gegenwart 
ist.  Man  kann  weiter  einwenden,  dass  der  Terminus  ad  quem, 
also  der  Leib,  hier  einer  Ortsveränderung  unterliege,  die  früher 


384     Kap.  IV:  Die  Lehre  von  den  Sakramenten;  das  Abendmahl. 

geleugnet  wurde.  Und  man  kann  schliesslich  meinen,  dass  auf 
diese  Weise  soviel  praesentialitates  des  Leibes,  als  Verwand- 
lungen geschehen,  anzunehmen  seien  (23).  Aber  diese  Gedanken 
beweisen  nichts.  Gegen  den  ersten-  Einwand  ist  aufrecht  zu 
erhalten,  dass  allerdings  eine  Substanz  den  Terminus  ad  quem 
bildet,  wenn  es  auch  nicht  ein  esse  substantiale  novuni,  sondern 
eine  praesentia  nova  ist.  Eine  gewisse  Änderung  an  dem 
himmlischen  Leib  durch  Annahme  der  neuen  lokalen  Beziehung 
ist  allerdings  zuzugestehen.  Das  hat  Duns  ja  schon  früher 
gelehrt  (s.  oben  S.  369  f.).  Was  aber  die  Wahrheit  der  Gegen- 
wart anlangt,  so  ist  es  doch  im  Grunde  die  Gegenwart  des 
einen  Leibes  bei  dem  einen  Brot,  die  sich  teilt  in  viele  Einzel- 
erscheinungen (23). 

Das  Resultat  ist  also :  eo  modo  terminus  prior  convertitur 
in  terminum  posteriorem,  quomodo  terminus  posterior  succedit 
termino  priori;  sed  terminus  posterior  non  succedit  secundum 
esse  simpliciter,  sed  secundum  esse  hie  praesens  pani  prae- 
existenti ;  ergo  nee  panis  convertitur  nee  transit  in 
corpus  Christi,  nisi  secundum  esse  hie  praesens 
pani  praeexistenti  (24,  s.  noch  §  58  ad  4).  Freilich  ge- 
steht Duns  selbst  zu,  dass  nach  dieser  Theorie  an  ein  wirk- 
liches Aufhören  des  Brotes  durchaus  nicht  zu  denken  ist. 
Die  Kirchenlehre  von  der  Transsubstantiation  ist  also  glücklich 
so  präpariert  worden,  dass  sie  sich  mit  der  Konsubstantiation 
aufs  beste  verträgt!  Soll  aber  die  Brotsubstanz  aufhören,  so 
bedarf  es  einer  weiteren  mutatio.  Mit  einem  responsionem 
quaere!  schliesst  Duns  (24). 

18.  Diese  responsio  wird  im  folgenden  gesucht,  indem  die 
Erage  S.  379  wieder  aufgenommen  wird,  ob  das  Brot  im 
Abendmahl  annihiliert  werde  (quaest.  4)?  Dies  scheint 
wahrscheinlich  zu  sein,  da  ja  Leib  und  nicht  Brot  nach  der 
Konsekration  da  ist ;  ist  das  Brot  nicht  da,  so  scheint  es  nicht 
mehr  zu  sein.  Dem  schöpferischen  Akt  Gottes,  der  Sein  her- 
vorbringt, korrespondiert  die  Vernichtung  von  einem  anderen 
Seienden;  allerdings  aber  sei  Vernichten  kein  göttliches  Werk 
(quaest.  4,  1.  2).  Den  Weg  zur  Darlegung  seiner  eigenen  An- 
sicht bahnt  Duns  sich  durch  eine  kritische  Analyse  der  Ideen 
von  Heinrich,  Agidius  und  Varro.     Nach  Heinrich  ist  das  Brot 


Die  Annihilation  des  Brotes.  385 

nach  der  Verwandlung  nicht  nichts,  sondern  etwas;  natürlich 
aber  nicht  was  es  früher  war,  denn  das  hat  eben  durch  die 
Verwandlung  aufgehört,  sondern  es  ist  etwas  als  das,  was.  ver- 
wandelt wurde.  Dies  genüge  nicht  zur  Widerlegung  der  An- 
nihilation, denn  die  Verwandlung  scheine  doch  das  Nichtsein 
des  einen  Terminus  zu  bedingen,  da  dieser  dem  anderen  Ter- 
minus inkompossibel  ist.  Sodann  hat  das  Brot  doch  keine 
aliquitas  im  Leibe  Christi,  wie  andererseits  der  Leib  das  bleibt 
was  er  war,  also  könne  auch  von  einem  weiteren  Sein  des 
Brotes  nach  geschehener  Wandlung  nicht  wohl  geredet  werden 
(§  3.. 4). 

Ägidius  hat  gemeint,  das  Brot  werde  nicht  vernichtet,  da 
es  wie  der  Leib  Materie  ist  und  in  diese  übergeht;  so  wenig 
also  eine  Schöpfung,  so  wenig  finde  eine  Vernichtung  statt  (5). 
Allein  wäre  das  richtig,  so  würde  überhaupt,  solange  Körper- 
lichkeit besteht,  die  Annihilation  des  Brotes  unmöglich  sein. 
Andererseits  würde  hienach,  auch  wenn  die  Annihilation  vor- 
ausgesetzt wird,  das  Brot  doch  potenziell  in  der  Materie  des 
Leibes  Christi  bleiben.  Dann  kann  aber  auf  diesem  Wege 
die  Annihilation  unmöglich  widerlegt  werden  (ib.).  Varro  end- 
lich hat  gemeint,  es  bleibe  nach  der  Verwandlung  nichts  vom 
Brote  nach,  doch  werde  deshalb  das  Brot  nicht  annihiliert,  da 
nicht  das  Nihil  das  Ziel  der  Wandlung  sei.  Aber  hiegegen 
könne  doch  gesagt  werden,  dass  durch  die  Wandlung  immerhin 
die  nihileitas  des  Brotes  vorausgesetzt  werde  (6).  Freilich 
aber  ist  nicht  das  nihil  purum  ein  Terminus  im  Vorgang  der 
Transsubstantiation,  während  bei  der  Annihilation  es  darauf 
ankomme,  dass  von  dem  terminus  a  quo  nichts  im  terminus  ad 
quem  übrig  bleibe  (8.  9). 

Immerhin  scheint  Duns  der  Annihilation  zuzuneigen,  denn 
was  sich  schlechtweg  als  nichts  zeigt,  ist  nichts  etc.  (10).  Man 
könnte  die  Sache  etwa  so  vorstellen:  es  folgt  dem  esse  panis 
simpliciter  ein  non  esse  simpliciter,  wobei  per  accidens  kon- 
kurriert die  praesentia  corporis  Christi  hie.  Die  Vernichtung 
des  Brotes  hat  also  mit  der  Wandlung  nichts  zu  thun;  es 
würde  nur  anzunehmen  sein,  dass  avo  die  adduktive  Transsub- 
stantiation den  Leib  Christi  gegenwärtig  machte,  unabhängig 
von  ihr,   zeitlich  aber  zusammenfallend,   eine  Annihilation   der 

Seeberg,  Die  Theologie  des  Duns  Scotus.  25 


386      Kaj).  TV:   Die  Tjehre  von  den  Sakramenten;  das  Abendmahl. 

Brotsubstaiiz  stattfinde.  Bei  der  produktiven  Traiissubstantiation 
könne  man  ein  gewisses  Bleiben  dessen,  aus  dem  etwas  wurde, 
in  dem  was  daraus  wurde,  vorstellig  machen.  Bei  der  ad- 
duktiv(m  Form  aber  sei  ein  Beweis  geg(Mi  die  Annihilation  un- 
möglich, —  mehr  sagt  Duns  hier  nicht  (14). 

19.  Damit  ist  aber  die  Transsubstautiationslehre  des  Duns 
zum  Ziel  gekommen.  Es  findet  frciilich  ein  Übergang  einer 
Substanz  in  die  andere  statt,  aber  nur  im  Sinn  eines  trausitus 
zum  hie  esse.  Wie  nun  der  Ltdb  durch  diese  mutatio  posi- 
tiva  nur  ein  hie  esse,  nicht  das  esse  erhält,  so  wird  ent- 
sprechend die  mutatio  deperditiva  am  Brot  sich  nur  auf  das 
hie  esse,  und  nicht  das  esse  erstrecken :  non  deperdit  panis  esse 
simpliciter,  sed  esse  hie.  Wie  Christi  Leib  eine  neue  Gegen- 
wart erhält,  ohne  die  alte  zu  verlieren,  so  verliert  das  Brot 
die  alte  Gegenwart,  ohne  eine  neue  zu  erhalten.  An  sich 
könnte  also  das  Sein  der  Brotsubstanz  aufrecht  erhalten  bleiben. 
Soll  aber  das  esse  substantiale  des  Brotes  verloren  gehen,  so 
geschieht  das  nicht  durch  die  Wandlung,  sondern  alia  desitione ; 
diese  annihilatio  hat  mit  der  conversio,  wie  Duns  immer  wieder 
hervorhebt,  nichts  zu  schaffen  (15). 

Überschlägt  man  die  ganze  Gedankenentwicklung,  die  wir 
bisher  kennen  lernten,  so  ergibt  sich  ein  klarer  und  einfacher 
Zusammenhang:  Nach  Gottes  Ordnung  nimmt  der  Leib 
Christi  zur  konsekrierten  Hostie  eine  besondere 
Beziehung  ein,  die  Wandlung  bew^irkt  das  Hier- 
sein jenes  Leibes.  Nur  ein  Gedanke  will  sich  diesem  ein- 
fachen Zusammenhang  nicht  einfügen,  das  ist  die  Annihilation 
des  Brotes.  Allein  dieser  Hypothese,  zu  der  Duns  sich  übrigens 
nicht  ausdrücklich  bekennt,  kommt  in  dem  Zusammenhang 
seiner  Gedanken  keine  erhebliche  Bedeutung  zu.  Sie  ist  deut- 
lich als  Verlegcnheitsauskunft  zu  erkennen ;  schon  dadurch, 
dass  sie  grade  der  von  Duns  so  liebevoll  behandelten  Anschau- 
ung von  dem  Bleiben  der  Brotsubstanz  widerspricht.  Man 
versetze  sich  in  die  Lage  des  Duns.  Die  Orthodoxie  verlangte 
den  Verzicht  auf  die  Brotsubstanz.  Dieser  Verzicht  konnte  aber 
nur  auf  zwei  Wegen  erreicht  werden,  entweder  durch  die  Annahme 
der  vulgären  produktiven  Transsubstantiation,  oder  durch  die 
Hypothese   der  Annihilation.     Jener  Weg  war  Duns  schlecht- 


Dauern  die  Accidenzien  ohne  Subjekt  fort?  387 

hin  durch  seine  Gedanken  von  der  Gegenwart  des  Leibes  ver- 
legt, so  musste  er  sich  dazu  bequemen,  auf  die  Annihihition 
als  Ausweg  hinzuweisen.  So  sicher  aber  die  Konsubstantia- 
tionstheorio  ihm  die  allein  sympathische  war,  so  sicher  ist  die 
jener  entgegengesetzte  Annihilationshypothese  nur  als  logisches 
Manöver  zur  Aufrechterhaltuug  des  Scheines  der  Ub(M-eiii- 
stimmung  mit  der  Kirchenlehre  zu  beurteilen.  Man  beachte 
noch  die  Geflissentlichkeit,  mit  der  Duus  immer  wieder  her- 
vorhebt, dass  das  Transsubstantiationsdogma  keineswegs  den 
Untergang  der  Brotsubstanz  fordere! 

Duns  schliesst  seine  Erörterung  mit  einer  Betrachtung  über 
den  sprachlichen  Ausdruck  des  Wandlungsprozesses.  Man  könne 
dazu  nicht  das  Verbum  esse  brauchen,  aber  ebenso  wenig  fieri 
im  Sinn  des  Geformtwerdens  oder  posse,  da  das  Brot  weder  der 
Leib  ist,  noch  Leib  wird,  noch  Leib  sein  kann  (quaest.  5,  1). 
Wohl  aber  kann  man  sagen  :  ex  pane  fit  corpus  (quaest.  6,  1). 

20.  Doch  eine  mühsame  Erörterung  wartet  noch  des 
Lesers:  die  Brotsubstanz  soll  annihiliert  werden,  die  Accidenzien 
bleiben,  bestehen  sie  nun  ohne  Subjekt,  d.  h.  ohne  einen  Träger, 
an  dem  sie  haften,  im  Abendmahl?  So  sehr  die  Logik  und 
der  Augenschein  diese  Frage  zu  verneinen  erheischen  (dist.  12 
quaest.  1,  L  2),  so  sehr  muss  sie  im  Eahmen  der  Vernichtung 
der  Brotsubstanz  gestellt  werden.  Alexander  und  Thomas 
meinten,  dass  wenn  von  einem  zusammengesetzten  Sein  ein 
Accidenz  losgelöst  wird,  es  von  Gott  ein  neues  Subjekt  erhalte, 
da  doch  nicht  mehr  das  ganze  Sein  des  Zusammengesetzten 
sein  Subjekt  bleiben  könne.  Nach  Heinrich  erhält  es  eine 
gleichsam  übernatürliche  Kraft,  vermöge  welcher  es  per  se 
bestehen  könne.  Gegen  beides  wendet  Duns  ein,  dass  es  logisch 
unmöglich  sei.  Soll  das  Accidenz  abgetrennt  werden,  so  hat 
es  sein  eigenes  Sein,  das  vor  dem  neuen  Subjekt  besteht.  Zu- 
dem müsste  letzteres  doch  irgendwie  entstehen  und  selbst  etwas 
sein,  sei  es  Substanz  oder  Accidenz.  Aber  wie  entsteht  es 
und  was  ist  es?  Mag  es  übernatürlich  entstehen,  so  muss  es 
doch  im  konkreten  Zusammenhang  etwas  Natürliches  werden, 
wie  auch  der  Blinde,  dem  übernatürlich  das  Augenlicht  wieder 
wurde,  natürlich  sehen  würde  (ib.  3.  4). 

Wie  immer,  so  bahnt  sich  auch  hier  Duns  den  Weg  durch 

25* 


388     Kap.  IV:  Die  Lehre  von  den  Sakramenten;  das  Abendmahl, 

logische  Distinktion.  Das  Wort  Accidenz  kann  in  verschiedenem 
Sinn  gehraucht  werden.  1)  Der  Begriff  als  solcher  genommen 
fasst  notwendig  in  sich,  dass  das  Accidenz  einem  anderen  als 
seinem  Suhjekt  anhaftet,  denn  es  gehört  zum  genus  respectus 
extrinseci  advenientis  (5.  6).  2)  Das  Accidenz  als  accidens 
respectivum  drückt,  wie  paternitas,  similitudo,  eine  konkrete 
Beziehung  aus  (8).  In  diesem  wie  jenem  Sinn  kann  das  Ac- 
cidenz nicht  ohne  ein  Subjekt,  an  dem  es  haftet,  gedacht  werden ; 
3)  Nun  kann  es  aber  auch  als  etwas  Absolutes  gedacht  werden ; 
so  kann  es  sein  oder  nicht  sein  in  einem  Subjekt,  wird  aber 
notwendig  die  Hinneigung  zu  einem  Subjekt  haben:  necessario 
inest  aptitudinaliter  (5).  Es  könnte  also  etwa  das  Accidenz 
albedo  vorgestellt  werden  als  etwas  Absolutes,  was  als  solches 
zu  keinem  anderen  als  seinem  Subjekt  Beziehung  hätte  (9). 
Dem  gegenüber  kann  nun  nicht  gesagt  werden,  dass  die  In- 
härenz  zur  Essenz  der  albedo  gehöre.  Jene  Inharenz  ist  ein 
respectus,  ein  solcher  aber  kann  nicht  intrinsice  zur  quidditas 
der  albedo  gehören  (12.  14).  Die  Inharenz  der  albedo  ist  also 
nicht  identisch  mit  der  albedo  (18).  Trotzdem  dass  nun  der 
respectus  inhaerentiae  später  ist,  als  die  albedo  selbst,  kann 
doch  nicht  gefolgert  werden:  also  bedarf  die  albedo  keines 
terminus  respectus,  denn  es  kann  etwas  abhängig  sein  von  dem 
terminus  respectus,  nicht  aber  vom  respectus  selbst,  wie  etwa 
die  Substanz  des  Steines  nicht  abhängen  kann  von  der  Be- 
ziehung Glottes  zum  Stein,  wohl  aber  von  Gott  selbst  (20). 
Doch  muss  auch  zugestanden  werden,  dass  die  Inharenz  der 
albedo  inhäriert,  denn  nur  so  begreift  man  ihre  Tendenz  zur 
Adhärenz  und  zwar  ist  diese  Inharenz  der  Inharenz  nicht  ver- 
schieden von  dieser  selbst  (18).  Aber  das  heisst  nicht,  dass 
die  Inharenz  dem  Accidenz  schlechthin  notwendig  ist.  Soll 
dasselbe  als  ein  Absolutes  gedacht  sein,  so  wird  es  Accidenz 
durch  einen  respectus  extrinsecus  adveniens.  Diese  Vereinigung 
ist  aber  eine  zufällige,  da  nämlich  Gott  beide  Absolute,  die 
sich  verbinden,  auch  für  sich  hätte  bestehen  lassen  können  (21). 
Zusammenfassend  können  wir  also  sagen:  die  Inharenz  gehört 
nicht  zum  Wesen  des  Accidenz,  sofern  ein  solches  absolut 
gedacht  werden  kann.  Die  Inharenz  inhäriert  vielmehr  dem 
Accidenz,  wobei  letzteres  die  Tendenz  auf  Inhäsion  hat. 


Quantität  und  Qualität.  389 

Es  handelt  sich  weiter  um  die  Frage,  ob  jedes  Accidenz 
ohne  Subjekt  sein  könne?  Nach  Duns  ist  hier  zu  unterscheiden 
zwischen  dem  nächsten  und  dem  letzten  Träger  des  Accidenz. 
An  sich  könne  in  letzterem  Verhältnis  nur  einis  Substanz,  in 
ersterem  auch  ein  Accidenz  als  Subjekt  eines  Accidenz  in  Be- 
tracht kommen.  Natürlich  könne  aber  auch  jedes  Accidenz 
als  absolut  oder  subjektlos  gedacht  werden.  Ebenso  ist  aber 
sicher,  dass  ein  Accidens  respectivum  nicht  entraten  kann  des 
Subjektes  zweiter  Art,  indem  keine  Beziehung  möglich  ist, 
ohne  dass  sie  alicuius  und  ad  aliquid  sei.  Allerdings  ist  dies 
Verhältnis  nicht  im  Accidenz  als  solchem  begründet,  sondern 
tritt  als  Relation  zu  demselben  hinzu  (dist.  12  quaest.  2,  14). 
In  diesem  Fall  wäre  aber  das  Subjekt  des  Accidenz  selbst 
wieder  ein  Accidenz,  nämlich  die  habitudo  ad  terminum. 

21.  Wendet  man  diese  Unterscheidungen  auf  das  Abend- 
mahl an,  so  handelt  es  sich  darum,  ob  man  die  Quantität  für 
eine  essentia  absoluta  hält,  die  sich  sonach  essentiell  von  der 
Qualität  unterscheiden  würde.  Dies  sei  die  communis  opinio. 
In  diesem  Fall  müsste  man  sich  die  *  Quantität  als  absolutes 
Accidenz,  d.  h.  subjektlos  im  Abendmahl  bestehend  denken, 
während  die  Qualität  ihr  Subjekt  an  dem  Accidenz  der  Quan- 
tität haben  könnte.  Also  würde  nach  Aufhören  der  Substanz 
die  Quantität  des  Brotes  als  solche  fortbestehen,  und  dieser 
würden  die  Qualitätsbestimmungen  des  Brotes  anhaften.  In 
diesem  Zusammenhang  macht  nun  aber  Duns  ein  überraschendes 
Zugeständnis.  Er  führt  ohne  Widerlegung  die  Auffassung  an, 
dass  die  Quantität  einer  körperlichen  Substanz  nicht  essentiell 
verschieden  ist  von  der  Substanz  selbst.  Dann  könnte  natürlich 
nicht  davon  die  Bede  sein,  dass  die  Qualitäten  der  Quantität 
anhaften,  sondern  eher  könnte  man  die  Quantität  der  Qualität 
anhängen  (ib.  15).  Hier  ist  die  nominalistische  Behandlung 
der  Frage  ^)  begründet.  Die  Quantität  ist  nur  der  quantitative 
Leib.  Dann  wird  aber  Quantität  nur  so  lange  sein,  als  Leib 
ist.  Der  Gedanke  verstösst  in  seiner  Konsequenz  wider  die 
Transsubstantiation.  Er  würde  aber  gut  harmonieren  mit  jener 
Annahme  eines  Bleibens  der  Brotsubstanz.  Doch  hat  Duns 
sich  nicht  genauer  hiezu  geäussert. 

^)  Z.  B.  bei  üccam,  s.  m.  Dogmengesch.  II  S.  189. 


390     JKap.  TV:  Die  Lehre  von  den  Sakramenten;  das  Abendmahl. 

Duns  fragt  weiter,  ol)  die  zurückl)leiben(leii  Accidenzien 
dieselben  Wirkungen  ausüben  könnten,  die  sie  an  der  Substanz 
hatten?  An  sieb  scheint  durch  Aufhc^bung  des  esse  auch  das 
agere  aufzuhören  (quaest.  3,  1.  4).  -Duns  weist  nach,  dass 
das  von  der  Substanz  abgetrennte  Accidenz  \v(?der  das  Werk- 
zeug zur  Hervorbringung  einer  Substanz  (7.  9),  noch  auch 
das  principium  effectivum  zur  Entstehung  einer  Substanz  sein 
kann,  da  jedes  Accidenz  seiner  Art  nach  unvollkommener  ist  als 
eine  Substanz  (13).  Wohl  aber  kann  solch  ein  Accidenz  thätig 
sein  zur  Bewirkung  von  Accidenzien.  Die  Qualität  nämlich, 
die  abgelöst  von  ihrer  Substanz,  bleibt  —  nämlich  der  Quan- 
tität —  muss  auch  wirkungskräftig  sein ,  denn :  ablatio  illius 
subiecti  nihil  aufert  per  se  principio  agendi  (17).  Also:  die 
Accidenzien  wirken  nach  der  Konsekration  was  sie  auch  vor 
derselben,    als  sie  die  Substanz  zam  Subjekt   hatten,    wirkten. 

22.  Duns  untersucht  ferner:  ob  jede  Veränderung,  die  ein 
Geschaffenes  an  den  Accidenzien  des  Abendmahls  bewirkt,  not- 
wendig das  Bleiben  der  gleichen  Quantität  voraussetzt?  Vier 
Arten  der  mutatio  sind  zu  unterscheiden:  1)  die  lokale  Ver- 
änderung bezüghch  des  ubi,  2)  der  Wandel  der  Qualität  ohne 
quantitative  Änderung,  3)  qualitative  und  quantitative  Änderung 
d.  h.  secundum  rarum  et  densum,  und  4)  bloss  quantitative 
Änderung  durch  appositio  oder  ablatio.  Es  ist  klar,  dass  im 
ersten  und  zweiten  Fall  die  Quantität  —  als  eine  Art  Subjekt, 
an  dem  sich  die  qualitativen  Mutationen  vollziehen  —  erhalten 
bleibt  (ib.  quaest.  4,  19).  Schwieriger  sind  der  3.  und  4. 
Fall  (20).  Wenn  nämlich  eine  Verdichtung  oder  Ausbreitung 
von  aussen  her  bewirkt  wird,  so  scheint  doch  das  von  Gott 
erhaltene  Quantitätsaccidenz  von  einer  Kreatur  nicht  zerstört 
werden  zu  können.  Soll  also  in  diesem  Fall  eine  neue  Quan- 
tität angenommen  werden ,  so  kann  dieselbe  nur  von  Gott 
direkt  gesetzt  werden,  und  zwar  so,  dass  Gott  mit  der  Ver- 
ordnung der  Eucharistie  zugleich  eine  Veränderung  der  Acci- 
denzien setzte,  die  eintritt  in  Gemässheit  der  Änderung  der 
Accidenzien,  wie  sie  einträte,  wenn  das  Brot  zur  Zeit  der 
Veränderung  noch  bestände.  Wenn  nämlich  die  Spezies  sich 
konkret  als  unwandelbar  erwiese,  so  würde  dem  Glauben  sein 
Verdienst  genommen  (21).    Wenn  also  jemand  die  konsekrierte 


Wirkungen  und  Veränderungen  der  Accidenzien.  391 

Hostie  zusammondrückt,  so  tritt  ein  Wandel  dnr  Quantität 
als  solcher  ein,  der  entspricht  dem  quantitativ(Mi  Wandel  an 
der  nicht  konsekriorten,  also  noch  substanzioll  vorhandenen 
Hostie.  —  Im  vierten  Fall  dagegc^n  ist  kc^ne  Veränderung  der 
Quantität  anzunehmen,  da  bei  jeder  Teilung  wie  bei  jeder 
Zufiigung  die  bleibenden  Teile  als  das  Subjekt  dableiben. 
D.  h.  also  die  Quantität  der  Hostie  bleibt,  ob  ihre  Teile  nun 
bei  einander  sind  oder  getrennt  werden ,  ob  etwas  zu  ihnen 
zugefügt  wird  oder,  nicht.  Das  Resultat  ist  also,  dass  eine 
Änderung  der  Quantität  nur  bewirkt  werden  kann,  sofern  Gott 
eine  solche  als  möglich  gesetzt  hat. 

Folgerichtig  w^ird  an  diese  Frage  die  andere  geschlossen, 
ob  nämlich  die  Accidenzien  eine  transmutatio  corruptiva 
erfahren  können  ?  Thomas  hat  diese  Frage  bejaht  mit  der  Be- 
gründung, dass  die  Accidenzien  ein  der  früheren  Brotsubstanz 
konformes  esse  haben,  dass  also  wie  letztere  auch  erstere 
korrumpiert  werden  können  (ib.  quaest.  5,  2).  Das  ist  offenbar 
unrichtig,  denn  indem  das  esse  der  Substanz  aufgehoben  wird, 
wird  keineswegs  ein  neues  jenem  konformes  esse  der  Accidenzien 
gesetzt  (3).  Aber  die  Accidenzien  können  freilich,  nach  der 
gewöhnlichen  Auffassung,  dass  sie  an  der  Quantität  ihr  Subjekt 
haben,  zerstört  werden,  da  diese  dann  doch  nachblieben. 
Schwieriger  wird  aber  die  Sache  bei  der  anderen  Annahme, 
die  Duns  wieder  ernsthaft  ansetzt,  dass  Quantität  und  Substanz 
nicht  von  einander  unterschieden  sind,  denn  hier  bliebe  bei 
Zerstörung  der  Accidenzien,  die  ja  nach  dieser  Anschauung 
kein  von  der  Substanz  verschiedenes  Sein  haben,  nichts,  also 
auch  nicht  die  Quantität,  nach  (4).  Duns'  Meinung  ist  die, 
dass  nach  Zerstörung  der  Qualitäten  die  Eucharistie  überhaupt 
aufhört,  da  sie  nach  Gottes  Willen  eben  nur  unter  diesen 
Qualitäten  bestehen  soll  (4). 

23.  Kann  nun  aber  für  diesen  Fall  die  Wiederkehr  einer 
gewissen  irdischen  Substanz  angenommen  werden?  Man  meint, 
dass  das  Brot  wiederkehre,  sobald  jene  zur  Eucharistie  not- 
wendigen Bestandteile  aufhören.  Aber  wann  sollte  das  ein- 
treten? Etwa  in  dem  Moment,  da  die  neue  Substanz  da  ist, 
dann  wären  in  jenem  Moment  doch  wohl  Brot  und  Nichtbrot 
bei  einander;    oder  früher,   dann   wären  Eucharistie  und  Brot- 


392     -Kap.  IV:  J)ie  Lehre  von  den  Sakramenten;  das  Abendmahl. 

Substanz  zugh^ich  da.  Die  Schwi(Tigk(nt  besteht  darin,  dass 
man  nicht  recht  angehen  kann,  wann  das  Brot,  d.  h.  seine 
Accidenzien  aufhören  Brot  zu  sein;  und  wie  soll  dann,  wenn 
diese  aufhören,  grade  das  Brot  zu  sein  anfangen  (ib.  quaest.  6, 
3.  4)?  Hier  will  Thomas  durch  die  Aimahme  eines  schöpferischen 
Aktes  helfen,  der  eine  neue  Substanz  hervorbringe  (5).  Aber 
auch  dann  bleibt  die  Schwierigkeit,  dass  man  den  Eintritt  der 
neuen  Substanz  nicht  vorstellig  machen  kann.  Weder  kann 
sie  im  letzten  Moment  des  Bestandes  der  Eucharistie  entstehen, 
da  sie  dann  mit  jener  zugleich  da  wäre,  was  gegen  die  Trans- 
substautiation  verstiesse,  noch  kann  man  annehmen,  dass  sie 
erst  im  Moment  ihrer  generatio  die  corruptio  der  Spezies  be- 
wirke, da  das  in  ihrer  generatio  nicht  liegt,  noch  kann  man 
sie  überhaupt  denken,  da  ihr  die  Form  fehlen  würde,  was 
wieder  ein  überflüssiges  Wunder  erheischte  (5).  —  Duns  selbst 
beantwortet  die  Frage  so :  Einige  Änderungen  in  den  Qualitäten 
können  eintreten,  ohne  den  Bestand  der  Eucharistie  zu 
schädigen  (11).  Jede  Änderung,  die  ein  incomj)ossibile  pani, 
wenn  es  geblieben  w^äre,  nicht  bewirkt,  wie  jede  Änderung  der 
Qualität  bezüglich  der  rarefactio  und  condensatio,  würde  die 
Eucharistie  nicht  aufheben,  wohl  aber  jede  Änderung,  die  das 
Brot,  wenn  es  da  wäre,  zerstörte,  wie  etwa  die  Zerstörung  des 
Brotes  resp.  seiner  Spezies  durch  Feuer.  In  letzterem  Fall 
wäre  die  Eucharistie  zerstört,  auch  wenn  die  Quantität  des 
Brotes  erhalten  wäre,  da  die  Eucharistie  zu  ihrem  Bestand 
nicht  nur  der  Brotquantität,  sondern  auch  der  übrigen  Acci- 
denzien bedarf  (13).  Bleibt  nun  aber  die  Quantität  nach,  so 
hat  alles,  was  übrig  bleibt,  an  ihr  sein  Subjekt  (11).  Wird 
aber  auch  die  Quantität  zerstört,  so  muss  freilich  eine  neue 
Substanz  als  Inbegriff  des  in  der  corruptio  Nachbleibenden 
eintreten.  Diese  lässt  Gott  direkt  entstehen  im  Moment  der 
Korruption.  Hatten  nämlich  die  Spezies  ihr  Subjekt,  solange 
Eucharistie  war,  an  dieser,  so  ist  klar,  dass  in  dem  Moment 
des  Aufhörens  derselben  ein  neues  Subjekt  eintreten  muss. 
Diese  Substanz  muss  dann  aber  so  beschaffen  sein,  dass  sie 
zu  den  übrig  gebliebenen  Accidenzien  passt  (13).  Also  sind 
drei  Fälle  zu  unterscheiden:  1)  geringere  Veränderungen  der 
Brotaccidenzien     bewirken     kein    Aufhören     der    Eucharistie; 


Erhebliche  ÄnderuDgen  der  Accidenzien  vernichten  die  Eucharistie.     393 

2)  erheblichere  V(u-änderuiigen  bringen,  solange  die  Brot- 
quantität erhalten  bleibt,  keine  neue  Substanz  hervor,  obgleich 
die  Eucharistie  aufhört;  3)  hört  aber  das  Brot  nach  Quantität 
und  Qualität  auf,  so  ist  nicht  mehr  Brot  da,  sondern  eine 
neue  Substanz,  die  dem  Brot  nach  Massgabe  der  von  ihm 
übrig  gebliebenen  Accidenzien  entspricht. 

24.  Die  Erörterung  dieser  Distinktion  ruht  auf  der 
Hypothese  der  Annihilation  der  Brotsubstanz.  Die  Frage  ist, 
was  nach  der  Aufhebung  der  Brotsubstanz  das  Subjekt  der 
übrig  bleibenden  Accidenzien  ist?  Das  Accidenz  kann  absolut 
gedacht  werden,  aber  immer  nur  mit  der  Tendenz  auf  Inhäsion 
an  einem  Subjekt.  So  wird  dann  die  Quantität  des  Brotes 
vorgestellt  als  das  Subjekt  der  sonstigen  Accidenzien  des  Brotes, 
die  nach  Zerstörung  der  Substanz  bleiben.  Diese  Accidenzien 
können  die  nämliche  Wirkung  ausüben,  die  ihnen  zur  Zeit  des 
Bestandes  der  Brotsubstanz  zukam.  Werden  sie  aber  zerstört, 
so  hört  die  Eucharistie  auf;  wenn  auch  die  Quantität  zerstört 
wird,  so  muss  für  die  übrig  bleibenden  Accidenzien  eine  neu 
entstehende  Substanz  als  Subjekt  angenommen  werden.  Die 
ganze  Betrachtung  ruht  auf  der  realistischen  Auffassung  der 
Quantität  als  eines  an  sich  Seienden.  Aber  Duns  kennt  auch 
eine  andere  Anschauung,  nach  der  die  Quantität  nichts  anderes 
als  das  quantitativ  gedachte  Ding  selbst  ist.  Diese  Anschauung 
wird  als  möglich  zugestanden.  Man  darf  nun  sagen,  dass  nur 
diese  Auffassung  der  Theorie  des  Duns  entspricht.  Ist  das 
Bleiben  der  Brotsubstanz  das  Wahrscheinliche  (S.  380),  bezieht 
sich  demgemäss  die  Transsubstantiation  nicht  schlechthin  auf 
das  esse,  sondern  auf  das  hie  esse,  so  muss  das  Subjekt  der 
Accidenzien  in  der  res  quanta  selbst  erblickt  werden.  Man 
kann  das  dann  etwa  so  denken:  für  die  fromme  Betrachtung 
ist  als  Substanz  in  der  Eucharistie  nur  noch  der  Leib  vor- 
handen; mag  nun  immerhin  die  Brotsubstanz  fortbestehen,  die 
religiöse  Betrachtung  bemerkt  nur  noch  die  sinuenfälligen 
Accidenzien,  sie  sieht  nicht  mehr  das  Brot  als  solches,  sondern 
nur  noch  ein  gewisses  Quantum,  das  ihr  als  Subjekt  für  die 
übrigen  Accidenzien  genügt.  Wird  dies  Quantum  vernichtet, 
dann  hört  auch  das  Bewusstsein  von  der  Eucharistie  auf,  dann 
sieht  man    nur    eine   neue    irdische    Substanz    in    dem  Übrig- 


394     JKap.  IV:  Die  Lehre  von  den  Sakramenten;  das  Abendmahl, 

bleibenden.     Diese  Lösung  entspricbt  vioUeiclit  der  Unklarheit, 
die  Duns,    wohl  nicht   ohne  Absicht,    über  seinen  Gedankenzu- 
sammenhang verbreitet.     Die  Substanz   bleibt,    aber  sie  bleibt 
auch    nicht;    hinsichtlich    der    Beziehung  zu    den    Accidenzien 
vertritt   die  Quantität    sie,    die  Quantität   aber   darf   auch  als 
das    quantitative    Ding    selbst    gedacht    werden ;    die    Substanz 
wäre  da,  aber  was  von  ihr  in  Betracht  kommt,  wäre  bloss  die 
Quantität    samt     den    ihr     anhaftenden    Qualitäten.      Hierauf 
führen  die  Grundideen  des  Duns  über  die  Transsubstantiation. 
25.  Nachdem   wir  so  erkannt  haben,    was  es   im  Sinn  des 
Duns    um   die   Transsubstantiation   ist,    bleibt    schliesslich    die 
Frage  nach  dem  Verhältnis  zwischen  der  göttlichen  und  priester- 
lichen Thätigkeit   bei   der   Konsekration    zu   erörtern.     Hievon 
redet   die    13.  Distinktion.     Duns   beginnt  mit   der   Frage,    ob 
der  Leib  Christi  nur  durch  eine  actio  Gottes  konfiziert  werden 
könne?    Nach  dem  allgem.einen  Sakramentsbegriff  (vgl.  S.  348) 
ist  die  Frage  zu  bejahen ;  da  ja  ein  unmittelbar  Neues  eintritt, 
kann   es   nur   von    Gott   gewirkt   werden    (quaest.  1,  3).     Nun 
kann   aber   doch   gefragt   werden,    ob   hier,    da   doch  nur  eine 
neue    Belation    zu    früher    Seiendem,    nicht   aber    ein    neues 
Sein  hergestellt  wird,    ob;  hier   eine  göttliche  Aktion  notwendig 
ist?    Andererseits   scheint  es   aber  gleichgiltig  zu  sein,    ob  die 
Verwandlung  etwas  in  ein  praeexistens  oder  ein  non  praeexistens 
umwandelt   (ib.  §  3).      Zunächst    ist    hier    die    Unterscheidung 
der   Begriffe    actio   und  relatio    festzustellen.     Die   Actio    wie 
die  Belatio   sind  nicht   forma  absoluta,    da   sie   nicht  für   sich 
bestehen    können   (§  5.  6).     Beide    unterfallen    dem    Gesichts- 
punkt  des  respectus,    wobei  letztere    ein  respectus    extrinsecus 
adveniens ,    erstere   ein  respectus   intrinsecus   adveniens  ist  (9). 
Nun    ist   weiter    bei   jeder  Actio   zu   unterscheiden    das   agens 
(Subjekt)   und    das   passum  (Objekt).     Ist   nun   die   Actio   ein 
hinzutretender  respectus,  so  fragt  sich  es,    ob  sie  zum  Subjekt 
oder  Objekt   hinzukommt.     Darauf  ist   zu   sagen,    dass   sie  zu 
beiden    kommt   (10).     Es    kann    aber    unter   Actio    sehr   Ver- 
schiedenes verstanden    werden,    nämlich    1)   die    operatio,    wie 
intellectio  und  volitio,  2)  ein  respectus,  und  zwar  der  respectus 
producentis  ad  productum,  oder  3)  educentis  ad  eductum,  4)  die 
res    acta,    sofern    sie    von    einem   anderen    hervorgebracht  ist^ 


Gott  allein  vollbringt  die  AYandlung-.  395 

5)  der  respectus  transmutantis  ad  transmutatum  (12).  In 
.  letzterem  Sinn  ist  aber  in  die  Relation  eingeschlossen  sowohl 
das  Yerhältuis  des  ändernden  Subjektes  zu  seinem  Objekt  als 
die  passive  Änderung  des  Objektes  (13).  Streng  genommen 
sind  nun  aber  auf  Gott  nur  zwei  Kategorien  anwendbar,  näm- 
lich die  Kategorie  der  Substanz  und  der  Relation  (17),  nicht 
aber  die  actio.  Gottes  Thun  ist  nämlich  totalis  productio,  bei 
einer  solchen  fehlt  aber  das  passum  im  Sinn  des  potenziell 
gestaltbaren  Objektes.  Immerhin  könne  man  aber  auch  von 
göttlicher  actio  reden,  nicht  freilich  im  strengen  Sinn,  aber 
doch  so,  dass  das  Betreffende  in  Gott  der  menschlichen  Aktion 
korrespondiert.  Blicken  wir  jetzt  auf  die  Conversio,  so  ist 
soviel  klar,  dass  wir  sie  als  Relation  zu  denken  vermögen. 
Dagegen  scheint  bezweifelt  werden  zu  können,  dass  diese 
Relation  mit  dem  menschlichen  Handeln  verwandt  ist:  wird 
nämlich  die  Substanz  so  verwandelt,  dass  die  alte  aufhört  zu 
existieren,  so  ist  kein  passives  Objekt  der  Wandlung  vorhanden, 
und  scheint  also  diese  selbst  auch  nicht  als  actio  vorgestellt 
werden  zu  können.  Allein  wenn  man  sich  daran  erinnert,  dass  der 
eigentliche  Zweck  der  Conversio  in  der  Setzung  einer  praesentia 
nova  des  Leibes  bestand,  so  kann  man  die  Wandlung  des  hie  esse 
als  eine  passio  in  corpore  ansehen  und  dann  allerdings  von  einem 
gewissen  Handeln  reden  (19).  Auch  hier  ist  der  Duns  eigen- 
tümliche Transsubstantiationsgedanke  deutlich  erkennbar. 

Demnach  kann  die  Wandlung  als  göttliche  Aktion  be- 
zeichnet werden.  Aber  bedarf  es  einer  solchen  ?  Diese  Thätig- 
keit  scheint  doch  auch  von  einem  Menschen  vollzogen  werden 
•  zu  können,  da  der  Mensch  auch  göttliche  Werke,  sofern  sie 
nicht  formell  unendlich  sind,  ausführen  kann.  Dies  Schaffen 
von  Kreaturen  scheint  auch  nicht  unendlich  zu  sein,  da  sonst 
alle  Vollkommenheit  darin  beschlossen  sein  müsste.  Und  wenn 
der  Mensch  die  Substanzen  verändern  könne,  müsse  er  doch 
auch  die  Wandlung  zu  vollziehen  im  stände  sein  (30).  Allein 
diese  Erwägungen  scheitern  daran,  dass  der  Mensch  nie  über 
das  Sein  als  solches  verfügt.  Weiter  aber  muss,  da  Gott  in 
seinem  Handeln  sehg  ist,  dasselbe  freilich  unendlich  sein, 
allerdings  nicht  in  extensivem,  sondern  in  intensivem  Sinn  (31). 
•So  wenig    man    daher  der    Kreatur  die    Wandlung   beizulegen 


396  Kap.  IV:  Sakramente;  Abendmahl,  Busse. 

genötigt  ist,  so  wonig  kann  mit  Thomas  behauptet  werden,  die 
Kreatur  sei  die  instrumentah^  Ursache  der  Wandlung  (§  34  ff.). 
Der  Priester  oder  die  prolatio  verborum  kann  nur  insofern 
Ursache  der  Wandhmg  genannt  werden,  als  er  nach  Gottes 
Pakt  die  dispositio  necessaria  für  die  von  Gott  vollzogene 
Wandlung  herstellt,  nicht  aber  so,  dass  sein  Thun  an  sich 
jenes  Ziel  erreichte,  wie  das  vom  instrumentalen  Handeln  ge- 
sagt werden  kann  (40).  Das  ist  die  Antwort  des  Duns.  Sie 
folgt  konsequent  aus  seiner  allgemeinen  Anschauung  von  den 
Sakramenten. 

26.  Die  letzte  Frage,  die  Duns  erörtert,  ist  die :  ob  jeder 
Priester,  der  die  Intention  zur  Konsekration  hat  und  sie  an 
der  rechten  Materie  vollzieht,  konsekrieren  kann  (dist.  13 
quaest.  2)?  Diese  Frage  ist  zu  bejahen,  sofern  das  posse 
Ordinate  facere  bei  dem  betr.  Priester  vorausgesetzt  wird.  Er 
muss  also  sacerdos  sein,  er  darf  nicht  stumm  sein,  sondern 
muss  die  Konsekrationsworte  auszusprechen  vermögen  (§  3.  4). 
Dies  gilt  auch  von  dem  degradierten  Priester.  Zwar  sagt 
man,  derselbe  habe  das  priesterliche  Privilegium  verloren,  indem 
er  der  Staatsgewalt  überliefert  werde.  Nun  aber  überliefert  in 
diesem  Fall  die  Kirche,  und  die  staatliche  Gewalt  handelt  nur 
als  Dienerin  des  kirchlichen  Richters.  Also  kann  das  priester- 
liche Privilegium  hiedurch  nicht  aufgehoben  werden.  Aber 
auch  dem  Schismatiker  und  Häretiker  —  von  letzterem  heisst 
es :  quod  plus  est  —  kann  die  Fähigkeit  zu  konsekrieren  nicht 
abgesprochen  werden,  sofern  auch  der  Häretiker,  selbst  wenn 
er  credit  eucharistiam  nihil  valere,  immerhin  im  allgemeinen 
die  Intention  haben  kann,  die  Einsetzung  Christi  und  die  Aus- 
führung derselben  durch  die  Kirche  auch  seinerseits  zu  voll- 
ziehen (§  5). 

Nachdem  so  im  allgemeinen  gezeigt  worden,  worauf 
das  posse  Ordinate  facere  beruht,  muss  weiter  betrachtet 
werden,  wie  der  einzelne  hieran  Teil  hat.  Er  muss  frei 
sein  von  einer  culpa  mortalis,  wovon  früher  die  Rede  war  (vgl. 
dist.  5  quaest.  2;  dist.  8  quaest.  3);  er  muss  nüchtern  sein 
(cf.  dist.  8  qu.  3),  sodann  frei  sein  von  einer  durch  kanonische 
Strafen  bewirkten  prohibitio  ministrandi,  sei  es  dass  dieselbe 
wegen  Verbrechen   oder  Gebrechen   erfolgte  (7.  8).     Die  igno- 


Der  konsekrierende  Priester.     Die  Busse.  397 

rantia  iuris  entschuldigt  weder  in  diesem  noch  dem  anderen 
Fall,  dass  ein  Laie  konsokrieren  will  (von  ihm  gilt:  peccat 
mortaliter  et  nihil  facit,  irregularis  est),  da  man  ja  verpflichtet 
ist,  dies  Recht  zu  kennen.  Die  Strafe  der  Irregularität  trrflFt 
den  Priester  wie  den  Laien  für  unbefugtes  Konsekrieren.  Wohl 
aber  kann  eine  ignorantia  facti  den  betr.  Priester  entschuldigen, 
wenn  er  etwa  nicht  sicher  wusste,  dass  ihm  wegen  Exkommuni- 
kation oder  ähnlichen  Gründen  etwas  verboten  sei  (10).  Die 
kleine  Exkommunikation  verhindert  nicht  an  der  Konsekration, 
wenngleich  sündigt  wer  mit  ihr  behaftet,  celebriert  (11).  Ein 
öffentlicher  notorischer  Sünder  begeht  eine  Todsünde  durch 
die  Konsekration,  indem  er  Ärgernis  gibt;  dagegen  ist  ein 
Simoniacus  irregularis  (11). 

27.  Damit  können  wir  unsere  Darstellung  der  Abend- 
mahlslehre des  Duns  Scotus  beschliessen.  Wie  wir  es  bei  der 
sich  nun  anschliessenden  Busslehre  thun  werden,  haben  wir 
hier  allen  verschlungenen  Pfaden  der  Dialektik  unseres  Autors 
folgen  müssen.  Denn  wie  jene,  so  bietet  auch  die  scotistische 
Abendmahlslehre  den  Schlüssel  zum  Verständnis  der  späteren 
Entwicklung  dar.  Duns  hat  gezeigt,  in  welche  Verwirrungen 
die  Transsubstantionslehre  stürze,  und  wie  man  an  dem  Dogma 
der  Transsubstantiation  festhalten  und  doch  die  Wandlung  auf- 
geben konnte.  Er  hat  eine  Lehrform  zuerst  energisch  ver- 
teidigt, die  dann  durch  die  Vermittlung  von  Occam,  d'Ailli  und 
Biel  für  Luthers  Auffassung  von  Bedeutung  wurde. ^) 

4.    DieBusse. 

1.  Kein  Stück  aus  der  Geschichte  der  mittelalterlichen 
Theologie  beansprucht  bei  dem  protestantischen  Dogmatiker 
und  Dogmenhistoriker  ein  so  grosses  Interesse  als  die  Ge- 
schichte des  Busssakramentes.  Denn  nicht  nur  hat  die  Re- 
formation an  einer  Kritik  der  mittelalterlichen  Busslehre  ihren 
Anfang    genommen,    man    kann   vielmehr    die    zentralen    und 


^)  Man  kann  diese  Abhängigkeit  auch  bei  Wiclif  wahrnehmen: 
Conversio  illa  non  destruit  naturam  panis  .  .  . ,  sed  facit  praesentiam  cor- 
poris Christi  et  toUit  principalitatem  panis,  ut  in  corpore  Christi  colligatur 
tota  intentio  adorantis  (de  eucharistia  ed.  Loserth  p.  100).  Das  sind 
scotistische  Gedanken  oder  Stimmungen,  vgl.  oben  S.  393  f. 


398  Kap.  IV:  Die  Lehre  von  den  Sakramenten;  die  Busse. 

wesentlichen  Gedanken  derselben  als  einen  Ersatz  des  Buss- 
sakramentes bezeichnen.  Die  Begriffe  der  Reue  und  des  Glaubens, 
der  Rechtfertigung  und  Gnade,  der  guten  Werke  und  des 
Lebensideals ,  wie  sie  der  Protestantismus  ausgebildet  hat, 
bilden  das  Gegenstück  zu  den  religiösen  Vorgängen,  die  das 
Busssakrament  in  sich  beschloss,  und  sie  haben  unter  diesem 
Gegensatz  ihre  besondere  Prägung  empfangen.  Die  Reue, 
die  an  den  zehn  Geboten  erzeugt  werden  soll,  bildet  die  Vor- 
aussetzung der  segensreichen  AVirkung  dieses  Sakramentes.  Die 
Beichte  war  im  ausgehenden  Mittelalter  immer  mehr  mit  einem 
Glaub  ensexamen  an  der  Hand  der  zwölf  Artikel  des  Aposto- 
likums verbunden  worden.  Die  Absolution  des  Priesters  be- 
wirkt aber  die  Rechtfertigung  des  Sünders  oder  die  Gnaden- 
eingiessung ;  dies  ist  der  solenne  Ort  zur  Behandlung  der  Recht- 
fertigung. Endlich  aber  befasst  die  Satisfaktion  die  Ver- 
pflichtung zu  bestimmten  frommen  Werken  in  sich.  In 
diesen  Werken  stellt  sich  aber  zugleich  das  asketische  Lebens- 
ideal der  mittelalterlichen  Frömmigkeit  dar.  Indem  also  das 
Busssakrament  von  dem  Protestantismus  gesprengt  wurde,  wurde 
die  ganze  mittelalterliche  Auffassung  des  religiösen  Lebens 
aufgehoben,  und  war  es  notwendig,  für  dieselbe  einen  ent- 
sprechenden Ersatz  aufzustellen.  Der  Hegt  aber  in  der  evan- 
gelischen Rechtfertigungs-  und  Heiligungslehre  vor. 

2.  Wir  wenden  uns  nun  der  Busslehre  des  Duns  Scotus 
zu,  indem  wir  auch  hier  der  Darstellung  in  dem  Opus  Oxoniense 
folgen  (IV  dist.  14-22). 

Die  Sünde  im  Menschen  soll  zerstört  werden.  Ist  dazu 
die  Busse  erforderlich  und  ist  sie  fähig,  das  zu  leisten? 

Die  Sünde  bestimmt  Duns  bekanntlich  in  bloss  negativer 
Weise.  Sie  ist  ein  Defekt  im  Willen,  das  Fehlen  der  rectitudo 
an  der  Handlung,  sowie  das  habituelle  Fehlen  des  schuldigen 
Gnadenbesitzes  (IV  dist.  14  quaest.  1  §  3;  dist.  22  quaest. 
unica  §  3  cf.  II  dist.  37  quaest.  1  §  6  f.).  Geht  nun  aber  auch 
die  einzelne  sündige  That  vorüber,  so  bleibt  doch  quaedam 
iniustitia  habitualis  im  Menschen  nach.  Nun  kann  diese  aber 
nicht  den  spezifischen  Charakter  des  Sünders  ausmachen,  müsste 
doch  sonst  der,  welcher  eine  Todsünde  beging,  dem  gleich- 
zuachten  sein,  der  ihrer  zweitausend  hinter  sich  hat,  denn  jede 


Sünde  ordinatio  ad  poenam,  Gottes  Zorn.  399 

Todsünde  tilgt  den  ganzen  Gnadenbesitz  im  Mcmschen  aus. 
Aber  auch  durch  den  Gedanken  einer  realen,  nicht  bloss  ide- 
ellen, der  Seele  immanenten  Beziehung  ad  poenam  debitam  illi 
culpae  (§  4),  kann  der  Charakter  des  Sünders  nicht  bedingt 
sein.  Einerseits  ist  nämlich  der  Bestand  einer  solchen  der 
Seele  immanenten  Beziehung  nicht  erweisbar,  andererseits  konnte 
dieselbe  nur  von  Gott  gesetzt  sein,  auf  Gott  könnte  aber  nicht 
zurückgehen,  was  den  Menschen  zum  Sünder  macht  (ib.  §  5). 
Sonach  kann  man  sagen,  dass  eine  Todsünde,  die  vorübergeht, 
nichts  eigentlich  Reales  im  Menschen  zurücklässt.  Freilich 
bleibt  ein  habitus  vitiosus  als  die  Disposition  zur  Sündenthat 
nach,  aber  dieser  ist  nicht  Sünde,  da  er  auch  im  Gerecht- 
fertigten noch  besteht.  Er  würde  geradezu  allmählich  ver- 
schwinden, wenn  er  nicht  durch  fortgesetzte  Sündenakte  er- 
halten würde.  Der  Sünder  würde  aber  Sünder  genannt  werden, 
auch  wenn  er  in  alle  Ewigkeit  nicht  sündigte,  also  liegt  hier 
keine  reale,  sondern  nur  eine  ideelle  Beziehung  vor. 

Sünder  bleibt  der  Sünder  also  weder  durch  den  sündhaften 
Habitus,  noch  durch  eine  innere  Beziehung  zur  Strafe,  Sünder 
ist  er  vielmehr  vermöge  der  ideellen  Beziehung,  die  Gott 
zwischen  der  Sünde  und  Strafe  geordnet  hat  (§  6).  Solange 
er  ein  puniendus  ist,  ist  er  Sünder.  Propter  peccata  trans- 
euntia  nihil  est  aliud  abiectio  istius  nisi  reprobatio  vel  repulsio 
in  voluntate  divina  et  in  peccatore  relatio  rationis  ut  abiecti 
vel  reprobati,  ad  talem  et  talem  poenam  ordinati.  Die  Mei- 
nung des  Duns  wird  klar  an  einem  Gleichnis :  Wer  den  Fürsten 
beleidigt,  erleidet  dadurch  keine  innere  und  reale  Veränderung; 
die  Änderung  besteht  nur  darin,  dass  der  Fürst  ihn  hinfort 
zur  Strafe  bestimmt. 

Also  nach  vollbrachter  Sündenthat  bleibt  von  ihr  im  Men- 
schen als  das,  was  ihn  zum  Sünder  macht,  die  ordinatio  ad 
poenam  nach.  Man  führt  dieselbe  auf  den  göttlichen  Zorn 
zurück.  Dieser  Begriff  fasst  aber  keine  Affekte  in  sich,  sondern 
bezeichnet  den  göttlichen  Willen,  den  zu  strafen,  der  sich  gegen 
sein  Gesetz  vergangen  hat.  Nihil  enim  aliud  est  offen di  vel 
irasci  in  deo  quam  volle  vindicare  ista  poena;  et  licet  deus 
dicatur  figurative  iratus  vel  offensus,  tamen  accipiendo  istam 
rationem   irasci   pro   velle   vindicare,    exclusa   passione   conco- 


400  Kap.  IV:  Die  Lehre  von  den  Sakramenten;  die  i3us3e. 

mitante  istud  volle,  cleus  formaliter  est  iratus  vel  offensus,  quia 
formaliter  est  volens  vindicare  peccatum  commissum  contra 
legem  suam  (§  7).  Man  sieht,  wie  der  Gottesbegriff  des  Duns 
hier  durchschlägt.  Wie  jedes  Verdienst  als  solches  nur  kraft 
des  göttlichen  Willens  anerkannt  wird,  so  besteht  das  Wesen 
der  Sünde  zuhöchst  darin,  dass  Gott  sie  als  das  zu  Strafende 
ansieht. 

Nun  spricht  aber  das  apostolische  Symbolum  von  einer 
„Vergebung  der  Sünden".  Es  muss  also  eine  solche  geben, 
d.  h.  dies  von  der  Sünde  in  uns  Nachbleibende  kann  getilgt 
werden.  Die  Notwendigkeit  der  Sündenvergebung  ergibt  sich 
auch  von  der  Betrachtung  her,  dass  Prädestinierte  in  Tod- 
sünden fallen,  wie  David  oder  Petrus.  Sind  sie  prädestiniert, 
so  ist  dadurch  ihr  Heil  absolut  sicher  gestellt.  Es  kann  das- 
selbe aber  nur  deleto  peccato  erlangt  werden.  Und  da  weiter 
die  Seligkeit  zusammen  mit  jener  Strafverhaftung  nicht  be- 
stehen kann,  so  muss  ihrem  Eintritt  die  Vergebung  der  Strafe 
vorangehen  (§  8). 

3.  Aber  dieser  Gedanke  der  Sündenvergebung  ist  zu  er- 
gänzen. Die  potentia  ordinata  Gottes  bedingt  nämlich,  dass 
Vergebung  nicht  stattfindet  sine  poena  vel  aequivalente  in 
acceptatione  divina.  Der  sündige  Mensch  als  solcher  steht 
unter  Gottes  Zorn  als  dem  velle  punire,  bezw.  als  dem  aliquid 
sufficiens  ad  placandum  exigere.  An  dieser  Regel  ist  festzu- 
halten, quod  non  potest  reliqui  in  universo  aliqua  culpa,  cui 
non  correspondeat  poena  ordinativa  (§  9). 

Die  Sündenvergebung  Gottes  setzt  also  voraus,  dass  seinem 
Zorn  Genugthuung  werde,  oder  dass  Gott  das  velle  punire  auf- 
heben könne.  Dies  kann  nun  bloss  durch  eine  poena  vel 
punitio  voluntaria  erreicht  werden.  Nur  die  freiwillig  ertragene 
Strafe  zerstört  die  Schuld,  keineswegs  aber  die  zwangsweise 
vollzogene  (§  10).  —  Kann  aber  eine  Strafe  überhaupt  frei- 
willig ertragen  werden?  Diese  Frage  sei  zu  bejahen,  sowohl 
indem  man  den  Begriff  der  Freiwilligkeit  als  ein  Nichtwider- 
streben und  geduldiges  Ertragen,  wie  als  ein  williges  Annehmen 
und  endlich  als  ein  williges  Verursachen,  sei  es  als  die  nächste 
Teilursache ,  die  nicht  auf  diesen  besonderen  Effekt  abzielt, 
sei  es  als    entfernte  Prinzipalursache,    die  auf  jenen  Effekt  ge- 


Die  Busse  Selbstbestrafung.  401 

richtet  ist  —  versteht.  In  letzterer  Hinsicht  ist  klar,  class 
der  Wille  den  Schmerz  oder  die  Traurigkeit  über  die  Sünde 
verursacht,  indem  er  das  Objekt,  das  sündige  Lust  erzeugt, 
zugleich  will  und  nicht  will  (§  12).  Beides  wirkt  zusammen 
zur  Erzeugung  der  Traurigkeit.  Das  kann  nun  aber  so  vor- 
gestellt werden ,  dass  der  Wille  gerade  den  Konkurs  des 
Wollens  und  Nichtwollens  beabsichtigt,  um  hieraus  eine  tristitia 
punieus  zu  erzeugen.  Und  zwar  ist  der  Wille  hier  in  der 
Weise  der  entfernteren  Ursache  wirksam.  Konkret  ist  die 
Sache  dann  so  zu  denken:  der  Wille  lässt  den  Intellekt  ein 
Gut  der  Welt  samt  der  daran  hängenden  Lust  betrachten, 
verursacht  aber  wie  jene  Betrachtung  so  zugleich  das  Nicht- 
wollen von  Gut  und  Lust.  So  erzeugt  er  mit  jenem  Zu- 
sammenstoss  von  Lust  und  Nichtwollen  resp.  Unlust  die 
Traurigkeit.  Diese  ist  somit  eine  von  dem  Menschen  freiwillig 
übernommene  Strafe  (§  13).  Und  die  Möglichkeit  einer  solchen 
stand  zu  beweisen. 

Genauer  angesehen,  enthält  der  geschilderte  innere  Vor- 
gang der  Selbstbestrafung  durch  Traurigkeit  folgende  Momente 
in  sich:  dass  man  die  Strafe  selbst  will,  dass  man  die  voll- 
zogene That  verabscheut,  dass  man  die  auferlegte  Strafe  auf- 
nimmt und  dass  man  sie  geduldig  trägt  (§  14).  Somit  bedarf 
es  zur  Zerstörung  einer  Todsünde  der  punitio  voluntaria  vel 
voluntas  punitionis.  Dies  ist  aber  die  poenitentia  als  poenae 
tenentia  actualis.  Hiebei  ist  natürlich  an  die  einzelnen  actus 
poenitendi  gedacht,  die  die  obigen  vier  Momente  in  sich  ent- 
halten müssen  (§  17). 

Busse  ist  also  die  Traurigkeit,  die  sich  aus  dem  Zusammen- 
stoss  der  Lust  an  der  Welt  mit  dem  Nichtwollen  derselben 
ergibt.  Diese  Traurigkeit  will  der  Fromme  als  Strafe  tragen. 
In  ihr  wendet  sich  der  Mensch  sonach  ab  von  der  Kreatur 
und  Gott  zu,  sie  ist  das  Widerspiel  dessen,  was  in  der  Sünde 
geschah  (§  18). 

Aber  bedarf  es  einer  solchen  Selbstbestrafung?  Kann 
nicht  Gott,  wie  ja  auch  ein  erzürnter  Mensch,  anderen  Sinnes 
werden  und  so  vergeben  ?  Diese  Frage  ist  ebenso  zu  verneinen, 
wie  die  erste  zu  bejahen  ist.  Denn  Gottes  Wille  ist  in 
Ewigkeit    schlechthin   unveränderlich.     Er    kann    nicht    anders 

Seeberg,  Die  Theologie  des  Duns  Scotus.  26 


402  Kap.  IV:  Die  Lehre  von  den  Sakramenten;  die  Busse. 

als  wollen,  dass  der  Sünder  gestraft  werde.  Daher  muss  die 
Busse  eintreten  und  dadurcli  der  Sünder  verändert  werden, 
damit  er  nicht  mehr  dem  punire  unterstehe  (ib.  §  19).  Frei- 
lich kann  hier  ebensowenig  als  sonst  bei  Duns  von  einer 
absoluten  Notwendigkeit  die  Rede  sein.  Nach  der  potentia 
absoluta  kcmnte  Gott  etwa  vermöge  eines  plötzlich  im  Menschen 
aufkommenden  Liebesdranges,  der  etwa  zum  Martyrium  trieb, 
die  Sünde  vergeben  (17).  Aber  das  Normale  und  Wirkliche 
ist  der  Weg  der  Busse. 

Wenn  man  diese  Gedanken  überschlägt,  so  ergibt  sich  ein 
deutlicher  und  einfacher  Zusammenhang.  Die  Sünde  macht 
den  Menschen  zu  einem  puniendus.  Das  ist  ihr  bleibendes 
religiöses  Wesen.  Gott  vergibt  nur,  sofern  die  Strafe  durch 
Selbstbestrafung  getragen  wird.  Das  ist  der  Reueschmerz. 
In  ihm  vollzieht  sich  die  der  Sünde  gebührende  Strafe  und  da- 
durch  wird   das,    was   von  ihr  nachblieb  im  Menschen,  getilgt. 

4.  Die  Busse  in  dem  besprochenen  Sinne  ist  als  christliche 
Tugend  zu  bezeichnen.  Und  zwar  ist  die  Busse  virtus  appeti- 
tiva ,  keine  intellektuelle  Tugend ,  denn  sie  entstammt  einem 
Willenstrieb,  der  sowohl  das  Wollen  als  das  Denken  bestimmt 
(IV  dist.  14  quaest.  2  §  2  ff.).  Wiewohl  nun  der  Bussakt  auf 
das  Subjekt  selbst  abzielt  und  sich  an  ihm  realisiert,  fällt  die 
Busse  doch  nicht  unter  die  Gruppe  der  appetitiven  Tugenden, 
die  auf  das  Subjekt  selbst  Bezug  haben,  wde  etw^a  die  Enthalt- 
samkeit und  Tapferkeit.  Vielmehr  ist  sie  unter  die  Gerechtigkeit 
zu  stellen,  die  ihre  Richtung  auf  anderes  nimmt,  denn  gerade 
die  Realisierung  am  Subjekt  selbst  ist  bedingt  durch  die  Be- 
ziehung desselben  zu  Gott  als  dem  Gesetzgeber.  Die  Selbst- 
bestrafung ist  also  zuhöchst  ein  auf  Gott  bezogener  Akt  der 
Gerechtigkeit  (ib.  §  5).  Im  übrigen  gilt  die  Bezeichnung  der 
Busse  als  Willenstugend  von  ihr  nach  ihrem  ganzen  Umfang, 
denn  sowohl  die  Trauer  als  die  Verabscheuung  der  begangenen 
Sünden  und  die  willige  Übernahme,  sowie  das  geduldige  Er- 
tragen der  Strafe  sind  in  gleicher  Weise  vom  Willen  voll- 
zogene Tugendakte  (§  10 — 12). 

Es  kommt  hier  Duns  der  Gedanke ,  dass  man  die  Busse 
auch  als  Freundschaftsakt  ansehen  könne,  so  dass  der  Mensch 
unter  dem   sittlichen  Einfluss  Gottes   die  Versöhnung   mit  ihm 


Die  Busse  eine  Tugend  der  Gerechtigkeit.  403 

sucht,  zumal  der  höchste  Zweck  der  Busse  nicht  eigentlich 
Strafvollzug,  sondern  Besserung  zu  sein  scheine  (§  6).  Aber 
Duns  will  diesen  fruchtbaren  Gesichtspunkt  nicht  gelten  lasseo, 
denn  der  Akt  der  Strafe  beruhe  auf  der  durch  das  Gesetz 
geregelten  Beziehung  der  Strafe  zur  Schuld;  und  nicht  die 
Besserung,  sondern  die  Aufrechterhaltung  des  Gesetzes  sei  die 
eigentliche  Absicht  der  Strafe.  Indem  auch  das  Absehen  des 
positiven  menschlichen  Gesetzes  nicht  der  Gesetzgeber  oder 
sein  Vorteil  ist,  sondern  das  bonum  commune,  wird  es  richtiger 
sein,  die  Busse  ebenfalls  unter  diesem  rechtlichen  Gesichts- 
punkt zu  betrachten  und  sie  nicht  dem  privaten  Nutzen  des 
Gestraften  unterzuordnen.  Duns  bleibt  damit  dem  Gedanken 
treu,  dass  zwischen  Gott  und  Mensch  nicht  ein  rechtliches 
Privatverhältnis  besteht,  sondern  dass  dies  Verhältnis  als  das 
Verhältnis  der  Unterthanen  zu  der  vom  Herrscher  erlassenen 
gesetzlichen  Ordnung  zu  betrachten  ist,  deren  Durchsetzung 
nicht  einseitig  dem  Wohl  der  einzelnen,  sondern  dem  Gesamt- 
wohl dient.  Da  nun  aber  in  dem  vorliegenden  Zusammenhang 
der  Gesetzgeber  —  Gott  —  absolut  erhaben  ist  über  das 
Gesetz,  so  muss  als  letzter  Zweck  der  Erhaltung  der  von  Gott 
gegebenen  Rechtsordnung  das  Wohl  Gottes  bezeichnet  werden.  — 
Als  Akt  der  Freundschaft  sei  die  Busse  aber  auch  deshalb 
nicht  zu  betrachten,  weil  in  der  Freundschaft  die  Strafe  nicht 
als  ein  notwendiges  Mittel  enthalten  sein  könnte,  ein  Freund 
vielmehr  von  diesem  Mittel  in  der  Regel  absehen  würde  (§  7). 
Somit  ist  die  Notwendigkeit  der  Busse  herzuleiten  aus 
dem  notwendigen  Zusammenhang,  den  das  Gesetz  zwischen 
Schuld  und  Strafe  herstellt,  d.  h.  also  aus  der  göttlichen  Straf- 
gerechtigkeit (§  8).  Duns  hat  aber  an  einem  anderen  Ort 
(s.  oben  S.  169  f.)  die  Gesamtheit  aller  möglichen  Beziehungen 
Gottes  zu  der  Welt  und  ihrem  Geschehen  in  den  Begriff  der 
göttlichen  Liebe  zusammengefasst.  Wenn  in  unserem  Zu- 
sammenhang die  Frage  nach  dem  Verhältnis  von  Liebe  und 
Gerechtigkeit  nicht  aufgeworfen  wird,  so  liegt  hier  eine  Lücke 
vor.  Aber  man  wird  diese  dem  grossen  Systematiker  umso 
eher  vergeben  dürfen,  als  bekanntlich  noch  heute  die  Konfusion 
auf  diesem  Punkt  oft  eher  grösser  als  geringer  denn  bei  ihm 
zu  sein  pflegt. 

26* 


404  Kap.  IV:  Die  Lehre  von  den  Sakramenten;  die  Busse. 

Der  Bussschmerz  als  Sell)stbestrafung  hobt  die  Schuld 
oder  Straf  Verhaftung  des  Sünders  auf.  Das  Resultat  ist  die 
„Zerstörung  der  Sünde".  Nun  ist  aber  die  Vergebung  der 
Sünde  eine  That  Grottes.  Dies  ist  die  Voraussetzung  für 
die  obige  Darstellung.  Demnach  muss  die  Busse  in  Beziehung 
zu  jenem  Gottcsthun  gesetzt  werden.  Das  kann  auf  doppelte 
Weise  geschehen,  entweder  so,  dass  man  sie  als  vorbereitende 
Disposition  auf  die  göttliche  That  der  Sündenzerstörung  oder 
als  einen  letztere  begleitenden  Akt  denkt.  In  ersterem  Sinn 
genügt  ein  actus  informis ,  ja  es  ist  nur  ein  solcher  möglich, 
da  ja  vor  der  Gnadenmitteilung  die  formierende  Macht  der 
Liebe  dem  Menschen  fehlt.  Dagegen  bedarf  es  im  zweiten 
Sinn  eines  actus  formatus.  Im  Moment  der  Zerstörung  der 
Sünde  ist  nämlich  die  Liebe  da,  was  aber  diese  begleitet, 
würde  ein  formierter  Akt  sein  (§  13). 

5.  Diese  Betrachtung  führt  uns  auf  den  wichtigen  Begriff 
der  Attritio.  Der  Sünder  vermag  nämlich  nach  Begehung 
der  Sünde  sehr  wohl  diese  als  Beleidigung  Gottes  und  Ver- 
letzung seines  Gesetzes,  als  Verhinderung  des  Lohnes  und  als 
Ursache  der  Strafe  zu  verstehen  und  mit  seinem  Willen  zu 
verabscheuen.  Hiezu  genügt  eine  allgemeine  influentia,  ohne 
dass  es  der  Gnadeneingiessung  bedürfte.  Iste  autem  motus 
dicitur  attritio  et  est  dispositio  sive  meritum  de  congruo  ad 
deletionem  peccati  mortalis,  quae  sequitur  in  ultimo  instant! 
alicuius  temporis,  in  quo  tempore  ista  attritio  duravit  (§  14). 
Damit  diese  Attrition  die  geeignete  Disposition  auf  die  Recht- 
fertigung werde ,  bedarf  sie  der  rechten  Circumstantiierung 
(perfecte  moraliter  circumstantionata).  Diese  besteht  eigent- 
lich nur  darin,  dass  sie  eine  bestimmte  von  Gott  festgesetzte 
Zeit  über  währt.  Ist  das  der  Fall,  so  verdient  sie  —  de 
congruo  —  die  Gnadeneingiessung  und  dadurch  die  Verwand- 
lung der  informen  Attritio  in  die  formierte  Contritio.  NuUa 
potest  esse  sufficientior  dispositio  ad  istam  iustificationem,  quam 
ista  attritio  perfecte  circumstantionata  in  genere  moris,  ut 
tunc  in  ultimo  instanti  vel  aliquo  usque  ad  quod  deus  deter- 
minavit  attritionem  debere  durare  ad  hoc,  ut  sit  meritum  de 
congruo  ad  iustificationem,  infunditur  gratia,  et  tunc  simpliciter 
deletur  peccatam  .  .  .  Idem   motus,    qui  prius   fuit  attritio,   in 


Die  Attrition  wird  durch  das  Sakrament  Kontrition,  405 

illo  iiistanti  fit  contritio ,  quia  in  illo  iDstanti  fit  concomitaus 
gratiae  et  ita  actus  formatus ,  quia  habens  secum  caritatem 
quae  est  forma  actus  (ib.  §  14).  Es  fiodet  also  kraft  der  Eiii- 
giessuDg  der  Liebe  eine  YerwandluDg  der  Attrition  in  Kon- 
trition statt.  Der  letzte  Grund  zur  Zerstörung  der  Sünde  ist 
an  und  für  sich  nicht  die  Kontrition^  sondern  die  von  dieser 
vorausgesetzte  Liebe.  Grott  hat  es  also  so  angeordnet,  dass 
die  Attrition,  wenn  sie  eine  bestimmte  Zeit  über  dauert,  als 
meritum  iustificationis  angesehen  wird,  welches  ihm  Veran- 
lassung gibt,  den  attritus  durch  die  Gnadeneingiessung  in  einen 
contritus  zu  verwandeln.  Übrigens  ist  für  die  Attrition  nur 
ein  bestimmter  Zeitraum  erforderlich,  nicht  aber  braucht  sie 
gerade  bis  in  die  Beichte  hinein  zu  währen  (§  15).  Wenn 
freilich  der  Beichtende  im  entscheidenden  Moment  einen  obex 
vorschöbe,  d.  h.  eine  Todsünde  beginge,  so  würde  er  wohl  — 
weil  nicht  disponiert  —  keine  Gnade  empfangen  (§  16). 

Nur  eines  bedarf  hier  noch  der  Erklärung,  das  ist  das 
Verhältnis  der  Gnade  zu  der  Contritio.  Logisch  betrachtet, 
bewirkt  die  Gnadeneinflössung  die  Kontrition.  Aber  zeitlich 
angesehen,  geht  diese  jener  voran,  freilich  in  dem  gleichen 
Zeitmoment.  Actus  qui  est  contritio  in  eodem  instanti  temporis 
praecedit  natura  deletionem,  licet  ut  contritio,  hoc  est  ut 
formatus,  sequatur  deletionem  ordine  naturae.  Als  nächste 
Disposition  ist  er  der  Form,  auf  die  er  disponiert,  gleichzeitig 
(§  16).  Der  Sinn  dieser  Sätze  ist  offenbar  der:  An  sich  zer- 
stört die  eingegossene  Liebe  die  Sünde,  und  zwar  so^  dass  sie 
die  Kontrition  hervorruft.  Aber  konkret  betrachtet  ist  es  der 
Akt  der  Kontrition ,  der  die  Sünde  austilgt ,  d.  h.  also ,  die 
Gnade  ist  die  letzte  Ursache,  aber  die  Kontrition  ist  das  wirk- 
same Mittel  der  Sündentilgung.  Die  Infusion  und  Kontrition 
fallen  schlechthin  zusammen,  aber  logisch  muss  man  jener  die 
Priorität  vindizieren,  die  zeitliche  Anschauungsweise  fasst  zu- 
erst das  Mittel  der  Kontrition,  dann  erst  die  letzte  Ursache 
derselben  ins  Auge.  Gott  wirkt  im  Menschen  den  Grad  des 
Bussschmerzes,  der  zur  Aufhebung  der  Straf  Verhaftung  genügt.. 

6.  Um  den  Gedanken  des  Duns  völlig  zu  verstehen,  müssen 
wir  uns  in  Erinnerung  rufen,  dass  die  auszutilgende  Sünde 
nicht  etwa  die  Konkupiscenz  bedeutet,  sondern  den  Mangel  an. 


406  Kap.  IV:  Die  Lehre  von  den  Sakramenten;  die  Busse. 

Gerechtigkeit  uud  die  aus  diesem  resultierende  Schuldver- 
haftuDg.  Diese  Karenz  der  Gerechtigkeit  samt  der  Schuld- 
verhaftung wird  also  dadurch  aufgehoben,  dass  der  Mensch  in 
Liebe  zu  Gott  den  Reueschmerz  empfindet.  Den  natürlichen 
Schmerz  verwandelt  die  Gnade  in  diesen  von  der  Liebe  ge- 
tragenen Schmerz.  Und  dies  verdienstliche  Thun  bedingt  dann 
die  Verleihung  der  Gnade  und  die  Vergebung  der  Sünde. 
Wirft  man  endlich  die  Frage  auf,  welche  von  jenen  vier  an 
der  Busse  nachgewiesenen  Beziehungen  die  beste  Disposition 
auf  die  Sündenzerstörung  darbiete,  so  ist  zu  antworten,  dass 
diejenige  Disposition  für  die  beste  anzusehen  sei,  die  durch 
die  besten  und  vornehmsten  Tugenden  zustande  kommt.  Da 
die  beiden  letzten  Beziehungen  erst  in  der  Folge  des  bereits 
erregten  Bussschmerzes  auftreten,  ist  von  ihnen  hier  überhaupt 
abzusehen.  Nun  ist  es  aber  möglich,  dass  der  Bussakt  mit 
dem  Liebesakt  in  Zusammenhang  tritt,  und  zwar  so,  dass  jener 
aus  diesem  hervorgeht  (auch  die  umgekehrte  Ordnung  ist  mög- 
lich und  häufig  ib.  §  10).  Falls  dann  Liebe  und  Gerechtig- 
keit zusammenwirken,  um  den  Bussschmerz  zu  erzeugen^  ist 
dieser  vollkommener^,  als  wenn  er  bloss  von  der  Gerechtigkeit 
hervorgerufen  wird.  Es  kann  auch  vorkommen,  dass  die  blosse 
Liebe,  ohne  die  Gerechtigkeit,  sofort  den  höchsten  Schmerz 
erzeugt,  während  wiederum  die  Gerechtigkeit  ausser  stände 
sein  kann,  den  Menschen  zur  Busse  zu  bewegen,  wenngleich 
sie  die  eigentlich  hiezu  wirksame  Kraft  ist  (§  17).  Letzteres 
hängt  damit  zusammen,  dass  bei  manchen  Menschen  der  sinn- 
liche Trieb  den  geistigen  bestimmt;  ist  nun  jener  nicht  zur 
Traurigkeitsempfindung  aufgelegt,  so  wird  auch  der  Wille  nicht 
leicht  in  Traurigkeit  versetzt  werden  können  (18).  Sonach  kann 
jemand  den  umfassendsten  äusseren  Bussakt  darstellen,  ohne, 
oder  mit  nur  massigem  inneren  Erfolg,  da  die  befehlende  Ge- 
rechtigkeit keinen  Bussschmerz  in  ihm  hervorruft.  Dagegen 
kann  ein  anderer  nur  von  der  Liebe  her  —  ohne  eigentlichen 
Bussakt  —  in  jenen  Schmerz  versenkt  werden. 

Die  bisherige  Betrachtung  ging  aus  von  dem  Gedanken., 
dass  die  Busse  Selbstbestrafung  ist.  Dieser  Gedanke  ist  an 
und  für  sich  natürlich  und  vernünftig.  In  diesem  Sinn  gibt 
es    nur    eine   Strafe    für  die   Sünde.     Nun  aber  belehrt    die 


Motive  des  Bussschmerzes ;  das  Busssakrament.  407 

Offenbarung  genauer  über  das  Wesen  der  Sünde,  wie  über  die 
ihr  korrespondierenden  Strafen.  Sieht  man  die  Sache  so  an, 
so  wird  der  Büssende  —  von  der  Offenbarung  belehrt  — 
mehrere  Strafen  an  sich  vollziehen,  und  zwar  soviele,  als  Gott 
angeordnet  hat  (1.  c.  quaest.  3  §  2  f.).  Die  Meinung  des  Duns 
ist  sonach  einfach  die:  es  ist  eine  natürliche  Forderung  der 
Sitthchkeit,  dass  jemand  Schmerz  über  seine  Sünde  emj^findet 
und  sich  dadurch  selbst  straft;  aber  erst  die  positive  Offen- 
barung leitet  dazu  an^  diesen  in  einer  Summe  besonderer  Hand- 
lungen, resp.  Selbstbestrafungen  zu  bethätigen  (§§  6.  7). 

Dem  Leser  wird  nicht  entgehen,  von  wie  grosser  Bedeutung 
diese  Bemerkung  ist.  Sie  stellt  den  Bing  dar,  der  die  Busse 
mit  dem  Busssakrament  verbindet.  Nicht  nur  das  Bussgefühl 
hat  Gott  gegeben  und  verlangt,  er  fordert  auch  eine  Bethäti- 
gung  desselben  in  einer  Anzahl  von  Handlungen.  Die  Offen- 
barung  erbaut   über   der  Bussempfindung   das  Busssakrament. 

7.  Bedarf  es  des  Busssakramentes?  Vergibt  nicht  Gott 
allein  die  Sünden,  und  nicht  der  Priester  (IV  dist.  14  quaest.  4 

§  1)? 

Duns  beginnt  die  Erörterung  dieser  Fragen  mit  einer  De- 
finition des  Busssakramentes :  Poenitentia  est  absolutio  hominis 
poenitentis  facta  certis  verbis  cum  debita  intentione  prolatis  a 
sacerdote  iurisdictionem  habente  ex  institutione  divina,  effica- 
citer  significantibus  absolutionem  animae  a  peccato  (ib.  §  2). 
Bezüglich  dieser  Definition  muss  zunächst  auf  ein  Doppeltes 
aufmerksam  gemacht  werden,  nämlich  dass  das  Wesen  dieses 
Sakramentes  in  der  priesterlichen  Absolution  besteht,  dann 
aber,  dass  die  Definition  der  allgemeinen  Sakramentslehre  des 
Duns  genau  entspricht  (vgl.  S.  349).  Duns  unterscheidet  auch 
hier  scharf  zwischen  dem  sakramentalen  Zeichen,  das  die  Gnade 
„bedeutet",  und  dem  dies  Zeichen  —  vermöge  eines  Paktes 
Gottes  mit  der  Kirche  —  begleitenden  unmittelbar  in  der  Seele 
wirksamen  Gnaden  akt. 

Nun  erhebt  sich  aber  die  Frage,  ob  dieser  Definition  etwas 
Wirkliches  entspreche?  Die  Möglichkeit  des  Busssakra- 
mentes ergibt  sich  einfach  aus  den  Worten  des  Symbols  von 
der  Vergebung.  Ebenso  muss  aber  für  möglich  erachtet  werden, 
dass   Gott   diese  Vergebung   an   ein    Signum    efficax,    wie    die 


408  Kap.  IV:  Die  Lehre  von  den  »Sakramenten;  die  iiusse. 

übrigen  Sakramente  es  auch  sind,  schliesst.  Aber  nicht  nur 
möglich,  auch  angemessen  (congruitas)  ist  dies  Sakrament, 
denn  wenn  bestimmte  Worte  der  Sündenvergebung  vergewissern, 
so  wird  dadurch  der  Mensch  auch  zur.  Busse  angeleitet.  Ebenso 
erscheint  es  als  passend,  dass  gerade  der  Priester  die  Abso- 
lution spricht,  denn  ein  Extrem  wird  zum  anderen  durch  das 
Mittlere  zwischen  ihnen  gefülirt.  Zudem  ist  der  Priester  der 
zuständige  Richter  des  Sünders.  Dies  leitet  zu  einem  Ge- 
dankenfortscbritt  an:  das  Busssakrament  ist  einzuordnen  der 
kirchlichen  Gerichtsbarkeit.  Es  ist  sacramentum  iudi- 
ciale  oder  iudicium  sacramentale  (§  4).  Indem  nun  der  Urteils- 
spruch des  Richters  nicht  immer  in  der  gleichen  Form  zu  er- 
folgen braucht,  versteht  es  sich  auch,  warum  für  dies  Sakra- 
ment nicht  so  präzise  Formeln  wie  für  Taufe  und  Abendmahl 
gegeben  sind.  Gemeinhin  werden  als  geeignet  gebraucht  die 
Worte :  ego  te  absolvo.  Ferner  ergibt  sich  in  diesem  Zu- 
sammenhang die  Forderung  als  passend,  dass  der  Sünder  poe- 
nitens  sei:  id  est  habens  aliquam  displicentiam  de 
peccato  commisso  (§  4).  Man  sieht,  wie  die  Attrition  als  die 
reguläre  Vorbereitung  angesehen  wird. 

Aber  nicht  nur  möglich  und  angemessen,  sondern  wirk- 
lich ist  dies  Sakrament,  und  zwar  wegen  der  Einsetzung  durch 
Christus,  Matth.  16,  19  und  Joh.  20,  23.  Dass  aber  nur  der 
Priester  es  verwaltet,  ergibt  sich  aus  der  Verfügung  des  4.  Late- 
rankonzils, sowie  aus  dem  Gedanken,  dass,  wer  über  den  wahren 
Leib  des  Herrn  Gewalt  habe  (Konsekration),  sie  auch  über  den 
mystischen  Leib  (Kirche)  ausüben  müsse  (§  5).  Natürlich  ist 
aber  nach  dem  ganzen  Sakramentsbegriff  diese  Thätigkeit  des 
Priesters  eine  rein  ministeriale ,  er  spricht  nur  die  verba 
significantia  absolutionem,  ut  signum  repraesentet  signatiim, 
Gott  allein  wirkt  die  absolutio  interior  (§  3.  11,  cf.  IV  dist.  17 
quaest.  unica  §  11). 

Freilich  mit  dem  Nachweise  der  Notwendigkeit  dieses 
Sakramentes  hat  es  bei  Duns  eine  ähnliche  Bewandtnis,  wie 
etwa  bei  Thomas.  Der  Lombarde  hat  unter  Berufung  auf 
Hieronymus  gelehrt,  dass  Gott,  nicht  der  Priester,  von  der 
Schuld  freispreche.  Das  scheint  das  Sakrament  herabzusetzen, 
denn  da  der  Priester  dann  doch  nur  unter  Voraussetzung  der 


Die  Notwendigkeit  der  Attrition  für  das  Sakrament.  409 

von  Gott  geschehenen  Lösung  oder  des  Vorhandenseins  von 
Kontrition  handehi  könnte,  so  würde  letztere  zur  Voraussetzung 
der  Absolution.  Da  jene  aber  selbst  bereits  die  Sünde  zerstört, 
so  bedürfte  es  der  Absolution  gar  nicht,  üann  ist  die  Busse 
auch  nicht  mehr  die  secunda  tabula.  Wir  stehen  hier  an  einem 
wichtigen  Punkt,  an  dem  wir  sozusagen  das  geschichtliche 
Werden  belauschen  können.  Die  alte  Forderung  der  Kon- 
trition als  der  Voraussetzung  der  Beichte  kollidiert  mit  dem 
Busssakrament,  denn  ist  Kontrition  da,  so  bedarf  es  des 
letzteren  nicht.  Man  kann  die  Sache  auch  so  wenden:  der 
Todsünder  hat  keine  formierten  Tugendakte  und  kann  sie  in 
eigener  Kraft  auch  nicht  aufbringen,  wie  soll  er  dann  vor  dem 
Busssakrament  die  Kontrition  —  als  formierten  Akt  —  in  sich 
erzeugen  ?  So  oder  anders  drängte  die  Sache  zum  Fortschritt. 
Dieser  bestand  darin,  dass  man  den  Prozess  seinen  Ausgang 
von  der  Attrition  nehmen  Hess,  mochte  man  immerhin  zunächst 
die  überkommene  Formel  contritio  au  die  Spitze  stellen.  Das 
ist  der  geschichtliche  Fortschritt  gewesen,  dass  man,  um  das 
Recht  des  kirchlichen  Sakramentes  zu  wahren,  die  sittliche 
Forderung  herabstimmte.  Man  kann  dies,  wie  an  Thomas,  so 
an  Duns  studieren.  Duns  nimmt^  genau  betrachtet,  drei  Mög- 
lichkeiten der  Sündenzerstörung  an:  1)  dass  jemand  durch  seine 
Kontrition  ^)  die  Sünde  zerstört,  derselbe  bedarf  aber  doch  des 
Busssakramentes,  —  da  Gott  und  die  Kirche  seinen  Gebrauch 
gebieten!  2)  Dass  jemand  Attrition  in  sich  erweckt,  und  diese 
durch  die  Gnade  in  Kontrition  verwandelt  werde ;  ^)  3)  dass 
jemand  parum  attritus  ist,  aber  doch  nach  dem  Sakrament  ver- 


^)  Der  Text  bietet  in  der  mir  vorliegenden  Pariser  Ausg.  hier  frei- 
lich motum  attritionis.  Ich  vermute  aber  einen  Druckfehler  oder 
eine  Verschreibung,  da  1)  die  Parallelstelle  Report.  IV  dist.  14  quaest.  4 
§  13  von  displicentia  interior  redet,  2)  da  die  in  Hede  stehenden  Stellen 
Augustins  und  Cassiodors  schwer  auf  Attrition  zu  deuten  sind.  —  Dass 
contritio  in  ungenauer  Rede  als  der  allgemeine  Ausdruck  auch  für  attritio 
stehen  kann,  ist  zuzugeben.  Aber  das  Umgekehrte  ist  mir  zweifelhaft, 
daher  scheint  mir  die  Ansicht  der  Herausgeber,  an  unsrer  Stelle  vertrete 
attritio  in  ungenauer  Redeweise  contritio,  sehr  unwahrscheinlich. 

^)  In  der  Regel  geschieht  das  durch  das  Busssakrament,  s.  aber 
dist.  19  quaest.  unica  §  32:  frequenter  hie  adulti  per  attritionem  tanquam 
per  meritum  de  congruo  iustificantur,  antequam  con  fi  teantur. 


410  Kap.  IV:  Die  Lehre  von  den  Sakramenten;  die  Busse. 

langt  und  dadurch  ein  gewisses  Missfalhm  an  der  Siiiide  kund- 
gibt. Duns  ist  also  s(?lbst  die  Forderung  der  Attrition  zu  hoch 
gewesen.  Zunächst  stellt  diese  dritte  Gruppe  allerdings  nur 
eine  Spielart  der  zweiten  dar,  es  ist  eine  gewisse  momentane  — 
zu  kurze  (die  Attrition  soll  ja  eine  bestimmte  Weile  währen)  — 
Attrition,  es  sind  aliqualiter  attriti  (s.  ib.  dist.  19  quaest.  unica 
§  32  cf.  §  23).  Aber  Duns  hat  doch  diese  Attrition  bis  zum 
nichts  herabzudrücken  vermocht.  Der  Sünder  soll  thuu,  was  an 
ihm  ist,  zur  Erlangung  des  Heilmittels.  Er  geht  also  zur  Beichte ; 
hat  er  keinen  obex,  so  erhält  er  die  Vergebung:  nulla  alia 
(sc.  via)  est  ita  facilis  et  ita  certa,  hie  enim  non  oportet, 
nisi  Ttton  ponere  obicem  ad  gratiam,  quod  multo  minus  est  quam 
habere  aliquam  attritionem,  quae  per  modum  meriti  de  congruo 
sufficiat  ad  iustificationem  (ib.  dist.  1  quaest.  unica  §  13).  Hier 
liegt  schon  vor  die  frivole  Herabdrückung  der  Attrition  zur 
„Galgenreue"  (Job.  v.  Paltz)  und  die  Reduktion  des  facere  quod 
in  se  est  bis  auf  den  Kirchgang  bei  den  Späteren  (m.  Dogmen- 
gesch.  II  S.  159  ff.). 

Wie  lehrreich  ist  dieser  Zusammenhang!  Je  weniger  Reue, 
desto  sicherer  steht  das  Sakrament  da!  Bei  mehr  Reue  gerät 
es  in  das  Schwanken,  der  contritus,  aber  auch  der  attritus, 
kann  sich  auch  ohne  Sakrament  die  Vergebung  verdienen.  Man 
kann  sagen,  von  diesem  Punkt  aus  habe  sich  weissagen  lassen, 
was  später  Johann  v.  Paltz  von  seiner  Zeit  berichtet :  fast  alle, 
die  zur  Beichte  kommen,  sind  nicht  contriti,  auch  nicht  attriti 
im  vollen  Sinne,  sondern  attriti  in  secundo  gradu:  facientes 
aliquo  modo  quod  possunt,  tales  adiuvantur  per  sacerdotes  in 
absolutione  sacramentali  (Coelifodina,  Lips.  1510,  Bogen  R  1^). 

8.  Ehe  wir  auf  das  einzelne  eingehen,  halten  wir  einen 
Augenblick  Umschau.  Von  der  Sünde  bleibt  uns  die  Karenz 
der  Gerechtigkeit  und  der  Strafbann.  Gott  hebt  beides  auf, 
indem  er  die  Selbstbestrafung  des  Menschen  durch  ]VIit- 
teilung  der  Liebe  zu  der  gehörigen  Intensität  steigert.  Bringt 
es  der  Mensch  nur  zu  einer  gewissen  Attrition,  zum  Miss- 
behagen über  seine  Sünde ,  so  wird  durch  Beichte  und  Ab- 
solution diese  Stimmung  in  die  volle,  von  der  Liebe  zu  Gott 
getragene  Zerknirschung  verwandelt.  Die  dunkle  Regung  mit 
dem  Motiv  der  Furcht   wird  durch  den  feierlichen   kirchlichen 


Psychologische  Deutung  des  ßusssakramentes.  411 

Akt  mit  den  Worten,  die  so  Grosses  „bedeuten",  in  wirklichen 
Busssclimorz  mit  dem  Motiv  der  Liebe  zu  Gott  verwandelt. 
Wie  fein  psychologisch  ist  das  doch  gedacht!  Das  unbestimmte 
Gefühl  der  Verpflichtung  zur  Selbstbestrafung  im  Sünder 
steigert  sich,  im  Bewusstsein  der  gnädigen  Gegenwart  Gottes 
(bei  der  Absolution),  in  dem  von  der  Liebe  zu  Gott  erwärmten 
Herzen  zum  heissen  Reueschmerz.  Wo  dieser  aber  ist,  da  ist 
die  Sünde  getilgt  und  vergeben,  die  Satisfaktion,  die  die  gött- 
liche Rechtsordnung  will,  geleistet.  Gern  thut  aber  der  Be- 
gnadigte, was  Gott  und  die  Kirche  ihm  an  äusseren  Straf- 
thaten  auflegen.  Und  hier  schiebt  sich  nun  der  ganze  kirch- 
liche Apparat  des  Busssakramentes  wieder  ein.  Es  geht  einem 
hier  wie  so  oft  bei  dem  Studium  des  grossen  Denkers.  Man 
glaubt  seinen  Grundgedanken  zu  verstehen  und  es  scheint 
einem,  als  w^enn  derselbe  mit  zerschmetternder  Wucht  alle 
Formen  und  Formeln  der  Kirche  und  ihrer  Dogmatik  zer- 
malmte! Aber  einen  kurzen  Augenblick  nur  dauert  dieser 
Ausblick,  Wolken  und  Nebel  versperren  ihn  plötzlich  wieder: 
der  originale  Denker  hat  sich  in  einen  orthodoxen  Theologen 
des  14.  Jahrhunderts  verw^andelt.  Und  doch  glaube  ich,  dass 
jener  Ausblick  kein  blosses  Phantasiebild  war,  auch  nicht  in 
unserem  Fall.  Entsprechen  denn  diese  Vorstellungen  nicht 
genau  dem  scotistischen  Gnadenbegriff?  Nichts  anderes  war 
die  Gnade  als  die  dem  Menschen  von  Gott  geschenkte  Richtung 
und  Neigung  zu  ihm,  zuhöchst  also  die  Liebe.  Indem  Gott 
die  Liebe  zu  sich  in  den  Herzen  erweckt,  ist  das  neue  Leben 
da,  in  welchem  die  attritio  sich  in  contritio  wandelt.  Das 
Herz,  das  sich  Gott  zuwandte,  fühlt  erst  ganz  seine  Sünde 
und  den  Schmerz  über  sie.  Das  alles  liegt  auf  der  Bahn  der 
scotistischen  Grundanschauung  von  der  Gnade  und  den  Sakra- 
menten. Die  psychologische  Entwicklung,  die  wir  zeichneten, 
entspricht  wirklich  den  Grundtrieben  und  Grundstimmungen 
seines  religiösen  Denkens,  —  und  doch  kann  man  wieder  sagen, 
er  hat  sie  nicht  so  „gedacht".  Wie  oft  empfindet  man  ähn- 
liches bei  der  geschichtlichen  Betrachtung  der  Gedanken 
der  Vorzeit  —  sie  mögen  „orthodox"  oder  „häretisch"  ge- 
wesen sein. 

9.  Wir   behalten   diese   Beobachtungen   im   Auge,    indem 


412  Kap.  IV:  Die  Lehre  von  den  Sakramenten;  die  Busse. 

wir  zur  Besprechung  des  einzelnen  fortschreiten.  Auf  den 
Spuren  des  Lombarden  einhergehend ,  redet  Duns  von  dor 
Satisfaktion,  Konfession  und  Absolution. 

In  der  15.  Distinktion  wird  zunächst  der  Bogriff  der 
Satisfaktion  festgestellt.  Satisfactio  est  redditio  voluntaria 
aequivalentis  alias  indebiti.  Mit  diesem  Begriff  ist  also  gesetzt: 
die  Korrelation  und  Kommensuration  zu  etwas  Vergangenem, 
die  Freiwilligkeit  der  Darbringung  und  das  Nichtverpflichtet- 
sein  zu  derselben  (I.  c.  quaest.  1  §  3).  Von  hier  aus  wird  wieder 
der  anseimische  Satisfaktionsbegriff  verworfen  (vgl.  S.  283  f.).  Es 
wäre  nämlich  die  Zukehr  zu  Gott  das  durchaus  entsprechende 
Äquivalent  für  die  Abkehr  von  ihm  gewesen.  Und  zu  jener 
hätte  der  Mensch  durch  die  gratia  prima  ebenso  befähigt 
werden  können,  als  Christi  Seele  diese,  auch  vor  seiner  Passion, 
erhielt.  Thäte  der  Mensch  dann  ein  opus  supererogationis,  so 
wäre  jenen  Bedingungen  genügt  (§  4 — 7).  Allein  vom  Stand- 
ort der  potentia  ordinata  her  kann  freilich  die  Hegel  gebildet 
werden,  dass  wir  nur  in  kraft  der  Passion  Christi  Satisfaktion 
zu  leisten  im  stände  sind  (§  7). 

Wir  haben  oben  bereits  gesehen,  dass  die  Selbstbestrafung 
der  Busse  sich  von  den  göttlichen  und  kirchhchen  Geboten 
regeln  lässt.  So  ist  die  satisfactio :  operatio  exterior  laboriosa 
vel  poenalis  voluntarie  assumpta  ad  puniendum  peccatum 
commissum  a  se  et  hoc  ad  placandum  divinam  offensam,  vel 
est  passio  seu  poena  voluntarie  tolerata  in  ordine  praedicto. 
Sonach  treten  die  solennen  kirchlichen  Bussstrafen,  Fasten, 
Gebet  und  Almosen  —  samt  den  etwa  freiwillig  zu  ihrer  Be- 
gleitung übernommenen  Leiden  —  unter  den  Gesichtspunkt 
sowohl  der  Selbstbestrafung  als  der  Gott  dargebrachten  Satis- 
faktion (§  12),  oder  die  Selbstbestrafung  des  Sünders  ist  die 
Gott  für  seine  Sünde  dargebrachte  Satisfaktion. 

Diese  Satisfaktionen  werden  von  der  Kirche  auferlegt. 
Duns  ermahnt  die  Beichtiger,  nicht  unmögliche  oder  allzu  un- 
bequeme Strafen  zu  wählen,  da  sonst  leicht  die  Erfüllung  über- 
haupt ausbleibe.  Man  wird  also  dem  Armen,  der  unausgesetzt 
um  das  tägliche  Brot  arbeiten  muss,  keines  jener  drei  solennen 
Werke  zumuten  dürfen.  Seine  beständige  Arbeit  selbst  ist 
ein   stetes   Fasten   und    eine    stete    Kreuzigung    des   Fleisches. 


Die  Satisfaktion.  413 

So  möge  er  diese  selbst  unter  dem  Bussgesichtspunkt  (in 
remissionem  peccatoruni)  thuu.  oder  dann  eine  geringe  ihm 
auferlegte  Leistung  erfüllen.  Aber  ebenso  wird  abgeraten,  den 
verweichlichten  Reichen  mit  Fasten  und  Kasteiungeu  zu '  be- 
helligen, er  würde  sie  doch  nicht  ausführen!  Man  trage  ihm 
etwas  auf,  quod  libentius  recipit,  etwa  Almosen  oder  Gebet. 
Aber  auch,  wenn  er  überhaupt  ablehnt,  eine  Satisfaktion  zu 
übernehmen,  ist  er  nicht  von  der  Absolution  auszuschliessen, 
könnte  er  doch  sonst  in  Verzweiflung  gestürzt  werden.  Man 
nenne  ihm  die  Strafe ,  ermahne  ihn  zur  Übernahme  oder  er- 
innere ihn  daran ,  dass  er  sie  im  Purgatorium  doch  tragen 
müsse.  So  zu  handeln  schreibt  das  Wort  vom  zerstossenen 
Rohr  und  dem  glimmenden  Docht  vor  (§  14).  Wenn  aber 
jemand  überhaupt  nur  die  commutatio  poena  aeteruae  in 
temporalem  durch  die  Beichte  erreichen  will,  indem  er  bereit 
ist,  die  zeitlichen  Strafen  aus  Gottes  Hand  zu  empfangen,  daher 
die  kirchlichen  nicht  ableisten  will,  so  darf  ihm  die  Absolution 
nicht  versagt  werden.  Denn  wenn  die  Priester  häufig  die 
Strafen  auf  Wunsch  der  Beichtkinder  abmindern,  so  steht 
auch  dem  nichts  entgegen,  dass  sie  überhaupt  auf  Auferlegung 
einer  Strafe  verzichten  (dist.  19  qu.  un.  §  27  f.).  Es  ist  demnach 
möglich,  dass  jemand  büsst,  ohne  doch  die  Satisfaktionen  zu 
übernehmen. 

Noch  widerlegt  Duns  an  dieser  Stelle  die  Meinung  des 
Thomas,  als  wenn  jemand,  der  sich  mit  einer  neuen  Todsünde 
befleckt  hat,  in  diesem  Zustand  keine  Satisfaktion  leisten 
könne:  ista  sententia  videtur  nimis  dura  contra  peccatores. 
Sie  leite  geradezu  zur  Übertretung  an.  Wenn  jemand  drei 
Tage  fasten  soll,  am  ersten  dieser  Tage  eine  Todsünde  begeht, 
so  fastet  er  —  nach  jener  Auffassung  —  am  zweiten  und 
dritten  Tage  umsonst.  Liesse  er  nun  aber  vom  Fasten  nach 
Eintritt  der  Todsünde,  so  würde  er  durch  Ungehorsam  gegen 
das  kirchliche  Gebot  abermals  eine  Todsünde  begehen.  Des- 
halb hält  Duns  das  betr.  Busswerk  für  giltig,  auch  wenn  es 
von  einem  Todsünder  ausgeführt  wird  (s.  aber  unten  zu  Ende 
von  n.  18).  Es  ist  ein  Bestandteil  der  im  Gehorsam  ausge- 
führten Satisfaktion,  zu  welcher  nur  das  willige  Handeln,  nicht 
aber  auch  das  Motiv  der  Liebe  gehört  (ib.  §  15.  16). 


414  Kap.  IV:  Die  Lehre  von  den  Sakramenten;  die  Busse. 

Anlässlich  der  Frage,  ob  jemand,  der  gestohlen  hat,  zur 
Restitution  verpflichtet  sei,  legt  Duns  seine  Ideen  über  Eigen- 
tum, Handel,  Zinsen  etc.  dar  (quaest.  3 — 4).  Wir  dürfen  hier 
davon  absehen.  Nur  das  sei  hervorgehoben,  dass  die  Wieder- 
erstattung gestohlenen  Gutes,  ebensowenig  als  die  Verpflichtung, 
einen  Schaden,  den  wir  innerlich  oder  äusserlich  dem  Nächsten 
zufügten,  zu  ersetzen  oder  für  Mord  die  Todesstrafe  zu  tragen 
oder  verleumderische  oder  indiskrete  Aussagen  zurückzunehmen, 
in  den  Rahmen  des  Busssakramentes  fallen.  Denn  alle  diese 
Verpflichtungen  sind  einfach  durch  göttliches  Recht  gegeben, 
fallen  also  nicht  in  den  Bereich  der  spezifisch  kirchlichen 
Rechtsordnung  (ib.  quaest.  2  §  28 ;  quaest.  3  §  3.  6 ;  quaest.  4 
§  3.  4).  Dieser  Gedanke  ist  keineswegs  gleichgiltig.  Die 
Moral  des  praktischen  Lebens  wird  nicht  eingeschlossen  in  das 
Busssakrament,  sie  ist  nur  eine  Voraussetzung  desselben  (s.  z.  B. 
IV  dist.  15  quaest.  3,  1  init.).  Das  Busssakrament  diktiert 
nur  die  spezifisch  kirchlichen  Strafen;  wie  der  Sünder  sich 
mit  der  praktischen  Restitution  des  Schadens,  den  er  seinem 
Nächsten  zufügte,  abfindet,  ist  seine  Sache,  obgleich  der 
Beichtiger  ihn  auch  hiezu  anhalten  soll,  was  allerdings  nicht 
immer  geschehe  (IV  dist.  15  qu.  3,  6).  Man  begreift  aber 
doch,  warum  Duns  die  „Satisfaktion"  so  gering  wertet,  und 
woher  die  Kritik  der  Späteren  gerade  diesen  Punkt  so  oft 
anfechten  konnte. 

10.  Somit  wäre  ein  Bestandteil  des  Busssakramentes  be- 
sprochen, die  Satisfaktion,  als  eine  von  Gott  gebotene  Form 
der  Selbstbestrafung.  Jetzt  erst  wirft  Duns  die  Frage  auf,  ob 
die  drei  bekannten  Bestandteile  der  Busse  wirklich  auch  in 
dem  Sakrament  nachzuweisen  seien.  Man  begreift  es,  dass  er 
die  Frage  formuliert:  ist  die  Busse  ein  einfacher  Tugendakt, 
ist  es  dann  nicht  an  der  Kontrition  genug  (dist.  16  quaest.  1 
§  1.  2)?  Die  Busse  als  Tugend  befasst  in  sich  den  Besitz 
der  strafenden  Gerechtigkeit  gegen  die  eigene  Sünde,  das 
Wollen  dieser  Strafe  in  Bezug  auf  sich  selbst  samt  den  einzelnen 
hierauf  bezüglichen  Willensakten,  sowie  den  Vollzug  der  Strafe 
(1.  c.  §  3).  Diese  Bestandteile  können  aber  auch  als  einzelne 
in  der  Seele  vorkommen,  denn  der  Vollzug  der  Strafe  kann 
ohne  Gerechtigkeit,   und   diese  ohne   die  Anwendung   auf   sich 


Die  drei  Stücke  des  Busssakramentes.  415 

selbst  da  sein  etc.  (§  3.  4).  In  ihrem  Zusammenwirken  bilden 
sie  aber  die  Tugend  der  Busse,  die  man  also  als  habituelles, 
wie  im  einzelnen  Fall  als  aktuelles  Wollen  der  Strafe  in  Bezug 
auf  sich  selbst  bezeichnen  kann  (ib.  §  4).  Indem  nun  die 
Busse  in  diesem  Sinn  als  Tugend  habituelles  Sein  in  sidi  fasst, 
nämlich  jene  beiden  ersten  Bestandteile  der  gegen  sich  selbst 
gerichteten  Gerechtigkeit  und  des  habituellen  WoUens  der 
Selbstbestrafung,  dagegen  die  sakramentale  Busse  aus  einer 
Eeihe  von  Akten  besteht,  die  nur  sind,  sofern  sie  (neu)  werden, 
können  die  Teile  der  sakramentalen  Busse  unmöglich  als  Teile 
der  habituellen  Busstugend  angesehen  w^erden.  Wohl  aber  ist 
ein  Zusammenhang  zwischen  der  Busstugend  und  dem  Buss- 
sakrament wahrzunehmen,  wenn  man  von  dem  dritten  und 
vierten  Bestandteil  ersterer  (dem  Strafwillen  im  einzelnen  und 
dem  Strafvollzug)  ausgeht.  Dieses  Wollen  schliesst  nämlich  in 
sich,  dass  der  Sünder  durch  die  innere  Traurigkeit  nach  innen 
und  durch  verecundia  und  labor  corporalis  nach  aussen  die 
gebührende  Strafe  empfange  (§  5).  Wer  sonach  das  allgemeine 
Wollen,  seine  Sünde  zu  strafen,  ausprägt  zu  den  Willensakten, 
die  Strafen  bezüglich  der  einzelnen  Sünden  zu  vollziehen,  der 
hat  an  diesem  tugendhaften  Wollen  zugleich  die  Triebfeder 
zur  Contritio,  Confessio  und  Satisfactio  (§  6). 

Wer  also  bussfertig  ist,  der  wird  auch  die  einzelnen  im 
Busssakrament  vorgeschriebenen  Handlungen  vollziehen^  indem 
sie  von  Gott  und  der  Kirche  gebotene  Mittel  des  Strafvoll- 
zuges sind.  Sieht  man  aber  schärfer  zu,  so  sind  die  drei  Teile 
des  Sakramentes  einander  nicht  koordiniert.  Streng  genommen 
ist  nämlich  Sakrament  doch  nur  der  kirchliche  Akt  der  Abso- 
lution. Das  folgt  klärlich  aus  der  Definition,  wie  aus  dem 
Wesen  des  Sakramentes.  In  Wirklichkeit  ist  die  Kontrition, 
bezw.  die  Attrition  nur  die  Voraussetzung  für  den  Empfang 
der  Absolution.  Und  die  Satisfaktion  ist  nur  eine  Folge  der 
Absolution,  durch  die  sie  erst  wirksam  wird.  Ista  enim  sen- 
tentia  sacerdotis  sie  absolvit,  quod  tamen  ligat.  Absolvit 
quidem  a  debito  poenae  aeternae,  sed  ligat  ad  solutionem 
poenae  temporalis,  nisi  sit  sufticienter  iam  soluta  (§  7).  Die 
Absolution  also  verwandelt  die  Attrition  in  Kontrition  und 
vertauscht  die  ewige  Strafe  mit  einer  ev.  vom  Sünder  selbst  zu 


41.6  Kap.  IV:  Die  Lehre  von  den  Sakramenten;  die  i3usse. 

vollzielieiulen  zoitlichen  Strafe.  ^)  Ganz  konsequent  schliesst 
sich  dieser  Gedanke  an,  denn  der  Sünder,  der  von  Zer- 
knirschung durchdrungen  ist,  wird  gern  Gott  zu  Ehren  sein 
Fleisch  züchtigen.  —  Gewiss,  die  äusseren  Bestandteile  des  Sakra- 
mentes hat  Duns  korrekt  gewahrt.  Aber  was  bleibt  schliess- 
lich nach ,  als  ein  psychologischer  Prozess ,  in  welchem  der 
Sünder  durch  die  Absolution  innerlich  zerknirscht,  an  sich, 
weil  die  ewige  Strafe  ihm  erlassen  wurde,  die  zeitliche  Selbst- 
bestrafung Gott  zur  Genugthuung  übt? 

11.  Die  Hauptsache  im  Busssakrament  als  solchem  ist 
also  die  Absolution.  Diese  bringt  die  Sündenvergebung  und 
die  Gnadenmitteilung.  Über  das  Verhältnis  dieser  beiden  Be- 
griffe zu  einander  wurde  oben  eingehend  gehandelt,  S.  323  ff. 
Duns  entscheidet  sich  dafür,  dass  die  expulsio  culpae  keine  reale, 
sondern  nur  eine  ideelle  Neuerung  im  Menschen  bedeutet. 
Dabei  geht  in  der  Durchführung  der  Gnadenabsicht  Gottes 
die  Sündenvergebung  der  Gnadeueingiessung  voraus.  Doch 
wollen  wir  das  oben  Dargelegte  nicht  wiederholen.  Nur  ist  es 
nötig,  die  Bedeutung  des  Busssakraments  unter  unserm  Gesichts- 
punkt festzustellen.  Hier  wird  die  Eingiessung  der  Gnade  und 
die  Rechtfertigung  des  Sünders  behandelt. 

12.  Mit  der  Absolution  hängt  auf  das  engste  der  sakra- 
mentale Akt  der  Konfession  zusammen.  Duns  wendet  sich 
diesem  Begriff  zu,  indem  er  fragt:  utrum  necessarium  sit  ad 
salutem  peccatori  confiteri  sua  peccata  omnia  suo  sacerdoti 
(d.  17  quaest.  un.  §  1)?  Indem  nun  die  Schrift  wie  die  Väter 
die  Vergebung  von  der  inneren  Herzensänderung  abhängig  zu 
machen  scheinen,  und  weiter  die  Konfession  nicht  immer  mög- 
lich zu  sein  scheint  (wenn  einer  stumm  ist,  oder  keinen  Priester 
findet,  oder  keinen,  der  seine  Sprache  versteht),  scheint  jene 
Frage  verneint  werden  zu  sollen.  Aber  eine  Reihe  anderer 
Autoritäten  urteilt  in  der  entgegengesetzten  Richtung  (§  2). 

Die  erste  Frage,  die  sich  hier  erhebt  ist  die,  welches  Gebot 
die  Konfession   verlangt.     Darauf  ist  zunächst  zu  sagen,    dass 


^)  So  fasst  Duns  auch  de  perfectione  statuum  §  14  die  Bedeutung 
des  Busssakraments  zusammen:  et  peccantes  poenitentes  ab  obligatione  ad 
poenam  aeternam  absolverent  et  in  poenam  temporalem  commutarent. 


Die  Konfession,  kirchenrechtliche  Begründung.  417 

es  kein  Gebot  des  Naturrechts  ist,  da  sonst  zu  allen  Zeiten  jede 
Religion  es  hätte  enthalten  müssen  (§  5).  Die  sakramentale 
Konfession  findet  sich  aber  weder  in  der  alttestamentlichen 
Religion  (§  6),  noch  kann  sie  aus  dem  naturrechtlichen  Gedanken, 
dass  der  Schuldige  einem  Gericht  untersteht,  abgeleitet  werden. 
Dieser  Gedanke  reicht  nämlich  nur  aus  zu  dem  Nachweise, 
dass  Gott  den  Sünder  richtet,  beziehungsweise,  dieser  Gott 
seine  Sünden  bekennen  muss,  nicht  aber  zum  Beweise,  dass 
die  Sünde  einem  besonderen  Menschen  zu  bekennen  notwendig 
sei  (§  7.  8).  Sonach  wird  die  Forderung  der  Konfession  unter 
das  positive  Recht  fallen.  Das  kanonische  Recht  sieht  sie  für 
positives  Kirchenrecht  an.  Aber  es  ist  nicht  im  stände  den 
positiven  Urprung  auf  diesem  Wege  zu  erweisen,  denn  wenn  es 
sich  nur  im  allgemeinen  auf  eine  überall  vorhandene  kirchliche 
Tradition  beruft,  so  ist  dieser  allgemeine  Hinweis  einem  Kano- 
nisten  ebenso  schimpflich,  als  wenn  ein  Theologe  etwas  als 
bibhsch  behauptete,  ohne  den  Fundort  angeben  zu  können  (§  9). 
Gegen  die  Annahme,  dass  die  Konfession  positiv  biblisches 
oder  göttliches  Recht  sei,  scheint  zu  sprechen,  dass  die  Griechen 
sie  nicht  haben.  Allein  diese  haben,  seit  ihrem  Abfall  von 
der  Kirche,  mancherlei  biblische  Gebräuche  fortgelassen,  warum 
nicht  auf  diese  notwendige  Einrichtung  (§  10)?  Sonach  ist 
die  Konfession  als  praeceptum  divinum  positivum  zu  verstehen. 
Und  zwar  ist  Job.  20,  23  als  die  bezügliche  Stelle  anzusehen,  denn 
wenn  hier  den  Priestern  der  Vollzug  der  Sündenvergebung 
zugesprochen  wird,  so  ist  die  Konfession  mitgesetzt,  da  der 
Priester  nur  über  eine  ihm  bekannt  gewordene  Sache  zu  richten 
vermag  (§11). 

Man  kann  dieses  auch  von  jenem  Grundgebot  aus :  Du  sollst 
Gott  den  Herrn  über  alles  lieben,  beweisen.  Denn  dieses  Gebot 
wendet  sich  auch  an  denjenigen,  der  die  prima  gratia  durch  eine 
Todsünde  verloren  hat;  er  vermag  es  aber  nur  zu  erfüllen, 
sofern  er  durch  die  Busse  jene  Gnade  in  sich  wiederherstellen 
lässt.  Wollte  aber  jemand  sagen^  dass  es  zu  letzterem  Zweck 
auch  andere  Wege  gäbe,  dass  etwa  ein  attritus  durch  ein 
meritum  de  congruo  ein  Anrecht  auf  Justifikation  habe,  so  ist 
zu  erwidern,  dass  der  Weg  des  Busssakramentes  als 
der  bequemste  und  einfachste  jedem  anderen  vor- 

Seeberg,  Die  Theologie  des  Duns  Scotus.  27 


418  Kap.  IV:  Die  Lehre  von  den  Sakramenten;  die  Busse. 

gezogen  werden  muss:  nulla  alia  sc.  via  est  ita 
facilis  et  ita  certa,  hie  enim  non  oportet,  nisi  non  ponere 
obicem  ad  gratiam,  quod  multo  minus  est  quam  habere  ali- 
quam  attritionem  (§  13).  Ebenso  kann  man  des  Umstandes, 
dass  man  keinen  obex  oder  keine  aktuale  Sünde  im  Augen- 
blick hat,  viel  leichter  subjektiv  vergewissert  worden,  als  der 
Attrition.  Ist  aber  das  Busssakrament  der  sicherste  und  be- 
quemste Weg  zur  Wiedererlangung  der  Gnade,  so  ist  jeder, 
der  es  verschmäht,  ein  Verächter  seines  Heils,  und  jeder  Christ 
zu  seinem  Gebrauch  ebenso  verpflichtet,  wie  zu  dem  der  Taufe 

(§  14). 

Dagegen  kann  man  Jak.  5,  16  die  Einsetzung  des  Buss- 
sakraments nicht  entnehmen,  denn  woher  hätte  Jakobus,  der 
doch  nur  Bischof  von  Jerusalem  und  nicht  von  Rom  war,  das 
Recht  hergenommen,  eine  Satzung  für  die  ganze  Kirche  fest- 
zustellen (§  15)?  Aber  auch  1.  Joh.  1,  9  redet  nicht  vom 
Busssakrament,  sondern  von  demütigem  Bekenntnis  der  Sünde 
der  Laien  untereinander  (§  16).  Sollte  nun  aber  das  Resultat, 
dass  die  Konfession  durch  positiv  göttliches,  im  Evangelium 
enthaltenes  Recht  eingesetzt  wurde,  angefochten  werden,  so 
könnte  man  daran  denken,  dass  Christus  den  Aposteln  diese 
Forderung  gebot,  und  sie  von  letzteren  mündlich  der  Kirche 
weitergegeben  wurde  (§  17). 

Nachdem  Duns  die  biblische  Provenienz  der  Konfession 
aufgezeigt  hat,  weist  er  nach,  dass  dieses  Gebot  sich  auf  alle 
Christen,  die  vernünftig  genug  sind,  um  Gut  und  Böse  von 
einander  zu  unterscheiden,  ohne  dass  gerade  ein  besonderes 
Lebensalter  zu  bezeichnen  wäre,  bezieht  (§  18). 

13.  Zum  zweiten  ist  über  den  Inhalt  des  Bekenntnisses 
zu  reden.  Da  niemand  auf  veniale  Sünden  hin  aus  dem  Schiff 
der  Kirche  ausgestossen  wird,  indem  diese  mit  vollkommener 
Liebe  zugleich  bestehen  können,  so  bedarf  man  um  ihretwillen 
nicht  der  rettenden  Planke  des  Busssakraments.  Nur  die 
Todsünden  sind  zu  bekennen.  Und  zwar  aUe  Todsünden,  die 
man  im  Gedächtnis  hat  oder  die  durch  sorgfältiges  und  ge- 
schicktes Ausfragen  des  Beichtvaters  einem  in  das  Gedächtnis 
gerufen  werden.  Diese  sind  alle  zusammen,  nicht  um  sich  zu 
schonen,  die  Beichte  teilend,  zu  bekennen  (§  19).     Aber  nicht 


Der  Inhalt  der  Beichte.  419 

nur  die  Sünden  selbst  sind  zu  beichten,  sondern  auch  die  be- 
gleitenden, die  Sünde  erschwerenden  Umstände,  etwa  dass  die 
betreffende  Sünde  besonders  verboten  ist.  Z.  B. :  es  ist  ver- 
boten zu  stehlen ,  aber  es  ist  besonders  verboten ,  aus  einer 
Kirche  etwas  zu  entwenden ;  oder  der  Geschlechtsverkehr  mit 
einem  andern  als  dem  eignen  Weibe  ist  verboten,  aber  es  ist 
ein  erschwerender  Umstand,  wenn  jenes  andere  Weib  dazu 
noch  einem  anderen  angehörte.  So  kann  die  Sünde  überhaupt 
durch  persönliche  und  sachliche  Beziehungen  besonders  schwer- 
wiegend werden.  Nach  diesem  Gesichtspunkte  sind  also  die 
begleitenden  Umstände  bei  der  Beichte  zu  erwähnen,  wogegen 
für  die  Sünde  als  solche,  gleichgiltige  Dinge,  wie  dass  das 
Mädchen  Bertha  oder  Lucia  geheissen  habe ,  füglich  ausser 
Betracht  bleiben  können  (§  20  vgl.  Berta  vel  Alitia  IV  dist.  21 
quaest.  2,  22). 

Weiter  ist  für  das  Bekenntnis  erforderlich,  dass  es  vor 
dem  dazu  befugten  Priester  geschieht  (cui  §  26).  Das  Be- 
kenntnis vor  einem  Laien  kann  immerhin,  wenn  es  in  Einfalt 
geschieht,  als  Bethätigung  der  Demut  verdienstlich  sein.  Aber 
ein  kirchliches  Gebot  wird  dadurch  nicht  erfüllt  und  der  Laie 
hat  keinerlei  Vollmacht,  einen  Spruch  über  die  Sünde  zu  fällen. 
Man  kann  vielleicht  sogar  sagen,  dass  es  besser  sei,  sich  dem 
Laien  nicht  anzuvertrauen,  da  man  sich  selbst  nicht  diffamieren 
dürfC;  und  dies  doch  leicht  einträte,  wenn  der  Laie  indiskret 
ist  (§  27).  Auf  die  Frage  Quando  ist  zu  antworten,  dass  be- 
sonders dann,  wenn  Todesgefahr  vorliegt,  wie  vor  dem  Kriege, 
oder  wenn  man  sich  auf  etwas  Grosses,  wie  die  Kommunion  vor- 
bereitet, zu  beichten  ist  (§  21).  Genauer  ist  bezüglich  dieses 
Punktes  zu  sagen,  dass  allerdings  in  alten  Zeiten  sofort  nach  Be- 
gehung der  Sünde  die  Beichte  stattfand.  Dies  ist  jetzt  aus  kirch- 
licher Entscheidung  anders  geworden,  sodass  einmal  im  Jahre  zu 
beichten  genügt.  Freilich  gibt  es  Theologen,  die  auch  jetzt 
noch  für  die  andere  Praxis  eintreten.  Nach  Duns  genügt  es^, 
dass  man  nach  Begehung  einer  Todsünde  den  Vorsatz  fasse, 
sie  zum  festgesetzten  Termin  zu  bekennen  (§  28). 

14.  Zu  der  Beschaffenheit  des  Bekenntnisses  gehört  nun 
weiter,  dass  der  Betreffende  Misfallen  an  der  begangenen  Sünde 
empfindet   und   bereit  ist   sich   ihrer   zu   enthalten,   sowie    der 

27* 


420  Kap.  IV :  Die  Lehre  von  den  Sakramenten ;  die  Busse. 

Kirche  bezüglich  der  Satisfaktion  zu  gehorchen  (qualiter). 
Dies  braucht  aber  nicht  zu  heissen,  dass  er  bereit  ist,  die 
kirchlichen  Bussstrafen  zu  übernehmen,  sondern  auch  die  Be- 
reitschaft, die  Strafen  Gottes  auf  Erden  oder  im  Fegfeuer  zu 
tragen,  genügt.  Hat  er  aber  eine  Bussstrafe  vom  Beichtiger 
übernommen,  so  soll  er  auch  bereit  sein  sie  zu  tragen  resp. 
zu  erfüllen  (§  22). 

Nun  kann  aber  hier  ein  Einwand  erhoben  werden.  Wenn 
nämlich,  wie  wir  früher  sahen,  es  möglich  ist,  dass  jemand  die 
Strafe  für  eine  Sünde  leisten  kann,  ohne  sich  um  die  anderen 
zu  kümmern,  so  scheint  auch  angenommen  werden  zu  können, 
dass  jemand  eine  Sünde  bekennen  darf,  indem  er  zugleich  die 
anderen  verschweigt.  Allein  die  Voraussetzung  im  ersteren  Fall 
ist,  dass  der  Sünder  seine  Sünde  bekannt  hat,  und  von  ihr  frei 
gesprochen  wurde ;  denn  nur  auf  Grund  dessen  kann  die  ewige 
Strafe  als  durch  die  zeitliche  ersetzbar  angesehen  werden. 
Ohne  Absolution  ist  also  die  Satisfaktion  nichtig,  denn  sie  kann 
das,  wozu  sie  unternommen  wird,  nicht  erreichen.  Die  Abso- 
lution kann  aber  nur  erfolgen  auf  Grund  eines  Bekenntnisses 
sämtlicher  Sünden  (23). 

Weiter  kann  man  einwenden,  dass  wenn  jemand  keine  Tod- 
sünde zu  beichten  hat,  er  um  dem  Beichtgebot  der  Kirche  zu 
genügen,  die  venialen  Sünden  beichten  müsse  (so  Richard). 
Aber  Duns  verneint  das,  denn  wenn  kirchenrechtlich  omnia 
peccata  zu  bekennen  geboten  ist,  und  dieses  nur  auf  Todsünden 
gedeutet  wird,  so  ist  klar,  dass  wenn  solche  fehlen,  auch  keine 
Beichte  nötig  ist  (§  24).  Aber  auch  der  Kontrition  oder  Attri- 
tion  bedarf  es  für  die  lässlichen  Sünden  nicht,  gelegentlich 
verschwinden  sie,  ohne  eine  besondere  That  des  Sünders.  Dem- 
nach wird  es  vorkommen,  dass  der  Beichtiger  von  dem  Beicht- 
kind das  sittlich  berechtigte  Bekenntnis  hört :  Domine,  regratior 
deo,  quia  ex  quo  fui  ultimo  confessus,  non  habeo  conscientiam 
de  peccato  mortali,  date  mihi  eucharistiam !  (§  25). 

Schliesslich  muss  hervorgehoben  werden,  dass  Duns  die 
Beichte  durch  einen  Dolmetscher  ebenso,  wie  die  schriftliche 
Beichte  verwirft,  denn  weder  die  eine  noch  die  andere  Form 
bietet  die  gehörige  Sicherheit  des  Beichtgeheimnisses  dar,  die 
Sache    kann    leicht    öffentlich    werden.     Bei    der   schriftlichen 


Absolution,  Schlüssel.  42 1 

Beichte  kommt  ausserdem  die  Selbstdemütigung  in  Wegfall 
(§31.  32). 

15.    Von  der  Beichte  kommen  wir  zur  Absolution. 

Duns  wirft  die  Frage  auf,  ob  jedem  Priester  vermöge  der 
Ordination  die  Schlüssel  des  Himmelreiches  zu  Teil  werden. 
Wiewohl  hiegegen  eine  Anzahl  von  Gründen  sind,  wie  Apoc.  3,  7 
oder  eine  Stelle  Augustins,  die  Christo  allein  Schlüssel  und 
Lösegewalt  zuzusprechen  scheint,  wird  die  Frage  doch  schon 
von  dem  Gedanken  aus  zu  bejahen  sein,  dass  wem  das  Höhere 
zu  Teil  wurde,  auch  das  Niedere  nicht  versagt  bleibt.  Wer 
Christi  Leib  machen  kann,  wird  also  auch  die  Absolution  voll- 
ziehen können  (dist.  19  qu.  un.  §  1.  2). 

Genauer  ist  aber  von  fünferlei  zu  reden :  1)  der  rite  ordi- 
nirte  Priester  hat  einen  Schlüssel,  als  die  potestas  sententiandi 
in  foro  poenitentiae,  2)  sodann  den  anderen  Schlüssel,  als  die 
potestas  cognoscendi  in  causa  rei  confitentis ;  3)  diese  Schlüssel 
sind  nicht  ein,  sondern  zwei  Schlüssel;  4)  wie  verhält  sich  die 
Macht  des  Inhabers  der  Schlüssel  zu  dem  wirklichen  Gebrauch 
der  Schlüssel,  und  5)  ob  es  ausser  diesen  beiden  noch  andere 
Schlüssel  in  der  Kirche  gebe? 

Unter  dem  Schlüssel  verstehen  wir  die  auctoritas  iudiciara 
sentendiandi  coelum  huic  aperiendum  vel  apertum  esse  (§  4). 
Als  auctoritas  simpliciter  principalis  eignet  sie  Gott  allein, 
denn  er  allein  ist  aus  sich  gerecht,  und  daher  auch  allein  der 
absolute  Richter  (§  4).  Als  auctoritas  praecellens  eignet  sie 
dem,  der  einerseits  alle  merita  und  demerita  kennt  und  anderer- 
seits in  absoluter  Übereinstimmung  mit  der  göttlichen  Gerechtig- 
keit urteilt.  Dies  kommt  Christo  allein,  aber  keiner  Person 
in  der  streitenden  Kirche  zu,  indem  kein  Mensch  diese  Be- 
dingungen zu  erfüllen  vermag.  Die  richterliche  Autorität  da- 
gegen mit  beschränktem  Wissen  und  mit  einem  nicht  immer 
mit  Gottes  Gerechtigkeit  übereinstimmenden  Urteil,  kann  auch 
von  Personen  der  streitenden  Kirche  ausgeübt  werden.  Es  ist 
also  möglich,  dass  die  Kirche  über  einen  Schlüssel  verfügt  als 
die  auctoritas  sententiandi  particulariter  et  non  irrevocabiliter, 
alicui  esse  coelum  apertum.  Indem  nun  die  Hierarchie  die 
Vermittlung  zwischen  Gott  und  der  Kreatur  vollzieht,  kommt 
ihr  die  Handhabung  dieses  Schlüssels  zu.     Hierarcha  est  medius 


422  Kap.  IV:  Die  Lehre  von  den  Sakramenten;  die  Busse. 

inter  cloum  peccatoremque  reducendum.  Diese  Kausalität  ist 
der  Kreatur  an  und  für  sich  möglich,  und  eine  derartige  Kau- 
salität verhindert  Gott  nicht:  immo  et  illam  communicat  et  ad 
eius  actionem  causis  secuudis  assistit.  Dass  aber  diese  Autorität 
und  Gewalt  der  Kirche  wirklich  eignet,  geht  aus  Joh.  20.  23 
hervor  (§  6).  Damit  ist  die  Möglichkeit  und  Wirklichkeit  des 
ersten  Schlüssels  als  der  richterlichen  Autorität  und  Gewalt 
der  Kirche  festgestellt. 

Zu  anderen  ist  von  der  auctoritas  cognoscendi  die  Rede. 
Nur  wo  diese  vorliegt,  kann  nämlich  die  Urteilssprechung  in 
gerechter  Weise  vollzogen  worden.  Auch  diese  eignet  zunächst 
Gott,  dann  aber  auch  dem  Menschen  in  der  soeben  behandelten 
Weise.  Neben  die  clavis  potestatis  tritt  die  clavis 
seien tiae,  oder  sie  ist  eigentlich  die  Voraussetzung  für  den 
Gebrauch  der  ersteren  und  ist  also  zugleich  mit  ersterer  Joh.  20 
der  Kirche  mitgeteilt.  Bei  dieser  scientia  ist  aber  nicht  an  eine 
aktuale,  wie  der  Lombarde  will,  oder  an  eine  habituelle  Wissen- 
schaft, oder  an  eine  gewisse  discretio  zu  denken  (§  7),  denn 
die  potestas  oder  auctoritas  cognoscendi  ist  ebenso  wenig  Er- 
kenntnis, als  die  richterliche  Gewalt  an  sich  Gerechtigkeit  ist. 
So  sehr  aber  letztere  sich  an  der  Gerechtigkeit  zu  orientieren 
hat,  so  sehr  erstere  an  der  Erkenntnis,  aber  an  und  für  sich 
ist  sie  mit  der  Erkenntnis  nicht  identisch. 

Drittens  handelt  es  sich  um  die  Frage  nach  der  Identität 
der  beiden  Schlüssel.  Duns  wendet  sich  zunächst  gegen  die 
Ansicht  des  Thomas,  als  wenn  der  sakramentale  Charakter  der 
Ordination  selbst  der  Besitz  der  Schlüssel  sei.  Nun  besteht 
aber  die  eigentliche  Gewalt,  welche  durch  die  Ordination  auf 
den  Menschen  übergeht,  in  dem  conficere  corpus  Christi.  Aus 
dieser  kann  aber  die  Schlüsselgewalt  nicht  abgeleitet  werden. 
Ebenso  wenig  kommt  man  zum  Ziel  vom  Gesichtspunkt  des 
Charakters  aus.  Der  Charakter  ist  eine  Beziehung ;  eine  solche 
kann  nicht  auf  verschiedene  Ziele  gehen,  also  kann  der  Charakter 
nicht  eo  ipso  die  Konsekrations-  und  Absolutionskraft  in  sich 
fassen  (ib.  §  9).  So  wenig  also  die  Schlüsselgewalt  an  sich  mit 
dem  geistlichen  Charakter  der  Ordination  zusammenfällt,  so 
wenig  ist  es  notwendig,  die  Schlüssel  überhaupt  als  eine  ab- 
solute Einheit  zu  fassen.     Nach  der  potentia  absoluta  könnten 


Begründung  der  Schlüsselgewalt.  423 

sie  sehr  wohl  von  einander  getrennt  werden.  Wie  der  Vor- 
sitzende des  Gerichtshofes  nämlich  die  auctoritas  cognoscendi 
und  die  auctoritas  seutentiandi  getrennt  von  einander  auf  jemand 
übertragen  kann,  so  konnte  sie  auch  Gott  hei  der  Übertragung 
dieser  Gewalten  an  den  Priester  von  einander  trennen.  Die 
Lösung  der  Frage  hat  Duns  nur  in  Kürze  gegeben.  Es  müsse. 
da  doch  sowohl  die  Konsekrations-  als  die  Absolutiousmacht  in 
der  Ordination  dem  Menschen  gegeben  werden:  wie  duae  po- 
testates,  so  auch  duo  characteres  angenommen  worden.  Der 
erste  wird  mit  den  Worten  accipe  potestatem  celebrandi,  der 
andere  durch  das  accipe  spiritum  sanctum  mitgeteilt  Ja  selbst 
daran  könnte  man  denken,  dass  die  beiden  Schlüssel  auch  zwei 
mitgeteilten  Charakteren  entsprechen.  Aber  man  kann  auch 
von  einem  character  sacerdotalis  reden;  indem  der  Priester 
durch  ihn  die  Konsekrationsgabe  empfängt,  wird  ihm  eine 
führende  Stellung  in  der  Familie  Gottes  als  ihr  geistlicher 
Nährvater  zu  Teil.  Diese  Stellung  nun  lässt  ihn  als  den  ge- 
eigneten Mann  erscheinen,  auch  über  den  mystischen  Leib 
Christi  die  Gewalt  des  Lösens  und  Bindens  auszuüben.  So 
angesehen,  ist  der  geistliche  Charakter  die  Disposition  zum 
Empfang  der  Schlüssel  und  jener  würde  gleichzeitig  mit  diesen 
mitgeteilt.  So,  aus  der  Gemeinsamkeit  des  Zweckes  der  beiden 
Schlüssel,  begreift  es  sich  auch,  dass  sie  gewissermassen  als 
Einheit  angesehen  werden  können  (§  11). 

Viertens  wird  gezeigt,  wie  verschieden  von  einander  die 
Schlüssel  und  die  Konfektionsgewalt  sind.  Letztere  näm- 
lich hat  an  Brot  überall  und  allzeit  das  entsprechende  passive 
Element,  an  dem  sie  sich  aktiv  bethätigen  kann.  Man  könnte 
nun  ebenso  bezüglich  ersterer  sagen:  der  bussfertige  Sünder 
ist  dem  Priester  überall  gegeben,  er  kann  an  ihm  allzeit  seine 
Gewalt  bewähren  (§  12).  Aber  dem  steht  entgegen,  dass  der 
Priester  nur  dann  den  Schlüssel  brauchen  darf,  wenn  ihm  subditi 
zur  Jurisdiktion  zugeteilt  wurden,  denn  nur  der  Spruch  eines 
dazu  befugten  Eichters  ist  wirklich  ein  Urteilsspruch.  Dem- 
nach wäre,  wenn  der  Vorgesetzte  die  Jurisdiktion  des  Priesters 
aufhebt,  die  etwaige  Absolution  des  letzteren  nichtig.  Dadurch 
ist  der  Unterschied  klar.  Das  conficere  kann  der  Priester 
immer   ausüben,   was   schadet  es  denn,   wenn  er  jede  mögliche 


424  Kap.  IV:  Die  Lehre  von  den  Sakramenten;  die  Busse. 

Materie  konsekrierte  ?  Dagegen  muss  dem  Lösen  und  Binden 
jene  doppelte  Schranke  gezogen  werden,  denn  nicht  jeder 
Priester  kann  es  an  jedem  beliebigen  Sünder  ausüben  f§  13). 
In  diesem  Fall  tritt  also  die  Kraft  nur  dadurch  in  Aktion, 
dass  eine  andere  Kraft  —  der  die  Jurisdiktion  erteilende 
Bischof  —  mit  jener  konkurriert  (§  14). 

Zum  fünften  nimmt  Duns  den  Ausgang  von  der  Betrachtung, 
dass  in  der  Kirche  ein  forus  (sie)  duplex  anzunehmen  sei.  Es 
ist  ein  forus  secretissimus,  da  der  Kläger  und  der  Schuldige  die 
gleiche  Person  sind;  hier  walten  jene  beiden  Schlüssel.  Es 
gibt  aber  auch  einen  forus  publicus.  Hier  tritt  die  Autorität 
der  Kirche  in  Kraft  Sünde  zu  vergeben  und  zu  behalten.  Es 
handelt  sich  dabei  um  die  Gewalt  der  Kirche  als  der  com- 
munio  fidelium,  sich  durch  die  excommunicatio  den  Sündern 
zu  verschliessen  oder  sich  ihnen  wieder  zu  eröffnen,  durch  Rück- 
nahme jener  (§  15).  Indem  aber  der  gewöhnliche  Priester 
diese  Gewalt  nicht  hat,  andererseits  auch  Nichtordinierte  nach 
kirchlicher  Ordnung  sie  ausüben  dürfen,  sind  diese  Schlüssel 
hier  nicht  identisch  mit  jenen  obigen,  von  denen  sie  vielmehr 
scheiden  (ib).  Hier  nun  ist  die  Frage  zu  behandeln,  ob  jeder, 
der  „Jurisdiktion"  hat,  innerhalb  derselben  berechtigt  ist  zur  Ex- 
kommunikation ?  Die  Exkommunikation  ist  der  Ausschluss  aus 
der  Kirche  per  prohibitionem,  ne  communicet  cum  aliis  nee 
alii  eum  eo.  Allein  dies  Verbot  braucht  doch  nur  von  denen 
gehorsam  aufgenommen  zu  werden,  die  dem  betreffenden  Priester 
Gehorsam  schulden  oder  seiner  amtlichen  Jurisdiktion  unter- 
stehen; die  übrigen  geht  es  nichts  an.  Soll  also  eine  Exkom- 
munikation wirklich  kräftig  werden,  so  muss  sie  von  dem  aus- 
gehen, dessen  Verbot  der  ganzen  Christenheit  gilt  (cui  tenetur 
obedire  quiHbet  christianus),  d.  h.  von  dem  Papst.  Jede  andere 
allgemeine  Exkommunikation  kann  also  nur  gerechtfertigt  werden 
durch  Zurückführung  auf  die  commissio  illius,  cui  ^)  tenentur 
omnes  alii  obedire  (§  16).  Sonach  wird  hier  die  Rechtsregel 
in  Anwendung  kommen:  quod  non  est  concessum,  est  prohibitum 
(§  16),  d.  h.  die  Exkommunikation  ist  nur  in  den  Fällen  giltig, 
für  die  der  sie  verhängende  Priester  expresse  dazu  vom  Papst 


^)  Nicht  qui,  wie  die  Ausg.  Hest. 


Die  Wirkungen  der  Absolution.  425 

berechtigt  ist:  et  sie  excluduntiir  quaedam  pericula  quae  pro- 
veniunt  ex  pronitate  quorundam  fatuorum  ad  excoramunicaii- 
dum  (§  17).  Der  häufigen  Anwendung  dieses  Verfahrens  ent- 
sprechen nicht  die  wenigen  Fälle  der  apostolischen  Praxis,  die 
überliefert  sind.  Sie  werden  genau  besprochen  (§  17.  18). 
Wenn  Paulus  den  korinthischen  Blutschänder  oder  Alexander 
und  Hymenäus  dem  Teufel  übergibt,  so  erscheint  das  wohl- 
begründet, weil  ein  peccatum  enorme  et  publicum  vorlag  und 
andererseits  durch  die  gerechte  Strafe  die  correctio  deliuquentis 
beabsichtigt  wurde  (19).  Aber  gegen  die  leichtfertige  und  über- 
eilte Verhängung  der  Exkommunikation  spricht  sich  Duns  dabei 
klar  aus. 

16.  Nun  ist  aber  noch  eine  Frage  zu  erheben,  nämlich 
was  die  Absolution  wirke?  Die  Tradition  war  hier  keine  ein- 
heitliche und  deutliche.  Nach  Abälard  erlässt  Gott  allein  die 
ewige  Strafe.  Der  Lombarde  hat  diese  augustinische  Vor- 
stellung reproduziert,  dabei  aber  auch  dem  Priester  eine  feste 
Funktion  zuerteilt,  sofern  er  anzeigt,  ob  jemand  gelöst  oder 
gebunden  sei,  beziehungsweise  demselben  die  zeitliche  Strafe 
auferlegt.  ^)  Demnach  scheint  gesagt  werden  zu  können,  1)  dass 
die  Absolution  nicht  die  Schuld  oder  die  ewige  Strafe  aufhebe, 
und  2)  dass  sie  sich  nur  auf  die  zeitliche  Strafe  beziehe  (§  21). 
Allein  dies  ist  nicht  richtig,  denn  einerseits  würde  das  Sakra- 
ment auf  diese  Weise  überhaupt  nicht  wirksames  Sakrament 
sein,  denn  die  Anzeige,  dass  jemand  gelöst  sei,  setzt  vielmehr 
die  wirklich  geschehene  Lösung  bereits  voraus.  Andrerseits 
ist  der  Empfang  dieses  Sakramentes  ein  instrumentum  ad 
gratiam,  als  ein  Zeichen,  dass  nach  Gottes  Verfügung  die 
Gnade  kommen  wird.  Indem  nun  dies  sakramentale  Zeichen 
nicht  Erinnerungszeichen  (signum  rememorativum)  ist  oder  auf 
Vergangenes  zurückweist,  sondern  vielmehr  auf  etwas,  was  ein- 
treten soll,  „aufmerksam"  macht,  ist  es  keineswegs  notwendig, 
dass  es  auf  die  bereits  geschehene  göttliche  Absolution  zurück- 
deute. Nach  der  scotistischen  Ansicht  vom  Sakrament  ist  zu 
sagen:  absolutio  sacramentalis  est  signum  efficax  illius  abso- 
lutionis  sequentis   in  ultimo  instanti  ipsius,    sicut  prolatio  ver- 


1)  D.  G.  II,  S.  65—67. 


426  Kap.  IV:  Die  Lehre  von  den  Sakramenten;  die  Busse. 

borum  est  Signum  confectionis  corporis  Christi  (§  23).  Hienach 
beantwortet  sich  die  aufgeworfene  Frage  einfach.  Allerdings 
kann  man  sagen,  dass  der  Priester  die  Schuld  und  ewige  Strafe 
aufliebe,  aber  er  thut  das  nur  instr-umentaliter.  Er  bewirkt 
nicht  direkt  jenen  Effekt,  sondern  er  erreicht  jene  Vorbereitung 
desselben,  nämlich  das  sakramentale  Zeichen,  dessen  Eintritt 
vermöge  der  pactio  divina  notwendig  die  Gnadenmitteilung 
folgt.  Der  Priester  vermittelt  die  Gnade  und  Vergebung,  aber 
Gott  allein  wirkt  sie,  proprium  autem  est  deo  principaHter 
mundare  et  remitiere  illud  debitum.  Es  ist  dann  aber  nicht 
richtig,  wenn  der  Lombarde  den  Priester  die  bereits  geschehene 
Lösung  bloss  anzeigen  lässt,  vielmehr  bewirkt  der  Priester  die 
Disposition,  welche  notwendig  die  Lösung  von  Gottes  Seite 
eintreten  lässt  (§  24). 

17.  Mit  der  Absolution  verband  die  Praxis  die  Aufer- 
legung der  Satisfaktion.  Duns  behandelt  deshalb  noch 
die  Frage,  ob  der  Büssende  verpflichtet  sei,  die  von  dem 
Priester  ihm  auferlegte  Leistung  zu  erfüllen.  Die  Antwort 
lautet,  dass  es  hier  ganz  auf  die  Absicht  des  Büssenden  an- 
kommt. Will  derselbe  nämlich  sich  dem  Priester  unterwerfen, 
um  sowohl  die  Absolution  als  die  Strafe  zu  erhalten,  so  ver- 
pflichtet er  sich  freilich  auch  zu  den  Werken.  Will  er  aber 
nur  die  commutatio  poenae  aeternae  in  temporalem  erzielen, 
indem  er  die  ihm  zustehenden  Strafen  aus  Gottes  Hand,  sei 
es  hier  auf  Erden,  sei  es  im  Hades  bereit  ist  zu  empfangen, 
so  soll  auch  solch  einer  nicht  von  der  Absolution  zurückge- 
wiesen werden.  Dadurch  würde  er  in  Verzweiflung  gestossen. 
Gegen  diesen  Standpunkt  ist  eigentlich  nichts  einzuwenden, 
denn  er  ist  ja  bereit  die  Strafe  hinzunehmen  und  zwar  aus 
der  Hand  Gottes,  die  sie  zu  verhängen  hat  (§  27).  Aber  auch 
Ungehorsam  gegen  die  Kirche  kann  man  dem  Betreffenden 
nicht  nachsagen.  Es  komme  ja  oft  vor,  dass  auf  Wunsch  des 
Beichtkindes  der  Priester  ihm  eine  massige  Strafe^  die  ausser 
Verhältnis  zur  Schuld  steht,  auferlegt,  mit  dem  Bemerken,  den 
Best  würde  er  im  Purgatorium  zu  büssen  haben.  Warum  soll 
der  Priester  dann  nicht  auch  darauf  eingehen,  überhaupt  keine 
Strafe  aufzulegen,  freilich  unter  Hinweis  darauf,  dass  ihn  nun 
die  ganze  Strafe  im  Fegefeuer  treffen  würde.     Andernfalls  steht 


Die  Satisfaktion;  der  Ablass.  427 

ZU  befürchten,  dass  der  Sünder,  von  dem  doch  nicht  zu  er- 
warten ist,  dass  er  die  Strafe  wird  tragen  wollen,  nur  zur  Tod- 
sünde des  Ungehorsams  verleitet  werde  (28). 

18.  An  diesem  Ort  wollen  wir  über  die  Ansicht  des  Diins 
vom  Ablass,  von  dem  der  Seutenzenkommentar  schweigt,  nach 
den  Miscellan.  quaest.  4  referieren:  Indulgentia  est  remissio 
poenae  temporalis  debitae  pro  peccatis  actualibus  poeni- 
tentium,  non  remissae  per  absolutionem  sacramentalem  factam 
per  praelatos  ecclesiae,  de  thesauro  ecclesiae  id  est  meritis 
Christi  et  sanctorum,  ex  causa  rationabili  (1.  c.  quaest.  4,  4). 
Das  ist  die  offizielle  Lehre.  Die  Übertragung  der  Werke  der 
Heiligen  kann  aber  erfolgen,  da  die  Legenden  ihnen  die  Ab- 
sicht zuschreiben  für  das  Gemeinwohl  zu  leiden  (ib.  2).  Hier 
ist  aber  in  Acht  zu  behalten,  dass  der  Ablass  nicht  das  einzige 
Mittel  zur  Vermeidung  der  zeitlichen  Sündenstrafen  darstellt. 
Ein  Teil  derselben  wird  durch  die  devotio  und  humilitas  guter 
Werke  abgebüsst,  ein  anderer  findet  seine  Erledigung  schon 
durch  die  sakramentale  Absolution  (5).  —  Als  Zweck  des 
Ablasses  erscheint  honor  dei  vel  ecclesiae  utihtas  (3).  Wenn 
den  kirchlichen  Prälaten  die  Befugnis  der  Ablasserteilung  zuge- 
sprochen ist,  so  soll  dieselbe  keineswegs  in  ihre  Willkür 
(pro  libito)  gestellt  werden,  da  sie  nur  eine  dispensatio  zu  voll- 
ziehen haben  (5).  Ablass  erteilen  kann  nur  das  Oberhaupt 
der  Kirche  oder  der  Papst,  die  Bischöfe  —  wie  auch  die 
Legaten  —  nur  ex  commissione  papae,  sofern  sie  in  partem 
sollicitudinis  berufen  sind  (19). 

Aber  in  diesem  Zusammenhang  gelangt  eine  Anzahl  inter- 
essanter Einzelfragen  zur  Erörterung,  auf  die  wir  in  der 
Kürze  eingehen  wollen,  da  sie  für  die  Stellung  des  Duns  zum 
Ablass  lehrreich  sind.  —  Es  gibt,  sagt  er,  quaestuarii,  die  be- 
haupten, dass  vierzig  Tage  Indulgenz  mit  Almosen  gleich  viel 
gelte,  als  wenn  man  vierzig  Tage  fasten  würde.  Dies  wird  von 
Duns  verworfen,  da  nämlich  die  Indulgenz  nur  auf  den  Erlass 
zeitlicher  Strafen  geht,  während  das  Fasten  eine  Anzahl  weiterer 
sittlicher  Zwecke  im  Menschen  fördert,  indem  es  zur  Unter- 
drückung der  Konkupiszenz,  zur  Bändigung  des  Körpers,  zur 
Erlangung  ewigen  Lohns  und  zur  Mehrung  der  Gnade 
dient.     Demnach   ist  also  Duns   der  Meinung,    dass   die  opera 


428  Kap.  IV:  Die  Lehre  von  den  Sakramenten;  die  Busse. 

poenalia  nur  in  unvollkommener  Weise  durch  den  Ablass  er- 
setzt werden  können,  indem  dieser  nur  in  einer  Hinsicht  Ersatz 
für  sie  bietet. 

Sodann  wird  festgestellt,  dass  in  fünf  Fällen  der  Papst 
plenarias  indulgentias  gibt,  seil,  ut  remittat  tot  am  poenam 
peccatis  debitam.  Es  sind  folgende:  der  Inquisitor,  der  sein  Leben 
daran  setzt,  die  Teilnahme  an  Kreuzzügen,  Besuch  des  heil. 
Landes  oder  anderer  heil.  Stätten,  etwa  Roms ;  solche,  die  in- 
ständig darum  bitten,  zumal  wenn  sie  die  Gewohnheit  haben 
ihre  Güter  der  Kirche  zu  schenken;  endlich  Menschen,  von 
denen  feststeht,  dass  ihre  Verdienste  dem  Schatz  der  Kirche 
wegen  ihrer  Heiligkeit  zu  gute  kommen  werden.  Endlich 
kann  der  Papst  Plenarablass  auch  propter  aliam  causam  ratio- 
nalem gewähren ;  es  ist  das  nicht  als  Leichtsinn  anzusehen,  wenn 
dadurch  die  Ehre  Gottes  und  der  Nutzen  der  Kirche  und 
Mehrung  des  Schatzes  der  Kirche  erstrebt  wird  (6). 

Wie  ist  es  aber  zu  verstehen,  wenn  in  litteris  der  Papst 
jedem,  der  dies  oder  jenes  thut,  für  eine  bestimmte  Frist,  wie 
vierzig  Tage  oder  ein  Jahr,  Ablass  gewährt  ?  Dies  ist  immer,  es 
sei  nun  in  der  Urkunde  ausdrücklich  gesagt  oder  nicht,  zu  be- 
ziehen auf  die  poenitentia  iniuncta  in  confessione  vel  quae  de- 
beret  iniungi.  Letzteres  sagt  Duns  von  der  Erwägung  her, 
dass  oft  die  volle  Strafe  nicht  auferlegt  wird  wegen  der  Ge- 
fahr, dass  der  Sünder  sie  doch  nicht  tragen  würde,  wobei  aber 
natürlich  die  volle  Abbüssung  dem  Fegfeuer  aufbehalten  bleibt. 
Sonach  bezieht  sich  der  Ablass  immer  auf  die  Strafen  des 
Busssakramentes,  durch  ihn  wird  also  die  Handhabung  dieses 
vorausgesetzt  (7). 

Aber  Duns  fragt  weiter,  ob  es  ratsam  sei,  nach  Erlangung 
des  Ablasses  von  den  auferlegten  Busswerken  abzusehen?  Er 
verneint  das,  denn  wenn  der  Betreffende  nicht  in  caritate  wäre, 
so  würden  die  Indulgenzen  ihm  nichts  nützen,  zudem  würde, 
wie  wir  sahen,  die  Ertragung  der  Pönitenz  ihm  grösseren  inneren 
Nutzen  gewähren.  Es  ist  also  mit  dem  Ablass  recht  unsicher 
bestellt:  unde  bonum  et  securum  est,  quod  homines 
faciant  poenitentias  sibi  iniunctas,  quia  in  eis 
plus  merentur.  Aber  freilich  kann  der,  welcher  probabi- 
liter  in  der  Liebe   steht  und   die  durch  den  Ablass  erforderte 


Busswerke  besser  als  Ablass.  •  429 

Leistung  erfüllt,  die  iniuncta  poenitentia  lassen,  ohne  trans- 
gressor  zu  werden,  weil  seine  geistliche  Obrigkeit  ihm  das  er- 
laubt (7). 

Die  Ansicht  des  Duns  wird  aus  diesea  Erwägungen  klar: 
der  Ablass  ist  kirchliche  Ordnung  und  als  solche  anzuerkennen, 
aber  es  ist  besser,  sich  auf  ihn  nicht  zu  verlassen,  denn  weder 
bringt  er  den  positiven  Nutzen  der  Pönitenzwerke,  noch  kann 
man  seines  Erfolges  sicher  sein.  Darnach  ist  es  ziemlich  ein- 
leuchtend, dass  Duns  selbst  an  dem  Ablass  kein  Interesse  ge- 
habt hat,  er  hat  ihn  nur  vom  Standort  seines  kirchlichen 
Positivismus  her  aufrecht  erhalten.  Er  hat  auch  hier  der 
Auflösung  des  Busssakramentes  im  späteren  Mittelalter  vor- 
gearbeitet. 

Im  Verfolg  der  Abhandlung  hat  Duns  Scotus  eine  Anzahl 
von  Gründen  wider  den  Ablass  geltend  gemacht,  die  er  aber 
dann  selbst  auflöst.  Die  wesentlichen  derselben  wollen  wir 
herausheben:  hat  Gott  den  Sünder  zur  zeitlichen  Strafe  ver- 
urteilt, so  kann  kein  Mensch  diese  aufheben.  Aber  Gott  hat 
es  nach  seiner  „Liberalität"  so  eingerichtet,  und  die  Heiligen 
haben  es  so  verstanden,  und  die  Befreiung  von  den  Strafen 
geschieht  nur  nach  Gottes  Verordnung  (12).  Sodann:  niemand 
wird  dadurch  geheilt,  dass  ein  anderer  eine  Medizin  einnimmt, 
so  muss  auch  der  Sünder  selbst  die  guten  Werke,  die  ihn  von 
seiner  Krankheit  heilen  sollen,  ausführen.  Aber  die  Werke 
Christi  und  der  Heiligen  hatten  satis faktorische  Bedeutung, 
daher  kommen  ihre  Verdienste  uns  zu  gut  (13).  —  Aber  weiter: 
wenn  meine  Kontrition  oder  Konfession  dem  anderen  nicht 
angerechnet  werden,  wie  sollen  es  dann  die  satisfaktorischen 
Werke  werden?  Duns  meint,  die  Parallele  stimme  nicht,  da 
jene  beiden  zu  der  der  Persönlichkeit  geltenden  Absolution  in 
Relation  stehen,  nicht  aber  die  Satisfaktion.^)  Die  Absolution 
befreie  von  der  Schuld,  aber  der  Sünder  bleibt  doch  obli- 
gatus    ecclesiae.     Davon  befreien   die  Prälaten.  ^)     Als 


^)  Man  erinnere  sich  daran,  dass  nach  Duns  die  satisfactio  operum  — 
genau  genommen  —  aus  dem  Rahmen  des  Sakramentes  herausfällt;  Beichte 
und  Absolution  machen  eigentlich  das  Sakrament  aus,  vgl.  S,  413. 

^)  Macht  man  hiemit  Ernst,   so  bleiben  als  Gegenstand  des  Ablasses 


430  Kap.  IV:  Die  Lehre  von  den  Sakramenten;  die  Busse. 

Beichtender  ist  der  Sünder  noch  tot,  er  kann  daher  von  den 
Lebenden  keine  Einwirkungen  empfangen ;  wohl  aber  ist  das 
möglich,  dass  er,  nachdem  er  durch  die  Absolution  lebendig 
wurde,  solchen  Einwirkungen  untersteht.  —  Ferner:  Johannes 
ermahnt,  der  Busse  würdige  Früchte  zu  wirken.  Darauf  weiss 
Duns  nur  zu  sagen,  dass  die  Früchte  der  Heiligen  uns  an- 
gerechnet werden:  tamen  melius  esset,  quod  unusquis- 
que  suam  poenitentiam  faceret  (14).  —  Endlich:  nur 
Christus  kann  sakramentale  Effekte  hervorbringen,  aber  der 
Ablass  als  Strafnachlass  ist  auch  solch  ein  Effekt,  der  doch 
von  Menschen  hervorgebracht  wird.  Duns  hilft  sich  dadurch, 
dass  jene  These  nur  von  den  prinzipalen,  nicht  aber  von  den 
nichtprinzipalen  sakramentalen  Effekten,  gelten  soll.  Demnach 
ist  es  für  ihn  vollkommen  klar,  dass  die  eigentliche  Sünden- 
vergebung mit  dem  Ablass  nichts  zu  schaffen  hat:  Dicendum 
igitur,  quod  effectus  principalis  sacramenti  poenitentiae  est  di- 
mittere  culpam,  et  iste  non  potest  fieri  per  aliud;  sciHcet  per 
indulgentias  (15). 

Wenn  man  diese  Bemerkungen  liest,  so  leuchtet  es  ein, 
dass  Duns  eigentlich  alle  Einwendungen,  die  man  zu  Ende  des 
Mittelalters  wider  den  Ablass  erhob,  schon  geläufig  w^aren,  und 
dass  er  schliesslich  keine  Widerlegung  derselben  zu  geben  ver- 
mocht hat.  Die  Gegenbemerkungen  laufen  doch  alle  auf  eine 
ziemlich  kleinlaute  Wiederholung  der  kirchlichen  Praxis  hinaus, 
wobei  Duns  darüber  gar  keinen  Zweifel  bestehen  lässt,  dass 
es  besser  ist,  die  Werke  zu  thun,  statt  sich  mit  Ablass  zu 
befassen. 

Aber  —  dem  sei  wie  ihm  wolle  —  der  Ablass  steht  doch 
fest.  Kann  er  nun  aber  so  viel  leisten  als  er  verspricht?  Man 
kann  Nein  sagen,  qnia  tunc  quilibet  posset  se  quittare  a  tota 
poena  debita  peccatis  suis  sine  poenitentia  et  evolaret  sine 
punitione  faciendo  multoties  opus  indulgentiae.  Aber  —  meint 
Duns  —  die  Sünde  selbst  ist  ja  Strafe;  dazu  kommt,  dass  der 
Sünder  in  Christo  et  aliis  sanctis  ^)  gestraft  ist,  also  die  Strafe 


eigentlich  nur  die  kanonischen  Strafen.     So  fasste  ihn  auch  Luther  in  den 
Thesen. 

^)  Diese  zufällige  Wendung   ist  für   die  Stimmung  des  Duns  bezüg- 
lich des  Verdienstes  Christi  doch  nicht  uninteressant. 


Widerlegung  der  Gründe  wider  den  Ablass.  431 

genügend  vollzogen  wird.  —  Es  gibt  nun  aber  aliqui,  die 
meinen,  dass  es  nicht  möglich  sei,  durch  Geld  sofort  frei  zu 
werden  (statim  evolaret),  ^)  weil  in  der  Seele  durch  die  Sünde 
ein  gewisser  Schmutz  nachbleibe  und  dieser  nur  durch  die 
Pönalität  selbst  getilgt  werden  könne :  ideo  non  sufficit  dare 
pecunias  ad  indulgentias.  Aber  hier  kommt  Duns  sein  Sünden- 
begriff zu  pass.  Die  Sünde  bewirkt  in  der  Seele  nur  eine 
macula  culpae,  sowie  eine  pronitas  ad  actum  similem  und  die 
obligatio  ad  poenam  aeternam.  Die  Schuld  wird  durch  die 
contritio  zerstört  und  Tiiedurch  wird  die  ewige  Strafe  in  zeit- 
liche Strafe  verwandelt  und  diese  durch  den  Ablass  abgelöst. 
Aber  auch  die  pronitas  wird  durch  die  Gnade,  resp.  die  con- 
tritio zerstört,  indem  durch  sie  der  Mensch  die  Neigung  zu 
den  entgegengesetzten  Akten  empfängt.  Also  bedarf  es  nicht 
einer  Tilgung  des  Sündenschmutzes  durch  besondere  ethische 
Akte  (16). 

Endlich  wirft  Duns  die  Frage  auf,  ob  diejenigen  im 
Recht  seien ,  die  meinen ,  das  man  Indulgenzen  erlangen 
könne ,  auch  wenn  man  nicht  im  Gnadenbesitz  steht.  Das 
heisst:  ein  Mensch,  der  beichtet  und  contritus  war,  könnte 
auch,  wenn  er  darauf  eine  Todsünde  beging,  die  Indulgenz 
mit  Nutzen  empfangen.  Diese  Ansicht  verwirft  Duns.  Die 
Indulgenzwerke  können  nämlich  Gott  nur  dann  gefallen,  wenn 
der  Mensch  selbst  Gott  gefällt,  er  gefällt  ihm  aber  nur 
vermöge  des  Gnadenbesitzes.  Folglich  würde  der  Todsünder 
von  der  Indulgenz  keinen  Nutzen  haben.  Deshalb  aber  empfiehlt 
es  sich  auch,  den  Pcmitenten  keine  zu  langwierigen  Pönitenzen 
aufzuerlegen,  damit  sie  nicht  vor  ihrer  Erledigung  in  Todsünde 
fallen.  Die  Ansicht,  dass  der  Todsünder  als  solcher  unfähig 
ist,  Pönitenzwerke  auszuführen  —  es  ist  die  des  Thomas  —  hat 
Duns  aber  in  dem  Sentenzenkommentar  bekämpft  (s.  oben  S.  413). 
Vielleicht  ist  also,  wie  Wadding  (Opp.  III,  460  schol.  5)  an- 
nimmt, hierin  ein  Anzeichen  dafür  zu  erblicken,  dass  der  Sen- 
teazenkommentar  nach  den  Miscellanea  geschrieben  wurde. 

Soviel  ergibt  sich  aus  diesen  lehrreichen  Erwägungen  des 


^)  Das  Bild   von   dem  Herausfliegen   oder  Herausspringen  der  Seele 
kommt  also  schon  hier  vor. 


432  Kap.  IV:  Die  Lehre  von  den  Sakramenten;  die  Busse. 

Duns  mit  Sicherheit,  dass  der  Ablass  in  seiner  Umgebung 
eine  wichtige  kirchliche  Institution  war,  dass  aber  über  seinen 
AVert  oder  Unwert  vielfach  Schwankungen  herrschten.  Die 
Gründe  wider  den  Ablass  hat  Duns  scharf  bestimmt,  ohne 
ihnen  beizustimmen.  Aber  indem  er  den  Ablass  als  Bestand- 
teil des  positiven  kirchlichen  Rechtes  verteidigt,  hat  er  selbst 
ihm  eine  geringe  religiöse  Bedeutung  beigemessen,  denn 
,, sicherer^'  und  daher  empfehlensw^ert  ist  es,  statt  des  Ablasses 
die  satisfaktorischen  Werke  zu  wählen.  Freilich  kann  der 
Sünder  auch  dieser  entraten  (oben  S.  413.  426).  Die  kritische 
Stimmung  des  Duns  tritt  auch  in  dieser  Erörterung  hervor. 
Er  hat  am  Treiben  der  quaestuarii  des  Ablasses  keine  Freude 
gehabt. 

19.  Noch  eine  Frage  bleibt  bezüglich  der  Absolution  übrig. 
Wie,  wenn  die  clavis  scientiae  irrt?  Es  kommt  vor,  dass  der 
Beichtiger  thörichte  Fragen  stellt,  dass  er  sich  nach  Dingen 
erkundigt,  nach  denen  ihm  die  Ohren  jucken,  dass  er  sich 
gleichsam  eine  Geschichte  erzählen  lässt.  Diese  Neugierde  ist 
Sünde.  Wenn  aber  der  Mann  neben  diesen  unnützen  Fragen 
doch  auch  die  Hauptumstände  der  Sünde  in  Erfahrung  bringt, 
so  wird  er  ein  rechtes  Urteil  fällen.  Hat  er  letzteres  aber 
versäumt,  so  kann  sein  Urteil  nur  durch  Zufall  richtig  aus- 
fallen (Sent.  IV  dist.  19  §  28  f.).  Trotzdem  wird  dieses  Urteil 
an  dem  Empfänger  von  Gott  „ratifiziert",  da  der  Irrtum  nicht 
seine  Schuld  ist.  Wenn  dagegen  der  Beichtende  Schmerz 
heuchelt,  so  trifft  den  Beichtiger  keine  Schuld,  da  er  nicht 
das  Herz,  sondern  nur  das  Äussere  sieht;  dagegen  aber  wird 
die  Absolution  an  dem  Heuchler  nicht  „ratifiziert",  da  er  ihrer 
unfähig  ist,  wegen  der  mangelnden  Vorbereitung  (§  29). 

20.  Überschlägt  man  diese  Lehre  von  der  Absolution,  so 
fällt  einem  sofort  ein  doppeltes  auf.  Die  priesterliche  Abso- 
lution untersteht  ganz  dem  scotistischen  Sakramentsbegriff,  und 
der  augustinische  Zug  desselben  tritt  dabei  zu  Tage:  des 
Priesters  Worte  disponieren  die  Seele  und  damit  zerstört 
Gott  in  ihr  die  Sünde.  Indem  nun  mit  der  Absolution  und 
auf  Grund  derselben  die  Auferlegung  der  satisfaktorischen 
Werke  erfolgt,  wird  durch  jene  die  ewige  Strafe  in  eine  zeit- 
liche verwandelt.     Allein  es  ist  mögHch,   dass  der  Sünder  von 


Ob  Vergebung  nach  diesem  Leben?  433 

dem  Vollzug  letzterer  überhaupt  absieht,  oder  ihn  Gott  für  dies 
Leben  oder  für  den  Todeszustand  überlässt.  Mag  immerhin  dies 
nicht  als  Regel  gelten  (s.  z.  B.  ib.  §  31),  dogmatisch  lässt  sich 
nichts  dagegen  einwenden.  Wie  aber  dann ,  wenn  man  die 
Zucht  überhaupt  lieber  in  Gottes  Hände  als  in  die  des  Priesters 
stellt,  oder  beobachtet,  dass  Gott  auch  die  Werkthäter  seiner- 
seits mit  Leiden  heimsucht  (Yg\.  AVessel),  oder  wenn  man 
meint,  jener  sakramentalen  Disposition  nicht  mehr  zu  bedürfen, 
um  von  Gott  Gnade  zu  erhalten?  Dann  bricht  das  Buss- 
sakrament zusammen!  Auch  hier  hat  Duns,  wie  so  oft,  mit 
der  einen  Hand  gebaut  und  mit  der  anderen  zerstört. 

21.  Auf  der  Bahn  des  Lombarden  fortgehend,  handelt 
Duns  in  der  20.  Dist.  von  der  Möglichkeit  und  Schwierigkeit 
der  späten  Busse  und  in  der  21.  Dist.  zunächst  von  der  Frage, 
ob  eine  Sünde  nach  diesem  Leben  vergeben  werden  könne?  Da 
der  Mensch  mir  selig  wird  nach  Ertragung  der  nötigen  Strafen, 
so  wird  der  —  dem  die  Sünde  vergeben  wurde  —  sie  nach 
diesem  Leben  tragen.  Indem  aber  diese  Strafe  nicht  freiwillig 
getragen  wird,  so  wird  sie  besonders  schwer  sein,  quia  poena 
quanto  minus  voluntaria,  tanto  minus  satisfactoria  (d.  21  q.  1,  2). 
Schwieriger  ist  eine  andere  Frage,  nämhch  ob  für  eine  Sünde, 
die  auf  Erden  nicht  vergeben  wurde,  eine  jenseitige  Busse 
geschehen,  und  sie  dadurch  vergeben  werden  könne  ?  Die  übliche 
Lehre  war,  dass  wer  in  einer  Todsünde  stirbt,  der  ewigen  Strafen 
verfällt,  dass  aber  veniale  Sünden,  indem  sie  ja  mit  der  Liebe 
zusammen  bestehen,  nur  zeitlich  gestraft  werden ;  nach  Alexander 
von  Haies  gebührt  auch  ihnen  an  sich  ewige  Strafe,  aber  jenes 
Zusammensein  lässt  sie  per  accidens  nur  zeitlicher  Strafe 
würdig  sein  (ib.  §  3).  Duns  ist  der  Ansicht,  dass  die  venialen 
Sünden  durchaus  durch  die  zeitlichen  Strafen  des  Purgatoriums 
aufgehoben  w^erden.  Ebenso  die  Todsünden,  falls  die  Absolution 
die  zeitlichen  statt  die  ewigen  Strafen  ihnen  korrespondieren  Hess. 
Da  nun  diese  Verwandlung,  resp.  Vergebung  der  ewigen  Strafe, 
nach  Gottes  Willen  nur  bei  dem,  der  eine  voluntaria  displi- 
centia  ordinata  hat,  besteht,  so  gilt  sie  natürlich  nicht  für  den 
ohne  Busse  in  einer  Todsünde  Sterbenden  (§  6).  Hienach 
wäre  die  Vergebung  der  venialen  Sünden  identisch  mit  dem 
Vollzug  der  Strafe  für  sie.     Duns  hat  zur  Ausw^ahl  noch  einen 

Seeberg,  Die  Theologie  des  Duns  Scotus.  28 


434  Kap.  IV:  Die  Lehre  von  den  Sakramenten;  die  Busse. 

anderen  Weg  der  Betrachtung  vorgelegt.  Danach  würden  die 
venialen  Sünden  vergeben  um  der  guten  Werke  willen ,  die 
Gott  mehr  gefallen,  als  jene  Sünden  ihm  misfielen.  Der 
Sterbende  würde  dann  im  Moment  des  Todes  selbst  für  die 
bis  zu  demselben  währenden  venialen  Sünden  Vergebung  er- 
langen. Oder  auch  so,  Gott  kann  in  diesem  Moment  überhaupt 
um  der  vorangegangenen  Verdienste  willen  dem  Sünder  die 
lässlichen  Sünden  vergeben  (§  8.  9).  Zwischen  diesen  Wegen 
trifft  Duns  keine  Entscheidung,  dagegen  erklärt  er  eine  Lösung, 
die  im  jenseitigen  Leben  Verdienste  erworben  werden  lasse, 
für  unzulässig,  da  der  Theologe  derartige  sittliche  Bewegungen 
im  Todeszustand  nicht  kennt  (§  10). 

22.  In  der  2.  Quästion  wird  darauf  das  Beichtgeheimnis 
besprochen.  Dasselbe  ist  vom  Priester  einzuhalten  bis  in  den 
Tod  (§  20).  In  fünf  Sätzen  vollzieht  sich  die  Darstellung: 
1)  die  Verschwiegenheit  bezüglich  des  Beichtgeheimnisses  wird 
gefordert  vom  Naturrecht,  freilich  nicht,  wie  Richard  meinte, 
deshalb,  weil  der  Priester  die  Beichte  in  Vertretung  Gottes 
empfange,  also  sobald  letztere  aufhöre,  sehr  wohl  die  Kenntnis 
des  Gehörten  für  seine  Person  in  Abrede  stellen  dürfe  (§  4), 
denn  freilich  hört  und  redet  der  Priester  bei  der  Beichte  für 
seine  Person,  wenn  auch  mit  Gottes  Autorität  (§  7).  Die 
richtige  Begründung  ergibt  sich  dagegen  von  dem  Gedanken 
her,  dass  das  Naturrecht  uns  lehrt,  anderen  das  zu  thun,  was 
wir  uns  gethan  sehen  wollen.  Wie  jeder  seinen  eigenen  guten 
Ruf  gewahrt  wissen  wolle,  so  ist  er  es  auch  dem  anderen  gegen- 
über zu  thun  schuldig  (§  8.  9).  Ebenso  lehrt  das  Naturrecht 
die  Treue  zu  halten,  der  Beichtende  aber  setzt  voraus  die 
Verschwiegenheit  des  Beichtigers  (§  9.  10).  Endlich  verlangt 
die  Ordnung  des  Gemeinwesens  die  Verschwiegenheit  des  Vor- 
gesetzten, würde  doch  sonst  der  Untergebene  nicht  seinen  Rat 
in  geistlichen  Dingen  zu  suchen  fortfahren  (10).  —  2)  Das 
Beichtgeheimnis  ist  Forderung  des  positiven  göttlichen  Rechtes. 
Christus  hat  die  Beichte  geboten,  also  soll  kein  Christ  den 
anderen  von  ihr  abhalten.  Dies  würde  aber  geschehen  durch 
Preisgabe  jenes  Geheimnisses.  Ferner  soll  nach  Christi  Willen 
das  Beichtverhältnis  das  letzte  Forum  sein;  das  wäre  es  aber 
nicht,    wenn  die  betreffende  Sache   von  hier   vor  ein  weiteres. 


Das  Beichtgeheimnis.     Wiederkehr  einer  Sünde.  435 

Forum  gebracht  würde  (§  11).  —  Dass  3)  das  Beichtgeheimnis 
durch  das  positive  Kircheurecht  gefordert  ist,  bedarf  keines 
Beweises.  —  4)  Das  Gebot  des  Schweigens  erstreckt  sich  auch 
auf  die  Personen,  denen  der  Priester  das  Geheimnis  aus- 
plauderte, oder  die  zufällig  die  Beichte  mit  anhörten  (13).  Es 
ist  ein  Gebot  für  immer.  Nur  scheinbar  tritt  bei  den  den 
höheren  geistlichen  Amtern  reservierten  Fällen  eine  Ausnahme 
ein,  sofern  der  Priester  verpflichtet  ist  über  sie  an  jene  Autori- 
täten zu  berichten.  Aber  in  Wirklichkeit  findet  das  Beicht- 
verhältnis hier  zwischen  jenen  kirchlichen  Oberen  und  dem 
Sünder  statt,  der  Priester  ist  nur  Dollmetscher ,  der  aber 
natürlich  auch  zum  Schweigen  verpflichtet  ist,  nach  dem  eben 
Gesagten  (14).  Wie  über  die  That  und  ihre  Umstände ,  so 
ist  auch  über  alle  an  ihr  beteiligten  Personen  zu  schweigen 
(§  16).  —  5)  wird  noch  bemerkt,  dass  das  Naturrecht  überhaupt 
zur  Wahrung  jedes  uns  anvertrauten  Geheimnisses  verpflichtet 

(§  17)- 

23.  Nachdem  so  die  Absolution  behandelt  wurde,  kommt 
zur  Frage,  ob  bei  dem  rückfälligen  Sünder,  die  in  der  Busse 
erlassenen  Sünden  eadem  numero,  d.  h.  als  dieselben  einzelnen, 
zurückkehren?  Nach  vollbrachter  Sündenthat  bleibt,  wie  sich 
früher  ergab,  iu  der  Seele  die  carentia  gratiae  oder  die  obli- 
gatio propria  ad  poenam  correspondentem  culpae  actuali. 
Gott  könnte  nun  an  und  für  sich ,  d.  h.  nach  der  potentia 
absoluta,  sehr  wohl  dies,  was  allein  wiederkehren  kann,  von  der 
Sünde,  nämlich  die  Verhaftung  unter  eine  bestimmte  Strafe, 
wieder  eintreten  lassen,  und  zwar  nicht  nur  bei  dem  recidiven 
Sünder,  sondern  auch  —  nach  seiner  freien  Willkür  —  bei 
dem,  der  nicht  wieder  fiel  (dist.  22  quaest.  un.  §  3 — 5).  Aber 
die  potentia  ordinata  schliesst  in  sich,  dass  Gott  die  Sünde 
bedeckt  und  nicht  doppelt  anrechnet,  also  kann  nach  Ver- 
gebung einer  Sünde  dieselbe  nicht  mehr  wiederkehren  in  dem 
Sinn,  als  wenn  die  durch  sie  bewirkte  Strafverhaftung  wieder 
in  Kraft  treten  würde  (§  6).  Während  aber  die  Strafe  völlig 
sowohl  im  göttlichen  Denken  als  Wollen  ausgetilgt  wird,  bleiben 
vermöge  der  göttlichen  Barmherzigkeit  die  verdienstlichen  guten 
Werke  in  seiner  Acceptation  erhalten  (§  7). 

24.  Wer  von  der  landläufigen  Vorstellung  herkommt,  als 

28* 


436  Kap.  IV:  Die  Lehre  von  den  Sakramenten;  die  Busse. 

wenn  es  sich  in  der  scholastischen  Theologie  wesentlich  um 
logisclie  Spielereien  und  Klopffechtereien  handelt,  wird  an- 
genehm üherrascht  sein  von  der  straiFen  Systematik,  welche  in 
der  Busslehre  des  Duns  herrscht.  Vergegenwärtigen  wir  uns 
nochmals  die  Elemente  derselben.  In  dem  Reich  Gottes  herrscht 
die  göttliche  Rechtsordnung.  Dies  öffentliche  Recht,  nicht  ein 
privates  Rechtsverhältnis,  regelt  das  Verhältnis  des  Menschen 
zu  Gott.  AVer  gegen  jene  Rechtsordnung  sich  verfehlt,  wird 
dadurch  ein  puniendus.  Nun  aber  kann  der  Sünder,  d.  h.  der 
dem  Strafbann  verfallene  Mensch,  Gott  oder  der  göttlichen 
Rechtsordnung  dadurch  eine  Genugthuung  bieten,  dass  er  selbst 
an  sich  die  Strafe  vollzieht.  Diese  Selbstbestrafung  ist  der  Buss- 
schmerz. Derselbe  kann  entweder  ein  durch  die  Liebe  formierter, 
vollkommener  sittlicher  Akt  sein,  die  Kontrition,  oder  ein  in- 
formes  natürlich  sittliches  Handeln  als  ein  gewisses  Missfallen 
an  der  Sünde  samt  dem  Streben  von  der  Schuld  frei  zu  werden, 
die  Attrition,  oder  auch  nur  die  Vorstufe  des  parum  attritus. 
Der  Christ,  dem  es  ernst  ist  mit  der  Selbstbestrafung,  bezieht 
in  diese  alle  von  Gott  geordneten  Formen  mit  hinein,  d.  h.  er 
unterwirft  sich  der  kirchlichen  Bussdisziplin.  So  unterfällt  so- 
wohl die  Tugend  der  Bussfertigkeit  als  die  Unterwerfung  unter 
das  Busssakrament  dem  massgebenden  Gesichtspunkt  der  Selbst- 
bestrafung oder  der  durch  sie  Gott  gewährten  Satisfaktion. 
Hier  greift  die  göttliche  Liebe  durch  die  objektive  Kraft  des 
Sakramentes  ein.  Durch  die  Beichte  und  Absolution  wird  die 
Attrition  in  Kontrition  verwandelt.  Der  gottesdienstliche  Akt 
bewirkt  eine  psychologische  Wandlung  im  Menschen.  Und  jetzt 
ist,  sofern  der  satisfaktorische  Reueschmerz  auf  das  höchste 
gesteigert  wurde,  der  Schuldbann  aufgehoben,  der  puniendus 
ein  non  puniendus  geworden.  Es  ist  aber  mehr  geschehen,  so- 
fern die  schuldige  Liebe  dem  Menschen  restituiert  ist.  Es 
bleiben  demselben,  da  die  ewige  Strafe  für  die  Sünde  auf- 
gehoben wurde,  nur  noch  zeitliche  Strafen  zu  tragen  resp.  zu 
leisten,  oder  jene  wurde  in  diese  umgewandelt.  Nun  ist  aber 
der  ganze  Zusammenhang  auf  den  Zweck  gerichtet,  dass  der 
Mensch  der  ewigen  Strafe  ledig  werde,  dass  der  puniendus 
zum  non  puniendus  werde.  Dieser  Zweck  ist  aber  erreicht, 
indem  die  Absolution   die  Kontrition  erzeugt.     Die  eigentliche 


Zusammenfassung  der  scotistischen  Busslehre.  437 

Satisfaktion,  die  der  Sünder  bieten  soll,  ist  der  Bussschmerz 
der  Attritiou  und  Kontrition.  Was  darüber  binausliegt,  d.  h. 
die  zeitlichen  Buss werke  kann  er  ablehnen,  falls  er  die  zeit- 
lichen Strafen  Gottes  zu  tragen  bereit  ist.  Dasselbe  gilt  dann 
auch  von  dem  Ablass,  der  aber  ausserdem  an  sittlicher  Be- 
deutung die  Vergleichung  mit  den  Pönitenzwerken  nicht  aus- 
hält, sodass  diese  ihm  unbedingt  vorzuziehen  sind.  Indem 
also  Duns  den  Bussgedanken  zuhöchst  an  der  ewigen  Strafe 
orientiert,  fallen  die  zeitlichen  Satisfaktionen,  resp.  der  Ablas3 
nicht  notwendig  mit  in  die  Busse  herein.  Die  Satisfaktion, 
durch  die  der  Sünder  aus  der  ewigen  Strafverhaftung  heraus- 
tritt, hat  er  geleistet,  indem  er  ein  attritus  und  contritus  wurde. 
Auf  diesen  inneren  Vorgang  kommt  es  also  vor  allem  an. 

An  dieser  Darstellung  fallen  folgende  Züge  auf:  1)  Die 
strenge  Unterordnung  des  ganzen  Bussvorganges  unter  den 
Gesichtspunkt  der  Satisfaktion.  2)  Die  Bestimmung  der  Busse 
als  Selbstbestrafung.  3)  Die  psychologische  Deutung  der  Vor- 
gänge. 4)  Der  Ausgang  von  einem  Minimum  der  Attrition; 
je  geringer  diese  ist,  desto  einleuchtender  wird  die  Notwendig- 
keit des  Eingreifens  des  Busssakramentes.  5)  Die  Orientierung 
des  Zusammenhanges  an  dem  Gedanken,  von  der  ewigen  Strafe 
frei  zu  werden ;  nicht  nur  Austilgung  der  Sünde,  sondern  auch 
Aufhebung  der  Schuld  ist  das  Absehen.  6)  Die  Eliminierung 
der  Notwendigkeit  der  zeitlichen  Busswerke.  7)  Die  geringe 
Schätzung,  die  dem  Ablass  zu  Teil  wird. 

25.  Um  die  geschichtliche  Bedeutung  dieser  Busslehre  zu 
bestimmen,  müssen  in  einigen  Yv^orten  die  Wendepunkte  in  der 
Geschichte  derselben  berührt  vvxrden.  Die  Busse,  von  der 
schon  Tertullian  und  Cyprian  reden,  ist  ein  domino  offensa 
satisfacere  (TertuU.  de  poenit.  10).  Der  durch  die  Sünde  be- 
leidigte Gott  wird  durch  Reue  und  fromme  Werke  als  die  ihm 
dargebotene  Satisfaktionen  umgestimmt.  Die  Vergebung  haftet 
an  der  Satisfaktion,  die  man  immer  mehr  in  bestimmte  Werke 
setzte  (schon  Cyprian).  Ebenso  hat  auch  das  frühere  Mittel- 
alter im  Prinzip  die  Absolution  an  die  Werksatisfaktion  ge- 
knüpft. Indem  nun  aber  faktisch  die  Absolution  letzterer  vor- 
ausging und  dies,  besonders  durch  die  Kreuzzüge,  geradezu  zur 
Regel  wurde,  haben  Abälard  und  die  ihm  folgenden  Theologen 


438  Kap.  IV:  Die  Lehre  von  den  Sakramenten;  die  Busse. 

die  Vergebung  an  die  Kontrition  geschlossen,  die  Satisfaktion 
dagegen  bloss  auf  die  zeitlichen  Strafen  bezogen.^)  Damit 
schien  aber  die  Notwendigkeit  der  Beichte  und  Absolution  auf- 
gehoben zu  sein.  Nach  dem  Vorgang  des  Hugo  von  St.  Viktor 
wurde  das  eigentliche  Wesen  des  Sakramentes  in  die  Abso- 
lution und  Beichte  verlegt.  So  die  grossen  Scholastiker,  auch 
Uuns  Scotus.  Damit  stellte  sich  aber  sofort  eine  neue  Schwie- 
rigkeit ein.  Das  kirchliche  Interesse  verlangte  die  Betonung 
der  Absolution,  aber  nach  alter  Vorstellung  haftete  die  Ver- 
gebung als  direkte  Gottesthat  eigentlich  an  der  Kontrition.  Der 
Ausweg  aus  diesem  Dilemma  bestand  darin,  dass  faktisch  der 
Begriff  der  Attrition  die  Führung  übernahm,  die  Kontrition  als 
Folge  der  Absolution  gefasst  wurde.  Aber  auch  damit  war 
das  Problem  des  Busssakramentes  nicht  gelösst.  Es  blieb  die 
Frage:  bringt  die  Absolution  die  Gnade  als  Sündenvergebung, 
wozu  dann  die  Satisfaktion  oder  die  Ablässe?  Hier  setzt  die 
ernste  Kritik  des  späteren  Mittelalters  ein.  Nicht  auf  ein 
corpus  contritum,  sondern  auf  ein  cor  contritum  komme  es  an, 
wie  Wessel  (opp.  p.  801)  sagt.  So  sind  im  Lauf  der  geschicht- 
lichen Entwicklung  die  verschiedenen  Elemente  des  Busssakra- 
mentes betont  w^orden  als  Mittel  zur  Sündenvergebung,  zuerst 
die  Satisfaktion,  dann  die  Kontrition,  dann  die  Absolution. 
Aber  jede  derartige  Betonung  eines  der  Elemente  bewirkt  die 
Eliminierung  eines  anderen :  Ist  es  die  Satisfaktion,  wozu  dann 
die  Kontrition  ?  Ist  es  die  Kontrition,  wozu  dann  die  Ab- 
solution? Ist  es  die  Absolution,  wozu  dann  die  Kontrition  und 
die  Satisfaktion  samt  den  Ablässen?  'Das  wird  einen  nicht 
wunder  nehmen,  wenn  man  überlegt,  aus  wie  disparaten  Ele- 
menten das  Busssakrament  komponiert  ist.  Der  evangelische 
Gedanke,  dass  wer  bussfertig  seine  Sünden  bereut,  Vergebung 
hat,  ist  verbunden  mit  der  juristischen  Auffassung  des  Ver- 
hältnisses zu  Gott,  welche  die  Erlegung  einer  Satisfaktion,  die 
Erwerbung  von  merita  fordert,  das  Ganze  in  den  Zusammen- 
hang des  Kirchenrechtes  geschoben. 


1)  Vgl.  zu  diesem  „Umscliwung"  ausser  dem  massgebenden  Werk  von 
Morinus.  Comment.  historicus  de  disciplina  in  administr.  sacram.  poenit. 
Paris  1651,  die  lehrreiche  Untersuchung  von  K.  Müller  in  den  Weizsäcker 
gewidmeten  Abhandlungen  (1892)  S.  289  ff. 


Historische  Bedeutung  der  scotistischen  Busslehre.  439 

Mau  muss  diese  Entwicklung  im  Sinn  l)elialten,  um  die 
Gedankenarbeit  des  Duns  Scotus  voll  zu  würdigen.  Duns 
scheint  zunächst  ganz  auf  den  Boden  der  altkirchlichen  Be- 
trachtungsweise zurückzutreten:  die  gesamte  Busse  ist  eine 
grosse,  Herz,  Mund  und  Werk  umfassende,  Gotte  dargebrachte 
Satisfaktion.  Aber  er  hat  diese  Gedanken  dadurch  modifiziert 
und  verbessert,  dass  er  das  Verhältnis  zu  Gott  nicht  als  privat- 
rechtliches fasst  und  Gott  nicht  als  durch  die  Satisfaktion  be- 
stimmt und  verändert  ansieht.  Was  er  meint,  ist  doch  nur, 
dass  in  Gottes  Reich  die  Ordnung  gilt,  dass  niemand  Vergebung 
seiner  Sünde  erhält,  als  wer  sich  selbst  um  ihretwillen  strafte. 
Das  ist  aber  etwas  anderes  als  die  alte  Deutung  des  satis- 
facere.  Zudem  will  beachtet  sein,  wie  stark  für  Duns  der 
Nachdruck  auf  die  inneren  Vorgänge  des  Reueschmerzes  fällt. 
Man  könnte  meinen,  dass  er  mit  Abälard  geht,  auf  die  Kon- 
trition  kommt  alles  an.  Aber  er  hat  den  Lombarden,  der  dies 
Abälard  und  Augustin  nachsprach,  widerlegt.  Die  Kontrition 
ist  nur  ein  Produkt  der  auf  die  Attrition  gesetzten  Absolution. 
Das  trifft  allerdings  mit  der  gemein  scholastischen  Lehre  zu- 
sammen: um  das  Sakrament  zu  halten,  wird  die  Kontrition 
aus  einer  Voraussetzung  eine  Folge  der  Absolution.  Aber 
doch  fällt  die  Lehre  des  Duns  keineswegs  mit  der  üblichen 
zusammen.  Dort  handelt  es  sich  um  Austilgung  der  Kon- 
kupiszenz,  bei  Duns  zuhöchst  um  Aufhebung  der  Schuld ;  dort 
ist  die  eingegossene  Gnade  eine  konkrete  Grösse,  bei  Duns  ein 
fragwürdiges  Etwas,  das  die  Richtung  des  Menschen  bestimmt, 
ihn  schmückt  und  vor  Gott  wert  macht.  Da  drängt  sich  ge- 
radezu die  rein  psychologische  Deutung  des  Vorganges  auf, 
die  wir  oben  darlegten.  Die  Feierlichkeit  der  Stunde,  die 
Nähe  Gottes,  die  Zusicherung  seiner  Gnade  wandelt  den  An- 
fangsschmerz über  die  Sünde  —  wie  gering  er  auch  war  — 
in  den  tiefen,  vollen,  von  der  Liebe  zu  Gott  getragenen  Reue- 
schmerz, auf  den  es  ankommt.  —  Endlich  aber  ist  auch  nicht 
zu  verkennen,  wie  die  Gedanken  des  Duns  die  satisfactio  operum 
sowie  die  Ablasstheorie  entgründen. 


440         Kap.  IV :  Sakramente ;  die  letzte  Ölung,  die  Ordination. 

5.   Die  letzte  Ölung. 

Die  letzte  Ölung  ist  das  signum  efficax  finalis  remissionis 
venialium,  und  zwar  bezeichnet  in  wirksamer  Weise  die  Salbung 
des  Priesters  mit  dem  vom  Bischof  geweihten  Öl,  indem  zu- 
gleich von  ersterem  bestimmte  Worte  gesprochen  werden,  die 
schliessliche  Heilung  dieser  Sünden  (ex  institutione  divina  effi- 
caciter  significans  curationem  finalem  venialium,  IV  dist.  23 
quaest.  unica  §  3).  Das  Sakrament  setzt  den  Gnadenstand 
voraus  und  ist  nur  an  solchen  zu  vollziehen ,  die  fähig  sind 
seinen  Vollzug  selbst  zu  wollen  (ib.).  Eingesetzt  wurde  es 
von  Christus,  Jakobus  hat  es  aber  promulgiert  (ib.  7).  Gesalbt 
wird  der  Sterbende  aber  an  den  Organa  potentiarum,  mit  denen 
er  häufig  veniale  Sünden  verbrochen  hat,  utpote  Organa  quinque 
sensuum  et  potentiae  motivae  (4). 

6.   Die  Ordination. 

1.  Auch  der  Ordo  wird  von  Duns  nur  kurz  behandelt. 
Er  wirft  die  Frage  nach  dem  Eecht  der  sieben  ordines  auf. 
Die  Definition  Bonaventura's :  sacramentum  ordinis  est  potestas 
spiritualis  ad  aliquem  actum  exequendum  in  ecclesiastica 
hierarchia  ist  offenbar  falsch.  Nach  ihr  wäre  der  Episkopat 
doch  auch  ein  besonderer  ordo,  was  aber  Bonaventura  selbst 
leugnet.  Ausserdem  gäbe  es,  nach  dieser  Definition,  keine  anderen 
dem  Priestertum  untergeordneten  Ordines,  da  diese  keine  wirk- 
liche geistliche  potestas  besitzen.  Zum  dritten  müsste  das 
Priestertum,  da  es  über  zwei  Potestäten,  die  Konfektion  des 
Abendmahls  und  die  Absolution,  verfügt,  zwei  ordines  in  sich 
schliessen  (IV  dist.  24  quaest.  unica  §  2).  Nun  bezeichnet  der 
Ausdruck  ordo  im  staatlichen  Leben  sowohl  die  rechte  Ab- 
stufung der  Gesellschaft  nach  der  Gleichheit  und  Ungleichheit 
der  Personen,  als  den  gradus  praeeminens,  der  den  leitenden 
Personen  zusteht.  Da  nun  auch  die  Kirche  politia  ordinata 
ist,  erscheint  es  angemessen  in  diesem  doppelten  Sinn  von 
ordo  in  ihr  zu  reden,  wobei  die  erste  Bedeutung  die  zweite 
schon  in  sich  schliesst  (§  3).  Ist  der  ordo  also  ein  gradus,  so 
kann  er  an  sich  keine  potestas  sein,  sondern  nur  die  geeignete 
Disposition   zu    einer    solchen    abgeben.      Die    hervorragenden 


Ordo  und  ordinatio ;  ob  der  Episkopat  ein  ordo?  441 

actus  ecclesiae  sind  aber  diejenigen,  die  auf  die  Sakramente 
Bezug  haben.  Also  würde  der  ordo  ein  gradus  disponens  ad 
aliquem  actum  sacramentalem  sein  (4).  Ist  es  das  um  den 
ordo,  so  ist  es  klar,  dass  er  an  sich,  indem  ein  gradus  spiri- 
tualis,  kein  Sakrament  ist,  das  Sakrament  ist  als  ordinatio 
zu  bezeichnen;  und  diese  ist  die  Handlung  und  das  wirksame 
Zeichen,  das  die  Gnade  bezeichnet,  durch  die  der  Ordinierte 
den  Gottesdienst  zu  verrichten  vermag  (ex  institutione  divina 
efficaciter  signans  gratiam  praeeminentem  qua  ordinatus  digne 
aliquod  miuisterium  exequatur,  1.  c.  §  8).  Da  aber  der  höchste 
Akt  der  Kirche  die  Konsekration  ist,  ist  zu  sagen :  supremus 
gradus  sive  nobilissimus  propter  nobilitatem  actus,  ad  quem 
disponit,  est  sacerdotium.  Ist  aber  die  Ordination  Mitteilung 
der  Kraft  sich  am  Gottesdienst  zu  bethätigen,  so  wird  die 
Ordination  bei  allen  sieben  ordines  irgend  eine  Beziehung  zu 
der  obersten  gottesdienstlichen  Bethätigung  haben.  Der  erste 
Grad  befähigt  also  zur  Konsekration,  der  zw^eite  (Diakonat) 
zur  Austeilung  Avenigstens  des  Blutes,  das  Subdiakonat  zur 
Darreichung  materiae  eucharistiae  consecrandae.  ^)  Zur  ge- 
hörigen Stimmung  der  Gemeinde  auf  den  Empfang  der  Eucha- 
ristie erweisen  sich  die  übrigen  Amter  als  dienlich,  indem  der 
Akoluth  die  Devotion  durch  Anzünden  der  Lichter  fördert, 
der  Lektor  die  Erkenntnis  mehrt,  während  der  Ostiarius 
die  Unwürdigen,  der  Exorcist  aber  die  Dämonen  zurückhält 
(1.  c.  §  7). 

2.  Hier  ist  nun  eine  viel  behandelte  Streitfrage  zu  er- 
wähnen, ob  nämlich  der  Episkopat  als  besonderer  ordo  anzu- 
sehen sei?  Die  Konsequenz  der  Entwicklung  führte  gewiss  zu 
diesem  Resultat ;  dem  entsprechend  haben  die  Kanonisten  auch 
so  gelehrt.  Duns  führt  die  Gründe  für  und  wider  an.  Der 
Episkopat  ist  ein  besonderer  ordo,  weil  ihm  besondere  Sakra- 
mente vorbehalten  sind  (1.  c.  §  4).  Dies  kann  behauptet 
werden,  unbeschadet  der  Anerkennung  des  Priestertunis  als 
des  höchsten  Amtes,  indem  der  Priester  zwar  zum  höchsten 
Sakrament,    der   Bischof  aber   zu   der  Gesamtheit  der  Sakra- 


^)  Hierin,  und  nicht  in  Verlesung  des  Evangeliums  und  der  Epistel, 
besteht  sonach  der  proprius  actus  des  Diakonus  und  des  Subdiakonus. 


442      Kap.  IV:  Die  Lehre  von  den  Sakramenten;  die  Ordination. 

mente  Beziehung  hat.  In  den  Reportata  (lY  dist.  24  quaest.  1,  9) 
gab  Diins  der  Sache  die  Wendung,  dass  hoher  als  das  con- 
ficerc  stehe  das  posse  constituer(3  aliquem  in  illa  eminentia 
cui  competit  talis  actus.  Er  folgert  daraus,  dass  der  Epis- 
kopat der  achte  ordo  sei,  der  die  Aufgabe  habe  die  übrigen 
ordines  zu  verleihen.  Auch  in  dem  Oxoniense  scheint  Duns 
die  Ansicht  zu  vertreten,  dass  der  Episkopat  ordo  sei,  aber 
Deutliches  bietet  er  nicht.  Gegen  Thomas,  der  gegen  jene 
These  ist,  wird  bemerkt,  dass  dann  auch  nicht  darüber  ge- 
stritten werden  könne,  ob  der  Papst  Bischöfe  absetzen  könne ; 
denn  gibt  es  keinen  bischöflichen  ordo,  so  kann  der  Papst  als 
der  Inhaber  der  obersten  Jurisdiktion  die  bischöfliche  wie 
jede  andere  Jurisdiktion  aufheben  (§  6).  Auch  hier  war 
Thomas  der  konsequentere  Vertreter  des  hierarchischen  Ge- 
dankens, der  Episkopat  als  ordo  bildet  ein  mächtigeres  Boll- 
werk gegen  die  papalistischen  Ideen,  die  bloss  jurisdiktioneile 
Bedeutung  des  Episkopates  fügt  sich  jenen  Tendenzen. 

3.  Duns  schliesst  seine  Erörterungen  über  dies  Sakrament 
mit  kirchenrechtlichen  Erwägungen  betreffs  der  Frage,  ob  eine 
poena  canonica  die  Erteilung  eines  ordo  an  jemand,  bezw.  die 
Annahme  des  ordo  durch  denselben  ausschliesse.  Ein  kano- 
nische Strafe  ist  eine  von  den  Canones  ausgesprochene  oder  in 
Gemässheit  der  Grundsätze  derselben  verhängte  Strafe,  die 
darin  besteht,  dass  sie  den  Betreffenden  ausschliesst  von 
einem  kirchlichen  Grad,  der  ihm  an  sich  zusteht.  Es  sind 
sieben  oder  sechs :  ^)  Depositio  d.  h.  totalis  amotio  a  statu 
clericali,  verbunden  mit  der  Degradatio,  die  sich  aber  auch 
nur  auf  einen  determinatus  gradus  beziehen  kann.  Durch  die 
Absetzung  wird  allerdings  die  licentia  exercendi  actum  cuius- 
cunque  ordinis  samt  den  besonderen  Privilegien  (geistliche 
Gerichtsbarkeit)  entzogen,  nicht  aber  der  Charakter  und  die 
Fähigkeit  zu  jener  Thätigkeit.  Verhängt  wird  sie  wegen  haeresis, 
Schisma,  revelatio  confessionis ;  nur  der  Papst  vermag  sie  auf- 
zuheben (1.  c.  quaest.  1,  4).  Ferner  die  Infamia,  d.  h.  publice 
notatus  de  crimine.    Für  das  bürgerliche  Leben  ist  diese  Strafe 


^)  Zuerst  (IV  dist.  25  quaest.  1.  3)   zählt  Duns  sieben,   später  sechs 
(ib.  §§  13.  15),  indem  die  zwei  ersten  zusammengehören. 


Kanonische  Hindernisse  des  Ordo.  443 

noch  schwerer  als  die  Entsetzung,  weil  die  Person  verächtlich 
geworden  ist  und  bleibt,  auch  wenn  sie  Busse  gethan  hat.  Es 
folgt  die  Irregularitas :  et  ista  est  inhabilitas  ad  susceptionem 
et  executionem  actuum  ordinum.  Dieselbe  haftet  an  Simonie, 
an  der  Erschleichung  des  ordo,  ^)  dem  Dienst  in  einem  nicht 
empfangenen  ordo,  der  Nichteinhaltung  der  Kirchenstrafen 
(ib.  §  7  f.).  Wie  diese  Vergehen  die  Irregularität  zur  Folge 
haben,  so  auch  etliche  Geschicke,  die  nicht  persönliche  Ver- 
gehen darstellen,  so  der  Sklavenstand  oder  die  illegitime 
Geburt,  da  so  Geborene  praesumuntur  imitatores  paternae 
incontinentiae  und  male  educati;  sowie  enormis  mutilatio  vel 
infirmitas ,  Todschlag  in  der  Notwehr  etc.  Bezüglich  dieser 
werde  aber  leicht  Dispens  erteilt  (8.  9).  —  Ferner  kommt  als 
kanonische  Strafe  in  Betracht  die  Excommunicatio  (11),  das 
Interdictum:  arctatio  a  quibusdam  actibus  ecclesiasticis  exer- 
cendis  vel  ab  assistendo  quibusdam  talibus.  Aber  in  der  Regel 
haftet  das  Interdikt  an  bestimmten  Orten  (13).  Schliesslich 
die  Suspensio,  quae  est  prohibitio  ab  aliquo  alias  conveniente, 
et  hoc  ad  tempus  (13). 

Um  nun  auf  die  Frage,  von  der  Ausgang  genommen 
wurde,  zurückzukommen,  ist  zu  sagen,  dass  die  fünf  zuletzt 
genannten  kanonischen  Strafen  de  iure  die  Kollation  oder 
Susception  der  ordines  aufheben,  da  die  Kirche  es  ist,  die 
ihre  Diener  einsetzt.  De  facto  aber  können  dieselben  die 
Ordination  wirksam  erteilen  und  empfangen,  da  keine  Bedingung 
zu  diesem  sakramentalen  Handeln  ihnen  verloren  gegangen  ist. 
Ob  aber  auch  bei  der  Degradation,  zumal  wenn  sie  an  einem 
Bischof  vollzogen  wurde,  die  Fähigkeit  zu  ordinieren  bleibt, 
das  sei  fraglich  (§  14).  Die  Antwort  hängt  damit  zusammen, 
ob  man  den  Episkopat  für  einen  ordo  ansieht  oder  nicht 
(s.  oben).  Es  ist  klar,  dass  im  ersteren  Fall  jene  Fähigkeit 
bleibt,  im  letzteren  aufhört. 

Kindern  und  Weibern  müssen  die  ordines  versagt  bleiben 
(ib.  quaest.  2,  3).     Die  Kirche  hätte  das  weibliche  Geschlecht 


^)  Bezüg-lich  des  furtum  in  ordine  wird  unterschieden :  aut  prohibetur 
per  excommunicationem,  ne  quis  accedat  nisi  de  illo  episcopatu  et 
prius  legitime  examinatus  et  receptus,  aut  non  est  taHs  excom- 
municatio vel  prohibitio  (ib.  8). 


444  Kap.  IV:  Die  Lehre  von  den  Sakramenten;  die   Ehe. 

sicher  nicht  von  den  ordines  ausgeschlossen ,  wäre  das  doch 
eine  grosse  Ungerechtigkeit  wie  gegen  das  ganze  Geschlecht, 
so  auch  die  einzelnen,  wenn  die  lex  divina  es  nicht  geböte  (4). 

7.  Die  Ehe. 

1.  Schliesslich  behandelt  Duns  das  Ehesakrament. 
Nachdem  er  dargelegt  hat,  dass  die  Ehe  als  unlösliche  Ehe 
und  durch  den  freiwillig  geschlossenen  Vertrag  der  gegenseitigen 
Überlassung  der  Leiber  zu  einer  sittlichen  Gemeinschaft  wird 
(wovon  weiter  unten  gehandelt  werden  soll),  zeigt  er,  dass  es 
angemessen  ist,  wenn  Gott  zur  Erfüllung  der  übernommenen 
schweren  Pflichten  Gnade  gewähre  (IV  dist.  26  quaest.  unica 
§  11).  Diese  aber  gibt  Gott  durch  ein  wirksames  sinnliches 
Zeichen  oder  ein  Sakrament.  Hieraus  ergibt  sich  eine  Anzahl 
dogmatischer  Fragen. 

2.  Zunächst:  von  wem  und  wo  wurde  dies  Sakrament  ein- 
gesetzt? Man  kann  antworten  im  Paradiese  nach  Gen.  1,  28. 
Allein  dagegen  spricht,  dass  alle  Sakramente  im  Hinblick  auf 
das  Leiden  Christi  eingesetzt  sind,  das  kann  von  jener  noch 
im  Stande  der  Unschuld  geschehenen  Einsetzung  aber  nicht 
gesagt  werden.  Auch  Matth.  19,  4  ff.  und  1.  Kor.  7  bieten  keinen 
Bericht  einer  Einsetzung  des  Sakramentes.  Daher  könnte  man 
wohl  das  Sacramentum  magnum  (Ephes.  5,  32)  ganz  allgemein 
pro  signo  sacrae  rei  fassen,  worauf  der  Zusammenhang  der 
Stelle  führe,  da  die  Ehe  doch  nicht  ein  signum  efficax  be- 
züglich der  Verbindung  der  Kirche  mit  Christo  sein  kann 
(ib.  §  12).  Da  aber,  fährt  Duns  fort,  die  Kirche  die  Ehe  zu 
den  sieben  Sakramenten  rechnet:  non  est  aliter  sentiendum 
quam  sentit  ecclesia  romana.  Dann  muss  aber  auch  ange- 
nommen werden,  dass  Christus  dies  Sakrament  eingesetzt  hat 
(§  13).  Christus  hat  also  Matth.  19  die  Ehe  als  solche  nicht 
eingesetzt,  wohl  aber  sie  als  Sakrament  eingesetzt;  und  zwar 
mit  den  Worten:  „was  Gott  zusammengefügt  hat.  soll  der 
Mensch  nicht  scheiden".  Hienach  werde  der  menschliche  Kon- 
trakt begleitet  von  der  gnädigen  Verbindung  durch  Gott.  Die 
Form  ist  dann,  wie  bei  allen  Sakramenten,  ein  sinnliches 
Zeichen,  das  nach  Gottes  Willen  ein  wirksames  ist.  Aber  auch 
so  betrachtet,  bleibt  die  Sache  zweifelhaft.     Mau  kann  nämlich 


Einsetzung  der  Ehe,  sakramentale  Wirkung.  445 

Dicht  sagen,  dass  Gott  bestimmte  Worte  zum  Zeichen  eingesetzt 
hat  (etwa  :  accipio  te  in  meam  vel  in  meum),  denn  auch  ohne 
diese  Worte  ist  Ehe.  Ebensowenig  können  überhaupt  irgend- 
welche Worte  als  Zeichen  dienen,  denn  auch  Stumme  können 
eine  christliche  Ehe  scliliessen.  Also  kann  nur  gesagt  werden, 
dass  in  lege  evangelica  jede  Ehe,  die  nach  menschlicher  Ord- 
nung durch  irgend  ein  Zeichen  abgeschlossen  wird,  Sakrament 
ist,  indem  jenes  Zeichen  das  sakramentale  signum  efficax  ist 
(§  14).  Da  nun  die  Ehe  geschlossen  werden  kann  auch  von 
den  Nupturienten  selbst  oder  ihren  Eltern,  und  da  jede  mensch- 
liche Form  des  Eheschlusses  —  nach  Obigem  —  der  Träger 
der  sakramentalen  Gnade  ist,  so  muss  gesagt  werden,  jeder, 
der  im.  stände  ist  minister  in  contractu  matrimonii  zu  sein, 
ist  auch  minister  huius  sacramenti  (§  15). 

Die  Wirkung  dieses  Sakramentes  ist  aber  die  Gnaden- 
mitteilung, die  eintritt,  sofern  die  Nupturienten  frei  sind  vom 
obex  der  Todsünde,  bezw.  für  diese  Busse  gethan  haben.  Im 
Besonderen  ist  die  Wirkung  gratiosa  coniunctio  animarum  (ib.). 

3.  Hienach  w^äre  also  jede  geordnete  Eheschliessung  inner- 
halb der  Christenheit,  sie  sei  in  noch  so  privaten  oder  auch 
„zivilen"  Formen  vollzogen,  eo  ipso  auch  Sakrament.  So  hat 
Duns  gelehrt,  erst  nachträglich  schränkt  er  diesen  freisinnigen 
Gedanken  ein.  Sollte  man  nämlich  für  das  Sakrament  ein 
bestimmtes  Zeichen  und  besondere  Diener  für  notwendig  halten, 
so  müsste  man  sagen,  dass  nicht  jeder  christliche  Eheschluss 
Sakrament  ist,  dass  aber  jeder  Gnade  bringe,  non  tarnen 
tantam  gratiam  quantam  perciperent  cum  sacramento,  maxime 
si  impossibilitas  non  excuset  (ib.).  Lässt  man  aber  die  Ge- 
danken des  Duns  in  ihrer  Konsequenz  auf  sich  wirken,  so  ist 
deutlich,  dass  er  eigentlich  das  Ehesakrament  aufgehoben  hat. 
Die  Ehe  ist  Produkt  einer  rein  menschlichen  Abmachung,  die 
Gott  mit  seiner  Gnade  begleitet.  Nur  der  kirchliche  Positi- 
vismus bewirkt,  dass  Duns  sie  doch  als  Sakrament  gelten 
lassen  will.  Über  die  weiteren  zum  Teil  sehr  eingehenden 
Erörterungen  des  Duns  über  die  Eheschliessung  und  die  Ehe- 
hindernisse werden  wir  besser  weiter  unten  bei  Besprechung 
der  Ethik  des  Duns  referieren  können. 


Fünftes  Kapitel. 

Die  jenseitige  Vollendung  und  die  diesseitige  Vollkommen- 
heit der  Christenheit. 


I.   Die  Yollendung. 

1.    Die  Auferstehung. 

1.  Wir  haben  nun  weiter  über  die  eschatologischen 
Gedanken  des  Duns,  die  er  im  weiteren  Verlauf  des  4.  Buches 
dargelegt  hat,  zu  berichten.  Indem  die  Eschatologie  die  höchsten 
Ideale  wie  die  tiefste  Depravation,  das  Beste  wie  das  Schlimmste 
des  Lebens,  zum  Ausdruck  bringt,  lässt  sie  einen  tiefen  Blick 
in  das  religiöse  Empfinden  eines  Zeitalters  thun.  Es  ist  daher 
methodisch  richtig,  die  Eschatologie  eines  Dogmatikers  nicht 
nur  obenhin  zu  berühreo,  sondern  eingehend  zu  studieren.  In 
wie  lehrreicher  Weise  stechen  doch  die  ,, heilsge  schiebt - 
liehen"  Erwägungen  in  der  Eschatologie  etwa  unseres  Jahr- 
hunderts ab  von  der  Konzentrierung  des  gesamten  Interesses 
auf  die  Schilderungen  der  persönlichen  Seligkeit  und  Unselig- 
keit  im  Mittelalter.  Wir  werden  dem  auch  bei  Duns  begegnen. 
Daneben  aber  berührt  auf  diesem  dunkeln  Boden  eigentümlich 
der  ungeheure  dialektische  Apparat,  der  in  Bewegung  gesetzt 
wird.  Doch  man  begreift  das,  wenn  man  erwägt,  dass  je  un- 
bekannter und  je  weniger  durch  positive  Grenzen  eingeschränkt 
ein  Gebiet  ist,  desto  kecker  die  dialektische  Kunst  ihre  Würfel 
darüber  rollen  lassen  kann. 

2.  Wir  handeln  zunächst  von   der  allgemeinen  Auf- 
erstehung.    Gegen  die  Möglichkeit  einer  solchen  kann  nichts 


Die  Auferstehung  nicht  beweisbar.  447 

eingewandt  werden,  da  Gott  wie  das  creari,  so  auch  post 
annihilationem  ein  recreari  eintreten  lassen  kann ,  ohne  dass 
einer  anerkannten  Wahrheit  ein  Widerspruch  daraus  erwüclise 
(IV  dist.  43  quaest.  1,  3).  Sonst  würde  es  auch  Gott  unmög- 
lich sein  müssen,  tote  Tiere  wieder  lebendig  zu  machen,  was 
doch  Heihge  gethan  haben  (ib.  5).  Weder  von  selten  Gottes, 
noch  von  selten  der  menschlichen  Natur  ist  solch  ein  Wider- 
spruch zu  erbringen  (10).  Allein  ein  rein  rationaler  Beweis 
lässt  sich  trotzdem  nicht  führen  für  die  Auferstehung.  Ver- 
weisungen auf  das  desiderium  naturale  genügen  hier  ebenso 
wenig,  als  die  allgemeinen  Erwägungen  der  Notwendigkeit  das 
Ziel  zu  erreichen  etc.  (ib.  quaest.  2,  1.  29).  Der  rationale 
Beweis  wäre  nur  zu  führen,  wenn  drei  Voraussetzungen  der 
natürlichen  Vernunft  durchaus  festständen,  nämlich  dass  die 
intellektuelle  Seele  die  spezifische  Form  des  Menschen  ist,  dass 
sie  unzerstörbar  ist  und  dass  sie  als  die  spezifische  Form  des 
Menschen  nicht  dauernd  ausserhalb  des  Körpers  bestehen  könne 
(§  4).  Die  erste  Voraussetzung  ist  freilich  allgemein  anerkannt 
und  lässt  sich  zudem  leicht  beweisen  aus  der  Thatsache  des 
Denkens.  Da  diese  Funktion  sich  deutlich  von  der  sinnlichen 
Wahrnehmung  unterscheidet  und  unsinnlich  ist,  so  muss  sie 
ein  nichtsinnliches  Subjekt  haben  und  das  ist  die  Seele  (ib.  §  12). 
—  Dagegen  können  die  Gründe  des  Aristoteles  für  die  Un- 
sterblichkeit der  Seele  nicht  für  zwingend  anerkannt  (§16  ff.), 
und  dass  die  Seele  des  Leibes  bedarf,  nicht  einleuchtend  ge- 
macht werden  (§  24).  So  wenig  der  Beweis  mit  diesen  Mitteln 
sich  führen  lässt,  so  wenig  genügt  der  Nachweis  aus  dem  Gegen- 
satz von  Handeln  und  Geschick,  der  einen  Ausgleich  fordere, 
da  der  hiebei  leitende  Gedanke  von  einem  gerechten  Lenker 
der  Welt  in  der  natürlichen  Vernunft  nicht  einfach  voraus- 
gesetzt werden  darf  (§  27).  Daher  kann  die  Auferstehung  aus 
dem  lumen  naturale  weder  a  priori  noch  a  posteriori  bewiesen 
werden :  ergo  hoc  tanquam  omnino  certum  non  tenetur  nisi  per 
fidem  (§  28). 

3.  Die  Wiederherstellung  des  Leibes  bei  der  Auferstehung 
ist  nicht  von  der  Natur  selbst  gewirkt.  Nicht  durch  eine 
natürliche  Entwicklung  kommt  sie  zu  stände  und  nicht  richtet 
sie  sich  auf  eine  solche,  sondern  es  ist  eine  plötzliche  und  mit 


44.3        Kap.  V:  Die  jenseitige  Vollenduüg  etc.  der  Christenheit. 

einem  Mal  abgeschlossene  Wiederherstellung  (ib.  quaest.  3,  20). 
Ebenso  wird  auch  Gott  die  Seele  mit  diesem  Leibe  vereinigen, 
wie  ja  er  auch  bei  der  Generation  die  Seele  erschafft  und  dem 
Leibe  eingiesst.  ^)  Ist  auch  bei  derAViederbelebung  die  Seele 
die  causa  lormalis,  so  ist  doch  von  dieser  die  causa  efficiens 
(Gott)  zu  unterscheiden  (§  21).  Da  nun  Gott  die  wirkende 
Ursache  bei  der  Wiederbelebung  ist,  so  erscheint  es  ange- 
messen, diese  als  in  instanti  geschehend  vorzustellen.  Die 
Wiederherstellung  des  Leibes,  wie  die  formatio  oder  Beseelung 
desselben  geschehen  also  in  einem  Moment  (ib.  quaest.  5.  4.  7) 
und  zwar  so,  dass  beides  zeitlich  zusammenfällt,  obgleich  eine 
doppelte  mutatio  von  Gott  gewirkt  wird  (§  8);  dagegen  soll 
die  Sammlung  der  zerstreuten  Leibespartikeln  allmählich  und 
in  der  Zeit,  weil  von  zeitlichen  Engeln  ausgeführt,  geschehen 
(§  3).  Weiter  behauptet  Duns,  dass  die  Toten  nicht  alle  gleich- 
zeitig erstehen  werden.  Da  nämlich  Christus  und  Maria  ge- 
storben sind ,'  ist  anzunehmen ,  dass  auch  die  das  Ende  er- 
lebenden Menschen  sterben  werden.  Dann  ist  es  aber  walir- 
scheinlich,  dass  die  übrigen  Toten  vor  ihnen  erstehen  (ib.  10.  3). 
Das  Gericht  wird  sich  kaum  zu  Mitternacht  vollziehen,  da  die 
betr.  Bibelaussagen  bildlich  zu  nehmen  sind,  sondern  zur 
Stunde  der  Auferstehung  oder  des  Gerichtes  vor  Pilatus  oder 
des  Todes  Christi.     Als  Ort  denkt  man  sich  das  Thal  Josaphat 

(§  12). 

4.  Endlich  wird  eine  Untersuchung  über  die  Beschaffenheit 
des  Aufcrstehungsleibes  angestellt,  wobei  eine  Anzahl  physio- 
logischer Erörterungen  mitunterläuft.  Das  Resultat  ist  in 
Kürze  folgendes.  Der  Mensch  wird  in  der  Form  erstehen, 
die  sein  Leib  im  30.  Lebensjahr  hatte  oder  gehabt  hätte 
(IV  dist.  44  quaest.  1,  15).  Dieser  neue  Leib  wird  hergestellt 
aus  den  besten  Bestandteilen  des  einstigen  Leibes,  nämlich  aus 
dem  von  den  Eltern  ererbten  Fleisch,  und  von  den  besten 
Teilen,  die  durch  die  Nahrung  allmählich  dem  Leibe  agge- 
neriert  wurden ;  doch  kommt  hievon  nur  soviel  in  Betracht 
als  nötig  ist,  um  mit  jenem  ersten  Bestandteil  zusammen  die 
angegebene    Quantität    zu    erreichen    (§  16).      Hieraus    ergibt 


^)  Duns  ist  Kreatianer,  wie  auch  die  übrigen  Scholastiker. 


Gericht,  Seligkeit,  Verdammnis.  449 

sich,  dass  der  Auferstehuiigsleib  natürlich  nicht  präzis  identisch 
sein  kann  mit  irgend  einer  Leibesform,  die  der  Mensch  in 
einem  besonderen  Moment  seines  irdischen  Lebens  hatte,  denn 
nur  das  elterliche  Erbe  wird  identisch  sein,  alles  Übrige  ist 
ja  freie  Auslese  aus  vielen  gegebeneu  Elementen  (§  17). 

Soviel  über  die  Auferstehung.  Sie  ist,  wie  gesagt,  Glaubens- 
artikel im  strengsten  Sinn,  weil  durch  vernünftige  Betrachtung 
nicht  zu  erweisen. 

2.  Gericht,  Seligkeit,  Verdammnis. 

1.  Hieran  schliessen  wir  die  Frage,  ob  ein  allgemeines 
Gericht  zu  erwarten  ist?  Unter  diesem  Gericht  ist  zu  ver- 
stehen die  absolute  Bestimmung  bezüglich  von  Lohn  und  Strafe 
nach  Massgabe  des  Verdienstes  (dist.  47  quaest.  1,  4).  ^)  Für 
die  positive  Behauptung  der  Allgemeinheit  dieses  Gerichtes 
lässt  sich  ein  Vernunftbeweis  nicht  erbringen.  Als  Wahrschein- 
Hchkeitsgründe  kann  man  die  Notwendigkeit  einer  Trennung 
der  Guten  und  Bösen,  die  Offenbarung  der  annoch  verborgenen 
Gerechtigkeit  Gottes  über  alle  Menschen,  die  Trennung  der 
beiden  Reiche,  indem  die  einen  zum  Eeich  Gottes  bestimmt 
sind,  diese  also  auch  einmal  offenbar  in  seinen  Besitz  treten 
müssen  (ib.  §  5).  Allein,  abgesehen  von  diesen  Beweisen,  ist 
das  Gericht  positiv  sicher.  —  Dass  das  Gericht  Zeit  ausfülle, 
ist  nicht  erforderlich,  da  Gott  allen  momentan  einflössen  kann 
zusammen  mit  der  Erkenntnis  seiner  Sentenz  die  Einsicht  in 
ihre  Gründe  (§  6  f.).  Dies  Gericht  wird  Christus  ausführen 
nach  der  Schrift,  aber  nicht  in  der  forma  servi  (Thomas) 
sondern  in  der  ihm  dermalen  eignenden  forma  gloriosa 
(IV  dist.  48  quaest.  1,  10).  Doch  kommt  für  Ausübung  des 
Gerichtes  seine  Menschheit  nur  mehr  „kommissarisch"  in  Be- 
tracht; da  dies  Gericht  Allwissenheit  wie  Allmacht  im  Eichter 


^)  Dass  aber  jemand,  der  Lohn  verdient  hat,  darum  um  den  Lohn 
kommen  könnte,  dass  er  im  Augenblick  des  Todes  einen  obex  vorschöbe, 
ist  dadurch  ausgeschlossen,  dass  er,  indem  den  Lohn  auch  das  Nichtvor- 
handensein eines  solchen  jenen  hindernden  Momentes  verdiente,  II  dist.  5 
quaest.  1,  6. 

Seeberg,  Die  Theologie  des  Duns  Scotus.  29 


450        Kap.  V :  Die  jenseitige  VoUendunpf  etc.  der  Christenheit. 

voraussetzt,   wird  er  es  zunächst   nach  seiner  göttlichen  Natur 
ausüben  (ib.  §§  4.  ly) 

2.  Wie  Auferstehung  und  Gericht  den  Bcisen  und  den 
Guten  gemein  ist,  so  kann  auch  für  beide  geraeinsam  die 
Untersuchung  nacli  der  Erkenntnis  der  abgeschiedenen  Seelen 
geführt  werden.  Da  die  Erkenntnis  durch  die  Erfassung  der 
species  intelligibiles  zustande  kommt  und  ein  rein  geistiger  Akt 
ist  (s.  oben  S.  104),  so  ist  Erkenntnis  auch  ohne  Sinnlichkeit 
möglich,  indem  die  geistig  ergriffenen  und  festgehaltenen  Spezies 
dem  Geist  bleiben  können,  ohne  dass  das  Medium  der  Sinnlich- 
keit fortbesteht  (IV  dist.  45  quaest.  1,  3.  4).  Alle  Erinnerung 
versteht  sich  nämlich  nicht  sowohl  als  Erneuerung  der  Ein- 
drücke der  äusseren  Objekte,  denn  als  eine  Vergegenwärtigung 
der  inneren  Akte,  die  wir  in  Bezug  auf  jene  Objekte  vollzogen 
haben.  Hieraus  ergibt  sich  dann  auch,  dass  der  abgeschiedene 
Geist  nicht  nur  in  Bezug  auf  die  einzelnen  Objekte,  sondern 
auch  auf  ihre  Verbindung  Erkenntnis  hat  (1.  c.  quaest.  3,  4  ff. 
7  ff.  20  f.).  Die  Erkenntnis  war  hier  im  Sinn  der  Erinnerung 
genommen.  Nun  fragt  es  sich  aber  weiter,  ob  die  abge- 
schiedenen Seelen  auch  neue  Erkenntnis  zu  erwerben  ver- 
mögen? Thomas  wie  auch  Gottfried  halten  an  sich  eine  Ver- 
mittlung für  nötig  zwischen  dem  geistigen  Bild  und  dem 
äusseren  Sein.  Doch  soll  es  auch  möglich  sein,  dass  der  von 
der  Sinnlichkeit  frei  gewordene  Geist  durch  den  Einfluss 
höherer  Substanzen,  wie  Gottes  oder  der  Engel,  Erkenntnis 
empfange.  Schon  auf  Erden  bahne  sich  dies  in  etwas  an,  wie 
im  Schlafeszustand  oder  im  Excessus  empfangene  Offenbarungen 
das  zeigen  (1.  c.  quaest.  2,  3.  4).  Allein  bei  dieser  Betrachtung 
wird  nach  Duns  der  Würde  des  Geistes  Abbruch  bereitet,  in- 
dem man  ihm  eine  Funktion  abspricht,  die  ihm  zukommt, 
nämlich  Erkenntnis  zu  erwerben.  Man  behandelt  also  den 
Geist  schlechter  als  etwa  einen  Stein.  Dazu  kommt,  dass  man 
unnütz  eine  Vielheit  von  Faktoren  zur  Erklärung  einer  Er- 
scheinung herbeizieht,  was  gegen  eine  Lieblingsregel  des  Duns 
verstösst  (§  5).     Die  Berufung  auf  Schlaf  und  Ekstase  verfängt 


^)  Das  wäre  einer  der  wenigen  Fälle,  in  denen  abendländische  Dog- 
matiker  aus  der  Gottheit  Christi  praktische  religiöse  Folgerungen  ziehen.. 


1 


Die  Erkenntnis  der  Abgeschiedenen.  451 

deshalb  Dicht,  weil  nicht  gezeigt  werden  kann,  dass  die  Tiefe 
des  Schlafes  die  Erkenntnis  fördert;  oder  es  müsste  denn  der 
Epileptiker  fähig  sein  eine  besondere  Fülle  von  Offenbarungen 
zu  empfangen,  wie  Mohammed  gemeint  habe  (10).  Die  Ekstase 
aber  sei  doch  oft  ein  Produkt  des  Wachens  (11). 

Nach  Duns  eigener  Meinung  kann  der  abgeschiedene  Geist 
freilich  neue  Erkenntnisse  erlangen.  In  ihm  haften  nämlich, 
wie  wir  sahen,  eine  Anzahl  von  Begriffen  (durch  die  Er- 
innerung). Indem  er  mit  diesen  operiert,  kann  er  neue  Be- 
griffe und  Einsichten  erwerben  (12).  Wenn  Gott  solche  un- 
mittelbar einflösste,  so  könnten  diese  in  der  Seele  nur  das  un- 
deutliche und  unlebendige  Bild  von  einem  Sein,  nicht  aber  die 
geistige  Anschauung  wirklichen  und  konkreten  Seins  erwecken 
(13);  ebenso  wäre  eine  bekehrende  Einwirkung  im  Limbus 
unter  jener  Voraussetzung  nicht  als  notwendig  zu  verstehen 
(ib.).  Es  ist  aber  das  Resultat  des  Duns  offenbar  mit  einer 
Einschränkung  zu  versehen.  Der  abgeschiedene  Geist  kann, 
nach  Obigem ,  doch  keineswegs  die  Erkenntnis  neuer  Objekte 
erwerben,  diese  könnte  ihm  ja  nur  von  aussen  her  zugeführt 
werden.  ^)  Sein  Vermögen  zu  neuer  Erkenntnis  beschränkt 
sich  also  auf  die  Kombination  der  früher  während  seines 
Erdenlebens  erworbenen  Begriffsbilder.  Diese  Erörterung 
bietet  wieder  Anlass  die  geistige  Sicherheit  des  Duns  zu  be- 
wundern. Der  neue  Gedanke  wird  nicht  durch  irgendwelche 
ad  hoc  erfundenen  Faktoren  gewonnen,  sondern  unter  deutlicher 
Wahrung  der  dem  Denker  feststehenden  erkenntnistheoretischen 
Sätze.  Auch  für  das  Totenreich  wird  keine  Erkenntnis  der 
gegenwärtigen  Welt  preisgegeben.  Soll  es  auf  diesem  Gebiet 
zu  einer  Erkenntnis  kommen,  so  kann  nur  der  Weg  der 
Lebendigen  zu  ihrer  Eruierung  benützt  werden.  Das  ist  eine 
grosse  methodische  Wahrheit,  mag  das  Einzelne  bei  Duns  uns 
noch  so  wunderlich  anmuten. 

3.  Nachdem  wir  so  an  der  Hand  des  Duns  uns  im  all- 
gemeinen  über  Auferstehung   und  Gericht  verständigt  und  so- 


*)  Daher  werden  die  Seligen  die  Gebete  derer,  die  sich  auf  ihre 
Verdienste  berufen,  durch  besondere  Offenbarung  Gottes  kennen  lernen 
(IV  dist.  45  quaest.  4,  4). 

29* 


452        Kap.  V:  Die  jenseitige  Vollendung  etc.  der  Christenheit. 

dann  seine  Meinung  über  die  Seelen  der  Abgeschiedenen  kennen 
gelernt  haben,  wenden  wir  uns  dem  Zustand  der  Verdammten 
und  der  Seligen  zu. 

Die  Verdammten  kommen  in  einen  Strafzustand.  Die 
Strafe  besteht  in  der  empfindbaren  Abwesenheit  eines  Gutes, 
das  der  vernünftigen  Kreatur  als  solcher  zusteht,  und  in  der 
empfindbaren  Anwesenheit  eines  Übels,  das  ihr  nicht  zusteht, 
dem  malum  culpae  und  der  poena  damni  (IV  dist.  46,  quaest. 
4,  4).  Indem  das  Denken  wie  das  Wollen  hiedurch  gebunden 
wird,  ergibt  sich  ein  Zustand  der  Traurigkeit  sowohl  über  diese 
Beschränkung  als  über  ihren  Grund,  d.  h.  die  Sünde.  Das  ist 
die  poena  vermis  (5). 

4.  Hier  müssen  wir  die  interessante  Betrachtung  einschieben, 
die  Duns  über  die  Feuerstrafe  der  Unseligen  anstellt.  Zu- 
nächst wirft  er  die  Frage  auf,  wie  das  Feuer  die  bösen  Geister 
quälen  könne?  Thomas  und  Agidius  meinen,  das  geschehe, 
sofern  die  Geister  es  als  ein  disconveniens  auffassen.  Dagegen 
sagt  Duns,  ist  das  richtig,  so  ist  jedenfalls  der  Ausdruck  dis- 
convenientia  zu  unbestimmt.  Es  kann  aber  auch  als  falsch 
erwiesen  werden,  da  in  dem  Fall  die  Qual  nicht  vom  Feuer, 
sondern  von  einer  verkehrten  Auffassung  desselben  ausginge,  und 
wie  soll  ein  Engel  zu  einer  solchen  kommen?  Heinrich  führt 
die  Qual  zurück  auf  einen  übernatürlichen  Habitus,  vermöge 
welches  sie  die  Feuerqual  empfinden.  Aber  dieser  Habitus 
müsste  entweder  geistig  oder  leiblich  sein;  ist  er  geistig,  so 
nützt  er  nichts,  da  er  zur  Erduldung  von  Wirkungen  des 
Feuers  nicht  mehr  proportioniert  wäre,  als  der  an  sich  seiende 
Zustand  der  Geister;  soll  der  Habitus  aber  leiblich  sein,  so 
spricht  man  etwas  Widersinniges  aus,  etwa  als  wenn  man  von 
einem  weissen  Engel  oder  einem  weisen  Stein  reden  woUte! 
Also  ist  es  auch  hiemit  nichts  (IV  dist.  44  quaest.  2,  3  f.). 
Ein  sinnlicher  Schmerz  kann  also  nicht  die  Wirkung  dieses 
Feuers  sein  (5).  Die  Wirkung  ist  aber  zu  erblicken  in  einer 
Traurigkeit,  die  dadurch  entsteht,  dass  das  Feuer  als  ein 
obiectum  disconveniens  definitiv  zurückhält  und  fesselt  (7). 
Nicht  das  Feuer  als  solches  hemmt  den  Geist,  sondern  Gott, 
der  dies  Feuer  den  Engeln  als  eine  Schranke  und  als  einen 
Bann  zu  empfinden  gibt  (8  f.  12  f.).     Nicht  also   das  Feuer  als 


Die  Feuerstrafe  der  Verdammten.  453 

Feuer  peinigt  die  Geister,  sondern  dass  Gott  ihnen  das  Feuer 
zum  Objekt  ihres  Denkens  gibt  und  dass  er  sie  hiedurch  an 
dies  Objekt  bindet  und  von  anderen  Objekten  abhält. 

Von  hier  aus  ist  dann  der  Frage  nach  der  Bedeutung  des 
Feuers  für  die  verdammten  Menschen  nachzudenken.  Bei  ihnen 
ist,  weil  sie  leiblich  sind,  eine  reale  Wirkung  des  Feuers  vor- 
stellbar. Aber  an  sich  genügte  diese  nicht,  wenn  nicht  eine 
intentionale  Wirkung  Gottes  hinzukäme.  Denn  Feuer  an  und 
für  sich  kann  auch  wärmen,  ohne  zu  schmerzen.  Darauf  kommt 
es  also  an,  wenn  das  Feuer  Strafe  sein  soll,  dass  Gott  es  dazu 
bestimmt.  Und  diese  Bestimmung  genügt,  ohne  dass  das  Feuer 
reale  Schmerzwirkungen  ausübt,  zur  Erregung  der  Traurigkeit 
(1.  c.  quaest.  3,  2  f.).  Und  es  wird  gut  sein,  bei  dieser  geistigen 
Wirkung  des  Feuers  es  sein  Bewenden  haben  zu  lassen.  Soll 
man  überhaupt  so  wenig  Wunder  als  möglich  setzen,  so  wird 
diese  Regel  erst  recht  bezüglich  der  Verdammten  gelten.  Man 
kann  ja  eine  immutatio  realis  durch  das  Feuer  an  ihnen  an- 
nehmen, dann  müsste  diese  Wirkung  aber  so  gedacht  sein,  dass 
sie  nicht  zu  ihrem  vollen  Effekt  gelangt,  sodass  also  die  Leiber 
nicht  verbrennen.  Da  nun  aber  dies  wunderbar  wäre,  so  wird 
man  eine  passio  realis  als  unsicher,  dagegen  eine  passio  inten- 
tionalis  als  sicher  bezeichnen  müssen  (1.  c.  4.  7.  8).  Mit  anderen 
Worten:  die  Feuer  strafe  ist  so  zu  denken,  dass  die  Ver- 
dammten zum  Gegenstand  ihrer  Gedanken  das 
Feuer  bekommen,  sodass  dies  Feuer  und  der  Ge- 
danke an  dasselbe  ihr  Denken  bannt  und  be- 
schränkt. Wenn  aber  der  Mensch  sich  von  Feuer  umgeben 
denkt,  und  dies  Feuer  daher  zum  Objekt  seines  Denkens  und 
zum  Anlass  der  Empfindung  der  Detention  wird,  so  ist  damit 
über  den  Menschen  ein  naturwidriger,  seinen  Geist  degradie- 
render Zustand  verhängt.  So  wird  also  das  Feuer  zum  Mittel, 
durch  welches  Gott  Gericht  übt,  indem  er  den  Menschen  in 
einen  naturwidrigen  Zustand  versetzt.  Wie  wunderlich  werden 
hier  die  uralten  biblischen  Bilder  vom  Gerichtsfeuer  misdeutet, 
aber  wie  geistreich  ist  doch  die  Umdeutung!  Das  heisst  ver- 
dammt sein :  Feuer  sehen,  Feuer  denken  und  sich  durch  Feuer 
von  der  Welt  des  Lebens  und  den  Gedanken  derselben  getrennt 
fühlen  und  dadurch  in  ein  Gefängnis  gebannt  sein,  das  Allein- 


454         Kap.  V:  Die  jenseitige  Vollendung  etc.  der  Christenheit. 

sein  mit  dem  Feuer  im  Geist,  dem  Feuer  als  Schranke  des 
Daseins  (cf.  IV  dist.  46  quaest.  4,  5.  6).  Freilich  kann  mau 
zweifeln,  ob  Duns  mit  diesen  Gedanken  sich  allzuweit  von  den 
Gedanken  des  Thomas  und  Agidius  .  entfernt,  denn  das  reale 
Feuer  spielt  doch  auch  bei  ihm  keine  Rolle,  die  Deutung  und 
der  Gedanke  sind  alles! 

So  ist  also  der  Verdammte  gebunden,  gebunden  durch  den 
Schmerz  über  die  nicht  getilgte  und  nicht  vergebene  Schuld 
und  durch  das  ihn  vom  Leben  abtrennende  Feuer.  Alles  hängt 
an  dem  Fortbestand  der  Schuld.  Daher  ist  Gott  nicht  die 
positive  Ursache  des  Zustandes  der  Verdammten,  denn  er  will 
den  Fortbestand  der  Schuld  so  wenig  als  ihre  Entstehung. 
Aber  er  ist  die  negative  Ursache,  sofern  er  die  Schuld  nicht 
vergibt  und  die  Seligkeit  nicht  gibt.  Dieser  Zustand  der  De- 
tention  geht  auf  Gott  zurück  und  ist  daher  gut  und  gerecht. 
Gott  verhängt  es  über  den  Menschen,  dass  er  seine  Schuld  als 
unersetzte  und  unvergebene  fühlt  und  dass  er  das  Feuer  als 
Druck  auf  sein  Denken  und  Wollen  in  Traurigkeit  empfindet 
(IV  dist.  46  quaest.  4,  6). 

5.  Dass  aber  die  Verhängung  dieser  Strafe  gerecht  ist, 
steht  an  sich  fest,  weil  Gott  sie  eben  verfügt  und  sein  Thun 
als  solches  gerecht  ist.  Aber  wir  können  das  auch  a  poste- 
riori verstehen.  Es  ist  gerecht,  dass  der  Sünder,  der  die  Busse 
nicht  suchte  und  sich  nicht  meritorie  de  congruo  auf  den 
Gnadenempfang  disponierte,  der  dem  Bösen  unausgesetzt  nach- 
strebte, ihm  oder  dem  Strafzustand  schliesslich  verfällt.  "Wenn 
jemand,  erläutert  Duns,  sich  mutwillig  in  einen  Brunnen  stürzt, 
so  hat  er  nicht  das  Recht  von  dem  anderen,  gegen  den  er  da- 
durch, dass  er  sich  hinabstürzte,  Hass  und  Verachtung  bezeugt 
hat,  Hilfe  zu  erwarten  (1.  c.  7).  Ebenso  ist  es  gerecht,  dass 
die  Bösen  in  ihrer  Bewegung  beschränkt  werden,  die  sie  doch 
nur  zu  Bösem  brauchen  würden,  sowie  dass  sie  durch  die 
Feuerstrafe  an  ihrem  geistigen  Leben,  dass  sie  gottwidrig  ge- 
braucht haben,  gehemmt  werden  (§  9).  Wenn  sonach  die  Ge- 
rechtigkeit Gottes  in  dem  Vollzug  der  Strafe  offenbar  wird, 
so  ist  es  doch  fraglich,  ob  auch  die  Barmherzigkeit  dabei  kon- 
kurriert, etwa  indem  Gott  die  Verdammten  nicht  so  hart,  wie 
sie   es  verdienen,   straft  (Thomas).     Das   widerspricht   an   sich 


Die  Gerechtigkeit  ewiger  Strafen.  455 

nicht  der  Gerechtigkeit  (ib.  §  14.  17),  obgleich  allerdings  es 
schwer  ist,  eine  scharfe  Grenzlinie  zu  finden.  Kann  ein  Teil 
der  Schuld  unbestraft  bleiben,  unbeschadet  der  Gerechtigkeit, 
warum  nicht  auch  ein  anderer  Teil  und  schliesslich  die  ganze 
Schuld?  Responsionem  quaere!  Doch  fügt  Duns  selbst  den 
Versuch  einer  Antwort  hinzu.  Es  wäre  denkbar,  dass  Gott 
sich  im  Spielraum  der  gerechten  Strafe  haltend,  dieselbe  nur 
um  einige  Grade  mässigte,  oder  auch  dass  Gottes  Thun,  so  wie 
es  ist,  gerecht  ist  (18). 

6.  Ewig  ist  aber  diese  Strafe  entweder  deshalb,  weil  der 
Sünder  ewig  sündigen  würde,  wenn  er  solange  lebte  (Thomas), 
oder  —  was  Duns  mehr  zu  gefallen  scheint  —  weil  die  Person, 
die  sündigt,  ihrer  Art  nach  ewig  besteht  (20),  oder,  wie  er 
anderwärts  sagt,  weil  die  Sünde  fortdauert.  Solange  das  Böse 
bleibe,  bleibe  auch  seine  Vergeltung  (IV  dist.  50  quaest.  6,  16). 
An  sich  freilich  könnte  Gott  auch  von  der  Ewigkeit  der  Strafe 
Abstand  nehmen,  denn  die  Strafe  korrespondiert  der  Schuld 
vermöge  ihrer  Qualität,  nicht  ihrer  Quantität.  Dens  posset 
infligere  poenam  aliquam  quae,  si  tantum  per  momentum 
duraret,  sufficienter  tameu  puniret  peccatum ;  nee  forte  duratio 
poenae  cadit  sub  demerito,  sicut  nee  duratio  beatitudinis  sub 
merito,  sed  ratione  liberalitatis  (ib.).  Also  die  Ewigkeit  der 
Seligkeit  wie  der  Verdammnis  kann  nicht  als  notwendig  erkannt 
werden.  Kann  aber  erstere  auf  die  „Liberalität"  Gottes  be- 
gründet werden,  so  schwebt  letztere  eigentlich  in  der  Luft. 
Wie,  wenn  auch  hier  die  göttliche  Gerechtigkeit  ihre  Liberalität 
walten  Hesse  und  das  Mögliche,  dass  die  Strafe  nur  zeitweilig 
währt,  wirklich  würde? 

7.  Wie  die  Seligkeit  Stufen  haben  wird,  so  auch  der  Zu- 
stand der  Verdammten,  und  zwar  ist  diese  Ungleichheit  be- 
gründet auf  die  Ungleichheit  der  Schuld;  wer  schwerer  oder 
mehr  sündigte,  beraubte  sich  dadurch  eines  grösseren  Gutes,  als 
wer  eine  geringere  Sünde  thut,  dieser  ist  magis  nolens  peccatum 
suum.  So  wird  dann  auch  der  Wurm  des  Gewissens  und  die 
Traurigkeit  verschieden  stark  sein  (dist.  50  quaest.  6,  12.  14). 
Hinsichtlich  der  Feuerstrafe  hängt  die  Gleichheit  oder  Un- 
gleichheit davon  ab,  ob  die  Verdammten  an  einem  Ort  sind: 
dann   ist   die    Gleichheit    wahrscheinlich,    da   die   Ungleichheit 


456         Kap.  V:  Die  jenseitige  Vollendung  etc.  der  Christenheit. 

nur  durch  das  Wunder  verschiedener  Affliktion  seitens  des 
Dämlichen  Feuers  möglich  wäre,  oder  ob  sie  beweglich  sind: 
dann  ist  je  nach  ihrem  Ort  leicht  ein  verschiedener  Grad  der 
Affliktion  durch  das  Feuer  denkbar  (ib.  15). 

Schliesslich  noch  die  Bemerkung,  dass  die  Verdammten 
den  Wunsch  haben  werden,  ihr  qualvolles  Sein  mit  dem  Nicht- 
sein zu  vertauschen,  da  dies  ja  an  sich  kein  Übel  ist,  wie  die 
Qual  (dist.  50  quaest.  2,  14).  Da  aber  dies  Wollen  Gottes 
Willen,  der  ihnen  Sein  gibt,  widerspricht,  ist  es  sündhaft.  Das 
Wollen  des  Nichtseins  ist  nämlich  nur  unter  der  Bedingung 
berechtigt,  dass  wir  darüber  gewiss  wurden,  dass  Gott  es  so 
wiU  (ib.  8). 

8.  Die  Lehre  von  dem  Zustand  der  Seligkeit  eröffnet 
Duns  mit  der  Frage,  ob  sie  eine  operatio  sei?  Diese  Frage 
wird  bejaht.  Unter  den  Objekten,  welche  die  geistige  Natur 
erstrebt,  befindet  sich  das  Unendliche  als  das  schlechthin 
höchste,  nach  dem  jede  geistige  Natur  um  seiner  selbst  willen, 
strebt  (IV  dist.  49  quaest.  1,  19.  20);  und  sie  ist  erst  dann 
vollendet,  wenn  sie  dies  Höchste  erreicht  hat  (22).  Nun  kann 
aber  diese  Erreichung  nur  in  der  Weise  gedacht  werden,  dass 
die  Seele  sich  mit  jenem  beseligenden  Objekt  verbindet.  Das 
heisst  die  Seligkeit  besteht  in  einer  geistigen  ope- 
ratio (27). 

Es  fragt  sich  aber,  ob  sowohl  das  Denken  und  Wollen 
(Richard)  oder  nur  eines  von  beiden  hiebei  in  Aktion  treten. 
Thomas  dachte  an  das  Denken  als  die  betr.  Thätigkeit  (ib. 
quaest.  3,  3  f.).  Duns  meint,  dass  wenn  man  bei  der  Seligkeit 
streng  an  den  Akt  der  Ergreifung  des  höchsten  Gutes  denkt, 
sie  als  Willensoperation  zu  fassen  ist.  Denkt  man  dagegen  an 
den  Zustand  der  Seligkeit  im  Sinne  der  höchsten  Befriedigung 
des  ganzen  Menschen,  so  hat  natürlich  auch  der  Intellekt  an 
der  Seligkeit  Teil  (ib.  5.  6). 

9.  In  diesem  Zusammenhang  hat  Duns  die  oben  (S.  91) 
bereits  berührte  Frage,  ob  die  Seligkeit  mit  dem  Intellekt 
oder  dem  Willen  genossen  werde,  eingehend  besprochen.  Die 
Seligkeit,  so  sahen  wir  eben,  ist  also  zunächst  nicht  ein  Em- 
pfinden oder  ein  Widerfahrnis,  sondern  eine  geistige  Operation. 
Das  Seligkeitsgut  ist  etwas  an   sich  ausser  uns  Seiendes.     Da- 


Die  Seligkeit  ein  Willensakt.  457 

her  wird  es  unser  dadurch,  dass  wir  es  an  uns  und  in  uns 
ziehen.  Dies  geschieht  aber  mehr  durch  das  AVoUen  als  durch 
das  Erkennen  (ib.  quaest.  4,  4).  Nun  wird  aber  durch  die 
Seligkeit  eine  Quietatio  bewirkt.  Man  stellt  sich  ihren  Eintritt 
etwa  so  vor,  dass  sie  der  intellektuellen  Schauung  des  höchsten 
Zieles  als  beseligendes  Gefühl  folgt.  Für  Duns  ist  diese  Auf- 
fassung natürlich  unbrauchbar.  Der  Wille  ist  es  ja,  der  die 
Beziehung  zwischen  der  Seele  und  dem  Seligkeitsgut  herstellt. 
Wenn  nun  der  Wille  Willensakte  zur  Erreichung  jenes  Gutes 
produziert,  so  wird  es  auch  der  Wille  sein,  der  in  dem  er- 
reichten Ziel  ausruht.  Hiebei  geht  natürlich  die  Erkenntnis 
des  betr.  Zieles  als  eines  fruibile  voraus  (l.  c.  §  6.  7). 

Doch  bedarf  der  Begriff  der  Quietatio  einer  Näherbe- 
stimmung. Im  Sinn  des  Duns  soll  derselbe  nichts  Quietistisches 
besagen.  Der  Wille  ist  in  Bezug  auf  das  Seligkeitsgut  in 
zweierlei  Weise  thätig,  nämlich  als  desiderium  und  als  prima 
consecutio  finis  ultimi.  Als  potentia  operativa  kann  also  seine 
Quietation  nur  durch  eine  operatio  perfecta  bewirkt  werden, 
nämlich  die  perfecta  assecutio  obiecti.  Damit  und  dadurch, 
dass  der  Wille  dies  Ziel  oder  Gut  ergreift,  ist  seine  Quietation 
gegeben,  nicht  folgt  diese  erst  nach.  Es  ist  also  nicht  so  wie 
bei  einer  Bewegung,  die  zuerst  aufhört,  worauf  der  Euhe- 
zustand  eintritt  (§  8).  Überlegt  man  diesen  Zusammenhang, 
so  ist  also  die  Seligkeit  nicht  ein  Gefühl  der  Freude  oder  des 
Wohlbefindens  als  solches,  sondern  der  Willensakt,  durch  den 
der  Wille  Gott  erfasst;  oder  der  Vollzug  des  Liebesaktes  zu 
Gott  ist  die   höchste  Befriedigung   des  Willens   oder  Sehgkeit. 

Der  Akt  des  Willens  selbst  ist  also  der  Genuss  der 
Seligkeit,  indem  in  diesem  Akt  die  Kreatur  ihr  höchstes  Ziel 
ergreift  und  so  all  ihrem  Sehnen  Befriedigung  wird. 

10.  Das  Wollen  zerfällt  in  ein  velle  und  nolle.  Da  das 
nolle  ein  böses  Objekt  voraussetzt,  ist  die  Seligkeit  nur  ein 
velle.  Das  velle  aber  kann  propter  bonum  voliti  (amor  ami- 
citiae)  geschehen,  oder  propter  bonum  volentis  (amor  concu- 
piscentiae).  Das  velle  der  Sehgkeit  gehört  zur  ersten  Art,  nur 
so  ist  es  ein  frui :   quod  est  amore    inhaerere   propter  se  ^),  id 


^)  se  wie  oft  Duns  =  eum. 


458         Kap.  V:  Die  jenseitige  Vollendung  etc.  der  Christenheit. 

est  amatum.  Nicht  in  der  Lust  am  eigenen  Wohl  besteht 
also  die  Seligkeit,  sondern  in  dem  Wollen  deo  bene  esse. 
Der  Selige  liebt  also  Gott,  damit  der  Zweck  Gottes,  jenes 
deus  diligendus  est,  erfüllt  werde,  und  dadurch,  dass  er  diesen 
Zweck  realisiert,  ist  er  selig  in  seinem  Wollen ;  dies  Wollen 
ist  schlechthin  gut,  da  es  dem  an  sich  guten  Objekt  gilt, 
während  das  Wollen  der  concupiscentia  bei  richtiger  Circum- 
stantiierung  ja  auch  gut  sein  kann,  aber  an  sich  nur  auf  ein 
für  uns  Gutes,  nicht  auf  das  an  sich  Gute  geht  und  daher 
auch  irrig  sein  kann  z.  B.  durch  Übermass  (1.  c.  quaest.  5,  3). 
Also  die  nicht  egoistisch  interessierte  Hingabe  an  Gott,  das  ist 
das  Wesen  der  Liebe,  die  die  Seligkeit  ausmacht.  Die  un- 
endliche Güte  Gottes  gefällt  mir,  und  ich  will  durch  dies  mein 
Gefallen  und  Annehmen,  dass  alle  Güte,  die  in  ihr  ist,  sei. 
Dies  kann  der  viator  schon  erleben,  während  es  der  compre- 
hensor  in  dem  höheren  Grad,  den  man  als  Seligkeit  bezeichnet, 
erfährt  (4).  Hienach  wäre  die  Seligkeit  hieuieden  und  droben 
nur  graduell  unterschieden,  obgleich  man  auch  einen  spezi- 
fischen Unterschied  annehmen  kann  (5  vgl.  S.  463). 

Wir  haben  hiemit  einen  Gedanken  kennen  gelernt,  der 
seine  Grundlage  an  später  in  der  Ethik  des  Duns  darzulegenden 
Gedanken  hat.  Das  ist  das  Wesen  der  seligen  Liebe,  dass 
sie  will,  dass  der  Zweck  Gottes,  nämlich  geliebt  zu  werden, 
erfüllt  werde.  Hierin  ist  nun  ein  Doppeltes  enthalten ,  wir 
wollen,  dass  alle  Gott  lieben,  und  wir  wollen,  dass  dadurch  der 
gute  Wille  Gottes  sich  in  der  Welt  durchsetze  oder  realisiere. 
Oder  dass  Gottes  Ehre  und  Herrlichkeit  sei  und  sich  durch- 
setze, das  ist  der  Inhalt  des  Liebeswillens  der  Seligen.  In- 
dessen wird  hier  durch  das  Offenbarwerden  der  Verdammnis 
eine  Schranke  gezogen,  indem  unsere  Liebe  im  Jenseits  nur 
auf  das  Mitlieben  der  Prädestinierten  und  Erlösten  gerichtet 
sein  kann  (vgl.  unten  in  der  Ethik  den  Abschnitt  über  die 
Liebe). 

11.  Man  versteht  diese  Gedanken.  Aber  es  bleibt  eine 
Frage,  ob  nämlich  dies  Ruhen  des  Willens  in  dem  schlechthin 
höchsten  Zweck  den  Wollenden  befriedigt,  ihm  also  die  delec- 
tatio  der  Seligkeit  gewährt?  Nach  Thomas  bedarf  es  letzterer, 
da  nur  so  das  völlige  Widerspiel  zum  Zustand  der  Verdammten 


Die  Seligkeit  Liebe  und  dadurch  Befriedigung.  459 

erreicht  wird  (1.  c.  quaest.  7,  2).  Hält  man  daran  fest,  dass 
die  Seligkeit  eine  operatio  ist,  so  gehört  die  delectatio  nicht 
zu  ihrem  Wesen,  da  diese  eine  passio  ist.  Wir  werden  uns 
hier  dessen  erinnern  dürfen,  dass  Gott  nach  Duns  vor  allem 
Wille  ist.  Die  höchste  Form  der  Vereinigung  mit  dem  abso- 
luten Willen  wird  aber  nur  durch  aktives  Wollen  erreicht 
werden  können.  Das  gilt  sowohl  vom  Jenseits  als  vom  Dies- 
seits. Ist  also  die  Seligkeit  mit  dem  Gefühl  der  Freude  ver- 
bunden, so  gehört  dies  als  eine  passio  nicht  zur  eigentlichen 
Essenz  der  Seligkeit  (3).  Aber  sie  ist  doch  auch  von  dieser 
nicht  abzutrennen.  Im  Willen  steckt  nämlich  neben  dem 
aktiven  auch  ein  passives  Element.  Jenes  realisiert  sich  in 
der  Aktion,  und  in  einer  solchen  besteht  das  eigentliche  Wesen 
der  Seligkeit.  Dieses  ist  rezeptiv  und  bedarf  daher  der  Passion. 
Unter  diesem  Gesichtspunkt  betrachtet,  ist  daher  ein  über- 
natürliches Gefühl  der  Freude  unabtrennbar  von  der  Seligkeit. 
Also  der  Wille  kommt  zur  Ruhe,  indem  er  aktiv  das  höchste 
Gut  ergreift  und  will.  Das  ist  die  Seligkeit.  Aber  indem  er 
dies  Gut  will  und  es  dadurch  sein  wird,  geht  von  diesem 
so  ergriffenen  Gut  in  den  Willen  des  Menschen  oder  viel- 
leicht genauer  gesagt  durch  den  Willen  in  das  Empfindungs- 
vermögen ein  Gefühl  der  seligen  Freude  über  (§  4).  So  ist 
also  der  aktive  Willensakt,  der  die  eigentliche  Seligkeit  ist, 
immer  begleitet  von  der  Empfindung  der  höchsten  Freude. 

Hier  schliesst  sich  aber  eine  weitere  Frage  an :  gehört  die 
securitas  zum  Wesen  der  Seligkeit?  Nun  ist  die  Sicherheit 
undenkbar  ohne  das  Bewusstsein  von  der  Ewigkeit  der 
Seligkeit.  Hierüber  ist  also  zunächst  zureden.  Nun  kann 
der  Grund  für  den  ewigen  Bestand  der  Seligkeit  nicht  in 
letzterer  gefunden  werden.  Das  ist  ja  einleuchtend,  denn  die 
Seligkeit  wäre  doch  die  nämliche,  wenn  sie  nur  momentan  em- 
pfunden würde,  und  sie  wäre  auch  so  mehr,  als  wir  als  Lohn 
für  die  Frömmigkeit  verlangen  dürfen.  Ist  sie  also  ewig,  so 
hat  das  zum  Grunde  lediglich  den  Willen  Gottes,  genauer 
noch  die  Liberalität  Gottes  (iustitia  et  liberalitas  supereffluens, 
mera  liberalitas),  der  reicher  lohnt,  als  die  strikte  Gerechtigkeit 
verlangt  (IV  dist.  49  quaest.  6,  21  cf.  IV  dist.  50  qu.  6,  16).  Gott 
will  wie  die  Natur  vollenden,    so  sie   in   dieser  Vollendung  er- 


460         Kap.  V:  Die  jenseitige  Vollendung  etc.  der  Christenheit. 

halten  (IV  dist.  49  quaost.  6,  10).  Innerlich  bleibt  ja  auch  dem 
Vollendeten  die  Potenz  zur  Sünde.  Nicht  die  Natur  des  Men- 
schen, sondern  Gottes  Wille  lässt  diese  Potenz  nicht  zum  Akt 
kommen  (ib.  §  11).  Dadurch  wird  aber  die  Freiheit  des  Willens 
in  den  Seligen  nicht  beschränkt.  Gegen  die  Freiheit  verstiesse 
es  nur  von  einem  untergeordneten  oder  gleichen  Faktor  be- 
stimmt zu  werden,  nicht  aber  von  einem  höheren,  über  den  sie 
keine  Gewalt  hat,  dem  sie  also  ihrer  Natur  nach  nicht  wider- 
streben kann.  Zudem  wird  durch  jenes  Eingreifen  Gottes  die 
formale  Freiheit  in  keiner  Weise  begrenzt,  denn  der  Wille 
handelt  von  sich  aus  frei,  nur  dass  sein  Effekt  nicht  nur  aus 
dieser  Freiheit,  sondern  zugleich  aus  der  Mitwirkung  einer 
anderen  höheren  Ursache  herrührt.  Die  Kontingenz  des 
Willens,  die  auch  die  Fähigkeit  zum  Bösen  einschliesst, 
bleibt,  nur  dass  Gottes  Wille  es  nie  zum  Bösen  kommen 
lässt  (§  15). 

Die  Ewigkeit  des  seligen  Lebens  ist  somit  nur  von  dem 
göttlichen  Willen,  dass  es  ewig  sei,  abhängig.  Diese  Perpe- 
tuität  kann  aber  weder  einfach  zeitlich,  noch  einfach  ewig  ge- 
dacht werden;  dieses  nicht,  weil  die  Kreatur  nicht  ewig  ist, 
jenes  nicht,  weil  es  keine  successio  umfasste.  Es  ist  die  relative 
Ewigkeit  des  aevum,  die  nicht  aus  sich  notwendig  ist,  sondern 
von  Gott  erhalten  wird:  dico  ergo,  quod  illa  perpetuitas  non 
est  aeternitatis  nee  necessarii  esse,  sed  aevi  possibilis  esse  et 
non  esse,  tarnen  perpetuo  conservati.  Denkt  man  sich  das 
aevum  als  Succession  in  sich  fassend,  so  würde  die  Perpe- 
tuität  besagen,  dass  maximitas  quantitatis  in  ihm  sei,  also  etwa 
die  Zeitfolge  in  das  Unendliche  ausgedehnt.  Ist  dagegen  das 
aevum  ein  indivisibile,  so  würde  die  Perpetuität  nichts  Positives 
zu  dem  aevum  hinzufügen,  sondern  nur  negativ  das  Aufhören 
des  Zustandes  verneinen  (§  17).  Doch  dem  sei  wie  ihm  wolle, 
jedenfalls  ist  die  Seligkeit  ewig  zu  denken  (19).  Und  sie  ist 
ewig,  weil,  wie  gesagt,  Gott  will,  dass  sie  ewig  sei. 

Jetzt  kann  die  Frage  nach  der  Gewissheit  wieder  auf- 
genommen werden.  Da  die  Seligkeit  ewig  ist  nur  vermöge 
einer  äusseren  Festsetzung  und  nicht  vermöge  der  Natur  der 
Sache,  und  da  ohne  Ewigkeit  keine  securitas  der  Seligkeit 
denkbar  ist,   so  kann  die  Sicherheit  des  Seligkeitsbesitzes  dem 


Ewigkeit  und  Gerechtigkeit  der  Seligkeit.  461 

Menschen  nur  aus  der  besonderen  Offenbarung  seiner  Ewigkeit 
erwachsen  (§  22). 

12.  Damit  sind  die  grundlegenden  Gedanken  bezüglich 
der  Seligkeit  gefunden.  Der  Wille  als  freier  Wille  ergreift 
Gott  als  sein  höchstes  Ziel,  und  zwar  nicht  zu  seiner  Befrie- 
digung, sondern  um  Gottes  willen.  Dies  Wollen  Gottes,  dass 
nämlich  sein  Werk  und  seine  Ehre  in  der  Welt  durchgesetzt 
werde,  ist  die  Liebe  zu  Gott  oder  dann  die  Seligkeit.  Dieser 
Wille  zu  Gott  an  und  für  sich  ist  die  Seligkeit,  denn  hier  ist 
der  Wille  auf  sein  Ziel  gestossen.  Aber  er  wird  begleitet  von 
den  Gefühlen  der  Freude  und  der  Sicherheit,  sowie  der  höchsten 
Befriedigung  des  Intellekts.  Man  kann  von  hier  aus  ohne  viel 
Mühe  sich  das  Ideal  des  Duns  von  dem  religiösen  Leben  hie- 
nieden  bilden.  Hierin  zuhöchst  beruht  für  uns  die  Bedeutung 
dieser  Betrachtungen. 

13.  Ehe  ich  mich  der  Darstellung  des  Leibeszustandes  in 
der  künftigen  Welt  zuwende,  ist  noch  einer  Frage  zu  gedenken : 
kann  jemand  ex  puris  naturalibus  die  Seligkeit  erlangen? 
Diese  Frage  wird  allgemein  verneint  etwa  mit  der  Begründung, 
der  endliche  Intellekt  sei  unfähig  den  unendlichen  Gott  in  sich 
aufzunehmen,  indem  die  beiden  einander  nicht  proportional 
sind  (z.  B.  Thomas,  Heinrich).  Diese  Begründung  verwirft 
Duns.  Gewiss  müssen  Subjekt  und  Objekt,  wenn  ersteres 
letzteres  fassen  soll,  einander  gemäss  sein.  Aber  dies  Ver- 
hältnis ist  ja  dann  gegeben,  wenn  das  Objekt  als  potentia 
movens  auf  das  Objekt  als  mobile  einwirkt.  Und  wenn  es 
wirklich  gegen  die  Natur  des  Endlichen  verstiesse  das  Unend- 
liche aufzunehmen,  so  ist  nicht  einzusehen,  wie  durch  das 
Gnadenlicht  dies  Unmögliche  möglich  werden  sollte  (IV  dist.  49 
quaest.  11,  4).  Man  wird  vielmehr  sagen  müssen,  dass,  wie- 
wohl Endliches  und  Unendliches  nie  im  geometrischen  Sinn 
einander  proportional  sein  können,  sodass  das  eine  das  andere 
ausfüllt,  sie  doch  für  das  Erkennen  und  die  Willensoperation 
für  einander  sein  können  (5.  6).  Also  ist  die  Natur  an  und 
für  sich  fähig  die  Seligkeit  in  sich  aufzunehmen,  sonst  könnte 
sie  nie  sehg  werden,  auch  nicht  durch  einen  übernatürlichen 
Habitus,  denn  durch  den  Habitus  werden  nicht  Aktionen  ge- 
geben, sondern  umgekehrt.     Nun  wird  aber  der  etwaige  Defekt 


462         Knp.  V :  Die  jenseitige  Vollendung  etc.  der  Christenheit. 

der  Natur  nicht  in  ihrer  Habitualität  liegen,  sondern,  da  die 
Seligkeit  in  Operationen  besteht,  eher  in  der  Unfähigkeit  Akte 
zu  erzeugen,  die  an  das  Unendliche  heranreichen.  Die  Er- 
kenntnis der  Seligen  ist  eine  cognitio  intuitiva.  Diese  setzt 
voraus  ein  in  sich  Haben  des  zu  erkennenden  Objektes  seitens 
des  erkennenden  Subjektes.  Es  ist  nicht  nötig,  dass  die  Seele 
vor  den  Seligkeitsakten  etwas  Übernatürliches  in  sich  habe, 
sondern  nur  in  diesen  Handlungen.  Folgert  man  daraus,  dass 
es  also  doch  vor  den  Handlungen  da  sein  müsse,  so  wäre  es 
dann  da  nicht  propter  receptionem,  sed  propter  actionem,  um 
eine  Handlung  zu  bewirken,  die  Gott  erreicht.  Es  sind  drei 
formae  supernaturales  praecedentes  denkbar:  die  species  intelli- 
gibilis  im  Gedächtnis,  das  lumen  gloriae  im  Intellekt  und  die 
Liebe  im  Willen  (8.  9).  Setzt  man  aber  das  betr.  Objekt  dem 
Geist  gegenwärtig,  so  bedürfte  es  eigentlich  keiner  dieser  über- 
natürlichen Formen.  Nun  ist  aber  nach  der  Schrift  und  der 
Kirchenlehre  die  übernatürliche  Liebe  anzusetzen,  aus  der  die 
Operationen  hervorgehen ;  daher  muss  diese  genannt  werden. 
Dagegen  bedarf  es  nicht  des  lumen  gloriae,  denn  je  lichtvoller  das 
Objekt  ist,  desto  weniger  hell  braucht  das  Subjekt  zu  sein ;  eher 
noch  könnte  die  species  intelligibilis  im  Gedächtnis  oder  eine  über- 
natürliche Vollkommenheit  des  Gedächtnisses  postuliert  werden. 
Die  eigentliche  Meinung  des  Duns  ist  doch  auch  hier 
ziemlich  ersichtlich.  Die  aufgeworfene  Frage  ist  zu  bejahen. 
Die  Natur  als  solche  ist  der  Sehgkeit  fähig,  sonst  wäre  Selig- 
keit überhaupt  nicht  denkbar.  Zu  den  Akten  der  Seligkeit 
bedarf  es  keines  übernatürlichen  Habitus,  sondern  nur  dessen, 
dass  die  Seele  aktiv  das  Sehgkeitsgut  erreicht.  Tritt  letzteres 
vor  sie,  so  ist  das  möglich,  doch  müsse  man  um  der  Kirchen- 
lehre willen  wenigstens  die  Mitteilung  einer  übernatürlichen 
Liebe  annehmen.  Man  hüte  sich  dieser  Lehre  unevangelischen 
Pelagianismus  vorzuwerfen,  denn  was  anderes  lehrt  Duns,  als 
dass  die  Natur  der  Erfassung  Gottes  im  Jenseits  fähig  sein 
wird,  wie  sie  dessen  —  nach  protestantischem  Verständnis  — 
im  Urzustand  fähig  war  ?  Es  ist  doch  nicht  zu  übersehen,  dass 
die  Voraussetzung  für  diese  ganze  Betrachtung  das  Nicht- 
mehrsein der  Sünde  und  Schuld  ist.  Es  verstÖsst  nicht  gegen 
dies  Verständnis,    dass  Duns  an   sich   es   für  möglich   erklärt,. 


] 


Die  menschliche  Natur  der  Seligkeit  fähig.  463 

dass  Gott  bereits  im  Diesseits  jemand  die  Akte  der  Seligkeit 
erfahren  liesse  (1.  c.  quaest.  12,  3).  Wenn  er  aber  in  con- 
creto diesen  Gedanken  verwirft,  so  geschieht  das  freilich  nicht 
ganz  mit  der  Begründung^  die  etwa  der  evangelische  Christ 
erwartet.  Duns  rekurriert  auf  die  sterbliche  sinnhche  Natur 
des  Menseben.  Der  sinnliche  Genusstrieb  im  Diesseits  würde 
nämlich  entweder  das  geistige  Leben  hemmen,  oder  wenn  nicht, 
würde  er  in  seiner  Unterdrückung  durch  letzteres  Unlust  empfinden 
(4).  Beides  aber  schliesst  die  Seligkeit  aus.  Zur  wirklichen 
Seligkeit  gehört  demnach  auch  die  Seligkeit  des  Leibes,  daher 
kann  Seligkeit  im  strengen  Sinn  hienieden  nicht  erreicht 
werden,  man  rekurriere  denn  auf  ein  Wunder  (5).  Dazu  hat 
aber  Duns,  wie  wir  wissen,  wenig  Lust!  Nur  für  Christus 
darf  es  angenommen  werden  (7).  Dass  aber  eine  relative 
Seligkeit  auch  im  Diesseits  erreichbar  ist,  sahen  wir  bereits 
(oben  S.  458). 

14.  So  sind  wir  weiter  auf  die  Seligkeit  des  Leibes  ge- 
wiesen. Dass  es  ihrer  zur  vollen  Seligkeit  bedarf,  haben  wir 
soeben  gesehen  (s.  quaest.  13,  2).  Dass  aber  der  Leib  impassibel 
wird,  ist  lediglich  aus  dem  positiven  Willen  Gottes,  dass  es  so 
sei,  zu  erklären.  Gott  wirkt  eben  nicht  mit  mit  den  causae 
secundae,  die  dem  Leib  Leiden  und  Vergänglichkeit  bringen. 
Es  ist  wie  bei  den  drei  Männern  im  feurigen  Ofen,  das  Feuer 
ist  da,  aber  Gott  lässt  es  nicht  wirken  was  es  sonst  am  Leibe 
wirkt.  Nicht  von  innen  aus  dem  Leibe  her,  sondern  von  aussen 
aus  Gottes  Willen  erklärt  sich  also  die  Impassibilität  und  Un- 
sterblichkeit der  Leiber  der  Seligen  (9). 

Doch  nun  das  Nähere  über  diese  Leiber.  Ihnen  steht 
eine  besondere  Agilität  zu.  Alle  Bewegung  der  Körper  ge- 
schieht entweder  durch  das  quantitative  Verhältnis  ihres  Schwer- 
gewichtes oder  von  innen  her  durch  die  vis  motiva  der  Seele 
(1.  c.  quaest.  14,  2).  Diese  Bewegung  ist  auf  Erden  eine 
organische,  indem  die  Seele  das  Herz  bewegt  und  durch  dieses 
vermöge  der  Organe  des  Menschen  den  ganzen  Menschen  (3.  4). 
Die  Seele  wird  nun  auch  die  Auferstehungsleiber  bewegen, 
aber  nicht  auf  dem  Wege  der  organischen  Vermittlung.  Nun 
scheint  diese  Seelenkraft  von  der  organisch  wirkenden  unter- 
schieden werden  zu  müssen,  da  sonst  auch  hier  schon  die  Seele 


464         Kap.  V:  Die  jenseitige  Vollendung  etc.  der  Christenheit. 

ohne  organische  Vermittlung  den  Körper  müsste  bewegen  können. 
Da  aber  von  einer  Vielheit  der  Ursachen  möglichst  abzusehen 
ist,  so  ist  die  Identität  dieser  und  jener  bewegenden  Kraft 
anzunehmen.  Bewegt  nämlich  die  Seele  das  Herz,  so  kann  sie 
doch  auch  —  ohne  organische  Vermittlung  —  den  ganzen 
Körper  bewegen.  Es  wird  also  dieselbe  bewegende  Kraft  sein, 
die  hier  und  dort  die  Leiber  bewegt,  nämlich  die  Seele  (6.  7.  9). 
Es  bedarf  somit  nicht,  wie  Richard  und  Thomas  meinen,  für 
den  Auferstehungsleib  einer  übernatürlichen  Qualität,  die  die 
Körper  leicht  macht,  würde  doch  eine  solche,  die  ja  eine  be- 
wegende Kraft  sein  müsste,  die  Körper  zu  einem  Wo  bewegen, 
also  ihre  Agiütät  eher  hemmen  als  fördern  (10).  So  wird  also 
im  Jenseits  die  Seele  die  Körper  bewegen  nach  ihrem  Gut- 
dünken, ohne  an  den  organischen  Zusammenhang  des  Menschen 
gebunden  zu  sein.  Da  aber  der  Agilität  die  aufrechte  Lage 
des  Körpers  am  besten  entspricht,  werden  die  seligen  Leiber 
stehen  und  nicht  sitzen  oder  liegen ;  daher  sah  auch  Stephanus 
Jesum  zur  Eechten  des  Vaters  „stehen'^  (12).  —  Das  ist  ge- 
wiss thöricht,  weil  ohne  einleuchtende  Voraussetzungen  und 
Gründe  gedacht,  aber  sind  ähnliche  Thorheiten  heute  aus- 
gestorben? 

Das  zweite  Merkmal  der  Vollkommenheit  an  den  Leibern 
der  Seligen  ist  die  Helligkeit  derselben,  der  Grad  dieser 
richtet  sich  nach  ihren  Verdiensten  (1.  c.  quaest.  15,  2).  Wenn 
dieselben  als  durchsichtig  bezeichnet  werden,  so  ist  das  nicht 
auf  eine  krystallartige  Beschaffenheit  zurückzuführen,  sondern 
die  Seligen  sehen  einander  durch  die  Poren  in  das  Innere,  so 
wie  man  vom  Luchs  sagt,  er  sehe  durch  die  Wand.  Oder 
man  könnte  auch  sagen,  dass  das  Geistesauge  durch  den  ver- 
klärten Leib  hindurchsehe  (4). 

Zur  Agilität  und  Durchsichtigkeit  kommt  als  weiterer  Vor- 
zug die  Subtilität.  Dabei  handelt  es  sich  um  die  Frage,  ob 
vermöge  derselben  zwei  Körper  zugleich  an  demselben  Ort  sein 
können.  Wenn  man  etwa  sagt,  wegen  der  Porosität  könne  ein 
Körper  in  den  anderen  hineindringen,  so  handelte  es  sich  hie- 
bei  nur  um  ein  derartiges  Verdrängen,  wie  etwa  der  Pfeil  die 
Luft  verdrängt,  um  sich  Raum  zu  schaffen  (quaest.  16,  4). 
Nun   sagt  aber   der  Glaube,    dass   bei  Jesu  Geburt  die  Thore 


Die  Beschaffenheit  des  Leibes  der  Seligen.  465 

der  Jungfrau  geschlossen  blieben,  dass  Christus  clauso  sepulcro 
erstand  und  durch  geschlossene  Thüren  ging.  Bei  alle  dem  ist 
ein  Zugleichsein  von  Teilen  seines  Körpers  mit  den  Teilen 
anderer  Körper  in  dem  nämlichen  Raum  vorausgesetzt.  Da  das 
nach  dem  Glauben  wirklich  ist,  muss  es  auch  möglich  sein. 
Zu  der  Impassibilität  dieses  Körpers  passt  aber  nach  Duns 
Ansicht  die  rarefactio  oder  condensatio,  durch  die  man  das 
Problem  erklären  könnte,  nicht  (4).  Nach  Duns  soll  also  der 
verklärte  Leib  zugleich  mit  einem  anderen  sein  können.  Der 
allgemein  logische  Grund  dafür  ist,  dass  Formen,  die  einander 
noch  so  entgegengesetzt  sind,  doch  nebeneinander  bestehen 
können,  wenn  sie  an  verschiedenen  Subjekten  haften.  Nun 
sind  aber  die  zwei  Ubi  an  vorschiedenen  Subjekten,  also  ist 
kein  formaler  Widerspruch  vorhanden,  wenn  sie  in  demselben 
ßaumteil  sind.  Es  ist  doch  nicht  unmöglich,  dass  zwei  äussere 
Beziehungen  an  verschiedenen  Subjekten  sich  auf  das  gleiche 
Ziel  beziehen.  Dieses  fragwürdige  Argument  wird  durch  die 
Behauptung  ergänzt,  dass  Gott  zwei  Quanta  Zusammensein 
lassen  kann,  wenn  er  ihnen  als  causa  prima  den  besonderen 
einander  ausschliessenden  Effekt  nimmt.  So  könnten  sie  bei- 
sammen sein,  wenn  die  beiden  bestimmten  Quanta  nicht  ver- 
schiedene situs  (d.  h.  die  Anordnung  der  Teile  im  Kaum  oder 
die  Korrespondenz  der  Teile  des  Körpers  zu  den  Kaumteilen) 
haben.  So  würden  also  zwei  Körper  in  einem  Räume  sein, 
indem  ihre  Teile  nicht  mit  den  Raumteilen  korrespondieren 
{§  17).  Diese  Fähigkeit  eignet  aber  dem  verklärten  Leibe, 
indem  er  seine  Form  von  der  seligen  Seele  erhält,  die  ihm 
diese  Subtilität  gewährt  (18).  Doch  soll  diese  Subtilität  nicht 
eine  besondere  Qualität  des  verklärten  Körpers  sein.  Diese 
könnte  nicht  passiv  sein,  denn  sie  würde  dann  den  verklärten 
Leib  zu  einem  passibile  machen.  Sie  müsste  also  aktiv  sein, 
so  würde  sie  sich  in  körperlichen  Akten  offenbaren,  aber  diese 
würden  doch  darauf  abzielen  expellere  aliud  corpus  und  das 
hülfe  hier  zu  nichts  (19).  Wir  werden  wohl  als  Resultat  der 
mühsamen  Erörterung,  in  Erinnerung  an  die  Ubiquitätslehre 
des  Duns  (oben  S.  371  f.),  sagen  dürfen:  zwei  Körper  können 
zugleich  an  einem  Ort  sein,  indem  sie  als  ganze  gemeinsame 
Beziehungen  zu  ihm  als  ganzem  haben.     So  sehr  sind  sie  ver- 

Seeberg,  Die  Theologie  des  Duns  Scotus.  30 


466         Xap.  V:  Die  jenseitige  Vollendung  etc.  der  Christenheit. 

geistigt  gleichsam,  dass  sie,  wie  der  geistige  Wille  der  Menschen, 
auch  im  Raum  Zusammensein  können,  ohne  einander  zu  stossen. 
So  freilich  scheint  es  —  genau  geoommen  —  der  Annahme 
einer  besonderen  göttlichen  Wirkung  und  sonderlicher  Einflüsse 
der  Seele  auf  den  Leib  nicht  zu  bedürfen. 

Soviel  lehrt  Duns  über  den  verklärten  Leib.  Man  kann, 
wenn  man  die  genaue  Beziehung,  in  die  Duns  jedes  dieser 
Attribute  des  verklärten  Leibes  zur  Seele  stellt,  unter  Ab- 
sehung von  allen  übernatürlichen  Qualitäten  des  Leibes,  man 
kann  kurz  sagen:  der  Leib  wird  das  völlig  entsprechende 
Werkzeug  der  Seele  sein,  daher  seine  Agilität,  seine  Durch- 
sichtigkeit und  seine  Subtilität  als  die  Fähigkeit  ganz  in  dem- 
selben Raum  mit  einem  anderen  Leib  zu  sein.  Behält  man 
diesen  massgebenden  Gesichtspunkt  in  Acht,  so  gewinnen  die 
z.  T.  sehr  wunderlichen  Spekulationen  doch  einen  guten  Sinn, 
Der  verklärte  Leib  wird  sein  was  der  Leib  sein  soll,  das 
schlechthin  entsprechende  Mittel  zur  Bethätigung  jeder  Seelen- 
regung, der  durchaus  genaue  Ausdruck  des  Seelenlebens,  der 
Träger  jeder  möglichen  Beziehung  der  Seele  zur  räumlichen 
Welt.  Wie  so  oft  bei  Duns  leuchtet  aus  den  abstrusen  Be- 
trachtungen schliesslich  ein  geistreicher  Gredanke  hervor.^) 

15.  Noch  eine  Frage  bleibt  uns:  ist  die  Seligkeit  der 
Seligen  (so  auch  die  Seligkeit  ihrer  Leiber)  bei  allen  die 
gleiche?  Man  kann  die  Frage  verneinen,  da  Seligkeit  eben 
Seligkeit  ist,  doch  spricht  Christus  von  ,, vielen  Wohnungen" 
der  Seligen  (lY  dist.  50  quaest.  5).  Es  kann  nun  allerdings 
in  der  Spezies  Seligkeit  eine  Vielheit  der  Stufen  geben.  Der 
Willenstrieb  kann  in  der  That  in  dem  Seligkeitsobjekt  zur  Ruhe 
gekommen  sein,  ohne  die  ganze  Vollkommenheit,  deren  er  fähig 
ist,  erreicht  zu  haben.  Alles  Schwere  hat  den  Trieb  nach 
unten,  aber  doch  bedarf  nicht  jedes  Schwere  zu  seiner  Be- 
friedigung dessen,  dass  es  bis  zum  Erdzentrum  vordringt,  wie 
man  an  jedem    fallenden  Steine,    der    auf   der   Erdoberfläche 


^)  Nach  dem  traditionellen  Text  von  Sent.  11  dist.  20  quaest.  2,  4 
hätte  Duns  noch  gelehrt,  dass  die  Seligen,  ausser  der  Maria,  alle  männ- 
liche Leiber  haben  werden.  Die  Pariser  Ausg.  lässt  diesen  Passus  wohl 
mit  Recht  —  der  Gredanke  begegnet  uns  in  der  Eschatologie  nicht  — 
als  Zusatz  fort,  s.  Bd.  XIII,  124. 


Grade  der  Seligkeit.  467 

liegen  bleibt,  sehen  kann.  Es  ist  die  distributive  Gerechtigkeit 
Gottes,  die  jeder  Seele  nach  ihrem  Verdienst  ihre  Stufe  der 
Vollendung  anweist  (1.  c.  quaest.  6,  3).  Und  auch  der  natür- 
liche Trieb  muss  so  voll  befriedigt  sein,  da  er  die  Stufe  er- 
reicht hat,  die  er  nach  der  Ordnuug  Gottes  —  als  der  ersten 
Ursache  —  erreichen  soll  (4).  Wille  und  Intellekt  ruhen  im 
Unendlichen,  das  Objekt  ist  also  für  alle  das  nämliche,  ebenso 
ist  aber  auch  die  Rezeptivität  an  sich  bei  allen  die  gleiche. 
Der  Grund  der  Differenz  wird  also  weder  in  der  Art  Gottes, 
noch  in  einem  natürlichen  Unterschied  der  Menschen  zu  suchen 
sein,  sondern  in  der  ethischen  Differenz  dieser,  nämlich  in  dem 
verschiedenen  Grad  der  Liebe  (5).  Das  ist  ein  Gedanke,  der 
weite  Perspektiven  eröffnet :  der  innere  Zusammenhang  zwischen 
der  religiösen  Entwicklung  hier  und  dem  Seligkeitsgut  dort, 
die  Perfektibilität  der  Seligen.  Duns  ist  aber  hierauf  nicht 
eingegangen. 

Nur  eines  Einwandes  sei  noch  Erwähnung  gethan.  Wenn 
der  Wille  dem  höchsten  Gut  zustrebt,  so  scheint  etwa  Linus 
das  höhere  Seligkeitsgut  der  Maria  mehr  lieben  zu  sollen  als 
sein  eigenes  niedrigeres.  Aber  dieser  Einwand  scheitert  an  der 
Erwägung,  dass  jeder  nächst  Gott  sich  selbst  der  nächste  ist; 
wie  er  vor  allen  für  sich  die  Sünde  zu  fliehen  hat,  so  wird  er 
auch  für  sich  Gott  mehr  lieben  als  für  einen  anderen  (§  8). 

16.  So  läuft  das  System  aus  in  den  schroffen  Unterschied 
zwischen  Seligkeit  und  Unseligkeit.  Keine  Stufe  führt  von  hier 
dorthin,  obgleich  Duns  den  Gedanken  wenigstens  gestreift  hat, 
die  Güte  Gottes  könnte  dem  Zustand  der  Verdammten  ein 
Ende  finden  lassen,  wie  ja  die  Ewigkeit  der  Seligkeit  nur  einen 
Grund,  nämlich  seinen  gütigen  Willen  hat  (oben  S.  460).  Aber 
Ernst  ist  es  ihm  hiemit  nicht  gewesen.  Daher  bleibt  uns  nur 
noch  die  eine  Frage,  ob  die  Seligen  die  Strafe  der  Verdammten 
sehen  werden  ?  Hier  ist  natürlich  an  kein  sinnliches  und  eigent- 
liches Sehen  zu  denken,  weil  dazu  die  Raumbedingungen  fehlen. 
Aber  sie  sehen  wie  alles  so  auch  dies  im  Logos,  in  dem  alles 
Sein  gründet  (1.  c,  quaest.  3,  2).  Indem  nun  die  Strafen  mit 
dem  Bösen  als  ihrem  Grund  zusammenhängen,  können  diese 
selbst  für  sie  so  wenig  als  für  Gott  direkt  ein  Grund  zur 
Ereude  sein.     Wohl  aber  freuen  sie  sich  der  Gerechtigkeit  des 

30* 


468         Kap.  V:  Die  jenseitige  Vollendung  etc.  der  Christenheit. 

Richters,  indem  sie  alle  dem,  was  Gott  will,  zustimmen  (5.  6). 
Aber  Traurigkeit  kann  ihnen,  wiewohl  die  Strafen  als  solche 
ihnen  keine  Freude  bereiten,  aus  denselben  nicht  erwachsen, 
weil  ihr  seliger  Wille  der  Traurigkeit  überhaupt  nicht  fähig 
ist  (6).  Die  Seligkeit  währt  ewig,  aber  auch,  solange  das  Böse 
da  ist,  die  Strafvergeltung,  a  qua  nos  custodire  dignetur  qui 
est  benedictus  in  secula  seculorum,  Amen  (1.  c.  quaest.  6,  16). 
Das   sind   die  Schlussworte   des   grossen  Sentenzenkommentars. 


II.   Die  Kirche  und  die  ideale  Form  ihres  diesseitigen 

Daseins. 

1.  Der  Begriff  der  Kirche. 

Nachdem  wir  die  scotistische  Sakramentslehre  und  Escha- 
tologie  besprochen  haben,  wollen  wir  einige  Bemerkungen  über 
seinen  Kirchenbegriff  machen.  Wären  wir  hiefür  nur 
auf  die  Sentenzenkommentare  gewiesen,  so  wäre  nicht  viel  zu 
sagen.  Da  der  Lombarde  über  die  Kirche  nicht  eingehend 
gehandelt  hat,  so  sucht  man  bekanntlich  in  den  scholastischen 
Lehrgebäuden  meist  vergebens  nach  einem  genaueren  Abschnitt 
de  ecclesia.  —  Die  Definition  der  Kirche  teilt  Duns  mit  seinen 
Arbeitsgenossen.  Die  Kirche  ist  universitas  fidelium  (Report. 
IV  dist.  24  quaest.  1,  5),  communio  fidelium  (in  Sent.  IV 
dist.  19  qu.  unic.  §  15),  congregatio  fidelium  (de  perfectione 
statuum  §  34.  9  cf.  communitas  IV  dist.  21  quaest.  2,  10). 
Aber  diese  Definition  besagt  nur,  dass  die  Kirche  alle  Christen 
umfasst,  die  fideles  sind  eben  nicht  die  Gläubigen  im  religiösen, 
sondern  im  statistischen  Sinn.  Das  zeigt  besonders  die  zuletzt 
angeführte  Stelle :  die  Sarazenen  gehören  nicht  zur  Kirche, 
denn  sie  ist  congregatio  fidelium  tantum.  Indem  aber  die 
Kirche  eine  politia  ordinata  ist,  ist  in  jene  Definition  der  ganze 
hierarchisch  sakramentale  Apparat  eingeschlossen,  wie  be- 
sonders klar  die  Darstellung  des  Thomas  zeigt  (s.  meine 
Dogmengesch.  II,  S.  127  f.).  Hienach  ist  es  aber  zwecklos 
auszuführen,  dass  auch  nach  Duns  die  Kirche  die  Christenheit 
ist,  die  durch  das  evangelische  und  kirchliche  Recht  mit  seinen 
Glaubenssatzungen,  seinem  Sittencodex  und  seiner  sakramentalen 


Der  Begriff  der  Kirche.  469 

Ordnung,  dem  Papst,  den  Bischöfen  und  den  praelati  unter- 
worfen ist.  Das  sind  Gedanken,  die  ebenso  allgemein  waren, 
als  die  Belege  aus  Duns  im  Vorhergehenden  unschwer  zu 
finden  sind.  Auch  dass  Duns  den  positiv  rechtlichen  Charakter 
der  Kirche  mit  ihren  Lehren  und  Satzungen  besonders  betont 
und  darin  ein  Gegengewicht  zu  seiner  kritischen  Theologie  ge- 
funden hat,  ist  bereits  gesagt  worden  (oben  S.  122  f.). ^) 

2.    Das    Ideal    der    Kirche    und    die    Kritik    ihres 
wirklichen  Zustande s. 

1.  Nun  hat  uns  aber  die  neue  Pariser  Ausgabe  der  Werke 
des  Duns  eine  Schrift  bekannt  gemacht,  in  der  Duns  eingehend 
von  den  kirchlichen  Amtern  und  Ordnungen  handelt  (oben 
S.  62),  dabei  aber  als  Minorit  eine  Anzahl  von  Gesichts- 
punkten und  Urteilen  bietet,  die  man  nach  den  Sentenzen- 
kommentaren nicht  hätte  erwarten  können.  Er  zeigt  sich 
dabei  ebenso  sehr  als  begeisterten  Franziskaner,  wie  als  unab- 
hängigen Theologen. 

Es  ist  die  Schrift  de  perfectione  statuum,  auf  deren 
Gedanken  wir  jetzt  einzugehen  haben.  Die  Hierarchie  hat 
partes  essentiales ,  die  notwendig  da  sein  müssen  um  des  an 
der  Kirche  durch  sie  zu  verwirklichenden  Zweckes  willen.  Das 
christliche  Volk  braucht  nämlich  wegen  seiner  Unbildung  und 
Neigung  zum  Bösen  verständige  Männer,  die  als  seine  Lehrer 
auftreten,  es  im  Glauben  ernähren  und  erhalten,  sowie  die 
cura  animarum  an  den  Bekehrten  bethätigen,  besonders  da- 
durch, dass  sie  die  Sünder  absolvieren  oder  ihre  ewige  Strafe 
in  zeitliche  verwandeln.  Cura  animarum  werden  wir  wohl  sach- 
entsprechender mit  „Kirchenzucht"  als  mit  „Seelsorge"  über- 
setzen. Sodann  bedarf  es  solcher,  die  den  von  Christus  ge- 
stifteten Kultus,  der  nur  in  Gebet  und  der  Darbringung  der 
Hostie  besteht,  ausführen.  Die  Hostie  vermögen  nur  Priester 
zu  weihen.  Da  nun  alles  Sein  nicht  schlecht  geordnet  ist,  so 
wird  diese  Macht   der  vielen  Priester   auf   ein  Prinzip  zurück- 


^)  Eine  Unterscheidung  der  wirklichen  und  der  scheinbaren  Glieder 
der  Kirche,  wie  ich  sie  bei  Richard  von  Middleton  nachgewiesen  habe 
(oben  S.  23 f.),  ist  mir  bei  Duns  nicht  begegnet. 


470         Kap.  V:  Die  jenseitige  Vollendung  etc.  der  Christenheit. 

greifen.  Das  ist  der  Papst:  et  hunc  dicimus  vicarium  Christi 
super  totum  mundum  potentiam  habentem  et  ordinationem. 
Auf  diese  Grundelemente  geht  die  hierarchische  Bethätignng 
zurück  (1.  c.  §  14).  Sonach  niuss  die  Kirche  lehren  und  über  die 
Bekehrten  wachen,  wobei  der  dazu  Verpflichtete  bereit  sein 
muss  auch  zu  sterben  zum  Heil  einer  anderen  Seele  (15),  und 
endlich  die  Verwaltung  der  Sakramente  ausüben.  An  und  für 
sich  kann  die  Sorge  um  die  Seelen  der  Brüder  in  dem  näm- 
lichen Sinn  als  Pflicht  aller  Christen  bezeichnet  werden.  Die 
christliche  Liebe  ist  es,  die  dazu  veranlasst,  selbst  sein  Leben 
für  die  Seele  des  Bruders  einzusetzen,  nicht  aber  der  Papst, 
der  niemand  zu  sterben  befehlen  darf  (15).  Aber  dies  schliesst 
natürlich  nicht  aus,  dass  der  Papst  einigen  die  amtliche  Pflicht 
zu  dieser  Sorge  für  die  Seelen  auferlegt,  sonst  ginge  es  in 
der  Kirche  leicht  her,  wie  in  einem  Hause  mit  sehr  vielen 
Dienstboten,  wo  jeder  sich  auf  den  anderen  verlässt  und  daher 
schliesslich  nichts  geschieht.  Indem  nun  dem  Papst  commit- 
titur  regimen  et  ordinatio  universorum,  setzt  er  gesetzeskundige 
und  gute  Männer  ein,  denen  man  die  Sorge  für  eine  Gemeinde 
zutrauen  kann.  Man  nennt  diese  Leute  daher  curati.  Auf 
eine  Gemeinde  soll  ein  solcher  seine  Sorge  richten  und  dadurch 
unterscheidet  sich  sein  Beruf  von  dem  gemeinchristlichen.  Alle 
Christen  sollen  also  für  die  Seelen  der  Brüder  Sorge  tragen, 
aber  nur  einzelnen  ist  die  Pflicht  dies  in  einem  besonderen 
Kreise  zu  thun  auferlegt.  Es  ist  klar,  dass  indem  die  Qualität 
des  Handelns  bei  diesen  und  jenen  die  gleiche  ist,  an  sich 
dem  Handeln  der  curati  keine  grössere  Verdienstlichkeit  zu- 
kommt als  dem  der  Laien  (16).  Zu  der  Erfüllung  der  Auf- 
gaben des  Amtes  gehört  auch  das  Streben  nach  sittlicher  Voll- 
kommenheit, da  aller  Augen  auf  die  Lehrer  hinblicken.  Aber 
der  Prälat  erreicht  nicht  als  solcher  die  Vollkommenheit, 
sondern  nur,  sofern  er,  wie  die  anderen  auch,  durch  die  That 
zeigt,  dass  er  die  Welt  mit  ihren  Gütern  verachtet  imd  dies 
Leben  für  eine  Pilgrimschaft  ansieht  (19).  Damit  haben  wir 
die  erste  Wesensfunktion  der  Kirche  kennen  gelernt:  es  ist 
die  Sorge  um  die  Seele  der  Bekehrten,  die  jedem  Christen 
obliegt,  insonderheit  aber  den  kirchlichen  Beamteten  für  ihre 
Sprengel  vom  Papst  aufgetragen  wird. 


Die  seelsorgerliche  und  episkopale  Thätigkeit  der  Kirche.       471 

2.  Hiezu  kommt  die  sacerdotale  und  die  episkopale 
Funktion  in  der  Kirche.  Beide  gewähren  die  Gewalt  über 
bestimmte  Sakramente.  Aber  diese  Gewalt  verpflichtet  an  sich 
nicht  einmal  zur  Sorge  um  die  Seelen.  Es  ist  aber  geziemend, 
dass  der  Priester  ein  sittliches  Leben  führt  (21),  geradeso  wie 
es  dessen  bei  dem  Seelsorger  bedarf.  Die  sakramentale  Seite 
in  der  Arbeit  des  Prälaten  bedarf  also  nur  des  Auftrages, 
einer  gewissen  technischen  Fertigkeit  sowie  der  allgemeinen 
christlichen  Sittlichkeit  (23).  Ebenso  empfängt  die  seelsorger- 
liche Fimktion  ihre  ethische  Qualität  nicht  aus  einer  spezi- 
fischen Vorschrift  oder  Befähigung,  sondern  aus  der  allen 
Christen  geltenden  Regel  der  Liebe.  ^)  Wie  nun  der  Priester- 
stand nach  den  beiden  Funktionen,  die  er  ausübt,  ethisch 
nicht  über  den  Laien  steht,  sondern  mit  ihnen  der  Regel 
der  Liebe  untersteht,  so  kann  auch  von  den  bischöflichen 
Funktionen  nicht  gesagt  werden,  dass  sie  auf  eine  höhere 
geistliche  Stufe  heben.  Adhuc  staute  ordinatione  ecclesiae 
sufficit  ad  salutem  quae  fidei  et  necessaria  ad  salutem  simpH- 
cibus  verbis  explicare,  populum  rudern  et  indigentem  per  se 
vel  per  alium  instruere,  bonos  fovere,  malos  corripere  et  poeni- 
tentes  absolvere  et  sacramenta  indigentibus  et  poscentibus 
ministrare  et  citius  quam  unus  de  populo  in  tempore  quo  non 
nisi  per  eum  salvari  potest  proximus,  morti  se  exponere,  quia 
magis  scandalizabuntur  tam  subditi  quam  fideles  alii,  si  fugiat 
(23).  Das  ist  der  Bischof  wie  er  sein  soll.  Es  sind  altertüm- 
liche Formen,   in  denen  Duns  ihn   schildert.     Dass  durch  die- 


^)  Es  greift  prinzipiell  über  die  in  unserer  Schrift  eingehaltene 
Linie  nicht  hinaus,  wenn  Duns  Miscellan.  quaest.  5,  14  ff.  ausführt,  dass 
man  zwar  die  actus  praedicandi,  praedicationes  et  confessiones  audiendi, 
horas  dicendi,  psallendi,  corripiendi,  consulendi,  missam  audiendi  et  ad 
ecclesias  eundi  auch  mit  einer  Todsünde  behaftet,  ausführen  kann,  ohne 
dadurch  eine  neue  Todsünde  zu  begehen;  dass  aber  dagegen  die  Spender 
wie  Empfänger  eines  Sakramentes  immer  Todsünde  thun,  wenn  sie  dabei 
in  einer  Todsünde  sind.  Eine  Ausnahme  liegt  aber  vor,  wenn  ein  ein- 
facher Kaplan  oder  Mönch,  der  nicht  sacerdos  curatus  et  deputatus  ex 
officio  ist,  tempore  neeessitatis  ein  Sakrament  zu  vollziehen  genötigt  ist. 
Da  er  hiezu  nicht  jederzeit,  wie  der  Curatus,  bereit  zu  sein  braucht,  würde 
er,  auch  wenn  er  eine  Todsünde  an  sich  hat,  keine  neue  Todsünde  thun. 


472         Kap.  V:  Die  jenseitige  Vollendung  etc.  der  Christenheit. 

selben  der  Episkopat   auf  keine  höhere  ethische  Basis   gerückt 
wird  als  der  Klerus  überhaupt  ist  aber  klar. 

3.  Nun  sind  aber  die  Funktionen  der  Kirche  (oben  S.  469) 
noch  nicht  vollständig  wiedergegeben.  ^)  Der  Prälat  setzt 
nämlich  mit  seinem  Wirken  den  Bestand  des  Glaubens  in  der 
Kirche  voraus,  denn  nur  Gläubige,  und  nicht  Sarazenen  und 
Juden,  erkennen  ihn  an  und  sind  zum  Gehorsam  gegen  ihn 
verpflichtet  (§  8).  Der  Prälat  ist  gleichsam  nur  der  Nähr- 
und Ziehvater  der  Christenheit,  dieser  setzt  aber  den  eigent- 
lichen pater  generans  voraus.  Der  Prälat  thut  genug,  indem 
er  die  Gemeinde  regiert  und  schützt  und  gute  Werke  in  ihr 
anregt  (9.  10).  Aber  bei  alle  dem  ist  der  Bestand  einer 
solchen  Gemeinde  vorausgesetzt.  Es  muss  also  einen  beson- 
deren Stand  geben,  der  die  Ungläubigen  bekehrt,  sowie  in  den 
Gemeinden  wirkliches  Leben  anregt.  Dieser  Stand,  der  bekehrt 
und  erweckt,  der  der  Kirche  die  Kinder  gebiert  und  der  ihre 
sterbenden  Mitglieder  mit  neuem  Leben  stärkt  und  belebt,  ist 
der  Stand  der  Männer  des  apostolischen  Lebens  d.  h.  der 
Bettelmönche. 

4.  Die  Notwendigkeit  eines  Standes  apostolischer  Voll- 
kommenheit begründet  Duns  nun  in  mannigfacher  Weise,  näm- 
lich aus  der  Aufgabe  des  Papstes ,  aus  dem  wirklichen  Zu- 
stand des  Klerus^  aus  den  Bedürfnissen  der  Christenheit  und 
der  Thätigkeit  der  Bettelorden.  Wir  müssen  ihm  auf  diesen 
Wegen  folgen.  Der  Papst  ist  der  vicarius  Christi  im  um- 
fassenden Sinn.  Also  nicht  nur  als  der  praelatus  ecclesiae, 
sondern  auch  sofern  Christus  totius  mundi  tarn  fidelium  quam 
infidelium  dominus.  Deshalb  kann  der  Papst  auch  die  Länder 
von  NichtChristen  oder  ihre  Güter  nach  seinem  Gutdünken  an 
Christen  verschenken,  wie  ein  Keichsverweser  über  die  rebelli- 
schen Unterthanen  seines  Herrn  und  ihren  Besitz  verfügt. 
Aus  dieser  Stellung  des  Papstes ,  der  also  als  solcher  einfach 
das  Königtum  Christi  vertritt,  folgt :  et  papae  ut  sie  nullus  est 
aequalis  nee  similis,  ipse  enim  ut  sie  unus  est  et  singularis, 
nulli  debet  scribere  ut  fratri  tauquam  sibi  pari.  Bischöfe  und 
Kardinäle    sind   seine   Untergebenen,    bezw.   dienende  Berater. 


^)  Dies  ist  sachlich  klar,  formell  aber  nicht  so  ausgedrückt. 


Der  Papst  und  seine  kirchliche  Aufgabe.  473 

Es  gilt  nun  aber  vom  Papst  wie  von  den  Bischöfen,  dass  sie 
nur  ratione  ordiuis  ihre  überragende  Stellung  innehaben. 
Persönlich  und  sittlich  betrachtet  steht  aber  der  Papst  samt 
dem  ganzen  Klerus  unter  den  apostolisch  Vollkommenen. 
Status  ergo  papalis  vel  episcopalis  ut  sie  est  statu  alio  dignior 
in  ratione  ordinis,  est  tamen  minus  perfectus  in  gradu  meri- 
toriae  conversationis  (1.  c.  §  46).  Es  ist  ethisch  angesehen 
schwerer  und  daher  von  grösserer  sittlicher  Vollkommenheit 
auf  die  ganze  Welt  zu  verzichten,  wie  die  Bettelmönche,  als 
die  ganze  Welt  zu  regiereu,  wie  die  Päpste  (77  f.).  Die  Hoheit 
des  Papstes  ist  also  rein  amtlich  und  keinesfalls  persönlich  zu 
verstehen.  'Das  ist  eine  Konsequenz,  die  Duns  völlig  klar  ein- 
sieht. Er  weiss ,  dass  die  päpstliche  Gewalt  auch  in  infideli 
pessimo  et  vilissimo  peccatore  sein  kann,  denn  sie  ist  weder 
ein  Tugendakt  noch  eine  eingegossene  Qualität  (75),  also 
nur  ein  Amt  und  eine  Befugnis,  die  von  den  sittlichen  Quali- 
täten des  Inhabers  nicht  berührt  wird. 

Die  amtliche  Stellung  des  Papstes  schliesst  nun  aber  einen 
Komplex  von  Pflichten  in  sich.  In  dem  Papsttum  lebt  Christus 
fort  in  der  Welt,  es  hat  das  Werk  Christi  auszurichten.  Der 
Papst  ist  der  Herr  der  Schafe,  aber  auch  ihr  Hirte,  wie 
Christus  (71).  Daher:  inquantum  Christi  vicarius  de  universo 
ordinat  ad  dei  honorem  et  ad  salutem  animarum 
(46).  Wie  Christi  Werk  abzielte  auf  die  Ehre  Gottes  und  das 
Heil  der  Seelen,  so  hat  auch  der  Papst  zu  diesem  Zweck 
zu  wirken. 

Nun  sind  die  Grundfunktionen,  vermöge  welcher  Christus 
und  dann  die  Kirche  Leben  verbreiten  und  erhalten,  die  Seel- 
sorge an  den  Bekehrten,  die  Sakramente  und  die  Einwirkung 
durch  das  christliche  Leben.  Dass  dies  geschehe  zu  bewirken, 
ist  also  die  Aufgabe  des  Papstes,  sofern  er  Christi  Nachfolger 
ist.  Die  persönliche  Durchführung  der  beiden  ersten  Aufgaben 
ist  ihm  aber  naturgemäss  unmöglich.  Daher  bedarf  er  der 
kirchlichen  Amter,  die  die  Sakramente  austeilen  und  für  ein 
gutes  Regiment  sorgen.  Aber  in  den  meisten  Fällen  ist  er 
auch  nicht  in  der  Lage  die  Macht  des  christlichen  Lebens  zu 
repräsentieren,  daher  bedarf  er  der  apostolisch  Vollkommenen 
oder  der   Bettelmönche   (72.  73).     Man   muss    sich   hier   noch 


474        Kap.  V:  Die  jenseitige  Vollendung  etc.  der  Christenheit. 

daran  erinnern,  dass  der  Papst  auch  Herr  der  Nichtchristen 
ist;  diese  erreicht  er  aher  nur  durch  die  Mission,  wie  sie 
wirkungsvoll  nur  die  Bettelorden  ausübon  können  (s.  unten).  ^) 
So  besteht  denn  für  Duns  die  ganze-  Macht  und  Herrlichkeit 
des  Papsttums  fort,  aber  dieselbe  ist  zunächst  Pflicht  und 
Dienst.  Eine  vorgeschriebene  Norm  haben  die  Päpste  zu  er- 
füllen, das  Werk  Christi  zur  Ehre  Gottes  sollen  sie  treiben, 
nicht  nach  ihren  persönlichen  Velleitäten  herrschen.  Und 
dieser  Dienst  schliesst  als  notwendiges  Mittel  in  sich,  nicht 
nur  das  kirchliche  Amt,  sondern  vor  allen  Dingen  das  geist- 
liche vollkommene  Leben,  das  die  Bettelmönche  repräsentieren. 
Daher  ist  es  eine  Pflicht  der  Päpste  diese  Orden  vor  allem 
zu  schützen  und  zu  unterstützen,  denn  sie  sind  der  Kirche 
nötiger  als  die  Priester  (94) ;  die  Päpste  sollen  sie  daher  gegen 
Verleumder  verteidigen  und  sie  nicht  öffentlich  und  mit  Diffa- 
mation tadeln  (95). 

So  braucht  also  die,  Kirche,  wenn  sie  Christi  Werk  treiben 
will,  unbedingt  die  Bettelorden.  Das  gilt  vom  Klerus,  aber 
erst  recht  vom  Papst.  Nicht  die  Lehre,  nicht  die  Kirchen- 
zucht, nicht  die  Sakramente  bringen  Leben  in  die  Kirche  und 
erhalten  das  Leben,  das  thut  nur  das  neue  Leben,  wie  Christus 
und  die  Apostel  es  lebten  und  wie  die  Jünger  des  heiligen 
Franz  es  wieder  leben. 

5.  Aber  diese  Forderung  wird  erst  recht  einleuchtend, 
wenn  man  erwägt,  wie  wenig  das  Amt  der  Prälaten  von  unten 
an  bis  oben  herauf  vom  christlichen  Leben  zu  seiner  Aus- 
übung bedarf.  Die  ganze  Bitterkeit  eines  überzeugten  franzis- 
kanischen Reformers  spricht  aus  den  Ausführungen  des  Duns. 
Die  Prälaten  bedürfen  zur  Erfüllung  ihrer  Aufgaben  nicht  des 
vollkommenen  Lebens  der  Apostel.  Sie  können  ihr  Amt  ver- 
sehen, mit  hohen  Ehren  und  grossen  Reichtümern,  mit  aller- 
hand Vergnügungen,  mit  Macht  und  Anhang  (familia),  gerade 
ebenso  wie  die  grossen  Herren  und  Könige  der  Welt.  Sie 
können  um   alle  diese  Güter  kämpfen   und  grosse  Heere  dazu 


^)  Die  Mission  erscheint  also  neben  der  Predigt  als  eine  notwendige 
Funktion  der  Xirche.  Man  wird  sich  dabei  der  reichen  Missionsthätigkeit, 
die  die  Minoraten  entfaltet  haben,  zu  erinnern  haben. 


Prälaten  und  BettelmÖnche.  475 

in  das  Feld  führen  et  infinitum  populum  ducum,  comitum, 
baronum,  militum  et  aliorum  nobilium  unter  sich  haben.  Ja 
sie  können  sich's  wohl  sein  lassen  mit  „Delikatem"  und  schliess- 
lich sich  auch  mit  Gattinnen  vergnügen,  sie  dürfen  Feldlager 
und  Pfalzen  errichten,  ihre  Verwandten  bereichern,  alles  so 
wie  die  Leute,  die  kein  anderes  Leben  kennen.  Imo  multi,  de 
quibus  non  diceretur  ab  aliquo,  quod  in  statu  sunt  damnan- 
dorum,  magis  mundane  ad  ista  temporal ia  se  habent  quam 
antiquitus  consules ,  senatores ,  imperatores ,  infideles  totius 
mundi.  Und  ein  Stand,  dem  ein  solches  Leben  möglich  ist, 
der  sollte  die  Ungläubigen  zum  Leben  erwecken  und  die 
Gläubigen  durch  sein  Leben  von  dieser  Welt  auf  die  andere 
Welt  hinweisen  können  (12)!  Das  Volk  kann  doch  nur,  dem 
Augenschein  folgend,  in  ihnen  Leute  sehen,  die  Ruhm,  Macht 
und  Geld  suchen  (28).  Und  wenn  solche  Männer  in  den  Zeiten 
der  Gefahr  fliehen,  so  kann  das  die  einfachen  Leute  garnicht 
Wunder  nehmen :  sciunt  enim  homines  de  populo,  quanto  aliquis 
magis  est  in  honoribus ,  dignitatibus ,  divitiis  et  aliis  mundo 
pertinentibus,  pascitur  splendidius,  vestitur  nitidius,  sibi  servitur 
et  ministratur  velocius,  cubat  mollius,  equitat  egregius,  et  de 
statu  humili  et  despecto  aliquando  quasi  subito  et  ex  inopinato 
elevatur  superius  et  omnes  sibi  obediunt  promptius,  prospera 
quaeque  sibi  eveniunt  abundantius  quam  ipsis :  magis  debere 
inclinari  ad  vivendum  et  ad  ipsa  quae  in  mundo  sunt  diligenda 
quam  ipsos  populäres,  quibus  talia  non  contingunt,  sed  tribu- 
lationes  et  labores  et  frequenter  cetera  mundi  mala  et  nonnun- 
quam  a  suis  et  superioribus  et  aequalibus  persecutiones 
patiuntur  (29).  Bei  dieser  Sachlage  wird  der  Klerus  durch 
sein  Leben  nie  und  nimmer  zum  ewigen  Leben  erleuchten, 
sondern  eher  die  Kirche  in  ihrem  entgegengesetzten  Leben 
bestärken  (29). 

Das  Leben  eines  Prälaten  bietet  also  wenig  Arbeit  und 
viel  Gewinn  und  Lust,  sodass  die  Mehrzahl  der  Menschen  sich 
für  alle  Ewigkeit  kein  besseres  Los  zu  wünschen  wüsste: 
delectabilem  in  magnis  divitiis  et  honoribus  et  ceteris  aliis 
bonis  vitam  ducunt,  quam  hilariter  acceptant  asserentes  se 
super  alios  omnes  in  merito  maiori  esse.  Und  dazu:  non 
obstantibus   quibuscunque   laboribus    quas   vident    in    praelatis, 


476         Kap.  V:  Die  jenseitige  Vollendung  etc.  der  Christenheit. 

commuiiitas  muudi  omnis  sustineret  et  beatam  se  diceret,  si 
aeternaliter  talem  statum  cum  tota  sollicitudine  habere  posset 
(32).  Gibt  es  doch  Bischöfe,  die  nie  oder  nur  ganz  selten  ihr 
Bistum  betreten  haben,  und  die  niemand  weder  dort  noch  ander- 
wärts hat  predigen  hören  (44). 

Aus  diesem  sittlichen  Stand  der  Prälaten  folgt  ihre  Un- 
fähigkeit die  Heiden  zu  bekehren,  die  Bösen  zu  echter  Busse, 
die  unvollkommenen  zum  Streben  nach  Vollkommenheit  anzu- 
regen. Tagediebe  und  Wollüstlinge,  die  überdem  sich  mit 
imaginären  Verdiensten  brüsten,  können  naturgemäss  die  Welt 
eher  dazu  bringen,  dass  sie  Busse  und  Mühe  flieht,  um  in 
Reichtum  und  Herrlichkeit  weiter  zu  leben :  et  hoc  videmu8 
ad  oculum  verum  esse  (32.  30).  Also  bedarf  die  Kirche  der 
Bettelmönche,  die  das  Leben  Christi  und  der  Apostel  führen 
und  wirksam  werden  lassen. 

6.  Schliesslich  wird  durch  das  Leben  der  apostoüschen 
Vollkommenheit  der  Beweis  für  ihre  Notwendigkeit  in  der 
Kirche  erbracht.  Was  sie  verbo  lehren,  bewähren  sie  facto 
(11).  Jedem  Menschen  wird  aber  der  instinctus  rectae  rationis 
sagen,  dass  niemand  Beichtum,  Ehren  und  Freuden  verachten, 
das  Vaterland  und  die  Freunde  verlassen  und  sich  ganz  dem 
Willen  eines  anderen  unterordnen,  mit  dem  Notdürftigsten  zu- 
frieden sein  wird:  nisi  bona  alia  multo  excellentiora  et  magis 
appetenda  quam  ista  et  vitam  futuram  aeternam  crederet  et 
ibi  inaestimabilem  remunerationem  maximorum  bonorum  fir- 
missime  speraret  (13).  Das  fromme  Leben  der  Mönche,  ihre 
Entsagung  hinsichtlich  der  Welt  bewährt  sonach  der  Welt, 
dass  es  ihnen  Ernst  ist  mit  dem  Glauben  an  die  andere  Welt 
und  ihre  Güter.  Wird  so  durch  ihren  sittlichen  Ernst  das 
Vertrauen  zu  ihrer  Wahrhaftigkeit  erzeugt,  so  ruft  die  sittliche 
Güte  ihres  Wandels  auch  Vertrauen  zu  ihrer  Sache  hervor. 
So  war  es  auch  bei  Christo,  er  lebte  und  that  zunächst^  und  dann 
erst  lehrte  er  (35).  Nichts  ist  so  kräftig  Glauben  zu  erzeugen 
als  die  bonitas  loquentis.  Ad  fidem  faciendam  de  trinitate  et 
incarnatione  et  multis  aliis  quae  debet  praedicans  proponere, 
desunt  argumenta  sufficientia  et  indispositio  est  in  auditoribus ; 
ergo  ad  fidem  faciendam  de  trinitate,  citra  miracula  dico,  et 
sie  de  ceteris  aliis  multis  ad  fidem  pertinentibus,  maxime  valet 


Das  Bettelmönchtum  als  Herz  der  Kirche.  477 

bonitas  loquentis  (13).  Das  fromme  Leben  der  Bettelmönche 
wirkt  auf  ihre  Hörer  und  macht  diese  bereit  auch  ihrer  Lehre 
zu  folgen.  —  Nun  bedarf  es  aber  einer  solchen  Wirkung,  so- 
wohl in  der  Mission  den  Ungläubigen  gegenüber  als  auch  unter 
den  Gläubigen.  Daher  bedarf  die  Kirche  dieses  Standes 
apostolisch  vollkommener  Männer  (14).  Gegenüber  der  blossen 
Technik  des  sakramentalen  und  kirchenzuchtlichen  Handelns 
ist  hier  nicht  nur  das  Wort,  sondern  auch  die  That  wirksam. 
Und  dadurch  wird  mehr  gewirkt:  praecipere  enim  opera  vir- 
tuosa  perfecta  illis  qui  ex  voto  tenentur  et  alia  necessaria  ad 
salutem  et  pertinentia  ad  honestatem  toti  communitati  christia- 
norum  et  nolentes  excommunicare  vel  alio  modo  punire  et 
poenitenter  absolvere  et  sacramenta  conferre  credentibus :  tales 
actus  non  ita  movent  homines  etiam  christianos  ad  praedicta 
bona  opera  meritoria  facienda,  sicut  contemptus  omnium  mundi- 
alium,  perpessio  voluntaria  et  cetera  talia  (81).  Deshalb  aber 
wirken  sie  nicht  nur  äusserlich ,  sondern  innerlich,  bekehrend 
und  zur  Busse  und  guten  Werken  anregend  (33).  Daher  sind 
sie  die  rechten  geistlichen  Väter  der  Kirche,  die  Glaube,  Liebe 
und  Hoffnung  in  den  Herzen  erzeugen  und  diese  darin  er- 
halten, während  die  Prälaten  nur  durch  ihre  äusseren  Mittel 
sich  an  der  Erhaltung  dieses  Lebens  beteiligen.  So  sind  die 
Bettelmönche  in  ihrem  Leben  wie  in  ihrem  Wirken  die  rechten 
und  eigentlichen  Nachfolger  der  Apostel  und  Christi:  spiritu 
sancto  inspirati  vitam  perfectam  et  poenalem  cum  sana  doctrina 
fidei  et  contemptu  mundi  tenent  Christi  et  apostolorum  (93). 
7.  Durch  diese  Betrachtungen  ist  das  Bettelmönchtum  in 
den  Mittelpunkt  des  kirchlichen  Lebens  gerückt.  Die  Hierarchie 
ist  die  Schale,  das  Mönchtum  der  Kern  der  Kirche.  Die 
wirklichen  Werte  im  Leben  der  Kirche,  der  Glaube  und  die 
Liebe  werden  nicht  von  den  äusseren  Mitteln  der  Prälaten, 
sondern  von  den  Mönchen  gewirkt  in  der  Kraft  des  neuen 
Lebens,  das  sie  führen,  wie  auch  die  Apostel  Bekehrer  waren 
nicht  zunächst  vermöge  ihres  Amtes,  sondern  vermöge  des 
apostolischen  Lebens  der  Vollkommenheit  (40).  —  Hieraus 
ergibt  sich  nun  die  höhere  Bedeutung  des  Mönchsstandes  vor 
den  Prälaten.  Das  Mass  dieser  Überlegenheit  kann  aus  den 
beiderseitigen  Wirkungen  erkannt  werden,  wie  das  in  folgenden 


478         Kap.  V :  Die  jenseitige  Vollendung-  etc.  der  Christenheit. 

merkwürdigen  Sätzen  zum  Ausdruck  kommt:  quauto  fides 
mundo  est  necessarior  quam  sacramentalisin  aqua 
ablutiOj  infidelium  conversio,  fidei  confirmatio 
quam  fidelibus  praelatis  ecclesiasticis  subiectio, 
articulorum  et  ad  salutem  necessarior  um  praedi- 
catio,  de  peccatis  contritio  quam  sacramentalis 
absolutio,  voluntaria  bona  operatio  quam  timor 
excommunicationis  vel  poenarum,  honesta  exterior 
conversatio:  tanto  unus  status  magis  quam  alius  est  in  se 
perfectior  et  mundo  simpliciter  magis  necessarius,  sed  status 
vitam  apostolorum  tenentium  et  status  praelatorum  sie  se 
habent  (93).  Steht  es  aber  so,  dann  verhalten  sich  die  Prä- 
laten zu  den  Bettelmönchen  wie  der  Positiv  zum  Komparativ, 
nämlich  hinsichtlich  ihrer  Nutzbarkeit  für  die  Kirche  (17), 
dann  ist  jeder  Christ  ihnen  mehr  als  den  Prälaten  verpflichtet, 
denn  erstere  erzeugen  das  neue  Leben  in  ihnen  und  thun  es 
umsonst,   während   letztere   gemietet  und   bezahlt  werden  (34). 

Gott  hat  dem  gegenwärtigen  Zeitalter  wieder  die  Männer 
der  apostolischen  Vollkommenheit  gesandt,  da  es  ihrer  bedarf. 
Aber  sie  sind  schon  früher  dagewesen.  In  der  ersten  Zeit 
der  Kirchengeschichte  oder  der  Periode  der  Verfolgungen 
■waren  sie  als  Bekehrer  und  Missionare  unbedingt  nötig.  Dann 
folgte  die  Periode  der  Häresien,  hier  genügte  es  an  Männern, 
die  über  die  rechte  Lehre  verfügten.  Aber  nachdem  dann  die 
Liebe  in  der  Kirche  erkaltet  und  die  Weltlust  übermächtig  ge- 
worden und  man  ähnlich,  wie  einst  die  Juden,  zwar  das  rechte 
Gesetz  besitzt,  aber  nicht  darnach  thut,  bedurfte  es  wieder  der 
Mönche  (41). 

8.  Wenn  also  die  Bettelmönche  zur  Wohlentwicklung  der 
Kirche  absolut  notwendig  sind  und  sie  doch  auch  leiblicher 
Nahrung  bedürfen,  so  kann  ihnen  das  Recht,  diese  von  anderen 
zu  empfangen,  noch  weit  weniger  abgestritten  werden,  als  den 
Prälaten  (60).  Wie  die  Apostel  Christi  ziehen  sie  durch  das 
Land  und  predigen  das  Evangelium,  ohne  nach  Nahrung  oder 
Kleidung  zu  fragen,  denn  sie  kennen  das  Wort  von  den  Lilien 
auf  dem  Felde.  Nun  sagt  man  freilich,  gerade  weil  sie  keine 
sicheren  Einnahmen  und  keinen  Besitz  haben,  müssten  sie  mehr 
als   alle   anderen  Menschen   an   das  tägliche  Brot  denken  und 


Die  Bedeutung  der  Bettelmönche  für  die  Geschichte.  479 

darum  Sorge  tragen,  es  hier  oder  dort  zu  erlangen.  Aber  das 
ist  eine  falsche  Anschuldigung,  denn  erst  das  Eigentum  be- 
wirkt, dass  die  Seele  au  deu  äusseren  Gütern  klebt  (61),  sie 
dagegen  nehmen  es  wie  es  kommt,  sie  haben  bald  Mängel, 
bald  Überfluss,  sie  brauchen  alles,  aber  nicht  als  Eigentum  (62). 

9.  Das  ist  es  um  die  Männer  der  apostolischen  Voll- 
kommenheit. Sie  sind  der  Kirche  nötiger  als  jeder  andere 
Stand,  denn  sie  sind  die  wirkungskräftigen  Prediger  des  Evan- 
geliums, wirkuugskräftig  eben  vermöge  ihrer  perfecta  vita.  Sie 
stehen  wie  jede  kirchliche  Organisation  unter  dem  Papst  als 
dem  Vikar  Christi.  Nun  war  Christus  der  Herr  der  Schafe 
wie  ihr  Hirte,  und  Petrus  wie  die  Päpste  folgten  ihm  in  beidem. 
Kegieren  und  Weiden  sind  also  die  Aufgaben  des  Papstes  wie 
der  kirchlichen  Amt  er.  Jenes  geschieht  durch  die  kirchliche 
Zucht,  dies  durch  die  Predigt.  Jenes  kann  der  Papst  be- 
sorgen, selten  aber  dies.  Als  Regent  steht  er  über  den  Prälaten 
wie  über  den  Predigern,  wie  denn  im  Staat  der  Herrscher  auch 
den  Weisen  zu  befehlen  hat.  Aber  sie  haben  das  Leben  und 
er  die  Macht,  und  das  Leben  ist  mehr  als  die  Macht  (71). 
Aber  nie  darf  ein  Papst  die  Macht  vom  Leben  trennen,  denn 
beides  gehört  zur  Leitung  der  Kirche  und  muss  daher  im 
höchsten  Hierarchen  vereinigt  sein.^)  Daher  muss  der  Papst 
die  Repräsentanten  des  Lebens  ansehen  wie  einen  Teil  von 
sich  selbst,  sie  folgen  in  der  hierarchischen  Abstufung  sofort 
auf  den  Papst  (72).  Post  ergo  domini  papae  virtutem  regitivam 
immediate  est  Status  praedictus  tanquam  sua  vita  ad  sim- 
pliciter  perfectam  hierarchiam  intranee  requisita,  et  per  conse- 
quens  est  de  intranea  ratione  perfectae  hierarchiae  (74). 

So  stehen  in  der  Kirche  Christi  die  praelati  und  die 
Bettelmöche  einander  gegenüber.  Et  quamvis  de  scribis  et 
pharisaeis  (Christus)  diceret:  „omnia  quaecunque  dixerint  vobis, 
servate  et  facite",  non  tamen  eos,  sed  alios  vitam  perfectam 
tenentes  ad  praedicandum  voluit  destinare,  quia  plus  vita 
quam  doctrina  mundum  potest  movere  (95). 

10.  Das  hohe  dogmengeschichtliche  Interesse  dieser  Aus- 


^)  Mutatis  mutandis  kann  man  sich  bei  diesem  Idealpapst  erinnern 
des  „Kirchenfürsten",  wie  ihn  Schleiermacher  auffasste. 


480         Kap.  Y :  Die  jenseitige  Vollendung  etc.  der  Christenheit. 

fühniii^en  des  grossen  Dogmatikers  liegt  auf  der  Hand.  Die 
Ideen  der  grossen  Reformation  des  13.  Jahrhunderts  klopfen 
an  die  Thore  des  Kirchenbegriffes  und  begehren  Einlass.  Noch 
tastet  man  nicht  an  den  Thron  des  Papstes  und  an  die  Sessel 
der  Bischöfe,  noch  bleibt  das  Kirchenrecht  und  die  Sakraments- 
zucht bestehen.  Aber  das  Eine  was  not  thut,  sucht  man  bei 
ihnen  vergebens.  Dies  Eine  liegt  in  etwas  anderem.  Es  ist 
die  Predigt  des  Evangeliums  von  der  Armut  und  Weltab- 
geschiedenheit, die  Predigt  von  einem  neuen  Leben,  die  eine 
überwältigende  Macht  ist,  weil  sie  von  erlebter  Überzeugung, 
von  dem  neuen  Leben  selbst  getragen  wird.  Diese  Predigt 
und  dies  Leben  ist  die  Grossmacht  in  der  Kirche,  der  alles 
andere  unterzuordnen  ist.  Sie  und  nur  sie  wirken  und  erhalten 
das  neue  Leben  in  der  Christenheit.  Die  Kirchenzucht  und 
die  Sakramente  stellen  nur  den  Rahmen  her  für  diese  Wirk- 
samkeit, sie  schaffen  und  erhalten  die  Ordnung,  aber  sie  er- 
zeugen nicht  die  Ideen  und  das  Leben,  nur  Schriftgelehrte  und 
Pharisäer,  nicht  lebensmächtige  Prediger  des  Evangeliums. 

Welch  eine  Fülle  von  Ausblicken  gewähren  diese  Ge- 
danken, hineingestellt  —  wie  sie  es  sind  —  in  den  Organismus 
der  römischen  Kirche!  Man  kann  von  dieser  Grundlage  aus 
Papst  und  Prälaten  noch  weit  schärfer  kritisieren  als  Duns  es 
gethan;  man  kann  die  ganze  hierarchische  Ordnung  noch  äusser- 
licher  und  juristischer  fassen,  als  er;  man  kann  die  evangelisch 
Vollkommenen  und  ihre  Kräfte  in  anderen  und  weiteren  Kreisen 
als  in  denen  der  Bettelmönche  suchen,  man  kann  von  hier  aus 
furchtbare  Forderungen  im  Namen  der  ,, Armen''  und  der  ,, Voll- 
kommenen'' erheben.  Und  man  kann  endlich  den  Begriff  der  evan- 
gelischen Predigt  und  des  vollkommenen  evangelischen  Lebens 
sehr  anders,  ja  vielfach  entgegengesetzt  wie  Duns  bestimmen  und 
dann  dem  ganzen  Baum  der  Hierarchie  die  Axt  an  die  Wurzel 
legen.  Und  dies  alles  ist  geschehen.  Es  genügt  an  die  Arbeit  zu 
erinnern,  die  Occam,  Wiclif  und  —  Luther  an  den  Kirchen- 
begriff gewandt  haben.  Der  Historiker  wird  die  Unterschiede, 
die  diese  Bemühungen  von  denen  des  Duns  trennen,  nicht 
übersehen,  er  wird  vor  allem  die  mittelalterlichen  Schranken 
seines  Denkens  immer  wieder  betonen  —  ihm  fehlte  das  Beste, 
der  rechte  Verstand  des  Evangeliums  — ;  aber   er  wird  auch 


Geschichtlicher  Ausblick,  481 

nicht  verkennen ,  wie  scharf  unser  Dogmatiker  die  Konse- 
quenzen der  reformatorischen  Bewegung  seiner  Tage  an  dem 
überkommenen  Kirchenbegriff  durchgeführt  hat,  man  vergleiche 
damit  etwa  die  Ausführungen  des  Thomas  über  die  Kirche  in 
seiner  Erklärung  des  apostolischen  Symbols.  —  Aber  schliess- 
lich wiederholt  sich,  was  wir  so  oft  bei  Duns  gefunden,  neben 
den  neuen  Gedanken  und  der  kühnen  Kritik  des  Überkommenen 
steht  das  positive  Eecht  der  Kirche  (s.  z.  B.  Sent.  IV  dist.  21 
quaest.  2,  10.  18;  dist.  17  quaest.  un.  15),  der  kirchliche  Posi- 
tivismus. Papst  und  Prälaten  bleiben  wie  sie  waren  und  be- 
halten was  sie  hatten ;  am  kirchlichen  Staat  darf  nichts  ver- 
ändert werden,  das  wäre  gegen  das  Kirchenrecht;  das  alte 
Kleid  wird  mit  neuen  Lappen  geflickt. 


Seeberg,  Die  Theologie  des  Duns  Scotus.  31 


Sechstes  Kapitel. 

Aus  der  Ethik  des  Duns  Scotus. 


I.   Die  ethischen  Prohleme. 

1.  Die  Kombination  zwischen  der  antiken  Tugendlehre 
und  der  christlichen  Liebe,  die  Augustin  vollzogen  hat,  ist  für 
die  Ethik  des  Mittelalters  massgebend  geworden,  nur  dass  bei 
den  Theologen  des  Mittelalters  es  nicht  in  dem  Grade  gelungen 
ist,  jene  und  diese  mit  einander  zu  vereinigen.  ^)  Der  Lombarde 
hat  auch  für  die  Ethik  die  seither  immer  wiederkehrenden 
Themata  festgestellt.  Abgesehen  von  der  im  2.  Euch  der 
Sentenzen  gegebenen  Sündenlehre  ist  die  eigentliche  Fundgrube 
für  die  Ethik  das  3.  Buch,  wo  im  Zusammenhang  der  Christo- 
logie  die  Tugend-  und  Gesetzeslehre  dargestellt  ist;  dazu 
kommt  das  ethische  Material,  das  sich  bei  Besprechung  des 
Ehe-  und  Busssakramentes  einstellt.  Eingehend  haben  dann 
auch  Alexander  und  Bonaventura,  Eichard  von  Middleton  und 
Heinrich  von  Gent,  besonders  aber  Thomas  —  in  der  grossen 
Darstellung  der  Secunda  in  seiner  Summa  —  die  ethischen 
Probleme  behandelt.  Durch  Thomas  dringt  der  ganze  aristo- 
telische Begriffsapparat  in  die  Ethik  ein.  —  So  häufig  und  ein- 
gehend die  Ethik  des  Thomas  dargestellt  worden  ist,-),  sowenig 


^)  Vgl.  z.  B.  die  Bemerkungen  Augustins  über  die  Einheit  der  Kardi- 
naltugenden mit  der  Liebe,  de  moribus  eccl.  cath.  I,  15,  25. 

^)  S.  bes.  Bietter,  Die  Moral  des  heil.  Thomas  Aquinas,  München 
1858.  Nennenswerte  Bemühungen  um  die  Ethik  des  Duns  Scotus  existieren 
m.  W.  nicht.  Die  gelegentlichen  Notizen  in  den  Geschichten  der  Ethik 
sind  nicht  dazu  angethan,  die  Erkenntnis  zu  fördern.  Dasselbe  gilt  be- 
züglich des   umfänglichen   ethischen  Materials   bei  Bichard  und  Heinrich. 


Die  ethischen  Probleme.  483 

haben  die  Historiker  der  Ethik  in  der  Regel  für  Duns  an  Zeit 
und  Kaum  übrig  gehabt.  Wenngküch  auf  den  ersten  Blick 
seine  Auffassung  vielfach  mit  dem  augustinisierenden  Aristote- 
lismus  des  Thomas  zusammenzufallen  scheint,  so  zeigt  eine  ge- 
nauere Betrachtung  doch  auch  eine  Fülle  eigenartiger  Gedanken. 
Indem  die  ethischen  Auffassungen  des  Duns  aber  auch  für 
seine  Gesamtansicht  vom  Christentum  wichtig  sind,  wollen  wir 
dieselben  im  folgenden  —  soweit  das  lückenhafte  Material  es 
gestattet  —  darstellen. 

Eine  Anzahl  von  Begriffen,  die  man  an  diesem  Ort  be- 
handeln könnte,  sind  von  uns  bereits  früher  dargestellt  worden. 
Vor  allem  erinnern  wir  an  die  Lehre  von  der  Sünde  und  Frei- 
heit (S.  216  ff.),  an  den  Begriff  des  Habitus  der  Gnade  (S.  300  ff.) 
und  an  den  Verdienstgedanken  (S.  313  f.).  Fassen  wir  die  dabei 
gewonnenen  Resultate  kurz  zusammen,  so  empfangen  wir  zu- 
gleich die  massgebenden  Gesichtspunkte  für  die  Ethik  des  Duns. 

Trotz  der  Sünde  behält  der  menschliche  Wille  seine 
Freiheit  bei.  Allein  keine  Entschliessung  des  Willens  wird 
von  Gott  als  gut  acceptiert,  sie  gehe  denn  aus  dem  eingegossenen 
Habitus  der  Liebe  hervor,  denn  nur  in  dem  Zusammen- 
hang dieses  Habitus  erkennt  Gott  eine  Handlung  als  sittliches 
Verdienst  an.  —  Wenn  also  das  Ziel  aller  Menschen  oder 
das  höchste  Gut  die  beatitudo  ist,^)  so  wird  jeder  Mensch  den 
Antrieb  haben,  dies  Ziel  zu  erreichen.  Nun  kann  die  operatio 
zur  Erreichung  eines  Zieles  factiva  finis  oder  meritoria  finis 
sein,  je  nachdem  ob  die  Thätigkeit  das  Ziel  zu  verwirklichen 
trachtet  oder  nur  bewirkt,  dass  sie  es  als  Gabe  eines  anderen 
erreicht.  Indem  aber  die  Seligkeit  nur  in  letzterem  Sinn  als 
Ziel  bezeichnet  werden  kann,  ist  deutlich,  dass  jedes  auf  sie  be- 
zogene Thun  meritorischen  Charakter  trägt  (II  dist.  5  quaest.  1,  3). 

Sonach  sind  alle  Akte  und  Habitu alitäten  des  Menschen, 
die  zur  Erreichung  des  höchsten  Gutes  dienen,  sowohl  ver- 
dienstlich als  auch  irgendwie  durch  den  Habitus  der  Liebe  be- 
stimmt. Nun  aber  kann  auch,  abgesehen  hievon,  eine  Hand- 
lung   als   gut  bezeichnet   werden,    sofern   eine   dreifache  Form 


^)  Vgl.  Aristotel.  Eth.  Nie.  I,  2.  5.     Thomas  Summa  II.  I  quaest.  1 
art.  4.  6.  8;  quaest.  3  art.  2.  4fi'. 

31* 


484  Kap.  VI:  Aus  der  Ethik  des  Duns  Scotus. 

moralischer  Güte  im  monschlichen  Willen  anzunehmen  ist,  je 
nachdem,  ob  man  daran  denkt,  dass  der  Wille  das  dictamen 
rectae  rationis  verwirklicht,  oder  dass  er  allen  Umständen  ent- 
spricht, die  jenes  dictamen  der  praktischen  Vernunft  in  sich 
fasst.  Aber  wirklich  gut,  d.  h.  ein  vor  Gott  giltiges  Verdienst 
wird  eine  Handlung  nur  dadurch,  dass  sie  von  der  Liebe  ab- 
hängt (II  dist.  7  quaest.  un.  §  11).  Im  Vollsinn  gut  ist  also 
ein  moralischer  Akt,  der  allen  diesen  Bedingungen  entspricht, 
d.  h.  ein  Akt,  der  dem  Willen  Gottes  gemäss  ist  und  zwar 
nicht  nur  hinsichtlich  der  Güte  des  Aktes  und  seines  Objektes, 
sondern  vor  allem  im  Zweck  und  in  der  entsprechenden  Ge- 
staltung aller  Umstände,  die  sich  aus  der  besonderen  Lage  des 
Menschen  ergeben  (I  dist.  48  quaest.  un.  §  2). 

2.  Aus  diesem  Zusammenhang  lässt  sich  aber  abnehmen, 
nach  welcher  Ordnung  wir  im  folgenden  die  Ethik  darzustellen 
haben.  Es  ist  zuerst  von  den  Normen  zu  handeln,  nach  denen 
die  Güte  einer  Handlung  zu  bemessen  ist,  nämllich  von  dem 
Gesetz  der  praktischen  Vernunft  oder  dem  Naturrecht,  sowie 
von  den  positiven  Gesetzen.  Es  ist  sodann  darzustellen,  was 
es  um  den  Habitus  der  Tugenden  ist,  wobei  zunächst  die  ver- 
schiedenen Gruppen  festzustellen  sind,  dann  aber  das  Ver- 
hältnis derselben  unter  einander  zu  untersuchen  ist,  besonders 
wie  sich  die  moralischen  Tugenden  zu  der  Vernunft  und  wie 
sie  sich  zu  dem  übernatürlichen  Habitus  der  Liebe  verhalten. 
Drittens  werden  w^ir  einige  praktische  ethische  Fragen  (besonders 
aus  der  Sozialethik)  erörtern. 


IL    Die    Normen    des    ethischen   Handelns;    Natnrrecht, 
göttliches   und   kirchliches   Gesetz. 

1.    Das  Naturrecht. 

1.  Die  Norm  des  ethischen  Handelns  ist  das  Gesetz.  Das 
Gesetz  ist  ethisches  Naturrecht  (lex  naturae)  und  positives 
göttliches  und  menschliches  Recht.  Unter  das  Naturrecht  fällt 
jede  ethische  Forderung,  die  als  ein  praktisches  Prinzip  auftritt, 
das  an  sich,  seinem  Begriff  nach  der  Vernunft  einwohnt,  oder 
aber  praktische  Forderungen  enthält,  die  direkt  auf  dem  Wege 


Das  Naturrecht.  485 

des  Schlusses  oder  der  logischen  Demonstration  aus  jenem  her- 
geleitet werden  können.  Propriissime  de  lege  naturae  est  prin- 
cipium  practicum  per  se  notum  et  conclusio  demonstrative  de- 
scendens  ex  tali  principio.  Nur  im  weiteren  Sinn  können  als 
naturrechtlich  solche  Forderungen  bezeichnet  werden,  die  zwar 
deutlich  übereinstimmen  mit  jenen  vernunftnotwendigen  sittlichen 
Gedanken,  die  aber  doch  nicht  mit  Evidenz  aus  ihnen  abgeleitet 
werden  können  (IV  dist.  26  quaest.  unic.  §  7 ;  ebenso  III  dist.  37 
quaest.  unic.  §  5 ;  IV  dist.  17  quaest.  unic.  §  3  cf.  dist.  33 
quaest.  1,  7). 

2.  Zum  Verständnis  dieser  Gedanken  müssen  wir  uns  der 
Lehre  von  der  Synderesis  erinnern  (oben  S.  215).  Der  antike 
Gedanke  von  den  dem  Geist  immanenten,  schlechthin  allgemeinen 
praktischen  Vernunftprinzipien  liegt  dieser  das  ganze  Mittel- 
alter beherrschenden  Idee  des  Naturrechtes,  d.  h.  im  einzelnen 
Menschen  der  Synderesis  samt  dem  Gewissen,  zu  Grunde.^) 
Es  ist  aber  ein  Zeichen  der  Denkschärfe  und  Konsequenz 
unseres  Autors,  dass  er  bemüht  ist,  diese  Prinzipien  als  rein 
formal  und  abstrakt  vernünftig  zu  bestimmen,  sie  also  von 
jeder  inhaltKch  positiven  Forderung  auch  des  göttlichen  Ge- 
setzes zu  unterscheiden.  Dadurch  wird  prinzipiell  wenigstens 
der  Widerspruch  mit  dem  Satz,  dass  der  Intellekt  vor  der 
Gewinnung  konkreter  Anschauungen  tabula  rasa  sei  (oben 
S.  97),  vermieden.  Andererseits  wird  aber  auch,  allerdings 
nur  im  Prinzip,  die  leichte  Gleichsetzung  von  kirchlichen  An- 
sprüchen und  Forderungen  mit  dem  Naturrecht,  wie  die  Hier- 
archen des  früheren  Mittelalters  sie  vollzogen,  sowie  die  Prä- 
dizierung  jeder  Kritik  der  Hierarchie  als  naturrechtlich  be- 
gründeter, die  im  späteren  Mittelalter  beliebt  war,  ausgeschlossen.*) 
Im  eigentlichen  Sinn  naturrechtlich  sind  für  Duns  also  nur  solche 
sittliche  Gebote,  die  direkt  und  formal  aus  der  Vernunft  her- 
stammen, also  etwa:   dass  man  das  höchste  Wesen  ehren  soll. 


^)  Vgl.  z.  B.  Aristotel.  Etb.  Nicom.  II.  10 :  alle  Gerechtigkeit  beruht 
auf  vöfioi,  das  Recht  zerfällt  in  (pvcfnov  und  vofimov. 

'')  Vgl.  meine  Dogmengesch.  II  S.  36.  155 f.  167 f.  Für  die  Ge- 
schichte der  Ethik  war  besonders  wichtig  die  Verwendung  des  Begriffes 
in  dem  Dekret  des  Gratian,  sowie  der  Gebrauch,  den  Abälard  von  ihm 
gemacht  hat,  s.  bes.  den  Dialog,  bei  Migne  178,  1619  ff. 


486  Kap.  VI:  Aus  der  Ethik  des  Duns  Scotus. 

oder  dass  mau  niemand  das  thun  soll,  was  man  sich  nicht 
selbst  gethan  sehen  möchte.  Indem  diese  Gebote  einfach  mit 
der  Vernunft  gegeben  sind,  kann  niemand  von  ihnen  dispensieren. 
Daher  ist  klar,  dass  eine  lauge  Eeihe  von  Sittengeboten,  wie 
viele  der  sog.  zweiten  Tafel  des  Dekalogs,  nicht  zum  Natur- 
recht gehören,  da  sie  nicht  principia  practica  simpliciter  neces- 
saria  sind  (IV  dist.  37  quaest.  uii.  §  5).  Gratian  irrt  also, 
wenn  er  die  Gebote  des  Alten  und  Neuen  Testamentes  als 
naturrechtlich  ansieht,  da  weder  hier  noch  dort  die  Gebote 
rein  vernünftig  sind;  ja  häufig  den  Vernunftforderungen  nicht 
einmal  entsprechen  (IV  dist.  17  quaest.  un.  §  3).  Diese  Kritik 
Gratians  folgt  aus  der  scharfen  Begrenzung  des  Naturrechtes 
bei  Duns.  Allein  diese  Einsicht  wird  nicht  immer  eingehalten, 
so  z.  B.  wenn  Duns  meint,  das  ursprüngliche  Naturrecht  sei 
memorialiter  ad  filios  per  patres  gekommen  (Sent.  prol.  quaest. 
2,  15)^  wobei  doch  offenbar  an  positive  sittliche  Eegeln  und 
nicht  an  Prinzipien  der  praktischen  Vernunft  zu  denken  sein  wird. 

2.    Das   positive   göttliche   und   kirchliche   Gesetz. 

1.  Vom  Naturrecht  sind  genau  zu  unterscheiden  die  leges 
positivae  divinae,  die  Gott  zu  bestimmter  Zeit  und  für  be- 
stimmte Zeiten  gegeben  hat.  Ursprünglich  herrschte  in  der 
Menschheit  nur  das  Naturrecht.  Dann  gab  Gott  das  mosaische, 
dann  das  evangelische  Gesetz,  und  zwar  so,  dass  in  processu 
generationis  humanae  semper  crevit  notitia  veritatis,  d.  h.  dass 
auf  dem  Wege  geschichtlichen  Fortschrittes  das  spätere  Gesetz 
vollkommener  als  das  frühere  wurde  (IV  dist.  1  quaest.  3,  8 
cf.  dist.  2  quaest.  1,  2).  Das  positive  Recht  erweist  sich  als 
eine  geschichtlich  notwendige  Ergänzung  des  Naturrechtes. 
Die  Menschen  lassen  es  sich  nicht  genug  sein  an  der  blossen 
Vernunftforderung  und  bedürfen  der  positiven  Formen.  Minus 
obediunt  homines  soll  legi  naturae  quam  deo  praecipienti,  quia 
minus  timent  et  reverenter  conscientias  proprias  quam  aucto- 
ritatem  divinam  (IV  dist.  26  quaest.  un.  §  9).  Das  gilt  auch 
im  besonderen  von  den  ungebildeten  Menschen  der  Urzeit,  zumal 
nach  dem  Fall,  denen  auch  das  an  sich  Natürliche  durch 
eine  lex  data  klar  und   eindrücklich  gemacht  werden  musste 


Das  göttliche  Recht.  487 

(III  dist.  37  quaest.  un.  §  13).  Dazu  kommt,  dass  die  An- 
wendung des  Natnrreclites  auf  die  einzelnen  Fälle  des  prak- 
tischen Lebens  nur  selten  vollkommen  deutlich  und  der  Ver- 
nunft einleuchtend  ist.  Daher  greift  das  positive  Gesetz 
hier  ergänzend  ein  (IV  dist.  26  quaest.  un.  §  9).  Die  positive 
Gesetzgebung  Gottes  ergänzt  und  erläutert  also  die  moralische 
Ausrüstung,  die  er  mit  der  Vernunft  dem  Menschen  verliehen 
hat.  Niemals  aber  kann  das  positive  Gesetz  ein  Naturrecht 
umstossen.  Quod  autem  est  de  lege  naturae  non  tollitur  per 
aliud  quod  est  tan  tum  de  lege  positiva  (IV  dist.  36  qu.  1,  5). 
Das  positive  Recht  ist,  da  es  für  bestimmte  Zeiten  und  Men- 
schen gegeben  wird,  von  dem  natürlichen  Recht  dadurch  ver- 
schieden, dass  letzteres  schlechthin  uniform,  ersteres  geschicht- 
lich mannigfaltig  ist.  Es  ist  z.  B.  eine  der  Vernunft  immanente 
und  überall  identische  Forderung,  dass  Gott  zu  verehren  ist, 
aber  die  Formen  der  Gottesverehrung  wandeln  sich  in  dem 
steten  Wechsel  des  positiven  Rechtes  (IV  dist.  17  quaest.  un. 
§  30).  Diese  Formen  aber  können  im  einzelnen  nicht  als  ver- 
nunftnotwendig erwiesen  werden,  wie  etwa  die  Tieropfer  oder 
die  Verehrung  Gottes  durch  Darbringung  der  Eucharistie  und 
Psalmengesang.  Es  liegt  in  ihnen  ein  Zugeständnis  an  die 
wechselnde  geschichtliche  Art  des  Menschen.  Dies  ist  also  das 
ius  positivum  divinum,  quod  continetur  in  scrip- 
tura  divina  (1.  c.  §  4). 

Die  heil.  Schrift  ist  somit  das  göttliche  Gesetzbuch,  die 
positive  Ergänzung  zu  den  moralischen  Vernunftprinzipien. 
Nun  beschränkt  sich  aber  das  göttliche  Recht  nicht  nur  auf 
die  heil.  Schrift,  sondern  es  umfasst  auch  alles  das,  quod  absque 
omni  scriptura  die  Apostel  der  Kirche  als  von  Christus  her- 
rührend promulgiert  haben  (1.  c.  §  17).  Demnach  ist  auch  die 
ganze  ungeschriebene  Tradition  der  römischen  Kirche  göttliches 
Recht. 

2.  Doch  hiermit  ist  es  nicht  genug.  Gott  hat  auch  der 
Kirche  die  Gewalt  gegeben,  positive  Rechte  herzustellen.  Diese 
bilden  eine  weitere  Norm  der  Sittlichkeit.  Wie  nämlich  das 
göttliche  Gesetz  das  natürliche  erläuterte,  so  haben  die  Führer 
der  Kirche  das  Gesetz  Christi  (speziell  das  christliche  Straf- 
recht),  das   an   und  für   sich   einfach   und  leicht  war,  genauer 


488  Kap.  VI :  Aus  der  Ethik  des  Duns  Scotus. 

erklärt  und  ergänzt,  indem  sie  von  ihrem  Recht  als  Richter 
Gebrauch  machten,  quia  licitum  est  iudicibus  statuere  leges  ad 
pacem  servandam.  Sic  konnten  die  Ergänzungen  dem  mosaischen 
Gesetz  oder  anderen  Rechtsquellen  entnehmen;  sofern  sie  der 
lex  divina  nicht  zuwiderlaufen,  sind  die  kirchlichen  subditi  zu 
ihrer  Einhaltung  verpflichtet.  Es  entgeht  Duns  nicht,  dass  das 
christliche  Gesetz  auf  diesem  Wege  durch  die  Zusätze  der 
principes  christiani  eine  gravitas  empfängt,  die  ihm  an  sich 
fremd  ist.  Es  ist  viel  hinzugesetzt  per  eos  qui  habent  regere 
populum  christianum  (III  dist.  40  quaest.  un.  §  6). 

3.  Die  ethischen  Normen  des  Duns  sind  also  die  Forde- 
rungen der  praktischen  Vernunft,  das  Gesetz  Christi  sowie  die 
Ordnungen  des  gesamten  Kirchenrechtes.  Diesen  Normen 
Gehorsam  zu  leisten,  ist  die  Aufgabe  des  sittlichen  Menschen. 
Diese  kirchenrechtliche  Auffassung  umspannt  die  gesamte 
Offenbarung;  es  ist  daher  auch  eine  ethische  Forderung,  den 
Gehorsamsakt  des  Glaubens  allen  Punkten  der  Überlieferung 
gegenüber  zu  vollziehen.  Und  diese  Anschauung  koordiniert 
die  tiefsten  moralischen  Anweisungen  Christi  mit  all  den 
kirchenrechtlichen  Kunststücken  des  Ehesakramentes  oder  der 
Restitution.  Man  muss  sich  diese  Auffassung  gegenwärtig  er- 
halten, um  die  kirchenrechtliche  Kasuistik  der  mittelalterlichen 
Ethik  zu  begreifen.  AVar  erst  das  Kirchenrecht  mit  der 
höchsten  ethischen  Autorität  bekleidet,  so  war  es  wirklich  eine 
Aufgabe  des  Ethikers,  die  Wege  zu  bahnen,  auf  denen  das- 
selbe in  das  kirchliche  Leben  einziehen  konnte,  ja  die  Härten 
und  Grausamkeiten  desselben  abzumildern.  Wir  werden  dies 
weiter  unten  zu  beobachten  Gelegenheit  haben. 

3.    Naturrecht  und  göttliches  Gesetz. 

Abschliessend  müssen  wir  jetzt  den  Erörterungen  des  Duns 
über  das  Verhältnis  der  zehn  Gebote  zum  Naturrecht  und  des 
alttestamentlichen  zu  dem  neutestamentlichen  Gesetz  nachgehen. 

1.  Es  fragt  sich,  ob  die  zehn  Gebote  Forderungen 
des  Naturrechtes  zum  Ausdruck  bringen?  Thomas  hat 
diese  Frage  bejaht,  die  Gebote  ergeben  sich  aus  den  ersten 
praktischen   Prinzipien   der   Vernunft,   sie  richten  den  Willen 


Kirchliches  Recht.     Ob  die  zehn  Gebote  Naturrecht?  489 

auf  das  letzte  Ziel.  Wegen  dieser  Art  der  Gebote  könne  auch 
Gott  nie  von  ihnen  dispensieren.  Demgegenüber  sagt  Duns, 
das  dispensare  sei  nicht  das  Bewirken  dessen,  dass  man  staute 
praecepto  gegen  letzteres  handeln  könne,  sondern  es  bedeute 
die  revocatio  iuris  oder  eine  declaratio  iuris.  Nun  kann  Gott 
freilich  wie  jeder  Gesetzgeber  ein  positives  Recht  zurücknehmen 
oder  aufheben,  er  kann  aber  nicht  dasselbe  zugleich  fort- 
bestehen und  den  von  ihm  verbotenen  Akt  erlaubt  sein  lassen. 
Es  kann  also  nicht  zugleich  das  Gesetz:  Du  sollst  nicht  töten 
gelten  und  Abraham  seinen  Sohn  töten  sollen  (III  dist.  37 
quaest.  un.  §  3).  Wollte  man  nun  die  Gebote  des  Dekalogs 
als  Naturrecht  d.  h.  als  schlechthin  vernunftnotwendig  ansehen, 
so  müsste  Gottes  Willen  den  Geboten  absolut  entsprechen. 
Das  ist  aber  nicht  möglich,  da  Gottes  Wille  zu  allem  ausser 
ihm  Liegenden  nur  willkürliche  Beziehungen  hat.  Man  kann 
also  nicht  behaupten,  dass  die  Forderungen  des  Dekalogs  an 
sich  wahr  sind;  sie  sind  es,  sofern  Gott  sie  als  solche  gelten 
lässt,  dann  sind  sie  aber  auch  nicht  naturrechtlich  (ib.  §  4). 

Nach  Duns  Ansicht  sind  sicher  die  Gebote  der  zweiten 
Tafel  nicht  Naturrecht,  denn  weder  was  hier  geboten  noch  was 
verboten  wird,  ist  einfach  eine  bonitas  convertens  ad  finem 
ultimum  oder  eine  malitia  necessario  avertens  a  fine  ultimo. 
Auch  ohne  diese  Satzungen  wäre  diese  Beziehung  zum  letzten 
Ziel  oder  höchsten  Gut  denkbar.  Diese  ist  aber  vernunft- 
notwendig oder  Naturrecht.  Sofern  die  Gebote  der  zweiten 
Tafel  nicht  unmittelbar  unter  diese  Beziehung  befasst  sind,  sind 
sie  nicht  Naturrecht  (ib.  5).  Da  aber  diese  direkte  Beziehung 
zu  Gott  durch  die  Gebote  der  ersten  Tafel  ausgedrückt  wird, 
gehören  sie  freilich  mit  unter  das  Naturrecht,  nämlich  das 
1.  und  2.  Gebot:  ista  sunt  stricte  de  lege  naturae,  quia  sequitur 
necessario :  si  est  deus,  est  amandus  ut  deus  et  quod  nihil  aliud 
colendum  tanquam  deus  nee  deo  est  facienda  irreverentia  (§  6). 
Dies  gilt  aber  nicht  vom  3.  Gebot.  Es  kann  nämlich  nicht 
als  vernunftnotwendig  erwiesen  werden,  dass  jemand  gerade  zu 
diesem  bestimmten  Zeitpunkt  Gott  seine  Verehrung  darbringen 
soll.  Da  nun  das  Verbot  der  Arbeit  am  Sabbath  nur  den 
Zweck  habe,  den  Kultus  zu  ermöglichen,  so  kann  das  Gebot 
weder  in  jenem  positiven  noch  in  diesem  jenem  subordinierten 


490  Kap.  VI:  Aus  der  Ethik  des  Dans  Scotus. 

negativen  Teil  als  Naturrecht  angesehen  werden  (7).  Das  dritte 
Gebot  ist  also  so,  wie  die  Gebote  der  zweiten  Tafel  zu  be- 
urteilen. 

Gehören  diese  Gebote  aber  auch  wegen  ihres  besonderen 
und  positiven  Charakters  nicht  strikt  zum  Naturrecht,  so  kann 
doch  eine  gewisse  Beziehung  zu  demselben  angenommen  werden, 
quia  sunt  multum  consona  illi  legi,  licet  non  sequuntur  necessario 
ex  principiis  practicis.  In  diesem  Sinn  sind  alle  Gebote  der 
zweiten  Tafel  Naturrecht,  da  sie  durchaus  mit  den  Prinzipien 
der  praktischen  Vernunft  übereinstimmen,  ohne  freilich  mit 
absoluter  Notwendigkeit  aus  ihnen  abgeleitet  werden  zu  können. 
Zur  Erläuterung  bildet  Duns  ein  Beispiel.  Dass  die  Bürger 
im  Staat  friedlich  zusammenlebeo,  ist  eine  naturrechtliche  For- 
derung. An  sich  kann  dieselbe  zusammenbestehen  mit  dem 
Kommunismus,  aber  auch  mit  dem  Privateigentum.  Aber  die 
Erwägung  der  wirklichen  Verhältnisse  legt  nahe,  dass  jene 
naturrechtliche  Forderung  besser  bei  der  Form  des  Privat- 
eigentums erfüllt  wird.  So  dienen  die  bezüglichen  positiven 
Gesetzesbestimmungen  dem  Naturrecht  und  haben  also  eine 
gewisse  Beziehung  zu  ihm.  Nur  in  diesem  mittelbaren  Sinn 
enthält  die  zweite  Tafel  Naturrecht. 

Streng  genommen  sind  also  nur  das  erste  und  zweite  Gebot 
identisch  mit  Forderungen  des  Naturrechtes  (§  8). 

2.  Gegen  dies  Resultat  erhebt  aber  Duns  einen  Einwand. 
Man  kann  auf  Grund  von  Matth.  22,  39  die  zweite  Tafel  auf 
das  Gebot  der  Menschenliebe  reduzieren,  diese  aber  aus  der 
Liebe  zu  Gott  ableiten.  "Wenn  dieser  Schluss  ein  vernunft- 
notwendiger ist,  würde  freilich  die  zweite  Tafel  als  naturrecht- 
lich erwiesen  sein.  Etwa  so :  die  vollkommene  Liebe  liebt  mit, 
was  der  Geliebte  liebt,  also  lieben  wir  die  Kreatur,  weil  Gott 
sie  liebt  (9). 

Aber  hiegegen  können  wichtige  Gründe  angeführt  werden. 
1)  Vor  allem  könne  man  bezweifeln,  ob  das  Gebot  Gott  zu 
lieben  in  dieser  positiven  Form  schlechtweg  naturrechtlich  ist. 
Das  scheint  nur  von  der  negativen  Form  zu  gelten:  non  odire 
enim  est  simpliciter  de  lege  naturae.  Diese  scharfsinnige 
Beobachtung  zeigt,  wie  streng  Duns  es  mit  dem  rein  formalen 


Naturrecht  und  zehn  Gebote.  491 

Charakter  des  Naturrechtes  nimmt.  Aber  es  ist  deutlich,  dass 
aus  der  Negativa  der  obige  Schluss  nicht  ableitbar  ist.  — 
2)  Man  kann  sagen:  die  Vernunft  verpflichtet  mich  nie  dazu 
zu  wollen,  dass  irgend  ein  Gut  gerade  einer  besonderen  Person 
zukomme.  Die  Bemerkung  aber  von  der  Pflicht  zu  lieben, 
was  der  Geliebte  liebt,  ist  auf  den  beschränkt,  cuius  dilectio 
l^lacet  dilecto.  Indem  sie  aber  nicht  schlechthin  gemeingiltig 
ist,  ist  sie  auch  nicht  naturrechtlich.  —  3)  Aber  gesetzt  die 
Ableitung  der  Nächstenliebe  aus  der  Liebe  zu  Gott  wäre  aus- 
reichend begründet  und  die  Nächstenliebe  als  Naturrecht  er- 
wiesen, so  könnte  dies  doch  nur  den  Siini  haben:  simpliciter 
esse  volendum  proximo  ipsum  diligere  deum,  quia  hoc  est  dili- 
gere  proximum.  Kann  nur  das  der  Sinn  des  allgemein  natur- 
rechtlich gedeuteten  Liebesgebotes  sein,  so  folgen  die  besonderen 
Regeln  der  zweiten  Tafel  keineswegs  aus  jenem  Prinzip.  Denn 
daraus,  dass  ich  einem  die  Liebe  zu  Gott  wünsche^  folgt  nicht 
mit  logischer  Notwendigkeit,  dass  ich  ihn  an  seinem  Leben 
oder  Eigentum  zu  schädigen  unterlasse  (§  11).  —  Die  Gebote 
der  zweiten  Tafel  sind  also  nicht  naturrechtlich  oder  vernünftig ; 
es  sind  positive  göttliche  Gebote,  die  erläuternd  anzeigen,  wie 
die  von  Gott  dem  Menschen  eingeflössten  Prinzipien  des  Natur- 
rechtes  im  praktischen  Leben  verwirklicht  werden  sollen.  Als 
natur rechtlich  kann  nur  der  Gedanke  velle  proximo  ipsum  dili- 
gere deum  bezeichnet  werden.  Aber  mit  ihm  harmonieren  die 
positiven  Forderungen  des  Gesetzes,  ihm  auch  im  übrigen  das 
Gute  oder  wenigstens  nichts  Böses  zu  wünschen  (§  12).  Im 
allgemeineren  Sinn  können  sie  also  auch  als  naturrechtlich  be- 
zeichnet werden  (cf.  II  dist.  21  quaest.  2,  3). 

4.  Das  alt-  und  neu  testamentliche  Gesetz. 

Wir  wenden  uns  weiter  zu  der  Frage  nach  dem  Verhältnis 
des  alttestamentlichen  zum  neutestamentlichen  Gesetz.  Ein 
Gesetz  ist  in  dem  Mass  schwerer  denn  ein  anderes,  als  es 
schwerere  Lasten  auferlegt  und  geringere  Hilfsmittel  zu  ihrer 
Ertragung  zulässt.  Nun  sind  in  dem  Gesetz  praecepta  moralia, 
caeremonialia  et  iudicialia  zu  unterscheiden  (III  dist.  40  quaest. 
un.  §  2).     Was   nun  diese  Gebote  betrifft,   so  gilt  vom  Neuen 


492  Kfip.  VI:  Aus  der  Ethik  des  Duns  Scotus. 

Testament  im  Verhältnis  zum  mosaischen  Gesetz:  in  lege  nova 
moralia  sunt  eadem  quae  tunc,  sed  magis  explicata.  Caere- 
monialia  sunt  multo  pauciora  et  leviora  quae  imposita  sunt  per 
Christum.  ludicialia  nulla  sunt  posita  per  Christum,  sed  magis 
est  lex  mititatis  et  humanitatis,  in  qua  non  oportet  habere 
iudicialia  iuxta  illud  I.  Cor.  6  (§  3).  Wenn  man  nun  auch 
angesichts  der  Vertiefung  des  alten  Gesetzes  durch  die  Berg- 
predigt zugesteht,  dass  die  moralischen  Satzungen  im  Neuen 
Testament  schwerer  sind,  so  wird  dies  doch  reichlich  auf- 
gewogen durch  die  Fülle  der  ceremonialgesetzlichen  Vorschriften 
—  Rabbi  Moyses  enumeravit  plus  quam  sexcenta  praecepta  — 
und  die  Schwierigkeit  ihrer  Erfüllung  (§  4).  Daher  habe  schon 
Petrus  davon  abgemahnt,  die  Heidenchristen  mit  diesem  Joch 
zu  beschweren  (Act.  15).  Das  Neue  Testament  habe  nur  sieben 
leicht  zu  erlangende  Sakramente,  deren  nicht  einmal  jeder  be- 
darf, ja  von  denen  vielleicht  nur  Taufe  und  Busse  nötig  sind  (5). 
Das  gleiche  gilt  eigentlich  von  den  praecepta  iudicialia.  Doch 
hat  die  Kirche  die  leichten  Satzungen  Christi  auf  diesem  Gebiet 
sehr  erheblich  erweitert  und  verschärft  (§  6  s.  oben  S.  488).  — 
Schliesslich  muss  aber  noch  darauf  hingewiesen  werden,  dass 
den  Christen  mehr  und  bessere  Hilfsmittel  zur  Gesetzeserfüllung 
zu  Gebote  stehen  als  den  Juden.  Nämlich  die  sieben  Sakra- 
mente, eine  doctrina  magis  explicativa  et  declarativa  veritatis, 
endlich  exempla  sanctorum  plura  et  efficaciora  ad  imitandum 
und  plura  merita  sanctorum.  Daher:  plura  adiutoria  et  effi- 
caciora sunt  in  lege  christiana  quam  in  veteri  et  ideo  ex  ea 
parte  lex  nova  est  levis.  Hiezu  kommt  die  Verheissung  ewiger 
Güter  als  Lohn,  während  im  Alten  Testament  wenn,  dann  nur 
zeitliche  Güter  versprochen  wurden  (§  7).  Somit  muss  man 
im  Sinn  des  Duns  sagen,  dass  die  neutestam entlichen  Gebote 
zwar  tiefere  und  umfassendere  Forderungen  stellen,  als  die  alt- 
testamentlichen,  dass  aber  trotzdem  das  neutestamentliche  Gesetz 
als  das  leichtere  zu  bezeichnen  ist  wegen  des  fast  völligen 
Mangels  an  Ceremonialgesetzen  und  wegen  der  kräftigen  Unter- 
stützungen, die  es  seinen  Dienern  gew^ährt. 

2.  Es  kann  aber  weiter  festgestellt  werden,  dass  für  die 
Christenheit  jenes  schwierigere  mosaische  Gesetz  hinsichtlich 
seiner    iudicialia    abgethan    ist.      Die   Christenheit    soll    nicht 


Das  mosaische  Gesetz  gilt  an  sich  nicht  der  Kirche.  493 

iudaizare.  ^)  Aber  obgleich  das  mosaische  Recht  als  solches 
nicht  mehr  in  Geltung  steht,  so  kann  doch  das  positive  Recht, 
sei  es  der  Kirche  oder  des  Staates,  seinerseits  ebenso  Anleihen 
bei  dem  mosaischen  Gesetz  machen,  wie  etwa  ein  anderes  Volk 
die  französischen  Gesetze  nachahmen  oder  ein  Orden  die  Ein- 
richtungen und  Satzungen  eines  anderen  herübernehmen  kann. 
In  diesen  Fällen  gelten  die  betreffenden  Bestimmungen  natür- 
lich nur  deshalb,  weil  der  betreffende  Staat  oder  Orden  sie 
annimmt  und  seinerseits  approbiert  (IV  dist.  15  quaest.  3,  4). 
So  gilt  auch  die  mosaische  Strafgesetzgebuug  nicht  an  sich,  son- 
dern nur  vermöge  der  Approbation  des  Staates  oder  der  Kirche : 
Et  hoc  modo  iudicialia  multa  legis  Mosaicae  possent  a  papa 
et  ab  imperatore  statui  a  christianis  observanda,  nee  observa- 
rentur  ut  a  Moyse  statuta,  sed  ut  a  legislatore  evangelico,  nee 
hoc  esset  iudaizare,  quia  non  servatur  lex  Mosaica,  sed  quia 
eadem  statuitur  a  principe  qui  potest  statuere  leges  in  lege 
christiana  (1.  c.  §  4).  —  Dazu  kommt,  dass  das  mosaische  Ge- 
setz immerhin  von  Gott  herrührt  und  daher  nicht  thöricht  ist. 
Es  enthält  vieles  Harte,  aber  auch  viel  Vernünftiges  (dura  quae 
non  oportet  in  evangelio  servare,  tarnen  multa  dedit  rationa- 
bilia  valde  etiam  pro  statu  quocunque  in  hac  vita  mortali), 
was  der  Gesetzgeber  gut  thut  aufzunehmen.  Wieviel  weltliche 
Gesetze  sind  nicht  fehlerhaft!  Oder  wäre  es  nicht  richtiger 
Gotteslästerer,  Ehebrecher  oder  Götzendiener  mit  dem  Tode 
zu  bestrafen,  statt  die  Diebe  aufzuhängen?  Dazu  macht  Duns 
die  feine  Bemerkung:  Sed  patet  ad  quid  aspiciunt  plus  principes, 
quia  magis  ad  commodum  temporale  quam  ad  honorem  dei,  et 
per  hoc  plus  puniunt  et  reprimere  volunt  peccata  in  proximum 
quam  in  deum  (ib.  5).  -) 

3.  Die  obige  Betrachtung  über  die  Abrogation  des 
mosaischen  Gesetzes  bezog  sich  zunächst  auf  die  Strafgesetz- 
gebung, sie  muss  aber  natürlich  auch  auf  die  Ceremonialgesetze 
ausgedehnt  werden.  Hinsichtlich  der  moralischen  Gesetze  des 
Alten  Testamentes  vermisse  ich  eine  ausdrückliche  Auseinander- 


^)  Man  vergl.  hiezu  auch  Robert  Grossetestes  Liber  de  cessatione 
legalium  (Lugdun.  1652,  auch  London  1658). 

^)  Vgl.  hiezu  eine  überraschende  Parallele  bei  Calvin  (in  dem  be- 
rühmten Brief  an  Somerset  Corp.  Ref.  XLI  p.  76). 


494  Kap.  VI:  Aus  der  Ethik  des  Duns  Scotus. 

Setzung.  Da  aber  Christi  Gesetz  zu  denselben  in  dem  Ver- 
hältnis der  Ausführung  und  Auslegung  steht,  so  wird  zu 
urteilen  sein,  dass  das  alttestamentliche  Gesetz  in  diesem  Sinn 
nicht  aufgehoben  ist.  Indessen  hat  Duns,  wenn  ich  recht  sehe, 
die  Erkenntnis  von  der  bloss  zeitgeschichtlichen  Geltung  des 
mosaischen  Gesetzes  nicht  streng  eingehalten.  Denn  er  be- 
handelt doch  wieder  auch  die  mosaische  Strafgesetzgebung  als 
gemeingiltiges,  weil  göttliches,  Kecht.  So  wird  etwa  die 
Frage,  ob  es  Recht  sei,  jemand  um  einer  gerechten  Ursache 
willen  zu  töten,  bejaht  unter  Berufung  auf  das  mosaische  Ge- 
setz, das  für  Blasphemie,  Mord,  Ehebruch  etc.  den  Tod  ver- 
ordnet. Kein  menschliches  positives  Gesetz  wäre  an  sich  im 
Stande  die  göttliche  Ordnung:  non  permittas  hominem  occidi 
aufzuheben,  wenn  nicht  und  sofern  nicht  das  göttliche  Gesetz 
Ausnahmen  statuierte  (IV  dist.  15  quaest.  3,  7).  Deshalb  erklärt 
sich  Duns  auch  mit  erfreulichem  Freimut  wider  die  im  Mittel- 
alter gang  und  gäbe  Anwendung  der  Todesstrafe  für  Dieb- 
stahl. Die  Schrift  ordnet  das  nicht  an  und  daher :  non  vides,. 
quod  lex  aliqua  iusta  possit  statuere  hominem  occidi  pro  furto 
solo.  Anders  könne  man  nur  urteilen,  w^enn  etw^a  der  Dieb 
als  Räuber  auftrat  und  dann  seine  Bereitschaft  zum  Morde 
präsumiert  werden  darf.  Und  wenn  auch  die  Juden  bisweilen 
Diebe  mit  dem  Tode  bestraft  haben,  so  erfordert  die  evan- 
gelische Barmherzigkeit  mehr  noch  für  den  Dieb  als  für  den 
Ehebrecher  (vgl.  Job.  8,  11)  Milde  (ib.  §  8.  9). 

4.  Damit  haben  wir  die  Normen  des  sittlich  Guten  bei  Duns 
erkannt.  Es  ist  das  Gesetz  in  vollem  Umfang.  Nämlich  das 
dem  Menschen  angeborene  rein  vernünftige  Naturrecht,  das  in 
dem  Menschen  als  praktische  Vernunft  oder  Synderesis  wirk- 
sam ist;  sodann  das  positive  göttliche  Recht  im  Alten  imd 
Neuen  Testament,  geschrieben  und  ungeschrieben,  das  an  das 
Naturrecht  anknüpft  und  dasselbe  erläutert,  erweitert  und  an- 
wendet; endlich  aber  das  positive  kirchliche  Recht,  das  den 
praktischen  Bedürfnissen  entsprechend  das  göttliche  Recht  aus- 
legen und  erweitern  kann,  sei  es  dass  es  alttestamentliche  Ord- 
nungen auf  die  Kirche  überträgt,  sei  es  dass  es  staatliche 
Ordnungen  als  kirchlich  giltig  recipiert.  —  Es  ist  kar,  dass 
eventuell    sittliche   Forderungen    nicht    nur    von    einer    dieser 


Pflicht  und  Tugend.  495 

Normen,  sondern  von  allen  zugleich  ausgehen  können,  wie  etwa 
die  Pflicht,  das  Beichtgeheimnis  einzuhalten  (IV  dist.  21  quaest. 
2,  4  cf.  II  dist.  21  quaest.  2,  3).  Aber  ebenso  einleuchtend 
ist  es,  dass  jede  dieser  Normen  schon  für  sich  eine  sittliche 
Pflicht  des  Christen  begründen  kann,  denn  jede  repräsentiert 
den  göttlichen  Willen  bezüglich  des  sittlichen  Handelns  des 
Christen,  entweder  sofern  er  als  Mensch  die  praktische  Ver- 
nunft hat,  oder  sofern  er  als  Christ  Gott  und  Christo  glaubt, 
oder  sofern  er  als  Mitglied  der  Kii'che  ihren  Ordnungen  als 
göttlichen  unterworfen  ist. 

Man  könnte  erwarten,  dass  wir,  nach  Kenntnisnahme  von 
den  Normen  des  Sittlichen,  nun  weiter  eine  Darstellung  der 
ethischen  Anlagen  des  Menschen  nach  Duns  Scotus,  besonders 
also  die  Freiheitslehre  vortragen.  Davon  kann  aber  Abstand 
genommen  werden,  indem  die  bezüglichen  Gedanken  bereits  in 
anderem  Zusammenhang  dargestellt  wurden  (S.  86  ff.). 


Wir  wenden  uns  deshalb  sofort  dem  zweiten  ethischen 
Problem,  dem  unser  Denker  eine  eingehendere  zusammen- 
hängende Darstellung  gewidmet  hat,  zu,  der  Tugendlehre.  Der 
Zusammenhang  derselben  zu  der  Gesetzeslehre  ist  einfach. 
Das  Gesetz  zerfiel  in  positives  göttliches  (bezw.  auch  kirch- 
liches) Recht  und  Naturrecht.  Die  hier  in  Betracht  kommenden 
Tugenden  sind  die  theologischen  und  die  moralischen.  Die  An- 
regung, die  von  dem  theologischen  Habitus  ausgeht,  treibt  den 
Christen  zu  Handlungen  an,  durch  die  er  den  Willen  Gottes 
oder  sein  Gesetz  erfüllt.  Andererseits  sind  die  Urteile  der 
praktischen  Vernunft  oder  des  Naturrechtes  die  massgebenden 
Normen  für  die  natürlichen  moralischen  Willensbethätigungen  des 
Menschen.  Also  wird  durch  die  theologischen  Tugenden  das 
göttliche  Gesetz,  durch  die  moralischen  Tugenden  das  Natur- 
recht seine  Erfüllung  finden.  Indem  aber  die  moralischen 
Tugenden  in  den  Dienst  der  theologischen  Tugenden  gezogen 
werden  können,  tritt  im  Leben  eine  Kombination  beider 
Tugendgruppen  ein.     Hievon  wird  nun  weiter  zu  handeln  sein» 


496  Kap.  VI:  Aus  der  Ethik  des  Duns  Scotus. 


III.    Die  Tugendlehre,  theologische  und  moralische 

Tugenden. 

1.    Die  EinteiluDg  der  Tugenden. 

1.  Die  Tugend  ist  der  Habitus  des  Guten  im  Menschen. 
In  der  Regel  entsteht  der  Habitus  aus  der  Wiederholung  be- 
stimmter HandluDgen.  Yirtus  non  acquiritur  nisi  ex  actibus 
(de  perfect.  statuum  51).  In  dem  Antrieb  zur  Wiederholung 
derselben,  sowie  in  der  Leichtigkeit  und  Gewandtheit,  mit  der 
sie  hinfort  vollzogen  werden,  gibt  er  sich  kund.  Er  bewirkt, 
dass  wir  faciliter,  delectabiliter,  prompte,  expedite  zu  handeln 
vermögen  (I  dist.  17  quaest.  2,  12  cf.  oben  S.  311).  So  heisst 
es  von  dem  Willenshabitus:  in  ipsa  (sc.  voluntate)  ex  actibus 
eins  frequenter  electis  quaedam  habilitas  inclinans  ad  similes 
actus,  et  illum  voco  virtutem  (III  dist.  33  quaest.  unica  §  5). 
Das  sind  die  natürhchen  Habitus,  wie  sie  sowohl  für  den  In- 
tellekt als  den  Willen  auf  dem  Wege  natürlicher  seelischer 
Entwicklung  erworben  werden  (habitus  acquisitus).  Von 
diesen  sind  nun  zu  unterscheiden  die  übernatürlichen  Habitus, 
w^elche  Gott  der  Seele  direkt  eingiesst  (habitus  infus us), 
nämlich  Glauben,  Liebe,  Hoffnung.  Dass  die  moralischen  Ha- 
bitus im  eigentlichen  Sinn  dem  Menschen  in  übernatürlicher 
Weise  eingegossen  werden  können,  hat  Duns  geleugnet  (III 
dist.  36  quaest.  un.  §  28,  Genaueres  s.  unten).  Es  ist  also 
zwischen  dem  natürlichen  und  dem  übernatürlichen  Habitus  so 
zu  unterscheiden,  dass  ersterer  auf  dem  Wege  der  psycholo- 
gischen Entwicklung  aus  der  Wiederholung  der  Handlungen 
entsteht,  während  letzterer  erschaffen  wird  und  den  von  ihm 
abhängenden  Akten  vorausgeht.  ^) 

Dieses  doppelten  Habitus  bedarf  es  also,  um  ein  voll- 
kommenes sittliches  Leben  zu  führen  oder  um  den  Forderungen 
des  Gesetzes  zu  genügen. 


•^)  cf.  Aristotel.  Eth.  Nie.  I,  13:  tcöv  e^ecov  de  rag  sTtacvsrdg  d^Exas 
Xiyofisv^  sowie  II,  1:  in  rcöv  ofioiäiv  kvEQyeccöv  al  e^eis  yivovrai'j  über  den 
theol.  Habitus  s,  oben  S.  301. 


Die  Einteilunof  der  Tugenden.  497 

Das  Gebiet  der  Tugend  —  das  Wort  im  allgemeinsten 
Sinn  als  geistige  Vollendung  genommen  —  wird  vollständig 
überblickt  durch  die  Einteilung  in  virtutes  morales, 
intellectuales  et  theologicae.  Die  natürliche  Betrach- 
tung gibt  an  die  Hand  die  Notwendigkeit  eines  doppelten 
habitus  intellectualis,  eines,  der  den  Intellekt  circa  speculabilia 
und  eines,  der  ihn  circa  operabilia  vollendet.  Es  ist  also  an- 
zunehmen ein  habitus  intellectualis  speculativus  et  practicus.  ^) 
Ebenso  muss  aber  auch  für  das  Begehrungsvermögen  ange- 
nommen werden  ein  habitus  perficiens  appetitum  circa  ea  quae 
sunt  appetibiha  in  ordine  ad  se,  et  alterius  circa  appetibilia 
in  ordine  ad  alterum.  Das  ist  die  virtus  appetitiva,  die  also 
die  Habitus  in  Bezug  der  auf  sich,  wie  der  auf  andere  ge- 
richteten Handlungen  in  sich  fasst.  So  lassen  sich  aus  der 
rein  natürlichen  Betrachtung  die  intellektuellen  wde  die  mora- 
lischen Tugenden  herleiten.  -)  Nun  richten  sich  aber  die  Ha- 
bitus und  Akte  dieser  Tugenden  zunächst  nur  auf  die  Kreatur. 
Der  Christ  aber  richtet  seine  Seele  auf  Gott.  Hierin  empfängt 
er  nun  die  Vollendung  sowohl  nach  Seiten  des  Denk-  wie  des 
Begehrungsvermögens  durch  die  drei  theologischen  Tugenden. 
Der  habitus  cognitivae  ist  der  Glaube,  die  habitus  appetitivae 
sind  die  Hoffnung  und  die  Liebe  (III  dist.  34  quaest.  unic.  6). 

Hienach  bedarf  der  Mensch  auf  Erden  dieser  sieben  Ha- 
bitus, durch  die  sein  Wesen  vollendet  wird;  vier  davon  beziehen 
sich  auf  sein  Verhältnis  zur  Kreatur,  drei  auf  sein  Verhältnis 
zu  Gott.  Drei  haben  ihren  Sitz  im  Intellekt  (der  Habitualität 
circa  speculabilia,  der  in  eine  Vielheit  geistiger  Fertigkeiten 
auseinander  geht,  die  aber  nicht  eigentlich  Tugenden  sind,  wes- 
halb Duns  nicht  auf  sie  eingeht ;  prudentia  und  fides),  vier  im 
Willen  (temperantia,  iustitia  und  spes,  fides),  s.  §  7. 

2.  Das  bisher  angewandte  Einteilungsprinzip  der  Habitus 
bestand  im  Gegensatz  von  Erkenntnis-  und  Begehrungsver- 
mögen.     Nun    kann    diese    Einteilung    aber   w^eiter   gespalten 


1)  cf.  Aristotel.  Eth.  Nie.  VI,  2. 

^)  Vgl.   die   dianoetischen   und   ethischen   Tugenden  des   Aristoteles, 
z.  B.  Eth.  Nie.  II,  1;  VI,  2. 

Seeberg,  Die  Theologie  des  Duns  Scotus.  32 


498  Kap.  VI:  Aus  der  Ethik  des  Duns  Scotus. 

werden  durch  die  Unterscheidung  von  habitus  infusi  und  acqui- 
siti.  Oder  man  kann  anders  einteilen,  indem  man  von  letzterer 
Unterscheidung  ausgeht  und  dann  die  so  entstehenden  beiden 
Gruppen  nach  dem  intellektuellen  und  appetitiven  Gesichtspunkt 
weiter  einteilt,  wobei  ersterer  Gesichtspunkt  —  hier  wie  in  der 
ersten  Einteilung  —  nach  dem  Schema:  spekulativ  und  prak- 
tisch, letztere  in  ordine  ad  se  et  ad  alterum  weiter  verfolgt 
werden  können. 

Hieraus  ergeben  sich  zwei  Tugendtafeln,  die  ich  auf  S.  499, 
um  mir  weitere  Beschreibungen  zu  ersparen,  folgen  lasse  (§  8). 

Hierzu  bemerkt  Duns,  dass  da  fast  der  ganze  habitus  in- 
tellectivi,  besonders  die  scientia  speculativa  den  Menschen  nicht 
zu  einem  guten  Leben  anleitet,  dieser  nicht  zu  den  eigentlichen 
Tugenden  zählt,  sodass  der  Intellekt  nur  mit  dem  eingegossenen 
Glauben  und  der  freilich  mancherlei  in  sich  fassenden  pru- 
dentia  an  der  Tugend  beteiligt  ist.  Dagegen  kommen  vier  appe- 
titive  Tugenden  in  Betracht,  zwei  eingegossene  (Liebe,  Hoffnung) 
und  zwei  erworbene;  in  Bezug  auf  den  anderen  ist  erworben  die 
Tugend  der  Gerechtigkeit,  dagegen  ist  für  die  Tugend  in  Bezug 
auf  sich  selbst  kein  einheitlicher  Begriff  zu  finden.  Hier  greift 
die  aristotelische  Unterscheidung  des  concupiscibile  und  des 
irascibile  ein.  Beide  bedürfen  der  Ordnung  durch  die  praktische 
Vernunft.  Das  concupiscibile  begehrt  nach  Lust,  es  wird  ge- 
leitet von  der  temperantia.  Das  irascibile  will  alles  fort- 
schaffen, was  die  Lust  hemmt  und  hindert.  Es  empfängt, 
indem  es  dazu  geeignet  wird,  den  Habitus  der  fortitudo  oder, 
wie  Duns  auch  sagt,  der  bellicositas,  während  die  Fähigkeit  das 
zu  ertragen,  was  getragen  werden  muss,  die  patientia  ist  (§  9 — 11), 
Auf  diesem  Wege  ergeben  sich  als  eigenthche  Tugenden  nur 
sieben,  nämlich  Glaube,  Hoffnung,  Liebe  und  die  vier  Kardi- 
naltugenden: Weisheit,  Gerechtigkeit,  Massigkeit,  Tapferkeit. 
Das  ist  das  Resultat  dieser  Erörterung.  Von  den  intellektuellen 
Habitus  in  den  beiden  Tafeln  kommen  also  nur  der  Glaube 
und  die  Weisheit  für  die  Ethik  in  Betracht,  dadurch  verlieren 
die  Tafeln  ihr  wunderliches  Gesicht.  Der  Besitz  dieser  sieben 
Tugenden  bedingt  die  Vollkommenheit  des  Menschen. 
Wer  sie  in  der  intensivsten  Weise,  die  auf  Erden  erreicnt 
werden  kann,  hat,  ist  ein  homo  simpliciter  perfectus ,  der  Grad 


Ableitung  der  Tugenden. 
Erste  Tafel. 


speculativus : 


Habitus 


r  acquisitus 


intellectivus:  j 


realis 


rationalis 


499 

(  mathematicus 
\  metaphysicus 
\  physicus 

{logicus 
rhetoricus 
grammaticus 


infusus,  fides 


practicus : 


circa  agibile:  prudentia 
lana 


.  circa  factibile :  < 


nemus 

miles 

navigatio 

rus 

medicina 

ars  fabrilis 


Habitus  appetitivus: 


acquisitus :     l 
U 

{ 


in  ordine  ad  se 


(  fortitudo 


( temperantia 
in  ordine  ad  alterum :  iustitia 


,  infusus 


in  ordine  ad  se:  spes 

in  ordine  ad  alterum:  Caritas 


Habitus  infusus: 


Zweite  Tafel. 
/  intellectualis :  fides 

( in  ordine  ad  se :  spes 


i  appetitivus :  < 


'  intellectualis 


Habitus 
acquisitus: 


^  appetitivus 


in  ordine  ad  aliud :  Caritas 
realis : 


speculativus : 


{metaphysicus 
mathematicus 
physi( 


icus 


.  rationalis 


logicus 

rhetoricus 

grammaticus 


practicus : 


circa  agibile:  prudentia 

lana 
nemus 

circa  factibile ;  ^  °^^  ^^ 

j  navigatio 

rus 

[  medicina 


/ 


in  ordine  ad  alterum:  iustitia 


]  .         , .         ,         ( fortitudo 
t  m  ordine  ad  se:  <  . 

^^  temperantia. 


32* 


500  -K-ap.  VI:  Aus  der  Ethik  des  Duns  Scotus. 

ihrer  Intensität  bedingt   den  Grad  der  sittlichen  Vollkomnien- 
heit  (§  14). 

Wir  haben  nun  im  Folgenden  die  einzelnen  Gruppen  der 
Tugenden  zu  besprechen.  Wir  beginnen  mit  den  theologischen 
Tugenden,  und  reden  dann  von  den  moralischen  Tugenden,  wo- 
bei der  Zusammenhang  dieser  sowohl  mit  den  theologischen 
Tugenden,  als  auch  mit  der  einzigen  für  die  Ethik  in  Betracht 
kommenden  intellektuellen  Tugend,  der  prudentia,  zur  Sprache 
kommen  wird. 


2.   Die  theologischen  Tugenden. 

1.  Die  theologischen  Tugenden  unterscheiden  sich 
von  den  moralischen  Tugenden  dadurch,  dass  sie  Gott  zum  un- 
mittelbaren Objekt  haben,  dass  sie  von  Gott  als  der  ersten 
das  menschliche  Handeln  bestimmenden  Regel,  nicht  aber  von 
einer  erworbenen  Regel  abhängen  und  dass  sie  von  Gott  un- 
mittelbar eingegossen  werden  (III  dist.  26  quaest.  unic.  §  15). 
Während  also  der  Habitus  aller  natürlichen  Tugenden  ein  all- 
mählich erworbener  ist,  liegt  hier  eine  von  Gott  mitgeteilte 
Habitualität  vor. 

Die  theologischen  Tugenden  sind  der  Glaube,  die  Liebe 
und  die  Hoffnung. 

Yom  Glauben  haben  wir  schon  in  anderem  Zusammen- 
hang geredet  (s.  oben  S.  129  ff.).  Dort  ergab  sich,  dass  ein  über- 
natürlicher Habitus  dem  Menschen  mitgeteilt  wird,  der  seinen 
Geist  befähigt  der  Lehre  der  Kirche  zuzustimmen. 

2.  Von  dem  Glauben  gehtDuns  zur  Hoffnung  fort.  Zunächst 
scheint  die  Hoffnung  nichts  anderes  zu  sein  als  der  auf  Zu- 
künftiges bezogene  Glaube  (III  dist.  26  quaest.  unic.  §  3). 
Indem  aber  1.  Kor.  13,  13  die  Hoffnung  als  besondere  Tugend 
dem  Glauben  koordinirt,  wird  diese  Auffassung  unzulänglich 
sein  (§  4).  Die  Hoffnung  wird  auf  folgendem  Wege  als  be- 
sondere Tugend  erwiesen.  Wir  erfahren  in  uns  die  Sehnsucht 
darnach,  dass  das  bonum  infinitum  in  uns  sei,  dass  es  auch 
uns  ein  Gut  ist  (1.  c.  10  cf.  23).  Dieser  Akt  der  Sehnsucht 
richtet  sich  auf  das  höchste  Gut  und  er  ist,  wenn  recht  verum- 

tändet,  gut.     Sonach  kann  eine  übernatürliche  virtus  incliuans, 


Die  theologischen  Tugenden,  501 

d.  h.  ein  besonderer  dem  Akt  vorausgehender  Habitus  bezüg- 
licli  der  Hoffnungsakte  ebenso,  wie  für  die  Glaubensakte  ange- 
nommen werden  (10).  Dass  dieser  Habitus  eine  theologische 
Tugend  ist,  wird  dadurch  klar,  dass  die  einzelnen  Merkmale 
letzterer  (S.  311)  auf  ihn  passen.  Weder  die  erworbenen 
Hoffnungen,  die  die  erforderliche  Festigkeit  nicht  erreichen 
(16),  noch  auch  die  natürlichen  hoffnungsartigen  Kegungen  der 
Phantasie  gehören  hieher,  sondern  nur  der  habitus,  cuius  est 
inclinare  in  talem  actum  qui  est  desiderare  bonum  infinitum 
esse  mihi  bonum  a  deo  liberaliter  conferente  ex  meritis,  quae 
habeo  vel  mihi  spero  ^)  (23).  —  Schliesslich  sei  noch  bemerkt, 
dass  die  Hoffnung  ebenso  wie  der  Glaube  in  dem  ewigen 
Leben  nicht  vorhanden  sein  werden,  da  es  ihrer  dort  nicht 
bedarf,  da  nämlich  der  Glaube  sich  nur  auf  das  verum  latens, 
die  Hoffnung  nur  auf  das  bonum  absens  sich  bezieht,  Wahr- 
heit wie  Gut  aber  in  der  Ewigkeit  offen  und  nahe  sein  werden 
(dist.  31  qu.  un.  §  2). 

3.  Die  erste  Frage  bezüglich  der  Liebe  lautet  natürlich, 
ob  es  eine  virtus  theologica  inclinans  ad  diligendum  deum  super 
omnia  gibt  und  geben  kann? 

Die  Erörterung  geht,  da  jeder  Habitus  seine  Art  in  be- 
sonderen Akten  offenbart,  aus  von  der  Frage,  was  es  um  den 
Akt  des  diligere  deum  super  omnia  sei;  nur  diese  auf  Gott 
bezogene  Liebe  kommt  nach  der  allgemeinen  Definition  der 
theologischen  Tugend  S.  497  in  Betracht.  Dass  dieser  Akt 
aber  gut  ist,  ergibt  sich  aus  der  Vernunft  oder  dem  Natur- 
recht: es  ist  recht,  das  Beste  über  alles  zu  lieben.  Da  nun 
diese  Handlung  auch  die  direkte  Beziehung  auf  Gott  nimmt, 
so  kann  sie  auf  eine  übernatürliche  oder  theologische  virtus 
inclinans  zurückgeführt  werden.  Das  ist  der  Habitus  der  ein- 
gegossenen Liebe,  diese  Tugend  aber  unterscheidet  sich  vom 
Glauben  und  der  Hoffnung  in  dem  Mass,  als  die  Akte  des 
Glaubens  und  Hoffens  von  dem  Liebesakt  verschieden  sind. 
Der  psychologische  Ort  aber,  innerhalb  welches  dieser  Habitus 
den  Spielraum  seiner  Bethätigung  findet,  ist  der  Wille.  Hunc 
virtutem  affectivam  perficientem  voluntatem,   inquantum  habet 


^)  Man  beachte  diesen  charakteristischen  Relativsatz 


502  ^ap-  VI:  Aus  der  Ethik  des  Duns  Scotus. 

affectionem  iustitiae,  voco  caritatem  (III  clist.  27  quaest.  uiiic. 
§  2).  Die  übernatürliche  Liebe  ist  also  eine  confortatio  actus 
dilectionis  naturalis  (de  princ.  rer.  quaest.  15,  25). 

4.  Wir  sahen  schon,  dass  die  Li'ebe  Gott  zum  Objekt  hat. 
Gott  kann  dabei  an  sich  nach  seinem  absoluten  Begriff  oder 
sofern  er  bonum  conveniens  amanti  oder  sofern  er  beides  ist, 
gedacht  werden.  Im  zweiten  Fall  wird  Gott  als  das  obiectum 
beatificum  geliebt,  im  dritten  wird  die  unendliche  Güte  Gottes 
als  das,  woran  der  Mensch  Teil  hat,  gefasst  (sicut  finitum  est 
quaedam  participatio  infiniti),  da  nur  so  Gott  als  höchstes 
Liebesobjekt  gedacht  werden  kann  (1.  c.  3).  —  Es  handelt  sich 
also  um  die  Frage,  was  wir  an  Gott  lieben  oder  mit  anderen 
Worten,  was  in  Gott  der  objektive  Grund  unserer  Liebe  zu 
ihm  ist? 

Aber  gegen  jede  dieser  Auffassungen  lassen  sich  Gegen- 
gründe ausfindig  machen.  Die  erste  Auffassung  lässt  in  der 
Schwebe,  ob  nicht  Gott  von  seiner  Liebe  her  mehr  zu  lieben 
wäre  denn  als  absolutes  Sein,  oder  ob  der  nämliche  Gott  als 
Sein  nicht,  wohl  aber  als  Liebe,  oder  auch  umgekehrt  geliebt 
würde  (4).  Die  zweite  Betrachtungsweise  führt  dazu,  dass  als 
höchster  Grund  der  Liebe  zu  Gott  nicht  sein  Sein,  sondern 
eine  Beziehung  zur  Kreatur  erscheint.  Sodann  aber  käme 
Gott  hier  entweder  in  Betracht  nach  seiner  aptitudo  zum 
beatificare;  das  aber  ist  unmöglich,  da  diese  aptitudo  Liebe 
nur  hervorrufen  könnte,  wenn  sie  mit  dem  göttlichen  Wesen, 
dem  sie  eigen  ist,  eins  gedacht  würde.  Oder  man  stellt  Gott 
unter  der.  Gesichtspunkt,  quo  actu  beatificat;  aber  dies  führt 
doch  wieder  auf  den  eben  abgewiesenen  Gedanken,  da  Gott 
nur  insofern  actu  beatificat,  als  er  hiezu  die  aj)titudo  in  sich 
trägt  (5).  Die  dritte  Betrachtungsweise  endlich  verwirrt  die 
Sache  erst  recht,  da  die  ratio  formalis  für  die  Liebe  zu  Gott 
nur  das  eine  oder  andere  sein  kann,  es  bedürfte  also  nur  des 
einen  der  beiden  kombinierten  Begriffe.  Wenn  die  Wärme 
Wärme  erzeugt,  so  ist  in  sie  die  ratio  formalis  calefaciendi 
bereits  eingeschlossen  (6).  —  Das  Problem  bleibt  sonach  be- 
stehen: der  Mensch  liebt  Gott,  aber  was  ist  es  an  Gott,  das 
er  liebt,  oder  was  erzeugt  diese  Liebe  in  ihm?  Es  kann  nicht 
das  Sein  Gottes  an  sich,  auch  nicht  seine  Liebe   an  sich  sein, 


Der  Grund  der  Liebe  zu  Gott.  503 

auch  nicht  beides  vereinigt.  Das  führt  zu  logischen  ünaus- 
kömmlichkeiten,  da  mau  zeigeu  kann,  dass  nicht  das  eine  ohne 
das  andere,  aber  auch  nicht  das  eine  mit  dem  anderen  logisch 
klar  als  das  alleinige  Objekt  oder  der  sachliche  Grund  unserer 
Liebe  zu  Gott  gedacht  werden  kann. 

Zu  der  positiven  Beantwortung  der  Frage  bahnt  sich  Duns 
den  Weg  durch  folgende  Unterscheidung.  Der  objektive  Grund 
der  Liebe  zu  Gott,  als  Akt  oder  Habitus,  ist  etwas,  was  an 
sich  fähig  ist,  zur  Liebe  zu  bestimmen,  oder  eine  Beschaffen- 
heit, die  dem  Akt  vorausgeht  und  die  Gott  dazu  befähigt,  in 
uns  Liebesakte  hervorzurufen,  oder  aber  etwas,  was  begleitet 
und  folgt  auf  die  zur  Erzeugung  der  Liebe  wirksamen  Akte. 
In  ersterer  Hinsicht  ist  also  Gott  als  das  ens  primum  Objekt 
und  Grund  der  Liebe,  da  die  intellektuelle  und  wollende 
Kreatur  in  keinem  Sein  zur  Kühe  und  Befriedigung  kommt, 
ausser  in  dem  ersten  oder  absoluten  Sein  (ib.  7).  —  Wie  nun 
aber  einer  Kreatur  gegenüber  neben  dem  Hauptgrund  zur 
Liebe  gegen  sie,  etwa  ihrem  bonum  und  honestum,  anderes  als 
Nebengrund  wirksam  sein  kann,  etwa  quia  scitur  redamans :  so 
ist  auch  in  Gott  neben  dem  Hauptgrund  oder  Ziel,  nämlich 
dass  er  bonitas  infinita  ist,  zur  Erzeugung  der  Liebe  in  und 
gegen  ihn  kräftig  quod  haec  bonitas  amaverit  me  communicando 
se  mihi  und  zwar  sive  creaudo,  sive  reparando,  sive  disponendo 
ad  beatificandum.  Aber  diese  beiden  Gründe  Gott  zu  lieben 
wirken  konkret  zusammen :  non  solum  boni  honesti,  sed  boni 
communicativi  et  amantis  et  quia  amantis  ideo  digni  redamari; 
wir  lieben  nicht  Gott  als  den  einen  oder  anderen,  sondern  so, 
dass  das  eine  wie  das  andere  Grund  unserer  Liebe  ist,  freilich 
so,  dass  rein  logisch  betrachtet,  das  zweite  secundario  nos 
allicit  (8).  —  Zum  dritten  kann  Gott  angesehen  werden  als 
das  obiectum  beatificum  diligentis;  es  ist  eine  Folge  seines 
Wesens  und  Handelns,  dass  es  mir  zur  Seligkeit  gereicht,  diese 
Folge  kann  mich  in  der  Liebe  zu  ihm  bestärken,  ohne  dass 
sie  der  eigentliche  Grund  der  Liebe  —  dieser  liegt  in  dem 
göttlichen  Wesen,  dass  diese  Folge  erzeugt  —  ist.  —  Duns 
verdeutlicht  dies  an  einem  Beispiel.  Es  sei  ein  schönes,  seiner 
Natur  nach  sichtbares  Objekt  da,  dieses  gebe  dem  Auge  ein 
virtus  visiva,  vermöge  derer  es  es  sieht,   und  es  befriedige  das 


504  Kap.  VI :  Aus  der  Ethik  des  Duns  Scotus. 

Gesicht  völlig.  Könnte  man  nun  im  Gesicht  Liebe  denken,  so 
würde  der  Hauptgrund  der  Liebe  zu  dem  betr.  Objekt  in 
seinem  Wesen  liegen,  das  dem  Gesicht  Befriedigung  bringt; 
als  sekundäre  Gründe  wären  zu  nennen,  dass  es  sich  sehen 
lässt  vom  Gesicht,  und  dass  hiedurch  das  Gesicht  völlig  be- 
friedigt wird.  Daher  —  man  wird  übrigens  das  Beispiel  nicht 
als  sehr  glücklich  gewählt  bezeichnen  dürfen  —  sei  es  klar, 
dass  nur  impropriissime  Gott  als  obiectum  beatificum  Grund 
und  Ziel  unserer  Liebe  ist.  Der  wahre  Grund  ist  Gottes 
Wesen,  sein  absolutes  Sein  (9).  Was  Duns  sagen  will,  ist 
offenbar  dies :  der  eigentliche  Bealgrund  für  die  Liebe  zu  Gott 
ist  nicht  sein  Handeln,  und  nicht  die  diesem  entspringende 
subjektive  Befriedigung  in  uns,  sondern  sein  Sein,  das  diese 
wie  jenes  bedingt.  Diese  Auffassung  ist  nur  eine  systematische 
Folge  der  Gotteslehre,  die  wir  oben  S.  165  ff.  kennen  lernten. 
Das  eigentliche  Wesen  Gottes  sollte  in  dem  Gedanken  des 
absoluten  Seins,  nicht  in  seiner  Liebesoffenbarung  erkannt 
werden.  Daher  muss  auch  in  jenem,  nicht  in  diesem  Begriff 
der  letzte  Grund  für  unsere  Liebe  zu  Gott  erblickt  werden. 

5.  Nachdem  die  Liebe  als  theologische  Tugend  erkannt 
und  sodann  ihre  Beziehung  zu  Gott  besprochen  ist,  erhebt  sich 
nun  weiter  die  Frage,  ob  es  zum  Vollzug  dieser  Liebe  eines 
eingegossenen  Habitus  bedarf?  Dies  wird  von  Thomas  be- 
hauptet. Nach  ihm  würde  nämlich  der  natürliche  Trieb  zu 
der  eigenen  Natur  stärker  sein,  als  der  Trieb  zu  Gott  (§  10). 
Nach  Gottfried  dagegen  könnte  allerdings  die  Natur  Gott  mehr 
als  sich  lieben,  da  es  natürlich  ist,  dass  ein  Teil  mehr  das 
Gesamtsein  als  sein  Teildasein  liebt^  wie  etwa  die  Hand  sich 
selbst  einer  Gefahr  aussetzt,  um  dadurch  das  Haupt  zu  schützen. 
Andererseits  tötet  der  Verzweifelte  sich,  indem  er  sich  hasst, 
aber  er  würde  doch  gern  die  Seligkeit  erlangen,  er  wird  also 
das  obiectum  beatificum  auch  mehr  lieben  als  sein  eigenes 
Sein  (§  11).  Aber  diese  Gegengrüude  verfangen  nicht,  denn 
das  Beispiel  von  der  Hand  zeigt  nur,  dass  das  Ganze  minder- 
wertige Teile  zur  Erhaltung  der  Hauptteile  auf  das  Spiel  setzt; 
das  Beispiel  von  der  Seligkeit  beweist  aber  nur,  dass  der  Be- 
treffende sich  als  Zweck  mehr  liebt  als  die  Seligkeit  als 
Mittel  u.  s.  w.  (§  12). 


I 


Kann  der  Mensch  von  sich  aus  Gott  lieben?  505 

Dagegen  sagt  Dims  selbst,  dass  die  natürliche  Vernunft 
feststellt,  dass  etwas  im  höchsten  Grade  zu  lieben  ist,  da  unter 
den  möglichen  Beziehungen  von  Akt  und  Objekt  eine  die 
höchste  sein,  es  also  auch  eine  höchste  Liebe  geben  muss. 

Die  Vernunft  lehrt  nun  nicht,  dass  dies  Objekt  vom  bonum 
infinitum  verschieden  sei;  da  für  sie  das  Unendliche  das  Höchste 
ist,  muss  sie  dies  auch  dem  Willen  als  höchstes  Ziel  vorhalten, 
und  der  Wille  muss  fähig  sein  ihm  nachzustreben :  igitur  dictat 
solum  summum  bonum  infinitum  esse  summe  diligendum  et 
per  consequens  voluntas  hoc  potest  ex  puris  naturalibus;  nihil 
enim  potest  intellectus  recte  dictare,  in  quod  dictatum  non 
possit  voluntas  naturalis  naturaliter  tendere,  alias  voluntas  esset 
naturaliter  mala  vel  saltein  non  libera  ad  tendendum  in  quod- 
libet  secunduni  illam  rationem  boni,  secundum  quam  ostenditur 
sibi  ab  intellectu  (§  13).  Duns  meint  also,  dass  wie  die  natür- 
liche Vernunft  das  Unendliche  als  Höchstes  denkt,  der  natür- 
liche AVille  auch  von  sich  aus  ihm  nachzustreben  vermag. 
Hienach  ist  also  zuzugestehen,  quod  ex  puris  naturalibus  potest 
quaecunque  voluntas  saltem  in  statu  naturae  institutae  diligere 
deum  super  omnia  (§  15).  Dies  ist  also  freilich  auf  den  Ur- 
zustand beschränkt,  aber  bei  der  Auffassung  des  Duns  von  der 
Sünde  will  diese  Einschränkung  nicht  viel  bedeuten. 

6.  Dies  Resultat  bedarf  der  Erläuterung  und  der  Begren- 
zung. Gott  „über  alles  lieben"  kann  in  extensivem  Sinn  be- 
deuten, dass  man  alles  Sein  zusammen  nicht  so  hoch  wertet 
als  Gott  und  dass  man  eher  alles  andere  als  Gott  nicht  seiend 
haben  möchte,  oder  dass  man  intensiv  mit  stärkerem  Affekt 
Gott  das  Wohlsein  als  irgend  einem  anderen  Wesen  wünscht. 
In  ersterer  Hinsicht  herrscht  allgemein  Übereinstimmung  über 
die  Liebe  zu  Gott.  Bezüglich  der  Intensität  kann  der  Unter- 
schied der  mehr  glühenden  und  zarten  oder  der  mehr  starken 
und  festen  Liebe  (z.  B.  Mutterliebe  und  Vaterliebe)  heran- 
gezogen und  nur  letztere  in  der  Beziehung  auf  Gott  verlangt 
werden,  sodass  Gott  fester  als  alles  andere  zu  lieben  ist,  eine 
Kreatur  aber  glühender,  inniger  und  lieblicher  als  Gott  geliebt 
werden  kann  (ib.  §  16).  Hier  muss  nun  vor  allem  klar  gemacht 
werden,  dass  es  sich  nicht  um  ein  sinnliches  Liebesgefühl, 
sondern    um    den    anior    intellectivus    und    seine    Willensakte 


50()  Kap.  VI:  Aus  der  Ethik  des  Duns  Scotua. 

handelt.  In  diesem  geistigen  Sinn  ist  der  Christ  zur  Liebe 
gegen  Gott  sowohl  in  höchster  Extensität  wie  auch  Intensität 
verpflichtet.  Diese  Verpflichtung  kann  auf  Erden  erfüllt  werden, 
sofern  Gott  mehr  und  aft'ektvoller-  als  alles  Irdische  gelieht 
wird,  dagegen  wird  die  Modalität,  die  durch  die  Zusätze  zum 
Liebesgebot:  „von  ganzem  Herzen  und  von  ganzer  Seele" 
ausgedrückt  ist,  auf  Erden  nicht  erfüllt,  da  die  höchste  Voll- 
kommenheit der  geistigen  Akte,  solange  dieselben  von  der 
Sinnlichkeit  beeinflusst  werden,  nicht  erreichbar  ist  (§  17). 
Gott  ist  also  über  alles,  in  quantitativem  wie  qualitativem  Sinn 
zu  lieben. 

Zu  der  Ausübung  dieser  Liebe  ist  jedermann  verpflichtet, 
und  zwar  nicht  nur  durch  Vermeidung  des  Gegenteils,  sondern 
auch  positiv  in  einzelnen  Akten,  denn  so  wenig  jemand  tugend- 
haft sein  kann  ohne  einzelne  Akte,  ebensowenig  kann  er  die 
Richtung  auf  das  höchste  Ziel  einhalten,  ohne  sie  in  Akten  zu 
bethätigen.  Aber  wann  sollen  diese  geschehen?  Vielleicht 
gibt,  meint  Duns,  das  Sabbathgebot  hierauf  die  Antwort.  Das 
Gebot,  am  Sabbath  zu  Hause  zu  bleiben  (Exod.  16,  29),  ist 
zu  erläutern:  recoUigendo  se  et  ascendendo  ad  deum  suum, 
was  die  Kirche  näher  bestimmt  hat  durch  das  Gebot,  am 
Sonntag  die  Messe  zu  hören  (§  18).  Also  w^ürde  das  Gebot 
der  Liebe  zu  Gott  direkt  durch  den  Besuch  der  Messe  erfüllt 
werden. 

Von  dieser  Pflicht  hat  Duns  unter  einem  anderen  Gesichts- 
punkt eingehender  gehandelt.  Jede  vernünftige  Kreatur  ist 
nämlich  zur  reverentia  gegen  Gott  verpflichtet.  Der  Mensch 
soll  Gottes  Güte  in  seinem  Herzen  erheben  im  Hinblick  darauf, 
dass  er  von  Gott  alles  Gute  empfangen  hat.  Er  erkennt  da- 
durch Gott  an  als  summus  dominus  und  summum  bonum. 
Dieser  Akt  ist  nun  an  sich  innerlich,  aber  er  offenbart  sich 
auch  in  äusseren  Zeichen.  So  etwa  im  Opfer  und  in  KJnie- 
beugungen.  Aus  diesen  inneren  wie  äusseren  Akten  ergibt 
sich  dann  ein  Habitus,  der  zu  leichter  und  bequemer  Aus- 
führung derselben  befähigt  (TU  dist.  9  quaest.  un.  §  2). 

Es  ist  vernünftig,  dass  die  Kreatur  diese  Akte  ausübt. 
Aber  es  ist  die  Frage,  wann  das  geschehen  soll?  Die  Pflicht 
der  Gottesverehrung  gibt  darauf  an  sich  noch  keine  ausreichende 


Der  direkten  Liebe  zu  Gott  dient  der  Sonntag-.  507 

Antwort.  Denn  da  die  besondere  Gelegenheit,  dies  zu  tliun, 
ausbleiben  könnte,  könnte  diese  Pflicht  als  eine  solche  er- 
scheinen, die  niemals  in  der  Zeit  ausgeübt  wird.  Das  ist  un- 
möglich. Nun  hat  aber  das  Naturrecht  bereits  den  Sabbath 
von  der  gewöhnlichen  Arbeit  freigemacht.  Das  wurde  durch 
das  3.  Gebot,  sowie  durch  die  Einführung  des  christlichen 
Sonntags  bestätigt.  Es  kann  aber  nicht  genügen,  bloss  von 
der  Arbeit  an  diesem  Tage  abzusehen,  vielmehr  wird  für 
ihn  ein  positiver  Akt  erfordert  und  zwar  in  sanctificando  id 
est  magnificaudo  deum.  Dies  geschieht  in  der  neutestament- 
lichen  Zeit  durch  die  Darbringung  des  eucharistischeu  Opfers, 
an  dem  sich  das  Volk  geistlich  beteiligt,  indem  es  verpflichtet 
ist,  sonntäglich  die  Messe  zu  hören.  Wer  aber  hievon  ab- 
gehalten ist,  wird  Sorge  tragen  müssen,  dass  er  wenigstens 
einen  Akt  an  diesem  Gott  geweihten  Tage  auf  Gott  richtet.  — 
Ob  aber  jemand  noch  zu  anderer  Zeit  hiezu  verpflichtet  ist, 
ist  zweifelhaft.  Es  ist  aber  sicher,  dass  an  diesem  Tage  adoratio 
aliqua  necessario  exhibetur  (ib.  4). 

Nun  ist  freilich  an  sich  diese  latria  keine  theologische 
Tugend,  weil  sie  nicht  Gott  zum  unmittelbaren  Objekt  hat,  wie 
etwa  die  Liebe  oder  der  Glaube,  sondern  nur  die  Gott  zu  er- 
weisende Ehre.  Sie  fällt  also  in  das  Gebiet  der  moralischen 
Tugenden  und  wird  etwa  der  Gerechtigkeit,  sofern  diese  dem 
Höheren  die  ihm  gebührende  Ehre  zuteilt,  zu  subsumieren 
sein  (§  3).  Da  aber,  wie  wir  bald  sehen  werden,  die  moralischen 
Tugenden  von  den  theologischen  aufgenommen  werden  können, 
so  ist  die  Erwähnung  an  diesem  Ort  berechtigt.  —  Für  die 
sittliche  und  religiöse  Anschauung  des  Duns  ist  die  Stelle 
überaus  lehrreich.  Die  Bethätigung  des  unmittelbaren  Ver- 
hältnisses zu  Gott  besteht  darin,  dass  man  ihn  als  Herrn 
dankbar  anerkennt.  Das  geschieht  Sonntags,  indem  man  die 
Messe  anhört.  Ob  es  auch  sonst  während  der  Woche  zu  ge- 
schehen habe,  bleibt  zweifelhaft.^) 

7.  Schliesslich  wird  gezeigt,  inwiefern  nun  doch  ein 
eingegossener  Habitus  für   die  Liebe   vorauszusetzen   ist;    der- 


1)  Auch  für  die  Geschichte  des  Gebetslebens  sind  diese  Darlegungen 
wichtig. 


508  Kap.  VI:  Aus  der  Ethik  des  Dans  Scotus. 

selbe  gebe  der  Substanz  der  Liebesakte  eine  gewisse  iutensio 
alterior,  welche  das  natürliche  Vermögen  für  sich  nicht  in  seine 
Akte  hineinlegen  könnte.  Die  Neigung  zu  Gott  und  die 
Eichtung  auf  ihn  ist  dieser  Habitus,  wie  wir  früher  gelernt 
haben  (S.  306).  Dazu  kommt,  wie  ebenfalls  früher  gezeigt 
wurde  (S.  312  ff.),  dass  gerade  der  Habitus  es  ist,  der  die  Liebes- 
akte Gott  wert  und  acceptabel  macht.  Doch  wird  auch  hier 
zugestanden,  dass  das  Dasein  solcher  übernatürlichen  Habitus 
nicht  durch  die  natürliche  Vernunft  bewiesen  werden  kann. 
Nur  eine  congruitas  ist  erweisbar,  quod  non  possit  perfectissime 
perfici  suprema  portio,  nisi  immediate  a  deo  (§  19). 

8.  Nachdem  die  Pflicht  der  Kreatur  Gott  zu  lieben,  sowie 
die  Übernatürlichkeit  dieser  Liebe  erwiesen  ist,  erhebt  sich  die 
Frage  nach  dem  Verhältnis  dieser  Liebe  zu  der  Nächsten- 
liebe. Duns  geht  aus  von  der  Beobachtung,  dass  die  Liebe 
zu  Gott  nicht  private  Liebe  ist,  d.  h.  wie  bei  der  Eifersucht 
die  Liebe  anderer  ausschliesst,  quia  deus  qui  est  bonum  com- 
mune non  vult  esse  bonum  privatum  alicuius  (III  dist.  28 
quaest.  unica  §  2).  Weil  aber  Gott  das  allgemeine  Gut  sein 
will,  deshalb  fasst  der  Habitus  der  Liebe  zu  ihm  auch  das 
Wollen  in  sich,  dass  er  von  allen  denen,  deren  Liebe  ihm  ge- 
nehm ist,  geliebt  werde.  Das  ist  der  Weg,  auf  dem  Duns  aus 
der  Liebe  zu  Gott  die  Liebe  zum  Nächsten  ableitet.  Letztere 
ist  in  ersterer  enthalten  gerade  ebenso  wie  auch  die  Selbstliebe. 
Die  vollkommene  Liebe  zu  Gott  fasst  nämlich  notwendig  in 
sich  den  Wunsch,  dass  er  von  allen  denen  geliebt  werde,  von 
denen  er  geliebt  werden  will.  Indem  ich  aber  diesen  Wunsch 
in  Bezug  auf  irgend  wen,  einen  anderen  oder  auch  mich  selbst, 
habe,  wünsche  ich  jenem  oder  mir  selbst  das  Beste  oder  das 
bonum  iustitiae,  nämlich  die  Liebe  zu  Gott  (2).  Hieraus  ergibt 
sich  dann,  dass  die  christliche  Liebe  zum  Nächsten  diesen  nicht 
zum  direkten  Objekt  hat,  sondern  dass  der  Nächste  w^ie  zufällig 
geliebt  wird:  et  in  hoc  quasi  accidentaliter  eum  diligo  non 
propter  eum,  sed  propter  obiectum  quod  volo  ab  eo  condiHgi 
et  volendo  hoc  ab  eo  diligi  volo  sibi  ^)  simpliciter  bonum,  quia 
bonum  iustitiae  (§  3). 

1}  =  ei. 


Die  Nächstenliebe  beschlossen  in  der  Gottesliebe.  509 

9.  Nachdem  so  der  Begriff  der  Nächstenliebe  abgeleitet 
worden,  erhebt  sich  die  Frage,  ob  die  Nächstenliebe  an  sich 
mit  der  Gottesliebo  gesetzt  sei.  Diese  Frage  muss  zunächst 
verneint  werden,  denn  sowenig  die  Aufhebung  einer  nicht  not- 
wendigen Konklusion  aus  einem  notwendigen  Prinzip  unmöglich 
ist,  sowenig  kann  an  sich  bestritten  werden,  dass  die  Liebe 
zum  unendlichen  Gut  auch  ohne  Liebe  zu  endlichen  Gütern 
gedacht  werden  kann.  Nun  ist  aber  der  Habitus  der  Liebe 
dem  Menschen  zu  Teil  geworden  in  Verbindung  mit  dem  Ge- 
bot der  Nächstenliebe,  da  die  Liebe  eben  keine  private  Liebe 
sein  will.  Wenn  der  Mensch  Gott  lieben  wollte  ohne  den 
Nächsten  zu  lieben,  so  würde  er  damit  gegen  Gottes  Ordnung 
Verstössen,  der  will,  dass  er  von  allen  geliebt  werde.  Er  würde 
aber  durch  diesen  demeritorischen  Ungehorsam  bewirken,  dass 
Gott  sich  ihm  entzieht  und  so  sowohl  der  Habitus  als  der  Akt 
der  Liebe  zerstört  würde,  denn,  wenn  die  Liebe  zu  Gott  das 
condiligere  des  bonum  commune  ist,  so  muss  sie  in  dem  Augen- 
blick aufhören,  wo  der  Mensch  das  condiligere  aufhebt  (1.  c.  4). 
Obgleich  es  also  logisch  denkbar  wäre,  dass  man  Gott  liebte, 
ohne  den  Nächsten  zu  lieben,  so  ist  das  doch  in  concreto  aus- 
geschlossen, da  Gott  die  Liebe  uns  als  ein  condiligere  einflösst. 
Wir  kommen  also  um  diesen  Habitus,  wenn  wir  dem  Nächsten 
nicht  das  Gute  wollen,  d.  h.  dass  auch  er  Gott  liebt. 

Wer  ist  aber  der  Nächste  ?  Nach  dem  Zusammenhang  ist 
dieser  Begriff  auf  den,  welchen  ich  in  die  Nähe  Gottes  bringen 
kann,  zu  deuten.  Ich  liebe  den  Nächsten,  damit  er  Gott  liebe, 
also  ist  jeder  mein  Nächster,  von  dem  Gott  geliebt  werden 
will.  Indem  nun  aber  praktisch  die  Liebe  nur  einzelnen  In- 
dividuen wird  zugewandt  werden  können,  ist  jene  Frage  im 
Sinn  des  Gleichnisses  vom  barmherzigen  Samariter  zu  beant- 
worten. Dort  ist  der  die  Barmherzigkeit  Thuende  der  Nächste, 
vom  Standpunkt  des  Thäters  aus  also  der  Empfänger  der 
Wohlthat.  Daraus  folgt :  ille  cui  possum  servire  in  necessitate, 
est  habendus  ut  proximus,  oder:  omnis  potens  bene  pati  a  nobis. 
Hieher  gehören  auch  die  Seligen.  Zwar  können  sie  äusserlich 
nichts  Gutes  von  uns  empfangen,  wohl  aber  können  sie  unsere 
Liebe  erleiden  (III  dist.  30  quaest.  unic.  §  13).  Mein  Nächster 
ist   also  jeder,    der   meiner  Wohlthat  bedarf;    diese  Wohlthat 


510  Kap.  VI:  Aus  der  Ethik  dca  Dims  Scotus. 

aber  zielt  schliesslich  ab  auf  die  Erregung  des  condiligere 
in  jenem. 

Vor  allem  werden  wir  die  Seligen  lieben,  weil  von  ihnen 
völlig  sicher  ist,  dass  ihre  Liebe  Gott  angenehm  ist.  Den 
viatores  kann  die  Liebe  nur  bedingungsweise  zugewandt  werden, 
insofern  nämlich,  als  Gott  etwa  an  ihrer  Liebe  Gefallen  hat.  Da 
nun  aber  immer  anzunehmen  ist,  dass  Gott  von  einigen  unter 
ihnen  geliebt  werden  will,  so  kann  einfach  gesagt  werden,  dass 
Gott  ihre  Liebe  will,  also  wir  sie  lieben  sollen  (§  5).  Hier 
spielt  die  Prädestination  offenbar  mit  in  die  Gedanken  des 
Duns  hinein.  Er  erwähnt  sie  aber  nicht  und  das  mit  Recht, 
denn  da  uns  die  Prädestinierten  nicht  bekannt  sind,  so  würde 
eine  nähere  Bestimmung  durch  jenen  Begriff  nicht  erzielt  werden. 
Die  Meinung  ist  also  die,  dass  unsere  Nächsten  alle  die  sind, 
die  Gott  lieben  sollen,  d.  h.  die  Prädestinierten  droben  und 
hienieden.  Da  wir  aber  dieselben  auf  Erden  nicht  unterscheiden 
können,  sollen  wir  alle  Menschen  lieben,  d.  h.  ihnen  das  Beste 
wollen,  nämlich  dass  sie  Gott  lieben.  Hier  nun  leuchtet  uns 
der  oben  (S.  458)  angedeutete  Unterschied  der  Liebe  hienieden 
und  im  seligen  Leben  ein.  Dort  kann  sich  die  Liebe  nur  auf 
die  Prädestinierten  richten,  hier  gilt  sie  allen  Menschen,  sofern 
sie  prädestiniert  sein  könnten. 

Diese  interessante  Erörterung  erhöht  die  Liebe  zum 
Nächsten  dadurch,  dass  sie  sie  zum  Mittel  der  Liebe  zu  Gott 
erhebt.  Indem  so  die  Liebe  zu  Gott  die  Liebe  zum  Nächsten 
in  sich  fasst,  ist  letztere  in  den  Zusammenhang  der  theolo- 
gischen Tugenden  hineingezogen. 

10.  Aus  dieser  Untersuchung  folgt  erstens  die  Verpflichtung 
zur  Selbstliebe.  Da  nämlich  die  Liebe  zu  Gott  durch  micK 
vollzogen  wird,  so  muss  ich  mich  auf  diese  Liebe  hinrichten. 
Dadurch  will  ich  mir  das  Beste,  also  liebe  ich  mich  (1.  c.  dist.  29 
quaest.  unic.  §  2). 

Zweitens  folgt  die  Feindesliebe.  Der  Feind  kann  als 
Feind  wie  als  Mensch  betrachtet  werden.  Wie  die  sittliche 
Freundschaft  sich  auf  die  Tugend  im  Geliebten  richtet,  so 
wird  die  sitthche  Feindschaft  sich  abwenden  wegen  des  Bösen 
in  dem  Feind.  In  diesem  Sinn  kann  der  Feind  nicht  geliebt 
werden,    in    diesem    Sinn    seien    auch    die    alttestamentlichen 


Die  Feindesliebe.  511 

Kachepsalmen  zu  deuten  (dist.  30  quaest.  unic.  §  2).  Wenn 
aber  der  Feind  als  Mensch  betrachtet  wird,  so  ergibt  sich  eine 
difficultas.  Man  kann  hier  die  Liebe  verschieden  deuten,  einer- 
seits als  positive  Bethätigung,  andererseits  als  Ausschluss  einer 
den  Feind  schädigenden  Bethätigung.  Dieses  non  odire  wird 
die  Hauptsache  sein,  quia  praecepta  affirmativa  magis  obli- 
gaut,  ne  contraria  eorum  fiant.  Duns  meint  offenbar,  dass 
jedes  positive  Gebot  schwerer  dadurch  dass  man  sein  Gegen- 
teil thut,  als  dadurch  dass  man  von  seiner  Erfüllung  absieht, 
verletzt  wird.  So,  d.  h.  indem  man  es  nicht  hindert,  könne  man 
dem  Feind  sowohl  geistliche  Güter  wünschen,  durch  die  er  be- 
kehrt werden  kann,  als  auch  äussere  Güter  (§  3).  Hinsichtlich 
der  geistlichen  Güter  ist  die  Sache  klar,  sofern  nämlich  unsere 
Liebe  zu  Gott  ausschliesst  das  Nichtwollen  dessen,  dass  er 
durch  andere  geliebt  werde  und  dass  diese  dazu  geführt  werden. 
Wenn  auch  sofern  sie  böse  sind,  Gott  nicht  von  ihnen  geliebt 
werden  will,  so  wissen  wir  doch  nicht,  ob  er  nicht  von  ihnen 
als  Menschen  geliebt  werden  will  (§  4). 

11.  Wie  steht  es  aber  mit  den  äusseren  Gütern?  Die 
Selbstliebe  kann  das  Nichtwollen  derselben  in  Bezug  auf  sich 
selbst  in  sich  fassen,  sei  es  weil  man  sie  verachtet,  sei  es  weil 
man  sie  entbehren  will  als  Bussstrafe.  Wie  ich  nun  diese 
Mängel  zu  meinem  positiven  Heil  mir  wünsche,  so  kann  und 
darf  ich  sie  unter  diesem  Gesichtspunkt  auch  dem  Feind 
wünschen.  Etwa  damit  er  durch  solchen  Mangel  gebessert  oder 
Versuchungen  des  Überflusses  entnommen  werde  (§  5). 

Allein  kann  man  dem  Feind  auch  den  Tod  wünschen? 
Soll  man  nicht  den  Tod  etwa  eines  Verfolgers  der  Kirche 
wünschen  dürfen,  damit  die  Kirche  Frieden  habe  (6)?  Duns 
hat  genug  ethischen  Takt  gehabt,  um  diese  Frage  zu  verneinen. 
Da  nämlich,  nach  allgemeiner  Annahme,  Busse  und  Bekehrung 
nach  dem  Tode  nicht  möglich  ist,  würde  ich  durch  den  Wunsch, 
dass  ein  Böser  stirbt,  an  meinem  Teil  den  Kreis  der  Gott- 
liebenden einschränken,  also  gegen  das  condiligere  Verstössen. 
Es  will  dem  gegenüber  nicht  viel  besagen,  dass  Duns  als  denk- 
bare Ausnahme  anführt,  dass  man  jemand  den  Tod  wünscht, 
weil  man  sein  Verharren  im  Bösen  vorhersieht,  oder  weil  man 
hindern    will,     dass    er    durch    Aufhäufen    der    Sünden    eine 


512  Kap.  VI:  Aus  der  Ethik  des  Duns  Scotus. 

schwerere  Strafe  empfange,  oder  damit  er  den  Heiligen  Raum 
mache ')  (§  7).  Aber  auch  in  solchen  Fällen  würde  der 
Fromme  nur  unter  Trauer  dem  anderen  den  Tod  wünschen, 
wie  etwa  der  Ricliter  ein  Todesurteil  fallt.  Damit  ist  die  Sache 
freilich  aus  den  Schranken  der  Rachsucht  herausgerückt  (9). 
Ferner  wird  darauf  aufmerksam  gemacht,  dass  der  Druck  der 
Tyrannen  der  Kirche  nicht  selten  zum  Segen  gereiche.  Auch 
müsse  jemand  dasein,  der  das  Gericht  an  dem  Tyrannen  voll- 
ziehe; dann  könnte  man  ja  mit  der  gehörigen  Traurigkeit  dem- 
selben den  Tod  wünschen  (10).  Die  Meinung  ist  also  die :  in 
der  Regel  darf  kein  Christ  seinem  Widersacher  den  Tod 
wünschen,  es  sei  denn  dass  andere  Rücksichten  vorliegen,  die 
aber  durch  allerhand  Bedingungen  sehr  beschränkt  werden. 

Die  bisherige  Erörterung  der  Feindesliebe  stellte  dieselbe 
unter  den  Gesichtspunkt  eines  nolle  des  Bösen  dem  Feinde 
gegenüber.  Es  handelt  sich  weiter  um  die  JDOsitive  Forderung 
der  Liebe.  Braucht  man  den  Feind  positiv  zu  lieben?  Wenn 
ich  der  Kontemplation  lebe,  habe  ich  ihn  überhaupt  vergessen. 
Aber  auch  wenn  ich  an  ihn  denke,  scheint  meine  Liebe  zu 
Gott  sehr  wohl  bestehen  zu  können,  ohne  diese  Akte  der 
Feindesliebe  (ib.  §  11).  Aber  dies  ist  falsch,  denn  die  Liebe 
zu  Gott  hat,  wie  gezeigt,  die  Weise  des  condiligere.  Indem 
ich  will,  dass  auch  der  Feind  Gott  liebt,  bin  ich  positiv  ver- 
pflichtet, zu  seiner  Belehrung  und  Bekehrung  alles  beizutragen, 
was  in  meiner  Gewalt  ist.  Hiezu  leitet  schon  das  Gebet  an, 
indem  jeder  nicht  nur  für  sich,  sondern  die  ganze  Kirche,  für 
Gute  und  Böse  zum  Gebet  verpflichtet  ist :  et  tenetur  velle  istam 
orationem   valere    bono   et   malo    ad   bonum    spirituale    (12).  -) 


^)  Letzteres  ist  veranlasst  durch  eine  AVendung  in  dem  Brief  der 
Märtyrerin  Anastasia  an  Chrysoponus  über  ihren  Mann. 

^)  Nur  gelegentlich  redet  Duns  vom  Gebet  (IV  dist.  45  quaest.  4,  5  ff., 
s.  aber  auch  oben  S.  506  f.  über  die  latria).  Es  ist  das  Gebet  dabei  ganz 
unter  den  Gesichtspunkt  des  verdienstlichen  Handelns  gestellt.  Wenn 
jemand  betet,  so  erwirbt  er  sich  selbst  dadurch  ein  erhebliches  Ver- 
dienst, es  wird  aber  auch  sein  Gebet  dem.  für  den  er  etwa  betet,  als 
verdienstlich  angerechnet  (1.  c.  §  8).  In  diesem  Sinn  machen  auch  die 
Verstorbenen  betend  ihre  Verdienste  für  die  geltend,  die  Gott  um  Unter- 
stützung durch  dieselben  bitten:  rationabile  est,  ut  velit  merita  sua  illi 
valere   ad   salutem   qui   deum    specialiter  invocat  sibi  per  illa  merita  sub- 


Der  Liebeshabitus  besteht  in  Ewigkeit.  513 

Was  die  positive  Verpflichtung  dem  Feinde  in  äusseren  Dingen 
zu  helfen  anbetrifft,  so  ist  nach  den  oben  angeführten  Be- 
schränkungen der  negativen  Verpflichtung  auch  hier  zu  ent- 
scheiden. Ebenso  besteht  auch  die  positive  Pflicht,  jedem 
Nächsten  das  Leben  zu  retten.  Nun  ist  der  Beweis  hiefür  zwar 
weder  aus  Schrift  noch  Vernunft  ganz  einfach  zu  führen.  Denn 
wenn  der  in  Lebensgefahr  Befindliche  gut  ist,  dann  würde  der 
Tod  ihn  besser  und  selig  machen.  Indem  man  aber  voraus- 
setze, dass  der  Gute  noch  besser,  der  Böse  gut  werde  im  Ver- 
lauf des  weiteren  Lebens,  ^)  müsse  man  die  Lebensrettung  aus- 
führen (§  12). 

"Wir  haben  damit  den  Begriff  des  Duns  von  der  Liebe 
kennen  gelernt.  Der  eingegossene  Liebeshabitus  fasst  zunächst 
nur  den  Antrieb  in  sich  Gott  zu  lieben.  Indem  aber  Gott  von 
allen  geliebt  werden  will,  v,^erde  ich  den  Willen  haben,  dass 
diese  ihn  lieben.  So  will  ich  ihr  Wohl.  Dies  bewährt  sich  an 
der  geistlichen  Fürsorge  wie  der  leiblichen  Hilfe  Guten  und 
Bösen  gegenüber. 

12.  Die  letzte  Frage  ist  nun  die,  ob  der  Habitus  der 
Liebe  auch  in  der  Ewigkeit  bestehen  wird?  Wir  hörten  schon, 
dass  bezüglich  des  Glaubens  und  der  Hoffnung  die  Frage  ver- 
neint werden  musste  (oben  S.  501),  denn  diese  Akte  werden 
wegen  des  Schauens  des  höchsten  Gutes  und  seiner  Nähe  un- 
nötig. Dies  ist  nicht  so  vorzustellen,  als  wenn  sie  zerstört 
würden,  sondern  so  dass  sie  aufgehen  in  die  Liebe  (dist.  31 
quaest.  unic.  §  2f).  Die  Liebe  ist  amicitia  dei  ut  in  se  bonum 
oder  der  habitus  tendens  in  deum.  Dieser  Habitus  nun  erregt 
nicht  unterschiedlich  einen  vollkommenen  Akt  der  Liebe  gegen 
Gott  (wo  Gott  der  Liebe  gegenwärtig  ist)  und  einen  unvoll- 
kommenen Akt  (wo  Gott  nur  in  Rätsel  Weise  gegenwärtig  ist), 
sondern  er  bleibt  derselbe,    ob   er   nun  diesen  oder  jenen  Akt 


venire.  lila  autem  oratio  non  repugnat  beatitudini,  quia  bene  potest  ali- 
quis  perfeclionem  summam  adeptus  volle,  ut  per  sua  merita,  per  quae  ad 
illam  perfectionem  attigit,  alius  per  suam  orationem  attingat,  ita  ut  sua 
merita  non  sibi  soli  sint  propria,  sed  alii  de  beneficio  dei  acceptantis 
valeant  (5). 

^)  Hoc  enim  est  pie  iudicare  seil,  interpretari  semper  melius,  quando 
non  est  oppositum  manifestum. 

Seeberg,  Die  Theologie  des  Duns  Scotus.  «^3 


514  Kap.  VI:  Aus  der  Ethik  des  Duns  Scotus. 

hervorruft.  Daher  ist  auch  für  den  Vollendungszustancl  der 
Fortbestand  der  Liebe  als  Habitus  und  Akt  anzunehmen 
(1.  c.  §  7).  AVenn  man  nun  sagt,  die  Liebe  dort  empfange 
ihren  Gregenstand  per  visionem,  die  Liebe  hieuieden  per  fidem, 
folglich  müsse  die  Liebe  hienieden  und  droben  unterschieden 
werden,  so  ist  dies  ganz  richtig.  Aber  es  wäre  verkehrt  diese 
Unterscheidung  in  die  psychische  Funktion  der  Liebe  zu  ver- 
legen, vielmehr  ist  der  Unterschied  lediglich  bedingt  durch  die 
Anwesenheit  oder  Abwesenheit  des  Objektes.  Das  principium 
tendendi  in  deum  bleibt  das  nämliche,  Gott  sei  nahe  oder  ferne, 
nur  der  Erfolg  und  die  Leistung  wird  durch  letztere  Differenz 
betroffen  werden  (§  8).  Der  Unterschied  bedingt  also  keine 
Änderung  der  Liebe  im  Himmel,  sondern  er  besteht  nur  ver- 
möge der  verschiedenen  Existenzbedingungen  im  Jenseits  und 
im  Diesseits  (§  9). 

13.  Nachdem  der  Nachweis  erbracht  ist,  dass  die  Liebe 
zwar  —  nach  der  Meinung  des  Paulus  —  bleibt,  Glaube  und  Hoff- 
nung aber  vergehen  oder  in  sie  aufgehen,  ist  die  Antwort  auf 
die  später  aufgeworfene  Frage,  ob  die  drei  theologischen  Tu- 
genden untereinander  konnex  seien,  leicht  zu  geben.  Kann 
nämlich  Gott  diese  drei  Tugenden  einstmals  hinsichtlich  ihres 
esse  von  einander  trennen,  so  auch  vorher  hinsichtlich  ihres 
fieri.  Wenn  aber  Gott  diese  theologischen  Tugenden  dem 
Sünder  zusammen  verleiht,  so  ist  das  lediglich  eine  Äusserung 
seiner  Liberalität,  die  will,  dass  der  ganze  Schaden  des  Men- 
schen sowohl  im  Willen  als  im  Intellekt  Heilung  finde  (III 
dist.  36  quaest.  unica  §  30).  Man  kann  die  Frage  aber  auch 
so  stellen,  ob  Glaube  und  Hoffnung  ohne  die  Liebe  Tugenden 
wären  ?  Darauf  wäre  wie  bei  den  moralischen  Tugenden 
(s.  unten)  zu  antworten,  dass  sie  in  ihrer  Art  ja  vollkommen 
und  also  Tugenden  sind,  dass  ihnen  aber  die  letzte  Vollendung 
abgeht,  denn  die  Berührung  mit  dem  letzten  Ziel  fehle  ihnen, 
diese  stelle  nur  die  Liebe  her.  Wollte  man  dagegen  sagen, 
dass  Gott  aber  doch  auch  den  Glauben  und  die  Hoffnung 
für  sich  als  Tugenden  acceptieren  könne,  so  ist  nur  zu 
erwidern,  dass  er  die  Akte  derselben  eben  nur  in  Verbindung 
mit  der  Liebe  als  tugendhafte  Handlungen  acceptieren  will 
(ib.  §  31). 


Die  theologischeu  Tugendeu  nicht  konnex.  515 

14.  Das  sind  die  theologischen  Tugenderij  der  Akt  der 
Gnade,  durch  den  Gott  den  Christen  zum  Christen  macht,  das 
neue  Lehen  in  ihm  erzeugt.  Will  man  Termini  der  protestan- 
tischen Lehre  als  Parallelen  zuziehen,  so  ist  an  die  Wieder- 
gehurt und  Bekehrung  zu  denken.  Gott  wandelt  den  Menschen 
um,  indem  er  ihm  eine  schlechthin  neue  Richtung  gibt.  Aber 
man  braucht  diese  Parallele  bloss  auszusprechen,  um  der  ganzen 
Differenz  bewusst  zu  werden.  Bei  Duns  liegt,  trotz  aller  Um- 
deutungen,  die  Erinnerung  an  eine  eingegossene  Gnade,  eine 
physische  Neuschöpfung,  die  schlechthin  —  Avenn  auch  nicht 
innerlich  —  gebunden  ist  an  die  Sakramente,  doch  noch  vor; 
der  Protestant  denkt  an  die  geistliche  persönliche  Wandlung, 
die  Christus  in  der  Kraft  seiner  geistigen  Gegenwart  hervor- 
bringt. Wer  aber  diesen  Zusammenhang  erfasst  hat,  wird  die 
Unbilligkeit  der  protestantischen  Polemik  gegen  die  katholische 
Verwendung  des  Glaubens  verstehen.  Auch  im  Zusammenhang 
der  Gedanken  des  Duns  wird  man  es  nur  als  einleuchtend 
bezeichnen  dürfen,  dass  der  Glaube  der  Liebe  sudordiniert  ist. 
Solange  nämlich  der  Glaube  nichts  anderes  ist  als  die  Hin- 
neigung zum  Assens  zu  der  überlieferten  Kirchenlehre,  ist  er 
in  der  That  nur  die  Vorstufe  zur  Liebe  als  der  Ergreifung 
Gottes  und  der  Lebensgemeinschaft  mit  ihm.  Wenn  man  den 
Glauben  nur  als  eine  besondere  Form  der  moralischen  Be- 
thätigung  gegen  Gott  versteht,  muss  die  Liebe  ihm  den  Eang 
ablaufen.  Auch  die  Formel  der  Zuversicht  zu  Gott  ändert  dies 
Verhältnis  für  eine  genauere  Betrachtung  nicht  genügend. 
Erst  wenn  man  —  mit  Luther  —  den  Glauben  als  die  Hin- 
nahme des  in  Christus  offenbaren  Gottes  verstehen  lernt,  wird 
seine  spezifische  religiöse  Bedeutung  der  Liebe  und  jeder 
Tugend  gegenüber  festgestellt  und  seine  im  Wesen  der  Sache 
begründete  Überordnung  über  die  Liebe  wie  jede  moralische 
Bethätigung  erkannt.  Aber  diese  Differenz  greift  bis  in  die 
tiefsten  Gründe  des  Gegensatzes  katholischer  und  evangelischer 
Lehre  hinab.  Davon  ist  hier  nicht  zu  handeln.  Nur  der 
billigen  Beurteilung  des  Duns  sollten  diese  Andeutungen  dienen. 

Aber  noch  eine  andere  Lücke  in  der  Gedaukenentwicklung 
wird  uns  vor  das  Auge  treten.  Wenn  wir  an  die  grossartige 
Erörterung  über  die  Liebe  zu  Gott  und  dem  Nächsten  zurück- 

33* 


516  ^^np-  VI:  Aus  der  Ethik  des  Duns  Scotus. 

denken  (vgl.  auch  die  Eschatologie),  so  war  dort  in  dem  Ge- 
danken der  Liebe  der  Zweck  Gottes  mit  der  Welt  und  die 
Realisierung  desselben  durch  uns  und  in  uns  beschlossen.  Man 
erwartet,  dass  von  diesem  höchsteti  Gesichtspunkt  her  eine 
Neugestaltung  des  ethischen  Ideals  und  des  Gefüges  der  Älittel 
seiner  Verwirklichung  unternommen  wird,  etwa  in  der  Weise 
wie  Augustin  alle  menschliche  Tugend  aus  der  Liebe  herzuleiten 
versuchte,  oder  so,  dass  alles  Gute  und  daher  die  Seligkeit  in 
der  Liebe  bestehe.  Aber  diese  Erwartungen  gehen  nicht  in 
Erfüllung.  Duns  hat  das  jenseitige  Ideal  nicht  für  das  Dies- 
seits fruchtbar  zu  macheu  vermocht. 


3.  Die  moralischen  Tugenden. 

1.  An  die  theologischen  Tugenden  schliessen  sich  die 
moralischen,  d.  h.  die  erworbenen  moralischen  Habitus 
(fortitudo,  temperantia,  iustitia).  Auch  sie  sind  ?Js  eine  innere 
Habitualität  im  Menschen  zu  verstehen.  Die  Frage  ist  zu- 
nächst die,  wo  in  der  Seele  sie  ihren  Sitz  haben.  Thomas 
meinte  in  der  pars  sensitiva,  da  der  Wille  als  frei  ebensosehr 
dieser  Leitung  nicht  bedürfe,  als  die  sinnlichen  Triebe  derselben 
benötigen  (III  dist.  33  quaest.  un.  §  3).  Demgegenüber  hat 
Augustin  die  Kardinaltugenden  als  amor  ordiuatus  bestimmt, 
sie  sonach  in  den  Willen  verlegt  (§  4).  Die  thomistische  Auf- 
fassung wird  von  Duns  verworfen.  Man  müsse  gerade  um- 
gekehrt sagen,  weil  der  Wille  frei  ist,  bedarf  er  einer  ihn 
leitenden  stetigen  Macht  des  Guten.  Aber  auch  w^er  den 
Willen  vom  Intellekt  bestimmt  sein  lässt,  muss  einseben,  dass 
dann  auch  der  das  Handeln  bestimmende  Habitus  nicht  sowohl 
im  Intellekt  als  im  Willen  liegen  kann.  Die  intellektuelle 
Thätigkeit  ist  nämlich  an  sich  rein  natürlich.  Wohl  kann  hier 
der  Habitus  des  rechten  Urteils  oder  die  prudentia  entstehen. 
Aber  das  Urteil  bewegt  nicht  den  freien  Willen.  Daher  be- 
darf es  eines  anderen  diesem  eigenen  Habitus ;  indem  der  freie 
Wille  wiederholentlich  bestimmte  Handlungen  vollzog,  entsteht 
in  ihm  eine  babilitas  inclinans  ad  similes  actus.  Diese  Ge- 
wöhnung und  Neigung  des  Willens  zu  einem  bestimmten  Han- 
deln ist  nach  Duns   die  Tugend   oder  der  moralische  Habitus. 


Die  moralischen  Tugenden  sind  Willenshabitiis.  517 

(1.  c.  §  5.  13).  So  wird  der  Habitus  aber  uicht  nur  das 
recte,  sondern  auch  das  delectabiliter  agere  bewirken;  grade 
letzteres    ist    aber    ohne    einen    Habitus   im  Willen   undenkbar 

(ibid.). 

2.  Nun  kann  aber  diesem  Gedanken  von  einer  Gewöhnung 
des  Willens  die  Freiheit  des  Willens  entgegengehalten  werden. 
Sofern  der  Wille  Freiheit  ist,  bestimmt  er  sich  nur  selbst  (s. 
oben  S.  87) ;  dies  schliesst  aber  nicht  aus,  dass  er  selbst  durch 
Handeln  sich  die  Neigung  und  das  Geschick  zur  Wiederholung 
bestimmter  Handlungen  erwirbt.  Nicht  von  aussen  her  oder 
durch  eine  forma  naturalis  wird  ihm  diese  Bestimmung  gesetzt, 
sondern  sie  ergibt  sich  aus  den  freien  Volitionen  der  indetermi- 
nierten Willenskraft  (1.  c.  §  8).  Endlich  macht  Duns  für  seine 
Meinung  geltend,  dass  die  sinnlichen  Triebe  überhaupt  ihre 
Regelung  aus  dem  "Willen  empfangen,  dass  also  ein  dieser 
Regelung  dienender  Habitus  auch  in  dem  Willen  anzusetzen 
sein  wird.  Soll  aber  der  Habitus  dazu  dienen,  den  Menschen 
in  die  rechte  Beziehung  zum  letzten  Ziel  zu  setzen,  so  ist  sein 
Sitz  im  geistigen  Triebleben  oder  dem  Willen,  und  nicht  in  den 
sinnlichen  Affekten  zu  suchen  (§  9). 

Der  moralische  Habitus  entsteht  also  ganz  in  der  Weise 
des  intellektuellen  Habitus.  Mindestens  ein  Akt  geht  der 
Habitualität  des  Handelns  voran.  Durch  die  Wiederholung 
der  Akte,  in  unserem  Fall  der  rechten  Wollungen,  wird  im 
Willen  die  virtus  recta  erzeugt,  inclinans  ipsam  ad  recte  eligen- 
dum  (ib.  §  12).  Somit  ist  zu  unterscheiden  bei  einer  tugend- 
haften Handlung  die  intellektuelle  prudentia,  die  aus  Beobach- 
tung des  Wesens  der  Handlungen  die  Wiederholung  des 
Handelns  anrät,  von  dem  dem  Willen  immanenten  geistigen 
Hang  die  Handlung  zu  wiederholen.  Der  Verstand  billigt  und 
fordert  auf,  aber  die  Neigung  treibt  an.  Dieser  Habitus  ist 
also  direkt,  jener  nur  indirekt  an  der  Entstehung  der  guten 
Handlung  beteihgt.  Aber  gut  ist  die  Handlung  nur,  sofern  sie 
von  dem  Verstand  gebilligt  wird.  Genauer  gesagt,  kommt  es 
so  zur  Handlung,  dass  der  moralische  Habitus  einen  aktuellen 
AVillensentschluss  veranlasst,  dieser  setzt  dann  die  sinnlichen 
Organe  zur  Ausführung  in  Bewegung.  Voluntas  autem  prius 
vult  aliquid  in  se,  quam  imperet  potentiae  inferiori  actum  circa 


518  Kap.  VI:  Aus  der  Ethik  des  Duns  Scotus. 

illud,  iioii  euim,  quia  imperet  potentiae  inferiori  ideo  vult,  sed 
e  converso  (§  13). 

Das  Wesen  der  moralischen  Tugend  besteht  also  darin, 
dass  sie  der  habituelle  Antrieb  zum  Handeln  im  Willen  ist. 
Sofern  nun  die  sinnlichen  Organe  durch  den  Willen  regel- 
mässig zu  einem  besonderen  Handeln  angehalten  werden,  ent- 
steht auch  in  ihnen  ein  gewisser  Habitus,  der  sie  gern  dem 
Willen  folgen  lässt.  Es  ist  die  physische  Gewöhnung.  Mit 
Recht  sagt  Duns,  nur  aliquo  modo  könne  diese  virtus  genannt 
werden  (ib.).  Es  ist  eine  physische  habilitas,  die  man  der 
durch  die  Übung  gewonnenen  Kunstfertigkeit  vergleichen  kann. 
Tugend  kann  diese  sinnliche  Geschicklichkeit  aber  nur  im  un- 
eigentlichen Sinn  genannt  werden,  etwa  sofern  sie  die  Aus- 
führung der  moralischen  Handlung  erleichtert  (§  19).  Damit 
hat  Duns  die  thomistische  Auffassung  entgründet  und  seine 
entgegengesetzte  Anschauung  begründet. 

3.  Wir  wollen  gleich  hier  feststellen  (unten  ist  darauf 
zurückzukommen),  dass  der  moralische  Habitus,  weil  er  nie 
ohne  Mitwirkung  der  Prudenz  besteht,  auch  nicht  die  direkte 
Kausalität  zur  Erzeugung  guter  Handlungen  ausübt  wie  die 
theologischen  Habitus.  —  Der  moralische  Tugendhabitus  wird 
zu  dem,  was  er  ist,  indem  er  sich  als  der  prudentia  gemäss 
erweist.  Verschiedene  Grössen  wirken  zusammen,  um  eine 
Tugend  oder  einen  Akt  moralisch  zu  machen.  Wie  die  Schön- 
heit nicht  eine  absolute  Qualität  ist,  sondern  eine  aus  dem 
Zusammensein  von  Grösse,  Gestalt,  Farbe  und  der  Beziehungen 
dieser  untereinander  und  zum  ganzen  Körper  entstandene 
Kongregation,  so  ist  auch  die  moralisch  gute  Handlung  durch 
eine  gewisse  inwendige  Schönheit  charakterisiert.  Diese  schliesst 
in  sich  das  richtige  Verhältnis  zu  allem,  wie  zur  Kraft,  zum 
Objekt,  zur  Zeit,  dem  Zvv^eck,  dem  Ort.  Vor  allem  aber  muss 
die  Vernunft  alle  diese  Beziehungen  als  notwendige  anerkennen. 
Im  ganzen  kann  man  also  sagen,  quod  convenientia  actus  ad 
rationem  rectam  est,  qua  posita  actus  est  bonus,  qua  uon 
posita,  quibuscunque  aliis  conveniat,  non  est  bonus.  Sofern 
nun  ein  erworbener  Habitus  sich  mit  der  prudentia  vereinigen 
lässt,  ist  er  eine  Tugend:  quando  iste  habitus  ex  natura  sua 
natus   est,    esse    conformis  prudentiae.     Sowie  aber  von  dieser 


Unterschied  der  moralischen  und  theologischen  Tugenden.       519 

BeziehuDg  zur  prudentia  abgesehen  wird,  ist  der  betreffende 
Habitus  eine  Qualität,  die  an  sich  weder  gut  noch  böse  ist.  — 
Hieraus  ergibt  sich  aber  weiter  ein  Unterschied  zwischen  dem 
moralischen  Habitus  und  den  theologischen  Habitus.  Letztere 
waren  aktive  Prinzipien  als  Neigung  zum  auf  Gott  bezogenen 
Handeln.  Solch  eine  Neigung  zum  Handeln  ist  jeder  Habitus, 
also  auch  der  moralische.  Nun  aber  nicht  als  moralischer, 
denn  die  Qualität  des  Moralischen  ist  nichts  an  sich  Seiendes 
in  diesem  Habitus,  sondern  seine  Relation  zur  Prudenz  (siehe 
unten).  Eine  Relation  kann  aber  nicht  aktives  Prinzij)  sein, 
sondern  das  sind  die  unter  einander  sich  beziehenden  Dinge. 
Der  Habitus  ist  also  nicht  an  sich  moralisch,  sondern  nur 
wegen  seiner  Relation  zur  Vernunft,  deshalb  kann  er  auch  nicht 
an  sich  moralische  Handlungen  erzeugen,  sondern  nur  Hand- 
lungen, die  wieder  nur  sofern  auch  sie  vernunftgemäss  sind, 
als  moralisch  tugendhaft  zu  gelten  haben  (s.  I  dist.  17  quaest. 
3,  3.  5.  14).  Sonach  besteht  eine  Differenz  zwischen  der 
Triebkraft  und  Kausalität  der  spezifisch  religiösen  und  der 
moralischen  Tugendhabitus. 

4.  Nachdem  wir  vom  Wesen  der  moralischen  Tugenden 
gehandelt,  müssen  wir  weiter  den  einzelnen  derselben  nach- 
zugehen versuchen.  Diese  Aufgabe  wird  dadurch  erschwert, 
dass  Duns  diese  Tugenden  nur  nach  ihrem  Verhältnis  zu  den 
acht  beatitudines  (Matth.  5),  den  sieben  dona  Spiritus  (Jes.  11) 
und  den  fructus  (Gal.  5)  behandelt.  Die  drei  uns  beschäfti- 
genden Tugenden  sind  genera  intermedia,  d.  h.  mittlere  Be- 
zeichnungen der  Art,  die  in  engem  Zusammenhang  mit  anderen 
verwandten  Artbegriffen  stehen.  Für  das  concupiscibile  wurde 
einfach  der  Habitus  der  temperantia  gebildet.  Nun  richtet 
sich  aber  das  concupiscibile  sowohl  auf  den  honor  als  die 
voluptas.  In  ersterem  Fall  wird  die  temperantia  die  Art  der 
humilitas  annehmen,  in  letzterem  Fall  wird  man  den  Aus- 
druck temperantia  zwar  beibehalten  dürfen,  aber  doch  unter- 
scheiden müssen,  ob  dieselbe  sich  auf  tangibilia  oder  gustabilia 
richtet,  ob  sie  die  Freude  des  Willens  in  der  sinnlichen  Lust 
oder  die  Lust  des  Willens  an  sich  mässigt  (1.  c.  dist.  34  quaest. 
un.  §  15).  Indem  nun  jemand  die  eine  Form  der  temperantia 
haben  kann,  ohne  die  anderen  zu  besitzen,   müssen  diese  Ver- 


520  -Kap.  VI:  Aus  der  Ethik  des  Duns  Scotus. 

zweigungen  des  einen  liabitus  freilich  von  einander  unterschieden 
werden.  So  etwa,  wenn  der  eine  in  seinem  geschh'chtlichen 
Leben  temperiert  ist,  sodass  er  sich  mit  seinem  Weibe  begnügt, 
aber  der  andere  überhaupt  vermöge  jener  Moderation  auf  den 
Geschlechtsverkehr  verzichtet;  oder  wenn  einer  zwar  auf  dem 
sinnlichen  Gebiet  enthaltsam  ist,  aber  auf  dem  Boden  einer 
unnützen  Spekulation  moralisch  nicht  förderlichen  Ausschwei- 
fungen sich  hingibt  (§  16).  —  Ahnliches  zeigte  sich  schon 
früher  bei  der  Erwägung  der  fortitudo  (S.  498),  die  nicht  nur 
die  aktive  Tapferkeit  zur  Vertreibung  der  Übel,  sondern  auch 
die  passive  Tapferkeit  der  Geduld  in  sich  fasst,  welche  die 
nobilissima  fortitudo  ist,  quae  non  repellit  repellenda,  ita  quod 
pati  est  quoddam  permittere  (§  16). 

Ebenso  lässt  die  Gerechtigkeit  weitere  Subdivisionen  zu. 
Dieser  Habitus  äussert  sich  zunächst  als  amicitia,  d.  h.  in 
der  Mitteilung  seiner  selbst  an  einen  anderen.  Amicitia,  qua 
quis  dat  se  ipsum  proximo  quantum  potest  se  dare  et  in  quan- 
tum  potest  proximus  habere  eum.  Da  nun  niemand  etwas 
Höheres  als  sich  selbst  geben  kann,  so  ist  diese  Form  die 
höchste  Stufe  der  Gerechtigkeit  und  die  höchste  Bethätigung 
der  moralischen  Tugend  überhaupt.  Es  ist  die  Tugend,  die 
wir  als  christliche  Bruderliebe  bezeichnen  würden.  Die  nicht 
unschwer  zu  vollziehende  Kombination  mit  der  theologischen 
Tugend  der  Caritas  ist  aber  von  Duns  nicht  gemacht  worden. 
Des  Weiteren  äussert  sich  die  Gerechtigkeit  darin,  dass  man 
dem  Mitmenschen  etwas  mitteilt,  was  er  zum  Leben  bedarf. 
Es  ist  zunächst  auf  dem  Gebiet  des  Austausches,  im  sozialen 
Leben  die  iustitia  commutativa,  die  auf  der  Äquivalenz 
der  Tauschgegenstände  beruht.  Man  vermisst  hier  eine  Er- 
wähnung der  Barmherzigkeit,  wie  sie  sich  in  Verbindung  mit 
dem  ersten  Gesichtspunkt  notwendig  ergeben  würde  und  wie 
Duns  sie  im  folgenden  auch  bietet.  Sodann  aber  ist  die 
Gerechtigkeit  in  dem  geregelten  Verhältnis  zwischen  Obrigkeit 
und  ünterthanen.  Für  die  Obrigkeit  ergibt  sich  dabei  eine 
Tugend,  die  man  nennen  kann  praesidentiavel  dorainatio 
iusta,  für  die  ünterthanen  die  subiectio  iusta  oder  obedientia 
(ib.  §  17).     Das   sind   die  Formen   der  Gerechtigkeit,   wie   sie 


Die  Tugenden  und  die  Seligpreisungen  etc.  521 

sich  in  der  Anwendung  auf  das  persönliche,  soziale  und  staat- 
liche Gebiet  des  Lebens  ergeben. 

5.  Auf  Grund  der  jetzt  gewonnenen  Erkenntnis  kann  man 
die  Tugenden  in  den  acht  Seligprcisungen  der  Bergpredigt 
den  bisher  gewonnenen  Schemata  leicht  einordnen,  denn  sie 
bieten  nur  speziellere  Beziehungen  der  besprochenen  Tugenden 
dar.  Unter  die  temperantia  fallen  die  humilitas  der  geist- 
lich Armen  und  die  Lustbändigung  derer,  die  reines 
Herzens  sind.  Zur  fortitudo  gehört  das  Erleiden  der 
Verfolgung;  zur  Gerechtigkeit:  die  Freundschaft  der  Sanft- 
mütigen und  die  Art  der  pacifici,  pax  quippo  servatur  in 
hoc,  quod  praesidens  recte  regit  et  subditus  recte  obedit ;  end- 
lich aber  auch  die  Barmherzigkeit,  nullo  enim  alio  modo 
potest  aliquis  esse  perfecte  dispositus  circa  exteriora  communi- 
canda  proximo  quam  per  misericordiam,  misericors  enim  com- 
municat  non  ut  rehabeat  nee  ut  prius  rebeneficiatus  ab  eo  cui 
communicat.  Das  ist  der  oben  bei  der  iustitia  von  uns  ver- 
misste  Gedanke.  Dagegen  untersteht  der  Hunger  und  Durst 
nach  Gerechtigkeit  und  das  Leidtragen  nicht  mehr  den 
moralischen  Tugenden,  sondern  den  theologischen  Habitus, 
ersterer  der  Liebe,  letzteres  der  Hoffnung  (§  18.  19). 

Ahnlich  nun  kann  gezeigt  werden,  dass  die  sieben  Geistes- 
gaben bei  Jes.  11  sich  mit  den  bisher  erkannten  sieben  Tugenden 
decken.  Die  prudentia  ist  das  donum  consilii,  die  forti- 
tudo wird  ausdrücklich  genannt,  eine  Art  der  temperantia  ist 
der  timor,  die  pietas  ist  gleich  der  iustitia.  Die  nach- 
bleibenden drei  Gaben  kommen  überein  mit  zwei  theologischen 
Tugenden,  da  die  sapientia  gleich  Caritas  ist,  intellectus 
und  seien tia  aber  im  Glauben  enthalten  sind  (§  20). 

Ebenso  sind  die  Früchte  des  Geistes  Gal.  5  nur  Bezeich- 
nungen von  jenen  sieben  Tugenden  oder  ihren  Unterarten,  oder 
es  sind  delectationes,  die  aus  diesen  folgen  (s.  §  21). 

6.  Dann  aber  darf  als  Kesultat  der  ganzen  Erörterung 
ausgesprochen  werden,  dass  alle  möglichen  und  denkbaren 
Tugenden  systematisch  beschlossen  sind  in  die  sieben  Tugenden, 
nämlich  die  drei  theologischen  und  die  vier  Kardinaltugenden, 
von  denen  drei  moralische  Habitus,  eine  einen  intellektuellen 
Habitus    darstellt,   wie   eine   theologische  Tugend  im  Intellekt, 


522  Kap.  VI:  Aus  der  Ethik  des  Duns  Scotus. 

zwei  im  Willen  sich  bethätigen.  Die  Beschreibung  des  voll- 
kommenen Christen  ist  somit  gegeben  mit  der  Darlegung  dieser 
sieben  Haupttugenden  samt  ihren  Unterarten  und  Verzweigungen. 

7.  Wenn  die  moralischen  Tugenden  sich  in  einem  Menschen 
vereinigen,  so  ist  zu  fragen,  ob  sie  mit  einander  konnex  sind 
oder  ob  sie  sich  nur  zufällig  vereinigen?  Nach  Heinrich  v.  Gent 
seien  sie  nicht  mit  einander  konnex,  solange  die  Tugend  erst 
als  Prädisposition  nämlich  in  der  Ausübung  der  einzelnen,  die 
Habitualität  vorbereitenden  Akte,  bestehe,  da  sich  jemand  nur 
in  der  einen,  und  nicht  auch  in  der  anderen  Tugend  üben 
könne.  Dagegen  sei  jede  Tugend,  die  als  vollendet  auftritt, 
konnex  mit  den  übrigen  moralischen  Tugenden,  also  kann  nie- 
mand den  höchsten  Grad  der  temperantia  besitzen,  ohne  zu- 
gleich die  Tapferkeit  zu  haben,  würde  doch  jene  sonst  etwas 
Schrecklichem  gegenüber  nicht  Bestand  haben  (III  dist.  36 
quaest.  un.  §  2  f.).  Doch  meint  Duns,  dass  nicht  einleuchte, 
woher  die  Scheidung  für  die  ersten  Stufen  auf  den  späteren 
aufhöre  (1.  c.  §  4  vgl.  9).  Nach  der  Ansicht  des  Thomas  soll 
zwar  ein  vollkommener  Habitus  durch  Wiederholung  der  Hand- 
lungen erreicht  werden  können,  aber  erst  in  der  Konnexion 
mit  den  anderen  Tugenden  w^erde  diese  Habitualität  zur  Tugend. 
Wenn  nun  aber  die  Tugend  aus  Akten,  die  der  recta  ratio  ge- 
mäss sind,  entsteht,  so  wird  diese  Konformität  das  Wesen 
dieses  Habitus  begründen,  also  wird  Tugend  da  sein  auch  ohne 
jene  Konnexion  (§  5).  Zudem  komme  man  hiebei  auf  logisch 
Unmögliches  hinaus:  ein  Habitus  wird  Tugend,  indem  er  in 
Zusammenhang  tritt  mit  den  anderen  Tugenden,  also  bewirkt 
die  Tapferkeit  als  Tugend,  dass  die  Massigkeit  Tugend  wird, 
wie  wiederum  die  Tugend  der  Massigkeit  der  Tapferkeit  den 
Tugendcharakter  verleiht.  Dann  müsste  aber  etwas  Tugend 
sein,  bevor  es  Tugend  ist,  da  ja  Tugend  nur  entstehen  könnte, 
wenn  sie  sich  an  bereits  vorhandene  Tugend  anlehnt  (6). 

Nach  der  Ansicht  des  Duns  sind  die  moralischen  Tugenden 
nicht  notwendig  mit  einander  konnex.  Jeder  Tugendhabitus 
bedeutet  eine  perfectio  des  Menschen,  diese  ist  aber  nicht 
totalis,  da  sonst  eine  Tugend  genügend  zur  Vollkommenheit 
wäre.  Die  Tugend  ist  durch  Übung  erw'orbene  Fertigkeit. 
AVie  jemand  zwar  sehr  gut  sehen,    darum   aber  doch  taub  sein 


Die  Tilgend  der  Priulcnz.  523 

kaun,  so  kann  jemand  wohlgeübt  in  der  temperantia  sein,  dabei 
aber  der  Tapferkeit  ermangeln.  Gewiss  ist  /Aizugestehen,  dass 
ein  solcher  Mangel  die  Sittlichkeit  des  Menschen  einschränkt, 
ohne  dass  aber  dadurch  die  bezügliche  Tugend  selbst  beschränkt 
würde.  Der  Taube  ist  ja  auch  allerdings  minus  perfecte  sentiens, 
kann  aber  über  das  schärfste  Gesicht  verfügen  (§  9).  Es  muss 
aber  für  das  praktische  Leben  allerdings  eine  Konnexion  der 
Tugenden  zugegeben  w^erden. 

Wer  eine  Tugend  verliert,  fällt  leicht  von  einer  anderen 
ab,  andererseits  unterstützen  sich  die  Tugenden  unter  einander 
wie  Schwestern,  sie  sind  aber  unter  sich  ebenso  wenig  identisch 
oder  zugleich  geboren,  als  das  bei  Schwestern  der  Fall  ist  (§  10). 

8.  Die  moralischen  Tugenden  bestehen  also  unabhängig 
von  einander  im  Menschen,  wie  etwa  die  Fertigkeiten  der  ver- 
schiedenen physischen  Organe.  Hier  greift  nun  weiter  die 
Frage  ein  nach  dem  Verhältnis  der  drei  moralischen  Kardinal- 
tugenden zu  der  vierten,  der  intellektuellen  prudentia.  Im 
Gesamtzusammenhang  der  scotistischen  Gedanken  ist  diese 
Frage  sehr  begreiflich.  Die  Norm,  an  welcher  die  Willens- 
handlungen sich  als  moralisch  bewähren,  war  die  praktische 
Vernunft  (vgl.  S.  484),  also  kann  ein  Willenshabitus  nur  in- 
sofern für  gut  gelten,  als  er  dem  Naturgesetz  resp.  der  Er- 
kenntnis desselben  durch  die  Prudenz  gemäss  ist.  —  Im  ein- 
zelnen liegen  zwei  Fragen  vor:  wie  verhält  sich  die  Fertigkeit 
zu  der  mit  ihr  gesetzten  prudentia,  und  bilden  diese  vielen 
prudentiae  ein  prudentia? 

Die  erstere  Frage  wird  gewöhnlich  mit  Aristoteles  einfach 
bejaht,  denn,  sagt  man,  wenn  der  Wille  schlecht  handelt,  hat 
der  Intellekt  ihn  schlecht  beraten ;  ohne  prudentia  keine  mora- 
lische Tugend  und  ohne  moralische  Tugend  keine  prudentia.^) 
Man  könnte  dies  bewähren  wollen  durch  den  zu  Paris  ver- 
dammten Satz :  staute  scientia  in  universal!  et  particulari  volun- 
tatem  non  posse  velle  oppositum.  Dieser  Satz  ist  aber  im  Sinn 
einer  Division  falsch,  weil  er  dem  Willen  potestatem  volendi 
oppositum  nimmt;  dagegen  ist  er  als  Compositio  genommen, 
richtig,  wenn  man  den  Ablativus  absolutus  .durch  si  oder  dum. 


')  cf.  Aristotel.  Eth.  Niconi.  YI,  13. 


524  ^^P-  ^^^'  Aus  der  Ethik  des  Duüs  Scotus. 

nicht  aber  durch  quia  auflöst.  Mit  quia  wäre  der  Sinn,  dass 
die  Gerechtigkeit  im  Intellekt  Ursache  der  Gerechtigkeit  des 
Willens  wäre.  Bei  der  Auflösung  mit  si  besteht  dagegen  nur 
ein  Verhältnis  der  Konkomitanz.  Dies, kann  zugestanden  werden. 
In  Wirklichkeit  nämlich  kommt  bei  jedem  Irrtum  die  sachliche 
Priorität  dem  Willen  zu,  ihm  folgt  erst  logisch  —  bei  kon- 
kreter Gleichzeitigkeit  —  der  Intellekt.  Voluntate  libere  er- 
rante  intellectus  excaecatur,  etsi  simul  tempore  tamen  posterius 
natura  (§  11).  Gegenüber  jenen  Meinungen,  wie  sie  etwa 
Heinrich,  Gottfried,  Thomas  vertreten,  macht  also  Duns  zu- 
nächst seine  Auffassung  vom  Primat  des  Willens  geltend. 
Aus  der  Unabhängigkeit  des  Willens  von  Intellekt  ergibt  sich 
aber,  dass  der  Intellekt  zw^ar  das  Rechte  vorschreiben  kann, 
ohne  dass  aber  der  Wille  es  erwählt.  Sonach  kann  die  prudentia 
ohne  moralische  Tugend  bestehen.  Auf  der  anderen  Seite  kann 
der  Wille  durch  seine  Wahl  des  Bösen  den  Intellekt  auch  nicht 
plötzlich  verblenden  bezüglich  der  agibilia,  indem  diesem  be- 
stimmte Prinzipien  sowie  das  syllogistische  Vermögen  einwohnen. 
Wohl  aber  vermag  der  Wille  zeitweilig  den  Intellekt  vom 
Rechten  abzuwenden,  obwohl  st  ante  prudentia,  d.  h.  trotz  Fort- 
bestandes der  habituellen  Klugheit,  wird  der  Intellekt  vom  Willen 
gezwungen  Unrechtes  zu  denken  (§  12).  Nun  setzt  aber  das 
velle  avertere,  das  der  Wille  der  Vernunft  gegenüber  bethätigt, 
in  letzterer  den  Fortbestand  der  recta  ratio,  von  der  abgewandt 
werden  soll,  voraus.  Dann  wäre  aber  —  nach  jener  Voraus- 
setzung —  dies  velle  avertere  keine  Sünde,  sofern  es  ja  mit 
recta  ratio  zugleich  besteht.  Erweist  sich  hierin  die  Verkehrt- 
heit jener  Voraussetzung,  so  auch  weiter  an  der  Beobachtung, 
dass  jene  es  eigentlich  zu  keiner  Sünde  kommen  lässt,  da  jede 
böse  Willensthat  nur  Folge  eines  Irrtums  wäre.  Aber  dieser 
Irrtum  selbst  ist  eigentlich  undenkbar,  denn  wie  sollte  ein 
Mensch,  der  doch,  solange  er  auf  Erden  lebt,  corrigibilis  ist, 
bezüglich  der  ersten  praktischen  Prinzipien  irren  (§  13)? 

Der  Gegner  ist  ad  absurdum  geführt.  Positiv  hat  sich 
aber  ergeben,  dass  der  Intellekt  das  Rechte  diktieren  kann, 
ohne  dass  der  Wille  ihm  folgt,  dass  also  der  Intellekt  auch 
prudentia  in  sich  erzeugen  kann,  ohne  dass  dieser  die  Habitua- 
lität   moralischer  Tugenden    korrespondierte.     Wenn   nun   aber 


Die  Prudenz  und  die  moralischen  Tugenden.  525 

Autoritäten  den  Intellekt  von  der  Bosheit  verfinstert  werden 
lassen,  so  ist  das  sowohl  in  privativem  wie  positivem  Sinn 
richtig,  indem  nämlich  der  Wille  die  Vernunft  zwingt  sich  von 
der  Betrachtung  des  Rechten  abzuwenden  und  indem  er  sie 
nötigt  zur  Erwägung  der  Mittel  und  Wege,  deren  es  zur  Er- 
reichung des  bösen  Zieles  bedarf.  Voluntas  praestituens  ibi 
malum  finem  praecipit  iutellectui  inveuire  media  necessaria  ad 
delectabilia  prosequenda  et  tristia  opposita  fugienda  (§  14). 
Nach  dem  oben  Gesagten  ist  aber  durch  diesen  zeitweiligen 
Missbrauch  der  Vernunft  das  Vorhandensein  der  praktischen 
Vernunftprinzipien  in  ihr  nicht  ausgeschlossen,  vgl.  die  Lehre 
von  der  Synderesis  oben  S.  215  f. 

9.  Nachdem  wir  jetzt  erkannt  haben,  dass  die  Erzeugung 
des  habitus  rectus  intellectivus  und  des  habitus  bonus  appe- 
titivus  nicht  zusammenzufallen  braucht,  muss  weiter  gefragt 
werden,  ob  denn  dieser  intellektuelle  Habitus  ohne  die  Ver- 
bindung mit  den  moralischen  Tugenden  als  Tugend,  und  ob 
jene  Regelung  des  Trieblebens  ohne  die  prudentia  als  habitus 
moralis  angesehen  werden  könne  (14)  ? 

Die  erste  Frage  kann  man  dahin  beantworten,  dass  die  Klug- 
heit ohne  die  Verbindung  mit  den  moralischen  Habitus  garnicht 
dasei.  Bei  dieser  Annahme  wären  also  die  prima  dictamina 
bezüglich  der  priucipia  agibilium  bei  einer  Handlung  an  sich 
nicht  prudentia,  sondern  nur  seminaria  prudentiae.  Sodann 
bedürfte  es,  damit  die  Mittel  für  die  vom  Willen  gesetzten 
Zwecke  erwogen  würden,  eines  besonderen  intellektuellen  Ha- 
bitus. Dieser  wäre  aliquis  habitus  recte  dictativus,  et  tarnen 
non  esset  prudentia.  Somit  wäre  ein  doppelter  intellektueller 
Habitus  circa  agibilia  gesetzt,  aber  keiner  von  beiden  wäre 
prudentia.  Der  eine  Habitus  geht  der  besonderen  Wahl  des 
Rechten  voraus,  als  ein  habitus  consiliativus,  der  andere  würde 
die  Beherrschung  der  rechten  Mittel  zur  Verwirklichung  des 
Erwählten  bedeuten.  Indem  nun  aber  die  prudentia  sich  stets 
circa  ordinata  ad  finem  bewegt,  ist  es  deutlich,  dass  der  erste 
Habitus  nicht  prudentia  ist;  der  andere  hat  allerdings  die  Be- 
ziehung auf  das  Ziel,  aber  er  stände  ausser  Beziehung  zu  dem 
appetitus  rectus  bezüglich  jenes  Zieles.  So  gäbe  es  also  zwei 
intellektuelle    Habitus,    die    nichts    mit    der    der    moralischen 


526  Kap,  VI:  Aus  der  Ethik  des  Duns  Scotus. 

Tugend  konuexen  Prudenz  zu  tlmn  haben  (§  15).  Dagegen 
kann  man  aber  auch  nicht  sagen,  dass  es  nicht  nötig  sei,  dass, 
wie  die  moralischen  Tugenden  unabhängig  neben  einander  be- 
ständen, sie  der  Prudenz  konform  -seien.  Es  kann  nämlich 
diese  letzere  Beziehung  freilich  schon  aus  der  Definition  der 
Tugend  als  notwendig  erwiesen  werden,  da  sie  ein  habitus 
electivus  secunclum  rectam  rationem  ist.  Sagt  man  aber  ein 
Akt  könne  doch  unmöglich  zur  Erzeugung  zweier  Tugenden 
dienen,  so  ist  das  richtig,  wenn  es  sich  um  morahsche  Tugenden 
handelt,  braucht  aber  nicht  zuzutreffen,  wenn  etwa  derselbe 
Akt  prudentia  und  temperantia  erzeugt,  nämlich  so  dass  jene 
als  regulativum,  diese  als  regulatum  zu  stehen  kommt  (§  16). 
So  würde  man  denken  können,  dass  die  intellektuelle  Tugend 
der  prudentia  jede  moralische  Tugend  als  ihr  Regulativ  be- 
gleitet, indem  beide  Habitus  durch  die  nämliche  Reihe  von 
Handlungen  erzeugt  würden. 

Damit  sind  zwei  Auffassungen  als  möglich  hingestellt.  Die 
Beteiligung  des  Intellektes,  deren  es  auch  für  eine  moralische 
Tugend  bedarf,  kann  entweder  durch  Annahme  zweier  die 
Wahl  des  Zieles  und  die  Mittel  für  dasselbe  ermöglichenden 
intellektuellen  Habitus  erreicht  werden,  oder  durch  die  Kon- 
nexion der  moralischen  Tugend  mit  dem  Habitus  der  Prudenz. 

Nun  ging  aber  die  erste  Auffassung  —  es  ist  wesentlich 
die  thomistische  —  von  der  Voraussetzung  aus,  dass  die  Pru- 
denz sich  nur  auf  das  Verhältnis  von  Mittel  und  Zweck  richte, 
weshalb  der  konsiliative  Habitus  von  der  Prudenz  unterschieden 
wurde.  Diese  Annahme  ist  aber  unbegründet,  da  die  Prudenz 
auch  dictando  de  ipso  fine  saltem  particulari  wirksam  wird. 
Die  Prudenz  wird  also  z.  B.  durch  die  Erkenntnis  des  Wertes 
der  Keuschheit  diese  dem  Willen  zur  Wahl  vorlegen.  Der 
Wille  wählt  ein  moralisches  Ziel,  dies  setzt  voraus,  dass  der 
Mensch  fähig  ist  und  angetrieben  wird  ein  solches  zu  denken. 
Es  scheint  nun,  dass  hiefür  der  Habitus  der  prudentia  völlig 
ausreichend  ist  (18).  Die  prudentia  selbst  wäre  dann  der 
habitus  consiliativus  bezüglich  des  sittlichen  Zweckes,  wie  auch 
bezüglich  der  dem  Zweck  proportionalen  Mittel.  Der  Habitus 
der  Prudenz  ergibt  sich  also  aus  der  Thätigkeit  des  Intellektes, 
sittliche    Ziele    samt   den  Mitteln   zu  ihrer  VerwirkKchung    zu 


Der  Wille  und  die  ethische  Prudenz,  527 

fixieren  (§  19.  20).  Diese  werden  dann  dem  Willen  zur  Wahl 
vorgestellt.  Da  aber  der  Wille  dadurch  in  keiner  Weise  ge- 
bunden wird,  so  braucht  der  Tugend  der  Prudenz  keine  mora- 
lische Handluug,  also  auch  kein  moralischer  Habitus  zu  folgen. 
In  diesem  Sinn  kann  die  Konnexion  zwischen  der  Prudenz  und 
den  moralischen  Habitus  geleugnet  werden.  Da  aber  anderer- 
seits der  Wille  es  zu  keiner  moralischen  Habitualität  bringt. 
er  stimme  denn  —  freiwillig  —  überein  mit  dem  dictamen 
rectum,  das  den  Habitus  der  praktischen  Vernunft,  d.  h.  die 
Prudenz  erzeugt,  oder  aus  ihm  hervorgeht,  so  kann  diese  Kon- 
nexion auch  zugestanden  werden.  Also  einerseits  setzt  die 
Prudenz  keine  moralische  Tugend,  denn  sie  zwingt  nicht  den 
Willen,  aber  andererseits  kann  kein  moralischer  Willenshabitus 
bestehen  sine  prudentia  circa  suam  materiam. 

Wie  demnach  der  Wille  dem  Intellekt  gegenüber  seine 
Freiheit  behauptet,  so  ist  auch  der  Intellekt  nur  vorübergehend 
vom  Willen  abhängig.  Derselbe  kann  den  Intellekt  zwar 
zwingen  von  der  consideratio  prudentiae  abzugehen  und  sich 
auf  das  Laster  zu  richten,  aber  dadurch  würde  der  Habitus 
der  Prudenz  an  sich  nicht  geändert.  So  wenig  der  Wille  den 
Irrtum  im  Intellekt  erzeugt,  so  wenig  ist  er  die  Ursache  des 
Habitus  der  Prudenz  im  Intellekt.  Demnach  ist  das  normale 
Verhältnis  des  geistigen  Gleichgewichtes  dieses :  der  Intellekt 
entwirft  ein  Ideal  und  befiehlt  dem  Willen  die  Wahl  und  Ver- 
wirklichung desselben  an.  Der  Wille  kann  frei  zustimmen ; 
thut  er  das,  so  wird  er  freilich  nicht  die  Ursache  jenes  Ideals 
der  praktischen  Vernunft,  wohl  aber  kann  er  dadurch,  dass  er 
das  Ideal  für  sich  erwählt,  die  Ursache  der  Beständigkeit  jenes 
rectum  dictamen  der  Vernunft  werden,  indem  er  darauf  hin- 
wirkt, dass  der  Intellekt  bei  jenem  Ideal  bleibt  (§  20). 

10.  Damit  hätten  wir  die  Ansicht  des  Duns  über  das 
wichtige  ethische  Problem,  wie  sich  der  Wille  zu  der  praktischen 
Vernunft  verhält,  kennen  gelernt.  Auch  hier  greift  seine 
Grundvoraussetzung  von  der  schlechthinigen  Freiheit  des 
Willens  ein.  Die  praktische  Vernunft  findet  die  sittlichen  Ideale 
samt  den  Mitteln  zu  ihrer  Verwirklichung.  In  imperativischer 
Weise  hält  sie  die  Ideale  dem  AVillen  zur  Annahme  und  Ver- 
wirklichung vor.     Der  Wille  kann  sie  ablehnen  oder  annehmen 


528  K[\l^.  VI:  Aus  der  Ethik  des  Duns  Scotus, 

ohne  einen  anderen  Grund  als  den,  dass  er  Wille  ist.  Dies 
ist  klar  (vgl.  auch  ohen  S.  90).  Aber  Duns  meint  weiter, 
der  Wille  könne  von  sich  aus  die  Vernunft  zur  Erwägung  von 
Zielen  samt  den  entsprechenden  Mitteln  zv/ingen,  freilich  unbe- 
schadet des  Fortbestandes  jener  Veriiunftideale.  Mit  anderen 
Worten:  die  Gedanken  können  die  Triebe  bewegen,  aber  die 
Triebe  können  auch  Gedanken  anregen,  genauer  gesagt,  die  un- 
deutlichen und  unbewussten  Enipfiudungen  und  Wahrnehmungen 
in  die  Sphäre  bewusster  Gedanken  erheben  (vgl.  oben  S.  93  f.). 
Da  nun  die  Gedanken  den  geistigen  Zusammenhang  entwerfen, 
den  der  Wille  verwirklicht,  so  wird  hier  eine  Rückwirkung  des 
vom  Willen  angeregten  Intellektes  auf  den  Willen  anzunehmen 
sein.  Nun  scheint  sich  aber  hier  ein  neues  Problem  zu  erheben, 
auf  das,  so  viel  ich  sehe,  Duns  nicht  reflektiert  hat.  Setzen 
wir  den  Fall,  dass  der  Wille  nicht  andauernd  das  Vernunft- 
ideal  billigt,  sondern  andauernd  die  Vernunft  zur  Entwerfung 
neuer  den  Willenstrieben  angepasster  Ideale  nötigte,  müsste 
nicht  da  im ,  Intellekt  vermöge  der  Wiederholung  dieser 
Thätigkeit  ein  neuer  Habitus  einer  sündhaften  und  unver- 
nünftigen Prudenz  entstehen?  Indessen  hätte  Duns,  wie  ich 
meine,  diese  Konsequenz  zurückgev/iesen,  und  zwar  deshalb 
weil  er  doch  nicht  nur  eine  formale  Vernunftthätigkeit  annahm, 
sondern  die  Vernunft  als  von  Natur  mit  bestimmten  Idealen 
erfüllt  dachte,  d.  h.  den  Wahrheiten  des  Naturrechts  oder  dem 
feststehenden  Inhalt  der  Synderesis.  Gelöst  ist  das  Problem 
durch  diese  Annahme  allerdings  nicht,  denn  wenn  Duns  der 
praktischen  Vernunft,  wenn  auch  nur  für  eine  bestimmte  Zeit- 
dauer, einen  von  aussen  durch  den  Willen  in  sie  hineinge- 
tragenen Ideenstoff  zuweist,  so  ist  doch  zu  fragen,  weshalb 
derselbe  nicht  die  dauernde  Herrschaft  in  ihr  erwerben  und 
jenen  angeborenen  Gredankenstoff  nicht  nur  momentan,  sondern 
dauernd  sollte  zurückdrängen  können?  Man  sieht  also,  wie  der 
Gedanke  vom  Willensprimat  die  Vorstellung  von  einem  imma- 
nenten Gehalt  der  praktischen  Vernunft  zu  zerstören  droht. 
Hierin  ist,  wenn  ich  recht  sehe,  keine  unwichtige  Folge  der 
scotistischen  AVeltanschauung  zu  erblicken. 

11.    Doch  erst  die  erste  der  S.  525  aufgeworfenen  Fragen 
ist  jetzt   gelöst.     Es  bleibt    die    zweite    Frage,    die    nach    der 


Theologische  und  moralische  Tugenden.  529 

Konnexion    aller    moralischen    Tugenden    mit    einer    prü- 
de ntia  ? 

Hierüber  wäre  zu  sagen,  dass  wie  die  Kunstfertigkeit  sich 
auf  verschiedene  factibilia  erstreckt,  so  die  Prudenz  auf  ver- 
schiedene agibilia.  Wie  nun  verschiedene  Künste  verschiedene 
und  in  sich  nicht  zusammcuhilDgende  Fertigkeiten  voraussetzen, 
so  sei  durch  die  verschiedenen  moralischen  Tugenden  auch  eine 
Summe  verschiedener  prudentiae  erfordert  (1.  c.  §  22).  Hat 
man  aber  den  Zusammenhang  der  ganzen  Betrachtung  durch- 
schaut, so  ist  die  Losung  nicht  schwer.  Gewiss  setzen  die 
einzelnen  moralischen  Tugenden  die  Konzeption  verschiedener 
Ideale  und  demgemäss  verschiedener  Mittel  in  der  Vernunft 
voraus,  aber  es  ist  doch  dieselbe  Vernunft,  die  diese  Ideale 
in  sich  fasst,  und  letztere  ordnen  sich  unter  dem  intellektuellen 
Habitus  der  Erkenntnis  primi  principii  practici.  Die  Prudenz 
ist  daher  eine,  wie  ein  genus,  das  viele  species  in  sich  fasst. 
Und  in  diesem  Sinn  ist  allerdings  zu  urteilen,  dass  alle  mora- 
lischen Tugenden  einem  intellektuellen  Habitus,  der  Prudenz, 
konnex  sind  (§  23.  24).  Mit  anderen  Worten,  es  ist  die  näm- 
liche praktische  Vernunft,  die  aber  verschiedene  zu  verwirk- 
lichende Ideale  in  sich  fasst,  zu  der  jede  moralische  Handlung 
—  je  nach  ihrem  Ziel  in  besonderer  Weise  —  in  Beziehung 
steht. 

4.    Theologische  und  moralische  Tugend. 

1.  Wieder  liess  sich  verfolgen,  wie  unser  Autor  auch 
bei  den  kompliziertesten  Untersuchungen  ein  einfaches  Ziel  im 
Auge  behält.  Über  den  inneren  Zusammenhang  von  den 
"Willenstugenden  und  dem  Habitus  der  praktischen  Vernunft 
oder  über  die  Bedeutung  des  Naturrechts  für  die  ethischen 
Tugenden,  sind  wir  jetzt  ins  Reine  gekommen.  Es  ist  ganz 
konsequent,  wenn  sich  hier  ein  neues  Problem  von  grösster  Be- 
deutung aufschliesst,  nämlich  die  Frage,  ob  die  morahschen 
Tugenden  zu  den  theologischen  in  Zusammenhang  stehen  (vgl. 
■dazu  oben  S.  500  ff.  516). 

Nach  Augustin  scheine  es,  dass  es  keine  wirkliche  Tugend 
ohne  Liebe  geben  könne.  Man  könnte  diese  Annahme  dadurch 
begründen,    dass,    indem  die   Liebe   als   theologische   Tugend 

Seeberg,  Die  Theologie  des  Dmis  Scotus.  34 


530  Kai>.  VI:  Aus  der  Ethik  des  Duns  Scotus. 

sich  auf  das  letzte  Ziel  richtet,  die  moralischen  Tugendeo,  die 
an  sich  auf  innerweltliche  Ziele  hinweisen,  durch  den  Anschluss 
an  die  Liebe  jene  höchste  Richtung  auf  Gott  gewönnen,  d.  h. 
also  dass  sie  erst  in  dieser  Unterordnung  unter  die  Liebe,  als 
Mittel  zum  Zweck,  ihre  Vollkommenheit  erreichen.  Dagegen 
sagt  aber  Duns,  dass  durch  diese  Beziehung  die  moralische 
Tugend  keine  innere  Steigerung  oder  Veränderung  erfahre;  es 
kann  also  jede  moralische  Tugend  auch  ohne  diese  Beziehung 
zur  Liebe  in  sich  und  in  ihrer  Art  vollkommen  sein.  Nun 
aber  ist  es  doch  wahr,  dass  die  moralische  Tugend  erst  da- 
durch ihre  richtige  Stellung  und  Beziehung  empfängt,  dass  ihre 
partikularen  Tendenzen  sich  unterordnen  der  Absicht  der  Liebe 
auf  den  letzten  Zweck.  Deswegen  sind  die  moralischen  Tu- 
genden an  und  für  sich  als  informes  zu  bezeichnen,  die  ihre 
Eorm  von  der  Liebe  empfangen.  Pro  tanto  igitur  dicantur 
esse  informes  sine  caritate,  et  formatae  per  caritatem,  pro 
quanto  Caritas  ordiuat  ipsas  et  earum  fines  in  finem  ultimum, 
in  qua  ordinatione  est  ultima  earum  perfectio,  licet  extrinseca 
(1.  c.  §  26).  Die  Meinung  des  Duns  ist  sonach  deutlich.  Der 
sittliche  Habitus  und  seine  Bethätigungen  bleiben  materiell 
wie  sie  sind,  der  Mensch  habe  nun  die  Liebe  oder  nicht.  Ist 
aber  die  Liebe  da,  so  werden  jene  natürlichen  Bethätigungen 
von  ihr  aufgenommen  und  so  zum  höchsten  Ziel  in  Beziehung 
gesetzt,  d.  h.  sie  werden  zu  einem  Dienst  Gottes  und  erst  durch 
diese  Zweckbeziehung  zu  vor  Gott  giltigen  Verdiensten  (s.  S.  317 
u.  vgl.  IV  dist.  26  quaest.  unic.  4).  Auf  den  Gedanken,  ob 
diese  Beziehung  in  ihrer  Andauer  die  natürliche  Habitualität 
nicht  stärken  oder  modifizieren  wird,  ist  Duns  nicht  eingegangen. 
Wohl  aber  hat  er  ausdrücklich  in  Abrede  gestellt,  dass  die 
theologischen  Tugenden  den  moralischen  Habitus  erzeugen. 
Es  kann  nämlich  jemand  in  dem  Busssakrament  die  drei  theo- 
logischen Tugenden  eingegossen  bekommen,  ohne  dass  er  des- 
halb moralische  Tugenden  hätte,  sofern  letztere  nämlich 
erworben  werden  müssen  (§  27). 

Allein  dies  führt  zu  einer  weiteren  —  zwischen  Scotisten 
und  Thomisten  viel  erörterten  —  Streitfrage,  ob  nämlich  nicht 
auch  zugleich  mit  den  theologischen  gewisse  moralische  Tu- 
genden eingegossen  würden?    Das  Kind  in  der  Taufe,  wie  der 


I 


i 


Die  Liebe  informiert  die  moralischen  Tugenden.  531 

Beichtende  im  Beichtstuhl  empfangen  hienach  nicht  bloss  Glaube 
und  Liebe  oder  die  allgemeine  Richtung  auf  Gott,  sondern 
auch  besondere  moralische  Habitualitäten.  Duns  erklärt  diese 
Annahme  für  unbeweisbar.  Man  könne  den  ganzen  inneren 
Vorgang  genügend  verstehen,  wenn  man  die  theologischen  Tu- 
genden eingegossen  werden  lässt  (habitus  infusus),  während  die 
moralischen  allmählich  auf  dem  Wege  natürlicher  Entwicklung 
(als  habitus  acquisitus)  erworben  würden.  Diese  Entwicklung 
empfängt  nämlich  ihren  Zielpunkt,  indem  sie  sich  von  der 
Liebe  leiten  lässt,  während  der  eingegossene  Glaube  modus  et 
medium  bestimme  (§  28).  Duns  fasst  die  Sache  also  so  auf, 
dass  wenn  Glaube  und  Liebe  einem  Menschen  eingegossen  sind, 
dadurch  ihm  auch  eine  gewisse  konkrete  Besserung  zu  teil 
wird,  ohne  dass  ein  moralischer  Habitus  eingegossen  werde , 
denn  die  natürlichen  Regungen  des  Menschen  würden  sittliche 
Art  dadurch  empfangen,  dass  die  Liebe  ihnen  ein  Ziel  weist, 
der  Glaube  sie  über  den  Weg  und  die  Mittel  zu  demselben 
verständigt.  Es  würde  also  jenen  natürlichen  Handlungen 
gegenüber  die  Liebe  den  moralischen  Habitus  vertreten,  während 
der  Glaube  für  die  Prudenz  vikarieren  würde.  So  würden  auch 
die  Kinder,  die  sofort  nach  der  Taufe  starben,  im  Himmel 
zwar  nicht  moralische  Tugenden  haben,  wohl  aber  von  der 
Liebe  circa  appetibilia  richtig  disponiert  werden.  Oder  man 
könnte  ihnen  in  instant!  beatitudinis  die  moralischen  Quali- 
täten eingegossen  werden  lassen,  oder  sie  selbst  sich  dieselben 
im  Himmel  allmählich  erwerben  lassen  (§  28). 

2.  Auch  an  diesem  Punkt  wird  sich  der  aufmerksame 
Leser  eines  Bedenkens  nicht  erwehren.  Wir  haben  hier  ge- 
sehen ,  dass  die  theologischen  Tugenden  im  stände  sind ,  das 
natürliche  Handeln  zu  leiten;  aber  wir  hörten  früher,  dass  sie 
schlechterdings  ausser  stände  sind,  einen  moralischen  Habitus 
zu  erzeugen.  Nun  kann  allerdings  nicht  gefolgert  werden, 
dass  nach  dem  ersten  Gedanken  die  theologischen  Tugenden 
doch  auch  fähig  sein  müssten  wie  eine  moralische  Handlung, 
so  auch  einen  moralischen  Habitus  zu  erzeugen.  Denn  dieser 
Habitus  würde  doch  immer  nur  auf  natürlichem  Wege,  d.  h. 
aus  der  Wiederholung  von  Handlungen  als  solchen  hervor- 
gehen,   es    sei   mit   dem  Ursprung  letzterer  bestellt  wie  immer 

34* 


532  Kap.  VI:  Aus  der  Ethik  des  Duns  Scotus. 

es  wolle.  Er  würde  sich  also  an  die  voraufgehende  Handlung 
anlehnen  und  somit  aus  dieser,  nicht  aber  aus  dem  übernatür- 
lichen Habitus  hervorgehen.  Wohl  aber  stellt  sich  hier  die 
schon  oben  erhobene  Frage  wieder  ein,  ob  nämlich  die  Be- 
ziehung des  theologischen  Habitus  auf  den  natürlichen  nicht 
auch  auf  die  Art  des  letzteren,  und  nicht  bloss  auf  die  Abzielung, 
also  nicht  nur  formell,  sondern  auch  materiell  einwirken  werde. 

3.  Dies  ist  die  Tugendlehre  des  Duns.  AVie  wir  früher 
sahen,  dass  nur  der  vollkommen  ist,  der  im  Besitz  der  Tugend- 
habitus steht,  so  entspricht  dem  auch  die  praktische  Bedeutung, 
die  sie  für  das  Leben  haben.  Wer  diese  Habitus  erlangt  und 
erworben  hat,  der  ist  dadurch  sowohl  bis  zu  einem  gewissen 
Grade  vor  dem  Fall  gesichert,  als  auch,  wenn  er  doch  in  Sünde 
fällt,  durch  den  Habitus  die  Rückkehr  erleichtert  wird.  Dies 
erklärt  sich  nicht  nur  aus  naheliegenden  psychologischen  Gründen, 
sondern  auch  propter  dei  benignitatem  merita  praedicta  ad  hoc 
aliqualiter  acceptantem.  So  erinnert  sich  Duns,  von  einem 
Mann  gehört  zu  haben,  der  valde  perfectus  war  und  der  dann 
auf  das  schlimmste  in  Sünden  verfiel.  Zum  Tode  verurteilt:  per- 
fectissima  poenitentia  sibi  (=  ei)  subito  inspirata  est.  Daher  muss 
ein  jeder  streben  nicht  nur  nach  dem  Habitus  der  Sittlichkeit, 
sondern  auch  nach  der  Bethätigung  derselben  in  verdienstlichen 
Werken,  die  ihm  zu  gute  kommen,  er  sei  mansurus  sive  lap- 
surus  (lY  dist.  22  quaest.  unic.  §  13).  —  In  diesem  Zusammen- 
hang will  weiter  im  Auge  behalten  werden,  dass  jede  wieder- 
kehrende Sünde  ein  schwereres  Gewicht  an  Schuld  bedeutet, 
als  vor  dem  Vollkommenheitsstande,  indem  sie  wider  die  Dank- 
barkeit verstösst,  die  der  Sünder  Gott  schuldig  ist,  also  gravius 
peccat  propter  ingratitudinem.  Zudem  verfehlt  sich  der  rück- 
fällige Sünder  ausser  gegen  das  betr.  Gebot  noch  gegen  das 
Versprechen,  das  er  saltem  voto  gegeben  hat,  die  Sünde  nicht 
mehr  zu  begehen  (ib.  14). 

4.  Aus  der  Möglichkeit  des  Zusammenwirkens  der  Tugenden 
ergibt  sich,  dass  in  einem  sittlichen  Akt  eine  multiplex  bonitas 
moralis  sein  kann,  weil  der  Akt  mannigfach  verumständet  sein 
kann.  Man  denke  z.  B.  an  einen  Kirchgang.  Er  erfolgt,  weil 
der  Betreffende  die  Christenpflicht  erfüllt,  oder  etwa  ein  Ge- 
lübde  übernommen  hat,    oder  auch  aus  dem  Motiv  der  Liebe, 


i 


Die  christliche  Vollkommenheit.  533 

indem  er  Gott  den  ihm  gebührenden  cultus  latriae  darbringen 
und  durch  sein  Beispiel  die  Brüder  erbauen  will.  Je  mehr 
solche  motiva  ordinata  in  einem  Akt  zusammenwirken,  desto 
wertvoller  ist  er  in  sittlicher  Hinsicht  (Quodlib.  quaest.  18,  8).  — 
Wir  können  endlich  fragen,  wann  und  wodurch  eine  Hand- 
lung sittlich  gut  ist?  Zur  vollkommenen  Güte  der  Hand- 
lung gehört  nun  dreierlei.  Die  Handlung  ist  gut,  sofern  sie 
nach  dem  dictamen  rectae  rationis  sich  auf  ein  angemessenes 
Objekt  richtet;  sodann  indem  die  betreffende  Volition  aus  dem 
Willen  unter  Wahrung  aller  von  der  Vernunft  gebotenen  Um- 
stände hervorgerufen  wird,  und  endlich  sofern  sie  aus  der 
Liebe  hervorgeht  und  dadurch  meritorisch,  d.  h.  bei  Gott 
acceptabel  wird.  Als  Beispiel  führt  Duns  an  das  Almosen- 
geben. Es  ist  gut  Almosen  zu  geben,  es  ist  gut  es  dem  Armen 
zu  geben  und  es  ist  gut  es  ihm  aus  dem  Motiv  der  Liebe,  und 
nicht  nur  aus  natürlicher  Übung  und  Gewöhnung,  zu  geben 
(Quodlib.  18,  8).  Die  Güte  des  Werkes  wird  also  davon  ab- 
hängen, dass  es  objektiv  der  Norm  entspricht,  dass  es  subjektiv 
einem  moralischen  Vorgang  entstammt  und  dass  es  religiös  aus 
der  Beziehung  zu  Gott  hervorgeht  und  ihr  dient. 

Man  kann  aus  diesen  Bemerkungen  abnehmen,  wie  die 
sittliche  Norm  und  die  moralischen  Habitus  in  der  praktischen 
Bethätigung  zusammenwirken,  und  unter  welchen  Bedingungen 
die  „guten  Werke"  zu  stände  kommen. 

5.    Die  christliche  Vollkommenheit. 

1.  Wir  sind  im  Vorhergehenden  gelegentlich  auf  den  Ge- 
danken gestossen,  dass  der  Tugendhabitus  die  sittliche  Voll- 
kommenheit des  Christen  begründe,  oder  dass  der  gut  ist,  der 
Gottes  Gebote  erfüllt  (IV  dist.  50  quaest  2,  10).  Diesen  Ge- 
danken hat  Duns  auch  in  einem  anderen  Zusammenhang  fest- 
gestellt. In  der  Schrift  de  perfectione  statuum  weist  er  nach, 
dass  jeder,  der  alles  was  zum  Heil  notwendig  ist,  einhält, 
vollkommen  genannt  werden  müsse,  da  er  ja  hiedurch  das 
Ziel  der  Seligkeit  erreicht.  Dies  gilt  zunächst  von  den  Welt- 
priestern, aber  auch  von  allen  Christen.  Was  die  Bestimmung 
der  Art  dieser  Vollkommenheit  betrifft,  so  ist  es  nur  der  Ge- 


534  Kap.  VI:  Au3  der  Ethik  des  Duns  Scotus. 

sammtansiclit  des  Duns  entsprechond,  wenn  er  sie  in  der  aktiven 
Bethätigung  erblickt.  Wie  die  Seligkeit  in  Willensakten  be- 
steht, die  der  Ehre  Gottes  und  ihrer  Verwirklichung  dienen 
(s.  S.  458),  so  wird  auch  das  Lebensideal  des  irdischen  Daseins 
vorzustellen  sein.  Ist  das  Verhältnis  zu  Gott  das  der  Knechte 
zu  dem  Herrn,  so  wird  der  Inhalt  dieses  Lebens  der  willens- 
starke Dienst  im  Gehorsam  gegen  Gott  sein.  In  diesem  voll- 
kommenen Leben  kommt  es  aber  nicht  auf  besondere  Gefühls- 
erregungen und  sinnliche  Affekte  an,  denn  diese  Gefühle  des 
dulcedo  sind  keine  sittlichen  Willensakte,  sondern  passio  quaedam 
actu  retributa  qua  deus  allicit  et  nutrit  parvulos,  ne  deficiant  in 
via.  Sittlich  stehen  diese  Gefühlschristen  unter  den  Willens- 
christen: aliqui  qui  dicuntur  devoti,  sentiunt  aliquam  ma- 
iorem  dulcedinem  quam  alii  multi  solidiores  in  amore  dei  qui 
centuplum  promptius  sustinerent  naartyrium  (III  dist.  27  quaest. 
unic.  §  17).  —  Wenn  man  bei  der  multitudo  christianorum 
von  der  Anwendung  des  Titels  der  Vollkommenheit  in  der 
Regel  absieht,  so  versteht  sich  das  daraus,  dass  bei  diesen 
Leuten  wegen  ihrer  Neigung  zur  Sinnlichkeit  und  Sünde  der 
Stand  der  Vollkommenheit  schwer  als  dauernd  vorgestellt 
werden  kann.  An  sich  aber  gibt  es  christliche  Vollkommenheit 
auch  im  Laienstande.  Wenn  aber  dieses  Prädikat  insonderheit 
den  Mönchen  zugeeignet  ward,  so  ist  eigentlich  genauer  ihnen 
eine  Vollkommenheit  im  Komparativ  beizulegen  (1.  c.  §  18). 
Diese  Betrachtung  ist  überaus  lehrreich,  weil  sie  1)  auch  dem 
Nichtmönch  und  Laien  die  sittliche  Vollkommenheit  der  christ- 
lichen Eeligion  beilegt,  und  w^eil  sie  2)  die  Zwiespältigkeit 
des  mittelalterlichen  Lebensideals  auf  das  krasseste  ausspricht. 
Aber  für  die  historische  Betrachtung  ist  die  Konzession  dieses 
Bettelmönches  kaum  weniger  wichtig  als  die  Bezeugung  des 
Selbstbewusstseins  seines  Standes.  Jeder  schlichte  Christ  kann 
die  Vollkommenheit  erreichen,  ist  dann  die  &Qrjoy.eia  äyyeliov 
—  mit  Paulus  zu  reden  — ,  die  darüber  hinausliegt,  wirklich 
noch  das  höhere  Ideal? 

2.  Aber  die  qualitative  Schätzung  des  sittlichen  Lebens 
als  des  Berufslebens  hat  Duns  trotzdem  nicht  erreicht.  Das 
sittliche  Leben  löst  sich  doch  wieder  auf  in  einzelne  Werke, 
die   quantitativ   als   mehr   oder  minder  verdienstlich  betrachtet 


Die  ethische  Vollkommenheit.  535 

werden.  So  etwa,  wenn  er  ausführt,  dass  falls  jemand  nicht 
zu  etwas  Speziellem  verpflichtet  ist  —  ist  das  denn  denkbar?  — , 
er  sich  ein  höheres  Verdienst  erwirbt,  wenn  er  eine  schwerere 
statt  einer  leichteren  Leistung  wählt.  Das  gilt  auch  dann, 
wenn  die  letztere  dem  Nächsten  mehr  Nutzen  brächte.  Qui- 
cuuque  facit  quod  difficilius  est  propter  deum  et  vellet  facere 
quaecunque  alia  minus  difficilia,  proximis  tarnen  utiliora,  si 
alius  non  faceret,  plus  meretur  quam  ille  qui  tantum  facit 
Opera  minus  difficilia,  utiliora  tarnen  proximis,  quae  possent 
per  alium  aeque  bene  fieri,  et  non  facit  quod  secundum  se 
perfectius  et  difficilius  est  (de  perf.  stat.  84).  Indessen  können 
Eälle  eintreten,  wo  das  Leichtere  Pflicht  ist,  weil  es  uns  posi- 
tiv aufgetragen.  Wie  etwa  bei  Einbruch  einer  Häresie,  die 
Wahrheit  zu  verkündigen,  statt  das  Martyrium  zu  suchen  (ib.). 
Über  den  Wert  einer  Handlung  entscheidet  nicht  der  objektive 
Nutzen  —  darin  wäre  der  Papst  ja  mit  niemand  zu  vergleichen  — , 
sondern  das  Mass  der  Anstrengung  (ib.  85.  82.  92).  Die  sitt- 
liche Schranke  dieses  in  seinem  ersten  Teil  unanfechtbaren 
Satzes  bedarf  nicht  erst  der  Hervorhebung. 

3.  Die  Tugendlehre  des  Duns  Scotus  bietet  einen  mit 
Strenge  und  Schärfe  durchgeführten  Gedankenbau  dar.  Der 
Zusammenhang  mit  der  aristotelischen  Ethik  ist  ebenso  ersicht- 
lich, als  die  Differenzen  von  derselben. 

Trotz  des  Schemas  der  Sentenzen  ist  ein  grossartiger  und 
eigenartiger  systematischer  Zusammenhang  nicht  zu  verkennen. 
Es  sind  zwei  Doppelreihen  von  Kräften,  die  die  vollkommene 
Sittlichkeit  im  Menschen  hervorbringen.  Es  sind  erstens  die 
Ideen  der  praktischen  Vernunft,  die  in  der  prudentia  zu  einem 
intellektuellen  Habitus  der  ethischen  Zwecke  und  Mittel  zu- 
sammengefasst  sind.  Es  ist  zweitens  der  Wille,  dem  diese 
Zwecke  und  Mittel  zur  Verwirklichung  dargeboten  werden.  Er 
ist  schlechthin  frei,  sich  für  oder  gegen  dieselben  zu  entscheiden ; 
ja  er  vermag  der  Vernunft  die  intellektuelle  Zubereitung  der 
Ziele  seiner  Triebe,  die  als  Vorstellungen  im  Intellekt  schlum- 
merten, abzuzwingen.  Folgt  er  aber  der  Vernunft,  so  erzeugt 
er  durch  wiederholentliches  Handeln  in  sich  bestimmte  ethische 
Habitus.  —  Zu  diesen  rein  natürlichen  Kräften  treten  nun  weiter 
die  eingegossenen  geistlichen  Kräfte  der  Wiedergeburt.    Es  ist 


536  Kap.  VI:  Aus  der  Ethik  des  Duns  Scotus. 

(drittens)  der  Glaube,  der  einen  gewissen  übernatürlichen  intellek- 
tuellen Habitus  erzeugt.  Man  kann  sagen,  dass  er  die  Prudenz 
ergänzt,  indem  er  zu  dem  natürlichen  Sittengesetz  die  intellek- 
tuelle Annahme  der  Regeln  des  positiven  offenbarton  Gesetzes 
fügt.  Und  es  ist  (viertens)  der  dem  Willen  eingegossene 
moralische  Habitus  der  Liebe,  der  dem  AVillen  eine  gewisse 
Richtung  auf  Gott  einstiftet;  daraus  erwachsen  nun  spezifisch 
christliche  Tugenden,  aber  vor  allem  werden  dadurch  die  natür- 
lichen moralischen  Tugenden  in  die  Richtung  zu  Gott  als  ein 
Gottesdienst  gestellt,  und  erst  in  diesem  Zusammenhang  accep- 
tiert  sie  Gott  als  verdienstlich. 

4.  Die  evangelische  Betrachtung  wird  gegen  diesen  Zu- 
sammenhang vor  allem  geltend  machen,  dass  die  ethische  Be- 
deutung des  Glaubens  hier  völlig  verkannt  ist  (vgl.  S.  515).  Da 
aber  dies  Organ  zum  Empfang  der  persönlichen  Einwirkungen 
Gottes  fehlt;  wird  die  eigentümliche  sittliche  Wirkung  der 
Gnade  im  Sünder  nur  gebrochen  und  unklar  zur  Anschauung 
gebracht  werden  können.  Das  Wesen  und  die  praktische  Kraft 
der  eingegossenen  Habitus  hat  Duns,  trotz  aller  Bemühungen, 
nicht  deutlich  und  kräftig  zu  bestimmen  vermocht.  Es  ist  ein 
übernatürliches  Etwas,  eine  Anregung  des  Willens,  die  über 
den  Kräften  der  Seele  schwebt,  ohne  sie  eigentlich  zu  ergreifen 
und  zu  leiten  und  gerade  in  ihnen  und  durch  sie  kräftig  zu 
werden.  Duns  hat  schärfer  als  seine  Vorgänger  die  natürliche 
und  die  positive  Religion  zu  unterscheiden  gewusst,  aber  er 
ist  doch  über  eine  Übereinanderstellung  beider  nicht  hinaus- 
gekommen. Was  von  seiner  Theologie  überhaupt  gilt,  gilt  auch 
von  seiner  Ethik,  ja  es  tritt  hier  noch  klarer  als  bei  den 
früheren  hervor:  das  sittliche  Leben  ist  das  Leben  unter  der 
praktischen  Vernunft  des  natürlichen  Menschen.  Auf  diesen 
Grundbau  wird  dann  wie  ein  zweites  Stockwerk  die  positive 
christliche  SittHchkeit  gesetzt  und  behauptet,  dass  sie  irgend- 
wie auch  auf  die  natürliche  Sittlichkeit  einwirke,  jedenfalls 
aber  notwendig  sei,  wenn  diese  vor  Gott  etwas  gelten  soll. 
Und  hier  treten  dann  die  Mängel  des  ganzen  Aufbaues  deut- 
lich hervor.  Die  Synderesis  und  das  angeborene  Naturrecht 
sind  die  eigentlichen  Grundlagen  des  Sittlichen.  Damit  wird 
dann  das  positive  biblische  und  kirchliche  Recht  verbunden  in 


Die  Ehe.  .  537 

der  Weise  des  Positivismiis  unseres  Autors.  Wenn  aber  doch 
die  Gnade  erst  die  natürliche  Sittlichkeit  gut  oder  verdienst- 
lich machen  soll,  so  weiss  Duns  dafür  schliesslich  keinen  anderen 
Grund  als  die  Acceptation  Gottes  anzuführen.  Endlich  be- 
gegnete uns  auch  hier  wieder  jener  schlecht  vernünftige  und 
vernünftelnde  advokatische  Scharfsinn  unseres  Autors,  der  die 
ethischen  Urteile  des  Duns  so  oft  kennzeichnet.  Der  Grund- 
schaden der  mittelalterlichen  Ethik  wird  auch  hier  klar. 


lY.    Einzelne  von  Duns  Scotus  behandelte  ethische  und 

sozialethische  Fragen. 

1.  Die  Ehe. 

1.  Die  Ehe  besteht  darin,  dass  Mann  und  Weib  vinculo 
indissolubili  sibi  niutuo  vereinigt  sind.  Diese  Vereinigung 
hat  zum  Zweck  die  Erzeui]jung  von  Nachkommenschaft.  Dies 
ist  nun  an  sich  kein  Unrecht,  da  doch  alle  Kreaturen  die 
naturalis  inclinatio  zur  Erhaltung  ihrer  Art  haben ;  ist  dieser 
Trieb  bei  dem  Menschen  besonders  stark,  so  erklärt  sich  das 
aus  der  Vollkommenheit  der  zu  erhaltenden  Art.  Sodann  aber 
hat  Gott  selbst  das  Gebot  der  Propagalion  erteilt  (IV  dist.  26 
quaest.  unica  §  2).  Endlich  aber  werde  auf  diesem  Wege  der 
Fall  der  Engel  gutgemacht  ^)  und  das  himmlische  Jerusalem 
nach  der  göttlichen  Prädestination  gefüllt  (ib.).  Aber  ebenso- 
wenig kann  die  Zeugung  als  etwas  an  sich  Gutes  angesehen 
werden.  Denn  an  sich  gut  ist  nach  dem  Objekt  oder  nach 
der  Substanz  der  Handlung  nur  die  Liebe  zu  Gott,  wie  au 
sich  böse  nur  der  Hass  gegen  Gott  ist.  Also  wird  die  Zeugung 
gut  oder  böse  werden,  je  nach  den  sie  begleitenden  Umständen. 
Entscheidend  ist  hiefür  die  die  betr.  Handlung  beherrschende 
Zweckbeziehung.  Sittlich  ist  daher  die  Zeugung  als  velle 
procreare  prolem  religiöse  educandam  ad  ampliandum  caltum 
divinum.     Als  beherrschender  Gesichtspunkt  erscheint  also  der 


^)  Nach  der  bekannten  Idee  Augastins,  der  Zahl  der  gefallenen  Engel 
komme  die  Zahl  der  Prädestinierten  gleich  (s.  m.  Dogmengesch.  I,  279 
Anm.). 


538  .      Kap.  VI:  Aus  der  Ethik  des  Duns  Scotus. 

Dienst  Gottes  oder  seine  Ehre  sowie  die  Liebe  zu  dem  zu  er- 
zeugenden Kinde.  Wie  nämlich  die  Selbstliebe  sich  zu  richten 
hat  auf  die  honesta  conversatio  und  den  divinus  cultus,  so  auch 
die  Liebe  zum  Nächsten,  zumal  die  zum  Kinde  (4).  Behält 
man  dies  im  Auge,  so  ergibt  sich  als  weiterer  ethischer  Um- 
stand für  die  Geschlechtsvereinigung,  dass  sie  in  der  dauernden 
Verbindung  der  Ehe  geschieht,  nam  vaga  coniunctio  est  contra 
bonum  prolis,  quod  est  finis  hie  intentus,  contra  bonum  familiae 
et  contra  bonum  civitatis  (5).  So  wäre  nämlich  eine  religiöse 
Erziehung  der  Kinder  unmöglich,  indem  ja  die  Eltern  — 
wenigstens  der  Vater  —  ihre  Kinder  nicht  einmal  sicher 
kennen  würden,  und  die  Kinder  auch  der  Ehrfurcht  und  kind- 
lichen Furcht  verlustig  gingen.  Und  gerade  diese  bewirken 
mehr  Gehorsam,  als  irgend  etwas  anderes  erzwingen  kann. 
Ebenso  würde  das  bonum  familiae,  das  in  der  firraa  adhaesio 
principalium  personarum  familiae  besteht,  leiden  (5),  und  ebenso 
der  Staat,  in  dem  die  propinquitas  nova,  die  den  Grund  für 
den  Fortbestand  der  amicitia  bildet,  fortfiele  (6).  —  Als  dritter 
Umstand  ergibt  sich  die  Unlöslichkeit  der  ehelichen  Verbindung. 
Diese  aber  wird  durch  die  obigen  Bestimmungen  einfach  erfordert. 
Jene  Aufgaben  können  nämlich  nur  gelöst  werden,  sofern  das 
Zusammenleben  von  Mann  und  Weib  unlösbar  ist  und  nicht  von 
allerhand  Gelegenheiten,  Missfallen  etc.  abhängig  wird  (7). 

2.  Nachdem  Duns  zuerst  gezeigt  hat,  dass  die  Zeugung 
sittlich  berechtigt  ist,  kommt  er  zum  Beweis  des  Satzes,  dass 
es  ehrbar  ist,  dass  Mann  und  Weib  sich  gegenseitig  die  Herr- 
schaft über  ihre  Leiber  gewähren  behufs  Erzeugung  und  Er- 
ziehung von  Kindern.  Diese  Vereinbarung  ist  eine  freiwillige, 
da  sonst  —  wenn  etwa  der  Staat  sie  bewirkte  —  leicht  Hader 
eintreten  könnte.  Es  wird  also  freiwillig  ein  contractus 
mutuae  donationis  hergestellt,  der  demnach  erfordert:  actus 
voluntatum  concordes  in  translatione  mutua,  sicut  in  permutati- 
onibus  et  venditionibus  communiter  accidit.  Dies  muss  aber 
durch  deutliche  Zeichen  zum  Ausdruck  gebracht  werden.  Duns 
betont  dabei  stark,  dass  ein  durchaus  freies  Handeln  hier  vor- 
liege. Jeder  ist  Herr  seines  Leibes  und  kann  nur  freiwillig 
diese  Herrschaft  einem  anderen  abtreten.  Was  also  der 
andere  suchte  am  Leibe  jenes  wird  ihm  freiwillig  zugesprochen 


Berechtigung  der  Zeugung;  Freiheit  des  Ehekontraktes.         539 

unter  einer  bestimmten  Bedingung.  ^)  Das  ist  es  um  diesen 
Kontrakt^  der  also  gebildet  wird  nach  der  Formel:  do,  si  des 
oder  do,  ut  des  (ib.). 

Dass  die  traditio,  welche  der  Kontrakt  in  sich  fasst,  eine 
durchaus  freie  sein  muss,  hat  Duns  oft  betont  (s.  noch  dist.  28 
quaest.  unic.  §  2.  7).  Deshalb  ist  jede  Ehe  ungiltig,  wo  der 
Konsens  nicht  völlig  frei  erfolgt  ist.  Wenn  nun  aber  jemand 
mit  dem  Tode  bedroht  wird,  falls  er  ein  Weib  nicht  heiratet, 
oder  ihr  Lebensgefahr  droht,  oder  sie  sich  der  Prostitution  zu 
überliefern  droht,  in  diesen  oder  ähnlichen  Fällen  der  Not 
muss  der  betreffende  allerdings  die  verba  matrimonialia  sprechen 
et  ex  consequenti  debet  consentire  interius  concorditer  verbis. 
Aber  durch  einen  derartigen  Konsens  räumt  er  dem  Weibe 
noch  keine  Gewalt  über  seinen  Leib  ein,  denn  da  sein  Konsens 
nicht  in  völliger  Freiheit  geschah,  ist  er  nicht  translativ. 
Oder  man  könnte  auch  sagen,  dass  Gott  als  der  superior 
dominus  in  ista  translatione  non  ratificat  eam,  nisi  sit  mere 
libera  (dist.  29  quaest.  unic.  §  9).  So  hat  er  die  Translation 
vollzogen  quantum  in  se  ist,  sed  seit  se  non  transferre,  quia 
seit  haec  non  ratificari  a  superiori  (ib.).  Es  bedarf  übrigens 
in  diesem  Fall  nicht  des  ausdrücklichen  Zusatzes :  si  deus  per- 
miserit,  da  diese  Restriktion  natürlich  zu  allem  hinzuzudenken 
ist:  Et  isto  modo  debet  intelligi  absolute  verbum  eins:  accipio 
te  in  meam,  supple :  quantum  in  me  est,  praesupposita  violentia 
ista,  et  si  deus  ratificaret  per  talem  consensum  .  .  .  traderem  tibi 
meum  (§  10).  Da  haben  wir  also  die  Mentalreservation 
in  vollster  Deutlichkeit.  Sonach  kann  jeder  nicht  völlig  freie 
Konsens  keine  Ehe  begründen.  Wenn  aber  jemand,  etwa  um 
das  Mädchen  vor  der  Prostitution  zu  bewahren,  den  Konsens 
ernst  meint,  so  wäre  das  ein  opus  perfectum,  aber  dieser  Con- 
sensus  wäre  auch  über  ex  charitate  (§  10). 

Nun  bereitete  es  aber  Schwierigkeiten,  diese  Gedanken  aus 
dem  Naturrecht  zu  beweisen.  Also  erschien  es  als  angemessen, 
dass    sie    durch   positives   göttliches  Recht  der  Menschheit  ge- 


^)  Daher  kann  ein  senex  omnino  impotens  eigentlich  keine  Ehe  ein- 
gehen; et  ita  —  setzt  Duns  hinzu  —  multae  magis  desponsant  divitias 
quam  personas  (dist.  35  quaest.  un.  §  7). 


540  Kap.  VI:  Aus  der  Ethik  des  Duns  Scotus. 

boten  wurden,  zudem  gehorcht  die  Menschheit  letzterem  sicherer 
als  ersterem  (ib.  9).  Dieser  Forderung  entsprechen  Genes.  2 
und  Matth.  19  (§  10).  Andererseits  sagt  man,  da  der  Leib 
Gott  gehöre,  könne  man  doch  erst  vermöge  jenes  Gebotes  ihn 
einer  anderen  Person  abtreten  (Richard).  Duns  sagt  dagegen : 
in  quibus  deus  non  obligat  sibi  hominem  vel  sua,  relinquit  ea 
voluntati  hominis,  wie  also  jemand  sich  auch  als  Sklave  ver- 
kaufen kann,  ohne  dadurch  gegen  ein  göttliches  Gesetz  zu  Ver- 
stössen (ib.). 

3.  Nachdem  so  festgestellt  ist,  dass  die  Geschlechtsver- 
bindung sittlich  sein  kann,  dass  sie  aber  als  sittliche  eine 
dauernde  sein  muss,  hat  Duns  gezeigt,  dass  diese  dauernde 
Hingabe  zu  geschlechtlicher  Geraeinschaft  auf  einem  freiwiUig 
eingegangenen  Vertrage  beruht. 

Da  nun  der  besprochene  Kontrakt  eine  sehr  schwierige 
Verpflichtung  auferlegt,  die  Erfüllung  dieser  aber  die  Sittlich- 
keit (honestum)  der  Ehe  bedingt,  erscheint  es  billig,  dass  dazu 
Gnade  erteilt  werde  (11).  Damit  ist  der  Übergang  zu  dem 
Sakrament  der  Ehe  gewonnen,  von  welchem  wir  früher  ge- 
handelt haben,  s.  S.  444  f. 

Durch  die  das  Sakrament  begleitende  geistliche  Einwirkung 
Gottes  —  die  übrigens  auch  dort  stattfindet,  wo  die  kirchlich 
sakramentalen  Formen  nicht  gebraucht  werden  —  empfängt 
die  Ehe  einen  religiösen  Charakter.  Hörten  wir  bisher  immer 
nur  von  einer  gegenseitigen  Überlieferung  des  Leibes,  so  wird 
die  christliche  Ehe  überall  durch  Gottes  Einwirkung  auch  eine 
gratiosa  coniunctio  animarum  (1.  c.  §  15).  Und  erst  vermöge 
dieser  vermag  dann  der  Mensch  alle  schweren  Pflichten,  die 
jene  Abmachung  ihm  auferlegte,  recht  zu  erfüllen. 

4.  Die  bisherige  Darstellung  hat  die  Ehe  lediglich  als 
zum  procreare  prolem  debite  educandam  bestimmt  dargestellt. 
Duns  bemerkt  aber,  dass  sie  auch  eingesetzt  wurde  in  remedium 
seil,  vitandae  incontinentiae  post  lapsum.  Allein  der  Gedanke, 
dass  die  Ehe  auch  zur  Befriedigung  der  Geschlechtslust  ein- 
gesetzt sei,  erscheint  Duns  zweifelhaft.  Als  finis  laudabilis  des 
Geschlechtsverkehrs  könne  doch  nur  die  procreatio  prolis  ge- 
dacht werden  (§  19).  Zudem  gebe  das  Alte  Testament  immer 
die  Kindererzeugung  als  Zweck  der  ehelichen  Verbindung  an. 


Zweck  der  Ehe.     Annullierung  der  Ehe.  541 

Dagegen  allerdiDgs  nehme  1.  Kor,  7  „Tndulgenz"  an  und  eine 
solche  hat  wohl  schon  von  Anfang  au  gewaltet.  Stillschweigend 
wird  daher  in  der  Darstellung  mit  ihr  gerechnet.  Einigen 
ethischen  Stoff  bieten  auch  die  weiteren  —  oft  allerdings  rein 
juristisch  gehaltenen  —  Erörterungen  über  die  Ehe. 

5.  Ein  dreifacher  Irrtum  annulliert  die  bereits  geschlossene 
Ehe,  nämlich  die  Verwechselung  der  Person,  dass  ein  Sklave 
für  frei  gehalten  wurde  und  dass  die  zweite  der  kontrahierenden 
Personen  ihrerseits  nicht  halten  wdll  was  sie  verspricht,  während 
dies  Haltenw^ollen  gerade  die  Voraussetzung  meiner  Willens- 
abgabe ist  (dist.  30  quaest.  1,  2.  3). 

Hier  werden  nun  zwei  Fälle  besonders  hesprochen.  Jemand 
spricht  die  Konsensworte,  aber  nur  um  seine  Lust  befriedigen 
zu  können;  oder  der  eine  Teil  in  einer  Ehe  erklärt,  er  habe 
hei  dem  Eheschluss  gelogen  und  jene  Worte  gar  nicht 
ernst  gemeint.  Ist  im  ersteren  Fall  der  unschuldige  Teil  ge- 
bunden, da  er  sich  ja  ernsthaft  gebunden  hat?  Das  ist  zu  ver- 
neinen, weil  diese  Bindung  die  —  nicht  vorhandene  —  Bindung 
des  anderen  voraussetzte  (§  4).  Im  anderen  Fall  kann  der 
unschuldige  Teil  sich  Gewissensbisse  machen  wegen  der  Lüge 
des  anderen  und  sich  selbst  der  Hurerei  schuldig  fühlen. 
Charakteristisch  empfiehlt  Duns  als  via  tutior  sich  kein  Ge- 
wissen wegen  der  Lüge  des  anderen  zu  machen,  ist  es  doch 
probabiiius,  dass  er  jetzt  bezüglich  seiner  damaligen  Absicht 
lüge,  als  dass  er  damals  hei  feierlicher  Gelegenheit  gelogen 
habe.  Wenn  man  aber  im  Gewissen  nicht  frei  ist,  so  hüte 
man  sich,  jenem  das  debitum  zu  gewähren,  denn  das  w^äre 
allerdings  Hurerei  (§  5). 

Ist  nun  aber  der  Lügner  des  ersten  Falles  einfach  frei? 
Er  muss  nach  Duns  dem  anderen  Teil  als  Satisfaktion  das 
geben,  was  jener  ihm  gab,  d.  h.  er  muss  den  Scheinkonsens  in 
einen  wirklichen  verwandeln.  Ist  er  freilich  mittlerweilen  mit 
jemand  anders  verheiratet,  so  muss  er  Busse  thun  und  sich 
bemühen,  der  anderen  Person  als  Ersatz  eine  Ehe  zu  ver- 
schaffen (1.  c.  §  6.  Boh  genug  lautet  hiefür  an  einem  anderen 
Ort  der  Ausdruck:  reddatur  illi  mulieri  per  ipsum  corpus 
alterius  viri  potentis  aequivalentis  corpori  suo  quantum  ad 
contr actum  istum,  so  IV  dist.  42  quaest.  un.  §  5).     Wenn  die 


542  Kap.  VI:  Aus  der  Ethik  des  Duns  Scotus. 

Sache  aber  zum  Streit  kommt  (in  foro  contentioso),  wird  die 
Kirche,  falls  es  sich  zeigt,  dass  er  wirklich  mit  der  ersten  Frau 
einen  contractus  exterior  abgeschlossen  hat,  ihn  verurteilen  bei 
ihr  zu  bleiben,  sed  in  foro  conscientiae  dicetur  oppositum,  quia 
secunda  est  vera  uxor  eins,  prima  non.  Aber  er  muss  der 
kirchlichen  Entscheidung  als  Strafe  für  seinen  Betrug  folgen 
(dist.  42  quaest.  uu.  5).  —  Übrigens  wird  in  den  obigen  Aus- 
einandersetzungen der  Freiheit  ein  Spielraum  von  erschreckender 
Weitschaft  gewährt,  so  gesetzlich  auch  die  Erörterungen  ge- 
halten sind. 

6.  Aus  dem  Wesen  der  Ehe  ergeben  sich  auch  die  Güter, 
die  sie  dem  Menschen  bringt.  Die  Ehe  ist  eine  unlösliche 
Verbindung.  Die  Unlöslichkeit  selbst  ist  das  erste  Gut,  sie 
ist  quid  spirituale  in  mentibus  contrahentium  (dist.  31  quaest. 
unic.  §  5).  Diese  Unlöslichkeit  äussert  sich  in  der  sittlichen 
Bethätigung  als  fidelitas,  die  Treue,  die  dem  Gatten  und  keinem 
anderen  gibt  was  ihm  gehört.  Dazu  kommt  dann  der  Zweck, 
auf  dem  diese  Verbindung  sich  richtet,  das  ist  die  Erzeugung 
und  Erziehung  von  Kindern  (ib.  4  f.).  So  rechtfertigt  sich  die 
übliche  Aufzählung;  fides,  proles,  sacramentum;  dagegen  ver- 
wirft Duns  den  Gedanken,  dass  diese  Güter  den  Zeugungsakt 
entschuldigen,  wessen  dieser  bedürfe,  sofern  er  den  Menschen, 
nach  Aristoteles,  zeitweilig  der  Vernunft  beraube.  Dawider 
sagt  Duns,  dass  diese  Güter  auch  im  Urständ  vorhanden  waren, 
wo  es  eines  solchen  Entschuldigens  nicht  bedurfte;  dann  aber, 
dass  auch  der  Schlaf  der  Vernunft  beraube,  ohne  dass  dafür  eine 
Kompensation  stattfinde  (ib.  2.  3).  Auf  das  eigentlich  sittliche 
Wesen  des  ehelichen  Zusammenlebens  geht  Duns  nicht  ein. 
Die  Ehe  ist  einerseits  die  gegenseitige  Bereitschaft  zur  Ge- 
schlechtsgemeinschaft mit  dem  Zweck  der  Kindererziehung, 
andererseits  eine  übernatürliche  seelische  Verbindung  der  Gatten, 
die  aber  nicht  genauer  besprochen  wird.  Die  juristische  Be- 
trachtungsweise prävaliert  auch  hier  über  die  ethische. 

7.  Übrigens  kann,  sofern  die  Ehe  nur  matrimonium  ratum, 
noch  nicht  consummatum  ist,  sie  durch  den  Eintritt  in  einen 
Orden  aufgelöst  werden,  wie  Christus  den  Johannes  vom  Hoch- 
zeitsmahl ab  zu   seinem  Jünger  berufen  habe  (ib.  7).     Das  ist 


Güter  und  Pflichten  der  Ehe.  543 

vernünftig,    da  hier    ein   höheres  Gut  für  ein  niederes  erwählt 
werde  (8). 

8.  Aus  dem  ehelichen  Leben  kommt  wieder  nur  die  recht- 
liche Frage  nach  der  Gewährung  des  debitum  coniugale  in 
Betracht.  Die  Gewährung  ist  Pflicht,  es  liege  nun  der  Ge- 
sichtspunkt der  Kindererzeugung  oder  der  Vermeidung  der 
Hurerei  vor.  Diese  Pflicht  darf  aber  versagt  werden,  wenn 
der  Bittende  sich  Hurerei  hat  zu  schulden  kommen  lassen, 
und  so  durch  Verletzung  des  Kontraktes  von  seiner  Seite,  auch 
die  andere  Seite  von  der  Pflicht  der  Treue  gelöst  hat.  Ebenso 
darf  ein  Versagen  stattfinden  alsbald  nach  Abschluss  der  Ehe, 
da  nämlich  vor  Eintritt  des  matrimonum  consummatum  der 
eine  Teil  vielleicht  das  Bedürfnis  empfindet  darüber  schlüssig 
zu  werden,  ob  er  nicht  doch  besser  in  das  Kloster  gehe  (IV 
dist.  32  quaest.  unc.  §  2).  Eine  zweite  Gruppe  von  Fällen, 
wo  die  Erfüllung  des  debitum  versagt  werden  darf,  ergibt  sich 
vom  Gedanken  aus,  dass  man  vinculo  fortiori  davon  abgehalten 
wird.  Ein  solches  liegt  aber  vor,  wenn  etwa  die  Folge  der 
Gewährung  Tötung  der  Frucht  oder  Abort  sein  könnten.  Da- 
gegen muss,  wenn  ein  Teil  mit  Lepra  behaftet  ist,  das  debitum 
gewährt  werden,  nach  den  bestehenden  kirchlichen  Vorschriften. 
Duns  tröstet  sich  dabei  damit,  dass  bei  dieser  Berührung  doch 
kaum  viel  Ansteckungen  stattfinden  würden.  Aber  die  bei  dem 
Eheschluss  übernommene  Pflicht  muss  erfüllt  werden.  Daher 
die  Priester  dies  auch  hie  und  da  bei  der  Kirchthür  aussprächen 
(bei  der  Trauung?)  (§  6). 

9.  Die  Polygamie  scheint  vom  Naturrecht  nicht  ver- 
boten zu  sein,  da  ein  Mann  auch  mehrere  Frauen  befruchten 
könnte.  Die  Polygamie  ^)  der  Patriarchen  verstehe  sich  dar- 
aus, dass  in  jener  Zeit  nur  wenige  Verehrer  Gottes  da  waren 
und  diese  geringe  Zahl  möglichst  kräftig  vermehrt  werden 
sollte  (ib.  dist.  33  quaest.  1,  2.  3).  Das  sei  heute  nicht  mehr 
nötig.  Doch  könne  man  annehmen,  dass  wenn  ein  Land  durch 
Kriege    und   Seuchen    einen    unverhältnismässig    grossen   Teil 


^)  Duns  redet  immer  von  „bigamia",  denkt  aber  nicht  nur  an  diese^ 
sondern  auch  an  Polygamie. 


544  Kap,  VI:  Aus  der  Ethik  des  Duns  Scotus. 

seiner  männliclieii  Bevölkerung  verloren  habe,  der  Kirche 
wieder  das  Hecht  der  Polygamie  würde  offenbart  werden  (ib.  6). 

10.  Bezüglich  der  Frage  nach  der  Scheidung  wird  ledig- 
hch  untersucht,  ob  das  mosaische  .Gesetz  sie  gestattet  habe, 
was  einige  unter  Berufung  auf  Christi  Wort  Matth.  19  leug- 
neten (ib.  quaest.  3,  3).  Duns  entscheidet  sich  gegen  diese 
Auffassung.  Wie  Gott  die  Polygamie  ratifiziert  hat,  so  konnte 
er  auch,  falls  nämlich  der  Schade,  der  aus  dem  Fortbestand 
der  Ehe  erwächst,  grösser  ist  als  der  Vorteil  der  Unlöslichkeit 
der  Ehe,  diese  Ordnung  aufheben.  Das  Übel  wäre  das  uxori- 
cidium,  das  die  Rache  der  betr.  Eltern  nach  sich  zöge ;  dann 
blieben  die  Kinder  unversorgt  nach,  kurz,  die  Familie  würde 
zerstört  werden.  Daher  liess  Gott  in  jenen  Zeiten  den  Ehe- 
kontrakt nur  auf  Zeit  geschlossen  werden,  donec  mulier  dis- 
pliceat  viro  (§  5).  Also  die  Frage  wird  rein  geschichtlich  be- 
sprochen. 

Die  in  der  Kirche  geltenden  Scheidungsgründe  sind  identisch 
mit  den  die  Ehe  verhindernden  Gründen.  Da  eine  Anzahl 
ethischer  Gesichtspunkte  konkurrieren,  möchten  wir  dieselben 
in  der  Kürze  hier  zur  Darstellung  kommen  lassen.  Duns  macht 
folgende  Gründe  namhaft:  die  unheilbare  Impotenz,  sofern 
sie  vor  dem  Eingehen  der  Ehe  da  ist,  quia  contractus  est  datio 
potestatis  corporum  ad  talem  actum,  si  petatur  (dist.  34  quaest. 
unic.  §  2).  Nun  gebe  es  aber  auch  eine  künstliche  durch 
Zauberei  oder  maleficium  bewirkte  Impotenz.  Böse  Geister 
treten  nämlich  mit  den  Menschen  in  ein  Bundesverhältnis, 
durch  das  diese  das  maleficium  ausführen.  Die  Hexe  (maga) 
macht  also  mit  dem  Dämon  aus,  dass  sie  einen  bestimmten 
Mann  von  der  Ausführung  des  Zeugungsaktes  abhält,  quamdiu 
tale  maleficium  perseverat,  puta  acus  curvata  vel  aliqua  huius- 
modi.  Es  ist  gut,  wenn  Gott  in  diesem  Fall  die  Bitten  der 
Heiligen  erhört;  doch  scheint  es  Duns  sicherer  zu  sein,  dass 
man  das  Zauberzeichen  aufsucht  und  zerstört,  quia  ex  pacto 
non  assistit  (d.  h.  der  Dämon),  nisi  dum  durat  aliquod  Signum 
(ib.  4).  Das  Vorhandensein  eines  maleficium  ist  aber  anzu- 
nehmen, wenn  der  Augenschein  und  die  ärztliche  Untersuchung 
keine  natürliche  Impotenz  oder  Gründe  für  eine  solche  erkennen 
lassen  (6). 


Ehehindernisse.  545 

Zweitens  neunt  Duns  das  adulterium  nebst  Veranstaltungen 
zur  Ermordung  des  rechtmässigen  Gatten  und  dem  Ehever- 
sprechen an  den  Ehebrecher.  Das  erste  und  dritte  dieser 
Vergehen  sind  an  und  für  sich  kein  Ehehindernis,  wohl  aber 
in  Verbindung  mit  einander  oder  mit  dem  dritten,  das  zweite 
kann  es  unter  Umständen  sein,  und  ist  es  immer  in  Verbindung 
mit  dem  dritten  (dist.  35  quaest.  un.  3.  7.  9). 

Drittens  kommt  die  Sklaverei  als  Ehchindernis  zur 
Sprache.  Indem  die  positive  Rechtsordnung  die  Sklaverei 
kennt,  muss,  wenngleich  Duns  Bedenken  gegen  das  Recht  der 
servitus  hegt  (s.  unten),  die  ethisch  juristische  Betrachtung  sie 
als  festen  Faktor  in  Rechnung  stellen.  Die  Frage  ist,  ob  der 
Sklave  ohne  den  Willen  seines  Herrn  heiraten  darf?  Es  ist 
falsch,  diese  Frage,  unter  Berufung  auf  das  Naturrecht,  ein- 
fach zu  bejahen.  Die  Ehe  ist  nämlich  erstens  nur  in  sekun- 
därer Weise  auf  das  Naturrecht  zurückzuführen  (s.  S.  539  f.), 
sodann  aber  hebt  das  Naturrecht  die  positiven  ethischen  Einzel- 
verpflichtungen nicht  einfach  auf,  z.  B. :  ich  schulde  dir  nichts 
von  Natur,  muss  aber  doch  den  dir  versprochenen  Gehorsam 
halten.  Gegen  jenes  angenommene  Recht  des  Sklaven  spricht 
also,  dass  er  durch  die  Ehe  an  der  vollen  Erfüllung  der 
Pflichten  gegen  seinen  Herrn  behindert  werden  kann.  Sagt 
man  aber,  jedem  stehe  von  Natur  das  Recht,  die  Art  zu  er- 
halten, zu,  so  ist  auch  das  nicht  richtig,  denn  dass  ich  gerade 
dies  Recht  auszuüben  verpflichtet  wäre,  kann  nicht  bewiesen 
werden,  da  die  Erhaltung  der  Art  ja  nicht  von  mir  allein  ab- 
hängt (IV  dist.  36  quaest.  1,  5). 

Das  Reguläre  wird  also  sein,  dass  der  Herr  die  Ehe  er- 
laubt resp.  verbietet.  Hat  er  sie  aber  einmal  erlaubt,  so  muss 
er  die  Konsequenzen  daraus  ziehen,  d.  h.  dem  Sklaven  die 
Führung  des  ehelichen  Lebens  ermöglichen.  Wollte  er  also 
seine  Erlaubnis  zurückziehen  oder  den  Sklaven  an  der  copula 
carnalis  hindern,  ihn  in  andere  Gegenden  versetzen  oder  ihn 
vom  Besuch  seiner  Gattin  zurückhalten,  so  würde  er  dadurch 
eine  Todsünde  begehen  und  von  der  Kirche  zu  korrigieren  sein 
(§  7).  —  Doch  gesteht  Duns  auch  die  Möglichkeit  zu,  dass 
Sklaven  ohne  die  Erlaubnis  ihres  Herrn  heiraten,  sofern  sie 
sich   gegenseitig   zufrieden   geben   mit   dem   durch   den  Willen 

Seeberg,  Die  Theologie  des  Duns  Scotus.  35 


546  Kap.  VT:  Aus  der  p]thik  des  Duns  Scotus. 

des  Herrn  etwa  beschränkten  Mass  der  gegenseitigen  Ver- 
fügung über  ihre  Leiber  (§  7),  Unter  dieser  Bedingung  kann 
der  Sklave  auch  eine  Freie  heiraten,  sofern  sie  nur  weiss,  gegen 
welches  beschränkte  jMass  der  Verfügung  über  den  Leib  des 
ander(m  su)  ihm  die  volle  Verfügung  über  ihren  Leib  zugesteht 
(8).  Wenn  nun  bei  einer  solchen  ohne  Willen  der  beider- 
seitigen Herren  geschlossenen  Ehe  der  eine  Herr  ihn  nach 
Afrika,  der  andere  sie  nach  Francia  sendet,  so  wären  sie  aller- 
dings abzumahnen  von  solchem  Thun,  sind  aber  nicht  ver- 
pflichtet davon  abzustehen  (8). 

Das  vierte  Ehehindernis  ist  die  aetas  puerilis.  In 
Beziehung  auf  die  künftige  geschlechtliche  Potenz  der  beiden 
können  hier  nur  sponsalia,  keine  Ehe  getroffen  werden.  Diese  ist 
erst  möglich  mit  der  rechtlich  festgesetzten  Pubertätszeit  (14  Jahr 
beim  Knaben,  12  beim  Mädchen);  sed  aliquando  malitia  supplet 
aetatem  et  complexio  praevenit  tempus  reguläre,  dann  wäre 
der  Konsens  auch  früher  möglich  (ib.  quaest.  2,  2). 

Das  fünfte  Hindernis  ist  der  Ordo.  In  der  alten  Kirche 
ist  dies  freilich  nicht  eingehalten,  und  ob  Christus  es  geboten, 
steht  dahin  (IV  dist.  37  quaest.  unic.  §  2).  Aber  für  die 
Gegenwart  hat  die  Kirche  es  so  geboten.  Das  ist  genug  (4). 
Es  ist  aber  auch  vernünftig,  denn  wer  der  Kirche  dient,  soll 
ein  reines  Herz,  Klarheit  des  Verstandes  und  Wärme  des 
Affektes  haben.  Dazu  disponiert  die  Kontinenz  ^  der  Ge- 
schlechtsverkehr zum  Gegenteil.  Also  hat  die  Kirche  Recht. 
Pauli  Forderung  ,unius  uxoris  vir*  bedeute  quod  non  habuit 
plures,  dadurch  würde  er  irregulär;  doch  konnte  er  diese  eine 
Frau  behalten,  durfte  sich  aber  nicht  zum  zweiten  Mal  ver- 
heiraten (ib.  §  5). 

Sechstens  hindert  an  der  Ehe  ein  Votum  continentiae, 
das  gilt  vom  votum  solemne.  Das  ist  kirchliche  Ordnung  und 
„vernünftig"  (IV  dist.  38  quaest.  un.  §  4  ff.). 

11.  Siebentens  fragt  es  sich,  ob  eine  Ehe  zwischen 
Ungläubigen  oder  zwischen  einem  Christen  und 
einer  Ungläubigen  oder  umgekehrt  möglich  ist? 

Man  hat  die  Möglichkeit  einer  Ehe  zwischen  Ungläubigen 
geleugnet,  weil  diese  keines  der  Güter  der  Ehe  realisieren 
könnten  (Richard).     Das  ist  falsch,    quia  fides   id   est  fidelitas 


Ehehindernisse.  547 

servari  potest  sine  fide,  qua  creditur  in  deum  et  hanc  servant 
infideles  fidelibus  in  contractibus  (IV  dist.  39  qaaest.  un.  §  2). 
Auch  das  bonum  prolis  ist  in  der  heidnischen  Ehe,  wenn  auch 
nur  unvollkommen,  vorhanden,  da  auch  die  Heiden  ihre  Kinder 
per  rationem  naturalem  so  gut  sie  es  verstehen,  erziehen ;  und 
endlich  ein  Ehesakrameut  hat  es  vor  dem  Christentum  auch 
auf  dem  Boden  der  Offenbarung  nicht  gegeben.  Man  muss 
sich  hier  daran  erinnern,  in  wie  wenig  überzeugender  Weise 
Duns  selbst  den  sakramentalen  Charakter  der  Ehe  behauptet 
hatte  (S.  444  f.). 

Schwieriger  sei  nach  Duns  die  Frage,  inwiefern  der  Heide 
seinen  Leib  einem  anderen  geben  könne,  da  doch  das  Bewusst- 
sein  der  göttlichen  Approbation  ihm  abgeht.  Aber  ein  all- 
gemeines Gefühl  davon,  dass  Gott  dies  Kecht  gewähre,  haben 
doch  alle,  es  wird  sich  aus  der  Urtradition  erklären.  Wenn 
aber  der  eine  Teil  in  einer  heidnischen  Ehe  christlich  wird, 
darf  er  die  Ehe  auflösen,  da  für  ihn  ein  fortius  vinculum  in 
Kraft  getreten  ist  (ib.  §  4).  Diese  im  Zusammenhang  wenig 
einleuchtende  Erklärung  versteht  sich  aus  der  kirchenrecht- 
lichen Gebundenheit  des  Duns. 

Trotz  der  Aussprüche  Pauli  1.  Kor.  7  erklärt  er  sich  daher 
für  die  Ausflösbarkeit  der  Ehe,  wenn  der  eine  Teil  christlich 
wird  oder  christlich  war.  Nach  göttlichem  Recht  ist  eine 
solche  Ehe  freilich  möglich,  nicht  aber  de  iure  positivo  eccle- 
siae,  quia  ecclesia  illegitimavit  fidelem  nämlich  in  dieser  Be- 
ziehung. Und  auch  das  ist  wieder  eine  „vernünftige"  Ordnung, 
denn  im  entgegengesetzten  Fall  würde  die  Vollkommenheit  des 
bonum  prolis  gehemmt  (5).  Weil  es  so  kirchliche  Ordnung  ist, 
wird  also  angenommen,  dass  Paulus  bei  seiner  Erlaubnis  an 
die  Möglichkeit  einer  Bekehrung  des  nichtchristlichen  Ehegatten 
durch  den  Christen  gedacht  habe;  cessante  autem  evidenter 
causa  illa,  sollen  sie  auseinandergehen.  Man  glaube  doch  nicht 
zu  sehr  an  die  Bekehrung  des  Ungläubigen,  bekehrte  er  sich 
nicht  im  Bausch  der  ersten  Liebe,  so  tliut  er  es  später  gewiss 
nicht:  quia  multum  amans  coniugium  multa  et  magna  faceret, 
ut  illud  attingeret,  quae  non  esset  facturus  ipso  adepto  (6)! 
Das  ist  gewiss  eine  feine  psychologische  Beobachtung. 

12.   Zum  Schluss  werden  dann  die  die  Ehe  verhindernden 

35* 


548  Kap.  VI:  Au3  der  Ethik  des  Duns  Scotus. 

Verwandtschaftsgrade  besprochen.  Das  Naturrecht  selbst  be- 
lehrt den  Menschen  hierüber,  und  zwar  erscheint  die  Ver- 
bindung zwischen  Eltern  und  Kindern  als  grösserer  Frevel 
denn  die  zwischen  Geschwistern,  und  in  ersterem  Fall  lehnt 
sich  die  Natur  mehr  gegen  die  Vereinigung  von  Sohn  und 
Mutter,  als  von  Vater  und  Tochter  auf,  da  in  jener  ein  höherer 
Grad  von  irreverentia  offenbar  wird  (IV  dist.  40  quaest.  un. 
§  3).  Die  Kirche  hatte  früher  die  Ehen  zwischen  Verwandten 
bis  zum  siebenten  Grad  verboten  (so  noch  der  Lombarde), 
seit  Innocenz  III.  nur  bis  zum  vierten  Grade  (4).  Der  Grund 
hiefür  ist  also  die  kirchliche  Ordnung:  et  ratio  non  est  nisi 
statutum  ecclesiae  illegitimans  affines  (dist.  41  quaest.  un.  §  4). 
Ebenso  habe  die  Kirche  die  cognatio  spiritualis  und  legalis 
als  Ehehindernisse  festgestellt  (dist.  42  quaest.  un.  2.  3). 

Zum  Schluss  hat  Duns  die  Ehehindernisse  rekapituliert 
und  dabei  seine  Auffassung  in  einige  Memorialverse  zusammen- 
gefasst  (IV  dist.  42  quaest.  un.  §  11): 

Vis,  fraus  personae.  servi,  dationis  et  amens 

Addita  condicio  tria  coniugii  bona  tollens 

Erigidus,  arcta,  puer,  truncatus,  praestigiatus, 

Alterius  coniux  obstant  mutuae  dationi. 

Ordo  sacer,  votum,  duo  cultus.  sponsio  moechi. 

Carnalis,  legis  cognatio  spiritualis 

Haec  vi  praecepti  sit  huic  affinis  honestas. 

13,  Wir  sind  in  der  Wiedergabe  der  Darstellung  der  An- 
sichten von  Duns  über  die  Ehe  deshalb  so  ausführlich  gewesen, 
weil  hier  die  eigentümlichen  Schranken  seiner  Ethik  besonders 
deutlich  wahrzunehmen  sind ;  sowohl  die  kasuistische  Kunst,  die 
die  sittlichen  Pflichten  bequem  zu  gestalten  weiss,  als  der  kühle 
rechtliche  Charakter.  Dass  eine  mutua  datio  corporum  vor- 
liegt, haben  wir  sehr  oft  zu  hören  bekommen.  Über  das  innere 
Leben  der  Ehegatten  hören  wir  nichts,  ebenso  wird  man  ent- 
täuscht sein  über  die  wenigen  Bemerkungen,  die  Duns  über 
die  soziale  und  ethische  Bedeutung  der  Ehe  macht.  Dass  sie  dem 
Staats  wohl  diene,  wurde  oft  betont.  Doch  fehlt  es  auch  nicht 
ganz  an  darüber  hin  ausgreifenden  Gedanken.  So  wenn  Duns 
den  Grund  für  das  kirchliche  Verbot  der  Verwandteuehe  darin 
erblickt,   dass  bis  zum  vierten  Grade  die  Verwandten  noch  im 


SchätzuLg  der  Frau.  549 

Zusammenhang  miteinander  stehen,  dann  aber  sie  als  Fremde 
einander  gegenübertreten  und  dass  in  dem  weiten  Kreise 
der  Fremden  die  eheliche  Liebe  einen  Ersatz  für  die  Ver- 
wandtenliebe herstellt:  congruum  est  tunc  per  vinculum  coniu- 
gale  tepescentem  amicitiam  revocare  (IV  dist.  40  quaest.  un. 
§  5).  Ebenso  wenn  Duus  die  Darstellung  schliesst  mit  dem 
Gedanken,  die  Kirche  habe  nicht  umsonst  soviel  Mühe  auf  die 
Ordnung  der  Ehe  gewandt,  quia  communitas  christianorum 
utitur  matrimonio,  per  cuius  usum  multiplicatur  populus  christi- 
^nus,  et  ideo  sie  ordinari  debet,  ut  in  eins  contractu  et  usu 
vitentur  ea  quae  obviant  charitati  sive  in  deum  sive  in  proxi- 
mum,  et  servanda  sunt  quae  congruunt  honestati,  sodass  die 
Ehe  wirklich  die  Verbindung  zwischen  Christus  und  der  Kirche 
abzubilden  fähig  werde,  eine  Verbindung,  die  jetzt  per  fidem 
et  aliqualem  dilectionem,  einst  per  visionem  perfectara  et  frui- 
tionem  sponsae  non  habentis  maculam  neque  rugam  ad  spon- 
sum  speciosum  stattfindet  (dist.  42  quaest.  un.  §  12). 

Aber  gerade  das,  was  in  obigen  Sätzen  verlangt  wird, 
lässt  die  Darstellung  des  Duns  selbst  vermissen.  Wir  haben 
kaum  etwas  von  der  Liebe,  als  dem  Bande  der  Ehe  zu  lesen 
bekommen. 

2.     Schätzung   der   Frau. 

Was  die  Schätzung  der  Frau  anlangt,  so  hegt  Duns  die 
übliche  Auffassung.  Auf  eine  hohe  Schätzung  weist  der  Ge- 
danke, es  sei  nur  aus  dem  göttlichen  Gebot  zu  erklären,  dass 
Frauen  zu  kirchlichen  Amtern  als  unfähig  erachtet  würden. 
Nun  entspricht  auch  die  natürliche  Vernunft  dem  apostolischen 
Mulier  taceat  in  ecclesia,  denn  die  Natur  verwehrt  es,  dass  ein 
Weib  gradum  eminentem  in  specie  humana  einnehme,  saltem 
post  lapsum,  da  ja  zur  Strafe  für  ihre  Sünde  sie  unter  die 
Gewalt  des  Mannes  gegeben  ist.  Und  selbst  die  Mutter  Christi, 
cui  nuUa  alia  potuit  vel  non  poterit  in  sanctitate  aequiparari, 
hat  von  ihrem  Sohn  kein  Amt  angewiesen  erhalten  (IV  dist.  25 
quaest.  2,  4).  Aber  als  durchaus  sicher  gilt,  dass  das  Weib 
die  gleiche  gratia  und  gloria,  wie  der  Mann  zu  erlangen  ver- 
mag (ib.  §  6). 


550  Kap.  VI:  Aus  der  Ethik  des  Duns  Scotus. 

3.    Die   Restitutionsp flicht   (Eigentum,   Ehre). 

1.  Im  ZusammenhaDg  der  Frage  nach  der  Restituierung 
gestohlener  Güter  hat  Duns  seine  Ansichten  über  das  Eigentum 
entwickelt.  Er  handelt  davon  bei  der  Darstellung  des  ßuss- 
sakramentes,  das  allmählich  immer  mehr  zur  Erörterung  wirt- 
schaftlicher Fragen  benutzt  wurde  (s.  bes.  Biels  Ausführungen, 
aber  auch  Thomas,  Richard,  Heinrich  etc.).  ^) 

Nach  dem  göttlichen  oder  dem  Naturrecht  ist  der  Besitz 
der  Dinge  kein  unterschiedener,  sondern  ist  allen  gemeinsam. 
Dies  wird  durch  eine  Anzahl  augustinischer  Stellen,  sowie  durch' 
Decret.  dist.  8  cap.  1  (iure  naturae  sunt  omnia  communia 
Omnibus)  bewiesen  (lY  dist.  15  quaest.  2,  3).  Diese  —  übrigens 
dem  ganzen  Mittelalter  eigentümliche  —  Anschauung  -)  wird 
aber  auf  den  Status  innocentiae  eingeschränkt.  Es  sei  freilich 
das  Vernünftigste,  dass  die  Menschen  sich  der  Güter  der  Welt 
bedienen,  sicut  congruit  ad  congruam  et  pacificam  conver- 
sationem  et  necessariam  sustentationem.  Im  Stand  der  Un- 
schuld wäre  dies  durch  den  Kommunismus  am  leichtesten  zu 
verwirklichen,  da  keiner  sich  aneignen  würde,  was  er  nicht 
braucht  und  nicht  gewaltsam  nehmen  würde,  was  ein  anderer 
notwendig  braucht  (ib.  §  4).  Sosehr  nun  im  Stand  der  Un- 
schuld der  friedliche  Wandel  und  der  notwendige  Unterhalt 
sich  mit  dem  Kommunismus  vertrugen,  sowenig  war  das  mög- 
lich, nachdem  der  Fall  geschehen.  Daher  ist  nach  dem  Fall 
der  Kommunismus  aufgehoben  w^orden.  Sowohl  der  Friede  als 
die  Erhaltung  des  Menschengeschlechtes  fordern  dies.  In  der 
sündigen  Menschheit  würden  nämlich  alle  mehr  als  sie  brauchen 
von  den  Gütern  an  sich  reissen,  und  es  würde  dadurch  der 
Kampf  um  die  Güter  erst  recht  entfacht,  sowie  der  Schwache 
des    notwendigen    Lebensunterhaltes    beraubt    werden.      Auch 


^)  Die  nationalökonomischen  Anschauungen  des  Thomas  sind  mehr- 
fach dargestellt  worden,  so  von  Baumann,  Die  Staatslehre  des  heil. 
Thomas  v.  Aquino,  Leipzig  1873,  S.  166 ff.  Maurenbrecher,  Thomas 
V.  Aquinos  Stellung  zum  Wirtschaftsleben  s.  Zeit,  Lpz.  1898.  Über  die 
bezüglichen  Ideen  der  späteren  Scholastiker  s,  Funk  in  der  Ztschr.  f. 
die  ges.  Staats wiss.  1869,  125 ff.,  sowie  ßoscher,  Gesch.  der  National- 
ökonomik  S.  22  ff. 

^)  S.  z.  B.  meine  Dogmengesch.  II,  167. 


Kommunismus  und  I'rivateigentum.  551 

wendet  der  Mensch  mehr  Anstrengung  auf  seine  privaten  Güter 
als  auf  den  gemeinschaftlichen  Besitz,  und  er  würde  immer  mehr 
darauf  aus  sein,  sich  selbst  als  der  Gemeinschaft  Güter  zu  erwerben 
(so  IV  dist.  37  quaest.  un.  §  8).  Mit  Recht  habe  daher  Aristo- 
teles den  Satz,  quod  non  sint  omnia  communia  verfochten  (5). 
Indem  aber  der  ursprüngliche  naturrechtliche  Kommunismus 
unmöglich  wurde,  ist  dies  Gebot  des  Naturrechtes  aufgehoben 
worden. 

2.  Die  aktuelle  Anordnung  des  Privateigentums  kann 
aber  direkt  weder  auf  göttliches  noch  auf  Naturrecht  zurück- 
geführt werden.  Denn  wenn  es  auch  eine  natürliche  Wahr- 
nehmung ist,  dass  alles  geteilt  werden,  d.  h.  hier,  dass  Privat- 
eigentum eingeführt  w^erden  soll ,  so  wird  doch  die  prima 
distinctio  dominiorum  als  positives  Recht  zu  bezeichnen  sein.^) 
Die  Gerechtigkeit  des  positiven  Rechtes  ist  nun  aber  nicht  eine 
an  sich  seiende,  sondern  es  ist  im  einzelnen  zuzusehen,  ob  das 
betr.  Gesetz  gerecht  sei  oder  nicht.  Das  positive  Recht  be- 
darf eines  Urhebers  und  in  dem  Mass  als  demselben  Klugheit 
und  Autorität  eignen,  wird  sein  Recht  geeignet  erscheinen,  die 
communitas  zu  binden  (§  6).  Es  gibt  eine  doppelte  Autorität, 
die  elterliche  und  die  staatliche,  wobei  die  letztere  von  einer 
Person  oder  von  der  communitas  ausgeübt  wird.  Die  paterna  auc- 
toritas  ist  gerecht  nach  dem  Naturrecht,  das  alle  Kinder  an- 
leitet, ihren  Eltern  zu  gehorchen ;  und  dies  Recht  ist  weder 
durch  das  mosaische  noch  das  evangelische  Recht  aufgehoben. 
Dagegen  ist  die  politische  Autorität  gerecht  ex  communi  con- 
sensu  et  electione  ipsius  communitatis.  Hier  macht  sich  die 
mittelalterliche  Auffassung  von  der  Entstehung  des  Staates 
geltend.  Die  Menschen  kamen  zusammen  den  Staat  zu  gründen, 
sie  erkannten,   dass   es  zu  seinem  Bestand  einer  auctoritas  be- 


V 


dürfe.     Eine  solche  schufen  sie,  indem  sie  ihrem  Inhaber  ent 


wieder   nur   für   seine  Person   oder   erblich  eine  Autorität  ver- 


^)  Was  die  Aneignung  der  Gefässe  der  Ägypter  durch  die  Israeliten 
anlangt,  so  meint  Duns,  dass  Gott  als  oberster  Herr  potuit  transferre 
dominium  illarum  rerum  in  eos  etiam  invitis  inferioribus  dominis  (III  dist.  37 
quaest.  un.  §  15).  Doch  ist  das  eine  Ausnahme.  Die  gefährlichen  Kon- 
sequenzen, die  Wiclif  aus  dem  Satz,  dass  Gott  das  dominium  über  alle 
Dinge  eignet,  zog  (s.  Dogmengesch.  II,  168),  sind  Duns  fremd. 


562  Kap.  IV :  Aus  der  P]thik  des  Duns  Scotus. 

lieht'n.  Et  ista  auctoritas  politica  .  .  .  iusta  est,  quia  iuste 
potest  quis  se  submittere  uiii  personae  vel  commuiiitati  in  bis 
quae  noii  sunt  contra  legem  dei,  in  quibus  melius  potest  clirigi 
per  illum  cid  se  submittit  quam  per  seipsum.  Aus  dieser  Er- 
wägung ergibt  sich  nun  der  Scbluss,  dass  positives  Recht  sehr 
wohl  gerecht  sein  kann.  Wenn  nämlich  ein  verständiger  Mann 
von  der  Gemeinschaft  die  Autoritätsstellung  empfängt,  so  darf 
er  der  Gemeinschaft  positives  Recht  auferlegen  und  dies  kann^ 
wie  so  formell,  so  auch  inhaltlich  gerechtes  Recht  sein  (§  7). 
So  ist  es  also  zum  positiven  Recht  und  durch  dasselbe  zur  Ver- 
teilung der  Güter  gekommen.  Man  denke  an  Noah,  der  die 
Welt  unter  seine  Söhne  teilt,  an  das  Abkommen  zwischen 
Abraham  und  Loth  (8).  Damit  ist  die  Frage  nach  der  Ent- 
stehung des  Eigentums  beantwortet.  Steht  nun  auch  der 
mönchische  Verzicht  auf  das  Eigentum  höher  als  der  Besitz 
desselben,  so  gilt  doch  nicht  der  Satz:  ergo  dominium  est 
malum,  der  Verzicht  auf  das  Eigentum  bedeutet  nur  eine  pri- 
vatio  imperfectionis,  denn  der  Besitz  ist  nur  ein  bonum  imper- 
fectum,  also  kein  Unrecht  (de  perfectione  statuum  §  48). 

3.  Zum  anderen  ist  von  der  Übertragung  des  Eigenturas 
zu  reden.  Dieselbe  kann  sich  erstrecken  auf  das  dominium 
über  das  betr.  Ding  oder  auf  den  usus  bezw.  das  ins  utendi, 
also  auf  Eigentümlichkeit  oder  Niessbrauch.  Die  Übertragung 
muss  aber  iusta  translatio  sein.  Das  ist  sie,  wenn  sie  mit  der 
richtigen  Autorität  stattfindet,  sei  es  auctoritate  publica  vel 
principis  vel  auctoritate  legis,  sei  es  auctoritate  privata  ipsius 
domini  immediate  possidentis  (in  Sent.  1.  c.  §  9).  Es  ist  nun 
jede  Translation,  die  auf  die  Autorität  mes  gerechten  Gesetzes 
hin  erfolgt,  gerecht.  Es  ist  aber  ein  gerechtes  Gesetz,  welches 
auf  usucapio  (Ersitzung)  und  praescriptio  (Verjährung)  Eigen- 
tumsanrecht stellt.  In  beiden  Fällen  hat  nämlich  der  ursprüng- 
liche Eigentümer  sein  Eigentum  vernachlässigt.  Sollte  nun  ihm 
das  Eigentumsrecht  trotzdem  gewahrt  bleiben,  obgleich  ein 
anderer  seit  lange  von  der  Sache  Besitz  ergriffen  oder  sich 
öffentlich  als  Inhaber  derselben  erklärt  hat,  so  würden  ewige 
Streitigkeiten  die  Folge  sein.  Der  Staat  muss  aber  solche  zu 
vermeiden  trachten,  daher  ist  es  eine  gerechte  Ordnung,  wenn 
das    Eigentum    in    der    bezeichneten    Weise    seinen    Besitzer 


Translation  und  Tausch  des  Eigentums.  553 

wechselt  (§  9).  Dazu  kommt,  dass  der,  welcher  sein  Eigentum 
vernachlässigte,  dadurch  auch  den  Staat  gefährdete  —  sein 
Handeln  ist  ein  impedimentum  pacis  — ,  also  billigerweise  von 
diesem  dadurch  bestraft  wird,  dass  er  sein  Eigentum,  das  er 
unbenutzt  liegen  Hess,  auch  öffentlich  dem  zuspricht,  der  es  zu 
benutzen  verstand.  Die  Gemeinschaft  übt  in  diesem  Fall  also 
ihr  gerechtes  Recht  aus,  das  Eigentum  ihrer  Mitglieder  unter 
einander  zu  übertragen  (10). 

4.  Die  andere  Form  der  Translation  ist  die,  dass  ein 
Privatmann,  der  unmittelbare  Gewalt  über  sein  Eigentum  aus- 
übt, dasselbe  aus  freiem  Willen  einem  anderen  überträgt.  Hie- 
bei  kann  er  aus  reiner  Güte  handeln  (per  actum  mere  liberalem), 
sodass  er  keinerlei  Gegenleistung  erwartet  oder  auch  so,  dass  er 
die  Translation  an  bestimmte,  ihm  zu  erfüllende  Bedingungen 
knüpft.  Erstere  Form  ist  gerecht,  da  wenn  jemand  mit  freiem 
Willen  Besitzer  ist,  er  auch  nicht  mehr  Besitzer  sein  zu  wollen 
vermag,  während  ein  anderer  an  seiner  Stelle  Besitzer  sein 
will.  Auf  beiden  Seiten  muss  aber  volle  Freiheit  vorliegen. 
Diese  Freiheit  fehlt  in  bestimmten  Fällen,  sei  es  dem  Geber, 
sei  es  dem  Empfänger.  So  kann  der  Mönch  ohne  die  Erlaub- 
nis des  Abtes,  der  Sohn  nicht  ohne  Genehmigung  des  Vaters 
etwas  verschenken,  wie  andererseits  ein  Minorit  nicht  Empfänger 
einer  Translation  sein  kann  (§  11).  —  Bei  der  zweiten  dieser 
Formen  liegt  eine  Abmachung  vor,  man  tauscht  mit  einander 
nach  dem  gegenseitigen  Vorteil  Güter  aus  (do,  ut  des  oder: 
do,  si  des).  Da  nun  der  Tausch  in  unmittelbaren  Nutzgegen- 
ständen schwer  durchzuführen  war,  hat  man  die  Münzen  er- 
funden :  et  dicitur  commutatio  numismatis  pro  re  usuali  emptio, 
e  converso  vero  venditio.  Neben  den  Tausch  und  den  Kauf 
tritt  dann  noch  mutui  datio,  wo  Münze  für  Münze  gegeben  wird, 
also  das  Ausleihen  und  Wiedererstatten  von  Geld.  Hiebei 
kommen  nun  folgende  Regeln  in  Betracht.  Hinsichtlich  des 
Tausches  muss  der  Betrug  ausgeschlossen  sein,  der  sich  auf 
die  Substanz,  die  Qualität  und  Quantität  des  betr.  Gutes  er- 
strecken kann  (z.  B.  Wasser  statt  Wein,  verdorbener  Wein, 
falsches  Mass  oder  Gewicht,  §  13).  Es  muss  eine  gewisse 
Gleichheit  zwischen  den  Tauschobjekten  bestehen.  Im  einzelnen 
regelt  das  positive  Gesetz   oder  auch  die  Gewohnheit  die  Ver- 


554  K&ii.  VI:  Aus  der  Ethik  des  Duns  Scotus. 

hältnisse.  Es  kann  aber  auch  lediglich  der  gute  Wille  der 
Tauschenden  in  Betracht  kommen,  und  in  diesem  Fall  greift 
das  Naturgesetz  regelnd  ein  mit  seinem  Satz:  hoc  facias  alii 
quod  tibi  vis  fieri  (15). 

4.  Dieselben  Eegeln  gelten  auch  für  das  Kaufen  oder 
Verkaufen.  Nun  kann  der  Verkäufer  zwar,  wenn  er  eines 
seiner  Güter  selbst  dringend  bedarf,  durch  den  Verkauf  also 
Schaden  erleidet,  sich  durch  einen  höheren  Preis  schadlos 
halten ;  dagegen  darf  der  Preis  nicht  um  deswillen  in  die  Höhe 
getrieben  werden,  dass  der  Käufer  gerade  das  betr.  Gut  not- 
wendig braucht,  denn  dieser  Umstand  macht  das  Gut  für  seinen 
jeweiligen  Inhaber  nicht  wertvoller  oder  besser.  So  sehr  also 
der  Verkäufer  sich  schadlos  halten  darf,  so  wenig  darf  er  aus 
der  Not  des  anderen  für  sich  einen  Extravorteil  herausschlagen 
wollen  (16). 

Was  endlich  das  Leihen  von  Geld  anlangt,  so  ist  im  all- 
gemeinen zu  sagen,  dass  für  die  Wiedererstattung  die  Gleich- 
heit nach  Zahl  und  Gewicht  zu  fordern  ist.  Hiebei  wäre  also 
abzusehen  von  jedem  Zins  für  das  geliehene  Geld.  Einerseits 
nämlich  kann  man  sagen,  dass  der  Leihende  das  dominium  über 
sein  Geld  auf  den  Entleihenden  überträgt,  er  also  kein  Anrecht 
auf  das  hat,  was  das  Geld  unter  dem  dominium  des  anderen 
hervorbringt.  Andererseits  ist  zu  sagen,  dass  das  Geld  seiner 
Natur  nach  unfruchtbar  ist:  non  habet  ex  natura  sua  aliquem 
fructum,  sicut  habent  aliqua  alia  ex  se  germinantia.  Die  in- 
dustria  des  Menschen  entlockt  dem  Geld  Früchte,  das  ist  aber 
die  industria  des  Entleihenden,  nicht  die  des  Verleihenden,  also 
hat  letzterer  kein  Anrecht  an  jene  Früchte:  ergo  ille  volens 
recipere  fructum  de  pecunia  vult  habere  fructum  de  industria 
aliena  (17).  —  Doch  sind  hier  zwei  Ausnahmen  zu  konstatieren. 
Wenn  ich  nämlich  mein  Geld  zu  einem  bestimmten  Termin 
selbst  brauche,  kann  ich  ausmachen,  dass  mir  für  den  Fall, 
dass  der  Entleihende  es  nicht  rechtzeitig  wiedergibt,  von  ihm 
eine  poena  Conventionalis  entrichtet  werde.  Das  habe  mit  der 
fraus  usurarum  nichts  zu  thun.  Aber  auch,  wenn  ein  solcher 
Kontrast  nicht  vorliegt,  der  Creditor  aber  durch  das  Aus- 
bleiben der  Zahlung  des  Debitor  notorisch  geschädigt  wird,  ist 
letzterer  zwar  nicht   rechtlich,    wohl    aber  in  foro   conscientiae 


Kauf  und  Zins,  555 

gehaltcD,  ersterem  den  ihm  entstandenen  Schaden  de  Interesse 
zu  ersetzen  (18),  also  eine  Zahlung  ultra  sortem,  d.  h.  die  über 
das  Kapital  hinausgeht,  zu  leisten.  Doch  will  hier  noch  etwas 
in  Acht  behalten  werden.  Das  Geld  hat  aliquem  usum  utiiem 
ex  propria  natura,  indem  es  seinem  Inhaber  zum  Schmuck  und 
zur  Erhöhung  seines  Ansehens,  wir  würden  sagen  zum  „Kredit", 
gereicht  (ad  videndum,  ornandum  vel  ostentendum  possibilitatem 
tanquam  divitem).  In  diesem  Fall  nun  leiht  der  Verleihende 
eigentlich  sein  Geld  dem  Entleihenden  nicht,  sondern  er  bleibt 
der  Besitzer,  er  vermietet  es  nur  zum  Gebrauch  (locari),  wie 
man  etwa  ein  Pferd  vermieten  kann.  Hier  tritt  aber  das  Miets- 
recht in  Kraft.  Der  Verleihende  kann  beanspruchen,  dass  ihm 
dies  pondus,  das  er  dem  Entleihenden  überliess,  restituiert  werde, 
nisi  forte  sufficiat  locati  aequale  in  pondere  et  valore  (19). 
Duns  hält  also  seinerseits  das  von  Aristoteles  und  dem  kano- 
nischen ßecht  vorgeschriebene  Zinsverbot  aufrecht,  aber  dem 
scharfsinnigen  Mann  entgeht  nicht,  dass  die  alte  Idee,  dass 
Geld  keine  Kinder  kriege,  doch  fragwürdig  ist.  Geld  gibt 
Macht  und  Kredit  und  auch  diese  Gabe  will  dem  Verleiher 
restituiert  w^erden.  Er  deutet  das  freilich  nur  schüchtern  an 
und  er  zieht  nicht  von  hier  aus  die  entscheidende  Konsequenz, 
dass  auch  jene  industria  am  Besitz  des  Geldes  einen  Grund 
hat.  Immerhin  dämmert  in  dem  zuletzt  referierten  Gedanken 
ein  gewisses  freieres  modernes  Verständnis  der  Sache.  Das 
Zinsnehmen  als  solches  aber  bleibt  auch  nach  Duns  ein  Ver- 
brechen. Er  beruft  sich  auf  Ez.  18,  Ps.  14,  Luk.  6.  Dass 
der  Verleiher  sich  schadlos  halten  müsse  und  der  Entleiher 
freiwillig  Zins  zahlt,  beweise  nichts,  da  der  Verleiher  ja  nicht 
gezwungen  ist,  sein  Geld  hinzugeben ;  wenn  er  aber  ein  gutes 
ll  Werk  thun  will,  vom  göttlichen  Gesetz  gezwungen  wird,  ut 
non  faciat  eam  vitiatam  (1.  c.  §  26).  Eine  wunderliche  Argu- 
mentation ! 

Zu  dem  Gebiet  des  Handels  und  Tausches  fügt  Duns 
hier  einige  Bemerkungen  an.  Es  wird  der  Fall  gesetzt,  dass 
der  Verkäufer  nicht  sofort  das  entsprechende  Entgelt  erhält, 
was  ist  dann  rechtens?  Hiefür  werden  zwei  Regeln  aufgestellt, 
dass  nämlich  1)  der  Verkäufer  nicht  die  Zeit  verkauft,  da  sie 
ihm   nicht   gehört,   und    2)  dass   er   sich    nicht   den    gesamten 


556  Kap.  VI:  Aus  der  Ethik  des  Duns  Scotus. 

Gewinn  sichern,  wie  dem  Käufer  den  gesamten  Schaden  zu- 
schieben darf.  Den  Sinn  der  ersten  Regel  verdeutlicht  Duns 
an  folgendem  Beispiel.  Jemand  will  etwas  zu  Weihnachten 
oder  auch  zu  Johannis  verkaufen.  AVenn  er  es  nun  zu  Weih- 
nachten verkauft,  aber  den  Kaufpreis  erst  zu  Johannis  ver- 
langt, so  erweist  er  dem  Käufer  eine  Wohlthat.  Wenn  er  da- 
gegen unter  denselben  Umständen  zu  Johannis  einen  höheren 
Preis  als  er  für  Weihnachten  billig  war,  verlangt,  so  ist  er  ein 
usurarius,  denn  er  verkauft  die  Zeit.  Recht  einleuchten  will 
diese  Argumentation  allerdings  nicht.  Ist  es  wirklich  ein  be- 
sonderes gutes  Werk,  mit  der  Zahlung  bis  Johannis  zu  warten, 
so  scheint  es  doch  nicht  Wucher  zu  sein,  wenn  jemand  auf 
dies  Werk  verzichtet.  Und  kann  der  Käufer  denn  nicht  doch 
besser  fahren,  wenn  er  auch  zu  Johannis  einen  höheren  Preis 
zahlt? 

Aber  es  kommt  Duns  wesentlich  darauf  an,  das  kirchliche 
Zinsverbot  aufrecht  zu  erhalten,  im  einzelnen  lässt  er  dann  mit 
sich  reden.  Hier  tritt  jener  jesuitische  Zug  in  seiner  Moral 
hervor.  Man  kann  sich  schadlos  halten,  wenn  man  es  nur 
nicht  Zinsen  nennt  und  die  Sache  richtig  anfängt.  Jemand 
kann  nämlich  von  der  Überlegung  aus,  dass  das  betr.  Gut 
allmählich  im  Preise  steigen  wird,  die  certificatio  pretii  auf- 
schieben. Bestimmt  er  den  Preis  sofort  gemäss  des  gegen- 
wärtigen Wertes,  nämlich  für  die  künftige  Zahlung,  so  erweist 
er  dem  Käufer  eine  Wohlthat.  Wenn  er  dagegen  zwar  einen 
höheren  Preis  stellt,  als  der  gegenwärtige  Wert  der  Sache 
rechtfertigt,  dieser  Preis  aber  nicht  übermässig  ist  und  wahr- 
scheinlichpT'iveise  gezahlt  werden  wird  zur  Zeit  der  Bezahlung, 
so :  ratione  dubii  excusatur  (20).  Eine  ethisch  sehr  fatale 
Auskunft!  Dagegen  wird  auf  Grund  der  zweiten  Regel  es 
verworfen,  dass  jemand  sich  den  höchsten  Preis,  der  für  das 
betr.  Gut  in  der  Zeit  zwischen  der  Hingabe  desselben  und  der 
Zahlung  dafür  erreicht  wurde,  ausbedingt,  da  er  sich  hier  den 
höchstmöglichen  Gewinn  sichert,  dem  Käufer  dagegen  ein  Ver- 
lust wahrscheinlich  ist. 

5.  Duns  schliesst  hier  einige  Bemerkungen  über  den 
Handel  an.  Der  Kaufmann  kauft  die  Waren  nicht  zu 
seinem  persönlichen  Gebrauch,    sed   ut   vendat,   et   hoc  carius. 


Der  Handel.  557 

Hierüber   sind  nun   zwei  ethische  Regeln  zu  bilden:    1)  dieser 
Austausch   inuss   dem    Staat  nützlich   sein,    2)  der   Kaufmann 
muss  für  den  Fleiss,  die  Einsicht,  Betriebsamkeit  und  die  Ge- 
fahren,  die   er   auf   sich   nimmt,    ein  pretium  correspondens  in 
commutatione  empfangen  (ib.  §  22).     Es  ist  nun  klar,  dass  der 
Kaufmann   dem  Staat   nützt,   sei   es,   dass   er  Waren  feil  hält, 
die  dadurch  jedem  leicht  zugänglich  werden,    sei    es,    dass    er 
die  Produkte   seiner  Heimat   gegen    die   fremder  Länder   aus- 
tauscht.    Jeder   aber,    der    durch   seine   Arbeit   dem  Staat   in 
opere  honesto  dient :  oportet  de  suo  labore  vivere.     Der  Kauf- 
mann aber  erweist  dem  Staat   solch  einen  Dienst  und  zwar  in 
ehrbarer  Weise,   anders   als  histriones  et  meretrices,    also  darf 
er   verlangen,    aus   seiner  Arbeit   auch  Nahrung   zu   beziehen. 
Der  Kaufmann   wendet   nun  fraglos    eine   Menge  Anstrengung 
an,   etwa  bei  dem  Export  und  Import  und  der  Abwägung  der 
betr.  Bedürfnisse.     Dazu  kommt  die  Gefahr,    die    er    bei   dem 
Transport  der  Waren  oder  ihrer  Überwachung  aussteht,   sowie 
sein  Bisiko   etwa   bei  Untergang   eines  Schiffes,    einer  Feuers- 
brunst.    Für  dies  alles  ist  er  durchaus  berechtigt,  einen  Ersatz 
zu  fordern  (22).     Gäbe  es  keine  Kaufleute,  so  müsste  der  Staat 
sie  anstellen ;    wie  dieser  sie  dann  besolden  müsste,  so  können 
sie   nun   auch   selbst   bei   Herstellung  des   Preises   der  Waren 
sich    schadlos   halten    für   ihre  Arbeit   und   ihr  Risiko.     Nicht 
als  Kaufleute  will  aber  Duns  die  Zwischenhändler  (et  vocantur 
tales  gallice  regratiers)  anerkennen,  die  ohne  Mühe  und  Arbeit 
die  Ware   vom  Produzenten   zum   Interessenten  hinübertragen 
und   dadurch   nur   beide  schädigen.     Solcher  Leute  bedarf  der 
Staat  nicht  und  sie  müssten  daher  vertrieben  werden  (23). 

6.  Nachdem  wir  die  Gedanken  unseres  Autors  über  das 
wirtschaftliche  Leben  kennen  gelernt  haben,  tliun  wir  gut, 
die  sittliche  Stellung  des  Einzelnen  zum  Gut,  wie  sie  die 
Restitutionspflicht  vorschreibt,  zu  besprechen.  Durch  auferre 
und  detinere  bringt  mau  den  Nächsten  um  das  Seine ;  es 
ist  Pflicht,  es  ihm  wiederzuerstatten  (1.  c.  §  30)  und  zwar, 
wenn  es  Frucht  getragen  hat  nach  seiner  Natur,  mitsamt  diesen 
Früchten.  Ausdrücklich  wird  hievon  das  Geld  wieder  eximiert, 
da  es  ja  nicht  Früchte  trage  und  wir  die  Frucht  unseres 
Fleisses   dem   anderen   nicht   zu   überliefern   haben  (31).     Ist 


558  Kap.  VI:  Aus  der  Ethik  des  Duns  Scotus. 

derjenige,  dem  wir  das  Seinige  genommen  hatten,  bereits  ge- 
storben, so  soll  der  Ersatz  an  seine  Verwandten  gehen,  da 
nach  dem  Naturrecht  angenommen  werden  muss ,  dass  der 
Verstorbene  es  diesen  am  liebsten  .zugewandt  hätte.  Wenn 
aber  dieselben  uns  unbekannt  sind  oder  auch  die  Kosten  für 
die  Versendung  der  betr.  Sache  den  Wert,  die  sie  für  den 
Empfänger  hätte,  überstiegen,  so  gebe  man  sie  den  Armen ;  so 
werde  geistlich  ersetzt,  was  man  leiblich  nahm :  redditio  spiri- 
tualis  fit  maxime  reddendo  pauperibus  pro  illo  (§  32).  —  In 
jedem  Fall  muss  aber  der  Ersatz  sofort  geleistet  werden,  da 
man  sofort  innerlich  wie  äusserlich  sich  von  der  Todsünde  los- 
machen muss. 

Allein  es  genügt  auch  der  gute  Wille  zur  Restitution  ;  in  vielen 
Eällen  wird  die  äussere  That  aufschiebbar  sein,  nämlich  dann, 
wenn  der  Besitzer  selbst  Vernünftigermassen  wünschen  müsste, 
dass  sie  verschoben  würde.  Das  wäre  aber  der  Fall,  w-enn 
durch  die  sofortige  E-estitution  ihm  selbst  oder  der  communitas 
oder  endlich  auch  dem  Entwendenden  ein  Schade  erwüchse. 
Letzteres  ist  besonders  interessant.  Wenn  also  jemand  ge- 
stohlen hat,  so  darf  er  die  AViedergabe  hinausschieben,  damit 
es  nicht  herauskommt,  dass  er  es  gewesen  und  er  so  an  seiner 
Ehre  geschädigt  werde. 

Aber  auch  für  den  Fall,  dass  ihm  durch  die  Restitution 
ein  magnum  incommodum,  dem  Bestohlenen  aber  nur  ein  modi- 
cum  commodum  erwüchse,  kann  er  annehmen,  dass  jener  auf 
sofortige  Restitution  verzichtet  und  daher  von  ihr  absehen  (§  33). 
Und  wenn  dieser  Verzicht  auch  garnicht  als  actus  elicitus 
stattfindet,  so  ist  er  doch  ein  actus  debitus:  quia  dominus 
debet  velle,  quod  qui  suum  habeat,  teneat  quousque  possit  red- 
dere  opportune.  Endlich  ist  zu  sagen,  dass  wenn  jemand  etwas 
heimlich  fortnahm,  er  auch  nicht  zur  persönlichen  Wieder- 
erstattung verpflichtet  ist,  er  soll  es  durch  einen  Mittelsmann, 
am  besten  den  Beichtiger,  hinsenden  (34).  —  Auch  bei  diesen 
Erörterungen  macht  sich  der  Zug  geltend,  auf  den  bereits 
einigemal  verwiesen  wurde,  eine  vernünftige  Kasuistik  macht 
es  dem  Sünder  so  leicht  als  möghch. 

Diese  Beobachtung  kann  an  einigen  w^eiteren  Beispielen 
scotistischer  Kasuistik  bewährt  werden.     Wenn  z.  B.  der  eigent- 


Die  Resiitutionspflicht.  559 

liehe  und  der  zeitweilige  Besitzer  beide  die  von  letzterem 
angeeignete  Sache  absolut  notwendig  zur  Erhaltung  ihres  Lebens 
brauchen,  so  muss  der  letztere  sie  dem  ersteren  zurückerstatten, 
aber  nur  für  den  Fall,  dass  dieser  wirklich  zuerst  oder  durch- 
aus gleichzeitig  in  diese  Lage  gerät;  kommt  er  selbst  zuerst 
in  sie,  so  ist  er  nicht  dazu  verpflichtet  (ib.  §  36). 

7.  Eine  andere  Frage  dieser  Kasuistik  ist,  was  ein  Weib, 
das  ohne  Wissen  ihres  Mannes  im  Ehebruch  einen  Sohn  empfangen 
hat,  bezüglich  der  Erbschaft  dieses  Kindes  thun  soll.  Man 
antwortet  darauf,  sie  solle  es  dem  Sohn  oder  ihrem  Mann 
kundthun.  Allein  Duns  widerspricht  dem.  Es  sind  bei  dem 
Sohn  zwei  Fälle  denkbar,  entweder  er  glaubt,  was  die  Mutter 
ihm  erzählt  oder  er  glaubt  es  nicht.  Glaubt  er  es,  so  wird 
er  kaum  gewillt  sein,  auf  die  Erbschaft  zu  verzichten,  quia 
pauci  inveniuntur  ita  perfecti,  ut  propter  iustitiam  servandam 
in  foro  dei,  dimittant  magnas  possessiones.  In  diesem  wahr- 
scheinlichen Fall  hätte  die  Mutter  sich  umsonst  bei  dem  Sohn 
diffamiert.  Also  schweigt  sie  besser!  Glaubt  der  Sohn  ihr 
nicht,  so  hätte  sie  sich  nur  vor  ihm  diffamiert  und  die  Erb- 
schaft träte  er  doch  an.  Der  Erfolg  widerspricht  also  auch 
hier  einem  Geständnis.  —  Sagt  die  Frau  es  aber  ihrem  Mann, 
so  setzt  sie  sich  der  Gefahr  aus,  von  ihm  erschlagen  zu  w^erden 
und  bringt  ihn  daher  in  das  periculum  uxoricidii,  oder  zum 
mindesten  setzt  sie  sich  dem  aus,  dass  er  sie  hasst,  sie  ver- 
stösst  oder  in  stetem  Hader  mit  ihr  lebt.  In  Ländern^  wo  der 
Erstgeborene  dem  Gesetz  nach  der  Erbe  ist,  ist  ausserdem  der 
öffentliche  Skandal  nicht  zu  vermeiden.  All  diesen  Übeln  — 
quae  sunt  valde  probabilia  —  soll  sich  die  Frau  nicht  aus- 
setzen propter  incertum  bonum  haereditatis  restituendae.  Heisst 
das,  dass  der  Mann  eventuell  doch  den  spurius  erben  Hesse,  oder 
dass  die  Erbschaft  selbst  ein  zweifelhaftes  Glück  bedeutet? 
So  oder  so  ist  es  klar,  dass  sie  schweigen  muss  (§  38).  —  Nun 
meint  Duns  allerdings,  dass  sie  sich  Mühe  geben  soll,  dass  das 
Erbe  auch  dem  berechtigten  Erben  zu  teil  werde:  dico  autem 
quantum  in  se  est,  quia  non  debet  se  diffamationi  exponere,  sed 
ex  aliis  causis  honestis  filium  spurium  quantum  potest  inducere, 
ut  dimittat  haereditatem.  Sie  soll  ihn  etwa  überreden,  Mönch 
(ut  intret  religionem)  oder  Kleriker   zu  werden   und  dann   sein 


560  K'ip-  ^'^''  Aus  der  Ethik  dos  Duns  Scotus. 

Erbe  freiwillig  dem  berechtigten  Briirler  zu  überlassen.  Gelingt 
das  aber  nicht,  so  soll  sie  sich  nicht  verraten,  da  das  auf 
den  Sohn,  der  jenen  Mahnungen  unzugänglich  blieb,  doch  keine 
AVirkung  ausüben  würde.  Sie  würdeihn  nur  zur  Lüge  bewegen. 
Aber  sie  soll  doch,  soviel  sie  kann,  für  einen  genügenden  Er- 
satz sorgen  für  den  rechten  Sohn  seines  Vaters,  sodass  der- 
selbe doch  wenigstens  sein  anständiges  Auskommen,  und  wo- 
möglich mehr  als  das,  hat  (39).  Nach  der  Methode  des  Duns 
wird  sie  aber  wahrscheinlich  auch  hierauf  verzichten,  ist  der 
Erfolg,  an  dem  alles  normiert  wird,  doch  auch  hier  ein  un- 
sicherer! Es  bleibt  schliesslich  nichts  übrig,  als  die  Dinge 
gehen  zu  lassen  und  das  Gewissen  durch  „probabilia"  zum 
Schweigen  zu  bringen  —  und  das  ist  wieder  Jesuitenmoral  I 
So  hat  Duns  in  der  Moral  die  Grundsätze  des  „Probabilismus" 
und  „Intentionalismus"  bereits  mit  Virtuosität  gehandhabt. 

Das  zeigt  auch  das  folgende  Beispiel.  Durch  meinen 
Acker  gehen  Wasseradern,  die  den  Brunnen  meines  Nachbars 
speisen.  Schneide  ich  ihm  nun  dieselben  ab,  so  kommt  es  auf 
meine  „intentio"  an :  wollte  ich  ihn  dadurch  schädigen,  so  bin 
ich  sittlich  zur  Restitution  des  ihm  erwachsenden  Schadens 
verpflichtet;  dachte  ich  aber  nur  an  meinen  eigenen  Vorteil 
(etwa  dass  ich  eine  Maner  aufführen  will,  was  auf  dem  feuchten 
Boden  nicht  angeht),  so  habe  ich  keinerlei  Verpflichtung  ihm 
gegenüber  (40). 

Wir  sahen  bereits,  dass  unbeschadet  der  sittlichen  Art  des 
Eigentums,  doch  die  Eigentumlosigkeit  ethisch  höher  steht 
(oben  S.  550  f.).  Wollte  mau  aber  den  Verzicht  auf  das  Eigen- 
tum als  unsittlich  bezeichnen,  indem  der  Mönch  durch  ihn  um 
die  Subsistenzmittel  kommen  könne,  so  ist  daran  zu  erinnern, 
dass  das  Naturrecht  kommunistisch  ist  und  dass  man  daher 
im  Fall  der  äussersten  Not,  sich,  trotz  alles  Widerspruches, 
nehmen  darf  was  man  braucht.  Dabei  wird  vorausgesetzt, 
dass  der  Mönch  es  nicht  zu  seinem  Eigentum  macht.  Würde 
letzteres  zur  unumgänglichen  Bedingung  gemacht,  so  müsste  er 
freilich  lieber  sterben,  als  accipere  rem  cum  dominio.  Aber 
diese  Betrachtungsweise  ist  nicht  die  einzig  mögliche.  Man 
könnte  auch  sagen,  der  Verzicht  auf  Eigentum  meine  dies  nur 
als  etwas  Überflüssiges.     Tritt  nun  der  obige  Fall   ein,   durch 


Der  Verzicht  auf  das  Eigentum.  561 

den  das  Eigentum  notwendig  wird,  so  braucht  man  sich  sein 
nicht  zu  weigern.  Auch  könnte  ich  in  diesem  Fall  in  meinem 
Gewissen  jene  für  mich  unsittliche  Klausel  des  Gebers  .auf- 
heben, die  Gabe  also  nur  zum  Gebrauch  empfangen,  während 
jener  sie  mir  zum  Eigentum  überliess  (de  perfectione  statuum 
§  50).  Hier  heiligt  also  der  Zweck  das  Mittel  und  eine  reser- 
vatio mentalis  hilft  aus  aller  Not  des  Leibes  und  der  Seele! 
Man  beachte  noch  die  wichtige  Unterscheidung  zwischen  do- 
minium und  usus  sine  dominio.  Gerade  in  letzterem  besteht 
das  ethische  Heroentum  des  Mönches.  Usus  und  dominium 
an  allen  Dingen  erstreben  ist  das  eine  Extrem,  auf  beides 
verzichten  ist  das  andere.  Dazwischen  stehen  zwei  Möglich- 
keiten :  nur  das  dominium  erstreben,  das  ist  die  Unvernunft 
des  Geizigen  und  nur  den  usus  wollen,  das  thut  der  Mönch: 
et  istud  est  bonum  (1.  c.  §  52).  Das  ist  der  Standpunkt  der 
geistlich  Armen,  die  auf  alles  irdische  Eigentum  verzichten, 
sich  innerlich  davon  loslösen  und  nur  den  notwendigen  Gebrauch 
davon  haben  wollen  (63.  64),  aber  auch  allen  Mangel  geduldig 
tragen  (65).  Solcher  ist  das  Himmelreich,  in  dessen  Besitz  sie 
sofort,  nach  Auflösung  des  hindernden  Leibes  eintreten  werden 
(ib.  §  55).  —  Aber  wie,  soll  man  nicht  leben  von  seiner  Arbeit 
und  sich  durch  körperliche  Arbeit  ein  Eigentum  erwerben,  hat 
nicht  Paulus  darnach  gehandelt?  Doch  Paulus  handelte  nur 
aus  Not  so,  wieder  Christus  noch  ein  anderer  der  Apostel  hat 
solche  Arbeit  gethan.  Die  Apostel  haben  weder  Hand  noch 
Fuss  zu  körperlichem  Erwerb  und  zur  Beschaffung  der  Lebens- 
bedürfnisse gerührt,  sie  widmeten  sich  ganz  dem  Gebet  und 
dem  Dienst  am  Wort  (§  56).  Es  haben  ja  die  Apostel,  die 
Christus  zum  Predigen  aussandte,  als  sie  zu  lehren  anhüben, 
keine  Beutel  getragen ;  den  Beutel  hatte  Judas,  der  Dieb  (1.  c. 
§  58).  Auch  keiner  der  Philosophen  hat  jemals  ein  solches 
äusserliches  Erwerbsleben  als  Ideal  empfohlen.  Nur  die  roheren 
Mönche  haben  derartiges  getrieben  und  sie  sind,  wie  die  Ge- 
schichte zeigt,  dadurch  nur  zu  oft  in  Irrtum  und  Sünde  ge- 
fallen (§  56).  Das  ist  die  antike  Lebensauffassung  mit  ihrer 
souveränen  Verachtung  der  Arbeit  und  des  Erwerbes.  Wenn 
aber  ein  Denker  wie  Duns,  der  dem  praktischen  Leben,  wie 
wir  sahen,  nicht  ganz  ohne  Verständnis  gegenübersteht,   solche 

Seeberg,  Die  Theologie  des  Duns  Scotus.  36 


562  -Kap.  VI:  Aus  der  Ethik  des  Duns  Scotus. 

Gedanken  niederschreiben  kann,  so  sieht  man  wieder,  wie  wenig 
die  Kirche  des  Mittelalters  der  Lösung  der  wirtschaftlichen 
Probleme,    die   schon  durch  jene  Zeit  gingen,    gewachsen  war. 

8.  Nicht  nur  die  äusseren  Güter  werden  unter  dem  Ge- 
sichtspunkt der  Restitution  behandelt,  sondern  auch  allerhatd 
andere  Güter  des  inneren  und  äusseren  Lebens  des  Menschen. 
Es  gibt  eine  Schädigung  des  Leibes  und  eine  Schädigung  der 
Seele.  AVenn  jemand  der  Seele  des  Nächsten  Schaden  zufügt 
durch  Abhaltung  vom  Guten  und  Verführung  zum  Bösen,  so 
ist  er  zum  Ersatz  des  Schadens  verpflichtet.  Das  geschieht 
aber  so,  dass  er  ihn  zur  Busse  und  zu  tugendhaften  Hand- 
lungen anleitet.  Dabei  freilich  zeigt  es  sich:  facilius  est  per- 
vertere  quam  convertere.  Daher  wird  die  Fürbitte  für  den 
Verführten  und  die  Veranlassung  von  anderen  Personen  zu  seiner 
Ermahnung  —  denen  aber  seine  geheimen  Sünden  nicht  offen- 
bart werden  dürfen  —  hinzu  kommen  müssen.  Aus  der  Schwie- 
rigkeit, jemand  zu  bekehren,  folgt  aber,  wie  sehr  man  sich 
davor  hüten  muss,  ihn  zu  verführen  (IV  dist.  15  quaest.  3,  3). 

Was  dagegen  die  Schädigung  am  Leibe  anlangt,  so  kann 
diese  tödlich  oder  nur  eine,  sei  es  heilbare,  sei  es  nicht  heil- 
bare, schwerere  oder  leichtere  Verletzung  sein  (z.  B.  eine  Ver- 
wundung und  andererseits  das  Abschlagen  eines  Gliedes,  wobei 
wieder  die  schwerere  Verstümmlung  z.  B.  Verlust  der  rechten 
Hand,  von  der  leichteren  z.  B.  Abschneiden  eines  Fingers  oder 
eines  Teils  davon,  unterschieden  wird).  Für  solche  Beschädi- 
gungen wäre  das  ius  talionis  an  und  für  sich  wohl  berechtigt, 
da  irgend  welche  bona  fortanae  dem  Geschädigten  keine  recom- 
pensatio  aequivalens  darbieten  (§  4).  In  vielen  Staaten  wird 
der  Mord  nach  dem  ius  talionis  bestraft.  Die  Todesstrafe  aber 
ist  vom  mosaischen  und  evangelischen  Gesetz  geboten  und 
wird  auch  durch  das  Naturrecht  bestätigt.  Der  Mörder  soll 
sich  also  der  Todesstrafe  unterwerfen.  Wo  sie  aber  nicht 
rechtens  ist,  soll  er  sein  Leben  für  eine  gerechte  Sache, 
etwa  die  Bekämpfung  der  Feinde  der  Kirche ,  einsetzen, 
nicht  aber  zu  dem  von  Gott  verbotenen  Selbstmord  greifen. 
Nichts  aber  kann  so  thöricht  sein,  als,  wie  einige  Beichtiger  es 
thuD,  Mörder  zu  absolvieren,  ohne  ihnen  die  notw^endige  Re- 
stitution zur  Pflicht  zu  machen.     Dadurch  kommt  der  homicida 


Restitution  bei  Mord  und  Verleumdung,  563 

leichter  weg  als  ein  caüicida  oder  bovicida.  Der  Mörder  soll 
wenigstens  eine  restitutio  spiritualis  aequivalens  vitae  leisten, 
sowie  Sorge  tragen  für  die  etwaigen  Hinterbliebenen  des  Er- 
mordeten, die  so  um  ihren  Ernährer  gekommen  sind.  Aber 
die  beste  Restitution  wird  immer  durch  die  willig  übernommene 
Todesstrafe  geleistet  (§  6). 

Eür  alle  Arten  der  Körperverletzung  hat  die  Kirche  Geld- 
entschädigungen festgestellt.  Dieselben  sollen  nicht  nur  an 
dem  dem  Geschädigten  erwachsenden  Schaden  —  wobei  zu 
beachten  ist,  dass  der  Arme  durch  einen  hemmenden  Leibes- 
schaden schwerer  betroffen  wird  als  der  Reiche  —  bemessen 
werden,  sondern  auch  die  Kurkosten  sind  dem  Geschädigten 
zu  ersetzen  (1.  c.  §  9). 

9.  Aber  auch  bei  der  Schädigung  des  guten  Namens  eines 
Menschen  oder  der  Diffamation  muss  die  Restitution  Platz 
greifen.  Duns  nimmt  drei  Formen  der  Diffamation  an :  1)  dass 
man  jemand  fälschlich  ein  crimen  nachsagt,  2)  dass  man  ein 
von  jemand  w^irklich  aber  im  Geheimen  begangenes  Vergehen, 
unter  Umgehung  der  Rechtsordnung,  bekannt  macht,  3)  dass 
man  einem,  der  solch  ein  geheimes  Vergehen  öffentlich  macht, 
widerspricht  und  ihn  dadurch  zum  Verleumder  stempelt.  Im 
ersten  Fall  muss  man  seine  Aussage  ebenso  öffentlich  zurück- 
nehmen, als  man  sie  gethau  hat.  Man  kann  hiegegen  nicht 
sagen,  dadurch  diffamiere  der  Betreffende  sich  selbst,  er  ist 
verpflichtet,  der  Liebe  zum  Nächsten  dies  Opfer  zu  bringen; 
auch  diffamiert  er  sich  nicht,  sondern  wendet  nur  ein  Lob  von 
sich  ab,  dessen  er  durch  seine  Lüge  unwürdig  wurde  (IV  dist.  15 
quaest.  4,  2).  Auch  die  Entschuldigung  will  Duns  nicht  recht 
gelten  lassen,  dass  jemand  ja  nur  nach  Hörensagen  etwas  er- 
zählt haben  könne  und  dann  doch  nicht  als  zur  Zurücknahme 
verpflichtet  anzusehen  sei.  Freilich,  hat  er  wirklich  nur  etwas  Ge- 
hörtes referiert,  ohne  von  sich  aus  der  Sache  mehr  Gewissheit  zu 
verleihen,  so  träfe  seine  Zuhörer  die  Schuld  des  Leichtsinus, 
wenn  sie  es  als  gewiss  hinnehmen.  Aber  es  gibt,  wie  Paulus  sagt, 
viel  Schwache;  wenn  man  diese  durch  seine  Rede  zur  sünd- 
haften Beurteilung  des  Nächsten  verführt,  so  wird  es  schwer 
halten,  sich  von  einer  Todsünde  freizusprechen  (ib.  §  3).  Es 
ist  im  Zeitalter  des  Duns  offenbar  viel  und  bösartig  geklatscht 

36* 


564  Kap.  VI:  Aus  der  Ethik  des  Duns  Scotus. 

wordeD,  sein  sittliches  Urteil  auf  diesem  Punkt  ist  echt  christ- 
lich gewesen. 

Ist  es  aber  zweitens  wahr,  was  man  dem  Nächsten  nach- 
gesagt hat,  so  darf  man  natürlich  nicht  das  Gesagte  zurück- 
nehmen. Wohl  aber  soll  man  bekennen :  male  dixi,  fatue  dixi, 
quia  non  servato  ordine  iuris ;  man  soll  sagen :  non  reputetis 
istum  malum,  da  man,  bevor  es  öffentlich  erwiesen,  niemand 
für  böse  halten  dürfe.  Man  soll  also  seine  Zuhörer  abhalten 
von  der  sittlichen  Verwerfung  des  Beschuldigten  (ib.  4). 

Im  dritten  Fall  muss  man  den,  welchen  man  der  Ver- 
leumdung zieh,  entschuldigen;  er  habe  aus  bona  intentio  ge- 
handelt und  geglaubt,  seine  Aussage  beweisen  zu  können,  ob- 
gleich der  Angeschuldigte  ihre  Richtigkeit  bestreite  (5). 

Merkwürdig  ist  aber  nun  die  folgende  Erörterung.  Duns 
fragt,  ob  der  eine  Todsünde  begeht,  der  ein  im  Greheimen  be- 
gangenes Verbrechen,  das  ihm  öffentlich  vorgeworfen  wird, 
leugnet?  Er  vergeht  sich  doch  gegen  den  Staat,  indem  er 
sich  der  gebührenden  Bestrafung  entzieht.  Aber  in  Wirklichkeit 
werde  der  Staat  hiedurch  nicht  verletzt,  da  er  nur  das,  w^as 
bewiesen  ist,  zu  bestrafen  berufen  ist,  das  übrige  muss  dem 
göttlichen  Urteil  vorbehalten  bleiben.  Er  schädigt  aber  auch 
nicht  seinen  Ankläger,  denn  indem  dieser  einen  verkehrten 
Weg,  ihn  anzuschuldigen,  einschlug,  muss  er  sich  selbst  die 
üblen  Folgen  für  seinen  Ruf,  die  hieraus  erwachsen,  zuschreiben ; 
jener  fusst  auf  seinem  guten  Recht,  wenn  er  sich  nicht  früher 
öffentlich  schuldig  bekennt,  als  bis  der  gehörige  öffentlich  giltige 
Beweis  erbracht  wurde  (§  5).  Aber  sündigt  der  Angeschuldigte 
nicht  doch,  indem  er  zu  seinem  besten  lügt?  Es  ist  hart 
(durum  videretur),  von  ihm  zu  verlangen,  dass  er,  der  von 
einem  angeklagt  ist,  sich  sofort  dem  Blutgericht  preisgeben 
soll.  Es  würde,  abgesehen  von  der  Strafe,  seine  Ehre  mehr 
als  alle  anderen  schädigen,  wenn  man  vor  dem  weltlichen  Gre- 
richt  dem,  der  ihn  anklagt,  glaubte.  Er  kann  doch  sagen,  ohne 
zu  lügen,  dass  die  Sache,  die  jetzt  öffentlich  geworden,  auch 
öffentlich  bewiesen  werden  müsse:  sie  autem  ea  negare  potest 
quis,  si  seit  ea  probari  non  posse  in  publico !  Nötigt  ihn  aber 
der  Richter  zu  einem  Bekenntnis,  so  kann  er,  nach  dem  Rat 
der  Juristen,   sagen,   dass  er  eine  genügende  Antwort  gegeben 


Die  Sklaverei.  565 

habe  und  voq  ihr  nicht  abgehen  könne,  der  Richter  möge  gegen 
den  Ankläger  thun  was  rechtens  ist  (6).  Wieder  greift  der 
Intention alismus  ein:  intendens  tarnen  negare  illud,  ut  pro- 
positum  est,  scilicet  ut  publicum.  Dasselbe  thut  ja  auch  der 
Priester,  wenn  er  von  einem  Menschen,  dessen  Schuld  vor 
einem  anderen  Forum  ihm  bekannt  wurde,  vor  dem  weltlichen 
Forum  erklärt:  nihil  mali  scio  istum  fecisse.  Aber  in  tali  casu 
tutum  est  für  die  betr.  Schuld,  die  man  öffentlich  abgeleugnet 
hat,  Busse  zu  thun,  je  nachdem  ob  sie  Todsünde  oder  veniale 
Sünde  ist  (7).  Hier  ist  die  Kunst  des  Advokaten  zur  mora- 
lischen Norm  erhoben  und  das  Gewissen  durch  die  Mental- 
reservation gestillt. 

4.   Die  Sklaverei. 

1.  Weiter  einige  Worte  über  die  Sklaverei.  Nach  dem 
Naturgesetz  werden  alle  Menschen  frei  geboren,  und  dasselbe 
kennt  keine  andere  als  die  kindliche  Unterwerfung  unter  die 
Eltern.  Das  Institut  der  servitus  dagegen  ist  durch  das  posi- 
tive Recht  eingeführt  worden.  Die  aristotelische  Auffassung, 
dass  einige  zu  Knechten,  andere  zu  Herren  geboren  sind,  hält 
Duns  für  falsch.  Es  ist  wahr,  dass  einigen  die  Leitung  zufallen 
muss,  aber  daraus  folgt  noch  nicht,  dass  die  übrigen  wie  seelen- 
lose Wesen  behandelt  werden  dürfen  (IV  dist.  36  quaest.  1,  2.  3). 
Indem  aber  das  positive  Recht  hier  dem  Naturrecht  zuwider- 
läuft, erhebt  sich  die  Frage,  ob  seine  Feststellung  sich  ethisch 
rechtfertigen  lässt?  Der  Nachweis,  dass  dem  so  sei,  ist  nicht 
einleuchtend.  Man  kann  annehmen,  dass  jemand  sich  freiwillig 
unterworfen  hat.  Es  war  thöricht  das  zu  thun,  ja  es  verstiess 
gegen  das  Naturrecht,  das  jedem  Freiheit  zuspricht.  Nachdem 
es  aber  einmal  geschehen,  ist  es  einzuhalten.  Dieses  Einhalten 
der  Sklaverei  ist  also  positive  Gerechtigkeit.  Weiter  kann  ge- 
sagt werden,  dass  wie  ein  Herrscher  das  Recht  hat,  dem  Staats- 
wohl das  Leben  widerspenstiger  Bürger  zu  opfern,  er  auch  die 
Sklaverei  über  sie  verhängen  darf  (ib.  §  2).  Weniger  klar 
liegt  die  Sache  bei  Kriegsgefangenen  (3).  Aber  Duns  kommt 
mit  alle  dem  über  die  Bedenken  an  der  Gerechtigkeit  der 
Sklaverei  nicht  hinaus  (4).     Jedenfalls   ist  auch   dem  Sklaven 


566  Kap.  VI:  Aus  der  Ethik  des  Duns  Scotus. 

ein  gewisses  Mass  von  Freiheit  zu  lassen,  da  er  Mensch  ist, 
etwa  die  Freiheit  zu  essen,  zu  trinken,  zu  schlafen.  Es  ist 
eine  maledicta  servitus,  wenn  er  wie  ein  Stück  Vieh  behandelt 
wird:  quantumcuuque  sit  servus,  est  tarnen  homo  et  ita  liberi 
arbitrii,  ex  quo  patet  magna  crudelitas  fuisse  in  prima  inductione 
servitutis,  quia  liominem  arbitrio  libero  et  dominum  suorum 
actuum  ad  virtuose  agendum  facit  quasi  brutum  et  libero 
arbitrio  non  utentem  nee  potentem  agere  virtuose  (§  9).  Des- 
halb will  Duns  bis  zu  einem  gewissen  Grade  dem  Sklaven  auch 
das  Recht  auf  die  Ehe  gewahrt  wissen  (s.  oben). 

2.  Man  versteht  diese  Betrachtung,  wenn  man  sich  gegen- 
wärtig erhält,  dass  das  Naturrecht  den  ethischen  Massstab  zur 
Kritik  der  positiven  Eechtsordnung  darbietet.  Von  Natur  ist 
jeder  Mensch  frei  geboren,  also  ist  die  Beraubung  des  Menschen 
an  seiner  Freiheit  unrecht.  Das  ist  die  Betrachtungsweise 
eines  Epiktet  und  Seneca,  spezifisch  christliche  Gedanken  spielen 
nicht  herein.  Zu  Vorschlägen  der  Besserung  erhebt  sich  Duns 
auch  hier  nicht.  Selbst  der  brutalen  Grausamkeit  gegenüber, 
dass  etwa,  wxnn  zwei  Sklaven,  ohne  den  Willen  ihrer  beider- 
seitigen Herren,  geheiratet  haben,  die  Herren  ihn  hierhin,  sie 
dorthin  senden,  wagt  er  nicht  fest  entgegenzutreten,  handeln  die 
beiden  doch  nach  ihrem  guten  Recht  (ib.  8). 

5.    Lüge  und   Meineid. 

1.  Eine  längere  Erörterung  hat  Duns  über  die  Lüge 
angestellt.  Mit  dem  Lombarden  wird  gefragt,  ob  jede  Lüge 
Sünde  ist?  Zunächst  kann  man  sich  dagegen  darauf  berufen, 
dass  mancher  heilige  Mann  gelogen  habe.  Dafür  spricht 
aber,  dass  die  Kirche  die  Lüge  für  eine  Todsünde  erklärt, 
sowie  dass  sie  gegen  die  uaturrechtliche  Regel  verstösst,  anderen 
nicht  zu  thun,  w^as  man  selbst  nicht  erfahren  will  (III  dist.  38 
quaest.  un.  §  L  2).  —  So  allgemein  die  Verwerfung  der  Lüge 
aber  ist,  so  schwankend  sind  die  Gründe  der  Theologen  für 
diese  Beurteilung.  Sagt  man  etw^a:  die  Lüge  ist  Sünde,  weil 
sie  gegen  die  Wahrheit,  d.  h.  gegen  Gott  verstösst,  so  ist  das 
verkehrt,  weil  Gott  nicht  jede  beliebige,  sondern  die  erste 
Wahrheit  ist   (1.  c.  §  3).     Nach  Thomas   sei   bei  jeder   Lüge 


Die  Lüge.  567 

das  Objekt  der  Handlung  böse,  also  könne  kein  Umstand  die 
Handlung  der  Lüge  gut  machen  (4).  Nun  könnte  aber  doch 
an  sich  der  Mord  erlaubt  sein,  falls  Gott  sein  dagegen  ge- 
richtetes Gebot  zurücknimmt  oder  ihn  gar,  wie  Abraham,  an- 
befiehlt. Dasselbe  könnte  auch  mit  der  Lüge  geschehen,  da 
es  doch  weniger  ist  einem  eine  wahre  Meinung  als  das  Leben 
zu  zerstören  (5).  —  Nach  der  Meinung  Bonaventuras  ist  die 
Lüge  Sünde,  weil  eine  positive  mala  intentio  in  ihr  vorliegt. 
Dies  erläutert  Duns  dahin,  dass  Handlungen,  die  an  sich  gut 
sein  könnten,  durch  besondere  Umstände  böse  werden,  z.  B, 
die  Aneignung  eines  Gutes,  sofern  sie  wider  den  Willen  des 
Besitzers  geschieht.  So  würde  auch  hier  das  Sprechen  der 
betr.  Worte  Sünde  durch  die  damit  verbundene  intentio  fallendi. 
Es  ist  also  keine  Sünde,  wenn  ein  Grieche  falsche  lateinische 
Ausdrücke  braucht  (6). 

2.  Die  Lüge  wird  eingeteilt  in  mendacium  perniciosum, 
officiosum  et  iocosum.  Das  mendacium  perniciosum 
schädigt  an  sich  den  Belogenen.  Es  wird  zur  Todsünde,  wenn 
es  den  christlichen  Glauben  oder  die  christliche  Sitte  betrifft, 
oder  auch  die  Schädigung  des  Nächsten  an  äusseren  Gütern, 
wie  Leben  oder  eheliche  Treue  bezweckt.  Hiedurch  wird 
gegen  das  8.  Gebot  Verstössen;  die  Absicht,  den  Nächsten  zu 
hintergehen,  stempelt  die  Handlung  zur  Sünde.  Quicunque 
igitur  cum  intentione  decipiendi  illum  cui  profert  oppositum 
eius  quod  seit  vel  credit  esse  verum,  et  sie  dicendo  intendit 
nocere  illi  cui  loquitur,  vel  de  quo  loquitur  dicit  falsum  testi- 
monium  contra  proximum  (ib.  7). 

Mendacium  officiosum  est  quod  nulli  nocet  et  alicui 
utile  est. 

Mendacium  iocosum  ist  nicht  jede  Unwahrheit,  etwa  das 
Erzählen  einer  Geschichte,  von  der  jeder  Zuhörer  weiss,  dass 
sie  nicht  wirkliche  Ereignisse  wiedergeben  will.  Aber  mend. 
iocosum  est^  quando  aliquis  iocando  intendat  decipere,  ita  quod 
deceptus  vere  decipitur,  non  tamen  in  aliquo  in  quo  sibi  nocu- 
mentum  magnum  inferatur,  in  quo  etiam  iocantur  illi  qui  sciunt 
ipsum  decipi.  So  etwa  Joseph  mit  seinen  Brüdern,  indem  er 
sich  auch  nicht  seriöse ,  sed  iocose  vorstellte.  Von  beiden 
Gruppen    von    Sünden    pflegt    in    der    Regel    zugestanden    zu 


568  Kap.  VI:  Aus  der  Ethik  des  Duns  Scotus. 

werden,  dass  sie  bei  Laien  oder  imperfecti  nicht  Todsünden 
sind,  da  sie  nicht  gegen  die  Liebe  Verstössen.  Dagegen  meinen 
einige,  dass  sie  bei  viri  perfecti  Todsünden  seien,  sofern  die- 
selben ihre  Autorität  durch  sie  beschränken  und  ihren  heiligen 
Stand  verächtlich  machen  (8).  Dagegen  kann  aber  gesagt 
werden,  dass  der  vir  perfectus  bezüglich  der  Wahrhaftigkeit 
keine  höheren  Verpflichtungen  übernommen  hat,  als  jeder  andere 
Christ  (9).  Indessen  muss  hier  unterschieden  werden.  Eine 
Person  kann  vollkommen  sein  in  statu  perfectionis  exercendae 
wie  ein  Prälat,  oder  in  statu  perfectionis  acquirendae  wie  ein 
Mönch.  Wenn  nun  ein  Prälat  bei  Ausübung  seiner  amtlichen 
Funktionen,  wie  docere,  iudicare,  praedicare,  jene  Sünden 
thäte,  so  könne  man  zugestehen,  dass  sie  Todsünden  seien. 
Durch  die  Scherzlüge  würde  die  Predigt  und  Lehre  des  Be- 
treffenden um  ihre  Autorität  gebracht  werden.  Ebenso  bei 
dem  iudicare,  wobei  aber  freilich  eine  trufa  beigemengt  werden 
kann,  von  der  jeder  weiss,  dass  sie  nicht  de  iudicio  ist.  Nun 
würde  aber  nicht  ein  Fall,  sonden  die  Gewohnheit  des  Handelns 
die  Autorität  hemmen.  Da  nun  auf  letzterem  der  Charakter 
als  Todsünde  beruht,  von  einer  Gewohnheit  aber  frühestens 
bei  dem  zweiten  Mal  der  Begehung  der  Sünde  die  Rede  sein 
kann,  so  wird  erst  der  actus  secundus  als  Todsünde  anzusehen 
sein  (10).  Bei  dem  Mönch  liegt  die  Sache  anders,  es  sei  denn, 
dass  er  zugleich  als  Lehrer  und  Prediger  thätig  ist.  Überhaupt 
wolle  aber  erwogen  sein,  dass  diese  Sünde,  begangen  von  einem 
Vertreter  eines  so  hervorragenden  Standes,  besonderes  Ärgernis 
geben  könnte.  Indessen  dürfe  man  die  Thatsachen  doch  nicht 
beurteilen  nach  den  möglicherweise  eintretenden  Folgen.  Also 
ist  diese  Sünde  bei  dem  Mönch  an  sich  nicht  Todsünde,  sofern 
sie  aber  als  ein  actus  scandalizativus  wirken  kann,  ist  sie  aus 
Liebe  zum  Nächsten  zu  meiden  (11). 

Sonach  ist  die  Lüge  Sünde,  wenn  auch  nicht  immer  Tod- 
sünde. Auch  im  Kampf  gegen  die  Ungläubigen  ist  der  Christ 
zur  Wahrheit  verpflichtet,  nur  einige  cautelae  belli  sind  erlaubt, 
die  an  sich  nicht  Lüge  sind  und  die  Wahrheit  nicht  aus- 
schliessen  (15).  Wenn  man  die  Lüge  der  Judith  (Jud.  10) 
damit   entschuldigt  hat,   dass   sie   zu  Gott  und  nicht  zu  Holo- 


Die  Heuchelei.  569 

fernes  .geredet  hat,  so  verwirft  Diins  diese  Entschuldigung^) 
in  der  richtigen  Erkenntnis,  dass  diese  Methode  jede  certitudo 
de  loquela  proximi  loquentis  aufhebt.  Er  will  also,  zugestehen, 
dass  Judith  gelogen  hat.  Doch  sei  die  Sache  nicht  so  schlimm: 
non  videtur  magnum  inconveniens  concedere  eam  fuisse  mentitam 
officiose  genti  suae,  sed  perniciose  illi  cuius  mortem  intendebat; 
ista  tarnen  officiositas  praefertur  illi  perniciositati,  quia  bonum 
reipublicae  maxime  colentis  deum  praefertur  bono  temporali 
privatae  personae  maxime  infidelis.  Doch  erscheint  es  Duns 
unsicher,  ob  Judith  von  aller  Sünde  frei  blieb,  denn  ihre  Ab- 
sicht in  Bezug  auf  Holofernes  schloss  ein  velle  ahum  velle 
peccare  mortaliter  in  sich,  und  das  ist  Todsünde.  Wenn  Judith 
also  von  der  Kirche  gerühmt  wird,  so  bezieht  sich  das  auf 
ihre  religiositas,  nicht  aber  alle  annexa  derselben  (ib.   15). 

3.  Von  der  Lüge  geht  Duns  über  zur  Simulatio.  Die- 
selbe fasst  folgende  Formen  in  sich.  Jemand  sucht  durch 
Gebete  und  Kniebeugungen  den  (falschen)  Eindruck  hervor- 
zurufen, als  wenn  er  fromm  wäre.  Das  ist  die  Sünde  der 
Heuchelei  oder  hypocrisis.  Oder  jemand  kann  sich  dadurch 
verstellen,  dass  er  Sünden,  die  in  ihm  sind,  verbirgt,  indem  er 
äussere  Geberden  und  Formen  anwendet,  die  auf  das  Nicht- 
vorhandensein jener  Sünden  weisen;  oder  indem  er  doch  die 
Formen  unterdrückt,  die  auf  ihr  Vorhandensein  schliessen  Hessen. 
Letzteres  wäre  keine.  Sünde,  ja  geradezu  löblich,  da  es  keine 
fromme  That  ist,  wenn  man  die  Sünde  im  Innern  auch  nach 
Aussen  hin  offenbar  macht.  Ersteres  dagegen,  also  wenn  etwa 
ein  Wollüstling  zum  Zeichen  seiner  Reinheit  ausspiee^  wenn 
von  Weibern  geredet  wird,  wäre  die  Sünde  der  Heuchelei. 
Dagegen  wird  dies  Urteil  nicht  von  indifferenten  Dingen  gelten. 
Schwitzen  gilt  als  Zeichen  der  Ermüdung  durch  Anstrengung, 
den  Speichel  in  den  Bart  laufen  lassen  als  Zeichen  der  furia. 
Und  doch  heuchelt  niemand,  der  schwitzt,  ohne  müde  zu  sein, 
und  Schaum  vor  dem  Mund  hat,  ohne  wahnsinnig  zu  sein  (16  f.). 


^)  Diese  von  Duns  mit  einem  dicitur  eingeführte  und  widerlegte 
Auffassung  hat  Pluzanski  Duns  selbst  zugesehrieben  (Essai  sur  la  philos. 
de  D.  Scot.  p.  278).  Die  Mentalreservation,  die  hier  von  Duns  gelehrt 
sein  soll,  ist  also  von  ihm  vielmehr  zurückgewiesen. 


570  Kap.  VI:  Aus  der  Ethik  des  Duns  Scotus. 

4.  Endlich  v\'ird  vom  Eid  und  Meineid  geredet. 

Da  die  Menschen  lügen,  hat  Gott  den  Eid  eingesetzt  als 
modus  asserendi  dicta  adducendo  alium  in  testem  qui  est  verax 
et  sciens,  qui  nee  fallere  nee  falli  potest,  nämlich  Gott  (III  dist.  38 
quaest.  un.  §  2).  Der  Eid  kann  sich  auf  Vergangenes  und 
Zukünftiges  beziehen  (assertorischer  und  promissorischer  Eid), 
jener  wird  iuramentum ,  dieser  obligatio  genannt  (§  9).  Au 
sich  müsste  der  Eid  bei  Gott  als  grösster  Eid  gelten,  da  aber 
per  deum  im  gewöhnlichen  Leben  communiter  et  leviter  et  fre- 
quenter  sine  deliberatione  geschworen  wird,  lässt  die  Kirche 
die  Eide  feierlich  bei  dem  Evangelium  und  unter  gehöriger 
deliberatio  vollziehen.  Nur  wer  hiebei  einen  Meineid  thut, 
wird  ,, infam",  denn  er  begeht  ein  crimen  publicum  und  wird 
als  violator  fidei  augesehen  und  deshalb  rationabiliter  für  „infam" 
erklärt  (ib.  13). 

Die  ethische  Frage  ist  nun  zunächst  die,  ob  jeder  Meineid 
eine  Sünde  ist?  Dagegen  kann  man  sagen,  dass  jemand  etwas 
Unrechtes  zu  thun  geschworen  haben  kann  und  dass  das  doch 
durch  den  Eid  nicht  recht  werden  kann;  oder  dass  die  com- 
munes  personae  doch  den  ganzen  Tag  über  pro  uihilo  bei 
Gott  schwören  etiam  asserendo  falsum.  Es  erscheint  durum, 
das  als  Todsünde  zu  verwerfen.  Nun  heisst  aber  Schwören 
Gott  zum  Zeugen  anrufen.  Wenn  man  nun  Gott  anführt 
tanquam  testem  faisi  oder  tanquam  ignorantem  veritatem,  so 
verstösst  das  gegen  die  gehörige  Ehrerbietung.  Also  ist  jedes 
falsche,  auch  das  leichtsinnige  Schwören,  Todsünde  (1.  c.  dist.  39 
quaest.  un.  §  2). 

5.  Ist  aber  der  Meineid  nicht  entschuldbar,  wenn  er  mit 
indeliberatio  ^)  erfolgte,  oder  wenn  jemand  das  beschwor,  was 
nach  seiner  opinio  das  nichtigere  war?  Zu  ersterem  pflege 
man  zu  sagen,  dass  einmalige  periurium  leve  sei  noch  keine 
Todsünde,  erst  die  Gewohnheit  mache  es  dazu.  Aber  wie  kann 
der  erste  Akt  nicht  Todsünde  sein,  wenn  der  aus  ihm  hervor- 
gehende Habitus  todsündhaft  ist  (§  3)?     Nun   wird   aber  kein 


^)  Der  mir  vorliegende  Text  (Pariser  Ausg.  XV.  1004)  liest:  an 
deliberatio  excuset  a  peceato  mortaU.  Ofienbar  ist  aber  zu  lesen: 
an  indeliberatio  etc.,  wie  das  Folgende  zeigt. 


Eid  und  Meineid.  571 

Akt  ethisch,  d.  h.  meritorisch  oder  demeritorisch,  weDn  er  nicht 
ein  actus  pleoe  humanus  ist.  Zu  einem  solchen  gehört  aber 
die  deliberatio,  also  ist  ein  periurium  indeliberatuni  in  keinem 
Fall  als  Todsünde  anzusehen.  Da  indessen  die  Habitualität 
die  Deliberation  verkürzt,  so  könnte  auch  die  zeitlich  kürzeste 
Überlegung  hinreichen,  um  den  Meineid  zur  Todsünde  zu 
machen.  Nicht  die  Häufigkeit,  sondern  ob  Deliberation  da 
war  oder  nicht,  entscheidet  daher  darüber,  ob  ein  leichtfertiger 
Meineid  Todsünde  ist  oder  nicht  (4).  —  Was  die  zweite  Frage 
anbetrifft,  so  ist  es  Todsünde  etwas  als  gewiss  zu  beschwören, 
wenn  man  es  nur  für  wahrscheinlich  hält.  Man  dürfe  also 
nicht  bei  Gericht,  wie  oft  geschehe,  auf  solche  Eide  die  Sentenz, 
wohl  gar  ein  Todesurteil  bauen.  Mau  sage  auch  nicht,  dass 
der  Staat  solche  Eide  brauche,  um  die  Bösen  zu  strafen,  es 
könne  auch  Vergehen  geben,  die  ultioni  divinae  zu  überlassen 
sind  (5).  Weiss  aber  der  Richter,  dass  der  betreffende  Eid 
nur  auf  credulitas  und  coniectura  hin  geschah,  so  ist  es  keine 
Todsünde,  diesen  Eid  abzulegen,  aber  der  Richter  darf  nach 
ihm  nicht  das  Urteil  fällen.  —  Unter  diesem  Gesichtspunkt 
seien  auch  die  Eide  zu  beurteilen,  die  abgelegt  werden  bezüg- 
lich der  Würdigkeit  einer  Person  zu  einem  ordo,  zum  magiste- 
rium  an  einer  Universität  oder  zur  praelatio  in  einem  Orden. 
Man  beschwöre,  dass  der  Betreffende  würdig  sei,  sofern  man 
von  seiner  Unwürdigkeit  nichts  wisse  (6  f.). 

6.  Duns  wendet  sich  weiter  dem  Meineid  unter  dem  Gesichts- 
punkt des  Assertorischen  und  Promissorischen  zu.  Von  ersterem 
ist  nichts  was  über  das  bisher  Dargelegte  hinausginge,  zu  sagen. 
Der  promissorische  Meineid  kann  eingeteilt  werden  in 
periurium  dolosum,  incautum,  coactum.  Es  ist  dolos, 
wenn  der  Schwörende  bei  seinem  Schwur  intendit  oppositum. 
Das  ist  eine  Todsünde,  da  er  Gott  zum  Zeugen  von  etwas 
Nichtgewolltem  anruft.  Aber  dieser  Schwur  verpflichtet  ihn  zu 
nichts,  da  niemand  in  Privatsachen  zu  etwas,  was  er  nicht 
will,  verpflichtet  ist.  Aber  einen  Vorteil  hat  er  davon  nicht, 
da  es  jedenfalls  schwerer  ist  eine  Todsünde  zu  tragen  als  das, 
was  er  zu  thun  beschwor,  falls  er  auch  unabhängig  von  seinem 
Eide  dazu  verpflichtet  war,  zu  erfüllen  (§  10).  —  Der  unvor- 
sichtige  Meineid    erstreckt   sich    1)  auf  sittlich   Unerlaubtes 


572  -Kap.  VI:  Aus  der  Ethik  des  Duns  Scotus. 

wie  Mord  oder  Ehebruch.  Er  darf  natürlich  nicht  erfüllt 
werden.  Er  ist  aber  immer  Todsünde,  man  habe  nun  das  Be- 
schworene thun  wollen  oder  nicht,  denn  in  letzterem  Fall  wäre 
es  Beleidigung  Gottes,  in  ersterem  gilt :  velle  peccare  mortaliter 
est  peccare  mortaliter.  —  Dieser  Meineid  tritt  2)  ein,  wo  man 
etwas  eidlich  verspricht,  was  man  wohl  versprechen,  aber  nicht 
unter  Eid  versprechen  darf.  Also  darf  man  z.  B.  nicht  ab- 
schwören die  opera  perfectionis,  denn  dadurch  bezeugt  man 
das  fixum  velle  nunquam  faciendi  opera  perfectionis.  Indem 
man  sich  aber  hiemit  fest  vorsetzt  eventuell  der  motio  Spiritus 
sancti  zu  widerstreben,  ist  es  eine  Todsünde  (11).  —  3)  Jemand 
schwört  was  er  glaubt  halten  zu  können,  was  zu  halten  er  aber 
in  Wirklichkeit  ausser  stände  ist.  Kann  er  es  irgend  thun,  so 
soll  er  seinen  Eid  halten,  wenn  nicht:  excusatur  in  favorem  (12). 

Über  den  erzwungenen  Eid  wird  nichts  gesagt.  Es  gebe 
darüber  opiniones,  zu  deren  Studium  Duns  durch  ein  „Quaere'' 
auffordert. 

Nimmt  man  aber  einen  promissorischen  Eid  an,  auf  welchen 
die  entwickelten  Bedingungen  nicht  Anwendung  finden,  so  ver- 
pflichtet derselbe  den  Schwörenden  nur,  nie  das  Entgegen- 
gesetzte von  dem,  was  er  beschworen,  zu  wollen ;  dabei  kann 
er  die  Erfüllung  rationabiliter  hinausschieben ;  zur  Todsünde 
käme  es  erst,  wenn  er  es  überhaupt  nicht  mehr  erfüllen  woUte. 
Denn  jetzt  erst  würde  er  Gott  zum  testis  falsi  herabwürdigen 
(§  12).  Die  sittliche  Schlauheit  dieser  Erörterung  läuft  wieder 
auf  die  Kunst  heraus,  der  Sünde  nahezukommen,  ohne  der 
Todsünde  zu  verfallen. 

7.  Zum  Schluss  sei  hervorgehoben,  dass  Duns  für  die 
sittlichen  Gefahren  des  Eides  ein  gesundes  Gefühl  gehabt  hat. 
Der  Meineid  enthalte  sowohl  eine  Verfehlung  gegen  die  erste 
als  gegen  die  zweite  Tafel  in  sich,  sofern  man  durch  die  Lüge 
den  Nächsten  schädige,  durch  die  Eidesform  derselben  wider 
die  Ehrerbietung  gegen  Gott  Verstösse.  Umsomehr  müsse 
man  sich  vor  dem  häufigen  und  leichtfertigen  Schwören  hüten : 
Periculum  igitur  est  habere  frequ enter  iuramentum  in  ore,  quia 
in  multis  sermonibus  sine  iuramento  non  peccaret,  ubi  addito 
iuramento  peccat,  et  graviter  si  fiat  ex  deliberatione ;  propter 
quod  utile  est  illud  Matth.  5  sit  sermo  vester:  est  est,  non  non. 


Siebentes  Kapitel. 

Die  geschichtliche  Stellung  des  Duns  Scotus. 


1.    Die  Standpunkte  der  Vergangenheit. 

1.  Je  umfassender  die  geistige  Bedeutung  eines  Mannes 
ist,  desto  weiter  bat  sein  Darsteller  den  Rabmen  zu  spannen, 
in  den  sein  Bild  gestellt  werden  soll.  Man  behauptet  nicht  zu 
viel,  wenn  man  der  Philosophie  und  Theologie  des  Duns  eine 
weltgeschichtliche  Bedeutung  zuschreibt.  Für  die  innersten 
Triebe  der  mittelalterlichen  Religion  hat  er  vielfach  den  zu- 
treffendsten Ausdruck  gefunden;  er  hat  Ideen  fortgesponnen, 
die  bis  in  die  Ursprünge  des  Christentums  zurückreichen,  und 
er  hat  Urteile  ausgesprochen,  die  für  das  reformatorische  Denken 
von  Belang  wurden.  Damit  ist  der  Umfang  des  Rahmens  be- 
zeiclinet,  den  wir  um  das  Bild  des  Duns  Scotus  legen  wollen. 
Die  Bedeutung  und  Stellung  seiner  Ideen  ist  an  dem  ganzen 
Verlauf  der  Dogmengeschichte  zu  bemessen. 

2.  Der  Gegensatz  zwischen  der  philosophischen  Weltan- 
schauung der  Hellenen  und  dem  Christentum  ist  nicht  zuhöchst 
als  Verschiedenheit  der  „Lehren"  und  Anschauungen  zu  beur- 
teilen, sondern  er  fasst  eine  differente  praktische  Seelenstellung  in 
sich.  Trotz  der  Unterschiede  im  einzelnen  sind  Plato  und  Aristo- 
teles einig  in  der  Grund anschauung,  in  der  Stellung  der  Seele  zur 
Welt.  Der  geistige  Kosmos  der  ewigen  Ideen  spiegelt  sich  wieder 
in  dem  Geschehen  dieser  Welt.  Die  sinnliche  Welt  in  stetem 
Eluss  der  Bewegung  begriffen,  ist  nur  wechselnde  Erscheinung 


574        -Kap.  VII:  Die  geschichtliche  Stellung  des  Duns  Scotus. 

der  wirklichen  und  wahren,  d.  h.  der  intelligibeln  "Woll.  Die 
intellektuelle  theoretische  Anschauung  der  Ideen  ist  Glück, 
Seligkeit  und  Ziel.  So  Plato.  Und  Aristoteles  sieht  in  dem 
Werden,  dem  Entstehen  und  Vergehen  dieser  Welt  die  Offen- 
barung einer  ewigen  Welt  der  Formen.  Der  grosse  Forscher 
hat  in  hervorragender  Weise  den  Sinn  für  das  Empirische  be- 
währt, er  hat  angeleitet,  aus  den  Wahrnehmungen  der  Sinne 
sichere  Begriffe  zu  bilden.  Aber  trotzdem  blieb  auch  für  ihn 
das  Wertvolle  in  der  Welt  das  Allgemeine,  das  gedankenmässig 
erfasst  wird.  Hinter  der  wirklichen  Welt  liegt  die  Welt  der 
Wahrheit.  Sie  ist  Gegenstand  der  Wissenschaft.  Die  Meta- 
physik stellt  diese  ewige  Welt  dar.  Zwar  wird  Piatos  Ideen- 
lehre scharf  kritisiert  und  verworfen,  denn  seine  ,,Tdeen"  seien 
nur  transcendente  Doppelgänger  zu  den  sinnlichen  Erscheinungen 
(aiodrjTcc  aiÖLo).  Was  aber  Plato  eigentlich  Vs^ollte,  nämlich  der 
Wissenschaft  zugängliche  geistige  —  von  der  Materie  unab- 
hängige —  Grössen  zu  reservieren,  das  meint  Aristoteles  besser 
zu  erreichen  durch  die  Unterscheidung  von  Stoff  (vlrj)  und 
Form  (eiöog).  Die  gestaltlose  passive  Materie  und  die  ge- 
staltende aktive  Form,  die  övva^ig  und  die  Iveqyeta  vereinigen 
sich  in  dem  Wirklichen,  wie  Leib  und  Seele. 

Das  ist  der  grosse  Gegensatz  des  Daseins,  der  alles  Werden 
bedingt.  Als  äusserste  Endpunkte  des  Gegensatzes  stehen 
schliesslich  einander  gegenüber  die  TtQcjtri  vlrj  als  die  absolut 
formlose  Potenzialität  und  das  ttqCjtov  eiöog  als  die  absolut 
stofflose  schlechthinige  Aktivität.  Es  ist  Gott  als  das  tzqu/iov 
Tiivouv,  die  schlechthin  aktive  intelligible  Ursache  der  Welt, 
wie  Aristoteles  es  im  12.  Buch  der  Metaphysik  eingehend  aus- 
führt. So  bietet  die  Natur  die  Fülle  von  Kräften  und  Mög- 
lichkeiten dar,  aus  welcher  wie  aus  einem  unerschöpflichen 
Urgründe  immer  neue  Erscheinungen  emporsteigen. 

Aber  der  Gottesgedanke,  auf  den  wir  damit  geführt  sind, 
unterscheidet  sich  doch,  so  sicher  er  auf  Thomas  und  Duns 
Theologie  eingewirkt  hat  (vgl.  oben  S.  169),  auf  das  deutlichste 
von  dem  Gedanken  dieser  Männer.  Der  Gott  des  Aristoteles 
ist  die  vörjGcg  vorjaecogj  der  sich  selbst  erkennende  absolute  Geist, 
der  lebt  in  der  theoretischen  Schauung,  nicht  im  aktiven  Wollen 
oder  Handeln,    schlösse    das   doch  die  Unvollkommenheit   un- 


Plato  und  Aristoteles.  575 

erreichter  Zwecke  in  sich.  Von  diesem  Gedanken  unterscheidet 
sich  scharf  der  wollend  und  handelnd  als  pure  Aktivität  sich 
darlebende  Gott  der  mittelalterlichen  Theologen.  —  Aber  mehr 
noch  interessiert  uns  in  unserem  Zusammenhang  ein  anderes. 
Auch  nach  Aristoteles  erreicht  der  menschliche  Geist  die  Höhe 
seiner  Bethätigung  in  der  theoretischen  Erkenntnis  der  Welt 
intelligibler  Formen  oder  der  Metaphysik.  Demgemäss  wird 
dann  auch  die  höchste  Glückseligkeit  zwar  nicht  als  Unthätig- 
keit  bezeichnet,  wohl  aber  —  dem  Vorbild  der  Götter  gemäss  — 
als  theoretische  oder  beschauliche  Thätigkeit.  '//  öh  xeleia 
ev6(XL(.iovLa  oxi  d-eiOQrfir/,!^  tlq,  Iö%\v  Iveqyua  -/.cd  evxevd^ev  ctv 
(paveivi  •  TOvg  ^€Ovg  yccQ  (.idXiGia  viteilrjcpai^iev  (^lazaQwvg  Y.a\  evöai- 
fiovag  elvai,  jtQa^eig  de  rcoiag  ccjtovel^iai  XQetov  avrolg;  man  kann 
ihnen  doch  nicht  Handel  und  Wandel,  Tapferkeit,  Freigebig- 
keit etc.  nachsagen !  Dann  bleibt  für  die  Götter  nur  die  d^ecoQia 
nach.  Dasselbe  gilt  von  den  Menschen,  sofern  sie  das  höchste 
Glück  erlangen:  zolg  f.iev  yaq  d^eolg  ajtag  ö  ßlog  (^layiccQLog,  Tolg 
ö^  ävd^QCüTtOLg  ecp^  oöov  ö{.iOLiO{,id  %i  xf^g  xotavxrjg  Iveoyeiag  vTcdQ%si . .  • 
i(p^  oGov  örj  Siaxelvet  fj  ^ecogla,  zal  fj  evöai^wvla  xal  olg  {.läXXov 
vTtdQxet  xo  d^ecooeiv^  zcu  evdai{.tovelv  (Aristotel.  Ethic.  Nicom. 
X,  8  fin.  cf.  Metaph.  XII,  7). 

Dieser  eigentümlichen  Bestimmung  der  Weltstellung  des 
Menschen  korrespondiert  nun  der  Zustand  der  Willenslehre  bei 
den  Griechen.  Die  Auffassung  spricht  sich  prägnant  aus  in 
dem  Satz  des  Sokrates:  r;  dgExi]  €7iioxi]/^irj.  Mit  der  Stellung- 
nahme der  Vernunft  ist  auch  die  Willensstellung  gegeben. 
Dem  Urteil  korrespondiert  immer  die  That.  Es  ist  lehrreich, 
den  Anfang  des  dritten  Buches  der  iSIikomachischen  Ethik  zu 
lesen.  Die  sittliche  Handlung  ist  etwas  FreiwiUiges.  Das 
heisst,  sie  entstammt  einer  Ttgoalgeocg,  die  ihrerseits  ein  Re- 
sultat der  Überlegungen  {ßovXeveöd-ai)  ist :  xo  ycxQ  k/.  xfjg  ßovk'^g 
7tQ0/.QLd^ev  TtQoalQexöv  loxLv.  Die  Überlegung  und  der  Vorsatz 
oder  Entschluss  entscheiden  über  das  Wollen:  «x  xov  ßovlev- 
Gao&ai  yccQ  yLqivavxeg  dQeyöf.ied^a  Tiaxä  xrjv  ßovlsvGiv  (1.  c.  III,  5  fin.). 
Das  Handeln  ist  frei,  sofern  es  überlegt  und  beschlossen  ist 
(III,  7  in.),  und  das  Überlegte  und  Beschlossene  wird  in  Handeln 
umgesetzt.  Nicht  eigentlich  um  Willensfreiheit  handelt 
es   sich   in   diesen  Gedanken,    sondern  um  Urteilsfreiheit. 


576         Kap.  VII:  Die  geschichtliche  Stellung  des  Duns  Scotus. 

Liberum  arbitrium  im  eigentlichen  Sinn,  nicht  eigentlich  libera 
voluntas  ist  die  Hauptsache.^)  Der  Wille  folgt  immer  den 
Urteilen  und  Erwägungen  der  praktischen  Vernunft.  Der 
Primat  des  Intellekts  im  Menschen  wird  als  selbstverständlich 
angesehen.  Dabei  ist  es  dann  auch  in  der  Christenheit,  zumal 
der  griechischen,  auf  lange  hinaus  geblieben.  Für  die  sittliche 
Unfreiheit  des  Willens  hat  man  von  diesen  Voraussetzungen 
aus  kein  Verständnis  gewinnen  können,  wie  man  etwa  an  den 
Apologeten  und  Origenes  sehen  kann.  Erst  Augustin  ver- 
mochte von  seinem  neuen  Willensbegriff  aus  hierin  einen  Um- 
schwung herbeizuführen. 

So  ist  die  Vernunft  die  Gebieterin  in  der  Burg  der  Seele. 
Das  Denken  ist  die  höchste  Funktion  des  Geistes.  Dem  Denken 
korrespondiert  aber  der  intelligible  Kosmos  der  Metaphysik. 
Der  Geist  ruht  aus  in  der  Epoptie  der  Begriffsw^elt.  Ein  ge- 
niessender  Zuschauer  der  grossen  Weltdramas  ist  der  Mensch, 
nicht  als  mithandelnde  Person  des  Dramas  kommt  er  in  Be- 
tracht.    Darin  besteht  sein  gottähnliches  Wesen. 

Man  kann  den  Bann  dieser  Grundstellung  an  den  ver- 
schiedenen Gebieten  des  Lebens  nachweisen.  Der  Harmonie 
des  hellenischen  Geistes  fehlte  es  nicht  an  der  Lust  am  Schaffen. 
Aber  dieser  Hang  war  merkwürdig  beschränkt,  er  ging  nie  in 
das  Grosse;  der  Hellene  will  die  Welt  nicht  wandeln,  sondern 
dem  persönlichen  Darstelluugstriebe  Genüge  verschaffen.  Er 
kennt  kein  geschichtliches  Werden,  keine  grosse  Zukunft  und 
deshalb  auch  keine  grosse  Kraft.  Besonders  ist  es  von  In- 
teresse dies  an  den  Anschauungen  von  der  Gesellschaft  und 
dem  Staat  sich  bestätigen  zu  sehen.-)  Das  Naturrecht  mit  seiner 
Vertragstheorie  ist  nichts  anderes  als  die  abstrakt  metaphysische 
Auffassung  der  sozialen  Menschheit.  Man  kann  hier  mit  Nutzen 
den  „Staat"  Piatos  mit  Augustins  „Gottesstaat"  vergleichen,'^) 
um  den  Wandel  im  Verständnis  des  geschichtlichen  Elementes 


^)  Für  die  Geschichte  der  Lehre  von  der  Willensfreiheit  ist  dieser 
Unterschied  von  grosser  Bedeutung. 

^)  Vgl.  Dilthey,  Einleitung  in  die  Geisteswissenschaft  I  (1883) 
S.  271  ff. 

^)  Auch  in  Hinsicht  der  Doppelheit  der  Tendenz  und  der  Mittel,  die 
durch  beide  Werke  sreht. 


Die  Fülle  der  Zeiten.  577 

in  der  cliristlichen  und  vorchristlichen  Zeit  sich  anschaulich  zu 
machen. 

3.  Es  muss  für  unseren  Zweck  genügen  auf  diese  Schranke 
der  hellenischen  Bildung  hingewiesen  zu  hahen.  Die  Stoa  und 
später  der  Neuplatonismus  haben  den  Kultus  der  Metaphysik 
und  die  Verherrlichung  der  weltflüchtigen  Epoptie  nur  ge- 
steigert. Sie  hahen  die  Bedeutung  des  Positiven  und  Einzelnen 
immer  mehr  untergraben,  auch  dann,  wenn  sie  in  ihm  die 
Gleichnisse   der   oberen  Welt    meinten   aufzeigen  zu  können.^) 

Die  „Fülle  der  Zeiten"  ist  nicht  zuletzt  hiedurch  bedingt. 
Man  schrie  nach  Positivem  und  grub  nach  ihm  mit  gieriger 
Hand  in  dem  Schutt  veralteter  Superstitionen.  Und  man  be- 
gehrte mit  heissem  Gefühl  nach  Idealen,  für  die  man  etwas 
thun  und  wollen  könnte.  Nicht  nach  den  Aufgaben  des  Tages, 
nach  politischer  That  und  Macht  ging  das  Sehnen,  sondern 
nach  einem  Grossen  und  Letzten,  das  zur  That  aufruft  und 
die  geringe  Thatenfolge  des  Lebens  adelt  durch  ewigen  Wert 
und  reale  Bezithung  zum  Höchsten.  Man  idealisierte  die 
römische  Herrscliaft  zur  Idealweit,  man  flocht  dem  gebietenden 
Imperator  den  Kranz  der  Gottheit,  man  träumte  von  der  freien 
Menschheit  als  dem  Weltzweck.  Aber  die  Göttergeschichten  der 
Vorzeit    zerfielen   vor    der  Metaphysik    der   i^iufgekl arten,    und 


^)  Vgl.  aucli  das  Urteil  von  Eucken  über  die  „Grösse  und  die 
Grenze  des  Altertums'-  (Lebensanschauungen  der  grossen  Denker,  3.  Aufl. 
1899,  S.  136) :  „Die  enge  Verbindung  von  Wahrheit  und  Schönheit,  von  durch- 
dringendem Erkennen  und  künstlerischem  Schaffen,  welche  alle  griechische 
Arbeit  auszeichnet,  erschien  auch  in  den  Lebensanschauungen.  Ihr  tiefster 
Zug  ist  das  Aufsuchen  eines  Wesenhaften,  das  dem  Leben  einen  sicheren 
Halt  und  eine  unwandelbare  Ruhe  gewährt,  und  das  zugleich  das  Chaos 
der  ersten  Erscheinung  in  einen  herrlichen  Kosmos  verwandelt.  Die  An- 
schauung der  alles  durchdringenden  Vernunft,  die  Vergegenwärtigung  der 
grossen  Weltordnung  mit  ihrer  vollendeten  Harmonie,  die  Freude  an  der 
„ewigen  Zier"  wird  zur  Höhe  des  Lebens.  Unser  Thun  hat  dabei  nichts 
umzuwandeln,  sondern  nur  die  vorhandene  Wirklichkeit  anzueignen  .... 
Dem  griechischen  Leben  versank  die  sichtbare  Gegenwart  der  Vernunft; 
mit  um  so  grösserer  Energie  suchte  die  Philosophie  eine  unsichtbare  fest- 
zuhalten. Aber  sie  musste  dafür  immer  grössere,  immer  gewaltsamere 
Anstrengungen  aufbieten,  immer  ferner  rückte  jene  Welt  des  Wesens  und 
der  Schönheit,  immer  mehr  verloren  die  Ideen  einen  anschaulichen  Inhalt, 
immer  leerer  wurde  das  menschliche  Dasein." 

Seeberg,  Die  Theologie  des  Duns  Scotus.  37 


578         Kap.  VII:  Die  geschichtliche  Stellung  des  Duns  Scotus, 

das  römiscbc  Imperium  bot  nicht  den  Spielraum,  in  dem  die 
wollende  Seele  die  Kraft  und  den  Drang  zur  höchsten  That 
ausleben  konnte. 

Die  Seele  zog  durch  die  Welt.  Aber  die  arme  Seele 
fand  nicht  was  sie  glauben  konnte  und  kein  Ziel,  an  dem 
das  Lieben  sich  erschöpfen  konnte.  Jenes  tiefste  Rezeptive 
im  Menschen,  das  Leben  und  Nahrung  zieht  aus  der  Macht 
eines  persönlichen  Lebens,  aus  geistiger  Autorität,  blieb  un- 
befriedigt. Die  freie  Seele  findet  nicht  die  Noim  ihres  Daseins 
an  dem  Naturzusammenhang  und  seinen  Gesetzen  resp.  an  den 
letztere  bejahenden  „Instinkten".  Die  Norm  der  Bethätigung, 
nach  der  sie  ringt,  bietet  ihr  nur  das  freie  persönliche  Leben, 
das  eine  freie  persönliche  Bejahung  zulässt.  Es  ist  die  Auto- 
rität als  freie  lebendige  Macht.  Und  jene  höchste  Aktivität  der 
Seele,  die  nur  ruht  in  dem  Grössten,  das  die  höchste  An- 
spannung aller  ihrer  Kraft  dauernd  erfordert  —  denn  nur 
dieser  Zweck  erweist  sich  als  der  natürlichen  Ausrüstung  pro- 
portional — ,  ermangelte  des  Zieles.  Nicht  die  Zauberwelt  der 
Metaphysik  und  nicht  die  Symbole  der  Vergangenheit  bot  jenes; 
und  in  den  Träumen  von  Idealstaaten  oder  dem  Dienst  des 
Tages  mit  den  kurzen  Schritten  zum  Zweck  fand  man  dieses 
nicht.  Es  war  jener  Zu>^tand  eingetreten,  da  Religion  und 
Leben,  Formel  und  Form  die  Natur  des  Menschen  drücken 
und  beengen.  Die  Empfindung  der  Unnatur,  der  Unmöglichkeit 
des  Bestellenden  geht  immer  den  grossen  AYendepunkten  in 
der  Geschichte  der  Menschheit  voran.  Man  kann  dabei  an 
das  Paradoxon  von  der  anima  naturaliter  christiana  denken.  — 
Das  war  die  ,, Fülle  der  Zeiten'^,  der  grösste  Umschwung  in 
der  menschlichen  Geschichte,  nicht  nur  auf  dem  Boden  der 
Religion,  sondern  auch  der  Kultur,  der  gesamten  Geistes- 
geschichte und  Seeienstellung :  das  Ende  der  ,, Götter  Griechen- 
lands''. 

4.  Das  Christentum  hat  die  Zeiten  von  einander  ge- 
schieden. In  der  Person  Jesu  Christi  empfand  man  die 
Offenbarung  Gottes,  das  ,,Wort'',  das  „hervorging  aus  dem 
Schweigen'',  „den  untrüglichen  Mund  Gottes''.^)     Aber  mit  dem 


1)  Za  Job.  1,  1  vgl.  Hebr.  1,  1  u.  Ignat.  Magnes.  8,  2;  9,  2  ßoman.  8,  2. 


Jesus  Christus.  579 

Wort  verbunden  war  das  Licht  und  das  Leben.  Die  Gedanken 
von  dem,  den  man  „Logos^'  nannte,  hatten  ursprüngbeh  wenig 
mit  den  antiken  Ideen  gemein.  Nicht  eine  spekulative  .Idee 
oder  ein  Aon  der  metaphysischen  LJberwelt  wurde  in  ihm  kund. 
Der  Gott,  dessen  Offenbarung  man  in  ihm  empfand,  war  der 
w^altende  Herr,  der  einst  Israel  aus  Ägypten,  dem  Diensthause 
geführt  hat  —  immer  wieder  klingt  dies  Grundfaktum  hervor 
aus  der  israelitischen  Gottesbetrachtung  — ,  der  Gott,  der 
grosse  Thaten  thut,  der  den  Wandel  der  Geschichte,  des 
Himmels  und  seiner  Kräfte,  der  Erde  mit  ihren  Bergen  und 
Thälern  verheissen  hat.  Die  Gottheit  war  bisher  welthaft,  sei 
es,  dass  man  sie  als  personifizierte  Naturkraft  dachte,  sei  es, 
dass  man  sie  als  abstrakte  metaphysische  Grösse,  als  Schatten 
gleichsam  der  Welt  sich  vorstellte.  Erst  im  Christentum,  ist  der 
Begriff  vom  schlechthin  weltfi'eieu  und  weltmächtigen  persön- 
lichen und  lebendigen  Gott  gebildet  werden,  indem  man  seine 
geistige  Macht  erlebte  und  empfand.  —  Die  „Königsherrschaft'^ 
dieses  Gottes  will  Jesus  in  Ausübung  bringen.  Darum  war  er 
zuhöchst  seinen  Anhängern  nicht  der  Lehrer  oder  der  Gesetz- 
geber, sondern  der  ,,Herr'^  Die  ßaoUeia  und  der  xvQwg  sind 
korrelate  Begriffe. 

Auf  eine  umgrenzte  positive  Erscheinung,  auf  ein  persönliches 
Leben,  aus  dem  der  ganze  unwiderstehliche  Zauber  einfacher 
Wahrheit  und  ungezwungener  Kraft  hervorleuchtete,  war  die 
Menschheit  gewiesen.  In  diesem  Leben  empfand  man  das 
göttliche  Leben.  Hier  war  das  Höchste,  das  man  gesucht 
hatte  ;  der  ,,Herr^'  mit  seiner  allmächtigen,  die  Herzen  wan- 
delnden Kraft,  die  Autorität,  die  sich  den  inwendigen  J^Ienschen 
erschliesst  und  unterwirft.  Und  der,  von  dem  diese  Wirkungen 
ausgingen,  war  nicht  Idee  und  Metaphysik,  sondern  Wille  und 
Kraft,  persönliches  Leben.  Dies  war  doch  offenbar  das 
Empfinden,  auf  dessen  Erzeugung  in  den  Jüngern  Christus 
hinarbeitete.  Nicht  „lehren"  wollte  er  sie,  sondern  die  Herr- 
schaft Gottes  an  ihnen  ausüben,  ihre  höchste  und  einzige 
Autorität  werden.  Das  ist  das  Absehen,  wenn  er  „Nachfolge" 
—  der  ursprüngliche  Sinn  des  Begriffes  unterscheidet  sich  von 
dem  heute  bräuchlichen  —  fordert.  Und  erst  von  hier  aus 
vermag    man   die  Bedeutung   der  eschatologischen  Reden  Jesu 

37* 


580         Kap.  VII :  Die  geschichtliche  Stollung^  des  Duns  Scotus. 

ZU  verstellen.  ^)  Das  Einzelne  mag  immerhin  unserem  Ge- 
schlecht fremdartig  geworden  sein,  die  Tendenz  dürfen  wir 
uns  dadurch  nicht  verhüllen  lassen :  Jesus  ist  der  Herr  der 
Geschichte  und  der  Welt.  Nur  die  Anwendungen  und  den 
Widerhall  dieser  Gedanken  hahen  wir  in  jenen  Worten  der 
Apostel  zu  erblicken,  welche  die  Einwohnung  des  „Herrn"  in 
uns,  die  Leitung  der  Seele  durch  ihn  schildern:  „Ich  lebe, 
doch  nun  nicht  ich,  Christus  h'bt  in  mir",  oder  in  dem  uralten 
Bekenntnis  1  Kor.  12,  3:  „Herr  ist  Jesus",  oder  in  dem 
Grusswort  einer  versin kend<-n  Welt  an  die  Morgenröte  des 
ewigen  Tages:  „Ja.  komm  Herr  Jesu!" 

Man  uiuss  unsere  kleinlichen  schulmeisterlichen  „christo- 
logischen"  Kategorien  und  die  steife  Pedanterie,  die  über  unser 
eigen  Konterfei  hinaus  keinem  Menschensohn  die  Bahn  frei- 
geben mag,  abzustreifen  fähig  sein,  um  die  ganze  Wucht  und 
Kraft  der  Person  Jesu,  w^ie  sie  an  dem  Wendepunkt  der  Welt- 
geschichte wirksam  war,  zu  empfinden.  Gemessen  an  den 
Wirkungen  dieses  Lebens,  erscheint  kein  Zug  in  ihm  als  zu 
lioch  gegriffen. 

Versuchen  wir  die  wesentlichsten  derselben,  sofern  sie  in 
diesem  Zusammenhang  in  B-  tracht  kommen,  zusammenzustelleii. 
1)  Die  Menschheit  eilebt  in  Christo  die  Gedanken,  dass  Gott 
geistige  Kraft,  allmächtiger  Wille,  höchste  Autorität  ist,  dass 
er  die  Geschichte  leiiet  und  der  Herr  der  Welt  ist.  Nicht 
eine  Idee,  sondern  eine  geistige  Person  ist  das  Höchste;  nicht 
das  Denken  bestimmt  ihr  Wesen,  sondern  der  Wille.  —  2)  Dies 
gilt  folgerichtig  auch  von  der  menschlichen  Person,  auch  dieser 
Begriff  erfährt  eine  Umbildung.  Schon  die  alttestara entliche 
Anschauung  erblickte  die  höchste  Leistung  des  geistigen  Lebens 
in  der  Willensthat  der  Liebe  zu  Gott.  Indem  das  Cliristentum 
unlösh'ch  gebunden  war  an  die  Anschauung  der  Willenseuergie 
im  persönlichen  Leben  Jesu,  und  indem  die  Forderung,  die 
dies  Leben  au  den  einzelnen  richtete,  durch  den  Willen  bejaht 
werden  soll,  hat  auch  die  chiistliche  Auflassung  den  Willen 
zur    beherrschenden   Funktion    des  Geistes   erhoben.  —  3)  So 


^)  Die  eschatologischen  Reden  sind  das  wichtigste  und  entscheidende 
Zeugnis  für  das  „Selbstbewusstsein  Jesu". 


Das  Christentum.  581 

wenig  Christus  eine  „Idee"  war,  wie  etwa  der  „Logos"  der 
Antike,  so  Avenig  war  die  Vereinigung  mit  seiner  Person  durch 
die  intellektion  zu  erreichen.  Neue  psychologische  Kategorien 
mussten  gefunden  werden.  Das  Erleben,  die  Enipfinduiig  und 
Erfahrung,  die  persönliche  Gewissheit  kommen  in  den  Vorder- 
grund. jSicht  der  Gedanke,  sondern  der  Glaube  erscheint 
als  das  Organ  zur  Ergieifung  des  Höchsten.  Dem  Glauben 
korrespondiert  die  lebendige  geistige  Autorität.  An  dem  Er- 
lebnis der  überwältigenden  Autorität  der  Person  Jesu  hat  die 
Menschheit  nicht  nur  was  es  mit  der  Persönlichkeit  auf  sich 
hat,  zu  erleben  bekommen,  sondern  auch  den  Gedanken  des 
Glaubens  —  dies  Wert  im  tiefsten  psychologischen  Sinn  ge- 
nommen —  erfassen  lernen.  —  4)  In  dem  Mass  aber,  als  eine 
feinere  und  reichere  Auffassung  des  persönlichen  Lebens  er- 
worben wurde,  steigerte  sich  das  Gefühl  für  das  Recht  der 
Individualität  und  den  Wert  der  Einzelseele;  ebenso  aber  auch 
das  Bewusstsein  für  die  Verantwortlichkeit  der  Seele  für  sich 
selbst.  Damit  gewinnt  auch  der  Gedanke  der  Willensfreiheit 
eine  neue  Nuance.  Der  Wille  wird  ein  selbständiger  Faktor, 
die  Einsichten  der  praktischen  Vernunft  bestimmen  ihn  nicht 
eo  ipso.  Die  Wiliensstellang  korrespondiert  nicht  immer  dem 
Gleichgewicht  der  Werte  der  praktischen  Vernunft.  Man  fangt 
an  zu  verstehen,  dass  und  wie  der  Mensch  nicht  nur  wider 
besseres  Verstehen,  sondern  auch  wider  sein  besseres  Streben, 
ja  Wollen,  vv^ollen  und  handeln  kann  (Rom.  7,  18.  19).  Die 
religiösen  Ideen  von  der  Sünde  und  Schuld  haben  auch  die 
Psychologie  bereichert.  Das  liberum  arbitrium  wird  übertroifen 
durch  das  Verständnis  der  psychologischen  Selbständigkeit  des 
Willens.  —  5)  Die  göttliche  Herrschaft,  die  Christus  ausübt, 
verbindet  alle  diejenigen,  welche  ihr  unterworfen  werden  und 
sich  ihr  unterwerfen,  in  dem  gemeinsamen  Wollen  der  Durch- 
setzung dieser  Herrschaft.  Deshalb  gewinnt  die  Menschheit 
an  dem  Ergebnis  der  Herrschaft  Christi  nicht  bloss  religiöse 
Befriedigung,  sondern  auch  ein  den  Willen  zum  Iiöchsten  Mass 
der  Aktivität  anreizendes  Ideal.  Die  Herrschaft  Gottes  be- 
fähigt uns  und  treibt  uns  an  zum  W^ollen  des  Peiches  Gottes. 
Indem  aber  diese  Vorstellung  vom  Reich  Gottes  das  ganze 
persönliche  Leben  sowie  den  gesamten  vorstellbaren  Spielraum 


582         Kap,  VTI:   Die  geschichtliche  Stellung  des  Duns  Scotus. 

des  geschichtlichen  Werdens  in  der  Welt  unter  sich  stellt  und 
beherrscht,  ergibt  sich,  dass  sie  der  ganzen  Menschheit,  bezw. 
allen  einzelnen  Anhängern  Christi  das  höchstmögliche  Mass 
natürlicher  Kraftentfaltung  und  Willensanspannung  auferlegt. 
Wie  dadurch  einerseits  einem  wesentlichen  Bedürfnis  des 
Willens  in  der  Menschheit  genügt  ist,^)  so  ergibt  sich  weiter 
von  diesem  Gedanken  her  bie  Verklärung  jedes  einzelnen  Dinges 
und  Handelns  vermöge  der  Beziehung  auf  jenen  letzten  Zweck. 
Die  Umwandlung  der  Anscliauungen  von  der  Arbeit  und  dem 
Beruf  hat  hier  eine  ihrer  Wurzeln;  sonst  hat  die  ganze  Ver- 
änderung der  Anschauung  vom  Menschen  hiezu,  wie  leicht  er- 
sichtlich, mit  beigetragen.-)  Endlich  aber  ergibt  sich  aus  dieser 
Zweckstellung  die  Stimmung  der  Freiheit  und  der  Sicherheit 
in  der  Welt,  die  —  trotz  der  Sünde  und  der  Mächte  des  Ver- 
derbens —  diese  Welt  als  Gotteswelt  ansieht  und  im  Wechsel 
der  Geschicke  die  Überzeugung  bewährt:  „denen,  die  Gott  lieb 
haben,  müssen  alle  Dinge  zum  besten  dienen",  und  ,.ist  Gott 
für  uns,  wer  mag  wider  uns  sein"  ?  —  6)  Noch  eins  will  in 
diesem  Zusammenhang  hervorgehoben  sein.  Der  Gedanke  der 
frei  wollenden  Person  kombiniert  mit  der  Zweckbeziehung  alles 
Geschehens  und  Handelns  auf  ein  höchstes  Ziel  organisiert 
das  Leben  der  Menschheit  zur  Geschichte.  Das  Alte 
Testament  in  seinem  Zusammenhang  mit  dem  Neuen,  die  Vor- 
stellung von  Weissagung  und  Erfüllung,  die  Vorstellung  eines 
leitenden  Zieles  im  Werden  hat  den  Anlass  zu  der  geschicht- 
lichen Betrachtungsvreise  hergegeben.  Die  Propheten  waren 
die  ersten  Lehrmeister  der  geschichtlichen  Idee ;  an  dem  Be- 
wusstsein  des  persönlichen  freien  Lebens  und  dem  Weltzweck 
des  göttlichen  Willens  hatte  sie  ihre  ersten  Elemente. 

Das   Christentum   hat   eine   neue   Weltstellung  und  Welt- 
anschauung in  die  Menschheit  eingeführt.     Wir  haben  dieselbe 


^)  Ich  kann  hier  diesen  Gedanken  so  wenig  als  die  übrigen  Anschau- 
ungen dieses  Abschnittes  genauer  durchführen.  Ich  bemerke  nur,  dass 
von  hier  aus  der  moralphilosophische  Beweis  für  die  Gemeingiltigkeit  des 
Reiches  Grottes  als  höchsten  ethischen  Zieles  geführt  werden  kann. 

^)  Schon  Schleier  mache  r  hat  die  feine  Beobachtung  gemaclit, 
dass  der  Gedanke  vom  Reich  Gottes  der  christlichen -Frömmigkeit  teleo- 
logische Art  verleihe. 


Die  neue  Weltstcllung-  des  Christentums.  583 

soeben  zu  kennzeichnen  versucht.  Wenn  in  der  antiken  Mensch- 
heit, wie  wir  sahen,  es  schliesslich  fehlte  an  einer  lebendigen 
höchsten  Autorität,  sowie  an  einem  letzten  Strebeziel,  so  ist 
dieses  wie  jene  von  dem  Christentum  gebracht  worden.  Die 
Gestalt  Jesu  hat  die  göttliche  Herrschaft  als  die  höchste  Auto- 
rität in  den  Herzen  stabiliert  und  das  Reich  Gottes  als  letztes 
Ziel  den  Gemütern  nahegebracht.  An  Jesus  hat  die  Mensch- 
heit den  Glauben  als  das  Grundveihältnis  zu  Gott  gefunden, 
und  an  der  Idee  des  Reiches  hat  der  Wille  und  die  Liebes- 
fähigkeii  der  Menschheit  den  Antrieb  zu  dem  intensivesten  und 
umfassendsten  Grad  ihrer  möglichen  Bethätigung  empfangen. 
In  die  Gedanken  des  Glaubens  und  der  Liebe  kann  man 
schliesslich  die  neue  Stellung  des  Menschen,  die  das  Christen- 
tum bewirkt  hat,  zusammenfassen. 

Zerlegt  mau  aber  diese  Formeln  in  ihre  einzelnen  Be- 
standteile und  vergleicht  diese  mit  den  Elementen  der  antiken 
Weltanschauung,  so  muss  geurteilt  werden,  dass  das  Christen- 
tum eine  Befreiung  und  Erhöhung  der  menschlichen  Natur 
war.  Gewiss  hat  es,  nicht  anders  als  die  Mehrzahl  der  Re- 
ligionen der  Menschheit,  die  Sinnlichkeit  und  die  Natur  des 
Menschen  gemartert  und  zertreten.  Aber  das  waren  zufällige 
historische  Tendenzen  —  sie  hingen  zudem  deutlich  mit  antiken 
Ideen  und  Idealen  zusammen  — ,  die  nicht  das  Prinzip  be- 
zeichnen. Es  erweckt  nicht  viel  Zuversicht  zu  der  historischen 
Einsicht  und  Umsicht  der  betr.  Schriftsteller,  wenn  man  bis 
heute  in  der  philosophischen  Ethik  nicht  ganz  selten  der  Fabel 
vom  „finsteren  Asketismus"  des  Christentums  begegnet.  Nein, 
wie  später  die  Reformation,  so  hat  das  Christentum  auch  bei 
seinem  Eintritt  in  die  Welt  die  Unnatur  gebrochen  und  der 
Natur  die  Bahn  geebnet. 

5.  In  jeder  weltgeschichtlichen  Bewegung  wirken  sich  zwei 
Bewegungsprinzipien  aus.  Das  eine  treibt  vorwärts,  das  andere 
hält  zurück.  Aus  den  Gegenwirkungen  dieser  Prinzipien  geht 
die  wirkliche  Geschichte  hervor.  Auch  in  der  Geschichte  des 
Christentums  gelangten  sie,  sobald  das  Christentum  eine  feste 
historische  Grösse  wurde,  zur  Auswirkung.  Daraus  versteht 
sich  einerseits  die  geschichtliche  Notw^endigkeit  des  Prozesses, 
den  man  als  seine  Verweltlichung,  wenn  man  wdll  auch  „Helle- 


584         Kap.  VII:  Die  geschichtliche  Stellung  des  Duns  Scotus. 

nisierung'',  bezeichnen  kann.  Andererseits  ergibt  sich  von  hier 
aus  der  geschichtliche  Massstab  zur  Bewertung  aller  Ereignisse 
und  Lehren  der  Geschichte  des  Christentums.  Mit  anderen 
Worten  der  wirkliche  Fortschritt  in'  der  Christenheit  ist  kon- 
form den  ursprünglichen  christlichen  Anschauungen.  Nicht 
um  Identität  von  Formen  und  Formeln  handelt  es  sich  hiebei, 
sondern  um  die  Gemeinsamkeit  der  religiösen  Empfindung  und 
der  sittlichen  Tendenz.  Das  ist  der  Sinn  des  reformatorischen 
Gedankens,  dass  nur  das  als  christlich  gelten  dürfe,  was  den 
aus  sich  selbst  interpretierten,  d.  h.  genuin  gedeuteten  Ur- 
kunden des  urchristlichen  Lebens  und  Geistes  entspricht.  Das 
Christliche  soll  s  chriftgem  äss,  d.  h.  urchristlich  sein. 

In  welcher  Richtung  ist  die  Abweichung  von  diesem  Mass- 
stab erfolgt?  Man  kann  auf  die  Herausbildung  einer  festen 
christlichen  Lehre  verw^eisen.  Aber  dass  eine  solche  sich  bildet, 
ist  ebenso  eine  geschichtliche  Notw^endigkeit,  wie  dsi^s  sie  ihre 
Formen  aus  den  vorhandenen  geistigen  Organen  eines  Zeit- 
alters entnimmt.  Dass  eine  hellenisch  gebildete  Welt  im  Ver- 
ständnis des  Evangeliums  „hellenisierte'*,  war  selbstverständlich. 
So  bald  man  dachte,  stellten  sich  die  Begriffe  Logos,  Usia, 
Hypostasis  etc.  von  selbst  ein,  und  das  war  zunächst  unver- 
fänglich. Es  war  auch  nicht  zu  vermeiden,  dass  man  dea  neuen 
geistigen  Erwerb  in  die  Richtung  der  bisherigen  Ziele  rückte. 
Trotz  des  mächtigen  Paradoxons  von  der  „Thorlieit"  des  Evan- 
geliums, die  aber  „Kraft"  ist  (1.  Kor.  1,  18),  w^ar  es  begreif- 
lich, dass  man  das  Evangelium  als  höchste  Weisheit,  als  Ent- 
schleierung der  tiefsten  Geheimnisse,  als  Abschluss  und  Spitze 
der  Pyramide  der  Metaphysik  zu  deuten  begann.  Und  ebenso 
einleuchtend  ist  es,  dass  man  das  höchste  geistige  Ziel,  das 
das  ganze  Leben  umfassen  sollte,  immer  einseitiger  dorthin  zu 
verlegen  anfing,  wo  allerdings  seine  Wirklichkeit  am  wahr- 
nehmbarsten w^ar,  in  die  katholische  Kirche  mit  ihren  Mitteln 
und  Kräften ;  so  empfing  sie  allmählich  immer  mehr  die  Di- 
mensionen und  Formen  des  Weltreiches.  Mit  alle  dem  voll- 
zogen sich  nur  Vorgänge ,  die  in  analoger  Weise  die  Ein- 
wurzelung  jedes  geistigen  Erwerbes  begleiten. 

und  doch  lag  andererseits  hierin  die  innere  Möglichkeit 
des  Rückschrittes  begründet.     Dieselbe  Formel,  die  ursprünglich 


Die  Verweltlichimg  des  ClirisleDtums.  685 

das  Ausdrucksmiitel  der  neuen  inneren  Stellung  war,  drückt 
diese  Stellung  allmäblich  hinab  auf  das  Niveau,  in  dessen  Zu- 
sammenhang ihre  (der  Formel)  Elemente  gewachsen  sind.  JDer 
lebendige  Gott  und  der  thatkrät'tige  Logos,  die  man  als  Spitze 
der  metaphysischen  Pyramide  dachte,  konnten  versteinert  werden 
zu  metaphysischen  Formeln,  zu  himmlischen  .^Substanzen"  und 
ruhenden  „Ideen".  Und  damit  musste  sich  notwendig  die  innere 
Stellung  zu  Gott  und  der  Welt  ändern.  Ebenso  konnte  man 
das  letzte  Ziel  immer  näher  und  niedriger  stecken,  immer  mehr 
vergessen,  dass  die  kirchliche  Ordnung  und  der  hierarchische 
Komplex  nur  Mittel,  nicht  das  Ziel  selbst  waren.  Und  dann 
war  man  wieder  so  weit,  dass  man  das  Himmlische  anschauen 
und  nach  Irdischem  streben  konnte,  d.  h.  man  war  in  die  alte 
Stellung  zurückgeworfen.  Freilich  fast  nirgends  wtirde  diese 
als  solche  einfach  wiederholt,  ein  Empfinden  vom  lebendigen 
Gott  und  eine  Ahnung  davon,  dass  „unser  Staatswesen  im 
Himmel  ist",  blieb  auch  in  der  gröbsten  Abstumpfung  der 
christlichen  Empfindung  und  bei  den  ärmlichsten  Epigonen  der 
Heroen  des  Evangeliums  übrig.  Einen  Nachhall  urchristlichen 
Empfindens  kann  man  in  den  Spekulationen  der  syrischen  Mouo- 
physiten  ebenso,  wie  in  den  Schwärmereien  der  Mystiker  und 
den  Gedanken  der  Aufklärer  wahrnehmen. 

Man  kann  das  katholische  Christentum  wie  die  lleligion 
der  Ketzer  an  der  Antike  messen,  und  sie  steigen  empor  in  das 
Eiesengrosse :  das  „Neue",  nachdem  „das  Alte  vergangen".  Und 
man  kann  sie  am  Evangelium  messen,  und  sie  sinken  rapid 
herab  unter  das  Normalmass:  die  verweltlichte  Kirche,  fremde 
Spekulationen.  Das  ist  der  doppelte  Massstab,  der  hinlänglich 
die  Schwankungen  auf  diesem  Gebiet  erklärt,  und  der  beide 
Urteile  begründet,  sowohl  das  eine,  dass  ein  neues  Zeitalter 
mit  dem  Christentum  angeg;^ngen  ist,  als  das  andere,  dass  man 
dies  Zeitalter   tadelt,    weil   es    in  das  Alte  zurückgefallen  war. 

Wir  haben  hier  nach  dem  zweiten  der  genannten  Ge- 
sichtspunkte zu  rechnen.  Wenn  das  Christentum  die  Mensch- 
heit dadurch  wandelte,  dass  es  den  Glauben  und  die  Liebe 
brachte,  dann  ist  alles  für  Rückschritt  zu  erachten,  was  Glauben 
und  Liebe  hemmte.  Der  Glaube  brauchte  den  nahen  Gott,  den 
man  erlebt  und  empfindet;  die  Liebe  oder  der  Wille  brauchten 


586  Kap.  yil:  Die  geschichtliche  Stellung  des  Duns  Scotus. 

das  ferne  Ziel,  an  das  nur  die  ausgespannte  Kraft  heranreicht. 
Aber  aller  Rückschritt  in  der  Religion  ist  dadurch  bedingt, 
dass  man  Gott  in  die  Ferne  der  Spekulation,  an  den  Horizont 
des  Wirklichen,  in  die  Metaphysik  verweist,  und  dass  man  das 
Strebeziel  des  Willens  nah  und  niiher,  in  das  Irdische  und 
Gemeine  hineinrückt.  Und  nun  wird  die  Seele  wieder  arm  und 
zieht  aus  zu  suchen  den  fernen  unbekannten  Gott  und  leidet 
unter  den  nahen  Zielen,  die  ihr  die  Kraft  nicht  auslösen. 

Ich  brauche  nicht  zu  zeigen,  dass  und  wie  die  dargelegten 
Ideen  auf  das  Verhältnis  des  katholischen  Christentums  zu  der 
christlichen  Urzeit  passen.  Die  Abstraktionen,  die  man  um 
den  Gottesgedanken  spann,  die  Depotenzierung  des  lebendigen 
und  gegenwärtigen  Herrn  zum  Logoslehrer  und  Vorbild,  die 
Herabstimmung  der  Zwecke  und  Stimnningeu  vom  Himmel  zur 
Erde,  die  eintrat  nicht  minder  bei  den  sinnenfeindlichen  Asketen 
als  bei  den  in  Furcht  und  Sicherheit  der  Kirche  gehorsamenden 
Vulgärchristen  mit  ihren  guten  Werken  und  Verdiensten  — 
dies  alles  lässt  sich  auf  die  bezeichneten  Gesichtspunkte  zurück- 
führen, wie  hier  nicht  w^eiter  gezeigt  w^erden  kann. 

Es  ist  höchst  einseitig,  wenn  man  die  ..Dogmen"  für  diese 
Rückstände  verantwortlich  macht,  oder  auf  sie  den  sogen. 
Hellenisierungsprozess  konzentriert.  Nicht  um  intellektuelle  Miss- 
verständnisse handelt  es  sich  hier,  sondern  um  ein  diiferentes 
Leben  der  Seele.  Dass  man  in  die  psychische  Stellung  der 
Antike  zu  Gott  und  Welt  zurückverfiel,  das  war  der  Schade. 
Daher  kommt  die  „Eellenisierung"  weit  klarer  am  Moraiismus 
als  an  der  Dogmenbildung  zum  Ausdruck,  denn  jener  ist  der 
Exponent  einer  besonderen  inneren  Stellung,  diese  entstammt 
einem  unveräusserlichen  Bedürfnis  des  Geistes  und  bleibt  daher 
an  sich  indifferent  gegen  den  uns  beschäftigenden  geschichtlichen 
Gegensatz. 

6.  Es  ist  die  weltgeschichtliche  Bedeutung  August  ins, 
dass  er  den  Prozess  der  Verweltlichung  des  Christentums  ge- 
hemmt und  die  Seelenstellung  der  christlichen  Religion  in  die 
Philosophie  und  Kultur  eingeführt  hat.  Es  war  in  dem  wunder- 
baren Mann  eine  unerreichbare  und  unerschöpfliche  Kraft  per- 
sönlichen Lebens.  „Wie  ein  ungebundenes  mächtiges  Natur- 
element  war   er   durch  die  Welt  gegangen,    unaufgehalten  von 


Augustinus.  587 

konventionellen  Einschränkungen ,  ein  gewaltiger  Mensch :  er 
hatte  immer  gelebt  was  er  gedacht  hatte"  (Dilthey,  Einleitung 
in  die  Geisteswiss.  I,  335).  Er  suchte  die  „Wahrheit"  und  die 
Schönheit,  aber  was  eigentlich  von  Anfang  an  sein  Inneres  be- 
wegte war  ein  anderes ;  es  w^ar  der  Hunger  der  Seele  nach 
Glück,  Leben,  Seligkeit.  Nicht  der  Kontemplation  strebte 
dies  wogende  Gemüt  zu,  sondern  der  höchsten  Anspannung 
aller  Kraft  der  Seele.  Aber  der  Mann  mit  dem  gewaltigen 
Lebensdrang  verfügte  zugleich  über  eine  Kraft  der  psycho- 
logischen Analyse  ohne  gleichen  und  über  einen  mächtig  an- 
dringenden spekulativen  Trieb. 

So  wusste  er,  was  er  in  Ringen  und  Sehnen  erlebt  hatte, 
in  grosse  kühne  Gedanken  zu  fassen  und  er  verstand  diese 
auszudrücken  mit  dem  ganzen  Zauber  des  Selbsterlebten,  mit 
der  AVucht  der  Wahrheit,  hinter  der  ein  Leben  als  Zeuge  steht. 
Nicht  der  Intellekt  ist  es,  der  über  das  Geschick  des  Menschen 
entscheidet.  Nicht  der  spekulative  Trieb  oder  die  metaphysische 
Erkenntnis  ergreift  das  Leben  und  die  Seligkeit,  sondern  der 
Wille. 

Des  Willens  Art  ist  es  aber  selbst  zu  w^ollen.  Volantas 
igitur  nostra  nee  voluntas  esset,  nisi  esset  in  nostra  potestate. 
Porro  quia  est  in  potestate,  libera  est  nobis  (Augustin  de  lib. 
arb.  III,  3,  8;  de  civ.  dei  V,  10).  Der  Wille  bestimmt  das 
Denken  zur  Richtung  auf  die  Objekte  (de  trin.  XI,  2,  2).  Er 
ist  das  für  die  Seele  was  die  Schwere  für  die  Körper  ist,  d.  h. 
er  bestimmt  ihre  Bewegung  und  Richtung  (de  civ.  dei  XI,  28,  1). 
Der  Wille  richtet  sich  frei  auf  das  Böse  oder  das  Gute.  Nur 
von  ihm  hängt  es  ab,  ob  der  ]\[ensch  böse  oder  gut  ist  (de  lib. 
arb.  I,  12,  26;  de  civ.  dei  ILIY,  6).  Das  ist  der  böse  Wille, 
der  sich  losreisst  vom  wahren  Sein  und  dadurch  nach  aussen 
sich  ausreckt,  aber  sein  Innerstes  von  sich  wirft:  et  quaesivi, 
quid  esset  iniquitas  et  non  inveni  substantiani,  sed  a  summa  sub- 
stantia  te  deo  detortae  in  infima  voluntatis  perversitatem,  pro- 
icientis  intima  sua  et  tumescentis  foras  (Confess.  VII,  16,  22). 
Er  schmiedet  die  Kette  der  Lust  um  den  Menschen,  die  zur 
Gewohnheit  und  dann  zur  Notwendigkeit  wird  :  quippe  ex  volun- 
tate  perversa  facta  est  libido.  Et  dum  servitur  libidini,  facta 
est  consuetudo.     Et  dum  consuetudini  non  resistitur,   facta  est 


568         Kap.  VII:  Die  geschichtliche  Stellung  des  Duns  Scotus. 

necessitas  (ib.  VIIT,  5,  10).  Der  AVille,  der  sich  der  Lust 
der  Welt  hingibt,  ist  der  Grund  für  alles  Elend  des  Menschen, 
auch  für  die  Verdunkelung  des  Intellekts  (de  civ.  dei  XXII, 
22,  1).  —  Das  ist  daher  die  Erlösung,  dass  dem  in  seiner  Lust 
erstorbenen  und  geknechteten  Menschen  ein  neuer  Wille,  die 
Lust  an  Gott  oder  die  Liebe  ,,inspiriort^^  wird  (de  spir.  et 
litt.  25,  42;  4,  6;  de  corrept.  et  grat.  2,  3).  Das  ist  der  Ent- 
scheidungskampf in  der  Seele  des  Christen,  dass  zwei  Willen 
mit  einander  ringen  (Conf.  VIII,  5,  10).  Und  das  ist  die  Ent- 
scheidung, dass  der  Wille  Gott  hat  und  ihn  nahe  hat  zu  seliger 
Gemeinschaft:  et  non  illuc  ibatur  navibus  aut  quadrigis  aut 
pedibus  .  .  .  Nam  non  solum  ire,  verum  etiam  pervenire  illuc 
nihil  erat  aliud  quam  velle  iie,  sed  velle  fortiter  et  integre, 
non.  semisauciam  liac  atque  hac  versare  et  iactare  voluntatem, 
parte  assurgente  cum  alia  parte  cadente  luctantem  (Conf.  XIII, 
10,   19). 

Der  unruhige  Trieb  im  Menschen,  das  Schwanken  der 
Sehnsucht,  der  Drang  nach  der  höchsten  Lust  ist  befriedigt, 
indem  der  Wille  das  höchste  Gut,  Gott  liebt.  Aber  Gott  selbst 
inspirierte  und  schuf  dies  neue  Wollen,  indecliuabiliter  et  insu- 
perabiliter  leitet  seine  virtus  den  Willen  (de  corrept.  et  grat.  12, 
38).  Aber  jetzt  erst  —  das  hat  Angnstin  immer  wieder  be- 
tont —  ist  der  Wille  frei,  Gottes  Wirken  schränkt  die  Freiheit 
nicht  ein,  sondern  bewirkt  sie  erst  (de  spir.  et  litt.  30,  52). 
Man  kann  das  als  Selbsttäuschung  tadeln,  jedenfalls  hat  Augustin 
so  gedacht  oder  empfunden. 

7.  Hier  greift  nun  das  zweite  Element  seiner  religiösen 
Grundanschauung  ein.  Augustin  hat  einmal  geschrieben,  wenn 
er  ,.Gott^'  S'^^ge,  denke  er  sich:  magna  et  summa  quaedam 
substantia,  quae  transcendat  omnem  m^utabilem  creaturam,  car- 
nalem  et  animalem  (in  Joh.  tract.  I,  8).  Die  innersten  Triebe 
seines  religiösen  Empfindens  kommen  in  dieser  Definition  (vgl. 
zu  ihr  z.  B.  Rufin,  Exposit.  symboli  4)  nicht  zum  Ausdruck. 
Der  Gott,  den  er  gefunden  hatte,  war  nicht  das  qualitätslose 
absolute  Sein,  sondern  war  geistiger  Wille,  allmächtige  Liebe. 
Man  kann  das  persönliche  Element  in  Augustins  Gottesgedanken 
an  den  bekannten  psychologischen  Erklärungen  der  Triiiität 
leicht  aufzeigen   und   dabei   die   Bedeutung   des  Willens    auch 


Augiistin  über  den  Willen  und  Gott.  589 

für  das  persönliche  Leben  der  Gottheit  —  seine  Psychologie 
steckt  zum  guten  Teil  in  der  Triuitätslehre,  wie  Diins  Erkennt- 
nistheorie in  der  Engellehre  —  nachweisen.  Aber  hier  handelt 
es  sich  um  mehr.  Der  Gott,  den  die  religiöse  Erfahrung  der 
Seele,  den  Augustins  Bild  von  der  Welt  und  ihrer  Geschichte 
Yoraussetzt,  ist  nicht  das  ruhende  Absolute^  sondern  ist  plan- 
mässig  wirkende  Macht,  die  Kraft,  die  alles  Sein  und  Werden 
schafft,  der  allmächtige  Herr  der  Welt.  In  diesem  streng 
aktiven  Sinn  der  Schöpferkraft  ist  es  zu  verstehen,  dass  Gott 
Liebe  ist.  Erst  unter  diesem  Gesichtspunkt  empfängt  die  ge- 
waltige Idee  Augustins  von  der  Prädestination  ihr  gebührendes 
Licht.  Sie  ist  der  absolute  Wille  des  ewigen  Herrn,  der  sich 
realisiert  in  Gerechtigkeit  und  Barmherzigkeit,  durch  Sünde 
und  Tod,  in  Ohristi  Wirken  —  er  ist  unser  Führer  zu  Gott  — , 
in  der  Entstehung  und  Ansbreitung  der  Kirche,  in  ihren  Lehren 
und  ihren  Institutionen,  durch  V/ort  und  Sakrament,  bis  hin 
zum  letzten  Gericht  mit  der  Seligkeit  und  Verdammnis.  Über 
alle  Halten  und  Schrecken  der  Gegenwart,  über  alle  Rätsel 
der  Geschichte,  über  alle  Ausserlichkeiten  und  Schäden  der 
Kirche  goss  diese  Idee  ihr  Licht.  Es  war  doch  alles  schliesslich 
nur  Ausdruck  des  ewigen  Gotteswillens.  Darum  ist  dann  die 
gegenwärtige  Kirche  —  mag  es  Schäden  und  praesciti  in  ihr 
in  Fülle  geben  —  das  Reich  Gottes.  Der  Gecianke  der  Prä- 
destination, der  alle  irdischen  Ordnungen  als  solche  lockert, 
stabiliert  sie  wieder  auf  ewigem  Grunde.  Er  macht  alles  Ein- 
zelne relativ,  aber  das  Ganze  wird  absolut.  Das  ,, Positive"  ist 
nichts,  wenn  mnn  an  seine  irdischen  Urheber  denkt;  und  es 
ist  alles,  wenn  man  es  sub  specie  aeternitatis  betrachtet. 

Man  darf  diese  Gedanken  spinnen,  obwohl  sie  Augustin 
so  nicht  gesponnen  hat.  Er  kam  zu  seinem  Positivismus,  weil 
er  den  gewaltigen  Eindruck  von  der  katholischen  Kirche 
empfangen  hatte;  aber  dass  er  diesem  Eindruck  erlag,  das 
wird  sich  auf  dem  angedeuteten  Wege  erklären.  Die  Ord- 
nungen der  Kirche  wurden  ihm  zu  Offenbarungen  des  göttlichen 
AVillens. 

8.  Wer  den  Zusammenhang  der  Gedankenwelt  Augustins 
verstehen  will,  muss'  noch  ein  Weiteres  in  Erwägung  ziehen. 
Der  Wille   oder   die   Liebe    stellt    die  Beziehung   des  Subjekts 


590         Kap.  Yll :  Die  geschichtliche  Stellung  des  Diins  Scotus. 

zum  Objekt  her.  Er  treibt  die  Seele  au,  die  Bilder  der  Dinge 
zu  l)ild(m  und  in  sieh  aufzunehmen.  Quia  in  iis  est  quae  cum 
amore  cogitat,  sensibilibus  autem  id  est  corporalibus,  cum 
amore  assuefacta  est,  nou  valet  sine  imaginibus  eorum  esse  in 
semetipsa  (de  trin.  X,  8,  11).  Das  Gewollte  muss  also  zu- 
nächst ein  Bestandteil  der  Seele,  ein  Bekanntes  werden:  certe 
enim  amari  aliquid  nisi  notum  non  potest  (ib.  X,  ],  2).  Aber 
die  gewisse  und  sichere  Erkenntnis  ist  nur  die  Selbsterkenntnis, 
die  Erkenntnis  der  Dinge  ist  das  Erkennen  der  Erkenntnis  von 
ihnen.  Ubi  ergo  nosse  suum  novit,  si  se  non  novit  (ib.  X,  3,  5)  ? 
Nur  eines  ist  der  Seele  schlechthin  gewiss  und  behauptet  sich 
aller  Skepsis  der  Akademiker  gegenüber,  das  ist,  dass  sie  lebt 
und  wirkt,  würde  dies  auch  nur  am  Zweifel  selbst  empfunden. 
Vivere  se  tarnen  et  nieminisse  et  intelligere  et  velle  et  cogitare 
et  scire  et  iu^icare  quis  dubitet?  Quaudoquidem  etiam  si  du- 
bitat,  vivit,  si  dubitat  unde  dubitet,  meminit ;  si  dubitat,  dubitare 
se  intelhgit;  si  dubitat,  certus  esse  vult;  &i  dubitat,  cogitat;  si 
dubitat,  seit  se  nescire ;  si  dubitat,  iudicat  non  se  temere  con- 
sentire  oportere.  Quisquis  igitur  aliunde  dubitat,  de  bis  Omni- 
bus dubitare  non  debet,  quae  si  non  essent  de  ulla  re  dubitare 
non  posset  (ib.  X,  10,  14).  So  schöpft  gerade  aus  dem  Zweifel 
selbst  die  Seele  die  Gewissheit  ihrer  Eealität:  ergo  sum,  si 
fallor  (de  civ.  dei  XI,  26).  Ist  sie  aber  eine  Realität,  so  ist 
sie  auch  eine  Substanz,  und  zwar  eine  Substanz,  die  ihrer 
selbst  bewusst  wird  in  der  dreifachen  Funktion  des  Denkens, 
Wollens  und  Erinnerns  (de  trin.  X,  10,  16.   18). 

Die  Seele  nimmt  nun  in  sich  auf  und  schaut  in  sich  die 
Bilder  der  Dinge,  die  als  solche  ausserhalb  ihrer  bleiben. 
Vermöge  der  phantasia  imaginaria  denkt  sie  diese  Dinge,  nicht 
mit  der  Gewissheit  der  Selbsterkenntnis  (ib.  X,  10,  16;  5,  7.  8). 
Aber  neben  und  über  der  sinnlichen  Wahrnehmung  und  dem 
Phantasiebilde  steht  der  sensus  iuterior,  der  das  AYesen  der 
Dinge  per  iutelligibilem  speciem  versteht  (de  civ.  dei  XI,  27,  2). 
Und  dies  führt  auf  eine  neue  Wendung.  Nicht  etwas  Er- 
worbenes, sondern  etwas  Angeborenes  ist  diese  species  intelli- 
gibilis,  welche  die  Norm  zur  Beurteilung  aller  Grössen  der 
sinnlichen  Wahrnehmung  ist.  Es  gehört  nicht  her,  wie  Augustin 
in  seinen  älteren  philosophischen  Schriften  zeigt,  wie  der  denkende 


Augustins  Erkenntnislehre.  591 

Geist  iu  sich  ein  Gerüst  formaler  Massstäbe  der  „Wahrheit" 
findet.  Es  hat  Augustin  immer  hierüber  hinaus  fortgerissen  zu 
dem  intellegibeln  Kosmos  Platop,  zur  phantasievollen  Anschau- 
ung des  Ewigen.  —  Alles  Irdische  —  so  hören  wir  ander- 
wärts —  ist  nur  Abbildung  ewiger  und  unwandelbarer  Formen^ 
die  in  Gottes  Gei^t  enthalten  sind.  Diese  ewigen  Formen  oder 
die  platonischen  Ideen  erkennt  nur  der  Geist  des  Menschen^ 
der  von  dem  lumen  intelligibile  erleuchtet  ist,  und  diese  An- 
schauung der  Ideen  beseligt  den  Geist.  Quod  si  hoc  rerum 
omnium  creandarum  creatarumve  rationes  in  diviua  mente 
coutinentur  neque  in  divina  mente  quidqxiam  nisi  aeternum  atque 
incommutabile  pote3t  esse  atque  has  rerum  rationes  principales 
appellat  ideas  Plato :  non  solum  sunt  ideae,  sed  ipsae  verae 
sunt,  quia  aeternae  sunt  et  eiusmodi  atque  incommutabiles 
manent;  quarum  paiticipatione  fit,  ut  sit  quid  quid  est  quomodo 
est.  Sed  anima  rationalis  inter  eas  res  quae  sunt  a  deo  conditae 
omnia  superat  et  deo  proxima  est,  quando  pura  est  eique  in 
quantum  caritate  cobaeserit,  in  tantura  ab  eo  lumine  ilio  intelli- 
gibili  perfusa  quodani  modo  et  illustrata  cernit,  non  per  cor- 
poreos  oculos,  sed  per  ipsius  sni  principale  quo  excellit,  id  est 
per  intelligentiam  suam,  istas  rationes  quarum  visione  ht  bea- 
tissima  (de  quaest.  octog.  tiibus  46,  2). 

9.  Das  sind  die  Gedankenmassen,  in  denen  der  ringende 
Geist  Augustins  arbeitete.  Es  ist  einerseits  die  urchristliche 
Stelkmg  der  Seele  zu  Gott  und  der  Welt,  die  er  theoretisch 
verarbeitet.  Gott  ist  Herr,  Wille,  Liebe.  In  Christo  wird  die 
Liebesmacht  Gottes  offenbar  und  wirksam,  ^)  zur  Realisierung 
des  vorzeitlichen  Willensbeschlusses  Gottes  in  einer  Welt 
werdender  wollender  Menschen,  in  der  Geschichte.  So  ist  auch 
des  Menschen  Stellung  zu  Gott  W^illensstellung.  Wer  Gott 
liebt,  in  dem  hat  der  Drang  nach  Leben  Befriedigung  gefunden. 
Cum  enim  te  deum  meum  quaero,  vitam  beatam  quaero ;  quae- 
ram  te,  ut  vivat  anima  mea  (Confess.  X,  20).  So  angesehen 
ist  Gott  das  höchste  Gut;    das  Interesse  des  Geistes  erschöpft 


^)  Diese  Seite  in  Christo  Werk  hat  Augustin  doch  wohl  im  Vorder- 
grund gestanden  gegenüber  der  sühnenden  Stellvertretung,  vgl.  Dogmen- 
gesch.  I,  211.  304  Anm. 


592  Kap.  VII:  Die  geschichtliche  Stellung  des  Duns  Scotus. 

sich  in  der  ErkenntDis  des  Gottes,  dem  seine  Liebe  gilt  und 
seiner  selbst,  der  diese  Liebe  gibt.  Quid  ergo  scire  vis,  breviter 
ea  collige.  —  Deum  et  auimam  scire  ciipio.  —  Nihilne  plus?  — 
Nihil  omnino.  ^)  Und  diese  Beschränkung  des  Interesses  er- 
gibt sich  aus  dem  Gedanken:  nibil  aliud  amo  quam  deum 
et  animam.  Hierhin  zielt  das  Interesse,  weil  hierhin  die  Liebe 
(Soliloq.  I,  2,  7).  —  j\lit  diesen  Interessen  verschmilzt  aber 
—  andererseits  —  der  Piatonismus  Augustins,  um  es  kurz  zu 
bezeichnen.  Gott  ist  der  Urquell. der  Wahrheit  und  Schönheit, 
das  ewige  ruhende  Sein,  in  dem  urständen  alle  wechselnden 
Erscheinungen  der  sichtbaren  Welt.  Dies  absolute  Sein  denkend 
ergreifen,  die  Bealität  der  Ideen  em})finden  —  das  ist  nun 
höchste  Lust  und  Seligkeit  des  frommen  Geistes. 

Gerade  in  der  wunderbaren  Ineinandermengung  dieser 
Ideenkreise  liegt  der  Zauber,  den  Angustin  auf  seine  Zeit- 
genossen und  auf  die  Frommen  und  Theologen  von  anderthalb 
Jahrtausenden  ausgeübt  hat.  Er  hat  den  Lebensdrang  und 
die  straffe  Willensstellung  des  Christentums  verschmolzen  mit 
den  süssen  Zauberklängen  und  den  düsteren  Schaudern  der 
platonischen  und  neuplatonischen  Metaphysik.  Er  hat  schroffer 
als  einer  seiner  Vorgänger  das  Eigenartige  der  christlichen 
Weltstellung  betont,  und  er  hat  doch  den  Bund  von  Christen- 
tum und  Antike  eher  gekräftigt  als  geschwächt.  —  Der  Gott, 
den  der  Wille  erstrebt,  ist  zunächst  die  Macht  der  Liebe. 
Aber  die  Phantasie  krönt  sie  alsbald  mit  dem  Zauberdiadem 
der  Metaphysik;  und  nun  funkelt  und  glänzt  das  Bild  Gottes 
im  Glanz  unsagbarer  Ideen  und  unnennbarer  Yollkommenheit. 
Und  die  Seele,  welche  ausging  für  den  Willen  und  die  Liebe 
ein  Ziel  zu  finden,  findet  es  zwar,  aber  sie  findet  auch  anderes, 
nämlich  jenen  Wechsel  von  Licht  und  Dunkelheit,  von  Freude 
und  Schaudern,  der  ausgeht  von  dem  Gott  mit  dem  überlichten 
und  darum  dunkeln,  dem  unnennbaren  und  darum  schrecklichen 
Diadem. 

Zwei  Auffassungen  Gottes  und  zwei  Auffassungen  des 
Lebensinhaltes  kreuzen  sich  in  dieser  Gedankenbildung.  Man 
wird  urteilen  dürfen,    dass  für  Augustin  je  länger,   desto  mehr 


^)  Auf  diese  Stelle  verwies  zuerst  Dilthey  a.  a.  0.  I,  326. 


Verschiedene  Gedankenelemente  bei  Augustin.  593 

die  zweite  gegen  die  erste  zurückgetreten  ist,  oder  dass  die 
Willensstellung  sein  Denken  immer  kräftiger  beherrscht  hat. 
Aufgegeben  ist  der  Hellenismus  darum  nicht.  Und  jener  zweite 
Gedankenkomplex  ist  gerade  die  Brücke  geworden,  auf  der 
die  mystische  Metaphysik  in  das  Mittelalter  einzog.  —  Doch 
man  kann  noch  mehr  sagen.  Misst  man  die  augustinische 
Kombination  von  der  Welt  als  dem  Verhältnis  des  geschaffenen 
Willens  zu  dem  ungeschaffenen  Willen  an  den  urchristlichen 
Gedankentrieben,  so  ist  auch  hier  die  Differenz  unverkennbar. 
So  sehr  sich  Augustin  müht,  die  rein  geistige  Art  des  Willens 
aufrecht  zu  erhalten,  so  sehr  schimmert  doch  immer  wieder 
eine  andere  Auffassung  durch.  Der  Gott,  der  die  geschaffene 
Liebe  dem  Willen  einflösst  und  der  Wille,  der  durch  dies 
schöpferische  AVunder  in  einen  neuen  gewandelt  wird  —  sie 
behalten  doch  etwas  von  der  Naturmacht  und  unpersönliche 
Züge  an  sich.  Gott  ist  die  Macht,  die  den  neuen  Willen 
schafft.  Diese  Formel  schliesst  nicht  ein  persönliches  und 
geistiges  Verhältnis  in  sich.  Darum  findet  auch  der  evan- 
gelische Gedanke  vom  Glauben  in  diesem  Gefüge  keinen  Platz. 
Glauben  heisst  auch  bei  Augustin  nur  die  Anerkennung  der 
christlichen  Lehre;  das  religiöse  Erleben  des  Menschen  voll- 
zieht sich  nur  in  der  Liebe,  die  Gott  schenkte  und  die  offen- 
bar wird  in  einer  langen  Kette  von  Lebensempfindungeu  und 
sittlichen  Thaten.  Und  bei  letzterem  setzen  dann  neue  Ge- 
dankenformen an,  die  rechtlichen  Kategorien,  in  denen  das 
ältere  lateinische  Christentum  die  Keligion  vorstellte.  Auch 
sie  wurden  angezogen,  assimiliert  und  verklärt. 

10.  Wer  sich  an  diese  Hüllen  und  Hülsen  der  augusti- 
nischen  Gedanken  hält,  der  sieht  leicht  die  Umrisse  des  mittel- 
alterlichen Katholizismus  aus  ihnen  hervorwachsen:  Die  scho- 
lastische Metaphysik  und  die  Naturmystik,  die  Kirche  und  die 
guten  Werke,  die  eingegossene  Gnade  und  die  Verdienste. 
Gott  scheint  wieder  sehr  weit  im  „Himmel"  zu  sein,  und  das 
Ziel  des  sittlichen  Lebens  gar  nah  in  Fasten  und  Almosen. 
Und  doch,  w^er  das  alles  als  „Lehre"  Augustins  vortrüge,  ver- 
stünde Schale  und  Kern  nicht  von  einander  zu  sondern. 
Schliesslich  machte  nicht  der  Piatonismus  und  nicht  der  katho- 
lische Positivismus  die  Religion  Augustins  aus,  sondern  in  dem 

Seeberg,  Die  Theologie  des  Duns  Scotus.  38 


594         Kap.  VII:  Die  geschichtliche  Stellung  des  Duns  Scotus. 

Empfinden  und  Erleben  der  Willonsmacht  droben  und  drunten 
war  ibm  der  Spielraum  der  Religion  gegeben.  Hier  ist  das 
Schönste  und  Grösste  in  seinem  Fühlen  und  Denken  begründet. 
Aber  hier  liegt  auch  der  eine  Punkt,  an  dem  sich  der  geistige 
Fortschritt  des  Augustinismus  für  mehr  als  ein  Jahrtausend 
brechen  sollte.  Das  sola  gratia  wurde  so  gefasst,  dass  es  das  sola 
fide  nicht  einschloss.  Das  heisst  das  Bedürfnis  des  Geistes  nach 
persönlicher  Erfahrung  der  Gottheit  ward  zurückgeschoben. 
Und  dieser  Punkt  war  es  nun  gerade,  an  dem  alle  jene  fremden 
Elemente  sich  Bahn  brachen,  um  in  breitem  Strom  in  das 
augustinische  Gedankengefüge  einzudringen. 

Wir  müssen  hier  natürlich  auf  die  dogmengeschichtlichen 
Details  verzichten.  Es  genügt,  auf  die  geschichtlichen  Kräfte 
in  Augustins  Gedankenwelt  verwiesen  zu  haben.  Augustin  hat 
in  die  Kirche  des  Abendlandes  die  Wissenschaft  im  grossen 
Stil  eingeführt,  er  hat  ihr  die  griechische  Metaphysik  gebracht ; 
aber  er  hat  zugleich  durch  den  Reichtum  seiner  religiösen 
Konzeptionen  und  seiner  Lebensanschauung  die  Triebe  zu  neuer 
selbständiger  Spekulation  dem  Abendland  eingepflanzt.  Augustin 
hat  das  alte  abendländische  Problem  der  salus  animarum  neu 
verstanden  und  es  vertiefen  und  auseinanderlegen  gelehrt  ver- 
möge einer  neuen  reichen  und  anregenden  Psychologie.  Augustin 
hat  die  Kunst,  die  positiven  Formen  zu  konservieren,  indem  sie 
einen  neuen  Inhalt  oder  neue  Beziehungen  empfangen,  mit 
Virtuosität  gehandhabt  und  ist  auch  darin  vorbildlich  geworden ; 
auch  reformatorische  Geister  konnten  kirchlich  bleiben  und  an 
ihrer  Kirchlichkeit  stumpfte  sich  ihre  reformatorische  Kraft 
ab.  Vor  allem  wegen  dieser  Neigung,  die  das  Lebenswerk  des 
grossen  Mannes  begleitet,  ist  er  als  der  Vater  des  mittelalter- 
lichen Katholizismus  zu  bezeichnen.  Bedeutsamer  als  dies  alles 
ist  es  aber,  dass  Augustin  der  abendländischen  Kirche  das  Wesen 
der  Religion  erschlossen  hat ;  nicht  das  Fürwahrhalten  der  Lehre, 
nicht  die  kirchliche  Observanz  und  der  Apparat  rechtlicher 
Begriffe,  sondern  das  innere  Erleben,  Erfahren,  Empfinden  ist 
die  Religion. 


Die  Theologie  des  Mittelalters.  595 

2.    Die   Theologie   des  Mittelalters. 

1.  Wie  diese  Gedanken  und  Gesichtspunkte  bei  Augustin 
selbst  in  den  mannigfachsten  Kombinationen  mit  einander  ver- 
schlungen, mit  und  gegen  einander  wirkend  auftreten  so  erst 
recht  in  der  durch  Augustin  bestimmten  mittelalterlichen  Theo- 
logie. Die  Geschichte  der  mittelalterlichen  Theologie  ist  die 
Geschichte  des  Augustinismus.  In  diesem  Rahmen  ist  auch 
das  Werk  des  Duns  Scotus  zu  begreifen. 

Die  Herrschaft  Augustins  —  neuplatonische  Gedanken 
wirkten  mit  —  brachte  dem  Mittelalter  zunächst  die  ganze 
Welt  ewiger  Ideen  und  himmlischer  Gestalten.  Man  rechnete 
wieder  mit  den  ewigen  Urbildern  alles  Seienden  und  erwartete 
sie  in  Gott  zu  schauen.  Trotzdem  war  die  Gottesanschauung 
eine  lebhaftere  und  unmittelbarere  als  früher,  auch  wenn  sie 
vielfach  in  mythologische  Vorstellungen  sich  kleidete.  Man 
empfand  Gott  als  den  waltenden  Herrn,  der  die  Geschicke  der 
Welt  leitete.  Dazu  kam  das  lebhaftere  Verständnis  für  die 
menschliche  Art  Christi.  Ein  Bernhard  und  später  Franz 
leiteten  an  dazu,  in  der  Menschheit  Jesu  den  Weg  zur  Gott- 
heit zu  finden.  Die  Gemeinschaft  mit  Gott  sollte  aber  in  der 
mystischen  Anschauung  erlebt  werden.  Der  Gott,  der  straft 
und  belohnt,  der  Gott,  dessen  Nähe  man  irgendwie  physisch 
meinte  empfinden  zu  können,  erforderte  doch  eine  andere  innere 
Stellung  als  die  blosse  Anschauung  der  ewigen  Usie  samt  den 
ihr  immanenten  Ideen ;  die  einfachen  und  grossen  Gedanken  des 
Christentums  von  Gott  waren  umgebildet  und  eingeengt,  aber 
sie  lebten  doch  fort  in  der  Frömmigkeit  des  Volkes  und  in 
den  Empfindungen  der  Frommen.  So  sehr  man  abhängig  war 
von  den  altlateinischen  Rechtsschemata  und  von  den  helle- 
nischen Ideen,  so  sehr  lag  doch  ein  gewisser  Fortschritt  vor 
in  der  Erkenntnis  des  lebendigen  Gottes.  In  der  Theologie 
trat  derselbe  zunächst  am  wenigsten  hervor.  Da  blieb  Gott 
•die  ferne  ewige  Substanz  oder  dann  der  ferne  Getetzgeber  und 
Richter.  Man  war  zu  sehr  gebannt  in  die  Vergangenheit,  als 
dass  man  die  Ahnungen  der  Seele  hätte  klar  auszudrücken 
vermocht. 

2.  Dasselbe  tritt   dem  Beobachter  entgegen,  wenn  er  die 

38* 


596         Kap.  VII :  Die  geschichtliche  Stellung  des  Duns  Scotus. 

aktive  Bethätigung  des  religiösen  Lebens  studiert.  Es  handelt 
sich  darum,  die  mancherlei  Satzungen  der  Kirche  zu  beob- 
achten. Als  Ziel  erscheint  dabei  immer  die  Förderung  der 
Kirche.  Die  Kirche  war  das  Reich  Gottes,  das  irdische 
Himmelreich,  dem  es  zur  Vollendung  nur  an  der  Unsterblich- 
keit mangelte.  Wie  einst  das  römische  Reich  eingehüllt  war 
in  die  Idee  des  Weltstaates,  so  v/urde  jetzt  die  römische- 
Kirche  mit  göttlicher  Autorität  und  ewigem  Wert  bekleidet. 
Man  wusste  immer  mehr  sie  als  himmlische  Grösse,  als  gött- 
lichen Staat  sich  vorzustellen.  Ihre  Leiter  und  ihre  Institu- 
tionen, die  positiven  geschichtlichen  Ergebnisse  einer  kompli« 
zierten  Rechtsbildung  rückten  unter  den  Gesichtspunkt  „gött- 
lichen" oder  „natürlichen  Rechts".  So  sollte  die  einzelne  Seele, 
die  an  die  kirchlichen  Ordnungen  und  an  die  Satzungen  einer 
sehr  äusserlichen  Moral  sich  gebunden  fühlte,  hinweggetäuscht 
werden  über  die  enge  Umzäunung  ihrer  Bethätigung.  Dem 
Trieb,  an  das  höchste  Ziel  mit  seinem  Thun  hinanzulangen, 
schien  so  Befriedigung  gewährt  zu  sein.  Wirkte  doch  jedes 
Verdienst  ewigen  „Lohn",  waren  die  Sakramente  der  Kirche 
und  die  kirchlich  vorgeschriebenen  Bethätigungen  doch  kräftig 
genug,  nicht  nur  den  Thätern  oder  Empfängern  selbst,  sondern, 
auch  bereits  Verstorbenen  den  Himmel  zu  öffnen. 

3.  Unser  Ttolkev^a  ist  im  Himmel,  hat  Paulus  gesagt  und 
die  Apokalypse  lässt  die  Werke  ihren  Thätern  nachfolgen.  Ea 
ist  wunderbar,  wie  gerade  in  die  fremdartigsten  Auswüchse 
des  mittelalterlichen  Christentums  sich  urchristliche  Empfin- 
dungen hineinretten.  Die  asketische  Imitatio  Christi  mit  dem 
Zweck  des  Gottschauens,  die  Spekulationen  auf  die  Vergeltung 
Gottes  im  Diesseits  und  Jenseits  auf  der  einen  Seite,  und  die 
Werke,  mit  denen  wir  den  Himmel  erwerben,  durch  die  wir 
ewige  Zwecke  für  uns  und  andere  realisieren,  auf  der  anderen 
Seite  —  beides  ist  ganz  unevangelisch,  aber  in  beidem  spürt 
man  einen  Überrest  der  urchristlichen  Seelenstellung.  Soll 
man  von  einer  corruptio  optimi  pessima  reden,  oder  soll  man 
die  verschlungenen  Pfade  der  Geschichte  bewundern,  die  das 
Unnötigste  zum  Deckblatt  des  Nötigen,  das  Unevangelische  zum 
Träger  von  Evangelium  macht  ?  Man  hat  ein  Recht  zu  ersterem, 
denn  was  Glaube  und  Liebe  ist,  das  ist  durch  diese  Gedanken. 


Die  Religion  des  Mittelalters.  597 

liicht  ausgedrückt  und  keine  Kunst  der  Dialektik  kann  es 
ihnen  abzwingen.  Aber  ist  die  schroffe  Paradoxie  von  letzteren 
5un verständlich  ?  Der  Zusammenhang  der  zwischen  dem  Gottes- 
glauben Luthers  und  der  mittelalterlichen  Idee  vom  waltenden 
Herrn  besteht  ist  historisch  doch  ebensowenig  zu  leugnen,  als 
der  Zusammenhang  zwischen  der  ethischen  Teleologie  der 
reformatorischen  Gedankenbildung  und  der  mittelalterlichen 
Beziehung  des  praktischen  Christentums  auf  den  Begriff  des 
im  Himmel  giltigen  Verdienstes.  Es  waren  doch  nicht  nur  die 
kritischen  Gedanken  der  „Reformatoren"  oder  die  Empfindungen 
der  „Mystiker",  die  Luther  den  Weg  bereiteten,  auch  der 
breite  Strom  des  mittelalterlichen  Lebens  und  Denkens  war 
doch  nicht  nur  rückläufige  Bewegung  oder  gar  Hemmung  aller 
Bewegung.  Die  Geschichte  kennt  nicht  rein  negative  Werte. 
Was  eingeht  in  das  Spiel  der  Kräfte  in  ihr,  das  wirkt  irgend- 
wie mit  zur  Herstellung  der  positiven  Grössen,  in  denen  sie 
ihre  Wandlungen  vollzieht. 

Der  wirksame  Herr,  der  offenbar  wird  den  Herzen  in 
seinem  geschichtlichen  Thun,  und  die  Forderung  der  höchsten 
Aktivität  im  Menschen  —  das  waren  die  beiden  Leitmotive 
die  wir  fanden.  Indem  aber  die  mittelalterliche  Kirche  zwischen 
beiden  keinen  Zusammenhang  herzustellen  vermochte,  ver- 
kümmerten und  degenerierten  beide.  Weil  man  auf  der  einen 
Seite  nur  von  magischen  Sakramentswirkungen  oder  von  einem 
leeren  Schauen  Gottes  oder  einem  noch  leereren  Glauben  zu 
reden  wusste,  deshalb  blieben  auf  der  anderen  Seite  die  Werke 
auf  den  engen  Spielraum  der  Technik  der  Kirchlichkeit  oder 
ihrer  offiziellen  Frömmigkeit  beschränkt,  Produkte  zuhöchst 
nur  des  den  Thaten  formgebenden  freien  Willens,  dem  die 
„Gnade"  irgendwie  als  Stoff  subordiniert  war.  Und  weil  hier 
es  genug  war,  wenn  die  Zielstrebigkeit  der  sittlichen  That  bis 
an  die  Schlagbäume  des  Kirchenrechtes  und  seiner  Satzungen 
reichte,  so  zerfiel  das  Streben  nach  dem  Glauben  als  dem 
Empfinden  der  Autorität  und  Kraft  des  ewigen  starken  Gottes, 
der  die  Sünde  vergibt  und  die  Macht  ist,  die  unsere  Be- 
thätigung  auf  das  höchste  Ziel  hinrichtet. 

So  musste  die  ursprüngliche  Tendenz  des  Christentums  sich 
in  fremde  Formen  schmiegen  und  darüber  verkümmern.  Nicht 


598         Kap.  VII:  Die  geschichtliche  Stellung  des  Duns  Scotus. 

die  Differenzen  der  Lehren  als  einzelne  kommen  für  den  Stand- 
ort unserer  Betrachtung  zunächst  in  Frage,  sondern  die  Ab- 
schwächung  der  Ziele  und  der  inneren  Stellung  der  christlichen 
Seele.  Weil  man  den  ursprünglichen  Sinn  des  Glaubens  ver- 
loren hatte,  ward  der  Kreis  und  die  Kraft  der  Liebe  be- 
schränkt. Und  indem  die  Liebe  verengt  ward,  erlahmten  die 
Motive  der  Liebe.  Ein  wechselseitiges  Verhältnis  von  Ursache 
und  Wirkung  lag  hier,  wie  so  oft  im  geistigen  Leben,  vor. 

4.  In  diesem  grossen  Zusammenhang  der  treibenden  Kräfte 
hat  die  Theologie  ihre  Arbeit  gethan.  Sie  war  zunächst  in 
höherem  Grade  von  Augustin  beeinflusst  als  das  kirchliche 
Leben,  Aber  sie  hatte  doch  früh  schon  die  treibenden  Ideen 
Augustins  aufgelöst  und  verflüchtigt.  Der  Prädestinationsge- 
danke war  gefallen  oder  durch  den  Providenzgedanken  unwirksam 
gemacht.  Dadurch  war  auch  die  Idee  des  göttlichen  Herrnwirkens 
depotenziert,  die  Begriffe  der  Sünde  und  Gnade  verflacht  und 
das  Ziel  der  Weltentwicklung  und  des  auf  dieses  hinwirkenden 
Menschen  hinabgedrückt  worden.  Den  grossen  Gedanken  „aus 
Gott"  und  ,,zu  Gott"  wiederholte  man  unzählige  Mal,  aber 
man  schob  zwischen  diese  beiden  Endpunkte  ein  unsäglich  wider- 
spruchsvolles und  kompliziertes  System  von  Mitteln,  in  dessen 
Reihen  jene  sich  immer  wieder  fingen  und  verhäkelten  bis  sie 
abgestumpft,  eingesponnen  und  unwirksam  wurden.  So  wurde 
die  Macht  jenes  Gedankens  für  die  freie  Seele  undeutlich,  in- 
dem sie  sich  an  den  mannigfachen  Windungen  jenes  Systems 
der  Mittel  brach.  Dieser  Zustand  wurde  oben  an  den  Grund- 
verhältnissen von  Glaube  und  Liebe  aufgezeigt,  man  könnte 
den  Nachweis  ohne  viel  Mühe  für  die  Theologie  bis  in  das 
Einzelne  verfolgen. 

In  dem  Mass  als  diese  Zustände  geschichtlich  wurden, 
wurde  die  theoretische  Aufgabe  der  Theologie  schwieriger.  Wie 
sich  am  Anfang  des  zwölften  Jahrhunderts  die  Theologie  eines 
bewusst  orthodoxen  Kirchenmannes  gestaltete,  kann  man  den 
Werken  des  Hugo  von  St.  Viktor  entnehmen.  Aber  diese 
Theologie  war  nicht  mehr  naiv,  sie  stand  unter  dem  Gegen- 
satz. Nur  von  der  Schrift  —  man  kann  hinzusetzen  von  dem 
Üblichen   und   ,, Positiven'*   —   will   Hugo   sich   leiten    lassen; 


Hugo,  Abälard  und  Anselm.  599 

Dur  wo  ratio  und  experimentum  fehlen,  ist  der  Glaube  ver- 
dienstlich (s.  Summa  sentent.  prolog.  u.  I,  11). 

Aber  diese  Theologie  der  Reproduktion,  des  nackten  Für- 
warhaltens und  des  kirchlichen  Gehorsams  schien  keine  Zukunft 
zu  haben.  Seit  länger  als  einem  Jahrhundert  standen  andere 
Mächte  auf  dem  Plan  und  neue  Methoden  begeisterten  die 
Gemüter  der  Denkenden.  Die  theologischen  Schulen  von 
Tours  und  von  Bec  repräsentierten  sie.  In  den  Tagen  Beren- 
gars  griffen  die  neuen  Gedanken  zuerst  spürbar  in  das  Leben 
der  Kirche  ein. 

5.  Es  waren  zwei  geistige  Strömungen,  die  hier  ihren  Aus- 
gang nahmen.  So  oft  sie  sich  miteinander  berühren,  so  deut- 
lich unterscheiden  sie  sich.  Man  kann  die  eine  durch  die 
dialektische  Methode  und  durch  die  kritische  Rich- 
tung charakterisieren.  Die  ratio  beurteilt  die  Überlieferung; 
und  was  sich  kritisch  und  dialektisch  von  den  ratio  erweisen 
lässt,  darf  geglaubt  werden.  Eine  sorgfältige  Systematisierung 
und  eine  umfassende  Reduktion  der  Überlieferung  war  die 
Aufgabe  der  Theologie.  In  Abälard  fand  diese  Richtung 
ihren  mächtigsten  Vertreter.  Das  systematische  Talent  dieses 
Mannes  legte  nicht  nur  die  Grundlage  für  die  dogmatische 
Methode  des  Mittelalters,  sondern  schenkte  seiner  Kirche  auch 
eine  zusammenhängende  Sakramentslehre. 

Neben  dieser  dialektisch-kritischen  Theologie  stand  eine 
spekulative  Theologie.  Anselm  von  Canterbury  war  ihr 
grösster  Vertreter.  Die  Theologie  der  Überlieferung  ist  an- 
zunehmen und  zu  glauben.  Indem  man  aber  ihre  Wahrheit 
innerlich  erlebt,  ist  man  befähigt,  sie  spekulativ  zu  repro- 
duzieren. Der  Realismus  der  Ideen  trat  helfend  hinzu.  Ein 
Stück  augustinischer  Selbständigkeit  lebte  auf.  Ein  spekula- 
tives System  aufgeführt  auf  dem  Boden  der  religiösen  Er- 
fahrung war  das  Ziel.  Wir  haben  schon  früher  (S.  8  ff.)  auf 
die  Hauptideen  Anselms  verwiesen.  Nicht  eine  Reduktion  und 
kritische  Einschränkung  des  überkommenen  Lehrstoffes,  sondern 
eine  neue  originelle  Reproduktion  des  Ganzen  der  Tradition 
schwebte  seinem  Geist  als  Ziel  vor.  Er  hatte  mit  seinem 
„sola  ratione"  schliesslich  ein  weit  grösseres  Vertrauen  zur 
Tragkraft    der  Vernunft    als   Abälard,    und   doch  blieb  er  ein 


600         Kap,   VII:  Die  geschichtliche  Stellung  des  Duns  Scotus. 

orthodoxer  Mann  jenem  Heterodoxen  gegenüber.  Es  ist  das 
eigentümliche  Geschick,  das  die  kritischen  Geister  nicht  selten 
trifft,  wegen  Heterodoxien  verklagt  zu  werden,  während  weit 
kühner  zugreifende  spekulative  Denker  das  Lob  der  Orthodoxie 
ungefährdet  behalten.  Nicht  an  dem  positiven  Gedanken,  sondern 
an  der  Negation  eines  Gegebenen  entzündet  sich  in  der  Regel 
in  der  Geschichte  der  Widerspruch  und  der  Streit.  Das  Nein 
ruft  für  den  Augenblick  kräftigere  und  lautere  Wirkungen 
hervor,  das  Ja  wirkt  stiller  aber  nachhaltiger.  Darum  die  er- 
regte Bekämpfung  der  Kritiker  und  die  rasche  Blüte  ihres 
Ruhmes.  Man  kann  sich  dies  vielleicht  auch  an  den  Wirkungen 
Abälards  und  Anselms  bestätigen  sehen. 

6.  Der  grosse  Umschwung,  den  die  Theologie  seit  dem 
dreizehnten  Jahrhundert  erlebt  hat,  setzt  zunächst  voraus  den 
relativen  Abschluss,  den  die  kirchlichen  Institutionen,  aber  auch 
die  Dogmatik  —  durch  die  Arbeit  eines  gemässigten  und  ortho- 
doxen Abälardianers,  des  Petrus  Lombard us  —  gefunden  hatte. 
Sodann  aber  ist  er  bedingt  durch  einen  neuen  Aufschwung 
des  geistigen  Lebens,  von  dem  die  Bettelorden  nicht  minder 
als  die  emporstrebenden  sektiererischen  und  häretischen  Be- 
mühungen zur  Reform  der  Kirche  Zeugnis  abgeben.  Mit  diesen 
Regungen  geistiger  Selbständigkeit  verknüpfte  sich  die  un- 
geheure Bereicherung  des  Weltbildes  und  die  Vervollkomm- 
nung der  wissenschaftlichen  Methode,  welche  die  Theologie  den 
Schriften  des  Aristoteles  und  seiner  arabischen  Kommentatoren 
verdankte. 

Wer  die  Sentenzen  des  Petrus  Lombardus  mit  der  um- 
fassenden Summa  des  Alexander  von  Haies,  von  der  Roger 
Baco  mit  Recht  sagt:  quae  est  plus  quam  pondus  unius  equi, 
vergleicht,  wird  unmittelbar  gewahr  des  gewaltigen  Umschwunges, 
den  die  Theologie  im  Verlauf  des  Menschenalters,  das  die 
beiden  Männer  von  einander  trennt,  durchgemacht  hat.  Man 
hat  in  das  theologische  System  die  Grundfragen  der  Philosophie 
in  technischer  Zuspitzung  hineingezogen,  man  hat  in  grossem 
Massstab  alle  theologischen  Meinungen  der  Vergangenheit  ge- 
sammelt und  man  ist  auf  das  lebhafteste  bemüht,  den  dia- 
lektischen Nachweis   für  ihr  Recht   oder  Unrecht  zu  führen. 


Aristoteles  und  die  Araber.  601 

Die  Methode^   deren  man  sich  dabei  bediente,  war  der  aristo- 
telischen resp.  arabischen  Dialektik  abgesehen. 

Die  Sicherheit,  mit  der  man  schon  früh  die  Amalgamie- 
rung  der  fremdartigen  Stoffe  und  die  Anwendung  der  neueren 
Methode  auf  die  Lehren  der  Vorzeit  vollzog,  wäre  nicht  so 
rasch  erworben  worden,  wenn  nicht  die  arabische  Philosophie 
unter  dem  Druck  einer  ähnlichen  Fragestellung  —  Aristoteles 
und  die  positive  Religion  —  gearbeitet  hätte.  Schon  früh  hatten 
die  Araber  eine  Religionsphilosophie  herausgebildet,  welche  die 
Religion  oder  nach  ihrer  Auffassung  die  religiöse  Rechtslehre 
begründen  sollte.  Von  der  Welt,  von  Gott,  von  der  Offen- 
barung, von  Propheten  und  Gesetzgebung  war  man  hier  zu 
reden  gewohnt.  Die  Fragen  nach  der  Allmacht  Gottes  in 
ihrem  Verhältnis  zur  menschlichen  Freiheit  waren  ihnen  wohl 
vertraut.^)  Ein  Mann  wie  Ibn  Sina  (Avicenna)  hatte  dann 
die  Behauptung  verfochten,  dass  Wissenschaft  und  Glaube  in 
keinem  Gegensatz  zu  einander  ständen.  Die  Propheten  hätten, 
ohne  Beweise  zu  liefern,  die  Wahrheiten  vorweggenommen,  die 
zu  beweisen  der  Philosophie  obliege.  Die  Theologie  spreche 
daher  vielfach  Wahrheiten  aus,  die  der  unerleuchtete  Verstand 
des  Menschen  zunächst  nur  für  möglich  ansehen  könne.  ^)  — 
Noch  der  letzte  unter  den  grossen  arabischen  Philosophen, 
Ibn  Roschd  (Averroes)  hat  diesen  Problemen  eifrig  nach- 
gedacht. Non  est  modus  ad  perveniendum  ad  scientiam,  nisi 
postquam  pervenerit  ad  religionem  meint  er.  Nur  für  wenige 
sei  die  philosophische  Erkenntnis  erreichbar,  die  grosse  Menge 
wird  für  immer  sich  mit  der  positiven  Religion  oder  dem  Ge- 
setz begnügen  müssen.  Aber  die  Erkenntnisse  der  Religion 
tragen  einen  rein  praktischen  Charakter,  daher  beschränken  sie 
die  Spekulation  nicht.  Das  Gesetz,  das  die  Propheten  gaben, 
kann  nicht  das  Naturgesetz  aufheben.  ^)  Es  mögen  diese 
Notizen  zur  Vergegenwärtigung  der  Problemstellung  genügen. 
Es  versteht  sich  von  selbst,  dass  sie  der  ganzen  Philosophie 
neue  Fragen  und  neue  Schwierigkeiten  zuführte.     Trotzdem  ist 


')  S.  K  i  1 1  e  r ,  Geschichte  der  Philosophie  Bd.  VII  (1844),  S.  704  f.  738  ff. 
2)  Kitter  a.  a.  0.  Bd.  YlII,  26.  49 f. 
»   Ritter  VIII,  118ff. 


602         Kap.  VII:  Die  geschichtliche  Stellung  des  Duns  Scotus. 

der  arabischen  Pliilosopliie  bei  weitem  nicht  in  dem  Mass 
wie  der  Scholastik  der  theologische  Charakter  aufgedrückt. 
Das  l)egreift  sich  zur  Genüge  aus  der  wissenschaftlichen  Ge- 
staltung, welche  die  christliche  Religion  im  Dogma  empfangen 
hatte,  und  aus  dem  Umfang  der  Beziehungen  zwischen  dem 
Dogma  und  der  gesamten  Weltanschauung. 

So  wiederholte  sich  denn  in  der  Kirche  der  Kampf  zwischen 
Aristoteles  und  dem  Dogma,  den  schon  der  Islam  gekannt  hat. 
Aber  die  Situation  war  insofern  auch  eine  völlig  andere,  als 
das  Dogma  der  Kirche  eine  ausgeprägte  und  vielseitige  Welt- 
anschauung und  -beurteilung  in  sich  schloss  und  dadurch  die 
Philosophie  immer  nur  als  Dienerin  und  Ergänzerin  brauchen 
konnte. 

7.  Bekanntlich  ist  es  vor  allem  Albert  der  Grosse  ge- 
wesen, der  mit  emsigem  Fleiss  die  aristotelische  Wissenschaft 
erläuterte  und  dadurch  zum  Gemeingut  machte.  Thoraas 
von  Aquino  versuchte  dann  zuerst  in  seinen  beiden  Summen 
ein  System  der  Theologie  herzustellen,  das  überall  auf  aristo- 
telischer Grundlage  ruht,  und  doch  die  kirchlichen  Lehren  auf 
das  korrekteste  wiedergibt.  Aber  dies  Unternehmen  stiess  zu- 
nächst auf  schweren  Widerspruch.  Zum  Verständnis  der  Ge- 
schichte der  Theologie  des  13.  Jahrhunderts  ist  es  wichtig,  sich 
über  diesen  und  seine  Gründe  klar  zu  werden.  ^)  Die  theo- 
logischen Censurierungen,  die  Stephan  von  Paris  und  Robert 
Kilwardby,  sowie  Johann  Peccham  von  Canterbury  vornahmen 
(s.  hierüber  oben  S.  53),  waren  in  erster  Linie  wider  den 
Aristotelismus  des  Albert,  des  Thomas  und  ihrer  Anhänger 
gerichtet,  sie  galten  aber  auch  überhaupt  einer  Steigerung  des 
rationalen  Elementes  in  der  Theologie.  Die  ältere  Theologie  — 
wie  Alexander  von  Haies,  Wilhelm  von  Auvergne  —  hatte  die 
platonisch-augustioische  Philosophie  befolgt.  Diese  galt  daher 
zunächst  als  „kirchliche''  Lehrweise.  Dem  schwebenden  und 
unbestimmten  Idealismus  dieser  Lehre  schien  mehr  religiöse 
Stimmung   und  Weihe   eigen   zu   sein,    als  der  nüchternen  und 


^)  Vgl.  Ehrle  im  Archiv  für  Litteratur-  und  Kirchengeschichte  des 
Mittelalters  Ed.  VI   603  ff". 


Die  Theologie  des  dreizehnten  Jahrhunderts.  603 

kritischen  Methode  des  Aristoteles.^)  Wie  man  also  im  einzelnen 
die  aristotelischen  Lehren  missbilligte ,  so  erschien  auch  die 
ganze  dialektisch  kritische  Methode  als  nicht  unbedenklich. 

Der  Erfolg  dieser  Massregeln  ist  doch  nur  ein  geringer 
gewesen.  Den  Fortgang  der  formalen  Dialektik  und  Kritik  in 
der  Theologie  vermochte  nichts  aufzuhalten,  denn  in  dieser 
Richtung  bewegten  sich  die  geistigen  Tendenzen  des  Zeitalters. 
Dagegen  könnte  man  annehmen,  dass  in  etwas  diese  Censur 
zum  Fortbestand  der  platonisch-augustinischen  Richtung  bei- 
getragen habe.  Indessen  sind  es  doch  in  Wirklichkeit  andere 
Gründe,  die  hiefür  in  Betracht  kommen.  Einerseits  ist  es  nur 
selbstverständlich,  dass  eine  Geistesrichtung  nicht  plötzlich  aus 
dem  Zusammenhang  der  Geschichte  ausgeschaltet  wird.  Eine 
Erscheinung,  wie  die  des  Heinrich  von  Gent,  der  dem 
Augustinismus  resp.  Piatonismus  zugethan  war,  darf  also  nicht 
als  eine  historische  Anomalie  bezeichnet  werden.  Andererseits 
greift  aber  hier  die  englische  Theologie  bestimmend  in  die 
Geschichte  der  Scholastik  ein.  Die  Linie  Anselm  —  Robert 
von  Lincoln  —  Duns  Scotus,  die  früher  (oben  S.  9  ff.)  aufgezeigt 
wurde,  wird  hier  zu  einer  historischen  Macht.  So  ist  Duns 
Scotus  durch  seine  theologische  Herkunft  der  berufene  Ver- 
treter platonisch-augustinischer  Ideen  gegenüber  dem  Thomas. 
Der  grosse  Gegensatz  zwischen  Thomisten  und  Scotisten  ist 
also  in  gewissem  Sinn  ein  Gegensatz  moderner  und  älterer 
Theologie  gewesen. 


^)  Die  aristotelische  Philosophie  hat  ihren  kirchlichen  Vertretern 
nicht  selten  üble  Nachrede  eingetragen,  man  denke  an  die  christologischen 
Gegensätze  in  der  alten  Kirche.  Eine  überraschende  Parallele  zu  den 
mittelalterlichen  Gegensätzen  —  der  fromme  Plato  und  der  gottlose 
Aristoteles  —  bietet  der  Pietismus  dar.  Der  Pietist  J oh.  Wilh.  Zierold 
hat  in  seiner  „Einleitung  zur  gründlichen  Kirchenhistorie"  (Leipz.  u.  Star- 
gard  1700)  geradezu  das  Verhältnis  zu  Plato  und  Aristoteles  zum  Wert- 
massstab für  die  leitenden  Personen  der  Kirchengeschichte  gemacht.  Die 
alte  Kirche  war  mehr  platonisch  gesinnt  (I,  313),  das  Mittelalter  war  ganz 
aristotelisch.  Als  Luthers  Hauptverdienst  erscheint,  dass  er  die  aristo- 
telische Philosophie  verachtete  (I,  375),  während  das  ganze  Elend  der 
evangelischen  Kirche  sich  daraus  verstehe,  dass  Melanchthon  als  ein 
„listiger  aristotelischer  Dialektikus"  die  Scholastik  wieder  eingeführt  habe 
(I,  384). 


604         Kap.  VlI :  Die  geschichtliche  Stellung  des  Duns  Scotus. 

Die  Richtigkeit  dieser  historischen  Kombination  kann  da- 
durch nicht  angefochten  werden,  dass  Duns  in  seiner  Philo- 
sophie sachlich  von  Aristoteles  ebenso  beeinflusst  ist,  als  seine 
dialektische  Methode  auf  ihn  zurückweist.  Denn  trotzdem  ist 
er  als  Philosoph  in  der  Frage  nach  den  üniversalien  Plato 
weit  näher  gekommen  als  Thomas.  Und  als  Theologe  hat 
Duns  an  einem  der  Hauptpunkte ,  der  Sakramentslehre, 
Augustin  näher  gestanden  ^)  als  Thomas. 

8.  Somit  ist  der  Gegensatz  von  Duns  Scotus  zu  Thomas 
zunächst  zu  verstehen  aus  der  Reaktion  der  älteren  theolo- 
gischen Tradition  gegen  die  Aristotelisierung  der  Theologie. 
Dazu  kam  aber,  dass  Duns  auch  wissenschaftlich  den  Thomis- 
mus  zu  überbieten  versuchte.  Mit  weitschauendem  Geist  schuf 
er  neue  Kombinationen  der  Mittel  und  eine  schärfere  Be- 
stimmung der  Ziele.  Mit  dem  Scharfsinn  und  der  Sicherheit 
des  überlegenen  Geistes  führte  er  für  seine  Ideen  den  Nach- 
weis. Aber  er  hat  dabei  den  Vertreter  der  alten  Theologie, 
Heinrich  von  Gent  nicht  minder  scharf  bekämpft  als  den 
Führer  der  Modernen  von  damals,  Thomas.  Die  alte  Lehre 
sollte  in  neue  Formen  gefasst,  durch  neue  Beweise  gestützt 
werden.  Aber  schliesslich  muss  man  doch  urteilen,  dass  Duns 
nicht  ein  Vertreter  des  Alten  war.  In  ihm  hat  die  spekulative 
Erfahrungstheologie  Anselms  und  Roberts  eine  Hohe  erreicht 
und  Formen  angenommen,  die  sie  nicht  minder  wie  den  Thomis- 
mus  als  Fortschritt  und  Neuerung  erscheinen  lassen.  Der 
Scotismus  stellt,  wie  der  Thomismus,  einen  neuen  selbständigen 
Versuch  dar  die  Probleme  der  Zeit  zu  bearbeiten  und  zu  lösen. 
Ja  man  darf  noch  mehr  sagen,  der  Vertreter  der  alten  anti- 
aristotelischen Theologie  war  im  Grunde  in  weit  höherem 
Masse  ein  Neuerer  und  ein  freier  kritischer  Geist  als  der 
Aristoteliker  Thomas. 

Das  zeigt  sich  daran  besonders  deutlich^  dass  Thomas  fast 
nie  in  die  Lage  kam  der  Vernunft  Schweigen  vor  dem  Dogma 
zu  gebieten,  sie  harmonierten  bei  ihm  eben  beide  trefflich  mit- 
einander. Dagegen  hat  Duns  die  Theorie  des  kirchlichen 
Positivismus    oft    genug    wider    seine    Kritik    zu   Hilfe    rufen 


^)  Wie  auch  die  übrigen  Franziskanertheologen. 


Der  innere  Zusammenhang  der  Geschichte  der  Scholastik.       605 

müssen.  Die  äusseren  Verhältnisse  haben  ihm  diese  Theorie 
nahegerückt,  aber  nicht  nur  diese,  auch  innerlich  ist  sie  in 
seinem  Denken  begründet  gewesen,  wie  wir  schon  angedeutet 
haben  (oben  S.  13,  33,  53). 

Hieraus  ergibt  sich  die  Stellung  des  Duns  Scotus  in  der 
Geschichte  der  Scholastik.  Zwei  grosse  geistige  Strömungen 
bedingen  den  Gang  dieser  Geschichte,  sie  sind  mehr  als  zwei 
Jahrhunderte  über  —  vielfach  sich  berührend  und  in  einander 
greifend  —  deutlich  erkennbar.  Die  dialektisch  -  kritische, 
formal  wissenschaftliche  Richtung  führt  von  Berengar  zu  Abä- 
lard,  von  Abälard  zum  Lombarden,  vom  Lombarden  zu  Thomas 
und  seinen  Schülern.  Die  logische  Verarbeitung  des  Dogmas 
und  der  dialektische  Nachweis  seiner  Richtigkeit  resp.  Wahr- 
scheinlichkeit oder  Möglichkeit  —  das  war  hier  die  Aufgabe, 
diesem  Zweck  diente  auch  Aristoteles.  Eine  andere  Reihe,  in  der 
religiöse  Empirie,  kirchliche  Positivität  und  kühne  spekulative 
Tendenzen  zusammenwirken,  schritt,  einerseits  von  Anselm  aus- 
gehend, durch  Theologen  wie  Hugo  von  St.  Viktor,  Wilhelm 
V.  Auvergne  und  Alexander  zu  der  streng  kirchlichen  Spekulation 
Heinrichs  und  Bonaventuras  fort.  Andrerseits  knüpfte  speziell 
in  England  an  Anselm  die  Oxforder  Schule  an,  sie  führte  von 
Grosseteste  zu  Männern  wie  Richard  von  Middleton  und  Roger 
Bacon,  und  endlich  zu  Duns  Scotus.  Aber  mit  Duns  Scotus 
tritt  diese  Richtung  in  ein  neues  Stadium.  Er  hat  sie  einer- 
seits auf  die  höchste  Höhe  der  Wissenschaft,  die  das  Mittelalter 
überhaupt  erreicht  hat,  erhoben,  und  er  hat  sie  andrerseits  so 
modifiziert,  dass  aus  ihr  ein  ganz  Neues  hervorging,  das  sich 
gegen  bestimmte  Grundelemente  in  ihr  selbst  siegreich  kehrte. 
Doch  kann  letzteres  erst  später  genauer  bestimmt  werden. 

9.  Ehe  wir  nun  den  Versuch  machen,  die  Gedankenwelt 
des  Duns  in  einer  einheitlichen  Übersicht  zu  reproduzieren^ 
soU  wenigstens  durch  einige  Bemerkungen  die  Tendenz  seiner 
beiden  Rivalen  Heinrich  und  Thomas  kurz  beleuchtet  werden. 

Heinrich    von    Gent   (f  1293)^)    kann   mit  Sicherheit 

^)  Für  die  folgende  Darstellung  habe  ich  besonders  benützt  Heinrichs 
Quodlibeta  (ed.  Zuccolius  Yenetiis  1613  2  Bde.  fol.)  Ausserdem  ist 
von  seinen  Schriften  noch  gedruckt  Summa  quaestionum  ordinariarum ; 
da  es  der  erste  die  Gotteslehre  enthaltende  Teil  einer  Summa  ist,   auch 


606         Kap.  VII:  Die  geschichtliche  Stellung  des  Duns  Scotus. 

als  ein  Theologe  der  älteren  Richtung  bezeichnet  werden. 
Strenge  Orthodoxie  vereinigt  sich  bei  ihm  mit  einem  lebhaften 
spekulativen  und  metaphysischen  Interesse.  Er  stellt  sich  mit 
Bewusstsein  auf  die  Seite  Piatos :  Pläto  multo  melius  sentiebat 
et  fidei  magis  congruentia  quam  Aristoteles  (Summa  theol. 
art.  25  qu.  3.  Augustin,  der  Areopagite,  von  Neueren  auch 
Anselm  sind  seine  Autoritäten.  Aber  er  glaubt  auch  an 
Aristoteles.  Der  aristotelische  BegrifFsap parat  erscheint  ihm 
als  der  allein  mögliche  v^^issenschaftliche  Ausdruck  der  Wahr- 
heit, die  Dialektik  als  die  notwendige  Methode  der  Wissen- 
schaft. Daraus  ergibt  sich  die  Eigenart  seines  Standpunktes. 
Mystischer  Idealismus  und  methodische  Dialektik,  die  Kontem- 
plationen und  Spekulationen  eines  frommen  Instinktes  und  die 
strenge  Erkenntnis  des  Wirklichen  sollen  sich  zur  Einheit  einer 
wissenschaftlichen  und  kirchlichen  Weltanschauung  verbinden. 
Die  beiden  Interessen  stossen  wider  einander,  aber  eine  fromme 
Phantasie  und  ein  nicht  unerheblicher  formaler  Verstand 
stehen  immer  bereit  durch  allerhand  Distinktionen  und  auf 
mancherlei  Brücken  den  Frieden  und  die  Verbindung  wieder  her- 
zustellen. Ein  starkes  lebhaftes  Empfinden  ist  Heinrich  eigen; 
dazu  kommt  die  Neigung  zu  psychologischen  Erörterungen  und 
ein  reger  Sinn  für  praktische,  kirchliche  oder  ethische,  Fragen. 
Der  langatmige  Idealismus  seiner  Ausführungen  mit  ihrer  wort- 
reichen Breite  erinnert  bisweilen  an  Clemens  von  Alexandrien. 
Heinrich  hatte  zwischen  zwei  feindlichen  Heerlagern  eine  Burg 
des  Friedens  errichten  wollen,  hat  man  seine  Lehre  doch  mit 
Recht  als  „une  glose  platonicienne  des  aphorismes  d'Aristote** 
bezeichnet.  Er  stand  auf  Seiten  des  Klerus  im  Kampf  wider 
die   Ansprüche    der   Bettelorden   und    er  hat   die   Censur   des 


Summa  theologica  genannt  (Paris  1520,  2  Bde.  fol.).  Eine  einigermassen 
genügende  Darstellung  seiner  philosophischen,  theologischen  und  ethischen 
Anschauungen  fehlt  uns.  Man  sehe  über  ihn  H  u  e  t ,  ßecherches  historiques 
et  critiques  eur  Henri  de  Gand,  Gand  et  Paris  1838.  Werner,  H.  v.  Gent 
als  Repräsentant  des  christl.  Piatonismus,  in  den  Denkschriften  der  Wiener 
Akademie  der  Wiss.  Phil.-hist  Gl.  Bd.  28  (1878),  S.  97fif.  Schwane, 
Dogmengesch.  des  Mittelalters  S.  71 — 76.  Prantl,  Gesch.  der  Logik 
III,  190  ff.  H  a  u  r  e  a  u ,  Hist.  de  la  philos.  scolastique  II  2,  52  £F.  S  i  e  b  e  c  k 
in  Ztschr.  für  Philos.  u.  phüos.  Kritik  Bd.  93,  S.  200  ff. 


Der  Realismus  des  Heinrich  von  Gent.  607 

Stephan  von  Paris  mit  herstellen  helfen  ^),  er  war  aber  andrer- 
seits ein  Schüler  Alberts,  wie  Thomas,  und  hat  die  aristotelische 
Zucht  nie  vergessen.  Was  wunder,  wenn  sein  Bau  von  beiden 
Lagern  her  beschossen  wurden,  von  den  Thomisten  wie  auch 
von  Duns  Scotus !  Er  hat  den  Bettelmönchen  weichen  müssen, 
nicht  nur  in  Paris,  sondern  auch  in  der  Wissenschaft. 

10.  Heinrich  ist  Eealist  in  der  Weise  der  Alten.  Der 
Intellekt  erkennt  das  Universale  und  vermag  erst  durch  eine 
reflexio  —  so  lehrt  er  mit  Thomas  —  das  einzelne  Ding  zu 
ergreifen,  d.  h.  so,  dass  er  dessen  gewahr  wird,  dass  dies 
Universale  ihm  durch  ein  bestimmtes  Phantasma  vermittelt 
wiu'de  (Quodlib  IV  quaest.  21).  Aber  gegenüber  der  dem 
Thomas  in  der  Erkenntnislehre  eigenen  Zurückstellung  der 
Universalia  ante  rem  gegen  die  Universalia  post  rem,  hat 
Heinrich  mit  aller  Energie  das  ideelle  überexistentielle  Sein 
der  Dinge  betont.  Die  Ideen  oder  Formen  seien  rationes 
aeternae  im  göttlichen  Intellekt.  Sie  sind  die  Urbilder  alles 
Seienden,  das  nur  ist,  sofern  es  an  ihnen  partizipiert  als  exem- 
platum  am  exemplar;  dies  gilt  aber  nur  von  den  wirklichen 
res  naturales,  nicht  von  etwaigen  formae  artificiales  oder  den 
intentiones  secundae  (wie  die  Begriffe  genus,  species,  aber  auch 
die  Zahlbegriffe),  Die  Essenz  oder  die  Quiddität  eines  Dinges 
ist  sonach  die  göttliche  Idee  desselben.  Das  ist  das  esse 
essentiae.  Diese  Ideen  befassen  nicht  das  einzelne  Ding  als 
solches  in  sich,  sondern  nur  die  Gattung,  die  dann,  wie  ein 
Lichtstrahl  sich  in  vielen  Strahlen  bricht,  in  den  Einzeldingen 
sich  ausstrahlt.  Also  die  animalitas  oder  humanitas  sind  in 
Gott  ewig  und  an  sich  den  Kategorien  der  Existenz  oder  der 
Nichtexistenz,  des  Singularen  und  Universalen  nicht  unterstellt. 
Hievon  ist  aber  zu  unterscheiden  das  esse  existentiae  als  das 
aktuelle  Dasein  und  das  esse  rationis  als  das  Sein  im  logischen 
Begriff  der  Erkenntnis.  Erst  letztere  prägt  das  Ding  als  Universale 
oder  Singulare,  aber  die  Quiddität  des  Dinges  ist  doch  ein  an  sich 
in  der  göttlichen  Idee  Seiendes.  Damit  kommt  Heinrich  dem 
Peripatetismus  einerseits  entgegen  und  bringt  doch  wieder  den 
Piatonismus  auf  einen  klaren  Ausdruck.     Dies  essentielle  Sein 


^)  Quodlib.  II  quaest.  9. 


608         Kap.  VII:  Die  geschichtliche  Stellung  des  Duns  Scotus. 

ist  aber  der  Natur  an  sich  eigen^  sofern  Gott  ist;  dagegen 
wird  sie  in  das  existentielle  Sein  erst  durch  eine  schöpferische 
That  Gottes  versetzt,  zugleich  aber  ist  es  auch  als  eine  Aus- 
strahlung ans  jenen  ewigen  Ideen  Gottes  zu  betrachten.  Aus 
letzterem  versteht  es  sich  nun  auch,  dass  Heinrich  einen  realen 
Unterschied  zwischen  der  essentiellen  und  existentiellen  Seins- 
weise der  Dinge  leugnet.  Alle  Dinge  sind  also,  nach  Heinrichs 
Auffassung,  an  sich  in  Gott  als  Idee  real,  aus  dieser  Idee 
strahlt  aus  —  nach  Gottes  Willen  —  das  wirkliche  Ding,  und 
dies  wird  dann  von  der  Erkenntnis  als  Universale  resp.  Singu- 
lare aufgefasst  (Quodlib.  VII  quaest.  1 ;   III  qu.  9 ;  I  qu.  9). 

Nun  ist  aber  das  Subjekt  der  Erkenntnis  die  Seele.  Wie 
nun  das  Sein  und  das  Sondersein  der  Person  identisch  sind, 
so  ist  auch  die  Seele  identisch  mit  ihren  Kräften,  sodass  die 
denkende  wie  die  sensitive  und  vegetative  Potenz  der  Seele 
eine  Substanz  ausmachen  und  sich  nicht  substanziell  von  ein- 
ander unterscheiden  (Quodlib.  III  qu.  6  u.  14).  Heinrich 
weicht  durch  diese  Ansicht  von  Thomas  ab  und  rückt  der 
scotistischen  Ansicht  nahe  (oben  S.  80  f.).  In  diesem  Zusammen- 
hang ist  es  aber  begründet,  dass  für  Heinrich  das  Erkennen 
ähnlich  wie  die  Wahrnehmung  von  sinnlichen  Eindrücken  als 
etwas  von  aussen  Gewirktes,  Passives  zu  stehen  kommt.  Hier 
will  weiter  erwogen  sein,  dass  nach  Heinrich  die  Materie  nicht 
reine  potentia  ist,  sondern  dass  sie,  indem  sie  als  selbständiges 
Wesen  von  Gott  erschaffen  wurde  und  von  uns  gedacht  wird, 
ein,  vermöge  einer  ihr  eigenen  Form,  actu  subsistena,  wenn- 
gleich nicht  in  der  vollkommenen  Weise  wie  die  Form,  ist 
(Quodlib.  I  quaest.  10  u.  12). 

Es  empfängt  sonach  die  Materie  ihr  Sein  nicht  erst  durch  die 
besondere  Form,  sondern  ist  vermöge  der  Schöpfung  in  vollem 
Sinn  Seiendes.  Dem  entsprechend  wird  nun,  um  die  Vereinigung 
der  Seele  mit  der  Materie  zu  einem  konkreten  Wesen  vorstell- 
bar zu  machen,  eine  die  Materie  zu  dieser  Vereinigung  dispo- 
nierende Form  der  corporeitas  (auch  forma  mixti)  angenommen 
(Quodl.  IV  quaest.  13  vgl.  Duns  oben  S.  82). 

Auch  über  das  Individuationsprinzip  hat  Heinrich  gehandelt. 
Die  Individuation  (vgl.  oben  S.  72)  sollte  nach  Thomas  an  der 
materia  signata,  d.  h.  dem  besonderen  einer  Form  unterstellten 


Heinrich  über  Universalien  und  Individuation,  609 

Teil  der  Materie  ihr  Prinzip  haben,  dagegen  sollen  die  rein 
geistigen  Wesen  (die  Engel)  solch  eines  Prinzips  nicht  be- 
dürfen, weil  diese  als  besondere  Formwesen  an  sich  individuell 
wären.  Heinrich  will  Form  und  ludividuation  scharf  getrennt 
wissen ,  da  man  in  keinem  Ding  die  Individualität  als  be- 
sonderen Bestandteil  desselben  aufzeigen  kann.  Somit  müsse 
sie  negativ  erklärt  werden.  Wenn  ein  Ding  wird,  so  ist  dies 
Werden  von  einer  doppelten  Negation  begleitet,  nämlich 
1)  wird  von  diesem  Ding  nach  innen  hin  die  Plurifikabilität 
und  Verschiedenheit  entfernt,  2)  nach  aussen  hin  die  Identität. 
Das  heisst  also  etwa,  das  Ding  bildet  eine  in  sich  zusammen- 
hängende unteilbare  Einheit,  die  so  bei  keinem  anderen  wieder- 
kehrt. Wie  ein  Accidenz  hafte  diese  negative  Determination 
allen  Dingen  an  (Quodlib.  V  quaest.  8).  Die  fatale  Konsequenz. 
dieser  Auffassung  war  es  nun  aber,  dass  Heinrich  dem  Ein- 
zelnen und  Realen  in  seinem  Denken  immer  ferner  rückte. 
Ding  und  Ding  derselben  Gattung  unterscheiden  sich  nur  da- 
durch, dass  dies  nicht  jenes  ist,  ohne  dass  der  Grund  dieser 
Differenz  ersichtlich  würde.  Dies  tritt  ziemlich  deutlich  dort 
hervor,  wo  Heinrich  die  individuelle  Differenz  der  Engel  be- 
spricht. Auch  ihre  Vielheit  muss  von  Gott  herrühren,  qui  est 
natura  naturans  omnia ;  nur  wissen  wir  nicht,  wodurch  sie  wird 
und  ist :  quales  secundum  substantiam  sint  differentes,  nescimus ; 
solus  autem  deus  qui  fecit  eos  novit  (Quodl.  II  quaest.  8). 

Die  Sachlage  ist  also  die,  dass  die  Welt  der  Objekte  auf 
den  Menschen  eine  aktive  Wirkung  übt,  durch  die  zunächst 
Imaginationen  oder  Phantasmata  (species  sensibilis  impressa) 
im  Menschen  bewirkt  werden,  welche  dann  durch  die  Thätigkeit 
des  intellectus  agens  in  Begriffe  umgesetzt  und  in  den  Geist 
eingeführt  werden.  Eigentliche  Species  intelligibiles  gibt  es 
nach  Heinrich  nicht.  Heinrich  vergleicht  diesen  Vorgang  der 
Beleuchtung  der  Farben  auf  einer  Fläche  durch  ein  Licht, 
wodurch  sie  erst  in  das  Auge  versetzt  werden  (Quodlib.  V 
quaest.  14;  III  quaest.  12;  IV  quaest.  7).  Je  grösser  nun  in 
diesem  Vorgang  die  Bedeutung  der  Objekte  ist,  desto  ver- 
hängnisvoller ist  es,  dass  Heinrich  keine  klare  Vorstellung  von 
ihnen  hat.  Das  was  der  intellectus  agens  dem  Phantasma  ent- 
nimmt, soll  das  Universale  sein,  das  auf  reflexivem  Wege  dann 

Seeberg,  Die  Theologie  des  Duns  Scotus.  -^9 


610         Kap,  VII:  Die  geschichtliche  Stellung  de3  Duns  Scotus. 

auf  das  das  Phantasma  verursachende  Ding  übertragen  wird, 
wie  wir  sahen.  Nach  Thomas  ist  die  Materie  reine  Potenzia- 
lität,  darum  kann  die  sie  aktuierende  Form  für  den  Erkenntnis- 
akt als  Exponent  des  Wesens  der  Dinge  in  Betracht  kommen. 
Da  Heinrich  von  einer  besonderen  Form  der  Materie  redet, 
so  wird  im  Erkenntnisakt  nicht  das  Wesen  dieses  Dinges  dem 
Phantasma  entnommen  werden,  sondern  nur  eine  allgemeine 
Erkenntnis  von  einem  Seienden.  Erst  recht  difiPerent  wird  die 
Sache  bei  Duns  Scotus,  und  zwar  dadurch,  dass  er  gemäss 
seiner  Schätzung  des  individuellen  Seins  die  Erkenntnis  auf 
die  Erkenntnis  des  einzelnen  abzielen  lässt  (oben  S.  73  f.,  103  f.). 
11.  Das  Universale  allein  soll  also  der  Ertrag  des  Er- 
kennens  sein.  Und  nun  rückt  plötzlich,  trotz  aller  peripatetischen 
Formeln,  das  Erkennen,  wie  bisweilen  bei  Augustin,  in  die  rein 
religiöse  Sphäre.  Da  unsicher  und  schwankend  die  Welt  der 
Objekte  wie  unser  eigenes  Wahrnehmungsvermögen,  so  wird 
zu  der  Wirkung  der  sinnlichen  Gegenstände  noch  ein  be- 
sonderes Gotteswirken  hinzugefügt.  Nur  durch  ein  be- 
sonderes Organum,  das  von  Gott  erleuchtet  wird,  vermag  der 
Mensch  das  wirkliche  Wesen  der  Dinge,  das  ist  aber  das 
Unisersale,  zu  erkennen.  Immer  wieder  zieht  die  Sinnenwelt 
den  Geist  ab  von  diesem  überirdischen  Licht.  Trotzdem  hält 
die  Seele  jene  nicht  durch  die  Sinne  übermittelte  Erkenntnis 
fest  und  bildet  aus  ihr  die  Habitus  wahrer  Erkenntnis. 
Attingendo  autem  illas  corporeas  rationes  illustratione  quadam 
ab  illa  specie  lucis  aeternae,  etsi  non  ut  obiecto  cognito,  sed 
ut  ratione  cognoscendi  cognoscit  de  illis  sinceram  veritatem 
quam  ex  sensibus  et  phantasmatibus  haurire  non  posset  .  .  . 
et  per  hoc  auima  habitus  veros  scientiales  acquirit  eorum  quae 

iatelligimus. Et  sie  per  formas  quae  sunt  essentiae  rerum, 

ut  secundum  se  conspiciuntur,  illustratione  lucis  increatae  cogno- 
scuntur  vera  notitia  ipsae  eaedem  formae,  ut  habeut  esse  in 
materia  quae  conspiciuntur  in  phantasmatibus  illustratione  lucis 
creatae  quae  est  intellectus  agentis  (Quodlib.  IX  qu.  15). 
Diese  Erleuchtung  durch  die  Erkenntnis  der  Urbilder  alles 
Seins  ist  aber  eine  reine  Gnadengabe  Gottes.  Homo  ex  puris 
naturalibus  attingere  non  potest  ad  regulas  lucis  aeternae,  ut 
in   eis   videat  rerum  sinceram   veritatem,   .   .  .   sed   illas   deus 


Heinrich  über  Erkenntnis  und  Wille.  QW 

offert  quibus  vult,   et   quibus  vult  subtrahit  (Summ.  th.  art.  1 
quaest.  2). 

Diese  Betrachtung  zieht  allerdings  die  Sache  aus  der 
Sphäre  der  Wissenschaft  heraus.  Aber  sie  ist  für  die  innersten 
Tendenzen  Heinrichs  und  der  älteren  Theologie  sehr  charakte- 
ristisch. Schliesslich  bleibt  es  dabei,  dass  man  soviel  erkennt, 
als  einen  Gott  erkennen  lässt,  oder  man  zu  erkennen  für  nötig 
hält;  Aristoteles  darf  nur  mitreden,  sofern  er  diese  Schranke 
respektiert. 

12.  Wir  wenden  uns  nun  der  Bedeutung  des  Willens  in 
der  Psychologie  Heinrichs  zu.  In  dem  Mass,  als  der  Intellekt 
passiv  vorgestellt  wurde,  musste  zur  Herstellung  des  Gleich- 
gewichtes der  Seele  der  Welt  gegenüber  auf  den  Willen  ein 
stärkerer  Ton  fallen.  Wille  und  Intellekt  stellen  den  Zusammen- 
hang zwischen  dem  Subjekt  und  dem  Objekt  her,  aber  durch  eine 
in  entgegengesetzter  Richtung  verlaufende  Bethätigung:  intelli- 
gere  est  quasi  motus  circularis  aut  reflexus  incipiens  a  re  reflexa 
in  intellectum  et  ab  intellectu  iterato  terminatur  in  rem  intel- 
lectam.  Velle  autem  e  contrario  est  quasi  motus  circularis  aut 
reflexus  incipiens  a  voluntate  in  obiectum  et  ab  obiecto  iterum 
terminatur  in  obiectum.  Dieser  Gegensatz  der  Richtung  wie 
die  durch  ihn  vernotwendigte  Unterscheidung  der  beiden  Funk- 
tionen ist  dadurch  bedingt,  dass  der  Mensch  das  Wahre  zu- 
nächst als  etwas  in  ihm  Seiendes,  das  Gute  aber  als  etwas 
ausserhalb  seiner  Belegenes  empfindet.  Zwar  geht  dem  Willens- 
akt ein  Gedanke  immer  voran,  sofern  der  Wille  nur  Gedachtes 
zum  Objekt  machen  kann,  trotzdem  hängt  das  eigentliche 
Wollen  nicht  von  jenem  begriffenen  Objekt,  sondern  von  einer 
Selbstbestimmung  ab :  bonum  tamen  cognitum  nullam  impressi- 
onem  aut  motum  facit  in  voluntatem,  sed  voluntas  in  ob- 
iectum ostensum  seipsam  movet  seipsa  (Summ, 
art.  45  qu.  2). 

Genauer  betrachtet  ist  der  Wille  ein  principium  activum, 
nicht  aber  in  der  Weise  eines  appetitus  sensitivus,  vielmehr: 
voluntas  est  rationalis  et  liberi  arbitrii  naturalis  appetitus 
(Quodl.  I  quaest.  16).  Dieser  geistige  Trieb  ist  nun  von  Natur 
so  beschaffen,  dass  er,  wie  die  Vernunft  nur  in  dem,  was  ihr 
formal  als  wahr  gilt,    ruht,   nur  auf  etwas  ihn  gut  Dünkendes 

39* 


612         Kap.  VII:  Die  geschichtliche  Stellung  des  Duns  Scotus. 

abzielt,  Dach  Augustins  AVort:  naturale  est  nobis  volle  viver(3 
bene.  Das  ist  der  Wille,  rein  fornial  als  Trieblebon  ange- 
sehen. Nun  ist  aber  dieser  Wille,  sofern  er  zu  wirklichen 
Gütern  in  Beziehung  tritt,  schlechthin  indeterminiert.  Die 
Vernunft  hält  ihm  die  Möglichkeiten  der  Entscheidung  vor  und 
empfiehlt  eine  unter  ihnen  an.  Aber  der  Wille  lässt  sich  da- 
durch nicht  bestimmen ,  sondern  behält  sich  allein  die  Delibe- 
ration  vor.  Als  voluntas  arbitrio  libera  vollzieht  der  AVille  in 
schlechthiniger  Unabhängigkeit,  sowohl  von  der  natürlichen 
Neigung  zum  Guten  als  von  der  Beratung  seitens  der  Ver- 
nunft, seine  Entscheidung  und  hält  an  ihr  fest.  Er  wird  nicht 
bestimmt,  sondern  bestimmt  sich  selbst :  differt  libere  sui  ipsius 
determinationem  quo  aliquid  velit,  et  si  velit  libere,  eligit  contra 
rationis  determinationem  et  contra  utramque  inclinationem  (der 
Vernunft  und  der  Natur).  Nee  est  aliquo  habitu  determina- 
bilis  voluntas  in  quantum  est  arbitrio  libera,  quia  hoc  est  contra 
naturam  libertatis  (Quodl.  IV  quaest.  22;  XIV  quaest.  11).  Da- 
her müsse  man  unterscheiden  zwischen  der  libertas  arbitrandi 
in  ratione  und  der  libertas  eligendi  arbitratum  in  voluntate 
(Quodl.  I  qu.  16).  Eine  causa  voluntatis  wird,  mit  Berufung 
auf  Augustin,  ausdrücklich  verworfen.  Man  kann  weder  bei 
einer  guten  noch  bösen  That  nach  der  Ursache  fragen,  cuius 
nulla  alia  causa  est  quam  ipsa  voluntas  sibi  (ibid.). 

Heinrich  hat  also  den  Indeterminismus  der  Willensfreiheit 
vertreten.  Einen  Widerspruch  zu  dem  Gedanken ,  dass  Gott 
alle  Dinge  bewege,  hat  Heinrich  dabei  nicht  befürchtet.  Gott 
ist  allerdings  der  generalis  motor  in  qualibet  actione  omnia 
creaturae  et  hoc  in  ehciendo  ipsum  actum  .  .  .,  non  solum  in 
dando  vim  qua  actus  elicitur.  Gott  lässt  alles  sein  und  werden^ 
das  schliesst  aber  die  Freiheit  im  Sinn  des  Nichtbestimmt- 
werdens  durch  die  umgebenden  Naturgüter  oder  Vernunftgründe 
nicht  aus  (Quodlib.  XIII  quaest.  11).  —  Mit  diesem  Gedanken 
hat  Heinrich  die  Idee  des  Primates  des  Willens  vor  der  Ver- 
nunft  verbunden.  Es  kann  nämlich  erwiesen  werden,  dass  die 
Seligkeit  mit  dem  Willen  erlebt  Tverden  wird.  Die  Seligkeit 
soll  nämlich  principaliter  im  Objekt  bestimmter  Akte,  nicht  in 
den  Akten  selbst  bestehen.  Nun  ist  es  aber  Eigenart  des 
Willens  Lust  zu  empfinden  in  den  eigenen  auf  bestimmte  Ob^ 


Heinrich  über  Freiheit  und  Primat  des  Willens.  613 

jekte  gerichteten  und  in  diese  eingehenden  Akten,  während  die 
Lust  des  Erkenntnisvermögens  an  fremden  Akten  oder  Objekten 
Befriedigung  findet.  Deshalb  wird  also  die  Seligkeit  als  engste 
Verbindung  mit  Gott  mehr  in  Willensakten  als  in  Denkakten 
bestehen.  Das  gilt  von  jeder  Vereinigung  des  Geistes  mit 
Gütern  oder  Zwecken.  Voluntas  unitur  fini  per  dilectionem, 
quia  ipsa  subintrat  finem,  sese  in  ipsum  quo  ad  id  quod  est 
quantum  possibile  est  transformando.  Et  propterea  voluntas 
perfectius  unitur  fini  et  verius  quam  intellectus, 
quanto  verius  et  perfectius  est  rei  uniri  secundum  seipsam  quam 
secundum  speciem  suam  (Quodlib.  XIII  quaest.  2.  Summ, 
art.  50  quaest.  2).  Es  ist  aber  der  Wert  der  Seelenpotenzen 
nach  den  Akten  und  Habitualitäten,  in  denen  sie  sich  auswirken, 
zu  bemessen.  Da  nun  die  Liebe  mehr  ist  als  die  Weisheit,  ist 
also  der  Wille  höher  als  die  Erkenntnis  zu  stellen.  Sonach 
kann  der  Satz  als  begründet  gelten:  voluntas  praeeminet  in- 
tellectui  et  est  altior  potentia  illo.  Der  Wille  ist  primus  motor 
in  regno  animae.  Heinrich  beruft  sich  für  diese  Anschauung 
ausdrücklich  auf  Augustin   und  Anselm  (Quodl.  I  quaest.  14). 

Hienach  wird  aber  festgestellt  werden  dürfen,  dass  in  der 
älteren  Theologie  dieser  Zeit,  und  nicht  bloss  in  der  Oxforder 
Theologie  (oben  S.  33),  überhaupt  der  Gedanken  vom  Willens- 
primat vertreten  ist,  und  dass  daher  die  Gelehrten,  die  diesen 
wie  eine  Erfindung  des  Duns  Scotus  behandeln,  im  Unrecht 
sind  (vgl.  Eichard  von  Middleton  oben  S.  17).  Die  Anregung 
dazu  —  mehr  möchte  ich  nicht  sagen  —  stammte  von  Augustin, 
was  man  über  dem  geknechteten  Willen  seiner  Sündentheorie 
leicht  übersieht. 

13.  Diese  Bemerkungen  werden  die  Geistesart  des  be- 
rühmten Lehrers  dem  Leser  einigermassen  veranschaulicht 
haben.  Auf  der  einen  Seite  steht  die  starke  Sehnsucht^)  die 
ewige  Wahrheit  Gottes  zu  erkennen  oder  die  Lehren  der  Kirche 
samt  der  überkommenen  Weltanschauung  mit  Sicherheit  und 
Vernunft  als  die  himmlische  Offenbarung  behaupten  zu  können, 
Spekulation  und  mystischer  Erkenntnisdrang.     Auf  der  anderen 


^)  Vita   enim  boni    christiani   sanctum    desiderium    est,    Quodlib.    V 
qu.  22. 


614         Kap;  VII:  Die  geschichtliche  Stellung  des  Duns  Scotus. 

Seite  wird  der  Gedanke  betont,  dass  der  Mensch  wollendes 
Wesen  ist,  dass  der  Wille,  die  That  und  die  Liebe  sein  Wesen 
ausmachen.  Erscheint  dort  die  Anschauung  Gottes  als  das 
Ideal,  so  hier  die  Liebe  und  die  freie  That.  Das  war  Augustins 
spekulativer  Idealismus  und  es  war  ein  Rest  seiner  Willens- 
anschauung. 

Man  hat  sich  darüber  gewundert,  dass  Heinrich  trotz  seiner 
Willenslehre  die  Theologie  nicht  als  praktische  Wissenschaft 
bestimmt  hat  ^).  Allein  das  ist  nicht  wunderbar.  Im  Vorder- 
grund seines  geistigen  Interesses  standen  doch  die  spekulative 
Theologie  und  die  Dogmen  und  Institutionen  der  Kirche.  So 
hatte  er  es  von  Anselm  überkommen,  so  verstand  er  Plato 
und  Augustin.  Die  Willenstheorie  war  für  ihn  schliesslich 
nicht  mehr  als  ein  Stück  augustinischer  Lehre,  nicht  ein  Aus- 
druck seines  Lebens  und  seiner  inneren  Seelenstimmung,  wie 
bei  Augustin  selbst.  Zwar  soll  der  letzte  Zweck  des  theo- 
logischen Erkennens  die  Liebe  zu  Gott  und  der  Genuss  des 
höchsten  Gutes  sein.  Die  Theologie  dient  aber  jenem  Zweck 
dadurch,  dass  sie  dem  Willen  den  Gedanken  des  höchsten 
Gutes  als  Strebeziel  vorhält.  Ihr  Inhalt  soll  daher  spekulative 
Erkenntnis  sein.  Mit  diesem  Gedanken  wird  aber  der  spezifisch 
christliche  Standpunkt  verrückt.  Gott  ist  in  der  Ferne,  nar 
Gedanken  von  ihm  und  ein  unsicheres  Streben  zu  ihm  haben 
wir :  qua  quidem  actione  voluntatis  in  praesenti  tendit  in  deum 
ut  in  quodammodo  distans  a  se,  quia  amore  imperfecto 
(Summ.  art.  8  quaest.  3). 

14.  Demgemäss  wird  auch  der  Glaube  von  Heinrich 
ganz  intellektualistisch  gefasst.  Der  Glaube  ist  ein  einge- 
gossener Habitus,  quo  elicitur  actus  credendi,  d.  h.  er  ist 
ein  habitus  intellectus,  der  zum  assentiri  anleitet,  indem  er  den 
Intellekt  zur  Zustimmung  zu  einem  Begriff  hinneigt  (Quodlib.  V 
quaest.  21).  Gegenstand  des  Glaubens  sind  die  Glaubensartikel 
oder  auch  die  biblischen  Schriften  als  aeternae  veritatis  ora- 
cula.  Sie  enthalten  die  absolute  Wahrheit.  Wo  diese  sieb 
aus  dem  Wortlaut  oder  dem  sensus  historicus  nicht  ergeben 
will,   muss  man  zum   sensus  mysticus  seine  Zuflucht  nehmen 


^)  Werner  a.  a.  0.  S.  153. 


Heinrich  über  Theologie  und  Glauben.  615 

(Quodl.  III  quaest.  18).  Dazu  kommen  die  kirchlichen  Obser- 
vanzen. Dens  quod  utile  nobis  est  cognoscere  revelavit,  quod 
autem  non  poteramus  ferre  siluit  (Quodl.  V  qu.  36).  Die 
Autorität  beider  wird  einander  gleichgesetzt,  wofür  Heinrich  die 
klassische  Formel  bildet :  non  enim  minor  est  auctoritas 
ecclesiae  in  agibilibus  quam  Script urae  in  credi- 
bilibus  (QuodUb.  XV  qu.  14).  —  Für  die  Glaubensartikel 
wird  die  Möglichkeit  eines  Beweises  —  Heinrich  wendet  sich 
dabei  gegen  Richard  v.  St.  Viktor  (de  trin.  I,  4)  —  energisch 
bestritten.  Das  Gegenteil  der  Glaubenssätze  erscheint  der 
Vernunft,  die  ihre  Beobachtungen  an  den  natürlichen  Dingen 
gesammelt  hat,  wahrscheinlicher  als  die  Glaubenssätze.  Daher 
kann  nur  die  Gnade  uns  den  Glauben  schenken.  Der  Glaube 
ruht  auf  Autorität.  Aber  dieser  an  sich  richtige  Gedanke 
wird  so  interpretiert,  dass  wir  zuerst  der  Autorität  glauben, 
dann  den  einzelnen  von  ihr  gelehrten  Gedanken,  von  denen  wir 
dann  zu  einem  Zusammenhang  unter  ihnen  fortschreiten.  C  r  e  - 
dere  est  veritati  alicuius  complexi  propter  aucto- 
ritatem  propositis  signis  et  prodigiis  ceterisque 
huiusmodi  confirmatam  voluntarie  per  intelle- 
ctum  adhaerere  (Quodlib.  VIII  quaest.  14).  Der  Glaube 
kann  daher  garnicht  rational  begründet  werden,  sondern  nur 
signis  pro  argumentis,  prodigiis  pro  experimentis.  Nicht  soll 
nämlich  der  Vernunft  durch  Gründe  das  zu  Glaubende  nahe- 
gebracht werden,  sondern  der  Wille  zur  Annahme  überredet 
werden.  Et  sie  credere  repugnat  omni  aperto  intellectui  veri- 
tatis,  quia  semper  debet  secum  habere  annexam  obscuritatem, 
ne  omnino  clarescat  veritas  perspicua.  Jedenfalls  ist  jedes  Be- 
greifen vor  dem  Glauben  unmöglich;  wohl  aber  kann  der  be- 
reits Gläubige  auf  diesen  Gebieten  gradatim  zu  einer  gewissen 
Erkenntnis  fortschreiten  (ibid.).  —  Das  ist  der  alte  Glaubens- 
begriff mit  massiver  Paradoxie  verfochten. 

Das  Christentum  besteht  aus  Glaube  und  Sakramenteu. 
Daher  soll  die  Kirche  vor  allem  Sorge  tragen  circa  ea  quae 
sunt  fidei  et  sacramentorum.  Hier  haben  Christus  und  die 
Apostel  bestimmte  Schranken  errichtet;  man  sehe  zu,  dass  die 
doctores  die  clavis  scientiae,  die  rectores  die  clavis  potestatis 
nicht  misbrauchen  (Quodl.  V  quaest.  36),     Häretisch  ist   jede 


616  Kap.  VII:  Die  geschichtliche  Stellung  des  Duns  Scotua. 

Lehre,  die  direkt  gegen  den  Glauben  und  die  Sitten  streitet; 
als  erroneum  ist  der  Irrtum  zu  bezeichnen,  wenn  er  gegen  die 
annexa  des  Glaubens  geht  (Quodl.  YII  qu.  23)  ^). 

Es  würde  in  diesem  Zusammenhang  viel  zu  weit  führen, 
wollten  wir  jetzt  die  einzelnen  theologischen  Lehren  Heinrichs 
darlegen ;  zudem  sind  dieselben  mehrfach  nach  der  Wiedergabe 
und  mit  den  Widerlegungen  des  Duns  in  den  vorigen  Kapiteln 
zur  Sprache  gekommen.  Daher  mag  es  an  einigen  Bemerkungen 
genug  sein. 

15.  Gott  wird  als  denkender  und  wollender  Geist  bestimmt. 
Hinsichtlich  der  Frage,  ob  der  Vielheit  der  von  uns  Gotte  bei- 
gelegten Attribute  in  Gott  etwas  Eeales  entspreche,  hat  Hein- 
rich bejahend  geantwortet.  Die  Attribute  haben  ihr  Funda- 
nientum  in  re,  unabhängig  von  den  Relationen  Gottes  zu  den 
einzelnen  Seiten  der  Welt.  Wie  also  die  trinitarischen  Diffe- 
renzen in  Gott  Realitäten  sind,  so  auch  die  Attribute  des  Er- 
kennens  und  Wollens ,  in  denen  die  trinitarischen  Differenzen 
wurzeln.  Dasselbe  soll  dann  von  den  verschiedenen  Eigen- 
schaften Gottes  gelten,  die  wir  mit  der  göttlichen  Essenz  zu 
denken  genötigt  sind  (Quodlib.  V  quaest.  1).  —  Das  Wollen 
wird  auch  in  Gott  dem  Denken  vorgeordnet,  beide  Begriffe 
sind  aber  dem  absoluten  Sein  unterstellt.  Trotzdem  wird  das 
Verhältnis  Gottes  zur  Kreatur  unter  dem  Gesichtspunkt  der 
königlichen  Leitung  behandelt.  Nichts  geschieht  in  der  Welt, 
es  sei  denn  von  Gott  ordiniert.  Alles  geht  darauf  zurück,  dass 
es  von  der  interior  invisibilis  atque  intelligibilis  aula  summi 
imperatoris  befohlen  oder  erlaubt  wird.  Somit  stellt  die  ganze 
Welt  amplissima  quaedam  immensaque  respublica  dar  (Quodl. 
IV  quaest.  19).  Gott  ist  allen  Dingen  gegenwärtig  als  ihre 
Ursache  und  ihr  Beweger  (Quodl.  Yll  qu.  3) ;  und  er  weiss 
alles,  da  es  von  ihm  gewollt  ist  (Quodl.  VIII  qu.  2). 


I 


^)  Auch  Heinrich  hat  der  Frage  nachgedacht,  ob  ein  Doctor  sive 
Magister,  determinans  quaestiones  sive  exponens  scripturas  publice  (das 
sind  also  seine  Aufgaben),  die  Wahrheit  verbergen  darf.  Er  entscheidet, 
er  dürfe  nicht  mentiri  oder  falsum  dicere,  wohl  aber  verum  ocultare,  wenn 
die  Zuhörer  es  nicht  begreifen  könnten.  Es  ist  interessant,  dass  die  Zeit 
hierüber  viel  Sorge  empfand,  vgl.  noch  Quodl.  XII  qu.  16  u.  s.  Richard 
V.  Middleton  oben  S.  32. 


Heinrich  über  Gott,  Gnade,  Berufung.  617 

16.  Dementsprechend  ist  auch  die  Prädestination  lediglich 
eine  operatio  aeterna  divinao  voluntatis.  Sie  kommt  de  occulta 
dei  voluntate  und  beruht  nicht  auf  unserem  Verdienste.  Daher 
hat  auch  die  gratia  prima  keinerlei  eigentliche  Ursache  in  uns, 
da  sie  jedem  motus  liberi  arbitrii  in  uns  vorangeht;  dagegen 
setzt  die  gratia  secunda  ein  Verdienst  unsererseits  voraus. 
Aber  auch  für  die  gratia  prima  könne  in  uns  eine  gewisse 
causa  congrui  angenommen  werden ,  sofern  es  der  göttlichen 
liberalitas  angemessen  (congruum)  ist,  sich  der  Ernstgesinnten 
anzunehmen  (ibid.).  Es  ist  klar,  wie  diese  Betrachtung  die 
ursprüngliche  Anschauung  verschiebt  und  nun  doch  vor  der 
Gnade  ein  Menschenthun  ansetzt,  das  von  Gott  als  angemessene 
Vorbereitung  gekannt  und  gelten  gelassen  wird.  Das  laxe 
Schema  der  merita  congrui  beengt  auch  hier  schon  die  Be- 
deutung der  Gnade. 

Auch  Bonaventura  liess  den  Menschen  —  unter  den  Ein- 
wirkungen einer  vorbereitenden  allgemeinen  gratia  gratis  data 
sich  die  eigentliche  gratia  gratum  faciens  selbst  —  de  congruo  — 
verdienen  (darüber  m.  Dogmengesch.  II,  105  f.).  Genau  so  hat 
auch  Heinrich  gedacht  und  er  hat  dabei  jene  vorlaufende 
Gnade  in  lehrreicher  Weise  konkret  zu  machen  gewusst.  Nach 
der  potentia  absoluta  könnte  Gott  auch  eine  andere  Ordnung 
befolgen,  aber  in  Kongruenz  zu  seinem  Wesen  gibt  er  die 
Gnade  aus  Barmherzigkeit.  Nun  muss  hiebei  doch  auch  ge- 
wissermassen  seine  Gerechtigkeit  konkurrieren.  Dies  geschieht 
auch,  nämlich  durch  die  vocatio.  Die  Berufung  findet  statt 
sive  intrinsecus  ubi  nullus  homo  videt,  sive  extrin- 
secus  per  sermonem  sonantem.  Man  kann  diese  in- 
clinatio  der  Gnade  annehmen  oder  verwerfen.  Wenn  jemand 
sie  annimmt,  so  wird  er  disponiert  —  vermöge  der  iustitia 
congrui  —  ad  gratiam  gratificantem.  Der  Grund  der  wirk- 
lichen gerechtmachenden  sakramentalen  Gnadenmitteilung  oder 
aber  der  Prädestination  ist  also  die  vocatio  durch  das  äussere 
oder  auch  innere  Wort,  resp.  die  Annahme  der  vocatio  oder 
die  Bekehrung.  Es  geht  also  etwas  in  dem  Sünder  vor,  wo- 
durch er  zwar  noch  nicht  gerechtfertigt,  aber  der  Rechtfertigung 
würdig  wird.  So  ist  dann  Gott  in  seiner  Barmherzigkeit  auch 
gerecht.    Nach  der  ersten   admonitio,   qua  deus   omnino  prae- 


618         Kap.  VII:  Die  geschichtliche  Stellung  des  Duns  Scotus. 

venit  peccatorem,  tritt  der  freie  Wille  sofort  in  sein  Recht  und 
wird  nun  der  Grund,  ihm  weitere  gratia  gratis  data  zu  gehen. 
Wird  diese  recht  gebraucht,  so  wird  das  der  Grund  zur  Er- 
teilung der  gratia  gratum  faciens.  Das  ist  so  Gottes  Ordnung, 
für  die  wir  ebensowenig  eine  Erklärung  zu  geben  wissen  als 
dafür,  dass  er  die  verschiedenen  Teile  der  einen  Materie  mit 
verschiedenen  Formen  versieht  (Quodlib.  YIII  quaest.  5). 

Hier  haben  wir  also  bei  einem  Scholastiker  eine  Lehre 
von  dem  Gnadenmittel  des  Wortes,  wobei  ausdrücklich 
das  innere  und  äussere  Wort  koordiniert  werden.  ^)  Aber  wie 
charakteristisch  ist  doch  diese  Wortlehre!  Das  Wort  bringt 
Gnade,  aber  nur  eine  allgemeine  die  Seele  erweckende  und  an- 
regende Gnade.  Darin  erschöpft  sich  die  Vocatio.  Erst  wenn 
sich  der  Mensch  dann  selbst  bekehrt,  empfängt  er  die  wirk- 
liche rechtfertigende  Gnade,  und  die  haftet  ausschliesslich  an 
den  Sakramenten.  Behält  man  diese  wichtige  Betrachtung  im 
Auge,  so  versteht  man  erst,  welche  Bedeutung  die  Thatsache 
des  Bettelmönchtums  für  die  Geschichte  des  Wortes  Gottes 
gehabt  hat.  Dem  Bettelmönch  Duns  Scotus  geht,  wie  wir 
sahen,   die   Bedeutung   seines  Ordens   auf  in  der  Predigt  des 


^)  Für  die  Geschichte  des  Begriffes  „Wort  Gottes"  (vgl.  aber  auch  Duns 
oben  S.  291.  473  ff.)  ist  diese  Stelle  von  Wichtigkeit,  besonders  aber  auch 
für  den  Begriff  des  „inneren  Wortes".  Der  Gedanke  von  einem  inwendigen 
Reden  Gottes  ist  von  dem  Mann  aufgebracht  worden,  der  zuerst  über  den 
Begriff  „Wort  Gottes"  reflektiert  hat,  d.  h.  von  Augustin  (s.  in  Johann, 
tract.  57,  3;  40,  5;  71,  1;  77,  2;  de  bapt.  V,  11,  24).  Dann  hat  Gregor 
der  Grosse  scharf  unterschieden  zwischen  dem  äusserlichen  hörbaren  und 
dem  innerlich  wirksamen  Wort  (Moral.  XXIX,  24,  49),  auf  das  innere 
Reden  Gottes  hat  er  die  inspiratio  oder  aspiratio  gratiae  und  die  Ein- 
flössung der  Liebe  zurückgeführt  (Moral.  XXX,  1,  4.  5;  XI,  9,  12;  XVIII, 
40,  63 f.;  XXYII,  21,  41;  XXII,  9,  20;  in  Ezech.  I  hom.  9,  2;  7,  16).  An 
diesen  Gedanken  knüpfen  Heinrich  und  Bonaventura  an,  nur  dass  ihre 
Vorstellung  von  den  Sakramenten  sie  nötigt,  die  Wortwirkung  zu  depo- 
tenzieren. Dies  ist  die  erste  Wurzel  des  Gebrauches  des  inneren  Wortes 
in  der  Reformationszeit,  auch  Luther  folgte  ihr  anfangs.  Die  zweite  Wurzel 
ist  in  der  Idee  des  anerschaffenen  göttlichen  oder  Naturrechtes  zu  erblicken. 
Die  dritte  aber  in  den  mystischen  Gedanken  von  einer  ekstatischen  In- 
spiration resp.  des  Geborenwerdens  des  Logos  in  uns  in  den  Zuständen 
der  Ekstase.  Es  gab  eine  kirchliche,  eine  rationalistische  und  eine  mystische 
Porm  des  „inneren  Wortes". 


Heinrich  über  das  Wort,  den  Urständ,  die  Sünde.  619 

Wortes,  und  aus  dieser  leitet  er  den  Anspruch  her  seinen 
Orden  über  die  ganze  Sakramente  spendende  Hierarchie  zu 
stellen  (oben  S.  291.  480)! 

17.  Die  lustitia  originalis  Adams  war  quaedam 
super  naturalis  gratia  .  .  .  quae  naturalem  iustitiam 
roboravit  (Quodl.  II  quaest.  11).  An  sich  ist  die  natürliche 
Gerechtigkeit,  nach  Heinrich,  genügend  als  die  rectitudo  volun- 
tatis  naturalis;  nur  damit  sie  immer  bleiben  konnte,  bedurfte 
es  einer  übernatürlichen  Gabe.  Diese  macht  zusammen  mit 
der  natürlichen  Gerechtigkeit  die  iustitia  originalis  aus :  Donum 
ipsum  una  cum  rectitudine  naturali  dicitur  originalis  iustitia. 
An  sich  aber  besteht  die  ursprüngliche  Gerechtigkeit  nur  in 
puris  naturalibus.  Die  Bestimmungen  schwanken  hier  bei  den 
Scholastikern  (Quodl.  VI  quaest.  11  vgl.  Richard  oben  S.  19 
und  überhaupt  Dogmengesch.  II,  97  ff.).  Der  erste  Sünder 
verlor  erstere  und  dadurch:  in  rectitudine  naturalis  voluntatis 
debilitatus  est.  Hieraus  ergab  sich  der  Widerstreit  des 
Fleisches  gegen  den  Willen.  Das  infizierte  Fleisch  wurde 
durch  die  Zeugung  fortgepflanzt,  durch  den  Zusammenhang 
des  Fleisches  mit  der  Seele  erhielt  diese  die  pronitas  ihm  zu 
folgen.  Daher  haben  schon  die  Kinder  die  culpa  peccati,  nicht 
nur  die  poena  pro  reatu  culpae,  wie  Augustin  es  zeige  in  den 
Büchern  contra  Donatistas,  qui  peccatum  originale  negabant 
(so!  Quodl.  II  qu.  11  u.  qu.  21).  Als  Erfolg  der  Sünde  er- 
scheint vor  allen  Dingen,  dass  die  libertas  modo  per  peccatum 
debilitata  ist,  aber  dies  wird  sofort  abgeschwächt  durch  die 
Bemerkung:  hoc  nihil  facit  ad  variationem  naturae  speciei. 
Sodann  die  deordinatio  in  der  Vernunft,  sie  folgt  aus  der 
deordinatio  voluntatis  per  pravam  concupiscentiam  (Quodl.  I 
qu.  17).  Die  Freiheit  ist  also  ,, geschwächt",  aber  der  natür- 
liche Bestand  des  Menschen  nicht  verändert.  Das  ist  die  ge- 
mein scholastische  Lehre.  Solange  man  im  Bann  der  augusti- 
nischen  Fragestellung  stand,  Hess  sich  eine  andere  Auskunft, 
die  den  psychologischen  und  ethischen  Thatsachen  gerecht 
wurde,  in  der  That  schwer  finden.  Eine  morbida  dispositio, 
ein  languor  naturae  haftet  dem  Fleisch  aller  Erzeugten  an,  aus 
ihr  erklärt  sich  die  den  Willen  schwächende  Konkupiscenz  und 
die  Rebellion  der  niederen  Seelentriebe  (Quodl.  VI  quaest.  32). 


620         Kap.  VII:  Die  geschichtliche  Stellung  des  Duns  Scotua. 

Die  Sünde  erbt  sich  also  durch  die  Zeugung  fort  wie  eine  Art 
Lepra.  Daher  kann  nur  der  frei  von  Sünde  sein,  der  nicht 
aus  der  Substanz  Adams  hervorging  (Quodlib.  I  quaest.  21 
vgl.  dazu  Quodl.  XV  qu.  11).  —  Das  eigentliche  Wesen  der 
Sünde  besteht  in  der  aversio  a  deo,  da  die  conversio  zu  den 
kreatürlichen  Gütern  an  sich  und  ohne  jene  nicht  Sünde  wäre 
(Quodlib.  I  qu.  25). 

Eine  eigentümliche  Wendung  erhielt  bei  Heinrich  der 
Begriff  der  Synderesis.  Während  Alexander  diese  als  den 
der  Vernunft  wie  dem  Willen  immanenten  Trieb  zum  Guten 
bestimmte  (vgl.  auch  Bonaventura)  und  die  Späteren,  wie 
Thomas  und  Duns,  sie  ausschliesslich  dem  Intellekt  zuwiesen 
(s.  Dogmengesch.  II,  97  f.  Anm.),  hat  Heinrich  die  der  Vernunft 
einwohnende  lex  naturalis  als  die  universalis  regula  operan- 
dorum  ausdrücklich  von  der  Synderesis  unterschieden.  Diese 
hat  ihren  Sitz  im  Willen  als  ein  angeborener  Antrieb  dem 
Naturgesetz  nachzukommen.  Dem  gegenüber  ist  die  Conscientia 
die  aus  jenem  allgemeinen  Trieb  sich  ergebende,  auf  das  Be- 
sondere gerichtete  electio  deliberativa  des  Willens.  Die  Syn- 
deresis ward  folgendermassen  definiert:  ex  parte  voluntatis  est 
quidam  universalis  motor  Stimulans  ad  opus  secundum  regulas 
universales  legis  naturae,  et  dicitur  synderesis  quae  est  in  volun- 
tate  quaedam  naturalis  electio  semper  coneordans  cum  naturali 
dictamine.  Daher  erkläre  sich  auch  der  Name,  der  aus  sjrn 
und  haeresis  zusammengesetzt  sei  und  conelectio  bedeute 
(Quodlib.  I  quaest.  18).  Diesen  undeutlichen  und  mit  der 
Willensfreiheit  schwer  auszugleichenden  Begriff  hat  sich  Duns 
nicht  angeeignet,  wie  war  S.  215  gesehen  haben. 

18.  Die  Gnade  wird  als  die  göttliche  Gabe,  die  uns  zur 
Erlangung  des  ewigen  Lebens  befähigt,  verstanden.  Es  ist  eine 
Gott  gefälüge  Qualität  des  Menschen.  Dies  ist  nun  die  Liebe ; 
Gnade  und  Liebe  sind  also  sachlich  identisch.  Nach  den  psycho- 
logischen Voraussetzungen  wird  als  Sitz  der  Gnade  sow^ohl  die 
Seelenessenz  als  auch  die  Bethätigungen  der  Seele  im  Willen  an- 
gesehen. Die  Gnade  ist  Liebe,  sofern  sie  der  Seele  einwohnt  als  die 
Potenz  zu  guten  Akten,  und  sie  heisst  Gnade,  sofern  sie  als 
die  die  einzelnen  Handlungen  Gott  genehm  machende  Qualität 
vorgestellt  wird.     Noch  Alexander  wollte   die  beiden  Begriffe 


Heinrich  über  Synderesis,  Gnade,  Sakramente.  621 

von  einander  unterscheiden,  ohne  freilich  den  Unterschied  klar 
gemacht  zu  haben  (Quodl.  IV  qu.  10).  —  Die  Liebe  wird  also 
dem  Menschen  eingegossen.  Darin  besteht  die  Rechtfertigung. 
Der  Gerechtfertigte  ist  aber  befähigt  sich  Verdienste  zu  er- 
werben. Caritas  necessaria  fuit,  quia  sine  illa  iustificatio  non 
fit,  ut  iustificatus  possit  mereri.  Bei  der  verdienstlichen  Hand- 
lung wirken  die  Caritas  und  das  liberum  arbitrium  zusammen, 
doch  eignet  ersterer  vorwiegend  der  verdienstliche  Wert 
(Quodlib.  V  quaest.  22).  Auf  dem  Wege  des  meritum  wird 
dann  sowohl  eine  Mehrung  der  Gnade  verdient,  als  auch  durch 
das  Widerspiel  der  verdienstlichen  That  oder  die  Todsünde 
die  Liebe  in  uns  zerstört  wird.  Dabei  eignet  aber  nur  der 
Todsünde  diese  Wirkung.  Es  wird  ausdrücklich  abgewiesen, 
dass  durch  veniale  Sünden  die  Liebe  oder  Gnade  wenigstens  ver- 
mindert werde.  Nur  die  actio  caritatis  werde  durch  veniale  Sünden 
gehemmt,  indem  der  debitus  fervor  der  Bethätigung  leicht  fortfällt. 
Das  heisst  also,  die  übernatürliche  Liebe  bleibt  intakt  in  dem 
venial  Sündigenden,  aber  der  natürliche  Mitfaktor  oder  der  freie 
Wille  erfährt  eine  gewisse  Abstumpfung  (Quodlib.  V  quaest.  23). 

19.  Die  Rechtfertigung  wird  aber  vermittelt  durch  die 
Sakramente.  In  denselben  wirkt  sich  eine  schöpferische 
Kraft  Gottes  aus.  Das  Schaffen  als  solches  kommt  Gott  allein 
zu.  Andrerseits  vollzieht  es  sich  hier  durch  die  Sakramente. 
Die  Sakramente  sollen  signa  gratiae  praesentis  et  causa  eins 
sein.  Mit  dieser  Formel  kehrt  sich  Heinrich  gegen  die  franzis- 
kanisch-augustinische  Sakramentstheorie,  die  verneint,  dass  die 
Sakramente  causa  gratiae  seien.  Aber  auch  die  thomistische 
Formel  der  instrumentalen  Kausalität  der  Sakramente  wird 
nicht  acceptiert.  Der  Sachverhalt  ist,  nach  Heinrich,  vielmehr 
dieser.  Die  Sakramente  schaffen  oder  bewirken  die  Gnade 
nicht,  sed  solum  dicuntur  esse  causa  gratiae  praesentis,  cuius 
sunt  signa  in  hoc,  quod  sunt  contentiva  eins  quod  est  per  se 
causa  gratiae,  inquantum  creat  eam.  Der  Gedanke  ist  also  der,  dass 
Gott  in  dem  Sakrament  zu  dem  besonderen  Effekt  gegenwärtig 
ist  Gnade  zu  schaffen  (Quodl.  IV  quaest.  37).  Die  Wirkung  der 
Sakramente  wird  als  vivificare  et  iustiiicare  bestimmt  (ibid.) 

Mehrfach  und  eingehend  hat  Heinrich  von  der  Trans- 
substantiation  gehandelt.     Er   hält    an  der  strengen  Ver- 


622         Kap.  VII:  Die  geschichtliche  Stellung  des  Duns  Scotua. 

waiullungstheori(3  fest.  Subito,  per  motum  prolationis  verborum 
praecedentem^  indem  diese  die  vis  conversativa  instrumentaliter 
enthalteo,  finde  die  Verwandlung  statt  (Quodlib.  III  quaest.  7). 
Und  zwar:  materia  paiiis  convertitur  in  materiam  corporis 
Christi  et  forma  in  formam.  Somit  bleiben  weder  die  Materie 
noch  die  Form  des  Brotes  das,  was  sie  waren;  aber  sie  sollen 
andrerseits  auch  nicht  aufhören  zu  sein.  Mit  Wilhelm  meint 
Heinrich:  Nihil  de  pane  remanet,  sed  transit  in  id  quod  prius 
erat,  in  quo  non  annihilatur  (Quodl.  IX  qu.  10).  Die  Annihi- 
lation soll  vermieden  w^erden,  aber  es  ist  nicht  leicht  zu  sagen, 
wie  Heinrich  es  meint,  dass  das  Brot  doch  nicht  vergehe,  sondern 
etwas  werde,  indem  es  in  eine  aliquitas  verwandelt  wird.  Das 
könne  aber  nicht  die  Gottheit  Christi  sein,  da  Endliches  nicht 
in  Unendliches  verwandelt  werden  könne  (Quodl.  XI  qu.  4). 
Die  Resultatlosigkeit  dieser  Erörterungen  hat  Duns  richtig  er- 
kannt, vgl.  oben  S.  384  f. 

20.  Auch  dem  Busssakrament  sind  einige  Quästionen 
gewidmet.  Die  sakramentale  Absolution  verwandelt  die  den 
Todsünden  gebührende  ewige  Strafe  in  zeitliche  Strafe  und 
relaxiert  auch  letztere  in  etw^as.  Nun  soll  die  Pflicht  zur  zeit- 
lichen Strafe,  nach  der  bekannten  Lehre,  durch  die  Satisfaktion 
abgetragen  werden.  Statt  der  eigentlichen  luitio  der  aufer- 
legten Strafe  kann  aber  die  redemptio  durch  Almosen  ein- 
treten (unter  Berufung  auf  Daniel  10 :  peccata  tua  eleemosynis 
redime),  oder  endlich  die  indulgentia  (Quodl.  XV  quaest. 
14).  Die  Satisfaktion  kann  nun  aber  in  verschiedener  Weise 
von  dem  Priester  verhängt  werden.  Die  Satisfactio  wird  nämlich 
auferlegt  (iniungitur)  sacramentaliter  solum,  aut  s i m u  1 
et  sacramentaliter  et  indulgentialiter  und  zwar 
letzteres  ab  eo  qui  potest  conferre  indulgentias.  In  ersterer 
Hinsicht,  d.  h.  wenn  bloss  bestimmte  Werke  als  satisfaktorische 
Leistung  auferlegt  werden,  wird  die  Satisfaktion  nur  wirksam, 
wenn  die  Werke  geleistet  w^erden  secundum  determinatam  quan- 
titatem.  Tritt  nun  aber  im  anderen  Fall  die  Indulgenz  hinzu, 
so  ist  es  leicht  totam  ponam  debitam  relaxare.  Wenn  nun 
der  Papst  festsetzt,  dass  jemand  der  die  poenas  taxatas  richtig 
erledigt,  sit  liber  ab  omni  poena  peccatis  illis  debita,  vere  liber 
est.     Aber    zu    dieser  völhgen  Freiheit   von   der  Sündenstrafe, 


Heinrich  über  Transsubstantiation,  Ablass,  Kirclienrecht.         623 

die  mit  Sicherheit  auch  auf  das  Purgatorium  erstreckt  werden 
darf,  kaDD  der  Sünder  eben  nur  durch  den  Ablass  kommen: 
non  ex  hoc  wird  er  frei,  quod  opus  huiusmodi  sacramentale  est, 
sed  solum  ex  hoc,  quod  est  indulgentiale.  Die  Frage,  von  der 
die  ganze  Erörterung  ausging,  war  die,  ob  jemand  durch  die 
Satisfaktion  sich  als  vom  Purgatorium  befreit  ansehen  darf. 
Diese  Frage  wird  nun  bloss  für  den  Fall  bejaht,  dass  der  Be- 
treffende zugleich  mit  der  Auferlegung  der  satisfaktorischen 
Strafen  Ablass  empfing.  Diese  Auffassung  ist  deshalb  so 
interessant,  weil  sie  zeigt,  wie  die  ganze  Satisfaktion  in  Heinrichs 
Zeit  schon  durch  den  Ablass  abgelöst  wird.  Den  eigentlichen 
Zweck,  den  jemand  bei  Übernahme  satisfaktorischer  Werke 
intendiert,  den  erreicht  er  nur  vermöge  des  Ablasses  (Quodlib. 
VIII  quaest.  19).  —  Im  Übrigen  schärft  Heinrich  ein,  dass 
der  Ablass  aus  dem  thesaurus  spiritualis  ecclesiae  hervorgehe, 
dass  sein  Zweck  honor  dei  et  profectus  ecclesiae  sei ;  entrüstet 
wendet  er  sich  gegen  diejenigen^  welche  die  Giltigkeit  des 
Ablasses  nicht  von  dem  Wortlaut  des  Ablassschreibens,  sondern 
dem  Verdienst  der  Empfänger  abhängig  machen,  wodurch  der 
ganze  Ablass  nur  zu  einer  pia  fraus  würde  (Quodlib.  XV 
quaest.  14). 

Man  kann  schon  aus  diesen  Bemerkungen,  wenn  man  sie 
mit  den  scotistischen  Gedanken  über  den  Ablass  vergleicht, 
abnehmen,  wieviel  innerlich  positiver  die  Stellung  Heinrichs  zu 
den  kirchlichen  Institutionen  ist.  Dies  bestätigt  sich  an  seinen 
Darstellungen  der  Hechte  der  Prälaten  sowie  des  Papstes,  des 
sponsus  universalis  ecclesiae  (s.  Quodlib.  IX  quaest.  22),  be- 
sonders aber  auch  an  den  oft  wiederkehrenden  Besprechungen 
des  grossen  Zeitproblems  nach  der  Abgrenzung  der  Befugnisse 
der  Mendikanten  dem  Pfarrklerus  gegenüber.  Jene  sind  nur 
coadiutores,  den  Pfarrern  steht  das  pinguius  ins  zu ;  sie  brauchen 
die  Mendikanten  ebensowenig,  als  Martha  die  Maria  brauchte 
(Quodlib.  VII  qu.  21).  Ebenso  wird  die  These  bekämpft, 
dass  das  Leben  vom  Bettel  den  übrigen  Erwerbsformen  über- 
legen  sei  (Quodlib.  XIV  quaest.  17,   IV  quaest.  26  u.  s.  w.^) 


1)  Für   die    innere   Greschichte   der  Kämpfe   wider   die   Mendikanten 
sind  die  Quodlibata  Heinrichs   eine  ergiebige  Quelle.  —  Sehr  wichtig  ist 


624         Kap.  YII:  Die  geschichtliche  Stellung  des  Duns  Scotus. 

21.  Das  Interesse,  das  uns  bei  der  Darstellung  Heinrichs 
leitete,  war  dies,  dass  wir  einen  Repräsentanten  der  älteren 
Theologie  des  13.  Jahrhunderts  kennen  lernen  wollten.  Es 
ist   ein   Theologe,   mit  dem   sich  Duns   beständig   auseinander- 


nuch  das  ethische  Material,  das  in  dem  grossen  Werk  zur  Sprache 
kommt  und  dessen  Verarbeitung  für  die  Geschichte  der  Ethik  wie  auch  für 
die  Kulturgeschichte  von  Bedeutung  wäre.  Nur  beispielsweise  mache  ich 
auf  einiges  aufmerksam.  Über  Zinsen,  Kauf  und  Handel  s.  Quodlib.  I 
quaest.  39.  40.  42.  III  qu.  28.  II  qu.  15.  Lex  divina  lex  naturae  est  11 
qu.  16  (das  positive  Recht  muss  mit  dem  Naturrecht  stimmen  II  qu.  15), 
Über  die  Restitution  VI  qu.  24 — 28.  Über  den  Kommunismus  IV  qu,  20. 
Über  die  Todesstrafe  gegen  Diebe  (H.  verteidigt  sie)  XI  qu.  18.  Über  das 
Duell  V  qu.  31,  die  Zauberei  V  qu.  33,  die  Ehe  V  qu.  40.  41.  Über 
Martha  und  Maria  XII  qu.  28.  —  Pastoraltheologische  Fragen,  z.B. 
über  die  Möglichkeit  plura  beneficia  ecclesiastica  zugleich  innezuhaben 
resp.  die  Verpflichtung  zum  residere  s.  II  qu.  17 ;  zur  Frage,  ob  viri  eccle- 
siastici  mehr  als  nötig  von  den  Kirchengütern  ausgeben  dürfen,  s.  II  qu.  19. 
Über  Fragen  des  Beichtrechtes  VII  qu,  25 — 27;  ob  der  Pfarrer  eine 
parochiana,  mit  der  er  sich  versündigt  hat,  selbst  absolvieren  dürfe  IX 
qu.  24;  Mönch  und  Pfarrer  VII  qu.  21;  ob  der  Prediger  an  einem  Ort, 
der  wohl  Arbeit,  aber  keinen  Unterhalt  bietet,  vorübergehen  darf?  VII 
qu.  19;  ob  die  kirchlichen  Lehrer  sich  daraus  ein  Grewissen  machen  sollen, 
wenn  sie  nichts  zur  Bekehrung  der  Ungläubigen  thun?  Nein,  sofern  die 
Verhältnisse  es  verbieten  XIV  qu.  12.  Dass  man  in  einem  liber  interdictus 
überhaupt  nichts  lesen  darf  XII  qu.  19.  —  Weiter  sei  die  entwickelte 
ethische  Kasuistik  erwähnt:  Ein  Mord,  der  in  sinnloser  Trunkenheit 
ausgeführt  wird,  ist  an  sich  keine  Sünde,  s.  III  qu.  26.  Ob  eine  Frau 
ihrem  toten  Mann,  wenn  er  auferstehen  sollte,  wieder  verbunden  wäre 
III  qu.  27.  Ob  ein  Täufling,  der  zwei  Köpfe  hat,  auch  zwei  Namen  er- 
halten müsse  VI  qu.  16  u.  17.  Ob  jemand,  der  würdig  ist  licentiari  in 
theologia,  es  aber  unterlässt,  dafür  eine  Aureole  erhält?  II  qu.  12.  Hin- 
sichtlich der  Juden:  ob  die  Pfarrer  von  den  Juden  sich  die  auf  den 
Häusern  derselben  etwa  ruhenden  Abgaben  auszahlen  lassen  sollen  XIII 
qu.  16;  ob  ein  Jude,  der  die  Hostie  zersticht  und  durch  das  etwa  aus 
dieser  hervorquellende  Blut  bekehrt  wird,  noch  nachträglich  bestraft 
werden  soll  XIV  qu.  15.  —  Im  übrigen  geht  aus  Heinrichs  Angaben 
hervor,  dass  die  behandelten  Fragen  ihm  von  der  Fakultät  vorgelegt 
und  wirklich  diskutiert  worden  sind,  z.  B.  I  qu.  39  init. :  contra  primum 
arguebatur,  oder:  ut  dixit  opponens  II  qu.  15,  eine  frühere  Antwort  hat 
einigen  misfallen,  daher  wird  eine  neue  Frage  gestellt  II  qu.  15.  Daselbst 
sagt  Heinrich  in  quadam  alia  quaestione  anni  praecedentis.  S.  noch  IV 
qu.  14;  V  qu.  1;  VI  qu.  1,  14.  22;  VII  qu.  1.  12.  22;  VHI  qu.  1;  X  qu.  1 
(überall  zu  Beginn  der  betr.  Quästion)  u.  s. 


Duns  und  Heinrich.     Thoraas  v.  Aquino.  625 

setzt.  Wenn  man  den  redseligen  Mann  aber  zum  „Vorläufer^* 
des  Duns  Scotus  hat  avancieren  lassen  wolleü,  so  war  das  doch 
zu  viel  gesagt.  Es  fehlt  allerdings  nicht  an  Beispielen,  wo  der 
gemeinsame  Gegensatz  und  die  gemeinsame  Grundrichtung 
Duns  zum  Schüler  Heinrichs  machten;  wie  man  das  von  ein- 
zelnen Lehren  behaupten  kann,  so  vor  allem  von  der  Methode. 
Das  spekulative  Element  und  der  altmodisch  werdende  Realis- 
mus waren  bei  Heinrich  verbunden  mit  dem  Versuch  die  speku- 
lativen Probleme  in  dialektischer  Fragestellung  zu  erfassen  und 
zu  bearbeiten.  Man  könnte  sagen,  Plato  sollte  hier  seine  Ideen 
in  aristotelischer  Dialektik  entwickeln  und  begründen.  Diese 
Methode  hat  fraglos  auf  Duns  Scotus  Einfluss  ausgeübt.  Wie 
man  den  spekulativen  Realismus  beibehalten  und  doch  den 
ganzen  Aristoteles  und  seine  Dialektik  virtuos  gebrauchen 
kann  —  das  hat  Duns  von  Heinrich  gelernt.  Aber  im  übrigen 
hat  er  sachlich  wie  methodisch  in  unzähligen  Fällen  Heinrich 
bekämpft.  Der  schwebende  fromme  platonische  Realismus 
Heinrichs  genügte  einem  so  strengen  und  klaren  Geist,  wie 
Duns,  ebensowenig,  als  die  unmethodischen  breiten  dialektischen 
Beweise  Heinrichs  in  einigen  Wendungen  als  unstichhaltig  zu 
erweisen  ihm  stets  ein  besonderes  Vergnügen  bereitet  hat.  So 
wird  man  vielleicht  die  Bedeutung  Heinrichs  für  Duns  dahin 
zusammenfassen  können,  dass  er  von  ihm  im  allgemeinen  und  be- 
sonderen die  Anregung  empfing  die  alte  Theologie  mit  den  neuen 
Mitteln  zu  begründen,  eine  Anregung,  die  nicht  minder  positiv 
war  durch  das  Ziel,  das  Heinrich  sich  gesetzt,  als  negativ  durch 
die  ungenügende  Art,  mit  der  er  es  zu  erreichen  versuchte. 

22.  Neben  Heinrich  war  es  vor  allem  Thomas  von 
Aquino,  an  dem  sich  Duns  Anschauungen  orientiert  haben. 
Wir  müssen  daher,  wenn  auch  nur  mit  einigen  Bemerkungen 
auf  den  Standpunkt  seines  grossen  Rivalen  eingehen,  ohne  dass 
uns  die  rein  historischen  Fragen  nach  dem  Verhältnis  der 
thomistischen  Lehre  zu  der  seines  Lehrers  Albert  hier  auf- 
halten dürfen.  Die  Bedeutung  von  Thomas  besteht  zunächst 
darin,  dass  er  die  aristotelische  Philosophie,  so  wie  er  sie 
verstand,  in  vollem  Umfang  in  das  christliche  Lehrsystem  ein- 
geführt hat.  Nicht  nur  das  Naturbild,  sondern  auch  die  Meta- 
physik,  die  Erkenntnistheorie,    die  Psychologie,  ja   selbst   die 

Seeberg,  Die  Theologie  des  Duns  Scotus.  40 


626         Kap.  VII:  Die  geschichtliche  Stellung-  des  Duns  Scotus. 

Ethik  wurden  einfach  von  Aristoteles  herübergenommen.  Die8 
würde  aber  an  sich  nicht  den  Unterschied  deutlich  machen^ 
denn  diese  Abhängigkeit  von  Aristoteles  wurde  damals  in  der 
Wissenschaft  allgemein.  Das  war'  das  Entscheidende,  dass 
Thomas  die  aristotelische  Wissenschaft  und  die  Offenbarung 
unter  einem  Dach  zusammenbringen  wollte.  Sie  sollten  sich  zu 
einander  verhalten  wie  Grundlegung  und  Vollendung  der  Er- 
kenntnis. Die  natürliche  Philosophie  läuft  aus  in  ein  System 
der  offenbarten  Religionsphilosophie. 

Die  Offenbarung  ergänzt  die  philosophische  Erkenntnis 
durch  eine  Anzahl  von  Wahrheiten,  die  der  Vernunft  sonst 
unerreichbar  geblieben  wären  (z.  B.  die  Trinität  oder  Christo- 
logie),  oder  aber  nur  langsam  und  schwer  erreicht  worden 
wären,  wie  etwa  die  Einheit  Gottes  (Thomas  contra  gentiles  I, 
3  ff.  Summ,  theol.  I  quaest.  1  art.  1).  Durch  die  Theologie 
oder  das  religiöse  Erkennen  wird  somit  zuhöchst  der  Intellekt 
befriedigt  und  dadurch  das  Glück  des  Menschen  bewirkt.  In 
nullo  alio  quaerenda  est  ultima  felicitas  quam  in  operatione 
intellectus,  cum  nullum  desiderium  tam  in  sublime  feratur,  sicut 
desiderium  intelligendae  veritatis  (c.  gentil.  III,  50,  4).  Diese 
Erkenntnis  Gottes  ist  der  Zweck,  auf  den  hin  der  Geist  ge- 
schaffen ist  und  in  dessen  Erreichung  er  darum  ausruht  (ib. 
III,  25  ff.).  Demgemäss  wird  dann  die  Theologie,  im  Gegen- 
satz zu  Albert,  als  spekulatives  Wissen  bezeichnet.  Zwar 
könne  die  Theologie  nicht  umhin  auch  von  menschlichen 
Handlungen  zu  reden,  aber  diese  seien  nur  Mittel,  durch  die 
der  Mensch  zur  Erkenntnis  Gottes  geführt  werde :  principalius 
agit  (die  Theologie)  de  rebus  divinis  quam  de  actibus  humanis, 
de  quibus  agit  secundum  quod  per  eos  ordinatur  homo  ad 
perfectam  dei  cognitionem ,  in  qua  aeterna  beatitudo  consistit 
(Summa  I  quaest.  1  art.  4). 

Die  spezifisch  theologische  Erkenntnis  wird  von  der  Offen- 
barung dargeboten,  da  der  Intellekt  von  Natur  nicht  fähig  ist 
sie  zu  erfassen.  Die  Offenbarung  ist  in  der  heil.  Schrift  ent- 
halten. Gott  ist  der  eigentliche  Verfasser  der  Schrift  (ib.  I 
quaest.  1  art.  10),  indem  er  die  Propheten  erleuchtete,  quod 
lumen  propheticum  insit  animae  prophetae  per  modum  cuius- 
dam  passionis  vel  impressionis  transeuntis  (ib.  II.  II  quaest.  171 


Thomas  über  Philosophie  und  Offenbarung.  627 

art.  2).  Das  göttliche  Licht  flösst  also  der  Seele  des  Propheten 
eine  besondere  Belehrung  ein,  die  er  dann  seinerseits  in  Worte 
kleidet.  Prophetia  est  quaedam  cognitio  intcllectui  prophetae 
impressa  ex  revelatione  divina  per  modum  cuiusdam  doctrinae 
(ib.  art.  6).  Um  dieser  ihrer  Herkunft  willen  ist  die  Schrift 
bindende  Autorität  (ib.  I  quaest.  1  art.  8).  Wenn  Thomas 
lehrt,  dass  die  Schriftlehre  in  den  altkirchlichen  Symbolen  zu- 
sammengefasst  und  geordnet  sei,  so  ist  das  nur  gemeinscho- 
lastische Lehre.  Für  uns  ist  hier  nur  dies  von  Interesse,  dass 
er  die  ganze  Offenbarung  nur  als  eine  wegen  der  Schwäche 
des  Menschen  erfolgte  Ergänzung  der  philosophischen  Welt- 
anschauung ansieht.  Der  Gottesgedanke  ist  es,  der  samt  einer 
Reihe  von  Mitteln,  die  zum  Genuss  Gottes  anleiten,  den  Inhalt 
der  Offenbarung  ausmacht  (II.  II  quaest.  1  art.  1). 

Nun  greift  aber  diese  Erkenntnis  Gottes  über  das  natür- 
liche Vermögen  unseres  Geistes  hinaus.  Es  bedarf  also  dessen^ 
dass  die  natürliche  an  das  Gebiet  der  sinnlichen  Wahrnehmung 
gebundene  Erkenntnis  erweitert  werde.  Die  natürliche  Er- 
kenntnis reicht  nämlich  nicht  hinaus  über  die  aus  dem  Kausal- 
zusammenhang der  Welt  gewonnene  Erkenntnis,  dass  Gott  die 
erste  Ursache  ist  (ib.  art.  12).  Diese  Erkenntnis  wird  ver- 
tieft durch  die  infusio  luminis  gratuiti.  Oder  genauer  geredet, 
durch  letztere  wird  das  geistige  Vermögen  des  Menschen  er- 
höht, während  ausserdem  noch  auf  das  Gebiet  der  Phantasie 
und  selbst  der  sinnlichen  Wahrnehmungen  Einwirkungen  statt- 
finden können.  Eigentlich  stellt  diese  Erkenntnis  also  nur  eine 
Steigerung  der  natürlichen  Erkenntnis  dar.  Dicendum  quod, 
licet  per  revelationem  gratiae  in  hac  vita  non  cognoscamus  de 
deo  quid  est,  et  sie  ei  quasi  ignoto  coniungamur:  tamen 
plenius  ipsum  cognoscimus  in  quantum  plures  et  excellentiores 
effectus  eius  nobis  demonstrantur  et  in  quantum  ei  aliqua 
attribuimus  ex  revelatione  divina,  ad  quae  ratio 
naturalis  non  pertingit,  utdeum  esse  trinum  et 
unum  (I  quaest.  12  art.  13). 

23.  Diese  sonderliche  christliche  Erkenntnis  ist  der  Glaube. 
Der  Intellekt  kommt  zum  Urteil  entweder  durch  die  unmittel- 
bare Einwirkung  eines  Objekts  oder  durch  den  Druck  des 
Willens,   der  ihn  zur  Zustimmung  nötigt.     Also  etwa  so,    dass 

40* 


628         Kap.  VII:  Die  g-eschichtliche  Stellung  des  Duns  Scotus. 

der  Wille  durch  die  Bilder  des  ewigen  Lebens  erregt  wird  und 
die  Vernunft  zur  Zustimmung  bewegt.  Aber  dies  Urteil  läuft 
der  Psychologie  des  Thomas  —  dem  Primat  des  Intellekts  — 
zuwider  und  muss  daher  motiviert  werden.  Das  geschieht  nun 
dadurch,  dass  für  den  Intellekt  ein  habitus  fidei  divinitus  in- 
fusus  angenommen  wdrd,  w^elcher  den  Intellekt  befähigt  jenem 
Wunsch  des  Willens  nachzukommen  (s.  Quaestio  disputata  de 
fide  art.  1.  4).  Der  Glaube  ist  also  ein  Erkennen,  ^)  das  aller- 
dings von  praktischen  Motiven  abhängig  gedacht  wird,  aber 
immerhin  seine  Vollendung  in  der  überirdischen  Erkenntnis 
Gottes  findet  (ib.  art.  2.  10;  c.  gentil.  III,  25,  8;  26;  50.  6; 
IV,  42,  1).  Der  Intellektualismus  verlangt  diesen  Zielpunkt, 
mag  auch  andererseits  der  Glaube  seine  Formation  durch  die 
Liebe  erhalten.  ^)  Gott  bis  zu  einem  gewissen  Grade  erkennen, 
ist  hier  unseres  Lebens  Inhalt,  die  Steigerung  dieser  Erkenntnis 
das  Ideal  für  das  Jenseits. 

Die  Erkenntnis  Gottes,  die  wir  auf  dem  Wege  des  Glaubens 
erlangen,  ist  übervernünftig,  aber  keinesw^egs  widerveruünftig 
(de  fide  art.  10).  Die  Theologie  hat  nun  die  Aufgabe,  die 
Möglichkeit  dieser  Erkenntnis  zu  erweisen.  Das  soll  nicht  be- 
deuten, dass  sie  zwingende  Vernunftbeweise  für  die  Offenbarung 
führt  —  wie  man  im  Zeitalter  Anselms  und  Abälards  ver- 
langte — ,  sondern  nur,  dass  sie  aus  der  Philosophie  die  theo- 
logischen Sätze  erläutert  und  ihre  Gegner  widerlegt  (Summ. 
IL  II  quaest.  1  art.  5;  c.  gentil.  I,  9).  Weiterreichende  Be- 
weise sind  deshalb  nicht  möglich,  weil  die  übervernünftigen 
Glaubenssätze  direkt  von  Gott  herrühren,  also  nicht  unter 
unsere  Vernunftprinzipien  gebeugt  werden  dürfen  (Summ.  I 
quaest.  1  art.  5.  8). 

24.  Zur  Erläuterung  dieser  Gedanken  haben  wir  noch 
zweier    philosophischen   Ansichten    des    Thomas    zu    gedenken. 


■^)  Vgl.  II.  I  quaest,  15  art.  1  ad  3,  wo  der  Assensus  dem  Intellekt, 
der  Consensus  dem  Willen  beigelegt  wird;  um  ersteren  handelt  es  sich 
bekanntlich  bei  dem  Glauben. 

^)  Man  wird  sich  dies  so  vorstellen  müssen,  dass  jener  egoistische 
zum  Glauben  drängende  Willenstrieb  jetzt  in  Liebe  zu  Gott  verwandelt 
wurde,  und  so  die  Liebe  mit  zur  Erzeugung  des  rechten  Glaubens  wirk- 
sam wird. 


Thomas  über  Erkenntnis  und  Wille.  629 

Die  erste  betrifft  das  Verhältnis  des  Willens  zur  Erkenntnis. 
Wie  sich  uns  schon  gelegentlich  zeigte,  folgt  er  auch  auf  diesem 
Gebiet  durchaus  der  aristotelischen  Auffassung.  Der  Intellekt 
ist  es,  der  das  eigentliche  Wesen  aller  höheren  geistig  organi- 
sierten Naturen  bildet.  Der  Wille  erscheint  ihm  nur  als  eine 
besondere  Art  des  natürlichen  Begehrens,  wie  etwa  auch  das 
Irascibile  und  Concupiscibile.  Erst  der  Intellekt  drückt  dem 
Willen  seinen  geistigen  Charakter  auf.  Voluntas  secundum  id 
quod  est  appetitus,  non  est  proprium  intellectualis  naturae,  sed 
solum  secundum  id  quod  ab  intellectu  depeudet  (c.  gentil.  III, 
26,  1).  Als  intellectivus  appetitus  gehört  der  Wille  dem 
höheren  Teil  der  Seele  an.  Durch  diesen  Zusammenhang  ist 
auch  die  Freiheit  des  Willens  bedingt.  Nach  griechischer 
Weise  ist  Thomas  der  Meinung,  dass  die  Vernunft  der  eigent- 
liche Sitz  der  Freiheit  sei.  Liberum  arbitrium  dicimus 
id  quod  est  huius  actus  principium,  scilicet  quod 
homo  libere  iudicat  (Summ.  I  quaest.  83  art.  2).  Hierin 
sollen  aber  zwei  Seelenvermögen  sich  treffen,  nämlich  die 
cognitiva  und  die  appetitiva.  Davon  heisst  es :  ex  parte  quidem 
cognitivae  requiritur  consilium  per  quod  diiudicatur  quid  sit 
alteri  praeferendum ;  ex  parte  autem  appetitivae  requiritur  quod 
appetendo  acceptetur  quod  per  consilium  diiudicatur.  Trotzdem 
meint  Thomas  schliesslich,  dass  die  electio,  d.  h.  das  Wesen 
des  liberum  arbitrium,  eigentlich  eine  appetitiva  potentia  sei, 
weil  es  sich  bei  ihr  um  die  Beziehung  auf  ein  Ziel  oder  Gut 
handelt,  das  mit  dem  Willen  erstrebt  wird  (ib.  quaest.  83 
art.  3).  Daher  wird  dann  auch  die  Frage,  ob  das  liberum 
arbitrium  eine  vom  Willen  verschiedene  Kraft  sei,  verneint. 
Denn  das  eligere  ist  ein  appetere  aliquid  propter  alterum  con- 
sequendum.  Dadurch  rückt  es  aber  in  die  Eeihe  der  Willens- 
funktionen, oder  noch  genauer  gesagt:  das  liberum  arbitrium 
oder  die  vis  electiva  verhält  sich  so  zur  voluntas,  wie  die  ratio 
zum  Intellekt  (ib.  art.  4). 

Demnach  ist  das  liberum  arbitrium  das  geistige  Wahl- 
vermögen. Seine  Freiheit  wird  dadurch  erwiesen,  dass  sonst 
alle  Ermahnungen  umsonst  wären  (ib.  quaest.  83  art.  1).  Der 
Gedanke  eines  selbständigen  geistigen  Wollens  fehlt  Thomas 
eigenthch.     Das,  an  was  er  denkt,  ist  schliesslich  nur  das  Ver- 


t)30         Kap.  VII:  Die  geschichtliche  Stellung  des  Duns  Scotus. 

mögen  der  praktischen  Vernunft  eine  freie  Entscheidung  zu 
treffen.  Mit  dieser  ist  die  Nachfolge  des  Willens  von  selbst 
gegeben.  Ausdrücklich  beruft  er  sich  hiefür  auf  Aristoteles 
(ib.  art.  3).  Im  Urteil  besteht  die  Willensfreiheit  und  die 
geistige  Art  des  Willens.  —  Hiebei  erscheint  es  dann  als  sehr 
verständlich^  dass  Thomas  die  Streitfrage  seiner  Zeit,  ob  der 
Wille  dem  Intellekt  oder  der  Intellekt  dem  Willen  übergeordnet 
sei,  zu  gunsten  letzterer  Möglichkeit  entscheidet.  Denn  das 
Höchste,  das  Einfache  und  Absolute  ist  das  direkte  Objekt  der 
Erkenntnis,  während  es  nur  mittelbar  Objekt  des  Willens  wird. 
Obiectum  enim  intellectus  est  simplicius  et  magis  absolutum 
quam  obiectum  voluntatis,  nam  obiectum  intellectus  est  ipsa 
ratio  boni  appetibilis;  bonum  autem  appetibile,  cuius  ratio  est 
in  intellectu,  est  obiectum  voluntatis.  Quanto  autem  aliquid 
est  simplicius  et  abstractius,  tanto  secundum  se  est  nobilius  et 
altius.  Et  ideo  obiectum  intellectus  est  altius  quam  obiectum 
voluntatis.  Cum  ergo  propria  ratio  potentiae  sit  secundum 
ordinem  ad  obiectum,  sequitur,  quod  secundum  se  et  simpliciter 
intellectus  sit  altior  et  nobilior  voluntate.  Diese  Betrachtung 
ruht  auf  dem  aristotelischen  Satz,  dass  der  Intellekt  sein 
Objekt  (wahr  und  falsch)  in  sich  trägt,  während  es  der  Wille 
(gut  und  böse)  in  den  Dingen  hat.  Daraus  zieht  nun  Thomas 
eine  Folgerung.  Wenn  das  Ding,  das  das  Gute  ausmacht, 
edler  als  die  Seele  ist,  in  der  der  Begriff  jenes  Dinges  ist,  so 
würde  in  Beziehung  zu  einem  solchen  Ding  der  Wille  höher 
als  die  Erkenntnis  sein.  Wenn  aber  jenes  Ding,  an  dem  das 
Gut  haftet,  unter  der  Seele  steht,  dann  würde  das  Erkennen 
höher  als  der  Wille  in  dieser  besonderen  Beziehung  sein.  ^) 
Unde  melior  est  amor  dei  quam  cognitio,  e  contrario  autem 
melior  est  cognitio  rerum  corporaHum  quam  amor.  Dadurch 
wird  aber  das  absolute  Verhältnis  der  Erhabenheit  des  Denkens 
über  das  Wollen  nicht  aufgehoben. 

Das  Denken  ruht  also  in  sich,  das  Wollen  tendiert  nach 
aussen.  Ist  das  Objekt  der  Seele  kommensurabel,  so  ist  die 
Erkenntnisthätigkeit  ihm  gegenüber  die  höhere;  ist  das  Objekt 


^)  Man  vergleiche  hier  die  ähnliche,  aber  doch  ganz  verschiedenartige 
Betrachtung  Heinrichs  oben  S.  612  f. 


Der  Intellektualismus  des  Thomas.  631 

dagegen  über  die  Seele  erhaben,  so  wird  sie  dasselbe  näher 
durch  einen  Willensakt  als  in  dem  inadäquaten  Erkenutnisbild 
ergreifen.  Diese  Beobachtung  ist  begreiflich ,  wiewohl  man 
ihre  Richtigkeit  im  Kahmen  der  thomistischen  Psychologie  be- 
zweifeln kann.  Ist  nämlich  nur  Erkanntes  Objekt  des  WoUens, 
so  ist  schwer  verständlich,  inwiefern  dann  der  Wille  über  das 
Erkennbare  hinaus  ein  Objekt  finden  soll.  Aber  es  ist  auch 
weiter  nicht  wohl  einzusehen,  wie  man  dieser  Regel  gegenüber 
den  Satz  aufrecht  erhalten  will,  dass  die  Theologie  resp.  das 
religiöse  Erkennen  wesentlich  spekulative  Gotteserkenntnis  sein 
soll.  Sodann  aber  hat  Thomas  die  Seligkeit  in  intellektiven 
Akten  sich  vollziehen  lassen.  Jedes  Ding  strebt  seinem  Ziel  zu  und 
findet  Ruhe  nur  in  ihm.  Wie  der  Intellekt  der  superior  motor 
im  Inneren  des  Menschen  ist,  so  ist  auch  das  inteUigere  sein 
höchstes  Ziel  (c.  gentil.  III,  25,  7).  Ultima  autem  homi- 
nis Salus  est,  ut  secundum  intellectivam  partem 
perficiatur  contemplati  one  virtutis  primae.  So 
wird  mit  Berufung  auf  Aristoteles  gelehrt  (ib.  IV,  42,  1 ;  III, 
44,  4;  cf.  Summ.  I  quaest.  1  art.  4;  II.  I  quaest.  2 — 5.  II.  II 
quaest.  175  art.  3;  quaest.  180  art.  5).  Man  mag  nun  die 
Differenz  der  Erkenntnis  der  Seligen  von  der  der  viatores 
noch  so  hoch  schätzen,  ^)  so  wird  man  doch  über  den  Wider- 
spruch, der  zwischen  diesen  Gedanken  und  obiger  Bemerkung 
besteht,  nicht  hinausgelangen. 

Es  kann  sich  hier  nicht  um  die  Künste  der  Harmonistik 
handeln,  wie  sie  etwa  an  die  Bemerkung  des  Thomas  ange- 
knüpft werden  könnte,  dass  doch  auch  die  jenseitige  intellektive 
Anschauung  Gottes  einer  gewissen  Kompletion  durch  den 
Willen  erhalte,  quia  per  voluntatem  homo  quodammodo  quiescit 
in  eo  quod  intellectus  apprehendit  (c.  gentil.  III,  116,  1).  Das 
alles  sind  nur  Ergänzungen,  die  der  augustinisch-kirchlichen 
Idee  zuliebe,  dass  die  Liebe  zu  Gott  das  Höchste  sei,  ange- 
bracht werden.  ^)  Die  Grundanschauung  ist  klar.  Wie  der 
Glaube  der  Anfang  der  Erkenntnis  Gottes  ist,  so  wird  er  seine 


^)  S.  z.  B.  Summ,  suppl.  quaest.  92  art.  1:  die  Seligen  werden  Gott 
so  erkennen,  dass  er  selbst  die  Form  (wie  der  Gegenstand)  ihrer  Er- 
kenntnis sein  wird. 

^)  Ebenso  wie  der  Gedanke,  dass  die  Liebe  den  Glauben  informiere. 


632         Kap.  VII:  Die  geschichtliche  Stellung  des  Duns  Scotus. 

Vollendung  durch  die  Seligkeit  in  der  intellektiven  Kontem- 
plation Gottes  finden.  Mit  vollem  Recht  sagt  Werner  von  dieser 
Idee  des  Thomas :  „seine  Auffassung  des  seligen  Seins  ist 
eigentlich  nur  die  ins  Christliche  umgesetzte  aristo- 
telische Ansicht  von  der  Glückseligkeit  der  kon- 
templativen  Müsse". ^) 

Für  die  uns  hier  beschäftigende  Absicht  ist  diese  Er- 
kenntnis von  grösster  Bedeutung.  Sie  lehrt  uns  nämlich  die 
Grundidee  der  thomistischen  Prinzipienlehre  erfassen.  Nicht 
um  eine  psychologische  Sonderraeinung  handelt  es  sich,  sondern 
darum,  dass  Thomas  ganz  in  die  griechische  Weltanschauung 
und  Seelenstellung  zurückgefallen  ist.  Er  ist  nicht  ungestraft 
bei  Aristoteles  in  die  Schule  gegangen  und  er  ist  hinter 
Augustins  Grunderkenntnis  zurückgegangen.  Das  ist  die  Auf- 
gabe der  christlichen  Wissenschaft,  dass  man  das  Weltbild  des 
Aristoteles  acceptiert  und  darüber  dann  den  Himmel  der  christ- 
lichen Offenbarung  spannt.  Erkennende  Betrachtung  ist  dem 
einen  wie  dem  anderen  gegenüber  die  rechte  Stellung  und  diese 
Erkenntnis  soll  sich  steigern  zu  der  seligen  Kontemplation  im 
Jenseits.  Die  Eigenart  der  christlichen  Weltanschauung  ist 
aufgelöst,  und  die  Offenbarung  muss  verkümmern  in  der  Zwangs- 
ehe, die  zwischen  ihr  und  Aristoteles  hergestellt  ist.  Dies 
wäre  einstweilen  das  Resultat.  Es  gibt  christliche  Elemente 
bei  Thomas  —  auf  eins  sind  wir  schon  gestossen  — ,  die  dem 
widersprechen ;  wir  können  erst  später  von  ihnen  reden. 

24.  Das  war  der  eine  Punkt,  dessen  Betrachtung  wir  oben 
S.  628  in  Aussicht  nahmen.  Zum  anderen  handelt  es  sich  um 
die  Erkenntnislehre,  besonders  um  die  Frage  nach  den  Uni- 
versalien. Haureau  hat  sich  bemüht,  Thomas  —  im  Zusammen- 
hang mit  Aristoteles  —  wesentlich  als  Nominalisten  darzu- 
stellen. ^)  Allein  der  gelehrte  Kenner  der  scholastischen  Philo- 
sophie ist  hier  —  ich  lasse  Aristoteles  aus  dem  Spiel  —  wie 
auch  in  anderen  Teilen  seiner  Darstellung  wohl  dem  Fehler 
verfallen,   zu  rasch  zu  finden  was   er  suchte.     Dass  derartige 


^)  Werner   in  Denkschriften    der  Wiener  Akademie  Bd.  28  (1878), 
S.  136. 

^)  Histoire  de  la  philosophie  scolastique  II  1,  338—462. 


Thomas'  Erkenntnistheorie,  633 

Elemente  bei  Thomas  wie  bei  Albert  wirklich  vorkommen,  ist 
freilich  evident.  Thomas  geht  mit  dem  aristotelischen  Empi- 
rismus: nihil  est  in  intellectu  quod  non  fuerit  in  sensu  (z.  B. 
Summ.  I  quaest.  85  art.  3.  7);  von  hier  aus  erscheint  dann 
das  Universale  als  ein  Produkt  unseres  Geistes,  der  das  com- 
mune in  dem  Wechsel  der  Erscheinungen  ergreift  und  fixiert. 
So  betrachtet  ist  objektiv  das  Einzelne  und  Sinnliche,  während 
nur  subjektive  intellektuelle  Existenz  dem  Gemeinbegriff  zu- 
kommt, mit  dem  wir  jenes  Sinnliche  bezeichnen.  Ipsa  igitur 
natura,  cui  accidit  vel  intelligi  vel  abstrahi,  vel  intentio  univer- 
salitatis  non  est  nisi  in  singularibus ;  sed  hoc  ipsum  quod 
est  intelligi  vel  abstrahi  vel  intentio  universali- 
tatis  est  in  intellectu.  Daher  heisst  es  im  Beispiel: 
humanitas,  quae  intelHgitur,  non  est  nisi  in  hoc  vel  in  illo 
homine ;  sed  quod  humanitas  apprehendatur  sine  individualibus 
condicionibus,  quod  est  ipsam  abstrahi,  ad  quod  sequitur  intentio 
universalitatis,  accidit  humanitati  secundum  quod  percipitur  ab 
intellectu,  in  quo  est  similitudo  naturae  speciei  et  non  indi- 
vidualium  principiorum  (Summ.  I  quaest.  85  art.  2  ad  2).  Nur 
scheinbar  widerspricht  es  dieser  Auffassung,  dass  nach  Thomas 
eine  direkte  Erkenntnis  überhaupt  nur  bezüglich  des  Universale 
oder  des  Begriffes  existiert.  Alles  Erkennen  vollzieht  sich 
nämlich  durch  die  Thätigkeit  des  intellectus  agens,  d.  h.  ab- 
strahendo  speciem  intelligibilem  ab  huiusmodi  materia.  Das 
Erkennen  hat  es  also  direkt  nur  mit  den  allgemeinen  Begriffs- 
bildern zu  thun.  Nur  indirekt  per  quandam  reflexionem,  d.  h. 
indem  der  Geist  zurückschaut  zu  den  Vorstellungen  und  Ein- 
drücken (phantasmata) ,  aus  denen  ihm  jene  Begriffsbilder 
wurden,  vermag  er  Erkenntnis  von  dem  einzelnen  Ding  als 
solchem  zu  gewinnen  (Summ.  I  quaest.  86  art.  1).  Das  läuft 
dem  Nominalismus  nicht  zuwider,  sofern  jene  Art  universaler 
Begriffsbildung  ja  doch  nicht  die  objektive  Existenz  der  Uni- 
versalien beweist. 

Also  ist  die  nominalistische  Auffassung  bei  Thomas  aller- 
dings klar  bezeugt.  Es  kann  daher  nicht  wunder  nehmen,  dass 
Thomas  nicht  selten  diese  Gedankenbildung  zur  Polemik  wider 
die  platonische  Ideenlehre  und  zum  bewussten  Bekenntnis  zu 
Aristoteles   steigert.     Aristoteles  habe  Becht    mit    seiner  Be- 


Ö34         -Kap.  VII:  Die  geschichtliche  Stellung  des  Duns  Scotua. 

kämpfung  Piatos;  es  sei  eine  opinio  irrationabilis,  dass  die 
species  rerum  naturalium  separatao  per  se  subsistentes  existieren, 
sodass  also  das  Pferd  an  sich  oder  der  Mensch  an  sich  eine 
Realität  wären  (ib.  I  quaest.  6  art.  4).  —  Soweit  scheint  alles 
klar  zu  sein,  aber  Prantl  wird  doch  Eecht  behalten,  wenn  er 
sagt:  „schnell  wendet  sich  das  Blatt  (wie  bei  Albertj,  und 
Thomas  ist  trotz  aller  dieser  peripatetischen  Plagiate,  deren 
Tragweite  er  natürlich  gar  nicht  versteht,  nichts  weniger  als 
ein  Aristoteliker^^  ^)  Dies  tritt  gerade  in  den  für  seine  Theo- 
logie wichtigeren  Gedankenwendungen  hervor. 

Die  vorgetragenen  Gedanken  entstammen  nämlich  der  rein 
empirischen  Erkenntnislehre.  Anders  nimmt  sich  die  Frage 
unter  dem  Gesichtspunkt  der  Metaphysik  aus.  Da  unsere 
Erkenntnis  ihren  Ausgang  an  sinnlichen  Eindrücken  hat,  so 
ist  die  Erkenntnis  des  einzelnen  Dinges  früher  als  die  des 
Universale,  das  durch  eine  Abstraktion  des  Intellekts  gewirkt 
wird  (Summ.  I  quaest.  85  art.  3).  Nun  kann  aber  auch  die 
allgemeine  Natur,  die  in  den  Einzeldingen  offenbar  wird,  als 
formales  Prinzip  derselben  angesehen  werden,  Thomas  denkt 
dabei  an  die  aristotelischen  Formen,  denen  er  eine  objektive 
Wirksamkeit  beilegt.  Si  autem  consideremus  ipsam  naturam 
generis  et  speciei,  prout  est  in  singularibus,  sie  quodammodo 
habet  rationem  principii  formalis  respectu  singularium;  nam 
singulare  est  propter  materiam,  ratio  autem  speciei  sumitur  ex 
forma  (ib.  art.  3  ad  4).  Diese  Formen,  die  also  in  den  Ge- 
meiübegriffen  zum  Ausdruck  gelangen,  sind  nun  allerdings 
nicht  wie  die  platonischen  Ideen  als  in  der  Sonderexistenz  eines 
Dinges  an  sich  begriffen  anzusehen,  wohl  aber  existieren  sie  als 
Realitäten  im  göttlichen  Geist.  Wie  etwa  die  Idee  des  Kunst- 
werkes vor  seiner  Ausführung  in  unserem  Geist  besteht,  und 
diese  bedingt,  so  similiter  per  rationes  aeternas  deus  producit 
creaturas  (de  veritate  quaest.  8  art.  9).  Der  göttliche  Geist 
ist  sonach  der  Ort  der  Ideen.  Ideen  sind  die  Formen  der 
Dinge,  die  ausser  diesen  selbst  sind.  Sie  können  als  exemplar 
wie  als  principium  cognitionis  ihres  Dinges  gedacht  werden. 
In  diesem   wie  in  jenem   Sinn   sind  sie  in  Gott  anzunehmen. 


1)  Prantl,  Gesch.  der  Logik  III,  S.  112. 


Thomas  über  die  Universalien.  635 

Also  werden,  sofern  Gott  Schöpfer  der  Welt  ist,  in  seinem 
Geist  wirksame  Formen  angenommen  werden  als  die  Urbilder, 
denen  gemäss  alles  in  der  Welt  verwirklicht  wird  (Summ.  I 
quaest.  15  art.  1).  So  präexistiert  im  göttlichen  Geist  die  idea 
ordinis  universi  wie  die  Schlachtordnung  im  Geist  des  Führers. 
Aber  ebenso  auch  die  Idee  oder  Form  aller  einzehien  Arten. 
Und  zwar  schaut  Gott  alle  diese  Formen  in  seiner  Essenz,  sofern 
diese  für  die  Kreaturen  das  Urbild  darstellt.  Sic  igitur  in 
quantum  deus  cognoscit  suam  essentiam  ut  sie  imitabilem  in 
tali  creatura,  cognoscit  eam  ut  propriam  rationem  et  ideam 
huius  creaturae  et  similiter  de  aliis.  Et  sie  patet,  quod  deus 
intelligit  plures  rationes  proprias  plurium  rerum  quae  sunt  plures 
ideae  (ib.  art.  2). 

Sonach  ist  die  Meinung  des  Thomas  klar.  Die  Univer- 
salien oder  die  Ideen  der  Dinge  präexistieren  freilich  und  sind 
der  Grund  der  Existenz  der  einzelnen  Dinge.  Insofern  hatte 
Plato  Recht  (c.  gentil.  III,  24).  Nur  sollen  diese  Ideen  oder 
wirksamen  Formen  des  göttlichen  Denkens  in  Gottes  Geist 
präexistieren ,  nicht  aber  ist  es ,  wie  Plato  wollte ,  quod 
ponebat  ideas  per  se  existentes,  non  in  intellectu  (seil,  dei,  ib. 
art.  1).  —  Damit  haben  wir  aber  bei  Thomas  die  üblich  ge- 
wordenen Gedanken  von  dem  Universale  post  rem,  wie  ante 
rem  nachgewiesen.  ^) 

Indem  nun  die  religiöse  Betrachtungsweise  naturgemass 
die  zuletzt  vorgetragenen  Gedanken  bevorzugte,  so  erwuchs 
auch  aus  der  thomistischen  Erkenntnislehre  jene  hellenisie- 
rende  Stimmung,  nach  der  der  Christ  am  Glauben  die  an- 
fangende Erkenntnis  des  Weltsystems  hat  und  in  den  kontem- 
plativen Zuständen  im  Diesseits  wie  Jenseits  die  Seligkeit  erlebt. 

25.  So  scheint  Gott  wieder  in  die  Ferne  gerückt  zu  sein, 
und  die  Mannigfaltigkeit  guter  Werke,  die  dem  Christen  geboten 
werden,  ersetzt  nicht  das  Erlebnis  von  dem  wirksamen  Gott. 
Allein  Thomas  hat  den  Begriff  von  Gott  in  einer  Weise  aus- 
geführt, welche  geeignet  war,  den  Bann  seiner  fremdartigen 
Seelenstellung  zu  beschränken.  Die  aristotelischen  Ideen  von 
Gott  als  dem  absolut  wirksamen  letzten  Zweck  und  der  ersten 


^)  Die  dritte  Formel  in  re  ergibt  sich  nun  von  selbst. 


636  Kap.  VI:  Aus  der  Ethik  des  Duns  Scotus. 

Ursache,  Anselms  Anregungen  und  ein  christliches  Empfinden 
haben  in  diesem  Gottesbogriff  zusammengewirkt.  So  ergab 
sich,  dass  Gott  der  absolut  geistige,  denkende  und  wollende 
erste  Beweger  der  Welt  und  dass  er  absoluter  actus  purus  sei, 
absque  alicuius  potentialitatis  permixtione.  Da  dieser  schlechthin 
aktive  Gott  sich  selbst  als  letzten  Zweck  will,  aber  auch  die 
Welt  setzt,  ist  es  klar,  dass  er  die  Welt  als  Mittel  zu  diesem 
Zweck  will.  Dann  wird  auch  sein  Verhältnis  zur  Welt  genau 
dem  Verhältnis  zu  jenem  Zweck  analog  sein.  Oder:  wie  Gott 
sich  selbst  liebt,  so  liebt  er  die  Welt.  In  hoc  vero,  quod 
aliquis  amat  alium,  vult  bonum  illi  et  sie  utitur  eo  tanquam 
se  ipso  referens  bonum  ad  illum  sicut  ad  se  ipsum  (Summ.  I 
quaest.  20  art.  1  ad  3,  s.  die  ganze  Erörterung  ib.  quaest.  19 
und  20).  Alles  was  ist  und  wird,  ist  sonach  Wirkung  des 
göttlichen  Willens  und  Offenbarung  seiner  Liebe.  In  diesem 
Zusammenhang  ist  nun  die  praktische  Gottesempfindung  des 
Thomas  zu  suchen.  Die  Liebeskraft  der  schlechthinigen  Ur- 
sächlichkeit ist  als  der  gerechte  gubernator  der  Welt  gedacht. 
Ordo  universi,  qui  apparet  tam  in  rebus  naturalibus  quam 
in  rebus  voluntariis,  demonstrat  dei  iustitiam.  Und  zwar  ist 
Gott  also  gerecht,  indem  er  sich  selbst  Norm  ist  (deus  autem 
sibi  ipsi  est  lex,  I  quaest.  21  art.  1).  Da  aber  die  Gerechtigkeit 
in  allen  Handlungen  Gottes  mit  der  Barmherzigkeit  verbunden 
ist,  so  wird  der  Weltregent  überall  eine  gütige  Gerechtigkeit 
walten  lassen:  deus  ex  abundantia  suae  bonitatis  largius  dis- 
pensat  quam  exigat  proportio  rei  (ib.  art.  4). 

Es  ist  der  christliche  Gottesgedanke,  der  durch  diese 
Formeln  einen  wenn  auch  nur  unvollkommenen  Ausdruck 
findet.  Dieser  Gedanke  leitet  nun  auch  die  Erwägungen  des 
Thomas  über  die  Providenz  und  Prädestination.  In  dem  Geist 
Gottes  präexistiert  die  ratio  ordinis  rerum  in  finem.  Praecipere 
de  ordinandis  in  finem  quorum  rectam  rationem  habet  competit 
deo  secundum  illud  psaltis  regii:  praeceptum  posuit  et  non 
paeteribit  (ib.  quaest.  22  art.  1).  Dies  besteht  aber  darin: 
causalitas  dei  qui  est  primum  agens  se  extendit  usque  ad  omnia 
entia,  non  solum  quantum  ad  principia  speciei  sed  etiam  quantum 
ad  individualia  principia.  Wie  nun  Gott  durch  die  Providenz 
direkt   den   Lauf  aller  Dinge  ordnet,    so    lässt    er   sich  diese 


Thomas  über  Gott  und  die  Prädestination.  637 

Ordnung  durch  ein  System  von  Mitteln  realisieren,  was  als 
gubernatio  bezeichnet  wird  (1.  c.  art.  3  u.  I  quaest.  103  art.  6). 
Dabei  hat  die  Providenz  aber  angeordnet,  dass  einiges  infalli- 
biliter  et  necessario,  anderes  contingenter  geschehe  (ib.  art.  4). 
Die  Prädestination  ist,  unmittelbar  betrachtet,  die  providentielle 
Verordnung  bestimmter  Menschen  zur  Seligkeit;  diese  Verord- 
nung verwirklicht  sich  aber  auf  dem  Wege  der  gubernatio, 
etwa  in  der  Berufung.  Est  autem  executio  praedestinationis 
vocatio  et  magnificatio  cf.  Rom.  8,  30  (ib.  quaest.  23  art.  2). 
In  diesem  Sinn  können  dann  auch  verdienstHche  Handlungen 
zur  Verwirklichung  der  Prädestination  dienen,  indem  sie  in  ihr 
beschlossen  sind,  keinesfalls  aber  sie  begründen.  Ihr  Grund 
ist  lediglich  im  Willen  Gottes  gegeben.  Unde  et  id  quod  est 
per  liberum  arbitrium  est  ex  praedestinatione  (ib.  art.  5  und  8). 
Das  Böse  komme  vermöge  der  göttlichen  permissio  zu  stände. 
Doch  dürfe  die  reprobatio  nicht  auf  die  blosse  Präscienz  zu- 
rückgeführt werden,  denn  sie  ist  voluntas  permittendi  aliquem 
cadere  in  culpam  et  inferendi  damnationis  poenam  pro  culpa; 
aber  nicht  eine  positive  causa,  sondern  eine  derelictio  Gottes 
sei  anzunehmen  (ib.  art.  3). 

Thomas  hat  behauptet,  dass  Prädestination  und  Freiheit 
einander  nicht  ausschlössen.  Es  soll  nämlich  die  Providenz 
sich  nicht  nur  in  notwendigem,  sondern  auch  kontingentem 
Geschehen  auswirken,  letzteres  secundum  condiciones  causarum 
proximarum.  ^)  Sic  igitur  et  praedestinationis  ordo  est  certus 
et  tamen  libertas  arbitrii  non  tollitur,  ex  qua  contingenter  pro- 
venit  praedestinationis  effectus  (ib.  art.  6).  Dasselbe  Resultat 
ergibt  sich  auch  vom  Standort  der  Präscienz  aus.  Indem  Gott 
eine  ewige  Anschauung  von  allem  Geschehen  als  von  einem 
Gegenwärtigen  in  sich  trägt,  geschieht  alles,  wie  er  es  erkennt; 
aber  er  kennt  in  diesem  Geschehen  auch  freie  Entwicklungs- 
reihen (I  quaest.  14  art.  13).  Gottes  Wille  ist  Ursache  auch 
der  kontingenten  Handlungen,  aber  eben  als  kontingenter,  wäre 


^)  Vgl.  I  quaest.  103  art.  7  ad  3:  dicendum,  quod  dicuntur  aUqui 
effectus  contingentes  per  comparationem  ad  proximas  causas  quae  in  suis 
effectibus  deficere  possunt;  non  propter  hoc,  quod  aliquid  fieri  possit  extra 
totum  ordinem  gubernationis,  quia  hoc  ipsum  quod  aliquid  contingit  praeter 
ordinem  causae  proximae  est  ex  aliqua  causa  subiecta  gubernationi  divinae. 


638         Kap.  VII:  Die  geschichtliche  Stellung  des  Duns  Scotus. 

doch  sonst  das  meritum  oder  demeritum  ausgeschlossen  (I  qu.  105 
art.  4  ad  3). 

26.  Dass  die  bekannten  Schwierigkeiten  durch  diese  Ge- 
danken nicht  gehoben  sind,  ist  einleuchtend.  Aber  ein  anderes 
interessiert  uns  im  Augenblick.  Wir  wollten  die  Eigenart  des 
thomistischen  Gottesgedankens  erforschen.  Dass  Gott  die  schlecht- 
hinige Ursächlichkeit  oder  dann  der  absolute  Herr  ist,  haben 
war  gesehen.  Aber  die  Frage  ist  nun  weiter,  ob  Thomas  dieser 
Gedanken  derart  Herr  gewesen  ist,  dass  sie  den  Glauben  im 
Sinne  der  christlichen  Religion  ermöghchten  ?  Diese  Frage  ist 
zu  verneinen.  In  der  grossartigen  Einteilung  der  theologischen 
Summe  (von  Gott  —  zu  Gott  —  durch  Christus)  ist  zwar 
Christus  als  via  nobis  tendendi  in  deum  bezeichnet  und  dem- 
gemäss  ist  in  der  Erlösungslehre  die  Offenbarung  Gottes  in 
Christo  kräftig  betont  worden.  Aber  diese  Gedanken  werden 
unwirksam  gemacht  durch  die  sonstigen  Elemente  der  thomi- 
stischen Theologie.  Erstens  tritt  der  Gedanke  der  Gegenwart 
Gottes  regelmässig  in  der  abstrakten  und  unkräftigen  Form 
der  ersten  Ursache  auf.  Dadurch  aber  wird  für  das  religiöse 
Bewusstsein  Gott  immer  wieder  in  die  metaphysische  Ferne  der 
Kontemplation  gerückt.  Zweitens  wird  der  Begriff  der  Gnade 
nach  Möglichkeit  des  persönlichen  geistigen  Elementes  ent- 
kleidet. Für  die  persönliche  wirksame  Liebesmacht  Gottes 
gewinnt  man  quiddam  supernaturale  in  homine  a  deo  proveniens 
(Summ.  II.  I  quaest.  110  art.  1),  d.  h.  die  in  der  Seele  neu 
erschaffenen  qualitates  supernaturales  (ib.  art.  2 — 4).  Auch 
diese  Auffassung  verkürzt  das  geistige  Verhältnis  zu  Gott  und 
die  durch  naturhafte  Seelensteigerungen  gewonnene  Kontem- 
plation lässt  erst  recht  die  Empfindung  von  der  Ferne  der  ab- 
soluten Substanz  Gottes  von  unserem  Herzen  zurück.  Drittens 
hat  Thomas  der  Sakramentslehre  eine  Form  gegeben,  die  sie  in 
der  nämlichen  Richtung  wirksam  werden  Hess.  Die  Gnade 
wird  zwar  von  Gott  erschaffen,  aber  durch  die  Rezitation  der 
Einsetzungsworte  geht  diese  geistige  Kraft  in  die  äusseren 
Zeichen  ein,  denen  sie  so  lange  einwohnt,  bis  die  Kraft  ihr 
Ziel  d.  h.  die  Seele  erreicht  hat.  Gott  ist  also  die  Prinzipal- 
ursache, die  Sakramente  sind  aber  die  Instrumentalursachen 
der   geschaffenen    spiritualis  virtus  (Summ.  III  quaest.  62  art. 


Das  praktische  Gottesbewusstsein  nach  Thomas.  639 

1  u.  4).  Auch  diese  Lehre  ist  nicht  dazu  angethan  einen 
geistigen  Verkehr  der  Seele  mit  Gott  zu  befördern.  Da  nun 
aber  für  die  thomistische  Anschauung  die  Wirkungen  Gottes 
auf  den  Sünder  sich  schlechtweg  konzentrieren  in  den  Sakra- 
menten, muss  es  einleuchten,  wie  schwer  durch  diese  Ideen  von 
der  Gnade  und  den  Sakramenten  die  wirklich  christliche  Gottes- 
erkenntnis gehemmt  wurde.  Indem  die  Autorität  des  persön- 
lichen Gottes  hinter  seineu  Schöpferthaten  verschwindet,  ge- 
winnt die  Seele  zwar  die  Antriebe  zur  Betrachtung  dieses 
Systems  von  Thaten,  nicht  aber  zum  Glauben  als  der  persön- 
lichen Hinnahme  des  sich  offenbarenden  Gottes.  Auch  Augustin 
hat  die  angeführten  Gedanken  gehabt  und  sie  mit  seinem  Gottes- 
gedanken verbunden.  Formell  that  Thomas  nichts  anderes, 
aber  während  bei  Augustin  der  Gedanke  der  göttlichen  Provi- 
denz  eine  machtvolle  Realität  war,  hatte  der  Aristoteliker 
Thomas  an  ihm  schliesslich  nur  eine  Formel  mehr,  um  das 
kirchliche  „System"  auszubauen.  Die  Problemstellung,  die 
seiner  Dogmatik  zu  gründe  liegt,  hat  seine  Gedanken  immer 
wieder  beschränken  und  knicken  müssen. 

27.  Aber  noch  eine  Frage  müssen  wir  dem  System  des 
Thomas  stellen,  es  ist  die  Frage  nach  dem  ethischen  Ideal  oder 
nach  der  Liebe.  Es  sind  drei  Gesichtspunkte,  von  denen  her 
die  Antwort  auf  diese  Frage  zu  suchen  ist,  nämlich  das  Ver- 
hältnis der  Kirche  zu  dem  einzelnen  Christen,  die  Lebensge- 
rechtigkeit des  Sünders  und  die  aristotelische  Tugendlehre. 

Die  menschlichen  Handlungen,  sagt  Thomas  einmal,  sind 
verdienstlich  oder  misverdienstlich  je  nach  ihrer  Beziehung  zu 
Gott  als  dem  höchsten  Zweck:  ratione  quidem  ipsius  (dei),  in 
quantum  est  ultimus  hominis  finis ;  est  autera  debitum,  ut  ad 
finem  ultimum  omnes  actus  referantur  .  .  .  Unde  quifacit  actum 
malum  non  referibilem  in  deum,  non  servat  honorem  dei  qui 
ultimo  fini  debetur  (II.  I  quaest.  21  art.  4).  Hiemit  wäre  also 
das  ethische  Ideal  als  der  Dienst  für  Gott  gekennzeichnet.  Es 
ist  aber  die  Frage,  in  welchem  Sinne  und  Umfang  dieser 
schöne  Grundsatz  befolgt  wird.  Nun  ist  aber  das  Reich  Gottes 
identisch  mit  der  amtlich  organisierten  römischen  Kirche.  Diese 
aber  ist  eine  congregatio  politica,  in  der  die  rectores  die  Ge- 
setze  geben   oder   auslegen;    die    subditi    sie   aber  zu  befolgen 


640         Kap.  VII:  Die  geschichtliche  Stellung  des  Duns  Scotus. 

haben.  ^)  Somit  wird  im  Sinn  des  Thomas  der  Dienst  am 
Reiche  Gottes  sich  erschöpfen  in  der  Befolgung  der  kirchlichen 
Gebote.  Ist  dies  aber  die  Meinung,  so  wird  dieselbe  Verengung 
des  ethischen  Horizontes  —  trotz  jenes  Satzes  —  auch  für 
Thomas  anzunehmen  sein,  die  überhaupt  die  mittelalterliche 
Ethik  kennzeichnet.  Dazu  kommt  noch,  dass  Thomas  als 
höchstes  Ziel  doch  nicht  jene  Willensbethätigung  fassen  will, 
sondern  vielmehr  die  Erkenntnis  Gottes  als  die  höchste  Glück- 
seligkeit (II.  I  quaest.  2  art.  8 ;  quaest.  3  art.  4 — 8). 

Zum  anderen  wenden  wir  uns  der  konkreten  Beurteilung 
der  Sittlichkeit  des  Sünders  zu.  Die  Sünde  besteht  nach 
Thomas  formaliter  in  dem  Mangel  der  iustitia  originalis, 
materialiter  aber  in  der  concupiscentia  als  einer  Verwundung 
der  Natur,  dem  languor  naturae  (11.  I  quaest.  82  art.  1  u.  3 ; 
quaest.  85  art.  3).  —  Aus  diesem  Zustand  kann  der  Mensch 
nur  befreit  werden  durch  eine  Wirkung  der  ersten  Ursache. 
Necesse  est,  quod  ad  ultimum  finem  convertatur  homo  per 
motionem  primi  moventis  (ib.  quaest.  109  art.  6).  Gott  selbst 
ist  es,  der  als  die  erste  Ursache  den  freien  Willen  zu  sich  hin- 
bewegt (ibid.).  Gemäss  dem  Doppelcharakter  der  Sünde  wird 
die  Justifikation  des  Sünders  sowohl  die  Gerechtmachung  durch 
die  eingegossene  Gnade  als  die  durch  dieselbe  bedingte  Sünden- 
vergebung in  sich  fasssen  (s.  ib.  quaest.  113).  Ersterer  Be- 
griff ist  auch  für  Thomas  fraglos  der  massgebende  (vgl.  oben 
S.  328  f.  Anm.).  Sofern  nun  aber  in  diesem  Zusammenhang 
das  Verhältnis  von  Gott  und  Mensch  in  das  Gebiet  des  un- 
persönlichen zu  versinken  droht,  wird  auch  von  Thomas  der 
Verdienstgedanke  als  Gegengewicht  verwertet.  Der  Wille  wirkt 
mit  der  Gnade  zusammen,  so  werden  die  von  der  Gnade  an- 
geregten Handlungen  verdienstlich.  Es  gilt  als  congruum,  dass 
Gott  operanti  secundum  suam  virtutem  Lohn  gebe  (11. 1  quaest. 
114  art.  3.  2.  8.  9).  Damit  wird  aber  das  sittliche  Leben  in 
die  kleinen  Verhältnisse  der  offiziellen  guten  AVerke  hinab- 
gezogen. 

Wir  kommen  zu  demselben  Resultat  bei  Erwägung  des 
aristotelischen  Elementes  in  der  Ethik   des  Thomas.     Fast  die 


^)  S.  Genaueres  hierüber  Dog-menoresch.  II,  127  ff. 


Thomas  über  die  Weltstellung  des  Christen.  641 

ganze  aristotelischen  Ethik  ist  von  Thomas  in  dem  2.  Teil  der 
Summa  (de  motu  rationalis  cieaturae  in  deum)  hineingezogen 
worden.  Er  bleibt  seiner  Methode  auch  hier  treu.  Im  Unter- 
schied zu  Augustin  wird  nicht  etwa  der  Versuch  gemacht  in 
der  Liebe  den  Ansatz  zu  den  hellenischen  Tugenden  nachzu- 
weisen, sondern,  wie  Luthardt  richtig  sagt,  „das  Christliche  ist 
nur  wie  ein  höheres  Stockwerk^  welches  auf  die  aristotelische 
Grundlage,  und  zwar  ziemlich  unvermittelt,  aufgebaut  er- 
scheint".^) Nimmt  man  nun  die  Überordnung  der  dianoetischen 
über  die  ethischen  Tugenden  hinzu,  sowie  die  Definition  der 
Tugend  als  ein  in  medio  esse  (II.  I  quaest.  64  art.  2)  und  die 
Höherstellung  des  kontemplativen  Lebens  über  das  aktive  (IL 
II  quaest.  179 — 182),  so  ist  es  klar,  wie  auch  hier  der  ganze 
Gedankenbau  seine  Richtung  von  den  aristotelischen  Ecksteinen 
in  seinem  Fundament  erhält. 

28.  Wir  dürfen  aber  nicht  weiter  in  die  Details  der  tho- 
mistischen  Theologie  eingehen.  Für  unseren  Zweck  genügt  die 
Prüfung  der  Prinzipien  und  der  Methode.  Man  nennt  Thomas 
gern  „den  grössten  aller  Scholastiker'^  Man  kann  diesem  Ur- 
teil —  auch  wenn  man  die  Anwendung  solcher  rein  formalen 
Kategorien  nicht  eben  für  geistreich  hält  —  in  einer  bestimmten 
Beziehung  beipflichten.  Was  die  planmässige  Erschöpfung  des 
ganzen  Stoffes,  die  geschmackvolle  und  sachentsprechende  An- 
ordnung, die  Gabe  das  Viele  unter  einige  einfache  Gesichts- 
punkte zusammenzufassen  und  die  Gewandtheit  in  der  Hand- 
habung der  Dialektik  anlangt,  hat  Thomas  allerdings  unter  den 
mir  bekannten  Scholastikern  nicht  seinesgleichen.  Aber  es 
fehlt  auch  nicht  an  dem  Schatten  neben  dem  Licht  dieser  Vor- 
züge. Ein  Systematiker  in  der  Weise  Anselms  oder  auch  des 
Duns  Scotus  ist  er  nicht  gewesen.  Er  vermag  nicht  den  ganzen 
überkommenen  Gedankenstoff  flüssig  zu  machen,  um  ihn  nach 
bestimmten  leitenden  Ideen  in  einen  neuen  Guss  zu  bringen. 
Er  führt  dazu  immer  zu  viel  fertige  Massen  mit  sich,  die  not- 
dürftig zugestutzt  an  einem  Platz  des  Systems  untergebracht 
werden  müssen.  Einmal  sind  es  die  aristotelischen  Ideen,  die 
etwa  in  der  Ethik  doch  nur  recht  äusserlich  an  die  christlichen 


1)  Luthardt,  Geschichte  der  christl.  Ethik  II,  296. 
Seeberg,  Die  Theologie  des  Duns  Scotus.  41 


642         Kap.  VII:  Die  geschichtliche  Stellung  des  Duns  Scotus. 

Gedanken  angestickt  werden.  Sodann  aber  ist  es  die  formu- 
lierte Kirchenlehre,  der  Thomas  innerlich  viel  unfreier  als 
Duns  —  trotz  des  Positivismus  —  gegenübersteht.  Duns 
ist  bemüht  die  kirchliche  Lehre  geistig  zu  durchdringen,  sie 
innerlich  zu  erfassen  und  frei  zu  reproduzieren,  mag  schliesslich 
immerhin  die  Formel  als  solche  das  ultimum  refugium  sein. 
Thomas  ist  es  genug  daran,  die  kirchliche  Formel  wiederzu- 
geben und  sie  durch  äussere  dialektische  Mittel  als  konsequent 
und  vernunftgemäss  zu  erweisen.  Duns  stellt  sich  zu  dem  über- 
lieferten Stoff  immer  kritisch,  weil  ihm  eine  Gesamtanschauung 
vor  der  Seele  steht;  Thomas  ist  immer  bereit  alles  Überlieferte 
als  solches  zu  acceptieren,  weil  es  ihm  nur  darauf  ankommt 
alle  Dogmen  auf  den  ganzen  Aristoteles  zu  setzen.  Beiden 
lag  ein  Fertiges  vor,  aber  der  eine  wusste  in  dem  „Gegebenen" 
etwas  zu  suchen,  der  andere  war  zufrieden  es  gefunden  zu 
haben.  Der  eine  rang  um  eine  Weltanschauung,  der  andere 
erwies  eine  überkommene  Weltanschauung. 

Man  würde  das  Gesagte  missverstehen,  dächte  man  sich 
schon  im  Ausseren  der  Darstellung  diese  Differenz  klar  ausge- 
drückt. Zunächst  scheint  der  entgegengesetzte  Eindruck  der 
berechtigte  zu  sein.  Thomas  stellt  Definitionen  her,  die  sich 
wie  eine  höhere  Einheit  zwischen  Aristoteles  und  dem  Dogma 
ausnehmen ;  Duns  ist  rastlos  beschäftigt  die  alten  Beweise 
zu  kritisieren  und  neue  Beweise  zu  erfinden,  während  die 
Formel  der  römischen  Kirche  ausserhalb  der  Diskussion  steht. 
Und  doch  wird  unsere  Charakteristik  im  Recht  bleiben.  Hinter 
den  glatten  Definitionen  und  der  gewandten  Dialektik  des 
Thomas  steckt  schliesslich  nur  der  äusserüche  Autoritätsglaube, 
der  Aristoteles  und  das  Dogma  miteinander  verbindet.  Bei 
Duns  sind  aber  alle  Bemühungen  um  Beweise  nur  Ausdruck 
des  Kampfes  um  ein  eigenes  sicheres  Verständnis  der 
Offenbarung,  wobei  der  Positivismus  der  Formel  schliesslich 
nur  die  Anerkennung  einer  positiven  Offenbarung  Gottes  in 
der  Kirche  bedeutet.  Wenn  die  Hierarchen  für  das  Unter- 
nehmen des  Thomas  seit  den  Zeiten  der  grossen  Umwälzung 
im  16.  Jahrhundert  immer  mehr  Sympathie  besessen  haben, 
so  hat  sie  ein  richtiger  Instinkt  geleitet.  Auf  die  Dauer  war 
Anselm  doch  gefährlicher  als  Ab älard,  die  Spekulation  als  die 


Thomas,  Heinrich  und  Duns  Scotus.  643 

Dialektik.  Und  letztlich  schritt  Thomas  auf  den  Bahnen 
Abälards  fort  wie  schon  der  Lombarde ,  während  Duns  die 
Pfade  Anselms  ging.  Es  war  freilich  ein  Neues  zwischenein- 
gekommen,  das  die  Arbeit  der  Nachfolger  von  der  der  An- 
fänger unterschied.  Das  war  Aristoteles ;  seine  Gedanken  sind 
eine  Macht  für  Duns  nicht  minder  als  für  Thomas,  und  doch 
in  anderer  Weise. 

Sieht  man  von  den  Traditionen  der  Oxforder  Schule  ab 
(vgl.  oben  S.  33),  so  sind  Heinrich  und  Thomas  die  beiden 
Theologen,  die  am  meisten  auf  Duns  Scotus  eingewirkt  haben. 
Heinrichs  Realismus  befestigte  ihn  in  der  Richtung  seines 
Denkens,  seine  Methode  regte  ihn  zur  Kritik  und  neuen  Be- 
weisen an.  Von  Thomas  dialektischer  Methode  und  seiner 
aristotelischen  Gelehrsamkeit  hat  er  viel  gelernt,  aber  die 
Orientierung  seiner  Gedanken  hat  auf  ihn  wesentlich  nur  negativ 
gewirkt.  Jener  halb  bewiesenen  und  halb  geglaubten  Lehre 
stellte  er  einerseits  die  nackte  positive  Kirchenwahrheit  und 
andererseits  die  fides  intellectum  quaerens  entgegen.  Worin 
der  eine  von  den  beiden  Männern  ihn  abstiess,  zog  ihn  dey 
andere  an  und  umgekehrt.  Material  regte  Heinrich  ihn  an  und 
stiess  ihn  formal  ab;  formal  lernte  er  von  Thomas,  um  ihn 
material  zu  bekämpfen.  So  haben  beide  Theologen  —  der 
Vertreter  der  alten  wie  der  modernen  Theologie  der  damaligen 
Zeit  —  auf  Duns  Scotus  gewirkt.  Darum  aber  stellt  seine  eigene 
Theologie  ein  Neues  dar.  Es  ist  der  Versuch  die  alte  augusti- 
nisch-anselmische  spekulative  Erfahrungstheologie  mit  aller  Ge- 
lehrsamkeit der  neuen  Zeit  zu  verbinden  und  mit  allen  neu 
erlernten  Mitteln  der  Logik  und  Dialektik  zu  beweisen.  Die 
alte  Theologie  sollte  auf  die  Höhe  der  neuen  Zeit  erhoben 
werden.  Aber  zu  dem  Zw^eck  sollte  sie  neu  durchdacht,  neu 
gedeutet  werden,  und  sie  sollte  doch  die  alte  Theologie  bleiben. 
Aber  war  das  ein  mögliches  Unternehmen?  Freie  Spekulation 
und  die  gegebene  Lehre,  kühner  Kritizismus  und  strenger 
Positivismus  der  kirchHchen  Formel,  der  naive  Piatonismus 
und  die  strenge  Methode  des  Aristoteles,  der  Voluntarismus 
Augustins  und  der  Intellektualismus  der  Hellenen  —  Hess  sich 
das  vereinigen  ?  Die  Antwort  darauf  kann  nur  gefunden  werden, 
indem   wir  die   Grundideen    des    Duns    zusammenhängend    zu 

41* 


644         Kap.  VII:  Die  geschichtliche  Stellung-  des  Duns  Scotus. 

erfassen    versuchen.      Das    soll    im    folgenden    Abschnitt    ge- 
schehen. 


3.    Rückblick  auf  die  Grundideen  des  Duns  Scotus. 

1.  Duns  Scotus  hat  uns  kein  System  der  Theologie  hinter- 
lassen, und  von  seinen  Sentenzenkommentaren  kann  nicht  ge- 
rühmt werden,  dass  sie  alle  Glieder  eines  Systems  in  einiger- 
massen  ebenmässiger  Ausführung  darbieten.  Allein  man  hat 
sicher  kein  Recht  diesen  Mangel,  wie  oft  geschieht,  aus  der 
Geistesart  und  der  Tendenz  des  Duns  zu  erklären.  Es  ist  der 
Tod  gewesen,  der  ihn  von  einer  zusammenhängenden  Dar- 
stellung seiner  theologischen  Gedanken  abhielt.  Die  Hoffnung 
aus  seinen  Schriften  trotzdem  ein  System  herstellen  zu  können, 
ist  vergeblich.  Wenn  man  seine  Gedanken  auf  die  Fäden  des 
Thomas  aufreihen  wollte,  so  würde  man  seine  Gedankenver- 
bindung damit  natürlich  nicht  treffen ,  sondern  das  Ergebnis 
des  Unternehmens  wäre  etwa  eine  scotistische  Anthologie  zur 
Dogmatik. 

Trotzdem  kann  man  den  Eindruck  einer  zusammenhängen- 
den theologischen  Anschauung  aus  den  Schriften  des  Duns  mit 
zunehmender  Stärke  erwerben.  Bestimmte  Ideen  kehren  immer 
wieder  und  organisieren  den  Gedankenstoff.  Wer  hierauf  Acht 
hat,  wird  den  Antrieb  empfinden,  diese  Grundidee  aufzudecken 
und  ihre  Bedeutung  für  die  Gesamtansicht  des  Duns  zu  er- 
weisen. Erst  wenn  dieser  Versuch  gemacht  wurde,  wird  es 
möglich  sein,  die  Bedeutung  des  Duns  Scotus  für  die  Dogmen- 
geschichte auf  eine  knappe  Formel  zu  bringen.  Zugleich  aber 
wird  hiedurch  dem  Bedürfnis  des  Lesers  Rechnung  getragen 
werden,  die  mannigfaltigen  und  verstreuten  Einzelheiten  dieses 
Buches  in  kurzer  Ausführung  zusammengefasst   zu   bekommen. 

2.  Ehe  wir  die  Grundgedanken  feststellen,  wollen  wir  uns 
in  Kürze  der  Voraussetzungen  der  scotistischen  Theologie  er- 
innern. Duns  operiert  mit  den  Begriffen  des  Aristoteles,  nicht 
anders  als  seine  Zeitgenossen.  Aber  er  ist  trotzdem  mit  Bewusst- 
sein  Realist.  Für  das  Subjekt  realisieren  sich  die  üuiversalien 
in  den  Vernunftbildern.  So  lehrt  er  mit  Thomas.  Aber  er 
geht  über  Thomas  hinaus,   indem  er  mit  aller  Deutlichkeit  die 


Duns'  Realismus  und  Empirismus.  645 

objektive  Existenz  der  Universalien  behauptet,  dabei  sich 
geradezu  auf  Platö  berufend  (oben  S.  70).  Indes  er  kommt 
deshalb  doch  nicht  mit  Heinrich  oder  der  älteren  Theologie 
völlig  übereiu.  Die  Differenz  beruht  in  dem  Empirismus  seiner 
Methode.  Hier  zeigt  er  sich  als  Schüler  der  Oxforder  Kichtung. 
Nicht  wird  die  Erkenntnis  der  Ideen  irgendwie  von  Gott  — 
durch  eine  Inspiration  oder  dergl.  —  hergeleitet,  sondern  Duns 
gewinnt  sie  aus  der  Beobachtung  des  Denkens.  Der  sinnhche 
Eindruck  erwirkt  in  unserem  Denken  die  Ideen,  sowie  die 
mancherlei  Komplexiouen  derselben.  Nach  dem  Gesetz  der 
Kausalität  muss  also  ein  Objektives  in  den  Dingen  —  nicht 
etwa  nur  in  Gottes  Geist  —  angenommen  werden,  das  die 
Ideen  und  ihre  Verknüpfungen  hervorruft.  Nicht  minder  aber 
muss  ein  Objektives  in  den  Dingen  sein,  das  ihre  Erfassung 
als  Individua  bewirkt  (haecceitas).  Duns  hat  nicht,  wie  Thomas 
oder  Heinrich  (oben  S.  607,  633),  das  einzelne  Ding  als  solches 
erst  durch  eine  Keflexion  vom  Begriff  auf  das  Phantasma  erfasst 
werden  lassen ,  sondern  wie  er  in  dem  Einzelding  die  Voll- 
endung der  Schöpfung  sah,  so  sollte  der  Geist  eine  direkte 
Erkenntnis  des  Einzeldinges  gewinnen.  Den  Begriffen  des 
Geistes  entspricht  also  eine  objektive  Realität  in  den  Dingen ; 
das  gilt  ebenso  von  den  Universalien  als  den  Singularien.  Der 
Beweis  dafür  besteht  also  darin,  dass  die  einheitliche  Seele 
aus  den  objektiven  Eindrücken  mit  derselben  Notwendigkeit 
Phantasmen  wie  Begriffe  schöpft.  Die  Realität  des  not- 
wendigen Denkvorganges  verbürgt  die  objektive  Realität  des 
Gedachten. 

Mit  grosser  Energie  wird  von  Duns  betont,  dass  alle  Ge- 
wissheit an  der  sinnlichen  Erfahrung  vom  Ding  haftet.  Aber 
mit  dieser  Erfahrung  ist  das  Denken  notwendig  gegeben.  Es 
teilt  also  mit  ihr  die  Gewissheit.  Der  Gedanke  von  der  Ein- 
heit der  Seele  (oben  S.  81)  —  wieder  im  Gegensatz  zu  Thomas 
—  kommt,  wie  ersichtlich,  Duns  hier  zu  Hilfe.  —  Wir  brauchen 
auf  das  Einzelne  der  scotistischen  Erkenntnislehre  hier  nicht 
wieder  einzugehen.  Seine  geschichtliche  Stellung  —  Heinrich 
wie  Thomas  gegenüber  —  ist  nach  den  gemachten  Beobach- 
tungen klar.  Von  beiden  unterscheidet  er  sich  durch  seinen 
Empirismus  oder  dadurch,  dass  er  ausgeht  von  der  Beobachtung 


646         Kap.  VII :  Die  geschichtliche  Stellung  des  Duns  Scotus. 

des  Denkens.  Nicht  mit  den  in  Gott  seienden  Ideen  will  er 
anfangen ;  sondern  mit  den  durch  die  Vorgänge  der  Sensation 
und  Intellektion  gegebenen  Begriffen.  Wenn  die  Dinge  im 
Denken  Begriffe  wirken ,  so  ist  in  den  Dingen  die  Kausalität 
für  die  Begriffe.  Das  Individuelle  wie  das  Universale  ist  gleicher- 
massen  objektiv  real.  Durch  Duns  Scotus  ist  der  Realismus 
dem  Boden  der  unklaren  religiösen  Empfindungen  entnommen, 
und  hat  eine  streng  wissenschaftliche  Begründung  empfangen. 
Darin  besteht  die  Bedeutung  des  Duns  Scotus  auf  dem  in 
Frage  stehenden  Gebiet.  Der  Realismus  wurde  dem  Aristote- 
lismus  gegenüber  eine  ebenbürtige  wissenschaftliche  Grösse. 
Es  war  freilich  nicht  mehr  der  alte  naive  Realismus  mit  seinen 
Empfindungen  und  seinen  an  den  Himmel  projizierten  Ahnungen 
und  Wünschen.  Was  man  an  jenem  in  der  Kirche  hochge- 
schätzt hatte,  die  Möglichkeit  über  die  strenge  Wirklichkeit 
und  die  Logik  hinaus  eine  Welt  ewiger  und  überirdischer 
Ideale  zu  besitzen,  das  was  durch  den  scotistischen  Realismus  — 
genau  genommen  —  noch  schärfer  und  deutlicher  abgeschnitten 
als  durch  den  thomistischen  Aristotelismus. 

3.  Und  doch  schien  sich  ein  Weg  zu  finden,  auf  dem  der 
merkwürdige  Mann  der  Theologie  alles  wieder  zurückgab,  was 
seine  Wissenschaft  ihr  hatte  absprechen  müssen.  Für  Thomas 
war  die  Theologie  nur  ein  himmlischer  Zusatz  zur  Philosophie. 
Und  auch  Heinrich  und  den  Alteren  gingen  die  Religion  und 
die  Philosophie  ineinander  über.  Duns  Scotus  hat  den  Grund- 
satz von  der  Selbständigkeit  der  Theologie  oder  des  religiösen 
Erkennens  zum  ersten  Mal  klar  ausgesprochen.  Man  lässt  sich 
diesen  unermesslichen  Fortschritt,  den  die  Theologie  durch 
Duns  Scotus  macht,  nur  zu  leicht  verdunkeln  und  einschränken 
durch  die  gigantischen  Bruchstücke  von  Metaphysik,  die  er 
in  seine  Theologie  hineingearbeitet  hat.  Und  doch,  im  letzten 
Grunde,  ist  dies  nur  eine  zeitgeschichtliche  und  vergängliche 
Form,  die  das  Prinzip  nicht  berührt.  Im  Prinzip  ist  Duns 
darüber  völlig  klar,  dass  die  Philosophie  die  rein  natürliche 
Deutung  des  Weltzusammenhanges  im  Sinn  der  Metaphysik 
und  Naturwissenschaft  zur  Aufgabe  hat.  Davon  ist  das  reli- 
giöse Erkennen  auf  das  genaueste  nach  seinem  Gegenstand  zu 
unterscheiden,  und  demgemäss  ist  auch  die  Aufgabe  der  Theo- 


Theologie,  Religion  und  Metaphysik  bei  Duns.  647 

logie  eine  spezifisch  andere  als  die  der  Philosophie.  Das  Wesen 
der  Natur  und  des  Geistes  erforscht  die  Philosophie  und  sie 
bedient  sich  dabei  der  Kausalmethode.  Um  das  Finden  an  sich 
seiender  und  sich  immer  schlechthin  gleicher  Gesetze  handelt 
es  sich  ihr  dabei,  die  dem  Geist  immanenten  Prinzipien  der 
Logik  und  des  Naturrechtes  sind  die  ihr  zustehenden  Massstäbe. 

Ganz  anders  steht  es  mit  der  Theologie.  Sie  hat  es  mit 
der  Religion  zu  thun,  die  Religion  aber  ist  ein  geschichtlicher 
Thatbestand.  In  ihr  handelt  es  sich  um  kontingente  und  be- 
sondere Thaten  Gottes.  Gott  hat  sich  offenbart,  in  der  Schrift 
liegt  diese  Offenbarung  vor.  Es  ist  ein  genau  beschränktes 
positives  Gebiet,  mit  dem  die  Theologie  zu  schaffen  hat.  Auf 
das  strengste  genommen  kennt  die  Theologie  daher  keine 
andere  Aufgabe  als  Schriftauslegung  (s.  oben  S.  124).  Aber 
die  Offenbarung  hat  eine  Fortsetzung  gefunden  in  der  Kirche. 
Neben  die  Schrift  rückt  das  positive  Recht  der  Kirche.  In 
diesem  wie  in  jener  wird  Gott  offenbar  als  der  Leiter  und 
Regent  der  Christenheit.  Dies  sein  Regiment  zweckt  ab  auf 
seinen  Selbstzweck,  die  Menschen  sollen  diesen  kennen  lernen 
und  in  Thaten  realisieren  helfen.  Nicht  um  die  kausale  Er- 
kenntnismethode handelt  es  sich  hier,  sondern  um  die  Methode 
der  Finalität.  Gott  ist  Wille,  und  er  hat  offenbart,  was  seines 
Willens  letzter  Zweck  ist  und  durch  welche  Mittel  diesem  ge- 
dient wird.  Das  zu  erkennen  ist  die  Aufgabe  des  religiösen 
Menschen  bezw.  der  Theologie.  Nicht  an  der  theoretischen 
Vernunft  hat  sie  ihren  Spielraum,  sondern  an  der  praktischen 
Vernunft;  nicht  um  Gewinnung  metaphysischer  Erkenntnis, 
sondern  einer  Wiilensstellung  handelt  es  sich  ihr ;  nicht  imma- 
nente Vernunftprinzipien,  sondern  die  Offenbarung  des  positiven 
Willens  Gottes  ist  für  sie  massgebend;  nicht  den  Ursachen 
forscht  sie  nach,  sondern  den  Zwecken;  nicht  mit  dem  „Wort" 
sondern  mit  der  „That"  —  könnte  man  sagen  —  hat  sie  zu- 
höchst  zu  schaffen. 

Man  muss  an  die  immer  wiederkehrenden  Äusserungen 
des  kirchlichen  Positivismus  bei  Duns  denken,  man  muss  sich 
der  kühnen  am  Zweck  der  Kirche  orientierten  Kritik  in  der 
Schrift  „de  perfectione  statuum"  erinnern,  um  die  Tragweite 
dieser  Gedanken  zu  verstehen.     Es   handelt   sich   wirklich   um 


648         Kap.  VII:  Die  geschichtliche  Stellung  des  Duns  Scotus. 

nichts  anderes  in  der  Theologie,  als  darum,  dass  man  Gottes 
That  und  Willen  verstehen  lernt,  um  das  Wollen  und  das 
Thun  zu  erlernen.  Der  Glaube  ist  ein  wunderbares  Erkennen. 
Nicht  eigentlich  ist  er  eine  eingegossene  Qualität,  er  ist  die 
Richtung,  die  Gott  unserem  Geist  ein  für  allemal  zu  sich  hin 
gibt  (s.  oben  S.  133).  Dadurch  dass  Gott  uns  zu  sich  selbst 
hinzieht,  uns  auf  sich  weist,  vermögen  wir  ihn  zu  erkennen. 
Aber  nicht  die  Erkenntnis  als  solche,  nicht  die  selige  Schauung 
ist  das  Ziel  des  Glaubens,  sondern  die  Unterwerfung  unter  den 
erkannten  Gotteswillen,  der  Willensentschluss  an  ihm  zu  bleiben 
in  Ewigkeit.  Um  jeden  Rest  von  selbständiger  Bedeutung  ist 
der  Glaube  hier  gebracht;  es  ist  völlig  klar,  dass  und  wie  er 
nur  Vorbereitung  und  Mittel  für  die  Liebe  ist.  Das  war  die 
Auffassung  des  Mittelalters,  aber  immer  wieder  spielte  in  der 
Theorie  neben  der  Komparierung  Glaube  —  Liebe  die  andere 
Glaube  —  Schauen  eine  Rolle,  und  sie  umfasste  die  Ewigkeit. 
Duns  hat  diesen  zweiten  Komparativ  überwunden,  er  hat  einen 
Trieb  der  mittelalterlichen  Frömmigkeit  dadurch  klar  heraus- 
gestellt. Es  mag  sein,  dass  er  dadurch  vom  Evangelium  noch 
einen  Schritt  w^eiter  abgerückt  ist,  als  seine  Zeitgenossen. 
Wir  kommen  später  darauf  zu  reden.  Nicht  ganz  selten  in 
der  Geschichte  werden  grosse  geistige  Fortschritte  durch  Ein- 
seitigkeiten und  Rückschritte  erkauft. 

Das  Wesen  der  Religion  und  des  religiösen  Erkennens 
wäre  hiemit  erkannt.  Wer  die  Geschichte  der  Zeit  kennt  und 
im  Stande  ist  über  den  Details  und  ihren  Widersprüchen  den 
Faden  des  geschichtlichen  Werdens  im  Auge  zu  behalten,  der 
wird  kaum  leugnen  können,  dass  in  den  dargelegten  Gedanken 
der  grösste  Fortschritt  zu  erblicken  ist,  den  die  Theologie  in 
der  Zeit  zwischen  Augustin  und  Luther  erlebt  hat,  und  dass 
dieser  Fortschritt  dem  Duns  Scotus  zugleich  seine  feste  Stellung 
in  der  Entwicklungslinie  zwischen  Augustin  und  Luther  sichert. 
In  der  klaren  Erkenntnis  —  um  es  noch  einmal  zu  sagen  — , 
dass  die  Religion  praktische  Erkenntnis  und  eine  Willens- 
stellung ist,  dass  die  Theologie  es  mit  den  positiven  Grössen 
der  Offenbarung  und  der  Kirche  zu  thun  hat,  besteht  dieser 
Fortschritt.  Duns  hat  erkannt,  dass  die  Fragen  der  Religion 
und  der  Wissenschaft  sich   nicht   unter   einen  Generalnenner 


Die  wissenschaftliche  Methode  in  der  Thcoloo-ie.  649 

bringen  lassen.  Nicht  nur  ist  damit  die  Selbständigkeit  der 
Religion  der  Wissenschaft  gegenüber  festgestellt,  sondern  es 
handelt  sich  auch  um  einen  Fortschritt  in  der  Richtung  der 
ursprünglichen  christlichen  Seelenstellung  dem  hellenisierenden 
Intellektualismus  gegenüber. 

4.  Duns  hat  gelegentlich  wohl  dem  Zweifel  darüber,  ob 
die  Theologie  überhaupt  „Wissenschaft"  im  eigentlichen  Sinn 
sei,  Ausdruck  verliehen  (s.  oben  S.  125).  Wer  verstanden  hat, 
dass  die  Begriffe  Theologie  und  religiöses  Erkennen  für  ihn 
noch  ungeschieden  sind,  wird  hierin  nur  eine  Bestätigung 
unseres  soeben  ausgesprochenen  Urteils  erblicken.  Aber  trotz- 
dem hat  nichts  Duns  Scotus  so  fern  gelegen,  als  auf  den  wissen- 
schaftlichen Charakter  der  Theologie  zu  verzichten.  Auch 
Schleiermacher  hat  bei  einer  in  mancher  Hinsicht  vergleich- 
baren Stellung  zur  Sache,  nichts  weniger  als  Verkürzung  der 
wissenschaftlichen  Art  der  Theologie  gewollt. 

Aber  wie  konnte  Duns  bei  seinem  Grundgedanken  und 
bei  dem  Vertsändnis  der  Wissenschaft  in  seiner  Zeit  die  Wissen- 
schaftlichkeit der  Theologie  aufrecht  erhalten,  wie  konnte  er 
„beweisen'^,  wo  doch  alles  feststand  als  gegeben?  Uns  stehen 
in  ähnlicher  Lage  vielleicht  andere  Mittel  zu  Gebote,  aber  es 
wäre  doch  kaum  weise  die  ernsten  Bemühungen  des  Sohnes 
einer  anderen  Zeit  als  „scholastisch''  zu  belächeln. 

Zu  dem  bezeichneten  Zweck  boten  sich  Duns  nach  seiner 
wissenschaftlichen  Stellung  folgende  Mittel  dar.  Der  wissen- 
schaftliche Empirismus  seiner  Methode  liess  sich  auch  auf  die 
Religion  anwenden.  Es  handelt  sich  in  der  Religion  um 
Wirkungen  und  Antriebe  Gottes,  welche  die  Seele  erlebt. 
Duns  Scotus  hat  sein  hervorragendes  psychologisches  Interesse 
auch  als  Theologe  nicht  verleugnet.  Wie  er  das  Denken  des 
Menschen  überhaupt  zu  analysieren  wusste,  so  auch  das  reli- 
giöse Empfinden.  Immer  wieder  bricht  dieser  Gesichtspunkt 
aus  seiner  Theologie  hervor.  Wenn  er  von  der  Versöhnung 
und  Rechtfertigung,  von  den  Gnadenhabitus  oder  von  den 
Sakramenten  der  Busse  und  des  Abendmahls  und  selbst  der 
Eschatologie  etc.  redet,  empfindet  man  ziemlich  deutlich  die 
religiöse  Empirie  seiner  Betrachtungsweise.  Von  dem  Erleben 
vund  Empfinden  der  Seele   geht   er    innerlich   aus   und  von  der 


650         Kap.  VII :  Die  geschichtliche  Stellung  des  Duns  Scotus. 

Analyse  desselben  geht  er  zurück  auf  die  verursachenden 
Faktoren.  Sein  llealismus  verleiht  diesen  Schlüssen  eine  Ge- 
wissheit, die  wir  nicht  immer  teilen  können.  Man  darf  dieser 
Methode  aber  nicht  entgegenhalten;  dass  hier  doch  wieder  das 
Kausalitätsschema  das  der  Finalität  verdränge.  Denn  die  Er- 
kenntnis der  finalen  Bewegung  eines  geistigen  Zusammenhanges 
schliesst  für  die  Erkenntnis  des  einzelnen  Punktes  innerhalb 
desselben  die  methodische  Anwendung  des  kausalen  Rückganges 
nicht  aus,  indem  sich  der  denkende  Geist  von  einem  gegebenen 
Punkt  her  des  Verständnisses  der  Vorwärtsbewegung  durch  Rück- 
gang bemächtigt.  —  Täusche  ich  mich  nicht,  so  ist  auch  diese 
Anwendung  der  Empirie  auf  religiöse  Vorgänge  bei  Duns 
Scotus  nicht  ohne  Bedeutung  für  die  Geschichte  der  Theologie 
gewesen. 

Aber  es  darf  zum  Schluss  nicht  unerwähnt  bleiben,  dass 
Duns  mit  dieser  Methode  der  psychologischen  und  spekulativen 
Rekonstruktion  des  Dogmas  sich  beeinflusst  zeigt  von  dem  Geist 
Anselms.  Nirgends  ist  diese  Methode  in  so  grotesker  Weise 
zur  Anwendung  gekommen  als  in  Anselms  „Cur  deus  homo?" 
Es  wird  jetzt  kaum  mehr  der  Bemerkung  bedürfen,  in  welchem 
Grade  und  Umfang  Duns  die  Methode  Anselms  —  eben  durch 
seinen  Empirismus  —  modifiziert  hat.  Aber  gerade  hier  liegt 
ein  Punkt  vor,  an  dem  Duns  seinen  grossen  Rivalen  aus  dem 
Dominikanerorden  überragt.  Thomas  versucht  dialektisch  die 
gegebene  Lehre  als  wahrscheinlich  oder  doch  nicht  widersinnig 
zu  erweisen,  Duns  Anliegen  ist  es,  die  betrefi'ende  Lehre  inner- 
lich aus  der  religiösen  Erfahrung  zu  reproduzieren.  Es  ist 
freilich  denkbar,  dass  die  Reproduktion  missglückt,  indem  sie 
auf  andere  Formeln  hinausläuft  als  die  kirchlich  gegebenen. 
Dann  hat  Duns  bei  letzterer  sich  zu  beruhigen  geraten.  Das- 
selbe that  ja  schon  Anselm  (oben  S.  9).  Der  methodische  Fort- 
schritt wird  aber  dadurch  nicht  aufgehoben,  dass  die  Methode  bis- 
weilen versagt,  wo  nämlich  stärkere  Prinzipien  ihrer  Verwendung 
entgegenstehen.  Aber  im  ganzen  hat  Duns  doch  die  ver- 
schiedenartigen Lehren  der  Kirche  mit  bewundernswertem  Ge- 
schick aus  der  Beobachtung  des  religiösen  Lebens  erwiesen, 
wobei  es  freilich  ohne  starke  Umdeutungen  nicht  abging.  Bei- 
spiele haben  wir  öfters  beigebracht,   man   denke    etwa  an  die 


Die  theologische  Beweismethode  nach  Duns.  651 

Transsubstantiationslehre.  Hier  ist  der  Punkt,  wo  dem  Leser 
ein  Verständüis  dafür  aufgeht,  woher  wir  Dicht  ganz  selten  bei 
Duns  Stimmungen  und  Gedankeuansätze  wahrzunehmen  glauben, 
die  im  weiteren  Verfolg  der  Entwicklung  verschwinden.  Die 
Neigung,  die  Gedankenarbeit  auf  die  positive  kirchliche  Formel 
hinauszusteuern,  wird  an  letzterem  kund.  Inwiefern  diese 
Neigung  mit  den  wertvollsten  Tendenzen  der  scotistischen  Theo- 
logie zusammenhängt,  hat  sich  uns  oben  ergeben. 

Ein  zweites  Mittel  der  wissenschaftlichen  Bearbeitung  theo- 
logischer Sätze  ist  dies,  dass  die  logische  Bildung  derselben 
nachgewiesen  wird.  Hier  ist  nun  Duns  Scotus  in  seinem  Ele- 
ment. Nichts  ist  so  häufig  in  seinen  Schriften  als  die  Auf- 
deckung logischer  Fehler  in  den  Argumentationen  seiner  Geg- 
ner und  andererseits  das  Bemühen,  die  logische  Folgerichtigkeit 
seiner  eigenen  Beweisführung  zu  erweisen.  Man  hat  um  des- 
willen seine  Arbeit  wesentlich  auf  den  Anbau  von  Beweisen 
reduzieren  wollen.  Hieran  ist  richtig,  dass,  indem  die  theo- 
logischen Sätze  gegeben  sind,  der  Wissenschaft  eigentlich  nichts 
anderes  übrig  bleibt  als  ihre  logische  Bearbeitung.  Aber  im 
ganzen  steht  diese  Arbeit  bei  Duns  doch  in  genauem  Zu- 
sammenhang zu  der  zuerst  besprochenen  Methode.  Rein  for- 
male logische  Operationen  an  dem  gegebenen  Stoff  mögen  hie 
und  da  vorkommen,  in  der  Begel  dient  die  Dialektik  dem  Be- 
streben, ein  einheitliches  Verständnis  der  Überlieferung  zu  ge- 
winnen. Duns  Scotus  ist  freilich  in  hervorragender  Weise 
kritisch  gestimmt  und  interessiert  gewesen.  Wenn  man  ihn 
aus  einer  kritischen  Erörterung  in  die  andere  sich  stürzen  sieht, 
kann  man  zunächst  wohl  den  Eindruck  gewinnen,  es  hätte  sich 
ihm  eben  nur  um  die  Kritik  gehandelt.  Aber  ein  schärferes 
Auge  entdeckt,  dass  alle  die  kritischen  Operationen  nur  Mittel 
zur  geistigen  Durchdringung  des  Stoffes  sind.  Indem  Duns 
eine  Auffassung  in  ihre  Elemente  auflöst,  zeigt  er,  woher  sie 
unhaltbar  ist;  und  nachdem  er  die  Elemente  so  gefunden,  ver- 
sucht er  sie  ihrer  Natur  entsprechend  zu  verbinden.  Es  handelt 
sich  ihm  immer  darum,  zusammenhängende  Anschauungen  zu 
gewinnen.  Dem  dient  seine  Kritik  ebenso  wie  die  positiven 
Konstruktionen.  So  schliesst  sich  dieser  zweite  Weg  mit  dem 
ersten   zusammen.     Gegeben   ist   die   Lehre   der  Kirche.     Die- 


652  Kap.  VII:  Die  geschichtliche  Stellunf^  des  Duns  Scotus. 

selbe  soll  auf  Grund  der  Erfahrung  und  Beobachtung  ihrer 
Objekte  reproduziert  werden ,  und  zwar  soll  dies  in  streng 
logischen  Formen  geschehen,  indem  von  diesen  aus  sich  ge- 
meingiltige  Beweise  gegen  andere  Formulierungen  wie  für  die 
eigene  Formel  gewinnen  lassen.  Die  Reproduktion  der  kirch- 
lichen Formel  sollte  dieser  grundsätzlich  nie  widersprechen, 
in  Wirklichkeit  ist  sie  oft  genug  zu  einer  scharfen  Kritik  der- 
selben gCAvorden,  die  nur  mühsam  durch  Umdeutungen  ver- 
deckt wurde. 

Zu  diesem  zweiten  Punkt  kommt  aber  drittens  noch,  dass 
Duns  sich,  nicht  nur  mit  dem  Nachweis  der  formalen  logischen 
Korrektheit  der  theologischen  Sätze  beschäftigt,  sondern  auch 
gern  ihre  Analogie  oder  Identität  mit  philosophischen  Ideen 
erweist.  Man  muss  ihn  hiebei  nicht  missverstehen.  Nicht 
„bewiesen"  sollen  die  theologischen  Sätze  dadurch  werden, 
sondern  sie  sollen  durch  die  Analogie  Erläuterung  und  Be- 
leuchtung erhalten,  wie  etwa  zur  Bibelexegese  auch  naturwissen- 
schaftliche und  philosophische  Erkenntnisse  nützlich  sind  (oben 
S.  127).  Wenn  also  die  spezifisch  theologische  Erkenntnis 
Gott  als  den  Gesetzgeber  und  das  letzte  Strebeziel  versteht,  so 
ist  die  Existenz  des  geistigen  und  persönlichen  Gottes  dabei 
vorausgesetzt;  aber  diese  Voraussetzung  wird  deutlicher,  w^enn 
sich  die  Möglichkeit  eines  metaphysischen  Beweises  für  das 
Dasein  Gottes  herausstellt.  —  Vor  allem  gilt  dies  hinsichtlich 
der  Bedeutung  des  Naturrechtes.  Dieser  im  Mittelalter  so  be- 
deutungsvolle Begriff  wird  auch  von  Duns  sehr  gern  in  die 
Erörterungen  der  Ethik  hineingezogen.  Da  das  Naturrecht 
nicht  minder  von  Gott  inspiriert  ist  als  die  Schrift,  so  können 
zwischen  den  ethischen  Geboten  beider  nur  hinsichtlich  des 
Umfanges  und  der  Modalität,  nicht  aber  des  Inhaltes  und  der 
Tendenz  Differenzen  bestehen.  Duns  hat  allerdings,  wie  wir 
früher  sahen  (S.  485  f.),  prinzipiell  das  Naturrecht  möglichst 
formal  als  den  Habitus  ethischer  Urteilskraft,  der  dem  logischen 
Habitus  des  Geistes  korrespondiert,  zu  fassen  versucht.  Immer- 
hin liegt  hier  ein  Punkt  vor  —  die  das  Naturrecht  in  dem 
einzelnen  darstellende  Synderesis  kommt  mit  in  Betracht  — , 
wo  Duns  seiner  Methode  nicht  recht  treu  zu  bleiben  vermag. 
Durch  das  Naturrecht  und  den  Begriff  des  Gewissens   als  des 


Der  Beweis.     Die  Grundprinzipien  bei  Duns.  ()53 

Orgaues  des  Naturrechtes  strömte  natürliche  Religion  und 
Sittlichkeit  immer  wieder  in  den  christlichen  Gedankenbezirk 
hinein  (oben  S.  536).  ^)  An  sich  soll  das  positive  Gesetz,  das 
in  der  Kirche  gilt,  allein  iu  Betracht  kommen,  das  natürliche 
Recht  würde  nur  eine  interessante  Analogie  darbieten.  Aber 
in  Wirklichkeit  schlagen  die  naturrechtlichen  Ideen  immer  wieder 
ihre  Ranken  in  den  Boden  der  positiven  Auffassung.  Duns 
Scotus  zahlt  damit  seiner  Zeit  den  Tribut,  aber  welcher  Denker 
wäre  frei  von  den  Idealen  und  dem  common  sense  —  das  ist 
schliesslich  auch  das  Naturrecht  des  Mittelalters  —  seiner 
Zeit? 

Wir  haben  somit  erkannt,  was  es  um  das  Verständnis  der 
Religion  bei  Duns  Scotus  ist,  und  worin  die  wissenschaftliche 
Aufgabe  der  Theologie  nach  seiner  Meinung  bestehen  wird. 
Jetzt  werden  wir  aber  begreifen,  dass  die  scotistischen  Ge- 
danken wirklich  den  Weg  zeigten  (oben  S.  646) ,  den  die 
strengere  Erkenntnislehre  zu  verlegen  schien.  Was  die  ältere 
Theologie  im  Grunde  wollte,  war  doch  die  Freiheit  der  Religion 
von  dem  straffen  Zusammenhang  der  aristotelischen  Begriffs- 
welt. Diesem  Drang  entsprach  die  freie  Theologie  des  prak- 
tischen Erkenuens  die  Duns  Scotus  vorschwebte. 

5.  Wenn  man  fragt,  welche  Gedanken  in  dem  theologischen 
Gedankenbau  des  Duns  Scotus  die  beherrschenden  sind,  so 
weist  schon  die  Erkenntnis  des  positiven  Charakters  der  Offen- 
barung auf  die  richtige  Antwort.  Dieser  war  nämlich  bedingt 
durch  den  Willen  Gottes,  dem  Willen  Gottes  zu  dienen  war 
wiederum  das  höchste  Ziel,  das  unser  Wille  findet.  Dies 
sind  die  beiden  Gedanken,  von  denen  aus  sich  die  Eigentüm- 
lichkeiten der  scotistischen  Theologie  verstehen  lassen.  Gott 
der  herrschende  Wille  und  der  Mensch,  der  mit  freiem  Willen 
Gott  dient;  der  souveräne  absolute  Herr  und  sein  ganz  ab- 
hängiger und  doch  freier  Knecht,  dominatio  et  subiectio  (s. 
oben  S.  178)  —  das  sind  die  Gedanken,  die  uns  immer  wieder 
^an  den  Gelenkstellen  der  Theologie  des  Duns  begegnen.  Man 
kann  von  beiden  aus  grosse  Teile  des  Systems  konstruieren, 
und  in  beiden  tritt  einem  die  geistige  Eigenart  des  Duns  Scotus 


^)  Doch  habe  ich  mich  dort  einseitig  ausgedrückt. 


654  Kap.  VII:  Die  geschichtliche  Stellung  des  Duns  Scotus. 

entgegen,  nicht  minder  in  der  Erkenntnis  von  der  freien  Seele 
als  in  der  Empfindung  von  dem  waltenden  Herrn.  Aber  mit 
beiden  Ideen  greift  Duns  zugleich  auf  die  Anregungen  Augustins 
zurück. 

6.  Duns  hat  Gott  als  den  absoluten  geistigen  Willen  ver- 
standen. Wie  die  christliche  Betrachtung  dieses  durch  die 
Vorstellung  von  Gott  als  dem  letzten  Zweck  und  als  dem  Gesetz- 
geber voraussetzt,  so  lässt  es  sich  auch  aus  dem  Begriff  der 
Weltursache  erweisen.  Da  nun  in  der  Welt  neben  dem  not- 
wendigen Geschehen  auch  kontingentes  Geschehen  vorhanden 
ist;  dies  aber  wie  jenes  auf  die  erste  Ursache  zurückgehen 
muss,  so  ist  klar,  dass  die  erste  Ursache,  indem  sie  auch  Kon- 
tingentes, und  zwar  dies  neben  Naturgesetzmässigem  wirkt, 
selbst  kontingent  oder  frei  wirksam  ist.  Dieser  Gedanke 
fixierte,  wie  wir  früher  gezeigt  haben,  die  kreatürliche  Freiheit 
als  Freiheit  von  dem  gesetzmässigen  Naturzusammenhang 
(S.  168).  Dagegen  war  ausdrücklich  verneint,  dass  diese  Frei- 
heit sich  aus  deu  causae  secundae  als  solchen  verstehen  lasse 
(S.  156).  Sie  wurde  auf  Gottes  Willen  zurückgeführt,  aber  in 
dieser  Beziehung  wurde  dann  jede  freie  Bethätigung  als  ganz 
abhängig  von  Gott  hingestellt  (S.  158).  —  Wie  aber  nun  der 
absolute  Wille  Gottes  das  alleinige  Prinzip  alles  Seins  und 
Werdens  ist,  so  geschieht  notwendig  auch  alles  in  der  Welt  zur 
Verwirklichung  des  von  Gott  gewollten  Zweckes.  Gerade  diese 
Betrachtungweise  ist  nach  Duns  die  spezifisch-theologische.  So 
ergibt  sich  der  Begriff  eines  Weltsystems,  das  der  göttliche 
Wille  so  organisiert,  dass  es  als  eine  abgestufte  Reihe  von 
Mitteln  den  Willen  Gottes  realisiert.  Diese  Willensstellung 
Gottes  zur  Welt  ist  seine  Liebe.  Genauer  bestimmt  dieselbe 
sich  als  die  gütige  Stellung  des  Herrn  zu  seiner  Schöpfung. 
Die  Liebe  Gottes  ist  aber  wirksam  als  Prädestination.  In  dem 
ewigen  AVeltplan  Gottes  ist  das  Geschehen  aller  Dinge  so  fest- 
gestellt, dass  sie  als  Mittel  auf  den  höchsten  Zweck  bezogen 
sind.  So  ist  also  von  Ewigkeit  her  gewollt  eine  Anzahl  Er- 
wählter, die  von  Christo  durch  die  Sakramente  der  Kirche,  in 
dieser  Welt  für  eine  andere  Welt  erlöst  und  begnadigt  werden. 
Dass  die  Menschen  und  die  Ereignisse  in  bestimmten  Be- 
ziehungen stehen,    dass  die  Dinge  sind  wie  sie  sind,   das  alles 


Duns'  deterministisches  Weltbild.  655 

hat  seinen  Grund  lediglich  an  der  Prädestination,  durch  die 
alles  in  der  Welt  seine  Richtung  und  Bedeutung  empfängt. 
Darum  haben  die  Werke  und  Ordnungen  der  Menschen  nicht 
durch  sich  ihren  Wert  und  ihre  Bedeutung,  sondern  nur  sofern 
Gott  sie  zur  Geltung  vorher  bestimmt  hat. 

So  ist  der  ganze  Lauf  der  Geschichte  und  der  Welt, 
indem  Wirkung  Gottes,  Mittel  zur  Verwirklichung  seines 
Zweckes.  Ist  dies  der  Fall,  so  werden  sich  alle  Dinge  mit 
Notwendigkeit  jenem  Zweck  entgegenbewegen.  Wie  das  ge- 
schieht, ist  bezüglich  des  Naturzusammenhanges  vermöge  der 
Prädetermination,  die  von  der  ersten  Ursache  her  in  ihn  einge- 
gangen ist,  gewiss  leicht  zu  verstehen.  Indessen  muss  Duns  auch 
für  die  Geister,  deren  Freiheit  ja  in  dem  Nichtbestimmtwerden 
seitens  des  Naturzusammenhauges  bestand,  irgendwie  eine  Deter- 
mination bezüglich  ihres  Zieles  gedacht  haben,  vermöge  derer 
ihr  Dasein  den  Zwecken,  zu  denen  Gott  sie  erschaffen  hat, 
wirklich  dient.  Denn  indem  alle  Wesen  von  Gott  unter  dem 
Gesichtspunkt  seines  Zweckes  erschaffen  werden,  können  sie, 
sofern  sie  Geschöpfe  sind,  gegen  die  schöpfungsmässige  Ordnung 
ihres  Daseins  überhaupt  nicht  Verstössen.  In  dieser  Richtung 
ist  eine  Freiheit  gegen  Gott  logisch  undenkbar  (oben  S.  158). 

Über  diesem  streng  deterministischen  System  ist  nun  aber 
Gott  als  der  waltende  Herr  wirksam,  der  in  seiner  Freund- 
lichkeit Dinge  und  Geschicke  der  Menschen  gütig  gestaltet. 
Er  lohnt  weit  über  Gebühr  und  straft  nicht  nach  Verdienst. 
Seiner  milden  Herrschaft  darf  man  sich  in  Gehorsam  und  Zu- 
versicht trösten.  Das  ist  die  Grundstimmung  der  Duns  Gott 
gegenüber  gewesen.  Der  freien  Macht  Gottes  entspricht  die 
absolute  Abhängigkeit  der  Welt.  Alles  Geschaffene  geht  zurück 
auf  jene  erste  Materie  (oben  S.  76  f.,  78  f.),  deren  Wesen  die 
schlechthinige  Potenziahtät  oder  Bestimmbarkeit  Gott  gegen- 
über war.  Daher  heisst  erschaffen  sein  von  Gott  absolut  ab- 
hängig sein.  Schöpfung  oder  Erhaltung  bedeuten  in  dieser 
Richtung  keinen  Unterschied. 

Das  System,  das  Gott  in  der  Welt  verwirklicht,  ist  eine 
positive  und  konsequent  fortschreitende  Grösse.  Es  ist  Thorheit 
zu  fragen,  warum  Gott  es  so  gerade  gewollt  habe,  denn  sein 
Wille  kennt   keine  Determination.     Duns  hat  diese  Gedanken 


656         J^ap.  VII:   Die  geschichtliche  Stellung  des  Duns  Scotus. 

gern  zu  j^aradoxen  Wendungen  benützt,  nämlich  wie  nach  der 
poteutia  absoluta  Gott  die  Welt  auch  ganz  anders  hätte  ein- 
richten kcinnen.  Aber  durch  derartige  Sätze  soll  eben  nur  die 
Unverbrüchlichkeit  der  potentia  ördinata  eingeprägt  werden, 
sowie  jeder  aprioristischen  erfahrungslosen  Konstruktion  von 
Gedanken  oder  Zusammenhängen  die  Wurzel  durchschnitten 
werden.  Der  Zusammenhang  der  Welt  ist  von  Gott  willkürlich 
gesetzt.  Das  heisst  aber  nicht,  dass  Gott  ihn  jeden  Augen- 
blick durchlöchern  oder  aufheben  würde  oder  könnte,  sondern 
das  bedeutet  nur,  dass  der  götthche  Wille  unter  den  unendlich 
vielen  möglichen  Weltsystemen  eines,  das  unsere,  zur  Realisie- 
rung erwählt  hat  und  dass  er  demgemäss  auch  gerade  diese 
besondere  Ordnung  realisiert.  Nicht  die  einzelnen  Aktionen 
Gottes  sind  willkürlich,  sondern  die  einmalige  AVahl  und  Ord- 
nung des  Weltsystems  erfolgte  willkürlich. 

7.  Diese  Ordnung  hat  die  Prädestination  zur  Grundlage. 
Es  wird  vorausgesetzt,  dass  Menschen  fielen ;  es  w^aren  solche, 
denen  Gott  nicht  helfend  konkurieren  wollte.  Daher  fielen  sie, 
weil  der  absolute  Herr  nicht  mitwirkte,  und  doch  fielen  sie 
durch  eigene  Schuld.  Dass  sie  von  Gott  sich  abgewandt,  dass 
sie  das  höchste  Gut  nicht  wollten,  dass  sie  dem  Herrn  nicht 
gehorsamten  —  das  ist  die  Sünde.  Nicht  eine  natürliche 
Korruption,  an  sich  nicht  einmal  eine  Depotenzierung  der 
Natur,  sondern  diese  Loslösung  der  Seele  von  ihrem  Herrn 
macht  das  Wesen  der  Sünde  aus. 

Die  Prädestination  greift  hinweg  über  die  Sünde.  Sünder 
sind  prädestiniert  und  Christus  ist  zu  ihrem  Erlöser  prädesti- 
niert. Der  Realismus  seiner  Metaphysik  hat  Duns  befähigt 
die  trinitarischen  Personen  mehr  als  Sonderpersonen  denn  als 
blosse  Relationen  zu  fassen.  Dem  Gemeindeglauben  rückt  er 
dabei  näher,  die  Probleme  wurden  verschärft,  besonders  da  er 
das  persönliche  Leben  der  Gottheit  scharf  betonte.  Ich  finde 
nicht,  dass  diese  seine  Gedanken  auf  die  Christologie  und  Er- 
lösuDgslehre  eingewirkt  hätten.  Etwas  anderes  in  der  Christo- 
logie fiel  uns  auf.  Duns  hat  sich  um  die  Formeln  ernst  be- 
müht. Alle  Beobachtungen  zielen  aber  in  eine  Richtung.  Dans 
hat  Christum  möglichst  menschlich  und  natürlich  zu  verstehen 
die   Neigung   gehabt,    daher    blickt   immer  wieder   aus  seinem 


Duns  über  Sünde  und  Erlösung.  ß57 

Christusbild  menschliche  PersoDalität  und  Beschränkung  uns 
entgegen.  Mit  diesem  Bemühen  war  das  andere  eng  verknüpft, 
nämlich  die  Vereinigung  des  (persönlichen)  Menschen  Jesus 
mit  dem  Logos  recht  präzis  als  blosse  Relation  vorzustellen. 
Unter  den  Schemata  der  Lehrtradition  merkt  das  aufmerksam 
prüfende  Auge  doch  nicht  selten  diese  andersartigen  Umrisse. 
Diese  Tendenz  ist  aber  auf  den  Gesamtzusammenhang  gesehen 
sehr  verständlich.  Orientierte  Duns  seinen  christologischen 
Gedanken  an  dem  Zweck  des  Werkes  Christi,  so  bedurfte  er 
ebensowenig  des  göttlichen  Lebens  und  der  göttlichen  Kraft  in 
Christo,  als  wenn  er  von  dem  göttlichen  Willen  ausging.  Hat 
dieser  den  Menschen  Jesus  zum  Erlöser  prädestiniert  und  ist 
Christi  Werk  nur,  sofern  es  Gott  dazu  bestimmte,  erlösungs- 
kräftig, so  fällt  jeder  innere  Grund  die  Gottheit  Christi  kräftiger  zu 
betonen  hin.  Der  allwirksame  Gotteswille  thut  alles  und  be- 
stimmt alles,  alles  Geschichtliche  ist  nur  zufällig  gewähltes 
Mittel  und  Organ  seinen  Willen  unter  den  Kreaturen  durch- 
zusetzen. Von  hier  aus  hat  Duns  das  Wirken  Christi  und 
daher  auch,  wegen  des  finalen  Zuges  seiner  dogmatischen  Kon- 
struktion, die  Person  des  Herrn  betrachtet.  Auch  hier  tritt 
wieder  deutlich  der  eine  Grundzug  seines  Systems  zu  Tage. 

Mit  dem  Sündengedanken  war  Duns  der  Erlösungsgedanke 
vorgezeichnet.  Darum  handelte  es  sich,  dass  die  Erwählten 
durch  Christus  den  Impuls  zu  Gott  hin  gewinnen.  Die  Kirche 
knüpfte  die  Gnade  an  die  Sakramente.  Bestand  die  Sünde  in 
einer  Zerstörung  der  Natur  des  Menschen,  so  mussten  die 
Sakramente  die  physischen  Kräfte  zur  Reparatur  der  ver- 
derbten Natur  darbieten.  Aber  nach  Duns  war  die  Sünde, 
wie  wir  gesehen  haben,  schliesslich  nur  die  Abwendung  von 
Gott  dem  höchsten  Ziel  und  Gut  zu  anderen  niederen  Gütern. 
Da  konnte  die  sakramentale  Gnade  oder  der  eingegossene 
Habitus  dem  Menschen  doch  nichts  anderes  bringen  als  die 
Anregung  zum  Guten,  die  Hinwendung  des  Willens  auf  Gott. 
Dadurch  wurde  dem  übrigens  freien  und  daher  verdienstlichen 
Handeln  die  Qualität  mitgeteilt,  die  es  Gott  wieder  als  wohl- 
gefällig erscheinen  Hess,  weil  er  unter  dieser  Bedingung  es  sich 
wieder  gefallen  lassen  wollte.  Dass  der  katholische  Gnaden- 
gedanke dadurch  prinzipiell  aufgehoben  ist,  kann  nicht  in  Ab- 

Seeberg,  Die  Theologie  des  Duns  Scotus.  42 


658         Kap,  VII:  Die  geschichtliche  Stellung  des  Duns  Scotus. 

rede  gestellt  werden.  Auch  hier  ist  Gottes  Wille  wieder  alles, 
das  kirchliche  Handeln  lediglich  Organ  und  Mittel. 

Dies  tritt  auch  in  der  Sakramentslehre  sehr  deutlich  hervor. 
Duns  hat  sich  der  bei  den  Franziskanern  ü])lichen  augusti- 
nischen  Sakramentslehre  angeschlossen.  Irdische  Zeichen, 
menschliche  Symbole  sind  an  sich  die  Sakramente ;  sie  dienen 
dazu  den  Menschen  psychologisch  auf  den  Empfang  der  Gnade 
vorzubereiten.  Ist  diese  psychologische  Disposition  hergestellt 
—  und  Duns  meint,  daran  könne  es  nicht  fehlen  — ,  so  erfolgt 
unmittelbar  Gottes  Wirkung  in  der  Seele,  es  wird  dem  Menschen 
von  Gott  selbst  die  neue  Richtung,  der  neue  Antrieb  einer- 
schaffen. Indem  er  Gottes  Wirken  in  sich  fühlt,  wird  er  an- 
getrieben, seine  Seele  auf  Gott  zu  richten  (vgl.  oben  S.  314  f.). 
Es  war  besonders  das  Hauptsakrament  der  Busse,  an  dem  sich 
dieser  Zusammenhang  der  Gedanken  studieren  Hess,  indem  die 
priesterliche  Absolution  die  seelische  Disposition  für  den 
Empfang  der  Einwirkung  Gottes  herstellte.  Aber  auch  das 
Abendmahl  empfing  unter  den  Händen  des  Duns  eine  neue 
Bedeutung.  Für  die  produktive  trat  die  adduktive  Transsub- 
stantiation  ein,  die  Beziehung  des  Leibes  Christi  zur  kirch- 
lichen Abendmahlshandlung  mit  dem  Brot  war  die  Gabe  des 
Sakramentes.  Es  ist  alles  nach  neuen  Gesichtspunkten  gedeutet, 
und   es   sind   alle  überkommenen  Formeln  konserviert  worden. 

Das  war  die  eine  Seite  des  Werkes  Christi.  Es  hat  Gott 
die  Veranlassung  gegeben  die  Sakramente  und  mit  ihnen  die 
Gnade  der  Kirche  zu  gewähren.  Die  Sakramente  korrekt  aus- 
zuüben war  die  eine  Hauptaufgabe  der  Kirche,  sie  steht  dem 
Klerus  zu.  Aber  Christi  Werk  hat  noch  eine  andere  Seite, 
und  auch  die  soll  in  der  Kirche  fortwirken.  Christus  hat  durch 
Lehre  und  Beispiel  auf  die  Menschen  eingewirkt,  er  hat  ihnen 
dadurch  Gott  offenbart.  Diese  Richtung  seines  Werkes  setzen 
die  Bettelorden  in  der  Kirche  fort,  und  auf  sie  kommt  es  vor 
allem  an. 

8.  Nirgends  tritt  das  systematische  Talent  des  Duns  so 
glänzend  hervor  als  in  diesen  Abschnitten.  Man  überlege  den 
Zusammenhang  zwischen 'der  Sünde  und  Christi  Werk,  zwischen 
Christi  Werk  und  der  Gnade,  zwischen  der  Gnade  und  dem 
Wirken    der    Kirche.     Es    sind    einfache    Gedanken,    die    in 


Zusamraenhang-  der  scotistischen  Lehre.  659 

scharfem  Zusammenhang  untereinander  stehen,  die  ebensosehr 
dem  System  als  den  tiefsten  Trieben  der  mittelalterlichen 
Frömmigkeit  gemäss  sind.  Aber  diese  Gedanken  stehen  im 
Mittelpunkt  des  Systems.  Geht  man  von  ihnen  aus  hinauf  bis  an 
den  Ausgangspunkt,  so  folgen  sie  deutlich  aus  der  Idee  des 
allwaltenden  prädestinierenden  Gottes ;  und  steigt  man  hinab 
zu  den  konkreten  Effekten,  so  sind  es  die  guten  Werke  und 
die  Verdienste  der  Christen.  Von  dem  absoluten  Willen  Gottes 
hinab  zum  freien  Wollen  des  Guten  bei  den  Erwählten,  von 
der  Prädestination  zu  den  Verdiensten  läuft  die  Bahn.  Und 
weiter  liegt  nur  noch  die  Seligkeit,  die  erlebt  wird,  von  denen 
die  sie  verdienten,  im  ungehinderten  Wollen  des  Guten. 

Vor  uns  steht  ein  grossartiger  Gedankenbau.  Es  ist  ein 
System  von  Ideen  der  praktischen  Vernunft,  das  anleitet,  wie 
und  warum  man  Gott  lieben  soll.  Das  ist  der  Inhalt  des 
Glaubens  oder  der  Offenbarung.  Die  Offenbarung  Gottes  be- 
lehrt uns  darüber,  dass  er  das  höchste  Gut  und  das  letzte  Ziel 
ist,  dass  er  bestimmte  Menschen  für  dies  Ziel  erwählt  hat,  dass 
er  ein  Gefüge  von  Ordnungen  und  Mitteln  hergestellt  hat, 
durch  die  er  selbst  die  Erwählten  an  ihr  Ziel  führt.  Die 
Menschen  w^enden  sich  von  Gott  ab,  er  wendet  sie  wieder 
sich  zu.  Dadurch  verwirklicht  er  sein  Ziel,  dass  seiner  Herr- 
lichkeit die  Kreatur  diene,  und  dadurch  erreichen  die  Menschen 
ihr  Ziel,  dass  sie  Gott  lieben.  Um  dieses  Zieles  willen  sind 
alle  Dinge,  die  Natur  wie  die  Geschichte,  das  Gute  wie  das 
Böse,  Christus  und  die  Kirche,  die  Gnade  und  die  Sakramente. 
Aber  alles  ist  von  Gott  gewirkt,  direkt  und  unmittelbar;  er  ist 
der  Töpfer,  die  Welt  der  Thon;  er  ist  der  freie  Herr,  wir 
sind  seine  schlechthin  abhängigen  Knechte;  dominatio  — 
subiectio:  das  ist  die  Religion.  So  lernt  es  der  Glaube  oder 
die  praktische  Vernunft  aus  der  Offenbarung,  und  so  befindet 
es  der  Theologe,  der  empirisch  das  religiöse  Leben  analysiert 
und  die  Dogmen  der  Kirche  deutet,  man  könnte  auch  sagen: 
kritisch  bearbeitet.  Verschwunden  ist  die  Philosophie,  ausge- 
stossen  sind  die  Ideen  des  Welterkennens  der  theoretischen 
Vernunft.  Nicht  Gott  und  die  Welt  will  diese  Theologie  er- 
kennen lehren,  sondern  die  Empfindung  bringen,  dass  Gott  der 
Herr  ist  und  dass  ihn  zu  lieben  des  Daseins  letzter  Zweck  ist. 

42* 


660  Kap.  VII:  Die  geschichtliche  Stellung  des  Duns  Scotus. 

Ich  weiss  es,  dass  ich  in  grossen  Zügen  zeichne ;  und  ich 
weiss  auch,  dass  in  der  Geschichte  der  systematischen  Theo- 
logie die  Regel  der  Statistik  in  gewisser  Weise  wiederkehrt: 
die  Regelmässigkeit  der  grossen  Beobachtungsfelder  kommt  auf 
den  kleineren  Gebieten  ins  Schwanken.  Aber  nicht  nur 
das  Kleine  mit  seinen  Widersprüchen  und  Irrungen,  seinen 
zeitgeschichtlichen  und  individuellen  Engen  wirkt,  sondern  auch 
das  Grosse  und  Allgemeine,  die  letzte  Tendenz,  die  nicht  selten 
ihrem  Urheber  selbst  verschwimmt  und  entstellt  wird  durch 
Rücksichten  und  Absichten.  Deshalb  aber  wäre  eine  historische 
Darstellung  unvollständig  und  ungenügend,  welche  diese  halb 
unbewussten  und  doch  mächtig  starken  Tendenzen  eines  grossen 
Mannes  aufzudecken  nicht  wenigstens  versuchte.  Mögen  die 
gemachten  Bemerkungen  von  hier  aus  einiges  Verständnis 
finden. 

9.  Aber  die  bisherige  Darstellung  war  mit  Absicht  ein- 
seitig gehalten.  Man  kann  das  System  des  Duns  von  dem 
Gottesgedanken  her  konstruieren,  und  man  kann  versucht  sein 
seine  Eigenart  von  der  Willensfreiheit  her  zu  verstehen.  Es 
ist  in  der  Regel  von  den  Darstellern  dieser  zweite  Weg  bevor- 
zugt worden.  Von  dem  Indeterministen  Duns  Scotus  redet 
alle  Welt,  von  dem  deterministischen  System  des  Mannes  zu 
sprechen  ist  nicht  üblich.  Wir  müssen  uns  aber  weiter 
dem  zweiten  Brennpunkt  in  der  scotistischen  Gedankenwelt  zu- 
wenden. 

Der  Wille  ist  frei.  Das  heisst,  es  gibt  schlechterdings 
nichts,  was  ihn  determinierte  ausser  eben  dem  Wollen.  Duns 
ist  nicht  müde  geworden  diesen  Gedanken  zu  wiederholen. 
Diese  unbeschränkte  Selbstbestimmung  begründet  vor  allem  den 
Primat  des  Willens  über  den  Intellekt.  Zwar  bietet  der 
Intellekt  dem  Willen  die  Begriffe  zur  Auswahl  dar,  aber  Ver- 
nunftgründe kausieren  nicht  den  Willen.  Das  Denken  ist  nicht 
anders  als  die  sinnliche  Empfindung  ein  natürlicher  Vorgang, 
durch  den  der  Mensch  —  trotz  der  Aktivität  im  Denkakt  — 
in  Abhängigkeit  von  der  Natur  gerät.  Dagegen  ist  der  Wille 
unabhängig  von  der  Natur,  er  bewegt  sich  in  der  Sphäre  rein 
persönlicher  Freiheit.  Das  sind  Gedanken,  die  nicht  als  ge- 
legentliche   Paradoxa    beurteilt    werden    können,    sondern    die 


Die  Willensfreiheit.  661 

einen  absolut  festen  Einschlag  in  dem  Gedankengewebe  des 
Duns  Scotus  darstellen.  Es  wäre  also  ein  vergebliches  Unter- 
faugen  sie  fortzuinterpretieren. 

Freilich  der  Widerspruch,  in  dem  sie  zu  der  ersten  Gedanken- 
reihe des  Systems  zu  stehen  scheinen,  ist  viel  zu  schwer,  als  dass 
man  ihn  als  möglich  mit  in  den  Kauf  nehmen  könnte.  Duns 
muss  irgendwie  diese  Gedanken  mit  einander  vermittelt  haben. 
Wir  wollen  noch  einmal  hierauf  mit  einigen  Worten  zurück- 
kommen. Die  Freiheit  des  Willens  bezieht  sich  erstens  auf 
alle  Naturursachen,  zweitens  auf  die  Begriffe  der  eigenen  Ver- 
nunft, drittens  auf  alle  geistigen  Einwirkungen  von  aussen  her, 
also  durch  andere  Menschen  oder  durch  Engel  etc.,  viertens 
aber  auch,  bezüglich  des  einzelnen  Aktes,  auf  Gottes  Ein- 
wirkungen. Nun  steht  aber  dem  entgegen,  erstens  dass  Gott 
den  freien  Willen  wie  alles  übrige  schuf  zur  Realisierung  seiner 
Zwecke,  zweitens  dass  alles  Geschaffene  als  solches  von  Gott 
schlechthin  abhängig  ist,  drittens  dass  Gott  wirklich  in  dem 
Erwählten  durch  den  Gnadenhabitus  den  Willen  bestimmt, 
mag  immerhin  der  Wille  in  freien  Akten  sich  dieser  ihm  ge- 
wordenen Richtung  bemächtigen.  Er  thut  das  frei  und  doch 
geben  Schöpfung  und  Wahl  ihm  die  Richtung  zu  dieser  freien 
Bethätigung.  —  Die  Lösung  der  Schwierigkeit  muss  auf  folgende 
Momente  achthaben,  erstens  dass  die  Freiheit  des  Willens  nie 
über  den  Spielraum  der  von  der  praktischen  Vernunft  ihm  ge- 
botenen Begriffe  hinausreichen  kann.  Daher  kann  der  Wille 
seiner  Natur  nach  nie  zur  unvernünftigen  Willkür  werden,  er 
kann  nur  logisch  mögliche  Begriffsbilder  zu  seinem  Objekt 
machen.  Zweitens  will  in  acht  genommen  sein,  dass  der 
Gnadenhabitus  als  eine  besondere  göttliche  Schöpfung  im 
Willen  erscheint.  Drittens  ist  daran  zu  erinnern,  dass  Duns 
die  Willensfreiheit  sich  als  Bethätigung  in  einzelnen  Akten 
vorstellt. 

Dann  w^erden  wir  die  Meinung  des  Duns  wohl  in  folgenden 
Sätzen  wiedergeben  dürfen.  Der  Wille  ist  nicht  frei  im  Sinn 
unvernünftiger  Willkür,  aber  er  ist  innerhalb  des  vernünftigen 
Gebietes  der  praktischen  Vernunft  in  allen  seinen  einzelnen 
Wollungen  desselben  nur  durch  das  eigene  Wollen  bestimmt. 
Andererseits    aber    liegt    freilich    seitens    Gottes    eine    Deter- 


662  Kap.  VII:  Die  geschichtliche  Stellung  des  Duns  Scotus. 

minatioii  nicht  der  einzelnen  Wollungon  als  solcher,  sondern 
der  Richtung  des  Willens  vor.  Dieselbe  erfolgt  erstens  ver- 
möge der  praktischen  Vernunft,  zweitens  durch  eine  allgemeine 
in  der  Schöpfung  begründete  Influenz,  die  jedem  Wesen  die 
durch  die  Weltregierung  bedingte  Richtung  anweist,  drittens 
und  vor  allem  durch  die  Erschaffung  des  Habitus  der  Liebe, 
welche  den  Willen  irgendwie  auf  Gott  hintreibt  —  die  Be- 
reicherung des  Kreises  der  praktischen  Vernunft  durch  den 
Glauben  wirkt  hier  mit  — ,  wobei  dann  der  einzelne  Willens- 
akt allerdings  ganz  frei  erfolgen  soll.  Sehe  ich  recht,  so  hat 
Duns  doch  wesentlich  bei  der  Behauptung  der  Indeterminabilität 
des  Willens  auf  die  Freiheit  desselben  vom  Naturzusammen- 
hang, nicht  auf  die  Freiheit  in  Beziehung  auf  Gott  reflektiert. 
Bei  der  geschilderten  Sachlage  scheint  mir  aber  beides  ver- 
ständlich zu  werden,  sowohl  dass  Duns  im  religiösen  Zusammen- 
hang den  Determinismus  seines  Gottesbegriffes  auch  auf  den 
Willen  erstreckt  hat,  als  auch  dass  er  in  den  psychologischen 
und  ethischen  Betrachtungen  in  Bezug  auf  die  einzelnen  Voli- 
tionen  den  Indeterminismus  des  Willens  auf  das  stärkste  betont 
hat.  Er  hat  die  Schwierigkeiten  dieser  Position  —  das  Einzelne 
wurde  früher  an  seinem  Ort  besprochen  —  kaum  empfunden. 
Das  Y^SiT  in  seinem  Gedankengefüge  nicht  unmöglich,  wie  wir 
soeben  gezeigt  haben ;  aber  es  zeigt  andererseits,  wie  schlecht- 
hin fest  beide  Gedankenreihen  in  seinem  Denken  hafteten. 

10.  Wir  haben  es  hier  mit  der  indeterministischen  Ge- 
dankenreihe zu  thun.  Auch  sie  läuft  durch  das  ganze  System 
und  bestimmt  sehr  oft  die  Gedanken  und  Urteile  des  Duns. 
Es  wird  nicht  nötig  sein  hiefür  eingehendere  Zusammenstellungen 
beizubringen.  Nur  einiges  sei  wiederholt.  Ich  erinnere  zunächst 
an  den  Sündenbegriff.  In  einzelnen  Willensthaten  besteht  die 
Sünde,  es  gibt  keine  habituelle  sündhafte  Konkupiscenz,  keinen 
kranken  Willen,  kein  servum  arbitrium.  Woher  das  alles? 
Weil  es  zum  AVesen  des  Willens  gehört,  in  seinen  Volitionen 
schlechthin  frei  zu  sein,  allmählich  bildet  er  sich  seine  flabi- 
tualität,  aber  auch  diese  vermag  die  Freiheit  nicht  aufzuheben. 
Das  ist  echt  pelagianisch  gedacht.  Und  doch  —  sieht  man 
genauer  zu,  so  wirft  auch  in  dies  „pelagianische  Paradies" 
die    andere   Gedankenreihe   ihre    Schatten.     Das    war  ja    der 


Wirkungen  der  Freiheitstheorie  auf  das  System.  663 

tiefste  Gehalt  jener  Vorstellung  von  der  carentia  iustitiae 
debitae,  dass  Gott  den  Sünder  gottlos  werden  lässt  und  ihn 
der  selbstgewählten  Richtung  überlässt.  Ist  das  aber  der  Fall, 
dann  mag  der  Wille  immerhin  frei  sein  zu  den  einzelnen  Voli- 
tionen,  der  Spielraum  derselben  ist  ein  beschränkter.  Gott 
und  das  Gute  existieren  für  ihn  nicht  mehr.  Wer  will  es 
dann  wehren  hier  von  einem  Zustand  sittlicher  Unfreiheit  des 
AVillens  zu  reden? 

Aber  auch  in  die  Gnadenlehre  greift  die  indeterministische 
Auffassung  ein.  Einmal  durch  die  verhängnisvolle  Betonung 
des  meritum  de  congruo,  jenes  Thuns  des  unbegnadigten  Sünders 
(Attrition),  das  von  Gott  durch  die  Gnadenmitteilung  belohnt 
wird.  Die  Ausbreitung  dieses  Gedankens  ist  nur  begreiflich 
von  der  Voraussetzung  jenes  Indeterminismus  aus.  Der  Wille 
kann  auch  im  Sünder  in  einzelnen  Volitionen  doch  Gutes  — 
wenn  auch  nur  de  congruo  —  produzieren.  Mit  Eecht  hat  die 
protestantische  Polemik  diesen  Punkt  oft  scharf  herausgegriffen, 
er  stellt  einen  der  schlimmsten  Faktoren  in  der  Weltanschauung 
des  Duns  dar.  Aber  es  ist  freilich  nicht  recht,  wenn  man  bis- 
weilen thut,  als  wenn  Duns  ausser  dieser  Theorie  und  etwa 
noch  einer  unvernünftigen  göttlichen  Willkürtheorie  —  deren 
Unvernunft  aber  auf  die  Rechnung  der  Referenten  fällt  — 
nichts  zu  sagen  gewusst  hätte. 

Aber  die  Wirkungen  der  Theorie  in  der  Gnadenlehre 
gehen  noch  weiter.  Jene  Angst  des  Duns  den  Habitus  der 
Gnade  irgend  zu  weit  auszudehnen,  die  Versicherung,  die 
einzelne  Handlung  werde  nur  ganz  im  allgemeinen  von  der 
Gnade  bestimmt,  die  Betonung  des  Verdienstes,  sie  gehen  zu- 
rück auf  die  scotistische  Willenslehre.  Freilich  man  muss  hier 
nicht  vergessen,  dass  dieselben  Ideen  es  waren,  die  Duns  zu 
seiner  Kritik  des  Habitusbegriffes  und  zu  einer  feineren  psycho- 
logischen Erklärung  des  sittlichen  Handelns,  als  man  sie  bisher 
kannte,  antrieben-  Ebenso  kann  man  viele  der  schlimmsten 
ethischen  Betrachtungen  des  Duns,  die  seine  Ethik  in  manchen 
Teilen  zu  einer  Vorläuferin  der  jesuitischen  Ethik  machen, 
ihre  Wurzeln  in  dies  Gebiet  treiben  sehen.  Es  ist  die  Dis- 
membrierung  des  ethischen  Handelns  in  einzelne  Akte  mit  der 
Voraussetzung  der  stets  gleichen  Freiheit  der  betr.  Volitionen. 


664         l^ap-  VII:  Die  geschichtliche  Stellung  des  Duns  Scotus. 

Aber  es  steht  doch  wieder  auch  die  Verwerfung  der  blossen 
Devotion  zu  gunsten  einer  soliden  und  thatkräftigen  Liebe 
nicht  ausser  Zusammenhang  zu  diesen  Gedanken  (vgl.  oben 
S.  530). 

11.  Es  war  ein  grosser  Gedanke,  den  Willen  zum  Zentrum 
des  Menschen  zu  erklären;  auch  hierin  haben  die  Theologen 
der  älteren  Schule  Duns  vorgearbeitet,  wie  wir  gezeigt  haben. 
Von  hier  aus  fand  Duns  die  starke  Betonung  der  Liebe  als 
der  Aufgabe  des  christlichen  Lebens,  sowie  die  treffliche  Ab- 
leitung der  Liebe  zu  den  Menschen  aus  der  Liebe  zu  Gott 
(oben  S.  508)  und  die  Unterordnung  aller  Tugenden  unter  die 
Liebe  (S.  530) ;  von  hier  aus  ergab  sich  ihm  die  starkmutige 
Stellung  des  freien  Menschen  über  dem  Naturzusammenhang; 
noch  mehr,  auch  die  Vorstellung  von  dem  praktischen  Charakter 
des  religiösen  Erkennens  treibt  eine  ihrer  Wurzeln  in  dies  Ge- 
biet. Auch  hier  reichen  die  Anregungen,  denen  er  folgt, 
schliesslich  bis  auf  Augustin  zurück. 

Aber  wie  ist  es  geschehen,  dass  Duns  Scotus  die  Willens- 
theorie zu  den  paradoxen  Formeln,  die  wir  kennen  lernten, 
steigerte?  Man  kann  dafür  verschiedene  Gründe  anführen. 
Es  wird  erstens  die  augustinische  Erbsündentheorie,  die  den 
Willen  in  die  Abhängigkeit  von  der  Konkupiscenz  stellte,  auf 
Duns  negativ  eingewirkt  haben.  Hier  schien  die  Sünde  die 
geistige  Natur  des  Menschen  zu  zerstören  und  letztere  unter 
die  Sinnlichkeit  zu  beugen.  Diesen  Gedanken,  die  Duns  nur 
im  höchsten  Mass  unsympathisch  sein  konnten,  schien  man  nur 
entgehen  zu  können,  wenn  jede  Einwirkung  auf  den  Willen  von 
aussen  her  abgeschnitten  wurde.  Hiemit  verband  sich  wohl 
zweitens  die  Erwägung,  dass  ein  wirklicher  Primat  des  Willens 
vor  dem  Intellekt  nur  so  vorstellbar  zu  sein  schien,  dass  der 
Wille  jederzeit  in  neuen,  nur  durch  sich  selbst  bedingten  Akten 
seine  Selbständigkeit  gegen  den  Intellekt  behauptet.  So  kam 
Duns  zu  der  Betonung  der  Einzelakte  des  AVillens  —  wie  ihrer 
schlechthinigen  Willkür.  Indem  ihn  das  Bestreben  leitete,  die 
schlechthinige  Geistigkeit  und  Freiheit  des  Willens  herauszu- 
stellen, schien  es  sich  zu  empfehlen,  jede  Möglichkeit  einer  Be- 
einflussung des  Willens,  sei  es  durch  die  Begriffe,  sei  es  durch 
eine   Richtung  oder  Habitualität,   abzuschneiden.     Was    dann 


Gründe  für  die  Lehre  vom  freien  Willen.  6ß5 

nachblieb,  war  eben  der  zu  jedem  Einzelakt  sich  schlechtweg 
willkürlich  selbstbestinimende  Wille. 

Damit  zeigt  sich  der  Mensch  als  Abbild  des  göttlichen 
Willens.  Gott  will  als  actus  purus  unausgesetzt,  daher  will 
auch  der  Mensch,  nicht  durch  irgend  welche  Einwirkungen  von 
aussen  gefesselt,  in  stets  gleicher  Freiheit.  Bei  dem  eAvigen 
Gott  bethätigt  sich  die  Willkür  dieser  Freiheit  nur  in  dem 
einen  Akt  der  Setzung  eines  Weltsystems,  bei  dem  zeitlichen 
Menschen  lebt  sie  sich  dagegen  aus  in  einer  langen  Reihe 
freier  willkürlicher  Akte  (vgl.  hiezu  oben  S.  161).  Dieser 
Unterschied  wird  dem  Leser  einleuchten.  Man  könnte  ihn  auch 
so  ausdrücken :  da  Gott  ewig  ist,  offenbart  er  sich  in  der  Ord- 
nung der  potentia  ordinata,  die  potentia  absoluta  bezeichnet 
nur  die  irreale  Hypothese,  was  wohl  hätte  sein  können,  wenn 
Gott  es  eben  so  gewollt  hätte.  Dagegen  bilden  für  den  zeit- 
lichen Menschen  alle  ihm  und  seiner  Vernunft  überhaupt  denk- 
baren Möglichkeiten  den  Spielraum;  man  könnte  sagen  in 
Analogie  zu  Gott  geredet:  für  ihn  enthält  die  potentia  absoluta 
eine  Fülle  realer  Hypothesen.  Allerdings  muss  man  sich  davor 
in  acht  nehmen  die  Beschränkung,  die  von  der  praktischen 
Vernunft  ausgeht,  zu  unterschätzen. 

Aber  musste  nicht  —  so  könnte  man  weiter  fragen  — 
diese  Auffassung  vom  Willen  durch  die  Idee  von  der  absoluten 
Verfügung  des  göttlichen  Willens  aufgehoben  werden?  Dass 
Duns  dies  nicht  für  nötig  hielt,  haben  wir  einige  Seiten  früher 
erkannt.  Man  darf  aber  im  Gegenteil  die  Behauptung  wagen: 
gerade  der  Determinismus  der  Weltanschauung,  der  sich  vom 
Gottesgedanken  aus  ergab,  sei  ein  Motiv  mehr  für  den  In- 
determinismus des  Willens  bei  Duns  gewesen.  Die  religiöse 
und  ethische  Stimmung  des  Duns  Scotus  erforderte  sowohl 
einen  Gott,  der  absoluter  Herr  ist,  als  eine  Seele,  die  schlechthin 
frei  ist.  Es  ist  im  Denken  der  grossen  Geister  nicht  anders 
als  im  Geistesleben  der  Menschheit:  nicht  nur  die  Folgerichtig- 
keit produziert  neue  Gedanken,  sondern  die  Gegensätze  rufen 
—  beinah  mit  der  Macht  von  Naturtrieben  —  nach  einander. 
Weil  sein  Gottesgedanken  den  Menschen  aller  Freiheit  zu  be- 
rauben schien,  darum  stattete  er  seinen  Menschen  mit  einer 
Freiheit   aus,   die   schier  unvernünftig  zu  sein  schien.     Nur  so 


666         Kap.  VII :  Die  geschichtliche  Stellung  des  Duns  Scotus. 

schien  das  Gleichgewicht  der  Weltanschauung  und  Seelen- 
stimmung, das  er  innerlich  empfand,  auch  theoretisch  aufrecht 
erhalten  werden  zu  können.  Er  glaubte  Augustin  nicht  anders 
halten  zu  können,  als  indem  er  Pelagius  zu  seiner  Verteidigung 
zu  Hilfe  rief.  Aber  —  und  das  ist  das  wunderbarste  —  auch 
zu  dieser  That  zog  er  die  Anregung  aus  augustinischen  Ge- 
danken. ^) 

Diese  Gedanken  bestätigen  sich  bei  einiger  Überlegung  an 
dem  System  des  Duns.  Nimmt  man  die  grossen  Gedanken- 
zusammenhänge, so  ist  es  immer  wieder,  als  sollte  die  Allein- 
wirksamkeit der  Gnade  so  weit  eingeschränkt  werden,  dass  die 
freie  Kreatur  doch  ihren  Platz  behalte.  Die  Prädestination 
gibt  uns  das  Heil,  aber  wir  verdienen  uns  den  ewigen  Lohn. 
Die  Gnade  erschafft  die  Richtung  zum  Guten  in  uns,  aber  wir 
selbst  ergreifen  das  Gute.  Die  Sakramente  allein  bringen  uns 
Gnade,  aber  wir  können  uns  auf  die  Gnade  vorbereiten.  — 
Aber  warum  kommt  unser  Dogmatiker  über  dies  Bedenken 
nicht  hinweg?  Sein  Interesse  war  darauf  gerichtet,  die  freie 
geistige  Art  des  Menschen  auch  für  den  religiösen  Menschen 
zu  behaupten.  Aber  das  Verhältnis  von  Gott  und  Mensch, 
wie  die  Dogmatik  es  schilderte,  fasste  die  Idee  der  „ein- 
gegossenen Gnade",  der  Einschaffung  einer  neuen  „Qualität" 
in  sich.  Für  das  geistige  Verhältnis  hatte  man  ein  physisches. 
Hier  lag  die  Schwierigkeit.  Ein  Empfinden  für  sie  haben  auch 
andere  scholastische  Lehrer  gehabt.  Wenn  der  gratia  infusa  — 
das  „Verdienst"  gegenübertrat,  so  wurden  Begriffe  von  ganz 
verschiedenem  Ursprung  und  Absehen  aneinander  geschoben, 
damit  jeder  von  beiden  die  Lücken  des  anderen  ausfülle,  der 
physische  Gnadengedanke  dem  altlateinischen  Moralismus  und 
dieser  jenem  zu  Hilfe  komme.  So  hat  auch  Duns  gefühlt,  aber 
er  hat  sich  stärker  und  energischer  als  seine  Mitarbeiter  um 
den  Ausgleich  dieser  Gedankenkreise  bemüht.     Er  hat  die  Idee 


^)  Die  Differenz  meines  Verständnisses  des  Duns  Scotus  von  dem 
üblichen  kann  vielleicht  so  formuliert  werden :  nach  üblicher  Meinung 
nimmt  Duns  innerlich  seinen  Ausgang  von  Pelagius  und  fügt  Augustins 
Gedanken  wie  einen  Rahmen  um  diesen;  nach  unserer  Ansicht  geht  er 
aus  von  Augustin  und  sucht  sich  den  ganzen  Augustin  dadurch  zu  er- 
halten, dass  er  ihn  mit  Pelagius  versetzt. 


Die  historische  Bedeutung  des  Dans  Scotus.  667 

der' eingegossenen  Gnade  bis  zum  äussersten  verfeinert;  darüber 
dass  sie  von  Gott  „geschaffen"  sei,  kam  er  allerdings  nicht 
hinaus.  Er  hat  aber  sodann,  wie  wir  gezeigt  habeü,  für  die 
Freiheit  des  Willens  nach  Formen  gerungen,  die  sie  erhalten 
sollten  auch  neben  der  schöpferischen  Gewalt  der  Gnade.  — 
So  wird  es  sich  begreifen,  dass  die  zweite  Gedankengruppe 
trotz  und  neben  der  ersten  im  Gefüge  der  Gedanken  des  Duns 
Scotus  Platz  behalten  hat. 

12.  Es  wird  genug  sein  dieser  Rückblicke.  Ein  „System" 
des  Duns  konnten  und  wollten  wir  nicht  herstellen,  die  Grund- 
gedanken seiner  Theologie  dürften  wir  in  ihrem  Zusammen- 
hang wiedergegeben  haben. 

Die  geschichtliche  Stellung  dieser  Gedanken  ist  klar.  Dass 
Gott  Wille  und  dass  unser  Leben  Lieben  sei,  hatte  Augustin 
dem  Mittelalter  eingeprägt.  Diese  beiden  Ideen  haben  durch 
Duns  Scotus  ihre  schärfste  Zuspitzung  erfahren.  Indem  sein 
theologisches  Denken  sich  um  sie  gruppiert,  zeigt  er  sich  als 
Fortsetzer  der  älteren  Theologenschule  des  dreizehnten  Jahr- 
hunderts. Aber  wie  an  Methode  (oben  S.  625.  643),  so  war  er 
auch  an  Schärfe  und  Konsequenz  der  Gedanken  seinen  Vor- 
gängern unendlich  überlegen. 

Es  sind  Wahrheiten  von  bleibender  Bedeutung,  die  durch 
ihn  in  die  Theologie  eingeführt  worden  sind.  1)  Duns  Scotus 
hat  zuerst  erkannt,  dass  die  Religion  im  Willen  und  der  prak- 
tischen Vernunft  ihren  Sitz  hat,  dass  ihr  Erkennen  praktisches 
Erkennen  sei.  Er  hat  weiter  die  christliche  Religion  als  eine 
besondere  geschichtliche  Grösse  erkennen  gelehrt.  Und  er  hat 
in  Gemässheit  der  ersten  Erkenntnis  die  Selbständigkeit  der 
Theologie  der  Metaphysik  gegenüber,  infolge  der  zweiten  Ein- 
sicht aber  den  streng  positiven  Charakter  der  Theologie  als 
Wissenschaft  behauptet.  Man  sagt  doch  nicht  zu  viel  mit  der 
Behauptung,  dass  diese  Gedanken  erst  eine  Theologie  im 
strengeren  Sinn  ermöglicht  haben,  über  ihre  epochemachende 
Bedeutung  ist  kein  Wort  zu  verlieren.  2)  Duns  Scotus  hat 
den  Gedanken  von  Gott,  den  die  mittelalterliche  Frömmigkeit 
im  Anschluss  an  Augustin  allmählich  herausgearbeitet  hat,  in 
klassischer  Weise  zu  formulieren  gewusst.  In  dem  Gottes- 
gedanken besteht  aber  die  eigentliche  bleibende  Grossthat  der 


€68  Kap.  VlI:  Die  geschichtliche  Stellung  des  Duns  Scotus. 

mittelalterlichen  Dogmengeschichte.  ^)  Mit  ihr  bleibt  der  Name 
des  Duns  dauernd  verbunden.  3)  Duns  hat  ein  starkes  Em- 
pfinden für  die  Freiheit  der  Persönlichkeit  und  für  die  psycho- 
logische Seite  der  religiösen  Phänomene  gehabt.  Dieser  Sinn 
für  die  Empirie  ist  auch  für  die  Folgezeit  von  Bedeutung  ge- 
worden. 4)  Duns  Scotus  hat  eine  eminente  wissenschaftliche 
Kraft  an  die  Erforschung  der  christlichen  Religion  gesetzt.  Er 
hat  nicht  nur  Überkommenes  registriert  und  summiert,  sondern 
er  hat  die  Meinungen  der  Vorzeit  kritisch  analysiert  und  die 
Gedanken  der  Kirche  in  eindringendem  Nachdenken  umge- 
schmolzen. Er  hat  den  Mut  der  Kritik  und  den  ungeblendeten 
Wahrheitssinn  eines  rechten  Forschers  gehabt.  Darum  hat  er 
in  Lehren,  wie  der  Gnaden-  und  Sündenlehre,  in  der  allge- 
meinen Lehre  von  den  Sakramenten,  bes.  aber  von  dem  Abend- 
mahl und  der  Busse,  wirklich  Neues  geschaffen  und  das  Alte 
zerbrochen.  Aber  freilich  auf  der  Linie  seiner  Gedanken  lag 
auch  jener  äusserliche  Positivismus  der  kirchlichen  Formel, 
von  dem  wir  so  oft  geredet  haben.  Von  Duns  hat  man  nicht 
nur  strenge  kritische  Fassung,  sondern  auch  die  Unterwerfung 
unter  die  Formel  lernen  können. 

Es  ist  vom  Standort  des  Protestanten  her  nicht  möglich 
alles  zu  rühmen,  was  Duns  gelehrt  hat.  Aber  darum  kann  es 
sich  hier  ja  nicht  handeln.  Nur  das  muss  hier  gesagt  werden, 
dass  er  eine  historische  Grösse  von  epochemachender  Be- 
deutung ist.  Das  hat  die  Geschichte  der  Theologie  nach  ihm 
eindringlich  genug  gezeigt. 

13.  Lässt  man  den  Positivismus  des  Dogmas  bei  Duns  aus 
dem  Spiel  —  derselbe  hebt  seine  Orthodoxie  im  Prinzip  über 
jede  Konkurrenz  — ,  so  ist  Duns  Scotus  unter  den  Häuptern 
der  Scholastik  fraglos  derjenige,  der  am  stärksten  zu  Hetero- 
doxien  neigt.  Man  denke  nur  an  die  Erbsündenlehre,  die 
Lehren  vom  Gnadenhabitus  und  der  Transsubstantiation.  Trotz- 
dem oder  wohl  darum  ist  es  Duns  mehr  als  irgend  einem  der 
zeitgenössischen  Theologen  gelungen  die  innersten  Triebe  der 
mittelalterlichen  Frömmigkeit  zum  Ausdruck  zu  bringen.   Das 


^)  Die  Sakramentslehre  ist  die  andere,  aber  sie  ist  vom  Protestantis- 
mus verworfen  worden. 


Duns  als  Repräsentant  des  mittelalterlichen  Christentums,        669 

begreift  sich  aus  seiner  Methode  Theologie  zu  treiben  sehr  ein- 
fach ;  nicht  Lehren  der  Vergangenheit,  sondern  den  Glauben  der 
Gegenwart  wollte  er  finden.  Dass  aber  die  Praxis  derbere  und 
gröbere  Formen  als  das  System  des  scharfsinnigen  Theologen 
darbot,  das  entspricht  ja  einer  häufigen  historischen  Beobachtung. 
Gott  ist  der  gütige  Herr  und  der  Gesetzgeber.  Christus  lehrte  die 
Sünder  die  Wahrheit  und  erwirkte  bei  Gott  die  Einsetzung 
der  Sakramente  zur  Rettung  der  Sünder.  Die  Kirche  ver- 
waltet die  Sakramente  und  lehrt  die  Wahrheit.  Glauben  heisst 
dem  positiven  Glauben  der  Kirche  gehorchen.  Die  Kirche 
befiehlt  zu  lieben,  die  Sakramente  geben  die  Kraft  zu  lieben. 
Gute  Werke  sind  Verdienste.  In  diese  Sätze  liesse  sich 
das  Christentum  der  Zeit  zusammenfassen  und  dasselbe  sagt, 
wenn  auch  mit  etwas  anderen  Worten,  Duns  auch.  Er  geht 
freilich  darüber  hinaus;  nicht  nur  in  der  Vertiefung  vieler 
Gedanken,  sondern  auch  in  der  kritischen  Abschwächung 
anderer  und  der  Einführung  neuer  Mittel.  Aber  der  Stimmung 
des  besseren  Christen,  der  seine  Abhängigkeit  vom  höchsten 
Herrn  in  freier  Ausübung  guter  Werke  meinte  bethätigen  zu 
sollen,  entsprach  doch  sein  System  ebensosehr,  als  es  dem 
Durchschnittschristen,  der  meinte,  es  sei  genug  „zu  glauben 
was  die  Kirche  glaubt"  und  zu  thun  so  viel  man  kann,  die 
Existenzberechtigung  w^ahrte.  Wir  setzen  den  Mann  durch  diese 
Beobachtung  nicht  herab,  sondern  sehen  auch  in  dieser  Beob- 
achtung eine  Bestätigung  seiner  theologischen  Genialität. 

14.  Damit  könnten  wir  diesen  Abschnitt  beschliessen^ 
wenn  nicht  ganz  unwillkürlich  sich  hier  die  Frage  erhöbe, 
weshalb  Duns  trotz  seiner  Nachfolge  Augustins  von  der  ur- 
christlichen Gedankenbildung  so  fern  geblieben  ist?  Die  Frage 
ist  einfach  zu  beantworten.  Duns  schritt  in  den  Bahnen  fort, 
die  Augustin  gewiesen  hatte :  Der  Wille  droben  und  der  Wille 
unten.  Aber  die  Zeit  hatte  manches  vergröbert  und  abge- 
plattet von  Augustins  Ideen.  Duns  reproduzierte  sie  in  origi- 
naler Weise.  Er  schränkte  die  physischen  Gedanken  von  der 
Sünde  und  Gnade  ein  und  suchte  gegen  die  erdrückende  Prä- 
ponderauz  des  göttlichen  Willens  ein  Gegengewicht  in  der 
schrankenlosen  Freiheit  des  menschlichen  Willens.  Aber  was 
dadurch   erreicht    werden  sollte,    wurde  'von   ihm  ebensowenig 


670         Kap.  YIL:  Die  geschichtliche  Stellung  des  Duns  Scotus. 

erreicht  als  von  Augustiri  selbst.  Nach  Augustin  ist  der  Effekt 
der  Gnade  der  gute  Wille  oder  die  Liebe.  Wie  es  aber  zu 
dieser  kommt,  wurde  psychologisch  freilich  nicht  klar.  Duns 
sucht  alles  Physische  und  Magische'  dabei  auszuschliessen,  aber 
er  gibt  das  Beste  bei  Augustin  dadurch  auf  und  weiss  schliess- 
lich trotzdem  nicht  deutlich  zu  machen,  wie  es  zur  Liebe  kommt. 
Freies  Menschenwerk  ist  sie  und  doch  von  Gott  erschaffen. 
Das  ist  der  Punkt,  wo  die  beiden  Willensreihen  seines  Systems 
aneinanderstossen,  sie  sollen  einander  ergänzen,  aber  sie  ver- 
derben einander. 

Woraus  begreift  sich  dieser  Mangel?  Augustin  wie  Duns 
Scotus  haben  nicht  verstanden  was  „glauben"  heisst.  Cnd 
dadurch  verlegen  sie  sich  selbst  den  Weg  zu  einer  persönlichen 
geistigen  Gemeinschaft  mit  Gott.  Gott  ist  der  Herr  and  die 
Liebe  ist  das  Ziel.  Beide  Sätze  sind  richtig,  aber  man  weiss 
sie  nicht  zu  vereinigen.  Entweder  wird  Gott  als  Gesetzgeber 
gedacht,  dann  ist  es  Verdienst  des  freien  AVillens  ihm  zu  ge- 
horchen, dann  gibt  es  keine  Gnade.  Oder  Gott  erschafft  die 
Liebe,  dann  wird  das  innerliche  Verhältnis  zu  ihm  und  die 
Geistigkeit  der  Seele  alteriert.  Diese  beiden  Systeme  haben 
seit  Tertullian  und  Augustin  bis  auf  Luther  die  Geister  be- 
schäftigt ;  sie  zu  kombinieren  war  das  Hauptanliegen  der  Dog- 
matik  des  abendländischen  Katholizismus.  Die  Geschichte  hat 
gezeigt,  dass  die  Aufgabe,  so  wie  man  sie  stellte,  unlösbar  ist. 
Die  Lösung,  die  man  vergebens  suchte,  ist  im  urchristlichen 
Glaubensgedanken  enthalten.  In  Christo  erfährt  der  Mensch 
die  persönliche  Gegenwart  und  Autorität  Gottes;  das  heisst 
er  kommt  zum  Glauben.  Der  Glaube  ist  das  Empfinden  und 
Innewerden  der  lebendigen  Autorität  und  Einwirkung  Gottes, 
durch  ihn  nehmen  wir  hin  was  Gott  uns  sein  und  geben  will. 
Darum  empfangen  wir  auch  im  Glauben  neue  Ideale  und  Güter, 
neue  Impulse  und  Kräfte  von  oben.  Gott  gibt  und  wir  nehmen, 
und  doch  ist  es  keine  Vergewaltigung  unserer  Seele.  Zwischen 
Gottes  Wirken  und  unserer  freien  That  stellt  der  Glaube  die 
Brücke  her.  Wir  thun  in  der  Liebe  mit  freiem  Willen  was 
uns  gegeben  wurde  von  Gott  im  Glauben. 

Hiedurch  ist  allen  Forderungen  genügt.  Eine  rein  geistige 
persönliche  Gemeinschaft  ohne  alle  physische  Beimengung  liegt 


Der  Grundfehler  im  System  des  Duns.  f)71 

vor.  Und  Gottes  Gnade  ist  unverkürzt  die  gebende  Ursache 
alles  Guten;  aber  nicht  minder  ist  der  Freiheit  der  Menschen 
Rechnung  getragen,  nicht  nur  in  der  Liebe  allein,  sondern  schon 
im  Glauben,  denn  dieser  Glaube  ist  nicht  mit  der  persön- 
lichen Passivität  der  Erlernung  einer  Formel  behaftet,  viel- 
mehr ist  in  ihm  die  Aktivität,  die  in  jeder  geistigen  Rezep- 
tivität  enthalten  ist.  Aber  weiter,  dieser  Glaubensgedanke 
schliesst  auch  jeden  Positivismus  äusserlicher  Kirchlichkeit  aus 
—  von  dem  blossen  Assensus  ist  derselbe  untrennbar  — ,  denn 
um  das  Erleben  der  Gegenwart  einer  geistigen  Person  handelt 
es  sich  in  ihm. 

Weil  Duns  Scotus  der  evangelische  Glaubensgedanke  fehte,  .^ 

deshalb  fiel  sein  System  in  zwei  Hälften  auseinander:  der  ab- 
solute Herr  im  Himmel  und  der  absolut  freie  Mensch;  des- 
halb wurde  er  dazu  gedrängt,  um  Gott  gegenüber  Raum  für 
die  Seele  zu  finden,  eine  Freiheit  schrankenloser  Willkür  dem 
Menschen  anzudichten.  Hier  wird  es  klar,  wie  doch  alles  in 
der  christlichen  Religion  am  Glauben  liegt.  Vergleicht  man 
Duns  mit  seinen  Vorgängern,  so  hat  er  auf  diesem  Boden 
freilich  Thomas  gegenüber  einen  erheblichen  Fortschritt  ge- 
macht, indem  er  den  Glauben  ganz  der  praktischen  Vernunft 
zuwies.  Aber  es  ist  noch  nicht  genug  den  Glauben  zum 
Formelbuch  für  die  Liebe  zu  erklären. 

Wir  verstehen  jetzt  auch,  woher  die  Theologie  des  Duns 
mehr  auflösend  als  bauend  gewirkt  hat.  Je  schärfer  er  die 
Elemente  der  mittelalterlichen  Theologie  herausgearbeitet  hat, 
desto  mehr  mussten  die  Widersprüche  derselben  empfunden 
werden;  und  je  energischer  er  eine  Anzahl  von  Begrifi^en  um- 
gedeutet, potenziert  und  depotenziert  hatte,  desto  grösser  musste 
die  Verwirrung  im  dogmatischen  System  werden  —  das  neue 
Flick  auf  dem  alten  Mantel  — ,  hatte  doch  Duns  selbst  die 
Unantastbarkeit  der  kirchlichen  Formel  eingeschärft.  —  Das 
grosse  Problem  war  nicht  gelöst:  Gott  blieb  der  ferne  Gott 
und  der  Seele  mit  aller  ihrer  Willkürsfreiheit  blieben  die  nahen 
Ziele  (vgl.  oben  S.  586). 


672         Kap.  VII:  Die  geschichtliche  Stellung  des  Duns  Scotus. 

4.    Duiis  Scotus  und  die  Folgezeit. 

1.  Man  dürfte  ein  Buch,  ebenso  dick  wie  das  vorliegende, 
schreiben,  wollte  man  das  in  der  'Überschrift  bezeichnete  his- 
torische Problem  auch  nur  einigermassen  erschöpfend  behandeln, 
denn  man  müsste  zu  diesem  Zweck  die  Geschichte  der  Theo- 
logie bis  zum  Tridentinum  und  zur  Konkordienformel  ein- 
gehend beleuchten.  Um  so  knapper  werden  unsere  Bemerkungen 
über  diese  Frage  an  diesem  Ort  ausfallen  dürfen.  ^) 

Die  übliche  Auffassung  der  scholastischen  Entwicklung  ist 
etwa  die,  dass  auf  die  Versuche  Abälards  und  des  Lombarden 
Thomas  von  Aquino  folgte,  der  mit  Hilfe  von  Aristoteles  die 
ganze  Bewegung  zum  Abschluss  brachte.  Aus  Querköpfigkeit 
und  Pelagianismus  widersprach  ihm  aber  Duns.  Die  späteren 
eigneten  sich  dann  den  ihnen  sympathischen  Pelagianismus  an 
und  machten  auch  Versuche  Duns  an  Querköpfigkeit  gleich  zu 
kommen.  Die  Unrichtigkeit  des  ersten  Teils  dieser  Auffassung 
hat  sich  uns  früher  ergeben.  Aber  der  zweite  ist  nicht  minder 
verkehrt.  Nicht  ein  zwischeneingekommener  Störenfried  ist 
Duns  gewesen,  sondern  das  dem  Thomas  ebenbürtige  Haupt 
einer  neuen  Entwicklungsreihe.  Was  immer  an  Fortschritts- 
elementen in  der  Theologie  der  Folgezeit  sich  regte,  knüpfte  an 
seine  Methode  an  und  repetierte  seine  Gedanken  oder  führte 
sie  fort.  Er  hatte  nicht  nur  Schüler,  die  seine  Gedanken 
wiederholten,  sondern  auch  solche,  die  sie  weiter  ausdeuteten  und 
ihnen  widersprachen.  Und  schon  früh  sind  seine  Einwirkungen 
auch  bei  Thomisten  wahrzunehmen.  ^) 

2.  Vor  allem  muss  man  der  grossen  geistigen  Bewegung,  die 
sich  an  den  Namen  Occams  schliesst,  hier  gedenken.  Je  ge- 
nauer man  Occam  kennen  lernt,  desto  klarer  wird  es  einem, 
in  wie  hohem  Grade  dieser  kühne  und  selbständige  Geist  von 
Duns  Scotus  beeinflusst  ist.  Das  ist  um  so  bemerkenswerter, 
als  an  einem  für  jene  Zeit  besonders  bedeutungsvollen  Punkt 
Occam  die  Fahne  des  Duns    verlassen  hat.     Duns  ist,  wie  wir 


^)  Ich  habe  diese  Zusammenhänge  im  II,  Bande  meiner  Dogmen- 
geschichte aulzudecken  und  etwas  eingehender  zu  behandeln  versucht. 

^)  Man  vergleiche  hier  was  ich  über  Hervaeus  Natalis  gesagt 
habe,  Realencyclop.  VII »,  772. 


Duns  Scotus  und  .Occam.  673 

erkannt  haben,  energischer  Vertreter  des  Kealismus,  Occam 
dagegen  hat  dem  Nominalismus  die  Herrschaft  erobert.  Er  hat 
die  spccies  intelligibilcs  geleugnet  und  die  Universalien  aus  der 
Art  des  Geistes  die  von  dem  Intellekt  erzeugten  Abbilder 
der  Dinge  allgemein  zu  denken  erklärt.  Aber  er  hat  dabei 
das  Empfinden  davon,  dass  diese  geistigen  Gebilde  nicht  rein 
willkürliche  Fiktionen  seien,  sondern  dass  ihnen  Objektives  ent- 
spreche, gehabt :  universale  non  est  figmentum  tale,  cui  nou 
correspondet  aliquid  consimile  in  esse  subiectivo  ^)  quäle  illud 
fingitur  in  esse  obiectivo  (Sentent.  II  quaest.  8  H).  Es  würde 
viel  zu  weit  führen,  wollten  wir  den  Zusammenhang  zu  Duns 
hier  im  einzelnen  aufdecken.  In  Kürze  sind  es  folgende  Punkte 
durch  die  Duns  für  Occam  vorbildlich  wurde.  Die  Genauig- 
keit der  psychologischen  Analyse,  speziell  in  der  Betrachtung 
des  Erkenntnisvorganges,  die  Hervorhebung  der  aktiven  Seite  in 
demselben,  die  stark  betonte  Erkenntnis,  dass  die  Natur  sich 
im  Individuum  vollende,  die  unerbittliche  Strenge  in  der  Durch- 
führung des  empiristischen  Grundsatzes,  dass  nur  Wirksames 
als  wirklich  bezeichnet  werden  kann.  Behält  man  dies  im  Sinn, 
so  ist  der  Weg  vom  scotistischen  Eealismus  zum  Nominalismus  doch 
nicht  bloss  als  ein  Sprung  in  das  entgegengesetzte  Extrem  zu  be- 
zeichnen. Aus  der  Beobachtung  des  Denkens  erschloss  Duns  die 
objektive  Wirklichkeit  des  Gedachten,  Occam  blieb  bei  der 
subjektiven  Realität  der  Begriffe  stehen,  denn  weiter  reicht  die 
Empirie  nicht,  aber  er  nahm  doch  auch  an,  dass  etwas  in  den 
Dingen  diesen  Begriffen  entspreche,  ohne  darum  aber  das  Be- 
griffsbild als  objektive  Realität  bezeichnen  zu  können.  Es  ist 
derselbe  nüchterne  —  von  theologischen  Voraussetzungen  un- 
beengte —  Empirismus  hier  und  dort. 

3.  Noch  deutlicher  ist  der  Zusammenhang,  wenn  man  auf 
die  Dogmatik  beider  Männer  hinsieht.  Aber  auch  hier  ist 
Occam  um  einen  Schritt  weitergegangen.  Duns  übte  Kritik 
und  paralysierte  die  Kritik  durch  die  Formel  des  Dogmas  und 
des  Kirchenrechtes.  Hierin  ist  ihm  Occam  Schritt  um  Schritt 
gefolgt.     Aber   bei   seiner  kritischen  Analyse  leitete  Duns  die 


^)    subiective   bezeichnete    das    gegenständliche ,    obiective    das    vor- 
^tellungsmässige  Sein. 

Seeberg,  Die  Theologie  des  Duns  Scotus.  43 


674  Kap.  Vll :  Die  geschichtliche  Stellung  des  Diins  Scotas, 

Absicht  einer  positiven  wissenschaftlichen  Reproduktion  der 
kirchlichen  Lehren.  Diese  Absicht  ist  bei  Occam  zurückge- 
treten. Seine  Kritik  ist  rein  negativ,  er  will  die  ünhaltbarkeit 
der  Lehren  aufzeigen  und  sie  rein  auf  den  Boden  des  kirchen- 
rechtlichen Positivismus  verpflanzen.  Den  anseimischen  Zug 
in  Duns  DciikAveise  hat  er  ausgeschaltet.  Dadurch  hat  er  die 
scotistische  Kritik  zur  Vernichtung  des  scholastischen  Lehr- 
sytems  gesteigert  und  hat  den  Positivismus  jedes  wissenschaft- 
lichen Zuges  entkleidet.  Hatte  schon  Duns  sehr  stark  die 
ausschliessliche  Autorität  der  Schrift  behauptet,  so  hat  ihn 
Occam  auch  darin  überboten,  freilich  nicht  ohne  Schrift  und 
Naturrecht  einander  zu  koordinieren.  Er  hat  die  päpstliche 
Infallibilität  auf  die  Schrift  übertragen  und  hat  dies  gestützt 
durch  eine  möglichst  kräftige  Inspirationstheorie.  Dadurch  hat 
er  den  rechtlich-biblischen  Positivismus  begründet,  der  durch 
Calvin  auch  in  dem  Protestantismus  Einzug  gehalten  hat,  im 
Gegensatz  zu  Luthers  religiöser  Begründung  der  Schriftautorität.  ^) 
Aber  auch  hierin  ist  er  nur  ein  Schüler  des  Duns  Scotus  ge- 
wesen, wie  nicht  erst  bewiesen  zu  w^erden  braucht. 

4.  Duns  hat  der  scholastischen  Theologie  die  Probleme 
und  Fragen  für  eine  Arbeit  von  zwei  Jahrhunderten  geboten ; 
aber  er  hat  mehr  gethan,  er  hat  die  Auflösung  der  Scholastik 
und  ihren  Übergang  in  andere  Formen  der  Theologie  ange- 
bahnt. In  welchem  Grade  seine  Gedanken  den  Schulbetrieb 
beherrschten,  kann  man  noch  am  Sentenzenkommentar  des 
sog.  „letzten  Scholastikers"  Gabriel  Biel  studieren.  Allerdings 
war  die  Theologie  der  Zeit  in  gewissem  Grade  eklektisch,  wie 
überhaupt  in  den  Zeitaltern  erlahmender  Kraft  die  Gräber 
aller  Propheten  geschmückt  werden.  Aber  die  Linie  der  Ent- 
wicklung geht  doch  durch  Occam  auf  Duns  Scotus  zurück. 
Thomisten  wie  Capreolus  oder  Dionysius  Carthusiauus  haben 
diese  Entwicklung  nicht  hemmen  können.  Erst  ganz  am  Ende 
der  Periode,  wo  der  Bankrott  der  Scholastik  in  aller  Munde 
war,  wo  die  Dialektik  zu  widrigen  Kunststücken  herabgewür- 
digt,   dem    Leben   der    Kirche    immer    femer    stand,    w^o    die 


1)  Vgl.  hiezu  m.  Dogmengesch.  II,  153  f.  155  f.  179.  181.  384  f.  285  ff. 
und  die  anregende  Untersuchung  von  F.  Kropatscheck,  Occam  und 
Luther  (Beiträge  zur  Förderung  christl.  Theol.  IV). 


Duns  und  die  Ausgänge  der  Scholastik.  675 

Skejjsis  und  Kritik  den  kirchlichen  Machthabern  immer  un- 
heimlicher wurde,  kommt  der  Thomismus,  die  „alte  Theologie" 
wieder  in  die  Höhe,  vertreten  durch  Männer  wie  Thomas  del 
Vio  und  Silvester  Ferrariensis.  Und  bei  dieser  Losung  ist 
man  ja  neuerdings  wieder  angelangt. 

Doch  kehren  wir  zu  dem  Ausgang  der  scotistischen  Theo- 
logie zurück.  Was  war  von  ihr  geblieben  ?  Geblieben  waren  der 
Kritizismus  und  sein  Gegengewicht  der  Positivismus ;  geblieben 
war  das  lebhafte  philosophische  Interesse  samt  der  dialektischen 
Routine,  geblieben  war  auch  eine  Anzahl  einzelner  Lehrformu- 
lierungen, dann  aber  der  Voluntarismus  in  seiner  Beziehung 
auf  Gott  und  den  Menschen,  endlich  aber  und  vor  allem  die 
pelagianisierenden  Theorien  von  der  Sünde  und  der  Gnade,  dem 
meritum  de  congruo  und  dem  Thun  dessen  quod  in  se  est.  — 
Aber  viel  war  auch  verschwunden,  oder  es  war  doch  nicht  mehr 
so,  wie  es  gewesen.  Die  tiefsten  Tendenzen  im  Denken  des  Duns 
Scotus  waren  nicht  entfaltet  worden ;  aber  einem  starken  Ein- 
druck von  der  eigenartigen  Grösse  des  Mannes  haben  sich  auch 
damals  an  der  Wende  des  Mittelalters  und  der  Neuzeit  manche 
Leser  nicht  entziehen  können.  Aber  das  Grosse  seiner  Ge- 
samtanschauung war  doch  nicht  mehr  eine  lebendige  Grösse ; 
so  etwa  der  Gesamtentwurf  des  Systems  von  dem  Gedanken 
des  prädestinierenden  weltregierenden  Liebeswillens  aus,  das 
geistige  Verständnis  der  Sünde,  die  Ansätze  zur  Umbildung 
des  Gnadenhabitus,  jenes  unklare  Streben  nach  Vergeistigung 
der  Religion,  oder  schliesslich  die  relativ  freie  Stellung  der 
Überlieferung  gegenüber,  die  innerlich  zu  reproduzieren  ist. 
Das  lebte  nicht  mehr,  man  verstand  es  im  Sinn  der  Inter- 
preten und  ihrer  Problemstellungen.  Man  wollte  etwas  ganz 
Neues  oder  ganz  Altes.  Die  Mystik  und  Augustin,  in  praktisch- 
theologischen Monographien  verarbeitet,  kommen  in  die  Höhe. 
Den  Geist  der  Scholastik  fand  man  nicht  mehr,  und  das 
Phlegma  ekelte  an. 

Niemand,  der  verstanden  hat,  wie  das  System  des  Duns 
sich  innerlich  aufreiben  musste  an  den  einander  widerstrebenden 
Grundtendenzen  seiner  Arbeit,  kann  es  wunder  nehmen,  dass 
es  lebte  und  doch  tot  war.  Was  sollten  diese  feinen  dialek- 
tischen Distinktionen    einem   Zeitalter,   das   leben   wollte   und 

43* 


676  Kap.  YII:  Die  geschichtliche  Stelhiog  des  Duns  Scotus, 

nicht  spekulieren  ?  Was  sollte  im  rcissenden  Strom  praktischer 
Gegensätze,  unter  dem  Krachen  der  Fugen  einer  Welt  eine 
Theologie  die  zu  allem  Nein  und  schliesslich  wieder  zu  allem 
Ja  sagte?  Die  Theologie  des  Duns  war  unter  den  Händen 
seiner  Schüler  zur  negativen  Theologie  geworden.  Was  man 
wieder  brauchte  war  eine  positive  Theologie,  eine  Theologie 
aus  der  Keligion.  Die  Geschichte  hatte  den  Mann  immer 
grösser  und  grösser  gemacht,  und  sie  hatte  ihn  klein  gemacht. 
Der  mächtigste  Träger  seines  Geistes,  Occam  war  schliesslich 
doch  nur  ein  scharfsinniger  Philosoph,  ein  politisierender  Mönch 
und  ein  Skeptiker,  Kritiker  und  Verehrer  der  fides  implicita, 
kein  Vertreter  positiv  kraftvoller  religiöser  Gedanken.  Von 
kleineren  Geistern,  die  byzantinische  Gelehrsamkeit  an  der 
Deutung  und  Verteidigung  alles  Kleinen  und  jeden  Details  ent- 
falteten, und  von  parteimässig  borniertem  Eigensinn  dabei  ge- 
leitet wurden,  kann  ganz  geschwiegen  werden. 

5.  Ist  das  das  Ende  der  geschichtlichen  Wirkungen  des 
Duns  Scotus?  Mau  kann  diese  Frage  bejahen,  denn  es  ist 
das  Ende  der  geschichtlichen  Entwicklungsreihe,  die  von  ihm 
ausgegangen  ist.  Aber  ist  damit,  dass  die  direkte  Wirkung 
einer  geschichtlichen  Erscheinung  aufhört,  ihr  „Ende"  be- 
zeichnet ?  Gewiss  die,  mit  denen  das  geschieht,  können  sich  an 
historischer  Grösse  nicht  messen  mit  den  ganz  Grossen  der 
Geschichte,  von  deren  Bäumen  die  wechselnden  Generationen 
des  Menschengeschlechtes  neue  Früchte  pflücken  —  man  denke 
an  Augustin  oder  Luther.  Aber  auch  in  der  Geschichte  gilt 
das  Gesetz  der  „Erhaltung  der  Kraft",  es  ist  eines  ihrer 
Grundgesetze.  Die  Kräfte  und  die  Werte  wirken  fort^  unend- 
lich oft  ungeformt^  in  neue  Formen  verkapselt,  geteilt  und 
reduziert,  zerstäubt  in  ihre  Atome,  entblösst  bis  auf  ihre  letzten 
Tendenzen,  von  der  Wirkung  zur  leisesten  Mitwirkung  herab- 
gesetzt, aus  dem  Positiven  in  das  Negative  oder  auch  umge- 
kehrt gewandelt  —  und  dennoch  auch  in  dieser  Unkenntlich- 
keit —  positiv  oder  auch  negativ  —  noch  immer  wirksame 
Kräfte.  Aber  auch  in  diesem  Prozess  gibt  es  eine  lange  Reihe 
von  Stufen.  Sieht  man  auf  die  scholastische  Theologie,  so  darf 
man  vielleicht  sagen,  dass  die  Wirkungen  des  Duns  Scotus  auf 
die  neue  Zeit  auf  einer  der  obersten  dieser  Stufen  stehen. 


Duns  Scotus  und  der  moderne  Katholizismus.  677 

An  Breite  und  Tiefe  der  geschichtlichen  Wirkungen  ist 
er  doch  Thomas  und  allen  scholastischen  Meistern  —  ausge- 
nommen etwa  Occam,  der  aher  sein  Schüler  war  —  üherlegen 
gewesen.  Wollte  man  dies  Urteil  dadurch  schlagen,  dass  man 
an  die  direkten  Wirkungen  erinnert,  die  Thomas  bis  zur  Stunde 
in  seiner  Kirche  ausübt,  so  hätte  man  zwar  den  Schein  für  sich. 
Aber  ist  es  wirklich  die  fromme  Aufklärung  im  Sinne  des 
Thomas,  die  heute  in  der  katholischen  Kirche  herrscht?  Übt 
nicht  die  eigentliche  Herrschaft  jener  gesetzliche  Positivismus 
des  Staates  der  Kirche,  der  anerkannt  werden  soll,  aber  mit 
dem  der  natürliche  Mensch  sich  durch  mancherlei  Künste  der 
Kasuistik  abfinden  kann?  Dieser  Positivismus  des  Jesuit is- 
mus  steht  aber  sowohl  hinsichtlich  seiner  Grundanschauung 
als  der  kasuistischen  Ethik  sicher  in  Zusammenhang  mit  der 
Gedankenwelt  des  Duns  Scotus  und  seiner  Nachfolger.  Das 
Gegebene  und  Positive  ist  das  Richtige,  man  muss  sich  ihm 
unterwerfen;  freilich  der  Glaube  schrumpft  dabei  noch  mehr 
zusammen  als  im  Mittelalter,  an  Stelle  des  Jasagens  genügt 
auch  das  Nicht-neinsagen.  Man  kann  sehr  liberal  sein  und  doch 
ganz  positiv  bleiben ;  man  kann  die  Sittengebote  der  Kirche 
konservieren  und  sie  doch  trefflich  den  „modernen"  Bedürf- 
nissen akkomodieren.  —  Das  ist  nicht  der  geschichtliche  Duns 
Scotus,  es  ist  nur  das  „Phegma"  seines  Geistes,  aber  ein  Stück 
seiner  Anschauungen  hat  sich  auch  hierin  erhalten,  zeitgemäss 
„umgebildet".  Für  das  Auge  des  Historikers  ist  es  doch  ein 
merkwürdiges  Schauspiel  I  Derselbe  Mann,  dessen  Kritik  der 
reformatorischen  Auflösung  der  mittelalterlichen  Lehre  vor- 
gearbeitet hat,  hat  auch  die  Waffen  geschmiedet,  die  dieser 
Auflösung  auf  weiten  Gebieten  Halt  geboten  haben.  Und  doch 
ist  das  Verhältnis  weniger  rätselhaft,  als  es  zunächst  scheint. 
Es  war  etwas  Modernes  in  dem  merkwürdigen  Mann.  Die 
grosse  Frage  der  Krisis  des  ausgehenden  Mittelalters,  wie  man 
als  moderner  Mensch  in  den  neuen  geistigen  und  Kulturver- 
hältnissen Christ  bleiben  könne,  haben  Luther  und  der  Jesui- 
tismus, beide  in  ihrer  Weise,  zu  lösen  versucht.  Und  beiden 
hat  bei  diesem  weltgeschichtlichen  Unternehmen  der  Mann 
etwas  zu  bieten  gehabt^  der  innerlich  der  Lehre  seiner  Kirche 
frei  gegenüberstand,  wie  kaum  ein  anderer  Lehrer  des  Mittel- 


678         Kap.   VII:  Die  geschichtliche  Stelhmg  des  Duns  Scotus. 

alters,  und  der  sie  doch  äusserlich  in  allem  konservieren  wollte 
bis  zum  „Tüttelchen"  herab. 

6.  Aber  die  „neue  Zeit"  ist  in  der  Geschichte  der  Theo- 
logie und  der  Kirche  durch  Martin  Luther  bezeichnet;  das 
gilt  nicht  nur  von  denen,  die  ihm  nachfolgten,  sondern  auch 
von  denen,  die  an  ihm  vorbeigingen  oder  ihn  befehdeten.  Gibt 
es  —  das  wird  die  Frage  sein  —  einen  historisch  wahrnehm- 
baren Zusammenhang  zwischen  Luther  und  Duns  Scotus? 
Diese  Frage  kann  mit  Sicherheit  bejaht  werden,  und  zwar  in 
fünffacher  Beziehung. 

Man  kann  den  Kampf  Luthers  gewissermassen  als  einen 
Kampf  wdder  Duns  Scotus  bezeichnen.  „Scotus,  ihr  für- 
nehmester  Lehrer  und  grösster  Sophist  schreibet,  dass  ein 
Mensch  aus  seinen  natürlichen  Kräften  und  freiem  Willen 
könne  Gott  und  seinem  Gesetze  genug  thun,  was  die  Substanz 
und  das  Wesen  des  Worts  an  ihm  selbs  belanget  ohne  des 
Heiligen  Geists  Gnade  ex  merito  congrui,  dadurch  er  geschickt 
wird,  dass  ihm  Gott  gewiss  gibt,  das  nicht  feihlen  kann,  Gnad 
und  kriegt  ihn  lieb;  da  folget  alsdann  nach  meritum  condigni, 
dass, es  verdienet  würdig  zu  sein.  Sagt  weiter:  dann  kann  einer, 
spricht  er,  lieben  das  wenigere  Gut,  vielmehr  kann  er  das 
grössere  lieben  als  Gott  ist"  (Luthers  Werke  Erl.  Ausg.  Bd.  60, 
262).  Die  „Hauptketzerei"  war  aber  für  Luther,  „die  man 
heisset  der  Pelagianer  vom  freien  Willen  und  Verdienst  der 
Werke,  welche  sich  hat  allezeit  neben  eingeflochten  und  an- 
geklebet,  wie  der  Kot  am  Rade"  (Erl.  Ausg.  ^  19,  184).  Das 
war  dieselbe  Klage,  die,  seit  Bradwardina  sie  erhoben  hatte, 
in  den  frommen  Kreisen  des  Mittelalters  nicht  verstummte, 
während  in  Theologie  und  Kirche  die  scotistisch-nominalistische 
Freiheitstheorie  zu  immer  kühnerem  Ausdruck  gelangte.  Und 
hierin  fühlte  auch  Luther  sich  seit  ziemlich  früher  Zeit  von 
den    grossen   Meistern    der    Scholastik    geschieden.  ^)      Gabriel 


^)  Luther  hat  allen  Scholastikern  den  pelagianischen  Irrtum  vor- 
geworfen ,  mit  alleiniger  Ausnahme  eines  Lehrers  seines  Ordens ,  des 
Gregor  von  Rimini  (9.  Weim.  Ausg.  II,  295.  303.  308.  394 f.  etc.),  der 
allerdings  die  augustinische  Sünden-  und  Gnadenlehre  verfochten  hat;  er 
war  wie  Luther  Gegner  des  Aristoteles,  ohne  Freund  des  Plato  zu  werden, 
denn  er  war  Nominalist.     Hierauf  wurde  verwiesen  Dogmengesch.  II,  225. 


Luther  wider  Duns  Scotus.  679 

Biel,  meinte  er  schon  früh,  sei  sonst  zwar  ganz  gut,  aher  über 
Gnade,  Liebe,  Hoffnung,  Glaube,  Tugend  wisse  er  nichts 
Rechtes  zu  sagen  (Briefe  ed.  de  Wette  I,  34).  Man  kann  es 
hieherziehen,  dass  er  auch  später  von  dem  Lombarden  an- 
erkennend redet,  aber  seine  Lehre  vom  Glauben  und  der 
Rechtfertigung  für  „zu  dünn  und  zu  schwach"  erklärt  (Erl. 
Ausg.  25.  258).  Gerade  hier  fand  er  die  verderblichsten  Ein- 
wirkungen des  Aristoteles.  ,,Hier  tritt  Frau  Hulda  hervor  mit 
der  Potznasen,  die  Natur,  und  darf  ihrem  Gott  widerbellen  und 
ihn  Lügen  strafen,  hängt  um  sich  einen  alten  Treudelmarkt, 
den  Strohharnisch,  das  natürlich  Licht,  die  Vernunft,  den 
freien  Willen,  die  natürlichen  Kräfte,  darnach  die 
heidnischen  Bücher  und  Menschenlehre,  Gebot  und  scharret 
daher  mit  ihrer  Geigen  und  spricht:  dass  vor  der  Recht- 
fertigung sind  auch  gute  Werke  und  sind  nicht  Kains 
Werke,  wie  Gott  sagt,  und  sind  so  gut,  dass  die  Person 
dadurch  rechtfertig  werde.  Denn  also  hat  Aristo- 
teles gelehret,  wer  viel  Gutes  thut,  der  wird  dadurch  gut. 
Darauf  haftet  sie  fest  und  also  kehret  sie  die  Schrift  um; 
meinet,  Gott  soll  die  Werke  zuvor  ansehen  und  darnach  die 
Person.  Solche  teuflische  Lehre  regiret  jetzt  in  allen  hohen 
Schulen,  Stiften  und  Klöstern^'  (Erl.  7,  239).  Dies  Urteil 
wendet  sich,  wie  die  gesperrten  Stellen  zeigen,  gegen  die 
herrschende  Sünden-  und  Gnadenlehre,  für  die  Aristoteles  ver- 
antwortlich gemacht  wird.  Dem  gegenüber  hat  dann  Luther 
mit  voller  Wucht  das  servum  arbitrium  behauptet  und  die 
augustinische  Sündenlehre  erneuert.  Aber  freilich,  er  hat  sie 
erweitert:  .Und  ist  also  kurz  und  dürre  in  dies  Wort  Sünde 


172,  Jüngst  hat  Stange  eine  Anzahl  interessanter  Fragen  hinsichtHch 
dieses  Verhältnisses  von  Luther  und  Grregor  aufgeworfen  (Neue  kirchl, 
Zeitschrift  1900,  S.  574  ff.).  Es  kann  hier  nicht  darauf  eingegangen  werden. 
Ich  bemerke  nur,  dass  man  bei  Luther  pelagianisierende  Ideen  auch  in 
seinen  Anfängen  nicht  nachweisen  kann.  Lehrreich  hiefür  sind  die  Rand- 
bemerkungen zum  zweiten  Buch  der  Sentenzen,  die  zeigen,  dass  Luther 
anfangs  formal  von  der  spätscholastischen  Sündenlehre  abhing,  ohne  doch 
material  ihr  zuzufallen  (Weim,  IX,  71,  73.  74 f,).  Zu  einer  anseimischen 
Stelle  (non  idem  est  arbitrium  et  libertas)  setzte  er  an  den  Rand:  contra 
modernos  (ib.  111).  Wir  verstehen  jetzt  den  Sinn  dieser  Bemerkung  des 
Mannes,  der  sich  selbst  zu  den  „Modernen"  von  damals  rechnete. 


f)80         Kap.  YII :  Die  geschichtliche  Stellung  des  Duns  Scotus. 

beschlossen  was  man  lehrt  und  thut  ohn  und  ausser 
dem  Glauben  an  Christum"  (Erl.  12,111).  Der  Zustand 
des  Menschen  ohne  Gott,  d.  h.  ohne  Glauben,  war  Luther  die 
Sünde.  —  Hier  hat  die  scotistischo  Lehre  also  negativ  auf 
Luther  eingewirkt,  wenngleich  man  auch  der  Frage  nachdenken 
kann,  ob  und  inwiefern  die  Kritik  der  Vorzeit  an  Augustins 
Lehre  zur  Vertiefung  der  Sündenlehre  mit  beigetragen  haben  mag. 

7.  Zum  anderen  ist  aber  auch  ein  positiver  Zusammenhang 
zwischen  Luther  und  der  späteren  Scholastik  zu  konstatieren. 
Derselbe  ist  zunächst  formaler  Art.  Luther  war  durchgebildeter 
scholastischer  Theologe.  Nicht  nur  an  der  Schrift  ..de  servo 
arbitrio'^  lässt  sich  das  zeigen,  wie  es  neuerdings  —  freilich 
nicht  eindringend  genug  —  versucht  worden  ist,  sondern  auch 
an  der  technischen  Konstruktion  vieler  seiner  theologischen 
Begriffe.  Luther  hat  seine  Theologie  aus  der  Schrift  geschöpft. 
Aber  das  schliesst  den  bezeichneten  geschichtlichen  Zusammen- 
hang nicht  aus.  Man  kann  ihn  an  so  wichtigen  Lehrstücken 
wie  der  Versöhnung,  der  Rechtfertigung  und  der  Sakraments- 
lehre aufzeigen.  ^)  In  der  Abendmahlslehre  ist  Luther  aus- 
gegangen von  Anregungen  Occams  und  d'Ailli's  und  er  ist 
immer  tiefer  in  Gedankenzusammenhänge  gekommen,  die  zuerst 
Duns  hergestellt  hatte.  Man  darf  derartige  Urteile  nicht  auf 
die  Spitze  treiben ;  weder  ist  direkte  litterarische  Abhängigkeit 
zu  konstatieren,  noch  sind  die  Tendenzen  identisch,  aber  in  der 
Wahl  der  Mittel  und  der  Anlage  der  Gedanken  ist  doch  ein 
Zusammenhang  nicht  zu  verkennen. 

Aber  wie  war  es  nur  möglich,  dass  der  scholastisch  wohl- 
gebildete Mann  sich  von  den  Lehren  des  Mittelalters,  trotz 
allem,  so  leicht  löste?  Das  führt  uns  zum  dritten.  Es  ist  die 
kühne  Kritik  der  theologischen  und  kirchlichen  Überlieferung, 
die  Duns  Scotus  eingeführt  hat.  Man  könnte  dem  gegenüber 
auf  die  kritische  Stimmung  des  Humanismus  verweisen,  aber 
Luther  war  kein  Humanist  und  er  hat  dem  erfahrungslosen 
E-äsonnement  vieler  Humanisten  gegenüber  seine  eigenen  Ge- 
danken gehabt  —  und  hing  jene  humanistische  Kritik  nicht 
selbst   mit    den    theologischen    Zuständen    zusammen?     Wenn 


^)  S.  die  Nachweise  in  m.  Dogmengesch.  II,  248.  256  f.  268. 


Positive  Beziehungen  zwischen  Luther  und  Duns.  681 

man  erwägt,  wie  viele  Lehren  seit  Duns'  Kritik  leere  Schemen 
geworden  waren  —  die  eingegossene  Gnade,  der  sakramentale 
Charakter,  die  Transsubstantiation,  manclie  Züge  des  Buss- 
sakramentes — ,  und  wie  gewaltig  diese  kritische  Stimmung 
angewachsen  war  —  viele  Geister  und  mancherlei  Hände  haben 
wie  immer  in  der  Geschichte  dazu  mitgearbeitet:  dann  wird 
man  auch  hierin  die  geschichtliche  Bedeutung  des  Duns  Scotus 
anzuerkennen  bereit  sein.  Allerdings  auch  diese  Kritik  war 
unfähig  zu  bauen,  wie  man  an  Occam  sehen  kann.  In  dem 
Dialog  der  Ideen  der  AVeltgeschichte  ist  mächtig  allein  das  Ja 
der  positiven  Überzeugung,  aber  es  bedarf  doch  immer  auch 
des  Nein  der  Kritik.  So  ist  auch  Luther  der  Reformator  der 
Kirche  durch  den  positiven  Inhalt  seiner  Glaubenserfahrung 
geworden,  aber  das  darf  uns  nicht  ungerecht  machen  in  der 
geschichtlichen  Schätzung  jenes  „vorreformatorischen^^  Nein,  zu 
dem  Duns  den  Anstoss  gab,  mag  der  Ton  in  den  wechselnden 
Bedürfnissen  und  Strömungen  der  Zeit  noch  so  oft  neu  ge- 
stimmt worden  sein. 

8.  Ein  vierter  Punkt  bezieht  sich  auf  die  Bestimmung  der 
Theologie  als  positiver  Wissenschaft.  Luther  hat  mit  dem 
kirchenrechtlichen  Positivismus  der  Scholastik  gebrochen.  Aber 
er  hat  die  Einsicht,  die  wir  soeben  aussprachen,  nicht  auf- 
gegeben. Freilich  er  ist  auch  nicht  einfach  eingebogen  in  die 
Pfade  der  kirchenrechtlichen  Schätzung  der  heil.  Schrift.  Seine 
Auffassung  der  Schrift  ist  nun  einmal  verschieden  von  der  des 
Duns  Scotus  oder  Occams.  Der  Glaube  ergreift  Christum  und 
in  Christo  in  lebendiger  Erfahrung  die  Offenbarung  Gottes  in 
der  Schrift.  „Weyss  ich  aber  was  ich  glewb,  sso  weyss  ich 
was  ynn  der  schrifft  stehet,  weil  die  schrifft  hat  nit  mehr 
denn  Christum  und  Christlichen  glawben  ynn  sich'^ 
(Weimarer  Ausg.  8,  236).  Nicht  das  „Naturrecht'S  auch  nicht 
das  ,, göttliche  Recht'^  war  ihm  der  Inhalt  der  Schrift,  sondern 
sie  bot  ihm  die  positive  Offenbarung  Gottes  in  Christo,  deren 
Kraft  und  Wirklichkeit  der  Mensch  erfährt  und  empfindet  in 
der  Person  Jesu  Christi.  Wir  stehen  vor  dem  Grössten,  was 
die  Kirche  und  die  Theologie  Luther  verdanken.  Auch  für 
ihn  war  die  Religion  das  Erleben  eines  von  Gott  gegebenen 
besonderen    geistigen   Inhaltes.     Aber   dieser   Inhalt  war   eine 


682         Kap.  VII:  Die  pfeschichtliche  Stellung  des  Duns  Scotus. 

geistige  PersoD,  persönlicher  Wille,  Liebe  und  Kraft.  ^)  Hie- 
mit  Avar  aber  der  urchristb'che  Glaubensbegriff  notwendig  resti- 
tuiert; die  Annahme  dessen,  was  diese  Person  uns  ist  und 
gibt,  das  war  für  Luther  der  Glaube.  Diese  Empfindung  der 
Herrschaft  Christi  war  gewiss  auch  nur  als  in  Vorgängen  der 
praktischen  Vernunft  sich  verwirklichend  vorstellig  zu  machen. 
Aber  wie  gross  ist  doch  hier  die  Differenz  Luthers  von  Duns. 
Bei  Duns  war  der  Glaube  die  Aneignung  einer  Summe  von 
praktischen  Vorstellungen,  die  uns  dazu  anleiten  Gott  zu  lieben. 
Bei  Luther  ist  er  das  persönliche  Erlebnis  der  gnädigen  Gegen- 
wart und  der  wirksamen  Kraft  des  persönlichen  Gottes.  Man 
sieht  leicht,  wie  von  hieraus  auch  die  Begriffe  der  Gnade, 
sowie  der  sittlichen  Liebe  und  der  guten  Werke  eine  Wand- 
lung erfahren  müssen.  Aber  nicht  hierum  handelt  es  sich  uns. 
Wir  wollten  nur  zeigen,  wie  Luther  einerseits  den  Anregungen 
des  Duns  hinsichtlich  der  Selbständigkeit  der  Eeligion  und  der 
Freiheit  der  Theologie  als  positiver  Wissenschaft  gefolgt  ist  — 
es  war  eben  ein  besonderer  Bereich,  in  dem  er  die  Theologie 
zu  denken  gewohnt  war  — ,  und  wie  er  andererseits  gerade 
hier  die  völlig  neuen  Bahnen  einschlug,  die  ihm  seine  Er- 
kenntnis Christi  und  sein  Glaube  erschlossen. 

Aus  dieser  inneren  Stellung  wird  sich  die  tiefe  Abneigung 
begreifen,  die  Luther  gegen  ,, menschliche  platonische  und  philo- 
sophische Gedanken'^  über  Christus  hegte.  ,,Er  will  uns  nicht 
zerstreuen  in  die  Kreaturen,  die  durch  ihn  geschaffen  sind, 
dass  wir  ihm  da  nachlaufen,  suchen  und  spekulieren  sollen,  w^ie 
die  Platonici  thun,  sondern  er  will  uns  aus  denselben  w-eit- 
läufigen  spazierflüchtigen  Gedanken  sammeln  in  Christum'^ 
(Erl.  10,  181.  188).  Hier  dürfte  aber  auch  ein  Punkt  vorliegen, 
der  die  heftige  Abneigung  Luthers  gerade  wider  Thomas 
von  Aquino  erklärt.  Er  fühlte,  dass  der  Aristoteliker  Thomas 
Fremdartiges  in  die  Theologie  eingeführt  habe,  und  je  mehr 
Thomas  damals  wieder  in  Blüte  kam,  desto  tiefer  ward  sein  Un- 
wille wider  ihn.  Thomas  multa  haeretica  scripsit  et  autor  est 
nunc  regnantis  Aristotelis  vastatoris  piae  doctrinae  (Weim.  8,  127). 
Thomas  war  ihm  „der  Brunn  und  Gruudsuppe  aller  Ketzerei^ 


^)  S.  Dogmengesch.  II,  237. 


Luther,  Thomas  und  Dans.  683 

Irrthumb  und  Yertilgimg  des  Evangelii,  wio  seine  Bücher  be- 
weisen'^ (Erl.  24,  240);  charakteristisch  heisst  es  von  ihm  ,,deni 
mau  die  Taube  ins  Ohr  malet;  ja  ich  meine,  es  sei  ein  junger 
Teufel  gewesen'^  (Erl.  15,  459). 

So  viel  ist  also  klar,  dass  Luthers  Theologie  durchaus 
positive  Wissenschaft,  weil  die  Wissenschaft  vom  Glauben,  war. 
Auch  hier  führte  aber  eine  Verbindungslinie  zurück  zu  den 
Ideen  des  Duns  Scotus. 

9.  Noch  ein  fünfter  Punkt  muss  hier  erwähnt  werden. 
Es  ist  der  Gottesbegriff.  Die  heute  häufige  Wiedergabe  von 
Luthers  Gottesgedanke,  Gott  sei  die  Liebe,  ist  ohne  nähere 
Erläuterung  höchst  missverständlich,  zumal  wenn  man  aus  dieser 
Formel  einen  Gegensatz  zu  dem  Gedanken  des  Mittelalters  — 
oder  auch  Calvins  —  ableitet.  Der  Satz:  deum  omnia  in  Omni- 
bus operari  ist  doch  nicht  nur  eine  vorübergehende  Idee  in 
„de  servo  arbitrio"  gewesen.  Vielmehr  hat  dieser  Gedanke  in 
der  praktischen  Form,  dass  Gott  der  allwirksame  Herr  sei, 
Luthers  Weltanschauung  je  und  je  bestimmt,  nicht  anders  als 
etwa  seine  Epigonen  Butzer  und  Calvin.  Wir  lernten  oben 
den  einen  Grund  von  Luthers  Hass  gegen  Aristoteles  kennen, 
es  war  die  Freiheit  des  sündigen  Willens.  Nicht  minder  wichtig 
ist  aber  der  andere  Grund.  Es  ist  der  unlebendige  Gottes- 
begriff. Davon  sagt  Luther:  „Und  der  Oberste  sitzet  über 
dem  Himmel  und  siebet  garnichts  was  irgend  geschiehet, 
sondern,  wie  man  das  blinde  Glück  malet,  rüttelt  er  den 
Himmel  herum  ewiglich  alle  Tage  einmal ;  da  kommt  denn  ein 
jeglich  Ding  wie  es  kommt.  Und  ist  seine  Ursache:  sollte  er 
alle  Dinge  sehen,  würde  er  viel  Böses  und  Unrechtes  sehen, 
davon  würde  er  unlustig.  Dass  er  nun  seine  Lust  behalte, 
soll  er  nichts  sehen  denn  sich  selbst  und  also  die  Welt 
blintzlich  regieren,  gleichwie  die  Frau  das  Kind  wieget 
in  der  Nacht"  (Erl.  10,  320  f.). 

Das  ist  der  Gegensatz,  wider  den  sich  Luthers  positiver 
Gedanke  von  Gott  wendet.  Der  Gott,  den  er  empfand,  ist  die 
allmächtige  Liebesenergie,  die  allem  Sein  und  Werden  gegen- 
w^ärtig  ist  (Erl.  30,  58).  „Alle  Kreaturen  sind  Gottes  Larven 
und  Mummereien,  die  er  will  lassen  mit  ihm  wirken  und  helfen 
a,llerlei  schaffen,   das   er   doch   sonst   ohne  ihr  Mitwirken  thuu 


684         Kap.  VII:  Die  geschichtliche  Stellung  des  Duns  Scotus. 

kann  nnd  auch  thut,  auf  dass  wir  bloss  an  seinem  Wort  allein 
hangen"  (Erl.  11,  110).  Damit  soll  ja  die  Aktivität  der  Kreatur 
nicht  ausgeschlossen  werden,  aber  doch  soll  Gottes  Wille  es 
sein,  der  alles  in  allen  wirkt.  „Die  Mittel  sind  Gottes  Larven 
und  Mummerei,  darinnen  er  läuft  auf  Erden.  Er  will  mir  helfen 
in  allen  Diogen,  an  Leib  und  Seel  und  dass  ich  allein  auf  sein 
Wort  vertraue,  dennoch  will  er  auch,  dass  ich  das  Meine  dazu 
thuu  soll,  Ross,  Spiess,  Schwert  und  Wagen  haben  .... 
Unter  dieser  Rüstung  und  Kriegswehren,  da  will  Gott  bei  dir 
sein  und  sich  darunter  verbergen,  dass  andere  Leute  gedenken 
möchten,  du  würdest  es  ausrichten  mit  deiner  Kriegsrüstung 
und  eigener  Macht,  so  es  doch  Gott  allein  thut.  Also  thut 
Gott  auch  mit  den  anderen  Dingen ;  er  heisst  uns  beten, 
arbeiten  etc.,  welches  alles  nur  ein  lauter  Spiegelfechten  ist" 
(Erl.  35,  251.  252). 

Der  Gott  Luthers  ist  Gewalt,  Macht,  AVille,  That.  In 
allem  gegenwärtig,  wirkt  er  alles  als  der  Herr  und  Regent  der 
Welt.  Es  ist  nun  unfragHch,  dass  dieser  Gottesbegriff  zurück- 
greift auf  die  Auffassung,  die  Duns  mit  besonderer  Deutlichkeit 
vorgetragen  hat.  Durch  die  Vermittlung  Luthers  ist  eine  der 
wertvollsten  Ideen  der  mittelalterlichen  Theologie  auf  die  Neu- 
zeit übergegangen.  Aber  es  darf  doch  auch  nicht  verkannt 
werden,  dass  die  religiöse  Genialität  Luthers  diesen  Gedanken 
vertieft  hat.  Seine  Gotteserkenntnis  erwächst  aus  der  Erkennt- 
nis Christi.  Dadurch  gewinnt  die  dem  Duns  Scotus  geläufige 
Formel,  dass  Gott  Liebe  sei,  einen  tieferen  und  streng  persön- 
lichen Gehalt.  In  Christo  wird  die  allmächtige  Gottesliebe  als 
persönlicher  barmherziger  Wille  empfunden  und  angeschaut. 
Es  ergibt  sich  die  Einsicht  „göttliche  Natur  ist  nichts 
anders  denn  eitel  Wohlthätigkeit"  (Erl.  7,  159.  68. 
72  ff.).  Der  metaphysischen  Erwägung  der  Weltursache  hat 
Luther  nicht  bedurft,  die  geistige  Einwirkung  der  Person  Christi, 
wie  sie  Glauben  wirkt,  erschloss  ihm  die  Tiefen  der  Gottheit. 
Wie  nun  aber  die  Erkenntnis  Christi  und  seiner  Wirkungen 
von  Luther  immer  wieder  in  die  Formeln  „Herr"  und  „Herr- 
schaft" gefasst  ist  ^),  so  wird  das  Wesen  Gottes  oder  des  ewigen 


^)  S.  Dogmengescli.  II,  263. 


Luthers  CTottesbegriff  im  Verhältnis  zu  Duns.  685 

Liebeswillens  das  Merkmal  der  Herrschaft  und  Alleinwirksam- 
keit nie  entbehren.  Alles  Gute  und  alle  Frömmigkeit  wird  uns 
dadurch  zu  Teil  „das  goth  das  sein  in  uns  habe  und  er  allein 
in  uns  sey,  lebe  und  regire.  Dis  solt  man  am  höchsten  und 
ersten  begeren"  (Weim.  2,  98).  —  So  kann  auch  hier  der  Zu- 
sammenhang von  Luthers  Gedankenbildung  mit  der  Arbeit 
voriger  Jahrhunderte  beobachtet  werden.  Die  Ideen  der 
Schrift  „vom  unfreien  Willen"  sind  doch  nicht  nur  zufällige 
Reminiscenzen,  sondern  sie  reichen  bis  in  das  Innerste  von 
Luthers  Religion  hinein. 

Wenn  nun  Luther  trotz  dieser  Gedanken  das  Verhältnis 
von  Gotteswillen  und  Menschenwillen  nicht  eigentlich  als 
quälendes  Problem  empfunden  hat,  wenn  er  die  Gnade  und 
das  Wort,  unbehindert  durch  prädestinatianische  Voraussetz- 
ungen, wirksam  werden  Hess,  so  versteht  sich  das  einmal  aus 
dem  lebhaft  persönlichen  Empfinden  von  dem  Wirken  Gottes 
in  dem  Gläubigen,  dann  aber  daraus,  dass  er  die  scotistische 
Idee  von  der  Willkür  des  menschlichen  Willens  nicht  vertreten 
hat.  Er  hat  den  Willensprimat  theoretisch  nicht  gelehrt, 
sondern  meint:  „wo  die  Vernunft  hingehet,  da  folget 
der  Wille  hinnach;  wo  der  Wille  hingehet,  da  folget  die 
Liebe  und  Lust  hinnach"  (Erl.  10,  207).  Die  Spannung 
zwischen  jenen  Begriffen  wurde  gemindert,  indem  die  starre  Ein- 
seitigkeit der  scotistischen  Auffassung  des  menschlichen  Willens 
aufgegeben  wurde. 

10.  Damit  w^äre  auch  die  letzte  Frage,  die  der  geschicht- 
liche Zusammenhang  uns  stellt,  erledigt.  Es  griffe  über  den 
dogmengeschichtlichen  Rahmen  hinaus,  wollten  war  etwa  der 
Frage  nachdenken,  ob  und  iüwiefern  Duns  auf  die  Philo- 
sophie der  Folgezeit  —  etwa  Leibniz  —  eingewirkt  hat.  Es 
ist  genug,  wenn  wir  erkannt  haben,  wie  die  geistige  Arbeit  des 
grossen  Scholastikers  eine  feste  Stellung  einnimmt  in  dem  Ge- 
füge der  geistigen  Entwicklung  der  Menschheit  und  der  christ- 
lichen Theologie.  Auch  hier  ist  die  Kraft  erhalten  worden, 
nicht  ohne  jene  Wandlungen  zu  erfahren,  welche  die  Geschichte 
an  allen  ihren  Gebilden  ausübt. 

11.  Möge  es  dieser  Darstellung  beschieden  sein  ein  wenig 
zur    Aufhellung    der   Geschichte  der  Gedanken    des    späteren 


686         Kap.   Vll:  Die  ß^cschichtliclie  Stellung  des  Duns  Scotus. 

Mittelalters  beizutragen.  Zum  Schluss  seien  einige  Aussprüche 
zusammengestellt,  welche  zeigen,  wie  auch  in  der  neuen  Zeit 
die  Forscher  von  der  geistigen  Arbeit  des  Duns  Scotus  einen 
grossen  und  imponierenden  Eindruck  empfangen  haben.  Eras- 
raus  schreibt:  Scotus  et  huius  similes  ad  rerum  cognitionem 
utiles  sunt,  ad  dicendum  iuutiles  ^).  Das  ist  der  Humanist, 
wie  er  leibt  und  lebt!  Dann  aber:  Malim  cum  Chrysostomo 
pius  esse  theologus  quam  cum  Scoto  esse  invictus  ^).  —  Luther 
gibt  seinen  Eindruck  von  der  geschichtlichen  Stellung  des 
„fürnehmsten  Lehrers  und  grössten  Sophisten"  (oben  S.  678) 
wieder  in  den  Worten :  Surrexit  Scotus  unus  homoet 
omnium  scholarum  et  doctorum  opiuiones  im- 
pugnavit  et  praevaluit^).  —  Und  in  unserem  Jahr- 
hundert urteilt  Haureau,  der  Historiker  der  scholastischen 
Philosophie:  „Nous  rendons,  pour  notre  part,  le  plus  sincere 
hommage  au  puissant  genie  du  Docteur  Subtil ;  nous  recon- 
naissons  que  parmi  les  philosophes  de  son  ecole,  il  occupe 
sinon  le  premier,  du  moins  un  des  premiers  sieges.  Non  seule- 
ment  il  congoit  promptement,  resolüment,  mais,  ce  qui  est  le 
don  particulier  des  nobles  esprits  il  congoit  sans  iuquietude, 
comme  assure  par  avance  que  toute  idee  nouvelle,  toute  Solution 
d'un  Probleme  nouveau  a  sa  place  determinee  dans  un  ensemble 
que  rien  ne  peut  venir  troubler.  Et  quel  ingenieux  artisan 
des  syllogismes!  Parmi  les  plus  fameux  dialecticiens,  en  est- 
il  un  seul  qui  procede  avec  plus  de  methode,  pour  enserrer 
l'auditeur  en  des  liens  mieux  tisses?  Oui,  nous  nous  in clinons 
avec  le  plus  profond  respect  devant  cet  eminent  philosophe; 
mais  nous  ne  pouvons  nous  declarer  pour  sa  philosophie"  *) 
Aber  auch  der  Kritiker  der  Scholastik  und  grimme  Gegner  des 
Realismus,  Prantl  meint:  „Es  ist  leicht  gesagt,  Duns  Scotus 
sei  der  abstruseste  aller  Scholastiker,  während  doch  ein  ge- 
naueres (allerdings  mühevolles)  Studium  seiner  Schriften  ihn 
uns  als  einen  scharfsinnigen  Denker  zeigt,  welcher  das  damals 
zugängliche  Material  vollständig  kannte  und  zugleich  mit 
distinktivem    Verstände    durchdrang.      Anziehende    Reize    als 


^)  Erasmi  Opera,  Lugdun,  Bat.  1704,  V,  857. 

2)  ib.  137. 

')  Weimar.  Ausg-.  II,  403. 

*)  Haureau,  Hist.  de  la  philo'sopbie  scolast.  II  2,  259. 


Urteile  über  Diins  Scotus,  687 

Schriftsteller  besitzt  er  wahrlich  nicht  ....  Aber  hinter 
dieser  struppigen  Form  steckt  ein  Denken,  welches,  soweit  dies 
im  Mittelalter  überhaupt  müglich  war,  wenigstens  weiss  was  es 
will,  und  auf  Grundlage  der  damaligen  allgemeinen  Anschau- 
ungen die  Begriffe  durchmisst,  und  dies  ist,  im  Vergleich  mit 
der  Borniertheit  eines  Albert  und  eines  Thomas,  jedenfalls  für 
den  Leser  wohlthuend"  ^).  —  Um  endlich  noch  einen  Theo- 
logen zum  "Wort  kommen  zu  lassen,  sei  das  Urteil  von  A. 
Ritschi  erwähnt.  Sein  Biograph  berichtet  davon  nach  einem 
Brief:  „Mit  besonderem  Vergnügen,  sagt  er,  habe  er  über  die 
Sache  (fides  implicita),  den  Duns  gelesen.  Er  wünschte,  dass 
diejenigen,  die  „unter  uns  in  Dogmatik  machen,  sich  einmal 
in  dem  Dr.  subtilis  spiegeln  wollten.  Wenn  derselbe  nicht  in 
Ketten  von  Syllogismen  procediert,  so  ist  er  lichtvoll,  wie  nur 
irgend  einer  .  .  .  Ich  möchte  wohl  wissen,  ob  noch  ein  evan- 
gelischer Theolog  ausser  mir  den  Duns  zu  den  Sentenzen  im 
Zimmer  stehen  hat"  -).  Dies  Urteil  ist  um  so  interessanter, 
als  der  Beurteiler  und  der  Beurteilte  in  ihrer  geistigen  Eigen- 
art einer  gewissen  Wahlverwandtschaft  nicht  entbehrt  haben. 
Noch  manches  billige  und  unbilhge  Urteil  könnte  man 
anführen.  Indessen  wird  das  Gesagte  genügen,  um  —  falls  es 
dessen  noch  bedürfte  —  den  Aufwand  an  Zeit  und  Kraft,  die 
der  Verfasser  an  diese  Untersuchungen  gewandt  hat,  und  den 
er  auch  seinen  Lesern  zumuten  musste,  zu  rechtfertigen. 


^)  Prantl,  Gesch.  der  Logik  III,  202. 

2)  0.  Ritschl,  A.  Ritschls  Leben  II,  483. 


Inhalt. 


Einleitung. 


Seite 


Die   Aufgabe,    Leben   und   Schriften   des    Johannes 

Duns  Scotus l 

•  1.  Bedeutung  der  Aufgabe,  neuere  Bearbeitungen,  Methode  der 
Darstellung  S.  1 — 7.  —  2.  Die  wissenschaftlichen  Tendenzen  der  Fran- 
ziskaner S.  7  f.  Robert  Crrosseteste  und  die  Oxforder  Theo- 
logie S.  8.  Zusammenhang  mit  Anselm  S.  8 — 11.  Grossetestes 
Realismus  S.  11 — 13.     Grrossetestes  theologische  Lehren  S.  14 — 16.  — 

3.  Richard  von  Middleton  als  Vorläufer  des  Duns  Scotus 
S.  16-33.  Theologie,  Schrift,  Glaube,  Willensprimat  S.  16—18. 
Gottes  Wesen  S.  18.  Die  Prädestination  S.  19.  Justitia  originalis, 
Freiheit  des  Willens  S.  19  f.  Die  Erbsünde  S.  20.  Synderesis  S.  20  f. 
Christologie,  Mariologie  S.  21  f.  Erlösung  und  Satisfaktion  S.  22  f. 
Wirkliche  und  scheinbare  Glieder  der  Kirche  S.  23 f.  Gnade  S.  24. 
Sakramente  S.  24  f.  Rechtfertigung  S.  26  f.  Ablass  S.  2f?.  Ethische 
Fragen  S.  27  f.  Anschauung  von  den  Universalien  S.  29  fi".  Ver- 
gieichung  von  Richard  und  Duns  S.  31 — 33.  Die  Oxford  er  Theo- 
logie S.  33.   —   4.   Sichere  Daten  aus  dem  Leben  des  Duns  Scotus 

5.  34 — 36.  Die  Chronologie  seines  Lebens  S.  36 — 38.  Geburts- 
orts. 38—42.  Lebensgang  S.  42— 46.  Tod  und  Todes art  S.  46— 50. 
—  5.  Charakteristik  der  wissenschaftlichen  und  persönlichen  Eigen- 
art des  Duns  Scotus  S.  50 — 57.     Bilder   des   Duns  Scotus  S.  57.  — 

6,  Die  Schriften  des  Duns  Scotus  S.  57 — 63.  Zweifelhafte  Schriften 
S.  63—67. 

Erstes  Kapitel. 

Philosophische   und    theologische   Prinzipienfragen     68 

I.   Die  philosophischen  Hauptlehren 68 

1.    Die  Universalien  und  die  Individuation    .     .      68 

1,   Realität  der  Universalien  S.  68 — 71.  —  2.   Singularität,  Kom- 
munität,  Universalität   S.  71  f.    —    3.    Die   Individuation   S.  72  f.    — 

4.  Häcceität  und  Individualität  S.  73 f. 


Inhalt.  689 

Seite 
2.   DieEinheitder  Materie 74 

1.  Das  Sein  der  Materie  S.  74  f.  —  2.  Die  Materie  Potenz 
schlechthiniger  Abhängigkeit  von  Grott  S.  75  f.  —  3.  Materia  primt) 
prima,  secundo  prima,  teri;io  prima  S,  76.  —  4,  Einheit  der  ersten 
Materie  S.  76 f.;  —  5.  sie  besteht  an  sich  S.  77 f.  —  6.  Die  Materie 
der  Grund  schlechthiniger  Determinabilität  der  Welt  durch  Gott 
S.  78 f.;  Einheit  der  Materie  und  Wert  des  Individuums  S.  79. 

3.    Die  scotistische  Psychologie 80 

1.  Geistigkeit  und  Einheit  der  Seele  S.  80  f.  —  2.  Die  Seele 
die  Form  des  Menschen  S.  81  f.  —  3.  Kreatianismus  S.  82  f.  — 
4.  Die  Kräfte  der  Seele  von  der  Seelenessenz  nicht  real  unter- 
schieden S.  84  f.     Denken  und  Wollen  real  unterschieden  S.  85  f. 

4.    DerWillensprimat 86 

1.  Geistige  Art  des  Willens  S.  86.  Kontingenz  S.  87.  —  2.  Die 
W  i  1 1  e  n  s  f  r  e  i  h  e  i  t  S.  87.  Gottfried  und  Heinrich  S.  88.  Der  Wille 
alleinige  Ursache  der  Volitionen  S.  89.  —  3.  Der  Primat  des  Willens 
vor  dem  Intellekt  S.  89  fT.  —  4.  Der  Zusammenhang  zwischen  Wollen 
und  Denken  S.  91—94.  —  5.    Schwierigkeiten  S.  94—96. 

5.    DieEr kenntnislehre 96 

1.  Aktivität  im  Erkenntnisakt  S.  96  f.  —  2.  Sensation  und  In- 
tellektion S.  97.    —   3.    Der  Vorgang  des  Erkennens  S.  97—100.  — 

4.  Species  sensibilis  et  intelligibilis  S.  100 — 102.  —  5.  Die  Erkenntnis 
richtet  sich  auf  das  Einzelne  und  Besondere  S.  102  f.  Die  Erfahrung 
und   das  Denken   S.  103.     Gewissheit  S.  103  f.     Gedächtnis  S.  104  f. 

—  6.    Die  Selbsterkenntnis  der  Seele  und  ihrer  Habitus  S.  105 — 108. 

—  7.  Der  Empirismus  und  Subjektivismus  der  scotistischen  Erkennt- 
nislehre  S.  108  f.  —  8.  Die  Erkenntnistheorie  in  ihrer  Anwendung 
auf  die  Erkenntnis  Gottes  S.  109—113. 

II.  Die  theologischen  Erkenntnisprinzipien    .    .    .    113 

1.     Die   Offenbarung    in    der    heiligen    Schrift    und    die 

Lehre   derKirc he 113 

1.    Theologie  und  Offenbarung,  praktischer  Zweck  der  letzteren 

5.  113  ff.  —  2.  Die  Wahrheit  der  Schrift  S.  115  f.  Die  Inspiration 
S.  116.  Beweis  der  Glaubwürdigkeit  der  Schrift  S.  116  ff.  Die  Schrift 
die  suffiziente  Lehre  von  Gottes  Weltregierung  S.  118.  —  3.  Die 
Schrift  die  alleinige  Lehrautorität  S.  118  f.  —  4.  Schrift,  Symbol, 
Tradition  S.  119.  Schrift  und  Kirche  entscheiden  über  die  Lehre 
.S.  120.  Der  Glaube  an  die  Schrift  ruht  auf  dem  Glauben  an  die 
Kirche  S.  121.  —  5.    Der  kirchliche  Positivismus  S.  122  f. 

Seeberg,  Die  Theologie  des  Duns  Scotus.  44 


690  Inhalt. 

Seite 
2.    Die  Aufgabe  der  Theologie 123 

1.  Gottes  Offenbarung  Gegenstand  der  Theologie  S.  123  f. 
Die  Theologie  ist  nicht  Metaphysik  S.  125.  —  2.  Die  Theologie  oder 
das  religiöse  Erkennen  ist  praktische  Erkenntnis  S.  125 — 127.  — 
3.  Die  Theologie  als  "Wissenschaft  S.  127  f.  —  4.  Der  praktische 
Charakter  des  religiösen  Erkennens  und  der  kirchliche  Positivismus 
S.  128  f. 

3.   Der  Glaube 129 

1.  Eides  acquisita  und  lides  infusa  S.  129  f.  —  2.  Ob  der  ein- 
gegossene Glaube  die  Überzeugung  von  Gottes  Wahrhaftigkeit  ist? 
S.  130  f.  —  3.  Ob  die  Art  der  Glaubensobjekte  den  eingegossenen 
Glauben  erfordert?  S.  132 — 135.  —  4.  Der  eingegossene  Glaube  ist 
propter  auctoritatem  anzunehmen  S.  135;  es  ist  die  Neigung  und 
Richtung  zur  Erkenntnis  Gottes  S.  136  f.  —  5.  Der  Wille  und  der 
Glaube  S.  137  f.  —  6.  Die  fides  implicita  S.  138-140.  —  7.  Be- 
urteilung des  scotistischen  Glaubensbegriffes  S.  140 — 142. 


Zw  eites  Kapitel. 

Der  Gottesbegriff.     Die  Lehre   von    dem  Menschen 

und  der  Sünde 143 

I.   Der  Gottesbegriflf 143 

1.    Der  Beweis  für  das  Dasein  Gottes.     .     .     ,     143 

1.  Der  Gottesbegriff  nicht  an  sich  notwendig,  der  Nachweis 
eines  schlechthin  Ersten  S.  143  f.  —  2.  Das  erste  Glied  des  Beweises : 
es  gibt  ein  schlechthin  erstes  Verursachendes  S.  145.  Unmöglichkeit 
eines  regressus  in  infinitum  sow^ohl  für  die  essentielle  als  die  empi- 
rische Ursachenreihe  S.  145 — 148.  Das  erste  Verursachende  ist 
inkausabel  und  informabel  S,  148,  es  ist  wirklich  S.  149.  —  3.  Das 
zweite  Glied  des  Beweises :  es  gibt  einen  absoluten  Zweck  S.  149  f.  — 

4.  Drittes  Glied   des   Beweises:    es   gibt   ein   schlechthin   Eminentes 

5.  150.  —  5.  Diese  drei  Primitäten  sind  eine  QuidditätS.  150,  — 

6.  und  schlechthin  identisch  S.  150  f.  —  7.    Beurteilung  S.  151  f. 

2.   Das  Wesen  Gottes 152 

1.  Gott  denkt  und  will,  die  Freiheit  des  göttlichen  Willens 
wird  bewiesen  aus  der  Kontingenz  in  der  Welt  S.  152 — 155.  — 
2.  Die  erste  Ursache  wirkt  kontingent  S.  155 f.  —  3.  Die  Freiheit 
der  ELreatur  und  Gottes  Wille  S.  156 f.  Der  freie  Wille  will, 
wozu  Gott  ihn  bestimmt  S.  157  f.,  die  Freiheit  bezieht  sich  auf  den 
Naturzusammenhang  S.  159.  —  Gottes  Präscienz  und  die  mensch- 
liche Freiheit  S.  159  f.  Determinismus  und  absolute  Freiheit  des 
Willens  bei  Duns   S.  160.   —   4.    Gottes  Freiheit  bethätigt  sich  in 


Inhalt.  691 

Seite 
einer   Volition   S.  161,   Beziehung  zur  Welt  S.  162.     Dieser  Wille 
grundlos  S.  162.     Gottes  Wille  als  positiver  Grund  alles  Wirklichen 

5.  163.    —    5.    Die   potentia   absoluta   und   ordinata  S.  163 — 165.   — ^ 

6.  Der   denkende   und  -wollende  Gott   ist   unendlich   S.  165 f.    — 

7.  Die  Einheit  Gottes  S.  167,  Zusammenhang  der  scotistischen 
Gotteslehre  S.  167f.  —  8.  Gott  ist  actus  purus  S.  168f.  —  9.  Gott 
ist  die  Liebe  S.  169.  Gottes  Liebe  zur  Kreatur  ist  abgestuft  je 
nach  der  Nähe  zum  göttlichen  Zweck  S.  170  f.  Gottes  Liebe  sein 
Grundverhältnis  zur  Welt  S.  172.  —  10.  Gottes  Gerechtigkeit 
S.  172  f.  lustitia  commutativa  et  distributiva,  nur  letztere  einfach 
auf  Gott  übertragbar  S.  173  f.  Gottes  liberalitas  S.  174.  Gottes  Ge- 
rechtigkeit ist  seine  Treue  gegen  sich  selbst  und  die  dieser  ent- 
sprechende Handlungsweise  S.  175,  der  Begriff  nicht  privatrechtlieh 
zu  verstehen  S.  175.  —  11.  Gottes  Barmherzigkeit  ist  kein 
Affekt,  sondern  der  Wille  Gottes,  dass  die  Menschen  nicht  Übel 
treffen  S.  176.  Gerechtigkeit  und  Barmherzigkeit  S.  176.  — 
12.  Gottes  Liebe  als  rechte  Liebe,  Gottes  Liberalität,  Gottes 
dominatio  und  die  subiectio  der  Kreatur  S.  177  f.  Der  Gottesbegriff 
des  Duns  ist  nicht  als  absolute  Willkür  zu  charakterisieren  S.  178  f. 

3.    Die  göttlichen  Eigenschaften      ....     179 

1.   Die  Einfachheit  S.  179.  —  2.   Der  Vielheit  der  Eigenschaften 
entspricht  Keales  in  Gott,   gegen  Thomas   und  Heinrich  S.  180  f.  — 

3.  Die  formale  Differenz  der  Eigenschaften  unter  einander  S.  181.  — 

4.  Der  Realismus  in  dieser  Lehre  S.  181  f. 

4.   Die  Lehre  von  derTrinität 182 

1.    Ableitung  aus  dem  göttlichen  Denken  und  Wollen  S.  182  f. 
Ob  in  Gott  productio   möglich?   productio   ad  intra  S.  183—185.  — 

3.  Der  Sohn  durch  einen  Denkakt  erzeugt,  der  Wille  ist  complacens 

5.  185.  Wodurch  der  Vater  zeugt?  gegen  Thomas  und  Heinrich 
S.  185  f.     Die  Produktivität  in  Gott   ist  etwas  Absolutes  S.  186  f.  — 

4.  Produktion  des  Geistes  durch  den  Willen  S.  187.  Wie  der  Wille 
zur  Mitteilung  von  Natur  diene?  S.  187 f.  Ob  und  wie  der  Wüle 
notwendig  produziere?  gegen  Heinrich  S.  188 f.  Doch  auch  freies 
Wollen  S.  189.  —  5.  Logisch  geht  die  intellektive  der  voluntativen 
Produktion  voran  S.  189.  Ob  der  Geist  nur  vom  Vater  oder  auch 
vom  Sohn  ausgehe?  S.  190.  Im  Gegensatz  zu  Thomas  kann  eine 
logische  Notwendigkeit  hier  nicht  erwiesen  werden  S.  190  f.  Die 
kirchenrechtliche  Feststellung  entscheidet,  Vater  und  Sohn  sind  in 
vi  spirativa  eins  S.  191,  ihre  concordia  (Richard  v.  St.  Viktor)  S.  192. 
Ewige  Zeugung  S.  192.  —  6.  Verhältnis  der  Essenz  zu  den 
Hypostasen.  Natur  und  Subjekt,  das  Subjekt  durch  eine  doppelte 
Inkommunikabilität  charakterisiert  S.  193.  —  7.    Ob  die  Hypostasen 

44* 


692  Inhalt. 

Seite 
primae  oder  secundae  intentiones  sind  ?  S.  193  f.  Definition  des  Richard 
V.  8t.  Viktor,  doppelte  Inkommunikabilität  der  Hypostasen;  dazu 
kommt  das  Merkmal  der  Intcllektualität  S.  194.  Da  die  doppelte 
Negation  der  Inkommunikabilität  auf  Position  beruht,  sind  die  Hypo- 
stasen intentiones  primae  S.  195.  Ein  positiver  Begriif  nicht  zu  finden 
S.  195.  —  8.  Die  eine  Essenz  und  die  drei  Personen  S.  195  f.  Die  Per- 
sonalität und  die  Essenz  sind  etwas  Verschiedenes  S.  196 f.  —  9.  Gene- 
ration in  Gott,  die  göttliche  Essenz  ist  actus  infinitus,  dann  kann  die 
Essenz  nicht  wie  eine  Materie  gedacht  werden,  gegen  Heinrich  und 
Gottfried  S.  197  f.  Der  Essenz  und  der  Hypostase  ist  die  Infinität  ge- 
meinsam, formale  Differenzen  sind  dadurch  nicht  ausgeschlossen  S.  199. 
—  10.  Die  personalen  Relationen  unterscheiden  die  Personen  real, 
ohne  die  Essenz  zu  spalten  S.  199  f.  Das  personale  Leben  der  gött- 
lichen Essenz  der  Realgrund  der  trinitarischen  Relationen  S.  200  f.  — 
11.  Die  Seinsart  der  trinitarischen  Hypostasen  nach  üblicher  Auf- 
fassung Relationen  der  Setzung  und  des  Gesetzten  S.  201  f.  Duns 
fordert  das  Sein  der  Hypostasen  als  Voraussetzung  der  Relationen, 
das  absolute  Sein  der  Hj^postasen  hindert  ihre  Kommunikabilität 
nicht  S.  202 — 204.  Nach  Bonaventura  werden  die  Hypostasen  als 
durch  die  Kausalitätsrelation  verbundene  Substanzen  gedacht,  sie 
sind  also  absolut  und  auch  Relationen  S.  204 — 209.  —  12.  Gründe 
gegen  diese  wie  die  übliche  Auffassung  ohne  eine  deutliche  Ent- 
scheidung S.  206  f.  —  13.  Duns  verschärft  das  trinitarische  Problem, 
indem  die  Substanz  personal  und  die  Personen  substanziell  gedacht 
werden  S.  207  f.  —  14,  Das  Ineinandersein  der  trinitarischen  Hypo- 
stasen S.  209 f.  —  15.  Bedeutung  der  Trinitäts-  und  Gotteslehre  des 
Duns  S.  210  f. 

II.   Die  Schöpfung  der  Welt 211 

1.    Der  Begriff  des  Schaffens 211 

1.  Productio  extrinseca ,  der  dreieinige  Gott  der  Schöpfer 
S.  211.  Ob  Gott  von  Ewigkeit  her  schaffe?  S.  212.  Creatio  und 
conservatio  drücken  die  dependentia  essentialis  der  "Welt  von  Gott 
aus  S.  212.  Die  Abhängigkeit  begründet  aus  der  materia  prima 
S.  218.  —  2.  Die  Engel  und  ihr  Fall,  der  Teufel  S.  214  f. 

2.    Der  Mensch 215 

Synderesis  und  conscientia  S.  215  f. 

III.   Die  Sünde 216 

1,    Die  Entstehung  der  Sünde 216 

1.  Der  Wille  als  frei  der  Sünde  fähig  S.  217.  —  2.  Die  Gnade 
des  donum  superadditum  S.  217  f. 


Inhalt.  693 

Seite 
2.    Die  Erbsünde 218 

1.  Die  Konkupiscenz  als  Datüi-lich  konstituiert  nicht  die  Erb- 
sünde, diese  ist  carentia  iustitiae  originalis ;  die  Sünde  im  Willen,  nicht 
im  Fleisch  S.  218  f.  —  2.  Jene  iustitia  ist  debita,  dadurch  unterfallt 
die  Menschheit  der  Sünde  Adams  S.  219.  Keine  Erbsünde,  sondern 
eine  gewisse  Erbschuld  bei  Duns  S.  220  f. 

B.    DieaktualenSünden 221 

1.  Die  Sünde  besteht  in  einzelnen  freiwilligen  Akten  S.  221  f.  — 
2.  Die  Sünde  eine  aversio  S.  222  f.  —  3.  Die  Sünde  keine  corruptio, 
sondern  eine  privatio  und  Verwundung  S.  223.  —  4.  Die  Sündhaftig- 
keit Diskordanz  mit  dem  Gesetz  S.  224.  Duns  und  Pelagius  S.  224  f. 
—  5.  Die  Sünde  und  der  absolute  Gottes  wille  S.  225.  Die 
üblichen  Lösungen  ungenügend  S.  226  f.  Das  Formale  und  Materiale 
in  einer  Todsünde,  Lösung  aus  der  Kooperanz  Gottes;  sie  setzt  aus, 
wenn  der  Wille  Böses  will  S.  227  f.  Die  von  Gott  verhängte  Karenz 
der  Gerechtigkeit  unsere  Schuld  S.  229.  —  6.  Schwierigkeiten  im 
Verhältnis  zu  Allwissenheit  und  Allmacht  S.  229  f.  Der  geistige 
Charakter  der  Sünde  bei  Duns  S.  231. 

4.    DieEinteilungder  Sünden 232 

1.  Todsünden  und  veniale  Sünden  S.  232.  —  2.  Die  Sünde 
wider  den  Geist  S.  233.  —  3.   Zur  Beurteilung  S.  233. 


Drittes  Kapitel. 

Die  Person  Christi  und  die  Erlösung  ...   235 

I.  Jesus  Christus  der  Gottmensch 235 

1.    Der  Begriff  der  Unio  und  der  Menschwerdung  .     235 

1.  Unio  zwischen  der  Logosperson  und  der  Menschennatur 
S.  235,  ein  Abhängigkeitsverhältnis  S.  236.  —  2.  Ob  die  menschliche 
Natur  dieses  Verhältnisses  fähig?  gegen  Heinrich  und  Varro  S.  235f. 
Ausgang  von  den  Begriffen  Personalität  und  Individualität,  die  Per- 
sonalität positiv  oder  negativ  bestimmt  S.  236  f.  —  3.  Der  Begriff 
der  Abhängigkeit  S.  237.  Die  Negation  der  aptitudinalen  Abhängig- 
keit vom  Logos  charakterisiert  eine  geschaffene  Person.  Die  reale 
Abhängigkeit  möglich,  die  menschliche  Natur  Christi  also  fähig  durch 
Personierung  vom  Logos  abhängig  zu  werden  S,  237  f.  Gegen  die 
negative  Fassung  der  Personalität  S.  238.  —  4.  Dies  Abhängigkeits- 
verhältnis nicht  durch  ein  neues  Absolutes  S.  239.  —  5.  Beziehungen 
zu  Abälards  Christologie,  Duns  empfindet  die  menschliche  !Natur  als 
persönliche  S.  240—242.  —  6.  Die  Formel  ,.deus  est  factus  homo*^ 
S.  242  f. 


694  Inhalt. 

Seite 
2.    Das  Resultat  der  Unio  oder  der  Gottmensch     .     243 

1,  Das  Verhältnis  der  Abhängigkeit  der  menschlichen  Natur 
vom  Logos  S.  243  f.  —  2.  Nach  der  Inkarnation  ein  doppeltes  esse 
essentiae,  ein  esse  subsistentiae  S.  244.  Ob  ein  kreatürliches  esse 
actualis  existentiae  in  Christo?  Gegen  Heinrich  und  Thomas  wird 
die  Frage  bejaht  S.  245. 

3.   Spezielle  Probleme  derChristologie,  besonders  hin- 
sichtlich des  wahren  menschlichen  Lebens  Jesu   .     246 

1.  Der  Logos  nahm  unmittelbar  die  ganze  menschliche  Natur 
an,  gegen  Varro  und  Bonaventura  S.  246f.  —  2.  Ob  Maria  in  der 
Erbsünde  empfangen  ?  Ihre  Bewahrung  von  der  Erbsünde  als  möglich 
empfohlen  S.  247 ff.  —  3.  Der  Titel  „Gottesmutter",  bei  der  Zeugung 
ist  auch  die  Mutter  aktiv  S.  249 ;  so  Maria,  der  heil.  Geist  als  Vater 
S.  250  f.  —  4.  Die  Prädestination  des  Menschen  Jesus  S.  251.  Not- 
wendigkeit der  Menschwerdung  auch  ohne  Sünde  S.  252.  —  5.  Eine 
oder  zwei  filiationes  in  Christo?  Zeitliche  und  ewige  Sohnschaft 
S.  252f.  —  6.  Die  Anbetung  Christi,  hyperdulia  seiner  Mensch- 
heit gegenüber  S.  253f.  —  7.  Christus  Gottes  Adoptivsohn  nach 
seiner  Menschheit  S.  254.  —  8.  Kreatürlichkeit  kann  nur  be- 
züglich der  menschlichen  Natur  von  Christo  ausgesagt  werden  S.  255. 
Unsündlichkeit  Jesu  S.  255 f.  —  9.  Die  Gnade  wird  Christo 
in  höchstem  Mass  zu  Teil,  Christi  Wille  hatte  den  höchsten  Genuss 
S.  256 f.  —  10.  Die  Erkenntnis  Christi  ist  summa  visio  durch 
den  Logos  S.  257 f.;  ob  Jesu  Seele  alles  erkenne  was  der  Logos  er- 
kennt? Gegen  Thomas,  der  die  Erage  verneint  S.  258  f.  Die  Seele 
Christi  erkenne  habituell  und  potenziell  alle  Dinge,  nicht  aber  das 
einzelne  Konkrete  S.  259 — 261.  —  11.  Habituelle  Erkenntnis  aller 
Universalien  durch  die  Anschauung  des  Logos  sowie  durch  species 
infusae  S.  261.  Die  intuitive  Erkenntnis  des  Einzelnen  und  Kontin- 
genten erworben  durch  Anschauung  des  Wirklichen,  daher  wirklicher 
Fortschritt  dieser  Erkenntnis  S.  262.  —  12.  Rückblick  auf  die 
Erkenntnis  Christi ,  die  menschliche  Art  derselben  S.  263  f.  — 
13.  Schmerz  und  Traurigkeit  in  Christi  Seele,  gegen  Heinrich 
S.  264 f.;  die  Begriffe  als  Abneigung  und  Nichtwollen  bestimmt 
S.  265  f.  Christi  Schmerz  und  Traurigkeit,  der  geistige  Charakter 
von  Christi  Leiden  S.  266 f.  —  14.  Christus  war  sterblich  durch 
das  wunderbare  Fehlen  der  leiblichen  Glorie  S.  267  f.  —  15.  Christus 
im  Tri  du  um  nicht  Mensch  S.  268f.  —  16.  Christi  Willen  doppelt 
S.  270.  Christi  menschlicher  Wille  frei  wie  jeder  Menschenwille 
S.  269f.  —  17.  Ob  Christus  verdiente?  Der  Begriff  des  meritum 
S.  270.  Christus  hat  durch  freies  Handeln  für  uns  verdient,  von  der 
Empfängnis  an  S.  271  f.  —  18.  Zusammenfassung  der  scotistischen 
Christologie,   Fortbildung:    starke   Betonung    der   Wirklichkeit   der 


Inhalt.  695 

Seite 
Menschheit  Jesu,   die  Unio  nur  die  Abhängigkeitsrelation,   personale 
Züge  im  Menschenbild  Jesu  S.  272—275. 

II.    Das  Werk  Christi 275 

1.    Christi  Verdienst 275 

1.  Die  Behandlung  des  Werkes  Christi  in  der  mittelalterlichen 
Dograatik  S.  275.  —  2.  Christi  Verdienst  war  als  menschlich  endlich, 
gegen  Thomas  S.  276  fil".  —  3.  Christi  Verdienst  wirksam  für  die  Er- 
wählten; genügend,  weil  von  Gott  acceptiert  S.  278  f.  Christus  ver- 
diente uns  die  erste  Gnade  S.  280.  —  4.  Die  Prädestination  logisch 
dem  AVerk  Christi  übergeordnet  S.  280  f. 

2.    Die  Satisfaktionslehre 281 

1.  Keproduktion  von  Anselms  Theorie  S.  280 ff".  —  2.  Kritik 
Anselms  S.  283 — 286.  —  3.  Christi  Leiden  zur  Belehrung  und  Be- 
kehrung geschehen  S.  286  f.  Um  des  Gehorsams  Christi  willen  ver- 
gibt Gott  die  Sünde  und  gibt  die  Gnade  S.  287.  Anselm  umgedeutet 
S.  288.  —  4.  Zwei  Gedankenreihen,  ob  ein  Zusammenhang  zwischen 
beiden?  S.  288 f.  Nicht  Subordination,  sondern  Koordination  beider 
S.  289  f.  Vergleich  der  Schrift  de  perfectione  statuum  S.  290  f.  — 
5.  Fortschritt  über  Thomas  S.  291  f.  —  6.  Zusammenhang  mit  der 
Christologie  S.  292  f. 

III.  Der  Erfolg  des  Werkes  Christi  oder  die  Lehre  von  der  Gnade    293 

1.   Die  Prädestination 293 

1.  Gnade  und  Sakramente  S.  293.  —  2.  Die  Prädestination. 
Ein  Prädestinierter  kann  nicht  verdammt  werden,  hätte  aber  an  sich 
auch  nicht  prädestiniert  werden  können  S.  294  ff.  —  3.  Bekämpfung 
der  Begründung  der  Prädestination  auf  die  Präscienz  der  Verdienste 
(Heinrich)  S.  296  f.  Die  Prädestination  grundlos,  die  Reprobation 
wegen  des  peccatum  finale  praevisum  S.  297  f.,  und  zwar  weiss  Gott 
das  Nichteintreten  seiner  Kooperanz  voraus  S.  298  f.  —  4.  Der  gött- 
liche Machtwille  der  Grund  der  Prädestination  S.  299  f. 

2.   Der  Begriff  der  Gnade 300 

1.  Gratia  creata  und  Caritas  sachlich  identisch,  formell  unter- 
schieden. Die  Gnade  macht  die  Handlung  verdienstlich  S.  300  f.  Gnade 
und  Wille  koordiniert  bezüglich  der  Kausalität  eines  Aktes  S.  302.  — 
2.  Nach  Heinrich  erzeugt  der  habitus  infusus  die  Handlung,  nach 
Gottfried  verleiht  er  der  Handlung  Intensität,  beides  widerlegt 
S.  303  f.  Thomas  und  der  meisten  Auffassung,  die  Gnade  sei  Teilursache, 
ist  acceptabel,  aber  der  Wille  ist  leitend  für  die  Handlung  S.  304. 
Einwendungen  gegen  die  übliche  Anschauung  S.  304  f.  —  3.  Die 
aktive  Kausalität  der  Gnade   für  die  Handlung  wird  ausgeschaltet, 


696  Inhalt. 

Seite 
die    Gnade    bewirkt    eine    gewisse   Neigung    zur  Handlung   S.  305  f. 
Diese    wie    die    vorige    Auffassung    werden    anerkannt    S.   3(X3f.    — 

4.  Bedarf  es   der  Annahme   des   (Tnadenhabitus?     Gründe   dagegen 

5.  307,  der  Geist  könnte  direkt  auf  den  Willen  einwirken  S.  308,  — 
5.  Der  Habitus  wird  als  notwendig  erwiesen  aus  dem  Vorgang  der 
Justifikation  S.  308  f.  und  aus  der  Verdienstlichkeit  des  Handelns, 
ohne  Habitus  käme  man  zum  error  Pelagii  S.  309  f.  —  6.  Die  habi- 
tuelle Acceptabilität  unserer  sittlichen  Handlungen  verlangt  den 
Habitus  der  Gnade,  und  zwar  sofern  dieser  inclinans  ad  deterrainatos 
actus  ist  S.  310f.  —  7.  Nach  Seite  der  Sittlichkeit  einer  Handlung 
ist  der  Wille,  nach  Seiten  der  Verdienstlichkeit  der  Habitus  die 
Hauptursache  S.  311 — 314.  —  8.  Der  Habitus  stellt  eine  dauernde 
Beziehung  zu  Gott  her  S.  314  f.  —  9.  Gegen  Gottfrieds  Meinung, 
dass  die  neueingegossene  Liebe  die  frühere  aufhebe  S.  315,  eine 
quantitative  Steigerung  ist  anzunehmen  S.  316.  —  10.  Rückblick  und 
kritische  Bemerkungen  S.  316 — 318.  Duns  gibt  nicht,  die  übliche 
katholische  Gnadenlehre  wieder,  gegen  Ritschi  S.  318  f.  —  11.  Ist 
diese  Gnadenlehre  augustinisch  oder  pelagianisch?  Nicht  Pelagianer, 
Sublimierung  der  augustinischen  Gnadenlehre  S.  319  f.  Die  protes- 
tantische Kritik  der  scotistischen  Gnadenlehre  S.  321. 

3.   Dießechtfertigung 321 

1.  Frühere  Bemerkungen,  Hauptort  das  Busssakrament  S.  321  f. 
Die  attritio  als  meritum  de  congruo  S.  322.  —  2.  Thomas  S.  323. 
Duns  unterscheidet  Sündenvergebung  und  Gnadeneingiessung  S.  323, 
nur  letztere  eine  reale  Änderung,  Sündenvergebung  nur  ein  transitus, 
nicht  einmal  dispositio  realis  auf  die  Eingiessung  S.  323 — 326.  — 
3.  Der  Begriff  Priorität  S.  326.  Die  Sündenvergebung  hat  zeitlich 
die  Priorität  vor  der  Eingiessung,  sachlich  diese  vor  jener,  kein 
kausaler  Zusammenhang  zwischen  beiden  S.  326 — 328.  —  4.  Vergleich 
mit  Grossetestes  Recht fertigungslehre  S.  329.  Richard 
von  Middleton  über  Vergebung  und  Eingiessung  S.  330 f.  Zu- 
sammenhang zu  Duns  Sündenlehre  S.  331  f.  Zur  Geschichte  der 
scotistischen  Rechtfertigungslehre  S.  332  Anm.  —  5.  Zusammenfassung 
der  Gnadenlehre,  Hauptpunkte  S.  333  f.  —  6.  Die  Gnadenlehre  und 
das  Werk  Christi,   „verbo  et  sacramento"  S.  334 — 336. 

Viertes  Kapitel. 

Die  Lehre  von  den  Sakramenten  ....  337 

I,   Die  allgemeine  Sakraineutslehre 337 

1.    Der  Begriff  Sakrament 337 

1.  Christi  Werk  und  die  Sakramente  S.  337  f.  —  2.  Gnade  und 
Sakrament,  Kreaturen  können  nicht  schaffen,  gegen  Heinrich,  Thomas, 


Inhalt.  697 

Seite 
Agidius  S,  337  f.  —  3.  Creare  instrumentaliter  et  principaliter,  weder 
dies  noch  jenes  der  Kreatur  möglich  S.  338 — 342.  Der  Priester  stellt 
nur  die  Disposition  für  Gottes  Wirken  her  S.  842.  —  4.  Definibilität 
des  Sakramentes  S.  342  ff.  —  5.  Relative  Notwendigkeit  der  Sakra- 
mente, Vergleich  mit  anderen  Heligionen  S.  344  f.  —  6.  Die  Sakra- 
mente Symbole,  Form  und  Inhalt  S.  345.  Verschiedene  Meinungen 
S.  345  f.  Duns  Kritik  S.  346—348.  —  7.  Die  Sakramente  sind  Sym- 
bole,  Gott  begleitet   sie   durch   ein   schöpferisches  Thun  S.  348  f.  — 

8.  Duns   über   Form  und   Materie  des   Sakramentes   S.  349 f.  — 

9.  Die  Intention  des  Priesters  S.  350 f. 

2.    Der  sakramentale  Charakter 351 

1.  Die  kirchliche  Ansicht  S.  351  f.  Der  Begriff  ist  unnütz 
S.  352  f.,  der  Charakter  unmöglich  indelebilis  S.  353  f.  —  2.  Ein  Satz 
Innocenz  III.  beweist  den  Charakter  S.  354.  —  3.  Der  Charakter  als 
angemessen  erwiesen  S.  355,  Versuch  einer  Selbstwiderlegung  S.  355 f. 
Der  Charakter  eine  forma  absoluta  S.  356.  —  4.  Der  Charakter  im 
Willen,  gegen  Thomas  S.  356  f.  —  5.  Rückblick  S.  357.  Die  sym- 
bolische Auffassung  der  Sakramente  und  der  sublimierte  Gnadenbegriff' 
zu  verbinden  S.  358. 

II.   Die  einzelnen  Sakramente 358 

1.   Die  Taufe 358 

1.  Form  und  Materie  S.  358  ff.  —  2.  Die  Kindertaufe,  der 
Glaube  der  Kinder,  ob  ein  Kind  im  Mutterleib  getauft  werden  kann? 
S.  360.    —    3.    Taufe    von  Wahnsinnigen   und  Heuchlern   S.  361.   — 

4.  Ob   die  Taufe   allen  das   gleiche  Gnadenmass  bringt?  S.  361  f.  — 

5.  Zusammenhang  mit  der  Gesamtanschauung  S.  363.  —  6.  Gewalt- 
same Taufe  von  Juden  S.  363  f.  —  7.  Ob  Geld  für  die  Taufe  zu 
zahlen?  S.  364 f.  —  8.   Unwiederholbarkeit  der  Taufe  S.  365. 

2.    Die  Konfirmation 365 

3.    DasAbendmahl 366 

1.  Abendmahl  und  Messe;  nicht  nur  in  usu  S.  366,  —  2.  Ob 
auch  gesäuertes  Brot  zulässig?  S.  366 f.  —  3.  Die  Konsekration 
S.  367.  —  4.  Ob  die  Existenz  von  Christi  Leib  im  Abendmahl  mög- 
lich ist?  Der  Glaube  erfordert  die  Bejahung  S.  368.  —  5.  AVie  der 
Leib  im  Himmel  und  auf  dem  Altar  sein  kann?  Der  Leib  rückt  in 
eine  bestimmte  Beziehung  zum  Brot  und  bleibt  im  Himmel  S,  369  f. 

—  6.  Ob  der  Leib  Christi  quantitativ  zu  denken  ist  ?  gegen  Agidius, 
Varro,  Heinrich  S.  370.  Der  Leib  quantitativ,  ohne  im  Einzelnen 
in  Raumbeziehungen  zu  den  Dingen  zu  treten  S.  371.     Resultat  S.  372. 

—  7.  Kann  der  Leib  an  vielen  Orten  zugleich  gegenwärtig  sein? 
Es  ist  eine  Vervielfältigung  der  Beziehungen  des  Körpers  S.  372  f.  — 


698  Inlialt. 

Seite 

8,  Der  Leib  im  Himmel  modo  naturali,  im  Abendmahl  modo  aacra- 
mentali,  daher  ohne  Seele  und  Blut.  Die  Teile  und  Eigenschaften 
des    himmlischen    Leibes    auch    in    dem    sakramentalen    S.    373  f.    — 

9.  Operationen  des  himmlischen  und  sakramentalen  Christus  S.  374  f. 

—  10.  Ob  im  eucharistischen  Leib  ein  motus  corporalis  sein  kann? 
S.  375 f.  —  11.  Ob  der  eucharistische  Leib  etwas  bewegen  kann? 
S.  376  f.  —  12.  Über  das  Sehen  des  Leibes  Christi  S.  377  f.  — 
13.  Rückblick :  der  wirkliche  Leib  Christi  nimmt  eine  neue  Beziehung, 
die  zur  Hostie  an  S.  378.  —  14.  Die  Transsubstantiation.  der 
Begriff.  Die  Transsubstantiation:  ob  das  Brot  bleibt,  ob  es  anni- 
hiliert wird,  ob  nur  die  Accidenzien  bleiben?  S.  379.  Vorliebe  für 
die  erste  oder  Konsubstautiationstheorie  S.380.  —  15.  Thomas  Polemik 
wider  sie  S.  380.  Duns  Widerlegung,  schliesslich  aber  aufgegeben 
S.  381.  —  16.  Unterscheidung  der  produktiven  und  adduktiven 
Transsubstantiation;  letztere  besteht  darin,  dass  der  Leib  mit  dem 
Brot  ist  S.  381 — 383.  —  17,  Ob  diese  Lehre  die  Transsubstantiation 
erhält  ?    Konsubstantiation  und  adduktive  Transsubstantiation  S.  382  f. 

—  18.  Die  Annihilationstheorie,  Kritik  an  Heinrich,  Agidius  und 
Varro  S.  384  ff.  —  19.  Zusammenfassung  S.  386  f.  —  20.  Dauern 
die  Accidenzien  der  Elemente  fort?  Der  Begriff  Accidenz  S.  388 
bis  389.  —  21.  Quantität  und  Qualität,  die  Quantität  der  Qualität 
angehängt  S,  389  f.  —  22.  Veränderung  und  Wirkungen  der  Acci- 
denzien S.  390  f.  —  23.  Wann  das  Brot  wiederkehrt  und  die  Eucha- 
ristie aufhört  ?  S.  391 — 393.  —  24.  Was  ist  nach  Aufhören  des  Brotes 
Subjekt  der  Accidenzien?  S.  393 f.  —  25.  Die  Wandlung  ist  eine 
göttliche  Aktion  S.  394  ff.  —  26.    Der  konsekrierende  Priester  S.  396  f. 

—  27.    Bedeutung  der  acotistischen  Abendmahlslehre  S.  397. 

4.   Die  Busse 397 

1.  Dogmengeschichtliche  Bedeutung  des  Busssakramentes  S.  397  f. 

—  2.  Von  der  Sünde  bleibt  die  ordinatio  ad  poenam,  der  Zorn 
Gottes  kein  Affekt  S.  398—400.  —  3.  Sündenvergebung  nicht  ohne 
Genugthuung,  dies  ist  die  Busse  als  Selbstbestrafung  S.  400 — 402.  — 

4.  Die  Busse  eine  Tugend  der  Gerechtigkeit  S.  402  f.  Zusammenhang 
mit   der   Gottesthat    der  Vergebung   S.  404.    —   5.    Die    Attritio 

5.  404  f.,  durch  Gnadeneingiessung  in  Contritio  gewandelt  S.  405.  — 

6.  Die  Arten  des  Bussschmerzes  S.  406  f.  —  7.  Möglichkeit  und 
Wirklichkeit  des  Busssakramentes  S.  408,  die  Notwendigkeit  erhellt 
vom  Standort  der  Attritio  her  S.  408 — 410.  —  8.  Rückblick,  psycho- 
logische Deutung  des  Busssakramentes  S.  410  f.  —  9.  Der  Begriff 
der  Satisfaktion,  Auswahl  der  satisfaktorischen  Werke  S.  412 f., 
auch  Todsünder  satisfaktionsfähig  S.  413.  —  10.  Zusammenhang  der 
Bestandteile  des  Busssakramentes  S.  414 — 416.  —  11.  Die  Absolution 
S,  416.  —  12.  Die  Konfession  biblisch  geboten  S.  416—418.  — 
13.   Inhalt  und  Zeit  der  Beichte  S.  418  f.  —  14.    Zur  Beichte  gehört 


Inhalt.  699 

Seite 
die  Bereitschaft  die  ßussstrafe  zu  tragen ;  möglich,  dass  jemand  eine 
Todsünde  nicht  zu  beichten  hat  S.  420.  —  15.  Die  Absolution; 
die  Schlüssel,  die  clavis  potestatis  S.  421  f.,  clavis  scientiae  S.  422, 
ob  die  Schlüssel  eine  Einheit  bilden?  Die  Ordinationsgabe  S.  422 f. 
Schlüssel  und  Konfektionsgewalt  S.  423 f.  Die  Exkommunikation 
S.  424  f.  —  16.  Die  priesterliche  Absolution  und  Gottes  Gnaden- 
mitteilung S.  425  f.  —  17.  Die  Möglichkeit  von  satisfaktorischen 
Werken  abzusehen  S.  426 f.  —  18.  Der  Ab  las  s  S.  427.  Ablass  er- 
setzt unvollkommen  die  Werke  S.  427  f.  Päpstlicher  Plenarablass, 
Sinn  des  Erlasses  S.  428.  Sicherer  die  Werke  zu  thun  S.  428  f. 
Gründe  wider  den  Ablass  S.  429  f.  Der  Ablass  dennoch  kräftig 
S.  431;  Duns  hat  keine  Neigung  zum  Ablass  S.  431  f.  —  19.  Wann 
Gott  das  Urteil  des  Beichtigers  ratifiziert?  S.  432.  —  20.  Absolution 
und  satis faktorische  Werke  S.  432 f.  —  21.  Ob  Sünden  nach 
diesem  Leben  vergeben  werden  können?  S.  433 f.  —  22.  Das  Beicht- 
geheimnis S.  434  f.  —  23.  Wiederkehr  von  Sünden  S.  435.  —  24.  Re- 
kapitulation der  leitenden  Gesichtspunkte  S.  436  f.  —  25.  Die  ge- 
schichtliche Stellung  der  scotistischen  Busslehre  S.  437 — 439. 

5.   Die  letzte  Ölung 440 

6.    DieOrdination 440 

1.  ürdo  und  ordinatio  S.  440  f.  —  2.  Ob  der  Episkopat  ein 
ordo?  S.  441  f.  —  3.   Kanonische  Hindernisse  des  ordo  S.  442 — 444. 

7.    Die  Ehe 444 

1.  Das  Sakrament  S.  444.  —  2.  Einsetzung  desselben,  sakra- 
mentale Wirkung  S.  444  f.  —  3.  An  sich  jeder  christlicher  Ehe- 
schluss  Sakrament  S.  445. 

Eünftes  Kapitel. 

Die  jenseitige  Vollendung  und  die  diesseitige  Voll- 
kommenheit der  Christenheit 446 

I.   Die  Vollendung 446 

1.    Die  Auferstehung 446 

1.  Bedeutung  der  Eschatologie  S.  446.  —  2.  Die  Auferstehung 
nicht  beweisbar  S.  447.  —  3.  Die  Auferstehung  ein  schöpferischer 
Akt,   also  in  instanti  S.  447  f.   —  4.    Der  Auferstehungsleib  S.  448 f. 

2.    Gericht,  Seligkeit,  Verdammnis   ....     449 

1.    Das  Gericht  nicht  vernünftig  beweisbar,  aber  positiv  sicher 

S.  449.     Christus   nach   seiner  Gottheit   Richter   S.  449  f.   —   2.    Die 

Erkenntnis    der   Abgeschiedenen    S.   450  f.    —   3.    Die   Verdammten 

S.  452.    —   4.    Der   Sinn    der   Feuerstrafe    S.  452-454.    —   5.    Ge- 


700  Inhalt. 

Seite 
rechtigkeit  der  Strafe  S.  454 f,  —  6.  Ewigkeit  der  Strafe  S.  455.  — 
7.  Stufen  der  Verdammnis  S.  455  f.  —  8.  Die  Seligkeit  besteht  in 
Willensakten  S,  456.  —  9.  Die  Quietatio  des  Willens  nicht  quietistisch 
gemeint  S.  456f.  —  10.  Die  Seligkeit  das  Wollen,  dass  Gott  geliebt 
werde  S.  457  f.  —  11.  Hierin  liegt  höchste  Befriedigung  S.  459. 
Securitas  und  Ewigkeit  S.  459  f.  —  12.    Inhalt   der  SeUgkeit  S.  461. 

—  13.  Nachweis,  dass  die  menschliche  Natur  der  Seligkeit  fähig  ist 
S.  461 — 463.  —  14.  Zur  Seligkeit  gehört  die  Seligkeit  des  Leibes, 
worin  diese  besteht  S.  463  f.  Die  Subtilität  des  Verklärungsleibes, 
zwei  Körper  an  einem  Ort  S.  465.  Der  Sinn  dieser  Betrachtungen 
S.  466.  —  15.  Grade  der  Seligkeit  S.  466  f.  —  16.  Die  Seligen  und 
die  Strafen  der  Verdammten  S.  467  f. 

II.   Die  Kirche  und  die  ideale  Form  ihres  diesseitigen  Daseins    468 

1.    Der  Begriff  derKirche 468 

Die  übliche  Definition:  communio,  universitas  fidelium  S.  468 f. 

2.  Das  Ideal  derKirche  und  die  Kritik  ihres  wirklichen 

Zustandes 469 

1.  Die  Schrift  de  perfectione  statuum.  Die  erste  Funktion  der 
Kirche  ist  die  Sorge  um  das  Heil  der  Seelen,  dazu  sind  der  Papst  und 
die  curati  S.  469 f.   —   2.    Der  Bischof  wie  er  sein  soll  S.  471.   — 

3.  Es  bedarf  eines  besonderen  Standes,  der  die  Ungläubigen  bekehrt 
und  Leben  in  der  Kirche  weckt  S.  472.  —  4.  Auch  hiefür  hat  der 
Papst  Sorge  zu  tragen  S.  472 f.  Der  Papst  und  die  Bettelorden 
S.  474.  —  5.  Das  Leben  der  Prälaten  widerspricht  jener  Aufgabe 
S.  474 — 476.  —  6.  Das  fromme  Leben  der  Bettelmönche  entspricht 
ihr  S.  476  f.  —  7.  Die  Bettelmönche  stehen  über  den  Prälaten 
S.  477  f.  —  8.   Wie  die  Apostel  predigen  sie  ohne  Eigentum  S.  478  f. 

—  9.  Die  Bettelmönche  das  bewegende  El^ent  der  Kirche  S.  479.  — 
10.    Die   Bedeutung   dieser  Kritik,   geschichtlicher  Ausblick   S.  480  f. 


Sechstes  Kapitel. 

Aus  der  Ethik  des  Duns  Scotus    ....    482 

I.   Die  ethischen  Probleme 482 

1.   Die   Ethik   der  Scholastik  S.  482  f.    Die   ethischen   Begriffe 
S.  483  f.  —  2.    Disposition  S.  484. 

II.  Die  Normen  des  ethischen  Handelns ;  Naturrecht,  göttliches 

und  kirchliches  Gesetz 484 

1.    Das  Naturrecht 484 

1.     Begriff   des    Naturrechts    S.  484  f.    —    2.     Die    Synderesis; 
das   Naturrecht   rein   formal   S.  485,    das   Alte   und  Neue  Testament 


Inhalt.  701 

Seite 
nicht   Naturrecht;    praktisch    ein    weiterer    Begriff   des    Naturrechts 
S.  486. 

2.    Das  positive  göttliche  und  kirchliche  Gesetz  .     486 
1.    Das   mosaische   und   das   evangelische  Recht;   positiv,   nicht 
vernunftnotwendig.     Die   heil.   Schrift    und    die    römische   Tradition 
göttliches    Recht   S.   4861".    —    2.    Das    positive    Recht    der   Kirche 
S.  485  f.  —  3.   Die  ethischen  Normen  S.  488. 

3.    Naturrecht  und  göttliches  Gesetz.     .     .     .     488 

1.  Ob  die  zehn  Gebote  das  Naturrecht  enthalten?  S.  488—490. 
—  2.    Ob  die  positive  Nächstenliebe  naturrechtlich  ist?  S.  490 f. 

4.    Das  alt-  und  neutestamentliche  Gesetz      .     .     491 

1.  Ob  dieses  oder  jenes  klarer  ist?  S.  491f.  —  2.  Das  mosaische 
Recht  für  die  Christenheit  ungiltig  S.  492 f.  —  3.  Schwanken  auf 
diesem  Gebiet,  gegen  die  Todesstrafe,  für  diese  S.  493  f.  —  4.  Rück- 
blick auf  die  ethischen  Normen  S.  494  f. Übergang  zur  Tugend- 
lehre S.  495. 

III.   Die  Tugendlehre,  theologische  und  moralische  Tugenden    496 

1.  Die  Einteilung  der  Tugenden 496 

1.    Die  Tugend,   habitus  infusus  et  acquisitus  S.  496.     Virtutes 

murales,  intellectuales,  theologicae  S.  497.  —  2.  Kombination  der 
Eingiessung  und  Erwerbung  der  Tugend  mit  der  intellektiven  oder 
appetitiven  Art  derselben.     Darnach  zwei  Tugendtafeln  S.  498—500. 

2.  Die  theologischen  Tugenden 500 

1.    Differenz  von  den  moralischen  Tugenden.     Der  Glaube  früher 

S.  129  ff.  besprochen  S.  500.  —  2.  Die  Hoffnung  als  besondere  Tugend 
S.  500  f.  —  3.  Die  Liebe  zu  Gott  S.  501.  —  4.  Der  Grund  unserer 
Liebe  zu  Gott  ist  sein  absolutes  Sein  S.  502  —  504.  —  5.  Im  Urständ 
konnte  der  Mensch  Gott  von  sich  aus  lieben?  S.  504 f.  —  6.  Gott 
„über  alles  lieben",  dem  dient  der  Sonntag  S.  504— 507.  —  7.  Es 
bedarf  aber  doch  eines  eingegossenen  Liebeshabitus  S.  507  f.  —  8.  Die 
Nächstenliebe  aus  der  Gottesliebe  hergeleitet  S.  508.  —  9.  Gott 
gibt  uns  die  Liebe  als  ein  condiligere,  Gottesliebe  ohne  Nächsten- 
liebe unmöghch  S.  509.  Der  Begriff  des  Nächsten  S,  509  f.  — 
10.  Selbstliebe,  Feindeshebe  S.  510  f.  —  11.  Die  Feindesliebe  bezüg- 
lich äusserer  Güter  S.  511  f.  Gebet  für  die  ganze  Kirche,  auch  die 
Feinde  S.  512  f.  Rekapitulation  des  Begriffes  der  Liebe  S.  513.  — 
12.  Die  Liebe  währt  in  Ewigkeit  S.  513  f.  —  13.  Die  drei  theo- 
logischen Tugenden  nicht  konnex  untereinander  S.  514.  —  14.  Be- 
urteilung: Liebe  und  Glaube  S.  515.  Mangel  einer  theologischen 
Orientierung  S.  516. 


702  Inhalt. 

Seite 
3.    Die  moralischen  Tugenden 516 

1.  Die  moralischen  Tugenden  sind  erworbene  Willcnshabitus 
S.  516.  —  2.  Durch  AViederholung  entstehen  Habitus,  Mitwirkung 
der  intellektuellen  prudentia  S.  517.  Habitus  der  sinnlichen  Organe 
S.  518.  —  3.  Difterenz  in  der  Triebkraft  und  Kausalität  der  mora- 
lischen und  theologischen  Tugenden  S.  518  f.  —  4.  Die  einzelnen 
moralischen  Tugenden  S.  519  f.  —  5.  Die  Tugenden  der  Seligpreisungen, 
die  sieben  Geistesgaben  und  die  Früchte  des  Geistes  S.  521.  —  6.  Alle 
möglichen  Tugenden  beschlossen  in  den  drei  theologischen,  drei 
moralischen  Tugenden  und  in  einer  intellektuellen  Tugend  S.  521  f.  — 
7.  Die  moralischen  Tugenden  nicht  notwendig  konnex.  Gegen  Hein- 
rich und  Thomas  S.  522 f.  —  8.  Die  Bedeutung  der  Prudenz  für 
die  drei  übrigen  —  moralischen  —  Kardinaltugenden.  Gegen  Hein- 
rich, Thomas,  Gottfried  S.  523  fif.  —  9.  Konnexion  der  Prudenz  mit 
dem  moralischen  Willenshabitus,  Wille  und  Intellekt  bei  dem  ethischen 
Handeln  S.  525 — 527.  —  10.  Der  Wille  und  die  praktische  Vernunft 
S.  527  f.  —  11.  Ob  alle  moralischen  Tugenden  mit  einer  Prudenz 
konnex  sind?  S.  528 f. 

4.  Theologische  und  moralische  Tugenden  .  .  529 
1.  Die  Liebe  informiert  die  moralischen  Tugenden,  keine  mora- 
lischen Tugenden  eingegossen  S.  529 — 531.  —  2.  Bedenken  dawider 
S.  531  f.  —  3.  Praktische  Bedeutung  der  Tugend  S.  532.  —  4.  In 
einer  That  verschiedene  Tugenden  S.  532f.  Merkmale  sittlicher  Güte 
einer  Handlung  S.  533. 

5.   Die  christliche  Vollkommenheit  ....     533 
1.    Vollkommenheit,  Gefühlschristen  und  Willenschristen  S.  533  f. 
Mönche  und  Laien  S.  534.  —  2.    Der  Wertmassstab  sittlicher  Hand- 
lungen   S.   534  f.    —    3.    E-ückblick    auf   die    Tugendlehre    des    Duns 
S.  535  f.  —  4.   Beurteilung  S.  536  f. 

IV.    Einzelne  yon  Duns  Scotus  behandelte  ethische  und  sozial- 
ethische Fragen 537 

1.    Die  Ehe 537 

1.  Die  Ehe  und  die  sittliche  Berechtigung  der  Zeugung  S.  537  f. 
—  2.  Freiheit  des  Ehekontraktes;  Mentalreservation  S.  538 f.  — 
3.  Die  Ehe  als  Sakrament  gibt  Gnade  S.  540.  —  4.  Ob  die  Ehe 
auch  zur  Befriedigung  der  Geschlechtslust  diene?  S.  540 f.  —  5.  An- 
nullierung der  Ehe  S.  541  f.  —  6.  Die  ethischen  Güter  der  Ehe 
S.  542.  —  7.  Auflösung  des  matrimonium  ratum  durch  Eintritt  in 
einen  Orden  S.  542  f.  —  8.  Gewährung  und  Versagung  des  debitum 
coniugale  S.  543.  —  9.  Die  Polygamie  S.  543.  —  10.  Scheidung 
und  Ehehindernisse  S.  544 — 546.  —  11.    Ehen  zwischen  Christen  und 


Inhalt.  703 

Seite 
Ungläubigen  S,  546  f.   —    12.    Verbotene  Verwandtschaftsgrade,   Zu- 
sammenfassung der  Ehehindernisse  S.  547  f.  —  13.    Bedeutung  dieses 
Abschnittes  für  die  scotistische  Ethik  S.  548  f. 

2.    Schätzung  der  Frau 549 

3.    Die  Restitutionspflicht  (Eigentum,  Ehre).     .     .     550 

1.  Der  naturrechtliche  Kommunismus  nach  dem  Fall  aufgehoben 
S.  550  f.  —  2.  Das  Privateigentum  S.  551  f.  —  3.  Übertragung  des 
Eigentums  S.  552  f.  —  4.  Der  Tausch  S.  553  f.  Kauf  S.  554.  Zins 
S.  554  f.  Leihen  S.  555.  Umgehung  des  Zinsverbotes  S.  556.  — 
5.  Der  Handel  S.  556f,  —  6.  Die  Restitution,  Kasuistik  S.  557  ff.  — 
7.  Fortsetzung  der  Kasuistik  S.  559—562.  —  8.  Restitution  bei 
Mord  und  Körperverletzung  S.  562  f.  —  9.  Restitution  bei  Ver- 
leumdung und  Diffamation  S.  563  f. 

4.    Die  Sklaverei 565 

1.  Das  Naturrecht,  Aristoteles,  ein  gewisses  Mass  von  Freiheit 
S.  565  f.     2.    Unfruchtbarkeit  der  Betrachtung  S.  566. 

5.    LügeundMeineid 566 

1.  Die  Lüge  S.  566  f.  —  2.  Arten  der  Lüge  S.  567  f.  Bei 
Mönchen,  bei  den  Prälaten  S.  568.  Sündhaftigkeit  der  Lüge  S.  568  f. 
—  3.  Die  Heuchelei  S.  569.  —  4.  Eid  und  Meineid  S.  570.  — 
5.  Sündhaftigkeit  des  Meineids  S.  570  f.  —  6.  Der  promissorische, 
der  fahrlässige  Meineid  S.  571  f.  —  7.  Gegen  leichtfertiges  Schwören 
S.  572. 

Siebentes  Kapitel. 

Die  geschichtliche  Stellung  des  Duns  Scotus  .    573 

1.    Die  Standpunkte  der  Vergangenheit   .     .     .    573 

1.  Die  Aufgabe  dieses  Abschnittes  S.  573.  —  2.  Die  Differenz 
der  christlichen  und  hellenischen  Weltanschauung  S.  573.  Plato 
S.  574.  Aristoteles  S.  574 — 576.  Der  hellenische  Intellektualis- 
mus, die  Geschichtslosigkeit  S.  576.  —  3.  Die  Fülle  der  Zeiten:  für 
Glaube  und  Liebe  kein  Raum  S.  577 f.  —  4.  Das  Christentum 
bringt  den  Glauben  an  den  nahen  Gott  und  richtet  die  Liebe  auf 
das  ferne  Ziel  des  Reiches  Gottes.  Es  ist  ein  weltgeschichtlicher 
Fortschritt  S.  578 — 583.  —  5.  Die  Verweltlichung  des  Christentums : 
der  ferne  Gott,  die  nahen  Ziele,  Glaube  und  Liebe  gehemmt  S.  583 
bis  586.  —  6.  Augustinus  S.  586 f.  Der  Voluntarismus  Augustins 
S.  587  f.  —  7.  Augustins  Gottesbewusstsein,  Wille,  Prädestination 
S.  588f.  —  8.  Augustins  Erkenntnislehre  S.  589— 591.  —  9.   Mit  der 


704  Inhalt. 

Seite 
voluntaristischen  Grundanschauung-  verschmolzen  der  Piatonismus  der 
Ideen   S.  591 — 593.    —    10.    Augustins  weltgeschichtliche  Bedeutung 
S.  593  f. 

2.  Die  Theologie  des  Mittelalters  .  .  .  .  595 
1.  Die  altlateinischen  Rechtsschemata,  der  Realismus  der  Ideen. 
Augustins  Gottesempfindung  wirken  zusammen  S.  595.  —  2.  Die 
römische  Kirche  das  Ziel  der  ethischen  Bethätigung  S.  596.  —  3.  Die 
positive  und  negative  Bedeutung  der  mittelalterlichen  Frömmigkeit 
für  die  Geschichte  S.  596 — 598.  —  4.  Der  Augustinismus  der  Theo- 
logie S.  598f.  —  5.  Zwei  geistige  Strömungen  in  der  Theologie:  die 
dialektisch-kritische  und  die  spekulativ-reproduktive  Methode :  A  b  ä  - 
lard  und  Ans e Im  S.  599 f.  —  6.  Petrus  Lombardus,  Alexander 
von  Haies  S,  600.  Aristoteles  und  die  Araber  S.  601  f.  —  7.  Albert, 
Thomas,  die  Censurierungen  des  Stephan  von  Paris  und  des 
Robert  Kilwardby.  Die  aristotelische  und  die  ältere  platonisierende 
Theologie  S.  602 — 604.  —  8.  Duns  Scotus  setzt  die  ältere  Theologie 
mit  den  Mitteln  der  Modernen  fort  S.  604 f  —  9.  Heinrich  von 
Gent  als  Repräsentant  der  älteren  Theologie,  aristotelischer  Plato- 
nismus  S.  605 — 607.  —  10.  Heinrichs  Ansicht  von  den  Universalien 
S.  607  f.,  die  Individuation  S.  608  f.  Die  Erkenntnis  S.  609  f  — 
11.  Religiöse  Art  des  Erkennens  S.  610  f.  —  12.  Willensfreiheit,  In- 
determinismus, Willensprimat  S.  611 — 613.  —  14.  Der  spekulative 
Idealismus  Heinrichs  S.  613  f.  —  14.  Der  Glaubens  begriff  Heinrichs 
S.  614—616.  —  15.  Die  Gotteslehre  Heinrichs  S.  616.  —  16.  Die 
Prädestination,  die  gratia  gratis  data  oder  die  vocatio  durch  das 
Wort  S.  617  ff.  Das  „innere  Wort"  S.  618  Anm.  —  17.  Urständ, 
Sünde,  Freiheit  S.  619  f.  Die  Synderesis  S.  620.  —  18.  Die  Gnade 
S,  620  f.  —  19.    Die  Sakramente  S.  621.    Transsubstantiation  S.  622. 

—  20.  Busse  und  Ablass  S.  622  f.  Mendikanten  und  Pfarrklerus 
S.  623.  Ethische  und  pastoraltechnische  Fragen  S.  624  Anm.  — 
21.  Heinrich  und  Duns  Scotus  S.  624  f.  —  22.  Der  Aristotelismus 
des  Thomas  von  Aquino  S.  625 f.  Die  Offenbarung  ergänzt  die 
natürliche  Erkenntnis  S.  626  f.  —  23.  Der  Glaube  und  die  Theologie 
S.  627  f.  —  24.  Thomas  über  Erkenntnis  und  Wülen  S.  629  f.  Der 
Intellektualismus  S.  631  f.  Thomas  Rückfall  in  die  griechische  Seelen- 
stellung S.  632.  —  24.  Die  Erkenntnistheorie  des  Thomas,  nomina- 
listische  Elemente  S.  632  ff.     Die  Präexistenz  der  Universalien  S.  634  f. 

—  25.  Thomas  über  Gott  S.  635  f.,  die  Prädestination  S.  636  f.,  die 
Freiheit  der  Kreatur  S.  637  f.  —  26.  Das  praktische  Gottesbewusst- 
sein  des  Thomas  S.  638f.  —  27.  Das  christliche  Leben  nach  Thomas 
S.  639—641.  —  28.  Charakteristik  der  thomistischen  Theologie  S.  641  f., 
Unterschiede  von  Duns  S.  642  f.  Duns  im  Verhältnis  zu  Thomas  und 
Heinrich,  Übereinstimmung  und  Gegensatz  S.  643. 


Inhalt.  705 

Seite 
3.    Rückblicke  auf"  die  Grundideen  des  Duns  Scotus     644 

1.  Kein  „System",  aber  Grundideen  S.  644.  —  2.  Düns'  Realis- 
mus und  Empirismus  S.  644 — 646,  —  3.  Der  praktische  Gharakter 
der  Religion,  die  positive  Auffassung   der  Theologie  S.  646 — 649.  — 

4.  Die  Wissensehaftlichkeit  der  Theologie  des  Duns  S.  649f.  Er  hat 
die  Freiheit  der  Theologie,  der  Tendenz  der  älteren  Theologie  ge- 
mäss,   gegenüber    dem   Aristotelismus    aufrecht    erhalten    S.  653,   — 

5,  Die  Grundideen:  der  absolut  freie  Gott  und  der  absolut  freie 
Mensch  S.  653  f.  —  6.  Der  Gottesbegriff,  der  Determinismus  seiner 
Weltanschauung  S.  654  ff,  —  7,  Der  Zusammenhang  der  Theologie 
des  Duns  von  dem  Determinismus  der  Prädestination  aus  S.  656 — 658. 

—  8.  Der  absolute  Gott  und  die  schlechthin  abhängige  Welt :  domi- 
natio  et  subiectio  S.  658 — 660.  —  9.  Der  andere  Brennpunkt  in  Duns 
Gedankenwelt :  der  schlechthin  freie  Wille  des  Menschen  S.  660.  Aus- 
gleichung des  Widerspruchs  zwischen  dem  religiös-theologischen  De- 
terminismus und  dem  ethisch-anthropologischen  Indeterminismus  des 
Duns  S.  661  f.  —  10.  Sünde,  Freiheit,  Gnade  S.  662  f.  Überall  das 
Bestreben,  die  Freiheit  aufrecht  zu  erhalten  S.  663  f.  —  11.  Der 
Willensprimat  auf  das  höchste  gesteigert,  so  der  Mensch  Abbild 
Gottes,  Gegengewicht  gegen  den  Determinismus,  Augustin  und  Pe- 
lagius  verschmolzen  S.  664—667.  —  12.  Duns  hat  Augustins  Ideen 
vom  Willen  oben  und  dem  Willen  unten  auf  die  Spitze  getrieben, 
Gottesbegriff,  praktischer  Sinn  der  Religion,  Freiheit  der  Persönlich- 
keit S.  667  f.  —  13.  Duns  heterodox,  aber  doch  Interpret  der  mittel- 
alterlichen Frömmigkeit  S.  668 f.  —  14.  Schlussurteil:  Duns  auf  der 
Bahn  Augustins.  Mangel  des  evangelischen  Glaubensbegrififes,  das 
Auseinanderfallen  des  Systems  S,  669 — 671. 

4.    Duns  Scotus  und  die  Folgezeit     ,     ,     ,     ,     672 

1.  Duns  dem  Thomas  ebenbürtig  S.  672.  —  2.  Sein  Einfluss 
auf  Occam  und  die  Nominalisten,  positiver  Zusammenhang  S.  672 f. 

—  3.  Der  Positivismus  bei  Duns  und  Occam  S,  673  f.  —  4.  Was  von 
Duns  Scotus  bis  zum  Ausgang  des  Mittelalters  blieb  S.  674 — 676.  — 
5.  Die  „Erhaltung  der  Kraft"  in  der  Geschichte  S.  676.  Duns  und 
der  Jesuitismus  S.  677.  —  6.  Luther  bekämpft  den  scotistischen 
Pelagianismus  S.  678  ft".  — •  7,  Positive  Zusammenhänge  zwischen 
Luther  und  Duns  Scotus :  einzelne  Lehren,  die  Kritik,  der  positive 
Charakter  der  Theologie  S.  680—682.  Luther  wider  den  Aristotelis- 
mus des  Thomas  S.  682  f.  —  9.  Der  Gottesbegriff  Luthers,  Zu- 
sammenhang mit  Duns  S.  683-685.  —  10.  Abschluss  S.  685.  ~  11,  Ur- 
teile über  Duns  Scotus :  Erasmus,  Luther,  Haureau,  Prantl  S.  686. 
A,  Ritschi  S.  687. 


Seeberg,  Die  Theologie  des  Duns  Scotus, 


45 


Lippert  &  Co.  (G.  Pätz'sche  BucliJr.),  Nau)nbuig  a/S. 


IHL  INSTITUTE  CF  WFC' 

10  ELMSLEY  PLACE 
TORONTO  5,    CANADA, 


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