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Wiffenfdyaften
neunzeönten Jahrhundert,
ihr Standpunft und Die Refultate ihrer Forſchungen.
Eine Rumdſchau
zur
Belehrung für das gebildete Bublikum.
Sernußgegeben
von einem Verein von Gelchrien, Münftlern und Cechnikern
unter der Rebaction
von
Dr. J. A. Romderg.
Bierter Band.
——schidn — -æ
Sondershanfen.
Berlag von ©. Neufe.
1859,
Vorwort.
Auch in dem mit vorliegendem Hefte beginnenden vierten Bande verfolgen
„die Wiſſenſchaften im 19. Jahrhunderte” ihr ſich ſelbſt geſtecktes Ziel unver⸗
bruͤchlich und treu. Wie ſie bisher die bedeutendſten wiſſenſchaftlichen Fragen,
das geiſtige und materielle Streben der Gegenwart zu berühren, zu löſen und
zu fräftigen fuchten, fo werden fle unermüdlich fortfahren, manchen Einblid in
ein wifienfchaftliches Feld von überrafchender Ausdehnung zu eröffnen, die
Summe des Wiffend durch Verallgemeinerung zu vermehren und für die ſchwie⸗
rigen Arbeiten der Gelehrten, Künftler und Techniker immer größere Sympatbien
zu erweden.
Kein Gebiet des denkenden und forfchenden Geiftes wird im Laufe der Zeit
unberührt bleiben, da dieſes Werk fort und fort die Schäße des Willens unjerer
tüchtigften Köpfe ſammeln und fie in anziehender Form behandeln wird. Was
das Unternehmen bis jegt gebracht, Davon mag das nachftehende Inhaltöverzeich-
niß der erften drei Bände Zeugniß ablegen und für die Fortſetzung mögen fols
gende Artikel einftweilen ſprechen: Bechſtein, Die Kreimauerei, die Dicht⸗
funft und ihre Form; Köppe, Deutſchlands Bankweien; Dr. Karl Müller,
die infelbildende Koralle, das Leben auf der Tiefe des Meeres; Löſche, Ver⸗
breitung der Wärme an der Oberfläche. der Erde; Wachler, die Rechtözuftände
aller Völker; dag Drama, feine Gefchichte und Aufgabe ıc. x.
Der Band erfcheint auch ferner in 12 Heften zu dem Preife von 3 Thle,
Die Redaktion.
Inhaltsverzeihniß des erften Bandes,
Som ‘ Geite
ueberii der — in der Geſchichte Pe a |
Die Glagmalerei, ihre Geſchichte, ibre hervorragenden Rünfler und ihre Teömit —— . 3
Die Planeten, von Dr. G. A. Jahn. ar Sa ae
Das Bergweien FE 7 |
Die Bildung der menfhlichen Etimme zum Belang, von Dr. 2. diadebaq "0:0 = ID
Die neuem Maffen und deren Staus auf die aan. von ETRENDEONR: . F — . 1586
Die Belplage Deutihlande, . ||
Die Steinfoblen, von Yrof, Dr. @ein 228
Die Bolfstranfbeiten, Bolfsfeuhben (Cp demien), Geudien unter dem Thieren (@piyootien) and die
Arankbeiten der Eulturpflansen, von Dr. Rieke.
Die Eoune, ven Dr. ®, 9. Zahn.
. ‘ . 0 . 0
Die permanenten Befeitiz m. —* Hauptmann von Abendroth, - & . ; R ; . 2713
Licht und Karben, von @. i .... et en
Leffing’# Berbienfte um das rnit ee von 9. GSdoͤne. 37
Seſchichte der Oper bis auf Gluck, von Dr. J. Schladebach.. . 361
Die Rückgratsverkrümmungen, von Dr. med. F. Flemming a 44221
Dad Barometer und feine Anwendung ale Wetterglas, Don Dr. ®. 9. Jahn. 0.0.0. 40
Die Bauart der Schiffe, vom Enifbaranetien €. 8. en non: A en tt A
Die en Induftrieausftelungen. a er |;
Die Geldbefchigungen, vom Hauptmann von Abendroth. . . a . » ; ’ . : 512
Zur Geſchichte der Spielfarten, vom Hofrath Dr. Gräße. R R . x —— . . 50
Ueber Sagenverwandiſchaft, vom Hofrath Dr. Grähße.. . 566
Das Enflem der Geſangkunſt nach vhyfiologifchen Geſetzen, von Dr. phil. ® . Ehman, . 600
di Geſchichte des Puppenfpield und der Automaten, vom Hofratb Dr. Or äße. R . 6235
te geſchichtliche Entwidelung der heutigen Zelegraphie, von * Se — .. 6176
eber Getreidehandel und Geireidetheuerung. . 6865
De Bulfanismus, von Brof. Dr. E. 9. Roßmäßler. . 722
Ueber Raum» und Aggregatöveränderung durch die Warme, von prof. Dr. E. Lofſche. Tr
Inhaltsverzeihniß bes zweiten Bandes,
Borwort. Seite
gemeine Grimndlaagen für Armeen und gEricgfübrung, von Mbenbrotb. 0.00. . 41
ie Korm in der Mufif, von Prof. Dr. A. 8. Marx. . 221
arbenſymbolit. vom HSofrath Dr. Graße. ... 40
eſchlechts leben der Pflanzen, von Prof. Dr. M. Biltomm. |
Die nenere Heiltande, von Ur. Gari Mecdam. . | |
Der Mond, fein Einfluß auf die Erbe, ron Dr. ©. a. Jahn. . 116
Der Beifter- und Beipeniterglauben im Maffiihen Altertbum, vom Sofranh Dr. Brite. . 0.18
Geſchichte der Garicatıır. vom Hofratb Dr. Gräße.. . 154
Ueber &trablung und Leitung der Wärme. von Prof. Dr. E. Loſche .. 16866
Zur Geſchichte des europäiſchen Ordensweſens, vom Appellationsrath ®. Ndermann. . . . 186
Die Gehaltung der Oper feit Mozart, von 2. Melikab. . . Fr 7
Die Organffation und Gimtbeilung der Armcen, vom Hauptmann von Abendroth. 02002 206
Entftebung, Dauer und Untergang der Blaneıenmelt, von Dr. &. A. Jahn. . . . . . 335
Das Net und feine Quellen, von Brof. Dr. 9. Höd. . 353
Neue Veweife für die tägliche Umdrehung der Erde um ihre Achfe, von Dr. 8. Birabaum. . . 387
Ueberſicht Ber engliiben Literatur des 19. Jahrhunderls, von r. Julian Schmidt. . . . 31
Die Theorie und Praxis der allgemeinen Kochkunſt, von Dr. ©. ®. edartau. FR ee 7; |
Das Blut, Blutarmuth und Bintreichtbum, von Dr. M. Zlinzer. . 492
Die Verbreunung der drnnttofte obne Baud und die böhmöglihe Benngung der ergeugten
Birne, von Dr. ®. Scharlau . 506
Ueber deu Einfluß der beiden Ratur, befonders der Begetatton ‚an des Bodens, auf bie für
verliche und geiftige Befähigung der Dienfhen, von Prof. Dr. M. Willkomm. . . 559
Der heutige Standpunkt der Geologie, von Dr. G. H. Dito Bolger. ee 588
Die Seefahrt, don Th. Niebour. Mit 14 Holzfhniten. .
Das Auge im geluuden und franten Zuftanve, von | Dr. M AR. glinzer. .
Heber 5 — riſche Niederſchlaͤge, von AH Dr. eofde. . .
Iogranhit, vou Dr. 3. ©. Ern ne. .
Die Pd olik der Edelfleine, vom Sofas r. Gräfe. oo.
. . . . 664
. . . ® 698
® . . [2 128
‘ “ . ‘ 7158
Inhaltsverzeichniß des dritten Bandes.
Die Taubſſummen, von Dr. M. Flinzer. . . . 4
Dab Töum der Telegrapben Drähte, von v. Blmbaum. . ee ee. 13
Afteriömus, von Dr. ©. 9. Dtto Bolger. oo. ne
Beräufderungen der Lufttemperatur, von Dr. @. edſqhe. ..öö 259
Bom’Magnetidömus, von H. Bolze.. . . . . . . . . . 8
Bauberet bei @rieden und Römen, von Dr. Gräße. >. . . . . . .. . a
Ueber Düngung und Dungmittel, von Dr. Edarlau. . . FE
Die milros op de Aflangenweit l., von Brof. Bültomm, oo. oo. . . . . 110
Die Hühnerzudt, von R. Dettel. .. FE } |
Skrophein uud Zuberkein, von Dr. finger. ee ne 14
Geſchichte der Maͤrchen, von L. Bechſtein. . en . . 19
Erzeugung und &igenihaflen der Berlen, von Dr Döbue > e 1
Symbolik der Blumen und Bflangen, von Dr. Oräbe. . . . ee. 0. 1%
Bom Bernftein, von 5H. Bolze . . . . . . [ . . “ . 193
Autograpbenfammlungen, An 2. Bchftein. . . . . . . . . . . . 213
Die paur von Dr. Rn inzer. . . . . . . . . . . . ... 39
Der Diamant, von G. Bad. . ee. . 20. . 25
eK Stufonie und ibre Form, von J. Scquch bt . .
afanen und Tbierleben der Polarwelt, von Dr. 8. Düller. .
Greta der Srauen, von Dr. ©. Forſter.. . 343
ihte des Kinefiichen — von Dr. Bräße. . . . . . oo. . . 375
en löfonsırie und Eocialiömus, von Dr. Köpre. - . 2. . .
Behandlung der deutſchen Bolfdjage, von 2. Berlin. > On
Materlaligmus und Idealidmus, von J. eaudit. ne JA
Der Stoffwechſel, nah Johnſton. |
Bürgertbum und Staͤdteweien im Mittelalter, von Baltber, ..424817
Sombolik der Tbiere, von Dr. Gräße.. oo.
Die mitrostopifhe Bilanzenwelt II., von Dr. Biltomm. . . ee. . . 526
Die Parteien in der Kunfttritif, von I. Schucht.. . . . . . . . 0.58
Sqhwaben während der Juraperiode, von 1 Loͤlle. 20.0. 58
Das Weltall ein Bernunftreih, von Oefe. . . De a... . 6400
Das deutſche Schulweſen. von Brof. Ehrhardt. ee 686
Die Sinnorgane. von Brof. Dr. Weber en ee 68
Die Getränfe, die wir durch —— bereiten i. C..70900
Helchichte, Heift und flaatliche Aus-
hreitung der Freimaurerei.
Iadwig
Viel und Vieles wurde ſchon über Die Freimaurerei geſchrieben, umd ſie
bildet in den Enchelopädien umfaſſende Artikel. Sie hat eine eigene, reichhal⸗
tige Literatur hervorgerufen ; fie nimmt, in der ganzen civilifirten Welt verbrei⸗
tet, einen feflen und ficheren Stantpunft ein, und wie fie fich felbft eine „könig⸗
liche Kunſt“ nennt, fo wird das Studium ihrer Entftehung, ihres inneren Weſens
und ihrer Berbreitung über den ganzen Erdkreis zu einer eben fo ernften als
würdigen Wiflenfchaft. Aus einfachen Anfängen hervorgegangen, hat fidy bie
Sreimaurerei zu einem Weltbund erhoben, doch machte keine fociale Verbindung
fo viele merkwürdige Phaſen und Wandlungen durch, Feine — nur etwa die de
fuiten ausgenommen — erlitt fo viele üble Nachrede, Verfolgung und in vielen
Ländern entjchiedene Unterdrüdung wie fie, jedoch feine ging geläuterter aud allen
Brüfungen hervor , Feine .ftieß mehr Lie Schladen aus, die unlautere Elemente
ihr beigemijcht hatten. So viel nun aber auch gefchichtliches Material, die Frei⸗
maurerei betreffend, zu Tage liegt, fd viel und mandherlei Irrthumer walten.nod)
ob über biejelbe, find noch allverbreitet und allgeglaubt. Dies bat in dem Um⸗
ftande feinen hauptſaͤchlichen Grund, dag jo häufig ein Schriftfteller der anderen
nachſchrieb, und darin, daß es jchwer ift, über die Freimaurerei zu ſchreiben,
weil der Richt Wiffende nicht gründlich zu berichten im Stande ift, der Wiflende
aber in vielen Zällen die Hegel beachtet, daß Heben Silber, Schweigen Gold
jei. Durch das maurerifhe Geheimmiß wurde der Leichtgläubigkeit ein wei⸗
tes Feld eröffnet; man fuchte es überall, man flieg in die tiefften Schachten ber
Geſchichte der Menfchheit und fand endlich nichts als die Phrafe: „Die Yrti-
maurerei tft jo alt wie die Welt. Wie alt aber die Welt ift, weiß Keiner zu
fagen, jo viel auch Zahlen von Iahrhunderten und Iahrtaufenden aus dem
Runde und den vedern der Bhpfifer ftrömen.
Mag fi), wie Manche wollen, das Menſchenthier zumächft und allmaͤlig
aus einem wohlgebildeten Affenpaare entwidelt, und Jahrhunderte hindurch
höhere Eulturfiufen wie Die heutigen Reger in manchen heilen Afrika's nicht
IV. \
2 Culturgeſchichte.
erreicht haben, oder mag aus der Hand der ſchaffenden Allmacht nach dem bibli⸗
ſchen Mythus der erſte Menſch rein und vollendet, ein Bild Gottes, hervorge⸗
gangen ſein, — weder jenes noch dieſer konnten Freimaurer ſein, und Adams
Schurz von Feigenblaͤttern war ſicher kein Maurerſchurz.
Indeß man liebt es einmal, von einer „mythiſchen“ Geſchichte der Frei⸗
maurerei zu reden, und als Mythe, in welcher namentlich gewiſſe Symbole” Zei⸗
chen und Geräthichaften, deren man fich in den Logen bedient, wurzeln, mag
denn immerhin die Annahme gelten, daß das maurerijche Element bereitö in den
Geheimniſſen der aͤgyptiſchen Priefterkaften, in den Myfterien, welche zu Eleuſis
begangen wurden, in dem griechifchen Vhilofophenbunde der Pythagoräer u. A.
vorgebildet, folgliä; vorhanden gewefen ſei. Mit gefchichtlicher Gewißheit wird
aber dieſe Annahme nie begründet werden können. Daß die Breimaurerei bie
Gewohnheit angenommen hat, flatt der Jahre nach Chrifti Geburt, wie die Ju⸗
den nach Jahren der willkürlich angenommenen Weltihöpfung zu fhreiben, bes
weift auch nichts, und am wenigften, daß beim Salomoniſchen Tempelbau bereitd
eine Art Maurerbund beftanden habe. Es bleibt immer hriftliche Datirung,
ob man 1859 oder 5859 fchreibt, und fomit annimmt, daß die Weltſchöpfung
genau 4000 Jahre vor Ghrifti Geburt begonnen habe, was doch jebenfalld ein
auf der Hand liegender großer Irrthum ift.
- In weiteren Sekten, fo wie Priefterfaften und SPBriefterbündniffen einer
frühen Vorzeit die Entflehung des Maurerthums, und namentlich die Grund⸗
elemente des heutigen Maurerthumd zu fuchen, ift eben fo zweck⸗ als erfolglos.
Allerdings Laffen fich Aehnlichkeiten und Symbole finden, jo 3. B. bei der jübis
ſchen Sekte der Eifäer, nicht nur Außerliche, fondern auch innerliche; wie unter
den erfteren die weiße Gewandfarbe, ein Schurz, die Zahl Sieben, dad Dreieck,
fo unter den legteren die geläuterte Sittenlehre, die Gleichheit, Die Bruderliche —
(auch Chriſtus ſoll dem Bunde der Effäer angehört haben) aber auf Maurerei,
nämlih Werfmaurerei, deutet nichts bei den Effäern hin. Eben jo wenig ers
innern bie Berhältniffe Ber ägyptifchen Therapeuten-GSefte an Freimau⸗
zerei; die Therapeuten lebten in anachoretijcher Weife in einfamen Zellen und
in Ausübungeiner firengen Askeſe; ihr Reich war nicht im höheren Sinne bie
‚ganze Welt, die Menfchenwelt, fondern die abgefchloffenfte Einſamkeit.
Auch im Sabäismus hat man Analogien zur Freimaurerei gefucht und
gefunden, nämlich im Sonnencult und der Lichtlehre der alten Parſen. Eine
tief durchdachte aftronomifche Bilderfchrift und Symbolik liegt in letzterer. Dort
flirbt ein Gott und erfleht zum neuen Leben, hier wird ber Meifter erfchlagen,
gefucht und gefunden und auferwedt durch jombolifche Worte und Formen.
Dort ift alldurchfizahlendes Licht, und Licht ift allerdings ein Schibolerh im
Maurerthbum. Uber dennoch ift und war daffelbe niemald Sabäismus, und eben.
fo wenig war daſſelbe Gnoſis, oder hatte in ihr feinen Urfprung. Die Onp-
ſis (Erkenntniß), der die nach ihr benannten Gnoſtiker anhingen, war eine
aus Parſismus und wohl auch zum Theil aus indifchen Elementen hervorgegan⸗
gene philojophifche Lehre, welche ein Theil jüdischer Weltweifen angenommen
hatte, und die auch dem jungen Chriftenthume nicht fremd blieb. Strenge Sitt⸗
Geſchihte, Geik un: Unkneitung der Frrimantere. 3
Tichkeit war einer der Grundpfeiler dieſer Lehre, im Ganzen warf: fie aber doch fo
ſtarke Schatten, daß die katholiſche ſirche fie J ‚Anfang des 5. Jahrhunderts
verdammte.
Man ift nicht beim Drient fliehen geblieben, um der Freimaurerei eine
mythiſche Begründung, d. h. Entſtehung in fernliegenden, dem Alter der Mythe
ganF oder faft noch angebörigen Zeiträumen zuzufprechen. Man fuchte und fand
diefe auch im kelto⸗galliſchen Druidenthume, von dem der Nachwelt ungleich
mehr Babeleien als Wahrheiten überliefert wurden. Die Brieftergilde der
Druiden hatte, wie jede ähnliche, verfchiedene Grabe und fland unter einem
Dberpriefter. Die Gewandfarbe war blau. Da nun die Freimaurerei auch in
Grade fich abtheilt, und der Großmeifter eines Logenbundes, wie jeder hammer⸗
führende Meifter einer Cinzelloge im Sanctuarium derſelben gleichfam ein Prie
fterthbum ausübt, fo follte das druidiſch fein, iſt e8 aber fo wenig, ald wenn man
ihn mit einem altperuanifchen Sonnenpriefter vergleichen und im Schooße der
Inka⸗Theokratie das Maurerthum entdecken wollte, etwa weil die Tempel in Peru
auch längliche Vierecke bildeten , deren Altar im Often ftand, und ber ganze
Cult ein Lichteult war.
Es begegnet in der hiſtoriſchen Forſchung über Die Freimaurerei ganz bie
gleiche Erſcheinung, welche bei den Korfchern der Mythe überhaupt wahrgenom⸗
men wird. Was mancher derfelben fchen und finden will, das fucht und fin-
bet er, das wird behauptet und als unumftößlich hingeſtellt, und wer entgegen
geſetzter Anficht ift, wird verfegert und für unberufen erklärt. Und obfchon nach
altem Spruch nicht aus jedem Holzklgg ein Merkur wird, jo haben die Mythen⸗
forfcher Doch ſchon gar manchen Block zu einem Gott geftempelt.
In den Mythenfreis der Maurerei⸗Geſchichte gehört auch noch die an- und
vorgebliche Beziehung, reſp. Abflammung von fogenannten Culdeern, (Culto-
res Dei) in Großbritannien und Irland, doch zeigt fich hier fchon ein Uebergang
in das chriftliche Mittelalter, in dad Ordens» und Nitterbundeöwefen.
Die Euldeer bildeten eine chriftliche Glaubensvereinigung, welche fich gegen
dad römifche Papſtthum und jede Abhängigkeit von dieſem firäubte, keineswegs
aber einen Geheimbund. Fanden fie, wie man fagt und annimmt, für ihre Firch-
lichen Sittenlehren Einigung und Anhang in den Bauhütten, namentlich in
Schottland, Wales und Irland, fo geht daraus noch Feine eigene maurerifche
Berbindung hervor; indeß blühte auch der Culdeismus im 6. Jahrhundert ab.
Das Mittelalter begann, und mindeſtens in ihm follte nun ein früher
rund und Boden ded Weltbaumed der Breimaurerei gefunden werden, und
zwar im Schooße des Templerordens.
Zu den längft beftehenden geifldichen oder Mönchsorden (von ordo: Ord⸗
nung, Satung) waren zur Zeit der Kreugzüge die Nitterorben getreten, deren
Mitglieder aber geiftliches Reben annahmen und mönchifcher Regelung ſich unter«
warfen. Die 3 bebeutendften diefer Orden waren bekanntlich die Templer, die Jo⸗
banniter und die Deutfch-Ordengritter, jeder in feiner Art mächtig, einflußreich,
großartig in feiner gefchichtlichen Erfcheinung. Der tragifche Ausgang, den. der
Templerorden nahm, das furchtbare Unrecht, das an ihm verübt wurde, unwoh
\s
4 ' 0 Mulbwegeflichte,
{hn mit einer Martyrerglorie. Gin geheimniſiwoller ſymboliſchet Eult, den die
Templer geübt haben ſollen, mag Anlaß geworben fein, das ebenfalls geheimniß⸗
volle Symbolik übende Freimaurerthum auf jemen Orden zurüdzuführen, und
eine fpätere Zeit, in weldyer wirkliche Sreimaurer dies allen Exrnftes und mit Ab⸗
ſicht thaten, half darüber bei den Laien die Begriffe nur verwirren, hen
die alten Zempelritter mit den neueren Templern im Schooße des Maur
verwechfelten, oder für gleichbedeutend hielten.
Der einem Baugewerfe entleente Rame: Maurerei, nicht minder zu
Sombolen erhobene Werkzeuge jenes Gewerkes: Hammer, Richtfeheid, Senk⸗
blei, Kelle, Eirkel, Winkelmaaß u. dergl. deuten augenfcheinlich das unwiderleg⸗
bar richtige an, daß der Freimaurerbund feinen Boden im Schooße des alten
Gerwerkes der Steinmegen, Maurer, habe, von denen die Begabten und an der
Spige ftehenden zugleich Baumeifter, Architekten waren. Dies zugebend, hat
man auch bier geglaubt, nicht tief genug in die Gefchichte greifen zu fönnen, und
hat die Entftehung des Maurerbundes mindeftens bei den Römern finden wol
fen. Der weile Numa Bompiltus hatte die Bevölkerung Roms in Zünfte (Col-
legia) getheilt, von denen eines das Collegium der Bauleute bildete‘, das fh -
durch feine Kennmifle, Bildung und KHunftfertigkeit rühmlichſt außzeichnete.
Roc in ihren großartigen Trümmern predigen die Prachtbauten des alten Rome
von der hoben Einficht, vom gewaltigen Geift ihrer Erbauer. Daß auch nad
anderen Rändern römifche Baufünftler berufen wurden, daß fte ſich dort als Cor⸗
poration eng aneinander ſchloſſen und zuſammenhielten, ift begreiflih. Unter
dem.Römerfeldheren Cäfar kamen deren auch nach Gallien wie nach Britannien,
andere folgten fpäter nach, blieben im Lande ſeßhaft, und fo mag es wohl ge-
fommen fein, daß gewiſſe Regeln und Satungen vornehmlich in den Bauhütten
feftgeftellt und trenfich von den Verbundenen gehalten ,-wie geübt, aber zugleich
auch von ihnen vor den Nicht-Rundigen geheim gehalten wurden.
Es ift etwas Großes um den Zauber, den das Geheimniß auf das
menjchliche Gemüth übt: dies haben Viele wohlerwogen und unendliche Vor:
theile dadurch erlangt. Der Beſttz eines Beheimniffes verleiht gleichfam eine
vſychiſche Herrichaft jenes Beſitzenden über die Nichtbeflgenden, und zu allen
Zeiten, unter allen Völkern, jelbft bei ziemlich rohen Ratur- und Eulturzuftän-
den tritt die halbſcheue Verehrung zu Tage gegen den ober die Träger des Ge⸗
heimniſſes. Ein Beifpiel ftatt vieler fei angedeutet in dem Hebergewicht, das
auf die rothhaͤutigen Weftindier ein fogenannter „Medicinmann“ ausübt. Des
Geheimniſſes auch theilhaft zu werben, felbft unter Entfagungen, Opfern, Un»
terwerfung firenger Prüfungen, Unterziehung harter Pflichten, ift der große
Wunfch, der Durch jo viele Herzen pulft, IM ein Seelenzug, der im Wefen ter
ganzen Menjchheit durchklingt. Diefer Seelenzug verbürgt auch der Freimaurerei
ftete unumftößliche Dauer, denn ihre große Bruder- und Bundeskette kann eben
fo wenig durch eine Macht der Erde gelöft werden, als fie ſich felbft jemals wie⸗
der löſen wird,
Die Bauverbruͤderungen, Baugefellfeyaften, Baucorporationen oder wie
man dieſelben fonft nennen will, erhielten fich In Britannien auch nach Einfühs
Geſchichte, Geift und Analreitzag der Freimaurerei. 5
zung des Chriſtenthums, und da dieſelhen nicht an einen Ort für immer gebun⸗
den waren, da nach Beendigung irgend eines bedeutenden Baues die große An⸗
zahl der Werkleute anderöwo neue Beichäftigung fuchen mußte, fo ſchlugen fie
bald da, bald dort, in dieſem ober jenem Lande ihre Hütten wieder auf, Die be
ſonders dort von großer Wichtigkeit waren, wo bie erbabenften Bauwerke erriche
tet Arden, herrliche Dome und Kathebralen, vor denen noch die Nachwelt ſtau⸗
nend und bewundernd, ſteht. in großer jchaffender Geiſt ſpricht aus dieſen
Tempelbauten; bier ift mehr als bloße Meifterjchaft des Werkmaurers, der
Stein anf Stein zufammenfügt, hier reden und zeugen die Steine von bligenden:
fühnen Gedanken, vom tiefflen Srommfinn, vom Schwung der Phantafle, von
hoher Andacht, vom Durcdhdrungeniein des jchöpferifchen Gotteögeifted. Hat
doch Die. Sprache fein höheres und bedeutungsugliexe® Wprt zu erfinden vermacht,
um das Weltganze zu bezeichnen, als Weltbau, den Bau der Welt, des Alls
mit feinen ewigen Sonnen, feinen freifenden Globen , und herrlicher fonnte das
Weſen Gottes kaum bezeichnet werben, ald wie dir Breimaurerei nach Pythagorae
Vorgange Bott nennt: den großen, allmächtigen, ewigen Baumeifter aller
Welten.
Wie die Aftronomie die erhabenſte Wiſſenſchaft, jo ift tie Archi⸗
teftur die höchſte Kunft.
Dieſe Betrachtung überhebt, weitläuftig zu werden über Die Gejchichte der.
Entwidlung ber Baucorporationen in den verjchiedenen Ländern, zumal in den
früheften Zeiten, da ſich aus dieſer Gejchichte immer noch nicht mit unumftöß-
licher Gewißheit der Urfprung der Freimaurerei in ihrer dermaligen Geftaltung
nachweifen läßt. Es ift fat unmöglich, mindeſtens biöher unmöglich geweien,
in Diejer Beziehung Dichtung und Wahrheit gründlich zu fcheiden, obwohl es
unendlich ſchön und befriedigend wäre, wenn ed gelänge, Das vom Hauche der
Boeite und Phantafle jo jchön auf die Tafel gezauberte Lichtbild feftzubalten;
denn da, wo die Geſchichte der Freimaurerei beginnt, wirklich Geſchichte und
nichts weiter zu werden, wird fie fat trocken, mindeftend erjcheint fle fo in den
meiften ihr gewidmgen Schriften.
Aller wirklichen Geichichte Grund find Urkunden, N h. neben metallenen
und ſteinernen Denkmalen und Gedenktafeln von unbezweifelbarer Aechtheit und
Gleichzeitigkeit — Briefe und Siegel, auch Documente geheißen, vom lateini⸗
ſchen Worte Documentum: ein Beweis. Beweisführend ſollen und müſſen
ächte Urkunden fein; gar Viele nennen Urkunde, was im archivalen Sinne dies
fen Ramen gar nicht verdient.
Aber allerdings haben fich ächte und wirkliche Urkunden, Sapungen alter
Baugewerke enthaltend, vorgefunden, welche fo gedeutet werten Eonnten und io
ausgelegt worden find, daß fie der Breimaurerei einen Urfprung im Mittelalter
begründen, theils lapidare, theils ſchriftliche. Zu erfleren gehören gewiſſe Zei-
chen und ſymboliſche Embleme an großen Bauwerken, jowohl des gothifchen als
auch des romaniichen Styls, und an Öurten und Gefinifen der Außenmauern, wie
der Thürme, welcher zum Theil, aber auch nur zum Theil, die Freimaurerei fich
bedient. Diefe Zeichen find vorzugsweiſe das Dreicd und das Heralpha, A und
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68 iſt für den, der eifrig fucht, nicht ſchwer, zu finden, wie ſchon oben ans
gedeutet ward, Will man aus Einzelheiten ein Ganzes hinſtellen, fo laſſen ſich
Beſtimmungen
allerdings in den Steinmetzordnungen finden, welche auch in der
Imaurerei Geltung gewannen, allein es findet fich dergleichen auch
ſchon in den Ritterbundniſſen des
Mittelalter.
Die alte Straßburger Steinmegenordnung geht nicht höher als bis zum
Jahre 1459 hinauf, eine Torgauer Ordnung datirt vom Jahre 1462, Verfaſſer
diejes hat in dem maurerifchen Taſchenbuche Afträn, Jahrgang 16, 1851/52
das Statut eines fränfifchen Ritterbündniffes mitgetheilt, das überrafchend Ein-
richtungen vor Augen legt, die ſich im maurerifchen Sinne deuten faffen,, wenn
man biefelben alfo zu deuten und audzulegen geneigt ift.
> Jenes „Mitterbündniß mit Vorbildern maurerifcher dans ift vom
Richaelistage 1387 | ‚if folglich 77 Jahre älter als &ie aͤlteſte deutjche
Etrßbärger) und thut dar, wie wohl durchdacht, ftreng
gegliedert und jetbft ſittlich Hocftehend ſolche enge Berbindungen des Mittel-
alters waren, Immer aber erreicht jene Satzung nicht die ethiſche Höhe der
Sagungen des heutigen Maurerthums, und man würde irre gehen, wenn man
behaupten wollte, daß nun diefe die ächtefte und Ältefte Urkunde der Freimau—
verei im Deutfchland fei, während andere fpätere runden’ ft Hiefelße'ansätge-
ben wurden, die es eben jo wur ‚Denn Die Heutige maurerifche eigentliche
Spmbolik und Bilderſprache fehlt beiden Doeumenten. Um Sefern, die der
Schreibwelie des Mittelhochdeutſchen nicht Eundig find, nicht mit zum Theil
schwer verftänblichen Ausdruͤcken Läftig zu fallen, follen Hier nur die begiehungs-
reichen Beflimmungen ber Urkunde in heutiger Schriftipradhe mitgerheilt werden.
Der Ritterbund, welcher diefe Statuten aufrichtete, zählte unter feinen Mite
gliedern die Hedeutendften Grafen und Edelleute des Franfenlandes, jo unter
"anderen Grafen von Henneberg, Caſtel, Rieneck, Wertheim, und aus theil® er⸗
%
Geſchichte, Geiſt und Ausbreitung der Freimanrerei, 7
loſchenen, theils noch blühenden jetzt freiherrlichen Geſchlechtern, Glieder aus:
den Haͤufern der von Bibra, Aufſeß, Heßberg, Truchſeß, Rotenhan, Lichten⸗
ſtein, Waltershauſen, Voit von Salzburg, Marſchalk, Muͤnſter, von der Thann,
vom Stein, von Wenkheim, Streitberg, Veſtenberg und viele Andere.
Diejenigen Satzungen, welche im fpäteren Maurerthum einen Wiederhall
ſinden, ſchreiben vor: Uebereinſtimmung in der Bekleidung, einen König und 2
zu Rathe, auf Jahresfriſt gewaͤhlt; das waͤren der Meiſter vom Stuhl und der
erſte und zweite Aufſeher, welche die Zufammenfünfte berufen. Es werben all⸗
jährlih 2 Gapitel gehalten (2 Jahresfeſte). Jahresbeiträge find feftgeftellt.
Guter Ruf jedes Angehörigen foll durch die Bundesgenoſſen forglich über»
wacht werden. Anklagen werden im Gapitel vorgebracht und erledigt. Wer fich
den Beichläflen des Capitels, (an defien Stelle nur das Wort Loge zu ſetzen wäre)
nicht fügt, „sol die gesellschaft ahtun“ wenn ihm das vom König und deſſen
Zugeorbneten geboten wird, und in feiner anderen Gefellichaft Aufnahme und
Zutritt erlangen. - Demnach Dedung und Ausfchluß.
Gernere Beftimmungen für die Bundedangehörigen waren: brüberliche
Treue und gegenfeitige Hülfeleiftung unter fh, vor allem Gehorſam eines jeden:
gegen feinen rechten Herrn, und will Die Geſellſchaft keinen in feiner Dienftpflicht-
irren oder hemmen. Alljährliche Neuwahl des Königs (Meiſters). Frauen
der Verbündeten follen bei einem Hofe (Feſte) Zutritt Haben, was an die Schwe⸗
fterlogen wohl erinnern könnte. Der König fol felbft die ihm zugeordneten
beiden Beamten wählen, „doch mit Wiffen und Worten‘ (Zuflimmung) der Ges -
jelichaft.
Weiter lautet ein fehr wichtiger Artikel der Urkunde, „der König und die
Zweie follen gleich gemein fein, Grafen, Herren, Ritter und Knechte, als fie das
erkennen auf ihre Treue und Gefellfchaft dem Reichen wie dem Armen in allen
Sachen, und follen auch der König und die Zweie darin Eeinerlei Vortheil
fuchen”. Alfo auch hier die völlige brüderliche Bleichheit, ganz wie im Logen⸗
bunde. Doch nur im erften Jahre, dem der Bundesbegründung, wurde die Aufe
nahme neuer Mitglieder dem König und feinen Zugeordeten anheimgegeben,
fpäter follte darüber das Capitel entfcheiden, was jedenfalls durch Abftimmung
geſchah. Der König jollte den Stiftungsbrief aufbewahren und bei ten Stif⸗
tungöfeften zum Vortrag bringen. Nach feiner und der beiden Vorfteher An⸗
ordnung foll zum Gedaͤchtniß verftorbener Bundesangehöriger ein Trauer⸗Capi⸗
tel verfammelt werden (Trauerloge).
Söhne der Berbündeten Eonnten nach zurüdgelegten 18. Lebensjahre,
wenn Die Gefellichaft befand, daß fle zu ihr „gut und nütze“ jeien, aufgenommen
werden, ein Artikel, der lebhaft an den Zutritt der maurerifchen Luftons erinnert.
Bei der Aufnahme ward dem Könige „mit handgebender Treue’ gelobt, feit an
der Sagung und am Bunde zu halten. Für pünktliche Zahlung der Geldbeiträge
war ebenfalld Sorge getragen, und wer die vorgefchriebene Kleidung im Gapitel
anzulegen vergaß, hatte 1 fl. Strafe zu entrichten. Ohne vorherige Meldung
an den König und ohne deſſen und der Vorſteher Zuftimmung Eonnte Keiner
audtreten. Entfernung aus tem Lande auf mehr ald Jahresfrift und Rachwei-
8 Si Gulturgefchichte.
fung eines oder des anderen der 4 Rothhaften durch Waſſer, Feuer, Gefängniß
oder Krankheit befreiten den Einzelnen von dem @eldbeitrag, oder von der Er⸗
Iegung von Strafgeldern.
In äußerer Einrichtung zeigt demnach dieſe Urfunde ungemein viele Achn-
lichkeiten mit heutigen Logenfahungen auf, allein Symbolik, Feierlichkeit, Ge⸗
beimnig, Ceremoniell bei Aufnahmen, Grade u. j. w. find ganz und gar nicht im
ihr enthalten, und man kann auch fle Feine eigentliche Freimaurerurfunde
nennen. — Die Cõlner Urkunde, vom Jahre 1535, gilt jegt für ein Falſum.
Nicht Urfprung, wohl aber Begründung der Breimaureret läßt fich
aus den alten Steinmegen- und ähnlichen Bündniflen nachweiien; fchliegen und
folgern läßt fich aus denfelben, daß ganz allmählich von denen, welche die Idee’
eines fittlich hoben, geiftig gewichtigen Männerbundes zuerft im begeifterten Ins
nern trugen, alles vorhandene irgend brauch- und annehmbare geprüft und Das
von das Beſte behalten wurde. ‚Nur langfam reifet die Kraft, nur allmälig
dämmert das Licht im Often. Biel zu irrig und viel zu lange bat man die
Geſchichte der Bangefellfchaften und die der Freimaurerei für identifch genom⸗
men, nicht den Kern von der Schaale gefchieden. Ohne den alten Baucorpora⸗
tionen nur im entfernteften zu nahe treten zu wollen, fo war doch ihre hand⸗
werfömäßige Sinrichtung, ihr zunftmäßiges Geheimthum nur die Schaale, in
welcher langſam reifend der Kern des Maurerthums fich entwidelte, um als ein
Saamenforn zum Baum zu erwachien, der feine blüthen⸗ und fruchtvollen Zweige
nun über fünf Erdtheile ausbreitet.
Wie angenehm ed immer für den deutjchen Patriotismus wäre, den Urs
fprung der Freimaurerei für Deutfchland beanfpruchen zu Eönnen, fo würde dad
Doch ein Verhältniß ergeben, gleich jenem, wenn Holland Deutfchland gegenüber
die erfte Wiege der Erfindung der Buchdruderkunit zu fein fich aneignet. Die
Freimaurerei wurzelt ein für allemal in England, wenn auch der angelſächſiſch⸗
deutſche Geiſt ihre Elemente vorbildete, und Ehre fei und bleibe dem Genius
des englifchen Volkes, das ja der Welt auch den größten dramatijchen Dichter
ſchenkte, die urfprünglicdye Heimath der Töniglichen Kunft zu jein.
Schon der Rame: Freimaurer begegnet ald Free Masons zuerft in
England, und verftand unter diefer Benennung diejenigen Werkmaurer, welche
freiftehente Quadern bearbeiteten; e8 war aljo mit diefem Worte vorerft weder
der Begriff einer fittlichefocialen, noch einer politijchen Freiheit verknüpft. Wenn
bei diejen von „‚befonderen Erfennungszeichen‘‘ die Rede ift, fo find dad die ur-
altüblichen Steinmetzzeichen geweſen, die zahllos an allen Bauten des Alterthums
angetroffen werden, und an benen nichts weiter erfannt wurde, aldö ter Rame
ihres Arbeitere. Da es fehr lange gedauert bat, dieſe Zeichen in den Bereich
geichichtlicher Forſchung zu ziehen, was erft in neucrer Zeit gejchab, jo gewannen
jene Zeichen den Anhauch von etwas Geheimnißvollen, Unerklärbarem, Myſti⸗
fhem. Sie find und waren aber nichts, ald cine oft runenähnlich geftaltete
Beichenfchrift ohne alle tiefere Bedeutung. Der Meifter erfannte bei der Abrech⸗
nung mit den Gefellen und Lehrlingen an jenen Zeichen deren Arbeit. Ob jene
Free Mafons unter ſich noch geheime Verbindungen unterhielten, die über die
Geſchichte, Geiſt und Ausbreitung der Freimaurerei. 9:
Grenzen dea Zunftmaͤßigen hinausgeſchritten, weiß Niemand mit Gewißheit, und
es iſt ſehr zu bezweifeln, daß es im Sinne bed wahren Maurerthums der Fall
geweien. Gefellenbünpnifle, wohl auch geheime, hat ed immer gegeben und giebt
es noch, es find aber jchwerlich unter ihren Theilnehmern ächte Freimaurer.
Indeß der Freimaurerbund nennt fich nach der Werkmaurerei, er hat au:
berfelben fombolifche Bilder entiehnt, einen Tempel, einen Tempelbau, Steine
umd Werkzeuge zur Bearbeitung des Letzteren. Das ift geichehen, indem be
gabte Männer zu einem Bunde zufammentraten, ber den Kern von des Schaale,.
den bebauenen Stein vom rohen, das Handwerk vom Beiftwerk fonderte und:
fihied, und das technifche Kunſtwerk zu einem idealen erhob. ee
Aber wann und wo diefer neue geiftige Maurerbund zuerft geichloffen wurbe,
und wer feine Orüuder waren, das weiß Niemand, vielmehr leiten jelbft die
gründlichften Forſcher immer wieder zu den Bauhütten zurüd, in denen Doch:
hauptfächlich die Kunſt der Architektur das fpätere belebende Princip abgab, wo⸗
bei ſelbſtverſtaͤndlich die mathematische Wiffenfchaft auch im allgemeinen zur
Geltung Fam, und die phyfifalifche nicht minder, denn dieſe mußte Mörtel und.
Farben bereiten Ichren und mit Mechanik wie mit Hydraulik Hand in Hand
gehen. Da ergaben ſich gar bald durch Erfindung mandherlei Kunſt⸗Geehe i m⸗
niffe, die nicht jedem offenbart wurden, und der Saamenflaub aus der Blüthe
des Geheimniffes fiel befruchtend in die Rarbe der Zukunft.
Die zum Theil heute noch üblichen Zeichen und Symbole der Freimaurerei
folfen erft oder auch bereits 1649 eingeführt, und um diefelbe Zeit follen auch.
3 @rade: Lehrlinge, Gefellen und Meifter feflgeitellt worden fein.
Aid ein bedeutender Rame an der Spige der englifchen Bereinigung, welche ich:
den Ramen Freimaurer beigelegt, und fi) des Schutzes König Karld Il. zu er»
freuen batte, tritt zuerft der von Chriftoph Wren hervor, ded berühmten Er⸗
bauerd der neuen Paulskirche in Kondon, (nach Dem Vorbilde der Pereröfirche
za Rom) der Stephandfirdye, des Wertminfterfchloffes und anderer großartiger
Bauten. Er war nach dem großen Brande von London 1685 an die Spige aller
Baugewerfe getreten und benugte vorgefundene Elemente zur Weiterausbildung:
großer: umfaffender, moralifcher und geiftiger Ideen. Mit ihm erft tritt daB
heutige Freimaurerthum wahrhaft und fehl begründet in die Gejchichte, wenn
auch bereit8 vor ihm ſchon etwas vorhanden war, das man Logenthbum oder LXom:
genwefen nennen konnte. Wren reformirte diefe Einrichtungen und wurde, nach⸗
dem ee Großaufſeher, dann dreimal deputirter Großmeiſter geweſen war, 1685
wirklicher Großmeiſter, was er bis 7 Jahre vor feinem Tode blieb. Er ftarb im
boben Alter als Yljähriger reis im Jahre 1723. Unter Wren gehörte ſelbſt
König Wilhelm III. von England ven Maurerbunde an, deshalb nannte fich Die
Freimaurerei eine Königliche Kunft, und ed wurde unter demfelben Könige
die erfte Großloge in London begründet. Schon gab ed der Kogenverbindungen
viele, und jede legte jich auch einen Eigennamen bei, wahrfcheinlich zuerſt nach
den Schilden der Häufer, in denen fie ihre Berfammlungen hielten. Bier Logen
Londons vereinten ſich im Jahre 1716 zur Begründung einer neuen, höchſten
Großloge, und wählten, da Wren wegen feines hohen Alters den Großmeiſter⸗
10 nrasamıy Cuilturgeſchichte. ae nen⸗
Gamust derſelden micht ſahien dennn, 117; Autaa Saur für: deſeo ic
— —— iiber wer me aa ne rn A er
die Großloge begründet hatten
an rn and. Daffelbe erfchien unter dem Titel: The
:onstitution of the Free-Masons, London 1723, warb fpäter umgearbeitet, wie
vermehrt, und ging in Ueberfegungen faft in alle Sprachen der Länder über, in
denen Kogen errichtet wurden, da das Werk als Grundftatut ber Maurerei ber
— — ee Vorrecht älteften Beſie-
hens in Anſpruch nahm, ja ihr Alter auf die in Mork ſchon ſeit alten Zeiten be—
fanden Habende Bauhütte bis auf eine bafelbft im Jahre 926 ftattgehabte
maſoniſche Verſammlung zurücführte. Auch in diefer Großloge war die Werk-
maurerei geiftig gehoben und verflärt worden, beide Großlogen waren im Prin=
zip miteinander völlig einverftanden, allein es lag doch eine Spaltung in ber
Natur der Sache, indem das Nitnal beider Großlogen verfchieden war, und
die Morker ihre altüberkommenen Gebräuche nicht abändern wollte. So entftan-
ben zwei Spfteme, das altenglifche oder horker, und das neuenglijche oder Ion=
doner; man wechjelte Parteijchriften gegen einander und fuchte fich nach außen
Anhang zu gewinnen. Gine Anzahl älterer Logen hielt fich zum horker Syftem;
die Logen Irlands verbanden ſich 1730 zu einer vom beiden englifchen unabhän-
gigen Großloge in Dublin, die ein auf das Anderſom ſche begründetes Gon-
ftitutionsbuch durch Pennel beforgen ließ. Die ſchottiſchen Logen begründeten
1736 eine ebenfalls unabhängige Großloge zu Edinburg, und Anfehen, wie
Einfluß des fchotrifchen Logenthums wurde ungemein bedeutend. Die Politik
„ blieb den Logen Großbritanniens und Irlands jo wenig ferm, wie denen in
Franfreich, wo fich, nachdem ſchon im 17. Jahrhundert dort Verbindungen unter
—— worden waren, doch erſt 1725 die erſte eigentliche Loge zu
Paris begründete. Cine Loge unter dem Namen Glermont'fches Hochkapi—
tel nahm ein nach ihr benanntes, von den übrigen vorhandenen völlig unabhän⸗
giges Syftem an. Die maureriſchen Geſchichtforſcher behaupten, Daß an Errich-
tung dieſes Capitels die Jefuiten weientlichen Einfluß gehabt, und daß dieſe es
auch geweſen ſeien, welche zuerft bie Breimaurerei zu einem Nachklang des er-
loſchenen Templerordens, zu wie deffen Erbin geftempelt hätten,
Das lebhafte Element im Charakter der Franzoſen überließ fich nur zu gern
phantaftiihen Eingebungen und trug dergleichen in den Ernft des Maurerthums.
Es wurden Grade auf Grade gehäuft, von den einfachen urfprünglichen 3 Gra⸗
ben ſtieg man auf 3 mal 3, auf 33, und zulegt auf 3 mal 30, Eine Fülle von
Gefchichte, Geil und ‚Ausbreitung ber Freimaurerei. 11
Ceremonien, Inſignien, Karben, Bändern, Chargen, Aemtern x. kam auf, eine
merkwuͤrdige Sucht nach Decorationsprunk blendete Die Neulinge und ſchmeichelte
der Eitelkeit, und dieſem Geiſt und Einfluß iſt es hauptjächlich zuzuſchreiben,
daß im Mafonenbunde noch fo mancher, wenn das Wort Freimaurerorden
außgefprochen wird, nicht an die alte Ordo, bie Segel, denkt, fondern an bie
fo mannigfachen Zeichen und Sterne, die an bunten Bändern um den Hals, auf.
der Bruft oder im Knopfloch getragen werden. Auch eine Menge franzöftfche
Worte neben einigen englifchen fegten fich in auswärtigen Logen, und namentlich
in deutichen feſt, Folge des Uebergewichts, das bie franzöftfche Sprache fich ge⸗
wann, Worte die man niemals abzulegen und mit deutfchen zu vertaujchen ges:
fonnen fcheint. Die Ausprüde Majonerie und Loge errangen in deutſcher
Sprache das Bürgerrecht, Bijou nennt man noch immer den maurerifchen
Schmuck, als ob man nicht das ungleich edlere, höheren Sinn ausbrüdenbe
deutfche Wort Kleinod dafür hätte, u. f. w.
Jegliche Schwärmerei und Gauflerei fand und findet jederzeit in Frankreich
fruchtbaren Bpden, jo die politifche, Die alchymiftifche, die theofophiftifche — und
die Myftagogen flanden fich dabei vortrefflich, indem fle trugliftig den Reophiten
unter dem Deckmantel ber Freimaurerei das Geld aus dem Sädel ſtahlen, indem
ſte deren Reichtgläubigfeit und den oben erwähnten Drang in der Menjchenfeele,
deren Zug nad) Erfenntniß des Gcheimnifles und Einblick in dafjelbe ſchlau be=
nußten, Wunderdinge und Offenbarungen vorfpiegelten, irdiſches Beſitzthum und
überirdifche Macht über die Geifterwelt in Ausjicht ftellten, und durch viel und
mancherlei Hocuspocus darthaten, wie ſchwach im Ganzen das menfchliche Ge⸗
müth ift, und wie dad uralte „mundus vult decipi“ von einem Jahrhundert In
das andere herüber feine Macht bewahrt und bemahrbeitet.
Da einmal von Frankreich die Mede ift, fo ftehe gleich Hier, daß die Kreis
maurerei in diefem Lande, wo fie fich fo zahlreiche Anhänger gewonnen, auch
nicht ohne Verfolgung blieb. Ludwig XV. verbot fie zu Drei verfchiedenen Malen
ganz, und Staat und Kirche fuchten fie zu unterdrüden, ja Bapft Benebict XIV.
fchleuderte im Jahre 1751 eine Bannbulle gegen diefelbe. Das vermochte nun
allerdings nicht, die immer flärfer werdende Verbreitung des Logenlebens in
Frankreich zu hemmen ober gar zu unterbrüden, aber in diefem Leben felbft ent»
landen für lange Zeit dauernde trübe Spaltungen, welche der Sache der Maus
rerei nachhaltig fehadeten. Doch auch diefe Wolfen fchwanden ; in der napoleoni⸗
fhen Zeit flieg das franzöflfche Maurertbum zu hoher Blüthe. Parid allein
umfapte im Jahre 1812 nicht weniger ald 130 Logen, in ganz Branfreich zählte
man deren gegen 2000, und noch gegen 100 Feld» oder Militairlogen. Ia felbft
die Marine blieb nicht unbetheiligt, und manche SapitainsGajüte wurde zur
Loge umgewandelt.
Die bedeutendften Zogen Frankreichs: der Grand-Orient, die Grande Loge,
ber Supr&me-Conseil blieben demohngeachtet im gegenfeitigen Zwieſpalt, ber ſich
noch in daß vierte Jahrzehend des Inufenden Jahrhunderts fortfegte. Die Iefuiten,
früher am Bunbe betheiligt, verfolgten ihn lebhaft, und im Jahre 1845 wurde
durch den Marichall Soult dad Verbot der Betheiligung ber Armee an ben Logen
erieften, was aber nöllig erfolglos. blieb.
Don Frankreich aus wurde die Freimaurerei eifrig. nach anderen Ländern,
Gin verbreiter, und wie biefelbe von England aus nach den vereinigten Staaten,
nad Wehtindien, nad St. Helena, nad) dem Caplande, nach Oftindien u. f. w.
übertragen worben war, fo kam fle durch Frankreich in deſſen überfeeifche Colo⸗
nieen, nach der Infel Bonrbon, nach Guadeloupe, Martinique, Guyana und
nach Algerien, naͤchſtdem daß zahlreiche Logen in Belgien, in der Schweiz, in
Dfindien und auf Eeylon, in Senegambien, im Gaplande, wie auch in Weſtin⸗
dien und in den vereinigten Staaten Rordamerifad unter dem Grand- Orient
Frankreichs ftehen und arbeiten.
Im Rutterlande der Sreimaurerei, England und Schottland, blieb man
ſteis eifrig thätig für deren Weiterverbreitung auf dem europäiichen Feftlande
und in den übrigen Welttbeilen, blieb aber auch nicht ohne innere Kämpfe,
welche indeß durch den edlen Geift, der das Lebendelement des Maurertbums
bilden foll, großartiger Verföhnung entgegengeführt wurden, die im Jahre 1813
unter den beiden fürftlichen Brüdern, dem Herzoge von Suſſex, Großmeifter der
Modern-Masons , und dem Herzoge von Kent, Grofmeifter der Ancient-Masons
Start fand, worauf nun die jegige vereinigte große Loge der alten eng-
liſchen Sreimaurerei unter der Großmeiſterſchaft des Herzogs von Suffer
gebildet wurbe, welche nach einem einfach edlen Rituale arbeiter und 1815 ihr
neues Conſtitutionsbuch veröffentlicht hat.
In Schottland Hatten ſich die Logen des Streited der englijchen über An-
cient- und Modern-Masons enthalten, daflelbe fcheint .auch in Irland der Fall
geweſen zu jein, und fo blüht in der Gegenwart auf dem britiichen Infelreiche
unter dem Scepter und Schirm einer weifen und herrlichen Königin das Mau
rerthum gleich einer Sonnenroje, die nach allen Weltpunkten Hin ihre Strahlen-
radien wirft, fie blüht im Gefühle des edelften Freiheitbewußtſeins, des Gehor⸗
ſams gegen die Geſetze, des Wohlthätigkeitfinnes, der Bruderliebe und der
wahren Menjchheitvereblung.
Ehe in diefem Ueberblic zur eigentlichen flatiftiichen Verbreitung der Frei«
maurerei über die ganze Erde gefchritten wird, ziemt es, die Gefchichte ihrer
Verbreitung zunaͤchſt im deutjchen Baterlande in das Auge zu faffen, und auch
einiges über das innere Wefen der Freimaurerei, des eigentlichen Maurerthums
zu fagen. Die erite deut ſche Loge wurde von England aus im Jahre 1733 in
Hamburg begründet, feheint aber langen Beftand nicht gehabt zu haben, ba
nähere Rachrichten Über diefelbe mangeln. Im Jahre 1737 entfland dort eine
Provinzialgroßloge, aus welcher die noch beftehende Großloge von Hamburg und
Riederſachſen hervorging. Abgeordnete jener erften Logen aber waren es, welche
im Jahre 1733 zu Braunfchweig den Kronprinzen von Preußen, nachmaligen
König Friedrich U. in den Maurerbund aufnahmen, wodurch für letzteren ein
Grundſtein von unberechnenbarer Dauer für Preußen nicht nur, fondern für ganz
Deutichland gelegt wurde. Denn nachdem Kronprinz Friedrich 1740 König
geworden war, wurden Zogen in ganz Preußen begründet, und zwar war deren
Geſchichte, Geiſt und Ausbreitung ber Freimaurer. 13
wichtigfte zunächft die im beinfelben Jahre zu Berlin begrändete St. Johaumis-
'toge auı troix glabes, bie fi 1744 zur großen Rationalmutterloge erhob.
keider mußten Damals und nech Tange nathher aus leidiger einjeitiger Borliebe
der Hoch⸗ und Höchfifiehenden für die franzöfliche Sprache auch die Namen der
Logen franzöftich ausgefprochen werden. Es gab eben damals noch fein deut⸗
ſches Selbſtbewußtſein. Im Jahre 1752 wurde ebenfalld in Berlin die Loge
„Boyal-York zur Fteundſchaft begründet, welche im Jahre 1798 zur Großloge
erflärt ward, während die 1770 gegründete ,‚Bandesloge von Deutfchland’ bereits
1773 zum Großorient erhoben worden war. König Friedrich II., ber Große
und Ginzige, war jelbft Hammerführender Meiſter. Ban fpricht von einer tief
niederfchlagenden Erfahrung, welche der König Durch den Verrath eines Bruders
gemacht haben foll, und welche ihm Veranlaffung warb, den Hammer niederzus
legen und aus dem Bunde zu fcheiden, Doch habe feine große Seele dad letzterem
wicht entgelten laffen. Es ſcheint aber dieſe Erzählung viel fagenhaftes Element
zu enthalten und nidyt unbedingt glaubhaft.zu fein. Der Maurerbund biieb in
Preußen in fletö fortichreitender Thätigkeit; auch König Friedrich Wilhelm 11.
war Maurer, und König Friedrich Wilhem III. fprach das bedeutende babe
Königdwort: ‚Die Freimaurer find meine getreueften Unterthanen,“ und geftat«
tete gern, daß fein zweiter Sohn, Friedrich Wilhelm, Prinz von Preußen,
Protector des Maurerbundes im ganzen Königreiche wurde, was auch König
Sriedrih Wilhelm IV., nachdem diefer 1840 den Thron feiner Väter ber
fliegen hatte, gern und willig beflätigte. Lind der erhabene Protector des Maus
serbundes in Preußen, ber jeßige Prinz Regent, bat am 5. November drö
Jahres 1858 unter Zuziehung von Abgeordneten der 3 Berliner Großlogen
Höchſtſeinem Sohne, dem Prinzen Friedrich Wilhelm Höchftfelbft die Weihe
des Maurerthumd ertheilt, und vorher es in geüffneter Loge audgeiprochen, „daß
defien Zufunft dem Orden für lange Zeit eine Bürgichaft für den Fräftigften
Schug dann fein werde, wenn der Orden feine reine Lehre unverbrüchlicy ber
wahre und aufrecht erhalte”. Es geichah dies in derfelben großen Landesloge, in
welcher Se. Königl. Hoheit der Prinz von Preußen Höchftfelbft das maurerifche
Licht empfangen hatte, und zwar führte Se. König. Hoheit der Prinz von Preu⸗
Sen denfelben Hammer , mit welchem vor mehr als hundert Jahren der unſterb⸗
liche Ahnherr, König Friedrich IT. feine Kogenarbeiten leitete, nächit dem, mit
welchem der König von Preußen jelbft die Weihe für den weltumfaflenden Bru⸗
derbund empfing. Hochbedeutungsvolle Worte fprach bei diefer hehren Feier
der durchlauchtigfte Protertor des preußiichen Logenbundes zu Höchſtſeinem neu⸗
aufgenommenen Sohne, Worte, welche werth find, in Marınor und Erz gegra⸗
ben zu werden, fo unter anderen: „Es fehlt nicht an lauten Stimmen, die außer⸗
halb des Ordens ftehen und fidy bemühen, denjelben zu verdunkeln; — wie Ich
Kiemand ein Recht zugeftehen kann, über den Orden abzuiprechen, der ihn nicht
kennt, fo werde Ic auf Grund der Mir gewordenen Erkennmiß nie folchen
Stimm ein Gehör ſchenken,“ und ferner: „Sei und werde Du alfo dem Or⸗
den ein ftarfer Echug, dann wird nicht allein Deine eigene Zukunft eine geflcherte
fein, Tondern Du wirft überhaupt das herrliche Bewußtſein in Dir tragen, dahin
14 iin 29 Gulturgefäichte. Fr ah ng
gefirebt zu Haben, bad Wahre und Gute um Dich verbreiten zu wollen. —
Es ift faum eine der bebeutenberen Städte bed Königreiches Preußen bermalen
ohne eine Loge, wo berem nicht mehrere find, und in allen ift im Hinblick auf
ein ſolches Protectortum, einen folgen Schuß, eine folche erhabene Bruberge-
finnung, ein freubiges und erhebendes Maurerleben ſichtbar. |
Anders hat fi im großen Kaiferftaate Defterreich das Leben ber Frei-
maurerei geftaltet, nachdem biefelbe allerdings bereit8 1744 dort Boden gewon-
nen hatte. Maria Iherefla, die Feindin König Friedrichs des Großen, war auch
eo ipso eine Feindin des Maurerthums, weil fie daſſelbe nie nach feinem wahren
Weſen Eennen lernte. Daher ihrerfeits ſtrenge Verbote, dann doch wieder durch
den Gemahl, Kaifer Franz I., dann unter Jofeph II. Anerkennung und fogar
Gründung von Großlogen zu Wien und Prag. Leider fchien diefe Sonne nur
kurze Zeit und die alte Urnacht flieg wieder Alles verfinfternd herauf. Die Kai⸗
fer Leopold II. und Franz II. erneuten die frühere Unterbrüdung, ja Franz II.
beantragte dieſelbe bei allen deutichen Höfen, welche jedoch nicht darauf eingin-
gen und den Antrag ablehnten, zumal die Sefandten von Preußen, Hannover
und Braunfcweig.
Die Freimaurerei wurde in Oefterreich verboten, und jedem Staatsdiener
namentlich eiblich auferlegt, dem Bunde nie anzugehören.
Bayernhatfich ebenfalls der Freimaurerei weniger. angefchlofien; ald Mann
beim noch bayerifch war, wurde bort, bereit8 1737, eine der erften Logen errich-
tet, und das Maurerthum wäre vielleicht im nachherigen Rönigreiche treulich forte
gepflegt worden, wenn nicht der durch Profeflor Adam Weishaupt 1776 zu
Ingolftabt geftiftete Orden der Berfectibiliften, fpäter Jlluminaten ge
nannt, durch großartige Phantaftereien jenem gefchabet hätte. Weishaupt war
ein befähigter, aber unruhiger Kopf, Iefuit geweſen, Hatte jedoch Dem Orden ent-
fagt und fehwärmte für Menſchen⸗ Staaten= und Weltverbeflerung. Er war
nicht Freimaurer, gab aber dem Orden, den er gründete, maurerifche Kormen,
und fuchte endlich die Freimaurerei mit demfelben ganz zu verfchmelzen und in
ihm aufgehen zu laſſen; auch den ſchottiſch maurerifchen Ritus mit höheren Gra⸗
den als den gewöhnlichen der St. Johannislogen nahm Weishaupt in fein Or-
densſyſtem auf, und von zweien diefer höheren Grabe, dem Illuminatus major
und Illuminatus dirigens wurde dem neuen Orden der Rame Illuminaten
zu Theil. Dies alles Hätte immerhin fein mögen, wenn ber Orden in der Bes
folgung und Verbreitung rein ethiſcher Grundfaͤtze geblieben wäre und auf Men-
fehenvereblung und brüderliche Liebe hingewirkt hätte, allein Weishaupt ging viel
weiter und allzuweit. Er führte Myfterien ein, ertheilte einen Prieftergrab,
einen Negentengrad, fchuf einen Magus und einen Her, wollte feinem
Orden Einfluß in Staatdangelegenheiten gewinnen, und nebenbei, was Haupt⸗
fache, auch die Staatsämter mit guten Einkünften, gerade das, was die Frei⸗
maurerei nicht zu erſtreben fuchen foll und will, und e8 gelang dem Ordens»
gründer in der That einige taufend Mitglieder zu gewinnen und felbft Regenten
von Flarem Blick, wie Herzog Ernſt I. zu Sachſen⸗Gotha, für feine hochfliegen«
den Ideen einzunehmen, der ihn fpäter auch ſchuͤzte und fchirmte, ihn mit Titeln
Gefchichte, Geiſt und Nupbreituäg der Freimaurer. 15
beehrte und ihm eine. Benflon gab, obſchon der Herzog feine von dem Orben,
bem er felbR unter dem Ramen Timoleon angehörte, gebegten Grwartungen
nicht befriedigt gefunden Batte, aber mancherlei Berirrungen von Ordensange⸗
hörigen dem Begründer nicht entgeiten ließ. Durch Iefuiten und ErIefniten
verleitet, erließ der Kurfürft Karl Theodor von ber Pfalz und Bayern tn ben
Jahren 1784 und 85 mehrere firenge Ebdicte gegen den Orden, und Weishaupt
wurde auf eine Weiſe perfönlich verfolgt, die in keinem echte begründet war;
viele Ordendglieder wurden zum Theil ihrer Aemter entfegt, eingekerkert, andere
bed Landes verwiefen, und fo mit dem Illuminatenorben zugleich auch bie Kreis
maurerei gewaltfam unterWädit, fo daß noch heute Fein Staatsbeamter im Koͤnig⸗
reich Bayern Freimaurer ſein darf. Nur in den an Bayern 1807 von Preußen
abgetretenen fraͤnkiſch⸗ brandenburgiſchen Provinzen Ansbach und Baireuth duͤr⸗
fen Logen fortbeſtehen. Baireuth befigt eine ſolche bereits ſeit 1740, welche zur
Großloge erhoben iſt, und es bluͤhen unter ihr mitten im Druck um ſo freudiger
und hellleuchtender die Töchterlogen zu Rürnberg, Fürth, Erlangen, Hof und
Frankenthal. Außerdem hat auch Regensburg eine ifolirte Loge.
Auch in Würtemberg wurden 1784 die Logen durch die Staaieewalt
unterdrüdt, aber 1836 wieder ohne Beſchraͤnkung geöffnet.
Im Königreih Sachſen wie in den ſaächfiſchen Herzogthümern fand vie
Sreimaurerei ebenfalls frühzeitig Fingang. In Dredden, Leipzig, Baugen,
Raumburg, Rofien sc. bildeten ih Logen, ebenfo in Weimar, Jena (eingegangen),
Eiſenach (desgl.), Meiningen 1741 und 1774, Gotha 1793 und 1806, Alten⸗
burg 1742, Hildburghauſen 1787, Coburg (dort erſt ſeit 1816), zu denen in
ber Neuzeit noch zahlreiche Oriente kamen. Es iſt bekannt, daß in der Loge
Ernſt zum Compaß in Gotha der regierende Herzog zu Sachſen Koburg · Gotha
ſelbſt hammerführender Meifter iſt.
Die große Lantesloge von Sachſen in Dresden vereinigt mit Aus⸗
nahme zweier Logen zu Leipzig in fich alle Logen des Königreidyes und Die Loge
der berzoglichen Refidenzftadt Meiningen.
Im Großherzogthum Baden belchte fi nach dem Anfalle Mannheims
an daſſelbe in diefer Stadt die unter bayerischer Oberherrſchaft gefchloffene Loge
wieder, und wurde dafelbft ein Broßorient errichtet. Im Jahre 1813 nochmals
unterdrüdt, wurden gleichwohl 1846 und 1947 die 2X. zu Mannheim und
Karlsruhe wieder aufö Neue eröffnet.
Im Kurfürſtenthum Heffen, wo früher unter verfchicdenen Sand-
grafen und felbft unter der fpäteren franzöſiſchen Gewaltherrichaft das Logen⸗
leben geblüht hatte, ift Dermalen Das maureriſche Licht unter den Scheffel geftellt.
Anders. dagegen ift e8 der Fall in dem flanımveriwantten Großherzogthum
Heffen, wo drei Xogen, In Darmfladı, in Mainz und in Sranffurt a. M. im
Jahre 1846 eine noch beftchende neue Großloge zu Darmſtadt errichteten.
Braunfhweig und Hannover pflegten Die Breimaurerei vom Anbeginn
der Zeit, in welcher tiejelbe in Deutichland Boten gewann; treffliche Bürften
traten dort felbit an die Epige des Bundes, und es war fein unwichtige® Zeichen
der Anertennnung, daß vor wenigen Jahren der jetzt vegierende König von
I6 oo mntun 0 2 Miltngefdhichte, m
Gamtiovesr dem Bunde beitzat und nun bei der Großloge in der Reftbengftabt
Kanuover den Großmeiſterhammer führt.
In den Sroßherzogehümern Medlenburg Schwerin und Mecklen⸗
burg⸗Strelitz blühen mehrere Logen, ein gleiches ift der Fall in den Fleineven
Staaten, von denen nur ſehr wenige ganz ohne Logen And, und auch da, wo
‚deren feine find, loben body Maurer, halten fich in treulich brüberlicyer Genoſſen⸗
schaft zu einander, und dann zu den ihnen am naͤchſten gelegenen Logen anderer
Ränder.
Es beſtehen noch Zogen in Arolſen, Bernburg, Gera u. f. w. Bon den
freien Städten zählt Hamburg eine Broßloge, im Groß⸗ und Brovinzialloge
und 12 apdere, Kranffurt bat die Groploge des efleftiichen Bundes und
noch 5 andere, Darunter 2 Juden⸗Logen. Leber Logen von Richtchriſten
wird unten noch einige gejagt werden. Bremen bat nur 1 Loge, Läbeck
deren 2. Im Ganzen blühten fchon vor 10 Jahren in Deutfchland über 250
Logen, deren Anzahl fich indeß eher gehoben ald verringert hat, darunter 9
Großlogen. Die Loge zu Altona arbeitet unter der Großloge von Kopenhagen,
die eine jüdifche Loge zu Frankfurt gehört der Großloge in London an, die zweite
urfprünglich Tochterloge des Grand-Orient de. France hat fih der Großloge zu
Hamburg. angefchloffen.
Bevor die ftariftifche Verbreitung de Maurerthums in Europa und ben
übrigen Erdtheilen überfichtlich vorgeführt wird, möge ein Wort über den @eift
und das Weſen der Freimaurerei bier feine Stelle finden.
Was die Maurerei it, lehrt ihre gefchichtliche Entwidlung. Gin großer
Bund freier Ränner, frei von Vorurtheilen, von Geiftesbefchränfung, vor
Geiſtesverſinfterung, von Unduldſamkeit u. |. w., ein Bund für gemeinfame
Förderung der erhabenen Zwede des Bruberfinnes, ver Bruderliebe, des Wohl-
thuns, der inneren geifligen Beredlung, der Gefammtbildung der Menfchheit,
und alles edlen Menfchenthums überhaupt, nicht nur gegen Angehörige des
Bundes ausgeübt und bewiefen, fondern bie gefammte Menjchheit umfaflend.
In diefem Sinne hat der Bund Unglaubliches erzielt und geleiftet, ex hat zahle -
loſe Wittwen- und Waifenthränen getrodinet, er hat Wohlthätigkeitsanftalten,
Schulen, Unterrichtd- und Bildungsitätten begründet, er hat als eine moralifche
Macht auf Einzelne fittigend, beſſernd, rettend eingewirft, und für alle das da
und dort den Lohn der Welt: Verfennung und Undanf reichlidy geerntet, ja mehr
ald das, Verfolgung und Unterdrüdung Nur lafien fich moralifche Mächte
nicht Leicht unterdrücken, und bie Pfeile der Verfolgung der Maurerei prallen
ab am Panzer ihres guten Bewußtjeind. Auch da, wo man dem Maurertbume
Schranken jegt, Befleln bietet, Bernichtung droht, läßt fich immerfort jagen:
Masonia ‚pressa — sed non suppressa.
Das Maurerthum ift, wie ſchon Leffing fühlte und ausſprach, aus dem
Schooße der gefelligen Bildung des Menſchenthums naturwüchflg entflanden, als
eine urſpruͤngliche Rothwendigkeit. Es ſtellt fich ſymboliſch dar als ein geiftiger
Tempelbau für die höhere Anfchauung, für die höhere Richtung des Gemüthes,
für Ablegung beengender Vorurtheile, für allumfaſſende Menſchenliebe, und zwar,
Geſchichte, Geiſt und Miniigeitang der Freimaurer. 13
ba kein Bauwerk des Geiſtes formlos fein kann, unter feſtbeſtimmten Formen,
unter Gliederungen und ſymboliſthen, durchaus ſitlichen Gebraͤuchen. eVel
Gegner nennen dieſe Formen veraltet, und darum völlig überflüffig und nicht
mehr in das Leben und Streben der Gegenwart paſſend, allein es ift immerhin
gut, wenn eine Sache ober Einrichtung im geichichtlichen Boden wurzelt. Man
reißt Dome wicht nieder, weil fie alt find, nein, man baut fie Sieber aus, wenn le.
des Außbauend bedürfen; man rüttelt auch felten ungeftraft an den Formen des
Staates, wie der Kirche. Dies ift mit ein Grund, weshalb die Freimaurerei fich
nicht Damit befaßt, in Staat und Kirche Einfluß zu gewinnen und Aenderungen
hervorzurufen zu juchen. In feiner Weiſe aber wirkt fie ſtaatlichen und kirch⸗
liegen Einricgtungen entgegen, vielmehr ehrt fie die Gefege und behrt ihren An⸗
gehörigen Gehorfam ‚gegen das Geſetz, und ebenjs ehrt fie die Meligion, wie be
Blauben jeded Einzelnen, macht feine Proſelyten, fodt Keinen zum Abfall vom.
Gott. Da bad Maurerhum an fich ein Ideal ift und dem Ideale der höchſten
Menjchenveredlung zufirebt, fo fann ed dem Realismus und dem Materialidnnb.
nidyt huldigen. Die Logen find nicht dazu da, um Börſenſpiele zu treiben, fe
beobachten nicht ängftlic) dad Steigen und Fallen der Marktpreife, fie rüſten
‚ eine Handels ſchiffe aus, fle bilden Beine Actienvereine oder Banken, um davon
Gewinn zu ziehen.
Wenn dem Maurerthume Angriffe von Seiten politiſcher Parteiungen zu
fommen, denen dafjelbe nicht freifinnig und wurzelwühlerifch genug, vielmehr
allzu beharrlich und altanbänglich ericheint, fo machen ihm derartige Angriffe
mr Ehre, denn in dem Sefthalten des einmal für wahr und recht und gut Er⸗
fannten wird eine Bürgfchaft für flete Dauer geboten. Das Maurerifum will
nicht in Politik machen, und foll dies nicht wollen, es fol fich rein und frei hal⸗
ten von jeder Parteiung im Großen und Ganzen, ohne aber die freiheit des
Denkens und der Gefinnung jeded Ginzelnen feiner Angehörigen zu befchränfen,
oder polizeilich zu überwachen.
Ueberall, wo dad Manrerthum von biefem Grundfag abwich, ift «8 ihm
zum Echaden gebiehen, und fo auch widerſtrebt, wenigſtens Dem Deutichen Geifte,.
offenes pomphafted zur Schautragen von Abzeichen, Schurzen, Fahnen u. bel.
in Aufzügen und Bafjebetheiligung hei Wahlen dgi., wie dies in Amerika ſo
häufig der Fall ift.
Ein Berhälmiß von zarter Art iſt zu berühren: die Aufnahme von Richt»
Chriften in den Maurerbund. Es ift unabläugbar, daß die Freimaurerei aus
chriſtlichen Grundformen hervorging, daß ihr höchſtes Ziel: Die allgemeine Bru-
derliebe,, eine Lehre ift, Lie Jeſus Chriſtus zuerft aufftellte, daß endlich bet
der Aufnahme in den Bund und in ben Logen gewiſſe Zeichen und Symbole rein
chriſtlicher Ratur ind — eben jo unabläugbar aber it, daß juft jene chriftliche
Lehre von der allgemeinen Bruderliche biefe nicht auf das chriftliche
Glaubensbekenntniß beichränkt, fondern die geſammte Menjchheit umfaßt, und
eben jo wenig wird Jemand läugnen wollen, daß nicht auch im Buſen zahlreicher
Juden, Muhamedaner, Hindus, Ehinefen x. Herzen fchlagen, die empfaͤnglich
find für jeden Hochſinn, jede Edelthat, jedes reinmenjchliche of bie folglich
IV.
18 Selzasliic, Gulturiſchichte. 2:
innerlich volltommen befähigt find, dem Maurerbunde anzugehören. Man hat
nun in biefer Beziehung mancherlei Wege eingefchlagen, theild das chriftliche
Brinzip in den Logen feitzuhalten, theild Richtchriften legtere nicht geradezu zu
verfchließen. In manchen Ländern und auch noch in Preußen, iſt Israeliten
der Butritt verfagt, andere Logen, wie z. B. der ſaͤchſiſche Logenbund, nehmen
Inden nicht auf, feinedivegd aus religlöler Unduldfamfeit, jondern weil der Jude,
fo lange er folcher bleibt, unmöglich mit gutem Gewillen einen Eid auf die ganze
Beilige Schrift alten und neuen Teftamentes leiften Fann, und die juridifche
Klauſel eines fogenannten Ju den ei des in den Logen noch nicht Einführung fand,
auch nie finden wird, da mehr und mehr zu Tage tritt, wie die heutige Gerech⸗
tigkeitspflege das Volk fo recht eigentlich Dazu bindrängt, in dem Eide nur eine
leere Formel zu erbliden und mit ihm zu jpielen, wie die taufendfachen Anflagen
auf Meineid beweilen. Dagegen erlauben jene Logen I6raeliten, die fich als irgendwo
anders in gerechten und vollflommenen Logen aufgenommene Breimaurer beglaus
bigen, gern den Zutritt al8 „befuchenden Brüdern,“ wodurch der Geift des
Bundes und zugleich das Geſetz gewahrt wird. In England, wie in Frankreich,
Belgien und Rordamerifa fteht Juden der Zutritt offen, und eben fo haben Iſra⸗
eliten, vom @eift und Streben des Maurerthums befeelt und durchbrungen,
ſelbſt Logen für den Kreis ihrer Olaubensgenoffenfchaft begründet, wie fich aäͤhn⸗
liche® auch bei den Bekennern der Echte Muhameds, und bei ben Anhängern des
Fo und Gonfutfe findet.
Dieſe verbreiten das Maurerthum unter fly, unbeirrt durch die Frage, ob
Deutfche Logen die ihrigen anerkennen, oter nicht anerkennen, benn dad wahre
Maurertfum ficht fo hoch über dem Logenthum, wie das wahre Chriſtenthum
über den Blaubend-Epaltungen innerhalb jeine® Schooßes.
Und weil es fo ift, Darum flüchten jo Viele in die ftillen Zufluchtsftätten
bes Maurerthumd, dort den @eift der Die ganze Menjchheit umfaſſenden Bruder⸗
liebe au atbmen, ſich und andere geiftig zu erheben und erheben zu laffen, fich
ftttlich zu Fräftigen,, der Geiſtesverfinſterung, wie und wo fie fich zeige, entgegen
gu arbeiten, nicht minder aber auch ber Freigeifterei und dem lUnglauben —
denn nie wird ein Gotteslaͤugner ein guter Maurer fein — nach innerer Wahr⸗
heit und Klarheit immer mehr zu fireben, der Welt des Gemüthslebens mehr
als dem geräufchvollen Treiben der Alltagd» und Verkehrswelt anzugehören, und
nach beiten Kräften alljeitöhin Thaten des Wohlthund und der Menichenlicbe
auszuüben. \
Der reichhaltigen Literatur, welche Durch die Breimaurerei hervorgerufen
worden ift, kann bier kaum anteutend gedacht werben. Sie mehrt fich alljähr-
lich anſehnlich und gewährt cin anziehendes Studium. Die freimaurerifche
Bibliographie umfaßt Einzelwerke über die Geſchichte des Maurerthuns,
Werfe für, Werke gegen daffrlbe, Werke über Geſetze, Cinrichtungen, Formen,
Berfaffungen ac. der Freimaurerei; Logenreden, Kogengefangbücher, maurerifche
Gedichtſammlungen, maureriſche Katechismen, Werfe über Ordensweſen im Allges
meinen und Beſonderen, Die zum Iheil den Maurerorden mitberübren, oder ihm
falſche und fabelhafte Abftammung anweilen. Dahin gehört auch Die oben noch
Geſchichte, Geik und. Husbpeitung. der Freimaurerei. 19:
wicht erwähnte, lange gegfaubte Fabel, daß dad Maurerthum im Rofentreus:
zerorden feinen. Urfprung geivonnen habe. Dieter theofophifchmyftifche Or⸗
den, begründet auf ein phantaftifched Buch, das fchon 1459 geſchrieben worben
fein fol, und der bereits 1597 ‚in feinen Anfängen erfcheint, pflegte vorzugs⸗
weife ein Schooßkind feiner Zeit: Aichymie, Goldmacherei und Suchen nach dem
Steine der Weifen. Er gebar aus feinem uͤberfruchtbaren Schooße fo viel uͤber⸗
ſchwaͤnglichen Unfinn, wie nie eine menfchliche Berbräderung, doch die Freimau⸗
rerei gebar er keineswegs. Wohl aber verfuchten üäberfpannte Maurer erft in ber
Mitte des 18. Jahrhunderts die Rofenkrenzerei in die Breimaurerei hereinzuzie⸗
ben und anf den edeln Stamm ein fchlechted Reis zu pfropfen. Dabei lief viel
"Relgung zu Trug und Täufchung unter, und Ausbeutung Krüberlicher Leichte
gläubigkeit für eigenfüchtige Zwecke. In Frankreich, wo man ſich gern an geheimniße
volle Formen anlehnt, fpielt noch immer „der fouverain Prince Rofecroir als
Hochgrad feine Rolle. Das deutſche Maurerthum bat ſich von dieſem Aufak
frei gemacht. | |
Ferner giebt es Raurer-Biograpbien, maurerifche Enchelopädien, maurerifche
Zeitfchriften und Tafchenbücher, auch. eine maurerifche Rumismatit. Selbft die
ſchöne Wiſſenſchaft benugte das Maurertfum zur Grundlage vieler Oxrdensromane,
Ordensſchaufpiele u. f. w., von denen freilich Die Mehrzahl der Verfafler arg im
Dunkel ſchwebte und manches entftellte Bild Lieferte, wenn nicht gar der unwür⸗
dDige Zweck zum Grunde Tag, bie Freimaurerei lächerlich zu machen, wie es bei
manchen diefer Stüde der Fall if.
Das letztere verdient aber eine über die ganze Erde verbreitete Genoſſen⸗
ſchaft, welche die edelſten Kräfte und die wirdigften Männer unter ihre Bundes«
glieder zählt und unentlich viel Gutes ftiftete, am allerwenigfien, und wer es
Dennoch verfucht, zeigt fich jehr Flein am Geift und fehr arm am Herzen.
Ueber die Verbreitung der Brelmaurerei durch die Staaten und Länder der
Erde, unter allen Zonen, follen nun die nachflehenden Erörterungen ein treneß,
bis zur neneften Gegenwart reichended Bild aufrollen, gleichjam den ſymboliſchen
Zeppich, auf den der maurerifche Tempelbau gezeichnet ift, ber bie ganze Erde,
die ganze Menfchheit in ſich fchließt.
Spanien und Portugal empfingen das maurertjche Licht durch Frank⸗
reich und England. Bereits im Jahre 1726 wurde von London aus bie erfte
Loge zu Liffabon begründet; doch in beiden Ländern reichten alte Baubüttenfagen
weit hinauf in der Zeiten Frühe, die man nicht unterließ, freimaurerifch auszu⸗
deuten. In beiden Ländern aber auch trat der geiftliche Fanatismus durch bie
Inquifttion dem Maurerthum auf das feindfeligfte entgegen, und in beiden Läns
dern fehlt es Tegterem nicht an einer Zahl blutig hingeopferter oder auf Scheiter-
Haufen verbrannter Martyrer. Beichultigungen ber widerfinnigften Art wurden
gegen die Freimaurerei gehäuft, dennoch gewannen nächft Liffabon auch Goimbra,
Porto und andere Orte Logen, ja 1805 ward eine Großloge zu Liffabon errich
tet, und 1807 fand das Logemveſen durch den Einmarſch franzöflfcher Truppen
eine bedeutende Stüge, Dagegen blieb auch fpäter neue Verfolgung nicht aus.
Doc; auch dieſe behielt feinen Beftand, und es beftehen jegt in Portugal 4 Große
2*
2 en — — NA OD
er fepte fich fort. » Hohe Blürhe und warmes Leben unter
Iojeph Napoleon ; kalter Froft und Tod unter Kerbinand VII, wieder Blüthe
unter den Gortes, 1820; neue Verfolgung bid zur Bogelfrei-@rflärung aller
Freimaurer 1826. Das Jahr 1827 ſah das Martyrertfum von 7 Gründern
einer Loge in Granada; aber immer wieder verjümgt ſich auf feinem Scheiter⸗
baufen ‚der, alte Phönir, und könnte man aud) im Bezug auf die Freimaurerei
ET — elarior in ——
nehmen und behaupten. Rama nn nt:
Inder Schweiz begann maureriiche® Reben bereite 1737 au Gef, wo
1786 ein Großorient erricdytet wurde. Viele Logen, manche von England aus
begründet, manche von Franfreich and, arbeiteten unter Großlogen dieſer Läne
ber; manche gingen ein, andere bauten fich neu, jo daß es eine Zeit gab, in
welcher die Stade Genf allein 20 Logen umſchloß; nicht minder lebhafte Bes
tbeiligung am Maurerthum fand im Canton Waadt Statt, wo Lauſanne allein
7 Bauhütten zählt, und außerdem jeder größere Ort minbeftens eine, Im Gans»
ton Reuenburg beſtehen 3 Logen. Im Ganton Bern wirkte vorzüglich an⸗
regend die Loge zur Hoffnung und begründete, indem fie unter dem Große
oriente vom Frankreich arbeitete, Zogen in Lauſanne, Baſel und Solotburm,
Letzterer Canton ift ganz Fatholifch, und die dafelbft begründete Loge befteht nicht
mehr, Im Ganten Aargau befteht feit 1811 die Loge zum Wilhelm Zeil, jezt
zur Brudertreue genannt, Im Canton Zürich bat hicht nur die Hauptſtadt,
ſondern auch Winterthur eine Baubütte; zu Zürich gründete ſich 1844 der
ee un een
ſich angefchloffen haben.
Der anton Gt. Baklen pattefek 1816 cine. dog; “ * daft
das vorwaltend katholiſche Element dieſes Cantons und feiner Gaupaftadt auch bier
feindlich entgegentrat ; die Loge Goncordia befand nur jehu Jahre und dedte
Ben
Geſchichte, Geil unk ;Unsbreitung der Freimaurerei. 21
bar. Aehnliches war im Ganten Graubünden ter Fall, wo die 1817 u
Ghur gegründete Boge zur Freiheit und Eintracht nach faſt 20jäheigem:Weftchen
ihre Arbeiten einftellte. Der 1844 begründete Großorient Alpina zählt nun
jest 16 Logen in dem Oriente von Zürich, Bern, Bafel, Neuenburg, Aarau,
Winterthur, Lauſannt, la Ehaur de Fonds, Locle, Ber, Vevah, Aubenne, Genf
(2), Rolle und Aigle. Hoffentlich ift auf lange Zeitdauer die politifche Wirrniß
in der fhönen, freiem und treuen Schweiz vorüber, und das Bruderleben der
freien Maurer geht in diefem Lande freier Maͤnner ohne Trübung und fegensusll
mit allem Acchten und Guten Hand in Hand.
Bon Italien wird Riemand umfaflende Berichte über Andobreitung
der Freimaurere i erwarten. Man nannte in dieſem Lande die Freimaurerri
urfprünglich nach ihrer erſten Begründung im Jahre 1738, die zu Florenz durch
Lord Sadville, Herzog von Middleffer erfolgte: Cacchiära oder die Mau-
rerkelle. Daß die Maurerei in Italien verboten wurde, erſcheint gleichſam
ſelbſtverſtaͤndlich, und e8 gingen in Reapel geftiftete Logen ebenſo wieder ein, wie
die in Sicilien begründeten. Auch in Rom, Benedig und Verona vermochte das
Logenthum nicht, fich zu erhalten, und das neue Leben, welches es unter Murats
Regierung gewann, war von nur allzukurzer Dauer. Wie die zum Schutz des
Papftes nach Rom entjandten franzöftfchen Truppen e8 halten, ob fie den, zu
deſſen Schug und Schirm fle berufen find, fragen, ob er ihnen maureriſche Ar⸗
beiten geftatten wolle, oder ob fie ihn nicht fragen? ift nicht befannt geworden,
höochſwahrſcheinlich aber dürfte fein, daß fle ihn nicht fragen.
Ein trübes Spiegelbild der Kreimaurerei, Doch nur vom Standpunkte eines
Geheimbundes auß, ohne geiftige Tiefe, ohne Höhere Menſchheitzwecke, ohne
von einem Ideal getragene Idee bildeten in Italien Die durchaus politischen Ber
eine der Barbonari, zu deutſch Kohlenbrenner. Weil die Maurerei aus
Baubätten entflanden, wollte die Carbonaria aus Köhlerhütten entftanden fein,
und ed wurde ſelbſt von ſchott iſchem Urfprung gefabelt. Gigentlich tauchte
dieſe Koͤhlerei erft im Jahre 1820 auf, ahmte die Freimaurerei nach, ſprach aber
nur in Bildern und Symbolen, die dem armfeligen Köhlerleben entnommen
wurden, und machte in Revolutionen. Mit Recht wurde died hochverrätherifche
Buͤndniß, das noch Dazu nicht einmal zu irgend einer erheblichen Geltung gelangte,
befeitigt, und die Freimaurerei hat nichts mit demfelben gemein und zu ſchaffen,
„da es nie ihre Aufgabe war und jein kann, dad wälfche politische Banditenthum,
wie daflelbe noch immer bei Mazzini und Eonforten zu Tage tritt, zu begünftigen
oder zu fördern. Da fein Unfinn anſteckender ift, als nächft dem religiös⸗ſchwaͤr⸗
menden der politifche, fo gab e8 auch Weiber in Italien, welche unter der Bes
nennung von Gärtnefinnen ſich geheimbündelten, und nun die Garbonari
nachäfften. Auch diefer Verwirrung des politiichen Fanatismus in Italien und
der Lombardei wurde durch Defterreich ein Ende gemacht.
endet fih der Bli nach Belgien, jo begegnet er in diefem Lande eben⸗
falls dem Mißbrauch der Freimaurerei zu politijchen Zwecken, aber nidyt in jo
niederreißendem Sinne, wie in Italien. Der Grand-Orient Belgique huldigte allzu
hervortretend der demofratijchen Bewegung und ftrebte der Sreimaurerei durch
2 2 wann, 5° Mur: ira
Phrafen von Fortſchritt in flaatlicher, kirchlicher und gefelliger Beziehung
neue Wege zu bahnen, während fein Maurer. dem. wirklichen Fortſchritt im
GStaats⸗ und kirchlichen Leben und ber gefeglichen und vernünftigen Freiheit ab-
hold fein wird. Diefer wühlerifche Grundftoff im Weſen der belgijchen Maurerei
fonnte daber in Deutfchland nicht ohne Widerfpruch bleiben, und es hoben dar⸗
:auf bedeutende Großoriente in Deutichland alle und jede Verbindung mit dem
Großorient von Belgien auf, denen ich auch die Großloge in Stodholm zuge
ſellte. Es ift dies indeß wieder eine ganz andere Art von entichiedener Gegen⸗
verwahrung, als jener Ein- und Widerjpruch, den die Fatholifche Klerifei Bel⸗
giens gegen die Freimaurerei jene® Landes dauernd erhebt, der tie wachfende
Ausbreitung des Maurertfumd dort, und deſſen für Das Volk unverkennbar
wohlthätige Wirkjamkeit ſtets ein flechender Dorn im Auge ift.
»* Holland, bi 1830 noch mit Belgien vereinigt, überfam die Freimaurerei
von London aus bereitd 1731, und zwar wurde die erſte Bauhütte im Haag aufe
gefchlagen; dort wurde Kranz Stephan, Herzog von Lothringen, in den Bund
aufgenommen, und es fchlug dann fpäter in ihm doch ein Maurerherz auf dem
Ihrone der deutfch-öfterreichifchen Kaifer. Gleichwohl wurde 1735 der Maurer
band durch die Generalftaaten verboten, und Kaijer Karl VI. fäumte nicht, das
Berbot auch auf die Provinz Flandern und bie k. k. öfterreichifchen Niederlande
zu erfiredien. Die Furcht flieht überall ſchwarz und erträumt Gefahren, wo feine
find. In Aniſterdam unterfagte der Magiſtrat die Berfammlungen der dort im
Jahre 1735 gegründeten Loge und lich die oberften Beamten derfelben verhafs
sen. Diefe forderten den Magiftrar auf, eined feiner Mitglieder in den Bund
aufnehmen zu laſſen, das ihm dann treulichen Bericht erflatten werde. Died ge⸗
ſchah und der Bericht fiel fo aus, daß faft alle Rathsmitglieder zur Loge traten.
Seitdem blüht der Bund in Holland und ben Niederlanden ungehenmt fori, er
gründete bedeutende Wohltbätigkeitsanftalten,, verbreitete da8 Maurerthum auf
feinen oftindifchen Colonieen und Sandelsplägen, in Surinam, St. Euſtache und
St. Martin, und e8 nahm im Jahre 1816 Prinz Friedrich Wilhelm Karl
die Würde eines Rationalgroßmeifters aller Logen Hollands und der Rieder⸗
Sande an. ’
Ju den drei ſcandinaviſchen Königreichen nehmen Schweden und Ror-
wegen ein hohes Alter der Einführung der Maurerei für fih in Anſpruch.
Jedenfalls drang fle früher in diefe Reiche, ald nach Dänemark, entichieden
bereitö 1736, und zwar aus England. König Friedrich I. verbot fie 1738 und
zwar bei Todeöftrafe, allein fpäter jah das Schwediſche und Rorwegifche Maurer«
thum den König felbft an feiner Spige.
Xeider blieb auch bei den „Franzoſen des Nordens,‘ wie jemand die Schwe⸗
den genannt bat, das franzöfliche Schwärmerweien nicht fern, und es wurden
Grundſtoffe in die Maurerei eingetragen, die in diefelbe nicht gehörten. Dahin
ift der Einfluß der Schwebenburg’jchen Theofophie und Myſtik zu rechnen. Et⸗
was Emanuel von Swebenborg, etwas Chriſtian Roſenkreuz und etwas mehr
Weishaupt als Weisheit bildeten das mixtum compositum im Schmelztiegel des
ſchwediſchen Syſtems, dem es gelang, für eine kurze Zeit in England, in Ruß⸗
Geſchichte, Geiſt wer. .Mnähreitung der Freimaurerei. 23
land und ſelbſt in dem hellſehenden Preußen Anhang und Anklang zu finden,
nachſtdem, daß das ſchwediſche Maurerthum auch feine politiſchen Phafen unter
König Guſtav HI. durchlief, deſſen Sekretair Blörnrom und der Hofſekretair
Karl Adolf Anderſon Bohemann, letzterer Haupt der „aflatifchen Brüder‘
nicht ermangelten, ihren nicht juft fr das wahre Maurerthum fürderlichen Ein-
Auf geltend zu machen. Auch Diefe aftatifchen Brüder, ein 1780 in Defterreich
aufgetauchter Geheimbund mit Roſenkreuzer'ſchen Ideen und Symbolen waren
nicht frei von myſtiſch⸗theoſophiſch⸗kabbaliſtiſchen und alchymiftifchen Träumereien,
die dem Maurerthum bei. Elaren Denkern und Menſchen lichtuollen Verftandes
nur ſchaden fonnten und gejchadet haben, auch Viele in der falfchen Annahme
beitärkten, dad Weſen der Maurerei beftche in gebeimnißvollen Künften und zum
Theil metallurgifchen Wiſſenſchaften. Diefem Wahne ift e8 zuzufchreiben, wenn
fi) im gemeinen Volke der — hie und da wohl auch Durch die Geiftlichfeit katho⸗
liſcher Länder wiffentlich verbreitete — Wahnglaube feftjeßte, die Freimaurer feiern
eitel Zeufeldbanner oder Teufeldbündner, Goldmacher und Hexenmeiſter.
Polen, ein in allen Dingen und leider vielfach durch die eigene Schuld
feiner Benölferung unglüdliches Land hatte auch mit der Freimaurerei fein Glück.
Diele fand dort 1736 von England aus Eingang, aber Papſt Siemens XII. warf
auch dorthin gegen fie feine Bannbullen. Gleichwohl entftanden 1742 bis 1749
wieder 3 Logen, und 1769 wurde eine Örofloge zu Warfchau gegründet. Die
Theilung Polens, welche die Landeshanptftadt unter ruſſiſches Scepter fellte,
vernichtete bie polnischen Zogen mit Ausnahme des an Preußen gefallenen Antheils.
Wenn indeß Rußland in den Kortfchritfen, den dort in neuefter Zeit die ges
fellige Bildung nimmt, bebarret, fo wird auch in Polen das Maurertbun aufs
Reue erwachen und frijchen Aufichwung gewinnen.
In Rußland wurde zuerft 1731 durch Die Großloge von England eine
Loge in Moskau gegründet, die große Kaiferin Catharina fchügte diefelbe gleich
ihrer Borgängerin Unna Iwanowna, ed entflanden in Petersburg und anderen
Städten des Czaren-Reiches Logen, welche indeß Paul I. aufhob. Doch blühte
der Bund im Geheimen fort, und Kaifer Alexander I. trat demſelben jelbft bei,
wurde deſſen Beſchützer, und St. Peteröburg erhielt eine Großloge. Diefer
Schuß hatte Beitand bis 1822, in welchem Jahre ein Ukas Kaifer Aleranders
ihn zurücdnahm und den Bund verbot. Gleichwohl gewann im Jahre 1857 die
Sreimaurerei wieder neuen Boden, indem Kaiſer Alexander II. diefelbe wieder
duldet und zur Erweckung eine befleren Geiſtes in der Beamtenwelt und einer
treuen Anhänglichkeit an die Regierung viel von ihr Hofft.
In der Türkei drang das Maurerthum ebenfalld durch England 1738
zuerfi ein, und in berjelben wohnende chriftliche Maurer errichteten Xogen in
Gonftantinopel, in Smyrna und in Uleppo, welche aber dem Drude der türfi«
ſchen Regierung erlagen. Allein mittlerweile haben einfichtvolle Muſelmaͤnner
felbft dad Weſen der Maurerei begriffen, fich über defien Gehalt und Formen
unterrichtet und Logen begründet, in denen fie chriftliche Maurer als Brüder zu⸗
laſſen/ Die Angehörigen diefes Buntes enthalten fich grundfäglich der Vielweiberei
und üben namentlich durch das Loskaufen von Sklaven Werke der Barmherzigkeit.
EEE 7 771377. 7 17. ) ee
ber m nenne en nen wieder
eine neue Loge: zur Treue, (Fidelity) in Darjeling begründet, In Madras
‚arbeiten drei Logen, wie auch mehrere in Bombay, in Ballary (Provinz Fa⸗
Hagbanı) IM — In Singapore am öfttichen
Ende der Meerenge von Malakka blüht Logenleben; auch Bondichery hateine
Bauhütte. Die Logen in den niederlaͤndiſch- oftindifchen Beſttzungen arbeiten
unter der großen Randesfoge des Orientes SGravenhaag, (Haag im Königreich
der Niederlande), Auf Java arbeiten Logen zu Batavia, zu Samarang
und zu Surabapa, meift in höheren Graben und rg — — ⏑ — — ——
Auf der Inſel Ceh lon in Colombo, wie in Tranquebar blühen Logen.
Beh der gewaltigen Miſchung und Strömung verſchiedener —
in jenen fernen Ländern iſt es nicht wohl möglich, das chriſtliche Religionsprin⸗
‚gi, jo wie in Deutfchland, im Maurerthum faft ausſchließlich feſt zu Halten und
die Aufnahmefragen ſchließen die eine nad) dent Meligiond- oder Glaubensbe—
kenntniß des Aufzunehmenden aus. Eine Loge in Madras beſteht nur aus
Brama-Anbetern, Mufelmännern und Parſen.
In Ehima hat Hong- Kong eine Loge, bie zwar meiſt aus Engländer
‚gebildet ift, aber feinen anderen Volkoſtamm ausſchließt. Nicht minder befteht
bie Loge Royal-Suffer in Canton aus den angefehenften enropäijchen Einwoh-
‚mern und befindet ſich im blühendften Zuftande. Selbſt in das entlegene und
——— — Japan er — Maurerthum und befinden ſich Bogen da⸗
ſelbſt.
Was den Welttheil Afrika barit fo wurde oben ſchon erwähnt, *
nach dem Caplande, von England und von Frankreich aus, das Maurerthum
gelangte, wo daſſelbe in der Capſtadt in 5 Logen noch immer fortblüht. Nicht
minder finden ſich Logen in der Sierra Leona, in Port Louis, St. An-
br&, auf ber Infel Bourbon und in Senegambien, Einefpätere Beit
ließ auch durch Frankreich die Maurerei im Algerien Boden gewinnen, und
Algier, wie Blidah, Borna, Budfcha haben Logen, die ihre Verbindung
nach aufen zum Theil nicht blos auf den Oroforient von Paris und auf Frank⸗
reich beſchraͤnken. Zu Batharſt in Gambia arbeitet eine Loge unter der Grof-
Geſchichte, Geiſt ms Antineitug der Freimaurerei. 25
Lage von: Eugland. Ja ſelbſt im Negerſtaate Liberia, au Afrika's Weiltüfle, zu
Bowsorim. fteht eine Loge von Europhern und farbigen Eingebornen im hohen
Kor. I
Nichtet ſich dev Blick nach Amerika, fo findet ex dort dad regſte Logru⸗
Seben entwickelt, über weiches fich ſehr weitlaͤnftig werdrn ließe. Im 18 der be⸗
dentendſten Städte. Rordamerikas beſtehen Großlogen, unter denen zahltriche
Tachterlogen arbeiten, deren Gefammtzahl weit über 1000 angeſchlagen wirk.
Im Jahre 1843 wurde eine General⸗Großloge zu Washington zu errichten von
den fänmmtlichen Groß⸗Logen der Bereinigten Staaten beſchloſſen. Deutfche
Logen zählt allein Rew⸗York 5, eben fo Befinden ſich foldye noch in andeven
Städten, Unter dem Ramen Maſonia beftcht ein Logen-Berein zu Rrw dert,
ver fi much mit Deutichland in Verbindung geſetzt hat. Viele, theild engliſche,
teils deutſche Beitichriften find außjchlieglich maurerifhen Angelegenheiten. ges
widmet, bie Bahl ber wieder eingegangenen und noch beſtehenden Beitfchriften
veicht nahe an 50.
Bei vielem Licht fehlt «8 in den Maurerthum der Bereinigten Staaten auch
nicht an Schatten, denn was nügt alle Pflege bed Maurerthums, wenn das Men⸗
ſchenthum mit Küßen getzeten wird?. Haß und Verachtung gegen. bie Far bu⸗
gen, bie eben fo unmenfchlich, wie ſündlich und unchriftlich Rab, find fo tief
gewurzelt, daß Fein Barbiger daran zu denken wagen darf, in den Logen ber Ein-
gebernen jemals Zutritt zu erlangen.
Daher haben die freien Farbigen, Menfchen amd Chriſten, fich ſelbſt Logen
begründet und es beſtehen deren auf Hayti, in Maſſachuſets, in Pen⸗
fyIvanien, im Ohio-Staate, in New-Merfay, in Maryland,
welche unter einer Großloge von Rorbamerifa arbeiten. Den Danfees und
zumal den Sklauenhaltern gelten diefelben freilich nur als Winkellogen, denn
trog dem prahlerifchen Zurſchautragen ihrer fogenannten Freiheit find jene noch
fo unfrei von unaustilgbaren Borurtheilen und fo unbefeelt von chriftlicher
Menſchen⸗ und Brubderliebe, daß fie die Farbigen, mögen fie fo edel und
achtungswürdig fein, wie fie wollen, verabicheuen und fich gegen dieſelben
jede Kränkung erlauben. Wenn man bie wiederholten Richtöwürbdigfeiten lieſt,
welche, bis zum Lynchen außichreitend, in Amerika felbft gegen freie Männer
gerübt werden, die nur irgend den Farbigen das Wort reden, oder fich ihnen
geneigt zeigen, in ihnen den Menſchen mindeflend geachtet, wiffen wollen,
fo erfchrickt man vor der Rohheit, die in jenem Lande fund zu geben die Stantd«
gewalt geftattet; man erſchrickt vor einer Freiheit, die Thaten der empörend«
ſten und unerträglichften Tyrannei ausübt. Doch eine andere Beit wird
kommen, wenn auch nach großen Völferfänpfen und nach vielem Blutvergießen,
welche die Sflavenhalter zwingen wird, ihre Arbeiter ald freie Männer
zu halten und zu bezahlen, oder ihre Arbeiten felbfteigenhändig zu verrichten,
und wenn fie beides nicht wollen, fich andere Zweige des Erwerbes zu fuchen.
Es wird darum doch nie an Zuder, Tabak und Baumwolle mangeln, und ber
Berluft, den die Sflavenhalter erleiden, wird der Menfchheit, der Menichlichkelt
und dem edlen Menfchenthbume, das man mit einem Fremdwort Humanität
- 2% ungen ulturgeſchichte.
zu bezeichnen liebt, zu Gute kommen. Bor allen aber wird das europkifche
Maurerthum auch die Logen der farbigen Mitbrüder anerkennen, und ihnen da⸗
durch für immer das Heiligthum eröffnen, das feinem fich verfchließt, der nach
Chriſti Ausfpruh: Gott fürchtet und recht thut.
In Merico beſtehen 20 Logen unter einer Großloge, nachdem früher
mancherlei zweckloſer politiicher Hader das Logenleben in jenen Staaten getrennt
und getrübt und noch dazu das Pfaffenthum e8 verfolgt hatte. In Texas zählte
man bereitö im Jahre 1842, 15 thätige Logen.
Es bleibt noch ein Welttheil, Auftralien mit Polynefien. Auch ihm
ging das maurerifche Licht in glänzender Weile auf. Zweihundert Logen,
unter den Großlogen von London arbeitend, blühten dort bereitö ziemlich Lange,
namentlich in Südwales, in Weft und Sübauftralien, felbft auf Bandiemens
Land ihrer fünf; in Melbourne arbeiten zwei, eben fo find mehrere in den Diggins
(Anftedelungen) verteilt. Unter dem Großmeifter von Reu-Süd- Wales arbeiten
Logen zu Bakaorut, Eaftlemain, Landhurſt, Berhworth und Gee⸗
long. Auftralien Kolainnig arbeitet unter ſchottiſcher, Lauenſton unter irifcher,
und eine Loge auf Ban Diemensland unter englifcher Leitung. Zu Adelaide in
Renauftralien blüht auch ſchon die Roſe des Maurerthums.
Die Sandwich-Infel Woahu befigt eine 1842 begründete Loge zu Hana⸗
ruru, und der König berjelben gehört ihr an.
Diefes ift der große unzerflörtere BundesRing bed Maurerthums, Glied
an Glied, Hand in Hand, Gerz an Herz.
Liebes⸗Ketten fchlingen fonder Ende,
Um den weiten Erbball Bruberhände.
Die Bankfrage und das Rankweſen in
Deutichland.
Bon
Dr. $. Aöppe.
J.
Streit über dad Bankweſen. Staatsbanken oder Privatbanken? Teu—
denz und Einfluß der preußiſchen Bankpolitik. Vorurtheile gegen die
Banken. Vorſchlaͤge zur Hebung des Bankweſens: Binführung der
Peelſchen Bankakte. Durchführung des Prinzips der Deffentlichkeit.
Staatskontrole oder eigene Sorge des Publikums? Natur der Ban
ten. Sie find Geldhändler. Unterfchied zwiſchen dem Gelde und den
Geldfurrogaten. Praktifhe Folgerungen. Cinlösbarkeit der Bank.
verbindlichfeiten. Baardedung der Noten. Rachtheile des Syftems
großer alleinherrfhender Staatsbanken. Vorzüge der Konkurrenz unter
Meinen Privatbanken.
Das Bankweſen ift in den letzten Jahrzehnten der Gegenfland wichtiger prin-
zipieller Streitfragen geworden, von deren Entfcheitung großentheilß die Zukunft
unferer wirtbfchaftlichen Entwidelung abhängen wird. Den Kernpunft, um wel-
chen dieſe Fragen fich drehen, bildet die Stellung des Staates zu den Banken.
Soll der Staat unbedingte Bankfreiheit gewähren, auf jede Einmifchung in
die Leitung der Banken verzichten und feine Kontrole auf dasjenige Maaß bes
fchränfen, welches durch das öffentliche Interefle geboten ift ? Mit anderen Wor-
ten: foll ed Privatperfonen oder Aktiengeſellſchaften geftattet fein, Banken zu er⸗
richten, und unter welchen Bedingungen und Garantien? Oder ft ein mit dem
Monopol zur Betreibung von Banfgefchäften ausgerüfteted Staatdinftitut den
wirtbichaftlichen Bebürfniffen der hantels und gewerbetreibenden Klaffen dien-
licher und deshalb einem Eyſtem Eleiner Eonfurrirender Aktien» und Privatban⸗
fen vorzuziehen? Es handelt ſich aljo zunächft um Zeftftellung derjenigen Grund⸗
fäße, welche für die flaatliche Beaufjichtigung der Banken maßgebend find.
Daneben wird aber ‘auch fortwährend geftritten über einzelne Zweige des Bank⸗
weſens, jo namentlich über die Rotenausgabe, über die Zulaffung und Beichrän-
kung derjelben, ſowie über die Garantien für die Einlösbarkeit. Das in Preußen
ergangene Verbot der Zahlungsleiftung mittelft fremder Banfnoten und bie
drüdenden Befchränfungen der preußifchen Privatbanfen haben den Streit von
28 Rationaldtonomie,
Neuem angefacht, und es iſt noch gar nicht abzufehen, wie ein Meinungskampf
endigen wird, in welchem alle möglichen Anfchauungsweifen, von ber alten un-
ausrottbaren, monopoliftifchen an bis zur entichieden freibändlerifchen herab,
chaotiſch durcheinanderwogen. Indeſſen darf man wohl hoffen, daß das Gewicht
der Gründe, welches die zahlreichen Anhänger einer vernünftigen Banffreiheit in
die Waagfchale zu werfen vermögen, zulegt den Ausſchlag geben und unfer noch
fehr im Argen liegendes Bankweſen in bie Bahn wirthſchaftlicher Bejeg-
lich keit Anuhalaen werde.
Bor nicht gar zu langer Zeit war noch unter unſeren Staatsmaͤnnern und
in den weiteren Kreiſen des Vablikums die Anſicht vorherrſchend, daß bie
Staatsverwaltung allein oder doch vorzugsweiſe zu einer richtigen Leitung
des Bankweſens befähigt ſei. Man glaubte allgemein, -die Kolliſionen zwiſchen
den fogenannten Bankpflichten — der Regulirumg des Geldumlaufs, Unterftügung
des Handelöftandes, Sicherflellung der Banf und ihrer Gläubiger, Fluͤſſig⸗
erhaltung der Depoftten — auf ihr geringfted Maß zurüdzuführen, wenn man
die Banken zur Staatdanftalt machte. Die vielgeäußerte Beforgniß, daß fle in
den Händen der Staatsregierung leicht zu einer Finanzanſtalt des Staated wer⸗
den koͤnne, ward unzeitiged Mißtrauen gefcholten. Man fchien zu vergeiien, daß
ſaͤmmtliche europäifche Staatsbanken fallirt Haben. Kurz, Deutichland war auf
dem beiten Wege, das unheilvolle Soſtem außichlieglich priviligirter National⸗
oder Siaatsbanken von dein franzoͤſiſchen Nachbar zu entlehnen. Zum Süd hat
unfer natlonales Erbübel, der Mangel an politifcher Einheit, und vor biefem wie
vor anderen wirthſchaftlichen Mißgriffen bewahrt. Die deutfche Kleinftaaterei ge»
flattete eine freiere Entfaltung des Bankweſens, als fie in den einheitlichen Staa⸗
ten des europäijchen Feſtlandes und felbft in Preußen möglich war. Neben den
privilegirten Staatb« und Quaſiſtaatsbanken erhielten wir ein „Stuͤck Banffrei-
heit,“ daß freilich in feiner jeigen rohen Geſtalt noch ſehr viel zu wänfchen
übrig läßt. Aber am fo mehr iſt es unfere Pflicht, die noch unentwidelten Keime
des Outen zu pflegen, um dereinſt den praftifchen Beweis liefern zu können, daß
die Konkurrenz unter Eleinen Aftien- und Privatbanken die
befte Barantie für Die richtige Leitung einer Bank iſt. Freilich eime
ſchwierige, ja man kann wohl fagen eine unerreichbare Aufgabe, fo Tange bie
preußiſche Bankpolitik ihren reſtriktiven Charakter beibehält, fo Tange fe nicht
aufhört, die natürliche Entwidelung des Bankweſens zu hindern und zu flören.
Durch diefe Politik des entfchiedenften Mißtrauens und der Ängfllichften Bevor⸗
mundung iſt das deutſche Banfıweien von vornherein in eine faliche Richtung ges
drängt worden. Die Befchränkungen und Verbote auf der einen Seite haben zu
unnatürlichen Auswüchfen und Mebertreibungen auf der anderen Seite geführt,
und fo bat man denn freilich Teichted Spiel, Der Menge, welche nur nach dem
äußeren Schein zu urtheilen pflegt, die Gefaͤhrlichkeit des Vankweſens zu demon⸗
ftriren. Hätte Preußen die Gründung von Banken nicht gehindert oder maßlos
erfchwert, wäre nicht durch drückende „‚Rormativbedingungen‘‘ das gedeihliche
Emporkommen der Privatbanfen vereitelt worden, fo würde der Unternehmungs«
geiſt fich nicht in daB „deutſche Ausland’* geflüchtet haben, um dort Banken zu
Deutihlanht Baulınöfen. 20
genden, die in Preußen ihr Kanptaeſchaͤft treiben und den Hauptwarkt für ihee
Reten Anden ſollten. Die kleineren Deutichen Staaten ihrerſeits verſtießen for
lich gleichfalls gegen die wirthſchaftlichen Geſetze, indem fie umfangreiche Brivi»
Iogien gewährten und Banken Eonzefflomieten,, deren Betriebbihaͤtigkeit offenbar
füp die größeren Staaten bevechnet mar. Diefe Banken, unter Verhaͤltmiſſen
entſtanden, die ihnen den Stempel der Unregelmäßigfeit aufdrückten, hatten ihre
Heimath nicht da, we fie ihren Geſchaͤftskreis ſuchten. Dieb war eine wirt"
ſchaftliche Anomalie und folglich die Duelle großen Unheils. Die Banken wur⸗
burch verleitet, ihre Rotenemilflon übermäßig huszudehnen. Ihren Zet⸗
tein fehlte gerade in Preußen, wo fle maſſenhaft Eurfirten, die volle Garantie der.
faktiſchen Eimlößbarfeit, indem Die Auswechslung an dem entlegenen Site
den Bank, gewöhnlich einem Plage von geringer oder gar keiner Bedeutung flr
Handel und Verkehr, mit vielen Schwierigkeiten und Weitlaͤufigkeiten verbunden
wer. Der Rotenumlauf wurde daher nicht Durch jeme regelmäßige Rückſtrömung
geregelt, Die bei einem natürlich entwidelten Bankweſen zu jeder Zeit das Ueber⸗
ſchreiten des richtigen Maßes verhindert. Kein Wunder, daß diefe mit dem, Pri⸗
vilegium der Rotenemilfion‘ ausgeflatteten Banken nicht immer Maß zu halten
verftanden! Es wird geflagt, fle hätten im Jahre 1856 durch mißbräuchliche
Ausdehnung des Krebitgeichäfts Die Ueberfpefulation befördert und bie Darauf
folgende Binanzfrifid wenigſtens in ihren primären Uirfachen mitverjchulbet. Aber
man follte auch nicht vergefien, Daß es gerade Die Borbeugunge- und Verhaͤnunga⸗
meßregeln einer falſchen Bankpolitik waren, die zu den gerügten Unregelmäßig⸗
feiten und Nußfchreitungen führten. Eine Wandlung biefer Volitik dürfte wicht
eher eintreten, «ld bis die im Handels» und Gewerbeſtande herrſchenden Borurs
theile gegen daß Bankweien geichwunden find und das Publifum ſich gemähnt
bet, daſſelbe als einen naturwuͤchſigen und integrirenden Beftandtheil des Ver⸗
kehrolebens aufzufaſſen. Die thörichte Furcht vor den Zertelbanfen, welche bie
Phantafte des Volks mit daͤmoniſchen Zauberfräften auszuſtatten liebt, der ver⸗
haͤngnißvolle Glaube der Geſchaͤftswelt an die wirthichaftliche Allmacht einer
Staatsbank, die deutiche Bequemlichkeit und der Mangel an Selbfigefühl waren
nad find bis auf den heutigen Tag die mädjtigften Stügen des ſtaatlichen Ein⸗
miſchungs⸗ und Bevormundungsſyſtems.
In der Zeit des fogenannten „BVankſchwindels,“ als die Zettelbanken und
Kreditanftalten pilzartig emporfchoflen, konnte man deutlich fehen, wie wenig die
Anfichten über das Banfweien entwidelt find. Daſſelbe Publifum, welches An⸗
faugs, von einem raſenden Spekulationsſieber forsgerifien, Durch Börſenſpiel und
Ygiotage ohne Mühe reich zu werben getrachtet hatte, goß nach dem Fehlſchlag
feiner Hoffnungen tie volle Schale feined Zornes ohne Unterfihieh über Kredite
anftalten und Zettelbanfen aus, Den letzteren warb vorgeworfen, daß fie die
Welt wit ihren Roten überichwenumten und dadurch eine allgemeine Steigerung
ber Waarenpreiſe herbeiführten. Man fabelte son einer Berrüttung des Geld⸗
weiend und propbezeite den Ruin aller Verhaͤltniſſe, wenn ben Banken die Ro«
tenausgeabe nicht unterfagt würde. Selbſt die Preſſe ſtimmte mit ein in die un«
finnigen Klagen bed Bublitums. Gleichzeitig immchte der alte Vorſchlag wieder
en ſich
erde ei EEE TERN
Abtheilung der Bank übertragen. Diefem Vorfchlage gemäß ward die Bank in
zwei Departements getbeilt, in ein fogenannte® Issue department (Abtheilung
‚für die Bettelausgabe) und ein Banking department. Nur das erftere Darf dem
Publitum oder dem Banfoepartement Noten zur Verfügung ftellen unter Bebin«
gungen, welche das Geſetz vorschreibt. Mittelft Diefer Trennung der Banf wollte
man aljo die gleichförmige Ab- und Zunahme der Notencirkulation und der
Bankfonds, mit einem Worte die Selbftregulirung der Zettelmenge durchfegen,
Diefer Zweck iſt jedoch nicht erreicht worden und konnte nicht erreicht werden,
weil die Maßregel auf einer falfchen Theorie beruht, welche das Geld nur als
Taufchmittel auffaßt. Die Akte bat fich in der Praris nicht bewährt und die
Beuerprobe der Handeld- und Geldfrifen ſchlecht beſtanden. Durch die Trennung
der Banffonds der Bank ift zwar die Sicherung der Noten erreicht worden, aber
nur auf Koften der Depoftten. Dieſe erfcheinen jedesmal gefährdet, wenn in
Folge einer ungünſtigen Handelsbilanz eine ungewöhnlich ftarfe Metallausfuhr
ftattfindet, oder wenn in Eritifchen Zeiten die Hegiagd nach Baarmitteln beginnt.
Gerade in einem folchen Moment wäre ed die Pflicht der privilegirten engliſchen
Nationalbank, der hereinbrechenden allgemeinen Kreditloſigkelt, die fie ſelbſt ge—
wöhnfich mitverfchulder bat, durch ausgedehnte Darlehnagewährung einen Danım
entgegenzufegen. Daran aber hindern fie regelmäßig die Beftimmungen ver Akte,
Dentfchlands Baukweſen. 31
und fo bleibt denn im Augenblick der hoöͤchſten Gefahr nichts weiter übrig, als
bie Alte — zu fuöpendiren. . Zweimal bereits, in den großen Kriſen von 1847
und 1857, bat man zu dieſem fchten Rettungömittel greifen müflen. Beweis
genug, daß es nichts tft mit aller gefeßgeberifchen Weisheit in Dingen, die num:
einmal eine flantliche Einmifcyung nicht vertragen. Die nachtheiligen Wirkuns
gen ber Akte haben endlich dahin geführt, daß man ernfllich an ihre Abichaffung
denft. Und dennoch will man und jet die Wiederholung eines: Grperhments:
zumutben, das in England Eläglich gefcheitert iſt!
Richt die Irrthuͤmer, wohl aber die gefunden Grundſaͤtze der Peelſchen Ge
feßgebung follte man und zur Annahme empfehlen. Es find Died vor Allem bie
Prinzipien des Seffgovernments, der Kontrole des Bankweſens
durch Bas Publikum, der möglichſt uneingefhräntten Deffent-
lichkeit in allen Berbältniffen der Banken. Wegelmäßige und ſpe⸗
zielle Beröffentlichungen über die Lage einer Bank ſind befiere Garantien für Die
wirtgfchaftliche und rebliche Verwaltung derſelben, als alle Einmifchungen des
Staats in ihre Grfchäfte oder willfürliche Beſtimmungen über Rotenausgabe,
Baarbefland u. f. w. Der Staat würde daher für die Interefien der BVankeigen⸗
thümer und des Publikums am Beſten forgen, wenn er ſich Hauptfächlich darauf
beichränfte, jene Grundfäge durch Anordnungen ber die regelmäßige Bere
öffentlichung eines möglichft fpeziflzirten Banfftatus, über die perfönliche Ver⸗
antwortlichkeit der Direktoren für die Nichtigkeit derſelben, ſowie über die jähr-
liche Rechnungsablage — ins Leben zu führen. Es giebt in Deutichland noch
immer Banken, die fich beharrlich in ein vornehmes Schweigen hüllen und nur
felten einmal aus dem Dunfel hervortreten. Wir brauchen wohl nicht ausein⸗
anderzufeßen, wie verderblich eine folche lichtſcheue Heimlichkeit den Banken ſelbſt
und. dem betheiligten Publikum werden Tann. Aber felbft unter denjenigen, bie
fich nicht grunbfäglich der öffentlichen Kontrole entziehen, find nur fehr wenige,
welche Hinlänglich betaillirte und wirklich brauchbare Berichte veröffentlichen.
Die meiften begnügen fich mit der Publikation monatlicher eberfichtstabellen,
worin Poſten erfcheinen, welche völlig unverftändkich find, weil fle ganz Verſchie⸗
denartiged aufammenfaflen.
Der eigentliche Zweck diefer Veröffentlichungen iſt Daher gewöhnlich verfehlt,
fie ſchaden mehr, als fie nügen. Diefer Tadel trifft namentlich die Statuspubli«
Fationen der meiften Kreditanftalten, worin gewöhnlich das Effektenkonto, alfo
gerade derjenige Poſten, aus welchem die Lage jolcher Inflitute einigermaßen zu
erkennen wäre, in myſtiſches Dunkel gehüllt bleibt. Manche Banken glaub
auch wohl den Anforderungen der Oeffentlichkeit zu genügen, wenn fte ihre Bi«
lanz in 2ofalblättern befannt machen, Kurz es fehlt in Deutfchland noch immer
an dem genügenden Material für die Beurteilung und bie praftifche Kontrole
der Banken. Hier alfo hat die gefeßgeberifche Thätigkeit noch ein weites Feld,
welches fie zum Heil unferer wirthſchaftlichen Zuſtaͤnde, beſſer als es bisher ges
ſchehen, anbauen mag.
An die Stelle des ſtaatlichen Bevormundungsſyſtems muß eben die öffent⸗
liche Kontrole treten, damit unſer Bankweſen auf naturgemäße Weiſe fich ent⸗
der, daß — —— ‚Händler ſind. Die
Banken handeln, d. d. fie kaufen und verkaufen gewerbomaͤßig und mit ber
dem Handel wejentlichen Abſicht des Gewinns.’ Es ift daher in hohem Grade
lächerlich, wenn fie in gar een mit edeln Zweclen wie „Börberumg der
haft“ oder ähnlichen hochtrabenden Re—
Schwierigeiten ; —— ee —— ——
geſchaͤften verbunden find, wenn möcht zu bejeitigen,, doch wenigſtens zu verrin⸗
gern. Es wurden Beranftaltungen getroffen, um denen, die mit Gelde verkehren,
das Gejchäft der Einfaffirung und Auszahlung abzunehmen, wobei ſich noch der
Vortheil ergab, daß Geldſummen, welche zwiſchen Perſonen, die ſich derſelben
Anſtalt bedienten, hin» und hergehen ſollten, in der Kaffe der Anſtalt gänzlich
unberührt blieben und nur in deren Büchern ſchriftlich von dem einen Beſitzer
auf den: anderen übertragen wurden, Solche Anftalten entitanden zuerſt in den
mittelakterlichen Gandelörepubliten Venedig und Genua und verbreiteten fich von
dort in mehr oder minder vollfommener Form über ganz Europa aus. Nach
dem Mufter der Bank von Genua ward im Jahre 1619 die Hamburger Giros
banf errichtet, die nach dem klaſſiſchen Ausdruck des trefflichen Buͤſch „die Dienfte
einer gemeinen ſicheren Kaffe thut,“ Ihren Zweit, die Geldgejchäfte zu erleichtern
und zu vereinfachen, erreicht bie Girobank dadurch, daß fie jedem Depomenten
ein Blatt in ihren Büchern, ein Kredit und Debet eröffnet und Zahlungen unter:
ben einzelnen Deponenten durch einfaches Ab- und Zuſchreiben vermittelt. Sie
t durchaus Feine Geſchäfte für eigene Rechnung und bezieht nur von dem
ten bie zu ihrer Unterhaltung unumgänglic; norbwendigen Gebühren,
0 Urfprünglid waren alſo die Banken nicht anderes als Depofitare, Die jich
eins Praͤmie für bie ihnen zur Aufbewahrung anvertrauten Kapitalien zahlen
ließen. Wit biefen handelten fie nicht, wın für ſich einem Gewinn zu erzielen.
Die Girobanfen dienten, wie noch jegt Die Sparkaſſen umd Leihhäufer , die man
wohl 2. Banken ald Mittel zur —— eines höheren
—⏑— — J
— — —— — —
Derfkuutb Barinkien. 83
voltswirthſchaftlichen Zweckes, der ſtets mit ihrem befonberen Keben⸗
zwech zuſammenftel. Dadurch unterſcheiden He fd; weſenitlich von unſtren moder⸗
nen Banken, Die ihrer ganzen Entwidelung und ihrem Charakter nach „zunächft
ſich [eis Zuſeck und erſt in zweiter Linie, wenn auch von einem Höheren Ge⸗
ficrayunkte aus, Mittel zur: Erreidyung gewiſſer volkswirchfchaftlicher Zwecke
ſind.“) Was man auch gegen dießſe Entwickelung einwenden mag, gewiß wir
man einräumen, daß „nicht mehr die Aufbewahrung von Geldern, ſondern deren
Benuyung der Zweck, nicht die Zahlungen im Laufe der @efchäfte zu ver-
mitteln, ſondern ſelbſt' Geſchaääfte zu machen, die Hauptaufgabe der Banken
geworden iſt.“*) Folglich wird man unferen Banken auch diejenige Freiheit
der Beivegung zugefteher müſſen, welche zur Benwkung der ansertrauten Gelben,
zur Betreibung von Sandelögeichäften unumgänglich nothwendig HR. i
Die Waare, mit der die Vanken handeln, ift das Geld, welches «als Ver⸗
ſtanlichung und als Maß der in den Dingen enthaltenen Kaufbefähigung
Went.***) Wir unterfcheiben fogleich zwei Funktionen des Geldes: einmal er-
füyeint es als Umlanfö- oder Taufchmittel, und ſodann ald Werthmeſſer,
48 .allgemeined Breismap. Man kam eigentlich nur Diejenigen Dinge Selb
nermen, welche zugleich Bretömap und Eirtulattonsmittel find, alfo
Metallgeld und uneinlösliches Papiergeld. Die fogenannten Geldſurto⸗
gate (einkösliches Papiergeld, Banknoten) find nur Umlaufämittel, An⸗
weifungen auf Geld. Sie vertreten das Geld in der Cirkulation, weil md fo
lange die Ueberzeugung herrſcht, day das Geld audgezahlt wird, welches fie res
piafentiven: Div prinzipielle Unterfchied zwiichen dem Gelde und den Geldſur⸗
rogaten liegt alſo darin, daß erſteres die beiden Funktionen des Geldes vollkom⸗
men ſelbſtſtaͤndig erfuͤllt, während die letzteren nur vermöge des in ihnen
Anthaltenen Verſprechens einer Geldzahlung befaͤhigt find, als Tauſchmittel zu
fengirem. Sie müſſen irgend einmal eingelöſt werden, und „dieſe Rothwendigkeii
der ſchließlichen Zahlung bezeichnet Die wahre Grenze der Krebitumfäge, ben
charalteriſtiſchen Unterfchted zwifchen Kredite und Geldeirkulation.“ +)
:: Die Unterſcheidung zwiſchen Geld, weiches zugleich Breismaf und
Taufihmittel, und Gefdjurrogaten oder Geldzeichen, die nur Umlaufs⸗
mitte! fein koͤnnen, iſt nicht etwa blos in theoretifcher Hinficht, ſondern auch
im praktiſchen Leben von großer Wichtigkeit. Die Nichtbeachtung dieſes Unter⸗
ſchiedes hat unter Anderem dahin geführt, dag man das Münzregal auf die Geld⸗
furrogate austehnt und ihre Ausgabe von der ſtaatlichen Erlaubniß abhängig
macht. Die Anfertigung und Ausgabe von Geld, d. b. von ſolchen Dingen,
welche ala Umlaufsmittel und zugleich als Preismaß dienen, bifdet ein unbe⸗
Reittenes Hoheitsrecht des Staates. Daraus aber dürfte ſchwerlich eine aus-
ſchließliche Berechtigung des Staates zur Ausgabe won einldslichen Noten
*) 9. Wagner, a.n. O. ©. 32.
**) Otto Hübner, die Banken. Leipzig, 1854. I. 28.
#8) A. Banner, a. n. D..&. 34 und 35.
+) J. Sullarton, on tbe regulative of: eurrencies.. London, 1854, p. 37.
IV, 3
34 .. Nationalökonomie.
oder Seldfcheinen, die nur als Umlaufsmittel dienen, Herzuleiten fein. Man
Zönnte fonft folgerichtig auch behaupten, daß dem Staate allein das Recht zuſtehe,
Beldverfprechen, Schultverfchreibungen, Wechfelbriefe auszuftellen und in Ver⸗
kehr zu fegen. Dennoch hat man in neuefter Zeit fein Bedenken getragen, bie
Ausgabe von Geldfurrogaten dem Staate zu vindiciren, und Preußen flügt be⸗
kanntlich fein Verbot der ausländiichen Banknoten auf — das Münzhoheits-
recht *). x
Die wichtigen Schlüffe, welche neuere Defonomiften aus dem prinzipiellen
Unterfchiede zwifchen Geld und Geldiurrogaten ziehen, würden und zur Theorie
des Geld» und Bankweiend führen, welche jenfeitd der Grenzen unferer Aufgabe
liegt. Es ift Hier nur noch Darauf hinzuweiſen, daß Banknoten, weil fle eben
nicht unmittelbared Geld, nicht Werthmeſſer an fich, fondern nur Zahlungsmittel
find, vom Preife des Geldes nicht abweichen können, fo lange ihre Einlösbarkeit
gefichert ift. Diefe wird unter allen Umftänden den beiten Regulator des Zettel-
umlaufs bilden, und von einer Zuvielausgabe kann feine Rebe fein, wenn bie
Roten jederzeit eingelöft werden. Dies allein genügt freilich nicht, fie müffen
auch mit Leichtigkeit präfentirt werden können. In dieſer Beziehung
haben e8, wie jchon oben gerügt wurde, die meiften deutſchen Banfen an den
nöthigen Veranftaltungen fehlen laſſen. Bis zum Erlaß des preußifchen Bank⸗
notenverbot3 war es die Regel, daß eine Auswechslung nur an der Centralſtelle
flattfand, während die Roten auf dem ganzen Zollvereinsgebiet Kurs hatten. Es
bedurfte erft noch der königlich fächitichen Verordnung vom 30. Mai 1857, wo⸗
nach der Verkehr mit ausländifchen Roten in Sachfen geftattet ift, wenn die Aus⸗
fteller in Leipzig und außerdem an denjenigen Orten, wo fle Agenturen oder
Zweiggeichäfte unterhalten, Gelegenheit zur Auswechslung bieten — es bedurfte
diefer weilen und dankenswerthen Anordnung, damit die durch die preußiiche
Maßregel bereitö mürbe gewordenen Bankverwaltungen endlich ſich bequemten,
wenigflend in Sachſen Einlöjungsfaflen zu errichten. Dies aber war dad Aeu⸗
Berfte, wozu man ſich verfiand, und nur wenige Banfen haben an den Orten
ihrer Agenturen außerhalb Sachſens Anftalten getroffen, um die Einlöfung zu
erleichtern. Roch weniger find die Manipulationen zu billigen, mittelft welcher
die Banken ihren Rotenverfehr auszudehnen fuchten. In ter jchon erwähnten
Denkſchrift der preußiichen Meglerung wird ihnen unter Anderem vorgeworfen,
daß fie durch Agenten an den Börfen Wechſel zu einem erheblich niedrigeren,
mitunter zwei Procent billigeren, al8 dem allgemein üblichen Zinsfuße unter der
Bedingung gefauft, daB der Betrag in ihren Roten angenommen werden müßte,
Sie hätten, wird ferner behauptet, Darlehnsgeſchäfte gegen bloge Hinterlegung
von Drei⸗Monats⸗Accepten unter der nämlicyen und gewöhnlich noch unter der
ferneren Betingung gemacht, daß das Darlehn nicht in der ausgeliche-
nen Roten, fondern in preußiſchem Grade zurüdzuzaplen fei.
Agenten, welche für Die Unterbringung der Roten Brovijion erhielten, böten dies
— — —
*) Vergl. die preußiſche Denkſchrift uͤber das Notenverbot und bie Rede des Hans
delsminiflere 9. d. Heydt vom 20. April 1857.
Deuntſchlando Bankweſen. 35
felben zu folchen Geſchaäften durch Zeitungsannomcen und Girkuläre aus. Auf
den Reflen würden die Roten geradezu als Waare verfauft. Dies find in der That
ſchwere Veſchuldigungen, und follten ſte gegründet fein, fo müßte man bie deu
fündigenden Banken ertheilte Lektion eine wohlverdiente nennen, befonder8 wenn
man erwägt, daß die durch kuͤnſtliche Manöver in Verkehr gefehten Roten wegen
mangelnder Einlöfungsanftalten nicht regelmäßig zurückfirämen können. Aber
ſelbſt dieſe fchreienden Mißbräuche beweifen nichts gegen die Banffreiheit, und
mit vollem Recht behauptet Wagner, daß fle bei freier Konkurrenz der Banken
gar nicht vorfommen könnten. ‚Denn es würde im Interefie jeder Bank liegen,
die alſo ausgegebenen Roten einer anderen Banf zu fammeln und ihr fofort zur
Einzahlung zu präfentiren. Die Konkurrenz unter den Banken felbft wäre die
befte Kontrole auch Hier, indem fle bewirkte, daß fich die Banken gegenfeitig
fireng auf die Finger fähen und jeden Mißbrauch fofort entdeckten und rügten,
und wie beim fchottifchen Austaufchfyflem bewirften, daß eine in Folge zu leich⸗
tee Disfontirung gefchehene Mehrausgabe von Noten der betreffenden Bank als⸗
bald in flörendfler Weile fühlbar gemacht würde. Jede Banf würde ſich bei
Banffreiheit bald einen Rotenrayon bilden, über welchen hinaus ihre Roten nicht
fommen würden, ohne fogleich wieder an fie zurückzuſtrömen.“
Es ift das große Verdienſt der königlich fädhflichen Regierung, daß fle mit
dem Erlaf der Maiverordnung den erſten bahnbrechenden Schritt zu einer Re⸗
form der deutfchen Banfgefeggebung im freihändlerifchen Sinne gethan hat. Je⸗
denfalld wird durch gefegliche Anordnungen über die Einlößbarfeit ter Bank⸗
verbintlichleiten weit beſſer für die Banfen und für die Interefien des betheiligten
Publikums gejorgt, als wenn der Staat fich in die Leitung und den Betrieb der
Geſchaͤfte einmifcht. Die Statuten unferer deutfchen Banfen firogen von abſtrak⸗
ten und willfürlichen Beftimmungen, die nicht nur gegen die Grundſaͤte einer
rationellen Geld» und Bankwirtbichaft verſtoßen, ſondern auch die Leiter der In⸗
flitute verhindern oder fie wenigftend der Mühe überbeben, eigene Beobachtungen
anzuftellen und auf diefe Weife jene praftifchen Erfahrungsfäge zu gewinnen, bie
ihnen bei allen ihren Operationen allein zur Richtfcehnur dienen follten. Die
Statuten bilten das Ruhekiſſen, eigener Sorge und Aufmerkjamfeit erachten Die
Banken fich entbunden. Ramentlich find es die Vorſchriften über das Verhaͤltniß
der Baarbededung zum Rotenumlauf, bei denen die Verkehrtheit und die Rach-
theile des flaatlichen Reglementirens fogleich in die Augen fpringen. Gewöͤhn⸗
lich find die Banken verpflichtet, einen Baarfond von der Höhe eines Drittels
der umlaufenden Roten zu halten, und man beruft ſich dabei auf einen angebs
lien Erfahrungsiag der Bank von Enzland. „Es giebt nichts Willküͤrlicheres,
fügt Wagner *), als die Herübernahme dieſes Erfahrungsſatzes der Banf von
England in die Statuten unferer unter fo gänzlich verfehiedenen Verhältniffen
operirenden Banfen, oder gar die Befchränfung diefer Baarbedeckung auf 33/3
Procent des Rotenumlaufd.” Deffenungeachtet it die Drittelbefimmung ein
förnliched Dogma geworden und fie findet fich in den Statuten der meiſten neue⸗
*) A. a. O. S. 177
3*
36 | ‚Matisse dcoro uiu⸗o
ver Banken. : dar eainigen nehmen. Die: folidere,: freilich. eben ſo willfürliche Be⸗
Bimmung:eiuns ZwchtritebfBaarfonds auf, um ſie banu:bort deriräften Meneral⸗
Verſemmlung umfloßen zu laſſen und Ach gleidfalls mit dem üͤblichrw einde
Dritiel zu begnügen. Andere forderten ſogar ODrckung zum vdllen Betraze der
umlaufenden Roten, wie z. B. die. Meinitiger Kreditanſtalt, aber auch hier kam
Bio: General⸗⸗Verſammlung zu Hülfe. und: ermaͤßigte den urſpruͤuglichen Sag auf:
ein Drittel. Die Leipziger Bank hat:pvei Drittel Baardrdedaug, während die
Staruten- der: Daierſchen, Deſſauer, Braunſchweiger, Khüringet, Lübecker
Bank nus-ein Viertel nerlangen. Ic Eleiner der Staat, um jo geringer die. Baar⸗
ſchaft! ſcheint hierbei maßgebendes Prinzip. zu ſein. Die dfterreichiiche Rational»
Bank IR Die einzige, deren Statut eine vernünftige Beftimmung über ven Bank
fond enthält, namlich die, Daß ed der. Direktion obliegt, von Zeit zu Zeit ein ſol⸗
ches Verhaͤliniß der Notenemifiton zum Muͤnzſtande feftzufegen, welches bie volle
ſtaͤndige Erfüllung biefer Verpflichtung: zu fichern geeignet if. Alle übrigen
Banken, die königliche Hauptbank in Berlia obenan, haben die Drittelbeftimr.
mung, und fie finder fi auch in den Rormativbedingungen für die preußiſchen
Propinzialbanken. Wie wenig ſie ſich praktiſch bewährt, zeigt das erfte beſte Weis
ſpiel aus der Geſchichte ber preußiſchen Bank. Diefes folide verwaltete und wohl!
affrebttinte. Inſtitut genießt bekanntlich des Privilegiums der unbeſchränkten
Notenemiſſion und iſt Dabei nur an die Verpflichtung gebunden, ſtets ein: Drittel
des umlaufenden Notenbetrags in banrenı Gelde oder Silberbaaren, zwei Dristel!
in bankmaͤßigen Wechſeln vorräthig zu halten. :: Beim Ausbruch der Geldkriſts
im September 1857. betrug Daher Die vorichriftämäßige Baardeckung der Roten:
33°/, Brocent, während tie übrigen DVerbindlichkeiten in Folge einer flarketi‘
Herausziehung bee bei der Bank ftchenten Kapitalten nur noch zu circa 4 Bros
cent durch Baar gedeckt waren! Hatte damals eine weitere plötzliche Verminder
rung ber Depofiten ſtattgefunden, ſo wäre der Bank nichts übrig geblieben, als
die Drittelbefimmung zu ſuſpendiren. Eine ſolche Maßregel würde aber ben:
Kredit der Noten erichüttert haben, der trag der offiziellen Fuͤrſorge feſtſtand⸗
Zum Glück gelang «3 der Bank, im Kaufe des Oktober und November Ihren;
Banrvorrarh um ſechs Millionen zu vermehren, wenn auch wur mit einem Kelten
aufwande son 148,000 Thalern.
Wir haben oben ben Geld handel ald die eigentliche Aufgabe der Bars
ten bezeichnet. Ihre Mittel find, außer dem eigenen Stammkar ital, die Depoflten
und Roten, und was nach Abzug des zur Deckung der beiden legteren erforder⸗
lichen Baarfonds davon übrig bleibt, ift das Kapital, mit welchen fie Gofchäfte
machen. Die Größe ded Baarvorraths kann nicht im Voraus und ein für alles
mal beſtimmt werben, ſondern es ift Sache jeder einzelnen Banfuerweltung,
durch eigene Beobachtung des Geſchaͤftsverkehrs das ratienelle Berhältniß Des
Ginlöfungsfonds zu den Banfrerbindlichfeitn zu finden. Jeder Banker muß
durch Die Erfahrung lernen, wie er es anzufangen habe, um jederzeit und ſelbſt
unter den ungünftigfien Verhaͤltniſſen die Anſpruche ſeiner Glaͤnbiger befriedigen
zu fönnen. Der Staat hat bei den Banken nur darauf zu fehen, daß fie dem
Publifum fo viel als möglich Gelegenheit zu einer leichten amd. Eoftenfreien
Deut Muantiueſen. &7
Rotentuitmacköiung; bieten): Es diegt..wie oir ſuhen in: Ber Mine dr avdernen
Banken, dep ıfiibie eikpfangenen Bapitalier wicht Aungenügt: Uegen Laffen, ſondern
ıdansit ihändcie, ; Beichäfte: mächen, ſpekuliremn Cie können baher die Werpflich⸗
tung zur Gindäftung: ſtutsa oben Enssfälliger: Berbindlichkeiten nur unten: Dd' Moe
‚auöiegungrüberuchnen, daß nicht alle Gläubiger -anf einmal, fandert tmimer mim
sin nach der Wahrfepeinlichkeit: zu berechnender Shell derfelben Anfprikche: au Pe
machen werde. Tritt einmal der außerordentliche Ball ein daß ehren Bike
gleſchzeitig :alle Roten. präfemtiet‘ oder alle Depoſtten entzogen. wetben, fo
auß ſte ſich freilich zahlungsumfähig erklären, aber ſutrußt wicht die Schuld die
ſes Bankerotts und: es Tann fle in einem ſolchen Falle kern Vorwurf teefßen;: wort
fie ſich niemals: verbindlich gemacht Hat, einen dem: vollen Barrage: Ahr Maſſtona
Heichtemumenden Baarvorrath zu "halten. Man ſollte doch nie vergeffen, "Du eine
Bank: wicht das Brinzip ber abfoluten Gewißheit, ſondern nur‘, wie jeder
andere Händler ,:dir Wahrſcheinlichkeit zur Richtſchnur ihrer Betriebocha
sizfeit:nehmen kann. Bon :unjeren Banken verlangen; daß fie Die Erflilkn
ihrer Zahlungdveriprechen für alle Bälle, auch für den: Fall eines run“ ‚'eitte®
allgemeinen Sturmes auf Die Bauf ficher flellen, Heißt ihren ſpezifiſchen Charakter
zerflören und die mittelalterlihen Girobanken wieder ind Daſein rufen. Glaubt
man der umermeßlichen Bortheile deß modernen Bankweſens entrathen zu können‘
fe möge man gleich auf unfere ganze Kultur verzichten:, Das Dampftoßwiedet
wit: dem Kirrnergaul vertauſchen und den elektriſchen Telegraphen: durch dh
Botenfrau erſehen. am)
. Lber ſich von den alten, im Bublikum immer noch herrſchenden Ant
uber DaB Bankweſen nicht: getreunt hat, wird vielleicht unſere Auſchauungswetſt
Gedenflich finden oder uns gar vorierfen, daß wir: das. gefanmnte Bankcheſen/ mil
ben ‚‚moberuften Muswüchlen/beffeiben, den Mobiliartreditanftalsen;: merwerh:
ſeln.“ Dagegen: müſſen wir ums ernfllic, verwahren, um fo mehr ‘aid wir den
deutſchen :Baftandgähnen:: des: franzöftichen Credit mobilier durchaus micht den
Gharakter , ja nacht einmal den Ramen von Banken zugeftchen.:: Die Arebitans
Kalten: handeln und fpefuliren zwar auch, aber ihre: Dyerationen find von!der
rt, daß ſte unfehlbar zu Grunde geben würden, wenn fie vie eigentlichen Bunt,
geſchaͤfte regelmaͤßig betreiben wollten. Sir benutzen ihre Mittel zu Boͤrſenſpe⸗
tulationen ‚: fe betheiligen: ſich an induftriellen Unternehmungen, an &tnatsans
keiten, kurz ae. wagen entweder ihre Kapitalien oder legen fle ſo an, Daß Diefelben
längere Zeit engagirt bleiben. So lange fie mit ihrem eigenen Stanımkapitad
operisen, haben fie felbft oder ihre Aktionäre das Riſtko zu tragen. Wenn fie
ober durch Annahme von Depoflten, twrch Ausgabe von Schüldſcheinen ar
Noten, die jederzeit realifirbar find, und: weldge: He bei der erften Gelegenbels
nicht einlofen können, fich Die Mittel.zu thren Spelulationsgeſchaͤften verfchaffen;
fe gefaͤhrden ſie nicht allein ihre eigene Eriſtenz / ſondern die unbermeidlichr Ent⸗
werthung ihrer Verbindlichkeiten würde. auch. den Marin der Tuuſende von: Ven
ſttzern ihrer Obligationen und Roten nach ſich slähen, Es: Tenchtetiauf den erſten
Blick ein, daß eine Kreditanſtalt, welche Geſchaͤfte der erwähnten Art macht, gar-
nicht im Stande ift, die Summe ihrer -et&s oder-Zurzfälligen: Verbindlichkeiten
Ey
.-
werben, ee unter en —*
Baarworrathe zu der Rotenausgabe und den Rontoforrent ſaldi aufrecht zu er»
Autoritäten*) ftimmen nun aber darin überein,
dal Roten und Depofiten nur ala fündbare Darlehne emittirt werden bür-
fen, alfo vornehmlich gegen Sicherheit von Wechfeln oder von Linterpfändern,
denn jeder Ankauf einer nicht fündbaren Schuld, z. B. eines Staatspapierd,
jegt die Bank der nicht nur möglichen, fondern in hohem Grade wahrjcheinlichen
Gefahr aus, weniger beim Verfauf dafür wieder zu erhalten. Und weil bie
Bank ihre eigenen Verpflichtungen jederzeit oder in Furgen Terminen erfüllen
muß ‚ Jo dürfen auch die Darlehne, welche fie gewährt, nur von furzer Dauer
jein: Daher ift bie Disfontirung von Wechſeln, welche nur eine Furze Zeit lau⸗
fen, und. die Beleihung von Pfändern mit beitimmten Kündigungsfriften und
kurzen Bälligfeitöterminen das eigentliche Geſchaͤft derjenigen Banfen, welche
Dbligationen und Roten auögeben. Dabei müffen fie ſich möglichft von dem
Hũbner ſchen Sage leiten laffen, feinen anderen Kredit zu verkaufen, als dem fie
empfangen haben, Es kann ihnen jedoch auch geitattet, ja unter Umftänden ſo—
gar zu empfehlen fein, einen fleinen Theil ihrer Fonds aus dem Depojiten- und
Rotengefchäft in fiheren zindtragenden Wertbpapieren anzulegen, die in Eritifchen
Zeiten, wenn die Lombarddarlehne nicht eingezogen werden können oder ein gros
per Theil der Wechſel unbezahlt bleibt, auch ihre Dienfte leiften, Bor Allem
aber müffen fie es fich zum Gejeg machen, jederzeit mach dem Modalitäten ihrer
eigenen Berbindlichfeiten das gegemfeitige Verbältnig der Banfaftiva, der Sichere
heiten und ded Baarfonds zu regeln. Halten fie bei ihren Operationen an Dies
jem Bundamenralprinzip feft, auf welchen die ganze Kunft des Bankers beruht,
jo erfüllen fie Alles, was man vernünftiger Weife von ihnen verlangen kann,
nämlich daß fie die Einlösbarkeit ihrer Berbindlichfeiten für gewöhnlich, und für
alle einigermaßen berechenbare Fälle ſichern. Anlangend die auferordentlichen
und unberechenbaren Eventualitäten,, jo pflegen diejelben nicht urplöglich einzu⸗
treten. Politiſche oder kommerzielle Krijen werfen ihren Schatten vor ſich her,
— — — a re ſich
| —— — — Ya
Deutfihlands Bankwefen. 39
vorzufehen und die Bank aufs Trockene zu bringen, ehe der Sturm
losbricht.
Wir haben oben die Streitfragen berührt, welche fi um das gefammte
Bankweſen drehen. Wir ſahen, daß dad eigentliche Lebendprinzip der Banken,
die freie Bewegung, zum Zankapfel der fireitenden Parteien geworden iſt. Eini⸗
gung fcheint kaum möglich und eine befriedigende Löſung der Banffrage noch in
weiter Berne zu liegen. Indeflen darf man die Hoffnung nicht aufgeben, daß
mit der Zeit eine entfchieden freihändlerifche Richtung auch in der Bankpolitik
durchbrechen werde. Die Anſichten der bewäßrteften Theoretifer und Praktiker
ſtimmen laͤngſt darin überein, daß die Konkurrenz unter kleineren Banken bei
Weiten den Borzug verdiene vor einem Syflem großer alleinherrjchender Staats⸗
banfen. Wenn die legteren audy wirklich, wie man vorgiebt, eines ungleich
größeren Kredited genießen, jo mißbrauchen fie denfelben dafür um fo ftärfer
und anhaltender, wirfen in gefährlicherer Weile auf den Geldmarkt und die
Spekulation ein und tragen durch ihr Gebahren nicht wenig dazu bei, daß die
großen periodifch wiederkehrenden Handelskriſen, unter deren Faktoren fle jelbft
figuriren, mehr und mehr einen bösartigen Charakter annehmen und immer
größere Berheerungen anrichten. Man braucht nur einen Zlid auf die Gefchichte
der großen Rational» und Staatsbanken zu werfen, um die Ueberzeugung zu ges
winnen, baß jle regelmäßig in den fogenannten Epefulationd- und Schwindel«
perioden ihren Kredit mißbraucht und unfägliches Unheil über das ganze Ge—
meinwefen verbreitet haben. Wir wollen die alten Bankgeiſter Rußlands,
Schwedens, Dänemarks, Hollande, Frankreichs und Oeſterreichs nicht citiren
und nur an die legte große Geldkriſis erinnern, die ohne die vorhergegangenen
Kreditmißbräuche und die Darauffolgenden eben fo mißbraͤuchlichen Reſtriktionen
der großen privilegirten Staats⸗ nnd Quaſiſtaatsbanken einen milderen Charak-
ter und einen günjtigeren Verlauf gehabt hätte.
Wir übergeben die zahlreichen Einwendungen, die man vom rein politifchen
Geſichtspunkte aus gegen die Staatöbanken geltend macht. Sie find oft genug
wiederholt, aber niemald widerlegt worden. Wer kann Täugnen, dag die Staatd-
"verwaltung der Verfuchung ausgefegt iſt, Die ihr anvertrauten Banffapitalien zu
frembdartigen Zweden zu verwenden und in ber Befugniß der Notenausgabe zu
weit zu geben? Dieje Gefahr ift in Kriegäzeiten und in Perioden allgemeiner
Kalamität, wo diefe Roten dann das Schidfal des uneinlösbaren Staatspapier-
gelbes theilten, zum Verderben des Gewerbes und Handelöftandes nur zu oft ein«
getreten. Uber ganz abgejehen von dieſen gefährlichen Folgen ift e8 überhaupt
noch fehr die Frage, ob der Staat durch feine Anftalten in die Gefchäfte der
Unterthanen eingreifen und mit ihnen Tonfurriren darf. Der gefammte Kredit
der Ration würde durch ein Syftem alleinherrfchender Staatsbanken in die Hände
der Regierung oder unter Die ſpezielle Kontrole der oberjten Verwualtungsbehörbe
fommen. Außerdem ift die Verwaltung von Staatöbanfen zu Eoftipielig, zu
ſchwerfaͤllig, zu ängftlih und überhaupt den Faufmännijchen Geſchaͤften ſchon
darum fremd, weil ſie ein willkürliches Reglement und nicht die durch eigene Bes
obachtung gefundenen Erfahrungsfäge zur Richtſchnur ihrer Betriebsthätigkrit ,
40 n Naiaval cauanic2
nimut. Mit einem orte; Die zun Gedethen bed Bankweſend erforderliche fies
heit der Bewegung iſt mit dem Syſtem monopoliſirter Staatsbanken unyertinbap,
wie dies auch Die königlich ſaͤchſiſche Regierung bei Gründung der. Leipziger
Dank erklärt Hat. Sollen Banken tiefe Wurzeln fchlagen, Den Verkehr Dawerınd
beleben und allen Stürmen widerſtehen, jo mäflen fie vom Publikum außgeben,
deſſen Intereſſen ſie auf's Eugſte ‚berigren und. beilen- Kontrolle die beſte Gq⸗
zantie für ihre richtige Leitung if. In einem folgenden Artikel werben wir-auf
Dad Weſen und die Bedeutung unſerer großen Stantd- oder Quafiſtaatabanken
stwaß näher eingehen und an einigen praktiſchen Beiſpielen die Ungukönnelichr
feiten und die Urbelftände erläutern, zu welchen die centsalifirte Kapitalmach
gefuͤhrt hat.
Die. Vorzüge der Konkurrenz unter kleineren Vanken ſpringen fofort in Nie
Augen, wenn man den Blick auf das ſchottiſche Bankweſen richtet. Die Gegner
der Bankfreiheit werfen zwar ein, daß die Vortheile ber ſchottiſchen Banken nicht
aus deren Einrichtung, fondern aus Dem Charakter der Schotten und dem Dies
fen ihres Handels, fowie daraus entipringen, daß jme Einrichtung gerabe für
Schottlant die natürliche und angemeſſenſte ſei. Allein es ift gar nicht einzu⸗
jehen, weshalb ih Deutichlaud mit ähnlichen Einrichtungen nicht daſſelbe exrticht
werden Fönnte, was die ſchottiſchen Banken leiften. Die Konkurrenz würde bier
eben fo jehr wie in Schottland dazu beitragen, die für ben Verkehr erforberliche
Rotencirfulation auf dad Minimum zurüdzuführen, und zwar aus denielben
Gründen wie dort, Die Praris- der fchottifchen Banken, wonach fie Zinſen für
Depofiten, jelbft für ganz geringe Beträge gewähren, treibt alle bracheliegenden
‚Selber in der zwiejachen Abſicht des Nupend und der Sicherheit in die Banken,
und je mehr Banken ober Agenturen entfiehen, deſto mächtiger wirfen diefe Ruͤch⸗
fihten. Sie leiften ferner mit jeltenen Ausnahmen alle Zahlungen in ihren
eigenen Roten. Und weil das Notenaustauſchſyſtem unter ihnen ftreng befolgt
wird, fo muß jeder Derjuch einer Bank, ihre Roten über die wirkliche Nachfrage
des Publikums Hinaus zu verbreiten, augenblicklich icheitern. Die ſündigende
Bank wird gezwungen, ihre Differenzen in Schagfammerjcheinen, Wechſeln auf
London x. zu bezahlen, was nur durd) Verringerung ihrer realifirbaren Sicher⸗
heiten geichehen Tann. Eine „Zuvielausgabe“ raͤcht fich alſo auf der Stelle durch
Verluſt. Jede Bank weiß, daß fle fich eines Theils ihrer Betriebömittel beraubt
und ihren Kredit gefährdet, wenn fie das Durch die Verkehrbedürfniſſe bedingte
Map der Rotenaudgabe überjchreitet. Mittelft dieſes Austauſchſyſtems wird
alfo erreicht, daß die umlaufende Zettelmenge ſich ftetd auf deu Niveau dea wirk-
lichen Bedarfs erhält, aber zugleich werden dadurch der Kreditgewährung Keil-
fame Schranken gejegt. Denn daß leichte aber gefährliche Mittel einer willfür-
Jichen Vermehrung der Rotenrirkulation ift den Banken abgeichnitten, fie müfjen
ſich vielmehr nach den Vorrath der nugbaren Bonds richten, Die von Tag zu
Zage fällig werden. Sollten fie einmal in ber Orfälligfeit gegen ihre Kunden
gu weit geben, fo fönnen fie Died nur auf Koften der Sicherheiten, alfo mit Ge
fahr für ihre eigene Sicherheit wagen.
Keine Staatsbank, welches au ihr Verwaltungsſpyſtem und ihre Gaif
Deutſchlands Bankweſen. 41
ſfionsbefugniſſe ſein mögen, kann ſich fo vollkommen den Bebürfniffen bes
Geſchaͤftsverkehrs anpaſſen und ſich fo genau nach den Schwankungen des
Geldumlaufs richten. Ein Syſtem von kleineren Banken, welches gleich dem
ſchottiſchen auf dem Prinzip der Selbſtverwaltung beruht und nur durch die
öffentliche Kontrole, durch die ſtrikte Einlösbarkeit der Bankverbindlichkeiten
und den gegenſeitigen Austauſch der Roten in Schranken gehalten wird, ein
ſolches Syſtem würde gewiß auch uns Die volkswirthſchaftlichen Vortheile
enen
a orten Ruftern m e Aufficht über das Banf-
weien führen. urn AR sul
1. nr. abo... mo natsri.n ET a Ka ae 3077 ||
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ud Ar, SE NIEDER anni tp ie PN
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Die korallen-hildenden Poſipen und die
Aorallen-Kiffe.
Bon
Dr. Aarl Müller.
Unter den Taufenden von merfwürdigen Thierformen, welche der unermeßliche
Ocean im feinem Schooße birgt und erhält, ift ohne Zweifel eine der merfwür-
Digften jene Eleine Sippe von niederen Thieren, welche wir als die Schöpfer und
Erbauer von ganzen Infeln und Feftländern kennen: — die Sippe der infelbilbenden
Korallen und Madreporen. Denn wenn ed anerkannte Thatfache ift, daß die wenn
auch noch fo langfam vor fich gehende, über die größten Zeiträume ſich beinahe
unbemerfbar ausdehnende Veränderung der Erdoberfläche den nambafteften Eins
fluß auf die Gefchichte der Menjchheit ausübt, — jo wird auch anzuerkennen
fein, daß ein Gefchöpf, welches eine faft unfchägbar große Maſſe bewohnbarer
Erdfefte aufgebaut Hat und noch zu Stande bringt, ein ſpecielles Intereſſe des
denkenden Menſchen verdient. Bon feinem anderen Thiere der ganzen Schöpfung
fönnen wir behaupten, daß es in gleichem Maaße zur Veränderung und Umge⸗
ftaltung unfrer Ertoberfläche beitrage, denn die Zahl und der Umfang der Ko«
rallenriffe, und ihre Ausdehnung über unfern Erdball ift ungemein groß, zumal
zwifchen den Wendefreifen. Der ganzen Rordfüfte von Reubolland parallel zieht
ſich ein concentrifches Korallenriff von mehr ald 3000 Meilen Länge hin. Sehr
außgedehnte Infelgruppen der heißen Zone beftehen aus ringförmigen Korallen-
Infeln, jogenannte Atolls, — fo namentlich die Gruppen der Malediven, der
&arolinen, der Marichalle-Infeln ; und viele Taufende von kleineren Infeln der
Südſee. Länglichte, geſtreckte Korallen⸗Riffe, welche fih eng an die Küfte an⸗
ſchließen, finden fich in Menge im Rothen Meere, im perfifchen Meerbufen, im
indifchen Meere, längs der Oftfüfte von Afrika, an den Küften von Madagascar,
Sumatra, den Philippinen u. f. w., ferner an den Küften der Antillen. Der
am weiteften vom Aequator entlegene Bunft, wo noch Korallenriffe vorfommen,
find die Bermudas Infeln; und wenn einer unferen bedeutendften Forſcher auf
Diefem Gebiete, Darwin, Recht bat, fo ift mit Zug anzunehmen, daß der gefammte
flache Meeresboden in der Aequinoctialzone zwijchen dem 32° nördl. und dem
29° ſüdl. Breite auf fehr große Streden hin von derartigen, noch im Fortbau
Die Forallen-bildenden Polypen. :43
begriffenen Korallenbildungen, fogenannten lebenden Wiffen, überzogen ift, fowie
daß laͤngs der ganzen tropifchen Weſtküſte von Amerika auf dem Meeresboten
ſich noch tiefliegende Niffe finden, welche vielleicht die Beftimmung haben, in ,
Berlauf von Jahrtaufenden das Feflland nad) jener Richtung Hin durch Bildung
von Strandriffen und allmählige Ausfüllung Des Kanals zwifchen diefen und ber
Küfte zu erweitern, Ä
Die korallenbildenden Bolypen gehören eigentlich nur jehr wenigen Fami⸗
lien an; fo nach Dana die meiften den Afträiden und Radreporiden; fer-
ner minder allgemein den Bungiden, Carvophylliden, Gemmipori—
den, Favoſiliden, und Poriliden. Am reichten an Eorallenbildenden
Arten ift die Sübfee; außer den Wendekreifen Eommen von den Eorallenbilden«
den Bolypen beinahe nur nody Garyophylliden vor. — Man kennt bis jegt etwas
über 430 Species von Korallenpolnpen, die an Größe und Umfang ebenfo fehr
von einander verfchieden find, als an Geſtalt. Die bauliche Einrichtung eines
lebenden Korallenſtocks zeigt eine der fchönften und wucherndſten Geftaltungen
der Natur, wie eine der Eoloflalften Anhäufungen von thierifchem Leben auf ver⸗
Kältnigmäßig geringem Raume. Korfter fah auf der Schildfröten«Injel Koral⸗
Ienftlämme von fünfzehn Fuß Höhe, drei Fuß Stammesdide und einer Krone von
achtzehn Fuß Breite. Dana fpricht von Afträen von zwölf Fuß Höhe-mit unge
faähr hunderttaufend Individuen, und von Poriten von zwanzig Fuß Höhe mit
mehr als fünf Billionen lebender Individuen. — Diefe wenigen einleitenden
Andeutungen dürften Hinreichen, um die Aufmerkjamfeit unferer Lejer auf das
vielfache und hohe Interefie hinzuweiſen, welches diefer Gegenftand für ben
Freund und Beobachter der Ratur bietet. Es erichließt fich hier dem denkenden
Forſcher eines der interefianteften Gebiete der Raturfunde. — Beginnen wir mit
dem natürlichften Ausgangd- Bunfte, jo müfjen wir zunächft dem Kleinen korallen⸗
Hildenden Polyp einige Aufmerkſamkeit ſchenken. Jeder unferer Lefer kennt jeine
weientlichften charafteriftifchen Merkmale, wenn auch nur aus Abbildungen in
irgend einem naturgejchichtlichen Bilderwerke: — den Eleinen becherförmigen ges
Satinöfen Sad, fo wie den ausgezadten Rand von franfenähnlichen, um fich grei⸗
finden, zappelnden Tentafeln oder Fangarmen, welche feinen Flaffenden Mund oben
umgeben. In feiner Weife fo hoch begabt und fo reich audgeftattet, wie die In⸗
fetten, mit welchen der Polyp (nach dem gemeinen Sprachgebrauche) am nächften
verwandt ift, erweiſt er fich als eines der einfachften organifchen Wefen, und doch
feltjamer Weife als eines der mächtigften Agentien zur Ausführung großer phy⸗
flicher Veränderungen. Alle die riefigen Geſchöpfe der Vorwelt, mit welchen ung
die Geologie befannt gemacht hat, zufammengenommen, ſammt all den Walen,
Haien und den zahllofen anderen großen Kijchen, welche von Adam's Zeiten bis
auf den heutigen Tag den Ocean bevölferten, haben für die Umgeftaltung des
Charakters der Erdoberfläche weit weniger gethan, als bie lange Reihe auf ein»
anderfolgenden Generationen dieſer Korallen-Bolypen, welche ſeitdem in aller
Stille in jenen heißen Gewaͤfſern thätig gewefen find. Wir greifen unferer Dar⸗
flellung zwar vor, aber wir können und bier der: Bemerkung nicht enthalten, daß
die ungeheuern Bauwerke, welche dieſe Eleinen @eichöpfe aus den allertiefften
rind akt
Die Gorafen-6ildenden Pofgpen: und die
Aorallen-Riffe.
Bon
Dr. Kerl Müller.
Unter den Taufenden von merfwürdigen Thierformen, welche der unermeßliche
Ocean im feinem Schooße birgt und erhält, ift ohne Zweifel eine der merkwür⸗
digften jene Eleine Sippe von niederen Thieren, welche wir als die Schöpfer und
Erbauer von ganzen Infeln und Keftländern kennen: — die Sippe der infelbildenden
Korallen und Madreporen. Denn wenn ed anerkannte Thatfache ift, daß die wenn
auch noch fo langſam vor fich gehende, über die größten Zeiträume fich beinahe
unbemerfbar ausdehnende Veränderung der Erdoberfläche den namhafteſten Ein
fluß auf die Gejchichte der Menfchheit ausübt, — jo wird auch anzuerkennen
fein, daß ein Gefchöpf, welches eine fat unfchägbar große Maſſe bewohnbarer
Erpfefte aufgebaut Hat und noch zu Stande bringt, ein fpecielles Interefie des
denfenden Menſchen verdient. Von feinem anderen Thiere der ganzen Schöpfung
fönnen wir behaupten, daß es in gleichem Maaße zur Veränderung und Umge⸗
ftaltung unfrer Erboberfläche beitrage, denn die Zahl und der Umfang der Ko⸗
rallenriffe, und ihre Ausdehnung über unfern Erdball ift ungemein groß, zumal
zwifchen den Wendefreifen. Der ganzen Rordfüfte von Reubolland parallel zieht
ſich ein concentrifches Korallenriff von mehr ald 3000 Meilen Länge hin. Sehr
ausgedehnte Infelgruppen der heißen Zone beftehen aus ringförmigen Korallen=
Infeln, jogenannte Atolls, — fo namentlich die Gruppen der Malediven, der
&arolinen, der Marſchalls⸗Inſeln; und viele Taufende von Fleineren Infeln der
Südjee. Länglichte, geſtreckte Korallen⸗Riffe, welche ſich eng an die Hüfte an-
ſchließen, finden fih in Menge im Rothen Meere, im perflichen Meerbujen, im
indischen Meere, längs der Oftfüfte von Afrika, an den Küften von Madagascar,
Sumatra, den Philippinen u. |. w., ferner an den Küften der Antillen. Der
am weiteften vom Aequator entlegene Bunft, wo noch Korallenriffe vorfommen,
find die Bermudas = Infeln; und wenn einer unferen bedeutendften Korjcher auf
biefem Gebiete, Darwin, Recht bat, fo ift mit Fug anzunehmen, daß der gefammte
flache Meereöboten in der Aequinoctialzone zwifchen dem 32° nördl. und dem
29° füdl. Breite auf fehr große Streden bin von derartigen, noch im Kortbau
Die Forallen-bildenden Polypen. 43
begriffenen Rorallenbildungen, fogenannten lebenden Riffen, überzogen ift, fowie
daß laͤngs der ganzen tropifchen Weſtküſte von Amerifa auf dem Meeresboten
ſich noch, tiefliegende Niffe finden, welche vielleicht die Beflimmung haben, in .
Berlauf von Jahrtaufenden das Feflland nad) jener Richtung bin durch Bildung
von Strandriffen und allmählige Ausfüllung des Kanals zwifchen diefen und ber
Küfte zu erweitern, |
Die Eorallenbildenden Bolypen gehören eigentlich nur jehr wenigen Fami⸗
kim an; fo nad) Dana die meiften den Afträiden und Madreporiden; fer-
ner minder allgemein den Kungiden, Carvophylliden, Gemmipori—
den, Bapvofiliden,und Boriliden. Am reichften an Eorallenbildenden
Arten ift die Sübdfee; außer den Wendekreifen kommen von den Eorallenbilden-
den Bolypen beinahe nur nody Caryophylliden vor. — Man kennt bis jegt etwas
über 430 Speried von Rorallenpolnpen, die an Größe und Umfang ebenfo ſehr
von einander verfchieden find, ald an Geſtalt. Die bauliche Einrichtung eines
lebenden Korallenſtocks zeigt eine der Ichönften und wucherndflen Geftaltungen
der Ratur, wie eine der Eolofjalften Anhäufungen von thierifchem Leben auf ver⸗
Hältnigmäßig geringen Raume. Forſter fah auf der SchildfrötenInjel Koral-
Ienflämme von fünfzehn Buß Höhe, drei Fuß Stammesdide und einer Krone von
achtzehn Fuß Breite. Dana fpricht von Afträen von zwölf Fuß Höhe-mit unge
fahr Hunderttaufend Individuen, und von Poriten von zwanzig Fuß Höhe mit
mehr als fünf Billionen Ichender Individuen. — Diefe wenigen einleitenden
Andeutungen dürften hinreichen, um die Aufmerkjamfeit unferer Leſer auf das
vielfache und hohe Interefie hinzumweifen, welches dieſer Gegenftand für den
Sreund und Beobachter der Ratur bietet. Es erjchließt fich Hier dem denkenden
Korfcher eines der interefianteften Gebiete der Raturfunde. — Beginnen wir mit
dem natürlichfien Audgangd- Punkte, fo müfen wir zunächft dem Eleinen forallen-
bildenden Polyp einige Aufmerkjamfeit ſchenken. Jeder unferer Leſer kennt jeine
weientlichften charafteriftifchen Merkmale, wenn auch nur aus Abbildungen in
irgend einem naturgefchichtlichen Bilderwerke: — den Eleinen becherförmigen ges
Satindfen Sad, fo wie den audgezadten Rand von franfenähnlichen, um fich grei⸗
finden, zappelnden Tentakeln oder Fangarmen, welche feinen Elaffenden Rund oben
umgeben. In feiner Weife jo hoch begabt und fo reich ausgeſtattet, wie die In⸗
fetten, mit welchen der Polyp (nach dem gemeinen Sprachgebrauche) am nächften
verwandt ift, erweiſt er fich als eines der einfachften organijchen Weſen, und doch
jeltfamer Weife als eines der mächtigften Agentien zur Ausführung großer phy⸗
licher Veränderungen. Alle die riefigen Geſchöpfe der Vorwelt, mit welchen und
die Geologie befannt gemacht hat, zufammengenommen, jammt all den Walen,
Haien und den zahllofen anderen großen Kifchen, welche von Adam's Zeiten bis
auf den heutigen Tag den Ocean bevölferten, haben für die Umgeftaltung des
Charakters der Erdoberfläche weit weniger gethan, als die lange Reihe auf ein«
anderfolgenden Generationen diejer Korallen⸗Polypen, welche ſeitdem in aller
Stille in jenen heißen Gewaͤfſern thätig gewefen find. Wir greifen unferer Dar⸗
ſtellung zwar vor, aber wir können uns Hier der: Bemerkung nicht enthalten, daß
die ungeheuern Bauwerke, welche dieſe Eleinen Geſchöpfe aus den allertiefften
44 | ‚muglolf u aclogic. 109 2
Mkyrimben;des. Meexeche herauf aufführen ,::uash ihrem gangen Charakter in der
nſthat weit menkwuͤrdiger /ſiad; als Die: meiſten Menfchen ahnen. : Die :allgenpein
‚ nperbreitete Vorſtellung, bie Kenalle feirein bloßes Wefüge, ine Zufammenhäufeeig
en ‚Bellen, welche die Korallenthiere für:fich ſelbſt zus Wohnung bereitet haben,
riſt einer: jener neifäthündlichen Miggriffe, eine: jener: allgemein verbreiteten: frvigen
Vorftellungen, weldye Tängit bätten befeitigt werden follen. -- &8& iſt eine total
inrige Anſicht. Dienkleinen ſternförmigen Anhaͤufungen zurter Blästchen, welche”
man an einem gewöhnlichen Stückchen Riff-Koralle ſehen kaun, find ebenſo wenig
die Seiten: oder Wände einer Zelle, worin der Korallen⸗Polyp lebte, als Die Kno⸗
sehen. eines Hundes die Maͤnde von Bellen ſind, worin der Hund lebt. Sie find
nielmehr die echten inneren Skelette oder feſten Gerüſte der Korallen⸗Polypen,
tunddie ganze Koralleinafie iſt nichts andres, als eben fo viele uͤber einander
AIlegende Kleberziagei, oder Schichten, oder Ablagerungen jener individuellen ein⸗
qzelnen Skelette. Dies mag fonderbar. Elingen, iſt aber nichts deſto weniger voll⸗
sögmmen wahr, bie ganze Maſſe von geſteinartigem Stoffe, welcher den Zweig ‚von
‚einer: gewoͤhnlichen riffbil denden Koralle bilder, iſt innerhalb, im Innern dar
ESubſtanz ver: Polypen gebildet wotden, weiche ihn erzeugt: haben, und jeden ein⸗
gzelne ſternförmige Klumpen ‚von. Plaͤttchen iſt lediglich nur das abgelegte heſte
Geruſte oder: Skelett eines einzelnen Polypen. — Aus dem fo chen Geſagten
binrfte- num: deutlich hervorgehen, daß das Korallentbierchen tie Koralle widgt
macht, wenigſtens nicht im wörtlichften Sinne... Die gewöhnliche Vorſtellung,
Daß bie ſteinige Mafie eines Riffs Stückchen für Stückchen in Ber Weiſe aufge
baut werde, wie die Biene ihre Waben zufammenfügt, — daß: alfo:die Koralle
Far das: Thier etwas Aenßerliches ift, und in Folge einer freiwilligen oder inftink-
#inen; aber jedenfalls abſichtlichen Thätigfeit geichaffen werde, ifl ein eutſchirdenet
Mißgriff. Mir Haben’ berrits auseimandergeiekt, daß die Gefteinmafle innerhalb
der Sabſtanz des Polyps erzeugt werde, und man wird daraus erichen, daß ſte
eigentlich gar nicht gemacht werden: kann, weil ſte wäch ft — gerade jo wie unſer
xeigenes Knochengerüſte waͤchſt, daß ſie ebenſo unabhängig von dem Willen des
Bolyps ſeibft. Alles was daher behauptet irnd gedichtet und gefaſelt worden: if
won dem Scharffinne des Tleinen Polhps als Baumeifter. von Zuſeln und Erde
feflen ; non jeinem „Fleiß““ und feiner rührigen Geichäftigfeit, — Töft fich «ben
fin hochtönende hohle Phrafen auf... Das Korallentbhierchen iR fo wenig ein Ar»
(Ayiteft:ald eine Auſter, und die: Bereitung der Koralle kann in Feiner. Weiſe als
eine Arbeit von ihm ‚betrachtet werben.
u. „Die wahre Natur bes Korallenbildungen wird weit verftändficher werben,
werm wir einen Augenblick näher ias Auge faſſen, in welcher Lage und Be
Ichaffenheit ſie gefunden werden ; fo lange jie noch anf dem Meeresgrunde fort
wachſen. Setzen wir aljo den Ball, wir haben auf irgend eine Weiſe, Durch
irgend eine Beliebige Vorkehrung ein Stud lebender Koralle von der Vank oder
Site eines: Rorallenwiffd empotzuheben vermocht, und haben diefes etwa in einem
Bimmer⸗Mquarium vor Augen —- 'wad werben wir da ſehen ? Zunaͤchſt wütben
wir wahrnehmen, daß die ganze Maffe mit einem Ueberzug von gelatinöſem
Sleiſch: bedeckt iſt, welches Die Harte: ſteinige Koralle vollſtandig verſteckt ober uͤber⸗
Die korallen -silbentien Polypen. 46.
kleiden . Belt genaueren: Unterfuchung winrden wir ſogar bemerken ; dahß dieſer
fleiichige Ueberzug nichto andres iſt / als eine Ansdehnung den gelatindſen Suba:
franz der Bolgpen; womit die: gänze Oberflaͤcht· des abgeloſten Korallenftuckt/ dicht
befept:ift, ſo wie, daß Die ganze Kolonie nlde blos in Beziehnug auf: den Hama!’
dicht: zuſammengedraͤngt iſt, ſondern Da: uebſtdem auch sine höchſt imnige'orges:
niſche Verbindung zwiſchen ben einzelnen⸗ Theerchen beſtehe, Jeder Pole Hatı
zwar / allerdings ſeinen eigenen: befonbrren. Mund: und‘ feine eigenen Rrusafeln,)
wie feinen eigenen Magen; allem ;über dieſe hinaus Hat eu: wenig: Anſpruch Dabsı
auf, als An unabhängiges Weſen betrachtet zu werden. Ieber, weicher eine Maſſen
lebeuder Aralle in der geſchilderten Weiſe zu betrachten im Stade wäre, würde:
hierdurch vom ſelbſt zu Dem Schluſſe gelangen, daß der ganze: Zoophyt eigentlicht
nicht für: einen Verein: oder eine Geſellſchaft von einzelnen Indieiduen angefehen⸗
werden basf, ſondetn für ein gemeinſames, zuſammengeſetztes Weſen, welches nur:
durch eine Virlheit von abgefonberten- Maͤulern und: Maͤgen ernaͤhrt wirdeMDied
iR: ohne: Zweifel der einzig. richtige Begriff von dirſen Kovallenmaſſen, und nur
auf. eine derartige Annahme Hin: und auf Grund eines ſolchen Ausgangopunktes
laſſen ſich die Einzelheiten de8. thieriſchen vbauohane der korallenbildenden Poly⸗
ven ercumn Pag Ba it. 44 Er en;
Um es algenıein auszubräden; iſt daB gefaumte Innere einer Korallenmaſſon
bieße todte, mineraliſche Materie, beftehend aus den Skeletten früherer Bentras;
tionen von Korallen⸗Polypen. Beiden gewöhnlichen. Madveporen oder veraͤſtel⸗
ten baumartigen Korallen iſt die Maſſe im friſchen lebenden Zuſtande nur: etwa
bis auf die Tiefe von ’/; Bol hinein lebendig / und ſelbſt im ven ſehr großen halba
kutel⸗oder Tugelförmigen Maſſen von Hirnſtein (M. derebrum) und anderen
aͤtzslichen Korallen erfireden ſtch die lebenden Polypen: felten weiter, als. bis zu!
eines Tiefe vow einem halben ‚Boll: oder drei Viertelszollen. Die eigentliche Art
Des Wachdthums wechſelt bei Den verfchtedenen Arten von Korallen Bolypen bei’
beten»; allein bei ſaͤmmtlichen Avten gleichmäßig ‚beginnt jebe:nene Generation !
ide. eigenes Daſein und legt das Fundament ihrer eigenen Steingerüfle nur auf!
die:ausbauernden Truͤmmer ober Skelette ihrer Borgänger. Bei. all biejew Ras)
ratlerraſſen beſchraͤnkt ſich daher die Region der Bitalitaͤt, ber Bezirk der eigente:
lichen Lebeusthaͤtigkeit, nur: auf einen dünnen Ueberzug oder eine Art Schleim⸗
Ham: anf der. Oberfläche einer Maſſe todtm vegungslofen Mineralſtoffs. Auf:
diefe Weiſe fchlägt ſich eine Schicht um die andre auf dem einmal: vorhandenen
Korallenſtock nieder , Diefor wächft. nach außen und nach oben, und nicht ein eine!
ziger: Polyp tritt mitten Der zahlloſen Maſſen von Individuen eines ſolchen:
Korallenſtockd ind Leben, ohne feinen eigenen Antheil zu’ dem allgemeinen Haufen’
zu fhgen. - Baflen wis dieſes Geſez fortwährender Bermehrung und wmaufhörs:
lichen Wachsthums bei den Korallen⸗ßoophyten und die unermießliche Anzahl der‘
Individuen ind Auge, von weichen das Meer zwiſchen den Wendekreiſen winmmelt:
— wit haben fchon oben angedeutet, daß oft vier bis fünf Dilltonen ſolcher We⸗
fen 'gleichgeitig an einem einzigen Korallenftode gefimden werden, — fo werben:
wir um fo leichter begreifen, wie es konnnt, daß dieſe ſoſchwachen und jo kleinen
Geſchöpfe dennoch im Stande find, dad Material jener Außer ordentlichen. und‘
46 wi: Zoologie. 7
unermeßlichen Korallenriffe herzuftellen, welche zu ben überrafchendfien Phaͤno⸗
menen im Bereich des Oceans der Tropenländer gehören.
Gehen wir jet auf den Charakter und das Ausfehen diefer eigenthümlichen
Bauten über, welche wir näher in's Auge faffen wollen, fo müflen wir und zu⸗
vörberft erinnern, daß fle unter einer Menge von Umftänden vorkommen, weldye
mehr oder weniger mit Elimatifchen oder Tofalen Bedingungen und Urfachen zu⸗
_ fammenhängen, fo daß eine überfichtliche Einteilung derfelben nach ihrem Cha⸗
rakter eine ziemlich mühevolle und umfländliche fein würde. Man hat fie daher
oberflächlich in drei oder vier verfchiedene Arten Flafflficirt, welche im Allgemei⸗
nen ohne große Mühe von einander unterfchieden werben fönnen. So unterfchied
man denn fogenannte Atolls, ringförmige oder Lagunenriffe, — Barrieren-
oder Einichliegungdriffe, — innere Riffe — und Küften- oder Strand»
riffe (&ranfenriffe). Jede von diefen vier Klaffen hat in den meiften Fällen
ſehr markirte und entfchiedene eigene Charaktere und Battungsmerfmale, allein
in einigen Fällen bietet fich auch eine foldy nahe Verwandtichaft der (Charaktere
der einen Klaſſe mit denjenigen einer anderen oder mehrerer dar, daß daraus klar
hervorgeht, wie am Ende alle Klaffiication und Syſtematik ihre Unvollfommen-
heiten hat, die fich auch Hier geltend machen; denn die von und angeführte Ein
theilung mag zwar in fo fern gemeinnügig fein, als fle die genauen Anbaltspunfte
“ zur Unterfcheidung ber verfchiedenen Arten von Rorallenriffen darbietet, allein es
foll damit durchaus nicht geiagt fein, daß fle irgend einen wefentlidyen Untere
fehied in ihrem Charakter bezeichne. — Wenige Dinge überrafchen den Reuling
zur See, vermöge ihrer Eigenthümlichkeit und ihres Intereffes in foldy bohem
Grade, als die Äußere Erſcheinung eined Atolls oder einer ringförmigen Koral⸗
Ien-Iniel, wenn man fie zum erftien Mal vom Verdeck eined gegen fie heranfah⸗
renden Schiffes aus entdeckt. Anfangs Täßt ſich nur ein Streifen von bunflen
Punkten unterfcheiden, der fich gerade über dem Horizont erhebt. Bald darauf
taucht jener Streifen höher aus den Wogen und man erfennt in ben dunflen
Bunften die geficderten Gipfel von Palmbäumen, und längs dem Waſſerſpiegel
laͤßt fi) ein grüner, hie und. da unterbrocdhener Strich unterfcheiden. Kommt
man noch näher, fo gewahrt man, daß der grüne Streifen von einem fchmalen
Gürtel ded Bodens herrührt, welcher nur einige Fuß hoch aus dem Meeresſpie⸗
gel emporragt, fich in Geſtalt eines Ringes ausdehnt, und einen flillen Fleinen
See, einen Rapf, eine Lagune, einfchließt. DieBrandung fchlägt laut und fchwer
längs dem ganzen Rande diejes Infelftrantes an und bietet einen feltfamen Kon⸗
traft zu tem weißen Korallengerüfte diefer Humusſchicht, zudem maſſigen Grün des
PBalmenwaldes und dem friedlichen fanften Spiegel des eingehägten Seced mit ſei⸗
nen Eleinen, allmählig heraufwachſenden Eilanden. Es ift ein eben fo intereffantes
al8 anziehendes Schauipiel, welches den wißbegierigen Veſchauer unwiderftehlich
zu einer genaucren Unterjuchung feiner Befchaffenheit auffordert, und den kun⸗
digen Forſcher mit einem fieberhaften Eifer und bezaubernden Raufche erfüllen
muß. Wenigftend find alle reifenden Raturforjcher, welche die Region des fo-
ralleninfel= beherbergenden Weltmeered unter den Tropen beiuchten, einmüthig
in der Schilderung der bezaubernden Wirkung, welche der erſte Anblid und das
Die korallen bildenden Polypen. 47
Betreten einer ſolchen Korallen Infel auf fie ausübte. — In, einigen wenigen
Fällen haben dieſe Atolls auch. nech Sporen oder Ausläufer, welche ſich wie
Landzungen am ihren Seiten hinaus erſtrecken; und im Archipel der Marſchalls⸗
Infeln gibt es Atolle, welche durch ein in mebr oder weniger gerader Richtung
verlaufendes Miff unter einander verbunden find, wie 3. B. bei der Injel Ment» .
ſchikoff, welche ungefähr 12 geographiſche Meilen lang ift und aus drei ſolchen
unter einander verfchlnngenen oder verbundenen Ringen befteht. Allein weit
aus in den meiften Hüllen beſteht ein Atoll nur aus einem einfachen verlängerten,
mehr oder minder tollfommen gerundeten Ring, mit ziemlich regelmäßigen lin
riffen. Der Ring ſelbſt ift ein fchmaler Streifen oder Hand von Korallenriff,
meiftens nur einige hundert Schritte breit und an manchen Theilen fo niedrig,
dag er unter dem Drud des Windes noch vom Wogenfchlag überfluthet wird,
und die Deining bie in Die Lagune hereinſchlaͤgt. In anderen Faͤllen ſtrotzt der
Ring vom reichfien ſatteſten Grün der tropifchen Vegetation, wenn auch nicht
eben in einer großen Mannigfaltigfeit der vorkommenden Pflanzenfpeciee. Das
von Korallen gebildete Land, worauf diefe Vegetation wächft, if nur in einigen
wenigen Sällen um die ganze Lagune herum zufammenhängend ; es ift vielmehr,
um es allgemeiner auszudrüden, in Kleine Eilande zertheilt, welche von einander
durch abwechfelnde Zwilchenräume von nadtem Korallenriff gefchieden find, und
in einem oder mehreren dieſer Zwifchenräume find. die Lüden fo tief, daß fle Oeff⸗
nungen oter Kanäle bilden, mittelft deren der Reiſende aus dem betäubenden
ofen und Anprallen der. brantenden Wogen, welche fi in Schaun und Giſcht
an der Außenwand des Miffd brechen, in die rubigen fanften Gewäfler ber ge
ſchützten Lagune einläuft. Der engliſche Raturforfcher Jukes fchiltert die Schönheit
eines Korallenriffs der Suͤdſee, wo er an ber Windfeite ded äußeren Riffes einen
verborgenen Winfel fand, weldyer von Leben ſtrotzte, folgendermaßen: „Dichte
Mafien von Maeandrina und Astraea fontraflirten mit laub= und becherfürmigen
Ausbreitungen der Erplanarien und vielfach verzweigten Madreporen und Ges
riatoporen, bie theils finger-, theils ſtammartige Aefte, theil8 die zierlichften Vers
zweigungen hatten. Das Barbenfpiel war unübertrefflich: lebhaft Grün wechjelte
mit Braun und Gelb, mit reichem Purpurjchatten, vermifcht mit blaffem Rothe
braun durch Blauroth bis zum tiefften Blau. NRulliporen, hellroth, gelb und
pfirſichblüthfarb, überfleideten die abgeftorbenen Maſſen und waren wieder durch⸗
woben mit perlfarbenen Flächen der Cocharen und Reteporen, bei Ichteren einem
Elfenbeinſchnigwerke ähnlih. Grau und carmin ſchillernde oder phantaftifch
gelb und fchwarz geftreifte Fiſche fpielten um ihre Aefte gleich Vögeln in den
Baumfronen. Hier ſah man den reinen weißen Sand des Orundes, dort Dunkle
Schluchten, Srotten und überhängende Felſen, Alles vom Elarften Wafler bedeckt,
das rubig kraͤuſelnd mit Licht und Schatten fpielte”.
Bevor wir ausführlicher auf den Bau dieſer Zagunenriffe oder Atolls ein⸗
gehen, wird es gerathen fein, einen flüchtigen Blick auf den allgemeinen Charak⸗
ter der Barren» oder Schranfenriffe zu werfen, welche die zunächft gewöhnlichſte
Art der vorfonmenden Korallen-Kormationen bilten. Man merke ſich zuvörderſt:
die Barrierenriffe unterjcheiden ſich von den Atolls bauptfächlich darin, daß fle
—— — —— —— in es nur ein ſchunuler
Sieden von ⏑⏑—⏑— Korallen, welche ihm in rin. vers
ſchlungenes Dieicht von Geftein, in ein Labprimth gleichjam- verfleinerter Ge⸗
büfche von Knieholz berwandeln. Sodann ſindet man wieder im anderen Fällen,
daß das Riff bezüglich feiner Geftalt und Ausdehnung in Form eines fortlau⸗
fenden Ringes um die eingeſchloſſene Infel anlegt und nur hier und ba einen
Kanal ‚oder ein Fahrwaſſer zwiihen dieſer und ſich ſelbſt Täßt. Wiederum tn
anderen Fällen umſchließt ————— ——— — mehrere Inſeln gleichzeitig, fd
nur eim einziged gemeinfames Riff — — —2
gtaphiſchen Meilen haben, Neu⸗Caledonien hat längs feiner ganzen Wefttite,
anf eine Entfernung von wichr als fünfzig geographiſchen Meilen, ein Barremtif,
welches fich ſogar noch mehr als dreißig Meilen weit über die Injel hinaus nach
Norden erſtreckt Das große Barrenriff vor der Norboftüfte vom Auſtrallen ift
ebenfalls mehr ald zweihundert geographiiche Meilen lang und. hat zwiſchen ſich
und dem Lande einen Kanal oder: eine Meerenge, welche am einzelnen Stellen
fünfzehn Meilen breit iſt umd eine Tiefe vom ſechzig bis zu dreihundert Fuß hat,
Dieje angeführten Beiſpiele zeige, daß die Barrenriffe eigentlich in zweierlet
Arten zerfallen, naͤmlich in Riffe, welche eine Inſel mehr oder weniger vollſtan⸗
dig umgeben: Freisförmige, umbägende Riffe, und in ſolche, welche blos auf eine
Die korallen⸗bildenden Polypen. 49
Pürzere ober langere Sttecke mit einer Küfte parallel laufen, ohne dieſelbe irgend⸗
wie im eigentlichen Sinne zu umgeben. In ihrem Eharakter ift allerdings Fein
weientlicher Unterſchied zu entdecken, und man kann fie, wie die oben geſchilder⸗
tem Atolle füglich alle ale Beiſpiele von berielben großen Klaſſe von Korallen»
Bilvungen betrachten, die ſich vielleicht nur durch bie verfchiedenen Stadien ihres
Fortſchreitens und ihrer Entwickelung von einander. unterfheiden. |
Behalten wir die eben gefchilderte Thatſache fer im Auge, jo können wir
und nun daran machen, den Gharakter dieſer eigenthümlichen Bauten mehr in
feinen Einzelnheiten zu betrachten. Hier muß zunächft heroorgehoben werben,
daß einerjeits der Meeresgrund auf der Außenſeite der Korallenbant fleil zu beis
nahe unergründlicher Tiefe abſtürzt, fo anderjeitd Die Gewaͤſſer der Lagune oder
bes eingefchloffenen Meeresarınd innerhalb des Riffs meiftens fehr feicht find.
Im Allgemeinen findet mar, daß das Riff an feiner Außenfeite auf eine Strede
von mehreren hundert Fußen fich in allmäliger Böfchung abfchrägt, dann aber
jenfeit diefer Grenze fich jählings abflürzt, als ob die ganze Maffe wie eine un⸗
geheure fenfrechte Mauer von Korallenfels fich aus dem Meeresgrund erhöbe.
In einzelnen Faͤllen, wie 3. ®. bei mehreren Atollen unter der Infelgruppe der
Malediven, fällt das Fundament diefer Korallenbänfe fo fteil ab, und iſt bie
Waſſertiefe außerhalb des Riffes fo groß, daß ſchon in einer Entfernung von
dreißig bio vierzig Baden (Klaftern) vom Rande der Korallenbanf ein Senfloth
mit einer Leine von zweihundert Faden feinen Boden mehr findet. Faſt das ein-
zige Beifpiel, wo diefe vafche Zunahme der Meerestiefe fich nicht vorfand, ergab
ſich in dem Fall des Atolls der Weihnachtö-Infel, welche jübwärts von den Sand⸗
wichs⸗Inſeln liegt, und bei welcher das Meer fich ſo allmälig abſenkt, daß feine
Tiefe in einer Entfernung von etwa 2200 Schritten vom Lande noch zwifchen
zwanzig und vierzig Baden wechſelt. Hoͤchſt merfwürdiger Weiſe ift gleichzeitig
der Streifen Land, welcher die Lagune dieſes Atolls umgibt, an einer Stelle nicht
weniger al& drei englifche Meilen breit. Es ergibt ſich hiernach aus dem excep⸗
tionelleg Charakter dieſer Infel in beiderlei Hinficht, dab eine Art nothwen⸗
digen Bufammenhangs zwifchen der Hier vorkommenden zufammengezogenen
Breite des Gürtels dieſes von Korallen gebildeten Landes und dem fo fehr all⸗
mäligen Abfchrägen des Miffe® an feiner äußeren Seite beiteht, fo wie, daß bei
den übrigen Korallen -Infeln von fehmäleren Landfeſten ebenfalld eine gewiſſe
Berbindung zwifchen diefen und dem plöglichen jähen Abfturz der Außenſeite des
Riffs flattfindet. — Die Senkung des Riffs gegen die Lagune oder die eingefchlof=
jene Meerenge oder den Kanal hin iſt Dagegen beinahe unwandelbar immer ſehr
allmaͤlig, und die bebeutendere Tiefr des eingefchlofienen Waſſers hängt gewöhn«
Hd von der Ausdehnung und dem Ylächenraum ab, welche baffelbe einnimmt.
Zwiſchen dem vorerwähnten Barrenriff von Auftralien und der Küjte erreicht,
wie wir bereits gefehen haben, das Meer bereitd eine bedeutende Tiefe. Diefelbe
Thatſache macht fi auf beiden größeren Arollen geltend, wo die Gewäfler ber
Lagune fo ziemlich daffelbe Ausfehen haben wie der Ocean, und ebenfo, wiewohl
nicht in gleicher Stärke, vom Winde gefräufelt und aufgewuhlt werden, Der
Anblick, welchen diefe Lagunen gewähren, iſt ebenſo eigenthümlich als interefjant.
IV. 4
,
»
5 3, Saelagie.7
Ein Beobachter, welcher am nördlichen Geſtade ber Lagune von Raraka, eines
der Riff⸗Eilande des Paumotus-Archipels, ſteht und. nach Süden ausblidt, kaum.
nicht unterfcheiden,, als blaues Waſſer. Wendet er ſich aber nach. der Rechten
oder nach der Linken, fo ift er im Stande in großer Entfernung etliche ſchwache
Pünktchen zu unterjcheiden, welche ſich, wenn Das Auge weiter umberfchweift;
allmälig in Streifen von Balmbäumen und anderem Grün verwandeln und ver
größern, bis fie fich, in der naͤchſten Nähe, als deutliche Wälder: und wellenför«
mige Gebüfche von Laubwerk daritellen. Auf der: Dechants⸗Inſel (Dean Ialand),
einer anderen der Paumotus⸗Gruppe, fo wie auf vielen der Sarolinen, if bie
Aehnlichkeit zwijchen der Lagune dund dem Ocean noch vollfländiger. Die La⸗
gune ift in Wirklichkeit nur ein Bruchftüd oder Bruchtheil vom Ocean, von.biefem
abgefchnitten durch eine unterbrochene Mauer von Korallenriff, das fich als eine
fortlaufende Reihe Fleiner, von grünem Pflanzenwuchfe überragten Eilande dar⸗
flellt. Die größeren Korallen Infeln beftchen gewöhnlich auf diefe Weile aus
einer langen Kette Eleiner, längs ber Linie eincd Korallenriffd aufgereihten Ei⸗
Iande. Daher führt der König der Malediven, welcher gewilfermaßen bie Anzahl
der unter feinem Scepter ftehenden Territorien diefer Art feiern zu wollen ſcheint
den hochtrabenden Zitel: „Sultan Ibrahim, König der dreizehn Atolle und ber
zwölftaufend Inſeln.“ — Die Korallen-Infeln fommen in jeder Verfchiedenheit
und Abftufung von Größe und Geflalt vor, von den ausgedehnteſten dieſer ringe
® förmigen Riffe mit gewaltigen, meereöähnlichen Lagunen an, bis zu ganz Eleinen
Eilanden herab, bei welchen die Lagune allınälig aufgefüllt worden ift und keine
Spur von ihrem früheren Dafein hinterlafien hat, als eine leichte Cinſenkung des
ganzen Innern des Eilandes, durch welche die urfprünglichen Umriſſe der einſti⸗
gen Lagune bezeichnet werden. In Lagunen von mäßigem Umfang bilden bie
Waſſer einen ftillen See, welcher inmitten feiner Unfriedigung von Balmen ſich
rubig hinbreitet und kaum von Den Sthrmen gefräufelt wird, Die den umgeben-
den Ocean zu haushohen Wogen aufwühlen. In diejen gefchügten Lagunen wach⸗
fen dann die zarteren Arten der Korallen» Zoophpien in der größten Bollfom-
menbeit und bieten dem Erforſcher der unterfeeiichen Korallengärten und
Tandichaften die herrlichften Schaufpiele. Die Oberfläche der Lagune und des
Kanald oder richtiger des Meereögrunds in denſelben ift gewöhnlich befäet mit
kleinen Kämmen, Streifen oder Flecken von wachiender Koralle, deren herrliche
Klumpen und weitveräftelten Stöde man ebenfalld durch das ruhige regungslofe
Wafler fehen ann, wie fie fi) über die leicht geneigten Innenfeiten des Riffs
und über den weißen Sand des jeichten Orundes verbreiten. Die verfchiedenen
Arten von Korallen» Zoophyten ſchlagen nämlich nach einander ihren Wohnftg
auf diefen Bänfen auf und zeigen ihr berrliched buntes Farbenſpiel und bie
Mannigfaltigkeiten ihrer Geſtalten. Die Formen, weldye die verfchiedenen Arten
von Korallen annehmen, find nämlich außerordentlich zahlreich und capriciös,
gleichen aber in ihrer überwiegenden Mehrheit den Gebilden der heutigen Pflan«
zenwelt und bilden auf diefe Weije bald wirres Gebüſch, bald fchilfs oder bin«
fenähnliche Buͤſchel, feltfam geftaltete Cacteen, Beete voll Nelken, geficberte ges
kraͤuſelte Mooſe oder Sormationen, welche täufchend den an Felſen wuchernden
Die korallen⸗bildenden Polypen. 51
Flechten gleichen , oder endlich — und deren ift Legion — ten mancherlei Pilzen
md Schwammen In ihren Taunenhaften, an Abwechslung fo reichen Formen. Da
und dort erheben fit Mabreporenfiöde in ftattlichen Maflen zu einer Höhe von
ſechs bis adır Fuß über die anderen Kormen und Arten, zeigen baumähnliche
herrliche Gebilde mit anmuthiger Verzweigung, und find auf der ganzen Ober-
fläche mit Korallen⸗Polypen wie mit einem Ausfchlage bedeckt, welche gleichfam
die Stelle von Blättern und Bluͤthen vertreten. Neben dieſen trblidt man zier⸗
lich gemodelte Bafen, wovon manche drei bis vier Fuß im Durchmeſſer Haben
und aus einem Netwerk von Zweigen, Zweigchen und blüthenartigen Büſcheln
befieben. An anderen Stellen erheben fich große Halbkugeln von Koralle, zehn
und fogar zuwellen zwanzig Buß im Durchmeffer, gleich Kuppeln zwifchen den
Bafen und dem Gebüſch, und zeigen fich auf ihrer ganzen Oberfläche gar praͤch⸗
tig bedeckt mit Polgpenfternen vom reichften Purpur und reinften Smaragdgrün.
Mit diefen Karben wechieln Gelb und Braun und andere Schattirungen von
Hellroth und Purpur bis zum dunfelften Blau. Hellrothe, gelbe und pfirfich⸗
blätHfarbige Milleporen befleiden die abgeftorbenen Ueberbleibſel anderer Polv⸗
penarten und zeigen fich wiederum von perlfarbigen Meteporen Turchflochten und
durdywoben, welche an feine® durchbrochenes Schnigwerf aus Elfenbein ober
mattgebeizte Filigran- Arbeit aus Silber erinnern. Wie Vögel durch8 Gezweige
des Waldes flattern, jo tummeln fich bier Kifche in prächtigen Farben zwiſchen
diefen Korallenbäumen und Gebüfchen im Elaren Wafler, Seeigel, Seefterne und
feltfam geformte Mufcheln haften am Grunde und Myriaden anterer fremdarti⸗
ger Geſchöpfe des Meeres, für welche nur die Wiflenfchaft Namen hat, krabbeln,
kriechen, gleiten, ſchwimmen in den Gewäflern der Lagune umber und beleben
fe mit einem traumartigen, feenhaften, märcjenartigen Thierleben. Pan wird
geſtehen müſſen, daß diefe unterfeeifchen Korallen Wälder und Gebüſche fir da
Auge: des Künſtlers und des Naturforſchers eben fo viel Genuß ala Anregung
und einen unvergehlichen Anblid darbieten müflen.
Man hielt es Tange Zeit fir eine der ſeltſamſten und räthielhafteften Er-
ſcheinungen in der NRaturgefchichte der Korallen Bolypen und ihrer Gebilde, daß
man zwar daB Korallengeftein bis zu den größten Tiefen des Dceand hinunter
reichen fant, dagegen lebende Polypen und im Wachsthum begriffene Korallen nie⸗
mals in größerer Tiefe wahrnahm, als etwa einhundert und fünfzig Buß unter
der Oberfläche des Meere. Es jchien ganz räthfelhaft, unbegreiflich und uner⸗
Mörliy, dag man die Rorallenbildungen folcherweife in fo bedeutenden Tiefen
fand, während die Iehenden Polypen auf einen jolch engen Verbreitungsbezirk
nach unten bin befchränft erfchtenen. Diefer ſcheinbare Widerfpruch verwirrt
aber, wie wir fogleich fehen werden, den wiffenfchaftlichen Erforfcher der Koral-
Tenbauten nicht mehr, und wir wollen unfere Leſer gerade an diefer Stelle und in
dieſem Zuſammenhange auf diefe Thatfache hinweiſen, eben um fle vor dem gäng
und gäben Irrthum zu verwarnen, wenn fle etwa daraus fchließen follten, daß die
geſammte Korallenmauer, fo wie ſie dem offenen Meer die Stirne bietet, von ih—
rer tiefften Grundlage an bi8 herauf und auf allen ihren Theilen mit Ichenden
und im Wachsthum begriffenen Zoophyten bedeckt fein. Diefe Vorſtellung iſt
4*
52 — Zoologie.
zwar allgemein verbreitet, aber eine ganz irrige. Unter ber Region ber lebenden
Polypen beſteht das ganze Riff, bis zu welcher Tiefe es auch hinunterreichen mag,
natürlich. nur .ausichließlich aus todtem Korallenfels; allein oberhalb dieſer
Grenze ift es durchaus nicht gleichförmig mit lebenden Zoophyten bedeckt. Diele
find im Gegentheil nur auf das feichte Wafler um das Riff herum beichränft und
auf defien abfallenden Rand, über melden fie ſich bis auf etwa einen Fuß breit
unter dem Riveau des Waflerflandes der tiefften Ebbe ausdehnen. Zuweilen kom⸗
men fie ſogar nur ſtrecken⸗ und ftellenweife über weite Gelder von Korallenſand
und abgeftorbene Bruchftüde hin vor, wie einzelne Fleckchen Raſen und anderen
Pflanzenwuchſes in einer jandigen Ebene. Trotz dem ſchweren Wogenichlag der
Brandung ift der obere Theil des äußeren Randes oder Abfall vielleicht im Alle
gemeinen weit zahlreicher und Dichter mit lebenden KRorallen-Bolypen bejegt, alb
alle anderen Theile des Riffs, und manche der haͤrteren, zäheren ober derberen
Zoophyten gedeihen hier mir bejonderer Ueppigkeit, nermuthlich weil ihnen hier
die Mellen mehr Rabrungdftoff oder Baumaterial zuführen, die in den kalkhalti⸗
gen Salzen des Meerwaflerd befteben. In einer Entfernung von ungefähr fünf«
zehn bis dreißig Ellen vom oberften Theil des Abſturzes abwärts finder man das
"Riff gewöhnlich von Löchern und zerflüfteten, gewundenen Riffen und Spalten
burchzogen , welche einen trefflicyen ficheren Aufenthalt abgeben für die Krabben,
Seeigel, Seeiterne, Sees Anemonen und ähnliche Geichöpfe, jo wie für die verſchie⸗
denen Weichtbiere, von welchen ed bei ruhigem Waſſer auf der Oberfläche des
Abhangs winımelt, und die zur Belebung und zur fchönen Wirkung der Seene
. 10 wejentlich beitragen. Auf diejem Theil des Riffs ſieht man auch Häufig die
ziefige Bivalve, Tridacna (Chama) gigas, die größte aller befannten Muſcheln,
welche man jo häufig in Sammlungen oder als Zierrath in künſtlichen Grotten
oder Bartenipringbrunnen fieht. Sie findet fich gemeinhin mehr als zur Hälfte
im Geſtein des Riffs begraben, wo fie faum Raum genug bat, ihre fchwere um
fangreiche Mujchelichale zu öffnen und ihren prachtvoll gefärbten Mantel vor dem
Wafler auszubreiten. Es liegt ſomit Flar am Tage, daß die Seeſeite eines Ko-
rallenriffs zu jeder Zeit eine Scene des reichiten rührigften Lebens und voll des
größten Intereſſes ift. Bei ruhigem Wetter überjchaut man dajelb feine Koral⸗
lenwaͤlder mit ihren taujenderlei ſchönen Formen von lebenden Weſen, welche
zwiſchen und unter denjelben fi im Elaren ftillen Wafler ſpielend herumtum⸗
mein; in ſtürmiſchem Wetter und bei heftigen Stürmen dagegen gewahrt man
dort eine lange impofante Linie von hoch aufgethürmten Wogen ter Brandung,
welche fich dort dem ganzen Geſtade entlang in all ter Großartigkeit der Äußere
ften Dede bricht. — Der oberfte Theil des Riffes beftcht beinahe immer aus
einer breiten ebenen Plattform von Korallengeftein, weldyes übrigens eine ſehr
anebene Oberfläche bat und an manchen Stellen mit dicken Schichten von ins
kruſtirenden Korallinen überzogen iſt, die ihm eine bunte Schattirung von Nor
jenroth bis Burpur geben. In den meiſten Fällen erhebt fich dieſe Plattform
gerate hoch genug, um bei niedriger Ebbe theilweiſe wafjerfrei gelafjen zu werten.
Es gibt jedoch ein ſehr merkwuͤrdiges und außergewöhnliches Beiipiel, Dad der
Chagos⸗Bank, etwa zehn Grade füblich von den Malebiven-Infeln, weiche
Die Eorallen bildenden Polypen. 63
eigentlich nur ein großes ringförmiges Riff von etwa 19 — 20 geographiſche
Wellen in der Länge und 15 geographiſche Meilen in der Breite bildet, deſſen
oberfier Theil zwifchen fünf und zehn Faͤden tief unter dem Waflerfpiegel Tiegt,
noch merfwärdiger und eigenthümlicher aber ift e8, daß dieſer ganze untergetauchte
Atoll, (denn für einen ſolchen farm man ihn füglich betrachten) gänzlich von
lebenden Korallen entblößt zu fein fcheint. Diefe Iegtere thatiächliche Erſcheinung
macht fich übrigens auch bei gemöhnlichen Wiffen bis zu einer bedeutenden Flaͤche
der Ausdehnung ihrer Plattform geltend, da deren Oberfläche meiflens keine
lebenden Zoophyten mehr zeist, — ausgenommen in den jeichten Rachen derſel⸗
ben oder in den zerfläfteten Kandlen nach ihrem äußeren Rande zu, wo fie übet«
zeich vorhanden find. Am inneren Ende diefer zu Tage ſtehenden Randfefte oder
Uferplattform, wie man fie genannt hat, erhebt ſich der fteile Strand von Koral⸗
lenlies und Sand, der allenthalben Die echten Korallen-Injeln einfaßt, wo fie fi
auch immer gebildet Haben mögen. Diefes flache Geſtade gewährt, wenn man
es bei ruhigem Wetter vom Verdeck eines gegen die Infel heranfegelnden Fahr⸗
zeugs aus betrachtet, einen ganz eigenthümlichen und merkwürdigen Anblick.
Bermöge feiner weißen Färbung und des Kontraftes, welchen es mit dem darüber
auftretenden dichten Laubwerk bildet, kann man feine Boͤſchung nicht einmal aus
geringer Entfernung wahrnehmen und der flache Strand gleicht feiner ganzen
Länge nach gewifiermaßen einer vertifalen Mauer oder Eindeichung, welche pa»
rallel mit der Küfte läuft. Dana erzählt: „Als die amerifanifche Expedition @
fich dem Eilande Elermont» Tonnerre, einer der erſten der auf jener Fahrt bes
ſuchten Rorallen-Infeln, näherte, und die Eingebekten mit ihren Speeren in bet „
Hand dem oberen Theil des Geſtades entlang ftanden, hielten viele Leute an Bord
dieſe Eingebornen für Schildwachen und Patrouillen auf den Wällen einer fürms
fichen Befefligung. — 88 ift vieleicht von Intereffe, bevor wir weiter geben, bier
anmführen, daß das Geſtein des Riffs an allen Stellen, wo es zerbrochen oder
fein Gefuͤge getrennt ift, die ungmeidentigften Beweiſe dafür zeigt, daß ed aus
Koralientrümmern und Sand, welche durch eine Art Cement jchön verbunden
find, gebildet worden if. In manchen Fällen find die eingelagerten Korallen»
Maſſen von bedeutendem Umfang, allein nur felten findet man fle in ber urfprüäng«
lichen Lage ihres Wachothums; dagegen kommt es weit häufiger vor, daß bie
Treinnmer fowohl Hein als auch durch die Einwirkung der Wogen flark zerbrv⸗
chen und abgerieben worben find, bevor fle unter einander vereinigt wurden.
Weltaus die gemöhnlichfte Form von Geſtein, in welches die Erdfeſte des Riffs
vorkommt, ift jedoch die eines feften, dichten weißen Kalkſteins von eben jo ſchoͤ⸗
nem Gefüge und feinem Korn, als irgend welche ferundäre Kalkfleine von
ztemlich großer Härte, fo daß fle unter dem Schlag eined Hammers mit einem
hellen metallifchen Ton Elingt. Die Art und Weife, auf welche die urſpruͤnglich
Ioderen und unzufammenhängenden Trümmer, der Iofe Schutt des Korallenriffe
folchermaßen in eine harte und compacte Maſſe verdichtet wurde, ift vollkommen
unserfländlich und nicht zu erflären; und der überzeugendfte Beweis von feiner
jüngeren Bifpung und feinem noch neuen Urfprung wird durch die Thatſache bei⸗
gebracht, daß ſich darin die Ueberreſte verfchiedener Gefchöpfe eingelagert vorfinden,
welche das Riff noch immer bewohnen, und eben deshalb jogar gelegentlich auch
iehr bedeutende Spuren oder Dentzeichen des Menſchen jelbft und feines Haus⸗
haltes.
Das aufgetauchte, über den Waflerjpiegel hervorragende Land, welches die
_ Subftanz der Korallen-Infel bildet, wo fie Die breite Plattform des Riffs über-
zagte und von dem bereitd erwähnten Geſtade eingefaßt ift, befleht aus Blöcken
son ähnlichem Material wie dasjenige, welches die Mafle des Riffs jelbft bildet.
In feinem früheften Stadium der Bildung, wenn es ſich noch faum über die
Grenze der Gezeiten erhebt, hat ed das Ausfehen eined ungeheuren Trümmerfel⸗
des, denn es liegen eckige und Fantige Maflen von Korallengeftein, deren Dimen-
fionen von einem bis zu hundert Kubikfuß wechfeln, in der größten Unordnung
und wildeften Verwirrung über einander aufgehäufl. Ban erfennt dann unter
diejen durcheinander geworfenen Maflen manche leicht ald Theile einzelner Kos
rallenftöde; allein beinahe ſaͤmmtliche größeren Blöcke haben den gewöhnlichen
Gonglomerat-Eharafter des gemeinen Riffgefteind und find unverfennbar davon
abgeriffene Theile, welche durch die Ihätigkeit der Wellen nach ihrer jeßigen
Ruheſtaͤtte geichafft worden find. Den Einflu der freien Luft, welcher fie aus
geießt find, und ein hierdurch hervorgerufener leichter Verwitterungs⸗Prozeß, fo
wie in einzelnen Fällen die Einwirkung von Blechten, welche ſich darauf nieder»
laſſen, geben den Haufen bald eine andere Bärbung und hiedurch, je länger deſto
mehr das Ausſehen eines Haufens vulfaniicher Schlade.
Im naͤchſten Stadium ‚hat dad gemeinfame Spiel von Wind und Wellen
die Zwijchenräume der einzafigen Blöcke theilweiſe mit Korallenjand ausgefüllt;
die soranjchreitende Verwitterung hat einzelne Kanten und Eden zerbrädelt und
dem Banzen ein mehr homogenes Gefüge und eine leichte Bededung von ſandi⸗
gem Boden gegeben, welcher dann die nothdürftigfte Nahrung abgibt für einige
Stauden⸗Gewaͤchſe, Schling- und Kriech- Pflanzen, welche ihre grünen Blätter
über die rauhen zerriffenen Blöcke ausbreiten und der Scene viel von ihrem un«
fruchtbaren und öden Ausſehen benehmen. Die Verweſung dieſer dürftigen
Pflanzendecke Hilft die humushaltige Erde allmälig vermehren, und zur Humus-
bildung auf den noch nadten Flächen oder Haufen der Niffe trägt urfprünglidy
vielleicht auch der Roth der Meeresvögel bei, die fich bald auf dem zu Tage ftehen-
den Ringe feiten Landes einfinden, Durch ihren Auswurf entfteht vielleicht von
vornherein oder allmälig eine Dünne Schicht Dammerde, in welcher zuerft Eleinere,
dann größere Bilanzen gedeihen, endlich Bäume, fo daß das neue Land allmä⸗
lig zum Aufenthalt des Menfchen vorbereitet und qualificirt wird. —
In ihrem legten oder vollfommenen Stadium erhebt fich Die Korallen-Injel
acht bis zehn Fuß über das Niveau der höchften Fluth und zeigt einen herrlichen
Kranz vom wuchernöjten Grün, wo über eine faftige, farbenreiche Pflanzenwelt
von niedrigen und flrauch» oder bufchartigen Gewächien die Brodfrüchte, Der
Bandanusbaum ,, Die Kokosnußpalme und verfchiedene andere Palmen oder zier⸗
liche Baumfarne ihre majeftätiichen Häupter erheben, Die Oberfläche beficht aus
einer dünnen Schicht von Korallenboden, die nur wenige Zolle mächtig ift und
dann einem beinahe seinen Korallenjand oder Kies Plag macht; einen bis zwei
Die Forallen-bilbeuden Polypen. oo.»
Fuß tiefer, nimmt fodann die Waffe wieder ihren Gharakter eines mehr oder
minder dichten Korallengeſteins oder Felſens an, und zwar ber Thatfache zum
Trotz, dag das Land mit dem wucherndflen Grün einer ziemlich zahlreichen Flora
bedeckt fein mag. Bei Infeln, welche in der Längenachfe oder Grundlinie ihres
Riffs Häufig durch Zwiichenräume oder Kanäle unterbrochen find, trifft man ſo⸗
gar fehr häufig Beifpiele von jedem diefer Drei Stadien innerhalb eines ziemlich
befchränften. Raumes, fo daß fich dem Auge des Befuchers gleichjam auf einen
einzigen Blid die ganze Bildungsgefchichte einer Korallen-Infel vorführt.
Wenige Worte dürften Hinreichen, um bie weientlichen Unterfcheidunge
merkmale der inneren Miffe und Sranfen- oder Dammriffe hervorzu⸗
heben, und dann wollen wir auf eine andere Klaſſe von Korallen⸗Formationen
übergehen, deren wir feither noch nicht erwähnt haben. Innere Niffe führen
ihren Ramen daher, daß fle in eingefchloflenen Gewäflern vorkommen, fei es nun
in dem Kanal innerhalb eines Guͤrtelriffs, oder innerhalb des Flaͤchenraums einer
Zagume. Bilden fte fich in ruhigem Waſſer, fo find ſte meiſt weit reichlicher mit
lebenden Zoophyten bedeckt, ald dies Bei Riffen der Fall, welche allem Ungeftüm
und Anprall der offenen See auögefegt find, und man kann dann auch als allges
meine Regel annehmen, dag fie fich weit fanfter und allmäliger nach dem tiefen
Waſſer abvachen. Wie bei den Äußeren Riffen befteht jedoch die große Mafle der
Korallenbant aus conglomerirtem Korallenfels, welcher häufig ein ebenfo ſchönes
feines Korn und gleichartige® @efüge zeigt, wie der gewöhnliche Kalfflein. Dere
hauptſaͤchlichſte Unterfchieb in dieſer Beziehung befteht vielleicht darin, daß bie
Inneren Riffe weniger aus zerbrochenen Korallentrümmern, al8 aus mehr oder
weniger vollfländigen Zobphyten beftehen, welche in der urfprünglichen Rage ihres
Wachsthums in die Maffe eingebaden find. Franſen⸗ oder Strantriffe find Ko-
rallenbänfe, die fich im ſeichten Waffer in der Nähe von Land bilten, und führen
ihren Ramen daher, daß fie eine Art Damm oder franjenähnliche Umwallung der
Küfte bilden, an welcher fie ſich niedergelafien haben. Sie kommen biöweilen
in der Umgebung von. Küften vor, welche durch Fein Gürtelriff geſchuͤtzt find, zu⸗
weilen aber auch an Küften, welche vollftändig von Guͤrtel⸗ oder Barrenriffen
eingefreift find. Wäre es möglich, ein ſolches mit doppelten Riffen umzogenes
Ciland aus der Meerestiefe emporzubeben, fo. würde man finden, Daß die beiden
Korallenbänte auf den unterjeeifchen Böfchungen ftünden wie mafflve Bauten
von künſtlichem Manerwerk: — dag das Dammriff eine breite flache Plattform
bilder, eine Art Keifte oder Sandbank, welche ſich in der Rühe der Waflerlinie
der Küfte rings um das Land zieht; daß Dagegen daB Äußere Riff aus bem tiefer
untergetauchten Theile fich emporbebt und jenes in einiger Entfernung umgibt,
wie ein ungeheurer, ſeewaͤrts ftehender Dammwall oder Wogenbrecher. — Wenn
man früher große Mühe hatte, fi) das Vorhandenfein von KRorallenfelfen in
ſolch umentlich bedeutenterer Tiefe unter derjenigen Region der lebenden Poly
pen, worin diefelben heutzutage noch gefunden werden, zu erflären; — fo fand
. man nicht geringere Schwierigkeiten in der Erklärung der Entftehungsweife einer
ganz entgegengefehten Gattung son KRorallen-ormationen, welche noch hentzu⸗
tage hberall vorkommen, — naͤmlich der Bildungdweife von Infeln aus gewöhn-
56 0 Belege :::: :.
lichem Korallenfels, welche weit über. ven Bereich der allerhächften nur irgend
möglichen Sprinpfluthen emporragen. Derartige hohe Korallen» Infeln. Ad
derchaus nicht jelten, ſondern finden fich im flillen Ocean in Menge und in den
verfchiedenften Graben der Erhebung über den Meereäfpiegel, — von folchen an,
welche nur um wenige Fuß über die gewöhnlichen Niff-Eilande emporragen bis
zu anderen, welche eine Höhe von zwei» bis dreihundert Kuß und mehr über dem
Meereöfpiegel erreichen. Metia oder die Anrora-Injel, eine Infel der weftlichen
Paumotus⸗Gruppe, if ein Eiland der hierher gehörigen Gattung. Es iſt etwa 3a
geographifche Meilen lang und eine halbe Meile Breit, und beficht aus einer
Maſſe von dichtem Korallen - Kalkftein, welcher fich in Beljenwänden und mehr
oder weniger fenkrechten Klippen zu einer Höhe von zweihundertundfünfzig Zuß
erhebt. Diefer Kalkftein ift gleich dem Geſtein der gewöhnlichen Niffe zum größe
ten Theile von eben fo dichtem und gleichförmigere Gefüge, wie jefundarer Mar⸗
mor; allein bier und da deuten Maſſen von darin eingelagerten Korallen oder die
Ueberrefle von Muſcheln und Schalthieren jolcher Arten, welche noch heutzutage
im benachbarten Meere vorfommen, ganz klar und bezeidmend auf die Natur and
das neuere Datum feines Urfprungs Hin. Gin anderer Bunt, worin fih das
Geſtein dieſer Injel und die Kormationen des älteren Kalkfteind gleichen und
übereinflinnmen , tft das Vorhandenſein audgebehnter Höhlen in erſterem. Im
einigen ſolchen Höhlen und Grotten fann man große Stalaftiten, bis zum Durch⸗
mefler von ſechs Fuß, von der Dede berunterhängen fehen. Aehnliche Höhlen
fommen nach der Schilderung des britifchen Mifftonärs John Williams in dem
hohen Korallenfelfen von Atiu, einer Infel der Hervey⸗Gruppe, vor, worunter
eine von folch .beträchtlicher Ausdehnung, daß jener Garährämann zwei Stun
den lang darin umherwanderte, ohne an dad Ende ihrer Krümmungen und Win⸗
dungen gelangen zu können. Die Inſel Tongatabu iſt ein weiteres Beifpiel die
fer hoben Korallen-Eilande. Sie ift allerdings an manchen Stellen niedrig und
eben, erreicht dagegen an anderen eine Erhebung von hundert Fuß und beflcht
aus Korallenfels, welcher deutlich die durch die Einwirkung der Gezeiten in ihm
verurfachten Aushöhlungen und Unregelmäßigkeiten zu erfennen gibt. Ein noch
merfwürtigered Beifpiel ift Mangaia, eine der Cook⸗ und Auftral-Infeln; diefes
Eiland ift zum Theil vulkaniſch, beinahe dreihundert Fuß hoch, und bietet in
jeder Hinficht dad Ausſehen eined emporgehobenen Atoll oder ringfürmigen Riffs
dar. Sein ®ipfel ift größtentheild eben, aber im Mittelpunkt befindet ſich eine
weite Vertiefung, auf deren Oberfläche einzelne Streifen, Flecke ober Kindling®
Hlöde von Korallenfels zerfireut umherliegen, wovon manche zu einer Höhe von
vierzig Buß emporgehoben find und durch ihr Ausſehen und ihre Beichaffenheit
den Beobachter jogleich an die einzelnen Kuppen, Hügelchen und Eleinen Riffe in
der Lagune eines Atolls erinnern. — Wir haben nun die hauptſaͤchlichſten Klaſ⸗
fen von Korallen-Formationen gejchildert und uns bemüht, fo meit es unfer ber
ſchraͤnkter Rahmen möglich machte und thunlich erfcheinen ließ, eine anfchauliche,
are und deutliche Darftellung von ihrem Bau und Ausſehen zu geben. Es tft
natärlich nicht möglich, in einem fo. engen Raume wie derjenige, welcher uns bie
für vorgeitedtt wurde, auf Einzelheiten einzugehen, umd wir möäfjen daher
yo
Die Eorallen- bildenden Polypen. 57
Diejenigen umierer Leſer, welche grünblichere Studien und Forſchungen über die-
fen Gegenſtand auftellen wollen, anf bie Specialwerke über dieſen Gegenſtand,
‚namentlich auf das. nerbienfioplle herrliche Werf von Dr. Charles Darwin,
verweiſen. Wir glauben aber Solchen in dem Borangehenden eine gute Vorſale
für dieſen interefianten Zweig der Raturfunde gegeben und auch dem größeren
Leſerkreis einen Flaren und anregenden Ucherblid über biefen Gegenſtand ver⸗
fehafft zu Haben. — Der Raum, welcher und noch übrig bleibt, Toll rinex
kurzen Ueberficht über die Theorie gewidmet fein, welche Darwin über die eigen
thuͤnliche Bildung der Korallenriffe aufgeftellt Hat und mittelft deren er ſich Die
Entſtehung derfelben zu erklären und Die fcheinbar widerjprechenden Thatſachen,
womit und ihr Studium befannt macht, in Einklang zu bringen verſucht. Zum
Schluſſe fei es und ſodann vergönnt, noch einige Worte über die weite Ausdeh⸗
nung der Geſichtspunkte, welche Diele Theorie in ſich begreift, und über den denk⸗
würdigen Zufammenhang hinzuzufügen, welcher zwifchen der Thätigfeit der Kos
rallen⸗ Bolgpen und anderen wichtigen Kräften und Agentien der Ratur, die
fämmtlich auf denſelben Zweck hinwirken, beſteht.
Es bat nicht an mancherlei Hypotheſen gefehlt, um die eigenthümliche
Struktur und Conformation der Korallenriffe zu erklaͤren, allein dieſelben waren
oft ſo bizarrer oder barocker Natur, ſo ſehr bei den Haaren herbeigezogen, daß
nur eine einzige derſelben die vorurtheilsfreie Prüfung der Wiſſenſchaft erfolg⸗
reich beſtehen und allen Anforderungen empiriſcher und ſpekulativer Betrachtung
Genäge leiſten konnte, — und dieſe iſt die von Dr. Charles Darwin aufgeſtellte
Theorie, welche nun allgemein anerkannt iſt. Dieſe geiſtvolle ſcharffinnige Hy⸗
votheſe gründet ſich auf die Annahme, daß der Meeresgrund des Oceans in den⸗
jenigen Regionen, wo Korallen-Riffe vorkommen, große und in manchen Faͤllen
fogar wiederholte Veränderungen feines Niveaus erlitten habe; dab gewiſſe Theile
deffelben fich allmälig in große Tiefen hinabgeſenkt und dann in einzelnen Bei⸗
fpielen in der Folge wieder weit über ihr urjprüngliches Riveau erhoben haben.
Es if eine wohlermittelte und feftgeftellte Thatſache, Daß noch Heutzutage derar⸗
tige oßcilfatorifche Bewegungen und Riveau» DBeränderungen des Meeresgrundes
Rattfinden, und es darf Darum wohl auch mit gutem Grunde angenommen wer-
den, daß folche auch in vergangenen Beitaltern ſich ereignet haben; — und dieſe
Annahme ift vielleicht um fo mehr gerechtfertigt, als es kaum möglich ericheint,
fich die Hei der Bildung der Korallenbänfe fich geltend machenden Phänomene
durch irgend eine andere Suppofltion zu erklären. — Da die Korallen⸗Polypen
nur innerhalb einer gewifjen befchränften Entfernung von der Meeresfläche Ieben,
fo dürfte hieraus erfichtlich fein, daß fie in allen Fällen jenen Bau im Großen,
Durch welchen die Riffe entflanden, in Gewäflern begonnen haben müflen, deren:
rund noch innerhalb der ihnen jpeziell zuträglichen Tiefenregion lag. In tie
fen Meere fonnte dies nur in der Rachbarfchaft des Landes gefchehen, und wenn
das fragliche Land eine Infel war, fo ift Elar, dag ed mit einer Wafler-Zone oder
einem Bürtel von diefer geeigneten Tiefe umgeben fein mußte, fo wie, daß die Breite
dieſes Guͤrtels ſich natürlich nach der Abdachung der Küften der Juſel richtete,
refp. von biefer beſtimmt ward, Da aber kleinere Infeln, die fich aus einem
58 0". Beolegie - — -::
tiefen Ser erheben, meift an ihrem Saum ſehr fleil gegen ben Meeresgrund ab⸗
fallen, fo mußte der für dad Leben und Gedeihen ber Korallen⸗Polypen geeignete
Bereich des Waſſers um deren Küften herum notwendig verbältnigmäßig ſchmal
fein und dadurch bie relative Breite der Fünftigen Korallenbank bedingen, wäh-
end zu gleicher Zeit von der mehr oder minder regelmäßigen Geftalt der Infel
auch die Seftaltung der gefrümmten oder beziehungsweife ringförmigen Contour
ber Riffe abbing, welch Iegterc für die Korallen-Bormationen fo charakteriſtiſch
iſt. Darwin's Theorie nimmt daher an, die Korallen-Riffe feien indgefammt
anf diefe Weife in den jeichten Gewäflern in der Nähe von Injeln begonnen wor⸗
den, indem die Korallen» Polnpen ihre Thätigfeit auf den unterfeeifchen Abhaͤn⸗
gen der Injel anhuben, und die Korallenbank fich allmälig immer höher und
höher erhob, bis fie das Riveau der tiefften Ebbe erreichte, wobei fie zugleich ent⸗
weder um Die ganze Infel oder nur um einen Theil derfelben herum weitergeführt
wurde, je nachdem drtliche Urfachen die fortgefegte Arbeit diefer zahllofen Poly⸗
penfchaaren begünftigen oder bintertreiben mochten. Es wird nun in die Augen
fallen, taß die Korallenriffe, welche fich auf dieſe Weije dicht In der Nähe bes
Zandes bildeten, mehr zu der Klaſſe der Dammriffe gehören mußten, als zu ber
der tolle und Barrenriffe. Rimmt man aber an, der Meeresboden habe, nach⸗
dem die Korallenbanf fo ringe um die Inſel herum gebildet worden war, begon⸗
nen, ſich mit der ganzen Maſſe der auf ihm ruhenden Infel faktiſch und körper⸗
lich auf ein tieferes Niveau hinabzuſenken, fo daß der oberfte Theil des Riffs nun
wieder unter Die Grenze der tiefften Ebbe gebracht worden ſei, — fo mußten bie
Polypen Hiedurch in den Stand gejegt werden, wieder weiterzubauen, nach oben
zu wachfen, neues Mäterlal zu verarbeiten, welches ihnen der Wogenfchlag zuerft
. mführte, dann nad; feiner Verarbeitung zertrümmerte, zufammendrüdte, verdich⸗
tete, in den Zurifchenräumen ausfüllte, — und daß hierdurch endlich das Riff von
den Polnpen ftet3 an der Oberfläche des Waſſers erhalten wurbe, troßdem daß
das Fundament ihrer Bauten fortwährend In weitere Tiefen verjant und durch
Losreißung größerer Blöcke und Trümmer fich erweiterte, — fo haben wir auch
für dieſe Hypotheſe und die fie bedingenden Zuftände eine plaufible ExrFlärung.
Wir können und vergegenwärtigen, daß — wenn diefe langſame Senkung
ber Infel ſich andauernd über lange Zeitperioden erftredt hat, und das Riff in«
zwiſchen unabläffig höher und höher gebaut worden ift, um immer auf einem be⸗
ſtimmten Niveau zu bleiben, — mit der relativen Stellung und Größe der beiden‘
Körper auch eine ſehr wichtige Veränderung vor fich gegangen fein muß. Das
Riff Tiegt nun nicht länger unmittelbar an ber Küfte, denn die Infel ift ja in
demfelben Verhaͤltniß Fleiner geworden, als ihre fanft oder fteiler abfallenden
GSeitenflächen unter das Meer verjunfen find, und es ift nun ein weiter Kanal
zwifchen dem Reſt der Injel und der Korallenbank geblieben ; diefe ſelbſt aber iſt
auf dieſe Weife aus dem Zuflunde eines Damm ober Franſenriffs in denjenigen
eines Barten« oder Guͤrtelriffs übergegangen , welches man jolchermaßen als das
zweite Stablum einer Korallen⸗Inſel auf ihrer fortfchreitenden Entwidelung zu
ihrer volllommenen Form betrachten kann. Hierans ergibt fich aber deutlich, daß
wir uns biefen Prozeß nur als fortlaufend denken dürfen, fo daß alfa Die Infel
Die korallen «bildenden Polypen. 59
immer tiefer ſaͤnke, das Riff auf demſelben Rivenu fich erbielte, bis endlich nach
und nach. auch Die legte Bipfelipige der verſchwindenden Infel unter den Meeres⸗
fplegel hinabgeſunken und aus der Korallenbanf eine vollfommene Korallen-Infel
geworden, — um und auch die. Bildung eines Atolls erklären zu können, denn
dad nun vorhandene Korallen» &iland muß ja vollkommen ringförmige Geſtalt
mit einer Lagune in: der Mitte haben, und repräfentirt nach diefem Syſtem oder
diefer Theorie fodann bie vollkommenſte Stufe der Injelbilbung durch die Thä-
tigfeir der Korallen« Bolgpen. — Wir haben nun feinen Raum mehr, um im
Einzelnen: nachzuweiſen, wie vollftändig dieſe fcharffinmige und body einfache
Theorie die verſchiedenen Bhänomene erklärt, welche wir an den Korallengebilben
wahrnehmen. Allein es dürfte um fo weniger nothwendig für uns fein, auf das
Detail der Darwin’fchen Theorie bier einzugehen, da wir ja dem Leſer genügen-
bed Material geboten zu haben glauben, um ſich felber Hiermit zu befaflen. Es
Heifcht nur wenig Nachdenken und Aufmerffantfeit, um einzufehen,, daß es feine
einzige unerflärliche Thatſache mehr gibt, weldye einen erheblichen Zweifel in bie
Blaubwürbigleir der Hypotheſe fegen Eönnte, wenigftend in foweit als diefe die
gewöhnlichere Form von Korallen-Infeln betrifft. Im Beziehung auf diefenigen,
welche body über den Meeresſpiegel ſich erheben, fünnen wir mır fupponiren, daß
bei ihnen die Einfintung des Meeresgrundes nur während einer gewiſſen Periode
andauerte, dann aber innehielt und flatt ihrer eine Bewegung nach oben eintrat,
” alfo eine Hebung „. welche vielleicht viele Jahrhunderte anbielt und eventuell die
Korallenmafle auf ihre jegige Höhe erhob. Es finden fidy in ber That in ber
Ratur Beifpiele genug daflır, Daß eine Derartige Bewegung nach oben noch heu⸗
tiges Tages bei mehreren Korallen-Infeln vor ſich gebt; und Lie Thatjachen, welche
wir weiter oben hinfichtlicy der Iufel Mangaia, in der Gruppe der Cook⸗ und
Auftral-Injeln, angeführt haben, reichen vollfommen zum Beweiſe bin, daß eine
ſolche Hebung. fchom jeit ſehr langer Zeit vor ſich geht.
: Die Beobachtungen neuerer Forſcher geben fogar Anhaltspunkte zur Beur⸗
theilung des Maaßſtabs des Wachsthums bei Korallenbänten, weldye ohne Zwei⸗
fel noch bedeutend vervollſtändigt werden, wenn erſt genauere Verſuche die
Eumme tes Einfluſſes lokaler und klimatiſcher Urſachen auf die Korallenbildung
naͤher kennen und ſchaͤtzen gelehrt haben. Soviel iſt gewiß, daß in heißen Mee⸗
ren die Korallenbildung fehr rajch vor fi geht. Darwin z. B. fand im indie
fen Ocean den Kupferbeſchlag eines geflrandeten Schiffes fchon nach zwanzig
Monaten mit einer zwei Fuß diden Korallenſchicht bedeckt. Auf einigen bewohns
ten Atollen der Suͤdſee hat man deutlich eine Erweiterung, reſp. eine fichtbare
Zunahme der Landfeſte nad) innen und ein Seichterwerben wie eine Verkleinerung
der Lagune innerhalb eines Zeitraums von zehn bis zwölf Jahren bemerft*).
*, Hieran reihen wir vielleicht unferen 2efern zu Dank die anmuthige Schilde⸗
rung des Wertens einer folhen Korallen: Infel’ tur Adelbert von Chamiſſo,
einem faftifchen Befucher tiefer wunterbaren Kerallengebilde der Suͤdſee. „IR das
Riff“, fagt er „bis zur Höhe gelangt, daß es bei niedrigem Waflerftand zur Zeit der
Cbbe faſt trocken wird, fo hören die Korallen ıthiere) auf, höher zu bauen. Mufchels
fhaalen, Rorallenbruchftüde, Seeigelſchaalen u. |. w. vereinigt die Brennende Sonne
ma eg
Genf Gnffemneg; Me Geingabatın. Der caef ini goßa len uch
tusdhragenen Bär umgehen Babe. — —
britiſchen Halbinſel iſt ohne 31 9; und der Umftand,
Br dieſer Anficht einen hohen Grad-von Wahre
ſcheinlichteit, während fich anderſeits mur jehr wenig Erhebliches dagegen
einwenden läßt. Die Idee iſt jedenfalls aufmerfjamerer Prüfung und Beachtung
werth, und ann, wenn fie ſich ale richtig bewährt, uns einen merfiwürdigen Ein-
NN SEELE böchft ungleichartiger Agen·
Kaltſand, der durch Berreibung jener Schaale u einem
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Die Eorallen -bildenden Polypen. 61
tien zu einem und demfelben Zwecke der Ratur geben. Auch würde die Richtig-
ftellung und Bewährung diefer Annahme für die Geognofle von ungeheurem
Werthe fein, denn nichts erleichert und das Berftändniß der Vorgänge in den
Zeiten ber Urwelt fo ſehr, ald wenn wir an analogen oder ganz übereinftimmen-
den Ericheinungen im Bereiche unferer gegenwärtigen Schöpfung nachzuweiſen
vermögen, wie fonftant und unumftößlich gültig, wie ewig Die Geſetze der Natur
find. Die Lebenschätigkeit winzig Meiner Bolypen, — die zerflörente Gewalt
des Wellenſchlags im Ocean, das Walten chemiſcher Verwandiſchaft, Die großen
vhnanriſchen Reſultate des Feners in unferem Erbämeren, und Die aͤußerordentkiche
Enwickelungsfaͤhigkeit alles vegerabiliſchen Lebens, welche in ihrer Combination
und in ihrem Zuſammenwirken die unerſchöpflichen Vorraͤthe von Steinkohlen
und Kalt, diefer beiden großen Förderungsmittel menfchlicher Civiliſation erzeug-
ten — fie alle thun fichtlich dar, daß die Erde von Anbeginn an dazu auserfehen
war und darauf vorbereitet und zugerichtet wurde, dem Menfchen zum Aufs
enthalt zu dienen. —
Das unermeßliche Gebiet der Südfee ift ganz befäet mit unzaͤhligen Koral-
len⸗Inſeln in jedem Stadium der Entwicelung im Sinne der Darwin' ſchen
Theorie. Die Euͤdſee gibt ber fühlichen Erdhaͤlfte den Charakter der vorwiegen-
den Waflerfefte unferes Erdballs, aber die neuere Wiſſenſchaft belehrt uns, daß
Be die nicht von Anbeginn war, fondern daß wir im Stillen Ocean das Grab
eines gewaltigen Kontinentes jchen müflen, welcher langſam und allınafig einſank,
während dieſer großartigen Einfinfung in nächfter Rähe ebenfo bedeutende all⸗
mälige Hedungen gegenüberftehen, indem Südamerifa, die Küften Afrika's und
die Infeln des Sunda⸗Archipels fich noch fortwährend im Zuftande einer lang»
famen Erhebung aus dem Meere befinden. Die Korallen » Infeln der Südjee
fiheinen mit ihren Zwijchenräumen den Umfang bes verfinfenden Fefllandes zu
bezeichnen, weldyes nach der Ausdehnung, welche jene einnchmen, fich über einen
tolofialen Flächenraum erſtreckt haben muß. Vielleicht fcheinen dieſe Gebilde
winziger Polypen dazu berufen, dieſe Landfeſte vor gaͤnzlichem Verſchwinden zu
bewahren und ſie wenigſtens nach ihren Endpunkten und Umriffen zu bezeich⸗
wen. ‚Sollte daher in Zukuuft einmal die Reihe der Hebung durch eine Rich⸗
tung&» ober Ortd-Beränderung der vulkaniſchen Thaͤtigkeit unferd Erdinneren
an die Region kommen, welche die Korallen-Infeln bezeichnen, fo würde die Ko⸗
sallen-Kormation fi gleichmäßig und vielleicht fortlaufend über viele Taufende
von Dundrarmeilen dieſes emporgehobenen Kontinente® verbreiten. Die gewal⸗
tigften Agentien und Raturfräfte unſeres Erdballs, welche ſich in der Hebung
und Senkung. der Theile der Erdrinde offenbaren, verbinden fich Hier mit dem
Ergebnig der inftinktiven Lebenötbätigkeit winzig Fleinee Organismen, durch
deren gemeinjamed Wirken in unzähligen Milliarden und währen? vieler Millio«
zen Jahre nun unabfehbare Landfeſten vor jpurlofen Untergang durch Verſin⸗
ten. bewahrt werden, indem dieje Ihierchen in eben demſelben Verhaͤltniß, wie
dieſer Kontinent einfinkt, auf jeinen höchften Spigen weiterbauen und in der uns
abiehbaren MWaflerwüfle eine Unzahl einer Wohnpläge für den Menfchen ſchaf⸗
fen und erhalten.
Aeber die Verbreilung der Wärme auf
der Oberfläche der Erde.
Bon
Profefior Dr. Eduard Köfce.
Nothwendigkeit yon Sonnenklimaten. — Einfluß der geograpbifchen
Breite. Ungleiche Theilung der Erde in Blimatifcher Beziehung durch
den Aequator. Klimatiſche Scheidelinie der nördlichen und füblichen
Erdhalbkugel. — Einfluß der Höhe. — Einfluß der geographiſchen
Ränge in Folge ded Wechſels der Oberflächlichendefchaffenheit. Land
. und See, Gebirge. Luft: und Wafferſtröme. — Frühere Leiſtungen
über die Wärmevertheilung. Humboldts Jahrediſothermen. Zfothe-
ren und Iſochimenen. Dove's Monatsiſothermen und Geſetze Der
Bertpeilung. Thermiſche Anomalie. Iſanomalen. — Ungleihe Warme
beider Halbkugeln. Werbreitung der Wärme in den einzelnen Zonen.
— Aenderungen in der allgemeinen und befonderen Waͤrmevertheilung.
Den periobiichen Beränderungen der Wärme, die jeder Ort in der Zeit nad
einander eintreten flieht, entfprechen im Raume neben einander nicht
weniger gleichzeitige Abweichungen und Gegenfäge. Obaleich beide Reihen von
Unterſchieden auf diefelben allgemeinen und befonderen Urſachen zurüchneifen,
und felbft einzelne Glieder der einen mit Vorficht zur Erläuterung der anderen
verwendbar ſind: muß doch in jedem Bilde der irdifchen Wärmevertheilung bie
eine wie Die andere fich wiederfinden. Theils im Anfchluß an eine früher vers
ſuchte Darflellung bes periodiichen Wärmewechfeld (Bd. 3, S. 30), theilß zus
Erweiterung mehrerer dort geöffneter Anfichten, mögen die folgenden Worte der
Temperaturunterichiede der Erde in ihrer räumlichen DBerbindung erläutern.
Der Berlauf der Betrachtung wird zeigen, daß dieſe Unterfchiede, trog aller Ver⸗
wickelung, zwar gefegmäßige find, daß aber die Anerkennung jeber Orbnang
weniger durch daB unmittelbare Anfchauen*) der gefammelten Tihatjachen als
*, Deshalb Mind au erläuternde Karten weggelaſſen. Soll durch fie für den
vorliegenden Gegenſtand etwas genupt werden, fo werten fie zahlreicher und in
größerem Maaßſtabe gefordert, als fie hier gegeben werden können. Wo es auf
einzelne Werthe .für beflimmte Orte und Zeiten ankommt, wird man immer auf die
Himatolegifchen Hauptwerke zurüdgehen müflen: auf die Tabellen und Gharten in
Dove's Abhandlungen über die nicht periodifchen Aenterungen der Ternperaturvertheis
Dertliche Verbreitung der Wärme. 83
durch eine Erkenntniß des Zufammenbanges zwiſchen Erfolg und wirkſamen
Elementen gewonnen wird. Daher möge es geſtattet ſein, bier ein geringeres
Gewicht dem großen Reichthume einzelner Erfahrungen, ein höheres ber Auf⸗
Uärung jenes Zuſammenhanges zu geben und bie. allgemeinen Büge der Waͤrme⸗
vertheilung nicht blos um ihrer ſelbſt willen darzubieten, fondern zugleich als
hervorragende Beifplele bereits erfannter, gefegmäßiger Abhängigkeit.
Die Zeit ift für die Erde laͤngſt vorbei, zu welcher die eigene innere Wärme
die Temperatur der Oberflaͤche überwiegend beherrſchte. Seht iſt ber wärmenbe
Einfluß der Sonne das maßgebende Element. Gr iſt dieſes nicht ewwa dadurch,
daß er felbft größer ober der Planet für ihn in entfpredhendem Grade empfäng-
licher geirorben wäre,: ſondern weil die allmälig angewachfene Stärke der Erd⸗
kruſte Die Wirkung des Erdinneren nady außen mehr und mehr befchräntt Hat.
Es ift unmöglich,. dieſe Sonnenwirfung für die weientlichfle Urſache der ober-
flaͤchlichen Erdwärme zu. erkennen und ſich zu erinnern, wie verſchieden die
einzelnen. Oberflächentheile der Erdkugel gegen die einfallenden Wärmeftrahlen
geftellt And, ohne zugleich die Rotivendigkeit von Sonnenflimaten ein
Die gleichmäßige Umdrehung der Erde um eine. fehr nahe parallel zu fich
ſelbſt bleibende Axe ſcheint eine Vereinfachung in das Bild zu Bringen, welches
von ber Waͤrmevertheilung an ihrer Oberfläche Erfahrung und Schlüfle uns
geben jollen. Wie mänslich immer biefe Bertheilung fein möge: wir find geneigt,
fie beiberfeitd vom Aequator nach ten Polen bin. gleich geordnet zu erwarten
und diefelbe Linie, welche Die Rugeloberfläche halbirt, auch als Grenze gleichwer«
tiger. und fich entfprechender Wärmegebiete anzunehmen. Ban möchte, wegen
des jährlichen Sonnenlaufes, zwar einen gleichzeitigen Gegenſatz dies⸗ und jen⸗
ſeits zugeftehen, aber dieſer Begenfag müßte in halbjährigem Wechfel eine genaue
Umkehrung erleiden. Damit zufammenhängend Liege fich vermuthen, daß die
Geſammtwaͤrme, welche auf ber. ganzen Erbe gleichzeitig merfbar wird, immer
eine unyeränderliche Summe bilde, infofern bie periodifch: wechfelnde Sonnen-
Göhe und Zageslänge doch nur eine allgemeine Berjchiebung derſelben Wärme
zuftände auf andere Gegenden veranlafie und die von einem Erdſtriche zuruͤckge⸗
zogene Wärme einem anderen zufließe. Es iſt von Wichtigfeit, daß diefen
Vorausjegungen die Wirklichkeit entgegen iſt und entgegen fein muß. Nicht
blos um der Sache ſelbſt willen, da die Abweichung bedeutend gefunden. wird,
fondern noch mehr den Urſachen gegenüber, bie eine folche Ungleichheit veran⸗
Iaffen. Es wäre in lepter Beziehung ungerecht, dieſelben Elemente, wie es ge=
ſchieht, für Heinere Erdräume vechtmäßigerweife in Rechnung zu bringen, dage⸗
gen ihre Macht da zu verfennen, wo es es einen Gegenſatz beider Hemifphären
gilt. Obgleich es noch lange nicht Die Hauptſache bildet, kann hierbei nicht ver⸗
ſchwiegen werden, daß nicht einmal in Bezug auf ben fcheinbaren Sonnenlauf
lung, deſſen Witterungsgefchichte des legten Jahrzehnts, Temperaturtafeln, Verbr. d.
Märme auf der Oberfläche d. Erde, Verbr. d. Wärme in d. nördl. Hemifphäre, Elis
matologifchen Beiträgen. Over auf die Fürzeren Darftelfungen in Berghaus Atlas,
3. Müllers kosmiſcher Phyſik und. ven Erläuterungen zu Humbold's Kosmos.
7 image 1
— ua re ie TEN
een Fe een a ein.
— frch8 Grabe, in der Cüdfee beinahe ————
vom Aequator gezogen werden. Aber der Gang der Paffate ———
dehnitr freier Seefläche ein freier. Weite Continente, wie Afrika, oder Meeres⸗
— ann rg * an Ort und Stelle den Paſſat
— tee. (80.2.6717) Im folchen Zweifels-
- fällen entjcyeidet der jährliche Gang des Luftdruckes, verglichen mit dem der
Wärme, ob fe dem nördlichen oder füdlichen Erdſyſteme anzufchliehen find. Es
— daß beiderſeits eine breite Zone um die Aequatoriallaͤnder
Barometerftand zur Zeit ihrer höchften Sonnenwärne, cin Sins
fen gegen diefe Periode, ein Steigen von ihr aufwärts als unterfcheidendes Mert-
mal bat. Dieſe wejentliche Drucdveränderung zeigt ſich dort nicht allein, wenn
von dem Geſammtdrucke, den das Barometer giebt, d. h. dem vereinigten Drucke
der Luft an ſich und des begleitenden Wafferdampfes, der Antheil des lehzteren
abgezogen wird, jondern fogar an jenem Geſammtdrucke ſelbſt. Das tft ein er⸗
men nimmt der alleinige Druck der teodenen Kuft überall, wenn auch nicht nad)
gleichem Gejege, gegen die heißere Jahreszeit hin ab, die Elafticität des Waffer-
dampfes Dagegen zu. Dadurch wird für unfere Gegenden der Toralerfolg ein
—* daß der Geſammidruck vom April bis zum September Tangfam waͤchſt.
en überbietet in den früber er ichen der fommmerliche Dampf⸗
Eat Bde Kl Ye eure Me der — dab er eine
Erhebung des Barometers in der heißen Jahreszeit veranlapte. Da die verſchie⸗
Dertlibe Berbreitung ber Wärme, 65
dene Volhähe der Orte diefe Periode auf verichiebene Monate bringt, muß ein
Vergleich mehrerer Orte, einerſeits nach geograpbifcher Breite, andererfeits nach
der Vertheilung jener phyſtkaliſchen BYurftände, erweilen, ob legtere jener ent»
fosechend fich Andern, ober ob jle nördlich und füblicy unſymmetriſch um den
Aequator vertbeilt, eine gemeinfame Beziehung auf diefen „‚Erbgleicher‘‘ verleug-
nen. In der That lehrt Die Beobachtung dad Letztere und beftätigt durch die Art
der Abweichung die anderweit fchon gewonnene Wahrheit, daß die Elimatijche
Gh eidelinie einer nördlichen und füblichen Erphälfte nördlich vom geo-
graphiſchen Aequator Liegt.
Ihrem ganzen Verlaufe zu folgen, verhindert augenblicklich noch der Mangel
binreichend eng gereihter Beobachtungspunkte. Doch genügt dad Vorhandene
voflauf zur Fefifiellung der Thatfache. Selbft das Aquatoriale Afrika, ſonſt To
wenig wifienjchaftlichen Unterfuchungen günftig, hat in der legten Zeit ein Bei⸗
fptel gefiellt (Gondokoro), dag noch mehr ald vier und einen halben Brad
nördlich vom Aequator klimatiſche Verbältnifie beftehen , wie fie die entſchiedene
Süudhalbkugel cyarakterifiren.. Daß jene Linie nicht ein Kreis, fondern vielfach
gekruͤmmt fein werde, alfo nicht mit Angabe einiger weniger Punkte Alles abges
macht fei, ift leicht einzufehen, wenn auch die übrigen Elemente, von denen bie
MBärmevertheilung abhängt, berüdfichtigt werden. Diefe felbft follen jofort zur
Befprechung fommen. Um aber vorläufig gleich Alles zu vereinigen, was gegen
den Aequator als Elimatifche Grenze fich erhebt, mag noch der anderen Erwar«
tung widerfprochen fein, daß die Befammtwärme ber Exde eine unveränderliche
umd Rord- und Eüdhalbkugel im Allgemeinen gleich warm fein. Das Gegen-
teil, wie die Erfahrung es lehrt, wird ſich bald ale eine nothwendige Forderung
erkennen laflen.
Es ift nicht erſt zu beweifen, daß ein Auffteigen nad) der Höhe ebenio alle
Alimate durchlaufen läßt, als ein Kortfchreiten von dem Aequator gegen bie
Bole, aber der phuflfalifche Grund davon muß erläutert werden. Wie durch⸗
ſichtige Stoffe nur wenig felbft aufleuchten, wenn fie einem Strahlenzuge ausge⸗
fegt werben, fo werden die Mittel, welche für Wärme durchläffig find, nur wenig .
ſelbſt wärmer, wenn Wärmeftrahlung fie Durchdringt. Sie müffen, um leichter
ſich erwärmen oder erfalten zu Lafien, in Berührung mit foldyen Oberflächen ge⸗
fegt werden, die einen eigenen Heerd der Wärme bilden, weil fie der Waͤrme⸗
ſtrahlung große Hinderniffe entgegenftellen. Ein ſolches Verhaͤltniß beflcht
zwijchen Atmofphäre und Erde. Was die Luft von den durchgehenden Sonnen-
ſtrahlen an Wärme empfängt, ift ein aͤußerſt kleiner Bruchtheil der Temperatur,
welche ihr der ftärfer erhigbare Boden gibt. Aber man erinnert fid) Doch, der
eigenthümlichen Kortpflanzung der Wärme in allen Slüffigfeiten und Luftarten,
deren ausnahmslos fchlechte Wärmeleitung, werm von dem einzigen Queckſilber
abgejehen wird, durch die Beweglichkeit der Theilchen theilweiſe compenfirt wird ?
Wenn die Luft über dem Boden fich erhigt, muß fie auffteigen, da fie leichter ges
worden: alfo follte fie in der Höhe wärmer fein. Hier ift zu bedenken, daß aller
Stoff ungleich heizbar iſt, je nach der Dichtheit, Die er befigt (Bd. 2, ©. 179.).
Je dünner wir ihn bildeten, deſto weniger jchlägt ein gegebened Wärmequantum
IV. 5
66 tr. . Klimatologie. 22 ru
“an, um ihn auf eine verlangte Temperatur zu bringen. Ober, wenn ihm eine
gewifie Wärme gegeben wird und er unterliegt darauf einer Verdünnung, fo ges
nügt jene nicht mehr zur Erhaltung feiner Ausgangdtemperatur: er wird Fälter.
In diefer Lage den Wärmefräften gegenüber ift die atmofphärifche Luft, die. vom
Boden nach Gegenden geringeren Drudes auffleigt. Sie dehnt ſich aus und er⸗
Taltet wieder.
Das Geſetz der Wärmeabnahme nach der Höhe ift nicht überall baffelbe:
eben fo wenig gilt e8 für alle Zeiten, für Tag und Nacht, Winter und Sommer,
Es ift aber zu bedenken, daß der Höheneinfluß nur ein Element der verfchiedes
nen Temperirung und dad Wirkungsmaaß jedes Elemented vielfachen VBerändes
zungen durch die Thätigkeit der übrigen unterworfen ifl. Selbft wenn die Erd»
oberfläche eine völlig gleichmäßige wäre, ohne Abwechfelung von Höhen umd
Tiefen, feften und flüffigen Theilen, eine Kugel aus gleichem Stoffe, würde ber
Gegenſatz höherer und niederer Breiten und der Umfchwung ded Planeten Luft
firöme veranlaffen und das Wärmegleichgewicht der ruhenden Lufthülle ſtören.
Berner liegt der heizende Boden felbft in ſehr verichiedener Höhe, und fo verſchie⸗
den die Form des Anſteigens, jo ungleich ift auch die Ausdehnung der gehobenen
Ländermaflen. . Mit der Größe der Wärme abgebenden Yläche wärhft aber bie
Menge übertragener Wärme, oder richtiger, die Menge erwärmter Lufttheile.
Während einzelne, fchmal aufragende Gipfel oder Kimme von einer fo beſchraͤnk⸗
ten Luftmaſſe umgeben find, daß jeder geringe Wind fte gänzlich unter die heran»
getriebene mengt und abfüuhlt, gleihen ausgedehnte Hochebenen einer zugleich
ausgiebigen und Fältenden Einflüffen widerfläntigeren Wärmequelle. Mögen ihre
Nänder leichter einer von außen ber Eommenden Temperaturfenfung erliegen, in
ihrem Inneren erhält fich gefchügter ein höherer Wärmegrad. Die Ausbrei⸗
tung des Menfchengefchlechted und das Gedeihen feiner Arbeiten, die in nächfter
Beziehung zur Natur des Klimas fichen, bat mehr als ein Beifpiel folcher
Abhängigkeit geboten. In der größeren Civiliſation und der Eultur edlerer Ges
wächfe Laffen die Hochebenen von Thibet, der chineftfchen Tartarei und Peru den
Einfluß vortHeilhafter Bodengeftaltung ebenfo Iefen, als in der höher gelegenen
Schneegrenze ihrer Beragipfel. In den Hochländern des Äquatorialen Amerika
bat v. Humboldt die Erhebung um 15000 Fuß mit einer Abnahme der mittleren
Wärme von 20 Graden Reaumurd verbunden gefunden, durchſchnittlich alfo
eine Senkung von einem Grade auf 750 Fuß. In gemäßigteren Orten ift fie,
nad) der Ratur der Umgebung, im Allgemeinen größer angetroffen worden, aber
veränderlich, und der Beobachter, welcher im Luftſchiffe aus freier Tiefebene em⸗
porftiege, müßte abermals ein andered Gefeg erkennen.
Sieht man hiernach in der verfchiedenen Erhebung des erwärmten und ers
wärmenden Bodens eined der wirfjamften Elemente klimatiſcher Verhaͤltniſſe, fo
werden die folgenden Betrachtungen weiter Ichren, daß die Höhe der Länder nicht
blo8 beim Geben, fondern auch bei dem zeitweiligen Verändern ſchon gegebener
Temperatur von hohem Einfluffe iſt. Der Boden kann nicht immer eine Wärmes
quelle gleicher Art fein, da er nicht ſtets gleiche, überhaupt nicht ftetd neue Wärme
empfängt und feine vorhandene Temperatur nur durch Die fehr zuſammengeſetzten
Dertliche Berbreitung der Wärme. 67
Vorgänge. von Einfisahlung und Begenftrahlung, von Zu⸗ und Wegleitung ges
orbnet wird. Es Fanıı aber hiervon bloß jo.weit die Rebe fein, als Die gleich⸗
zeitige Temperaturvertheilung an verfchiedenen Orten eine Berückſichtigung er⸗
heiſcht, da bereit an einer anderen Stelle (Bd. 3, ©. 30.) die Wichtigkeit ſolcher
Wechſel für einen und denfelben Ort dargethan ward,
Wir nähern und der Betrachtung einer Folge Elimatifcher Elemente, welche,
durchaus von zufammengefegterer Wirkung als die beiden aufgeführten, — geo⸗
grapbiiche Breite und Höhe, — im Gejammtrefultate den mächtigften Einfluß
üben. An ihnen: liegt e8, daß fo oft das gefegmäßige Wirken der erfleren geftört,
das beißt durch hinzugebrachte Verwidelungen unfreier und verfledter wird.
Ran Fann fie alle zufammen als Element der geographifchen Länge zufammen-
faſſen. An und für fich hat diefer Ausdruck nichts Tadelnswerthes, fofern nur
der richtige Sinn daran gefnüpft und an Alles gedacht wird, was weder auf.
Rechnung ded Aequatorabitandes noch der Seehöhe kommt. Dann wird durch
die Geſammtheit diefer Elemente jede weitere Urſache Dargeftellt, die einem auf
demfelben Parallelfreife, in gleicher Höhe fortfchreitenden Beobachter örtliche
Wärmebifferenzen finden läßt. Mögen diefelben Urfachen audy dem nach Höhe
und Breite ſich fortbewegenden Unterjchiede ergeben: bier tretin fie nimmermehr:
fe auffallend und rein hervor, weil ſie mit den charakteriftiichen Elementen jener
Richrungen fich combiniren. Aber ganz gegen die Wahrheit würde e& fein, joll
ten dieſe Unterfchiete auf den Bogenabfland von einem gewiſſen noch überdies
willfürlihen Meridiane gefchoben und die Wärmevertheilung nad) Oſt und Welt
als Funktion der Längengrade gedacht werden. Weil die Erde ſehr ungleich ges
bildet ift, fallen nothwendig auf verſchiedene Meridiane auch ganz verjchiedene
Zuftände der Oberfläche, die freilich für dieſelben charakteriftiich aber nach feinem
Durchgreifenden Gejege georbnet find. Etwas Anderes wäre ed, wenn von einer
gewiflen durch Die Erdare gelegten Durchſchnittsebene aus ein geregelter Fort⸗
ſchritt phyſikaliſcher Unterſchiede zu finden wäre.
In diefe Klaffe von Elementen gehören theild jolche, welche an dem phyſi⸗
Talifchen Zuftande des Ortes haften, theils ſolche, welche aus einer Wechſelwir⸗
Tung verjchiedener Orte erwachſen. Allen Anderen ſteht voraus der große
Unterfchied des Feften und Flüjfigen. Ihm fehließen ſich an die bejontere Zu⸗
fammenjegung, wonach die Fähigkeit, Wärme zu verjchluden und auszuftrahlen,
taufenfältig ſich Andert; der verfchiedene Grad Per Feſtigkeit des Bodans und
feine Feuchtigkeit; für Eleine Erftredungen auch jeine hemifche Zuſammenſetzung;
in bejonteren Fällen jelbft feine Farbe. Es mag weiter bedacht werben, in wel«
her reichen Mannigfaltigfeit alle Hiernach möglichen Abwechjelungen neben ein⸗
ander Liegen, im Kleinen, wie im Großen: wie der Ort mehr oder weniger leicht
eines feitlihen Wärmeumtaufches fähig ift: wie Gebirge diefen Umtaujch lenken
oder abſchließen. Dazu endlich Die Beweglichkeit und ftete Bewegung alles Flüͤſ⸗
figen und Luftförmigen, die Luft und Waflerftröme, das jchwimmende Eis,
Wie dieſe einzelnen Elemente wirken, ift am beften bei einer Darftellung ihres
Gejammterfolged, das heißt bei Schilderung ber wirklichen Wärmevertheilung
zu lehren. So gewinnt das Eine durch das Andere: Die Unterſuchung ber
5%
68 — Klimatologie.-.
phyſtkaliſchen Urfachen durch eine fofortige Verwendung des Mefultates: die
Schilderung des verwidelten Beftandes durch feine Erklärung und den Rachweis
inmerer Nothwendigkeit.
Zuvor möge aber der Hauptepochen gebdacht fein, welche die Gntwidelung
biefer Lehren bezeichnen und der weientlichften Richtungen, nach welchen die Wiſ⸗
ſenſchaft ausgeſchritten iſt. Ein Bild der Wärmeverbreitung auf der Erdober⸗
fläche zu entwerfen, iſt zwar nicht erft eine Aufgabe der neueren Belt geworden,
aber von den zwei denkbaren Mitteln, Züge für eine ſolche Darftellung zu ge⸗
winnen, fonnte das eine, was zur Wahrheit geführt hätte, früher nicht in Beine»
gung gefeßt werden, da es feldft nım unzulänglich zu Dienften ftand. Das andere
Dagegen, über welches fich Leichter gebieten ließ, gab immermehr die wahren
Züge. Jenes erfte Mittel if die Vereinigung eines genügenden Beobachtungs⸗
materiald, von fo vielen paſſend vertheilten Orten, als überhaupt möglich und
aus einer hinlänglich Iangen Jahresreihe, um vorübergehende Extreme fich aus
gleichen zu Laffen. Es konnte dieſes Mittel nicht Dargeboten fein vor einer Zeit,
zu welcher an das immer enger werdende Ne euroyälicher Stationen Rußland,
England und Rordamerika mit einander verbundene Fäden um den ganzen Erbe
kreis geichlungen haben. Unter dem zweiten Mittel verſtehen wir die Ableitung
“einer idealen Wärmeverbreitung aus allgemeinen phyſikaliſchen Geſetzen. GES
mußten natürlich, um nicht blos Verhältnißwerthe zu gewinnen, eine gewiffe
Summe vorhandener Erfahrungsdata zu Grunde gelegt werden. Es mag erlaubt
fein, den Ausdrud zu gebrauchen, daß aus ihnen die Gonftanten der Gleichungen
beflimmt werden follten, die den Zufammenhang zwiſchen geographifcher Lage
und Wärıne auszudrüden beflimmt waren. Ban hatte fchon einige ſolcher Er⸗
fabrungsrefültate und an einer Behandlung derfelben im Geifte Achter Natur⸗
forschung hat ed zum Theil nicht gefehlt. Seit Halley, Ende des 17. Jahrhun⸗
derts, den erften Verſuch dicfer Art gewagt hatte, tragen die nachfolgenden
Arbeiten ähnlicher Richtung mehr al8 den Ramen eines bedeutenden Mannes ar
ihrer Stirn: Mairan, Euler, Tobiad Mayer, Lambert, Kirman waren Halley'&
Nachfolger. Durch die Behandlungsmweife, welche die Meiften der Sache anger
beihen liegen, fällt aber gerade das aus den geivonnenen Hefultaten heraus, was
man als weientlich und charafteriftiich erhalten und fogar als nothwendig abge⸗
leitet wiffen will. Geht man auf einem Barallelkreife fort, fo trifft mar wech⸗
felnde Temperaturen: man nehme aus den vorhandenen Beobachtungen, je mehr,
je beſſer, einen Mittelwerth, fo erhält man begreiflich die Zahl, um melche Die
Betimmungen für die einzelnen Orte hin⸗ und herſchwanken. Auf ähnliche
Wejſe gelangte man zu der Mittelmärme eines Meridians. Noch allgemeiner
könnte man berechnen, wie mit veränderter Sonnenhöhe und Tageslänge der
Sefammterfolg fich verändern müßte, wenn man 5108 die verfchiedene Stellung
der Wärmequelle ald wefentlich gelten Taffen will. Es würde eine Aufgabe aͤhn⸗
licher Art fein, als follte die Lichtftärke der verſchiedenen Länderftriche beftimmt
werden. ber die wahre Wärmenverbreitung iſt das gemeinjame Reſultat einer
im Raume und felbft in der Zeit wechſelnden Empfänglichkeit der erwärmten
Erde für die erwärmenden Einflüffe. Man will nicht als Hauptſache die Waͤrme⸗
Dertlihe Verbreitung ber Wärme. 09
vertbeilung kennen lernen, wie fie fich anf einer idealen Erde finden würke, der
man eine keftimmte, gleichmäßige Oberfläche giebt und von welcher man Alles
hinwegdenkt, was Land und Meer jo wechſelnd und abweichend geflaltet Kat.
Wan fordert vielmehr bie Dorkkellung des Borhandenen, jenes gemijchten Erfol-
ges von allgemeinen und taufend örtlichen Urſachen, behaftet mit allen wechfel-
feitigen Beziehungen, allen Verwickelungen, wie die ſehr ungleich gebaute Ober
Bäche der wirflichen Erbe fie mit fich bringt. Iſt dieſe Darftellung gewonuen,
fo werben Vergleiche ed möglich machen, den Einfluß einzelner Elemente nach
Art und Maß feflzuftellen. Es wird gelingen, die Wirkung der befonderen
Destlichfeit getrennt aufzufaflen und zu fagen, wie die Dinge fein würden, wenn
jene anders wäre. So von dem Befonderen auffigigend, mag endlich die Unter
fuchung, auf einem anderen und ficheren Wege, ſelbſt zu jener idealen Vertheilung
gelangen, ohne die Individualität der Länder dabei fallen zu laſſen. Hat ſie fi
zulegt, unter beſtimmten Vorausfegungen bezäglich der idealen Erooberfläche,
eine ſolche Vertheilung abgeleitet, fo ſieht fie in den vorhandenen Abweichungen
son ihr ebenfo viel gejegmäßige Störungen ihrer idealen Wärmeverbreitung, als
fie in den Unterf&ieden der wirklichen und der gedachten Erdoberfläche gejeg-
mäßige Störungen ihrer idealen Erbe findet.
Was wir jetzt über bie wirkliche Wärme fehr vieler Orte willen, iſt bie
Frucht weientlich des gegenwärtigen Jahrhunderts und bejonderd feiner legten
Jahrzehnte. ES bleibt nicht weniger in dankbarem Andenfen, und felbft theil-
weiſe in Benugung, was die verdiente Manheimer Gefellichaft, wa Landreiſende
und Seefahrer früherer Zeiten geleiftet haben. Vieles freilich wiſſen wir jeßt
befier: Dank jei es der Sorgfalt, die auf Herftellung, Erhaltung und Verglei⸗
ung der Inftrumente, auf Methoden, Zeiten und Redaktion der Beobachtungen
gewendet wird. Die Gulturvölker des Alterthums Faunten verhältnißmäßig einen
zu geringen Theil der Erdoberfläche, um auf jehr große Unterjchiede in der Ten
peraturvertheilung, oder auf unerwartete Abweichungen aufmerkſam gemacht zu
werden. Um die Küften des Wittelmeered, in den anliegenden ihnen bekannten
Ländern von den Säulen des Herkules bis nach Afien hinein entwideln fich freis
lich nicht unbedeutende örtliche Wechjel: aber es fehlen die Ertreme. Der Lieber-
gang in nördlichere Gegenden nady Germanien, nad) Britannien erweiterte ihre
Kenntniß Elimatifcher Unterfchiede und ließ fie ſelbſt eine wichtige Thatſache fin-
den, daß nämlich nicht allerwärtd ein nörbliches Bortfchreiten auf Fältere Gegen⸗
Yen führe. In dem gemäßigteren Klima Englands ward das erfte, freilich nicht
ſofort erklärte Beifpiel der mildernden Meeresnaͤhe erfannt. Es iſt aber in ber
hat der Zeit nach ein großer Sprung, bis die Beobachtung ſich Wärmeverhält-
uifien gegenüber ſah, die gar nicht zu den einfachen bereits feftgeftellten Geſetzen
vaßten und ganz im Großen darauf binwiefen, daß die geographiicye Lage nicht
das allein Beftimmende fei. Sogar bie ausgedehnten Entdeckungen der Seefah⸗
zer waren noch keineswegs hinreichend. Theils beftätigten fle nur das Bekannte,
dine Wärmezunahme nach dem Aequator, theils Eonnten fie wirkliche Ahweichune
gen davon noch nicht hinreichend würdigen lafien. Dazu gehört nicht ein kurzer
Beſuch einer Gegend, nicht eine einmalige Wahrnehmung: dazu wird eine Keunt⸗
70° Alimato logie.
ig des Landes nach der jährlichen Vertheilung ſeiner klimatifchen Verhältnifie
:ebenfo notwendig vorausgeſeht: ein längeres Verbleiben an der zu vergleichen-
den Station. Die befte Lehre über ungleiche Wärmevertheilung, fo weit fle mit
auffallenden Verwickelungen und Gegenfägen behaftet iſt, empfingen die Europäer,
"welche ſich an den Oſtkuͤſten des neuen Continentes niederließen. In gleicher
geographiſcher Breite mit heimathlichen Laͤnderſtrichen, deren Temperaturverhaͤlt⸗
niffe wohl bekannt und von Niemand gefürchtet waren, ſchreckte eine ſolche Win⸗
terfälte zurücd, ohne Vergütung durch einen entiprechend heißeren Sommer, daß
die Mehrzahl der Anfledelungsorte viel weiter jüdlich, ald dad Vaterland gemäßlt
Wurden. Landeinwärts fanden flch im Allgemieinen die Verhältnifie theils nicht
beffer, theils fchlimmer. Diefe ungewohnten Zuftände, zu deren Erklärung ſelbſt
Halley eine Berrüdung der Erdare vorausſetzte, find allerdings fpäter noch ander»
weit wiedergefunden worden. Nordamerika aber hat das Interefie, welches es
Im Gegenfaß zu Europa durch feine Elimatifchen Verbältniffe frühzeitig in
Anfpruch nahm, fpäter nicht verloren. Es ift um fo lehrreicher geworden, fe
weiter die längere Bekanntſchaft mit ihm und ein wachjendes Beobachtungsmates
rial der Köfung der von ihm gegebenen Räthfel entgegenführte.
Bon den zeitlichen Wärmeäntberungen iſt anderweit berichtet worden, daß
Die Befammtwärme, welche während eined Jahres derfelbe Ort zeigt, alfo auch
die Durchichnittäwärme eines mittleren Tages, nur wenig wechſelnde Werthe
gibt, wenn beliebige Jahrgänge mit einander verglichen werden. Daher waren
dieſe Jahresmittel unter allen Elementen der Wärmevertheilung zuerft, das heißt
auß den fürzeften Beobachtungsreihen zu gewinnen. Sie find befanntlich bie
Werthe, welche angeben, wie warm e8 immerfort gewefen wäre, hätte man bie
gefammte Wärme gleichmäßig auf alle Stunden des Jahres vertheilt. Diefe
Zahlen waren natürlich die erſten, an welche die Hoffnung geknüpft werden
konnte, eine Unfchauung der Wärmevertheilung zu gewinnen. Sie mußten nur
auf eine paffende, beſonders überfichtliche Art benubt werden. Von einem ge=
wifſen Christophorus Burrus erzählt Kircher [Magnes S. 443: der Köllner Aus⸗
gabe von 1643], dag er die Magnetabweichungen, wie er fle auf Reifen nach
Indien beobachtet, in eine Karte eingetragen und die Punkte gleicher Abweichung
durch Linien verbunden habe. Es iſt nicht ohne Interefe, bei dieſen Anfängen
einer graphiſchen Methode zu verweilen, welcher die neuere Zeit in Angelegenhei⸗
ten der vergleichenden phyſikaliſchen Erdkunde die ausgedehntefte Anwendung zus
geftanden und von welcher fle überall den größten Rutzen gezogen dat, wo ein
Zufammenhang zwifchen gegebenen Zahlenwerthen und geographifcher Lage auf⸗
zuflären if. Ausgedehnter hatte dieſes Mittel zuerft Halley benußt, um für's
Jahr 1700 eine Darftellung der magnetifchen Deklination zu geben: fpäter zeich«
nete man ebenſo magnetifche Reigungsfarten. Der biöherige glückliche Erfolg
eines folchen Verfahrens ließ für die Wärmelehre Außerordentliche erwarten,
al8 1817 A. v. Humboldt die Punkte gleicher Jahreswaͤrme durch feine Iſo⸗
thermen, d. h. Rinien gleicher Jahreswärme, verband. Die berühnte Dar⸗
ftellung in den Memoiren der Société d’Areueil (abgedruckt in feinen „Kleineren
Schriften‘ 1.206), eröffnet die Reihe neuerer Leiftungen, gegen welche alle
Dertliche Berbreitung der Wärme. 71
früheren Berfuche verfchwanden. Die Beichnung dieſer Eurven in ber Ebene
der Gharte macht es wünjchenswerth, daß der Einfluß der Höhe abgerechnet
werde, injofern fich auf jeder Ebene die dritte Dimenflon, weniger hervortretend
wiedergeben laͤßt. Ban kann eintragen, wie biefe Linien nach Nord und Süd,
nach Oft und We verlaufen, aber ihr Auffteigen und Fallen kann man nicht
zeichnen. Dazu kommt noch, daß der beſonders große Einfluß, welchen die Höhe
bezüglich der Wärme ausübt, nicht in einem allgemeinen Bilde ebenfo zurädtritt,
wie auf der Charte eines Welttbeild Höhen und Tiefen gegen die feitlichen Di«
menſtonen verfchwinden. Deshalb rebucirt man bie Mittelmärme jedes Ortes
auf den Meereöfpiegel, das heißt mam bringt ihn mit einer folchen, allezeit grö⸗
feren Wärme in Anſatz, wie er fie zeigen müßte, wenn er in dem gemeinfamen
Riseau unferer Meere läge. Diefe Reduction fegt, wie man fteht, zweierlei vor⸗
aus: Lie Kenntnig der Seehöhe des Ortes und eine wenigſtens annähernde
Bekanntſchaft mit dem Geſetze, nach welchem daſelbſt wachſende Höhe und fallende
Bärme zufammenhängen. Der Sinn einer Ifotherme muß aber noch allgemei-
ner aufgefaßt werden. Man denke fich an einen willfürlichen Ort und kenne
jeine Jahreswaͤrme. Es ift Far, daß man, um andere Punkte gleicher Jahres⸗
wärme zu finden, nicht blos auf der Erbe fich fortzubewegen braucht, fondern
daß man folche auch unter der Erde angeben Tann, jo weit der Wärmewechfel
nach unten befannt ifl. Auch über der Erbe werden Punkte gleiches Zuſtandes
getroffen werden, wenn man im Allgemeinen etwas füblicher fortrüdt. Diefe
mendliche Menge von Punkten gleicher Mittelmärme bilden alfo, aneinanderges
ſchloſſen, eine. iſothermiſche Flaͤche. Die iforherme Linie enthält nur eine
lineare Folge derfelben, nämlich Die auf das Meeresniveau fallenden : ſie ift nichts
als der gefrümmte Zug, in welchen bie ifotherme Yläche die Kugeloberfläche
ſchneidet. Die Ifothermen Humboldt's, fchon im erflen Entwurfe durch einen
außerordentlichen Anfchluß an die Wahrheit ausgezeichnet, aber noch lange nicht .
fo vollftändig gezogen, als wir fie gegenwärtig Eennen, brachten einem einzigen
Blicke zur Anfchauung, wie verſchieden die Jahreswärme vertheilt fei. Wo eine
Gurve, deren beigefchriebene Gradzahl die auf ihre giltige Mittelmärme bezeich⸗
net, einen converen Scheitel gegen höhere geographifche Breiten ftredit, ba ift
ausgedruͤckt, daß Hier zwifchen Fälteren Räumen ein wärmerer polwärts greife.
Wo dagegen die Ifothermen den Polen einen concaven Theil zuwenden, da ift
ein Herabreichen niederer Temperatur in geringere Breiten angezeigt. Am über-
fichtlichften werden die Ifothermen fo gezeichnet, daß jede folgende einem Forts
fchritte um einen beftimmten und beibehaltenen Wärmewerth entfpricht, etwa
dem Wachsthum der Mittelwärme um je 5 Grabe. Je enger oder weiter, quer
zu ihrem Zuge, fie Hinter einander liegen, defto rafcher oder langſamer ändert
fi) die Wärme. Regulirte nur die geographifche Breite die Wärmeabnahme,
fo wären alle Iſothermen concentrijfche Kreije, mit Breitenkreifen felbft zuſam⸗
menfallend.
Der Begriff der Iahreswärme ergibt fofort, daß durch die Tage einer Iſo⸗
therme von gewiſſem Werthe durchaus noch nicht darüber ausgefagt ift, wie
dieſes Mittel zu Stande gekommen ei, wie man aljo die Bertheilung ber Ge⸗
72 Klimatologie.
ſammtwaͤrme auf bie einzelnen Jahreszeiten und Monate zu denten habe. Offen⸗
bar fönnten unendlich vielfache Vertheilungen derſelben Durchſchnittszahl emt=
ſprechen. Es ift aber nicht blos die binlängliche Kenntniß des Klimas, die
eine beftinnmte Belehrung darüber vorausſetzt: jedem Urtheile uber die Erfolge
des Klima's muß eine foldye voraudgehen. Das innere und äußere Gedeihen der
Menichheit, die Formen und Entwidelungsdauer der organiichen Ratur fallen an⸗
ders aus, wenn diefelbe Waͤrmeſumme einmal fo, einmal anders zugetheilt wird.
Es war daher ein wichtiger Zug gleich in der erften Arbeit über die Ifothermen, .
daß auch diefer möglichen Ungleichheit Rechnung geſchah und Daß ald zweite
Gharafteriftif eines Ortes, in Bezug auf Klima, bie Feſtſtellung der Winter-
„ud Sommertemperatur verlangt wurde. Alle Linien auf der Erdoberfläche,
welche die Punkte gleicher Sommermärme an einander reihten, erhielten den
Namen der Iſotheren: die, welche durch Orte gleicher Winterfälte gelegt
waren, wurden Jjochimenen genannt. Auf der erfteh Karte von Humboldt’s
waren indeſſen dieſe Linien noch nicht eingetragen. Es verfteht fich von ſelbſt,
daß der Verlauf beider Syſteme mit dem Zuge der Jahresiſothermen durchaus
nichts Gemeinfames bat. Rur fo viel läßt fi im Allgemeinen von ihnen fagen,
daß fie oftweftlich gerichtet, wie jene, die Erde umziehen, aber mit anderen Ab⸗
weichungen, anderer Lage und Geflalt der hervortretenden oder eingebogenen
Scheitel: keinesfalls den Breitenkreifen parallel.
Mit der Einführung dieier Linien war die gefegmäßige Bewegung ber
oberflächlichen Erdwärme anerkannt und dargeſtellt. Wie weit man fernerhie
diefer Bewegung während Eleinerer Zeitabichnitte werde folgen können, blieb ab⸗
bängig von dem weiteren Erwerbe und der Sichtung immer vermehrten Mate
rials. Man kann deshalb ver Klimatologie Feinen Bonwurf machen, daß fe
ihre Fortfchritte an den Gewinn immer neuer linterlagen knüpft. Erftena befaßt
fie ſich nicht damit, nur dieſes Material um ſeiner felbftwillen aufzubewahren
und fich jeiner, ald ihres wejentlichen Inhaltes, zu rühmen. Was fte aus inne»
ren Mitteln zu diefem Materiale noch hinzugibt, iſt größer und höher als jene®
und zwifchen allen Beobachtungen und Klimatologie noch eine mächtige Kluft.
Dann ift zu bedenfen, daß, fo viel der Orte find, an welchen dad Zuſammen⸗
wirfen der Naturkräfte verfolgt werden foll, fo viel auch verfchiedene Verbin⸗
dungsformen allgemeiner und bejonderer Urſachen vorliegen.
Diefe beionderen Formen, die.mit der Oertlichfeit fih ändern, voraus
beitimmen wollen, heißt nichts Anderes, ald die genauefte Kenntniß der betrefs
fenden Oertlichkeiten felbft vorausjegen und um die taufendfältige Wechſelwir⸗
fung wiffen, in die fle, thärig und empfangend, mit der näheren und ferneren
Umgebung treten. Dazu fommt noch, im gegenwärtigen Balle, dag mit Vers
Eleinerung der Zeitabjchnitte, innerhalb welcher der Bewegung der Wärme nach⸗
gegangen werden fol, der Antheil fich verkleinert, den jeder Jahreslauf an
der Feſtſtellung der gefuchten Werthe nimmt. Daher find die Mittelzaplen der
Jahreszeiten jpäter als Die des Jahres und noch fpäter die der Monate gefunden
worden, Kür viele Punkte find letztere noch nicht von vorübergehenden Ein⸗
flüffen Hinreichend befreit: für manche find fie auch wieder verloren gegangen,
Dertlihe Berbreitung der Wärme. 73
da man ſie früher zu nichts gut achtete, ald zur Ableitung der Jahrs⸗ oder
Jahrszeitömittel.
Ueber dreißig Jahre waren nach dem Gricheinen der Abhandlung Hum⸗
Solbt’& verftrichen, als eine Leiftung vom gleicher Richtung einen neuen Fortſchritt
dee Wiſſenſchaft bezeichnete. Im Jahre 1849 erhielt die Klimatologie durch
Dove eine Darftellung der Monatsiſothermen. Was durch die Linien
gleicher Sommer» und WBintertemperatur jchon angezeigt war, daß nämlich die
Differenz der Mittelmärme zweier Orte gänzlich verfchieden jei von ihren ſehr
wechielnden Wärmedifferenzen während einzelner Jahresabfchnitte, — das konnte
jegt nach Art und Maaß, felbft innerhalb der einzelnen Jahreszeiten, weiterhin
verfolgt werben. Schon nach drei Jahren geftattete die fortgeführte Diecuffion
tbeil® früherer, theild neu hinzugewonnener Beobachtungdrefultate eine weſent⸗
liche Bervollftändigung und weitere Ausführung. In diefer Schrift von 1852,
„die Verbreitung der Wärme auf der Oberfläche der Erde’ hat Dove die allge
meinen Ergebnifie feiner bisherigen Uinterfucdyungen niedergelegt und die Behand⸗
Iung der Klimatologie einzelner Zonen theild bereits folgen laffen, theils für Die
Bolge zugefagt. Den Zug der Ijothermen für die einzelnen Monate anzugeben,
gelingt nicht in einer kurzen Darftellung mit wenigen Worten ober one Hinzu
nahme einer entfprechenden Anzahl von Charten, Deren jede für einen einzelnen
Monat entworfen if. Denft man ſich zu einem beliebigen Termine alle Punkte
der Erboberfläche, welche gleicyzeitig Diejelbe Temperatur befigen, Durch eine Linie
verbunden, fo wird ſchon in der nächften Zeit dieſe Linie auf andere Orte weiter
gerät jein, aber mit gänzlich veränderter Geſtalt. Zu gewiſſen Zeiten des Jah⸗
res können felbft Iſothermen von einer beftimmten exceſſiven Gradzahl neu hin⸗
zukommen, welche fonft nirgends getroffen werden. Dieſe unabläjftge Bewegung
und Geflaltöveränderung ber iſothermiſchen Curven während eines Jahres bezeich⸗
net Dove ſelbſt dadurch, daß er von Alten jagt, dieſe Linien verichieben fich in
diefem Welttheile am meiften nord» und ſüdwärts: die im Winter nach Rorden
eoncaven Scheitel verwandeln jich im Sommer in convere. In Europa dagegen
dreben fich die Iſothermen am flärkften: in Amerifa verichiebt fich die ſuͤdwärts
gerichtete Ginbiegung aus dem Inneren des Sontinented nach den Ditküften, ſo⸗
bald vom Winter gegen den Sommer fortgegangen wird. Im Spätfommer und
Herbſt Dagegen verringern ſich wiederum mehr dieſe Gegenfäge: Die Gurven find
im Often und Weiten dann weniger abweichend gebogen. Das heißt aber nichts
Anderes, als dag Aften kalte Winter und heiße Sommer, Europa weniger aus⸗
einanderlaufende Extreme, Nordamerika ftrenge Winter und ein Faltes Fruͤhjahr
bat. Im Sommer nähern fich feine flimatifchen Verhältnifie mehr ald zu ande»
zen Jahreszeiten den europäijchen und im Herbſte iſt e8 Europa vorzuziehen.
Nachdem jett die irdijche WWärmeverbreitung ungleich genauer und einges
bender dargeftellt war, als irgend eine frühere Zeit vermochte, war Die Hoffnung
gegeben, jenen zu früh gewagten Entwurf einer idealen Wärmevertheilung, mit
fachgemäßen Aenderungen, wieder zu verſuchen. &8 handelte ſich nicht mehr um
die Verbreinung der Wärme auf einer idealen Erde: es galt vielmehr die Ab⸗
weichung der einzelnen Orte von dem Bittelwerthe zu beftimmen, den die Erfah⸗
74 2. Klimatolsgie.
rung für die Geſammtheit aller geographifch entſprechend gelegenen Punkte er⸗
gibt. Man wird hiernach am natürlichften folche Punkte vergleichen, die auf
demfelben Parallelkreife Tiegen, weil die Sonnenwirfung, zwar nicht das einzige,
aber doch das mächtigfte und das allgemeinfte der Flimatifchen-&femente iſt. In
diefer Abficht beftimmte Dove zunächft die mittlere Wärme jedes zehnten Breiten⸗
grades aus der Menge vorhandener Beobachtungen. Für die höheren Breiten und
den Pol mußte einer etwas anderen Ableitung gefolgt werden: auch reichen bie
Unterlagen für die füdliche Halbfugel weniger weit als für die nördliche. Diefe
Mittelmärme des Breitenkreiſes, die um fo genauer gefunden fein wird, je mehr
Orte zu ihrer Beflimmung auf ihn und um ihn herum berüdfichtigt werben
fonnten, ift offenbar die Waͤrme, welche jeder Punkt diefes Kreifes Haben würbe,
wäre die gefammte Wärme der einzelnen Kreispunkte ringsum gleichmäßig ver»
teilt. Sie ift die Rormalmärme des Parallels. Jeder Ort, der eine höhere
oder tiefere Temperatur zeigt, iſt vergleichungsweife zu warm ober zu kalt: der
Unterfchied feiner wirflichen Wärme und ber mittleren feines Parallels giebt
feine thermifche Anomalie. Für die Rormalwärme bes Aequators folgte 21.2
Grade Reaumurs, für den zehnten, zwanzigften bis achtzigfien nördlichen Brei⸗
tengrab ter Werth von 21.3, 20.2, 16.5, 10,8, 4.3, — 0.3, — 4.2, — 71, —
11.2, für den Pol — 13.2. Tagegen ergaben ber zehnte biß vierzigſte Grab
füblicher Breite: 20.4, 18.7, 15.5, 10.0. Don diefen Zahlen, welche für das
ganze Jahr gelten und welchen ein — Zeichen vorgelegt ifl, wenn fie Grade unter
dem Nullpuntte bezeichnen, wird fofort eine nügliche Anwentung genonmen
werden. Wie Dad ganze Jahr, fo bat auch jede Jahreszeit, jeter Monat auf den
einzelnen Parallelen eine ſolche Rormalwärme ergeben. Der Unterfchieb der
wirklichen Wärme eines Ortes gegen Den betreffenten Normalwerth des Parallels
gibt wicherum feine Anomalie bezüglich des einen oder anderen Zeitabſchnittes.
Auch Hier wird man durch Linien die Vereinigung aller Punkte bemerkftelligen,
die gleicher Anomalie zu gleicher Zeit unterliegen. So folgen Shfteme von Iſa⸗
nomalen des Jahres, der Jahreszeiten, der Monate. Anderfeits wird e8 aber
an Orten nicht fehlen, die genau die mittlere Wärme ihres Parallels heftigen.
Diefe Tiegen nicht unregelmäßig zerftreut zwifchen den übrigen, fondern von ihnen
wachfen nach beiden Eeiten hin die Anomalien im entgegengefegten Sinne: nach
ber einen liegen Punkte, die immer mehr und mehr zu Talt find, nach der ande
ren Orte, die fortfchreitend immer mehr die Mittelmärme ihres Breitenkreijes
überbieten. Eine Berbindungslinie folcher Punkte ijt eine thermifche Rormale,
fle ſcheidet das Gebiet zu Balter und zu warmer Gegenden. Verfolgt man end⸗
lich die Sjanomalen jo, daß man zu Linien immer größerer Abweichung übergeht,
fo muß man Stellen erreichen, welche die relativ Fälteften und wärmften find.
Durch die Zufügung dieſer neuen Curvenſyſteme ift das Bild der Wärmevertheis
lung nicht etwa verwidelter geworden: im Gegentbeil fchließt fie Da8 Verwandte
ftetig aneinander und läßt eine leichtere Vergleichung der verjchiedenen Ränder
firiche zu. So zeigt der Verlauf der Iſanomalen und der thermijchen Normale
des Januar, daß biefer Monat an den Nordweſtküſten Nordamerika's und noch
mehr an der Weftfüfte Europa's verhältnigmäßig viel zu warm iſt, Dagegen an
Dertlihe Berbreitung der Wärme. 75
den Oftküften jenes Welttheils und in feinem Inneren, ferner im inneren Aften,
befonders in Sibirien, viel zu kalt. Das ganze Europa iſt za warm, doch in
imme? geringerem Grabe, je weiter öſtlich. in anderer ift der Ausfchlag im
Juli. Ein großer Theil der norbamerifanifchen Oſtküſten iſt auch noch fo kalt,
an den Weflfüften verläuft die Grenze des Rormalen und eined weiter weftlichen,
abermals zu falten Gebietes: das Innere erhebt fh etwas über das normale
Mittel der einzelnen Breitenkreife. Europa zeigt gleichfalld dann einen Ueber⸗
ſchuß, aber feinen bedeutenden, Aften einen größeren.
Alle Zuftände in der Natur find überhaupt Durchgangsformen von voran⸗
‚gehenden zu folgenden Zuſtaͤnden. Dem fcheinbar Unveränderlichen leihet mur
die Langſamkeit der Umwandlung, das heißt das ungimftige Verhältnig zwifchen
ber Größe der Veränderung in einer gegebenen Zeit und der Empfindlichkeit und
Wachſamkeit unferer Sinne den Charafter des Vefländigen. Allein das Gefek
der Veränderung, welches in allgemeiner Kaffung die fletige Reihe wechjelnder
Buftände umfaßt, ift ein bleibendes und mit ihm der Mittelwerth,, um welchen
Dad Maaf tes zeitlichen und örtlichen Wechſels ſchwankt. Die thermifchen Linien
der Ertoberfläche ftellen die unabläffige Veränderung der Wärme nicht blos ale
ein Wechſelndes dar, jontern fie laſſen jeden einzelnen Ball ald Uebergangsglied
einer geiegmäßigen Reihe eingeordnet erkennen. Sie leiften aber noch mehr, in»
dem ihr Verlauf die Urſachen der ungleichen Wärmeverbreitung, die wahren
Störungsgründe eines Fortſchreitens nach geographifcher Breite finden läßt. Was
IR es doch, daß die Iforhermen fo auffallende Beftaltveränderungen erleiden, wo
fie von Meeresflächen auf Kontinente übergeben, und dag die Verſchiebung ber
Monatdcurven einen allgemeinen unzweideutigen Zufammenhang zeigt mit der
Bertheilung des Feſten und Flüſſigen? Was ift e8 ferner, wodurch entgegenges
fegte Küftenländer jo weit durd, ihren Flimatifchen Charakter getrennt find? Die
vorher beifpieldweife benußten Unterjchiede zwiſchen den Küften und dem Inneren
von Amerika und Europa, der theilweife Gegenſatz beider Welttheile, die Flima-
tifchen Extreme Eentralaftend find ſchon hinreichend, um eine Anfchauung der
Verbältniffe zu geben, die auch anderweit ähnlicherweije ſich wiederfinten. Man
kann dabei jagen, daß alle Abweichungen von einer Waͤrmevertheilung, die der
geographifchen Breite entipräche, wiederholte Lehren find, Die Vertheilung der
Läntermafien und die gegenfeitige Wechjelwirkung durch Luft und Waflerftröme
zur Löfung ded NRäthfeld zu befragen.
Ueberall treibt Das Land zu Ertremen: das Wafler mildert die Gegenfäge.
Der fefte Boten erhigt ſich ftärker, ſtrahlt aber auch wieder reichlicher Die Wärme
aus, als ter flüfftge Spiegel. Mögen die oberflächlichen Waflertheile erfalten,
fo finfen fie und die unterliegenden, zur Zeit noch wärmeren, treten an ihre
Stelle. Mögen fte fich erwärmen, fo geht ein Theil derfelben in Dampf über
und bindet einen AntHeil empfangener Wärme. Dazu ift noch zu erwägen, daß
wärmeres Waſſer nach Fälteren, erfalteteö nach heißeren Gegenden fortfließt.
Man wird Hiernach die Echroffheit des Continentalklimas, feine heißeren Tage
und Sommer, feine fälteren Nächte unt Winter, dagegen Die geringere Veraͤnder⸗
tigkeit der Eeeluft nicht bewundern, fondern erflärt finden. Diefe Abgleichung
76. EAlimatalogie.
macht das See» und Kuͤſtenklima wicht nothwendigerweiſe ſtets warm: ſie kann
es auch kuͤhl werden laſſen. Sie läßt es blos verhaͤltnißmaͤßig wärmer bleiben,
während das benachbarte Land größerer Erkaltung entgegengeht, und kuͤhltemehr,
wenn das Land daneben größere Wärme aufnimmt. Das Eigenthümliche eines
continentalen Klimas tritt bei demſelben Flaͤchenraume der Laͤndermaſſen ungleich
hervor, je nach ihrer Geſtalt. Ein mehr gerundeter Umriß, der Mangel vieler
Buchten und Halbinſeln, überhaupt eine verhältnigmäßig geringe Geſammtlaͤnge
der Küften fleigert die Wirkung des Feſten. ine geſtrecktere Geftalt oder eine
sielfache Theilung durch eindringende Meerestheile mildert die Gegenfäge. Die
entfchiedenften Beifpiele für Beides, Afrika und Europa erfennen einerfeitg ein
wefentliches Sörderungsmittel, andererjeitö ein Hinderniß menfchlicher Entwide-
Jung in diefer watürlichen Geſtaltung. Selbſt in Europa führt das Fortſchrei⸗
ten nach ber aflatijchen Grenze immer mehr dem continentalen Charakter en⸗⸗
gegen. Bei Aften, obwohl feine Küften mannigfaltiger geitaltet find, als die
afrifanifchen, bleibt in Kolge feiner Größe eine fo mächtige Eentralmafle, daß
bier continentale Begenfäge der fchroffiten Formen fähig werden. Nur Afrika
und zum Theil Rordamerifa erinnern an Aehnliches, doch nicht Gleiches. Unter
gewifien Umftänden kann ein großes Ländergebiet einen Theil des Jahres ſich
ber einen, während der übrigen Monate der entgegengefegten Form des Klimas
anfchließen. Dazu gehört, daß feine Oberfläcdye periodiſch fich wefentlicy ändere,
Große Wafferflächen in folchen Himmelsſtrichen, daß fie des Winterd gefriegen,
erhalten der Oberfläche im Sommer die VBortheile die Seeklimas. Dagegen Tigt
während der fälteren Monate ihre feſte Decke den continentalen Charakter het⸗
portreten.
Auf Grund folcher Unterlagen gelingt es nun leichter, die bejondere Ver⸗
theilung der Wärme in einzelnen Exrdgebieten zu erläutern. Zunächfl möge man
fi der befannten Ungleichheit erinnern, welche die Vertheilung der Continente
und Meere im Großen auszeichnet. Wir können eine Land⸗ und eine Waſſer⸗
anficht der Erde unterjcheiden, wenn von dem überwiegenden Theil die Benen⸗
nung bergenommen wird. Beide Erdanjichten find aber nicht ſymmetriſch gegen
die Umdrehungdare des Planeten gelegt, ſondern bie Mitte der Kandanficht fällt
nahe in die Gegend von London, während die andere ungefähr zu ihren Mittel
punkte die Antipodeninfel bei Reufeeland hat. Kann ed Hiernach anders jein,
als daß beide Erbhälften ungleiche Wärme zeigen müſſen, und daß der Aequator
Fein Theiler in Elimatifcher Beziehung ift? Auch der andere Punkt, der früher
biergegen erinnert wurde, findet jet feine Erklärung, daß nämlich Die Geſammt⸗
wärme ber Erde nicht während des ganzen Jahres eine unveränderliche Größe ift.
Die Wirkung der Sonnenftrahlen theilt fich zu einer doppelten Zeiftung. Ein
heil der empfangenen Wärme wird verwendet zur Temperaturerhöhung aller
Stoffe, welche ihren Aggregatözuftand nicht ändern. Er wird merklich für Om
fühl und Thermometer, ald freie Wärme. in anderer Theil gebt für das
Eine wie für das Andere verloren, indem er beim Verdampfen des Waflerd und
beim Schmelzen des Eifed gebunden wird. Wäre das Feſte und Flüſſige
gleichmäßig nördlich und ſuͤdlich vom Aequator vertheilt, fo würde während
Dertliche Verbreitung der Wärme. 77
unfere8 Sommerhalbjahres ein ebenſo großer Antheil von Wärme gebunden wer⸗
den, als zur Beit der füblichen Sonnenabweichung in den anderen ſechs Monaten.
Da aber auf der Suͤdhalbkugel das Meer äberwiegt, fo wird die Sonne bei ihrem
nördlichen Kortrüden über Erbtheile gelangen, wo ein geringerer Bruchtheil der
Gefamietwärme im Schmelzungs⸗ und Verdampfungöprozeffe gebunden, das
Weißt für Die freie Temperatur verloren wird. Es ergibt ſich fomit als nothe
wendige Folge, welche Dove bereitö im Jahre 1845 aus der umgleichen Wirkung
und Vertbeilung vom Lande und Meer ableitete, daß die Sefammttemperatur
der Erde eine jährliche periodifche Aenderung zeigt. Das Marimum diefer Ge⸗
fammtwärme fällt auf die Zeit der nörblichen Abweichung der Eonne, das Mis
nimum wird bei füblicher Deklination, während unferes Winters erreicht.
Die Wärmeverhältniffe der Sudhalbkugel And einfacher als die der nörd⸗
lichen, die thermifchen Curven daher auch weniger mannigfaltig geftaltet, weil
DaB Meer füdwärts immermehr überwiegt. Rings um die Erde Täuft zu allen
Jahreszeiten ein mittlerer Gürtel, deſſen Wärme höher ald 20 Grade (M.) iſt.
Mit dem fcheinbaren Sonnengange verſchiebt fich periodiſch diefe Zone höchfter
Temperatur, unter gleichzeitiger Veränderung ihrer Geftalt. Diefe Bewegungen
Bezeichnet Die Bewegung feiner Brenzen: der Iſothermen von 20 Brad im Rorden
and Süden ded Aequatord. Im Inneren erhebt fich theilmweife die Temperatur
zu noch höheren Graden. Wenn bie fteil auffallenden Sonnenftrahlen den zu⸗
fammenhängenden Ländermaffen von Mittelafrita, Arabien und Vorderindien
ihre Heißefte Jahreit bringen, gleichen diefe Gegenden Wärmepolen von 24 und
26 Braten, fo fern es erlaubt ift, die Bezeichnung eines Poles auf ausgedehnte
Släyenräume und Stellen veränderlicher Lage überzutragen. Auch ein Theil
von Südamerifa, die entfprechend gelegenen Räume der Südſee, des Oceand
zwifchen Afrika und Amerika und das Meer im Süden von Indien, nehmen zeit
weife an einer Mitteltemperatur von 21 und 22 Graden Theil. Die nördliche
Grenze jenes Sürteld hebt fich im Allgemeinen auf den Gontinenten während
unferer wärmeren Jahredzeit nordwaͤrts: zur Zeit unfere® Winterd verläuft fle
dagegen weniger gebogen oder zieht fich felbft mehrmals fünlich Hinab. Im Juli
überfchreitet fie den vierzigften Brad nördlicher Breite: im Januar reicht fle nir⸗
gends Über den zwanzigften empor. Die fübliche Grenze iſt den größten Theil
des Jahres durch noch mehr Krüummungen charafteriftrt al& die dieffeitige. Sie
fommt aus der Südſee in flarfem nördlichem Anfteigen gegen die Weſtküſte Suͤd⸗
amertfa’3. Ihr nördlicher Scheitel fällt theild auf weftlichere Meerestheile, theils
auf jene Küfte ſelbft. Durch den Norden Südamerikas fortjchreitend zieht fie
ich ſüdlich, erhebt fich die meiften Monate wieder im Meere weſtlich von Afrika,
am dann auf den afrikanischen Kontinente mehr oder weniger wieder nach Süden
einzufallen. Ihre Biegungen weiter nach Auftralien Hin, welches fie allezeit
jchmeidet, find zwar geringer als jene, aber fle entfprechen nicht weniger ben
Porausfegungen, welche die DVertheilung des Feſten und Flüffigen nebft ber
Werhſelwirkung der Luftmaſſen ungleich temperirter Erdgebiete ftellen lafſen.
Den Zug irgend einer Ifotherme genau und erflärend verfolgen, ift nichts Andes
res, ald Rechenfchaft ablegen von der Sefammtwirfung aller allgemeinen und
78 . , Klimatologie.
befonderen Elimatifchen Elemente und von den Beziehungen jedes Punktes auf
ihr zur näheren und ferneren Umgebung. Die fübliche Grenze des genannten
wärmjten Grögürtel® erreicht oder überjchreitet norbwärts den Aequator zwiſchen
Mai und December. Südlich geht fle während unſeres Winterd nur wenig jen⸗
feit8 des dreißigften Grades füdlicher Breite, als ihren entlegenften Wendepunkt.
Der Erdraum, welchen die erwähnten Iſothermen von 20 Brad einfchließen,
zeigt in feinem centralen Theile einfachere Verhaͤltniſſe des Klimad als irgend
eine andere Zone. Zwijchen den Wendefreifen wechfelt dort nach befannten Ge
jegen und mit weit geringeren Extremen ald unfer Sommer und Winter, die
trodene Jahreszeit und die Zeit der Regen. Ihrem gejegmäßigen Eintritte und
den Eimatifchen Verhaͤltniſſen, die ihnen Entflehen und Begrenzung geben, find
wir bei einer Schilderung der atmofphärischen Nieberichläge bereitö gefolgt.
(Bd. 2. ©. 698). Aber es muß zur Charakteriſtik der heigeren Himmelsſtriche
noch eines eigenthümlichen Ueberganged ber Form gedacht werden, welche die
Sahresifothermen an den äußeren Grenzen der PBafjate zeigen. Died» und jen-
ſeits diefer Grenzen nehmen jene größere Biegungen an, mit der Annäherung
an den äußerfien Rand der Paſſatzone verflachen fie fiy Dagegen, wie fonft nir⸗
gends, von Rorden und Süden her. Auch Hier liegt wieder die Urjache in dem
ungleichen Verhalten des Feſten und Fluͤſſigen gegen erwärmende -Einflüffe. In
der heißeren Zone giebt nämlich das Land ein höheres Jahredmittel, als das
Meer: in den gemäßigten und Falten Zonen fchlägt der Erfolg gerade um. Es
muß alfo der Kortjchritt von den Aequatorialgegenden zu größeren geographi⸗
fen Breiten jedenfalld durch einen Raum führen, wo übergangöweiie Rand
und See gleichwerthig find, wo es gleichgiltig ift, ob der Grund der Atmofphäre
Waſſer oder Continent ift, wo aljo auch der Wechſel von beiten Oegenfähen den
Zug der Jahresiforherme nicht ändert, den ihm allgemeinere geographiiche Ele»
mente ertheilen. Rur Meereöftröme geben örtliche Abweichungen.
Der Uebergang in die gemäßigten Zonen führt in ein Gebiet, wo die Ver⸗
widelungen der Wärmeertheilung durch den gegenieitigen Verkehr höherer und
niederer Breiten anjehnlich wachſen. Zwar find Die heißeren Klimate ähnlichen
Beziehungen nicht entnommen, aber die Folgen dieſes Verfehres, die Zuftftröme,
folgen dort einem einfacheren Gefeße, befonders auf dem Meere. Man erinnere
ſich des einfachen Ganges der Paflate und ded anfangs audy noch wenig ver⸗
änderlichen Weges, den der Abzug der aufgeitiegenen erhigten Luft al& oberer
Baffat (Bd. 2. ©. 718.) einjchlägt. Dann verfolge man die Anziehungen, welche
große Eontinente auf jene „beſtaͤndigen“ Winde üben und jehe an ihre Stelle
die „veränderlichen‘‘ oder Muffone treten. Auch fei nicht vergeflen, daß ein Fall
folcher Anziehungen felbft unfer Europa trifft, wenn die flark erhigte und ver⸗
Bünnte Luft Eentralajiens auffteigt und dieſe Laändermaſſe au einem Mittelpunfte
wird, gegen welchen die Luft der näheren und ferneren Fülteren Meere dringt;
felbft des atlantifchen Meeres über unjeren Welttheil hinweg. Weiter wird man
im Bortjchreiten nach höheren geographijchen Breiten bie polwärtd abfliegende,
obere, heiße und dampfbeladene Luft in breiten Strömen durch Die untere herab⸗
brechen jeben, Wärme und Rieberfchläge den Gegenden bringend, in Die fle eins
Dertlihe Verbreitung der Wärme. 79
dringt. Wie ſolche herabkommende Ströme durch Gebirge geleitet oder abgehal⸗
ten, wie bie Winde von - veränderter Wirkung gefunden werden, wenn fie von ber
Ser auf das Land treten oder bereits über Länderfireden gezogen find, wie hier⸗
durdy bie Waͤrmeertheilung zeitlid; und räumlich geordnet und verändert ifl, da⸗
son find der Belege mehrerer gegeben werden, als der zeitlichen Temperaturwech⸗
fel und- der. Riederfchläge gedacht wurke. Bine befonbere Bedeutung gewinnen
folche Gebirge, welche nahezu quer die Meridiane Freuzen, wie mehrere größere
und Fleinere Züge ber alten Welt, während Amerika die Meridianrichtung her⸗
sortreten läßt. Um diefe Bedeutung jener Gebirgsrichtung zu verftehen, ift nur
zu erwägen, daß gerade bie Halbkugel, deren Wärmeaustaufch ausichließlich
durch Winte gegeben ift, nämlich die Landhalbkugel, jene Querrichtung zeigt
und die Winde von nörblichem und norböftlichem oder ſüdlichem und ſüdweſt⸗
lichem Gange die größten Temperaturbifferengen hervorrufen. Die höhere Tempe⸗
ratur der Weftküften Europa’s weit und auf die warme Luft Weſtindiens zurüd,
wenn auch das atlantifche Meer ſelbſt Durch eine warme Strömung mehreren
Küften als ein eigener Wärmequell gegeben ifl. Europa überhaupt, obgleich nur
eine weftliche Fortſetzung der großen aflarifchen Ländermaffe, verdankt diefen ware
men Luftfirömungen feine bevorzugte Flimatifche Stellung. Ganz anders Aften.
Im Süden diefes Welttheild hat die Tropenzone große Ländermaffen nirgends
aufzuweiſen, wie Afrifa füblich von Europa. Die aus Süden anfommenden
Winde find Seewinde von einer verhältnigmäßig weniger als Land erhitzten
Waſſerflaͤche. Den ſuͤdlichen Theilen des Kontinente vermögen fie alfo feine we⸗
fentliche Temperaturerhöhung zu bringen, den nördlichen Fönnen ſie nicht bei⸗
Iommen, da hohe Gebirge fie aufhalten. Die Erhipung, die Aflens Boden ges
winnt, ift der Erfolg der auf ihn felbft geworfenen Wärmeftrahlen. Dagegen
ift Aften nördlichen und öftlichen falten Winden ausgefegt: fein Continent ragt
weiter gegen hohe geograpbiiche Breiten hinauf, als irgend ein Theil Europa’:
ſelbſt die feinem Norden gefpendete Wärme wird in größerem Maße als dort
durch das Thauen ded Eifes getilgt. Nordamerika's Berhältniffe ſchließen fich
in einiger Beziehung fo eng an die Zuflände der großen Polarwelt, die ſich in
feinem Norden entwidelt, daß weiterbin jeiner gedacht werben wird. Auch vom
Korden Aſiens wird da noch ein Weiteres zu berichten fein. Amerika's Oftküfte
entbehrt der günfligen Verhältniffe ded gegenüberliegenden Europa’s, da ſie Feine
ähnlichen Suͤdweſtwinde aus fo warmen Seegegenden, fontern fältere Landwinde
empfängt. Von ˖ Oſten her wird fie erfaltet Durch nordifche Meercöftröme. Der
Bolfftrom kommt nicht ihr, fondern den europäifchen Meeren und Küften bis
zum Rorbfap ald Wärmebringer zu Hülfe.
Es haben nur einige Beifpiele herausgehoben werden können für jene Ab⸗
weichungen und Gegenjäge, welche die allgemeine Verbreitung der Wärme an
nahe verwandten Erdftellen zeigt. Wenn ein Ort einen Sommer bat, wie Rom,
und einen Winter, wie Copenhagen, wenn eines anderen wärmere Jahreözeit an
Baris erinnert und jeine Falten Monate denen in Peteröburg gleichen: fo find
Dies Fälle, die, wie jede Ähnliche auffallende Thatſache, aus der Tage des Ortes
und der Art und dem Maße der wirkfamen Elimatijchen Elemente heute nicht
so N imatologe
genannt wird, 4
wintern, Im Jahre 1774 blühte dort eine Agave, die 28 Jahre geftanden, ohne
im Winter bedeckt zu werden, und Orangenbäume am Spalier werden nur durch
Marten gefthügt. Zu einem ähnlichen Rufe find ſuͤdlicher die Küften von Nizza,
der Normandie und Bretagne gekommen, Sinkt im Departement Finiäterre auch
die Kälte zuweilen 8 Grade unter den Thaupunft mit einzelnen nachtommenden
Spärfröften bis in ben Mai, jo zeugen Granaten, Lorbeerbaͤume und Juccen
wiederum für die allgemeine Gunft des Klimas. Auch kann, in befehränkterer
Erſtreckung, der Gegend zwiichen Leuk und Martigny, im walliftfchen Rhonethale,
nicht vergeffen fein. ine Sechöhe von mehr als anderthalb Tauſend Fuß und
die Nachbarfchaft von Hochgebirgen, wo eine mäßige Stundenzahl über die letzten
Glieder der Alpenflora hinaus zu den ewigen Firnen führt, heben den Gegenſatz
— ge — DE — —
ed)
" Die Reihe vom Befoieen unglejch vertheiler Wärme möge geihloffen fein
ut cken hen on tg ‚Gebiete der Falten Zonen, wo bie legten Unterneh⸗
nungen ebenſo hülfreich für die Löſung phyſikaliſcher Probleme, ala den Inter
effen der Erdkunde förderlich geworden find. Im den nördlichen Bolargegenden
entwickeln ſich zur Zeit des dortigen Winter Kältegrade, wie fie für Feine ame
deren Bunkte der Erde gelten. In höheren geographiichen Breiten fcheimt die
jübliche Halbfugel Dadurch der nördlichen entgegengefegt zu fein, Daß die Wärmes
abnahme zulegt langſamer fortfchreitet. Abermals ein Zeugniß, welches die Ge—⸗
genfäge eines feften und flüffigen Grundes hervorhebt. Allerdings fallen die
höchſten, bis jet einmal beobachteten, Kältegrade auf Aften. Das polare Ame-
rifa giebt aber im Parry ſchen Archipel Jahrestemperaturen, welche bie Mittels
wärme ber fülteften Orte Aftens noch nicht erreichen. An mehreren Punkten
finft die mittlere Zemperatur bort bis 14 Grade unter dem fogenannten Eis—
punkt, an keinem fteigt fle über 12 Grabe unter Null. Auf dem alten Gontinente
ift nur ein einziger Ort befannt, Uſtjansk in Sibirien, an der Mündung der
Dana, wo zwar das Kältemittel noch unter 12 Grad berabreicht, doch wicht bis
auf 15 fällt. Der Auffchluß hierüber Hegt in der fchon anerfannten Thatſache,
daß zwifchen der Mittelmärıme und der Art und Weife, wie diejelbe auf das Jahr
Dertliche Verbreitung der Bärme. 81
vertheilt ift, ein allgemein beftimmbarer Zufammenhang nicht beftcht. Die gro»
fen Kältemittel für ein Jahr des Parry'ſchen Archipels find nämlich nicht allein
durch die niederen Wintertemperaturen veranlaßt, jondern auch durch die gerin-
gete Sommerwärme im DBergleich mit Sibirien. Man hat in den Rordpolarlän«
dern zwei Kältepole unterfchieben, einen in Sibirien, ben anderen im nördlichen
Amerika. Die Dove’fchen Unterjuchungen über bie Veränderung der Monatd«
iſothermen haben aber erwiefen, daß jenen eine Bewegung zufomme, während ber
amerikaniſche nur wenig fich verrüdt. Während des Sommers weicht jener nach
dem anderen bin, da fich dann in Aflen höhere Temperaturen entwideln, wie
Rordamerika in gleichen Breiten fie nirgends Eennt. Diefelbe Auszeichnung:
wegen höherer Kältegrade verdient Nordamerika auch noch in geringeren Breiten:
da jene Gegenden, wo ein großer Theil der Gefammtoberfläche von großen Seen
eingenommen wird, während des Winters gänzlich einen continentalen Charakter
annehmen. Die Milderung der Extreme durch die frühere Waflerfläche ift einer-
Shhärfung der Winterfälte über feſtgefrorner Dede gewichen. Nordamerika's
niedere Temperatur wird um fo jhroffer, wenn fie mit den günftigeren Verhaͤlt⸗
nifjen Groͤnland's verglichen wird. Groͤnland's Weftküfte bleibt aber wärmer,
weil ihr entlang ein wärmerer Meereöftrom nördlich auffleigt, während die Baf⸗
finsbay den füdlichen Abflug des amerifanifchen Polarmeeres leitet. Zwar geht
auch an der grönländijchen Oftfüfte ein Falter Strom herunter und doch iſt auch
diefe Küfte weniger kalt. Gier ift jedoch ein Meer gewonnen, über welches weite
bin der Golfſtrom eine wärmere Luft verbreitet. Zwiſchen beiben Ertremen
liegt Grönland inne,
Bei allen diefen Thatfachen ift es unwahrſcheinlich, daß der geographiſche
Pol der kaͤlteſte Punkt ſei und die Kälte bis zu ihm hinaufwachſe. Ein Begleiter
von Kane hat in der Iegten Zeit die Hoffnung ausgeiprochen, jeden Sommer im
Bolareife ein offned Meer zu finden. Zu biefer kühnen Zuverficht Teiteten ihn
eine von Rorden fommende Waſſerſtrömung, die zwei Grad wärmer war als die
Temperatur der Luft und zahlloſe Bogelzüge, die über Grönland nad) Rorden
Beränderungen in ter jegt beftehenden Wärmeverbreitung betreffen,
fo viel wir wiſſen, nur höchſtens Streden von fehr untergeorbnneter Größe.
Selbſt von ihnen ift e8 noch nicht erwiefen, ob fle nicht richtiger der wohlbefann-
ten Reihe derer anzufchließen find, wo ein unveränderlicher Mittelwerth fich aus
veränderten Monatd= und Jahreszeitötemperaturen zufammenfegt (Bd. 3. ©. 49).
Ein großer Theil dieſer Abweichungen ift den Eingriffen gefolgt, weldye die Cul⸗
tur in den natürlichen Lauf ber Dinge gethan hat. Sie hat nur dad Maß
Himatifcher Elemente verändert: an dem Geſede ihrer Wirkungen kann
fie fi nicht vergreifen. —
Die deutſche Philologie.
| Dr. Meinjon Beäfein.
Die deutſche Philologie. Jakob Grimm. Vorgeſchichte der deutſchen
Studien. Die deutfge Grammatil von Jacob Grimm. Andere gram-
matife Arbeiten. Etymologie und Lexicographie. Studien der
Yeutigen Munderten. Geſchichte der deutſchen Eyrade. Deutſche
Riteraturforfgung. F. Y. von der Hagen. Perioden und Zweige ber
deutſchen Literatur. Das Nibelungenlied und der Nibelungenftreit,
Kritik. Karl Lachmann, Literaturgefhiäte. Bibliographie. Auf
gaden und Hoffnungen für die Zukunft.
Die jüngfte der Wiffenfchaften, gepflanzt und aufgeblüht im neunzehnten Jahr⸗
hundert, iſt die deutſche Philologie. Wenn auch in früherer Zeit beutfche
Sprache und beutfche Literatur Gegenflände der Beichäftigung, ja felbft des eifrige
ſten Beſtrebens waren, fo gehörte doch Alles, was früher in dieſen Dingen ges
ſchah, immer der Liebhaberei, dem Dilettantismus, oder auch bloßen praftifchen
Müdfichten mehr an, als der ernflen Forſchung und ber fizengen Wiſſenſchaft⸗
lichfeit. — Das deutſche Volk kann ftolz fein auf die Leitungen feiner Gelehrten
auf diefem heimischen Gebiete. Denn gleich wie ed den Naturwiſſenſchaften ver⸗
gönnt war, fo ift auch dieſe junge Wiſſenſchaft in einer kurzen Zeit zu den übers
tafchendften Ergebniffen gelangt. Aber noch ift an einen Abfchluß, an ein em
reichtes Ziel nicht zu denken. Die deutſche Philologie ift eine junge und zugleich
eine jugendlich frifche Wiſſenſchaft. Mit jedem Tage wählt der Stoff und mit
ihm mehren fich die Arbeitskräfte.
. Der eigentliche Begründer der beutfchen Philologie ift, wie bekannt, Jacob
Grimm, noch heute ihr rüfliger Baumeifler. Und ihre Grundmauern bilbet
feine deutſche Grammatif, bie Hiflorijche Grammatik. — Alle Werke
dieſes Mannes, die umfangreichen ſowohl wie bie Fleinften Abhandlungen, wer
ben in ber Gefchichte der Gelehrſamkeit unfterblich fein. Sie alle zeugen nidyt
allein von der tiefften Gelehsfamkeit, jondern auch von hoher Achtung vor der
Geſchichte, vor der Gefchichte überhaupt und indbefondere vor der Gefhichte uns
ſeres deutſchen Volkes und von einer warmen Liebe für Poefle und volksthüm⸗
liche Raturwüchfigkeit, Einen treuen Gefinnungs- nnd Arbeitögenofien fand
Jacob Grimm in feinem Bruder Wilhelm. Viele Werke wurden von beiden
gemeinjchaftlich herausgegeben und jeber förderte den anderen bei den eigenen
Die dentfche Philologie. 83
wifienfchaftlichen Beftrebungen bush Rath und That. Dem Brüberpaare fchloffen
ſich beim Erwachen der ernfleren Richtung auf diefem Gebiete manche Freunde
des deutjchen Alterthums an und wirkten felbft wieder bahnbrechend und maß⸗
gebend ein. Dies find vor allen: Friedrich Heinrich von der Hagen, Johann
„ Andreas Schmeller und Karl Lachmann, Dem raftlofen Streben des
erſteren und feinem Korfchergeifte und Sammlertalente verdanken wir die Ver⸗
öffentlichung fo mancher geiftigen Schäge unferer Borzeit. In Schmeller fan⸗
den die Mundarten, biefe reiche Quelle der Sprachforfchung,, Den Fundigften Bes
arBeiter. Lind Lachmann ſchuf für die Wieberherftellung der alten beutjchen
Iexte eine durch Klarheit und Scharffinn bewunderungswürdige, philologifch-
kritiſche Methode, welche allgemein angenommen wurde und bis auf den heutigen
Ing ihre Sültigfeit erhälten Hat. Mit folchen Kräften an der Spike waren bie
deutſchen Studien balb zur Wiſſenſchaft erhoben. Sie gelangten auch an bie
deutfchen Hochſchulen, für® erſte wenigflend an die größeren. Der genannte
von Der Hagen war der erfte akademiſche Lehrer der deutfchen Literatur und
Sprache. So mußten die Vertreter der anderen Wiffenfchaften,, befonbers aber
die Vertreter der altklaſſiſchen Philologie, welche anfänglich mitleidig, miß⸗
trauiſch und hochmůthig auf diefe nach ihrer Meinung fchöngeiftigen, keineswegs
aber wiſſenſchaftlichen Beftrebungen blickten, durch die hervorragenden Arbeiten,
Me geliefert wurden, zumal wenn biefe zum Theil von Männern berrüßrten, welche
ſelbſt auf altklaſſiſchem Gebiete Borzügliches geleiftet hatten, zur Achtung und
Anerkennung getrieben werden. Der Kreis der beutichen Philologen erweiterte
ſich immer mehr und heutigen Tages hat faft ohne Ausnahme eine jede deutſche
Univerſitaͤt einen Lehrſtuhl für deutfche Sprache und Literatur aufzumweifen.
Wenn ein Bild entworfen werden foll von dem wifjenfchaftlichen Leben, von
den Aufgaben und von den Leiftungen in der deutſchen Philologie, fo geſchieht
dies am zweckmaͤßigſten, wen die einzelnen Zweige, in welche fich jede Wiffen-
ſchaft naturgemäß theilt, im Einzelnen betrachtet werden. Häufig gefchicht «6,
daß wir einem und demfelben Manne hie und da begegnen, weil feine Thaͤtigkeit
füh auf verfchiedene Faͤcher zugleich erſtreckt.
Obwohl mit Mecht die Gefchichte der deutfchen Philologie vom Ericheinen
des erſten Theild der deutfchen Grammatik an gerechnet wird, fo ift e& doch nöthig,
auch auf die einfchläglichen Leiſtungen der früheren Beit, gewifiermaßen auf bie
Vorgeſchichte dieſer Studien, mit einigen Worten Bedacht zu nehmen. Dem
wenn auch Grimm vollftändig Neues fchuf, fo flieht er doch nicht außer allem
Bufammenhange mit Ähnlichen Unternehmungen, er mußte angeregt werden und
Vorſtudien und Stoffe vorfinden, ehe er tm Stande war, fein Werk zu begin-
nen. — Gerade die Verfaſſer der deutſchen Orammatifen, welche ihm vorausgingen,
waren es nicht, welche einflußreich auf den Schöpfer der hiſtoriſchen Grammatik
einwirken. Vielleicht nur in negativer Beziehung, indem fie zeigten, wie dad
nene Werk nicht befchaffen fein follte. Vielmehr fand jener feine Anregung durch
die Männer, welche die norbifche, angelſächſiſche, gothifche und altdeutfche Lite⸗
ratur an das Licht gebracht und zum Theil grammatifch zu bearbeiten verfucht
Hatten. Den Einfluß war ferner das erwachende Studium ded Sandfrit und der
6%
84 Sprachwiſſenſchaft.
vergleichenden Grammatik. Bon der allerhöchſgen Wichtigkeit für die deutſche hiſto⸗
riſche Grammatik aber iſt das Gothiſche. Diefes ift in der That der Grund,
auf welchem ſich die deutiche Sprachforfchung, die geiammte beutiche Philologie
aufgebaut hat. Hier fand Grimm ſchon bie trefflichflen Vorarbeiten. Einer
der erften Kenner biefer Sprache war der fchwedifche Kanzleirath und Profeſſor
zu Upfala, Johann Ihre (geb. 1707, geft. 1780), defien Werke über Ulphilas
und die gothifche Sprache von Buͤſching 1773 herausgegeben wurden. Sehr
verdient machten fi auch um dad Sothifche Friedrich Karl Fulda und Wil-
helm Friedrich Hermann Reinwald (Schillers Schwager). Bon der altdeut-
ſchen Literatur war jchon mancherlei zur Kenntniß gelangt; natürlicy geſchah Die
Bekanntmachung nicht kritiſch, wie wir es heute gewohnt find, fondern man be=
gnügte ſich mit bloßen Tertedabdrüden und oft genug waren dieſe nichts weniger
als urkundlic, getreu und genau. Die erften, welche auf die längft in Vergeſſen⸗
heit gerathenen und von dem fogenannten guten Geſchmack der vorigen Jahrhun⸗
derte nerurtheilten Dichtungen des Mittelalterd das größere Publifum wieder aufs
merfjam machten, waren Bodmer und Breitinger, indem fic 1748 Proben
der alten ſchwaͤbiſchen Poeſie des 13. Jahrhunderts herausgaben. Cpäter ließ
Bodmer Fabeln aus den Zeiten der Minnefänger folgen und beide zujammen
vereinten fich zu einer größeren Audgabe dev Minnefinger (die fogenannte Ma
neſſiſche Sammlung), weldye hundert und vierzig Dichter enthielt. Die erfte
Ausgabe des dem deutſchen Volke jpäter fo theuer gewordenen Ribelungen«
liede8 rührte von Bodmer her. Freilich gab er nur ben legten Theil, ben er
„Chriemhilden Rache” nannte, nebſt der Klage heraus. Das ganze Gedicht
ließ dann. über zwanzig Jahre fpäter Ehriftoph Heinrich Myl ler abdruden. Der
Herausgeber eröffnete damit eine ziemlich reichhaltige Sammlung teutfcher Ge⸗
dichte bes Mittelalters, unter denen fich unter anderen Parcival, Triſtan, Freie
dank, der arme Heinrich und Iwein befanden. Es begegnete dem Herausgeber,
legtesen Namen nicht Iwein, fondern Twein zu lefen. ine weitere Sammlung
altdeuticher Gedichte hatten von der Sagen und Büfching veranftalte. Georg
Sriedrih Benede gab 1810 Beiträge zur Kenntniß der altdeutfchen Sprache
und Literatur heraus, deren zweiter Theil ziemlich fpät, erſt im Jahre 1832,
erſchien. Außer dieſen Quellenfammlungen brachten Beitfchriften und Miſch⸗
fammlungen neben Abhandlungen über Literatur und Sprache auch Kleinere und.
größere altdeutjche Stüde. Die Ältefte Zeitichrift für Diele Richtung war:
„Bragur, ein literarijched Magazin der deutfchen und nordifchen Vorzeit”, here
ausgegeben von F. D. Oräter im Verein mit Ch. ©. Böckh und J. H. Häs⸗
lein. Ganz ähnliche Zwede verfolgten die von Gräter fpäter herausgegebenen
Zeitichriften Obina, Teutona, Iduna und Hermode. Wenn fie auch
manches brachten, was heute jeine Guͤltigkeit eingebüßt bat, fo bleibt deſſen
ungeachtet dad Verdienft ber Herausgeber ungefihmälert. Ohne Zweifel haben
gerade dieſe nicht ungeſchickt redigirten Zeitichriften mächtig zur Theilnahme am
Studium ber alten vaterländifchen Literatur angeregt. In gleicher Richtung
waren 3. Cp. Freiherr von Aretin, Bernhard Joſeph Docen, Buͤſching
und Bernhard Hundeshagen thätig. Die Gebrüder Grimm jelbft ließen
Die deutfche Philologie. 85
1813, 1815 und 1816 eine fehr reichhaltige Sammlung von altbeutfchen Terten
(viele derfelben mit Erflärungen) und Abhandlungen erfcheinen, welcher fie den
Titel „altdeutfhe Wälder” gaben. Die meiften älteften der altdeutſchen
Stüde, Die althochdeutfchen, waren von Johann Schilter in feinemthesaurus
antiquitatum teutonicarum, ecclesiasticarum, civilium, litterarium vereinigt; dieſes
Werk gelangte aber erft fange nach Schilter® Tode zur Herausgabe. Ohne Zweifel
das wichtigfte Stud diefer Sammlung ift Otfrieds Evangelienhbarmonie,
Aus den concreten Spracheigenthümlichkeiten,, wie fle in biefen Schriftiwere
Ten zu Tage treten, fchuf nun Jacob Grimm feine Grammatif, aus den Vor⸗
tommnifjen abftrahirte er Befeg und Hegel. — Die erfte Ausgabe des erften
Theils der deutfchen Grammatik erfchien im Jahre 1819. Sie ift jet ein ziem-
lich feltened und viel begehrte Buch. Won befonderer Schönheit und reich an
treffenden Gedanken, die gewifiermaßen ein wifienfchaftliches Glaubensbekenntniß
ansdrücken, ift die Widmung an Savigny. Auf Bieler Wunſch wurde fle in
der dritten Ausgabe des erften Theiles 1840 wieterholt. Im diefer erften Auss
gabe vom Jahre 1819 finden fich auch noch deutfche Leitern, während fihon die
zweite Ausgabe wie faft alle jpäferen Werke Grimms bekanntlich mit Tateintfchen
Lettern und durchgängig Tleinen Anfangsbuchftaben (natürlich mit beflimmten
Ausnahmen) gedruckt find. So geringfügig dieje Aeußerlichkeit an fich fein mag,
fo bezeichnend ift fle Doch für den Entwidelungsgang des Grammatifers. — In
rein wiffenfchaftlicher Beziehung, vom jegigen Standpunkte aus, hat diefe erfte
Ausgabe nur befchränkten Werth. Sie war der erfle Anfang, ein Verſuch. Gar
manches wurde fpäter umgeſtoßen, verbeflert und ergänzt. Dagegen in geſchicht⸗
lich wiffenfchaftlicher Beziehung war diefed Buch eines der einflußreichiten, epoche⸗
machendften, man Eönnte fagen wiffenjchaftlich rabicalften, die je gefchrieben
wurden. Und was serlich dem Werfe foldye Bedeutung! Dies wird erkannt
werden, wenn wir zuſehen, wie früher die Grammatik betrieben wurde und wel⸗
ches die Anfichten waren, die über die deutiche Sprache und deren grammatifche
Bebandlungsweife herrfchten.
Die beiden vorigen Jahrhunderte Haben eine reiche deutſch⸗grammatiſche
Literatur aufzwweifen. Eine Darftellung biefer grammatijchen Beftrebungen gab '
€. K. Reichard in feinem „Verſuch einer Hiftorie der deutichen Sprachkunft”
Samburg 1747: ein Buch, welches nicht ohne Werth ift, welches aber Anflchten
vertritt, die wie die Anflchten in den Werfen, welche e8 befpricht, den heutigen
geradezu entgegengefeßt find. Cine vortreffliche kurz und beſtimmt gefaßte Ge-
ſchichte der deutfchen Grammatik finden wir in Rudolfvon Raumers Werke:
„der Unterricht im Deutſchen.“ — Die deutfchen Grammatiken der früheren Zeit
verfolgten ſaͤmmtlich nicht wiffenfchaftliche, fondern praftifche Zwecke, fie waren
Schulbücher und hatten immer nur die gegenwärtige Schriftiprache vor Augen.
Beſonders aber war e8 die Rechtfchreibung, deren Grundjäge vorgetragen wur»
den. Schon hierin zeigt fih der Gegenfag zu dem Grimmifchen Werke. Bür
den Unterricht war dieſes Werk nicht beſtimmt, von Regeln über Rechtichreibung
findet fich nicht da8 geringfte und gerade das Neuhochbeutiche ift im Verhaͤltnifſe
zu den anderen und früheren beutfchen Sprachen gering bedacht. Mit der Zeit
84 Sprachwiſſenſchaft.
vergleichenden Grammatik. Bon der allerhöchtgen Wichtigkeit für Die deutſche hiſto⸗
zifche Grammatik aber iſt das Gothiſche. Diefes ift in der That der Grund,
auf welchem ſich die deutfche Sprachforfchung, die geſammte deutiche Philologie
aufgebaut hat. Hier fand Grimm jchon die trefflichften Vorarbeiten. Einer
der erften Kenner diefer Sprache war der fchwebifche Kanzleirath und Profeſſor
zu Upjala, Johann Ihre (geb. 1707, geft. 1780), defien Werke über Ulphilas
und die gothifche Sprache von Büfching 1773 herausgegeben wurden. Sehr
verdient machten fi auch um das Gothifche Friedrich Karl Fulda und Wil-
helm Friedrich Hermann Reinwald (Schillers Schwager). Von der altdeut-
fen Literatur war ſchon mancherlei zur Kenntniß gelangt; natürlich geſchah die
Bekanntmachung nicht Eritijch, wie wir e8 heute gewohnt find, fondern man bes
gnügte fich mit bloßen Tertesabdrüden und oft genug waren dieſe nichtd weniger
als urkundlich getreu und genau. Die erſten, welche auf die längft in Vergeſſen⸗
heit gerathenen und von dem fogenannten guten Gefchmad der vorigen Jahrhun⸗
derte verurtheilten Dichtungen des Mittelalter das größere Publifum wieder aufe
merfjam machten, waren Bodmer und Breitinger, indem fie 1748 Proben
der alten ſchwaͤbiſchen Poeſie des 13. Jahrhunderts herausgaben. Spüter lief
Bodmer Fabeln aus den Zeiten der Minnefänger folgen und beide zujammen
vereinten fich zu einer größeren Ausgabe der Minnejinger (die fogenannte Ma»
neffifche Sammlung), weldye hundert und vierzig Dichter enthielt. Die erfte
Ausgabe des dem beutjchen Volke Ypäter jo theuer gewordenen Nibelungen
Liedes rührte von Bodmer ber. Freilich gab er nur den Iegten Theil, den er
„Ghriemhilden Rache” nannte, nebfl der Klage heraus. Das ganze Gedicht
ließ dann über zwanzig Jahre fpäter Ehriftoph Heinrich Myller abdruden. Der
Heraudgeber eröffnete Damit eine ziemlich reichhaltige Sammlung Leutfcher Ges
dichte des Mittelalterö, unter denen fich unter anderen Barcival, Triſtan, Frei⸗
dank, der arme Heinrich und Iwein befanden. Es begegnete dem Herausgeber,
legteren Ramen nicht Iwein, ſondern Twein zu lefen. Cine weitere Sammlung
altdeuticher Gedichte hatten von der Hagen und Büfching veranftalte. Georg
Friedrich Benede gab 1810 Beiträge zur Kenntnig der altdeutfchen Sprache
und Literatur heraus, deren zweiter Theil ziemlich fpät, erſt im Sabre 1832,
erfchien. Außer dieſen Quellenfammlungen brachten Zeitfchriften und Miſch⸗
fammlungen neben Abhandlungen über Literatur und Sprache auch Eleinere und.
größere altdeutſche Stüde. Die ältefte Zeitfchrift für dieſe Michtung war:
„Bragur, ein literarijched Magazin der deutſchen und nordifchen Vorzeit”, her»
ausgegeben von F. D. Gräter im Verein mit Ch. ©. Böckh und I. H. Häs-
lein. Ganz ähnliche Zwede verfolgten die von Gräter fpäter herausgegebenen
Zeitichriften Obina, Teutona, Iduna und Hermode Wenn fie auch
manches brachten, was heute feine Gültigkeit eingebüßt hat, fo bleibt deflen
ungeachtet das Verdienft ber Herausgeber ungefchmälert. Ohne Zweifel haben
gerade dieje nicht ungeſchickt redigirten Zeitfchriften mächtig zur Iheilnahme am
Studium der alten vaterländifchen Literatur angeregt. In gleicher Richtung
waren I. &p. Freiherr von Aretin, Bernhard Joſehh Docen, Büſching
und Bernhard Hundeshagen thätig. Die Gebrüder Grimm jelbft ließen
Die deutfche Philologie. 85
1813, 1815 und 1816 eine jehr reichhaltige Sammlung von altbeutfchen Terten
(viele derfelben mit Erflärungen) und Abhandlungen exfcheinen, welcher ſie den
Titel „altdeutfhe Wälder’ gaben. Die meiften älteften der altbeutichen
Stücke, die althochdeutfchen, waren von Johann Schilter in feinemthesaurus
“ antiquitatum teutonicarum, ecclesiasticarum, civilium, litterarium vereinigt; dieſes
Werk gelangte aber erft lange nach Schilter8 Tode zur Herausgabe. Ohne Zweifel
das wichtigfte Stud diefer Sammlung ift Otfrieds Evangelienharmonie.
Aus den concreten Spracheigenthümlichkeiten,, wie fle in diefen Schriftwer«
ten zu Tage treten, ſchuf nun Jacob Grimm feine Grammatif, aus den Vor⸗
kommniſſen abflrahirte er Gefey und Megel. — Die erfte Ausgabe des erften
Theils der deutfchen Grammatik erfchien im Jahre 1819. Sie ift jegt ein ziem⸗
lich feltened und viel begehrte Buch. Won befonderer Schönheit und reich an
treffenden Gedanken, die gewiffermaßen ein wiffenfchaftliches Glaubensbekenntniß
ansdrücken, ift Die Widmung an Savigny. Auf Bieler Wunfch wurde fie in
der dritten Ausgabe des erften Theiles 1840 wieterholt. In diefer erſten Auss
gabe vom Jahre 1819 finden fich auch noch deutfche Lettern, während ſchon bie
zweite Ausgabe wie faft alle jpäferen Werke Grimms bekanntlich mit Tateinifchen
Lettern und durchgängig Tleinen Anfangsbuchftaben (natürlich mit beflimmten
Ausnahmen) gedrudt find. So geringfügig dieje Aeußerlichkeit an fich fein mag,
fo bezeichnend iſt fie Doch für den Entwidelungdgang ded Grammatifers. — In
rein wiflenfchaftlicher Beziehung, vom jegigen Standpunkte aus, hat diefe erfte
Ausgabe nur befchräntten Werth. Sie war der erfle Anfang, ein Verſuch. Gar
manches wurde fpäter umgeſtoßen, verbeflert und ergänzt. Dagegen in geſchicht⸗
lich wiffenfchaftlicher Beziehung war dieſes Buch eines der einflußreichiten, epoche⸗
machendſten, man könnte fagen wiſſenſchaftlich radicafften, die je gefchrieben
wurden. Und was verlieh dem Werke folche Bedeutung? Dies wird erkannt
werden, wenn wir zuſehen, wie früher die Grammatif betrieben wurde und wel⸗
es die Anftchten waren, die über die deutſche Sprache und deren grammatifche
Bebandlungsweife herrfchten.
Die beiden vorigen Jahrhunderte Haben eime reiche beutfch= grammatijche
Literatur aufzuweiſen. Cine Darftellung diefer grammatijchen Beflrebungen gab
€. K. Reichard in feinem „Verſuch einer Hiftorie der deutjchen Sprachkunft‘‘
Samburg 1747: ein Buch, welches nicht ohne Werth ift, welche aber Anflchten
vertritt, die wie die Anflchten in den Werfen, welche e8 befpricht, den heutigen
geradezu entgegengefegt find. Eine vortreffliche kurz und beſtimmt gefaßte Ge⸗
ſchichte der deutfchen Grammatik finden wir in Rudolfvon Raumers Werke:
„ber Unterricht im Deutſchen.“ — Die deutfchen Grammatifen der früheren Zeit
verfolgten fämmtlich nicht wiffenfchaftliche, fondern praftifche Zwecke, fle waren
Schulbücher und hatten immer nur die gegenwärtige Schriftiprache vor Augen.
Beſonders aber war es die Rechtfchreibung, deren Grundjäße vorgetragen wur⸗
den. Schon hierin zeigt fich der Gegenfag zu dem Grimmifchen Werfe. Für
den Unterricht war dieſes Werk nicht beſtimmt, von Megeln über Rechtichreibung
findet fich nicht das geringfte und gerade das Neuhochdeutiche ift im Verhaͤltnifſe
zu den anderen und früheren deutfchen Sprachen gering bedacht. Mit der Zeit
86 Sprachwiſſenſchaft.
mußten die deutſchen Grammatiker ſich Rechenſchaft geben über die Art, das
Weſen und die Entftehung der Schriftfpradye, des Hochdeutichen. Die Antwor⸗
ten auf folche Fragen lauten oft ſehr verfchieden. Im Allgemeinen aber und
zwar fchon in ziemlich früher Zeit wird angenommen, daß die deutſche Haupt⸗
und Reichöfprache im Meißnijchen Lande am vollfommenften zu finden ſei. Es
ift nicht zu Teugnen, daß an diejer Behauptung, deren volle Wahrheit noch weit
bis in dieſes Jahrhundert Hinein nicht im mindeften bezweifelt wurde, etwas wahres
ift, in dem unfer NReuhochdeutich, eine Sprache, die im Grunde hochdeutſch
zugleich auch niederdeutſche Elemente in fich faßt, zum Iheil durch den Ein⸗
fluß der ebenfalls gemifchten mitteldeutfchen Sprache, zu welcher ja auch bie
Meißniſche gehört, entitanden iſt. Ein zweiter Grundgedanke, ver ſich durch
die grammatifchen Arbeiten hindurchzieht, ift der, daß die deutſche Sprache erſt
jest, das heißt immer zu den Zeiten, zu welchen der Orammatifer lebt, zur Voll»
fommenheit gebracht worden fei. Dieſe Ueberfchägung der Eprache des eigenen
Zeitalters findet ihren Gipfelpunft in Gottſcheds und Adelungs Anflchten.
Obgleich beide nicht ohne Kenntniß der älteren deutfchen Literatur, fo wie auch
der gothifchen Sprache waren, jo fehlte ihnen doch der hiſtoriſche Sinn, den
‚Entwidelungsgang der Sprache herauszufinden und die Vollkommenheiten ein-
zufehen, welche bie ältere Sprache vor der gegenwärtigen voraus hat. Ja bei .
Adelung geftaltete fich dieſe Richtachtung des Hiftorichen zu einer förmlichen Ver⸗
achtung der deutfchen Vorzeit in Literatur und Sprache. Ihm ift wie jeinem
Vorgänger Gottfched das zweite Viertel des achtzehnten Jahrhunderts das gol⸗
bene Zeitalter des deutſchen Geiſtes. In ihm hat nach feiner Meinung die deutſche
Sprache ihre Vollfommenheit erreicht, wogegen bie ältere deutfche Sprache ihm
unvollkommen, roh und ungefchladht gilt. Solche Anftchten, welche die eigene
glorreiche Zeit in das hellſte Licht ſetzten, waren leicht volksthuͤmlich gemacht und
waren in der That ſchon vorher anerkannt und weit verbreitet. So urtheilt auch
ber genannte Reichard in feiner Geſchichte der deutſchen Sprachfunft. Gleich im
Eingange heißt e8: „Es ift ausgemacht, daß in den erfleren und mittleren Zeiten
die deutfche Sprache noch fehr rauh und unvollkommen und von ihrer jegigen
- Schönheit weit entfernt, ja von ber heutigen gewifjermaßen verjchieden geweſen.“
Am entichiedenften aber zeigt fich bei Adelung der Mangel alles hiſtoriſchen Sin-
ned in feinem Urtheile über Luthers Sprache. Während die Grammatifer des
jechzehnten und flebzehnten Jahrhunderts auf biefer Sprache fußen, nimmt Botts
ſched ald Ausgangspunft der vollfommenen deutfchen Sprache die Schreibart
von Martin Opig an. Und Adelung hat den Muth, Luthers Sprache, weil
fie der gegenwärtigen Meißniſchen nicht in allen Stüden entfpricht, grammatiſche
Richtigkeit und überhaupt Clafftcität abzufprechen. ALS wenn Luther hätte wiflen
fönnen, wie bie Sprache fich einft geftalten würde! Adelung hatte fih fo in
feine Anflcht verrannt, daß er gar nichtahnte, wie durch Luthers Sprache, welche
befanntermapen in ganz Deutichland maßgebend einwirkte, die gegempärtige erft
möglich wurde.
Adelungd Schriften genoffen ein bedeutendes Anjehen. Seine beutiche
Sprachlehre für Schulen erfchien im Jahre 1816 in jechiter Auflage, war dem⸗
Die bentſche Philologie. 87
gemäß noch ein neues und gültiges Buch, als Die deutſche Grammatik von Jacob
Grimm erfchien. Jene deutſche Grammatik von Adelung und dieſe — welch
ein Unterfchieb! Bolllommen neu war ed, daß vom gegenwärtigen Sprachſtand⸗
punkte nicht audgegangen wurde, vollfommen neu war in einer „deutſchen“
Grammatik dad Gothiſche, das Althochdeutfche und Das Mittelhochdeutfche. In der
Widmung an Savigny hieß es ausbrüdlich, daß auch in der Grammatik die Un⸗
verleglichkeit und Rothwendigkeit der Sefchichte anerkannt werden müffe. Und
son Geſetzen, wie man die gegenwärtige Sprache behandeln folle, findet fich feine
Spur; nur Die Gefege werden aufgeftellt, die fich aus den gegebenen und befannt
gewordenen Dentmälern ergeben. Ja es erklärt fich fogar der Verfafler der neuen bi»
ſtoriſchen Grammatik gegen jede Bejeßgebung anf jprachlichem Bebiete: eine Anficht,
welche die pedantifchen Sprachkuͤnſtler auf's höchfte ftaunen machen mußte. Lind wie
wird über den Werth der alten deutfchen Sprache geurtheilt, die für unvollkom⸗
men, rauh und ungejchlacht galt, da fie nicht jo glädlich war, Sprachlehrer und
Eprachlehren zu befigen? „Vor 600 Jahren,‘ Heißt dieſes Urtheil, „hat jeder
gemeine Bauer Vollkommenheiten und Beinheiten ber deutfchen Sprache gewußt,
d. h. täglich ausgeübt, von denen fich die beften heutigen Sprachlehrer nichts
mehr träumen laſſen; in den Dichtungen eines Wolframs von Eſchenbach, eines
Sartmannd von Aue, die weder von Declination noch von Konjugation je gehört
haben, vielleicht nicht einmal leſen und fchreiben konnten, find noch Unterfchiebe
Beim Subftantivum und Verbum mit folcher Meinlichkeit und Sicherheit in der
Biegung und Setung befolgt, die wir erſt nach und nach auf gelehrtem Wege
wieder entdecken müfien.” — Und was bier behauptet wurde, das fand in der
Grammatik ſelbſt feine Beftätigung. Auf den erften Bli konnte erkannt wer⸗
den, daß bie ältere Sprache reicher an Biegungen in Deflination und Conjuga⸗
tion, reicher an Stämmen, überhaupt mannigfaltiger und grammatifch genauer
in jeder Beziehung als die neue war. Wie ſtimmte das zu der vermeintlichen
Noheit der älteren Sprachen und zu bem niedrigen Bildungszuſtande der älteren
Volker und befonderd des deutſchen Volkes? — Aber auch nach anderer Seite
Hin gab Grimms Werk mancherlei zu bedenken. Die mit Eifer betriebenen alt»
deutſchen Beftrebungen waren, beſonders da bie politifchen Verhältniffe dies be⸗
fürderten, von manchen Seiten aus Patriotismus übermäßig bevorzugt worden,
ohne jedoch Dadurch wiſſenſchaftlich Höher gebracht worden zu fein. Grimm mahnt
daran, daß es nicht fromme, Die geretteten Denkmaͤler eilfertig in den Drud zu
geben, fondern dag man fich zu befleißigen habe, fie in ihrer urfprünglichen Ge⸗
Ralt wieder herzuftellen. Wie er aus der gegebenen Sprache der Denfmäler feine
Srammatif conftruirte, fo verlangt der Grammatifer umgefehrt, die Ergebnifie
der Grammatik auf die Denkmäler felbft zu übertragen. Mit anderen Worten:
philologifche Kritik wurde gefordert. Bald follten ſich in Benede und Lach⸗
mann bie rechten Männer finden, weldye Diefen Anforderungen entiprachen.
Bei diefem DVerfuch einer deutfchen Grammatik, wie fie Grimm ſelbſt bes
zeichnet, jollte e8 nicht bleiben. Nach drei Jahren im Jahre 1822 erſchien die
die zweite Ausgabe des erften Theils. Selten wohl Bat ein Schrififteller in fo
kurzer Zeit folche Fortſchritte gemacht, wie fie fich bier aus einer Vergleichung
88 Sprachwiſſenſchaft.
beider Ausgaben ergeben. Dieſe zweite Ausgabe erhielt vollſtaͤndige wiſſenſchaft⸗
liche Guͤltigkeit, bis ein Theil derſelben, die Lehreswon den Vocalen und unter
diefen vornehmlich die gothifchen, Durch den Berfafler eine Umarbeitung in der
dritten Ausgabe des erſten Theiles vom Jahre 1840 erfuhr. — Diefer erſte
Theil enthält in zwei Büchern die Lehre von den Buchflaben (d. h. den Lauten,
Vocalen, Diphthongen und Gonfonanten) und die Lehre von der Wortbiegung,
Derlination und Eonjugation. Bedacht wird genommen auf jänmtliche beutjche,
oder wie es deutlicher ausgebrüdt'wäre, auf fämmtliche germanifche Sprachen.
Grimm bat aber in diejem Falle den Ausdruck „deutſch“ für, germaniſch“ vor⸗
gezogen. Cr konnte died mit um fo größerem Rechte, als ed wohl ein deutſches
Volt in engerem Sinne gibt im Gegenfage zu unjeren Stammverwandten, ben
Dänen, Schweden und Engländern, aber keine einheitliche deutſche Sprache.
Die deutfche Sprache zerfällt in zwei große Gruppen, in die hochdeutfche und im
die niederdeutfche. Dazu kommt, day es in der Grammatik auf die gefchichtliche
Entwidelung, auf die Perioden der Sprache hauptfächlich anfam und fomit der
Ausdruck, deutſch“ (im weiteken Sinne für germanijch) nicht mit dem Ausdruck
„deutſch“ (im engeren Sinne) zufammengebracht und verwechjelt werden Eonnte.
Diefe deutſchen Sprachen find nun folgende: das Gothiſche, das Althochdeutſche,
das Mittelhochdeutfche, das Reuhochdeutiche, das Altjächfliche (oder das Altnie⸗
derbeutfche), dad Mittelniederdeutjche, das Reuniederbeutfche (dad Platt ift feine,
Sprache, fondern nur eine Rundart, weshalb es unberüdfichtigt blieb), das Mit
telniederländijche, das Neuniederländifche, das Angelfächfliche, das Engliſche,
das Zrieftfche, das Altnordifche, das Schwediſche und das Dänifche. — Schem:
nach vier Jahren erichienen der zweite und ber dritte Theil, welche die Lehre von:
der Wortbildung und Die Lehre vom Genus behandelten. Der vierte und letzte
Theil, die Syntar, erichien im Jahre 1837.
Bon befonderer Wichtigkeit find die neuen nunmehr ſeſtftehenden Kunftaude
drücke der hiſtoriſchen Grammatik. Zuvörberft verdient bemerkt zu werben, daß
Grimm die einmal beftehenden grammatifchen Benennungen, die ja bekanntlich
ben Grammatiken des Altertfums entnommen find, beibehielt, fie nicht aus übers.
triebenem Baterlandögefühle überfegte, wie e8 damals fchon vielfach geichab.
„Vocal“ blieb bei ihm „Vocal“ und wurde nicht zu „Selbfllaut‘ ober „Selbſt⸗
lauter.‘ Dagegen mußte er für ſolche Erfheinungen, Die ſich nach und nach
ergaben, bie alfo vollitändig neu waren, grammatijche Ausdrüde finden,
Manche derfelben, wie 3.8. „Umlaut“, waren fchon im Gebrauch, hatten aber
eine weitere Bedeutung, als Grimm fie ihnen beilegte. Man bat an Ausbrüden
wie Althochdeutſch, Mittelhochdeutfch, Lautabſtufung, Lautverfchiebung vielfach
berumgemäfelt, allein mit Unreht. Orammatifche Kunftausdrüude werden nie
an fich ganz genau und Klar fein, es genügt, wenn fie nur halbweg der Sache
entfprechen. Wenn jemand nicht weiß, was Vocal, Diphthong oder auch die
deutfchen Benennungen Selbftlauter und Witlauter bejagen wollen, — ber
Name allein fagt es ihm wahrlich nicht. Hält man Dies feft, fo zeigt ſich, dag
die von Grimm gewählten Ausprüde kurz und zwedentfprechend, alſo vortreff⸗
Tich find. Dan hat ſich allgemad an fle gewöhnt, fie find geläufig geworben,
Die deutſche Philologie. 89
ja ſelbſt das groͤßere Publikum findet Benennungen wie Althochdeutſch, Neu⸗
hochdeutſch nicht im geringſten ſchwierig.
Sehen wir nun auf den inneren Werth der Grammatik, ſo tritt uns zu⸗
nachſt eine ſtaunendwerthe Fülle des Stoffes entgegen, der nur von der beharr⸗
lichten Ausdauer und von einem überaus klar fichtenden Berflande auf folche
Weiſe bewältigt werden konnte. Ja diefe Hülle des Stoffes, welche e8 zu Feiner
eigentlichen Darftellung , zu feiner Befprechung über den Gegenſtand kommen
läßt, dieſe unendlich vielen Belege, Die ganze Seiten füllen, dabei eine fcheinbare
Unüberfichtlichkeit, diefer geringe typographifche Schmuck: dies alles ſchreckt an«
fänglich zurüd und macht beflommen. Jeder ahnt, wenn er nur einen Blid in
das Buch wirft, daß bier vom Lejer Arbeit, tüchtige Arbeit gefordert wird. Aber
dieſe Arbeit wird auch reichlich belohnt. Durch die Klarheit, die überzeugende
Ruhe, die nichts beweifen will, fondern nur concrete Beweife vorführt, gewinnt
der anfänglich troden erfcheinende Stoff warmes Leben. Lind außer dem Ler«
nen, außer dem wiflenchaftlichen, dem gelehrten Gewinne Tann aus der Gram⸗
matik, wie überhaupt aus Grimme Werken, Liebe zu unferer Sprache und Liebe
zu unjerem Baterlande gefogen werben.
Richt allein der Schöpfer der deutichen hiſtoriſchen Grammatik ift Iacob
Grimm, jondern auch der Gründer ber vergleichenden Grammatik, indem er dies
fom erwachenden Studium fefte Stüßpunfte verlieh. Eines feiner Hauptverdienfte
beſteht darin, Daß er das Geſetz der LZautverfchiedung fand und wiflenjchaft«
lich begründete, welches fchon vorher der Grammatiker der nordifchen Sprachen
Rasmus Raſtk geahnt Hatte. Dieſes Geſetz ift ähnlich einer mathematifchen
Gleichung: die alten Sprachen verhalten fi} in Hinficht der Stummlaute zu dem
Gothiſchen und zu den Sprachen, welche mit dem Gothiſchen auf einer Stufe
ſtehen, wie diefe zu dem Hochdeutichen.
Im erften Theil der Grammatik find jelbftverftändlich einzelne Abtheilungen
bevorzugt, wenn fie fprachlich wichtiger als andere find und eine reichere Litera⸗
tur in ihnen vorhanden ift: fo das Bothiiche, das Althochdeutiche und vor allen
das Mittelhochdeutiche, die Sprache, in der die vorzüglichften Dichterwerke des
Pittelalter8 gefchrieben iind. Auffallend auf den erften Blick, beſonders im
Gegenfage zu den Grammatiken der vorhergehenden Zeit, iſt ber geringe Um⸗
fang, welcher dem Neuhochdeutfchen eingeräumt if. Bedenkt man jedoch, daß
Die Granmatik Fein Schulbuch, fondern ein wiffenfchaftliches Werk fein follte,
fo war eine genaue Darlegung des neueren Sprachzuftandes nicht nothwendig.
Ohne Zweifel dagegen ift zwifchen dem Mittelbochdeutichen und dem Neuhoch⸗
deutfchen eine empfindliche Kücke gelaffen, in welche die Entwidelung der neu⸗
hochdeutichen Schriftfprache fällt. Grimm ſelbſt Hat dieſe Lücke zugeftanden und
gerechtfertigt. Sie auszufüllen ift wegen der Schwierigkeit der Aufgabe, welche .
alle anderen Schwierigkeiten überftieg, felbft ihm nicht möglich geweien. ine
Gefchichte des Reuhochdeutichen und befonders deſſen VBorgefchichte kann nur
dann erft ermöglicht werden, wenn umfafjende und bis ins Einzelne hinein fich
erſtreckende Vorarbeiten geliefert werden. Gerade die neuefte Zeit ift fich dieſer
Aufgabe bewußt und beginnt an ihrer Löſung zu arbeiten. Hauptſaͤchlich wird.
90 Epradqwiſſenſchaft.
zum Gelingen bie Veröffentlichung der Reichstagsakten beitragen, welche, wie
allgemein gehofft wird, nun endlich ind Werk gefegt werben fol. x
Das grammatiſche Werk Jakob Grimms war in feiner Ausführung fe bedeu⸗
dent und vollendet, daß es fchwierig erfcheinen mußte, ihm ein anderes ähnliches
an die Seite zu ſetzen. Alle grammatijchen Arbeiten Eonnten demgemaͤß nur
Einzelnes weiter ausführen oder die Darftellung Grimme im Auszuge und
in leichter faßlichem Gewande mittheilen. Im Allgemeinen aber wurde von
den deutfchen Philologen die Grammatik gerade am wenigſten gepflegt und weni⸗
ger als e8 hätte gefchehen follen. Grimm felbft Hat diefen Umftand beklagt. In
dem erften ‚Hefte des erſten Jahrgangs der Germania, einer Bierteljahrsfchrift
für deutfche Alterthumskunde, herausgegeben von Franz Pfeiffer 1856, nimmt ve
Gelegenheit. e8 geradezu audzuiprechen, daß beutiche Grammatik unter und nur
Jäffig betrieben werbe.und daß die meiften ſich an den jegigen Ergebnifien ‚genü«
gen lafien und nicht weiter forfchen: ein Urtheil, welches feine Liebe zur Sache
und zugleich feine edle Beſcheidenheit auf das Linzweibeutigfte kundgibt.
Wie vor der deutichen Grammatik das Gothiſche verhaͤltnißmaͤßig am
meiften bearbeitet war, fo hat es auch nachher Die beporzugtefte Beachtung gefun⸗
den. Unabhängig von Grimm waren auch in Italien dur Angelo Mai und
Graf Saftiglione gothifche Studien eifrig betrieben worden. In Deutfehland
war es vor allen Hans Ferdinand Maßmann, der ſich nach diefer Seite Hin
Verdienſte erwarb. Reuerdings bat diefer fleißige Gelehrte ſaͤmmtliche gothiſche
Sprachdenkmaͤler in einer fehr brauchbaren Ausgabe vereinigt. Die ausführ-
lichfte gothifche Grammatik, welche im Einzelnen äfters von Grimms Darfiel«
lung abweicht, findet fich in der großen Ausgabe des Ulphilas von Babes
leng und Löbe 1836 — 46. Eine treffliche Unterfuchung über das Vechaͤltniß
des gothifchen Alphaber8 des Ulphilas zum Runenalphabet befigen wir von Julius
Bacher, Im vorigen Jahre (1858) erſchien eine fehr fleißige, außer den wiſſen⸗
ſchaftlichen auch ‚praftifche Zwecke verfolgende, Feine Schrift über die Ausfprache
des Gothiſchen zur Zeit des Ulpbilas von Wilhelm Weingärtner.
Das erwähnte von Grimm gefundene wichtige Gefeg ber Lautverfchiebung
in Verbindung mit der Afpiration machte Rubolf von Ranmer zum Gegenftande
einer eigenen aͤußerſt gediegenen fprachlichen Abhandlung 1887. Es if zu Se
Flagen , daß nicht noch mehr derartige Einzelichriften über geammatifche Fragen
unternommen worden. Wilhelm Wadernagel behandelte in monographifcher.
Weiſe die mittelhochdeutiche Regationd » Partikel ne in Hoffmanns Kundaruben,
fo wie er auch über Conjugation und Wortbiegung durch Ablaut im Deutfchen,
Griechifchen und Lateiniſchen Unterfuchungen anfellte. (Diefe Ietere in einer
nicht überall zugänglichen Zeitfchrift erfchlenene Abhandlung iſt mir bis jet un⸗
befannt geblieben.) Die meiften Eleineren grammatifchen Arbeiten finden ſich in
gelehrten Beitichriften, beſonders in den fachwifienichaftlichen für das deutſche
Alterthum.
Cine größere Arbeit, welche ſich zur Aufgabe flellte, jene in Grimms
Grammatik gelaffene Luͤcke auszufüllen , lieferte Iofeph Kehrein in feiner deut
fen Grammatik des 15.—17. Jahrhunderts. An Fleiß hat es der Verfafler
Die deutfche Ppiloingie. A
nicht fehlen Lafien, allein es fehlt feinem Buche an Klarheit, es trägt bloß ben
Stoff zufammıen, ohne ihn gehörig zu verarbeiten. Cine Grammatik der Sprache
jener Jahrhunderte bleibt troß des Verſuches von Kehrein wie biäher eine noch
zu löfende Aufgabe.
Groß ift die Anzahl der Auszüge aus dem Grimmiſchen Werke, welche vor⸗
zugöweife für den Unterricht beftimmt jind. Selbftverftändlich berüdfichtigen
fie meift den elementaren, den etymologifchen Theil. Am verbreiteften ift Vil⸗
mars (des bekannten Literarhiftorifers) deutfche Grammatik geworden. K. A.
Hahn behandelte jämmtliche deutiche Sprachperioten mit Einjchluß der gothis
fen. Sehr brauchbar und auch höheren Anforderungen entiprechend ift feine
mittelhochbeutiche Srammatif, welche in zwei Abtheilungen die Laut» und
Flexionslehre und die Wortbildung enthält (1842 und 1847). In mittelhoch⸗
beutfchen Lefebüchern find öfters kurze Anweifungen zur Formenlehre gegeben,
wie 3.3. im altdeutichen Lejebuche zum Gebrauch bei Borlefungen von Karl
Simrod 1851. — Grimms Brammarit hat wohlthätigen Einfluß auf die
Behandlung der neuhochdeutichen Grammatik und befonderd der Schulgramma-
tik gehabt. Freilich find auch eine Menge Bücher erfchienen, die den früheren
Schlendrian auf’8 treulichfte fortgeſetzt haben.
Einer der wichtigften und zugleich anziehendften Theile der Sprachforfchung
ik die Etymologie; ihr Zweck ift, wie ed Grimm ausdrüdt, die Mannigfal«
Ggfeit der gereiften Sprache auf anfängliche Einfachheit der Bormen und Bes
griffe zurüdzuführen. SPraftifche Geltung gewinnt die Etymologie durch bie
Lexicographie. Aus der älteren Zeit zeichnet fich durch Gründlichkeit und
*Scharffinn das Deutich- Lateinifche Wörterbuch von Johann Leonhard Friſch
ans, welches heute noch fehr gut zu gebrauchen ift und felten im Stiche läßt.
Das lexicaliſche Hauptwerk für die althochdeutiche Sprache ift Graffs althoch⸗
deutſcher Sprachichag. Leider wird der Gebrauch bedeutend erfchwert, «da die
Ordnung nicht alphabetiich ift, und zugleich Durch die vielen Abkürzungen, welche
die Quellen bezeichnen, dem Gedächtniffe zu viel zugemuthet wird. Um die mit-
telhochdeutſche Lericographie hat fich befonderd Benecke verbient gemacht, indem
es feinen Ausgaben mittelhochdeutjcher Gedichte vortreffliche Gloſſare hinzufuͤgte.
Wufterhaft in jeder Beziehung ift jein Wörterbuch zu Iwein gearbeitet. Den
mittelhochdeutſchen Sprachfchag ftellte Adolf Ziemann in feinem mittelhoch⸗
deutichen Wörterbuche zum Handgebrauche 1838 zufammen: ein Werk, weldyes
wirklich einem dringenden Zeitbedürfnifie abgeholfen hat, wenigſtens vorläufig.
Die Arbeit war fein geringes Unternehmen, und wenn fie auch mit Vorſicht bes
nugt fein will, jo gebührt doch dem Verfafier Dank und Anerkennung. Im fol
genden Jahre 1839 erjchien das Wörterbuch zum altdeutichen Lefebuche von
Wilhelm Wadernagel. Dieſes Wörterbuch ift eine der vortrefflichften Ar⸗
beiten, welche auf dem Gebiete der deutjchen Sprachforfchung je geliefert werden.
Befonderen Wersh erhält e8 Dadurch, dag die Etymologie, auch die „auf Verglet-
chung der alten Sprachen beruhende“ nicht außer Acht gelaſſen ift. Gegenwärtig
noch nicht zum Abjchluffe gelangt ift das mittelhochdeutiche Wörterbuch, welches
die beiten Profeſſoren Wilhelm Müller in Göttingen und Briedrih Zarnde
92 Sprachwiſſenſchaft.
in Leipzig herausgeben. ine derartige Arbeitärheilung Tann bei einem ſolchen
Fleiß und Zeit erfordernden Unternehmen nur förderlich fein. Die bereitö vor⸗
liegenden Theile geben ein rühmliches Zeugniß von der Gediegenheit der Arbeit.
Aehnlich wie bei dem Graffifchen Wörterbucye ift die Ordnung nicht fireng
alphabetifch, fondern nah den Wortlämmen eingerichtet; es gehören ale
ſchon gewiſſe Vorkenntniſſe dazu, ehe das Lericon benutzt werden kann. Benede,
der verdiente Lericograph, Hatte den Plan, ein derartiges mittelhochdeutfche®
Wörterbuch zu verfaflen. Seine Vorarbeiten fanden fi) unter feinem Nachlaß
und gaben Wilhelm Müller die nächfte Beranlaffung,, jenen Plan auszuführen.
Man bat fich aber vor Ueberfchägung dieſes Nachlafjes zu hüten und es iſt eine
Berkennung des Thatbeflandes, wenn man das neue Wörterbuch als ein Wert
von Benede anfteht, welches nur von den genannten Gelehrten an's Licht gebracht
ſei. — Das bedeutendfte lexicaliſche Werk, an welchem in unferen Tagen rüflig
gearbeitet wird, deſſen Vollendung aber in weite Berne gerüdt ift, ein Werk,
welches nicht allein den Gelehrten, fondern dem ganzen deutichen Volke gewidmet
wird, ift das deutfche Wörterbuch von Sacob und Wilhelm Grimm.
Der genauere Titel wäre: neuhochdeutſches Wörterbuch, wenn er nicht einen
etwas pedantifchen Klang hätte. Der gegenwärtige Wortfchag mit Ausfchluß dee
offenbaren Fremdworte und der Eigennamen findet in diefem Werfe feine Deus
tung in fprachlicher und etymologifcher Beziehung und feine Würdigung in Hin⸗
ficht des Gebrauches in der Literatur. Jedes einzelne Wort wird gefchichtlich bis
an fein erftes Vorkommen verfolgt, zu feiner näheren Beftimmung werden ver.
wandte Sprachen berbeigezogen, feine Bedeutung wird durch Belege aus ben’
maßgebenden Schriftftellern dargethan. Cine Fülle gelehrten Apparate ſcheint
das Werk für Nichtgelehrte unzugänglich und unbrauchbar zu machen, aber
dies ift in der That nur feheinbar. Wer es über fich gewinnt, die gelehrte Hülle
unbeachtet zu Lafjen, der wird aus demjenigen, was feinem Wiffen und Verſtehen
angemefien ift, nicht allein Belehrung ziehen, ſondern auch reichen Genuß im
ihm finden. Denn, um e8 zu wiederholen, der Brüder Grimm Wörterbuch I
ein Werf für gelehrte und für gebildete Lefer. Zu vollem Verſtaͤndniſſe und zu
gerechter Würdigung wird eine genaue Lektüre ber überaus klaren, verfländigen
und gemüthvollen Einleitung von Jacob Grimm verhelfen, welche den beften
Einblid in das Weſen der deutfchen Philologie und in die geiftige Werkftätte
ihres Altmeifters gewährt. — Es liegt in der Natur der Sache, daß ein folches
Werk nur durch Mithülfe zu Stande kommen fann. Ausgezeichnete Kenner der
deutfchen Sprache und Literatur unterflügen die beiden Herausgeb Wenn
auch im Einzelnen manchmal fich durch Die verfchiedenartigen Arbeitäfräfte Uns
gleichheiten.ergeben, fo ift Doch im Allgemeinen die Form eine einheitliche, von
einem Geiſte erfüllte. Während im ganzen Vaterlande fich für das vaterlän«
difche Werk begeifterte Stimmen erhoben, haben fich auch gegnerifche Stimmen
vernehmen lafien. Am leidenfchaftlichften, rudfichtölofeften und zugleich am uns
gerechteften trat ein Profeffor Wurm in München gegen die Herausgeber auf,
obwohl einzelnen Theilen feiner Kritik die Berechtigung nicht abhing. Die befte
Beurtheilung fand das deutfche Wörterbuch durch Rudolf von Raumer in der
Die dentiche Philologie. 9
Zeitſchrift für die öfterreichiichen Gymnaſien (auch in einem befouderen Abdrude
erſchienen). — Bon Iericalijchen Hülfsmitteln hat bis jegt nur die hochbeutfche
Sprache eine genügende Zahl aufzuweiſen. Weniger günftig fleht es um das
Niederbeutiche. Man muß deshalb immer zu dem immerhin verdienftuollen, aber
in mancher Beziehung veralteten bremifch-nieberfächfifchen Wörterbuche feine
Buflucht nehmen, welches die Bremifche deutfche Sefellichaft in fünf heilen
1767 — 1771 erfcheinen ließ. In letzter Zeit ift von mehreren Seiten dieſem
fühlbaren Mangel abzubelfen verjucht worden: fo neuerdingd von Georg
Schambach. Eine befondere Gattung des Wortichages, welche gewöhnlich
in den Wörterbüchern wenig oder nicht berüdfichtigt wird, bilden die Perſo⸗
nennamen. Ihre Erforichung iſt eine Der anziehendflen Aufgaben der Ety⸗
mologie. Aber auch in Eulturbiftoriicher Beziehung gewähren die Berfonennamen |
wichtige und anziehende Momente. Zwei vortreffliche Arbeiten über diefen Ge⸗
genftand feien erwähnt: von Wilhelm Wadernagel im Schweizerifchen Mufeum
für hiſtoriſche Wiffenfchaften 1837 und von dem leider zu früh verftorbenen
Dito Abel in einem bejonderen Schriftchen: die deutfchen Berfonen-Ramen
1853. Lange Zeit wurde ein Wörterbuch diefer deutfchen Perfonennamen ver⸗
mißt. Ernſt Förſtemann hat fid, deshalb durch fein „altdeutſches Ramen-
buch,“ deffen erſter Theil eben die Perfonennamen enthält, großes Verdienſt er
werben. Der zweite Theil, an dem rüftig gearbeitet wird, enthält vie
Ortsnamen.
Die Fremdwörterbücher verfolgen fämmtlich praktiſche Zwecke; es
fehlt bis jegt ein größeres gelehrtes Werk, welches diejenigen fremden Worte,
welche ſich vollſtaͤndig eingebürgert haben und vollftändig deutfches Gewand zu
tragen jcheinen, wie 3. B. die durch das Chriſtenthum eingeführten Kirche,
Briefter, Pfarrer u. a. m. alphabetifch anfammengeftellt. In einem folchen
WBörterbuche müßten auch diejenigen Fremdworte, die ihre ausländifche Abkunft
auf den erſten Blick verratben, geichichtlich verfolgt und ihre Anwendung in ber
Literatur, wie ed im Grimmiſchen Werke bei den einheimifchen Worten gefchieht,
durch Stellenanführung und Eitate belegt werden. Lange Zeit wird nod hin⸗
gehen, che ein ſolches Werk unternommen werden kann. Bür jet genügt das
Srembwörterbuch von 3. Ch. A. Heyſe, herausgegeben von feinem Sohne KR.
8.2. Heyſe, volllemmen.
Ein wichtiger und befonder8 in unferen Tagen eifrig gepflegter Zweig der
Sprachwiſſenſchaft ift die Erforfchung der Rundarten. Unübertroffen und
als Vorbild auf diefem Gebiete fteht I. Andreas Schmeller da. Leiſtete er
in feinem erften Werke „die Mundarten Bayerns grammatifch dargeftellt 1821”
ſchon Vorzügliches, fo wurde dies doch weit überboten durch fein wahrhaft klaſ⸗
ches bayerifches Wörterbuch, 4 Theile, 1827—1837. Bor ihm hatte
fi) Sranz Joſeph Stalder durch feine beiden Werke „Schweizeriſches Idiotikon
1812 und „Schweizeriſche Dialektologie 1819 hervorragend verdient gemacht:
dieſe beiden Werke hat Grimm zu feiner Grammatik vielfach benugt und ange»
zogen. — Die Literatur der Idiotiken und der mundartlichen Gedichte und
Brojaftüde ift eine jehr reichhaltige. Zujammengeftellt wurde fie von P. Trö⸗
u Evbrachwifſeuſchaft.
mel und dieſe Zuſammenſtellung findet immer in Frommans Zeitſchrift für
dentjche Munbarten durch Kortfegung und Ergänzung neuen Zuwachs.
Eine verdienftvolle reichhaftige Sammlung von mundartlicden Spradipres
ben wird gegenwärtig von Joh. Matt. Firmen ich veranflaltet unter dem Titel‘:
Germantens Völkerſtimmen, Sammlung ber deutſchen Mundarten in
Dichtungen, Sagen, Märchen, Volksliedern u. ſ. w. Ein fruͤher oft vermißtes,
auf den Forſchungen Srimms und Schmellers fußendes Organ für die Pflege ber
mundartlichen Studien befigen wir feit einigen Jahren in der von Karl From⸗
mann herausgegebenen Beitfährift: „die deutſchen Mundarten, eime
Monatsſchrift (feit vorigem Jahre Vierteljahrfchrift) für Dichtung, Borfchung und
Kritil,. Begründer wurbe das Unternehmen von Joſ. Anf. Pangkofer, der
Sur; nach dem Erſcheinen der erften Hefte der Brechruhr erlag So Bew
dienſtvolles auch der Begrämder geleiftet hat, jo iſt doch zu bezweifeln, ob er bie
Beitichrift auf die Hoͤhe des wiffenfchaftlichen Werthes gebracht hätte, welche fie
unter der Nedaction des al® tüchtigen deutſchen Philologen bekannten Karl
Frommann einnimmt. — Gerade in fegiger Zeit, in welcher durch bie leichten
Verkehrsmittel dad Landvolk landlaͤufig wird und die Volksmundarten wie die
Bolkätrachten ſchwinden, gerade jegt ift ed noͤthig, die fich noch bietende Gelegen⸗
heit der Sammlung der mandartlichen Eigenthünrlichfeiten zu wugen. Mit des
Beit, wenn erft ver Stoff aus unferen Tagen aufgefpeichert ift, werden wohl auch
die älteren Mundarten mehr berüdfichtigt werten. Die jchwierigfte, aber auch
wichtigfte und lohnendſte Aufgabe der Mundartforfchung beficht darin, den Ein-
fluß nachzuwetferr, welchen die Mundarten auf die Enhridelung ber neuhochdeut⸗
ſchen Schriftfprache gehabt Haben. Nach diefer Seite Hin wird erft in Bukunft
die erwähnte Beitfchrift gebeihlich wirken können.
Die Geſchichte des deutſchen Sprache Ichrt am anſchaulichſten Grium⸗
Grammatik. Eine Darſtellung ber Sprachentwickelung, wie in ber Literatuss
gefchichte die Literatur behandelt wird, if bis jetzt nicht geliefert worden. Ge⸗
wöhnlich wird in ber Literaturgeſchichte auf Die Sprachgefchichte Rüdficht genom⸗
men. . Und dies tft offenbar jehr zweckmaäßig. Im früherer Zeit vor Orimm
wurde die Befthichte der deutſchen Syrache Sehr oft befprochen. In Hinſicht des
Reubochdeutigen darf die Sprachgefchichte nicht von der Geſchichte der Sram.
matif getrennt werden. Wir befiten zwar eine Geſchichte der deutſchen
Sprache von Jacob Grimm, allein dieſes Höchft wichtige und inhaltreiche
Merk enthält Doch gar viele Dinge, welche unter jenem Titel nicht vermuthet
werden. Dieſe Gefchichte ber deutfchen Sprache verfolgt an der Hand der Sprache
forfchung die Geſchichte und Kulturgefchichte der alten deutfchen Volksſtaͤmme.
Zugleich wird in ihm der Sprachorganismus nach feinen einzelnen Theilen und
Erjcheinungen beiprochen und zwar im gefchichtlichen Zuſammenhange, während
die Grammatik ſelbſtverſtaͤndlich nur einzelne beftimmte und abgefchlofiene
Sprachzuftände berüdfichtigen kann. Die Geſchichte der deutfchen Sprache führt
alſo den in der Grammatik begonnenen Bau weiter aus. Dabei wird eben des
gefchichtlichen Zufammenhanges willen auf Die verwandten Sprachen vorzüglich
Bedacht genommen und ſomit ift dad Werk ein fprachvergleichended, In feinem
Die deutſche Philelogie. 95
Buche son Grimm iſt wohl mehr Gelehrſamkeit aufgewendet als in diefem, Feines
läßt aber auch die Liebe des Berfaffers zu jeinem Gegenflande mehr durchblicken.
Sreilich hat man dieſem Werke auch eine gewiſſe Unfertigkeit zum Vorwurf machen
wollen. Dem mag fein wie ihm wolle, die Geſchichte der deutſchen Sorache ift
dennoch eines der herrlichſten Erzeugnifle ded großen Mannes, Befonders findet
ach in ibm jene unter gelehrrem Apparate verſteckte und wie Sonnenblide her⸗
vorbrechende Poefle Grimms, die in feinen Einleitungen und Borreden fo herr⸗
lich zu Tage tritt, ihren Ausdruck, Gedanken, deren Tiefe unausiprechlich ift und
deren Form bezaubert. In ihnen wird Die Sprache und ihre Geſchichte fo klar
wor Augen geführt, daß über ihr Weſen und ihre Bedeutung fein Zweifel mehr
fein fann. Erinnern wir uns, wie Meinlich eine vergangene Zeit von der Sprache
ud inobeſondere von der Deutfchen Sprache dachte. Und fegen wir ben gegen⸗
über einige Gedanken aus Grimms Geſchichte der bemtichen Sprache: „Es gibt
ein lebendigered Zeugniß über die Bölfer ald Knochen, Waffen und Gräber, und
Das find ihre Sprachen. — „Sprache ift der volle Athem menfchlicher Seele,
ws fie erichallt oder in Denkmaͤlern geborgen ift, fchwindet alle Uinficherheit über
bie Berhältuiffe des Volks, das fie redete, zu feinen Nachbarn. Fuͤr die Altefte
Geſchichte kann te, wo um8 alle anderen Quellen verfiegen oder erhaltene Ucher-
Bleibfel in unauflößberer linficherheit laſſen, nicht® mehr austragen als jorgiame
Erforſchung der Berwandtichaft oder Abweichung jeder Sprache und Mundart
58 in ihre feinſten Adern und Faſern.“ — „In allen Sprachen findet Abfteigen
son leiblicher Bolltommenheit ſtatt, Auffteigen zu geifliger Ausbildung. Glück⸗
lich Die Sprachen, welchen dieje fchon gelang, als jene nicht zu weit vorgefchritten
war: fie vermählen dad milde Gold ihrer Boefte noch mit der eifernem Gewalt ’
iheer Proja.“ —
-.. Bon befonderer Wichtigkeit für die Geſchichte unſerer Sprache iſt der Reim.
Grimm führt an, daß ohne den Meim faft Feine Gefchichte unferer Sprache mög»
lich wäre. Im ihm treten die Eigenthümlichkeiten der Laute am fehärfften und
nzweifelhafteften hervor, wenn auch die Handſchriften aud viel jpäterer Zeit
ſtammen, als das Schriftwer£ entflanden if. Denn die Schreiber hatten immer
das Beſtreben zu moberniftzen, fie brachten inımer die Sprache ihrer Zeit oder bie
Mundart ihres Landes zur Geltung. Der Reim iſt fomit nicht allein für bie
Grammatik die ficherfle Orumblage, fondern auch der feftefte Mapftab für die
Kritik. Raͤchſt ihm lehrt Die Metrik, befonders in Hinficht der Duantitätövers
haltnifſe, am treueften die Befchaffenheit der Sprache. — Die Kritik, deren Aufe
gabe es ift, die alten überlieferten Terte zu reinigen von ben Zuthaten und Will⸗
Eürlichkeiten der Schreiber und fie in möglichfter Urfprünglichfeit wieder
herzuſtellen, hat natürlich die Sprache und die Grammatik zunächft im Auge.
Dennoch ift e8 wohl zweckmaͤßiger, über fie eingehender nicht bier, jonbern bei
Gelegenheit der Betrachtung der Literaturforfchung zu fprechen.
Schließlich fei noch eines wichtigen Ergebnifjes gedacht, zu welchem bie
Sprachforſchung in neuerer Zeit geführt und welches außerhalb der Grimmifchen
Grammatik ſteht: es ift dies die wiffenfchaftliche Begründung einer eigenen im
Nittelalter galtigen mitteldeutſchen Sprache. Dad Syſtem dieſer Sprache,
06 Syragwifenfiaft.
welche dem Gebiete Mitteldeutichlands angehört und naturgemäß Glemente
der hochdeutfchen und der niederbeutfchen Sprache vereinigt, wurde zuerſt von
Franz Pfeiffer in feiner Ausgabe der deutfchen Myſtiker aufgeftell. Auch
Wilhelm Grimm bat in der Ausgabe von Athis und Prophilias die Laui⸗
Ichre diefer gemifchten Sprache betrachtet. Jacob Grimm aber bat deu ge
wonnenen Ergebniſſen in einem Auffage in Haupts Zeitfchrift für beutfches
Altertum, überfchrieben: „über den fogenannten mitteldeutfchen Bocaliemus“
feine Zuftimmung verfagt. Franz Pfeiffer aber flegte in dieſem wiſſenſchaftlichen
Kampfe. In feiner Ausgabe der Deutfchordenschronif von Ricolaus von
Jerofhin, einem Werke, welches weniger wegen ſeines dichteriichen Werthee
als wegen feiner fpradylichen Eigenthümlichkeit Höchft wichtig if, widerlegte er
Grimm durch unzählige Belege aus den Reimen auf das entichiedenfle. Und
feitvem fteht die mittelbeutiche (genau ausgedrückt mittelmitteldeutfche) Sprache
gegenüber dem Wittelbochdeuifchen und dem Mittelntederdeutichen als ein drittes
und verbindendes Glied unzweifelhaft da. Im Grunde gehört fie zur hochdente
ſchen Sprache, in dem ihr Conſonantismus Hochdeutich ift, ihr Vocalismus das
gegen fchließt fich enger an das Niederdeutiche nm. Im neuefter Beit wird DaB
Ergebniß im Einzelnen vielfach weiter verfolgt. Franz Pfeiffer hat ſich durch
diefe feine Forfchung ein bedeutendes Berdienft um bie beutfche Grammatik und
Sprachgefchichte erworben.
Nachdem wir fo die grammatifchen Beftrebungen innerhalb ber Deuts
ſchen Philologie betrachtet Haben, gehen wir zu dem anderen Haupttheile, zur
deutfchen Literaturforihung über. — Durch bie leichter zugänglichen
v Hülfsmittel ift dieſes Gebiet bei weitem mehr, als es bei der Sprachforfchung
der Ball fein ann, zur Kenntniß der Gebildeten gelangt. Doch find die Arbeiten
und Leiflungen oft fo ausschließlich fachwiſſenſchaftlicher Art, daß bie Literature
geſchichte, die für weitere Kreije beftimmt ift, auf fe weniger Bebacht nehmen
kann, als es in unferer Darftellung nothwendig ift.
Die Veröffentlichung der älteren deutfchen Literatur, deren im Eingange
gebacht wurde, hatte erfreulichen Kortgang. Das meifte Verdienſt in dieſer Hin⸗
fiht erwarb ſich Friedrich Heinrih von Der Hagen. Er vor allen hat zus
Erſchließung der in Handfchriften und alten Druden verborgenen Schäge weſent⸗
lich beigetragen. Er war ein unermübdlicher Sammler und er war glüdlich in
feinem Sammeln. Durch angeborened Talent fowie durch fortgefeßte Uebung
erlangte er eine wahrhaft ſtaunenswerthe Fertigkeit im Xefen alter Handſchriften.
Ueberaus reich war fein Willen und wenn in feiner Anfchauung des Mittelalters
auch etwas Romantik mitunter floß, fo wird man doch in feiner Auffaffung bie
gefchichtliche und Eulturgefchichtliche Wahrheit nicht verfennen können. Dagegen
ein Kritiker, ein eigentlicher Philologe — das war von der Hagen nicht. Seine
Leiftungen nach diefer Richtung hin wurde von Anderen weit überboten. Man
hat ihn wegen dieſer ſchwachen Seite oft unterfchägt und feinen Beftrebungen
Dilettantismus vorgeworfen. Aber mit vollem Unrecht. Einer fann nicht Alles.
Von der Hagen war in feiner Weife groß. Ich behaupte geradezu: wäre ein
folder Mann nicht zu rechter Zeit gefommen, die deutjchen Studien hätten: nis
Die dentſche Philologie. 97
mermehr ſolchen Aufichwung nehmen koͤnnen. Wie oben kurz erwähnt, hatte
von der Hagen ſchon vor dem Erfcheinen der deutſchen Grammatik feine Thaͤtig⸗
keit auf diefem Gebiete entfaltet. Er gab 1808 im Vereine mit Büfching deut-
ſche Gedichte des Mittelalters heraus. Der zweite Band biefer Sammlung, von
ihm und Aloyfius Brimiffer veröffentlicht, erfchien in den Jahren 1820— 25.
Er führte auch dem Titel; „der Helden Buch.“ Wir werben von der Hagens
Ramen bei Betrachtung der einzelnen Battungen der Literatur öfters begegnen.
— Die Herausgeber alter Quellen hatten theild eine beiondere Sprachperiobe
im Auge, theild veröffentlichten fle überhaupt mittelalterliche Schriftwerke. Vom
Gothtſchen Haben wir nur ehr wenige Denkmäler und darum hat es auch
weniger Werth für die Literatur als für die Grammatt® Eine gute althoch⸗
deutſche Duellenfammlung beforgte K. Lachmann : specimina linguae francicae
in usum auditorum 1825. Aehnlichen Zwed verfolgte Graff in jeiner „Aus⸗
wahl aus althochbeutfchen Denkmälern.“ Maßmann gab Denkmäler deutjcher
Sprache und Literatur aus den Handfchriften des 8. bis 16. Jahrhunderts her⸗
aus 1828. Diefe Sammlung, von der blos ein Heft erfchien, follte fich an
Graffs Sammlung Diutiska anfchließen, im welcher Denkmäler beutfcher
" Sprache und Literatur theild herausgegeben , theils nachgewiefen und befchrieben
wurden. Hattemer ließ „Denkmale des Mittelalters 1844 erfcheinen, Th ˖
s.Rarajan „deutiche Sprachdenfmale des 12. Jahrhunderts 1846 und
3. Diemer gab ‚‚Eleine Beiträge zur älteren beutfchen Sprache und Literatur
1851 heraus. Sehr wichtig für die altdeutfche Literatur find Heinrich Hoff-
mannd „Fundgruben für Gefchichte deutſcher Sprache und Kiteratur.” Der
Seraußgeber iſt der unter dem Ramen Hoffmann von Fallersleben allbe— '
kannte und allbeliebte Dichter. Gar Mancher weiß es nicht, daß der Sänger
fo vieler füßer Lieder und Weiſen auch auf diefem gelehrten Gebiete heimiich und
hier einer der tüchtigften und unermüblichften Forſcher iſt. Eben von Hoffmann
von Fallersleben und von Morig Haupt wurde gemeinfchaftlich eine ähnliche
Gammlung, betitelt: „‚altdeutfche Blätter‘ veranftaltet. Diefe und ähnliche Unter⸗
nehmungen, die natürlich nicht alle angeführt werden Eönnen, gewannen dadurch,
daß fe heftweife- erfchienen, gewiſſermaßen den Charakter von Zeitfchriften. Die
erſte und gediegenfte der ‚eigentlichen‘ Beitfchriften, die aber felbftverftändlich
wicht 6108 einen ephemeren, fondern einen bleibenden Werth hat, die vollfländig
einem Buche, einem gelehrten Werke gleich kommt, ift Haupts „Zeitſchrift für
dentſches Altertbum. ine jolche Zeitfchrift verfolgt, wie ſchon der Titel bes
fagt, nicht blos den Zweck, alte Terte mitzutbeilen, fondern fle umfaßt dad ganze
dentfche Alterthum, fie behandelt grammatifche Kragen und befpricht auch Tite-
. ratur» und Fulturhiftorifche Dinge. Ja e8 wäre gerade für diefe fo wichtige Zeit⸗
ſchrift von Vortheil gewefen, wenn in der Mittheilung von Terten mehr Maß
gehalten worden wäre und eigentliche Abhandlungen über gegebene Stoffe ben
Borrang erhalten hätten. Leider iſt fie in Iegter Zeit in's Stoden gerathen.
Aus welchen Gründen kann nicht ohne Weiteres entfchieden werden. Materielle
Gründe, die oft auf dem deutſch⸗philologiſchen Gebiete felbft den beften Unter»
nehmungen bindernd in den Weg treten, find es gewiß nicht, da der Zeitjchrift
IV. 1
98 Eprachwiſſenſchaft.
von Seiten des preußiſchen Staates erwünichter Vorſchub geleiſtet wurde. Dau-
kenswerthes leiſtete auch „der Anzeiger fie Kunde des deutſchen Mittelalters
von v. Aufſeß, ſpaͤter herausgegeben von dem Begründer und Fr. Joh. Mone
und zuletzt von Mone allein. Der jetzige „Anzeiger für Kunde der deutſchen
Vorzeit,“ herausgegeben von v. Aufſeß, v. Eye und Frommann ift Organ be$
germanifchen Muſeums zu Rürnberg und hat als ſolches die Aufgabe, befonder$
zur Erforfchung ber deutfchen Geſchichte beizutragen und if fomit nur theil⸗
weife eine Duelle für die deutiche Philologie; doch find jeine Gaben immer von
Werth und Bedeutung. Geit einigen Jahren bat Kranz Pfeiffer eine Zeit
fchrift für deutfche Alterthumskunde unter dem Ramen „Sermania‘‘ begründet,
welche, da Haupts Zeitſchrift nicht mehr fo regelmäßig erfcheint, gegenwärtig als
das einzige Organ für die deutſch⸗philologiſchen Studien anzujeben if. Die
Bermania bringt Terte, urfunbliche oder auch Fritijch behandelte, nur dann, weg
fle wegen ihres Alterthums, ihrer Seltenheit oder wegen ihres fprachlichen und
Dichterifchen Werthes den Abdruck verdienen. Dagegen wird ein Hauptaugen⸗
merk auf „Abhandlungen“ gerichtet, mögen diefe nun der Grammatik, der Kri⸗
tif oder fonft einem Theile der Wiflenfchaft angehören. Auch werden neue Er⸗
fjeinungen befprochen und beurtheilt, während in Gaupts Zeirichrift Recenfiouen
grundfäglich ausgefchlofien waren. Wünfchenswertb wäre e8 und einem fach⸗
wiffenfchaftlichen Organe in hohem Grade entſprechend, wenn ſaͤmmtliche nene
Erſcheinungen wenigſtens in einer bibliographifchen Lieberficht mit Eurzer Angabe
des Inhaltes und des Zweckes zur Kenntnig gebracht würden. — Außer folgen
Sammlungen und Zeitfchriften werden Gegenftände aus der deutfchen Literatur-
geichichte öfters auch in Schul Programmen, Akademieabhandlungen und Zeit-
ſchriften vermifchten Inhaltes mitgetheilt.
Zwei größere Unternehmungen, bie ältere beutfche Literatur befannt zu
machen, verdienert befondere Erwähnung. Die eine ift Die von dem Buchhändler
Bajfe in Quedlinburg im Jahre 1835 begründete und bis heute fortgefeigte
„Bibliothek der gefammten deutſchen Rational⸗Literatur von ber Altes
ſten bis auf die neuere Zeit.” Die andere find die „Publicationen bes
literarifchen Vereins“ in Stuttgart. Gegen daß erftege Unternehmen wer man
anfänglich etwas mißtrauifch, jedoch entfprechen bie meiften ber im Sammelwerke
gegebenen Ausgaben den Anforderungen der Wiflenfchaftl. Der Titerarifche
Berein veröffentlicht nicht allein Dichtungen des deutſchen Mittelalters, ſondern
auch gefchichtliche Werke, Eorrefpondenzen u. f. w. Wenn auch vorzugäweife
deutſche Erzeugnifie zur Veröffentlichung gelangen follen, fo find doch aud
somanifche Quellen nicht außgefchloffen, infofern fle zu der deutſchen Literatur
in Beziehung fiehen. Während im der Bibliothek der Rationalliteratur meiſt
kritiſch beſorgte Ausgaben zu finden find, beabfichtigt der Titerarifche Verein mehr
urkundlich treue Abdrüde. Seine Bublicationen kommen nicht in den Buche
Handel. — Da in diefen beiden Sammelwerken die einzelnen Theile bandweiſe
und unter befonberem Titel erfcheinen, fo find fie auch als felbfifländige und ab⸗
gejchloffene Bücher anzuſehen.
Wir gehen über zur Betrachtung ber Erforfchung, Erichliegung und Rup-
Die dentſche Philolegie. oo
harmachung ber einzelnen Gattungen und Zweige ber deutſchen Literatur. Es
iſt hinlaͤnglich bekannt, daß es die Philologie vorzugsweise mit der National⸗
Literatur, nicht mit ber geſammten Literatur zu thun hat. Die Erforfchung ber
Alten Rechiöquellen zum Beifpiel wird felbftverfländfich zunächft der Rechtowiſſen⸗
ſchaft zufallen; die Philologie hat an ihnen nur in fo fern Interefje zu nehmen,
als fle ſprachlich und Eulturgefchichtlich wichtig find, während der juridifche In⸗
Salt Der genannten Fachwiſſenſchaft überlaffen bleibt. So aud) in anderen Ge⸗
bieten des Literarijchen Thätigkeit. — Wie überhaupt Die deutiche Philologie im
Begenfage zu den früheren pebantifchen Befirebungen auf die geiftige Entwicke⸗
Jung bed Volkes in feiner Geſammtheit, nicht bloß einzelner fogenannter
bevorzugter Krelfe ihr Augenmerk richtet, fo iſt es im Gebiete der Literatur die
Brtenniniß der Volkspoeſie, welche mit befonderem Eifer erftrcht werden
mug. Bei allen Völkern ift e8 befanntlich das Epos, das erzählende Gedicht,
welches zuerft unter den Dichtungdarten gefchaffen wird. Für die ältefte beutfche
Kiprachperiode ift das wichtigfte Denkmal dad Hildebrandslied. Entdeckt
„ber vielmehr feiner Bedeutung nad erkannt wurde es von den Brütern
Brimm; ein getreues uud muſterhaft audgeführtes Facſimile veröffentlichte
Milhelm Srium 1830. Sehr oft bat ſich die Kritik an diefem wichtigen
Denkmale verſucht; jo Lachmann, Wilhelm Müller, Keußner, U.
Bollmer und Konrad Hofmann. Troß folch vielfacher Bemühung wird
das Hildebrandalied immer noch Begenftand des Studiums bleiben werden und
wählen. Um die anderen althochteutichen der Volkspoeſte angchörenden Stüde:
wei Zauberſprüche und das jogenannte Weifobrunner Gebet machten
Bi beſonders die Grimms, Mapmann und Wackernagel verdient. Das
anter dem Namen Mufpilli befannte Gedicht, welches trogbem, daß es einen
Briflichen zum Verfaſſer hat und chriftliche, alfo für die ältefte Zeit nicht volks⸗
hämliche Anſchauungen Fundgibt, wegen ber vielen heidnifchen Züge recht gut
hierher gezogen werden kann, wurde in trefflicher Weiſe durch Schmeller mit«
geiheilt. Neuerdings hat Karl Bartfch in der Bermania bem Gedichte eine
Saflung und Deutung zu geben verfucht, welche feinen Werth um Vieles erhöht.
— Bedeutend umfangreicher als die volkäthümlichen hochdeutichen Denkmäler
iſt das von dem Herausgeber Schmeller „Heliand‘ benannte altniederdeut⸗
ſche (oder altfächftfche) Gedicht, welches, den Inhalt der Evangelien zuſammen⸗
feflend, das Leben des Heilands verherrlicht. — Die altnordifche Volkspoeſte ent⸗
halt die fogenaunte „Ed da“ in ihrem eriten, älteren Theile. Diefe wurde von
Gämundar zuerft berauögegeben, fpäter von Rask, von den Brüdern Grimm
und son v. d. Hagen. Das angeljächjtiche Heldengebicht Beowulf bat, weil
es der engliichen Literatur näher Liegt als ber unferigen, durch beutjche Ge⸗
Jehrte noch wenig Beachtung erfahren. Cine Ueberfegung gab der im Angel⸗
fäcuiishen wohl bewanderte Ludwig Ettmüller. — In allen biefen älteren
Dichtungen befteht die dichteriſche Form, abgefehen von Rythmus und Versmaß
in der Alliteration, in dem Stabreime Während in den nordifchen
Landen diefe Form bis weit in’d Mittelalter hinein gültig blieb, irat fchon im
neunten Jahrhunderte in Deutfchland und zwar in bem oberen an ihre Stelle
7°
100 Sprachwiſſenſchaft.
Der in der modernen Welt allgemein uüͤbliche Reim, deſſen Einführung auf bie
gereimten lateiniſchen Kirchendichtungen zurädzuführen ift. Unterfuchungen über
die Alliteration beftgen wir von: Rast, Schmeller und Lachmann. —
Das wichtigfte ältefte Kunftepo® iſt Die Evangelienbarmonie von dem
Mönche Otfried zu Weißenburg. Herausgegeben wurde e8 öfters; wie oben
erwähnt, bildet es eine der Hauptftüde in Schil ters „Theſaurus.“ Diefe
Ausgabe wurde mit Anmerkungen von Scherz verfehen, welche für ihre Beit
(1726) höchft beachtenswerth find. Die befte Ausgabe rührt von dem, um daB
Althochdeutfche Hochverdienten Graff ber, welcher dem Gedichte den Namen
Krift gab. In diefem Gedichte hat fchon der Reim vollftändige Geltung ge»
wonnen. Bon befonderer Wichtigfeit ift außer diefer neuen Ericheinung das in
Otfrieds Gedichte beobachtete Verägefeg, über welches Lachmann in einem
vortrefflichen Auffage „uͤber althochdeutfche Betonung und Verskunft’' (Berliwer
Alademiehandlung 1832) gehandelt Bat.
Aus der fpäteren Beit befigen wir ſchon eine größere Anzahl Denkmäler
und diefe wachfen in der mittelhochdeutichen Periode zu einer Taum überfehbaren
Fülle an. Auf fle alle Rüdficht zu nehmen, kann nicht unfere Abſicht fein, ſelbſt
wenn es möglich wäre. - Es kommt hier vielmehr auf die hervorragenden: Gegen
ftände und auf die bedeutenden gelehrten Leiftungen an. Denn viele beiden Moe
mente ſtehen immer in Wechfelbesiehung.
Die Uebergangszeit von der althochdeutfchen zur mittelhochbeutfchen Periode
bedarf noch der eingehenden Beichäftigung. Beſonders ift e8 der Sübdoſten
Deutfchlands, in welchem fich eine lebendige Titerarifche Tihätigkeit entfaltet. Im
übrigen Deutfchland fchweigen faft in diefer Zeit die Dichter. Vor allen Gaben
fich zwei öſterreichiſche Gelehrte um die Erforfchung und Bekanntmachung jener
Literatur verdient gemacht: S. Diemer und Th. v. Karajan. — In der
mittelhochbeutfchen Beit nahm bie deutfche Dichtung einen folchen Aufſchwung
nach allen Seiten hin, daß nicht nur die frühere und jpätere Beit, fondern auch
unſere zweite dichteriſche Blütheperiode, Die Zeit Leſſings, Schillers und Gothet,
nicht an diefe Höhe Heranreicht. Mit Ausnahme des Dramas, deffen Ausbil⸗
Dung erft der modernen Zeit vorbehalten blieb, haben alle Dichtungsarten ges
blüht: das Volksepos, das Tunftmäßige und das echt volksthümliche, das
„Kunftepoß, die Lyrik, die Didaktik. —
Unjere höchfte Theilnahme nimmt das herrlichfte Erzeugniß der deutſchen
Dichtung in Anspruch, Das Ridelungenlied, unfer Rationalepos. Keines
hat aber auch in der That die Gelehrſamkeit bis in unfere Tage mehr angeipornt.
Der Ausgaben gibt es fehr viele. Von den Älteren, die fämmtlich jet veraltet
find und einen mehr bihliographifchen Werth haben, wurden fchon zwei erwähnt,
die von Bodmer und von Myller. Es ift vielfach befannt, daß der letztere
feine Sammlung altdeutfcher Gedichte, welche durch die Ausgabe des Ribelun«-
genliedes eröffnet wurde, Sriedrich dem Großen. widmete und für diefe Aufmerk⸗
famfeit einen Höchft charakterftiichen Brief erhielt, in welchem der große König
feine Abneigung gegen derartige Literaturerzeugniffe offen ausfpricht. Wir müfe
jen uns freuen, daß ber Geſchmack im Laufe der Zeit eine andere und beffere
Die deutihe Philologie, - 101
Wichtung genommen bat. Und bier iſt es nun vor allen von der Hagen, ber
ich die Belanntmachung und Nutzbarmachung des Gedichtes nach populärer und
gelehrter Seite hin angelegen fein ließ. Die beſte feiner Ausgaben ift die
dritte vom Jahre 1820. Hauptfächlich Liegt ihr die äußerlich ſchöne St. Galler
Bandſchrift zu runde, doch wurden auch eine Anzahl anderer Handfchriften
und Bruchftüde benugt. Auch diefe Ausgabe, deren Werth für die damalige
Zeit gewiß fehr groß war, ift jegt veraltet. Erwähnt zu werden verdient die ein⸗
gehende Recenfion in ber Jenaer allgemeinen Literaturzeitung,, welche Lachmann
über fie verfaßte; es ift dies eine ber beften und lehrreichſten Beurtheilungen, die
je gefchrieben wurden. Im folgenden Jahre 1821 erfchien eine neue Ausgabe
des Ribelungenliedes durch den für altdeutjche Kiteratur begeifterten Freiherrn
von Laßberg in dem vierten Bande bes „Riederfaals.” Sie war ein urs
fundlich getreuer Abdruck der in feinem Befige fich befindlichen Eoftbaren Hand⸗
ſchrift. Einzelne Lüden wurden aus der St. Galler Handſchrift ergänzt. Da
der Liederſaal nicht in den Buchhandel kam, fo war es danfenswerth, daß O. F.
S. Shönhuth verſchiedene Ausgaben nach derjelben Hanbſchrift beforgte.
Die erfte wahrhaft Eritifche Ausgabe des Gedichtes — überhaupt die erjte wahr⸗
Haft Fritifche Ausgabe eined mittelhochbeutfchen Werkes — rührte von Karl
Lachmann ber 1826. Er legte feiner Ausgabe eine dritte und zwar eine we⸗
niger fchöne und jüngere Handichrift, die Hohenems» Münchener 34 Grunde.
Rach, dem Schlußverfe in dDiefer Handfchrift wurde das Gedicht vom Herausgeber
„der Ribelunge Roth” genannt, Lachmann hatte fi), angeregt durch
Wolfs Unterfuchungen über die Entjtehung der homerijchen Gedichte, eine eigen⸗
thümliche Anficht von der Entſtehung unferes Epos gebildet, über deren Werth
oder Unwerih hier natürlich nicht zu fprechen ift: nach feiner Meinung find alte
Lieder die Grundlage der jegigen Geſtalt, zu welcher das Gedicht nach und nach
durch die beſondere Geſchmacksſsrichtung, durch Zuthaten, Ausſchmückungen, Ver⸗
Anderungen ber Schreiber gelangte. Demgemaͤß mußte die kuͤrzeſte Handſchrift,
gleichniel, ob Außerlich jchön und correct oder durch Altertbümlichkeit audgezeich«
net, diejenige fein, welche der alten Geſtalt am nächflen Fam. Und dieſe ift eben
die von Lachmann herausgegebene. Sie felbft aber beflgt noch lange nicht Die
urfprüngliche Geſtaltung, indem audy fie nach dem Bebürfniffe ber Lejewelt ver⸗
ändert wurde. Aufgabe der Kritit mußte es aljo fein, Die eigentlichen Beftande
theile herauszulöfen. Hierzu mußten beſtimmte kritiſche Brundfäge aufgeftellt
werden, nach welchen ſich das Verfahren zu richten harte. In Lachmanns zweis
ter Ausgabe vom Jahre 1841 wurden die Lieder äußerlich kenntlich gemacht, in⸗
dem ſie als der echte Theil mit gerader Schrift gedruckt wurden, das Unechte aber
urfiven Drud erhielt. Dieſe Lachmannifche Ausgabe blieb nun lange als die
wahrhaft vollendete in Anfehen und Gebrauch. Die Liedertheorie fand feſt, Nies
mand hegte Zweifel, man nannte wohl das Gedicht nod) dad Nibelungenlied,
allein die Ribelungennoth nach Lachmanns Kritif galt ald das vollfommene
Urbild. Vor einigen Jahren aber wurden gegen die Anficht Lachmannd durch
Adolf Holygmann Zweifel erhoben und der Beweis zu liefern gefucht, nicht Die
von Lachmann herausgegebene Handſchrift biete den echten Text, ſondern bie des
Die dentſche Phllslogie. 103
gänzungen, Wiederholungen, Verbeſſerungen nach Höflfchem Stile bedeutend
mehr, als in A fundgegeben. Und mad B begonnen, das vollendet C. In C
haben wir vollftändig das formuollendete, feine, aber auch abgeblaßte Gedicht,
wie es dem Geſchmack bes dreizehnten Jahrhunderts angemeflen war; bei aller
Anerkennung der Vorzüge hat C den geringften volfsthümlichen und alterthuͤm⸗
lichen Charakter. Gerade entgegengejegt urtHeilt nun Holgmann. Nicht A, ſon⸗
dern C bietet nach ihm den beften und urfprünglichften Text; B bleißt eben-
falls in der Mitte und gilt als Mittelfiufe. Die Schreiber haben nicht hinzuge⸗
fügt und verbeſſert (in gewiſſem Sinne), ſondern fie haben weggelaſſen aus Be-
quemlichfeit und anderen Urjachen, fie haben verichlechtert, weil mit der Zeit
der höflfche Geſchmack und die Höfifche Kunft fanken und die Gedichte auch für
die untere Klafje des Volkes zurecht gemacht werden mußten. Die alterthümliche
meifterhaft gefchriebene Handſchrift C wurde‘ auf ſolche Weiſe ſchon in B ver-
feglechtert und noch mehr in A, welches viele ſpaͤtere bänkeljängerifche Züge ent-
Halt. Wenn nun C die echte oder wenigftend dem Original zunächft ftehende
Gandſchrift ift und der Werth nicht nur, fondern auch die Alterihümlichkeit des
Textes von A in Frage geftellt wird, fo fällt folgerichtig auch Die ganze Lieder⸗
ibeorie zufanmen. Dies in Turzen Worten Gegenfland und Inhalt des Streites.
— Der erſte, welcher Holgmann beiftimmte, war Friedrich Zarncke. In einem
Bortrage, mit welchem er feine Profefiur in Leipzig antrat, Iegte er feine Ans
ſichten bar und gab einzelne Andeutungen, die gegen Lachmann's Annahme aller-
dings bedeutende Zweifel erregen mußten. Bon befonberem Gewichte war feine
Erklärung, daß er durch eigene felbfländige Unterſuchungen, die er bis jet noch
nicht der Deffentlichkeit übergeben, auf Daffelbe Ergebniß gelommen fei. Diefer
Bortrag erſchien bald darauf im Drude: „zur Nibelungenfrage.” Zarnde hatte
den Gegenfland mit großer Ruhe behandelt, während Holgmann gegen Lachmann
ters eine Leidenfchaft und Erbitterung kundgab, welche auf's höchfte befremden
mußte. Es konnte nicht fehlen, daß die Lachmann'ſche Anflcht Vertheidiger fand.
Mar Rieger verfuchte fie in einem Schriftgen „zur Kritik der Ribelunge“ zu
halten; doch erfchäpfte er den Gegenſtand nicht. Eingehender behandelte ihn
Karl Müllenhoff in der allgemeinen Monatsfchrift für Wiſſenſchaft und Lite-
ratur (auch in einem beionderen Abdrude erfepiemen ‚zur Geſchichte der Ribe-
unge Roth‘). Blickte in der fehr einfach und mäßig gehaltenen Schrift von
Rieger jchen hie und da gegen Holtzmann eine gewiſſe fttliche Entrüflung durch,
fo trat diefe In dem zweiten Theile des Buche von Müllenhoff mit folcher Leiden-
ihaftlichkeit und perjönlicher Erregung gegen beide Gegner hervor, daß bie
Sache ſelbſt um nicht® gefördert wurde. Denn über dem zweiten Theile wurde
nur zu leicht der erſte Ichrreiche und wiffenichaftlich fördernde vergeſſen. Dazwi⸗
ſchen erfchien wieder ein Kleines Schriftchen von Holgmann, ‚Kampf um ber
Ribelunge Hort gegen Lachmann's Rachtreter,” in welchem nicht allein das Lach-
mann eigenthümliche dictatorifche Weſen fcharf getabelt, fondern auch befonderd
feinen Anhängern, bie fich feinen Ausſpruͤchen und Forſchungen ergaben und
feiner Autorität fügten, bittere Vorwürfe gemacht wurden. Die legte und unbe
ſtritten die beſte Schrift, welche im Sinne Lachmanns die fragliche Sache ein⸗
Die dentiche Philologie. 105
der Handſchrift nach der Zeit und der Mundart bes Schreibers geftaltet waren,
verändert worden; es wurde ind Mittelhochdeutfche umgefchrieben, freilich geſchah
dies allzuſehr nach den idealen Regeln ber Grammatik. Dagegen benugte der
Serauögeber getreu ben ganzen in der Handfchrift gebotenen Stoff. Ettmüller
aber und Müllenhoff und Wilhelm von Plönnies fchieden in ihren Auge
gaben verichiedene Theile und Strophen aus, die fie für unecht hielten. Am
weiteften ging hierin Müllenhoff; bei ihm fchrumpft daß ziemlich umfangreiche
Gedicht auf einen fehr Eleinen Theil zufammen. Sehr empfehlendwerth iſt die
Ausgabe von Plönnies, man mag über das Eritifche Verfahren des Heraus⸗
geberd denken, wie man will. Cine gewandte Uebertragung in die heutige
Sprache ift dem Originalterte gegenüber gebrudt und eine eingehende Analyie
belehrt über das Weſen und die Bedeutung des Gedichtes. — Reben dem Volks⸗
epos, welche durch die feine höfljche Dichtungsweife verfchönt und veredelt wurde
und welches hauptiächlich in den höheren Kreifen der Geſellſchaft Aufnahme fand,
beftanden auch echt volfäthümliche, in fchlichten, Eunftlofem Gewande, an derben
Bügen reiche Volksepen. Mit der Zeit gewannen dieſe, als die Höfifche Kunft
in Berfall gerieth, die Oberhand. Diefe Gedichte finden fich zumeift in Quel⸗
lenſammlungen, wie in v. d. Hagens Heldenbuche, und in Zeitfchriften, weniger
dagegen in befonderen Ausgaben. Gerade für biefes fo wichtige und anziehende
Gebiet ift in kritiſcher Beziehung noch nicht fo viel gethan worden, als es noth⸗
wendig und wünfchenswerth wäre, Immen bleibt in Hinficht des Inhalte diefer
Gedichte, der wie in allen Volksepen „die Sage” if, Wilhelm Grimms
gebiegenes und [charffinniges Buch: „die deutiche Heldenfage” das Hauptwerk
für diefen Theil der Literaturgefchichte.
Die Kunſtepen ber mittelhocydeutichen Zeit haben außer dem Ribelungen«
liebe die bevorzugtefte Würdigung gefunden. Faſt ohne Ausnahme find fie in ein
zelnen Ausgaben zugänglich gemacht. Manche freilich mögen nur in Bruchflüdge
befannt geworben fein, allein dann verdienen fie auch eine vollſtaͤndige Bekannt⸗
machung nicht. Ja es wäre vielleicht nicht befonder8 nachtheilig geweien, wenn
einzelne folcher erzählender Dichterwerke ungedruckt geblieben oder doch wenig-
Rene nur in Auszügen mitgetheilt worden wären. Das hauptfächlichfte hierher
gehörende Denkmal ift der Parcival des Wolfram von Efchenbad.
Wahrhaft bewunderungswürdig ift bie Ausgabe dieſes Gedichtes von Lachmann.
Kein einziger mittelhochdeutſcher Dichter bietet folche Schwierigkeiten, feines
Eprache ift fo reich an mundartlichen Befonderheiten bei allee Strenge eines ge=
wiflen Stiles. Die meiften Jünger der deutſchen Philologie Haben auf diefem
Gebiete gearbeitet. Don den älteren außer Lachmann vor allen Benede, Wil
Helm Grimm, ferner Ettmüller, Pfeiffer, Haupt, Wilhelm Müller,
Sahın u. a. Vorzugsweiſe rühren befanntlich dieſe Gedichte von füdbeutichen
Dichtern ber, und wenn ed auch nicht an niederdeutfchen fehlt, fo bleiben fie Doch
hinſichtlich des Werthes weit zurüd. Auch iſt ihre Srache niemald ganz rein
niederdeutſch und darum erfchweren fie den Herausgebern die Arbeit bedeutend,
Gine vortreffliche Ausgabe ver Werfe eines niederbeutfchen Dichterd wurde vor
Kurzem veranftaltet durch Karl Bartfch: „Berthold von Holle’ 1858. Unter
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Tungen son Bodmer und Brelinget. Benugt werden —S——
a Das Gauptwerk, welches ſanmitliches
oder faſt ſammtliches Material vereinigt, find von der Hagens „Minttefin-
ger“: ein Werk unfäglichen Fleißes und tro feiner Fritifchen Mängel im Einzel
nen geradezu unentbehrlich. Es beftcht aus vier tüchtigen Quartbaͤnden, von
denen bie brei’erflen ee enthalten und der — —
Die dentſche Phulslogie. 107
Gegenftänbe dient. Verdienſtvoll find die durch bem Titerarifchen Verein zu
Gtuttgart (beforgt von Franz Pfeiffer und F. Fellner) veranftalteten Publicatio⸗
nen der Weingartner und der Heidelberger Lieberhandfchriftl. Da fle genan um
kundlich find, fo werden fle allen jpäteren Herausgebern einzelner Dichter die
Handſchrift erfeßen. — Der Hervorragenbfte unter allen Minmefängern ift, wie
bekannt, ‚Walther von der Vogelweide“. Und die hervorragendſte kritiſche
Arbeit iſt Lachmanns Ausgabe von Waltherd Gedichten, vielleicht überhaupt
die Hefte Ausgabe, welche diefer Kritiker geliefert Hat. Die lyriſchen Gedichte
Wolframs von Eſchenbach, deren es fehr wenige gibt, finden ſich in Lachmanns
großer Ausgabe faͤmmtlicher Werke Wolframs. Hartmanns von Aue Gedichte
wurden von Haupt herausgegeben: „die Lieder und Büchlein von Hartmann
von Aue, 1842. Ebenfalld von Haupt ift Die Ausgabe der Lieder Gottfrieds
von Rifen (Reifen), 1852. Sehr willkommen war die noch nicht Tange erfolgte
Beröffentliyung ber Gedichte der früheften Minnefänger in Eritifcher Weiſe,
weiche Lachmann immer zurüdgehalten hatte, burch Morig Haupt: „des Minne
fange Frühling.“ Außer diefen beiden Kritifern find von nur wenig Anderen
BRinnelieder herausgegeben worden: Ettmüller beforgte eine Ausgabe des
Johans Habloup und des Frauenlob und Ludwig Bechftein nahm in feinem
großen Werke über Otto von Botenlauben auch befien Lieder Pritifch berichtigt
auf. Da dieſes Werk (Prachtwerk, in nur 100 Exemplaren gedrudt) wenig zu⸗
gaͤnglich ift, fo würde fich eine befondere Ausgabe der Lieber jenes gefühlvollen
Sängers wohl verlohnen. — Die andere Sattung der Lyrik, die volksthümliche,
das Volkslied, entwidelt fih, ba in Altefter Zeit das Volksgedicht Immer
epiſch iſt, erft nach und nach. Hier nun iſt e8 vor allen der dem deutſchen Volke
fo theure Dichter Ludwig Uh land, der das Wefen und den Werth des Volksliedes
erfennend fich bedeutende Berdienfte erworben hat. Eine fehr reichhaltige und gute
Gammlung ift die unter dem Ramen „des Knaben Wunderhorn“ von Achim
son Arnim und Elemend Brentano Gerandgegebene. Da fle mit der Zeit
ſehr felten wurde, war e8 von dem in der muflfalifchen Welt wohl befannten-
Ludwig Erf verbienftlich, fte nochmals herauszugeben (als leyter Band der ſammt⸗
lichen Werke Arnims). Auch Büfching und v. d. Sagen veranftalteten eine
Sammlung deutfcher Volkslieder. |
Die Didaktik Hat im Mittelalter eine, wenn auch nicht hervorragende, doch
timmerhin reiche Pflege’ gefunden. Einzelne Erzengniffe gehören zu dem Schön-
fien, was die deutfche Dichtung hervorgebracht hat. Leber bie Entſtehungsge⸗
ſchichte der lehrhaften Poefte fomie über die Einflüffe der antiken und auswärs
tigen Quellen find noch Unterfuchungen anzuftellen. Die erhaltenen Denkmäler
haben zum größten Theile eine vortheilhafte Behandlung gefunden. Unbeſtritten
oben an fleht in Hinſicht des poetifchen Werthes das „der Winsbecke und die
Winebeckin“ genannte Gedicht, welches Lehren eines Vaters und einer Mutter
an Sohn und Tochter enthält. Vortrefflich Herausgegeben wurbe e8 von Haupt.
Bon befonderem Werte ift auch Die unter dem Ramen „Fridanks Beſchei⸗
denheit (d. 5. des Freidenkers Lehre oder Weisheit)” bekannte Spruͤchwoͤrter⸗
fammlung. Der Herausgeber derſelben, Wilhelm Grimm, bat unter dem
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wäre, jene beiden Anfhten zu vereinen, wurde eine, wenn auch
befannt gewordenen äl |
— — * dog. Mittelalters. 1846.
nachtsſpiele Hat A. Keller in großer Anzahl mit gediegenen Anmerkungen bee,
— ———— ließ — ——
weiches qurrfb in usfundlicher Weife-durd) Stephan in feinem; neuen, Stofflie
Die bentfge Philologie. 109
ferungen für die deutſche Geſchichte u. f. w. bekannt gemacht und fpäter noch ein⸗
mal von LudwigBechftein herausgegeben wurde, der den Beweis zu liefern fuchte
-und in der That überzeugende Beweiſgründe vorbringt,, Daß dieſes Spiel es iſt,
: welches den Landgrafen Briedrich von Thüringen fo erfchltterte, Daß er darüber in
Schwermuth und in Siechthum verfiel. Nach den Berichten der thüringifchen
Ghroniften geſchah dieſe verhängnißvolle Aufführung durch die Predigermönde
‚gu Eifenach den 24. April 1322. Die Sprache des Stückes iſt die alte thüringi⸗
ſche und vertient ganz befondere Beachtung. In der Ausgabe von Bechftein wird
- weniger auf die Herftellung und kritiſche Berichtigung des Terteß geachtet als auf
den zu liefernden Beweis, auf den Inhalt der alten Kirchengefänge (Refponforien
u. f. w.) und bauptfächlich auf die Uebertragung in die heutige Sprache, welche
das in mehrfacher Beziehung wichtige und anziehende Stück auch weiteren Kreiſen
zugänglich macht.
Mehrfach wurde ſchon auf die Art der Ausgaben, auf urfunblich beforgte
Abdruͤcke und auf Eritifch berichtigte Texte hingewieſen. Jetzt iſt e8 nöthig, eben
auf dieſe Art und Welfe der Befanntmachung näher einzugehen. In der erften
Zeit wurden naturgemäß die alten Denkmäler abgedruckt, wie fle fich in den Hand⸗
ſchriften vorfanden. Später aber Eonnte ſolch ein Verfahren nicht mehr genügen,
da erftens die Schreiber von einander felbft abwichen und zweitens jeder einzelne
GSchreiber eine einheitliche Rechtichreibung nicht vollftändig durchführt. Auch
erlaubten fi die Schreiber Aenderungen, Zufäge und Hinweglaſſungen im Gro⸗
Gen wie im Kleinen, überhaupt Willfürlichkeiten aller Art, fo dag ein bloßer
Abdruck durchaus fein wahres Bild von der urfprüunglichen Beichaffenheit des
GSprachdenkmals gewährt. Ift vollends die Sprache einer Zeit fo feft ausgeprägt,
"daß fie über der Mundart eines Schreibers fteht, Hat fle wie das Neuhochdeutſche
den Charakter einer Schriftfprache, fo werben bloße Abdrücke noch weniger ihrem
Zwecke entſprechen. Daß das Mittelhochdeutfche eine ſolche Sprache war, das
mußte natürlich von unferem großen Grammatiker zuerft erfannt werden. Er
“war ed auch, der fich gegen die wohlfeile Art, alte deutfche Terte mitzutheilen,
‚querft entfchieden erklärte. Seiner in der Widmung an Savigny ausgeſproche⸗
nen Mahnnng wurde ſchon gedacht. Der Mann, welcher auf die bewunderunge«
‚würdigfte Weiſe die alten Terte in ihrer urfprünglichen Geſtalt wieder Herftellte,
-Karl Lachmann, war von demfelben Gedanken befeelt, noch ehe er thatſaͤchlich
. den Beweis Tieferte, wie das Verfahren zu gefchehen habe. In der Necenflon
der für jene Zeit Eritifchen Ausgabe des Nibelungenliebes (1820) durch von der
Hagen fpricht er in folgendem Sate den Grundgedanken über die NRothwendig⸗
keit und dad Wefen einer berartigen Ausgabe aus: „eine Eritifche Ausgabe
fol dem 600 Jahre jüngeren Xefer nicht die Gewandtheit anmuthen, die ein
ungelehrter Schreiber bei‘ feinen Zeitgenoflen vorausfegen durfte.” Eingehender
ſpricht Jacob Grimm in der Vorrede zur zweiten Ausgabe der Grammatik über
dieſen Punkt. Es iſt jedenfalls am zweckmaͤßigſten, wenn die bezügliche Stelle
solftändig mitgetheilt wird: denn Elarer, kürzer und treffender kann e8 nicht ges
fagt werden. „Die Borderungen, welche man jetzo (fchon im Jahre 1822!) an
einen Herausgeber mittelbochdeutfcher Gedichte zu machen hat, find nach
1.40 FEprachwiſſenſchaft.
und nach geſteigert und verſtaͤndigt worden; ich glaube, daß bald darüber kein
Zweifel mehr obwalten wird. Sorgloſe Auflagen nach ſchlechten Handſchriften
und mit halber Sprachkenntniß fruchten nichts; diplomatiſch⸗aͤngſtliches Wieder⸗
geben guter Handfchriften reicht nicht aus und kaun nur in ſeltenen Fällen ge⸗
boten fein. Wir fordern alſo Eritifche Ausgaben, Feine willkürliche
Kritik, eine durch Grammatik, Cigenthümlichkeit des Dichters und Vergleichung
der Handſchriften geleitete. Es ift und weniger zu thun um bie Schreibweife eines
noch fo auögezeichneten Gopiften, als darum, allerwaͤrts bie echte Lesart des Ge⸗
dichteö zu haben und biöher kenut man wohl verſchiedene Handichriften mit ver⸗
züglich gutem Texte, Feine, bie einen tadelloſen lieferte.‘ — Alſo die Gramma-⸗
tie, Die Cigenthümlichkeit des Dichters und ‚die Vergleichung der Handſchriften
find die drei Hauptmomente für dieſe Kritik, wie ſie es in ber alten Philologie
von jeher waren. Steht blos eine einzige Handichrift zu Gebote, dann fällt das
legtere natürlich hinweg. In erfier Reihe ſteht immer die Grammatik, die ur
fprüngliche. Sprache ded Denkmals. Doch darf nicht außer Acht gelaffen werben,
daß jene Heußerungen nur mittelhochbeutjche Gedichte betzeffen, welche in einge
fchrift- und flilgemäßen Sprache abgefaßt find und von welchen wir faſt immer
eine genügende Anzahl Handichriften befigen. Iſt dies nicht der Fall, dann Hat
ber Herausgeber auf bie zartefte und fchonendfle Art zu verfahren, ja Dann recht⸗
fertigt ſich das getreue Wiedergeben der Quelle. „Auf Denkmäler ber althoch⸗
deutſchen Periode ift diefe Kritik fchon unanwendbar,“ fährt Grimm fort;
„theils verlangt das höhere Alter ber im Ganzen forgfältigeren Handichriften ge»
Bere Achtung und Unverlegbarkeit, theils Liefert der ſparſamere Fluß der Quellen
Die Ungebuntenheit ber profalfchen, der freie Reim ber gebundenen dem Kritiker
weit weniger Mittel in die Hand.’ Auch für bie jpätere Zeit, in weldjer Die
Eprache janf und die Mundarten Rärker hervortreten, werben bis jegt urkundliche
-Abdrüde bevorzugt, obwohl eine ſolche Behandlungsweiſe oft zu peinlich if.
Mit der Zeit, wenn erft die Grammatik für bie jpätere Sprachperiobe mehr. ey»
forjcht und feftgeftellt jein wird, können quch feftere Normen für die Herausgaße
der fpäteren Sprachdentmäler gefunden werben. Einen wichtigen Schritt ‚het
bierin Friedrich Zarnde in feiner fchon erwähnten Ausgabe bes Rarrenfchiffes
von Brant gethban. — Bor allen Dingen iſt es alfo die mittelbochdeutfche Periode,
deren Erzeugnifie einer philologifch-Fritifchen Methode unterworfen wurden. Na⸗
tuͤrlich war es, daß Jünger ber altklaſſiſchen Philologie Die Wege zeigten. Als
der erfte, der mit großer Sachkenntniß und feinem Takt Eritifche Ausgaben mit⸗
telhochdeutſcher Gedichte beforgte, iſt Benede zu nennen. Doch haben fie nach
nicht die vollendete Beftalt, zu welcher fie durch Zasy man gelangten. Sie
fonnten auch füglich noch nicht zur Vollkommenheit gebracht werden, ba Jacob
Grimms zweite Audgabe der Grammatik nicht erfchienen war, In Lachmanns
erſter Ausgabe der Ribelunge Roth haben wir aun ein Mufter bentfch- philologi⸗
ſcher Kritif und zwar Das erſte gültige Mufler vor und. Die Laute, die in ben
Handſchriften oft verwechfelt werben, erhalten nach dem Vorgange der Gramma⸗
tik ihre ganz beftimmte Bezeichnung; bie Duantität ‚ welche Durch bie Schreiber
entweder gar nicht oder wenigſtens höchſt unvollfommen ausgedrückt wurde, wird
Die deutiche Philologie. 111
bei den reinen Vocalen durch Accente und bei den getruͤbten (oder umgelauteten)
Jared verſchiedene Schreibart äußerlich Eenutlich gemacht. - Dabei aber wirb
immer die größte Ruͤckſicht beobachtet gegen bie überlieferte Mechtichreibung , wie
Ha in den beſten Hanbfchriften vorliegt, Hauptſächlich dient dev Reim zur Be⸗
Riwmung ter Laute und der Formen. Und außer ben Reime ift es die Metrik,
aut welcher in jprachlicher Beziehung fee Anhaltepunfte gewonnen werben.
Uimgefehrt muß ber Kritiker Die Reime und das Verömaß, bie in ber mittelhoch-
Deutfchen Zeit mit einer Feinheit, Megelrechtigkeit und Fünftlerifchen Schönheit
ausgebildet waren, an welche Die Leitungen neuerer Dichter nicht im entfernteften
Jeranreichen und bie deshalb außer der Berichtigung des Inhaltes und ter fprache
Uchen Reinigung eine wefentliche Beachtung verdienen, fowohl aus der Brammatif,
als auch aus ben fich darbietenden Geſetzen in Die ihnen gemäße Form zu bringen
fuchen. — Eine ſyſtematiſche Behandlung diefer Kritik hat bis jegt noch Rie-
wand verfucht. Die Aufgabe würde auch unermeßlich jchwierig fein. Am beften
gewähren die Vorreden, die Ledarten und die Anmerkungen in den befieren Aus⸗
gaben Belehrung über das einzufchlagende Verfahren. — Im Großen und Ganzen
IR die Kritik, mit welcher die antiken Texte behandelt zu werben pflegen, durch
Lachmann auf die Deutichen übertragen worden. Und dadurch erft find die beut-
ſchen Studien zu einer wahren Wiſſenſchaft, zu einer Philologie geworden. Daß
gesabe ein Mann von fo Elar durchdringendem, echt philologifchem Verſtande wie
Zach mann fich der neuen Richtung zuwandte, iſt als ein großes Glück zu be⸗
srachten, Im Ginzelnen mögen. feine Anfishten, feine Verbeilerungen, Aen⸗
derungen, überhaupt fein kritiſches Verfahren, einer nachprüfenden Kritik zu
Smeifeln und zu entgegengefegten Meinungen Anlaß geben, — feine Methobe
bleibt deshalb immer gültig und unantaflbar. Lachmann war ein jo entichieben
mögebilbeter Charakter, dag er entweber begeifterte Anhänger und Freunde ober
Begner , ja fogar Beinde haben mußte. Deutlich hat fich Dies in dem beſproche⸗
nen Ribelungenfampfe gezeigt. Wie die beutjche Philologie auf der altklaffifchen
ſich aufbaute, fo hat umgekehrt diefe aus den deutjchen Beftrebungen viel gelernt
ꝓder wenigftens lernen Tönnen, was freilich manche Jünger der alten Philologie
aicht Wort haben wollen — zu ihrem eingenen Schaden. _
Zu der Literaturgefchichte, zu der zufammenfaflenden und entwideln-
den Darflellung des geiftigen Lebens, wie es ſich in den Schriftbentmälern kund⸗
. gibt, werden wir durch die Lefebücher, durch die Werke, in welchen „Pro⸗
hen“ aus den verfchiedenen Perioden nach ber Zeitfolge mitgetheilt werden, über-
geleitet. Obenan ſteht unbeflritten das Lefebuch von Wilhelm Warernagel.
Wir müffen hier natürlich nur deſſen erſten Theil, welcher Stüde aus der alt-
dentſchen Literatur darbietet, im Auge Haben. Sämmtliches ift mit großem Bes
Dachte ausgewaͤhlt: alle Gattungen der Poeſte find vertreten, auch an Projaftüden
fehlt ea nicht. Der Herausgeber hat da, wo er gute Ausgaben vorfand, ſich an
Mefe gehalten; wo bieje fehlten oder wo ihre Bejchaffenheit unpollfommen war,
Hat er ſelbſt die Verbeiferungen der Texte beforgt. Zu der zweiten Audgabe Hat
Wackernagel ein Glofſar gegeben, deſſen Vorzüglichfeit ſchon erwähnt wurde.
Das Leſebuch ift auch in dieſer zweiten Auflage vollfländig vergriffen ; mit Unge⸗
ln Sm = — ” ur swuxhı> we ——
teten — — — |
——— deutſchen Kurchenliedes. Das audeutſche Drama hat mit Ber
stehung auf feine lebendige Verwirklichung ne Devrients Geſchlchte
————
Theaters von Prup. 4 Jan male . If Ti“
'ra "Bon ben älteren Riteratungefchichten —— Anker zu wer⸗
den, Recht brauchbar iſt Koch 8 „‚Gompenbium der beutfchen Literaturgeſchichte
von dem älteflen Zeiten bis auf Leffings Tod 1790 — 95”, Die deutfche Litera-
tur wurde, abgefehen von der etwas forcirt geiftreichen Weife, von Friedrich
Schlegel im feinen Vorlefungen über die alte und neue Literatur nach dem
Die deutſche Philolsgie. 113
damaligen Zuſtande des Wiſſens und der Erkenntniß (1812) in recht vortheilhafter
Weiſe beiprochen.
Höheren Anforderungen genügte zuerfi ber Grundriß zur Geſchichte der
deutichen Rational» Literatur von Auguſt Koberftein, wenn er auch nur zus
nächf zum Gebranuch auf gelehrien Schulen entworfen wer. Noch wichtiger bei»
nahe, als die Darftellung ſelbſt, find in dieſer Schrift die in den Anmerkungen
gegebenen Nachweiſe. Die erſte Ausgabe vom Jahre 1827 ift ein dünner Band
ven 299 Seiten und jegt liegt und dad Werk in vierter Auflage in vier Bänden
er, fo day man aus ihm, wie aus feinem anderen, die fortwährend neuen For»
füpungen und Entdeckungen erfehen kann. Aehnlich, Doch fich nicht allein auf
die Rational- Literatur beichränfend, ijt Die Geſchichte Der Deutfchen Riteratur von
Bilpelm Wadernagel. Dadurch, daß in Wadernageld Buche Der Etoff licht⸗
voller gruppirt iſt und die Sprachgefchichte beſonders eingehend beiprochen wird,
gewinnt es vor dem Koberfleinifchen Werke den Vorzug. Und dennoch bat auch
dieſes wieder Vorzüge vor jenem voraus, die natürlich hier nicht näher ausein⸗
andergejegt werden können. In beiden ift die Darftellung, der Stil etwas
ſchwerfaͤllig, was die Fülle des Stoffes, Die auf verhältmigmäßig engem Raume
unterzubringen war, wie auch die lehrhafte Abficht erklärlich machen. In beiden
Werten find die Anmerkungen , der gelchrte Apparat zum Belege und zum Rad
weife für die Darftellung von der allerhöchſten Genauigkeit. Warernageld
Buch) ift bis jet noch nicht vollendet. Hier läßt ſich am beften ein Buch an»
reiben, welches Den bibliographifchen Theil noch mehr als die beiden eben genann⸗
tem Werke berudfichtigt und von der Literaturgefchichte nur in wenigen, aber bes
ſtimmt ausgeprägten Zügen ein Bilb entwirft: „der Grundriß zur Geſchichte der
deutſchen Dichtung” von Karl Gödecke. Beſonders hat der Berfafler auf die
fpätere bis jegt noch weniger beachtete Zeit jein Hauptaugenmerk gerichtet und
entfaltet Hier eine bibliograpbiiche Kenntniß, die wirklich in Erftaunen fegt. Ein
fleißigeres Wert ift fett Jahren nicht geliefert worden. Weniger ausſchließlich
für gelehrie Kreiſe, ala für jämmtliche Gebildete unſeres Volkes beflimmt, find
die beiden [Werke über Die Deutiche (poctifche) RationalsLiteratur von Gervinus
und Vilmar. Cingehender über beide fehr wichtige Erzeugnifle kann bier nicht
geſprochen werben, boch dürfen einige Andeutungen nicht fehlen. Beide Werte
haben einen bedeutenden Erfolg gehabt. Die Literaturgefchichte von Gervinus
ft neuerdings erweitert und mannigfach umgeändert in vierter Auflage erfchienen
umd Bilmard Literaturgeichichte erlebte fech® Auflagen. Beide Schriften haben
einen tendenziöjen Charakter. Gervinus Buch ift im Grunde ein yolitifches
Bud, Vilmars Buch aber will das fein, was ed iſt, eine Darftellung unſeres
geiftigen Lebens im Schriftthume. Weide zeugen von großer Begabung, von
geiftreichen Gedanken ihrer Verfaſſer, doch ift bei Servinus das Element des
Berftanded überwiegend, bei Vilmar das des Gemüthes. Gervinus Eritifirt,
während Bilmar mehr bewundert. Für die ältere Zeit hat Gervinus fein Herz,
Darum verfteht und erfaßt er fie auch nicht; er Icgt allzujehr fremde Mapftäbe an
fie und darum wird er oft ungerecht. Nur dad Berfinndeögemäße, vor allem die
Satyre des Mittelalters, findet bei ihm gerechte Würdigung. Ie mehr jeine
I. 8
118 AÆvrachwiſſeuſchaft.
Betrachtung der neuen Zeit naht, deſto beſſer wird fle._ Umgekehrt bei Vilmar.
Der zweite Theil feines Werkes erreicht bei weitem nicht die Größe des erſten,
indem er die neue Zeit ebenfalls mit fremden Mapfläben bemißt, die fhr das
Mittelalter ganz ungemeflen waren. DBom-deutfch“pbilologifchen Standpunkte
aus verdient Bilmars Buch unbedingt den Borzug. Vilmar hat auch durch ans
dere Arbeiten bewiefen, daß er in die Schule Grimms gegangen iſt. Faſt immer
find feine Urtheile und Auffaflungen bie wahren, während fie bei Gervinus nur
mit großer Vorficht angenommen werden dürfen. Vilmars Literaturgeſchichte
it beſonders geeignet, zur Theilnahme an den Schägen ber: altdeutichen Dicht⸗
Zunft anzuregen. Des Berfaferd Darftellungsweife ift überaus geſchmackvoll,
fie belebt, erwärmt und begeiftert. ine wahre Perle des Buches ift die Erzähe
Iung des Ribelungenliedes — ein Kunftwerf über ein Kunflwwerl. — Es find außer
biefen Literaturgefchichten noch eine Menge Schriften über benfelben Gegenftand
erfchienen. Auch fur; gefaßte Brundriffe zum Schulgebraudge wurden vielfach
herausgegeben. Mecht brauchbar ift der von Karl Guſtav Helbig (4. Aufl,
1850) eingerichtet. =
Unter den Literaturgefhidhten mit Proben, weldye auch in grö⸗
erer Anzahl vorhanden find, verdient vor allen „die beutfche Dichtung im ‚Mit-
telalter“ von Karl Goͤdeck e genannt zu werden. Doch iſt das Werk. immer
mehr ein „Leſebuch“ als eine Literaturgefchichte. Einen befomberen Werth erhält
es dadurch, dag alle Quellen und Hülfsmittel angeführt werben und ein genaues
Verzeichniß der Handjchriften der einzelnen Dichtungen vorausgefchidt ‚wird.
Die eigenen Urtheile Gödeckes find meift fehr fein und: zeugen von Achten Ver⸗
ſtaͤndniſſe des Mittelalters. — Eine zweite fehr verbienftuolle, auf weitere Kreife
berechnete Literaturgefchichte mit Proben rührt von Heinrich Kurz der. Zahl⸗
reiche und gut ausgeführte Holzfchnitte zieren dieſes Buch, welches verdiente, von
recht Vielen gelefen und benußt zu werden. In der Wittheilung der Texte hätte
der Verfaſſer allerdings erwas firenger und Eritifcher verfahren follen.
Bibliograppifche Hülfsmittel finden wir in den Anmerkungen zu ben
größeren Literaturgeichichten, beionderd aber in den beiden Werken von Karl
Göſdecke. Selbſt Auctiondkataloge können öfters recht gute Dienſte Teiften,
Einer Erwähnung werth ift der „von der Hagens Bücherfchag betitelte
Auctiondfatalog, in welchem die meiften wichtigen Werke aus ber beutfchen Phi⸗
Iologie enthalten find und weldyer fich auch Durch eine gute Anordnung auszeichnet.
Das Hauptwerk, welched den gefammten Stoff bibliographifch nach wiſſenſchaft⸗
lichen Gefihtöpunften zufammenftellt und ſondert, ift „bie deutſche Philologie
im Grundriß, ein Leitfaden zu Vorlefungen ‘ von Heinrih Hoffmann (von
Ballerdleben): ein Werk, welches wegen feiner Genauigkeit und feiner vortreff⸗
lien Gruppirung das höchfte Lob verdient. Da nun feit dem Erfcheinen beffel-
ben (1836). über zwanzig Jahre dahin gegangen find und gerade in dieſer Zeit
jo unendlich viel in der deutfchen Philologie gearbeitet und geleiftet worden ifl,
jo wäre es fehr erwünjcht und Hoffmann würde fich gewiß Alle zu großem Dante
verpflichten, wenn er ſich zu der verdienfivollen, freilich auch ſehr mühfeligen
Arbeit entfchliegen wollte, eine neue vermehrte Ausgabe zu veranflalten.
)
‘
Die dentfche Philologie. 115
Somit haben wir nun das Gebiet der deutfchen Philologie durchwandert.
Nicht jede einzelne Erfcheinung konnte genau erörtert, nicht eine jede Arbeit
konnte felbft erwähnt werden. Wollte man auf fänmtliche Leiftungen näher
eingeben, — ganze Bände würden erforberfich fein. Dennoch wird aus unferer
Betrachtung erkannt worden fein, welch einen reichen und dankbaren Stoff die
junge Wiſſenſchaft in fich faßt und wie bedeutend ihre Aufgaben und Leiftungen
find. Sichere Ziele haben wir erreicht, aber Dennoch dürfen wir nicht müßig ſtehen
bleiben; nur bebürfen wir ihrer als ficherer Ausgangspunkte für neue Biele.
Der Wille ändert fih mit den Erfolgen. Im Anfange der zwanziger Jahre
mußten die Beftrebungen vielfach anders geftaltet fein, als fle e3 heute find und
Beute fein muͤſſen. Blicken wir deshalb auf die ſchon im Vorbeigehen manchmal
berührien Aufgaben der Gegenwart. Sie eröffnen zugleich einen Bild auf zus
Fünftige Leiflungen und Ergebniffe. In der Grammatik ift vor allen anderen
Dingen die Erforſchung der neuhochdeutfchen Schriftfprache und ihrer Gejchichte
nothwendig. Ferner bedarf die zwar im Ganzen feftftehende Lautlchre der alten
mitteldeutfchen Sprache noch weitere Begründung dur Denkmäler aus ver
fehiedenen Theilen des mitteldeutfchen Ländergebiete. In dem Studium der
Rundarten, das fich jegt einer fo eifrigen Pflege erfreut, wird noch Tange ge-
fammelt und geforfcht werden müffen, wenn das einmal begonnene Werk wahr-
Haft nugbringend werden fol. Auch diejenigen Theile der Grammatif,, die meift
als adgejchloffen betrachtet werben, find ber Nachprüfung und der Weiterfor-
[hung gar wohl bedürftig und werth. Die Vollendung dreier größerer Werke
verbeißt und die Zukunft, nämlich des deutichen Wörterbuch8 der Gebrüder
Grimm, des mittelhochdeutfchen Wörterbuch von Müller und Zarnde und des
altdeutfchen Ramenbudy8 von Förſtemann. Die Zeitfchrift Germania hat er-
freulichen Kortgang und gewinnt und fördert neue Kräfte. In dem Gebiete der
Literatur iſt man in letzterer Zeit glücklicher Weife firenger und wählerifcher ge-
worden. Die Quellen find zwar ſchon mit der Zeit verfiegt ober fließen wenig«
ſtens fparfamer und dennoch hat nicht jedes Denkmal, das noch ungedrudt ver
borgen liegt, Anfpruch auf völlige Bekanntmachung. In Eritifcher Beziehung
Hat das volksthümliche Volksepos des dreizehnten Jahrhunderts noch die Bear-
beitung nöthig; auch einzelne Lyriker — nicht aber alle — find einer forgfältigen
Beachtung werth. Bor allem aber da8 Drama. In der Literaturgefchichte gibt
es noch viele einzelne Theile, die lohnende Stoffe für befondere monographifche
Arbeiten darbieten.
Unfere Betrachtung hat die deutfchen Studien als firenge Wiſſenſchaft
im Auge gehabt. Wie fle nach den Zeiten der Uinterdrüdung in dem wieder auf
Iebenden beutfchen Bolksthume ihren Keim und ihren Boden fanden und in der
Folge durch die Strömung einer neuen Weltanfchauung getragen wurden, fo
haben fie nicht allein auf andere Wiffenfchaften, fondern auch auf den Volfägeift
wiederum eingewirft. Die gebildete Welt Eonnte, wenn fe auch der Wiſſenſchaft
fern blieb, doch dem Afthetifchen Inhalte der deutſchen Studien ihre Theilnahme
nicht verſagen. Wie nach diefer Richtung hin die Ueberſetzer mehrerer älteren
Gedichte — Simrod an ihrer Spitze — und einzelne Literaturbiftorifer an⸗
ge
116 Eprachwiſſenſchaft.
regend und belehrend eingewirkt haben, kann Hier. nur angedeutet werden. Und
die Schule mußte, wenn anders fie nicht auf unverantwortliche Weiſe zuruckblei⸗
ben. wollte, Nückſicht nehmen auf den Unterricht in altbeutfcher Sprache und
Literatur. Wie bemerkt, find viele Lefebächer und Literaturgefchichten für. Höbene:
Schulanftalten Heraudgegegeben worden. Noch aber it in manchen Ländern nicht
fo viel geichehen, als es nothwendig und wünfchenswertt; wäre. Aber es if
doch ſchon viel gefchehen, und wir hegen die freudige Hoffnung, daß der Einfluß
der deutichen Philologie auf die allgemeine Bildung des deutichen Volkes
mehr und mehr wachien wird,
geilt und Charakter in der Tonkunfl.
Bon
3. Schucht.
Die denkende Kunſtbetrachtung ald Wiſſenſchaft. Charakteriſtik der
antiken Tonkunſt. Welt. und Kirchenmuſik im Mittelalter. Katho⸗
liſche und proteſtantiſche Kirchenwerke. Dpern⸗ und Inſtrumental⸗
muſik bis zur klaſſiſchen Periode. Die Tondichtungen des neunzehn⸗
ten Jahrhunderte.
Die philofophiihe Kunftbetrachtung hat feit Baumgarten’8 Aeſthetik erſt in
neuefter Zeit ihre vollendete wiffenfchaftliche Geſtalt erhalten, um in ausführ-
lichen Syſtemen bargeflellt werden zu. können. Anflchten und Megeln über ge
wiffe Kunſtgattungen ftellten fchon Plato und Ariſtoteles auf, aber die Fonnte
nur in vereinzelten Ausfprüchen geichehen. Nachdem aber wieder ein zweitau⸗
fendjähriger Bildungsgang in Kunft und Wiſſenſchaft ftattgefunden hatte, ver
mochten bie. denkenden Geifter des vorigen Jahrhunderts zu den aufgeftellten
Maximen der alten Griechen über das Drama, fo wie über die Epik und Lyrik,
nene Regeln und Anftchten beizufügen, die mit der Productivität der Dichtkunſt
immer zahlreicher wurden und zulegt in foftematifcher Korm von Hegel und
Biſcher zur Wiſſenſchaft geordnet und in Iogifcher Darftellung vereinigt wur⸗
den. Hierdurch wurde aber audy die denfende Kunftbetrachtung in den anderen
Künften weientlich befördert, Winfelmann, Gerber, Schiller, Sean Paul u. v. a.
durchdrangen mit philofophifchem Forſchergeiſte das innerfte Weien der Kunſt⸗
werte aller Völker, um fodann eine Charakteriſtik ihres Geiſtes geben zu können,
Hierbei entdedten dieſe Männer, daß das Geiſtesleben aller Culturvoölker fich
am treueften in naturwahrer Geftalt durch die großen Meifterwerfe der Künfte
audgefprochen und veranfchaulicht habe, daß und aljo das Studium der Kunſt⸗
produete nebft dem Hochgenuß auch zugleich den Geiſtescharakter jener num laͤngſt
ins Grab geſunkenen Völker kennen lehre. Denn die Weltanſchauung fo wie
das geſammte Denken und Empfinden ber Hellenen erforſchen wir gründlicher
beim Studium ihrer großen Dichter, als beim Leſen der Geſchichtswerke, die uns
die Staatshandlungen berichten. Eben fo ſpeciell wird uns die Geiſtesſtim⸗
mung des chriſtlichen Glaubensalters durch die großen Heiligenbilder der alten
Maler vorgeführt, fo wie uns die alte katholiſche Kirchenmuſtk ganz in die Si⸗
tuation des damaligen Seelenlebens verjegt.
Alfo auch die Werke der Tonkunſt geben uns den Charakter des Geiſtes,
118 Muſik.
der die Völker beſeelt und belebt, aber dem Element der Muſik gemäß, in ber
Form des tönenden Empfindens. Nicht Begriffe und abftracte Gedanken, auch
nicht Schilderungen äußerer Zuftände und Begebenheiten vermag die Tonkunft
gut und ſchön darzuftellen, fondern das tief innerliche Empfindungsleben der
Seele ift ihr eigenthümliches und wahres Lebendelement. Hierin fteht fle
allen anderen Künften gegenüber groß da, benn felbft die Poeſte vermag nicht
audzufprechen, was die Tonfunft vollbeingt, ‚Denn Alles was den : Menfchen-
geift ergreift und zum Mitgerühl bewegt‘ im ſchmerz⸗ und Iuftreichen Erden-
leben, fein flehendes Bitten zum ewigen erbarmungsmilden Wefen, fein Gott
vertrauen und Danfgebet im weithin tönenden Hymnus bed Lobgefanges zum
Preife der Gerechtigkeit Gottes, fo wie auch jein irdiſches heißes und inbrün«
flige® Lieben zum inniggeliebten Srauenbild, all dieſes Schnen, Hoffen und Ver-
langen mit der triumphirenden Freude der errungenen Kiebesluft wird und in den
Werken der genialen Tondichter zur Darftellung gebracht. Wenn das Gefühls⸗
leben am höchften gefteigert iſt, fo daß Worte nicht mehr zu fagen vermögen, waß
uns die Bruft durchſtroͤmt, da wird es laut in Tönen und in wonnenollen Ton⸗
gebilden fpricht es fich aus, was Geiſt und Herz fo gewaltig befeelt und er⸗
haben begeiftert.
Viele Schriftfteller haben ſich theils in Biographien großer Tondichter, chells
in Geſchichtswerken und aͤſthetiſchen Abhandlungen bemüht, den Geiſtescharakter
der Tonwerke in Worten zu ſchildern, jo treu als es die Sprache orrmag; aber
eine gründliche Geſchichte des Ideals in der Tonfunft hat noch Fein Schriftfieller
veröffentlicht. Nachdem uns die. philofephifchen Aeſthetiker eine folche in. der
Poeſie gegeben haben, ift Died für Die Tonfunft auch leichter ausführbar gewor⸗
ben. Ich habe demzufolge zuerft eine Eleine Skizze in der Berliner Muſtkzeitung
von 1850 gegeben und eine etwas weiter audgeführte Abhandlung in den Ham⸗
burger literarifchen und kritiſchen Blättern. non 4857 veröffentlicgt; hier gebe
ih eine ziemlich ausführliche Darſtellung über den Geiſt und Charakter
der in den großen Meifterwerken der Tonkunſt aller Gulturvälker zum Ausdruck
gelangt ift. Hierbei werde ich auch zugleich die Eigenthümlichkeiten der nerfchie-
denen Stile, ald Ausbrudöweifen der Geiſtesſtimmung, fchilbern und manche
irrthuͤmliche Anſichten darüber widerlegen und berichtigen. je
Die wahre Gefchichte der Mufif, within auch die Gefchichte: ihres Geiftes,
beginnt erft im Mittelalter. Alles was wir von der Muſik der alten Kultur
völfer willen, beruht mehr auf Sagen, denn es find uns feine Tonwerke aus der
früheren Zeit überliefert und erhalten worden. Es werden und Wunder berichtet,
welche die alten Sänger wie Orpheus, Amphion, König David und viele Andere
burch ihre wunderbar jchönen Lieder hervorgebracht haben umd nach den über
kommenen Gefängen zu urtheilen, müflen ihre Vorträge auch fehr ergreifend ge⸗
weien jein. Da faft alle diefe Rieder ertemporirt und nur von der höchſten Ben
geiſterung ber Dichter erzeugt wurden, ſo erklärt fich hierdurch auch ihre große
Wirkung, welche die.gefchäftige Sage noch mehr vergrößerte und der Nachwelt
überlieferte, während die Lieber felbft, wenigſtens ihre Melodien, ganz in bie
Bergefienheit janfen. Das höchſtſtehende Eulturvolf im Altertum waren die
Geiſt und Charakter in der Tonkunft. 119
Griechen, die auch der Nuſtk fehr Teivenfchaftlich ergeben waren, und ihre Phi-
Jofophen und Pädagogen betrachteten fie als das wichtigfte Bildungsmittel für
‚den Menfchengeif. Daher wurde gefeglich der Mufifunterricht für die Jugend
‘geboten und in vielen Staaten wurden die Befege dem Volke vorgefungen, auf
daß fie fich Hierdurch dem Gedaͤchtniß tiefer einprägten. Auch die großen epifchen,
lyriſchen und dramatifchen @ebdichte ihrer Poeten wurden durch recitirenden Ge⸗
fang vorgetragen. Die Pythagoräer eröffneten ihre philofophifchen Studien mit
Geſang, auf daß der Geiſt harmoniſch und empfänglich für alles Wiffenswürbige
geftimmt werden follte und nach vollendeter Tagesarbeit mußte abermaliger Ge⸗
fang den Geift wieder zur Ruhe keiten. — Nach dieien gefchichtlichen Thatſachen
glaubten nun viele eifrige Briechenfreunde unferer Zeit, daß die Muflk im Helles
nenthum auf einer eben fo hoben Stufe geflanden Hätte, wie die Poeſte. Ja
einige Enthuflaften, wie Herr von Drieberg und Andere, gingen fo weit, zu be»
haupten, die Muſik der Griechen hätte in höherer Vollkommenheit geftanden als
bie unfrige. Um dies zu beweifen, bat Drieberg Bücher gejchrieben, er wurbe
aber hinreichend von vielen Gelehrten zurecht gewiefen und belehrt, daß er nicht
hinlängliche Kenntniffe befige, um in dieſer Brage mitfprechen zu können. Durch
: Blato’8 Schriften wiffen wir, daß die Hellenen das unvollfommenfte Rotenfyftem
‚hatten und dazu einer Maſſe Zeichen bedurften, die fich auf mehrere Taufende
beliefen und dad Gedaͤchtniß fehr beſchwerten; be&halb verlangt er, daß Die jungen
Leute nicht fo viele Jahre mit dieſen Gebächtnißfchwiertgkeiten aufgehalten wer-
‚ben follen. Bon dem Syſtem der Sarmonielehre, der Rhytmik und des Perio-
denbaus, wie wir es heute in der vortrefflichen Gompofttiondlehre von Prof.
Lobe beſthen, Hatten die Griechen gar Feine Ahnung. Ihre Melodien beglei-
teten fie ganz auf zufällige Art mit ihrer noch mangelhaften Lyra und anderen
. noch unvollkommeneren Inftrumenten. So mag dann und wann auch wohl eine
: exträgliche Harmonie entflanden fein, aber wohlgeordnete Harmoniefolgen konn⸗
. ten bierbet nicht vorfommen.
Hiernach muͤſſen wir fchließen, daß die Muſik der alten Völker noch auf der
allerniebrigften Bildungsſtufe geftanden hat, die wohl einige jchöne und gefühl-
: solle Melodien zu erzeugen vermochte, aber boch Teine großen Kunftwerfe her⸗
vorbringen konnte, wie es die Zondichter ber Reuzeit vermögen. Ich habe auch
. fon in mehreren Artikeln nachgewiefen, daß das ganze Beiftesleben der Hellenen
‚und der anderen alten Culturvölker gar nicht die fchöpferifche Macht beſaß, bie
Kunft der tief innerlichften Subjectivität zu erzeugen. Das ganze Leben der alten
Völker war noch fo objectiv, erfreute ſich an der äußerlichen Welt, an der ſchö⸗
nen Umgebung. Cie litten zwar auch unfagbar tiefe Schmerzen und flürzten
fich in bachantifche Belage, tobten ſich in wilden Lüften aus, aber fle veflectirten
hierbei fo wenig auf ihre Gefühlsfituntionen, fie nahmen fle nicht fo zum Object,
.um darüber zu denfen umd wieder Über die gedachten Gedanken zu empfinden,
: wie es die Völker der Neuzeit thun, welche über ihre Gefühle und Empfindungen
: gelehrte Werke fchreiben und fle in Romanen zur Darftellung bringen. Daher
haben auch die alten Dichtungen jeme plaftifchen Abgrenzungen und maßbalten-
: ben Formen, während die Dichter der Gegenwart: gern ins Maßlofe hineinftär-
EN} Ar RE A Fin
ten zu Spielen, —— ——— —
genannt wurde — einen Wohlklang, alſo eine Harmonie, bildeten“ Aber meh»
rere Jahrhumderte zogen dahin, "bevor
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TalEz — 1 Ze "88% 17 oe f ger . 4vr⸗
EHE TE NE ——
205 ſich in ſolchen hohlen Urea ame
wvſychologiſchen Eharafter verleiht. Die
" Möne betraßtelen aber die er, beſonders die große Terz, welche aus zwei
Get und Chbaralter in der Tonkunſt. 121
ganzen Tönen beftcht, ald eine Diffonanz. Wir müflen darüber erflaunen, denn
Die große Terz e bildet für und bie allerfchönfte Conſonanz, welche mit Hin⸗
C
qufügung ber Quinte g bie wohlflingendfle Harmonie verurfacht, Die in ung
e
c
das befeligende Gefühl der behaglichen Ruhe und harmoniſchen Zufriedenheit er⸗
zeugt. Doch ift ed Hiflorüich gewiß, daß die frommen Möndye die große Terz
aus den heiligen Kirchenhormonien ganz und gar ald eine unheilige Diffonanz
verbannten. Dan muß fich diefe Sonderbarfeit aus der religiöjen Geiftesftim-
mung, welche die damaligen frommen Mönche befeelte, erklären. Denn das
ganze Leben diefer Männer beftand ja nur in Beten, Kafteien, Baften und Buße
thun. Cie hatten fletd nur die Bilder des gefreuzigten Heilandes und der Maͤr⸗
tyrer vor Augen und erinnerten ſich immer an ihre unausfprechlichen Todedquas
Ien; fie hielten es für jünphaft, fich den Weltfreuden hinzugeben und es erſchien
ihnen als ein Gotteöfrevel, fich zu freuen und fröhlich zu fein, nachdem bie edel⸗
fen Menjchen und felbft der auderwählte Gottesſohn den fchmerzlichften Kreuzes⸗
tod erlitten hatten! In einer ſolchen düfteren religiöjen Seelenftimmung Flang
ihnen die große Terz zu weltlich heiter, es ſprach ſich in ihr zu viel Heiterkeit
am Dafein aus, während fie Die Erde doch nur als ein Janımerthal und als eine
irdiſche Brüfungsflätte betrachteten. Deshalb jollte die heiter und fröhlich Elin-
gende Terz nicht in ihren geheiligten Tempeln ertönen. — Wer diefe von mir
gegebene Erklärung bezweifeln möchte, den erinnere ich an joldye Situarionen feineß
Lebens, wo er Durch den Verluft eines heißgeliebten Weſens in eine jolcy trofts
Ioje Melancholie und Todesjehnjucht verjegt wurde, dag ihm das Leben dieſer
Grdenwelt ganz unerträglichen Schmerz veruriachte. In Dielen jchmerzenreichen
Trauerfunden ift und jede Sröhlichkeit, ja fogar jedes heitere Geſicht, ganz ver»
haßt; ertönt eine freudige Melodie an unjer Obr, vernehmen wir heitere und
Jebensluſtige Geſaͤnge, fo möchten wir aus lauter Kummer und Gram ſogleich
in die Erde finfen , während fanft Elagende Trauergefänge mit ſchmerzlich duͤſte⸗
zen Rollascorden unferen herbften Oram lindern und in fanfte Wehmuthöthränen
auflöjen. Wer jemals foldye Situationen erlebt hat, der wird auch gewiß meine
oben gegebene Erklärung als Wahrheit anerkennen.
Die weltliche Muftl vom 10. bis zum 15. Jahrhundert ertönte in Minne⸗
Hedern aus, worauf dann die Meifterfänger mit ihren ftädtifchen und ländlichen
Liedern folgten, welche oft eine fehr fchalkhafte Sröhlichkeit athmeten; jeboch
Tamen auch innige Gefühle der Liebe durch fie zum Ausdruck. Aber alle diefe
Heinen Melodien wurden nur in einer augenblidlichen Geiſteoſtimmung erzeugt
und durch Ueberlieferung weiter verbreitet, und da fie felten aufnotirt wurden, fo
fanten auch fie in Vergefienheit. Demzufolge find nur wenig Tonweifen jener Zeit
erhalten worden, bei denen e8 noch zweifelhaft bleibt, in welchem Jahrhundert
fie entflanden find. Alſo die ritterlichen Minnelieder und bürgerlichen Meifter
gefänge bilden die Periode der damaligen Weltmuſik, welche noch ſehr mangel»
haft war und fich fat nur durch Traditionen fortpflanzte. Von den frommen
122 on Mut,
Paters wurben aber diefe weltlichen Gefänge gehaßt, fle betrachteten fie nur als
unheilige, der Welt und Lebensluft fröhnende Lieder, . welche vernichtet werben
müßten. |
Im 14. und 15. Jahrhundert jedoch erhielt die Kirchenmuſik eine höhere
Vollendung durch die Auffindung und Annahme neuer Accorde. Denn bie
Eomponiften nahmen jet die Eleine Terz in ihre Harmonien auf und brachten
dadurch den Dreiflang zur Herrfchaft, wodurch die Mollaccorde vorzugsweiſe zur
Sarmoniflrung und zur Begleitung der Melodien erwählt wurden. Diefe Zeit
gibt eigentlich die erfte Hauptperiode der katholiſchen Kirchenmuſik ab. Die
Grundharmonien der Uccordfortfchreitungen waren folgende:
' cedchaada
aaage fe
efeecde
ADAEADA
Um einen Begriff von diefen Harmoniefolgen zu erlangen, iſt es nöthig,
daß die hier angegebenen Accorde langſam choralartig gefpielt werden müflen.
Diefe Accordfolgen wurden auch mit Vorhalten angefüllt, wodurch fich die Moll-
harmonien noch düfterer und fehmerzlicher trübten. Die Eleinen Tonwerfe diefer
Beit — Motetten und Palmen — find in einfachem würdevollem Choralſtil ges
ſchrieben; es find und nur eine Fleine Zahl davon erhalten. Bald aber verfudhe
ten ſich die Somponiften in den Eunftreichiten Ausfchmüdungen der Melodien;
die einfachen Chorallieder wurden mit vielem Berzterungen, Trillern und melis«
matifchen Figuren umfpielt; dabei geftalteten fich auch die Accordfolgen mannig⸗
faltiger, indem noch neue Accorde eingeführt und fehr oft in andere Tonarten
modulirt wurden. Man ließ die Stimmen nicht mehr alle gleichzeitig fingen,
fondern einige pauflren und dann auch wohl die vorgetragene Melodie nachahmen.
Hierdurch wurden oft die kunſtvollften Rachahmungen gebildet, die zuletzt eine
große Herrfchaft in der Kirchenmufſik erlangten. Aber faft alle Tonwerke biefer
Zeit haben noch zu wenig pinchologifchen Gehalt; e8 find Probucte, die mehr
durch den Falt denkenden Verſtand gebifbet find, nicht aber durch das gefühlvolle
Seelenleben einer begeifterungsvollen Phantafte. Nachdem aber diefe neu erfun⸗
denen Accorde und die Eunftreichen Melodienwendungen immer mehr beherrfcht
und dem Geifte zu eigen wurben; und nachdem das ganze Geifteöleben der Men-
fchen fich immer mehr verinnerlichte, bie zarteften Wandlungen des Gefühle
die Bruft durchbebten und den ganzen Organismus in Refonanz verfehten, -fo
wurden auch in Kolge dieſer tiefer erregten Seelenftimmungen die Tondichter mädh-
tig befähigt, in Tönen auszufingen, was das fühlende Menfchenherz zum Ieiden-
den Mitgefühl belebt und bewegt. Uber zuvor mußte auch ein höherer Bildungs-
zufland in fänmtlichen productiven Geiftern flattfinden ; dies gefchah Durch daß
Studium der Schriftfteller aus Hellas und Roms Culturperiode, welche damals
aufgefunden und überfeßt wurden. Denn das bloß muſikaliſche Studium, ohne
wiffenichaftliche und poetijche Beiftesbildnng, vermag feine Epoche machenben
Tondichter hervorzubringen. Alſo erft feitdem die Werke der antiken Dichter
und bie der großen Italiener Dante, Arioſt, Taffo, Petrarka u. v. a. gründlich
Geiſt und Charakter in der Tonkunſt. 123
ſtudirt und geiftig affimilirt wurden und die Tondichter fich Durch das Anfchauen
‚der großen Heiligenbilder von Angelo, Fiefolo, Corregio, Rubend und Raphael
:zur erhabenften Gotteöbegeifterung flimmten, feitdem gewannen auch die Tondich⸗
‚tungen eine tiefere Geiſtesbedeutung, indem ſich jet erſt das Geiſtesleben burch
fie objectivirte, wodurch fle zum Ausdruck einer geiftigen Seelenftimmung wurden.
:Diefer tiefere Bildungsgang des Geifted vom 14. bis zum 16. Jahrhundert er⸗
zeugte endlich einen Tondichter, der nach feinen großartigen erhabenen Tongebil-
ben als der Zürft der heiligen Tonkunft benannt wurde, es war der ehrwürbige
Balefrina. Er flellte fich die große Aufgabe, die Worte und Situationen
ber heiligen Gefänge treu und wahr in den Zondichtungen zur Darftellung zu
bringen, fo daß die Melodien und Harmonien zum tief ergreifenden Ausdruck der
Geiftesftimmung wırden. Alle muftkalifchen Formen betrachtete er nur als
Mittel zu diefem heiligen Zwei. Viele feiner Borgänger und Beitgenofien be=
mühten fi) nur, die Eunftreichften contrapunftifchen Wendungen mit den com⸗
plicirteften Melodien in ihren Werken anzubringen, um hierin ihre Virtuofltät
zar Bewunderung zu zeigen. Da aber diefe Kunftprobucte keinen heiligen Cha⸗
sakter zur Darftellung brachten und die Priefter nur weltliche Muſik zu hören
glaubten, fo famen fe auf den Gedanken, diefe unkirchliche Tonkunft von dem
Gultus auszufchließen. Aber der fromme Paleftrina bat die ehrwürdigen Väter
um eine Krift, innerhalb welcher er Motetten componiren wolle, die zum Dienfte
ber heiligen Religion würdig wären. Und als feine Tondichtungen zur Auffühs
sung famen, ba wurben bie hoben Prieſter auf's tieffte ergriffen von ber hei⸗
ligen Macht diefer wunderbaren Tonwirkungen und fie befchloffen darauf, die
Tonkunſt folle auch fernerhin zum Cultus verwendet und Paleftrina mit dem
Auftrag zur Compofltion mehrerer Kirchenwerke betraut werden.
Der Stil diefer Tonwerke tft einfach und feierlich erhaben; in würbevoll
ernfler Stimmung bewegen fich die Melodien und Sarmonien, ohne in Fünftliche
Berzierungen außzuarten. Die Grundtonarten find die 6 griechifchen Tonarten,
welche wir jetzt auch ald Kirchentonarten benennen. Auf c ift die jonifche Ton«
art gebildet, d die dorifche, e die phrygiſche, £ die lydiſche, g die myrolibifche
und auf a die Aolijche, welche durch F und b manche Berwandlungen erlitten.
Die Septimen-Accorde wurden faft gar nicht angewendet oder nur in Borhalten;
ber Dominantfeptimene Accord f durfte aber niemals eingeführt werden, denn
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er lang ihnen zu wollüftig, eher ließ man die Mollfeptimen-Uccorde wie ©
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ertönen, welche mit dem Heiligen Ernft und dem düfteren Schmerzgefühl ange-
mefjener harmonirten. Die Dreiflänge mit großer Terz wurden aljo jet von
den Theosetifern und Componiften zum Gebrauch für würdig erachtet.
Die weltliche Muſik Eonute in jener langen ‚Zeit nicht zu einer höheren
124 Nuss En NR a
wenn er is zum. Tode betrübt it? Nur
Seelengufländen zu erzeugen, Wenn — die er
fer betrachten, wie ich ſie angebeutet habe, jo wird uns auch der Geift und Cha-
rakter ihrer Kirchenmuſik erflärlih. Dieſe Periode der klaſſtſchen Kirchenmufit
umfaßt das 16. und 17. Jahrhundert; die größten Tondichter biejer Zeit find
außer Baleftrina: Allegri, Searlatti, Laſſo, Leo u. A. Italien war der Haupt⸗
fig, doch Haben audy Franfreich, die Niederlande und Deutjdland einige bedeu-
tenbe Kirchencomponijten hervorgebracht. In ten 3 Jahrhunderten, som 15.
bis zum 17., wurden vorzugsweiſe Pfalmen, Motetten, Requiems und Miferere'®
geſchaffen, in denen das ganze Gefühld- nnd Empfindungsleben ber ſchlagenden
Menſchenherzen pulſirt. Denn in den großartigen Werken des Paleftrina und
Allegri ging die mächtig erregte fubjective Geiſtesſtimmung in die Objeetivität über
und wurbe dadurch ald verkörperte Tongeftalten den fommenden Menjcyenges
fehlechtern erhalten, auf daß auch fie in die Seelenftimmuug der num durchlebten
und entichwundenen Glaubensanfchauung eingeführt werben können, um bier»
durch jenes tiefempfundene religiöfe Xeben nadızuempfinden, wie es die damaligen
Chriſtusgemeinden in befeelender Begeifterung durchlebten, Dieje ganze Reli⸗
‚gionsftimmung manifeftirte fich vorzugsweije in den Dur⸗ und Mollaccorden mit
den Fleinen Dreiflängen und den fchmerzausfprechenden Vorbaltögeftaltungen.
Da fchreitet ſtets ein Dreiflang wieder in den anderen, Dur nah Moll, und
Moll in Moll oder wieder nad) Dur, je nachdem es bie Geifteöftinmung bedingte
ei Unausſprechlich fummervolle Sehnfucht einer
Pa it ph und ihren Gemelnhen;: jeher wid:
Geiſt und Charakter in der Tonkunft. 127
Stils ift der genannte ehrwärbige Bach. Er beherrſchte diefe fchwierigfien For⸗
men. in. den complieirtefien Toncnmbinationen mit einer Birtuofität der Meiſter⸗
fihaft, wie feiner feiner Borgänger und fein Nachfolger es vermocht hat. Und
dadurch, dag er jo heimiſch war in dieſem wunderbaren Tonlabyrinth und bie
verwickeltſten Melodienfolgen und arabesfenartig verichlungenften Accordgeſtalten
mit ficherer Leitung zum hoben Ziele führte, dadurch wurden fie ihm zum ganz
saturgemäßen Ausbrudömittel feiner tief religiöjen Geiſtesſtimmung, die er in
ihnen auf wunderbare Weife austönen ließ. Cr felbft war ein ſehr frommglaͤu⸗
biger Proteftant, der von der gerechten Weltregierung der heiligen Gottheit über-
zeugt und aufs mächtigfte erfüllt, fich nur ihrem Heiligen Cultus widmete. Faſt
alle Werke, die er fchuf, feine Präludien, Zugen, Cantaten u. v. A., athmen bie
heilige Begeifterung und fromme Geſinnung bed gläubigen Chriften.. Kein Ton⸗
dichter hat Die fchwierigften und Eunftreichiten Fugen mit ihren contrapunftiichen
Berwandlungen fo zum pfichologifchen Außdrud einer begeifternden Seelenſtim⸗
mung zu gebrauchen vermocht, wie diefer Kirchencomponift aus tem Lande Thü⸗
ringen. Aber eines feiner größten Werke if die hohe Paſſion, welche bie
Leidenßgeichichte des gefreuzigten Gottmenfchen gleichfam zur dramatiſchen Dar⸗
ſtellung bringt. Wir hören bier im Chorus dad wildaufgeregte Gefchrei des
Volkes, das ihn zum Kreuzestod verurtheilt; dann. vernehmen wir bie Worte
der Liebe des. edlen Dulderd und die fchmerzlichen. Klagen feiner treuen Jünger ;
aber auch Die lezten Todesfeufzer ertönen zu und vom Kreuz herab. — Obgleich
dieſes Werk, vermöge feined Sujets, die Leiden und den furchtbaren Todes⸗
ſchmerz zum Hauptinhalt der Darftellung hat, und diefe martervollen Kreuzes⸗
fhmerzen bed erhabenen Dulders auch in mächtig. erjchütternden und ſchmerzlich
ergreifenden Tongebilden zum Ausbrud gebracht werben, fo verirrt ſich aber den⸗
noch dieſer Todesjchmerz niemald in ein maßlofes Aufichreien, niemals wird
eine wahnfinnige Verzweiflung in fchneidenden Diffonanzen geſchildert, fonbern
ſtets wird auch die größte Todesqual von. dem denkenden Geiſte beherrſcht und
dadurch das Afthetifche Geſetz der Schönheit als maßgebend. beachtet. Der fich
feiner Macht bewußte Geift har in feinen fchmerzlichften Reiben ſtets bie zuver⸗
fichtliche Ueberzeugung, daß er fie bald überwinden und endlich ganz beflegen
wird ttoß dem Hohn und Geſpött feiner böfen Beinde. Diefe Geiſtesſtimmung
iſt das Grundthema in allen Kirchenwerfen von Bach und feinen BZeitgenofiem,
welche einen gleichen Standpunft einnahmen oder ihn doc, wenigftend am naͤch⸗
fien flanden, wenn fle auch feine Geiſtesgröße nicht erreichten. Die Tonwerfe
diefer Männer bieten und noch eine merkwürdige Cigenthümlichfeit dar. Sie
Haben zwar fein fortwährendes Lamento und düſteres Dolorojo zum Hauptine
balt, aber auch niemals eine heitere Kröhlichkeit, wie die Producte ber neueren
Gomponiften 3. B. von Haydn, fondern das Seelenleben ift ernft, ſanftklagend
und zuweilen ſchwermüthig und büfter; aber dennoch kömmt Fein troftlofed Dex
zagen zum Ausdrud, denn faft alle Tonwerke, die in einer Molltonart begonnen
und ſich durch das ganze Zonftüd nur in Mollharmonien bewegt haben, führen
zum Schluß in den Zroft und Frieden ausfprechenden Dur Accord gleichiam an«
dentend, daß ber Eummerreichen, viel Duldenden Seele endlich Doch der heißerſehnte
!
128 Hunde 16 REED An Kr
mit Mimik aufführen
fünnte. I feinem Mefflas wird bie-Gehurt — —— wit
hören dann die Chöre der Engel im erhabenen Lobgeſang: Ehre ſei Gott in der
Höhe, Friede auf Erden und den Menfchen ein Wohlgefallen. Dann folgt die
Keidensperiode mit Tod und Grab; aber der Geift überwindet Tod und Grab
durch feine Auferfichung und jein Erheben in das heilige Geifterreidh; unendlich
erhabener Triumphgeſang bildet den Schluß dieſes großen Werkes. Auch in
biefer Tondichtung werden die fchmerzlichiten Leiden und Qualen des Kreuzes-
todes auggefungen, aber ſtets nur in maßvoller Selbſtbeherrſchung; der denfende
Geift herrſcht umd waltet auch durch Die unermeßlichſten Todesſchmerzen mit
*
Geil und Charakter in der Tonkunſt. 1%
verficht von der überwindenden Macht des Geiſtes, der durch fie geläutert zum
ewigen Frieden und zur heiligen Wahrheit eingeht. — In diefer maßvollen Bes
herrichung ber wahrhaft tief tragifchen Darftellung der gewaltigften Seclenfchmer-
zen kann man die Werke von ©. Bach und Händel nur mit den Elaffifchen Tra⸗
gödien des Aeſchylus, Sophofled und Euripides vergleichen.
Das Emporkommen der proteftantijchen Kirchenmuſik, nebft der weltlichen
Tonkunſt ald Oper, brachte auch die Durtonarten und hiermit unfer gegenwär«
tiged Tonſyſtem zur weit audgebreiteten Herrſchaft. Jetzt wurden auch die Sep«
timenaccorde, vorzugsweiſe der Dominantieptimenaccorb, ſehr oft eingeführt und
zu allen Modulationen, die nun viel mannigfaltiger wechjelten, verwendet. Waͤh⸗
rend die katholiſchen Kirchencomponiſten noch im 18. Jahrhundert faft alle ihre
Werke in den alten Kirchentonarten componirten, fchrieben bie Proteftanten fchon
im 17. Jahrhundert in unjerem heutigen Tonſyſtem mit feinen Dur» und Moll⸗
tonarten. Der Charakter der alten Kirchentonarten mit Ausnahme der jonifchen,
weldye mit unierem C-Dur identijch ift, Hat ſchon durch den Harmonienwechfel
ihrer vielen Mollaccorde eine fehmerzlich düflere Stimmung, welche durch bie
Einführung der Vorhalte noch mehr gefteigert wird. Unſer jetziges Tonſyſtem
biete Dagegen eine größere Mannigfaltigfeit, durdy den Wechjel der Durs und
Mollaccorde dar, welche nun ganz nad) der pihchologifchen Situation des Textes
verwendet und ald geiſtiges Ausdruckomittel eingeführt werden, wie es die Sees
lenſtimmung hervorruft. — Auch hierdurd, wird meine gegebene Schilderung
über den verjchiedenen Beiftescharakter der alten Kirchenmufif Elar und verftänds
lich einleuchtend werben für Diejenigen, die keine Studien in der Harmonielehre
und Gompojition gemacht haben, aber ſich Doch dieſe Accorde auf dem Pianoforte
vorjpielen Tonnen. Deshalb Habe ich die Eigenthümlichkeit beider Tonſyſteme
geichildert. —
In der kalholiſchen Kirche erfianden , wie ſchon gefagt, die größten Ton⸗
dichter im 16. und 17. Jahrhundert; Dieje Zeit war die eigentliche Blüthenpe⸗
riode der heiligen Zonfunft; im 18. Jahrhundert wurden zwar auch noch einige
klafſiſche Werke von hoher Vollendung erzeugt, aber es manifeftirten fich in ihnen
ſchon die heiteren Klänge des wach gewordenen Weltlebens. Der große ftteitende
Slaubendeifer in der Reformationgzeit hatte in feiner Gotteöbegeifterung auch die
gehaltvollften Kirchenwerfe geichaffen, denn in ihnen wurden ja alle Heiligen
Eeelenftimmungen der gläubigen Chriften außgefungen. Ihre tief innerliche
Religioſität, welche ſtets in der Iebhafteften Glaubensbegeifterung ſich in Gefän-
gen objectivirte, mußte auch ganz naturgemäß jolche tief ergreifende religiöſe Ton⸗
Dichtungen erzeugen, denn fie waren ja nur die wirklich gewordene Geiſtesſtim⸗
. mung ihred ©laubenseiferd. Als aber die Firchlichen Streitigfeiten und bie
heftigen Neligionsfriege verjchwunden waren und die Menfchheit fich wieder
durch die Genüſſe des Lebens erheiterte und eine allgemeine Welt» und Lebend»
luft die Gemüther zur Zufriedenheit flimmte, da wurde auch dieſe Seelenftimmung
in Tongebilden audgejungen, wodurch die weltliche Muſik zu einer höheren Vol⸗
lendung emporgebildet wurbe und bald ihre weitaußgebreitete Herrſchaft über
alle gefühlvollen Menjchenherzen erreichte. . Hierdurch wurde die Kirchenmuflf
IV. 9
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Thblsſſtuationen, weld 5 chriltlichen Cultus wirdia fint
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von da an immermehr verweltlicht und zuletzt gang im weltlichen Styl verwan⸗
delt. Händel ſelbſt Hatte ſich in feinen jüngeren Jahren der Operneompofition
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*
Nellener bei ihrer Lebensluſt —— — —
rung über den erlebten Schimpf zog er ſich in die Einſamkeit zurück und ſann
hier über neue Tondichtungen nach; feine religiöfe Geifteöftimmung dietirte ihm
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Begeifterte er Die gotteöfürchtigen Engländer zur höchften Berehtung.: u@le aur-
den efeetriftet durch diefe Gottesbegeiſterung in Tongebilden und wußten dieſe
Werke fo zu würbigen, tie felten ein Bublikum; ſie verſtanden dieſe Geiſtes-
größe, bie fie vor ſich hatten und verliehen dem geborenen Deutſchen die Natu—
ralifation; die funfverftändigen Briten waren ſtolz darauf, dieſen Tondichter
als ihren Landsmann feiern und beivundern zu können. — Hierdurch erflärt es
fi, weshalb ſchon in Händel's Kirchenwerken die weltlichen Tonweiſen erflin-
gen; ja ſelbſt in feinen beften Schöpfungen, wie im Mefjtas,; Fommen oft ganze
Perioden hindurch nur weltliche Melodien und opernhafte Goforaturen vor. So
tief umd mächtig einwirkend war ſchon dazumal die weltliche Geiſtesſtimmung
der Menjchheit, fie erzeugte die Weltmuſik in der Production der Opern und
Geift und Eharakter in der Tonkunft. 131
Sinfonien. Ich beſpteche jebi dieſe Runftgattung, zuror erlaube ich mir aber
eine Bemerkung.
Die vorigen, ſo wie die nochfofgenden Schilderungen des pſychologiſchen
Charakters der Tondichtungen kann ein Mann, der wenig Ruſik hört und viel⸗
leicht auch zu wenig mufifalifches Gefühl in fich ausgebildet hat, für etwas über⸗
trieben oder, wie man zu fagen pflegt, für ertravagant, für überfpannt halten.
Aber Dagegen muß ich fagen, Daß fa jede erregtere Geiſtesſtinmmung einen Gegen⸗
fag bildet gegen die alltägliche Gemüthsſtimmung, in der wir unfere profaifchen
Geſchaͤfte verrichten. Jedes bemegtere Gefühlsleben und jedes höhere Stadium
des leidenschaftlich gefteigerten Empfinden contraftirt mit unſerer gewöhnlichen
Seiftesfituation. Wollen wir aber ein Gedicht, ob in Worten oder in Tönen,
verſtehen und von deſſen Geiſtesleben befrelt werden, fo ift hierzu das erfte Haupt⸗
exforderniß., daß wir und durch Geiftesthaͤtigkeit in die geichilderte Stimmung
verfegen. So muß der Lefer auch meine Darftellung wärbigen ; die ausgeſpro⸗
chene Kunftanficht ift das Nefultat meiner vielfachen Studien in dem Geiſtesleben
der Völker, das ſich in den Werken der Kunft, Wiffenfchaft und Religion kund⸗
gegeben hat. Daß die Muſik Die Geiftesftimmungen, dad Gefühls⸗ und Empfin-
dungsleben zur Darftellung zu bringen vermag , wird doch Hoffentlich heutzutage
Niemand Ieugnen! Denn hören wir nur zwei verfchiedene Melodien von zwei
Jungen auf der Straße pfeifen, fo vernehmen wir fchon Durch tiefe fait ganz
unmufllaltfche Ansdrudswelfe den verfäyiedenen Charakter beider Melodien. —
Ich Habe ſchon oben angedeutet, wie frühzeitig die weltliche Muflf begann
und in was für Tongebilden fich die Geiftesftimmung objeetivirte. Nebft ben
Dinne- und Meifterliedern,, den Gefängen der Troubadours vom 11. bis zum
15. Jahrhundert, bildeten fich auch Singſpiele in Italien, Frankreich und
Deutfchland, weiche Welt⸗ und Liebesgefchichten zur Därftellung brachten. 1240
wurde Adam de la Hale zu Arras in Frankreich geboren, der, von dem heiteren
üppigen Leben feiner Baterftadt befeelt, mehrere Singfpiele ſchrieb, die noch mit
Iert und Muflt in Der franzöftichen Bibliothek aufbewahrt find. Das bedeu⸗
tendfte darunter iſt Robin und Marion, welches einige gut rhythmiſirte gefällige
Melodien in dem: kleinſten Tonumfang bringt. Es iſt eine Liebesgeſchichte, in
ber die Liebenden gluͤcklich vereinigt werden. Ein tief greifendes Seelenleben
amt: darin nicht zum Ausdruck. Es haben ſich im Verlauf der Jahrhunderte
hierin viele Verſuche wiederholt, da fie aber alle von Der ganzen Geiftlichkeit ver⸗
dammt und auch die gefelligen Spiele nur gar zu oft durch wilden Kriegslaͤrm
und blutiges Schlachtgemeßel auf lange Zeit wieder verdrängt wurden, fo erlang-
ten diefe Dichtungen vor der Reformationszeit Feine Hohe Ausbildung. Bei den
Beftipielen der Hoffelerlichfeiten wurden vorzugsweiſe meythologifche Sagen ger -
wählt und zu allegorifcher Bedeutung verarbeitet. Im 14. Jahrhundert wurden
fie mit Deflamatton,, Pantomime, Tanz und glänzenden: Dekorationen zur Auf
führung gebracht, wobei die Chor» und Einzelgefänge mit mehr oder weniger
Inftrumenten oft in Unifono und Octavenverdoppelnngen begleitet wurden, in
welche wohl zufällig auch einige Uecorde mit bimeintönten. Ich erwähne hier
noch einige der wichtigften Werke, die in Italien ergeugt wurden. Politanus
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Geiſt und Charakter in der Toukunſt. 135
Stoffe, wie Orpheus, Alcefte u. ſ. w., Died wäre.ein Verſtoß gegen bie guten
Sitten. — Aus diefem Factum erfieht jeder, daß die Beiftlichen für die Weiten
bildung dieſer Kunflgattung ſtets die größten Schranfen und Feſſeln Iegten.
Aber die freudige Lebensluft der Menjchenherzen war mächtiger als diefe Priefter-
berrichaft und beflegte endlich ihre Schranken und fung ſich aus in lieblichen
Werfen und wonnevollen Tongebilden, die ſich zur kunſtvollen Oper geftalteten.
Der Furfürftliche Kapellmeifter Schüg hatte feine Compoſitionsſtudien in
Venedig unter Sabrieli gemacht und ſowohl den Kirchenftil wie den neuen welt
lichen Stil gründlich erlernt. Gr widmete ſich mehr der Oper und führte da-
durch den stilo concertante in Deutjchland ein, der hier zwar nicht ganz neu
war, denn er hatte jeine Vorbilder an den deutfchen Minne= und Meiftergefängen
und an den Volksliedern jener Zeit, aber er fam hierdurch in größeren Werfen
zur berrichenden Geltung. Deshalb hat man Heinrich Schü ald den Vater der
deutichen Oper benannt. Rächſt Dresden war es vorzugsweife Gamburg, wo
Die Oper cultivirt und weiter ausgebildet wurde. 1637 componirte H. Scheer
für das Stadttheater ein Schäferfpiel, „Daphne. Es wurden auch Zeitfragen
in Singfpielen behandelt. Johann Rift fchrieb 1647 ein „Friede wünfchendes
Deutſchland“ als Singfpiel, 1649 ein „Friede bejeligte8 Deutfchland und
1653 das „Friede jauchzende Deutſchland.“ Diefe jehr beachtungswürdigen
Stüde gaben wieder die Beranlaffung, daß Die Dichter und Gomponiften ferner
bin mehr Stoffe aus ihrer Zeit zu Opernterten wählten. Bei dieſen Productie-
nen fam aber gar zu bald die Ausartung in prahlerifchem Lurus der Deforatio«
nen und Koflüme zum Vorſchein. Es grenzt and Fabelhafte, was uns die
Schriftfleller jener Zeit Darüber berichten und was in den Texten vorgefchrieben
ſteht. Eben jo ausartend waren die Berwandlungen der Maſchinen. Kunft«
ftüde wurden audgeführt, die oft mehr Lachen ald Staunen und Bewunderung
erregten; große Schiffe fliegen zum Himmel empor und verwandelten fich zu
Sternbildern. Auch das Ballet wurde in der Oper angewendet und führte
nicht felten. zu Mißbraͤuchen. Die echt dramatifche Darſtellung wurde durch alle
dieſe Spielereien ſehr beeinträchtigt; die Dichter mußten mehr auf ſolchen Unſinn
Denken ald an ein Drama mit wirflichen Charakteren.
Wie groß und allgemein verbreitet die Tanzluſt in jener Zeit wear, geht
Daraus hervor, daß die Dichter und Gomponiften nicht blos einzelne Balleticenen
in den Eingfpielen einführten, ſondern ſelbſtſtaͤndige Ballets componirten, bie
mehrere Acte enthielten. Auch hierbei wurden größtentheild antike Stoffe wie
„Paris und Helena” u. f. w. gewählt; die ganze Mythologie von Griechenland
und Rom wurde zu Theater- und Balletſtücken bearbeitet und alle möglichen
BZauberfünfte ald Augenweide vorgeführt. Die Muflf war zwar immer noch ſehr
gering in ihren Darftellungsmitteln, fo daß nur felten tief ergreifende Gemütho⸗
fimmungen durch fie zum Ausdrud famen; aber es geichahen in ihr doch die ber
deutendfien Fortſchritte zur Höheren Ausbildung durch die Einführung und freiere
Anwendung ber Septimenaccorde, Vorhalte und anderen biffonirenden Accord»
geftalten. Es erfolgte eine Befreiung von ben alten befchränfenden Regeln über
den Gebrauch diefer Tonverhältnifie, Dem Dilettanten in der Muflf, der nicht
Geiſt und Charakter in der Tonkunſt. 137
tüfterne Zweibeutigfeiten waren nicht felten die Würze des Publikums. Doch
traten auch .edlere Geifter mit fittlicyeren und bumaneren Gefinnungen gegen
dieſe Unwürbdigfeiten in Die Schranfen, um fie mit Rath und That ganz zu ver⸗
drängen. Am Schluffe des 17. und zu Anfang des 18. Jahrhunderts erhielt
bie deutſche Oper einen jehr genialen Tondichter an Reinhart Kaifer, der in jener
Zeit durch feine Werke fo Epoche machend wurde wie W. Mozart am Schlufle
des 18. Jahrhunderts und Meperbeer in unierer Zeit. Ein folcher hochbegabter
Geiſt mußte eine nothwendige Erfcheinung fein, wenn diefe Kunflgattung auf eine
höhere Stufe der Vollendung fommen follte. Denn die Werke feiner Vorgänger
waren eklektiſch und fchülerhaft zufammengeftellte Producte, in denen weder Geiſt
noch Gemüth zur Darftellung famen; nur einzelne Scenen enthielten zuweilen
einen brgeifternten Aufſchwung mit einem tiefer erregten Seelenleben. In dergröße
ten Zahl diefer Werke manifeftirt ſich weder Geiſt noch Charakter. Denn ed waren
ja nur die Studien und Verfuche des produeirenden Geiſtes, der fich eine höhere
. Kunftgattung erichaffen wollte. Rur die Werke des Hannöverſchen Kapellmeifters
Steffani haben eine größere Bedeutung und gaben Reinhart Kaifer nachahmungs⸗
würdige Mufter , die er bald durch höhere Vollendung übertraf. Steffani’8 Des
flamation und Inftrumentarion erhob fich weientlich zum echt pſychologiſchen Aus⸗
drud. Schon feine Quverturen waren kunſtvoller gearbeitet, als die der früheren
Componiften. Er beginnt fle mit einem Maeftojofage,, welcher in ein bewegteres
Allegro überleitet, in dem die erfte Geige dad Hauptthema zuerft vorträgt, was
dann von den anderen Infltumenten nachgeahmt und zulegt gemeinfchaftlich durch⸗
geführt wird; hierzu verwendete er nebfl dem Streichquartett noch Flöten, Oboi,
Fagott und hatte dabei die bemußte Abficht: die Gefühle und Empfindungen der
Seele durch die verjchiedenen Tonverhältniffe und Klangfärbungen ber Inſtru⸗
mente zue fchildernden Darflellung zu bringen. Auch führte er öfterer als fchre
Borgänger Arien, Duette, Terzette, Recitative und Chöre in feinen Opern ein.
Nach diefen: producisten Werken. nun trat R. Kaijer als wahrer Reformator und
zugleich als Vollender dieſer Kunſtgattung auf, denn Durch feine Werke wurde
gleichjam der Grundtypus für bie Oper und ihre Formen ‚in höherer Vollkom
menheit vargelegt und allgemein angenemmen, worauf dann eine viel beſchleu⸗
nigtere Weiterbildung erfolgen konnte. '
Kaifer hatte an den Bewohnern Hamburgs, die ihn zum Kapellmeifter ers
wählt Hatten, ein fehr intelligentes, gebildetes und funftempfängliches Publikum,
das feine Geiiteöproducte zu verftehen und ehrenvoll zu würdigen vermochte,
1694 befam er in Hamburg die reichlichfte Unterſtützung zur Bildung einer deut»
fehen Opernbühne. Er engagirte die beften Künftler und erzeugte in Turzer Zeit
über 100 Opern, bie er mit ihnen zur Aufführung brachte.
Eine ſolch große Productivität hat auch noch Fein Componiſt entfaltet. wie
Kaifer; jein Melodienreichthum fchien ganz unerfchöpflich zu fein, denn er pror
ducirte fortwährend die rührendſten, tief gefühlvollſten und ſchönſten Melodien.
Alle feine Opern enthalten die zaͤrtlichſten Gedanfen der hingebendſten Liebe, die
eiferfüchtigen Leidenfchaften des verlegten Herzens und bie jubelndſte Lebenslußt
138
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Geiſt und Charakter in der Toukunſt. 189
die der Situation des Terted am nächflen verwandt war und fie am naturwahr⸗
ſten zum Ausdruck brachte.
Außer dieſen ſchrieben auch noch Mattheſon, Lelemann and viele Andere zahle
zeiche Opern, die aber fat alle nur einen Kleinen Erfolg erlangten und fehr bald
wieder vergefien wurden, weil ihre Schöpfer nicht die geniale Broductivität Kai⸗
ſers befaßen. Faſt alle Opern der Italiener und Deutfchn im 17. und noch
zu Anfang ded 18. Jahrhunderts behandelten mehr feriöfe und fehr oft tragiſche
Sujets; eine heitere Komik fam hierbei felten zum Durchbruch. Ja fogar Kal⸗
ſer's komiſche Opern, wie die „Leipziger Mefle”, der, Hamburger Jahrmarkt“
und die „Hamburger Schlachtzeit'’, erlangten keinen dauernden Beifall, und bee
hohe Rath ber Stadt Hamburg fah ſich fogar veranlaßt, Diefe Stüde zu verbies
ten, weil in ihnen nur ehrliche fleißige Bürger verfpottet würden. Solche Er⸗
etgniffe verdrängten die Komik wenigſtens auf viele Jahre gänzlich von der Bühne.
Auch. war die Geifteöftimmung jener Zeit noch fehe gedrückt, um in behaglicher
Zuft an ſolchen Späßen Wohlgefallen finden zu können; denn unter den Pro⸗
teftanten erlangte der Pietismus eine große Ausbreitung und gewaltige Herrichaft
über die Gemüther, wodurch das Kunſtleben mit feiner Weltluft ſehr beſchraͤnkt
wurde, und in ten katholiſchen Rändern dominirte die Geiſtlichkeit mit ihrer
Welt: und Religionsanfchauug, welche noch forwahrend das Verdammungs-
wort über die ſinnlichen Operndarſtellungen ausſprach.
In Italien erſchien nach Monteyerde ein ſehr genialer Componiſt durch
Giacomo Caxiſſimi; er ſchrieb viele Oratorien und Cantaten, in denen er ge⸗
fällige Melodien mit gediegener Harmoniſinung und charakteriſtiſcher Inſtrumen⸗
tirung entfaltete. Gr brachte dadurch auch in den ſtrengen Kirchenſtil eine ba⸗
weglichere Melodik mis kleinen Goloraturen. Died veränderte aber den Stif
ala Paleſtrina jehr weientlich, und ice behaupte, daß es der erſte Schritt zur Ber»
weltlichung war, in welche Die Kirchenmuſik fpäter. verfiel. Die weltliche Muſik
erhielt Hierdurch eine Bereicherung ihrer Ausdruckomittel und: wurde Demzufolge
zu einer: höheren Vollkommenheit geführt ; ‚aber: der Grundcharakter der katholi⸗
chen Kirchenmuſik profanirte ih immer mehr, je haͤnfiger in ihr die melodiſchen
Esioraturen erflangen und je öfterer fle die ganze bewegficye- Rhythmik in ſich
aufnahm. — Als Operncomponift erlangte Alleffandro Scarlatti um jene Zr
einen weltberühmten Ruf, auch er bat über 100 Opern, 400 Cantaten und
viele andere Gompofttionen gefchrieben. Ex jchuf im Kirchenftil des firengen Con⸗
trapunkta hoch bewunderungswürdige Werke und componirte dabei die rei⸗
zendfien Melodien zı Arien und Rrcitatinen des weltlichen Geile. Auch für-bie
Inſtrumente ſchrieb er fehr effectvolle Soloftellen und inftrumsentirte dad Orcheſter
mitunter obligat. Er hinterließ Schüler wie Gasparini, die auf der begonnenen
Bahn weiter firebten. Der Goloraturgefang, aberbaupt die ganze Geſangsvir⸗
woſitaͤt, erreichte im 17. Jahrhundert einen Höhenpunkt, wie er noc nie Dages
weien war. Um fchöne und Eunftvolle Beiangsftinnmen zu erhalten, verlegten
die Menfchen in ihrer Thorheit die heilige Organifation der Schöpfung, fle be⸗
gingen den ſchaͤndlichſten Frevel, die größte Sünde und verſtuͤmmelten arme un⸗
gluͤckliche Knaben zu Kaſtraten! So weit verirrte ſich die Wahnverblendung
Aue RER a mn
| — *
———— , ———— fommen. Ein kleines Lied ſingt der
Menſch leicht heraus nach einer individuellen Geiſtesſtimmung, fein erregtes ge⸗
fuͤhlbolles Herz dietirt ihm ne * aber große Ecenen einer
Bee Sr — Anufttaftichen: Ausorud
realifiete. Hierdurch bildete fich die Oper zu einer höheren Kunſtſtufe empor.
Die erſte bedeutende franzöſiſche Oper brachte Robert Cambert 1660 auf die
Bühne, fie hieß la pastorale und erhielt großen Beifall; eine folgende Oper,
„Pomone*, wurde noch günftiger aufgenommen, fo daß fie acht Monate hinter
einander gegeben werden mußte. Die größte Epoche machte fodann Lulli mit
feinen Werfen, zu den ihm der Dichter Quinault die Texte ſchrieb. Er compo—
Geiſt und Charakter in der Tonkunſt. 141
nirte bis zu feinem Tode 1687 achtzehn Opern, die ein Jahrhundert hindurch
einen folchen Ruhm erlangten, daß fle auf allen Bühnen zur Aufführung kamen.
Seine Melodien waren ſchön und gefühlvoll, ſie bewegten fich ſelten in fchnellen
Coloraturen und anderen Kunftfertigfeiten der Sänger, fondern mehr in Dem
kirchlichen Tempo der Pſalmen und Motetten, wobei aber oft der Rachtheil ent⸗
ſtand, daß fie nicht genug beweglich und tief erregend waren, um die energifchen
Leidenschaften hinreichend fchildern zu koͤnnen. Auf dieſer begonnenen Bahn
bildete Rameau weiter und erzeugte viele Werke (bis zu feinem Tode 1764), Dir
man ald die eigenen auf franzöſiſchem Boden entfproffenen Opern betrachten muß.
Auch der Belgier Gretry fchrieb ganz national= franzöfliche Opern, Richard
Löwenherz ift fein Epoche machendftes Werk. .
In England wurde ſchon an: den Höfen der. Maria Stuart und Gifaberh
Die italienifche Mufif bevorzugt; italienische Sänger und Componiften erhielten
dort glänzende Stellungen und reichliche Belohnung. : Uber dennoch. kam dort
Dad Schaufpiel, emporgehoben durch den großen. Shafefpeare, früher zur höheren
Ausbildung ald Die Oper. Im 17. Jahrhundert vermehrten ſich die Italiener
noch mehr und hatten alle Runftinflitute in ihren Händen. Aber auch der Frans
zoje Cambert brachte 1673 in London feine Opern zur Aufführung und. erlangte
großen Beifall, den aber die Italiener zu ſchmaͤlern ſuchten und auch zulegt jeine
Werke von der Bühne verdrängten. Daſſelbe Schidjal witerfuhr, wie ſchon ges
fagt wurde, unferem Sändel. Die deutfche Oemuüthötiefe der. Empfindung fonnte
fich nicht neben den füß einichmeichelnden Melodien der Italiener Buononcisi
und Attilio auf der Bühne erhalten: Die italienischen Componiſten behielten
mit ihren Werken die SBriorität und die Herrichaft auf der Bühne zu Xondon.
Des engliiche Volksgeiſt bat einige der ‚größten Dichter der neuen Zeit erzeugt;
deren ‚geniale Beifteöthaten allen Nationen als Ideale dafichen für ewige Zeiten;
dieſer englische Volksheiſt erfand auch die größten bewunderungswürbigften Mas
ſchinen und hob alle Induftriezweige zu einer nie geahnten Höhe empor, aber
geniale Tondichter wurden dort bi jegt nur wenige erzeugt; Henry Burcell,
geboren 1658, und Th. Arne, geb. 1710, find in jener Zeit Die Epoche machend⸗
fien Gomponiften in England. Sie führten in ihren Opern fehr viel Volkslieder
ein, vorzugäweife die tief gefühluollen elegiichen Lieder dev Schotten; hierdurch
beförderten fie wejentlich das nationale Geiſtesleben und brachten es in den Kunſt⸗
werfen zur Darftellung. : Da ben Engländern ein, fehr tief empfindendes Ge⸗
mütböleben als weientlicher Eharakterzug zu eigen if, .jo haben fie audy in der
Liedeompofition Producte erzeugt, Die den roheften Menjchen mit wunderbarer
Kraft ergreifen und bewegen. Ich erinnere hier nur an bad in neuefter Zeit von
Flotow entlehnte Lied, die legte Roſe, und an die jchottifchen Lieder, welche
Beeihoven bearbeitet hat.
Das 18. Jahrhundert Hat unter allen europiiſchen Nationen die höchſtbe⸗
gabteſten Geiſter in Kunſt und Wiſſenſchaft erzeugt. Das freiergewordene Welt⸗
leben, das nicht mehr fo despotiſch von ſinſteren Schwärmern beeinflußt und bes
herrfcht wurde, jo wie die längeren Friedensperioden, in denen die zerflörende
Bwietracht der Glaubensfpaltungen nicht mehr alle Gemüther zu Haß und
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gen ſuchten. Sie Haben uns alle in ihren — hen ul veich
an inniger Gefühlstiefe und Zartheit der Empfindung bewunderungswüͤrdig blei⸗
ben für viele Jahrhunderte; auch ihre Harmontſirung und Inftrumentation
ift einfach dem pfbchologiichen Charakter gemäß erdacht. Es ertönen zuweilen
einige melodiſche Phraſen, die ung jetzt als veraltet Klingen, aber diefe Zahl ift
nicht groß. Wo fie gute Terte, oder wenigſtens einige vortreffliche, poetiſche
Scenen zu componiren hatten, die fie zu begeiftern vermochten, da haben fie auch
dramatifch-wahre Tonfituationen gefchaffen,. die die ausgeſprochenen Gefühle der
Dichtung malend fchildern; wo aber die Boeten nur alte millionenntal abgedro=
ſchene Nedendarten aus der Mythologie oder ans dem Alltagsleben brachten, da
fann man die Tondichter nicht verdammen, wenn ehe sau
ten im Widerfpruch fand. 00 po
In der Mitte des ee —
*
Geiſt and Charakter in der Zoukunſt. 143
virtwofenhafte Kongeflingel in feiner Geiſtloſigkeit fehr mißflel; er ſelbſt ſchrirb
erſt viele Opern in dieſem ſchimmernden Stil der Geſangsvirtuoſttät und erntete
auch großen Beifall, aber in ber Länge der Zeit entſtand in ihm der Gedanke,
baf dies nicht Die rechte Bahn der Kunſt fei, fondern ein Abweg der Geiſtesver⸗
irtung. Das gründliche Studium der großen Tragödiendichter Briechenlands
beſtaͤrkte ihn in feiner Anficht und er befchloß, die falfche Bahn zu werlaffen und
ben — zu geben; der zur echt dramatiſchen Wahrheit führt. — Jeder Leſer
wird ſchon ahnen, daß ich Hier den hochderehrungewindigen Chriſtoph Gluck be⸗
zeichne.
Wie aber alle falſchen Geiſtesrichtungen im der Culturentwidelung der
Bölker ſtets das Gutt veranlaſſen, daß nach ihrer Ueberwindung durch beſſere
Einſichten die Irrthuͤmer um fo klarer erkannt und von der reinen Wahrheit
gefonbert werden, fo brachte auch der Bildungsgang der Oper durch die falichen
Abwege ein gleiche® Mejultat hervor, denn als Gluck in der Vorrede feiner
Oper feine Srundfäge einer richtigen und wahren Kunſtanſicht ausfprach und
Diefe Theorie praktifch durch feine Werke als Wahrheit bewies, da wfannten fle
alle intelligenten Männer als ſolche an, zollten ihm reichlichen Beifall und be⸗
Hagten e8, daß noch fo viele Componiſten dem geiftlofen Virtuoſenthum als
kleinliche Sclaven huldigten. Aber doch hat auch biefes Virtuoſenthum ber
Sänger das größte Bildungsmittel für das muflkalifche Drama abgegeben.
Rachdem e8 erkannt worden war, daß die Virtnoſenkuͤnſte der Sänger nicht vor⸗
zug@weife die Hauptaufgabe für die Oper fei, kam man aber auch zu der richti⸗
geren Einficht und befieren Erfenntniß und bemerkte, daß biefer Reichthum ber
Birtuofltät in Coloraturen, Trillern und Baffagen aller Art uns zahlreiche
Mittel zum höheren bramatifchen Zweck darbieten. Der Eluge und intelligente
Eomponift muß alfo diefe vielfach gebotenen Mittel richtig verwenden und jede
eigenthämliche Goloratur nur da einführen, wo file von ber Seelenftimmung
gleichſam durch fich felbft heraußgeboren wird, wo aljo die vom Dichter geichils
derte Situation ganz unwillkürlich Diefe Tongebilde fingend erzeugt; nur dann
find fie das richtig wahre pſychologiſche Austrudsmittel. Dies hatte Gluck exe
kannt nach vielen Jahren der Irrung, und als ihm im. Breifenalter die Wahre
beit offenbar wurbe, da verließ. er den Irrweg und erſchien ald Reformator.
Schladebach Hat in feiner Geſchichte der Oper im 1. Bande diefes Werkes
Seite 416 Gluck's Kunftanficht ausführlich mit feinen eigenen Worten citistz
dort findet der Leſer Die Geiſteaklarheit des Wollend ausgeſprochen und er hat
in den fpäteren. Opern ausgeführt, was er fich zum Biel gefegt hatte, nämlich,
die Oper zu einem wahren Drama zu geftalten, in dem die Muſik die Gharaftese
und deren Gefühlsleben in Tönen mit logiſcher Raturwahrheit ſchildert. Man
denfe nur an den hochbedeutungsvollen Ausſpruch Glucks: „Niemals Habe
ih auf Die Erfindung eines neuen Gedankens Werth gelegt,
wenn er nicht von der Situation felbfi herbeigeführt und dem
Ausdrude angemeffen war.”
An dem Dichter Gafalbigt erhielt Gluck einen Poeten, der ihm ein wahr⸗
haft lyriſches Drama durch Die „Alceſte“ ſchuf, in dem die Sprache des Herzens
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daß es nicht noch höher werden fann. Die Nachfoiger und Nach⸗
Ma BE u a tar,
nichts weſentlich Neues. Es verhält ſich hier ganz jo, wie in der Poefle.
Banane
einen neu errungenen Ideengebalt. 4. Or rer ee ⸗
Auch in der Tonfunft erfchien wieder ein neues Ideal nach den Klafjikern;
Mozarı!d Don Iuan enthält hiervon ſchon die Ahnungen; es ift das romantüjche
Ideal, was bie Geifterzüge in dieſer Oper andeuten. Bevor ich zu Diefer Kunft-
geftalt übergehe, ſchreibe ich aber mod) einige Bemerkungen. über das klaſſiſche
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Die Inftrumentalmufif kam im Verlauf der Kunſtentwickelung gleichzeitig
ait:dep Weiterauäbifbung. der Oper zur höheren Vollendung, Die Duveriure
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‚jener Zeit wird. und auch der Inhale ihrer
tungen Mar und verftändlih. — 1.00 tr Tal #3 Tondich ·
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der frangöſiſchen Revolution die PM
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Darſſellung bringt, Hört, fo
Menf Dice munerbare Ruf — Es iſt nur wenigen Tondichtern
ähnliche Situationen zu ⸗ An Ha nen!
© Aber micht alle Tondichter Dee Set Beraten Die Xrrnaungslelden *
med blühen ja noch fo viele andere ſchoͤne Erdenblumen, die unſeren
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immelöfreuden —— der in der Reftaurationdgeit, wo bie
— gedruͤctten Menſchen wieder frei aufathmeten, dieſe erfteulichen
— roh 1 Dit ‚wundervoll; ärtfichen unb-Kiebreichen
Melodien. mit ihrer füblichen Gefühlägluth beyauberten alle Menfchen jung und
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gramvollſten Melancholiker von ihrem ſtummen Schmerz
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* — dnseerpieuchdeguen tan der deutſchen Nation ausgefingen
Marfehner's und Lindbaintner's Geifter-Opern erhielten auch günftige Erfolge,
befonders ber Hans Selling und Bampyr, er De ee
Dies war ber Zeitgeiſt/ der ſich im er ten
Muſik während der fogenannten Meflaurationggeit In den 36 Jahren
kommen noch andere Situationen des Lebens durch die Tonkunſt zum Ausdruck
Der allgemeine Weltſchmerz, der ſich fo vieler Geiſter bemaͤchtigte, und die
zahlteichen individuellen Herzensſchmerzen über getäuſchte Hoffnungen nnd
vergeblich erſtrebte Ziele, ſtlmmten viele Dichter und Componiſten immer trüber
und rüber zur Traurigkeit und Tovesjehnfucht: Vincenz Belkin jang im tiefge⸗
fühlsollen Klagen und elegiſchen Trauergeſängen diefe Seelenfieder in feinen
Opern aus; Romeo und Julie, Norma und die Unbefannte ſchildern uns die
iehmerzlichen Leiden der unglücklichen Liebe, die Über Das Grab hinausreicht und
Aus deren Funmervollen Thränen die Trauerblumen der Etinnerung emporblür
ben. Die Sentünentalität wird jege eine wahrhaft hertſchende Geiftesftimmung
in allen europhifcpen Ländern, Sanartine, Lenau, Chopin und R. Schumann
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"Hierdurch wurde er befahigt, alle dicſe Setlenguftände in fe
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J —— — jene Erſchelnung in der Opernmuſit ſeht
mächtig hervor, die ich ſchon oben beim 17. Jahrhundert beſprochen
Geiſt und Eharatterin der nt. 11
eeliienm: Bebanken zur Darftelläng bringen. Alle Wiederholungen ber Worte
Vewie Die Geſtaltung ber früheren Arbten, hören. u. f. w. find nach Wagneris
Anſicht der dramatiſchen Wahrheit hinderlich. Die früheren Opern wären m
issre Maradeſtuͤcke für Die Sänger. Im Drama der :Beifunft, wie ex eß durch
steht Wende Hegründen will, müffe der Birtuofenunftnn der Sänger verſchwinden,
Fe follen nur. die Worte: deutlich und klar deklamiren, wie e8-bie alten Wriechen
in aihren Tragödien thaten. In Diefem Zukunftodrama müßten alle anderen
Miarſte nur Dienerinnen werden und als Sonderkuͤnſte in ihrer Sonderſtellung
verſchwinden. Auch das biäherige recititende Schauſpiel werde als eine unnolle
lonmmene Kunſtgattung durch fein Znkunftödrama con der Bühne ‚verdrängt
werden. Er ſpricht noch andere Anſichten aus, Die und ax feine geſunden
Menſcherver ſtandezweiſeln laſſen; ich will die unfinnigen Phrafen,,: womit ar
wvinigen :termtniglogen Mufifeen: imponirt hat, hier micht citiven. Ein Kunſtlri⸗
sißen fagte neulich: wenn doc; Wagner nur lieber: componirte als ıfehriftflelierte,
dadrüch würde. Boch :wenigftend nicht fo wtel: Unſiun in Die Melt geſprochen.
"it Wagners Leitungen: als Xondichter: And loft Gowenwerungäwürbig genial,
wdies ſollten auch. feine Todfeinde anerkennen ; haͤne er weiter nichts als Dic Ouver⸗
diren zu Rienzi und zum Tannhaͤufer osmpenist, jo wurde 1er ſich ſchon unſeve
Vochachtaug erwerben haben. Aber die Prinzipien, die er für iſein Hukunfto⸗
braune dr ſeinen Schriften aufftellt, ſind unſtenig und das Brobuft einer falſchen
Weite und Kunſtauficht, die er ſich durch ein ungruͤndliches Leſen un? Misnen-
ſehen angeeignet hat. Seine geveizte Mhautafle hat bei hm. das ruhig klare
Ruüuchdenken und das Iogiſche Urtheilen ganz abſorbirt; Daher wird ed erklaͤrlich,
daß ·diefer Mann nebst fo vielen edlen und guten Ideen auch eben: fo viel unftes
ige and Lütheriche PBiyantnömen ıaußgefprochen hat.
.MWaguer will alle Coloraturen, ald Die dramatiſche Wahrheit Abrend, aß
em Operugefung verbannen, und doch laſſen fich hunderte von Brifpielen citiren,
wo Ae anjere wählen Tondichter ald bad einzig wahre dramatiſche Ausdrucko-
wittel verwendet Haben; eben fo verhält es fich mit den Wortwiederholungen.
Kenn einem Menſchen weiter nichts ‚geblieben iſt, alsb eine angethanue Schmach
ywırädyen und er bernuſcht ſich nun in dirſen Rachegefühlen bis zur höchſten lei⸗
Denſchaſtlichen Gluth, fo wird er gewiß nicht anderd. fingen, al: „die Mache if
fo. füß ‚ja die Nade, Rache, Nache ift fo ſüß. Würde a dieſes Gefuͤhl der
triumphirenden Mache einfach derdeflamiren ohne Wortwiederholung, wie 28
MWagnuer verlangt, jo würde es nur eine-ganz gleichgültige und gefühllofe Phrafe
werden; die Leidenfchaft kaͤme nicht zum wahren Ausdruck, wenn Daß Orchefler
ſich auch in den tobendſten Figuren erginge. Ich frage jeden vernünftig Denken»
De: wäßiwärde er von einem folchen Menſchen Halten, der die triumphiremben
Muchrgefünhle nur einmal einfarh deflammtorifch herfagt — Würde Died nicht bie
tügenhaftefte und fadeſte Bhraje werden! — Da diefer Menfc nur in diefen Ge⸗
fühlen lebt und athmet, da fich fein ganzes Sein und Denfen nur in dieſen
triumphirenden Rachegefühlen concentrirt und ex feine ganze Individualität opferm
will, um die furchtbar fchimpfliche Schmach rächen zu könnnen, fo muß er dieſe
Ssidenichaftliche Seelenſtimmung auch. nur in solchen ‚wilden: trummphicenden
und-biefe ankchtigerogte Grfenfimmnung)engießt- ⏑ nr in ein-einpigea on
— „Gnade!“ — ſie hat weiter feinen Gedanken und fein anderes Wort, als
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Geiſt und Eharafek-in ber Tonkunſt. 255
Bus fanfte P- dur ergießt. MoBert will ſich nicht erbitten Taffeh ;“ er muß Mare,
MatE und uwerbitttich bleiben, darum ſpricht er feinen Willen air in dem einzigen
anbarmhetzig Takten :Rein! Mein! Rein! aus. — Daher wurden dieſe Arie To
VEpoche muchend:und weliberuͤhent; died iſt doch der beſte Beweis fuͤr Die Wahrhelt
des Prinzips. Nach Wagners Poſtulat laßt ſich abet eine ſolche Situation nicht
eoinpoſniren. Man kannnicht leugnen, daß er In: feinen’ Letzten Opern die Tick
Mrinde Geſangsform oft mit bewinderungswuͤrdiger Meiſtetſchaft zur dra⸗
matifchen- Darſtellung verwendet hat; aber trotzem kommen zei viel -Tange und
langweilige Situationen vor, die die Künftler und Laien ermüben, während fie
der Sanger verwirnſhi weil er nicht finger Tann and darf, fordern: mır in den
hochſten wie: in den Nefſten Tönen ſprechen muß: und: war: ſo auftrengend, Daß
wei den Dertaft feimee Gtiamme befürchten mif. Deshalb will ſeine eigene Nichte,
Johanna Wagner, die Partien: ſeiner Oyern: nicht gern! uͤhernehmen. — Abe
das kümmert Wagner und jeine blinden Verehrer nicht, denn fle haben ja ſchon
feit vielen Jahren gepredigt, daß die gegenwärtige Befangsart und Geſangs⸗
methode eine ganz faljche fei; und für das Zufunftätrama müßten auch die Sän-
ger und Sängerinnen eine ganz andere Ansbildung erhalten, dann nur würden
fie zur recht wahren Darftellung diefer Werke befähigt werben.
Die Wahl feiner Sujets aus den alten Sagen kann ich nicht gut heißen
und um fo weniger, ba er doch für das Volk fchreiben will und dies fogar als
eine Hauptaufgabe betrachtet; feine Dramen follen auch dem Ungebildetften Ins
tereffe und Genug gewähren und er foll fie beim Aufführen verſtehen können,
was doch noch weniger möglich ift, da ja dieſes Sagengebiet fo manchem kennt⸗
nißreichen Banne fremd iſt! — Ich will hier Wagners Prinzipien und feine
Werke nicht fpecieller kritiſtren und nur als meine Befammtanflcht auöfprechen : daß
er eben fo viele Hochbewunderungswürbige Tongebilde in feinen Opern gefchaffen,
wie er in feinen Schriften Irrthuͤmer auögefprochen hat. Aber dennoch iſt unfere
Beit reich an großartigen Werfen, troß den vielen Verirrungen unklarer Köpfe,
die ja früher noch häufiger waren als in der Gegenwart. Das alte Lamento
über den Verfall der Tonkunft ift ganz lächerlich und muß gar nicht beachtet wer»
den. Linfere befjeren dramatifchen Opern bieten uns einen Reichthum von Ideen
und Gedanken in ben ebelften Schönheitöformen dar, wie ſie Feine frühere Kul⸗
turperiode fah. Das romantifche Ideal, als Nachfolgerin des Flafflichen, - hat
das ganz unermeßlich weite Gefühls- und Gedankenleben der Menichheit durch
die Tondichtungen zur Darftellung gebracht. Hierdurch wurde jene fchöne Pla⸗
ftif des klaſſiſchen Ideals, das durch Haydn's und Mozart's Werke feine höchfte
Vollendung erhielt, überfchritten, denn der Geift der Neuzeit fehnt fich in die
Unbegrenztheit und erftirbt nur in raftloß thaͤtigem Streben ; aber e8 wurde durch
dieſe Ueberſchreitung ein viel tieferer und weitumfaflenderer Ideengang und reiche
res Befühl&leben ausgeſprochen, welche in der früheren Periode nicht vorhanden
waren. So mußte diefe mächtigere Geifteöftrömung auch die alten abgegrenzten
Formen erweitern und zu neuen Geftalten umbilden,, auf daß auch biefer roman⸗
tifche Geifteßgehalt in neuen ihm angemeffenen Formen erfcheinen konnte. Denn
jede neue Geiſtesſtimmung bildet fich auch ihre eigenthümlichen Ausdrucksweiſen.
Daß aber dieſer ungefefjelte welsftürmnde Kampf colloſſaler Leidenſcheften ich
auch zuweilen in unaͤſthetijchem Toben auswüthet, laͤßt ſich nicht Jeuguen; denn
«8 ift ſehr ſchwer in den aufgeregteſten Seelenſtimmungen den Grenzpunkt zu be⸗
Rimmen, ber nicht überfchristen werben darf. Maß und Biel zu Halten, auch in
pen tobeuditen Sturmen ber Leidenſchaften, iſt eine der wichtigen Aufgaben für
jeden Tondichter. Nur wo ber denkende Geiſt die braufenden Wogen der Ge⸗
fühle und Empfindungen auch in ben wüthendſten Stärmen ber wilden Leiden⸗
ſchaften beherrſcht, wie ‚ver kundige Steuermann Das Ruder in-den flürmenden
Meereswellen, nur da wird ein meiſterhaftes Kunſtwerk erzeugt, welches Jahr⸗
tauſende hindurch klaſſiſchen Werth Für-alle kommenden Menſchen bat und auf
hie Bildung Ber Sitten veredelnd einwirkt. Denn dem hohen weltgefchichtlichen
Mldungsgang der Monſqiheit zu befordern und bie Sitten gu veredeln, If die
hoͤchſte und winbigfle Beſtimmung für die Tonkunſt.
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ſche Nationalbantin Wien und die & Hauptbanfin Berlin. Wir
beginnen mit der erftern, auf welche ‚gerade im jegiger Beit die Blicke der deut»
ſchen Gefchäftöwelt gerichtet ſi 7° 1m v9 m mn
Die dfterreihifche Nationalbank ward im Jahre 1816 von der
Staatsregierung gegründet, bie dabei zunächft den Zweit im Auge’hatte, das im
Werthe gefunfene Stantöpapiergelb: (die jogenannte Wiener Währung) aus dem
Verkehr zu ziehen und. den Geldumlauf durch Ausgabe gut fundirter und, jeder»
zeit einlößbarer Notem zu regeln. Die Bank jollte alfo einerjeits ald Requlator
des Geldmarftä wirken, andererſeits aber der Staatsverwaltung ald Werkzeug
zur Wiederberftellung des durch die Kriege zerrütteren öffentlichen Kreditweſens
bienen. Diefe doppelte a ee — —— Charal ·
der Bildung des Banffapitals. — er fl. in
Wiener Währung und 100 fl. in Silbermünge eingegahlt werben. Die Papier»
geldbeträge. zog die Negierung ein und ftellte dafür der Bank 2'f2-progentige
Staatöfchuldverfchreibungen aus. Diefe Obligationen bildeten das Stammka-
pital der Bank. Die Einlöfung bed Staatäpapiergeldes gegen Banfnoten dauerte
mit einer einzigen Unterbrechung (18171820) bis auf den heutigen Tag fort,
und cö wurden auf diefe Weife die alten Scheine bis auf einen geringen Reſt
aus dem Verfehr gezogen,. Die Bank erbielt dafür: theils 4 prozentige, tbeild
wirt ee, are am,
Miet wefetihärenieigpenii Din She 1856 belief ſich das eingezahlte Ka⸗
pital auf 103,126 Millionen Gulden. In demfelben Jahre vergrößerte die
Bank wiederum ihren Wirkungokreis durch Gründung einer befondern , mit 40
Millionen Gulden dotirten Abtheilung für den Gypothekarkredit, welcher bie
Ausgabe von Pfandbriefen bis zum Berrage von 200 Millionen Gulden peftat-
tet iſt. Die Baareinlöjung ber Noten, welche im November v. 3, begonnen hat
und am 3. Januar zur vollendeten Thatſache geworben iſt, wird allmälig die
— ee und dem Silber wiederherftellen. Die Haupt
gkeit der Valutenregulirung beſteht indeflen in der Erſehung der einen
ee ea Silber, weil eine Konkurrenz der uneinlöäbaren
alten Noten mit den einlösbaren nenen ganz unmöglich, eine Herbeiſchaffung der
zu jener Erfegung nöthigen Silberſummen durch die Nationalbank vorläufig
unausführbar iſt. Die Finanzverwaltuug hat daher / unterm 26. Dezember vers
ordnet, daß Die auf Konventionsmünge Tautenden; Noten zu 5,2 und I fl. durch
nene 1 fl. Noten öfterreichiicher Währung erjegt: werben, welche jo Lange ben
Dienft der Ausgleichung im Kleinverfehr vermitteln, bis Silber genug im Vers
kehr sein wird, um ditſes Bedürfniß zu befriedigen. Die neuereit fL-Noten
haben Zwangskurs und müffen vonder Banf jederzeit auf Verlangen gegen Sil⸗
nung vom 30. Auguft v. J., daß der dritte Theil des umlaufenden Betrages
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* ei definitive Auseinanderfegung zwifchen ihr und dent Staate
> der lehtere feine Schuld * den aan —*
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—* archie eingewirkt haben, die volle Gewähr eins geordneten
X ed ch fenicen Gries wma nur der Staat durch ganzliche
San: y ber Borberungen der Banf zu geben. Und auch dann erſcheint es
och im mer ſeht fraglich, 06 e8 der Vant in Zufunft möglich fein wird, ‚die Je‘
—————— iſt nicht allein der Staatsberwaltung durch manıhafte
; we. und anderweitige finanzielle Bermittelungen zu Huͤlfe —— fie
| v Zeit der politifchen Wirren, ae ee
öfterreichiihen Handels und Gewerbeſtande mehrfach außerordentliche Unter
igun, ng gemibrt. Auch, diefe Vorſchuſſe find bereits bis auf den Reſt von
d. Gulden zurüdbezahft worden. Die Natlonalbank Hat ferner der im
——— rt
Deutfchlands Bankweſen. 163
meine deutfche Bünzvertrag ind Leben getreten, und es ſteht nun eine weitere
Konſolidirung der Verhältmiffe zu erwarten.
Im Anweifungsgefchäft, das Hauptfächlich durch ten Verkehr ver
Sauptfladt mit den Kronländern hervorgerufen wird, betrug der Umfag des Jah⸗
res 1848 über 63 Millionen Gulden. Nach Unterbrechung des Verkehrs mit
Ungarn im Jahre 1849 ſank der Umſatz auf 34/4 Millionen Gulden herab,
flieg aber feittem ununterbrochen bis zum Jahre 1855, wo er die enorme Summe
von 154 Millionen Bulden erreichte. Dann folgte eine raſche Abnahme; im
Jahre 1856 ging er auf 109 Miltionen und 1857 fogar noch weiter zurüd.
Dagegen erfcheint ta8 Estomptegefchäft im fletiger und ſtarker Zus
nahme begriffen. Es ijt dies bekanntlich derjenige Gefchäftäzweig, von deſſen
Entwidelung und Ausbreitung Dad Gedeihen einer großen Kreditbank vorzugd«
weife abhängt, der die eigentliche Grundlage ihrer Eriftenz bildet. Die Dis
Tontothätigfeit der Rationalbant hat fi nun aber in den legten zehn Jahren
mindeftend verdreifacht. Sie war freilich zunächft durch die für dieſen Geid,Afts-
zweig verfügbar bleibende Summe bebingt, da bei Dem von der Rationaltant
feit dem Jahre 1833 feftgehaltenen niedrigen Zinsfuß von 4 Prozent die An⸗
forderungen an die Leiftungsfägigkeit der Bank die Möglichkeit ihrer Befriedi-
gung gewöhnlich überftiegen. Die disfontirten Summen erhielten ſich daher in
den erften fech® Jahren (1848— 1853) ziemlich gleichmäßig auf der Höhe von
200 bis 230 Millionen, und erhoben fich erft in Folge der beträchtlichen Vers
mehrung des den: Wechfelgefchäft gewidmeten Fonds und der Errichtung von
Filial⸗Eokompte⸗Anſtalten im Jahre 1854 auf 325, im Jahre 1855 auf 414
und 1856 auf 436 Millionen Gulden. Wenn man die diskontirten Central⸗
kaſſenanweiſungen in Abzug bringt, fo hatte Die Nationalbank einen Wecyjelvor-
rath von 24 Millionen Gulden zu Ende 1848, von 86° Millionen zu Ende
1855 und von 79 Millionen zu Ende des vergangenen Jahres. Demnach wa⸗
ren diefem Gejchäft zu Ende 1848 etwwas über 10 Prozent, Ende 1855 beinahe
23 Prozent und Ende 1856 etwa 22 Brozent des Betrages der umlaufenden
Banknoten gewidmet. Das Wechfelportefeuille der Bank ift fonach jeit dem
Jahre 1848 auf das Dreifache geftiegen.
Daß die Bank erſt 1855 im Drange der Umftände ſich entfchloffen hat, ihr
Aktienkapital zu vermehren und Filial-Estompte-Anftalten zu errichten, ſcheint
und ein fchlagender Beweis von der Kurzſichtigkeit und Schätlichfeit des Bank⸗
monopols zu fein. Denn gerade diefer Vergrößerung ihres Geſchaͤftokreiſes ver-
dankt die Nationalbank den großen Aufſchwung ihrer Diskontorhätigkeit und Die
fleigenden Lieberfchüffe des Geſchaͤftsertrags. Andererfeitd kann man nicht um«
bin, fich über die verhäftnigmäßig geringen Fortichritte zu wundern, welche daß
Eskompte⸗Geſchaͤft am Gentraljige der Bank gemacht hat. Bei dem Aufſchwung
der Wiener Verkehröthätigkeit ift es kaum glaublich, daß die Anſprüche an
das einzige Kreditinftitut nicht riefenhaft zunehmen follten. Wenn deffenunges
achtet die Leiſtungen des Wiener Disfonts beinahe ftationär bleiben, fo muß
offenbar ein Theil der Anfprüche zurücgewiefen, b. b. dem Publikum ein Theil
der Dienfte, die ed von dem privilegirten Inftitute erwartet, verweigert werben,
11*
Deutſchlanbe Bankwefen. 165
fotberlichen Summen zur Verſtaͤrkung des Gefervefonds und zur Vertheilung
unter die Wetionäre beſtimmt if, belief ſich im Sabre 1848 auf 5/3 Million,
erhob ſich bid zum Jahre 18506 auf 6"4 Million, verminberte ſich in den Jah⸗
zei 1832 und 1953 um beinahe 2 Millionen und erreichte in Folge des gewal⸗
tigen Auffchwungs, den bad Kreditgeſchaͤft mit den ermelterten Betriebsmitteln
nahm; im Jahre 1956 die Höhe von 7,571,490 Gulden. Die an die Aktionäre
gezahlten Disfbenden betragen in den Jahten 1848 Bis 1852 regelmäffig 10°/6
Present, in ben folgenden drei Jahren 11*/s bis 14/6 Prozent, im Sabre 1855
16% Prozent und endlich 1856 8%/5 Prozent.
Ser vorſtehende kurze Abriß ver Geſchichte und Wirkſamkeit ver öfterreichte
ſchen Natlonalbank zeigt wenigſtens fo viel, daß an die Srelle des früher fü
drlicketiden and verwickelten Berbältnifies ded Staates zur Bank in neuerer Zeit
eik mehr gevrdneter Zuſtand getreten ift. Seit ihrer Reugeftaltung , befonterd
aber trach Beendigung bed orientalifchen Kritges, bat die Bank fich mehr und
mehr efner regelmäßigen Geſchaͤftothätigkeir gewidmet. Gelänge es ihr, nad
Ablauf bed euer, am 26. Dezember v. I. geſchaffenen Proviſoriums mit ten
in Ausſicht geſtellten Mitteln die Echufd des Staates leidn und fchmefl zu reali⸗
ſtren, ſo wäre ſie fofort der prekaͤren Lage entriffen,, in der fle fich nun ſchon cin
Jahrzehnt hindurch befindet, Angenommen aber auch, biefer guͤnfrige Fall träre
witklich in nicht gar zu ferner Zuknnft ein, fo waͤre daburch die Heilumg dr&
Kexboſchadens, am weichen das öftertrichtfche Ktebitweſen leidet, wicht im Ge⸗
ringften erleichtert. Was Oeſterreich zu feiner ſmanziellen Geſundung bedarf,
ifl, um es kurz zu fagen, die Dezentralifation des Bankwefens. Das
Monopol der Nationalbank iſt ed gemeien, welches die Möglichkeit und den Wet;
bot, das öſterreichifche Geldweſen dadurch zu ruiniren, daß Staatsſchulden in
ver verbluͤmten Form von Bankaoten kontrahitt, die Adern des Verkehrs matt
meintööllbem Papiergeld überfüllt und des Edelmeialls entleert wurden. Bad
Monvpol jener Bank iſt es jetzt, welches die Wiederaufnahme der Vaarzahlumgen
und die Wiederherſtellung der Valntenverhaͤlmiſſe zu vinem eben ſo gewagten,
als koſtſpirligen Unternehmen macht. Die nenetn öfterreichiſchen Bank⸗ umb
Finanzreformen haben in anderer Hinficht ſehr viel, in diefer gar nichts gethan;
ſte haben ſogar ein zwrites Monopof, das der Kreditanſtalt, geſchafftn, welches
zwar dem der Ralonalbauk in mancher Beziehung Konkurrenz machen mag, ti
Weſentlichen ſich jeboch auf einem ganz arberen Gebiete berhätigt. Eine Entmv⸗
nopolfttung und Dezentraliſirung des Bankweſens fr Oeſterreich iſt der drin⸗
gend nothwendige Schritt, der zur Vervolffländtigung der wirthſcherftlichen Re⸗
formen in jenem Stante tiber kutz oder lang getdan werden muß.
Die preußiſche Bank Hat fich aus beſcheidenen Anfängen zu einer große
Artigen, mit weitreichenden Privilegien und Bitten ausgeftatteten Eentralanſtalſt
entwickelt. Bon Friedrich II. im Jahre 1763 gegründet, diente ſte in der erſten
Zeit ihres Beſtehend als reine Swatsanſtalt den Aufgaben der flaatlichen Wirth-
ſchafts⸗ und Finanzpolitik, bie, wie man damals annahm, ihren eigentlichen Be⸗
ruf Hilteten. Sie erſchien ald ein Zweig der Efrarövermaltung und theilte das
der deren Schickſal, als nach der Kataſtrophe von Jena ber Feind verheetend ind
1 gegen 8 Mill. im November 1955,
die Wechſelbeſtaͤnde 607° mn in Ban —
der Notenumlauf 68 00 Eee
28. Januar Hatte offenbar feinen anderen Zweck, als bie
4
DEE nr ee des Vertrags vom 28. Januar, namentlich
die manlofe Ausdehnung des Notenprivilegs und die weitere Erhöhung des
N en
drichs des Großen zu einer ſchrankenlos fchaltenden und weithin herrichenden
Nationalbank ich ausgebildet hat, Die von der Staatöverwaltung ihre Tendenz
und von dem betbeiligten Publikum ihre Kapitalfraft empfängt, Das vielge—
priejene Schup und Monopolfsften iſt alſo auch int Preußen, To weit hier vie
merfansilen Verhaͤltniſſe es zuliehen, auf dem Gebiete Des Bankweſens zur Herr
fihaft gelangt. Es tritt und bier mit der engelreinen Diene eines Wohlthäters
entgegen ;-indeffen werden wir, eingebent bes Biblijchen Gebois, üm feinen Früch⸗
tem zu erkennen ſuchen, weſſ Geiſtes Kind es iſt. Sehen wir daher zu, wie die
Bank ihre mächtige und einflußreiche Stellung benuht hat, um den Geſdumlauf
wa regelt, Handel — Weir) G lsrfnitigen arte
oh BEER iR und bit Wechfelfnrfe de’ Barifland‘ weit äßee
Deutfepunts Dauueſen. 169
fihritten: ‚Dennoch behielt bie Bil den ulebtigen Diekonto von d Prozent bet,
während derſelbe In Paris und Zudem V Pretzent beerug and in Hamburg vom
übergfhend ſogar auf 6% Prozent fig. Erſt am 7. Rovencber ırhößte bie
Daut ihren Sup, abes mm um Ya Prozent. Den fſorthauernden Silberabfluch
wud ber durch die Frirdensausſichten gewediien Gyekulatiensluft zu begegnen,
ſchritt fie endlich au 7. Januar 1856 zu einer weiteren Didtentserhöhung, die -
jedoch wirverem tur !/a Peogent betrug umb daher olme Erfolg blieb. Wahrend
tiefer Zeit. behaupteten die Wechſelkurſe ihren hohen Stand, ein untrüglichte
Zeichen, daß die Hanbelöhilan; fi ungünſtig ſtellte. Die Bank, follte man
meinen, hätte ſich dadurch nesanfapt fehen nkffen, ihre Gorfkdtemahregein Bf
Zeiten gu treffen und ben Unternehmungsgeift in Schranken zu halten. Sie zog
08 indeſſen ver, die gefährliche Richtung zu begünfiigen, in weicher der allgeimete
GStrom fich bewegte. Durch allzuleichte Darlehnögewährung ſpornte fie den Eifer
des Syehulesion, Matt ihn abzielählen,, und legte fewmit die erſten Keime zu dar
naigfelgenden Krifls, Der willkuͤrlich niedrig gehaltene Ziasfuß erzeugte eine
Ueppigheit des Geldnarktes, bie in ber Agivtage und in den flunloſeſten Aus-
ſchweifungen Saͤttigung fuchte. Dies war indeſſen nur das Vorſpiel der ver⸗
heereadru Hriſio, weiche bie preußiſche Vant, wenn an unbewußt und unabfidyte
sh; herbeifuͤhren half.
- Mit dem Frieden kehrte dab Bertsauen auf die Zakunft wirbt, eine neue
Epoche des Gluͤcks und des allgemeinen Aufihwungs fchien fich dem Unternch⸗
mungöpeift zu eroffnen, Der: Drämg nach dan lange entörhrten Gewinne führte
das Hürifige Napital In Das Unger der Spefulation, bie ich fofert wir friſchen
Ruiften: in eine Strudel son Umernehmungen flürzte, um der Agiorage kınarer
mac Nahrimg zugufichren. Die Bapterkurie, underfchteoeioh in die Oohe gerthes
ben; fltigerten momentan die Raufbefühlgung des Markees und welsten die Kauf⸗
MR 26 Publikuma. bes ungeachtet der anicheinenden Lrichtigkeit, imit welcher
ed de Syelulntion gelang, eime zihllofe Menge neugeſchaffener Quittungebogen
und Allienpromeſſen auf den Markt gu werfen und mit anjelmiichem Gewinn
letzaſchlagen, Sagen doch Die Elemente eines. finanziellen Krifis uns Dem ige“
weinen Syvttulationoſcwindel wie Feuer unten ber Aſche verborgen, wnd-iıt De
Maße, als der Heitpunkt des Einzahlungen herannuher, vermehren fich duch Die
Beldverlogenheiten.. Die Mehrzahl der neuen Umernehmcungen berichte nicht
auf verilea Kapitalbeſitz, fondern wurde von den Spekulanten nut Ind Werk ze⸗
fee, um den fegeannten Gründerlohn einzuſtreichen und am Agto Ju verdienen:
Die wesen Papietläufer jpefulirten gleichfalls nur auf die Hauſſe, und da das
Publilkum in dem Wahne befangen wat, daß hinreichended Kıpizal zu den neuen
Unternehmungen vorhanden ſei, ſo folgte es blindliags den Lockyfrtſen der Spe⸗
lulamten. In dieſer gefaͤhrlichen Taͤuſchung warb eb leider darch Die Michregeln
der Banf benärkt, die lediglich auf Grund ihrer ımbefchtäntten Befugniß, Noten
m emittiren und als ſiheinbares Kapital in Umlauf zu ſetzen, während dieſer
ganzen Periode einen niedrigen Zinofuß auftecht erhielt. Für ein Organ dei
Ruatlihen Wirthſchaftopolitik, und ein ſolches Foll ja Die preußifche Bank fein —
giebt es, jolkte man meinen, keine wichtigere Aufgabe, ale ben Kriſen durch eine
Shaler ren —* — nur ber Befit mächtiger
in den —— —2—2——— — —
einzuwirken. a ea year erden a
17T „DI Sn Anfang a den Benfica
| ——* | der Banf vermehr⸗
—⸗ 14 Millionen, die Rombarbdarlehne um Da Mill,, beide zus
fanımen innerhalb fünf Monaten um 25 bis 26 Millionen Thaler, und in dem⸗
jelben Maße ſtieg der Notenumlanf. Die Spekulation benutzte natürlidy die fo
bereitwillig dargebotenen Mittel der Bank, um fo lange als möglich bie Kurſe
zu halten. Die Börjenftimmung ward indeffen mit jedem Tage flauter, bie
Haufe erlahmte, ein Stillftand trat ein, und bald begann ein allgemeines Sinken
—2 Die gedrückte Lage des Geldmarlis bereits im Juli an ganz unzwei⸗
nee — AT Die
Disfontoerhöhung, dieſer ſchon längft von der Klugheit gebotene Schritt, wäre
DentſchlauBarlwefen. in
noch im. Mai oder Juni ein Verbengungsmittel geweſen eder Hätte wenigſtens
Die. Crploſon befchleunigt und dadurch her Krifie den Eharakter ‚eines akuten,
ſchnell verlaufenden. Kraukheit aufgeprägt..: Im September Dagegen kam bie:
Maßregel viel. zu ſpaͤt und hatte keine anders Wirkung, ald daß fie das Uebel
verſchlimmerte, deſſen Fortwuchern eine verkehrte Bankpolitik begämftigt hatte.
Man jah die Maßregel nur ala: eine Vorlaͤuferin ähnlicher uud weiter greifender
Maßregeln an, die Bahn zu einem täglich wachienden Mißtrauen war geöffnet,
umd wie e8 gewöhnlich bei folchen Belegenheiten.geht, man-fiel con einem Ex⸗
trem in das andere. Alle Dörjenpapiere, ſelbſt Die volleingezahlten Aktien alter
bewährter Eifenbahnen- ober Bankinſtitute wurden wit deu Promeſſen und Quit⸗
tungsbogen der neugegrünbeten Aftiengefellfchaften im eine Kategorie geworfen.
Die Bant fügte endlich ihren bisherigen Verfäumeniffen und Mißgriffen noch den
weiteren Fehler hinzu, daß fie im Oktober, alfo gerabe in einer. fchweren kriti⸗
fügen Periode, ihre Sicherheiten betraͤchtlich vernrinderte. Wir haben bereits in
unferem: erfien Artilel darauf aufmerkſam gemacht, daß .fie durch dieſen unliber-
legten Schritt geradezu die Gefahr einer NRotenentwerthung beraufbeichwor, und
bei dem damaligen Staude der Dinge reichte ſchon die Möglichkeit- einer folchen
Kalamität voflfommen bin, um fofort eine allgemeine. Kreditloſigkeit und den
Ruin aller Geldoerhaͤltniſſe herbeizuführen. : Südlicher Weiſe gelang es der
Bank noch in der elften: Stunde, durch koſtſpielige Silberbezüge ihren Fehler
wieder gut zu machen. Die befchräntenden Maßregeln, welche ſie nach und nach
aber immer zu. Maͤt ergriff, ‚um der Krifis, bie ſie ſelbſt in thren primären Ur⸗
ſachen mit verſchuldete, heumend entgegemgutreten, hatten gerabe bie entgegenges
fegte Wirkung. Sie flörten den ruhigen Verlauf der Kriſts, vermehrten bie
Beftigken und Büsertigkeit ihres Charakters und trugen bie giftigen Wirkungen
ber. Krankheit anf Theile des gejellfchaftlichen Organismus Aber, bie von ber
Anftedtung frei geblieben waren. Die Bankrefiriktionen äbten in Verbindung
mit der berrfchenden Geldnoth einen wahrhaft laͤhmenden Einfluß auf Handel
und Gewerbe aus. . Die Schläge, weldye die Bank anstheilte, fielen fonach mit
doppelter Härte auf diejenigen, welche mit bem Aktienſchwindel nichts zu thun
gehaht und nun doch den Druck der Umflände zuitragen hatten oder wenigften®
empfinden mußten,
. Betrachtet man unbefangen Das Benehmen der preußiſchen Bank wahrend
der Spelulationaperiode von 1866, ſo muß man geſtehen, daß die Bank ihren
Zweck, als Leiter der kommerziellen und induſtriellen Bewegung zu dienen, nicht
erfüllt hat. Durch ihre Privilegien und ihre Verbindung mit der Staatsregie⸗
rung zu falichen und unzeitigen Maßregeln verleitet, erhöhte fie die Kaufbefähie
gung bed Geldmarktes über Gehahe und machte ſich dadurch einer Beförderung
des Ueberfpekulation ſchuldig. Dann, um bie Einlößbarkeit ihrer Verbindliche
kellen aufrecht zn erhalten, nahm fie plötzlich zu einſchraͤnkenden Rapregeln ihre
Zuflucht, das heißt, fie forgte für ihre eigene Sicherheit auf Koften der öffentlichen
Intereffen, die der Staat bei Ertheilung des Privilegiums ihrer Sorge anver⸗
traut hatte. Sie vermochte nur Kredit zu geben, während man jegt Kapital
bedurfte, um die unter ihren Auſpizien gegründeten Unternehmungen ausführen
| kennzeich⸗
men. Mit den fremden Banknote warb ein ZHCALEB Mirbited.der preußhihen
Kauflente und Fabrifanten des vandes verwieſen, ein Thell der ansmwärrigen
Kundſchaft der einheimifchen Produktion eatzogen. Die vom der Maßregel be
troffenen Banfen mußten, um bie plöglich maflenbaft zurückſtrömenden Noten
a nenn betraͤchtliche Baarfırmmen aus dem Verkehr ziehen und ihre
Kredite außerordentlich,
einfehränfen. "Der Schlag, welcher die lonturritenden
mit doppelter Härte auf Preußen zurüd.
ungeſtraft zu
Arm verwundete der fie ſchwang. Die Verkehreflimmungen , welche dad Bers |
bot gerade in einer Eritiichen Zeit Herbelführte, vergrößerten mar das Uebel, dem
fle borbeugen ſollten, und verfchärften die Ausbtüche der großen Hanpelstrifts
von 1857. Dem preußiſchen Verkehr wurden mir einem Schlage nngerähr 30
Milltonen Thaler erirgogan)' Diefen Ausfall ſuchte die preußtſche Bant badurch
zur decken, daß fle don Ihren Emiſſtonsbefugniſſen cimen ausgedehnten Gebrauch
mochte. Ihre zirtullrenden Noten vermehrten ſich binnen wenigen: Monaten
Deutialandk Baulnefen. 189
ungleich flärfer,, als die ſaͤmmtlicher deutſchen Banken in den leizten Jahren zus
furnaugeworfen, Dieſen Banlın- hatte die preußiſche Meglerung onrgonerien,
daß ihre Noten die Aufrechthaltung der Gilkerwährung gefähebeien. Der Wor⸗
wurf fiel jetzt mit der Wucht einer Dusch Thenſachen exwieſenen Beichulbigung
auf Die preußiſche Bank zuxck, Die durch waſſenhefte Rotenausgeke hie Silber⸗
onsfuhz weſentlich srleidmente, je geradezu heförderte. Das Nebel erichien nun
fa aräßer und gefahrdrohender, ala jetzt Die ungeheure Mafle son lnlaufsmisseke,
welche der preußiſche Verkehr erforbert, faß ausſchlieñlich auf sim Ainzigeh Vank⸗
iiumt bafırt war, Bekanntlich, lehrt die Geſchichte des Bankweſend, daß große
menppolifirte Centralbanfen untar ben heftigen Stoͤßen eruſtlicher Geldfriſen
zwammanbrachen, weil fle denſelhen iſeline gegenüberſtehen. Die preußiſche
Bank iſt yanı zwor auß ber letzten Kriß unverſchrt herpaxgegangen, aber fc Het
Gitsere Erfahruugen gemacht und herbe Verluſte gelitten. Durch den Zuſam⸗
menſturz in den Mereinigten Staeten Rordamerikas, durch bie furchebaren Aus⸗
brüche der Handelskriſe in den nordiſchen Reichen und in Hauburg geweant,
griff ſie noch dm Iepten Augenblick zu drackenden, einſchneidenden Meßregeln,
um die Kinlääbarfels ihzrer Vorbindlichkeiten ſicher zu Rellen. Sie erreichte zwar
di⸗eſen Aweif, aber nur auf Koſten ihrer Deyoſiten und mit Gefährdung ter ihrer
Gerar übertragen Inteneflen des preußiſchen Gnnbeldr und Memexbeſtaudes.
Werſen wir nun nach einem Plick auf die Bilangen der Wank, um ihr des
bahren während ber Handelakriſe von 1857 würhigen zu Fianen Hier iR 26
nor Allem wieder die riefige Ausdehnung des Kreditgeſchaͤſta, bie umjere far
fghitelnde Verwunderung srregt. Wem 31, Mei 1856 biB 30. Septeuher
1887 flieg das Mechſelportefeuille von 84,493,600 Thaler auf 70,113,008
Thelex. Im Dliobes begann Die große Daubelälriie. Die Vank perwinderte
wahrend derſelhey ihren Votenumlauf um 8,51 Millionen Thaler. Ihre Kredie⸗
gewährungen waren }
am Al. Deshr, 1856 30, Juni 1857 20, Sept. 390. Mon.
Mill, Wu. Bu Mi.
Mechſelheftaͤnde 44,18 62,94 DD 6224
Lombarddarlehne 13,36 11,18 10,06 10,06
Zuſamman: 57,5: 74,41 Bl,os 73,85
Cie verminderte fonach ihre Kredite im Wechſel⸗ und Lombardgeſchaͤft num
Ta Millionen Thaler, und zwar zu einer Zeit, als hie unter ihren Auſpizien
gegründeten Aktien⸗ und Kommanditgeſellſchaften des Kredites am uingenbiien
beburften. Ihren Zinsfuß, ber nom März His Auguſt 5 Prozent betrug, erhöhte
fie am 19. Auguſt auf 6/3, am 39, Sentember auf.6, am 3. Oktober anf 6%/z,
am 7. Rohnembar auf 7’a Mrszent. Alſo gerade in Den ſchlimmſten Zeit ber
Kriſis, ala Handel und Gewerbe ſich verzweifelnd an bie Bank klammerten und
von ihr Rettung ans der Gafahr der ‚allgemeinen Krehitlefigkeit eriwaristen,
ſchlug fie mit Diakontocchöhungen und Krediteinſchränkungen um fih. Mit
ihren Einfchränfungen des Roteuumlaufs und ber Srekitgewährung trafen aber
ungluͤcklicher Weiſe Die gleichartigen Maßregeln der deutſchen Banken zufammen.
Nameutlich waren es bie kleinen, dicht an her preußiſcher Qrenze errichteten
de — den veſc⸗ rüngen ihre‘ Zuflucht nahmen. fahen fi
ee En Adern en Di me HI ger Ta
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Rem —* ng nie pe enden her
geftwttet, —** — Hingegen ihnen gaͤnzlich unterſagt.
Es liegt auf der Hand, wie wenig mit ſolchen von Angft und Mißgunſt dittirten
Concefſtonen der Entwickelung des Bankweſens und den volkswirthſchaftl
. Intereſſen gedient it. nad an Ta rd Be —— *
den find, Den Beer ——— ⏑—
Deutfhlands Beuöiln. 1
Mitteln und Befugniffen diefer Anflalten ſtehen. Mehr durch oͤrtliche oder ein⸗
heimiſche Bebürfniffe bedingi erſcheinen die Bauken zu Weimar, Braunſchweig,
Darmſtadt und Gotha, wiewohl auch bei ihrer Grünbug ud Ausſtattung bie
Rückſtchtnahme auf den auswärtigen deſchaſtotemriet beſendere Rart ine Ge
wicht gefallen iſt.
.Die Deſſauer Landesbank, die alteſte unter allen N andeutſchen Zettel⸗
Santen, warb im Jahre 1845 mit einem Aktienkapital son: 2. Million Thalern
gegründet, und erhöhte daſſelbe ungeachtet des drohenden Rusenverbots im Sabre
1855.auf:4 Millionen. Die Anfalt; hart an der preußifihen Grenze, fo zu fa
gen vor den Thoren Berlin gelegen und ringe von preußifchem Gebiet unge
ben, enpfand den vollen Druck der preußiſchen Maßregeln, die in beſchwerlich⸗
fer Weife auf ihre gefammte Befchäftsthätigbeit Hörend und laͤhmend einwirkten.
Ihe Rotenumlauf, der im Jahre 1856 ben Höhepuntt von 8,750,000 Thaler
erreichte, ging raſch bis auf ein paarmalbunderttaufend Thaler herab. Die
Harte Abnahme ihrer Geſchaͤfte und Ihres Gewinns, zum Theil freilich durch die
Geld⸗ und Handelskriſto veranlaßt ; ‚wird. früher odet ſpater eine Reduktion des
Stammkapital nothwendig machen.
‚Die. Geraer Bank, im Rovemiber 1855 mit 4 Willionen Thaler Aktien⸗
kapital conceffiontrt, erfreut fich bes Privilegiums der unbefchräntten Rotenaus«
gabe und ift dabei nur an bie Bedingung gebunden, ein Drittel Baarfchaft für
bie außgegebenen Roten, fo lange dieſe das eingezahlte Kapital nicht überfchreiten,
und die Hälfte für. den Mebrbebarf ſtets vorrätig zu Gaben. Schon im erften
Jahre ihres Beſtehens vermochte fle. ihren Rotenumlauf bis zur Höhe von
2,678,000 Thaler. auszudehnen und ihren Aktlonären eine Dividende von ie
Prozent zu zahlen. Durch die Handelskriſis ward fle indeſſen veranlaft, bie
Rotenzistulation möglichft zu beſchraͤnken und ihre Baarfonds anſehnlich zu ver⸗
ſtaͤrken.
des Jahres 1856, iſt mit einem Aktienkapital von 3 Millionen Thaler ausge⸗
flattet und mit der Befugniß, Noten bie zur Höhe des eingezahlten Kapitals aus-
zugeben. Dagegen ift fle verpflichtet, Kapitalien bis zumi Betrage von 750,000
Thaler an inländifche Srundbefiger gegen Hypothek zu A Prozent Zinfen zu
leihen. : Ihr Rotenumlauf betrug bereite-.im Grändungsjahre 2, 120,000 Thaler
und die Dividende 6 Prozent. Die Handelskriſe und das Notenverbob haben
jedoch dieſem vorzeitigen Blüthezuftand ein ſchnelles Ende gemacht, und eine ans °
gemeflene Reduktion des Stammkapitals, obſchon von der Verwaltung energifch
befämpft, fcheint auch bier Dusch die Umſtaͤnde gedoten.
Die Mitteldeutfche Kreditbant in Meiningen, welche bekannilich
auch auf die Notenausgabe privilegirt iſt, betreibt dieſes Geſchaͤft mit einem be⸗
ſonderen „Realiſationsfond'“, ber zu zwei Dritteln in Wechſeln und zu einem
Drittel in Baarfchaft iſt. Da jedoch dieſer Fond nicht als ein von der Bank ges
trennte Subject und Object von Bermögendrechten anzufehen ift, fo würben bie
Roteninhaber bei eintretender Infolvenz der Bank vergeblich den Anſpruch er»
heben, vor den übrigen Glaͤubigern und ausſchließlich aus biefem für bie
Die Thüringifche Banf zu Sonderäfaufen, eine ehflingefeögfung
+
T, ‚Die Internationale Banf zu Luremburg if im Mir; 1856 mie
40 Millionen Franken Kapital conceſſionirt, und darf es Durch drei weitere As
tienemijfionen auf 100 Millionen Franken erhöhen, Sie: betreibt neben den
ee are alſe namentlich den Gffek-
ienbandel. Ihre 3 |
Ann dieje für dem auswärtigen Geichäftäbetrieb brrechneden ‚&renbanten“
ichfiegt ſich noch Die Riederſächſiſche Bank zu — * *
—— Notenemiſſion privilegirt if.
' Unter denjenigen ileindeutſchen Zettelhaufen „ Die ehe auf normale ie
ensfanben find ab bauptiächlich Die y einheimischer Verkehrsbedürf⸗
nifle zum Zwecke hoben, zeichnet ſich namentlich bie Me imarifpe Bank durch
umſichtige Leitung und ſolide g aus. Sie iſt im Jahre 1954
mit einem Aktienkapital non 5 Millionen Thaler und mit der Befugniß, Noten
bis zu dieſem Betrage auszugeben, gegründet worden. Sie hat in Preußen, in
Sachſen und in den thüringiichen Staaten Agenturen erwichtet, welche and ühre
Noten einlöfen, je weit es der Kaſſenvorrath geſtattet. Diefe Einlöſung, unbe-
dimgt möthüg, den Kredit und bie Verbreitung der Banknoten zu ſichern, war mit
“ ziemlich namhaften Opfern verbunden. Die Banf dehnte zwar in den erften acht
Monaten des Jahres 1856 ihre Geſchaͤfte erheblich aus (der Rotemunlauf et»
reichte im Auguft die Höbe son nahezu 4’/a Million Thaler), doch zeigt ihr
Status feine plöglichen und beionders beichwerlichen Einjchränfungen während
und nad) dee Kriſis. Sie bat folglich ungleich vorſichtiger operirt, ald die preu—
Denträtumdt Baukweſen. 177
giſche Bank. Die langſame aber Fetige Ertiohkelang der Geſchüfte und die ba⸗
durch bedingte nimälige aber regelmäßige Strigrtung det jaͤhrlichen Geträgntffe,
von der bie Geſchaͤftsberichte ber Weimartfchen Bank Benytig geben, ſcheint uns
ber beſte Beweis für die gefande Lage und die Soliditaͤt dieſer Anftält zu frin.
Die Braunſchweigiſche Bant tft unter ben miren, Zettelbanken die
jenige, deren Gefchäftöttyitigfeit ſich am ſchuellſten ausgedehnt hät. Ahr Kapital,
das fich im erſten Jahre (1858) nur auf 1'/ Million Thaler Heltef, mußte All-
mälig bis auf 5 Millionen Thaler erhöht werben. Zu einer Zertelausgabe von
5 Millionen Thalern berechtigt, hat fle im Eritifchen Jahte 1856 ihren Noten»
umlauf nur bis auf 2" Million Thaler gebracht, alfo keineswegs über Gebühr
gefteigert. Dieſes maßvolle Gebahren drückt ſich auch in dem vegelmäßigen An⸗
wachien der Diskontothaͤtigkeit und der Dividende aus.
Die Bank für Sübdentſchland in Darmftadt wurde Im Rosem-
ber 1858 eonceſſionirt mit einem Aktienkapital von 20 Millionen Gulden chen.
Davon übernahmen die Gründer 8 Mill., die Bank fr Hamdel und Induſttie
in Darmſtadt 5 Mill. die heſſtſche Ludwigsbahn 4 Mill., die heſſtſche Regierung
8 Millionen. Diefe ſonderbare Art der Aktienemifflon, von DO. Hübner *) aufd
Schaͤrfſte gerügt, hatte keinen anderen Zweck, uls den viet zur Akttenübernahine
berechtigten ‘Parteien bie Agiotäge zu etlrichtern. Rüchden fle einen Theil ihrer
Aktien mit Proſtt losgeſchlagen harter, machten fle, als der Kurs ſich unter Pari
fiellte, von ihter Berechtigung, fo weit dies nicht geſchehen war, feinen Gebrauch.
Der Aktionaͤr, welcher vielleicht mit hohem Agio im Vertrauen auf das Statut
die Altien gefauft Hatte, ſah fich daher gleich Anfangs betrogen.
Durch das Statut zu einer Rotenemiifton berechtigt, welche dem doppelten
Betrage des einbezahften Aktienkapitals entſpricht, begann bie Bank Anfangs
Deyember 1856, überflieg bereit Ende dieſes Motiats 1 Million und brachte
ihren Notenumlauf bis zum April 1857 auf 4'/s Million Gulden.
Die Gothaer Privatbank wurde im Ium 1856 hit A Mill. Thaler
gesrundet and begatın int Herbſte ihre Gefcyäfte. Die Rotenausgabe darf nie
den Betrag der diskontirten Wechfel Abetichreiteit und außerdem map ein Drit⸗
tel durch klingende Münze gedeckt fein. Ihr Zettelumlauf etrteichte Bereits ti
April 1857 bad Narximum von nahezu 4 Millionen Thaler.
Zu den anderen deutfchen Zettelbanken übergehen, erwähnen wir zu
af der bayerſchen Wechſel⸗ und Hypothekenbank, bie, obſchon bei ihr
dae Hupothettngefchäft den Hauptzweck bildet, Roten 618 zuin Betrage von 8
Millionen fl. rhein. emittiren darf. So fehr auch atıd yrinzipiellen Gränden
der Ausſchluß des Ghpothekengefchaͤfts ats dem Thaͤtigkeitskreiſe der mit fletd«
oves kurzfaͤlligen Vetbindlichkeitent opetitenden Handelsbanken zu wuͤnſchen iſt,
jo erſcheint doch die Verbindung nicht zuſammengehoͤriger Geſchaͤftszweige durch
Die eigenthuͤmliche und exceptionelle Stellung det bayetſchen Bank gewiſſetmaßen
bedingt und gerechtfettigt. Uebrigens macht biefe Bank einen ſehr maͤßlgen ty
vorſichtigen Gebrauch von ihrer Vefugniß zur Zettelausgabe. Im Jahre 1856
*), ©, deſſen Jahrbuch von 1857, ©. 197.
W. | 12
178 Rationaloͤkonomie.
hatte ſie von ihrem Rotenvorrath nicht mehr als A’/s Million Gulden in Um⸗
lauf gefeßt, während die Baarbeftände ji) auf 3 Millionen Gulden beliefen,
Ein gleichfalls folide verwaltete und wohlaffreditistes Inflitut ift die
Leipziger Bank, deren Gefchäfte feit dem Jahre 1855 außerorbentlidy zuges
nommen haben, hauptjächlich wohl in Zolge der Erhöhung des Aktienkapitals
auf 3 Millionen Thaler und der Vermehrung der Roten auf 12/2 Mill. Thaler;
im Sabre 1856 waren tavon etwa 4/2 Mill. Thaler in Umlauf.
Die Landſtändiſche Bank zu Baugen, Deren weientliche Bellini
mung das Hypothekengeſchaͤft ift, hat gleichwohl dad Recht, Roten bis zum Be—
trage von 1 Million Thaler audzugeben. |
Die Frankfurter Bank, auf eine Rotenemifjlon von 10 Millionen fl.
rhein. concejjtonirt, hat vor und während der Krife mit einer mufterhaften Vor⸗
ficht und Solidität operirt. Während der sranffurter Privatdisfonte vom März
bid Anfang September 1856 faſt ununterbrochen 3°/a Prozent betrug, erhöhte
fle bereitd im März ihren Zinsfuß auf 4, am 8. September auf 5 und am 25.
auf 6 Prozent. Ihr Rotenumlauf, der vor der Krije zwifchen 5 und 6 Mill
ſchwankte, jtieg nach derjelben auf 7 Millionen und erreichte beinahe das höchſte
erlaubte Map erft nach dem Ausbruch der großen Handelöfrifis.
" Die Bank zu Rofod, mit einem Aktienkapital von 1 Million Thaler
gegründet, darf Roten bis zu diefem Betrage ausgeben. Diefelben find in Med
lenburg jo begehrt, daß die Banf zuweilen fein Stüd in Kaffe hat.
Die Hannoverſche Banf, im Mai 1856 auf funfzig Jahre conceffio-
nirt mit einem Kapital von 12 Mill, Thaler in 48,000 Aktien à 250 Thaler,
wovon die Hälfte audgegeben wurde, iſt auf bie engſten Grenzen des den Zettel⸗
banken gewöhnlich geitatteten Gefchäftöbetriebs beſchränkt. Die Notenausgabe
darf das einbezahlte Kapital nicht überjchreiten, ein Drittel ded Betrages muß
in baarem Gelde, zwei Drittel in Baluten vorhanden fein, die innerhalb drei
Monaten leicht realifirbar find.
"Die Bremer Bank wurde Ende Januar 1856 mit einem Kapital von
2"2 Mill. Thlr. Gold concejflonirt und erhöhte dafjelbe im vergangenen Jahre
auf 5 Mill. Thaler Gold. Sie Hat die Befugniß, Geld⸗, Wechſel⸗ Giro», Ins
caffo= und Darlehns⸗, fo wie Depofitengefchäfte zu machen und Roten bie zur
Höhe des einbezahlten Kapitald auszugeben.
Die Lübecker Privatbank ift mit einem Aftienfapital von 1 Million
Mark Courant (— 400,000 Thaler preuß.) gegründet und zu einer Notenaus⸗
gabe gleich dem dreifachen Betrage des einbezahlten Kapitald berechtigt.
Die Kredits und VBerfiherungdbanf inXübed, im Mai 1856
unter Mitwirkung der Leipziger Kreditanftalt mit 3 Millionen Thaler Aktienka-
pital gegründet, darf neben den regelmäßigen Banfgejchäften auch Die unregel«
mäßigen eincd Krebitmobilicr betreiben. Rur Differenzgejchäfte, jo wie Kauf
oder Beleihung der eigenen Aktien find ihr verboten. Der Betrag der audges
gebenen Roten darf das eingezahlte Kapital nicht überfchreiten, und wenigſtens
ein Drittel der Circulation muß ſtets durch Baarjchaft getedt fein. Xrop alle
dem wachen wir auch hier das prinzipielle Bedenken geltend, daß die Uebernahme
Deutſchlaude Baukweſen. 179
non Berfiherungsgefchäften und die Spekulanten in induftrielen Unternehfmun-
gen mit der Rotenemiſſion völlig unvereinbar iR. Diefed Bedenken fcheint auch
der Grund gewefen zu fein, weshalb man bisher von ber Rotinansgabe Abſtand
nahm. Der Berwaltungsrath bat indeffen bereits Schritte gerhan, welche eine
Aufhebung oder Befchränktung der ſchaͤdlichen, die Rotenemifflon hindernden Be⸗
fagniſſe der Bank in Ausficht ftellen. Auch ift die Reduktion des Atienkapitals
auf die Hälfte beantragt. | nn
Zu diefen Banken, welche fämmtlich die Befugniß zur Zettelaudgabe ‚ber
figen,, kommt noch eine Öferreichtiche zu Trieſt, die im verflöffenen Jahre mit
einem Aftienfapital von 10 Rillionen Gulden errichtet warb und in ihren Ge
ſchaͤften den bei Zettelbanken üblichen Beichrärfungen unterliegt. Wir hätten
demnach in Defterreich 2, in Preußen 11, im übrigen Deutſchland 20, im Gan⸗
zen 33 Zettelbanfen, davon 27 tm ollserein. In Deſterreich leg der Noten⸗
unmlauf von 150 Mill. im Jahre 1851 auf 258 Mill. Thaler im Jahre 1356,
und in dem übrigen Deutjchland während: defielben Jeitraums von 3A auf Si
Millionen Thaler. Was den Umfang der Kreditgewaͤhrung der deutſchen Zet-
telbanten anlangt, fo betrugen die Wechfel- und Lombardforderuitgen an einem
gegebenen Tage des Jahres 1856 in Defterreich 114%: Million Thaler-gegen
42%), Mill. im Jahre 1851, und in dem übrigen Deutfchland 125810 Mil. im
Jahre 1856 gegen 42% Mill. Ihaler im Jahre 1851. Kein Unbefangener
wird leugnen, daß dieſe ungeheure Steigerung der Rotencittulatton und der Kre⸗
ditgefchäfte in dem kurzen Zeitraume von fech6 Jahren den verberblichen Aktien
ſchwindel und die tolle Gpefulationswuth des Jahres 1856 mächtig gefördert
und die Darauf fplgende Kataſtrophe wenigftend in ihren primären Urfachen nrite
verfchuldet hat. Vor allen waren es, wie oben an einigen Veifpielen gezeigt
wurde, die großen privilegirten Staatäinftitute, die durch hartnädiges Feſthalten
eines niedrigen Zineſatzes und durch ungebührliche Ausdehnung ihrer Kredite
auf Direfte und indirefte Weife zur Ueberſpekulation verleiteten. Die Krebitges
währung der neuen Banken trug dann freiftch auch nicht wenig Dazu bei, daß
eine Menge fommerzieller und induftrieller Unternehmungen ins Werk gefegt
und dadurch ein berrächtlicher Theil des umlaufenden Kapitals in ſtehendes ver⸗
wandelt wurde. Dieſes Gebahren ter Banfen war eben deshalb jo gefährlich,
weil es die Spekulanten fortwährend zu nenen Unternehmungen reizte. Die
letzteren wurden mit Rückſicht auf den zu erlangenden Kredit gegrändet, und da
biefer fpäter aus naheliegenden Gründen, zum Theil auch wegen des preußiſchen
Rotenverbotd, nicht in dem erwarteten Umfange gewährt werden Fonnte, fo
mußte nothwendig ein Zufammenfturz erfolgen. |
Wir wenden und nun zu denjenigen Banken, welche ſich nicht mit der Row |
tenemiffton befaffen. Bon reinen Depofitenbanten haben wir in Deutfchland
nur erſt unbedeutende Anfänge. Die meiften hierher gehörigen Banken haben
fich einen weiteren Geſchaͤftskreis gezogen. Viele von ihnen find reine Kredite
anftalten, auch wenn fie dieſen Namen nicht ausbrüdtich führen. Mit Kückficht
auf die Art und Weife, wie fle ihre eigenen und die ihnen anvertrauten Kapitas
lien benugten, Tönnte man drei Kiaffen unterfcheiden: Depofitenbanfen,
12*
| Mast Bauen, MR vtzRE me m mi Wie Ark na
se mie asmijcten Infisuren, weite yanmisgend Bic-cigemlicen
Banfneichäfte, Daneben aber Die des Kreditmobiliers betrieben, gehören: ꝛ
Der —
zu — rege zu Berlin.
—
Be fuhr gebe Rage Deo Gar, inenbmie An u nam
—— |
n genechtfertigt,
we Be 1356 mit einen: |
. Mark Bance,, zeichnet ſich Durch dem ungewöhnlich
der. ihre Gejchäftsrhätigfeie unter einer trefflichen und:
re ‚Siem ‚Ihre Kreditgewaͤhrung, Die bes
zeit Iren A i⸗ Beſtehens 7 Mill. M. B. betrug, erreichte bis zum
Den chiund Muhtlßefen. 48
Dftobet 1857 Die Höhe von Beinchde 16 !/a AH. RD. Hirten wirt eittitte.
Yaflimt Hat zur Zeit der leten Kaudelstriſe, ven die Gakdinität der diheiiieineh
Krebitlofigteit Aber HKambarg Kevchibräd, dem Hambarget und ſornit Dem ge⸗
fauınitten beuitichen Handel bie: erſprießlichſtes Dienfte gekeiſtet
Es bleiben nun noch Die eigentfichen weiten der Kredit»
‚ möbiiters übrig. Dahin gehireri:
Die Wllgemietne dſterreichiſche aredit aa tatt zu ik (1988
auf 90 Jahre conceſſtonirt mit einem Kapital non’ 100 ll. Gulden).
Die Bantfür Handel und Induflirbe zu Darinſta dr (mit nen
Kapital von 50 Mill. ſt. ch.). '
DE Allgemeine deurſhe Ar Enten zu Letpytg Cini
im Air; 1856 mit einem Aknienkapfeal Von DE More Thuer in Aklien
3: 160 Thaler, vom weichen‘ zumaͤchſd Vie Salfre Mogegeden wurde):
Die Krebitanfteli far Gawdel: uay Fävufttie je Deffat kib
ceſſionirt im März: 1856 wilt einem Rabtee Kor 8 IR Thaler in Aktien
. 4 100 Maler, auf weiche bis jege 78 Pevzent eingezahlt hd!
Die Koburg⸗Gothaiſche Aredungeſelvſchaft zu Kobutg (ge
gründes in Mad 1856 und zu’ Anien Eulen vor 1% RR: Thaler in
150,000 Aktien berechtigt; von woigen die Bene viher ie 1, ‚700, 008
Thaler begeben haben).
Die Berliner Hanvelsgsfertfäaft zu werten Jeetne Tonnianbn.
gefellſchaft, gegrͤndet im Fu 1856 vom vrn erſten auſern Bertins, uk
durch Agio bei Begehung. ver’ Autheilſchetae Gewotiun zii nicichen. "Bas Kup
tal von: 15 Mill. Thaler wurde zus Hälfte son den Gründern here,
zus andrren Hälfte mit 10 Prog Aglo zum Spanıtiagen Sutb ſreiption geffelliy.
Der Schleſiſche Bantweretn zu Bresfat ek Yahre: 1956 at
Conmanditgeſellſchaft mit 6 SM: Vhaler Krpital gegründet)
Die Magdeburger HKandelskompagnie zu Magdeßurg (eberk
falls eine Commanditzeſellſchaft mir 5" Reh: Thalrr Antheilſcheine, wurde Ah
Juli 1856 gebildet und vereinigt mit den allgemeinen Gefchaͤften eines Kredit⸗
mobilier die einer Tauſchbank nach dem Bonnaddihen Enftent):
Die Preußiſche Hanbelsgefeltichaft zu Kortgeberg.
Endlich die Metteldeurjaft Kreditbank zu Meiningen und dit
Krepit- und Verfiderungs Shan zu Lübeck. Diefe beiden zur Roten»
außgabe berechtigten Anflalten Rad ſchon oben unter den Zettelbanken mitaufb
geführt worden.
Die finanzielle und gefchäftliche Lage, in welcher die Mehrzahl der deutichen
Kreditmobiliers fich befindet, darf im Allgemeinen als hinlänglich befannt vor⸗
auögefegt werden. Die Gründe ver wenig erfreulichen Verhältniffe diefer An⸗
ftalten liegen zum Theil darin, daß fie von Anfang an ihrer Gefchäftsthätigkeit
eine zu weite Grenze geftedtt und daß bie von ihnen begonnenen induftriellen
Unternehmungen in der Regel als unvortheilhaft ober verfehlt ſich erwieſen ha⸗
ben, vorzüglicy aber in der Unmöglichkeit, Männer zu finden, bie viele oder alle
Inbuftries und Handelszweige fo zu überfehen und zu beurtheilen verftchen, daß
182 .» Retiogaldlonontie.
Se die Gründung und Leitung verfehiedener Etabliffements gewinnreich durchzu⸗
führen vermögen. Diefe Aufgabe aber haben fidy die Kreditanſtalten geftellt.
©ie betreiben neben den eigentlichen Bankgefchäften alle möglichen Spefulation®-
und Börfengefchäfte, in denen ein Mann in feinem ganzen Leben nicht auslernt.
Sie betheiligen ch bei den werjchiebenartigften Induftriellen Unternehmungen, ſie
gründen Spinnereien, Brauereien, Del-, Spigen-, Gigarren-, Cattun- und Ma»
‚ fchinenfabrifen. Wenn fe ſelbſt den technifchen Betrieb dieſer Anftalten Leiten,
fo müffen fie unbedingt Verluſte erleiden, weil eine Ueberſicht und einheitliche
Verwaltung der heterogenften Gefchäfte- und Induſtriezweige fchlechterdings un⸗
möglich ift, fo gefcheidt und kenntnißreich die Spezialbireftoren fein mögen.
Gründen fie aber dieje Unternehmungen nur in der Abſicht, um bie Aktien mit
Profit zu verkaufen, jo werfen fie fich zum Bormund des Publikums auf in
Dingen, die fie nicht verſtehen und eine foldye Handlungdweije wird unfehlbar
große Rachiheile für die Induftrie, deren Förderung fle ſich zur Hauptaufgabe
gemacht haben, und ſchwere Verlufte für die Aktionäre herbeiführen. Wenn fie
den leßteren in beſonders günftigew Börienjahren wirklich. hohe Dividenden zu
zahlen vermögen, ‚fo ſind biefe Ertraͤgnifſe doch keineswegs die Früchte einer re-
gelmäfigen ud probuftigen Geicgäftöthätigfeit, ſondern beſtehen größtentheils
aus zufälligen Börfengewinnften, entſpringen ſomit aus einer völlig unproduc-
tiven und fchädlichen Mutation der Kapitalien, und find daber, wie M. Kurth *)
treffend bemerkt, einer Uceife vergleichbar. Durch diefe Mutation wird daB viel⸗
leicht in gut-rentirenden. Geſchaftszweigen angelegte Kapital diefen entzogen und
minder gut rentivenbden, weil erſt zu begruͤndenden, zugeführt, das verberbliche
Börfenfpiel mächtig befördert und der Privatkredit zum größten Nachtheil für
die Handel» und. Gewerbetreibenden allmälig umtergraben. Wer fich das We⸗
fen und die Bedeutung der Kreditmobiliere nur einigermaßen Elar gemacht hat,
wird gewiß der Anſicht Newmarch's und Tode!s**) beipflichten, daß biefelben
ſich mehr dem Charakter der Law'ſchen Unternehmungen nähern, als irgend eine
äbnliche, feit jener Zeit profektirte oder begründete Anflalt.
*) Geſchichte der Handelskeifen.
**) History of prices, Vi., 133. „The Credit Mobilier, seeking to obtain large
proßts by exciling violent fits of Stock Jobbing, and to obtain large fonds by the
issue of obligations practically not payable in specie, approaches in design and ma-
ehinery nearer than any institution of recent tines to the modes afforded by Law’s
Bauk of 1716, and the Compagnie: des Indes of the three following years.“
Der Kreisfauf des Blutes
und
. die Srankheiten des Derzens.
Bon
Dr. SA. Slinzer.
Anatomie des Herzens und der Gefäße. Darſtellung des Kreislaufes.
Die Bewegungen des Berzend. Herzſtoß Berztöne. Kreislauf unter
dem Mikroſskope. Wewegung ded Blutes im Gefäßrohre. Conti.
nuirlige Blutkrömung; Puls. Druck des Blutes in den Gefäßen.
Krankheiten des Herzens, deren Erkennung, Bedeutung und Be-
handlung. ,
Wie in dem Entwickelungsgange der Völker einzelne Entdeckungen hervorra⸗
gen, die den Ideenkreis der Menſchheit ploͤtzlich umgeſtaltet und auf Jahrhun⸗
derte hinaus dauernd verändert und erweitert haben, fo zeigt Die Geſchichte einer
einzelnen Wiffenfchaft gleichfalls Entdedungen, mit denen und von denen aus
tie betreffende Wiffenfchaft plöglich auf einen neuen Standpunft erhoben und
eine neue Geftaltung angenommen hat; Entdeckungen, die einen Wendepunft
in der Gefchichte bilden, ein neues Beitalter beginnen. — Eine der wichtigften
und folgereichften Entdeckungen für die mebicinifchen Wiflenfchaften war bie
Entdeckung des Blutfreislaufes. Im Jahre 1619 war ed, wo der engliſche
Arzt und Naturforfcher William Harvey feine Lehre von dem Kreislaufe des
Blutes öffentlich vortrug und damit den erften und wichtigften Echritt zu einer
rationellen Bearbeitung ter Phnflologie that. Wie alle bedeutungsrollen Ent-
deckungen, welche die Vorurtheile, die durch Jahrhunderte genährt und feftgchal-
ten wurden, an ihren Wurzeln erjchüttern, angegriffen werden, fo erging es auch
der Lehre Harvey's vom Kreislauf des Blutes, aber dieſe Anfechtungen dienten '
nur zu einer um fo fefteren Begründung diefer Lehre; die von Harvey aufgeftell-
ten Grundfäge gelten im Wefentlichen noch heute, wenngleich troß der zahlreich-
ften trefflichen Forſchungen und Beobachtungen vieled Einzelne auch gegenwärtig
nicht zu einem in jeder Hinficht befriedigenten. Abſchluß gelangt ift.
Wenn wir im Folgenden verfuchen eine Schilderung der Lehre vom Blut⸗
Treisfaufe zu geben, fo kann dies felbftverfländlich nur in furzen, die Hauptfa=
chen kerührenden Umrifſen gefcheben; tiefe und beweifend vorgehende Darftellun-
184 Medicin.
gen müffen den Fachwerken uͤberlaſſen bleiben. Um nun eine klare Anſchauung
von der Blutbewegung zu erlangen , — ENTER fee Eee
————— —
des Röhrenſyſtem, in welchem es eingeſchloſſen iſt, zu allen Organen des Kör-
pers Ar nn
— en bie — Kelle, ie Ami zu x allen —
—— HL RER er
elle aufzuldfen; aus
er ——— bilden —* wiederum zuſammentretend,
größere Aeſte, Blutadern oder Venen, die zu mehreren großen Stämmen
vereinigt in das Herz einmünden, Die Arterien führen das Blut vom Herzen
— — ee brin-
eben nambaft gemachten Sauptobfehnitte defelben unter ſich in einen unmittel⸗
baren, ununterbrochenen Zuſammenhange.
Nachdem wir bie allgemeinſten Umriſſe des Gefaßſoſtems Kennen. geln
Das: Herz, der Mittelpunft. des, Gefäßſhſtemes und „Gipisegufater ber
Blutbewegung bildet einen hohlen, unregelmäfig kegelförmigen Musfel, der. eine,
Lage zum größten Theile in der —— — einem kleineren Theile
auch noch in die rechte Hälfte hereinragt. Der kegelförmigen Geftalt entipres
end unterfcheidet man am Herzen die-Spißt (Big. 1.d) und, die Bafis, fo wie
Er drei Flächen, eine vordere,
Fig. 7. untere und bintere. Das
Herz wird zunächjt von, einen
häutigen Sade, dem Henz=-
beutel, rings umſchloſſen,
in den cd gewifjermaßen hin ·
eingeftülpt iſt wie der Kopf
in. eine, Müge. Da, imo die
großen. Gefäße, vom Herzen
abgehen, ſchlaͤgt ſich ein Theil
des Herzbeutels, das joger
nannte innere Blatt deſſel ⸗
ben, auf das Herz um, indem
ed. die, ganze äußere, Obere
fläche,deflelben-überzicht. Cs
Kreislauf des Blutes und Krankheiten des Herzens. 195
bleibt biet zwifchen den beiben Blättern des Herzbeutels ein freier Warum, in dem
fh das Herz frei banegen kann und in welchem eine geringe Menge einer waͤſſe⸗
rigen Blüffigkeit, Liquas bes Herzbeut ld, eingaſchloſſen ik. Der Herp
beutel iſt durch Zellgewebe an bie benachbarten Iheile befeftigt ; das Gerz abes
if ſchwebend am dey großen Gefäßen aufgehängt, ruht unten auf dem Zwergfelle;
an den Seiten umgeben e8 die Zungen fe, daß von. feiner vorderen Flaͤche nur
ein geringer Theil die Bruſtwand unmittelbar berührt, nach hinten liegt das
Herz nahe der Wirbelfäule von dem vierten bis achten Bruſtwirbel.
Auf der äußeren, glatten. Oberfläche des Herzens, die wie bereitö bemerkt,
gan dem inneren Blatte des Herzbeutels überzogen wird, bemerkt man eine
Zöngd- und eine Querfurche ſFig. I. c und e], die ſich untereinander ſo⸗
wohl an der vorderen als hinteren Kläcge Ereuzen, und bie in Inmeren bes Here
zens beftchenden Trennungen auch äußerlich anzeigen. — Der innere Raum des
Herzens iſt nämlich durch eine Längsicheidemand ſFig. 2 E] zunäͤchſt in zwei
+ Übtheilungen getheilt, die beim erwachfes -
nen. Menſchen vollfändig von einander. ge-.
ſchieden find ; man kaun ſonach da s Herz
als au: zwei felbfifländigen, nur anein⸗
ander liegenden Herzen beftsheud, betrach⸗
ten; hab rechte Herz nennt man auch dad,
Lungenherz, das linfe das Rörper-
herz. Jedes dinſer beiden Herzen wird
wieder durch eine querverlaufende Scheide⸗
mand in zwei. Abtheilungen geſchieden,
von deuen bie oberhalb, der Scheidewand, an des Baſis des Herzens liegende
Abtheilung, Vor hof oder Borfammer [Fig. I. und UI. A die rechte, B die
linfe Borfammer] , die andere, nad) des Spige des Herzens zuliegende, Her z⸗
kammer oder. Bentritel [Fig. I. und II., C und D] genannt wird, Wir ere
balten jo im. Inneren Des Herzend vier, Höhlen, zwei Vorkammern und zwei
Hauptkammern, je eine rechts, eine Links, die Vorhöfe oberhalb der Querſcheide⸗
mand am der. Grundflaͤche bes Herzens, die Herzfammern unterhalb der Quer⸗
ſcheidewand von, da bis zur Spitze des Herzens reichend. Während rechtes und
linkes Herz nicht, mit einander in Verbindung ftehen, communieirt eine jede Vor⸗
kammer mit dem Ventrikel unmittelbar durch eine in der Scheibewand befindliche
Deffnung, die Vorhofs mündung [fig. II. d und h]; eine zmeite Oeffnung;
bie arterielle Mündung [Big. U. fund g] führt aus dem Ventrikel in die
Arterie. — Die Geftalt der Vorhöfe ift eine rundlichsvieredige, außerdem beſtyt
jeder Vorhof noch einen ohrfürmigen Anhang, dad Herzohr [Fig. J. u. II. au.b],
Die Wände der, Borhöfe find. dünn und fhlaff, ihre Muskelſubſtanz if nur par
ſam entwidelt, am:meiften. noch. in den Herzohren, we fie fich ald netzförmige
Bündel, Sammmuskel, darfiellem Die Scheidewand, weiche beibe Vorhöfe
trennt, ift gleichfalld tünn;, in. derſelben befindet fich eine eiförmige Grube,
an.deren Stelle fi beim Fötus ein eifärmiges Loc) befinder, durch wels
ed beide Vorhöfe mit einanker in Verbindung fieben. Rady. der Geburt ſchließt
i6., nn Medien.
ſich tiefe Oeffnung nach und nad}, an ifrer Stelle bleibt die elfärmige Grube
zurück. — Eine weſentlich verſchiedene Befchaffenheit zeigen die Herzkammern.
Ihre Beftalt nähert fich der eines Kegels, deſſen Spite nach unten gerichtet iſt;
Ihre Wände find beträchtlich Did, mu8fılds, mit dem eigenthümlichen Verhalten,
daß die Wände des linken Ventrikels noch dreimal dicker find, als Die des rech«
ten; eine ebenfalls dide muskulöſe Scheidemand trennt beide Kammern. Auf
der Innenflädhe der Kammern erheben fich die Muskelfaſern zu neßförmig ver«
einigten Bündeln, den fogenannten Fleiſchbalken, die beſonders ſtark in der
Nähe der Vorhofsmündung entwidelt find; auf diefen Fleifchbalken fiten wieder
Heine Warzenmuskeln [fig. II. e] auf, fogenannt wegen ihrer einer Bruſt⸗
warze ähnlichen Geftalt, die in die Höhle der Kammern frei bereinragen. — In
die beiden Vorhöfe münden nur Venen ein, aus den Herzfammern entfpringen
nur Arterien. Der rechte Vorhof nimmt die Venen des Körpers auf, die zu zwei
größeren Stämmen vereinigt, als die obere und untere Hohlader [Fig. 1.
1 und 2 und Fig. 1., 1] in den Vorhof von oben und von unten ber eintreten;
der linke Vorhof erhält Die Zungenvenen, vier an der Zahl, ſFig. J. 9 und
Fig. II. 10] die das Blut der Lungen jammeln. Aus der rechten Herzkammer
entfpringt die Zungenfchlagader [Fig. 1., 6 und Fig. H., 7], die ſich bald
nach ihrem Urfprunge in zwei Aeſte, einen rechten und einen Tinten [Big. 1.,
7 u. 8; Fig. D., 8u..9] teilt, die für Die entfprechenven Lungenflügel beftimmt
. find; der Tinte Herzventrikel ift die Urfprungsftelle der großen Körper«
fhlagader, Aorta, [Fig. J., 3; Fig. II., 2) die nach ihrem Abgange vom Her⸗
zen fich bogenförmig umbiegt, Aorta-Rogen[Yig.l., 4; Big. II, 8] und einen
großen Hauptflamnı, die abfteigende Körperſchlagader zu den unteren
Dartieen des Körpers fchidt; die oberen Theile des Körpers erhalten ihr Blut
durh drei aus Dem Aortenbogen entfpringende Stämme [%ig. II.,
4,5 u. 6). Noch müflen wir eines eigenthuͤmlichen, höchft wichtigen Appa⸗
rats im Herzen gedenfen, des Klappenapparags. Wie bereits erwähnt, trennt
eine dünne Scheidewand jeden Vorhof von feiner Kammer; diefe Scheidewand
wird nun in jedem Vorbofe Durch eine weite, rundliche Deffnung durchbohrt, die
eine unmittelbare Nerbindung des Vorhofes mit der Kammer bewirkt. An jeder
dieſer beiden Vorhofsmuͤndungen liegt nun ein eigenthümlicher, fegelförmiger
Klappenapparat, Der im rechten Vorhofe aus drei, im linken as zwei Zipfeln
beftebt ; man nennt diefelbe baber die Dreizipfligeund zwmeizipflige Klappe
ſFig. 1. du. h], Teßtere auch Mitralklappe, megen ihrer Achnlichfeit mit
einer Ritra. Dieſe Zipfel, entſtanden durch eine Berboppelung der die Innen-
fläche des Herzens überziehenden Haut, find einerfeitd an der Vorhofsmündung
fo befeſtigt, Daß fle frei in Die Herzfammer bineinragen; an ihrem unteren Ende
aber werden fie durch dünne, fehnige Fäden anf den Warzenmusteln des Ven⸗
trikels befeſtigt. An den Liriprungsfteflen der Arterien aus dem Herzen befin=
det ſich ebenfalld ein Klappenapparat, der bei der großen Körperichlagader, wie
ter Zungenarterie Diefelbe Bildung zeigt, indem er aus drei neben einanderlie⸗
genden halbmondförmigen Tafchen befteht, deren Orffnungen nach der
Arterie gerichtet find ſFig. I. fu. eg]. Bor ter unteren Hohlvene befindet fich
Kreislauf des Blutes und: Krankheiten bes Herzens. 187
an ihrer Mündung in dem Vorhof eine Meine, fichelförmige Kalte. Die Beden-
tung des Klappenapparatd für das Herz liegt in der Beſtimmung derielben, die
einzelnen Höhlen des Herzens nach den Umfländen vollftändig von einander ab⸗
fchliegen zu können; ein Vorgang, auf befien Wichtigkeit und Einzelheiten wir
fpäter zurüdfommen. —
Wie alle übrigen Organe des Körpers hat auch das Herz eigene zu jeiner
Ernährung beftimmte Gefäße, die Kranzarterien und Kranzvenen (Big.
I., 10 u. 11], die vorwaltend in ten feichten Furchen bed Herzens verlaufen; Die
Kranzarterien entfpringen aus der Aorta, die Kranzuenen münden, zu einem grös
Beren und mehreren Fleineren Stämmen vereinigt, in den rechten Vorhof, woſelbſt
vor der großen Kraͤnzvene eine.Eleine halbmondförmige alte befindlich if. Zahl-
reiche Nerven verforgen gleichfalls die einzelnen Theile des Herzens. Die Haupi⸗
mafje des ‚Herzens bilden quergeftreifte Muskelfafern von ganz gleicher Beichafe
fenheit wie in den übrigen willfürlich beweglichen Mudfeln des Körpers.
Diefelben durchkreuzen fich theils regelmäßig, theils in einer wenigſtens fcheinbar
unregelmäßigen Anordnung ; fie bilten faft ausfchlieglich die Wände der Herzfam-
mern, während fle in den Borböfen nur in ſchwachen Lagen fich finden. Auf
ber äußeren Oberfläche des Gerzend befindet fich der vom Herzbeutel gebildete
Ueberzug ; die Innenfläche wird vollftändig von einer weißlichen Haut, tem En-
docarbium, überzogen, die in alle Unebenheiten und Vertiefungen eindringt,
durch ihre Verdoppelung an den namhaft gemachten Stelle Kalten und Klappen
bildet und auf die innere Fläche ber Gefüge unmittelbar übergeht. — Was bie
Größen und Gewichtöverhäftniffe des Herzens anbetrifft, fo zeigen ſich bei den
einzelnen Individuen die zahfreichften noch innerhalb der Breite der Geiundheit
liegenden Verſchiedenheiten. Bei den Weibern ift die Größe und Tide des Her⸗
zend in der Hegel eine geringere ald bei den Männern; bei tem neugeborenen
Kinde iſt das Herz in Beziehung zur Größe des Körpers größer ald beim Er-
wachfenen. Das Gewicht beträgt.bei Männern im Durchſchnitt 19 Loth, bei
Meibern 17 Loth.“ Merfwürkig ift e8, daß das Herz in feinem Wachsthume
ziemlich unabhängig von dem Wachsthume des übrigen Körpers ift, ja nad
Vollendung der körperlichen Entwidelung noch fortwächft. Das rafchefte Wachs⸗
thum findet in ter Zeit vom fechäzehnten bis dreißigften Lebensjahre ftatt.
Die Puls- oder Schlagadern, Arterien, bie Gefäße, welche dad
Blut von dem Herzen zu den Theilen bes Körpers leiten, ftellen colindriſch ge=
formte Röhren dar, die fidy nach ihrem Urfprunge aus dem Herzen in immer
Heinere und £leiner werdende Zweige baumförmig theilen. Sie liegen geſchützt
mehr in ber Tiefe zwijchen den Theilen des Körperd und gehen nur wenig Ver⸗
bindungen unter fi ein. Die Wünde der Arterien find did; wenn man flc
durchichneidet, jo fallen fe nicht zujammen, fondern Elaffen. Die Dide ber
Pulsadern kommt auf Rechnung der mittleren Haut, die elaftifch ift, und da ihre
Faſern kreisförmig zum Durchmefler des Gefäßes laufen, Ringfajerhaut genannt
wirt. Die Elaſticität der Arterienwände bewirkt die bekannte Erſcheinung des
Pulſes, die wir noch jpäter zu erörtern haben werden. Nach dem Tode find die
Kreislauf des Blutes und Meankpeiten des Derzend. 189
Blutbewegung und finden ſich theils im arteriellen, theils im venäfen Theile des
Gefäßfotemes eingefchaltet; fo beim Aale an dee Schwanzvene, bei vielen
Fischen an den Arterien. Bon nicht geringem Intereſſe find Me Wunder⸗
aetze, Netze von Befägen, die dadurch entitehen, Daß ein Blutgefäß ſich plötzlich
in ein Büfchel von zahlseichen, vielfach untereinander zuſammenhaͤngenden Aeſten
theilt. Solche Wundernetze finden wir in der ausgezeichnetſten Weiſe bei den
Kifchen, jo 3. B. bei den Delphinen, Ihunfifchen, Karpfen, Bechten u. f. w.,
aber auch bei einigen Säugethierm ; bei dem Menſchen fehlen fie. — Auch bei
den niederen, wirbellofen Tihieren bietet das Gefaͤßſyſtem eine große Aehnlichkeit
im Baue dar. Bei vielen ſindet fich ebenfalls ein die Stelle des Herzens vertre⸗
Tender Abfchnitt des Gefäßſyſtemes, das nach ſeiner Lage jogenannte Nücken⸗
gefäß, ein comtractiler Theil des Gefäßfuftens, jedoch ohne Sonderung in
Höhlen. Bon bier treten die Arterien auf, ſich in den Theilen bes Körpers
verzweigend, fle gehen jedoch bei vielen Tieren nicht in ein Gaargefkpiuftem
über, fondern ergießen ihr Blut frei in bie wanbungslofen Bieifchenräumen des
Körpers, die fogenannten Zacunen. — Bel einzelnen Thieren hat man endlich
ein Gefaͤßſyſtem Aberhaupt noch nicht nachweiſen können, ſo bei den Mäberthies
von, bei einzeltten Würmern.
Nachdem wir fo die allgemeinften Umrifſe des Gefkgfuftemes kennen gelerns
Saben , wollen wir un& eine Auſchauung von dem Wege, den das Blut anf ſei⸗
nem Raufe durch den Körper nimmt, zu verfihaffen fuchen. Halten wir und ba» '
bei der Einfachheit und Ueberfichtlichkeit halber an bie beiſtehende, ſchematiſche
Zeichnung, die und Fig. 3 verfinnlicht. ’
— W⸗⸗ ——
IM INN
IA DON
iR OL IR 999 c
RES NY 9
SITZ re 7
Wie daa Gefuͤßſyſtem einen. geichloffenen Roͤhrencirkel bilder, ſtellt auch bie
Figur einen ſolchen dar; die beiden engſten Gtellen dieſes Möhrencanats a u. b,
enifprechen dem beiden Herzon, nun liegen biejelben Bier neben, nicht an einander;
und zwar entipricht a dem dungenherzen, b dem Körperherzen. Wir erhalten
fa zwei größere Halbeiskel, gch und edf, die den beiden Kreidldufen im menſch⸗
lichen Körper entipvechen, nämlih gch den Eleinen oder Lungenkreis⸗
Lauf, durch den das Blut aus dem Herzen zu den Lungen und wieder zum Her»
zen zurädgefüßes wird, und edf dem groß en oder Rörpertreistanf, der
das. Bhu Busch alle Theile des Körpers: Hin und vom dieſen wieder zu dem Herzen
zurüdlleitet. on jedem Herzen geht eim das Blut wegführendes Gefäß, gw. P '
and, das ſich in ein Haargefäͤßſyſtem, e u. d, aufläft, welches wiederum in zwei
Gefäpftänme e u. R zum Herzen zurückkohrt. Aus dieſer Darflellung ergiebt fich
AD arm. 0.0.0.0 Mediein.
ſchon, daß man irrthümlich von zwei Kreisläufen fpsicht; beide bilden zuſammen
en Kreislauf, jeder für fih, der große wie der kleine, einen Halbkreislauf.
Verfolgen. wir. nun ein Bluttheildden in der Richtung, bie die Pfeile andeuten,
son a, dem rechten Herzen, aus, fo gelangt dafjelbe Durch das wegführenne Ge
fäß g in dad Haargefäßſyſtem c, und von diefem aus durch das zuführende Ge⸗
fäß h zu dem linfen Herzen, b, von wo aus es durch das Gefäß f in das Gapil-
larſyſtem des Körpers, d, geleitet und durch das rüdführende Gefäß e zu jeinem
Audgangspunfte a, dem rechten Herzen, zurüdgelangt; es bat fomit das Blut⸗
theilchen feinen Weg beendet. — Wenn wir nun die hier gegebene Auseinan⸗
derfegung auf das menfchliche Herz anwenden, fo erhalten wir für den Lauf des
Dlutes folgenden Weg: Gehen wir von ber rechten Herzkammer [a in Fig. III]
aus, fo gelangt dad Blut zunächft Durdy Die Rungenarterie ſg] in die Lungen,
Durch den rechten Aſt der Lungenarterie in Die rechte, durch den linken Afk in die
linke Zunge. Wit der weiteren Iheilung ber Lungenarterie geht das Blut in
das Haargefaͤßſyſtem der Lungen über und wird von da durch die vier Lungen⸗
venen [in der Figur durch einen einfachen Stamm h dargeftellt] zum linfen Vor⸗
baf geleitet... Diejer Lauf bildet den oben erwähnten Eleinen ober Lungenkreis⸗
lauf, Vom linken Vorhofe gelangt dad Blut zunächft in die linfe Herzfanmer
fb], und. wird von bier durch die Aorta [f], die fich fort und fort theilt, zu den
fänmtlichen Körpertheilen in dad Haargefäßſyſtem derfelben [d} geleitet. Aus
diefen Haargefäßen wird es durch zwei große Stänme, bie obere und untere
Hohlader [e] wieder zum vechten Herzen, und zwar in deſſen Borhof zuruͤckge⸗
führt und tritt von da aus in bie rechte Kammer, feinen Ausgangspunft ein. —
Ein eigenthümliches, hier wenigftend kurz zu berührendes Verhalten zeigt
der Blutlauf der Unterleibsorgane. Das Blut der größeren Anzahl der im Un⸗
terleib eingeichlofienen Organe muß nämlich nicht wie das Blut der übrigen
Körpertheile ein, jondern zwei Haargefaͤßſyſteme pafitren. Rachdem nämlich
Die die Verdauungsorgane verjorgenden Arterien zu einem Haargefäßſyſteme zer⸗
fallen find, tritt aus diefen das Blut in eine große Vene, die Bfortader, die
in die Xeber eintritt, ſich in derielben in Korm einer Arterle verzweigt und wies
derum zu einem außerordentlichen dichten Haargefäßnege fih auflöſt, aus dem
fodann erſt'das Blur durch die Lebervenen gefammelt und-zu ber unieren Hohl⸗
aber geleitet wird. — Bei einigen Thieren giebt ed außer dem Pfortaderſyſteme
in der Leber, noch ein zweites in den Nieren.
Die Bavegung der im Gefäßiyfteme vorhandenen Blutfäule gejchieht vor⸗
nehmlich durch dad muskulöſe Herz, das hierbei in Form eines Pumpwerkes
wirfend das in feine Höhlen eingefchloffene Blut fortwährend in einer einzigen
Richtung vorwaͤrts treibt, indem es Dabei gleichzeitig den ihm ewutgegenftchenden
Widerſtand Durch feine Thätigfeit überwindet. Innerhalb eines gewiflen Zeit⸗
raumes zieht fich das Herz zufammen und erfchlafft wieder, wodurch es das Blut
in Bewegung jet. Diefe Zuſammenziehungen und Erfchlaffungen des Herzens
« wiederholen fich in regelmäßigen Zeiträumen. Während der Erichlaffung füllen
fi die Herzhöhlen mit einer Blutmenge, während der Zufammenziehung treiben
die Höhlen eine gewiſſe Quantität Blut vorwärts, Das Surüdtreten des Blutes
Kreiblauf des Blutes und Krankheiten des Herzens. 191
nach der einen, wie nad) der anderen Seite wird durch Bentile, die Klappen ver⸗
bindet. Die eigentlichen Pumpwerke find die Herzlammern, die Vorkammern
dienen nur als Blutbehälter,, ald Reſervoires, dazu beflimmt, die Kammer flets
hinreichend mit Blut zu verforgen. — Bei den Menjchen und bei ben höheren
Wirbeithieren And zwei Pumpen, d. h. zwei Herzen vorhanden, die jedoch ſtets
gleichzeitig und in gleicher Weile in Thätigkeit find.
Nach diejer allgemeinen Darftellung gehen wir nun etwas genauer auf die
Vorgänge bei der Bewegung des Herzens ein, Die Bewegung des Herzens er⸗
folgt durch abwechjelnde Zufammenziehungen und Erſchlaffungen der einzelnen
„Herzabtheilungen. Die Zuſammenziehung, auch Syſtole genannt, iſt
ein activer Vorgang, das on; verkleinert fich Dabei und entleert fi von feinem
Inhalte; die Erfchlaffung oder Diaftole gefchieht pafflo durch Erweiterung
der vorher zufammengezogenen Theile. An bes rechten und linfen GHerzhälfte
gefchehen die beiden Vorgänge ber Syſtole und Diafkole gleichzeitig in gleicher
Weiſe ſtets fo, daß, wenn ber eine Vorhof ſich contrahirt, auch ber andere fich
zuſammen zieht, wenn ber eine erichlafft, auch der. andere in ten Zuſtand der Er⸗
weiterung übergeht; ebenjo verhalten ſich die Herzkammern. Die einzelnen Abe
theilungen bed Herzens bewegen ſich nun in folgender Reihenfolge: Zuerſt ziehen
ſich beide Borhöfe zufammen, unmittelbar hieran fließt fich die Zuſammenzie⸗
hung der Herzfammern. Während die Kanımern im Zuftande der Eontraction
find, fangen die Vorkammern an zu erichlaffen und bleiben, während die Bentri-
fel unmittelbar nach ihres Zufammenziehung ebenfalld fich wieder erweitern,
gleichfalls im erfchlafften Zuftande, jo daß eine kurze Zeit, die. man als Pauje
in der Bewegung bezeichnet, fowohl Vorhöfe ald Herzkammern gleichzeitig erwei⸗
tert find. heilen wir alfo den Gang der Herzbewegung in drei Momente, fo
find dieſelben folgende: 1. Die Vorböfe contrahiren ſich, die Ventrikel find er⸗
ſchlafft; 2. Die Herzlammern ziehen ſich zufammen, die Borfammern find
ericylafft; 3. Beide, Vor⸗ und Herzfammern find erichlafftl. — Einen fol-
hen einmaligen Ablauf der Bewegungderfcheinungen am Herzen bezeichnet man
als Herzſchlag; dieſe Thätigfeit des Herzens erfolgt chyrhmijch. Die Zeit,
die ein Herzichlag in Anfpruch nimmt, entipricht dem Zeitraume zwifchen zwei
PBulsichlägen. Nehmen wir ald Maaß dieſes Zeitraumes eine Secunde an, fo
vertheilt fich dieſe Zeit auf Die einzelnen Vorgänge der Gerzbewegung annähernd
in der Weife, daß die Bontraction der Vorhöfe den dritten, die Gontraction der
Herzkammern die Hälfte, der Zuftand der Paufe, in der Vorhöfe wie Kanımern
erichlafft find, den fechften Theil einer Secunde ausfüllt.
Wenn wir unjere Finger in ben Zwijchenraum zwifchen der jechften und
fiebenten linfen Rippe etiwad nach innen und unten von der Bruftwarze auflegen,
fo fühlen wir eine Erfchütterung der Bruftwand, die ſich in regelmäßigen Zeit»
abfchnitten im gleicher Weife wiederholt, Diefe Erfcheinung, der Herzftoß,
wird ebenfalld durch die Bewegung des Herzens herangebracht. Bei der Zufame
menzichung der Syſtole verkleinert fih das Gerz nicht blos und wird dabei
praller und fefter, ſondern es bewegt fich zugleich Hebelartig jo, daß ſich die Spitze
des Herzens der Bruftwand fehr nähert und an biefelbe anfchlägt; diefe Erſchei⸗
MO drang Ed ridingule 40 \uniainel
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— — bedingte Blutbewegung.
erſchlaffen, Arömt Da fat au de ben Sat
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Soſtole der Vorlammern beginnt, frömt das in ihnen enthaltene Blut dahin,
wo ihm Fein Widerftand entgegenfleht; es tritt fo ein geringer Theil im bie
bohl⸗ und Lungendenen zurück, die Sauptmenge aber fhrömt durch bie Vorhoſs
Ft, — e hier dem
zwei Wege zum Ausweicher offen, einmal kann daſſelbe er male
treten, anderentheild durch die arteriellen Oeffnungen in Me großen Gefäßfkimme
enktbeidjen;, mb: fb Hot teiften Berttritef\außlin' Me Rungenarterie, om Inken
im bie große Körperfchlagader gelangen. Das Blut kann aber
Weg in die großen Gefäße nehmen, rn ee
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am den Borhofsmändungen befindlichen Klappenfegel, im Vens
trifel hinter Die Dreipflige) im finfen hinter die a een
Kreitlanf des Blutes unb Krankheiten bed Herzens. 193
entrollt, daß biefelben die genannte Deffnung vollſtaͤndig verfchließen und ein
Zuruͤckfließen des Blutes nach ben Borhöfen Hin unmöglich machen; das Um⸗
ftülpen der Segelventile felbf in den Vorhöfen hinein aber wird durch die Seh⸗
nenfäden, mittelft deren fie an die Warzenmuskeln der Herzkammern befeftigt
find, verhindert, Wenn nun die Kammern wieder erfchlaffen, fo würbe das von
denjelben in den Anfang ber großen Gefäße eingepumpte Blut in den Ventrikel
zurüdftrömen, wenn es fich nicht ebenfalls dieſen Ruͤckweg baburch ſelbſt vers
ſchloͤſſe, daß es hinter die am Anfange der Lungenarterie und Aorta befindlichen
halbmonbförmigen Taſchen träte, diefe aufblähte und fo die Oeffnung zu einem
vollſtaͤndigen Verſchluß brachte. Man kann ſich von den hier befchriebenen Vor⸗
gängen eine Anfchauung dadurch verfchaffen, daß man an einem ausgefchnittenen
Herzen 3. B. durch die Aorta mittelft einer Röhre Wafler in den Ventrikel lei⸗
tet; betrachtet man dann den Teßteren vom Vorhofe aus, fo flieht man, wie mit
dem Einftrömen bes Waſſers die von der Vorbofsmündung befindlichen Segels
klappen ſich entrollen und die Deffnung fo verfchließen, daß ſelbſt bei Bewegun⸗
gen das Wafler dennoch, nicht in den Vorhof tritt. — Die Zufammenziehungen
ber Kammern find viel flärker, ald die der Vorhoͤfe; die Kammer überwindet
nicht nur den Drud, den das In den Gefäßen enthaltene Blut ausübt, fondern
treibt auch das ganze in Ihm enthaltene Blutquantum in die Arterie hinein.
— In der bier bejchriebenen Weiſe wieberbolt fich die Blutbewegung bei jedem
Herzſchlage.
Bei dem Foetus — fo nennt man den noch Innerhalb des mütterlichen
Leibes lebenden Menfchen In den legten Monaten dieſes Lebens — bei dem Foetus
iſt die Blutbewegung im Herzen eine andere. Wie bereitö früher erwähnt, ftehen
bei dem Foetus die rechte und linke Vorkammer mit einander durch daB eiför⸗
mige Loch in einer unmittelbaren Verbindung; das eiförmige Koch aber ift vom
linken Vorhofe aus durch eine halbmondförmige Klappe fo verfchloffen, daß das
Koch bei den Eontractionen der Vorhöfe faft vollftändig verfchloffen werden Tann,
Außerdem befteht aber noch eine Verbindung ber Rungenarterie mit ber Aorta
durch einen weiten Gang, den man nach feinem Entdecker den Botalli’fchen Gang
(Big. 1., 5] nennt. Wenn nun bei der Erfchlaffung des rechten Vorhofes dab
Blut aus den Hohlvenen in den rechten Vorhof dringt, fo tritt dafjelbe noch
während der Diaftole durch das eiförmige Loch zum Theil in den Linken Vorhof
tiber, die zurücgebliebene Blutmenge aber bei der Eontractidn des Vorhofes in
den rechten Ventrikel; zugleich fchließt fich dabei die Klappe des eifärmigen Loches,
verhindert fo den Mücktritt bed Blutes aus dem linken in den rechten Vorhof
und zwingt das Blut in die linke Herzkammer einzutreten, Wenn fich nun die
Herzkammern contrahiren, fo tritt das Blut zwar ebenfalls zugleich in die Lun⸗
genarterie und in die Aorta, firdmt aber auch alsbald aus der Lungenfchlagaber
durch den Botalli'ſchen Bang in die Aorta, mit deren Blute es fich vermifcht.
Rack der Geburt wird durch den Eintritt der Athembewegungen eine allmählige
Aenderung in diefer Blutbahn bewirkt; indem zunächft das eiförmige Loch fich
immer mehr und mehr verkleinert und fich ganz fchließt, verengert ſich zugleich
der Botalli’jche Bang und veröbet allmaͤhlig ganz zu einem ftrangartigen Bande,
IV. 13
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bis in dad mittlere 2 ‚x bleibt fie auf der oben angegebene Mittelzahl vor
10 Si 60 Goläge Arten, um im. Greifenalter bis auf 60, ja 50 Schlä
in der Minute heraßzufallen, — Die Gerzichläge nehmen ferner an Häufigkeit z
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welches Gnwicht von u nu m An
wird, iſt jelbft Laien genugſam befannt. — Intereffant ift es wenigfteng im
Allgemeinen die zahlreichen Variationen in der Frequenz des Gerzlchlages bei
den Thieren hier angubeuten. So hat man bei diſchen 20 bis 24, beim Froſch
gegen 60, bei den Vögeln von 100 bis rg
Kagen 110, bei Gunden 95, beim Echanf 60 —— ——
utugeborenen Pferden und Rindern 100 bis 120, bei enden Samen
ſelben Art 32 bis 40 Herzſchläge in der Minute beobachtet.
Was bie Menge des Blutes anbetrifft, welche bei Jeder Ele de Ran
mern in bie Arterien eingetrieben wird, ſo iſt dieſelbe nicht ganz genau befannt,
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hung eine größere Blutquantität fortpumpte, als der rechte, ſchon nach wenig
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Kreitlauf des Blutes und Krankheiten ded Herzens. 109
einen Druck anf die von ihhnen umfahleffene Biutfäule ausüben, ber gleichmaͤßig
nach allen Geiten, alſo auch nach bes» unb rudwärts erfolgt, ſomit bie Blue
Rrömung nach der Stelle, mo bes wenigfte Druck flaitfindet, nach den Benen bes
fördert. Da die Bentrifelcontrattionen nur periodifch erfolgen, jollte man glame
ben, daß die Strömung bes Blutes ebenfalls nur eine zeitweife, Leine fortwährenbe
fein könnte; ba jedoch bie Dur die Gontraction erzeugte Druckdifferenz wegen
ber Enge bed Arterienrohres und feiner vielfachen Zertheilung in zahlloſe klei⸗
nere und Eleinfte Zweige fiih nicht jchnell genug ausgleichen Tann, bevor nicht
eine neue Bentrifelcontraction und damit eine neue Berfchiedenheit des Druckes
hervorgebracht wuͤrde, fo erfolgt die Strömung continuirlich, wicht periodifch.
Die Geſchwindigkeit der continuirlichen Strömung, oder mit anderen Wor⸗
ten die Beit, die ein Bluttheilchen braucht, um wieder an feinen Ausgangspunkt
zu gelangen, bat man wenigftens-annähernd theils durch bie direkte Beobachtung,
theils durch Experimente beſtimmt. Betrachtet man ben Kreislauf unter dem
Mikroskope, fo kann man hierbei direkt die Zeit beffimmen, die ein gewiſſes
Blutkörperchen braucht, um eine beſtimmte Strecke Weges zurüdzulegen und bie
jo gefundenen, durch zahlreiche Beobachtungen unter Berüdfichtigung aller Ver⸗
haͤltniſſe feftgeftellten Werthe zu einer mittleren Zahl, die die Stromgeſchwindig⸗
feit bezeichnet, vereinigen. — Man hat die Dauer eined Kreißlaufes noch in an⸗
- berer Weife jo zu berechnen verfucht, daß man in bie geöffneten Halsvenen ber
einen Seite eines Thieres eine durch fichere Reactionen ſchon in den geringften
Mengen leicht zu erfennende Flüſſigkeit einfprigt und zugleich aus der ebenfalls
geöffneten Halsvene der anderen Seite Blut in Fleinen Paujen von wenig Se
eunden entnahm und mit demfelben Reactionen auf die eingefprigte Fluͤſſtgkeit
anftellie. Aus dieſem Verſuchen Hat fich ergeben, daß im Mittel der Kreilauf
in der Zeit einer halben Minute beendigt if. Dabei iſt jeboch im Auge zu bes
halten, daß die Bahn eines Bluttheilchens eine verjchieben lange-fein muß, je
nachdem der Körpertheil dem Herzen näher oder ferner liegt; im erfteren Falle
it der Kreislauf fchneller, im Iegteren fpäter vollendet. Außerdem iſt auch Die
Gefchwindigkeit der Blutbewegung an ben verfchiedenen Gtellen des Gefäßcirkels
eine jehr verfchiedene, wie dies nicht blos aus phyſtkaliſchen Gründen, fondern
auch aus der mikroskopiſchen Beobachtung hervorgeht. Am langjamfien ift die
Blutſtrömung in den Haargefäßen, in denen man fie mit bloßem Auge kaum
wahrnehmen würde; am beträchtlichften in dem großen arteriellen Gefäßen, von
wo an fie entfprechend ber immer fortidweitenden Theilung bes Arterienrohres
in zahliofe Heine Aeſte abnimmt bis zu den Haargefäßen; in dem Wenenſyſteme
aber in umgelehrter Richtung mis der bier allmählig eintretenden Erweiterung
des Gefäßrohres zunimmt, jedoch niemals die Geſchwindigkeit des arteriellen
Blutfivomes erreicht. Auch die Schwerkraft wirkt auf die Geſchwindigkeit der
Blutfirömung ein; das Blut wird in den Füßen, wo es ber Schwerkraft entge-
genwirkt, langſamer fließen, ald vom Kopfe aus abwärts nach dem Herzen.
Daß dad Blut in dem Gefaͤßſyſteme ſtets unter einem gewiflen Drucke ſteht.
und daß diefer Drud in den Arterien ein viel Beträchtlicher ift, als in den Venen,
laßt ſich durch Verſuche auf das Wefinumiefte nachweiſen. Durch ſiunreiche aus⸗
B. wird der Blutdruck durch den Puls um Yg, bei den Hunden um Hr erhöht,
bei den meiften anderen Thieren ift die Erhöhung eine noch geringere; während
der Erjchlaffung des Herzens finkt die Blutfäule wieder um fo viel, als fie ſich
bei der Syſtole erhöht hatte. Die Erhöhung des Blutbrudes durch die Puls—
welle fällt natürlich in — EEE Eee geringer aus ba, wie
tragend; er iſt in den dem Herzen näberliegenden Benen geringer —— den
Anfangozweigen; bie nee — demiſelben —
baren Veraͤnderungen hervor. en
* Auer ben biöher nahtihaft gemachten Berhältniffen. üben nach pahfeeie
andere einen mittelbaren oder unmittelbaren Einfluß auf den Blutkreislauf aus,
sn km nd nie bien fen. 66 vu zahlteiche Bes
man 3. DB. eine Fleine Arterie dem Strome eined magnet selcctrifchen Apparates
aus, ſo verlleinert ſich dieſelbe allmaͤhlig bis zum dritten Theile ihres Durch»
beſonders ausgezeichneter Weiſe an den Pulsadern finden.) — auch
jene unter dem Namen Tonus bekannte Erſcheinung am Gefäßſyſteme herdor.
Kreidlauf des Blutes und Krankheiten deö Herzens. 201
6 Tonus bezeichnet man nämlich jenen hwpothetiſch angenommenen Buftand
mittlerer Gontraction, in welchem fich die Gefäße fortwährend befinden
follen. Diefer Tonus oder befländige Spannungszuftand der Gefäße wechfelt
unter zahlreichen Einflüffen weientlich, fo daß dadurch Veränderungen in ber
Bertheilung der Blutmafie, bier bald Vermehrung, bort wieder Verminderung
der Blutmenge hervorgebracht werben. Andere Veränderungen bes Gefäß.
ſyſtems, das plögliche Erröthen oder Erblafien, die Befchleunigung des Pulſes
bei freubigen Erregungen, wie die Berlangfamung bei nieberbrüdenven Ge⸗
müthszufländen zeigen nicht minder auf’6 Deutlichfte, welchen wichtigen Einfluß
auch die Seele auf den Zuftand des Gefäßſyſtems auszuüben vermag; zugleich
ein Beweis für die innige Wechfelwirfung der Seele und des Körpers,
Auch die Athembewegungen find von Einfluß auf die Bluteirculation, doch
erſtreckt fich diefelhe nur auf die in den Bruftfaften eingefchloffenen Gefäße.
Beim Einathmen, wo fi die Brufthöhle gleichmäßig ausbehnt und erweitert,
ziehen die Gefäge das Blut aus den außerhalb der Brufthöhle Tiegenden Gefäßen
an fi; beim Ausathmen findet das umgekehrte Verhältniß flatt. Es gleicht fich
jedoch Liefer Einfluß der Athembewegung aus, da die hier angegebenen Berhältniffe
nur für das Venenſyſtem Gültigkeit haben; in dem arteriellen Rohre findet das
entgegengefeßte Verhalten flatt, bier wird beim Einatmen das Blut aus der
Aorta und der Lungenfchlagader nach dem Herzen zurüdgezogen, wodurch es
alfo dem Kreislaufe entgegenwirft und ten Einfluß, den die Athembewegung
auf die Venen ausüben, ausgleiht. Bei jedem Einathmen wird zugleich der
Drud des Blutes, befonders in den dem Herzen naheliegenden Gefäßen vermin«
bert, bei jedem Ausathmen vermehrt, wie man dies an dem periodifchen Ballen
und Steigen der Quedfilberfäule im Sämodynamometer — fo nennt man das
zum Meffen des Blutdrudes beſtimmte Inftrument — deutlich fleht.
Welchen Einfluß auch körperliche Bewegung auf den Kreislauf übt, zeigt
die Beobachtung, daß beim längeren Gehen die Zahl der Pulsfchläge mit ber
Zahl der Schritte in einer Minute fleigt und fällt. Jede Muskelbewegung muß
eine Veränderung in ber Blutfäule durch Drud auf bie Gefäße hervorbringen.
Bei den in der Tiefe, geſchützt zwifchen anderen Theilen verlaufenden Arterien
ift Dies viel weniger merflich, ald bei den Venen, die wegen ihrer oberflächliche-
ten Rage und ihrer jchlafferen Wände äußeren mechanifchen Einwirkungen einen
weit geringeren Widerftand entgegenzufegen vermögen. Um nun ben nachthei⸗
ligen Einfluß, den die Bewegungen auf die Denen ausüben würden, unſchaͤdlich
zu machen, find in den Venen zahlreiche Klappen vorhanden, die fo geftellt find,
daß fle in normalem Kreidlaufe ganz ohne allen Einfluß auf denfelben find, fich
aber fofort entfalten und dem Blut den Rücktritt nach den Haargefaͤßen zu ver⸗
fperren, fobald ein Außered Hinderniß die regelmäßige Blutcirculation unterbricht.
Außerdem ift noch durch die vermehrte Theilung des Venenſyſtems in mehrfache
Stämme, wo bie Arterien nur einen haben, durch das gleichzeitige Vorhandenſein
von oberflädglichen und tiefliegenden Denen, wie durch zahlreiche Verbindungen,
welche die Venen unter jich eingehen, dafür geforgt, daß, wenn 3. B. die Gircu-
Kreislauf des Blutes uub Krankheiten des Derzens. 283
lange fortſetzt, ba ſonſt ſchwere Zufülle, ja der Aob eintreten kann. Das:
Halten des Athems allein vermag keineswegs die Herzbewegungen gu unterdrücken,
ja es wird ſelbſt die Zahl. der Bulsichläge Hierbel’ nicht bedeutend verringert,
woron men ſich leicht an ſich ſelbſt überzeugen kann. Blanche Menfchen find
jedoch im Stande durch Inhalten des Athems im Zuſtande ber Cinathmung
derch dabei :ansgeübten Drud: den Puls an ber Vorderarriſchlagader zum Vers
ſchwinden zu bringen.
Wir haben biöher nur bie Art uud Weile der Herzbemegungen ins Auge
gefaßt, bie Urſache feiner rhythmiſch und umwilllürlich erfolgenden Gontractie-
‚nen aber außer Acht gelafien. Daß die Urfachen: ber regelmäßigen Bewegungen
des Herzens im Hergen felbft zu fuchen find, geht aus der. merbwärdigen That⸗
ſache hervor, dag auch das ausgefchnittene. Herz nach Längere Beit rhythmiſch
ſich fort bewegt. Läge die Urfache ber Herzbewegungen in ben großen Central⸗
orgauen des Nervenfoftemd., dem Schirn und Rückenmark, ſo mußte nach Ent-
fermng des Herzens aus dem Körper, da hierdurch dieſer Einfluß aufgehoben
wuͤrde, auch das Gerz flillfieben. Genaue Unterfuchungen haben in dem Herz
fleiiche einen Rervenapparat, der als das Gentralorgan für die Gerzbewegung
angeſehen werben muß, dargethan; das Herz trägt die Organe, don denen aus
die Erregung feiner Bewegung erfolgt in fich ſelbſt. Durch weitere forgfältige
Berfuche hat man ermittelt, daß das Frofchherz 3. B. zwei Nervencentra in fich
beherbergt, vom denen das eine im Vorhof, das andere im Ventrikel, dem Vor⸗
hofe nahe liegt; das erftere dient der chythmifchen Bewegung des ganzen Ger
zend, während die im Ventrikel liegende Rervenmafle nur bie Bewegungen des
Dentriteld auf Reizungen befielben 3. 8. bei Berührungen vermittelt. —— Früher
hielt man das Blut für den Erreger der Herzcontractionen, allein bieje Annahme
if eine'unrichtige, da ſelbſt das blutleere Herz fortfährt ſich zufammenzuzichen.
Aeußere Reize haben ebenfalld keinen unmittelbaren Einfluß auf Die periodifchen
Herzbewegungen, indem auch bei Entfernhaltung aller äußeren Reize gleichwohl
die Contractionen fortdauern. Waͤrme befördert die Herzbewegungen auffallend,
wena man z. B. ein audgefchnittenes Froſchherz, deſſen Pulſationen anfangen
nachzulaffen, nur einige Male anhaucht, fo beginnen feine Gontractionen alsbald
von Reuem Heftiger.
Auf die Bewegung des Herzens hat gleidywohl auch das Gehirn durch fein
zehnte Nervenpaar, den Lungenmagemerven oder den herumſchweifenden Ner⸗
ven, wie man ihn ſeines eigenen Verlaufs wegen nennt, einen weſentlichen und
höchſt eigenthümlichen Einfluß. Durch den genannten Nerven werben naͤmlich
die Herzcontractionen ihrem Rhythmus nach beſtinmt, indem er bei feiner Er⸗
regung die durch das Herznervengeflecht bedingten Gontractionen periobijch un»
terbricht; ein Verhalten, welches dem aller übrigen Bewegungsnerven gerade
entgegengefegt ift, indem diefelben durch ihre Erregungen Contraetionen bedingen.
Zu diefer intereffonten Entdeckung ift man durch die galvaniſchen Reizungsuer-
fuche, die man mit den herumfchweifenden Nerven anflellte, gelangt. So wie
man bein Srofche 3. B. beide Lungenmagennerden durchfchreidet, beginnt. das
Gerz alsbald ſchneller zu ſchlagen; fegt man bie Nerven ber. Wirkung eines con⸗
———
pers m ran ante
‚übt ihren Einfluß
„Stelle, furz eine Menge ee wien foldein dem eher jenen
206 za ae Mediein. mm nd noltrn
| Körpers (Blejfimerer) —
einen wefentlichen verfchiedenen Ton — in dieſer Art der Untere
fuchung, dem Beflopfen, der Pereuffion, einen Weg gefunden, wodurch man fidy
eine klare Anſchauung von der Größe, wor auch von ber Lage und ben Umriſ-
und. die an St Seine Su fe un a and Ga
Im, vr HET en nA — EHE 69
"Diefe Art ee den beiden letzten Jahre
zehnten in ausgezeichneter Weife geübt und gepflegt wurde, hat in der That zw
überrafchenben Hefultaten über die Krankheiten des Herzens geführt. Sie hat
Kreitlanf des Blutes und Krankheiten des Herzens. 207
namentlich zunächft dargethan, dab Erkrankungen und Deränderungen des Her⸗
zens fich in weit häufigerer Menge finden als man dies früher glaubte. Diefe
feitgeftellte Thatſache Hat hier wiederum dazu beigetragen, daß man ſeit jener Beit
mit um fo größerer Sorgfalt bei jeder Unterfuchung die Aufmerkſamkeit auf das
Ser; und defien Verhalten richtete, fo immer von Reuem die Häufigkeit der Herz
krankheiten beflätigt fand und zugleich biefe eractere Unterfuchumgömethobe weiter
verbteitete und ausbildete.
Weiter verdankt man biefem Unterfuchungsverfahren die überaus wichtige
Watſache, daß die mannigfachflen Störungen de8 Herzens und feiner Thätig-
feit vorhanden fein können, ohne daß der Kranke irgend welche Ahnung von fels
nem Leiden bat. Diefer Umſtand wird wichtig ſchon dadurch, daß er bei jedem
irgend erheblichen Krankheitsfall auffordert, die Aufmerkfamteit auf das Berz
zu vichten und baffelbe genau zu unterfuchen. Der überaus große Werth dieſer
Watſache für den Kranken Liegt aber darin, daß demfelben durch ein frühzeitige®
Erkennen feiner Krankheit die Möglichkeit geboten wird, alsbald das geeignete
Verhalten zu ergreifen, durch welches dem weiteren Umfichgreifen der Krankheit
mit ihren Folgen nad Möglichkeit Schranfen gefet und das Leben fo verlän-
gert wird.
Gegentheils bat man aber auch bie nicht minder wichtige und intereffante
Erfahrung gemacht, daß die zahlteichſten Beſchwerden des Kranken am Herzen,
als da find Drud, Schwere, Spannung, Schmerz daſelbſt, Herzklopfen u. f. w.
vorhanden fein fünnen, ohne daß das Herz auch nur die geringfte Eranfhafte
Veränderung Darböte, eine für den Arzt wie für den Kranken gleich wichtige
Thatſache. Weiter hat fich gezeigt, wie der Verlauf der meiflen Erkrankungen
des Herzens ein langſamer, fich über viele Jahre Hinziehender if; wie troß eines
Herzfehlers ein erträglicher Zuftand während des Lebens beftehen und dieſes ſelbſt
lange Zeit erhalten bleiben kann. Liegt hierin eine Ernuthigung für die Kran-
£en, fo richtet diefer Umftand zugleich eine firenge Mahnung an den Arzt, nicht
mit der Diagnofe einer Herzkrankheit fich zu begnügen und dann ben Kranfen
feinem Schicfale zu überlaffen, fondern ihn vielmehr mit um fo größerer Sorg⸗
falt und unausgeſetzt zu behandeln, womit jedoch Feinedwegs gefagt fein foll, daß
man den Kranken beftändig mit Arzneimitteln füttern folle. Dieier legte Erfolg
der neueren Mebicin, eine vernünftige Behandlung chronifcher Herzkrankheiten,
für die Praris zugleich der wichtigfte, iſt nicht das fchlechtefte Verdienſt, welches
bie neuere Schule errungen.
Einflußreich find ferner die Erfahrungen, in welch außerosdentlicher Häu⸗
figfeit die Krankheiten des Herzens mittelbar oder unmittelbar Durch andere Er⸗
krankungen des Organismus hervorgerufen werden, wie andermtheild ſchwere
Erjcheinungen in anderen Organen durch Störungen am Herzen einzig und als
lein bedingt fein können.
Wir übergehen bie Entzündungen, bie ſich am Herzen unb feinen Theilen
fo gut, wie an anderen Organen finden, laſſen auch die Erfranfungen bes Herz⸗
beutelö, die Herzbeutelwaſſerſucht und zablreiches Andere unberührt, um bie im
x
Kreitlanf des Blutes un: kanfheiten des Herzens. 209
— In analoger Weiſe kann man ſich bie Verhälinifie bei anderen Klappenfeh⸗
Sera. durch Bergegenwärtigen der phyſiologiſchen Verhaltniſſe verſinnlichen. —
. Iſt die Störung des: Herzend: fine maͤßige, fo Tann auch das Geſammtbe-
Anden nicht oder nur fehr unbeträchtlich geſtoͤrt erſcheinen und eine wenigſtens
retative Geſundhoit ſich längere Zeit erhalten. Fruher oder ſpaͤter, um fo eher,
je beträchtlichen der Fehler ausgebildet, treten wellere ind ſchwerere Erſchrinun⸗
gen, tiefere. Störungen des Befamnitbefindene ein. Dieſelben find je nach dem
Einzelfalle verſchieden, zeigen fich aber. mehe oder weniger in allen Organen.
Neiſt nimmt das Ausſehen ber. Herzkranken etwas eigenthümliches an; wfele zei⸗
‚gen ein bluͤhendes Ausichen, mit ruſchem Wechſel der Farben derbunden. andere
find anhaltend. bleich and: blaß, hanftg zeigt. die: Geſichtsfarbe wie die Naͤgel einen
Sta ind blauliche, das Geflcht erfcheint gedunſen; noft ſtellen ſich art: verſchiede⸗
nen Stellen: leichte waſſtrſuchtige Anſchwellungen ein,“ die wieder vergehen, um
nach längerer: odet kuürzerer Friſt von Neuem zu erſcheinen, fo an den Weinen,
Handen, an ben Augenlibern; im weiten Berlanfe ſtellon ſich meiſt auch waſſer⸗
füchtige Ausſchwitzung ia die Köeperhöhlen, den Unterleib, die Bruſt ein, Herz⸗
kranke find meiſt ſehr tehzbar, zum Erſchrecken und großer Amgftlichfeit geneigt;
"häufig lriden fie an Schwindel: und anderen krankhaften Erſcheinungen des Gehir⸗
nes. Sehr..aft: inet ſich ein immer. wiederkehrendes Kaſenbluten; Blutungen
aus den Lungen, chronifche Gaturrbe:u. ſ. w. derſelben find ganz gewoͤhnlich.
Jene eigenthämliche, früher als Wlaufucht. befchriebene. Krankheit, deren
wichtigfte Erſchetnung / eine Serrächtliche Blaue Hautfärbung iſt, beruht meift auf
einem angeborenen Herzfehler und zwar auf einem Offenbleiben des. eifdrmigen
Loches, wodurch, wenn die Deffnung: beträchtlich, eine Verwiſchung des Blutes
der rechten mit der linken Herzkammer bedingt wird.
Außer dieſen Klappenfehlern des Herzens * A; haufig auch anfeche
Verdickungen oderHypertrophten dre Herzens. entweder mit gleichzeitiger Aus⸗
dehnung dee Herihöhlen aͤder ohnedieſelben. Die: Folgen dieſer Herzverdickun⸗
gen beſtehen zunächfb in einem vorſtäͤrkten, die Vruſtwand beträchtlich erichättern-
"dem Herzſtoße, verbuaden mit zeitweiſer Unregelmaͤßigkeit der Hetzbewegungen,
geinveiſe eintretendeni Herzklopfen, dabei Vorwölbung dev Herzgegend bei Außbeh-
nung der Herzbämpfung: mit meiſt veränderter Lage. Much bei: dieſer Störung
kann ſich ein leidliches Befinden Tange: erhalten. :-Meift-bilden fich jedoch hierbei
-feeuntär Klappenfehler aus, die matürlich den Zuſtand beträchtlich verſchliumern.
Der Verlauf iſt wie bar ben‘ Mlappenfehfern, mei ein langſamer/⸗ Aber. Sabre
quögebehnter. Ä
Gewiß haben Ziele h von unferen geſern von Ho" ‚yoigpen vedem. Hören,
ohne eine Idee von dem zu haben, was man darunter verſteht. Als Kergpolds '
pen bezeichnet. man nämlich faferftoffige Gertunfel des Blutes, die ſich in irgend
‚einer Abteilung des Herzens. gebildet haben .umd die man in außergeamöhnlicher
Häufigkeit in Leichen findet. Sie find meiſt von untergeordneter Wichtigkeit,
:da fie gewöhnlich erft in den letzten Stunden:ded Lebens fi bilden, Häufig exit
nach) den Zode entftanden find. In frügeren Zeiten: fpielten- fie, im einen ge⸗
heimnigvollen myfliſchen Schleier gehültt, eine große Rolle in der Medicin. Die
IV. 14
ähnlichen 2 *8* Ale Ken in en u Kr z
Fol Ci ar Ye ſehr gewöhnlich in der Kante
Kreiblauf des Blutes und Krankpeiten des Herzens. 211
Weije durch einen früßzeitigen Verfall der Kräfte. Hauptaufgabe bleibt es, wei⸗
tere Störungen zu vermeiden und neu auftretende nach Möglichkeit zu bekämpfen.
Es eröffnet fich Hier für den forgfamen Arzt ein weites Feld, und es zeigt wie
auch bei an ſich unheilbaren Krankheiten eine gute Behandlung für den Kranken
don größten Werthe wegen Ermäßigung der Beſchwerden und zur Erhaltung
bes Lebens ift. — Die nächte Hauptaufgabe beſteht in der Grhaltung einer mög⸗
licht dem Normalen ſich nähernden Blutcireulation. Die Diät verdient eine
befondere Vrachtung, fe’ foll Lietter. ofen Berhklinifen zunb in allen Perioden
ber Krankheit eine ſtrenge fein, namentli find geiftige Getränke und reizende
Speifen am beften ganz zu vermeiden oder doc mit großer Vorficht zu genießen.
Namentlich muß man auch darauf achten, nicht zu viel Nahrung auf einmal zu
fi) zu nehmen. Bei fehr gefchwächten Kranken muß natürlich ein ftärfendes
Verfahren angewendet werden. Geiflige Anftrengungen, ebenfo gemüthliche Er⸗
zegungen find ganz zu vermeiden, ba fie. busch Iinsegelmäßigfeiien des Heß.
ſchlages vom nachtheiligftien Ginfluffe find. Große Aufmerkſamkeit verdienen
Eörperliche Bewegungen; fle find keinesweges gamz zu vermeiden, aber auch nie
gu. weit zu treiben ; jede anfisengende Bewegung, Bergeiteigen, Laufen, Zangen
u. ſ. w. iſt ganz zu unterlafien, Alle nöthigen Borfihtömapsegeln, Die der Arzt
angerathen, müfien mit Gonſequenz durchgeführt werben, Die ganze Lebenaweiſe
eine fireng geregelte, dem Gingelfalle angepaßte fein. Jede noch jo unwichtig,
ericheinende andere Erkrankung bei einem Herzkranken maß wit des größten
Sorgfalt behandelt werben, —
14*
at Ba RE ren,
" get! IT" ir, ! .. " .'. — Er Kanıla
Der Parafitismus im Chierreich. :
RE Bon _ | J
en Dr. Georg Binmenbadh.
Bine der merkwärtigften und befrembendften Erfchelnungen, welche uns die Ra⸗
Yargefcichte des Thierreichs darbietet, ift ber Paraſttiomus, d. h. das Vorhan⸗
denſein von Schmarotzerthieren, ober von ſolchen Geſchoͤpfen, die in und auf
anderen Thieren leben und ihre Nahrung aus ihnen ziehen. Die Ausdehnung,
weiche derartige Gejchöpfe in der Thierwelt einnehmen; iſt unendlich größer, als
e8 auf den erften Anblick erfcheinen möchte, denn es iſt vielleicht nicht Ein
“„Ihier, gleihviel welche Stufe es auch Immer in der Reihe der
Ssebebten Wejen einnehmen mag, gany-frei von ihnen; ja mande
Thiere find von der Natur förmlich beftimmt, verfchiedenen Arten berfelben zum
Aufenthalt und zur Rabrung zu dienen, während andere dagegen nur von einer
oder höchſtens von etlichen Arten derartiger Weſen heimgefucht werden. Sa,
wenn man der Behauptung eined Engländer Glauben fchenfen wollte, der
neuerdings wieder den alten Wahn auffrifchen möchte, daß unfer Erbball felbft
nur ein ungeheures rieſiges organiſches Weſen oder, wie der große Keppler träumte,
ein Riefenthier fei, fo könnte man, geſtützt auf die neueften mikroskopiſchen Un⸗
terfuchungen , behaupten, dad ganze Reich der Schöpfung, der befebten wie ber
unbelebten, beftehe nur aus einer Ineinanberjchachtelung von Schmarogerweien,
die fich bis ins Unendliche verfolgen lafſe.
Faſt fein Theil des thierifchen Körpers iſt von ihrem Befuche frei; jeder
bat beſtimmte Klaffen folcher Thiere, welche ihn entweder nur vorübergehend
heimſuchen oder fi zum fteten Wohnorte nehmen. Manche halten fich auf dem
Haupt, im Haar, in den Federn oder in den anderen Materialien auf, mit wel⸗
hen der thieriiche Körper bedeckt ift; graben bort Neſter für ſich in den verfchie-
denen Stoffen oder wiflen fich auf andıre Weife ein paflendes Unterfommen auf
den äußeren Theilen des Körpers zu verfchaffen, Eine ganze Thierzunft, bie
ber Entozoen oder Binnenwürmer, lebt im Innern des thierifchen Kör⸗
pers, im Gehirn, der Leber, den Gedaͤrmen, Eurzum beinahe in allen Theilen der
Eingeweide und ift häufig die Urfache ſchwerer und oft töbtlicher Krankheiten.
Ja, dad Eyſtem des Echmarogerlebend im Thierreiche wird manchmal fo um⸗
fangreich und verfettet, Daß wir zahlreiche Beifpiele kennen, in welchen ein
Schmarogerthier auf dem andern Icht, und jened wieder einem dritten, dieſes
> ⸗
Der Parafitiämus: im Thierreich. 218
dritte vielleicht einem vierten zum: Aufenthalt dient, fo daß: wir diefelbe Erſchei⸗
nung durch vier verfchiebene. Stufen verfolgen können und den Beweis vielleicht
noch weiter gu führen vermöchten, wenn und bie Hülfsmittel unſerer Sehkraft,
die Vergroͤßerungsglaͤſer, nicht jenfeit gewiſſer Grenzen im Stich ließen.
In manchen Fällen find wir nicht im Stande, uns einen genauen Begriff
von ben Zweden zu machen, welchen biefe.Befchöpfe zu dienen beflimmt find; in
anderen tritt dieſer Zweck mehr zu Tage, und in ſehr vieler Faͤllen erkennen wir
fogar deutlich, daß: die weile Abſicht des Schöpferd eine befondere gute. Abſicht
mit ‚der Schöpfung dieſer Schmaroperthiere verbunden: hat! Viele der Racen
der fogenannten niedrigen Thiere, z. B. der Infeften, vervielfältigen fich auf übers
aus furchtbare Weife; es macht fih in ihnen ein, Befireben geltend; fich über
Gebühr zu vermehren und die Grenzen zu überfchreiten , welche ihnen im Hause
halte der Natur geſteckt worden find. .Vermittelft diefer Schmarogerthiere, welche
unter. den eben. angeführten Thierklaſſen weitaus am zahlreichſten find, wird ‚eine
Reihe. von Gegenwirfungen and Hemmungen ‚bergeftellt, um dieſe uͤberwuchernde
Sruchtbarfeit einzudämmen und ein vaſſendes Gleichgewicht unter den verfchie⸗
denen Thierracen zu erhalten. Die Rasur. felbft if ſtets der beſte Arzt für bie
Gebrechen, welche fie wirflich mit gich bringt ;. die Weisheit des Schöpfers hät:in
dem Kreißlauf.des organiſchen Kebens jchon im Voraus dafür geforgr, daß daB
hewundernswerthe Maaß, die erhabene Garmonie des Ganzen, nirgends geſtoͤrt,
daß bie überwuchernde Kraft und das überwuchernde Leben überall eingedaͤmmt
werden, damit alle Kräfte: ſich gegenſeitig das @leichtgewicht halten. Wie im
Leben der Menſchenrace die Geſchichte und: nachweiſt, daß Kriege und Seuchen
jo oft zur rechten Zeit die allzu dicht gefäcte Bevölkerung gelichtet und den Ente.
wickelungogang der Civiliſation zwar auf Augenblicke durch Kriege u. dgl. ſchein,
bar gehemmt, nach deren Beendigung. aber mit Rieſeuſchritten wieder gefördert
haben, — mie wir in den räuberifchen: Macen der Wirbelthiere ebenfalls ein:
Mittel ſehen muͤſſen, überwuchernden Leben ber auderen Thiere entgegen zu
arbeiten, ſo ſind die Schmaroterthiere ein zwar unſcheinbares, aber darum ie
minder wirkſames Mittel. zu dem gleichen wel. .. ".:: Z
Man unterſcheidet untes ben Schmarotzerthierenve ch te und uneste Bas
rajiten,. . Echte nennt: man ſolche, ‚Die ſich gewöhnlich auf fremden Thierkör⸗
pern aufhalten und ſich auf dengelbenfortpflanzen wie z. B. die mei⸗
fien Milben, wahre. Läufe 26., gu: den. unerhten: gehören diejenigen, welche nur
einen zeitweiligen Aufenthalt: auf dem Thierkörper nehmen und ſtch nicht af
demielben fortpflanzen, wie * B. mehrere Drenfen, Bieekiaen: bangen, AR
kitos, manche Flöhe u. dgl. Fe
Wenn wir oben fagten, daß fein thieriſches Geſchoöͤpf dicſer Plage Teig cd, 1
jo beginnen wis billigerweiſe unfere Betrachtung an dem Menſchen ſelbſt, als der
Krone und Spige der ganzen organiſchen ˖ Natur. Es iſt ein feltfamer aber une
verfennbarer Fingerzeig des Schöpfers, daß gerade der Menfch, den feine Otiſtes⸗
vorzüge, die Bielfeitigfeit feiner Ihätigfeit und Kähigfeiten, der wunderbare Bau
und Mechanismus feined ganzen Körpers fo unendlich hoch über alle anderen.
Thiere jtellen, beinahe am meiſten Schmarotzerthiere auf und in feinem Körper :
fähls — an oma —— ——
ee eift
und Gemüch gebilde ta Me *
———
beim geſucht wird? daß der Menſch, je mehr'er verthiert/ deſto mehr feinen
n Ungeziefer aller Art bewohnt und allmälig zerftört werden
——— Worten der Schrift und der Be⸗
fimmung ber Borfehung nach dem Tod zur Nahrung dienen foll. Im jugend⸗
lichen Alter ift der Menſch hauptſaͤchlich von zwei Eingeweidewürmer Heimgefucht,
dem Spulwurm (Asearis lumbricoides) und dem Madenwurm (Oxyuru
vermicularis),, welche oft jo fehr überhand nehmen, daf fie Frankhafte Zufälle
erregen. Im reiferen Alter ift er vom Peitſchenwurm (Trichocephalus dispar)
Kg, din de gönnen Me ee
; Lauſeſucht ſollen a N Tee Seren, aretina, 2
—— Be Dictator 9. alfer * an
und Philipp der zweite von Spanien geſtorben ſ fein E. anni, ml AD
Der Parafititegub in Thierreich. "215
Spiralwurm (Trichima spiralis) ;: &er : ur :eine'halbe Linle lang ik und zwiſchen
den Bafern der willfhrlichen Muskeln reihenweiſo Huufı-: FIm menfchlichen Anne
fommen nidyt wewigen als -dreierlei. Würmer vor, Deinen man neuerdings die Ur⸗
fache.der Staaverblindung deffelben beilegt, obwehl:es noch nicht gehörig. darge⸗
than ift, ob diefe nur im ftaarblinden Augen worfominenden Würme Urſache
oder Folge der: erlahmten Tätigkeit dieſes wichtigen Sinneswerkzeuges find.
Bekannter ift das Vorkommen: des Baunbwwrmwes im feinen verſchiedenen Ab⸗
arten, an welchen einzelne Menfchen 20-30 Jahre lang Kitten’ und von dem
manche Stände, 3. B. Kochinnen, Schlächter, Schneider vorzugsweiſe heimge-
fucht, manche Länder dagegen ganz frei find, : :Mertiuhrdig ift, daß der Bands
wurm der Schnepfe, dev Hauptbrflandegeil Des. fegenannten Schnepfendrecks
von manchen Menſchen für einen. beſonderen Leckerbiſſen gehalten wird. In
tropifchen Gegenden: find die Eingebosenen ‚Häufig ben Angriffen eines rieflgeri
Schmarogerthierd ausgefegt, der unter. dem Namen de Guineawurms., Res
ger⸗ oder. Rervenwurms (Filaria medinensis) bekannt iſt. Diefer dunkel
braune Fadenwurm von 2—3 Fuß Länge und einer. Biertellinie Dicke graͤbt ſich
unter die Haut der Fuͤße ein und bleibt manchmal Jahre fang dort unbemerkt,
weil er nur felten oder nur nach Magbgabe des Orte an dem er ſich eben beſtn⸗
det, Schmerzen verurfacht. Er kommt auch an den Händen und unter der
Bindehaut des Anges vor, iſt am haͤufigſten in Afrika: bei Negern und Euro⸗
päern, befonders am Senegal, erfchelnt aber auch in Europa und Anterika Doch
meift nur.bei Perfonen, - welche felbft. in Afrika geweien oder mit Afrifanerw
in ein. näheres Verbältniß: gedommen find. Dus Weibchen iſt oft mit vielen
lebendigen Jungen angefhtlt, bie ich auch in den Eiter der Befchwüre vorfinden,
aus denen ber Wurm nad, Außen ausgeſtoßen wird. Bei manchen Regern; bes
fonders foldden, die zur Settleibiglelt geneigt And, foll der Nervenwurm eine
Länge von 10 Fuß und. die Dicke eines Taubenkiels erreichen und nicht anders
abgetrieben werben Söunen, als dadurch, daß der Matient geduldig abmwartet, bis
ein Theil vom Körper de Wurms Durch Die Haut zu Tage kommt, an welchen
er ihn dann ergreift und -langfam und. verfichelg herauszieht, wobei er jedoch
jehr auf feiner Hut fein. muß, daß er das feingebaute Thier nicht zerreißt. Won
den Flöhen iR der Sandfloh: (Pulex penetrans, Chique) der. Hekgem- Länder wett
fchmerzhafter für den Menſchen, ald fein: verwandter Bruder, der: gemäßmfiche
Floh (Palex irretans) ‚der kälteren Regionen; denn. das befruchtete . Weibchen
jenes Flohs gräbe ſich Menfchen und Thieren in die Fuße ein, befunders unter: die
Nägel der Fußzehen, wo es dann ſehr anfchwille und eine große-Blafe bildet,
weiche die Eier enthält. Wenn die Jungen ausſchlüpfen, ſo veranlafſen fie hef⸗
tige Geſchwuͤre, bie ſehr ſchmerzhaft, ſchwer zu heilen und oft toͤdtlich And, wer
fle in Brand übergeben. ı Sudamerifn,, die Grimath: des Sandflohs, beherbergt:
noch ein. anderes für’ den Menſchen ‚gefihrliches Thier, nänilidy die Menſchen⸗
bremfe (Oestrus hominis), welche nach Merander v. Humboldt ihre Eier unter
die Haut des Menichen legt und ihre Jungen durch die natürliche. Wärme derſel⸗
ben ausbrüten laͤßt.
Die meiſten der vorerwaͤhnten Saohethicre rommea PEN auch
webe und puifchen den Muöfelfaiern bed —**— vorfommt und oft die Gröfe
eines Fingerohutes erreicht. Die Finne wird auch Häufig bei Menſchen im Ge—
Der Paraſitismus im Thierreich. MT
hirn, den Nieren, der vorderen Kammer und ber Binbehaut der. Augen u. ſ. w;
angetroffen. Ein anderer Blafenwarm iſt die Leberfinne ber Grafen,
wi die Franzoſenſeuche unter .dDiefen Thieren veranlaßt.
In des ganzen Zunft der Schmaroperthiere ift vielleicht Fein einziges für
den beoßachtenben Raturforfcher fo merkwürdig, als die. Bunft Der Bremfer
oder Biesfliegen, von welchen die Pferbewürmer herrühren. Dieſe Mücken⸗
art iſt etwas größer als die gewöhnliche Schmeißfliege und von gelhlichbrauner
Farbe. Das Weibchen iſt mit einem röhrenförmigen Apparat verſehen, welchex
ſich in-einen Hafen endigt und zum Eierlegen dient. Hat naͤmlich bie weibliche
Miesfliege ſich das Pferd ausgefucht, den fie ihre Rachkommenſchaft anvertrauen.
will, fo jet fle ſich an die Sihulter oder an den Fuß deilelben mit einem Ei in
dem feinen Gäfchen, das am Ende jeiner Afterröhre Liegt und fegt dieſes Ei an
ein Haar, woran es mittelft eines gallertartigen Stoffe oder feinen -Leinis hängen
bleibt, womit das Ei bekleidet iſt. Hat fie auf dieſe Weiſe ˖ſich aller ihrer Eier
entledigt, ſo glaubt die Biesfliege Ihre Mutterpflicht erfüllt zu haben, fliegt da⸗
son und: überläßt das Ei allen Wechſelfaͤllen, die es noch befallen mögen. Die.
Eier müffen durch die Hautwärme und Ausdünflung bed Pferdes ausgebrütet
werben, was fchon nach wenigen Tagen geichieht. Die Fleinen Larven verure.
ſachen dem Pferde ein unangenehmes Juden auf der Haut, und. es beledt nun
bie empfindlichen Stellen. Dadurch gelangen fie an die Zunge und in Die Munde’
höhle des Pferdes. Zu diefem Behufe legt die Bremfe ihre Eier auch nur auße-
ſchließlich am die Vorderfüße und die Schulter des Pferdes, wa dieſes mit dem
Maule um fo leichter zu kann; aber ſelbſt wenn djes nicht der Fall maͤre, fe:
gehen die Maden der Biesfliege nicht verloren, de die Pferde einander abzulecken
pflegen und auf dieſe Weiſe rin Pferd, das noch nicht an. Moßwuͤrmern leidet,
ſolche von einem ‚anderen bekommen Tann. Die in Ma Mundhöhle des Pferdes
gelangten Maden der Biesfliege werden mit: ben Nahrungsmitteln verſchluckt und
gelangen in deu Magen, der oft von: ſolchen Würmern ganz hepflafiert erſcheint,
ohne daß dies jedoch ber Geſundheit der Bferde Eintrag tbäte. Im -Magen endx
wideln ſie ſich bis zur: Größe son Dattelfernen, laſſen dann los, jobald fie aub⸗
gewachſen find, gehen mit dem Miſtdurch alle Windungen des Danmkanals ah
und: fallen mit den Roßaͤpfeln auf bie Erbe, rin welche ſie ſich einbohren und .nere ı
puppen, menn fie nicht zuvor von den verſchiedenen Schmeißvogeln herauegeholt
werben, welche nech diefer Speiſe fehr Lüftern find. Wer mollte in dem Inftinkt, :
in dem gebieterifchen Raturdsange, welcher diefe kleine Fliege auf foldye Weiſe
für ihre Rachkommenſchaft zu forgen gelehrt hat, bie unvergleish. weile und gütige
Schöpferabfiht Gottes .vertennen? Komm’ ber, armieliges Menfchlein, das du
Dich fo gerne befonnft in dem winzigen Lichtlein deiner Vernunft und wage Ans
geſtchts ſolcher Wunder noch von Zufall zu reden! — . -
Die Made der Pferdebremſe iſt auch ganz geſchaffen für ben Rebensuet,
ber. ihr in den Eingeweiden des Pferdes vorgefchriehen if. Sie. if etwa drei
Biertel-Zoll lang, dunfelbraun, Fegel« oder birnförmig (etwa in der Geſtalt eines
Tupfernen Bulverhorns), ohne Kopf, mit zwei nad) unten gebogenen, parallelen
Hornhäfchen, womit fie fich in der Magenhaut fefthalten kann; an den Rändern
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Schmarotzern gehört, iſt die bekannte Zecke (Ixodes rieinns), welche beſonders
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Der Paraftibinns im Thierreich. 218
Sthmaropertbiere müßten von entfprechendem Umfange und bebeutenter Größe
fein. Allein dies ift keineswegs ober wenigften® nicht in auffallenterem Grabe
der Fall. Eines der befannteften Schmarogertbiere der Wale ift die ſogenannte
Walfiſchlaus (Oniscus ceti), ein feltfames Erebsartiges Thier mit laͤnglichtrun⸗
dem Körper, der aus neun Ringeln oder Segmenten befteht, mit acht Yüßen, die
in einer ſtarken Klaue endigen. Sie find auf einzelnen Walfifchen fo häufig, daß
je dieſe ſchon von weitem durch Die weiße Farbe Eenntlich werben, welche fle dem
Waffer mitteilen, wenn fie, um zu atmen, an bie Luft fommen. Weißt man
fie hinweg, ſo findet man gewöhnlich die Haut unter ihnen ganz weggefreffen
und bie oberflächlichen Theile mehr ober minder verliebt. Sie legen ihre Gier
in eine Art fchaliger Tafche unter dem Schwanze, worin biefe bleiben, bis fle
ausgebrütet find. Selbſt Die Jungen werden noch eine Zeit lang in biefem Be⸗
hälter mitgetragen, was an Die Beutelthiere Auftraliens erinnert. Es gibt meh⸗
rere Spielarten der Gattung Cyamus, worunter die oben erwähnte auch an der
Makrele gefunden wird. Die Wale ber Sädfee und der oftinbifchen Gemäffer
haben ganz andere Arten, als die der nördlichen Meere. Die liebften Stellen
am Walftiche find ihnen die unter den Kloffen und an den Weichen, in der Nähe
des Schwanzed. — Zwei Weichthiere aus der Gattung der Meereicheln leben
ebenfalls als Ungeziefer an den Walfijchen und werben von den Matrofen irr,
thümlich gleicherweiſe Walfifchläufe genannt. Es find dies Coronula balaenaris
und Diadema halaenarum, wovon erftere auf und in der Kopfhaut, letztere an
Bruſt und Floſſen der Walflfche anhaften. Die größte Plage der Wale ift aber’
die fogenannte tonnenförmige Walfiſchlaus (Tübieinella balaenarum) ;'
biefe eichelartigen, aus mehreren Ringen beftchenden Gliederthiere fenfen ſich 618’
zum letzten Ring in die Haut der Walftfche ein, und bedecken diefe buchftäblich an
manchen Stellen. Die Zahl der Ringe bezeichnet tie Altersgrade diefer Cirrho—
poden, wechfelt daher fehr häufig. Auch mehrere Arten von Meerafieln leben
als Schmaroger auf den Walen, wie denn überhaupt Fein größeres Neerthier
ganz frei von ſolchem fogenannten Ungeziefer iſt.
Auf die Echmaroger der diſche und Schildkröten werben wir noch zu ſpre⸗
chen kommen.
Ein nach Geſtalt und Faͤhigkeiten ſehr intereſſantes paraſttiſches Thierchen
iſt die Fledermausmilbe (Pteroptes, auch Gamarus vespertilionis), beſonders
ausgezeichnet durch eigenthuͤmliches Ausſehen und audnehmende Geſchwindigkelt
feiner Bewegungen. Es gehört zu den Milben oder ungeflügelten Inſekten, gleicht
aber von Beftalt mehr einer Epinne. Da diefe Milbe auf dem Flügel der Fle⸗
dermaus Tebt und zwar hauptfächlich auf dem ganz kahlen Theil deffelben in der
Nähe der Klaue, mittelft der dieſes Thier fich aufzuhängen pflegt, fo könnte e®
ſehr Teicht abgefchüttelt oder von der Stelle gerädt werden; um es daher in den
Stand zu fegen, fich feftzuhalten, befindet fidy an jedem feiner Füße ein Tleine®
Bläschen, das es ald Sauger anwenden kann. Um ihm ferner die Moͤglichkeit
zu geben, feine Stellung wieder einzunehmen, wenn e8 verrückt worben iſt, beftgt‘-
ed die Kähigkeit, jeine Füße ſogleich aufmärtö zu drehen und fo zu fagen auf dem-
Rücken zu geben. Ja das Thierchen kann fogar, wenn ed nur will, nur einen
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Der Parafittämik im Thierreich. u
Baues do bis jet noch nicht häufig befchrichen worden fin, Ein beſonders
merkwuͤrdiges Thier (Achtheris percaruni) ans der Klaſſe der Krebſe, lebt an
den Floſſen und an den Kiemen des Flußbarſches amd Sanders; es iſt etwa
2— 222 Linien lang und fein Körper beftcht aus zwei’ Theilen, deſſen fürzerer
von Kopf und Vorderbruſtſchild, die nicht einmal durch eine Naht getheilt find,
deſſen längerer aber aus jech® Ringeln gebildet wird; am Bauchſchild befinden
ſich zwei Eierbeutel, welche mit einer fchr zahlreichen Brut gefüllt find. Das
hier Tebt Häufig im Munde des Barſches — freilich ein ſehr gefährlicher Auf⸗
enthalt — wo es nicht nur Gefahr laͤuft, von den’ Zähnen zermalmt, fondern
auch mit den verichlebenen Nahrungsmitteln dieſes Thieres gefaut: und "Durch
deſſen Magen ‚abgeführt - zu- werden. Das hier braucht daher einen Apparat,
mit dem es ſich an einem beliebigen Orte anheften kann, und dieſes Werkzeug,
das. bei ihm wirklich vorhanden ift, ift fo ſinnreich, daß es füglich näher beſchrie⸗
ben zu werden verdient. An dem Hinteren Theile des Bruſtſchildes diefes winzi⸗
gen Krebſes entfpringen nämlich zwei, fe von einer Seite ausgehend, armför-
mige Inorpelige Anhängfel, welche vorwärtd gebogen find, bis fie gerade vor dem
Kopfe zufammentreffen; genau auf ihrem Vereinigungspunkte ift ein becherfäre
miger Saugapparat angebracht, mittelft deffen ſich das Thier in der Schleimhaut
und den Zellgewebe des Fiſches feflfaugt und fo- gewifiermaßen gegen jeden '
Sturm gefichert vor Anfer liegt. Bei der flarfen Bewegung der Kiemen bed
Barſches wäre fein einziged Anhaftungsmittel To ficher und fo zweckentſprechend,
als diefes, um fo mehr, als es für Maul und Kopf des Meinen Krebfed die un⸗
bedingtefte Freiheit und Beweglichkeit zuläßt. Zwei ähnliche Thierarten (Tra-
cheliastes polycolpus und maculatus und Brachiella impudica, fommen ebenfalls
noch an Fiſchen ver und zwar erftere beide an: Floſſen und Schuppen verſchiede⸗
ner Karpfenarten, dad lehtere an den Riemen der Scheilfiiche! Die verſchiedenen
Karpfenarten und Brachjen find außerdem noch von dem fogenannten Fiſchband⸗
wurm {Caryophyllaeus mutabilis) heimgejucht, der manchmal über einen Fuß
lang wird. Der Kappenwurm (Cuculanus elegans), vier bis ſechs Linien lang,
lebt im Darm vom Hecht, Barfcy und Wels, beſteht aus einer blafigen Kappe
von röthlicher Farbe und daran hängendem Schwanze, der beim Maͤnnchen mit
einer Seitenfloffe verfehen, beim Weibchen aber ſtumpf if, und gebiert lebendige
Junge, die man ſchon in den Eiern’ innerhalb der Mutter fich bewegen: fehen
fann. Gin anderer Fleiner Krebs aus der Familie der Lernaeoeeren von adht
Linien Länge, Icht auf Karauſchen, ein anderer im Sie des Se, ‚im dritter
im Auge des Herings.
Die Karpfenlaus (Argulas foliscens), ebenfalle ein Meines krebs
artiges Thier, wird auf verſchiedenen Suͤßwaſſerſiſchen Mitteleuropas ge⸗
funden.“ Ihr Körper iſt mit einem beinahe kreisrunden Schild bedeckt,
der oben abgeflacht und durchfichtig if. Das Thier Bat, wie die meiften
anderen Echildfrebfe und Fifchläufe, zwölf Fuͤße, bie alle bis auf das erfle
Paar gefiedert und beflopt find, jo daB das Thier fehr leicht ſchwimmen kann,
wenn es feinen Aufenthalt zu wechfeln verlangt: Das erfte Fußpaar ift in
Sangarme verwandelt, eined der gewöhnlichflen und wirffamften Anhaftungs⸗
1202 bya113:7T DAR ABÖR EL
wittel unser: biefen Thiexklaſſen. Des Mand iſt in einen ipigigen Schnabel ver-
„wandelt, ven das Thier in ben Körper des Fiſches einbohrt, um deſſen Blut -sin-
" ;awiaugen, ſohald es feine Saugarme angeheftet hat. Alle Bemaͤhungen des
Fiſches, dieſe Schmarotzer loq zu werden, ſind vergeblich, und ber. arme Fiſch
wird oft das Opfer des Blutdurſtes eines ſolchen winzigen Paxaſiten. Die
NHarpfenlaus konunt übrigens auch auf Stichlingen, Schleien, Fröſchen, Forel⸗
‚Jen, Kaulquappen x. vor und erſieht ſich vorzugöweiſe junge Fiſche zum Opfer.
Manche andere Arten von Fijchläufen, Schildkrabben ac. kommen auf Fluß⸗ und
„Meerfiichen nor, und faum-ein Körpertheil des Fiſches iſt vor ihrer verheerenden
Mier ficher.. Bejonders fcheinen fie es auf Die Kiemen gbgejehen zu haben. Cine
Spielart, Tristome coccineum, etwa einen Zoll breit und feuerroth, jet ſich an
Die Kiemen des Schwertfifches; ber Cecrops an die des Steinbutt und Thun⸗
Hiſches; eine andere, die Störlaus (Wichelesthium sturionis) an die Kiemen bed
Störs und Hauſens. Die merkwürdigſte Gricheinung unter den Schildfrebjen
.Äft. die Hummerlaud (Nicothoe astaci), nur eine-halbe Linie lang, und drei
s@lmien Breit, welche in den Kiemen des Hummers hängt, ‚ber einzige befannte
Fall, wo ein Krebö auf bem anderen lebt. Alle dieſe Thiere können ſich nur ver-
mitielſt ihrer Saugerorgane befefligen. Cine wurmartige Gruflacee Lernaea bran-
chialis, hat mehrere verzweigte Hörner um ihren Mund, mittelſt deren fie fich in
: den Kiemen bes Kabliauß und Schellfijches befeſtigt. Eine andere Lermäenart,
dr Schwertfilchwurm, Penella philosa, von beinahe Spannenläuge, mit
‚gerader Pergamentröhre, bohrt ſich mehrere Zoll tief ins Fleiſch ber Schwert⸗,
Ihun⸗, und Kugelfiſche und anderer größerer Meeresbewohner ein und verur⸗
ſacht ihnen großen Schmerz. Es ift beachtungswerth, Daß bes Schwertiid —
Hekanutlich einer ber gefräßigften und gefährlichiten Raubfiſche — ganz beſonders
‚non Schmurogerthieren heimgeſucht zu werden ſcheint, und die Thatſache, daß
aan ſo häufig-Sremplare von. ihm geſtraudet finder, hat auf die Vermuthung
„geführt, das Thier werde vielleicht manchmal von jeinem Ungeziefer jo fehr ge
wꝓlagt, daß eB feine Qual nicht mehr Länger ertragen Eoune und jich felbit-auf
„den Strand werfe, um der Duälgeifter und des Lebens zu gleicher Zeit los zu
werden. Bekanutlidy ift Die Klaſſe der Kifche unter allen Thieren beinahe noch
„am wenigiten bejchrieben, baber kennen wir auch noch jehr viele der Cingeweide⸗
thiere und Außeren Parafiten der Fiſche noch nicht; jo viel aber il gewiß, dab bie
Bahl der ſchon jept bekannten Schmarotzerthiere der Fiſche in die Tauſende läuft.
: Die Klaffe der Infekten bildet, wie wir im Obigen dargethan haben,
weitaus die Mehrzahl ver Schmarogerthiere. Dieje haujen, wie wir gefehen ha⸗
„sen, in und auf einer geoßen Anzahl verjchiedener Thiere und zwar in eben jo
serfchiedener Weiſe. Gleichwohl aber entgehen auch fie dem großen Raturgejeße
nicht, wornach jedes Thies beitimmt ift, andere zu verzehren und wieder von jols
chen verzehrt zu werden; und auch fie, fo Klein fie manchmal auch find, muͤſſen
Hier wiederum Gejchöpfe beherbergen, die vom Lieberfchuß ihrer Lebenskraft zeh⸗
zen. Die größeren Injekten und befonderd die Käfer werden von jenen Baden
würmern heimgefucht, die zum Gejchlechte der Waſſerkaͤlber (Gordius) gehören.
Dies find ganz eigenthümliche jaitenförmige Würnichen mit flarrer Haut, fpannen-
Der Parafisiienus, im Thierreich. 298
‚Jap, Wind und. After. an den entgegengefehien Körperenden, die ſich dunch Cigr
„foriaflangen und ſowehl ins Treien, ols much. im thieriſchen Körper Ichen Tünmge.
Ebenſs find: die größeren Käfer: häufig mit nenfihiedenen Milben behaftet; Agr
große Roß⸗ oder Stinfläfer. (Searabaens. atarcorarius) iſt heſondere mis Solegegı
‚Angeplefex: behaftet uud man Tann ihm häufig ‚bei warmes heiter ganz fraftlos
nd rathlog wegen dieſer Urſache am Wege liegen ſehen. Die fleißige, mögliche
„Biene muß. nicht nur ihre angeſammelten füßen :Schäpe. durch andere Thiepe
Ylümdern laſſen, iondern..wizb ſelbſt noch von einem Schmarotzerthigre heinge⸗
ſucht, das in das Geſchlecht der. Milben gehört und ein ganz eigemhämlichtes
‚Ansehen hat... Die Bienenlaus (Braula.coeca, nicht ber ſanſt exwaͤhnte Padicy-
Ins meliszan) hat einen braunen glängentem Körper, ber and zaͤher Lederhaut, he⸗
ſtehn Sie iſt ganz blind und Feine Spus.pom Augen: bis jet daran zu enibenfen
geweſen; hie Stelle der feptexem ſcheinen ein Paar Fühlhoͤrner zu vertreten. „Des
‚andere Fußgelenke der Bienenlaus. ift nicht mit Klauen verſehhen, wie Bei. ber
Mehrzahl ſolcher Geſchöpfe, ſondern mit siner querliegenden Reihe: verſchiedener
Haken und Widerhafen, welche weit mehr geaignet Bub, das Thier in Dewm.fei-
nen Haar feſtzuhalten, womit bee Körper bey Biens überkleidet il. Das Vor⸗
kommen dieſes Schmarotzerthieres iſt der Biene offenbar fehr unbehaglich, ham
‚ie wird ausmehmend unruhig uud jchwärmt in. allen Richtungen unher, als
ſuche fie Ruhe oder die Mittel, ihren Feind las zu werben ; wird gar bie Königin
von Laufen befallen, fo legt fie Feine Eier. mehr und zeigt. jede Spux non Unbe⸗
bagen. Die. Bilapzenmilbe (Uropoda vegetans) hängt ſich in Unzahl an verſchie⸗
dene Infeftenarten an, mittelft einer langen feinen Faſer, die aus dem Ende
ihres Körpers hervorragt, und ſaugt burch dieſe feine Röhre die Säfte an ſich,
: die ihr zur Nahrung dienen. Auf biefe Weife werden manche Inſekten, bie:fich
‚vom Blute anderer Thiere nähren, durch eine Urt Wiebervergeltungäprozeß,ge-
zwungen, einen Theil ihrer eigenen Lebenskraft an andere Ihiere-abzugehen,
und diejenigen Menichen, welche von Sterhfliegen und Müden geplagt wer⸗
ben, beſonders aber die armen Reiſenden, welche im. ben Tropenländern ben
ſchmerzhaften Aberläffen der Muslitos ausgelegt geweien find, werden mit einer
zu veihtfextigenben Schadenfreude vernehuen, daß ihre biutbürfligen Quaͤlgeiſter
‚unter derſelben Bein leiden ,.vie fe serusfuchen; denn auch fie muͤſſen ihrerſeits
‚einem winzigen Gegner zur. Nahrung dienen, der auf ihrem Körper hauſt. Viel⸗
leicht die merkwurdigſte Beobachtung über das Schmarotzerſyſtem in der organi⸗
ſchen Natur, die wir kennen, rührt von dem berühmten ſchwediſchen Entomoſo⸗
gen de Geer ber. Ex ſah eines Tages einen Haufen kleiner Milben auf dem
Körper eines Miffäfers (Lepture) und brachte diefen daher unter ein Vergräͤße⸗
rungsglas, um das Treiben. diefer Schmarotzer zu beobachten; da fah er nun,
daß der Käfer nicht mehr gehen konnte und durch bie Verdrehung feiner: Füße
Schmerz beurfundete. Die Urfache davon ließ fich bald erfennen, denn eing her
Milben Hatte ihren Sauger an ben Käfer angefegt und ſog feine Säfte herauf;
an dieſe erſte Milbe hatte ſich im gleicher Moficht eine zweite gehängt, an die
zweite eine Dritte und fo ging es in lauger Weihe fort, bis zu einer ziemlich he⸗
Deutenden Anzahl, indem bie Milben durch die Frichterfürmigen Röhrchen feit
— an Er
= a erg a —— ar
jet * Mitse abforb Slitund fo. 6 in u - Mr vom ⸗ * * ge von
een A: > ——
—* w
——
ber | ‚Stellen der Raupe
ſo oft wiederholt, — — für nöthig hält, Sie trägt
a ee
—— als auf derſelben
—B — —
benstheile der Raupe zu verletzen, arena een wider Willen gerade
Der Paraſitismus im Thierreich. 225
noch lange genug Iebt, um bie Schmaroger in den Stand zu fegen, ihre voll⸗
fommene Reife zu erreichen. Dieje fuchen ſich dann entweder einen Ausweg und
puppen fh am Boden ein, oder jene Veränderungen finden ebenfalls innerhalb
der verfchrumpften Haut der tobten Raupe flatt.
Selten vertrauen die Schlupfwespen ihre Nachfommenfchaft den Körpern
teifer oder fogenannter vollkommener Infekten an, und dies ſteht volllommen im
Einklang mit der ihnen angewiejenen Pflicht, der überwuchernden Vermehrung
anderer Infektenzünfte zu fleuern. Diejenigen Infekten, welche der Vegetation.
am.gefährlichften find, find die Schmetterlinge, Rachtfalter und Motten, und dieſe
müfler daher zunaͤchſt innerhalb beflimmter Grenzen der Vermehrung gehalten
werden; nun pflegen die Weibchen biefer beiden Infeltenzünfte ihre Gier bald
nach ihrer Verwandlung in Schmetterlinge zu legen und dann binnen Kurzem.
zu fterben, als hätten fie den Zweck erfüllt, um deſſen willen ſie die volllommene:
Geftalt angenommen haben, Den Zwed nämlich, die Fortpflanzung ihrer Art zu
fihern. Diefelbe Erjcheinung bemerfen wir mehr oder minder bei den meiſten In⸗
fetten. Würden Daher Die Schmarogermüden ibre Eier nur auf vollfommene In«
jekten legen, jo läge bie Wahrſcheinlichkeit und in den meiften Fällen die Gewißheit
vor, daß diefe Inieften dadurch nicht am Eierlegen verhindert werden würden;
ihr fchneller Tod aus natürlichen Urjachen würde vielmehr nothgedrungen auch
den Tod des Schmarogerd bedingen. — Doch finden wir and) Beweiſe vom Ge⸗
gentheil: die gemeine Schabe (Blatta orientalis) 3. B., welche beſonders in
Bäderhäufern jo häufig ift, wird oft das Opfer einer Heinen Schlupfiwespe, von
höchſt ſeltſamen Ausſehen, weil bei ihr der Hinterleib, der gewöhnlich ten augen-
fälligften Theil des Körpers diefer Thiere bildet, Hier nur zu einem winzigen
dreiedigen Stück verfleinert und mit dem Körper durch einen langen jchlanfen
Stiel verbunden ift, fo daß diejer Hinterleib eher einem zufälligen Anbängfel,
als einem fo wichtigen Organe gleicht. — Auch die Eier von Inſekten, beſon⸗
ders die der Schmetterlinge und Nachtfalter, werben oft zum Aufenthalte für
Schmaroger gemacht: die winzige Kleinheit der legteren mag auch aus der cigen«
thümlichen Thatjache wahrgenommen werden, daß ein einziged Ei, das faum
dider war als ein Stecknadelkopf, nach genauen Betrachtungen mehre derielben
bervorgebracht Hat. Ebenſo find die Puppen von Schmetterlingen, Nachtfaltern
und Holzweöpen belichte Heckneſter und Erziehungshäuſer für die Brut ber
Schlupfivespen , welche durch ihren harten Bohrer in den Stand geſetzt find, die
falfhaltige Schale folcyer Puppen zu durchbrechen und ihre Eier in diejelben zu
legen. Hier zeigt fi) auch wieder, aus welchem Grunde die Schöpferweißheit
Gottes dieſen Legeſtachel Per Schlupfwespe fo lange gemacht hat und von welch
wejentlichem Nutzen derſelbe in folchen Fällen dem Thiere if; denn terartige
Puppen find meiftens im Grunde von Spalten und Erbrijien, im Innern von
Pflanzen, unter Blättern, in Boden und an anderen Schlupfwinfeln niederge⸗
legt, welche ein. kuͤrzeres Werkzeug nicht erreichen könnte. Man kann dieſer That⸗
ſache nicht gebenfen, ohne im Höchften Grabe und voll ehrfurchtönollem Staunen
fi über den merfwürdigen Inftinft dieſes Thieres zu wundern, das jelbft in
ſolchen Verſtecken, von denen wir mit unferen vollfoınmenen Sinnen nicht die
IV. 15
26 . FE DR Bee Boslogie. en.
geringfte Wahrnehmung baben, den Gegenftand jeiner Nachforſchung zu entdecken
vermag. Ein glaubwürbiger Raturforicher Hat gefehen, wie eine ſolche Schlupf⸗
wespe Die Stengelröhre einer grasartigen Pflanze genau auf dem Punkte durch⸗
bohrte, wo eine Puppe im Innern verborgen war; und doch ergab nachher auch
die genaueſte Unterfuchung biefer Stelle durch den Beobachter nit den minde-
ſten Unterfchied zwiſchen ihr ımb den anderen Theilen des Stengels. Dieie
Thatfache und andere Wahrnehmungen ähnlicher Art beftätigen Die Vermuthung,
daß diefe Gefchöpfe noch mit einem eigenthümlichen Sinne oder einer Geiſtes-
fähigfelt außgeftartet find, der wir und bie höheren Thiere nichts gleiches an bie
Seite ſehen Fönnen, und von der wir daher auch uns feinen entfprechenden Be⸗
griff zu machen vermögen. Manchmal wird nur eine einzige Larve der Schlupfe
wespe in einer Puppe aufgezogen, wie 3.8. in’ der Puppe der gewöhnlichen
Bafferjungfer, der Eintagäfltege 30.; manchmal aber muß eine Buppe einen gan⸗
zen Schwarm folcher Larven beherbergen, wie 3. B. die Larven des gewöhnlichen
Kohlweißlings. Inbdeß fprechen mancherlei Vermuthungen und Gründe dafür,
daß Die Larve ded Ichhneumond, wenn fie auch, wie im letzteren Falle, erft aus
einer Buppe ausichlüpft, Doch fchon im Körper der Raupe niedergelegt worden
fein dürfte, und dies fcheint befonder8 dann allgemein der Fall zu fein, wenn
man mehrere Ichneumonslarven in einer und derfelben Puppe antrifft. Nehmen
wir nur einmal den Fall an, die Haupe ſei fchon ihrer Werpuppung nahe gewe⸗
fen, al8 tie Schmarogereter in ihr niedergelegt wurden, fo mögen fle volllommen
mit in die Puppe übergegangen und erft in diefer zur Meife getommen fein, oder
aber ed können, wenn die Eier auch noch in der Raupe zu Larven verwandelt wur-
den, bie Biffe der winzigen Thierchen noch nicht fo ſchmerzhaft geweien fein, daß
fle Die Umwandlung jener in eine Buppe Hinderten, obwohl diefe dann auf kei⸗
nen Ball dieſen Zuftand ihrer Entwidelung überlebt. Gin Beiſpiel diefer Art;
und fo häufig, Daß e& von Jedermann beachtet werden kann, Tiefert der Micro-
gaster glomeratus, der in der Raupe und Puppe des gemeinen Koblweißlings
vorkommt; wenn diefe Raupen an Wänden, in Schuppen und manchmal fogar
in Wohnhäufern hinaufgekrochen find, was fle in Abflcht auf ihre bevorſtehende
Einpuppung thun, fo findet man fle oft todt oder im Verenden auf einem Klümp-
chen Fleiner ovaler Körper, die aus einer fchönen gelben Seide beftehen. Dies
find die Cocons des Mikrogafter und gefponnen, nachdem ie Larven deffelben
fit} durch die Haut der Raupe hindurchgefrefien haben; fie bleiben nun da lie⸗
gen, bis die reifen liegen ſich aus ihnen entwideln und ausfchlüpfen, was Dadurch
geihicht, daß fe ein Fleined rundes Stud an einem Ende des Cocons, dad nur
leicht an dem Tegteren befeftigt ift und einem Drud von innen nachgibt, ungefähr
wie der Deckel einer Schnupftabadshofe, aufftoßen. Die Fliegen jind etwa 2
Zinten lang, am Körper glänzend fchwarz, an den Beinen gelbroth, bie Blügel
fptelen hübfch in den Regenbogenfarben, haben nur wenige Nernaturen und je
auf der Mitte des Vorderendes einen dreiedigen ſchwarzen Punkt. — Ehe man
die Art und Welfe genau kannte, in welcher ſich biefe Befchöpfe entwickeln und
fortpflanzen, erregte ihr Ausſehen unter den Raturforfchern viel Aufſehen, und
es ift unterhaltend nachzulefen, auf welche Weiſe die früheren Entomologen ſich
Der Varafititmns im Thierreich. 27
bie Thatjache zu erklären fuchten, daß ein Schwarm vierflägeliger Nücken aus
einer Puppe ausjchlüpfte, von der man doch nach aller naturgefchichtlichen Er⸗
fahrung hätte erwarten jollen, baß fle einem Schmetterling bad Dafein gebe.
Der Eine vermuthere, die Natur ändere ihren Vorfag und bringe, wenn fie aus
Schwäche oder irgend einem Mangel eine Raupe nicht in einen Schmetterling
umzuwandeln vermöge, aus einer Buppe eine Anzahl Infekten von Pleinerem
Umfang und minderer Bolllommenheit des Baues hervor, damit nur inzwifchen
der Stoff nicht verloren gehe. Ein Anderer, und zwar der geſchickteſte Beobach⸗
ter feiner Zeit, gerieth bei einem ganz gleichartigen Kalle mit Gallwespen auf
den Einfall, Diefe jeien durch eine gewifle pflanzliche und empfindiame Schöpfer
kraft hervorgerufen worden, welche in der Pflanze felber liege. Diefe und ähnliche
ebenfo feltfame und abenteuerliche Begriffe mehr waren im Schwange, bis fi
das interefiante Phänomen auf ganz natürliche und unzweifelhafte Weiſe erfiä-
ren ließ. — Die Menge der Inſekten, befonder® von fchädlichen Arten, welche
dieien Heinen aber hartnädigen Feinden zum Opfer wird, iſt größer, als es anf
den erſten Blick erſcheint. Es iſt gewiß keine allzufühne Behauptung, daß e6,
ohne dieje Heilfame Gegenwirkung, welche in der Ratur felber liegt, dem Men⸗
ſchen trog all feiner Umficht, Erfindungsgabe und feines Verſtandes doch rein un⸗
möglich wäre, viel von den Ernten zur Reife zu bringen, von welchen hauptſaͤch⸗
lich fein Unterhalt abhängt. Man denke nur an den im Banzen unberechenbaren
Schaden, welchen jeit etwa einem Jahrzehnt die Larven des Froftnachtfalters
und einiger Spanner und Widler am Ertrag unferer Obfigärten verurfacht ha⸗
ben. Man denke an den bedeutenden Schaden, den eine einzige Brut ded Korn
wurms auf einem Speicher zu verurſachen im Stande iſt. Es iſt befannt, daß
da8 Ueberhandnehmen einer Schabenart (Blatta germanica) auf Schiffen, die
für längere Seereiſen auögerüftet waren, ſchon häufig Hungersnoth hervorgerufen
hat, weil dieſes Inſekt fich auf fabelhaft ſchnelle Weiſe vermehrt und auf Schiffen
weder durch Singvögel, noch durch andere Infekten in feiner übermuchernden
Vervielfältigung geftört wird. Cine Schabenart, die Getreidefchnafe (Cecido-
myia tritici), kaum fo groß, daß man fle ohne Vergrößerungsglas deutlich be⸗
merft, würde bei ihrer Breßbegier und ungeheuren Vermehrung aller Wahrſchein⸗
Sichkeit nach binnen Kurzem eine ganze Waizenernte zerſtören wenn nicht went»
ger als drei verfchiedene Schmarogerarten die Bortpflanzung dieſes Thieres
innerhalb gewifler Grenzen Hielten*). Eine andere Gallenmüde, die fogenannte
Heſſenfliege (Cecidomyia destructor), die gefährlichite Feindin des amerikaniſchen
*) In diefer Beziehung verdanken wir dem Forfcherfleiß eines engliichen Gelehr⸗
ten das intereflantefte Reſultat einer Unterfuhung, welche diefer über die verhältniß-
mäßige Menge der Larve ter Waizenichnafe in einem beftimmten Maße angeftellt hat,
Der Brofeflor Henslom in Bambridge wollte genau erfehen, wie viel derartige Lars
ven mit dem Kom von verheerten Feldern eingeheimft werden, verfchaffte fih daher
ein beſtimmtes Maß voll Spreu und Epreuftaub, zählte die darin enthaltenen Larven
und besechnete das Zahlenverhältuiß, welches etwa auf ein engliſches Buſhel kommen
würte. Gr fand in einem Balle ale Ergebniß feiner Berechnung 131,616, in einem
anderen 173,376, in einem dritten gar 406,944. Siehe die Zeitfchrift der königlichen
Ackerbaugeſellſchaft in England. Band II. '
15 *
welche —— unter den von mir geſammelten Larven Tee
Dieſes Verhaͤltniß iſt vielleicht das durchſchnittliche im großen Ganzen der In—
feftenentwirtelung. Die verberbliche Raupe des Spanners Arches wird von
nicht weniger ald vier Arten zweiflügeliger Schmarogerfliegen und fünf Schlupf-
weöpen, verfolgt, und dieje vereinten Angriffe und Nachftellungen thun der Ver-
breitung dieſes Thierchens fo jehr Eintrag, daß es nicht nur in den meiften Ge—
taten fondern ſogar felten geworden if.
Wenn daher ſolche Schmarogertbiere ihre Berheerungen immer angeflött
fortfegen könnten, jo würden fie in manchen Bällen jene Thiergattungen ganz
ausrotten, denen fie nachftellen. Daher hat die Natur für derartige Zerſtörun⸗
gen ein eigenes heilfames Gegengewicht aufgeftellt und das Schmarogerleben jo
weit ausgedehnt, daß das erjte Schmarogerthier felbft wieder das Opfer eines
anderen wird. "Hiervon wollen wir mur ein einziges Beijpiel unter den vielen
anziehen, welche bier geltend gemacht werden fönnten. Jedermann kennt ja bie
Verbeerungen, welche die Aphiden oder Vlartläufe an unferen Bierpflangen- und
Gartengewächfen anrichten, weil fie ſchaarenweiſe beifammen leben, ſich an Sten-
gel, Blätter, Blattſtiele, Blumenkelch und Blüthenbodeifber Pflanzen, anfegen,
den Pflanzenfaft ausfaugen und durch ihre große Anzahl und unerfättliche Ge—
fräßigfeit die Geſundheit der Pflanze zerftören und. ihr. ein höchſt unſcheinbares,
ja oft efelhaftes Ausjehen geben, Diefe Feinde des Pflanzenlebens werden nun
zwar von manchen mäÄchtigeren Gegnern verfolgt, wie z. B. von den Ameiſen,
der gefährlichfte Feind aber ift ein Eleiner Ichneumon, der fogenannte Aphidius
rapae. Da bieje Fliegenart ſich fehr ſtark vermehrt und in einem einzigen Som⸗
Der Parafitiömus im Thierreich. 229
mer mehrere Generationen berborbringt, fo find fle die furchtbarften Verfolger
der Blattläufe; die Ratur aber, die in jedem ihrer Werke, im Kleinften wie im
Größten, jene Waage der Gerechtigkeit und des Ebenmaßes handhabt, welche
Harmonie und Ordnung im ganzen Weltall erhält, hat der gänzlichen Ausrot⸗
tung der kleinen fchwachen Aphiben dadurch vorgebeugt, daß die Larve jenes Ich⸗
neumons felbft wieder von zahlreichen Keinden und Schmarogern verfolgt und
dadurch ihrem allgugroßen Ueberhandnehmen vorgebeugt wird. Die Aphidii find
ſolch befländige Gaͤſte auf den mit Blattläufen behafteten Pflanzen, daß man nur
felten einen derfelben ohne die hornigen Schaalen der todten Blattlauß trifft
und häufig in Gewächähäufern eben fo viel ſolcher Jchneumone als Blattläufe
findet. Die Fliegen, welche die Maden ber wohlgenährten und erwachfenen
Aphiden zerflören, find Tauter Hautflügler; fie flattern beftändig herum und
fuchen nach Blatfläufen, und fobald fie eine entdeckt haben, die fchon eine Made
des Aphidius rapae enthält, jo durchbohren fie die bereitö wieder verhärtete
Schaale und legen ein Ei hinein. Sobald diefes nun ausfchlüpft, fo nährt jich bie
junge Larve von der Made des Schmarogerthiereö oder noch wahricheinlicher ven
der rubenden Puppe. Anftatt daß alio ein Aphidias aus der abgeflorbenen
Blattlaus ausfchlüpft, brechen drei oder vier verfchiedene Schmarogerthiere ihre
Belle, und dieſe tönen num ihre Gattungen in feiner anderen Weiſe fortpflan⸗
zen, als indem fie denfelben Prozeß wiederholen. So hat alfo die Ratur bag
Uebel und das Gegengift dafür neben einander gelegt, wie-fie uns in der ganzen
Einrichtung und Organtfatton der Schmarogerthiere ein bewundernswuͤrdiges
Beifpiel von der Kunft gegeben bat, eine beinahe geenzenlofe Menge und Ram
nigfaltigkeit lebendiger Wefen zu unterhalten, und diefe zugleich innerhalb derje⸗
nigen Grenzen der Vermehrung und Fortpflanzung zu beichränfen, weiche nur
mit der allgemeinen Wohlfahrt bes Ganzen verträglich find.
Plick auf den Entwickelungsgang der.
deuffchen Sprache.
Bon .
Dr. Reinhold Pechſtein.
X
Zu wahrer Würdigung unferer Mutteriprache können wir nur. dann gelan⸗
genn, wenn wir ihre geichichtliche Entwidelung verfolgen und zugleich Bedacht
nehmen auf das verwandtfchaftliche Verhaͤltniß, in welchem fe zu anderen Spra⸗
Gen ficht. Eine ſolche Sprachbetrachtung kannte die frühere Beit wicht ımb
deshalb find faſt ohne Ausnahme die früheren grammatifchen Beſtrebungen für
und mehr oder minder werthlos.
Die deutſche Sprache iſt ein Zweig eines großen Sprachfiammes, der ſich
mit feinen Aeften faft über ganz Europa und einen großen Theil von Aflen vet»
Breitet und deſſen Wurzeln in Indien zu ſuchen find. Man nennt dieſen Sprach⸗
ſtamm befanntlich den indo-germaniichen. Die Benenmung genügt in fofern
nicht ganz, weil fie nicht allgemein, nicht umfafjend genug tft. Beſſer fcheint Die
von dem Sprachforfcher Bopp rorgejchlagene: indoseuropäifch. Denn
die Bewohner von Europa, welche nicht zu jener Sprachfamilie gehören, find
faum zu rechnen im Vergleiche mit der großen Anzahl der ſprachverwandten
Nicht- Germanen. — Durch jened Ergebniß, welches wir der vergleichenden
Sprachforſchung verdanken, folgt unmiderleglich, daß Europa nicht von Einge-
borenen bewohnt war, fondern von Aften ber bevölkert worden if. Sämmtliche
indoseuropäifche Sprachen find der Theorie nach auf eine allgemeine Urjprache
zurüdzuführen, wenn wir diefe auch nicht aus Schriftdenfmalen kennen.
Das Sanskrit, das Altindifche kommt unter allen Sprachen diejer Ur»
fprache am naͤchſten, aber es ift nicht Die Urſprache felbft, wie manchmal fälfch-
lich angenommen wird. Es ift die Mutter ter heutigen in Indien lebenden
Volfömundarten, der fogenannten Brafritfprachen. Obwohl das Sangfrit eine
todte Sprache iſt, fo bat ed doch noch ald die heilige Sprache der Indier hohe
Bedeutung und wird noch von den Brahmanen wiffenichaftlich betrieben. Wegen
feiner Reinheit und Uriprünglichfeit und wegen feines Reichthums dient das
Sanskrit der Sprachforihung als Hauptflügpunft. — An das Indifche ſchlie⸗
Gen fich in Aften die ariichen Sprachen an, unter ihnen das Perfiſche. Einen
hohen Werth für uns hat das Zend, Die heilige Sprache der Verſer.
Entwidelungägeang des deutfihen Sprache. 33
In Europa beſtehen außer dem indo-europäifchen Sprachflamme noch zwei
Sprachgruppen. Zuerft die hochaſiatiſche ober tatarifche: zw ihr gehören
bie Finnen, die Ungarn und die Türken. Es muß befonders darauf aufs
merkſam gemacht werden, daß Die Ungarn feine Slaven find, alfo nichts mit den
Auffen, Polen und Böhmen gemein haben, wie vielfach geglaubt wird. Die
zweite nicht indo⸗europaͤiſche Sprache in Europa ift die iberijche,, welche fi
in Rordfpanien und in Südfrankreich als Volksmundart findet.
Der indoseuropäijche Stamm in Europa tbeilt ſich in vier große Zweige.
Den Süten hatten die Beladger inne, den Often die SIaven, den Welten
die Kelten und den Rorden die Germanen. Obwohl die Völkerwanderung
mannigfache Veränderung der Völkerwohnſitze veranlaßte, können wir doch von
der urjprünglichen Geftaltung ausgehen.
Die pelasgijche Sprache zerfällt wieder in zwei Hauptgruppen, in bie
griechiſche und in die lateiniſche. Das Griechische thrilte fich anfäng-
lich in verfchiedene Dialecte, unter denen ſich der jonifche und ber äolifche
in den verfchiedenen Landjchaften verjchieden ausbildete. Vom Iegteren zweigte
fi ſchon frühe der dori ſche ab, aus dem joniſchen entwidelte ſich der at»
tifche, welcher zur höchſten fprachlichen Berfeinerung ald Schriftfprache ge=
langte und dadurch zu allgemeiner Geltung kam. Das heutige Neu⸗Griechiſch
bat fich wahrfcheinlich nicht organifch aus der alten Volksſprache entwidelt, ſon⸗
dern aud dem Kirchen⸗Griechiſch. Die heutigen Griechen find nicht die reinen
Sprößlinge der alten Hellenen, fondern ein zufammengewürfeltes Miſchvolk. —
Das Latinifche, die Sprache ded alten Latium oder, wie es jetzt bei und
heißt, das Lateinifche, war Anfangs gleich dem Oskiſchen und Sabinifchen
eine Mundart; fpäter erhob es fich mit dem Emporblühen Roms zur Sprache,
zur Bücher» und Literaturfprache. Mom wurde die Beherricherin der Welt und
fo gelangte das Lareinijche zu der Würde einer Weltſprache. Und noch heute
tft es bekanntlich ald Sprache der Fatholifchen Kirche und der Gelehrſamkeit vom
Bedeutung. Wie neben unjerer Schriftiprache noch Volfömundarten beftehen,
fo auch im römischen Reiche. Aus dieſer lingua rustica, aus ber Bauerufprache,
welche in den verichiedenen Ländern verichieden war, bildeten fich Die ſogenann⸗
tm romaniſchen Sprachen, fieben an der Zahl: das Italienifche, dad Wala⸗
hifche, dad Spanifche, dad PVortugiefifche, das Rhätiiche, das Provenzaliiche und
das Rordiranzöftiche. Heutigen Tages zühlen wis nur fünf romanijche Spra⸗
hen ald Echriftiprachen. Das Rhaͤtiſche hat Feine eigentliche Bedeutung mehr,
wenn auch noch heute eine Kleine Xiteratur in ihm vorhanden if, und das Pros
venzalifche oder das Suͤdfranzöſiſche, im Mittelalter zu einer Kiteraturjprache in
einem hoben Grade ausgebildet, wurde durch dad Nordfranzöſiſche oder. Durch
das Franzöſiſche jchlechthin verdrängt. Auch das Englijche ift zu einem Theile
eine romanijche Sprache; da es jedoch der Hauptſache nach deutſche Elemente
in ſich faßt, jo ift es befler unter die germanifchen Sprachen zu zechuen.
Der ſlaviſche Sprachflamm begreift Hauptjächlich folgende drei Literature
fprachen in fich: das Mufflfche, das Polnifche und dad Böhmiſche. An das
Ruſſiſche ſchließen fich an: das Siovenijche oder Illyrifche, das Serbijde, das
Entwidelungdgang der beutfähen Sprache. 233
Sprache it, wird fpäter noch zu fprechen fein und baher möge auch fpäter das
ganze Geſetz in feinem Zuſammenhange erörtert werben.
Das Gothiſche iſt nicht, wie manchmal angenommen wird, die Butter
unferer deutjchen Sprache, fondern es ift ein Dialect, welcher auf derſelben
GStufe ſteht, wie das Deutſche in engerem Sinne als ein Dialert des Germani⸗
ſchen. Dieſes alleraͤlteſte Deutſch, welches in feinem ſchriftlichen Denkmale auf
uns gekommen iſt, hat die theoretiſche Bezeichnung „Urdeutſch“ erhalten,
Dieſes Urdeutſche nun iſt die Mutter aller deutſchen Sprachen, der hochdeutſchen
ſowohl wie der niederdeutſchen. — Das Gothiſche kennen wir abgeſehen von ei⸗
nigen kleinen Ueberreſten nur aus einem einzigen, aber hochwichtigen Denkmal;
aus ber Bibelüberſetzung des gothiſchen Biſchofs Ulfilas. Sie iſt das ältefe
deutfche Schriftſtuͤck, welches wir befigen. Die beiden Gothenſtaͤmme, die Oſt⸗
und Weftgotben verliehen in Folge der Völkerwanderung ihre heimathlichen
Sitze; fie drangen in romanifirte Länder ein, und obſchon fie Iange Beit
fefthielten an ihrer Mutterfprache, fo mußte diefe doch mit der Zeit der roͤmi⸗
fhen Zunge erliegen. Cine gefchichtliche Gntwidelung bat fomit das Gothi⸗
ſche nicht gehabt. |
Dom Nordifchen oder, wie e8 in Rückſicht auf die ältere Zeit genanut
wird, vom Altnordifchen flammen bie früheften fchriftlichen Aufzeichnungen
erſt aus dem zwölften Jahrhunderte; die Sprache aber iſt offenbar viel älter. Es
unterliegt feinem Zweifel, daß in der Alteflen Zeit der Rorden nur eine gemein»
fame Sprache befaß, wenn auch mundartliche Eigenthümlichfeiten in den verfchte
denen Landſtrichen nicht gemangelt haben. Später fchieden fi ſolche Mundarten
fchärfer von einander und bildeten fich zu felbftändigen Sprachen aus. Go ents
ftand das Schwedifche, das Norwegifche, das Dänifche und das Is⸗
länpifche. Heute gilt in Norwegen hauptſachlich das Daniſche als Literatur⸗
und Umgangsſprache der Gebildeten.
Mährend ſonſt die Sprache nach dem Lande, in welchem ſie geſprochen wird,
und nad; dem Volke, welches fie ſpricht, ihren Ramen erhält, führt wahrſchein⸗
lich das deutfche Volk feinen Ramen von feiner Spradye. Die altdeutfche Form
für dDeutfch war thiudisc oder diutisc, d. 5. was zur thiuda, zum Volle gehört,
volksthümlich. Den alten Ausprud haben wir vollfländig verlosen, während
fih das Eigenſchaftswort „deutſch“ erhalten hat. In der Blürhezeit der mittels
alterlichen Dichtung wird das Wort in der Form diet noch fehr Häufig gebraucht.
Die varende diet hieß das fahrende Volk der Sänger und Gaukler. Zunächft
wurde im Segenfage zum Latein der Gelehrten die Sprache des Volkes deutſch
genannt, fpäter auch im Gegenſatze zum Romaniſchen, welches germanifche Völe .
fer angenommen hatten. Bon der Eprache wurde dann der Ausdruck auch auf
das Volk ſelbſt übertragen.
Die deutfche Sprache war in der von und genannten „urdeutſchen“ Zeit
ebenfall® eine einheitliche im Großen und Ganzen. Mundarten werden natüre .
lich wie überall und zu allen Zeiten vorhanden gewefen fein. Nach ber Völker⸗
wanberung aber, etwa im fünften Jahrhunderte, trat eine vollftändige Trennung
ein. Sie gefchah nicht plöglich und mit einem Male, fondern nach und nad,
-
a3 nah VDurachwiſſenſchaft. DE RT
An dem einen Rande früher, in dem anderen jpäter. Es ſchied fich nämlich der
füddeutiche, oberdeutiche oder hochdeutſche Dialect von tem norddeutichen ober
niederdeutſchen, und zwar fo, daß die niederdeutfchen, Die fächflichen Volksſtaͤmme
die alten Rautverhältnijie bewahrten, die fübbeutichen, die ſueviſchen Volksſtaͤmme
dagegen die gothiſche oder. urbeutiche. Stufe verließen. und einen Schritt weiter
gingen ganz in derfelben Weife, wie früher die germanischen Völker in ihrer Ge
ſammtheit jich von den übrigen ſtamm⸗ und fprachverwandten Nationen getrennt
batten. Diele Umwälzung in der Spracdhgefchichte wird, wie bemerkt, mit dem
Ramen der „„Lautverichiebung‘‘ begeichnet.. Gauptiächlich werten bei Betrach⸗
tung derfelben die beiden velasgiſchen Sprachen unter den indo⸗ europäiichen
Sprachen, welche auf der urfprünglicyen Stufe ftehen geblieben find, berückſichtigt,
weil fie uns näher liegen ald tie aflatiichen, das Slaviſche unt das Keltifche,
und unter den germaniichen ift dad Gothiſche wegen feines Alters berborragend
wichtig. Was aljo von dem Pelasgiſchen gilt, gilt auch vom Sanskrit, vom
Bend, vom Slavifchen und vom Keltiichen. Und wenn ein Beifpeil im Gothi⸗
ſchen angeführt wird, fo finder fich dieſes in allen germaniichen Eprachen wieder
außer in der hochdeutichen. Ausnahmen aber und Abweichungen von dem all»
gemein gültigen Geſetze ſind deshalb nicht von vornherein geleugnet, nur dürfen
Be nicht irre machen und zum Zweifeln an der ganzen Erfcheinung veranlaflen.
— Dad Geſetz der Lautverfchiebung läßt fich in kurzen Worten etwa fo guiem-
menfaflen: in den verfchiedenen Abflufungen der fiummen Gonfonanten verhält
ſich das Pelasgifche zum Gothijchen wie Diefes zu dem Hochbeutichen. Das Go»
thiſche aljo ſteht zwiſchen beiden in der Mitte. Stumme Gonfonanten gibt es
dreierlei nach den drei Sprechorganen, nad) Zippen, Zunge und Kehle. Lind
jede dieſer Eonfonantenart zerfällt wieder in weiche (medise), harte (temues) und
geigärfte (aspiratae) Laute. Wo in den alten Sprachen ber weiche Laut ſteht,
findet ſich im Gothiichen der harte und dieſem entfpridht im Hochdeutſchen der
eichärfte. Die Orbnung: weich, hart, Icharf, bleibt immer diefelbe. Auf die
Tennis im Pelasgiichen folgt die Aspirata im Sothifchen und die Media im Hoch⸗
Deutichen; der Aspirata im Peladgiichen, die Media im Gothiſchen und die Teuuis
im Hochdeutfchen. —
Polasgiſch: Gothiſch: Kochdeutſch:
Media. Tenuis. Aspirata.
Tenuis. . Aspirata. . Media.
Aspirata. - Media. Tenuis.
Obgleich wir es bei Betrachtung der deutichen Sprache nur mit der zwei⸗
tem Lautverjchiebung zu thun haben, möge Doch ein Beiſpiel den ganzen Stufen-
gang neranfchaulichen. in ſolches bietet ſich und recht geeignet in dem Perſo⸗
nalpronomen der erften Perfon. In den alten Sprachen. heißt es ego, im
Gothiſchen ik, im Hochdeurfchen ich. Alſo zuerſt g, der weiche Laut, dann k,
der harte und zulegt ch, der geichärfte. — Für Die zweite Lautverſchiebung noch
einige Beifpiele! Gerade im Wechjel des gothifchen harten Rauted und Des hoch⸗
deutichen geſchaͤrften zeigt ſich wie bei ik und ich das Verhaͤltniß am deutlichften.
Wie der Gothe, fo fagt noch heute ber niederdeutiche Bauer ik. Unſer Wort
Entwidelungögang: der. dautfihen Syprade. | 238
Echiff“, welches von allem Anfang in der hochdeutſchen Eptache fo. lautete,
beißt im Oothiſchen skip, tm heutigen Platt noch immer dem Gothiſchen ent»
fprechend ‚schipp.: Des ‚gothifche Zeitwort aitan wurde im Alchochbeutfchen ‚zu
sizan, unfer „sitzen“. Hier in ber neuen Geſtalt der gefchärfte Jungenlaut,
dort der harte. Zu bemerken if, daß im Deutfchen z die Aſpirata der T-Lauie
iſt, da wir ein th nicht haben. Oefters ift für das gothifche t nicht = im Hoch⸗
beutfchen eingetreten, fondern 6. Beide Laute 5 und's find nahe nerwandt; der
eine ift der afpieirte, der gefchärfte, Der andere ber fanfende, der Hauchlaut, Die
‚Spirand. Unſer das, dass (ehemals gejchrieben daz mit einem Laut, der zwiſchen
x. und s in der Mitte ſtand, woraus unfer ß, sa) hieß im Gothifchen thata; ber
gemeine Mann in Rorbdeutichland jagt nicht das, fendern da. Der Sap zum
Beifpiel: „ich fehe Das Schiff’ lautet im Gothiſchen ik saihva thata skip und
ins Riederdeutichen ik sehe dat schipp. — Diefe kurze Andentung wird den Un⸗
terſchied des hochdeutſchen und tes niederdeutjchen Dinlectes ber vaupiſache na
verſtaͤndlich gemacht haben.
. Außer diefer Durchgreifenden Verſchiedenhen hat jeder der beiden Dinlecke
feinen bejonderen Charakter; der gewiß fchon in der früheften Zeit außgeprägt
war und vielleicht die Trennung der Sprachen, wenn nicht veranlaßt, Doch ber
günftigt hat. Der füddentfche, hochdeutſche Dialect iſt ber gedrungenere, härtere;
auch rauhere, der norddeutſche, niederdeutiche dagegen ber breitere, meichere, mil»
dere, oft auch fadere. Dex erfte beichäftigt mehr den Gaumen und die Kehle,
der andere. mehr die Lippen und die Zunge. Der Süddeutſche Hat im Allgeme
nen eine fchwerere Zunge als der Norddeutſche; er ift deshalb penöthigt, mehr
mit Bruftflinemee zu fprechen, während hiefer den Mund hauptiächlich arbeiten
läßt. Darum wird auch in Süddeutſchland langſamer gefprochen, wenn auch
die Gedanken des Rorddeutichen nicht an Lebendigkeit voraus haben. — Die
Verſchiedenheit der beiden Dialerte bat zum Theil ihren Grund in Örtlichen und
klimatiſchen Berkältniffen, weldye einen bedeutenden Einfluß auf die Sprach-
werfzeuge ausüben.
Die Grenze zwifchen dem niederdeutſchen und dem bochdeutfchen Dialecte
wird im Anfange diefelbe geweſen fein wie noch heute.‘ Im. Allgemeinen Tau
der nördliche Abhang ded Harzes ald die Sprachicheide angenommen werben;
Nördlich vom Harze herrſcht die nieberdeutiche Zunge, füblich die hochdeutſche.
Das Gebiet bes Hochdeutichen Dialecteß if alfo nicht allein Suͤddeutſchland, ſon⸗
dern audy der Theil unſeres Vaterlandes, der mit dem Ramen „‚Witteldertich®
land“ bezeichnet zu werben pflegt. Es liegt in ber Ratur der. Sache, daß Die
jenigen Volksſtäͤnme, welche in der Nähe der Sprachgrenze ihre Wohnſthe haben,
Elemente beider Dialecte vereinigen. Die Hefien und Die Thüringer, auch Die
heutigen Sachſen, welche von den alten, im Rorden Deutichlands ſeßhaften
Sachfen wohl zu untericheiden find, gehören zum hochdeutſchen Sprachgebiete, im
Einzelnen aber findet. fich in ihren Mundarten eine Menge niederbenticher Worte
und Formen. 00m
Aus dem bisher Geſagten wich ed Klar geworden fein, welche Bebeutung
„hoch“ in „hochdeutſch“ har. Es gefchieht nur zu häufig, daß es als ein Werth⸗
>
836 nun @peahwilenfhaft.
begriff in der Bedeutung hochſtehend, erhaben im Begenfage zu ber Mundart bes
niederen Volkes aufgefaßt wird. Wenn auch mit ber Zeit bie Bezeichnung
„Hochdeutſch“ für Schriftbeutich in Gebrauch am, eben weil ber hochdentſche
Dialect ſich zur Literaturfprache ausbildete, To bleibt denmoch jener Begriff ein
localer. Hochdeutſch if gleich Oberdentſch. Hochdeutichland gleich Oberdeutſch⸗
land im Gegenfage zu niederdeutfch ‚und Rieberdeutfchland. Jetzt freilich wird
ſchwerlich mehr Hochbeutfchland für Oberbeutfchland gefagt werben ; zur Zeit
des breißigjäßrigen Krieges iſt aber noch vielfach in Acten, Urkunden und Cor
seipondenzen vom bochdeutichen Kriegsvolk die Rede. Würden die ZBorte „hoch“
und „nieder in „bochdeutich" und „‚nieberdeurich”‘ als Beitimmungen des Wer⸗
thes angenommen, fo wäre dies eine feltfame Ungerechtigkeit gegem bie nieder⸗
laͤndiſche Sprache, welche doch eine reiche Literatur aufzuweiſen bat. — Daß bie
©prache, die von dem oberdeutichen Volksſtamme ausging, über die Sprache der
uördlichen Stammedgenofien flegte, iſt tief in der Geſchichte begrundet. Allein
die Sprache an und für fich trägt Feinedwegs den Grund ihrer allgemeinen Ver⸗
breitung in fih. Bel anderen Berhältniffen hätte ed auch ander& kommen fün-
nen. Haͤtte das ſächſiſche Kaiſerhaus länger regiert, hätte bie Hanfa weitere
Macht gewonnen, Hätte Luther jeine Bildung nicht in Mitteldeutſchland, jondern
in Rorbdeutichland empfangen und was jolcher gewagter und unmöglicher Vor⸗
ausfegungen mehr find, fo hätte es Leicht Eommen können, dag unfere Schrift-
fprache fich auf den nicderteutichen Dialeet gründete und Schwaben, Baiern,
Schweizer und Oefterreicher Niederdeutfch Iernen müßten, wie der. norddeutſche
Bauer jet Hochdeutſch lernen muß, wenn er feine Zeitung verfichen will. Ganz
aͤhnlich war das Verhaͤliniß der Sprachen in Frankreich, nur mit dem Inter
ſchiede, daß dort der Rorden über den Süden, über die Provence flegte.
Der niederdeutfche Dialect theilt ſich ſchon in früher Zeit in mehrere
Sweige: in das Altfächiliche, Angelſächſiſche, Frieſtſche und Riederländifche,
Das Altſächſiſche, welches eben jo gut dad Alıniederbeutiche ge
nannt werden könnte, erhob fich einft zur Schriftfpradgde. Das wichtigfte, für
Literatur, Sprache und Kirchengefchichte hochbedeutende Werk if die altfächfliche
Evangelienharmonie aus dem neunten Jahrhunderte, welche gewöhnlich in ber
2iteraturgefchichte mit dem Ramen „Heliand“ bezeichnet wird. Die Tochter bes
Altſaͤchſiſchen ift das Niederbeutfche, welches in dem fpäteren Mittelalter wohl
. auch noch Bücherfprache war, aber ſolche Beltung nie erlangte wie feine Schwe⸗
ſter, das Hochdeutfche. Heute beſteht das Niederdeutfche auß verichiedenen Volks⸗
mundarten; die Bezeichnung für dieſelben ift Bekanntlich. Plattdeutſch ober
ſchlechthin Platt. Die Gebildeten in Rorddeutfchland haben durchaus die hoch⸗
beutfche Sprache angenommen, wenn ſie auch bisweilen recht gerne die Volks⸗
mundart gebrauchen.
Das Angeljächfifche wurde von den fächfifchen Volksſtamme der An⸗
geln, die in Jütlaud ihre Sitze hatten, nach Britannien verpflanzt. Nach ihnen
erhielt das eroberte Land jeinen Ramen: Angelland, Engelland. Die angel»
fächftichen Sprachdentmale gehören mehr der englifchen als der deutſchen Litera-
tur an. Das Heutige Engliſch iſt die Tochter des Angeljächflichen. Des
Entwidelungbgang der deutfihen Eyrade. 237
somanijchen Elementes, welches durch die Rormannen in bie engliiche Sprache
gelangte, wurde fchon gedacht. Es iſt bezeichnend, daß alle diefenigen Worte,
weiche der Ratur und dem Volkaleben angehören, deutichen Urſprungs find, die
Ausbdrüde aber, welche eine feinere Cultur voraußfegen, auf romaniſche Wur⸗
zen zurüdgehen. Auch Eeltifcge Stämme finden fich in der englifchen Sprache,
wenn auch nur in geringer Anzahl.
Dad Sriefifche oder genauer bezeichnet dad Altfrtefifche ift und nur
in wenigen und in verhältnißmäßig ſpaͤten Dentmalen erhalten. Es bildet
eine Art Mittelglied zwifchen dem Rordifchen und dem Riederbeutfchen. Zu einer
Blüthe iſt das Frieſiſche nie gelangt und Heute iſt ed nur noch Volksmundart.
Dagegen bat das Niederländifche im Mittelalter eine reiche Literatur
aufzuweifen, und wenn in Belgien in unferen Tagen dad Franzöſiſche ale
Sprache der Gebildeten die Oberherrſchaft erlangt hat, fo if boch das Rieder»
laͤndiſche ober, wie es gewöhnlich genannt wird, das Mlämtjche Bolkaſprache und
auch von den Bebildeten gekannt und geliebt. Die Tochter des alten Nieder⸗
laͤndiſchen, das Hollaͤndiſche, ficht im vollen Beftge feiner Bad als allgemeine
Schrift⸗ und Volkäfprache.
Der hochdeutſche Dialect hat von n Anfang an bis auf die heutige, Zeit
das günflige Schickſal gehabt, eine Literaturjprache.der Deutichen zu fein. Die
älteften Hochbeutfchen Schriftdenkmale ſtammen aus dem ficbenten Jahrhunderte:
Diele Zeit bis in die Mitte des zwölften Jahrhunderts wird als die erſte Periode
des Gochdeutichen die althochdeutfche. genannt. Die zweite, die mittels
hochdentjche reicht von der Mitte Des zwölften Jahrhunderts bis in den An⸗
fang des ſechzehnten. Die gute, klaſſtſche mittelhochdeutiche Zeit umfaßt einen
fehr geringen Zeitraum, etwa fleben Decennien, ungefähr von 1180 — 1250.
Bom Anfange des jechzehnten Jahrhunderts beginnt die dritte hochdeutſche Pe⸗
riode, die neuhochde utſſche, welche noch nicht abgeichloflen ift. In ihr ſiegte
der hochdeutjche Dialect vollftändig über den nieberdeutfchen, fo daß wir füglich
das Wort „hoch“ hinweglaſſen könnten, wenn wir von unferer Schriftfiprache
reden. Das Wort „hochdeutſch“ hat freilich noch im Begenfage zum niederdent⸗
ſchen Dialecte feine urfprüngliche Bedeutung.
Es ift bekannt, daß innerhalb des hochdeutſchen Sprachgebiets fich verfihter
dene Mundarten abfondern, welche wenig oder gar nicht von der Schriftfprache
berührt werden. Man kann vier hochdeutfche Mundarten annehmen, Zwei von
ihnen find eigentlich oberbeutfch oder ſuͤddeutſch, nämlich die alemanifche, zu
welcher die Schwaben, die Schweizer und die Bewohner des Elfafied gehören,
und die baterijche, welche die Baiern, die Tyroler, die Defterreicher und bie
Steiermärfer haben. Die beiden anderen gehören Witteldeutfchland an; bie
fränfifche, welche den nördlichen Theil des heutigen Baierns umfaßt und Die
angrenzenden Gebiete, ift noch ziemlich rein hochdeutſch und von entfchleden aus⸗
geprägter Sigenthümlichkeit. Dagegen mannigfaltig und buntfchedig und voll
von niederbeutichen Beftandiheilen find die eigentlichen mitteldeutſchen
Mundarten, welche nicht gut zu fondern ſind. Dahin gehört die heſſtſche Mund⸗
art, die thüringijche, Die meißnifche, die ofterländifche und bie fchlefliche. Cine
298 ma. Ts peahwifenfaft. - - :- vi.
jede Mundart zerfällt wieder in befondere Mundärten und Spielarten und fo
geht es fort bis auf einzelne Dörfer... - -
Somit wäre eine Ueberficht über ſaͤmmtliche indoseuropälfche Sprachen und
Dialecte gegeben. Es wurde zugleich das Verhaͤltniß angedeutet, im welchem
die gesmaniiche Sprache zu den übrigen und innerhalb der germantfchen Gruppe
wieterum das Hochdeutſche zu feinen Schweftern lebt. Das Hochdeutſche bat
vor allen ımjere Theilnahme in Anjpruch zu nehmen. Sein geſchichtlicher Gang
würde mit wenig Worten berührt, Ehe wir auf die einzelnen Perioden in ber
Entwickelung des Hochdeutfchen' etwas näher eingehen, möge zum Schluffe der
allgemeinen Betrachtung auf einzelne Punkte hingewieſen werden, durch welche
die Berwandtichaft ber indo⸗ europaͤiſchen Sprachen unter einander klar her⸗
vortritt. |
Es if Hinlänglich bekannt, daß De Sprachen, welche zu einem engeren
Sprachſtamme gehören, überrafchende Achnlichkeiten mit einander haben , daß
alfo unjer Deurfch mit dem Holländifchen und mit den ſtandinaviſchen Oprachen,
trotz aller VBerfchiedengeit in Vocalen und Gonfonanten..vielfach übereinftimmt.
Auch die Benvandtfchaft mit dem Englifchen fpringt ſchnell in Die Augen. Nicht
minder it bekannt, daß Lie romaniſchen Sprachen, die Töchter des Lateinifchen,
ihre Abſtammung nicht verleugnen. Und wer Griechiſch und Lateinifih treibt,
wird zwifchen beiden überall Gleichheit und Uebereinftimmung gewahten. We⸗
niger augenscheinlich tritt ſchon die Verwandtſchaft der germanifchen Sprachen
mit den pelaßgifchen hervor, und das Sandkrit wird zu wenig betrieben, al& daß
Einzelnes allgemein bekannt wäre. linleugbar aber wird der Zufanmenhang
des Deutfchen mit dem Slaviſchen geradezn in Zweifel gezogen. Deutfche und
Slaven! Zwei ganz verfchiedene Nationen! Kann die an Gonfonanten jo reiche
Sprache der Slaven mit unferem Deutfchen oder gar mit den vocalreichen roma⸗
niſchen Sprachen, mit dent Spanifchen oder mit dem Italieniſchen nur im Ge⸗
ringſten verwandt fein? Und dennoch ift es fo.
Im Allgemeinen befteht die Berwandtichaft in der Gemeinſamkeit der
Wurzeln, in dem übereinftinmenden Syftem der Wortbiegung, der Bufammen-
fegung und der Wortbildung. Und ber Umftand, daß die indo-europäiichen
Böker dad Derimalſyſtem haben, wenn auch nicht burchgehends und ausſchließ⸗
lich, zeugt gewiß son einer tiefen Uebereinſtimmung dee Vorftellungen.
Zunächſt muß e8 auffallen, daß die Namen für die Glieder der Fami⸗
lie, Bater, Mutter, Bruder, Schwefter, Tochter faft durchgehendg aͤhnlich lan⸗
ten. Hauptfächlich kommt es bei folcher Achnlichkeit nicht fowohl auf die Vocale
als vielmehr auf die Gonfonanten an. Die Vocale düxfen deshalb nicht. irre
machen. Es wird genügen, wenn wir die Bezeichnungen für die Häupter ber
Familie Bater und Mutter in den verichiedenen Sprachen betrachten. Im
Sanskrit heißt der Bater: pidri, im Zend pata, im Perſiſchen pader, im Grie-
chiſchen narne (patär), im Lateinifchen pater; im Gothiſchen beißt der Vater:
atta, das zu Bater gehörige Wort muß wie im Altfächftfchen fadar lauten, das
vorkommende Gigenfchaftewort väterlich Heißt fadrems. Im Althochbeutfchn
und im Mittelhochdeutſchen haben wir vatar und vater, daS neuhochdentſche Wort
Entwickelunegang der Deuffihen Syrache. 260
Hat langen Vocal erhalten: Vater. Die flavifchen Sprachen befigen ein well
Rändig anderes Wort. Dagegen theilen fie mit und die Wurzel von Mutter.
Altflavifch mati, im heutigen Bohmiſchen und Volntfchen matka. Im Sanskrit
heißt das Wort mätri, im Zend mäta, im Perflichen mäder, im Griechiſchen
ateno (mätär), im Lateiniſchen mäter. Im Oothiſchen fehlt das Wort. Im
Althochbeutfchen und im Mittelhochdeutfchen fteht muotar und muoter; im Rewe
Hochdeutfchen mir verfürztem Bocale Mutter.
Die Berfonal- und Boffefiopronomen ſtimmen auf aberraſchende
Weiſe zuſammen. Rur ein Beiſpiel ſoll angeführt werden. Das Pronomen der
zweiten Berfon hat überall im Anlaute, tm Anfange des Wortes einen Zungen
laut. Im Sanskrit Heißt es tvam, im Send tum, im Lateinifchen, im Litthaui⸗
ſchen und im Lettifchen tu, in den flaviichen Sprachen ty, im Gothiſchen tin,
in den hochteutfchen Sprachen du. Das Griecifche Hat s-Laut: ad (st). . Do
ift Hier zu erinnern, Daß s und t nahe verwandt find. Im alten boriichen Dias
leete heißt das Pronomen auch nicht oo, fondern To (tt). - .
Die Berneinung wird außer dem Griechifehen in allen Sprachen durch
den Buchſtaben n ausgedrückt. Doch beſttzt Das Griechiſche neben der gewöhn⸗
lichen Regation ov (ou, ü) eine andere, welche einen dem n fehr aͤhnlichen Laut
bat, nämlich zer; (mi). |
Schließlich ſei noch auf die dritte Perfon Singularis des Praͤſens vom
Hülfsserbum fein aufmerffam gemacht. Im Hochdeutfchen heißt die Form iſt
im Riederbeutfchen mit abgefallenem t-Xaut is oder es, im Lateiniſchen est, im
Griechiſchen Zorl (esti), im Altflavifchen iesti, Im heutigen Polniſchen jest, im
Böhmifchen gest, im Perftichen gleich dem Lateinijchen est, im Sanskrit findet
fich die reinfte Form astıi.
Die ſprachlichen Verhältniffe der urdeutichen Periode kennen wir ans
feinem zufammenhängenden fchriftlichen Denkmale. Wie aber war die Eprache
unjerer Urväter befchaffen, wie haben die Germanen des Tacitus geiprochen?
Manche Anhaltspunkte gewähren Eigennamen und einzelne von römilchen und
griechiichen Schriftftellern erwähnte und verzeichnete Worte. Beſſeres bietet und
die gothiſche Sprache, die Schweſter des Urdeutichen. Wie wir auf das Bothis
fche zuruͤckgehen muͤſſen, jo auch alle anderen germantichen Völker, wenn fie fich
ein Bild von den gefchichtlichen Anfängen ihrer Sprachen machen wollen.
Ulflas’ Vihefüberfegung hat für den Dänen, für den Schweden, für den Eng»
länter denjelben Werth wie für uns Deutiche.
- Das Gothiſche ift der Orund, auf welchem fich Die deutſche Sprachfor⸗
ſchung, die gefammte deutiche Philologie aufgebaut hat. Dusch das Gothiſche
erft ift der alte Wahn ein für allemal vernichtet worden, als jei die Sprache
unferer Väter ein rohes, barbariſches Kauderwelich geweſen, als werde erft eine
Sprache durch die fogenannte Girilifation und durch Grammatifen und Sprache
Tünftler zur Schönheit und Vollkommenheit gebracht. Die Gelehrten des vordr
gen Iahrhunderts, vor allen Gottſched und Adelung, waren beſonders gefangen
- in der Ueberſchaͤtzung des Sprachzuſtandes ihrer eigenen Beit. Durch eine Bed
gleichung der heutigen Sprache mit den früheren Denkmalen, deren früheſtes
2340 ' Ze Sprachwiſſenſchaft.
eben Ulfilas' Wibelüberfegung iſt, gelangen wir gerade zu den entgegengefegten
Ergebniſſen. Ie jünger und urfprünglicher eine Sprache ift, deſto mehr Schönheit
und Vollkommenheit befigt fie. Schönheit einer Sprache aber iſt finnliche
Schoͤnheit, wie die Muſik, fofern fie aus Tönen befteht, etwas Sinnliches ifl.
Bolltommenheit beruht in dem Reichthum an Worten, in der Fülle und Beweg-
lichkeit der Formen. Die finnlichen Schönheiten und die formalen Bolllommen-
heiten verwifchen ſich mit der Beit; die Sprache wird ärmer an Stämmen und
erfegt den Ausfall meift durch abftracte Neubildungen ; die Sprache wendet ſich
wie dad Volt von dem urkräftigen finnlichen Leben ab, fle vergeiftigt fich, nimmt
Elemente des Verſtandes, der Reflerion in fich auf, ihr Bang wirb ebenmäßiger,
glätter. „In allen Spraden”, wie Jacob Brimm in der Geſchichte der
beutfchen Sprache fagt, „findet Abfeigen von leibliher Vollfom-
menbeit ftart, Auffteigen zu geiftiger Ausbildung.
Die höchſte Schönheit und die bebeutendflen inneren Mittel beflgt unter
den indoseuropäijchen Sprachen das Sandfrit. . Auf einer fehr hohen Stufe
ſteht auch das Griechifche, weniger ſchon das Lateinifche, obwohl es ini Einzel⸗
nen manches vor dem Griechiſchen voraus hat. Die romaniſchen Sprachen, vor
allen das Franzöſiſche, Haben viel von dem grammatiſchen Reichthume des Latei⸗
nifchen verloren. Das Gothiiche kommt in der Geflalt, in der es uns vorliegt,
allerdingd den peladgifchen Sprachen nicht gleich, doch übertrifft e8 in der Rein⸗
heit der Laute dad Griechifche und hat Formen aufzuweiſen, welche das Lateini-
ſche vermißt. Das Bothifche zeigt ſchon manche Einbuße an innerem Vermögen,
es wird aljo in früherer Zeit noch größere Vollkommenheit und noch höheren
finnlihen Reiz befeflen haben. — Die Schönheit des Gothiſchen beruht zum
großen Theil in den vollen, ungefchwächten Formen. Das farblofe, eintönige
Endung&e, an welchem unfere und felbft ſchon die mittelhochbeutiche Sprache fo
reich ift, Eennt das Gothiſche nicht. ES Heißt nicht „Bruder, Erbe, Name,
filben‘‘, fondern „.brothar, arbi, namd, sibun.“ Tas a, der wohltönentite und
edelfte Laut, hat eine befonders weite Ausdehnung. Getrübte Vocale wie ö und
a find im Gothifchen noch nicht vorhanden. Kurze und lange Bocale und Sil⸗
ben wechjeln harmoniſch mit einander ab. Das Kräftige, Markige der gothiſchen
Sprache ift Die Folge des Reichthums an-Eurzen Bocalen in den Stämmen und
Wurzeln, wogegen unjer Reudeutich an einem Ueberfluſſe an fchleppenden Laͤn⸗
gen leidet. Groß find die VBolllommenheiten der gothifchen Granımatif, Romis
nativ, Accuſativ und Vocativ können unterjchieden werden, es iſt ein Dualis
vorhanden, es bedarf zur Bildung zweier Tempora des Paſſtvums feines Huͤlfs⸗
zeitworts, auch Spuren eined Mediums jind vorhanden: alles dies find Voll-
fommenheiten, deren die fpäteren deutjchen Sprachen verluftig gehen.
Die althoch deutſchen Dentmale bieten keine einheitliche, vollfommen
ausgeprägte Sprache dar. Zeit und Ort der Abfaffung kommen in Betracht.
In den älteren Zeiten ift die Sprache voller, formenreicher; je mehr fich ein
Schhriftftüct der mittelhochdeutfchen Periode nähert, deſto größere Abgeſchliffen⸗
heit und Farblofigfeit wird es zeigen. Die mundartlichen Eigenthümlichfeiten
der Schriftfteller treten auffallend hervor. Der Baier fehreibt anders als ber
Entwidelungdgang der bentfihen Sprache. 241
Schwabe, und der Schwabe anders als ber Franke. Manche Schriften bieten
eine aus verfchiedenen Mundarten gemifchte Sprache bar. Die alemannijche
Mundart hat am früheften und am entſchiedenſten das Geſetz der Lautverfchie-
bung durchgeführt, weshalb fle in der Grammatik ald das Streng-Althochteut-
ſche bezeichnet wird. — Außer der Lautverfchiebung, die fchon faſt überall ein-
getreten ift, zeigen ſich im Althochbeutichen bie erſten Anfänge einer fprachges
fchichtlich wichtigen Veränderung. Die Trübung ber reinen Bocale, der Umlaut,
wie bie Grammatik diefe Wandlung nennt, beginnt. Noch aber ift es zunächfk
aur ein Vocal, nämlich das furze a, welcher diejem Wechſel unterliegt. Durch
Einfluß eines folgenden i wird a zu e (= 4). Das Gothiſche hat, wie bemerkt,
nur reine, ungetrübte Bocale. So Heißt zum Beifpiele der Plural von balgs,
bes Balg, die Haut, der Schlauch: balgeis; der Boral ded Stammes bleibt in
ber Biegung unverändert. Dagegen lautet im Althochdeutfchen der Plural von
palk nicht palki, fondern pelki (== pälki), neudeutſch Bälge. Im Gothijchen
gab es nur zwei lange Borale .e und 6. Jet wird die lange Betonung auf
fämmtliche Vocale ausgedehnt. Meicher ift das Althochdeutiche an Diphthongen ;
e8 befigt deren fieben, drei mehr als das Sothifche. — Das Althochdeutiche hat
noch volle, ungefchwächte Kormen in großer Anzahl und: feine Fähigkeit in der
Zlerion und in der Wortbildung ift bedeutend. Wenn auch lange Vocale übere
band genommen haben, fo finden fe ihre Stelle meift in den Endungen; die
Stämme aber bewahren ihre urfprünglichen Kürzen. Alfo gerade umgekehrt wie
heute. ‘Die organifchen Kürzen find zu großem Theile in Rängen verwandelt und
die Endungen haben kurze, tonloje Silben. — An innerer Vollkommenheit hat
‚das Althochdeutiche ſchon mandherlei eingebüßt, jo das Paſſivum, den Dualis,
den Bocativ. Dagegen bat es einen Caſus aufzuweiſen, welchen das Gothiſche
nicht befigt, aljo ſchon verloren hat, und von dem ſich fpäter im Mittelhochdeut⸗
ſchen nur einige Trümmer erhalten haben, nämlich einen Inftrumentalis, welcher
ungefähr dem Ablativ im Lateinifchen entipricht. Aus diefem Caſus erhellt, daß
das Althochdeutiche und überhaupt. das Hochdeutſche nicht die Tochterjprache des
Gothiſchen fein kann. — |
Die mittelhoch deutſche Periode vom Beginne bed zwölften Jahrhun⸗
derts bis zu Ende des fünfzehnten Hat wie die althochdeutſche verſchiedene Ab⸗
ſchnitte. Wir unterfcheiden eine Zeit der Vorbereitung, eine Zeit des Glanzes
und der Vollendung und eine Zeit bes Verfalles. In die erfte Zeit, im dag
zwölfte Jahrhundert fällt die Eräftige, ungefünftelte Poeſie der fahrenden: Leute,
die Spielmannspoefie. Die althochdeutjchen vollen Formen find ſchon abge
fywächt, dennoch hat fich manches Alterthümliche erhalten. Der Umlaut greift
weiter um ſich, jo daß die Sprache reicher an Vocalen wird, zugleich aber auch.
an Schönheit und an edlem Klange einbüpt. Die mitteldeutiche Sprache, welche
zum bochdeutfchen Gebiete gehört, aber dennoch als ein felbftfländige®, Hoch⸗
deutfch und Niederdeutſch verbindendes Mittelglied dafteht, Hat ſich am laͤngſten
von der Trübung der Vocale rein erhalten. — Bon Ende des zwölften Jahr⸗
hunderts, das dreizehnte hindurch und ein Theil des vierzehnten blüht das Mits
telhochdeutfche als allgemeine Bücherfprache und als Sprache der Höfe, Der vor⸗
IV. 16
eprachwiſſenſchaft ·/
deutſche. | ieh 6 ru Ha‘
"7 "Bi Sun u Or Amen ii m
ber Reime, welche unfere neuen Dichter befhämen muß, ift 8. bie Fälle des
—— —— und die martige Kraft der Worte, durch welche ſich das
Geyöntei: nicht Aberegen ännen; fo’Hat daß feinen guten Grund. So lange
man das Mittelhochdeutfche, und Dies gilt namentlid) von den Schulen und
Univerfiräten, ausfchließlich des Inhaltes der in ihm verfaßten Dichtungen treibt,
fo lange nicht der Ausfprache mehr Beachtung gefchenft wirb als es bis jet ge⸗
ſchehen, jo lange man das Mittelhochdeutſche nach unferer verderbten Rechtichreis
bung neudeutſch und nicht mittelhochdeutſch Lieft und ausfpricht und den mittels
hochdeutſchen Ders, das Schönfte, was wir in metrifcher Beziehung haben,
mißhandelt, fo Tange wird auch die ee ag als
Sprache für die meijten eine unbefannte Sache bleiben. ni
Im vierzehnten Jahrhunderte beginnen Sprache ———
Beides geht immer Hand in Hand. Die Munbarten,
ern Sc m Erg bereit, am el mittel⸗
— — Rebe des Neuhoch deutſchen ber
a *8* n) rn anıi 1
* Atthochdentichen finnliche Schönheit, und innere Volllkommenheit eingebüßt
* fe doch, in Jeißliher und geifiger Bepiebung vor vielen europäir
* Spraßen den Vorzug. ‚Und eine hat fie.sor ihrer Mutter, *—*
fo mancher im Beben. an ber angeflammten. trauficpen Mundart. feſthaͤlt, welche
ihn mit RE PIE IRDNR ‚an die Heimath Fnüpft, fo befigt.er doch in der
Entwidelungsgang der dentfhen Sprache. 245
Schrift einen geiftigen Hort, der ihn dem großen Vaterlande vereint. Freuen
wir und, daß es jo gefommen! Der Sieg der hochdeutichen Zunge hat die Tren⸗
nung der Dialecte unfchädlich gemacht. Die Scheidewand zwifchen Norddeut⸗
ſchen und Süddeutſchen oder, wie ed im Mittelalter hieß, zwifchen Sachfen und
Schwaben ift gefallen. Wir find jetzt Ein Volk, einig in Sprache und einig in
Bildung, wie wir Eines Stammes find. Das mag uns tröften über fo manche
Zerriſſenheit, welche die politifche Befchichte herbeigeführt hat. Man hat oft
behauptet, die Reformation habe das beutfche Volt gefpalten. O nein! bie
Sprachgefchichte lehrt uns ein anderes: die Neformation bat das deutſche Volt
vereinigt! Zweimal ward unferem Volke das hohe Gluͤck zu Theil, die deut⸗
ſche Dichtung in voller Blüthenpracht zu fehen, und wenn auch Die zweite
Glanzzeit, die Zeit eines Schiller und Böthe, in vieler Beziehung von ber erften,
von der Zeit eines Wolfram von Eſchenbach und Walther von ber Vogelweide,
übertroffen wird, das hat fie gewiß vor biefer voraus, dem gefammten
Deutihland anzugehören! —
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Kreislauf deb Waſſers. 247
und Bewegungen fein wollen, in welche das Wafler eingeht, oder an welchen es
heil nimmt. Sie hat fih an die allgemeinften Beziehungen und den Zuſam⸗
menhang zwifchen’den einzelnen Thatfachen zu halten, wenn fle dem Stoffe folgt,
der bald fichtbar vor Jedes Augen, bald ber Anjchauung entzogen, hier in blei⸗
bendem Verbande feiner Urfloffe, dort aus feinen Elementen fich bildend, oder
in fie zerfallend, überall ift und nirgends bleibt.
Mo eine durchaus zufammenhängende und in ſich zurücklaufende Folge ton
Bewegungen gegeben iſt, da läßt fich an jeder Stelle einer fo gefchlofienen Kette
der Ausgangöpunft der Betrachtung wählen. Indeſſen feheint es am angemeſ⸗
ienften, den ®ebanfenzug zuerft gegen jene Bewegungen zu richten, welche durch
die Größe der bewegte Maſſen Aller Blicke auf ſich ziehen, dann ihn weiter zu
Ienten zu ben Fällen, in denen die Thätigfeit des Waſſers fich in eine immer
tiefere Berborgenheit zurüczieht und zulegt anzubalten, wo nur der aufmerk«
famfte und durch vorbereitende Kenntniffe unterflügte Beobachter feiner gem
wahr wird.
Die Meere betheiligen ſich an bem allgemeinen Kreislaufe des Waflers in
dreifacher Weiſe. Theils find e8 Ortöveränderungen der flüjfigen Waflermaffen,
felbft weit über jenes Maaß hinaus, bis zu welchen die Winde von äußerſter
Stärke, Ausdehnung und Dauer das leicht ſich rührende Slement bewegen:
wahre Meeresftröme über, unter und zwifchen ruhenden oder anders bewegten
Gewäjlern: mehr ald einmal Hunderte von Meilen lang. Theils entzieht fich
ber Inhalt der Meere auf feinen. ferneren Wegen der unmittelbaren Anfchauung,
nachtem er aufgehört bat, flüffig zu jein. Was die See ald unfichtbaren Dampf
in veränderlicher Menge der Luft abgab, je nachdem dieſe niedriger oder höher
temperirt, mehr oder weniger feucht, fchwächer oder flärfer bewegt war, führen
die Winte in weit entlegene Simmeldftriche. In welche Form dieſes Waffer feine
unabläjfige Wanderung in der irbifchen Ratur fortfegt, ob es fernerhin luftför⸗
mig der Atmoiphäre beigemengt bleibt, oder ald Dunft und Wolken, als Regen
und Schnee wieber verdichtet und fihtbar wird, hängt von den Bufländen ber
Zufträume ab, im tie es weiterhin übergeht, von ihrem Waärmegrade und der
Menge bed dajeldft jchon vorhandenen Wafferbampfes.. Ein letzter Antheil enb«
lih geht, wichtige phuflfalifche und chemifche Veränderungen einleitend und
durchführend, in die feften Subftanzen über, welche die See ald Unterlage und
Ufer begrenzen ober dient dem Gntwidelung&progefie einer nach Zahl und Form
faft unendlichen Pflanzen» und Thierwelt.
Wir bedenken hier nicht weiter jener Beiwegungen der See, welche als Ebbe
und Fluht der Erfolg einer Anziehung von Mond und Sonne find, Obwohl
fle mit alle den Verwickelungen, welche die wechjelnde Stellung jener beiden
Himmelöförper, noch mehr die vielfache Geftaltung der Gontinente in ihren
Verlauf bringen, einen wichtigen Zug im Bilde bed Oceanes bilden: fo ift dennoch -
das Kortlaufen der Fluhtwelle, die Hebung, Senkung und feitliche Verſchiebung
der Gewäfler nicht mit jenen Strömungen zum vergleichen, die aud einem
Klima in ein anderes fich erſtrecken. Ran kann in ihnen nicht in gleichem Sinne
einen Kreislauf des Waflerd erkennen. Auch ſei jenet Bewegungen nur im:
ac un une Yankee ker cn im Orc fh ef
des Waſſers verdampft. Dies
——— an ——— gleich, Mag er aber
Beobadtung, ber @efammtauffejlag nicht zweifelhaft, - Oertlich, doch-qunneifen
in großer Erftredung, ift die Zunahme an Salzgehalt noch höher getrieben, wo,
ſchwimmenden Wiefen gleich, zufammenhängende Maffen von Seetang-die Ober⸗
fläche überziehen, wo Sonnenwärme und Luft auf diefer Bedeckung eine Art na=
löften Salzes rüdwärtd in die See der gemäßigten Zonen durch den reichlicher
dort fallenden Regen und Schnee, In den Polarmeeren endlich concentrirt ſich
bas ungefroren bleibende Waffer, weil in das meifte, — —
pres ernsten. Feen —⏑ —ü⏑ü⏑0
Man ſieht fchon hiernach, "Daffried am barchenden Kräften im Meere nicht
fehlt, da ungleich fchwere Klüfftgfeiten nicht neben einander in gleihem Niveau
beftehen fönnen. Bon den Stellen aus, wo die erwähnten Unterfehiede am größe
ten find, wird den flüffigen Maffen beiderſeits ein Antrieb gegen bie Orte entge⸗
gengefegter Beichaffenheit gegeben und zwar, — nur wechjelnd an Stärfe mit
der ungleich vertheilten Wärme, während eines Jahreslaufes, — ein beftän«
Kreißlauf deb Waſſers. 249
diger Antrieb. Allerdings werben ſich die dichteren Maſſen in einem tieferen,
die leichteren in einem höheren Strome anſchicken, das geftörte Gleichgewicht zwi⸗
ſchen weiten Fernen wieder herzuſtellen. Aber dab angeſtrebte neue Gleichgewicht
wird zu feiner Zeit vollkommen erreicht, weil diefelben Kräfte Immer fort wirken,
Denen die ungleiche Schwere der Meerestheile zuzufchreiben iſt. Diefelben Waſ⸗
ſermaſſen, weiche warm und jalgreicher polwaͤrts drängten, müflen Dem entge⸗
gengefegten Zuge folgen, fo bald fie wieder erfaltet md mit anderen gemiſcht
find. Zurückgekommen auf den früheren Ausgangspunkt ober eine ihm gleich⸗
artige Stelle, gewinnen fie die früheren Eigenjchaften wieder und treten abermals
den Weg an, auf welchem fle, in einer Art von beweglichem Oleichgewicht, die
Ausgleicher entgegengefegter Buflände und Antriebe, die feyligenden Vermittler
zwifchen dies⸗ und jenfeits wachfender Ueberfüllung ober Armuth an Wafler und
Salz werden. Ein echter Kreislauf im volllommenften Sinne tes Wortes!.
‚Aber e8 laͤßt fich noch weiter geben. Nicht blos bie allgemeinen Urjachen
Der Meereöbewegungen find hierdurch großentheild aufgedeckt, ſondern auch
fo manchem unerwartetem Zuge in der großen Berwidelung ber vceanifchen
Ströme tft jein Anjchein eines. Widerſpruches genommen und er felbft, wie bei
fogenannten Störungen im einfachen Laufe der Ratur gewöhnlich zu geichehen
pflegt, gerade als ein nothwendiger Erfolg der allgemeinen Ordnung befunden
worden. Fürs Erſte kann wicht verborgen bleiben, daß Wärme und Salzgehalt
in entgegengefegtem Sinne bewegend wirken, da jene leichter, dieſer ſchwer macht,
Diefelbe Meeredgegend aber, welche bie eine fleigert, vermehrt auch den anderen
und fließt fomit zwei einander befämpfeude Elemente ein. Es wird daher für
Den Erfolg erſt darauf ankommen, welche von beiden Wirkungen in einem gege⸗
denen Falle und wie weit hinaus fie die überwiegende iſt. In den Abflüflen ber
Eismeere unterftlügt fi Dagegen aus angegebenen Gründen Beides im Sinne
einer größeren Schwere des Waflerd. Während hier durchaus kein Zweifel über
den Ausſchlag zugelafien ift, kann zwar für bie wärmeren Meerektheile vorläufig
ein folcher bleiben... ‘Aber deshalb in jenen Elementen bewegende Urfachen dort
verfennen zu wollen, wäre nichts Anderes, al6 an bie mindeſtens unwahrſchein⸗
liche Vorausſetzung ſich binden, daß im Allgemeinen beide entgegengefete Ur⸗
fachen nahezu ober völlig einander aufheben. Mag einmal das Meerwafler irgend
einer Stelle aus dem einen Grunde um biefelbe Größe ſchwerer, ald aus dem
anderen leichter geworden fein, wenn e8 mit ben Gewaͤſſern eines entfernten Ser⸗
gebietes verglichen wird: fo wäre dies immer nur ein einzelner Fall unter einer
großen Zahl anderer, wo die Differenz der beiden @inflüffe noch einen merklichen
Werth behält, alfo jedenfalls noch eine hinreichende Beavegungsfraft übrig bleibt.
So lange nicht überall eine ſolche Gompenfation in der Art gegeben iſt, daß an
jeber Stelle des Meeres das Wafler gleich dicht und ſchwer iſt, wird es ber For⸗
derung, maſſenweiſe zu fließen, nachkommen mäffen.
Einem weiteren Bedenken ift infofern zu begegnen, als die ungleiche Dichte
heit und Schwere des Meerwafjers zwar als bewegendes Element zugelaflen, da⸗
gegen gefragt werben tönnte, ob dadurch veranlaßte Bewegungen zwiſchen fernen
Merreötheilen lange beftehen, ob ins Beſondere weit hinaus Ströme eined waͤr⸗
ber Einfpruchgurüdtgen |
närten’Reeredfirömen’einnachhaltiges; Befonderten pen uf
ihten flüffigen- Ufern: zugeftanden werben.: ron gb won une are
| Vielen
Fre een — — — —
thun und weiter im Einzelnen zu ordnen, was in ihrer beſonderen Macht liegt.
Der Nachweis einer bewegenden Kraft, ber aus allgemeinen Gründen folge, iſt
offenbar nicht Daffelbe, als die zergliedernde Erklärung einer gegebenen Bewwes
gung aus ihren individuellen Elementen. Die weiteren Bedingungen , die noch
hinzutreten, find theils allgemeineren Herfommeng ; aber auf jeder anderen Stelle
—— chen Fluſſes
noch lange nicht au 0 hr ann Mer Herb. Seine abe,
daf ein an feiner Grenze fegelndes Schiff zur einen Seite den Anblick der ge-
wöhnlichen See, zur anderen das ganz verſchiedene Bild des Golfitromes Hat. .
Selöft bet zuhigfter See iſt ſeine Oberfläche nicht überall eine einfache Ebene.
Strom nad) rechts, der wie eine Hinabpängenne flfige, aber undurchbrochene
Mauer, zwiſchen beiden Gebieten Hegt. Hört mit herannahenden Sommer bie
Uefa DeB ueberdrucee auf/ —— Strom ge
- sat merrim
zurük.
⸗ Denn oma Ba ach, wog ——
Kreitlauf des Waſſerd. 208
dert würde, ſondern um bie Selbſtſtaͤndigkeit und; den individuellen Charakter
ber großen Meereöftröme an einem Beiſpiele erfennen zu laſſen, wurden einige
Büge aud dem großen Bilde des Stromes entlehnt, der, nach dem Urtheile der
Erfahrenften, das größte Wunder des an Außerordentlichem fo reichen Dceanes
zu heißen verdient. Es giebt aljo eine Girculation in der Geſammtheit der
Meere. Indem den Strömen Gegenftröme, freilich nicht allemal unmittelbar
zur Seite, entfprechen, find alle dauernden Gleichgewichtsſtörungen eine Un⸗
möglichkeit. Aufgehboben muß allerdings dad Gleichgewicht fein; damit ein
Strom fich entwidele, aber in dem Strome und Durch ihn flellt es fich ebenjo un⸗
abläjfig wieder her, als dauernde Kräfte es unabläfftg aufs Neue aufheben. ES -
war ſchon mehrfach Gelegenheit, dieſer einen Rolle zu gedenken, welche die Mer⸗
reöftröme im Haushalte der irbifchen Natur jpielen. Sie müflen dieſe fpielen, ba
fie von ihrem Entſtehen und ihrem Beflande untrennbar ift: die Rolle von
Ausgleichern zwifchen entfernten Meeren. Bon weiterer Wichtigkeit werben
fie für die Vertheilung der Wärme auf der flüffigen und felbft einen Theile
ber feften Erboberfläcdye; für den Witterungsgang nicht bloß der ausgedehn⸗
ten Blächen, die fie einnehmen, ſondern zugleich einer weiteren Umgebung. Dem
Meere find fie daſſelbe, was für die Luft die Winde find, Doch verfolgen fie einen
mehr gleichbleibenden Lauf. Es find natürlich die oberflächlichen Strömungen,
das heißt in der Mehrzahl der Bälle, Die wärmeren, welche die größte Macht auf
dad Klima äußern, während die weiften fälteren einem unterjeeiichen Verlaufe
folgen. Dem reichen und vielgeftaltigen Leben des Oceand werden fie theils
breite Wege zur Ausbreitung feiner Organismen, theild ziehen jie ihm Li⸗
nien beftimmter Begrenzung, über welche zahlreiche Arten, gleich den Walfiſchen,
welche den Golfſtrom meiden, nicht hinwegiegen. Endlich kann nicht verborgen
bleiben, in wie mannigfaltige Beziehungen die Meeresftröme zum Menfchen
treten, der fich zum Herrn des Meered gemacht hat. Zwar ift heut zu Tage ben
Mitteln, die geographijche Länge und Breite zur See zu beitimmen, eine ſolche
Bollfommenheit gegeben, daß die Schiffe im Allgemeinen nicht mehr anderer Er⸗
innerungen bedürfen, um zw wiflen, wo jie find. Bei ihrer wenig ober Doch pe⸗
riodijch und regelmäßig wechjelnden Lage, gewährten die Merreöftröme. früher
allerdings oft folche verwünfchte Erinnerungen, wo fie durch Richtung, Stärke
und Temperatur erfannt wurden. Rod) fernerhin bleiben die Angaben des Ther⸗
mometerd dem Seefahrer aus einem anderen Grunde von Werthe, infofern fle
ihm die Annäherung an Untiefen, um welche die Wärme des Waſſers zu finfen
pflegt, und die Rachbarjchaft einer Strömung verrathen. Aber die entfcheidendfle
Bedeutung hat die Strömung gegenwärtig für ihn als eine bewegende Macht.
Auf gewiſſe Strecken ifb fie dem Laufe des Schiffes günftig, daß fich ihr freiwil«
lig überläßt. Ein oder das andere Mal führt fie daſſelbe endlich noch mit leide
lichem Slüde aus einer bedenklichen Lage, wie fie Die amerifanifchen Fahrzeuge,
welche 1850 noch Iohn Franklin juchten, jammt dem Eiſe, in welchem fie feſt⸗
gefroren waren, aus dem Mellingtonfanal mehrere Hundert Meilen fübwärts
trieb. In der größeren Zahl der Bälle dagegen haben die Schiffenden von ber
Nähe einer Strömung Kenntniß zu nehmen, um ſich vor Verlängerung bes
Here
— ——— ſich loͤſt. Aber in feiner‘ Beriebiint
rauchen jene Waffen verdampften Waffers eine Vergleichung zu fcheuen, Die
‚ deren Fortzlehen mir unter
abeite,owweldhee fh an eine vermeintliche geringere: Größe der Sewegten Maffen
beim Vergleiche ftößt, bie mn "feine Zurüdfegung geflatten würde,
— einer Beranlaffurig
zum Niederfchlage begegnen. Man hat mit Recht, um die Veränderungen
zu erläutern, welche ein großer Theil des Waſſers durchläuft, den Vergleich mit
einem fünftlichen Dampfapparate gebraucht. Die Meere der heißen Zonen wis
ren der Keffel, die tropifche Sonne das Feuer: die Bahnen der Luftſtröme ftell-
ten die dampfleitenden Kanäle vor und in der fühleren Luft der gemäßigten Kli—
mate fänden fich Die dampfverdichtenden Räume. Was an dem Beiſpiele allein
vermißt wird, ift ein Bild für die bewundernswürdige Veränderlichfeit, theils
periodifcher, theils nicht periodifcher Art, — eine Veränderlichfeit, die willfür-
licher Freiheit ähnlich ſehen fönnte, wenn nicht die feften Gefege Durchleuchteten,
nach welchen die Bewegungen im taufendfältigen, notwendigen Wechſel ſich
ergehen. Der Kreislauf des Waſſers durch unferen Luftkreis geht weit über das
hinaus, was unmittelbar in die Augen fällt, Die Wolfen find zwar ihrer
Höhe, Maffe, Form und Richtung nach der ſichtbar getvordene Ausdruck viel-
leicht Länger ſchon eingeleiteter, jedenfall fo eben geſchehender und in Bortjegung
begriffener Progeffe ber Atmofphäre: aber fle bezeichnen nur einzelne Stellen in
den Bahnen der freifenden Waffermaffen. Atmofphärifches Waſſer bewegt fich
auch durch die Rüfte mit Winden, die Feine Wolfen führen, wenn nur die Luft
-Kreitlauf des Waſſers. 255
noch nicht mit Dampf gefättigt iſt. So Tange die Wolfen für niedergefchlagene
Dampfmafien gelten, welche in dieſer Form immer fortgeführt werben, ſofern
fie nicht niederfallen: fo lange mur hier und nicht ebenfo unter dem freien Him⸗
meld-Blau Waſſer geſehen wird, welches nur einer angemefienen Temperaturfen«
kung wartet, um Woltengeftalt oder die Borm irgend eines anderen Riederſchla⸗
ge8 anzunehmen: fo lange endlich Wind und Wetters für fo launiſch und geſetzlos
gehalten werden, als das Sprüchwort von ihnen außfagt: fo lange kann der
atmofphärifche Kreislauf des Waſſers nicht begriffen werden. Wenn aber der
Erfahrung gedacht wird, daß die Luft nie abfolut troden fich zeigt, ein Nieder-
ſchlag aber bei gegebener Dampfmenge einen beftimmten Drad und eine bes
flimmte Temperatur vorausfeßt: wenn weiter die Bewölkung als ein in beftän-
digem Werben und Vergehen Begriffenes, als eine Form von immer anderem
Inhalte, gleich dem Schaumberge über einer Gervorragung des Flußbettes, er»
fannt worden ift: dann erfl treten für bie Anfchauung der fichtbar und der
unfihtbar Ereifende Antheil des amofphärifchen Waſſers in das richtige
Verhaͤltniß zu einander.
Es wäre hier am rechten Orte außeinanderzufegen, wie die Circulation Dies
ſes Waſſers, wie Lufiftröme, Verbunftung und Niederfchlag von dem jährlichen
Gange der Wärme und von allen jenen Elementen georbnet werben, welche Die
Zemperatur und ben Beuchtigfeitögehalt aller Luftſchichten beftimmen. Gtatt
dahin einfchlagender Betrachtungen, weldye nur bei verwandten Begenfländen
bereitd Beiprochened in eiwas anderer Form zu wiederholen vermöchten*), ſollen
einige phuflfalifche Folgerungen erwogen werden, die mit dem vorliegenden Ob⸗
jekte in nahem Verbande fiehen. Der Kreislauf des Waſſers in der Aimofphäre
hat noch einen anderen Sinn, als den einer Bewegung der Maffen in immer
anderer Vertheilung über die Erde und eines unabläffigen Ueberganges zwifchen
feftem,, flüffigem und Iuftförmigem Buftande. Alle MWechfel letzterer Art gehen
befanntlich nicht vor fih, ohne daß der Umgebung eine gewifie Menge bisher
merkbarer Wärme entzogen oder eine zuvor nicht frei vorhanden geweſene zuräds
gegeben wird. Um das ganze Gewicht biefer Thatfache für die Temperatur«
verhältniffe der Erbe richtig zu fchägen, If zu bedenfen, daß jenes Wärmemanf
gerade beim Waſſer ein Höchft bedeutendes if. Wenn ſchon das Ei im Moe
mente des Thauens eine Wärmezufuhr beanſprucht, um eben nur ein fläfflger,; .
aber nicht den Fleinften Bruchtheil eined Grades wärmerer Stoff zu werden, Die‘
hinreichend wäre, daſſelbe Thaumafler von der Schmelztemperatur auf etwas
mehr ald 79 hunderttheilige Grade zu erhigen, fo ift die beim Verdampfen ge⸗
bundene Wärme fogar noch bedeutender. Im Großen und im Kleinen geben
folche Bewegungen und alle ihre Kolgen ununterbrochen an uns vorüber, ohne
daß immer der Grund erfannt und unter unfcheinbaren Berwandlungen bie‘
ebenfo einfach al8 gewaltig wirkende Kraft entdeckt würde. Es iſt an einer an⸗
deren Stelle berichtet worden, wie die Rord⸗ und Südhalbkugel der Erde wicht
ganz gleiche Temperatur befigt und die Gefammtwärme der Luft einer jährlichen
*) Giche Band II. Seite 68. — B. Ill. & 30. — 3. 1V. €. 62. —
| | Waſſers
—— mich ehe i.der Gleftrieität die Urfache faſt
jeder Bewegung fucht, für die ein anderer annehmbarer Grund nicht fofort Deute
lid) wird und vielmehr darüber ſich geeinigt hat, daß fie Öfteren da Folge iſt, wo
fie früher als erregende Kraft angenommen wurde: ſchwebt doch über der Duelle
ber atmoſphaͤriſchen Elektricitaͤt noch immer ein wenig gelichtetes Dunfel, Ber
dampfung des Waſſers kann nicht die Urſache fein: Dies fegt der Verſuch außer
allen Zweifel... Dagegen weifen die mächtigen Entladungen der Gewitterwolken
auf die Vermuthung hin, daß die elektrifchen Kräfte rege werden, wo ein rajcher
und maflenhafter Niederichlag fich begiebt. Mag der auffleigende Luftitrom bie
Dämpfe. der Tiefe in kalte Höhen führen, oder sin Falter Wind in eine warme,
ein warmer und Dampfreicher in eine kalte Luft einbrechen, oder mögen in der
Rauch - und Dampfjäule eines thätigen Vulkanes Blige bie Größe der eleftri=
ihen Spannung verfündigen: immer; knüpft fich die mächtigfte Entladung, die
—* ————
Zeit. eh I amisamınıı ’Z u 1a NT a
Die Betrachtung , joweit wir fie bigher geführt haben, hat und von den.
Meeren im den Luftkreis und durch jeine Niederjchläge wieder zur Erde geführt.
Kreidlauf des Waſſers. 257
Indem wir einen britten Theil bed Meerwaflers., welcher an ben Veränderungen
von Meeresgrund und Meeredufer fih betheiligt, fo wie den in bie organificte
Welt des Oceanes eingehenden weiterhin au geeigneter Stelle zu erwägen geden⸗
fen, könnte jept leicht der Uebergang zu den auf der Erdfeſte rinnenden Wäflern
gewonnen werben, wenn nicht eine wichtige Uebergangsform zwifchen den Rie-
derfchlägen in Schneegeftalt und dem flüffigen Waffer noch einen Anhalt geböte.
Nicht aller Schnee nämlich durchläuft eine fo einfache und verhältnigmäßig kurze.
Reihe von Veränderungen, wie in den Gegenden, denen er nur eine vorüberges
hende Erfcheinung if. Wo bie Luftwärme einen Theil des Jahres unter den
thermometrifchen Nullpunkt, die übrigen Monate nicht hoch oder wenigſtens nicht
andauernd um eine größere Zahl von Graben über denfelben fällt, tritt er eine
Folge anderweit theils ungefannter, theild unbedeutend entwidelter Verwand⸗
Iungen an. Solche Bedingungen find gegeben in ‚ben Ländern nahe an ben
Erdpolen und, über eine gewiſſe Höhe hinauf, felbft in den gemäßigten und hei»
sen Simmelöftrihen. Wo dieſe Bedingungen nicht fehlen, da fiellen ſich zwi⸗
ſchen Schnee und endliches Schmelzwaſſer der Firn und der Gletſcher.
Seitdem die Entwickelung der Firne und Gletſcher, ihr mit dieſer zuſammenhaͤn⸗
gender Bau und ihre Bewegungen erkannt worden find, haben fie aufgehört, nur
als Schnee und Eismaſſen zu gelten, welche den höheren Bebirgen ein Schmuck,
ihrer Umgebung ein Heerd von Kälte, den tieferen Ländern eine Urſprungsſtaͤtte
ihrer Klüffe, dem Menfchen ein Gegenftand des Staunens, dabei nicht felten eine
Duelle von Gefahr und Schaden find. Das ausgedehnte und tiefe Studium,
welches die neuere Zeit ihnen zugewendet hat, ift reichlich belohnt worden. Richt,
5108, daß überhaupt Damit einige neue Gegenflände naturwifienfchaftlicher Kennt⸗
niß gewonnen oder über andere bie früheren Anfichten aufgeklärt und erweitert
worden wären, Vielmehr ift auf den Rachweid des Zufammenhanges Gewicht
zu legen, der unter den einzelnen Gliedern des Verwandlungsprozeſſes in einer
ſehr allgemeinen Beziehung befteht: auf die Anerkennung der Bebeutung, welche
ten Kirn und Gletſcher ald Vermittler zwiſchen den immerfort fallenden feften
Nicderfchlägen und ihrer Auflöfung und Abführung zufommt. In diefem Sinne
baben jene Zwijchenformen einen ſolchen Werth für Die Phyſik der Erde erlangt,
daß, wo der Kreislauf des Waffers in Erwägung fommt, ihrer nur ungerechter
Weiſe vergefien fein könnte. Um im Allgemeinen einzufehen, wie fie in dieſen
Kreislauf eingehen, bedarf es weder ber Worausfegung noch der Beibriugung
vieler einzelnen Kenntnifje über Firn und Gletſcher. Es reicht Hin, dem Vor⸗
gange der Umwandlung in feiner vollendetiien Form zu folgen. Sind die wirk⸗
famen Kräfte bier erfannt, fo wird fich bald finden, daß ed auch am Verſtänd⸗
niffe ter unvolllommneren und des Sinneß, den fie haben, nicht mangelt.
Entwidelter und, im VBerhältniß zur Geöße bed eingenommenen Länderges
biete8, ausgedehnter find wohl nirgends die Birne und Gletfcher ald in den
europäijchen Alpen. Daß dies feine nothwendigen Gründe und welche Urfachen.
e8 habe, wird fich bald ergeben. In den Gochalpen find die atmofphärijchen.
Riederfchläge überhaupt viel feltener. Zwar ift dort bis gegen 12000 Fuß über
der Meereöfläche Regen geſehen worten, aber gewöhnlich fällt nur ein feiner
IV. 17
Ereislauf des Waffert. 258
fich nicht wieder durch das Anfrieren des Schmelzwaſſers, vielmehr nimmt dieſes
die Geftalt von Körnern an. Die ganze Maffe wird förnig_und zerfällt durch
Wärme in einen groben Grus. Es IR von ſelbſt einleuchtend, daß der Ueber⸗
gang aus dem lockeren Schnee in die zufammenhängende Maſſe des Firnes kein
plöglicher iſt. Es giebt ebenfo gut einen noch wenig feften, feinen Hochſtrn, als
einen bichteren,, verſchmolzenen Tieffirn und felbft ein Firneis weiter unter der
Oberflache, wo ein Zurüͤckhalten des eingebrungenen und gefrierenden Waſſers
nebit dem Druck der überlagernden Laften ein Gefüge veranlaßt, was zwar noch
wicht auf ächtes Eis deutet, aber noch weniger an Schnee mehr erinnert. Wenn
im Winter in den Tiefländern der Schnee während des Tages öfters anfchmilzt
und die Racht wieder gefriert, entwidelt ſich nicht felten eine dem Firn ganz ähn-
liche Maffe im Kleinen. In den Firnmulden der Hochalyen aber, gewoͤhnlich
einem Reiche von manßlofer Oede, bleibt dauernd keine andere Decke des Erd⸗
Bodens: Lockerer Schnee wird dort nur nach frifchem Falle gefehen, oder wäh«
end bes Winters, wo das Anthauen wegfällt.
Das Iepte Glied in der Reihe von Formen, welche mit dem lockeren Hoch⸗
ſchnee beginnt, ift da8 Gletſchereis. Die Eörnige Zufammenjegung, wie fle
bisher war, ift endlich verloren gegangen. Die Menge eingejchloffener Kuft ift
im günftigften Kalle auf etwa ein Viertheil von ber des Firnes gefunfen und
verhält fi im Eife nur in Geſtalt nicht unter einander zufammenbängender
Bläschen. Eine Menge feiner Abfonderungen und Spalten in unregelmäßigem
Verlaufe läßt dieſes Eis immer vom gewöhnlichen Waffereis unterfcheiden. Obe
gleich fle in der Kälte nicht fichtbar find, treten fle bei mäßig warmer Luft, ſchon
durch die Einwirfung des Hauches, hervor. Gefärbte Flüffigkeiten ziehen ſich
in ihnen weiter, nicht blos nach unten in Folge der Echwere, ſondern auch ſeit⸗
lich und aufwaͤrts. Wenn fle Teer, das heißt mit Luft gefüllt find, geben file dem
Eife ein mattes oder weißliches Anfehen: Hat fie Dagegen Wafler durchdrungen,
fo ift aus bekannten optifchen Gründen da8 Ganze durchfichtiger und von dunk⸗
lerem Anfehen. Dieſes weiße und blaue Eis unterfcheibet fich zugleich weſentlich
durch die Menge der eingefchloffenen Luft, die im klauen nur fehr gering, im
weißen dagegen fo groß für Gletſchereis, als überhaupt möglich gefunden wird.
Mit demfelben feinen Spaltenfoflem, ober den Haarfpalten, fteht die Bildung
eined unregelmäßigen, ftumpfedigen Gletfcherfornes im Verbande. eine ein-
zelnen Theile find gleichjam in einander eingelenkt And werden fichtbar beim
Zerfchlagen und beim Zerfallen durch die Wärme. Es find nur diejenigen Ei⸗
genthümlichkeiten am inneren Baue des Firnes und Gletſchers bisher berührt
worden, an welche zu denken nöthig ift, um der merfiwürdigen Uebergänge inne
zu werben, Die den gefallenen feften Nieberfchlag der Höhe von dem abrinnenden
Waſſer der Tiefe ſcheiden. Dagegen Liegt e8 außerhalb ber gegenwärtigen Auf⸗
gabe den äußeren Bau dieſer Schnee» und Eismaffen zu jchildern und aus ein-
ander zu fegen, mas über die Bewegungen berfelben im Einzelnen erforſcht
wurde. Daß fle aber fich bewegen, dag Alles, wa8 von dem Schnee der Hochges
Birge nicht auf andere Meife Hinweg fommt, in Iangjameren Schritten der Tiefe
ſich nähert, um an der wärmeren Luft endlich fich zu Löfen, iſt einer der weſent⸗
‚17%
— Kr | ! ot Kam ur
ara te ig aenigt, ſich where ee
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dungsſtaͤtten zu beſchraͤnkt, an welchen ein wirklich vorhandenes Material den
Formwechſel anzutreten hätte, ohne den das Hinabrüden in die Thaltiefen unmög-
Tich iſt. Je weiter dagegen bie Firnfelder, defto mächtiger und länger der Glet—
ſcher. Dieſe Thatfachen laſſen Far werden, warum die Alpen bad bevorzugte
Land der Firne und Gletſcher find. Anderweit naͤmlich fehlen eine oder mehrere
‚jener allgemeinen Bedingungen, Den Pyrenien geht die maffenhafte Erhebung
‚des Hochgebirges ab: weniger und Fleinere keſſelſörmige Räume über der Linie
des ewigen Schners, mehr einzelne Gipfel und freie Kaämme. Auf den-übrigen
Gebirgen Spaniens, von denen einige hoch genug wären, ift dieſer Mangel’ noch
fchärfer ausgeſprochen. Um in den gemäßigten und beißen Zonen andere geeig-
nete Gegenden zu’ finden, wird man den Zügen der Hochgebirge meift ebenſo ver-
geblich folgen, Der Ararat und der Kaufajus, noch mehr-die Gebirge der Tar-
tarei, Mongolei und deren Umgebung vermiffen nicht blos die vorauszufegende
Geftaltung, jondern find, vermöge der trockneren Quft, zugleich ärmer an Nieder»
ſchlaͤgen. Günftiger zwar find alle Verhaͤltniſſe in mehreren Theilen des Hima⸗
laha. Im vielen Fällen zeigen fie Gleiches mit den Alpen, Aber mag auch man-
Kreislauf des Waſſers. 263
ſtrecken Dagegen und Gebirge vermehren aus bekannten meteorologiſchen Grün⸗
ven örtlich Die Menge der Niederjchläge. Erftere im Beſonderen, inten fie den
Boden vor ter Einwirkung der Sonnenftrahlen fhügen und feine Temperatur
zur beißen Jahreszeit niedriger erhalten, fichern das aufgefogene Wafler vor
rafcher Verdunſtung. Alle Länder, in welchen die Bodencultur fich weiter über
bie Wälder verbreitet, machen alljäprlich hierin übereinſtimmende Erfahrungen.
Mo die Anerkennung des Vortheils fehlt, Den in diejer, wie in verwandten Rück⸗
fichten Gebirgswaͤlder bringen, ift wenigitend der Drud der Rachtheile fühlbar,
Die auß ihrer Verdrängung erwachfen. Wir fehen alfo wohl, wie der Kreislauf
des Waflerd dahin geregelt ift, Daß die Menge des auf und in dem Erdboden ent⸗
baltenen und von ihm weggenommenen flüffigen von ber Atmofphäre gewährt
wird, Wir brauchen den Waffergehalt der Erdrinde bis zu feiner Anfammlung
in Quellen nicht überall dem Drude der Gewaͤſſer zuzuſchreiben, bie oft erft in
mächtigem Abftande Fluͤſſe und Meere füllen: noch weniger einer alljeitigen Auf⸗
faugung von diefen aus, nach Art fein poröfer Körper. Wie died Zufammen-
ziehen des aufgenommenen Waſſers geichehe, iſt eine ganz andere Frage, bie wes
nigflend noch nicht da zur Entjcheidung gegeben ift, wo c& fich allgemein um den
Urfprung handelt. Auch ift es, um andere in Gang gebrachte, aber wieder ver⸗
geffene Erklärungen zu verfchweigen, nichts Annehmbares, im Gegentheile aus
unbefannter Erdtiefe ein Auffteigen von Waflerbämpfen anzunehmen, die in den
oberflächlichen Theilen fich verdichten follen. Welche Nolle das Wafler in vul⸗
kaniſchen Oegenden fpiele, wird bald Gelegenheit fein, zu erwähnen. Gier mag
zugeftanden werben, daß allerdings gelegentlicy Durch eine Art Deftillation Waſ⸗
fer fich ſammeln kann, gleich den oft angeführten jalzfreien Quellen auf Pantel«
laria und Stromboli, — in dampfreichen Grotten oder auch auf dürrem vulka⸗
nijchen Geftein, wo eine Speifung durch gefammelte Niederfchläge nicht zu denken
if. Große und rajche Ergüffe der Quellen Haben wiederholt das Staunen in
ſolchem Maaße erregt, daß von einem Aufthuen der Tiefe und einer Entleerung
unterirbifcher Behälter, wie von einer außgemachten Sache, die Rede war. Trog
ter Reben vom gleichzeitigen Erdbeben und anderen gewaltfamen Raturbewegun«
gen, die bei ungewöhnlichen Begebenheiten ſtets zu Hilfe gerufen werden, bat
Die genauere Unterfuchung ber meteorologifchen Vorgänge in Nähe und Kerne
unzweifelhaft dargethan, daß die Fluhten aus den Wolfen Tamen.
Wir haben bi8 jegt günftigen Falls einen mit Wafler, deſſen Urfprung
wir fennen, durchzogenen Boden, aber noch Feine Quellen: zwar ein zufammen-
hängentdes feuchtes Netzwerk durch den ganzen Grund, aber noch Feine fließenten
Waſſeradern. Zu Iegteren bebarf es einer Sammlung, welche einen Wider⸗
fland gegen das Weiterdringen, eine mehr oder weniger waflerdichte Begrenzung
vorausſetzt. Wo lockere Sand⸗ und Geröllmaffen, oder undichte Sandfteine,
noch mehr gewiffe durch und durch zerflüftete Kalkfleingebirge die Erdoberfläche
bilden, da verjchwindet jeder Tropfen der atmojphärifchen Niederfchläge faſt
fpurlos. Glüclicherweife für die Erhaltung des Waſſers in den oberflächlichen
‚Schichten befteht Durch die Erbrinde eine große Abwechjelung der Geſteinsarten.
Unter tief:n find für das Aufhalten und die Leitung der eingedrungenen Ges
Kreislauf bed Waſſers. 265
ftröme wieberzufinden, welche, oberhalb Spezzia her@bfliegend, Tich in einen
Schlund flürzen, ehe fle das Meer erreichen. Auffallender dagegen ift das Vor⸗
fommen von Quellen auf beträchtlichen oder einzeln Tiegenden Höhen. Man
war früher fehr geneigt, folche Quellen von anderen noch höher gelegenen Stel-
Ien abzuleiten und, wo ſolche vom Auge ringsum nicht erreicht werden konnten,
fich durch Die Entfernung nicht ſchrecken zu laſſen. Don den fernen Gebirgen
follten die Gewaͤſſer auf undurchläffigen Unterlagen in die zwifchenliegenden
Thaltiefen finfen, von den tiefften Punkten aber, wo fie aufgehalten werden, fer⸗
nerhin aufwärts in alle communicirende wafjerdichte Wege fich veräften und mit
anderen verbinden, Natürlich würde es fo an einem Austritte des Waflers nicht
fehlen, wenn auf jener hodggelegenen Beobachtungäftelle eines Der waſſerdichten
Lager zu Tage ginge, vorauögefegt, daß dieſes Ausgehende noch nicht das Niveau
der fernen in unterirdifchem Wafjerverbande flehenden Gebirge erreicht. In
Nüdjicht auf die hydroſtatiſchen Geſetze laͤßt fich Nichts einwenden, überhaupt die
Möglichkeit nicht abjprechen, daß in einzelnen Fällen wirklich ein folcher Zu⸗
fammenbang beftehe. WMeiftentheild aber wird wohl nicht hinreichend bebacht,
was dabei gefordert it, fobald die Entfernung fehr beträchtlich wird. Richt etwa
ein ganz außerorbdentlicher Wafferreichthum auf jenem entlegenen Gebirge, da ja
das Waffer gar nicht von dort, jondern nur aus den nächfter tieferen Umgebun⸗
gen zu fommen braucht: vielmehr die fehr weite, in fich zufammenhängente Ver⸗
bindung der gefammten Waflerabern, die voraus gejettt werden muß, erregt Be⸗
denfen. Wären ſolche Meilen weit gehende Eirculationen fo Häufig, fo müßte
man ſich in der That betroffen fehen, wenn dieſe nicht viel häufiger und auch an«
derweit ihre Wirkungen erfennen laffen. Man mußte zumal erwarten, daß die
Gewaͤſſer tieferer Gegenden öfterer mit größerem Drucke zu Tage gefördert wür-
den, als er thatfächlich fich Außert. Wo nicht, um e8 kurz zu fagen, ein folche8 ums
gefchrtes Heberſyſtem beiteht, Fann auf dem Gipfel eines getrennten Berges, —
dieſe Bezeichnung im firengften Sinne des Worte genommen, — hoͤchſtens eine
Lache oder eine fumpfartige Anfammlung von Waller fich bilden, aber Keine
Duelle. Gftüdticherweife braucht man zu jenem Heberſyſteme feine Zuflucht
nicht fo oft zu nehmen, wenn vor allen Dingen die Bälle abgezogen werten, wo
die Duelle nicht auf, fondern richtiger an dem Gipfel entfpringt. In der Regel
empfängt die Oberfläche von Nebeln und Nieberichlägen Wäfferung nachweislich
genug, dag in geringer Tiefe unter dem. Gipfel eine an Ort und Stelle gebildete
Waſſerader zufammenfließt, wenn nur fonft die nöthigen Bedingungen nicht
fehlen.
So fern die Quellen unleugbar aus der Atinofphäre gejpeift werden und
nicht Anderes find, als der von allen Seiten gefammelte, der zufammenhängend
und dauernd fließende Meft der Riederfichläge, die nicht von der Pflanzendecke
eingefogen, nicht von den lockeren Schichten der Ertrinde aufgenommen und zu⸗
rüdgehalten wurden: fo darf die Meinheit auffallen, mit der fie meiſtens zu Tage
treten. Auf den vielfachen Umwegen follte das Waller mit einer beträchtlichen
Menge gelöfter und mechanifch fortgeriffener Beſtandtheile beladen fein. Dagegen
iſt zu erinnern, daß unter gewöhnlichen Umftänten der Quellenlauf ein unver«
Kreiblauf des Waſſers. 267
Iuftförmiger Geſtalt gewonnen ward, liegt offen vor Aller Augen. Nicht jo
offenkundig ift das Geſetz ihrer Anordnung auf der feften Erdoberfläche. Theils
find es geologijche Elemente, theils Elimatologifche, welche jened Geſetz beſtimmen.
Iene beherrſchen vorzugsweiſe den Verlauf und den Umfang des Strongebirteß ;
diefe, ſelbſt wieder von der allgemeinen geographijchen Lage und den beſonderen
Ortöverhältniffen, Höhe über ber See, ebener oder gebirgiger Umgebung und
anderen Umftänden abhängig, regeln die Menge bed ergoffenen Mafferd. Um
die Sejegmäßigkeit zu durchſchaueu, muß aller Orten Maag und Wirfungsart
biefer Elemente erwogen werden. Dann fallen die größere Häufigfeit großer
Ströme auf ben Feſtlaͤndern der nördlichen Halbkugel, Die Abweſenheit felbft
mittelmäßiger Fluͤſſe auf gewiſſen ausgedehnten Länberfirichen, die veränderliche
Waſſermenge und bie Wiederkehr beftimmier Zeiten des Hochwafjerd nebſt allen
fonftigen örtlichen und zeitlichen Eigenthümlichkeiten als bejondere Fälle und
nothwendige Gonjequenzen unter einen allgemeinen Zuſammenhang. Wie fie
Durch bie gegebenen Berhältniffe gerade fo bedingt werden, als fie wirflich find,
werden bie Flüſſe andererjeitö felbft die Bedingungen ausgedehnter phyfikaliſcher
Erfolge. Abgeſehen davon, daß fie an all den Bewegungen fich betheiligen, die
überhaupt im Gefolge alles fliegenden Waſſers geichen werben, fällt Da8 Gewicht
ihres Einfluffes auf Die Atmofphäre um fo jchwerer aus, je größer fie find. Für
die Verdunſtung liefern fie nicht allein ein reiched und ſtets bewegted Material
im Kleinen, wie die Meere im Großen, fondern durch Die Aggregatsveraͤnderun⸗
gen ihres Inhaltes geben ſie zugleich in den gemäßigten und kälteren Zonen bie
Stätten ab, an denen große Wärmemengen frei und, was noch mehr auffällt, ge⸗
bunden werden, Der Aufgang bed Eifes über weit erfiredte Slußgebiete kann
eine Bedeutung für die Temperatur felbft eines größeren Umfreifes gewinnen.
Sb in den Erdtiefen beftändig größere Anfammlungen von Wafler
vorhanden find, ob beſonders ein Verband der Unterwelt mit den Gewaͤſſern bed
Meeres beficht, oder wenigftend bei Erdumwälzungen gelegentlich ein folcher ver⸗
mitielt würde, ift bis jegt weder Gegenftand Direkter Beobachtung geworben, noch
fonft ein allgemein giltige& Urtheil darüber durch fihere Schlüffe zu gewinnen
gewefen. Zu jenen gedachten Wafferbehältern Fönnen nicht die Kleinen Seeen
und Flüͤſſe gezählt werben, die am meiften in höhlenreichen Kalfgebirgen, wie in
den unterirdijchen Mäumen des Karſtes, Aller Bewunderung auf fich ziehen.
Dies find Wafjerläufe, Die, im Wefen ganz bem oberirbifchen entjprechend, in
der geöffneten Tiefe vollzogen werden. Wo mehrere Syſteme folcher Höhlungen
übereinander bekannt find, da ift theilweife jelbft wahricheinlich gemacht, daß ber
Zug ber Gewäfler früher den oberen Etagen gefolgt und dann in bie tieferen
hinabgejunfen ſei. Die eigentliche Unterwelt ift für den Menfchen im Allgemei-
nen ſtumm. Die einzigen Laute, die wir von dorther empfangen, find die Bots
fchaften, die und aus großer Tiefe Eommende Quellen und die Geſammtheit der
vulkaniſchen Erjcheinungen bringen. Die Quellen der oberflächlicheren Schich⸗
ten nehmen meiftens während des längeren Verweilens ihrer Gewäfjer in diejen
Schichten die eigene Temperatur derfelben an. Sie find mit gehöriger Vorficht
ein brauchbares Mittel zur Beſtimmung der Bodentemperatur geworden. Waͤh⸗
Kreislauf des Vaſſers. 271
nen die Farbe der herrſchenden wiſſenſchaftlichen Schule zu tragen und zu wech⸗
fen. Rachdem die Chemie einen lenkenden Einfluß auf grologiſche Epeculatios
en getvonnen hat, tft die Ueberzeugung befeftigt worden, daß manches Geftein,
dem man, wie es vorlag, einen durchaus feurigen Urfprung zufchrieb, unzweifel-
Hafte Wafferwirfungen zeigt. Bälle von gleichem Sinne mehren ſich ununter-
brochen und fchaffen den burchgreifenden Umwandlungen auf naffen Wegen
immer größeres wiffenfchaffliches Gewicht. Indeſſen iſt das Fein geologiicher
Reptunismus in der früheren Geftalt. Niemand wird die Lehren fallen laffen,
welche über den Urfprung ber Gefteine die Lagerungsverhältniffe und damit zu«
fammenhängende Beziehungen gegeben haben. Was diefe Lehren enthalten, fo
weit die Ratur richtig gedeutet worben tft, bleibt ein für fich Beſtehendes und
unberührt von den Anſichten, die wir und über bie fpäteren Veränderungen bil⸗
den müffen. Die Kräfte, welche dieſe beherrfchten, find nicht nothwendig dieſel⸗
ben, denen das Geſtein in feiner erfteren Form fein Dafeln verdankte.
Don den Bewegungen bes Waſſers, wie fie, theils durch die Mächtigkelt
ihrer Maſſen, theils durch ihre Stetigfeit und vielfache Verbreitung ausgezeich
net, In der unbelebten Ratur bewundert werben, ift ber nächfte Schritt zu dem
Kreislaufe des Waſſers in der belebten Welt. Das Waffer ift der allgemeinfte
Beſtandtheil ber pflanzlichen und thierifchen Säfte. Ueber die Bewegung der
Säfte in den Pflanzen pflegt man ſich gewöhnlich deshalb eine durchaus falfche
und viel zu einfache Vorftellung zu machen, weil man eine gewiſſe Achnlichkeit
mit den Blutbewegungen im Thiere vorausfegt. So wenig e8 überhaupt erlaubt
ift, die Deutung eines Prozeffes im, vollfommenen Thiere auf einen für entſpre⸗
chend gehaltenen in der volllommenen Pflanze überzutragen: fo menig zuläjftg
ift ganz beſonders der Vergleich im gegenwärtigen Balle. In fich zurücklaufende
Bewegungen in gefchloffenen Räumen kommen allerdings in Pflanzen vor, aber
weder in jedem Gewächd noch in großer Ausdehnung. Ste befchränten ſich auf
die einzelne Zelle, innerhalb deren fe von Statten gehen, wenn auch oft auf eine
größere Reihe von Zellen. Sie find daher durchaus ein Gegenſtand mikroskopi⸗
fher Betrachtung. Nicht der gewöhnliche Helle Zellenfaft bewegt fich in foldyen
häufig äußerft vielfachen und verfchlungenen Bahnen, fondern das Plasma, eine
mit jenem fich nicht mifchende Flüfftgkeit, die beim Wachsthume der Zellen vor
Allem zum Wichtigften gehört. Die zahlreichen koͤrnigen Theile, welche biefem
Plasma nie fehlen, laſſen über die bald langſamere, bald rajchere Strömung kei⸗
nen Bweifel. Die fogenannten Gefäße der Pflanzen find zwar Tanggeftredte
Elementarorgane, aber der Leitung einer Eirculation können fle nicht vorftehen.
Sie entſtehen in früherer Zeit aus hintereinanderliegenden Bellen, deren Quer⸗
wände allmälig verſchwinden und find Anfangs mit Säften gefüllt. Cpäterhin
enthalten fle Dagegen Luft. Selbſt die Milchfaftgänge, in welchen man eine Zeit
lang eine echte fortfchreitende Bewegung vorausfegte, find fein communicirendes
Roͤhrenſyſtem: die neuere Anatomie der Pflanzen hat fle als Baftzellen anerken⸗
nen müffen. Was in bie Pflanze aufgenommen werden ober in ihr fi von Zelle
zu Belle bewegen fol, muß durch die aller Deffnungen entbehrende Zellenhaut
Hinturchdringen. Was dann und wieviel herüber⸗ und indherueinat (Entıd%»
Kreiblauf des Wafferb. 275
ginnt oder aufhört, ift e8 nicht ohne Aufenthalt möglich, ben Einn einer jolchen
Segenfäglichkeit oder Aehnlichkeit fo zu erläutern, dag die Erffärung wiffen-
Schaftlich genügte. Es mag daher, was hier Hinreicht, nur an den allgemeinen
Unterjchieb erinnert fein, der in Salzen zwifchen der Säure und tem anderen
Beſtandtheile, der fogenannten Bafls, gegeben iſt. Zwei Stoffe, wie etwa Kali
und Ratron, deren einer den anderen vertreten kann, wenn ein Salz gebildet
werden foll, find einander natürlich verwandter als der mit beiden verbindbaren
Säure. Ebenſo zwei Säuren, die einer und berfelben Baſis gegenüber ausge⸗
wechfelt werben koͤnnen. In phyſikaliſcher Beziehung ift dieſer Gegenſatz noch
dadurch weiter ausgedrückt, daß, wenn durch eleftrifche Ströme überhaupt eine
Berjegung der Verbindung erhalten und der eine wie der andere Beſtandtheil
nicht ſelbſt fofort weiter zerlegt wird, der als Bafis angefprochene an tem einen,
bie Säure an dem anderen Ende des Raumes audtritt, innerhalb deffen ver
‚elektrifche Strom zerfegend wirkt. In dieſer Bedeutung dad Wort genommen,
hat man zu fügen, daß das Waffer ſowohl als Baſis ala auch als Säure Ver-
bindungen eingehen kann, je nach dem anderen Körper, mit Dem es ſich vereinigt.
So it e8 in der waflerhaltigen Echwefels oder Eſſigſaäure die Vaſis, im Aetzkali
oder im gelöfchten Kalke die Säure. Daß dies fo fei, folgt einfach Daraus, daß
es fich dort durch eine anderweitige, unzweifelhafte Baſis, Hier durch eine von
Jedem als ſolche anerkannte Shure erfegen laͤßt. Wenn das Waffer gelegentlich
jo entgegengefegte Rollen ſpielen kann, fo. möchte man wohl vermuthen, daß es
ſich in feiner von beiten als beſonders ftark bewährte. Bür die Mehrzahl ver
Fälfe ift ter Schluß Fein verfehlter. Nur wo es fid mit einer fehr flarken Säure
oder Baſis, dad Heißt einer folchen vereinigt hat, welche Die größere Zahl anderer
Säuren oder Bafen aus Verbindungen austreiben und fich felbft an ihre Stelle
jegen Tann, find tie Vereinigungen fefter. Weiter begründet wird jene Ver⸗
muthung noch durch den Umftand, Daß die Verbindungen, man kann fagen bie
Ealze der Säuren und Bafen mit baſiſchem oder andererfeits ald Säure gelten-
dem Waſſer weniger ihren fonftigen Eigenfchaften und Wirfungen nach von den⸗
ſelben freien Euren und Bafen abweichen, als wenn flatt des Waflers cin an⸗
derer Stoff von gleicher Rolle in ter Verbintung enthalten if. So findet man
noch eine große Achnlichkeit zwifchen waiferfreiem und mit Waffer verbundenen
Kali, während etwa der gewöhnliche Salpeter, der ſich von Tegterem dadurch un«
terfcheitet, Daß er Ealpeterfäure ſtatt Waffer hat, merklich andere Eigenichaften
zeigt, als das freie Kali. Ebenſo befteht zwifchen einer wafferhaltigen und ter
waſſerfreien Echwefelfüäure noch Feine fo geringe Uebereinftimmung, als zwijchen
der ungewäfferten Schwefeljäure und dem ſchwefelſauren Kalfe, dem Opps. Nach
ter Schärfe, mit der man im gewöhnlichen Leben Lie Unterjchiete verwandter
Stoffe zu nehmen pflegt, wird man oft den Zus oder Austritt des Waſſers nicht
turch das Zukommen oder Verfehwinden überaus auffallenter Merkmale bezeich-
net fehen. So bringt es die ziemlich intifferente Natur dieſes Körpers mit fich,
die ſich um fo mehr bemerklich macht, wenn das Maffer mit anderen, in chenti=
ſchem Sinne ihm analogen, Stpffen verglichen wird. Dennoch geht häufig die
Vildung von Wafferverbindungen, oter, ıwie man jagt, Hydraten nicht in
18*
76 Phyſikaliſche Erdkunde.
ganz unmerklicher Weiſe vor ſich. Gemeiniglich begiebt fich dabei eine ſchwaͤchere
oder flärkere Erwärmung, wie beim Löſchen des Kalkes oder Miſchen von Schwe⸗
felfäure und Waffer, bei einigen ſelbſt eine Exrplofion, bei vielen irgend eine
Verminderung in Geftalt, Dichtheit, Farbe. Das Kupferoxyd ift ſchwarz, die
Bleiglaͤtte gelb oder roth: dagegen die Waflerverbindung von jenem blaugrün,
von Liefer weiß. Es ift faum zu erinnern, daß, wie bei jeder chemiichen Ver⸗
bindung der hinzugetretene Theil, bier das Wafler durchaus nicht fernerhin mehr
als folches in der neuen Bereinigung wahrgenommen werden fann. Bis in die
Eleinften Teilchen hinein haben fich die zufammiengegebenen Stoffe an einander
geichloffen, durdy Feine mechanifche Gewalt von einander trennbar. Die Ent-
ziehung chemifch gebundenen Waſſers endlich ſtößt auf einen fehr ungleichen
Widerſtand. Meiftentheild erfolgt fle in höherer Wärme. Daß das Wafler
fihon bei gewöhnlicher Temperatur wieder davon weicht, ift ein eben fo ſparſam
beobachteter Fall, al8 daß ed, wie beim Kalihydrat, den höchften Higegraden
trogt. Dagegen find Körper von flärferer Anziehung gegen bie mit ihm verbun⸗
denen Stoffe, als es ſelbſt gegen dieſe äußert, ein allgemeines Verdraͤngungs⸗
mittel.
Ein ungleich weitered Feld, reicher an Zahl der Erfcheinungen und auffal«
Ienter mit feinen Bewegungen wird betreten, wenn wir die Bildung des Waf-
fer8 aus feinen Elementen, fei e8 im großen ange ber freien Natur, fei e8 im
Bereiche menjchlicher Tätigkeit, verfolgen. Aus feinen frei vorhandenen Ele⸗
menten es fich bilden zu laſſen, bleibt nur dem chemifchen Experimente vorbehal«
ten, da es zwar an dem einen wejentlichen Beftandtheile, dem Sauerftoffe, faft
nirgends fehlt, da8 andere Erforderniß aber, freier Waſſerſtoff, nur ganz örtlich
und vorübergehend und in fehr Eleinen Mengen gefunden wird. Dagegen ift
Wafferftoff ein fehr verbreitete Element in chemifchen Verbindungen, welche alle
unter günftigen Umfländen, dad heißt bei Gegenwart anderer geeigneter Stoffe,
oder auc) ohne dieſe unter günftigen äußeren Verhältniffen, zumal einer höheren
Temperatur, oder endlich bei gleichzeitigem Vorhandenſein beider dieſer Bedin-
dungen zerfeßbar find. Sein ausgedehntefted Vorkommen tft in den Produften
ber organischen Ratur, naͤchſt dem Kohlenſtoffe. Obgleich es waflerftofffreie
Verbindungen diefed Urſprunges giebt, fehlt er doch den meiften nicht. Was
aus dieſem Wafferjtoffe beim Zerfällen der Verbindung wird, hängt nicht allein
- von der Natur derjelben und den übrigen beigegebenen Elementen, fondern auch
von der Art des Zerjegungäprozeffed ab. in Theil geht mit Kohlenftoff zu
mandyerlei Kohlenwaſſerſtoffen zufammen, ein anderer mit Stidftoff zu Amo-
niaf, Heinere Mengen vereinigen ſich mit Schwefel zu Schwefelwaiferftoff, be⸗
trächtliche Qualitäten, für ben vorliegenden Fall die wichtigften, werden zu
Waſſer. Es ift ein Gefeg, daß zujammengefegtere Stoffe, wenn fie fich zerlegen,
im Allgemeinen in einfachere Verbindungen übergehen: die organijchen in folche,
welche der anorganifchen Natur angehören. Unter diefen endlichen Produften
fehlt Waffer fo leicht nicht, wenn es nur nicht an dem nöthigen Sauerftoff man⸗
gelt. Beiſpiele folcher Prozeſſe find das Verbrennen und mehrere Formen der
Bihrung. Auch im thierifchen Körper gelangt ein Theil des Wafferftoffes aus
Kreislauf ded Waſſerd. 277
den Rahrungsmitteln entfprechender Weiſe zur Waflerbiftung. Nebft dem in
Kohlenfäure verwandelten Kohlenfloffe der Nahrung ift er eine Quelle von
Wärme, die bei jeder chemifchen Verbindung entwidelt wirb.
Zerlegt im @egentheile wird gegebenes Wafler, wo e8 mit Stoffen in
Wechjelwirfung tritt, deren Beſtandtheile eine beträchtliche Zugkraft auf feine
Elemente üben. NRirgends liegt dieſe Anziehung offener und einfacher zu Tage,
als bei einer Zahl Metalle, die auf Koften des Sauerjtoffgehaltes des Waſſers fich
oxydiren, während Waflerftoff frei wird. Theils geht diefe Zerſetzung unter den
gewöhnlichen Umſtaͤnden umd ohne weitere Zuthun von Statten, theils wird
eine feine Bertbeilung des zu oxydirenden Stoffes oder höhere Temperatur ver⸗
langt. In anderen Fällen bedarf es der Gegenwart einer dritten Subftanz, ges
wöhnlich einer Säure. Die rafcherte Berfegung diefer Art ergiebt fich bei den
orgdabelften Metallen, dem Kaltum und Natrium, wovon jenes auf Wafler
ſchwimmend unter Beuerfcheinung ſich zu Kalt, dieſes, zwar gleichfalls fehr ges
ſchwind, aber nur auf heißem Wafjer mit Licht und Wärme, zu Ratron verwan-
delt. Man wird fo ertreme Fälle aber nicht in ber freien Ratur beobachten wol«
fen, da e8 bier nie zur freien Anfammlung diefer nur in ganz fauerftofffreier
Umgebung baltbaren Stoffe kommt. Weiter folgen, unter Fünftlichen Bedin⸗
gungen, al8 einzelne Beifpiele,'die Oxydation des glühenden Eifens durch Waſ⸗
ferdämpfe und die befannte Darftellung des Waflerftoffgafes aus Wafler durch
Zink oder Eifen mit Schwefelfäure. Es müflen aber nicht nothwendigerweiſe
Metalle, überhaupt nicht allein Elemente fein, welche dad Waffer zerlegen. In
diefem Sinne mag, — um wertiger allgemein befannter Berbindungen nicht zu
erwähnen, — ber Berfegung der Schwefellebern,, das heißt ber Vereinigungen
von Kalium oder Ratrium oder verwandten Metallen mit Schwefel gedacht fein.
An der Luft nehmen ſie Wafler und Kohlenfäure auf. Das Wafler zerlegt ſich:
fein Sauerftoff wird gegen den Schwefel der Schwefelleber ausgetauſcht. Das
mit dem Sauerftoff zufammengetretene Kalium oder Ratrium geht mit ber Koh-
Ienfäure zufammen, ‘Botafche oder Soda bildend. Der Schwefel verbintet ſich
mit dem Waflerftoffe des Waſſers zu Schwefelmaflerftoff, der dem Geruche wahr»
nehmbar entweicht. Unter den zabllojen Faͤllen verwidelterer Art führen wir
nur noch das Entftehen einer großen Zahl ftidftofffreier Pflanzenprobufte auf,
in welche der Wafferftoff des zerlegten Waſſers aufgenommen wird. Wir fchlies
fen mit diefen ausgehobenen Beiſpielen die Ueberſicht über einen Kreidlauf, ver,
— mag er in unfichtbarer Form verlaufen, oder gleich den Plasmaftrömen mi-
£roöfopifcher Pflanzenzellen nur dem gefchärften Blicke ſich offenbaren, oder
Allen kenntlich unausgeſetzt mächtige Bluhten bewegen, — einer der bedeutungs⸗
volliten Ausdrüde des allgemeinen Erdlebens ift.
Wenn die Beobachtung des Gejchehenden, oder wenigftens der Gedanke an
das Mögliche den Durchgang verfolgt, welchen die Theilchen und felbft ie Ele⸗
mente des überall verbreiteten Waſſers durch die verfchiedenften Formen und die
getrennteften Räume nehmen, fo bietet felbft eine kurze Zeit eine überaus Tange
Reihe von Berwandlungen. Aber wie unermeflich dehnt ſolch ein Kreislauf
fih aus mit wachfender Zeit vor- und rüdwärts! Mag die heiße Sonne Weſt⸗
-
278 Phyfikaliſche Erdkunde.
indiens aus den tropiſchen Meeren die gewaltigſten Dampfmaſſen heben und der
weſtliche Luftſtrom ſie bis über unſeren Welttheil hinwegführen, die Fältere
Luft unſerer Himmelsſtriche wird Schritt für Schritt, den die Luftſtrömung weis
ter gelangt, immer weitere Niederfchläge aus ihr herausfaͤllen. Schlage weiter
dieſe atmofphärifche Zluht an die hohe Mauer der Alpen und zwinge Stauung
und Auftrud in ältere Gegenden noch mächtigere Laften von Waſſer zur Aus⸗
ſcheidung. OB diefe als Regen und Schnee Quellen und Fluͤſſe füllen, oder
Firnen und Gletſchern einen neuen Reichthum bildenden und umzubildenden
Materiales zuführen: ob fie, im unendlich verzweigten Laufe aller Gewäfler,
Maſſen und Elemente ber Erdoberfläche bewegen: ob fe, wieder aufgehoben Durch
die Wirkung der Wärme, unſichtbar die Luft anderer Länder als ihre frühere
Urſprungsſtaͤtte durchdringen oder eingehen in bie flilleren Bewegungen ber or⸗
ganifchen Körperwelt: fo vielfach als möglich mag bie Vertheilung, fo fremd⸗
artig eine der anderen bie neue Form, fo aus einander weichend Maaß und Ziel
der Kräftwirfungen gedacht werden. Was ift dieſes Bild mit allem feinem
Reichthume von Stoff, mit aller Mannigfaltigkeit von Geftalten und Bewegun-
gen gegen das Bild, welches Jahrhunderte und Jahrtaufende, welches, um ſo⸗
gleid) zu dem Aeußerſten der Zeitdauer überzugehen, bie unmeßbar langen Pe-
rioden der Entwidelung unferes Erbballes faben! Das ift fein Bild von
einförmiger Wiederholung berjelben Züge. Derfelbe Stoff, in immer wechjelnde
Formen eingefleidet, jchreitet Durch eine unendliche Fülle von Prozefien hindurch,
welche fo vielfach durchgeführt und geendigt werden, als die Art und das Maaß
ber gegebenen Bedingungen verfchieden find. Und biefe Prozeſſe jelbft der Bil
Dung, Verwandlung und Auflöfung alles Körperlichen find nur als Gegenſtand
menſchlicher Betrachtung von einander trennbar: fle ſchließen Retig an einander
im zufammenhängenden Laufe der Ratur, deren nicht unwefentlichfler Zug bie
Erreihung vielfacher Erfolge durch eine verhaͤltnißmaͤßig geringe Zahl von Kräfs
ten und materiellen Elementen ift, eine Durchführung derſelben Maſſentheilchen
durch die verfchiebenften Einzellörper der unbelebten und belebten Schöpfung:
ein beftändiger Fluß allen Stoffes: deſſelben Stoffes feit Andeginn ber Welt. —
Das deutſche Drama. 28t
erfolgen kann. Was dagegen Einheit des Ortes und der Zeit anlangt, fo ſin⸗
ten wir biefelbe durchweg auch bei Euripides beobachtet, obwohl im Gegenthefl
Aeſchylus ſich Abweichungen von denfelben erlaubt hat. Was endlich die Ver
Müpfung und Verflechtung der tragifchen Handlung angeht, fo ift diefe wie
natürlich bei Aeſchylus noch eine einfache, feine Charactere find ſtets fo feft be⸗
flimmt ausgeprägt, daß man die Kataftrophe, wie fle fommen muß, ſchon im Vor⸗
aus vorher beftimmen ann, geſchicktere Schürzung des dramatiſchen Knotens und
größere Verfchlingung der die Kriſis herbeiführenten Fäden der Handlung ges
wahren wir bei Sophofles, allein bei Euripides ift der dramaturgifche Plan ein
Erfagmittel für die ihm mangelnde Kraft und Beſtimmtheit feiner Charactere,
daher auch feine Geſchicklichkeit, eine ſpannende Entwidelung herbeizuführen,
eine größere iſt. Rur in einer Hinficht hat ſich Eurtpides Feine bebeutendere Neues
rung erlaubt, dies ift im Chor. Man Hätte bei feinem ſtets berechneten drama⸗
tifchen Plane erwarten follen, daß er den Chor, ber offenbar den Gang ber
Handlung aufhält, da er nie jelbftändig in denſelben eingreift, ganz abgefchafft
hätte, allein dies war unmöglich, denn fo lange bie griechtfchl Tragödie noch
einen religtöfen Zweck Hatte, Die Verberrlichung und Ausſchmückung der Diony-
flen oder des Bacchußfeftes, fo Fonnte derfelbe, der ja eigentlich allein noch an diefe
urfprüngliche Abſicht erinnerte, nicht wegbleiben. Bei Aeſchylus Hat er aller-
dings eine noch viel größere Bebeutung, weil diefer Dichter jener Epoche, welche
die Tragöde in ihren Anfängen gefchaffen hatte, noch weit näher fland; daher
genießt er bei ihm noch die ganze Geltung des Schauſpielers und befpricht ſich
oft ganze Scenen hindurch mit den verfchiedenen auftretenden Perfonen, nimmt
überhaupt an der Handlung ſelbſt den regften Antheil, fo in den Sichen vor
Theben, den Danaiden, Eumeniden und Perfern. Bei Eophofles und Euripi⸗
des dagegen tritt er immer nur als Nathgeber, Warner, mit reflectirendem und
fpeeulatinem Elemente auf und flört offenbar nicht felten den Eindrud, welchen
ter vorhergehende Dialog auf den Zuhörer oder Lefer gemacht hatte. Letztere
heiten Dichter Haben aber vor Aeſchhlus noch etwas Anderes voraus, was Arts
ftoteles als den höchſten Zweck der Tragödie Äberhaupt Hinftellt, nämlich Die Rei⸗
nigung ber Leidenſchaften, d. 5. nicht gerade moralifche Befferung, fondern Liu
terung unferer Einflchten, und zwar nicht etwa blos in religidd«flttlicher Hinflcht,
fontern auch in Beziehung auf die Politik. Denn c8 ift Fein Zweifel, daß Me
tragifchen Lichter Athens es ſich bewußt waren, welchen Einfluß fle Bei der all-
gemeinen Thellnahme aller Stände an Ihren Erzeugniſſen und bei der ehrenvollen
Stellung, welche fle unter ihren Mitbürgern einnahmen, auf die Erhaltung und
Hebung bes patriotifhen Sinnes derſelben autüben konnten! Wir fehen dieſes
ganz deutlich aus der Wahl einzelner ihrer Stoffe und aus einzelnen politifchen
Anfyielungen bei Sophokles und ganz befonders bei Guripites, ob wir gleich
nicht innmer mehr im Etante find, dieſelben nachzuweiſen. Mit dem Beginne
der Ochlofratie in Athen kam jedoch ein neues Element in die Tragödiendichtung.
Als nämlich nunmehr die öffentliche Beredtſamkeit den Gipfel der Blüthe und
Bedeutung erflieg, und als tie Sophiſtik eine völlig ausgebildete Technik des
Ausdrucks und Styls Kerftcllte, da verdruͤngte nach und nach auch die Rhetorik
Das deutſche Drama. 283
Borbilber, daß fie es fogar verfehmähten, Stoffe aus der römijchen Heldenzeit zu
bearbeiten, ja eigentlich wohl oft faum mehr als freie Meberfegungen lieferten.
Reben diefen beftand aber in Rom ſchon längere Zeit vor Gäfar ein Theater, wo
griechifche Stüde von griechiſchen Schaufpielern aufgeführt wurden, ja Römer
ſchrieben jelbit Trauerfpiele in griechifcher Sprache, und es muß dies geradezu
Modefache geweſen fein, ſonſt würde der jüngere Plinius (Briefe VII. 4.) fi
nicht geradezu Tamit habe rühmen Eönnen, daß er ichon im Alter von 14 Jahren
ein folches verfaßt habe. Wie jedoch die Aufführung dieſer griechiichen Tragö⸗
dien beichaffen war, darüber ift man fehr im Dunkeln, man weiß nur, daß von
einer Orcheftra in einem römijchen Theater feine Spur zu finden ift, und daß
man aljo gerade für griechifche Tragödien eine ſolche hätte erbauen müflen, wenn
man nicht vielleicht die Chorgeſaͤnge ganz wegließ und die Chormitglieder ihren
Pla auf der Bühne bei den übrigen Schaufpielern fanden. In der Kaijerzeit jcheis
nen bie meiften ber in derfelben gefchriebenen Trauerſpiele zum Vorlefen in einem
gewählten Kreije von Zuhörern beftimmt gewejen zu fein, jebenfall8 war dies
mit denen des Seneca, die wir allein noch übrig haben, der Ball und daher
beweift auch der Uniftand, daß fich in ihnen Chöre vorfinden, durchaus nichts
für das Vorhandengeweſen eines eigentlichen römijchen Chores. Ihr Zweck war
jedenfalld mehr durch Redeſchmuck und Reflexion, jowie durch Gelehrſamkeit
Bewunderung zu erregen, als durch gut durchgeführte Charactere, geichidte Ver⸗
wickelung und dramatifche Anlage zu feſſeln. Allein auch bieier lediglich rheto⸗
rijche Zweck friftete der römifchen Trauerfpieldichtung nur sin fümmerlicyeö Le⸗
ben, denn man vernimmt nach Rero nur noch wenig von einer jolcyen, und wie bie
Pantomimen, Mimen und tellanen die Tragödie überhaupt von der Bühne
verdrängt hatten, fo mögen ähnliche Beluftigungen ihnen zulegt auch ihre Zwit⸗
tererifteng im Salon geraubt haben, denn ſchon unter Hadrian konnte man bie
Darfteller der Atellanen zu fi) ind Haus fommen und fidy dort von ihnen ihre
Pofſſen vormachen laſſen (Ael. Spartian., Vita Hadr. c. 26). Im fünften Jahr⸗
hundert hatte man jedoch auch die Pantomimen wiederum jatt, und wir willen
beſtimmt aud Gaffiodorus (Ep. Var. IV. 5.), daß in denjelben Ehorgejänge unter
Begleitung verfchiedener Inftrumente vorgetragen wurden. Gleichwohl ijt das
Lortbeftehen der dramatiſchen Vorſtellungen im Laufe ber naͤchſten Jahrhunderte
eigentlich durch nichts conftatirt, denn weder ift der noch vorhandene Dialog
zwifchen Terenz und einem Schaufpielunternehmer *) wirklich der Prolog eines
im 7. Jahrhdts. dargeftellten Stüdes, jondern vermuthlich nur eine philofophiiche
Declamation gegen das alte Theater, noch Fann der Streit zwijchen Frühling und
Winter (Conflictus veris et hiemis) **), den man bald dem Beda bald den AUlcuin
beigelegt hat, und der möglicher Weife von zwei Masken, deren eine in Grün,
die andere in Stroh gefleidet war, vorgetragen ward, noch endlich die öftere Er⸗
wähnung des Wortes histrio, unter dem man ſich aber nicht Schaujpieler in
unferem Sinne, ſondern Poſſenreißer zu denken hat, hierhergezogen werten.
*) Abgedruckt von Magnin in der Bibioth. de l’Ecole des Chartes Vol. I. p. 254
**) Mei Wernsdorf Poctae latini minores Vol. II. p. 739,
Das deutfhe Drama. 285
der h. Jungfrau, dem Chore und Volke beſteht, die ſich einander anfingen und
antworten.*) Auf diefen Uriprung der geiſtlichen Schaufpiele deutet audy eine
Stelle der Verordnung der Diöcefe Worms, vom 3. 1316 hin, wo ausdrüdlich
Das Wort mysterium vom Kirchendienft verflanden wird **), wie denn auch eine
große Anzahl von Älteren Kirchenhymnen unzweifelhaft dialogifche Form hat,
Daß man dazu die Kirchen wählte, Tag aber einfach in der Gelegenheit, da man
dergleichen Stüde eben nur an hohen Kirchenfeften, wie zu Weihnachten, Palm»
fonntag, Oſtern aufführte, und in der Localität, da eine Kirche natürlich fchon
ihrer Bauart wegen eine große Menge Volks aufnehmen Eonnte und man bier
fehr wenig Vorbereitungen bedurfte, denn man erbaute lediglich ein Geruͤſte
(podium, puys, Borg genannt), das oft fo niedrig war, daß der Schaufpieler,
welcher den Prolog agirte, Die Anweſenden bitten mußte, feinen Gollegen zum
Auftreten Play zu machen. Ueberdieß hatte die Beiftlichkeit ein großes Interefle
Daran, daß dieſe Vorftellungen fleißig befucht wurden, fle follten das Volk von
profanen Vergnügungen abhalten. Um dies aber nachhaltend zu, können, mußte
man möglichit dafür forgen, daß fie das Volk ergögten und feine Neugierde und
Phantafle erregten. Während daber die älteften Myſterien nichtd als eine Infcene-
fegung der Liturgie mit völlig lyriſchem Character geweien waren, gingen fie nach
und nach immer mehr zur epiichen Korn über, man theilte die darzuftellende
Geſchichte nicht bloß in einzelne Scenen und Xcte, jondern in verichiedene Tages
werfe ein. Dies war vorzüglich in Frankreich der Fall, wo man im Jahre 1536
zu Bourgeß ein Mystöre des Actes des Apötres aufführte, das AO Tage zu feinem
Abſchluß verlangte. Daß natürlich Hierbei feenifcher Prunk und Majchinerie der
fonderbarften und complicirteften Art nöthig waren, um die Aufmerkjamfeit rege
zu erhalten, verfteht fich von ſelbſt. Allerdings bediente man fich Anfangs und
auch noch lange Zeit nachher ber Iateinifchen Sprache, allein fowohl in Italien,
als Sranfreich, England und Deutfchland findet fich ziemlich frühzeitig auch ſchon
die Anwendung der Nationalfprache. Auch hiervon laͤßt fich der Urjprung auf
die Kirchenhymnen zurüdführen, wir wiflen, daß jchon im 10. — 11ten Jahr-
hundert in den franzöflichen Kirchen häufig fogenannte hymnes oder proses far-
cies ertönten, von denen fih noch eine ziemliche Anzahl erhalten haben. ***)
Auch zu diefer Neuerung hatte die Beiftlichfeit einen ganz guten Grund, fie fah
ein, daß die lateiniſche Sprache auf die Länge die Zufchauer nicht feffeln Eonnte,
alſo geftattete fie neben einzelnen fomifchen Epifoden und mehr weltlichen Stoffen
endlich audy die Einführung der deutfchen Sprache. Daher finden wir in einem
Dfterjpiele von der Paſſion in einer Benedictbeurner Handichrift des 13ten
Jahrhunderts bereits deutſche Stellen.) Hier tritt nämli Maria Magdalena
nit Jungfrauen auf, geht zu einem Kaufmann und fingt erſt Kolgentes:
*) Nach 4 Hpichr. des 15. Jahrh. mitgetheilt von Daniel Thesaurus hyınnologicus.
**) Statuimus, ut resurrectionis mysterium ante ingressum plebis in ecclesiam peragatur.
**e) Dei Zubinal, Mysteres inedits Vol. I. p. X -XIV. 356-389. Lebeuf, traitd
hist. sur le cbanı eccles. p. 117—138. Raynouard, Choix des po6sies des Troubadoars,
Vol. I. p. 146—151.
+) Abgedrudt in den Carmina Burana. Stuttg. 1847. 8. p. 95 sq.
286 Literaturgeſchichte.
Mihi confer, venditor Si quid habes insuper
Species emendas Odoramentorum
Pro multa pecunia Nam volo perungere
Tibi jam reddenda Corpus hoc decorum.
Der Raufınann antwortet ihr ebenfalls in Iateinifcher Sprache alfo:
Ecce, merces optimae! Haec suni odoriferae
Prospice odorem Quas si comprobabis
Haec tibi conveniunt Corporis flagrantiam
Ad vultus decorem Omnem superabis.
Allein nun refpondirt Magdalena deutſch und zwar ziemlich weltlich alfo:
Chramer, gip die varwe mir Minnet, tugentliche man,
Diu min wengel roete, Minnekliche vrauwen!
Da mit ic) die iungen man Minne tuet eu hoch gemuet
An tr danch der minnenliebe noete Unde lat euch in Hohen eren ſchauwen
Seht mich an Seht mich an ıc.
Jungen man! '
Lat mich eu gevallen
und jo wechfeln dann noch öfter Tateinifihe und deutſche Verſe mit einander ab.
In demſelben Stüde fommt auch bereit8 eine fpäter Häufig wiederfommende
deutfche Scene, Marienklage benannt, vor, und nun dauert e8 nicht mehr lange,
daß die Iateinifche Sprache der deutſchen gänzlih Plag macht. Wir haben aus
dem 14 ten Jahrhundert ein Leben Jeſu, eine Kindheit Iefu, eine Marienklage,
eine Himmelfahrt Mariä, eine Dorothea, ein Fronleichnamfpiel, eine Auferftchuug
und Himmelfahrt Chriftt, ſaͤmmtlich in deutſcher Sprache, gedruckt übrig und im
t5ten Jahrhundert mehren fich natürlicher Weije diefe Stücke immer mehr, befonders
die Paiftonsfpiele. Einzelne derfelben hatten große Berühmtheit erlangt und
müſſen mit wahrhaft dramatijchen Elementen außgeftattet und ziemlich bühnenge⸗
recht geweſen fein, jonft haͤtte z. B. ficherlich das noch in deutſcher Sprache ung vor⸗
liegende, von den Dominifanern zu Eiſenach aufgeführte Spiel von den zchn
Jungfrauen (im I. 1322)*) dem Landgrafen Briedrich dem Zreudigen von Thü⸗
ringen, durch die Larin vorfommende Behauptung, Daß die Fürbitte der h. Junge
frau und der Heiligen den Menjchen ohne wahre Buße und Meue nichts Helfen
fönnten, nicht jo zu Herzen gehen können, daß die Folge davon fein Tod war.
Dad Lateintjche blieb In dieſen Spielen nur noch in den rein bibliichen Worten
und in dem fogenannten Ordo d. h. dem eigentlichen Spielprogramm, deſſen ſich
der Leitende oder Actor bediente, um die Reihenfolge der auftretenden und reden
ben Berfonen in Ordnung zu halten und den Gang der Darftellung nicht aus
dem Concept bringen zu laſſen. Daß natürlich geiftliche Stoffe verwendet wurden,
davon lag der Grund theild darin, daß die Dichter Geiftliche waren, theils daß
die Stüde zur Erbauung beftimmt waren und das dulce cum utili verbinten jollten.
Eine Abweichung hiervon und den Verfuch einer Verbindung geiftlicher
und weltlicher Elemente erlaubte fich zuerft der Meßpfaffe Theodoricus Schere
*, Herausg. v. 2. Bechſtein. Hulle 1855. 8.
Das beutfche Drama. 287
berk zu Mühlhaufen, in jeinem 1480 verfaßten und noch im Drud vorhandenen
Spiel der Frau Jutten, *) worin die berüchtigte Scandalgefchichte von der Päpftin
Johanna dramatifirt wird. In dieſelbe Kategorie gehört auch ein anderes gleich-
zeitiges Spiel, des Entkriſt Vasnacht betitelt**), denn auch hier flegt das böfe
Princip, infofern der Antichrift feine Gegner beflegt, Todte zum Glauben an
feine Macht erwedt und ein Reich des irdiſchen Genuſſes aufrichtet. Uebrigens
wurden biefe, fpäter zum Theil auch zu politifchen Zwecken benugten Auffuhrun-
gen wie in Kranfreich auch in Deutfchland nicht immer in Kirchen, fondern auch
an andern Orten gehalten.
Reben diefen geiftlichen Spielen, die immer noch bet ihrer großen Armfelig«
feit eine Art Kunſtform repräfentiren, entwickelten fich nun aber bie rein welt
lichen Faſtnachtsſpiele, zum größten Theil wohl urfprünglich von herumzichenden
fleinen ımd größeren ®efellichaften, von jungen Tieberlichen Bummlern, die ſich
sermummten und in Frauenkleider ſteckten und ihre meiſt furchtbar zotigen und
fäutfchen, gewöhnlich dem täglichen Leben entnommenen, bialogijchen Poffen tn
Häufern vor verfammelten Geſellſchaften vortrugen, ertemportrt. Aus der großen
Anzahl der noch vorbandenen ***) geht hervor, daß fle bald recht beliebt waren,
und aus demfelben Grunde erklärt e8 fich, wie es kam, daß fle nach und nach
anftändiger wurden und anfingen fich dramatiſcher auszubilden, was beſonders
das Verdienſt des Nürnberger Wappendichters Hans Roſenpluͤt und des Meiſter⸗
fänger8 und Barbiers derſelben Statt Hans Folz war. Am hoͤchſten warb jedoch
biefe Dramatifche Dichtungsart gehoben durch den berühmten Rürnberger Schuh⸗
macher Hans Sachs (1494 — 1560), ben reichbegabteften Dichter der Mefor-
mationßzeit, denn feine Faftnachtöfptele ftehen fo Hoch über allen ähnlichen früheren
und gleichzeitigen Arbeiten an Wit, Geſchmack, Erfindung, Sprachreinheit, Ver⸗
ſchlingung und dramatifcher Anlage des Sujets, daß Jeder, der fle einmal ge=
Iefen Hat, gern wieder zu ihnen zurückkehrt. Er ift es auch, der bereitö größere
Tragddien (d. 6, Stüde, in denen gekämpft wird) und Gomöbdien (nicht Luſt⸗
fpiele in unferem Sinne, fondern mehr Schaufpiele) in dem epifchen Stufe feiner
Zeit dichtete, die freilich noch Himmelweit von dem Ideale verſchieden find, wel⸗
ches wir und von einem derartigen bramatifchen Gebilde entwerfen, aber doch
als Erftlingsverfuche Des deutfchen Dramas, in dem auch ſchon ordentliche Liebes⸗
intriguen vorfommen, alle Beachtung verdienen. Freilich foll damit nicht gefagt
fein, daß das Neformationgzeitalter nicht auch noch andere Stüde von Bedeu⸗
tung hervorgebracht habe, im Gegentheil, die Zahl der in dieſe Zeit fallenden
*) Abgedr. bei Gottſched, Nöthiger Vorrath. Br. I. &, 81- 183 und bei Keller,
Faftnachtfpiele No. 111. ©.
**) Bei Keller No. 68.
“er, Faſtnachtsſpiele aus bem 15. Jahrh. gefammelt ven N. Keller. Stuttg. 1883.
3 Bde. 8. Nachleie ebd. 1858. 8.
+) Wir theilen am Echluffe das Programm eines foldhen, welches bisher noch
von feinem Literaturhiftorifer gefannt und benugt, von Gottſched, Noth. Vorrat
Th. 11. S. 191 ſelbſt für ein Drama gehalten worden ift, feiner höchft merkwuͤrdigen
. Defonomie und feines Inhaltes wegen aus einem Druck der Dresdner Bibliothek writ:
288 Literaturgefchichte.
dramatifchen Probucte ift fchr groß, allein jo berühmt wie Hand Sachs ift Fein
anderer dramatifcher Dichter geworben und an Fruchtbarkeit Tann überhaupt
Riemand mit ihm verglichen werden. Wohl aber ift bie Tendenz des größten
Theils diefer Arbeiten bier für uns bejonderd wichtig, denn obwohl meift auf
biblifche Stoffe und geiftlichen Hintergrund baſirt, wirkten fle seformatorifch,
und durch ihre fcharfe Satire auf die Beiftlichen und den Papſt zugleich politifch.
Manche freilich waren nicht zum Aufführen beflimmt, allein die ungleich größere
Zahl war ed doch und wie großen Anklang fle fanden, gebt ſchon daraus hervor, daß
man fie nad) der Aufführung gewöhnlich druckte und fie fo in ganz Deutfchland
verbreitete. Daß fie bier aufs Eifrigfte gelefen (zeviefen) und gewiſſermaßen zu
Volksbüchern wurden, geht aud der jeßigen Seltenheit und dem ſchlechten Zu-
fand der meiften noch vorhandenen Exemplare hervor, wie wir dieſelbe Bemer⸗
fung bei dem Heldenbuch und den alten Volldromanen machen können.
Wir finden dergleichen in der Schweiz, wo fie am freieften und jelbfiflän-
digſten auftraten und freie Bürger die Darftellung nicht blos beforgten, fondern
auch jelbft die Dichter waren, in NRiederjachien, mo jedoch meift Poflen gedichte
wurden, in Thüringen, der Lauſitz, Sachjen, Heſſen, Schwaben, den Rheinlan⸗
den, Brandenburg, Bommern und Preußen, Schleften und Oeſterreich, wo Die
Verfaſſer Schulmänner und Geijtliche waren und die Darftellung durch Schüler
bejorgt ward. In ter Schweiz, wg in der zweiten Hälfte des 16 ten Jahrhun⸗
derts auch Katholiken Dichteten, waren die bebeutendften Dichter Pamphilus
Gengenbach, Sirt Birk und Johann Kohlrod zu Bajel, Ricolaus Manuel
und Jacob Ruof zu Bern, in Sachſen Joachim Greff, Paul Rebfun, Mar
tin Heyneccius, in Thüringen Cyriak Spangenberg, Martin Rinfart u. A., in
Schwaben Leonhard Eulman, Sebaftian Wild, Jacob Frifchlin, der aber eigent«
lich unter die lateinifchen Schaufpicldichter gehört, Thomas Bird, Georg Maus
ritius, im Elſaß der Romanfchreiber Jörg Widram und Jacob Frey, in Preußen
Henricus Enuftinus und der fruchtbare Georg Pfund (oder Pondo), im Wolfen-
büttelfchen Georg Dedekind, der Tuflige Dichter des Grobianus, und im Medlen«
burgiichen Franciscus Omichius.
Eine neue Aera für die Geſchichte des Schauſpiels beginnt in Deutſchland
mit ben Comödianten, die aus England nach den Niederlanden und von da nad)
Ober⸗ und Niederbeutfchland zogen und aus ihrer Kunft ein Gewerbe machten.
Bid Hierher nämlich waren meift Bürger oder Schuler die Darjteller biblifcher und.
einheimijcher Stoffe in gebundener Rede geweien, jegt brachten jene profane und
aus fremden und weltlichen Novellen gefchöpfte, in Broja gejchrichene Schaujpiele
zur Aufführung, nahmen ungewöhnliche Rüdjicht auf Koſtüm und Decoratio⸗
nen und genirten fich igggücjichtslojer Daritellung freier Sujet nicht im Geringe
ſten. Hatte Died auf der einen Seite größeren Beifall und Erfolg, jedenfalls auch
beſſeren Geſchmack zur Folge, jo Eonnte Dagegen auf der anderen Verachtung der
Schaujpieler von Seiten des Publicums nicht außbleiben und von dieſer Zeit
fchreibt fi auch die noch jegt Im Volke bejtchende üble Meinung von der Ge»
finnungsfoftgfeit und Unmoralität der Schaujpieler oder Comödianten her. Bon
dergleichen Leuten wurden denn auch Die im Ganzen nicht ohne Talent geſchrie⸗
übertragen, allein
dem den Be zufagen, an mat one ao 6%
Eomöbdien enthalten waren. Freilich beging er darin einen großen Fehler, daß
er um feinen Zwech, das claſſiſche Altertum wieder zu erwecken, zu erreichen,
nicht die elaffifchen Mufter ſelbſt überfegte und feinen Landsleuten vorführte,
fondern nur ihre befangenen Nachahmer, die Branzojen. Dadurch begründete
er, ohne es ſelbſt zu wollen, die Herrſchaft der frangöntfehen, mit Unrecht elaſſiſch
genannten Poeſie und verbaute ſich jelbft den mit vielem Verftande wohl ange
bahnten Weg zum Befferen. Dieſes Verfennen der Wichtigkeit der griechiſchen
Originale für eine Neformation der deutichen dramatifchen Dichtung war jeden«
falls auch die Urfache, daß er einen urfprünglichen Plan, als erſten Band feiner
Deutihen Schaubühne eine Ueberfegung, Erklärung und Nuganwendung der
Voetik des Ariftoteles zu geben, aufgab, um feine geſchmackloſe Ueberſetzung des
Bavleſchen Wörterbuchd anfertigen gu können. Gleichwohl gelang es ihm die
claſſiſch⸗ franzöſiſche Richtung auf den Deutſchen Bühnen einzubürgern, und wenn
auch die Heberfegungen bie felbitftändigen Arbeiten, die übrigens auch meift nur
Nahahmungen franzöfiicher Vorbilder waren, gänzlich uͤberwucherten, jo war
doch immer die gegebene Anregung danfenswerth genug, und die Bemühungen‘
Dab deutiche Drama. 29
einzelner dramatiſcher Dichter, die Erfüllung der von dem dramatifchen Parnaß
an der Erine aufgeftellten Regeln zu bewerftelligen, verdienen alle Anerkennung,
ganz abgejehen Davon, daß einige unter ihnen fich von biefem Joche emancipirten und
zu den Alten ſelbſt unmittelbar zurückkehrten, wie ber Rector zu Gelle, Johann
Heinrich Eteffend (1784), der ſchon 1746 einen Oedipus in Verſen, nach dem
Gophofles eingerichtet, publicirte. In Folge diefer Ueberfchüttung der beutichen
Bühne mit fremten Arbeiten ward jedoch die Oper, deren Bejeitigung Bott-
ſched's Hauptfireben gewefen war, außerordentlich in den Hintergrund gebrängt,
und vielleicht wäre in auberer Hinſicht noch mehr für das Schauipiel gejchehen,
Hätte nicht das Schaͤferſpiel fich einen großen Autheil der früheren Anziehungs-
kraft des Singfpield zu erobern gewußt.
Leider blieb auch bei ten Echau- und Trauerfpieldichtern jeiner und ber
unmittelbar nach ihm folgenden Zeit der franzöftfcye Einfluß vorherrſchend, wie-
wohl man bin und wieder eifrige, aber fruchtlofe Bemühungen fich gegen bie
Regeln der franzöflichen Dramatiker in Bezug auf Einheit des Orts und ber
Beit aufzulehnen, erfennen kann. Gellerto Schaufpiele enthalten in biefer Art
nichts Bemerkenswerthes, allein fchon Johann Elias Schlegel, der Ucherfeger
der Eleftra des Sophokles, erhebt ich zuweilen über das Gewöhnliche, des Frei⸗
bern von Cronegk Codrus, und Joach. W. v. Brawe's Freigeiſt, haben fchen
manche Stellen, die eine beſſere Zukunft des deutſchen Dramas ahnen Laflen, und
der fruchtbare Chr. Felix Weiße verräth trot aller feiner , wohl größtentheils in
feiner Schreibfeligkeit Tiegenden Fehler, doch dann und warın Dramatifches Talent,
was auch dem liederlichen Abenteurer Brandes nicht ganz abzujprechen iſt, wie
er denn auch fpäter Durch Leſſing awf eine andere Bahn gebracht ward; allein der
feiner Zeit viel beliebte Wiener Dichter, Corn. Herm. von Ayrenhoff (1733 —
1819), ein ächter „Koſtebeutel“, der Leſſing vor fich hatte, kann doch nicht zu
der Schule defjelben gezählt werben, denn feine Tragik geht auf Stelzen und der
franzöftfche Gottſchediſche Zopf und der Corporalſtock — er war hoher Militär
— find feft mit feinen Helden verwachſen. |
Bei diefen Zuftänden und Anfichten über das Weſen tes Schau- und Trauer»
fpiel8 dürfen wir und nicht wundern, daß ſelbſt ber größte deutſche Kunftrichter,
ber jemals gelebt hat und Ieben wird, Gotthold Ephraim Leifing (1729 — 81)
anfangs noch unwillfürlich dem franzöflichen Geſchmack huldigte (ex überſetzte
befanntlich Diderots Theater, 1760), und trogdem daß er Die Bedeutung Shakespe⸗
are’3, der durch Wieland's Lieberjegung allgemeiner bekannt ward, anerkannte
und würdigte, ihn doch nicht nachahmte. Dies fehen wir aus jeinen Luſtſpielen,
ziemlich leichten Arbeiten, zu denen ihn wohl Weiße's Vorbild aufgemunterr
hatte und die fih auch durch einen lebendigen Dialog vor allen gleichzeitigen
Leiftungen diefer Art, wenn auch nicht durch Erfindung hervorthun. Bald aber
bewirkte fein eminentes Forſchertalent, fein kritiſcher Skepticismus, daß er nicht
mehr mit tiefen Muſtern zweiter und drittes Hand zufrieden war, fondern zu den
Alten jelbft zurückkehrte. Er zeigte in den von ihm mit Chriſtl. Mylius zu⸗
jammen herausgegebenen Beiträgen zur Hiftorie und Aufnahme bes Theaters
(Stuttg. 1750. St. L—IV.), vor Allen aber in feiner unfterblichen Samburgi»
19 L x
unſer Klopſtock, den Verſuch machte, das deutſche Drama
aus der franzöftfehen Schnürbruft zu befreien, allein Teider konnte er ſelbſt nicht
der Führer einer neuen befferen Richtung fein, denn feine bibliſchen und patrios
tiſch germanischen Dramen find bodenlos langweilig und erinangeln
lung und — dramatiſchen Lebens / ſo daß alſo ſein —— — Di ge
er U a et pP re Me
Eine andere Bahn hatten übrigens auch jchon vorher zwei der oben von
— genannten Trauerſpieldichter eingeſchlagen, naͤmlich die Engländer
<opirtz dieſe waren Weiße und Brawe, dieſer im Brutus und jener im Atreus
und Thyeſtes und ren — — —— ihnen das nöthige
quserheben ;- eher <Ebünen sole Bzaor'a:Fräljeiß, —
Das dentſche Drama. 923
dieſes Lob estheilen. Die drei anderen unbebingten Nachahmer Leſſing's ins
bürgerlichen Zrauerfpiel find H. W. von Gerftenberg (+ 1823) mit feinem einer
Eyifode aus Danted Hölle entlehnten Ugolino (1798), einer mit einzelnen
Schönheiten ausgefchmüdten Ausgeburt einer tollgäußlerifchen Bhantafle, 3. A.
Leifewig (F 1806) mit feinem einer befieren Anerkennung würtigen Julius von
Zarent (1776) und A. M. Spridmann mit feiner langweiligen Eulalia (1777).
Was jedoch ein Talent in diefer Beziehung leiften konnte, fehen wir aus zwei
Meifterwerken unferer beiden größten Dichter, aus Göthe's Clavigo und Schiller's
Kabale und Liebe, zwei Stüden, an denen jede einzelne Scene unendlich mehr
werth ift als Hunderte der neueren Bamiliendramen oder Intriguenftüde nad
franzöfiichem Mufter. Dieb erfannte auch der geläuterte Geſchmack des deut»
ſchen gebildeten Bublicums an, und darum fonnte ein untergeorbnetes Talent,
Fr. W. Gotter (F 1797), ber bei folgen Vorlagen immer noch für bie ſteiſen
Tragddien ber Franzoſen ſchwaͤrmen konnte, mit jeinen Bearbeitungen Voltaͤri⸗
cher Arbeiten keine Beachtung finden. |
Wir müflen jegt um einige Jahre zurückgehen unb ein Stüd nennen, wel⸗
ches auf die deutjche Jugend einen ungeheuren Eindrud machte, weil es Das
Intereffe derſelben an einem. freilich damals zur Ruine gewordenen großartigen
Bau, dem deutfchen Reich, mir einer Lebendigkeit und jchöpferifchen Kraft anregte,
Die wir jener Zeit fernſtehend jetzt kaum mehr begreifen Finnen, dies war Göthe's
Goͤtz von Berlichingen (1771, 1773), ein Werk, das allerdings in feiner Anlage
und Ausführung, in Form und Ausdruck manches Rohe und Formloſe enthält,
keineswegs aber,allen Geſetzen der äfthetlichen Schönheit jo Hohn fpricht, wie es
manchen Kritilern zu behaupten beliebt hat. Das vorzüglichfte Griterium für
“ feine Vortrefflichkeit Liegt wie bei den gleich zu erwähnenden Räubern Schiller's
darin, daß Die gefammte deutfche Jugend ſich dafür begeifterte, bie in einer Le⸗
bensepoche fland, wo eine Jeden Herz noch warm für alles wahrhaft Bute und
Edle fchlägt, wo ihm dad Schlechte, fei es unter welcher Geftalt es fei, ala Häß-
lich und verwerflich erfcheint und ihm der Egoismus und Eigennug faft ohne
Ausnahme noch fern ſteht, wo es jedem feiner Rebenmenfchen noch das Befte zus
traut und noch nicht durch fchlimme Erfahrungen und graufame Enttäufchungen
das Richtige jeiner Ideale erfannt hat. Wenn talentlofe Stünper freilich auf bie
außerorbentlichen Erfolge des Götz ſpeculirten und deshalb bie leidigen Ritter
flüde, deren Ungeheuerlichkeit ein „geſchundener Raubritter” auf der Winfelbühne
einer deutſchen Reſidenz noch heute nicht unglüdlich parodirt, ind Dajein riefen,
fo kann deshalb die Schuld nicht den Dichter deſſelben treffen, noch den Werth
des Stückes verringern, der nur deshalb auf der heutigen Bühne unwirkfamer,
als bei jeiner Entftehung jein wird, weil wir den Geiſt, der bei jeinem Erfcheis
nen in Deutfchland herrfchte, eben fo wenig begreifen ald uns der Boden fremd
ift, auf dem er fich bewegt. Daß I. M. Reinhold Lenz (+ 1792) und Br. Mar
v. Klinger (F 1831), Exflerer mit feinem Öofmeifter (1774), Letzterer mit ſei⸗
nem Gonradin, in den Zwillingen, den Metern und dem berüchtigten Sturm und
Drang zwar auch nur bie Fehler des Götheſchen Götz nachahmten und Trauer
ipiele dichteten, wie fie nicht fein follten, dafür kann ihm chen fo wenig eine
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ante % nah Be wilden, oft freden, jedenfalls ab ?
Bühne zu bringen und die ganze Scheufftchkeit dieſes Treibens in der sornehe
men Welt ınit jo unendlichen Freimuth offen darzulegen, Hatte noch feiner ge=
wagt, und jo erklärt ſich die Begeifterung, welche auch dieſes Zeitbild erregte.
"Man hat dieſen Nahahmungen Göthe's Ausſchweifung in der Kraft vorge
worjen, wir wollen jegt aber die Namen zweier Dramatiker nennen, von denen der
eine jegt noch auf dem Repertoit des Familiendramas ſteht, denen man ein ans
beres Extrem, Ausſchweifung in der Schwäche Schuld geben fan. Dieſe find
A. W. Iffland (+ 1814) und A, Fr. Ferb, von Kohebue (+ 1919). Lehzterer harte
fonder Zweifel weit mehr Talent ald Erſterer, allein leider verzettelte er daſſelbe
durch Bühnenfünfteund Effecthaſcherei, es gelang ihm auch eine Zeit lang, das Pur
blicum für fich zu enthufiasmiren und fein berühmtes Werk „Menſchenhaß und
Neue entlodte manchem Auge, das jonft nichts rührte, fünftliche Grocodilsthräs
Das dentſche Drama. 297
bat, und in welchem ex jene Klippe, an der fo Viele gefcheitert find und noch
fcheitern werden, einem Drama faft ohne alle Unterlage einer Liebesintrigue doch
von Anfang bis zu Ende das Immer fleigeende Interefie der Zuſchauer zu erhal⸗
ten, aufs Gluͤcklichſte umfchifft hat. Seit diefen zwei Koryphäen unferer Litera⸗
tur if} die dramatifche Voecfte immer nur rückwaͤrts gegangen, zwar haben einzelne
Stücke vorübergehenden Beifall gefunden, allein niemals als Ganzes, immer
nur wegen @inzelbeiten, micht zu vergeffen, daß das heilloſe Eliquenweien , wel-
ches theilweile jchon von den Romantikern gehegt, befonders feit der Entftehung
des jungen Deutichlands auf wahrhaft entjegliche Weiſe überband genonnnen
hat, und die Reclame jede geſunde Kritik fo zu fagen von vorn herein gänzlidy
unmöglich gemacht haben.
Wir wollen nun nod eine kurze Stiggze der Tragiker ſeit Schiller und
Goͤthe folgen lafſen. A... Schlegel ſchloß ſich in feinem von Goͤthe empfoh⸗
lenen Ion noch weit mehr als dieſer an das Antike an, fand aber eben fo wenig
Beifall als fein Bruder Fr. Schlegel mit dem Alarcos, worin daß fpanifche
Drama mit dem Shafeöpearefchen, uralte und moderne Formen und Ideen, mit
einander amalgamirt werden follten. Etwas mehr Slüd Hatten die Romantiker,
wenn auch gerade das Haupttalent unter denjelben, 2. Tied mit feinen bramatifchen
Märchen, worin er die Shakespeareſche Ironie des Sommernachtötraums als fünfte
lerifche8 Element zur Geltung zu bringen juchte, durchaus feinen Erfolg erzielte,
weil dieſe Art Stüde nun eben dem deutichen Character nicht zufagen. Der
ritterliche Don Quixotte Sonqus hat in feinen Stüden (3. 8. im Sigurd) ein⸗
zelne gute Stellen, allein im Ganzen ift er gefchmadlos, Hölzern und unnatür«
lich fentimental, Arnim und Brentano find durchweg barock und formlos, allein
Heinrich von Kleift Hat fi im Kätichen von Heilbronn, dem fein Prinz von
Homburg nacıfleht, trog einzelner Ueberfchwänglichkeiten als einen talentvollen
Dichter, der möglicher Welfe ein Volksdramatiker im beflen Sinne des Wortes
hätte werden können, gezeigt. Gerade das Begentheil des letzteren iſt der ſoge⸗
nannte Maler (Fr.) Müller, feine Igrijchen Dramen (Riobe, Genofeva, Adonis
sc.) enthalten viel Schönes, allein fle werden nur von Wenigen verflanden wer
den und find ins eigentliche-deutfche Volt niemals gedrungen, der Däne Oehlen⸗
fhläger gehört, genau genommen, auch nech zu dieſer Schule, allein feine Tra⸗
gödien find troß ihrer glatten, f Sprache unwirkſam, denn es fehlt das
wwahrbafte Dramatifche Leben und MEBeidentchaft, daher find fie falt und froftig
wie jein Vaterland. Freilich aber find fte immer noch befier als Die manierirten
Schickſalstragödien des phantaflereichen und Fräftigen Zacharias Werner, bed
phraienreichen und lächerlich pathetiichen Müllner, des ſeichten Schönrebners
Houwald und des nicht talentlofen, aber leider falſch geleiteten Grillparzer.
Joſeph von Gollin, Apel und am allerunglüdlichftn Seume kehrten wiederum
zur antifen Manier zurüd, allein daß folche mittelmäpige Talente aus ihr nichts
machen fonnten, darf fein Wander nehmen. Eichendorff’8 Ezzelin von Romano
ift ein kraͤftiges Werk, das fhöne Hoffnungen erregen durfte, die es leider nicht
erfüllte, Ed. v. Schenk hat im Beliſar, der auch als Köfung des Problems, ein
Drama ohne Ricbeöverhältniß zu dichten, Anerfennung verdient, und ber Krone
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tragiiche Momente, allein ihre Stüde riechen gar zw fehr neo daß fie
ſelbſt aͤſthetiſch ſchön fein Fönnten. Der Lyriker Julius Mofen verfuchte ſich auch
im hiſtoriſchen Drama, allein bei einzelnen gelungenen poetiſchen Stellen und
ſelbſt gut durchdachten Characteren haben feine Arbeiten doch gar fein dramatis
ſches Leben und deshalb machten fie eben jo wenig Effect wie die Tragödien von
M. Prus, in denen die politische Tendenz Hauptſache und Die eigentliche Fabel umd bie
thurn heute noch zu reden, iſt nur Darum geftattet, um mit ihr Frau Birchs Pfeifer zu
” s man bedentt,
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gefehen aber elemnhkeme Ridkee gen gb
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ber, Maria Stuart oder Wallenfteins
Bedhter
—
Das dentſche Drama.’ 301
nannten Ruftern möglich if, kann kaum fraglich fein, nur muß ſich ein Jeder
fragen, humeri quid valeant, quid ferre recusent, wie einft der große Meiſter
Horaz in feiner Dichtkunft den angehenden Poeten zurief. Schließen wir mit
dem finnreichen Bergleiche, den A. W. Schlegel in Bezug der antiken Tragödie
und dem romantischen moternen Drama aufgeftellt hat. Er fagt, es ähnele jenes
einer plaftifchen Gruppe, in der, wenn die Figuren dem Character und Die Grup»
pirung derjelben der Handlung entfprechen, das Ganze abgefchloffen ift, dieſes
aber einem großen Gemälde, wo außer der Geflalt und Bewegung in reichern
Gruppen auch noch Vorder⸗ und Hintergrund und Alles unter einer magifchen Bes
feuchtung dargeftellt jet, zwar werde ein folche8 Bild weniger vollkommen begrenzt
fein als die plaftiiche Gruppe, allein dafür könne und folle der Maler auch durch
die Ginfaffung des Vordergrundes, durch das gegen die Mitte gefammelte Licht
‚und andere Mittel den Blick fefthalten, zwar könne ferner in der Abbildung der
Geſtalt die Malerei nicht mit der Plaſtik wetteiferen, weil jene fle nur durch
eine Zäufchung und nicht aus einem einzigen Geſichtspunkte auffäfle, allein dafür
ertheile fie ihren Nachahmungen mehr Kebendigfeit durch die Farbe, die fie bes
ſonders zu den feinften Abftufungen des geiftigen Ausdrucks in den Geſichtern
zu benugen wiffe, fle laſſe durch den Blick, den die Plaſtik doch immer nur un-
vollfommen geben Tann, weit tiefer im Gemüthe leſen und deſſen leiſeſte Regun⸗
gen und Gefühle vernehmen, und endlich Tiege Liefer eigentliche Zauber darin,
daß fie an körperlichen Gegenfländen fichtbar mache, was am wenigften jichtbar
ist, Licht und Luft, mit einem Worte wirkliches Leben. Ob dieſer Bergleich auf
die Göthe- Echillerichen Dramen paßt, diefe Frage wird Jeder ſich Teicht beant-
worten fönnen und ebenfo dürfte es nicht ſchwer jein aus ihm tie Aufgabe,
welche ein Dramatiker fich zu ftellen hat, herauszufinden, vorausgeſetzt, Daß ihm
überhaupt die übrigen nothwendigen Erforderniffe eines Dramas, höchfte Objece
tivität, characteriftifcher und rajch fortichreitender Dialog, wahrhaft dramatifcher
Stoff, Einheit ter Handlung (aber nicht Einheit der Zeit, des Ort3), Vereini⸗
gung der inneren und Äußeren Handlung, treu Lurchgeführte Charafteriftil bei
einem hervortretenden Hauptcharakter, um den fich das ganze dramatiſche Inter-
eſſe concentriren muß, einfache Durch innere oder äußere Nothwendigkeit bedingte
Berwidelung, natürliche und durch die Haupthandlung, den Character und die
Verhältniffe der Perjonen motivirte Entwidelung, die aber niemald aus der
ganzen Anlage des Stücks gleich anfangs fichtbar oder auf der anderen Seite ges
waltiam Durch einen Deus ex machina herbeigeführt werden darf, und endlich
jene Bedingung, daß jede Tragödie an fich ſchon tragifch fein muß, (daß naͤm⸗
lich der Gegenſatz menfchlicher Kraftanftrengung mit den Gejegen einer höheren
Weltordnung zur Anſchauung gebracht werde) d. h. daß in jeder Tragödie Die
Idee ded fogenannten Schickſals Far hervortrete, völlig klar find. Daß natür«
lich die antike Tragödie, vorzüglich Sophokles feiner großen Klarheit, Einfach
heit und innerer Würde halber ſtudirt werden muß, verftcht jich von jelbft, allein
außer ihm mögen Schiller und Göthe, nur Shakespeare ausgenommen (Galderon
paßt nicht für den deutichen Character), die einzigen Ideale fein, nad) denen fich
ein angebender deutſcher Dramatifer zu bilden bat; fich ihnen müs u
DaB deutſche Drama. 308
bet, ward hyhn groffen eren erhalten auff das fie ehn ſolchen mann nit Kür feyndt⸗
ſchafft bewegten, den fie fur eynen kunfftigen vorfechter jrer fax *) ynn haben
verhoffen. Nach volgende, was ein gemanpenter man zu gegen, der andh an ſey⸗
nem gemüt und leyb ſtehelen was, ber ſtellet fich als balde yn myttel dyſer vor⸗
ſamlunge, vnnd ward der von Hutthen geheyſſen, der ertzergtt Durch ſeyne hor⸗
nige rede gang ein hornigk gemuͤt, vñ vornichtet diſe erliche vorſamlunge tzum
höchſten, und fagt, wyr haben byßher ewer werck gun merglychem nachtebl ge⸗
meyner Chriſtenheit geduldet, vii als er den Bapſt fur ein Antichriſt, verwuſter,
vñ verdorber, der gantzen Chriſtẽ heyt, mit offentlichen worten außſchreyg, Gyng
er um fewer das der alt mann zuuor etlicher maflzen auffgedackt het, gerſtrawet
dye darauff gelegte aſchen, vnd erweckt mit auffblafunge eyns blaßbalges dye
hytze des fewers gan krefftiglich. Alſo auch das dye gantze vorſamlunge von
groſſem wunderlichen ſchrecken erſtummet, vnd als er ſoͤlcher geſtaltt, das fewer
auffblyße, und mit Korn gantz bewegt, iſt er yhm ſelben nyder gefallen und thot
bleybẽ, durch dyſes gefchicht, Hat dye freude den ſchrecken dyſer vorſamlung nyder
gedruckt, vfi iſt der vorſtorben von dañen getragen, vnd nicht mit groſſem ge⸗
brenge begraben.
Auff das letzt gynge yn dem Safe eyner **) ynn eynem narren kleyde, nemlich
eyner Muͤnchskappen, den man ten Lutther nennet, der auch eynn grofſze burde
holtz gleych dem Iſaac auff ſeyner achſeln truge, der ſagt. Ich wyl dyeßes fewer
das eynwenygk ſchehnet, alſo antzuͤnden, das es der ganhenn welt ſolt leuchten,
durch euch (Redet er wehter gu der ſitzende vorſamlunge) iſt chriſtus fachen un.
dergangen, durch mich fol dye, vor mittelft götlicher hulffe, wider euwern willen
wider auffgericht werden, Gyenge darmit Sum’ kolfewr, vnd warff das holtz auff
dye glühende Eulen, damit der flamme des fewrs Frefftiglichenn ober fich gunge,
Alfo daB es den ganken Sale erleucht (Welches aber das geringft iſt) ja dye
gantze weltt erleucht, und do mit flael fich dyeſſer wunderlih Münch auf dem
Saell. Als balde thradt der Senath, angetzeygter vorfamlunge der fur ſchrecken
ſchher gar vorgyng Hu famen, von dyſer ſelgamen givenffenlichen fachen gu radt⸗
fchlagen, und fing der Bapft nach gebothnem ſtylſchweygen an eyn folche mey⸗
nunge gu reden.
#4) Ir menner, end sr Ineben brüder, was dyfſz wund’liche gefchichte, wa®
auch dyßes wunderliches ferne bedeut, weys ich nit, Dan alleyne das vnßer ſchand
in der gangen welt aufgededit wyrdt, vnd e8 feh dan, DaB wyr dyeßem jrfal Gew
gegen, werden wyr gar in grund und boden gehen, dan, wan der fchehn unfer
genftlifent dem gemehn man eyn mal offenbar wurde, und wor alfo beichwert
werden, wor yn eyn ordenung gedrungen, und dogu ber name gottes, des flatt«
halter ampt wur bis ber auff erden getragen habe, von wu vns genommenn, wur
auch folch ampt, dad wyr yr nit gern wolten, nymmer meher oberfomen, derhal⸗
- ben ermanen vñ bitten wyr euch durch den heyligenn Bepftlichen Etuel, vmb
*) Hier ſteht am Rande: „Huttenus“ und ein Holzfchnitt ihn verfellent.
* ) Hier flieht am Rande ber Name: ‚Luther‘ und ein Holzichnitt ihn vorftellend,
se.) Hier Recht am Rande das Wort: „Bapfſt“ und ein Holzſchnitt ihn vorſtellend
mit einem Stabe in ter aufgehobenen Hand.
Das dentſche Drama. 805
left dyſes element des fewers vormaledeyen, auff das es durch fehne genomene
Trafft nicht noch weiter erwachße. Dan wor wyſſen furwar, das keynn Element,
under dem bymmel ift, das durch deyne gewalt, und gebot nicht zergehe. Dyr
iſt das reych yjm hymel und erden beuolhen, Alfo dz auch das fegfewer, dye ver-
ſtorben ſelen, deyns gefallens peynigen, adder frey geben müß, Darumb wolleſt
dyſes fewr mit gewonlicher vormaledeyungen angreyffen, Auff das wyr nicht aller
welt gu ſpot, und gu ſchanden werden*), der Bapſt nahet foch zum fewer, und
fagt verflucht und vormaledeyet fey der fo dyſes fewr angegündt Hat, dych füllen
alle finſternys, und’ der ſchauin des todtes veiplenden, dich fol die finſternys
vbergehenn, dye nacht beſttze Dich, auff das keyn lyecht mer ſcheyn, und alle dye
ſo dych eſſen, und trincken werden vonn got mit den krankheyten vnd plagen der
Egiptziger geſchlagen, und deyn hynbdern dyr rrudich, vnd ſchebich, alſo das du
daran nymmer mögeft hehll werden, der herr plagt hn mit chaubheyt, vnſinnig⸗
keyt, blyndtheyt ſeynes gemüͤts, das ehr gum myttentage vmb ſich tappe, wye ein
blinder in ber finſternis. NIS der Bapft dyſe wort vollendet‘, vnnd befand, das
fein vormaledenunge gu ihdertruckung des fewrs nichts wirden wolt, Auch das
man yne eynn falfchen Radt ynn dem mytgeteylt bat, als ob che auch uber bye
Element gewalt haben folt, ift ehr alfo mit gosn bewegt, das ehr ſeynen geyſt
auff geben Hat, Derhalben nach volleubunge deeſes it, vedermen ” gelache
bewegt wordenn x. **)
*) Hier flieht das Wort: „Vewaledeiung und der. obige Selrfäpitt om wapſt
nur daß dieſer hier keinen Stab, ſondern die Hand aufgehoben hat.
»29) Obige Comoͤdie, d. h. das Programm einer ſolchen, wenn uͤberhaupt dieſelbe
je aufgeführt ward, Liegt mir im zwei verſchiedenen Ausgaben der Koͤnigl. Bibl. zu
Dresden vor. Beite haben 4 BI. doch hat die ältere 35, vie Iehtere 34 Zeilen auf -
der vollen Seite, erfiere bat wie bemerkt Heine Holzidmittdhen im Terte und einen
großen die Hälfte des Titelblattes einnehmenden Holzſchnitt auf BI. 1°, bie letztere
dagegen bat die Heinen Bildchen gar nicht, dagegen nimmt der große Titelholzs
ſchnitt faſt das ganze Blatt ein, und während auf jenem außer dem Papfte nur 6 Gars.
näle, Biſchoͤfe sc. gezeichnet find, fipt terfelbe auf diefem umgeben von je 3 Cardinälen
und 3 Moönchen (alfo 12 im Ganzen) auf jeder Seite. Endlich ik auch der Dialect
ſelbſt verfchieden.
u
Die Wafferheilmethode.
.. Bon .
| Dr. It. Putzar, —
Director der Waflerkeilanftalt Königabrenn.
m
Daßfelbe Schidjal, von welchen alle Erfindungen, bie jemals ben Menſchen
mit größerem ober geringerem Ruben gedient haben ; betroffen worden find, "hat
mit ihnen in hohem Grade auch die Waflerheilmethiode getheilt, das Schickſal
der Verkennung, Verachtung und Anfeindung eimerfeitd und das der Ueber»
ſchaͤzung andererfeitd. Immer war es fo und immer wirb es fo bleiben, denn
Die Mängel neuer Erfindungen in ihrem Anfang, der Kampf alter Gewohnheiten
mit dem fich neu Aufdrängenden, die Unkenntniß des Reuen und fchlimmer noch
die Illuftonen Teicht erregbarer Geiſter, denen die Eritificende Ruhe und Bejon- .
nenheit fehlt, die, um mit Kogebue zu reden „heute lernen gehen und effen,
morgen wollen Sterne meffen und den Mond berumterziehen‘‘ muͤſſen ebenſo
Berdächtigungen und Anfeindungen neuer Erfindungen verbreiten, als anderer-
ſeits unerfüllbaren Illufionen die Brüde fchlagen, auf welcher fle in das Reich
der Phantafle auswandern und welche wiederum den Zweiflern neue Waffen in
die Hände liefern, und doch gehen Erfindungen Hierdurch nicht zu Srunde, ihre
Gutes bleibt und ihre Ausbildung gebt meift um fo rafcher und ſicherer vor⸗
waͤrts, je mehr und je heftiger fie von Außen befämpft werben, da Begenfäge
immer Flären, und nur die Ueberfchägung wiegt neue Erfindungen am leichteften
in den Schlunmer der Selbftgefälligfeit und Trägheit ein und erhält fie am laͤng⸗
ften in ihrer Kindheit; fie ift deren ärgfte Feindin.
So war ed auch und ift e8 zum Theil noch mit der Wafferheilmethode: Un⸗
fenntniß auf der einen, Ueberfchigung auf der anderen Seite, wodurch fie gleich
zeitig in ihrer nothwendigen weiteren Ausbildung aufgehalten wurde, haben ihr
" Heute noch die Stellung ald Heilmethode nicht gefichert, die ihr mit voller Bes
rechtigung gebührt, ift doch ſelbſt Heute oft noch unter Aerzten und Laien von
einer Methode die Rede, bei der nur Ealtes Waffer und cine feftfichende Form
zur Anwendung kommt. Wie einfeitig dieſe Auffaflung ift, wird fpäter noch
in Erwägung gezogen werden und es mag mir erlaubt fein, vorerft noch wenige
Worte über die fogenannte Erfindung diefer Heilmethode zu fagen. Wenn ber
geniale Priesnig als Erfinder derWaſſerheilmethode betrachtet wird, fo geichicht
Die Waſſerheilmethode. . 307
das mit einer gewiſſen Berechtigung, indem berfelbe von bereits früher vorge
tommener Amvendung des reinen Waſſers als Heilmittel wahrfcheinlich keine
Kenntniß Hatte, obgleich ohngefaäͤhr 40 Jahre vor ihm bie beiden D. D. Sahn
in Schlefien, demnach in derſelben Begend, eines gewiffe Waflerheilmethobe
mit vielem Erfolg ausübten und ein Werk darüber edirten, und er ſomit für fi
und unterftügt durch Die Beobachtungen feiner erften Patienten, das reine Wale
fer als Heilmittel erfand und hierdurch eine alte, wahrjcheinlich fogar die Altefle
Heilmethode, einer unverdienten Vergeſſenheit entriß. Es wird aber hierbei
nicht unintereffant fein, einen Burgen Raebtid auf frühere Anwendung d des
Waſſers als Heilmittel zu werfen.
Schon Herkules wurde als der göttliche Protector der Bäder verehrt und
man findet auf defien Steinbiſdern oft einen Löwen aus beffen Rachen ein Be-
ſerſtrahl auf ihn herabfällt.
Die Altefte ärztliche Autorität, der griechifche Arzt KHypoerates, empfiehlt die
Anwendung bes reinen Waffers in vielen feiner Schriften.
Kerner war e8 in ben erſten Zeiten Noms Sitte, daB junge Leute gymma-
Rifche und militärifche Uebungen machen und ſich dann durch Ealte Bäder wieder
flärfen mußten. Ebenſo findet man die Anwendung des Waſſere im Nibelun⸗
genliede erwaͤhnt. —
100 Jahr v. Chr. wirkte befonbers Asclepiades durch Bäder ale Ant in
Rom.
44 v. Ehr. rettete Antonius Mufa das Reben des Raijers Auguftus vun
kalte Bäder und Heilte auf diejelbe Weiſe den Horaz von einem Tangjährigen
Lungenleiden. 23 n. Chr. war Gelfus ein begeifterter Verehrer des falten
Waſſers, ebenfo Aretäus und Herodot 100— 117 n. Ehr., ferner Lälius Au
relianus 230 n. Ehr., Aetius 543 n. Chr., Alexander v. Tralles 550 n. Ghr.,
Paul v. Aegina 670 n. Chr., Rhazes in Egypten 923 n. Ehr., Avicenna 1036,
Gratavolus und Cordanus 1500, Ryff in Straßburg 1544, Baccius und
Kallopio 1561, Joh. Günther in Andernach 1574, Joh. Bechiu in Bologna
1597, Heinrich v. Hiers 1608, Ludw. Settula und F. Hildanus 1633, Herrm.
v. d. Heyden 1643, zur felben Beit Friedr. v. Helmont, Floher 1714, Boerhave
1738 und Husham 1768. Endlich viele Aerzte aus dem legten Dritttheil des
vorigen Jahrhunderts unter denen befonderd v. Schwieten, bie beiden Bahn,
Unger, Fr. Hofmann in Halle, Tiffot, Soon, Neuß, Cullen, Eurrie, Pitſchaft,
Hildebrandt in Wien, Hartmann und Andere zu nennen find.
Die Wafferheilmethode ift Demnach eine neue Heilmethode, nur gelangte fle
früher niemals zu der fhftematifchen Ausbildung, die fie bis jegt erreicht bat,
wahrfcheinfich aus dem einfachen Grunde, weil vordem bie gefftigen Verfchre«
mittel der Nationen weit feltener und befchräntter waren. Sie wurde nur durch
Priesnitz der Vergeſſenheit entriffen, zur Kenntniß der Nationen gebracht und
einer foftematifchen Auffaſſung und Ausbildung entgegengeführt, auf der fie noch
immer fortjchreitet und ſich bald zur vollen Berechtigung einer wiſſenſchaftlich
begründeten Heilmethode erheben wirb trotz der Anfeindungen, die fie noch von
manchen Nerzten erfährt, denen fie wahrſcheinlich nicht einmal bekannt ift, trog
20 *
Jane he — —— felbft entgegengeepter Mt,
die wir ald Heibvirfungen in Krankheiten benugen können, und wir können
durch dieje verjchiebenen Heilwirfungen alle die Methoden realifiren, bie von ber
Heilkunde ald in den verjchiedenen Krankheiten nothwendig, aufgeftellt werben.
Nehmen wir die entzündungswidrige Methode an, fo ift es eine alte bekannte
Erfahrung, daß kaltes und mäßig kaltes Waffer das fouveränfte Mittel ift, be⸗
bürfen wir ber beruhigenden Methode, fo ift es ebenſo thatſächlich, Daß locale
ober allgemeine lauwarme und warme Bäder und Umichläge die beruhigende
Wirkung meift viel befjer realifiren ald Narcotica und ähnliche Dinge, wogegen
Narcotica oft noch Gefahr im Gefolge haben können, wie z. B. warme Sitzbäder
und Umſchlaͤge, ſelbſt in Genitals und Blaſenkrankheiten meift beffer und anbal-
tender berubigen ald Campher. Nichts aber kann den Organismus fo erregen
als falte ober heiße Baͤder, Uebergiefungen, Douchen, Wellenbäder ze., fie übers
Die Waſferhellmethode. 309
treffen felbft den Noſchus an ausdauernder Kraft und demnach kaun hierdurch
auch die erregende Methode in hoͤchſt möglicher Botenz erzielt werden.
Die aufldjenden und ausfcheldenden Methoden, die von der Heilkunſt af
gefordert werden und wozu biefelbe ich oft einer [ehr großer Menge von Mitteln
und oft fehr tünftlicher Mittel bedient, können fie wohl Geffer realifirt werden,
als durch vermehrte Zuflhrung von Flüffigkeiten in das Blut, wodurch daſſelbe
am leichteften einer limbilbung zugeführt werden kann, Durch erhoöhte Waͤrme und
Schweiße, in welche man den Organismus verfegt und durch ſtarken Teuwera⸗
turwechſel, durch kalte Baͤder s., indem hierdurch bekanntlich ein erhöhter und
vermehrter Stoffwechfel im Organitmns entfteht, der felbft bis zur Fiebererre⸗
gung gefteigert werden kann, wodurch chromifche Leiden In den urfprünglichen
acuten Zuftand zurüdigefährt werden und wodurch beren Heilung oft nur allein
noch möglich iſt? Es waren beſonders biefe Thatſachen, durch welche zuerſt bie
Waſſerheilmethode Geltung erlangte, und es giebt heute noch. viele Berfonen, bie
nur Diefe Heilwirfungen von The erwarten, mit Unrecht, wie wir bereits bemerkt
haben und weiterhin noch fehen werden.
Roc giebt es eine Aurmethode, die in neuerer Zeit beſonders einen großen
Einfluß gewonnen hat, es iſt die erpestative, die abwartende Methode, und fle iR
in der That bisweilen die befte. Die intelkigenteften Uerzte unferer Beit jahen ein,
dab der Gebrauch von Medicamenten in Krankheiten oft feinen Erfolg Hatte, oft
fogar nachtheilig, verfchlimmernd wirkte, fie machten ebenfo die Erfahrung, daß
Arzneien überhaupt oft gat nicht fo wirkten, als man von ihnen erwartet und bes
hauptet hatte, und mußten Hierdurch felbfiverftändlich dahin kommen, fo wenig
als möglich oder gar keine Arzneien anzuwenden, und bier ftellte ſich nun nicht
felten der überrafchende Erfolg Heraus, daß die Krankheit eher und leichter
heilte als bei dem Gebrauch son Medicamenten, und fomit mußte fich diefe Kur⸗
methode bald große Provinzen im Rriche der Heiltumft erwerben. Um aber eine
ſolche Heilmethode durchzuführen, bebarf es ebenfowenig der eigentlichen Waſſer⸗
kuren als der Medicamente, wohl aber Mätetifcher Verordnungen, die mit Um⸗
ficht die Einwirkungen frank machender Potenzen verhindern und ausſchließen
und andererjeitd die Funktionen des Organismus zu regeln und zu befördern
fuchen, was auf fehr mannigfaltige und oft jehr einfache Weife gefcheben kanu.
In derartigen Fällen potenzirte Waſſerkuren anzınvenden, würde ebenfo verfehrt
und umwiffenfchaftlich fein, als der Gebrauch von Medicamenten. Veberhaupt
möchte man doch bei allen Kuren bedenken , daß der Organismus oft Ruhe bes
darf und zwar der kranke noch mehr wie Der gefunde, weil legterer ohnehin Durch
Krankheit fortwährend irritirt und oft ſchon abgefchwächt wird, und daß jede
einigermaßen potenzirte Kur ein Stüd Arbeit für ihn it, und wenn Kuren vom
Organismus nicht gehörig verarbeitet werben, helfen ſie nicht.
Ich Habe mit Abficht nicht von Rärkenden Wirfungen der Wafferheil-
methode geſprochen, obgleich die ſogenannten Staͤrkungskuren durch Waſſeran⸗
wendung beim Publikum eine große Rolle ſpielen und oft fo weit excutirt wer⸗
den, daß ſie eine gänzliche Umwandlung des Organismus, eine neue Schöpfung
hervorbringen follen, es tft hierüber wiel gefabelt worten und Kaufentie hahen
———— —*
Etwas, das Ahern De N? Te
+ wei Factoren find ed aber bejonter®, wodurch allgemeine und mannigfal«
tige Heilwirkungen wermittelft der Waſſerheilmethode
nen, der, Eine derjelben if bereits fehr belannt und tbatfächlich nachgewieſen und
Organismus und zwar
— —— ——S—— wre ee
bedarf noch vieler forgfältigen Beobachtungen, es ift.der abgeinderte Austauſch
der elektriſchen Verhaͤltniſſe zwiſchen dem Organismus und der Außenwelt, der
jelbftserftändlich. bei dem, durch die Waſſerluren oft und raſch hervorgebrachten
TJemperaturwechſel ein anderer fein muß, als unter gewöhnlichen-Verbältmiffen,
So iſt es demnach thatſaͤchlich begründet, daß die Waſſerheilmethode im
Verein mit anderen biätetifhen und mechaniſchen Hülfsmitteln und eine Geile
methode darbietet, die ſich mit Berechtigung den anderen Heilmethoden mindeftend
zur Seite ftellen kann, indem fie alle dieſe Poſtulate erfüllt, Die von anderen
Heilmethoden aufgeftellt werden, und indem ſie ſich aller dieſer Hilfsmittel be—
bient; Die ebenjo von anderen Heil methoden benupt werden, obgleich ‚fie ſtatt der
Arzneien nur reines Waffer in ‚Gebrauch zieht. / Anal ini au Aan Sy}
Wer tann es und aber verargen, wenn wir wenigftend bei den meiften
Krankheiten unfere Heilmethode dem anderen vorzichen, weil, um nur wenig zu
fagen, reines Waſſer, KEINER jo un
ſicher, jo gefährlich ift, wie es Medicamente oft find. nn nn
Iſt ferner auch ein Grund vorhanden, daß ſich M daß ch Medicin-Xerzte und Waffer
ba Beminberung, ba 8——
Gina et. Kin |
1 — Dre Bor raatı:
2 in den Händen unbe Lan, ‘
— unferer vorgüglichften Phofiologen, kann bei
zweifeln fönnen, fo iſt Durch diejelben Dargethan, daß die Haut nur fehr ſchwer
einjaugt, wenn Died nicht durch ſtarkes Frottiren begünftigt wird, und jomit er-
ſcheint das Eingehen der, Mineralien in den Organismus durch die Haut, jehr
unficher, faſt illuſoriſch, und es Tiegt die Annahme jehr nahe, daß aud in ben
Mineralbätern nur Die Temperatur des bes Waffers und andere Umflände
als Heilwirkungen auftreten. Ausgenommen von diefer Annahme find mit Be»
techtigung gemäß: ‚de Xsinffuten.und. diejenigen Bäder, Die reichlich freiwerdende
Kohlenſaure entwideln, indem die erſteren eine gewiffe Einwirkung auf die
Schleimhäute und die letzteren auf die äußere Haut und die Lungen äußern.
Wenn nun die Frage abgethan ericheint, daß die Wafferheilmethode eine
ſehr wirfjame und berechtigte üft, jo wid hieran — in Be
ale Zufionen und Anmafung bahin, da ale eilbaen Kranffeiten durd fe
313 a 7. . Wu
geheilt werden künnen, mit alleiniger Ausnahme derjenigen, we nur die expeeta⸗
tie Methode zur Anwendung kommen darf und baber patenzirte Kuren feiner
Art fiättfinden dürfen, wir bürfen ſogar hinzuſegen, daß durch bie Waſſerheil⸗
methode biäweilen noch Krankheiten geheilt werden, Die durch Medicamente, Mi⸗
neralbaͤder ıc. nicht geheilt und vom ben Aerzten aufgegeben worben waren.
Diefe Präponderanz der Waſſerheilmethode macht ſich beſonders in chronifchen
Rsankheiten geltend und berußt vorwaltend darauf, daß wir, wie bereits oben
erwähnt durch dieſelbe eine Art Fieber, d. h. eine Erhebung des Organisusut
erreichen können, woburch.berfelbe bie Srankheit auf Ihre urfprünglichen Stadien
zurückführen und dadurch leichter in. den Kreis der Funktionen bineinzichen und
fomit befeitigen kann. Gin ſolches Fieber kann ſelbſt wiederholt hervorgerufen
und, wenn es ansjchreiten follte, Leicht gezügelt und befeltigt werben.. Es iſt viel
geſagt und behauptet worden in dieſen Zeilen und doch nd es Thatjachen, vom
denen wir feine Kreichen können, da wir fie nachzuweiſen im Stande find.
Daß aber Waſſerkuren nicht überall anzuwenden find, habe ich fchon unter
ber Rubrik der expectatisen Methode erwähnt, daß ſelbſt in manchen Fällen ber
Debrauch ſpeciſticher Mittel (Mineralwaſſer x.) vorzuziehen, iſt unbeſtreitbar,
Daß aber wirderum in gar vielen Fällen die Waſſerheilmethode durch alle dieſe
Geräten Mittel, Quellen und Bäder nicht zu erfegen tft, iſt ebenſo eine unge
ſchmiedete Wahrheit, . Die noch viel zu wenig anerkannt wird, daß ferner aber
auch unangemeſſene zu lange fortgejete und zu exceſſiv angewandte Waſſerkuren
ſchaden und in welcher Weife fie ſchaden können, Habe ich in allen meinen
Schriften unumwunden erklärt und nachgewieſen. Alſo nicht immer Waſſer⸗
Kuren, nicht Waſſerkuren auf Leben und Tod, am wenigften bloße Kaltwaſſer⸗
kuren, muß bie Loofung auch des Waſſerarges fein, bie. ſchreibe ich nach Er⸗
fahrungen von 14 Jahren mit ruhiger nnd. befonnener Ueberzeugung nieder und
doch Halte ich Die Waſſerheilmethode für bie Eurenzeinfte im Reiche ber Heil
wiflenfchaft, es liegt Fein Widerfpruch darin, Salomo hat Recht, jedes Ding bat
feine Zeit. 00. Ä .
Aeber den Einfluß der Naturwißfenfchaf-
ten auf das Hecht und die Kechtspflege.
Bon
"Dr. Aarl Wachler.
Ueberall, ſoweit daB Auge der Geſchichte reicht, finden fd deutliche Spuren
des Einfluffeß, den die Eroberungen im Neich der Ratur auf Bildung und
Eitte und damit auf das Recht und die Rechtöpflege audgeübt haben. Es wäre
gewiß von großem Intereffe, dieſe Spuren Schrin für Echritt zu verfolgen und
einmal gründlich zu unterfuchen, wie der Menſch vermoͤge der fortfchreitenden
Erkenntniß feines eigenen Weſens und ber Ihn umgebenden Ratur in feiner gei⸗
ftigen und flttlichen Bildung von Stufe zu Stufe höher geftiegen ift, und wie
dieſes allmälige Enworſteigen auch in rechtlicher Beziehung nicht ohne Einfluß
bleiben konnte. Uns ift es aus naheliegenden Gründen verfagt, bier eine Dar
flellung dieſes Eulturgeichichtlihen Enwicklungkprozeſſes zu geben. Es gemäge,
auf das Rejultar hinzuweiſen, das jich, dem Auge jedes denkenden Menſchen
leicht ertennbar, in dem Charakter unjerer Gefeggebung und In dem ganzen mo⸗
dernen Nechtözuftande ausgeprägt findet. Wem tritt es nicht fofort ver bie
Seele, wenn wir an die Gotteßurtheile, die Herenprozefle, die Kolter, am all Die
barbariihen Etrafen eines finfteren, giüdlicherweile nun verſchwundenen Belt»
alters erinnern? Wer Hätte nichs von ben Ummälzungen gehört, welche Die Ges
feggebung und bie Rechtöpflege durch bie gründlicheren Forſchungen auf dem
Gebiet der Anatomie und Chemie, der Piychologie und Phyſitologie erfahren
Haben? Durch fie ift zuerft der Schleier gelüfter worden, der Jahrtauſende hin⸗
durch die Geheimniffe der Menſchennatur bebedte; fe haben den Urwald des
menjchlichen Aberglaubens gelichtet, beffere Einflchten und Ideen über die Wile
Iensfähigkeit und Willensthätigfeit des Menfchen auögeflreut und damit den
Grund zu einer vernünftigen Theorie der Strafbarkeit, zu einer humanen Krimi⸗
nalgeleggebung und Kriminalpraris gelegt. Wenn heutzutage jelbft die Mäch-
tigen der Erde ich ehrfurchtsvoll vor der Menſchennatur beugen, wenn Geſet⸗
gebung und Obrigkeit in dem Beſtreben wetteifern, Das Leben, die Geſundheit,
die Ehre und das Eigenthum der Unterthanen gegen jeden Angriff zu ſchützen,
jo find dies Hauptfächlich die Srüchte jener Korfchungen. Ä
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ELLE Tan a5 Us >12 L INnI2 | — c— *
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und Mächtigen, ber mußte nothwendig zu einer höheren Achtung der Menjchens
watur gelangen und die Sicherheit ded- Lebens und Eigenthums Aller» ohne Un—
terſchied zum Zielpunft feiner Gejege nehmen.“ Ha Yun rd Ren
Zweck anerkannt, worauf alles Uebrige
— — und als beſondere Disciplin für bie ſpeziellen Rechis-
zwecke zu bearbeiten, Dies geſchah durch die Mediein, die das perſönliche Das
fein des Menjchen bezweckt, wie die Mechtäwiflenfchaft das ſittliche. Veide find
aus derjelben Wurzel, hervorgewachſen, aus der allgemeinen Naturwiſſenſchaft,
die den ganzen Menfchen umfaßt. Beiden Alten waren daher ſowohl die Rechts-
wiſſenſchaft ald die Mebiein in der Bhilofophie enthalten, und der wahre Philos
ſoph war, weil er das Ganze bejaß, zugleich Gefeggeber, Arzt und Mechtögelehrs
ter. Dieſer Zuftand konnte nur fo lange dauern, als es dem Menſchen vergönnt
war, in dem Sinne des Ganzen zu leben. Ueber dieſen Zeitpunkt hinaus haben
Einfluß-der Naturwiſſenſchaften auf das Reät. 315
fi die Wiffenfchaften im ihren wahren Einheit unp weientlichen Verbindung
nicht weiter entwidela Sönnen. Schon in der Philojopbie ter Griechen ift das
Zehen im AU, das eigentliche Prirfterifum der Raturgottheit, zu Grunde gegan«
gm und der Weltgeift verkörpert worden. In der fpäteren Beit wurde auch ber
Leib, die „schlechte Wirklichkeit”, auseinander geriffen. Die einzelnen Theile der
allgemeinen Wiflenichaft verlosen mehr und mehr ihren Inneren Zufammenbang,
und standen zulegt völlig vereinzelt ba... Befonders war es die Rechtawiſſen⸗
ſchaft, Die außer aller Verbindung mit ihrem wahren Dudl, der Anſchauung
des Menſchenlebens in feiner Totalität und fortfihreisenden Entwidlung, ſich
blos mit dem Gewordenen und Gegebeuen begnügte und ‚dadurch zur bloßen
Nechtögelehriamkeit hinabſank. Die Geſeggebung veriihwand babei entweder
vor dem Mechtögebraud; , oder fie erfihien als Dienerin der befonteren Zwecke
und Abfichten der Herrfcher. Ihr Gegenſtand Hlieb imbeflen immer berfelbe;
naͤmlich der Menſch in der Geſellſchaft, auf den nothwendig die Geſetzgebung und
die Mechtöpflege fich bezichen mußten. Weder ber Gejeggeber nach ber Richter
fanden aber auf ihrem Gebiete die Kenntniſſe, deren ſte in Beziehung auf diejen
Gegenftand zu ihres Wirkſamkeit beburften, und fie mußten deshalb zu ben
Aerzten, welche die Wifjenfchaft vom Menfchen in einem eminenteren und allge
meinen Sinne gepflegt und ſich dadurch) auch jene Kenntnifje, welche die Aus⸗
übung ber öffentlichen Gerechtigkeit forderte, erworben hatten, ihre Zuflucht neh⸗
men. Sie fragten baber die Aerzte lange vorher um Rath, che es eine Aerichtlidye
Medicin gab, und diefe, um ihnen die Hülfsmittel zu reichen, die jene nicht mehr
bejaßen, faınmelten und orbneten aus ihrer Wiſſenſchaft das für Die Rechtszwecke
Röthige und vereinigten es zu einem Ganzen. So entftand bie fogenanpte öf⸗
fentliche oder gerichtliche Medicin, deren Aufgabe es ift, deu Einſtuß
der Ratur- und Heilfunde auf Das Recht zu vermitteln. Ein Rückblick auf den
Entwickelungsgang beider wird und erkennen laſſen, wie diejer Einflup mit der
forsfchreitenden Kultur geftiegen und endlich ein weſentliches Element der Geſetz⸗
gebung und Rechtspflege geworden iſt.
Es iſt ſehr zu beklagen, daß aus jenen fruͤheſten geiten, aus denen geſetz⸗
liche Beſtimmungen einzelner Völker bis zu uns gekommen find, die Nachrichten
von ihren Raturfenntniffen fich nicht gleichfalls erhalten haben. Was hin und
wieder davon gefabelt wird, beruht auf unverbürgten Behauptungen oder poeti»
ſchen Erfindungen und verdient daher feinen Glauben. Ohne Zweifel waren
diefe Kenntniffe aur wenig enwickelt und nicht ein Gemeingut des Volks, jon«
vern das Eigenthum einer.befondern Kaſte oder einzelner Perſonen, die fie durch
Ueberlieferung empfangen hatten. Selbſt da, wo bie Geſchichte anfängt, von
den gefellichaftlichen Verhaͤltniſſen beſtimmter Völker, die eine welthiftorijche
Rolle geipielt. haben, um von ihrem Rechtszuſtande Kunde zu geben, bleibt doch
das Maß ihrer Raturfenntniffe mehr oder weniger in Dunkel gebüllt. Es fehle
uns mithin ein ſicheres Kriterlum zu beurtbeilen, wie groß in ‚jener Zeit ber
Ginfluß der Ratur- und Heilkunde auf die Rechtöverhältnifie und deren Beſtim⸗
mung hätte fein Tönnen, Auf ber anderen Seite aber willen wir aus den
Schriften der Elafflfchen Autoren, daß bie alten Völker gar nicht Daran gÜatıı
0
— ni) um nihnn he
Zuerſt alſo gelangten —— — ernennen
iffe auf Die &
get | übung anzuwenden, ja fie benugten auch in der That dar
manche derfelben, doch nur infofern, als le dem ſchlichten Verftande unmits
mittelbar ei us dem Kreife der Wiffenfhaften, zu denen fie
war ee als —— ——
vor Allem der mangelhafte Zuſtand der Medicin, Zudem war es auch in Kris
minaffällen dem Kläger weniger darum zu thun, die That zw beweifen, ala viel
mehr den werbrecherifchen Vorſatz, indem das Korneliiche @efeg nicht ſowohl
#
Einfiuß der Ratuzmiffenfäunften anf das Acht. 317
jene, ald-harusrfächlich dieſe mit Strafe belegte. Ban einer gerichtlichen Medicin
Bonnie Daher: bei Den Mömern keine Mebe fein, man miete denn bie. Brivatzeug«
wiffe der Mebicinalperfonen "für die erſten Unfänge dieſer Wiſſenſchaft erflären. '
Die Leichen Erſchlagener wurden nid kunſtgerecht beſichtigt, und ebenfomenig
fand in Vergiftungsfällen eine ärztliche Unterſuchung flat. Wenn Antiftius
nad) dem Zeugniß des Sueten nur reine von den drekundzwanzig Wunden des
Zalins Eifer, nämlich Die dritte Bruſtwunde, fir tödtlich erflärte, fo handelte es
ſich in diefem Fall um ein bloßes Privatgutachten, keineswegs um das Mefultet
einer gerichtlichen Reichenbefichtigung. Genug, es barf als erwiefen angenom⸗
men werden, dab die Römer eine der unferigen ähnliche gerichtliche Arzneiwiffen⸗
Schaft weder gefannt noch geübt haben. |
Gegen das Ende der Mrpublif trat nun aber, wie f in allen Dingen, fo auch
in ben ärztlichen Verhältnifien befonderd in Folge der griechiſchen Einwanderung
ein gewaltiger Umſchwung ein. Das Bürgerrecht warb jetzt auch den Aerzten
eetbeift, und die Ausübung der Nedicin brachte ihnen fortan Ehre and Gewinn.
Die Kaifer fuchten Ihre Leibärzte durch Ehrentitel auszuzeichnen. und überfrugen
ihnen gegen gewifle Vorrechte und Einkünfte die Aufſicht über andere Aerzte.
Späterbin Bildeten die anerfannten Aerzte in allen größeren Städten des römt-
ſchen Reihe. odentliche Kollegien, deren Mitglieder vom Stante befoldet wurden.
Trotz dieſer Einrichtung, welche die Entſtehung ber gerichtlichen. Medicin offen»
bar beatinftigte,, kam eine folche auch jetzt nicht zu Stande, fo fehr das Berürf
niß nach dem Gutachten der Kunftverftändigen und nach "mebieintfägen Kennt
niffen überhaupt von den Mechtögelehrten ſelbſt gefühltwarb. Das Haupthinderniß
war noch immer der Zuftand der Medicin und ihrer Hülfäwifienfchaften. Hatte
fid auch diefer gegen früher weientlich verbefiert, fo war doch noch zu viel Wi.
deriprechendes in den verfchiebenen Anfldyten der Aerzte, und ihr Wiſſen beruhte
noch zu wenig auf erfahrungsmäßiger Raturerforfchung, ald daß man zu ihren
Ausſprüchen rechted Vertrauen baben konnte. In Krankheitdfällen und in der
Todesgefahr nahm man wohl zu ihnen feine Zuflucht, indem man dabei auf eine
geheime Wunderfraft zerhnete, bie der Bollöglaube ihnen zuſchrieb, abır bei
ruhigen Berbandlungen über Necht und Beſttz mochte mar. fich ihnen nicht an»
vertrauen. Ueberdies waren gerade bie Fähigkeiten und Kenntniffe, welche zur
Unterfuchung gerichtlächer Bälle erforderlich find, in jener Zeit noch am wenige
ften audgebildet, und man durfte ſich daher von foldyen Uinterfuchungen nicht
viel verfprechen. Hierzu fam, daß die Mechtewifienfchaft bei aller Ausbildung
und Vervollkommnung die alten Prozeßregeln forgfältig beibehältl. Mit dem
römiichen Anklageprozeß war nun aber eine gerichtliche Medicin an und für ſich
unvereinbar. Aerztliche Kenntniffe, Zeugniffe und Gutachten konnten wohl zur
Beweißführung dienen und wurden vermuthlich auch dazu benupt; die Wichtig.
feit. unferer gerichtlichen Arzueiwiſſenſchaft Eonnte indefien ein folcher Einfluß
der Aerzte, welcher der höheren gefehlichen Autorifation und des Charakters der
Deffentlichkeit entbehrte, unmöglich erlangen. Einem Volke, das die Zerglicbes
rung ber Leichen ald ein Verbrechen verabfchente, war es überhaupt wicht gege⸗
ben, die gerichtliche Medicin ind Dafein zu rufen. Mußte doch felbft Galen,
En 0
BE do ea a
—— wu wir eu
Kine Anm Dt 20 Bapft Yanscen;
gerichtliche Mediein
een 8 ———
ſtanden und in Gebrauch gekommen iſt. v I: SA nir® naar mn‘
Mit der Entftehung und Ausbildung eines peinlichen Unter-
fuchungsverfahrens war auch der Anſtoß zur Fortentwicklung der gerichte
Te erlangten zuerjt in Italien einem gewiſſen Grad
ollfommenheit. Kenntnig des klaſſiſchen Alterthums, alter volköthüm—
pen italienifche Gelehrſamfeit bewirkten hernach, daß in ber
Bambergiſchen Halsgerihtsorbmung umd in der fpäteren pein li⸗
ben ÖGerihtöorbnung Kaifer Karls des Fünften vom Jahr 1533
die Fälle genauer beſtimmt wurden, in denen das Gutachten der Aerzte, Wund-
Ärzte und Hebammen vor Gericht follte eingezogen werden, Eine wiſſenſchaft⸗
liche gerichtliche Medicin gab es indeffen damals noch wicht, ja es mangelte nicht
jelten ſelbſt an den nöthigen Kenntniffen, den Forderungen jener Gejegbüdher
Genuͤge zu leiſten. Zergliederung von Leichen wegen rechtlicher Zwecke fand mie
mals ftatt, und nur in einzelnen feltenen Fällen eine Unterfuchung der Wunden
durch Ginfchneiden und Erweitern, Die erften gerichtlichen Leichenfeftionen
wurden in Jtalien vorgenommen, | Dort entftand auch am Ende des ſechszehn⸗
ten Jahrhunderts die Wiſſenſchaft der gerichtlichen Medicin. Von Italien
und Frankreich verbreitete fie fich mach Deutfchland, wo fie un fo leichter Gin
gang fand, ala das Bedürfniß des Rechts nach medicinifchen Kenntniſſen von
den Gejegbüchern ſelbſt anerkannt wurde. Schon in der zweiten Hälfte des
ſechszehnien Jahrhunderts ift nicht blos von der Leichenbefichtigung, ſondern auch
von der Geftion der Wunden Getödteter ald von einem zur Unterfuchung des
Mordes nothtvendigen Mittel die Rede, umd im ſiebzehnten Jahrhundert wird die
Bergliederung bed Leichnams ausdrüdlich gefordert. Fortan’ jehen wir die ge⸗
richtliche Medicin unabläfftg bemüht, die naturwiſſenſchaftlichen Borfchungen für
Einfluß der Naturniffenſhaftci auf das Hecht. 519
ihre Zwecke auszubeuten. Bereitwillig winmmtbie Rechtswifſenſchaft auf, was
ihr die für ihr Bedürfuiß entandene geriihtliche Medien darbletet und ſicheren
Ganges ſchreitet fie wie den neugewonnenen Hälfomttteln worwärte. Damit
folk indefien keineoweges geſagt ſein, Daß fie die Ratustviffenfchaften in ber Aus-
Dehnung und mit dem Bertrauen zu Mathe gegogen Gabe, wie es der Zweck der
Geſetzgebung und die Intereffen des Gemeinwohlls fordern. Dies iſt aus ver⸗
ſchiedenen Gründen nicht geichehen, und noch immer verfchmäht es eine große
Zahl derjenigen, welche die Fortentwicklung des Rechts für ihren eigentlichen
Beruf erklären, die Refuftate der natunviffenfchaftlichen Forſchungen für bie Ge⸗
feßgebung und das Recht zu verwerthen. Trotz des Widerſtrebens eines Theile
der Mechtögelchreen, trotz aller natärlichen und künftlichen Hemmungen: ift es
den Obſkuranten doch nicht gelungen zu verhindern: daß die naturwiſſenſchaft⸗
fichen Forſchungen und Entdeckungen bei der Entſcheidung rechtlicher Verhält⸗
nüffe mit jedem Tage ſchwerer ind Gewicht fallen. Vergoͤnme man. und, durch
einige Beijpiele den befonderen und unmittelbaren. Einfluß zu erläntern, ben fie
auf das poſttive Recht und auf die Rechtpflege ausgeübt Haben. ’
Der fogenannte. Fruchtzuſtand des Menſchen kam na den früher Darüber
geltenden NRechtögrundfägen unter Anderen ba in Betracht, wo es fi um die
Benrtheilung ber Lehensfähigkeit einer Leibesfrucht handelte. Bei den Roͤmern
ward er in biefer Beziehung allerdings nur ſehr wenig berückſichtigt, indem bie
Abtreibung der Leibeöfrucht nicht für ein Verbrechen galt, fordern je nach den
Umftänden entweder als Beleidigung des Vaters ober als eine gegen. die Mutter
verübte Gewaltthätigkeit beftraft wurte, oder, wenn keiner diefer beiden Fälle
vorlag, wohl gar nur zum Schabenerfag verpflichtete. Cine Schwangere, bie
felbft ihr Kind abtrieb, blieb, wenn fein Dritter dadurch beeinträchtigt war, ganz
ungeftraft. — Raͤhere Veranlaffung zur Berüdfichtigung des Iruchtzuftandes
gaben die Alteften Gefege mehrerer germaniichen Volksſtaͤmme, in denen bie
Strafbeftimmungen über die verjchiedenen Berbrechen fi nach dem Schaden
richteten, der dadurch verurfacht werden war. In diefen wird nun die Abtrei⸗
bung der Leibesfrucht durchgehende für eine Handlung angefehen, woraus ein
Schaden erwachle, für ben eine Buße zu bezahlen fei, und um biefe genau be⸗
fimmen zu fönnen, ift darauf Rücklicht genommen, ob man das Befchlecht einer
abgetriebenen Frucht ſchon erfermen könne, und nach dem baterifchen Rechts⸗
buche, ob die Frucht ſchon gelebt babe, oder nicht. — Das Fanoniiche Recht,
welches nach Maßgabe diefer altgermanifchen Beftimmungen zwifchen einer aus⸗
gebildeten und einer nichtansgebildeten Frucht unterfchied, nahm an, daß der
Embryo erft nach einer beflimmten Zeit belebt und befeelt werde,
und erklärte, wahrjcheinlich durch eine falſche Ueberſetzung der Gloſſe hierzu der⸗
leitet, die Zeit von vierzig Tagen nad) der Empfängniß für dem Zeitpunft: der
Belebung und Befeclung. In der Abtreibung einer fchom belebten und befeel-
ten Frucht erblidte e8 daher die Täbrung eines werdenden Menfchen, wodurch;
nad) der Anficht der Kirchenväter, deften Seele der chriftlichen: Taufe und deren
Folgen entzogen wurde, und beſtimmte nach diefem Kritertum die Strafbarfelt.
Diefer Auffaffung des Tanonijchen Rechts folgte auch die peinliche Halsgerichts⸗
en — ar een re — ee
—————————2 — jene, die mit folchen: Tbeilen um
Organen in engerem phyſiologiſchen Zufammenhange ftehen, gehörig geprüft
werben, gewährt in ihrer heutigen Anwendung und in Verbindung mit der Une
terfuchung aller übrigen phyſiologiſchen Erſcheinungen an der Kindesleiche dem
Richter ein ganz anderes, ungleich befieres Beweismaterial, als das alte Verfah—
ren, umd nur wer beide im altem und neueren Gerichtsaften mit einander vers
gleicht, vermag den fteigenden Einfluß —————— den —Sä————
in den beiden letzten Jahrhunderten erlangt bat. 9940000 nm
Durch ihre Mitwirkung. bei Den Birfeigeng ber Oasen: des Verbrediene
ift fie zur unentbehrlichen Kührerin des Kriminalrichters geworden, und wad fit
heutzutage in diefer Beziehung leiftet,, ftreift bisweilen nahezu an das Märchene
bafte, Sie hat gelernt, den alten, vertrockneten Blutötropfen aus den Kleidern
bed Mörder, aus dem Stahl jeined Meſſers, aus dem ſchmutzigen Fußboden der
Hütte wie aus den Mahagoniparkets ber Palaͤſte mit feinen Haarröhrchen zu:
heben, und mit Hülfe des Mifrosfops vermag fie nicht blos ein wahrhaftiges
Zeugniß über das Vorhandenſein von Blut abzulegen, fondern fogar zu entſchei-
ben, ob dad Put von Menſchen oder Thieren berrührt: Im dem halbver⸗
Mörder, * ne — ten —————
durch die Flucht dem ſtrafenden Arme der Gerechtigkeit zu entziehen, ſo ſenden
fie auf den Drathen des Telegraphen, den fie der Menſchheit geſchenkt haben,
das Bild des Thäterd diefem nach und ereilen den Klüchtigen. Das find die
Dienfte, welche fie der Gerechtigkeit und en Ar
leiften. Auf der anderen Seite lehren fie aber auch d Ric
in deim Verbreder die Menfehenmatir zu refpeftiten. Die neuere Straf:
uftig, welche den humanifirenden Einfluß der Natur» amd Heihwiffenjchaft in
vollem Maße erfahren Hat, will'Befehränkungen der Freiheit und der Nahrung
ald Strafe mur infoweit eintreten Taffen, als fie der Gefundheit nit
nachtheilig find. Sie verlangt deshalb, daß die Strafanftalten, obſchon
fie dem Verbrecher als eine Laſt erfcheinen ſollen, doch jein phyſiſches Wohlſein
nicht gefährden. Sie flellt den Arzt als Sachverftändigen auf, um Arreftlofale,
Koft u. f. w. zu überwachen, das richtige, der Gefundheit zuträgliche Maß zu be- ,
flimmen; und die Wiffenfchaft bietet dem Gefängnißarzt volltommen hinreichende
Anhaltöpunfte, der Anforderung des Gefeges Genüge zu leiten. Die neuere
Phyſiologie fagt ihm genau, wie viel Rahrungsftoff, wie viel Luft der Menſch
bedarf, wie viel Brauchbares dieſes oder jenes Nahrungsmittel enthält, wie viel
ohne Geiundheitsftörung von dem Gewohnten entbehrt werben kann.
Urfprünglich find wohl die Sträfen, wie fo viele menjchliche Einrichtungen,
IV, 21
922 khak tue —— rd tsiaiß
ee — Ver Gnihung, de Bett
—
nnd Sana 3 B. in der Tortut. die audger
endung. Mit Der made hen elle. und mit der Ausbildung
Heilwiſſenſchaft verſchwanden die barbariichen Zuchtmittel nebjt
dem-ganzen Apparat von Marterwerfeugen, und aus den Trümmern. einer rohen
Bene bie Prügelftrafe in die Gegenwart hinein. Aber felbft
2 en wo dieſes Strafmittel noch in Anwendung fommt, ging das
‚von. bem erwähnten humanen Brinzip aus; es wollte der
idhe ſchaden, es wollte
nn "Sit fin Desfahım für gehtenig Dun Erfahrung
und filljchweigende Zuftimmung der Mebiein, Diefe Wiffenfehaft iſt
F eben ‚bedeutend. vorwärts geſchritten; pathologijche Anatomie, Chemie
und Mifrometrie haben ihren Sehtreis erweitert, und fie-äfk jet zu der Finflcht
—— daß die Prügelftrafe etwas der Geſundheit abſolut Schaͤdliches iſt.
Dank dieſer beſſeren Einſicht iſt denn —A—
pflege aus den neueſten Gejgebüchern geſchwunden. erhalt
Ueberblickt man die Reihe natunwiffenfchaftlicher nthebnugen.n welche
nothwendig waren, um die gegenwärtige Stufe, der Geſittung und Bildung zu
gewinnen, fo erfennt man bewundernd.die Macht und Größe des. menſchlichen
Forſchergeiſtes. Was hat er gearbeitet und gerungen, um die Geſetzggebung und
Rechtspflege aus den finfteren Abgründen ber Barbarei und des Aberglaubens
zu ben lichten Höhen wiſſenſchaftlicher Naturfenntnig hinaufzuführen! Welt
furchtbare Verfolgungen hat er erbuldet, welch glorreihe Schlachten geichlagen
feit jener Zeit, wo man den des Giftmordes Verdächtigen in das Waſſer ver⸗
ienkte, oder feinen nackten Fuß auf ein glühendes Gifen ftellte, um zu unterſuchen,
ob er das Verbrechen wirklich verübt habe, bis heute, wo der Chemiker das Gift,
welches er aus ber Leiche bervorgefucht hat, vor bie Banf der Geſchworenen
bringt und die Vergiftung über allen Zweifel erhallt! Wie herrlich ift den Ra—
turwiffenichaften ihr Menſchheit exlöfendes Werk gelungen! Die Geſchichte hat
mit ehernem Griffel. auf jeder ihrer Seiten das fteigende Gewicht des Einfluffes
* den ſie auf die rechtlichen und deren —— aude
geubt haben, |
Der Tabak, .
fein Berbraud, feine Wirkungen und fein Anbau.
Bon
3. 4. W. Iohnften.
Ausgedehnter Verbrauch des Tabaks. Verſchiedene Urten bed Tabaks.
Verwendung des Tabaks in verſchiedenen Seſtalten. Wirkungen des
Tabatd. Chemiſche Beſtandtheile, Julſchung und Anban deſſelben.
Dem berauſchenden Fluſſigkeiten, Bier, Wein, Branntwein, welche wir verbrau⸗
chen, verwandt ſind die narkotiſchen — mehr oder weniger betaͤubenden — Stoffe,
die wir genießen; und wenn der erſteren Geſchichte in ihren Verhaͤltniſſen zu den
jorialen Zuftänden fchon eine Fülle von traurigem Intereffe bietet, erſcheint bie
Geſchichte der letzteren noch weit nberrafchender und in ber That außerordentlich.
Wohl kann man behaupten, daß für den ökonomiſchen Statiſtiker nicht weniger
als für Phuflologen und Pfychologen die Betrachtung des Menfchen mit den in
den verfchiedenen Ländern in gewoͤhnlichem Gebrauche befindlichen narkotiſchen
Subſtanzen eines der wunderbarſten Gapitel aus feiner ganzen Wiflenfchaft
bilder.
Indem der Menſch vollfländig feinen natürlichen Bedürfnifien und Reigun-
gen nachlebt, hat er nacheinander drei Stadien zu Durchwandern.
BZunädhft wird dem Bebarfe feiner materiellen Natur genügt. Rindfleiſch
und Brot repräfentiren die Mittel, durch welche in allen Ländern dieſer Zweck
erreichbar if. Und unter den zahlreichen Formen animaler und vegetabiler
Nahrung, welche verfchiedene Rationen anfatt jener beiden Hauptftoffe des eng⸗
liſchen Lebens benügen, ift eine wunderbare Aehnlichkeit bezüglich der chemifchen
BZufammenfegung bemerfbar. Genau derjelbe Kleber, diejelbe Stärke, dafielbe
Fett werden in allen Rändern und in gleichen Verhältniffen dem Körper zugeführt,
— fo daß wir den fo zu fagen univerfellen Inftinet zu bewundern genöthigt find,
nach welchem unter fo mannigfach verfchiedenen Bedingungen des Klimas und
der natürlichen Vegetation die Erfahrung des Menfchen überall ihn dahin ges
führt hat, in genaueftem Maße die chemifche Befchaffenheit der hauptſaͤchlichen
Stoffe feiner Rahrung den chemiſchen Bebürfnifien feines Iebendigen Leibes an
zupafien. "
21*
E
Br il Bu ng pe aan an nn
—2 ae Rn Be Een WO
a ah, er a he sie. ge —
ee m A Ay Malzes oder die Mitch
der tartarifchen Stute — in jeden Alkohol bezeichnete Sube
— ——
JJ ‚ felen es einheimiſche
ober zugeführte beſitzt; dergeſtalt daß der allgemeine Inſtinet des Menfchenge-
ſchlechtes auf die eine oder EEE
friedigung des erwähnten Beduͤrfniſſes geleitet hat. jun Dar Ang 2
Rollen und, verträumten ihr. Reben unter ‚dem Dufte des Zabaffrautes, lange
bevor die Coloniſten des Sir Walter Raleigh es in das Bereich des Hofes ber _
Königin Elijaberh einfübrten. Das Gocusblatt, jegt die Stärkung und: der
Troſt des peruaniichen Maulthiertreibers, wurde in den frübeften Zeiten und: in
venfelben Gebirgen auf gleiche Weife, wie es von ihm geſchieht, von den: India⸗
nifchen Stämmen -gefaut, aus deren Blut er entftammt. Der Gebrauch bes
Opiums, des Hanfes und ber Betelnuß ‚unter den Bewohnern des öſtlichen
Aſiens reicht hinauf, bis zu den Zeiten des jagenbaften Alterthbumsd, - Dafjelbe
ift wahrfcheinlich der Ball mit den Pfefferpflanzen auf den Suͤdſee⸗Inſeln und im
Indiſchen Archipelagus, ſowie mit den Stechäpfeln unter den Bewohnern der
Anden und auf den Abhängen des Himalayagebirges, während im, nördlichen
Europa der Hopfen. und in Sibirien der ———— —
licher Zeit in Benutzung waren. sodTeinmien 1m myuan ran! ei
7 Weich wie in verfchiedenen Grpeuben: der -Welt Re arte
das beraufchenbe Lieblingägerränt gewonnen wurbe, ebenfo wurde der vorzugs—
weife beliebte narkotiſche Stoff von verſchiedenen Menſchenracen aus verſchiede⸗
nen Bilanzen gezogen. Aber zwiſchen dieſen beiden Claſſen menfchlicher Be—
dürfniſſe herrſcht der bedeutende Unterjchied, daß, während in. allen gegohrenen
Slüjfigfeiten, wie erwaähnt, der gleiche Alkohol oder berauſchende Geift wirkt,
jedes narkotiſche Mittel hingegen feine eigene befonders wirkende Kraft enthält;
Aus welcher Duelle auch gewonnen, der gegobrene Saft erzeugt überall denſel⸗
— Si Sabre Teva fe Gotular Ir ——
rauchend, und gleiche Begegnung hatte fpäterhin Gortez, als er nach Merico vor«
drang. ne Senken nn a am rn anne
— ———
Braunſchweig, die vereinigten Staaten, Mexico, bie weſtliche Küfte bis zum 40°
füblicher Breite, ee ee
Eghpten und Algerien, ‚anf Den: canarifihen: Infekn, die weffiche-Rüßte entlang,
am Gap ber guten Hoffnung und auf zahlreichen Diftrieten im Innern’ bed Feft-
— et een anne
den und bildet gegenwärtig ein wichtiges landwirthſchaftl duct in Ungarn,
Deutichland, den Niederlanden umd Frankreich. "In Aten hat der Tabakbau
ſich verbreitet über die Türfet, Perfien, Indien, Thibet, China, Japan, die Phi⸗
livpiniſchen Infeln, Java, Geylon; er wird ferner gebaut in Auftralien und Neu»
jeeland. Unter den narfotifchen Gewächjen nimmt Der Tabak in der That eine
ähnliche Stelle ein, wie die Kartoffel unter den Nabrungäpflangen. Er wird am
ausgebehnteften gebaut, ift am wenigften empfindlich, verträgt vielmehr am leichte
ften Veränderungen in Witterung ‚Höhe des Terrains und überhaupt in allen
Flimatijchen Beziehungen. Vom Aequator an bis zu dem 50. Breitegrade kann
der Tabak ohne Schwierigkeit gezogen werben, obgleich er am beften gedeiht in-
nerhalb 35° Breite auf beiden Seiten des Aequators. Die ſchönſten Sorten
werben — —————⏑——— und dem 35° —
(Latakia in Syrien. win EN
396 undn ne in 3
Urban vn. den Fluch — Bulle; ER
in Rußland verboten und die erfte Neberfchreitung mit der Knute, Die zweite mit
dem Tode bedroht. Anfechtung und Verfolgung vermehrte nur noch die allge⸗
meine Beachtung ber Pflanze, erweckte Si a en
Menſchen, ihre Wirkung zu erfahren. AN VUERTO
- So erflärten im Orient Priefter und Suftane der Türken nd Berfer das
Rauchen Für eine Sünde gegen ihre Heilige Religion; 1. find Türken
unb Perferdie fleißigften Raucher der Welt geworden. a — —
Den Mund der Türken verläßt Die Pfeife faſt nientaf6, In Indien rau
chen alle Claſſen der Bevölkerung und beide Geſchlechter. Die Siamefen kauen
mäßig, Aber rauchen beftändig. Die Birmefen jedes Nanges, beiderlei Geſchlech-
ted und jedes Alters, bis herab zu dreijährigen Kindern, rauchen Gigarren,) —
(Crawford). — In China iſt die Sitte des Rauchens To allgemein, daß jedes
weibliche Weien vom 8. bis 9. Jahre an als Zubehör ihrer Toilette eine —*
ſeidene Taſche trägt, um Tabak und Pfeife darin zu bewahren. ·
WVon dem audgebreiteten Vorwalten der Uebung des Rauchens in Afien
und befonders in China folgerte fogar vor Tängerer Zeit Pallas, daß der Ge
brauch des Tabaks zum Rauchen über die Entvetung Amerikas zurücteichen
möffe. „Unter den Chineſen“ ſagte er, „wie unter den mongoliſchen Stämmen,
welche mit jenen den lebhafteſten Verkehr unterhielten, herrſcht die Sitte des
Nauchens fo allgemein in fo ausgebildetem Maaße und ift fo fehr zum unentbehr⸗
lichen Iururiöfen Bedürfnif geworben; der Tabatsbeutel an demGürtel hängend
bildet einen fo nothwendigen Beſtandtheil des Anzugs; die Geftalt der Pfeifen,
nach welchen die Holländer Modelle genommen zu haben ſcheinen, ift fo originell;
ſchließſich Die Zubereitung der gelben Blätter, welche nur zu Stüdfen gerieben
* "Die im China gef kleiner noch, ald bie vorber
— ——— Meer 7 u W „ —*
6. Worleche Ganaliercon — rede. — —
el. Botaniſche Geographie (Ray Society) 1846, pl.
328 ‚anda® ¶ Marlene. ı1G
jhen 4 anegme Bafe ni
Velden Golan im Sahın, 1689 ausgeführte Duantit.nuc:4120,090 Bien
Während der ſeitdem verfloffenen 170 Jahre ift die Production dieſes Küften-
ar a rg ern ati“ Tue) ah
ng, zu. ber en Lande der Tabafver-
Millionen. Pfund beläuft! Eo war. die für, inländifgpen
Summe Ya een Aal
‚im Jahre 1851, * 28,062,341 Du, (pad ai *
"ut uk. mal ‚1852 157 "28,558,133.. > #5 wun is
N may — 20 737,661 wenn a
Diefen Zahlen muß.no rg un ann
gelten Kabafs,, zu deren Einführung, in der drüdenden Steuer von 3. &h; pro-
Pfund hinreichende Veranlaffung lag. - veerarit Aası
Daß der Verbrauch bei und. noch Rets.im Bunehmenbegrüfen dfnexhellet,
aus obigen Summen; doc; Elarer noch geht ed aus folgender Tabelle hervor,
welche die in den — * —— conſumirten Quantitäten vergleichen läßt:
uhr, Sejammt-Gonfumtion, Bevölkerung. Durchſchnitts-Conſumtion
XX | u Hm a —
1521 > 15,598,152 B.. 21,282,960 mM. us ‚44,71 Unzen ne yi
1831 .: 19,533,8341 024,410,439 = -· 1280 1010 90.
1841 4 22,309,360 On .27,019,672 an.G Su 13,21. »F ri
1861 ..28,062,841 #... .27,452,682 = 16, 86, 1 re
Dieſe Zahlen beweiien, daß während bes legten ber vorbezeichneien zehnjähe
rigen Intervalle der Verbrauch von Seiten, des vereinigten Königreichs um Aa,
oder von 1342 auf 17 Unzen für den Kopf geftiegen iſt. Doch dieſe Zahlen,
ftellen in Wahrheit nicht genau den Verbrauch nach Verhältnig unſerer 2 Tafeln
*) Bergl. einen intereffanten Nachweis bei — in Dam tin
Statiſtiſchen Geſellſchaft. VL. p. 50:
& eine noch grd-
ET re ı „ daran
sur Dr. Crawford ſchatt demnach das Mittel-Conſumo von Tabak durch das
ngeſchlecht an den Kopf,
i . Der Zägrlich: für die Vefrieb
Banner + nal: wa —*———* er Ku Te a rn
ahrbuch 1854, v1 in a rohr!
tem Gehant" vesfomente."
—* —
— =. 1850 — —
* — ERBE
pn van un bh rn ra re ae
Bon dem virginifchen Tabak (N. tabaceum) werden mindeftend acht Varic—
täten — Br Tabak (N. rustica) namentlith unters
jchieden. len, A Sue aba a Hd ren Alan )am una
Dieſe —⏑— chemiſches, als auch bota⸗
niſches Intereffe; denn einerſeits verändert ſich die Qualität des an einem
beſtimmten Orte und unter beſtimmten Verhältniffen gezogenen Tabaks je nach
ber Verfchiedenbeit der gebauten Pflanze, und andrerfeits find auch die Verbält«
niffe BE ee ee
je nad) der Speeied oder Spielart verſchieden. ll 222] TE
Andere Umftände üben gleichfalls Einfluß kenn den Tabak auszeich-
nenden erregenden Gigenjchaften. Das Klima, der Boden, die Culturart, die
Düngungsweife, der Zeitpunkt des Blätterpflüdens, das Verfahren beim Trock—⸗
nen und Behandeln der Blätter, Die Dauer von deren Aufbewahrung, die Ent
fernung,, in welcher fie zu Markt geführt werden*) und der Prozeß ihrer: Zubex
reitung zum Verbrauch — alle diefe Umftände üben einen wohlbefannten
Einfluß auf die Qualität des Blatted, Bei der Mannigfaltigfeit dieſer Voraus—
jegungen kann es begreiflicher Weife nur wenige Orte geben, in denen für Die
Erzielung ausgezeichneter Erndten Ales günftig zuſammentrifft. Daher find,
gleich wie beim Weine oder den Theer und Kaffeepflanzen, diejenigen Oertlich⸗
feiten, welche den vorzüglichften Tabak liefern, nicht nur gering: m Tor
bern im Allgemeinen auch der Ausdehnung nach jehr beſchränkt.
In Amerika wird ber feinfte Tabak auf der Inſel Cuba gezogen, Der Sabatder
*) Gut verpadter Tabal gewinnt, glei tem Weine, durch — ———
Wahrend deffelben erleidet er eine Art von Ghhrung, dur —
mildert mir. Guropäifcper Tabat ſoll in Amerifa weit Beffer ais im beim
zopa ih rauchen laffen. de
Der Tabak, fein Berbrauch und Anben, 851
Zufel Luzon, unter den Vhilivpinen, von welchem die beruͤhmten Ranitla-Eigan
sen gefertigt werden, Tonmmt dem ber Infel Cuba ziemlich gleich. Ein feiner
aber ſtarker Tabak wird in ber Provinz Gadoe auf Java erzeugt, woſelbſt er auf
einem von Natur reichen Boden abwechfelnd mit Reid und ohne Düngungsmittel
wäh. In Gindoflan wird ein unter dem Ramen Bilfah bekannter guter Tas
bak in der Brovinz Ralva, eine andere feine Sorte Namens Kaira in der Pros
vinz Guzerat gezogen. Alle Diefe Arten find das Product der Nicotiana tabacenni,
In Gentral-Aften ift der gelbe Tabaf von Ehina und Thibet beſonders mild und
angenehm, obfchon wahrfcheinlich zufolge feiner Seltenheit der geringere indijche
Zabaf auf dem Markte von Lhuſſa für den ſehr hoben Preis von 30 Schilling
pro Pfund verwerthet wird. (Hooker). Im weftlichen Afien ſind die gefuchteften
Tabake die won Latakia (dem alten Laodicen) in Syrien und von Schiras ik
Perfien. Den erfteren bildet gleich dem chineflichen Tabak das Blatt der N. ru-
stiea, den letzteren das einer Speeirs, N. persica genannt. Gelchergeftalt hat
ber feinfte Tabak eine weite räumliche Verbreitung, während die Difiricte, auf
denen ex gedeihet, allerwärts wie gefagt fehr befchräntt find. Ein warmer Som⸗
mer fcheint für die Gewinnung eines wohlſchmeckenden Blattes erforderlich zu
‚ fein. Das Blatt der mäßigen und Falten Regionen ift in der Regel rauh und fireng,
als wenn e8 die narkotifchen Ingrebienzen, auf denen das Gharakteriftiiche be®
Tabaks beruht, im Uebermaße beſaͤße. Wie ſehr verichteden der Berfauftwerth
des Tabaks aus verfchiedemen Ländern von einander iR, kann nach den Preiſen
beurtheilt werden, welche bie meiftbelannten Sorten auf dem englischen Markte
erzielen; nämlich ungefähr wie folgt:
Ganada 4 den. pro Pfund Türfifcher 8 den. pro Bund
Kentuch 6“ = . Columbia 10 = -» a
Birma 7 on sm. Cuba 1 &. 6 - - —.
Maryland 9 so “5 Havan⸗
Dominde 8 =» - .- nh.3 6» - -
Die Handelögefdyichte des Holländifchen Tabaks ift eigenthümlich. In dem
Thale von Geldern, die „DBelnwe‘ genannt, werben etwa 2 Billionen Pfund
Tabak gezogen. Hiervon wird fat die Hälfte von ber franzöſtſchen Megierung -
fär den Verbrauch in Frankreich gekauft. Im bdiefem Lande wird er theild zu
Eigarren, theild zu Echnupftabaf verarbeitet. Der Reſt des Geldern'ſchen Ta⸗
baf3 wird nad Rort-Amerifa und felbft nach Cuba nerfendet. Die Reinheit
des Blattes, und daß ed von ftarfen Rippen frei ift, fleigent den Begehr nach
demfelben für die äußere Dede von Gigarren. In diefem Falle bleibt der Marfte
preid ded Tabaks unabhängig von feiner allgemeinen Qualität oder feiner chemis
ihen Zufanmenfegung. Ghinefifcher Tabak wird ebenfalld zu Cigarrendecken
verwendet.
Tabak wird in fah allen Rändern in jeder der drei Richtungen, zum Kauen,
Nauchen und Schnupfen benutzt. Die erfte diefer Gewohnheiten ift in mehrar⸗
tiger Beziehung die unangenefmfte und wird heut zu Tage in England nut fels
ten noch anderswo ald unter Scefahrern angetroffen. Am Bord des Schiffes
tft das Rauchen immer gefährlich und wird oftmals uerbaten, wären don
nn ren EEE EEE RT NE
Znu einigen der füblichen und weltlichen Stanten Rordamerit |
De En De Rau in fügen fe vor; und in ef wird m
ER und: fofent; bio Die lafche ihren: Eigenthümer |
wieder erreiht*) et Pan rn aut er
Die in diefer Stelle befchriebene Dofe ift nichts ald eine Hochländer Horte
büchfe, von denen nad) neuerer Mode nur in der Geftalt etwas abweichend. Der
Höcländer bringt ben pulverifirten Tabak in einer Fleinen Schaufel nach der
Nafe; der Isländer ſchuttet ihn, wie vorerwähnt, unmittelbar aus dem Hals der
Flaſche hinein. Unter den Gelto-Scandinaviern ded nördlichen Britaniend aber
berricht diefelbe Vorliebe für pulverifirten Tabak, als in Island und im nörb«
lichen Scandinavien, ſowie bie gleiche Traulichkeit im Gerumreichen ber Dofe
als im urfprünglichen Island, Sind das nicht fchwache Reliquien ähnlicher
forialer Sitten, weldye noch hindeuten auf die vormalige Einheit und den ge»
meinjchaftlichen Urfprung der drei num gefonderten Wölfen)?
Die Gewohnheiten des Schnupfens foll in England nady der Reftauration
aufgefommen und zwar bon Frankreich aus eingeführt fein. Der Name: Rappe,
ben wir unſerem feudjren Schnupſtabak geben, ift'fidyenframgöftfepen Wefprumge,
u 5 mine delta > ur Ya Tre
ö Mad. Preiffers Reife noch getan. Bond. Ausg. p 17 Rn nm
** Nicht unerwähnt mag ich eine Anwendung. des Tabaks laſſen, Pen
ich. jedoch faum sollen. Glauben ſchenken kann, —7 fell,
einigen Gegenden Englands zur Berfälihung des Bieres und durch * ler
zur —— des Porters verwendet erden. Der Landarbeiter, Eid an einem
Abend nicht mehr ais ein einziges Glas Bier ſich zu erſchwingen vermag, ee
fein weniges Geld Etwas befommen, was nicht nur feinem Gaumen ſchmackhaft if,
ſondern auch in fühlbarer Weife fein Gehirn affieirt: Binige gg Art
des Hopfens behandelt jollen dem Bier und ein wenig ——
ge verleihen. Mehrere glaubwürbige Perfonen nen verſichern kp (ih *
Gebrauch des Tabafs durchaus nicht —— ſel. gi iſt es —
men gegen Betrüger zu ſchützen, die er durch ein franfhaftes Geräte day
die für ihn beſtimmte Waare zw werfätichen?
ee EEE E Dies giebt ihnen
einen angenehmen: ätherijchen Geruch und die wohlbefannte prickeliche Eigen:
ſchaft des Schnupftabafs, Rappe’s ober feuchte Tabake werden in der Regel von
bem weichen Theile der Blätter gefertigt. Trockne Tabake, wie Die fchottifchen
und Wallifer, werben son den Adern oder Rippen bereitet. Die erfteren erhal⸗
ten Bufäge in verfchiedenartigen Gerüchen , um fie dem Gefchmad der Gonfus
menten anzupaflen. mr Im ee bie au a mai al
n men —
a Abe eg beiden
Gährungsproceffe, durch den Wärmegrad, unter welchem die Blätter getrocknet
oder für duͤrre Tabaksſorten geröftet werben, und durch den Zeitraum, während
deſſen fie ſolcher Hige auögefegt bleiben. Die Art des durch die Gaͤhrung und
das ——s ſich Herauöftellen, nachdem die Eigenſchaften
derjenigen ' ‚erörtert fein ww
Aue en u nad Men — Be ID EDIT ZT · —* mb 36
0) Ammoniak ift cine Gasart, welche — ———— Ammoniak) feinen
Geruch giebt und aus welchem ebenfalls die im andel vorfommenden
viedpendem: Sale Dafilbe
(foblnfauree Ammoniak) egeuge werten. enthält zwei
ah und Waflerflofigag, = - wol Jam de Dina Aa a Marken
iwejentlich:bedinge durch
—— m’
[ Dh ‚une! i nam in
[7
N Pam =
allgemeines Zittern, Taumeln, franfafte Gricheinungen, Lähmung, Siarrſucht
und Tod. Man erzählt Faͤlle von Perſonen, welche Dadurch ſich tödteren, daß
fie 17 bis 18 Pfeifen hintereinander ohne Unterbrechung rauchten. und
MWanche Gonftitutionen lernen das Rauchen nie wohl vertragen; doch Dr.
Pereira jowohl als Dr. Chriſtiſon in feiner Abhandlung über Gifte find darin
einverftanden, daß biöher „keine üblen Folgen mit Sicherheit, als aus dem täge
a ge nachgewiejen zu werden vermochten.“
- Dr Bront, ein audgezeichneter Chemiker und ein Arzt vom ausgedehnter
Erfahrung, den feine wiſſentſchaftlichen Zeitgenoffen ſämmtlich in Hoher Achtung
hielten, war verfchiedener Anficht. Doch aud) er drückt ſich darüber nur unbes
er he — a
— Ne mr
kr
Pe ARE TE DET
| et — ————— en Be
men * ondere X mir es ſcheint,
aſſimilation — des Zuderfloffes. Irgend eine giftige Fehde
maßlich von ber Natur einer Säure, wird in manden Individuen durch den 7
mäßigen Gebrauch des Tabafs erzeugt, und durch kränkliches Ausſehen, ſowie durch
die dumfele amd häufig gelbgrüne Färbung bes Speichels verrathen. Die heftigen
und eigentbümlihen Symptome geſchwaͤchter Verdauung, welche durch anhaltendes
ſtarkes Schnupfen hervorgebracht werden, find wohl befannt und mehr als einmal
babe —⏑ ——
endigend geſehen. Starfe Raucher und beſonders diejenigen, welche ſich kurzer Pfeis
fen ——— — — — — ſollen zuweilen frebsartigen Afftetionen der Lippen aus:
gelegt fein. Dod geht es mit dem Tabak wie mit den fchäplihen Nahrungsmitteln ;
auß.iheen-cigenen' Erfahrung verfichern, daß Der Tabak jene Wirfungen erzeuge.
Sin Gifuß fein alrtinge abe Bedeuend Durch Die Gonfttuien un a6
men, de Bande de abet Eger
er #8 A rung a Abe ang un wie
_— — ——
die Starken ——— —* ee we
dien und zur Krankheit Dieponirten als Opfer ihrer giftigen Wirkung unterliegen,
Wenn man den Geboten der Vernunft Herrichaft gönnte, fo müßte eim der Gefund-
heit jo ſchaͤdlicher und in aflen Arten des Te — —
‚erleiden, 4
"Die Bernunft aber iR micht’io flher-auf-Dr. Bronts Seite, kode 3 B.fagt:
„Brod oder Tabak möchte vernachläſſigt fein, fo bee
Gebrauch, und Gewohnheit macht ihn angenehm.‘
leichten Mafe erheiternd und gleichzeitig beruhigend, ſowie frei von. ben durch
den Wein erzeugten nachtheiligen Wirkungen , bildet der Tabak einen zureichen⸗
den Tururiöfen Genuß für Viele, die ohne denfelben, und fei es auch Lediglich
zum Beitvertreib, zu beraufchenden Getränken ihre Zuflucht nehmen würden.“
Mr. Layard, ‚ deifen Verkehr mit den orientalifchen Volksſtaͤmmen ein ſehr aus—
gebreiteter war, bekennt ſich zu derſelben Anſicht; während Mr. Grawford, wels
cher gleichfalls viel vom ten Sehen gefehen Hat, 8 faft für ungweifelhaft ers
achtet, daß der Tabaf im einem gewilfen Grade zu der Nüchternheit ber aftatifchen
und europäifchen Volksſtaͤmme beigetragen habe***). Dieſe entgegengejegten
Facta gewähren wiederum ein — xbonelogiſchet Studium. ***
N sur ee LUFT “7 Yen ru)
VI InRußfand) verabfeiruen: die en eine ſehr tugendhafte
— Difeniens aue der griechifchen Kirche, den Gebrauch des Tabals (De Lagııy).
“+, Biel — in ber Iriſchen Form zweideutiger Zuſtimmung zu einer
zweifelha uptung enthalten; „Wahr für bich'‘, d. en —
öde ————— — u. hal nhlibbme np a ne.
"*, Journal der ftatiftiihen Geſellſchaft (Engl). März 1959, p. 527 u 0
Der Tabea, fein Verbrauch und Anban. 237
Amerika erzeugt das Tabaksrauchen einen übermäßigen Genuß alkoholhaltiger
Subflangen ; in. Aflen verminder 6 den Verbrauch beraufchenbet Getraͤnke ins
dem es deren Stelle yertritt. : Wie verwickelt find die Urſachen, aus: desien’biufd
verſchiedenen Wirkungen entfpringen! Kllına, Temperament, Körpertonſtitu⸗
Lebenöweile, Sitte und StantBelnrichtimigen bedingen und reagiten auf
“einander, und je nach dem befonderen Zufammenwirfen aller diefer Vorand⸗
fegungen in dem einen ober anderen Lande übt dieſelbe narkotiſche Subſtanz auf
die. Maſſe der Desditrung e Amen. wohlthatigen, unſchadlichen oder verderblichen
Einflup! u u.a
Im Allgemeinen. kann von dem vbrſiologiſchen Wirtaugen des Tabaks auf
bie große Maſſe des Menfchengefchlechts, und abgefehen von dem moraliſchen
Einfluß, als charakteriftifche Unterſcheidungezeichen von anderen narkotiſchen Ri
teln betrachtet werben :-
1. daß .fein nächfter und bedentenderer Erſolg darin beftcht, den Ave
organismud zu befänftigen, lindernd und beruhigend einzuwirken;
. 2: daß fein weniger ‚berbortretender Rebenerfolg darin beftcht, zu erregen:
und zu fräftigen und zugleich Dauer und Sntenfoität der geiftigen Thaͤtigkeit Bw
verleihen. '
Welcher befonderen Thätigkeit feiner chemiſchen Beſtandtheile auf Gehirn
und Nerven die beruhigende Wirkung und die allgemein anerkannte wohlge⸗
. fällige Traͤumerei zugeſchrieben werden muß, können wir nur errathen. Rach
Dr. Madden beſteht das Vergnügen des durch den Genuß der Pfeife bedingten
Träumens in einer periodifchen Vernichtung der Verflandesthätigkeit. - In der
hat hören manche Leute zu denken auf, fobald ſie lange Zeit hindurch geraucht
baben. Oefters frug ich Türken, was fle während ihres langen träumerifchen
Rauchens gedacht haben, und ihre Antwort war: „Nichts“.
Richt einen einzigen Gedanken konnten jene zurüdführen, der inzwifchen
ihren Geiſt befchäftigt hatte. Im der Beobachtung des türkifchen Charakters
giebt ed feinen interefjanteren Umftand im Bufammenhalt mit ihrer moraliſchen
Berfaflung. *) \
Bildet ed wirklich eine Tigenthlimlichteit des tuͤrkiſchen oder mufelmännte
[hen Temperamented, daß Tabak den Geiſt in Schlaf Iullt, während der Kör-
per wach und lebendig fich erhält? Daß dies nicht des Tabaks allgemeine Wir⸗
fung in Europa ift, bezeugt bie Stubierftube faft jedes deutſchen Schriftſtellers.
Mit der Pfeife, die unabläffig ihr geliebte Aroma um ihn verbreitet, arbeitet:
der deutſche Philoſoph die umfaſſendſten Refultate feines tiefften Rachdenfens
aus, Abwechſelnd denkt und träumt er; doch während jein Leib beruhigt und,
unthätig ift, bleibt fein Geift beſtaͤndig erweckt. Rach den Reden folder Maͤn⸗
ner fönnte man faft glauben, fie hätten in ihrer Erfahrung ein Mittel entdeckt,
um den Geiſt von den Feſſeln des Körpers zu befreien und ben Gedanken einen
mächtigeren Klug und ungeftörtere Freiheit der Bewegung zu verleihen. Ich
bedauere, daß ich folche Wirkung niemald an mir felbft erfahren konnte.
*) Reifen in der. Türfel. Bol. Ip. 16... en
IV. 2⁊2
—
zien beruhen die te — — und wichtigen Cigenejaften manher
unferer Fräftigften Seilmittel. n en mE ar are
bs Das flühtige Alkali. Wenn Tabaksblätter mit leicht ſchwefel-
ſauerem Waſſer getränkt werden, und dieſer Aufguß nachgehends mit gebrann-
tem Kalk deftillist wird, jo entwidelt fich, mit dem Waffer vermiſcht, eine Fleine
Duantität einer fluͤchtigen, öligen, farblojen alkalihaltigen Flüffigfeit , welche
ſchwerer iſt ald das Waſſer und mit dem Namen „NRikotin'“ bezeichnet wird, Sie
hat den Geruch Des Tabaks, einen ſcharfen, brennenden, lang nachhaltigen Ta-
baksgeſchmack und beſitzt narkotiſche, ſowie in hohem Grade giftige@igenichaften-
In lehterer Bezichung ſteht das Nikotin kaum der Blauſäure nach, Dasein einzi⸗
ger Tropfen hinreichend iſt, um einen Hund zu tödten. Sein Dunſt iſt ſo ge⸗
waltig angreifend, daß das Athmen in einem Jimmer ſchwer wird, in welchem
ein einziger Tropfen deſſelben ſich verflüchtigt bat. Das Verhältnifi dieſer Sub⸗
Rang in dem trodenen Tabaksblatte ſchwankt zwijchen 2 bis 8a.)
+ Soweit Beobachtungen hierüber angeftellt worden find, enthält der Tabak
von Havanna und Maryland 2P/o, der von Kentucky 6, der von Birginien faft7-
und. der franzöfliche zwiſchen 6 und 8/0. Selten‘ jedoch geben 100 Pfund‘
trodener Blätter mehr als 7. Pfund Nikotin. Daher tönnen beim Rauchen
von 100. ®ran (einer viertel Unze) Tabak 2 Gran und darüber von einem der
feinften unter allen bekannten Giften zu dem Munde des Maucherd geführt wer«
dem ' Denn da es beir492° Fhr. ſiedet und bei einem Wärmegrad verdunſtet,
welcher bedeutend hinter dem des brennenden Tabaks zurüdbleibt, fo ift diefe
oiftige Eiubtang in chen wur ‚argemärtig- a
*) Der Beier wird ad —6 ARE LEARN 1851
durch den Prozeß ded Grafen Borarıme zu Mong und feine darauf folgende Hinriche
fung wegen Bergiftung feines Schwagers mitielft Nicotins entflanden warı
Der Tabak, fein. Berbrauch und Anban. 239
langſam brennenden Birginiatabats hat Melfen nicht weniger als Ya Gran’ Ri-
kotin audgesogen; und das Verhaͤltniß verändert ſich je nach Verſchiedenheit des
Tabaks, Mafchheit des Verbrennungsprozeſſes, Geftalt und Länge der Pfeife,
des Stoffes, aus dem fle gefertigt ift, jowie nach manchen anderen Umfländen.
e. Das brenzliche Del. Außer vorermähnten beiden flüchtigen Sub⸗
Ranzen, weiche fi in dem Tabaföblatt fertig vorfinden, wird noch ein anderer
Stoff öliger Ratur durch das Deftilliren des Tabaks in einer Retorte oder durch
defien Berbrennen in einer Pfeife erzeugt. Dies Del gleicht dem auf ähnliche
Weiſe aus den Blatte des giftigen Fingerhutes (Digitalis purpurea) gewonnes
nen. Es iſt ſcharf und von unangenehmen Geſchmack, narkotiich und giftig.
Ein einziger, auf die Zunge einer Kae gebrachte Tropfen veranlaßte: Krampf
zudungen und bewirkte in 2 Minuten ten Tod. Die Hottentotten follen Schlan⸗
gen toͤdten, intem fle denfelben einer Tropfen: ſolchen Oeles auf die Zungen ſpritzen.
Hieran ſterben genannte Thiere fo raſch, als wären ſie von einem electriſchen
Schlag gettoffen. Es ſcheint ziemlich gleichartig mit Blaufäure zu wirken.
Dieſes Del beſteht aus mindeſtens zwei Subſtanzen. Wenn es nit Eſſig⸗
fäure getraͤnkt wird, verliert es feine giftige Eigenſchaft. Es enthält demnach
ein unfchäpliches Del und einen giftigen, altaltfchen Stoff, welchen Effigfänre
zu neutralifiren vermag. Die Natur und chemifchen Eigenſchaften dieſes alkali⸗
ſchen Giftes find Biäher noch nicht entdeckt. Daſſelbe Del ift muthmaßlich des
„serwünfchten Bilſenkrautes Saft’, welchen Shakſpeare als «in pharmaceuti⸗
ſches Decoet bezeichnet *).
So vereinigen drei thätige chemifche Eubſtanzen ihre Wirkſamkeit, um die
merkbaren Folgen hervorzubringen, welche mann während des Tabaksrauchens em»
pfindet. Alle drei naͤmlich ſind in verſchiedenem Verhaͤltniß in dem Rauche der
brennenden Pfeife enthalten. Geſtalt und Conſtruction bedingen, wie ſchon ge⸗
ſagt, neben anderen Umftänden dad Verhaͤltniß, in welchem der Rauch dieſe In⸗
gredienzien enthält. Die türkiſchen und indiſchen Pfeifen z. B., in welchen das
*) Die wirklichen oder eingebildeten Folgen dieſes Saftes werten ſolzendergehalt
beſchrieben:
Als ich ſchlief im Garten.
Wie ich gewohnt war nach dem Mahl zu thun,
Beſchlich dein Oheim meine ſichre Skuͤnde,
Den Saft verwünſchten Bilſenkrauté im Fiafchchen,
Und goß mir in des Ohres Oeffnung dies
Auseſchwaͤrende Gebraͤude, deſſen Wirkung
Eo mit des Menſchen Blut verfeindet iſt,
Daß wie Queckfilber hurtig es durch alle
Kanaͤl und Gaſſen unfres Körpers laͤuft,
Und, ſauern Tropfen in ter Mitch vergleichbar,
Mit plöglicher Gewalt gerinnen macht
Das Tünne, frifhe Blut. So ging e8 meinem;
Und Ausſatz überzog mir augenblicklich,
Wie einem Lazarus, mit ſchnöder, eller Krufle
Den glatten Leib.
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Adenpfeifen 6
** min Bun cn üben in Ki m, nt
"
— nd Ep im Dane gran wi, un
tas Rervenfolem ‚bed re ſtattfinden. —— es nicht verwundern,
daß diejenigen, welche an das Cigarrenrauchen und zwar beſonders von ſtarkem
Tabak gewöhnt find, jede andere Pfeife als die neuerdings unter paſſionirten
Rauchern wieder in Aufnahme gekommene, kurze, ſchwarze Cutty“ zu weichlich
und gleichgültig ſchmeckend finden. Solche Leute leben faſt fortwährend in
einem Zuftand narkotiſcher Betäubung, welcher — —
ſundheit nothwendig angreifen muß. ‚2 mer D
wi Der Tabakskauer fann, wie aus: obiger Befcherißung verftänblich, die Wirs
fungen des beim Verbrennen bes Blatted erzeugten giftigen Oeles nicht erleiden.
Das natürliche flüchtige Del und das Nifotin find die auf ihn wirkenden Sub-
ſtanzen. Durch die Menge, welche er von denjelben umwillkürlich verfchludt
und abforbirt, jchwächt er feinen Appetit und benachtheiligt nach und nad) feine
REGINE
Dieſelben Bemerkungen find auf den Schnupfer anwendbar, wiewohl wer
* ber gemilderten Eigenſchaften des von ihm verwendeten Produktes in noch
vermindertem Grade als bei dem Hauer, Während ber erſten Gaͤhrung, welcher
dad Blatt, um für die Fertigung des Schnupftabafs vorbereitet zu werden un=
terliegt, und ebenſo während der zweiten Gährung nach feiner Zerreibung ent»
weicht ein bedeutender Theil von Nikotin oder wird zerjeßt. Das während ſol⸗
cher Gährungen erzeugte Ammoniak iſt zum Theil das Mefultat dieſer Zer—
jegung. *) Werner wird ein Theil des natürlichen flüchtigen Oeles ſowohl, als
auch eine weitere Portion des natürlichen flüchtigen Alkali oder Nikotin Durch
das — Trocknen oder Röſten der Men, bei — der trockenen
*) Nicotin iſt einer derjenigen ‚fräftigen vegetabilifchen Stoffe, Belle gleich dem
Therin bes Thees und Kaffees reich an Stickſtoff Gehalt find. Bon dieſem Blement
enthält jenes 17 Brocent. Bon dieſem Stiditoff entwickelt ſich das Ammoniak wähs
rend der oben, beichriebenen Zerſetzung.
——
wirtſamen Ingredlenzlen, al re er
ten, obfon gewößnic vn de ren sie un —
gefertigt, als fertiger Schnupftabak nur 2 %/0 von br Sa
N ver m ni * * Tan rin Bine
ei, Mich, Br «m ln De Oee ee
2 n, oben bezeichneten wirkfamen Ingredienzien; und
—** er ee wie unter deß Gpeniters Händen die Wiffenfepaf
ausreichende Gründe für die Fängftbeftehenden Entfcheidungen des Geſchmackes
beſchafft. So Hat er nachgewieſen, daß Das natürliche flüchtige Del in dem
friſchen Blatt nicht eriftirt, fondern erft während des Trocknens ſich erzeugt; dies
der Grund, weshalb die Art des Trocknens und Einlegens auf die Stärke und
Qualitär des dürren Blattes Einfluß übt. Er Hat ferner gezeigt, daß das Ver⸗
häftniß giftigen Nifotind in dem beften Havannablatt am Kleinſten ‚ am
Srößten hingegen in den virginiſchen und frangöfifchen Tabatem
"Dies der natürliche und vernünftige Grund für den Vorzug, ——
von den Cigarrenrauchern gegeben wird, da Lehztere, wie wir wiſſen, fänuntliche
aus dem brennenden Blatte entweichenden, die Subftanzen unmittelbar in den
Mund erhalten. Schließlich haben durch den Nachweis, daß beide giftige In—
grebienzien bes Tabafs flüchtiger Natur find, daher darnach ftreben, langſam
in die Luft zu entweichen, die Chemiker erläutert, weshalb das zubereitete Blatt
und die fertige Gigarre durch Aufbewahrung an Werth gewinnen und daher
gleich gutem Weine im Verhäftnig ihres Alters im Preife fteigen. Was bie
kleineren Unterſchiede des Geſchmacks anbetriffi, wodurch gewiſſe Tabaksſorten
eine Auszeichnung erhalten, ſo hängen dieſe muthmaßlich son der Gegenwart
anderer duftgebender Ingredienzien ab, welche ihrer Natur nach micht gleich wirf»
fam und dem Blatte nicht fo wejentlich eigen, wie die vorerwaͤhnten find, Hin⸗
ſichtlich ihres Geruches werden die Blätter der Pflanze: leicht von mannigfachen
Umftänden influirt, inöbefondere aber durch die Gattung des Bodens, auf wel _
chem fie wählt und durch die in Anwendumg gebrachte Düngungsart. Selbſt
den gröberen Sinnen und der weniger feinen Beobachtung der Europäer iſt es
3: B. bemerkbar, daß Schweinemift als Düngungsmittel feinem Geruch dem mit
folder Düngung gewonnenen Tabak mittheilt. Die feineren Organe und bie
ausgebifdetere Unterſcheidungsgabe der Drufen und Maroniten am Libanon ers
kennen fofort aus dem Geruch des Tabaks die verfchiedenen, für feinen Anbau
benugten Dungungsmittel. Darum werden auf den ſyriſchen Gebirgen sjowie
in anderen Gegenden ded Orients diejenigen Tabaksſorten am höchſten gefchäßt,
deren Wachsthum durch Düngung mit Ziegenkoth gefördert worben ift.
In ſolchen Gegenden aber,) wo hohe Zölle eine Beriuguang an irren Im-
342 or er Agrienktnechemie, 757 7
han er en
vermag? TEE ee EN
Fälfchungsmittel, denen bie zum
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Sn Ya ——— — grüße u a
Inn MAT mM te NE Te
a eo werden Hi Sifkim (Hindoftan) die Blätter einer Tupistra,
„‚Purphiok* genannt, welche einen füßen Saft geben, gefammelt, zerſchnitten
und unter den Tabak gemifcht (Hoofer). Andere Surrogate für echten Tabaf
werben im anderen Gegenden , theils aus Mangel der echten Pflanze, theils aus
Licbhaberei verwendet. Anſtatt des Schnupftabafs z. B. werden in Indien bie
pulverifirten dürr gewordenen Blätter des Rhododendron campanvlatum, in den
vereinigten Staaten von Nord- Amerika der blaue Staub verwendet, welcher an
die Blattſtiele der Kalmie und des Rhododendron ſich anfegt. Alle dieſe ala
Surrogate benügten Pflanzen beſitzen narkotiſche @igenfchaften. Die Otomafs,
einer der robejten Stämme in Süd-Amerifa, bereiten ‚gleichfalls eine Art
Schnupftabak aus ten zerftoßenen Hülſen ber Acacia niopo. Dieſer Schnupf⸗
tabaf verjegt biefelben im einen mehrere Tage dauernden, an Tollheit grenzenden
Buftand der Berauſchung. So lange fie umter jeinem Einfluß fich befinden,
werden Sorgen —— ch —— inet und ia ſelten ſurch.
bare Verbrechen verübt. Di u
Noch ein, wenn auch von ——— Binuf auf das menſchlich⸗
Koͤrperſyſtem unabhängiger Punkt der chemiſchen Geſchichte des Tabaks duͤrfte
Erwähnung verdienen, An anderem Orte habe ich erörtert, daß, wenn begetar
biliſche Stoffe in der freien Luft verbrannt werden, ſie einen Theil won Minerals
ftoff oder Aſche zuruͤcklaſſen. Die Blätter der Pflanze find insbeſondere reich
an biefer unverbrennbaren Afche, und unter allen gebauten Kräutern erweiſt ſich
Tabak in diefer Beziehung am reichften. Das getrodnete Tabaföblatt giebt bei
gr vr ers Aigen * im win nn geben: jede
I my 1.)
* — WERFEN 3. Aug 6 1427,
Der Tabak, fein Berbraud und Andan. 343
4 Pfr. vollkommen trockenen Tabaks 1 Pfd. unverbrennbaren oder Mineral«
ſtoffes. Diefer bilder die Afche unferer Tabaköpfeifen und Eigarren.
Nutzlos würde es jein, bier die Zufammenjegung diefer Afche befonders zu
beichreiben; doch erinnern darf ich den Leſer daran, daß alle darin enthaltenen
Subftanzen von dem Boden gewonnen wurden, auf welchem bie Tabaföpflanze
gedieh, und daß diejelben zu derjenigen Klaffe von Körpern gehören, welche zu⸗
gleich für Die vegetabilifche Entfaltung aͤußerſt nothwendig, und felbft in fruchte
barem Boden ziemlich wenig zahlreich vorhanden find. Im DVerhältnig zu dem
Gewicht der gefanmnelten Blätter. muß danaadı bag Bohnten Viefer den Boden
entzogenen Subftanzen geftanden haben. Lind da jede Tonne vollftändig trodes
ner Blätter 4 bis 5 Centner dieſes Mineralftoffes dem Boden entzieht, — d. 1.
gleich der in 14 Tonnen Weizen enthaltenen Ouantiät — fo ift es felbft für die
welche wenig mit landwirthſchaftlichen Einrichtungen vertraut find, genugfam
einleuchtend, dag der Tabakbau eine ſehr bodenerſchoͤpfende Kulturari bil⸗
den muß.
Wir werden hierin einen n Hauptgrund erkennen, weßhalb Zabekpflanzun⸗
gen in vergangenen Zeiten nad) und nach ſo erſchoͤpft wurden, daß ſte in vielen
Faͤllen nicht laͤnger mit Rugen bebaut werden konnten, weßhalb vormals frucht⸗
bare Landſtriche jetzt wuͤſt und verlaſſen ſind, und weßhalb das Vermögen des
Tabakspflanzers, ſelbſt in den von Natur begünſtigten Gegenden, allmälig mit
der abnehmenden Fruchtbarkeit ſeiner ausgeſogenen Pflanzungen geſchwunden iſt.
An den Geſtaden des atlantiſchen Oceans in den vereinigten Staaten
Rordamerifa’3 werden die bekannteſten Beweiſe von. den Folgen dieſer zehrenden
Tabakscultur gefunden. Es bildet einen Theil des Ruhmes für die Chemie des
gegenwärtigen Jahrhunderts, daß ſie feſtgeſtellt hat, wie viel das Land bei ſol⸗
cher unvorſichtigen Behandlungsweiſe verliert, welcherlei Erndten auch gewon⸗
nen werden, welches demnach die Urſache der daſſelbe heimſuchender Unfrucht⸗
barkeit, Durch welches Verfahren die frühere Fruchtbarkeit wieder hergeſtellt wer⸗
den kann, und wie demzufolge von NReuem bedeutende ‚Vermögen ı aus denſelben
alten Boden gewonnen werben mögen.: :
Die Pocken und die Impfung.
Dr. AR. An |
Einleitung. Die Poden im Allgemeinen. Die Menfchenpoden; Ge⸗
ſchichte derſelben; Krankheitsſtizze; Ausgänge; Nachkrankheiten. Das
Pockencontagium und feine Eigenthümlichkeiten. Pockenepidemien.
Dte Pocken ber Thiere. Impfen und Impfverſuche im Allgemeinen.
Bariolimpfung. Gedichte der Rubpodenimpfung; Ienner. Vortheile
. der Impfung. Maflenimpfung. Die Gegner ber Impfung; Bekaͤm⸗
pfung derfelben. NRevaccination. Die Impfoperation; Regeln, die
dabei zu befolgen. Allgemeine Zwangsimpfung. Die Spitzpocken.
Männer, denen es gelingt, Mängel aus ter
Shöyfung Lügen aus unferem Gedäctuifle und
Entbehrungen au unferer Ratur gu vertreiben,
Zu i find im Reiche ver Wahrheit das, was die Heroen
se Ver Babel für die erſte Weit waren ; fie vermindern
" . Me Ungeheuer anf Erden.
Herder.
Maßßenhaftes gleichzeitige Auftreten einer und derſelben Krankheit in einer
Gegend oder über größere Ländercomplexe verbreitet, bat von frühefter Zeit an
die Aufmerkfamfeit der Aerzte erregt und bie Menfchen in Scyreden veriegt.
Seuchen nannte man und nennt man noch heute die in diefer Weife auftreten«
den Krankheiten; Epidemie nennt man eine Seuche, wenn fie auf eine Stadt
oder Gegend befchränkt bleibt, Bandemie, wenn fle ſich über große Laͤnder⸗
ſtrecken ausbreitet. Die meiften und gefürchtetften epidemifch herrſchenden
Krankheiten find die, welche ſich durch Anftedung, durch ein Contagium
verbreiten, welches fich von dem erkrankten Individuum audfcheidet und andere
Individuen, Die mit jenem in Berührung fommen, ergreift und fle in gleicher
Weiſe erkranken laͤßt. Mit Necht zählt man die Seuchen zu den ſchrecklichſten
Geißeln des Menſchengeſchlechtes, da fie Die Menfchen meift in graufamer Weiſe
verheert haben; um fo ſchrecklicher find fle, als die Urfache ihres Auftretens faft
ſtets unbefannt ift und wir ihnen mehr oder weniger ſchutzlos anheim fallen.
Es war, es ift heute mehr denn je, eine der wichtigften Aufgaben der Heil⸗
Funde, jenen Seuchen mit allen Mitteln der Wiffenfchaft entgegenzuarbeiten, ihre
Ausbreitung nach Kräften zu verhindern, ihren gefährlichen Charakter foviel
die unter den Namen der Boden oder Blattern allgemein befannte
Krankheit. le ala un nee nn ern m
Fo te Menfafenhode, Vario
Variolois, die von den Kühben auf VeniWenfgenukbertiägene
Bode, Vaccina, und die Spitz oder Wall erpocke, Varieella. ea
| find
Poden ober Bariolen bezeichnen werben. wir. seen Ivan? ——
Wann und wo die Poden — TR: jetzt noch micht
mit Sichereit ermittelt. Während einige Borfcher behaupten, ana
pocken feien ſchon im jüdijchen und und lange
vor der chriftlichen Beitrehmung im Indien, China und Japan einheimiſch gewwe-
fen, verlegen andere das Auftreten ber Blattern im bie nachchriſtliche Zeit: Am
wahrfcheinlichften, weil am begrünbdetten, ift dieAnnahme, daß die Pocken zuerft
im Jahre 572 n. Chr. ©. in Afrika , und namentlich in Aethiopien aufgetreten
nicht unmittelbar, fontem “ gebt — eine wiederum einige Tage anhal-
——
ide — — * rd
‚Tages ber VBorboten beginnt der Ausichlag in Form einer kleinfleckigen Röthe,
die zuerft im Geſicht zu bemerken iſt und ſich von da aus ſchrittweife über-die
anderen Theile des Körpers in der Richtung von Oben nach Unten auöbreitet.
Auf den reiben, liniengroßen Flecken erheben ſich alabald kleine Knötchen, ‚Die
an Umfang zunehmend, ſich zu einem Bläschen umgeſtalten, Das einem anfangs
hellen, fpäter trüben Inhalt und in feiner Mitte eine Einziehung, Delbe oder
Nabel genannt, erfennen läßt und nunmehr das Darftellt, was man als eigent-
liche Pockenpuſtel bezeichnet; eine ſolche Puftel erreicht iſolirt die Größe einer
halben Erbſe. Mit dem Auftreten des Ausſchlages mindert ſich in vielen Faͤl-
len das Fieber, wie bie übrigen Symptome. Am 3. bis 4. Tage iſt im Ge—
ſichte die Buftelbildung Schon vollendet und am 8. Tage der Ausfchlag auf ſei⸗
nem Höhepunkt angelangt. Gegen den. 6. Tag röthet fid) die Haut in der Um
‚gebung der Pocke von Neuem, fie f an, zugleid) vergrößert fich die Pocke
und wird, indem die Delle erfchwindet;; balbfuglich,, der Inhalt der Pufteln
nuͤbt ſich mehr und mehr und gejtaltet fich zu Eiter um, ein Vorgang, der wie
derum vom einem mit ermeneter Heftigkeit tobenden Kieber, dem ſogenannten
Girterumgsfieber, eingeleiter und begleitet wird. Meift ſtehen die Pocken
am einzelnen oder mehreren Stellen, gang gewöhnlich im Geſicht Dichtgedrängt und
flieñen zufammen, Gin Läftiger Speichelfluß tritt auf der Höhe der Krankheit ein,
Es erfolgt nun, in der Regel um den neunten ober. zehnten Tag, dad Eintrock⸗
nen der Puſteln in der Weife und Reihenfolge, wie diefelben entftanden find,
und dauert fünf bis fieben Tage. Allmälig, meift fpät erft nach zwei bis brei
Wochen erfolgt dad Abfallen der ſchwarzen Kruften, an deren Stelle
noch längere Zeit fhmugigebräunliche Flecken und eine Fleicnartige Abſchuppung
der Oberhaut zurüdbleiben, die nah und mad) mehr oder weniger entftellende
Darben, allgemein ald Blastergruben befannt, hinterlaſſen.
. Die Pocken und bie Impfung. 847
Bon diefem in-feinen Hauptzugen dargeſtellten Verlaufe der Boden finden
ich zahllreiche Abweichungen. Diefelben hängen bald von dem ſharakter der
einzelnen Epidemie in der Weiſe ab, daß das eine Mal alle oder doch die mei⸗
ften Fälle auffallend mild. umd gut verlaufen, das andere Mal eine beſondere
BöBartigkeit der einzelnen Erkrankungen underfennbar iſt. Am ſicherſten wirt
der Verlauf des Borken durch Die Impfung verändert in ber Weile, daß man
früher tie nach ‚erfolgter Impfung auftretenden Blattern als eine eigene. Art
anzufehen geneigt: war; wir fommen im Zolgenden ausführlicher auf letztere
- Zorm der Blattern zuräd, — Der Tod tritt bei den Mentchenpoden nur felten
während der Vorboten,, beögleichen felten währent bed Ausbruches, häufiger
fhon während der Eiterungsperiode in Yolge des heftigen Ficbers ein, ‚oft find
den Verlauf complieirende Erkrankungen innerer Organe oder fidh nach dem Ab-
Heilen auſchließende Rachkrankheiten die Todesurſache. Bleibt der ven den
Boden befallene Menſch am Leben, fo behält er in der Regel mehr oder weniger,
oft in der ſchrecklichſten Weiſe entftellende Narben, oft aber if der Verluſt der
Augen oder Des Gehoͤres zu beflagen; oder es bleiben Steifigkeit oder Laͤhmun⸗
gen einzelner Glieder, Berfrüppelung, befonder& der Arme u. f. w. zurüd, Da
ber der Ausſpruch von La Gondamine, daß die Borken früher ein Zehntel der
Menſchen tödteten, ein andered Zehntel verfilümmelten, feine volfommene Bes
rechtigung bat. Wer Blindenanftalten zu bejuchen Gelegenheit gehabt hat,
kann fich leicht die Gewißheit verfchaffen, daß die Hälfte Ter dort untergebrach⸗
ten Blinden durch Die Blattern das Licht Der Augen verloren bat. — Die unter
den Ramen der [hwarzen Pocken im Volke bekannte und mit Recht fehr
gefürchtete Form iſt von beionderer Bösartigkeit; die Puſteln zeigen bier
früh ſchon einen dunkelrothen Inhalt, der Durch ausgetretenes Blut entſtanden
ift; meift finden fich auch noch Blutungen aus anderen Organen, and den Lun⸗
gen, Magen, Darm u. f. w., ein und faft ſtets beſchließt der Tod frühzeitig das
Leben der in diefer Weiſe befallenen Kranken.
Selbſt bei milden, günftig endendem Verlauf bilden die Boden eine höchſt
läftige, die mannichfachiten Beſchwerden barbietende Krankheit. Reiſt liegen
die Kranken mit dick gefchwollenen, verfchloffenen Augenlidern da; Schlingen und
Sprechen ift, da fih auch im Munde und der Naſe Puſteln bilden, erichwert,
ein beträchtlicher Speichelftuß beläftigt Den Kranken; anfangs iſt ed Die Span«
nung, fpäter ein unerträglicheö Juden der Haut, welches den Kranken martert,
dem er aber, wenn er nicht mit tief entftellenden Rarben, langwierigen @efcdywit-
ren und Brand einzelner Theile es büpen will, Teine Folge geben darf. Ueber⸗
dem drohen Gefahren von allen Seiten und zahlreiche Nachkrankheiten find Die
gewöhnliche Helge. |
Die Boden entfliehen in allen Fällen nur durch ein eigenthümliches fpeci»
fiſches Contagium, das Bodencontagium, das von einem Individuum auf
das andere übertragen wird; ein felbfiftändiges Entitehen der Blattern ohne
Wirkung und Hülfe eines Gontagiums iſt gegenwärtig wenigſtens im höchſten
Grade unwahrfcheinlid. Bon weicher Natur das Pockencontagium ift, iſt zur
Zeit noch gänzlich unbefaunt, da man es bis fcht weder witrontanisn, vnia,
348 De ı,7) 7777 ‘
durchfeuchtes Individuum ganz ficher Boden hervorrufen
gift iſt aber auch Aälftigee Rat und feheint in den Arrsdünftungen des Krate
fen enthalten zu fein, da man zahlreiche Fälle der in diefer Weife erfolgten Ans
ſteckung beobachtet, Bis zu welcher Entfernung hin durch Die Ausdünftung
Anſteckung erfolgen könne, iſt nicht mit Sicherheit ermittelt, doch ſcheint die
Wirkung auf einen ziemlich engen Raum befchränft. In anderen Theilen und
Ausſcheidungen des Kranken wie im Speichel, im Harn und Kothe, ebenfo im
Blute ſcheint das Pockengift nicht enthalten zu fein, da Die Verfuche durch Ucher-
tragung dieſer Theile, Pocken bersorzurufen, bis jet fehl gefehlagen find. — Es
iſt ferner befannt, daß das Gontagium fidy ſehr Tange erhält und eine große Wi-
derftandafähigkeit beſitzt. Wenn man es vor ftörenden Einflüffen ſchützt, Tann
man es obne große Schwierigkeit ſelbſt durch Jahre aufbewahren; natürlich hat
man diefe Verſuche nur mit dem an den Pockeninhalt gebundenen, firen Conta-
gium gemacht, Durch Eintrocknen erleidet es keine Veränderung, doch zerſeht
es ſich, wenn ſchon langſam, an der atmosphärffchen Luft; am ſchnellſten wird
es durch hohe Wärme zerftört. — Aus unbefannten Gründen ift die Wirkung
des Porengiftes im den einzelnen Fällen eine verſchieden mächtige, bald fehr
ftarf, bald ſehr mild; von einigem Ginfluß fcheint hierbei Die Menge der Poden-
puſteln zu fein, ſo daß ſich mit der Zahl der Puſteln auch bie Stärke ber Wir
fung fleigert. Obſchon ficher bei jedem Pockenfalle das Gift ſich entwickelt, ſo
ift ed doch, namentlich in ben vereinzelt vorfommenden Fällen in feiner Wirk⸗
famfeit fo ſchwach, daß andere Individuen davon gar nicht oder nur, wenn fie
befonders disponirt find, davon befallen werden. Intereffant ift, daß das Eon
tagium ber Puſteln wicht zu jeder Zeit und unter jedem Verhältniſſe gleiche
Wirkjamfeit änfert; durch zahlreiche Verfuche ift fo feftgeftellt, daß namentlich
ber Grad der Emtwicelung der Bodenpuftel einflußreich und beftimmend für die
Kraft des Giftes ift; die ftärffte Wirkſamkeit befigt daſſelbe, wenn es von ten
— ste
REN:
wiffen Zeitraums. wieder und dauern dann eim bi ein und ein halbes Iahr-an;
ſe treten B. in Berlin, * en an ee
fallend mild. und Todeafälle find felten, —* en tar —
tödtlicher Ausgang wird auffallend haͤufig beobachtet; auch hiervon kennt man
zur Zeit ben Grund nicht im Entfernteften. Am beſten beurtheilt man die
Bösartigfeit nach den Todesfällen, hier zeigen ſich auffallende Verſchiedenheiten.
Während 3. B. in Schweden in den Jahren 1821 bis 1823 je ll —* und
37. Todesfalle vorfanten, ſtarben 1824 560 am den Blattern.
Kein Alter, kein Stand, Feine Menjchenrace giebt es, — —
geſchuͤtzt wäre, die Dispoſition an den Boden zu erkranken, ſcheint eine ganz
allgemeine. Man hat unzweifelhaft Fälle beobachtet, wo das Kind im Mutter-⸗
leibe von den Borken der Mutter angeftet wurde und mit: ee
pufteln zur Welt kam. Im dem früheften Alter bis zum zweiten Jahre find die
Inte Dee Faire küufagn; erden |
pe fonber ter ef auf ie wien unfeer Gandiioe eis
wirft und hier ef Die, abgeſehen von den Mo-
ten, in allen Sauptpunfen ben Pocken der Mens
bie jept’einein Boctenausfchlag nicht beobachtet. ° Dagegen follen fidh Poctenibei
unferem Federvich, Gänfen, Enten, Tauben, Truthühnern finden; dody ſind die—
jelben noch nicht genauer bekannt. — Am verbreiterften und Häufigften finden
wichtigften die Boden der Kühe, JEPE TE 07 IE AETI ZN”
Die Schaafpoden gleichen ah een
poden ſehr. Sie find ſeit Ende des ſechszehnten Jahrhunderts bekannt, ent⸗
ſtehen namentlich in Frankreich, wie im Ungarn, Bolen und Rußland originär
und’ werden nach Deuiſchland meift durch Anſteckung verfchleppt; jetzt find ſie
auch bei uns häufig genng. Sie treten meift in größeren oder kleineren Epide-
mien auf, bald mit qutartigem, bald mit fchr bösartigem Werlaufe. Das Con»
taglum befigt eine fehr beträchtliche Dauer, haftet an Allem, was mit dem franz
fen Thiere in Berührung gekommen ift, wird ſehr leicht verfchleppt, kann fich aber
auch durch die Luft auf benachbarte Heerden verbreiten. Es geben fat immer
eine beträchtliche Anzahl vom Thieren einer an den Pocken erkrankten Heerde zu
Grunde. Laͤmmer können im Mutterleibe von der Krankheit durchſeucht und:
dadurch ſpaͤtet unempfänglich für viefelbe werden, Auch hat man bei ein⸗
zelnen Zämmern Poskenausfchläge zugleich mit Boden des Mutterthleres geſehen.
Bon der größten Bedeutung ift für uns die Kuhpocke, variola vareina,
Sie finder ſich urfprünglich nur bei den Kühen an den Strichen oder Zigen des
Euters; bei dem männlichen Rindvich entſteht fie nur durch Anſteckung. Wo—⸗
durch die Kuhpocken entftchen, ift nicht ficher bekannt, man befchuldigte theils die
Maufe der Pferde, theils die Menſchenpocken, ohne beide Annahinen ftreng bes
weijen zu fönnen, doch hat die leptere Vermuthung neuerdings mehr Wahrſchein-⸗
lichkeit erlangt. Die Kuhpocken entſtehen gewöhnlich und am bäufigiten ohne
Die Polen uud Me Impfung. 351
bekannte Urſache, finden ſich befonders im Frühjahr in den Monaten Mai und
Juni, nur bei weiblichen Thieren , vorzüglich Jugendlichen, namentlich gerel
neumelfenden. Ya ihrer Bildung gleicht Die Kubpode ſehr der Pockenpuſtel des
Menſchen; fie entwidelt fi Tangfam und regelmäßig, typlih, und gelangt in⸗
nerhalb acht bis zehn Tagen zur Neife, die Kruften bleiben oft ein bis zwei
Wochen zurüd; bie Puſteln zeigen im Innern ebenfalld eine fücherig-zellige
Struktur, fo daß fle beim Anſtechen nicht zufanımenfallen, fondern nur einen
heil ihres Inhaltes der anfangs klar und Didflüfflg, foäter eitrig ift, ergießen.
Sie firllen für die befallenen Thiere eine leichte, von ſelbſt vergehende Kranke
beit dar, Ä
Unter Impfen, Inoculiren verficht man die mit Abftcht künſtlich vor⸗
genommene Ucherpflanzung einer Krankheit, bezichendlich des die Krankheit ent⸗
haltenden Körpers auf ein gefundes Individuum, wodurd, wenn Die Impfung
als eine gelungene oter mögliche anzufehen fein fol, in dem geimpflen Indivi⸗
duum bie gleiche Erkrankung hervorgebracht wird und zum Vorſchein konmmt.
IR eine ſolche Impfung gelungen, fo ift Damit Die contaglöje Ratur einer Kranke
heit ganz entjchieden dargetban. Wir haben die Boden beftimmt als eine con⸗
tagiöfe Krankheit bezeichnet; fe iſt e8 auch, da mit den Boden tie mannigfals
tigften und gelungenften Impfuerfuche vorgenommen worden find. Bur nähern
Erläuterung mögen nachfolgende Beobachtungen Lienen. Echon oben haben:
wir erwähnt, daß man die echten Menfchenpoden am ſicherſten dadurch übertra«
gen könne, daß man die in der Puftel enthaltene Flüſſigkeit in einen Hautriß
eines gefunden Menſchen einftreicht ; Dies ift eben eine Impfung. Man hat biefe
Berfuche weiter ausgedehnt und das Pockengift des Menfchen auf Kühe geimpft
und dadurch — Kuhpocken erhalten, ja man Hut Die fo erhaltenen Kuhpocken
wieder auf den Menſchen zurüdgeinpft und bierauf Schuzpocken erhalten.
Ebenfo hat man mit deu beften Erfolge Kuhpoden auf Schaafe und von dieſen
auf Menfchen übertragen durch Impfung. Trägt man bie bei der Maufe der
Dferde fi abfondernte Flüſſigkeit auf Kühe und auch auf Menſchen über, fo
erhält man ebenfalls Boden. Ebenſo laffen ſich Kuhpocken auf faſt alle unfere:
Hausthiere übertragen, wenn ſchon fic dabei zum Theil ihre charaktrriſtiſchen
Eigenthümlichkeiten einbüßen. Auf Federvieh ift eine Ucbertragung ter Kuh⸗
poden biso jegt nicht gelungen. Haben nun diefe Impfungen die contagiöje Ratur
ber Polen ganz außer Zweifel geftellt, fo dienen fie zugleich der oßen ausge⸗
ſprochenen Behauptung zu weſentlichen Etuͤtzen, daß Die verſchiedenen Boden,
ferner nur Unterfchiede des Grades, nicht der Art darftellen. Dies geht auch
baraud hervor, Daß tüchtige, mit Pockenkranken viel beichäftigte Aerzte den Ueber⸗
gang und das Uebertragen einer PRodenform auf ein anderes Individuum in der
Weile, daß ſich aus Varioloiden wirkliche Blattern, aus wirflichen Plattern Va⸗
rioloiden bilden, in ganz unzweifelhafter Weije beobachtet haben. SEelbſt bei
den Epigpoden findet ficher eine Uchertragung flatt und fönnen in einzelnen
Bällen durch diefelben wahre Blattern zum Ausbruch kommen. CErwaͤhnenswerth
iR noch, daß man in Indien neuerdings unter dem Rindvieh epizootlich herr
ſchende Boden zugleich mit cmidenijch herrſchenden Menſchenpocken beobachtet hat.
352 nuntumt Nediein. u
mM
che —— ar har re
Jahren LTLI— 1740 in London 658,383 Menfihen an den Poren farben,
kamen nach der allgemeineren Einführung der Variolinoenlation 1771—1800
immer noch 57,268 Todesfälle durch Pocken vor, — Mit Recht ift daher dieſes
Impfoerfahren gegenwärtig ganz verlaffen, da ein anderes, ficheres, Leichtered und
unſchadlicheres Impfen an feine Stelle gefegt worden ift. ——
Die geſchichtliche Bedeutung der Variolimpfung Hoch genug anzuſchlagen. —
Es iſt im frühern flüchtig erwähnt worden, daß für den
pocken eine bejondere Bedeutung haben. Die eminente Wichtigkeit der
KuhpockenTiegt in dem Umſtande, daß diefelben, aufden Men—
ſchen geimpft, mit großer Sicherheit einen aufden geimpften
Drtbefhränften Pockenausſchlag hervorbringen, durch wel⸗
hen das geimpfte Individuum dor. ben Menfchenbla tterit ges
hät iſt. Auf diefer wichtigen Erfahrung beruht die jept zum Geile der
Menichheit faſt überall ausgeführte Kuhpocken- oder Schukpodenimpfung , Die
wir im Bolgenden kurz nur ald Impfung bezeichnen wollen. 00.000
‚Dem englijchen Arzte Edward Jenner, geboren 1749 zu Berkeley in Glou⸗
cefterjbire, geflorben 1323, war e8 vorbehalten, bie wichtige Ihatfache vom bein
Schutze der Kuhpocken gegen Menſchenpocken, wenn ſchon nicht aufzufinden, fo
doch näher und umwiderleglich zu begründen und diefelbe zur allgemeinen Geltung
und Anerfenmung zu bringen. Es ift ganz unzweifelhaft, daß ſchon vor Jenner
Die Schugfraftider Rubpoden: befannt: war, wie dieſes Verbältniß schon im Jahre
1763 von dem Landprebiger Heim im Stoltz ausgeſprochen wurde; ſchon
Die —— —
in Be gan
Landlenten dieſet —8* war. der Glaube verbreitet, Daß die Menfchen, ‚bie ſich
beim Melken der pofenfranfen Kühe Kuhpocken zugezogen hätten, was ziemlich
leſcht geſchieht, vom den Menfihenblattern befreit blieben. Jenner war mit
diefem Olauben fehon feit dem Jahre 1770 befannt 202, den
Grund oder Ungrumd diejer Behauptung in Der forgfältigiten Weile vorurtbeild«
frei zu prüfen, Seine Beobachtungen find von um fo größerem Werthe, ald er
allein arbeitete, da es ihm nicht gelingen wollte, andere Aerzte Dafür zu Änterefit»
ven; fie find um fo geiftvoller und ſcharfſinniger, als die Kuhpocken ſelbſt in
jenen mit Mindvichzucht fich fa allein beichäftigenden Gegenden keineswegs
häufig find, noch feltener aber die Poden gerade in jenem Buftande zur Beob»
achtung zu erhalten find, we fie einen mit Erfolg impfbaren Inhalt darbieten,
Wie jelten im Allgemeinen felbft gegenwärtig noch, wo bie allgemeine Aufmerk-
ſamkeit darauf gerichtet if, Kuhpocken zur Beobachtung kommen, ergiebt ſich
unter Anderem daraus, daß z. B. in Wiürtemberg innerhalb eines Zeitraumes
von zehm Jahren mur 69 Bälle von Kuhpocken vorgefommen find. Lebert in
Zürich verſtchert trotz forgfältiger Bemühung im den an Rinbwichzucht reichen
Schweizerlandſchaften noch Feine reinen, zur Impfung necigueten Boden bei
Kühen gejeben zu haben. — Bei feinen Forſchungen fand Ienner bald, daß jenes
Gerücht von der Schupkraft ber Vaceinablattern allerdings, jcdoch nur theil-
weile wahr fei; feine forgfäktigen Verſuche zeigten nänlich, dad nur echte Schutz-
pocken eine wirklich hhgende Eigenichaft befigen und daß ſelbſt die normalen
Kuhpocken nicht während ihres ganzen Brrlaufes, ſondern nur innerhalb: eines
kurzen Zeitraumes Die Schupfraft an ſich tragen. Hiermit hatte er im Jahre
1788 die wichtigfte Grundlage feiner Entdeckung errungen, Es blieb noch ein
großer, ſehr weſentlicher Widerſtand zu überwinden, Bei ber Seltenheit der
Kubporten im Allgemeinen, wie beöjenigen Zuftandes, in welchem fie ſich zur
Impfung eignen, Eomnte von einer Schutziupfung in großem Manpftabe nicht
IV, | 23
“
eher ‚Jahre die Impfung bereits in
Deutfchland ausgeübt ; fie verbreitete fich ee erden *
Staaten Europa's wie der ganzen eivilifirten Welt ausgeübt. Doch for
und friedlich, wie hienggeichildert, fand die Kuhvpockenimpfung nicht
Es ging der Entdeckung Jenner's nicht anders, als allen anderen großen ur
einflußreichen Entdeckungen. Bald nad et
ner's erhoben ſich Einzelne gegen die Richtigfeit der Anfichten und —
Einführung der Maßregel und ſuchten die ganze Lehre mir oft unglaublich wir
derfinnigen Eimwänden zu bekämpfen. Dod von Tag zu Tag liefen neue Be—
ätigungen der‘ Jennerſchen Lehre ein, Die Thatfachen ſprachen deutlich und um-
widerleglich, die Einwände waren fo Teicht zu bejeitigen , daß ‚bie Gegner bald
verflummten. &8 iſt zu bedauern, daß ſich neuerdings in den lehten Jahren
der Geift des Widerfpruches abermals erhoben, fih eine Menge abfurder
und gehaftlojer Einreden geltend gemacht, und hierbei leider bei dem im ſolchen
Dingen nur. zw leicht zu falfchen Urtheilen zu verleitenden Vublieum ziemlich
zahlreiche Anhänger gefunden hat. Es war namentlich ber franzöſiſche Artil-
lerieoffizier Carnot, ber gegen die Impfung in heftiger Weije anfämpfte; ihm
ſchloſſen ſich andere Laien, leiter auch bald genug Aerzte, wenn gleich nur ver»
einzelt, am. Die Sache griff in der Weiſe um fich, daß neuerdings angeregt
durd) Dr. Simon das englifche Parlament, beziehendlich der General Board of
Health, einzelne die Iupfung betreffende, befonders wichtige Fragen zur Beant-
wortung aufftellte, die audy, und zwar zu Gunſten der Vaccination , bereits ihre
Erledigung gefunden Haben. „Einer der wüthendften, dabei aber auch einer der
unfläthigften und finnlofeften Kämpfer gegen die Impfung iſt ein gewiffer
Dr. Rittinger in Stuttgart, der mit einer daͤmoniſchen Wuth gegen die Impfung,
zu Felde zieht und mit einem einer befferen Sache würdigen Gifer daht für
+ san he Akne na 23
Vi
jübtreichen Ucbergängen und Mittelformen. "68 AR Died um ſo mehr zu beto-
nen, bamit Lalen, wie dies fo Leicht gefehicht, fich nicht verleiten Taffen,, Krant-
heiten als etwas ganz feft begraͤnztes, unwandelbares anzujehen, DieVorboten
find bei den Pocken, wie bei den Varloloiden gleich, ja bei letzteren jogar häufig
in mit dem Ausbruche Der Blattern auf der Haut erlifcht Das Fieber
milden Blättern, während «8 bei Den echten mehr oder weniger
Heftiger anbanert; Wei den Variofoiden find die Bufteln an Zahl meift gerin-
gen, oft finden ſie ſich mur ganz wereingelt z fie ließen nicht, oder nur an iveni-
ger beſchrankten Stellen zufammen; der Verlauf und die Ennvidelung der ein-
genen Pufleln gleicht zwar anfangs dem ber echten Pocken, aber geſchieht rafcher,
bie pieite entzündliche Periode und damit das Fiterungsfieber, was bei den wah-
ren Poren fo gefährlich wird, Fehlt; das Eintrocknen ver Bufteln geht fhneller.
bor fich und Die Kruften füllen ab, ohne Narben in ver Haut zu Hinterlaffen,
wenn ſie wicht durch eigene Unvorfichtigfeit des. Rranfen, Miß handlungen einzelner
Stellen, Kragen sc. hervorgerufen werden, Nachfrankheiten finden ſich nur felten.
Kodesfülle gehören bei den Barioloiden zu den größten Seltenheiten, während
fie bei den echten Pocten ſelbſt im gutartigen Epitenien eine beträchtliche Pro-
eentzahl ausmachen, Für legtere Behauptung geben de forgfältigiten ftarifti-
ſchen Reſultate aus Älterer und neuerer Zeit Belege, gegen deren überzeugende
Bewelskraft nur Geiſtesſchwache ſich fräuben Fönnen. Nach, den Beobachtun-
gen zu Kopenhagen während der Epidemlen von 18211824 flarben von
659 geimpften Pockenkranken nur 5, von 158 nicht geimpften Pockenkranken
. aber 35. Noch ungünftiger ftellte ſich das Verhältnif bei einer im Jahre 1927
m Digne beöbachteten Epidemſe, wo vor 478 geimpften Blatterfranfen mur
einer, von #62 nichtgeimpften aber 93 flarben. — Bon 530 Podenfällen, die
gemein ausgeführt wird. * — a Alm —* | * IT » *
Durch eine im geregelter Weife susgefäben, atgemeins
Impfung wird nothwen dig jedes auftretende
after gemildert. Es leuchtet dem ſchlichteſten Verſtande ein,
Boden überwiegend nicht geimpfte Individuen — —
auftreten können, ſo bald die Bewohner der ergriffenen Gegend größtentheils
durch Impfung geichügt find. Es iſt eine unleugbare Thatſache, daß in der
neueren Zeit ſchwere, bösartige Pockenepidemien inmer localer geworden find, und
eigentliche Pandemien in Gegenten, wo bie Vaccination im allgemeinen auöger
führt wird, kaum noch vorkommen. Dabei ift zugleich Der Charakter der Krank
heit nicht nur bei den Geimpften, jonderm im Allgemeinen meiſt ein milderer
geworden. Die Poden gehörten vor dem Einführen der Schugihipfung: zw.
Rab Duinfe machten in Preußen im den Jahren 1776 bis 1780 bie an Boden
Geftorbenen den zwölften Teil aller Todesfälle aus, im Anfange des neungehn-
ten Jahrhunderts nur den 38,, ja von 1816— 1830 nur den 156. Theil fännmt-
licher Todeöfälle aus. In Schweden betrug die Sterblichkeit an den Bosten im
vorigen Jahrhundert im Durchfehnitte 12— 15,000, während ſie nach Einfüh-
zung der Impfung nicht mehr ein Taufend im Jahre erreichte. Während in Ber»
lin in dem Jahren 1781— 1805: bon 292 Lebenden einer.an ben Boden farb, äne
berte jich das Verhälmiß in den Jahren 1810—1818 fo, daß von 1795 Men-
ſchen nur einer Durch Pocken getödtet würde; in ben Jahren 1818—L831 Fam auf
10,000 Lebende ein Todesfall durch Pocken, 1832—1847 auf 5588 Lebende
einer. — Noch heutzutage decimiren Die Poden in jenen unelvilijirten Gegenden,
in denen die Impfung noch unbekannt-ift, die Bevölkerung in Entſetzen erregen⸗
der Weife; mit derjelben Befllmmtheit ſchwindet auch an biejen Orten die An—⸗
zahl der Todesfälle, wenn die, Maffenimpfung durehgeführt wird, Engliſche
den Boden ergriffen, und. von Befe.qof Rarben sie; 00n.3824 Geimpften
wurden 27 von den Pocken befallen, von denen aber: keiner farb. Aber die
Geimpften ind auch, wenn fle von Blattern befallen ‚ vor den Ungeimpften da-
durch jehr im Vortheil, daß fie die Form der Blattern mit milderen Verkaufe
befommen, daß Todesfälle zu den großen Seltenheiten gehören und meift von
“anderen zufälligen Umftänden abhängen, ſchwaͤchliche oder ſieche Individuen bes
treffen; daß fle auch Nachkrankheiten, Samen hessen Aare
ee 1 mE ned a may]
"Auf die Zhatfoce, daß bin und wieder Gsimpfte dennoch anıben Blatern
ertranfen, ind die Aerzte ſhon jeit 1805 aufmenffam geworben. » Man hat ge
funden, daß der Schu, den die Impfung gewährt, nur auf eine gewifle Reihe
von Jahren ſich erſtreckt; in unferen Klima erlifcht derjelbe in derftegel 15 bis
20 Jahre nach der Impfung. Warum dieſes Erlöſchen in- dem einen: alle
früher, In:dem —— een eb
nun auch nad) dieſer Zeit vor. den Menſchenpocten gejchligt zu bleiben, Hat ——
eine erneute Impfung, Revaceination, nach Ablauf eines gewiſſen Zeitraums
dem beiten Erfolge vorgenommen, indem Rebaccinirte faſt nie
fen. Karen au were engeren
—— t — ——
er Mrd a re Zgän n
‚Ein zweiten, ee Die-Moafopaale’fallenne & liegt in
ber Behauptung, daß die Menſchen durd die Impfung the |
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360 Be: — — 0
3* Fee 1petefür einige Mont
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dereien zu. halten, gelgt die bielfach gemachte Erfahrung, daß von den natürlichen
Blatt Dune Menfepi hauſtg king am vote arteanten who
ſelben erliegee. a Ta N) KENNE
"Ndzt minder innglüctiäp haben ae hei re dere
fit, als Urſache der aflatifchen Cholera die Impfung — "Dit
Name der Krankheit deutet dem Laien am, — ——
ſprung hat; es find dies Gegenden Aſiens, in denen die Impfung‘
tannt war, als die Krankheit ſich zeigte, wo Die Impfung ſelbſt heute 'n *
tentheils ihrer Ausführung entgegenſiehht. Daß die Cholera ohne allen inter
ſchied mit gleicher Heftigkeit und Bösartigfeit unter einer geimpften, wie unge ⸗
tft ®Belferung ne, (ffen Dee Beyer ebenfale umbeae, DK wi
in — I
ee der Borwurf daß bie neh
fogenannten Kinderkrankhelten, Mafern, Scharlach, Keuchhuſten ſich nach Eine
— Impfung in viel bösartigeren und mörderiſcheren Epidemien ge—
zeigt. Bu allen Zeiten kommen gutartige, zu allen Zelten bösartige Epidemien
bon Mafern, Scharlach u. ſ. w. vor; das Verbältnif der letzteren gu dem erfteren
iſt ſelt Einführung der Vaccination ein ungünftigere® worden. Wenn man auch
zugeben muß, daß gegenwärtig mehr Kinder an Mafern und Scharlach flerben
als früher, fo Legt dies einfach darin, daß durch die Impfung taufende von Kin⸗
bern, die früher durch die Pocken dabingerafft wurden, jet am Leben bleiben
und die Zahl der Todesfälle im einer Scharlachepidemie deshalb, weil mehr Ins
Dioiditen, die daran erfranfen Fönnen, vorhanden find, größer jein muß; die
ohne Weiteres überzeugt ſein, daß auch Diefer
Ginwand das Ziel gang verfehft. Bundaft if weter eine Gleichheit, mod) auch
Verwandiſchaft diefer Rranfheit mit den ee —⏑⏑1—— '
ſelben ſchon lange vor ber * dr Er⸗
* namentlich der Zuberfein, weiter und in Bofge beffen zu rinem Häufige
ten, und wenn wir auch in unferen Hoffnungen und Gritartungen Hierbei nicht
zu ſanguiniſch fein wollen, müſſen wir doch auf dieſe Thatſache aufmerkfam
machen, wie fie e8 verdient. Es geht daraus namentlich hervor, daß das Be
ſtehen derartiger chroniſcher Leiden die Inn fung Feineswegs verbietet. — An
einer ſtrengen Beweisführung bei der obigen Behauptung Haben es natürlich
unfere Gegner gänzlich fehlen laſſen und mit fo blind in Die Welt Hinauspo-
faunten Behauptumgen ift es doch Bein
wichtigen Berhälmmiffen vom Gegner einen ſtrengem Beweis verlangen
muß, verſteht ſich vom ſelbſt; —— — * —**
pwingendſten Logik vergebene, lm MT AR Tim dry DB
Man ift noch weiter we —— Dreift- und beſinnn daß
das ganze Menſchengeſchlecht ſeit der Impfung ein in koͤrperlicher Hinſicht ſchlech⸗
ters und elenderes geworden fel, In diefer Beziehung find namentlich die Aeuße⸗
rungen des schon einige Male genannten Nittinger intereffant, der im einer ſei⸗
ner Schriften gegen die Impfung über dad Würtemberger Volk wörtlich äußert:
„Der Ausſpruch wird nimmer zu hart Flingen, daß Das wirtemberger Land zu
einen allgemeinen Kranken⸗, Zucht und Armenhaufe geworden ſei, über deffen
innere Faͤulniß eine innere Windſtille koſet,“ Natürlich Alles in Folge der Ims
pfung. Nach des fcharfiinnigen Nittinger Anficht fieht: „‚unferem ſchönen Ges
ſchlechte der Koth der Impflauche aus dem Geſichte Heraus," und „Die Mehrzahl”
der Menſchen ſcheint ihm Über den ganzen Körper mit einem fepmmugigen Grüns
gelb bis Bronze gebeizt zu fein.” Wir Haben ‚im Intereffe der guten Sache
2
Temeıer 7,
ee ee ee end
ſophilttiſche, feropbulöje oder andere conftiturionelle Krank
beiten übertragen würden. oder doch könnten, hat man ebenfalls
als Einwand erhoben, Die Schwere und Bedeutung dieſes Einwandes ift vom den
Impfärzten alsbald anerkannt worden, und da die Möglichkeit einer jolchen
Uebertragung im Voraus nicht unmittelbar „beitritten werben konnte, durch
eigene Verſuche, wie, durch zahlreiche zufällige Beobachtungen geprüft worden.
Die-Refultate waren nur günftige, ja man kann jagen glänzende. Man hat zur
Erörterung, und die Wichtigkeit der Sache rechtfertigt Dies vollfommen, unmit-
ielbar von beftimmt an Syphilis Franken Kindern, ebenjo auch von Kräpfranfen
abgeimpft, ohne auch nur die geringften übeln Folgen danach wahrzunehmen,
Die genannten Krankheiten find aber gerade ſolche, Die erfahrungdgemäß am
allerleichteften übertragen werden Fünnen, Cs verfleht fich von ſelbſt, Daß man
mur-aus einer wohlgebildeten echten Kuhpocke impfen und diejelbe nicht mit Ause
fcehlägen ganz anderer Naturwerwechjeln darf; benn wenn mam freilich aus einer
jophilitifchen Buftel impfen wollte, würde unzweifelhaft eine Anſteckung erfolgen,
Solche Irrthumer find, da das Impfen eben nur von Sachverſtaͤndigen betrie>
ben werden darf, heutzutage große Seltenheiten, ja unmöglich, und went fie je
vorfämen, kann man fie nur auf Rechnung einer Nachläffigkeit des Arztes, nicht
ber Impfung ftellen.. Daß überhaupt von Eranfen Kindern nicht geimpft were
den foll, verfteht jich von ſelbſt, und kommen wir hierauf fpäter zumüd. =...
Wir haben eben die Behauptung ausgeſprochen, daß jeit Einführung der
Baceination die mittlere Lebensdauer der Menſchen fich verlängert habe. Gegen
dieſe von den verſchigdenartigſten Beobachtern aufgeftellte Thatſache, deren Miche
tigfeit man micht wegläugnen fonnte, ift namentlich von dem Franzoſen Garnot
geltend gemacht worden, daß diejer Beobachtung im Wefentlichen nur eine Vers
rũckung der Sterblichkeit zu Grunde liege, indem nur für Die dugend und das
fpätere Mannes⸗, wie das Greifenalter bie Sterblichfeitsverhältniffe günftiger
geworden feien, dagegen gerade in dem Alter von 20 bis 40 Jahren, im ber zu⸗
—— — Ne ii ee
feien feit der Impfung überhaupt felten worden, niemals wieder in ernſteren
Epidemien aufgetreten und hierauf gründe ſich der jcheinbare Nugen: der) Inı-
pfung. Es wäre Died allerdings eine bequeme Art und Weife die unangenehme
Gegnerin, die Baceination, mit guter Manier los zu werden, wenn man nur
dieſen jo plaufibel erjcheinenden Grund nicht eben jo ſchnell entkräften könnte,
wie die übrigen Durch ben einfachen Beweis der Unrichtigfeit. Jedem Atztt ift
nen, es ift dies aber der Impfung zu verdanken und es |
geſehen, einer ihrer wejentlichiten Vorzüge, der allein ſchon ——
regel als eine der nothwendigſten und heilſamſten erſcheinen zu laſſen. Im
Uebrigen haben: dieſe vereinzelten Pockenepidemien jedes Mal gezeigt, daß ſie
noch dieſelbe Bödartigkeit der früheren Jahrhunderte haben und dargerhan, daß
gerade die Ungeimpften am gefährlichſten von den Pocken heimgeſucht werden.
Es fei und erlaubt Hier noch) einigeRefultate mitzurheilen, die auf's unwiderleg⸗
lichſte darthun, in wie weit günftigeren Verbältniffen bei Pockenepidemien ſich
die Geimpften befinden. Im der nee ——
Auguſt 1831 ſtarben von der nicht allgemein geimpften Bevölkerung von
101,962 Menjcben 1169, unter den geimpften Soldaten -v0n.2299 Bann nur
zwei an den Blattern. Im einer fpäterem Epidemie ebendaielbft von 1838 —
1839 flarben von 105,456 Bewohnern 686, von 2186 geimpften Soldaten
feiner. Mit welcher Heftigfeit und Toödtlichteit die Blattern gegenwärtig in
Gegenden, wo man die Impfung noch an en | ee
Berichte ber englifchen Aerzte in Indien. I |
Auch am anderen Ginwürfen hat lg doch-fiubbiefelbengn
108, als daß wir nöthig hätten, hier weiter — — Eh jelkmahhapn
fagen, wenn man bie Impfung deshalb für verwerflich erklärt, weil dem Men-
ſchen dabei etwas thieriſches eingeimpft werde? Ober für unzuläffig, weil man
Wedicin.
rtheit IE — MB ur * * >
b eine ſehr einfache, Ran mat
tion felöß AR befanntlid
des, meift in der oberen Hälfte des Oberarms, einige ——
einer feinen Lanzette, einer Impfnadel u, f. w., die nur eine leichte —
gen. In dieſe Hautwunde trägt man nun ben entweder unmittelbax aus einer
Fersen den in getrocknetem Zuftande aufbewahr-
ten Impfſtoff einfach ein. — 2 in furger
Zelt beendigte Operation, is ——
| © Der Berl de in Dee Ze ingeimften ußode iR in Are folgen
der: In den erften Tagen bemerft man an der geimpftem Stelle in | e
gar feine Veraͤnderung. Am dritten Tage zeigte ſich eine leichte Röthung, auf
der ſich bald Knötchen entwickeln, die ſich mehr und mehr in Form eines Blas—
hend erheben und ſchon am fünften Tag nach der Impfung einen flüfftgen In»
halt erkennen laffen. Bis zum achten Tage hat fich die Puftel vollftindig ent⸗
wickelt und ftellt alsdann wine halbfuglige, in der Mitte mit einer Vertiefung
verfehene, von einen leichten rothen Saume umgebene Blaje von perfweißer
Barbe mit einem Klaren zäbflüffigen Inhalt dar, der in einem zelligemafchigen
Gewebe enthalten iſt, weshalb Die Puftel beim Anftechen nur einen Theil des
flüffigen Inhaltes ergiecßt und nicht zuſammenfällt. In den naͤchſten beiden Tas
gen nimmt Die Röthe in ber Umgebung der Bufteln an Umfang zw, fo daß fie
einige Zoll im Umkreiſe erreicht, Die Farbe wird dunfler, die Haut ſchwillt an,
gleichzeitig Füllen fich die Puſteln mehr, der Nabel gleicht ji aus; der Inhalt
truͤbt fich und wird eitrig. Nach weitern zwei Tagen verſchwindet Die Röthe von
der Peripherie aus und die Puſteln beginnen einzutrodnen, bilden eine dunkel⸗
braune Krufte, die nach Fürzerer oder längerer Friſt abfällt und an ihrer Stelle eine
weiße, mäßig tiefe, vielfach ſich durchkreuzende Narbe zeigt, Während der rothe
Hof ſich ausbreitet, bemerft man u leichte, fich jedoch —* verlierende *
berbewegungen.
Schon aus der — des Verlaufes ergiebt ſich, —* die —
mation eine leichte, ganz gefahrloſe Operation iſt, Die ale
folde bei der Beurrbeilung der Impfung ganz außer Rech—
nung gelaffen werden darf. Wenn von Eingelnen geltend gemacht
wurde, daß die Impfung ſelbſt öfters von bedenklichen Symptomen begleitet ſei,
üble Nachkrankheiten mit fich führe, ja den Tod zur Folge haben könne, fo find
bie hierbei angezogenen Erfahrungen fo eminent jelten, daß fie gegen die Millio—
nen von Impfungen, bie ganz gefahrlos vorübergehen, gar nicht in Be—
Kragen u. fe wi und Hält den Impfling in den Tagen der Ficberbrwegung and
Vorſicht im Zimmer; find Die Fiebererſcheinungen gering ‚fo kann man ihm bei
günftigem Wetter ganz unbedenklich den Genuß der freien Luft vergönnen, >
Bei der Impfung ſelbſt Hat man gunädfi darauf zu ach⸗
ten, db aß man nu v9 utt Lomphe re EEE
Vorwurf, etwaige zufällig nach der Impfung auftretende Kranfbeiten verſchuldet
zu haben, GBwar iſt, wie früher erwähnt, ſicher nachgewieſen, daß Krankheiten
bei einem vorſichtigen Impfen nicht übertragen werden, das Befolgen obiger
Regel aber um fo zweckmaͤßiger, ald ed unferem natürlichen Gefühle und unjeren
ganzen Anſchauungen wiberflreitet, von einem franfen, elenden inte einen Stoff
zu entnehmen und auf einen anderen Menjchen zu übertragen. Im Uchrigen
fommt ein derartiges Verfahren heut zu Tage kaum nod) vor und wird nament⸗
lich dann, wenn man die Kinder in Gegenwart der Eltern impft, von der Icpte-
ven ſelbſt gewiß nicht geflatiet werten. Der in vielen Gegenden weit verbreitete
Glaube, das Abimpfen fei nachtheilig für die Kleinen, ift ganz irrig; ber Schuh
iſt derfelbe; ja ſelbſt wenn man die Vodenpuftel vor ihrer vollfommenen Aus-
a a
> ——
ntonate, Alle dieje Rüdfichten jegt man hintenan, TE
Poceenepidemie herrſcht; es ift alsdann einzige Aufgabe, alle vorhandenen Indi
viduen fo ſchnell als möglich mit Kubpodencontagium: — —
dem Umſichgreifen der Epidemie Schranken zu fegen. Kleine Uebelſtände, die
hierbei die Impfung im Gefolge haben könnte, können nicht beachtet werden, ja
‚fie Dürfen es nicht im Intereſſe des Einzelnen, wie der geſammten Bevölkerung.
Auch die Art, wie man die Impfung vornimmt, ift nicht gleichgültig; - Die
ne tree en h. jene Methode, wo man
Pode von dem Arme eined Kindes ben
— — Es vereinigt dieſes Jmpfoerfahren
alle Vortheile, es iſt ſchnell und leicht auszuführen, es giebt die größte Sicher-
heit für einen regelrechten Verlauf und dadurch auch für den Schuß; zugleich
Haben dabei die Angehörigen die beſte Gelegenheit, ſich durch den Augenfchein
son der Wahl des Impflings zu überzeugen. Leider läßt es ſich jeborh nicht
he paar und man muf dann eingerrodnete Lymphe benugen.
"Nur regelmäßig verlaufende, gut gebildete und in nicht
— Anzahl vorhandene Kuhpocken gewähren den ger
impften Individuen einen ausreihenden Schuß gegen bie
Menfchenblattetn. Es ergiebt ſich hierand die Nothwendigfeit, den Ver—
lauf der Impfung genau zu verfolgen und nur ſolche Kinder für geimpft zu er⸗
klaͤren, bei denen die Entwickelung der Boden eine regelrechte war. Namentlich
foll man die Aufmerkſamkeit auf die im Verlauf der Boden auftretende peripbe-
riſche Rörhe richten; von vielen Eltern wird biefelbe irrthümlicher Weife für
ſchaͤdlich gehalten, da dieſelbe vielmehr neben guter Entwidelung der Blatterm
ale das ficherfte Zeichen der erfolgten Durchſeuchung angeſehen werden muß; -
——— —— — des Lebens im Mutterleibe, durch
Blättern, —— aberſtanden Hatte, ——
unempfängfich worden find.
achtungen, nach denen mie fen and —
nn amd fein ſcheinen und ohne geimpft zu fein, trotz eines fortge»
fetten Tebhaften Verkehrs mit Vockenkranken dennoch frei bl
ch "Sei folgen Inbiötduen- mod anfehlägt. <= Wenn Kinder-an
fogenannten Gefägmälern (Teleangiectasia) leiden, impft man zweckmäßig auf
ae um ſie dadurch zum Verſchwinden zu bringen. een Men
Die allgemeine Durchführung der Impfung tft es, die wir zum Schluß
a Näher betrachten müflen. Die Nothwendigkeit einer allgemeinen Impfung
bier in Breite auseinanderzufegen, haben wir nicht nöthig, ——
ee zur Genüge ergiebt. nt uni run
"De Befinmmtgeir muß man Ah dafür-entfeiden; bafdie Impfung von
—— — und zwangsweiſe durchgeführt
werde. Nur dadurch kann der Erfolg einer möglichſt bollſtändigen Durchſeu⸗
hung aller Individuen und damit eine immer engere Begrenzung der Pocken⸗
evidemien erzielt werden. Die billigen Declamationen, mit denen man noch heut»
zutage gegen bie wangsweiſe durchgeführte Impfung ankämpft — leider iſt man
in manchen Staaten noch immer nicht zur Annahme eines Zwangsverfahren ges
fommen, — indem man diefelbe als eine Bejchränfung ber perfönlichen Freiheit
eng Servern einge wenn we daß; eben in
beſchweren, wenn fir dazu gezwungen werden, ba Fein Staatsbürger das Recht
hat, — — — —
und dadurch ſich nicht nur, ſondern feine Miburger
Oben. &o gu a nit ya et
— Baschfüßnen: eine frhwiligen Auupfung erſchwert; ſolche Mens
ſchen wollen es nicht anders, fie müffen gezwungen werden, nach dem bekannten
Otundſatze wer dumm iR, muß geprügelt werden. — Daß die wangeinpfung
übrigens ohne große Schwierigkeiten überall ansführbar it, davon geben ung
viele Staaten, in denen dieſelbe unangrfochten feit einer längeren Reihe vom
Jahren befteht, Zeugniß; fie hat Hier Die glängendften Mefultate geliefert. Im -
einzelnen Staaten, 5. B. in dem fonft auf feine Intelligenz mit Recht fo ſtolzen
Sachſen, harrt fie troß vielfacher Mahnung immer noch der Erfüllung, — Dem
Staate erwaͤchſt Hierbei auch Dir Aufgabe, für ſtets vorhandene gute Lomphe zu
forgen; dies geſchieht meiſtens durch befonders für dieſen Fweck errichtete Impfe
inſtitute, die nebenbei die Aufgabe haben, den Gegenſtand wiſſenſchaftlich weiter
zu verfolgen, für Erneuerung der Lyinpbe durch Rückinwfung auf Kühe, wie
died z. B. in Berlin geichleht mn, ſ. w., Sorge zu tragen. In einigen Staaten
erhalten die Beiger von pockenkranken Kühen, die Davon — —
—* Prämien,
Die Bwangeinpfung muß, wenn fie den richtigen Erfolg: gmeäfrn fl,
tn‘ Mindehalter audgrführt werden. Man erreicht Dadurch den ungeheuren Vor⸗
theil, dag man bie Zabl derjenigen Individuen, bie bei einer zum Ausbrud, Foms
menden Pockenepidemie ergriffen werben, auf Die möglichft kleinſte Zahl reducirt
und jo der Anbahnung des legten Zieles, der gänzlichen Ausrottung ber Boden,
immer näher Eommt, Außerdem hat die Beobachtung nelehrt, daß im Findlichen
Alter die Kuhpocken ſich am Fräftigften entwickeln, den argefrachteften Valau⸗
haben und jo den ſicherſten Schug gewähren.
Wie bereitd erwähnt, Dauert der Schuß, den bie Snpfung gilt, nur
eine gewiffe Zeit hindurch an und erlifcht in der Regel mach 10 bis 20 Jahren,
Die Dauer diejed einen ſicheren Schug gemährenden Zeitraumes iſt in den ein⸗
zelnen Fällen eine verſchiedene umd die Gründe diefer Differenz noch nicht gen
Die Hoden: > De Impfung. 868
bekannt, obſchon fie häufig nicht auf einer indiniduchlen Dispefttion beruhen
Man hat daher ſchon feit.ungefähr dreißig Iahren eine Wiederholung ber Tun’
pfung nach Ablauf eines gewiſſen Zeitraumes vorgenommen und hierdurch Re
fultate erzielt, Die der Bornahnee der Renaccination, wenn nicht im Allgemeinen,
Doch hei jeder auftretenden Vockenepidemie auf die eindringlichfle Weiſe Das
Wort reden; Fe ift in ſolchen Faͤllen ſtets bei allen Individuen, bie bereits vor
längerer Beit geimpft werben find, vorzunehmen. Ob noch deutliche Narben
son der früheren Impfung vorhanden find, ift bigrbei ganz gleichgältig,-da das
Borhandenfein ber Narben durchaus nicht für die Fortdauer des Schutzes ſpricht.
Die ‚Zeit, in der man bie Revaccination, wenn man fie methodiſch betreibt, vor⸗
nimmt, ift in der Regel dab zwanzigſte Lebendjahr; in jenen Fällen, wo bei der. en
fen Impfung nur wenige Puſſeln ſich entwidelt Hatten, thut man wohl, ſie ſchon
frühen vorzunehmen. Die Repacrination darf nur mit frifcher, unmittelbar der
Buplel entaommener Lymphe ausgeführt werden, be fie ſonſt Leicht mißlingt.
Ein: Schaden ift durch eine einmal oder mehrmals. audgeführte Revaccination
niemals zn befürchten; if das Inbivibuum noch geichüt, jo bleibt natürlich Die
Impfung: ohne Erfolg und alle weiteren Bolgen des Operation fallen damit
hinweg.
Die allgemeine Impfung hat durch beſonders zu dieſem Zwecke ver⸗
pflichtete Impfärzte, und alsdann nur von dieſen zu geſchehen. Dadurch, daß
man bie Impfung eines Diſtrictes einem Arzte zur Pflicht macht, erleichtert max
namentlich den Armeren Claſſen, denen eine Entichädigung bed Arztes nicht an«
gefonnen. werden darf, die Impfung, nicht minder auch deren leichtere und fichers
Ausführung dem Arzte. Ob und in welchen Fällen die Bornahme der Im⸗
pfung auf eine fpätere Beit zu verfchleben, muß dem forgfältigen Ermeflen des
Arztes Tıberlafen bleiben. Die weiteren Einzelheiten, die bei der zwangsweifen
Durchführung der Impfung zu beobachten find, Liegen außerhalb ber dieſem Auf⸗
fage gezogenen Grenzen, da fie nur rein Arztliches Interefle haben.
Wenn, wie mit Grund zu hoffen ift, eine allgemein durchgeführte Impfung
mehr und mehr Play greifen, wenn namentlicdy auch die Mevarsination Sich mehr
Anhänger und Freunde erfämpft haben wird, dann wirb auch ber Zeitpunkt
nicht mehr fern fein, wo die Aerzte ſich mit Stolz rühmen können, einer fürch⸗
terlicden Seuche den Boden unter den Füßen weggenommen, fie von der Erde
verbannt zu haben. Mag auch noch manches Jahr bis zur Erreichung dieſes Zie⸗
les verftreichen, fo kämpfen wir doch muthig fort, indem biefe Hoffnung auf end⸗
liche Erfüllung als ein glänzendes Geſtirn an unferem Himmel leuchtet. &8 bleibt
zu erwarten, ob. die Dankbarkeit kommender Jahrhunderte dem haben Verdienſte,
das fi) der Entderfer der Impfung um bie Menjchheit erworben, jenen Tribut
nachträglich zahlen wird, den er in befcheibener Weiſe biöher nur in dem kleinen
Kreife feiner Bachgenoflen gefunden hat.
Wir wenden uns ſchließlich noch einmal auf die Menſchenblattern zuruͤch
um die Behandlung derfelben, nachdem ſie bei einem Individuum audgebrochen,
zu berühren, foweit dies hier non Intereſſe. Vielfach bat man verfuckt, nach
einer vermutheten Auſteckung. ja nach dem theilmeifen Unsbruche der Boden ei
IV. 24
hei Bodenfranfen mit Erfolg eintrat, — — —
—— der Behandlung in der beſten Weiſe ſich bewährt hat und
von Kranken dabei Erleichterung
tauſende
ihrer Qualen gefunden haben, muß man es
— een, wie in vielen Fällen die Podentranten
a αασνα „we 6}
Wo es angeht, ift alsbald nad) dem Ausbruche der Blattern, der davon
Brfalemenah Möglichkeit zu iſoliren, namentlich find nur ſolche, die gehörig
vaceinirt, beziehendlich revaceinirt And, zu demjelben zu Taffen. Wo möglich
find bei geeigneten Rocalitäten — anzuordnen und dieſe
durch mehrere Wochen inne zu Halten; es bezieht ſich die Jſolation des Kranken
nicht blos auf die wahren Pocken allein, fondern auch auf die Varioloiden und mit
Recht Hat man neuerdings darauf aufmerkfam gemacht, auch bei den Spigpoden
vorfichtig zu verfahren. Bei den Kuhpocken ift das Verfahren überflüfflg, da
diefe ſich nur durch unmittelbare Uebertragung fortzupflanzen feinen.
An Stellen, wo die Poren beſonders gefährlich werden fünnen, hat man
im neuerer Zeit mit Gluͤck verfucht , die Ausbildung der Pufteln Hier zu verhin⸗
dern, Wenn dies ftattzufinden hat, mit welchen Mitteln u. f. w., richtet fidy
nach der Individualität des Falles und hat der Arzt allein zu beurtheilen, Wir
erwähnten 8 hier nur, um darauf aufmerffam zu machen, daß dutch ein ſolches
— en —— regieren — a ee
ten Luz
Zum Schluß — ICE
fogenannten Spig> ober Wafferpoden, die Baricellen. Sie gehören
zu den Pocken, da fie ebenfalls durch Gontagion ſich fortpflangen und von ihnen
aus, wie mit großer Wahrfcheinlichfeit nachgewiefen worden , auch die übrigen
Formen der Boden entſtehen können. Die Spigpoden ftellen eine ganz gefahr»
Iofe, ebenfalls meift in Epidemien herrſchende Krankheit dar, die mit einem
leichten Fieber, das feiner Leichtigkeit wegen Häufig-überfegen wird, verbunden
iſt, die Pufteln entwickeln ſich viel unregelmäßiger und ſchneller, fie ftehen meift
ſehr vereinzelt, bilden ſchon oft am zweiten Tage ſich zu Bufteln aus, die im In-
T 7
Die Hoden und die Impfung. 371
nern nicht fächerig gebaut find und daher beim Anftechen, indem ſie ihren ganzen
Inhalt ergießen, zufammenfallen, fe Hinterlaffen bei vorfichtiger Behandlung
Teine Rarben. Gefährliche Zufälle können nur bei großer Vernachläffigung und
Einwirken anderer ſchaͤdlicher Momente auftreten. Eine Behandlung im enges
ren Sinne des Wortes ift bei den Daricellen unnöthig, man beichränkt fich auf
Einhaltung eines geregelten Lebensweife und Vermeiden aller Schädlichkeit.
Einen Schuß vor den wahren Boden geben die Spikpoden nicht, fle machen
daher die Impfung keineswegs überflüffin.
24°
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mim 0. Ada wlan rn ra ul rege ·——
Die Rahrungsm td and teen n Arten.
— ber — ift nicht minder mannigfaltig als die Er⸗
werbung derſelben durch Jagd und Fiſchfang, Viehzucht und Aderbau; fie iſt
bei Thier- wie bei den Pflanzenftoffen immer eine doppelte, einmal für ben
augenblidlihen Gebrauch, dann für die Verwahrung zum’Vorrath auf kürzere
oder längere Zeit.
Je tiefer die Gulturftufe eined Volksſtammes, defto einfacher, deſto mehr
auf augenblicklichen Genuß gerichtet ift die Vereitung des Nahrungsftoffes, der
bier vornehmlich der Thierwelt entnommen ift,
Die Bewohner der Urwälder von Amerika verzehren Fleine und große In—
fecten, bie fie in ber unmittelbarften Umgebung, ja an ihrem Leibe finden,
augenblicklich und unmittelbar nach dem Fange; auch ahmen jie das Beifpiel des
Ameiſenbaͤrs nach, indem fte einen Stod in einen Ameifenhaufen fteden und bie
Thiete an demjelben in ihren Mund laufen laffen. Infectenlarven, die fie im
faulen Holze finden, halten fie jedoch erft ein wenig ans Feuer, che fie diefelben
verzehren. Größere Thiere werben zuvor ausgeweidet, dad Haar am Feuer ab⸗
geiengt, darauf Die Haut reingefchabt und jodann das Stüd an einen Stod ges
ſpießt fchräg gegen das Feuer geftellt. Kaum ift das Thier ein wenig durchbra-
ten, jo wird es zerriffen und Alles bis auf die ganz großen Knochen zerfaut;
vom Anta wird die Haut mitgegeffen, von anderen das an den Därmen entbal=
tene Bett zwijchen ben Fingern gefammelt,
Eben fo einfach ift die Kochfunft der Auftralier, die alle Eleineren Infecten
roh verzehren und größere Thiere nur notbdürftig am Feuer gar machen, Die
armen Pefcheräh eſſen ihre Schalthiere und Fiſche roh, To wie das bereits in
Fäulrtß übergegangene Fleiſch der Thunfiſche, Walen und Robben, der Land«
tbiere und Vögel, das fie finden. Die Bufchmänner, deren liebfte Rabrung
ebenfalls Fleiſch ift, effen daffelbe nur ein wenig angefengt und Schlangen, Heus
ſchrecken und Ameifen werden roh verzehrt, Eben jo machen es die Galifornier.
Die Nahrungsmittel. 373
Das find num allerdings die niedrigften Stufen menſchlicher Eultur, auf
* faum von einer ſchirmenden Wohnftätte die Rede iſt und das Familien⸗
leben nur in den erſten Embryonen erfcheinte
Die ſchon in Familien und Stämmen beifammen wohnenden Jäger und
Fiſcher entnehmen den wejentlichen Theil ihrer Nahrung wie ihrer Reibung, die
in diefer Beziehung bei allen Völkern Hand in Hand gehen, dem Thierreiche.
Die Jägernationen Amerikas Hatten noch zu Anfang dieſes Jahrhunderts
genug Spielraum zur vollen Entwidelung ihrer Gigenthümlichteiten in- den
— Ländern, die gegenwärtig von den wilden Ausläufern der europäifchen
Givilifation mit Beſchlag belegt find. Sie find feitdem theils verdrängt, theils
durch Elend und Krankheiten außerordentlich zuſammengeſchmolzen. —*
noch haben ſich die Ureinwohner von Mittel- und Südamerika erhalten,
Dieſe Jagerſtaͤmme nähren ſich vornehmlich von der Jagd; fie Haben für
diefen Zweck ziemlich ausgebildete Waffen, ihre Hütten ind zweckmäßig einge
richtet, die Kleidung der nördlichen iſt jehr zweckmaͤßig und dauerhaft, Bei den
füblichen wird fie großentheils durch überaus ſaubern Schmud erfegt. Das
Familienleben ift geordnet, auch der gegenfeitige Verkehr der Stämme zeigt ger
orbniete Formen. Und dem allen entfpridt denn auch bie Bereit»
tungsweife ihrer ee ———
Pflanzenſtoffe benutzt werden. ’ IM mn?
Die größeren Thiere werden ſtuͤckweis, bie — RER
an Stäbe geftecht, die gegen das Feuer geneigt find; das ift namentlich auf Jagd⸗
zügen die gebräuchlichfte Methode, Eine andere, inNordamerifa umter den India⸗
nern fehr gewöhnliche ift, die Kohlen glübend aus dem Feuer zu nehmen und
das Bleifch darüber zu röſten, wobei es fauber und appetitlich gehandhabt wird,
en se. — ſchon im 16. ———— * den ——
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374 | Culturwiſſenſchaft.
ſchen Völkern und dem Indianern von Florida die Fleiſchbereltung durch Bur-
taniren, d. b. man pflanzte vier ſtarke Holzgabeln in die Erde, die etwa
3 Fuf von einander —— ———— ————
Dieſe Stämme ſuchen überaus emſig alle efbasen Zhlerorten.ifrer-Umge-
sung auf und bringen fie mit in ihre Hütten, während die Ureinwohner vom
Surinam und ber enraibifchen Infeln vornehmlich den Amphibien und Fiſchen
nachjtellen und BUN DIAERER TED AUROE bereiten, wozu ——
durch bie Frauen angefertigt werden.
Während nun die Männer durch Jagd und Sifcfang für Die. Biete
forgen, haben die Krauen der nord» und mittelamerikanifchen Stämme in den
Pflanzen nicht minder ſchaͤzbare Nährftoffe entdeckt und wir dürfen, wenigftens
in Dem genannten Bezirke, die Frauen nicht blos als die Pfleger, fondern ala
die Erfinderinnen ber Anfänge des Aderbaues bezeichnen. Sie pflangen und
bereiten die Maniocwurzel, fie pflanzen das Indianerforn oder den Mais, fie
fertigen die Töpfe, in denen es gekocht wird, und bereiten auch ben Pfeffer«
topf, in welchem der mit ſpaniſchem Pfeffer MEHRERE gekochte — ala
koſtbares Gewürz aufbewahrt wird, u,
0% Die Bolarvölfer an den Küflen des Eismeeres find faft ausfcgfiefid auf
tbierifche Nahrung gewiejen, bie abermald von denen der füblicher gelegenen Laͤn⸗
und thranteich zu fein pflegen. Einen eigenthümlichen Charakter erhält ihre
Küche noch dadurch, daß das Brennmaterial nicht aus dem Pflanzenreiche ge
nommen werden fann, jondern lediglich dem Thierreich abgewonnen werden
muß, Die fterile Küfte des Eismeeres bringt nur eine ephemere Begetation ; es
fehlen größere Yhume und Sträucher, alles Holz, was vorhanden, en bie
See, bie 2 gen ı Sibirien nach Grönland bri wen es
ı ein koſtbares Material
| —— Inn
Schnee — um denſelben durch Fänlnif und Froft ee Die
Die, Bahrungömittel, 375
Nippenflüde trocknen fle an ber Lufl,. Größere Fifche, wie Lachfe und Kabel»
jaue, werben in lange Streifen gefchuitten und ebenfalld an der Luft getrocknet.
Die Fleinen Häringe werben in Menge gefangen und an ber Luft gebörrt, benn
fie bilden das ganze Jahr hindurch das tägliche Brod. Andere mittelgroße und
Heine Zifche fo wie Vögel werben in etwas Serwafler in dem Keffel über der
Lampe gefocht. Wenn fie einen Seehund erlegt haben, fo verftopfen fie die
Wunde, um das Blut zu erhalten, das fie in Klöße ballen und zur Bereitung
ber Suppen aufheben. Die Eingeweide ber Thiere werden, um das Fett zu ges
winnen, zwifchen ben Bingern durchgezogen. Die Magen der Rennthiers und
Bögel fammeln fie und die darin befindlichen Speiferefte bewahren fie als eine
befondere Delicateffe auf, die mit Thran gemijcht verzehrt wird. Friſche, ange»
brütete und faule Eier werden mit Kräbenbeeren, Angelica und Thran vermengt
ebenfalld in einem Sad als befondere Lederei aufbewahrt. Der Speck der Sei
Hunde erfegt ihnen die Butter, ſowohl frifch ald ausgeſchmelzt; fie feuchten bie
getrodneten Häringe damit an. Die Vögel und Fiſche nehmen fie mit den Hän«-
den aus dem Keſſel und zertheilen fle auch damit, ohne andere Werkzeuge, wie
denn ihre ganze Bereitung der Speiſen nach unferen Begriffen überaus unrein«
lic) iſt.
In ähnlicher Weife war die Einrichtung der Küche bei den Stälmenen und
Ureinwohnern von Kamtſchatka, bevor die Ruſſen das Land in Beſitz nahmen.
Sie aßen die meiften Speifen Ealt, auch diejenigen, die fie am Feuer bereitet hat⸗
ten, nicht eher als bis fe erfaltet waren, und zwar ohne ihren ſtets lebhaften
Appetit an eine gewille Tagesftunde zu binden. Sie Tochten das Fleiſch ber
Landthiere und Fiſche auf eigenthümliche Art, jo lange fie Eeine metallenen Keffel
hatten. Sie befaßen einen Trog von ausgehöhltem Holze, legten das Fleiſch
oder den Fiſch hinein, übergoffen es mit Waller und warfen glüßend gemachte
Steine hinein, bis es kochgar war. Dann ließen fie dad Gericht an der Luft
serfühlen, che fie es verzehrten. Sie bereiteten niemals das Fleiſch an ber
hellen Flamme, wandten auch durchaus Fein Salz an, deſſen Annehmlichkeit fie
erft von den Koſaken kennen lernten, die überhaupt eine vollkommene Umwäls
zung ihrer Sitten hervorbrachten. Sie ofen, was ihnen vorfam, mit Aus⸗
nahme der Hunde, Mäufe und Amphibien. Doch bereiteten fie ſchon zuſam⸗
mengefeßte Gerichte. Der Triumph ihrer Kochkunft war die Selaga, die bei
allen Feſtmahlen den erflen Rang einnahm. Sie fliegen nämlich mehrere Bee⸗
ren, Erdnüffe und Wurzeln in einem hölzernen Troge zufammen, mengten Die
Maſſe mit ihren Händen zu einem Teige und Fochten fie mit Seehund, Wallfifch
und Fiſchfett. Als Brod diente ihnen Weiden- und Birkenrinde, die fie mit
Fiſchrogen anwürzten. |
Die Kurilen machen aus Fiſchen ein eigenthümliches Gallertgericht, indem
fie Die Haut des Kradnariba fo lange unter befländigem Umrühren kochen, bis
fie ſich in eine durchfichtige Mafle verwandelt, der fie geflampfte Gedernüffe zu⸗
fegen und die fie jodann in hölzernen Schalen verfühlen und feft werden laſſen.
Die Koft der Hirtenvölker if ſchon etwas mannigfaltiger, ſchon da⸗
dur, daß fie die Milch der Thiere in den Bereich ihrer Rahrungdmittel gezo⸗
gen haben, Allerdings drüden die Polarfifcher die Brüfe der Sechunde und
Wallroſſe aus, die fie —— —— genießen; dieß iſt aber
pre ur | vorkommende Leckerei, nicht aber
u) we yo Frist a win wi
Rs a6 ven Ken
dem vornehmiten 5
Reijch, währen des Wine, in Steben aenttn, tr Ginitung der Luft
umgeftalten. NER 4 sn I iu DM Tu a
ul — wae tenn nen. gets en
noch eine andere Bereitungsart, die auch den Lappen nicht fremd iſt. Sie wer-
fon Anfangs September die gefangenen Fiſche in Erdgruben, wo ſie in Faulniß
übergehen, aus einander fliehen und ein pikantes Gericht geben, FOREN
man ausfrieren und genießt fie fo dm Winte..
‚Die Iakuten ſchneiden oft das Fleiſch, wenn viel vorhanden ift, in Eleine
Stuücke und fpießen dieſe auf Holzftäbe, — — —
— In — — braten ER
" Die geiößntichfle Bersktung des Bleifihes iR: Jedoc das Ablochen in ſe—
dendem Waffer. und. im dem meift eiſernen Keſſel. So kochen die Lappländer
und Zungufen das Fleiſch der Renntbiere, Vögel und Fiſche, die Samojeden das
ber Hunde, Bären, Hermeline, Vögel und Fiſche ziemlich durchgängig ohne
Salz, öfter aber mit den Wurzeln, die wir bereits kennen lernten, Verweſtes
Fleiſch wird von feiner Polarvölferfchaft verſchmaͤht, das der Amphibien⸗ In⸗
ſeeten und Würmer aber niemals genoffen, |
Das Blut der Thiere wird gefammelt und BEN zu Muß nr
gekocht, oder in Gedaͤrme gefüllt und geforten.
] ee TR N Re werbin mei vo ae
*
Die Milch der Rennthiere bilder einen ſehr weſentlichen Theil de
u fie wird ſowohl friich getrunfen, ald auch in feite Geftalt gebracht und ges
geffen. Die Lappen gießen die Mennthiermilc in große Gefäße, laſſen fie aus—
frieren und theilen fie dann in regelmäßige Stüde. In der milden Jahreszeit
wird fie in einen großen eifernen Keffel gethan, Laib aus dem Rennthiermagen
dazu gejegt und fo ein Käfe bereitet, der in Fleinen Mulden feine Form erhält,
Dieje Käje find hochgelbe halbzolldicke Kuchen mit fehr harter Minde und von
fügem Geſchmack. Man genießt fte cheils roh, theild am Feuer geröſtet. Büt-
Die Habrungsmittel. 377
ter machen bie Lappen ſeltener; fle iſt feſt wie Talg und wird ein wenig ge⸗
ſalzen.
Die Rinder beſttzenden Jakuten machen öfter Butter, die ſodann im Win⸗
ter in Gefäßen aus Birkenrinde unter der Erde oder auch gefroren aufbewahrt
wird. Die Jakuten genießen dieſe Butter vo in Menge; fle übt zuweilen eine
beraufchende Wirkung auf ſie.
So haben wir denn in Butter und-Käfe aus Milch ein Rabrungsmittel,
das den Fortfchritt vom Jäger- und Yifcherleben zum Hirtenzuftande charak⸗
teriffrt.
Mir fanden allerdings bei den Jaͤger⸗ und Bifegernationen bereitö die Bes
nugung der Pflanzen zur Ergänzung wie zur Würze der Fleifchnahrung. Der
Hirt wird aber durch feine Thiere aufmerkſamer auf die epbaren Pflanzen, und
fo finden wir denn bei allen Girtenvöllern die Nahrungsmittel durch die Er⸗
zeugnifle der ‘Pflanzenwelt bei weitem reichlicher vermehrt.
Die Lappländer und Tunguſen benugen eine Menge Kräuter, Stengel,
Beeren und Wurzeln, deren Ramen wir bereitö kennen Ternten und bie fie theils "
rob, theils geröftet, gemahlen, gekocht für ſich oder zu ihren Fleiſchſpeiſen ges
nießen. Die Zufammenftellung der gefuchteften Pflanzen findet der Xejer in
meiner Gulturgefehichte (HI, 23), wo auch jend*efelhaften Berichte angegeben
find, welche die Tungufen als Leckerei beſonders Tieben.
Die afritanifchen Hirtenvölker paſſiver Rafie haben das Rind und das
Schaf ald die Grundlage ihres Lebensunterhaltes. Die Südafrikaner halten
vornehmlich zahlreiche Rinderhterden, die weftlichen Neger ziehen nächfidem auch
Schafe, Schweine und Gühner. Beide aber vermehren ihre Nahrungsſtoffe
durch den Anbau von Getreide und die Benutung ber Baumfrüchte. In der
gemäßigten Bone von Aflen halten die mongolifchen Stämme nächfidem auch)
noch dad Kameel und das Pferd als Heerdenthiere; Die graßreiche Steppe giebt
ihnen indeffen weniger Anlaß zum Aderbau, und eben das Steppengras, das
ben Heerden die einzige Nahrung bietet, iſt Urſache, daß fle fortwährend auf der
Wanderung begriffen find, während jene Afrikaner durch den Aderban fefter an
den Boden gebunden werden.
Die mongolifchen Stämme leben fo ziemlich ausfchlieplich von animalifcher
Kofl. Zur Erhaltung einer Familie reichen zehn Kuͤhe mit einem Stier oder
acht Stuten mit einem Hengſt aus.
Die Kalmyken, die in den wafferreichen Riederungen wohnen, halten das -
Mind; man rechnet funfzig Kühe auf einen Zuchtſtier. Die Kühe werben täg-
lich zweimal gemolfen und deßhalb läßt man die Kälber nur des Nachts bei den
Kühen, die übrigens nur in Gegenwart ihrer Kälber fich melken laſſen. Wider⸗
ipenfligen Kühen, welche die Milch an fich halten, treibt man einen Kolzpflod in
den Raftdarm und nöthigt fle fo, die Milch abzugeben. Gäufiger al die Kühe
werben Pferde gehalten, weldye bei den Kalmyken in Heerden von Taufenden
angetroffen werden. Es find leicht gegliederte, flüchtige, gutartige Thiere, die mit
geringem Futter zufrieden find und gar keiner Pflege berürfen. An der Wolga
zogen ehedem Kalmyfen umher, deren mancher 3—4000 Stud Pferde befaß.
Um Butter zu machen, läßt man eine. Menge Rufe, oder Scyafmildh eine
geraume Zeit im Keffel kochen und dann allmälig anjäuern. Darauf wird bie
Maſſe in einen Trog gefchüttet und mit einem Stode gejchlagen. Die Butter
maſſe fchwimmt num oben auf und wird ſodann in Lebergefäße oder trodene
Thiermagen gejchöpft und darin aufbewahrt. Iſt die Butter aul Dirt Aranns
nicht vollfommen ‚jo wird fie nochmals gekocht, orluhn ed ums
Alle Mild wird gekocht und in den großen —** Milchſchlauch gefüllt,
der niemals gereinigt wird und daher Be Olmzung denelben heil bewerkitelligt,
Auch Brannwein wird daraus bereitet. IS ui BET Cie 2 2
Das Fleiſch ber Thiere, — — —
Reffelrüben. dem — gekocht, dabei jedoch nichts weniger als
reinlich nach unſeren Begriffen verfahren, wie denn auch nie ein Geſchirr gerei⸗
nigt wird, Das Fleiſch wird mit allem Schaum aufgetragen, mit den Fingern
zerlegt und die aufgeſchlagenen Markknochen zum Ausſaugen und Belecken
herumgereicht. Den Ueberfluß an Fleiſch — man in ſchmale Riemen und
trocknet dieſe an der Luft oder am Rauchfeuer der Hurten und Zelte. Das Blut
wird in Daͤrme gefüllt und ſomit auch Wurſt geſotten. — —
nahmsweiſe das Fleiſch am Spieße gebraten. um
Alles, was die Steppe an efbaren Bilanzen, baxbietet, wird An
gelefen und ald Gemüfe oder roh ald Aufauf genoſſen. ATI T
Mannigfaltiger ift die Küche der Afrikaner beftellt. Hottentotien Kaffern
un Betjuanen balten zahlreiche Heerden trefflicher Rinder, ‚die ſie forgfältig,
pflegen, in ihren Gehöften des Nachts halten und am Tage, in ben grasreichen
Öefilden weiben laſſen. Sie jhlachten nur jelten und nur bei befondern Feier-
lichkeiten ein Mind. m | mn 1 pad him ma) wa)
Die Nahrungémittel. 379
Die Milch wird in einen, ziemlich unfauberen Topf gemolken, felten aber
frifch getrunfen und meift mit Wurzeln zufammen gefotten,, auch Butter daraus
bereitet. Um Butter zu machen, fehüttet man die Milch in einen inwendig noch
mit den Haaren verjehenen Lederſack, deſſen obere Oeffnung dicht verfchnürt
wird. Run faſſen zwei Perſonen den Sad an beiden Enden und fchätteln bie
Milch fchnell und fo lange Hin und her, bis fe fich zu Butter geftaltet, die in
einem Topf aufbewahrt wird. Wit der Buttermilch werben die jungen Kälber
und Lämmer gefüttert oder fie wird auch von den Menſchen getrunfen.
Kuhmilch ift Allen geflattet, Schafmilch dürfen die Männer nicht trinken.
Alle Milch wird in dicht geflochtenen Körbchen, in denen Mefte der früher darin
bewahrten Mildy anfleben, bingeitellt. Hier gerinnt fie gar bald und nimmt
einen fänerlichen Gefchmad an. Ban bewahrt fie auch in Lederfchläuchen. Die
geronnene Milch bringt man mit einem Pinfel zum Munde, der aus einem zoll»
ſtarken Pflanzenftengel mit aufgefafertem Ende befleht.
Das Fleifch der Thiere wird durchgehende gekocht, eben jo dad Blut
derjelben.
Das Schwein wird in Loanda, an der Goldkuͤſte und bei den Aſchauti
gehalten und bei Ieteren mit Abgängen von Menjchenfleiich fett gemacht.
Hühnerzucht haben die Kaffern und die meiften Regerflämme. Sie werben
nur mit Infecten gefüttert.
Wie erwähnt, treiben die fämmtlichen Kaffer» und Negerſtaͤmme Feldbau.
Die Hottentotten fammeln fleigig Wurzeln und Zwiebeln und efien fie gekocht.
Die Neger der Sierra-Leonafüfle bauen Ignamen, Dams und Maniocwurzeln
an, aus denen die Ouineaneger viele Berichte, beſonders aber ihr Brod berei=
sen. Die Fulah baden aus den Kernen von Rhamnus lotus ein wohlſchmecken⸗
des Brod.
Die Mandingos und Bulahneger bauen Neid, die Kaffern und Betjuanen
das Kafferforn, eine Art großförniger Hirfe, in ziemlich regelmäßiger Weile.
Sie fchneiden die reifen Aehren mit den Spigen ihrer Haffagayen ab und bes
wahren die Körner ſtets unzerftoßen auf. Die Frauen müflen dann den Bebarf
zur täglichen Speife in Holzmörjern zerſtoßen und darauf zu einem Brei berei⸗
ten, den die Mandingo oft mit getrodneten Fiſchen vermifchen.
Die Kaffern bauen neben dem Waſſermelonen, die fie frifch, zerichnitten
und getrodnet genießen, außerdem aber auch Bohnen, die ebenfalld getrodnet
aufbewahrt werden.
An der Regerfüfte wird die Frucht der guineafljchen Palme (Elais guin.)
gefammelt und aus der Ruß ein Del und eine Butter bereitet , die ſehr gefchägt
if. Der Butterbaum liefert aus feinen olivenartigen Früchten, die man zer
ftößt und abwäflert, einen talgartigen Stoff.
Mir Iernten bereits oben die Blätter, Stengel und Früchte kennen, bie
von den afrifanijchen Völkern zur ferneren Ergänzung ihrer Nahrungsmittel
aufgefammelt werben.
Die Nomaden activer Naffe, die Araber, nähren ſich vornehmlich von ber
Milch ihrer Kamerle und von dem Datteln ihrer Palmen in höchſt einfacher
380
EEE \ z
ven act deren nähere Betrachtung
u ne nn Drew one Er "77
ar ren at ern eh an
der Suͤdſee und des indijchen Archipelagus der Fall üft, auf denen größere Land»
thiere nicht einheimiſch find. Auf den Injelm der Gübee iſt nur Die Ratte
— Die Bereitung der Speifen ift fehr manmigfaltig. —
diſhe und Benfepenfleifg wird in erhigten Gruben gebaden. Man gräbt für
dieſen Zweck ein Loch im den Boden und belegt daſſelbe mit Steinen, die man
burch Beuer erhitt. Rachdem man Die Orubegerenig, legt man. Das zu hacmbe
Steinen, Aſche und Kohlen. Rad Anger Zeit wire dr Gut nmegerum
geröftet. Auf den Peleminjeln verfteht man die diſche ſogar für den foiteren
Gebrauch aufzubewahren. Sie werden nämlich forgfältig ausgenommen, ges
wafchen und gefhuppt, Darauf legt man eine paar dünne Spähne Holz ber
Länge nach, um den Fiſch gerade ausgeſtreckt zu erhalten, und widelt etliche
breite Blätter darum. Dann wird ein Geftell mit vier Füßen gemadyt, 2 Fuß
hoch über der Erbe, und ber Fiſch darauf gelegt, Darunter aber ein Feuer anges
macht: Auf dieje Art wird der Fiſch durch Hige und Rauch in wenigen Stun⸗
ben vollfommen ausgetrocknet und für mehrere Tage wohl az ba hun
reitet, daß er fofort gegeffen werden faın.
Manche Fiſche und Serfrebje werden auf denſelben —— im —
gekocht und gleich fo gegeſſen. Kleinere Schalthiere, auch die Gienmuſchel, wer⸗
den roh gegeffen und nur ein wenig mit Gitronenfaft gewärzt; Fleinere Bifche
verzehrt man ebenfalld roh oder man vo fie vorher von den ea
wenig abmürben,
Die Pflangenftoffe a. auf mannigfache Art zubereitet, ——
bed Brodbaumes, die wir ſchon oben kennen lernten, wird in Gruben geſäuert
und läßt ſich dann lange one Die a nz
und Teig gemacht.
Durch Vermiſchung ** Pflanzenſtoffe wre man ——
in bie tägliche Koſt zu bringen, Man miſcht Taro⸗ mir Yaswurzeln, Banas
nen und Cocosnuß. Auf Tonga bädt man aus dem von der Mohomwurzel bes
reiteten Meble und gefchabter Cocosnuß einen fchmadhaften Lederbiffen, wie
denn bie Köche diefer Infel einen hohen Grad von Gefchiclichkeit entwideln.
Auf den Infeln der Südfee find mehrere zuderreiche Grasarten, barımter
auch das Zuderrohr vorhanden. Die Bewohner lieben die Süßigkeiten und
bedienen ſich ihrer auch meift an der Stelle des Salzes, das fie nicht germ ges
welche den Speifen —— — e
a Sr OB
—
ee er a Hal En E,
der Knoblauch umd bie — ee ſondern nur mit
Se if ya Bubnhng Krytfun np) on fe
Kraft und ihren angenehmen Geſchmack behalten ſollen · ·/··
Wir beginnen die Betrachtung der Gewürze mit dem Salz, das in ber
Küche aller Gulturvölfer die unentbehrlichſte Zuthat zu allen dem Thierreiche
wie der Pflanzenwelt entnommenen Nahrungsmitteln ift. Das Salz tft in fefter
Geſtalt, als Salzftein, 5. B. in Salzburg und Wilizfa, dann als Salzwaſſer in
den Binnenländern, jo wie in der unermeßlichen Waſſermaſſe des Weltmeeres
vorhanden; es wird bergmännifch gebaut und auf die bekannten Arten genießbar
gemacht. Das Salz wird feit uralter Zeit als ein Foftbared Geſchenk der Gott-
heit betrachtet, daher es denn bei den Opfern nebft dem Getreide ſymboliſch zur
Widmung der Opferthiere angewendet wurde. Auf dem Hausaltare, dem Herde
der Römer, ftand ein Salzgefäß; bei Abſchluß von Bündniffen wurde nament-
lich im Orient Salz verabreicht und dieſe Ueberreihung wie ein Eid betrachtet.
In Rupland pflegt man noch jegt vornehme, zumal fürftliche Berfonen, bie zum
Beſuch in ein Haus freten, mit der Uebergabe von Salz und Brod zu begrüßen,
In den Evangelien werden die vom Herrn Auserwählten das Salz der Erde ger
nannt, um ihren Werth und die Wichtigkeit ihres Berufes zu bezeichnen. Der
alte römijche Dichter Plautus nennt Salz das befte aller Gewürze,
Ein alter deutfcher Diätetifer, Hieronymus Vock, preiſt in feiner „Teut⸗
ſchen Speißfammer” (Straßburg 1555, BI. 37) das Salz als das Köftlichfte,
was man zu allen Speifen brauche, und er berichtet auch über die medieiniſche
Wicunaten Des Satzes mac den Anfihten feines Zeitalter, 0
Das Salz ift überall in China wie in den europäffchen Staaten ein Re-
ge. In Rom ward ſchon im Jahre 506 dv. Chr, der Salzhandel vom Staate
DET — — fine Berfung And der Bertrieb bfelben
Die Nabrungsmitltl. 383
gewähren ganzen Land» und Küftenfirichen ben Lebensunterhalt, und der Salz-
verkehr ſetzt jährlich mermeßliche Summen in Umtauf (f. Sof. Satin, Handb.
der Statiftit des öfterr. Staates, II, 209).
Trotz der großen Verbreitung des Salzes über die Erboberfläite finden fich
Doch Gegenden, die des Salzes entbehren und deren Bewohner bis zur Ankunft
der Europäer mit dem Gebrauche des Salzes gänzlich unbelannt waren (f. Azara,
voyage dans l’Amerique meridionale. L 54). 8 fcyeint überhaupt, daß bie
paffive Rafje weniger dad Bedürfniß des Salzgemufles Habe ald die active, eine
Bemerkung, deren nähere Unterjuchung ſich wohl burc) intereflante auf That⸗
ſachen gebaute Reſultate belohnen dürfte,
Das Salz wird in: der Küche der Cultarvölter ziemlich jeder Speiſe von
vornherein zugefeht,, dem Brodteige ſowohl wie dem Fleiſche, ten Salaten wie
ben Gemuͤſen und den Suppen. Außerdem findet man daffelbe auf den Tiſchen
der Armen wie ber Reichen in Eleinen Vorräthen aufgeftellt, um dem augen-
blicklichen Beduͤrfniſſe nachzubelfen. Das einfache Gericht ift Salz und Brod,
von dem dad Eprichwort fagt, es mache die Wangen roth; von einer wenig
Iohnenden Arbeit heißt es: daß fle nicht das Salz zum Brode eintrage.
Das Salz ift eind der beiten Erhaltungsmittel des Fleiſches, wie denn
fchon die alten Aegypter die Zeichname damit zu Mumien machten. Ban erhält
durch Einjalzung das Fleiſch der Säugethiere und Vögel, namentlich aber auch
das der Fiſche. Um Gemuͤſe, befonders Kraut und Bohnen, für längere Zeit
aufzubewahren, Iegt man fie in Salz ein. |
Raͤchſt dem Salze find die. Säuren zu nennen, bie zur Würze ber menſch⸗
lichen Speifen gebraucht werben und welche die Ratuz im Mineralreich wie in
ber Pflanzenwelt reichlich darbietet. Die metallifchen Säuren, wie fie 3. B. das
Kupferoryd enthält, find offenbar der menfchlichen Natur feindlich und fchädlich,
und wo fle angewendet werden, aͤußern fie Tranfhafte Folgen. Wan färbt die
Mfefferbohnen und Surfen mit Grünfpahn, und der römifche Weinſchenke wirft
oft Eupferne Bajocchi in fein Weingefiß, um dem Landwein einen angenehm
fäuerlichen Geſchmack zu geben. Rinder fchädlich find die Säuren, welche die
Pflanzenwelt in den Eitronen, Schlehen, Berberigen, Ampfern darbietet; fie
dienen in beißen Klimaten zur Erfrifhung und Kühlung. Gewiſſe Speifen,
namentlich die Salate, dann auch einige Gerichte werben mit Säuren angemacht,
und man bereitet deßhalb fanre Slüffigfeiten, wozu die Ratur in ber fauern
Gaͤhrung mehrfache Anleitung giebt, und Hält fie in Vorrath in ben Speiſekam⸗
mern und Kellern als Eſſig.
Der bereits erwähnte Hieron. Bod giebt Anleitung, wie ı man aus gutem
Mein Eſſtg machen foll, wie man die Saͤurung durch Zuſatz von gequetjchtem
Pfeffer und anderen Pflanzen beichleunigen, wie man mit zerftoßenen Trauben-
fernen, Weinftein, Brodteig, Bier, Honigwafler und Feigen Effig herftellen
Tann. Er weift and) den Nutzen des Eſſigs nach, den die chemiſchen Unter⸗
fuchungen (Molefhott, Lehre v. d. Nahrungsmitteln. S. 179) der Reueren bes
flätigen.
Ehedem wurde der Eſſig in den Weinlaͤndern, namentlich in Frankreich,
tig das Fabrikat der Bienen und ihrer Verwandten, der H
die am früheften benugt wurde, um die Speifen zu würgen, Seit: alter. Belt
wird die Bienenpflege betrieben und in ben Schriften der Landwirthe umnftände
Lich behandelt. In Europa findet fid) neben dem Honig kaum ein Gewächs, das
man vor dem Emporblühen der Chemie als ſüßes Gewürz benugt hatte Man
brauchte bis in den Anfang-des 16. Sahr hunderts den Gonig · damuls warde bie
betrieben, da man außer dem
vem 15. Jahrhunderte behenn- ie wie oben fahen, er Zuter allgem am
u eg 2 oma ımn 4 ‚\ ar 1omme/b write
In Bot d.Speißtanmer vom Jahre 1555. iſt —*2* noch ganz in
"Ehren. Allein des; Autor fagtz "Inden —
Teutſchland ift fein Ding gemeiner braͤuchlicher als der Zuder; darauf Fochen
und machen fie vielerlei Latwergen, Syrupen, Julep, Eondita, Gonjersas, Con»
feet, Täfelin, Mareipan und dergleichen ohnzalbare Ding. In den Küchen aber
müffen ihunder alle fpeiß und teachten, alle geträndt mit zuefer gefalgen und -
abbereit werden ; wie gefunb aber ſolche fpeiß und getränd feien laß ich ein jeden
erfaren, Bei mir acht ich folche ſpeiß und getränd ſtets gebraucht für unges
fund, oßnangefehen, daß ein fprichwort ift (vielleicht in der Füchen gemacht) Das
laut man könne fein fpeiß mit zuder verberben. u) nn en
Wir fahen bereits oben, wie fehr der Zuckerverbrauch in Europa zugenom+
men und wie man demnächft in Afien wie in Europa auch anderen Pflanzen
nachgefpürt hat, um den in ihnen enthaltenen Zucker zu gewinnen. Auch in der
Zuderherftellung hat die Chemie wefentliche Aenderungen hervorgebracht und Stoffe
(Stärke, Lumpen, Harn) nachgewiefen, aus welchen Zuder gewonnen werden fan.
®
Die Raprungbmittel. 385
Wir wenden ums num zu den Gewürzpflanzen, bie durch ihre Schärfe
zur Kräftigung der Speijen beitragen. Mehrere fhärfehaltigen Pflanzen Bilden
ein ſelbſtftaͤndiges Gericht, mie Retlig, Meerrettig, Kreſſe; andere aber werden
als Zuthat anderen Speifen beigegeben, wie unſer Knoblauch, Zwiebel, Raute,
Schafgarbe, Pferdefraut. Zum eigentlichen Gewürz wird aber zunächft der
Senf umgeftaltet, der zu gewiffen Berichten, 3. B. Rindfleiſch, auf feiner Ta⸗
fel fo wenig wie das Salz fehlen darf. Bon der Senfpflanze werden die Sa⸗
menförner gefammelt, mit Wein, Moft oder Bier zerrieben und, nunmehr Mo⸗
ſtrich genannt, in fleinernen oder gläfernen Flaſchen oder Käßchen in den Handel
gebracht. Defterreich Liefert in dem Kremfer Senf, Frankreich in dem von Di⸗
jon und Chalons die beften Arten. Rächftdem werden auch die Senfförner un-
zerſtoßen verfendet und dann in den Haushaltungen oder von den Händlern ge⸗
mahlen und bei Tifch erft mit Eſſig, Zuder und anderer Zuthat angemacht.
Man benupt Ten Senf häufig zu Saucen, Salaten u, dergl. und Focht ihn auch
mit Roſinen zu eigenen Gemüfen. |
Unter den ausländifchen fehärfenden Gewächfen fteht feit alter Zeit obenan
der Pfeffer; der ſchwarze Pfeffer wird von den Sträuchern unreif abgenommen,
der weiße von den gereiften Beeren gebildet. Der Pfeffer war fchon den Gries
chen und Römern befannt und werth ald Gewürz. Er wurde durch die Araber
aus Indien geholt und über Aegnpten nach Europa gebracht. Dusch Europder,
befonders durch die Holländer , wurde der Pfefferftrauch nach Java und anderen
Infeln des indifchen Meeres verpflanzt. Gegenwärtig werden alljährlich 50 Mil⸗
lionen Pfund Bfeffer in Iava erbaut, von tenen 16 Millionen nach Europa
gehen. Durch die Römer Fam der Pfeffer nach dem nörtlichen Europa, wo er
bald in den Küchen großen Verbrauch fand, wie die Kochbücher des 15. und
16. Jahrh. mit ihren mancherlei Pfefferbrühen und Pfefferfüchlein beweiſen.
Der fpanifche Pfeffer (Capsicum annuum) wächſt in Oſt⸗ und Weftindien,
ift auch in Afrika zu Haufe und wurde zuerft and Benin nach Portugal gebracht,
fpäter aber von Weitindien aus fogar nach Südeuropa verpflanzt. "Die Schote
wie die Körner übertreffen den inbifchen Pfeffer Bei weitem an Echärfe, vor allem
die oflindifchen und zwar dann, wenn fie noch grün find. In den füblichen '
Ländern ift der fpanifche Pfeffer ein Lieblingsgewürz; im Norden legt man den«
ſelben meift erſt in Eſſig, um die brennende Schärfe zu mildern. Auch trodnet
man die Frucht, zerſchneidet und zerreibt fe zu Pulver, dad man mit Mehl oder
Sauerteig zu Brödchen Fnetet, die im Dfen gebacken werden. Dieje werben
dann abermals zerrieben und fomit ein Pfefferpulver Hergeftellt.
Der Jamaicapfeffer (Amomum spurium) befteht aus glänzend ſchwarzen
Beeren, die unreif verfender und Allerleigewürz genannt werden, auch gelinder
ald der gewöhnliche und der ſpaniſche Pfeffer find.
Die Enbeben (Poivre & queue) fommen von Eehlon, Java, der Mala-
barfüfte und der Infel Bourbon. Die Beeren find größer als der gemöhntiche
Pfeffer und haben einen dünnen Stiel. Ehedem überzog man fie mit Buder
und brauchte fie, als Mittel wider den Schwindel, daher fie auch Schwindel⸗
oder Hauptförner genannt wurden.
IV. 25
WR Soare itım ITHan anne AT
ferö angewendet werden... 0 r
— iſche t — wien ni: SE *
Ehedem war der Handel damit ganz in
ai Su. dm Kante
“ui ‚ups ee m —* Hr rn Annan
am Aare Wurzel einer bereits er |
Geplon; auf der Mafaberfäfe und; in Jamaica wich und friep yon: den Dnbiern,
gegefien wird. Die getrodnete benugen fie, wie wir, als Orwürz. Zu uns kommt
ee oe —— auch in Yuder, geſotten. ‚Die «Römer
dem Könige von Ternate überall ausrotten liefen und nur auf Amboina anzu-
bauen geftatteten. ——⸗ deren jeder 125 Bäume
hatte, die jährlich je 2 Pfund Nägelein lieferten. Der Fruchtbaum gleicht dem
* — en Pe» — 2— —⏑—⏑—⏑—⏑—⏑— —
Der tmmt ot cannei iR eben fafräßshefannt.und D aut feine Sci
IDEE ze 1,77 520
Ein indiſches Gewürz, welches aber nicht nach Europa Eingang gefunden
hat, iſt der Betel, das Blatt von Piper betele L., der an Geftalt und Farbe
mit dem Ephen zu vergleichen iſt. Die Hindu und Malapen pflanzen den Betel |
Eben ſo Beliebt iR die Au der Aretapalme, an hen -@
rg er Borrath- in Loflbaren Gefähen Weil
— — ee u ei
———— —
ns—2 Un ee
Gewürze, welche Europa
Die Gewuͤrze, liefert, An inder ig aa ib mer
—— — werden die Beeren des
Braten der wilden Schweine, u — —
— — ln IN Wa und, A re
Gin ect europüfihes, vorzugemeife deu ſches Gewürz if der Küimel,
Der eRRFhmieh (Cara darsi); © Der aus Thüringen und Franken wird für den
Seften gehalten; der geringfte iſt der polnifche. In Polen, Lithauen und Rufe
land wird viel Kümmel verbraucht, Man bädt ihm im die Brode, was auch
Hier und da in Deutfchland der Ball if. Kümmelkörner thut man an Suppen,
an Gemüje, namentlich Kartoffeln, und an Brühen. Im der Volfsfüche ſpielt
er eine große Rolle; auf feinen Tafeln ift er jeltener anzutreffen. Der Garten:
kuͤmmel, auch wälfcher Kümmel’genannt, wächſt im Aeghpten und Paläſtina
wild und wird in Südeuropa, in Sicilien und Malta, in Gärten gebaut, An
Getudf und Saſchuat Reh er = nörbfien nach ne — —
en u n _ “dur rd
—— —— — Italien wild, * uns in Gärten wachfend;
wird ind Brod und in Kuchen gebacen ka reiner ana
* eine Zeit lang für ſchaͤdlich.
Der Anis, der in Aegypten und Syrien ——— —
In, Won in Thüringen und Franken, häufig auf den Beldern gebaut;
ganze Pflanze, beionders aber die einen Samenkörner zeichnen ſich durch
ne Tieblich gewuͤr zhaften Geruch und Fräftig fühen Geſchmoc
aus. Die Dolden werden zum Einlegen der Gurfen verwendet. Den Samen
baͤckt man in das Brod und die Kuchen und fegt ihm auch anderen Epeifen bei:
Er wird überzurfert und ald Genäfch verzehrt, auch zu theeartigen nn
nugt und für Magen und Lungen fehr heilſam gehalthen.
Der Fenchel bietet in der Wurzel wie in feinem Samen heilfame und
würzbhafte Speifebeigaben. Letzterer wird ins Brod gebaden und mit Zuder
überzogen als Nafchwerf verzehrt. Die Blumen legt man mit Gurken ein, bie
gel verwendet men in Italien, wo die Pflanze allerdings ftärfer und noch
omatifcher ift, nachdem man fie gefchäft, mit Eſſig und Del zu Salat,
Der Dill, im Portugal und Spanten wild, wird bei uns in Gärten ges
* ie aucht man wie Anis und Fenchel, die feharfen Samen-
m i j Be Kubfäfe, dem Pötelfeifeh und den Würften bet. Die
tter wer 1 mit manchen Fifchen und mit Fleiſch gefocht. |
Der Salbei liefert im feinen Blättern ein treffliches Gewürz für Dani
braten und Schinfen, Aal und Fleiſchbrühen und — an manchen Or⸗
ten mit Eiern in der Pfanne gebacken. ee ee
Der Majoran wird dem Fleiſche und Fiſche, —— den Blut⸗
wuͤrſten hier und da zugeſetzt, auch zu eigenen Brühen verfotten, "Der Thymian
N r
Kane area nen ben Bohnen ale Gewürz zus
geſetzt. 4* ern Eime u Ben — —— —
aber feiner und ſauber —— ——*—— dem Hunger Bun den Wohlge-
ſchmack berückſichtigt. Die höheren Stände endlich, bei denen der Hunger weni-
ger häufig eintritt, ja bei denen er oft erjt Durch Speifen wenigſtens ald Appetit
gereizt werben muß, haben auch eine bei weitem größere Auswahl von Speifen.
In ihren Küchen wurde die Bereitung der Speijen zur Kunſt ausgebildet.
Demnaͤchſt ift die Küche wiederum in dieſen drei Ständen nach den Bes
ſchaͤftigungen gegliedert. Der Schmied bedarf fräftigerer Nahrung als der We-
ber; der Bauer, der Bergmann, der Holzhacker und Waldarbeiter wird auf
nabrhaftere Koft halten als der Schneider und Cigarrendreher. Die Landleute
begnügen ſich meift vorzugsweije mit vegetabiliſcher Koft. Mehr Fleiſch kommt
in die Küchen der Städtebewohner. Der ruſſiſche und polnifche Leibeigene lebt
faft nur von Grüße und, Kraut, der Obererzgebirger und der Oberfchlefier fat
nur,von Kartoffeln; nur felten kommt ein wenig Sped ober Wurft zu dieſen.
Der Fleine Landmann im ſächſiſchen Elbthal ift im Sommer nur höchſt jelten
und nur an den Befttagen Fleiſch. Eben jo jelten hat der neapolitanifche Ma-
tinaro Fleiſch, er lebt meift von Maccaroni, Kürbifjen ul Dinngens; *
erlangt er das Fleiſch der Seethiere. Eu nd
Die Speifen der Landleute wie der niederen * mittfen laſſen die
Hausfrau oder in wohlhabenden Bamilien die Stellvertreterin berfelben in der
Küche, die Köchtn. Nur in den höchſten Kreifen der Geſellſchaft Hat der Mann
die Direction der Küche übernommen, ber Koch, ber dann allerdings bie Auf-
gabe in ganz anderer Weiſe auffaßt und vor ——
in Herſtellung der Speiſen zu entfernen bemüht iſt.
Ludwig XV, war ber Anſicht, daß ine Köchin nie das leien fönne, was
ein Koch zu leiften vermöge. Er batte diefen Sag, ben id) übrigens auch aus
dem Munde einer ald ausgezeichnete Küchenfennerin anerkannten Dame mehrfach
wiederholen hörte, der Madame Dubarry jo oft vorgetragen, daß diefe den Ver-
fuch zu machen bejchloß, ihren fürftlichen Liebhaber durch Die That eines anderen
zw belehren. Sie ließ in ganz Frankreich die geichichtefte Köchin auffuchen und
unterrichtete fie dann genau über die Lieblingsgerichte Des Königs und feinen
eigenthümlichen Geſchmack. Sie veranftaltete darauf ein Ybendeffen,, deffen
gemachte neue Entdeckung entgehen und benugen fle mit Befeitigumg
des überflüffgen urus in bem Kreife ihres Hauswefene. 0
Endlich treten im Leben ber Samilien und: Wölter Bälle ein welche eine
—— ons! — in den Fahrten durch wüfle Gegenden
und durch die hohe See der Fall ift, wo er frifcher Speifen entbehrend von mit«
genommenen Vorräthen oft längere Zeit fein Leben friften muß. Im belagerten
Städten und Feſtungen muß ber Soldat wie der Bürger oft zu den widerwär-
tigften Dingen feine Zuflucht nehmen, um dem dringenden Hunger zu entgehen,
Da wo eine größere Anzahl Menſchen zu gemeinfamen Zwecken in einem abge-
ſchloſſenen Raume beiſammen wohnt, in Klöftern und Kafernen, wird ofr eine
eigenthumliche, von den Geboten der Sparfamfeit ober anderweiten Vorſchrif⸗
ien geregelte Koft ſich geftalten. Endlich ftebt auch die Küche vieler Nationen
unter ben Geboten der geiftlichen Obrigkeit, die ihr, wie bei den Brahmanen
und Buddhiſten, Inden und Mohamedanern, gewiſſe Rahrungsmittel für alle
Beiten geradezu verbietet oder, wie in der römifchen und griechiichen Kirche, die
Bereitung ber Fleiſchſpeiſen für gewiffe — * er — und
fie auf die Faſtenſpeiſen anweiſt. N
Nach diefer vorläufigen Bemerkung wenden ir —
Speiſen bei den Culturvölkern der activen Raſſe, die im Laufe der Jahrtauſende
fänmtliche Erzeugniffe des Thier- wie des Pflanzenreiches durchgefoftet und auf
alle nur erdenfbare Weife en in die Bereitung derſelben —*
haben.
Eis fühen; wietie Maufihen — Maſſe aüf den nieder Gikisfhufen
zwar überall bereits im Befige des Feuers find, dennod aber gewiſſe Thiere,
namentlich Schalthiere umd Infeeten, vor allem aber Pflanzenftoffe rob ver
zehren, wie fie dann das euer — ——— erg ie
bes Fleifches anwenden.
Die Völker der acriven Raſſe ——— auch ecke aD, —
nugen die vom der paffiven Raſſe gemachten Erfahrungen und wenden wie dieſe
Luft, Rauch, Feuer zur Bereitung der Nahrungsmittel und zw deren Erhaltung
Die. Naprungsmitlzl. | 391
an ‚abet fie verbolltomimten biefelben auf Das forgiamfte, wie fle benm auch Die
Grwerbsarten, Jagd, Fiſchfang, Viehzucht und Aderbau, wefentlich weiter
fördern.
Speifen aus dem Thierreiche. Das Fleiſch der ſchmackhaften
Schalthiere, das die paifiven Geeanwohner meiſt roh verfchlingen, namentlich
das der Aufter, wird allerdings auch von den chineflichen und europäifchen
Gourmands roh genofien, allein fie geben bemfelben durch Gitronenfaft und
Dfeffer eine Würze, die bafjelbe dem Geſchmacke bei weitem zufagender macht.
Die Aerzte haben ſich bemüht nachzuweiſen, welches die zwedtmäßigfte und der
Geſundheit heilfamfte Art fei, Auftern zu genießen; manche haben fie gepriefen,
manche für ſchaͤdlich erklärt und auch die Aufternfreunde find noch nicht ganz
einig, wie fle am beften ſchmecken, und namentlich, welches Getraͤnk dazu das
beſte ſei. Demnächft aber bat die Kochkunft feit uralter Beit verfucht, bie
Auftern zu wohlfchmedenden Gerichten zu verwenden. Ban hat fie gebraten,
marinirt oder auch frijch gewiffen Gemüfen, Salaten, Pafteten u. ſ. w. beigefegt.
Der Mainziſche Mundkoch, M. Rumpolt, gab im Jahre 1580 in feinem Koch⸗
buche genaue Anleitung zu fech8 verichiedenen Aufterngerichten, worunter auch
gefochte Auftern vorkommen. Endlich verfiehen es wirthliche Hausfrauen, aus
Kalbshirn, Kreböfleifh und anderen Beigaben ihre Säfte zur ungewöhnlichen
Jahreszeit mit einem Gericht zu überrajchen,, das den grillirten Auſtern in Ge⸗
ſchmack und Anfehen ähnlich if. Minder allgemeine ESchalthiere werden meift
zu den Salaten verwendet.
Das Volk der Krebfe und Krabben ift Köchen und Köchinnen ein willkom⸗
mener Stoff, den fle vor allen Dingen durch Abſieden genießbar machen und
friſch wie alt, jelbftfländig und gemifcht, in Suppen, Gemüfen und Salaten,
Bafteten und Brühen tafelmäßig zurichten. M. Rumpolt bereitete fchon ſechs⸗
undzwanzig verjchiedene Krebsgerichte. Auch die Fröſche Ichrte er bereiten.
Gewiſſe der See entftammende Gerichte, wie die indianischen Bogelnefter,
die in der chineflichen und indifchen Kochfunft von beionderer Bedeutung find,
bat die europälfche Küche nicht im Allgemeinen auf und angenommen, fo wenig
ald die Heufchreden und Amelfen, die von der pafftven Raſſe fo gern gegeſſen
werden.
Dagegen bat fie den unumfchränfteften Gebrauch von dem reihen und uns
ermeßlichen Vorrathe der Fluß» und Seeſiſche gemacht, namentlich in denjenigen
Ländern, denen die Kirche auf kürzere oder längere Zeit den Genuß des Fleiſches
unterfagt bat.
Die Fifche werden theils friſch, nachdem fle gereinigt, mit Beilag von
Zwiebeln, Wurzeln, Gewürzen, Betten, in Waſſer gekocht find, in Begleitung
son Gemüſen oder Salaten und Brühen auf den Tiſch gebracht und warm ober
kalt verzehrt, theils Täpt man fie, wenn fie namentlich in bie e Ferne verfendet
werden follen, eigens dafür zubereiten.
Der Stodfiic kommt zu uns in lufttrockenem Zuftande und muß baher in
Kalkwaffer aufgeweicht werden, ehe er durch Kochen oder Schmoren mit Fleiſch⸗
brühe oder Fett geniehbar gemacht und mit den dazu geeigneten Gemüſen auf bie
euer ee aber den Hecht, von. pet
Rumpolt vierzigerlei Gerichte, herzuftellen ‚vermochte. Man fertigte ans ben
—* — gg
mit Gemüfen, Compoten, Salaten auf. Die-Wurft vom
Va und ſaltz ihn nicht-diel... Nimm kein Ejfig dazu und ſeudi
ihm an die ſtatt, zeuch ihn aus auf ein Bret und laß kalt werden. Rimm als⸗
dann das weiß Fleiſch vom Hecht und llaub die Gräten heraus und hacks gar
Elein, nimm darnach ein Reißmehl oder,ein Krafftmehl und Mandelmilch treib
das Mebldarmit ab, daß fein glatt und Diinn wirt, ſetz es darnach auff ein
Glutkeſſel und rür es umb, biß auffjeudt, und ſiehe, daß dur es nit anbrennft;
iſt es Diet, fo mad) es wieder dünn mit Mandelmilch, thu den gehackten Hecht
darein uud —— auffieden, rürs wieder umb, biß daß auffſendt, thu
arein ein ſchönen weiſſen Zucker, der fein klein geſtoſſen iſt, auch friſche Maps
| — — — auffſieden, und wenn du es ſchier wilt
vom Feuwer nehmen, jo geuß Roſenwaſſer Darein, [aß Darmit ein Subt-auffe
tbun, und wenn du ibn abbebit, jo thu ein wenig Salz darein und rürs um,
bi das Salz darein kommt. Und wenm du es anrichteft, ſo befträu sd mit
weißem Zuder. Alſo mache man ein Manjcho Blancko.“ Derſelbe unftreiche
Kücherrmeifter kochte außerdem feinen Hecht weiß und gelb, auch blau, trug ihn
auf mir Meerrettig, mit grüner Salfe aus Brunnkreſſe und Beterfilie, machte
ion auch ſchwarz ein; er fertigte won Hecht Hatteln, Priſeindel, Gaperbatti,
Rumbel, trug ihn geräuchert, geſpickt, ganz gebraten, gefüllt auf und-fegte
Magen und Leber gejotten ober gebraten jeinem Herrn vor. Vom Haufen
machte Rumpolt zweiundzwanzig, von Stören und Aalen elf, von Schaiden
vierzehn, von Salmen ſiebzehn, von Forellen achtzehn, son Karpfen fünfunde
zwanzig, von Stockfiſch zwölf Trachten und ——* aus — *
ſtand er neunerlei zu bereiten. nn) nadenm
Der Hecht ſcheint der Richtige auch im 17.Sabehunbert,alif-ben deut⸗
ſchen Tafeln geblieben zu fein. Das volljtändige Nürnberger Kochbuch vom.
Jahre 1691 giebt Anleitung zu ſiebenundſechzig verſchiedenen Gerichten , die
aus dem Hecht durch Sieden, Braten und Salzen mit Mifchung son verſchiede⸗
nen Pflanzen» und Thierftoffen bHerzuftellen find, während vom Karpfen nur
feihsundzwanzig Gerichte namhaft gemacht werben. Lachs Tommt nur gebörrt
vor, Stockſiſch aber in zwölf Gerichten, In den Seeflädten ift natürlich der
Seefifch jehr Häufig auf den Tafeln zu finden und bie Bereitung defielben ninmt
in den Kochbüchern terjelben, 3. DB. dem von Hamburg, Mitau, einen bebeuten-
den Raum ein, wobei denn manche Eigenthümlichkeit entwidelt ift.
Im Allgemeinen ift die Fiſchkoſt an den europäifchen Küften, namentlich an
den nörblichen, ſehr vorherrſchend und auf den Infeln der Rordfee oft die ein⸗
zige, wie denn in Island fogar die Schafe damit fürlieb nehmen müflen. Aber
auch in den nordifchen Reſidenzen Kopenhagen, St. Beteröburg und Stockholm
werden gar häufig Fiſche aufgetragen und ſelbſt in England verzehrt Arm und
NReich große Mengen derfelben alljährlich.
Außer dem Fleiſche werden auch die Eier einiger Fifcharten dur Speife be»
reitet und ald Caviar auf die Tafeln gebraht.
Der Caviar, ruſſiſch Ikra, beſteht aus eingefalgenem Rogen vom Stör,
Haufen, Sterlet, Beluga, Sewrjuga, der aus den großen jährlichen Kifchereien
in der Wolga, "im fchwarzen und kaspiſchen Meere in Menge gewonnen und
nach Europa verjendet wird. Man reinigt den Rogen von den Häuten mit
einem hölzernen Meſſer, ſalzt ihn einige Zeit in einer Lauge ein und legt ihn,
wenn er feinen Saft mehr von ſich giebt, indem man ihn mit den Fingern zer»
drüdt, auf dichte Siebe, um die Feuchtigfeit ablaufen zu lafien. Alsdann wird
er in fpige Beutel gefüllt und vollends darin von der Feuchtigkeit befreit, in⸗
dem.man fie außringt. Endlich wird er in Faͤſſer eingetreten; dieß ift der Sad-
caviar von Aſtrachan. Untere Arten werden flüfflg und marinirt in Käfler ges
Schlagen und verfendet. Wan fertigt auch Saviar in Perflen, der Türkei und
in Italien, macht felbft in Deutjchland, namentlich in Hamburg und Magdes
burg, Caviar aud den großen Fiſchen und bereitet endlich aus dem Rogen der
Karpfen den jogenannten rothen Caviar. Der Caviar fcheint vor dem Anfange
bes vorigen Jahrhunderts nicht in Deutfchland allgemeiner bekannt geweien zu °
fein, indem er in den Altern Kochbüchern nicht angeführt wird. Doc findet er
bereitö in dem Leipziger öfonomifchen Lerifon vom 1731 eine Stelle mit fol«
genden Worten: „Caviaro heißt eigentlich der eingefalzene Rogen von einem
Stör, welcher in Moskau zubereitet und von dort aus in großer Menge verführt
wird. Er ift von jchwarzgrüner Farbe und Hat einen ganz thranigen Geſchmack,
deſſen ungeachtet foll er in Stalien eine Delicatefie machen. Er wird troden,
wie auch flüffig in Bäpchen dahin gebracht. Die Zurichtung befteht in Baumoöl
und Eſſig, jammt ein wenig kleinen darein gefchnittenen Zwieben und darunter
gelegter geröſteter Semmel. Ban hat nach diefer Art ven Hecht» und Karpfen-
Rogen, der von angenehmer Farbe und Geſchmack und von den Italienern zum
Unterjchied deö vorigen, fo Caviaro negro heißt, Caviaro rosso oder rubro ges
nannt wird, zubereitet und eingefalgen. Es ift aber feine Art von allen
beiden bei und in Oberbeutichland in große Eonflderation gekommen. Zu
Anfang dieſes Iahrhundertd wurden jchon große Maſſen des jeitbem fo be⸗
von Augenzeugen berichtet winde. .
© Unter den Vögeln, die auf feine Tafelm aufgetragen werden, find bie Leip⸗
iger Lerchen, die Krammetsvögel und bie Ortolanen zu nennen, Daran ſchließt
ſich bang — ———
—— —— und Reber — und Ein⸗
nen Die Kärabtnget RBLe aber gab- ih Sa 1691
eine
- ‚Werne
4 ‚Dat Keen Bee — anfgehn, as haſlhuhn jur ndiß bie
ungen, zahmen Hühner zu dreiundzwanzig, die alten zu zweiundzwanzig Ge-
richten ; aus dem Gapaun aber verftand er nicht weniger als vierundolerzig Spei-
fen und Trachten barzuftellen. Zur wilden Ente hatte er funfzehn Mecepte, zur
Gans neunundzwanzig er Hieferte fie gebraten, gefotten, geräuchert, Fricaffirt, in
Geftalt von Pafteten, Knödeln, Würften, Eingemachtem. Die wilde Gans gab
achtzehn Gerichte, der Pfau aber nur drei. Diefer edle Vogel, der ganz von
unferen Tafeln verbannt ift, hatte bei den Alten einen befonderen Werth. Die
Römer lobten den Geſchmack feiner Zunge, Rumpolt trug ihn auf, warm ger
braten oder Falt, dann in Pafteten eingemadht und kalt, endlich Falt abgebraten.
„Pfannen, fagt er, „mit einer Gallrat zugeriht, in einer Gallrat die fein
geftchet, famt den Kedern, fo ift es gut zu effen und ift ein fchönes Schauweſſen.
und taunft auf einem Pfauwen vielerlei Speiß machen und zurichten. “
Das erwähnte Nürnberger Kochbuch giebt (S.254) Anleitung zur Bereitung
des Pfauenbratene wie folgt. „Man nimmt ein halbes Seidfein oder halbe Maß
Weineſſig, gießt ſelbigen dem Pfauen in den Hals, daß er erfticht, und rupft
dann ſelbigen bis an den Hals und Kopf, welche befedert bleiben. Nach dieſem
Die Raprungömittel, 8505
wird er vier Tage fang eingebeizet, dann ſowohl aus⸗ als abfonderkich einwendig
mit Ingber, Pfeffer, Regelein, Zimmet und Muscatenbläth wohl eingewuͤrzet
und auf das fleifigfte zugedeckt und verwahret und über Nacht fm Keller ober
einem anderen fühlen Ort aufbehalten; wann er nun gebraten werben ſoll, laͤßt
- man ihn zwei Stunden lang im Salz Tiegen und fiedet Ihn dann an (d. h. den
Bratfpieß), verbindet den befederten Hals und Kopf mit einigen Tüchlein ober
Papier, daß fle nicht verbrennen. Indeſſen fegt man einen Wein zum Feuer,
würzet ion mit Ingber, Pfeffer und Negelein, thut ein wenig Bachichmalz
Darein, macht es fledend, betreifft den Pfauen damit und Täßt ihn alfo ſechs
Stunden lang braten.”
In ähnlicher Weife wurde der Reiher und der Kranich gebraten und warm
oder kalt in einer Schüffel ftehend mit feinen Federn aufgetragen; fo ift es, fagt
Rumpolt, ein herrlicher Vogel.
Dom Faſan Tieferte derfelbe Küchenmeifter zweiundzwanzig, von der Stein»
benne ſechs, vom Birkhahn fünf, vom Auerhahn aber nur drei Gerichte, doch
mußte diefer ebenfalls in feinem Federkleide auf der Tafel erſcheinen. Den in⸗
dianifchen Hahn, unferen Truthahn, brachte er in zwanzig verſchiedenen dormen
auf die Tafel.
Daß der Adler ehedem eine nicht verachtete Speiſe war, zeigt Rumpolt ir
den neun Gerichten, die er daraus berftellte. Er gab ihn gebraten und einge
madıt, in Ballrat und Bafteten.
Das gemeine Hautgeflügel, welches auf unjeren mittleren und höheren Ta⸗
feln erfyeint, find Tauben, Hühner, Enten und Gänfe, welche Tehteren fich
durch ihre Eier und Federn, fo wie ihr reichliches Fett die befondere Gunſt der
Haudwirthinnen erwerben.
Tauben find ein Gericht für Kranke und Kinder, und die Kochkunft muß
fie gang befonders zubereiten, fäuern, würzen, füllen, wenn fle einer gebildeten
Zunge munden follen. Defto ausgiebiger und ſtets gern gefehen iſt das junge
Huhn oder der emporfprofiende Hahn, wenn er zwedimäßig bereitet wird. An⸗
gelehener ift der Capaun und der Truthahn, den ein Frefſer für einen albernen
Vogel erklärte, weil einer zu wenig ſei und zwei zu viel für feinen Appetit; -
derfelbe hat fich den Ehrennamen bes Gonftftorialuogel® erworben. Der Trut⸗
hahn, in ven norddeutfchen Seeprovinzen Kalkuhn genannt, wird dort befon-
derd gern gegeffen und auch ald Ragout aufgetragen.
Die Vögel nüten aber, gleich vielen Fiſcharten, nur im weientlich höheren
Mafftabe, den Menfchen auch durch ihre Eier. Alljäprlich werden Millionen
an dem Strande der Infeln der Rordſee eingefammelt und als Wintervorrath
bewahrt. Nicht minder werden Millionen in den Entenfchiffen der Ehinefen
und den Hühneröfen der Negypter auögebrütet. In Europa werden Millionen
Eier jahraus jahrein frifch zu Gemüfen, Suppen, Backwerken verwendet und
außerdem warm und weich oder Hart gejotten fofort verzehrt oder den Salaten
als Zierde beigegeben oder auch in Salz gelegt und als Zufoft zu Brod ober
Butter verzehrt. Aus Eiern bereitet man zahlreiche Faftenfpeifen. Die Koch⸗
und Kellermeiftereb , die im Jahre 1584 in Branffurt am Main gebrudt wurbe,
Ks kn —— —
—— * ——— gebachene Eier oder
Ochſenaugen, bie noch heutiges X felben Namen in Nürnberg ge⸗
a al Boten Be don ir el |
Waͤmmlein, —* oder Knödlein. Wir finden
ferner: Ein Gras-Göcker oder verlorenes Hühnlein, Eier-Platz, Gier-Käs, Eier-
Käs-Dorten und Eier-Cülzen. Eee
Die moderne Mitauer Küche wann (Mitauer Kochbuch 1844) hat aufer
den weichen Eiern Rührei, gebastene und verlorene Eier, Eierkuchen, gefüllte
Gier u. dergl, Daft jede Provinz des namentlich katholiſchen Deutſchlands hat
ihre eigenthümlichen Giergerichte, wenigſtens egentGämlihe Ramen für and
weit befannte Speiſen, deren Hauptbeftandtheil das Hühnerei iſt.
Im Allgemeinen ißt man die Eier theils weich, theils hart * zum
„theils mehrartig und, mit anderen Stoffen gemiſcht Mittags als Suppe
—— weis auch zum Abendörode mannigfad, als Gehäd
tet, r . “ri IT TUNG
Unter. allen Eiern Sehält das Shhneren den Vorzug vor-den übrigen, mag
auch das Straufenei in Afrika unb das Gänfeei bei und ausgiebiger fein. Ki—
bigeneier haben allerdings einen. feinen Gefchmad, find aber im Ganzen doch
ig als daß wir. Re, unter bie gangbaren Speifen aufn
Önnten, 9—
Im Allgemeinen iſt zu bemerken, daß die Vögel, mit, Ausnahme der *
ben und Hühner, in ber Regel gebraten aufgetragen werden und unſtreitig ge—
braten auch am ſchmackhafteſten und zuträglichften ſind. Sie wurden früher
allgemein am Spieße gebraten und nur die Ärmere Klaſſe, wo die Haus
frau feine Zeit oder feine Dienftleute hatte, weldye den Spieß dreben und
den Braten beaufjichtigen fonnten, bat das Braten in, der Pfanne und im
Badofen hervorgerufen. In M. Rumpolt's Küche ift weder ein Brat- noch ein
Kochofen zu bemerken, Auf dem geräumigen Herde brennt ein gewaltiges
Feuer, neben welchem. fich ber Bratſpieß mit Geftell und Gewichten befindet,
Um das Beuer fiehen die Töpfe und bin umd wieder hängen die Pfannen und
Die Raprungsmittl. . 397
Gafferolen mit dem langen Stiel, die er felbft nebſt feiner wohlgenäßrten Kuͤchen⸗
magd handhabt. Erſt fpäter Fochte man in ärmeren Haushaltungen auch im
Dfen unt dann entftanten, namentlich ſeit das Brennmaterial Foftbarer zu wer:
den begann, die Sparfochapparate, bie nicht ohne wefentlichen Einfluß auf bie
Geftalt der Kochgefchirre blieben. Das Altefte Kochgefchirr iſt der Kefiel, den
wir aus Stein bei den Grönländern und aus Metall bei den Tungufen fanden,
Der Kochkefiel wurde von den Soltaten feit uralter Zeit mit ins Feld genom⸗
men. In Sranfreich ift er, eben fo wie in den weftfälifchen Bauerhäufern aus
Stroh, fortwährend im Brauch und an eiferner Kette über dem offenen Herd»
feuer aufgehängt. Der pot-A-feu nimmt das zu kochende Fleifch und Gemuͤſe
auf, welches die Familie zu Mittag zu eſſen beabſichtigt. Das Kochen im
Dampf in dem verfchloffenen papinianifchen Topfe hat troß feiner großen Zweck⸗
mäßigkeit in den beutfchen Küchen der Privatleute noch wenig Eingang gefun-
den. Defto mehr haben fich die Kochherde und Winter und Sommermafchinen
wegen der großen Reinlichkeit, die fle ermöglichen, immer allgemeiner ver
breitet.
Das Fleifch der Bierfüßer bietet nun den eigentlichen Kern der menſch⸗
lichen Rahrung in den civiliſtrten Staaten und zwar das Fleiſch der auf dem
Lande erzogenen Thiere, namentlich das der Rinder, der Schweine, ber Schafe
und der Ziegen.
Die jagdbaren Thiere nehmen um fo mehr ab, je mehr der Menfch ihre
Heimath, den Wald, die Moräfle und die Oeden, in feine Pflege nimmt.
Noch im fichzehnten Jahrhundert Tieferte die Jagd außerordentliche Waffen
des Eöftlichften Fleiſches auf die Tafeln der Fürften und des Adels; ja
ed fehlte in Städten, zu deren Beſitzthum Forften gehörten, durchaus nicht
an Wild für die Küchen der Beamten und der wohlhabenden Bürger, und
Hafen« und Rehbraten wurden aus ben bedeutenden Vorrätben ber fürftlichen
Jagdhaͤuſer oft zu ſehr billigem Preife an die Bürgerfchaft verfauft. Konnte
doch König Friedrich Wilhelm I. von Preußen manches Jahr über 3500 Stüd
Wildſchweine in feinen Korften erlegen, wovon er eine namhafte Anzahl ven
Berliner Juden zum Kaufe anbefahl, Die fie aber bei Strafe nicht wieder ver-
fanfen durften (f. Gramer zur Gefchichte Friedrich Wilhelm's I. und Friedrich's Il.
©. 165). .
Unter dem Wilde von Mitteleuropa nimmt der furchtfame Hafe, der all»
jährlich feine Durch Schrote und Schlingen gelichteten Reihen mit großem Eifer
aufs Reue zu füllen bemüht ift, eine geachtete Stellung ein. Meiſter Rumpolt
bereitete denfelben auf zweiundzwanzigerlei Art zu. Er verarbeitete das Gehirn
zu Poveſen, wie man fie vom Kalbshirn macht, er Fochte das Vorbertheil mit
Zwiebeln und Aepfeln, aus der Leber und ben Lungen fochte er Muß, in bie
Därme füllte er das zerhadte Hintertheil als Wurſt, er lieferte Karmenada und
Hattele und briet den Haſen auf gewöhnliche Art. Die Nürnberger Koͤchin em»
pfiehlt befondere Sorgfalt auf Die Vorberläufe zu wenden, wenn fle den Hafen
am Spieße briet; dem Braten felbft Half fie durch flarf gewürzten Roſen⸗ und
Hollereffig nach. Junge Häslein trug fle gefüllt auf. In ben deutfchen Haus⸗
einen Sammelrüden, den fie durch — —* — —
in Ermangelung des ächten Rehbratens darzubringen. LS TE
Das Dammmwild liefert einen nicht minder
polt führt e8 unter dem Namen Dendelwildpret auf-und:verftand. es, an
dreißig Speifen und Trachten aus dieſem trefflichen Material herzuftellen. Er
bereitete. die Obren und Die noch weichen Gchörne, das Maul, die Zunge, - die
er ebenfalls räuchern ließ, die Leber, auch als Wurft, den Magen, den Griff, die
Milz, die Lunge, die Nieren, Kuttelflet, Euter, Ziemer, Füße auf pifante Art
zu. Große Sorgfalt empfichlt er auf den Speck zu wenden, womit der Braten
zu: ſpicken ift, und denſelben ja recht Flein zu fehmeiden. Er gab den: Braten
mit wohl geyfefferter faurer Brühe oder mit Salh.
Der Hirsch wurde von Numpolt zu fiebenunddreißig verjchiedenen Spei=
jen verarbeitet. Den Hirſchkopf jort er in einem Keffel, behandelte ihn wie den
Schweinskopf und teug ihn mit dem Geweihe auf die Tafel. Dann lieferte er
gepreßten Hirſchkopf, dem er ald ein ſehr vornehmes Gericht darftellt, das wür=
* ‚fer, auf der Tafel von Kaiſern und Königen zu erſcheinen. Gin nicht min-
der koſtbares Gericht wird aus den jungen fproffenden Hirſchgeweihen gemacht,
die in Waffer, Eſſig und Salz gekocht, in dünne runde Scheiben zerfchnitten,
aufgetragen wurden, Vom Hirſch wurden ferner Maul, Zunge, Lungen und
andere Theile, die auch vom Meh zubereitet wurden, aufgetragen. Zuletzt bringt
Rumpolt ein ganz eigenes Gericht: „Laß Dir das nicht ſeltzam fein, daß vom
einen, ſtuck Wild, das gefangen ift worden, und ein Kalb in ihr gehabt, das
auch nicht recht zeitig ift geweſen, ich von Stund an hab herauß genommen und.
flugs das Häutlein herabgezogen, in einem falten Waſſer ausgewaſchen und alſo
ganz auf ein Tiſch geben. Alſo Hab ichs vor die jungen Herren von Oeſterreich
Die Bppungänikke. 299
zugericht. Es würde wol mancher fchlechter Bauwr nicht darvon effen, würbe
beſorgen, ex freß den Todt daran. IR aber ein gute herrliche Speiſe, wenn
man fle recht zurichtet, kanns einer faft mit Kleifh und Beinen eſſen, fo mürb
iſt e8.'.
In Scandinavien, Preußen, Lithauen, Sieffand uub Kurland wird noch
jetzt das Glenn gelagt und fein Fleiſch gern gegeſſen. Da es jedoch etwas
grob ift, jo muß daſſelbe ſtark geflopft und dann mit Zwiebeln, Pfeffer und
anderem Gewürz, Lorbeerblättern und etwas gequetfchten Wachholderbeeren in
Gifig gelegt werden. Hat ber Braten etwa jechE Tage in dieſer Beize gelegen,
fo wird er geſpickt, mit berfelben Beize in verbedter Pfanne aufs Feuer geſetzt,
langiam gefchmort. IR die Brühe allmälig eingefocht, jo giebt man. ein gut
Stüd Butter dazu und läßt den Braten darin braun werben (Mitauer Kochb.
1844, ©. 201). Das Fleiſch der jungen Thiere wird fehr geichäßt, das ber
alten wird auch für den Winter eingefalgen. Rumpolt behandelte daſſelbe wie
den Hirfch.
Nennthierfleiſch kommt höchſtens auf den Tafeln von St. Petersburg wäh-
send der Wintermonate ver, wo die Tihiere von den Samojeden herbeigeſchafft
werden.
Selten iſt gegenwärtig auf feinen Tafeln von Ritteleuropa das Eichhorn,
obſchon fein Fleiſch weiß und zart if und in Scandinavien gebraten und ges
focht, auch in Suppen gern gegeilen wird. Marx Rumpolt rühmt es als wohl«
ſchmeckend und brachte es gebraten und in Paſteten in mancherlei Geſtalt auf
die Tafel,
Der Bär wurde, fo lange er in Deufchland noch vorkam, ald Braten wenig
geachtet und nur feine Füße und der Kopf — gleich dem des Wildichweind —
benugt. Der Auerochs, deſſen Fleiſch nach Rumpolt größer a als das des zah⸗
men iſt, ward ebenfalls gegeſſen.
Das Fleiſch des Igels rühmt Rumpolt als brauchbar zum Braten, Gin
machen und als Paſtete, eben jo das des Stachelſchweins. Den Dachs über
geht er mit Stillfchweigen, wie auch ben Fuchs, der nus hier und da im Win
ter von armen Leuten gegeflen wirt, wenn er fi von Weinbeeren genährt hat.
Die Jäger machten, als das edle Waidwerk noch im Gange war, aus den ge⸗
hadten Därmen, Herz, Lungen und Leber des Fuchſes gemijcht mit Salz, Inge
wer, Kümmel und Pfeffer Würfte und festen fle mit auf die Tafel nach ter
Jagd. Hatte nun Siner aus der Gefellfchaft eine ſolche Wurft ergriffen und
verzehrt, fo ward er audgelacht, die Jäger bliefen auf den Hüfthörnern und beil»
ten wie Hunde und Füchſe.
Das Murmeltbier, das im Winter fehr fett wird, bereitete Marx Rum⸗
polt zu ſechs Gerichten und irug es gekocht, gebraten, geräuchert mit allerlei
Saucen und Kohl auf. In den Ulpenländern wird: e8 noch jetzt fo gegeflen.
Das Fleiſch ähnelt dem des Schweines.
Dom Biber aß man nur den Schwanz, den man gleich dem Karpfen zu⸗
bereitete. Doch lehrt Rumpolt auch die Küße in Pfeffer und Mandelgeicharb
zurichten.
dreiundachtzig Speifen Herfelie,, — — —
neimunbfunfzig ihm liefente Das Mindfleife) wird gekocht, gebraten; gedüun⸗
ftet, am Spieß, auf dem Roſt, in der Pfanne gebraten, eingepöfelt und gerät
chert und zwar vornehmlich die Zunge genoffen und bilder bei den germanifchen
Völkern die tägliche Grundlage der Mittagskoſt aller fleifcheffenden Klaffen der
Eeſellſchaft. Es wird mit füßen wie fauern und falgigen, mehr oder minder
gewürgten Brüben und Gemüfen genoffen und alle Theile des Thieres werden
benugt. Rumpolt trug den Ochſen⸗ oder auch den Stierfopf gany mit vergol⸗
deren Hörnern auf, preßte denfelben, machte aus bem Gehirn Muß, benutzte
Augen, Maul, Zunge, Ohren, Milz, Magen, Nieren, Schlund, "Füße und
Eingeweide zu einer Menge Gerichte, von demen noch manche bis auf dem heute
gen Tag ſich in dem Küchen als bewährt erhalten Haben und die in dem fpäteren
Kochbücdhern eier 1 ober mit‘ ng —
—* = 14 m aaa
Naͤchſtdem bietet * die Milch — rer — nahrhaftes als ge⸗
—8 Getraͤnk, wird aber ebenfalls nicht allein zu Butter und Käſe, ſondern
auch zu vielen Suppen und Gemüfen allgemein benutzt. N⸗
Die Rindviehzucht bildet daher namentlich in ganz Deutſchland und Eng ·
land, vornehmlich aber in den germanifchen en ame wur wichtigen Bes
fandtheil der Landwirtbfhaft. Tv
Die Herſtellung der Butter ift eins ber — in der Defonomie
und e& wird namentlich in Nieberbeutfchland, in dem mitteldeutfchen Gebir⸗
gen, dem Erz» und Miefengebirge große Sorgfalt darauf verwendet und
theild und bei weiten häufiger zur Bereitung des Wleifches, vornehmlich
DU Snbsungtadtä. wi
aber Der Gemäfe und Barberie verwendet. Rau en Pe. wit und ohne
AR. th zu —66
In Island if Die Baker son befönberer Wiceighrit Kar Hate dort
ehedem hei. den Bitchoföftgen große Berrarhöhäufer mit Butter, ans Denen: fm
Beiten ber Roth die Menſchen verforgt warden. Uebrigens licht man Hier bie
faure, ungefalgene Butter, die man zu ten getrockneten Fiſchen ißt, denn fie
swerbreitet nach dem GBenuffe eine angenehme Waͤrme über den ganzen Körper.
Ein nicht minder wichtiges Erzengniß ift der Käfe, der, je mehr Wild
fett an dem eigentlichen Käfeftoff gebunden ift, um fe fchmadhafter wird (f. Mo⸗
leſchott, S. 171 — über feine chemiſchen und biätetifchen Eigenfchaften). Den
Kite fanden wir bereits bei den pafiiben Volkern. Griechen und Römer kann
ten und aßen benfelben und bei allen germaniichen Rationen wird er ebenfalls
feit after Zeit gemacht, obſchon fein Raute der römiichen Sprache, wie Der der
Butter der griechiſchen entlehnt if. Im 16. Jahrhundert waren, nach Bode
Gpetbfammer (31.25), die beften Käfe die Der. Alpen, des Schwarzwaldes, des
Weasgaues, Münſterthals, Die von Hornbach, Buttlingen ; nächft dieſen rühmte man
die Höllänvdifchen und Partaefankäfe. In Sachſen und Braunfchweig, auch in
Thöringen und Brandenburg macht man bie mngeren, wit Rümmel gemifchten
Kife. Roc in der erſten Hälfte biefes Jahrhunderts wurden wiele Käfe aus
Holland bezogen und zwar Sußmilchkaͤfe, Texelſcher, Epamer oder weflfriefticher
und Leydener; man führte auch Texler grüne Kaͤſe, greene Kaas, aus. Naͤchſt⸗
dem lieferten Limburg, Oſtfrieslaud, Holftein, Mecklenburg und Danzig vor⸗
zugliche Kaͤſe. Später brach fich der böhmiiche und Taufiger Kettläfe Bahn.
Der Schweizerfäfe erreicht meift ein Gewicht von 60 — 100 Pfund und wird
bis Franfreich und Italien ausgeführt. Von Samen und Gryers wurden in ber
erften Hälfte dieſes Jahrhunderts jährlich 80,000 Eentner über Genf nadı Frank⸗
reich verſendet. Die Käfe aus dem Emmenthale im Kanton Bern find berühmt.
Der grüne Schabzieger und der Kräuterkäfe kommen aus dem Kanton Glarus
und werden beide mit grünem Steinflee gewürzt. Salzburg und Oberpinzgau
Hefern mehrere Käfeforten für den Handel, Das Kronland Salzburg Liefert
jährlich 35— 40,000 Centner Käfe, von denen bie geringfle Sorte mit 5 BL
C.⸗M., die befte mit 20 Fl. C.⸗M. für den Gentner bezahlt wird. Die Sorten
heißen guter, fetter und halbguter Schweizerkaſe. England erzeugt gleichfalls
feit Tanger Zeit vorzägliche Käfe, die jedoch wenig ausgeführt werben, Die be⸗
rühmteften find der Gloceſter⸗ Cheſter⸗ und GStiltonläfe. Der Stradyino- und
Parmeſankaͤſe wird in Lande friich gegefien, auögeführt aber vorzugsweiſe zur
Würze von Suppen und Mehlfpeifen angewendet. In Frankreich werden in
Languedoc, Auvergne und: Dauphins die berühmteften Käfe gefertigt, unter
denen dem von Roquefort der Preiß zuerfannt wird; fie wiegen 6—8 Pfund
und haben feit uralter Zeit ihren Ruf erhalten. Gefchägt find die Käfe von
Brie und Marolles.
Schaf und Biege, die zu den Käfen fo wichtigen Beitrag liefern, find
nicht minder durch ihr Fleifch vor großer Bedeutung für die Küche. Bam
ſchlachtet Laͤmmer und gemaͤſtete Hammel. Vom Lamm machte. Rumpolt acht⸗
IV. 26
nur ven Sandmann. ame N r —
Gegen’ (Ende des-vorigen Safırhunderts> erhobensfidh mebrfache Bedenken gegen
den Genuß des Schweinefleifches, Die aber nicht den geringften Einflug übten.
Das Fleiſch der Pferde und Ejel, deren Mildy bejonders heilkväftig für
Brufifranfe ift, kann jo wenig in den Kreis der europäifchen Nahrungsmittel
gerechnet werben ald das Hunde, Hagen und Ratten.
Die Speifen aus dem Pflanzenreiche dienen vornehmlich zum
nn werden urn auch — —
richte genoſſen. er I AL ZI
Rob — — a8 Obſt deſſen Anbau weh
Sid» und Mitteleuropa mit großer Sorgfalt betrieben wird. Das beliebtefte
Obſt der Völker dieſſeits der Alpen befteht in den zahlloſen Arten der Kirſchen,
Pflaumen, Aprikojen und Pfirfichen, der Birnen und Aepfel. Dazu kommen
die Him⸗, Erd», Johannes und Stachelbeeren,, die Weintrauben , Heidelbeeren
und Mispeln. Alle diefe Obftarten werden mehrfach gekocht, eingefotten, ge
würzt, geläuert für den Winterbedarf und für den Nachtifch zubereitet. Jenſeits
der Alpen bilden Limonien, Orangen und Feigen trefflihen Obftgenuß,
Von Nüffen benugt der Europäer die Wallnuß und Haſelnuß, feltener bie
Pimpernuß und Buchnüffe und Eicheln zum PR Die —— kommt
nur als Curioſum auf europaiſche Tafeln. 1
Die Ananas iſt immer nur eine Delicateffe für Wehlhabende Er
Die Blänter, Stengel und Blürhen vieler Gewächje, namentlich ‚die ver
fletenen Krauts und Koblarten, verfehen den Tiſch aller Stände mit reichlichen
Gemuͤſen, unter denen das Sauerkraut und der Kohl hier und ba zu den Nar
XXXGR | 403
tionalgesichten gehören. Andere wie ker Galat und manche junge Blätter wen⸗
ben mit Eſſig und Del alt Zuſpeiſe zu Braten und kaltem Fleiſche genoſſen.
Schr ergiebig find vie Wurzeln für Die wuenichliche Küche, indem fie iheils
roh, theils mit Brühen gekocht, theils mit Eiflg und Del genoffen werden, wäb-
send aus anderen, wie ber Maniocwurgel und ber Kartoffel, ein nahrhaftes Mehl
gewonnen wird.
Demnaͤchſt And auch die Pflanzen zu nennen, bie Dem Menſchen das Del
oder vegetabile Fett gewähren, womit er viele feiner Speiſen ſchmackhaft macht,
Es ift dieß jenfeltö der Alpen der Delbaum, dieſſeits aber der Lein, der Hanf,
ber Raps, der Mohn, die Sonnenblume und die Wallnuß. Kür Mitteleurepa
iR. der Rays von eben fo hoher Bedeutung wie ter Delbaum für den Süden.
Endlich abes wenden wir und gu Dem Getreide, weldes das Brod. zur
täglichen Wahrung darbietet. Die Getreidepflanzen des Drients find Durrha,
Weizen und Weiß, bie ber neuen Welt ber Mais, die der Küfenländer bes Mite
telmeeres die. Gerſte und ber bieffeitigen Alpenländer der Roggen. Neben dem
Roggen werben noch andere Betreibearten, wie Hafer, Haidekorn, Hirfe gebaus,
bie zur Ergänzung des Mehlvorraths dienen, wozu auch noch das Mehl der
Wurzeln, uamentlich der. Karteffel, ja im Rorden Baumrinden verwendet
werden. -
Das Pflanzenmehl ‚dient feit uralter Zeit als weientlicher Robrungöfoff
für die niederen Klafien des Volkes in ganz Europa in Geſtalt von Brei und
von Brod, es barf aber auch als Brod, Gebaͤck, als Mehlſpeiſe, ald Kuchen
nicht auf den Tafeln der wohlhabenden und höheren Klaſſen der Geſellſchaft
fehlen.
In der älteſten Zeit genoß man in Rom und Italien das Getreide täglich
frifa) gemahlen und gekocht ald Buls, deſſen Abkömmling die in Italien noch
übliche Polenta it, die gegenwärtig aus Maismehl bereitet wird. Nächfidem
hatte man auch das Brod, Panid, welches von ten Frauen gemahlen und im
2 Zoll dicken vieredigen Kuchen gebaden wurde, bis die wachiende Volksmenge
der Stadt im. Jahre 580 .derfelben audy Müller und Bäder hervorrief. Man
hatte mehrere Sorten: aus Weizen, Gerfle, Dinkel und auch Eleine gewüͤrzte
Brode. Gegenwärtig hat man in Italien durchgängig weißes Brod, welches
überhaupt den romanifchen Nationen eigenthbümlich zu fein fcheint, wie denn
auch in Frankreich überall Weißbrod gebaden wird. .
In Süddeutichland ift meiftentheild noch das Weißbrod vorherrſchend.
Man hat aber auch noch neben dem eigentlichen gewöhnlichen Weißbrode feinere
Gebaͤcke, Weden genannt, die gar mannigfache Geſtalt annehmen und bald
einem Schiniten, bald einem Knoten, einer Schleife, einem Hörnchen u. ſ. w.
gleichen. Faft jede größere Stadt hat ihre eigenthümlichen Kormen für dieſe
feineren ®ebäde, die durchgehends ungefäuert find. -
In Rorbdeutichland, Polen und Rußland ift gefäuertes jchwarzed Roggen
brod zu Haufe, welches gemeiniglich die Weißbrode an Umfang übertrifft und
eine nahrhafte aber ſchwere Koſt abgiebt. In Sachien if es weniger ſchwarz
und ſchwer als in Wefifalen, Pommern und Holſtein, wo man das Getreide
26 *
Br . "7
—
ee
Pumpernickel ähnlich ift und je eine Portion für zwei oder mehr Tage aud-
mh. Mia mwartid Tor wmrmwoyldan ri mei ee
Für Feldzüge und für die Seereijen bädt man aus weißem Mehle zollftarfe
runde oder bieresfige Bode son 4-6 Zoll Durchmeſſer, Schiffszwiebad
genannt, aus denen alle Feuchtigkeit entfernt wird und die ſich für längere Heit
nr net — ——
4* nv uns Yan a
nm een bädt man den Brobdteig in’ dünne platte Scheiben, bie in
der Mitte durchbohrt find, das Kinäfebrop, ie gereiht in den
ee lange aufbewahrt: wir end ann nd neu
Meben dem Schwarzbrod bädt man —— —
und weißes, meift zum Fruͤhſtück zum Gebrauch in der Küche und für feinere
Tafeln, Das ganz weiße Brod, meift in Geftalt Tanger Cyhlinder, wird Sem⸗
mel genannt und vornehmlich in den Saͤdten, felten auf dem Lande gebaden.
Nuaͤchſtdem giebt es zu gewiffen Iahreszeiten an manchen Orten gewiſſe
Gebaͤcke, wie z. B. in Sachſen und Thüringen die Faſtenbrezeln ans Weizen-
mehl, die vom hoben Neujahr bis zum ——— app
Alt und Jung im den Städten verzehrt werden. von (
Das Prod aber ift ſeit alter Beit als ER een
Beim Nachtmahl brach Ehriftus Das Brod. Gieb uns unfer tägliches Brod,
Heißt +8 im Gebete des Herrn; fein Vrod fuchen, finden, Haben, find täglich wie
mit Fuͤßen treten; in Sachjen legt Die Braut ein Stückchen Brod zu dem Kranze,
den fie ald Braut vor dem Altare getragen. „Schneide das Brob glei, fo
wirft du reich,’ empfiehlt dad Spridiwort. '
Das Brod wird von gewifleniofen Bädern ofe zum Racytheil der menfege
Küchen Gefunbheit verfälfcht und bie EBehlfahrtäpeizei hat daher daſſelbe zum
Gegenſtande fertwährender Aufmerkſamkeit gemacht.
Anfer den Getreidearten liefern auch noch mehrere Wurzeln Rehl, unter
denen von den Europäern krine mehr benut wirb als die Amtoffel. Diefes
Burzelmehl wird indeffen weniger zu gewößnlicken Brob als zu feinerem Gebe
und zur Bereitung von Suppen, Breien und Bemüfen benupt.
NRachdem wir nun die Stoffe zu den Speifen fo wie Die Bereitungdart der⸗
selben kennen gelernt haben, betrachten wir bie Bormen der Speifen, in
weichen fie bei den civilifirten Völkern, namentlich Yon Europa, auftreten,
- Die Kochfunft verändert nicht allein den Geſchmack, fondern namentlich
auch das Äußere Anfchen, Geſtalt und Farbe der in der Küche verwendeten Rab
sungsfloffe aus der Pflanzenwelt durch mechanifche wie durch hemifche Mintel.
Der Koch benugt von einigen Rahrungöfloffen, namentlich der Pflanzenwelt,
nur den fluͤſſigen Saft, den er anderen feflen Aörpern beifept, yon anderen ben
Barbftoff, wie z. ®. den bes Safran und der Heidelbeere, andere wählt er wm
ber ihnen eigenthümlichen Schärfe, Säure und Güßigfelt willen, wieber andere
braucht er, um loderen oder flüffigen Stoffen feſte Geſtalt zu geben, wie z. B.
Hauſenblaſe und andere Gallerte. Das Getreidelorn and bie Wurzel wird
ganz und gar entfaltet und zu Rehl zerrieben, aus welchem der Kuͤchenmeiſter
fefte Körper bildet, wie wir fle in Kuchen, Torten und Bafteten fehen, ja die er
ale Eonditer zur Herſtellung kuͤnſtleriſcher Bebilde, Statuen von Menfchen und
Thieren, von ardyiteftonifchen Darftellungen, Blumen und Kränzen anwendet.
Manche Rährftoffe erhalten ſchon, bevor fie an den Koch abgegeben werben, wie
3. B. das Brod, die Butter, das Del, der Käfe und andere zur Bereifung von
Speifen nothwendigen Stoffe eine andere Geſtalt. Manche Speifeftoffe dagegen
werden in ihrer natürlichen Geſtalt aufgetragen , wie namentlich das Obſt, Vie
Eier, die Auflern. Wieder andere fucht man, wenn man auch ihr Inneres und
ihren Geſchmack wefentlich verändert hat, doch in möglich natürlicher Form amf
die Tafel zu bringen. Dieß gilt namentlich vorzugäweife von den Fifchen und
Krebfen. Einige Bögel, beſonders der Echwan, Pfau, Auerhahn und Faſan, wer⸗
den mindeften® in den Äußeren Umriſſen mit Reſten des natürlichen Kleides auf
bie Tafel gebracht, während von den größeren Ihieren, vom Stier, vom Sirich,
vom Eber der Kopf in möglichft natürlicher Geſtalt, wenn auch in anderer Faͤr⸗
bung, aufgetragen wird. Der größte Theil der Nahrungsmittel kommt aber,
und dieß fchon fett Altefter Beit, in ſehr veränderter @eftalt auf die Tafel. Wir
nähern und biefen Formen und beginnen die Betrachtung, wie wir unfer Diner
beginnen, mit der Suppe.
Wenn wir beachten, wie in den Trümmern der römijchen Belt auf ttalie-
niſchem wie auf deutfchem Boden durchaus Teine Speifelöffel gefunden werben,
jo ſcheint e8, als fei das Eſſen der Suppen nicht allgemeiner Brauch gewefen.
Wir fehen allerdings aus Apicius, daß man mehrfache Bruͤhen und flüjfige
“2 ) all a - Er ge * £& rw tan * u | - *
erberen lewten ſolch ſuppen geben an faſttagen jo: ſee zucker darauf vnd heiſſe
viſch darbey alſo trucken.“ ON Zi u wm woran ⸗⸗
— Mare Rumpolt tritt im Jahre 1581
Datteln, Melonenferne, aus denen er bie managen Suppen : zufant»
menjebte, daz SThannin ZH shit RT TIER ———
Das Nürnberger Kochbuch som: Jafrc-1891 giebt Anleitung gu hundert-
undſiebzehn verichiedenen Suppen, wird aber von dem Salzburger (Augsb.
41717, 4 Bände. 4.) bei weitem überflügelt, welches zweihunderteinundachtzig
Fleiſch⸗ und hundertſechsunddreißig Baftenfuppen barzuftellen Tehrt, ° .
Winder reich find die modernen Kochbücher, z. B: dad Mitauer vor Jahre
muß oft eine nur mit Salz gewürzte und mit Schwarzbrod geflärfte Wafferfuppr
der Suppe aus Mildy, Fleiſch, Fiſch bereitet oder mit Obftfaft, Bier, Wein,
Ghocolade ſchmackhaft gemacht wird. Meise und Sagogräupchen und grüne
Kräuter, Erbſen und Kartoffeln bilden den gewöhnlichen Kern der Suppen in
der Hausmannskoſt, während auf den feſtlichen Tafeln ber norddentſchen Kauf
leute die gebaltreiche Aal- oder Schildfrötenfuppe (Mock turtle) mit Behagen
verzehri wird.) 104 a 1) le ee
Im Sommer genießt man in ben Kaltfchalen ans Waffer, Wein, Bier
mit Bei sen bi ’ —
und mit der Sifchtelle aus der Schüffel auf den. Soll görad mie „Rs
Eigenthümliche Geftaltungen —— * und Faltblüti-
—AOVV——
zumeiſt aus Frankreich.
T Sleiſch wird auch öfters al ng rer und namentlich, bie Fuͤße
‚ Schweine, | |
denen mehrere ſich jet unter dem Titel von Puddings öfters darftellen‘ Die
Purées der Franzoſen And nicht Anderes. Die Breie machen gemeiniglich,
wenn fe ans Grüge, Erbſen, Kartoffeln gefocht find, die Liehlingsipeife ver
Kinder und Landleute and; auf deren iſch ſie namentlich waͤhrend des Winters
faſt taͤglich ee BEE Ar aa une ae Sa
Die Salate werden aus grünen Kräutern, namentlich den Kactufen und
Lattichen, die man daher auch Salat nennt, mit Salz, Eifig und Del, Sped,
faurer Mil), Pfeffer oder Zucker bereiter und Bilden namentlich zum Braten,
tolten Fleiſch, Fifch und Wurft eine belichte Zufoft. Anftatt der Salarblätter
nimmt man aud) Kartoffeln, Gutfen, Rapunticawurzel, Spargel, Bohnen ‚Enz
divien, Kreffe, Sellerie. Marr Numpolt hat bereits funfzig verſchiedene Salate.
Er beginnt mit: Endivien-Salat mit Del und Eifig angemacht und mit Sal
Er nennt ferner: „Weiß Kopffel Salar im Waffer gequellt und wieberumauss
gefühfet mit fig, Del und Salz angemaht, weiſſer Bucter, der geflohen iſt
darüber gegoffen, iſt auch gut.” Dann folgen andere Zufammenjegungen mit
rothen Rüben, Kapern ; dann Salate aus Brunnenfreffe, gejottener oder gebra⸗
tener Zwiebel, Rapunzel, Hopfen, Spargel, Gichorien-Rraut und Wurzel; Mo⸗
merangen, Aepfeln, Sauerampfer, Gitronen, Neffeln, Rüben, Artiſchocken, rothem
Kraut, Kürbis, römifchen Widen, Bohnen, Borei, Rettig, auch: „Kollis Fioris
iſt ein Spanischer Salat, kann man auf allerlei Manier zurichten.“. Zulegt fole
gen zwei große Recepte, wovon das eine Nr. 49 mitzutheilen ft: „Nimm weiifen
Salt, der geqnellt iſt/ reib ein weiſſen Wert und Barmefanfäs, ſchneid Muss
eatenmüß darunter, Nimm Gierdotler und frifche Butter, die ungerlaffen iſt,
ſchneid ochſenmark datumer und thu den Salat darunter und ein wenig geſtoße-
nen Ingwer, fo it es ein Herrlich und gute Fuͤll; nach · ein Teig mit lauter
Eiern, arbeit ihn wohl, treib tha fein dänn aus, weile ehr Schteier, daß er ih
dutchſicheig iſt, ſchlag die Faͤll darein und nimm ein jegliches Viertheil von
Bactuca, ſchlagẽ in ben Teig ſammt der Füll und mach Krapfen daraus. Rimm
ein gute Rtupfleifchbräh und. ein wenig ganz Muscatenblüthe, ſetz auf Kohlen,
und laß auffleden, thu die Krapfen nach einander hinein und laß gemach ſieden.
Alſo wacht man Schlidfrapfen von Yactuea, iR ein Föftlich gut Eſſen.“
Das Rürnberger Kochbuch vom Jahre 1691 widmete der Zubereitung ber
Eſſige, Salate und Salſen einen beſonderen Abſchnitt. Es lehrt zunaͤchſt einen
guten Hauseſſig aus faͤuerlichem Bier oder Wein machen und daraus mit Hilfe
von Rosmarinblüthe, blauen Biolen, blauen Kornblumen, Noſen, Naͤgelein,
Hollunder, Gitronen, Weinbeeren oder Korintben, Erbbeeren oder Weichfel⸗
kirſchen verſchiedene avomatifche Effige darſtellen. Darauf folgen neunundvier⸗
zig Salate, wozu ziemlich biefelben Beflandtbeile genommen werben, welche
Aumpelt für feine Salate in. Anwendung bringt, außerdem aber noch Gitronet,
Aprikofen, Sellerie, Gurten. Gier finden wir auch bie Lehre von der Ein
machung von GOurken und Bohnen.
Die moderne Küche trennt die Salate in foldye, die zu weißen Braten,
Huhn, Buter, Kalb gegeben werden, und in jelbftRändige Salate, die entweder
ale Voreſſen beim Diner oder aber befonders beim Souper gegeben werben. Sin -
neuer Saftrolog, Eugen Baron Vaerſt (Baftrofophie oder bie Freuden der Te
fel. Lpz. 1851. 2 Mde. 8.) widmet dem Salat ausfährliche Betrachtungen. Er
giebt zunächft eine Lieberficht über Die zur Bereitung befielben geeigneten Fruͤchte
wobei er den Lattich, die eigentliche Salatpflanze, obenan ſtellt, die durch Die
Cultur zu mannigfaltiger Form gediehen if, wozu die Kranzofen weientliche
Beiträge geliefert haben. Er theilt Dad Verzeichniß der Kopflattiche, Sommer»
und ZWBinterlattiche, Schnittlattidye, der dreizehn Arten von Laitue romaine oder
Chicon mit. Diefe Lattiche foll man nie waichen, fondern nur mit einem trock⸗
nen Tuche abwifchen. Außer dieſen eigentlichen und Achten Salat verwendet
die moderne Küche drei Gichorienarten, dabei Die Endivien, Rapünschen, welche
die Engländer vorzůglich fchägen und fle nebſt Madischen als Zugemüfe auf den
Tiih bringen, Sellerie mit rothgeflreifter EBurzel, Die jungen Frühjahrspflan⸗
zen der Gartenkreffe, Brunnenkrefſe, die bei Baris, namentlich bei St. Denis
von Bauffter mit neun artefifchen Brunnen gezogen wird. Außer dieſen Pflan⸗
zen nimmt man zur Kournitüre des Salats gehadt und mit andern gemiſcht
Raute, Mangold, Portulack, Löwenzahn, Kerbel, Boretſch, Kraufemünzge, Dra⸗
gun, Ranunfeln, Rapunzel, Löffelkraut, Spargel, Paſtinak, Valeriana locusta,
Seorzonere und Hopfen. In der deutfchen Küche wird auch bie Kartafirt und
die Gurke als Salat gegeben.
Auper.diefen Salaten, die als Zufpeife zu den. Braten gegeben werden,
trägt man noch Sleifchfafate auf, in deren Darftellung Köche und Köchinnen
eine außerordentliche Mannigfaltigkeit entwideln. Zur Salade de volaille gehören
fette Hühner, Bafanen und Nebhühner, von deren Fleifch man dünne Scheibchen
von den Knochen ablöfl. Auf den Boten der Schüffel gehört Lattich, außerdem
werben einige Sarbellenfchnitte und Fleine Stückchen Pfeffergurfen beigegeben.
4
dergl. Die Gemüfehändler geben of
EEE
niture würde der Koch dem Verkäufer an den Kopf werfen, weil Gras nur bie
Hunde freien. 00° — rn re * — en
Der Salat fpielt auf der Tafel eine große Rolle, wenn er bajelbft auch
— ann Benin —
reichgefbiette Börfe. 9 Kunf; einen geichsaduolen Salat gubereiten, Arm
vorzugsweiſe aus Italien, wie ſchon der Name andeutet, und die älteren italienie
ſchen Kochbücher, wie 5. B. das von Bartolomeo Scappi, dem Mundkoch
Paul's I, geben Anleitung zu deſſen Gerftellung. Dann wurde Galat vor-
nehmlich in Frankreich gepflegt und durch den „großen Gauder‘ fein Cul-
tus nach England übergeitedelt. Gaudet jloh zu Anfang der franzöſiſchen Meup-
lution mad) England. Er — — ——
— — Anweſenden — ‚ter bekanntlich
erſt unmittelbar vor dem Auftragen des Bratens gefertigt werden darf, nach
franzöſiſchen Orundfägen zu bereiten. Sein Salat fand ungetheilte Bewundes
zung und er erhielt feitdem fortwährend Einladung auf Einladung, das Ges
ſchaͤft der Salatbereitung an den erften Tafeln zu übernehmen. - Bald fuhr er
im eigenen Cabriolet von Diner zu Dinengund fein Glück war gemacht. In
dem letzten Viertheil des vorigen Jahrhunderts war Die beruͤhmteſte Salarkünft-
Terin von Berlin die Wirthin zur Stadt Rom, Frau Drafe, die mit -aufierorbent-
licher Anmuth und Würde das wichtige Geſchaͤft beiorgte, das an der Tafel
König Friedrich Wilhelm's 1. von dieſem öfters eigenhändig verrichtet wurde.
Ic) verweife Den Leſer auf die Gaftrofophie ded Barons Vaerſt, wo er (BI,
©. 142) das intereffantefte Detail über das reiche Eapitel des Salats finden wird.
- Nächft dem Salat, ber fletö den Begriff von Salz und Säure in fi
fchließt, wenden wir und zu den falten Zugemüjen, deren belebendes und erhal«
tendes Princip der Zuder bildet, au. den Gompot& oder Eingenachten , deren
ber furmainzifche Mundkoch bereitö neungehnerlei Arten anführt und wozu er
Nuß, Amarellen, Birnen, Citronen, Bomeranzen, Ingwer, Onitten und Pfir-
ſichen vornehmlich anwendete. Das Nürnberger Kochbuch, das Salzburger
und das der Tochter ded berühmten Gonring, der Frau Schelhammer, haben
bereitd mehrere andere Fruͤchte in den Bereich ihrer Kunftfertigkeit gegogen, na⸗
mentlich die verfchiedenen Ribes-Arten, Weinbeeren, Pflaumen, Hagebutten,
Miöpeln, Galmus,; Wegwart u. f. w., bie denn auch die neuere Zeit gu vermeh⸗
Banjepo-Bianıto Au ieh Wehen) dorman in jepfic |
Quderheftrent.”. —— ————
4
Wir finden ferner bei Rumpolt (BI. 137),Gollopotrida zu
* BEE BE machen mit
pen Küchenboden
Din im le ‚lad ad er ee
- Im der Älteren Küche waren Die Salfen Gegenftand forgfältiger Bearbei⸗
tung, die denn andy im der franzöflichen Küche noch jegt eine große Rolle ſpie—
len, Die Rürnbergerin verwendete dazu Senf, Gitronen, Obft, Mandeln, Ruf,
Hagebutten, Löffelkraut u. ſ. w. und brachte an zwanzig Arten damit zu Stande,
Derartine Sauren hatten bereits die alten Römer in dem Garum, das folgen»
bergeftalt bereitet wurde, Man nahm kleinere Salzfiiche ein Maß umd that fie
in drei Maß guten Wein, mit welchen man fie im einem chernen Keſſel bis zur
Hälfte einkochte. Darauf wurde die Brühe durchgefelht, bis fie Far war, und
auf eine Glasflafche.gefüll, Man nahm dazu Mafreelen und andere Fiſche
die beite lieferten die Kleinen in Seewaſſer aufgelöften Thunfiſche, die aus Spas
nien famen. Man verichärfte das Garum auch noch mit Effig. Das delica⸗
tefte Garum war das Garum Sociorum, wie es bie een
Generalpächter in, Spanien bereiten ließen. mu 6 ehe ana ae
Auch die oft« und ſuͤdaſiatiſche Küche hat —— bie man den
Fleiſchſpeiſen, bejonderd den Fijchgerichten ala Würze beigiebt. Es ift die
Spia, bie aus den Kernen der Sojabohne (Dolichos) mit etwas Weizen ges
kocht und jodann in Stüdte zerfehnitten wird. Diefe gähren dann, nachdem fie
der Sonnenbige audgejegt worden find, und werden dann im Süden ausge
preßt., Der braune jalzige Saft kommt aus Japan in kleinen hölzernen
Die ν. us
pen: und: us aha Au: laoſaſqhen. rund gen“ zu Staten Be
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Nuter ben <eyen. krangöffgen Saucen war —— la Robert —*
9 von Nabelais beſonders geferert. Friedrich der Große Lichte die Saucen
ſehr und fen Koch Rosi: verſtand ſich vorzüglich auf Die Bereitung: Verfelbenn
Eine namhafte Reihe Saucen finden wir. in dem Caisinier Imperial des A. Biarb;
Baris 18066, wo'wir. Sauce à l’aurore, à. la-d’Orltens, à ia Grimand, & la
Piuche, à la Portugaise, à l’Allemande usb. verfchiedene andere antreffen, zu
denen die neutren Kochbucher der Franzofen reichliche Nachtraͤge liefern. ‚Die
Sauren,” ſagt Baron Waerſt I, 206, „find Die Klippen ber Köche: fie erfordern
grüändliche Ammninig der Chemie.“ An die Seucair fchließen ſich die Jus und
Gouls ; letztere dienen in der Küche, Die Saucen und Votsgen körperlicher und
Damit geniehbaren und geſchmackvoller zu machen, wozu man elbleiſch Gi
nerfleiſch, Ghampignend, Linfen und Krebie anwendet. 0
5 Die Paſteten Bamımen ‚ebenfalls aus Ralien. I umpoirs Bucr
finden wir jechäundviersig Paſteten aus: Fleiſchwerk und Gevogel und zwanzig
ans Fiſchen. Das Rürnberger Kochbuch vom Sabre 1691 Kat ebenfallo vier⸗
undfunfsig Resepte dag... Die moderne Kochkunſt leiſtet in Frankteich wie in
Kurlaud Hierin ſehr Worzuͤgliches, obſchon fie: auch darin nche dem Ginfachen
fich zuwendet als die aͤltere. A— ———— * sen
langer Beit einm beraten Ramen schalten, — nn... :.: Ä
| Aus England flammen die Buddinge, die eigentlich mit den —*
Kloͤßen im Weſentlichen üͤbereinſtimmen und arſprünglich kaum enwaßAnderes
find als die Polenten der Südeuropäer. Der Name Pudding kommt reſt is
dieſem Jahrhundert auf dem Continente vor. Wir finden denſelben vornehm⸗
lich in der norddeutſchen Küche und es iſt demſelben im Mitauer Kochbuche ein
namhafter Raum gewidmet.
In der füddeutfchen Küche vertraten denfelben in früher Zeit die Wfl
und Eierfpeifen, welche die fübdeutfche Küche, namentlich in den Eatholifchen
Ländern, in vorzüglicher Auswahl und großer Büte lieferte.
Sie bilden den Uebergang zu dem Sebadenen, wovon Rumpolt ſechs⸗
undfiehzig Arten bereitete und wobei gemeiniglich Mehl und Eier den Kern bil⸗
deten und wozu er Obſt, Mandeln, Zeigen, Weinbeeren, Gewürze, Rofenwafler,
Rüfle u. f. w. verwendete. Dad Nürnberger Kochbuch widmet dem „Gebache⸗
nen’ einen ganzen Ubfchnitt von einhundertfünfundneungig Abtheilungen und
lehrt Küchlein, Schnitte, Trauben, Kränglein, Schneeballen, Badhütlein, Hirfch«
geweih, aufgelaufene Thierlein, Kräpflein, Pfaffen-Schläplein, Pfeffer-Rüblein,
Spigweden, Wespen⸗Neſt, Scheiterhaufen, Gogelhopfen zubereiten. Ein eigen»
thümliched Gebaͤck waren die in der füddeutfchen Küche gewöhnlichen Ronnen-
fürzchen.
Die Torten, Bi, wie wir faben, im 16. Jahrhundert ſchon beliebt wa⸗
ren, haben fich bis auf den heutigen Tag erhalten. Im Nürnberger Kochbuch
finden wir dreiundfechdzig Arten. Der berühmte Stangenkuchen, Baumfuchen,
dann die Marcipane und Lebkuchen gehören ebenfalld, Ießtere wohl als Vorläu-
414 ‚GEulturwiffestiäaft.
fer, hierher. In den Hemigreichen Wäldern von Preußen, Bolen, Rußlaud,
verwendete man feit alter Zeit den Bienenzuder zur Gerftellung jener Lebkuchen,
die noch jegt in Danzig, Koͤnigoberg, Thorn und in ganz Rußland, fo weit das
ſinniſche Element vorherrfcht, gemacht werden. In Nürnberg, bad in der Mitte
bed Bienengarten des heiligen römifchen Reiches gelegen war, bat fich die Ma⸗
nufactur des Lebkuchens bis heute erhalten. Der Zeig muß fehr lange aufbe»
wahrt werben und erlangt durch das Alter eine befondere Güte. ine Abart
find die Pfeffertuchen in Sachſen und Thüringen, bie Freiberger Bauerhaſen,
dad Tyrolerbrod umd äbmliche füße und gewürzte Backwerke aus Brobteig.
Endlich werden als Nachgerichte noch mancherlei andere Mifchungen von
Betten, Zuder, Gewürzen, Meblen u. dergl. aufgetragen. So raähmt Rumpolt
jeinen Mandeltäfe, dem er eine beſonders forgfältige Schilderung widmet. Dazu
gehören die Gelses und Cremen und enblich auch das Eid, Pas ſeit etwa
dreißig Jahren ſich fo allgemeinen Eingang verfchafft Hat und wovon die älteren
Kochbücher gar Feine Rotiz nehm. Doch hat bereits das Pariſer Kochbuch
(Straßburg 1752) eine Andeutung. In dem Klima von Neapel ift bafielbe
Beduͤrfniß; urjprünglich bebiente man fich defien. mehr, ‚um bie Getränke und
Brüchte darin zu Tühlen. Später jedoch ‚behandelte man. daſſelbe ald einen Kör⸗
per, defien kühlende Gigenfcheften man durch Zufag von allerlei Süßigkeiten, -
Sruchtfäften und Gewürzen zu heben ſuchte. Dazu nimmt man vornehmlich
Banille, Mandeln, Himbeeren, Citronen, Erbbeeren, Ananas, Kaffee und. Cho⸗
colade. a
Dieb find denn die vorzäglichften Beftalten, in welche die Rabrungdmittel
der Menichen gebracht werben.
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416 Ppiloſophie.
Wir haben das Wort Aberglauben hier als einen wohlbekannten Aus.
drud gebraucht, aber behufß einer näheren Unterſuchung darüber wird es nöthig
fein, den Sinn deſſelben näher zu beſtimmen. Dabei wollen wir gelegentlich
den Einwand abweifen, ald ob der Aberglaube jegt aus der ganzen aufgeflärten
Melt fo vollfändig ausgerottet fei, daß es nicht mehr der Mühe verlohne, noch
von demfelben zu jprechen. Jeder wird Leichtgläubigfeit und Aberglau-
ben zu unterfcheiden wiſſen. Riemand wird Den des Aberglaubens befchuldigen,
der zu einigen falfchen Nachrichten Vertrauen faßte, die an und für fich Feine
Ungereimtheiten hthieften;-wnhn wird: itzr höchflens leichtglaäusig nennen. Selbſt
wenn er fich ganz unwahtfeheinfiche Dinge einreden ließe, 3. B. daß es ein Land
gebe, wo. Die gewshiclichhe Grahl ver Menſchen gu ih, amd deren Alter tau⸗
fend Jahre betrüge, würde man feine Leichtgläubigkeit blos Tächerlich finden, fle
aber nicht mit Aberglauben verwechſeln. Wer fidy Dagegen einbilten läßt, dap
Etwas in der Natur anderd ald nad) Raturgeiegen wirken kann, den nennen wir
abergläubifch. Wenn z. B. Iemand glaubt, daß ein krankes Tier Durch
Beſprechung mit Bauberformeln zu heilen if, ‘der nimmt ohne Zweifel an, daß
gewiſſe Worre rine Wirkung Haben, die fie nach den Geſeten der Ratur nicht
haben können, Ich will ein Paar andere, hiervon ganz verfchledene Beifpiele
anführen. Manche Leute glauben, daß der, welcher von einem Hunde gebiffen
worden, der im Augenblid des Beißens noch völlig gefund war, von Wafferfcheu
befallen werden kann, wenn der Hund nachher diefe Krankheit bekommt, obgleich
diefe beiden Dinge, den Raturgefegen nach, in feinem Zufammenbange fteben. —
Die nicht feltene Einbildung, daß es gefährlich oder Doch ein unglückliches Wahr-
zeichen fei, mit Dreisehn zu Tifche zu flgen, jet voraus, daß eine beftimmte Zahl
Wirkungen hervorbringen, oder auf irgend eine Weiſe mit Wirkungen in Bere
bindung fiehen fann, welche den Raturgefegen durchaus fremd find. Richt, weil
folche Einbildungen etwas Naturftreitiges annehmen, bezeichnen wir fle als aber«
gläubifch — denn fonft müßten wir audy Die Meinung abergläubifch nennen, daß
ed ein Menſch vertragen könnte, Scheibewafler flatt Branntwein zu trinken,
fondern darum, weil fie mit Bewußtfein, wenn auch mit nur dunflem, anneh⸗
men, daß in der Natur Etwas gegen die Naturgefege gefcheben kann. Es Ifl
nicht unfere Abſicht, Hier von allerlei abergläubiichen Neigungen zu fprechen;
nur von dem Hange, ſich übernatürliche Dinge ald in den Bang der Natur ein⸗
greifend zu denen, wollten wir reden. Diefer Hang, diefe abergläubifche Denk⸗
art, bleibt oft Leuten eigen, die durch ihre Erziehung gelernt haben, allen Aber»
glauben zu feheuen. Ich habe z. B. vor Jahren einen franzöftichen Emigranten
gekannt, der es als Beleidigung angeſehen haben würde, wenn man ihm Glau⸗
ben an Geſpenſter zugerrant hätte, der fich aber von Freimaurern verfolgt glaubte
und ſich einbildete, Daß die Londoner Maurer auf ihn einwirften und ihm Nachts
durch thierifchen Magnetismus Krämpfe beibrachten, wiewohl er in Kopenhagen
war. Ich weiß ganz wohl, daß einige Raturforfcher hiermit verwandte Wirkuns
gen annehmen, und daß Einige von ihnen fid, vorftellen, der thierifche Magne⸗
tismus Fönne feine Wirkungen welt in den Raum hinaus verbreiten, gleichwie
das Licht, die Cleftricität und der Erdmagnetismus. Aber bei jenem Emigran«
Aberglaube und. Unglaube. 417
ten war die angenommene Meinung, wie bei manchen fogenaunten Magnetifeurs,
eine Einbildung von übernatürlichen Wirkungen. Auch wenn jemals wirkliche
Naturgeſetze entdeckt würden, wonach eine menfchliche Willens» und Nervenwir⸗
kung fich in bie Berne verbreiten Fönnte, werden doch immer Diejenigen, welche '
dergleichen Wirfungen für übernaturliche gehalten haben, fich ded Aberglauben®
fiyuldig machen. Man muß Dergleichen ber Einbildung gleichachten, daß Je⸗
mand Durch Zauberei feine Meinung in einem Ru Mitbrüdern zu erfennen geben
Tann; die Entdedung der eleftromagnetijchen Bernichrift Sönute ſolchen Wahn
nicht vernünftig machen. — Gin anderer Franzoſe Außerte mir einmal die Mei⸗
nung, Rapoleon habe nur mit Hülfe der Freimaurer ſoviel auögerichtet. In
jenem erfteren Kalle wurde alfo angenommen, daß eine Törperliche Wirkung außer»
balb der Ordnung der Ratur hervorgebracht werben Tönne, im lepteren, daß
natürliche Wirkungen eines Weſens in welchem große Faͤhigkeiten vereinigt
waren, von einer Gemeinwirkung anderer Kräfte berrührten, welche nach den
Geſetzen der geiftigen Ratur unmöglich das Nämliche bewirken konnten. Wil
man bergleichen Irrglauben auch nicht als Aberglauben bezeichnen, jo wird man
doch die nahe Berwandtichaft damit nicht in Abrede ftellen können. Anders
muß man dagegen abergläubifche Meinungen anfeben, welche nicht im Gifte bes
Aberglaubend aufgefaßt werden. — Ich Eannte 3. B. im vorigen Jahrhundert
fromme Leute, welche nie von religiöien Zweifeln berührt worden waren, aber
von Geſpenſtern, an welche damals noch allgemein geglaubt wurde, fagten, daß
fie deren Dafein zwar nicht geradezu abläugnen dürften, daß fie ihreraber nicht
achteten, weil fie ja ohne Gottes Willen nichts ausrichten könnten. Allein der
Wille Gottes ift ja der religiöfe Ausdrud für Die ewigen Geſetze des Dafeins,
und folglich dachten jene frommen Menfchen fich auf ihre, freilich unwiſſenſchaft⸗
liche Weife das Uebernatürliche dem Ratürlichen einverleibt. Bu der nämlichen
Zeit Fannte ich einen Mann, der oft mit großer Robheit feinen Unglauben in
Religionsſachen betheuerte und fich doch fürchtete, bei Nacht über einen Kirche
hof oder an einem Hochgerichte vorüberzugehen. . In der That! das war ein
echtes Mufter von abergläubifcher Denkart! .
Um die Bedeutung des Hier Aufgeftellten richtiger zu faſſen und damit
einige darin vorfommende Aeußerungen nicht mißperftanden werden, müſſen wir
und das Weſen der Raturgefege näher vor Augen ftellen. Obgleich wir bereit
willig gefleben, daß die Raturwiflenfchaft, in Vergleich mit ihrer endlofen Auf⸗
gabe, noch fehr unvollfommen ift, fo dürfen wir doch fagen, daß fie vollkommen
hinreicht, um darzutbun, daß die Raturgefege ewige Vernunftgefege find; fie
fennen, beißt ven Vernunftzufammenhang der Natur, diejenige Vernunft ken⸗
nen, welche das ganze Dafein durchdringt und beherrſcht, dad leibliche wie das
förperliche Dafein. Die Ratunwiffenfchaft ſtimmt völlig mit der Religion über-
ein, die da lehrt, daß Alles von dem göttlichen Willen hervorgebracht ift, her⸗
vorgebracht und .beherrfcht wird. Irgend Etwas im Laufe der Dinge überna«
türlich nennen, heißt alfo, es als gegen die Vernunft und den Willen Gottes
ftreitend bezeichnen. Ich weiß zwar, daß Manche den Wahn hegen, die ewig
ſchaffende Kraft könnte es doch wohl mitunter nothwendig finden, Ausnahmen
IV. 27
jen | imen far — 8
u — — dur. Sa rm
cben ſowenig undenfhar alß erfabrungeftreitin; unfere Nnerachung
ſich nur einer Menfehen, deſſen Begriff von der Natur auf bieunmitteinefle
finnliche Gegenwart befchränkg iſt. Wir ihn iſt nicht allein das Geiftige etwas
Uebernatürlides, fondern ihm ſind es alle Gegenftände in der körperlichen Nas
tur, die feine Gedanfen nicht im Ginklang mit dem Gewoͤhnlichen zu bringen
vermag. So tft ihm z. B. der Sternenhimmel etwas Uebernatürliches, ſodaß
er in ſeiner Unkunde von den Geſetzen, wonach derſelbe regiert wird, man
bie widernatitrlichften Einwirkungen auf menſchliche Dinge zuſchteiben kann. Ein
etwas mehr entwickelter Begriff ift doch oft noch mit vielen Irrthümern beladen,
die ihrem inneren Weſen nach zur nämlichen Klaffe gehören. Dies ift der Wall
mit Denen, bie ihre Vorftellungen von der Natur bei Erwägung der Verſchie⸗
denheit des Körperlichen und Geifligen fo davon feſſeln laſſen, daß fie die Ein-
heit der Vernunftgefeggebung, die das AM umfaßt, nicht gewahren. Allen, die
fo befchränfte Begriffe von der Natur haben, tft es möglich, fich einen aͤbernatür⸗
lichen Eingriff in diefelbe vorzuftellen , ohne die Vernunftwidrigkeit des Gedans
Feng ſelbſt gewahr zu werben. Solche Menſchen leben, ohne es zu willen, im
Widerfpruch mit dem Dafein, und mäflen bei jeder kräftigen Gedankenregung
dahinfommen, es zu fühlen; fie verbleiben im einem traurigen, die Seelenkraft
Aberglaube und Uinglaube. 419
unterdrücdenden Gefühle der Verwirrung und Entfernung vom ewigen Lichte,
“wenn nicht etwa jenes geiftige Streben fie foweit bringt, daß der Widerſpruch
mit hinreichender Klarheit vor fle hintritt, um fle über denſelben hinauszufuͤhren.
@in folder Zuftand kann bei einigen Menfchen, wie es in einem gewiflen dunflen
Beitalter häufig vorfam, zum äußerfien Berfinfen in geiftige Kinfternig und zu
daraus folgendem Vernunfthaß und zu Gottlofigkeit ausarten. Sollte Dies viel-
leicht Manchem beim erften Blid eine überfpannte Anwendung von Brundfägen
ohne wahre Liebereinftimmung mit der Wirklichkeit zu fein fcheinen? — Wäre
Dem wirklich fo, ich würde jelbft die ſtarken Ausdrüde haflen und mid) fcheuen,
fie zu gebrauchen; allein Hoffentlich wird man fie nad) näherer Erörterung ber
Sache gerechtfertigt finden.
Dem Aberglauben iteht als entgegemgejegte Entartung der IInglaube
gegenüber. - Dies ift ein Hang, alle unmittelbare Gewißheit, die nicht von finn-
lichen Eindrüden herrührt, zu verwerfen, und alle Ueberzeugung nur auf bieje
und auf die Audfagen des Verflandes zu bauen. ,
Aberglaube und Unglaube haben ſich unter dem Menfchengefchiechte
“in der Gemeinfchaft entwidels, in welchen bie Gegenjäge, die immer wechjeljeitig
einander hervorrufen, ſich nothwendig offenbaren müflen. Wir wollen baher
ſuchen, und einen Ueberblid über die Entſtehungs⸗ und bie Entwidelungsart
Beider zu erwerben. |
Das Menjchengejchlecht beginnt, gleich dem einzelnen Menjchen, feine Kennt»
niß mit der unmittelbaren Uuffaffung. Der Kindheitszuſtand, worin Mas eigent-
liche Denken ſich nur noch wenig entwidelt hat, und die Bearbeitung, welche bie
Sinneneindrüde davon erhalten, nur noch fehr geringe ift, biltet in ber Ente .
widelung des Geſchlechts ein langes Zeitalter. Dad Bewuptjein des Menfchen
vom eigenen inneren Zuflante bekomut hier einen bewältigenden Einfluß auf die
Weltauffofjung ; er legt fein eigenes Fühlen und Wollen, jein Borftellen, in die
finnliche Ratur; Alles um ihn ber ift lebendig, ift fühlend und wollend wie er.
Die innere Welt, welche der Menſch fich auf diefe Weiſe bildet, iſt eine Welt Der.
Dichtung, fehr verjchieden non derjenigen, die das Denken ihn weiterhin Tennen
lehrt. Da aber die wahre Wirkung, welche im Denken mit Bewußtjein handelt,
alle unfere Seelenäußerungen durchdringt und ihre Form bildet, jo erhält dieſe
tindliche Weltauffaflung eine eigenthümliche Uebereinftimmung mit ber in ber
Katur herrſchenden Vernunft, und dadurch das unſerem inneren Sinne ſo ver⸗
ländliche Bernunftgepräge, worin das Weſen des Schönen befleht, Das niemals
verfehlt, uns für fich einzunehmen. Könnte Der Menfch fich in Diejer Dichtungs⸗
welt erhalten, jo würde fein Leben ein harmoniſches Ganzes fein; aber feine
MWeltauffafiung würde alsdann nur eine ahnende, halb träumerijche jein. Der
Bernunftzufammenhang, Die Offenbarung der göttlichen Vernunft im Dajein,
würde feinem Bewußtjein nicht Elar aufgehen. Durch langen Kampf muß Das
Beichlecht daher auf den Standpunkt geführt werben, wo die Grundeinheit in
unferem ganzen Bermögen und allen unjeren Auffaſſungsweiſen und klar gewor-
den, und Denken und Dichten nicht mehr in Streit mit einander liegen. Kür
dieſes Ziel ift in der ganzen Einrichtung des Dajeind gejorgt worden.
27*
Ei Ppiloſophie.
ſtigten Weltgegenden einen großen
—— —
wird. In den fälteren Grofrien ich —
ey ra en nn —
A ' R f 1, und bieje
Kundigen werben * der Menge als mit ee
thaͤter der Menfchen geehrt; mittels ihrer Weisheit werden die Vrrrichtungen
möglich, wozu Vorausbeftimmungen nöthig find, wie beim Ackerbau, bei religiö—
jen Berfammlungen, bei großen Geerzügen u. dgl. Nicht eben die große Menge
wird dadurd zum bejonderen Nachdenfen gewedt; allein in den Kreifen von Eins
geweibten, wo Kenntniffe gepflegt und bewahrt werden, ficht man bald ein, daß
die Vorftellungen, welche ſich das Bolt von den Himmelsförpern ald von felbft-
berrichenden Göttern macht, deren Mildthätigfeit man die Wohlthaten des Jah—
res zu verdanfen hat, nicht zu den Geſetzen pafjen, wonach Die Begebenheiten ſich
— bie Einwirtungen: Der Außenweit:geRaten ‚eb nicht fir.bringendö
richten müffen. "Dadurch entftchen denn, zufolge der menfchlichen Natur, zwei
einander entgegengejegte itigfeiten; bei Einigen ein Zweifeln an die Bor
ftellungsweife der Menge im Allgemeinen, und fomit auch an die Wahrheiten,
bie in einem mit vielen groben Irrthümern untermijchten, jedoch in feiner Grund⸗
lage richtigen Glauben enthalten find; bei Anderen Dagegen die Furcht vor einem
Wegphiloſophiren alles Göttlichen in den Dingen durch zu vieles Denken. Wih-
rend der erfien Entwickelung jener Einfichten werden doch dieſe beiden: Richtun-
gen kaum zu einer entſchiedenen Einfeitigkeit ſich binaufarbeiten; der Gedanke
wird fich vielmehr wie in Schwingungen zwifchen den beiden Ertremen bin und
ber bewegen und der Menfch es fühlen, daß jein Gedanke den Boden diefer Tiefe
nicht zu erreichen vermag. Uber Die nämlichen Gedanfenricdytungen werden fich
allmälig weiter ansbilden, und zwar um foviel mehr, je größer die Zahl Derer
anwächft, welche ſich einige Kenntniſſe von den Himmelögejegen erwerben, die
doch bei den Meiften nur ſehr oberflächliche wurden. Dies wird namentlich der
Ball jein, wenn Greigniffe am Himmel, welche Die Menge biöher mit Schredten
betrachtete, als gefahrloſe Folgen der Weltgefege verkündet werben. Man denke
fid) das Grauen, welches die Menfchheit überfallen müffe, wenn fie beim Anblick
der Leitung der Natur umfaßte. Aber nachdem man num von Fe
vor der Natur gelernt hatte, daß ſie grundlos fei, folgte von ſelbſt die weitere
Brage, ob nicht daſſelbe von unzähligen anderen gelte, und hei Vielen blieb es
natürlich nicht bei der bloßen Frage. —
Der hier erwähnte Fall, fo bedeutungövoll und gebantentwedtnb derſelbe
auch fein mochte, konnte freilich nicht an und. Re re
flug Haben, aber er ift auch nur ein aus einer Unendlichfeit herausgeg
Beifpiel. Denn der Gedanfe wird unaufhörlich geweckt durch den Gir tup be
umgebenden Welt auf den Menfchen, und fo oft er einer Urfache, einem Zi
menhange auf die Spur fommt, geräth er im Wiberforuch mit Der alten
der Einbildungskraft. Die freieften und felbftthätigfien Geifter werden *
ſolchen Fortſchreitens nicht dabei ſtehen bleiben, eine eben ertaunte Sermein
zu verwerfen, fondern werden ſich durch den gemachten Fortjchritt angetrieben
fühlen, Alles zu verwerfen, was irgend eine Aehnlichteit mit dem emtdeeten Se
thum hat, Die Mehrheit von Denen, welche ſich die neue Gedanfenrichtung
angeeignet haben, wird indeffen leicht hingeriffen werben, bie Verwerfu g über
die rechten Grenzen hin auszudehnen, und ſo auch in Gefahr lommen⸗ Bahr
heiten zu verwerfen, die mit Itrthuͤmern vermiſcht find. — Ihnen gegen
ſtehen Diejenigen, welche ſich von den alten Vorurtheilen nicht losreifen fönnen.
Einige berjelben geleitet vom einer tiefgefühlten Ueberzeugung derjenigen ver-
meintlichen Wahrheiten, die man nun verwerfen will, Andere, und ihrer ift bie
große Mehrzahl, verhärtet gegen alles Reue durch Stumpfheit des Denkens. Die
Männer des Kortfhritts, erfüllt: von Freude über die gewonnene Ausficht in
eine neue Gedanfenwelt, werden mun über diefen feigen Widerftand entrüftet
werden und ben alleinigen Grund dazu in geiftiger Schwachheit finden wollen,
während auf der gegnerifchen Seite Furcht und Erbitterung entſteht, weil. bie
Anhänger am Alten die Weltanfchauung bedroht fehen, womit ihr Gottbewußt-
fein verwachſen ift. Diefer Kampf zwifchen zwei widerftreitenden Einfeitigfeiten
ift jedoch jo wenig als irgend ein anderer. ein ununterbrochener, denn bald. ge⸗
winnt die Gedankenerweckung das Uebergewicht Durch abermalige neue Entdeclkun
gen, bald tritt eine Zeit der Ruhe ein, in der man Gelegenheit findet, bie Gre
‚gen, welche die rafche Gedankenbewegung allzuweit hinausgerüct hat, enger
—— Pier han
——
ee "Die Benfeen,
m —— ntniſſen anzueign ‚ welche die Denfer dem Gefchledte
vorben oh RE De
—9 — nd, AA — — — —
de —— Jndeſſen wird. auch bei den roferen
Nach durch die Bligfunfen höherer Gedanfen erweckt,
Ser fie verbreiten. — Noch manntgfaltiger iſt die Wirkung aller
ber Früchte des Denfens, welche den Menfehen als das fiets wachfende Erbe ber
— mit jedem neuen Menſchenalter mehr Nachdenten
erfotdern. Aber das Denken, welches dadurch erweckt wird, kommt bei der Mehr-
beit nicht zu der Entwickelung, daß es frei, feiner eigenen Natur gemäß, wirken
hu; ee Menge genöthigt, unter der Herrſchaft
der Ginbildungsfraft un, ſoweit möglich, in ihrer Welt zu wirfen. Man will
— mit ben begreifen, und den für Diefe unverdaulichen
verarbeiten, die ſchon im demfelben Maße, worin
fle fi * und mehr ehe verwirrter und ſelbſt widerfprechender wird.
Während dieſes Zuftandes entfleht denn ein fonderbates Gersebe von Gefchöpfen
der alten Dichterwelt und der Maffe von Kenntniffen, wozu man nun gelangtift.
Man würde fich tÄufchen, wenn man glauben wollte, dieſe Gebilde in den Dich-
terwerfen eines folchen Zeitalter in entichiedenem Gepräge wiederzufinden; in
dieſen fleht man nur, was der Schoͤnheitsſinn ſich davon answählte und umge-
ſtaltete. Im den geſchichtlichen Werken, welche große Begebenheiten erzählen,
| nu J bim ı Drmmi zuk vi A —
Wollte. man asgen Das srdende Zeugnif: der Weltgefihichte hier den Ein-
wand geltend machen, daß eine ſolche Gottlofigfeit im Mitielalter nicht häufig
fein Fonnte, wo die Religion fo hoch in Anſehen ftand, fo muß ich darauf erwi⸗
dern, daß eine unparteitiche Betrachtung der damaligen Religionsübungen zeigt,
wie auch dieſe voll von Uberglauben waren, Der Gott, den man verehrte, follte
zwar der vom Chriſtus verkündete fein, in ihrer wirklichen Vorftellung war er
aber ein ganz Anderer, Dan dachte ſich ihn als einen hochmächtigen Ober-
fönig, nicht ald den Geiſt, der in Ehrifto und in der Wahrheit angebetet werben
joll, Einzelne zerſtreute Ausnahmen weichen fo ſehr von ber bamaligen allges
meinen Sandlungsweife ab, daß fie nicht ald Gegenbeweife angeführt werden
Eönnen. Die unter der großen Menge herrfchende Meinung war, daß fie ihre
—
|
Biel ‚große Rufb Haben, zu vergefen. Man wird entgegen, wie biefe Meinung
vom Mittelalter ſchon oft, und zwar in den ſtaͤrkſten Worten, verbanımt worden
pr non ee Ich kenne dieſe
ondern wir mäffen die Augen:öffnen und zufehen;; wie bie Menſchen jener va—
ten wirklich dachten. —— — wahren Bilde vergan⸗
— er mis.) DENE
Es verſteht ſich, Daß bel der-Bebantenrictung, die wir bier verfolgten,
unfere Aufmerffamfeit ausfchlielich auf bie Cihattenfeite des Mitelälter6 gerige
tet fein mußte. Aber nachdem dies geſchehen, geziemt es fih, uns jelbft daran
zu erinnern, daß Fein Irrthum irgend eines Zeitalter fo berrfchend war, um
nicht auch dem Wahren und Guten großen Einfluß zu geftatten. Was ich alſo
darthun wollte und für gewiß Halte, das ift, wie der Aberglaube im Mittelafter
einen weit größeren Einfluß auf das Reben und die Denfart hatte, als die mei-
ſten neueren Schilderungen beffelben dies vermuthen Taffen, und daß derfelbe in
dem Maße, worin er zur Herrichaft gelangte, — — in nen
Gottlofigkeit offenbarte,
Daß die Religiom jelbft nicht ſchuld an Diefen Irrthümern war), ——
kaum erft gejagt zu werden. Aber wir haben hier eins der zahlreichen Beiſpiele,
wie verjchieden bie Meligion von den Menjchen aufgefaßt wird, je nach dem un⸗
gleichen Grade ihrer Kenntniffe und der verfchiedenen Entwickelung ihrer Bähig-
keiten. Das Menſchengeſchlecht Hat zum wahren Verftändniß der chriſtlichen
Religion erft erzogen werben müffen, und biefe Erziehung ift zwar von Stufe zu
Stufe fortgefchritten , ſchein aber von Der Vollendung noch weit entfernt
zu fein.
Der Aberglaube: ftreitet * nur gegen die Religion, ſondern areift auch
verwirrend in das Leben ein. Um bies recht zu würdigen, müſſen wir ung in
eine Zeit verfegen, wo der Aberglaube vorberrichend war. Beigte fich eine Sons
nen⸗ ober Mondfinfternif, fo entftanden Befürchtungen, es möchten das ſchlimme
Vorbedeutungen ſein, und dieſe Furcht erhielt ſich viele Jahrhunderte hindurch,
ja wohl mehr als ein Jahrtauſend, nachdem die Wiſſenſchaft den Grund der Ver⸗
finfterungen aufgefunden hatte. Erſchien gar ein Komet, fo war die Beängfli-
Aberglaube. und Unglaube. 425
gung noch größer. Im fünfzenten Jahrhundert befahl fogar ein Papft, da
auf Beranlafiung eines erjchienenen Kometen in allen Kirchen geläutet werden
follte._ Bei großen linternehmungen befragte man die Sterndeuter und ließ
fi von ihrem Mathe beftimmen. Ob man zur Aber laſſen dürfe, oder ein inne
res Mittel brauchen müffe, ja ob es dienlich fei, ſich die Haare fcheeren zu Laffen,
bedurfte es der Anfrage bei dem Himmel. Die Bedeutung, welche man in Zah⸗
len zu finden meinte, die aus ganz willtürlichen Annahmen entfliehen , verjchaffte
der Furcht, daß die Welt im Jahre 1000 vergehen werde, einen umfaſſenden Ein⸗
fluß in der gangen Ghriftenheit. Das blinde Bertrauen zu Wahrfagungen rich⸗
tete fpäter oft große Verwirrung an. In Krankheiten nahm man nicht felten
feine Zuflucht zu Männern und Weibern, denen man übernatürliches Wiſſen
zutraute, und erhielt bald nügliche, bald ſchaͤdliche Rathgebungen von ihnen.
Wurden in einem Haufe Menjchen oder Vieh von Seuchen befallen, oder es er»
eignete fich fonft ein Uebel dort, jo mußte es von böfen Menfchen oder von ande
ren böfen Weſen angethan fein, wodurd man dann, außer dem Uebel, auch
noch die Furcht vor böfen Mächten zu tragen hatte. Eelbft die Beränderungen,
denen das menfchliche Gemüth unterworfen ifl, wie z. 3. der Uebergang von
Liebe in Meberbruß oder Abneigung, ſchrieb man fehr häufig ber Zauberei zu
und fuchte übernatürliche Hülfe dagegen, wobei denn nicht felten ein abfcheulicher
Zaubertrank als Arznei gereicht ward. Das Dunfel war mit Schreckniſſen an-
gefüllt: in den Wäldern, in den Bergen, in wüjten und felten Gefuchten Gemä-
ern, um Kirchen herum hauften Hexen, Kobolde, Berggeifter und Beipenfter;
Wärwölfe und Todtenrofle liefen nun auf den Straßen, und fogar im Innerften
des Hauſes konnten böfe Mächte das unfchuldige Kind in der Wiege vertaufchen.
Ich habe begreiflicherweije hier nur einige Züge fammeln fönnen ; wenn man fie
aber der Aufmerkfamkeit werth Hält, fo wird man leicht einfehen, daß ihr Ein-
fluß kein geringer gewefen. Will man dagegen einwenden, daß alle dieſe Dinge
fo dicht aneinander gereibt feien, wie fie im wirklichen Leben es niemals gewefen
fein fönnen, fo geftehe ich das augenbliclich ein. Allerdings gab es nicht we⸗
nige Menfchen, welche fich, vermöge eined natürlichen Hanges dazu, foldyen Ein⸗
bildungen ganz befonderd hingaben, und für dieſe mußte das Dafein dadurch zu
" einer Art Hölle werden. Uber bei den gewöhnlichen Leuten müfjen die zahlrei-
hen und verftärften Eindrüde, welche fie von der wirklichen Welt empfangen,
jene Einbildungen überbieten und dämpfen, ſodaß fie bei Einigen nur’eine viel
fach unterbrochene, bei Einigen eine nur geringe Wirkurtg binterlaffen. Im
Ganzen fanden aber dieſe Phantaflegebilde den Lebensverhältgifien jener Zeiten
weit näher ald die dichteriſch⸗ſchönen Züge, welche fo viele Schriftfteller fait aus⸗
fchließlich anführen, wenn fie und ein Bildodes Mittelalter geben wollen. Es
fteht ſomit feft, darf ich fagen, daß der Herrfchende Aberglaube das Leben der
Menichen im Mittelalter mit einer Unruhe, einer Verwirrung, oft mit einem
Schrecken erfüllte, welcher unferer Zeit fremd ift, obgleich fie fich noch nicht ganz
von dem beichämenden Ioche des Aberglaubend befreit hat.
Roc muß ich eine Meinung vom Aberglauben berühren, die ihn zum Schooß⸗
finde mancher Gebildeten macht: man fagt, er fei poetifch und klagt darüber,
für folche
Mann, der, ald © Ewalds „Baldurs Id“ — hatte, fragte: wo wohnte
denn „Nanna?“, und darauf die fehr pafiende Antwort erhielt: „in der Chri⸗
Renbernifoverftraße,“.*#) — Id) weiß fehr wohl, daß einige ausgezeichnete Dich«
ter in ihren Werken Perſonen eingeführt haben, Die lächerlich gemacht werben,
weil ſie nicht an übernatürliche Weſen glauben wollen. Uber wo eine ſolche
Darftellung als gelungen angefchen werben foll, da kann fie nur gegen Diejerti-
gen gerichtet jein, welche übermatürliche Wejen auch aus, der Dichterwelt vertrie-
ben ſehen möchten, weil fie die dichteriſche Wirklichkeit derjelben mit der proſai⸗
ſchen, die ihnen der Aberglaube beilegt, verwerbfeln. Infoweit der Dichter dies
anders meinen follte, verfällt er in einen proſaiſchen Irrihum.
Daß ein ſolches Mipverfländnig jogar höchſt begabte Dichter irregeleitet
hat, iſt indefjen nicht zu läugnen. Es gab eine Zeit, da der Gedanke ſowohl in
Deutjchland als fpäter in Dänemark bei manchen geiftreichen und in gewiſſen
Nichtungen bochgebildeten Menſchen Eingang gefunden hatte, daß man Durch
Wiedereinführung des Aberglaubens der Religion und der Poeſie einen Dienft
erweifen würbe. Diefes Streben gewann bejonders dadurch Leben und Kraft,
daß es ald Gegenjag und Kampf gegen eine damals herrſchende proſaiſche Denk
weije auftrat. Die Zeit, worin dieſes Streben fich geltend machte, ift nun vor⸗
über, aber die geiftigen Kräfte, womit ber Streit bier und da für den Aberglau-
Fon i er nicht — — —
1 ae / — —
*Der Leſer denke hierbei nur an Schillers Götter Griechenlande
®*) Gine ber jämmerlicften Gaffen Kopenbagens: *
Aberglaube uud: Maglaube. 437
fondern es wird derfelbe noch befländig dadurch erneuert, daß er ums in Werken
aus: dammligen Zeiten aufgehoben ift, die wegen ihres bichterifchen Werthes fort-
während Lefer finden. Ich will am lichften ein großes Veifpiel davon anfüh-
ven. Der Dichter Tie gehörte in feinen jüngeren Jahren zu Denen, weldye
mit großer Kraft die Damals herrſchende proſaiſche Denkweiſe angriffen, und er
‚that dies mit einer Gejchicklichkeit und einem Wige, welche ſtets ein Begenfland
ber Bewunderung bleiben werden; aber man darf auch nicht vergeflen, wie er ſich
eine Zeit lang fo von diefem Streben beberrfchen ließ, daß es ihn über die Gren⸗
zen ber Wahrheit hinausführte. ES Liegt in einigen feiner Dichterwerke ein
unverfennbares Trachten, der Aufklärung zu tragen. Dies tritt beionders in
feinen Märchen und anderen Volkserzaͤhlungen hervor, in welchen er alte Fa⸗
deln auf's Innigfte mit dem Alltagsleben verfnüpfte, und zwar in fo £larer und
einleuchtender Darftellung, daß das Uebernatürliche darin fich eine andere Wirk⸗
lichkeit ala die dee Dichterwelt gleichſam ertrogte. Leſen ober, noch beſſer, hören
wir, was den Stoff ausmacht im „blonden Eckbert“, dem „Runenberge“, den
„Elfen‘, in der unmittelbau auffafienten Weiſe der Volksſagen erzählt, der jede
Gedanfenentwidelung fremd ift, fo werden wir dadurd in eine entiprechende
Stimmung verjegt, wo die inneren Wideriprüche und Der ungeheuere Streit des
Stoffes mit dem ganzen Dajein nicht allzu ſtark hervortreten; aber wenn bie
Begebenbeit auögemalt und bei der Anpafjung an bie und wohlbefannte Wirk⸗
lichkeit in unzählige Berührungen mit dem Nachdenken gebracht wird, jo fühlen
wir den Widerfpruch, ſelbſt wenn die Schönheit der Dichtung uns hintert, und
dies fogleich Klar zu machen. Eine ſolche Dichtung macht ald Ganzes einen
Eindruck, ald ob die Welt von den Mächten der Finſterniß regiert würde, und
der Menſch ein Spielzeug in ihren Händen wäre. Indem man ſich dem Ein-
drucke vecht Hingibt, wird man von einem unausiprechlichen Grauen ergriffen,
und wenn man fich denfelben nochmals zurüdruft, fühlt man fich fo unheimlich,
ald wenn man in einer Welt des Wahnwiges eingeiperrt geweien wäre, wohin
fein Schimmer der göttlichen Vernunftregierung über das bedrohte menſchliche
Dajein hätte dringen können. Es iſt feine ausreichende Rechtfertigung des Dich-
terwerkes, daß der Urheber defielben mit wohlbedachtem Borfag handelte, und
mit Geift und Geſchicklichkeit jenes Grauen erweckt bat. Seine Dichterpflicht
wäre es gewefen, und in eine Welt des Schönen zu verſetzen; dieſe ſchließt ein
erjhütterndes Grauen gewiß nicht aus, allein fie giebt nicht zu, daß Die Mächte
der Finſterniß über das Licht berrichen. Bei Bekämpfung deö Irrihums, daß
die Dichtfunft eine Dienerin von außer ihr liegenden Zwecken jein dürfe, hat
man fidh nur zu oft verleiten laſſen, ihr .eine ungebundene Freiheit einzuräumen
und uneingedenf zu fein, daß ſie nicht im Geiſte ihres wahren Weſens handelt,
wenn fie ſich darauf befchräntt, in gewifien Schönbeitöformen vor und aufzutre-
ten. Uber es giebt eine ganze Schönheltöwelt, deren Geſetze Feine Dichtkunſt
übertrtten darf: wenn fie denſelben huldigt, fo tritt fle aus eigemer freier Kraft
auf einmal in den Dienft der Religion, der Moral und der menfchlichen Geſell⸗
ſchaft, deren inneres Weſen gleichen Urquell wie die Welt des Schönen hat —
furz, fie kommt alddann in Harmonie mit des ganzen Wirklichkeit, jo, wie bie-
——— fle, die da meinen, Die Gäce Bildung am bin Lug gu Sehe
gen, wenn fie Die Uieberrefe jener Pos Schau Rellen, wihrend fie fi in
mung zu gute hun. {pt dar man ie
Ich habe mich oft — — daß einige geiftreiche Männer
ſich im Ernft über das Verfchwinden des Aberglaubens beklagt und gewünſcht
haben, ihn auf's Neue zu einiger Bedeutung bringen zu fönnen. un
ches Streben bat den Fehler, daß es Niemandem rechter Ernft damit ift, weder
Denen, die aus einer Art Hinneigung die Sache des Aberglaubend vertheidigen,
noch Denen, die Ienen nachfprechen. Man kann ganz füglich von ſolchen Leu—
ten fagen, daß fie nur zu meinent meinen, und daf ihre Beftrebungen, ohne daß
fie ſich ſelbſt deffen klar bewußt werben, ra das uw
richtigfeit und der Verſtellung auszubreiten. l
"8 if übrigens wicht meine Abflcht, In Abrebe — —
ſchaft einige von den Vorſtellungen des Aberglaubens in einer Weiſe vernichtet
hat, daß ſie ſich nur noch unter ganz beſonderen Umſtänden in Dichterwerken
unſerer Zeiten gebrauchen laſſen. So iſt z. B. die Einbildung, daß ein Drache
die Sonne verſchlingen wolle, daß wir aber durch Gebete und Opfer, oder durch
Lärmen, ihm davon verſcheuchen können, weit dichteriſcher, wenigſtens nach unſe⸗
ren bisher angenommenen Vorſtellungsweiſen, als die Kenntniß, daß der Mond
zwifchen und und die Sonne tritt. Wer aber fonnte fo wahnbetbört fein, jene
falfche Einbildung durch Aufopferung einer jo großen und fruchtbaren Wahr-
beit in Anfehen halten zu wollen! Ich weiß wohl, daß Mancher ich durch ein
verwirrendes Spiel, das mit den Worten poetiſch und projaifc getrieben
ift, hat irreführen laſſen. Bekanntlich bezeidynet das Wort profaifch urfprüng-
lich nur den Unterfebied der Rebe vom Verſe, und erft fpäter hat man es auch
ganz paffend auf Alles angewendet, das dem dichteriſchen Geifte feindlich ift: alfo
gebraucht, bezeichnet es etwas Niedriges und Geiftlofes. Später hat man es
ungernünftig und verwirrend auch zur Bezeichnung alles Deſſen gebraucht, das
nicht dichteriſch ift, wodurch die tieffte Einficht und gründlichites Wiſſen zu etwas
Projaifchem werden, Bon Wahrheit und Wirflichfeit hört man nun oft ala
von profaifcben Dingen reden, die vor der Poefle aus dem Wege gehen müffen,
Mer eine folche Sprache führt, täufcht ſich felbft mit dem grundfaffchen Gedan⸗
fen, daß die Auffaffung des geiftigen Inhalts des Dafeins, welche im Gedichten
eine jo fprechende Ausdrucksform findet, ausfchließlich diefer Korm angehöre,
Und während man ſich doch micht verbergen Eonnte, daß fich die erhabenften Ideen
auch in den Wiffenjchaften ausgedrückt, ja oft herrlich ausgedrückt finden, fiel
man auf den verzweifelten Gedanken, Alles von diefer Art für poetifch zu erflä-
ren, gleichwie man mitunter gewifle eifrige Breimaurer erklären hört, daß alle
Moral Freimaurerei, und alle guten Menjchen Freimaurer feien. In diefem
W
Aberglaube. und Wunglanbe. 429
Geiſte behauptete ein audgezeichneter deutſcher Schriftfieller, Friedrich von
Schlegel, Spinoza fei weber poetifch neck prafaifch ; der höchſte Aufichwung
des Geiſtes gehört weder Poeſie noch der Brofa ausfchließlich an. Dem Heilige
thume des Geiſtes die Bezeichnung „poetiſch“ vorbehalten wollen, ift ein
verberblicher Mißbrauch der Sprache.
Es kann aljo der Raturwifienfchaft nicht zum Vorwurfe gereichen, wenn
fle einigen. Stoff vernichtet, der biöher den Dichtern diente, und wir tragen jo«
gar fein Bedenken hinzuzufügen, Daß fle auch andere der Dichterwelt einver-
leibte Irrthünmer zerftörte, welche nicht Überglauben genannt werben fünnen.
Ein neuerer Dichter wird daher gar nicht, oder doch nur mit großer Einfchrän«
fung ‚Gebrauch machen können von Borflellungen, wie 3. B. die vier Eden der
Welt, der Kern der Erde, die Weite des Himmels u. d. m., infoweit nämlich
ſolche falfche Vorſtellungen nicht als Bilder des Richtigen angewendet werben
fönnen, wie es Dagegen mit manchen anderen geichehen Tann, z. B. mit dem
Aufgang und Untergang der Sonne. Wenn aber die Dichterwelt auch einen
sollen Erfag für alle folge Einbußen erlangte, fo würden Klagen darüber doch
übel angebracht fein. Denn Hauptſache bleibt es Doch, dag unfer geiftiges Da-
fein durch Einfichten veredelt und erhöht werde. Alle Dergleichen Verluſte wer
den indeflen für den wahren Dichter nicht wiel zu bedeuten haben, mögen in⸗
befien peinlich fein für Verehrer dev Dichtkunſt, die da meinen, einen an fi,
"unbedeutenden Gedanken poetifch gemacht zu haben, wenn fle ihn in Pracht
flüde aus der postifchen Rüftfammer entfchwundener Zeiten einkleiven. Es gibt
ganz gewiß Soldye, welche etwas Großes gejagt zu haben glauben, wenn fle un
serfichern, wie fie dieſen ganzen Erfolg nichtöfagend finden. Sch muß ihnen
aber hierauf antworten, daß, wer fo redet, damit feine Unfähigkeit ausfpricht,
über eine Einficht geiftige Freude zu empfinden, und wie e8 5. B. feinem geiftie
gen Zuſtande unbegreiflich ift, daß wir mit einer fo ‚beivundernswürbigen Klare
heit die Weltmechanik überfchauen und Weltverhältniffe Eommender Jahrhun⸗
derte voraußjehen können. Möge Solchen gefagt fein, daß es an ihrer eigenen
Erichlaffung liegt, wenn ihnen die Freude der Einficht benommen ift, ob fie
ſich auch anfehnlicher Fähigkeiten in anderer Hinficht rühmen Eönnen. Sie find
entweder von Ratur, oder mehr nody durch eigenes Verfchulden von einer Weihe
außgeichlofien, welche allemal Den mit hoher Freude erfüllt, der ihrer theil-
haftig wird.
Da e8 der Herrlichkeit der Wiflenfchaft geziemt, ihr Anſehen durch das
eigene Wefen zu behaupten, fo wurde biäher vorausgeſetzt, daß fie nur durch
Verleihung von Cinfichten, nicht aber dadurch, daß fie der Dichterwelt felbft ein
Geſchenk macht, reichen Erfolg gewährte für das derfelben Genommene. Etwas
davon hat die Dichterwelt ſchon Längft in fi aufgenommen, z. B. die Kugel
geftalt der Erde, zu welcher Kenntniß die Wifjenfchaft ſchon in alter Zeit geführt
hatte. Nicht blos für.das Denken, fondern auch für den Schönbeitsfinn hat
dieſe Borftellung etwas viel mehr Befriedigendes ald die Annahme, daß bie
Erde flach und vieredig oder fcheibenförmig geftalter fein follte. Die dichterifche
Auffaffung hat fich auch dann und wann auf die großen Wahrheiten geworfen,
zeigt uns, wie forsgefgte Entivicanien Größere Banken Sieh —
ſchon die Grenzen derſelben zu bezeichnen anfängt; fie ſtellt ung die fernere Ente
wickelung des Pflanzen: und Thierreichs dar und hält und Die wunderlicyen Ges
ftalten vor Augen, weldje die Erbe allmälig hervorbrachte, tödtete und begrub,
wahren Re beftänig eine — ——— vorbereitete. Eine Unendlichteit
in die Dicterwelt EEE ®. der Magnet, — die Sonnen⸗
flecken, das erborgte Mondlicht, die Geſchwindigkeit Des Lichts, die Blitzablei⸗
tung, das Athmen der Pflanzen, Die unfichtbaren Thiere im Waflertropfen, bie
MWeingährung u. f.w. Das Verhaͤltniß, im welches der Menich als Entdeder der
Geheimnifie der Natur zu ihr, zum ganzen Menſchengeſchlechte und zu ſich ſelbſt
tritt, iſt von der Poeſte nur noch wenig benugt worden. Sollte es nicht auch
für einen Dichter ein würdiger Gegenſtand fein, den geiftigen Buftand des Mans
nes zu ſchildern, der fich zuerft in den wiſſenſchaftlichen Beſit eines Fernrohrs
gejegt bat, und damit zuerft die Monde eines fernen Planeten, die Berge im
Monde u, ſ. w. entdeckte? Sollte fein weiterer und bellerer Blick in das Dafein,
die Ueberzeugung, mim der Sterndeuterei und manchem anderen mit den Him—
melöverhältniffen zufammenhängenvden Irrihume den gewifjen Untergang berei«
ten fünnen, micht etwas Anzichendes für ven Dichter haben? Sollte es ſich
nicht verlohnen, den Menfchen die innere eier zu zeigen, welche in dent Geifte
berrfchen mußte, der jo große Geheimniffe zum erftenmale entjchleierte und
sorausfah, welche großen Brüchte feine Entdefung dem Menſchengeſchlechte
bringen werde? — Etwas Aehnliches würde an allen großen und umfaffenden
Entdeckungen zu finder fein, wenn auch nicht bei allen gleich anjchaulich; aber
ſelbſt die anſchaulichſten find für die dichteriſche Darftellung nur felten benutzt
Aberglaude und Unglaube. 431
worden. In diefer Art auffallend ift es auch, daß bie Entdeckung ber elektri⸗
fehen Natur des Gewitters feinen großen Dichter zu einer begeifterten Darſtel⸗
lung ermuntern konnte. Die Entdedung felbft war die Frucht wiffenichaftlichen
Denkens, aber eingeführt in die Belt wurde fle durch eine Heldenthat; denn ter
Entdeder leitete das elektriſche Feuer der Gewitterwolke durch eine Handlung
zur Erde herab, die fein Leben in Gefahr brachte, und fein Behülfe dabei war
fein junger Sohn. Man vente fi alfo feine innere Spannung vor dem un⸗
ternommenen Verfuche, des Sohnes unfchuldige, oder muthvolle Theilnahme,
das Siegedgefühl nach gelungenem Verfuche! *) — Was die Theilnahme des
Sohnes betrifft, fo Hätte der Dichter hier die Wahl, ob er vorausjegen wollte, '
daß der Bater ihm-gar nichts von der Gefahr gelagt, ober aud ihm davon ge⸗
fagt,, aber, um ihn auf die Probe zu ftellen, nichts von den Vorkehrungen mit
getheilt Hatte, die getroffen waren, um ihn zn fichern, während der Vater felbft
fich notwendig der Gefahr audfegen mußte. Ban benfe ſich nun noch daß
vielfach wiederholte Geſchrei der vom Borurtheil Befangenen gegen die Blitzab⸗
leiter, aber auch das Verſchwinden beffelben, als die Sache ihre volle Befläti-
gung durch die Erfahrung fand. Die Wirklichteit bietet Hier überdies einen
Bug dar, wie ihn Fein Dichter gelungener erfinden könnte. In Siena mar
der Kirchthurm oft vom Blige befchädigt worden. Die Kirchenvorficher ließen
daher einen Bligableiter an demſelben anbringen, worüber alle Sklaven Bes
Aberglaubens ein Geſchrei erhoben und den Bligableiter eine Kegerflange fchal-
tn. Da z0g ein Gewitter heran; der Blig fuhr in den Thurm. Nun lief das
Volk Herbei, um zu fehen, ob der Ableiter die Kirche beſchuͤtzt Habe, und fiehe
da, er hatte feine Macht fo vollfommen geübt, daß nicht elumal das Gewebe,
welches eine Spinne daran befeftigt Hatte, von den Blitzſtrahl beſchädigt wor
den war.
Es ift fo natürlich, daß Derjenige, der fich gleichſam in die alte Auf⸗
faffungsmeife Hineingelebt Hat, in der neuen feinen befriedigenden Erfaß für das
Berlorene findet, und noch weniger wird er geftehen wollen, daß biefer Erſatz
unendlich reich und feinen Berluft hundertfältig aufzumiegen geeignet fei. Cine
folche Ueberzeugung läßt fich vielleicht vorbereiten, aber nicht durch einzelne,
wenn auch gewichtige Beifpiele ausbilden. Erft nach und nach wird fich Dies
felbe außbreiten nnd endlich flegen, je nachdem die Raturmiffenfchaft fich fo weit
verbreitet, daß fie nicht bloß eine Sache für den Verftand wird, fondern audh
die Einbildungskraft befruchtet. Nur nach einer ſolchen Entwickelung wird Rich
der alten Dichterwelt gegenüber eine neue öffnen, die vielleicht von wicht gerin-
gerer geiftiger Bedeutung werden kann, als es die Entdeckung eines nenen Welt⸗
theil8 der fogenanten alten Welt einſt wurte.
Diefe Entwidelung wird dann ihren gefegmäßigen und gewiß großen Ein⸗
fluß auf die Anwendung der alten Dichterwelt nicht entbehren müffen, und es
wird fich dadurch auch ein feinerer Taft gektend machen für eine Vernunfthar⸗
monie, wie fie, wenn auch dem Auge der Menge nicht ſichtbar, felbft in der
*) Bedarf es Hier der Nennung des Namens „Franklin?“
432 BE esse
tungen entfpringt Daraus eine Berwerfung aller Religion, eine
Sy gene in A mh fan nu 1 u
lagen Mei von Wenfärnaltern Binden die Jeribüuner ded Ab
felsan.Die-gange Gxfenntnißast, Die.fo — —
Zweifel geht leicht über in Mißtrauen, und dieſes wiederum bei Vielen in einen
‚Hang zum Verwerfen, Hierzu kommt ein erhöhtes Gefühl; ven
der Allgewalt bes Denkens, das in ſich ſelbſt fo herrlich ift, aber bei Manchen
in Uebermuth ausartet, Das Freipeitsgefühl, das durch jo vielfältige Erlöfung
vom Naturzwange entſteht, artet micht minder ‚bei Anderen in eine wilde Frel⸗
heitöluft aus, die aller Schranken fpottet. Je nach den Graben — *—
eingebildete
Weisheit, welche ſich über die Begriffe von Tugend und Pflicht erheben zu kön—
nen glaubt, obgleich man ed gar gern ſieht, daß andere, jchwächere Geifter ſich
darnach richten. Daß bei einer ſolchen Auffaflung die Poeſie nicht ‚blühen
fönme, begreift man leicht. Die Anhänger des Unglaubens werben oft in ihrem
Irrthume ſehr durch den Unverjtand beftärkt, den ihnen die Freunde des Aber-
glaubens entgegenfegen; dieſer geht Leicht in Verfolgung über, welche dem Irr—
thum ein gewiſſes Gefühl von hoher Würde verleiht, nicht blos Darum, weil der
Verftand alle Gewalt verachten muß, die anftatt der Ueberzeugungsmittel aufe
treten, jondern eben jo ſehr durch das Bewußtfein, um der Wahrheit willen zu
leiden. Es gibt ein gewiffes Stadium der Entwidelung, auf weldyem Die ber
gabteften Beifter zugleich Diejenigen find, welche am Fräftigften gegen den Aber
glauben eifern und fich dadurch zu gewiffen Ueußerlichkeiten hinreißen Laffen,
die zwar jelbft fein Werk ded Unglaubens find, aber doch leicht Veranlaffung
geben, daß ſolche Männer in den Zeitwirren und Parteifimpfen als Verfechter
des Unglaubens erfheinen. Wenn aber der Unglaube in einem Zeitalter das
Uebergewicht erlangt, fo gebt er feinem Verderben entgegen, Alsdann wird bie
—
Aberglaube uud Unglaube. 33
Eiutichteit untergenben und fartan gering geachtet, alle geheimen Bande, weiche
Familie und Staat zuſammenhalten, werben aufgelöft, alles Hellige wird ven
fpettet. Der Unglaube erzeugt alſo für ſtch einen Geiſt ver Verfolgung, wie
ter Aberglaube den feinigen hatte; denn dieſer Zuſtand trägt deu Keim zn feinem
Untergange in ſich. Wenn tie eigenen Kräfte ihn nicht zu heben vermögen,
findet er fein Ende durch große Umwälzungen und Wirdergeburten der Geſell⸗
shaft, Die indeflen von fo ſchweren Geburtswehen begleitet zu fein pflegen, daß
er billig als ungeheuere Stwafgerichte über die Ausartungen angefchen werben
&num.
Du einer ansichließlichen Herrſchaft gelangt doch weder der Aberglaube
noch ber Unglaube in irgend welchem Zeitalter. Denn die unferem Weſen inne
wohnende Vernunft umd bie belehrende Einwirkung der ganzen Umwelt af uns
bewirken im Verein, daß die Mehrzahl der Menfchen fidy feiner von den Heiden
Simfeitigkeiten ganz hingibt, wenn audy nur Wenige die Kraft Sefigen, ſich voll»
tommen frei davan zu erhalten. Und fo ift denn burch eine Höhere Raturein-
eichtung dafür geforgt, daß das BVöſe feine unumfchränfte Dbergewalt erlangt,
fondern daß immer noch Keime zu neuen und edieren Entwidelungen ücbrig bleis
ben, auch dann nach, wenn dad Böſe zu einer Macht gelangt, bie große Umwäl⸗
gungen nsthig macht.
Eo ſcheint, daß die Meiften den Einfluß, den die Raturwiffenfchaft auf
bie Ausrottung des Aberglanbens bat, vorzugsweiſe darin fegen, daß fie aber-
Mäubifche Meinungen verwichtet. Diejer Dienft ift zwar ungemein wichtig, Doch
wicht der einzige, den bie Raturwiflenfchaft uns leiftet; ich würde jagen, daß er
nicht einmal der wichtigfte fei, wenn er nicht der Ausgangspunkt für alle ande⸗
sen wäre. Man erkennt leicht, daß die Handlung des Unterfuhungsgeiftes,
wodurch eine abergläubifche Meimung ausgersttet wird, nicht allein den Gewinn
mit fi führt, daß eine folche befondere Einbildung verſchwindet, ſondern aud)
den anderweitigen, ein Nachdenken zu wecken, das und mißtrauifch gegen andere
verwandte Irrthümer macht. Diefe wichtige Bolgewirkung tritt meiſtens nur in
geringem Brade durch die Bernichtung nur einer abergläubifchen Cinbildung
hervor, wird aber durch das Bufanumenwirfen mehrerer Entdeckungen in einem
ſtark anwachſenden Verhältniffe vergrößert. Man denke fi z. B. den uch
erwähnten Aberglauben verbannt, daß eine Sounenfiuſterniß andeuten ſolle, ein
Drache wolle die Sonne verichlingen. Died wird dann ficher feine Wirkung
auf das Nachdenken Bieler Haben, aber bei ber Mehrzahl wird ber Eindrud Halb
verſchwinden und fich nicht zum forigefegten Nachbenfen erweitern. — Der
Aberglaube hat einen Sonnengott, der jeden Abend hinter dem Meere zur Ruhe
geht und am nächflen Morgen feine Bahn von Neuem beginnt. Die Wiflen-
ſchaft lehrt dagegen, daß die Erde eine Kugel it, um welche das Tageslicht alle
Tage einförmig von Oft nad) Weit ringsum verbreitet wird. — Der Aberglaube
nimmt die Möglichkeit an, daß der Feuerwagen des Sonnengotted die Erde au»
zünden Eönne, wenn er ihr zu nahe käme. Die Wiflenichaft Ichrt, daß bie
Sonne weder ein Feuerwagen it, noch nac Willkür geleitet wird, noch ber
Erde zu nahe kommt. — Der Überglaube hatte feine Mondgöttin, die chenfalle
IV. 28
434 Philoſophie
allerlei Wirkungen auf die Erde uͤbte. Die Wiſſenſchaft lehrt, daß ber Mond
——— — — geh "Die Bernihtung:
Sp eur Olmaf ——— ———
welche Himmelsbegebenheiten vorausſetzten, Die aus dem will⸗
kurlichen Willen der Götter entſprangen, von ſelbſt wegfallen mußten.
Ehe ich weiter gehe, will ich ein Mifverftändniß unmöglich machen, das
freilich allem Vorhergehenden nad) ganz unberechtigt fein würde. Ich will näm-
lich bemerken, daß es nicht die Dichterifche Bedeutung der beſprochenen mytholo⸗
giſchen Borftellungen ift, welche ich hier ald Aberglauben bezeichne, fondern bie
im Wahrheit projaifche Auffaffung , welche jonft von biefen Dingen im Alltags-
leben herrſchte. Nacy dieſer vielleicht überflüffigen Erinnerung Erinnerung fahre ich in
— — An a. Tann 1» ee re
Der Gedanke, daß die Himmelsereigniffe nad) Seftimmten Geſchen vor-fih
=. kam nicht ſogleich zu vollem Umfang, ſondern blieb viele Jahrhunderte
hindurch innerhalb einer engen Begrenzung fteben , bie große un
ließ, jo daß z.B: ſelbſt Diejenigen, welche den
ten, noch von Kometen in Schrecken gefegt wurden, ne
derthalb Jahrhunderte ber, daf die Wiffenjchaft die Aufgeklärten von dieſem
Schreden befreite, ber erſt weit fpäter aus dem Bewußtjein einer größeren
Menſchenmaſſe vertrieben wurde, als man nämlich zur Kenntniß davon gekom⸗
men war, daß das Wiederfehren eines Kometen glücklich vorausgefehen wurde,
und zwar über 75 Jahre, ehe er erjchien. — Lange alaubte man, daß das
Schickſal eines Menjchen nach der Stellung der Geftirne bei feiner Geburt vor⸗
hergejagt werben könnte; Die vollfommene Gewißheit, daß die Planeten Hime
melokugeln find gleich der. Erde und die Firfterne Sonnen, ftellte diefen Wahn
im feiner ganzen Lächerlichfeit dar. In dieſen Beifpielen: liegt eine Belehrung
über die Art, wie die Wiffenfchaften gegen den Uberglauben wirften. Nicht blos
die Gewohnheit, mancherlei abergläubifche Meinungen vernichtet zu ſehen, war
es, bie am flärfften dem Aberglauben entgegemwirfte, fondern weit mehr bie
Verbreitung der Kenninig — bei Einigen ald Einftcht, bei der Menge als Nady
richt — daß der Lauf der Himmelskörper durch Naturgefege beſtimmt werde,
Dieſe Wirkung flieg zu einer immer wachjenden Höhe, je nachdem man zu voll
ftändigerer Einficht in die Einheit der Naturgefege gelangte. Die flare Auf
faffung des wahren Weltſyſtems machte es unmöglich, ein oder gar mehrere fefte
Himmelsgewölbe anzunehmen, wie Dies früher jo gefchehen war. Dadurch fielen
aber vielerlei bisherige Vorftellungen vom Himmel oder von den Himmeln weg,
welche bei vielen Menfchen mit ihrer Neligion verwachjen waren, jedoch mit Uns
recht, da die körperliche Bedeutung der Ausfagen über den Sig der Gottheit und
die Wohnung der Seligen nun jedenfalls doch) verworfen, und nur eine geiftige
als gültig angenommen werden mußte. Endlich mußte aber die von Newton
begründete Einficht im die Naturnothiwendigkeit der himmlifchen Bewegungs
geſetze in noch bedeutenderem Maße die Ueberzeugung ftärfen,, daß bie Weltbes
wegungen Feine willfürlichen Veränderungen erlauben, denn man erfannte mm,
Aberglaube und Unglaube. 435
daß alle diefe Geſetze Vernunftgefege und wiel höhere find, - als fie unfer Geiſt
hätte erfinden können, göttliche Bernunftvorfchriften vielmehr, die wir jo glüd-
ich find, begreifen zu können.
Diefe Ueberzeugung bat in ber That auch ein unwiderſtehliches Gewicht
dadurch, daß fie auf einer Einfidht beruht, worin Gedanke und Anfchauung aufs
Innigfte miteinander vereint find. Ich habe diefe zufammenhängende Reihe von
Beifpielen eben darum gewählt, weil fie vielfältige Glieder aus der Wirkungs⸗
weife der Raturwiffenfchaft wider den Aberglauben aufhellt, wie fie nämlich zu-
nächft dadurch thätig ift, daß fle abergläubiiche Ginbildungen vernichtet, dann
eine Gewohnheit herbeiführt, abergläubiiche Meinungen in Zweifel zu ziehen,
ferner dadurch, daß fie eine große Anzahl von Raturwirfungen als nach Gejegen
- geordnet hinftellt und fpäter die Ginheit, den Zufammenhang und unbeſchraͤnk⸗
ten Umfang derjelben nachweiſt, endlich, indem fle die Nothwendigkeit der Letzte⸗
ren und daß dieſe eine Bernunftnothwendigfeit, ein Bottheitäwille ift, darthut.
Dies Alles kehrt in den übrigen Wirkungsweifen der Raturwiflenfchaft wieder,
obgleich es jchwer fein dürfte, eine andere, fo leicht zu überfehende Reihe von
Beifpielen zu finden. Diefe eine Reihe wird aber zum Theil auf die folgenden
Beiſpiele das erforderliche Licht werfen.
Zu den Ereigniffen, worin Die Menfchen fo geneigt geweien find eine Aeuße⸗
rung der menfchlichwillfürlichen, ich könnte verfucht fein zu fagen, launenhaften
Machtvollkommenheit der Gottheit zu finden, gehören die Abwechfelungen in der
Witterung. Daß Gott Regen oder Dürre, Unwetter oder Stille verordnen
jollte, wie ein irdifcher Monarch Wohlthaten oder Strafen austheilt, iſt eine
Einbildung, bie ſich bis auf den heutigen Tag bei der Menge erhalten hat und
ſchwerlich ſo bald verſchwinden wird. Es zeigt ſich aber bei jedem weiteren
Fortſchritte, den wir in der Kenntniß der Luftereigniſſe machen, daß Wetterver⸗
änderungen nach allgemein gültigen Raturgeſetzen erfolgen. Die Wärme kann
in einer Gegend nicht ungewöhnlich groß werden, ohne in anderen Gegenden
abzunehmen; die Richtung, weldye der Wind in einem Lande nimmt, it abhän«
gig von denen, welche in allen anderen Ländern herrſchen; biefelbe Verände-
rung, welche einem anderen Landftriche Dürre bringt, gibt einem anderen Ueber-
fluß von Regen. Je vollfommener nun die Allgültigfeit der Geſetze, nach welchen
alles Diefes erfolgt, eingefehen wird, und je mehr Die Kenntniß davon fich ver-
breitet, defto mehr wird auch jene abergläubifche, der Gottheit unwürdige Mei-
nung von willfürlicher Austheilung jener Raturwirkungen verfchwinden. —
Unter dem Aberglauben diefer Art hatte zu den verfchiedenften Zeiten bie
Einbildung, dag Gott feinen Zorn in Donner und Blig äußere, eine große
finnliche Wirfung gehabt. Die Entdeckung der elektriichen Ratur des Bliztzes,
und befonders die Erfindung der Leitung des Blitzſtrahls, zerftörte den Wahn
fräftigft, doch in gewiffen Richtungen Iangfam genug; denn gleich der Electrici-
tät beivegt der Gedanke fich nur mit Bligesfchnelle in den Leitern. Doch fowie
die Wirfung der Bligableiter fich bald Hier, bald da in gehöriger Naͤhe der ſtum⸗
pfen Menge zeigte, mußte ihr Vorurtheil dagegen erjchüttert werden. In einem
von den oben angeführten Fällen muß die Begebenheit wie ein Wunder auf
28*
—
436 ui Philoſophie.
Eee a ee man fagen —* rate ur —*
an, ———— Ben m
—— Velrede oe 9 die fogenannten Blutflecken ——
vorkamen, Die unter Dach waren, wo alfo Fein Regen hinkommen konnte, und
daß ein Scywerm von Inſekten die Flecken abjegte. Wie befannt, hat man ſich
noch weir öfter zu ähnlichen Ginbildungen durch andere Wunder
verleiten Taffen und z. B. rothe, vom Regen zeingefpülte und | |
Saubarten für Wirfungen eines Blutregens angejehen — ein Irrthum, der von
Naturkundigen aufgeklärt worden ift, — Ebenjo haben natürlich; die Steinzrgen
bäufig Veranlaffung zu abergläubifchen Einbildungen gegeben. Die Natur
wiſſenſchaft hat freilich noch micht alle erwünfchten Aufklaͤrungen über dieſes
Luftereigniß gegeben, aber fie hat doc genug gerhan, um dajfelbe dem Aber-
glauben zu entziehen, indem fie einige der Geſetze, wornach das Greiqnif er»
folgt, aufweift und und belehrt, daß die Steinregen faft durchgehende —
lichen Beſtandtheile haben.
Einen wichtigen Theil ihrer Kraft legt die Naturwiſſenſchaft dadurch 7
den Tag, daß ſie in die vielen Künfte des Gewerbfleißes eingreift und bier oft
zur Bejeitigung abergläubifcher Meinungen und noch mehr zur
Stärkung des Nachdenfens beiträgt. Wie fehr war nicht der Aberglaube mnter
Bergleuten verbreitet! Ihr Gefchäft führte ſoviel Unerklärliches, Dunkles,
Geführliches mit ſich, Daß der Aberglaube bei ihnen Teicht zu Macht kommen
konnte. Ohne nun in Abrede zu ftellen, daß noch jet mancher Aberglaube
unter Bergleuten herrſcht, befonders unter den geringeren Klaſſen derjelben, Die
nur einzelne Rejultate der Wiffenfchaft annehmen, und auch diefe erft nach vie⸗
len Devenklichkeiten, fo mußte doch das Licht der Erfenntnih, welches die Mar
tunwifjenfchaft mehr und mehr über den inneren Bau der Berge und alle Theile
der Behandlung von Erzen und Metallen verbreitet, eine bedeutende, allem
Aberglauben feindliche Einficht verbreiten, zumal bei Bergarbeitern, Die nicht
mehr auf der niebrigften Stufe ihres Faches ftehen, Aber felbft auf Diefe
müffen die Entdeckungen der Wiffenfchaft einen Lichtſchimmer haben fallen Laffen.
So war es ehedem Glaube bei Bergleuten, daß boöhafte Geifter fie bisweilen
während ber Arbeit niederwarfen und erftidten, oder ein Enallendes verheeren⸗
bed Feuer in den Stollen anzündeten. Die Naturwiffenfchaft hat durch Aus—
breitung von Kenntniffen über die dem Arhemzuge fchädlichen Ruftarten und
über Kuallluft, aber noch mehr dadurch, daß fie dem Bergmann felbft die Sicher-
heitölampe in die Sand gab, der alten Gefpenfterfurdht Eräftigft entgegengewirft.
Wie unvollfommen umjere Einfichten in die Natur der Gährung auch noch
genannt werden mögen, ſo hat dad; die Kenntnif, welche wir ung bon ben Ra
turgefegen ber Gährung erworben Haben, vieles Dunfel jerfleut and grofe
Beutan ic Die Enorabägpge, trick
Dadurch hat diefe Kenntnif nothwendig Eingang bei Bierbrauern, Branntwein-
brenner u. U. finden müffen, und Viele derfelben find fo, eben um des Inter
effes willen, veranlaßt worden, ſich einige Kunde von den Natunviffenfchaften
zu erwerben. Außer dem Nachdenken, das dazu nöthig wurde und welches
Meinungen
ner Jugend, daß Peute, die Brennerei trieben und viel Unglück damit gehabt
hatten, dies einer feindfeligen Herenkunſt zufchrieben und ihren be&halbigen
Berbacht auf namhafte Perfonen warfen. Jetzt, wo man mit den Gefehen die-
fer Art Gährungen fo wohlbefannt geworden iſt und gemeinfaßliche Vorfchriften
für die Berfahrungsweife hat, welche die verjchiedenem Umſtaͤnde erfordern, wird
man im ben meiften Bällen dergleichen Unglücköfällen entgehen, und wenn doch
dergleichen vorkommen follten, den Grund dazu aufzufinden wiffen. — In Iange
verfchloffen geweſenen Kellern gab es vordem Bafllisfen, die Niemand ſehen
Ffonnte, bie aber einen Menfchen burdy ihre Blicke töbten Fonnten, — Seitdem
ed allgemeiner befammt geworben tft, daß durch Gährungen eine micht einzu—
athmende Luft erzeugt wird, welche fich mach dem fpeeififchen Gewichte an niedri»
gen Stellen ſammelt, weiß man, wer der ſtuhere Wörter war und vertreibt
ihn durch Auslüften.
In umferen Tagen bat die vielfältige Amwendung der Dampfmafchtne in
fo manchen Rahrungszweigen, in der Schifffahrt, im den Eiſenbahnbeförderun⸗
gen, bert gemeinen Mann, und noch mehr die Werffeute, zu unendlich vielem
Nachdenken geweckt. Die zahlreichen anderen Maſchinen, welche mehr und mehr
die Funftvollften Arbeiten ausführen, müffen biefelbe Wirkung machen. Der
eleftromagnetifche Zelegraph hat die Aufmerkſamkeit ded gemeinen Mannes felbft
in Ländern erregt, wo berfelbe nur noch dem Namen nach befannt war. Neben
allen übrigen Wirkungen haben dieſe vielen Erfindungen bie Menfchen daran
gewöhnt, zu fehen, wie das Wunderbare durch Vernunftgebrauch hervorgebracht
werben kann. Aber nicht blos biefe großen Unternehmungen waren e8, bie zur
Geiſteentwickelung des Menfchengefchlechts beigetragen haben, es läßt ſich faft
fein Erwerböjweig mehr nennen, in welchen die Wiffenfchaft nicht eingegriffen
und gedankenweckend darin gewirkt bat, Diefer erweckte Denfgeift ift nahe ver-
wandt mit dem Unterfuchungsgeifte, den die Wiffenfchaft ausbildet und auf
welchen wir ein befonberes Gewicht legen müffen, weil er überall hin feine wohls
thätigen Folgen verbreitet und zur Vertilgung des Aberglaubend wejentlich
beiträgt.
Die abergläubifchen Meinungen, welche in einigem Zufammenhang mit
der Natur ſtehen, unter anderen bie, welche auf einer mißverftandenen Auf—⸗
faffung von etwas wirklich Vorhandenem beruhen, kann tie Raturwiſſenſchaft
meiftens widerlegen: in einem anderem Berhältniß ftcht fie Dagegen zu folchen,
438 Pbiloſophie
N
vermeintliche Gefahr als Dreizchnier gu Tiſche zu gen. Der Umfl
beim Abendmahl Ehrifli Kane ee re ua
zu einer ſolchen Meinung abgeben. Mancher beruft ſich
rung, und fragt man ihn dann, was er erfahren habe, jo beſteht es darin, ‚daß
* zu dreizehn zu Tiſche geſeſſen hat, und daß darnach binnen, Jahres-
—— ur —— ech Aber was kann eine
—— gemadit fäte, Nmäke.Bie Unterfudhungstunfbrhoch micgt
finden, daß darin ein Beweis läge, Sie würde jagen: die vereinzelt daſtehende
Erfahrung eines Einzelnen kann im Sachen dieſer Art keinen Beweis liefern;
nein, dazu bedarf es der während mehrerer Jahre ununterbrochen aufgezeichneten
Erfahrungen vieler Menſchen über die Anzahl von Tifebgäften in mancherlek
Gefellfchaften, und über die in eimem Jahre nach der Zufammenfunft davon
Geftorbenen. Man würde da eine Mittelzgahl erhalten, ‘die barthäte, daß, je
zahlreicher die Tifchgäfte waren, je mehr von ihnen im einem gewifjen Zeitber-
Taufe ftarben. — Wer aber einen lebendigen Sinn für Naturgefege“bat, wird
nicht einmal folche Enticheidung verlangen, denn er weiß, daß die befagte Meile
nung nicht mit ben Naturgefegen übereinftimmt. Aber, höre ich manchen geifte
vollen und hochgebildeten Mann fagen, ich will gerade nicht behaupten, daß bie
Furcht unter dreizehn mit zu Tifche zu figen, gegründet ift, ‘Doch meine Einbil-
dungskraft ift nun einmal mit diefem Gedanken beladen; laßt mich dieſen une
jchuldigen Irrtum behalten! — Das ift etwas Anderes; das läßt ſich einigers
maßen hören. Und Anderen geziemt es, dieſe Eigenheit zu dulden; allein gez
ziemt es fich für irgend Jemand, ſie an ſich felbft zu dulden? Würde es nicht
Hübfcher fein, wenn ein Solcher feine unvernünftige Furcht vor den Richterſtuhl
ber eigenen gefunden Bernunftıberiefe und ihr das Leben abjpräche? Der Irre
thum ſelbſt iſt unbedeutend genug, allein der Einfluß, den man einer fo falfchen
Vorftellung einräumt, gewährt einer ihäblichen Seelenanlage Nahrung. Wenn
wir an irgend einem Organ unſers Körpers eine Anlage zu Krankheit entdecken
die wir zu heben wiffen, fo werben wir und gewiß nicht bedenfen, es zw thun,
Jede abergläubifche Einbildung aber ift ja eine Kranfheitsanlage in unſerem gei«
ftigen Wefen , follten wir und denn nicht beftreben, fie zu unterbrüden®? x
Was von einem einzigen Fall gejagt ift, das läßt fich leicht auf viele andere
anwenden, Wir wollen und nicht dabei aufhalten, dieſe durdhzugehen ; denn
Alles, was man mehr von ihnen ald vom oben erwähnten einen fagen Fönnte,
würbe Die Wirfung doch nur wenig vemehren. Die noch zerftreut vorbandenen
Ueberrefte des Aberglaubens werden ihren Einfluß auf die Einbildungstraft erft
allmälig verlieren burch den Unterfuchungägeift, den die immer wachſende Anz
wendung der Natumwiffenfchaft verbreitet fich auch über Solche, die fie ſich nicht
jelbft aneignen, fondern nur vom deren mannigfaltiger Anwendung auf bie
⸗
Aberglaube und UAnglaube. 439
menſchlichen Lebensverhaͤltniſſe berührt werben. Aber dieſe Wirkung iſt doch
nicht mit derjenigen zu vergleichen, welche die rechte Pflege der Raturwiſſenſchaft
mit ſich führt. Sie entfaltet im Menſchen eine ganze innere Welt, die nicht
bios ald etwas einmal Empfangenes und im Gedächtniß Bewahrtes vor ihm '
fteht, fondern als ein ich nnaufhörlich erneuertes Dafein, in welchem man ein
allumfaffendes Wirken der avig lebenden Vernunft erblickt, und wo alfo fein
Raum für den Aberglauben übrig bleibt.
Vielleicht wird man bier als Einwand hervorbeben, daß einige Raturfor«
ſcher vom Aberglauben nicht frei gewefen find. Wir müflen aber felbftverftänd-
(ich jedes derartige Beifpiel zurüdtweifen, das in Feiner Beziehung zum Entwicke⸗
lungsgange der Raturwiffenfchaft fleht, denn obgleich diefelbe nur Eine ift, bat
fte fich Doch in mehrere Zweige theilen müflen, bie. fich nicht alle gleich ſchnell
entwideln fonnten. Wahr ift e8, daß jede diefer-untergesrdneten Wiſſenſchaf⸗
ten von Anfang an gegen ben Aberglauben zu wirken fuchte; aber ed dauerte
lange, ehe Died nur in gewiflen Richtungen gefchehen konnte, während es in
anderen beim Alten blieb. Die Sternenfunde, dieſer Zweig der Raturwifienfchaft,
der fchon beim Austreten des Menfchengeichlechte aus dem Alter der Kindheit
jo manche abergläubijche Vorftellung verfcheuchte, vermochte doch in einer langen.
Reihe von Jahrhunderten nicht, ſich von den Thorbeiten der Sterndeuterei los⸗
zureißen, und e8 ward ihren Jüngern erft dann ganz unmöglich, ſich der Aftro-
logie zu befreunden, als das Zeitalter Rewtons die Griege der Himmelobewe⸗
gungen in einem Bufammenhange daraeftellt Hatte, der Niemand mehr. geftattete,
diefe Lehre anzunehmen und doch abergläubifche Borftellungen in feine Himmels⸗
kunde zu mifchen. Das Beifpiel der Aftronomie wird hinreichend fein, gleiche
Einfprüche mit Rüdficht auf andere Zweige der Naturwiſſenſchaft zu rechtferti⸗
gen. Gefährlicher für unſere Meinung dürfte ed werben, wenn man Beifpiele
von Männern anführen Eönnte, welche fi große Kenntnifle in einem ſehr aud«
gebildeten Theile der Naturwiſſenſchaft erworben hatten und doch nicht frei vom
Aberglauben waren. Ich weiß nicht gewiß, ob es dergleichen Beifpiele gibt,
doch glaube ich e8.*) Man könnte die Wirkung derſelben ſchon durch bie Be
merkung aufheben, daß Verlündigungen gegen bie firenge ®edanfenfolge ſchon
in den menschlichen Verhaͤltniſſen liegen. Aber in den meiften Zällen, vielleicht
in allen, wird es fich ergeben, daß Niemand abergläubifch Hinfichtlich bes Faches
ift, worin er tiefe Einflchten beflgt, vorausgeſetzt, daß dieſes Fach ſchon zu einem
hohen Grade von Zufammenhang ausgebildet if. Dagegen kann es wol vor⸗
fommen, daß Iemand, ber eine bedeutende Meifterfchaft in einem Fache erlangt
hat, dies auf eine fo einfeitige Weife übt, daß er nicht von ber. Ueberzeugung
durchdrungen wird, wie die ganze Natur unter eben fo ſtrengen Gefegen fteht ald
der wiffenfchaftliche Theil, womit er fich vertraut gemacht hat. Ich würde es
fomit für unmöglich halten, daß Iemand, der. im Beflge des aſtronomiſchen
*) 8. B. Tycho Brahe, der wieder umkehrte, wenn ihm beim Ausgehen
zuerfi ein altes Weib begegnete, weil er ein ſolches Zufammentreffen ale ein böfes-
Omen für den Tag anfab.
440 Phbiloſophie.
Wiſſens unſerer Zeit iſt, den geringſten Aberglauben hinſichtlich der Himmels⸗
bewegungen hegen könnte. Dagegen möchte ich es nicht als ganz unmöglich an -
fehen,, obgleich ich nur mit Vorficht daran glauben würde, wenn mir Jemand
erzählte, es hege ein fonf tücptiger Afxonom: einen Mberglauben in Dingen, bie
feine Wiſſenſchaft nicht berühren, Doc, ich thue vieleicht nicht recht daran ⸗
einem Einwande entgegenzutreten, wozu es mur jo ſchwache Beranlaffungen gibt.
Wir haben ſchon gefehen, wie die Naturwiſſenſchaft in ihrem
gange Veranlaſſung zum Unglauben gibt. Wir vermeilten befonders bei ber Be—
trachtung, daß die fich jo häufig erneuernden Fälle, bei denen man Borftellungs-
weifen und Meinungen widerlegt ſieht, die man gewöhnt war mit ben heiligſten
Urberzeugungen zu verknüpfen, diefe oft erſchüttern oder wol gar vernichten muf-
ten. Es ift leicht einzuſchen, daß bie Naturwiſſenſchaft felbft dem Zweifel und
der übermüthigen Verwerfung tiefer Wahrheiten, bie fie wider ihre Abſicht her⸗
vorgerufen hat, entgegenarbeitet. Denn indem ſie unabläffig fortfährt, Kennt-
niffe zu reinigen und zu Flären, wird fie manchen falſchen Einwand befeitigen,
der au einer minder vollfommneren Kenntnifi entfprang; indem fle ihre eigenen
Irrthümer widerlegt und berichtige, übt fie den Unterfuchungsgeift in Unters
fcheidung bes Wahren vom Falſchen, und während fie uns fühlen läßt, wie
feicht wir fehlen können, ea
nen Urtheilen ein. Ta
Handelt es fich blos um jene, jo zu jagen zufällige Vergänftigung, * der
Unglaube den Naturwiſſenſchaften entnahm, jo würde die Widerlegung hiermit
ichon gegeben. Allein die Naturwiſſenſchaft hat Durch ein zu ihrem eigenem
Wefen gehörendes Streben, bei Manchen einen gefährlichen Gedanken erweckt,
der, wenn er einfeitig verfolgt wird, zur Oottesläugnung führt. Indem ſie
mämkich zeigt, daß alle Wirkungen in der Natur nad; Gejegen geſchehen, und
daß diefe Gejege nothivendig, underaͤnderlich, ewig find, hat fle Viele dahinge-
bracht, fich dieſe Alles durchdringende Nothwendigkeit als eine blinde Nothivene
digkeit zu denken, welche gleichſam der Natur felbft angehört, aller Vernunft
voramgeht und aljo unabhängig von ihr fein muß, Dieſe Auffaffung fegt als
Grundlage des ganzen Dafeins eine von Ewigkeit her vorhanden geweſene, un⸗
befeelte Materie mit gewiſſen nothwendigen Gigenichaften voraus, Aus der
Wirkungsart diefer Letztrren follte Dann alles Dasjenige, was wir das Geiſtige
nennen, hervorgegangen und felbft unfer Denfen mur eine Folge der Eigen
ſchaften und Bewegungen der Eörperlichen Theile fein. Jeder wird das Troft-
Iofe fühlen, das in einer folhen Auffaffung liegt, und würde bie Naturwiſſen⸗
ſchaft fürchten muͤſſen, wenn fle nur zu dieſer führte,
Die naͤchſte Erwiderung hierauf ift Die wohlbefannte Wahrheit, daß der
größte Theil der Jünger und Verehrer der Raturwiſſenſchaft einem entgegenge⸗
festem Gedanken huldigt und in der Natur bie bewunderungswürdigſten, weifen
Anlagen zu vernunftgemäßen Zweden nachgewieien bat, fo daß 'man von den
weiſen Einrichtungen der Natur einen Beweis für ihren Urfprung aus einer
allmächtigen Bernunft herzunehmen pflegt. — Damit würde genug gefagt fein,
wenn wir und mit einer fich an das Aeußere haltenden Vertheidigung begnügen
dann ebenfalls werden müffe. Aber deſto auffordernder bliebe dann der unver
jöhnte Widerfpruch mit aller Daraus entfpringenden Unrube, mit jedem Zweifel
und jeder Möglichkeit des Unglaubens noch daftchen! Laſſen Sie uns darum die»
jenigen Wahrheiten a a ee ee Te
Sache geeignet find! ] . | T wa «It BI En
Auch ohne alle Ruͤckſicht — — uns von den
Zwecken in der Natur und der Weisheit lehrt, die ſich in der Erreichung derſel⸗
ben offenbart, werden wir durch die Betrachtung der Naturgefege in ibrer gan«
zen Nothwendigkeit zu der Neberzeugung geführt, daß bie Natur eine Vernunfts
einrichtung iſt. Denn die Wiſſenſchaft ſtellt und die Naturgeſetze als Bernunft-
geiege dar, Die unfere im mannigfaltigen Einfchränkungen befangene Bernunft
zwar micht ohne hulfe ber Natur auffinden fonnte, aber oft durch eben dieſe Hülfe
wirklich findet, Das Ergebnif aller über die Naturgejege angeftellten Berrach-
tungen ift, daß fle alle zufammen eine unendliche Bernunfteinheit ausmachen.
Die Notbwendigkeit hört nicht auf, aber fie zeigt fich als eine Vernunftnothwen⸗
digkeit, Wollte man dagegen den Eimvand aufftellen, daß dieſe Vernunftnoth⸗
wendigfeit ſelbſt eine Naturnothwendigkeit, und unfer ganzes geiftiges Weſen ein
Erzeugniß derfelben jei, fo daß fie wohl deshalb mit der Natur jtinmen müffe,
fo könnten wir antworten, daß dies weder abgeläugnet werben kann, nod) abge
laͤugnet werten ſoll, daß es aber nicht einmal ein Eimvand if. Denn Die Rothe
wenbigfeit hört auf, eim blindes Schickſal zu fein, wenn fie als eine Vernunft⸗
nothwendigkeit befunden wird — hier dad Wort in dem Sinne genonimen, daß
es nicht blos ein Etwas bezeichnet, welches für unfere Vernunft als eine Noth-
wendigkeit anzunehmen ift, jondern ganz befonders ein Etwas, das nothivendig:
iſt, gemäß einer Vernunft, aus welcher alle Raturgefege entfpeingen. Dieje
Antwort wird doc; noch nicht ganz befriedigen, fo lange man fich die Materie ala
Grundlage der ganzen Natur, nicht blos ala einen Theil ihres Weſens denkt.
Es ift ein uraltes, man könnte jagen ein urſprüngliches Vorurtheil des Mens
ſchengeſchlechts, das Einzelne und Unveränderfiche im Körperlichen , als einem:
Solchen, zu juchen. Bei geringftem Nachdenken erkanute man freilich, daß alle
Körper vergänglich find, allein man nahm feine Zufludyt zum Stoffe, Es ift
wahr, biejer erweiſt ſich alle Erfahrung hindurch ala unvergänglich, doch wohl
zu merken, nicht die mannigfaltigen ungleichartigen Stoffe, ſondern nur dad wäge
bare, raumerfüllende Etwas, das allen Stoffen gemein ift, mit anderen Worten:
bie Materie ald das Allgemeine in den Körpern, Gin uraltes Syſtem Tieß bie
Materie jelbft aus unfäglich Heinen Körpern von ungleidyer Größe und Gefalt,
aber von unbegrengter Härte beſtehen. Diefe Vorſtellungsweiſe hat zwar häu-
442 ee
Befehe.äfene Birtianbeikufein, Mlectfam Dife nistennung-vrrköofts nie
der Stoff ift Fein für fich beſtehendes todtes Sein, fondern er beftcht in Wirk-
ſamkeitsaͤußerungen, die bon den Alles Durchdringenden Näturgejegen beſtimmt
und begrenzt werden. Das Grundwirffame und das Ortnende im Dajein find
alſo nicht zwei getrennte Dinge, ſondern ein Iebendiges, unaufhörlich ſchaffendes
und ordnendes Bernunftganges, eine unendlich Iebente Vernunft — Gott!
ESchließt aber, nicht all! dieſe Rothwendigkeit den Gedanken an Sud un
Weisheit and? Keineswegs, wenn wir nur den himmelweiten Unte
ſchen der unendlich vollfommenen Vernunft und der, welche bei endlichen Wejen
fattfinden kann, feſthalten. Schon bei jeglicher Anwendung der Vernunft, fei
es zur Beurtheilung einer Maſchine, einer Staatdeinrichtung oder eined wiſſen⸗
fchaftlichen Werkes, wird man allemal eine defto vollfommenere Harmonie aller
Theife finden, je richtiger der Grundgedanke darin vorkommt. ine Karmonie,
bie allein aus der folgerichtigen Anwendung bes Grundgedanfens entipringt,
tritt uns oft fo entgegen, ald ob eine bejondere Anlage zu ihrer Grwirfung ges
troffen wäre, ‚obgleich es die eigene Sarmonie der Vernunft ift, die dies erzeugt.
In der Vernunft jelbit, der Vernunft ohne Einjchränfung, ift jedoch jede ein⸗
zelme Aeußerung eine Folge ded eigenen Wefens der Vernunft, und daher Mittel
und Zweck zugleich. Beifpiele werden dies mur unvollfommen aufklären, aber
doch nicht unfruchtbar fein, wenn man fich ihren Inhalt nur recht aneignet und
rechte Anwendung davon macht. — Man ftelle fich jegt zuerft als Gedanfenver«
ſuch vor, daß Alles, was wir von der Kugel wiffen, noch unbefannt wäre, und
daß ein Künftfer eine Figur erfinden wolle, die von allen Seiten den nämlichen
Anblick darböte, dad Gleichgewicht babe, wie man fie auch auf eine wagerechte
Fläche ftellte, und von ſolcher Oberfläche wäre, daß fie einen größeren Raum
umfaßte als irgend eine andere Figur von gleicher Größe, — wel" unfäglicyes
Hinz und Herdenken würde dazu micht erforderlich fein! Wer dabei aber von
dem Orundgedanfen ausginge, einem Raume, der von einer Oberfläche begrenzt
wird, bie überall gleich weit von einem Mittelpunfte darin entfernt ift, der würde
bei der nothwendigen Entwidelung des Gedankens alle jene und noch mehr ſchöne
Gigenfchaften finden, wie fie ein bloßes Streben nach Zwed entweder gar nicht,
oder nur auf vielen Umwegen gewähren könnte. — Wenden wir ung num an die
Natur felbft, ftellen wir und ald aus der Idee des großen Weltgangen den Ge—⸗
danfen ausgefchleden vor, welcher Die Herborbringung einer unendlichen Mannig⸗
Aberglaube und Unglaube. 443
faltigkelt von Sein und Leben befagt, und wozu erforderlich ift, daß ber eine
Gegenſtand dem anderen nicht binderlich wird, wie Fönnte man fich dann wohl
einen weiferen Plan dafür denken, als die ganze Mafle der Welt in unzählige
bewohnte Kugeln zu theilen, von welchen eine jede ihre eigenen Tages» und Jah⸗
reszeiten, jede ihre eigenthümliche Wärme, ihre eigene Dichtigfeit u. ſ. w. hätte?!
Wie follte man weiter etwas Weiferes erfinnen können, ald einer großen Anzahl
folcher Weltkugeln Licht und Wärme von einer Sonne, ihre Tageszeiten durch
Umdrehen um die eigenen Aren, ihre Jahreszeiten durch die Bahn einer jeden
um ihre Sonne zu geben — Aber alle biefe und unzählige andere’ damit zuſam⸗
menhängende Zwede folgen als Rothwendigfeit aus den Befehen, wonach die
Theile der Materie, Anzichung und Bewegung fich richten. In der endlichen
Betrachtung fehen wir Zwed und Mittel ald getrennt, im Wirflichen und Gan⸗
zen find fle Eins. Betrachten wir nun umfere eigene Kugel, fo fehen wir, daß
die heilfamften Einrichtungen, wie der Tages⸗ und Jahreszeitenwechſel, ihren
Urfprung von allumfaffenden nothwendigen Sefeßen haben. Anerfennen wir
mit Rüdficht auf den Rutzen die Bewegung , welche dad Meer durch Ebbe and
Fluth erhält, fo mäffen wir auf. der anderen Seite geftehen, daß fie nach jenen
nämlichen allgemeinen Geſetzen erfolgt. ‘Breifen wir die AUbwechjelung und
Ausgleichung, welche die Wärme in den verſchiedenen Erdſtrichen durch vielfäl»
tige Windftrömungen erhält, fo finden wir wiederum, daß fie Folgen jener all⸗
gemeinen Gefeße im Verein mit der außdehnenden Kraft der Wärme ind. Era
weitern wir nun ben Gedanken von diefen Beifpielen zu dem ganzen unenblichen
Umfange defjelben, fo fehen wir, daß Die Lieberzeugung von dem eich der Zwecke
in der Natur nicht Die Nothwendigkeit und Die Nothwendigkeit nicht bie Zwecke
‚ ausjchliegt, jondern dag Mittel und Gier in der Ratur, wie der Dichter tagt;
einander umarmen.
Und fo bleiben denn von der wahren Naturwiſſenſchaft ſowohl der Aber⸗
glaube als der Ungfaube ausgefchloffen !
Blanerenbahnen gegen die Efliptif find mit nur eilichen Ausnahmen ſehr flein,
La Place ftellte die Behauptung auf, wie es vor ihm ſchon mehrere gethan, daß
diefe merfwürbigen Eigenſchaflen auf eine dad Planetenſoſtem völlig umfaſſende
gemeinſchaftliche, beim Eutſtehen bed Syftems wirffam geweſene Kraft hinzudeu-
ten feinen; er meinte zugleich, daß man aus der Kenntniß biejer Kraft danu
jedenfalld auch den Urfprung der Planetemvelt auf die wabrjcheinlichite Weife
werbe erklären fönnen. Der berühmte franzöftfche Geometer bat dies felbit auf
eine finnreiche Weife verjudyt, wobei er dann auf ein Spftem binausgefommen,
das den carteſtſchen Wirbeln außerordentlich ähnlich iſt. Alſo bedarf das News
ton’jche Gravitationdioftem, das fo fiegteich und überzeugend alle Hinder niſſe
überwindet und zu dem glängendften Entdeckungen geführt hat, noch eines ander
ren Epftemd, um einige unerflärte, aber überaus wichtige allgemeine Eigenichafe
ten unferes Sonnenſyſtems zu erklären, Wie ſchon gefagt, hat das Syſtem des
berühmten Geometer La Place die größte Aehnlichkeit mit der Carteſiſchen Wir-
beicheorie. Aber ſchon lange vor Carteſius hat Kepler, noch ehe er Die Rotation
ber Sonne fannte, erflärt: wenn die Sonne ſich um ihre Are drehen follte, fo
könnte dadurch die Bewegung der Planeten hervorgebracht fein. Da it ſchon
bie erfle Idee eined Wirbel. Bekanntlich hat Carteſtus, Da er das Bedürfniä
fühlte, Die Bewegungen ber Weltkörper auf eine allgemein verftändliche Weiſe zu
erflären, Die Wirbel aufgeftellt, die auch zu ihrer Zeit mit dem allgemeiniten
Beifall aufgenommen worden, jegt aber mit Recht ganz der Vergeffenheit verfal-
len find. Zulegt nım bat bejonders La Place, der ſich um Das Newton'jche
Gravitationsſyſtem fo verdient gemadjt, auch wieber eine Wirbeltheorie, anders
tann man fie doch nicht mennen, aufgeftellt und damit fein Bes dlenft zum die
Gravitationälehre wieder verbunfelt,
Da nun eine mehr oder weniger beuflich ausgefprochene Birbeftheorie jeit
Kepler bis auf La Place öfters in dem legten zweihundert Jahren wieberfehrt,
und zwar durch die außgegeichnetften Denker und Mathematiker wieder und im⸗
mer wieder undfelbft neben dem unvergleich erhabenen Gravitations ſyſtem hervor-
gehoben wird, jo muß es doch allgemeines Bebürfniß jein, die wichtigen eben
angeführten allgemeinen Eigenſchaften ded Sonnenſyſtems zu erklären, die auch
das Gravitationsſyſtem zu erflären unterläßt, und die eben nur ben eine Wir⸗
beitheorie erklärt werden fünnte.
Woran mag ed denn liegen, baß diefe Theorie jo hartnädig wieberfehrt ?
Jean Paul fagt: ein Syſtem fällt nicht durch Angriffe auf daffelbe, jondern durch
ein neues, das fich kühn daneben erhebt. Bei dem Gravitationäfhfteme bat es
fich herrlich bewährt. Durch Newton's Genie ift es aufgebaut, durch feine Nady»
folger zu den herrlichiten Entdeckungen angewandt, und — bie Gartefijchen Wir⸗
bel find längft vergeſſen.
Doch nein! Sie find noch nicht gang vergefien. Nachdem das Newion ſche
Gravbitationsſyſtem ſchon allgemein bekannt und als wahr anerkannt war, haben
noch Wiedeburg und Kant an die Wirbel erinnert, und am Anfange dieſes Jahr⸗
hunderts bat ber berühmte Geometer La Place es als unumgänglich nöthig er—
achtet, auf eine der Carteſiſchen Wirbeltheorie jehe ähnliche zurückzukonnnen, um
—
446 ee ns 0
— uvam och wu au arm —————
ee in die Wiſſenſchaft zuruͤckkehten, was
giebt ihnen viefe Bähigkeit, dieſe Fähigkeit wieder aufguleben? Das iſt um fo
wunderbater, als feiner von Allen die Wirbel mit allen ——
fach erklaͤrte wenn die Sonne ſich um ihre Are drebte, fo fönnte die
der Planeten dadurch erflärt werden. Er zes — *
als die — * —— —7 — ⸗ |
wegung eines Wirbels — ————— —
ohne anzugeben, welche von dieſen Bewegungen er als die Urſache
anſehe. Auch Carteſius iſt in Feine Einzelnheiten eingegangen, und da iſt
es denn ganz zweifelhaft geblieben. Der umſichtige La Place endlich, um
nicht von Anderen noch zu ſprechen, hat ſich den ganzen Raum des Sonnenſh⸗
ftemd als cine Atmojphäre der Sonne gedacht, die, ſobald Die Sonne zotirte,
nach und nach ebenfalls rotiren müßte. Hier tritt alfo wieder die Sonne durch
ihre Rotation: ald erſte bewegende Urfache auf, die die Freifende Bewegung ber
Himmelsförper hervorgebracht haben ſoll, aber auch wieder, ohne auf die mög ·
lichen. damit verfnüpften Umftände und Verhältniffe Nüctjicht zu nehmen. ; Um
nun bie Wiederkehr diefer Wirbel, die bei dem beſtehenden und alle Erſcheinun⸗
gen auf’8 Herrlichſte erflärenden Gravitationsſyſtem ganz überflüffig ind; gründ-
1 uni su made, müßte, in alle Einzelnheiten eingehend, unterfucht
werben , ob jolche Wirbel überhaupt entitehen Unnen; und wenn bied möglich
ift, auf welche Weiſe es geſchehen Fann. | MET, 70
MPlateau in Gent bat ein merfwürdiges Brain das auch fpäter von
dem berühmten Baradey ausgeführt worden, angeftellt,. welches den Urſprung
und die Bewegungen unferer Planctenwelt auf eine fehr deutliche und intereffante
Weiſe zu verfinnlichen vermag, aber zu deſſen Gelingen eine gewiſſe Geſchicklich⸗
keit und Aufimerkjamfeit gehört. Es wird nämlich ein Glas mit einer Miſchung
aus Alfohol und Waffer gefüllt und hierauf. eine geringe Quantität Olivenöf,
welches mit der Miſchung genau diejelbe Dichtigkeit hat, hinzugegoffen. — Nun
ſteckt man durch das Glas eine jenfrechte Are eim, die eine Kleine Scheibe fo
trägt, daß deren Mittelpunkt mit Dem der Oelfugel, die als eine von der Schwere
unabhaͤngige Flüffigfeit zu betrachten, derfelbe ift. Seht man gedachte Are in
Bewegung, jo wird dann auch die Oelkugel rotiren, fowie auch die Mifchung
aus Alkohol und Waſſer, und man hat eine deutliche und Flare Einſicht von
der Abplattung der rotirenden Kugel, von der wirbeinden Bewegung der Mi-
jdung, und wenn bie Notationsgefchwindigkeit ſchnell genug ift, auch von ber
Bildung eines Minges. Diefer Verſuch ift angeflellt, Gauptfächlich um die Ro—
sation eines Weltförpers, der durch den Oeltropfen dargeftellt — ſowie die
Bildung eines Ringes zu veranſchaulichen.
Wollte man dagegen nur die Entſtehung und bie vollſtaͤndige Ausbildung
eined Wirbeld ftudiren, fo könnte man mit einer Mifhung aus Alkohol und
Die Notation deu Weltkörper. | 447
Waſſer erperimentiren oder auch einfach mit Waſſer allein, oder mit Weingeiſt,
oder auch mit jeder anderen Fluͤffigkeit. Rur möchte dad Experiment in einem
weiteren Gefäße vorzunehmen fein. Stellte man dann in die Mitte des mit
irgend einer Fluͤſſigkeit angefüllten Gefäße eine Axe, die eine Fleine Scheibe
oder auch eine Kugel trägt, und fegte man die Are in Bewegung, jo würde diefe
Bewegung der ganzen, im Gefäße enthaltenen Klüffigfeit durch die rotirende Ku⸗
gel mitgetheilt werden. Wäre das mit der Klüffigfeit angefüllte Gefäß weit
genug oder auch die an der Are rotirende Kugel nicht jehr groß, fo würde man
man beobachten Fönnen, wie die durch die rotirende Kugel der Flüſſigkeit mitge⸗
theilte Bewegung fich immer in- größerer Entfernung von berfelben ausbreitet,
bis fle in einer Entfernung von der Kugel, die wahrfcheinlich dem Halbmeſſer
derielben, fowie der Motationsgefchwindigkeit entipricht, ganz aufhört, fo lange
die Kugel auch mit der einmal angenommenen Gefchwindigkeit rotiren möge.
Betrachtet man nun bie in der Slüfftgkeit entflandenen Wirbel genauer, jo wird
man finden, daß die zunächft der Kugel befindfiche Schicht der Flüſſtgkeit ſich
mit derjelben Geſchwindigkeit, wie Die Oberfläche. der Kugel ſelbſt ſich bewege,
dag die Gefchwindigfeit aller folgenden Schichten nady und nach Kleiner wird
und endlich in dem angegebenen Punkte ganz verfchwindet. Sonach ſtehen die
Geſchwindigkeiten der einzelnen Schichten in irgend einem umgekehrten Verhaͤlt⸗
niffe mit ihrer Entfernung von der Oberfläche der rotirenden Kugel. — So nur
allein könnte ein Wirbel als entftanden feine Erflärung finden. Das Umge⸗
febrte, daß durch einen fchon vorhandenen Wirbel ein in feiner Mitte befinde
licher Körper in rotirende Bewegung verjegt werden könnte, ift durch Feinen
Verſuch darzuftellen und höchſt unwahrfcheinlich.
Dergleichen Berfuche find fchon fehr oft angeftellt und auch der aͤberro⸗
ſchenden Aehnlichkeit der wirbelnden Bewegung mit den Bewegungen der Him⸗
melskörper wegen darauf hingewieſen worden, daß die Bewegungen der Weltkör⸗
perſyſteme, und namentlich unſeres Sonnenſyſtems, da man dieſes am genaueften
fennt, auf eine Ähnliche Weije entftanden fein müßten. Es wird zwar gelehrt,
dag die durch einen rotirenden Körper in einer Flüſſigkeit entſtehenden Wirbel
mit der Zeit nach und nach mit derfelben Gefchwindigfeit fich bewegen follen,
wie die Kugel felbft, fo dag der ganze entftandene Wirbel in der Fluffigfeit mit
der feften Kugel, als Kern, fich wie eine einzige zufammenhängende Kugel bewe⸗
gen fol. Das ift indeß nicht möglich, weil die Schichten der Fläffigfeit nicht
durch fefte Linien zufammenhängen, ſich alfo ununterbrochen über einander ſchie⸗
ben, was auch durch einen Verſuch fehr Leicht bewiefen werden Tann.
Das ift nun fein begründeter Einwurf, und die Achnlichkeit der Wirbel
im Erperiment mit den Bewegungen der Himmelöförper ift und bleibt außeror⸗
dentlih, aber — die Gefchwindigfeiten der einzelnen Schichten der Flüffigfeit
im Experiment nehmen mit den Entfernungen von der Oberfläche der rotirenden
Kugel ab bis zu einem beftimmbaren Äußerften Punkt, in welchem die Bewegung
ganz aufhört, fo daß die der Kugel zunächft befindliche Schicht fich mit der Ge⸗
fchwindigfeit der Kugel ſelbſt bewegt; das ift nun ein limftand, der bei den Him⸗
melöförpern nicht ftattfindet, — Die Sonne rotirt bei weitem Tangfamer ald ber
DE 7—
en Weltförpern.
V — — "06 Biefe offenhare
Gigkeit. ei aller jonftigen Aehnlichkeit nicht zu erklären wäre. pre
diefem Ende zu unferem oben angegebenen Experimente zurück. Die Geſchwin-
digfeiten der Schichten ber Flüffigfeit nehmen mit der Entfernung von der Kugel
ab und fiehen in irgend einem umgefehrten Verhaͤliniſſe mit ihrer Entfernung
von der Oberfläche der rotirenden Kugel, Kenut man nun Die,
mit welcher ein Punkt des Aequators der rotirenden Kugel einmal um die Ure
läuft, fo muß ja ein Gefeg gefunden werden fönnen, nad) welchem die Gejchwins
digkeit jeder gegebenen Schicht in bekannter Entfernung, in Halbmeſſern ber
Kugel ausgebrüct, berechnet werden kann. Und umgekehrt, wenn die Gefchwine
—— einer Schicht, ſowie ihre Entfernung von ber Oberfläche der Kugel
befannt it, jo muß nad ee
Kugel gefunden werben können. Zr | “mn Se
Das iſt doc) unlengbar und metpematifi gewiß: Angenommen, daf eine
Rugehtiue lange; lange Beit, mit der wir gar nicht zu geigen brauchen, denn es
können Sahrtaufende, fowie Jahrmillionen fein, die und nur bei unſerem Erpe-
rimente zu verwenden nicht geftattet äft, rotirt hätte, und einen Wirbel, der doch
beffer eine Wirkungsjphäre genannt werden fönnte, um ſich gebildet hätte, der
dann weder mehr an Ausdehnung, noch auch an Geſchwindigkeit der cinzelnen
Schichten defjelben zunähme. Würde dann die Rotationsgeſchwindigkeit Der
Kugel plöglich verzögert, jo würde deswegen Doch der entftandene Wirbel in
jeder einzelnen Schicht defielben mit der einmal erhaltenen Geſchwindigkeit ſich
fortbewwegen, weil nach einem bekannten Gejege der Phyſik ein jeder Körper im
feinem Zuftande der Ruhe oder Bewegung verharrt, jo Innge nicht eine Kraft
diefen Zuftand ftört, und weil eben deshalb die Schichten des Wirbels ſich mit
mitgetheilt erhaltener Geſchwindigkeit fortbewegen, da fie nicht durch feite Linien
mit der (Gentral-) Kugel verbunden find, 17
Das wäre nun ein Fall, in weichem fich die und näher befannten Weltför«
per befünden. Urjprünglicy hätten fie, mit viel größerer Geſchwindigkeit als ges
genwärtig rotirend, ſich ihre Wirkungsiphären (die ſie umgebenden Wirbel) gebil-
det, ihre Geſchwindigkeit wäre dann wahricheinlich zu wiederholten Malen und
in Zwifchenräumen von Iahrtaufenden und Iahrmillionen allmälig bis auf die
jegige Zeit verzögert, während die Wirfungsfphären (die von ihnen gebildeten
Wirbel) noch mit ihrer urjprünglichen Geſchwindigkeit fich fortbewegen, und alle
in benjelben befindlichen Körper mit ihnen. Wenn damit and) gar nichts für
die Naturwiffonfchaften gewonnen wäre, jo wäre das jchon ein großer Gewinn,
daß der anfänglich den Weltkörpern einzelm ertbeilte, ganz bupotbetiiche und
problematifche Stoß, der denfelben nach der Tangente in alle Ewigkeit fortbewes
gen follte, jegt durch eine allen Körpern eines und defielben Syſtems gemein-
ſchaftliche Bewegung mütgerheilt erſcheint, dieſes einzig hopothetiſche in der ganzen
en ne enge mathematifche Grunbfäge bei
Beurtheilung derjelben anzuwenden. ne
Bis dahin wire Dir Eopeigänggußiunb: ——
fenfchaftliche Widstigfeit gewinnen, wenn es nur möglich wäre, am irgend einem
Weltkörper mir einiger Wahrfcheinlichfeit machzumeifen,, daß er fich einſt mit
„größerer Geſchwindigkeit al8 gegenwärtig um feine Are gedreht (rotirt) haben
müffe. Wie wäre e8, wenn man darüber den ums am beften befannten, viel von
uns bewohnten Weltkörper, die Erde, darüber befragte? Vielleicht giebt er dar
über einigen Aufſchluß, der uns abgebt, um Die Iventität eined im Erperiment
en TEEN * wenn a me nachzus
LEE DT oT mn Via ser 443
ee man 03, eine allen —— * Rıtürforferh Befatite Kite
— als Ausgangspunkt bei der in dieſer Hinſicht anzuftellenden Betrachtung
anzunehmen. Dieſe Thatſache iſt die, daß pie Erbe ſich 17 Mal ſchneller um
ihre Are drehen (rotiren) müßte, wenn ein unter dem Noquator der Erde im bie
Höhe geworfener Stein nicht mehr zur Erde zurückfallen follte, fondern durch
ben erhaltenen Schwung wie ein Trabant fich un die Erde bewegen müßte:
Vermittelſt des Schwunges bei 17 Mal ſchnellerer Notationsbewegung ber Erde
ift alfo die Wirffamfeit der Schwere, die bei gegenwärtiger Rotationsgeſchwin⸗
digkeit die im bie Höhe geworfenen Körper an die Oberflaͤche Der Erde zurück⸗
führt, wie es fcheint, aufgehoben geweſen. Daſſelbe ſcheint noch gegenwärtig
mit unferem Monde der Ball zu fein; erfällt nicht zur Erde, weil er Durch den
in feiner refp. Entfernung von der Oberflädie der Erde erbaltewen Schwung
vom Ballen in der Richtung der Schwere verbindert wird. Wie wäre ed mum,
wenn dee Mond fich noch mit feiner urfprünglichen Geſchwindigkeit bewegte und
aus jeiner genenwärtigen Gefchwindigfeit und feiner befannten Entfernung von
ber Oberfläche der Erde Die urfprünglicye Notationsgefchwindigfeit der Letzteren
abgeleitet werden fönnte! Hierbei hätte man gar nicht nöthig, nach dem Gejege
ſich umzuſehen, nach welchem die Nechnung auszuführen wäre, ba das Ite
Kepler'ſche Geſetz ſchon vorhanden ift und uns den berrlichiten Auffchluß geben
könnte. Nennt man nämlich nach diefem Gefege die Entfernung des Mondes
von der Erbe =D, den Halbmeffer der Erde = d, die Revolariongzeit des Mon-
bes — T, die zu ſuchende urfprüngliche Notationggeit Der Erde — t, fo verbält
fich der Würfel der Entfernung des Mondes zu dem Würfel des Halbmeſſers der
Erde, wie das Quadrat der Nevolationäzeit des Mondes zu dem Quadrat ber
(urfprünglichen) Motationdzeit der Erde, oder
D; d— 72.6,
und führt man die Rechnung aus, fo fommt man zu dem überrafchenden Nefule
tate, daß bie fich hier ergebende urfprüngliche Notationdgefchwindigfeit der Erde
allerdings 17 Mal fchneller ald die gegenwärtige geweſen fein muß, nämlich
— 1" 42°. Das ſcheint es denn wenigſtens höchſt wahrſcheinlich zu machen,
daß die Weltkörperwirkungsſphaͤren eben fo wie die Wirbel im Erperimente ent⸗
ftanden fein müffen, daß ebenfo wie diefe, nachdem die Rotationsgefchwindigkeit
IV. 29
450 Phyſik.
der Kugel verzögert worden, mit einmal erhaltener Geſchwindigkeit fortwirbeln,
auch die Weltkörperwirkungsiphären mit der ihnen eingeprägten Geſchwindigkeit
ſich mit allen in ihnen enthaltenen untergeordneten Körpern ungeflört fortbewe=
gen, wenn auch die uriprüngliche Rotationdgeidnwintigfeit Des Centralkörpers
bedeutend verzögert worden. Daß ſpeciell unſere Erte in ihrer Rotationsge⸗
ſchwindigkeit ganz ungemein verzögert, ift aus Vorftebentem mehr ald wahricheins.
li, da der Mond ſich noch gegenwärtig mit derielben Seichwindigfeit nach dem
Bten Kepler'ſchen Geſetze bewegt, mit weldyer im Verhaͤltniß die Erde rotiren
müßte, damit ein unter dem Aequator ber Erde in die Höhe geworfener Stein
nicht mehr zur Erde zurückfallen jollte können. Ob diefe Berzögerung der Rotation
der Erde mit einem Male, mit einem Rud flattgefunden, oder ob die Verzögerung,
wie fie ſich jet herausſtellt, zu verfchiedenen wiederholten Malen vorgefommen,
RR natürlich jegt durchaus nicht nachweisbar. Indeß ift das Letztere wahrſchein⸗
Hd und müffen dann jedesmal auf der Erde außerordentlich große Revolutionen
flattgefunden haben. Die Ereigniffe, die folche Verzögerungen verurfacht haben
können, find ſchon oft beiprochen, und es tft auch manches Wal auf fie hingewie⸗
fen worten. Sie bier genauer zu unterfuchen, wäre viel zu weitläufig, da fie
einen eigenen Artifel verdienen. Hier genüge es, die Thatfache feftzuhalten, dag
Die Rotationdgeichwindigfeit der Erde, fowie wahrfcheinlicy aller uns näher bes
kannten Weltförper, verzögert iſt, dag durch dieſe Thatfachen die einzige Hypo»
theie aus der genialen Sravitationdiheorie des großen Rewton vom urfprünglis
en Stoße, den die Weltkörper erhalten haben follen, befeitigt ift, und daß viel»
leicht nicht unwichtige Blicke für Geologie, limatologie und verwandte Rature
wiffenfchaften aus Liefer Entdeckung hervorgehen möchten.
Die Auartettmufik.
Bon
3. Schucht.
Dad Etreihquartett und feine Form. Die Elaffiter, Romantiker und
die Werle der Neuzeit.
Der großartige Geiſtesaufſchwung in der zweiten Hälfte Des vorigen Jahrhu
dert, in der unfere vorzüglichften Denfer und Dichter ihre bedeutendfien Mei⸗
fterwerke gefcbaffen , erzeugte auch in der Tonkunft ein klaſſiſches Zeitalter, im
welchen die edelften und jchönften Werfe producirt wurden, die wir noch heute
wegen ihres Ideengehaltes und der wundervollen Harmonie zwifchen Form und
Inhalt verehren und bewundern. Wahrhaft Epoche machend für die Muflf
wurde dieſes Zeitalter Dadurch, daß mehrere geniale Tondichter erfchienen, welche
ganz neue Tongebilte in viel größeren und weit außgeführteren ald den biäher
gebräuchlichen Formen fchufen. Vorzüglich waren e8 die Sonate, das Trio,
Duartett, Quintett, Sertett, Septett, Dctett, die Ouverture und Eymphonie,
welche durch Haydn, Mozart und Beethoven eine ganz andere Seftalt erhielten.
Schon im fechözehnten und fichenzehnten Jahrhundert hatten die Tondich-
ter 2 Biolinen, 1 Viola und Baß bei Orcheſtermuſiken und Eingipielen verwen.
det; hierbei fanden fie ſich oft genöthigt, von dem Streichquartett die wichtige
ften melodifchen und harmonifchen Tongebilde ausführen zu laſſen, weil fle nur
hierdurch am vollfommenften erecutirt wurden. Dies führte fie bald auf die
Idee, felbffländige Muſikſtücke dafür zu componiren, welche fich zuerſt nur-auf
eine fleine Taktzahl befchränkten, die aber im Verlauf der Zeit immer mehr
vergrößert wurde. Aus einem Praͤludium, Hauptthema und Schlußfage beſtan⸗
den faſt alle Tommerfe der damaligen Zeit. Im fichenzehnten Jahrhundert fügte
man zu dem erften Thema noch ein zweiteß hinzu, worauf dann der Schlußſah
folgte. Sehr bald genügte aber auch diefe Form nicht mehr für alle Muſtk
werfe; e8 wurden demnach Tongebilde gefchaffen, die aus zwei Sägen mit ver⸗
ſchiedenen Tempos beftanden, und beide bildeten für fich beſtehende Mufkftäde,
die durch eine höhere Geiſtesverwandtſchaft mit einander verbunden waren. Als
Joſeph Haydn als Zondichter aufzutreten vermochte, fand er ſich bewogen, eine
29 *
452 Muſik.
ſchönere Mannigfaltigkeit mit einer höheren Einheit dadurch zu erzielen, daß er
eine Trias von Tongebilden ſchuf. Seine erften Sonaten, Ouartetten und Sym⸗
phonien beftanden aus einem ernft gehaltenen Allegro, gewöhnlich HasZaftz hier⸗
auf folgte ein Adagio oder Andante, und ſodann ein leichtes ſcherzhaftes Allegro
als Schlußjag. Saͤmmiliche drei Säge bildeten für ſich beftchende jelbftftändige
Mufttjtüce, waren aber durch bie Wahl der Tonarten und Durch den Geifteäge-
halt mit einander verwandt. Der erfte Sag ertönte in der Tonifa C-dur, der
weite auf der Dominante G-dur und der dritte wieder in ber Tonifa, Bei Ton—
gebilden aus Moll M Tonifa, | zweite aber nur felten
auf der Dominante, fi un PRr —1 und der dritte wieder
auf der Tonika, aber als Durtonart; z, B. erſter Ent in C-moll, zweiter Sag
in Es-dur, dritter Sat C-moll, gebraͤuchlicher C-dur, An DieferForfatten
die Tondichter Gelegenheit, ernfte und majeftätifde Gedanken im erften Allegro
zu bringen, das Andanto oder Adagio ſprach die fanfteren Gefühle des Liebenden
Herzens aus, und das Finale erging ſich in feuriger Luft ober im fchergbaften
Spielen und fröhlichen Neckereien. Nur ein Lebenselement fehfte hierbei noch,
man vermißte den allbelichten deutſchen Tanz, den Walzer oder bie Menu
Haydn war der erfte Tondichter, der die Menuet zwiſchen das Adagio b
‚Quartetten
als dritten Sag feinen Werfen eimreibte. Seine fpäteren Sonaten,
und Symphonien enthalten faft alle — mit wenigen Ausnahmen — vier ſelbſt⸗
ſtaͤndige, für ſich beftehende Säge. Die Quartetten und Symphonien erbielten
vorzugsweiſe durch Haydn ihre Bormerweittrung , aber auch zugleich ihre höhere
Kunftvollendung. Ja man Fann mit vollem Recht jagen, daß dieſe beiden groß⸗
artigen Kunftgattungen nur von biefem arınen Bauernfohne gefchaffer wurden,
denn die Werke feiner Borgänger kann man nicht einmal als Miniaturbilder
mit den jeinigen — weil ſie in ganz we wejentlich ——
Form auftraten. Una
Daß Haydn reine große Anzahl Werte für das —— ein
geſchah deshalb, weil der Tondichter Durch dieſe Inftrumente den größten Ideen»
reichthum, die fchönften Melodien und ergreifendften Harmonien und die wun⸗
berbariten Toncombinationen mir den complicirteften contrapunftifchen Grftalten
zur Darftellung zu bringen vermag. Dies konnte aber auch nur in der Quar-
—* verwirklicht werden, wie fie und Haydn durch ſeine Werke gegeben hat;
denn bie früheren Kunftformen waren hierzu nicht geeignet: Grwägt man nun
noch, daß in den reichten Paläften wie in den befcheidenften Buͤrgerwohnungen
ein ſolches Streichquartett zufanmentreten kann, um im ruhiger Mufeftunde dieſe
Werke zu Gehör zu bringen, ſo wird es und erflärlich, daß dieſe Kunftgattumg
den allgemeinften Beifall erhielt und: überall Nahahmer fand. Künftler und
gebildete Dilettanten erfreuten ſich gleichmäßig an der Aufführung dieſer Quar⸗
tetten und erhielten durch fie ſtets Die edelften Hochgenuüͤſſe. In ber That find’ es
auch wahrhaft begeifterungsreiche und weihevolle Stunden, die wir in kleinen
vertenulichen Grjellfchaftäzirfeln bei dem Anhören diefer Tonwerke durdyleben,
Die Wahl der Infirumente war faft innmer 2 Violinen, 1 Viola und Bios
Ioncello, : Ebenfo wurte auch die Form in vier Sägen bis auf die Neuzeit —
Quartetimufik, 453
mit wenigen Mobificationen — beibehalten, Die gebräuchliche Modulatione-
form für die vier Säße war: 1. Sat Tonifa C-dur, 2. Sag Dominante G-dur,
3. Sag Tonifa oder Mediante E-moll, 4. Sag Tonika, Nicht felten wurde
auch folgende Modulationsordnung eingeführt: 1. Sag Allegro auf der Tonika
C-dur, 2. Sag Adagio Es-dur oder E-moll, 3. Sag Menuet in G-Aar, Finale
C-dur. Dieſe Modulationsordnung wurde: von allen Gomponiften der bamali-
gen Zeit, ſowie von ihren Nachfolgern und den Tondichtern der Neuzeit beibe⸗
halten und nur felten eine Abweichung eingeführt, weil diefe Anordnung der
Tonarten durch die Natur der Tonverhältniffe begründet ift. Nur muf ich be—
merken, daß nicht jedesmal C-dur * Grundtonart zur Tonika ——
ſondern auch die anderen Tonarten.
für die 1. Sat Allegro ih
A-moll, 2. Sit Andante C-dur, 3. Sag Menuet (fpäter zum Scherzo umgeftul-
tet) E-dur, 4. Sag Finale in A-moll oder A-dur, Jedoch wurde auch biefes
Scyema nicht ſterrotyp beibehalten, fonderm erlitt mancherfei Mobificationen,
. B. 1: Sag A-moll, 2. Sat F-dur, 3. Sag A-dur, 4, Satz A-moll. Der:
1. Sag A-moll, 2. Sag E-dur oder E-moll, 3. Sag C-dur, 4. Sag A-moll mit
ben Schlußiage in A-dur. Auch noch andere Tonorbnungen wurden einge
führt; ich will fie hier nicht anführen, fondern verweife die Lefer an bie Ton-
werfe, denn nur davon erhalten fie die bejte FRE bon ben verſchie⸗
denen Anordnungen der Tonarten.
Auch für die Modulationsordnung jedes J— Satzes ſtellte ſich ein
Schema feſt, das ebenſo noch heute mit wenigen Abweichungen befolgt wird,
weil es durch die Natur der Zonverhältniffe und Tonordnung geboten wird. Ja
man kann fagen, die Geſetze der Logik haben dieſe Modulationdordrrung fo genau
beftimmt, daß fie nicht ohme Nachteil verlegt werden dürfen, Cie find durch
das logiſche Denfen der Phantafie fo naturgemäß gebildet, wie die Regeln der
Nhetorif und Grammatik. Ed muß allen gebildeten Kunftfreunden und Künft-
fern erwünfcht fein, wenn ich die Schemata für die einzelnen Saͤtze Gier darlege,
weil das. klare VBerftändniß der Tonwerke hierdurch beffer erreicht wird,
Der erfte Sag beginnt oft mit einer kleinen Ginleitung, welche auf das
arſte Hauptehema führt, das ſich ſtets auf der gewählten Orundtonart —
Tonika — entfaltet umd im einen modulatorifchen Heberleitungejag geht, wel
ſehr oft nach der Dominante oder Mediante führt, worauf dann ein zweites Ge⸗
fangsthema erfcheint, dem ein kleiner Schlußfag folgt. Hiermit iſt der erfle
Theil bes erſten Saged zum Abfchluß gebracht. Der zweite Theil ergeht fich
in zahlreichen Dwrchführungen der Motive beider Themata, oft werden auch
mit neue Gedanken verfmüpft, Im dem Modulationswechſel finter die q
Mannigfaltigkeit ftatt, in die entfernteften Tonarten wird modulirt und darin
die Motive thematiſch durchgeführt; die kunſtvollſten contrapunftifchen Com |
tionen werden hier zur Anwendung gebradyt. Daher iſt der zweite Theil auch
Die ſchwierigſte Bartie, an ber fo viele Componiſten fcheitern. Denn nur ber
Zondichter von genialer Geifteöfraft und gründlichen Studium wird hier fein
wahres Feld finden und die reizendften Tonblumen in wunderbarer Korm der
454 Wuſik.
Arabeslenverſchlingung geben koͤnnen; während der weniger Begabtere und nur
zufammengerechnete Toncombinationen vorführt, die weder Poeſie, noch pſycho⸗
logiſchen Eharafter zur Darftellung bringen, Kür die Modulation und then
tijche Durchführung iſt Hier der weitefte Spielraum gegeben, ohne gejegliche Bes
fränfung. Nur die Geſehe der Aeſthetik und das Schönheitägefühl entjcheis
ben, was zuläffig ober unzuläfftg iſt. Nach der Beendigung aller thematifchen
Bearbeitungen modulirt der zweite Theil wieder zurüd auf die Tonika — der
Haupttonart des Quartetis — und hierauf beginnt ber dritte Theil des erften
Sages, welcher das erfte Thema oft ganz getreu wiederholt, zuweilen auch einige
Veränderungen einführt und ſodaun durch einen Modulationdfag ıuf Das zweite
Thema leitet, dieſes aber auch auf der Tonika mit wenigen Modifi.ationen wie⸗
derholt, worauf dann der Schlußfag in der Grundtonart erfolgt. Die Zwiſchen⸗
füge umd Leberleitungsjäge des dritten Theils moduliren in die Unterdominante
— Unterquinte vom Grundton — und berühren auch noch andere Tonarten,
jedoch ift hier Die Haupttonart vorherrſchend. Ich gebe hier in kurzer Bezeich-
nung das Schema für die Dur und Molltonart des erften Satzes. Es ift von
Haydn in feinen Duartetten und Symphonien gegründet und wird noch von ben
Tondichtern der Neuzeit befolgt, weil man es als ein Naturgefeg betrachtet,
f —— nei ER erleitungsfag im das zweite Thema, Furzer
G-dur
Fer Modulationsfag leitet auf die dominante ya
lußſab— Durchführung der Motive und Xemata, Zurütfeitungsfag.auf
——
Abichlußaufß. Freie Modulation in allen Tonarten, Modulation nach d
RIRTEBNRN ENG das zweite Thema, Schlußſat. |
F-dur C-dur. °
Modulation in bie Unterdominante und Nüdfehr zur 3
‚Für die Molltonart ergibt ſich folgende Ordnung:
= ef Zpema, Ueberlsitungsjag in das zweite Thema-
Tonika, Mobdulationsfag na: der Mediante zum Abſſcuge
A-inoll. — (EAur nach Edur.
| ea her der Motive und Themata, Zurüefeitungsfag auf das *
Modulation durch alle Tonarten, Modulation nach der Tonifa
A-moll.
Neberfeitungefag auf dad zweite Thema, Uebergang zum Schluß. |
Modulation in die Unterdominante, zurück zur Tonika, Modulation zur$
oder Dur-Toni
D-moll, ’ A-moll oder A-dur,
Das Adagio oder Andante bat felten folche complieirte Formen, wie ber
erfte und letzte Sag, in einfaches liedartiges Thema beginnt auf der Tonika
und modulirt durch einen Ueberleitungsfag auf die Dominante oder Mediante,
hierauf führt ein Eleiner Modulationsfag wieder zurück zur Tonika, worauf das
uaztettmufi. 06
erſte Thema wieder erfcheint, dem jodann ein Schlußſatz folgt; mitunter wird
auch wohl noch einmal an das zweite Thema erinnert oder ein neues hinzuges
fügt, und dann erft — — —
Ruͤckfuhrungsſatz zum erſten.
Der dritte Satz, als Menuet bei Haydn und Mozart, bat Feten mehr nie
drei Kleine Theile, die gewöhnlich 16 oder 24: umd mitunter auch wohl 32 Takte
enthalten, Die erften beiden Theile ertönen auf der Tonika, und der Dritte, ald
Trio benannt, erfcheint auf der Unterdbominante. Die erften Theile enthalten
era han ee worauf dann bad — * ruhig ge⸗
——— ZI eTTT
Beethoven hat aber. — britten Sape nicht- Die-alte Menuer mit. ihrem
— gewählt, ſondern ein lebhaftes Scherzo, das zwar auch oft nur
aus drei oder vier Theilen beſteht, welche aber ſo lang ausgeſponnen ſind, daß
fie nicht ſelten mehr als hundert Takte zählen. Hier bringt er num wieder bie
complieirteften Formen des Gontrapunftes und fchaltet Darüber mit einer Gewandt⸗
heit und Herrfchaft, die ewig beiwunderungswärdig bleibt, Der vierte Sat hat
faft ganz diejelbe thematiſche und modulatorifche Form wie der erfte Sab.
+ Daß nun diefe Formen jehr zahlreicher Modificationen und Variationen
fühig find, wird Jederman erflärlich finden; denn es können in thematifcher und
modulatorischer Hinſicht Die mannigfaltigften Abweichungen ftattfinden, wenn
nur der Grundtypus beibehalten wird, und dies iſt un ſeit —
zur Gegenwart vollbracht worden.
Ueber dieſe Formen haben ſich vielfache Streitigkeiten entſponnen, ſowohi
unter den Künſtlern, wie unter den Kunſtgelehrten. Die eine Partei, die Stür—
mer und Dränger dev Neuzeit und Zukunft, wollte fie ganz aus der Zufunftämus=
fit verbannen, weil fie Durch die Tondichter der Vergangenheit zu oft gebraucht
und daher veraltet ſeien. Unſere Gedanfen und Ideen der Neuzeit, bemerften
ſie, könnten nicht in den alten abgelebten und oft verbrauchten Formen zur. an«
gemeffenen Darftellung gelangen; ein neuer Geift und neuer Ideengehalt ſchaffe
ſich auch neue, ihm adäquate Formen. Die orihodoren Claſſiker erwiderten hier
auf: Dieſe Formen, welche der gejchichtliche Entwickelungsgang der Kunft im
Verlauf der Zeit hervorgebracht hat, find gleich den Naturgejogen zu achten und
zu. befolgen; fie. dürfen eben fo wenig verlegt ober zerflört werden, wie Die Regeln
* Geſetze der Logik und Grammatik. Der Tondichter kann, ohne Verletzung
dieſer Kunſtformen, dennoch ganz neue Gedanken erzeugen und ſie in. dieſen feſt—
beſtimmten Formen zur Darſtellung bringen; denn wie die Denker und Dichter
niemals die Logik und Grammatik negiren, ſondern ihren Inhalt in und nad)
dieſen geſetzlichen — —— — At und muͤſſen es auch
die Tondichter können. era —— wur yigg : ui
34342
dem. ic die. Wanblangenaufjeige, ‚aber auch darlege, wie in dem Wechſel und
Wandel ftets ein beharrender Grift herrſcht. Die Schüler und jungen Anfänger
in der Gompofttion müflen ſtets Das feſtgeſetzte Kormenfchema vor Augen haben
und ihre Ideen danach ordnen umd in die beftimmten Geſtalten bringen; font
gerathen fie leicht im eine Bormloftgkeit, ihre Werke werden unklar, unverſtänd⸗
lich, und find oft ganz zufammenhanglofe Gombinationen, denn es fehlt ihnen
die organijche Einheit. Aber nur der Meijter kann und darf Die Bormzerbres
chen mit weifer Hand zur rechten Zeit, — Jedoch auch bei Diefem wahren Auss
ipruche muß man bedenken, daß die Formen der Tondichtungen gar keine Achnz
lichkeit mit den Metallfornıen befigen, daß fie überhaupt in der Wirklichkeit gar
fein Vorbild haben, fondern nur ein Erzeugniß des denfend-fchaffenden Geiſſes
find, Man darf daher ſolche Analogien wicht aufiuchen und noch weniger Ber-
gleiche Damit machen. In der Muſik ift der Inhalt zugleich Form und die Form
der Inhalt felbft; denn man kann gar feine Theilung und Scheidung zwifchen
beiden Verhaͤltniſſen vornehmen, Gin jchlechter und unflarer Inhalt manifeftirt
ſich auch ftetd in einer ſchlechten Form; beides ift unzertrennlich.
Aber dennoch gibt ed gewiſſe Normen in thematifcher und mobulatorifcher
Hinficht, nach denen ſich der Ipeengebalt richtet; «8 find Die oben angegebenen
Formenichemata, Verlangen num die orthodoren Claſſiker, daß dieſe ftereotyp
beibehalten und fo gebraucht werden follen, wie es Haydn und Mozart that, daß
die Perioden und Ucberleitungsfäge ganz jo geordnet und in der Geftalt gebracht
werben jollen, wie e8 in den Werfen jener Meifter geichiebt, fo ift Died eine yes
dantiſche Lächerlichkeit; denn jeder Gomponift, der dieſe Formen jo gewiffenhaft
bis auf die Taftzahl nacheonſtruirt, wird nur mittelmäfige und oft unvellfonts
mene Producte ſchaffen. Treten dagegen einige Bamatifer unter den Zukunft
mufifern auf und verlangen, der Tondichter der Neuzeit folle fich an gar keine
althergebrachten Formen binden und fich nur feinen Ideen überlaffen, feinem
Inhalt Die gemäßen Formen fchaffen ; polemijiren fie auch dabei noch gegen den
alten Schlendrian der Zopfzeit, wo Alles regelrecht fteif geordnet werden mußte,
wo Periode und Mcherleitungsiag wieder in eine Veriode führte, und wo gang
ficherlich gewiß auf C-dur die Dominante G-dur folgte; ich fage, wenn fle dies
Alles Lächerlich zu machen fuchen und ganz befeitigen wollen und dem Tondich⸗
ter zumutben, er folle das erſte Thema des Quartetts in C-lar und die Gantis
und kindiſch. in Chaos von Zomnellen ohne -sfthmiice Glieterung; ohne
wohlgeordnete Säge, Perioden und Modulationsgruppen wird ſtets ein unges
nießbared Product bleiben es gleicht jenem Chaos der Natur, das fein würde,
wenn die Materie nicht zu Weltförpern fyitematifch geordnet wäre, fondern das
ganze Univerfum in Dumflform erfüllte, In ſolchen wilden Tonſtrömen herricht
noch weniger Logik, ald in den Stürmen des Meeres, — Id) betrachte jeht den
pfochologiichen Charakter der Quartette und werde mit Haydn's Werken be-
ginnen und der Zeitfolge nach bis zu den Producten Der Neuzeit fortichreiten.
Hierbei will ich auch zugleich zeigen, wie die Wandelung des pſychologiſchen
Ideenganges auch eine Wandelung in der Orftaltung der Formen hervorbrachte
und Inhalt und Form in organifcher Geftalt ſich wechfelieitig erzeugten.
Ich habe ſchon in zahlreichen Abhandlungen nachgewieſen, wie ſich der Gei—
ftescharafter der Nation jeberzeit auch in der Muſik und Poeſie manifeftirte; ſchon
in bew Artikeln über „die Eymphonie” im dritten Bande Diefes Werkes und in
Geiſt und Eharafter in der Tonkunſt““, 2. Heft des 4. Bandes, gab ich bier»
über ſtizzenhafte Andeutungen. In diefer Abhandlung will ich das dort Geſagte
ergänzen, Wer meine fchriftftelleriiche Thätigkeit auf mufifalifchem Gebiet ver⸗
folgt hat, weiß, daß ich diefen Gegenftand ſchon feit gehn Jahren im vielen Zeit»
fchriften bearbeite und hierin „Gefinnungstreu‘' geblieben bin. Die Claſſiei—
tät ber Werfe von Haydn und Mozart habe ich ſchon im Jahre 1848, faſt noch
als Knabe, gegen jene Partei vertheidigt, die damals ſchon die Werke Epohr's
und Mendelsjohn’d zum überwundenen Standpunfte zählte, weil im ihnen (mie
fie in der Neuen Zeitſchrift für Muſik ſchrieben) nicht die Volfägefinnungen der
Gegenwart auägrfprochen freien, fondern nur alte, ſubjective, ariſtokratiſche Em⸗
pfindungen, Wem dies unglaublich ericheint, der nehme den Band der Neuen
Beitfchrift für Muſik vom Jahre 1849 zur Hand. Jept bat dieſe Bartei ihre
Anſicht hierüber modifitirt und zollt auch den Glaffifern Die gebührende Anere
kennung. Ich will nun bier zugleich darlegen, wodurch ich vorzugäweije Die
claſſiſchen Werfe der Neuzeit von Denen ber Vergangenheit unterfcheitem, Denn
nur hierdurch wird eine beffere Würdigung beider Kunſtrichtungen möglich; daß
ich diefes aber nut —— „a, liegt in der Begrens
- jung meiner Aufgabe. u” 1 ar
In faſt allem feüperen Abhandlungen Habe idy einen Factor ei’der- Bios
buetiwirht der Tonbichter nicht beachtet oder doch nur beiläufig erwähnt: Näms»
lich den Einfluß des Charakters, ded Temperamentd, überhaupt die Einwirkung
‚hoben wird. Im diefer Geifteöfituation verſchwindet jein perfönliches Leid und
458 Muſik.
ber Indloidualitat auf bie ſchöpferiſche Thaͤtigkeit ber Tondichter und fomit auch
auf ihre Werke, IA habe nur immer dargelegt wie Die Geiflesfiimmung der
ers nainer ——— unbe —
— means anne der Werte nur: al8: einen Ausfluf Res
indivituellen Yemperaments betrachten. Sie jagen, der Melancyolifer ſchreibt
faft lauter Tonſtücke Roll rum buch, fie feine Melandyofie auszuſprechen.
Der Sanguinifer bringt uns beitere und lebensluftige Melodien, weil er die
—— — Ich will dieſe Raiſonnements hier nicht
ausführlich eitiren und nur noch bemerken, daß fie aus einer gaͤnzlichen Ins
kenntniß der Vroduetivität der Tomdichter entitanden find und auch beweiſen,
daß en ———— N ————— en
—* ar AU
——— nur * u
—* wenn ex in Begeiſterung verſetzt iſt. Dieſe Begeiſterung iſt eine höhere
Seelenſtimmung, in der jeder Menſch ber ſein Temperament, über feine per
fönlichen Berhältnifje, ja ich möchte jagen, über feine ganze Individualität ers
feine Luft, er denft nicht-an feine Schmerzen und vergißt feine ganzen individuellen
Beziehungen. Er gleicht faft der Sonambule und jenen. in Ertafe verfegten
Menfchen, die ihrer wirklichen Lage enthoben find und in einem ganz eigenthünts
lichen Geiftesftadium neue und ungeahnte Erſcheinungen haben, dabei Berbälts
niffe und Dinge erfchauen, die fie beim gewöhnlichen Lebenszuftande nicht ers
bliden, Im diefer höheren Begeifterung der Zondichter ertönen ihnen Melodien
und Sarmonien, Die fie dann auf dem Papiere firiren. So kann der Menſch
melancholifch und tief betrübt fein über harte Schickſalsſchlägge und dabei doch
beitere Tonweiſen jchaffen ; ebenfo findet das umgekehrte Berbältniß flat.
Hieraus geht ſchon hervor, daß das Zemperament und die individuelle Seelen⸗
flimmung wenig und fehr oft gar feinen Einfluß auf den höhergebildeten Ton—
dichter andüben. Es ift von Göthe befannt, daß er viele feiner individuellen
Erlebniffe durch Dichtungen objeetivirte und fi dadurch von feinen Scelen-
ſchmerzen befreite. Es würde jich Leicht zeigen laffen, daß die ſo entftandenen
Dichtungen nicht zu feinen vorzüglichhten Meifterwerken gehören. Aber abge⸗
fehen davon, iſt e8 hinreichend befannt, daß er feine Erlebniſſe erſt dann im
fich nun wieder idealiftiich in Die Durchlebten Situationen hineinverſetzte. Und
hierüber Spricht ſich auch Schiller fehr wahr aus, daf der Dichter nicht in der
Situation bed Leidens, nicht im Moment des Schmerzes ‚dieje Seelenftimmuns
gen als ein Kunftwerf zu geftalten vermöge, fondern erft dann, wenn er ſie
durchlebt und hinter fich habe und fie mun durch bie denfende Ihätigkeit der
Phantaſie reprodueire, Aber wie wiele Dichter fchildern Beiftesftimmungen mit
größter bewunderungswürdiger Naturwahrbeit, Die fie nie ſelbſt erlebt haben!
Hat Shafefpeare alle Seelenftimmungen feiner dramatiſchen Perfonen felbit er=
[ebt? Unmöglich! nur feine benfende Phantaſie erzeugte fie. Hier verfchwin«
Duartetianfit, 459
bet alſo jedes Temperament und jede individuelle Herzensregung des Dichters,
fondern er flellt Menfchen dar, die nach ihrer Geiſtesſttuation und ihren Ver⸗
hältniffen leben, tenten und handeln. Ueberhaupt find die Temperamentöper
fehiebenheiten, die individuellen Herzensregungen und alle Gemüthswandlungen
nur Bei angebildeten Perfonen fo vorherrſchend, daß fie weientlichen Einfluß
im Leben und Denfen bervorbringen. Nur der Raturmenjch wird von feinen
Leitenfchaften und Gemüthsbewegungen beberrfcht und in feinem Leben und
Denfen beflimmt, nicht aber der höher gebildete Geifl. Denn alle höhere Gei⸗
ſtesbildung Ichrt den Menfchen feine Affeete zu beherrichen und zu befämpfen.
Hierüber habe ich mich fchon im dritten Bande dieſes Werkes in der Abhand⸗
lung über Idealismus und Materialismus ausgefprochen und erörtere deshalb
dieſes Thema nicht weiter. Nur bemerfe ich noch, daß Haydn eine kummervolle
und jorgenreiche Jugend durchlebte und auch in feiner Ehe unglüdlich wurde,
(feine Battin verbrannte oft jeine Manufcripte) und dennoch fpricht fich in fei-
nen Tondichtungen jene heitere Geiſtesſtiimmung, jene Zufriedenheit am wonne⸗
vollen Dafein aus, wie fie die. damalige Menfchheit befeelte. Und ein Tondich⸗
ter der Reugeit, L. Spohr, hat die forgenfreiefte Jugend duschlebt, wurde ale
Nann ein hochgeehrter, reicher Künftler und ein glüdlicher Gatte, und doch
ertönen und aus der größten Zahl feiner Werke nur elegiiche Tonweiſen ent
gegen, obgleich er im Leben werer melandholifch noch traurig geftimmt iſt. Ein
Beweis, daB die edlen Dichter und Künftler von höheren Ideen inſpirirt wer
ben, als von indivituellen Temperamentöwandlungen. Nur ter Geiftescharat-
ter der Zeit, der die edelften und beften Denker, Dichter und Künftler beſcelt
and belebt, begeiſtert fie zu ihren Werken und: gelangt durch fie zur objectiven
Erfcheinung.
Wenn man nun biergegen erwidert, daß dieſer Geiſtescharakter der Zeit
doch nur von den Individuen erzeugt werde, daß er ohne fie gar nicht exiſtire
und nicht zur Erfcheinung komme, daß er nur von den Indieidualitäten und
ihren Temperamenten beftimnt werde; fo muß ich bierauf jagen, jene Gedanken
und Ideen, welche unfere Denfer und Dichter zum Schaffen und Handeln bes
geiftern, haben nichts mit der gemeinen Individualität und ihren Gemüths⸗
Bewegungen gemein, Diefe empirifchen Zufälligfeiten verfchwinden dabei und
nur die Gedanfen und Ideen, welche die Weltgefchichte zum Borwärtsichreiten
bewegen, find es ganz allein, wovon die Dichter, Denker und Künſtler beſeelt
und begeiftert werden und die fie in ihren Werken zur Gricheinung bringen,
Und nach diefer Kunſt⸗ und Weltanficht müffen auch ihre Werte beuntheit und
gewürdigt werben.
Betrachten wir nun das Zeitalter, in dem. Haydn erfchien und feine Werte
erzeugte. 1832 in einem: fleinen Dorfe geboren, aber frühzeitig nach Wien
gelangt, fiel feine Jünglingszeit in jene Periode als das geiſtige Leben in faſt
allen curopäifchen Ländern einen höheren Aufichwung nahm und in Deutichlaud
ein wahrhaft claffiiches Zeitalter der Porfle und Muſik hervorbrachte. Er
war ein fehr Iernbegieriger und ftrebfamer Süngling, ber die größten Entbeh⸗
rungen duldete, um ſich nurin Kunſt und Wiſſenſchaft vervollklommnen zu kön⸗
460 Muſik.
fehienen; Maria Thereſia und Joſeph I. Hatten überall geiſtige Bildung, Huma⸗
—— und +8 bläßten eine, große Zebl edln Geier
ee Meifterwerke’produeisten.; Dieſe gehobene Geifted-
ſtimmung erzeugte in allen Gemüihern Heiterkeit umd
am febönen Dafein dieſer Erbenwelt. Hatten auch die Menfchen mancherlei
irdifche Leiden und Sorgen zu ertragen — wie Haydn und viele feiner Kunfk
genoſſen — fo lebten fie doch in harmoniſcher Zufriedenheit, denn fie hatten ſich
ja durch ihre Gedanken und Ideen ein geiſtiges Paradies gegründet, Sie lebten
mebr in ihrer ſchönen Ideenwelt als in der Wirflicyfeit und machten bie Erfah»
rung, daß der Menſch nur in Kunft und Wilfenfchaft ein edleres Daſein auf
dieſer Erbe durchlebt. Dieſes Höhere Ideenleben werflärte ihre Gemüth und
veredelte ihren ganzen Charakter und fo wurden fie zum Herold ihres Zeitbe-
wußtfeind und fprachen die Ideen und Gedanken ihrer Zeit in ihren Werfen
aus, Dieſe beferligende Geifteöftimmung begeifterte unjeren Joſeph Haydn zur
Probuetivität, und demzufolge componirte er am Morgen herrliche Quartett-⸗
fäge , unbefümmert darum, daß er nicht wußte, womit er gegen Mittag die Be»
dürfmiffe feines Magens ftillen follte, und wo er Wohnung finden könne, wenn
die Miethszeit vorüber war. Und hatte er nun wirklich ein Opus glüdlidy voll
endet, fo wollte es fein Verleger gratis druden, am das Honorar zahlen dachte
man gar nicht. Ach das waren gar trübfelige Zeiten für den armen frommen
Haydn, und Doch verzagte er nicht und ſchuf immer neue Werfe und blieb dabei
fo bejcheiden wie ein gutes Kind. ı Wenn in fpäterer Zeit der größte jubelnde
Beifall über die Vortrefflichkeir und Schönheit feiner Werfe ausbrach, da fagte
er, mit einer Handbewegung gen Himmel zeigend, es kommt Alles von oben;
hiermit wollte er andeuten, daß nur der göttliche Geift ihm zu feinen Werken be⸗
geiftere, — Wenn bie Tondichter ſich im der gewöhnlichen Alltagsftimmung,
gleich anderen Menjchen befinden, jo verwundern fie fidy soft darüber, wie es
möglich ift, daß fie ſolch vortrefflich ſchöne Ideen erzeugen können, wenn fie in
Degeifterung verjegt find. Daher entjtand früher die Anficht, daß fie vom ab⸗
foluten Gotteögeifte zu ihren Werfen infpirirt würden. Hierdurch wird es er⸗
klaͤrlich, wenn Haydn fagte: es kommt Alles von oben; denn auch er glaubte,
ber fterbliche Menfch fei nur das Organ, wodurch fich ber allmächtige Geift
der Welt offenbare, — Mit der Lehre des Materialismus harmonirt dieſe Ans
ficht freilich nicht; nach ihr it die Begeifterung der Denker und Dichter nur eine
erhöhte Botenz des chemifchen Proceſſes, hervorgebracht durch eine gute Vers
bauung und Blurbildung. Sie bedenken aber dabei nicht, daß die) größten
Denfer und Dichter oft fehr wenig oder doch ganz Unbedeutendes zu verbauen
und zu aſſimiliren hatten. Und ich verweiſe auch in diefer Hinficht noch einmal
auf meine Abhandlung ——— und gerne im dritten Bande
dieſes Wertes, N iv au
Die fchönften Werte ſchuf Babdu in jener Periode: al6-bie deutfchen Die
ter in allen Gasen Deutjchlands ihre Lieder anſtimmten. So arm wie fle oft
waren unb fo unbebeutend ihre Stellung im Staats« und Geſellſchaftöleben auch
fein mochte, fo waren fle doch Heiter und froh. Sie danften Gott und priefen
fh glücklich, daß fle vor allen anderen Sterblichen bevorzugt ‚wären, weil
Ihnen die hoͤchſtbegluckende Babe des Geſangs verlieben ſei. "Sie betrachteten
wicht (wie einige Halbunvernünftige Dichter der Neuzeit) die Dichterbegabung als
einen Kainöftempel, ald Brantmal und Ungläd für den Menfchen,, fondern fie
fhäpten He unendlich hoch, als die edelſte Gottesgabe, die dem flerblichen Er⸗
benfohne verliehen werden könne. In dieſem Slauben fchufen fie mit heili⸗
ger Begeifterung ihre Meiſterwerke und mit ihnen ein claffliches Beitalter für
Poeſfie und Muſik.
Sören wir nun die herrlichen Hahydn'ſchen Quartette; was für eine Gei⸗
ſtesſtimmung ertoͤnt uns aus ihnen entgegen! Stets die harmoniſche Zufrie⸗
denheit des Geiſtes mit ſich ſelbſt, die innerliche Heiterkeit über die Exiſtenz
feines Weſens und das freudige Wohlbehagen am Daſein dieſer Welt. Sie iſt
ja jo wunderbar fchön, dieſe im Horentanz kreiſende Erde mit ihren wohlduften⸗
den Blumen und dem roflgen Sonnenichein. Aber die edelften Hochgenüſſe
gewährt uns das Leben in der Ideenwelt bier unten in grünenden Fluren und
fhattigen Wäldern. Es find zwei Freundinnen und zwei Freunde, bie in
Gaydn's Onarterten ſich im Mofengarten der Liebe ergehen und im befeligenden
Ideenaudtauſch ein ſchönes Wechfelleben führen. Ach wie glüdlich tönnen doch
die Menſchen leben, wenn fie Sreundfchaft und Liebe pflegen und ſich nicht ges
genfeitig in Haß und Zwietracht befämpfen und verfolgen. Das Leben fei nur
lauter Liebe und Freundſchaft, jo wird das Paradies auf Erden gegründet, was
und Ehriftus von Razareth verfündet und für das er gelcht und gelitten bat.
Ja, auch Haydn befaß ein folches Herz voller Menfchenliebe, das niemals aufs
bört zu lichen, mag es ſich auch unzähligemal getäufcht Haben. Dieſe innigfte
Beilige Liebe zur gefammten Menfchheit, welche nur die edelften Geiſter auf Er⸗
den befeelt, fprach er in feinen wunderbaren Tongebilden ans, wie ed der Dich⸗
ter durch Worte nicht vermag. Diefer beitere Frohſinn niit feiner freundlichen
Jugend des Geiſtes, erinnert und an jene alten Götterſagen, die den feeligen
Göttern ewige Heiterkeit und nie alternde Jugend des Geiſtes als weſentliche
Eigenſchaft ihres Lebens beilegten. Bei Haydn find es aber die Kinder der
Erde, Die in ihrer befeeligenden Geiſtesjugend ſich den fröhlichen Unterhaltungen
an Spielen und Schergen überlaffen, dabei aber ntemald aus: der Sphäre des
höheren Gedanken⸗ und Iteenlebens heraudfchreiten , fondern ſtets die Wirklich⸗
Zeit mit den Ideen der Poefle veredeln und verfchönern. — Wohl greift auch
der Schmerz in diefes Menſchenleben und reißt oft mit unerhitterlicher Strenge
das heiß gelichtefte Weſen von unferer Seite, fo daß ſich das Herz in bit
tere Klagen ergießt und unzählige Thränen ausweint, welche in’ den elegifchen
Melodien des Adagios austönen und fanft verhaflen im leiſen Genfer der Weh⸗
muth. Da ertönen die Glocken ded Doms, fromme Gefänge erfchallen zum
Simmel empor und mie die heiligen Töne in Schwingungen des Aethers fort
ziehen und dem Ohr der Denfchen verhallen, fo entſchwinden die Schmerzen und
Klagen der Eranfen Bruft und himmliſcher Friede und duldende Ergebung bes
bb. Griedendiendet; Dennmie — fünıttiche Dishanmoniensifte hans
moniſche Löjung finden, fo im — und in der Tonkunſt. Dies iſt
das abjolute Geſetz des Univerſums. — ot Inne na a
Wenn etwa ein nie ber die Tonwerle nur als
Nechenerempel betrachtet, nach meiner pſychologiſchen Schilderung: ſpöttiſch
fragte: ob man den wirklich das Alles aus der Muſik heranshören kann, was
ich vorhin geſagt babe; jo muß ich dagegen folgende Erwiderung miederfchreiben,
Wer das ganze geiftige und geſellige Leben bes vorigen Jahrhunderts ſpe⸗
eiell durchſtudirt hat, weiß, daß Die oben gejchilderten Seelenftimmungen vorzugs-
weife zu Haydn's Zeit dominirten und Dichter und Künſtler zu ihren Werken
begeifterten, Und wenn ex dann mit empfänglichem «Herzen für Muſik Haydın's
Ouartetten hört, jo wird er gewiß mir beiftimmen, daß die von mir gezeichnete
Geiftesfitwationen der Hauptinhalt und das Grundthema jeiner Werke, find;
Daß hierin aber auch nody ganz andere Seelenitimmungen zum Ansdruck kom⸗
men, verſteht fich Durch fich ſelbſt. Wollte man fie alle annähernd ſchildern, ſo
müßte man uͤber jedes Onartett einen befonderen Artifel ſchreiben und dazu ift
bier der Raum nicht geftattet. Bon Haydn Fann man auch jagen, erkannte
bie Sehnſucht nicht, ſondern fühlte ſich glücklich und befriedigt im Dieſſeits.
Dies manifeitint ſich in allen feinen Tonwerken. Ich geb jegt zu feinem näͤchſten
Beiftesverwandten und Zeitgenoffen W; A. Mozart über und betrachte deſſen
Duartetten. — Braten und Haydn's Quartette Deutiches Geiſtes lehen mit deut⸗
ſcher Oemürhlichfeit zur Darftellung, jo gab ung hiergegen Mozart bie Stimmen
ber eusopäijchenBölfer und wurde Kosmopoli..... m mm
Duartettenfit. 463
Bei biefer Ausſage muß man aber ſtets an bas Höhere Ideenleben ber Bäl-
ker denken und nicht an die engen yarticulariflifchen Sonberfiimmungen der
Individualisätn. Es war der freie und kühne Geiſtesauſſchwung, der zwar
immer noch in den gefeglichen Schranfen ber Aeſthetik blieb und niemals gegen
das wonnevolle Dajein ber Wirklichkeit grollte, aber dennod) bie geheimnißvolle
Ahnung einer anderen Welt und eines ſchöneren Lebens in fi trug Diele
Geiſtesſtimmung bewegte damals die höheren Denker und Dichter und prägte
fh in ihren Werfen aus. In ter Tonkunft wurde Mozart der Hauptrepraͤ⸗
fentant diefer Seelenflimmung. Er, als geborner Deutfcher, durchreifte Italien,
Frankreich und England; fein zartes Senjorium, dad von jeder Geiſtesfituation
erregt wurde, durchlebte alle Seelenflimmungen ter Nationen und brachte fie in
Zongebilden zum Ausdrud. Durch feine Werfe ersönte eine ‚ganz neue Ton⸗
weile hindurch; eine Teije Ahnung von einem Ideale durchzieht dieſe Tongeſtal⸗
ten und verklaͤrt ſich in Schnfucht zu fanfter Wehmuth, tenn es iſt in der
Wirklichkeit nicht vorhanden. - Wohl ift fie wunderfchön - diefe Erde mit ihren
reizenden PBaradiedgärten voller Blumen und Brüchte, Die mit: duftenden Wohl⸗
geruch uns in Gimmelöjeligfeit eimwiegen. Und ach! das höchſte irbifche Er⸗
denglück, ins Arm der Liebe zu ruhen, nach des Lebens Stürmen und Kahrten,
läßt alles Leid vergeſſen und verſchwinden, denn wahrhaft glücklich iſt Dex Menſch,
wenn treu geliebt er. durch das Leben wandelt. Aber durch alle dieſe höchſte
GErdenglüdjeligkeit, durch dieie irbifche Zuft mit ihren jubelnden Sreuden und
Liebedwonnen ertönt-ftetö in leiler Wehmuth das Theme: „unſer wahres Leben
iſt nicht auf Erden, ſondern im Himmel.“
Heilige Schauer und geheimnißvolle Ahnungen durchziehen die Bruſt im
fanften Es-dur Adagio des Mozart'ſchen Quartetts. Die hellaufjauchzende Le⸗
bensfreude des erſten Satzes iſt verfiummt, denn der Menſch verweilt jetzt im
heiligen Hain der Gottheit und ſendet ein frommes Gebet zu ihr empor. Wal⸗
desrauſchen durchweht die Gedanken der Ahnung und Sehnfucht nach einer
höheren Geiſteswelt; und wie die Tonmellen im ‚blauen Sinmelsäther. zitternd
verhallen, fo möchte die Serle hinfchwinden ins Senfeit einer nur geahnten,
aber nie gefannten Region des höheren Geiſterlebens. Aber noch iſt das dul-
dende Menfchenharz nicht gebrochen, noch ift die Trennungsſtunde nicht erſchie⸗
nen, die und dem Erdenthal enthebt; drum laßt uns heiter und fröglich fein,
laßt uns fchaffen und werfen, fo lang es Zag ift, denn es kommt bie. Zeit der
Ruhe nach des Lebens Mühe und Qual; fo.ertönt es aus der Menyet entgegen,
in der das Leben fich wieder zur Freude und zum Tanz geflalter und in heiteren
Rhythmen dahin eilt, wie die Sterne im Sphärentanze des Weltalld. . Auch ber
vierte Sa ergeht ſich in Taͤndeln und Echerzen, im Spielen mit Käfjen und
Herzen. Die Mahnung bed Todes, die mitunter leife anflingt, wird ſtets durch
liebliche heitere Melodien hinweggefüßt ; denn fchön lebt ſichs hier oben im roſi⸗
gen Lichte, wo heilige Liebe dem Menichen bie höchſten Paradieſeswonnen ver⸗
leiht und in füß ſchwelgender Binmieleſeligteit die Geiſter für bie Ewigten
verbindet. —
Dieſe zeſchilderten unb noch vielfach andere Geifteöftnationen estönen und
4
MR: Wort glauben. 2 gießen —
rallele zwiſchen Hahdn's und Mozart's Werfen, Im Haydn's Quartetten ers
tönt noch die ungetrübte Eubjectivität in voller Heiterkeit und Lebensfriſche der
ni een ie jereeipi ——— Wolfen, die an der
Das
Erben Hier Ute de ne aus feinen nn EZ
Eine Feine Modification diefer Srelenftimmung erſcheint uns aber fehon
in Mozart's Werfen, obgleich beide Tondichter Beitgenoffen waren nur var
Haydn der Frübergeborne und begann auch feine Künftlerlaufbahn früher als
der fpäter geborene Mozart. Zwar jind auch im Mozart'8 Quartetten die Dur⸗
tonarten der ungetrübten Fröhlichfeit fo vorberrfchend, wie in den Haybir’fchen,
und auch durch fie zieht fidy daſſelbe Grundthema der heiteren Behaglichkeit
am wonnesollen Erdenleben; aber es erfcheint doch auch Fehr oft eine gehelm⸗
nifvolle Mahnung an Tod und Grab, und ein ſchauerliches Geiſterreich ertönt
nicht felten in die fröhlichen Lebensweiſen hinein. Dann überfönmt den Men+
feben eine Ahnung und ein wehmuthsvolles Sehnen durchzieht die Bruftz elf
Sehnen nach einem ungefannten Ideal und nach einem oft geſuchten aber'nie
gefannten Rande fpricht jich in elegiſchen Tonmeifen aus, bie aber durch Die
er er ee —— — * Wie UNSERE SEN
ſchenbruſt verdrängt werden, | | wer Im Ion
Durch diefe ee — —— und
Accorde in den Werken beider Meiſter. Mozart modulirt ſchon bfterer nach den
Molltonarten und ſchreibt auch ganze Werke in Moll, während Haydn fie nur
borübergehend berührt, Jedoch nebraucht auch Mozart die Molltonarten und
diffonirenden Accorde nicht fo Häufig, wie die Tondichter der ſpäteren Zeit
Aber auch ihr Satz - und Periodenbau mit ihren modufatorifchen Ueberleitunges
gruppen erflärt fich aus ihrem Geiftescharafter. Das gefellige Leben der dama⸗
ligen Zeit bewegte ſich ſtets in wohlabgemeffenen Formen des Anſtandes und der
Eitte, die wirklich mit foftemafifcher Negelmäßigfeit ftreng befolgt wurden. Alle
heiteren Bergnügungen des Spiel® und Tanzes ergingen fch nur im dieſen abge⸗
zirkelten Schranken der Conbenienz. Seid fröhlicy und luſtig, aber Alles in
Duattettikufit. 465
feommer Sitte und Ehrbarfeit, war der Wahlſpruch jener Menfchen, die ſtets
nur den langfamen Walzer, die bedächtig einherfchreitente Menue und noch
andere Tänze in bemfelben gemäßigten Tempo tanzten. Alle $reuben ber Le⸗
bendluſt, alle Jubelflänge des froh erregten Herzens fprachen fich immer nur im
Moderato wohlabgemefjener Rhythmen aus und ergingen fich niemals in wilds
Rürmender Bachantenluft. Niemals iobten ſich die Menjchen in Teidenfchaft-
lichen Orgien aus (wenigftend nicht der hochachtbarc deutfche Bürger» und
Bauernftand), denn bie ungezügelte Weltluft mußte von Anſtand und Sitte be-
herrſcht werden. Uber auch alle Seelenfchmerzen mit der höchften Verzweiflung
fonnten und durften fich nicht in der LUinbegrenztheit des Schmerzenausbruchs
verlieren, denn dad Ertragen und Dulden der Erdenfchidiale mit frommer Er⸗
gebung in die göttliche Yügung der gerechten Weltregierung war ein Haupts
dogma der damaligen Religiondanficht. Der Krater wildftürmender Leidenfchaf-
ten, wie fle fpäter bei den Staatsunnwälzungen zum Durchbruch famen, war noch
nicht vorhanden, oder wenigſtens noch nicht fo tief im innerften aufgewühlt, daß
er fich in ſolch furchtbaren Tonftürmen, gleich dem Donner des Weltmeeres er»
gießen konnte. Ueberall in Freude und Luft, wie in Leid und Schmerz war ber
ſelbſtbeherrſchende Geift, die ordnende und regulirende Macht, welche ftet8 Die
Affecte in den Schranfen des Anſtandes erhielt, die niemals Hberfchritten und
Hierdurch für die Tonkunft zu Gefepen der Uefthetil wurden. Bedenkt man
dieſe Brifteäfituationen mit ihrem Gefühlsleben fehr genau und verfolgt man
ihre Manifeftationen im Leben, in der Kunft und Literatur, fo wird ed uns
einleuchtend, daß fie fich nur in folch ſchönen abgegrenzten plaftifchen Tonfor⸗
men zum Ausdrud bringen Fonnten.
Betrachten wir die Säge, Perioden, Weberleitungsgruppen mit ihren Ac⸗
cord⸗ und Modulationswechfeln in Haydn's und Mozart's Duartetten, fo er⸗
blicken wir überall eine fymetriiche Abzirkelung dieſer Formen, wie fle in den
Merken der fpäteren Tondichter nicht wieder erfcheint; es ſei denn bei denjeni⸗
gen, die fie eflektifch nachahmen, nicht aber bei den originellen fchöpferifchen
Geiſtern. Die einfachen Säge vereinigen fich zu einfachen Perioden, ohne An⸗
hängfel oder Zmwifchenfäge und überfchreiten felten die fechzehntaktige Anzahl.
Die erfte Periode führt in den modulatorifchen Ueberleitungsſaz, der in ein
zweited Gefangsthema Teitet, worauf fodann ein Fleiner Schlußfag erfolgt. Aber
alle diefe Perioden, Säge und Ueberleitungsgruppen geben eine ſolch durchſich⸗
tig Fare Anordnung, cine Plaſtik des Ebenmaßes und eine überfichtliche Vers
fländlichfeit, daß felbft die Laien alle Abgruppirungen biefer Tonformen wahr«
nehmen. Wir erfehen alfo hieraus, daß das in Afthetifchen Geſetzen ſich
Außernde Gefühlsleben jener Zeit, auch ganz die ihm angemeſſenen Formen
fhuf, in denen es ſich austönte. Die abgemeffene Wohlanftändigfeit aller Ges
fühldäußerungen, die ſtets fich regelnden Lufl- und Schmerzendergießungen er»
tönten auch nur in ſolch abgezirfelten Saß- und Periodenfornien. Und da das
Gefühlsleben nicht in unbegrenzten Regionen herumfchweifte, fich niemals in
maßlofen, ungefeffelten Xeidenfchaften erging, fondern ſtets von der benfenden
Selbfibeherrfchung in den Formen der äfthetifchen Schieklichfeit gehalten wurde,
IV, 30
denn der Geifeögefaft hat ſich feine nur ihm angemeffenen und eigenthümlich
angehörenden Formen erzeugt, in benem er ſich objectivirend zur Erſchei⸗
nung Fam, — a
Neben Sayen und Mogart Haben zwar auch noch viele Tonbichter Quar⸗
tetien gefchaffen, aber fte waren nicht von Epoche m
deshalb auch vergeffen worden, Pleyel's Dunetettent Haben noch die größte Wer“
breitung erhalten und wurden auch lange Zeit gefpielt, aber auch fie enthalten
nicht das Rebendelement, das uns and den Werken obengenannter Meifter ent
gegen tönt. Es find aut gearbeitete Compoſitionen, aber es fehlt ihnen bie
hohe Genialität des Geiftes, wie ſie den Hauptrepräfentanten des klaſſiſchen Beit-
alter8, Haydn und Mozart, zu eigen war, Ich befpreche daher Die Compoſttio⸗
nen diefer Männer nicht, denn fie gehören nur der Muftfgefchichte an, ſondern
fchreite jegt zu den Tondichtern der nächftfolgenden Zeit, bie durch ihre Epoche
machenden Werke cine ganz neue, von ber eben gejchilderten, wefentlich vers
ichiedene Periode der Tonfunft erzeugten. — — —
Der naͤchſtfolgende Tondichter von Aufſehen erregender Bedeutung war
Beethoven. Sein Bildungsgang und die Erzeugung feiner erſten Werke fiel im
die Blüthenzeit des Haybn’-Mozart'fchen Zeitakterd; daher tragen nicht nur feine
Quartetten aus diefer Periode die Geiftesftimmung jener Zeit, ſondern auch feine
anderen Jugenbarbeiten, Sie jtnd oft den Werfen jener Meifter fo ähnlich an In⸗
halt und Form, daß man fie — mit feinen fpäteren verglichen — für nicht Beeths⸗
venifch hielt; denn vielen wollte e8 unmöglich dünfen, daß ein Tondichter in
feinen fpäteren Werfen einen foldy heterogenen Charakter zur Darftellung bringen
fönne, ber fi von dem Geiftesleben ber erften Zeit jo wefentlich unterfchelbe,
Die tiefer Blidenden deuten dies Verhältniß anders; fie fagen, in der Anfangs
periode war er Nachahmer und Eklektiker jener Meifter, doch ſpaͤter arbeitete er
ſich zur Selbftftändigfeit empor und producirte nur feinen, — eigenthlumlichen
Ideengehalt in neuen und erweiterten Formen. ve.
Zum Theil ift dies wohl richtig, denn jeder junge Componiſt wählt ſich
bie Werke eines Meifters zum Mufter, nach denen er feine erften Verſuche bil⸗
det, aber ald abfolut wahr, darf man es nicht behaupten; denn ed frage ſich
nicht nur, wie der Tonbichter darauf kömmt, wejentlich verfchiedene Kormen,
als die feiner Vorgänger zu fchaffen, fonderm auch, wie und wodurch biefe ganz
neue, von ber vorangegangenen weientlich verſchiedene Geiſtesſtimmung ent⸗
Nanden ſei, bie in dem Tondichtungen ber neueren Beit zum Ausdruck
Quorietimuſit. 467
gelangt. Und dieſe Frage wird um jo wichtiger, wenn wis bemerken, daß in
einem einzigen Geiſte ſich dieſer totale Bruch mit der Vergangenheit vollzieht
und durch ihn ein ganz anderer Ideengehalt zur Darſtellung gebracht wird. Dies
Senn auch nicht ein bloßes Reſultat der individuellen Stimmung und ihrer Um⸗
wanblung fein, ſondern eine ganz andere Geiſtesmacht muß dieje Evolution in
den Individuen bewirken. Diefe höhere begeifterude Macht, welche bie Derker
und Dichter zu ihren Werken begeiftert, ift der Ideengang der Weltgefchichte, der
Äch in und durch die höherbegabten Menfchengeifter vollbringt. Ich habe es
ſchon oft gelagt, daß dieſer weltgejchichtliche Ideenproceh einen neuen Geifted«
gehalt durch die protuctiven Geißer in das Leben einführt, wodurch ihre
Werfe ſich von denen der früheren Meifter wefentlich unterfcheiden. Ich habe
ſchon in vielen Abhandlungen, unter anderen auch in der über Geift und Cha⸗
rakter in Der Zonfunft im 3. ‚Hefte dieſes Bandes ©. 146 nachgewieſen: wie
bie geoße Evolution des geiftigen Lebens am Schluffe des vorigen und zu An»
feng des jepigen Jahrhunderts auch auf die Tondichter eingewirkt und neue
Stelenftimmungen erzeugt bat. Daſſelbe that ich audy in der Abbanklung im
beiten Bande, „die Symphonie und ihre Form.“ Ich legte dar, wie die don⸗
nergewaltige Revolution mit den Kriegäftärmen in ihrem @efolge auch in Beetho⸗
new 8 Symphonien und Spontini’d Opern ihren Eriegeriihen Ausdruck im
Tongebilden erlangte, und wie die großartigen Forſchungen und Refultate der
Wiffenfchaften mit den neu entdeckten Werfen der Poefle aus Indien, Perfien und
Arabien alle Dichter elektrifirten und zu neuen originellen Schöpfungen begei⸗
ferten. Deshalb verweife ich die Leſer auf jene Abhandlungen und ſchildere
dieſe Geiſtesevolution hier nicht weiter, fondern beipreche jet den Geiftesgehalt
der Beethoven'ſchen Quartetten.
In der erften Periode ſeines Schaffens freuete er ſich mit Haydn und Mo⸗
- zart an der Ideenwelt und lebte in vergnügter Zufriedenheit über das herrliche
fehöne.Dafein diejer Erbeuwelt. Seine Zondichtungen befingen das harmlofe
Glü guter Menſchen, weldye in Liebe und Slaube ein frommes Leben führen,
Gott loben und preifen und janft dahin fcheiden, wenn der Tod fie ind höhere
Geiſterreich führt.
Aber diefe harmloſen Erbenfreuden werben von dem ernft mahnenden Geiſte
bed neuen Jahrhunderts verdrängt und vergefien. Gin höheres Geifterreich folk
ſich der Menſch auf diefer Erde gründen, heilige ®erechtigkeit und mildihätige
Menſchenliebe foll auch dem Aermſten in der Eleinften Hütte zu Theil werten.
Und diefer ernft mahnende Geiſt der neuen Zeit treibt die Menschheit zu raftlofer
Thätigleit, zu nie ruhendem Streben, zum Hoffen und Yürchten; ber Geiſt
erfüllt die Bruft mit Schnfucht nach höheren Idealen und treibt wie der Cherub
Die Menfchen mit dem flammenten Schwerte aus bein Paradieſe Der Freude
hinaus in die weite Welt, ins wilde flurmbewegte Leben zu raftlojer Arbeit
und nie ruhender Thätigkeit. — So fah Beethoven die alte Welt zerichellen,
das gemüthliche Dafein verichwinden und mit ihr verfchwanden auch feine Le⸗
bendfreuden mit ihren heiteren Spielen und Scherzen im roflgen Sonnenfchein
beglüdender Xiebe,
30 *
— — N if auf
den Infeln des Weltmeerd,
Dies ber bat Beh fr ut aus de veiten
vermag. In auch ihm vergehrte bie: Gehnfudht nach immer bäheren: @eißäflehe,
bie nur den edelſten Menſchen zu eigen iſt. Auch er hatte das innige Glüct
jener befeligenden Liebe geahmt und gehofft; — aber bittere, kum
ſchung trieb ihn aus feinen Hoffnungen hinaus in die Welt des Su
Strebens, um irgendwo jene heilige Liebe des Hergend zu finden, —
geneſen könne zu neuem Leben der Erde. —
Faft alle mufifalifchen Schriftfteller haben den aa
niffen Beethoven's einen wefentlichen Einfluß auf feine Productivität beige ·
meſſen und behauptet, fie hätten jene Seelenſtimmung erzeugt, die
Werfen durch jo wunderbar ſchöne Melodien und Harmonien Fundgibt, Er
ich) will dies nicht ganz ableugnen, aber dennoch darf man hierbei nicht ſo weit
gehen und ben individuellen Negungen des Herzens mit den Selbfterlebniffen
Alles zuſchreiben, was in dem Geiſte jened Tondichters lebte und wirkte. Und
ich erinnere hier noch einmal daran, daß der fchöpferifche Geift in feiner höheren
begeifternden Seelenftimmung über feine individuelle Lage weit emporgeboben
wird, daß er all feinen Kummer und Gram, alle Schmerzen- feines getäufchten
Herzens, aber and) jein böchftes individuelles Glüd vergißt und in einer idealeren
Megion lebt, deren Gedanfen und Ideen ihn zum Schaffen begeiftern und ſich
dann im feinen Werfen ausfprechen. Wer dies Befagte etwa bezweifeln will,
der kann es leicht im geringeren Grade am fid) felöft erleben, wenn er fi Durch
Gedichte oder Mufitwerke zu einer höheren Scelenflimmung begeiftert.
Wohl ift es das fehmerzlich traurigfte Geſchick im Menſchenleben, wenn’
die innigjte heiligfte Liebe edler Herzen durch gemein denfende und miederig han—
delnde Menjchen zerftört wird. Der unendlich qualvolle Kummer und Gram,
ber hierdurch die edelften und beften Menſchen am tiefften erfaßt und fie in bie
Arme des Todes führt, diefer zehrende Seelenſchmerz unglüdlicher Liebe
wirft auf den Dichtergeift viel mächtiger und zerftörender ein als auf die anderen
Quartettmuſik. | 469
Menſchen, weil nur ex aus vollfter Herzenstiefe und mit allen feinen Geiſtes⸗
neigungen das heißgelichte Weſen mit der innigften Liebe umfaßt und es
nie und nimmer zu laſſen vermag, und wenn die Welt in ein ewiges Chaos der
Nacht verſaͤnke.
Aber dennoch ift die Begeifterung ber. höheren Iteenregion viel mächtiger
wirfend als alle Körperfchmerzen und indivituellen Seelenleiden; fie hebt ben
Dichter und Denker in eine Beiftesfphäre und in eine Aetherregion empor, in
der es ber Förperlichen Schwere entbunden und ſomit auch ihren Schmerzen ent⸗
hoben wird. In diefer Region des Geiſtes verbleibt chen nur das höhere Geis
ſtesleben der irdijchen Liebe; und dieſes Ideenhafte, dieſes Beiftige in der Men-
ſchenliebe ift ed, was fih in den Kunftwerfen zum Ausdrud und zur fchönen
Erfcheinung in der Darftellung bringt.
Bon dieſem pfochologifchen Standpunkte betrachtet, hat auch die Liebe
Einfluß auf die Künftler und Kunftproducte; aber nicht als individuelle ſinn,
liche Reigung, fondern ald höhere Geiſtesliebe; und diefe ideenhafte Geiſtesliebe
gelangt auch in Beethoven's Duartetten zum tief ergreifenpften Ausdrud und ver-
zaubert uns in noch nie empfundene Seelenflinmungen, von denen ter blos
rechnende und Falte Verftandesfopf gar Feine Ahnung und feinen Begriff hat,
Wer alfo diefe Geiftesfiimmungen mitempfindend durchleben will, der muß
nicht nur ein empfängliches Herz dafür haben, ſondern auch eine höhere Geiſtes⸗
bildung beflgen, die nur dadurd, erworben wird, wenn der Menfch durch wifjen-
ſchaftliche und Fünftlerifche Studien auf eine höhere Stufe des Ideenlebend ge-
hoben und jomit die harmonifche Ausbildung feiner Seelenthätigkeiten begrüns
det wird.
Die zahlreichen Berfuche, alle Geiftesfituationen der Tonwerke durch Worte
zu ſchildern, Tönnen und müſſen ſtets deshalb fo Lürftig ausfallen, weil es
ja eben nur das Geiſtige in allen Gefühlen und Empfindungen ift, was bie
Tondichtungen zur Darftellung bringen, Alſo nicht die individuellen Reigun-
gen mit ihren Antipathien und Sympathien, wodurch fich Die Menfchen von
einander fcheiden und fondern und fich unverfländlich werben, ſondern das Gei-
ſteselement der Seelenftimmungen fchildern die Zongebilde, wie e8 Worte niemals
zu fagen vermögen; und diefe @eiftesfprache aller Gefühle, Empfindungen und
Gedanken, wie fie durch die Tonwerke zum Ausdrud fommen, ergreift alle ge=
bildeten Menfchen und erregt fie zum Mitgefühl, denn die Geiftesfprache der
Tonkunſt wird unter allen Rationen der Erde verflanden. —
Nach den gefchilderten Geifteöfituationen der Beethoven'ſchen Quartetten
wird es fchon Jedermann einleuchtend geworben fein, daß fie fich nicht in den
Formen der Tongebilde einer früheren Zeit austönen konnten. Diefed raftlofe
Sehnen und Suchen nach neuen Idealen erweiterte die früheren einfachen Perio⸗
ben zu Tangen complicirten ®eftaltungen, bie oft mehr den modulatorifchen Ueber⸗
führungsfägen gleichen al8 den ruhigen Perioden mit verweilender Geſangscanti⸗
Iene. Die ruhig beharrende und behagliche Freude am Dafein zu Haydn's und Mos
zart's Zeit hatte nicht jenes raſtlos firebende Lebengelement in ſich, das immer
weiter in die Ferne eilt, fondern das ruhige Verweilen am Gierfein, das innige
fondern die Spieler müffen auch aufs tieffte diejen Geiftesgehalt erfannt und
fich ſelbſt hinein gelebt Haben; nur dann werben fie durch ihren Vortrag das
———— zum Mitgefühl bewegen und das Verſtandniß
biejer geheimmißvollen Ideenwelt bewirken. — Beethoven bat uns alfo durch
a des geiftigen Lebens gegeben. Genügendes Beharren
und heitere Fröhlichkeit am gegebenen Dafein dieſer Erdenwelt mit ihren hei—
teren Gedanken⸗ und Ideenleben. Hinausſchreiten in das unbegrenzte Weltall
mit nie rubendem Streben und Schnen nad) idenleren Regionen, Und gänz-
liche Rückkehr zu fich ſelbſt mit Abwendung von allen irdifchen Erdenfreuden;
zeined Leben und Denken im Ideenreich des Geiftes, mit totaler Ausſchließung
aller Gefühlsjchwelgereien, und ungetheiltes Innenleben mit gänzlichem Vergeſſen
der Außenwelt. Die erfte Phaje, noch dem Haydn⸗Mozart' ſchen Zeitalter ange
hörend, überjchritt er jehr bald und gleidyeitig mit dem Untergang ber alten
Staatd- und Gejellfchaftäzuftände., Im der zweiten Phaſe verweilte er länger;
fie begann im Anfang unferes Jahrhunderts, wo alle edlen Geifter beſſere Bu-
flände des Lebens und ein neues Ibeenreich zu gründen ſuchten. Die britte
Phaſe begann in den zwanziger Jahren, als die allbefannte finftere Reaction jede
eble Geifteörichtung zu vernichten drohte, Dieſe Ereigniffe und feine Selbit-
erlebniſſe ſtimmten auch feinen Geift zur Infichkehr in fein eigenes Ideenleben
mit gänzlicher Abwendung von den finnlichen Freuden ber genußfüchtigen Men-
ſchenkinder. — Ein Zeitgenoffe Beethoven's von höherer Bebeutung war Franz
Schubert, Auch er hat einige Meifterwerfe der Quartettmuſik geſchaffen, die
denfelben Ideengehalt und die gleiche Kormgeftaltung haben. Ja er ſchweift mit
feinen Sägen, Perioden und Ueberleitungsgruppen noch weiter ald Beethoven ;
fie fpinnen fi immer länger und größer aus, führen immer wieder in neue
Säge oder Mobulationsgänge; alle modulatorifchen und thematifchen Durchfüh-
rungen werben durchlaufen und oft jeheint es, als fünnte und würde er nie und
nimmermebr den Hafen der Nube und ſomit das frieblidye Ende erreichen, Aber
alle diefe Babrten auf dent unermeßlidyen Ocean der Harmonien und Melodien
mit ihrem Labyrinth von contrapunktiſchen Fotmen vollbringen ſich im feuriger
Jugendkraft. Man benfe an das D-moll-Diuartett, Es ſprudelt in ihnen
nicht jene ungebrochene Heiterkeit und fröhliche Zufriedenheit am Dafein , wie
bei Haydn und Mozart, aber es waltet ein feurig ftrebender Jugendmuth mit
ernfter Geifteöftimmung in Schubert'8 Werfen als Hauptinhalt vor. Seine
‚großartige C-durSymphonie bildet hierzu das würbigfte Seitenftüd, Aber
— EEE ni
behandelt, die fi) aber doch dem Hößeren Ganzen —
— fo. — in Shi
der Ocdanfen und Ideen, alfo cin wahrer ‚ |
und Durcführung gebracht. „Man Hat diefe Ar —— n
phonen Styl gehalten find, oft mit einem gothifchen Dome verglichen, an bem
viele. einzelne ſelbſtſtändige Figuren und Gebilde zu einen großen Ganzen und
damit zur höheren Einheit vereinigt find, Jede Fleine oder große Bigur fiel
einen felbfiftändigen Gedanfen für fich allein dar, aber alle dieſe Ginzelgebanken
alſo das Hauptganze, ‚bie, ee ihre ’yerfchiebeneh ; * ale
er 7 NYWim | RN vat b
Dieſer Vergleich iſt nicht ganz —— nur muß ich noch hinzufügen,
* in den polyphonen Quartetten nicht jede Stimme nur „Einen Gedan-
tem“ des Ganzen zur Darftellung bringt, wie beim gothifchen Dom ; fondern,
wie ſchon gefagt, fammtliche Stimmen führen wechfelweife „alle Gedanken”
des Werkes durch und bringen fie jede nach ihrem Stimmcharakter zur Darſiel-
lung und vollenden hierdurch das höhere Ganze zur organijchen Einheit der
Idee, So verhält ſich's aber nicht mit den —— wie ſie Spohr in
hoͤchſter Vollendung geſchaffen hat. u. ve
‚Bei den Soloquartetten ift die — ———
allein führt ſtets die wichtigſten melodiſchen Gedanken aus, die zum Theil aus
getragenen Cantilenen, zum Theil aus glänzenden Bravourpaſſagen beſtehen.
— * alle * concertartigen Paſſagen find ſtets in wohllautenden ſchönen Ge—
ſaugẽcoloraturen gehalten. Die anderen drei Stimmen bilden hierzu bie Be—
—* Diefe Begleitung ift aber immer fo Funftvoll durchgeführt, daß fie
gleichfam ein polpphonifche® Gewebe um die Hauptftimme abgibt, Es werben
Duarteiaufit. 473
in ihr melodifche Motive wechfelfeitig durchgeführt und auch Die. Harmonien mar⸗
nigfaltiger geſtaltet. Niemals, oder doch nur Außerft ſelten werben die beglei⸗
tenden Stimmen als bloßes, Harmonie tragendes Material verwendet; immer
ergehen fie fich in intereflanten Rhythmen und fchönen melodifchen Gebilden,
aber fie ordnen fidy Dabei der Soloſtimme unter und treten niemals felbſtſtaͤndig
auf. Ganz befonders fchön wirb das Gello behandelt. Als Bapftimme fchreitet
eö ruhig und würbenoll einher, während die Soloftimme die jchnellften und kunſt⸗
reichften Geſangscoloraturen ausführt. Oft wird ein Baßcontino durchgeführt,
der, wie beim Mittelfag in Spohr's H-moll-Quartett, eine ſelbſtſtaͤndige Melo«
bie in Biertelbewegung mit unterbrechenden oder abfürzenden Achtelpaufen wel
ter leitet, während die erfte Geige in den oberen Octaven eine tief gefühluolle
und lang getragene. Gantilene in halben, dreiviertel» und mitunter auch wohl in
ganzen Roten enthält, die fi dann jpäter wieder in Die mannigfaltigften: Color
raturen ergießt; der Baß fchreitet hierbei unbefümmert jeinen gemeflenen Gang
weiter, aber beharrt bei feinem gemählten Motiv, als wollte er es zur herrſchen⸗
den Geltung bringen. Linübertrefflich fchön find dieſe Seenen durchgearbeitet
und gewaͤhren den wonnevollſten Hochgenuß.
Hiermit habe ich den formellen Unterſchied der Soloquartetten von den
durchcomponirten Quartetten dargelegt und wende mich nun zur Schilderung
des pischologifchen Inhalte. Spohr ift in feinen Quartetten und audy in allen
anderen Werfen — mit wenigen Ausnahmen — ein elegifcher Tondichter. Ele⸗
gie, Sentimentalität, fchmerzliche Melancholie, die fich fehr oft zum heroiſchen
Kampfe fleigert, find vorzugsweiſe die herrfchenden Serlenftimmungen in feinen
Werken. In ihnen hüllt fich die ganze Natur in ein Trauergewand, und ein tie
fe8 Seelenweinen mit ſchmerzlich elegifchen Klagen ift der Hauptinhalt feiner
Tongebilde. Man denke nur an die elegifchen Geigenmelodien in jeinen Quar⸗
tetten voll duldend fchmerzlicher Trauer; ein unfagbares Sehnen und Hinſchmach⸗
ten eines kranken Geiſtes, der fich der Erdenregion entiwinden möchte, ertönt und
aus jedem Takte entgegen. Niemals oder doch nur Außerft felten tritt er aus
feiner wehnutbövollen Trauer heraus; und wenn er fich doch einmal in das fröh⸗
liche Weltleben hinein begibt und beitere Lieder fingen will, fo drängen fich ſtets
ganz unmillfürlicy Thränen der Wehmuth hervor. |
Die Molltonarten find bei ihm vorwaltend, faft alle feine Quartetten find im
Moll gehalten; mir ift nicht ein einzige® in einer Durtonart bekannt. Und wie
er componirt, fo geftaltet er fich auch feine Umgebung — fagte ich in der Neuen
Berliner Muftfzeitung im 11. Jahrgang 1857. — Als ich vor mehreren Jahren
in Kaſſel anfam, wanderte ich durch die Promenaden und Gartenanlagen hin»
ter der Stabt und gelangte endlich in fpäter Abendſtunde an die Nähe eines
Friedhofs. Lange Thränenweiden ließen ihre Trauerzweige bis zur Erde neigen;
ringsum ftanden blühende Blumen und Blüthen tragende Obfkbäume, in deren
Zweigen die Rachtigallen ihre klagenden Abendlieder ertönen ließen. In ſchmerz⸗
lihe Wehmuth verfunfen, börte ich fernher Elingende Geigentöne, welche aus
einem Fleinen Gartenhaufe mit Begleitung des Bianoforte herüberwehten, als
ob fe eine Elegie der hier begrabenen Todten wären. Es waren Grabedtöne,
rare nn rin u —— — J Br ara
Eine andere ehrwurdige Erfcheinung tritt uns durch den Meifter Lonis
Spohr entgegen; er wurde der Schöpfer des Soloquartettd. u# ——
Die Quartetten von Haydn, Mozart,
beichäftigt
he weiter fpinnen, jo daß ein Seftänbiger Weshfe
der Gedanken und Ideen, alſo ein wahrer Ideenaustauſch ftattfindet. Hierbei
werben alle canonijchen, contrapunktiſchen und Bugenformen zur Anwendung
und Duryführung gebracht, Man hat diefe Art Kunſtwerke, welche im poly⸗
phonen Stol gehalten find, oft mit einem gothifchen Dome verglichen, am dem
viele, einzelne felbftftändige Figuren und Gebilde zu eincm großen Ganzen und
damit zur höheren Einheit vereinigt find, Jede Fleine oder große Bigur ftellt
einen ſelbſtſtaͤndigen Gedanfen für fich allein dar, aber alle diefe Einzelgedanken
find zu der höheren Einheit einer großen Idee vereinigt. Dieſe große Idee tft
aljo dad Hauptganze, die, wie ee — Kurz:
Einzelgedanken enthält.
Dieſer Wergleich iſt nicht * oe) Pe ia 24 Ginpefügen;
dab. in den polyphonen Quartetten nicht jede Stimme nur „Einen Gedan—
fen’ bed Ganzen zur Darftellung bringt, wie beim gothifchen Dom ; fondern,
wie jchom gefagt, faämmtliche Stimmen führen wechfelweife „alle Gedanken“
des Werkes durch und bringen fie jede nach ihrem Stimmeharafter zur Darftels
lung und vollenden hierdurch das höhere Ganze zur organifchen Einheit der
Ihe, » So verhält ſich's aber nicht mit den nn wie fie * in
*5* Vollendung geſchaffen bat.
"3Bei en Sofoquartetten: IR: Die erfte Geige dominirenbe «Sauptflimme; fie
allein führt ftet die wichtigſten mielodijchen Gedanken aus, die zum Theil aus
‚getragenen Gantilenen, zum Theil aus glänzenden Bravourpaſſagen befteben.
Aber alle. diefe concertartigen Paſſagen find ſtets in wohllautenden ſchönen Ge«
fangscoloraturen gehalten. Die anderen drei Stimmen bilden hierzu Die Bes
gleitung. Dieſe Begleitung ift aber immer fo kunſtvoll durchgeführt, daß fie
gleihfam ein polyphonifches Gewebe um die Hauptflimme abgibt, Es werben
Duarteinufit. 473
in ihr melodifche Motive wechfelfeitig durchgeführt und auch Die Harmonien man⸗
wigfaltiger geſtaltet. Niemals, ober doch nur äußerſt felten werben die begleis
tenden Stimmen als bloßes, Harmonie tragendes Material verwendet; immer
ergehen fie fich in interefianten Rhythmen und fchönen melodifchen Gebilden,
aber fle orbnen ſich Labei der Soloftimme unter und treten niemals felbſtſtaͤndig
auf. Ganz befonders ſchön wird das Gello behandelt. Als Bapftimme fchreitet
eö ruhig und würdevoll einher, während die Soloftimme die. ſchnellſten und kunſt⸗
reichften Geſangscoloraturen ausführt. Oft wird ein Baßcontino durchgeführt,
der, wie beim Mittelfag in Spohr's H-moll-Quartett, eine ſelbſtſtaͤndige Melo⸗
bie in Biertelbewegung mit unterbrechenden oder abfürzenden Achtelpaufen wei⸗
ter leitet, während die erfte Geige in den oberen Dctaven eine tief gefühluolle
und lang getragene Gantilene in halben, dreiviertel» und mitunter auch wohl in
ganzen Noten enthält, die fi) dann jpäter wieder in bie mannigfaltigften: Colo⸗
raturen ergießt; der Baß fchreitet hierbei unbefümmert feinen gemeflenen Gang
weiter, aber beharrt bei feinem gewählten Motiv, als wollte ex es zur herrſchen⸗
den Geltung bringen. Unübertrefflich fchön find diefe Scenen durchgearbeitet
und gewähren den wonnevollften Hochgenuß. "
Hiermit habe ich den formellen Unterſchied der Soloquartetten von dem
durcheomponirten Quartetten dargelegt und wende mich nun zur Schilderung
des pischologifchen Inhalte. Spohr ift in feinen Duartetten und auch in allen
anderen Werfen — mit wenigen Ausnahmen — ein elegifcher Tondichter. Ele⸗
gie, Sentimentalität, fchmerzliche Melancholie, die fich fehr oft zum heroiſchen
Kampfe fteigert, find vorzugsweije die herrſchenden Seelenftimmungen in feinen
Merten. In ihnen hüllt fich die ganze Ratur in ein Trauergewand, und ein tie
fes Seelenweinen mit fchmerzlich elegifchen Klagen ift der Hauptinhalt feiner
Tongebilde. Man denke nur an die elegifchen Beigenmelodien in jeinen Quar⸗
tetten voll duldend fchmerzlicher Trauer; ein unfagbares Sehnen und Hinſchmach⸗
ten eines Eranfen Geiftes, der fi) der Erdenregion entwinden möchte, ertönt un
aus jedem Tafte entgegen. Niemals oder doch nur Außerft felten tritt er au
feiner wehnuthsvollen Trauer heraus; und wenn er fich doch einmal in das fröh⸗
liche Weltleben hinein begibt und beitere Lieder fingen will, fo drängen fich ſtets
ganz unwillfürlich Ihränen der Wehmuth hervor.
Die Molltonarten find bei ihm vorwaltend, faft alle feine Quartetten find in
Moll gehalten ; mir ift nicht ein einzige8 in einer Durtonart befannt. Und wie
ex componirt, jo geftaltet er fi) auch feine Limgebung — fagte ich in ber Neuen
Berliner Muflfzeitung im 11. Jahrgang 1857. — Als ich vor mehreren Jahren
in Kaffel ankam, wanderte ich durch die Promenaden und Gartenanlagen hin⸗
ter der Stadt und gelangte endlich in fpäter Abendflunde an die Nähe eines
Friedhofs. Lange Thränenweiden ließen ihre Tranerzweige bis zur Erde neigen;
ringsum ftanden blühende Blumen und Blüthen tragende Obfkbäume, in deren
Zweigen die Rachtigallen ihre Elagenden Abenplieder ertönen Tießen. In ſchmerz⸗
lihe Wehmuth verfunfen, hörte ich fernher Flingende Geigentöne, welche aus
einem Fleinen Gartenhaufe mit Begleitung des PBianoforte berüberwehten, ale
ob fie eine Elegie der bier begrabenen Todten wären. Es waren Grabestöne,
— — |
fondern war woblhabend und — — —
mungen, jo daß er ſich einen haͤuslichen Heerd zu gründen vermochte. Mit ſei—
ner erften Gattin lebte er das fühefte Wechjelleben, und als fie ihm durch ben
Tod entriffen wurbe, wählte er fich wieder eine bochgebildete
gefährtin, mit ber er ebenfo ein gleiches Dafein voller Harmonie und Liebe führt
und in befeligenber Eintracht große Werfe ſchafft. Und dennoch waltet in ſei⸗
nen Tondichtungen nur Elegie, Seelenſchwermuth und grollendes Ringen und
Kämpfen gegen die Unterdrüder der Geiftesfreiheit, Denn jeine ſchöpferiſche
Thaͤtigkeit begann mit jener traurigen Periode unferer deutſchen Geſchichte, bie
fidy von 1816 batirt, wo der ſchaͤndlichſte Wortbrudy und ber binterliftigfte Ber-
rath die Heiligften Güter der Menſchheit entzog und ihre Vertheidiger in die fin-
fterften Kerker verbannte, Alle Dichter und Sänger verſanken in Weh und
Trauer, fle befangen in fchmerzlichen Elegien die Leiden ihrer Brüder und bes
trauerten den Untergang der Geifteöfreibeit. Dieſe Situationen brachten auch
die höher gebildeten Tondichter in ihren Werfen zur Darftellung, und Spohr ift
ber erfte große Sauptrepräfentant des elegiſchen Weltſchmerzes. Was die Didh-
ter feiner Beit in Worten audfprachen, befang er in Tongebilden. Aber nicht
nur der bittere Schmerz und Groll, die thränenreiche Wehmuth und Trauer über
dad getrübte Erdenleben, fondern auch die unendliche Schnfucht nach ibealeren
Negtonen, gelangt in feinen Quartetten zum tief ergreifenden Ausbrud, Ja,
diefe wehmuthövolle Schnfucht wird hier ganz zur permanenten Geiftesjtimmung,
fie it Das Hauptthema, das in allem Modulationen ertönt und alle Difjos
nanzen bed Kummerd und Gramd durchwandelt. In Beethovens Werken war
fie nur vorübergebende Sitwatiom, aber in Spohr's Quartetten ift fie Die berr-
urn aan und bildet die trauervolle Grundtonart por aller *
| — — nn die wie bie arifterhafs
ten Harmonlen der Aeolöharfe auf dem Strome der Flagenden Lüfte dahinie—
Quarkettmuſik. 476
Gen wit ribenden Wolten über Länder und Meere. Kan Tondichter vor umd
wech ihm Hat fo wie ex alle nur nidglichen Region der Modulatienen und At⸗
chebe durchwandelt. Auf jedem Melodieton ertönt auch ein anderer Accord,
wenn dad Tempo nicht gar fo ſchnell dahingleitet; bei lͤnger gehaltenen Melo⸗
Dietönen wechfeln oft drei und noch mehr Accorde, und ebenſo wird Dub Reich
alter mur möglichen Vorhalte uud aller anderen Diffenanzen durchwandelt. Da
er ſtets nut Molltonarten gewählt hat, habe ich ſchon oben bemerkt; wo er aber
nach Dur medulirte oder ein ganzes Werk in einer Durtonart ſchuf, drängen
id doch die Mollareorde, Borhalte und alle anderen Diffonanzen fo zahlreich
ein und werden fo durchgebends berrichend, dag die Dartonart ganz vom
Schmerz getrübt und zur elegiichen Trauer verwandelt wird. Die Heitere Dur
tenart wird durch die häufigen Mollaccorde und Diffionanzen ganz zur klagen⸗
den Molltonart geſtimmt, ober eine Mittelgattung zwiſchen Dur und Moll ge
bildet.
Spohr wurde Hierin wahrhaft Epoche machend, denn er bat unzählig neue
Modulationen und Accordfolgen gefchaffen. Er wandelt in den Harmonien
ver Sehnfucht durch alle nur denkbaren Wegionen der Accorde, macht überall
neue Entdeckungen und ſchifft weiter, nach unbekannten Sphären ſuchend, um
endlich landen und ruhen zu können son dem fehmerzlichen Sehnen, daß wie
kranke Bruſt durdyieht. Noch tiefer Flagend als Bei Beethoven ertönt und aus
Spohr's Duartetten der in allen Molltonarten variirende Ausruf des heimath⸗
Iofen Wanderers: Wo biſt du, heißgeliebtes Land, das ich jo oft geahnt, erfehnt,
gefucht und nie gefannt?! —
Die große Meifterfchaft dieſes Tondichters bewährt ſich auch noch in ber
Höcft kunſtreichen Führung dieſes gewaltigen Sarmonienflromes. Er modulirt
oft am fchnellften in die entfernteften Tonarten, ergreift die fremdeſten Accorbe
und ergebt fich in den diffonirendflen und verfchlungenfien Vorhalten mit einer
natürlichen Gewandtheit, die Bewunderung und Staunen erregt. Dabei beſitzt
er das Geheimniß, andy den frembdeften Accordfolgen und härteften Diffonanzen
das Selle und Schroffe zu benehmen, indem er durch geichidte Legung der ein»
zelnen Accordtöne und durch eigenthümliche Stimmenführung die heterogenften
und fchrillften Accorbwechfel zu mildern und in harmoniſche Schönheiten zu ver⸗
wandeln vermag.
In Hinftcht der thematifchen Formen bewegt er ſich auf dem neuerrunge⸗
nen Standpunfte Beethoven’8 und Ir. Schubert's; aber nicht gtwa als Nachah⸗
mer oder Eflektifer, fondern als frei waltender und Neues fchaffender Geiſt, der
alle Formen unbefchränft beherrfcht und feinen Ideen dienſtbar macht. Da mir
der Raum hier nicht geftattet, fie näher zu befprechen und zu charafterificen, fo
fchreite ich jegt zu Spohr's Beifteöverwandten. —
George Onslow, ein geborener Engländer, iſt es, der in feinen Quartetten
Beethoven und Spohr würdig zur Seite ſteht. Er bat lauter Durcheomponirte
Duartetien gefchaffen,, die fich oft in einer Erbabenheit und Großartigfeit des
polsphonen Styls entfalten und das tieffle Dramatifche Leben zur Darfiellung
bringen, fo daß man fle ald wahre. Symphonien betrachten fann. Mit Spohr
—
—“⸗
| — —— >
aus Onslow's Quartetten entgegen. Ja, man kann mit Recht ſagen, daß er
Die Italiener und Franzoſen haben trete ee
tettcomponiften erzeugt, der aber auch zugleich beiden Nationen angehört, Es
ift dies der in Italien geborene Cherubini, der aber früßzeitig nach Paris über
fiedefte und dort fein Leben beſchloß. Ich babe von diefem Tondichter nur einige
Quartetten Fennen gelernt, die unftreitig zur ben größten Werfen der Neuzeit ger
hören. Sie find mehr Beethoven's Werfen aus der zweiten
fowohl an Geiftesinhalt, als in ber Bormgeftaltung. Aber auch 1
man nicht an Nachahmung denken, denn diefelbe Geiftesftimmung der Va
Menschheit, welche Beethoven zu feinen weitausgeführten — —
bilden begeifterte, animirte auch Die anderen Tondichter zur
licher Werke, Die romantifchen Geiftesfahrten aller Dichter nach idealeren Me»
gionen, das unbegrenzte Ringen und Streben mit ber jehmerzlichen Sehnfucht
im Tiebefranfen Herzen, erfüllte auch fämmtliche Tondichter und ſprach fich in
ihren Werfen aus, alfo auch im dem Duartetten Eherubini’# und Onslow’s,
Fauft’8 Leben und Streben war es, das ſich in der Poeſie und Muſik ausprägte,
denn dies geiftige Streben befeelte die ebelften Denker und Dichter. Und bie
unerfreuliche Wirklichkeit, in der eben dieſe Denker und Dichter verleumbdet und
verfolgt wurden, weil man im ihnen nur ftaatsgefährliche Individuen erblicte;
diefe finftere Verfolgungsſucht fteigerte jene Geifteaftimmung noch mehr und ent⸗
zweite fie total mit dem Erdenfeben, das ihnen nur ſchmerzliche Diffonanzen gab,
Hierdurch nur wird es erflärlich, wie dieſe Geiftesfituationen in Borfie und Mus
fit jo allgemein berrfchend und permanent werden mußten. Man benfe hierbei
nur an bie fehmerzlichen Ereigniffe, die ſich feit 1816 bis auf die neuefte Zeit
begeben haben und hauptfächlidy in Deutfchland, Italien und Frankreich ihren
Scyauplag hatten. Denn nicht nur arme Künftler, Dichter und Denker wınden
von den geiftfofeften Machthabern verfolgt, fondern auch edfe Fürftenfamilien.
beraubte man ihrer Rechte. Daß ſolche Zuftände den mächtigften Einfluß auf
Kunft und Wiffenfchaft ausüben und überall nur Schmerz und Trauer hervors
Dnartettmufit. 477
bringen mußten, wird gewiß auch nicht einmal der ideenloſeſte Kopf, ber nur in
alten Traditionen und Vorurtheilen lebt, ableugnen wollen.
Ich Habe jchon oben gefagt, aß hierdurch der tragifche Weltfchmerz in Poe⸗
fle und Muſik entfiand. In den dreißiger und vierziger Jahren wurde er noch
herrſchender und fleigerte jich zur Melancholic, zum verzweiflungsvollen Schmerze
und verzehrte fich in Todesſehnſucht. Alexander Feska, Felix Mendelsfohn und
Robert Schumann find die Hauptrepräfentanten diefer Geiſtesſituation.
Unter den Quartettcomponiften diefer Zeit hat fich der deutfche Feska durch
feine Werke einen Ehrenplag errungen. Sein F-moll-Quartett ift und bleibt
ein Meifterwerk für alle Zeiten und fleht den größten Werfen Beethoven’s eben»
bürtig zur Seite. Es ift in polyphonem Styl gehalten und als durchcomponir⸗
te8 Quartett zu bezeichnen. Spohr bat in feinen Soloquartetten noch feinen
Rachfolger gehabt, fondern fieht einſam und -allein mit feinen Werfen. Die
ſchwachen Verſuche einiger Componiſten wie 2. Maurer u. A. find zu unbedeu⸗
tend. Das durcheomponirte Duartett gelangte auch mehr zur Herrichaft und
allgemeinen Verbreitung, und in dieſer Gattung find noch böchft vortreffliche
Meifterwerke gejchaffen worden.
In Hinfiht der Form und thematifchen Durchführungen fleht Feska mit
feinen Quartetten auf Beethoven’! Standpunkte, aber auch in voller Selbftflän-
Digfeit des Gebrauchs und der Bearbeitung. In feinen Seiftesfituationen (vor⸗
zäglich in dem F-moll-Ouartett) pulfirt das tief erregteite Gefuͤhlsleben in den
zarteften ätheriichen Wallungen und fleigert ſich zur fchmerzlichften Leidenfchaft
und zum verzweiflungövollen Kampfe empor, bis fich ein tragifcher Heroismus
entfaltet, der das tief innerlichfte Sein des Menfchen ergreift und fchauernd
durchbebt. Es ift der gigantifche Kampf des jchmerzerfüllten Geiſtes mit jenen
finfteren Mächten um Sein und Nichtfein, der Streit um die Eriitenz des Lebens.
Ermattet und gebrochen finft er nieder und im fanft Elagenden Adagio fleht er
um Zroft und himmlifche Stärkung, um nicht Dem «Heer der Feinde zu erliegen,
die alles Erle und Gute zu vernichten drohen. Wie Geifterharmonien ertönen
jeine Accorde, und als ob himmlifche Weſen fich dem Eranfen Sterblichen nahes
ten und ihm befeligenden Troft und Frieden fpendeten, jo ericheint es dem Hörer
diefer wunderbaren Sphärenmufif. Und fo beginnt er neu geflärkt den gewal-
tigen Rieſenkampf des fturmbewegten Lebens und ermattet nie und nimmer bis
an das Ende feines Dafeind. — Großartige Ideen, Fühner Lebensmuth mit glüs
hender Leidenfchaft und durchgehende Originalität der Erfindung und Bearbei⸗
tung find Feska's Duartetten vorzugsweife zu eigen.
Eine ganz neue Erfcheinung trat und in Felix Mendelsſohn entgegen, Der
Liebling der Niren und Elfen und anderer Märchengeifter bat zuerft daß Iuftige
Leben diejer Weſen in Tönen gefchildert, wie es bisher noch fein Componiſt ver⸗
mochte. Nicht nur im Sommernadhtötraum führt er uns in jene Märchenwelt
der Phantafie, fondern auch in feinen Quartetten. Wir werben in flillee Mon⸗
deönacht auf grünende Wieſen am Waldedfaum verfegt, wo um die Mitternachtö«
flunde die geheimnißvollen Tänze der Nixen beginnen, wie fie die Eindliche Phan⸗
tafie fo oft im Traum gejchaut, Es find fchöne liebende Weſen diefe ätherifchen
Blumen- und Waffergeifter; die Liebe zu
oft zu fchmerzlicher Sehnſucht. Mit Unausfyretlicer Graie neigen feige
den Sterblichen; in Liebender Umarmung mit himmliſcher Zärtlichkeit wollen fte
ihn Himwegführen in die Iuftige Region ihres Geifterreichd; aber im Augenblick
Ver HhoBan Ba mbar. Din ade Den Anmmmnngpune- jenen aufiihe
Kobolde fürmen herbei, verjagen bie Niren aus den Urmen der Menſchenkinder
und mit Sturmeöeile Eehren fie in das Meich der Schatten zurüuck.
Dieſe Scenen brachte Mendelsfohn in den Werfen feiner Jugend zur Dar—
Schmerz ber Zeit und geftaltete fi in jeinen Tondichtungen zur Elegie und
ſchmerzlich Hagenden Trauer. So haben wir auch an diefem Tondichter wieder
ein Beifpiel, wie wenig die indiwiduelle Lage auf die Schöpfungen einwirft. Auch
Mendelsfohn hatte nicht, wie viele andere Künftler und Gelehrte, mit Nahrungs
forgen zu kämpfen ; er war reich und wurde jchon ald Knabe hoch gefeiert, bewun⸗
dert umd allgemein geliebt. Und: dennoch erfaßte ihn ſpäter ber Weltſchmerz
über die unerfreuliche Wirklichkeit, wie fie war und nicht fein follte, jo gewaltig
und tief, daß dieſe Geiftesftimmung in feinen Werfen vorberrichend wurbe und
ihn ſelbſt aus der Blüthe der Jugend in die Arme des Todes führte. Unter
ben funftliebenden Bewohnern Leipzigs fand er gebildete und liebevolle Freunde
und durchlebte mit ihnen bie edelſten Geifteögenüffe und fhönften Stunden jeie
nes Lebens; aber er hatte ſchon den Todeskeim zu tief in feiner Bruft, der ale
fehmerzlicdy nagender Gram die Organe des Lebens zerftörte. — Ans feinen ſpä-
teren Quartetten ertönt und jener romantijche Weltſchmerz in fanftklagender
Stimmung entgegen; wohl fteigert ſich dieſe trauernde Klage jehr oft zur ftür-
menden Leidenſchaft empor, finft aber auch bald ermattend zurück und ergeht ſich
nur in zarten Touweiſen voller Thränen und Seufzer. Iener großartige Heroid«
mus des fchmerzlichen Lebenskampfes, wie ihn Beethoven, Spohr und Fesfa
durch ihre Tongebilde zur Darftellung brachten, ift in Mendelsſohn's Quartetten
nicht vorhanden. Es ift ein ſauftes Gemüthsleben mit duldender Ergebung,
das ſich nur jelten in die wildbewegten Stürme der Friegführenden Barteien
begibt, um zu fiegen oder verblutend zu ſterben. Rur ein tröftender Hoffnungs-
ſtrahl durchſcheint zuweilen dieſes falbe Trauergewand und bringt der kummer⸗
vollen Seele die Ahnung nach idealeren Regionen eined höheren Geifterreichs,
in das auch fie dereinft nach der Vollendung ihrer Bilgerfahrt im thränenreichen
Erbenthal erhoben wird, Aber der nagende Zweifel treibt nur zu bald dieſen
ſchwachen Troftesftrahl aus dem hoffenden Geifte und erfüllt Die Seele mit Nacht
und — bis die nahende Pforte des Grabes ol Arie und Frieden
— * endeloſobn acheht ſich noch in denſelben Formen, * fie Veethoben
geſtaltet hat, aber er nimmt ſich Dabei ſtets die größte Freiheit der ——
in modulatoriſcher und thematiſcher Hinſicht. So complicirt ſeine Säge, Ber
rioden und lcberleitungsgruppen auch find, und in welchen contrapunftifchen
Verſchlingungen fie ſich geftalten mögen, immer läßt ſich das oben angegebene
Formenſchema, wie es Haydn begründete, Mozart und Beethoven weiter bildete,
Dnarksttnfit. 479
Geransfinden und als Grundthpus in alten Kormuerinderungen nachweiien.
Anders aber verhält fich’E mit Mobert Schumann. Diefer Sigant, ber den
Simmel erflürmen möchte, weil er den Frieden ber Erbe verlor; biefer fühne
Beltenftärmer durchbricht alle Kormen als hinbernde Schranken und verlegt faft
üßle Gelee der Harmonielehre. Betrachten wir erſt den Beifteßgehalt, den er
zur Darfiellung bringt; danadı wird uns erfidytlich, wie ſich auch hier wieder bie
Seeleuſtimmung ihre eigenthümliche Form erfchuf, in ber fie zur Erſchei⸗
nung Mm.
Als junger Mann flürmte Schumann frei und wohlgemuth in’s Leben
Hinein, um zu wirken, zu fchaffen und ein edles Ziel zu erringen. Nicht achtend
die Schranken, die ihn überall umgaben, geringfchägend den Widerſpruch und
die feindlichen Entgegenwirkungen, die fich ihm von allen Eeiten kundgaben und
feine raftlofe Thätigkeit zu hindern fuchten, ging er ohne Heuchelei und Schein»
heiligkeit auf der offenen Straße der Bubliciftif in geradem Wege dem hoben
Biele einer Reformation und Reugeburt der Tonkunſt entgegen. Alle Nachah⸗
mer und Eflektifer wurden in jeiner neuen Zeitſchrift geringfchägig behandelt,
die Lobhudler und Anbeter der Claſſtker auf Koften der jungen Gomponiften
gehörig zurecht gewiefen und an Die jungen Tondichter die Forderung geftellt,
wahrhaft Neued und Gutes, ohne Nachahmung des Alten, zu fchaffen. Aber
mit der Reformation der Kunft follte auch eine Reformation im Leben der Künft⸗
fer und des Publicums eintreten; Died zu erftreben und zu bewirken, war er ald
Tondichter und Schriftfleller vom früheften Morgen bis in die Racht hinein tha⸗
dig. Sein Hoher idenliftiicher Charakter, fein edler Keuereifer, überall Schönes
und Gutes zu fliften, und feine unübenwintliche Antipathie gegen alle gemeinen
Menfchennaturen brachten ihn fehr bald in Konflicte aller Art; und bie niedrige
Xebensprofa, die ſich ihm ſtets auf feinen Wegen aufdrängte, die gemeinen Den⸗
fungsarten und faljchen Befinnungen, bie er fo oft bei Höhergeftellten wahr«
nahm: alle diefe Exrbärmlichfeiten und gemeinen Sandlungen erbitterten jein
leicht reizbares Gemüth und flößten ihm den größten Widerwillen und den ver
achtungsvollfter Haß ein gegen dieſe Schattenflede im Geifteäfrben der Menſch⸗
heit. So iſt er audy in feinen exfien Tondichtungen der jugenderäftige Kämpfer
für Freiheit und Recht und für alled Edle und Schöne im Erdenthal. Mit un«
gebrochenen Geiſteskraft eilt er fühn in die Wirren des Lebens hinein, über Län-
der und Meere fchweift jeine nie ruhende Phantaſte, überall edle und gute Men⸗
ſchen fuchend, um mit ihnen das hinmlifche Geifterreich auf Erden zu gründen.
Die feindlichen Entgegenwirkfungen gemeiner Menfchen, die rohen Handlungen,
die Hinterlift, der Verrath und Wortbruch in den heiligften Angelegenheiten der
Menſchheit, ſtimmen fein leicht erregbare® Senforium zur höchften Energie, umb
fo ſtuͤrmt er mit colofjaler Niefenfraft gegen alle diefe Schandthaten der Men⸗
fehen an, als wollte er fie in einen unermeßkichen Abgrund flürzen, ung nie wie
der im Lichte des Tages erfcheinen zu Fünnen. Wber er iſt ein Menſch; auch
fen Organismus wird durch dieje gewaltigen Geiftesfämpfe erfchüttert; und bie
vielen ®emeinheiten, die ihm überall höhnend entgegen treten, die vergeblich er»
firebten Ziele, die begrabenen Hoffnungen und die peinliche Roth um’s tägliche
zes und ber Trauer über fo viel Erdenleid begruß und dieſen Erdenſchmerz in
allen feinen Dichtungen zur Darftellung brachte, jo auch Nobert Schumann,
Und fo wie Lenau zulegt von diefem gewaltigen Schmerze germalmt wurde, ſo
erging «8 auch unferem Tondichter, defien Organismus durch diefe Seelenleiden
erlag. In beiden Maͤnnern war RP a En
druf. Solch ein Schmerzenslaut waren beide Männer ann Ende ihtea Rebend;
bis er ſich in ben Briedendaccord der Todesruhe am ftillen Grabe auflöfle.
Dieſer Geiftesfitwation zufolge hat auch Schumann bei feinen fpäteren
Werfen faft lauter Molltonarten gewählt; und wo er in einer Durtonart bichtek,
da Hufen. fich Die fhmerzauffchreienden verminderten Septimenaccorde, Fleine
Nonenaccorde und die fehneidendften Vorbalte jo zahlreich, daß hierdurch der
Charakter ber ſchmerzlichſten Molltonart entfteht. Durch die vorwaltenden Moll
accorde und zahlreichen Diffonangen verwandelt er gleichlam die heiteren Dur:
tonarten zu leidflagenden Molltonarten, und noch öfterer, ald Spohr es that;
Dies geichieht nicht nur in feinen Duartetten, fondern auch in allen größeren
Werken. In feiner Symphonie in E bewegt fich der ganze erfte Theil des Scher⸗
308 — ınit Ausnahme der Schlußarcorde — nur in verminderten Septimenac«
corden, und bie folgenden Theile fchreiten aus verminderten ———
in Molldreiklaͤnge und vice versa, A
Den Nichtkennern der Sarmonielehre —** ich bier, * der sinn
—— aus lauter kleinen Lerzen beftehend:
d TE u
h os
Nr | | Gis 4
ben größten Aufſchrei des Schmerzes ausdrückt; dies kann Jeder durch Anſchla—
gen am Piano vernehmen,
Aber diefer ungefeffelte Schmerzenädrang feines Gemütbs kann auch in
feiner Tonart länger verweilen ; nur felten bleibt er acht Taete in der Grundton⸗
art, oft nur vier; dann fpringt er von G-dur nach Es-dur, H-dur, E-moll, F-dur,
Ges-dur oder Moll; und felbit innerhalb fo weniger Zacte wechfelt er mit zahl»
reichen Accorden und Vorhalten, fo daß oft nicht bie vier Tacte in einer und
Quartettiuuſik. 481
derſelben Tonart ertönen. Die frühere Regel, daß das erſte Hauptthema eines
Tonſtuͤcks in der Grundtonart erfheinen mäffe, um dieſe erſt feſtzuſtellen, beach⸗
tet er niemals ober aͤußerſt ſelten. Hiernach geſtalten ſich aber auch feine ige
und Perioden. Selten entfpinnt ſich bei ihm eine Cantilene in periodifcher
Form, die in einer Tonart beginnt und darin abfchließt, fondern hier find vie
Säge und Perioden nur modulatorifch weiterftrebende Neberleitungsgruppen,
bie raftlos durch alle möglichen Accorde und Tonarten dahinſtürmen wie die
braufenden Wellen des Oceans. Oft find in einigen feiner größten Tonwerfe
gar feine abgegrenzten Perioden zu entdecken. Denn der Teivenfchaftlich erregte
Geiſt eilt durch modulatorifche Meberleitungsgänge fortwährend durch alle Ton-
arten hindurch, ohne auch nur in einer einzigen in abgeichloffener Geſangsform
rubig verweilen zu können.
Bei diefer Eharakteriftit meine ih Schumann's Iegte Werke, die er kurz
por dem Beginn feiner Krankheit fchrieb, und wo ſich der ungefeflelte Seelen-
ſchmerz nicht felten zu Ausbrüchen der tobenden Verzweiflung und des Wahn⸗
ſinns fleigert, fo daß man fragen muß: find hier nicht Die Geſetze der Aeſthetik
verlegt? Ich Habe hierüber ſchon in den Hamburger Viterarifchen und Eritifchen
Blättern von 1857 gefagt: Wohl ift auch der wildefte, fich bis zum Wahnftnn
fleigernde Seelenfchmerz berechtigt, in den Kunftwerken zu erfcheinen, wie dies
fhon Homer, Arioft, Servantes, Shafefpeare u. A. in ihren großen Dichtungen
und gezeigt und bewiefen haben, weil ja alle Situationen der Menfchheit und
jomit auch das Häßliche zur Darftellung des Schönen verwendet werben müflen;
aber ein Kunſtwerk, das fortwährend nur in einen maßlofen Stürmen und Xos
ben feine Eriftenz hat und demzufolge das Häßliche (denn wilde, wahnfinnige
Leidenichaften find in ihren Aeußerungen fehr häßlich) gleichfam zum Sujet er⸗
mwählt ift: ein folches Product kann nur ein ungenichbarcd widriges Zerrbild
abgeben. Doch darf man Schumann’8 B-dur-Symphonie und viele andere Werfe
aus feiner früheren Zeit nicht in diefe Categorie ftellen, fondern nur in ben
VProducten der legten Lebensjahre waltet, wie ſchon gejagt, die geſchilderte Gei⸗
fteöftimmung vor und bildet dad Grundthema. — |
Seit Schumann’8 Tode hat noch fein Tondichter in der Quartettcompoſi⸗
tion wieder Epoche gemacht. Es find wohl einige Werke hier und da erfchienen,
ohne jedoch große Verbreitung und Anerfennung zu erlangen ; fie waren auch zu
unbedeutend, als daß fie fi neben den Producten der genannten Meifter einen
Ehrenplag hätten erringen können. Ich habe zwei Quartetten von einem jungen
Tondichter Namens Veit gehört und näher fennen gelernt, Die fich wirklich durch
Genialität der Erfindung und meifterhafte Bearbeitung auszeichneten. Auch
ein Quartett von Richard Wüerſt wurde mir befannt, daß fich ebenfo durch
ſchönen melodifchen und harmonijchen Gehalt, wie durch höchfte Vollendung thes
matifcher Durchführungen wärdig macht, in die Neihe der claſſiſchen Werfe ges
ftellt zu werden. Leiter muß ich offen fagen, daß dieſe drei Producte auch nur
die einzigen find, Die ich hier ehrenvoll erwähnen konnte. Died darf und aber
nicht auf den Gedanken bringen, als ob nun die Tegten Quartetten gefchrieben
feien und in dieſer Kunftgattumg nichts Neues mehr gefchaffen werben könne;
IV. al
482 Muſik.
leben. Und fo wie Franz Liszt durch feine Symphonien wieder Neues und Scho⸗
nes geſchaffen und ganz neue, noch unentdeckte Bahnen eröffnet hat, fe werben
auch. wieder junge Tondichter erfcheinen, die in der Quarteitmuftt originelle
Werke erzeugen und auch diejes Gebiet ihnen — ER
thbümlichen Bormgeftaltungen bereichern, — Mm u... a ee
Ueberbliden wir nun noch einmal den ‚gefchichtlichen Entvidehungegang
in der Tonkunſt, ben wir durch diefe Betrachtung der Quartettmuſik näber fen=
nen gelernt haben, ſo ergeben ſich und drei charafteriftijch verſchiedene Hauptpe-
rioden, die fich durch Inhalt und Form der Tonwerfe wejentlid von einander
ünterfcheiden. Haydn und Mozart repräfentiren bie erfte Periote, Beethoven
und Franz Schubert eröffnen bie zweite und Robert Schumann bie dritte; ‚bie
harafteriftiichen Unterſchiede diefer drei Phaſen habe ich zur Genüge dargelegt.
Durch vielmaliges Hören und gründliches Partiturenſtudium Diefer Werke wirb
mir jeder Ginfichtövolle zugeftehen, daß meine Abhandlung — wenn andy nur
jfizzenhaft — wahrbeitögemäß den Geift und Charakter diefer Tondichtungen
geichildert hat: Daß man Die erfte Periode als claſſiſch bezeichnet und dem ſpä—
teren Werfen dieſes Prüdicat nicht beilegt, ift ganz falſch, wenn man unter: dem
Worte „claſſiſch“ das höchſt Vorzügliche, zur erften Claſſe Gehörige verſteht,
und daher die Werfe jüngerer Gomponijten als nicht elaſſiſch, mithin ald weni«
ger meifterhaft bezeichnet. Beethoven, Spohr, Mendelsfohn, Schumanı u. U,
haben eben fo clafjtfche (d. b. vollkommene) Werke geichaffen wie Haben und
Mozart, Soll aber hiermit nur eine Unterfchiedöbegeichnung ohne Wertbaerings
Ihägung der Neueren gemeint fein, fo fann man diefe Benennung wohl gelten
laffen. Ich erlaube mir hier eine andere Bezeichnung vorzufchlagen, wir können
die Habbır= Mozart’jche Periode als das Zeitalter der Naivität benennen, benn
ihre Werfe tragen durchgchends ben Eharafter der findlichen, naiven Seelen»
fimmungen, Dit Beethoven's und Schubert's Producten beginnt die roman
tiiche Sehnſucht und fomit die Periode der Romantik und des dichterifchen Welt»
ſchmerzes. Die Phaje, welche R. Schumann eröffnet hat, läßt fi in der Ge—
genmwart noch nicht beftimmt bezeichnen, weil fie noch feinen Entwidelungsgang
und mithin auch noch feinen Abschluß erreicht hat. Es kann auch wohl fein;
daß er der legte Nomantiker war, im beffen Werfen die romantifche Sehnſucht
und der Weltfchmerz fein allerhöchſtes umd fomit auch letztes Stadium erreichte,
weil er ſich oft zur grenzenlofen Verzweiflung und zum Wahnſinn fteigerte, fo
daß der Schöpfer ſelbſt zulegt in dieſe Krankheit verfallen mußte, die feinen Tod
zur Folge hatte, Möglich ift es, daß nun wieder eine neue Phafe beginnt, in
der andere Geiftesfituationen zur Darftellung fommen, weil die Region des
Schmerzes in feiner ganzen unermeßlichen Scala der Gefühle und Empfindungen
hinreichend erfhöpft und in den Tondichtungen zum Ausdruck gebracht ift. Aber
Duartettmufit. 483
ein Heraußtreten aud dem Stadium des Weltfchmerzed kann nur dann flattfin«
den, wenn fich unſere flaatlichen und gefelligen Berhältnifie ſtets wohl organiftren
und die Menfchheit zu heiterer Zufriedenheit flimmen. Wie e8 fich auch ver-
halten foll, mag Schumann ber legte Sänger des tragijchen Weltfchmerzed oder
der Repräfentant einer neuen Kunftperiode fein; unfere jungen Tondichter müfs
fen der Quartettcompofition gründliche Studien und viel Zeit zum Schaffen wid⸗
men, um in diefer Gattung wieder neue Werke produeiren zu fönnen. Denn bie
gediegenen Vorträge guter Streichquartette gewähren und die ebelften Gochges
nüffe der Tonfunft. |
Daß diefe Kunftgattung auch von den Birtuofen fehr oft benußgt wurbe,
um in ihre Werke zu fchaffen, die mehr den Zwed hatten, die Virtuofität auf
einem Inftrumente zu zeigen, ift allgemein befannt. Die beften Werfe in diefer
Hinficht Haben außer den oben genannten Tondichtern Erommer, Romberg und
Louis Maurer gefchaffen; ihre Producte werden noch Häufig gejpielt und mit
Beifall aufgenommen. Die Trio's, Quintetten, Sertetten, Septetten, Octetten und
Ronnetten haben auch faft alle die Form des Quartetts, nur werden durch bie
mannigfaltigere Inftrumentirung wefentliche Unterfchiede hervorgebracht. Ihnen
muß ein ganzer Artikel gewitmet werden, fle können nicht fo fEizzenhaft befpro«
chen werden und laſſen ſich nicht fo aphoriftiich behandeln. Ebenfo müflen auch
die Männerquartette und die von Frauen nnd Männern gemifchten Quartetten in
befonderen Abhandlungen befprochen werden. Hier bemerfe ich nur, daß fie fich
ganz von den Streichquartetten durch Inhalt und Form unterfcheiden, wie ſchon
der Laie fogleich wahrnimmt.
Was das geiftige Verftändniß der Streichquartetten betrifft, fo ift dies nur
einem Kleinen höhergebildeten Bublicum zugänglich, und diejem erft nach oftma⸗
ligem Hören, weil die complicirten contrapunftijchen Gedanken ſich ſtets fo ara»
beöfenartig in einander verichlingen, daß nur bie aufmerffamften Hörer den
Ideengang verfolgen und Elar verfiehen können. Werden aber die Werke ganz
im Geifte des Tondichterd nieifterhaft vorgetragen, fo ergreifen und begeiftern
ſie auch jedes mufifliebende und empfänglicye Publicum, wenn es auch Feine
muſikaliſche Bildung befigt. Das höchſt Vollendete Teifteten die Gebrüder Müller
und das Pariſer Streisyquartett der Herren Maurin, Chevillard, Mas und Sa⸗
battier. Wer von dieſen auögezeichneten Künftlern die Beethoven’fchen Ouar⸗
tetten gehört hat, der wird gewiß zum erften Mal im Leben empfunden haben, was
für ein Eöftlicher Schag der Poeſie in diefen-Werfen liegt. Der Harmoniekun⸗
Dige hat es jchon durch das Partiturenftudium erfannt und durdy das Hören
der Aufführung beftätigt gefunden. "Und welche Geifter haben die größten Werke
in dieſer Runftgattung gefchaffen?! — Deutfche Männer waren ed, die und dieſe
Ideenwelt erzeugten; nur deutfche Tondichter fchufen und die höchſt vollendetften
Kunftproducte, die noch in fpäten Jahrhunderten die Menfchheit erfreuen und zu
einen neuen und höheren Ideenleben begeiftern werden.
31*
Perlenfifcherei und Perlenhander, 485
Die kleinen Bänfe Chilaw gegenüber, auch am ber Weftfüfte Eeylons, 742°
N. Br., trugen ein: Pur:
1 im Jahre 1803 BALL 15,000 Pfd, Sterl, ner
in m 1804 OT. zu men „ww
un 1806 MB on
De 7} 1808 90,000 „ nn, r: WITT N
„» „1809 25,000 „ “al
1814 64,000— er
Die Berlenfifäherei war damals eine ber reichften Quellen * Colonial⸗
gouvernementd. Man rechnet, daß, wenn jede Bank alle 7 Iahre zwanzig
Tage befijcht wird, ein jährlicher Neinertrag von 14,000 Pfv. übrig Bleibt.
Die reichften Perlenfperulanten waren gewöhnliche indifcye Kaufleute vom Feſt—
Iande oder Ugenten von Käufern aus Madras. Nach Berrolacci Tebt die
Perlmuſchel 6 bis 7 Jahre. Die größten Berlen Cehlons lieferten die Fiſche—⸗
reien von 1796, 1797 und 1798, Die wichtigſten Bänke liegen nad
Bertolacei’8 Karte ungefähr zwifchen 8° 30° und I’N, Breite. Cordiner
giebt an, daß fie fich gegen 6 Meilen von Norben nach Süben und gegen
5 Meilen von Oſten nach Weften erftreden. Sie liegen drei Meilen von ber
Küfte, fo daß der Hügel ber Infel Kabiremalai, ein Kauptfig der Perlen-
ſiſcherei, von ihren aus fel6jt wie eine Inſel erſcheint. Die werthvollften Mu—
ſcheln ruhen in einer Tiefe von 3 6i8 15 Faden auf Korallenriffen, die, am
einigen Stellen beinahe die Oberfläche erreichend, ihmen Schuß gegen den N.-D.
Monfun gewähren. 1830, 1840, 1841 wurden auch Perlen an der Oftfüfte
bei Trinfomali, Aripo gegenüber, gefifcht, doch ohne großen Gewinn.
Die Fifcherei findet in den Monaten März und April ftatt, wo die See
am rubigften if. Schon im November werben bie Bänfe durch Sachverſtän—
dige unterfucht, und nach der Mufchel-Probe Ort und Ausdehnung durch bie
Regierung in Eolombo beftimmt und durch die Zeitungen öffentlich befannt ge—
macht. Im den vierziger Jahren war Kondatjchy die Hauptflation der Boote,
bie ſich mit Perlenfifcherei befchäftigten, obgleich die Stationen a et
Manaar oter Aripo benannt werben.
Im Jahre 1833, dem legten guten, waren 1250 Taucher auf 125 Booten
befchäftigt, 1100 von den indifchen Küften unb nur 150 von Geylon, Die
Perlmuſchel von Ceylon ift unvollfommen oval, dünn und durchfcheis
nend, bie Innenfläche von fchönem Perlmutterglanz. Ihre Perlmutter fcheint
wenig werth zu fein und findet fich nicht unter dem Schalen bed Handels, Die
Zahl der Mufchelm, die eine einzige Fiſcherei ihrem Elemente entreißt, iſt fehr
bedeutend, 300 Boote, bie in den guten Zeiten fiichen, Fönnen circa 120 Mil⸗
lionen Mufcheln erobern. Icdoch war 1845 bid 1853 der Ertrag jehr gering,
da durch den früheren Gouverneur von Geylon, Sir W, WUNTE EN Er
zu ſehr auögebeutet, faſt ruinirt waren,
Die Perlenfifcherei im perfifhen Meerbufen war — den —
bekannt, dort find es perlenreichen Bahreininfeln, welche eine gute Aus—⸗
beute liefern. Zwiſchen den Inſeln Kharak und Gorgo nordweſtlich von
486 Handels wiſſenſchaft.
Abuſchir, an ber perfifchen Küfte, werben auch in großer Tiefe gute Perlen
gefiſcht. nn NEE
Wilſon ſchaͤtzt dem Werth der Perlen, die jährlich in Babrein von indie
ſchen, arabifchen und perſtſchen Häufern gefauft werben, auf 300,000 bis
350,000 Pfb. Sterl. Eingeborne Kaufleute nehmen einen fechömal fo großen
Ertrag an, Die meiften Perlen (a nad Wellſtedt) geben über Maskat nah
Bombay, von wo aus die Hauptkäufer, die reichen Parſen, fie nach China ſen—⸗
ben, Ein anderer Theil gebt über Badra ind Innere von Aften,
Die Perlenmufcheln des perfifchen Golfs find Doppelt fo groß wie die cep=
fonifchen; die Schalen dicker und außen glatter, ihre Epidermis iſt grünlich und
mit dunklen Streifen von Ma! Zoll Breite durchzogen. Die Perlen find
nicht fo. weiß wie bie eeyloniſchen, Tondern haben einen gelblihen Schein. Viele
der Eleinen Perlen dienen in Aften zur Darftellung von Pillen, denen gang bes
fondere Wirkungen zugefchrieben werden. Die reichen Ehinefen ‚verwenden fie
aud) ftatt gemeinen Kalkes zur Bereitung koſtbaren Betel.. mn
Im rotben Meere werben Perlenmujcheln bei ber Injel Dabalaf ger
fiicht, gegenüber Maffaua an der abyffinifchen Hüfte. Dahalakelkebir if
eine flache, aus Korallenfchichten gebildete Infel, wetöftlich 6 Meilen lang und
in entgegengefeßter Richtung an manchen Stellen 2 Meilen breit, deren Beböls
ferung die Perlenfiſcheret als Hauptbeichäftigung treibt. Die Muſchelbaͤnke
liegen gewöhnlich 6—1O Rlafter tief und werden nicht jedes Jahr ausgebeutet,
um die Vermehrung der Muſcheln zu begünſtigen. Die Perlen werden mad) Ge—
wicht verfauft. Gegenwärtig wird bie Infel periodiſch von einigen inbiichen
und perflichen Handelsleuten befucht, welche feine Perlen anfaufen. 21%
Die Perlmuſchel von Dahalaf (hier Bereber genannt) ift gegen 3 Zoll lang
und 23/4 Zoll breit; die Scyale ift dünn umd unter dem Schloſſe ziemlich ftarf
gewölbt; vom Wirbel laufen außen deutliche belle Streifen ſtrahlig nad) dem
Rande; innen ift fie unter dem Schloffe und um den Musfeleindrud weiß, am
Mande gelb, perimutterglängend. Sie wird über Üben und Serie —
Europa verſchifft. md ae
Dahalak gegenüber giebt bie Berlenfiftiere, welche bei u era
infeln betrieben wird, der Stadt Dſchiſan, die Ehrenberg 1825 beſuchte, eini⸗
ged Leben, An ber Elippenreiche Küfte von — weiter po
gewinnt man roſenrothe Perlen.
Die Perlenmufchel ſcheint durch das ganze rothe Meer —— ſein,
mit Ausnahme des ſüdlichſten Theiles deſſelben. Die Perlmutterſchalen wan⸗
dern über Suez den Nil hinab nach Alexandrien, von da werden fie nach Ham—⸗
burg und ben übrigen europälichen Häfen verladen. Außerdem werben noch
afrikaniſche Perlen bei ven BazarutasInfeln, füdlic von Sofala im Mes
fambifsfanal, gefiicht, Auch über dem ganzen inbifchen Drcan und feine
Bufen find Perlmuſchelbaͤnke ausgeftreut.
China erhielt fehr viele Berlen von den Sulu⸗Inſeln, einer Neibe von
Eilanden zwifchen Borneo und Mindanao. Die Perlen fiehen den indifchen an
Schönheit nicht nah, Sie geben faft immer über Manila nad China und
Berlenfifcherei und Perlenhandel. 487
werben nach ihrer Größe, Form und Farbe mit Preiien von 5 Dollars, die
größten mit 800 Dollard bezahlt. Die eineren, fogenannten Samenperlen
werben in Manila das Tael, dort zu 548 Braind Troy berechnet, mit 3—4 "a
Dollars gekauft.
Die Perlmutterſchalen der Sulu⸗Inſeln zeichnen fich ſowohl durch ihre
Größe, wie audy durch die Reinheit und den Glanz der Perlmutterjchicht aus⸗
Ihr Gewicht beträgt durchſchnittlich Ya Pfo., fie find flach, ihr Rand ift gelb-
lih. Alle auf den Sulu-Infeln gefifchten Perlmutterſchalen finden ihren Weg,
nach Manila.
Erportirt wurden von Manila:
11848 1849 1850 1851/1862]1853]1854 1855 1856
nach Europa .-| 936,3322) 1663|1411/2736 1379 18821 133 1984
| |
| |
nach ben | | |
Pereinigten Staaten . . . 2937 81) 77 98 536| 71211538 51) 806
_ | | |
es m sy — — — — — — —— — — —
Peculs à 140 Pid. engl.. 1112209 3403 1740 1500 3272 2001 3420 1183 2700
Die Preiſe der Perlmutterſchalen find in Folge ihres größeren Conſums
außerordentlich geſtiegen. Fruͤher wurden 140 Pfd. engl. für 8 Dollars und
weniger in Manila getauft, während jet 28 Dollars dafür gezahlt werden.
5 Unter dem Ramen SulusInjeln pflegt man gewöhnlich die Tawi⸗Tawi—
Gruppe mit zu begreifen. Hier wird ergiebige Perleffiſcherei zu jeder Zeit
betrieben. Alle Seftade der Mindora- und Sulu⸗See ſcheinen Perlen-
bänte zu begen. Zwiichen Palawan und Borneo, bei der Eeinen Infel Ba⸗
labak, flieg Belcher im Rovember 1844 auf Perlenflicherei an den Riffen,
die ſich mehrere Seemeilen weit in das Meer erfireden.
Hamburg erhält die PerImutterfchalen erfter Qualität über Singapore und
Holland unter dem Namen Mafaffar- Schalen. Sie find groß und durch⸗
fehnittlich 1 Pfd., feltener 2 Pfd. ſchwer; ihre Perlmutterſchicht iſt fehr Did,
son fchöner Weiße und berrlihem Glanze. Diefe Mufchel ſtammt wahrfchein-
lich aus der Sundafee. In den holländifchen Handelsberichten find weder Per⸗
Sen noch Perimutterfchalen aufgeführt: mwahrjcheinlich Tiegen fle unter dem phö-
niziſchen Schleier „Naturalien“ verborgen, der bort große Summen deckt.
Bekanntlich wird auch auf den bolländifchen ArusInfeln, gerade weſt⸗
lich von der großen Neu-Guinea⸗Inſel (7° ©. Br., 135° 0.8. v. Gr.), Per⸗
Ienfijcherei betrieben; fte ift mühlam, und der vielen Haifiſche wegen Iebendges
fährlich.
An der Küfte von Neu⸗Guinea treiben die Papuas Handel mit Berlen, die
ihnen die Chinefen abnehmen. Weſtlich von Neu⸗GOuinea werden Perlen bei
O bei gefifcht.
Der ganze große Ocean ſcheint überall mit Perlmuſcheln belebt zu ſein.
An den meiſten Inſelküſten ſuͤdlich und nördlich der Linie, von Neuholland bis
nach Amerika, treiben die Inſulaner Perlenfiſcherei.
Perlmuſcheln leben ſüdlich vom Aequator bei folgenden Inſelgruppen des
ſtillen Oceans: Salomons⸗Archipel, Geſellſchafts⸗Inſeln, Pos
488 0 Hanbelöwilienihaft Pr;
motu-Arhipelund Marqueſas-Inſeln. Seit einigen Jahren Hat fich
die Perlenfijcherei im flillen Ocean ſehr ausgedehnt, Auf Matten, 20 Sec⸗
meilen öftlich von Tahiti, wird ſchon lange Perlenhandel betrieben. Die Tahi-
ter kamen mit Eiſenwaaren dorthin, um Perlen dafür einzutanfehen. 4%
Die Tahiti-Schalen find etwas gehöhlt, ziemlich) kreisrund, im Durch-
fehnitt Ya Pfund ſchwer, bie Perlmutterſchicht ſchwaͤrzlich und. von ſchönem
Glanze. Sie geht meiftens über chileniſche Häfen nach Europa, Ihr ähnlich
iſt die fogenannte ſchwarze Spdney-Schale, nur mehr abgeflacht und oval.
” Diefe wiegt bis Pfd. und — bei den Auſtralien näher lie
genden Injelgruppen gefammelt. Fr X
I) Teer
Archipel und bei ben Marianen vor. Di Sandwidhs-Injeln haben
Süßwaſſer-Perlmuſcheln. | >
Am Oftgeftade des großen Oceans flegen an ber Küfte von Eentral«
amerifa entlang ausgedehnte Perkmufchelbänfe. Seit Anfang des 17. Jahr
hunderts rivalifirten die Perlen von Galifornien mit den Schägen Banamas,
Gegenwärtig bat die californiiche Bifcherei der Perlmuſcheln einen großen Ver—
breitungäbezirf, Die Schalthiere leben ſelbſt an Stellen der Weſtküſte der
Halbinfel und werben auch nahe bei Mazatlan angetroffen. ı er.
_ Die Mufehellager ind. am Häufigften in der Bai von Geralbo und bei ben
Injeln Eſpiritu⸗Samto, San Joſé und Santa-Gruz, dort liegen die Mufcheln
3—4 Faden tief, Die fiihenden Norbamerifaner und Franzoſen haben die
Preife der Perlen fo ſehr gefteigert, daß man fie um 70— 80 Procent höher
als ſonſt bezahlen muß. Die Schalen von La Paz haben eine weiße Berkmuts
terfchicht mit geblichem Rande, die Nonatlan·Schalen on etwas wen als die
erfteren. ne j
An der Küfle von Eoflarica wirb Perfenfifcherei im: Dulm, ein.
eoHa mit gutem Erfolg betrieben. Auch foll Die Bai von Fonſeca Berk
mufcheln enthalten. Auch im Golf von Banama find bie Küften und Un—
tiefen des aus 43 Infeln beftehenden Archipeld Del Rey und Tab oga reich an
Perlmuſcheln. Gegenwärtig. jollen 300—400 Taucher dort befeätig fin,
um auch dieſe Bunborte mehr als ſonſt auszubeuten.
Die Panamaſchale, eine der geringeren Sorten des Sandels if dic
und concan, mift 3—5 Zoll, und ihre fonft * —— iſt am
Rande etwas dunkel.
An der Gagira⸗Kuͤſte, zwiſchen Rio Saca * Maracaibo —
lumbien, werden Perlen gefiſcht, die ſich durch ihren ſchönen Glanz auszeich⸗
nen. Der amerikaniſche Perlenhandel blieh in den Händen der Spanier bis
zur Befreiung ihrer Colonien im Anfange unferes Jahrhunderts, Hamburg
trat 1822 in directen Berfehr mit Mexico und 1825 ſah man ſchon beifen
Blagge ander Weftfüfte Amerikas wehen, weiche jegt fehr bedeutende Sen-
dungen von Berlmutterfchalen und Perlen nad) Europa erportirt. Das weite
tefte und freiefte Feld der Perlenfiicherei ift der große Oeean mit feinen Taus
fenben auögeftreueter Infeln, deren Küften reich an Perlmuſcheln find; dort er»
Perlenkigerei und Perlenhandel. 488
fcheinen jegt nordbameritanifche, englifche, franzöſiſche und ham⸗
burgiſche Schiffe, um Wufcheln und Perlen. zu fammeln.
Unter den Einfuhrliften der handeltreibenten Nationen fucht man
meiftens vergeblich nach Perlen, da fie fait überall zollfrei eingehen. Hamburg
erbob bis Ende 1856 "2 Procent Zoll von eingehenden Juwelen, ber die Ein«
fendung Eoftbarer Geſchmeide an die Sumeliere zur Anficht verhinderte.
Rad den Tables generaux du commerce wurden In Frankreich Perlen ein-
geführt:
Werth
Jahr. Dr | Gramm. ruhe Grammes. in France.
1837 | 28300 | 486,000
1838 50,300 1,006,000
1839 15,520 310,400
1840 18,372 367,440
1841 15,540 310,800
1842 35,220 704,410
1513 157421 1,148,420.
1844 37,000 152,000
1845 72,000 1,440, ‚000
1846 33,590 | "671.800
1847 49,873 997,460
1848 4,755 611,325
1849 27,600 | 414,000
1850 69,700 1,045,500-
1851 103,100 1,546,500
1852 19,100 1,266,000
1853 | 716,700 2,205,000
1854 12,500 1,087,500
18555 | 162,200 | 2,433,000
In diefen 19 Jahren wurden mithin 980,791 Gr. Perlen, die den Werth
bon 18,803,585 Francd haben, in Branfreich eingeführt. Die Länder, woher
fie famen, waren England, Engliich Oftindien, Aegypten, Deutichland, die
Schweiz, Belgien, Toskana, Rußland und Neapel. Paris iſt jeht der euro»
päifche Hauptmarkt für Perlen.
Nach den Anual Statements of the Trade and navigalion of the United
Kingdom wurden nad} England für folgende Summen Berlen eingeführt:
Woher. 1853. | 1854, | 1855.
£ £ I %$
Aegypten . . oo. 34,207 19,332 9,660
Britiſch Oſiindien oo. 2,230 3,500 —
Britiſch Weftindien . . — — —
Frankreich -. oo. 2,040 — 1,718
Neu:Öranata. . . . 11,479 6,000 550
Sonduras . . 2»... 1,300 — —
Mexico..... 1,445 2,000 —
St. Thomas . . .» . 6,219 9,751 18,360
Antere Gegenten . . 1,7125 418 188
Eumme in £ | 60,735 | 41,001 | 34,476
In Hamburg if die Berlenimportation nicht unbedeutend, da
oft Partien 10—20,000 Mark Bco, verkauft werden und biöwellen für 70 bis
490 Sandelswiſſenſchaft.
80,000 Marf Bro. eingegangen ſind. Wahrſcheinlich ſtammt der größte Theil
derfelben von der Weflfüfte Amerikas und von ben Sübfee-Infeln und wird
en nach Frankreich abgefeht.
Die Perlen von Neu-Granada wurden meiſtens via Ghagred;- im Allge⸗
meinen our ofle Drtion, — ausgeführt. Angegeben
wurdennn w "re wre ER
ninnik in 1843 —44: 32312 Ungen * 65,625 Dollars: se
1844—45 ; 528 TEE, X
An Verlmutterſchalen wurden im Frankreich eingeführt: |
1850 1851 ,, 18520 9 185390. 1854 1855
Kit. 554,780. 524,590. 140,364. 128,136. 953,507, 782,186.
in Samburg:
1850 1851: 1852 1853 1854 1855
Gtr. 2,815. 5,610, 11,131, 8,928. 14,241, « 13,430,
Merth im Marf Bo, x...» 176,440, 252,800. . 235,120.
Durchſchnittswerth eines Zoll-Eentners-
nach Hamburger Börfenpreis + 109 Ir IA 8 Igr IE 2 Ip.
Die im Jahre 1855 in Frantreich, England und Hamburg eingeführ«
ten Perlmutterſchalen mögen nad dem Durchſchnittsgewicht einer Schale,
berechnet aus der Schwere ber in Hamburg eingegangenen Sorten, wentgftend
6 Millionen Thieren das Leben gefoftet haben.
Das gebräuchliche Perlengewicht ift das Karat in der holländifchen
Norm — 0,250894 Gramm, Die englifche Norm iſt — 0,20530253 Gramm,
doch wird im Handel das englijche dem holländifchen gleich genommen, Das
jelbe gejchieht mit dem Hamburger Karat, welches — 0,205858 Gramm ſchwer
ift. 1 Loth Hamburger Banfgewicht hält 71 Karat, 1 Karat 4 Gramm.
Die Durchſchnittspreiſe geftalten fich für Perlen im Hamburger —
1) RundeLothperlen, das Loth zu 71 Karat gerechnet,
Enthält 1 Loth 200—300 Stüd, jo koſtet es 100 Ahlr.
„ l 7 600—700- ',, mir uan sd 2
2) Barofperlen, d. h. unregelmäßige höderige Perlen, 2
Ein Loth von 1000—900 Stüd koſtet 5—8 Thlr.
8005700 fer, 187
600—50 „ „U „
50400 26
1) Ve ar
300-8300 ul „ 50 „
1) Kr A | u F
100 80 1 „ 90 „,
40— 20 „140
3) Der Werth großer Shöner Perlen wirh im Allgemeinen nad
dem Quadrat der Schwere beſtimmt.
Vollkommen runde Perlen foften einzeln etwa:
2 Gran fhwer ı . 05 + Ps 11% Thlr.
Berlenfifcherei und Perlenhandel. | 491
3 Gran fhwr . . ..3 — 31 Ihlr.
1 Karat „, 0... 4 5 J
2) nn. — 6,
3 ne rt... be 40,
4 „ „ . 0.0. ” 50 „
Eine Schnur von 70—80 dreifaratigen, ungefähr erbfergroßen Perlen
von guter Form und fchönem Glanze wird in Hanıburg mit 4000—6000 Thlr.
verkauft. — Der Durchſchnittopreis der einzelnen Perle in einer folchen Schnur
beträgt ungefähr 70 Thlr. Wie oft umd wie viele Taucher mußten wohl ihre
Kräfte wagen, und welche Haufen von Mufcheln mußten gefammelt werden, ehe
jene 70—80 Perlen als Schmud fich zufammen fanden. Der arme Arbeiter
fammelt ihn unter Gefahren und Mühen, mandyed Menfchenleben ging dabei zu
Grunde, wurde eine Beute der Haiflfche oder der firubelnden Brandung; an
dem Eoftbaren Schmud der Reichen klebt oft irdiſches Drangfal und das Men⸗
ſchenleben als Opfer.
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Siam und die Siamefen.
Fragment aus dem Zagebud einer Engländerin. nr yın
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—
3 Singapore ſchifften wir uns an Bord des Dampfers Audland $ von ber
oftindifchen Compagnie ein, welcher beftimmt war, und nah Siam zu bringen.
Der Capitain hatte Befehl erhalten, in einem gewiſſen Breitengrade zu kreuzen
und wirklichen ober vermeintlichen Piraten nadyzufpüren, Die aber zu meiner
größten Beruhigung unfichtbar blieben. Auf unferer Neife trug ſich nur ein
Siwifchenfall zu, der einer Erwähnung werth wäre. Eines Abends kurz vor
Sonnenuntergang anferten wir auf der Höhe von Tringam, der Hauptftabt eines
Fleinen Gebieted auf der malayiichen Halbinſel. Ein Theil der Mannſchaft
wurde beordert, friiche Lebensmittel berbeizufchaffen, während der Gapitain uns
in feinem Boote an's Ufer führte, bamit wir uns eines Spazierganges erfreuen
und uns die Eingebornen anfchauen könnten. Wir wurden von einem Haufen
balbnadter Männer, Weiber und Kinder empfangen. Ich alaube, ich war bie
erfte Engländerin, welche je hier erjchien; doch war es unfer kleines dreijähriges
Mädchen, welches die größte Neugierde bervorrief, Wir wurden von dem
Wunſche ded Sultans unterrichtet, daß wir augenblicklich in ben Palaſt oder in
bie Audienzballe fommen möchten, wo er wartete, um zu erfahren, warum eim
Kriegdpampfer vor der Stadt geanfert hätte, und befonders, aus weldier Urſache
fo viele Offiziere und Mannjchaft gelandet wären, Drei Boote hatten unfer
*) Die Gefandtfhaft, welche Ihre ſiameſiſchen Maieftäten jüngft nad England
ſchickten und bie fofibaren Geichenfe, welche biefelbe der Königin Victoria zu übers
geben hatte, haben bie Aufmerfiamfeit ver europälihen Welt jenem fernen Winkel
HintersIndiens zugelenft, in welchem Barbarei und Gefittung in höchſt wunderlicher
Miſchung beifammenwohnen und ftantliche wie bürgerliche Ginrichtungen ganz eigen⸗
thümlicher Art erzeugt haben. Unferen Leſern bürfte es daher nicht umwillfommen
fein, in nachſtehenden Schilderungen einer gebildeten Dame, welche in Begleitung ihres
mit einer biplomatiichen Miſſion betrauten Mannes längere Zeit in Bangkof, ber
Hauptſtadt Des Landes, weilte, einen Ginblid in Sitten und Gebräuche der Siamefen
zu erhalten, eines DBolfes, das auch um beswillen unfere Beachtung vertient, weil es
von allen Bölfeen Mittel- und DOftafiens die größte Empfänglichkeit für das Chriſten⸗
thum zeigt, fomit in nicht allyuferner Zeit eine wichtige Pflanzftätte höherer Geflttung
in Dftafien zu werben verſpricht.
Siam und die Siamefen, 493
Schiff verlaſſen; es waren alfo fechd oder mehr Offiziere anweſend, dann ber
Gapitain, C., ich, die Eleine Mathilde, und deren eingeborne Amme.
Als wir, begleitet von dem großen Haufen des Volkes, in der Aubienzhalle j
anfamen, fanden wir Seine Hoheit den Sultan auf einer. erhöhten Plattform
am Ende feiner Hütte gelagert; um ihn herum knieten oder Erochen feine Offis
jiere und Die gerade gegenwärtigen Diener, während etwa drei Fuß tiefer auf dem
mit Brettern belegten Boden, der dad Gebäude umgab, daS Volk kauerte. Der
Gapitain und C. gingen zuerfl vor, einer neben dem anderen, und da ich feine
Luſt hatte, zwifchen dem Kaufen zurüdzubleiben, fo ſtahl ich mich mit ihnen
hinein; die Gruppe ber Offiziere ſchloß den Aufzug. Nachdem jeber ſich
verbeugt und der Sultan jedem feierlid, ein Zeichen gegeben hatte, fich zu lagern,
wanbte er fich in malayifcher Sprache an C. und erkumdigte ſich, wer wir wären
und warum wir gefommen. Jetzt war es fehwierig, eine entfprechende Antwort
zu geben, da nur ich von der ganzen Gefellfchaft etwas von der Sprache verftand.
Doch ich erhob mich und benachrichtigte Se. Majeftät, daß zwifchen. England und
Siam ein Handelövertrag abgefchloflen, daß ein Conſul ernannt worden und C.
im Begriffe jei, in dieſer Eigenfchaft fein Amt in Bangkok anzutreten. Es war
dies neu und von einigem Intereſſe für den Sultan, da fein and an Siam zind«
bar und er verpflichtet ift, alljährlich einen goldenen Baum dem Könige des weis
Ben Elephanten zu fchenfen.
Der Fleinen Mathilde wurde von dem großen Manne viel Aufmerkſamkeit
geichenkt und fle durch einen Pla auf feinen Knien geehrt; fie ſaß ernfthaft da
während der ganzen Unterredung, nicht im miindeften erftaunt oder verwirrt burch
die fremdartige Scene um fle herum. Der Sultan brach dann und wann bie
endlofe Kette feiner Bragen ab und ftreichelte ihren Kopf oder ihre Hände und
bewunderte ihre Geſichtsfarbe.
Während des nächften Tages bejuchte Seine Majeftät fammt Gefolge das
Dampfichiff, von welchem ſie mit Salutfchuffen empfangen wurden, die ihre Ner⸗
ben derb erfchütterten.. E8d.war ergöglich zu fehen, wie fich bei der rafchen Auf:
einanderfolge der Schüfje der Schreck auf ihren Geflchtern ausdrückte. Der Sul»
tan bat mich alles Ernſtes, dem Gapitain zu fagen, daß er ganz gerührt ſei von
der erwieſenen Ehre, nur möchte er Tieber nicht ein Mebreresd davon haben. Es
wurbe ihm demungeachtet eine volle Salve gewährt, und die Matrofen jegten des
Spaßes wegen das Schießen noch fort.
Am erften Juni v. I. gingen wir vor der Sandbank des Fluſſes Menam
vor Anker. Das Schiff anferte faft zehn (engl.) Meilen vom Ufer entfernt, das
aber fo niedrig und flach ift, daß es ſelbſt mit Hülfe eines Fernrohrs kaum er-
blidt werden Eonnte. Die Sandbant ift eine ausgedehnte Untiefe, gegenüber ber
Mündung des Fluſſes, und es herrſcht dort gewöhnlich während eines großen
Theiles des Tages eine fcharfe Brandung. Hier blieben wir, bin und ber
geworfen und getrieben, vier lange Tage, umfonft ein Mittel erwartend, das und
aufwärts nach Bangkok befördert hätte. Der „Auckland“ war zu groß für den
Fluß.
Endlich kamen zwei Ruderboote uns zur Seite. Die Ruderer, vom König
von Siam jelbit ausgewählt, uns nady Bangkok zu bringen, waren alle im eine
Art Uniform gekleidet, bejtehend aus jcharlachrothen Galico-Jaden und Kappen,
die viel zu fehlecht zum Tragen und des Wafchens dringend bedürftigwaren. Die
Boote waren lange, ſchmale Gano&s, mit einem vieredigen flachen Verdeck genau
in der Mitte, zur Bequemlichkeit der Paſſagiere. Born und hinten fanden bie
Ruderer, ſechzig an der Zahl, zu beiden Seiten gereiht. Sie ruderten ftebend,
und bei jedem Ruderſchlage ſtampften die fechzig mit einem Fuße auf das Deck.
Der Steuermann unterbrach hin und wieder die Arbeit durd) einem langen krei⸗
jchenden Schrei in hohem Tone, der von den andern neunundfünfzig durch ein
kurzes jcharfed Bellen erwidert wurde, Nur Könige und Perjonen bon Stand
haben in Siam das Recht, Diejed Heulen zu gejtatten. BT] 2 270
Die erfte Viertelftunde wurden wir durch unfere neuen Freunde unterhal⸗
ten; als wir aber weiter fuhren und Stunde auf Stunde verging, war bie natür⸗
liche Wirkung ſolch fortgefegten Heulens und Stampfens, daß unfere Nerven
erjchlafften und wir Kopfichmerzen befamen. Wie indeß auf unfere Bitten Die
Bootsleute Damit aufhörten, ließen fle auch im Rudern nach, fo daß wir — ein⸗
ſehend, daß ihr Rraftaufiwand von ihrem Lärmen abhänge — es ihnen überlie—
unter einer brennenden Sonne — uns in unjer Schickſal ergaben und die Leute
freifchen und bellen ließen. —————
An ſeiner Mündung mag der Fluß etwa anderthalb engliſche Meilen breit
fein ; aber er verengt ſich allmälig, und hei Paknam, einer Militairftation, unge⸗
führe zehn Meilen aufwärts, kann bie Entfernung von einem Ufer zum anderen
kaum mehr als dreiviertel Meilen betragen. Hier wird die Gegend reizend, Im
ber Mitte des Fluſſes ift eine Infel, auf welcher ein hübſch decorirter Tempel
liegt, fchimmernd wie eine Perle in lichtgrüner Ginfaffung, während auf der ans
deren Seite furchtbar dreinblickende Befeſtigungen fich befinden, die den malerifchen
Effeet noch erhöhen. Das Innere diejer Feſtungswerke ift indeß fo verfallen,
daß fie, wie fle jet find, irgend welchen Nugen nicht gewähren können. Die
Ufer des Fluffes find völlig flach und bis zum Nande des Waſſers mit Röbricht
bedeckt. Nahe der Mündung ift dieſes Nöhricht nur mit Mandelbdumen unter«
mijcht; aber wenige Meilen aufwärts wird der Pflanzenwuchs üppiger und bas
Auge weiber ſich an einer großen Mannigfaltigkeit des Laubwerfes. Der Brots
fruchtbaum und die Kofospalme find am zahlreichiten vorhanden; der eine mit
feinen grofien, fonderbar gezähnten Blättern bietet einen einladenden Schatten
bei der Gluth der tropiichen Sonne, während bie andere mit ihrer feberartigen
Krone ſich gleich einem Thurme über ihre Waldgenoffen emporbebt, Der ziere
liche Bambus in allen feinen ſchönen Spielarten zieht gleichfalls die Aufmerk⸗
famfeit auf fi, bald in niederen, vollen Gruppen, dann wieder mit feinen hän⸗
genden Zweigen und den langen Stengeln der lanzenförmigen Blätter im Luft⸗
bauch zitternd, Die eigenthümliche Schönheit des Bildes iſt noch vermehrt Durch.
die Manninfaltigfeit und den Reichtbum der Farben unter einem morgenländis
ichen, im Sonnenlichte glänzenden Himmel,
Wenn man fich in ber flameflichen Hauptſtadt Bangkok niederläßt, it «8
gewiß ber Umjtand, daß die Stadt gar feine Fahrſtraßen bat, weldher einem fait
augenblicklich auffällt , wie ich es erfuhr, nachdem ich kaum einige Stunden in
— neuen Wohnorte mich aufgehalten haätttee..
en En et —* BET DIE
tu "ai, sie wird’ — — —— ee —
kann.“ Dieſe unvorhergeſehene Schwierigkeit nöthigte mich, bei meinem mädh-
ften Nachbar einmal um Rath zu fragen, und die Nothwenbigkeit, rin Markt
boot anzuſchaffen, ee
liche Einrichtung zu beginnen hatte. 2 >.
Ein ſolches Boot ift ſehr Hein, wirttich nur berechnet auf einımenfeglicheb
Weſen und etwa ein Dugend Hühner. — Bei jeder Gelegenheit zeigt ſich dieſeibe
Schwierigkeit der Communication, Sehnt man fich nach einem Plauderftünd-
hen mit dem nächjten Nachbar (in der That der Nächfte, aber jenjeits des Fluß-
armes, der durchaus nicht überbrüdt if), fo muß —— mit
acht, zehn oder zwölf Mann — oder zu Hauſt bleiben.
Die Märkte beftehen aus einer Menge Boote, * in gewiſſen Quartieren
zuſammen vor Anker liegen, jedes ſich mach ſeiner Bequemlichkeit ausbreitend.
Die ſchwimmenden Haͤuſer nehmen jede Seite des Fluſſes auf fünf Meilen Wr
ges ein, und ebenfo die zahlreichen Buchten und Arme, die ſich 2—2— —
hin verzweigen. WELL
Bambusſtaäbe, feft aneinander gefuͤgt, bilden ein Rartes Bio, ——
vier oder fünf Fuß dick, mit einer Platiform von fünfzehn bis zwanzig Quabrat-
fuß. Auf diefer ift dann das Haus gebaut, entweder vom Bambus oder von
dünnen Planfen, Wenn das Gebäude zu einem Kaufladen beftimmt ift, fo ift
der Vorbertbeil offen gelaffen, und die Waaren liegen, auf Bänfen und Brettern
geordnet, zur Anſicht der Käufer bereit. Iſt daffelbe dagegen ald Wohnhaus
erbaut, jo iſt es ringsum geichloffen und mit einer Veranda umgeben. Das
Floß ift durch Stricke oder Ketten am Ufer befeftigt, oder an Pfühle angebunden,
welche in ben Boden des Fluſſes eingerammt find. Wenn die Fluth ungewöhns
lid} ſtark wird, fo kommt es vor, daß die Pfühle nachgeben, und in folchem Falle
ſchwimmt natürlich Das Haus Den Strom hinunter, Ein Fall diefer Art pafe
firte einem Herrn, der mir fein Abenteuer erzählte, Er hatte ſich zur Ruhe be=
geben und wurde plötzlich durch einen raufchenden Lärm geweckt. Als er fein
Zimmer verlieh, fand er, daß die Anfer, woran feine Wohnung befeftigt war,
nachgegeben hatten, und daß die hohe Fluth fein Haus ganz luſtig gegen die See
trug. Nur mit einiger Mühe wurde Hülfe berbeigefchafft und die Behaufung
wieder feft mit dem Ufer verbunden, jedoch etwas entfernt von feinem früheren
Anferorte, Mifftonaire, welche diefe Art von Wohnungen verfucht hatten, ver—
ficherten mir, daß dieſelben troß dieſer Gefahr Feine unangenehmen Aufenthaltes
orte feien, Die meiften diefer Gebäude find Kaufläden, bewohnt von eingewan⸗
derten Ehinefen. Glaubt der Kaufmann, daß er durch Veränderung feiner Woh—
nung fein Gefchäft verbeffern kann, fo braucht er nur bie Befeftigungen zu löſen
196 Ränder» und Völkerkunde,
und den Fluß auf· ————— — ————
des Fluſſes, welchen fie Leni mitm (bh —* see an
Da nun alfo der giaß vie Omnptfiafe iR; fo And au Booteitmürherfinß
vorhanden; Boote von allen Sorten, von d nf |
ober ein Winen übt, 66 zu be Gans De Qoruchmen, weder, Der ganen
Liebe zum Schwagen — den Töchtern Eva’s überhaupt eigen — wird durch bie
Schwierigkeit, ein Eleines fchwerbeladenes Boot mit Aufmerkſamkeit zu lenken,
nicht gehemmt, und e8 erfordert doch alle Geſchicklichteit des Leiters; ſich mit ſel⸗
nem Boote in der Mitte ded Stromes vor Schaden zu hüten. Die jtamefifchen
Weiber plaudern mit aller Oemächlichfeit mitten auf ber Hauptftraße. Zwel und
drei, ja mehr, kann man fehen, wie fie in £leinen Booten, die zuſammen befeftige
find, ſchnell mit der Fluth dahin gleiten, ſcheinbar gleichgültig fich ihrem Schick-
fale überfaffend. Aber nur jcheinbar ijt die Gleichgültigfeit; ihre Geſchicklichkeit
iſt fo groß, daß eine umnmerkliche Wendung des een genügt, irgend
einer Abweichung in feinem Laufe vorzubeugen. 1* Ba, 2 > ;
Schwimmen iſt natürlich ——ä——— denn die Siameſen ver⸗
leben drei Viertheile ihres Daſeins im Waffer, Ihr erſtes Geſchaͤft mach dem
Erwachen ift baden; ſie baden wieder um elf Uhr, fie baden um drei Uhr, fie
baden: bei Sonnenumtergang. Es gibt Faum eine Stunde ded Tages, wo man
nicht Badende jehen kann, ſelbſt in den feichteften und fchmugigften der Fluß⸗
arme, Die Buben geben Spielen im Fluſſe, gerade wie fie bei und zu Lande
auf der Strafe jpielen. Einmal ſah ich eine Siameferin auf der unterften Stufe
einer Landungätreppe ſitzen, wie fie an einem Gürtel ihr wenige Monate altes
Kind in's Waffer hielt und diefes mit augenfcheinlihem Wohlbehagen plätfcherte
und mit den Füßen jchlug. Wären dieſe Leute nicht fo ausgezeichnete Schwim⸗
mer, es würden viele Menjchen im Waller umkommen; denn bei dem ſchnellen
Eintreten der reipenden Fluth erbeifcht es bie größte Geſchicklichkeit und Sorge
falt,; das Aneinanderrennen der Boote zu verhüten,, und doc) werden dieſelben
häufig umgeftürzt, Einmal fuhr unfer Boot (ein englifches fog. Gig) ein klei⸗
nes inlinbijches Ganot, in welchem fich eine Frau und zwei Kleine Kinder befan—
den, über den Saufen, Im Nu waren alle im Waffer verfchwunden, Wir waren
höchſt erfchroden, und E, war im Begriffe, zu ihrer Rettung in's Waffer zu
fpringen, als fe wieder auftauchten und die Frau mit dem erften Arhemzuge, ben
fie that,’ eine ganze Fluth von Schimpfwörtern ausließ. Nachdem ſie fo ihren
Gefühlen Luft gemacht, richtete fle ihr Canos wieder auf, das mit bem Kiel nach
oben fortgetrieben war, ſchöpfte das Waſſer theilweife aus und packte die zwei
Kinder wieder hinein, welche mittlerweile um ſie herumgeſchwommen waren, mit:
einem Gemiſch von Furcht und Neugier die Barbaren pre = —*
gluͤck verurfacht Hatten. — J
Shani :utıd die Siamefe: 497
Doch ed gibt auch Land in Bangkok, und zwar bebautes Land. Die Wat's
oder Tempel ind die am meiften in die Augen fallenden Gebaͤude, und fie er-
fcheinen von Weiten fehr ſchön, was fle indeß nicht find. Der Boden um bies
jelben iſt oft hübſch andgelegt und mit Bananen bepflanzt und bier wie in Indien
der beliebtefte Baum. Sogenannte Salad, Gebäude für Neifende und Fremde,
find gleichfalls Hier und da anzutreffen. Die Siamefen fcheinen außerordentliche
Freunde von Schnig» und Bildhauerarbeiten in Stein, jo wie von anderen gro⸗
teöfen Verzierungen zu fein, wie fie China eigen find. Am Eingange eines Tems
pels fieht Hier oft zu jeder Seite eine colofjale Bigur aus Stein oder irgend
einem ähnlichen Material, glänzend bemalt und ein grimmiges Thier vorftellend,
bereit, den frechen Eindringling zu zerreißen. Steinerne Löwen und Drachen
find ebenfall® allgemein und an den ornamentalen Grottenwerk ringsum fo wie
auf den kleinen Seen und Teichen find Nachbildungen aller erdenklichen Thiere
zu feben. Diefe Gegenftänte find von China mit großen Koften hergebracht,
und das darauf verwendete Capital an Arbeit und Geld muß ungeheuer fein,
denn alle die vielen geheiligten Gebäude find damit überfaden. in Tempel,
welchen wir befuchten, fchien auf den erften Anblick gemalt zu fein, und wir be-
wunberten die Gefchicklichfeit und die Geduld, mit welcher deifen Wände audges
fhmüct waren. Als wir aber näher Eamen, enidedten wir, daß die großen und
Fleinen Sterne, mit Denen das ganze Gebäude bedeckt war, aus blauen Porzellan⸗
platten gebiltet waren, die in Form von Weidenblättern im Mörtel befefligt und
von fchaufelförmigen Platten aus demfelben Materiale in Strahlenorbnung um⸗
geben waren. Jeder Stern befland aus einer Platte, von etwa zwölf oder vier-
zehn Strahlen umgeben. Dort waren auch einige Säulen, die mit Suppenfchüf-
feln bedeckt waren.
Ein Tempel befteht gewöhnlich aus jechd oder mehr verjchiedenen Gebäu⸗
den innerhalb einer Verzäunung; jedes enthält einen Altar und ift mehr oder
weniger verziert. Rings um die Einzäunung find die Wohnungen der Prieſter
und Reophyten gelegen. Die Zahl diejer Tewpel ift erftaunlich groß; denn bei
den Siamefen herricht der Glaube, daß derjenige, welcher auf eigene Koften einen
Tempel baut, fich dadurch in Zufunft im Paradiefe einen Zuftand unvergfeiche
licher Glüdjeligkeit oder ein Wiedererjcheinen auf Erden in einer von ihm ges
wünfchten Geftalt fihert. Es läßt fih daraus ſchließen, daß Jeder, der nur
einigermaßen mit irdijchen Gütern gejegnet ift, nicht verjäumt, ſich den Lohn bes
Himmeld durch ein fo einfaches Mittel zu erwerben; und man fieht denn auch
folche Gebäude in jeder Richtung, meiftend in reizenden Winkeln angebracht, und
unıpflanzt mit fchönen, jchattigen Bäumen.
Das Soſtem der Priefterfchaft ift ein eigenthuͤmliches. Keiner iſt demſel⸗
ben unterworfen vor dem Alter von 21 Jahren. Dreimal ſieben iſt in Siam
ein bedeutungsvolles Alter. Die Bewilligung der Eltern iſt erforderlich, bevor
der Novize aufgenommen wird, und ein Gelübde der Armuth wird durchaus ver⸗
langt. Der Prieſter verläßt alle jeine Beſitzthuͤmer, Weib und Kinder nicht aus⸗
genommen; aber fie können wieder aufgenommen werden, wenn er dem geiftlichen
Stande entjagt, und das kann er, wenn ed ihm beliebt. Seinem Weibe ſtehl
IV. 32
Keen A in —— das Wien de Ber
andere Ehe
gekleidete geiftliche Herr ſeht d
Reiſe fort, ohne ſich herabzulaſſen ein Wort oder Zeichen des Dantes an
fie zu richten. MH vn I uU nn 9% jun Swrz nn
I Eine genauere Kenntnif, als ich ſonſt von dem Gebräuchen der Priefter-
ſchaft wirde erlangt haben, verdanfe ich einem jungen und intelligenten Apligen;
welcher mit und befreundet wurde und oft des Abends unferen Familienfreis
befuchte. Gr war ſelbſt Peiefter gewefen und deshalb mit den Pflichten eines
ſolchen vertraut. » Er hatte die Gemächlichkeit und die feinen Manieren eines
vornehmen Herrn, war ein Bring von Geblüt und hatte viel vom Falten Fieber
gelitten, Im dem Glauben, daß er ferneren Anfällen diefer Krankheit in Zur
funft entgehen könne, wenn er feine Füße troden halte, trug er gewöhnlich ein
Paar ziemlich altersſchwache Schuhe, freilich ohne Strümpfe; und wennerieine
Grmüdung.in den Füßen verfpürte, was oft der Fall war, zog er'biejelben auf
ben Stuhl unter fich in die Höhe, häufig feine Knie mit den langen nackten Ar⸗
men umjpannend. So jaß er manchmal lange Zeit da, ausgezeichnet engliſch
iprechend, und unterbaltend, belehrend und unjere Achtung gewinnend, Doc
wenben wir und zu ben —— — — — Em EEE
die Briefen, “a
Das Almojen nahm unjer ‚Sntereffe jehr in Anſpruch; & —
—— ‚ob er während- jeines Prieſterſtandes gleichfalls täglich feinen Reis
erbeitelt habe. „Ja, — fagte er — es war alfo; aber ich hatte immer meinen
Sklaven hinter mir, gleichfalls ein Briefter, und den groben und gemeinen Reis
gab ich ihm. Ich aber ging ftets zu — — wo man mir ſolchen
Reis gab, wie ich ihn eſſen konnte.“ 1 TE 27
Befte Speifen zu genießen, if den Prieflennunne am Wornietapetlanbez
Nachmittags dürfen fie nur Obft effen und Thee trinken. Die Beobachtung bies
jer Regel war unferem Freunde am jchwerften gefallen; nicht im Stande, ſich mit
Speifen vollzupfcopfen, wie es der Gebrauch feiner Amtsbrüder war, hatte er
gewöhnlich den Nachmittag und Abend mit Schlafen verbracht; das Faſten rief
bei ihm eine Müdigkeit hervor, welche er nicht überwinden Fonnte. Der Ober-
priefter eines jeden Wat und der Hoheprieſter des Königreich® erhalten ihren
Gehalt vom König, und diefe können ben Vriefterftand nicht verlaffen. Der
Hobeprieiter ift die einzige Perſon, welche davon befreit ift, Ehrfurdptöbezengum-
Siam nub bie GSiameſen. 499
gen mit Händen und Knieen zu machen; er ſteht aufrecht da in ber Gegenwart
des Königs, und Beide — der König und ber Hoheprieſter — begrüßen fih
durch Falten der Hände. — Die Priefter füllen ihre Beit mit Beten, Singen
beim Gotteödienfte, mit dem Unterrichte Anderer und mit dem Lefen der Bali-
Bücher aus. Cie fcheinen eine weniger untergeordnete Glaffe zu bilden, als bie
Prieſter in China, und dies rührt wahrfcheinlich von der Kreiheit des Ein-
tritis in bie Briefterichaft ber; denn dieſelbe ift allem Kaften gewährt und jeder
kann fo lange dem Stande angehören, ald ed ihm gefällt. Der Eintritt in den
Briefterfiand aber wird von hoch und niedrig für ein verdienſtvolles Werk gehalten.
Es beſteht eine frappante Aehnlichkeit in der äußeren Erfcheinung bei allen
Prieſtern, eine Achnlichkeit, von der ich mir Feine Rechenſchaft zu geben wußte,
His ich gewahr wurde, daß allen die Augenbrauen abraftrt find. Der Effect, den
dies macht, iſt ein eigenthümlicher; das Geſicht nimmt einen Ausdrud beftän-
digen Erflauntfeind an. Der Kopf, das Geficht und das Kinn find ebenfalls
ganz glatt rafirt. Die Tracht der Priefter ähnelt jener der Priefter in China;
bier wird eine gelbe Binde leicht um Schultern und Leib gefchlungen, während
die Priefter in China lange Gewänder von derjelben Barbe tragen.
Es beftchen feine Schulen, weder in Verbindung mit Tempeln, noch ans
derswo; Doch treten Anaben unter dem erforderlichen Alter als Rovizen ein, um
son den Brieftern Anleitungen zu empfangen, und leiften während dieſer Zeit
ihren geiftlichen Lehrern Dienſte. — Das Gelübde der Armuth jedoch iſt nicht
viel mehr als eine Förmlichkeit; denn ein vertrauter Agent ift angeftellt, welcher
alle Geldgejchäfte beforgt, und Die ganze Genoſſenſchaft hängt nur wenig vom
Almofen ab. — Die Zahl der Briefter in Bangfof wird auf breitanufend ges
ſchaͤtzt, doch iſt fle wahrfcheinlich größer. —
Wenden wir und jegt zu einem andern Gegenflande. Als fich und bie
Ausfiht auf einen Aufenthalt in Siam eröffnete, wurde und non unferen
&reunden viel Mitleid geipendet, da man allgemein annahm, daß das Klima zu
Bangkok Außerft heiß und fehr Dunftig fei, und daß ein giftige Miasma über
den Ufern des Fluſſes ſchwebe. Bu unferer großen Ueberraſchung und Freude
erwiefen fich diefe Meinungen ald grundlos. Nach meiner eigenen Erfahrung
und nach dem Zeugniffe Anderer, welche lange bier gewohnt haben, Tann ich
beflätigen, daß die Kite felbft während der unangenehniften Monate nicht fo
groß ift, ald an der mehr nördlichen Küfte von China oder zu Hongfong in den
zwei Sommermonaten. Die heiße Jahretzeit beginnt in Siam im März und
dauert bis Ende April. Sowohl die Miiftonaire als deren Frauen theilten mir
mit, daß die Hige nicht beläfligend jei. Mit Mai beginnt die Regenzeit oder der
Monſuhn. Dies ift Feine unangenehme Jahreszeit; bie Luft ift Fühl und er-
quidend; Alles fcheint zuſehends zu wachen, und jelbft ftarrfinnige englifche
Naturen jcheinen frifch aufzuleben und fich zu freuen an dem großen Wafchtage
der Natur. Die Menge des niederfallenden Regens zu Bangkok muß während
eined Jahres ſehr groß fein; ich fah ihn nirgends fo in fo ftarfen Güſſen herab»
ſtrömen. Der Lärm, den diefer Megen verurfacht, übertäubt manchmal Alles,
fo daß man fich kaum feinem Tiſchnachbar verftändlich machen kann.
32*
Waſſer, das ich jeamcher. getcumfen hatte, erreicht wurde, — Bei einem fo breis
ten und reißenden Fluſſe, der binreichen würde, drei ſolche Städte wie Bangkok
mit Wafjer zu verforgen, fönnte die Vorficht, Regenwaſſer aufzuheben, unnöthig
ericheinen. Indeß, das Flußwaſſer ift dick und ſchmutzig; «8 kann nicht einmal
zum Wafchen gebraucht werden, wen es nicht einen Tag geftanden bat. Hat
der Bodenjag fich niedergeſchlagen. jo ift dad Waſſer Hell und reim, und einige
Leute ziehen Dann Diefes vor. Der römiſch-katholiſche Biſchof, Mr. Pallegoir,
jagte mir, er halte es für das beſte, ſowohl wegen feines Geſchmackes, als fer
ner Zuträglichkeit für die Gefundheit. Wenn der hodwürdige «Herr es oft ges
braucht hat, muß er nicht gewußt haben, daß die ganze Bevölkerung von Bang ⸗
fo£ immerwährend Darin badet, und daß der Fluß auch den einzigen großen Ab⸗
zugscanal für Die Stadt und Das umliegende Land bilder, fo daß das Waller
nothwendigerweife mit vielen jchädlichen Stoffen geichwängert fein muß, obgleich
‚allerdings der Kauf des Flußes ſchnell ift und reines Waſſer fters zuftrömt, um
in ſchmutziges verwandelt zu werden, — Die, —— — * WON
das Trinken bed Flußwaſſers Durchfall bewirke. De
Die kalte Jahreszeit beginnt im November, und den — ——
Januar hindurch iſt die Luft friſch und gefund, ähnlich jener an milden Früh—
lingötagen in England, nur muß man ſich den glänzenden Hinmiel unter ben
Tropen binzutenfen, Alle Fremden in der Stadr und deren Umgebung, ſelbſt
Diejenigen, weldye dort Jahre lang gewohnt haben, jeben gefünder und flärfer
aus, als die Mehrzahl derer, die fich in Hongkong und den nördlichen Häfen
von China aufhalten. Fieber, ausgenommen das kalte Fieber, find unbefannt;
nur ein Hebel herrſcht hier, dem Klima oder dem Boden eigen — bie ſehr ge—
fürchtete Nuhr. Wenn dieje Krankheit einen Europäer befüllt, ift fie faſt jedes⸗
mal tödtlich. Würde der Kranfe bei Zeiten feinen Wohnort verändern, ſo
wäre eine Heilung vielleicht möglich ; allein die beunrubigenden Symptome er»
ſcheinen felten, bevor es micht nicht zu ſpäͤt iſt, Geſundhelt und Leben zu retten,
Die Eingebornen begen gleichfalld Furcht vor dieſer Krankheit; aber ihre Furcht
bält ſie nicht ab, Obſt ohne jede Vorficht und in unbegrenzten Maſſen zu ge
nießen. Die wenigen fremden Kinder in Bangkok ſcheinen ſich einer guten Ges
ſundheit zu erfreuen und ſich weniger kraftlos zu fühlen als di meiften berer,
die in den beißen Klimaten Oftindien’s leben. MLTT-
Die epidemiſchen Krankheiten, welche der Kindheit —— * wenn übers
Siam und die Siamefew. 501
haupt befannt, zeigen fich in ihrer mildeften Form und verurfachen wenig Leiden
oder linbequemlichkeit.
- Die Blattern find die fchlimmfte Geißel für das Land, und die Impfung
ift erſt jüngft durch Miiftonaire eingeführt worden. Die Schwierigfeit, gute
Lymphe zu befommen, war bier ein Haupthinderniß; nun aber, da die Verbin
dung mit Eingapore regelmäßiger und leichter geworden ift, dürfen wir hoffen,
daß der Gebrauch der Lymphe allgemein werden wird. Die beiden Könige
fammt ihren Savoritinnen und ihren Kindern find geimpft worden, und die
Eingebornen unterziehen fich bereitwillig der Operation, in der Meinung, daß
ihnen daraus eine übernatürliche Wohlfahrt erwachfe. — Das Studium ber
Mebicin ift zu einiger Ausdehnung gelangt, und die eingebornen Aerzte haben
feine geringe Meinung von ihrer Gefchicdlichkeit. Jeder von ihnen wählt fidh
einige-befondere Krankheitsformen, denen er feine ganze Aufmerffamfeit wid«
met. Sie gebrauchen ihre eigenen Arzneien, welche hauptfächlich aus Kräutern
beftehen ; toch ſah ich auch ein Recept, auf welchem Hirſchhorn und Krötenhaut
als Veſtandtheile der Arzenei figurirten. —
Es ift ſtets ein intereflantes Experiment, einen Haushalt in einem frem⸗
den Lande anzufangen, ofne die gewöhnlichen Quellen civilifirter Länder zur.
Hand zu haben. Diefe Erfahrung machte ich in vollem Maße in Bangfof.
Das Haus verlangte fo manche Anordnung und Einrichtung zum Bedarf und
zur Bequemlichkeit der Familie, und das follte hergeftellt werden, ohne daß
irgendwie paflende Mittel zu Gebote ftanden. Es gab weder Töpfe noch Pfan⸗
nen, nicht3 von al!’ den zahlreichen Erfordernifien, deren Werth — kaum bes
kannt oder beachtet — erft bei dem Mangel derfelben fühlbar wird. Bei einem
Berfuche, etwas Backwerk zu machen, wurde ich mit Schreien gewahr, daß
weder ein Rudelbret noch eine dergleichen Walze zu Haben waren; und ald deren
Stelle durch den Dedel einer Kifte und eine leere Flaſche vertreten waren,
tauchte eine neue Schwierigkeit auf: es gab keinen Badofen. In meiner Roth
war ich ftolz darauf, mir einen folchen erfunden zu haben, in welchem zwei
große ungebrannte irdene Pfannen den Hauptbeftandtheil bildeten; dieſer Ofen
Teiftete ſechs Wochen hindurch in einer nicht zu verachtenden Weiſe feine Dienfte,
Es war natürlich in unferer Stellung nothwendig, einen gewiſſen Schein aufrecht
zu erhalten, und es war unmöglich, fich nicht an den mancherlei Tiftigen Aus
wegen zu ergögen,, zu denen wir biöweilen unfere Zuflucht nehmen mußten.
Der Marft, obgleich in Ueberflug mit Lebendbebürfnifien verſehen, bot
doch fo wenig Abwechfelung , daß es Feine leichte Arbeit war, eine gut beſetzte
Tafel herzuftellen. Bon Hühnern Enten, Eiern, Damd (Brodwurzeln) und
Obft waren unerfchöpfliche Vorräthe vorhanden. Auch Wildpret war während
eined großen Theiles des Jahres Teicht zu haben; da aber Feine beſtimmte Frage
Darnach war, brachten e8 die Eingebornen auch nicht regelmäßig zu Marfte.
ALS einmal eine größere Geſellſchaft bei uns zur Mittagstafel geladen war,
dachte ich etwaigen Verlegenheiten dadurch zu entgehen, daß ich tie Beihülfe der
Oberköchin des Königs (Angelina war ihr Rame) für mich erbat. Durch einen
Dolmetfch, Namens Victor, wurde die Sache eingeleitet: ſie follte einen jungen
fangen zu laſſen. Was die ben fo Hatte Ber-rcmd: in feinen Ana
firengungen,, welche zu fangen, feinen Erfolg gehabt; Die Wahrheit aber war,
daß er zu faul gensefen, fich Die nöthige Mühe zu geben. Jeht war ich in der
Klemme; bald nach ſechs Uhr jollten die Gäfte eintreffen; mir blieb nichts, als
Hühner und ber Math, den ich mir aus einem Kochbuche holte, und von dem
m den Tiſch fapen, mußten bio8 wei," vapiallermir.
nit genauer Notb tem Falten entgangen warn. 700000
Doch nicht das Anordnen im Kausftande allein war es, was Scharffinn
erheifchte; oft mußte ich mich am ben Wafchtrog ftellen, > und ſelbſt Simmern
mannd» und Tiſchlerarbeit und dergl. bedurfte einer Aufſicht; denn diejenigen,
welche Diefe Handwerfe betreiben, haben oft feine klaren Begriffe darüber, wie
die Füße an einem Tiſche zu befefligen find. Es ift ein ſchweres Städ Arbeit,
in Siam die Ausftattung eines Hauſes, jelbft in der roheften und urwüchſigſten
Art, zu beforgen. Zunächſt gilt es einen Zimmermann zu finden, ober beſſer
fich zu ſchneiden. Nachdem man ihn für eine beftimmte Zeit im Dienft geuom⸗
men und den Arbeitslohn bedungen hat, muß man ihm Geld zum Ankauft
von Holz, Nägeln und anderem Material anweiſen, was Alles in's Haus ges
bracht wird. Dann ift e8 mothwendig, dem Handwerker die anzufertigenden
Gegenftände vorguzeichnen und ihm das genaue Maß jeder Sache anzugeben da
er aus fich jelbft nichts entwerfen Fan; und wenn man ihn unterwieſen bat;
verfucht er gewöhnlich das Gegentheil von Dem zu machen, was man von ihm
verlangt, Eine unaufhörliche Wachſamkeit ift mothwendig, damit der Orgen-
ſtand, den er unter den Händen bat, nicht durchaus unbrauchbar werde, Eins
mal, als ein Speifefchranf unter ftrenger Aufjtcht nahezu fertig geworden war
und unfere Aufmerffamfeit ein wenig nachlich, wurden die Thüren deffelben fe
vernagelt und zufammengeleimt, weil der Arbeiter glaubte, daß Das Kunſtwert
nur angefertigt fei, um als Zierrath im Zimmer aufgeftellt zu werden. —
Die Siamefen geben Feine guten Dienftboten ab, denn fie find von Natur
aus aͤußerſt faul, Sie dienen eine kurze Beit lang, bis fie eine hinlängliche
—— von Tirals*) erübrigt end um ſich einige * ernaͤhren zu kon⸗
Bur EEE ie,
*, Ein Tiral iſt etwas mehr als ein Gulden — RR
—
Sam und die Siamefen, | 503
nen; dann erklären fie, fie felen von der Arbeit müde und müßten nach Haufe
geben und ausruhen. Die Lebensmittel find außerordentlich wohlfell, ſo daß
die Eingebornen mit einer unglaublich Fleinen Summe auslommen Tönnen,
Ein Tiral reicht aus — wie man jagt —, um für einen Monat die Kof eines
Siamefen zu beftteiten; und bat er Nahrung, fo ift er zufrieden, denn andere
Ausgaben, wie etwa die Bezahlung einer Schneiberrechnung, können feiner Kaffe
begreiflicherweife feinen empfindlichen Abbruch thun.
Das eigenthümliche Syſtem der Sklaverei, das hier befleht, bringt gleich“
falld eine Schwierigkeit mit ih, wenn man Dienftboten mieihen ober halten
will. Jeder Siameje unter einem gewiflen Range ift Sklave, und wenn er nicht
irgend einem Anderen gehört, ift er Eigenthum des Könige. ES iſt eine ge
linde Form der Sklaverei; fobald Urfachen zur Klage beftehen, fann der Sklave
zu jeder Zeit feinen Herrn wechfeln, indem er jeinem biöherigen Befiger das
Kaufgeld bringt, welcher ihn dann ohne Anftand feiner Wege gehen lafien muß.
Die Mijftonäre und andere Bremde gingen mit dem Plane um, Diener, welche
in ihrer Stelle zu bleiben wünfchten und verfprachen, fich nüglich zu machen,
nominell zu Faufen und ihnen zu erlauben, für bad Kaufgeld zu arbeiten, bie
ste fich ihre Freiheit erwirkt Haben. Dieſer Plan dürfte offenbar auf YBider,
ipruch flogen, doch fcheint es die einzige Sicherheit gegen den Iäftigen unaufhör-
lichen Wechfel der Diener zu gewähren.
Den Sklaven ift erlaubt, fich jelbft zu verdingen; doch müften fie den größe
ten Theil ihres Lohne ihren Beflgern auszahlen, und fie hoffen, Dadurch end⸗
lid) ihre Kreiheit zu erlangen. Diefe Hoffnung wird aber durch die Beflger
vereitelt, welche den Werth des Sklaven, fo wie jeden Lohn, den er verdient,
mit hoben Zinfen belegen, fo daß die Schufd eher wächft als ſich vermindert.
Bon diefem Umflande rührt e8 her, daß die meiften Dienftboten eingevanderte
Chineſen find, welche ſich Hier einbärgerten und einen großen Theil der Bevöl⸗
ferung bilden. Sie find überall ausgezeichnete Diener, unvergleichlich in ihrer
Auffafiungsgabe; aber fle Iernen auch fehr fchnell ihre Herrichaften betrügen.
Die Siamefen lafien wenig Hoffen. Es mag ein wunderliches Begehren für
einen Diener fcheinen, wenn er um die Erlaubniß anhält, zwei oder drei Stuns
den Mittagsruhe halten zu dürfen: bie Siamefen werden dieſen Luxus unter
feiner Bedingung aufgeben, und fie find nicht geneigt, ihre Arbeit fortzufegen,
‚ ehe nicht die Stunde der Sieſta vorüber if. Sie haben eine wahre Furcht vor
der Arbeit. Ich habe oft Entfihuldigungen der Dienerin hören müflen, wenn
ich in mein Schlafzimmer ging und fie halbfchlafend in einem Zuftande von Er⸗
ſchöpfung an der Wand lag, während das ungefehrte Zimmer von ihrer gerins
gen Dienftbeflifienheit Zeugniß ablegte. Eine Ermahnung traf immer nur bie
Antwort: Es fei fo heiß, fie fei fo müde und könne nichtö mehr thun. Da
war ed denn nothwendig, auf der Stelle felbft Stubenmädchen zu fpielen, waͤh⸗
send die arıne, ermübete Zofe ruhig am Boden faß und zufah, wie ich den Bes
fen tummelte. Hätte ich verftanden, auf flamefijch zu ſchelten, höchſt wahr-
ſcheinlich würde fle meinen Dienft verlaffen haben, und ich hätte von Neuem die
Mühe gehabt, das Bett machen zu lehren. Die Kunft aufzubetien ift ein uner⸗
18 Leintuch oder Die Oberdede zuerſt hineingelegt wird, und am
liebſten breitete ſie die Decke ſorgfaͤltig uͤber die Matratze, legte Darauf bie Ober-
=> dann Dad Leintuch, die Polfter und ganz zuletzt das Kopffifien. — Eine
dere tägliche Plage für ihren Geift war, unſer kleines Kind anzuziehen; das
war für fie eine Mebeit ungebübslisher Art und die Ordnung, im welcher die
Kleider übereinander angezogen wurden, blieb ihr ein umauflößliches Räthſel.
Nach einigen ihrer Verjuche Fam das Kind berunter, bie Unterkleider
über dem Rod; ein anderes Mal waren bie e jorgfältig über die Schuht
— a er eo — 7 oeee —— ©)
Dicht bevö
Morgen nach. unferer Ankunft, als wir beim ameritanifchen.&e
ten, bemerften wir eine große Aufregung unter der Dienerſchaft. Stühle und
Tische wurden weggeführt ; Porzellangeichire und Gläfer verſchwanden, und be—
ſtaͤndig gingen Boten ab und zu, anſcheinend im Dienfte eines benachbarten
Fürſten. Die Neugierde regte fich natürlich in uns, ‚und wir fragten ; ob ie
Vornehmen bier zu Lande die Gewohnheit hätten, bie Geraͤthe und das Eigen»
thum Fremder auszuborgen. „Nein — war die Antwort — im Allgenteinem
thun ſie das nicht; aber der Prinz, unſer mächjter Nachbar, betrachtet ſich ale
dazu bevorrechtet. Er ift im Begriffe, jeine Mutter zu verbrennen, undträgt
darum Sorge, einige Tafelgegenftände für Die bei ſolchen Gelegenheiten gewöhn—⸗
lichen Beftlichkeiten auözuborgen!’ Jetzt erſt erfuhr ich, daß die alte Dame
aeitorben jei und daß ihr Leichnam auf dem Plage vor einem benachbarten Tem⸗
pel verbrannt werden folle, wo der Scheiterhaufen ſchon aufgerichtet war, Die
Vorbereitungen zu Diefer Geremonie nahmen viele Tage in Anſpruch, weil drei
Leichen aus ber königlichen Bamilie zugleich verbrannt werben follten: es waren
nämlich ein Oheim des Königs und eine Prinzeſſin um diefelbe Zeit geſtorben,
wie jene-alte Füritin, Wir wurden zu der Felerlichkeit eingeladen, Ic; wünfchee
unferen: Beſuch fo einzurichten, daß wir nicht Zeuge des: zu
fein brauchten, ba ich mir dachte, daß ein ſolcher Anblick kein angeneh—
ner fein könne; allein trogdem langten wir gerade in dem Augenblide an, ald
ber Oberprieſter mit vielen Kniebeugungen und mancherlei Förmlichfeiten ben
Scheiterhaufen anzündete, Die drei Särge hatten die Geflalt von Urnen, mas
ren etwa drei Fuß boch und mit goldenem Laubwerk bedeckt, aber nicht weiter
verziert. In diefen befanden fich die bereits einbalfamirten Leichname in fügen»
der Stellung, an den Knien feſtgebunden. Die Urnen felbft waren von Eiſen,
der Boden einer jeden war vergittert. Die Todten, in denſelben verborgen,
Siam und die Siamefen 505
waren in Progeffion Herbeigeholt werben, begleitet vom einer umgeheuren Menge
von Prieftern und Wehklagenden bis zu dem Orte, wo ſie verbrannt werben
follten; bier war.ein großer Pavillon. erbaut, verziert mit Flaggen und Blumen
und mit weißem und carmoifinrothem Tuche bebangen, in der Mitte war ein
erhabener Söller mit drei eingejchnittenen Löchern, unter welchen das Material,
zu bem Feuer aufgehäuft war. Die Urnen fanden nun darüber, das Feuer
wurde angezündet, und bie Leichname verbrannten ſchnell, während die Afche
in die Gluth binabfiel. Die leeren Urnen wurden fortgefchafft, bevor wir den
Platz verließen, und feine Spur ihres früheren Inhaltes war fichtbar. Aller
wibderliche Geruch wurde wahrfcheinlich Durch den Weihrauch, den die Priefter
anzündeten, und durch das wohlriechende Holz, mit weldyem das Feuer untere
halten wurde, verfcheucht. — Es war dies eine hohe Beierlichkeit, und beide
Könige erfchienen dabei mit all ihren Weibern. Wir fonnten und alle glüdli
preifen, ald Zeugen dabei zugegen gewefen zu fein. Die Priefter und alle die
jenigen, welche im entfernteften Grade mit den Berftorkenen verwandt waren,
waren weiß gefleidet und trugen Gürtel von berfelben Farbe flatt ber üblichen
carmoifinrothen oder blauen Gewaͤnder; die Gemahlinnen der Könige und alte
übrigen Frauen waren ohne Ausnahme gleichfalls weiß gekleidet, und Dies war
dad einzige Außerlicye Zeichen ber Trauer. Feſte und Beluftigungen folgten;
Spiele und Unterhaltungen aller Art, mit Sreigebigfeit für das Volk bereitet.
Die Spiellemte in unmittelbarer Nähe des Pavillons fpielten eine Art son
Trauerlied, dad, wenn auch von wildem Charakter, doc) mit feiner klagenden
Melodie nicht unſchön war. Die Wirfung wurde durch den melancholiichen
Ton aller fiameftfchen Inftrumente noch erhöht, ein Ion, der jelbft bei lebhaf⸗
ten und munteren Melodien nicht ungefällig ift.
Bei öffentlichen Feſten, wie das eben beichriebene eines iſt, beſchenken ber
König und andere Glieder der föniglichen Bamilie die geladenen Gäfte mit Flei-
nen Beuteln, teren jeder zwölf oder vierzehn Fleiner grüner, in dieſem Lande
einheimifcher Limonien enthält. In jede Brucht ift eine der kleinſten Silber⸗
münzen,. Fuang genannt (im Wertbe etwa glei 8 Kreugern) eingedrückt;
manchmal, aber jehr felten, trifft man audy goldene Fuangs. Aehnliche Limo⸗
nien werden mit vollen Händen in den großen Saufen des Volkes audgeftreut,
damit diefe fich darum reigen. Oft ereignet e8 fich bei der Unterfuchung, daß
die Brüchte leer befunden werden — die Münzen find durch den Beaͤmten, wel⸗
cher damit betraut war, biefelben in der Frucht zu verbergen, entfernt worden.
Eine von den veranftalteten Beluftigungen war fehr einfacher Art. Die
Geftalten verichiedener Thiere waren auf keineswegs unfünftlerifche Weife aus
dickem, fteifem Leder audgefchnitten und auf Die Enden langer Bambusjtäbe ges
ſteckt worden, und Diefe Figuren ließ man auf und abtanzen, während fie auf
einen großen weißen Schirm, hinter welchem ein Brillantfeuer angezündet war,
ihre Schatten warfen. Die Zufchauer bezeugten ihre Freude daran durch Jauch⸗
zen und Schreien. — Diefe Luftbarfeiten wurden einige Tage fortgefegt.
Eine ähnliche Leichenfeier, die eined Sohnes des Königs, fand ftatt, nache
dem wir etwa drei Monate in Bangfof gewohnt hatten, und auch dieſe war von
506 Lader und Volkerkunde.
demfelben Bompe und denfelben Spielen begleitet. Die Einladung an G. war
von dem erflen Könige*) felbft in englifcher Sprache gefchrieben, doch war bie
Ausdrucksweiſe, wie in den meiften Schreiben Sr. Majeftät, ziemlich ungeſchickt.
Faſt alle Fremden der Stadt waren bei diefer Gelegenheit anwejend, und ihnen
zu Ehren war ein Feſt in einem der Pavillons veranftaltet. Cinige von ihnen
unterhielten fich damit, herumzugeben und bie Vorkehrungen zu belaufchen;
zwifchen dieſe hatte fich einer vom hohen flameftfchen Adel gemijcht, der plöglich
einen fchmerzhaften Reiz am Buße verfpürte; un feine Qual zu heben, ergriff er
ohne Zögern ein Meffer von der Seite eined Tellerd und fragte mit demſelben
einige Minuten lang bedächtig das ſchmerzende Glied, worauf er dad Meſſer
faltblütig auf feinen Play zurüdlegte.
Die Ausfchmüdung eines Altars, oder beſſer gejagt, eines Schreines bei die⸗
fer Leichenfeier war höchſt feltfam. Die ganze Blattform und der Schrein felbft
waren mit Blumen und aus Sruchtichalen ausgejchnittenen Thieren bedeckt; bis⸗
weilen war auch die Frucht ſelbſt als Zierrath benugt. ine indifche Eidechfe
fiel beſonders in die Augen und hätte von einer wirklichen, lebendigen Eidechſe
als Bruder begrüßt werden Tonnen — fo natürlich war fie geformt; fie war ans
der Schale einer Waſſermelone gemacht, und die eigenthümlich gelben Streifen
in der Rinde diefer Frucht dienten, die Täuſchung vollfommen zu machen. Das
Beländer um den Schrein war durch riele hundert Eleiner Garaffinen gebildet,
weiche eines umgekehrt auf das andere geftellt und in Fleinen Reihen geordnet
waren, oben anmuthig mit Blumenfrängen umwunben.
— (Household Words.)
*) Die Siamefen haben flets 2 Könige.
Die Hofe, ihre Hefchichte und Arten.
Si. „ tr
— 't—
Wie alle Geſchichte an die Sage anfnüpft, jo auch die Geſchichte der Pflan⸗
zenwelt. Wir fehen regierende Blumengejchlechter aus den früheften Zeiten bis
in die Gegenwart hereinragen, und meinen, daß Poefte und Wiffenichaft gleiche
Rechte haben, ihrem Urfprunge wie ihrer Entwidlung nachzuforfchen, und daß
Beides von allgemeinem Intereffe fein muß. |
Wir betrachten bier das Oberhaupt, die Königin der Blumen, die Moe,
denn in diefem Meiche herrfcht nicht das ſaliſche Geſttz.
Ueber die Heimath der Rofe ift früher viel geftritten worden, Einige be
zeichneten Aſien als das alleinige Vaterland, jedoch ſpaͤtere Forſchungen ergaben,
daß fie faft über die ganze Erde verbreitet ift und jedes Land feine urfprüng-
lichen Sorten hat. Die Annahme, daß fle überhaupt nur den gemäßigten Zo⸗
nen vom 20 bie 70 Gr. NR. Br. angehöre, hat fi auch nicht beftätigt, denn
man hat in Rordamerifa bis zum 75. Gr. N. Br. die Rosa blanda gefunden,
ebenfo wurden unter dem 20. Grad die Rosa Montezuma und in Abyfiinien bie
Rosa Abyssinica gefunden. Natürlich giebt es auch folche Gelehrte, die, um
nicht gegen die Bibel zu fündigen, dreift behaupten, tie Hofe entftamme einzig
und allein dem Paradiefe, und fo wie das ganze Menfchengefchledht von dort
aus fid; über die Erde verbreitet, habe es auch die Roſe gethan.
Mag man darüber denken, wie man will: Thatfache ift, Daß allerdings bie
ſchönſte Rofe, die Eentifolie, ihre Heimath in jenem Himmelsſtrich Hat, wo nach
Ueberlieferung alter Sagen das Paradies gelegen haben foll, alfo im nordweſt⸗
lichen Aſien.
Alle Dichtungen ber Vorzeit befagen, dag die Roſe urjprünglich von weißer
Farbe war ; Anafreon läßt fle aus den weißen Meeresjchaum gleichzeitig mit ber
Göttin geboren werden; als die Götter Anadiome erblickten, träufelten fie
Nectar bernieder, wodurch die Roſen den füßen Duft erhielten. Rach Homer
gab der Nectar ewige Leben, die Roſe empfing es aber nicht.
Auch der Orient, der fonft jo reich an Sagen ift, hat für die Entftehung
der weißen Nofe feine, obwohl erzählt wird, daß das Original des Vertrages,
508 Eulturgefhichte.
welchen Salomo mit den Dichinnen, den Genien des Morgenlandes, abge
ſchloſſen, auf Papier von weißen Rofenblättern mit Safran, Moſchus und Ro⸗
fenwaffer gefchrieben war.
Dichter und Dichterinnen ließen fte je nach ihrer Phantafle eniftehen, und
wie die weiße Roſe das Sinnbild der Unfchuld, ift die rothe das Sinnbild der
Liebe, Die Gelbe das des Neides. Pfeffel erzählt gar finnig ihre Entftehung:
Gieb mir, o Mutter — alfo bat
Cinſt Flora eine faum dem Schooße
Des Nichts entftieg'ne weiße Role, — r
" &ieb mir der Schwefter Incamat.
„Begnüge, Kind, Dich mit der Gabe,
Die ih Dir eingebunden habe.
Der Unfchuld Farbe ſchmückt Dich ja,‘
Sprach Flora fanft. Doc wer befehret
Ein Herz, das Giferfucht bethoͤret?
Sie murrt, fie ſchmollt. Als Flora fah,
” Daß fie die Mutterhuld mißbrauchte:
„Nun wohl!“ rief fie erzürnt und hauchte
Sie an: „So nimm, anfltatt des Kids
Der Unſchuld, das zu Deinem Looſe, |
Was Dir gebührt — die Tracht bes Neids“,
Und fo entitand die gelbe Roſe.
Krummacher erzählt in einer Parabel die Entftehung ber Moosrofe.
Bei den alten Völfern fpielte die Rofe eine durchweg bedeutende Molle, fte
war eine ber Cypris gebeiligte Blüthe, da man annahm, fie fei mit Diefer zu⸗
gleich geboren. Im ihrer unnachahmlich zarten Blätterfülle von burchfichtiger
Weiße und herrlichem Duft, galt fle ald Sinnbild jungfräulicher Reinheit und
geiſtiger Schönheit. Der heimlich Tiebende Jüngling wie die Jungfrau trugen
zum Tempel der Göttin weiße Rofenkränzge. Als aber — fo erzählt die Sage
— die Leidenfchaft der Liebe das Herz der Göttin ergriff, als fle erfuhr, bag ihr
geliebter Atonis von einem grimmen Eber auf den Tod verwundet im Hain von
Paphos liege, da eilte fie, ihrer zarten Füße nicht gedenkend, durch dornenreiche
Rojenbüfche, deren weiße Blumen, von ihrem Blute überfloffen, feit jener Zeit
ſich hochroth färbten. Sie fand ihren Liebling im Sterben, Zeus geftattete ihr,
fein Andenfen durch die Verwandlung in eine Furz blühende Anemonc zu erhal⸗
ten, Adonis⸗Röschen genannt, das jedoch Feine Rofenart if. Man hat Frühe
lings⸗Adonis (falſcher Rieswurz), Sommer. Atonid unter dem Getreide, Herbſt⸗
Adonis in den Gärten blühend.
Nach Herder'8 Paramothie bildet Aylaja die Lilie, Thalia und Guphro—⸗
fine aber weben die hundertblättrige rothe Roſe.
Rach einer anderen Sage entfland biefe bei einem frohen Götterfefte im
Olymp. Amor in raschen, fröhlichen Tanze fich ſchwingend, ftieß mit feinen
-rofenrothen Flügeln eine Schaale mit Rectar um, biefer floß über die im Olymp
blühenden weißen Rofenbüfche, fte färbten fich Dadurch rofenroth und erhielten
den Föftlichen Duft.
Nah einer anderen Lesart iſt Flora die Schöpferin der rothen Rofe.
Die Rofe und ihre Geſchichte. 509
Bon Amor's Pfeil, deffen Liebe fie erft verjchmäht, ichmerzlich getroffen und nun
in heißer Leidenſchaft für ihn entbrannt, und von ihm gemieden, fchuf ſie im
fehnenden Schmerz die Blume: „welche lacht und weint‘ — mit ihren Reizen,
ihren Dornen. „Eros“ will fle rufen, al8 die entzüdende Blüthe ihrer Hand
entiproffen ift — aber jungfräulich ſchüchtern verichludt fie die exfle Silbe —
und nur die legte Sylbe „Ros“ tönt von ihrer Lippe, indem fie zart erröthet
(Maidenbluſch) — und ale „Roſe“ begrüßen alle Blumen des Haines die neus
geborene Schweiter.
Voß läßt die Roſe uber bie Küffe erröthen, die Zeus den Horen geges
ben babe.
Tieck läßt die rothe Rofe aus den Umarmungen der Kiebe, ihrem Sträuben
und Ergeben hervorgehen.
Rapin*) erzählt, daß Apollo die in unheiliger Liebe verfolgte ſchöne Rho⸗
Dante, Königin von Corinth, die in feinen Tempel flüchtete, in einen Rofenftrauch
mit Dornen verwandelte, um fie den Zudringlichfeiten ihres Verfolgers zu ent⸗
ziehen — daher ward fie „Blumen⸗Königin.“
So werden noch mehrfache Paramythien finnvoll erzählt, worunter die ter
ichönen Rofelia auch ganz anmutbig ifl. Nach diefer entftand der Roſenſtrauch
aus der Neue der Artemis, die jene aus Giferfucht tödtete, und den Tihränen
tes Eros.
Die Muhamedaner laſſen die Roſe aus den Schweißtropfen ihres Prophe⸗
ten enffpringen, und die indiſche Sage läßt eine der Frauen des Wifchnu, die
Pagota-Siri, aus einer Hofe geboren werden.
Eine Blume, die, wie die Hofe, in Form, Barbe und Wohlgerudy Alles
vereinte, was es Schönes gab, mußte ſich bald allgemeine Verehrung erringen,
und jo fehen wir, daß Oriechen und Römer bie Tempel ihrer Gottheiten mit
Roſen ſchmückten, dag Lebende und Todte ald Zeichen hoher Verehrung gleichen
Schmud enpfingen. Die Italiener befränzen heute noch ihre Todten mit weis
Ben Rojen.
Auch legte man in früheren Zeiten der Roſe eine Fülle mebicinifcher Kräfte
bei. Oribaftus, Actuarius, Marcellus und Celſus, fo wie Andere, fprechen in
pharmaceutiſchen Schriften davon; die Gegenwart erfennt diefelben nicht an,
doch Hat fie Hinfichtlich ihres Parfüms noch Feine Rebenbuhlerin bis in die neueſte
Zeit aufzuweiſen.
Das Roſenöl ſowohl als das Roſenwaſſer bringt große Summen in Um⸗
lauf und iſt auch heute noch ein ſehr bedeutender Handelsartikel. Das orienta⸗
liſche Roſenöl hat ſich als das vorzüglichfte im höchſten Werth erhalten.
Millionen von Gedichten verberrlichen dieſe wundervolle Blüthe, ja man
kann behaupten, daß e8 feinen Dichter auf Erden gegeben, der nicht zum Preis
ter Roſe jeine Leier erklingen ließ.
Im Palaſt und in der Hütte ift fie ein beliebter Saft. Die erſte Roſe im
*) René Rapin, geboren zu Tours 1666, ein Jeſuit, fchrieb u. a. ein Gedicht
über Gartenbau.
510 ..Gulturgeſchichte.
Lenz iſt die ſchönſte Liebesgabe. Eine getrocknete Roſe auf vergilbtem Blatte im
Buch weckt durch den wunderbaren Duft, den fie Fahre hindurch ſich bewahrt,
ein Meer von Erinnerungen in der Bruft des Beflgers! Cine Mofe auf dem
Grabe eines geliebten Todten ift ung ein Heiligthum.
Die Griechen trugen während der Trauer um Verftorbene Guirlanden von
Noſen um Bruft und Stirn ald Symbol der furzen Dauer des Lebens, das eben
fo rafch dahin welft, al8 die duftige Roſenbluͤthe.
Die Grabmäler und Urnen der Verftorbenen wurden mit Roſen beftreut,
in ber Ueberzeugung, daß fle die Ueberrefte vor Zerftörung ſchützten und den Ab⸗
gefchiedenen angenehm wären. Anchiſes verlangte Rofen, um fie auf dem Grabe
des Marcellus zu entblättern, und Antonius bittet die Kleopatra, fein Grab mit
Mofen zu beftreuen. Limmiad von Theben Ipricht in einem Epigramm auß,
welche Pflanzen das Grab des Sophofles fchmüden follen:
Leif’ umfangt den Hügel des Sophofles, Ranfen des Epheus,
Breitet das grüne Gelock über des Schlummernten Grab;
Rofen, entfaltet den Kelch, den purpurnen; über dem Hügel
Gieße der Meben Geflecht traubenbelaten ſich her;
Schöne Eymbole ter Kunft, die im Chor der bimmlifchen Mufen
Und ver Grgzien einf finnig der Hohe geübt. —
Als Sinnbild der Unfterblichfeit hatte die Rofe die Kugelgeftalt empfan⸗
gen, die, alles Bollkommene entfaltend, Anfang und Ende mit einander vereinte,
und fo Lie Ewigkeit in fich ſchloß. Die Theffalier ſchmückten das Grab des Achil⸗
led mit Amaranthen, ebenfo fpielten Peterfilie und Myrthen ihre Rolle bei Bes
erdigungen, doch hatte die Roſe überall Den Vorrang.
Die Egypter hielten gleichfalld viel auf Blumenopfer; noch heute Tiegt im
RU zwifchen Philae und Elephantine die zum Begräbnißort-beftimmte Infel, die
den Nanıen „Blumen-Infel” führt und nur von den Prieftern betreten werden
durfte — heute wird fle von Engländern und Deutfchen vielfach befucht und
durchforſcht.
Die Römer nahmen an, daß alle Blumen, welche weiß oder hochroth wären,
den Todten bejonders angenehm feien, von den Werth aber, den fie auf die Roje
legten, fprechen aufgefundene uralte Infchriften, welche befagen, daß laut ihres
legten Willens Legate ausgefegt waren, um alljährlich ihre Gräber mit Roſen zu
ſchmücken. Wie die Katholiken Echenfungen machen, damit alljährlich an ihrem
Todestage eine Meſſe geleien werde, fo heißt es mehrfach:
... „Donavit sub hac conditione,
ut quot annis rosas ad monumentum deferant.“
Gr hat es unter diefer Bedingung gefchenft,
Daß fie jährlih Nofen zu feinem Denkmal bringen.
Entehrend war ed, wenn auf dem Grabe Dornen und Difteln wucherten,
e8 bejagte, daß dort ein verhaßter Menich ruhe.
So war die Rofe ſchon im Alterthum da8 Bild der Freude wie des Schnier«
zes. Dſchami legt einer griechifchen Kaijerdtochter das Näthfel in den Mund:
Die Rofe.und ihre Meſchichte. 511
„Nenn' mir die Blume,
Welche lacht und weint,
Und Luft und Schmerz in ſich vereint.“
Derjenige ihrer Sreier, der es errieth, erhielt die Hand der Gefeierten.
Auch erzählt Dſchami, wie in Aflen, in einem alten Königreiche, ein Ges
ſetz beftand, dag wer einer Prinzeffin eine Roje darbrachte, von ihr begehren
fonnte, was er wollte, und fie es unter allen Umftländen gewähren mußte.
Er fnüpft einige Erzählungen daran, die fehr nach Dem Decameron des Bocaccio
ſchmecken.
Auch zierte eine Roſenkrone das Haar der Neuvermaͤhlten, und mit Roſen⸗
blättern war das bräutliche Lager beftreut; bei feierlichen Handlungen fegte man
ſich Rofenkränze auf, fo ward nad) Euripites Iphigenia in Aulis mit Nofen
befränzt zum Opferaltar geführt. War in irgend einen Haufe eine Braut, fo
umwand man die Thürpfoften mit Rofenguirlanden.
Man bewarf fi) auch mit Roſen, und bei den Umgängen der Korgbanten
wurden auch der Statue der Städte befchügenden Cybele weiße Rofen zugeworfen.
Bei gejellichaftlichen Zufammenfünften wurden die Zimmer mit Rofen bes
freut, damit während des Schmauſens ein angenehmer Duft ſtets emporfticge.
Weil jedod auch fchon damald das Sprücdwort: „Wovon das Herz voll
ift, geht der Mund über‘, Ocltung hatte (in vino veritas), fo ließen fich die Alten
bie Rofe vom Amor dem ernften Harpokrates, dem Bott des Stillſchweigens,
zum Gefchenf machen und die Blume dadurch zum Symbol der Berfchwiegenheit
weihen. Als ſolches hing man bei Baftmählern eine Roje über die Tafel, um
durch ihren Anblid daran zu erinnern, daß die oft ſehr Heiteren Tijchgefpräche
nicht weiter audgeplaudert werden follten. Bon diefer Sitte ſchreibt ſich die
Medensart: „sub rosa dietum“ ber, die im Alterthum auch heilig gehalten wurde,
und die man wieder einführen follte.
Suetoniud erzählt von Nero, daß diejer zu einer einzigen Abendmahlzeit
für 30,000 Pfund Rofen Faufte; die Oden des Horaz geben auch Belege, wel«
hen Luxus man damit trieb. Kleopatra, wird berichtet, habe zu einem Bankett
für ein Talent*) Nofen gefauft und von dieſen einen Teppich 1!/2 Buß hoch legen
laſſen. Den Gäften wurden auch Kronen und Guirlanden gereicht, die fle auf's
Haupt fegten oder um den Raden wanden. Der Herr ded Hauſes mußte, fowie
Diejenigen, welche die Säfte bedienten, mit Roſen bekraͤnzt erſcheinen; auch um⸗
wand man die Trinkſchalen mit Blumen.
Anakreon ſagt, daß eine aus Roſen gewundene Krone als Einladung zu
irgend einer Feſtlichkeit angeſehen ward. Auch legten Viele der Roſenkrone die
Eigenſchaft bei, daß ſie vor Trunkenheit ſchütze, und wanden fie deshalb um
die Stirn:
„Copia mihi coronam in caput, assimulabome esse ebrium.“
„Ich ſetze einen Kranz auf mein Haupt, um mir den Anſchein von Nuͤchternheit zu geben.
Andere Zeiten, andere Sitten — heute würden wir einen in dieſer Weiſe
ſich Vekränzenden für entjchieden beraufcht halten.
*) Talent war bei den Alten die Bezeichnung für eine Summe Gelder.
512 CLulturgeſchichte.
Durch die vielen Uebertreibungen aber kam die Roſe endlich in Mißachtung
und galt als ein Bild der Schwelgerei und Weichlichkeit. Den Beleg hierzu
gab der Sybarite Smindirides, der wegen der Falte eines Roſenblattes auf ſei⸗
nem Lager die ganze Nacht nicht ſchlafen konnte.
Ganz im Gegenſatz hatte vordem die Roſe als Sinnbild des Muthes gegol⸗
ten, denn Aelian berichtet, daß, ehe die alten Gallier in eine Schlacht zogen, ſie
ſich ſtatt der Helme Roſenkraͤnze aufſetzten, um ihren Muth anzudeuten.
Als Scipio Afrikanus der Aeltere nach dem Siege über Hannibal als
Triumphator in Rom einzog, trugen die Soldaten der achten Legion, die zuerſt
in das karthaginenſiſche Lager eingedrungen waren, Roſenzweige in den Händen
und verzierten als Zeichen ihres Ruhmes, den fle errungen, Ihre Schilde mit
Roſen.
Auch Scipio Afrikanus der Jüngere gab der elften Legion, die bei der Zer⸗
ſtörung Karthago's zuerft die Mauern der Stadt eritiegen hatte, die Erlaub⸗
niß, ihre Schilte mit Rofen zu jchmüden, auch ließ er den Siegedwagen init
Roſen bektaͤnzen.
So zieht ſich in Ernſt und Scherz ein Roſen⸗Cultus aus den früheſten
Tagen der Vorzeit bis in die Gegenwart herüber, und wer möchte ſich dieſem ent⸗
ziehen? Plinius, der die Roſen zuerft wiflenfchaftlich betrachtete, fagt von
ihr: „ſie wächft auf einer dornigen, mehr Frautartigen Pflanze, ähnlich der
Brombeere.
„Sie hat einen angenehmen, nur in der Nähe wohlriechenden Duft. Die
ganze Blume eniſprießt einem Kelche, der voller Samen fich befindet, in furzer
Zeit anfchwillt und am Ende zugefpigt erfcheint.
„Die Blume wächft, öffnet und entfaltet ſich flufenweife und enthält in der
Mitte ihres Kelches die geraden gelben Staubfäden. Er gibt elf Sorten an,
die man damals Fannte und pflegte:
1. Rosa Praenestine, 2. Rosa Campana, 3. Rosa Milesia, 4. Rosa Trachi-
nia, 5. Rosa Alabandira, 6. Rosa Spineola, 7. RosaCentifolia, 8. Rosa Graeca,
9. Rosa Graecula, 10. Rosa Moncheuton, 11. Rosa Coroneola.
Außer dieſen erwähnt er noch vier geringerer Gattung: Rosa alba, palida,
spinosa und quinquefolia.
Don diefen elf Sorten, fagt er, ift die von Campania die frühefte, Die Roſe
von Pränefte die fpätefte, welche blüht.
Die Mileſiſche Roſe war zart und glänzend von Farbe, hatte aber nur zwölf
Blumenblätter ; fie Fam, wenn die erftere verblüht war.
Die beiden nächflfolgenden waren nur bleicher in der Farbe, die Rosa spi-
nola aber hatte eine große Zahl jehr Eleiner Blumenblätter; fle hatte feinen
Werth, Doch cultivirten fie die Griechen mit Erfolg.
Die Rofe Graeca, bei ten Griechen Lychnis genannt, hatte nur fünf Blu—
menblätter; Plinius fchiltert fie in Geftalt einem Veilchen ähnlich, jedoch geruch«
[08. Die Graecula hatte breite, zu einem Blatte zufammengejchloffene Blätter,
die durch Ten Drud der Hand ſich öffneten. Roſe Moncheuton Hatte der Olive
ähnliche Blumenblätter und wuchs auf einem der Malve ähnlichen Stamme,
Die Rofe und ihre Seſchichte. 513
indeß Die Coroneola eine Herbſtroſe war von mittlerer Groͤße und bie einzig
wirflich duftende.
Die dritte und fünfte hatten ihren Ramen von ihrem Standorte, Milesia
und Alabandira; ſie waren fremden Urfprungs, die erftere aus Miletus, einer
Stadt auf Ereta, die Iegtere fand man zuerft in Alabanda, einer Stadt in Ca⸗
rien in Kleinaften.
Die Trachinia war aus Theſſalien.
Unter ben Gelehrten find nun viele Streitigkeiten, ob und welche dieſer
genannten Binmen wirklich Roſen waren. Gewiß ift, daß die von Plinius bes
nannte Rosa Graeca nicht zu den Roſen gehörte, fondern eine Lychnis (Pech«
nelfe) war, und von den Griechen auch jo benannt wird; ihrer fchönen Farbe
wegen ward ſie vielfach in Kronen eingeflochten und erhielt deshalb den Ramen
„Lychnis Coronaria.“
Die Rosa Canina zählt Plinius nicht zu den benannten Sorten, doch hatte
fie in Rom viel Geltung ; die Blätter des Strauches, fagte man, trügen den Abe
brud eines Menjchenfupes. Theophraſtus fagt von ihr: „‚fle trägt rothe Früchte.”
Es ift unfere Heckenroſe, die durch ganz Europa wild waͤchſt; durch ten Stich
eines Infektes bekommt fte einen Auswuchs, Fungus Cynosbati, aud) Roſen⸗
ſchwamm benannt, er ward in früheren Beiten mediciniſch, namentlich als zu⸗
fammenziehendes Mittel und zum Gurgeln benutzt. Wir finden bei näherer
Unterfuchung in diefem ſtachlichen Auswuchs den Wurm Cynips rosae, Plinius
eitirt auch Beiſpiele, Daß die Wurzel der Rosa Canina ein Heilfames Mittel gegen
den tollen Hundebiß fei.
Die von Iheophraftud angegebenen vier Sorten reduciren ſich auf zwei
Rofaceen nach unferem heutigen Begriff über Roſen. Einige Gelehrte haben
fogar beftritten, Daß Theophraſt jemals Roſen gefehen habe, fo ungenau fei feine
Befchreibung berfelben.
Bon den berühmten Rofen von Päftum erwähnt Plinius nichts, und doch
haben die römifchen Dichter gerade biefe zweimal blühenden Rofen befungen.
Virgil, Martial, Ovid und Andere haben fle verherrlicht; Letzterer fagt:
Nec Babylon aestum, nec frigora pontus babebit, _
Caltbaque Paestanas vincet odore rosas.
Farbe und Duft feheinen gleich herrlich gewefen zu fein, auch müffen fie
in üppiger Bülle um Päftum geblüht Haben. Wir befigen Feine fpecielle Bes
fchreibung dieſer Roſe, einige haben vermuthet, Plinius habe Die Campaniſche
Roſe damit gemeint, doch ift das nicht erwielen.
Die wilde Roſe, welche jegt noch zwifchen ben Ruinen von Päftum wächft
und dem Reifenden von den Wundern der Vorzeit erzählt, ift eine einfache Da⸗
mascener Rofe, die im Srühling und Herbſt voll des füßeften Duftes und Helle
farbig blüht. j
Seume, der 1802 dort war, behauptet, Feine Rofen dort geſehen zu haben,
und erzählt, daß er feinem Fuͤhrer gerathen Habe, dort Rofen anzupflanzen, das
würde ihm einen Piaſter Einnahme verfchaffen.
IV. 33
514 Culturgeſchichte.
"Dagegen fingt Matthiffen: 00000 — —
„Gleich Päftum’s Roſen duftet und blüht der Kran 4
mt er Den Deine Stirn beſchattet u) im > wre
Auch ſchon zu Plinius’ Zeit eultivirte man Rofengärten wie heute bei ums,
Die Rofarieen, jagt er, werden im März und April umgegraben und für
den neuen Zuwachs empfänglich gemacht. Die bebeutenbften Rofarieen befan-
den fich um Paͤſtum. Auch wurden Die Nofen häufig aus Samen aufgezogen,
das Wachsthum aber, bemerkt Theophraftus, währt deshalb fo lange, weil ber
Same innerhalb der Rinde unter der Blume eingeſchloſſen liegt, er raͤth daher
zur Anpflanzung von Stecklingen. — .—
Dieſe wurden vier Finger lang geſchnitten und-im Aprik eingefeht; nach
Jahresverlauf aber einen Buß breit von einander verpflangt, —
Gig aufgelockert. era “ri
Bill man ſie früher als gewöhnlich zur Blüthe bringen, Fagt Print, fo
begiepe man fie mit warmen Wafler; er gibt die Entwidelung des Kelches ala
die günftige Zeit hierzu am. Man pflanzte fie, indem man Rofenwurzeln in
Kränze wand, damit fie Tcbendige Blüthen trugen in Zöpfen, mehr aber noch wur⸗
den fie in Körbe gepflanzt: täglich zweimal mit erwärmten Waſſer begoflen,
meint Demofritos, fo blüht die Rofe im Januar. Dagegen behauptet Floren⸗
tinus, daß, wer eine Roje auf einen Apfelbaum pfropfe, die Freude haben werde,
fie im April blühen zu feben, genau zur Zeit ber Apfelblüthe, vırnad
Auch hatten die Alten die Gewohnheit, Nofenbäume berunterzufchneiden
und zu verbrennen, wodurch, wie fie annahmen, fle im mächften Jahre reichere
und fchönere Blüthen brachten. Auch follte der Duft der Roſe erhöht werden,
wenn in ber Nähe des Nojenftodes Knoblauch wachſe. Die Sympathie und Antis
pathie der Pflanzen zu einander ift auch von ihnen beobachtet, fo a. Be, daß eine
fränfelnde Orange Durch eine ihr nahe gepflanzte Eypreffe genefe, und umgekehrt.
Fruͤhzeitig im Jahr Roſen zu haben, hatte hohen Werth, umd wurden biefe, wie
heute bei und, für hoben Preis verkauft, denn, heißt ed im Material; 1
„Bara jovant: primis sie major gratia pomis, j
Hibernae pretium sic meruere rose.
„Seltenes beliebt: fo wirt mehr Gunſt den frühen Aepfeln,
So empfangen bem Preis, Rofen im Winter gepflüdt.”
Auch ein Epigramm des Krimagoras befagt, daß er feiner Gattin Rofen
im —— darbrachte, er ließ dieſelben alfo ſprechen
„Vormals blühten im Renz die Mofen nur; mitten im Winter
Dringen aus hüllendem Schooß jego die Knospen hervor,
Dir entgegen zu blüh'n. Wir lächeln dem frohen Geburtstag,
Und dem andern, der Dich Deinem Gemahle gebracht.
Denn das göttliche Haupt des fhönften der Meiber zu ſchmücken
Dünft uns beffer als Dich, Sonne bes Frühlings zu fhau'n,“
In Berfien hatte man auch große Nofenfelder, und noch gegenwärtig fell
es dort Sitte fein, zur Zeit der Mofenblüthe ſich mit Roſen zu beiwerfen, Bei
diefem fogenannten Rojenfeft durchziehen junge Leute, meiſt Gaukler, die Straße
—
Die Roſe und ihre Geſchichte. 515
und bewerfen Alles, was ihnen begegnet, mit Rofen; der davon Betroffene muß
ihnen dafür etwas fchenfen.
Reizend follen die Fefte auf den griechifchen Infeln bei den Chioten jein.
Murhard in feinem „Gemälde des griechifchen Archipelagus“ berichtet ausführ⸗
lich darüber. Dort blühten die fchönften Nofen, die er jemals gefehen. In der
Türkei und im jüblichen Rußland, unfern den Ufern des fchwarzen Meeres, ficht
man ganze Felder mit Rofenbäumen bepflanzt; man nügt diefelben, inden man
dort das gerühmte Del bereitet, das einen fehr erheblichen Handelsartikel bildet.
Die Rofenwälder find jo praftiich angelegt, daß ſtets ein Kaſtanien⸗ oder ande
rer höherer Wald diefen zum Schuß dient.
Dalaway erzählt in feiner „Reife nach Conſtantinopel“, daß er im Dorfe
Belgard, am Bosporus, der Hochzeit zweier griechiſchen Bedienten des preußi⸗
ſchen Geſandten beiwohnte; nach der Trauungsceremonie mußte jeder Gaſt der
Braut ein Geſchenk in den Schooß werfen, dafuͤr reichte ſie jedem eine Roſe, die
mit Flittergold umwunden war und auf einem Zettel die Worte enthielt:
„Gehet hin und thuet desgleichen.“ Auch wuchſen nach alten Urkunden die
ſchönſten Roſen unweit dem heutigen Patras. Megara, Niſäa und Tenedos
waren ebenfalls ihrer Roſen wegen berühmt. Ebenſo die von Magnefla, einer Stadt
in Lydien, von den Türfen jegt Gyſel Hifar oder „das jchöne Schloß‘ genannt.
Cyrene war nach Blinius, Egypten nach Herodot feiner Hofen wegen berühmt ;
Letzterer fpricht von den Gärten des Midas und fagt, daß dort gefüllte Roſen
wild wüchjen und füßen Duft aushauchten. Dort follen fte zwei Monate früher
in Blüthe getreten fein, ald in Italien, und dennoch bis in den Herbft hinein
geblüht haben. Man feßte oder zog vielmehr Rofenftämme durch alte hohle
Baumftämme, oder auch durch hohle Marmorvajen in den Gärten, namentlich)
t
in den Vividarien, und trieb die mit Taufenden von Knospen gefchmückte Krone .
alsdann zur Blüthe,
Im AltsHebräifchen foll der Rame „Roſe“ gar nicht vorfommen und man
will Luther hiernach mehrfache Fehler in der Ueberfegung nırchweifen. Salomo
fol 3.8. nie das Wort „Roſe“ nennen, das Luther dafür gibt. Gewiß ift es,
daß die Ifraeliten die Roſe Fannten, jedoch unter welchem Namen ift unbefannt.
Eine Menge Blumen befanıen in früheren Zeiten blos ihrer Farbe, ihres Duftes
oder ihrer Lieblichfeit wegen den Namen „‚Rofe”, ohne daß fle nur das Ges
ringfte mit diefer gemein Hatten. So z. 3. Adonisröschen, Herbſtroſe,
Maienröschen, Guftroje oder Bubenroſe (paeonia oflicinalis), und andere derar⸗
tige Blumen.
Zur Vermehrung ber erften Roſenſtaude und ihrer Varietäten trugen bie
Züge in’d Ausland, welche die alten Römer unternahmen, das Ihrige bei.
Sie brachten die verfchiedenften Sorten nad Italien. Als jpäter zur Zeit
des Chriſtenthums fich Klöfter conftituirten, traten die Mönche ald Gärtner auf
und pflegten in ihren Gärten Nutzpflanzen; zu diefen gehörte auch die Roſe, die
in der Heilfunde feine unwichtige Rolle fpielte und das Hauptingredienz vieler
Mittel war.
Die Kreusfahrer brachten aus dem gelobten Lande Die Rosa Damascena mit,
33 *
516 Culturgeſchichte.
welches die größte aller Roſen iſt und aus Syrien ſtammt, zumal bie große dunkel
carmoifinrotbe, die in der Mitte das gar * AD EN fo gleichſam
ihre eigene Sonne trägt. . N u Fur '
Die Nofaceen gehören in die fe Drang Yryöfen Gef, A hem
haaren befleidete Samenförner befinden fich an der inneren Wand berbeerenartig
gewordenen Kelchröhre. Strauch und Baum tragen häufig unpaarig geftederte
Plätter, die wie ausgefägt find, Die Roſen haben. einen zufammenziehenden
Geſchmack, ihr fleifchiger Kelch —— iſt ſaftig, MT mei⸗
ſten wilden Nojen geniepbar, Kr ?3..
Voſſe nennt 26 Grundforten, von — unjehl son Yen u
Hybriden entitanden find. Diefe bezeichnet er:
1. Rosa alba, die weiße Roſe, bie in Sitten and Orten
beſonders heimisch ift. Sie blüht im Juni. | *
2, Rosa alpina, europäiſche Alpenroſe, tief — blüht im Wat und
Juni auf den Schweizerbergen, ähnlich unſerer Heckenroſe und nicht mit der Als
penroje, dem Rhododendron oder Nofenbolz, das auch hoch oben auf den Alpen
waͤchſt und von Neifenden als „Alpenroſe“ mitgebracht wird, zu verwechfeln,
Lebrun gab in dem Taſchenbuch Penelope vom 3. 1821 ihre —— -—
einer Erzählung, die am Thuner See fptelt.
9% Rosa Banksiae, Banksroſe, in China heimifch, ohne —
feinem Theegeruch, fie blüht im Mai und Juni. Äh
„#4 Rosa berberifolia, Berberigenrofe, in Berften heimifch, blau⸗grau⸗
grüne Blätter, glänzend gelbe Blumenblätter, am Grunde der Krone vor
gefärbt, * im Juli und Auguſt.
5. Rosa Banda, Labradorroſe, Hudſonsbahroſe, blüht im Sommer; ih
Heimathland ift Nordamerika, obne Dornen, von dunfelrotber Farbe.
6, Rosa brasleata, beblätterte Roje, aus China, blübt im Sommer,
7. Rosa canina, Hecken- oder Hundsroſe, ihre Heimath ift ganz Deutſch⸗
Tand, blüht im Juni,
8, Rosa carolina, in Norbamerifa mit rorbbraunen Aeſten, ftarfen
Dornen, blüht im Sommer,
'9, Rosa centifolia, Gunbertbtäitrige Gartenrofe, Berfien entftammend,
foll auch am Kaufafus und in Macedonien wild wachſen, blübt vom Juni bis
Auguft, gehört zu der fchönften und duftreichſten.
10. Rosa einnamomea, Zlmmtrofe, die Stengel braum, blüht im Dei,
in ganz Sid-Europa heimisch.
I1. Rosa damascena, Damascenerrofe, Ihr Vaterland ift Syrien,
mit 2—20 in Büfchen ftehenden, roth gefüllten Blüthen prangt fie im Juni.
12. Rosa eglanteria, Fuchsroſe in Süd-Europa, blüht im Mai und
Juni, die Stengel bräunlid, 3—4 Fuß hoher Stamm, die Blume riecht nach
Manzen, die Blumenblätter find von aufen gelb, von innen purpurroth.
Die Rofe und ihre Geſchichte. 517
13. Rosa gallica, franzöfliche Rofe, Provinzrofe, im ſuͤdlichen Frank⸗
reich Heimifch, blüht im Juni. Auch Eſſig⸗ oder Zuderroje genannt, ihre ſehr
dunfelrorhe Blüthe wird getrodnet unter dein Namen Flores rosarum rubrarum
in den Upotbefen aufbewahrt, man mijcht fle Flein gerieben in dad Räucher-
pulver.
14, Rosa indica, indifche Mofe, btäht im Sommer, in China bat fie
ihre Heimath.
: 15. Rosa lucida, glänzende Roſe aus Nordamerika, auf hoher Staude
3—4 Fuß hoch.
16. Rosa microphylla, Mleinblättrige chinefifche Rofe, blüht im Som-
mer und Herbſt.
17. Rosa moschata, Biſamroſe, ihr Heimathland ift die Verberei,
blüht im Herbſt. Stengel 5—10 Fuß hoch, glatt und grün, bifamartig buftent.
In Nordafrika wie in Aflen wird fie befonderd wegen des vortrefflichen Roſen⸗
oͤls, das fie Liefert, fpeciell gepflegt.
18. Rosa multiflora, vielblumige Rofe, ihr Heimathland ift Sapan,
blüht vom Mai bis September, Stengel 10 — 15 Buß hoch und noch darüber,
mit gefrünmten Dornen. Hat zahlreiche lange Aeſte, die fie Hin und her biegt,
ſchlingt fich felbft wie zu Guirlanden in reichen Blüthenbüfhheln, zu Lauben und
Decorationen vortrefflich.
19. Rosa parviflora, Eleindlumige Roje, aus Nordamerika, bluͤht vom
Juni bis Auguſt.
20. Rosa pimpinellifolia, pimpinellenblättrige Roſe, in Süd⸗Europa
wie in England und Schottland heimiſch, 2—6 Fuß hoch, kurze ſteife Aeſte,
blüht im Juni.
21. Rosa rubigniosa, Weinrofe, in Deutjchland Heimifch, blüht im
Juni, 6—8 Fuß hoher Stamm, hafenartige fcharfe Dornen. Die Drüfen haben
einen Apfelgeruch; die Landleute jammeln die jungen Blätter ein und trinfen fie
al8 There, der eine die Nierenthätigkeit fördernde Wirkung hat und nicht fchlecht.
ichmedt. Die Sage geht von ihr, fle Habe ihren Duft und die röthlichen Blaͤt⸗ |
ter in dem Augenblick befommen, als Maria an einem folchen Strauch dic Wine
deln des Jeſuskindes zum Trodnen aufhing.
22. Rosa sempervirens, immergrünende Rofe, in Süt-Europa, blüht
im Juni und Iuli, ift 10 — 15 Buß hoch, mit glatten, grünen, Fletternden Aeſten,
Blüthen blafroth.
23. Rosa sulphura, Schwefelrofe, auch gelbe Gentifolie, fte ift un
aus dem Orient überfommen, 6—8 Fuß hoch, brauner Stamm, blüht im Juni.
24. Rosatomentosa, filsige Rofe, blüht in Europa überall vom Mai
bis Juli, A—5 Fuß hoch.
25. Rosa turbinata, feeifelförmige Rofe; Tapetenrofe, blüht in Deutjch-
land im Juni und Juli, 5—6 Fuß hoher Stamm.
26. Rosa villosa, zottige Rofe, Pelzrofe; Hagebuttenroſe. Ueberall
in Europa zu finden, blüht vom Mai bis Juli, 6—7 Fuß hoher Stamm, fat
baumartig ftarf; fie wird am Häufigften oculirt und gedeiht vortrefflidy Sie
518 Culturgeſchichte.
macht die höchſten Triebe aus der Wurzel. ee
ihre Frucht als Heilmittel bei der Muhr, are 2
Mir diefer Anzahl find jedoch die Grunbforten wohr ad ruf,
denn es werben ſich in fernen Zonen immer noch wieder ſolche finden, die man
dahin rechnen müßte, doch wollen wir, bei dieſen ftehenbleibend, nur hinzufügen,
daß biefe bereit? Hunderte von Varietäten erzeugt hat und in's Unzählbare
vermehrt worden ift, da fie gegenfeitige Befruchtung annehmen, theils Durch
den Wind, durch Inſekten ober durch bie Hand —
Wege.
Botaniker und Liebhaber gehen bei der Blumencultur oft weit *
der Rebtere fümmert fich wenig um bie rein botanifche Verwandtichaft, baber
entſtehen oft andere Gintbeilungen, die nicht auf die wilfenfchaftliche
im Syſtem, fondern auf die Behandlung der Sorten ſich baftrt. |
Die für Liebhaber von Nofen einfachfte Eintheilung ift daher die: r.
1. Sande oder Gartenrojen., | .„
2. Topf» oder immerblübende Monatörojen. |
3. Spbriden oder Baftarbrofen, durch en m der Bee een Gen
entjtanden. Hierzu kommen: > m
1a. Strauchartige und | 4
b. Rankende. 2
Die Strauchartigen werden in folche geteilt, die blos —** oder —
Male blüben, dies find die Remontanten.
Die Ranfenden zerfallen wieder in vier Claſſen:
2a. in inbifche oder bengalifche — —
b. Theeroſen. |
c, Noifettenrofen. on
d. Bankfiarofen.
3. Dieſe dritte Claſſe zählt KLand-Hybriden und —— ſie geht
in's Unendliche in ihren Varietaͤten.
Einige haben gemeint, es ſei nicht richtig, die Roiſette zu einer beſonde⸗
ren Abtheilung zu machen, da fie eine Hybride, jedoch ift ihr eine fo reiche Blüs
tbenftellung eigen, daß fie darum wieder ald ein Befonderes heraustritt. Der
Streit bierüber wird ſich wohl noch Jahrzehnte durch Liebhaber und Botaniker
bindurchziehen.
Den Namen Noifette verdankt fie dem ald Gärtner und befonders ala
MRofenzüchter berühmten Manne gleichen Namens, der die in Bouquets, man
könnte auch jagen in bafelnufartigen Büſcheln reich blühende zierliche Roſe
zu Ehren feines Bruders, der fie ihm aus Nordamerika zugefandt batte, alfo '
taufte.
Frankreich bat e8 fidh überhaupt zur Aufgabe gemacht, den Roſenflor dur
befondere Gultur zu verberrlichen. England, das jo groß in der Garienfunft
dafteht, bat Winfichtlich der Nojen das nicht geleiftet, was Frankreich dafür ge»
than, und es ift wunderbar, daß viele in Frankreich erzeugte Hybriden erft in
England zur höchſten Entwidelung kommen, Was hierin das wirffame Mo-
Die Roſe und ihre Geſchichte. 519
ment, ob Klima, Erde ———— nit * aaſanmen — iR noch
nicht erforſcht.
Der Franzoſe iſt ſpecieller Blumenliebfaber, er Hatıbab aut: den Südlin-
bern überhaupt gemein; er ſchmuͤckt fich germ mit Blumen, In England denft
man nicht ſowohl an den Schmud der Perfon, wie an den — ae
den Topfpflangen, beſonders Eroten, viel gehegt und gepflegt.
In Brankreich hat die Rofe in anderer Weife ihr orig Wenn, wie
in England,
Wer kennt nicht die 1323 in Toulouſe geftifteten „jeux — die von
Clemenee Iſaure im Jahre 1484 durch reiche Schenkungen neu belebt wurden.
Auch trugen bie Damen in Frankreich im 13, Jahrhundert Rofenfronen,
die man Chapel nannte, Die Tracht war fo allgemein beliebt, daß eine ganze
Handwerfeinnung in Paris fih danach „Chapelliers“ nannte, da ſie fich ledig.
lich mit der Anfertigung biefer Kronen befchäftigte, Konnte der Vater feiner
Zochter auch Feine Ausftener geben, jo war er doch verpflichtet, ihr wenigftens
den Ehapel zu fchaffen, den bie Bräute binterwärts auf dem Kopfe trugen. In
Folge diefer Sitte nannte man aud) die Fleinen Gefchente, bie man bei der Ver—
mählung der Braut machte, Mojenfrängchen oder Sträufhen.
Auch fanden damals die Roſen in Frankreich in fo hohem Anſehen, daß
in vielen Städten es ald ein beſonderes Vorrecht galt, in feinem Garten fich
Roſen ziehen zu können; dieſe Familien aber mußten am DreisKönigäfefte dem
Magiftrate drei Nofenkronen fenden und am Himmelfahrtötage einen Korb voll
weißer Rofen, von welchen das Damals noch ſehr theure Roſenwaſſer bereitet
ward, das als jchönfte Würze an füße Speijen genommen wurde.
Arnaud de Billeneuve wollte, daß das Roſenwaſſer das einzige Gewürz
fein follte, dad man an Efwaaren mifche; daß alles Geflügel nur mit Wein,
Salz und Roſenwaſſer gebraten werden jolle. Auch fanden Abgaben von Rofen-
büſchen flatt. Im 14, Jahrhundert wurbe es im franzöfifchen Parlament
Sitte, daß wenn ein Pair einen Proceh hatte und vorgerufen warb, er ben
PBarlaments:Mitgliedern Roſen überreichen mußte. Dieje Verordnung nannte
man „‚Baill& de roses““, und das Parlament hatte einen eigenen Mofenlicfe-
ranten, der ben Titel „„Rosier de la Cour“ führte. Zwei Stunden von Paris
war ein Dörfchen, das fich ausſchließlich mit der Roſencultur befchäftigte,
von dorther bezog er feine Mofen; der Ort beißt heute noch Fontenay aur roſes
Im 16. Jahrhundert hörte diefe Sitte. einer Rangftreitigfeit wegen im Parla:
mente auf, und bie Nofen kamen ganz unfchuldiger Weiſe nun in joldhen Miß—
erebit, daß die Juden als befonderes Abzeichen eine- * auf der Bruſt tragen
mußten.
Schon im Jahre 530 hatte der heilige Medardus, Bifchof zu Nayon, zu
Salench ein Feft geftiftet, bei welchem ein Tugendpreis gegeben ward. Das feis
nen Eltern geborfamfte und frömmfte Mädchen des Ortes ward mit einem Kranze
von Mojen gekrönt. Medardus hatte die Freude, in der Kirche zu Salench fei-
ner eigenen Schwefter diefe Blumenkrone reichen zu können und fe zur Roſen⸗
jungfrau zu weihen,
520 Culturgeſchichte.
Auch im Italien, in Treviſo, feierten die Einwohner ein eigenthumliches
Rofenfeft. Man errichtete mitten in der Stadt ein Kaftell, —
a Teppichen und jeidenen Ballen gebildet wurden. -
Die vornehmften Jungfrauen der Stadt verteidigen: bie Bee) "be von
— und edelſten Junglingen angegriffen wurde. Man bombar-
dirte mit Aepfeln, Muscatnüffen und Mandeln, das Belotonfeuer geſchah mit
Lilien, Natziſſen und Beilgen, ganz Gefonders aber mit dem flamınenden Ge—
ſchoß der Rofen. add ud
Auch gab mar Salven vom wohlriehendem, namentlich von Rofenwaffer,
das Durch Sprigen von beiden Seiten abgefeuert wurde 0.0
Zu Taufenden umlagerten, von Rah und Bern herbeiftrömend, bie Zus
ſchauer — — — ſich ber Jüngling hier feine
—
Ani "AnEl ) 17 1a’) u) run wtna
. Kalfer Briceic ber Beier ehun, rg
—B——— babe. au id aut due ur
Auch ſind in Frankreich die: Roſenſeſte — von Malherbes oft ge—
nannt, woran ſich auch eine Ausſteuer des tugendhafteſten Maͤdchens knipfte.
In Deutſchland finden ſich auch ſolche Uranflänge der Roſenverehrung im
Mittelalter vor. In dem feiner Zeit Aufjehen machenden „Heldenbuch“, einem
Roman, als deſſen Verfaſſer man Seinrih von Ofterdingen nannte, nimmt
„ber Rofengarten zu Worms‘ eine Hauptſtelle ein, Es heißt darin, daß, nach
dem blutigen Kampfe mit der Riefen-Pringeffin, Chrimhilde jedem ber fiegbaften
und ihren anderthalb Meilen breiten, mit einer Mauer von‘ einem ſeidenen
Baden umgebenen Rojengarten jchügenden Ritter, einen Roſenkranz und einem
Kuf zum Lohm verheißen habe. Hildebrant nimmt den Kranz, verſchmäht aber
den Kuß; der Mönch Dlfan dagegen, der auch umter den zu belohnenden Rit-
tern war, iſt mit Einem Rofenfranz und Kuffe nicht zufrieden , fondern verlangt
für feine zweiundfünfzig Klofterbrüder eben ſo viel Kränze und Küffe, bie er,
nachdem er mit zweiunbfünfzig Nittern gekämpft und fie bejiegt bat, auch empfängt.
Mitte des vorigen Jahrhunderts hatte der Geheimerarh umd Kanzler von
Kertelhodt zu Rudolftabt auf feinem Gute Lichftedt zur Belohnung von. junge
fraͤulicher Tugend ein Mofenfeft eingefegt, nach dem Mufter des zu Säleney ges
füifieren, Zum Roſenmädchen ward die chrenweribefte Jungfrau des Dorfes
auserwählt, den 4. Juli in Prozeſſton zur Kirche gefüber, welches zu Lebzeiten
des Stifters der damalige Erbpring von Schwarzburg-Nudolftadt einige Male
jelbft gethan hat ; fie ward vor dem Altar mit Roſen befränzt und erhielt awans
zig Thaler zum Gefchenf, ein laͤndliches Feſt ſchloß ih daran. - Göcking befang
einjt eine ſolche Nofenmaid. Die Rofenfpiele, das Knallen mit den Blättern
iſt auch vielfach beliebt gewefen und von jungen Leuten Togar ſchon zu Theo⸗
krit's Zeiten ausgeführt worden.
Die Gebetſchnur, die Roſenkrange⸗ genannt wird, iR von Dominlens de
Gusman, dem Stifter des Dominicanerordens, eingeführt. — Welches die Ver⸗
anlaſſung geweſen, dieſe Perlſchnur ſo zu benennen, iſt unbekannt, doch ſcheint
eo, als ſei dieſer Name adoptirt, denn die aſiatiſchen Volker der lamaiſchen Nez
Die Rofe und ihre Geſchichte. 521
ligion, fo wie auch die Türfen bedienen fich folder Schnur und nennen fle auch
Roſenkranz; die Kügelchen find bei diefen gewöhnlich aus Heiliger Erde (vom
Mekka oder Medina) geformt.
Die Roſenſammlung des Luxemburg⸗Garten ſtammt auch von dem beſon⸗
deren Intereſſe, das Frankreichs gekrönte Häupter an dieſer Blume nahmen. Er
iſt jetzt der Stammort von ungefähr zweitauſend Roſenſorten, die man dort hegt
und pflegt. Alte und neue Sorten werden dort jährlich auf ungefähr dreißig⸗
bis vierzigtaufend Wiltlingen erzeugt, die alsdann verctelt in Umlauf kommen.
Ein Garten ohne Rojen gilt kaum für einen rechten Gurten, auch ift dic Kuls
tur in Frankreich, wo der Winter felten ftrenge ift, von feiner Schwierigkeit.
Hinſichtlich der Anpflanzung find die Gelehrten auch im Streit, einige
jagen: „Nur im Herbſt ift die Anpflanzung förberlich‘‘, andere halten nur das
Frühjahr für geeignet dazu, beide Methoden find gut, wenn die richtigen Ber
dingungen vorhanden find, zu denen Boden, Witterung und alles in Betracht
Kommende genau objervirt fein will,
Die ranfenden Rofen: Rosa multiflora, fo wie bie Rosa capreolata oder
scandens eignen fich herrlich zu Spalieren, Lauben, Bogen, Säulen ıc., doch
müffen dieſe forglicher behandelt werben, da fle leichter erfrieren ald alle andes
ren Eorten. Man umwinde fle mit Stroh ober binde fle.ab und Tege fle an die
Erde, wo man fie mit Raub beteden Fann.
Das Befchneiden der Rofen tft von der größten Wichtigkeit, eben fo wie
bei der Weinrebe, das Meffer muß ohne Barmherzigkeit feine Schultigfeit thun,
will man wirklich ſchöne und fräftige Blüthen befommen. Leichte Erde ift dem
Roſenſtock die förderlichfte, hierzu die Unlage von Kompofthaufen jehr zu em⸗
pfehlen.
Zweige, die oeulirt worden find, werben, jo wie daß eingeſetzte Auge ſich
zu regen beginnt, einen halben Zoll oberhalb der Operationsſtelle ſcharf abge⸗
ſchnitten und dieſe neue Wunde mit Baumwachs verklebt. Das Propfen iſt
zwar auch nicht ſchwierig, jedoch ſelten fo dankbar als dag Erſtere. Man pfropft
entweder in den Spalt oder in die Rinde.
Kopulirt wird bei Roſen jeltener, nur "bei weicheren Sorten gifchieht ed,
j0 3. B. wenn Theerofen auf Monatsroſen aufzufegen find.
Zum Veredlen überhaupt laffen fi) zwar alle harten Roſen verwenden, am
zwedmäßigften ift jedod; die Rosa canina und villosa, Die man in der Wildniß
auffucht; fie wird aus Waldungen oter Gehegen auögegraben und in die Gär«
ten oter in Töpfe eingepflangt.
Aweijährige Stämme find die beiten, ältere wachjen jchwer, jüngere er»
frieren leicht. In Branfreich ift auch Die Ausfaat von Samen, um neue Sor⸗
ten zu erzielen, jehr an ber Tagesordnung und wird in großartiger Weile ber
trieben,
Ein befannter Nojenzüchter in Bern, Obrift von May, empfiehlt zur Aus⸗
faat vorzugöweife reifen Samen von jchönen Sorten, und bejonderd den von
Avignon, welchen er als den vorzüglidhften befunden hat. Das Verfahren
giebt er folgendermaßen an:
522 0 Enlturgefchichtee
„Nachdem der Same aus der Hülſe genommen, laſſe man, ihn in lauwar⸗
— das mit Chlorkalk geſattigt iſt, vierundzwanzig Stunden lang
weichen, che man ihn für. Nach zwei bis drei Wochen keimt die Saat, bie
Pflänzchen fchießen auf. Im Laufe des Sommers verfege man biefe in einzelne
Töpfe und überwintere fie an einem frofifreien, jedoch nicht warmen Ort." Je
Länger man alddann bie Blüthe zurüdhält, die Knospen immer-abbricht, deſto
ſchöner blüht er Im zweiten ober britten Jahre. Die aus Samen gezogenen
Nofen find gewöhnlich Bourbon⸗, Thees oder Bengalifche Roſen.
Daf die Schöneit auch ihre Feinde Hat, fehen wir täglich — bei der
Roſe ift e8 ein Hleined grünes Infekt, bie Roſenlaus; auch die braune Schilb-
laus heftet fich am ihre Stele und werfucht es, ihre Dafein zu trüben und ihr das
befte Mark auszufaugen. Mäuchern mit Tabaf, auch Anjprigen mit *
tinktur iſt anzurathen.
Ein anderer Feind iſt Cynips rosae, er legt feine Eier unter Die Sant
junger Triebe, ſie bilden jenen im Gingange bejprochenen Roſenſchwamm.
Schließlich giebt es auch einige Naupenforten, bie die Roſen ganz fpeciell belä-
fligen — gegen alle diefe grimmigen Feinde hilft bie — und vilegenbe
Hand und das ſcharf blidende Auge des Liebhaberd.
Schließlich möge noch einiges über die Vereitung des — He Bing
finden,
Daß die Nofe zu den Blüthen gebört, die den bürftigften Oefgehatt —
ſitzen, iſt bekannt, daher der Preis des echten Roſenöͤls nie ein Sinken erfahren
wird, In Gazepur find die großartigſten Roſenfelder, die Büſche ſtehen reihen
weije neben einander, bie am frühen Morgen erblühten Rofen werden abge
jchnitten und in thönerne Blafen geſchüttet, worauf doppelt jo viel Waffer ge=
goffen wird, das vierundzwanzig Stunden beftilliren muß. Alsdann wird das
Waſſer in weite offene Gefäße gegoſſen, die forgfältig mit weißen Tüchern über«
hangen, vor Staub gefchligt werden. Nach Verlauf von wiederum vierundzwan⸗
zig Stunden hat fich ein dünnes Fetthäutchen darüber ausgebreitet, dieſes wird
mit der Fahne einer zarten Feder forgfältig abgenommen, liefert aber kaum einen
Tropfen Del. Man jagt, zwanzigtaufend Roſen find zu einem Rupiengewicht
Del erforderlich, das ſiebenzig Thaler koſtet.
Meines Roſenöl iſt daher höchſt ſelten im Handel. Das, was auf den
indiſchen Markt gebracht wird, iſt mit Sandelholz- oder anderen feinen Oelen
gemifcht; fo fommt e8 auch nach Europa. Was wir ald Roſenwaſſer, Pfeffer
muͤnz⸗ oder Lavendel- und Orangenwaifer befommen, ift Waffer, das mit einem >»
Minimum diefes Deled durchzogen iſt und in den Apotheken, wie in den Küchen-
faboratorien viel verbraucht wird.
Die Türken und noch mehr die Ehinefen haben andere Bereitungsarten.
Die Türken gießen 3. B. ein und bafjelbe Waffer immer wieder auf frifch ge
pflüdte Nofenblätter, bis fid) endlich eine ftärfere Delhaut über das ganze flache
Gefäß gebilder hat und fie gewiß find, einge Tropfen reines Del zu gewinnen,
Die Ehinefen dagegen weichen die Sejumförner der Sefampflanze auf und
dörren fie dann wie das Malz. Alsdann werden fie mit frifchen Roſen geſchich⸗
Die Roſe und ihre Gefchichte, 523
tet und ſtark befchwert. Nach vierundzwanzig Stunden nimmt man frijche
Mofenblätter und thut folches fo lange, bis die Körner von dem Saft der Ro⸗
fenblätter ganz aufgequollen find. Einige prefien alddann die Körmer aus und
nehmen das Del, das obenauf fehwimmt, als Rofendl ab, Andere deftilliren
fle und fammeln die Fetttbeile dieſes Waflers ald Roſenöl ein; dieſe Art ift die
ergiebigfte. |
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Die deuffchen Laute und ihre Wandlungen.
Dr. * Bechſtein.
Grammatiſche Studien und das gebildete Publikum. Die Lautlehre. Die
Laute: Vocale, Diphthongen und Conſonanten. — Vocalwandlungen.
Brechung. Umlaut. Nüdumlaut. Schwaͤchung. Entſtellung. Quanti⸗
tät, Ablaut. — Conſonantenwandlungen. Vertauſchung. Lautabſtu—
fung. Lautverſchiebung. — Rechtſchreibung.
Grammatiſche Studien pflegen außer von den Sprachforſchern nur ſelten um
ihrer ſelbſt willen getrieben zu werden. Man hat ſich von Jugend an gewöhnt,
die Grammatik nur als Hülfswiſſenſchaft zu betrachten, welche dazu dient, uns
die Kenntniß einer fremden Sprache zu verſchaffen, Die wir fprechen und berem
Literaturergeugniffe wir verftehen lernen wollen. So wird in unferen Schulen
Zateinijch und Griechiſch, Franzöſiſch und Engliſch vom praftifchen, nicht aber
vom wiffenfchaftlichen Standpunkte aus betrieben. Und dies mit vollem Rechte,
da die Schule nur die Aufgabe hat, für das Leben zu bilden und für nie Wilfen-
chaft vorzubereiten. Auch die deutiche Sprache, wenn fie überhaupt einen Lehre
gegenitand bildet, wird von diefem pädagogifchen Gefichtöpunfte aus vorge
tragen.
Die Kenntniß unferer Mutterfprache, fo weit dieſe über das tänliche Leben
hinausragt, ift bis jegt aus verfchiedenen Gründen noch Eigentbum Der Fachge—
lehrten und weniger Freunde der linguiftifchen Studien. Dad gebildete Publiz
fum will ſich aus einer von der Schule ber erlangten Schen vor den trodenen
grammatifchen Regeln nicht dazu entichließen, fich der Hülfsmittel zu bedienen,
welche eo befähigen könnten, tiefer in das Mefen und in das geheimnißvolle Wal-
ten unſerer deutſchen Sprache einzudringen, um fo mehr, Da es längit befannt
ift, Daß eine foldye Kenntniß nicht ohne Opfer, nicht ohne Fleiß erlangt werben
fann, Und doch bat man oft Die erfreuliche Gelegenheit zu erfabren, daß ein
wirflicher Tebendiger Sinn für die deutfche Sprache und ihre Grammatik vor«
banden tft, daß in einem jeden Deutfchen ein Talent für Philologie und Lingui—
ſtik ſchlummert, auf welchen Gebiete ja bekanntlich von jeher unfer Volk thätlg
geweien ift und maßgebend eingewirft bat. Wie oft werden in Gefellfchaften, in
Bamilienkreifen wie an öffentlichen Orten Die anziebendfier
Etymologie einzelner Worte, über Mundarten, über die —— —*
wie mancher vertritt da feine Anſichten mit ftürmifcher Heftigkeit! — Bor allem
fehlt es noch an Anregung von Seite der Fachmänner. Die Wiſſenſchaft als
folche wird freilich immer auf den.engeren Kreis ihrer Vertreter beichränft blei-
ben, aber die Grbilderen haben Anipruch auf Mittheilung der Ergebniffe und
ſolcher Einzelheiten, welche allgemein wichtig find. Die Naturwiſſenſchaften,
welche fich gerade in unferen Tagen einer jo eifrigen Pflege erfreuen, haben nichts
an ihrem Werthe eingebüßt, weil die mühfamften Forſchungen in populärer Form
auch weiteren Kreifen mitgetbeilt wurden. Auch bie Geſchichte und vor allen
die deutſche Literaturgefchichte hat in jüngfter Zeit Darftellungen gefunden, welche
auf treffliche Weife wahre Wiſſenſchaftlichkeit mit anfprechender Form verbinden.
Wenn in der deutſchen Sprachwiſſenſchaft Derartige Verſuche noch weniger ange»
ftellt wurden, jo hat das jeinen Grund hauptjächlich darin, daß trotz gewiſſer
ſchon erreichte Ziele diefe junge Wiffenichaft noch jo viele Aufgaben zu löſen
bat, daß ſich Die Arbeiten noch nicht aus der Grenze der ftrengen Forſchung in
das Gebiet anregender Belehrung binauswagen fonnten, Zwar fehlt es nicht
an verfchiedenen Berfuchen, unter andern die grammatifchen Werke Jacob Grimm's
im Auszuge und in leichter faßlichem Gewande mitzutbeilen, allein diefe Arbei—
ten dienen wiederum meijt praftifchen Zweden. Wichtiger für die Förderung
ber Kenntniß unjerer Mutterfprache unter den Gebildeten find Darftellungen in
abhandelnder Form. Freilich läßt ſich nicht verbergen, daß ber Stoff die
Darftellung nicht begünftigt. Wie anders vermag der Literaturbiftorifer zu wirs
fen! Er betrachtet Werke des Geiſtes und Werfe des fünftleriichen Schaffens;
er fpricht nicht allein zum Verſtande, ſondern auch zum Herzen, zum Gemütbe;
feine Gedanfen können ſich bald. in ruhiger Schilderung vergeben, bald fich zu
Dichterifchem Schwunge erheben. Und eines noch ficht ihm zu Gebote: er hat
ein Urtheil, Sprachbetrachtung dagegen, wenn fie nicht eine philoſophiſche Rich-
tung einfchlägt, bat e8 nur mit dem Stoffe, nur mit den gegebenen Thatfachen
zu thun, Dieſes rein Stofflihe — ift e8 nicht der Grund, weshalb Tprachliche
Werke jo Vielen ald troden und ungeniefbar erſcheinen, * bekennen wir es
offen, weshalb ſie ſo unbeliebt ſind? — |
Unter allen Theilen der Orammatif — * — die
geringſte Aufmerkſamkeit geſchenkt. In den Schulgrammatiken wird in der
Regel nur das Nöthigſte beigebracht und die Lehre von der Ausſprache der Laute
nimmt öfters bie bevorzugte Stelle ein. ine eigentliche Betrachtung ber Laute
mit Nücficht auf die gefchichtliche Entwicelung, wie auch auf verwandte Spra=
chen, kann natürlich im ſolchen praftifchen Behrbüchern gar nicht verlangt werden,
ja fie würde ſogar von Hebel fein, "Wohl mag die Lehre von der Wortbildung
für den, welchen bloße Neigung auf das grammatifche Gebiet hinweiſt, bei iwei=
tem anziehender und lohnender jein, wie ja überhaupt die Worterflärung und
Wortdeutung, das Etomologifiren felbft jedem Laien einen eigentbümlichen Reiz
gewährt. Auch verbeißt die Betrachtung des Geiftes, der in der Sprache waltet,
der fich in der gefchichtlichen Entwidelung und Wandlung der Wortbedeutungen
fundgibt, einem höheren Lohn, Aber wenn es eine Thatſache ift, daß ohne Kennt⸗
nit der Grumdelemente der Sprache, — und dies find eben Die Laute —, jeg«
Tiche Sprachbetrachtung niemals zur gebeihlichem Biele gelangt, fo bieten auf ber
anderen Seite die Laute an und für fidy genug des Belchrenden und Anziehen
den, und find auch ohne dieſe ai N
gehenden Betrachtung werth. — ——
Obgleich es immer wohlgethan iſt, Geh Sprechictachnnhe welche nur an⸗
regen ſollen, dem umgekehrten Weg einzuſchlagen, welchen die hiſtoriſche, d. h. Die
wiffenfchaftlihe Grammatik verfolgt, nämlich die Heutige Sprache, die Spradye,
in der wir denfen, reden und ſchreiben, zunächft im Auge zu haben, fle voraus⸗
zufegen umd von ihr auszugeben, fo muß doch der Sicherheit und der wilfen-
fchaftlichen Begründung wegen auch auf die Ältere deutſche Sprache, auf deren
Grunde das heutige Reuhochdeutſch erwachien ift, wie auch auf verwandte und
verfchwifterte Sprachen Bedacht genommen werden. Dann erft erhalten wir ein
Bild von dem Wejen des Materials, weldyes die Sprache an den Lauten beißt,
dann erft erfennen wir, daß dieſes Material nicht ftarr und leblos ift, daß die
Laute dem mannigfachiten Wechfel unterworfen find, und ihre Ren
in buntem, lebensvollen Spiele entfalten,
Bekanntlich werden jümmtliche Laute in Voeale und Go —
getheilt. Diefe fremden Benennungen hat man in neuerer Zeit vielfach durch
deutjche zu erſetzen gejucht und den Vocal Helllaut oder SHelllauter, auch
Selbftlaut oder Selbitlauter,. den Eonfonanten Mitlaut oder Mitlauter
genannt, Wie ſehr auch jonft deutſche Redeweiſe ven Vorzug vor auslänbifcher
—— ſo ſcheint es doch in dieſem Falle gerathener, die geläufigen NZ
Namen „Vocal“ und „Conſonant“ beizubehalten,
Der Vocal ift ein tönender Laut, er beſitzt muſikaliſche Natur, —
nant dagegen hat im Grunde feinen eigentlichen Ton, ſondern er erbält erſt da—
durch Werth und Bedeutung; daß er den Vocal begrenzt. Den Bocal bringt
die Stimme hervor, den Eonjonanten Die Sprachwerkzeuge des Mundes, die Lip⸗
pen, Die Zunge, die Kehle. Was Fleiſch und Blut für den Körper, das ift für
das Wort der Vocal. Die Confonanten find dem Sfelet vergleichbar, welches
den Körper zufammenbält. Die Conſonanten unterliegen nicht in ſolchem Grade
ber Veränderung wie die Bocale, darum find fie für die vergleichende Grammas
tif beſonders wichtig. Gleichgültig find aber Deshalb die Vocale nicht.
Deide, Vocale und Conſonanten, jcheiden ſich wieder in —
Gruppen.
Die Bocale fann man auf Doppelte Urt zergliedern. Gewöhnlich werden
fie getheilt in Vocale in engerem Sinne und in Diphtbongen. Die
Docale in engerem Sinne werden wiederum in Hinſicht ihrer Beitdauer kurze
oder lange genannt, Der lange Vocal bat noch einmal fo viel Werth als der
kurze; muſikaliſch ausgedrückt, füllt der lange Bocal eine ganze Note aus, ber
furze dagegen nur eine halbe, Das a im Worte „Mann“ ift kurz, dagegen
in „wahr“ ift e8 lang. — Die zweite Eintheilung ift theoretifch angemeffener.
Nach ihr zerfüllen die Vocale in einfache und in Doppelte, Die einfachen
Die deutichen Laute. 527
entfprechen den furzen nach ber erften Theilung, die doppelten find entweder
lange Bocale oder eigentliche Diphthongen. In Hinficht der Quan⸗
tität find die langen Vocale und die Diphthongen einander gleich; ſie find Dop⸗
pellaute und gelten darum auch doppelt fo viel wie Die einfachen Vocale. Darin
aber unterfcheiden fich die langen Bocale von den Diphthongen, daß ihre beiden
Bocalelemente verfchieden geartet find. Entweder ift das zweite Element gleich
dem erften, alsdann fallen in der Betonung beide zufammen. Langes a ift gleich
doppelt a, lange e — ee u.f.w. Die Rechtjchreibung bedient fich auch öfters
der Bocalverdoppelung, um die Länge des Vocals zu bezeichnen, 3. B. „Aar,
Saal, Heer, Moos.“ Oder der andere Ball: die beiden Elemente find verſchie—
den, wie au aus a und u beſteht.
Die erfte Eintheilung nimmt auf die Ratur der Laute Rüdficht, die zweite
auf die Länge, auf die Duantität. — Worin der Unterjchieb zwifchen einem
Vocal und einem Diphihongen befteht, ift befannt und doch auch wieder nicht
befannt. Denn oft fann die Bemerkung gemacht werden, daß jelbft Gelehrte
über den Begriff der beiden Laute Feine Flare Vorftellung befigen, Nach der
allgemeinen Anftcht gibt es in unferer deutjchen Sprache fünf Vocale, nämlich
a, e, i, 0, u, während wir in Wahrheit deren acht haben, nämlich außer jenen
noch 4, ö und u. Diefe drei legten gelten aber allgemein als Diphthongen.
Was veranlaßt wohl dieſen fo weit verbreiteten Irrthum? Lediglich die
Schrift, die Rechtfchreibung. — Jedermann weiß, daß der Diphthong im Gegen⸗
fage zum Vocal, der ein einfacher Laut iſt, aus zwei Elementen befteht, aljo, wie
der Name „Diphthong“ befagt, ein Doppellaut ift. Linfere eigentlichen Diph⸗
thongen ai und ei, au, äu und eu befigen in der Schrift zwei Elemente, In
gleicher Weife ftellen fidy die Laute 4, d, ü dem Auge nicht einfach dar, mögen
nun zu ihrer Bildung die einfachen a, o, u mit Punkten (4, &, u) oder mit
Strichen (A, ö, ü) oder mit dem Zeichen e verjehen werben (ae, oe, ue).
Aber nimmermehr beftimmt die Schrift die Natur eines Lautes, fondern
die Ausfprache. Und eben in der Ausfprache find 4, ö, u einfache Raute,
alfo Bocale. Allerdings find fle nicht rein, fondern fle haben Trübung erlitten,
fle bilden nach dein grammatifchen Ausdrude Die Umlaute zu ben reinen Dos
calen a, 0, u. — Daß einfache und einzige Element ded Vocals hat keine Gren⸗
zen; man kann den Vocal jo lange forttönen laſſen, wie man will; während fel«
ner Bildung und Entftehung verändert fich die Mundftellung nicht. Macht man
nun die Probe, fo zeigt es fich, daß nicht allein a, e, i, o, u, fondern auch &, ð,
u einfache Laute find. Wenn manche glauben, &, ö, ü wären gleih a e,
o-e,u--e, immer werde ein e-Laut vernommen, fo geben fte fich einer
bloßen Täufchung Hin.
Jener Irrthum mag auch durch den Umftand hervorgerufen werben, daß in
unferem Alphabete nur die fünf reinen Vocale, die drei Umlaute aber ebenſowe⸗
nig wie die Diphthongen aufgenommen find.
Eines ſei befonder8 zum Beweife für die vocalifche Natur jener Umlaute
angeführt. — Der Umlaut von furz a wurde in ber Älteren Zeit fat ausſchließ⸗
lich mit e bezeichnet, Heutigen Tages wechfeln wir zwifchen 4 und e. Diefer
Wechſel iſt willfürlich, und dennoch beachten wir hierbei ein beſtimmtes Syſtem.
Bühlen wir naͤmlich den —* ſo ———————
den, fo füreibtn wir e: — J— —— Bette chenfalt kon
Mann und Hahn (früher han mit kurzem a) abgeleitet find. Bekanntlich ſchrei⸗
ben manche Eltern, andere Aeltern. ; Eltern ift die überlieferte Schreibart, Ael-
tern erinnert an das Stammwort alt (die „Eltern“ find bie ‚älteren‘, — Die
Ausſprache iſt bei verfchiedener Schreibung diefelbe; «8 iſt für das Opr vollfoms
men gleichgültig, ob fo oder jo gefchrieben wird. Das e in Menſch und basıa
in Männer lauten völlig gleich. Wäre nun jene Behauptung richtig, a fei Diph⸗
tbong, jo würde ein und derfelbe aut einmal ein Vocal fein, wenn erimit e,
und das anderemal ein Diphthong, wenn er mit & 6ezeichnet würde, Da nun
e zweifellos ein Bocal ift, fo muß auch & vocalifche Natur haben, und darum find
au 6 und ü, welche in der Etymologie & gleichfichen, als Vocale anzufeben.
Wie der Voeal aus einem einzigen Elemente befteht, fo der Diphthong, ber
Doppellaut aus zwei Elementen, und zwar nicht allein in der Schrift, ſondern
auch in der Ausſprache. Während der Bildung diefed Doppellautes muß ſich
die Mundſtellung verändern; das eine Element hört dann auf, wenn das zweite
beginnt; im Mitten des Laute findet aljo eine Begrenzung ftatt, welche beim
Vocal fehlt. — Im unferer neubocbdeutfchen Schriftipradhe Haben wir drei
Diphthongen ber Ausſprache nach und fünf in der Schrift, nämlich ai und ei,
au, du und eu. Es ift befannt, daß ei nicht anders ale ai, und eu nicht anders
ald iu ausgelprocdyen werben. I —
Nun geſchleht es häufig, daß eines Theils durch mundartliche Ausiprache,
anderen Theils durch geſchichtliche Entwickelung Vocale, und zwar lange Vocale
zu Diphthongen und umgekehrt Diphthongen zu (langen) Vocalen werden, Die
mittelhochdeutſchen An i und u werden im Meudeutichen zu ei und au. In
Mundarten, ſo z. ®. in ber meißnifchen Mundart, werden unfere Diphtbongen
ei und au vocalifch er wie langes e und langes 0. Im Franzöſiſchen
en au, ou, ei, ai ebedem wirkliche Diphthongen geweien, indem ihr Laut mit
dem jchriftlichen Ausdrucke vollfommen übereinftiiumte, Mit der Zeit find dieſe
Dopvellaute zu einfachen, zu Vocalen geworden: ö, ü, &, ä, wenn aud) *—
an der alten Ueberlieferung feſthalt.
Sweierlei gibt noch der Diphthong zu bedenken. Zuerſt ift jeder Dipfthong
einjllbig, wenn er auch aus zwei Elementen befteht, wenn fich auch bei feiner
Entſtehung dir Sprachwerkzeuge werändern müffen. Denn dies geht fo fehnell
vor ſich, daß bie beiden Vocalelemente nicht von einander abgelöft geiprochen
und vernommen werden, Die Worte Baum, Heu, Stein gelten gewiß all
gemein für einfilbig. — Eine weitere Eigenthümlichkeit des Diphthongen befteht
darin, daß eines feiner Vocalelemente in der Ausfprache bevorzugt wird; eines
bat ben vollen Ton, während das andere, wenn es das erfte ift, eine Art Vor⸗
fchlag ober, wenn es das zweite ift, eine Art Nachfchlag bilder, In unferen deut⸗
fchen Diphthongen ruht der Hauptton auf dem erften Elemente, es beißt Baum,
nicht Baum; a wird nachbrüdlich hervorgehoben, u dagegen nadhgefchlagen.
Die deutſchen Laute. 529
Ebenſo werden die anderen Diphthongen behandelt. Umgekehrt ijt das Ver-
baltniß im Franzöfiſchen. Jeder frangöftge Diphthong hat auf dem weiten
Giemente den Hauptton, So müßte z. B. der franzöfffche Diphthong oi (gefpro-
ben oa) nad ner nd we —— er m —
— mo, 104.
Das Material, welches Die Eprac an —— Seffät, if PR zu 2
Zeiten und in allen Landen gleich vertheilt. Wir haben in unſerer heutigen
beutfchen Sprache acht Vocale (in engerem Sinne), jeden fünnen wir furz ober
fang gebrauchen, in Hinficht der Quantitaͤt hätten wir acht kurze umd acht lange.
Im Mittelbochdeutfchen ift ziemlich daſſelbe Verhältnig, aber im Althochbeutjchen
finden fich nur ſechs Wocale, von denen nur fünf lang betont werden fönnen.
Im Gothifchen gibt es noch weniger Vocale, nämlich fünf kurze und zwei Lange.
Unfere heutige Sprache ift demnach reicher an Vocalen ala die Älteren deutfchen
Sprachen. Mit diefem Vortheile ift aber zugleidy ein Nachtheil verbunden, wel-
cher darin beſteht, daß die neu hinzugekommenen Laute nicht rein, ſondern getrübt
find (3, 8. u) und darum der Schönheit der Sprache Eintrag thun. — Es ver-
ſteht fich, daß innerhalb des Vocalismus mannigfache Abftufungen, Schattirun-
gen vorfommen, Denn im Grunde fpricht jeder Menſch anders ald der andere,
und die Mundarten, die Dialecte weichen entichieden und auffallend von einander
ab. Im unferen deutfchen Mundarten, denen ſelbſt der Gebildete unterworfen
ift, finden ſich Mifchlaute: a neigt ſich zu 0, i zu mm. ſ. w. Doch auf der Bühne,
wo wir die reinfte Ausfprache zu verlangen berechtigt find, laſſen wir ſolch un-
reine Laute nicht gelten; wir wollen den Laut vernehmen, ber in der Schrift
feinen. beftimmten Ausdruc findet. Dagegen find im Engliſchen unreine umd
gemifchte Vocale, welche wir im Deutfchen nur der mundartlichen Sprechweife
zumeifen würden, nicht allein geduldet, jondern gefordert. Alſo können wir
ſagen: das Englifche beſitzt Vocale, welche dem Deutfchen fehlen.
Aus PVocalelementen, und zwar aus zwei verfchiedenen Bocalelementen,
befteht der Diphthong. Wir haben, wie bemerkt, in der beutigen Sprache drei
Diphtbongen. In einigen oberdeutfchen Mundarten wirb für ei ober ai der Diph-
thong oa gefprochen (kloan, hoam für klein, heim), oa aber iſt mittel- und nord»
beutfchen Mundarten völlig fremd, ebenfo wie ber Schriftfprache. — Theoretiſch
möglich find eine ganz bedeutende Anzahl Diphthongen. Mer fich die Mühe
geben will, alle nur denkbaren Bocalverbindungen zufammenzuftellen, mit Sin-
weglaffung bes a, welches einen ähnlichen Laut bat wie e, der wird die Zahl 42
herausbefommen. Es feuchtet ein, daß keine einzige Sprache fo viel Diphthon-
gen aufzuweifen bat, nicht einmal die Hälfte. Das Mittelhochdeutjche hat vier
Diphthongen mehr als das Neuhochdeutiche, das Gothiſche befigt deren vier,
Die oberdeutjchen Mundarten, welche in vielfacher Beziehung auf der Stufe des
Mittelhochdeutfchen ftehen geblieben find; haben gewöhnlich ſechs Diphthongen.
Die Franzofen theilen keinen einzigen Diphthongen mit und, während das Eng-
lifche und das Deutjche einige gemein haben,
Auch die Conſonanten laſſen ſich auf doppelte Art gergliedern. Nach
——— zerfallen die Conſonanten in ſolche, die man dehnen kann, und
34
lautliche. Die Eonfi
Compoſitum | te gehört. X
fprache wird auch) zwiſchen beiden Worten eine Eleine Paufe gemadt, — Bir
haben in einigen Worten. Gonfonantenverbindung, welche mur ſcheinbar eine
organiſche ift, welche aber in der Ausfprache, wenigftens heutigen Tages, ber
‚organifchen gleichkommt. Diefer Ball tritt ein, wenn ein e in der Zufammen-
ſetzung ausfällt. gl in gleich, gn in Gnade, fr in fressen find berartige uneigent-
liche Gonfonantenverbindungen, indem gleich aus ge-leich, ge-lich, gnade aus
ge-nade, fressen aus ver-ezzen, d. h. „völlig aufeſſen“, entftanden find,
Wie nicht alle möglichen und —— — Wirklichkeit
vorfommen, fo auch nicht alle Gonfonantenverbindungen. Die eine Sprache
fann beftimmte Gonfonanten mit einander vereinen, die — wieder nicht.
Auch in einer und berfelben Sprache find die vorfommenden Verbindungen ge=
‚regelt. ‚Manche, die in der Mitte und am Ende fichen können, fehlen im An-
fange, und umgekeht. Wir Fönnen rz in bie Mitte und an das Ende fegen:
Sturz, Wurzel, dagegen gibt es Fein deutſches Wort, welches mit rz anhebt.
Und gr, welches im Anfange ftehen kann: ‚Gross, Greis, ift weder im der Mitte,
noch am Ende möglich, Die Slaven haben Conſonantenverbindungen, welche
unſerer deutſchen Zunge unendlich ſchwer fallen, Die Griechen Eonnten mit ps
ein Wort beginnen, dagegen findet ſich diefe Verbindung bei und nur in fremden
Worten wie Psalm. Die Italiener fprechen das e vor e und i wie sch. Diefe
Verbindung ift im Deutfchen ſelten und im Anfange des Wortes findet fie ſich
niemals. — Unſer q fommt nur in der Verbindung mit w vor. Die Mecht⸗
ſchreibung weicht etwas von der Ausſprache ab, indem fie flatt w nur.u feßt:
Quelle wird geſprochen Qwelle. Im Grunde iſt unjer einfaches Zeichen z. ein
Doppellant, denn er lautet is. Die Griechen hatten nicht allein für z einen
einzigen Buchftaben, jondern auch für ps und st. Umgekehrt haben wir in ber
Rechtichreibung Eonfonantenverbindungen, welche in der Ausſprache einfache
Laute find, Dieſe find ph, ch, sch, ng. Ihre Einfachheit beweift ſich dadurch,
daf man fie forttönen laſſen kann. Verſucht man dies bei z, ſo wird ſich finden,
daß nur ein s forttönt, während Das zu z gehörige Lverfchwindet, ſobald es her-
vorgebracht iſt. ph. ift in der Ausiprache gleich L; andere Nationen gebrauchen
für den Biichlaut sch und für den Nafenlaut ng die einfachen Zeichen g und n.
Nachdem wir uns ſomit über die Natur der Laute, über ihre Möglichkeit
und Mannigfaltigkeit verbreitet haben, geben wir zur Betrachtung ber notbwen-
digen, grammatiſch —** und len —— welchen ſie
unterworfen ſind. nn immun»
Das Sanskrit und das Gothifhe taffen A daß die Sprache —
Lich, nur drei kurz betonte Voeale befigt; dieſe find a, i, u. Sie bilden die Grund⸗
(age des Bocalismus, aus ihnen entwideln fich die anderen Voeale, fie find. bie
Stüge der Wortbiegung, Zunächft müffen ſich e und ———
532 Sprachwiſſenſchaft.
einer Vereinigung von a und i, und o aus einer Vereinigung von a unb u her⸗
vorzugehen. Das Gothifche gibt den beſten Beweis. Der gotbifchen Schrift,
d. h. der Schrift des Ulfilas, mangelt es an einfachen Zeichen für bie kurzem e
und 0, ſie fucht ſich deshalb dadurch zu helfen, daß fle ai und’au fept, welche
aber von den eigentlichen Diphthongen ai und au wohl zu unterfrheiden find.
Auch das moderne Pranzöftfe) beftätigt die Entftefung der daute. Das frangd-
ſiſche (geſprochen 3) fellt ſich dem Ange ala Diphthong dar und iſt es auch
früßer in der Ausſprache des Altfranzöſiſchen geweſen, indem es wie unſer ai lau⸗
tete. So iftz. B. das frangöfifche Wort mais, aber, aus bem lateiniſchen ma-
gis, im altflaffifcher Bedeutung „mehr“, in Tpätlateinifcher und in der lingua
rustiea „vielmehr“, fpäter „aber“ entftanden. Aus magis wurde dann mais
(ma-is), das Schlußes fiel, wie fo häufig im Branzöflfchen, in der Ausſprache
hinweg und der Diphthong ai wandelte fich zum Tangen 4. Ebenſo wurde das
altfranzöftfche au in der Ausſprache zu 0, wenn en ee Er Rz
ten wunde. *8
Die kurzen Vocale e (ai) und o (au) er a re
bor r und h. Diefe beiden Eonfonanten dulden nämlich die einfachen i und u
nicht vor ſich; diefe bedürfen daher der Erweiterung, der Brechung, wie es bie
Grammatik nennt, um der gothifchen Zunge möglich zu werden. Das Wort
‚zum Beifpiele, welches im Lateinifchen vir (der Mann) lautet, findet ſich eben»
falls im Gothifchen, doch vir (wir) zu fprechen, war dem Gothen nicht geläufig,
darum verwandelte er es in vair (gefprocdhen wer). Im Althochdeutſchen kom—
men noch andere Bedingungen hinzu. Hier nämlich hat der Vocal der folgen»
ben Silbe Einfluß. i und u erhalten fh, wenn wiederum ein i ober ein u folgt,
ſteht aber a oder ein dem a verwandter Laut, zum Beifpiele ein aus a geſchwäͤch⸗
tes e, fo erfolgt die Brechung. Am deutlichſten zeigt Dies die Gonjugation. Ich
ftehle, du ſtiehlſt, er ſtiehlt heißt im Althochdeutfchen stilu, stilis, stilit.
Hier bleibt das i der Stammfilbe bewahrt, denn es folgt u ober i. Dagegen
fautet der Pluralis stelam, stelat, stelant, weil In der Endungsſilbe ein a ſteht.
Der Infinitiv Heißt auch nicht stilan, fondern stelan. Im Nenbochbeutfchen hat
die Brechung noch weiteren Umfang gewonnen. Mittelhochbeutfch heift es noch
ich stile, jegt aber ich ftehle. Ebenſo ftatt ich sihe, ich wirde fagen wir ich
ſehe, ich werde, Der urfprüngliche Vocal kommt in der 2, und 3. Perſon
wieder zum Vorfchein: ich ehe, aber du ſtehſt, er ficht; ich werbe, aber
du wirft, er wird, — Daß mancherlei Ausnahmen flattfinden, daß die Bye-
Kung berfäumt wird, wo man fie erwarten follte, und daß fe fleht, wo ein äufße-
rer Grund nicht vorhanden ift, dies läßt ſich bei dem freien Geifte, der in ber
Sprache waltet, Teicht begreifen, Andy der Laut 0 hat im Neuhochdeutfchen weis
ter um fich gegriffen. So wurde unter anderen Sonne aus sunne, Sohn aus
sun, Sommer aus sumer. Wie eng verwandt o und u find, Täft ſich aus zuſam⸗
mengehörigen Worten erfehen, wie hold und Die Huld, Gold und Gulden,
Die zweite wichtige Bocalmandelung ift die Trübung oder nach der gram ⸗
matiſchen Ausdrucksweiſe der Um l aut. Das Gothiſche kennt ihn noch nicht,
während das Griechiſche und Rateinifche ſchon in früher Zeit getrüßte Bocale
erhalten haben, Unter ben deutſchen Sprachen beginnt der Umilaut zuerft im
Althochdeutſchen; doch ergreift er Hier zunächft nur das kurze a, welches er in
e (— 4) ummandelt. Die Urfache ift eine äußerliche, und zwar durch ein fols
gendes i veranlaft. ALS Beiſpiel wurde ſchon In einem früheren Aufjage*) an-
geführt, daß im Althochdeutſchen der Plural von palk, der Balg, der Schlauch,
nicht palki, fondern pelki (— pälki) lautet, Dieſes Umlautwirkende i hat ſich
oͤfters zu e gefchwächt, aber dennoch währt der Einfluß auf den Bocal der Stamm⸗
filbe fort. Beſonders üft dies wichtig für das fpätere Mittelhochdeutſche, indem
bier alle urfprünglichen i fidh entfürbt Haben. — Die Schreibart für den Ums
laut von a ift, wie jchon oben bemerkt, in früherer Zeit regelmäßig e und in:
unferer jeßigen Schrift halten wir noch vielfach an dieſer alten Schreibart feit.
Die Sprache befigt nun zwei e-Laute. Das eine, welches durch Bre=
hung aus i entitanden ift, unterfcheidet fich wejentlich von dem umgelaute⸗
ten. Ihre Ausſprache mar chedem ſtreng geichieden. In der guten mittel
hochdeutſchen Zeit, im welcher in der Dichtung ein wahrhaft bewunderungswir-
biges Gefühl für fprachliche Cigenthümlichkeit, für die Muſik der Sprache herrſchte,
durften beide e-Laute im Reime nicht zufammengeftellt werden. In der Gram—
matif, in den Wörterbüchern für das Ältere Deutich, wie aud) in einigen Aus-
gaben, wurden beide Laute durch die Schrift äußerlich Fenntlicd) gemacht. Das
Umlauts-e wurbe einfach mit e bezeichnet, das andere durch Brechung entſtan⸗
bene verfah man mit zwei Punkten (8). Späterhin, ſchon im vierzehnten Jahr-
hunderte, ſchwand das auf inftinctiver Etymologie beruhende feine Sprachgefühl
und die Bermifchung beider Laute begann. Während fid) die mittelalterliche
Sprache Mitteldeutjchlands am längften von ber Trübung der anderen Bocale
frei gehalten bat, find gerade die beiden e-Raute am früheften von ihr in ihrer
Reinheit gefährdet worden. Wie die Ausſprache beider Laute gewejen, läßt ſich,
befonders da im unjeren Tagen die Verjchmelzung und Berwechfelung immer
weiter gebiehen ift, fchwer angeben. Auch ift es wicht immer möglich zu bejtim-
men, aus welchem Laute unjer e entjtanden ift. Daß in jeben, werben das
gebrochene e enthalten ift, erjieht man aus der 2, und 3, Perfon, in welchen ber
urfprüngliche Laut wieder zum Vorſchein kommt. Daſſelbe e finder ſich z. B.
auch in Berg, Erde, denn es heißt Gebirge, irbifch, Schwerer läßt ſich
e (— ä) beftimmen, indem, wie jchon auseinander geſetzt, fein Vorkommen in
der Schrift ſchon darauf hindeutet, daß die Etymologie aus dem Sprachbewußt⸗
fein entfchwunden ift, Bei Menſch und Senne liegt die Abſtammung immer
noch nahe, bei anderen Worten aber bedarf es der Kenntniß der älteren beut-
ſchen Sprachen. So ift der Laut im Heer, welcher jegt gedehnt gefprochen und
defien Länge überdies in der Schrift durch Boralverdoppelung ausgedrüdt wird,
aus dem kurzen a entjtanden. Gothiſch hieß das Wort hari, althochdeutſch wurde
dad a wegen des folgenden i umgelautet und dad Wort lautete heri, mit ges
ſchwaͤchter * here, In zuſanmengeſetzten — in denen uͤberhaupt
*) „Blick auf ben nor der beutichen Sprache“ im biefem —
(Apriüheft), Seite 241,
534 —
ne für das Al) | NINE ln —
"Rad und nach ergreift der nwlaut alle umlautfähigen ——
wie die kurzen, die Voeale wie die Diphthongen. e und i i
werben. Das lange a lautet in ae um, o und din 5 und oe, u im. 9
laut des langen u, welches im Neuhochdentjehen zu Tang u getrübt wird, wurde
im Mittelhochdeutfehen iu (iv) geſchtieben. Die regelrechte Ausſprache biefes in
muß nad) einer von mir angeftellten Unterfuchung id’ gewefen fein, ia tft Diph⸗
thong, kommt aber doch dem fangen u im Klange ſehr nahe. Die mittelhoch⸗
deutfchen Diphthongen ou und uo lauten in du (50) und tte um. Der Umlaut
unferes Diphthongen au ift eu (du), Der Plural von Baum heift Bäume,
von Traum: Träume Auch hier wie bei e und a ein Wechjel in der Schreib-
art. Sind wir und bed Umlautes bewußt, fo fchreiben wir iu wie in bem an
geführten Bäume, fühlen wir ihn nicht, fo ſetzen wir eu. So jchreiben wir
Grewel und Heu, obwohl diefe Worte von grauen und hauen flammen.
—Außer dem Umlaute ift noch der Rückumlaut wichtig. Bälle nämlich
der dem Umlaut bewirfende Vocal hinweg, fo kehrt der urfprüngliche Vocal zu⸗
rüc, z. B. im den Praeteritis von brennen, ige er
* einzhrannte,nannte. —— —
Der Umlaut iſt nicht immer — — ui ——
Br heute ſtatt. Neben dem Worte männlich kann mannlich gefagt were
ben, neben unfäglich: unfaglich, ebenfo du Fommft, er kommt neben
kömmſt und kömmt. In Munbarten wird vielfach der reine Laut geſetzt, wo
die Schriftfprache den Umlaut bietet, und umgefchrt, I 120
Wenn auch der Umlaut der Sprache in mancher Beziehung Eintrag getban
hat, fo brachte er doch auch Vortheil, wenigftens dem Mittelhochdeutſchen. So
blieb unter anderen ber reine Bocal im Adverbium haften, während das Adjecti-⸗
vum dem Umlaut erhielt. Einheit in beiden zeigt das Althochbeutiche wie das
Neuhochbeutiche. Die Trennung ber Baute aber diente zu größerer ſprachlichen
Klarheit. Im Mittelhochdeutſchen unterfcheidet fich schöne von schoene, späte‘
von spaete, stäte von staete u. ſ. w. Auch zur Bereicherung des Wortſchatzes
hat der Umlaut beigetragen. So ijt unfer Wort drucken im Grunde daſſelbe
Wort wie drüden, früher ebenfalld drucken. Jetzt find beide gefchieden, beide)
haben eine befondere Stellung in den Wörterbüchern und bezeichnen bei wu
liegender Bedeutung doch verfchiebenes und beiondered.
Die dritte Boralmwandelung tft. bie fchon öfters berührte Shwädiung.
Durch fie find die finnlihen Schönheiten, wie fie das Gothiſche und’ zum Theil‘
auch das Althochdeutſche befigen, in hohem Grade abgeblafit: Die Schwaͤchung
trifft meijt die Bor= und Endfilben, weriger die Wurzeln, Aus den Borfegpar-
tifeln ar, bi, ga, ur it er, be, ge und aus den Endungen mit a, i, 0, u
ift das einfache e geworden, Dieſe e-Laute dürfen, auch wenn fie aus
a oder aus i entitanden find, weder als umgelnutete, noch als gebrochene
angefehen werden. Wir haben alfo in unſerer beutfchen Sprache dreier
Die deutichen Laute. 535
lei e-Laute. Die Ausſprache dieſes letzten e, welches dad tonlofe genannt
wird, ift dunkel, tief und unbeflimmt. — In zwei Worten hat fich der volltö«
nenbe, urfprüngliche Vocal der Vorſetzſilbe erhalten: in Urlaub und in Ur«
theil, Urlaub müßte nach den Rebenformen Erlaubniß und erlauben
eigentlih Erlaub heißen. Denn Urlaub bat die Bedeutung Erlaubniß.
Später befam dad Wort einen ganz beftimmten Sinn, nämlich Erlaubniß, weg⸗
gehen zu können, „Urlaub nehmen‘, fi Erlaubnig einholen, eine Reife machen
zu können, fi vor dem Weggange förmlich verabfchieden. Aus diefem beflimmt
geftalteten Begriffe wurde nun dad Zeitwort beurlauben gebildet, für welchen
das einfache erlauben nicht audreichte. Ebenſo flieht e8 um Urtheil und
urtheilen. Urtheil ift zunächft Ertheilung, dann die Ertheilung der
richterlichen Entfcheidung. Der Begriff feitigte fih, deshalb blieb die alte Form
haften, während der allgemeinere, unbeftimmtere dazu beitrug, daß das Wort ber
Schwächung erlag. Urtheilen ift „jet etwas andered ald ertheilen,
früher aber nicht. In fofern bat auch die Schwächung, wie der Umlaut bei
druden und drüden, zur Vermehrung bed Wortfchages beigetragen.
Die Schwächung der Endſilbe bedarf Feiner weiteren Auseinanderfegung.
Nur eined Wortes foll gedacht werden, welches der Entfärbung widerftand: das
it Heiland. Ehedem ein Participium, wie Die meiften Participien auf and
lautend, erhob es fich jpäter zu einem Hauptworte und Eigennamen. Ghriftus
der heiland, Chriſtus der heilende, wurde der Heilende, der Heiland xar'zdoynv
genannt. Das Partiripium von heilen fehwächte ſich ab wie alle Participien,
aber die Form, welche eine beftimmte Perfon bezeichnete, behielt ihren vollen
Wohlklang, wodurch freilich ihre Bedeutung für viele verloren ging.
Außer den berührten Vocalwandelungen, welche nach gewiſſen Gefegen
und in gewiſſen Zeiträumen vor fich gehen, verdienen noch die ungefegmäßigen,
die Entftellungen kurze Erwähnung. Die Grammatik hat für folche Vor⸗
kommniſſe die Bezeichnung unorganifch*) eingeführt. Wenn 3. B. aus dem
mittelhochdeutjchen honec, welches im Althochbeutfchen honac lautete, Honig
wird, fo ift das i in ig unorganifch entflanden. Ebenſo die Durch die unreine
Ausfprache berbeigeführten Verdunfelungen oder Erhöhungen der Vocale, wenn
ftatt Wirde (früher immer wirde), welches mit werth zufanımenhängt,
Würde gefagt wird, oder flatt eräugnen: ereignen oder umgefehrt Reu⸗
ter flatt Reiter, gefcheut flatt gefcheit. Solche Entflellungen gehn auch
in die Rechtfchreibung über und verbunfeln oft die Abſtammung und Ableitun«
gen ber Worte. So wird das erwähnte ereigmen fehwerlich an das Stamm-
wort Auge erinnern können. (Auch der Conſonantismus bietet jolche ſprach⸗
liche Willfürlichfeiten dar).
Auch die Veränderung der Vocale in Hinficht ihrer Quantität muß
berücfichtigt werden. Das Gothifche beflgt, wie bemerkt, nur zwei lange Vo»
cale, während wir jegt unfere fämmtlichen acht Vocale Tang gebrauchen Fönnen.
*) Daneben hat „‚unorganifch“ auch die Bedeutung „nicht urſpruͤnglich“; nicht
immer kann von Entſtellung die Rebe fein.
536 Eprachwiſſenſchaft.
Ein Grundzug gebt durch alle Perioden, der Sprachgeſchichte, der darin
befteht, daß die fangen Endfilden zu Kürzen abgeichliffen und die kurzen
Wurzeln verlängert werben. Vergleichen wir unfere Worte mit den mittelhoch-
deutjchen, jo wird fich zeigen, daß wir eine beträchtliche Zahl von lang beton-
ten mehr erhalten haben. Zwar find auch Voeale, die früher lang waren, ge
fürzt worden, doc fallen diefe im Vergleiche mit den unorganifchen Rängen wicht
eben ſchwer in die Wagſchale. — Woher aber willen wir, welche Betonung,
turze oder lange, ein Wort in früherer Zeit gehabt? Zum Theil mäffen Die
lebenden Mundarten befragt werden, welche bekanntlich ſehr zäh am Alten feſt-
halten, ſehr viel laſſen auch zufammengejegte und abgeleitete Worte erfennen,
das wichtigfte aber find Die Neime und das Versmaß, die Metrif, Daß zu jeber
Zeit Schwankungen und Verſchiedenheiten vorkommen, das lehrt unjere Gegen⸗
wart zur Genüge. Im Einzelnen tft ſelbſt die Ausfprache der Gebildeten hin—
fichtlich der Ouantität nichts weniger als einheitlich, und die Mundarten unters
ſcheiden fich oft bei gleichen Formen Tediglich durch die kurze oder lange Beto—
nung eined Worted. — Die Beachtung der Quantität der Worte ift zum Ver—
fändniffe der Wortbildung und der Wortverwanbtichaft von der höchiten Wich-
tigkeit, wie ſich in den fchon erwähnten Worten Gerzog und Herberge zeigt,
Unjer Wort fertig zum Beifpiele wird deshalb nicht mehr verftanden, weil
fein Stammmvort eine andere Quantität erlangt hat, Es verhält fich zu Fahrt
wie gegenwärtig zu Öegenwart und müßte, wenn bie Fortbildung der
Duantität eine einheitliche gewefen wäre, führtig lauten. Alsdann würde es
auch verflanden und jeine Abftammung gefühlt. Fruͤher hieß es ſart, ſarn mit
furzen a. Im Adjectivum wandelte ſich der Vocal wegen des folgenden i zum
Umlaute, der nach der allgemeinen Megel mit e bezeichnet wurde. Fertig be=
wahrte die alte Kürze, während aus fart, farn: lart, faren wurde und die Medite
ſchreibung die Länge durch das Dehnungszeichen h äußerlich ausdrückte. Fer—
tig ift zunächft „bereit zur Fahrt, bereit zum Weggehen“ und dann: ie
tere Bedeutung, „bereit, gerüftet, am Ziele.’ u.
Die beiprochenen Bocalmandelungen waren theils in der ——— theils
in Zufälligkeiten begründet. Wir gelangen zu einer anderen, welde von Anz
fange an vorhanden und mit dem Geifte der deutſchen Sprache eng verwachfen
ift, Im Einzelnen ergeben ſich auch hier gejhichtliche und unorganifche Berän-
derungen. Diefe Wandlung ift das Abjpringen des Wurzelvocals in einen an⸗
deren, der Ublaut. Er ift als die Seele der deutichen Sprache zu betrachten,
er beherrſcht bie Flexion des ftarfen Zeitwortes, er ift maßgebend bei der Wort«
bildung, in ihm beruht die jprachliche Schönheit und Mannigfaltigkeit. Die:
Vocale, welche den Ablaut vollziehen, find allefammt rein und ungetrübt, —
Der Laut, welcher im Bräfend eines Zritwortes ficht, wird der Laut xur
2&oyrv genannt, die anderen Laute, welche in der Flexion bervortretem, heißen
die Ablaute. Der erfte Ablaut findet fiih im Singular des Präteritums, der‘
zweite im Plural deffelben Tempus, der Dritte im Participium Pajjivi. Es
bedarf aljo im Deutfchen gerade wie im Lateiniſchen vier Angaben zur Gonjuga-
tion, Im Mittelhochdeutfchen wird 3. B. fingen auf folgende Weije conju=:
Die deutfchen Raute, ‘ | 537
girt: ich singe, sang, wir sungen, gesungen. Im Neuhochbeutjchen ift der
zweite Ablaut immer mit Ausnahme von wir wurden (nicht ich ward, wir
warden) mit dem erften zufammengefallen,, es heißt nicht mehr wir fungen,
jondern wir fangen. Die urfprüngliche Form ift uns nur noch geläufig in
— —— Sprihworte: mn rm nd
—Wie die Alten fangen, TOT
So zwitſchern die Junge.
—A———— gehört zu fingen; nad) der gram—⸗
matiſchen Ausdrucksweiſe ſteht Sarg „im Ablautöverhältniffe” zu fingen.
Der Ablaut folgt beftimmten Gefegen und Regeln. Es gibt mehrere Ablauts-
reihen, deren jeder eine gewiſſe Anzahl von Zeitworten zufommt. Und da
die Zeitworte die Grundlage des gefammten Wortfchages bilden, fo fällt jedes
nicht direct abgeleitete Wort unter eine beftimmte Ablautsreihe. Doch finden
fich nicht wenige Worte, über deren Stamm und Abkunft Dunkel herrſcht.
Anziehend iſt es, dem Walten des Ablautes hachzugehen in Hinficht des
Begriffes, Der Laut drückt die Beftimmung, den Zweck aus, der erfte Ablaut
die Wirklichkeit und der Laut des Partieipiums das Gefchehene, den Erfolg.
Zum Beifpiel; die Binde ift beſtimmt zum Binden und dadurch zum Feftbals
ten, das Band bindet im Wirklichkeit, das Bund oder der Bund ift durch
Binden entftanden, Mit der Zeit entjchwinden allerdings folche Begriffe dem
Sprachbewußtjein, umd bie chedem ftreng auseinander gehaltenen Formen wer—
den vermifcht. Zwar ift Die Binde auch ein Gegenftan, der in der That Bine
det, aber Binde und Band haben immer noch verfchiedene Bedeutung. Bund
bat ganz feine urfprüngliche Begriffsbeftimmung bewahrt, Ein Bund entftebt
nur, wenn man fich verbunden hat; ebenjo foll ein Bund Federn oder Holz
nicht binden, noch bindet er in Wirklichkeit, fondern er ift die Folge des Zu—⸗
fammenbindens von Federn oder Holz, — Diefe kurze Andeutung wird genüs
gen zur Erfenntniß und Würdigung bes Lebens, gr die * dem Ab⸗
laute verdankt. —
Wir gehen über zu den Gonfonantenwandlungen, Die Die Bocafe
mit einander verwandt find, wie ſich a, o, u zu &, ö, ü wandeln, wie e und o aus
i und o entftehen, jo wechfeln auch die Gonfonanten unter einander, ja auch mit
Bocalen, — Die Liquiden, die flüffigen, haben gewiſſermaßen vocalifche Natur.
Ein deutliches Beifpiel Bieter ung die neuitalienifche Sprache. Der italienifchen
Zunge ift e8 nicht möglich, den flüfffigen Buchftaben 1 vor a, o und u auszufpres
chen, darum nimmt das vocalähnliche I ganz die Natur eined Vocald an und
wandelt fich zu i. Das lateiniiche Wort Nos (die Blume) müßte im Italienischen
Nore lauten, es heißt aber fiorre. So wird blanca zu-bianea, plano zu piano,
clara zu chiara (kiara). — Die flüfftgen taufchen auch unter fih. So wechieln
r und I felbft in ein und derfelben Sprache, In Schwaben fagt man im Volks—
munde nicht Kirche, Birke, fondern Kilche, Bilke. Marmorftein ift
und nicht fo geläufig wie Marmelftein. Im Sansfrit heißt das Salz, wele
ches Wort in allen indoseuropäifihen Sprachen das I hat, nicht sala, fondern
sara. — Im gleicher Weife Haben I und r die innigfte Verwandticyaft. Kind
u
1% child. ¶ Das lateiniſche asinus. lautet g0=-
IN God Bel. „Dirgeenfan aus Dam grifgen organ Ä
‚bietet neben orgena ſchon orgela. Das urfprüngliche m
| in dem Worte £ I Be er |
Und fo taufchen bie Gonfonanten noch vielfach m und n, Lund-ch,.d und
,sundt,pundk. Nur eine Conſonantenvertauſchung verdient noch
bejonderer Erwähnung, weil te nicht nur in fremden Sprachen, jondern auch in der
deutfchen von großer Wichtigfeit it, nämlich der Wechſel zwifchen s undır. Bes
kannt find im Lateinijchen Die Nebenformen honos und honor, — Unſer deute
fches war, das Präteritum som Külfsverbum fein, bieß noch im 16. Jahre
hunderte was. So lautet es auch noch im miederdeutjchen Dialecte. Gothe
hat biefe' alte TERRA — — ——
gewandt: RE Ti TS), 3,7 BT ”- ui
0hıe RN * A ma inte af dr Ef Nee me ra AR
Band al das ein zerbrochen Hufeiſen was. n — Be
„ Die mc rfon du warft (früßer waere) und der Blunal haben fon
m Althochdeutſchen das r angenommen, im Gothiſchen dagegen geht durch das
— der ⸗PLaut: vas, vast, vas; pl. vösum, vasuth, vasun. Im Hoch⸗
deutjchen find überhaupt vielfach) die gothiſchen s zu e geworden. Gothiſch aus,
althochdeutſch ora, unjer Ohr; gothiſch basi, althochdeutſch ber, unſer Beerez
gothiſch nasjan, althochdeutſch neran, neuhochdeutſch nähren. — Das heutige
verlieren hieß noch im 14. Jahrhunderte verliesen ; der ⸗-Laut tritt noch her⸗
vor im Worte Verluft, Dagegen fagen wir nicht erfieren, ſondern erfie=
fen; aber nicht durchgängig ift das s bewahrt, es heißt nicht erfos, erfofen,
fondern erfor, erforen. — So find die jet verſchieden lautenden und vers.
ſchiedenes — are — und Wejer im Grunde ein und
—— han nt m mnmın a 61 ja
— —————— auch Drau: eine gefhichtliche
GSntwictelung fundgeben, ald zufällige bezeichnet werden, - Sierhängen vom:
der Eigenthümlichfeit der Sprachwerfzeuge ab, von der Vorliebe einer Mundart
für diefen oder jenen Laut. Dagegen folgt die Conſonantenwandlung, welche
die Grammatik die Lautabftufung nennt, ganz beflimmten Geſetzen. — Jedes
Organ bat befondere Stufen; auf der einen Seite ſteht der weiche Laut, auf der
anderen der gefchärfte, in ber Mitte der harte. Und wie ſich der weiche Laut
zum harten verhält, jo ber gehauchte zum gefchärften. Im Allgemeinen gilt fols
gende Regel: ein Laut bleibt am eheſten im Anlaute, d. h. am Anfange des Wor—
108 auf feiner Stufe fichen, im Inlaute unterliegt er am meiften der Erweichung
und im Ausflaute pflegt er. verdichtet oder verbärtet zu werden. — Im Mittels,
hochdeutſchen wie auch in der heutigen Sprache ift es Regel, daß der weiche Laut
ſich verbärtet, wenm er in den Auslaut tritt. Der b-Laut in das Weib, miüts-
telhochdeutſch daz wip ift von Natur weich: in der Flexion heißt es des Weiz
bes, des wibes. Dieſer weiche Laut aber wird zum harten (p) im Nominativ,
Die mittelhochdeutfche Schreibung war auch wip: Im unferer Rechtſchreibung
drüden wir die phonetifche Natur des Lautes, den die Lautabftufung verändert
Die deutichen Kauft. 539.
hat, allerdings nicht aus, wir behalten in allen Källen ben organijchen weichen
Laut bei, aber es kann fich Jedermann überzeugen, daß ſaͤmmtliche b-Laute im
Auslaute hart find, mögen fie nun hart ober weich gefchrieben werden. Ebenſo
bie d-Laute. In den alten Handfchriften wird z. B. rat (dad Rad) ebenfo ges
fchrieben wie rat (ber Rath), im Genitiv aber tritt bei jenem ber weiche und bei
biefem der Harte d-Raut hervor: rades und rates. Troß unferer verſchiedenen
Schreibung haben doch die Schlußlaute beider Worte diefelbe Ausipradye. Im
Mittelhochdeutfchen hieß Tag, Schlag: Lac, slac (graphifch für tak, slak), ale:
ein reined k fland am Ende. Wenn wir jet in der Schrift den organijchen
weichen Laut .ded Stammes beibehalten, fo hat das feinen Grund aud) in dem
Umftande, daß wir das g im Inlaute felten mehr wie g, d. i. wie weiches k ſpre⸗
chen und befonders im Auslaute für g einen dem ch Ähnlicyen Laut eintreten
laffen. Bei neueren Dichtern find Reime wie Tag und ſprach, Burg und
durch ganz gewöhnlich, — Wie die Media zur Tenuis, fo verhärtet ji) h zur
Afpirata ch, oder, was bafjelbe ift, die unorganifche Aſpirata ch geht in der
Flexion wieder in die Spirans h zurüd. Wir fagen: der hohe Berg, aber ber
Berg ift hoch. Diefelbe Wirkung wie der Auslaut haben auch folgende Conſo⸗
nanten: hoch, Höher, aber nicht höhſt, fondern Höchft; nahe, näher,
aber nächft. — Umgekehrt wird der harte Zaut im Inlaute erweicht, wenn ev:
an gewifle Eonjonanten tritt. So ift der Bildungsronjonant des Präteritums.
in den ſchwachen Zeitworten organijcheö t: ich jagte, wollte. .Bejonders im:
Mittelhochdeutjchen haben die flüſſigen Conſonanten und vor allen 1 Einfluß auf
den harten Stunmmlaut. Wir finden viele Reime, in denen follte, wollte
(solte, wolte, fowie auch solde, wolde geſchrieben) mit gelde, holde reimen.
Die Lautabftufung geht innerhalb einer und derjelben Sprache vor ſich.
Dagegen ift die Lautverſchiebung ein gefchichtliched Moment, welches, ob⸗
wohl nicht notwendig für dad Beſtehen der Sprache, auch nicht geboten durch _
Neigung oder Unvermögen der Mundarten das befländige Kortichreiten ber
Sprache ertennen läßt, wie ed in diefer ausgeprägten Weiſe feine Veränderung
im fprachlicyen Gebiete vermag. Denn nicht willkuͤrlich, ſondern gejegmäßig
wird diefe Wandlung vollbracht. Das Verdienſt, das Lautverfchiebungsgefeg
gefunden und begründet zu haben, bat fih Jacob Grimm erworben; nicht allein
die deutjche, fondern die gefammte Sprachforſchung hat durch dieſe wiflenfchaft-
liche That neues Leben und einen feljenfeften Grund gewonnen.
Die Lautverfchiebung wurde wegen ihrer gefchichtlichen Bedeutung fchon in
dem Auflage über den Entwidelungsgang der deutfchen Sprache betrachtet. *)
Einiged möge hinzugefügt werden. — Aus dem Geſetze der Lautverfchlebung geht
hervor, daß die Ordnung der Stummlaute folgende ift: weich, hart, ge⸗
ſchärft, oder nad lateinischer Ausdruddweife: media, tenuis, aspirata.- Die
alten Grammatifer glaubten, der weiche Laut flehe in der Mitte, deshalb nann⸗
ten fie ihn den mittleren, die media (vox). — Wenn auch dad ganze Geſetz in
wunderbarer Einheit und Klarheit durchgeführt ift, fo ergeben ſich Doch nach den
*) Seite 232 und 234, 235.
540 Sprachwiſſenſchaft.
Beſonderheiten der Sprachen, welche die Lautrevolution durchzumachen haben,
verfchiedene Ausnahmen und Abweichungen von dem idealen Schema, 1) Die
alten Sprachen weichen felbft manchmal von einander ab; bie eine ber beiden
pelasgifchen hat felbft eine Lautverfchiebung durchgemacht. 2) Die Lautverfehie-
bung hat nicht ftattgefunden weder im Gothiſchen und in den Sprachen, die mit
dem Gothiſchen auf einer Stufe ftehen, noch im Hochdeutfchen. 3) Die Laut ·
verſchiebung ift nur zum Theil durchgeführt; das Gothiſche oder das Hochdeut -
ſche find auf der zunächft Liegenden Stufe ftehen geblieben. 4) Dem Lateinifchen
fehlt die Aſpirata ch, es ſetzt dafür blos h, ober dieſes h ift auch. gänzlich abge
fallen. 5) Auch dem Gothiſchen fehlt ch; es fegt dafür g oder h. — In dem
- berübrten Auffage wurden nur Beifpiele aug ber erften Reihe angeführt, in wel-
cher allerdings bie meiſten und betimmteften anzutreffen * Die zweite
Reihe ift: —
Belasgifc: Goihiſch— ——
Tenuis. Aspirata. Media. | — —
Hier bietet befonderd das ——* der zweiten Perſon ein qutes Beifplef,
Im Lateiniſchen ſteht die tenuis: tu, im Gothijchen heißt es thu und int Hoch⸗
beutfchen du, Wenn viele noch fhwanfen, ob fie deutſch oder teutfch ſchrei⸗
ben jollen, jo gibt das Geſetz der Lautverſchiebung den beften Aufichluß. Im
Lateinifchen ſteht teudiscus, Teutones, im Gothiſchen thiudisko, — Felgen
* deutsch. Aus ber dritten Reihe: m.
Pelasgiſch: Gothic: Hochdeutich; *
Aspirata. Media. Tenuis sam
nur Ein Beifpiel, Unſer Wort Thter, in der Schrift mit unorganifchen I,
im Mittel= und Althochdeutfchen tier, tior lautend, heißt im —— —*
im Griechiſchen 0 (Ihär).
Ueber die Lautverſchiebung hat Jacob Grimm in der Grammatit —
delt, ausführlicher in der Geſchichte der deutſchen Sprache. Rudolf v. Raumer
machte fie zum Gegenftande einer eingehenden Unterfuchung. Wen bieje ftreng
gelehrt nebaltenen Arbeiten zu fern liegen und doch Genaueres zu erfahren an—⸗
genehm wäre, ald bier geboten werden fonnte, dem find die beiden ——
von Hahn, die gothiſche und die althochdeutſche zu empfehlen. u"
Mehrfach wurden wir in unferer Betrachtung auf die Schrift, auf die Recht⸗
ihreibung geführt, Nachben wir die wichtigften Lautverhältniſſe und Laute
wandblungen befprodhen, fcheint es geratben, noch mit einigen Worten bed We—
ſens unferer Rechtſchreibung zw gedenfen und die gemachten Bemerkungen
zufammenzufaffen. — Die Schrift Hat die Aufgabe, die Laute vermittelt ſinn⸗
licher äußerer Zeichen wiederzugeben. Schrift und Laut follen in der Theorie
vollfommen übereinftinmen, in der Praris aber fommt es niemals zn einer fols
hen Bereinigung. Unſere deutſche Sprache bat fehr fireng das Princip der
phonetiſchen, d. bh. der lautlichen Schreibweife durchgeführt, wollftändig
aber auch nicht, Wie erwähnt, wird öfters ein und derfelbe Laut Doppelt ges
ichrieben. Das durch Umlaut entftandene e ift gleich a, de, men
Und zergliedern wir unfere Diphthongen, fo werden wir finden, daß nur au und
Die deutſchen Raute. 541
ai der Audfprache volllommen entfprechen. Für einige einfache Confonanten
ftehen uns Feine einfachen Zeichen zu Gebote, wir müfjen und deshalb mit Zu⸗
fammenfegungen helfen, wie ch, sch, ng. Und umgefehri in manchen Allen
Schreiben wir einen Laut, welchen wir fonft nur durch eine graphifche Conſonan⸗
tenverbindung audzudrüden pflegen, mit einfachem Buchftaben. Anlautendes
st und sp in Stein, fprechen müßten wir wie in fchlagen, fchneiden, ſchmecken,
fchwören mir fch fchreiben. Ebenſo ungenau find wir in Betreff der Lautab⸗
ſtufung. Wir jchreiben immer den von Ratur weichen Laut weich, auch wenn
er {m Auslaute zu hartem wird. Groß ift die Willkür in den Dehnungszeichen
e und h. Auch das h in th befleht nur in der Schrift; wir fprechen es nie,
und wenn ed manche fprechen, fo zieren fle fich oder glauben, e8 müßte gefpros “
chen werden, weil es geichrieben ſteht; unfere Aſpirata aber ift z, unfere Spirans
s. Und doch flimmen Ausfprache und Schrift bei weitem eher zufammen, ala
e8 im Englifchen und im Sranzöftfchen der Fall ifl. Die Schreibart diefer Spra⸗
hen gehört einer viel früheren Sprachepoche an, ſie zeigt und dad entgegenge⸗
fegte Princip der Rechtichreibung, nämlich das hiftorifche. Auch wir befigen
biftorifche Elemente in der Schrift. Dahin gehört e — 4. So wurde das
erwähnte st und sp in Stein, jprechen früher rein, unajpirirt gefprochen,
ebenfo wurde gefchrieben und gefprochen: slagen, sneiden; der fübbentfche Dia-
lect vergrößerte daß s in sch und die Nechtfchreibung drückte den breiten Laut
auch Außerlih aus, nur vor t und p blieb dad reine s fliehen. Hier alfo ein
Fall, wo die Mechtfchreibung Hinter der Ausfprache zurüdgeblieben if. Dies
nun iſt im ausgedehnten Maße im Franzöſiſchen und im Englifcyen der Fall.
Die franzöftfchen Tangen Bocale a und 6 wurden ehedem fo gejprochen, wie fle
noch heute gefchrieben werden, nämlich ai und au. Man hält aus Lebereinfunft,
die weder unbequem, noch jchädlich ift flür den Eingeborenen, an der alten Schreib»
art fe. Uns Deutfchen freilich bereitet die hiftorifche Nechtfchreibung bed Eng⸗
lifchen und Branzöftfchen bei Erlernung diefer Sprachen viele Mühe. —
Unfere Betrachtung Eonnte über die verfchiebenen Erfcheinungen, welche die
Laute und ihre Wandlungen darbieten, nur Turzen Ueberblid gewähren, möge
fie ein Bild gegeben haben von dem überaus regen Leben, welches der Sprachgeift
in einem fo gg begrenzten Gebiete entwickelt!
Die Wohlgerüche und die üblen Gerüche. 543°
Geruch und Geſchmack und an eine von den Pflanzen erinnern, aus welchen fie
deftillirt find.
Der größere Theil des Oels ſchwimmt gevöhnlich auf der Oberfläche des
Waſſers, welches mit demfelben übergedt; aber dieſes Waller hält immer einen
Fleinen Theil des Oels in Auflöfung und nimmt davon fowohl den Geruch, wie
auch den Geſchmack an. So find Rofenwafler, Lavendel-, Pfeffermuͤnz⸗Waſſer x.
einfach Waffer, gefehwängert mit einer unbebeutenden Quantität des Oels, wo⸗
von ihr Name herrührt. Das deftillirte Waſſer von Myrthenblüthen gewährt
. jened angenehme Parfüm, das in Franfreich unter dem Namen Engelwaſſer 6 bes
kannt ift.
Die von einigen Pflanzen gelieferte Ouantität Del if fo gering, daß das
mit demfelben übergehende Deftillationdwaffer es ganz aufgelöft Hält. In fol«
chen Faͤllen ift das Oel ſchwer zu gewinnen und in Folge deſſen fehr theuer. Die
Rofen gehören zu den Blumen, welche ihr Oel in fo geringen Mengen abgeben,
und Daher der hohe Preis für das Roſenöl. Die Rofengärten in Ghazepore find
Belder, die reihenweife mit Fleinen NRofenfträuchern beflanzt find. Des Morgens
find fie roth von Blüthen, dieſe werden aber alle Bormittage gefammelt, und
ihre Blätter in thönernen Kolben mit dem Doppelten ihres Gewichts an Waffer
deſtillirt. Das Waffer, welches übergeht, wird in offenen Gefäßen hingeſtellt,
um Staub und Fliegen fern zu halten mit einem feuchten Mouffelintuche bedeckt,
und des Nachts der Fühlen Luft oder Fünftlicher Kälte ausgefeßt, wie wir die
Milch Hinftellen, damit fe die Sahne abfondere. Am Morgen hat fich ein duͤn⸗
ne8 Häutchen von Del an ber Oberfläche gefammelt, welches mit einer Weder abe,
genommen und forgfältig in ein kleines Fläfchchen übertragen wird. Dies wird
Racht für Radıt wiederholt, bis fich das Del faft gänzlich vom Wafler getrennt
bat. Zwanzig Taufend Rofen find erforderlich, um ein Rupiengewicht Del zu
liefern, das für 10 Thlr. verkauft wird. Neined Roſenöl ift Daher felten zu
- befommen. Das, was auf den indifchen Märkten verkauft wird, ift mit San-
delholzöl verfäljcht oder mit ſüßem Salatöl verfeht. Was wir nach Europa be-
fommen, ift gewöhnlich noch mehr verjeßt, wie ber Frei, den wir allgemein zah⸗
Ien, genügend beweift.
- Der woßßeicchende Stoff ift nicht immer gleichförmig in der ganzen Pflanze
vertheilt. Bei einigen, wie bei der Münze und dem Thymian, finder er ſich In
den Blättern und dem Stengel; bei dem Zimmtbaum in ber Rinde; bei anbe-
ren, wie den Sandel= und Gederbäumen, in dem Holze, und endlich auch in ben
Blättern und ter Blüthe, wie bei der Roſe, der Lilie, den Veilchen und dem
Jasmin. Bei einigen, fo wie bei der Tonfa-Bohne, dem Anis und dem Küm-
mel findet er fich in dem Samen, während bei anderen, wie dem Ingwer, ‚der
Schwertlilie und dem Kalmus die Wurzel denfelben enthält. Es ereignet ſich
fogar bisweilen, daß durchaus verjchiedene Wohlgerüche aus verjchiedenen Thei⸗
fen einer und derjelben Pflanze gezogen werden. So liefert der Drangenbaum
aus feinen Blättern ein Parfüm, das man petit grain nennt, aus feinen Blüthen
ein anderes, neroli — und aus den Schalen feiner Früchte das eigentliche Oran⸗
genöl, auch essence de Portugal genannt.
544 um me Eu az
Dieſe flüchtigen Oele und wohlriechenden Waſſer werden ald Parfüms für
Die Toilette verwendet, um bie Bonbons der Zuckerbaͤcker zu würzen ober um
‚ben feineren Gerichten des Koches einen angenehmen Gejchmad zu verleiben.
‚Die Roſen-, Lavendel-, Orangenblüthenöfe a. werden einzig und allein für den
Toilettengebrauch verfauft und um die Präparate des Parfümeurs wohlriechend
zu machen, während diejenigen von Gitronen, Bfeffermünze, HZimmt, Gewürz-
—— — faſt nur an BR
ee
| CE Tre zin Rüge Def eine sefinmnte Arme Sufommenfepuuggrten
Beſitz von Cigenfchaften, bie conftant und demfelben eigenthümlich find, Unter
anderen Eigenfchaften befigt ed einen mehr oder weniger ftarf hervortretenden
Geruch, an welchem es in den meiften Fällen fogleich erfannt werden kann, Bon
diefem Geruche, wenn er angenehm ift, hängen der Werth umd die Velichtbeit
ab; und die Eigenschaft des Geruchs beftimmt, ob dad Oel zu Parfümerien oder
anderen Zwecken verwendet wird. Die reinen und ungemifchten Gerüche folder
einfachen Dele werben oft hoch geichägt und von einigen Perfonen —
than, womit er die wohlriechenden Stoffe verſchiedener Blüchen Et
viele flüchtige Effengen mit einander vermifcht, fo daß er einen angenehmeren
Geruch hervorbringt, wie aus einer einzigen Pflanze zu ziehen wäre,
Weiſe entſteht das huile de mille fleurs (Del son taufend Blumen); ind das
geheime Recept für das populäre eau de Cologne — das Bolltommenfte der
Parfümerie genannt — beruht wegen feiner Vorzüglichkeit ar ——
Grundſatze.
Mohlgerüche ähneln fehr ben Tönen eines muſikaliſchen —
Einige von ihnen vermiſchen ſich leicht und natürlich mit einander und machen
fo zu jagen einen harmonifchen Eindrud auf den Geruchsſinn. Heliotrop, Ba—⸗
nille, Orangenblüthe und die Mandeln vermifchen ſich in diefer Weife mit einan⸗
der und bringen verſchiedene Grade faſt einer und derfelben Wirkung hervor.
Daffelbe ift der Fall mit Gitronen, Limonen, Verbenen und DOramgenfchalen, nur
daß dieje einen ftärferen Eindruck verurfachen, oder fo zu fagen zu einer höheren
Detave der Gerüche gehören. Und wieder bilden Patchouli, Sandelholz und
Calmus eine dritte Glaffe. Es erfordert einen feinen und wohlgeübten Geruche-
finn, um dieſe Harmonie der Gerüche zu bemerken umd einen falfchen Tom zu
verfpürem. Aber durch die kunſtvolle Miſchung in Art und Ouantitit von aͤhn⸗
Lich wirkenden Stoffen, werten die feinften und unveränderlichiten Wohlgerüche
fabrieirt, Wenn Parfüms, welche denjelben Schlüffel des Geruchsnervs treffen,
zum Gebrauch auf Tüchern vermifcht werben, jo wird feine Spur eines verſchie⸗
denen Geruch erzeugt, während ber Stoff verbunftet; find fie aber nicht nach
dieſem Princip gemifcht, fo fagt man oft, daf die Parfüms kraͤnklich oder ohn⸗
mächtig werden, nachdem fie Furze Zeit im Gebrauch gewefen find, Eine Ver⸗
änderung im Geruche diefer Art wird bein echten eau de Cologne nie verſpürt.
!
Gitronenöl, Wachholder- umd Rosmarinöl gehören zu demjenigen, welche in die-
ſes Parfüm und mit einander sermifcht find. er
durch den gewöhnlichen Geruchsfinn einzeln unterjchieden werden; wenn man
aber zu einer Unze dieſes Waſſers wenige Tropfen Salmiafgeift fügt, fo dringt
ber Eitronengeruch gewöhnlich fehr deutlich Durch.
"Aber wer auch, wie erwähnt, jede flüichtige Eſſeng chemſch Keftimmmt iſt
und ihre eigenthümlichen deren der Geruch eine ift, fo hat
man doch gefunden, daß die Lieblichkeit und Stärke des Geruchs ſich bedeutend
ändert, je nach ber Localität, wo die Pflanze, welche ihn liefert, gewachfen it.
So erreicht an den Küften des mittelländifchen Meeres, in der Nähe von Graſſe
und Nizza, der Orangenbaum und die Mignonette die vollfommenfte Blüthe in
den niedrigen, warmen, bedeckten Gegenden; während in demfelben Landftriche
das Veilchen immer wohlriechender gedeiht, je mehr wir aus dem Tieflande aufs
fteigen und uns dem Buße ber Alpen nähern. Ebenſo lieferte Lavendel und
Pfeffermünze von Mitchand, in Surrey; Dele, welche diejenigen Frankreichs und
anderer frember Länder bei) weitem übertreffen und acht Mal höher im VPreiſe
ſtehen. Dieſer Einfluß des Bodens und des Klima's auf den Geruch der Pflan-
zen gleicht demjenigen , den fie in fo merkwürdiger Weije auf die narkotifchen
Beitandtheile des Tabaks, Opiums und Hanfs ausüben, 00
Das geringe Verhaͤltniß, im welchen biele Blürhen das flüchtige Oel auf
dem Wege der Deftillation Tiefern, Hat zu anderen Methoden geführt, es zum
Gebrauch für Parfümerien zu ertrahiren. Die Blüthen werben mit Oliven
oder anderem Del befeuchtet oder mit Pomade vermifcht, und nachdem fie eine
Weile gelegen haben, gepreft; oder fie werden auch in heißes Waſſer gethan und
mit einem Antheil Oel oder Pomade gut gefchütteft, welcher fpäter abgefüllt
wird. Bei dem einen wie bei dem anderen Verfahren wird das Del ober Bett
mebr oder weniger mit dem Geruch der Blüthen gefehwängert und erhält danach
feinen verhältnigmäßigen Werth. Diefer Proceß ift Maceration, enfleurage x.
genannt, und fo parfümirte Fette heißen in Branfreich hauptfächlich Pomaten.
Weingeift entzieht diefen wohlriechenden Ketten den Riechſtoff, und bie Löſungen
werben zur Fabrikation von wohlriechenden Waffer verwendet.
Die öfonomifche Wichtigkeit dieſer Dele möge man beurtheilen nach den
Ahatfachen, daf
im Jahr 1952 im England zu Ätherifehen Oelen mehr ald 200,000 Pfund
eingeführt waren, belaftet mit einer Abgabe von 1 s. eSzer
eau de Cologne zum Werthe von 20,000 Tplr, |
Branzöftiche Bomaden und anbese Pasfünierien zum Werthe von 2, ‚200261.
und daß die Totalfumme der Abgaben jeder Art, die In Großbritannien
für Wohlgerüche und Barfümerien aesaht wird, auf 40,000 Zi jähr-
lich gerechnet it.
2) Bufammenfegung der ſachtigen Oele. — Eine große Anzahl der wohl
tiechenden Eſſenzen ift nur aus den zwei Elementarftoffen, dem Koblenftoff und
Maflerftoff, zufammengefeßt. Und was fehr auffallend ift, manche vom ihnen,
.. fonft jehr verfchieden find, beſtehen aus dieſen zwei Eiementen, in gleichem
35
1 nn en ne eur
ae; — — — ——— durch —
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ſes fo wohlbefannte — ran namen ar
Die Methoden feiner Nahahmung find folgende: ·
= ‚MBenn bie gewöhnliche Roffe in-umfesen Gnöwerten beftillirt wird, foigeht
eine Quantität. trägen Stoffes (das Kohlentheer) mit dem Gas über, welcher
zu unjerer Straßenbeleuchtung verwendet wird. Wenn diefer träge Stoff wie-
ber für fich deftillirt wird, fo erhält man eine dünne, ſehr brennbare Klüffigkeit,
bekannt als Kohlennaphta. Es ift dies eine Miſchung verfebiedener Subftanzen,
deren eine eine fehr belle, farblofe Flüffigkeit ift, bezeichnet mit dem Namen Bene
zol. Mifcht man dieſes Benzol forgfältig mit Salpeterfäure (aqua ſortis), jo
vereinigt es fich damit und bietet ein wohlriechendes Compoſitum (Nitrobenzof),
welches in Geruch und Ausfehen fehwerlich von dem Oel der bitteren Mandeln
unterfchieden werden kann, Im Handel kennt und verfauft man ed unter dem
Namen des Fünftlichen Bittermandelöls und der Effenz de Mirbane. In ber
Zujammenfegung weicht es von dem wirklichen flüchtigen Del der bitteren Man-
deln ab, ähnelt: demfelben aber jehr im Geruch und ift beim Parfümiren der
Seife ein vorzügliches Subftitut deſſelben. Auch ift e8 gefunder als das natür-
liche Del zu Zwecken ber Gonditorei und der Kochkunſt, weil es nie Blau—
fäure enthalten kann, welche bisweilen in bem natürlichen Del vorhanden iſt.
Die zweite Methode, dies flüchtige Del nachzuahmen , nimmt ihre Zuflucht
zu Subftanzen von ſehr verſchiedenem Urfprung. Der Urin bed Pferdes und
Nindviehes enthält einen ſaueren Veſtandtheil, welcher Leicht in feſtem Zuftanbe
von bemfelben auszufcheiden iſt, und den die Chemiker unter dem Namen Hip-
purfäure Eennen, Wenn biefe Säure über einer Lampe erhitzt wird, ſo ſchmilzt
J 35 * 2
548 Sr ee 32
fie, und bet 460° 8. fängt fle an zu kochen, Es deſtillirt dann eine flüchtige
Subftanz über, welche 13 Proc. Stidftoff enthält und der man den Namen Ni-
trobenzyl gegeben hat. Der Geruch diefer Blüffigfeit iſt dem des flüchtigen
Bittermanbeläfs fo ähnlich , daß man fie leicht Damit verwechfeln‘fann. Wir
J we t t d. . | | =
lich ind und die Gippurfäure Gillgdikahlrrtraplehnerien täten), To iſt das
wohlriechende Nitrobenzyl mit geringen Unkoſten zu fabriirem,
Der denkende Leſer wird das Streben und die ſociale Wichtigkeit jolcher
Refultate und Forſchungen zu würbigen wiſſen, an denen die Unterfuchungen
der neueren Chemie jo reich find. Sie erftreben, unnügen Stoffen neuen Werth
zu geben, indem fte neue Verwendung derjelben entdecken, und gleichzeitig die
Lurusartikel und materiellen Berfeinerungen, welche bisher nur Wenigen zugänge
lich waren, wohlfeiler und für die Menge erreichbar zu mache.
4) Die Kampherarten, Valſamarten und wohlriechenden Harze find alle
mehr ober weniger fefte Gegenftände, beſitzen einen mehr oder weniger angeneh-⸗
men Wohlgeruch und enthalten immer Sauerftoff als einen ihrer Beftandtbeile,
Durch ———— mit —————— —⏑—⏑—⏑—æ2&—— ee: ——
wandelt. |
Pr ———— 88. giebt verſchieden⸗ ee —
Kampher. Die zwei im Handel am häufigften vorfommenden find der Japanifche
Kampher, auch Holländifcher genannt, weil er gewöhnlich von den Hollaͤndern
nad) Europa gebracht wird, und der Chinefifche oder Kormofasffampher. Jeder
Theil des Kampherbaums (Laurus camphosa) ift mit dem Parfüm gefchwängert.
Er wirb ertrahirt, indem man Die abgehauenen Zweige in Waffer focht; ber
Kampher ſteigt an bie Oberfläche und geht in den teren Buftand —
man nachher das Waſſer erkalten laͤßt. 1
Der Geruch des Kamphers iſt ſehr ſtark, cheratieriſtiſch und vielen Verſo⸗
nen fehr angenehm. Er wird zur Parfümirung von Seifen, —
zahlreichen anderen Toilettengegenftänden benutzt.
Der fogenannte Borneo-⸗Kampher wird von einem anderen Baume (Drpos
balanops) gewonnen, durch Zuthun von Salpeterfänre aber in gewöhnlichen
Kampber umgewandelt. Auch wird ein Fünftlicher Kampher aus Terpentinöl
bereitet; aber er enthält nicht die Zufammenfegung, ober hat nicht den Geruch
des natürlichen Kamphers und Fann nicht an die Stelle befjelben treten. 1
b. Die Balſamarten find dicke, mehr oder weniger wohlriechende Flüſſig⸗
keiten, welche, gleich dem gewöhnlichen Terpentin, dadurch gemonnen werben,
dag man Einfchnitte in Die Minden der Bäume macht, welche fie liefern. Dex
Peruanifche Balfam und der Balfam von Tolu, welche zu den meift befannten
gehören, find im diefer Weife aus verfehiedenen Arten des mirospermum gezogen,
welcher in Peru, New-Granada und an den Ufern des Magdalenenftromes in
Süd-Amerifa waͤchſt. Sie beftehen hauptjächlich aus einem wohlriechenten flüch-
tigen Del, welches übergeht, wenn fte allein beftillirt werden, und aus einem faſt
geruchlofen Harze, das zurücbleibt. Der Beru-Balfam bat einen Fräftigen, aber
“
J
7 Ina U
r inem natürlichen Zus
ftande entftrömt, . 2) Beife Dämpfe einer flüchtigen wohlriedhenben Säure, bie
bereitö im Harze vorhanden, ſteigen auf und vermifchen ihren Geruch mit dem
des flüchtigen Oels. Und 3) wird ein anderes flüchtiges aromatifches Del durch
bie Zerjegung des Harzes auf den rotbglühenden Kohlen erzeugt, Die Dämpfe
diefes Oels fteigen ebenfalls auf. und vereinigen ſich mit denjenigen der anderen
Subftangen, wodurch, denn. die volle Wirkung, auf bie, Geruchsnerven hervorge-
bracht wird, wonach Die Räuchermittel gefhägt werden.
| | e ei ches be⸗
ſchrieben, —— der Vanille gleicht. Dieſes hochgeprieſene Barfünı findet
fich in den Schoten einer orchideenartigen Pflanze (Vanilla aromalica ‚oder plani-
folia), welche den alten Merikanern ſchon lange befannt war und wahrfcheinlich
wie jegt von ihnen benugt wurde, ihren Lieblingsgenuß, die Chocolade, zu wür-
zen. Die beſte Banille iſt bis jeht Die mexifanifche, wenngleich. weniger. gejchäßte
Arten durch. Gattungen. jener Pflanze erzeugt wurden, die, 5
des tropiſchen Amerika wachſen. Die Frucht dieſer Pflanze iſt eine, lange flei-
ſchige, mit runden Samenkörnern gefüllte Schote. Wenn ſie reif Baht
2—6 Tropfen einer Flüffigkeit geben, welche einen. vorzüglichen Geruch hat und
den Namen Vanillebalfam führt... In Europa ſieht man dieſen Balſam indep
nie, Die Schoten werden an der Sonne getrocknet und dann ein wenig in Gaͤh⸗
Die Wohlgerüche und die üblen Gerüde, 551
Autoxanthuln odoratum, das wohlriechenbe Niichgras.
Melilotus oſſicinalis, der gewöhnliche Bonigklec.
Melilotus caerulea, der blaue oder Schweizer Sonigklee.
Es ift alſo derſelbe Riechſtoff, weicher Der Tonka⸗Vohne, dem Faham⸗Ther
von Mauritius, unſerem dreiblaͤtterigen Klee uiſb wohlriechenden Heufeldern, auf
denen Süßflee und Ruchgras vorwalten, ihren Wohlgeruch gibt. In der
Schweiz wird ber Suͤßklee in befondere Käfeforten gemifcht, und der darin ent⸗
Haltene Coumarin giebt auch dem Schabzieger Käfe feinen befonderen wohlbe-
fannten Geruch.
Man kennt manche andere wohlriechende Gräfer, wie Hierochloe borealis,
Ataxia horsfieldii, Andropogon Iwacancusa, Andropogon schoenanthus ober
Eitromangras x. xc., in denen wahrfcheinlich Fein Coumarin vorhanten ifl. Das
Andropogon muricatus (der indianifche Kuskus) Liefert fogar ein vorzügliches
tohlriechendes Del, das dort zu Sande als Medicin benugt wird. Zweifelsohne
giebt e& deshalb in verſchiedenen Ländern andere wohlriechende Subſtanzen, von
denen bei getrodineten Bräfern der angenehme Geruch herrührt.
Ich Habe den Einfluß angedeutet, den der Goumarin in Form von Daͤm⸗
pfen auf dad Gehirn übt. Es ift nicht unwahrfcheinlich, Daß das Heufteber, dem
viele reizbare Perfonen audgefegt find, dem Umſtande zugefchrichen'werden muß,
daß diefe Subſtanz während der Heuernte in ungewöhnlicher Menge in der Luft
vorhanden if. In Jahreszeiten, welche befonders heiß find und an Orten, wo
die wohlriechenden Gräfer in ungewöhnlicher Fülle vorhanden find, ift es keines⸗
wegs unwahrfcheinlich, dag man einen Leberfluß an Coumarin⸗Daͤmpfen in der
Luft antrifft.
Die Aetherarten, welche den Pflanzen entnommen werben, find dem
Chemiker gegenwärtig die intereffanteften aller natürlichen Riechſtoffe. Dies In-
terefje rührt von dem Umftande ber, daß eine forgfältige analgtifche Unterfuchung
einer derjenigen, welche aus lebenden Bflanzen erzeugt waren, und den Schlüffel
negeben Hat zu der wahren chemifchen Zufammenfegung nicht nur dieſer Sub⸗
ftanzen felbft, fondern auch zu der Methode, Fünftlich eine beinahe endloſe Ver⸗
ſchiedenheit vom wohlriechenden Compofitionen zu produciren.
1) Weinäther. Wird Weringeift mit der doppelten Menge Vitriolöl (Schwer
felfänre) In einer Retorte gemiſcht und mittelft Wärme deſtillirt, fo geht ein fehr
leichtes, flüchtiges und etwas ftark riechendes Liquidum über, das unter dem
Namen Aether oder Weinäther befannt ifl. Es unterfcheidet fich in feiner Zu⸗
fammenfegung von Alkohol nur dadurch, daß ed weniger Elemente des Waſſers
enthält,
Wenn man in die Netorte, außer dem Alkohol und der Schwefelfäure, eine
hinreichende Menge falpeterfauren Kalte (Salpeter) einführt, bevor die Mifchung
deftillirt wird, fo verbindet fich die Salpeterfäure mit dem entflehenden Aether,
und es geht eine zufammengefegte Aetherart über, welche in den Kaufläden Sal-
peteräther heißt. Dies befteht aus Weinäther und Salpeterfäure mit einander
vereint und iſt fehr Teicht, flüchtig und nicht übelriechend. Führt man anftatt
des Salpeters effigfaures Kali in die Metorte, fo vereinigt fich die Ejfigfäure
Die Wohlgerüche und Die üblen Gerüche. 553
und die zufammengejegten Aether, welche fie bilden, werden jemalig nach der
Säure und dem einfachen Aether, Die fie enthalten, benannt. So ifl ber gewöhn-
liche Salpeteräther, befien ich. Erwähnung that, falpeterfaures Antholorvd, ber
gewöhnliche Eifigäther eſſigſaures Anthyloxyd u. f. w.
Mit Hülfe diefer vorläufigen Erklärung wird ber in der Chemie nicht be
wanderte Leſer Leicht Alles, was ich im Kolgenden über den Kortichritt und den
gegenwärtigen Standpunkt unſeres Wiſſens in Bezug auf ätherifche Riechſtoffe
mittheile, verftehen und würdigen können,
4) Wintergrün⸗Oel. — Im Staate Neu⸗Jerſey, in Nordamerika, wächh
die Rebhuhnbeere, Theebeere oder Wintergrün (Gaultheria procumbens) reichlich
in den Wäldern und auf trodenen Rooren, Es iſt eine inımergrün flarkrie-
chende Zwerg⸗Heidepflanze und befitt einen angenehmen aromatifchen, der wohls
riechenden Birke ähnlichen Geruch. Es wird fchon feit langer Zeit gefammelt
und wegen bes wohlriechenden Otels, das daraus gewonnen wird, gleich anderen
wohlriechenden Pflanzen deſtillirt. Dieje natürliche Effenz wird in Menge in
Europa eingeführt und ift im Handel unter dem Ramen Wintergrün«Del
befannt.
Erft vor wenigen Jahren entdeckte cin franzöſiſcher Chemiker (M. Cahours),
indem er mit diefem Del experimentirte, daß es, ungleich den gewöhnlich aus
Pflanzen gewonnenen wohlriechenden flüchtigen Delen — wie Pfeffermüngze,
Zimmet, Unis, Wacholder sc. — ein zufammengefegter Stoff jei, zur befann-
ten Bamilie der zufammengejegten Aether gehörig, und daß es gleich diejen auf
chemiſchem Wege zerlegt und wieder zufammengefegt werden könne. Died war
der erfle Schritt in einer neuen Richtung und eröffnete der praftifchen Forſchung
ein neues Feld, das, wenn auch bis jetzt nur theilweiſe bebaut, doch ſchon höchſt
unerwartete Fruͤchte getragen hat.
Ich habe ſchon der bitteren Subſtanz Salicin erwähnt, welche durch einen
beſonderen Proceß in die wohlriechende Spiräaefjenz verwandelt werden kann.
Durch einen anderen einfachen Proceß laͤßt fih Died Salicin in eine fefle, kry⸗
ftalliniiche faure Subflanz, die Salicglfäure, umwandeln ; wird die Salicyljäure
mit Holageift vereint, fo bildet ſich Wintergrün⸗Oel. Diefe Verbindung wird
auf natürlichem Wege aus der Gauliheria procumbens erzeugt; dafjelbe gefchägte
Parfüm kann aber jegt, da wir deſſen Ratur kennen, Eünftlich hergeftellt werben.
Indeß ift das zu dieſem Proceſſe erforderliche Salicin zu Foftfpielig, als daß es
bis jetzt zur Erzeugung jenes Oels mit Vortheil angewendet werden könnte.
5) Künftliche wohlriechende Aether. Chemiſche Unterſuchungen haben mitt⸗
lerweile in den Laboratorien zuſammengeſetzte Aetherarten eutdecken laſſen, welche
nach unſerem bisherigen Wiſſen nicht in der Natur vorkommen, die ſich aber.
durch jo angenehme Wohlgerüche auszeichneten, daß ſie hierdurch den geſchaͤtzte⸗
ſten Parfüms zur Seite geſtellt zu werden berechtigt ſind. Viele von ihnen haben
ſchon einen wohlbegründeten Platz im Handel und find Gegenſtaͤnde einer aus⸗
gebehnten und vortheilhaften Fabrikation geworden. Dergleichen find
a. dad Birnöl, oder Effenz von Iargonellbirnen, welches, wenn e8 verkauft
wird, eine geiftige Löſung von effigfaurem Amyloxyd ift, ber Zufammenfegung
554 har re une
— mit fünf oder ſechs Mal * viel heine
rt par ini ee und kvieb! von: ben (Gonditee®
J irre Er find ebenfalls Verbindungen des Amhl- oder
Fuſelathers mit Säuren. Sie werden gebraucht, uni den britifchen und ande ·
ven geringen Branntweinſorten den — —
Säuren fie enthalten, iſt den Chemikern noch nicht befannt.
EGs wird dem Leſer ald des Bemerkens nicht umehrdig erfeinen; Daß def
ſelbe Fufelöf, welches feines widrigen Geruch und Geſchmacks wegen ſot
von dem Deftillatenr aus den ftarfen von ihm bereiteten Getränken em
unter den Händen des Chemikers den aenea⸗ ER sth Wenn
—
dd. Ananasol AR eine Verbindung des gewöhnlichen nit m Bu
fir, Ve Yan Dar) fo vl mi Es hat den angenehm
der Ananas umd wird in England gebraucht, um ein fäuerliches |
Limonade zu würzen, die man Ananad-Ale nennt. Im en
aͤhnlich zu ſchlechtem Rum verwendet. — Die Butterfänre, die in biefem zuſam-
mengefegten Aether enthalten iſt, iſt dieſelbe Subſtanz, die der frifchen Butter
ihren eigenthümfichen angenehmen Geruch gibt. Eine Methode, den Acther zu
bereiten, befteht darin, daß man die Butter in eine Seife verwandelt/ die man
mit Alkohol und Schwefelſäure deſtillirt. ar
Es iſt nicht rathſam, dieſen Aether zum Parfümiren von Schnupftüchern
zu verwenden, weil er nach wiederholten Einathmen beffelben eine unangenehme
Neizung der Lufttoͤhre und bei Tängerem Gebrauch Heftige Kopffchmergen verur⸗
ſacht. Uebrigens iſt er für ben Parfümeriefabritanten zu mancherlei gwecken
verwendbar, und als Würze ift er für den Gonditor unfchägbar. 40
e. Melöneneffenz ift eine Verbindung des Weinäthers mit Kocosfänre, eine
Säure, die im Coeusnußol sorhanben iſt. Die Bereitung ber Meloneneſſeng ges
ſchieht im derfelben Weiſe, wie die des Ananasöls, indem mir mir anftatt der
Butterfeife eine Eocuönußölfeife anwendet,
J
“alla
Die Wohlgerüche und bie üblen Gerüde, 355
f. Outtteneffonz iR Weinäther mit Pelargonfaͤnre. Berbännt mit Wein⸗
geift, beftgt fle im hoͤchſten Grade den angenehmen Geruch des Dels, das aus Der
Quittenſchale ertrablet wird. Sie wird fehr Leicht gewonnen, indem man Nau⸗
tendl mit erbännter Balpeterfäure (aqua fortis) deſtillirt.
:g. Ungarweindl iM Welnäther in Berbindung mit einer - eigenthümligen
Säure, Namens Oenanthſaure. Diefe Verbindung findet ich in allen Trauben
weinen und wird ald Ertract gebraucht, um einen Fünfllichen Cognac zu pam
fümiren, der dann kaum von Dem echten zu unterfcheiben ift. Bu dieſem Zwetke
wurde ed noch neuerlich in Breslau zu dem Preife von 90 Thlr. pr. Pfd. zum Ver⸗
Tauf ausgeboten! Es war in Ungarn bereitet — baber der Name — und aus
Weinbeerſchalen deſtillirt. Es if Fürzlich von Schwarz unterjucht worden, wel-
cher nicht allein feine Bufammenfegung und chanifchen Verbintungen dargelegt,
Tondern auch einen billigen Proceß vorgefchlagen hat, wodurch es zufünftig im
Menge präparirt werden kann.
h. Andere künftlicye Wohlgerüche. Die hier angeführten find fo zu Tagen
nur Proben von der beinahe endlojen Berfchiedenheit Fünftlicher zufammengefeg-
ter wohlriechender Aether, welche theils ſchon fabricirt werden, theils auf billi-
gem und leichtem Wege zum Gebrauch ald Barfümerien hergeftellt werden kön⸗
nen. — Es gibt 3. B. viele andere Säuren, die im Stande find, ſich mit jeder
der einfachen Aetherarten zu verbinden, welche ich erwähnt babe, und mit ihnen
zufammengefepte Aether von angenehmen Geruch zu bilden. Wir wiffen fchon,
daß die Ameifenfänre und Hippurfäure jede in Verbindung mit Wein- and Holy
geift Uetherarten liefern, welche fehr angenehme, bis jept noch namenlofe Par⸗
füms find; und beinahe unerjchöpflich ift Die Reihe ähnlicher Verbindungen, bie
mit anderen Säuren gebildet werden.
Außer den drei einfachen Aetherarten aus Weingeift, Holzgeift und Fuſeloͤl
gibt es nämlich viele andere einfache Aether, welche nicht fo befannt find ala
jene, in Verbindung mit derjelben Reihe von Säuren aber Zufammenfegungen
von mehr oder weniger wohlriechendem Charakter bilden.
So gibt Saprpläther oder Capryloxyd mit Effigfäure eine Verbindung
von fehr ſtarkem und angenehmen Geruch. Diejenigen, die es mit anderen Säus
ren bildet, find noch kaum befannt, viele von ihnen find aber wegen ihres aro⸗
matifchen Dufts bemerkenswert, Den Whiskytrinkern wird es intereflant fein
zu erfahren, daß man den eigenthümlichen Duft dieſes Getränke der Anweſen⸗
heit einer Verbindung dieſes Caprylaͤthers zufchreibt.
Auch der Propyläther, oder das Propplorid, gibt in Verbindung mit
Butterfäure einen reinen Ananasgeruch, welcher demjenigen vorzuziehen ift, der
durch dieſelbe Säure mit Weinäther gebildet wird, und manche andere noch un⸗
bekannte Wohlgerüche werden ohne Zweifel bei und gebräuchlich werden, wenn
die Verbindungen diefer einfachen Subſtanz erft weiter erforfcht find.
6. Dad Bouquet oder die Blume der Weine. Unter die Wohlgerüche,
die wir genießen, muß auch die Blume unferer Lieblingsweine gerechnet werben.
Diefe Blume rührt Hauptfächlich von der Anweſenheit eines oder mehrerer jener
flüchtigen ätherifchen Dele her, welche den vorbefchriebenen ähnlich find.
556 und nid euer
0 Allgemein geiprochen hängt ber beſondere | Mei
ſelbe —— — — ——
bindung des gewöhnlichen Weinaͤthers mit einer beſonderen Säure, der Denanth⸗
jäure. Diefer Aether befüpt in reinem Zuftande den charalteriſtiſchen Geruch bes
Traubenweins in jo hohem Grabe, daf er beinahe beraufcht. Er gibt, allen
Zraubenweinen, man möchte fagen, bie Gtumblage ihres Gefhmads,
Wenn aber der Rüditand Des Weines — das, was übrig. bleibt, ‚wenn
der Altofot, und Denanthäther abdeftillirt find — mit gebranntem Kalt pers
miſcht und wiederum deftillirt wird, jo geht eine ———
ſtanz über, die in hohem Grade das eigenthuͤmliche Bouquet des Weines, beſitzt,
den wir eben prüfen. Jede Weinſorte liefert bei dieſer Behan
eigenes beſonderes und charakteriſtiſches wohlriechendes —* —
fiſche Bouquet, ‚verbunden mit dem allgemeinen weinartigen Geruch des Oenanth
athers, der allen Weinen gemein ift, übt auf ben, Geruchs- und Geſchmacksſiun
die volle Wirkung, um deren willen jeder befondere Wein ausgezeichnet, und ge=
ſchaͤtzt wird. Die Schnelligkeit, mit. der ſich die Blume eines Weines verliert,
hängt theils von dev größeren oder geringeren Zlüchtigkeit der befonderen wohl-
riechenden Stoffe ab, die er enthält, theild von. der Leichtigkeit, -
diren ober ſich anderweitig verändern, wenn fie der Luft ausgeſetzt find,
Wenig iſt bis jegt über die wahre chemiſche Natur diefer befonderen Ric
ftoffe bekannt, Winkler jagt, daß fie baſiſche und alkaliniſche Eigenſchaften be—
figen, Stidjtoff enthalten und fid) in den Weinen in Verbindung mit beſonde -
sen flüchtigen Säuren vorfinden, Sie find immer vereint mit den vorbefchrie-
benen Oenanthaͤther, aber jelbft find ſie feine Aetherarten. , Wenn. man. fie,erft
genauer unterfucht bat, jo werden fte und wahrjcheinlich eine andere große Fa—
milie angenehmer Gerüche kennen lehren, und die natürlich entſtehende Frage
wird. fein: Können. wir dieſe Subftanzen durch fünftliche Proceffe präpariven?
— Können wir.dem Wein-Fabrikanten lehren, je nach Belieben ein Faß mit
dem Bouquet des Lafitte, ein anderes mit dem des — ⸗ zu wuͤr⸗
zen? u. ſ. w. Yu
Ich brauche wohl kaum zu — daß das Verſehen Ver: Branntweine
und Biere, um ihnen ein beliebtes Bouquet zu geben, Lange bekannt geweſen
und in ausgebehntem Maße in Anwendung gebracht iſt. Ich babe bereitä er
funden wird, der ſich am Unterleibe — —
Größe eines Rehs befindet, welches die Gebirge von China, Thibet, Tonkin, der
Tartarei und Sibiriens bewohnt. Man erhält e8 nur vom Minnden. Wenn
— — ſo bildet — Re
ſtalt Meiner runder Körner an, welche auf Papier einen braunen Strich abge
ben und fich Teicht in Pulver gerreiben laſſen. Er iſt einer ber ſtärkſten, durch⸗
dringendflen und anhaltendften Riechſtoffe. Er haftet von ſelbſt und gibt
Allem , was in feine Nähe fommt, einen dauernden Geruch. Man trifft Mo—
ſchus von verfchiedener Qualität und fein hoher Preis jegt ihn fehr der Ber
flfehung aut. Im reinen Zuftanbe löſt er ſich in drei Vierthellen feiner Menge
in Waſſer uf. 00000. in Tu ie ah —
Die chemiſche Natur bes Mofchus ift micht völlig Flar, Er enthält vers
fchiedene weniger ſchaͤtzbare Beftandtheife, deren allgemeine Eigenfchaften und
Urfprung befannt find, aber der chemifche Charakter und bie Zufammenfegung.
desjenigen, welcher den gefchägten Geruch abgibt, iſt noch nicht genau erforfcht.
Ebenjo wie das Weinbouquet ſcheint er aus einer flüchtigen Säure und einem
flüchtigen Alkali zu beftehen, welche man burch Deftillation mit Kalk getrennt
558 Pe PER Te —— ——— — 47
hat. — — — —
— am woran
in einer Höhe von 17,000 Buß waͤchſt, hat einen jo
Moſchusgeruch, daß glauben, das Moſchusthier, das ſich an ben
———— findet; habe feinetr Geruch von Freffen diefer Pflanze, Ein
anderes Delphioium, das Delph. brunonianum, weldyed an den weftlichen At
hängen dem Himalaya waͤchſt, hat einen ähnlichen, aber weniger umangeneh
Moichusgeruh, Das Weſen der nach Moſchus riechenden Subftangen im bie
Pflanzen iſt noch nicht belannt...
Ungefaͤhr 6000 Unzen Moſchus werden jährlich hier zu Lande eingeführt,
außer demjenigen, der aus China und Rußland kommt. Jeder natürliche Beu⸗
tel oder Sad wiegt nur ungefähr 6 Drachmen, wovon noch weniger wie bie
Hälfte Moſchus ift. Es iſt noch bemerfenswerth, daß während dieſer Geruch im
England: und anderen Ländern fo jehr geichägt wird, er in Italien: —*
widerwaͤrtig gilt und viele Perſonen kranl macht
2) Der Zibet. Die Subftang, die im Handel unter ee
befannt ift, wird von zwei Thieren abgefchieden, die dem Gefchlechte Viverra ans
gehören (V. zibetha und V. eivetta), beren eines in Ajten, das andere in Afrien
heimifch iſt. Der Zibet ift von einer blaßgelben oder bräunlichen Farbe,
hat gewöhnlich Honigconſiſtenz und einen etwas fcharfen Geſchmack. Sein
Geruch ähnelt dem des Moſchus und iſt umverbünnt fo Fräftig, daß er
Manchen unangenehm berührt; wird er aber mit einer großen Onantität Buts
ter oder anderen verbünnenden Subftangen vermifcht, fo wird der Geruch ange
nehm aromatiſch und fein. Er wird nur ald Parfüm benugt und hauptfächlich,
um ihn mit weniger Eoftbaren Miechitoffen zu vermifchen und deren Wohl-
geruch zu erhöhen, Lavendel und andere wohlriedyende Waffen werben
durch ein geſchicktes a bes Ziber im geringen Duantitäten angenehmer
gemacht, Kr an ZB 2
In dem nörbfichen Afrika Wiſchen dem rothen Meere und Abyſſinien ſteht
bie Zibetkatze, von den Arabern Kedis genannt, ſehr hoch im Werthe. Man
hält fie dort in großer Anzahl im geflochtenen Käfigen, um den Zibet zu ſam—
meln, ben fie abfondern. Bon den Weibern wird er henutzt, um ihren Ober⸗
Die Wohlgerüche uud. Die üblen Gerüche. 558
Züspee., Hals. damit einzureiban. Gein angenehmer Beruck ichermältigt Die
unangenehme Ausdůnſtung ihrer Dunklen Haut in jegem heißen Clima.
Bibergeil (Castoreum) iſt cine natürliche Abſonderung des Vibers, in ſei⸗
nem Urſprunge und feinen Eigenſchaften dem Moſchus und Zibet aͤhnlich. Gleich
dieſen Subſtanzen hat es im faiſchen Zuſtaude einen- ſtarken durchdringenden
Geruch und einen bitten, ſcharfen Geſchumack. Der Geruch iß indeß ſtinkond
und unangenehm, und wird das Bibergeil deahalb nur in der Medicin und nie
als Parfüm verwendet. Hyraceun if eine ähnliche nom Bergbach& (Hyrax
capengis) fonımende Subſtanz. Es gleicht dem Caſtoreum im Geruch und wird
bisweilen flatt feines zw wedicinifchen Zwecken gebraucht,
3) Das graue Ambra ift eine wohlrischende Subſtanz, welche mar auf dev
See in der Nähe der Moluften und auch in anderen Theilen bes Inbifchen Oceand
und an den Küften Gud⸗Amerikas ſchwimmend autrift, Man; glauht, daß «8
bon. dem Pottſiſche audgeworfen wirb, in dem man es biöweilen gefunden has.
Im frifchen Zuſtande ift das graue Ambig feft, gräulich, geftreift ober mar⸗
morirt und etwas weich. Es befieht zum Betrage von 9/ı des Gangen
aus einer wohlriecgenden,, in Alkohol auflösbaren Eubftanz, der man den Ra»
men Ambrein gegeben bat. Diefem Gauptbeftandtheil ift fein Gebrauch als
Parfüm zuzufchreiben.
Ambra wird felten allein gebraucht. Die Ambraeffenz des Parfümenrs
ift eine alkoholiſche Löſung diefer Subflang, welcher man das Del der Mofen,
Relten sc. je nach Gutdünken Hinzufügt. Die fogenannte Zibettinetur wird
durch Erweichung einer halben Unze Zibet und einer Viertelunze Ambra in
einem Quart gereinigten Spiritus erzeugt. Jede biefe Tincturen, in geringen
Duantitäten dem Lavendelwaſſer, Bahnpulver, Saarpuder, den Zoilettenfeifen sc.
hinzugefügt, teilt dieſen eigenthuͤmlichen Geruch des Ambras mit.
In der Beitäntigkeit und Dauerbaftigkeit des Geruchs kommt Nichts den
tbierifchen Niechftoffen gleih. Ein Schnupfiuch, dad mit Ambra parfümirt ift,
behält den Geruch felbft nach dem Wafchen deſſelben; Mofchus und Zibet find
beinahe nicht weniger dauerhaft. Diefer Eigenheit verdanken dieſe Subſtanzen
ihren vorzugsweifen Gebrauch als Parfüm. Ste theilen den flüchtigen Schnupfs
tuchparfums einen Geruch mit, welcher andauert, nachdem: die weniger haftenben
BeftandtHeile verfchwunden find. Gin Liehlingsparfüm biefer Art, das extrait
d’ambre der Parifer Parfümerien, ift eine Mifchung von */a Näfel esprit de
rose triple, 1 Röfel Ambraertract, *a Röjel Moſchuseſſenz und 2 Unzen Va⸗
nilleertract.
Wenn ein Schnupftuch mit dieſer Miſchung gut parfumia if, fo behält
e8 ebenfalls feinen Duft noch nach dem Waſchen.
Der hohe Preis, in welchem das Ambra, gleich wie der Mofchus und
Zibet, im Handel fteht, verleitet zu häufigen Berfälfchungen, ſowohl bier zu
Rande wie auch dort, woher er importitt wird. Die chemifche Ratur dieſer
Subftanz ift noch nicht fo genau feflgeftellt, daß wir zu der Hoffnung berechtigt
wären, bald ihr wohlriechendes Ingredienz auf Fünftlichem Wege erzeugen zu
koͤnnen. Indeß deutet die Beobachtung, daß getrockneter Kuhmiſt nach Ambra
— * —2* — —— — pP
Nichts über Die chemifche Natur der Niechſtoffe betannt if, ı che vom Infeften
nn | M
er ein
IE 7% ——
zuſammengeſtellt babe, . Mangel an Me
mir aber, auf mehr als eine oder zwei B—— vn |
1) Gin Umftand, welcher unſere Aufmerffamkeit ſehr in A Ve
ift, Bape antmeifegen rfprunga TeLSR oc ea ntlich
großer Vertheilung für unſere Sinne wahrnehmbar find, ir Stütd |
ſchus verbreitet nicht nur einen ftarfen Geruch, wenn es erfi
wirb, fondern dies dauert fort in einer beinahe unendlichen 3
doch kann der Geruch nur dadurch berurfacht werden, —**
beſtandig von dem Moſchus abſondern, jo lange er ber Luft ausgeſeht bleibt
Wie unbegreiflich geringe am Gewicht, wie ee dehnun
elf DE Oi fen, nun rien Vie RE e on
terie befteht! near. %ı
Faſt biefelßen Bemerkungen gelten: ben segelabiifigen —
Saãckchen Kampfer wird Tagelang einen großen Raum a
füllen, ohne irgend eine weientliche Verkleinerung an Gewicht zu erfahren. Ein
einziges Blatt des Honigklees wird Jahrelang jeinen Wohlgeruch he
äußern, und doch würde wahrfcheinlich bie Dnantitit Goumarin, die «8 ı
kaum durch die feinfte Waage zu jchägen fein. Wir willen, wie ein
Reſeda, im ein offenes Fenſter geftellt, einen re mern
eindringenbe Luft parfümirt. Im heißen Klimaten, befonders während der
Morgen» und Abendftunden, iſt aber dieſe Verbreitung der Bernd nnd auf
3
Die Wohlgerüche uub Ue üblen Gerüche. 861
fallender. ‚Der: Geruch der Balſam liefernden Humeriaden iſt in einer Ent
ſernung von 3 Meilen don den Küſten von. Süd⸗Amerika bemerkt — eine Art
von Tetracera verbreitet ihr Rarfum ebenfo weit von: ber Infel Sub um das
Aroma der :Spiee-Infeln reicht: weit über das Meer.“
: Die Menge des aͤtheriſchen Oeles, welches dem Aanbenwein fein eigen»
thumliches Aroma gibt, iſt nur auf 1/40,000 ber Weinmenge geſchätzt wor
den, und das des gebrannten Kaffees auf 1/50,000 feines Gewichts; Das Ogon
aber, welches in dev Atmofphäre exiſtirt, if deutlich bemertbar, wenn man es
auch: mit 500,000-Mat fo viel Luft vermiſcht.
2) Die Beinheit der Pörperlichen Organe, : durch welche wir dieſe außer»
ordentlich verbünnten Riechſtoffe wahrnehmen, : ift ebenfalls ein Gegenſtand der
Bewunderung. Der Geruchöfinn entdeckt und entjcheider über die Anweſenheit
dieſer unendlich Kleinen: Molechle, : Dies tft merfwärbig, uber eu that: noch mehr.
Er unterfcheidet zwiichen ihnen, indem er den Eindruck ber einen Glafle für aus
genehm erklärt, ‚den der anderen für das Gegentheil; Gr wetbeilt ferner über
Grade und Arten der angenehmen Eindrücke eines jeben, und zwar durch eine
lange Reihe von Barietäten und Abſtafungen. Wie frin muß der Ban ter Ge⸗
ruchsorgane fein! Wie überraſchend, daß fe fich unverletzt und unverborben
‚halten inmitten ſo vielen gedankenloſen Sebrarchee und wihrent einer ſo lan⸗
gen Reihe von Jahren!
3) Diefe Geſchichte der Gerüche, die wir einathmen, beleuchtet in mert⸗
würdiger Weiſe, wie die Chemie durch Ihre magiſchen Proceſſe aus ben unan⸗
genehmſten Materialien die angenehmſten und geſuchteſten Parfümée gewinnen
Tann. Wie wunderbar iſt dieſe Macht, wie angenehm ſie zu befigen, wie nuͤt⸗
lich ihre Reſultate! Künſtlicher Moſchus und Ambra! Wabriten für Bitten
mandelöl! Eſſenzen von Spirka und Wintergrün bereitet in chemiſchen Labo⸗
ratorien! Einfacher Wein mit Erfolg gewuͤrzt, daß er mit Dem Product ber
koſtbarſten Weinleſe wetteifern kann! Aetheriſche Riechſtoffe ohne Zahl und
Ramen dein Verzeichniſſe der genießbaren Wohlgerüche hinzugefügt. Ange
nehme Düfte wohlfeil hergeſtellt, von denen in alter Zeit die Reichſten keinen
Begriff, und die ſte fich zu verſchaffen keine Mittel hatten
Dieſe Geſchichte bietet in der That eine andere treffende Beleuchtung der
Art und Weiſe, wie die neuere chemiſche Forſchung zum Entſtehen neuer Künſte
und Fabrikate führt — zur Gewoöhnung an neue und unbekannte Luxusgegen⸗
ſtaͤnde außer denjenigen, die und bereits eigen waren — zur Berwehlfeilung des
Eomforts für Alle — und dadurch zur Verfeinerung der Menfchheit in jeglicher
Beziehung. Ste Iegt dem Liefer die Exiſtenz eines neum Feldes für praktifche
und öconomifche Forſchungen dar, welches beinahe ohne Grenzen iſt, zeigt, wie
werthvoll die Chemie auf faft jedem Lebenswege ift, und wie bie Studien bes
Laboratorit felbft zur Duelle des Geldgewinns gemacht werben können in Zwei»
gen des gewerblichen Betriebes, von denen man es am wenigften erwartet hat.
Die Gerüche, die ung mißfallen, find wahrfcheinlich eben fo groß an Zahl,
als diejenigen, die und angenehm find. Brolfchen. beiden Tiegt jedoch ein weis
te8 beſtrittenes Feld, mit Bezug auf welches die größte Meinungdverfchiebenheit
IV. 36
562 he mir — ⸗ si
herrſcht. Was einer Perfon ala Wohlgeruch gilt
=. Vlutarch erzählt, daß Sn anf nnd
ih "Mineralifepe übt © Gerüche. — Unter den üblen Geruͤchen minera-
liſchen Urfprungs find die gewöhnlichften Schwefelwaflerftofigas und fehwefeltge
Säure. Das erftere giebt den Mineralwaflern ihren unangenehmen Geruch und
Geichmad; das Tegtere entſtrömt den Kratern * pre Vulkane und
Spalten und Löchern vulfanifcher Gegenden. u 77 WILLE
| Nothglũhhitze zu werbin, jo ver
binden ſie * und bilden das ſchwarze Schwefeleiſen. Wird dieſe
ſchwarze Subſtanz in Gemeinſchaft mit Schwefeljäure (Vitrioloͤl) in eine Flaſche
ober Retorte gethan, fo entwickelt ſich, gewöhnlich ohne Anwendung von Gitze,
ein Gas, das aus Schwefel und Waſſerſtoff beſteht und deshalb Schwefelwaſſer⸗
ſtoffgas genannt ift. Dies Gas kann in gewöhnlicher Weiſe über Waffer ges
jammelt werden, Es hat feine Farbe, ift aber ausgezeichnet durch feinen ſchwe⸗
feligen Geſchmack und durch einen ftarf ftinfenden ſchwefeligen Geruch, ähnlich _
ben der faulen Eier, Es ift ungefähr */s fchwerer wie die gewöhnliche ath-
mofpbärifche Luft, brennt mit blauer Flamme und einem Schwefelgeruch und · iſt
ſehr giftig einzuathmen. Eine einzige Gallone von dieſem Gas, gemiſcht mit
1200 Gallonen Luft, macht dieſe für Vögel —— und eine ſolche Miſchung
im Verhaͤltniß von 1 zu 100 tödtet einen Hund. Ein ſehr geringer Theil da⸗
son wird demnach ſchon die Luft, die wir einathmen, für unſere Gejundheit
nachtbeilig machen. Waſſer nimmt 2%2 Mal feine eigene Menge vom dieſem
Gas in fi auf und bekommt gleichzeitig deffen Geruch und Gefhmad.
Diejes Gas wird oft auf natürlichem Wege in dem Innern der Erde pro-
ducirt, umd indem es durch bie Belfen in die Höhe fteigt, wird es von Quellen
abjorbirt, welchen es den und in manchen Mineralwaflern befannten unangeneh⸗
men Geruch giebt. Das Schwefelmafferftoffgas, welches ſte enthalten, verurs
ou
1
Die Wohlgerüche and die üblen Gerüche. 563
facht, daß dieſe Waſſer fich fchwarz färben, wenn man fie mit denjenigen ande⸗
rer Quellen mifcht, welche Eiſen enthalten.
Auch an fumpfigen Orten und an ftille ſtehenden Gewaͤſſern, wo begetabi
liſche Stoffe ſich in Berührung mit Waſſer auflöfen, das Gips (ſchwefelſauren
Kalk) enthält, ſcheidet ſich dieſes Gas aus; und fein Geruch kann in ſumpfigen
Gegenden bemerkt werden, wo Gips in Berührung ſteht mit verweſenden Wurzeln
und Blättern. In vulkaniſchen Gegenden entftrömt es oft der Erde in größe
sen Duantitäten. Aus den Spalten und Oeffnungen der Solfataren in Italien
3. B. der von Puzzuoli, entweicht es, mit Rauch und anderen Gaſen vermifcht,
und verbreitet feinen ftinfenden Geruch bisweilen auf große Entfernungen. An
ſolchen Orten wird ber Geruch biefer Subſtanz wahrhaft läftig und ein Gegen⸗
fand des Widerwillend.
Die in unferen Koblenminen fi findenden Eifenkiefe erfahren, wenn man
fie unter freiem Himmel. aufhäuft, durch Einwirkung ber atmofphärifchen
Feuchtigkeit eine Zerfegung. Eins der Refultate diefer Zerfegung ift die Ent⸗
wickelung von Schwefelwaflerkoffgas, bisweilen in hinreichender Menge, um der
unmittelbaren Umgebung fowohl läftig als auch ungejund zu werden.
Dies Gas befteht, wie gejagt, nur aus Schwefel und Wafferftoff im Ver⸗
bältnig von 94,1 Theilen Schwefel und 5,9 Theilen Wafferfloff, fo dag verhält
nigmäßig nur ein Geringes bes letzteren erforberlich ift, um zu verurfachen, daß
der Schwefel die Gasform annimmt und den flinfenden Geruch und die merf-
würdig giftigen Eigenfchaften dieſes Gaſes zeigt.
2) Schwefelige Säure. Wenn Schwefel in freier Luft angezündet
wird, fo brennt er mit einer blafjen blauen Flamme und wird in einen fchweren
fauren Dampf oder Gas verwandelt, welcher fih durch einen eigenthümlichen
erftidenden Geruch auszeichnet. Dieſes Gas ift fo wohl befannt wie ber Ge
ruch ded brennenden-Schwefeld. Es wird gebildet durch die Verbindung bes
Schwefels mit einer gleichen Menge Sauerfloff aus der athmofphärifchen Luft
und wird von den Ehemifern fahwefelige Säure genannt. Sie ift 21/5 Mal
ſchwerer ald die gewöhnliche Luft und verurfadht, wenn man fie einathmet,
erft Huften und bei längerer Dauer Erftidung.
Diefed Gas entfirömt den Kratern thätiger Bulfane, den Deffnungen und
Spalten der Erde in vulkaniſchen Gegenden und aus ben Solfataren, welche
ſich oft finden, wo vulfanijche Regungen flattfinden. Es mißpfällt nicht weni⸗
ger wegen feines Geruchs, wie Schwefelwafferfloffgad, und wirft fogar noch er-
ſtickender, wenn man es einathmet.
Der allgemeine Widerwille gegen dieſes Gas wird bezeichnend dadurch an-
gedeutet, daß der Ort, ber ihm fo allgemein in figürlichen Beſchreibungen an⸗
gewiefen wird, ein zufünftiger Peinigungsort ift.
3) Chlorwafsferftofffäure (Salzſaures Gas). Gießt man Vitriolöl
(Schwefelfäure) auf gewöhnliches Salz, fo entwickeln ſich weiße Dämpfe, welche
Huſten hervorrufen, fehr erftidend wirken, und die Geruchsorgane in einer ent»
fehieden unangenehmen Weiſe berühren. Dies find Dämpfe von Ghlorwafler-
ftoffjäure oder Salzgeiſt. Sie werden mit großer Exchnelligkät vom Waſſer ver-
36 *
Die Wohlgerüche und die übten _—
genannt, und fie iſt es eben, welche im Rnoblau
biefem wie auch der Zwicbe ren eigenthümliche
ber Luft vorhanden # bie wit —— on, x) 112 [" -
Diefe frrtig Hiefhende Berbindeng: trinherk und: FRSTTE *
Dauerhaftigkeit ihres Geruches an bie animalifchen Parfums — Moſchus, Biber
und Ambra — die im vorigen Gapitel beſchrieben wurden. Achnlich dem Mo-
ſchus ſchmilzt auch fie durch bie Poren der Haut des Knoblaucheſſers, indent fie
den Ausbünftungen ihren Geruch giebt; während fle, ähnlich den narfotifchen
Stoffen des Opiums, wahrſcheinlich unverändert im die Milch der Thiere über:
geht, weldye es verſchlingen. Und ſowohl die Staͤrke wie auch die Zaͤhigleit des
Geruches zeigen ſich durch das wohlbekannte Faktum, daß ein Meſſer, welches
gebraucht worden iſt, um eine Zwiebel zu ſchneiden, lange Zeit den Geruch und
Geſchmack dieſes Oeles behält und fle anderen Gegenftänden mittheilt.
Es ift der Aufmerkfamkeit des Leſers nicht unwerth, daß gleichwie die mei-
fin ſtinkenden mineralifchen Gerüche, welche ich beſchrieben habe, fo auch dieſes
ftinfende vegetabilifche Knoblauchoͤl eine Sufammmenfegung mit Schwefel iſt
(Schwefelallyl). Wir werden Gelegenheit haben, eine ähnliche Verbindung des
Schwefels mit anderen, —— eig als auch fünftlichen a —*
zu bemerken, |
2) Uſſafötida ift der verdickte Safı der Ferula —— Er wird *
ſammelt, indem man den Stengel der Pflanze unmittelbar über der Wurzel ab»
ſchneidet, Die Wurzel im ber Erbe läßt und den Saft allmälig, wie er nad
oben dringt und auf ber Schnittfläcye trodnet, abjchabt. Er bat einen dem
Knoblauch ähnlichen Geruch, aber noch flärfer, ftinfender und im Allgemeinen
den Europäern noch unangenehmer. An den Grenzen von Aſien dagegen findet
man den getrockneten Saft nicht unangenehm ; im Gegentheil, er wirb in großer
Ausdehnung gefammelt, verfauft und als Würze zu Speiſen benutzt. |
Wird diefe harzige Subftanz mit Waſſer deftillirt, jo liefert fie ebenfalls *
fluͤchtiges Oel in geringer Quantitaͤt. Durch Erkalten wird dies Del feſt und
entwidelt in erhöhtem Maße den ftinfenden Gerudy tes natürlichen Stoffes,
Sein Geruch hat eine gewiffe Aehnlichkeit mit dem des Knoblauchs, nur iſt er,
wenn möglich, noch garftiger ; auch ift e8 bemerfenswertb, daß es in ber Zus
fanmenfegung dem Knoblauchöl ähnelt. Es enthält denjelben eigenthümlich
fireng riechenden Körper Allyl, und ebenfall® in Verbindung mit Schwefel,
Der einzige Unterjchied in der Zufammenfegung ber beiden Oele fcheint ber zu
jein, daß das Aſſafötida-Oel eine größere Menge Schwefel enthält, als Das
Knoblauchöl.
—7
fällen der Andenkette gu £ [ na Eu e uch, | 1}
1 TA Pen in m Thuhmteaut Weſtindiens, mi
Gomfort beförbest wird. ; ae — ya ung dm
merhvürbigen Umftand, baf Deerrettig und Senf — Würze
mittel in jo — — ihre eigenthamlichen Gtgenſchaf-
ige elben Allyloerbindungen verdantm.
3: und Senf. Delillirt man die Wurzel des gewöhnlichen
Meerrettigs mit Waſſer, fo Tiefert fie ein flücytiges Del, welches ben beißenden
Geruch und Sefämad der natürlichen Wurzel in einem ſehr hohen Grade be⸗
figt. Dieſer Geruch ift, wie ich glaube, dem meiften micht mißllebig; ich ers
wähne aber des Deles an biefer Stelle, weil es benfelben zufanmengejegten
Körper, Allyl, enthält, der in dem Knoblauch und Aſſafötida-Oel vorhanden
ift. In dem Meerrettig ift er jedoch nicht allein mit Schwefel, ſondern auch
mit einer zweiten Subflang verbunden, die bei den Chemikern unter dem Namen
Cyan befannt if. Dem Vorbandenfein dieſes Chans find Die verſchiedenen
Eigenſchaften des Meerrettigs zuzuſchreiben. Der Geruch und Gefhmad des
von ihm gewonnenen Deles find fehr fcharf und beißend, es hat aber wenig von
dem ftinfenden Gharafter, welcher das Knoblauch und Aſſafötidabl auszeichnet.
Der Senf hat feinen eigenthümlichen durchbringenden Geruch, brennenden
Geſchmack und feine zufammenzichende Gigenjchaft von demfelben flüdytigen
Del, dad man im Meerrettig findet, Man findet e8 auch im Löffelkraut (Coch-
learia offieinalis), in den Wurzeln der Alliaria offieinalis, und wahrſcheinlich in
unferer gewöhnlichen Kreffe, dem Rübfen, Nettig und in ähnlichen beißenden
Pflanzenarten. Bon dem Vorhandenfein diefes Oeles rührt aller Wahrfchein-
lichfeit nach ihre befondere beißende Eigenjchaft; und gleichwie es bei demjenigen
der Fall iſt, welche den Knoblauch⸗Geruch befigen, fo ift es wahrſcheinlich auch
ein inſtinetives Bewußtfein ihres gefunden Einfluffes auf das Körperſhyſtem,
welches zu dem ausgedehnten —*— ihrer So in jo eur — —
geführt hat.
4. Der ſtinkende Ginſefuß —— olidum) it wo ‚andere Pflanze,
welche wegen ihres unangenehmen Geruches Tange befannt gewefen ift. In bo—
tanifchen Werken wird diefer Geruch verglichen mit demjenigen fauler gefalzener
Fiſche. Die-Subftanz, von welcher diefer Geruch herrührt, ift in neuerer Beit
für den Phyſiologen eben fo intereffant geworben, wie bie, welche beim —
und der Aſſafötida den ihrigen giebt.
Deftillirt man einen Theil biefer Bflange mit einer Löfung von gewöhne
Die Wohlgerüche und die üblen Gerüche, 568
in Gentralamerifa fo populären Pulque Liefert, iſt auch wegen ſeines Geruchs
nach faulem Fleiſch bemerfenswerih. F
Die hemifche Verbindung, von der biefer Aaßgeruch herrührt, tft noch un⸗
befannt. Sie bildet fich fo zu Tagen als eine natürliche Abfonderung — ale
das Meftiltat der Gährung In dem Agavefafte — und ald Folge der Verweſung
bei todten umd faulenden Zifchen. Mag ed entweder dieſelbe Subſtanz fein,
welche in allen dieſen Bällen den Geruch gibt, oder mag er durch verfchiebene
Subftanzen derfelben chemifchen Ratur verurfacht werden, fo gehören fle doch
alle am wahrfcheinlichften zu derfelben Glaffe alfalinifcher Verbindungen, wie
das Trimethylamin des Gänfefußes und des Stockfiſches.
Es ift intereffant, nahe chemifche Uebereinftimmungen aufzudeden, gleich
denen zwifchen vegetabilifchen und animalifchen Erzeugniſſen, felbft wenn man
Dinge untergeordneterRatur und unangenehmer Art betrachtet. Sie find wenig-
ſtens mehr unerwartet und jcheinbar weniger nothwendig als diejenigen, die wir
bereitö zu bemerken Gelegenheit hatten zwifchen der ganzen Maſſe des thierifchen
Körpers und den zahlreihen Pflanzenftoffen, durch welche dieſer unterhal⸗
ten wird.
Wir haben im Laufe diefer Abhandlung gefehen, wie jehr der Geſchmack
mit Bezug auf Wohlgerüche abweicht. Die Gejchichte des merifanifchen Puls
que beweift, wie die Unannehmlichkeit eined Geruchs auch eine bloße Geſchmacks⸗
ſache if. Ginige finden ein geringed Verderbniß an frifchem Fleiſch oder einen
Wildgeruch bei wilden Thieren ſchmackhaft, weil ed eine größere Zartheit bes
Fleiſches andeutet und gewöhnlich auch Davon begleitet if. Und fo licht auch
der Merifaner, troß des flinfenden Geruchd, feinen-beimifchen Trank und er⸗
freut fich defielben mehr wie irgend eined anderen. Wir fcheinen den faulen
Geruch nicht zu lieben ober zu verabfcheuen wegen irgend einer pofltio peinlichen
Wirkung, welche er auf unfere Geruchsorgane hervorbringt, fondern wegen ber
Zujäße, die mit ihm verknüpft find. Man lafle den Riechenden diejen Geruch
in frühen Jahren als denjenigen eines angenehm fauren, durftlöfchenden und
erheiternden Getraͤnks einathmen und er wird feiner Naje jpäter ſtets wie ein
angenehmes Parfüm vorfommen. Wird er aber von vorn herein fein Geruchs⸗
organ berühren und ihm ald der widerwärtige Ausfluß eines todten und verwe«
ſenden thierifchen Körpers befannt, fo wird der Geruch ihn an den unangench»
men Tod, an verhaßte Würmer und an die gefürdhtete Auflöjung erinnern, der
fein eigener Körper einft anheimfallen wird. Er wird ihm nie etiwad Anderes
fein, als ein efelhafter Geſtank. So jehr find die Eindrüde unjerer Sinne abe»
hängig von den Umftänden, unter deren Einfluß wir zufälligerweife geriethen,
nachdem das Vewußtſein erſt in und erwacht war. |
Animalifheüble Gerüche. Unangenehme animalifche üble Gerüche
find den Ihieren fait jedes Theils der Erdfugel eigen. Der Ziegenbod, ber
Dachs und der Iltis bier zu Lande, das Stinkthier in Nordamerika, die ſchön⸗
geitreiften Viverren der jübamerifanifchen Ebenen und der große Ameifenbär
deſſelben Landes find, jedes für ſich charakterifirt, Durch einen eigenthümlichen und
570° a ar ee ae
unangenehmen Geruch. Einige von ihnen füllen fogar auf ihrem Wege bie Luft
ſche ——— —— — LEE
Seruchöftune Ir Seruchöftune ı * Är
Manche andere —— —
—* in der Prunftzeit; über Die chemiſche Natur oder Verbindung der
tanzen, zu welchen alle dieſe animalifchen Geftänfe gehören, find wir aber |
jegt ——— Gin bekanntes chemiſches Factum Mit Bes anf be
Tor ift jedoch merfwärdig genug, nämlich, daß ber ganze Ausfluß der
— ion —— nicht allein von der allgemeinen Natur aller Nahrung, das
es zu ſich nimmt, affieirt iſt, ſondern auch von der Einführung der allerkleinſten
Duantitäten fremder Stoffe in den Magen, So gibt das Verſchlucken eines
feinen Kügelchens fein pulverifirten Schwefeld der ganzen Haut und für bie
Dauer mehrerer Tage einen entfchieden imangenehmen Geruch. Und noch merk—
wirbiger iſt, daß ein einziges Korn einer Verbindung mit dem metallifchen
Tellur, einem gefunden Menſchen eingegeben, feine Nähe für Wochen und bis—
weilen jogar pr Monate, nachdem er 7) verſchluckt bat, volllommen unerträge
fi macht J
Das Tellur iſt noch eine vergleichswelſe ſeltene Subſtanz, und wir wiſſen
bis jet wenig von den Verbindungen, welche es mit organiſchen Subſtanzen eins
zugeben im Stande ift. So viel ift indeffen wahrfcheinlich, Daß fle noch ftinfen«
deren und efelhafteren Charakters find, als die durch Schwefel erzeugten. Mit
Allyl — bereits erwähnt ald ber eigenthüntliche, ftarfriechende Stoff des Knob⸗
lauchs, der Aſſafötida und des Senfs wird das Tellur- wahrſcheinlich einen zus
fammengefegten Körper bilden, welcher noch unerträglicher ift wie Das Knoblauch
und Affaföridadl. Und wenn wir ſolche Verbindungen nicht als Mittel zum
finnlicyen Genuß benutzen fönnen, jo mag es doc) nicht unmöglich fein , fie als
Angriffs⸗ oder Vertheidigungswaffen zu verwenden. Die natürliche Gewohn⸗
heit des Stinfthiers in Diefer Beziehung nachahmend, müßten wir dieſes in ber
Stärke und Strenge unferer fünftlichen Geſtaͤnke weit übertreffen. Bon den
Wällen einer belagerten Stadt oder in Das Innere eines befeftigten Grbäudes
gefchleudert, oder durch den Raum eines Kriegsichiffes verbreitet, würde dad grie=
chiſche Feuer Nichts dagegen fein; und was die Stinftöpfe der Chineſen betrifft,
fo müßten biefe nur Bagatelle fein gegen den Geftanf, * wir bereiten
können.
Wie es Inſekten gibt, die angenehme Gerüche verbreiten, eo find auch —
Die Wohlgerüche amb bie üblen Gerüche. 571
bekannt, welche unangenehme ausſtrömen Taffen. Der Geruch der gewöhnlichen
Wanzenart (cimicida) ift wahrfcheinlich unleidlicher wegen der unangenehmen
Empfindungen, welche der Geruch zurückruft. Daffelbe iſt der Fall mit ber
Baummanze (pentatoma) und ber fliegenden Wanze, welche eine‘ der ſchlimmſten
Plagen am Ganges und in Benares if. Die letzte dieſer Arten iſt ein großes,
zu den Halbflüglern gehörendes Infelt von der Gattung dereeteryx, das ſich
zwifchen Kleider und Haut einjchleicht. Es verbreitet einen ſchrecklichen Geruch,
welcher noch verflärkt wird durch ben Verſuch, e8 zu berühren oder zu vertreiben;
der natürliche Widerwille gegen ben Geruch wird aber zweifelgohne erhöht Durch
die anderen Beläftigungen, die dad Inſekt verurfacht.
Mit Bezug auf die chemifche Ratur der Geflänfe von Infekten ift durchaus
nichts befannt.
Ueble Gerüche, welche durch faulende Subflanzen erzeugt
werden. — Die zahlreichfte Claſſe unangenehmer Gerüche iſt diejenige, bie
durch Verwefung oder Auflöfung thierifcher und vegetabilifcher Subſtanzen er⸗
zeugt wird. Unfer Widerwille gegen dieſe Gerüche hat unzweifelhaft feinen
Grund zum Theil darin, daß fle in unferer Erinnerung mit unangenehmen Ans
blicten oder Ideen verknüpft werden, und zum Theil darin, daß fle erfabrungd«-
mäßig als der menfchlichen Geſundheit nachtheilig befunden find.
1. Die Fäulniß thierifcher Körper. — Die allgemeine Natur und der Ges
ruch der übelriechenden Subftangen, welche durch das Verfaulen thierifcher Koͤr⸗
per erzeugt werben, wird durch den Schwefel und Phosphor beftimmt, bie in
ihnen enthalten find. Während ihres Verweſens verbindet fich der Schwefel
mit den Beftandtheilen de3 animalifchen Stoffes und bildet ftinfende Zufammen«
fegungen,, ähnlich denjenigen, tie ſchon befehrieben find als in dem Minerale
und PBflanzenreiche vorfommend. Der Phosphor geht ebenfalld kaum weniger
unangenehme und efelhafte Verbindungen ein. Und mit beiden Glaffen zuſam⸗
mengefegter Körper find andere verbunden, die den animalifchen Bildungen
eigenthümlicher find, aber bis jet noch nicht getrennt unterfucht wurden. Alles
dies vereinigt fich beim Erzeugen jener gemifchten Gerüche, weldye in zurüd
ſchreckender Weife die natürliche Verwejung animalifcher Subftanzen unter freiem
Himmel andeuten.
Bon dem Vorhandenfein des Schwefels in ſolchen Källen gibt ein faules
Ei ein befanntes Beifpiel. Wenn fol ein Ei zerfchlagen ift, wird der Geruch
des Schwefelwafſerſtoffs plöplich empfunden, und ein filberner Löffel, den man
hineinftedtt, wird von der Einwirkung des Schwefels jofort ſchwarz. Je nadye
dem die Verweſung fortfchreitet, werden andere Gerüche allmälig bemerkbar, und
bieje Mifchung mit dem Schwefelmaflerftoff verurfacht jene wachſende Ekelhaftig⸗
feit, die das faule Ei bekanntlich darbietet.
In wärmeren Klimaten fchreitet eine Zerjegung diefer Art rafcher vorwärts
und die übelriechenten Subftanzgen werden fowohl rafcher, als auch in größerer
Menge erzeugt. Man farm auf die Stärfe der erzeugten Gerüche und auf bie
Entfernungen, auf welche fie in heißen Gegenden durch die Lüfte verbreitet wer⸗
den, aus der kurzen Zeit fließen, die erforderlich ift, um den Geier und Condor
572: Birne — —— — 2
amerifas und am den | |
ER OHR ohne Symptome von
gen ober einen üblen Geruch zu befunden, a ⏑ —
| — | — *
dae Zeit: hindurch) erzeugt werden und ſich abſondern. Die wahre hemi
Natur und genaue Zufanmenfegung mancher diefer flüchtigen und.
Subftanzen, die fi) unter Diefen Umftänden bilden, tft noch unbekannt;
wohl Theorie als auch Erfahrung erweifen, daß fle Dem menfchlichen
nachteilig find. Dies find fie, jelbit wenn, nad) Dem äußeren Crane der Auf
löfung, die Geruchsorgane natürlich unempfindlich gegen ihr
oder wenn fie durch Gewohnheit dies geworden, Deshalb ift die Gewohnheit,
Kirchhöfe in der Nähe unferer Wohnungen anzulegen, oder der Gebrauch, daß
Menichen jo und fo viele Stunden in der Woche über faulen Familien
oder Haufen vermodernder menjchlicher Ueberbleibſel in der Kirche fügen müſſen
— den Vorſchriften der Wiffenfchaft und eines aufgeflärten gewöhnlichen Were
ftandes ebenjo zuwiderlaufend, wie den oft wiederholten Anforderungen der ges
jundeitlichen Erfahrung. Daß die Sinne feine Gefahr verjpüren, beweift, daB
—— —— — 2 —— —— — ——
frei nsananns
2, Der animafifihe * ſowohi im feifen Zuftande, wie auch —
der Verweſung, in die er in Berührung mit Luft und Feuchtigkeit uͤbergeht, iſt
bie Quelle einiger der unangenehmften Gerüche, mit denen wir im täglichen Leben
in Berührung fommen. Dieſe tbieriichen Abfonderungen ftrömen gewiſſe ſtark—
riechende Subftangen aus, welche ihnen allen gemein fm, aber ——
wickelt auch ihr eigenthümliche Gerüche, *
a. In dem Zuſtande der Gaͤhrung entwickeln fe .®. alle Ammontatt EN
ed entjtrönt bei warmem Wetter in befonderer Bülle dem Pferdekoth in warmen
Ställen und den menjchlichen Ausleerungen in Aſchengruben und Retiraden.
Sie entwideln auch alle den fchädlichen, bereits befchriebenen Schwefelwafferftoff ;
wo aber die menfchlichen Ausleerungen in verdedten Niumen in Gäbrung übers
geben, wie in Miftgeuben und gewöhnlichen Abzugscanklen, häuft fich dieſes
Ichwefelige Gas bisweilen in hinreichender Menge an, um den Arbeiter augen⸗
den at ee en rare Er⸗
zrugung — und von der Natur ihrer verſchiedenen Wirkungen auf die thieriſche
— fo müffen wir und doch gedulden, bis fie langſam und allmälig
gefammelt ————— um von einem Chemiler
Yingöpmeig Derfelben zu fördern, mict fehr Hetiger Natur if: on
Es beſtehen indejfen gewiffe befannte Verſchiedenheiten in der Zufammen-
fegung des feften Kothes einiger Thiere, weldye auf die Natur des Geruchs Ein»
fluß üben müffen, den fie verbreiten. So entledigt ſich der Menfch durch feine
Niere eines großen Theils des Phosphors, welcher in den Speiſen enthalten iſt,
bie ex genieft; während die Kuh, das Pferd und Das Schaf auf diefem Wege
nichts ausftrömen laſſen. Aller der Phosphor, den diefe Thiere |
wird aljo mit ihrem feften Kothe ausgeworfen; und eben jo ſehr wie die Verbin-
dungen von Phosphor, welche beim Verweſen thierifcher und vegetabilifcher Sub»
Ranzen gebildet werden, allgemein unterjchieden find durch beſondere und unan-
genehme Gerücye, eben ” Teiche iſt es re he dieſer Thiere,
find in ͤhnlich gifrenben menfefichen Mußleträngen,« DEE TE Er
Ueble, auf hemifchem Wege erzeugte Gerüche, — Weiter oben
babe ich ſchon einmal beifäufig erwähnt, da, wenngleich viele natürliche Gerüche
ſehr flinfen, wir doch ſchon im Stande feien, andere zu produeiren, welche noch
übefricchender find. Im der That, Hätte man irgend einen müglichen Zwed dafür,
fo könnte man durch befannte chemifche Proceffe einen beinahe unbegreiflich
efelhaften Geſtank zu demjenigen hinzufügen, welcher biäher bereitet worden iſt.
Eine Nachweifung nur einiger weniger von denjenigen, welche in unferen Kabo-
ratorien wohlbefannt find, wird den za. Hülfsquelle des —— zur
Erzeugung von Geſtank befriedigen. ann
574 hir old Ghemie. id
Gharafter der ————— verwejende lern Esel aus⸗
rn IBRT ETUI UT hie ‚nv, N, au 24 ar!
u Dievbeiben Metalle, Anfenit, und Zellur,, gehen. au Verbindungen auit
Befferhafiein nun hilten gehartige Bnfammurn{etungen;,Ne jo jtinfender Natur
find, daß Chemiker ſelten wagen, fie zu bereiten; und wenn fie Died thun, jo ges
ſchieht es erft, nachdem fie forgfältige Vorſichtsmaßregeln getroffen baben gegem
—— derſelben in die — wo die Experimente gemacht
werben. ld sen > I
ae en ar aller, fünf, Gasarten, welche ich genan
ift ebenfalls, daß fie ſich mit anderen zufammengejegten Körpern, EEE
mit organischen Verbindungen vermijchen und neue Subſtanzen erzeugen
ftinfender wie ſie ſelbſt, ja jo ſehr, daß es nicht mit Worten zu befchreiben ift.
Begehren Be ro
3) Mereaptan. — - du den organijchen Subſtanzen ‚von: großer 2
reren einfachen Subftanzen in Vereinigung mit — u find deshalb zur
fammengefegte Körper, verhalten ſich aber in mancher Beziehung, als ob fie felbft
einfach wären, Zu dieſer Glaffe gehören diejenigen, ——
en een " 1: ai
Aethyl, enthalten im Weinätber, LET“ TE | rm
Methpl, ⸗ BGolzaͤther, N wu
Die Wohlgerüche uud -bie üblen Gräfe. 875
Ampyl, enthalten im Yufeldl, Ä
Allyl, ⸗ « Knoblaudye und Aſſafötidaöl x.
Unter anderen Eigenfchaften beflgen diefe zufammengefeigten Radicalen auch
die, daß fle ſich mit Schwefel vereinen uud mit ihm neue Verbindungen von
außerordentlich flinfender Ratur eingeben. Hiervon geben bie ſchweſeligen Oele
des Knoblauchs und der Aſſafötida deutliche Veiſpiele.
Berbindet man Aethyl Tünftlich mit Schwefel, fo wird dad fogenannte
Schwefelaͤthyl gebildet, und wird Died wieder mit Schwefelwafjerftoffgas verbun⸗
den, fo erhält man Mercaptan. Diefe letztere Subflanz ift ein farblofes fläche
tiges Liquidum, in Beſitz eines fehr widerlichen, durchbringenden und flarken
Zwiebelgeruchs, der fi in hohem Brade den Haaren mittheilt. Es ift in Wirk
lichkeit ein Tünftliches Knoblauchöl, von dem wahren aber fomohl in der Bufam
menfegung, wie auch in der Natur feines Geruché verfchieben.
Die wichtigen Bunfte, worauf bier zu merken iſt, find nun:
| 1) Daß alle zufammengefegten Radicalen fi mit Schwefel und Eine
felwafferftoffga® vereinen laſſen und fo Subflanzen bilden, die analog mit dem
Mercaptan find.
2) Daß die Zahl foldyer bereits befannter organischer Radicalen fehr groß
if. Wir Haben: es folglich in unferer Gewalt, viele Mercaptanarten zu bilden,
alle behaftet mit fehr widrigen Serüchen, aber jedes unterfchieden durch eine
Schattirung von Efelbaftigkfeit, die ihm eigenthümlich ifl. Der Leſer wird baber
aus diefem Beifpiel erfehen, daß der Chemiker in den Schwefelverbiadungen
allein über eine große Anzahl von außerordentlich widrigen @erächen verfügen
Tann. -
4) Kakodyl. — Arſenik kann aber in allen diejen ſtinkenden Berbinbungen
an die Stelle des Schwefels treten und neue flüchtige Subflangen erzeugen, deren
Geruch unerträglich iſt, und die überdies töbtlich giftig find. Kakodyl ift der
Name, den die Ehemifer den Verbindungen gegeben haben, welche Arfenik mit
dem rabicalen Methyl bildet. Wird diefe flüchtige Subflanz der Luft ausgefeht,
fo entzündet ſie fich; während des Verbrennens verbindet ſich das darin enthal⸗
tene Arfenif mit Sauerfloff und bildet weißes Arſenik. Dies verbreitet fich in
der Luft und wirft wie ein tödtliche® Gift, wenn man es einathmer.
5) Wird weißes Arſenik mit effigfaurem Kali deſtillirt, jo geht eine Fluͤſſtg⸗
keit über, welche lange unter dem Namen „Cadet'ſche Flüſſigkeit“ befannt gewe⸗
fen ift. Sie ift flüchtig, hat einen befonderen, noblauchartigen, furchtbar ekel⸗
haften, unesträglichen und lange anhaltenden Geruch, und ihre Dünfte wirken
wie töbtliches Gift. Dieſe Cadet'ſche Flüffigfeit ift das chengenamnte Kakodyl
in Verbindung mit Sauerfloff.. Den Ehemifern ift diefe Subftanz befannt un⸗
ter dem Ramen Alkarfin.
Wegen ihres abjcheulichen Geruchs und ihrer gefährlichen giftigen Cigen⸗
ſchaften ift tiefe Claſſe von Arjenifverbindungen verhältnigmäßig wenig erforſcht
worden. Berjchiedene andere indeflen, mit ähnlichen Gerüchen behaftet, find
bereits befannt. Es ift deshalb Grund vorhanden, zu glauben, daß die meiften
anderen zufammengejegten Radicalen gleich dem Methyl fähig find, fich mit Ar»
ee
Weife werden in demfelben Augenblide Dämpfe von —
ten, die wir kennen, in der Luft verbreitet. Mercaptan und |
das Leben rauben. via Mn) Tel te e— —
Bereits früher Habe ich auf den — E—— ——
Vertheidigungsmittel hingewieſen. Die Subſtanzen, derer ih erwähnte, was
ven einfach wiberwärtige Gerüche, fie wirkten nicht als unvermeidliche Gifte
- auf den Organismus. Dieſe Kafodylarten und ihre Cyaniden würden ſicherlich
noch wirffamer bei Eriegerifchen Operationen anzuwenden jein; in wie weit aber
der Gebrauch gewöhnlichen Giftes bei ehrenvoller Kriegfübtung mit der Verfei«
nerung heutiger Givilifation verträglich ift, iſt ſehr zweifelfaft. Cs mag Fein
wefentlicher Unterfchied zwifchen dem Tode durch eine Kugel oder Durch tödtlich
giftige Dämpfe fein; aber einen Menſchen dazu zu verurtheilen, „wie ein Hund
zu ſterben““, Täpt ihm den Tod in weit fürchterlicheren Karben erfeheinen.
Unter den tödtlichen chemifchen Verbindungen, von denen oben geſprochen
worden, als Beftandtheilen der vorgefchlagenen Ohnmacht erzeugenden Bomben,
Ob nun die Proponenten folder Ohnmacht bewirkender Projectile diefen meta⸗
phyſiſchen Unterfchied zwifchen verfchiedenen Methoden, den Tod zu erleiden, in
Betracht gezogen haben, oder ob es überhaupt denjenigen von Gewicht geweſen
ift, deren Amt es iſt über ihre Annahme zu entjcheiden, darüber find wir nicht
näher unterrichtet. In Mebereinftimmung mit der gebräuchlichen Vergeltungs-
weije in allen folchen Bällen ift indeß ber Ghemifer, welcher zuerft vorgefchlagen
bat, foldye Gifte zur Fabrikation von Munition zu ‚verwenden, ——— durch
feine eigene neue Zerſtörungswaffe umzukommen. Tr
7) Tellurverbindungen. Ich Habe fchon erwähnt, daß das Metall Tellur
im Stande ift, Verbindungen von Auferft unangenehmem Geruch einzugeben,
Beinahe die einzige Erfahrung, die wir indeß bis jegt in Betreff ſolcher Verbin⸗
Die Wohlgerüche und Die üblen Gerüche. 577
dungen haben ,: rührt von: ven Wirkungen gewifier gesuchlofer Tellurpräparste
her, welche auf expertmientalem Wege gefnnden'Perfonen eingegeben find. - In
dem Körper eines Kranken. bilder. es Verbindungen — wie es Schwefel’ nidyt uns
gewoͤhnlich thut — welche feinem Athen, den Ausdünftungen feirter Haut und
den in dem Darmcanal erzeugten: Bafen'einen widerwärtigen Geſtank geben, wel»
her ihn zu einer Art. von Schrecken macht für Jeden, ber fich ihm nähert; und
dies bauert bioweilen Wind, wenngleich die ngenommene Doſe Tellur nicht
Ya Gran überſchreitet.
Ohne Zweifel us in Dem Bereich ber Chemie, ſolche Berbindungen
durch Fünftliche Proceffe zu erzeugen, obgleich bis jetzt wenig Erperimente mil
Bezug bierauf gemacht find. Sie gehören zu der Claſſe dei reinen Geftänfe
und find vermuthlich nicht giftig, wie Diejmigen mit Arfenil,- - - - %
Bhosphor vereinigt ſtch auch. mit organifchen Radicalen und bilder Verbin:
dungen, die ſelbſt noch wiberwärtiger find, als das bereits beſchriebene Phos⸗
phorwaſſerſtoffgas; fie find aber bis ient nos eben p wenig befannt, wie die ana⸗
logen Tellurverbindungen.
Eine merkwuͤrdige allgemeine Vaichung Andet ftatt zrifchen ber. Claſſe bon’
üblen Gerüchen, zu welcher die Mercaptane und Kakodyle gehören, und einer ber
gefchägterten Gruppen‘ flüchtiger wohlriechender Stoffe. - Diele Beniehung int
ſowohl intereffant, als auch bemerkenowerth.
Ich habe im Laufe dieſes Artikels gezeigt, daß eine große Claſ⸗
von Wohlgerüchen aus einfachen Aetherarten in Verbindung mit orgemifchen
Säuren beſtehet. Nun nd diefe einfachen Aetherarten alle Verbindungen einer
der bereits beſprochenen zufammengefegten Radicalen mit Sauerfloffz 3. ®. An .
thyl mit Sauerftoff bildet Welnäther; Methyl mit Sauerftoff bildet Holzäther ;;
und dieſe Aetherarten bilden in Verbindung mit orgamijchen Säuren Parfuͤms
— ber Weinäther 3. B. mit Butterfäure das reine Aevfelol, und wit Velargen.
ſaͤure die Quitteneſſenz.
Auf der anderen Seite bilden Anthyl mit Schwefel: Schwefelanthoi und
Methyl mit Arſenik Kakodhl. — Beide beſtthzen ſchon an und für ſich einen: üblen:
Geruch, wenn fie ſich aber mit Säuren vereinigen, welche Schwefel oder Atſenik
enthalten, fo bilden fie Verbindungen, die unerträglich ſtinken. = --
- Diefelben zufammengefegten: Radicalen, ‚mie fle genannt find, koͤnnen alſo,
wenn fie mit Sauerfloff verbunden find, angenehme, und wenn fle mit Arſenik
oder Schwefel verbunden find, Die unangenehmften und widerwärtigfien Eindrizke-
auf den Geruchsſinn hervorbringen. - So fonderbar find die Eigenſchaften der
Materie, und fo ſonderbar iſt unfer Organlemue mit Bezug auf dieſe Eigen
ſchaften.
8) Acrol. — Deſtillirt man Oeiſaß Glycerin) in einer metorte über einem:
lebhaften Teuer, fo geht eine Fluͤſſigkeit über, welcher ber Name Aerol oder Acro⸗
fern gegeben ift. Diefe Subftanz if flüchtig, Hat einen ſtark durchdringenden
befonderen Geruch, welcher beinahe augenblicklich ſowohl Naſe, wie Augen aits
greift. Ihre Dämpfe entzünden die Mugen, und wenn man viel davon einathe:
met, und zwar in concentristem Zuſtande, fo verurfachen fie Ohnmacht, ohne
IV, 37
aber der Geruch, den fie beflgen, rührt von bem Vorhandenfein
— zz
bier mäher zu forechen unnöthig it. — —
Gerüche, welche durch unſere Fabriken erzeugt —
unferem großen Fabriklande ‚greifen: biefe fünflichen üblen Gerüche bioweilen
das Wohlfein im gewöhnlichen Leben wejentlich an. Sie find Deshalb mit Recht
als Nebel angeſehen und haben Veranlaſſung zu Zwift und Streitigkeiten gege-
ben, welche nicht gun die —— Kin Geſetoebung auf ſich gelenkt
haben 01, — ee
- Vom unferen Sewefelfäure-u6rifen. —* bisweilen Dämpfe von ſchwe⸗
feliger Säure und jelbft von Schwefelfäure in die umgebende Luft ausgelaſſen.
Die Sodafabrifanten laffen noch an einigen Orten aus ihren hohen Schorn⸗
fleinen jene Dämpfe von Ehlorwafferftoff ausſtrömen, welche a
bie jährliche Ernte, fondern auch Einfriedigungen und en
jene Anpflanzungen vernichtet haben. - 1
Aus den Blei» und Kupferfchmelzöfen fteigen Dämpfe von törrlichemn Ar⸗
jenif, von Zink, ſchwefeliger Säure und felbft von Blei empor, die ſowohl das
thieriſche, wie auch das eeiabiliſche Schen in ber Umgebung: wertuch beu⸗
traͤchtigen. a
Die Seifenficher * Lichtzieher erfüllen bie Rufe mit ven fintenden fläche
tigen Subftanzen, bie natürlich in allen ranzigen Ketten enthalten find. Auch
erzeugen ſie ald Ergebniß einiger jener Proceffe Dämpfe von dem aufregenden
und unangenehmen Aerol, deſſen im vorigen Baragrapben erwähnt ward,
Die Deftillation von Holz behufs Bereitung des Holzeſſigs ift oft begleitet
von einer unangenehmen und ungefunden Dampfausftrömung. — ——
In der That gibt es wohl kaum einen Fabrikationszweig, der die unmit⸗
telbare Anwendung chemiſcher Principien erfordert — umd dies ift bei den mei=
fien ber Ball — welcher bei nachläjftger Leitung nicht Anlaß gäbe zu wirklichen
Beläftigungen und fogar ernten Nachtheilen für die Nachbarfchaft. Ich ſpreche
indeß aus vielfeitiger Erfahrung, wenn ich behaupte, daß das Ausftrömen nach-
theiliger Subftangen in die freie Luft bei folchen Anftalten felten ein nothwendi⸗
ges Bedingniß für den Betrieb verſchiedener dieſer Fabrikationszweige — un
r
Die Wohlgerüche und die üblen Gerüche. 579
Nüdficht auf das Comfort ‚des Lebens follte deshalb das abfichtliche ir
berjelben nicht geitattet fein, alt et —⏑——
Ueble Gerüche find eben fo. durchdringend, wie Wohigerůche. Sie verbreis
tem ſich Dusch Die Luft und berühren die Sinne unangenehm, felbft wenn die ab⸗
folute Menge der vorhandenen Materie zu Hein ift, um durch unfere verfeinertfte
Merhode der chemiſchen Analyfe entdeckt zu werden. Ungleich den Wohlgerüchen
werden fie indeß überall um und ber erzeugt und find deshalb eine allgemeine
Duelle mehr oder weniger empfindlicher Reizung und Belaͤſtigung. Die Ein,
führung übelriecyender Subftanzen in die atmoſphäriſche Luft, welche und um«
gibt, zu verhindern, und bie bereits. vorhandenen vertreiben zu können, ift daher
ftets Gegenjtand der Wünfche geweien, und bie Erreichung zweckmaͤßiger Mittel
ift durch die Entdefungen der neueren Chemie jowohl — ra
mener geworben, IV TOR AUT RE ALVETE ——
Das Berbüten ber üblen Gerüche, Die üblen Gerüße, *
gewöhnlich ven der Verweſung oder Zerſetzung thieriſchen Kothes herruhren,
können oft entweder gehemmt ‚oder gänzlich verhütet werden. Außerordentliche
Kälte. B., ſobald ſie hinreicht, um den todten Körper eines Thieres gefrieren
zu machen oder ihn hart werden zu laſſen, wird ihn im Zuſtand vollkommener
Brifche ſelbſt für die Dauer von tauſend Jahren erhalten, Ian nördlichen Win-
ter iſt das Gefrieren des Fleiſches und Fiſches das gewöhnliche Mittel, um ſie
aufzubewahren, und in den Eiöflippen an ben Ufern ber fibirifchen Flüſſe hat
man den ganzen Körper einer befonberen Art von Elephanten jo wenig verweit
angetroffen, daß er noch gierig von Hunden verfchlungen wurde, Selbft mäßige
Kälte in Begleitung eines trodenen Windes wird Fäulung verbüten, indem bie
erſtere diejelbe verzögert, bis der letztere die Beuchtigkeit vertrieben hat, welche zu
ihrer weiteren Entwidelung notwendig ift. Auch die gänzliche Entziehung der
Luft hat diefelbe Wirkung, wie man es bei aufbewahrten Fleiſche ficht, das jest
auf langen Reifen und in entlegenen Gegenden der Erde jo nüglich it.
Diefe Methoden, Bäulung zu verhüten, beleuchten näher, was über Die Wir-
fung der Hige, Luft und Feuchtigkeit beim Bewirken der faulenden Gährung
animalifcher und vegetabiliſcher Subftanzen gefagt worden iſt. Laſſen wir diefe
gefrieren, fo hemmen wir bie Faͤulung durch Vertreibung der nöthigen Beuchtig-
feit; und wenn wir fie in * ciaſchchen durch —* der ze
uf. ;
Die Fäufung tanz * - durch birecte —— chemiſcher Subflan-
zen verhütet werden. Dies geſchieht, wenn man Fleiſchſpeiſen im Zucker taucht,
oder wenn ſie mit gewöhnlichem Salz oder einer Miſchung von gewöhnlichem
Salz und Salpeter geſchwaäͤngert werden. Dieſe Subſtanzen füllen die Poren
des Fleiſches und ſchutzen es, indem fie die Luft ausſchließen. Auch bilden ſie,
und beſonders die beiden letzteren Subſtanzen, eine Art chemiſcher Verbindung
mit der Faſer des Fleiſches und mit den Subſtanzen, welche in deſſen Säften
enthalten find, die weniger zur Faͤulung geneigt iſt, als die Subſtanzen ſelbſt,
und jo erhalten fie das Ganze für die Dauer einer unbejtimmten Periode in
einem Zuftande der driſche. Blüchtige-therrige Stoffe, wie Arno und andere,
Die Wohlgerüche und die üblen Gerüche. 581
ſchwimmen und ‘ihre and ee
ausüben zu laſſen. RE T ch ao wel 3 stk, Karl. a; ‚iu ti
Wohnungen, unreinen Kleidern, ſchmuziger Haut und verdorbenem Magen. Das
parfümirte Schnupftuch nimmt unter folchen Umftänden den Play des Schwans
med und ded Tropfbades ein; die Räucherferze verbirgt den Mangel an Ventila—
tion; das Roſenöl ſcheint den Dreiffeger unnöthig zu machen, und ein wenig
Moichus fordert alle anderen Geftänfe und üblen Gerüche heraus, „Die ſechs⸗
zig Geftänfe Cölns“ mögen fo gleichzeitig die Urſache und der große Conſument
feiner Fünftlichen Ströme wohlriechenden Waffers ſein. Die heftigfte Nachfrage
nach dem Lurus verfeinerter Parfüms mag dort jtatthaben, wo die Mißachtung
gefunder Neinlichkeit die größte iſt. Selbſt das Verbrennen von Rauchwerk am
Altar mag feinen rein vernünftigen Zweck ‘Haben, die Dünfte und ungejunden
Gerüche zu verbergen, welche feuchte Fußböden und Mauern erzeugen, und den
Sinnen der Andächtigen die jchäbliche Ausftrömung zu verheimlichen, welche
langſam verweſende Körper in verborgenen Gewölben beftändig.
Wie fehr indep die Anwendung wohlriechender Effenzen zum Gomfort bed
Neinlichen und Berfeinerten beitragen mag, ſo können fie bei dem Unwiſſenden
und Rohen nur Uebelbefinden und Unbehaglichfeit erzeugen , weil ie die jhäd-
* Malaria verbergen oder den ſchaͤdlichen Geſtank uͤberwaͤltige.
Das Vertreiben der üblen Gerüche. Das abjolute Vertreiben
* größeren Anzahl der von mir beſchriebenen üblen Gerüche aus der
Luft, oder wenigftend aus einem begrenzten Theile derfelben, iſt keineswegs
eine fchwierige Aufgabe: Die Subftanzen, durch welche es bewirkt wird, find
in der neueren —— — — unter en —* ee
tionämittel. |
1) Soljkohle. Don diefen — über Grunde
tft die Holzkohle in ihren verjchiedenen Formen eines der billigſten, reichlichften
und wirfjamften. Ich habe ſchon bei den Subſtanzen, weiche Gerüche verhüten,
von diefer geiprochen als einer, welche jcheinbar die Faͤulung fo verzögert. Daß
dem fo fei, ift indeß zweifelhaft. Manche fehen fie im Gegentheil als die Vers
weſung beichleumigend an; aber im Vertreiben von Gerüchen ift ihre Wirkung
und Kraft unzweifelhaft. Gemiſcht mit gährenden menfchlichen Auslerrungen
ober nit dem Inhalte unferer gewöhnlichen Eloafen, lindert fie beren Geruch faſt
augenblicklich, und fie bringt auf faft jegliche Art verweſender animalifcher oder
vegetabilifcher Stoffe eine gleiche Wirkung hervor, Wenn man fie zwei oder
brei Zoll hoch auf Kirchhöfe oder auch auf einen verweienden tobten Körper
freut, jo foll fie das Auffleigen * * len a ober = ——
werden deſſelben verhüten. | Al
Animalifche Kohle — ſolche, die durch Vertohlen bieriſher ae
erzeugt wird — Torffohle und das ſchwarze Pulver, das man erhält, wenn man
eine Mifchung von Erde und Pllangenftoffen verkohlt, ift wirkjamer im Vertreis
—E
zu bebecken. Der boble Raum ift mit Deo Arte Kohle gefüllt, das
Inftrument dem Geſichte angepaßt und am Kopfe durch Riemen befeftigt. Durch
dieje pulverifirte Kohle findet das Athembolen ftatt. Alle Luft, die in die Lunge
dringt, muß dieſes Koblenfieb paſſiren und wird dadurch von dem ſchaͤdlichen
Dünjten ober Gajen, die fie enthalten möchte, befreit. Ob mun, wie in Kloafen,
Laboratorien, Hofpitälern, Seeirzinimern und Schifferäumen, dieſe Dünfte be—
merfbar und dem Geruchsſinn unangenehm find, oder ob fie wie die Miadmen
und bie Malaria, welche ſich in Marfchgegenden und von ftehenden Teichen ente
wickeln, für bie Sinne nicht wahrzunehmen. ab, jomid a6 die Kohle fie ein-
jaugen und dadurch den Träger des Mefpiratord gegen ihren aufregenden und
ungefunden Einfluß fichern, Rach einiger Zeit fättigt ſich zwar die Kohle oder
wird zu alt, um wirfjam zu jein, aber durch eine Unze neuer gepulverter Holz⸗
kohle oder durch Ausglühen der — kann man das Inſtrument wieder er⸗
neuern. Tier, BET WII
Bis zu einem gewiffen Grabe if 68 unpweifebaft, deß biefer
tator die Wirkungen bervorbringen wird, ‚die man von ihm.
und feine Billigfeit, und leichte Gonftruct ſind große
Gr iſt bereits eingeführt. in Spitäfern, ji, 1zi |
und 5 Laboraterlen auch int er eine * e
in den fehmuptaften —— delt ae ee ———
und ſchmerzloſen Schlafs verdanken wird. Und ſollie deſſen Kraft, die un
merfhare Malaria einzufaugen, ſich durch Gefahr Be wie wichtig wür
er dann werben für Reiſende in ungefunden Sumpfgegenden, gleich denen anı
Fuße des Himalaya, denen, die den unteren Lauf des Niger und des Miſſiſſppi
begrenzen, oder folchen, die in den Rieberungen und Thälern des jübfichen Euro»
pa's verbreitet find, wie die pontinifchen und anderen italieniſchen Suͤmpfe und
die Dobrudſcha am der Mündung der Donau? Kann er nicht ſelbſt ein Wächter
und Bewahrer der Gefundheit werden in manchen jener unbewohnten Theile der
Welt, wo reiche Ernten in ſchlechtem Verhaͤltniſſe fichen zu den jelten abwefen-
den Fiebern, ber fieberhaften Furcht und Angft, dem ——
und, kurz geſagt, dem unglüdlichen Leben? m mn
2) Torf, humusreiche Erbe und gebrannter Thon. — Mae‘
verter Torf wirkt ebenfalls gerucheinfaugend. Er ift ebenfalls fäuerlicher Na-
tur, welche ihn in den Stand ſetzt, ſich mit manchen der ftinfenden Subflangen
— — üü—
Die Wohlgerüche und bie üblen Gerüche. 585
Ich werbe derjenigen erwähnen, welche am wieffemfben und zugleich am
Ieichteften Herguftellen find. .: :
1) Das Stickoxydgas wird erzeugt, wenn man Rupferfräfee mit gewöhn-
licher Salpeterſaͤure, wie fle im Handel vorfommt, »bergießt. Indem e8 mit
der äußeren Luft in Berührung. kommt, verbindet es fich mit Sauerftoff und
bildet rothe Dämpfe von fireng faurer Ratur tfalpetrige Säure), bie fich in der
Luft verbreiten. Man glaubt, bag diefe Dämpfe im Stande fein, faſt alle
fohädlichen und unangenehmen Stoffe ſowohl mineralifchen wie auch organifchen
Urfprungs zu zerftören, mit denen die Luft behaftet if. Die Einwenbungen
gegen ihren Gebrauch find., daß. fte Huſten hervorrufen und nicht.mit Sicherheit
- einzuathmen find; daß fie faft alle metalliſche Subſtanzen, ‚mit denen fie in Be⸗
rührung fommen, angreifen, und daß die von ihnen erwartete chemiſche Wir⸗
fung auf Riechfloffe weder genügend feftgeftellt noch einigermaßen ficher ift, wenn
die Dämpfe jehr verbümmt find.
2) Die Schweflige Säure. bildet fich, wenn Schwefel in freier Auft verbrammt
wird. Sie ift eine ter unangenehmen Subflanzen, die ich unter den mineralis
ſchen üblen Serüchen bejchrieben babe. In großen Quantitäten ift fie ſowohl
schädlich wie auch unangenehm einzuatbmen, aber ald Desinfectionsmittel mag
fle oft. mit Vortheil zu verwenden fein, und baber rührt es auch, daß oft- um
Naͤuchern brennender Schwefel benugt wird.
- Die erfte Wirkung diefes Gaſes, wenn ed fich in ber Luft verbreitet, beſche
darin, daß es alle andere Geruͤche überwältigt und ſte demnach unbemerkbar macht;
es wirft geruchverbergend. Seine nächſte Wirkung iſt chemiſcher Ratur, indem +8
unangenehme Subſtanzen, wie Schwefel» und Phosephorwaſſerſtoffgas, welche
öfter erwähnt worden find, zerſetzt oder zerftört; und da es eine flarfe Säure. if,
fo verbindet e8 jich eben fo raſch mit alkalinifchen Dampfen — foldyen, die Am-
moniaf enthalten, das faulen Fiſchen ihren Geruch giebt — und vertreibt ihren
Geruch. Auch übt e8 eine befondere Wirkung auf viele organifche Subflanzen.
Man kann dies beobachten, wenn man ein brennended Schwefelbölzchen unter
eine rothe Roſe hält, die gewöhnlich Davon weiß wird, und an der Veränderung
der Farbe, die es bei vielen anderen Blumen erzeugt; auch fieht man dies beim
gewöhnlichen Gebrauche von Schwefeldämpfen zum Bleichen von Seidenr und
wollenen Waaren und von Stroh zu Damenhüten. Wan hält die jchmefliche
Säure deshalb auch für fähig, ſchädliche Subſtanzen organischen Urſprunges,
welche zufälligerweife in der Luft vorhanden find, mit welcher fie fich vermifcht,
zu zerftören.
Im Ganzen läßt ſich Vieles zur Empfehlung ber jchwefeligen Säure fagen;
fie ift billig und überall und leicht Herzuftellen. Die Einwendungen gegen den
Gebrauch ded Gaſes find, dab es an und für fich unangenehm und widrig ift
— daß, wenn es zu dedinficirenden Zweden verwendet wird, die Bewohner
eines Hauſes bis zur Beendigung der Operation und bis die Zimmer wieder
vollftändig ausgelüfter find, Davon ausgeſchloſſen bleiben müflen, DaB es metal
liſche Flächen angreift und für einige Zeit Spuren jeined eigenen unangenehmen
Geruches binterläßt.
586 rn wilde ME ei
und Dämpfe, welche in der Luft vorhanden fein mögen, und zerflören fir
— E —— —⏑—⏑⏑— dieſelben Mängel wie
Stickorydgaſes. J * —* el Spa j
9) hfr fü man, wm man Die gmöfnice Same Shlorwafl
den ift. u ee u dub 6
Chlor iſt ein ſchweres, geänfißeh, efdenbeb und fast riechendeb Bad,
Im verbünnten Zuftande ift deſſen Geruch jegt ben. meiften, a
als derjenige, welchen der gewöhnliche Chlorkalk abgiebt. |
.Diefeb Gab gerfept Schwefehwaferoff und Dhosohormaferofigas,
moniat und. beinahe alle anderen gasartigen Verbindungen und übelriechenben
Dünfte, welche den in Zerfegung begriffenen animaliſchen und vegetabilife
Stoffen entweichen. Es wirkt in der That fait auf alle organifchen Subftangen
ohne Ausnahme und wird deshalb in ausgedehnten Maße zum Bleichen vom
liſcher Erzengniffe, die in der Kunſt verwendet werden, gebraucht. Aka *
Chlor iſt ebenfalls ſchon lange zum Vertreiben und Zerſtören |
mer Gerüche verwendet worden. Es ift wahrjcheinlich diejenige der uns b
ten Gasarten, welche allgemein für dieſen Zweck am wirfjanften ift.
außer feiner Wirkſamkeit hat dies Gas das Empfehlende, daß es ur
billig zu bereiten iſt; Daß es, felbjt wenn es durch viel Luft verbünnt wird,
feine guten Wirkungen bebält, und daß es ohne Nachtheil eingeathmet: werben
kann, wenn es im dieſer Weife verbünnt if. So fann man es in
verwenden, ohne ihre Bewohner daraus zu vertreiben, und ſelbſt in Kranken⸗
ftußen , ohne den reigbaren Kranken jonderliche Unbequemlichfeit zu verfchaffen,
In dieſem verdunnten Buflande ift es auch frei von faft allen übrigen Mängeln;
denn wenn es auch metallifche Subftangen angreift, fo find boch die üblen Wir-
fungen weit geringer als Diejenigen irgend einer anderen ber bereits ——
Gasarten.
Der Gebrauch dieſer Gaſe iſt beinahe ganz auf das Verireiben übefriechen-
der und fchädlicher Subftangen befehbränft, die fich bereits mit der Luft vermifcht
haben, Aber ein Anfpruch, der oft an die Desinfectionämittel gemacht wirb
und ingefundheitlicher Beziehung nicht weniger wichtig ift, ift der, das Aufftei=
gen Dieter Subftangen von vorne herein zu verbindern — fie zu hemmen, zu bes
ſchraͤnken und am bie verwefenden Stoffe zu binden, welche fie erzeugen, ' Dieſer
Zweck kann nur erreicht werden, wenn man fefte oder flüffige PR anivendet,
nit denen man die verwefenden Subftanzen vermengt oder bebeft, u
Die Wohlgerüche und bie üblen Gerüche, 587
haben bie Eigenſchaften einer Säure, wie das — een
ftoffgas. Ein wirkſames Desinfertionsmittel muß im Stande fein, entweder
beide Elaffen zufanımengefeßter Körper zu zerjegen ober ſich mit ihnen zu ver»
binden, und in öfonomijcher Beziehung wird deſſen Werth ferner erhöht, wenn
es, während es jene hemifchen Zwecke erfüllt, "gleichzeitig neue Subftanzen er»
zeugt, welche nicht in irgend einer EAN ——— — —
nüglich, fo iſt dies noch beſſer.
5) Der Chlorkalk beſttzt Beiigemitsitfegen — —
Desinfeetionsmittels in hohem Grade. Er beſteht aus Kalk und Chlorwaſſer⸗
ftoff, von denen der Kalk ſich mit allen Säuren verbindet, die Durch das Schiwes
felwaflerftoffgas repräfentirt werden, während ber Chlorwaſſerſtoff ſich entweder
mit den alfalinifchen Verbindungen, die das Ammoniak repräfentirt, verbindet
ober fie zerjeßt. Der Chlorkalk wird deshalb allgemein und verdienterweife als
eines der beſten, wirffamften und handlichſten unferer feften Desinfeetiondmittel
angeiehen. Breitet man ihn in feitem Zuftande über einer faulenden Maſſe
aus, jo zerftört er bie ſchaͤdlichen Subftanzen gleich nach ihrem Entſtehen. Löſt
man ihn in Waffer auf und fprengt ihn in übelriechenden Zimmern oder mifcht
ihn mit mehr oder weniger flüffigen Anfammlungen verwefender Stoffe, jo führt
er wieber Friſche herbei, Auch üble Gerüche und giftige Eigenſchaften läßt er
verfchwinden und nur fein vergleichsweiſe hoher Preis verhindert feine Anwen⸗
dung, am den Geruch unferer Cloaken, Mifthaufen und Miftgruben zu mildern,
Die Refultate feiner Wirkung haben den ferneren Vortheil, daß fie weder
das Geficht noch den Geruch beleidigen; aber fie bewirken nicht benfelben Grad
von Fruchtbarkeit des Düngers, wie der mit pulverifirter Kohle gemengte zeigt.
Das Chlor zerjegt dad Ammoniak, und daher wird mit Chlorkalk behandelter
u an biefem für die Vegetation fo werthvollen Beſtandtheile ärmer jein,
6) Chforeifen und Chlorzine find, beſonders in angefänertem Zuftande, faft
ebenfo wirkſam, als ber Chlorkalk. Sie haben indep das Unvortheilhafte, daß
fie, wenn fie der Luft ausgeſetzt find, ſehr raſch zerfließen und wicht im feſtem
Buftande aufgehoben werben können. Sie werden —* —
Waſſer aufgelöſt und im flüſſigen Zuſtande verwende.
Man ſetzt ed an dem Chloreiſen aus, daß ed Tee
ed verwendet wird, und daß es den verwejenden Stoffen, welchen es beigemengt
wird, eine ſchwarze Farbe giebt. Die Zinkflüffigkeit iſt ſelbſt farblos, färbt
nichtö, wenn man fie verfchütter, und bedeckt die eckelhafteſten verweſenden
Stoffe nur mit einem weißen Schaum, Dieſe Eigenjchaften veranlaffen, daß
fie der Eifenflüffigfeit vorgezogen wird, wenn es auf Koſtenerſparniß nicht an⸗
kommt, indem nämlich das Chlorzink das theuerfte von beiden ifo! 00.0
588 end le ee c
vn IR
bean an Ana oh anne
7) Das fchwefelfaure Eifenorgdul oder ge
Wirkſamkeit dem Ehloreijen 3 an Kr au blen Mine
ME Es wird in manden 3
Ben een Er Inc
8) Das holzeſſigſaure Eiſenorydul, das —
int ‚erhält, iſt in feiner unmittelbaren W
ten Gijenpräparaten gleich; ——— \diefe ®
BEN — — ——⏑—⏑—⏑ ——— —— —— ——
9) Jodin u ner Verbin BEER er
a ift, wenngleich er —“
wurde wärend dr Reinigungen, zu den die Eholerasifitattonen A
* — — * ———— —————
liſche Btoffen an nie le en neu
uns Wean der Stoff friſch iſt ſo verzögert und theilweiſe verhindert
Kalt die Verweſung. Dies iſt ſeine Wirkung auf Fleiſch, Blut, fr
liche und thieriſche Ausleerungen, Urin ıc., und tritt nachher dennoch ei
ſame Verweſung ein, ſo verändert er die Natur der erzeugten
ſtanzen in der Weiſe, daß — ——
bindungen von ihnen aufſteigen, oder zum wenigſten nicht fo bemerkbar, w
fonft ver Fall wäre. Zum Vorbeugen von üblem Geruch ift es deshalb—
geeignet , frifchen animaliſchen Stoffen gebrannten Kalf beizufügen. —
bs Iſt die Subſtanz aber ſchon in Gährung übergegangen, ſo wirft der
Kalk ganz anders. Er iſt ſtark alkaliniſch und macht deshalb, während er ſich
mit den Säuren verbindet welche der gährende Stoff enthalten mag, das Am-
moniaf und Die anderen flüchtigen ftarf riechenden alkalinijchen |
frei, die fich etwa gebildet haben. - Si re Wirtang dan ea m
auf gährenden animalifchen und vegetabilifchen Unrath gebracht ift, die
des verdunftenden Riechftoffs und folglich die Stärke des Geruchs zu er
und erſt Dann verzögert er die fernere Zerſetzung, wenn er veranlaßt iſt, gleiche
wie die Kohle dies thut, die verwefende Maſſe, Salpeter- und Schwefelſaͤure zu
bilden, und dadurch die Veränderung der chemiichen Natur beffen , was nachher
P
Die Wohlgerüche und die üblen Gerüche, 689
in die Luft auffteigt, indem ex es ſowohl für.den Geruch wenigen unangenehm
ald auch-für die Geſundheit weniger nachtheilig macht.
Wird er demmach in einer Schicht über einen Mifthaufen geſtreut, fo macht
er eine größere Menge ſtark riechenden flüchtigen Stoffe& frei; da dies aber vom
Winde Davongetragen wird, jo bleibt Der bedeckte Haufen vergleichäweife in
Ruhe. Der Kalk Hält den Schwefel und Phoophor zurüd und verbindet ſich
mit ihnen, fobald fle fich der Oberfläche nähern; er veranlaft, daß der Stickſtoff,
weldyer in den Subftanzen vorhanden ift, fich in Salpeterfäure verwandelt und
verbindet fich mit ihnen, anflatt daß fie in der Form von Ammoniak und indes
ren flüchtigen Aftalis. fich in der Luft verbreiten... Dit Ausnahme des erften
Verluftes, welchen er reranlaßt, nachdem ex auf verweiende Subſtanz gelegt ifl,
hält demnach der Kalf den größeren Theil derjenigen Beftandtheile in dem Han
fen zurüd, welche ihn für den Landmann von fo großem Werthe machen.
An verbedten und begrenzten Orten, wo der Wind: nicht hinreichenden
Zutritt hat, um das zuerſt Entwidelte zu vertreiben, und bei Maflen son vers
weſenden halbflüjfigen Stoffen, wie Anjammlungen von Ausleerungen, wird die
Anwendung des Kalks am unangchmiten fein. Wendet man ihn’ unter folchen
Umfläuden an, fo muß er leicht aufgefchüttet werben, oder erſt nachdem der Hau⸗
fen mit Stroh, Torf, Sägefpähnen: oder anderen ähnlichen Gegenſtaͤnden bes
ftreut ift; und müßte die Maſſe, wenn möglich, ganz damit beiestt und nachher
ganz in Ruhe gelaffen werten.
Im Ganzen genommen find, werm es nım darauf anfonmt. die Luft frifch
und gefund zu machen, Chlor und Chlorkalk vie ſicherſten, billigſten und wird
famften Zerftörer übler Gerüche. ine einfache Art, dieſes Gas zum indivi⸗
duellen Nutzen zu verwenden, beiteht darin, daß man ein leinened Tuch mit
Eiftg befeuchtet und fein gepulverten Chlorkalk darauf fireut. Die Luft, die
man durch dieſes Tuch einathmet, wird mit einer unbedeutenden Quantität
Chlor vermifcht in den Mund treten, und werben durch dieſe Beimtichung alle
ſchaͤdlichen Dünfte und Miasmen, die ungefunden Gegenſtänden oder verweſen⸗
den animalifchen und vegetabilifchen Stoffen entweichen, in Wirklichkeit zerfiärt.
Diefe präparirte Tuchvorlage kann anftatt der Kohle in Dr. Stenhouſe's Meipis
rator benugt und voor dem Munde "getragen werden. Gin in dieſer Weife gi
fchügter, gefunder Menſch kann ohne Furcht Krankenzimmer befirchen und der
Beamte der Gefundheitöpflege kann fi ohne Gefahr in die fchmusigften Un⸗
rathbehälter wagen. - Indem er durch den Mund den Athem einzieht nnd ihn
durch die Nafe wieder ausſtößt, wird bie Luft in feinen Lungen ſtets r rein und
geſund fein.
Wenn Abtritte, Miflgruben oder Saufen gäßrenben Stoffes vom Geruch
befreit werden ſollen, iſt wahrſcheinlich der Chlorkalk das beſte Mittel; aber auch
der Chlorzink und das ſchwefelſaure Eiſenoxydul ſind vollkommen wirkſam und
beide in Kaufläden zu haben. Eins von den Dreien kann deshalb ganz nach
Belieben und Gefchmad des Gebrauchenden ohne befonderen Unterfchied verwens
det werden.
Wenn aber große Operationen vorgenommen werden follen, wie bie ges
590 mund min herie.. 7
ſundheitliche Reinigung von Städten, jo find pulveriſirte Kohle, die ſchwelende
Miſchung von Thon und vegetabiliſchen Stoffen, und gebrannter Kalk Lie billig.
ften und vortheilhafteften. Die beiden erjteren find ausgezeichnet und wirfen ohne
an dies Iegtere hat aber den Nachtheil, daß es aus Subftangen, Die
bereit8 in Gährung übergegangen find, für eine Zeitlang noch jlärfere Gerüche
austreibt, als fie auf natürlichen Wege ausſtrömen, und muß beshalb mit
großer Vorficht benugt werden. Im ihrem chemifchen Einfluffe auf bie fpätere
Verweſung der Subftangen, welchen fie beigefügt find, ind Kohle und gebrann«
ter Kalk, wie ich ſchon gejagt habe, ſich einander jehr ähnlich. 1*
0 Der beſſeren Meberficht halber will ich kurz die nerföichenen Alafin vos
| | u Mittel,
weiche in ſich begreifen: das gewöhnliche Salz, Salpeter, weißen Arſenik, Qued
ſilberſublimat, Chlorzint und Chloreifen, holzeſſigſaure Eifenorybul, Zuder,
Kreojot, Alkohol, Kampfer, die flüchtigen Dele und in gewiffen Bällen ger
brannter Kalk, Nur wenige davon find für geſundheitliche Bwede eingeführt.
2) Die Wohlgerüche, oder die Mittel, wm üble Gerüche zu verbergen: —
Zu dieſer Klafje gehört der. RER De
den Wohlgerüchen bejchrieben find.
3) Die Deodorifationsmittel ober Geruch —— Unter Diefen
find Kohle, Torf, ſowohl friſch wie auch verfohlt, gebrannter Thon und auch
mit vegetabilifchen Stoffen in —— — ſowie * andere
poröje Gegenſtaͤnde bie wichtigften..
4) Die Drsinfectionsmittel oder — die aich allein uͤble Ge⸗
rüche einfaugen und vertreiben, ſondern jle zerfegen und verändern, und jo ganz
gehören Salpeterfäure, Chlorwaſſerſtoff, Schwefelfäure, Chlor, Chlorkalt,
Ehlorzinf und Ghinzeien, dad holgefligiause nn Jodin, Iodoform 8
gebrannter Kalk, no
J Ans in beöinficirender-eife: gu wirfen, muf-eine Subflang eine ſchadlich⸗
Verbindung chemijch verändern und eine unfchädliche erzeugen. Alle chemifchen
Veränderungen führen nicht dies letztere Reſultat mit ſich, wie z. B. einige
giftige Dämpfe verwandelt werden können und body giftig bleiben. Dies ift der
Fall mit ben Kafodylen und dem Chankakodyl, bie im vorigen Kapitel beſchrie
ben find, Aber alle Desinfeetiondmittel, die wir im Vorhergehenden beiprochen
und empfohlen haben, find wirkliche Gift-Zerftörer in Bezug auf die natürlichen
üblen Gerüche und Miadınen, mit denen wir bis jegt befannt find,
degyptens Denkmale und ihr Alter.
' Bon |
Dr. &. W. Scharlan in Stettin.
Die Annahme, daß feit Erichaffung der Welt, der glei darauf auch die
Schöpfung des Menfchenpaares folgte, 6000 Jahre verflofien ſeien, fo wie bie
jährliche Wiederholung diefer Zeitrechnung in den Kalendern, gehört jebt, nach⸗
bem wir zahlreiche Beweife über die Unrichtigfeit derfelben haben, in die Reihe
der naiven, ungeprüften Blaubensannahmen. Nicht will ich bier von den Mile
lionen von Jahren fprechen, welche Dazu nöthig waren, den Gasball, den unfere
Erde in der Urzeit bildete, und der mindeftens bis zum Monde reichte, alfo
einen Durchmeffer von 100,000 Meilen hatte, zu einen flüfflgen und dann zu
einem feften Körper zu machen, nicht von den Millionen von Jahren, welche
verliefen, während der Zeit der Erbrevolutionen bis zum Ericheinen der Lun⸗
genathmer, ald deren vollendeter Repräfentant der Menſch auftritt, fondern ich
will es verfuchen, die Zeit feftzuftellen, weldye nachweisbar, jeit dem Erfcheinen
der Kultur verlief. Alle großen Fluͤſſe, dem Gebirge entfpringend, führen ver
witterte, durch die chemijche Einwirkung von KRohlenfäure und Wafler und durch
die mechanifche des Froſtes und des firömenden Regens losgeriſſene Felsmaſſen
in fein zertheilter Form mit ſich; fie Halten dieſe fo lange mechanifch vertheilt,
als die Strömung noch jehr jchnell iſt und laſſen fie allmälig fallen, wenn biefe
in der Nähe des Meered langjamer wird. Diefer Vorgang ift Die Urfache der
allmäligen Ausfüllung der urſpruͤnglich fchroffen Kelfenfpalten, welche dann zu
fanft abgedachten Thälern werden. Cine Reife durch die Tyroler Alpen gibt
nach einem Gewitterregen ein klares Bild von dieſem Vorgange der Berbröde-
Iung der Felſen und von der Ausfüllung der Felsſchluchten durch dies Gerölle.
In der Nähe des Meeres jeht Dad Waſſer die letzten Antheile der mitfort⸗
geführten Maffen ab und bildet bier ſtets das fogenannte Delta. Ueberſchrei⸗
ten die Klüffe ihre Ufer, welche durch die Zeit vieler Jahrtaufende allmälig ges
bildet find, zur Zeit des Frühjahrs oder der Regenzeit, jo läßt dad Wafler einen
großen Theil der mitfortgeführten erdigen Beftandtheile follen. Der langſame
Abfluß des Warfers Hinterläft dann die erbigen Beftandtfeife und fo 6
wie von Anfang an, eine allmälige Erhöhung des Thales. Es ift
th, daß die Anhäufung der eigen Weimifdungen des Waffers, —*
des Bodens waͤchſt. An dem Delta des Miffiftpi hat man 10 Ragen von Bau⸗
men über einander gefunden, weldye durch Erdfchichtungen getrennt und durch
die Die der Bäume die Rechnung möglich gemacht haben, daß ein geitraum
von 52—58,000 Jahre feit der Ablagerung der unteren Schichten verfloffen.
= In erh hat man an nn. —
—* die Erhöhung in 3 Jahe
ren um * * — in 36 —* um einen doll wich de
ſchloſſen, daß zur — 0 um 30 Fuß eine Zeit von 18,400
Jahren — geweſen fel. Dei bi —** nun fand man Scherben von”
Töpferwaaren, Es geht daraus hervor, daß vor einer Zeit von 13,400
Jahren bereits ein Fultivirtes a das Mil
bewohnte. eher dieſe pofiriven Thatſachen hinaus auf
ſchengeſchlechtes ſchlleßen zu wollen, wäre ne Ber per
Daran , eine wie lange Zeit Kazı gehört, "bevor ſich Menfchen nur mit
des Kunſtfleißes Befchäftigen. Der Buftand vieler Völfer von Auftra⸗
‚ Amerika und Afrita gibt daftır wohl Die beſten Beweife, wenngleich diefe
ic "Wacherzeugte "ber kautanſchen und "niongofichen
—** rat m ln — rl md ae
Herodot ſagt: — wenigſtens für jeden Verftändigen, daß
jenes Aeghpten, wohin die Hellenen ſchiffen, ein nen gewonnenes Siuck son
Aeghpienland und ein Geſchent des Fluſſes if.
Wenn man die Karte von Arghpten betrachtet, fo’ findet man, daß von
Griro an, das Gebirge, in deffen Thalſenkung der Nil flieht, ſich in’ zuwel Meine
theilt, son denen ber eine nach der Tegten Spige des rothen Merred, der andere
zum Ser Möris hinübergeht. Das fich auf Diefe Weife bildende Dreieck in bn
den beiden Ausfluß ⸗ Armen des Nils durchſchnitten umd «8 iſt feinem Zweifel
unterworfen, daß alles Hier befindliche Land nur angeſchwemmter Boden ik
Während alfo jegt der Nil ſich mit zwei Armen bei Damiette und Roſette ins
Meer ergießt, erfolgte dies in der früheren Bett Dicht imter Gatro mit einer
Mündung: Alles fefte Land umtethalb Gatro if ein den Meere durch Ges
hoͤhung des Bodens abgewonnenes. Herodot fägt: wer beim Heranfchiffen
noch Fine ganze Tagerelſe som Lande, das Senkblei hinablaͤßt, wird Schlamm
heraufbringen und feine eilf after (alfo 66 Fuß) meſſen. Dies Seneit, daß
daß angeſchwemmtt Sand fo weit geht.“ |
Es würde ſich alfo das Verhaltniß von früher zu jegt in beifolgendem
Baal Har machen Taffen. * Herodot, ber icharffinnige Meifende des Alter⸗
thums, Hat mit großer Sicherheit ausgeſprochen, daß der fo eben befchriebene
Landſtrich, ein neu gewonnener fei und daß die Gegend tin Memphis wie ein
Se
früherer Meerbufen ausjähe. Zur Zeit des Herodot hatte der Nil noch fünf
Mimdungen; heute fieht man nur noch zwei Davon, während kleine unbedentende
NRinnen, einen Theil des Waſſers in den Menzaleh, Bourl und Möͤris⸗See er
gießen. Auch Hier findet ſich bereits die Bildung von ſchmalen Landzungen, wie
wir fie bei den Mündımgen der Donau, der Wolga und des Don, ber Brenta,
der Etſch und des Po, der Weichſel, des Pregel, der Oder u. ſ. w. ſtets vor⸗
finden, unter deren Einfluß eine allmälige Füllung der genannten Seen ein⸗
treten muß.
Herodot fagt ferner; „ſo weit fih das Kleine mit dem Großen vergleichen
läßt, fo fleht die Gegend um Ilium und Teuthranien, oder um Epheſus und die
Ebene des Männder eben fo aus, wie die Gegend um Memphis. Dann von
ben Fluͤſſen, welche diefe Lande angeſchwemmt, ift feiner mit einer einzigen
Mündung des Nils, einer Bergleichung werth. Und es gibt noch mehr Fluͤſſe,
die, ohne die Groͤße des Nils zu haben, Großes ind Werk richteten, von welchen
ich namentlich anzugeben vermag, und darunter nicht zulegt, den Achelous, der
durch Afarnanien fließt und, wo er fich ind Meer ergießt, die Echinadiſchen In«
ſeln zur Hälfte bereitd zum Feſtlande gemacht hat.” In einem ber nächften
Kapitel des zweiten Buches fagt der genannte Schriftfteller ferner: „ich meine,
dag Aegypten einmal eben fo ein Meerbnien geweien, als ter, welcher aus dem
fogenannten Ergthräifchem Meere (Rothes Meer) hereingeht; und wie fang und
ſchmal diefer ift, will ich hier angeben. In der Länge, wenn man von ber
Bucht nach dem offenen Meere fährt, (Tüdlich) gebraucht man mit einem Ruder⸗
ſchiff 40 Zage; in der Breite, wo der Bufen am breiteften ift, eine halbe Tag⸗
fahrt.” Sollte nun einmal der Ril fein Strombett in diefen Buſen Hineinleis
. ten, was hindert dann, daß derfelbe vom Fluß nicht zugeſchwemmt werde, we⸗
nigftend in 20,000 Jahren. Indeſſen ich denke doch, innerhalb 10,000 Jahren
- würde er fchron zugeſchwemmt fein. Konnte nicht alfo auch in all’ der Zeit, die
vor mir verging, ein Meerbufen, und ſelbſt ein viel größerer, als diefer, von
einem Fluffe zugeſchwemmt werden, der fo groß ift und fo gewaltig arbeitet.‘‘
Herodot ſchließt daraus, daß Negypten vor den anftogenden Küften her⸗
vorfteht, daß es auf feinen Gebirgen Mufcheln zeigt, daß es Salztheile ausftößt,
von welchen felbft die Pyramiden angegriffen werden, daß ed den benachbarten
Ländern durchaus unähnlich, fondern einen fehwarzen, brüchigen Boten hat,
nämlich Moor und Schlanım, und daß diefer aus Aethiopien dur den Strom
herabgeführt ſei. E8 wurde dem Herodot von ben Prieftern gefagt, daß zur
Zeit des Königs Möris, 900 Jahre vor ihm lebend, der Fluß jchon das Land
unterhalb Memphis bewäffert habe, wenn derfelbe 16 Fuß fliege; dagegen war zu
IV. 38
„Meguptenb Denkmalc 595
richten binterlaffen , in der Vorausſetzung, daß nachkommende Beichlechier bie»
felben verſtehen würden, Lange Zeit verging, bevor man die Zeichen mit
Sicherheit zu enträthfeln vermorhte, allein dem raftlofen Fleiße und den glüd-
lichen Gombinationen ift es gelungen, die heiligen Zeichen zu leſen.
ALS Solon im Aegypten reifte, fuchte ex die Bekanntſchaft der Prieſter,
um von ihnen Mittheilungen über die Vorzeit zu erhalten. Um fle dazu zu
veranlaffen,, hatte er. ihnen die Sagen von der deufalionfchen Fluth, von Pho⸗
romeud und der Riobe und andere gefchichtliche Annahmen der griechifchen Vor⸗
zeit mitgetheilt. — Der ältefte ber Priefter fagte darauf: „O Solon, Solon!
ihr Griechen feid Doch immer Knaben, nirgend ift in Hellas ein Greis. Eure
Seelen find ſtets jugendlich, ihr habt in ihnen Feine Kunde des Alterthums,
feinen alten Glauben, Seine, von Alter graue Wiffenfchaft. Der Grund hier⸗
von ift diefer: „oft und auf mancherlei Weife find die Menfchen vernichtet wor⸗
den, wie auch in der Folge woch geſchehen wird. Die größten Zerflörungen
hat das Feuer und Waſſer erzeugt; geringere find durch unzähliches Mißgeſchick
herbeigeführt. Denn, wad bei euch erzählt wird, Phaeton, des Helios Sohn,
babe den väterligen Wagen befliegen, ihn aber nicht mit der Kraft des Vaters
Ienfen können, daher fei Die Erde in Brand gerathen und er felbft in den Flam⸗
men verzehrt worden“ — dies iſt zwar dem Scheine nad) ein Mythos, aber doch
gewifiermaßen wahr. Bei dem Wechjel nämlich, dem die Umläufe des Him⸗
meld um die Erde unterworfen jind, entſteht endlich in langen Zwiſchenraͤumen
eine Verzehrung der Erde durch häufiges Zeuer. Im diefem alle werden dann
biejenigen, welche hohe und trockne Begenden bewohnen, früher ergriffen, als
bie Küften und Uferbewohner. Uns ift der Ril, fo wie in den meiften Dingen,
fo auch in diejem Falle Heilfam und vettet und vor dem Verderben. Wenn
aber tie Götter die Erde mit Bluthen reinigen wollen, fo entgehen nur bie
Bergbewohner, die Hirten und Romaden dem Untergange; aber eure Städte in
den Ebenen, werben durch die Gewalt der Ströme ind Meer fortgerifien. —
Was irgend Großes und Schönes bei und, oder bei Euch, oder ander«
wärts vorgefallen und befannt geworben ift, das ifl von den älteften Zeiten an,
in unferen Heilighümern aufgefchrieben und erhalten. — Es trifft fich zwar
auch bei euch und anderen Völkern, daß dasjenige, was eben verfällt, in Schrife
ten und Denkmaͤlern aufbewahrt wird, aber nach gewiffen Perioden ber Zeit
zerftört die Fluch vom Himmel alles Menſchenwerk und die Nachkommen find
ber Schrift und der Künfte beraubt. Dann feid ihr wieder Jünglinge und bes
ginnt aufs Reue eure Laufbahn, unwiſſend der vergangenen Zeiten. Wirklich
ift das, o Solon, was du fo eben aus euren Benealogien hervorgebracht, nicht
weit von der Ratur ded Mythos entfernt; fürs erſte, weil ihr euch nur einer
Ueberſchwemmung erinnert, da Doch ſchon viele vorübergegangen find und dann,
weil ihr das fchönfte und beite Gefchlecht eurer Vorfahren nicht fennt, aus dem
bu und bein Staat entiprungen find, ein Fleiner dem Verderben entgangener
Keim. Dies iſt euch aber verborgen, weil die Geretteten und ihre Nachkom⸗
men, viele Gejchlechter hindurch der Schrift entbehrten.
„Ich will dir gerne um deiner ſelbſt willen dieſe Geſchichte erzählen; vor
38 *
Aeggatent Denkwalei 597
Papier kannten und verwendeten, iſt befannt, jedoch war biefe nur für dem täg«
lichen Verkeh ale Handelsſchrift gebräuchlich. Mit weldyer Treue ubrigens die
Bilperfchrift ansgehbt wurde, zeigen bie menschlichen Figuren, da man an ihnen
mit Beſtinuncheit die einzelnen Nationalitäten berauserfennt, und wo dies an
den Geſichtszugen nicht möglich iſt wegen der vorhandenen Mehnlichkeit der ver⸗
wandten Völker, bat mas durch eine entfprechente Färbung nachzuhelfen
gewußt. ur
War esô ven Prieſtern gelungen, durch bildliche Darflellung eine Kunde
auf die Nachwelt zu bringen, und es ift ihnen gelungen; denn heute, nach Jahr⸗
taufenden , entziffert man die Mittheilungen, fo mußte es ihnen auch daran fies
gen, ihren Mittheilungen eine Uinzerftörbarkeit durch Feuer oder Wafler zu geben.
— Die Verwendung der harten, vulfanijchen Gefteine, als: Granit, Porphyr
und Grünftein, für Bildfäulen,, Golofie und: Obelisfen, mußte deshalb ge=
fchehen, weil man ihnen bei der Zerſtörung der Erdoberflaͤche durch Heuer ein
ſicheres Dafein zu gewähren berechtigt war, anderentheil® bei eintretenden Ueber⸗
ſchwemmungen fle außer dem zerftörenden Bereidye der Ylutben, wegen ihrer
Sröße und Höhe geſeyt Hatte. — Wiflend, dag große Maflen großen Bewegungs⸗
fräften leichter widerfichen,, als Fleine, gaben fie ihren Sphinren, Widdern und
Königdbilpiäulen, ihren Tempeln, Byramiden und Begräbnißfaften fo außeror«
dentliche Srößenverhältnifie, daB man nur in Diefer Anſchauungsweiſe einen ver⸗
nünftigen und auch vollkommen binreichenden Grund für die Korm und Grd«
Genverhältniffe aller der Baumerfe Aeghptens finden kann, welche fich auf ge=
ſchichtliche umd religiöfe Berbältuifte beziehen. Daß weder die Könige, noch die
Vrieſter in den Tempeln gewohnt haben, geht theild aus der unwohnlichen Ein⸗
richtung derſelben, theils aus der Sauberkeit Der Wände, welche mit Bilderfchrift
bedeckt find, theild aud dem Umſtande hervor, daß man wohl dieje Gebäude, hei⸗
ligen Zwedten gewidmet; aber nicht zum gewöhnlichen Wohngebrauche verwendet
. Haben würde. &8 ift nachgewiefen, daß die geoßen Tempel nicht aus einem Guffe,
von einem Baumeifter, oder von einem Megenten geichaffen find, fondern es läßt
fich mit Beſtimmtheit nachweiſen, daß zu verfchiedenen Zeiten Anbaue, gemacht
worden find. Sind diefe Bauwerke dazu beftimmt, Gefchichtöhücher zu fein, fo
ift es auch natürlich, daß jeder Regent entweder Die Befchichte feined Vorgängers
oder jeiner eigenen Regierung auf Tempelfäulen, Tempel⸗ und Grabkaſtenwaͤnde
und Obeliöfen eingraben ließ, und deshalb dieſe Anbaue, oder auch Neubaue
nötbig wurden. — Wenn man weiß, daß der Kalkftein, aus welchen Tempel
und Byramiden erbaut find, leicht der Zerflörung auögefegt if, und wenn man
borausfegen muß, daß auch die Priefter die Ungerftörbarfeit ded Granits, des
PBorpbyrs und Brünfteind, durch Feuer und Wafler fannten, wenn ferner fein
Obelisk und Fein Götterbild, und nur wenige Grabkaften für Menichen, aus
Kalkſtein gemacht, ſich vorfinden, fo möchte man zu der Bermuthung berechtige
fein, dag die Obelisken, welche vor den großen Tempeln ftanden,, vielleicht die
wichtigiten Begebenheiten derjenigen Zeit enthalten, in weldyer die Erbauer dea
Tempels und jeiner Anbaue lebten, vielleicht eine Art Negifter zu den ausführ
licheren Mittheilungen auf Tempelwäuben und Säulen, darfiellen. — Die Pyrq⸗
pi
fprünglichen
ſchuhzte fie ihre Form und ihre Größe; vor hen —
man fie durch Bedeckung mit Granitplatten zu ſichern. — Alle Pyramiden
hen rue au daß! die‘ Pyramiden nicht | |
hatten, fondern daß die Vergrößerung durch Anbau und Umbauung der ın
Grabfammer entſtanden ift. Vor der Berftörung
haben im Inneren einen tiefen Schacht oder Brunnen; son einen weiß man,
daß er mittelft eines Canals mit den Umgebungen der indung
fand. — Ob diefer Brunnenſchacht dazu beſtimmt war, den Arbeitern nach dem
Verſchluß der Pyramide den Ausweg zu geftatten, oder ob er beſtimmt war,
Waſſer, welches von oben in die Kammern der Pyramide eindringen könnte,
wieder abzuführen, laͤßt ſich wohl nicht mit Beftimmtheit feſtſtellen.
Wenn man die Lage Aeghptens am Rande der Wüfte berückfichtigt, werm
man weiß, welche großen Maffen von Sand in das Fand hineingeweht werden,
jo Hat man einen dritten Feind, ben bie ägyptifchen Priefter zu fürchten hatten,
Dies ift ein Grund, weshalb die am Rande der MWüfte ftehenden Pyramiden,
außer dem Bereiche der gewöhnlichen Nilüberſchwemmungen befindlich, im jo
außerordentlicher Größe gebaut wurten, Die Borm, die Größe, ſchützten die
Poramiden vor dem Umfallen, un die ieh
ber Zerflörung durch Feuer. | | vunmin a ya
Wenn die ägdptifchen Priefter den Mythus vom Phaston umd der/iohe
kannten, und fie kannten ihn und mußten ihm genügend zu deuten, fo möchte aus
demſelben hervorgehen, daß eine Umwandlung der Erdoberfläche in der erſten
Sage und eine Vernichtung des Menfchengefchlechtd in der zweiten dargeftellt ift.
Wenn. die Sage vom Phaston, von einer Veränderung des Laufes des Sonnen»
wagens fpricht, To liegt Die Bermuthung nahe, daß eine Veränderung des Bor«
Berhältniffes der Sonne zur Erde ftattgefunden bat. Sind alle Planeten
unfered Sonnenſyſtems nach einander von dem Sonnenförper losgelöſt, fo
ift es natürlich, daß auch nach einander Veränderungen in den Wärmes,
Licht» und Untlanfsverhältniffen der Planeten zur Sonne eingetreten fein müfs
fen. War die Erde früher ala Venus und Mercur, ala Planet fertig, fo ift es
Flat, daß vor diefem Verbältniffe ganz andere Beziehungen der Erde zur Sonne
ftattfanden, als nach dem Erfcheinen des beiden Planeten. — Sind alle Planes
ten aus Hüllen der Sonne entjtanden, und hat Diefelbe, wie wir wiffen, noch zwei
Hüllen, ift die Hüllen» und Ringbildung überhaupt ein Entwidelungsftadium
der Sonne und der Planeten, fo ift ed mehr als wahrfcheinlich, daß Zeiten kommen
werden, in denen noch neue Planeten zwifchen Mercur und Sonnenförper entftehen
werden. — Welche Veränderungen dadurch in dem Verhältniffe der Erde zur Some
eintreten werben, laͤßt fich Heute moch nicht beſtimmen, jedenfalls aber müffen
die Licht⸗ und Wärmeverhältniffe geindert werden. — In dem erbarmungsloſen
Hinfchlachten der Niobiden durch die Pfeile Apolls und Dianens Liegt eine bild⸗
liche Darftellung einer Vernichtung des Menfchengefchlechts durch cosmiſche Ur⸗
k
—
Aegyptens Denkmale. 599
ſachen. Zuerſt muß es auffallen, daß Helios und Diana, alſo die Repraͤſentan⸗
ten für Sonne und Mond, als die Vernichter des Menſchengeſchlechts auftreten.
Daß in ten ſieben männlichen und ſieben weiblichen Kindern der Niobe das
Menfchengefchlecht vertreten zu jein fcheint, ift mehr als wahrfcheinlich, denn
nicht allein die verfchiedenen Alteröftufen vom Säugling bis zum Erwachjenen,
fondern auch die gleiche Zahl Heider Befchlechter find es, welche hier als Darſtel⸗
ler des ganzen Menſchengeſchlechts gelten follen.
Nachdem die Kinder getödtet waren, wurde Niobe in einen Stein verwan-
delt. — Was diefe legte Darftellung betrifft, fo bezieht ſich dieſe auf geologiſche
Berhältnifie, welche eintreten, nad dem eine Umänberung der Verhältniffe der -
Erde zur Sonne und eine Bernichtung des‘ Menſchengeſchlechts bereitö geſche⸗
hen war. “
Die heutige Flottenfrage. 501
nen als das Streben nach Verxrückung des biäherigen yolitiichen Schwer
punftes, ald das Streben nach .einer veränderten Machtſtellung ber Völker zu
einander. Wer in zweiter und dritter Linie ſtand, will vorrüden in die erfle
oder zweite. Es mag Anſchauungen geben, welche meinen, Das Streben nach
Freiheit, d. h. nach periönlicher und politiicher Selbſtbeſtimmung fei es, welches
"als Motor durch die europäifchen Staaten ziehe; wir theilen fie nicht; wir halten
fie für phantaftifche, der Wirklichkeit nicht entiprechende; wir meinen um⸗
gelehrt, das große Maaß perjönlicher und politifdyer Selbitbeftimmung, welches
fo viele Völker des Continentes ertragen und gebrauchen gelernt, habe ald Wir
fung gehabt dad Streben nach nationaler Macht, und dieſes Etreben
fchließt in feiner Verwirklichung die Berrüdung der biöherigen politifchen
Schwerpunkte in ih. Wo dad Streben nach politifcher Freiheit in den Vor⸗
dergrund trütt, dürfte Die Urſache in dem biöherigen Mangel derfelben liegen;
Freiheit, Selbftberußtjein, Macht, ift Die Reihe, nad) deren erfter Etufe man
dann verlangt. Erſcheinen dabei Ueberftürzungen, Revolutionen, ſocialiſtiſche
Beftrebungen, fo find das eben die Schwankungen des plötzlich auf eigene Füße
geftellten Schwaͤchlings; bei erleuchteten und flarfen Regierungen und fräftigen,
ſelbſtbewußten Völkern wird man davon wenig gewahr und überwindet fie ohne
Mühe noch Schaden.
Europa zeigt fi) hiernach im doppelten Geſicht. Die Einen wollen er⸗
halten, die Anderen erwerben.
England ſteht auf dem Gipfel Der politifchen Macht. Das Uebergewicht
feined Handeld und Reichtgumd, dic Macht feiner Flotten, die Ausdehnung feie
ner Solonien — d. h. der für das WMutterland arbeitenden NRebenländer —
laffen menfchlichen Unftchten nach kaum eine erhebliche Steigerung noch zu.
Seit einiger Zeit gewinnt aber die Rivalität eine Ausdehnung und eine innere
Stärke, die bedenklich zu werden anfangen, und die gefährlich genannt werden
müflen, wenn die biöberige Obmacht etwa anfinge an moraliſcher Schwaͤche
oder innerem Niedergange zu laboriren, oder wenn die Hauptmaſſe Der bisheri⸗
gen getrennten Rivalen auf den Einfall fäme, ficy zu vereinigen. Es naht alſo
die Zeit, und wir Dürfen jagen, fchuellen Schritte, die England in einen
Kampf um feine bisherige merfantile und politifche Machtftellung verwideln muß.
Mir haben nicht nöthig, Die Kraft Englands in Ziffern auszudräden und die
moraliſchen Grundlagen dieſer Kraft zu beſchreiben; es ift genug, wenn wir
fagen,, daß e8 einen Kanıpf um Leben und Tod gelten wird, und England wird
darin feiner würdig auftreten.
Sranfreich hat das Schickſal, zumeift verfannt und infolge deſſen überfchägt
oder unterfchägt zu werden. Man bringt den alten befannten vomanifchen
Volkscharakter, wie ihn Mommien und Wieteröheim in fo trefflichen Meiſter⸗
ftrichen zeichnen, aller fpäteren Zeit zum Verſtaͤndniß, nicht genug mit in Uns
fchlag. Unſere Liberalen betrachten eine Ration mit Geringfchägung, die ihre
perfönliche und politifche Sebftbeftimmung ohne Ueberlegung wie ohne Kum⸗
mer weggibt; unfere Abfolutiften und Zegitimiften verachten ein Volk, dem die
Treue nicht iſt, als ein veralteted VBorurtheil und das wanfelmüthig heute hier⸗
Die deutſche Flettenfrage. 603
flifchen Interefien, theils war es doch Fein rahiger und naturgemäßer alfo dauer⸗
hafter Zuſtand, der hier, auch im beften Falle, erreicht werben konnte. Ä
: Sehe Kräfte werben gefaßtlofer und befier fuͤr coloniale Zwecke verwen-
det. Dort finden Thaͤtigkeit, Energie, Egoiſmus, Raubfucht ein offenes Feld
und dem Rückkehrenden winten Ruhm, Nacht, Reichthum und Genuß. — Da
aber: die Colonien in allen werthvolleren Teilen der Erde bereits beſetzt ſtnd und
es kaum möglich. fein dürfte, irgenbwo' ungeflört deren neue von: genägender
Tragweite zu etablicen, fo mag dem Kaifer Rapoleon wohl die Idee nahe gekom⸗
men fein, den in Frankreich fo populären Kampf gegen England nicht blos im
nationalen Sinne gegen beffen Präponderanz, fondern auch um deſſen
Golonien zu führen, damit: aber ber:englifchen Machtflellung auf alle Beiten
dad Wiederaufleben abzufchneiden,. — Der Krieg mit England ift aber für
Frankreich. dann zugleich ein Gontinentalfrieg, wenn es nicht in den Haupt⸗
mächten Verbündete ſieht. Die Frage Fiegt jetzt, fcheint e8, fo: kann Frauk⸗
reich den großen Continentalmaͤchten einen- Preis bieten, um deſſen willen fie
ſich dem Kampfe gegen England bireet oder indireet anſchließen? — Der Preis
müßte freilich fo groß fein, daß jede dieſer Mächte fagen Tann: ja, um diefen
Preis kann ich eine foldye Vergrößerung der franzöflichen Macht hinnehmen —
ich finde fpäter auch meine Berbündeten, um Die. Uebermacht zuruckzuweiſen —
ſchlimmſten Falles pflegen große Regenten nicht ſehr alt zu werben. Wäffige
Gonjecturalpolitit wäre «8, die Antwort Hierauf flofflich auszuführen; einiger
politische Scharfblid, Die vergangenen Ereignifle und das Streben der Groß⸗
nächte beachtet — und die Antworten Türften gefunden jein.
Im Befige aber einer guten Zahl der englifchen Golonien würde Fankreich
auf mehrere Menfchenalter hinaus tüchtig und für fich ſehr nüglich befchäftigt
fein; die nationale Richtung und das dynaſtiſche Intereife wären gleichmaßis
gut verforgt.
Rußland bietet Das intereflante Schauſpiel eines Reiches, das auf der. einen
Seite durch alle Mittel der vorgefchrittenften Givilifation feinem Volke Cultur,
Selbftbemußtfein und Reichthum bringen will, und auf einer anderen Seite
feine verhältnigmäßig höhere Stufe benugt, um gegen halbbarbarifche Rationen
Borsichritte zu erringen, bie den Golonialbefirebungen Frankreichs nicht ganz
unähnlich fehen. Rußland, das fehen wohl auch die Blinden, bereitet fich ſorg⸗
fam und eifrig die Stufen, auf denen es zur Weltmacht emporfteigen will, Vor
der Hand hat Rußland Ein Intereffe mit Frankreich, fie wollen England flür-
zen; jpäter — qui vivra verra. — Wem etwa einige Zweifel über den tiefen
Ernft inwohnen follten, mit dem Rußland auf diefer feiner Bahn fortichreitet,
der prüfe defien Umfichgreifen am Amur, deſſen Ausbreitung in Gentralaften,
wo ed im Souvernement Semipalatinsk fich eine bluͤhende und lebenskraͤftige
Baſis fchafft und — deſſen Umwandlung feiner Oftfeefloste, die e8 in weni»
gen Jahren aus einer fchlecht verſehenen, fchlecht gebauten und fchlecht geüb⸗
ten Flotte in das gerade Oegentheil und fomit zu einem: ebenbürtigen Berbüns
beten Frankreichs gemacht hat in dem großen Welilampfe, af den Beide los⸗
fteuern.
willen? Der Kaufmann ſteckt fein Geld in die Waare — doch wohl lediglich um
Des zu verhoffenden Gewinnes willen ? Glaubt man, wenn es Preußen tinfiele, in
dem Weltkampfe ſich auf Englands Seite ftellen zu wollen es erginge ihm ame
ders, als der ſavohiſchen Neutralität? Nous passerons dutre. Over rechnet
Preußen Darauf, Daft, wenn es um engliſcher Intereffen willen, einen Krieg mit
Srantreich führen wollte, ‚daß dann Deutſchland auf ſeine Seite: tretem werde,
jenes Deutſchland, das in Oberitalien ein deutſches Intereffe, wenigſtens eine
natiomale,Ehre zu vertreten bereit war und nicht vertreten durfte?‘; Eing«
liſche Intereſſen find nicht —— ſehr England auch nach einem
continentalen Alliirten verlangen wird. .- mr. — an ZuR
| we
Kleinlichkeit der für ihre Politik aufgefiellten Gründe (?). Fuͤrwahr, es gehört
die geiftige Blindheit, eingefleiichter Doetrinärs dazu, um Dinge zu fagen und
ala Gruͤnde hinzuſtellen, deren Nichtigkeit der. einfachite geſunde
fand ohne weiteren Beweis einſieht. na
Die dentſche Yetterufrage. 60b
Wäre Dentfchland einig und mit einer ftarken, felbſtherrlichen Centralge⸗
walt verſehen, es wäre ein großer Kampf für Deutfchland‘; der gegen bie ver⸗
einigten zomanifchen und fTavifchen Rationalitäten. Denn, wir dürfen e3 uns
nicht verheblen, wir find vereinigt zıwar Einem überlegen, aber weder unfer Na⸗
tionalreichthum noch unfere nationafe Kraft find fo weit entwickelt, daß ſie ge-
gen Bereinigung beider die materielle Uebermacht haben. Defterreich iſt in allen
feinen Theilen erſt am Beginn der Entwicklung; wir find die letzten, zu verfen-
nen, welche fchönen Brüchte die feit 1850 erweiterte Selöftbeftimmung der äfter-
reichifchen Völker fchon getragen; zum großen Ziele hin find das aber erft kleine
Anfänge und bie nationäfe Macht dieſes Staates ift faum mehr als einfeitig;
eö kann große Armeen zwar aufflellen, aber mit eigenen Mitteln weder unter»
halten noch Bezahlen. Preußen aber ift viel zu Mein, es auch nur mit der ges
theilten Macht Frankreichs aufnehmen zu koͤnnen; es hat erft fürzfich mit feinem
fogenannt altberühmten, volfsthümlichen und außerordentlich ergiebigen Heer⸗
fofteme Blasen gemacht und den Beweis geliefert, daß auf feine Neben und An⸗
preifungen nichts weniger als unbedingted Vertrauen zu feßen if. Dabei hat
ed jeine ebenfo bedeutende ald vortrefflich geregelte Finanzkraft ſchon für die
Friedendzeit berart anzufpannen, daß der Krieg Taum eine Steigerung diefer
Leitungen geftattet. — Und foldher Lage gegenüber reden die Gothaner von
Machtfuͤlle, jubeln über die Niederlage einer deutfchen Großmacht, demonſtriren
mit eitlem Redeprunk vom deutfchen Standpuntte aus, daf fie keinen Krieg für
£arholifche Politik, für Verdummungsſyſteme und dergleichen führten, und wol⸗
len und einreden, wir felen flärfer ohne ald mit den öſterreichiſch⸗ſlaviſchen
Provinzen! Als ob wir nicht aller, aller unferer Kräfte bevürften, um nadh
zwei Seiten Fronte halten, wir nicht jedes einzelnen Vorpoſtens bedürften, um
ihn als Keil in die Beinde Hineintreiben zu können.
Die Eleindentfchen Beſtrebungen zerreißen die ohnehin faum zureichenbe
Kraft Deutfchlands und führen es Dadurch feinem ſtaatlichen Untergange ent
gegen. Das ift unfere Meinung.
Wenn ein Kampf um das höchfte nationale Imterefie, die
Weltftellung eines Staated, einer Großmacht, entbrennen will,
fann das Ziel, das zu erftreben ift, nicht zweifelhaft fein. — Wer nicht vors
waͤrts drängt mit aller Kraft, gebt unter.
Wenn, wie wir es für wahrjcheinlich halten, bie nähere Zukunft uns einen
Weltkampf gegen die englifche Präponderanz in Handel und Seemacht, in Co⸗
lonien und Reichthum bringt, fo erfordert das deutfche Interefle vor Alleın -
eine innige Bereinigung ber gefainmtdeutfchen Kraft,
verbunden mit totaler Aufgebung aller Eleinlichen Sonderzwede, ja verbunden
mit partieller Aufgebung ſeines Individualitätstriebes, d. h. mit zeitlicher Ab-
tretung verfchiedener Souveränitätöredjte an eine Dictatur.
Je mehr aber der Kampf, der in Ausficht ſteht, wichtig iſt für die ganze
zufünftige Entwidelung Deutfchlants und je weniger wir für ihn vorbereitet
find, defto nothwendiger ift es, daß diefe Dictatur ehefchleunigft eintrete.
Deutfchland verdanft Dem, was man Kleinftaaterei zu nennen beliebt, ſei⸗
Die. dentſche Flottenfrage. 607
Praͤponadernz und unſere Macht auf dem Erdkreiſe auch der inneren Tichtiteit
des germaniſchen Stammes entſpreche.
Alſo die Politik verlangt von uns:
Politiſche und militaͤriſche Dictatur für Geſammtdeuiſchland,
eine der hochwichtigen Weltlage entſprechende Machtentfaltung zu Lande
wie zur See, und
die Beſchleunigung in Dem, was wir tun wollen.
Darüber aber, dag unfer Handel und die Interefien unferer Rationalen
- einer Flotte bedürfen, geftatte man und hinwegzugehen, als über eine Wahrbeit,
die feines Beweiſes mehr bedarf.
U. Strategiſcher Theil.
Nachdem eine eingehendere politiſche Betrachtung und die Nothwendigkeit
einer Flotte, und zwar einer ſtarken Flotte gezeigt hat, derart, daß es ſchwierig
werben duͤrfte, bie angezogenen Gründe ober die daraus ſich ergebenden Folge⸗⸗
rungen anzugreifen, haben wir bie einzelnen Bälle des Bedarfs zu beachten,
um daraus zu combiniren, welcher Art und Stärke die Flotte fein müffe.
Es kam und bei dem Durchdenken dieſes Aufſatzes der Gedanke zu Sinn,
einmal nach ben 48er Schriften zu forfchen und zu lefen, was dazumal gebrudt
worden. Wir fanden Mancherlei, Brauchbared und Mangelhaftes, des Veral⸗
teten natürlich fehr viel, de8 Beltenden wenig. ine noch frühere Fleine, jebt
faft vergefiene Brojchüre, Note sur l’&tat des Forces Navales de la France 1844,
vom Prinzen von Joinville verfaßt, Teuchtet aus dem ganzen Gewirre hervor
durch die Klarheit, mit der fie erft Die Situation zeichnet, dann die Conſequenzen
zieht, und endlich durch die Sicherheit, mit ber die Entwidelung der Dampf⸗
marine und demgemäß die Benugung der Sache vorher gefehen wird.
Auch eine Brofchüre ded Prinzen Adalbert von Preußen „über die Bil
dung einer deutfchen Kriegöflotte, 1848", gibt fchäßbare Raifonnementd, Toch
zeigt fie ganz das Gepräge des ſchmachtenden Zuftandes, in welchem feit diefer
Beit Die preußifche Marine ihr Dafein fortgefriftet hat, gewiß zum Kummer
des fürfllichen Schriftftellers, der zwijchen den Zeilen mehr fchreibt, als in
denfelben.
In beiden Schriften fehlt gleichmäßig die Perfpertive auf einen großen
Kampf um die Secherrfchaft. Zwar findet man genügende Andeutungen über
die Aufftapelung werthuoller Materialien in den franzöftichen Seezeughäufern,
Hülfsmittel, deren Vorbereitung zum nicht Fleinen Theile die franzöftiche Marine
die Möglichkeit ihres jegigen Aufſchwunges verdankt, aber doch iſt es mehr ber
Kreuzerfampf, den der Prinz Joinville in's Auge faßt.
Die Beflimmung der preußifchen Marine wird weientlich mehr im Schutze
der Küften und in den Berhinderungen der Blofaden gefucht, als im directen
Kampfe oder in fernen Expeditionen, zu welchen Iegteren überdies wenig Veran⸗
laſſung gerade damals vorhanden war; der Dampfmarine ift eine geringere Ent⸗
Die dentſche Büntärufunge. Ä 689:
führen einzelne Berftärungen aus: — Alles fiodlt. Ober chizelne Generale. war⸗
ten die Befehle nicht ab, ihun, was jo oft zu den glüdlichften Entſchlüͤſſen ge⸗
hört, marſchiren ohne Jögern anf den Kanonendonner Tod, treffen aber nıit ihrem
Eifer auf die Demonftration, -anftatt auf den Kernpunkt — oder ſie laſſen fich-
verleiten, entichloffenen Demonftrationen Werth beizulegen, anftatt die erhalten:
nen Inflrurtionen auszuführen — kurz, ed gibt beim beften Willen der Han⸗
deinden der Bwifchenfälle Tauſende, und auf ihnen rußt ber Erfahrungsieg:
Zerſplittert leicht, concentrirt ſchwer. Iſt die Armee einmal aus der Hand ger.
geben, mag der Feldherr fehen, wie er fle wieder zufammenbringt. !
Jedwede Beribeilung führt aber trop beſter Berechnung durch dieſe nache
theiligen Factoren zu einem Angriffe feindlicher Uebermacht gegen Mindermarkt,
alfo zu einem Verhaͤltniſſe, bei dem der Sieg an und für fich fchon wahrfcheine
lich ift, abgefehen davon, daß der Angriff ganz allein wegen der Damit verbunde⸗
nen Steigerung ber moraliſchen Elemente eine weitere Wahrſcheinlichkei bed
Sieges einfchließt.
Es treten zu dieſen, der Vertheidigung unguͤnſtigen Verhaͤltnifſen noch bie
Vortheile hinzu, welche der Augriff etwa im Terrain findet. Der Angriff ſtrebt
nach Verborgenheit und nach Schnelligkeit in der Ausführung der vorbereitenden
Mafregeln. Je leichter die Beobachtung derſelben verhindert wird, je raſcher
die Bewegungen geſchehen, um fo mehr fichert man fich dad Lieberrafchende bes
Angriffes und damit Die Uebermacht gegenüber dem zerfplitterten Gegner. -
Wenden wir die Mefultate der Erörterung auf unſere Seeküften an, fe
fehen wir die Beobachtung Seiten des Bertheidigerd durch Die unfehlbare Blo⸗
kade unferer Häfen, wie durch die flachen, fernfichtlofen Küften gehindert; fehen
die Bewegungen der getrennten Abtheilungen ber Vertheidiger durch Weglofige
feir und Terrainbefchaffenheit gehindert, fehen dagegen bie. Beweglichkeit der’
Flotte mit den Landungdtruppen außerordentlich gefteigert durch Die neueren.
nautiſchen Bervolllommnungen, und bei dem Kanıpfe am Landungsplatze ſelbſt eine
enorme lieberlegenheit der Schiffdartillerie. uber Die leichten Kaliber der Feld⸗
artillerie. Auch find der Landungdpläge genug vorhanden, wo die Flotte mit
ihren mächtigen Hülfömitteln gleichzeitig eine große Macht an's Land werfen:
kann, fo daß vollkommene Unficherheit fiber die Wahl des Landeplatzes beſtehen
würde, alſo zu allen den übrigen Nachtheilen auch noch gewilfermaßen vie Roth»
wendigfeit der Bertheilung treten würde.
Man ift aber in dieſem Syfteme weiter gegangen und hat die Befeftigungde
anlagen gleichfalls zerfplittert. Der Augenfchein und. die Angft, diefe beiden .
DVerführer, haben geglaubt, man müffe überall, wo ein leidlich günftiger Landes
plag eriftire, Befeftigungswerfe ausführen, und Haben gehofft, dadurch Schuß zu:
finden. In alten Zeiten freilich, da handelte es fich um Korfarenfrieg, um Sireifr
zuge und Plünderungen; da gab es Fleine Schiffe mit wenigen und leichten Ka-
nonen; da Tonnten ide Xocalbefeftigungen recht wohl ihren Nutzen beweijen,
aber den jeßigen Angriffömitteln find ſie nicht gewachfen; bie großen Schrau⸗
bendampfer und fchwimmenden Batterien vernichten derartige Pigmäen in wenigen
Stunden, und zu ihrer vollfommenen Rutlofigkeit zu den Zwecken der Vertheidi⸗
IV. 39
der mean er hi |
Derifeiigung br Kngen inien find ng ———
u Werte gehen jollen. ann. ni ‚mints ur anım *
i ——
jeweiligen Umftänden abhaͤngenden Operatlonen zum größten Theil des Schutzes
umd ber ———— lid am aue
griff das Uebel an der Wurzel an. Die Bertheidigung langer Binten"
fann nur sor ih emıwirffiam erfolgen; die ganze contentrirte Macht
wirft direct — defenſi — auf dem einen Punkte, wo ſie ſteht, indirect — offenen
ſiv gegen des Fein des Flanken, anfangs nur drohend — auf alle uͤbrigen Punkte,”
die in ihrem ſtrategiſchen Bereiche liegen, Es würde alſo z. B) wenden An—
griff auf die Flußlinie des Rheines in der Richtung auf Carlsruhe erfolgt / ein
Vorgehen von Germersheim rheinaufwaͤrts anfangs eine Flanlenbedrohung fein:
und in den meiſten Fällen‘ ſchon dadurch den Zweck erreichen; sollte Dies aber
nicht eintreten, fo würde tin Rlankenangriff folgen, deſſen Mefuftat im glücklichen“
Balleı das: Schlagen der franzöflichen Arnıee ihr Abdrängen von "allen ihren!
rüchwärtigen Verbindungen und ihr Hineimverfen nach Straßburg fein fan
* 1
ee a un b
—— me Floite b
unſere Küften — nn an ein ae
die Fragte: aa u; rn) pawtlansannsansten mitbieten
) Was mußdas für eine Flote ſein, der windem&chugun«
jener Käfenanuertranemdn — Fu am as⸗ nun Er 97)
meinſame Kraft dann diejenige Macht geben, wird, -aus der die Sicherheit ente
Tmingt, ang fu na mom am —— ———— Ann
‘ Sollen wir und begnügen wollen, rin |
fönne, daß dänische Schiffe unſere Häfen ſperren und daͤniſche Sererpeditionen :
unfere offenen Küftenorie cher en
dinier fhügen? Wenn aber der Gang der @
gegen und führt? Oder wenn #8 Bubland-sinfele,. unfere Drfenfispofen zu
umgehen, oder Frankreich darauf Dächtesn
| Kenn
Hülfsmittel an den Quellen zu faflen2 E86 gibt nur Ginen;Nafab-für-deB;;
was wir ‚brauchen, und zwar: unſer Be bürfmiß; können wir nicht bis zu
unſerem Bedirfniß in die Höhe — ein; Ball, der in armen odet — —
EEE ne an ——
ſchuͤtze gegenüber der gebräuchlichen — ——
war ihre Wirfungefphäre entſchieden größer; jegt, wo Dampf und weittragende
Geſchuͤtze auf allen Schiffen zur Verwendung kommen, Sit ihr’ Bebräudh‘ Haupt
ſachlich auf die feichteren Gewäfler eingefchränft, wie wir im finnifchen Bufen,
an der Krimm und in China gejehen. Da aber unfere Nordküften und zum
Theil auch die Oftfeefüften gerade dieſer Veſchaffenheit ind, Tiegt es ung ob, jo
viel Diefer leichten Fahrzeuge zu erbauen, als wir auf den |
plägen gu einer nachdrüklichen Action: brauchen. Es will ſcheinen, als ob eine
Anzahl von zwanzig | cadre hinrelchen
die Enge der Gewaͤſſer, um die 66 fich- Handelt, wird felten die Entwickelung gro⸗
ßer Schlachtlinien geftatten, und als ob zwei Escadren für jedes unferer Meere,‘
Oſtſee, Nordfee und Adria dem Zweite entiprechen würden. Wir werben damit
feine Urberlegenheit über unfere Gegner Haben, denn die Nuberflotten der Ofe
feeftaaten zähfen bedeutend mehr, und England allein foll dermalen 200 Dampfr
fanonenboote bereits beſitzen; allein es handelt ſich um umfere Zweite, d. he une
fere Küften und unfer Bebürfniß, und wir berechnen letzteres nach dem Raume,
der fich den Kräften zu ihrer Verwendung darbietet. Es verfteht ſich, Babwir
nicht im Entfernteften meinen, mit unjeren Zahlen juft das Richtige getroffen zu —
Haben; in der Broſchuͤre des Prinzen Adalbert find in Summa für Nord und
Oſtſee 120 angenommen, aber ohne auf den Dampf zu rücdfichtigen, follten wir
diefelben Reſultate mit SO Dampffanonenbooten nicht erreichen, fo würden bie:
Flottillen nady dem Bebürfniffe zu verftärfen fein 0 rt
Die Armirung der Kanonenboote würde wejentlich gewinnen, wenn fie ſtatt
48-Pfünder Kanonen oder 68-Pfünder Bombenfanonen gegogene Kanonen
führten von 24= bis 30-pfündigen Rohrkaliber. Sie würden dadurch im Stande
fein, obne Vermehrung der Belaftung wie des Tiefganges mehr Gefüge zu
ven, aljo eine flärfere Benerfraft zu entwiceln; auch würde bie
m
Die dentſche Ylattenfrage, 618
eines berartigen Schraubenbootes über mehrere Muderboote dadurch ganz
zweifellos hergeſtellt fein.
Die Koſten eines Schraubenbootes betrugen in England etwa 10,000 Pfd.,
was fich auf unferen Werften ohne Nachtheil für Die Solidität von Schiff und
Maichine wohl auf 50,000 Thlr. ermäßigen würde.
Der Zeitraum zur Beichaffung der Schraubenflottille laͤßt ſich auf 2 His
8 Jahre firiren; freilich würde im Anfange die Dauer der Schiffe eine fo ſehr
Iange fein, ba mit der Auswahl der Hölzer unmöglich nad) hergebrachten firen-
gen Regeln verfahren werden Tann.
Die Schiffe von nahhaltiger Kampftüchtigkeit — batteries
cuirassdes, Banzerbatterien — ähneln den alten Blodichiffen und ſchwimmenden
Batterien, gegen erftere jedoch mit dem Vorzuge, daß ſie fpeciell für ihren Zweck
erbaut find, und gegen letztere mit bem, daß fie gegen Brandlegung und Grund⸗
bohren — vergl. die Beichießung von Gibraltar — Durch einen fchußfeften eifernen
Panzer und eine bombenfichere eiſerne Decke verwahrt find oder wenigſtens fein follen.
Die Idee, wenigſtens ber Befehl zur Ausführung dieſer Schiffe, ſtammt
vom Kaiſer Rapoleon III., ber die Neuigkeit gegen die Meinung aller technifchen
Blätter und vieler erfahrenen Marineoffiziere burchfegte und faft vollfländig ſei⸗
nen Zwei damit erreichte. Der Tadel, den man gegen biefe Schiffe erhob,
ſchoß meift über das Ziel hinaus; man ſprach ihnen Sergewanbtheit aller Art
ab, nicht bedenkend, daß fie weber manövriren, noch jagen, fondern Tediglich
vor Anker geben und nachdrücklich feuern ſollen. Bor Kinburn leg-
ten fie die erfie Probe ab, und fie fiel gut aus. .
. Ein Sauptelement im Feftungsfriege ift eine gewiſſe Beweglichkeit des Ver⸗
theidigerd. Da ber Angreifer feine ganzen Arbeiten lediglich nach den beftchen-
den Werken richten kann und muß, und gegen anberweit mögliche Eventualitäten
meift nur allgemein, folglich nicht ausreichende Vorſichtsmaßregeln zu ergreifen
find, muß eine gewifle Beweglichkeit der eigentlich ftabilen Elemente im höchſten
Grade flörend wirken. Die neuere beutfche Befeſtigungsſchule bietet dieſem gei⸗
fligen und offenfluen Elemente in ber Befeftigungstunft ein vorbereitetes Feld;
Sewaftopol Tieferte den Beweis der Nugbarkeit. Bei Hafenbefefligungen und
ähnlichen Anlagen muß natürlich der Flotte biefe Rolle in der Vertheidigung
zugewiefen werben; je mehr fie ihre Poſitionen behaupten oder nach Bebarf wech⸗
ſeln kann, deſto eingreifender wird fie fich fühlbar machen, und es werden ganz
fpeciell die Panzerbatterien fein, die bei mäßigem Tiefgange — ca. 18 Fuß —
und ihrer nahezu unaustilgbaren Feuerkraft hier das bewegliche und Doch nach⸗
drücliche Element in der Verteidigung repräfentiren,
Betreff der Armirung bdiefer Schiffe wird erft noch eine Erfahrung mit
den gezogenen Kanonen abzuwarten fein. War e8 bei ber leichten Flottille von
fehr hervorragendem Werthe, daß die Bewaffnung leicht im Selbfigewichte jet,
*) Die während bes Drudes eingehenden Berichte über die in England flattgefuns
dene Beichießung der gepanzerten Batt. Trufty zeigen, daß der erwartete Schug Fein abs
foluter gegen die gezogenen Kanonen if, und daß die Wiflenichaft Hier das legte Wort
noch zu fprechen hat. Die Sache wird bleiben, denn fie iR Beduͤrfniß. A.d. Verf.
‚der Krimi. Pe dad aim fit ai And sa u. ai —X
Es geht daraus hervor, daß jede Flotte/ die in ihrer Starte unter m Mae
unſeres Bedürfwiffesi, beziehendlich unferen Kraft bleibt, nicht felbftitiändig See
halten tanny folglich beffer ungebaut:bliebes- Ban oder gar nicht Thorheit
wäre e8, auf Berbünbest En
Abſchnuu Mr una — * — fr Er ee *
de demngr oße n Seekriege aufi mumananın = su mul
Der Prinz von Joinville, bei dem bie Leidenfchaft für feinen Beruf: üls
- Seemann gleichen Schritt hielt mit dem Patriotiämus, hatte für frine Aufftel-
‚ungen andere pofitifche Grumdlagen; andere politifche Zwecke und einen anderen
Stiandpunti der echnik als die dehtzeit Er hatte Feine Landungen einer
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ernte
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den Schutz des Handels und die Achtung der Flagge imensfern-
ten Negionen, und andererfeits die wirkliche ——— —
ſh meren Felotennn mi) anna anm)* ee
Drer erſte Diefer ‚Bwerke iſt muſtergiltig — ⸗
Joinville; es bedarf nur noch der Hinzufügung der techniſchen Fortſchritte, um
an ber erreichbar möglichen Vollkommenheit zu ſſfehe... m
Wir bedürfen dazu alſo der Fregattengefchwaber. Ein ſolches Geſchwader
könnte etwa aus 3 oder 4 ſtarken Fregatten beſtehen, denen einige Kanonenboote
beigegeben werben, letztere aus dem Beſtande der leichten Flottillen entnommen.
‚Die Fregatten würden wohl am beften aus dem fogenannten gemifchten Sofleme
beſtehen, unter der Borausfegung natürlich, daß Segelwerk wie Maſchine gleich
entjchieden in ihrer Art das Vollkommenſte wären, das die Kunſt zur Verfügung
‚ber Praxis ſtellen kann. Denn jo fange wir feine auswärtigen —
‚nen‘ beſitzen, können wir die Schiffe nicht von dem etwa 14täͤgigen Bedarfe ab⸗
'hängig machen, ben fie aufzunehmen vermögen, jo wenig —* auf Be Dampf
traft ald Motor für Unwetter und Gefecht verzichten Dürfen. 0.00 00°
0 Das Mobell, nach welchem die — — —
am gweckmaͤßigſten aus dem Erfahrungsſchatze zu entlehnen ſein, den ſich die
Vereinigten Staaten erworben. Sie ſuchen, ihren Verhältniſſen entſprechend,
ihre Stärfe nicht in der Zahl, ſondern in der eoneentrirten Kraft, und allgemein
gelten ihre Schraubenfregatten als Das Borzüglicie, was — dem
Salzwaſſer geſchwommen. Izmir, 2.0 SE
Die Armirung muß eine: —— fein, heile Beuertrfe mi guten
Erleichterung, theils größtmöglichtie-Zerftörungsfraft. Es dürfte
des Tiefganges wegen, nicht blos 60 Kanonenfregatten, jondern auch I
4
Die deutſche Yinttefrage. 617
Doch nicht unter 46 zu bauen; bie kleineren Schiffögattungen, unter welche bie
breißiger Zregatten denn Doch fallen, find befeitigt; entweder Kanonenboote oder
ordentliche Yregatten.
Rechnen wir zwei Geſchwader auswärts und zwei daheim, fo durfte damit
ein Minimum bezeichnet fein, Das in eiwa drei Jahren bergeftellt werden kann,
wenn man dad Geld nicht jcheut und für ben Anfang auch auf fremden Werften
fo viel al8 möglich mit bauen läßt.
Die Koften wagen wir nicht zu beflimmen; im Allgemeinen dürfte wohl
p. Schiff */s Million zu veranfchlagen fein.
Bu den großen Flotten übergehen, Haben wir zuerft zu erwähnen,
gegen Wen wir See halten wollen mit ihnen. Nach unferett vorherigen Aufs
ftellungen wird der Lefer nicht zweifelhaft fein über die Antwort: gegen Jeder⸗
mann, mit alleiniger Ausnahme einer Bereinigung aller großen Scemächte, gegen
bie überhaupt nicht aufzulommen fein wird, die aber auch ſchwerlich zu Stande
fommen dürfte. Im Gegentheil, wenn wir das Unferige thun, läßt fich mit
Beftimmtheit erwarten, daß wir auch Staaten veriwandten Intereſſes finden, und
follten dies auch nur folche zweiten und dritten Ranges fein. Es iſt aber hier-
bei zu erwägen, daß nicht alle Schiffe zählen, bie wir in den Regiſtern finden,
und daß ſelbſt alle Schiffe, die zählen, nicht gleichzeitig in den Kampf gebracht
werden. 8 eriftirt Hier fo gut wie bei den Landarmeen eine Referve an Mate
rial, und ſie muß umfaffender fein, weil e8 ſchwerer zu befchaffen ift. Flotten
‚von 20 Linienſchiffen auf Einem Operationstheater gehören nicht zu ben alltaͤg⸗
lichen Dingen, und e8 möchte felbft England ſchwer fallen, in kurzer Friſt mehr
als 3 folcher Flotten auslaufen zu laffen, wenn man auch hinzufügen muß, daß
England in nicht viel längerer Zeit im Stande fein würde, für zwei folche ver⸗
lorene Flotten frifche in See zu jenten. Rußland wird fobald nicht mehr als
eine aufftellen fönnen, und Frankreich wird an zweien immerhin zu fchaffen ha⸗
ben. Hiernach würde eine Anzahl von drei ſolchen Flotten unjerem Betürfniß
entiprechen — ob unferer Kraft? Wer will e8 jagen? Geben wir zu, daß es vor
der Hand an zweien genug fein möge; es wird ohnehin Jahre dauern, ehe wie an
die Bildung der zweiten Blotte gehen Fünnen — wohingegen wir e8 für dringend
nöthig erachten, mit dem Baue der erften Flotte jo raſch und fo fehr mit Aufbie⸗
tung fremder Hülfsmittel vorzugehen, als es nur immer die Solidität der Aus-
führung geftattet.
Die Einfachheit der Ausrüftung erfordert vor ter Hand die Annahme
Eined Modelles für die Linienſchiffe. Es fcheint aber, man weiß bei den Haupt»
feemäcdhten noch nicht genau, wohin man zwiſchen 80 und 130 Kanonen fich
wenden joll; für unfere Bedürfniffe fcheinen die Eleineren wie die größten Fahr⸗
zeuge gleich entbehrlich, und wir würden nur noch zwifcdyen 90 und 110 ſchwan⸗
fen können, die Enticheidung aber zwedmäßiger Weiſe wohl mehr von nautifchen,
als artilleriftifchen Gründen abhängen laffen.
Die Armirung der Linienjchiffe wird ſtets eine verfchiedenartige fein miife
jen; während fie der Kaliber größter Tragweite und größter Zerftörungsfraft
bedürfen, haben fle auch auf ein raſcheres Heuer im Nahkampfe Mürkficht zu neh⸗
618 Ariegswiſſenſchaft.
men; lach fo — ———— —
rung des Ballaſtes geſtattet. end ı vos al
Wecnn wir aufſtellten, daß es zweckmäßig fei, —— —
Modelle zu bauen, ſo wollen wir uns ſchon jetzt dagegen verwahren, daß uns ein
Stabilitätäprineip untergelegt werde, dem wir völlig fremd find. Die Vortheile
ber Einheit im Materiale find groß und wir möchten fie nicht verkennenz wir
find auch weit entfernt von der gegentheiligen Anſicht, daß es beim Kriegführen
Lediglich auf den Geift und gar nicht auf die Materie anfomme; aber wir meis
‚nen doch, daß im Kriege die durch alle Glieder gehende geiftige Regſamfeit von
‚ganz zweifellos größerem Werbe, ja geradezu von Entſcheidung fei gegenüber
“alle den taujend kleinen Gründen, welche das Stabilirätäprincip im feinen fo
vielgeſtalteten Nüaneirungen für ſich anführt, Die Armee, im der ein Forl-
ſchritt nur möglidy, wenn er von Oben her befohlen — die Armee, welche ſich
‚verleiten läßt, bie Diseiplin ald Zweck und nicht ald Mittel zur Eriegerifchen
Ausbildung der Truppe zu benugen — die Armee, in welcher die Mehrzahl nur
thut, was fie foll, und nicht was fie kann, — — dieſe Armeen find fo ſicher in
‚ber Zukunft die Gefchlagenen, als fie es in der Vergangenheit waren. Nein,
unſere Idee will nur, daß, fo lange als die größte Eile das erfte Gebot ift, Fein
Erwãgen geftattet fein möge, ob Dies oder Das um rin Atom beffer oder ein
halbes Atom noch beffer fein dürfte, daß das Veffere nicht der Feind des Gutm
werde. Iſt erft cin großer Schritt vorwärts gethan, dann möge ja die Erwä—
gung abermald dem Handeln vorangehen und Schritt vor Schritt daffelbe beylei-
ten; dad Bewußtſein, an der Spitze des Fortſchrittes zu ſtehen, it ein Hebel,
deſſen Mache leider oft zu wenig gewürdigt wurde: Wir leben der Ueberzeugung,
Daß, wenn auch einftweilen unjere Kraft hinter dem Bebürfniffe an Seemacht
rafcher wachen wird, als jelbft —— — — — haben wer⸗
den, dem letzteren ſtets die Spitze zu bietenn.. ne
War die zum Schutze der Küften beſtimmte leichte Flotte am ihre Stationen
‚mehr gebunden, fo darf dies für die große Kriegäflotte nicht angenommen wer⸗
dem, Möge fie audy hier und da und dort entſtehen, im allen drei Meeren muß
fie fich vereinigen und alle die Hülfsmittel finden fönnen, deren eine ſolche See⸗
macht bedarf, Sie ift niemals localifirt, fondern folgt lediglich den Geboten der
großen Politik; ihre Friedensſtationen werden an den offenen Meeren ſein, und
wenn darin die Oſtſee benachtheiligt erfcheint, wird Die dort zweckmaͤßige größte
gen der en — — — —— —* —
bringen· I zıA
| "Die Koflen * —— wohl an — illen berammiden
bei den im Auslande erbauten aber wohl noch höher fleigen. u
Die. Hdeucſche Atenrage. 610
Zaͤhlen wir nun zuſammen: —DD—————
ae Lechte Ylonre ar! IN, par are mhiiniekth:3 Tone i—
EEE endete 0;000 ehe 21600006 Kl.
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et 50 wih Ah atiruin a 3m Ir 2 SBENDHENT HT IS IT n
id Wiebke “ “N 300,000 3,008, 000 —
3. Fregatten — 16 Edda ig 606.000 °”
„4. Sintenfiffe — 40 Stud, a 1 Pl. — —*8 006 - %
je Dr VD 1 1 5 1 TU Far —
" Bon bicſer Sunime \ gerbeni in hen exffen drei Sabren gewiß jedeß Lahr
j\ " RN. ‚gebraucht, rs ber In Falk an act Pal Kal Fi
Imgejen, ‚ein, wird, | tool, nme 555 Inu genarti le orten ν. vhoseht
hy * Befagungsmannfihgßen. brauchen \ wir! Branitinn 2 0% 91%
: Sub.) & Kanoncnhopt, 50 Mann, , 120. * 2. 6, 09 0, Fi, 192m
‚133. . „auh 2 a Panzsrhatierie 250; Maun... — — 3.590. loss 1a)
sub 3. & Fregatte Py; P-,990, Bann. u. nr: ik. 171% ‚3009 .., | mn SE 788
sub 4. 4 Lipienfhiff. 80. Mann. ,, ..; ‚X. mil. tn
lei meta] —X Mann,
ober in runder Summe 50,000 Mann. u 10 11 A 15]
Es ift Fein. Aweifel, daß wir in Deutfchland eine Anzahl von 50,000
Bäumen Hahn .. hie. miehn ader mindex,, aber dnupengenigend, mit dem Salze
waſſer vertzaut ſind; ea waͤre aber: ber grälitmäglichtte Fehler, dey Handelsmarine,
I. hen Echntza die Flotie bexuftuciſt, Ihre Vatroſen wegnehmen zu; wollen; ud
mmaſo zum nollBändigen Ealicgen zu ringen, ba man Dieied Reſultat, igdenfglls
billiger erzielen ann, Eßiſt darum / mhiig daß · wir, die verlangten-,50,000, V.
vl: sinzelnen. heile anslyallen um ihren Urſprang nein. Kt DRG
4)Kanonenboou. mal nen nem JM
: Der: Bedarf —— — gering —— dem Bel⸗
der: ũbrigen lrichten Flotillen/ Beim Rüftenbieufte: ;10,: Bein: auſwartigen
Dienſte 20: sitht’überfleigeng bie-üeihe Mannſchaft beſteht aud den Marinefel-
‚Vaten) bie: ale: Infantetiſten und Artitleriſten ausgebildet jein miſſſen/ Heizern se.
Rechnen wir einſweilen: die Glafſen ıfer;;! daß wir: auf die: eine, Matroſentlaſſe,
werfen, was an: geübten Soeleuten erforderlich and qusaer ftefahnenben: Bendl-
kerung zu ergängen:ift ‚md: uuf:dit anderr, Defagungörlaffe, nehmen: was an
fonftigem: Munnſchaftsperſondl erforderlich. Bir: wünden hier Mairöfen 1200
— Manmfchaft: 4800. esalten. u "u nn, Pommern u .j .Zrebl
2) Panzerbatterien. a ιιν.
Ber Brbarf! an Matrofen für bie defenſtve — —* kann
10 ** vro Schiff nicht uͤberſteigen. Bei dffenſiben Unternehmungen imöchte
diefe Fahl lLeicht aufs Breifüche ſteigen;, iſt Aber aksbaun son ver leichten Flot⸗
tille her leicht zu beſchaffen, To baß wir auf dien Bebacſ bel den gegenwarugmn
Aretſonage mich RUHE zu neh en bi: AUFLEe ZIEL EEE
Es blelben alſo Matrofen Tod u Rannſchaft 3400; 23 vun ung
‚620 Kriegswiſſenſchaft.
3) Fregatten. r — ⏑
Be einer Durgfeninlihen Befayung son 500 Mann werben cben .ſe die-
trofen zu rechnen fein — vergleiche auch die Angaben in der mehrgenannten
preußifchen Brofchüre, fo wie Die Benannungsverhältniffe der Gontinentalmaris
——— — —
— — et —
— Kern — 2 und bie Uebung würden ſchon — —* en
—— u ee &6 nicht als unzwed -
mäßig und die
Hier das Berhältniß der Regel‘ * ungedreh Gi — 3, heller aber
wenn man will, geborene Matroſen gerechnet werden. A
Siernach wırrden Matroſen 12,800 — Mannfthaft 19,200.
Die Geſammtſumme der Matrofen erfebt auf 18,900 | (he
der Rannfchaften . 39,600 —
DE en elagınik mn —
* Be Die ei get wird «8 nicht vermieden werden können, die Summe von
— ‚000 Matroſen der Handelsmarine zu entziehen; allein e8 kann nur
tutze Zeit Bauern und der Aufſchwung des Seegewerbes wird ſich in einem maͤch⸗
tigen Zuftrömen fühlbar machen, welches alle Lücken rafch ausfüllt, wie man
das ja überall ſieht wo ein rafcher Aufſchwung nach · Händen” ruft. Hier»
naͤchſt muß in 2 6i8 3 Jahren die Seeconfeription anfangen zu Tiefern,
und zwar gut ausgebildete Matrofen. Wenn Tandeimwärtd am den Flüffen
hinauf alle Gewerbe beigezogen werden , die mit Waffer zu thun haben, wenn
der Verdienſt bekannt wird, den ausgebildete Matrojen auf der Handelsmarine
erwerben, glaubt man nicht, daß die Zahl von p. p. 20,000 Matrojen beratt
erfüllt wird, daß ein Nachſchub von 10,000 und eine Rejerve von 10,000 M.
gleichzeitig mit gedeckt werden? Schlimmften Balles müßte man freilich, wie In
Frankreich und Rußland zu den einfachen Yandratten greifen und das Beifpiel
‚der franzöflichen Marine zeigt wenigſtens, daß mit enwas vermehrter Uebungs-
zeit die Reſultate vollfommen aut werden, In ähnlicher Weife ift die Mann
ſchaft, p- p- 30,000 M. mit a Nachſchub und Aa MReſerve, — bei⸗
zuſchaffen und auszubilden.
MNechnen wir eine Geſammtdienſtpflicht von 10 Iafren, davon fü die dehr-
zeit 3 Jahre, für den wirklichen Dienſt 2 Jahre und auf Urlaub oder in Kriegs⸗
reſerve 5 Jahre fo würden 20,000 Matrofen, von denen ?/s €
und bei den Mannfchaften eine Präfenz von 3 Jahren angenommen, 20,000.M.
ſtets präfent jein, Nach einigen, durchſchnittlichen Berechnungen würbe der
Matrofe auf dem Schiffe, einſchließlich der Offieiere und ber — jaͤhr⸗
Die dentſche Flottenftage. 021
lich etwa 220 Thlr. koſten, welche Summe aber bei der großen Zahl der Schiffs⸗
jungen, die bier in der Friedenspraͤſenz aufgenommen ift, auf 200 Thlr. geſetgt
werden Tann, fo daß 4 Millionen als Koften der Benannung, an Matroſen und
etwa-3 Millionen als die der. Mannſchaften, zufammen alſo höchftens 7 Milli»
nen erfeheinen.
Das Brennmaterial berechnet fich nach dem Satze von etwa 6 Pfund Rofe
Ien pro Stunde und Pferdefraft; nimmt man weiter 1 Helzungstag auf 5 Se⸗
geltage an, fo Tann fidh Die Summe des Heizmaterials für eine in See befind⸗
liche Fregatte von 500 Pferdekraft bei mittleren Kohlenpreiſen auf 20,000 Thlr.
pro Jahr belaufen. Da aber die auswärts befindlichen Escadren weder immer
in See, noch fo oft unter Dampf zu fein nothwendig haben, fo iR biefe Summe
ein Marimum.
Freilich treten zu dieſem Budget von etwa 10 Millionen Thalern noch die
Koſten des Baues und der Reparaturen der Schiffe, die Werftkoſten und ver⸗
ſchiedene andere Items; es ift in deſſen mit hoher Wahrfcheinlichkeit anzunche«
men, daß die Geſammtkoſten, außfchließlich der erſten Anlagen, fich gegen
20 Millionen halten werden. Dafür haben wir eine wirkliche, ſtarke, achtunge
gebietende Flotte; wollen oder können wir das nicht daran wenden, um unfere
Stellung ſolid und Eräftig aufrecht zu erhalten, io wollen wir lieber gar
nichts tun.
IM. Techniſcher Theil, |
Bon den Gonftruetiondetablifjementd, den Kriegshäfen und
den Küftenbefefligungen.
Die ungeheuern Anftalten zur Erzeugung und Erhaltung ber Barine thei⸗
len ſich zumeiſt und zweckmaͤßiger Weiſe in zwei Hauptrichtungen, naͤmlich:
in die Conſtructionsetabliſſements und
in die Flottenſtationen oder Kriegshaͤfen.
Der Grund Ihrer Scheidung liegt in der vermehrten Sicherheit, welche
erftere Battung durch eine mehr binnenwärtige Lage findet, eine Rage, die ihr
ohne Rachtheil gewährt werben Tann, wenn nur jonft die Seeverbindung zwis
fhen Bauplag und Hafen eine gute il. rüber, wo alle großen Staatsanſtal⸗
ten wenig entwidelt waren, fühlte man das Bebürfnig nach folcher Trennung
wenig oder gar nicht; es giebt nur einzelne Beifpiele, wo man fle gewahrt, wie
la Rochelle; in der Neuzeit, wo Alles einen ungeheuern Mapftab annimmt, ift es
anderd; man darf den Chancen eines Angriffs nicht Gegenwart und Zukunft
zugleich ausſetzen; man muß fihern, was zu fihern möglich iſt. So war Ni-
folajew ein vortrefflicher Bauplag für Sewaftopol, fo würden es Venedig für
Pola, Bremerhafen und Geeſtemuͤnde für die Jahde, Stettin und Danzig für
Rügen und jo weiter fein.
a. Die Gonftructiongetabliffementß.
Die Bedingungen, welche man an ein zwedimäßiges Conſtructionsetabliſſe⸗
ment jegt ftellen muß, Taffen fich in folgendem zufammenfaffen,
622 nAriegswiſſenſchaft:
Das Bahrwanier-muß ſobeſchaffen Jein, das der Transpere der vom
Siwel aelaſenen Seife feinen snbeblichen Bimn emen nr
iehen;,,al9:Dis,Sshife: nad mict öl,
können Verluſte um ſo cher mach ſich
ausgerüftet, alſo auch noch nicht ftetigen Ganges find. Wir erinnern hiet an
den Verkuft des air —————
aufder Fahrt mach Krpnftade ſcheiterte, ſo wie
im finniſchen Meerbuſen — Verhaltniſſe
————— — —— — — |
cativnen u mullum m erkadrn un atmen aliirt * li uni
Untergeorbnet zwar, aber nicht unweſentlich, ift Die Forderung/ daß das
ganze Etabliffement unter eine gute ———— genommen werden fann. j
— ——
3 re ef in mer aa eo
lute fein können, ohne daß man zit dem draſtifchen Mittel zu greifen hätte, qute
Schyiffe zu dieſem Zwecke zu verſenken. Ein Bombardement, das von Schiffen.
aus möglich; würde die Antage-ald eine vollkommen unzweckmäñige kennzeichnen
Es muß aber auch zu Lande eine den Verhältniſſen entſprechende Sicher
heit hergeftellt werden. In welcher. Stärke die Fortificationen aufzutreten haben,
bängt von Ben allgemeinen Verhaͤltniſſen ab, ob Feſtungen ſchon in ber Nähe,
ob Defenfinlinien größeren Werthes zu benugen ſind, ob Eiſenbahnen Wie,
Hilfsmittel anderer Feſtungen herbeiführen. können a0, Die nothwendige Stärfe,
den Werke, ber Hauptaccent der Verteidigung, ruht aber im. allen Fällen ander)
Außenſeite des befeſtigten Abſchnittes denn das Abhalten des Wurf- und ferne
feuers iſt / die erſte Bedingung; die innere Befeſtigung, welche vor Handſtreichen
und Ueberfallen ſichern fol, kann aus einer erenelirten Mauer mit; Eaponnidten!
und. einem vorliegenden füchtigen Graben beſtehen, der in den meiſten Fällen-ale:
Umfaſſungscanal feinen, fortlaufenden. Nuten bringen wird; Je menigen die
Außenwerke Mannichaftenbetürien, alſo Vefagungstruppen tocalifteen, je mehr
Terrainbindernifje eine Mitwirkung bei, der Sicyerung des Kerrains übernehmen) ”
deſto zweckmaͤßiger wird die Geſammtanlage ſein. Die Reſerven den Schiffes
mannſchaften wie die Werftarbeiter find Die natürlichen. Vertheidiger Diefer Ber
feftigumgen; ſie find: dienſtbereit, disciplinirt und: geübt; es wäre berfehrt; Wollte
man die Landarmee hierfür schwächen 131 71 m) 10) m min Ion Im
Die deriſche Finttenfsnge. ons
: Richt mehr von erheblichem Werthe für die Tonftructionsetabliffements: iff
es, ob fie die benöthigten Materialien , die von ihnen beuutzten dabriken in der
* haben; die Ciſenbahnen erſetzen bier bie. übe voltſtaͤndig.
b. Die Kriegs haͤfen. nn
Waren die Eigenfchaften der Gonftructiondetabliffements vorwaltend deſen⸗
ſiver Natur, fo haben wir bei den Stationäplägen der Flotien vorzugsweiſe dad
offenflve Element in's Auge“ m fafien und die Defenfive erft in die zweite Linie
za erweilen: | |
- Der Kriegs hafen fol durch ſeine zag⸗ den Beginn der Seedpe⸗
eationen erleichtern, feindliche Berhinderungsbeftrebungen . erſchweren,
wenigſtens nicht begünftigen. Es gehört dazu ein bequemes Aus- und Ein«
Iaufen der Blotten, bequeme und geflcherte Sauımelpläge oder Rheden, freie und
offene Deboucheen in's Hohe Meer... Borgelegene Infeln mäfjen entweter mit in
das Befeſtigungsſyſtem hereinzugichen fein, oder dürfen wenigſtens durch Rheden
oder fonft geficherte Anterpläge und Nothhaͤfen den etwa. vorliegenden feindlichen
Stetten keinerlei Unterflügung gewähren. — Es ift wuͤnſchenswerth, daß ein’
Kriegdhafen nicht all zu weit‘ vom ‘den Operationdobjecten ber auf ihn baſtrten
Flotten entfernt feiz wenn audy in ganz anderer Weiſe, als eine Landarmee,, bes
darf doch auch eine große Flotte dringend der Verbindung mit: ihren Depot» und
Meyazaturplägen, und ed. wäre z. B. den Engländern ganz gewiß unmöglich, fo
wie fie es jetzt können, das Mittelmeer mit ihren Flotten zu-befegen, wenn fe
nicht in Gibraltar, Baia und Korfu fo zweckmaͤßig disponirn Statiene-
pläge hätten.
— Füͤr unfere wordifchen Deere ift ſehr weientlich die Freiheit vom Eife.
Eine Flotte, die des Eiſes wegen einige Wochen fpäter auslaufen kann, ift ſchon
dadurch vom Meere fo gut wie verdrängt, denn fle wird ſtets in ihren Häfen
biofirt fein und hat mit einer der fchwierigften Operationen zu beginnen , dem
foreirten Auslaufen.
Als defenfive Rüdftchten haben zu geften:
daß die Rheden vom Lande aus fo wirkfamvertheidigt wer»
ben Fönnen,. daß die Mitwirkung der Flotte im Ganzen entbehrlich wird und
nur einzelne Theile derfelben, bie Panzerbatterien, ein nothwendiges Glied im
Widerſtande bilden;
daß die Flotte bereits auf der Rhede, jedenfalls aber im Ha⸗
fen vor aller und jeder feindlichen Beunruhigung vollkommen gefhägt
fei, alfo 3. B. einem momentan zweifellos überlegenen Gegner ausweichen könne.
Berbindet fidy damit die Möglichkeit von Angriffen mit concentrirter Nacht auf
einen getheilten Gegner, fo erreicht die Lage das höchſte, zu erwünfchende Ziel,
das wir 3. B. bei Portsmouth finden, das durch die Infel Wight volifländig
gebedt, weite, wohlvertheidigte Rheden hat, burch-die beiden Seearme aber ein
öftfiches und ein weſtliches Debouchee befigt, wonach das fürmliche und enge
Blokiren nur einer ganz eminenten, aljo ſehr unwahrſcheinlichen Uebermacht
gelingen duͤrfte.
Endlich aber ſollen fi) die Etabliſſements zu Reparaturen.a aller
| daß
beſorgen, in den meiſten Bällen aber. alles —
werben muß · — kt re ne ei nl —
bie. —— ſich mit — — —
geſtellt werden ſollen, ſondern daß da, wo es ſich um Dinge handelt, die für
Jahrhunderte hinaus gefchaffen werden, man Lediglich auch Thatſachen, di ha Ber
ftungswerte und Armirung , vertrauen darf, und Feine der Rückſichten bei Seite
fegen ſoll, die von der Wiſſenſchaft aufgeftellt werden. Freilich wirft häufig der
Umftand hindernd ein, daß bie Lage an der Meeresküſte eine für fortificatoriſche
Zwecke ungünftige ift und ftetö neuen Zweifeln Raum gibt, wo denn eigentlich
der Abſchluß der Beftungswerfe zu fuchen fei? Eine Höhe um bie andere zeigt
fich wichtig, oder, im Xieflande, ein Wafferzug um dem anderen würde bie Defen=
five ftärfen, die Offenfive aber hemmen, wenn ihm der Feind beiäße, ı 68 mögen‘
uns darin die Lehren nüglich werden, die wir aus den franzöſtſchen Ankagen |
fhöpfen können; bei ihnen hat die Praxis gerban, was Die Theorie geforbert; '
und fiche da, es ift Großes und Wichtiges daraus entftanden. Bei Eherbourg,
bei Toulon bat man nad) forgiamen Terrainftudien den zweckmäßigſten Abſchnitt
ermittelt und nunmehr ihn auch jo befejtigt, wie es fein muß. Da exiſtirt fein:
Marbandiren, keine Neigung für das Mangelbafte oder Ungenügende, blos weil-
es das Billigere ift, und betrachtet man bie franzöftfchen Bauten, To ſieht man
feinerlei Spielereien und: nuglofe, wenn nicht fchädliche angebliche Verſchönerung
bes ernften Fortificationsſtyls, wie z. B. in dem an Ort und Stelle als Kö-
niglich Preußiſchen Burgſtyl“ gefennzeichneten Anlagen zu Mainz, Koblenz und
Köln; groß im Zweck und Entwurf, Klar in den Mitteln, entſchieden im Ent⸗
ſchluß, ſchlicht und einfach in der Ausführung, und darum in legter Inſtanz
doch auch billig. Es redet dort Freilich ſchon feit lange Niemand mehr binein,
ber nichts davon verſteht. — Auch wirft wohl bindernd ein, daß die hier zu
ſchaffenden ftrategifchen Centren von ben eigentlichen politiſch- militärifchen
Schwerpunkten der Staaten oft etwas entfernt Liegen, bei richtiger Erwägung:
fann man aber folchem Einfluffe fein Gewicht beilegen, denn wer möch
verfennen, daß bie großen Kriegsbäfen mit allem ihren Beiwerke jet durch ſich
Die dentſche Flottenfrage. 635
feldft wichtige Schwerpunkte im ganzen Staat8leben werden? Liegen fie alfo ab⸗
feit8 und will fich das durch eine gewiſſe Zerfplitterung der Kräfte fühlbar ma⸗
chen, fo würde hierin vor Allem die Nöthigung Tiegen, die Anftalten entweder
durch ihre eigene Kraft felbitfländig zu machen — wie 3.8. bei Sewaftopol
nöthig geweſen wäre, — ober durch die beften und ficherften Verbindungen die
Trennung aufzuheben, wie 3. B. die Branzofen bei Cherbourg und Breſt durch
wohldisponirte Eifenbahnen gethan. Liegt ein Hafen dagegen fo, daß er zu
einem Gentralpunfte der Landeövertheidigung überhaupt benugt werden fann, fo
ift es nur vortheilhaft, dieſe Vereinigung in möglichfter Vollftändigfeit eintreten
zu laſſen; es ift dann eine Krafttoncentrirung, alfo eine Erhöhung, eine Ver⸗
flärfung.
Dei Kriegshäfen geringerer Ordnung, Zufluhtshäfen,
Ports de reläche — wird fi} die Höhe der verfchiedenen Anforderungen na⸗
turgemäß nach dem Zwecke richten, den man bei der ganzen Anlage errei«
chen will. Indeſſen ift gerade hier die Klarheit in Zweck und Mitteln beſon⸗
ders fchwierig, und die Conjequenz im Sandeln oft harten Anfechtungen aus⸗
geſetzt.
Es iſt nothwendig, daß eine Flotte nicht blos auf Einen Hafen, als auf
ihre Baſis angewieſen werde, ſondern daß. fle deren mehrere zu ihrer Dispofition
habe, damit fle unter jchwierigen Verhältniffen Schuß vor Unwetter oder Ueber⸗
macht, Gelegenheit zu Ausbeſſerungen, feien es auch nur nothdürftige, und be=
queme Verſorgung ihrer Bedürfnifle finde. Es wird erforderlich fein, die Kü⸗
itenbefeftigungen fo einzurichten, daß ein Handſtreich, ein Angriff mit den eben
disponiblen Mitteln, abgewehrt werden könne; es ift aber unnöthig, folche Punkte
gegen eine befondere Bereinigung vorbereiteter Hülfsmittel fichern zu wollen,
denn fie tragen dazu nicht den Werth in ſich und würden eine wahre Kraftzer«
fplitterung hervorrufen. Hat ein Beind die Abficht, an folcher Stelle mit Auf⸗
bietung größter Kräfte einen Erfolg erringen zu wollen, fo verfolgt er entweder
weiter außgreifende Plane, und dann ftchen in der Landarmee Hülfsmittel zu
Gebote, die nach Maßgabe ded Bedarfs zu fleigern find, oder der Feind begeht
einen Fehler, indem er Keine Refultate mit vielen Mitteln erreichen will und
ſchließlich doch theuer bezahlen muß; feine Kraft leidet und ftumpft fich ab an
Dingen, die zur Entfcheidung nichts beitragen, ja e8 fragt ſich noch, ob er nicht
felbft im Geldpunkte die Rechnung ohne den Wirth gemacht bat.
Die Befeftigungen gegen einen Handftreich unterfcheiden fich im Weſent⸗
lichen nur durch Die geringere Ausdehnung von den großen Anlagen. Ihre ab»
folute Stärfe muß ſtets jo groß fein, als die Kunft fie herzuftellen vermag; ihre
Veuerfraft, im Ganzen geringer, muß doch im Detail, da, wo fie wirfen foll, fo
ausgiebig jein, wie möglich. Man wird aljo die Anlagen jo disponiren, daß
eine feindliche ſchwache oder leichte Flotte mindeftens einen zweifelhaften Kampf
vor fich ficht, daß aber felbft eine feindliche ftarfe Flotte Durch ihr Feuer allein
die Entjcheidung nicht vollftändig geben Fann, daß die Werke behauptet werben
können und eines Landangriffd zur Wegnahme bedürfen. Es mag möglich wer«
den, die Strandbatterien zu demontiren — fie müflen aber furmfrei bleiben,
IV. 40
626 Kriegswiſſenſchaft.
und wenn ——— — ——⏑⏑⏑⏑——
Alles nice. “. ni
Gier wirb ed tat daß man an eb hehee
ven will, oder, was öfter eintreten wird, daß von localer Seite her auf größere
Kraftentwielung gedrungen wird, Es ift Jeder in feinen eigenen Augen im
mer jehr wichtig, und felten wird es einen Poftencommandanten geben, der jeine
Stellung zum Ganzen unterfchägte. Gewöhnlich breiten ſich ſolche ldeale Anz
träge in der Preſſe aus, und bei Dem geringen Sachverftändniß, das unfere Zar
gespreſſe in allen Kragen der Kriegspolitik und Strategie auszeichnet, dürfte es
nicht ganz überflüfftg fein, ihr Hier einen Warneruf zugehen zu Laffen. — Gegen
die unverftindige und unzeitige Erfparnißfucht kann man fein anderes Mente-
dium empfehlen, als die geſunde Vernunft, mit der man doch ſchließlich einſehen
lernt, daß halbe Dinge jchlechter find, ald gar feine. — wer
-c, An diefe Befeftigungen Fleinerer Häfen jchließt fih unmittelbar bie
reine ocalbefeftigung am, derjenige Zweig der Kunjt, der bad traurige
Borrecht genießt, noch immer am wenigiten erfannt Te
zu werden,
Der ganze Gang der Erörterung, ee
her durchgemacht, wird genugſam gezeigt haben, daß wir die Anficht vertreten,
die Vertheidigung eines Punktes, einer Linie, ja eines Landftriches habe nur
dann einen Zweck, der der Mittel werth fei, wenn durch die Erhaltung der ges
nannten Objecte überhaupt entweder der Kriegszweck, die Niederwerfung ber feind⸗
lichen Streitmacht erreicht, oder Durch Kräftigung der eigenen Streitmittel wenige
ftend angebahnt werde. Es fallen jonach eine Menge Gründe, aus denen reine
Küftenbefeftigungen verlangt werden wollen, unferer Meinung nach völlig in fich
- zufammen; babin gehören alle Befeftigungen günftiger Landungsplige an lang
geftreeften Küften, deren Zweck eben nur ein negativer — Verhinderung von
Landungen — wäre; dahin gehören Die Befeftigungen aller Kleinen Häfen, welche
weder die Worrätbe eines großen Welthandels, noch die Hülfsmittel einer mäch⸗
tigen Kauffartbeiflette oder ſonſt einen politifch wichtigen Ort befehügen, fonbern
lediglich aus einer Meberfchägung locafer Winfche entfpringen. Diefe Anlagen
foften viel Geld, zerfplittern und localifiren viele Kräfte, erregen manche Hoff-
nung des Schuges, ohne fie fpäter zu erfüllen, fchaden alfo in doppelter und dreis
facher Hinficht, Was haben den Nuffen ihre Vefeftigungen der finnifchen ung
bothniſchen Küftenftädte genugt? Sie haben Geld gekoftet in Anlage, Armirung
und Ausrüftung, haben Kräfte localifirt, und als die leichten Flotten kamen, bat
man faſt nirgends eine Verrheidigung auch nur verfucht, die Werke verlaffen,
gefprengt und ſich zurücgezogen; bie geflüchteren Handelsſchiffe, die A
ten Vorräthe gingen verloren,
Wir flogen bier auf die frage, welche Punkte denn zu beſchützen feiem,
wie? Denn es unterliegt keinem Zweifel, daß ber Handel und die Schifffahrt
allerdings berechtigt find, von der Geſanmtheit einen ihrem Wertbe angemeſſe—
nen Schuß zu verlangen, auch für den Fall, wenn unfere Blotten STyagmanEE
anberweit beichäftigt find, nr
Da find wir denn num zu allererft der Meinung, es fei ein arger Fehler,
wenn man, eingewiegt in Träume des ewigen Friedens, Etablifjements von hoher
volköwirtbichaftlicher Wichtigkeit fo erponirt, daß fie der Gnade des Feindes
preiögegeben find, wie wir bies 3. B. bei Trieft ſehen. Glaubt man etwa, irgend
eine Flotte werbe zögern, Trieſt in Trümmer zu legen, wenm politifche Zwecke
damit zu erreichen find? Der Wall der Humanität dürfte bald burchlöchert fein.
Unfere Altvordern waren darin Flüger, und feines ihrer großen Gandeldemporien
liegt fo am Rande draußen, allen Chancen preisgegeben — Lübeck, Danzig, Kö—
nigäberg, dann Hamburg, Bremen, fie alle find zurüdgezogen und fchon durch
ihre Lage vor dem erften Anlaufe geichügt, Wir werden alfo darauf zu denken
haben, jo gelegene Pläge möglichft zu heben, auf fie Alles zu concentri⸗
ren, und werben und nicht fürchten bürfen, ungünftig gelegene 2. belö-
pläge ibrem Schickſale zu überlaffen.
Wir haben ferner ganz vortreffliche Gelegenheit zu Berfronfagen an Bin-
nengewäflern von völlig binreichender Tiefe; wir haben nicht nöthig, fie zu erpo=
niren ; Danzig, Stettin, Roftof, dann die Elbe und Wefer, bieten fehr gut gele—
gene und ganz geichhgte Baupläge; will die Induftrie ſich am freien Meere etabli-
ren, fo kann man fie allerdings nicht hindern, aber fie verliert dann jedweden
ſpeciellen Anſpruch auf Schuß und mag wenigftend in denjenigen engeren Gren⸗
zen bleiben, welche feinen Plünderer und Brandftifter anloden.
Mie nun der Schub felbft zu beſchaffen ſei? — Durch Verfperrung der
Waſſerzugaͤnge mittelft mäßiger, aber folider und fturmfreier Befeftigungen ; mes
chanifche Sperrungen im Bereiche der Kanonen find von gutem Nutzen und im
Bedarfäfalle leicht geſchafft. Wenn folchergeftalt der Keind auf Landungen und
Operationen zu Sande angewiefen ift, gewinnen feine Unternehmungen nothwen⸗
diger Weife ganz andere Dimenſionen; fie treten aus dem Gharafter der Hand—
ftreiche heraus, und Damit gewinnen wir allezeit Die Gelegenheit, Vertheidigungs⸗
mittel aller Are nugbar zu machen, Wir ftehen nicht an, zu behaupten, daß
bier ein Hauptfeld für die Thätigkeir der Landwehren ift; man denfe an die Lan—
dung der Engländer auf Waldheren und Napoleons Gegenmaßregelm — er ſchickte
einen tüchtigen General bin, gab ihn unbefchränfte VBollmachten und den Befehl,
den Feind zu vertreiben; womit, blieb dem Ermeffen Brune's überlaffen, Na—
tionalgarden, Depots und Ähnliche Körper bildeten anfangs eine Beobachtung,
fpäter eim Armeecorps, und wenn damit auch eine entichloffenere Verfahrungs—
weije nicht aufzuhalten gewefen wäre, fo gefchah doch fehr viel, und wir brauchen
und ja nicht in die Lage zu verfegen, Alles erft fchaffen zu müffen. Wenn ein
Eleiner Kern vom ſtehenden Heere da ift, wenn die Eifenbahnen von gewiſſen Gen=
tralpunften her einige Unterftügung zuführen Eönnen, und wenn bie Bevölkerung
im Friegerifchen Sinn und Geift erzogen worden, — und hierin liegt nirgends
eine Unmöglichfeit — fünnen die Landungstruppen micht viel effeerwiren und
müffen fehr bald einen gefährlichen Kampf gegen überlegene Kräfte annehmen
oder zu ihren Schiffen eilen. Will aber der Feind an ſolch einem Punkte große
Zwecke erreichen und ftattet er feine Expedition demgemäß aus, jo wird fich bort
ein Kriegstheater bilden, und es wird die Entfcheidung durch Die aetiven
40 *
623 Kriegswiſſenſchaft.
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grund trite.. una et >: Ed,
Machdem wir nunmehr Die: deeſchiedenaritgen Grflchtöpunfie erärtertihähen,
welche von Seiten der Wiſſenſchaft her one Seretabtifjements aller Art auf ⸗
zuftellen find, können wir an der Hand ber g — —
den Blick auf unſere Küften werfen. ⸗ 1 Ye De ———
Em den bietet ſich zuerſt dar als ein Bon, ea nun Rene
und auch wirklich fehwer fallen follte, zu jagen, was
dorthin gezogen hat. Es Liegt am Ääußerften Winkel SE
Meerbufen, der mehr Sand ale Waffer hat, befigt ein Fahrwaſſer, Das für ger
wöhnliche Paffagierboote nicht immer ausreicht, und iſt vermöge feiner Rage
gegenüber frembländijcher Küfte gar nicht auf einfache und zweckmaͤßige Weiſe
zu fhügen. Seine Nähe an den Erzeugungsplägen vortrefflicher Schiffabaue
— feine Lage inmitten einer der ſeetüchtigſten Bevölkerungen, werden
ihm immer eine gewiffe Wichtigkeit erhalten; allein wir zweifeln jehr, owned
jemals ein Plag für den Großhandel werden wird. Sollte es aber dahin kom—⸗
men, jo wird es Zeit fein, für angemeffenen Schuß zu forgen. Cine Aenderung.
bierin Eönnte nur dadurch entſtehen, daß es wünjchenswerth würde, bier einen
Bufluchtöhafen für die leichte Blotrille zu fchaffen, in welchen Falle die erforber-
lichen Befeftigungen zugleid; dem Handel zu Gute kaͤmen. —
weilen Emden zur Seite. u.
Der Zahdebuſen, mit einem mitrotopiſchen dolue Se
nimmt dagegen unfere ganze Aufmerkjamfeit in Anſpruch. Schon Napoleon h
wollte hierher einen der Hauptkriegshaͤfen feines Reiches legen, und wie fein,
und wie dem Bebürfniffe gegeniiber nichtsfagend, das jet projectirte preußische
Etabliffement auch fein mag, es zeigt doch durch feine Eriftenz, —
eigneter Platz wirklich vorhanden ift,
Die Waffertiefen find ausreichend, wenigſtens finfen fie —ã
36 Fuß rh., und wir Dürfen erwarten, daß einem ſo großen Zwecke wohl auch
bie Mittel zu weiterer Austiefung nicht fehlen werden. Un ber
etwas abwärts Bremerhafen, finden wir nur 24 Buß verzeichnet, was wohl für
bie Jahde entfcheiden Dürfte, wenn much das rechte (öftlicye) —
werden ſollte, wie behauptet wird.
Zur Herſtellung einer Außenrhede wird es hier erforderlich, —
Dämme zu bauen, die in weſt-öſtlicher Richtung vom der weſtlichen Landſpitze bei
Horum hinüber nach der Hadeln'ſchen Küfte ſtreichen, die beiden Fabrwafler der
Jahde und Weſer frei laſſen, mit Befeftigungen verfehen find, und langhin Bate
terien tragen, Die Geſammterſtreckung des Baues kann wohl an zwei Meilen
binanreichen, doch ift fat Alles in flahem Grunde herzuftellen und nicht dem
Anpralle der hoben See ausgeſetzt. In zweckmaͤßiger Entfernung hinter dem
Damme muß ein großer Canal beide Mündungen nen jo daß die Flotte
die Vortbeile des beliebigen Debauchirens befigt. | u 0
Wie geichügt dann auch die Lage des Binnenbafens en
eim möge, wir zweifeln doch, ob es zwedmäßig fein würde, dort auch die Con⸗
Die deutfche Flottenfrage. 629
ftructiondetabliffement8 anzulegen, theils weil da8 Terrain doch nur von mäßie
ger Erftredung ift, theils weil die ftrategiiche Lage des Punktes und nicht ges
fällt und wir denfelben nur als eine nautifche Nothwendigkeit acceptirt Haben,
Wir würden vorziehen, fle an die Geefte zu verlegen, wo Plag iſt und ganz an⸗
tere Verbindungen exiſtiren.
Um die Grundlagen der örtlichen Vertheidigung zu ermeflen, müffen wir
einen Blick auf die ftrategifchen Berhältnifie werfen, die fich Hier entwickeln kön⸗
nen. Wir haben anzunehmen, daß unfere Flotte von der See vertrieben ift, oder
doch wenigftens nicht in Hinreichender Stärke erfcheinen Fann, um Landungs⸗
berjuche zu verhindern; der Feind hat aber Die fehr begreifliche Abficht, unfere
jungen Gtabliffement3 zu zeritören. Die Ofifriesländer Küfte bietet auf ihrer
12 Meilen langen Erftredung zwifchen Jahde und Ems zwar feinen Meerbufen,
der zu jolchen Operationen befonderd geeignet wäre, wohl aber eine flache, offene
Infelfette, an welcher bei gutem Wetter die Ausfchiffung leicht ift, und von wo
aus zur Ebbezeit das fefte Land ohne Umftände faft trodenen Fußes erreicht were
den kann. Oftfriesland wie Oldenburg find großen Offenfivoperationen äußerft
hinderlich durch ihre Landesbeichaffenheit, namentlich find die Moorftreden zwi⸗
ſchen Aurich-und der Jahde Außerft felten anders, als auf den Straßen zu pafe
firen, und in diefen Ausnahmefällen auch nur von Infanterie. Der Yeind
könnte nun von der Küfte aud gegen Heppend vordringen, bie Befeftigungen
einfchliegen und die Dedung feiner Belagerung zwifchen den Osfrieslaͤnder Mode
ren und Varel 1'/2 Meile von der Belagerung juchen, wenn ihn feine Kräfte
nicht geftatten, bi8 Oldenburg und Brafe 6 Meilen vorzugehen, und von dieſen
31/2 Meilen auseinander gelegenen Gentralpunften au8 alle füd- und ofhwärtd
berfommenden Entfagverfuche zu befämpfen. Bei der Landesbefchaffenheit wäre
der Feind mit einer derartigen, wefentlich defenfiven Dedung feiner Belagerung
im entjchiedenen Vortheile gegen und, da wir weder frei operiren, noch auch
eine etwaige Uebermacht tactifch verwerthen Fönnten. Um nun dem Feinde
ein jo günſtiges Verhaͤltniß möglichft zu entziehen, dabei aber eine Zerfplit«
terung unjerer Kräfte zu vermeiden, wird bie Befeftigung fo zu disponiren
fein, daß wir unfer Operationdterrain vorwärts juchen und uns daſſelbe durch
eine von Horum bez. dem dortigen Dammanfchluffe ausgehende Befeftigung
fihern.
Richt einer zufammenhängenden Kette von Werfen bedarf es, fondern ledig⸗
lich einiger folider Stüßpunfte, an welche bie Befagung des ganzen Feſtungs⸗
complexes ſich anlehnen und zwifchen welchen der Angreifer nicht ungeftraft hin⸗
durch gehen kann. Mechnen wir dafür 3 große und 2 mittlere Forte. Die
innere Befefligung muß allerdings eine gefchloffene Enceinte bilden und wird
9 Fronten von 8 bis 9000 Schritt Entwidelung befommen koͤnnen, doch tft
es natürlich, daß bei Weitem nicht alle Theile von gleicher Stärfe gebaut zu wer⸗
den brauchen.
Will man auch einen reinen Landangriff in's Auge fallen, fo ift deſſen
wahrfcheinliche Baſis am Mheine zu fuchen, fchwerlich in Holland. Der Angriff
hätte eine Spige von circa 40 Meilen weit in's Land hineinzutreiben, träfe aber
630 Kriegswiſſenſchaft.
freilich auf feine große Feſtung, moch fonftige Defenſtemiitel, ſondern hät
die Feſtung 2. Ordnung, Minden, in feiner Flanke. &o eine Ofenfne erfolgt
aber nicht ifofirt; dazu bedarf es enticheidender Siege des Feindes und eines
Zurückwerfens der deutfchen Armeen mindeftens bis an, wohl aber bis hinter Die
Elbe, alſo geradezu eines fiegreichen Feldzuges. Im Laufe diefer Zeit önnen
ſich die Truppen des Platzes recht füglich alle diejenigen ergänzenden Befeftigums
gen ſchaffen, die dann vielleicht wünfchenswerth fein möchten. Es ift alfo im
—— dieſen im Ganzen doch ſehr unwahrſcheinlichen en
zun |
| Die Etabliffements an der Weſer find durch die A
gen Seeangriffe gefhügt. Landangriffe find hier wenig begünftigt, da Die Has
deiner Küfte weit in's Meer hinaus voller Untiefen ift, ein Vorbringen von ber
Elbe aus aber mit erheblichen ftrategiichen und tactifchen Bedenken zu Fimpfen
haben dürfte. Es handelt fich alfo hier nur um einen foliden Anlehnungspumft
für den Damm und um Schuß gegen einen Handftreich, wozu es eines großen
Forts am Anſchlußpunkte des Dammes und wahrſcheinlich nur eines Enceintes
canals mit erenelirter Mauer und Flankirungswerken, höchſtens aber noch einiger
mittelgroßer Forts auf den 1 bis 192 Stunde von Bremerhafen Rz
genen Terrainwellen bedarf,
Die Koften diefer Anlagen laſſen ſich in einem ungefähren —
angeben, wenn man die Anlagen ähnlicher Beſchaffenheit als Mafftab zu
Grunde legt. —
Der Cherbourger Damm iſt weſentlich — etwa um die Hälfte — kürzer,
aber unter viel ſchwierigeren Verhaͤltniſſen gebaut worden; die dort erlangten
Erfahrungen werden ung zu Gute fommen. Nehmen wir die Anlagefoften als
gleich an, p. p. 15 Mill. Thaler. — —
Der Kriegshafen berechnet ſich zuerſt nach den Forts, deren wir 3 große
und 2 mittlere angeſetzt haben. Von den Erſteren rechnen wir jedes Fort zu
5 Fronten a "2 Million, von den Letzteren zu 4 Fronten A 300,000 Thlr., gibt
zufammen faft 10 Millionen, Die gefchloffene Enceinte mit 9 Fronten größter
Erſtreckung, im Durchichnitt gleichfalls zu *a Million die Front, gibt 4a Mit
lionen — rechnen wir zufammen 15 Millionen, worin dann die —
mirung und ſonſtige Verſorgung des Platzes einbegriffen ift.
Die Etabliſſements an der Weſer, zugleich der Schutz des er
bürften ſich auf 1 großes Fort zu 2'/ Millionen, wie oben, und eine Enceinte
son 9 Fronten größter Erftredung zu '/s Million, gibt 2 -
ca. 5 Millionen, belaufen. En
Das find in Summa 35 Millionen Thaler, mit Hinzurechmung der Eins
richtungsfoflen des Kriegshafens, der Magazine, Docks u. f. w, wohl an 45 ober
50 Millionen. Es ift jedoch zu bemerken, daß hiervon nicht Alles gleichzeitig
zur Verwendung kommt; es werben zuerft und mit größter Beichleumigung bie
Bauten zur Beherrfchung des Fahrwaſſers betrieben werden; wir glauben, daß
in 4 bis 5 Jahren ein micht unanfehnliches Nefultat erreicht, daß aber eine
Vollendung des großen Dammes unter 10 Jahren nicht möglich fein werde,
—
Die deutſche Flottenfrage. 631
Ebenſo Fönnen die Landbefeſtigungen ber Hauptfache nach in 5 Jahren |
fein, no. aber auch zur Vollendung noch einiger Zeit mehr hr Bedärfe. De
Hafen endlich muß mit dem Anwachſen der Flotte natürlich Schritt halten; bie
Docks und ähnliche Bauten können, aber nur in gewiffem Grade ne
werben und bürften Faum vor 10 Jahren vollendet werden Fönnen, Die Summe
vertheilt ſich aljo,
Die Elbmündungen haben einen doppelten Werth; — als Zu⸗
fluchtshafen, dann wegen des großen Hamburger Handels. Es ſind alſo hier
befeſtigte Hafenanlagen, eine Elbſperrung und ein Stützpunkt für Diejenigen
Truppen zu ſchaffen, weldye einem etwa gelandeten Feinde entgegentreten ſollen.
Der Hafen bürfte fich wohl bei Kurhafen finden und würde außer den ger
nügenden Batterien und der Sicherftellung gegen einen Handſtreich faum jehr
viel bedürfen. _
Die Elbſperrung — ſehr leicht in Verbindung treten mit den Älteren
Pefeftigungsanlagen von Glüdftadt und Stabe, die. in bejcheidenem Maßſtabe
bergeflellt, gleichzeitig zu Stügpunften gegen Zanboperationen benugt werben
können, Hamburg iſt jo günftig gelegen und ein Vorbringen dagegen fo fchwer,
daß ed nur mäßiger Unterftügungen bedarf, um den Feind jo lange aufhalten
zu fönnen, bis Die von allen Seiten mit Eifenbahnen zu beförbernden Berftär-
kungen herantommen. Aber auch bier, müſſen wir bemerfen, ift es die eigene
Kraft der Städte und Lanbjchaften, welche in Form von Küftenbefagungen und
Landwehren ſich jelbft ihrer Haut wehren muß. Der Gefammtaufwand möchte
2.Millionen nicht überfteigen.
Wir rechnen für Die ganze Nordfüfte höchſtens 20,000 Mann Truppen,
von denen an 10,000 Mann loralifirt fein und mit den Werftarbeitern ic, die
Befagungen bilden werben, die andere Hälfte aber an einem zweckmäßigen Eifen«
babnfnoten zu lagern und jid Die Mittel zu einem rafchen Transport bereit zu
balten hat. Dagegen. können wir Die Operationdarınee gegen eine mit Ernft
unternommene Zandung niemals unter 50,000 Mann anfdılagen, da 30 bis
40,000 Mann ganz gewiß mit den jegigen Hülfsmitteln eben fo Teicht zu trans—
portiren, ald zu landen fein werben, Bis eine Macht von der geforderten Stärke
von binnemwärts herangezogen fein wird, müſſen die Tocalen Kräfte den Gang
des Feindes aufhalten, und wir find der Meinung, daß bei guten Landwehrein-
richtungen dieſer Zweck unter den beregten Vorausfegungen zu erreichen iſt.
Werden die Verbältniffe größer, was aber unwahrfcheinlich ift, fo ift es Feine
GErpedition mehr, jondern es wird ein Kriegsfchauplag, und dafür haben wir
nicht weiter zu bemerfen, als daß bei den dortlandigen Eifenbahnanlagen auch
auf folche Verbältniffe Nückficht genommen werden möge, und man nicht glaube,
die Eiſenbahnen jeien blos wegen des Handels da — fonft fünnte im Bedarfs—
falle es leicht an Anftalten fehlen, die fo ſehr wichtig für die Erreichung militäs
rifcher Zwecke find, Namentlich möchten wir befürworten, daß alle Bahnhofs—
anlagen, die in ein Operationsterrain fallen, Derartig disponirt und ausgeführt
werden, daß womöglich eine geichloffene, vertbeidigungsfäbige Enceinte beftcht —
durch Gebäude und erenelirte Mauern mit Umfaffungägraben — oder wenigſtens
—
632 Ariegöwiſſenſchaft.
an den minhe — Puntten — |
———— — Nichts Tiegt inc gan Ai äh a
zu gerftören, auf denen wir Verftärfungen am ung ziehen; ' |
entfenden, muß eine feiner erften Maßregeln-fein. Eifenbahnz
die ſich nur auf Heine Objecte beziehen, find auch bald —
bile Colonnen auf den Eiſenbahnen, mit ſtets geheizten Maſchinen, hinder
here Unternehmungen; find aber die Bahnhöfe offen, fo find umfaſſende erf
rungen in wenig Stunden zu bewirken, und die Nachtheile. —* Verluſte
werden empfindlich. Und warum könnte man nicht die Bahnarbeiter militärife
organifiren und ihnen die Vertheidigung von Haus und ‚Sterb ———
So wäre unſerer Anſicht nad) die Nordſeeküͤſte in guten Stand geſetztz con⸗
centrirte Kraft überall, feine Zerfplitterung, aber Vorforge für ae —
Flotte nicht vermocht hätte, ihre Aufgabe zu erfüllen. —— ñi
Wenden wir und zur Oftjee. — 6
Der Kieler Hafen bat, wie ſchon Prinz Adalbert‘ in feiner Brofchüre
hervorhebt, eine fo üble ſtrategiſche tage wegen der engen Deboucheen, die an allen
Seiten das freie Meer gewiffermmaßen abiperren, daß er trog aller nautifchen Wor-
züge fo lange gänzlich außer Caleül zu bleiben hat, bis nicht fmmtliche germas
nijchen Stämme, alfo audy das jegt fo feindliche Dänemarf, in eng
mit Deutschland fiehen. Wir zweifeln nicht, daß dieſe Zeit fommen wirb
erft muß Deutfchland ſich in Reſpect fegen, dann werden ſchon —
kommen.
Der Lübecker Buſen hat eine etwas beſſere ſtrategiſche —
Travemünder Rhede zeigt Die ganz brauchbaren Tiefen von 36 Fuß und
darüber, Die Meerenge zwiſchen der Falſterſchen Südjpige und dem Daxfer
Ort ift doch wenigftend bei 5 Meilen breit und zeigt auch über 3
waſſer. Alle Verhältwifle, zu denen auch die mercantile Wichtigfeit Lübecks ge⸗
bört, obwohl feine Lage dem großen Welthandel nicht günftig iſt und feine Melle
immer eine localere bleiben wird — ſtimmen bafür, bier einen Zuſſuchtshafen
zu errichten, verbunden mit einer Starion der keichten Flottille. Da jedoch Diefe
Anlage theil® von minderer Dringliczkeit ift, theils auch durch die Befeſtigung
von Travemünde an ſich chen einiger Schuß im diefem Sinne erreicht wird,
fönnen wir die biefigen Anlagen wohl einftweilen außer Berechnung laſſen.
Ebenso übergehen wir Wismar, in ſchwediſcher Zeit ein Stationsplag ber Teich-
ten Blottille, und Roſtock, welches für den Schiffebau von hoher ——
um unſere Aufmerkſamkeit auf die naͤchſte Hauptgruppe J
Rügen und Stettin zu lenken. 4
Wir ſtehen nicht an, auf vielfache und bekannt gewordene und mit den tie
ferigen übereinftimmende Anfichten fachverftändiger Männer geftügt, zu erflären,
daß bier die Dertlichkeiten zu einen großen Marineetabliffement wie gefchaffen
find. Eine feltene Vereinigung localer Bequemlichfeiten, ſtrategiſcher Vortheile
— namentlib in ber Nibe von Kopenhagen und —— — ek nauuſce
Brauchbarkeit begünſtigt alle Anlagen, ar!
4
Die dentfche Zlottenfrage. 633
Rügen wird Kriegshafen für die Oſtſeeflotte werden; mehrere feiner großen
Meerbufen bieten ſchöne Waffertiefen, wie 3. B. das Tromper Wyk bis weit
herein 40 Buß, ter Nügianifche Bodden 36 Fuß, und bis Stralfund heran
18 Fuß ; beide Dürften wohl um den Vorrang ftreiten.
Das Tromper Myk hat tadellofe Tiefenverbältnifie und «hinter fich im Jas⸗
munder Bodden ein Binnenbeden von großer Ausdehnung und Bequemlichkeit;
dagegen ift die Rhede weit geöffnet und bedürfte zum Schuge gegen die hohe See,
wie gegen Feindesgewalt, einen befeftigten Damm in tiefem Wafler, bis 90 Fuß,
von wohl 2 Meilen Länge, was einen Koftenaufivand von folcher Höhe mit fich
führen würde, daß man davon allein Grund bernehmen muß, nach billigeren
Localitäten zu forichen. Nächfiden muß die Eeecommunication mit den rüds
wärtigen Plägen über Das offene Meer erfolgen, und die verzeichneten Lothtiefen
laſſen es zweifelhaft, ob felbft die leichte Blottille in Stande fein werde, die öſt⸗
lien und weftlichen benachbarten Deboucheen, auch bei einiger Fünftlicher Nach⸗
hülfe, zu benugen. Der Ruͤgianiſche Bodden Hat allerdings für die fchwere
Flotte nur einen beichränften Raum, aber e8 gibt manche Rheden, die auch nicht
mehr Bahrwafler haben; die Einfahrt zwifchen der Endfpige der Lobber Rhede
und der Infel Ruden an det Peenemündung ift faum eine Meile breit, und die
Moloarbeiten würden faft nur in feichtem Waffer erfolgen. Die leichte Flottille
nebft den leichteren Fregatten können ein treffliches Debouchee bei Stralfund
vorbei Durch das Proner Wyk gegen Welten erhalten, während die Oftfeite, die
eigentliche Rhede, eine gegen die See volltommen geficherte Verbindung durch Die
Peene mit Stettin und den dortigen Conftructionsetabfiffements befigt. Solche
beteutende Vortheile dürften felbft größere Baggerarbeiten reichlich übertragen.
Ferner jpricht zu Gunſten der legteren Dertlichfeit Die ganz bedeutend leichtere
Befeftigung der gefanımten Secetabliffements; wird der Kriegshafen an der Nord⸗
jpige, dem Tromper Wyk, angelegt, jo ift ed geradezu unerläßlich, ganz Nügen
als Einen befeftigten Platz zu behandeln, fonft ſchiebt fich der Feind auf der
Sütjeite ein, jperrt Die Verbindung ded Hafens mit feinen rüdwärtigen Plägen
und befindet ſich in einer trefflichen Defenfivlage gegen alle Entfagverfuche. Diefe
Koften laſſen ſich auch nicht annähernd berechnen, höchft wahrfcheinlich würden
fie Die Summen für die Jahdehäfen bedeutend überfleigen. Wird dagegen der
Kriegshafen mehr in der Nähe der Peenemündung angelegt, fo genügt vollfläne
dig eine Behanptung des füdlichen Theiles Der Injel, zu welcher es keiner weit»
läufigen Strandbefeftigungen bedarf. Wir folgen in unferer Erörterung der
legtgenannten Idee.
Zum Abfchluffe des Nügianifchen Boddens, eines Binnenbedens von bei⸗
läufig 8 Duadratmeilen, gegen Often, bedarf e8 eines befeftigten Dammes von
etwa 6000 Schritt Länge, in feichtem Waffer, und dreier größeren Forts bei
Thieſſow an der Rügianifchen Sübfpige, auf Nuten, und auf der Oftplate bei
Peenemünde. Die Koften der drei Forts zu je 2 Millionen, des Dammes mit
feinen Befeftigungen zu 4 Millionen angenommen, gibt 10 Millionen. Der
weftliche Abichluß dürfte am beften bei der Infel Hiddenſee erfolgen, da, wo
das Proner Wyk mit der offenen See zufammenhängt, und zwei größere Batterie⸗
—
134 Kriegswiſſenſchaft. br
anlagen erfordern, benen fich vielleicht zwei Eleinere, als Außenpoſten von Stral-
fund, an dem Straljunder Fahrwaſſer gelegen, anfchlichen Fönmen, doch dürften
dieſe aufzufchieben fein, Die beiden vorderen Forts —— en
genommen werden.
Der Hafen felbft würde einige Molen geringer — —
zwiſchen der Inſel Ruden und der Weſtplate, erfordern, und mit feinen übrigen
Abfeylüffen und Einrichtungen wohl an 10 Millionen erfordern.
Die Lanpbefeitigung findet eine ſehr große Stüge in ihrer
die es ſehr unwahrfcheinlich macht, daß ein Feind in Folge eines Continental-
frieges biß hierher vordringt, und in Dem Falle, Daß die Offenfive son der See
ber ftattfindet und große Armeen von da aus operiren follen, wirft bie Nähe
und Bereitjchaft aller militärischen Hülfsmittel Deutjchlands gegen die üble Bas
firung und befchwerliche, mindeftens weite Verbindung des Angreifers abermals
zu unferen Gunſten. — Werner find zwei bereits beftchende tüchtige Feſtungen
mit ihren firategiichen Rayons jo günſtig anftopend, daß fie einer Landoperation,
bie fih von der Elbe her durd; Mecklenburg gegen Greifswalde und Wolgaft ent⸗
wiceln müßte, äußerft befcywerlich werden müffen, nämlich Stralfund, ald Sam.
meljag aller weſtlich ftationirten oder disponibel zu machenden Streitkräfte, und
Stettin, einer der großen preufifchen Depotpläge, ald Sammelplag und Baſis
für Pommern und Preußen, Erſteres bat nur 2 Märfche bis zu den möglichen
Operationslinien des Feindes, letzteres deren allerdings 4 bis 5, doch findet ſich
im ber Peene ein verbindendes Glied, das namentlich dann nugbar werden
fönnte, wenn die Uebergänge der zu verhoffenden Eifenbahn etwas befeftigt wür«
ben, dann, wenn Anklam etwa noch alte Mauern oder Wälle hätte, Dinge, mit
deren Vernichtung man heutzutage häufig etwas zu vorſchnell iſt. Auch Wok
gaft würde ſehr zur Deckung des Hauptetabliffements beitragen, wenn es befeſtigt
wäre und dadurch Blanfenconcentrirungen begünftigte, doch find wir weir ent
fernt,, dafür Ausgaben zu verlangen. — Bon der Oftfeite her fann unſeres Ers
achtend der Nügianiiche Hafen kaum bedroht werden, da Rußland jchwerlich mit
jo formidabler Kraft in Deutfchland vordringen fann, um anf einem Rebenkriegs⸗
theater Defenfivelemente, wie das Stettiner Syſtem mit der Oder ift, neutrali—
firen und dann noch gegen das eigentliche Ziel vorgehen zu können.
Nach diefen Erwägungen wird fich die Landbefeftigung ald wenig umfang⸗
reich ausweifen, Auf Rügen felbjt bedarf e8 außer der erwähnten Strandforts
eines Brückenkopfes gegenüber von Stralfund, einiger Forts in der Örgend von _
Bergen, um bie Abfperrung des füblichen Theils der Infel zu erleichtern, und |
einiger daran anſchließender Strandbefeftigungen. Mechnen wir den Brüden-
fopf zu drei großen Bronten & "a Million und 4 oder 5 vorgefchobene Forts zu
in Summa 1 Million, dann die Befeftigungen bei Bergen und an den Küften
zu 1Ya Millionen, fo würde da® Ganze mit 4 Millionen bergeftellt fein, und
Nügen mit größtem Nachdrude gehalten werden Fönnen, Die Befeftigungen bed
Kriegshafens felbft würden auf der Landfeite kaum drei große Fronten einnehe
men, bie nach einem leichten Profile erbaut und mit einem Syſteme vorgeſchobe—
ner Fafemattirter Thürme in Summa etwa auf * Million anſteigen können.
Die deutiche Flottenfrage. 635
Die Geſammtſumme der Befefligungd- und Cinrichtungsfoften 088 Rügiantjchen
Kriegshafens belaufen ſich alfo auf höchſtens 30 Millionen Thaler oder etwa */s
der Koſten, welche für die Jahde- und Welerhäfen wahrfcheinlich aufgewendet
werden müfjen. Auch bier kann eine Vertheilung auf längere Zeitfriften ein⸗
treten, derart, daß von Anfang her nur der Haupthafen und die Befeftigungen
nit größter Kraft vollendet werden, wofür wir nur ungern längere Beitfriften
als 4 Jahre angefegt fehen würden, während der weitere Ausbau mit dem An⸗
wachfen der Flotte Schritt zu halten braucht und wohl noch weitere 6 Jahre be=
anjpruchen darf.
Stettin als Beflung unterliegt mancherlei Mängeln; fein Handel ſtrebt
die Feffeln von Wall und Graben zu fprengen, die ihm drüdend eng find; der
innere Raum ift zu Flein für die modernen Zwecke der Befeftigungen es ift aljo
ein Umbau dringend geboten, und es wäre dabei nur zu wünjchen, daß derſelbe
die bier fo gefchügten großen Conftructiondetabliffements mit aufnähme. Eine
Ausdehnung der Enceinte, vom Fort Preußen ausgehend, den Äußeren Spitzen
von Fort Wilhelm folgend und dann in weitem Bogen bei Grabow an die Oder“
anfchliegend, würde die weftliche Seite der Feſtung in gehöriger Weife berftellen
und damit den Anforderungen des Handeld und der Truppenconcentrirung ges
nügen. Die Werften würden wohl in der Niederung zwijchen der Oder und
der Pernig Play finden, und da im Kriegsfalle ohnehin die Eifenbahn und
Chaufſee nach Damm eines fortificatorijchen Schuge8 bedürfen, fo wird er gleich“
zeitig mit für dieſe Etabliſſements fungiren, alfo keinen Ertraaufmand verur«
ſachen. &8 kann wohl möglich fein, daß Stettin, um wirflich einen hohen Auf⸗
fhwung zu nehmen, verfchiedener Kahrwaflerregulirungen und Kaibauten bedarf,
allein der Vortheil ift bier ftetd ein doppelter; wa8 der Kriegsmarine fronmt,
nut auch der Handeldmarine. Die Etabliffementd mögen fpäter erft entftehen,
das darf zugegeben werden; aber ihr Rutzen wird ihre Koften reichlich aufs
wiegen.
Swinemünbde iſt einer der vielen Punkte, die nach Schuß rufen werben,
ohne Doc eigentlich in ihren Iocalen Verbältniffen die Rothwendigkeit begründen
zu fönnen. Es fommt dazu, daß die freie offene Lage und die Tiefe des Fahr⸗
waflerd den Kampf der feindlichen Hanptmacht gegen die dortigen Anlagen ges
ftattet, daß alfo die Befeftigungen, wenn fle wirklich nuͤtzen ſollen, ganz enorme
Proportionen erhalten müßten, was noch viel mehr aus dem natürlichen Stande
der Dinge herausfiele. Kann unfere Flotte nicht mehr die See halten, fo find
Landungen auf Ufedom und Wollin gar nicht zu hindern ; jo lange aber unfere
leichte Flottille Die Binnengemwäfler noch beberrfcht, kann der Feind dort am Feſt⸗
feßen gehindert werden, und mehr bedarf es nicht. Hält man es für zweckmaͤßig,
die Swine und die Dievenow zu fperren, fo möge es wenigftend an Punkten ges
ſchehen, wo Die Anlagen nicht dem euer der großen Seefchiffe ausgelegt find
und folglicy in befcheideneren Grenzen gehalten werden können.
Die Truppen, welche zu einer Feflhaltung des Stettiner und Rüs
gtanifhen Syſtems gebraucht werden, darf man auf 30,000 Mann an«
ſchlagen, wovon jedoch ein Theil durch die ohnehin ftetö vorhandenen Depots
-
—
636 uoßingtafenfäuf. 3
——— bl um —— der — —
entgegentreten zu können; die weitere Verſtärkung wird bei der Nähe aller mili-
tärifchen Eentralpläge und der wehrhaftejten Provinzen des Staates ohne Schwie-
tigkeit, noch Beitverluft, nach Bedarf erfolgen fönnen, und möchten wir auch
hierbei auf die ſtrategiſche Wichtigkeit der Eifenbahnlinien und deren Dispe—
nirung, wie auf den ee ne — ——
ſam machen, oT
Golberg, biöher Feſtung von recht geringem Bere, weil außerhalb
aller großen Operationölinien gelegen, kann als Zufluchtshafen der leichten Blots
tille eine bisher nicht an ya Bejondere Anlagen Dürfs
ten faum nöthig werben. w⁊
Danzig. Wir ſtoßen bier ziemlich tief im Ofen und in Gegenden, bie
ein langer Winter erflarren macht, auf eine Configuration von —
die für Beide von höchſter Wichtigkeit find. en
- Danzig, eine Bejtung erften Ranges, ein Handelsplatz von ſo günftiger
Lage, als er in Gegenden, bie fünf Monate lang unter dem Eife liegen, nur gefun⸗
den werden fann, mit einem produetiven Dinterlande, gegen Außen geſchützt
durch eine mächtige Stromlinie und mehrere wichtige Waffenpläge, gerade noch
in der. Scheidelinie zwifchen centraler und hinausgejchobener Lage, doch mehr zu
erfterer neigend, ſchon in alten Zeiten feemächtig — nimmt unfere volle Aufs
merkſamkeit durch dieſe Verhältniſſe in Anfpruch; rechnen wir aber noch Dazu,
daß es einen ebenfo ausgedehnten, als vortrefflichen Binnenhafen von genügen
ber Tiefe für mittlere Fahrzeuge und eine weit geſtreckte und ziemlich fhurmfreie
Rhede von tadellojen Sonden bejigt, jo fleigt feine Wichtigkeit in die erſte Orb»
nung hinauf, und ald einen Plag diefes Nanges haben wir auch Danzig zu bes
trachten, der die Rügianifchen Erabliffements ohne Weiteres in Schatten ftellen
und auf den zweiten oder dritten Nang berabdrüden würde, wenn diefe nicht Die
großen Vortheile der offeneren, eiöfreieren See und der ganz — —
ſich hätten. Be
Danzig ſchiebt ſich mit feinen Operationslinien gwifchen —
haͤſen der Oſtſeenachbarn hinein; es baſirt eine Flotte ſehr zweckmaͤßig, Die die
Flotten von Kronſtadt, Karlskrona und Kopenhagen auseinander halten, oder
die den einen dieſer Theile gegen andere Angreifer unterftügen will (Prinz Adal⸗
bert's Brofchüre); es liegt nahe an der größten Breitenerftredfung ber Oftfee,
kann alſo jelbft auf Umvegen noch erreicht werden, wenn das Auffuchen vom
Zufluchtsorten nothwendig wird. Es ift fein Zweifel, daß Danzig zur Aufnahme
einer großen Flotte gejchict fein muß, wenn wir auch Anftand nehmen würden,
die Flotte hierher zu flationiren. = m
Die Rhede von Danzig ift in ihrem weftlichen Theile, wo fie an die Untie=
fen des Pugiger Wyk anftößt, durch die Halbinfel Hela von der hohen See ge»
trennt; dad Wafferbeden, was dadurch entfteht, liegt aber immerhin 2 bis 3 Mei«
fen von Danzig entfernt, und würde ſchon aus Diefem Grunde eines außerordente
lich koſtſpieligen fortifientoriihen Schuges bedürfen, wobei immer.noch der
a
Die deutſche Zlottenfrage. 37
Mangel beftehen bliebe, daß mit Hülfe ſchwerer Gefchüge die Flotte Doch zeite
weife beunruhigt werden könnte. Es wäre alfo in hohem Grade ermünfcht, die
Abjchlüffe der Rhede mehr an Danzig heranzubringen, doch Täßt ſich nicht ver⸗
fennen, daß Hierzu fehr ausgedehnte Dammbauten in tiefem Waſſer erforderlich
wären, und daß die Koften hierfür mindeftend einer fpäteren Periode vorbehalten
bleiben müfjen.
Die dermalige Herftellung einer Rhede wird alfo bei Hela zu beginnen und
von da aus in ziemlich füdöftlicher Richtung einen vermehrten Abfchluß zu fuchen
baben. Für die Dammbauten und tüchtigen Strandbefeftigungen dürfte man
wohl einige Millionen verausgaben fönnen.
Der Hafen kann nur bei Reufahrwaffer angelegt werden, wozu übrigens
die Untiefen von der alten Weichfelmündung leichtere Bundamentirung geben
werten. Seinen Echug muß er theild durch die eigenen Unfaffungsdämme,
theils Durch vorgelegte große Forts erhalten, deren Alignement Hela, und für
welche das Ziel jein muß, eine fich gegenjeitig unterftügende Anzahl folcher Forts
bis in den Bereich der dortigen Anlagen zu bringen, wozu ohne Anrechnung der
Strandanlagen etwa 5 Fortd nöthig wären. Der Kriegöhafen felbft ift nur als
Zufluchtshafen und Reparaturwerfftelle auszuſtatten; feine Hülfdmittel können
Daher viel geringer fein, als feine Größe; er wird fle der Hauptjache nach mit
den Conftructiondetabliffements gemein haben. |
Danzig ift aber aud) ein Hauptconftructionsplaß, und es fragt ſich, ob er
eö nicht derart über Bremerhafen davon tragen wird, daß hier, den erften Anfang
abgerechnet, alle großen Schiffe gebaut werden. Die überhaupt nöthige Stadt«
erweiterung wird Dann mit der Anlage der Werften zur Erweiterung der Beftungd«
werke Hand in Hand gehen. Danzig wird nach dem Syſteme der großen flar«
fen Forts und der langen, leichter gehaltenen Anfchlüffe nach und nad) umges
baut werden. Der Ziganfen« und der Hagelsberg bleiben die Angelpunfte der
DVertheidigung; die jüdlichen und jüdöftlichen Fronten zwijchen der Motlau und
der alten Weichjel bleiben gleichfalld; dagegen Fönnen der Hauptwall am Fuße
der genannten Berge der Stadterweiterung und der an der Weichfel, ſowie die
Werke auf dem Holm, der Handelds und Schifffahrtöbemegung preidgegeben wer⸗
den. Die neue Enceinte muß bei Weißhof an die Weichjel fchließen und auf
dem rechten Ufer, der jegigen großen Injel, Direct nach dem Fort Kronprinz
hinab gehen, wo fie an der Weichfelmünder Rayon anfchliegt. Auf dem Linfen
Ufer Hat die neue Enceinte von den Ziganfenbergen aus den Weichjelanfchluß
entweder bei Reicheröbof zu fuchen, ober in entfprechender Form ſich mit den
Hafenbefeftigungen zu verbinden. Es ift anzunehmen, Daß der außerordentliche
Zerraingewinn einen guten Theil der Koften decken wird; die neuen Fortifica«
tionen brauchen nur in einzelnen Theilen wirklich ftarf zu fein. Dagegen dürfte
es gerathen fein, auf ber Infel jelbft einige Strandbefeftigungen anzulegen, Das
mit alle Infulten Fleinerer Abtheilungen abgewiefen werben Eönnen.
Bedenken wir, daß Danzig bereits eine ſtarke Feſtung iſt, wenn auch
eng und nach altem Syſtem und mit vielfach zerſplitterter Vertheidigungs⸗
kraft, jo ift e8 doch immer von Anfang an ausreichend, und was gejche-
S
638 Kriegswiſſeuſchaft.
ben joll, ee
werden. E
Wir — * daß Danzig über 5 Millionen a
denen erft in fpäterer Zeit die etwa gleiche Summe beizufügen waͤre.
Königsberg, eine Feftung neueften Datums, und Billau, fein Hafen-
fort, bedürfen Feiner befonderen Veranftaltungen, indem fie find mas ſie ſein
können, ein Zufluchtsort bei ungünftigen Verbälmiffen 0000
‚Das adriatifche Meer bringt und ald Morgengabe eine außerordentlich
ungünftige ftrategijche Poſition, eine Lage, die jo viel als
Erreichung maritimer Zwecke erſchwert. Da die Adria aber das einzige Meer
ift, das wir im Süden befigen, fo brauchen wir und wenigſtens nicht mit einer
bitteren Wahl zu martern ee
liches einftweilen annehmen.
Wir treffen bier jo ziemlic) Alles, was wir brauchen, Be ——
nicht Alles fertig ift, fo ift es doch im Werben, und es ift nur nöthig, Dem ber
fruchtenden Finanzftrom ald treibende Kraft zu benugen, um in fürzefter Friſt
——— bie auch den ernſthafteſten Patrioten befriedigen
muͤſſen.
Mir meinen, e8 müfje hier ein gutes Drittheil der Flotte aufgeftellt werden,
und haben wir erft eine ſolche Macht, jo werden wir auch mit ihr und eine beje
fere Pofttion ſchaffen können. ——
Der Bedarf für die Flotte könnte wohl von Venedig gebedt werben;
da jedoch bie Einfahrten am Lido und bei Malamoero jehr feicht find, ſo iſt es
faum zu erwarten, daß die dortigen Neparaturwerfftätten ausreichen, Es wird
Venedig alfo nur Gonftructiondetabliffement und Stationsplag für die leichteren
Schiffe fein, Pola aber die ſchwere Flotte beherbergen, ausrüften und repariren.
In diefem Style find die jegigen Anlagen disponirt; es bedarf nur der Erweite-
rung und Beichleunigung. | mer -
Außer Bola braucht man aber noch einige Zufluchtähäfen, und bei der
ebenjo vielfach zevklüfteten, als zahlreich befeftigten Dalmatiner Küfte dürfte cher
ein embarras de richesse, als ein Mangel daran zu erwarten ftehen. "Bagufa
und Gattaro bietem ſich zuerft den Blicken dar. Br
Es will uns jcheinen, ald ob Das, was im Intereffe der deutſchen Flotte
bier den öſterreichiſchen Häfen und Werften ergänzend zuzufügen —
10 Millionen Thaler gedeckt werden könnte. =
Wir wollen nun die Schlufrechnung ftellen.
Die Anichaffungsfoften der Schiffe find auf 52 Millionen, die Ginzichtunge-
Eoften der Rheden, Häfen und Werften auf p. p. 100 Millionen Thaler, nach
einem reichlichen Maßſtabe berechnet worden, Von diefen in Summa 150 Mik
lionen Thalern ift mindeftens die größere Hälfte, fagen wir 0,6, auf bie erften
vier Jahre zu vertheilen, das wären 90 Millionen auf 4 Jahre — 22. Me
lionen Jahresbeitrag für die erften vier Jahre, Dann kaͤmen 60 Millionen auf
6 Jahre zur Bertheilung, und es fänfe die Jahresrate der anferordentlichen Ko«
jten auf 10 Millionen Thaler, _q
Die dentiche Flottenfrage. 639
Hierzu tritt nun das ordentliche Budget von p. p. 20 Millionen.
Es ift wohl Niemandem zweifelhaft, daß es fich Hier um eine jcharfe An⸗
ſpannung aller Kräfte handelt, und daß diefe Summen mit ihrem für bie ferne
Zukunft beftimmten Nuten auch zum Theil mit von diefer, alfo durch Anleihen,
getragen werden müſſen. Es dürfte billig fein, die Geldquoten fo zu vertheilen,
dag die durch Umlagen aufzubringenden Quanten anfangs die Summe von
30 Millionen jährlich nicht überfteigen, fpäter vielleicht auf 25 Millionen ermä-
Bigt würden, fo daß etwa die Hälfte der außerordentlichen Koſten durch Beiträge,
die andere Hälfte durch Anleihen gededt würden.
Es fragt fih, ob Deutichland im Stande fei, ein Marinebudget von 30,
25, 20 Millionen Thalern zu ertragen?. Zaufend Stimmen werden und ante
worten: Das ift eine erdrückende Laft — wir werden im Brieden auögefaugt —
der Krieg und feine Vorbereitungen nehmen und die Möglichkeit der Erſparniſſe
— die Wehrhaftigkeit muß auf anderen Wege erzielt werden.
Betrachten wir mit Furzen Zügen diefe gebräuchlichen Aufftellungen.
Die Wehrhaftigkeit ift vor Allem auf Feinem anderen Wege, als dem der
ftehenden Heere und ftehenden Flotten zu erlangen. Das Beijpiel Nordamerikas
beweift nicht8, denn die Union wurde noch nicht von einer foliden Landmacht
ernftbaft angegriffen, aber jelbft im Unabhängigfeitöfriege, man wolle e8 nicht
vergeflen, war Waſhington's heißeftes Beftreben ein wohldisciplinirtes ſtehendes
Heer, und daß er ohne die Hülfe der franzöſiſchen Truppen nicht ausgerichtet,
fteht doch wohl auch hiftorifch feft. Auch das Beijpiel von 1813 beweift nichts,
denn einmal war die Landwehr nicht ifolirt, fondern um ein Heer geichaart und
von diefem vielfach verforgt, dann Hat die Landwehr fo unverhältnigmäßig grö⸗
ßere Verlufte erlitten — im Jahre 1814 ftanden die Stärken anftatt 1 : 1, wie
3:1 — daß ihre Mitwirfung nach und nach verfchwand durdy ihre Schwäche,
und endlich Hat fich eben zu allerneueft gezeigt, dag man mit vertheilter
Arbeitwirthfchaften will und es nicht nıehr paplich erfcheint, alle Claſſen
der Ration in ihrem Beſtande, wie in ihrem Getriebe zu erfchüttern, um das
Heer zeitweife auf eine anfehnliche Zahl zu bringen.
Die Koften der Kriegsmacht erfchöpfen die Steuerfraft, unproductive Aus⸗
gaben u. dergl. mehr. Man frage doch geneigteft nach, ob der Engländer die
ganz enormen Koften feiner heimiſchen Kriegemacht, die 100 Millionen Thaler
weit überfteigen und Doch nirgends genügen, ob der Engländer fie für unproduc«
tiv halte? Es Tiegt hier einer der lächerlichften und ſtümperhafteſten volföwirth-
ſchaftlichen Irrtümer zu Grunde. Der ruhige Gang der Entwidelung im Ins
neren, geftügt durch innere Ordnung und äußere Selbftftändigfeit, die fichere
Stellung auf dem Weltmarfte, der wirffame Schuß für fernen Handel, die Er⸗
ſchließung und Befruchtung mächtiger Gebiete, Colonien, und die dadurch ge=
fchaffene, dem Mutterlande fo nügliche Productiond- und Confumtionsfraft, die
Verwendung fo zahlreicher, unvollftändig oder gar nicht außgenutter Kräfte, bie
mit der fleigenden Ihätigfeit auch fteigende Umficht, das Selbftbewußtfein, die
Thatkraft in der Ration — — das Alles ruht ganz weſentlich auf der
angeblich unproductiven Kriegsmacht. Denfen wir und dieſe Kriegd-
640 Kriegswiſſenſchaft.
macht weg, verſetzen wir und in bie Zeiten von 1805 oder 1806 bis 1812 und
1813, zertreten, auögefaugt, ruinirt im Inneren und verdrängt im Außenlande,
und antworten wir offen und ehrlich: Wo flgt denn die Unproduetivität, wohnt
fie bei der Macht oder bei der Unmahıt? — Die Macht alleiniftproduc»>
tiv; alle mächtigen Länder fchwellen gewaltig an in ihrem Rationalrermögen,
alle unmächtigen Länder verfümmern, und zwar moralijch, phyflich und finanziell
in immer fteigender Progrefiion. Wie reich ift die engliiche Nation, wie hob
fh Deutfchland, als es auf dem Continente fo ziemlich die erfte Macht war,
d. h. in den legten dreißiger und den vierziger Jahren — wie flodt jeder Erwerb,
jede gejunde Kebensader mit dem leijeften Zweifel an der Machtftellung !
Aber man täufche ſich nicht; es ift nicht wegen des Militärbudgets, daß Die
Demofraten aller Orten die ftehenden Heere angreifen und Die Flotte angreifen
würden von dem Augenblidfe an, wo eine eriftirte; fle find die legten, die in den
Ruf der Sparfamfeit kommen würden; ihre Gründe find politifcher Natur, ihr
Gegner ift das monardijche Princip; wenn heute die Armeen zu ihrer Fahne
ſchwören wollten, die Sache würde mit Einem Schlage umgefehrt fein. Zu bes
dauern bleibt Hierbei nur, daß diefe Herren fo manchen Nachbeter finden, der an
der äußeren Schale hängen bleibt, den ſchönen Worten glaubt und wirflich meint,
das goldene Zeitalter kaͤme, wenn erft Die Demokraten mit ihren reinen Grunds
fägen am Ruder feien. O ja, Eonımen würde ed, nur nicht für ihn, den Gläu⸗
bigen, fondern für Die am Ruder, wie man das ſchon oft genug gefehen und eben
fo oft wieder vergeſſen Hat.
Wir wollen es nicht verhehlen, die Steuerlaft mag im Anfang drüden, aber
das wird nicht Tange dauern, das neue Leben, der regere Verkehr wird die Mehr⸗
ausgabe des Einzelnen bald und reichlich übertragen.
Darum fürchten wir uns nicht; wir find zwar nicht berufen, zu fchaffen
und zu becretiren, aber wir find mit berufen, weil wir e8 Eönnen, die Wege zu
der neuen Schöpfung ebnen zu helfen, und mit der Ucberzeugung von der natio-
nalen Rothwendigfeit auch den Entfchluß zur Durchführung derfelben zu erzeugen,
18.
Die Magie und Alchemie des Allerthums
und Mittelallers.
Bon
Dr. ©. W. Scharlan in Stettin.
Son in den erften Zeiten der beginnenden Eultur hat man ſich Damit befchäfe
tigt, Metalle darzuftellen, oder man kann fagen: die Gultur ber Völker begann
mit der Darftellung der Metalle.‘ In einem alten Sagenbuche wird gelehrt, Daß
bald nach der Schöpfung ein Mann Iebte, der ein Künfller in Metallen war;
diefer Mann hieß Tubalcain. Es geht aus diefem Mythos Hervor, daß der Vers
fafler der Schöpfungsgefchichte die Metalle für die Menfchen jo wichtig gehalten
hat, daß er ihre Entdeckung ſchon mit der zweiten Generation des neu entſtande⸗
nen Menfchengefchlecht8 geſchehen läßt.
Zu den am längften befannten Metallen gehören wohl Gold, Silber und
Kupfer, weil ſie in damaliger Zeit die einzigen waren, welche in metalliſcher Form
gefunden wurden, während faſt alle anderen Metalle in Verbindung mit Sauer⸗
ftoff oder Chlor, als zum Theil Tösliche Salze, oder mit Schwefel und Phosphor,
meiftens nur in unlddlicher Form vorhanden find. Ob das frühelte Alterthum
das Duedfilber Fannte, weiß man nicht mit Beftimmtheit ; allein die vergoldeten
Metallarbeiten, welche man in den Pyramiden Aegyptens fand, find fo flarf ver«
goldet, daß fle nur unter Mitwirkung des Queckſilbers angefertigt fein können.
Später findet man bei den Völkern des Alterthums Schmud, Waffen,
ſchneidendes Hausgeräth und Kochgefchirre aus Bronze gefertigt, beftchend aus
80 Theilen Kupfer und 20 Theilen Zinn. Zur felben Zeit erfanden die Indier
das Meffing, beſtehend aus 2 Theilen Kupfer und 1 Theile Zinf. Viel ſpaͤter
wurde Blet, Wismuth und Eifen entdeckt; letzteres verdraͤngte allmälig Die Bronze,
Bur Herftellung diefer Metalle mußten fchon bebeutende metallurgifche Kennt⸗
niffe vorhanden fein, da bie Abfcheidung derjelben aus ihren Sauerfloffe, Schwer
fele und Ghlorverbindungen meiftens mit großen Schwierigkeiten verknuͤpft iſt.
ALS Eigenfchaften der Metalle, welche allen gemein waren, mußten beob«
achtet werden:
1) die Schmelzbarfeit durch Beuer,
IV, 4
—
642 Naturphilofopbie,
2) das Feftwerden beim Erfalten. ' er
Als verfchieden wurde das Verhalten der Metalle gegen Luft, Waſſer, Sau⸗
ren und Alfalien beobachtet, und ſehr bald mußte bemerft werden, erftend: daß -
Gold und Silber ſich nur in metallifcher Form, alfo völlig reif dem Menfchen
darboten, daß diefe in Luft, Waller und den damals bekannten Säuren unver
ändert blieben, daß fte ihre Farbe und ihren Glanz ungetrübt zur Schau tru—
gen, daß fle Feinerlei giftige Gigenichaften hatten, wie z. B. das Kupfer
und Blei. —
— BEN SR
tung, daß unedle Metalle aus Born, als Chloride, Ornbe
oder Sulphuride, nur durch die Hülfe des Feuers in die metallifhe Form ge-
bracht werden Eonnten , fchloffen die Menjchen, daß die Metalle auch verſchledene
Zuftände der Reifung durchlaufen müßten, und weil fle fanden, daß Gold und
Silber durch Feuer feine Veränderung weiter erlitten, fo nahmen fie ——
dieſe völlig reife Metalle ſeien.
Die Seltenheit des Goldes, die Leichte Bearbeitbarfeit, Die 1 at Base
der unveränderliche Glanz, machten zumeift ven Wunſch rege, daſſelbe
licht großer Menge zu befigen. Wie immer, nady der Findung einer großen
Neibe von Thatſachen, der Menſch fi bemüht, die wefentlichen Elemente ihres
inneren Seins, die Grundurſachen ihres Dafeind und ein innered Band ber
gegenfeitigen Verbältnifje zu finden, welche ihm einen Einblick in die Wahrheit
geftattet, wie er fich alfo bemüht, den Urgrund der Dinge zu erfinden, ſo auch
war im Altertdume fchon das Beſtreben, Die weientlichen Grundverhältniſſe ber
Erfcheinungswelt, theils auf dem Wege des Erperimentes, theils, und zwar in
der Mehrzahl der Fälle, auf dem Wege der Speculation zu finden,
Wir müfjen zugeftehen, daß unjere Vorfahren ſehr ſcharfſin ige Forſcher
waren, und daß fie auf dem Wege der Speculation das feitftellten, was wir heute
auf dem Wege des Verſuchs erſt bewiefen haben, ta
Hatten bie Forſcher gefunden, daß alle organifchen Weſen den Wandlungen
ihrer Borm und Eigenfchaften unterworfen waren, hatten fie gefunden, daß biefe
Erjcheimungen auch bei der Bearbeitung der Erze zu Metallen flattfand, ſo lag
es jebr nahe, daran zu denken, baß die mit weniger fehönen Eigenſchaften, als das
Gold und Silber, begabten Metalle weniger reif als dieſe feien, und daß fie erft
zur Meife gebracht werben müßten. Beftrebungen, unedle Metalle mit Gold und
Silber zu verbinden, führten theils zu feinem Ergebniffe, theils verlor das Geld
feine guten Eigenfchaften in der Metallmifchung, und das andere Metall’ wurde,
je nad) der Menge des bamit verbundenen Goldes, nur um ein mehr |
beſſer. Die Eigenichaften des Goldes, in der Verbindung mit anderen Metallen
jeine ſchoͤne, gefättigie Farbe zu verlieren, mit Kupfer roth und mit Silber weißlich
zu werden, die Liebhaberei für dieſe gelbe Farbe brachte die Alten bald babin,
daß das Gold nicht im Stande fei, ald greifbares metallifches Gold, andere
Metalle in Gold zu verwandeln, fondern fie nehmen an, daß das irbifch ge=
worbene gelbe Gold erſt verjüngt werben, erftwieber pbilofo-
‚A
E
Magie und Alchemie des Altertpums, 643
phiſches Gold werben müfje, umunreifeMetallein ben Zuftand
ber Reife überzuführen. Dies philofophiiche Gold Eonnte mun entweber
aus dem irbifchen, fertigen, beterminirtem Golde, wie fie es nannten, durch
ben Act der Deftruction, nicht durch den Act der Solution bereitet, oder aber
es follte aus den, Urelementen durch, Zufammenfegung diefer, hergeftellt werben.
Petrus bonus ferrariensis jagt in feiner Margarita novella cap. 10:
„Sleichwie das Gleiche ſich nur mit dem Gleichen vereint zu neuer Zeugung,
jo muß auch das Gold und Silber durch fich ſelbſt gelöft werden. Zur Bildung
des Lapis philosophorum, des Aurum philosophorum oder der Quinta essentia
metallorum iſt eine Solution nicht hinreichend, fondern es muß eine destructio
eintreten, Eine Solutio durch Säure ift feine Löſung, fondern nur eine corrosio.”
Gleichfalld jagt Moriened: Qui aurum seit. (eines; quod non amplius
erit aurum, ille ad maximum arcanum pervenit,
Um nun das Gold oder vielmehr den rechten Goldſaamen aus ſeinen Ges
menten zu bereiten, mußte man auf dem Wege der Speculation dieſe finden, und
um Died zu können, war ed nöthig, auf den Urfprung ber Dinge zurüdzugehen.
Deshalb beginnen die meiften Forſcher mit der Cosmogenie, um feitzuftellen, wie
überhaupt die Welt entjtanden, Dieſer Beftftellung folgt dann die Erforſchung
des Verfahrens, mie die Elemente des Goldfamend zu ER and er
irdiſchen Berunreinigungen zu ſcheiden jeien.
Sehr richtig nehmen die Philoſophen des Alterthums, 8 vor Allem ihr
Promerheus, Hermes Trigmegiftus, der dreimal Große genannt, an, daß bor
bem Erſcheinen der Sinnenwelt das geiftige Bild, Idea, für jedes Geſchaffene vors
banden war, und ein Ausſpruch von ihm jagt: im Unfange, im ewigen
Schweigen, in der Finſterniß überlegte Bott das Wefen aller
Dinge. Diefem Acte des Vorbedenfend der Gottheit folgte bie RER
heißt in den Schriften des Magier:
„Gott, das in fich felbft zurückgezogene Gchriumiß, die monas solitaria,
begann ſich auszudehnen und faßte den Entſchluß zur Schöpfung. Sogleich
erſchien ber Teuchtende Anfang, und der erfte Ausfluß geſchah in’d Herz der Mar
terie. Die Urmaterie aber war Das Waffer und auf dem Waffer war die Fin⸗
ſterniß, und der Geift bewegte jich auf dem Angeſichte des Waflerd.”
Dennach war die Prima materia, der Urftoff alles Gefchaffenen, das W afe
fer, und zwar das reine Waffer der Wolfen, deshalb der Adler genannt, weil
8 von der Erbe durch die Wärme der Sonne in die Höhe gezogen wird. Jedes
Waſſer der Erde enthält mineralifche Beſtandtheile gelöft ; theils Kochſalz, theils
Kalkjalze, theils Eijen, Natron, Magnefia und Kaliſalze, und wird je nad) die—
fen bald Quell», bald Meer=, bald Mineralwafler benannt. Bei ber mangel-
haften Kenntniß dieſes Berhältniffes hielten nun die alten Chemiker dafür, daß
das durch Verbunftung entfernte und Dadurch frei von, mineraliichen Stoffen
gewordene Waffer, das nun beim neuen Verdunften keinen Rückſtand binterlieh,
das geiftige Waffer, umd weil es Urftoff war, auch die prima,materia ſei. Sie
wurde von ihnen die Schlange genannt, weil fie in Bächen und Strömen bie
ihlangenförmigen Windungen zeigt. Da nun aber nad) dem Verdunften,bes
41*
Magie und Alchemie des Alterthums. 645
Es ift nicht zu laͤugnen, daß bie Idee der Weltfeele, aljo die pantheiftifche |
Anficht, ferner die Idee der Gleichheit der Materie und der, Kraft, und endli
die Gleichheit dieſer mit dem Begriffe ber Wet, in den Lehren des Herme
ſich deutlich genug ausfpricht. 0
Wir werden ferner ſehen, wie bieſe er Denker der Anſicht war, daß aus
ber ruhenden, im fich felbft zurückgezogenen Gottheit, Monas , durch Thätigwer-
den, zuerft die Ideen zu allem gefchaffenen Welten und a zu Licht und Fin-
fterniß, zu Waffer und Wärme gebildet und dann endlich zur Wirklichkeit wur⸗
den. Sein Ausſpruch lautet: monas ann gignit et in se ardorem suum
reflectit.
Hermes fagt ferner: Die Erde war anfangs eine zitternde Gallerte, aud
Waſſer, durch den Geift Gottes erwärmt und zufammengeronnen (cum ad hue
terra (remula esset, lucente sole compacta est), "Der Geift, auf dem Waſſer
fchwebend, theilt neben der Erwärmung der Materie auch noch andere heimliche
Influentien mit, fo auch der Sonne und den Sternen, denn Gott ſelbſt ift eine
übernatürliche Sonne ober Feuer. Diefe Tegtere Lehre ſtimmt mit der des Zo—
roaſter überein, der da fagt: Alles iſt von einem Feuer gezeugt, und Gott hält
alle Dinge, nachdem er die Materie zeugte durch bie geheimen Eſſentlen, unter
den ſtets wärmenden Einfluß feiner Wärme und feines Geiſtes.
Waſſer, Wärme umd bie geheimen Einflüffe der Gottheit waren alfo die
Grundbedingungen zur Erſchaffung aller Dinge.
Wenn alfo das reine Waſſer der Wolfen als bie erfte Materie, als der Ars
quell aller Dinge angefprochen wurde, fo war in demfelben nur die Eigenſchaft
des Fluͤſſigſeins gegeben. Als reines Waſſer war es aber der allgemeine, unbe⸗
ſtimmte Urquell der Materie, der erſt durch Beſtimmung (Determinatio) das
wurde, was er werben follte. Um aber beftimmt zu werben, muß das gewöhn-
liche Waffer durch mannigfache hemifche Operationen dazu vollfommen gemacht
werden. Bor allen waren Scheidungen der erbigen Beimifhungen und lange
fortgejegte Einwirkung der Wärme nothwendig. Dies ift Die hermetifche Kunft,
Alle Arbeiten der Aldhemiften, ber wahren Philofophen, wie fie ſich nen-
nen, und der Adepten beziehen fich nicht auf Die Veränderungen ber Geftalt der
Mineralien, fondern auf eine geiflige Umaͤnderung, auf die Reife und —
der Materie. „Die wahren Philoſophen verändern nur das Subjertum, mit
Beibehaltung feiner Natur und Eigenfchaften, während die falichen Weifen, bie
Sophiften, Metallverderber genannt, nur das Subjectum in eine andere hä
kleiden.“
„Dies Subjectum, aus den vier Elementen zufammengefegt und durch bie
chemifchen Proceffe gereift und geläutert, ift der wahre Stein ber Weiſen, die
wahre Essentia quinta metallorum.“
Die wirklichen Metalle find aus dem Subject hervorgegangen, fie find der,
Körper gewordene Metallgeift. Diefer Iegtere befteht aus Mercurius, Waffer
und Dunft, Die wirklichen Metalle und Mineralien fönnte man zwar wieder
in ihre Urform zurückbringen, allein fie dürfen nicht zur erften philoſophiſchen
Materie genommen werden. Die wahre erſte Materie ift ein Dunſt, mit metal
Magie und Alchemie des Alterthums. 647°
ehe Beine de Eat oun he Ye
Schwefel geſchehen. | T 2 do er
Wenn alio die Grundlage aller Metalle dieſelbe iſt, wenn ſie bie prima
materia, das Waſſer der Wolfen, bas von allen erdigen Beimijchungen freie
Waſſer ift, verbunden mit dem lebendigen Schwefel der Erde, nicht dem gemeis
nen, fichtbaren, brennenden Schwefel vergleichbar oder ähnlich, fo ift es Elar,
daß ihre Verſchiedenheit nur in der Farbe und in ihrer Reife beruhen Eönne,
Scyon im Alterthume Fannte man Schwefelmetalle, weldye theils den Glanz
des Goldes, wie z. B. das Doppelt-Schwefeleifen, den fogemannten Schwefelfies,
theils eim erdiges, rothes Anfehen, wie der Zinnober hatten. Sah man nun durch
Erbigen, von dem eriteren, den Schwefel abtreiben und das glanzuolle Mineral zu
einem fehwärzlichen, erdigen Stoffe werden, welcher unter Umftänden geſchmolzenes
metallifches Eifen gab, ober jah man aus dem Zinnober durch Entfernung des
Schwefels, das Duedjilber in Born eines flüffigen Metalld erfcheinen, fo lag es
ſehr nahe, den Schwefel als das fir» oder feftmachende Princip, wie man ihn
nannte, anzufeben, der nur durch eine Berunreinigung den metallifchen Zuftand
ber Metalle verſchleiert. Schwefeleifen und Zinnober find nicht jchmelzbar ; der
Grund lag nach Anficht der alten Ehemifer darin, daß noch zu viel gemeiner
Schwefel mit den Metallen vermifcht war. War dieſer entfernt, fo blieb das
Metall allein in Verbindung mit feinem philoſophiſchen, unfichtbaren Schwefel
zurück. Diefer gemeine Schwefel hinderte das Schmelzen der Metalle, während
der. Tebendige, firmachenbe,. philofophiiche Schwefel demſelben fein Hinderniß
entzegenftellte. Wenn man weiß, (welche Schwierigkeiten cd macht, bevor man
die Wahrheit, wie überall, jo auch in der Chemie findet, jo thut man um fo mehr
Unrecht, die Irrthüner unferer Vorgänger zu belächeln, wenn mar bebenft, mit
wie geringen Hülfsmitteln fie arbeiteten und wie fie faft immer gezwungen was
ren, anftatt des Experiments fich der philofophiichen Speculation zu bedienen.
Man thut um jo mehr Unrecht, wenn man Die Bemühungen ber alten Magier und
Ghemifer als Phantafterei und Hang zur Goldmacherei bezeichnet, da dies Urtheil
nur aus einem mangelhaften Quellenftudium entfpringen kann. Mit Enifchie-
denheit ſprechen ſich alle dieſe Philofophen, wie fie fich nennen, dahin aus, daf
ſie die Bereitung der Quinta essenlia, des fogenannten philoſophiſchen Steins,
nur um deshalb wünfchten, weil’fie darin bie Öreifbarkfeit des Lebens—
prineips, allen Gefhöpfeninnewohnend, erblidten, und zwar
in vollfommenfter, fräftigfter Form, Im Befig deffelben glaubten fie
fich im Stande, unedle, alfo unreife, oder Franke Metalle zu reifen und. gefund
zu machen , die kranken er zur — — * die
alternden Menſchen zu verjüngen.
Als reifes und edelſtes Metall, ale Auefluß — — das
Gold. ı ——— * die Ereugung ——* EEE
Forſchungen. e m nun
Die Löslichkeit * Goldes und Silben in — with im Mittelalter
entdeckt; gleichzeitig aber auch die nothwendiger Weiſe eintreten müffende Erſchei⸗
nung der Wiederausfcheitung dieſer Metalle, aus den daraus gebildeten Salzen
648 MMaturphiloſophie.
durch das Licht oder durch die Erwärmung. Wenn wir noch heute nicht wiſſen
in welcher Weife dieſe Reduction der Gold- oder < —— d wen
des Goldes, oder Silbers als das materiell gewordene Sonnen-⸗ ol
licht, als bie gebundene aftralifche Wärme anfahen, und dieſes
dene Imponderabile ald das dritte Brincipium, und Be
determinirende, wie fie ed nannten , betrachteten, *
Wenn unſere Vorforſcher alſo Metalle en ——
löslichen Salzen, entſtehen ſehen, wenn ſie ferner die Erbe )
Metalle betrachteten und annahmen, daß dieſe aus dem Inneren der Erde durch
ein telluriſch Feuer in die Höhe getrieben und durch die Poren derfelben hin⸗
durchdringend, ſich in feiter Form darſtellten fo Tag es wohl nahe, jeden in Waſ⸗
jer löslichen Beitandtheil der Erde ald einen-folchen zu betrachten, der
Theil der, zur Darftellung des Goldes nöthigen Prineipien enthielt, Das dl
felbft, einmal fertig, war nicht im Stande, andere Metalle in Gold zu verwan⸗
bein, denn es war verirdeter,, feitgewordener Goldjame, der erft Durch einen ums
ländlichen chemifchen Proceß, Durch das Bad der Wiedergeburt, verjüngt und
befruchtend für andere Metalle gemacht werden konnte. 2
Dragegen war bdiefer Goldfame im Stande, beftimmend aufidad aus Dem
Waſſer, aud der prima materia und aus dem lebendigen Schwefel, dem fir ge
worbenen Salze der Erde, oder dem ſogenannten metallifchen Dunft entftandeme
Gemiſch, das man als eine Vereinigung zweier Geſchlechter betrachtete, einzu ⸗
wirfen und die Umwandlung in Gold hervorzubringen, ) vy (EEE
Kannte man weder das verfchiedene Verhalten der Metalle gegen Rengen-
tien, noch das fpecifiiche Gewicht, noch ihr verjchiedened Verhalten gegen bie
Giectricität, fo war es ganz natürlich, daf man die Farbe ald ein Hauptfennzeis
chen der Verjchiedenheit der Metalle betrachtete, Da die Dehnbarkeit, der Klang,
die Schwere, der Glanz und die Schmelzbarkeit, nur ald gemeinfame Attribute
ber Metalle anzujehen waren. Da die Sonne, „der erwärmende Stern
bes Himmels, das Herz des Himmels“, wie die Magier fie nannten,
das belebende Princip, der Geift der Welt und Gottes, mit gelber Farbe leuch⸗
tet, jo war es natürlidy,; daß ſie den gleichfarbigen Glanz des Goldes als greife
bares Licht der Sonne betrachteten umd die Eigenjchaften des Golbed, als im
biejem, feine Qualität beftimmenden Princip, der Quinta essentia rerum, begrün⸗
bet jahen. Und hatten fie in biefer Anficht nicht vollfommen recht ? — Iſt Die
gelbe Farbe vielleicht etwas anderes, als zerlegted Licht? Iſt der Glanz nicht re⸗
fleetirtes, ungebrocyenes Licht? Int alfo Farbe und Glanz nicht etwas, was dem
Golde nicht an ſich angehört, fondern nur ein Product ———
nun jo war die Anſicht der Magier eine vollkommen gerechtfertigt. 7000
Weil dad Queckſilber dem Waſſer aͤhnlich, aber nicht durchfichtig, zwar
flüchtig, aber viel ſchwerer Hüchtig, als Waller, auch jcheinbar Fälter und viel
ſchwerer, oft mit anderen Metallen vermifcht und dann auf der Oberfläche ſich
Magie und Alchemie des Alterthums. 649
oxydirend erſchien, ſo nannten die Magier und Alchemiſten daſſelbe eine unreine,
irdiſch gewordene prima materia, die als ſolche nicht zur Anfertigung des Stei⸗
ned der Weiſen, des Quinta essentia, verwendet werden könne. Der wahre Mer-
curius philosophicus war ihnen das Wafler.
In der Beobachtung, daß dad Queckſilber durch Schwefel fir wurde und
feinen Glanz verlor, fanden fie eine Beftätigung ihrer Annahme, daß der philo⸗
fophiiche Schwefel mit der prima materia, oder dem Waſſer eine metallifche Ver⸗
bindung bilde, deren Beftimmung erft durch das dritte Princip erfolge, und
durch den Goldſamen, oder Durch dad Blut des Löwen zu Gold, wie fie ihn nann⸗
ten, geſchehe. Yür die anderen Metalle hatte man fich noch nicht um Samen
bemüht, da fich diefe in genügender Menge vorfanden ; Dagegen wurde daß Sil«
ber ald durch den fälteren Glanz des Mondes nicht gehörig gezeitigtes Metall,
als ein unreifes Gold betrachtet.
Das waren ungefähr die leitenden Ideen unferer Bormacher, und wenn wir
heute, beſſer belehrt durch Jahrhunderte der Korfchung, aufgeflärt über die Irr⸗
thümer der Borzeit, Die Etrebungen unferer Lehrer nicht genügend würdigen, und
dieſe tiefen Denker und eifrigen Forſcher vielleicht der Schwärmerei und des plane
Iojen Erperimentirend bejchuldigen, fo ift Died ein großed Unrecht, welcheö den
weifen Männern der Vorzeit geſchieht. Man flutire die Bemühungen und An⸗
fichten diefer PHilofophen aus den Ou:llen, und man wird den raftlofen Fleiß
und das jcharfe Denken der Borfämpfer der Wiſſenſchaft bavundern; man wird
“ vielleicht dann zugeftehen, daß wir dem Weſen der Dinge heute noch um nicht®
näher gefommen find, als fie es bereitd waren.
Daß man in früherer Zeit, forfchend nach dem belebenden und beſtimmen⸗
den Princip der Schöpfungen, e8 überall gefucht hat, daß man die Erbe, das
Waſſer, dad Blut, den Sanıen, das Gehirn der Thiere, den phosphorhaltigen
Urin, die Ereremente, die Kier der Vögel, ald die Träger der Quinta essentia
betrachtet und danach geftrebt hat, dieſe daraus abzufcheiden, ift jo natürlich,
daß wir und heute um jo weniger darüber wundern fönnen, ald wir, audgerüftet
mit allen Hülfsmitteln der Chemie und Phyſik, jahrelang vor einzelnen Körpern
und Erjcheinungen ftehen, und den Schleier, welcher ihr Wefen deckt, nicht zu
heben vermögen, und noch heute nicht die Urfache des Lebens kennen.
Mar e8 vielleicht lächerlich, wenn jene Forſcher alle Salze ald weientliches
Material für die Metalle betrachteten? — Haben fie nicht mit richtigem Inftinkt
die Metallicität derjelben berausgefühlt, und ift das Sal nitri nicht das falpeter«
. faure Oryd ded Kalimetalld? — War e8 nicht ganz richtig, wenn fie die Erd»
falze, als das figirende Princip der Metalle betrachteten, die, weil fie Durch Wärme
flüffig werden, gleich dem Waſſer, alfo auch aus Waſſer beftehen follten? —
Wollen wir nicht bedenfen, welche wichtige Rolle der tropfbareflüjfige Zu⸗
ftand der Körper und, ald Mepräfentant defielben, das Wafler auf die Umwand⸗
lung der Metalle in Salze, unter Mitwirkung anderer Stoffe, ausübt.
Wenn nun aber die Salze — und die den Alchemiften befannten waren mei»
ſtens fchwefelfaure, wie die des Eiſens, Kupferd und Zinks — durch Behandlung
mit Kohle in Schwefelmetalle verwandelt wurden und dieſe mit ber Verbreitung
Magie und Alchemie bes Alterthums. 651
biefer ewigen Weltfeele, Bott genannt, mehr zu wiffen, als Andere. Gie geben
vor, mit dieſem Gotte in mehr oder minder näherer Verbindung zu ftehen und
im Stande zu fein, Handlungen zu verrichten, beren Erfolge mit den Raturges
fegen im Widerfpruch ftehen.
Es gab eine Zeit, wo man annahm, daß das Gefchid eines jeden Men-
ſchen bei feiner Geburt beftimmt und bis zu jeinem Lebensende vorgezeichnet fei.
Peftimmt wurde das Geſchick Durch die Stellung der Planeten und Birfterne
und man nannte ein ſolches Stellungs⸗Verhaͤltniß, eine Eonftellation.. Man
hatte beftimmte Bedeutungen für die verfchiebenen Planeten, gleich wie für die
Karten beim Kartenlegen und beide Formen, die Zukunft zu ergründen, find
eigentlich im Wefentlichen ganz gleich. Außerdem gab es noch Schugengel und
Heilige, welche fich der einzelnen Menfchen ſchützend annahmen und Dämonen,
welche verführend und vernichtent auf ſie einwirkten. Man nahm an, daß nicht
felten fich zwifchen diejen über» oder unterirdifchen Welten-Bewohnern, ein
Kampf. um das Geſchick der einzelnen Menfchen, oder einzelner Völker entfpänne.
Schon im trofanifchen Kriege fehen wir, daß die Götter Partei nehmen für und
gegen Trojaner und Griechen, für und gegen die einzelnen ‚Helden jener Zeit.
Drei Wiffenfchaften find aus dem Streben des Menfchen, das Wefen der
Dinge und ihren Urfprung zu erforfchen und die Zufunft zu enträthfeln hervor⸗
gegangen, nämlich: die Magie, die Aftrologie und die Alchemie. Entkleidet
von tem Moftifchen und Unwahren, zurüdgeführt auf die Forſchung durch den
Verſuch und auf die Mathematif, find daraus entftanden: die Phyſik und Phi«
Tofophie, die Sternenfunde und die Chemie.
Unter Magie verftanden die Eingeweihten, „die von dem Schöpfer
geoffenbarte und in Die Natur gepflanzte Weisheit.” Don ihr
fagt Agrippa: fie ift ein Name, dem Evangelium nicht unange-
nehm. Die Alchemie, eigentlih nur die Gehilfin der Magie, befchäftigte ſich
damit, die Quinta essentia, d. 5. das geiftige Element des Goldes greifbar dar⸗
zuftellen,, Damit e8 fich Durch Verirdung zu Metallen, Perlen und Eodelfteinen,
zu der herrlichften Arznei umwandle, welche alle Krankheiten heile und dem
alternden und ſchwachen Menſchen neue Yugend und neue Kraft verleihen
ſollte.“
Hermes, ein Vorgaͤnger oder Zeitgenoſſe von Moſis, vielleicht eine my⸗
thiſche Perſönlichkeit, vielleicht gleichbedeutend mit dem Mercurius der Römer,
dem Hermes der Griechen, der Erfinder vieler Künſte und der Schriftzeichen; der
Sohn der Maja, der angebliche Verfaſſer vieler Schriften, theils Unterſuchungen
über das Weſen Gottes und die Geſchichte der Schöpfung und Forſchungen
über das Weſen der Dinge enthaltend, wird als Vater der Magie und Alchemie
betrachtet. Hermes Trismegiftus wurde von allen feinen Nachfolgern als ein
untrüglicher Lehrer betrachtet und feine, oft in das Dunkel eines Orafelfpruches
gefafften Angaben, wurden ein Gegenftand der Forfchung feiner Schüler und
Anhänger. Rhazes, Geber, Raimund Lul, Richard von England, Arnold de
Pillanora, Bafllius Valentinus, Bernhard von der Mark, Petrus Bonus Fer:
rarienſis, Liberius Benedictus, Paracelſus v. Hohenheim, waren die Ausdeuter
652 Naturphiloſophie. en
ge ee bilofophi e
finden, deshalb fo eifrig, weil man ein, Lehen und Gejundheit gebendes, -
jüngendes Prinzip in demfelben gu haben glaubte, und nur in zweiten Nei
fteht der Wunfch, unedle Metalle zu Gold umzuwandeln. Bis
man auch nirgend Angaben, im welcher Weiſe die Quinta essentia,
tinetur, ber Lapis philosophorum, in Wirflichfeit zu bereiten fei. Alle Schrifte
Heller ftimmen darin überein, daß man das Waffer, ald prima materia, durch den
Schwefel figiren und durch das Blur des Löwen, das im Feuer roſinroth
dem Stoffe erfcheine, aus dem es bereitet werde, mämlich aus Erde, welche
— — re EEE ala lbe Barbı
müfe Laull;
Grit im 16, Sabebunderte if das Beftreßen, Gold zu machen, vorher
ſchender und jet findet man auch genaue Angaben, wie daſſelbe
könne, Zuerſt bei Sendivogius ift ein ganz beftimmtes Verfahren aı
weiches hauptſachlich darin beſteht, das gemeine Gold zu verjüngen, a
irdiſchen Beſchaffenheit zu berauben, damit es als philofophiiches Gold unedle
Metalle tingiren, alfo in Gold umfärben könne; leider ift Died Verfahren nicht
im Stande feinen Zweck zu erfüllen. Im diefer Beit auch finder man eine Vers
miſchung der rein philofophiichen bermetifchen Anftcht, mit chriftlichen Dog⸗
men und theoſophiſcher Schwärmerei, die fogar fo weit geht, in dem Abende
mahle einen chemiſchen Prozeß bildlich Ddargeftellt zu ſehen. Bis ins acht⸗
zehnte Jahrhundert dauerte Dieje Epoche; fie zeichnet ſich aus, —— —
tauchen von Betrügern, die, unwiſſend wie ſie waren, den
gen Anhaͤngern der Magie und Alchemie keine Belehrung geben
dern ſich nur bemühten, unter den Vorwande, Gold in Goldtinktur zu —
deln, ihren Clienten das Gold aus der Taſche lockten, Gegen das letzte Drittel
bes 18, Jahrhundert wurde allındlig von Stahl und Becher die I
Breunftoff der Metalle, dem Phlogiſton, ausgebildet. Sie nahmen an, daß
jedes Metall aus Metallkalk und Phlogifton beftehe und daß, wenn das Phlo—
gilton entfernt, wenn alfo das Metall verbrannt werde, der Metallfalt, |
heutiger Terminologie, das Metalloryd, zurückbleibe, Diefe Anficht war ſehr
überzeugend, nur war fie leider nicht wahr, denn anftatt, daß das
bem Verbrennen des Phlogiſtons hätte leichter werden müffen, wurbe +8 ſchwe⸗
ver, Mit diefer Tegteren Beobachtung durch Lavoifter, begann
liche Erperiment in der Chemie zu berrfchen,
68 ſoll mein Beftreben fein, zu zeigen, welche Anfichten bie Magier über
‚ ben Urfprung ber Dinge, über das Weſen Gottes und über das Entftehen und
Leben der Erde und ihrer Gefchöpfe hatten. Beginnend mit den hermetiſchen
Lehren, als ben tiefften und am meiften verbreiteten, finden ———
Hermes die Magie „als die vom Schöpfer geoffenbarte und in
Natur ſelbſt gepflanzte Weisheit“ erflärte; jie if ihrem Ur—
jprunge nach nichts Anderes, als die Urjadhe ber Wirfung
r
des, in der Materie arbeitenden Geifles Gottes, ber Die An—
faͤnge durd) die Vereinigung zufammenjeht und wieder auf
Löft in feine Anfänge. Die Magie ift ewig, fie ift **
Erſchaffung dageweſene göttliche Weisheit." 700005
„Die Erkenntniß der Magie war keine —————
fang derſelben, ſondern fie war vor ———
nur geoffenbart und erfamnt.‘ u er rin Mu
Es iſt wohl feinem Zweifel unterworfen, — unter Magie die PR
von dem Wefen Gottes, dem Urfprung und dem Wejen der Schöpfungen ver=
fand, daß fie aljo gleichbedeutend ift, mit den heutigen Begriffe der jogenann-
ten Natur-Philojophie, der Naturlehre und Chemie, Sie iſt alſo eigentlich die
Lehre von der Wahrheit und dem Wefen der Dinge. Die Wahrheit ift aber
die Gleichheit der Idee, mit dem Gegenftande derfelben, Die
Magie ift alfo die, vom Schöpfer geoffenbarte und in die Natur felbftgepflanzte
Weisheit, fie ift die Lehre von dem Weſen aller Dinge, fie ift das Wefen der
Dinge feldft. Demnach konnte fie auch nicht erfunden, ſondern nur gefuns
den, nicht von ben Menfchen gewiffermaßen gefchaffen, fondern nur ala Vor
handenes, entdedt werden. Alle Gefege der Gravitation, alle Geſetze der Phyſik,
Chemie und Mathematik, fie find ewig, denm nur nach ibnen geſchieht Alles in
ber Welt, fie mußten daher vor ber Schöpfung der Welt vorhanden fein, weil
ohne. fie Die Welt als foldhe, alſo als: — — *
fonnte, Wer Na w
Die Magie lehet „im Anfange, im — Schweigen, in be
ewigen Binfterniß, überlegte Gott das; Weſen aller Dinge.”
Es möchte faſt vermefjen erjcheinen, dieſe Behauptung aufzuftellen, allein
die Magie nahm an, daß auch in Gott etwas Vergleichbares jei, ein Analogon
von demjenigen, wovon der Menſch feine gewöhnlichen Erkenntniſſe ſchöpft, daß
aljo die Annahme, Gott habe fo gut wie der Menſch, das Ebenbild ‚Gottes, vor
der Erichaffung, oder Anfertigung eines Weſens oder Dinges, Das geiftige Bild
vorbedacht, vollfommen gerechtfertigt jet. Bis hierber jyeint.es, als ob bie
Magie einen perſönlichen, von der Welt getrennten, vor der Welt vorhandenen,
diefelbe erjchaffenden Geiſt, Gott genannt, annehme. Spaͤter wird ſich zeigen,
daß die Magie des Alterthums den Pantheismus vertrat, während das Minel—
alter und die Zeit nach der Reformation, den perfönlichen Gott, den Ehriftus und
ben heiligen Geift ber hriftlichen Dogmenlehre, als eine Hauptftüge für die
Wahrheit der Magie anführten, denn fie ſahen in der Trimität der Glaubens—
Ichre ein Analogon für die Trinität des Weſens der Metalle. Unter diefe Ub-
irrung frömmelnder Alchemiften, welche deshalb nicht mehr den Namen de
Magier verdienen, ſchweige ich vorläufig.
Die Magie lehrt über die Schöpfung jelbft: „ |
„Gott, das in. Pa he u
das aleph tenebrosum ber Kabbaliften, begann fih auszudehnen und
faßte den Entfihluß a Sogleich erfchien das aleph lueidum,
‚der leuchtende Anfang, und der erfte Ausfluß des Geiftes geſchah ins Gerz
Magie und Alchemie des Alterthums. 655
bens und der Bewegung ift, fo bat fih Gott in der Wärme mani—
feftirt und man könnte daher fagen, da Gott aus fich ſelbſt heraus
ihuf, mithin alles Seiende ein Theil der Gotheit iſt, je ift
die Welt und Gott völlig stein und die Wärme ein =
attribut ber Öottheit, |
Wir werden demnach das: —— ————
und Leben erhaltende, Leben ſeiende, aber Unwägbare und Unfperrbare, das
velative Gewicht der, Stoffe verändernde, nur duch Ausdehnung meß—
und erkennbare Etwas, die fogenannte Wärme, in intenfiver Form Feuer
genannt, als eine der wefentlichiten —— der Beh —
müflen.
. Licht und Wärme find aber. * ab daſſelbe Prineip, nur in der Der
wegungsform verſchieden, deshalb ohne Wärme, als legte Urfache ber Aether⸗
wellen, fein Licht. Wo die Wärme ohne Licht erſcheint, iſt es freigemordeng
Wärme, Urwärme, dem Dajeienden uranfänglich eingepflanzt und in ihm blei—
bend, fein Sein, feine Form, fein Leben bedingend. Die Reibungs-, Con⸗
taet⸗ und Magneteleetrieitat ſind Bewegungsäußerungen des Stoffe; ein electri-
ſcher Strom macht ein Eiſen magnetifch und ein Magnet gibt einen electriſchen
Strom; ber violette oder blaue Lichtſtrahl macht eine aufgehängte Stahlnadel
magnetiſch, das höchſte irdiſche Licht iſt im electriſchen Funken und der electrijche
Bunfe leuchtet, ohne daß Körper in ihm zum Meifglühen fünen: & jehen
wir Licht, Wärme und Electricum als Bewegungsformen ded Stoffes und den⸗
noch nur als die Ergebniſſe einer Bewegungsurſache, eines Prineips auf⸗
treten.
Wir wiſſen mit Beftinmtheit, dap der Aagregatjuftand, alſo die allgemeine
Form des Dafeienden, abhängt von der gebundenen, d. he nicht durch Inftrus
mente meßbaren Wärme, is, wenn es ſchmilzt, binder + 80° Wirne, zeigt
aber nur Die Temperatur des fehmelzenden Eiſes, d. i. — 0°, von da ab
nimmt das Waſſer SO’ R. auf, welche durdy ein Inftrument, durch Ausdehnung
meßbar find, gleichzeitig nimmt das Waffer aber noch 450° Wärme auf, welche
nicht mefbar, aber in der Form der Ausdehnung vorhanden find, und bildet das
mit Wafferdbampf, der im Augenblid des Entftchens mır 80° * aber einen
1700mal größeren Raum einnimmt, wie Das Waſſer. Ir
Dieſe Erſcheinung der Nichteinwirfung der gebundenen Birne auf den
Wirmenefjer Hat zu vielen, ſehr gezwungenen Hypotheſen Anlap gegeben.
It die Wärme gleich Ausdehnung, gleich Molecularabftoßung, gleich Re—
pulfiofraft, hat jedes Atom einer Subftanz eine Wärmeatmofphäre von einer
beftimmten Größe und ift die Dafeindform der Körper abhängig vom dieſer ge—
bundenen Wärme, fo ift es ganz natürlich, daß die Wärmemenge, welche bie
Dafeinsform der Körper oder des Stoffes bedingt, nicht gemeffen werden fann,
jondern nur die Vermehrung der Wärme, weldje der Körper bi zum Eintritt
der nächftfolgenden Dajeindform erleidet. Der Eintritt biefes-Zuftandes ſelbſt
erfordert wiederum eine beträchtlichere Menge von Wärme, welche gleichfalls nicht
meßbar ift, fondern auf dem Wege der Schlußfolge und eines; mittelbaren
Wir jehen hier den Anflang an die hriftliche Trinitätslehre, Die eigentlich
völlig übereinftimmend ift mit den Lehren der Brahmanen, welche auch die Fleiſch⸗
werdung des Brahma in * Perfon des —— ——
einer Gottheit, lehren. A 7 EHE STE ZZ —⸗
2) Ich Bin jeneb Lit, I in Geif, dein Got, Alte als die feuchte Natur;
welche aus der Finſterniß auftauchte, fpricht Gott. ro TEE 7
3) Nachdem das chaotiſche Waller von dem Geifte Gottes befruchtet und
durchwärmt war, fchied ſich das Feuchte von dem Trodenen. Und Gott ſah in
jeinem ewigen Bilde, Idee, alles Dasjenige vorher, wovon fein wefentliches Ab⸗
bild vorhanden war. "Die Güte und Schönheit des en *
dad Andere zu ſchaffen. alle ee en
Wenn man fieht, daß jedes. Geſchopf nach SeRimimten ——
bet iſt und ſich im gleicher Weiſe fortpflanzt, wenn nicht allein die Äußere Geſtalt,
die Farbe, die Gewohnheiten, Die anatomiſchen und phyſiologiſchen Eigenthüm—
lichkeiten und endlich auch die hemifchen, ſtets biejelben find, wenn man findet, ,
wie die gleichen anorganiſchen Körper, wo fie ſich auch finden mögen, gleich zu—
ſammengeſetzt find, und zwar mit mathematischer Genanigfeit gleich, fo fommt
man zu dem unabweisbaren Schluffe, daß eine Geſetzmäßigkeit im Weltall
vorhanden ift, dergemäß alles Gefchaffene gebildet ift und fich fortbilde.
Findet man ferner, daß die organifchen Körper nur aus einer geringen Ans
zahl von Stoffen beftehen, daf Kohlenftoff, Sauerſtoſſ, Sticſtoff und Waſſerſtoff
die Beſtandtheile derfelbtn ausmachen, daß Kalk, Koblenfiure und Phosphor:
jäure das innere, oder äußere Knochengerüſt der Thiere bilden, daß das Blut noch
Gifen, das Gehirn und die flüfjigen Beſtandtheile des Körpers noch Phosphor
und Schwefel, und daß alle thierifchen Flüſſigkeiten noch Kochfalz enthalten, daß
das Blut und Fett bei allen Thieren gleich zuſammengeſetzt ift, und findet man
trog Diejer Nebereinftimmung und Einheit, eime fo unendliche Mannigfaltigkeit,
jo fommt man wieder zu dem unabweisbaren Schluffe, daß nicht Die Veftand-
theile der organischen Gefchöpfe ihre Verfchiedenheit —— 2 ——
dieſe ein anderes Verhaͤltniß maaßgebend ſſe. J
Ein Beiſpiel wird die Wahrheit dieſes Sau beqt far: ER unterſu⸗
chen wir Gier von Adlern, Gaͤnſen, Rachtigallen und Eulen, fo finden wir gleiche
anatomifche und chemifche Verhäftniffe. Segen wir ſie der Wärme eined Brüt-
ofend aus, damit nicht gefagt werden Eönne, die Brutwärne der Mutter fei vom
Einfluß gewefen , fo werden aus rin und bemfelben Materiale doch vier Geſchöpfe
mit ganz verfebiedenen Formen und ORHOAE gene welche „> —
Erzeugern auf's Genaueſte gleichen. |
In e8 num aber nothwendig, daß für jeden Geſchaffene ein geiſtines Bin,
eine Idee vorber vorhanden war, bemgemäß der Stoff angewiefen wurde, fich zu
formen und zu bewegen, aljo zu leben, fo folgt Ühraus, daß dieſe Idee nur von
dem Urgeifte ausgehen konnte, daß fie alfo in Gott ſelbſt, abjolut, daß fie war,
und baf fie fein wird, wenn auch — nen; agree en
beftebt. Wenn Hermes Trismegiſtus alfo jagt: m Ir
* Magie iſt ewig, ſie iſt die, vor der Erſchaffung Bosco gie
—— $ —
heute — —
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Forſchung iſt. Mrd ea su — J
mn Ba des Wortes er wur pc
ee iohne Seft un ling, dm ak 1, denn ee * eh
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Eleetrieitãt. —— Karten —
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"ev te au rg en
Ehenſcaſin An in p — **
STEEL
— —*
Magie und Alchemie des Alterthums, 659
im freien Zuftande beobachtet und dann treten fie in der Form polarer Gegen»
füge auf, mit bem Bejtreben nach Ausgleichung. tr MITTE rl
Man hat zwar biefe Gegenfäge als Wärme und Kälte, Licht und Finfter-
niß, pofltive und negative Glecteicität, nord= und fübpolaren Magnetismus an⸗
geiprochen, allein was können diefeBenennungen zur Erklärung der Urfachen und
bed Weſens biefer Erfcheinungen nügen? Sehen wir nicht eine —
andere hervorrufen und fie ſich gegenfeitig vertreten? — un
Hier haben wir die Gottheit zu ſuchen, hier im be hei ie
Einheit zu finden, hier im den Leben gebenden und Leben erhaltenden, bas
Weltall durchbebenden Strömungen, —— und den Urſprung der Ma⸗
terie zu ermitteln.
Sehr bezeichnend nannten die Magier deö Alterhums 8. Dionpfus,
Arcopagita, die Oottheit: die Heimlichfeit Gottes, arcanum divinitatis, occultas
illud substantiale; andere nannten Gott : das in ſich ſelbſt zurüctgegogene Geheim-
nif, Die Monas solitaria, welche durch bie Ausdehnung ein Anderes, nämlich die
Welt ſchuf. Es ift noch oft ein Streit, ob bie Kraft etwas von der Materie
Verſchiedenes fei; denn es gibt Forſcher, weldye beide als getrennt denken, Wenn
man analytiſch zu Werke geht und für den Stoff die Chemie, für die Kräfte da-
gegen die Phyſik ald Beweismittel annimmt, jo könnte man an das getrennte Da-
fein beider glauben, _Dieje Annahme ift aber unrichtig, denn der von der
Chemie dargelegte elementare Stoff eeifist nur durch jeine ern * iſt
von denſelben untrennbar.
Dan kennt alfo den Stoff nur durch feine Gigenfehaften, und nach geiliger
Abziehung diefer, oder nad) der chemischen Veränterung, d, h. alfo durch Hinzu-
fügen neuer Eigenschaften, durch neue Stoffe, kann man die Qualität tes Stof-
fes entweder völlig verfchwinden, oder vollftändig verändern laſſen.
Nehmen wir ein Beifpiel: Gold hat eine gelbe Farbe, fügen wir Kupfer
binzu, jo wird ed roth, mit Silber wird es blaßgelb; löſen wir «8 in Golb-
ſcheidewaſſer, jo bildet «8 nach dem Eintrodnen ein gelbbraunes Salz, mit Zinn-
falz und Glas bildet e8 das Rubinglas. Es folgt hieraus, daß die gelbe Barbe
nicht Attribut des Goldes ift, ſondern daß das Gold das Licht mit gelber Farbe
zurückwirft. Aber ſelbſt als Metall färbt es das durchgehende Licht nicht gelb,
fontern violett. Da aber ein und derſelbe Lichtſtrahl durch ein und daſſelbe
Metall verjchieden verändert wird, fo folgt daraus, daf nicht das Gold bie gelbe
Farbe ald Eigenthum, fonbern ald Lehn hat. Daraus folgt:
bie gelbe Farbe, als zerlegtes Licht, ift nichts als Licht, und gehört nicht
dem Golde eigenthümlich, denn mit demfelben Nechte könnte man fagen, bie vio—
Iette Barbe des durchgehenden Lichtftrahls, ober bie rothe des Mubinglafes, in
welchem das Gold —— und im — befindet, ſind
Attribut des Goldes.
Wir gehen weiter: das Golb hat — A Slanj if das Er⸗
gebniß der Glaͤtte der Oberfläche eines Körpers und entſteht dadurch, daß nur
eine geringe Verſchluckung von Licht und Wärmeſtrahlen fiattfindet amd der
größte Theil der, auf die glatte Oberfläche fallenden: ln ee
Magie und Alchemie des Alterthums.
ten des metalliſchen Goldes durch das Hinzutreten einer neuen Qualität v
verfchwindend gemacht, fogfeich aber nach Befeitigung dieſer Qualität wieder,
Gold erſcheinen kann, will ich hier die Verhaͤltniſſe des Geldes machte
Cyan berüdfichtigen. Wird metallifches Gold mit Chlor oder Cyan verbunden,
jo verliert es alle Eigenſchaften des Goldes und wird in Waffer mit Leichtigkeit:
löslich, Sept man das Chlorgold dem Lichte aus, oder fügt man zur Löſung
deſſelben etwas Eifenvitriol, fo ſcheidet fich wieder das Gold in Metallform ab,
Löoͤſen wir Golb in Ehlor, fo wird ein eleetrifcher Strom, alfo freies Elee—
tricum, beobachtet, und an Stelle diefer aus dem Golde entfernten Bewegung
tritt Chlor mit den übrig gebliebenen Eigenschaften des Goldes in Verbindung
und bildet nun einen dem Golde völlig unähnlichen Stoff. Chlorgold ift alfo
vielleicht: Gold ohne Electricum mit Chlor. Wenn man mittelft eines Kupfer-
oder Silber», oder Platinftreifens Electricum in die — — leitet, he
wird Chlor frei und metallifches Gold erfcheint. ,
Man fleht alfo, wie das Gold ald metallifcher Stoff nichts anderes ift, ats
das Product von immateriellen Eigenſchaften, wie es aufhört, Gold zu fein, fo
wie dad Zufammenwirken dieſer Gigenfchaften geftört wird, und wie es Wieder
als Gold erfcheint, fobald diefe Störung entfernt wird,
Gehen wir num auf den Zweck diefer Beweisführung zurüd, fo ift er in
der Abjicht gefchehen, um zu beweifen, daß die Gottheit, jobald fie Kraft oder
ein Aggregat von Kräften war, nichts anderes nöthig hatte, ald dieſe wirfen
zu laffen, um die Materie zu fchaffen, und daß die Vereinigung biejer Kräfte zu
Stoffen nach beftimmten vorbedachten Gefegen erfolgen mußte, daß aber, wenn
dies der Ball ift, kein biäher als elementar angenommener Stoff wirklich ein eins
facher, elementarer, fondern ein zufammtengefegter ift, und daß, wenn e8 gelänge,
die Geſetze diefer Zufammenfegung zu finden, es auch nicht in der Unmöglichkeit
fiegt, fogenannte Elemente, als; Kohle, Chlor, Gold, Silber, Eifen ı. au
machen, —
Die Magie lehrt: Nachdem bie Gottheit, die in ſich ſelbſt ————
gene Monade, ſich auszudehnen begonnen hatte, faßte ſie den Entſchluß zur
Schöpfung, und ſogleich erſchienen als erſter Ausfluß des Geiſtes der leuch—
tende Anfang, der Gegenſatz ber Ruhe und ber Finſterniß. Der
Ausdehnung folgt der nothwendige Gegenfag, die Zufammenziehung, und wenn
wir dieſe beiden Thätigkeiten als Urthätigfeiten bei der Bildung der Materie
betrachten muͤſſen, da ohne diefe Fein Körper entftehen und beftehen Fan, fo find
diefe als Ergebnif der polaren Gegenfäge anzujehen. Haben wir aber ſchon
früher geſehen, daß Wärme, Ausdehnung und Repulfton völlig gleich und iden-
tifch find, daß die Zufammenziehung aber wieder nichts anderes ift und fein
kann, ald verminderte Ausdehnung, verminderte Wärme, denn dieſe wird dabei
frei und meßbar, verminderte Nepulfton, aber doch immer noch Wärme ift, fo
folgt, daß die polare Spannung nicht das Ergebniß zweier Kräfte ift, ſondern
nur ein Qualitaͤtsverhaͤltniß ein und deffelben Agens. Wer könnte behaupten,
daß Wärme und Kälte Gegenfäge find? Müßte man zu biefer Behauptung nicht
die Kälte fennen? — Und wer hätte jemals bie Kälte beobachten können? —
661
Magie und Alchemie des Alterthums. 663
„Die Erde iſt in ihrer erften Natur verändert, denn wenngleich mit dem
Waſſer verbunden (Chaos), fo it fie doch Feine Jungfrau mehr, da der Geift
Gottes auf dem Waſſer, der anfänglich — ka —
und ſchwͤngerte gen
Aus diefer Bejchattung entfprang: > > ‘ak
1) die fpiritunliche Frucht, Dt fe, in mi dem Br Gehh ahe
der Adler (Wafferdampf), { ei tun le nnd az an
2) die Erde, welche gleich ift dem Löwen oder König.“ Nun Ka
„Weil die Erde aber fchwer ift, deshalb fucht fie ihr Gentrun.” Als nt:
gegengeſetzt diefer Erde und diefem Waſſer wird betrachtet ‚‚Calor solis oder na-
turalis, ald natürliche Wärme aller natürlichen Dinge, ein Subjectum des ober
fien Himmels und deffen Influrus, nämlich der Seelen, 97 nn,
War aljo in dem Waſſer bie prima materia der Metalle gefunden, da ja
auch dieſe theils durch Wärme flüffig, ja felbft flüchtig tote das Waffer werden,
war ferner das feftmachende Princip in der feſtbleibenden Erde enthalten, jo war
es num Aufgabe der Magie und Chemie, aus der irdiſch gewordenen Erde das
für die Bildung der Metalle wirffame, der „kothigen Erde“ beigemiſchte feine
Salz auszuziehen und mit dem Adler, dem reinen Waſſer der Wolfen, zu ver»
binden. ‘Mit der Bindung diefer beiden Elemente der Metalle war aber noch
nicht genug gefchehen, es mußte nun Das determinirende Princip,, Die Seele des
Ganzen, gefunden, dargeſtellt und mit den beiden erfteren vereint werden; erſt
mit dieſer Bereinigung hatte man ben Stein ber Wellen, das große Geheimniß,
die wahre Quinta essentia, den Lapis philosophorum entdedt, und war im Stande,
mitteljt derfelben „‚Brojectionen’‘ zu machen, d. h. * —— —
zuwandeln, und zwar in großen Maſſen.
Es heißt: ‚Als britted Principium iſt N der Sri Both; der
auf dem Waſſer ſchwebt. Dies it die Weltjeele, deſſen Corpus der Glanz des
Goldes ift (Sonnenfchein). Bei der Schöpfung ift nun der Seit Gottes nicht
von Waffer und Erde gejchieden, fondern zwei find in Einem geblieben, alſo der
Geift auf und bei dem Waffen, Be iſt dad — ———
ſuchen. u A
„Bei der Bereitung des Goldes / bei diefer mitroto9mifggen und philoſo⸗
pbiichen Greation, fann man den Glanz des Goldes, das dritte Prineipium, Die
ichöne rothe Goldfarbe für fich felbft nicht haben, fle verliert und verbirgt
fich, wenn man aus Ginem zwei macht, aljo die philofophliche Erbe (Salze) -
philoſophiſchen Waſſer (deftillirtes Waſſer, Negen) trennt.“
Theophraftus jagt: „Weil Die Seele im Blute iſt und das Blut im Kir
per, der Glanz bes Goldes aber der Seele, dem Gifte Gottes, gleich iſt, alſo
muß berjelbe bei dem Körper (Erde) nad) der Trennung von dem Waſſer blei-
ben. Deshalb it der Glanz des Goldes das Blut des Löwen.“ Dies Blut
des Löwen zu gewinnen und baraus die Geele zu fcheiden, das war das höchfte
Biel der Alchemiften. Man firht aus den Mittheilungen, daß es ſich nicht da=
rum handelte, durch Vermiſchung von Metallen oder chemijche Behandlung der⸗
felben das Gold zu erzeugen, fondern man ſtrebte danach, das Prineip zu finden
Magie u
Gottes (Beuer, Sonnenwärme) bie Erde daraus abſchied, jo find, da noch Waf-
fer in der Erde enthalten, alle dieſe drei Elemente zur Goldtinetur im der Erde
enthalten, und im Beflge der Kunft ift man im Stante, aus jedem Etücd Erde
die Quinta essenlia zu bereiten. u Te 75 IT EEE 2 ze et
Im Nucleus sophieus, von Liberus Benedietus gefchrieben, heißt ed:
— —— Anleitung Theophraſti, was dur mit
se hifchen Materie fürnchmer ‚ nämlich) daß du zwei Ding,
‚jo darin verfchloffen „> alß:erffich:ben: ‚Aoler (Wafler)'oderden Rereurium;'und
dann dasGorpus, das Salz, welches als ein Balsamum perpetuum auf das dritte
Stück, ald die geiftliche Seele, den Glanz des Goldes, ober den rechten Gold»
jamen in ihm hat, ausziehen follft, nach dem Rath, welcher bei dem Dvidio die
Medea dem alten Theſeo (jo gerne wieder jung gewefen wäre) gegeben hat, daß
er nämlich feine Glieder durch die Anatomiam von einander theilen und nadı=
mals wiederum biefelben in einem warmen Bad vereinigen laſſen follte, fo würde
er jünger werden in vielen Kräften. Wie du mım aber folche Theoriam follit
ins Werf jegen und was der modus operationis fei, Dadurch, daß man aus einem
Zwei und aus Zweien drei erlangen follte, jo kompt Theophraſtus nun auf die
Prarids. Denn eines verftändigen Künſtlers Ampt tft, ein Ding EUR
feine Urfachen erforjchen, bevor er zu bem Werk felber fchreitet.
„Run mußt du aber wiffen, daß es ebem eins iſt, bu Sraucfkianfängtich
ein Ding, oder zwei Ding, denn man findet unfere Materiam wohl am einem
Stüf, fo findet man fie auch am zweien Stüden unterſchiedlich, daß die Natur
ſchon aus Einem Zwri gemacht bat, wie foldye duplieitatem subjecti nostri, Fer-
rariensis ſehr fein bejchreibet und fpricht: das erfte und urfprüngliche Element,
von welchem alle Elemente herruͤhren, iſt die Beuchtigfeit, oder das Waffer, oder
nad) anderer Meinung die Erde, Es frei nun, welches wolle, fo iſts eben das.
In der Subftanz ift von Anbeginm der Welt nur ein einiges Element. Welches
ift die erfte Matery; durch deſſelbigen Beriheifung find vier Elemente geworben
durch die Wiederfegung der vier Eigenſchaften, welche in demfelbigen verbors
gen waren. Nimmt du eines allein (Erde), jo mußt du erft zwei daraus machen,
nimmft du aber zwei, ald Erd und Waffer, jo bift du der Mühe überhoben, zwei
daraus zu machen, und darf dann nur das dritte hersorbringen, welches in dem
einen verborgen ift, nämlich das Blut des Löwen (Salz). Dies ift die Braut,
darum man tanzet, nämlich der Samen des Goldes, der, = —— zu ge⸗
baͤren, von Gott und der Natur verordnet, Far 7’
Dieweil er aber zwtief in bie —— und mit
deren Leberflüfjigfeiten zu ſehr gebunden, kann er fein Ampt nicht ver=
richten, es jei denn er durch einen vulkaniſchen Schmiedegefellen (Beuer) von
allen Schlöffern feines Gefengnuffes und allen Banden (erdige Beimifchungen)
damit ihn die Natur gebunden, frei erledigt. Diefer Urfachen halben haben die
alten Bbilofopbi und Theophraftus ala ein Neuer, alle Müh überftanden, damit
fte Durch das Niederfahren uneres himmliſchen Adlers (Waſſer) zur Höllen (In—
neres der Erde) dieſe arme gefangene Seel (Blut des Löwen oder Salz der Erbe
aus der ewigen Finfternuß erlöfen möchten, Alſo haben die Alten dieje beiden
#
Magie und Alchemie des Alterthums.
unter nz nenne nn
jagen, daß fie nicht Deutlier Daräben fyecigen Härfem antita eb einsehen
Sache fei, mach den gegebenen Mittheilungen weiter zu forfchen. — Selbſt Dies
jenigen, welche in ihren Offenbarungen noch einen Schritt weiter gehen, bewegen
fi) auch nur in ungewiffen Angaben, Bernhard von der Mark (1490) jagt:
„Nachdem nun bie erfte Arbeit vollendet, bat man das Del und das Waffer noch
bejonders zu reinigen, alle Schlöffer (Erde) fo noch darin’ find zu entfernen
und bie freie Zeugung zu befördern. Dies ift das erſte Werk, die Reductio
der zerftreuten erften und — ———— — — — — —⏑—⏑—⏑⏑⏑———
Regressio in matris uterum. m eure 4
Es werden —— —— — —
bie drei natürlichen Principien: der spirilus animatus Mereuru (Waffer) et va-
por sulphureus hama nr Aare 2. urn
and Licht gebracht. ‘' 1a wa! DEEOTE
Es — — ——— einigten
Adler oder philofophifchen Mercurius (Waffer) und dasirotbe Blut bed-Röisen
(Goltiame) in eins zu machen, alio bie Conjumetio solis et lunae, Adami et Evae,
des Himmels und der Erde, die Vermählung beider zu bewirken.“ Calid jagt:
dies farm nur durch Die Bereinigung ihrer Gentrorum gejchehen; gegenfägliche
Dinge, deren Centra nicht aleich«find, können ſich nicht vereinen, es ſei denn,
daß die Natur derſelben vorher gleichfam verkehret und von Gott verändert jet.
Darum, wer die Seel in Leib und den Leib in Seel verwandeln und die fubtilen
Geiſter — der ng tingiren“, bas beißt:
in Golb verwanbein.y = ur im Til ET a
Theophraſtus, ein — Gpeniter und feibhnandiger Geiſt, ſond Kat
heraus, daß nicht jede Erde Die drei Elemente zugleich, ja auch außer dem Waſ⸗
fer, nichts vom den anderen Elementem enthalten.) Er gab daber den Rath, fich
die Erde, welche den Löwen enthielt, in Ungarn, die, welche den Adler in ſich
ſchlöſſe, in Iſtrien zu ſuchen. Es kann nicht bezweifelt werden, daf er die Erde,
welche das Quedfilber enthält, aljo ben Zinnober und das Lebererz, welches in
Iſtrien gefunden wird, hiermit gemeint hat. Dem —
des Chriſtophorus Parifienfis, der da jagt? 0000
„Wenn du auszeuchſt von. der Statt Venedig, feifahrenfo-weitrauf die
rechte Hand, bis du findeft ein fchön ebenes Land; Da ift unfer Mercurius, jet
er nun gleich in forma liquida (alfo gebiegen) oder coagulata (Schwefelquedjil-
ber), fo ift er an obgemeldeten Orten feiner ſchönen rothen Farbe halber am
beften, ob mand wohl in Tentfchlandt und an anderen Orten auch findet,” Daß
m gleichfalls Iftrien gemeint ift, —r ie bevor. 70m
Es heißt ferner: I TE . ll .z |
Magie und Alchemie des Alterthums. 669
teig dem ganzen Teig überwinde und wie ausıdiefem Zeig wieder Sauerteig ers
zeug: und wieder en
* — ———— qu Fönnen; der Art, daß wenn: 1-&hel
des philoſophiſchen Steins ober ber Tinctur (Bärbemittel) 100 Theile Gold
—* hatte, ſo konnte man wieder mit einem Theile dieſes Goldes 100
— in Goß verwandeln, und fofort. Es heißt im Nucleus
sophicus:! hin or“ EEE Er Tree NZ Ze Tr ET TI
— Xehg) verwanbelkumieb Dura badjenig;, fo ihrer Natur ift
und welches aus ihnen, nicht aber aus wibenwertigen Dingen herkommen ift.
Denn wie der Sauerteyg feinen Urjprung von dem Teyg hat und den Teyg in
ber Metallen gemacht und verwandelt im ſich alle Metallen, : Und weil bie Mer
tallen aus dein Mercurio und Sulphure generirt find, brumb muß died fermen-
tum auch aus demfelben generirt fein, Und weil Dies ferment bie Borm bes
Goldes ift, auch aus der Natur und Digeftion des Goldes, hi 03
auch die Metallen zur Natur und Digeftion bringen — —
Wenn durch den Act der Faͤulniß aus: Mehl und Waffer- und unter-Ein-
fluß gelinder Wärme, die Bildung des Gaͤhrungsmittels, alſo eines in Molecu⸗
larbewegung begriffenen Stoffes, hervorgeht, und wenn diefer bewegte Stoff im
Stande ift, große Mengen eines, in der Ruhe begriffenen ähnlichen oder gleichen Stofr
feö in benfelben Kreis der Bewegung hineinzuziehen, fo iſt in dieſem Vorgange
ein großes, durchgreifendes Naturgefeg wirffam, ein Gefeg ‚ welches die neuere
Chemie und Phyſik erſt mit Praͤciſion ausgefprochen hat. Wenn num auch die
Umfegung der zufammengefegten organijchen Subſtanzen eine leichte iſt, und
wenn es für jet noch unmöglich erfcheint, die als einfach angenommenen anore
ganiſchen Stoffe in gleicher Weife umzuwandeln, fo liegt darin wicht bie Unmög-
lichkeit für immer, Hier erinnere ich nur am das Ozon, eine Dafeinäform des
Sauerftoffs, welche vorzugsweife oder vielleicht allein im Stande iſt, chemiſche
Verbindungen einzugeben, und deren Unterfchieb vom gewöhnlichen Sauerftoff
nur in feinem electrifchen Verhalten berubt. Man glaubt fich berechtigt, daß
auch der gewöhnliche Sauerftoff eine Verbindung von + electrifchen und — elee⸗
triſchen Sauerftoff it. Iſt Dies —— ge u
Sauerftoffs in Frage geftellt. ) re n
| Beintiennuftz Üncfahren nike einem web
gang der Gaͤhrung und ber Vervielfältigung: des Gaͤhrungsmittels aus dem, in
Gaͤhrung verjegten Körper ſelbſt beobachtet hatten, fo war es gewiß verzeiblich,
ein Gleiches bei ——— Umwandlung der Metalle ausführen zu
wollen, u, . AT ht un Hr N
Bor allen — die Warne durch welche das Reifen der Metalle bewirkt
werben ſollte. Auch die Umwandlung ber weniger koſtbaren Steine in edle Nus
binen war bie Abjicht der Alchemiſten; es beißt im Nucleus sophicus : Unſer
Stein (Lapis philosophorum) muß alle ungeitige Ebdelftein zeitigen und in Die
höchſte rubinifche Vollkommenheit bringen. Ich, weil ich weiß, Daß ſolche Ga-
670 MNaturphiloſophie..
weifien"Abler (Wafler) aus Kleinen Perlen große zu machen, serien
lich alle philoſophiſche Arbeit verrichten durch die modos operandi, al
sublimiren oder destilliren, reverberiren
oder putreficiren,
— —— coaguliren oder figiren, und dann ſermentiren.“ ——
„Dies fehnd die Staffel, dadurch du zur Weisheit ee
un zu deſſen rechten Hand erfinden wirft, —
und den Baum des Lebens, zur linken Hand aber iſt
und dad Ende dieſer Kunſt ift langes, geſundes — und ehrliche Untere
haltung deffen auf dieſem Jammerthal.“ —⏑—⏑——
So mag nun. ber Gelußfap- aus bem Nuclens'sophicus, den Beweis geben,
welcher Art die Beſtrebungen ber wahren Magier und Alchemiſten waren, und
wie das Goldmachen ſelbſt erft in Die zweite Reihe derfelben geftellt wurd,
Die Ausſichten, welche die Magie ihren Jüngern ftellte, waren allerdings
ſehr verlockend, und es ift nicht zu verwunern, daß manche Berfonen-ihr ganzes
Leben damit verbrachten, den Stein der Weijen, das große Mofterium zu finden,
und große Geldfummen zur Erreichung dieſes Ziels verwendeten 1 0
‚Graf Bernhard von der Mark (Trevisanus), im 15. Jahrhundert lebend
gibt im feinem Buche einen treuen Bericht von feinen Reifen und Geldopfern,
von den Tänfchungen, welche er erlitten, avie er immer neue Geldopfer und Meis
fen machte, um endlich fein Ziel zu erreichen, und wie er endlich im hoben Alter
von 73 Jahren zur Bereitung des philofophifchen Steind gelangte umd denfelben
viermal anfertigte, wie 08 ihm gelungen, mit demfelben viele ſchwere Krankheiten
zu Heilen. Im zweiten Theile feiner chemiſchen Schriften fagt er, daß er zuerſt
bie Schriften des Rhazes vier Jahre, mit einem Koftenaufwande von 800 Kro—
nen, ſtudirt habe, daß er dann in dem Archelaus ee
Wahrheit geforfcht, gleich mit einem Mönche, und daf fie nebenbei
des Nupesciffa und Sacrobuſtus geprüft und ſich damit Sefchäftigt,, Weingeift
30mal zu rectifieiren und über bie zurüdbleibenden Trebern abzudeſtilliren.
Diefe Verfuche Fofteten 300 Kronen, Jetzt wurden die Angaben Geber's, des
Arabers, geprüft, von welchem er, wie er fügt, „ſo viel verſtund, als eine Gans,
und hatte nicht Acht, daß ex ſelber warnet, da er fpricht; Tu autem porrige ma-
num ad dieta nostra, alias invanum studes‘‘; er verwandte viel Geld zu Meifen,
damit er Jemand fände, der es verftände, dem Geber nachzuarbeiten, „denn ſolche
Geſellen, jo was wiſſen follten , Famen zu mir nicht, ich mußte ihnen nachreifen
und hart genug feiern, Es bekam mir aber wie dem Hunde das Gras, fand
Betrüger genug und koſteten mich in 6 Jahren bei 2000 Kronen.“ Nam sero
sapiunt Phryges, durch Schaden wird man Flug; hätte ich auf Rhazes geachtet,
wie er fagt: qui prineipia naturalia in philosophia ignoraverit, hie jam multum
Magie und Alchemie des Alterthums. 671
remotus est ab hac arte, quoniam nom habet radicem veram, super quam in-
tentionem seam fuhrdels*H niı| aur Ran Tara Ver Kr num
Ich vergaß ſolches und legte mich ‚auf böfe ſophiſtiſche Mecepte, fo bie
* erdichteten und umtrugen. Mit Solvirung, Coagulirung und Calei⸗
nirung, welches oft mehr denn hundert Mal geſchehen mußte, brachte ich zwei
Jahre zu. Hernach arbeitete ich mit ſolchen erfahrenen Geſellen, welche Alles
wußten, aus denen doch nichts gerieth im Vitriol und Alaunen, als da find:
alumen rochae, glaciei, seissile, plumosum und de India; verſuchte mich aud)
mit foldyen Vögeln zu flören in allerlei Markaftten , und nachdem ich den mine
ralifhen Stein da nicht fand, judelte ich im Blut, Harn, Menſchenkoth, Haa—
ren, Spermate, Eiern und anderen dergleichen fodomitifchen Dingen, wollte den
Lapidem animalem daraus machen, kam immer weiter davon ab. Ich wollte
zertheilen die vier Elemente im Athanor (ein Deftillirgefäß, wo das Deftillat
immer wieder zurüdfließt), ich beftillicte per ascensum et per descensum, recti=
fieirte, infurdirte, evaporirte, caleinirte, reverberirte, jublimirte und conjungirte,
ich goß, ich feuerte und ſchmelzte, fo daß ich viele Jahre darüber wegbrachte, und
da ich das 38. Jahr erreichte, arbeitete ich moch im Lapide vegetabili, wollte bie
Goagulation des Mereurüi durch Kräuter und Thier haben, alfo daß ich in 3 Jah—
ren fowohl durch mich, als durch) andere Betrüger, fo Rath und — 9“
ben, an 6000 Kronen verbrauchte,
Da dies num auch der Weg wicht fein und nichts daraus werben follte, mie
fiel mir das Herz. Indem begab es ſich, daß ein Richter aus meiner Heimath
Fam, der auch bie Kunft fuchte; der brachte mich wieber auf das Kochſalz und
fagte, er wollte den Lapidem daraus machen, Wer war fröblicher, als ich; des—
halb begannen wir und folbirten das Salz in der Luft und coagulirten in der
Sonnen, und thäten viel andere Ding, denn wir verharrten in folcher Arbeit
1!/2 Jahr und richteten michts aus, und ums gefchah berhalben recht, denn es
fagt Geber: „„Quaerere in re quod in ea non est, hoc stulte proponitur.‘*
Ich wurde mit Schaden inne: qui eredit in mendacium et non seeretis
philosophorum, perdit tempus et labores cum opere.“ IE
„Wir hielten nach ſolchem zuſammen, unangeſchen daf wir nichts audge-
richtet hatten, und der fonjten mein Unterthan im meinen Landen, ber war in
fremden Landen mein Geſell, denn die Raboranten feind alle Vettern, geben
einander gute Worte, und boch behält jeder feinen Daumen in der Hand, und
wenn man's beim Licht beficht, 2 iſ ihre AR — ang: ——
Schnee zerſchmilzt.“
„Da num das auch vorüber, * ich allein zu einem Mince, —
Doctor, mit Namen Gotfridus Leurier, wollten den Lapidem gar gefreſſen haben;
er nahm 2000 Hühnereier, bie forten wir hart, fchälten die Schalen ab und eal—
einirten bie fo lange, bis fle fo weiß warem ald Schnee; das Weihe und Rothe
liegen wir zufammen im Pferbemift faulen, darnach deftillirten wir es 30mal
und zogen daraus ein weißes Waffer und rorhes Del. In Summe, wir mach⸗
ten fo naͤrriſche Dinge, — Deren a —2* Er
rin dritthalb Iahre,” vo. —v
Magie und: Alchemie des Alterthums. 673
wandtnuß zu einander, jeboch kann Fein Vollkommnes ein Unvolllommnes perfis
eiren, ob fie ſchon im Fluß mit einander vermifcht werden, denn wenn bu dad
Gold mit Blei fliegen läßt und rührft es auf's Befte durch einander ‚ wird: doch
ans dem Blei fein Gold, fondern das Blei verbrennt im Feuer und das Gold
bleibt. zurũct u um aıland, ern Mo Ru u rn
schlecht im ihrem erflen Grad perfeft, und wenn fie Durch Kunft nicht plusgtam-
perfeet werden, können fie der imperfecten corporibus durch Miſchung nicht zw
Hülfe kommen, aus Urfachen, denn ſie haben Feine andere Perfection, als fo viel
ihnen zw ihrem Esse nöthig ift, fo denm feines dem andern geben mag, welches
es jelbften mit nichten entrathen Fann, fo muß das, welches der Hülfe bedürftig
| ift, alfo bleiben.” — ni En
„Derohalben nahmen wir und num erſt vor, noch weiter zu reifen, durch—
zogen manch Stadt und Land, denn ich war nun geweien in Rom, Navarra,
Schottland, Tinkeh, Griechenland, Alrzandein, Barbatta, Perfia, Rhodis, in
ganz Branfreich, ſchier allen Stäbten in Hifpanien, zum heiligen Lande, beſah
ganz Italien, Deutſchland und England, zog hie und dorthin, fah fo viel Res
cepte und Sophifterei, daß ich's nicht vermag anzuzeigen, denn ed war Jeder
mannd Thun, wie das meine, lauter Affenfpiel. Sie deftillirten, feparirten die
Elemente, caleinirten, folvirten, ſublimlrten, coagulirten den Mercurlum, und
ſolches durch Kräuter, Stein, Waſſer, Oel, Beuer, Rauch, mit feltfamen Gejchir-
ten gingen fie um, ſahe Niemand, der in der richtigen Materie arbeitete, Da
hatte einer eine Oradation bon Curcuma (einer gelbfärbenden Wurzel), der ans
dere machte Lunam (Silber) zu Olas, bald machte ein anderer ſchwarzen Zin-
nober, wollte die Lunam damit zu Gold figiren, jest beflich fich einer den Ar-
senicum zu figiren, jenes cementirte die Lunam mit Sallabros (kohlenſaures
Kali), bald war eines anderen Arbeit in der Tutia (Zinforgb). Ja, mancher
machte einen Geftanf mit Schwefel, daß einen das Herz hätte mögen zerbrechen,
und ein Jeder hatte fonderlichen Schwefel; des einen mußte fein rother, des
andern grauer, bed dritten ſchwarzer Roßfchwefel, der vierte wollte blauen Schwe«
fel haben.” —
„Sie arbeiteten alle in gang närrifchen Dingen; jegt follte es der Lapis
mineralis, jetzt animalis, Iettlich der vegetabilis fein, war aber fo wahr, ala es
wahr ift, daß ein Eſel ein welfcher Hafe ift; obgleich er lange Ohren hat, fo
läuft er doch micht forgefchwind.“ „Daß in Summa mir auf folchen Meifen
130,000 Kronen verbraucht wurde, mußte ich Noth halber, wollte ich nicht da⸗
von lafjen und meinen ehrlichen Namen verlieren, meinen Sreunden folches mel
ben und ihnen einen Theil meiner Herrfchaft um 8000 Gulden verkaufen, damit
ich die Schuld abtragen fonnte, Ich blieb alfo in Erilio, die acht Taufend Gul-
den waren vorgegeſſen Brod, wußte fchier nicht wo aus oder ein, hatte num faft
62 Jahre auf dem Halfe, war in Marter und Pein.“
Nachdem num Graf Bernhard wieder Muth gefaßt hatte, ging er nach Rho—
dos, laborirte dort wieder 3 Jahre mit einem Manne, ber ihm 600 Kronen an=
lieh, mit Silber, Gold und Quedfilberchlorid, ohne Erfolg; dagegen fand er in
IV, | 43
674 9... MRaterphilofopßie.. 7.
dem Codex totius viritalis den Spruch: Die Ratur wird nicht verbeſſert, «ls
Durch ihre eigene Natur, und jet jah er fein irrthuͤmliches Berfahren ein. Nach
dem er nun 6 Jahre lang die Schriften des Roſarius, Raymund Lull's, des
Arnold von Billanova, ber Maria Prophetifia, ded Thomas de Aquino, bes
Morienes, des Albertus Magnus und Anderer ftudirt hatte, da glaubte er end⸗
lich das Geheimniß gefunden, und behauptet, in feinem hohen Alter von 73 Jah
sen ben Stein viermal erzeugt zu haben. — Die Mittheilung feiner Erfahrung
gefchieht im vierten Buche in der Form einer Parabel, nach deren Durchlefung
man aber nicht Flüger geworben ift, ald man vorher war.
Wie hoch man den Stein der Weifen fchäßte, geht aus neqhfolgendem Verſe
des Rofarius bervor:
Hier ift geboren ber Kaifer aller ahren;
Kein hoͤher mag uͤber ihn geboren werden,
Weder mit Kunſt, noch durch Natur,
Von keiner erſchaffenen Creatur.
Die Philoſophi heißen ihn ihren Sohn,
Er vermag alles, was fie thun,
Mas der Menſch von ihm begehrten, if,
Er gibt Geſundheit mit flarfer Friſt.
Gold, Silber und Evelgeftein,
Stärf, Sefundheit, fhön und rein,
Zorn, Traurigkeit, Armuth und Krankheit er verkehrt,
Selig iſt der Menfch, dem es Bott befcheert.
Arnold von Villanova nennt in: domum dei preciosum, quod est super om-
nium mundi scientiarum arcanum et incomparabilis ihesaurus thesaurorum.
es
Südflanifche Bilder.
Bon
Dr. Vinks Ferrer Alun.
Das in Wiſſenſchaft und Literatur cosmopolitiſche Deutſchland hat in neuerer
Zeit den flavifchen Völkern eine beſondere Aufmerkſamkeit zugewendet. Nament⸗
lich iſt es die Literatur eines Theiles der Südſlaven, die jugendfriſche Poeſie des
ſerbiſchen Heldenvolks mit ihrer Fühnen Phantafle, ihren kraͤftigen Bildern und
der Flangreichen Sprache, welche in mehr ober minder guten Ueberſetzungen fich
einer großen Theilnahme in Deutfchland zu erfreuen hat. Die ſlaviſchen Völ⸗
fer, welche im Jugendalter den Schaupfag der Weltgefchichte betreten, welche bald
als Halbeivilifirte Barbaren und Unterdrücker aller Gultur und freier Geiſtes-
entwidelung gefchildert werden, bald aber auch durch zu draftifches Auffaffen
und phantaflereiches Borführen von Eigenthümlichkeiten in Sitten, Gebräuchen,
Dichtungen u. ſ. f. eine zu große Bewunderung erlangten — diefe verdienen
fiherlih, und Died vorzüglich in gegenwärtiger Zeit, die Beachtung der gebilde⸗
ten Welt, — Das vornehme Ignorirenwollen, das Aburtheilen a priori führt
zu Nichts, denn es ift abfurd, wenn gewifle Leute über den Slavismus ein Us-
theil abzugeben fich anmaßen, die vom Slaventhume kaum mehr fennen, ald die
banalen Phrafen von „Panſlavismus, Knute, Weltfampf des Germanenthums
gegen das Slaventhum“ — u, dergl. mehr.
Es kann nicht meine Aufgabe fein, das Slaventhum in feiner Totalität
aufzufaffen und darzuftellen — dieje Aufgabe würde für dieſes Werk zu umfaf-
fend fein; ich will nicht einmal den gefammten Südſlavismus behandeln, ſon⸗
dern nach dem Grundfage: „multum, non multa“ nur Einen Theil deſſelben,
einen, ber bis jegt außerhalb der Grenzen feines Wiege nur wenig befannt ift,
Die Slovenen find e8, die ich den Lefern diefer Blätter in Sitten, Gebräuchen,
Geſchichte und Literatur vorführen will, Doch kann der Zweig nicht gründlich
analyfirt werden, ohne auf den ganzen Stamm bier und da einen. Blick, zu wer⸗
fen; die Hauptgruppe tritt nur dann lebendig hervor, wenn auch im großen
Hintergründe die Vertheilung von Licht und Schatten zur Hebung bed erfteren
Tunftgemäß ftattfindet. Meine Darftellung foll übrigens Fein aͤngſtlich nach
Syſtemen geordnetes und ſtreng gruppirte® Ganzes, mit Gatheberweishejt unter⸗
43*
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durch ihre Verſenkung rang
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und Senkungen, dort unterirdiſche Höhlen und rs mußten. Daher
fommen bie vielen trichterförmigen Senkungen der Dammerde, fowie die Höh—
len, welche bie juliſchen Alpen überall begleiten, und. deren Hacquet vom Tri-
glav bis zum Klef an 1000 zählte: — ein character dieſer alpi⸗
niſchen Formation, durch welches ſie Minen, ine anderen in Guropa- ausjeihe
net. (Nach Hlubef.),
Klein zwar iſt bie Fläche ‚bes Kerjogifums ‚Rrain. wenig mehr als
173 OMeilen), aber ungemein grof an mannigfaltiger Verſchiedenheit, durch
die es das Intereffe des Befuchers zu feſſeln vermag, da jeder Theil feine befon-
dere Gigenthümlichfeit aufweifet. Bei InnerKrain ift es nicht Die Oberfläche,
die und anzieht, denn die Steimwüfte des Karſtes, ‚gleichjam ein großartiger Lei⸗
Henftein an dem Grabe der einftigen Vegetation, ſtimmt den Beſucher zur Weh-
muth; — aber, die unterirdifchen Wunder find es mit den großartigen Felſen⸗
domen und zauberhaften Zropffleingebilden mit den raufchenden Waffern , in
denen der, mit Recht fo genannte krainiſche Höhlenbewohner — ‚proteus angui-
neus — mit Bligesjchnelle durch Waflerwogen und Felſenriffe ſchießt. — Dies
fem gegenüber macht die majeftäsifche Alpennatur Ober-Rrains einen erheben⸗
ben Gindruf, und der Veldeferfee mit feinen malerifchen Ufern, dem Minerals
babe, ‚den hiſtoriſchen Erinnerungen; — bie wildromantijche Wochein mit dem
herrlichen Alpenfee, der tofende Waſſerfall der Saviza u, ſ. w., laden alljährlich
Fremde zu zahlreichen Befuche ein, Ueberhaupt bietet Ober-Krain Dictern
und Malern der pittoresfen Bunkte in aberraſchender Menge, — Gegen beide
Theile bilder fodann das heitere Unter-Rrain mit feinen Föbfigen. Benokuera
und Weinbergen, die anmuthigen Hügel mit Säufern be bejäet , die ſich wie weiße
Perlen. auf einem grüm geſtickten Teppich ungemein lieblich ausnchmen, ‚einen
freundlichen Gontraft. m} ‚naana:tziım uu Ib > Aıuhit Im idel
Wie verfchieden nun Die Partien, in ‚biefem an Naturmerfwürbigkeiten ſo
zeichen Lande find, ebenſo und ‚noch mehr verſchieden find ſeine Bewohner im
jeder Beziehung, was zufammengenommen eine veiche Quelle für den aufmert -
fümen Beobachter bilbet, Der Charakter und Die, Lchensweift des Benohners
wird durch die —— * — —— je Deko.
ALT," 2 14 9
m Yon tri RR Bott m arten wie entire
ben wi 2°,
Abgeſandten de
erklären lieh, fie werde in das adriatifche Meer eine Flotte fenden, falls dieſem
räuberifchen Unweſen nicht von Seiten der Republik werde gefteuert werben,
Benedig wendete fih nach Wien und wünjchte die Entfernung der Uskofen von
ber Kuͤſte; der Kaifer erklärte jedoch, auf dieſen Wunſch nicht eingehen zu kön⸗
nen, da hierdurd) das Volk fogar dazu gezwungen werden fönnte, in feiner Ver»
zweiflung vom chriftlichen Glauben abzufallen ; zudem ſeien die Usfofen die befte
Schutzwehr gegen den Erbfeind des Chriftentbumd, der hierdurch vom weiteren
Vordringen zurüdgehalten werde. Erneuerte Kämpfe der Uskoken gegen bie
Türken, die auf beiden Seiten mit mehr als vandalifcher Grauſamkeit geführt
wurden, dann die Angriffe der Uskoken auf venetianifche Schiffe und ihre Be—
figungen, endlich der zwifchen Berdinand und Venedig ansgebrochene Krieg, bes
wogen Defterreich, dieſes nicht zu bändigende er von vr Soſte nach ıbam
Inneren zu überſiedeilile. im I —
Nach den Archivacten der Stände Krains —
Anſiedlungen in Krain ſchon um das Jahr 1530 und 1537. Anfänglich wählte
ſich dieſe Horde ſelbſt ihren Hauptmann, in der Folge ernannte der Lanbesfürft
aus ihrer Mitte einen Oberhauptmann, nämlich den Daya Despotovich, Laut
Verordnung dato Wien 15. November 1540 wurde fodann vom Landesverwejer
und Vicedom in Krain die Pfalz und Herrſchaft Sichelberg dem Barthelmä von
Raunach als erften Uskofenhauptmann übergeben. Die Verwaltung war eine
militärifche, dem Hauptmann war ein Lieutenant, 12 Mafolen, Wojwoden und
eben jo viele Faͤhnriche untergeordnet, welche vom der Landſchaft bezahlt wurden,
Die übrigen Soldaten erhielten feinen Sold, Dagegen aber waren die Usfofen
von allen Steuern, Gontributionen und jonjtigen Iandesüblichen Giebigkriten
“befreit; auch mußten fie im Orenzorte Flun den Wachdienft verfehen, welcher
monatlich abgelöft wurde, Der Gauptmannfchaft waren noch ———
Krain liegenden, von den Usfofen bewohnten Drtfchaften unterworfen.
- ‚Unter den ihnen ertheilten Rechten und Freiheiten, bie ka
auf die Handhabung der Juſtiz bezogen, ift befonders das Recht hervorzuheben,
daß fie im Allgemeinen ** Naeh ee
werben folln,. I un IM
Nach — hiſtoriſchen Ueberblice —— die inneren
Zuſtaͤnde, auf das häusliche Leben der Uskoken einen Blick werfen.
Der einſtige Uskoke vereinigte in fich viele der Vorzüge und Mängel der
Sübdſlaven im Allgemeinen, die ſich nach und nach verloren, wovon die Slovenen
— — 681
— — Wenn — Bneer Feen nd
kam der Dever — Brautführer — mit feinem Pferde vor das Haus, hob die
Braut vor ſich auf den Sattel, verhüllte ihr den ganzen Kopf mit: Tüchern, dar
mit fie den Rüchveg zu ihrem elterlichen Sanfe mit mein: fiuhe,: mbifyrengte
mit ihr zur Kirche, Vor dem Popen wurbe ihr
die Trauung ging vor ſich, wobei der Bope das Brautpaar mit Noſen befränztr.
Die Taufe wurde erſt vorgenommen, wenn die Kinder etwas erwachfen waren. ı
Das Sinnige, Poetifche, das wir jo häufig in den Gebräuchen eines Vol-
kes finden, ſo lange es noch frei im Naturzuftande lebt, comtraftirt jeltfam mit
den Aeußerungen roher Gewalt, welche bisweilen unmittelbar jener poetifchen
Anſchauung folgen; und doch find dieje beiden Erſcheinungen nothwendige Fol⸗
gen ihrer Lebensweiſe. Das Leben in der freien Natur wedt und nährt Die zar⸗
teften Gefühle im menſchlichen Bufen; die materielle Seite des Lebens, der Drang
nach Wohlbefinden ruft nothwendig jene Kämpfe hervor, welche mit um fo grö-
Berer Rohheit geführt wurden, als die allgemeinen Qumanitätsbegriffe, die Eivili-
jation, noch wenig Eingang bei den Kämpfern gefunden haben. — Erfranfte
ein Uöfofe derart, daß man an feinem Aufkommen zweifelte, ſo mußte ſich ber
Kranfe noch. ſelbſt waſchen, damit er rein vor dem Richter in jener Welt er-
ſcheine. Nun tröſtete man den Sterbenden, erzählte ihm feine Heldenthaten,
die ihn bei der Nachwelt verewigen follten, und ſchilderte ihm das Ienfeits in
hofinungsreichen Bildern, Auf der Neife mach jener Welt, hieß es, werben ihn
Die Engel begleiten und ihm feine tapferen Thaten vorerzählen. Ein Engel
wird voranjchweben mit dem Säbel, mit dem er fe ritterlich gegen bie, Türken
gekämpft, — andere werden bie errungene Beute tragen; eim Engel werde Die
Schafe, ein anderer die Ziegen und Bode, ein dritter die Pferde und Stuten,
bie er mit freier Hand in fremden Orten erbeutet ‚vor ihm hertreiben. Beru—⸗
higt durch dieſe Tröftungen gab er jeinen Geiſt auf, Die Leiche wurde fodann
unter irgend einem Baune begraben, — Friedhöfe hatten bie Uöfofen nicht —
nachdem man ihr vorerjt ein Stüdchen Brot und eine Geldnrünge-
rung mitgegeben hatte. Der Grabhügel wurbe mit 2 großen Steinen, einer an
der Etelle des Kopfes, der andere, an jener der Kühe beſchwert, Damit ber Todte
wicht mehr aufftehen und im- Haufe „umgehen‘ könne, Nachdem noch der Pope
4 Gulden bekommen, war bie ganze Bunctiom beendet, DEREN LDELGEITTEI EI
Starb ein Kind, fo trug es Die Mutter-in der Wiege auf ihrem Kopfe nach
dem Begräbnißplage, Während der Leichnam eingeſcharrt wurde, machte die
Mutter dem Tode bie bitterſten Borwärfe, daß er ihr einen Fünftigen Helden -
entriffen. Dann warf ſie die Wiege auf das Grab, ſprang jo lange auf derjel-
ben herum, bis fie zertrümmert war, und heulte dazwiſchen beiläufig Bolgendes:
„Du häßlicher, unerfättlicher Tod, haft du mir mein Kind gefreſſen, nun jo-frif
auch noch die Wiege, damit du daran erſticken mögeft, und ftopfe Damit;deinen
Mund, daß dir die ebenen ‚Somit war dens'mütterlichen Zart⸗
gefühle Genüge getban. 1 147 ln em) A RR ae
Sehen wir und num * die aue Kracht. dieſes Volksſtammes an: Die
Sudſlaviſche Bilder, 685
zweite Weife ift folgende: Man bebient fich eines Bogens aud einem zähen Bir⸗
fenafte, den man mit einer Sehne über einen Stab ſpannt, am welchem eine
Lockſpeiſe angebracht wird, Wenn das Thier am Köder zu nagen anfängt, fo
reißt die Schnur los, der Bogen fehlägt an eng Snap
gefangen zurück. Hat man in einer Nacht gegen 20 folcher Fallſtricke aufgehängt,
ſo wacht man dabei, um Eee, weldhe font Mar:
der und Nachteulen wegfreffen würden. Außer diefen find noch andere Arten
beim Bange im Gebrauch, — Die Billiche find überdies außerſt furchtſam und
entfliehen Beim mindeflen Geräufche. So verſcheucht fie felbſt das Gekrachze
der Nachtvögel, und. daher rührte der vormalige Aberglaube, daß die Billiche
beftändig ton Kobolden verfolgt werben, Valvaſor nahm diefe Meinung gleich-
falld an und lieferte, um die Sache deutlicher darzuftellen, einen Kupferftich, auf
welchem ein gräßlicher Teufel mit einer Peitjche die fliehenden Thierchen vor fich
bertreibt. Dabei erzäblt er, daß ihm 2 Bauern, bie diefen nächtlichen Hirten
ſelbſt gefehen (!), denfelben befchricben haben, und fügt bei: „Biel fürnehme Per—
fonen im Lande haben's nicht glauben wollen, bis die Selbfterfahrung ihnen
allen Zweifel benommen’’; überhaupt gibt ſich Valvaſor viel Mühe, dieſes zu
beweifen! — Endlich führt er auch an, daß man die alten Billiche faft immer
an dem einen Obre verlegt antrifft, und meint, „ſolches Zeichen mache ihnen ihr
ungefegneter Hirt,” Doch rührt dieſes „Zeichen“ wohl einzig nur von der gro«
ben Biffigfeit der Billiche her. Ueberhaupt lieferten diefe Thierchen einen reiche
haltigen Stoff zu Babeln und Märchen,
Zum Schluſſe noch einige topographiiche und hiſtoriſche Bemerfungen.
Das Gebiet dieſes Herzogthums umfaßt beiläufig 1412 DMeilen und hat Feine
andere Stadt ald Gottſchee, welche Leopold I. dem Grafen Wolf Engelbrecht
von Aueräperg gefchenft hatte; auch gibt es in diefem Herzogthume feinen an=
deren abeligen Zandfig und fein Gut; alle Infaffen find ihrem Herzoge urbar
ſchuldig und unterthänig. Dad Gebiet des heutigen Herzogthums Gottfchee
gehörte ehemals den Patriarchen von Aquileja, welche ausgedehnte Befigungen
in Krain befafen. Patriarch Berthold gab ed dem Friedrich von Ortenburg,
ber zu Orteneck reflbirte, im Jahre 1247 zu Lehen. Nach dem Außfterben ber
Ortenburger Fam Gottjchee im Jahre 1420 an die Grafen von Eilli, Brie-
drich, Graf von Eilli, der mit feinem Bater Hermann in Hader lebte, baute ſich
nabe bei der Stabt Gottfchee das Schloß Friedrichftein, welches jedoch gegen
dad Ente des 18. Jahrhunderts niedergeriffen wurde, Die Eillier ftarben aus
und das Erzhaus Defterreih kam in den Beſitz ihrer Güter, Im diefem Zeit-
raume war ed, daß Gottſchee ein Pfandſchillingsgut und die Stadt landesfürft-
[ih ward. — Georg Graf von Thurn, der in einem Auflauf der Bauern im
Jahre 1515 fein Leben verlor, hatte es nur pfandweife genoffen; Dann wurbe
ed als ein Kammergut verwaltet, bis ed im Jahre 1547 Franz Urfini, Graf
von Blagah, pfandweife von der Hoffammer an ſich brachte. Bon feinen Rach-
fommen verfaufte e8 Niclas V., Urfini, Graf von Blagay, dem Freiherrn Jo—
hann Jacob von Khiſl zu Kaltenbrunn im Jahre 1619, der auch Neifnig und
BB Lande · amd. Voͤlkerkuude.
Polland beſaß und im Jahre 1622 in den Grafenſtand erhoben wurde. Seit
biefer. Zeit kam Gottfchee als G@rafichaft vor. Ä
Diefe Grafſchaft ift Kraft des Kaufbriefes vom 9, Juli 1641. von Bar⸗
tholgmäus Grafen von Khiſl dem Grafen Wolf Engelbert von Auersperg ver⸗
kauft worben, welcher unverehelicht ſtarb und feinen Bruder Johann Weikhard
von Aueröperg in feinem Teſtamente zum Erben aller feiner Beſitzungen ein⸗
feßte. Der Lehtgenannte wurde am 17. September 1653 in ben Reichäfürften-
Rand erhoben und Gottſchee ſammt feinen angeerbten Beflgungen zu einem Fi⸗
deicommiffe gemacht, welches nunmehr unberrädber bie. in die Gegenwart bei
biefem fürftlichen Haufe verblieb,
.ν tr 7. ..;
Kurzer Äberbſick der Hefchichte der
geheimen Hefellichaften.
Bon
SIudwig Bedftein,
Das Geheimniß. Prieſterthum. Magier. Cult und Mythe. Chri⸗
ftentfum. Zempler. Vehme. Mechtöbegriff des Geheimniſſes. Ge
beimes Ordensweſen. Alchemie. Roſenkreuzer. Iefuiten, Die Frei:
maurerei. Mopslogen. Perfectibiliſten und Illuminaten. Studen⸗
tenverbindungen und geheime Orden. Moſellanen, Amieiſten u. A
Die Burſchenſchaft. Der Tugendbund. Die Carbonari. Der Treu⸗
bund. Die Marianne.
„Geheimniß! HD du Zauber, vor allen Zaubern groß!
Du gehſt mit Wundern ſchwanger, dir ruht ein Bott im Schooß,
Du haft ſchon manch Jahrtaufend in dunkler Nacht getbront,
Und feiner deiner Prieſter ging von dir unbelohnt.”
Niemand wolle dem Verfaſſer des nachſtehenden Artikels ber.Eitelfeit ober An«
maßung zeihen, weil er an deſſen Spite das obige Motto aus feinem eigenen
Gedichte Fauſtus ſetzt. Es ſprechen die wenigen Berdzeilen eine tiefempfunbene
und bewährte Erjcheinung in poetifcher Form aus, die vom Anbeginn aller Ge»
fchichte durch die ISahrhunderte und Jahrtaufende die Menichheit anzog, feflelte,
erhob, täujchte, berückte, wie es Fam, und die. noch heute fo frijch lebendig fori⸗
wirft und fortzeugt, wie nur je, indem fie eine in der Menjchenfeele nun einmal
von allem Anfang an wurzelnde Neigung fich gewinnt, auf dieſe baut, ihr
fhmeichelt, und fie, bewußt ober unbemußt, ‚Achtung gebietend. und machtvoll,
überwältigt.
Mas ift ein Geheimniß?
Geheinmiß ift.ein befondered, ein ALL einviſen, eine Aunde, bie nicht
Jeder kennt, eine Frucht, Die nicht Ieder findet. und Bricht, ein verborgenes
Licht oder ein abſichtliches Dunkel.
Die bibliſche Schöpfungs⸗Mythe laͤßt el8batb mit ber Erfihaffumg fr er⸗
ſten Menſchenpaares das Geheimniß geboren werden. Gott ‚verbietet ben
Neugefchaffenen zu eſſen vom Baume ber Erkenntniß, ohne dafuͤr einen
688 Geſchichte.
Grund zu offenbaren; aber Eva ahnet, daß die Frucht biefed Baumes Flug
mache, und bricht die Frucht und gibt ihrem Manne davon. Sie lernen das
Geheimniß erkennen, erbeben davor, fürchten und verbergen fi — fie habe
nun ſchon ihr eigenes Geheimniß, und wiffen nicht, daß Gottes alljehendes
Auge fie allenthalben findet. Gott aber will fein Geheimniß für ſich Be ten,
und verfehließt den Garten Eden umd gibt ihm einen Wächter,
& * * die Bibel ——— — aus — Scheimbund
Dort Bund im — ee
Wiffenden aber Mar — Kunde, wie nicht minder dad Wort —
niß im Sinne des göttlichen Alleinwiſſens, welches Gott und Chriſtus auf be⸗
ſonders auserwählte Menſchen übertragen. Grm Geheimniß ift allein bei den -
Frommen (Palm 25. 142, Sprüc. 3. 32), es ſchwebte über Hiobs Hütte,
(Siob 29. 4.) Chriſten, Apoftel und Jünger jind Diener u
—— Corinth. 4. I) u. A. D — wre
Brüber ald das oben erwähnte fleifchliche Bu ——— be⸗
schein hinmilſchee, das fhönfte und großartigfte imter allen, aller
bar und do ch geheim, weil der frühern Menſchenwelt umerfl nt bar. „Mein
Bogen babe ich geſetzt in bie Wolken, der foll das Zeichen fein des Bundes
zwifchen mir und der Erben.‘
„Und wenn e8 kömmt, daß ich Wolfen über die Erbe führe, jo foll man
meinen Bogen fehen in den Wolfen,“
„Alsdann will ich gedenken an meinen Bund zwifchen mir und euch.“
Wie Hier eine hehre Naturerſcheinung zum erhabenen Symbol wurde, fo
lenkte ſich fchon in den früheften Zeiten und bei allen Gulturvölfern von &
bes höher begabten Theiled'der Bevölkerung, die Korfchung der Natur, ihre
Kräften und mannigfaltigen Erfcheinungen zu, welche den minder begabten umers
gründet blieben, Das Uebermächtige, Neberwältigende, häufig Zerftörende dies
fer Kräfte wette die Ahnung som Dafein höherer Wefen, und aller Odtters und
Gottheitcult ging aus dem Walten der Natur hervor. Bald mußten Diejemis
gen ald bevorzugt in den Augen der Menge erfcheinen, welche ihr Leben ber
Erforſchung jener Kräfte widmeten, welche Kunde ertheilten son den Gottheiten
und deren Gewalt und Gerrichaft über die Menfchenwelt; fo entitand allmälig
das Priefterthum, und bald genug theilte ſich deffen Pflege in zwei Bmeige,
einen ber nach oben wie: Gottesanbetung, Gottesvrrehrung,
Gottesdienft, Opfer, zum Theil mit Bräuchen, deren geheime Bebeutung
nur den Prieftern bekannt war, und einen mebr irbijchen, dem Zauber, ber ver⸗
meintlichen Wumderfraft, der Verblendung. Bel der großen Menge wirkten
die finnlichen Wahrnehmungen ergreifender und tiefer auf die Ormüther ein,
als bie geiftigen Lehren, bie nach überfinnlichen Regionen denteten, und da zu
alten Zeiten nicht alle Priefter Söhne des reinen göttlichen Lichtes waren, fo
konnte es nicht fehlen, daß bei allen Völkern eine überwiegende Anzahl Priefter
—
Die acheimen Gefeiäuften. 689
nur ben leiblichen und perfönlichen Vortheil fuchte, und unter dem Schleier des
Geheimniffes rein »OoRtlie Kine und Run —— —
die unkundige Menge zu berücken. MET a Va EEE Bu ee EZ Fer
Sp wurde mehr oder Asindre Jede Beisefeafe en iger Et
von ſelbſt zu einem Geheimbunde, der im Stillen beftimmte Zwecke ver—
folgte, beſtimmte Ziele zw erreichen ftrebte. Die Priefterfchaft aber eines ganzen
Landes, welche einem und bemfelben Götterfsfteme buldigte, wurde nun Kaſte,
die meift die herrſchende war, wenn fie auch nicht überall den Monarchen«
feepter in der Hand trug. Dazu liefert die Gefchichte aller gebilveten Früh—
völfer hinreichende Beifpiele, und vor dem Auge der Neuzeit liegt Mar am Tage,
daß bis in die jüngfte Stunde der Gegenwart ber bierarchifche Geift mit allen
Waffen nady Herrſchaft ringt und firebt, und keineswegs nad) der hriftlich-
biblifchhen Ermahnung „am erften nach dem Reiche Gottes trachtet.“ Man
hat den wunderlichen Gemeinplag oft ausgefprochen, ein Regent folle der erfte
Untertban in feinem Lande fein — mie aber wird bie Kirche a
wollen, Unterthanin und Staatädienerin zu fein und zu heißen. |
Die bibliſche Geſchichte lenkt zeitig den Blick nad Aegypten, *
Lande hoher Cultur, ausgebildeter Staatseinrichtungen und hierarchiſcher Macht
‚unmittelbar neben jener der Pharavnen. Da gab es Weiſe und Wahrſager
(Magier) in Fülle; ſie konnten, Fraft ihrer geheimen Wiſſenſchaft, dem gewöhn⸗
lichen Volke nicht angehören, fie gehörten ber Priefterfafte an. In diefer und
durch dieſe Kafte wurde Mofes Erziehung geleitet, und es erfolgte bei feinem
Anftretem jener Wettftreit im Verrichten der befannten Wunder zwiſchen ihm
und den aͤgyptiſchen Zauberern (11 Mofe, Gap. 7), Jedenfalls wurde in dem
altägyptifchen Mofterieneult Erfenntniß und Benutzung ber Naturkräfte, der
Mathematif, Aftronomie u, ſ. w, gelehrt, wie geübt, doch geftattet ber ver-
gönnte Raum für biefe Feine Meberficht weder ein näheres Eingehen in bie
aͤghptiſchen Gehrimlehren, noch in jene der übrigen Völker der Erbe; es muß
ſich überall nur auf flüchtige Andeutungen befchränft werben, Geſtirndienſt
und Anbetung von unbefeelten Körpern, vom ftrahlenden Geftirn der Sonne bis
zum Miftkäfer (Sfarabäus) war die urfprüngliche, älteſte Eultäußerung ber
Aegypter; aus Indien mochte bie Lehre von der Serlenwanderung binzutreten
und im Cult ihre Vertretung finden, Der Geftirndienft fchuf die Planeten-
götter, wie die Thierkreisſymbolik; ideal-philofophiiche Weltanſchauung rief
Mofterienfeier, Todtengerichte u. dal. ins Leben. Sais mit feinen verſchleier⸗
ten Bilde war bevorzugte Mofterientempelftätte, Die Priefterfchaften hüllten
fich und ihre Gulte in magifches Dunkel, daher ift von ibnen, wie von Teßteren
noch weniger Kunde auf die Nachwelt gekommen, als von ihren Theogonien und
Kosmogonien. Es ift nichts bekannt vom eigentlichen Prieftertbum der Phöni—
fer, Chaldaͤer und Babylonier,' während Götter- und Göttinnennamen ber Völ-
fer des Orients zahlreich genannt werden. Nur Schlüffe Taffen fich ziehen aus
biblifchen Andeutungen, wie die über den Mord Elin's an 140 Baalöpfaffen
im 1. Quch der Könige, Cap, 18, aus Tenipelreften, aus Bildiwerfen und alten
— Vielfach entſprangen erſt dem Prieſtercult die — umgekehrt
Die geheimen Gefellichaften. 891
Griechenlands, bie Ejfäer Iudäa’s, die Culdeer Britanniens, Die Drui-
den Galliend u. f. w. ald Geheimgeſellſchaften anzunehmen find, wird
aus der Gefchichte nicht völlig Flar;, Daß aber eine oder die andere foldyer Serten
Verfolgung erlitt, ſobald die Staatögewalt deren Sinnen, Denken und Ihätige
keit gegen fich gerichtet glaubte oder wirklich befand, ift wohl begreiflich. Auch
das junge Chriſtenthum erſchien Anfangs nicht anders ald eine judaͤiſche
Serte, die gegen den im römiſchen Staate zu Recht beflehenden Glauben an-
fümpfte, wenn auch nicht mit Waffen, aber mit ber Macht ded Wortes, ber
Lehre, der hinreißenden Ueberzeugung, und daher die taufend und aber tauſend
hriftlichen Blutzeugen, welche das finfende Römerthum noch vor feinem Untere
gang auf den morfchen Altären jeiner alten, machtlojen Götter opferte. Heim⸗
li wurden die gottesdienftlichen Gebräuche der erften Chriſten geübt, heimlich
die Agapen gehalten, heimlich in heimliche Grabgewölbe (Krypten) tie Todten
beigefegt. Und allüberall zog jede Glaubens» oder auch weltliche Genoffenfchaft
fi in den Schooß der Heimlichkeit zurück, wenn fle fich bedrückt, bedrängt und
verfolgt jah. Solches zu thun, ward aud) der auf der philofophifchereligidien
Secte ver Önoftifer aufgebaute Templerorden gezwungen. Den Templern
ward bei ihrer Aufnahme in den Orden ein Schleier ald Eymbol der Ver⸗
Ihwiegenheit umgehangen — folglidy galt e8 in Orden Bewahrung eine
Geheimniſſes. Auch der Buchflabe T, das fchon im Mythus Aegyptens bedeut⸗
fame, uralte Kreuzeszeichen, die Rune des Thorrahammers u. f. w. jpielte dabei
eine fombolijche Rolle. Der Drden hatte geheime Regeln. Bablreiche, zum
Theil abjcheuliche Befchuldigungen wurden gegen die Templer aufgebracht; er
wurde auf das Heftigfle verfolgt und endlich überall aufgehoben. Gleichwohl
beftand er im Geheimen noch fort, oder empfing bie und da neue Namen. In
neuerer Zeit tauchte Weſen und Unweſen biefer recht eigentlichen Geheim⸗
gefellfchaft in der Freimaurerei wicher auf, vorzugsweife in Frankreich,
doch auch hie und da in Deutichland, ohne aber zu rechter Geltung und Aner⸗
fennung zu gelangen. Dan fann von ihr nur fagen, wenn man offen und
ehrlich fein will: „Zaffet die Todten ihre Todten begraben.” Weder in den
Cult noch in die Politif, weder in die Philofophie noch in die Freimaurerei
paßt die Gaukelei, pafien Hirngefpinnfte und Schwindel.
Kunft und Handwerk, im frühen Mittelalter noch ungetrennt Hand in
Sand gehend, wie died namentlich bei Ausführung bedeutender Bauten nöthig
war, fchloffen fi) als Körperfchaften von der Allgemeinheit ab, und pflegten
ihre Sagungen, wie ihre Erfahrungen geheim zu halten. Es war ſelbſtver⸗
fländlich, daß der Arzt nicht auf offenem Markte feine Geheimnifſe vortrug und
feine Heilkünſte offenbarte, daß der Bildhauer, der Maler u. A. zumal noch in
Zeiten firengften Bunftzwanged nur an ihre Lehrlinge die Regeln und Vortheile
ihrer Künfte weiter gaben. Um fo mehr verhüllten die Bauförperjchaften den:
geiftigen Theil ihres Gewerkes, zumal ohnehin Häufig Glieder der der Pflege
bes Geheimnifjes wohlkundigen Geiftlichkeit an deren Spige flanden und bie
Bauten leiteten. Daß der Urfprung der Sreimaurerei mit hoher Wahr⸗
IHeinlichkeit in den alten Bauhütten zu fuchen ift, if befannt und wurde in
. 44*
auch, fo fange ber ae allentalls mit ſelbſt Wiſender war, an deſſen Statt
der Erzbiſchof von Cöln als Herzog von Weſtphalen oberſter Stuhlherr. Kei—
neswegs aber beſtanden, wie vielfach irrig verbreitet ift, die heimlichen Gerichte
im Lande Weftphalen ausſchließlich. Die höchfte Blüthezeit der Vehmgerichte
reicht vom 12, Jahrhundert bis in das 15. Später richtete fich das Rechts-
bewußtfein der Völferfchaften gegen deren Anmakung , Härte, Oraufamfeit und
Ungerechtigkeit, und bie Fürften widerfegten ſich mehr und mehr und mit vollem
Rechte den Eingriffen einer ganz fremden Rechtsgewalt gegen ihre Unterthanen,
Der Nimbus des Gcheimniffes blaßte völlig ab, die Verhandlungen vor dem
Gericht nahmen mittelalterlicherechtsübliche Formen an, die Ladungen erfolgten
in Briefen, die bisweilen fehr weitläuftig find, bisweilen auch furz. Die Siegel,
meift Wachsoblaten, zeigen einen Geharnifchten, ber ein Schwert quer über den
Leib legt, oder auch in der Rechten aufrecht Hält, und jeder Brief ift vom Preis
grafen mit vollem Namen unterfchrieben. Es mögen ‚hier einige — unge⸗
druckte Proben ſolcher Unterjchriften folgen,
1448, Manegolt frigreffe zum frienhagen des hilgen Vowiſchen richs vnd
mynes gnedigen Hr vo Heſſen. Freienhagen im Fürſtenthum
Waldeck.)
1461. Johan Manhoff eyn Geuerdigher ** des Uomeffchen Nichs czur
czit des veften Junchern Parnaff czom kranfteyn. (?) |
1462. Hinrich Mynandes eym gewertiger frngrane 30 Medebach ze. (Mede⸗
bach im Königreich Preußen, — Weſtphalen, ‚Regferungötegirf
Arnäberg, Kreis Brilon.)
1471. Wegenhard lanrenden feigtebe son friginhagen ıc, (Wire Green
agen.)
1482. (Unfang.) Ich Hanfi volmar gt (genannt) von Sarın frgnee ꝛc.
czom Sfrigüähagen 16,
1493, Hedrich fmed des hailligen Usmiſchen Nichs vnd meis gnedigẽ herũ
võ kollen freigrave zou volchmarſſen. (Das heutge res
in Niederheffen,)
Roch 1530 erfcheint Henrich) Dechmann Eyn PERF — vnd Per
neter richter deh heiligen Womifchen richs der ordentlichen konig-
lichen Dingftat des — friſtuls zu —— in well-
phalen.
Das letzte Vehmgericht folt 1568 auf dem Dingſtuhl je Zelle ‚gehalten
worben fein. Börmliche Aufhebung der Behmgerichte fand nirgend flatt, fie
erlofchen im fich felbft, aber der Zug nach dem Geheimen und Seheimnifvollen
blieb in den Gemüthern der Menfchen, fehlug immer neue Wurzeln, trieb immer
neue Sproffen und Ranfen.
In dieſen Kreis gehören auch zum Teil mindeftens, bie geheimgefelfegaft
lichen religiös- fanatiſch-myſtiſchen Schwärmer des Mittelalters, die Ad ami-
ten, die Geißelfabrer, bie Picarden, die Sonderöhäufer Wolluſt⸗ An⸗
dächtler u. dgl., die immer wieder in noch ſpaͤterer Zeit ihre Nachtreter und
Nachbeter fanden, bis in das füngfte gefchlechtlich-fromme Muckerthum herab,
Die geheimen Geſellſchaften. 695
nur ber mindefte Grund vorhanden iſt, fle zu fürchten. Daß hier Gcheimbünd-
niffe von politifcher ftantögefährliher Tendenz nicht gemeint find, iſt
ſelbſtverſtaͤndlich, dieſe find wo möglich gleich BDO EEE denn fie
bedrohen die Ordnung des Staates, wie die Freiheit der Mitbürger, und machen
jedem Nechtözuftand ein Ende, Jede Gepeimgefellnaft iR baher verpflichtet,
der Staatögewalt auf Unfrage derjelben ihre Satzungen offen vorzulegen, worauf
Ieptere über deren Gefährlichkeit oder Nichtgefährlichkeit entfcheivet, und fiber
das, was bie Geſellſchaft verſchwiegen gehalten Haben will, im Tegteren Falle ber
Nichtgefährlichkeit von felbft ein rückſichtsvolles Schweigen neben der gefeplichen
Anerkennung der Gefelljchaft beobachtet, Dieſes Verbältniß findet unter
Anderen bei der Breimaurerverbrüderung ftatt, indem in vielen deutfchen Laͤn⸗
dern, wo dieſelbe ſtaatlich geſchützt ift, ‚der jedesmalige regierende Fürſt oder ber
Thronfolger eo ipso Protector ber Landeslogen ift, auch wenn er nicht ſelbſt
den Maurerfchurg trägt, und folglich ein „Wiſſender“ im Sinne des Bundes,
Dies drückt eben aus), daß die Logen in foldhen Ländern das volle Recht zu bis
ftehen haben, unter dem unmittelbaren Schuge bes Staates, nicht daß fie blos
geduldet find. Sie genichen aber deshalb biefen Schup und verdienen ihn,
indem ſie jedem Neuanfgenommenen Achtung der Gefege, Gehorſam gegen bie
Obrigfeit und einen LehenSwandel nach Recht und Sl und fen Wet
machen. ” j ILL
Wieder zur eigentlichen Geſchichte der Geheim»Gefelfihaften mar die
Abſchweifung zuruͤckkehrend, fo muß dad vom 16. Jahrhundert an immer flärfer
hervortretende allgemeine Orbenswefen im dieſer Darftellung ganz über
gangen werden, da die überwiegende Mehrzahl der nach und nach in allen
Ländern, ſelbſt in der Türkei, in Perfien und Oſtindien geflifteten Orden
nicht Träger irgend eines Geheimniſſes war, vielmehr dieſelben Verdienſte an-
erfennen, Rang, Glanz und Würbe verleihen, Erinnerungen an beftimmte wiche
tige Greigniffe feithalten, EN auch rein der gefelligen * * —
dienen ſollten und dienten.
Die Zeiten des fmattalbifen, des deutſchen, wie deo deahigiahrien
Krieges waren allzu unruhevoll, um Geheimbündniſſe zu begünſtigen, welche
mehr beftändige, dauernde Berhältniffe, als aufreibende, immer wechfelnde, für
ihr Beſtehen bedingen. Indeſſen war eine Macht in die gebildete Gefellfchaft
eingetreten, die mit allem Zauber ded Geheimniffes Tauſende anlodte und
fejfelte, Dieſe geheimnigvolle Macht war die Ulhemie, das Suchen nad)
der Metalle verwandelnden Boldtinetur, dem Steine ber Weifen (Lapis Philo-
sophorum, Aurum potabile, Arcanım Philosophorum ete,) Diefer bethörenbfte
und verlodendjte aller Olücöträume, bie je die Menfchheit taͤuſchten, hatte zwar
auch frühen Urfprung und wurde immer Iebhafter gepflegt zur Zeit des Alber-
tus Magnus und jeiner Nachfolger, wie unter Raimundus Lullus, Ba=
Tilius Valentinus u. A. bis durch die Meformationgzeit Hindurdy zu Theo:
phraſtus Baracelfus, Die „oceulta Philosophia‘“ wurde ba® geldfreffende
Stedenpferd einer Menge Fürften, Kriegähelden, Staatdmänner u, X, , welche
meiſt von den fogenannten Udepten (Goldmachern) arg getäufcht und am
Die geheimen Gefellfchaften. 697
ſchichte, Geift und ftaatliche Ausbreitung der Freimaurerei‘, ‚ Manches über die-
jelbe mitgetheilt ift und. fie im unferer Zeit ebenfalls kaum noch eine Geheim⸗
gefellichaft genannt werden kann, fo trat fie doch als eine ſolche zuerft in das
Leben, und es ift Hier noch Einiges —— — Dort wurde
einfach entwickelt, wie fie allmälig aus mittelalterlic n hervorging,
während man früher im das Mbfurde verfiel -und-ihren erfprung Sie zu Adam
und jeine Söhne in aſchgraues Dunkel der Zeiten hinauf leitete, in Rimrod,
Salome und Iofeph „Großmeifter‘ erblidte, welche Würde naturgemäß
auch dem Mofes zugelegt wurde. Was ——— — nun Anderes
gewefen fein, als eine Freimaurer-Loge? —
Es ſoll auch in der That, ehe die — — *
„Orden der Freiheit“, alſo gleichſam deren Vorbild, geblüht haben, als deſſen
Stifter man glaͤubig Moſes annahm. Die Mitglieder hätten ein Kleinod im Knopf⸗
loch; der Weite getragen — einem Kleidungsſtück, das allerdings nicht in Moſes
Beiten hinaufreicht — in Form einer Gejegtafel mit dem Wahlfpruch: Virtus
dirigit alas, und auf der Rückſeite ein M. mit der Zahl 6743. Alſo fpät genug
noch im Flor. Der Dagontempel in Gaza, ben nur zwei Säulen trugen, welche
Simjon brach, mußte den alten Babulanten als Loge gelten, und nun vollends
ber Salomonijche Tempelbau, das Wunder der Baukunſt alter Zeit, der Triumph
maurerifcher Herrlichkeit fein, Natürlich hatte Ierufalem eine Großloge und
Salomo oder Hiram waren Großmeifter aller Logen, Genug von biefen Babes
leien, die man mit eiferner BeharrlichFeit bis im die mittlere Zeit führte, in der
ſich num der gefchichtliche Hochflug nach Großbritannien wandte. In biefem
Lande fand der Köhlerglaube ber Zeiten Anderſons ſchon am Ende bes
10. Jahrhundertö bie Freimaurerei thätig, bis die Nebel ſich Tichteten und fle zu
Ende des 17. Jahrhunderts wirklich dort zuerft an das Licht trat, wie das alles
in Jacob Anderfons „Neuem Conſtitutionenbuch“. Deutſch a, d. Englifchen,
Sranff. a. M. 1741, des breiteren zu leſen if, Es ſcheint Tange gedauert zu
haben , che man dahin gelangte, eigene Logenhäufer zu erbauen; man hielt bie
LogensVerfammlungen meift in Tavernen mit [ehr unfchönen Namen, z. B. Zur
Gans und Roft (Bierhaus), Zum Apfelbaum (Weinhaus), Zum Teufel (Gaft-
haus), Zu den drei Tonnen (Bierhaus) u, dgl, Diefe Häufernamen mit anderen,
fhöneren, wie Krone, Königin, Mercers Hall u, A. legten dazu den Grund,
daß fpäter jede Loge, die ſich neu begründete, rinen Eng A en ren
aber meift zur freimaurerifchen Symbolik Beziehung hatt,
Da das maurerifche Logenwejen mehr und mehr Berbreitung: fand, ſo
fehlte es ihm bald nicht an Nachahmungen, bei denen aber nicht felten Ernſt
und Würde nur zu ſehr vermißt wurden. Zum Theil waren diefe Orden auch
nur der Bröhlichkeit fich weihende Geſellſchaften, ohne ſonderliches Geheimniß,
aber doch abgefchloffen und nicht ohne einiges Geremoniel, fo der von der geiſt⸗
vollen Herzogin Luife Dorothea zu S, Gotha begründete „Weltliche Ein-
ſiedler-Orden“, oder auch die Iuftigen Eremiten; der „Eintracht-Orden“ des
Prinzen Wilhelm Ludwig zu Schwarzburg-Rubolftadt; l’Ordre de la Boisson
in Languedoe (ein Trinforden) , eine Menge dergleichen in England m. ſ. w.
Die geheimen Geſellſchaften. 699
Schwindler, leicht, fich und feinen Unternehmungen Geltung zu geiwinnen, die
er zum Theil wohl auf innere Ueberzeugung begränden mochte, bie aber doch
nichts weiter waren, als Täufchungen umftricter und befangener Köpfe. Ohne
felbft Maurer zu fein, gründete er als Welt- und Staatenverbefferer feine Per⸗
fectibiliſten-Geſellſchaft mit Bugrundelegung theils jefuitifcher, theils
freimaurerifcher Formen und Seremonien. Weishaupt war Jeſuit geweſen und
tannte als folcher Die Schwächen der Menfchen aus dem Grunde. Das einfache
Sumanitätöftreben in der Sreimaurerel genügte ihm nicht, er wollte Höheres
erringen, Einfluß gewinnen, die Hand in der Lenfung der Staaten haben, und
freute fo viele Gluͤcksverheißungen aus, daß er felbft einfichtuolle Fürften, wie
Herzog Ernft I. zu Sachſen⸗Gotha, für fich gewann und Schirm und Schuß,
Geld und Titel von ihm erfihwindelte. Don Bayern aus wurde Weishaupt
hart verfolgt, fein Geheimbund durch die Staatsgewalt energifch unterbrüdt,
und viele von deſſen Angehörigen mußten es fehr empfindlich büßen, „geheim“
und „erleuchtet”’ geweien zu fein. Der Illuminaten⸗Orden, wie fich ber Per⸗
feetibiliſten⸗Orden fpäter nannte, zählte einige Taufend Mitglieder, und dennoch
war er nicht zu halten, weil -ihm die rechtliche und fittliche Grundlage fehlte:
Der Orben fand in Fatholifchen Ländern mehr Boden und Verbreitung, wie in
proteftantiichen, eine Folge feines Urfprunges und feiner die Phantafte mehr an⸗
regenden Geremonien. Auch berühmte Freimaurer, wie Knigge, Bod u. U:
ließen fih von Weishaupt eine Zeitlang anloden und umgarnen, lernten aber
doch bald den hohlen Kern von der hellen Schaale fcheiden. Die Breimaurerel
blieb, der Iluminatenorden fan? in das Dunkel der Zeiten zurüd. Da aber
dieſes Dunkel immer mehr im Laufe eines neuen Jahrhunderts von Helle durch⸗
ſtrahlt wurde, fo konnten neue Geheimbündniffe im gropen Style feinen rechten
Boden mehr gewinnen.
Ausnahmen von biefer Annahme machten die geheimen Studentens
verbindungen auf deutfchen Liniverfitäten, welche fich der Mehrzahl nach
ebenfalld Orden nannten, und in befien Folge ſich mit befonderen Kennzeichen
an Röden, Mützen, mit Kokarden, Farbenbändern, bunten Quaften x. behingen;
oder, falls fle Öffentlich erfcheinen durften, wo fle dann freilich nicht mehr geheim
waren, durch ihre ganze Tracht die Mitgliepnfchaft eines folchen Ordens zur
Schau trugen.
Ein fehr naturgemäßer Drang, ſich nach Landsmannichaft, gleicher Stu⸗
dienwahl, gleicher Bevorzugung eine Verſammlungsortes anzufchließen, rief
ziemlich früh ſolche Verbindungen unter Studiengenofien hervor, und mehr oder
minder gab es bei Ießteren inımer etwas gegenüber ber großen Menge geheim
zu balten. Irgend etwas Geheimnißvolles mußte da fein, und zum Beitritt
und zur Erforfihung des Gcheimniffes anloden. Wand der Reuhinzugetretene
— wie fo häufig der Fall — nichts dahinter, fo war er Doch hinzugetreten
war einmal dabei und Eonnte nicht wohl zuruͤck.
Aus den fogenannten „Rationalitäten” der alten deutſchen Hoch
fulen wurden allmälig „Landsmannsfchaften”“, welche ben vollffen
Genuß alademifcher Freiheit beanfpruchten und zwar nicht felten fich deren in
700 Geſchichte.
nebenbel willig und freiwillig in — — —
ahmte bie Freimaurerei nach mit mehr oder minderem Gluͤck und Geſchick und
trat in Geheimbündniffe zufanınıen, denen man Namen und mancherlei Symbole
‚verlieh, Die ſich in den Stubentenftammbüchern älterer Zeit
gemalt und eingezeichnet finden. Manche diefer Verbindungen nannten ihre
Bufammenfünfte Logen; die Mitgliever erkannten ſich an ———
theilten ſich in höhere und geringere Grade, erſchwerten die
mancherlei zum Theil beängſtigende Proben und gefielen ſich in dieſem min—
deſtens nicht unſittlichen, vielmehr dem Meinen und Edlen zuſtrebenden
Ente wenn es auch Häufig nur ein geiftveiches Spiel war. 000005
In Iena beftanden im Jahre 1746 zwei Landsmannſchaften, bie Rhe—
nanen und Mofelanen; diefe vereinigten ſich in einen geheimen Orden, die
Mofelania, weil wahrfcheinlich die Zahl der Mofelanen bie der Rhenanen
überwog, und der neue Orben gewann bald Anfehn und Bedeutung vor anderen
Bündniffen, ald da waren Schwert», Lilien», Concordien-⸗, Fafe
binder-Orbden u. U, So blühte der Mofelbund bis zum Jahre 1771, meiftmie
manrerifchen Gebräuchen fort; von da an gab er feinen Namen, v
in Folge von Verfolgungen, auf, und nannte fich Amiciften- Orden, Schon
— Name deutet an, daß man nichts erſtreben wollte, als einen Freundſchafts⸗
; ebenjo der Wahlfpruch: Vivat vera amicitia, und das Loſungswort
* Freundſchaft der Ehre Frucht”. Bald gab es Amiciſtenorden auf den
übrigen thüringifchen Hochſchulen Halle und Erfurt, wie auch in Franken zu
Würzburg und Erlangen, in Heffen zu Gießen, ja fogar in Wien, Doc wur
den von dem Orden der Unitiften, wie der Gonftantiften die Amieiſten
hart befimpft, oßgleich die in den neunziger Iahren aufgefommenen Unitiſten
den Gonftantiften felbft ſehr feindlich gegenüber ftanden. Die erfterem ftrebten
nach Aufrechthaltung guter Sitten, was bei dem Teteren weit az
Ball war.
Auch der Stubentenorden ber „Schwarzen Bräper“, —
der Harmonie entſtanden, erfreute ſich ziemlicher Verbreitung und großem
Anſehns auf den deutfchen Hochſchulen und beftand von 1780 bis 1800, So
blühte in Leipzig der Orden der Inbiffolubiliften (Unzertrennlichen), berfih
nach den Formen bes Amiciftenbundes eingerichtet hatte, ging aber im Sabre
1792 ganz in der Jenaiſchen Amteitia auf. ———
Indeß wurden dieſe ſtudentiſchen Geheimbündniffe hier und ba vielfach laͤtig,
bildete doch jegliches einen kleinen Staat im Staate, und fo fand fi der
Neichshofrath zu dem Befchluffe bewogen, alle und jede Studenten» Orden aufs
4
Die geheimen Geſellſchaften.
zubeben; es war dies das geeignetſte Mittel, das, geweſen, noch
geheimer zu machen, und jo zog ſich aud) die ea dunflere Verbor⸗
genheit zurist. Aber auch diefe durchbligten die Argusaugen der Polizei, und
im Jahre 1798 wurden die letzten 12 Amiciften zu Jena cum infamia velegirt
und ein Bann über fie — der ——— —— auf anderwelten
Hochſchulen verſchloß.
Die Zeit war freilich ganz — gegen Geheimbünduiſſe mi aller
Kraft einzufchreiten, Da durch die franzöſiſche Nevolution das politifche Element
ſich allenthalben geltend zu machen ftrebte und in den Vorgrund drängte, Dies
ſes Element fanatifirte Jugend und Alter für die fchwärmerifchen Freiheitsideen,
welche Frankreich eine reichliche Bluttaufe eintrugen, wie denn Frankreich feine
eingebildete Gloire fort und fort mit dem Blute vieler Taufende feiner Söhne
bezahlen muß, ohne etwas dafür zu gewinnen, als neue Steuern, neue Schulden
und neue Thrannen. Ob bier ———— bleibe
dahin geſtellt.
Durch das politiſche Element, das auch in die Studentenkreiſe *
wurde der Grund gelegt zu heimlichen ftaatsfeindlichen,, aufwiegleriſchen Vers
bindungen, bie ohne fich in beftimmte Kreife abzuſchließen, um fo-gefährlicher
wühlten, In folche Kreife war ber Banatifer Karl Sand, A. v. Kotzebue's
Mörder, getreten, aus ihnen heraus trat er — auf das Schaffot. Poli—
tijche Buͤndniſſe bildeten fih, jo der Mänmnerbund, der Jugendbund,
wie in Italien die Garbonaria, man träumte viel von Mepublifen, von Fifr
ftenbefeitigung, von deutjcher Einheit und Freiheit, alles wie noch heute und mit
gleichem Erfolge. Darauf wurden Unterfuchungen verhängt, welche ergaben,
dag anf deutfchen Hochfchufen nicht weniger ald 14 Geheimverbindungen von
entjchieden „demagogifcher Tendenz“ beftanden, bie von ‚‚unbefannten Oberen‘
— das alte Schibolerh ſchaͤdlicher Geheimbuͤndnerei — geleitet wurden, Diefer
Verein nannte fich „die Schwarzen” und ihre — gingen auf ſtaatlichen
Umſturz und Hochverrath hinaus.
Die Burſchenſchaft war keine geheime Vabindung beabfichtigie
auch Feine Umwaͤlzung, gleichwohl waren Elemente in ihr, die an dergleichen
denfen mochten, und mancher Verdacht Tag gegen fe vor; Sand's blutige,
That hatte fie verdächtigt, Da er ihr angehörte, und jo wurde fie aufgelöft und
verboten. An ihre Stelle trat nun der Eorpsgeift, der fich auf allen Unis
verjitäten verbreitete, und wie offen er auch hervortrat, die Statuten eines jeden
Gorps wurben doch im Geheimen berathen, und im Geheimen hielten die
Seniorenconvente ihre berathenden Sigungen. Nicht minder wurden nad) wie
vor Burfchentage gehalten, — denn ein Berbot ift noch fein Tod — bie
Burſchenſchaft Hatte ein zaͤhes Leben und überlebte namentlich fehr viele Staats—
miniſter. Ihr Geift, jegt freilich von demagogifch-demofratifirenden Elementen
durchſtrömt, blieb in Deutſchland verbreitet, ſchlug felbft auf Forſt- und Berg⸗
afademien Wurzel und pflegte treulich den findentifchen Comment, So gab es
zu Dreißigader eine afademifche Germania, zu Bulda eine Arminia und
eine Buchonia. Dann bildeten ſich andy auf Hochſchulen Germanen» und
703 Geſchichte.
— al jew um „ m —ñañn
in alle dieſe Verhältniffe gehört in
nahe re ade Tu wor —
— ——— oder Tugen doerein n Prei eg
die franzoͤſiſche Gewaltherrſchaft in
Königsberg Perg Hohen zein. patrintifggen, dp
wibmend, Gr trat zwar nicht als Gehen uf, hr
und drängte dahin, Vieles geheim-zu halten, was ber m
„am nähen Ing. Juben und Ausländer durften nicht be es durfi
nichts über den Bund in Säprifien mitgetheilt werben, weber. if och pri
vatim an Richtaufgenommene und Nichteingeweihte. Bei: an aim
Mitgliedern, welcher biejer Bund ſich gewann, konnte es nicht fehlen, daß ver»
ſchiedenartige Geſinnungen in ihm ſich auspraͤgten, * ——
bächtigt, und erntete den gewöhnlichen Teufelsdant für ein vater
dem Herrſcherhauſe feſt anbängliches Beftreben. ine auf die Spige getr
burcaufrarifche Herrſchaft will nun einmal, daß Niemand aud) nur einen Zoll
breit von ihrer Meinung in feiner, Meinung abweiche, deshalb, mußten die
Augendbünbner zur Zeit der Demagogeuriecherei NR
ſolche mißliebig angejehen werben.
Im Italien und Frankreich ildete ſich der politiſche Geheimbund. ber
Carbonaria auf dem Grunde von Lug und Trug. Er wurde ein Affe ber
Breimaurerei, nahm von ihr äußere Bormen und Geremoniel an, Teitete ih auf
frühen Urfprung aus Schottland zurüd und Hüllte ſich in Myſtit, Spmbolif
und Unfinn. Der Garbonaria fchwebte jo etwas vor wie bad |
Italien frei bis zur Adria, und wurde ebenfo glänzend durchgeführt, Es war
ein liberaler Schaum, den trog großer Verbreitung die
wegblies, Das leicht erregbare, nie zufriedene Volk der aliener „fiel dem
Bunde eben jo rafch zu, wie es vom ihm abfiel, als man gegen ihn. den Stab
Wehe ſchwang, einen Theil der Nädelsführer erſchoß und andere derfelben in
fiheren Gewahrfam brachte. re
Als die revolutionäre Bewegung der Jahre 1848—1850 Deutſchland
beunruhigte, die fo viele Blaſen und Phraſen erzeugte, taucht
Geheimbunb= Idee in Preußen auf, hochgeſtellie und bedeutende Männer am
ber Epige und ein edled Wollen zum Kerne, Es war der Treubunb, aber
es war auch mit ihm nichts, Zweck und Ziel war Belebung der Treue gegen
König und Vaterland, aber man beging einen ungeheueren Nipgriff, man wollte
biefer Verbindung ebenfalld einen Formenzwang auferfegen,
maurerthum erborgt war, wollte eine Art Logen mit Geremoniel:
doch mindeſtens geheime Verfammlungen, geheime Leitung ————
A
Die geheimen Geſellſchaften. 702
Obere, ein eigenthümliches Aufnahme⸗Ritual u. dergl. Damit iſt heutiges
Tages nichts mehr zu bezwecken und zu erzielen. Unbekannte Obere find
geradezu lächerlich. Wozu Geheimniß, wenn es gilt, einen ebelsmenjchlichen
und einen loyalen gefegmäßigen Zwed zu verfolgen? Wozu foll ein Beamter
einen zweiten Eid der Treue leiften? Man frage doch jeden einfah: Willit Du
Deinen Dienfteid halten, oder ald Meineidiger mit Schimpf und Schande von
dannen gehen? Dann gehe! — Offen zwar, aber doch nicht ohne geheime
Beftrebungen und Propaganda tauchen in neuefter Zeit Reformbeiwegungen auf,
die beim beiten Willen nur fchaden und fruchtlo8 bleiben werden. Es ift etwas
fittlich Hohes und Schöned um das Viribus unitis — aber tie vereinte Kraft
muß im Rechte wurzeln und mindeftend berufen fein, wenn nicht außer»
wählt, fle muß nicht zufammentreten, wo Niemand ihrer begehrt, dann bewahrt
fie fich jedenfalld vor der Blame eines Lächerlichen Fiascomachens. Beifpiele find
verhaßt. — Weiteres lehrt die Zeit.
Seit mehreren Jahren regt fich in Frankreich ein halbgeheimer und bereits
weit verzweigter Volksbund, deſſen Anhänger den Arbeiterfchichten angehören;
er nennt fih die Marianne und verfolgt communiftiihe Zwede. Napo⸗
leon 11. wird diefe Marianne ſchwerlich küſſen, wenn fie verfuchen follte, ihm
nahe oder zu nahe treten zu wollen.
Der Hopfen. 705
bezüglichen Verordnung den Gebrauch von Schwefel?) mit Hopfen von Seiten
der Brauer. Nach Verlauf von mehr ald 70 Jahren (1603) wurde von
Jacob I. gegen die Einführung verdorbenen und verfälfchten Hopfens unter
Androhung ſchwerer Strafe ein Verbot erlaffen. Hieraus möchte zu folgen
fein, daß, objchon bekanntermaßen bereitö bedeutender Eifer auf den Hopfenbau
in England verwendet wurde, eine ziemlich große Quantität Doch noch von dem
Auslande dem Heimifchen Markte zugeführt worden ift.
Verbraud an Hopfen. — Gegenwärtig wird faft ſämmtlicher im
vereinigten Königreich verwendeter Hopfen ungeachtet des ſehr ausgebehnten
Verbrauches im Inlande gezogen. In einer Zeit von 4 Sahren betrugen die für
den inländischen Gebrauch behaltenen Maſſen, ingleichen die in den Staatsſchatz
gefloffene Steuerfumme**) wie folgt:
Sabre. Verbrauch. Steuer.
1850. 48,267, 168 &. 2232,576.
1851. 26,138,906- s 129,580.
1852, 50,146,639 = = 244,866.
1853. 30,949,590 = s 152,677.
im Durhichnitt . B8, 375, 5738. 2159,425.
Diefe Yurdfignittäfumme ftellt eine fo große Menge Hopfen bar, daß
mehr wohl kaum auf dem ganzen übrigen Erdball von dieſem Produkte gezogen.
werden mag. Wie verfchieden ift der Geſchmack, den dieſes ftarfe Gonjun
gegenwärtig anzeigt, von demjenigen, ber zu Anfang bed fiebzehnten Jahrhun⸗
derts geberrfcht haben mag, als die Stadt London vor dem Parlamente gegen
zwei Uebel petitionirte — gegen die Rewcaftles Kohlen, wegen ihres Geruches
und gegen den Hopfen, weil derfelbe den Geſchmack der Getränke verberbe und
die Gejundheit der Trinfer benachtheilige***),. Der Ertrag in Belgien, —
nach Verhaͤltniß feiner Bevölferung von 4°/2 Millionen — einen der im größten
Mapitab Hopfenbauenden Länder Europas, belief im Jahre 1853 fich auf
7,653,206 Pfb.
In Deutfchland ziehen Rheinbaiern und das Großherzogthum Heſſen vielen
und vorzüglich guten Hopfen; den Betrag ber jährlichen Produktion vermochte
ich jedoch nicht zu conflatiren. Holland zieht wenig Hopfen und ergänzt ben-
felben zum Theil durch Einführung aus den vereinigten Staaten Rordamerifaß.
In Rußland wächft eine Abart des Hopfens wild in Taurien, am Ural und
Goldgebirge; der größere Theil des Bedarfes jedoch wird vom Auslande eingeführt.
Der Grund, weshalb bie für heimifchen Gebrauch zurücdbehaltenen Maffen
in den oben angeführten Jahren fo ſchwankend waren, liegt darin, daß die Ernte
eine fehr unfichere und wechfelnde ift, daß daher der Ertrag reicherer Jahre auf⸗
bewahrt wird, um in weniger ergiebigen den Ausfall zu beden.
*) Dies bezieht fih muthmaßlich auf tie noch gegenmärtig herrfchente Sitte, ten
Hopfen mit Schwefeltampf zu bleichen, welche damals wohl nicht mit folder ausges
bilteten Geſchicklichkeit als jeßt ausgeführt werden fein mag:
**) Die Eteuer beträgt 18 Sh. 8 Pe. pr Etr. und 5 Brocent Aufihlag. -
**%*) cf, Walter Blith’s > English Improver Improved. 3. ed. 1659.
IV. 45
706 Agꝛurikulturchemie.
Durchſchnittsverbrauch von beiläufig 40 Millionen Pfund if-
—— —** dieſer Pflanze unter den‘ von uns genoſ⸗
fenen narfotifchen Mitteln tritt noch mehr zu Zage, wenn man ihren durch·
ſchnittlichen Verbrauch mit dem des rar Dad
folgendes: an va im» ir mie u
‚Im Iahre 1853 Durcfgninserteaun von ‚Sopfen 3,3755 3
Desgl. a [2
0 Differenz" 8,688,01
Die jährliche Genfenkion: von Hopfen üßerfeigt * um %ı ben Ge
st des Tabafs in England, Der Hopfen ift ſonach diejenige
narfotifche Subftanz, von welcher England nicht nur mehr erzielt und mehr con⸗
fumirt, als der ganze übrige Erdball, ſondern vom welcher en audi
mehr ald von irgend einem anderen Ähnlichen Stoffe verwenden.
Wer aber, der einmal die Hopfenberge von Kent und Surrey in bei
Bluͤthezeit fchaute, Fönnte je die Schönheit und Anmuth diejer Fieblichen
vergeſſen? Die hohen Stangen erflinnmend und mit ihren Hammernden Ranken
diefelben umfcplingend, verbirgt fe die Steifheit des fie tragenden Stammes
unter der üppigen Fülle ihrer bufchigen Blüthen. Von jedem fie berührenden
Windhauch im Leichter Beweglichkeit ſchwankend und fich beugend, in Guir-
Iandenform von Stange zu Stange ſich ſchwingend, tanzen und glängen bie
Hopfenvanfen unter der jhönen englifchen Sonne — das Bild eines echten
engliihen Weinberges, dem weder des Rheines noch der Mhone Ufer ſich ver⸗
gleichen und das nur von en am freieften wächft, über-
troffen werden fann, — —
Hopfenbau, — Der Hopfen liebt * fetten und fruchtbaren
Boden, wie der alte Gerard im Jahre 1596 ſchrieb und Düngung befördert
jein Gedeihen.“ Wenige Orte aber mögen ſowohl am nathrlicher Fruchtbarkeit
als am Fünftlich erzeugtem Reichthum die Hopfendiftricte von Surrey übertreffen,
welche am Rande der |, g. Grünfandftreden, in der Nachbarichaft von Farnham
liegen. Von Natur auferordentlich reich an mineralifchen Nahrungsmitteln ber
Pflanze, war der Boden in jener Gegend ſchon feit zwei Jahrhunderten wegen
darauf gezogenen Hopfens berühmt ; und lediglich mit Rüͤckſicht auf diefe Cultur⸗
art werben noch heutigen Tages die vorzüglichiten Strecken mit £ 500 pro Acker
bezahlt. Die reichten ſchotiiſchen Sandwirthe — die den Dünger am Wentgften
jparen — können im dieſer Beziehung mit den Hopfenbauern von Kent und
Surreh nicht rivalifiren. Ein Durchſchnittsaufwand von £ 10 auf jeden Ader
in einem Umfange von 100 Morgen, von einem einzigen Beflger von Hopfen-
land verwendet, geftaftet dieſen Zweig der Feldwirthſchaft zu den merkwuͤrdigſten,
foftipieligften und vornehmften in England, Diefe Art des Hopfenbaues, fowie
ber befondere Werth und bie Seltenheit gutes Hopfenlandes waren Igow fer
früßzeitig befannt. Sie bilden einen Teil der urſprünglichen Einführungsg
jchichte diefer Pflanze, Tuſſer, der zur Zeit Heinrich’ VIH. und wiß
Regierung von deſſen drei Kindern lebte, fagt in feiner Zeidbauhune son dam
Hopfen: |
Mi
.
De Hopfen, 707
Auf naßsfaulem Boden nur Hopfen laß ſtehn,
Recht reichlich mit Fräftigem Dünger verfehn,
‚ Nicht zwar überſchwemmt, doch vom Wafler nicht fern,
Den Boden, merf Dir, hat ter Hopfen wohl gern.
Die Sonne im Süden und audh im Südweften
Iſt für des Hopfens Gedeihen am Bellen;
Der Nordwind aber, und der von Nordoflen
Laßt oftmals den Hopfen wohl Uebles foften.
Drum, find’ft Du ein Fleck zum Hopf'bau geſchickt,
So if Dirs mit einem Goldpfund geglüdt;
Dann grabe und öffne dem Sonnenbrand,
Dann Ichließe in Heden das Hopfenland.
Des Hopfens Ruhm fo nimmer erlifcht,
Da Biere er Kräftige, dem Malze vermifcht;
Und Dauer verleibet dem Gerſtenſaft,
So lange der Durft ihm nicht Ende fchafft.
Nupen des Hopfend — Der im Handel gebräuchliche Hopfen
befleht aus den weiblichen Blüthen und Saamen des humulus lupulus, oder der
gewöhnlichen Hopfenpflanze. Seine vorzügliche Verwendung findet er für die
Zubereitung von Bier und befigt er drei Eigenfchaften, welche ihn hierzu be=
jonder8 geeignet machen. Zunächft gibt er der aus dem Malz gewonnenen
Flüffigfeit einen angenehmen, etwas bitteren und aromatifchen Gefchmad. So⸗
dann verleiht er ihr ein etwas eigenthümlich Beraufchendes, welches oft mit ale
koholiſchem &ehalte verwechielt wird, und erfpart auf ſolche Weile dem Brauer
einen Theil des Malzes. Die fchläfrig machende Wirkung des Piered wird zum
Theil ebenfalld der narkotiichen @igenfchaft des Hopfen beigemeffen. Drittens
endlich befteht defien chemiiche Einwirkung darin, bie Malzgetränfe zu klaͤren und
deren Sauerwerden zu verhindern. Der Hopfen firirt die Gährung in dem als
foholifhen Stadium; und aus der Gefchichte der Braufunft ergibt fih, daß
Bier, welches längere Zeit hindurch aufbewahrt werten Eonnte, in England erft
feit Einführung des Hopfend gewonnen worden iſt. „Das Ale” fagt Parkinfon
(1640), „welches außsfchlieglich bei unferen Vorfahren in Gebrauch war, wird
jegt faft gar nicht mehr gebraut, da Die Anwendung des Hopfens jenes Getränke
wefentlich modifleirt und bdafjelbe der Geſundheit zuträglicher macht, indem es
den Körper vor der durch das frühere Ule erzeugten Bollfaftigkeit bewahrt.“
Verſchiedene Hopfenarten. — Bon dem gebauten Hopfen gibt
es viele verfchiedene Arten; in unferen vorzüglichen englifchen Hopfenbiftricten,
Kent, Surrey und Suffer jedoch werden nur fünf Arten in größerem Umfang
gezogen. Diefe find;
a. Die Goldings (Öoldranfen, NRonetten), vorzugsweiſe im mittleren
und öftlichen Kent wachſend. Sie lieben einen fteinigen Kalfboden oder eine
reiche lockere Lehmerde. Nur in den fruchtbarften Bodengattungen können ſie
gebeihen.
b. Die white-bines (Weißranfen) find die Lieblingsgattungen in Farnham
und Ganterbury. Sie erfordern diefelbe Bodenart wie die Goldranken, find in
ihrer Erfcheinung und ihrem Wachéthum denfelben jehr ähnlich und haben faft
45*
708
gleichen ren ber Blüthe der W ißranken wird & rteſt
e. Jenen zumächft werben die — — —
Sie gedeihen auch auf weniger gutem Boden ; und da fie nur ſehr kurzer Stan-
gen bevürfen, auch ziemlich gute Ernte liefern, en ©
bauern in Kent in allgemeiner Aufnahme, —
d. Die Grape (Traube) bat viele Unterarten und ı |
Stangen ald die Ionedranfen. Dieſe Gattung gedeiht in hartem, ſchweren
Boden, nad) vollſtaͤndiger Drainage und gewährt ſehr reiche Ernten. Daher
ihr Vorwalten in Weald, Gewöhnlichwird fie für geringere Bierſorten verwendet.
e. Die Coleyate ift eine etwas Fleinere Hopfenart ald die Traube,
bringt aber in Suffer und im Kenter Weald auch ordentlich reiche Ernten
hervor. Sie wird beim Marft verkauft, oft den Goldranten untergefchoben;
doch mögen die Bauern fie wegen ihres ranzigen Geruchs nicht benugen. Viele
betrachten fie ald die fchlechtefte der gebauten Hopfengattungen, >
Mach der Bodenart, im welcher ſie gedeihen, find dieſe beiden Varietäten
auch unter dem Namen ‚Rehmbopfen befannt, Die in dem Kenter Weald und
Suffer gezogerten follten füglich ala Sudlehmhopfen bezeichnet werden, eben jo
wie bie auf dem fteifen Lehmboden von aan gezogenen auf dem
Markte ala Norblehmbopfen erfcheinen. u
Aus dieier kurzen Bejchreibung der gewöhnlicheren ee wirb man
erfehen, daß eine große Verfchiedenheit des Geſchmacks und der Güte unter ge—
nannter Pflanzengattung beftchen muß und zwar nicht nur in verſchiedenen Ges
genden, fondern fogar auf derfelben Strecke. Der Diftriet von Kent z. B. er⸗
zeugt Hopfen von fehr verfchiedener Qualität, indem die beften Sorten dort im
beſonders hohem Grade Wohlgeſchmack und Stärfe in ſich vereinigen. Der
Boden diefer Gegend ruht bauptiächlich auf Kalk, tbeilweife jedoch an seiner
ſüdweſtlichen Grenze auch auf Grünfandformation. Der nördliche Theil Frage
lichen Diftrietes iſt von den Plötzſchichten der Londoner Bucht bedeckt. Um
Nochefter und Ganterbury aber, wo der Lehmboden der Flögichichten mit dem
poröfen Kalk zufammen trifft, wird der beſte Kenter Hopfen gezogen. Geringere
Sortem wachen auf der Thonerbe des Kentifchen Wed. 0 m 0 0m
In Surrey ferner hat der Hopfen aus der Nachbarschaft von Farnham feit
unvorbenflicher Zeit ben höchften Preis auf dem britifchen Hopfenmarft gehabt
Derfelbe wächſt auf dem an phosphorfaurem Kalfe reichhaltigen Mergelboben,
welcher aus dem Gefteine der Grünfandbildung entfteht. In foldem Maße
hängt auch des Hopfens Güte von der natürlichen Eigenſchaft des Bodens ab,
daß der Werth der Ernte häufig an der Scheidewand einer Hecke ſich
Der Wechfel in der Güte des Erdreichs ift in jener Gegend oft ſehr raſch und
bedeutend, woraus der nicht minder rafche Wechfel in der Güte der Ernte feine
Erklärung finder. | —
E—
Der. Hopfen. 109
Der Lehmbodenhopfen von Kent und Suffer ift rob und ranzig; der ber
fleinen Strede von Betford in Nottinghamshire, Nordlehmhopfen genannt,
erreicht aber den Außerften Brad von Wildheit. Er gibt dem Biere einen
‚groben Geſchmack, welcher denen, die nicht daran gewöhnt find, faft Uebelkeit
erregt. Der harte Lehmboden der Gegend von Nottingham, in welcher dieſer
Hopfen wächft, Tiegt im Thale des Trent, und wird vorzugsweije aus den Ab⸗
ſchwemmungen des neuen rothen Sandfleinlagers, Durch welches der Trent fließt,
gebildet, nach Vermifchung mit Koblentheilen, Dolomit (magneflahaltigem Kalf)
und dem von den Nebenflüffen des Trent zugeführten Lehme. Muthmaßlich
würde eine vollfländigere Drainirung dieſer Gegend die Güte des Hopfens er⸗
höhen.
Für Diejenigen, welche an den milden Geſchmack des Hopfens gewöhnt ſind,
ift der des nördlichen Lehmbodens faſt Uebelkeit erregend. Der Kenter Hopfen
jedoch wiederum wird von denen gemieden, die an den noch milderen Geſchmack
des Worceſter Hopfens ſich gewöhnten; letzterer übertrifft in dieſer Beziehung
den beſten Kenter Goldranken und bietet in der Regel einen ſehr lieblichen An⸗
blick dar. Im praktiſchen Gebrauch bringt der Worcefter Hopfen früher als
jeder andere das Bier zur Reife. Er wächft auf dem rothen Boden im Thale
der Saverne und befigt nach Anficht der Biertrinfer eine angenehme Milde,
welche fich in anderem Hopfen nicht findet. Daher würde in Lancafhire, Cheſ⸗
hire und einigen anderen Diftriften, wo durch den Worcefter Hopfen der Ge⸗
ſchmack verwöhnt ift, felbft feiner Kenter Hopfen ald unverfäuflich zurückgewieſen
werden. Ein feiner Lancafhire» Biertrinfer nennt Bier, welched mit Kenter
Hopfen gebraut if, Porter⸗Ale. Die fragliche Gattung ift jedoch nicht für bie
Zubereitung der beflen Qualität von Malzggetränfen, nämlich von Lihten⸗Ale
(Weißbier) geeignet, weil jener Hopfen nicht in genügender Weife Die Eigenschaft
des Dauergebens befitt.
Der rothe Boden von Worcefterjhire ift aus Trümmern des neuen rothen
Sandfteind gebildet, welche durch die Fluthen der Saverne geflebt und fortges
ſchwemmt werden. Der Reiſende berührt einen Theil dieſes KHopfentiftrictes
auf feinem Wege von Worcefterfhire nach Malvern. Der rothe Boden von
Hereford, auf welchem gleichfalld Hopfen in großem Mapftabe gezogen wird, tft
aus altem rothen Sanditein gebildet und in Milde des Geſchmacks, glaube ich,
fommt der dort gewonnene Hopfen dem von Worcefter ziemlich gleich. Meich,
oder und brödelich gleicht diefer rothe Boden in jolcher Hinficht dem von Kent
und Surrey, von welchem der Canterbury⸗ und Farnham⸗Hopfen gewonnen wird.
Deffen ungeachtet unterfcheibet fich auch die in fraglicher Gegend wachſende
Hopfenart von denen auf Kent und Surrey. Man hält fle für einen Abkömm⸗
ling der flandrifchen Rothranfe*). |
Solchergeftalt Hat der Boden und die Dertlichkeit, wo ber Hopfen wächft,
und die Urt, welche gebaut wird, ftarfen Einfluß auf den Geſchmack, welchen
der Hopfen dem Bier verleiht. Außerdem aber werden auch durch die Zeit des
*) Das Berhältniß, in welchen diefe einzelnen Hopfenarten in England gezogen
Der Hopfen. an
den Kraft gefeiert. Dem Müden und Schlafloſen hat das Hopfenfiffen oft er-
friſchende Ruhe bereitet, wo jedes andere Schlaf erzeugende Mittel erfolglos ges
blieben war. Dem Entweichen des vorerwähnten flüchtigen narkotifchen Ins
gredienz aus den Blüthen wird, obwohl dafjelbe nur in jehr umbedeutender Duan,
tität Rattfindet, dieſe einfchläfernde Wirkung des Hopfens utgeaahtig age
fchreiben fein. |
Bon. bemfelben:füdhtigen Iuprebleng if ber-@eruc bedingt, —
in Hopfenlagerhaͤuſern trifft, ſowie ein großer Theil des Aromas, welchen der
Hopfen dem Biere gewaͤhrt. Auch iſt die Entweichung dieſes Stoffes ſelbſt aus
dem vollkommen feſt geſtopften Hopfen bie Urſache davon, daß derſelbe durch
längeres Aufbewahren jo weſentlich an feiner Güte verliert, indem er nach Ver-
lauf eines Jahres in der Negel um ein Dritiheil im Werthe fich verringert.
Auch beim Einkochen der Würze wird ein Theil deffelben ee
Elements ausgefchieden und geht dem Biere verloren.
b. Das aromatische Harz. — Wenn die trodenen Gopfenblůthen ge⸗
klopft, zerrrieben und geflebt werben, ſcheidet ein feiner gelber Staub von den—
felben aus, welcher an Gewicht ungefähr dem fechöten Theil von dem des Hopfens
gleich Fommt. Dieſes feine Pulver wird zuweilen mit dem Namen Lupulin be
zeichnet. Hopfenfäufer nennen ed bie Grundbebingung des Hopfens. Unter
dem Mifroffop erkennt man dies Pulver als aus etwas durchfichtigen Körnern,
oder Gicheln von einer rumblichen Form von goldgelber Farbe und Zellgewebe-
bildung beftehend. Durch das Trocknen verlieren fie ihre runde Geftalt und
zertheilen fich im Waffer in eine außerordentlich große Anzahl winziger Kügel-
chen. Die Functionen diefer organischen Tupulinifchen Eicheln ald eines Thei—
leö der Pflanze find noch vollftändig in Dunkelheit gebüllt. Sie befigen einen
ftarfen angenehmen Geruch und einen bitteren Gefchmad. Innerlich gebraucht,
find fie aromatisch und ftärfend. Sie beruhigen und dämpfen, lindern den
Schmerz, verlangfamen den Pulsſchlag und find im geringem Grade Schlaf
erzeugend. Alkohol entwickelt aus ihnen über die Hälfte ihres Gewichtes ein
röthlich gelbes, durchfichtiges Harz, welches wenig aromatifch und in reinem Zus
Rande frei vom Bitterkrit ift. Dies ift Das aromarifche Harz der Hopfenblüthe,
vom welcher es den zwölften Theil oder 8 Procent des Gewichtes bildet, Welchen
Antbeil dieſes Harz an den Wirkungen bat, die das — * ganzen
Körner erzeugt, iſt noch nicht genügend ermittelt.
c. Das bittere ETement. — Außer dem Harze enthalten die Fleinen
Körner 2 Procent eines flüchtigen Oels, 2 Procent Gerbftoff und 2 Procent
eines befonderen, bitteren Elementes. Diejed legtere ift der befanntefte Be—
ftandtheil des Hopfens und verleiht unferen Bieren Bitterfeit, Auch in den
übrigen Theilen der Blüthe ift ein bitteres Ingredienz enthalten, mit welchem
wenige genauere Unterfuchungen bisher angeftellt wurden. Der ‚bittere Stoff
jener Körner wird für narkotifch gehalten; feine wahre Wirfung auf den menſch⸗
lichen Organismus ift aber noch unbekannt. Der Gerbeftoff trägt. —* BB
flären des Bieres bei.
Obſchon num die ſpezifiſchen Birfungen eines jeden ver in —
Der Heyfen. 113
6‘
Dem größeren Theil der Lefer mag e8 fonderbar erſcheinen, — vielleicht
wird er ſelbſt der Wiflenfchaft einen Vorwurf daraus machen, — daß bie che⸗
mifche Analyfe eines fo allgemein gebrauchten vegetabiliihen Produktes, wie
der Hopfen ift, noch fo unvollftändig, unfere Kenntniß feiner Natur und Zu⸗
fammenjegung jowie der beſonderen phyſtologiſchen Wirkungen jeiner einzelnen
Beftandtheile noch fo unbefriedigend ift. — Der unterrichtete Chemiker hingegen,
welcher weiß, wie ausgedehnt dad Feld chemifcher Rachforfchung geworben, wie
rajch unfere Erfenntniß auf deinfelben im Allgemeinen im Vorfchreiten begriffen
ift und der in jeinen täglichen Studien mit folhem Wachsthum der Wiffenfchaft
gleichen Schritt zu halten fich bemüht — er wird fein Erflaunen empfinten.
In der That muß er den Wunſch hegen, alle folche Dunkelheiten und Schwierige
feiten aufgeflärt zu jehen. Doch wird er mehr zu Dank und Lob gegen bie
vielen eifrigen und der Wiffenfchaft ergebenen Männer fich bewogen fehen, welche
in allen Rändern gegenwärtig dieſes Feld bebauen, um fle in ihrem Werke zu er-
muthigen, al& daß er darum tadeln möchte, weil fle genöthigt waren, einen
Theil des ausgedehnten Gebietes bisher unbebaut zu lafien.
Wie wir fahen, gehört ter Hopfen zumal in England zu ben in audges
breitetften Mapftab verwendeten narkotifchen Mitteln. Doch unterfcheidet er ſich
von Tabak und anderen, hiernach noch zu erörtenden narkotifchen Kieblingäftof-
fen, indem er felten anders ald officinel ungemifcht verwendet wird. Hingegen
wird er Aufgüffen, wie 3. B. den Ralzgebräuden zugefügt, um Geruch, Geſchmack
und narkotiſche Eigenjchaften zu verleihen. Auf folche Weife gebraucht, bildet
der Hopfen unzweifelhaft eine der Urfachen angenehmer Aufregung, lieblichen,
narfotiichen Rauſches und heilſam flärfender Wirfung, welche gut gehopftes Bier
befanntlich auf diejenigen hervorbringt, deren Körperbeicyaffenheit ihnen daſſelbe
su trinken geflattet. Andere gewöhnliche vegetabilifche Broducte geben den Malz«
gebräuden zwar auch einen bitteren Gejchmad. Wermuth, Enzian, Bitterholz,
Kamille, verfchiedene Sorten Kornfräuter, Ginfterjpigen, Erdepheu, gewöhnliche
Heyde, Burbaumfchale, Löwenzahn, Chicory, Drangenferne, Picricfäure, Chi⸗
rayta, das giftige Strychnin*), und manche andere Subflanzen find in Eng⸗
land gebraucht oder empfohlen worden, um den Hopfenverbrauch zu erjegen oder
zu verdrängen. „Keined genannter Mittel aber verleiht auch nur Annaͤherungs⸗
weife jene bejonderen Eigenichaften, durch welche das englifche Biiterbier heu⸗
figen Tages feinen hohen Ruf genießt.
Intereffant ift es zu beobachten, wie die Menjchen ihren angeftammten
Geſchmack überallhin mit fich führen, nach welchem unbekannten Lande und
neuen Klima fie auch gelangen mögen. Die Liebe zu Hopfen und Bier wurde
*) Strychnin if eine intenflv bittere Eubftanz, in nux vomica enthalten; chirayta,
eine ebenfo bittere Pflanze Indiens, und Picriefäure eine beinahe gleichmäßig bittere,
durch die Wirfung von Salpeterfäure auf Indigo erzeugte Subflanz. Die beiden
fegteren hat man erft neuerdings zur Gewährung bitteren Geſchmackes in das Bier
{U verwenden verfucht. Das erſtere ift zu giftig, um anteren als gewifienlofen Mens
chen empfeblenswerth zu erfcheinen. Es ift dermaßen bitter, daß fein Borhandenfein
bei einer Auflöfung in dem 600,000 fachen Waflergewichte entdeckt werten kann.
Der Hopfen. 715
Wünfchen und Neigungen ihrer Kunden zu fröhnen fucht. Ihr Gebrauch iſt
durch Parlamentsafte verboten bei einer Strafe von 200 Pd. St. für ben
Brauer und 500 Pf. St. für den an den Brauer verfaufenden Droguiften.
Ein Ertract wird jedoch bereitet und verkauft, und man hat Grund, ein ſehr
ftarfes Conſumo deſſelben anzunehmen (Pereira). Einige Schriftfteller über
Brauerei geben offene Anleitung zum Gebrauche dieſes Gewächſes z und ald an=
gemeſſenes Verhältnif werden von Morrice dem ehrlichen (!) Brauer 3 Pfund
Coceulus indieus auf je 10 Quarter Malz empfohlen. Von unebrlichen
Prauern wird zwweilen bis zu einem Pfund auf die Tonne von 54 Gallonen
verwendet, nebſt Calamus aromaticus und Iriswurzel, um das Gchräude fchmad-
baft zu machen, Wenn mun 1 Pfund wirklich 4 Scheffel Malz erſpart, jo
muß durch die im Jahre 1850 eingeführten 2359 Etr., wenn fie ſaͤmmtlich zu
diefem Zwecke verwendet wurden, die enorme Summe von ur Scheffeln
Malz erſpart worden fein, ln”
Vorzugsweiſe auf die niederen Boftötfaffe wird -diefer Beteugigehki Die
Mittelklaſſen in England ziehen das dünne weinartige Ale und die bitteren Biere
vor. Der gewandte, bejfer jitnirte Arbeiter liebt einen Trunf, der reich und
voll auf der Zunge iſt. Der arme Bauer aber ſucht nach des Tages Mühen
auf den Grund des ihm vergönnten einzigen Glaſes Etwas, das merfbar auf fein
Gehirn zu wirken vermag. Desbalb wird bejonders unter der Taglöhnerklaffe
das ſchwere, verſetzte Bier des Bälichers begehrt und getrunken. Vermuthlich
auch kann ein Theil der eigenthümlichen , thterifchen Beraufchungseriheinungen,
denen man nicht felten unter een — Zuusey _—
Coceulus indieus geſetzt werden. I 1 —
Die Wirkungen, die dieſe Subſtanz erzeugt, sollen er.
Damit verfegtes Bier getrunfen haben, mehr auf „bie Bewegungdmusfeln als
auf die Geiftesthärigfeit‘ fich Außern*). Iſt dies der Ball, fo mag ein Menfch
unter dem Einfluß dieſes Stoffes ſich darüber verwundern, feinen Körper unbe-
holfen zu finden, während fein Geift verhaͤltnißmaͤßig Elar geblieben und noch im
Stande ift, mit ziemlicher Eorreetheit zu denken und zu urteilen. Andere bin«
gegen behaupten: daf die Einwirkung des Coceulus hanptfächlich auf das Ge—
bien ftattfinde; wonach anzunehmen fein möchte, daß feine Wirkungsart einiger-
maßen je nach der Indieidualität des Eonfumenten Veränderungen erleidet.
In ſtarken Dofen ift er allen Thieren giftig, und ein häufiger, bekannter
Gebrauch Bi yore pr ie un Auges BR Weiden nun, wie
*) Pereira Materia medien. 3. Ausg. p 2156. |
**) In Indien werden bie jerriebenen Blätter des Plyllanthas coraml und die Kap⸗
feln des Xantophyllum hastile (Rindley) und am Himalayagebirge der Samen ber
Chanbmoogra und bie Frucht des immergrünen Took oder Hydrocarpus zur Betäubung
von Fiſchen benugt (Hoofer), Die zerquetichte Wurzel der Handia dumelorum übt
ine ähnliche Wirkung (Rorburgh). Mir unbekannt iſt, daß irgend eine dieſer Subftangen von
Menſchen genoffen werde. Die Eüdamerifanifchen Indianer verwenden zerriebene An:
gofturarinde zur Betäubung von Fiſchen (Hancock) und bie ern machen
denfelben Gebrauch von Cinchonaſchale (Saunters). |
Der: Hopfen: 717
Baumes zur Mifchung mit dem Meethe gebrauche*); doch ift es unentfchieben,
ob fie narkotishe Wirkung üben. Andere Weifende erwähnen eine Wurzel
Namens „Taddo“ ald unter den Aetbiopifchen Stämmen allgemein gebräuchlich
zur Verſetzung ded Gemijched von gemalzter Gerſte und Honig, woraus ihr Lieb⸗
lingsgetraͤnk bereitet wird. Die chemifche Analyſe dieſer Subftanz iſt noch un⸗
befannt.
5) Inı nördlichen Europa. — Dad Ledum palustre (Sumpflevum ober
wilder Rosmarin), eine im nördlichen Europa gewöhnliche Haidepflanze, wurde
früher in Schweden und Norddeutſchland benutzt, um den Malzgetraͤnken Bitter⸗
feit und wejentliche Stärfe zu verleihen. Seine Blätter in die Würze geworfen,
machen das Bier ungewöhnlich higig, fo Daß es Kopfichmerz, Uebelfeit und bei
übermäßigen Genuß felbft Delirium erzeugt. In Deutfchland wurde aus diefem
Grunde der Gebraud; defjelben gefeglich verboten. Aehnlich wie mit dem Coc-
culus indicus in unferem Lande foll auch jene Pflanze im nördlichen Theile
Deutfchlands noch jegt unter betrügerifchen Brauern in ausgedehntem Gebrauche
ſich befinden **), um dem Biere eine gefährliche beraujchende Kraft zu verleihen.
- Wann und wie follen die Armen und Unwifjenden Schuß finden gegen den
Tenntnißreichen Betrug? |
Das Ledum latifoliam befigt ähnliche narfotiiche Eigenjchaften und wird,
wo es fich in binreichender Menge vorfindet, anftatt des palustre oder vermifcht
mit demjelben verwendet.
In Rordamerika find diefe beiden Pflanzen unter dem Namen Labratorthee
befannt, und werden ald Surrogat für chineflichen Tihee verwendet. Beide wir⸗
fen -zufammenziehend und enthalten neben der Gerbjäure, aus welcher dieſe
Eigenfchaft entftammt, wahrfcheinlich auch ein noch nicht erforfchtes narforiiches
Element. Diefem Tegteren find die beiden Eigenthümlichkeiten zuzufchreiben, .
welche jene Pflanzen zum Surrogat für Thee in Faltem Klima cbenfowohl ala zu
einem Berauſchungsmittel Durch DVermifchung mit dem Biere qualificiren. Nach
Dr. Richardſon ift das fchmalblättrige L. palustre unter beiden genannten Ar«
ten am Beten zu Bereitung' von Thee geeignet. Beide Pflanzen würden eine
genauere chemifche Uinterfuchung wohl reichlich Tohnen.
Die Blätter der Schafgarbe (Achillea millefolium) haben bie Eigenichaft,
Betäubung zu erzeugen. Im nörblicyen Schweden werben fie von den Dalecar⸗
liern gebraucht, um ihrem Biere beraufchende Kraft zu verleihen.
6) In England wird den Scharlachfraut (Salvia sclarea) die Eigen
ſchaft beigemefjen, dem Bier beraufchende Kraft zu verfchaffen. Auch Safran,
bie getrocknete Narbe des Crocus sativus, hat eine ähnliche Wirkung. Er übt
einen fpezififchen Einfluß auf Gehirn und Nerven und verurfacht, in ftarfen
Dofen genofien, unmäßige Heiterfeit und unwillfürliches Lachen. Seine bes
Iuftigende Eigenſchaft ift fo merhvürdig, daß man in ihm das nepenthes bed
Homer erfennen zu Dürfen glaubte. Um eine Tuftige Laune zu bezeichnen, wurde
*) Haris' Hochebenen Aethiopiens.
**) Beckwith's Geſchichte der Erfindungen (Bohns Ausg.) Bol. II. p. 386.
718 Agrikulturchemie.
es ſprüchwörtlich: „Dormivit in saccocroci“ (Er ſchlief auf einem Hopfenfad).
Auch hat der Safran die befondere Eigenfchaft, den durch alfoholifche Getränfe
erregten Raufch zu neutralifiren, was einiger Maßen auch mit dem Hopfen ber
Fall if. Died war dem Plinius befannt, welcher von dem Safran fagt: „daß
er die vom Wein bewirkten Hirnnebel zerftreue und Trunkenheit verhindere.“
„Er wurde daher von ftarfen Weinzechern in ihren Trunf gemifcht, um fie zum
Genuſſe großer DQuantitäten, ohne betäubt zu werden, zu befähigen‘ *). Seine
Wirfung ift jedoch ungewiß und er wird gegenwärtig in der Heilkunde wenig
und weniger noch, glaube ich, zur Bälfchung von Bier verwendet.
-
*) Mäheres über Saffran f. Philipps Gefchichte der gebauten Begetabilien. Bol. II
p. 180 (Engl. Ausg.).
Die Heraldiß und ihre Quellen.
Ben
$. ». Alvensleben.
Keine andere MWiffenfchaft ift fo vollfommen abgeſchloſſen, fo fe und unum⸗
ftößlich begründet, wie die Heraldik, auch Wappenfunde und Heroldskunſt ges
nannt, obgleich der erfte Name der zulegt allgemein angenommene und gebräuch«
liche iſt. Ä
Bei der Heraldif giebt es Feine Entdeckungen ober Erfindungen zu machen,
feine Neuerungen oder Berbefierungen anzubringen. Ihre Regeln ftehen jeit
Jahrhunderten unerfchütterlich feft, allgemein anerfannt, von feinem Zweifler oder
Tadler angefochten, gewiſſermaßen verfeinert, und wäre die Heraldik nicht eine
ganz unentbehrliche Hiftorifche Hülfäwiffenfchaft, fo könnte man fle wegen ihres
gaͤnzlichen Mangeld an practiihem Rutzen füglich eine todte, eine unnüge und
überflüfftge Wiffenfchaft nennen. Gleichwohl gibt e8 felbft in unferen Tagen
noch Viele, die ſich aus Liebhaberei mit dieſer Todten befchäftigen, namentlich
durch Die Unlegung von Wappen= und Siegelfammlungen, und es ift fogar eine
eigenthümliche Erjcheinung, daß zahlreiche Familien des Mittelftandes und fogar
bie niederen Schichten deſſelben, bei denen man nicht das geringfle Interefje für
eine jo trodene, durchaus Feinen materiellen Rugen gewährende Wiſſenſchaft
vermuthen follte, fich von heraldiſchen Kabeldichtern ihr Wappen malen und ih—
ren Bamilienuriprung angeben, wohl gar eine ausführliche Genealogie aufftellen
laſſen, obgleich fle ihr Gejchlecht oft nicht über das dritte Ahnenalter zurüds
führen Tonnen und ihre Aelterväter gewiß nicht daran dachten, fich ein Familien⸗
wappen beizulegen, jo wenig ihnen dies auch vielleicht gewehrt werden konnte.
Wir vollen indeß auf diefe Liebhabereien, dieſe Lächerlichen Auswüchfe
des Ehrgeized oder der Eitelfeit, Hier nicht weiter eingehen, fondern uns darauf
beichränfen, in gebrängter Kürze dad ganze Weſen der Heraldik zu jchildern.
Wir halten dieſe Kürze bei den vorliegenden Zwecke für unerläßlih, denn wollten
wir und auf eine ausführliche Erörterung des Themas einlaflen, fo müßten wir
demjelben, gleich unferen zahlreichen Vorgängern, mindeftens einen ganzen Band
widmen, ohne deshalb irgend etwas Neues jagen zu können.
Die Heraldik und ihre Quellen, at
Kennzeichen nicht, vielmehr wurde ihr Gebrauch allgemeiner, ging von dem Bür-
gerftande auf alle anderen Stände, auf Stäbte und Gorporationen, über ind
wurde durch anerfannte Regeln zu einem vollftindigen Soſtem ausgebildet, dad
ein förmliches Stubium erforderte und ſich dadurch zu den Range einer Willen»
fchaft emporſchwang. I 1-17 Br: ni me mm
Da 08 darauf anfam, Die Zeichen ber Wappen zu einem untericheidenden
Merkmale zu machen, jo mußte natürlich eine unendliche Menge und Verſchieden⸗
artigkeit der Wappenfiguren entſtehen, weil’ außerdem zahllofe Berwechjelungen,
Irrthümer und Mifverftändniffe herbeigeführt fein würden; indep gab es doch
bei aller Verfehitdenartigfeit gewiffe Orundfiguren, die Dadurch die unend⸗
lichfte Mannigfaltigkeit möglich machten, daß fle in der Form, der Stellung, den
Verzierungen und den Farben von einander abwichen. Alle dieſe verfehiebenen
Figuren erhielten ihre beftimmten Benennungen, und Diefe Anzahl von einander
abweichender Formen umd Namen zu Fennem, dazu war in der That nicht mir
ein eifriges und anhaltendes Stubium;, fondern auch ein ſehr gutes Gedächtniß
erforderlich umd es gehörte daher nicht ee day! ein — Waybenherold
zu fein. - | An m umyı =
' Diefe Regel Pre nf iöier ke alfmätig ———
kennung kamen, haben auch jetzt ihre volle Gültigfeit, und wir laſſen die Grund⸗
züge derſelben und die Ramen hier folgen, müffen aber ihre ausführlichen Kennt»
niß und die Unterfiheidungszeichen der berſchiedenen Arten der gleichnamigen
Figuren den Heraldifern vom Fady, fo wie Dewen überlaffen, welche aus Lieb-
haberei das Studium diefer Wiſſenſchaft treiben, - Uns muß bier eine kurze
Aufzählung genügen, denn eimerfchöpfendes- Eingehen würde nicht nur viel
mehr Raum erfordern, ala uns zu Gebote flebt, fondern auch viele hundert Ab⸗
bildungen der Grund-Figuren in ihren zabllofen Variationen der Schilder, Kro-
nen, Helmverzierungen, Schilphalter, Se — und a rn er
Ausſchmuͤckungen der Wappen. date u TEE
Die einzelnen Theile, —* ee Bann ciathiwade min,
find bie folgenden :
Der Schild mit feinen Uran. | u Ian
Die Karben, 9 mn N Wwı8
Die Figuren, und ‚Baer bie Ort. * CHenyige und bie
Figuren.
Die redenden — als: Vögel, erfuhige — Fiſche⸗ Bine
und Lingeziefer, Gemächie, —— —— dein Pe En SIE und
Gewerbe. ET
Die Helme mit ihren Oefnungen.. un (mung
Die Kronen. * —
Die Helmdecken, Maͤntel * ee Arten mini WR y ZT
Die Schildhalter oder Wappenknechte. BE — mi
Mas nun den Schild, ald bas ambebingte Sauptftücteined Wa ie
betrifft, fo war deſſen Geflalt zu verfchiedenen Zeiten fehr verfchledemartig: drei-
* EN ‚ rautenförmig (auch oben und unten ae 9* laͤnglich⸗ rund
——V———
Die Heraldik und ihre Quellen, 123
dem durch dab von den — ———
JJ
"Fig; 8 Ban; - senmın; _ Bi » ein; Bw
PBurpur —
Außer dieſen eben —ñ— A gibt es Kon drei —*
Zeichnungen, die nur uneigentlich Farben genannt werden können, die man aber
dennoch dazu rechnet. Dies find Fig. 12. gewöͤhnliches Pelzwert, Fig. 13 Ger⸗
melin, jo wie endlich Fig. 14 Eiſenhüͤtlein, die für gewöhnlich, wie fie hier an⸗
gegeben find, blau und filber gefärbt find, ati —— —*
Farben und Zuſammenſtellungen vorlommen. W
Als Heroldo⸗ oder Ehren⸗Figuren rk man fotie, — feine
beftimmte Bedeutung beigelegt werden Fann: Im ber Megel betrachtet man dieſe
Ehrenfiguren als einen Beweis von dem hohen Alter des Wappens, allein
auch diefe Regel ift nicht unumſtößlich, denn es gibt Wappen mit gemeinen
oder redenden Figuren, bie ſich mit Recht eines höhern Alters rühmen bürfen,
ald andere, die nur Ehren-Figuren aufzuweiſen haben, |
Diefe Ehrenfigurem find meiftens jolche, Die in geraden, gebrochenen oder
gezackten Linien den Schild der Quere, der Länge nach, oder fihräg in zwei oder
mehrere Belber theilen; aber auch noch andere ** — ng
Deutung gehören in diefe Kategorie. 1
Zu dieſen Herolds⸗ oder Ehrenfiguren na — die drel vben
erwähnten Quertheilungen eines Schildes, das Haupt, den Balken und den
Fuß: — ferner das Schild-Gehänge oder Bande, — bie Scherffe ober
breite Rinme, — bie Pfähle, Säulen ober Stöde, die Sparren ober
Giebel, die Kreuze, Die legteren haben zahlreiche Haupt- und Unterabtheilungen,
und zwar 1) bad aufrecht geftellte Kreuz mit ben Abarten: das ſchlechte
Kr. — das auögefchweifte Kr. — das Fußes. — das Antker⸗Kr. — das
goldene ariechiiche-RKr. — das Blumen⸗Kr. — das Knebels fr, — bad
boppelte erzbifchöfliche Ar. — 2) Dad fchräge oder burgundiſche Kreuz,
auch Andreaſs⸗Kreuz genannt, — 3) Das T oder PlattsKreuz —
4.) das Voder Schächer-Kreuz. — Die 2. 3, und 4, Urt bes Kreuzes
fommen in — md in Beichnungen mit allen nur denk⸗
baren Figuren vor. 8*
Die Shitveinfaffung * ve Schtidrand ahlt ebenfells mit zu
den Ehrenzeichen, und nicht minder der Schil dkragen, d. 5. eine außerhalb:
des Schildrandes herumgehende Verzierung oder zweiter Rand, — die ledige
Bierung — die ledigen Dreiede —der Schildfuß, d, hd. wenn die ganze
untere Abrundung des übrigens in Felder getheilten Schilded ungerheilt gelaffen
wird — und endlih Schild auf Schild, d. h. wenn ein Fleinerer Schild (ober.
mehrere Schilder) auf andere größere Schilder gelegt find, wie dies. bei den
meiften Wappen fouberäner Kürften, aber auch bei ablichen Bamilien, beſonders
wenn fle früher dynaſtiſch waren, oder mehrere Beſttzungen haben, der Ball ift.
Die His jegt genannten Ehrenzeichen oder Heroldsfiguren bilden bie erfte
Ordnung oder Abtheilung berfelben, es gibt aber auch noch eine zweite, und
46 *
Die Heraldit:und Ihre Quellen, 725
Dabei blieb der Helm noch länger als der Schild ein perfünliches
Zeichen, und man findet daher über den gleichen Wappen oft Helme mit her
fehiedenartigen Abzeichen felbft bei den Bliedern gleichen Stammes nicht nur,
fondern auch gleicher Linie. Auch wird der Helm über den Wappen, namentlich
bei anderen Kationen, als der deutfchen, oft ganz weggelaffen und flatt des⸗
ſelben Kronen, Hüte, Kränze sc. angebracht, befonderd zur Bezeichnung tes
Standes, und die Kronen, welche den Abelsrang bezeichnen, find fogar in
neuefter Zeit auch in Deutichland viel üblicher ald die Helme, welche letztere man
beinahe nur noch bei dem vollſtändigen Wappen findet, während man fich
für gewöhnlich nur des Schildes allein mit einer Krone darüber bebient.
Rach den Megeln der Heroldöfunft gab es zwei Arten von Helmen, nämlich
die gefchloffenen oder Stech-Helme, zum ernften Kampfe üblich, und die offenen
oder Turnir⸗Helme, die indeß auch nicht ganz offen waren, fondern ein
Bitter hatten, welches frei zu ſehen erlaubte, während es zugleich dem Ge⸗
fihte Schuß gewährte.
Man ift zwar bemüht geweien, bie Zahl der Gitterftaͤbe der offenen Helme
als ein Zeichen des Rang-Unterfchiedes aufzuſtellen, allein dies iſt wenigſtens
in unferen Zeiten nicht anerkannt; die adlichen, graͤflichen und fürftlichen Gelme
find daher gleichmäßig vergittert, die Helme der Löniglichen und anderen herr⸗
fchenden Häufer dagegen ganz offen, jowie Die der bürgerlichen Familien, welche
ein Wappen führen, gejchloffen.
Man ftellt übrigens fehr oft über die Schilder auch mehr als einen Helm,
was als ein Zeichen mehrerer Beflgungen gilt. Der mittelfte Selm wird dann
gerade geftellt, die Abrigen feitwärts, dem erflen mit dem Geflchte zugewendet.
Die Farbe der Helme ift entweder Blau (die Barbe des Stahles veriretend),
Silber oder Gold. Eine fefte Regel gibt es hierüber nicht; die Farbe bleibt
dem Ermeſſen eines jeden Ginzelnen überlaffen, und meiftentheild fieht man
goldene Helme,
Die Helmpverzierungen find fehr verfchiedener Art. Oft bilden fie
eine Wiederholung einzelner Figuren der Wappenfelder, oft find fie aber auch
von denfelben ganz verfchieden. Die am Häufigften vorkommenden find Büffel«
hörner, verfchiedenartig gefärbt, und mit allerhand Verzierungen geſchmückt;
Bündel verfhiedenartiger Waffen, ald Lanzen, Bahnen, Schwerter,
auch Fahnen; einzelne Waffen oder Waffenſtücke; Udlerflügel, einzeln
oder gepaart und in verfchiedenartiger Stellung. Zwar fagte ein alter Vers
con den Helmverzierungen:
„Das, was man träget insgemein.
Muß Hörner oder Federn fein.“
Allein wenn dies auch ald Regel gelten möchte, fo erlaubte man fich doch
davon, wie wir gefagt haben, und wie der Anblid vieler Wappen zeigt, fehr
zahlreiche Ausnahmen.
Diefe Helmzier ſetzte man übrigens nicht unmittelbar auf den Selm, ſon⸗
dern man fehmückte dieſen entweder mit einer den Rang bezeichnenden Krone, oder
man umwand den Helmkopf mit einer Art von Wulf, ähnlich dem Kiffen,
Die Heraldik und ihre Quellen. am
in dem geiftlichen Stande, und die jo gewiffermaßen ihrer Familie das Recht
zur Führung diefes Attriburd ald Erbſchaft hinterließen. Ein ſolches Recht vor.
einem unferer modernen Gerichtshöfe durchzuführen, bünfte a vielleicht eben
fo ſchwierig fein, als es fiegreich zu befimpfen. rm ENTER)
Mas nun die Karben der Helmdecken betrifft, jo Harmonirei biefelßen jever- ·
zeit mit denen der Wappenfchilver, indeß ohne beſtimmte Megel in der An-
wendung auf bie Felder und die Figuren. Bei der Anordnug ——
def gilt es als Regel, daß die Metalle zumächft des Helmes zu legen find, die
anderen Farben aber auswärts, nach dem Schildrande zu, wobei indefi Farben
und Metalle auch immer theilweis untermifcht bleiben, fo pin der obigen
Megel nur von der vorwiegenden Färbung die Rede iſt.
Hat der Schild viele Felder, und folglich auch eine größere Anzahl von
Farben, jo bringt man gleichwohl in den Helindecken nur Höchften drei an, ge-
wöhnlich aber nicht mehr ala zwei und zu diefen wählt man meiften® die am
bäufigften borfommenden, wenn man ſich micht etwa durch die Wahl der Farben
von anderen Familien oder auch wohl — ter —— unter»
fcheiden will.
Dabei ift auch zu bemerken, vah der Aben geöpteineile bie harhen der 8i-
vree feiner Dienerfhaft nach den Farben ber Helmderen feined Wappens be-
fimmt, jo zwar, daß die Grundfarbe durch die gemeine Barbe beftimmt wird, die
Verzierungen, als Treffen, Ligen, Knöpfe, ze. aber durch Die Metalle. *
Noch unterſcheidet man bei den Helmdecken alte oder glatte, und neue oder
trauſe, obgleich auch die lehteren ſich ſchon eines reiht wſpeeiablen Alters erfreuen,
Die Schildhalter oder Mapyenfnehten
Diefe eigenthümliche Verzierung der Wappen ift zwar nicht bei allen ap
pen gebräuchlich, und mitunter entbehren fogar bie Äfteften derſelben, während
neugefchaffene die Hinzufügung dleſes Schmuctes, der das Ganze mehr in bie
Augen fallend macht, ſchwerlich unterlaffen werden. Die größere Mehrzahl aller
Wappen aber ae ana — — — e nawellen in⸗
dep auch nur an einer..
Es wurden und werden 4 zu —— allerhand Figuren
gewählt, Menſchen, Thiere oder Schöpfungen der Fabelwelt, welche in aufrechter
Stellung entweder neben dem Wappenſchilde Wache zu ſtehen, * aftebe,
indem fte es halten, befchügen zu wollen feinen. 0
Löwen fpielen unter den eh NEN —
aber findet mar, wie bereits erwähnt, auch allerhand andere Figuren. Wir er⸗
wähnen bier: Geharniſchte Mitter; — wilde Männer (Dünemark, Preußen)
Drachen (Portugal), Ochs und Greif (aRetLeHbKEg), ze. a Eintera (Enge
land), Raben, Pfrteun.f.w, u —
Außer allen den bereits genannten Figuren — gibt es auch noch
befondere Standes-Zeichen, Hierher gehören, wie wir oben bereitd andeu=
teten, verſchiedene Arten von Kronen, abweichend, in Form LE Pr von
den gewöhnlichen, allgemein gebräuchlichen, — die Kur» und Bürften«füte, roth
mit einer Verbrämung von Hermelin; die Hüte der giftigen Kurfuͤrſten un⸗
|.»
RK
*
—
*
3
Die Heraldik. und ihre Quellen. 729
Iihen Stammwappen hinzugefügt werden. Den fprechendften Beleg dafür bilten -
die Wappen ber großen Herricherhäufer, welche die Zufammenftellung
einer großen Menge von einzelnen Schildern zeigen, und oft unter denfelben die
Mappen von Provinzen führen, die ihre Vorfahren einft beieffen haben, ohne
daß fle hoffen dürfen, diefelben jemals wieder zu erwerben. Ja, e8 werden barin
ſelbſt die Wappen von Befigungen aufgenommen, auf welche die Kührer der com⸗
plicirten Wappen vor untenklichen Zeiten einmal einen, vielleicht gänzlich unbe⸗
gründeten Anfpruch erhoben haben, ohne indeß jemals in den wirklichen Bes
fig derfelben gelangt zu fein. Diefer Umftand, fo wie die Kortführung des
urfprünglichen, oft nur durch weibliche Abftanımung ererbten Kamilienwappeng,
macht es erflärlih, daß man in fürftlichen Wappen oft die charakteriftifchen
Bilder von Ländern oder Provinzen findet, bei denen man fich nicht zu deuten
weiß, wie fle fich eben in das Wappen verirrt haben, oder woher es kommit, daß
Geſchlechter der entfernteften Gegenden die gleichen Zeichen führen, obwohl allen
Anichein nach ein näherer Zuſammenhang, eine Gemeinfchaftlichkeit der Anfprüche
aufden Befig, der Durch das Zeichen angedeutet werden joll, gar nicht ftattfinden kann.
Die Erlangung oder Vermehrung eined Wappens kann erfolgen: durch
Onabenverleihung eines fouverainen Kürften, in unferen Tagen die gewöhnlichfte,
eigentlich die einzige Art, denn ſelbſt die Vermehrungen werden in der Regel
durch die gnadenreiche Bewilligung des Herrfchers bedingt.
Rei dieſer Erwerbung (Verleihung) neuer Wappen werden wohl aus
Ichließlicy nur die gemeinen Figuren in dad Wappen aufgenommen, indem man
dazu redende wählt, die in irgend einer Weife in Beziehung zu den Verdien⸗
ften jtehen, welche die Verleihung des Wappens herbeiführten.
Bei der Erhebung zu einem höheren Adelsrange ift es auch, 3. B. in
Preußen, üblich, daß der auf ſolche Weile Begnadigte oder Ausgezeichnete das
Haupt-Wappenbild des Herrfcherhaufes entweder ganz oder in irgend einem ein«
zelnen Theile jeinem Stammwappen Hinzufügt.
Außer der Verleihung kann die Erwerbung oder Vermehrung eines Wap⸗
pens auch noch durch Uebertragung (3. B. Adoption), Heirath, Erbichaft, Er⸗
werbung eines Anſpruchs xc. erfolgen.
Die Hinzufügung der neu erworbenen Wappentheile zu dem alten ift jehr
berjchiedenartig und belichig. Die Schilde Fönnen getrennt oder verbunden,
grade, im Kreuze, jchräg, oder zu einem Schilde mit nıchreren Feldern verfchmol-
zen, mit einander in Zuſammenhang gebracht werden. Auch legt man ein, zwei,
drei Schilder auf die zufammengejchobenen übrigen. Dieje Schilder, weiche auf
folche Weife am meiſten in tie Augen jpringen, haben die vorzüglichfte Ber
deutung, und zwar it da8 mitrelfte, daß erfte, und nimmt die fogenannte
Derzftelle ein; das oberfte ift das zweite und fleht an der Ehrenftelle,
und die Stelle des unterften und Dritten heißt die Rabelftelle. — Zu dem
Mitteljchilde macht man indeſſen auch zuweilen dad geringfte, wenn man das
58 dahin geführte Wappen aus irgend einem Grunde nicht Ändern will.
Brauen behalten nach der Vermählung ihr angeborenes Yamilien » Wappen
in ter Art bei, daß fie da8 eigene und das des Garten in gejonderten, jchräg
Die Heraldik und. ihre Quellen, 731
jedem fouveränen Yürften erfolgen, eigenmächtige Beilcgung eines Wavpens
aber bedarf der Genehmigung des Landesherrn.
Die Geſchlechtswappen erben auf bie ehelichen Kinder beider Ge⸗
fhlechter fort, werben indeß von den Töchtern nur noch in der erften Generation
nach der Vermählung auf die oben bezeichnete Weile geführt, die unehelichen
Kinder aber And zur Führung des Wappens, defien ihr Vater ſich rechtlich bes
dienen darf, nicht befugt.
Ein fremdes Wappen darf Riemand führen.
Die Auslöfchung, Abreißung, Beſchmutzung ac. eines Wappens, gilt noch
in unferen Tagen als ein Schimpf, eine Beleidigung oder Mechtöverlegung, wie
fich dies in revolutionären Tagen bei den Wappen der Geſandten oder Conſuln
häufig zeigt.
Der Heraldif gewiffermaßen werwandte Wiſſenſchaften find:
Die Geſchichte, für welche wieder, wie bereits im Eingange erwähnt
wurde, die Heraldik in vielen Fällen eine nicht unwichtige Hülfswiflenfchaft iſt;
Die Diplomatie, da Urkunden und die an benfelben befeftigten alten
Siegel fehr häufig, befonderd bei ftreitigen Meinungen, oder zur Entfcheidung
von Uingewißheiten, wo es fih um Orte, Zeiten oder Perionen handelt, Auf⸗
ſchlüſſe zu geben vermögen;
Die Numismatik, weil das Gepräge der Münzen oft im genaueften Zu⸗
ſammenhange mit den gleichzeitig geführten Wappen ſteht;
Die Genealogie, ohne deren Kenntniß oft der Urfprung zuſammenge⸗
jegter Wappen vollfommen dunfel bleiben würde.
Als Anhang möge hier noch für Die, welche tiefer in den bier kurz bes
bandelten Stoff eindringen wollen, eine Aufzählung der bedeutendften Werfe
über Heraldik folgen.
John Gwillin, a display of Heraldic. London, 1638.
Claude de Cellyer, la nouveau Armorial universel. Paris, 1662.
Marc de Vekson, de la Noblesse et de l’origine des Armes. Paris, 1669.
Daniel de la F&ville, nouvelle möthude etc. 2 Th. Amsterdam, 1695.
Johann Siebmakher, Wappenbuch. Nürnberg, 1695 *).
J. C. Becmann, syntagma etc. Francof. 1696.
Wagenfeil, adriatifcher Löw. Altd. 1704 (Ueber den Adel und die Wap⸗
pen Venedigs.)
Car. Arnd, Bibliotheca selecta. Rostochii, 1705
Caspar Buffing, kurzgefaßte Heroldsfunfl. Hamburg, 1713.
Ph. Jac. Spener, opus heraldicum. Francof. 1717. 1735.
J. A. Rudolphi, Heraldifche Guriofa, Frankfurt und Leipzig, 1718.
Fr. Ph. Schosser, de aestimatione heraldica. Hanov. 1729.
3. Wolfg. Trier, Einleitung zu der Wappenkunft. Leipzig, 1744.
*, Das Werk dürfte von denen in deutfcher Sprache nebft Weigels Wappenbuch
das befanntefte fein und am meiften ale Wutorität betrachtet werden, \
132 2 Deal. . 2
Weigel, Wappenbuch. 6 Theile. Nürnberg, 1734:
Sodann Paul Reinhard, volliändige Wappenfunft. Rürnberg, 1747.
+3, Chr. Gatterer, Abriß der Heraldif. Nürnberg, 1766.
J. Chr. Satterer, practifche Heraldif, Nürnberg, 1791.
Unter den neueren berafdifchen Werken verdient das Wappenbuch Der
Preußiſchen Monarchie erwähnt zu werden, welche 1831 und 1832 in
zwei Theilen in Rürnberg erfchienen ift.
Außer den hiergenannten größeren Werfen gibt es noch eine Menge an
derer, die fich mit Heraldik befchäftigen, namentlich mit einzelnen Orben , jo wie
mit den Wappen einzelner Völker. In die erfigenannte biejer beiden Katego-
rien gehört das angefangene Werk: Die Wappen der Nitterdes Preußi—
[hen Johanniterordens, von Frh. v. Briefen, welches ſich durch feine
fünftlerifche Ausführung rühmlichft auszeichnet.
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Die e gebeimnife der Deuffi FU RITBEN
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Die Geheimniſſe der Sprache und die — *
Hauptworte in der deutfchen Sprache ng der un
nifhen Hauptworte, — Etymologie und Wortbildung. nt
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Spradtrümmer. u e Warte in in? ar |
ſcheinende Worte. - = erftandene We
rigen „I hun
i meint Duu
| sa uam: „Sutil
urchnden I R ar
Die Sprache ift in mehrfacher Beziehung etwas Unbeiwußted. Die Worte, die.
wir durch unfere Sprachwerkzeuge hervorbringen, find nur ein Mitte *
Ausdrucke unſerer Gedanken, und wenn uns in der Rede die Gedanken befchäfs
tigen, fo denken wir nicht an ihren körperlichen Inhalt; im flüchtigen Gefpräche,
wenn und die Worte rajch vom Munde fließen, haben wir feine Zeit, nach einem
Warum zu fragen, nad) einem Grunde, weshalb wir Diefen oder jenen Laut fo
und nicht anders gebrauchen, weshalb wir die Wahl treffen zwiſchen biefer oder:
jener Form, Nur in jeltenen Fällen, nur wenn und eine Sonderbarfeit begeg⸗
net oder ein Sprachfehler auffällt, erinnern wir uns, daß die Form nothwendig
mit dem Gedanfen übereinftimmen muß. Nicht minder ift bad geiftige Element
der Sprache, ber Inhalt, der Sinn, bie Bedeutung der Worte öfters dem Sprach-
bewußtjein fremd. Ein Wort lebt aber dann im Sprachbewußtſein, wenn jeine Ab⸗
ftammung und Ableitung befannt ift und gefühlt wird. Daf zum Beifpiele die
Worte Binde, Band und Bund von binden abzuleiten find, daß mahlen,
Mehl, Mühle und Müller zufammen gehören, das ift für Niemand ein Ges
heimnig. Dagegen gibt es im umferer heutigen deutfchen Sprache eine große
Anzahl Worte, deren Gefchichte und eigentliches Weſen und verfchloffen bleiben,
über welche wir und Feine Rechenfchaft geben können , "wenn auch ihr Sinn ung:
noch fo befannt, wenn auch ihr Gebrauch uns noch fo geläufig ift. Diefe eben
nenne ich die Gebeimniffe der Sprache. yo mm w
Für das praktiſche Leben ift es ziemlich. gleichgüktig, ob wir über die Abe
‚an m oa hart | 4 f ’ y eig .. al 1 Pr un . ü
Bei, ‚mnse nt weten auf en —* ein, ea —*
Tegteren betrifft, jo fo |
Due.
Eifenfeaft, wie 68 Die Beute Eprachforiung iR. wen jdn 2
Werten son Grimm, wie Inden EBörterbücgern von Graf, & Ba
En el een nnd ⸗ ink mi
Bei einer Betrachtung über: die Geheimniffe unjerer d |
es amerläßlich, daß fich dieſelbe an einzelne Beifpiete fait,
ein, daß bei unferem reichen Wortjchage nur ein geringer Theil d
zur Beiprechung gelangen kann. Hier wäre Stoff zu einem bä
geboten. : Unſere Aufgabe iſt daher ‚ die werfchiedenen Arten der
niffe von eianbe u fonbert nd: u eine jepligen) Gastäng 9
zu liefern, zu welchen gewiß häufig gebrauchte Worte au * a
Ehe wir das eigentliche Gebiet der Etymologie en, ög
Worte Betrachtet werben, deren grammatifche Form und Bilt at j
bewußtſein deshalb entſchwunden iſt, weil im Laufe der Zeit f
enweder non De rohen Beenden be eek
lichen Bortbildung wiberftehend an ihr haften lieb: So gebrauchen wir eine
Anzahl Hauptworte, welche · es ber ori nach nicht fd, fondern welche es erſ
allgemein und fo fol gnworden, 5 der urfprüngliche Gebrauch wie auch die ur⸗
— Born nie meh et mern. ni a σ‘
Die deutehe Sprache Hat die Kraft; Push-Mntpendung- bes Akrifelds er
jonders nn sure —— — Worte, ja for
fie Dur) diefe Bößlgfeit:mit ber geiechtfcpen zur philofophtfchen: Gprarhe: ‚Denn:
cin fubßantisifeper: Sufnieiv:iß-cin- Begriffen Ea if bekannt sbaf «dies beften:
philoſophiſchen Köpfe die Griechen und die Deutjchen find. Und ·teine andere
die Infinitive der Zeitworie ehe find en;:änterlaffee burd; den Artikel
zu Hauptworten machen: das Gehen, das Binden, das Unterlafien;
fo find wir und dejfen bewußt, denn neben dieſen neugebildeten Worten haben
wir noch eigentliche Hauptworte: der Gang, der Bund, dir linterlaf=
fung. Daß dieſe eine andere Bedeutung Haben, oder wenigjtens haben können,
als die infinitisifchen, Das Fommt bier wicht im Betracht. Dagegen gibt 8 auch
neu gebildete Hauptworte, deren eigentliche Form aus dem Sprachbeiwußtfeim ges:
ſchwunden ift oder zu ſchwinden beginnt, ſo daß fle zu vollftändigen Baupte
worten werden. in Hauptgrund mag der ſein, daß es wie bei ben angeführ⸗
ten an nahe liegenden felbftftändigen und organiſch gebildeten Subftantiven
fehlt, und die Sprache Diejen Mangel Durch Neubildumg zu erfegen ſucht und‘
alsdann die neugebildeten ald organiſch entflanbene anſieht. Dahin gehören
unter anderen: das Eſſen, Das Wohlgefallen, das Gelingen; das
Sehnen, das Walten, das Weinen, das Wiſſen, und vomallen das:
Leben. Dagegen haben auch andere Infinitive, zu denen fich ſelbſtſtändige
Hauptworte ftellen, die volle fubftantivifche Bedeutung erhalten» das Erb armen
neben die Erbarmung, bas Laden neben die Lache, das Wirfen
neben bie Wirfung, Das Verſprechen neben Die Verſprechung. —
Ein Hauptwort, welches urſprünglich ein Infinitiv war, als ſolcher aber in un⸗
jeren Tagen ganz und gar aus dem Sprachbewußtſein entſchwunden tft, verdient‘
befonders berüdkfichtigt zu werben, nämlich Weſen. Wir gebrauchen es meift
in philofophifcher Bedeutung: bad Wefen ifb der Inbegriff eines Dinges; Dann
fagen wir noch eim lebendes, ein leblofes Wefem, in Zufammenjegung:
dad Anweſen und wefentlich, »eigentlich wefenlich. Bis in's 16, Jahr⸗
hundert war wefen ein Zeitwort mit der Bebeutung von ſein (esse; eire),
Unfer Sülfsverbum erhält feine Bormen bon verfchledenen Stämmen. Die
Bormen, zudenen wefen gehört, find das Praeteritum ich war, früber allgemein
jeden Kay pr Sören je "Das Partieipfum son Diefenf fie
mit befreien, frei — guſammenhang a a
Freiende, ift fomit im
im TREE ——
thiſchen Ajands iſt das Participium Ai
vorkommt, naͤmlich zu jan, Saffen. ‚Die — ee vir aufge
geben, fonft müßten wir — Beind ram. er son im
Mittelalter und namentlich von den mitteldeutfchen Dichtern, denen die Form
vint geläufiger war ald vient. Freund alfo it der Hiebende, eind kr
Haffende, und da Liebe ee at em, job
die actibe Form auch für die paſſive Bedeutung. Breund if alfo 22 y de
Brliehte, Feine der Gehaßte. 13 ln Fr tal all dbR
Offenbar ift auch unfer Wort Abend eine participiale Form.
ein Verbum Aben vorausjufegen. Dies findet ſich auch wirklich noch
Schweiz; „es aber“ ivie man bort fagt, bedeutet der Abend rückt —*
Trotzdem, daß das a in Abend heute ſowohl wie in f
liegt es doch nahe, Abend mit dem kurz betonten a acer, weg” in Zus
ſammenhang zu bringen. Urſpruͤnglich mag es geheißen haben: „der Tag abet”,
ber Tag iſt im Scheiben, oder da a6 auch „herab“ heißt, ſinnlich bildlicher der
Tag geht herab, ber Tag finft, kit ag Aag ſer und
das Zeitwort unverfönlich gebrauchen. A, * wo» Ft 107 Yo
In gleicher Weiſe vermag — ae en m
ſchaftöworte ein Hauptwort entftehen zu laſſen. Befonders ——
geſchichtlich wichtiger Perſönlichkeiten durch Hinzufügung Baupt.
worte näher beſtimmt und ausgezeichnet: Karl der Große, Friedrich der
u. a.m. Einzelne Apjectiven haben ganz den Charakter eines Hauptwortes
genommen, wie der Weife, ein Weifer, der Heilige, ein Heiliger, Andere noch
mehr: die Liche, das Leid, das Att find ſanmuuch — —
Subſtantiva. AT 1n= 29, All | iR 13% 308 *
Ein Wort beſonders hat feine ehemalige Gefale und Bedeutung
NIE
Eigenjchaftswort ganz und gar verloren, nämlich Menich. —— Rah |
Zeit wurde dad Adjectivum von man, Mann, mit der Ableitungsfilbe
einem Hauptworte; im Althochbeutfchen finden fich die Formen net Pr
nisgo, aus der Uebergangsperiode ſtammt die Form mennische, m
Le ſteht menesche, häufiger mensche, fehr felten ift
47
— haben (id; Wie ertlnt, weit er in ber That pedantiſch ift, ſich erft ſpãt
entwickelt hat und, wie die anderen Sprachen zeigen, nicht unbedingt nothwendig
iſt. So finden wir namentlich in den Werfen der Gebrüder Grimm und an—
derer Mertreter der deutſchen Philologie ſaͤmmtliche Worte Flein gefchrieben mit
alleiniger Ausnahme der Anfangsworte des Sages und der Eigennamen, Ans
dere, die nicht fo weit gehen wollen, ftellen den Grundſatz auf, man ſolle bie
eigentlichen Hauptworte nach der allgemeinen Sitte groß fchreiben, dagegen bie-
jenigen, bie e8 erft Durch den Artikel werden, nicht anders behandeln als was fle
zuerft geweſen; alfo ift zu fchreiben : das geben, die heiligen, der jehende u. ſ. w.
Dieie Regel wäre in der That werthvoll, wenn fle in ber Theorie richtig und in
der Praris vollfommen durchführbar wäre. Denn wo ift die Grenze zwifchen
einem eigentlichen, organiſch entftandenen und einem neugebildeten Hauptworte ?
Iſt Werfen fein Infinitiv, Feind fein Barticipinm, Herr fein Adſectivum,
weil e8 die Sprache vergejlen hat? Wenn diefe Worte audı nicht die praktiſche
Unzulänglicfeit des aufgeftellten Grundfages erweijen fönnen, indem fie ente
ſchieden zu den Hauptworten zu zählen find, jo fehlt es doch auch nicht an näher
liegenden. Das Leben, welches Wort als blofer Infinitiv noch in ber Sprache
vorhanden ift, müßte mach jener Regel unbedingt Klein gefchrieben werden und
doch hat es auch ald Neubildung die Geltung eines vollfommenen Hauptwortes.
„Etymologie“, wie Jacob Grimm fagt, „will die Nannigfaltigkeit der ges
veiften Sprache auf anfängliche Einfachheit der Formen u Begriffe zurück⸗
führen," — Wir thaten dies bei den beſprochenen Worten hauptſächlich in Hinz
ſicht der Form, weniger in Hinficht des Begriffs, obſchon — —
der Form die Begriffe an Klarheit gewonnen haben. Sinti
Bei Betrachtung geheimnißvoller Worte anderer A, zu — wir uns
jegt wenden, muß der Begriff, die Bedeutung, der Geift und vorwiegend leiten,
wenn auch die Form micht ald gleichgültig erachtet werden darf. Heute noch
muß der Ausipruch beberzigt werden, ben Iacob Grimm chen Im Jahre 1822
gethan. „In der deutjchen Etymologie ift bisher das Förperliche Princip zur
Ungebübr gering geihägt worden; von ba groben Einfiht in Laut- und
Bormenverhältniffe ausgehend Hat man ſich ihrer Anwendung auf den Begriff
unterfangen.“ — Etymologie, oder genauer das Etymologifiren, bat in der That
etwas Verführeriſches. Schon die Römer liebten es, vor allen Gicero, aber fle
waren nichts weniger als glüdlich in ihren Deutungen und zwar deshalb, weil
fie fein Berftändniß der fprachlichen Berhältniffe beiaßen, nur vom Begriffe aus-
gingen und fich von einem bloßen Gleichflang der Kormen täufchen Tießen. Im
17. Jahrhunderte waren etymologiſche Studien unter den beutfchen Gelehrten
beinahe zur Manie geworden; man erflärte die deutſchen Worte aus allen möge
lichen Sprachen, unter denen das Sebräifche eine hervorragende Stelle einnahm.
Erſt in dieſem Jahrhunderte, ſeit die deutſche Sprachforfchung zu einer wahren
Wiſſenſchaft heramgereift ift, feit wir Grimms Grammatik haben, find für bie
deutiche Etymologie fichere Anhaltspunfte gewonnen, Im zweiten Bande ber
47*
Geheimniſſe der dentſchen Sprache. 741
fprehen: Sprache, Spruch, Sprichwort, meift verdunfelt in 1 Eprücwort,
tragen: Tracht, trächtig, tragbar.
ziehen: Bug, Zucht, züchtig.
Dagegen gibt es Worte, deren Abflammung und deren Werwanbtichaft mit
anderen fehon weniger gefühlt wird. So kann bezweifelt werden, ob bei dem
Worte erhaben an heben gedacht wird, obgleich erhaben nichts anders ifl
als das Partieipium von erheben, welches jegt erhoben lautet. Die beiten
Worte trennten fich nach Form und Inhalt und erhaben wurde zu einem Ad⸗
jectivum. Ferner werden zum Beifpiele DIE Worte fiech, Seuche und Sucht,
behend und Hand, Heu und hauen, pflegen und Pflicht fchwerlich von
Allen als zufammengehörig betrachtet werben.
Abgefehen von der in der Sprachgefchichte eined jeden Volkes wahrnehm⸗
baren Erfcheinung, Daß im Laufe der Zeit das Sprachbewußtfein überhaupt ges
ringer wird, wozu hauptfächlich Die Wandlungen in den Bedeutungen beitragen,
find es auch äußere, formelle Gründe, welche das Iebendige Gefühl der Sprache
beeinträchtigen. Wir würden, wenn wir blos auf den gegenwärtigen Sprach⸗
zuftand angewiefen wären, und ganz in der Lage der pedantifchen Sprachkünſtler
der legten Jahrhunderte befinden, wir wären auf Bermuthen, Hin= und Herrathen
befchränft. So aber bietet fich und in den jegt erfchloffenen Denkmalen früherer
Sprachepochen gewiſſermaßen eine Brüde, über welche wir zu der jenſeits Lies
genden Wortbedeutung gelangen Tönnen.
In der Betrachtung über die Laute wurde durch einige Beifpiele dargethan,
wie die Wandlungen, welche die Laute durchmachen müfjen, wie auch die Veraͤn⸗
derungen der Duantität und die Entflellungen in Ausfprache und Rechtſchrei⸗
bung die Abftammung verbunfeln.
Um von den Ießteren auszugehen, fo ift e8 befonders das Wort ereignen,
welches den Zuſammenhang mit Auge faft gar nicht mehr erfennen Täßt. Diele
ziehen deshalb das urfprüngliche eräugnen vor, wie man vor hundert Jahren
fehrieb und jprach. Aber auch diefes eräugnen ift eine fpäte und verderbte
Form. Von Auge (mittelhochbeutfch ouge, althochdeutich ouga, gothifch augo)
wurde ein Verbum ougjan, ougen gebildet mit der Bedeutung „vor Augen
führen, zeigen, offenbaren.” Dafjelbe, welches heutigen Tages augen lauten
müßte, ift verloren gegangen. Dagegen die Zufammenfegung erougen, welche
diefelbe Bedeutung hat wie das einfache Verbum, hat fich al& Reflexiv erhalten; .
sich erougen, fich zeigen, fich offenbaren, gefchehen. Der Umlaut (du) trat erſt
fpäter ein, ebenfo das völlig unorganifche n nach g. Die dritte Wandlung war
die Erhöhung des Diphtongen Au in ei.
Aehnlich verhält es fich mit dem Adjectivum gefcheut. Die gebräuch«
lichere Rebenform beißt befanntlicg geſcheit. Vielfach aber wird gefcheut
für das richtigere gehalten, namentlich in Rorbdeutichland, ebenfo wie eraͤug⸗
nen befier iftald ereignen. Hier aber tritt der umgekehrte Fall ein: gefcheit
ift nicht die erhöhte Form, fondern gejcheut die verdunfelte, wie Reuter ans
ftatt Reiter. Breilich jcheint ſich gefcheut leichter ald gefchett erklären zu
laffen. Nahe liegt das Verbum ſcheuen, und da man unwillfürlih an das
wickelung, Heerzog VERESWUER UP EOEFRIRER" und ‚gefprochen werden *
muͤßten.
Wie inconſequent, ja man könnte ſagen, wie launiſch feiner äh
deutſche Sprache verführt, kann folgendes Beijpiel zeigen. Wir jagen Mühle
und drücfen die Länge des Vokals durch ein h äuferlich aus. Früher hieß es
mül mit kurzem , wie man noch heute in Süddeutfchland ſpricht. Von mili
wurde Müller (ehemals mülner, mülnaere) gebilder, wie Gärtner von
Garten, Kellner von Keller, und in diefem Worte bat ſich die alte Kürze
allgemein in der Ausfprache erhalten, und bie Schrift fichert dieſelbe durch die
GEonfonanten-Berdoppelung. Xrog der Verſchiedenheit der Betonung ift das
Derftändniß nicht geführtet, es IR einem Jedem Kar, daß Mühle und Müller
zuſammengehoͤren. vo
Ebenjo, obwohl nicht in fo hohem Grabe, * es gefühlt, daß Henne
von Hahn abgeleitet ift, Doch wie die Ableitung geſchehen, Tiegt in ber jegigen
Form Henne nicht offen zu Tage. Das Stammwort Hahn war ehedem
gleichfalls kurz betont. Im Althochdeutſchen findet ſich die volle Form henina,
die jegt Hähmin lauten mußte. Henne alfo iſt der weibliche Hahn ; die Bil-
dung if die gewöhnliche auf in: Königin von König, Räthin von Rath, auch
in den Eigennamen z. B. die Schwarzin. henina wurde bald gefürzt henna,
ſchließlich henne, Durch die Vermehrung des Gonfonanten blieb die kurze Be
tonung geichägt und darum wurde aud)-an der alten Schreibweiſe feftgehalten.
Dagegen ift bei dem Worte Gefelle ähnlich wie bei fertig die Abftam,
mung fat ganz dadurch verdunfelt, daß es die alte Form bewahrt hat und in ge»
wiffem Sinne hinter dem Sprachgeifte, welcher das Stammwort mit fortgeriffen,
zurücgebfieben ift. Geſelle ift abgeleitet von Saal, früher sal mit kurzem a.
Saal, welches jegt ein größeres Gemach, ein Staatszimmer bedeutet, bezeichnete
ehemals überhaupt Haus, Wohnung. Das ge in Gefelte, welches in Form
und Bedeutung dem lateinifchen con, außer Zufammenfegung cum, entfpricht,
brücdt bie Vereinigung, das Zufanmenfein aus wie in Genoſſe, Grfährte,
Geipiele, Gebrüder, Gevatter (d. h. der Mitvater) und wie vor allen in
Gebirge. Denn Gebirge ift die Bezeichnung für eine vereinigte, zuſammen⸗
hangende Gruppe von Bergen, Gefelle ift zunächft der Saalgenoffe, der
Hausgenoſſe, fpäter erweiterte fi) der Begriff wie bei Genoſſe und Ge—
führte. Wie wir nicht blos den, der mit uns fährt oder geht, einen Gefähr-
ten nennen, fo begeichnen wir mit Geſelle einen, der mit uns auf irgend eine
Weiſe vereint ift, wenn wir auch nicht eine Wohnung mit ihm tbeilen,
Die Bedeutung, welche unfer Wort gerben urfprünglich hatte, ift eine
engere geworden. Daf wir nicht mehr fühlen, von welchem Stamme es gebildet
if, Hat feinen Hauptgrund darin, daß das Stammwort eine ———
erhalten hat, Gerben iſt abgeleitet von gär, früher gar mit kurzem a, In
der heutigen Schriftiprache wird gar angewandt als Adverbium zur Verftärfung
von Adjeetiven und Adverbien im der Bedeutung von fehr: gar ſchön, gar
herrlich. Dies gefchieht Hauptiächlich im ber gehobenen Proja und in
der Poeſie und — im BVolfemunde. Die frühere Bedeutung gänzlich,
0
Geheimuiſſe der deutſchen Sprache, 745
Derbältniffe wie bitter zu beißen flieht Splitter zu fpleißen, d. i.
fpalten.
In ähnlicher Weiſe Hat fi das Wort Schuld von jeinem Stammworte
getrennt. Lautete dieſes noch wie früher ſchollen anftatt follen, jo würte
wahrfcheinlich die Verwandtfchaft beider im Sprachbewußtjein leben. Die Vers
fehiebenheit der Wocale darf nicht auffallen, da o und u nahe verwandt find.
In der heutigen Sprache ift der gebrochene Laut o durch das ganze Verbum
hindurch maaßgebend, die älteren deutſchen Sprachen, welche fehr verfchiedene
Formen deffelben bieten, Haben auch biöweilen den u Laut. So lautet im
Mittelhochdeutfchen der Infinitiv suln, ebenfo der Plural des Präjens ıwir sullen,
suln. Im Althochdeutfchen Heißt der Infinitiv scolan, scholan, vereinzelt ſteht
die heutige Form solen. Neben suln bietet die fpätere Sprache scholn, schollen.
Mit der Zeit wird follen die allein berrfchende Korm, während Schuld fi
nicht zu Suld wandelte. Wenn nun in formaler Bezichung Tein Beden-
fen vorliegt, fo fragt e8 fich, ob zwifchen beiden Worten ein Zufammenhang ber
Begriffe flatıfindet. Und dies ift außer allem Zweifel. Schuld ift Pflicht,
ſchuldig, verpflichtet, [o-Ilen,-verpflichtet fein. Der Begriff von Schuld er-
weiterte fi), zunächft wurde auch Die Verſaͤumniß der Pflicht mit Schuld ber
zeichnet, und damit lag die Bedeutung Vergehen nahe. —
Wie die unorganifche Geflaltung des Vocals dem Sprachgefühle Eintrag
thut, fo gefchieht e8 in noch höheren Grade durch die Gonfonantenentflellungen.
Am häufigften find dies durch nachläffige Ausfprache herbeigeführte und Ipäter
in die Schrift anfgenonimene Einfchiebjel, und diefe werden wiederum vornehm⸗
lich durch die, Buchftaben d, t und n bewirkt. Das Neubochdeutfche hat Feine
geringe Anzahl ſolch unorganiſcher Laute aufzumeifen. So ift, wie fhon ange»
deutet, in jemand, niemand das legte d zufällig; im Mittelhochdeutfchen
heißen die Worte ieman, nieman, zufammengefeßt auß ie, nie und man, unfer
Mann. Auch in wefentlich ift ı unorganifh. Im Worte Leichnam findet
ſich n ald grammatiſch unbegründeter Laut. Mittelhochdeutſch Heißt Das Wort
noch licham, althochdeutſch lichhamo.
Höchſt wahrjcheinlich findet fich auch in unferem Worte Wand foldy ein un«
organijched n. Durch eine folche Annahme wenigitens vermag das Wort befrie=
digend gedeutet werten. Grimm und Wacernagel leiten e8 ab von winden.
In formaler Beziehung wäre dagegen nicht® einzuwenden. Der erſte Ablaut
von winden ift a: ich winde, ih-wand; aljo Wand wäre nach der Ana⸗
logie von Band *), ein Ding, das in der That windet, umwindet, umhüllt. Die
Wand tft auch wirklich die Umbüllung eines Raumes. Dazu paßt trefflih Ge»
wand, die Umhüllung des Körpers. Aber wie ſteht e8 mit dem Worte Lein⸗
wand? Iſt nicht Leinwand ein Gewand von Leinen? Hier ftodt die Etymologie,
denn Leinwand ift, wie außer allem Zweifel ftebt, eine Entftellung, und zwar
eine ziemlich |päte. Das Wort Heißt urfprünglich linwät, zufammengefegt aus
lin, Zein, Leinen, Flachs, und wär, Kleidung. Cine jehr gebräuchliche Ablei⸗
*) Vergl. Band IV Seite 537.
ſchen vorfinden, wirb die Bedeutung von Bolz erſt recht aufgeklärt, und das
Wort wird ald ein echt deutſches erkannt und gewürdigt werden. Denn bas ge—
bräuchliche Wort Pfeil, welches ziemlich daſſelbe ausdrückt wie Bols;, ſtammt som
Tateinifchen pilum, Bolz ift gebildet von pölon, das heißt werfen, ſchießen.
Wie nichtöfagend ift dagegen das Wort Kugel, Blintenfugel, welches nur
bie Form, nicht den en a en mit weitem gejchaffen
wird,
Das Verbum, von —â—— — gebildet iſt haben —
Im 14. Jahrhunderte war es noch vorhanden, es lautet brehen oder auch
brechen und bedeutet leuchten, ftrablen, glänzen. Obwohl verſchieden
von brechen, zerbrechen, wird «8 doch manchmal mit diefenverwerhfelt. So
werden die noch heute geläufigen Nedendarten: der Tag bricht an, die Some
bricht auf, vielleicht eher auf das alte brehen ald auf unfer brechen zu beziehen
fein. Pracht ift alfo der leuchtende, ſtrahlende Glanz. Im der That bezeich-
nen wir mit Pracht und prächtig, was einen nach Außen bin fichtbaren und
in die Augen fallenden Reiz gewährt. Die verfchiedene Schreibart im Anlaute
der beiden Worte (p und b) darf nicht irre machen. Wir befigen ben alten
Stamm noch in dem Eigennamen Bertha, früher Berhta, Berchta, welche
die Strablende, Glaͤnzende bezeichnet, ferner in den männlichen Namen Adel-
bert, Albert und Albrecht, auch in Berthold und Bertram.
Auch das Stammwort zu Ro, dem ächt deutichen Namen für das ebelfte
der Thiere, ift verloren gegangen. Die altdeutſche Form lautet hros, als Nebene
formen kommen ors und hors vor. Bon der legteren ftammt das englifche horse,
Der Name ded angelfächjlichen Führers Horfa ift fein anderer ald Roß in
angelfächfifcher Form. Dieſe Worte finden ihre Deurung im dem verloren ge=
gangenen Adjectivum horseo, jchnell, friſch, undinhursgen, zur Schnelligkeit an⸗
treiben. Das entjprechende ſtammverwandte Wort iſt im 2ateinifchen currere,
(eigentlich cursere), laufen, und cursus, der Lauf. Das Roß ift alfo das Thier,
deſſen Beſtimmung der eilige Lauf ift. Unſer Wort Pferd un dem —
tellateiniſchen paraveredus, parefridus entſtanden. —
Bei dem zulegt gedeuteten Worte ie anbieten weiteter e⸗
gründung ein nicht einheimiſches Wort herbeigezogen. Auf dieſe Weiſe kann
unfer Wort Menſch zu rechter Klarheit gelangen. Daß ed im Grunde dad
Adjetivum zu Mann Bilder, haben wir erfannt. Mann ftellt ſich zunächſt
zu mahnen, früher manen mit furgem a, ermahnen, erinnern, ferner zu mins
nen d. h. lieben, in früherer Bedeutung, erinnern, denfen, — und zu meinen,
im Sinne haben. Das Griechifche bietet U606 (menos) „der Gedanke‘, dad
Lateiniſche moneo, memini, „‚erinnern‘, mens, „der Sinn, der Verftand, das
Denkvermögen.“ All diefe Worte drüden geiftige Bähigkeiten und Thätigfeiten
aus, und es ergibt ſich, daß Mann und mit ihm Menſch das denfende, ver—
nunftbegabte Weſen bedeutet. Dies ift bezeichnend für den tieferen Geift ber
deutfchen Sprache im Gegenfage zu der Tateinifchen; homo hängt entſchieden
mit humus, „Erde“ zufammen, entfprechend dem bebräifchen adam. *
Nicht minder muß für das Wort ſelig das Verſtändniß durch ein fremdes
Die ge
entfehwunden find, * ſich — — —
ſetzte. Die von und betrachteten gehörten zur erſten Klaffe. Nur auf ein in
der Zujammenfegung vorbandened wurden wir geführt, nämlich auf sal in Un⸗
| einfade Wort ı kant fo würde 18 wich
finden, ift befannt, Die Kunft, ein Wort, ge⸗
wöhnlich war, haben wir nur noch in Abkunft, Ankunft, Zukunft md
ähnlichen Compoſitis, dagegen hat ſich das einfache Fünftig erhalten. Bon
vernehmen wird Bernunft (früher vernunst) abgeleitet, aber von nehmen
erjcheint ſchon im Mittelhocydeutichen fein nunft oder nunst mehr. Beſonders
gebrauchen wir mehrere Worte nur in der Zufammenfegung mit der Vorſetz⸗
flbe ge. Wir fagen Gebet, gering, geſchwind, gewinnen, bie ein⸗
fahen Bet, ring, ſchwind, winnen aber haben wir aufgegeben. IL
So gebrauchen wir das mit der Vorſetzſilbe un zuſammengeſetzte Adjeeti—
sum gefaplacht, fühlen aber feine eigentliche Bedentung nicht, weil wir, wenige
ftens in der Schriftfprache, das einfache gefchlacht micht mehr haben. Dies
iſt zumächit abgeleitet von einem ‚verlorenen Worte slahte, schlachte, deſſen
NRebenform wir in Geſchlecht beſitzen, Die Grundbedeutung von Geſchlecht
slahte, iſt Art, natürliche Beſchaffenheit; geſchlacht iſt alſo geartet, artig,
wohlgeartet, ungefch lacht dagegen ungearte, roh 0
Eine Anzahl Worte haben ſchon in früher Zeit ihre Selbſtſtändigkeit ein⸗
gebüßt; ihre uriprüngliche Bedeutung bat fich allerdings in den Bufammen«
jegungen erhalten, aber auc nur in den Bufammenfegungen u.
So ift das gewiffermaaßen zu einer Slofen Bildungeftice Gerabgefuntine
heit in vielen abftratten Bemininen ehemals ein jelbftftändiges Hauptwort ge⸗
weien mit der Bedeutung Art und Weife, manchmal; Bolt, ——
Kuͤhnheit ift kühne Art und Weiſe, Ehrifienheit das Ehriftenvolf,
hoch deutſchen iſt diefer ſelbſtſtandige Gebrauch von heit ſchon —
ſelten, und die Zuſammenſetzungen wiegen vor. — Eine verderbte Nebenform
von heit iſt keit, welche wir beſonders am ee und’lich „>
Freudigkeit, Serrlihfei.
Ebenſo hatte das in den Zufamn ungen Meer er
vielerlei erfcheimende lei ehemals feisffländige Vebeuttung, Die frühere Form
war leie, leige; Grimm leitet es ber von dem romanifchen ley, loi. Die heus
tige Rechtſchreibung zeigt recht deutlich, Daß lei feiner Natur ald Hauptwort bes
raubt ift; die alten Handſchriften trennen leie meiftens von den voranſtehenden
Udjectiven, Die nody heute üblichen Wendungen find auch im Mittelhochdeut-
ſchen Die gewöhnlichen, Doch zeigen Redensarten, wie maniger hande leie, noch
deutlich leie als eigentliches Subftantivum. Die noch üblichen Zufammens
fegungen genen ren: von zn
Art, |
*
— }
Geheimniſſe der deutjchen Sprache. 751
nen, Näher liegt das lateiniſche careo, entbehren, ſich enthalten, „faſten“, car
dagegen iſt ein aus uralter Zeit geretteted Wort, welches dieBedeutung, „ſeufzen,
Hagen’ hat. Auch ein Subftantivum chara gibt ed im Althochbeutfchen mit ber
Bedeutung „Klage ; daß entiprechende gothiſche kara Hat einen ähnlichen Begriff,
nämlich „Sorge”. Auch die Rechtichreibung mit ch anftatt mit kicheint aus ben
älteften Zeiten zu ftammen, Ghbarfreitag aljo Ift „der Rlagefreitag”, nen
woch e „Die Klagewoche, die Woche der Trauer.“ —
Werden manche Worte deshalb nicht erfannt und — beit fie nur
in Zufammenfegungen vorfommen, jo find auf ber anderen Seite Zuſammen⸗
jegungen deshalb verdunfelt, weil fie ſich Durch die Zufanmenjegung, Zuſam-
menziehung oder Entftellung zu einfach fcheinenden Worten gewandelt haben.
Es wurde ſchon Dad Wort gleich erwähnt, welches entftanden aus ge und
leich, früher lich, in ber heutigen Geflalt gewiß allgemein als einfaches gelten
wird, Soldye mit ge zufammengejegte Worte find unter anderen: Glied,
Glaube, Glüd, Gnabe Das einfache Wort in Glied haben wir nod) in
ber deutlichen Zufammenjegung Augenlied. — Aehnlich entitand freſſen
aus ver=eijen, d. b. „volliländig eſſen, aufeſſen.“ — Auch find jämmtliche
Worte, bie eine VBerneinung ausdrücken, Zufammenfegungen; ſie werden Durch
die Negation ne oder nigebildet, welche nicht mehr einzeln vorzufommen pflegt:
nein aus ne und ein, wie das lateinifche mon aus ne und unum, nicht aus
ne und bem nicht mehr gebräuchlichen icht, nirgends, nimmer aus ne und
irgends, immer; nie aus ne und ie, unfer jegiges je. —
Unfer Wort erbarmen ift ein doppelt zufammengejegtes Wort. Barmen
ift eine Bufammenziehung aus be und armen. Das einfache Zeitwort armen,
aus arm gebildet wie misereo aus miser, ift ſchon im Mittelhochdeutſchen durch
bearınen, barımen verdrängt. Diefed, nur einfach erfcheimende Wort haben
wir ald Zeitwert nur noch in Mumbarten; bie —— hat ſich aber —
in barmherzig und Barmberzigfeit.
Auch unſer Adverbium neben:ift eine Zuſammenſetzung, gebildet: aus ber
Präpojition in und dem noch gebräuchlichen Hauptworte Ebene. Dieſes jelbft
ift ein adjeetiviſches Subitantiv aus eben, ebene, d, h. eben, glatt, glei, Aus
in ebene wurde enehene, jdhlieplich neben.
Hieran jchlicht ſich das Adverbium empor, welches vielleicht: ſchon che
als Zufammenfegung erfannt wird, Em ſteht für en, ban vor p leicht in m
übergeht und en ift geſchwächte Form von in, Das Subftantiv bor ift als
jelbftitändiged Wort in der Schrift perloren gegangen, es bebeutet „Höhe, oberer
Raum‘’ und hängt zufammen z. B’ mit Bürde, bi. „was gehoben wird.”
in bor, enbor und ſchließlich empor, bedeutet nicht blos, fondern heißt auch
wörtlich überfegt: in ber Höhe, indie höhe Wir beflgen das alte bor
noch in einigen Ausdrüden , die aber mehr der Mundart zye5 wie ch o r⸗
kirche, Borbühne, Borftabel,
Aber nicht blos bei ſolchen Eleinen Worichen wie ge, ver, se ui in iR
eine vollfommene Verſchmelzung mit anderen eingetreten, — —— —
Worte ſind in eins zuſammengezogen worden. I
Geheimnifie der dentſchen Sprache. 753
Süuͤndfluth, fondern nur von einer großen Fluth. Das Wort sint, welches in
sünt verbunfelt wurde, hängt zuſammen mit dem gothifchen sinteins, ewig,
iÄmmerwährend. Das t in sint und sinteins fcheint unorganifh. Das Wort
ain, welches noch in Sinngrün, d. 5. „Immergrün“ enthalten ift, bebeutet
„immer überall.‘ Sündflut, sintlut, und das verberbte Sündfluth heißt alſo
„die immerwährende und überall Hin fich erſtreckende Fluth.“
„Der Friedhof iſt der Hof, ıvo Friede wohnt, wo die Todten im Fries
den ruhen.‘ Go poetijch auch Diefe Deutung ift, die befonders in- Grabreden
ihren Ausdrud findet, darf doch die wahre, wenn auch nüchterne Bedeutung
des Wortes Friedhof nicht außer Acht gelaffen werden. Friedhof müßte
in Neuhochdeutichen eigentlich Frei Hof heißen, denn es Heißt Schon im Mittel-
Hochdeutichen frithof. Im Almordiſchen kennen wir ein Adjectivum frid, Tchön,
. im Gothijchen heißt freidjan, und im Altfächfifchen fridön, ſchonen, fehügen,
frtdhof ift der gejchüßte, umfchloffene Raum, das atrium, der Vorhof des Tem⸗
pels, Das Afyl, weiches Atrium und Tempel in ihrem Umkreiſe gewähren; alfo
frtdhof und Kirchhof bezeichnen ein und daffelbe. Da nun die Todten meift
auf den Kirchhöfen beftattet zu werden pflegten, fo wurde der Gottesacker auch
fridhof genannt und diefe Bezeichnung nach und nach die überwiegende. Denn
jegt gibt es auch außerhalb der Kirchen Friedhöfe. Das alte Verbum haben
wir noch in einfrieden, umfrieden. Dadurch daß das i in Friede,
welches ehedem kurz war, fich in der Ausfprache verlängerte und in der Schrift
zu ie wurde, und das lange i in fridhof feine vocalifche Natur nicht änderte,
io daß alfo beide Worte in den Vocalen übereinfimmten, Eonnte das Mißver⸗
ftändniß herbeigeführt werden. —
Die Zahl der geheimnißvollen Worte, welche wir betrachtet haben, ift
fiher feine geringe. - Dennoch waren e8 immer nur einzelne wenige Beifpicle,
ihre Gefammtzahl mag fich wohl über taufend belaufen. Es lag nicht der Bes
trachtung die Abſicht zu Grunde, nur eine einzige Art Sprachgeheimniffe für
fih zu behandeln, fondern es follte nach diefer Richtung hin ein Ueberblick
über den mannigfach gegliederten Wortfchag unferer Sprache gegeben werben.
So wenig die Bedeutung des Namens von Roß und Adler im Sprachgeifte
lebendig ift, fo gibt es noch eine beträchtliche Menge unverftandener Thier-
namen. Die Mißverftändniffe in der Sprache, von denen nur drei erwähnt
wurden, Eönnten allein Stoff zu einer felbftftändigen Betrachtung darbieten.
Ein paar Mal wurden Eigennamen angeführt, die faft ausnahmslos zu den
Geheimniſſen der Sprache zu rechnen find. Wir befchräinkten und nur auf wirk⸗
lich deutfche Worte*); einen großen Theil unferer dunfeln Worte machen aber
die Fremdworte aus. Aber nicht folche Worte wie Philofophie, Advocat, Ma-
Dame, welcher jeder Gebildete ald Fremdworte kennt, find unter die Geheimniffe
der Sprache zu zählen, fondern ſolche, welche durch das Chriſtenthum und durch
römifchen Einfluß ſchon in der älteften Zeit nach Deutfchland drangen, ſich ein«
*) Mit Ausnahme von lei (mandherlei ıc.), wenn bie Etymologie von Grimm
richtig iſt.
IV. ar
154 —— Eprachwifſenſchaft.
buͤrgerten und unentbehrlich wurden. Ueber die Eigennamen ſowohl wie uͤber
die Fremdworte möge daher beſonders gehandelt werden.
Der von und betrachtete Gegenſtand konnte ſelbſtverſtaͤndlich nicht erſchoͤpft
werden. Wer fich durch die von mir gegebenen Beifpiele zu weiteren Rach-
forfchungen anregen ließ, dem möge das Studium des Orimm’schen Wörterbuches
eindringlich an’8 Herz gelegt werden. Auch in dieſem Wörterbuch wird das
Reubochdeutfche in den Vordergrund geftellt. Jedes in der heutigen Schrift-
fprache vorkommende Wort findet feine Erklärung, und fein Gebrauch wird
durch Stellen aus den beften Schriften belegt. Zugleich aber wird die Gefchichte
jedes Worted nach Form und Begriff verfolgt und auf die Verwandſchaft mit
anderen Sprachen hingemwiefen. Möge fi Niemand, der dieſes Buch in die
Sand nimmt, von ben Tateinifchen Leitern und von den Fleinen Anfangsbuch⸗
ftaben der Hauptworte zurückſchrecken laſſen, ſcheue Riemand bie Arbeit, welche -
die ftreng gelehrte Form und der fireng gelehrte Apparat allerdings verurfachen
wird, dann wird wahre Befriedigung der Wißbegier und hoher Genuß nicht aus⸗
bleiben! —
Die Rolle der Wälder
in der Planzennatur und ihre Bedeutung für das Leben
der Menſchen.
Von
F. G. v. Jenſſen-Tuſch.
Was neben den Unebenheiten der Erdoberflaͤche und der Vertheilung von Land
und Waſſer beſonders dazu ‚beiträgt, den verſchiedenen Laͤndern der Erde ihre
Phyflognomie zu geben, das ift unftreitig die Pflanzenwelt, und unter ben
Pflanzen find es wiederum die hochwachſenden, baumartigen Gewächſe, welche
durch ihre Größe in der. Charakteriſtik der Länder eine Hauptrolle fpielen. Eine
Vereinigung hoher, baumartiger Bewächfe, die nach unten feinen getbeilten
Stamm geben, nennen wir einen Wald, während Gebüfche und Haiden Sammer
lungen niedriger, baumähnlicher Gewächfe oder Stauden bezeichnen. Der Buſch
unterfcheidet fih nur kadurh vom Baume, daß er gleich an ber Wurzel
mehrere Zweige ſchießt; allein es gibt viele Uebergänge in ber Natur zwiſchen
Bäumen, Stauden und Büfchen, und durch die Hand bes Bärtners laſſen ſich
viele Bäume in Büfche, und wiederum auch Büfche zu Bäumen ziehen. Der
Banianbaum, Ficus indica, hat die Eigenfchaft, daß er feine Zweige bis auf
die Erde herabhängen TAßt, Die num hier neue Wurzeln fchlagen, aus welchen
neue Stämme emporwachſen, die ihre Verbindung mit dem Mutterftamme fort»
fegen. Am Fluſſe Nerbubtah findet man nach Forbes einen Wald, der aus
einem einzigen Bantanftamme entftanden iſt; es gibt in demfelben 350 große |
und mehr ald 3000 Fleinere Stämme, die alle zufanmenhängen und ein Areal
von 2000 Fuß einnehmen. Ein Armeecorps von 7000 Mann hat einft in dem
Schatten diefes Waldes Haft gehalten. — Etwas Uchnliches gewährt der Wur*
zelrindenbaum, Rhizophora,*) weldyer eine bedeutende Rolle in den Küſten⸗
fümpfen der tropifchen Länder fpielt. Auch dieſer Baum. ſenkt Zweige nieder,
die wiederum wurzeln und neue Stämme bilden, und in folcyer Art einen ver⸗
worrenen Laubwald abgeben, der fich ganz beſonders zum Aufenthalte für,
Schlangen und Krofodille eignet.
*) Geoffroya?
ar
Der Wald und feine Bedentung. 757
per ———— Andesgebirgen bei ber Höhe von
12,000 guß. Je a re re er
Außerhalb der Bofarlänber imb der: hoberen Verggfrtel git:e8 ind
auch auf der Erdoberfläche innerhalb der Baumgrenze große Strecken, n
—— Als ſolche find beſonders folgende Strecken zu neunen oo
1. Der Wüſtengürtel in Afrika, vom Atlas und dem mittellän⸗
diſchen Meer bis zum Hochlande, ſüdlich des oberen Laufes des Nigerfluſſes und
des Sees Tſchad, um den 150% m, Br, und som atlantifchen bis zum rothen
Meer, wozu auch Aeghten und Nubien gehören, ja man kann ganz Arabien,
den größten Theil von Perfien und den nordweftlichen von Indien noch hinzu
rechnen, nämlich bis zum unteren Lauf des Indus, Dies beträgt einen unge»
heueren Theil des Beftlandes, der vielleicht nicht Fleiner fein wird als ganz Europa.
2, Die Salzfteppen im Often, Norben und Weften bes kaspiſchen
Meeres und des Aralſees. Sie erſtrecken ſich auch ae: ro leer
wo 18 ebenfalls einen Wald gibt. 700 er, u me
3: DieMongolei und Tibet, wo einestheifs RP LEER amderen
theils ng des Bodens —— singichen Nangel an Waldungen
bewirken. |
ylyız „ mw ar ml m)
+4. Die —5 —— AR Grasebenen des Miffonri
und Miffifippi und auch bie ee pls R wre ———
loſen Landſtrecken in Nordamerika. ih WM A 0 ni lm
6. — Sndehenenin * noͤrdli den Bensinjen bon
Merikfo, ni Yo ne ae N AER e — — —
6. Die — — — am Orinoko in Suüdamerika.
7. Die endloſen fahlen Ebenen oder Pampas am Fluß ge⸗
biete des la Plata, welche ſich von den Cordilleras in Chill bis an das
atlantifche Meer und von den Gebirgen Brafiliens bis zur Magellanftrafe erſtrecken.
Außer den bier angegebenen Grenzen für die unbewaldeten Theile der Erb-
oberfläche gibt es noch viele andere, kleinere Strecken, wie z. B. dad Hochland
von Spanien, die Marjchen an der Nordfee, die Weftküfte von Iütland u. m. a.,
die Feine Wälder haben, a une Ay ET Tl
Was nun aber den verfchiedenen Charakter der Wälder betrifft, da theilt
man fie nad) den Baumarten, die Darin wachſen, in folgende Gürtel:
1% Der Gürtel ber Nadelhölzer. Die Nadelbäume find in der
Regel an ihren ſchlanken Stämmen zu erkennen, welche bei einigen Arten an
ber Norbweftfüfte von Amerifa eine Höhe son 200-300 Fuß erreichen, ſowie
an ihren ſchmalen, trodnen und nadelförmigen Blättern, Die alle Jahreszeiten
hindurch grün bleiben, wenn man allen den Lärdhenbuum davon ausnimmt.
Durch diefe letztere Eigenſchaft bewahren fie das ganze Jahr hindurch den An⸗
blick der Vegetation in einem Erdguͤrtel, wo fonft im. Winter jede Epur einer
Vegetation verſchwunden iſt. Die dicht nebeneinander aufwachfenden Baum—
ftämme laſſen nicht Teicht irgend eine andere Baumart in denjenigen Wäldern zu,
wo Nadelbäume die Herrfchaft führen, doc findet man nicht eben felten bie
Birke mit ihnen untermifcht. Die Vegetation der Nabelbäume iſt jehr
Blumen auftreten und. bie ———— — —— mit feingetheiltem
rt J— * un Aa sen.
— Kaſtanien begegnet, treten. 3. B. Palmen und Mimofen ſchon in neuen
Artformen auf, wer man fich nur eine kurze Strecke von ihnen entfernt, Dieſe
endloje Mannigfaltigkeit erfchwert es aber, auch nur über die Hauptformen eine
zuverläffige Ueberficht zu gewinnen. Wir wollen von denfelben. eben nur, folz
gende nennen: die Palmen mit ihren hoben, ſchlanken, ungetheilten Stämmen,
mit Blättern, Blumen am Gipfel, die ſich gewöhnlicherweije weit
über die niedrigen Laubwälder erheben; Mimofen und andere Hülfenbäume
mit jehr zufammengejegtem Laube und oft prächtigen Blüthen, wie die Amher-
stia nobilis; die Malvaceen mit ihren diden Stämmen wie, der Baobab, mit
breiten, meift geibeilten Blättern. und übergrofen und prachtvollen Blumen, =
wie die Carolinea; Bäume aus der Familie der Euphorbien, welche ‚einen
Milchſaft enthalten, dev bald giftig, bald, wie bei der Euphorbia balsamifera,
gleich der Milch, von Thieren trinkbar ift; Bäume, aus der Beigenbaum-
familie mit großen, glänzenden Blättern und aromatifchen Stoffen; bie baum-
Ähnlichen Barren mit dem feingetheilten, ſchönen Laub an den. Enden , und
Cykadeen mit dem mächtigen, — gefiederten Laub am Gipfel
bes gewürfelten Stammes. une ret mi „
Eine zweite Eigenſchaft, maldnbie tropifcgen Bäume ‚Garafterifiet, iſt die
für uns auffallende Größe der Individuen. Denn obgleich es auch in dem ge-
mäßigten Erdgürtel hohe Baumarten , wie z. B. die Böhrenarten, gibt, ſo find
doc im Ganzen alle Bäume der. heißen. Zome höher ald ‚Die der ‚gemäßigten.
Ferner zeichnen fich die tropijchen Bäume durch große en
durch große Blumen und Früchte aus, wie z. B. die L
endlich gehört auch die unendliche Menge von Schlingpflanzen zu ——
teriftifchen Erſcheinungen in den tropiſchen Wäldern. Dieſe lehteren, Die ſo—
genannten Schlinggurfen, Lianen, wie z. B. Cissus, Banisteria, Bi
und Passillora, weldye ſelbſt baumartig wachſen, ſchlingen ich um andere Baum-
ſtaͤmme und gewinnen oft über. diefe eine ſolche Uebermacht, daß fie, biejelben
erſticken, ſo daß dieſe zulegt nur noch einen. kahlen Cylinder als Stüge ab-
geben. Oft ſcheinen die. Schlingpflanzen der. tropiſchen Zonen. bie Stimme
der Baͤume, um welche fie ſich hinranken, zu erdrüden, was, dadurch ent-
ftehen mag, daf, Rinde, und Holz des Baumes üben, hin⸗
auswachſen; oft haͤngen- fie wie Guirlanden von einen Stamme, zum anderen,
oder, wie z. B. die Rotangs, Calameae , das — fe, fälingen
Der Wald und feine Bedeutung. 761
wovon die verfchiedenen Arten untereinander von geringer Abweichung find, und
weil fie beinahe alle eine gewiſſe Figenthümlichkeit gemein Haben, Die Blätter
find nämlich troden und lederartig, oft immergruͤn, von blaugrüner oder grau⸗
grüner Farbe und ftehen bei den meiften Bäumen vertikal in die Höhe. Daraus
folgt fchon, daß die Wälder nır wenig Schatten geben koͤnnen und ein trocknes
und todtes Außfehen haben müffen, objchon die Bäume oft Schöne Blumen tragen.
Mas fo von NReuholland gilt, iſt ebenfo In Südafrika. Infoweit bier
Wälder auftreten, die zum Theil nur fpärlich vorhanden find, befteben fle be⸗
fonder8 aus Proteaceen und Ericeen mit fleifen Blättern. Anders aber verhält
es fich mit dem gemäßigten Südamerifa. Un der öftlichen Seite gibt es Hier,
wie gefagt, feine Wälder ; auf der Weftfeite, in Chili, verbreiten fich die tro⸗
pifchen Formen füdlich des Wendekreiſes, um in den füdlichflen Gegenden und
auf dem Yeuerlande von Formen abgelöft zu werden, welche den europäifchen,
3. B. den Buchen, ähnlich find.
Der Einfluß der Wälder auf die Atmofphäre tritt in der heißen Zone am
deutlichften hervor; denn die Wälder vermehren den Regen und bringen Näffe,
fis rufen Quellen hervor und fliegende Gewaͤſſer. Waldloſe Streden nehmen
eine ftarfe Hige auf und bie über denfelben ruhende Luft fleigt fenfrecht in die
Höhe und verhindert Dadurch, daß die Wolfen fich gegen die Erde fenfen; die
eonftanten Winde, der Paſſat und die Monfoond, geben auch, wenn fle unge
hindert über große Ebenen wehen können, Teinen Anlaß zum Uebergang der
Dünfte in Tropfenform. In den Wäldern dagegen kann das bedeckte Erdreich
natürlich Eeinen fo hohen Brad von Hitze aufnehmen und die Ausdünftungen
der Bäume tragen überbied zur Abkühlung der Luft bei. Wenn hier alſo tie
mit Dünften angefüllten Luftfirömungen die Wälder erreichen, fo iſt Veran⸗
lafjung zum Verdichten gegeben, und daß fie folglich in Regen übergeben können.
Die Ausdünftung der Erde unter Bäumen geht langfamer vor fidy, und da diefe
auch im Heißen Klima felbft ſtark ausbünften, fo hat die Luft in den Wäldern
einen hohen Grad von Beuchtigfeit, die wiederum Quellen und fließende Ge⸗
wäfjer erzeugt.
Daß die Wälder wirklich einen ſolchen Einfluß haben und daß derfelbe
entbehrt wird, wo Wälder fehlen, davon hat man in manchen Gegenden der
Erde traurige Erfahrungen gemacht, die durch Ausrottung ber Wälder des
Regens, der Feuchtigkeit, der Ouellen und rinnenden Wafler beraubt worden
waren, fo wichtiger Dinge für das Wachsthum und Gedeihen aller Pflanzen.
Als die canarifchen Infeln entdeckt wurden, waren fle Dicht mit Waldungen bes
wachfen: nachdem man dieſe nach und nach Durch Ausroden vertilgt hat, iſt das
dortige Klima fehr troden geworden, auf einigen Infeln, wie 3.8. auf Fuer⸗
teventura, in fo hohem Grade, daß die Bewohner bisweilen, wenn fle nicht
nach den Rachbarinjeln fliehen, vor Durft umfonmen müßten, Cine gleiche,
durch Vernichtung ber Wälder hervorgerufene Dürre des Klima's findet man
auf den Eapverdiichen Infeln, auf mehreren Antillen und an anderen Orten der
heißen Bone.
Auch Hinfichtlich der gemäßigten Klimate hat man die Behauptung aufges
Der Wald und feine Bedeutung. 763
in den Alpen und der Lombardei eifern, ift die Regenmenge in Mailand unver⸗
ändert geblieben und bat fogar in den letzten 70 Jahren bis 1831 etwas zu⸗
genommen.
Es iſt indeſſen auch ganz begreiflich, daß die Wälder in der gemäßigten
Zone nicht denjenigen Einfluß auf das Klima haben können, als in der heißen
Zone, weil dort weder die Erhitzung noch die Abkühlung fo ftark fein kann
als bier. Für Europa find die vorherrfchenden füdweftlichen Winde die eigent-
lichen Regenſpender und die Mafjen von Dünften, welche diefelben vom großen
Dcean bermehen,, find fo beträchtlich, daß die Dünfte, welche von feuchten Erd»
boden und aus den Wäldern auffteigen, in Vergleich mit jenen Maffen für Nichts
zu achten find. Es kommt auch noch hinzu, daß die veränderlichen Winde und
der Kampf zwifchen dem Dünfte mit fich führenden wärmeren Sübmweft und dem
falten und trodenen Rordoft es niemald an DBeranlaffung zum Uebergehen der
Dünfte in Tropfenform fehlen lafſen.
Was von den Räffeverhältmiffen geltend ift, gilt auch von den Waͤrmever⸗
bältniffen. In den heißen Erdgegenden mindern die Wälder die übermäßige
Hige: in den gemäßigten verfchwindet dieſer Ginfluß oder iſt Doch nur gering,
da kein auffallender Unterfchied in der Temperatur der Waldgegenden und wald⸗
Iofen Zandftreden in dem Iepten Jahrhundert bemerkbar geworden, obſchon bie
. Wälder fehr abgenommen haben. Gewiß find daher die Vorftellungen über
trieben, welche man fich von dem firengen Klima Deutichlande und Frankreichs
zur Zeit der römifchen Herrfchaft wegen ber großen Waldungen zu machen pflegt;
fie mögen meift von dem ungünftigen Eindruck hervorgerufen worden fein, den
eine nördlichere Natur auf den Südeuropser in der Regel macht. Ebenjowenig
beflätigt ſich die vorgefaßte Meinung, es werde ſich das nordamerifanifche Klima
nach Außrottung der dortigen Urwälder ändern.
Daß aber die Wälder Einfluß auf die Winde haben, ift nicht in Abrede
zu bringen, doch beſchraͤnkt Diefe Wirkung ſich meift auf kleinere Lantitreden.
Unftreitig müflen die Winde einen größeren Spielraum auf Ebenen ald auf
waldbewachfenen Streden haben. Ein gegen Rorden Tiegender Wald Fann bie
naͤchſte Gegend gegen bie Falten Nordwinde fhügen und Dadurch das Klima der
felben mildern. Ein gegen Süden liegender Wald kann die warmen und
feuchten Winde abhalten, mithin eine Gegend gefunder machen. Eine Ebene
im nördlichen Europa ift nicht fo fehr den ſchädlichen Seewinden ausgeſetzt,
wenn ein zwifchenliegender Wald fie fhügt. In der heißen Zone Tann ein Wald
die Fühlenden und gefunden Seewinde abhalten, wodurch das innere Land, ber
fonders wenn e8 fumpfig iſt, ungefund wird. Auf diefe Weife verhält es fich
mit den großen Mangrovewäldern in Genua und auf Java und mit den Urwäle
dern an den überfchwenmten Ufern des Amazonenfluffes.
Keine Thiere find in folhem Grade an die Pflanzenwelt gebunden wie
die Inſekten; viele derfelben find nicht blo8 auf Pflanzennahrung angewiefen,
fondern jogar auf alleinige Nahrung aus einer beftimmten - Pflangenfamilie,
Daraus ergibt fich denn, wie groß die Bedeutung der Wälder für
das Leben der Infekten jein muß. Ganze Mpriaden diefer Eleinen
"Di Ataffe der Meilen iR ic fo ziel am De: Welder gebunden,
——“⸗⸗—
und in den ſumpfigen Küftenwäldern gibt es eine Unzahl von Schlangen, ‚Kra«
obifen und anderen Gibechfen. Raubfröfche Leben let in Menge auf den Bäumen.
Gleichwie Die Vögel eine eigene Waldfamilie an den Papageien haben, fo
bilden unter den Säugethierem die Affen eine Bamilie, deren zahlreiche Arten
und Individuen fo recht zum Waldleben geſchaffen And; denn ihr Körperbau
und ihre Nahrung feſſelt fie in ſo entſchiedener Hinweifung an die Bäume, daß
fie diefelben felten oder faft niemals verlaffen, Von —
vr. einige Arten aus der Familie der Hirſche zu dem
Nichten wir endlich zufegt unſere Blicke auf die Menfchen, jo fehen wir,
daß bie Bölte, welche noch auf der niebrigften Etufe der Entwickelung ftehen,
ſich oft eng an die Wälder anfchliehen. In dem Kilteren Ländern, wo bie
Bäume entweder gar feine genießbare oder doch nicht wohlichmectende und- mur
wenig nahrhafte Früchte tragen, ift es bejonders das Wild, weldyes die Eins
wohner ernährt und ihnen Meider gibt. Dieſe Völkerſchaften |
fonders als Jäger auf, wie wir das an den Urbewohnern von ı“
ſehen Fönnen, In ber heißen Zone leben dagegen die auf gleich niedtiger Stufe
ſtehenden Völter hauptſäͤchlich von den Früchten der Bäume nn
Baumftänme, wie 8 3. B. mit einigen wilden U |
Fall ift, und ferner mit Bewohnern des indiſchen —— hreren
gerflimmen. Südamerika bietet ſogar das Beiſpiel eines WB af
fat wie die Affen auf den Bäumen lebt, deſſen Exiſtenz fi
Der Wald und feine: Bedeutung. 765
gewifle Baumart geknüpft ik. Es find dies die Guaraunen an ber Mündung
des Orivoco, welche von und auf der Mauritiapalme Icben. Während ber Erd
boden überſchwemmt iſt, werben zwifchen den Bäumen Hängematten aufgehängt,
welche von den Blattfiengeln der Palme gewebt find. Diefe Matten werben
mit Thon belegt und Feuer darauf angemacht. Gier fchlafen dieſe Wilden und
bringen fo einen großen Theil ihres Lebens zu. Der Stamm der Palme liefert
ihnen Mehl, der Saft einen Balmenwein, und die Früchte ded Baumes find
wohlfchmedend, zuerft mehlig, dann füp.*)
Die nomadifchen Völker hegen Dagegen einen Widerwillen gegen die Wälder.
Große Srasfelder umd fruchtbare Thäler oder Bergabhänge mit grünen Weide⸗
plägen eignen fich am meiften zu dem Wanderleben, das fie führen, und zur
Ernährung ihrer Heerden und Haußthiere,
Sobald ein Volf fi dem Aderbau weiht, tritt es feindfelig gegen die
Wälder auf. Die Bäume flehen der Pflugichar und dem Spaten im Wege,
und der. Wald gewährt geringere Ausbeute ald Ader, Garten und Weinberg.
Darum fällt der Wald allmälig von den Schlägen der Art; das Beuer verzehrt
die gefällten Baumftämme, Aeſte und Zweige; Die Afche düngt den Boden und
läßt ihn mehrere Jahre einen reihen Ertrag liefern, zumal in ben dichten tros
pifchen Urwäldern. Rimmt dann nad) Verlauf einiger Jahre die Bruchtbarkeit
des gewonnenen Angers wieder ab, fo wird ein fernered Stück Wald umge
Schlagen und verbrannt, und auf dieſe Weife fährt man ſchonungslos fort, große
Waldungen zu vernichten. Dabei ereignet ſich denn auch zuweilen, daß der
Waldrand weiter um fich greift, ald man es beabfichtigte, fo daß die Waldzer⸗
flörung noch vergrößert wird. So verfahren die Bauern in Schweden und
Norwegen, jo die Einwanderer in Nordamerika, Mexiko, Braftlien, auf dem
Kaplande, auf Sava, in Auftralien und überall, wo der Anbau des Bodens
zuerft anhebt oder in befländiger und unbehinderter Erweiterung begriffen iſt.
Mit der immer mehr anmachfenden Bevölkerung nimmt dieſes Vernich⸗
tungefoftem zu und wird infolge des vermehrten Bedarfs zu einer wachfenden
Progreffion. Wan verlangt Banholz zu neuen Häufern, zu Wirthichafts- und
Hausgeraͤthen, zu Mobilien und zum Brennen, zu Brüden, zu Einfriedigungen
der gewonnenen Felder und zur Erwärmung der Wohnzimmer in Falten Klimaten.
Der Verbrauch der Wälder nimmt ferner zu mit ber fleigenden Induſtrie,
mit der vermehrten Schifffahrt und im Handel. Die Bergwerke bedürfen des
Bauholzes bein Bergbau, des Brennholzes zum Schmelzen der Metalle und
Steine, und Handwerker verbrauchen eine große Menge Holz in jeder Stabt, in
jedem Flecken, in jedem Dorfe. Damme und Bollwerke erfordern Holz, befon-
ders aber ift es der Schiffäbau, der alljährlich einen großen Tribut an edlem
Waldholze verlangt; denn Millionen Baumflämme werden zu Schiffsmaften
*) Die Ouaraunos oder Buarahuns auf den Infeln in ber Mündung des
Orinoco find doch auch tüchtige Fiſcher und Schiffer, die den englifhen Schleihhänds
lern als Piloten gute Dienfte thun. D. Ueber.
Der Wald und feine Bedeutung. 767
doch iſt e8 entſchieden wahr, daß ein zweckmaͤßigerer Bau der Schornfleine, eine
befiere Wärmevertheilung und beffere Wärmeapparate gar viel an Beuerung er⸗
fparen könnten, ohne daß man dabei an Wärme verlöre.
Es ift drittens gewiß uud nicht minder durch Erfahrung befannt, dag
die fleigende Kultur den Markt erweitert. Fehlt Bauholz in einem Lande, fo
wird ed aus dem anderen herbeigebolt, und die fo fehr erleichterten Verkehrs⸗
mittel drüden die Preife herab. Die betriebfamfte feefahrende Nation in Europa
bolt ihr Bauholz und ihre Schiffömaften aus Skandinavien und den OÖftfeelän-
dern, ja felbft jenſeits des atlantifchen Meeres her.
Viertens ermuntern die fleigenden Holzpreiſe, welche aus der Abnahme
der Brennholzmaffen hervorgehen, die Wälder zu fchonen, fie zu conferviren
und wenigflend da für neuen Waldbau zu forgen, wo der Boden für den Acker⸗
bau nicht geeignet iſt. Anſtatt dag die Alten ihre Hausthiere in den Wäldern
graſen und fo den jungen Baumwuchs in forglofer Weije vernichten ließen, hegt
man jegt die Wälder ein, forgt für neue Anpflanzung, und Hält das Vieh außer»
halb der Holzungen auf Weiden, während das friedliche Wild in befonderen
Thiergärten gehalten wird. Die Wälder werden jegt nach einem wifjenichaft-
lihen Plane behandelt; e8 wird nach Regeln Holz gefchlagen, und in gleichem
Verhältniß für neuen Anwuchs geforgt. Die wilde Vernichtung der Wälder
in früheren Zeiten bat eben dad Gute im Gefolge gehabt, eine auf Botanik ge»
ſtützte Korftwiffenfchaft und geregelte Behandlung der Korflen in Europa her⸗
borzurufen.
Während der langen Kriegsjahre von 1807 bis 1814 befürchtete man in
Dänemark zulegt an Brennholz Mangel zu leiden, denn in diefer langen Zeit
wurden viele Kleine Gehölze ganz umgehauen, weil der Staatöbanferott von 1811
alles GrundeigentHum mit einer fchweren Staatöpriorität beichwerte und fo die
verarmten Zandleute nöthigte, zum Verkauf der Wälder ihre Zuflucht zu nehmen,
um fich baare Einnahmen zu verfchaffen. Nichtödeftoweniger hat dieſe Ders
nichtung mancher Wälder die befürchteten Folgen nicht beftätigt. Denn eine
Klafter Buchenbrennholz Eoftete zu Anfang ded gegenwärtigen Jahrhunderts in
Kopenhagen 8 Thaler 15 Grofchen, und jegt Foftet cin folched Quantum nur
7— 7/2 Ihaler, obgleich jegt für jede Klafter eine Einfuhrfteuer erlegt wird,
die vordem nicht erhoben wurde. Das Holz eined ungefällten Waldbaumes
foftete hier vor dem Kriege 5 Thaler, was ebenfalld mehr ift, als wofür jegt
Bäume gekauft werden. Obgleich die Wälder aljo gelitten haben, gleicht der
Berluft fi zum Theil dadurch wieder aus, dag man jegt fparfamer mit Dem
Brennholze umgeht und die Wälder mit Schonung behandelt. Der Staat hat
folglich gemonnen und Keiner durch das Geſchehene gelitten, wenn man noch
dabei nicht außer Beachtung läßt, wie bebeutend der mit jedem Jahre zunch-
mende Berbraudy von Steinfohlen und die Einführung von Sparöfen überall
dazu beiträgt, den Verbrauch an gutem Waltholz ald Brennmaterial zu
verringern.
Berihtigungen:
pag. 673 Zeile 8 von oben lies „den“ Imperfecten flatt „‚ber’
„ 693.8 „» » „ Ballabrost flatt Sallabros,
» 63 „ 6 „unten „ imexilio „ in,
„ 654. 1 „oben „ veritatis , viritalls,
Drud von I. B. Hir ſchſeld in Reipsig.
TOT
b105 015 181 576
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Stanford, Ca.
94305