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Full text of "Die Zukunft"

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230.4 
294 








ukunfte 
verauageber: 
Maximilian Barden, 
BR 


AJünfundſechzigſter Band. 


Berlin, 
Derlag der Zukunft. 


1908. 


Inhalt. 


478 
Pin? 
—4 —8 
—* 
Albaner, die... ......... 117 


Amerikaniſch⸗ japaniſcher Handels⸗ 
vertrag ſ. Krieg? 
Auflichträtbe ſ. Briefe 86. 


Ballanforgen ..... 22.2.2200 121 
Bantenfhidfal .-...- 2.0... 392 
Barröre 2202er ene 395 
Bayreuth .... 222000 n een 102 
Beihwerde .... 222-2200 0. 468 
Birken, bie beiden .. ..-.....- 450 
Blood is thicker than water |. 
Krieg. 

Bonner Bant |. Bankenſchickal. 

Börienberbfi - 22222222. 162 
Briefe, Drei... 2. 200m een a. 36 


Briefwechfel zwifhen Wagner und 
Lili Lehmann ſ. Beſchwerde. 


Bummel... 222er 193 
Brunnen und Wieſel ſ. Geſchichte. 
Buch der Jugend... ....... 857 


Bulgarien j. Byzanz. 

Bundesftanten f. Reich. 

Bußtag................ 378 

Byzanz, die Erben von....... 43 

Czechen ſ. Lowoſitz. 

Deklaranten ſ. Kaiſer II, gegen 
den. 

Deutſch⸗öoſterreichiſches Bündniß ſ. 
Topika, ſ. a. Gordiſcher 


Knoten. ⸗ 
Dresdner Bank ſ. Reinfall. 
Elterngewalt .... 2.22.0000. 78 
Efftafe und Belenntniß ..... .. 381 


Erinnerungen. ... 2220000. 448 
Erpanfion, europätide....... . 141 
Slammenla ...... 220002. 264 
Freud, Brofeflor ſ. Elterngemwalt. 
Sriebe in Ehren .-..... 2... 165 
Gelſenkirchen |. Seifenblafen. 
Genie oder lebermenih .... .. . 17 


Gerichtstag f. Kaiſer III, gegen 
den. 
Geſchichte, die, vom Brunnen unb 
vom Wieſel.......... . 154 
Gordiſche Knoten, der... .... 446 
Hale ſ. Waffenſtillſtand. 
Hamburg⸗Amerika⸗Linie |. 


Seifenblaſen. 
Handels ſachverſtüͤndige....... 267 
Hebbel, hütet Euch vor ....... 112 
Heimarbeit ......... ern 169 
Hohlönigäburg, die... ....... 241 
Ich, das unzettbare .. . ...... 421 
Interview |. Kaiſer, gegen ben. 
Juden, die in Boien ........- v2 
Kaiſer, an ben, vor zehn Jahren . 311 
Kaifer, gegen den... ... ..... 207 
;„JIl, nern 245 
1 0 0 EEE 285 


Karoline Mathiide und Struenſee 456 

Klofiowiti |. Künſtlerbuch. 

Kongreß: .- 2222er 35 

Fönig Phaeton. ........... 280 

Königin Karoline von Dänemarf |. 
Karoline. 

Koppel & Eo. ſ. Bankenſchickſal. 


Kraft und Stoff in der Technil ... 189 | Reinfall von Schaaffhaufen, der... 32 


Krieg? 
Fronten und Ungarn f. Briefe 36. 
Künftlerbuch, ein 
Kurtofa 
Laukhard |. Magiiter. 

Lawſon & E0..... 222er... 
Lehmann, Frau Lilli f. Beſchwerde. 
Le roi s’amuse j. Kaiſer III, 


u. ee RR 8 8 8 8 Tr rt 0 6 a 


51 


j. a Erinnerungen. 
Reich und Bundesftaaten 


363 | Rebolutton, eine Töntgliche 


Rußlands Bahnbau in Sibirien... 224 


15 | Salus populi f. Waffenftill- 


fand. 
Schaaffhaufenicher Bankverein ſ. 
Reinfall. 
Säule ſ. Unverbefferliden. 
Schulfeindlichleit |. Briefe 41. 


gegen den. Segeln... 2.220. 180 
Lowoſitz, die Familie ........ 424 | Seifenblafen ..... 2222 2.. 203 
Lyſis ſ. Waffenftillitand. Selbſtanzeigen 29, 74, 159. 

Magifter Laukhards Lebenslauf .. 98 Gelbfimörder ..... 2.2 222.. 26 
Mafchinenäfthetil........... 108 | Shaleipeare, ein neuer ....... 112 
Majeftät |. Waffenftillftand. Steffens, Hentil ........... 465 
Meerengen, bie»... 22020. 125 | Steuern, neue... -. 222... 307 
Mime, der Beilige ......-... 489 | Struenfee ſ. Karoline. 
Minifterveraniwortlichleit ..... ... . 399 I|Stud, Franz... . 22:2 cen 0. 184 
Monarden-Erziehung .. .. - . . . DTANTAfl... 2200 ren 269 
Morig und Rina .......... 1} Zagebuch eine Schäler8 ....... 483 
Motorluftihiffahtt ..-...... 70 | Zantiemeberehnung ........- 505 
Niegiche |. Genie. Technik ſ. Kraft und Stoff. 
Oeſterreich ſ. Topika f a Bor. Topila . 2222er ..... 437 
diſcher Knoten. Truſt ſ. Seifenblajfen. 
Parität in Preußen......... 243 Türkei |. Kongreß. 
Berfönliches Regiment |. Uebermenſch |. Genie. 

Kaiſer IIL, gegen den. Ungarn |. Briefe 36. 

Vetuß .. 2022er neen 471 | Ungkäubigen, die... ........ 231 
Pfarrbeſoldungsgeſetz |. Parität. Unverbefjerlichen, die . 216 
Philoſophenkongreß in Heidelberg . 551 Berfe ... non nern. 305 
Polens Zukunft, die... ...»... 407 | Bertheidiger, der |. Kaiſer II, 
Pſychoanalyſe ſ. Elterngemalt. gegen den. 

Rathenau Emil ........... 431) Waffenftilftand .......2.... 325 


Wagner, Richard |. Bayreuth f. a. 
Beſchwerde. 





Berlin, den 3. Bhivber 1908. 
nn Rn: 


Moritz und Rina. 


Kreffin, Betrus und Paulus 1908. 
Abd ul Adolf! 

Biss, heißt auf Deutſch: Adolfendergebenfter Diener. (Bis 

ins Bornamentlichereicht mein Arabiſch nicht; denfe miraber, da Mo⸗ 
rig= Muley. Nicht etwa Mohammed, was Dir natürlich lieber, weil flandeö- 
gemäßer.) Mit dem Diener und der Ergebenheit ftimmts. Abd Allah würde 
mir, wennd durchaus ſchon Drient fein muß, beſſer paffen. Doc clacun à 
son goül, zirptedieaußgebuchtete Sarmatin, deren Bumphöschen einen Herrn 
in den ſchlechteren Fahren fiebenmal in die Zledermausfalle Iodten. Einer 
nennt ſich demüthig Jeſu Knecht und betet zum Herrn Himmels und der Er⸗ 
den. Der Zweite will nit altmodiſch feinen und zerſchindet fich die Knie» 
ſcheibe vor einem blauen Dunft, den er ald das Reformkleid der berliner Mas 
dame Vernunft bewundert. Der Dritte marht ſich einen Götzen nach feinem 
eigenen Bild Abd ulAdolf. Geſchmackoſache. Dem Schwagerherzen, das ich 
noch lange nicht kenne, ift der Landwehrmajor ein Held; tapfer, deutſch und 
weiſe. Hätte es nicht für möglich gehalten. Aber jo weit find wir nun. Korres 
fpondirft eigentlich nur noch mit ihm. Dicke Briefe, von denen ich nur den Um⸗ 
ſchlag zu Geſicht kriege. „Cingefchrieben! Berfönlich!* DoppeltesBorto ver 
räth dad Gewicht. „Dein Bruder grüßt herzlich.” Weiter nichts. Man Iernt 
bienieden Manches herunterjchluden; wird ſich auch daran gewöhnen. Noch 
haperts. Wenn ich die Diplomatenmiene jehe, diejes feierlich-neckiſche Poſi-⸗ 
ren auf Diskretion, fteigt mirs auf wie im Mai nad; verjalzenem Caviar. 
Eiferfüchtig? Du meine Güte! Ift nie mein Hall gemejen. Um Liebe werben 
wir nicht, ſprach unfer Fürſt mir aus der Seele. Weiß leider auch zu genau 
Beſcheid, um mir einzubilden, alte Pfiffikuffe fönnten ihr Amoureufes der 
Poſt anvertrauen. Einfchreiben ift gut; ſolche Beichtzettel find aber ſchon ver⸗ 

1 


2 Die Zukunft. - 


trödelt worden: und dann war der Gardinenteufel los. Giebts bei mir nicht. 
Selbftahhtung muß jein; jonft morgen die Bude ſchließen. 

Da iſt nun mal der empfindliche Punkt. Drum eben wurmts, daß der 
geichwifterlichen Intimität die mit einem Wildfremden vorgezogen wird. Re⸗ 
den wir nicht mehr davon. Am Apofteltag feine winzige Miſere jpaziren füh⸗ 
ren: fidonc! Daß mid) fo vergaß, fommt nur von der gräßlichen Einſam⸗ 
feit. Ohne Kind und Kegel. Mieze ift mit Ihrem in Kiel, ſchwimmt natür- 
lich in Wonne und Glühbirnenlicht und ſchreibt nach jedem Bordball eine be- 
geifterte Anfichtfarte. (Deine Anficht kennſt ja. Weder Schweineſchlächter aus 
Chicago noch Schweineverädhter hud Eurem Thiergarten paffen mir in den 
preußiichen Hofitaat. Abwarten, ob die Xiebe der freien Männer aus Rooſe⸗ 
velts und Siraeld Stämmen die fteile Höhe fichert, wo Zürften ftehn.) Der 
marinirten Sugend gönnie ich noch mehr Spektakel. Nur fonnte Lotka mir 
als Sommervergnügen Baby laſſen. Habt jeden Sonntag ja meinen Jungen 
(den jeit Neujahr nicht Jah und bald nichtwiedererfennen werde). Magin dies 
Ten heißen Wochenrechtichaffen am Königsplatz geſchwitzt haben. Hieß ja, nad 
Nepal, es gehe los; und Alles, was Karmefinitreifentrug, wurde eklig gejchun- 
den. (Die Engliſche Abtheilung auch jpäter noch; ald gemeinjame Konferen⸗ 
zen mit dem p. !. Admiralftab.) Ahnſt, wie mir zu Muth iſt? Die Preußin 
möchte jubeln, weil draußen doch wieder eine Spur ded alten Reſpektes in 
Sicht fommt. Die Mutter denkt natürlich nur an ihren Jungen; den Einzis 
gen, der ihr blieb und aus deſſen Briefen eö nun wie von Funken ſprüht und 
tniftert. DerHaudherrauf alter Höhe. Unerreicht. Unerreichbar. „Bang machen 
gilt nicht. Wird wieder nichtd draus; mag die Grobe Bude ihrer Sache noch 
fo ficher fein und ſämmtliches minifterielle und miniftrableBolfdraufichwös 
ren. Dein Sunge bleibt Dir heil. Wir thun jo was nicht. Unter feinen Um: 
ftänden. Daß mand draußen weiß, it dad ärgfte Malheur.“ 

HaftwohleinBiächen erſtaunt nach dem Datum, dannaufdieStimmung 
dieler Epiftelgegudt? Ja: jo weit war ich, als Euer Kommen meldeteit. Un- 
term Sunimond. Profit die Mahlzeit! Abjage mit langathmiger „Begrüns 
dung“ (ftehtimmer in den gräßlichen Gerichtöberichten), für die KottendBron- 
hien mal wieder herhalten mußten. Wären hier blitzblank geputzt worden. 
Wie neu Denn diejer Zuli war eine Pradt. Mußte ihn einſam verfeufzen. 
Mariehendem Herrin Kapitän, der BengeldemBaterland unentbehrlich(Herr 
Je!) und Ihr mimt dad Kurgemäße. Wenn nicht ein jo guted Schaf wäre, 
hätte ich Euch Alle ausgelacht. Keiner hats jo gehabt. So im Eigenen ; wos 
bei man mitgejhaffen hat und, wenns funfelt und jpriebt, was wie Eltern» 
freude fühlt. Vorbei. Roſen giebtö noch. Dalien, Sonnenblumen in Haufen. 
Doch der ſechzehnte Sonntag nach Pfingiten Steht im Kalender und man muß 





Morig und Nina. 3 


an die Feuerung denken. Trotzdem wir noch warm haben. Nach verregneten, 
grenzenlos trübjäligen Wochen, wo man glaubte, alles Korn müſſe faulen und 
das Auge im Graubraun die Freude verlernen. Ganz jo ſchlimm iftd nicht 
geworden. Schlimm genug. Will aber nicht ftöhnen. Nur feititellen, daß 
“weder an dunklen noch an hellen Tagen von Eurer Lordſchaft gehört habe. 
Karten zählen nicht. Auch die alljährliche Einladung an die See doch nur Fa⸗ 
milienfonvenienz. Adolf auf den Dampfer verftauen? Auch nur von Hoyer» 
ſchleuhe nad) Munkmarch: leiftet ernicht für Schwarzjauer. Ließe ich ihn aber 
allein, dann würde in der Nachbarſchaft über meine Lieblofigfeit gejchnattert. 
Dder: „Der alte kranke Mann (feine neufte Nummer) kann Badereifen für 
Zwei nicht bezahlen. Sohn und Schwiegerfohn mit Goldknöpfen: Das zehrt.“ 
Dante ergebenft. Et vous? Mein holdes Kind, wo weileft Du? Villa Roth 
doch kaum noch denkbar; nach all den Regengüſſen dererften Septemberhälfte: 
Macht nichts. Irgendwo wird der Brief Dich finden und erinnern, daß eine 
ferne Verwandte überlebt. Da magft auch lefen, wieß im Sommer in mir 
ausſah. Nicht intereffant? Glaubs. Seder intereffirt fich im Grund nur für 
fi. Und wir Zwei, einft zwei Seelen und ein Gedanke, wiffen nicht mehr 
viel von einander. Sentimental? Giebts nicht. 

Sch jchnurre in warmem Sonnenlicht und kann mir, mit gutem Wil⸗ 
len (den Vater ald Allheilmittel empfahl), einbilden, daß jeit dem Anfang 
diejed Briefes fich kaum was verändert hat. In unferer Welt ja wirklich nicht 
viel. Bon Krieg nicht mehr die Rede. (Wochen lang hat der Unausſprechliche 
fi in dem Triumphgefühl feiner Prophetenweisheit gefonnt; mindeftens 
drei.) Wieder friedlich for ever. In jedem Herbit hören wir das Lied. Zu oft 
für meinen Geſchmack; und dad internationale VBerbrüdern mit allerlei Ab» 
geordneten und Zeitungmachern paßt mir Ion gar nicht in den Kram. 
Scheint Seiner Durchlaucht aber zu ſchmecken wie dem Kleinen Moritz, dem 
Angftkind, donnemald rohe Wrufen. Biſt jetzt der große Mori? Dicht dran. 
Tout le monde ſpricht längft von „Einkreiſung“; Jogar dad geehrte Aus⸗ 
land ; und S. M. hat das Mort in einer Rede gebraucht, die dann (geradedie!) 
nicht gehalten worden fein follte. Dein Wort Jeit faft zwei Jahren. Keiner 
dachte noch dran. Soll Dir den Brief ſchicken, damit beweilen Fannit, dab der 
Bater bift ? Kannft Deinem Denkmal auf die Dauer nicht entgehen. Ernſt⸗ 
Haft: ale Hochachtung. Dad Fägerauge hat noch die alte Kraft. (Et le reste? 
Sagft über dieſes Kapitel ja doch nicht die Wahrheit.) Doppelt begreiflich, 
daß, nad) foldyem Erfolg, von Dir profitiren möchte. Keine Luft? Ich gebe 
meinem Herzen, zum erften Mal, jeit die weiße Strähnejo did ift, einen Stoß 
und frage, ganz beicheiden, ganz klein: Was geht vor? Durchs Bauernfern- 
glas iſt nicht viel-zu jehen. Noch immer Marokko. Hängt mir zum Hals her⸗ 

1 * 


4 Die Zuhmft. 


aus. Da noch was zu holen? Höchft unwahrfcheinlich. Ob dad braune Ferkel⸗ 
chen, das da Majeftät jpielt, Chriftian oder Itzig heißt: wir werden auf die⸗ 
jem Feuer nichts Eßbares kochen. Warum jo viele Roten, wenns ſchließlich 
doch ſchlechte Mufik giebt? Der neue Muley ſollte flink anerkannt werden: 
wurde nicht. Der Franzos ſollte Eind auf den Schnabelfriegen: kriegtees nicht. 
Und Dein (ftet3 patriotilcher) Schwager hat mit jeligem Blauftrich den Sat 
(aud einem englifchen Schandblatt wahricheinlich) angemerkt, worin gelagt 
war, Deutichland habe malmieder gebellt, aber nicht gebiffen. Niederträchtig; 
aber wahr? Jedenfalls: Aehnliches war über und früher nirgends zu lejen. 
Wer machts? Bülow nicht mein Typ; doch am Ende nit dümmer als ein 
Anderer und nad) und nad) Erfahrung gejammelt. Bon Schoen hörte nur, 
dab weich, aber erträglich. (Händlerfamilie ohne die rechte Tradition, Das 
rächt fich immer einmal. Schade, dab Köller weg ilt. War Einer.) Wer alfo 
macht3? Wir, vom alten Schlag, find jo gewöhnt, Verdienft und Schuld bei 
Perſönlichkeiten zu fuchen, daß wir jchon ruhiger wären, wenn wenigitens 
wüßten, wem zu danken, daß und bei jedem Spiel der Schwarze Peter inder 
Hand bleibt. Finanzreform ? Böhmifche Dörfer. Hier (manchmal muß man, 
der Noth gehorchend, ja was Spitziges an feinem Tiſch begieken) wird mit 
Eifer nur die Erbichaftiteuer beredet. Laßt Ihr die durch, dann macht Ihr 
dad Landvolk rebelliich. Weib in Berlin denn Keiner mehr, was e8 beißt, als 
Erbe einerverjchuldeten Klitiche Geſchwiſter außzahlen zu müffen? Sn neun» 
zig von hundert Fällen verliert da felbit der Kaifer jein Recht. Und gar fürs 
Reich! Das jchon in bejjerer Zeit nicht mein Schwarm war und gefälligft 
jelbft jehen mag, wo eöbleibt. Wenn eine alte Landpommeranze mitzurathen 
hätte, ginge es über den Tabak und dad Alkoholiſche her. Das ſchimpfirt den 
Charakter unjerer Männlichkeit. (Ziehe nur die Mundmwinfel aufwärts; daß 
ich an Herrn Sydows Stelle will, trauft mir wohl nicht zu. Uebrigens: mit 
dem toten Pfarrer oder mit dem lebendigen Banfdireftor verwandt? Mir et- 
was zu emfig. Schreibt Artikel, macht ſich auf Banfetten niedlich und wird 
nächſtens vielleicht mit Kichtbildern ind Zeug gehen. Reichdmode, die von al: 
ter Breußenherrlichkeit durch Weltenräume getrennt ift.) Rezept offenbar wies 
der: jo lange darüber ſchwatzen und ſchwatzen laſſen, bis Seder froh tft, wenn 
die Gejchichte irgendwie ein Ende nimmt. Cela ne rate jamais, ſprach Dein 
Orakel Sarcey. Mit oder ohne Bloc (bei dem Wort wird mir übel). Sonft? 
Endlojed Gejäure (oder wie jchreiben Deine Glaubendgenofjen dad Wort?) 
über den Bürgermeilter, der irgendwo im Nordweiten auf die Landräthe ge- 
ſchimpft hat, als ſäßen da „Junker“ und nicht liberale Schreibfiubenhoder. 
Das wird heutzutage in Watte gepadt und Einer, der durchgreifen wollte, in 
Teufels Küche geſchickt. Werdens noch jo weit bringen wie die Türfen, wo jebt 





Moritz und Rina. 5 


ja wohl die Herren Revolutionäre zu beſtimmen haben, wer Miniſter, Ge⸗ 
neral, Präſident und Unteroffizier fein darf. Auch eine ſchöne Gegend. Kein 
Wunder, dab derjchlaue Ferdinand nicht mitindem großen Wurſtkeſſel ſchmo⸗ 
ren will. Seine forjche Haltung war in der Herbftmonotonie meine einzige 
Freude. Doch nicht. Einenäheregabs. AlddieRotheneinanderbeiden Köpfen 
hatten, jauchzte die alte Eeele. Etich! Einmal hat die Weisheit zweier Ger: 

manen doch auf die falſche Karte gejeßt. Meiner giebtö nicht zu. Verfteht fidh. 

Wie dürfte er? Um die Gottähnlichkeit wärdgejchehen. „ Das nützt den Leuten 

nur. Wechjelinder Führung; nach und nach. Alfo auch andere Strategie und 

Taktik; aber nicht jchlechtere. Wir werdend wieder zu jpät merken und dann 

dad Subelgetriller bereuen. Abwartenund den Thee kũhl trinken.“ Mirmundet 

erichon. Das will Staat machen Nee, Liebeken (muß ſo oftanden Vierten den⸗ 

fen, ders auf ſeine Art auch gut gemeint hat); davon fällt Unfereinem dad Herz 

nichtin dieinnennbaren. Nette Helden, von denen einer den anderen Streber, 

Schafskopf, Verräther ſchilt. Paß auf: Das leppertſacht zu Ende. Unfere Leute 

habenWitterung. WarenJahre lang(nicht ohne Mitſchuld des röthlich ſtrahlen⸗ 

den Landwehrmajors, der ſich als Mann des Volkes hölliſch intereſſant vorkam 

und den Artikel ‚Gewiſſen“ nicht in ſeinem Muſterkoffer führt) durchaus nicht 
bombenſicher. Woher ſonſt die rothen Wahlzettel, da der Inſpektor ihnen (ge⸗ 

gen gutsherrlichen Willen, aber auf den Wink einer dem König noch treuen 

Dame) doch ſchwarzweiße in die Hand geſteckt hatte? Jetzt Friecht Keiner mehr 

auf den Leim. DieNafe voll, jagt Patzke. Ein wahrer Segen. Und die Freude 

ſoll ich mir vergällen laffen? Sft bei ung, helas, Tängft vielzu jeltengeworden. 
Jammern hilft nicht; macht nur noch unbeliebter, ald man ohnehinift 

(avis au lecteur). Refignation willgelernt fein; und der Kurſus ift nicht bil⸗ 

lig. Bin fo weit. Xeider. Seit dad Mädel hergeben mußte, ungefähr, als ob 

nie ein Kind geboren hätte. Was kann ich dem Zungen fein? Eine ferne 

Mahnung; die leicht läftig werden kann, weil fie an Pflichten erinnert. Er 

muß feinen Weg jelbft juchen; ich fann nur (ftill für mich; aufdiefem Gebiet 

iſt alle Deffentliche mir beſonders verhaßt) beten, daß er ihn finde. Noch tft 
er ein ganzer Kerl; jollteft lejen, wie flug und wie preußijch er mir über den 

(aud) ihm allzu lauten) Zeppelinlärm gejchrieben hat. Aber fern; und eben 

auf jeinem Weg. Sit mir gar nichts geblieben ald die Chr’ und das greijende 

Haupt deögedunfenen Stabsjäuglingd (dem ich die Flaſche aber nehmen, nicht 
geben muß). Hatte mird anders geträumt, wenn Mutter aus harter Zeit er⸗ 
zählte und ihr Neſtheckchen mir ewige Brudertreue ſchwor. Menjchenlos... 
Unfinn. Schickſal aller Kreatur. Gedeihen Eure Kälber und Fohlen zu fräf: 

tigem Wuchs? Dann habt Ihr, armed Vieh, gethan, mad von Euch erwartet 
wurde, Zu Eurem Teil dafür gejorgt, daß eö weiter fribbelt und wibbelt. 


6 Die Zukunft. 


Wozu der ganze Sumd? Auf die Frage giebts für und feine andere Antwort 
als für Alles, was kreucht und fleucht, blökt und wiehert. „Lerne Dich ab⸗ 
finden, grauer Kindskopf.“ Brr! Aljo: damit die Karre läuft, die Erde, ftatt 
träg zu liegen, das irgend Mögliche leiftet und der König Soldaten hat. Die 
Moral der Geſchichte. Wo bift Du, Sonne, geblieben? Da geht fie unter. 
Blutroth. Und wenn fit zum legten Mal mir golden ind Haus ſchien: Kind 
und Kindesfind wird fie warmen. Meine fämmtlichen Werke. Mehr bleibt 
nicht nach. Der Sinn des Lebens? Wünſche wohl zu jchlafen. Nina. 
P.S. Unter Opferung zweier Marken und Deines Hochachtungreftes 
(denn Nachſchriften find ja vom übelften Uebel) öffneich den Umſchlag wieder. 
Alle Hauptjachen vergeffen. Iſts wahr, daß Pleffen geht? Reichenau (auch 
mit deutich> amerikanischer Frau) Speckys Poften erhält, den S. M. doch 
Goetzen zugeſagt haben ſollte? Radolin und Monts abgefägt werden und Ki 
derlen den Südſlaven in Madrid beerbt? Wedels verföhnungfüchtige Man- 
teuffelei (M®e la Comtesse; habe nun mal die Antipathie) einem Reichs⸗ 
feind den richtig gehenden Rothen Adler verſchafft hat? Der Allerhöchfte Herr 
um ein Haar nad) Frankreich hineingejauft wäre? In Konftantinopel und 
Caracas mit hörbarem Rud danebengehauen wurde? Sieben Fragen hinter 
der Thür eines Bauernhaufed, women Wähnen nicht Sriedenfand. U. A. w. g. 


Immer noch: Weſterland. Michael 1908. 
Scheherjad! 

Weiter langt mein Drientnamentliches nicht (Suleifa iſt, halten zu 
Gnaden, ſchon etwas abgegriffen); mag auch fo ziemlich paffen. Zu Opfern 
bereit, rusee heiß für dad Fernfte, wenn fich8 um einen großen Gegenftand 
handelt, und von nieverdorrender Phantafie und Beredjamfeit. Noch ein Zug 
ließe fic hinzufügen: eine gewiſſe (natürlich höchſt ehrbare, aber ſchwer zu 
zügelnde) Neigung ins Reich der Eroten. Was joll denn wieder mit der Ope- 
rettenfarmatin geweſen jein? Nicht die blaffefte Ahnung. Daß Ausgebud- 
tetes nie, jelbjt in den verjchollenen Zagen anftändiger Aftivität nicht, mein 
Fall war, könnteft wenigftens wiſſen. Schon dagegen, ald Hüften noch halbe 
Mitgift, dad Bufenloje an den Ballfaalmauern verblühte und Helmerding 
jang, die Schlanfitude brinae auf den Hund. Seit ajchgrauer Zeit (jet 
ſchneeweiß, mobile Donna) nicht mal mehr mit der Ohrmuſchel dans le 
mouvement. Haft aberdurchgejeßt, Einem, der in Züchten gedarbt hat, einen 
Schwerenötherruf zu machen. Wenn Lotte nicht den klaren Blick des Philo- 
jophen hätte, wäre der Zweijpänner wohl auf die ſchiefe Ebene gerathen. 
Die kennt den Ihren; nähme ihn, wenns nöthig würde, auf ihren Eid Doch 
ſchon zu viel hiervon. Eogar Kapitalverbrechen wären inzwifchen verjährt. 


— 





Morig und Ihre, 7 
Adolfens ergebenfter Diener? Allemal Derjenige, welcher (meinte Angelys 
Parlirer in vormarrijcher Zeit), wer die durch Geburt mir Nächte jo übers 
jelig zu machen verstand, hat mich mit Haut und Haar. Dicke Briefe: Wirth» 
ſchaft, Horatio. Dürfteft frohloden. Alles Verfängliche, defjen Dividende 
bald nur noch ein Gleichniß fein wird, ift er ohne Blutverluft losgeworden 
und dad Elektriſche bringt Eltern und Braut einen Haufen Goldfädchen ind 
Neft. Alfo, bitte: recht freundlich! Bin zwar nicht fo „feft“ (der Allumfafler 
löft die Räthjel des Börfeneiperanto) wie mandher Bankwürdenträger, der 
den Himmel von1909 voll Beigen fieht; aber ohne Krachfurcht. Für die bei⸗ 
den Uniformirten reicht8; auch, Tange vorher, für Schlemmftündlein bei 
Borchardt und Paillard; und wenn Dein Fleiſch und Blut wieder nad) Kiel 
will oder muß, kanns im Krupphotel eine Flucht von zwei Zimmer leiften. 
(Läßt übrigens nad. Coll für halbwegs Berwöhnte diesmal mäßig gewejen 
fein. Kaum noch ein Witz, der werth ift, den Heumond zu überleben. Als 
eine auf der Hohenzollern noch nicht wahrgenommene Sinanzgröße, diesmal 
eine echte, Serenijfimo vorgeführt wird, brummts inder Höflingichaar: „Na: 
nu? Wen haben fie denndanufgegabelt? Sch kenne doch all die Waſſerjuden!“ 
Ganze Ausbeute. Geht nicht mehr ſo rechtmit dem Wochenzauber. Tout lasse. 
Für junges Volk freilich nod) immer das Höchfte der Gefühle. Kann mir vor: 
fteDen, wie Miezens gejchwelgt und mit den Marsbewohnern Brüderſchaft 
getrunfen haben. Womit ich das Familiäre fürd Erfte verlaffe. Ungern. 
Aber die Sache wild. Weh mir, wenn einen Poften des Wunjchzetteld 
überjehen (der leider erft im dritten Monat niederfam). Commencons par 
le commencement, fagte der albinoblond fettliche Kandidat, der und fran⸗ 
zöſiſch Fam und aus deſſen Stunde ich immer eine pelzige Zunge mitnahm. 
Ein Ekel. Um ihm nicht gehorfam zu fcheinen, fange mit dem Ende an. Mit 
den Perſonalen. Ohne Obligo (frage Adolf), verfteht ſich. Seit fait zehn 
Moden fern von Perlin und mit, dem Himmel jei Dank dafür, jehr dünner 
Poſt. Delphiſch darf man ſich in jo loſer Berpadung nicht geberden. Los die 
Schwerter! Wechſel an der Spitze des Hauptquartierd wäre nicht unwichtig. 
Möglich, dag der Chef fich in die Tage zurũckſehnt, mo ald Soldat waö galt; 
vieleicht noch nicht zu ſpät. Und die Garde wird ja frei. Wer aber fo lange 
dicht an der Eonne ſaß, friert ſchon, wenn er drei Schritt zurüd muß. Weibt 
au, wie ſchwer S. M. ſich an neue Geſichter gewöhnt. Schließlich Jacke wie 
Hoſe: was Ihr ja wohl combinalion nennt. In allem Militäriſchen wird 
Etliches davon abhängen, ob noch länger mit Einem belaftet bleiben, der nur 
mit auögeblichenem Nimbusdie neue Vorlage vertreten fönnte. Daß dem afri- 
faniihen Sorten Wajhington zugejagt jei, wurde von Leuten behauptet, Die , 
fi) ald brimful of information gaben; nicht eben jo zuverfichtlich gelobt 


an 4 VVů 


ſtrotz der Tüchtigkeit des Mannes, der in Dar es Salaam nur mehr auf Lack⸗ 
ſtiefelkultur und Kaftenfodergehalten haben ſoll, als im Dunftkreiseinesfte- 
publikaners oder gar Demokraten nützlich ſein könnte). Später ſickerten die 
Namen Mumm, Waldthauſen, Reichenau durch. Nichts Gewiſſes weiß man 
nicht; nur, daß Mancher hinwill und Einer hinkommt. Für Monts habe noch 
die alte Schwäche. Ein Unberechenbarer, der zu oft über die Schnur haut (die 
Drohung mit dem öfterreichiichen Corps, das die mailänder Audftellung er- 
öffnen werde, war nicht zu verſchmerzen); aber Perjönlichfeit, Feuer, Muth. 
Wenn die Zeichen nicht trügen, hilft der Verſuch, fich vor Tſchirſchky als trai- 
tablen Herrn zu zeigen, ihm nichtin ein neued Amt. .Und die , Geſundheitrück— ij 
ſichten“ wären bier mehr aldfacon de parler. Daß und warumRadolin jeitden 
neunundneungigZagen einen diden Stein im Brett hat, weiß Reinettes undäm- 
lich politifirendes Hirn. Der Bole hat joviele Stürmeund Minenangriffeüber: 
Itanden, dab man mit dem Nefrologbejonderögeduldig fein muß. Wasfichtbar 
fandidirt, wäre nicht beffer, und Marſchall, der im Haag mit Marianne an: 
gebändeit hat, eine Gefahr. Für Nadowig war ( Marokkos wegen) Zattenbadı 
vorgeichlagen; Alfonſens franfo: britische Vormundſchaft |perrte die Pforte 
zum Ayı&ment. Für immer? Kiderlen wäre für kafſtilianiſches Geremoniale 
nicht gerade 1a; aber ein heller Kopf, der fich überall zurecht findet. Nur, 
prima, der gegebene Erbe fürd Goldene Horn (Drientdezernent; Bufarelt; 
und der Bagdadirade fam nicht zufällig gerade in den Wochen heraus, in 
denen der Schwabe den Badenjer vertrat) und, secundo, wegen feiner ſpitzen 
Zunge vonPhili, dem verfeindeten Freund, ganz oben denunzirt.(Dant,Traute, 
daß Den mir erſpart haſt. Enthaftung, Einzug ins feſtlich geſchmückte Uder- 
markſchloß: wer das Schämen noch nicht gelernt hat, muß ſich beeilen.) Hätte 
ſonſt längſt eine Botſchaft. So leben wir alle Tage. In Madrid könnte (nicht 
allzu lange) Carlino verſchnaufen, der in Wien unhaltbar iſt, ohne politiſche 
und geſellſchaftliche Poſition, und nicht einmal wußte, welcher Orden dem 
Reichsrathspräſidenten gebühre. Noch ſchlimmer als Wedels Adlerirrung. 
Warum der Deutſche Kaiſer im Elſaſſertheater eine von den Pariſern beju⸗ 
belteSatire auf altdeutſches Weſen ſehen mußte: Kloßbrühe ift dagegenklar. 
Wedel hat fich in Straßburg nicht gut angeraucht. Giebt franzöſiſche Karten 
ab, will bis nächſten Donnerötag Herzen gewinnen und enttäuſcht die Freunde, 
die hofften, der General werde den ſchrachen Diplomaten am Halfterband 
führen. Staatöfefretär Zorn von Bulad) (genauvor einem Jahr hats die kreſſi— 
ner Pythia prophegeit) ift ein böjer Mikgriff; werden ihn büßen. Ob S. M. 
wirklich auf franzöfiichen Boden wollte, kann „hierortö" nicht nachgeprüft 
werden; ficher ein Segen, daß ed nicht zu Jo gefährlicher Generalprobe fam. 
Alles, was aud nur von Weiten auf neue Römerzugneigungen („A Paris!“) 





Mori und Nina. . 9 


hinzudeuten fcheint, wirft heute ſchädlich. Die Schlucht konnte zum Engpaß 
werden. Aber zunächlt mal weiter im Text der Schweiterepiitel. 
Konftantinopel. Kennft mein Borurtheil nicht feit vorgeftern. Erſtens 
nicht jo hoffnungfelig, daß den Iſlam ſchon in Anglos marſchiren fehe (nach 
unferen Maurenchamaden gar); zweitens, trog Hohn aus Bommerland, zu 
jehr Germane und Chrift, um die Sippe ald Bundeögenoffin zu wünjchen. 
Brächte und um den Reft des Europäeranfehend. Marſchall hat Manches klug 
gedeichjelt; im Ganzen aber, wohl nicht auf eigene Fauſt, faljch |pefulirt. Der 
Sultan kann ihm die Fehimdemüthigung, die jelbftherrlich regirende Rebel- 
lion den Hang ind eudalfonjervativenichtvergelfen. Jungtürkiſche Adrefjen, 
von denen gewijpert wird, beweilen dagegen nicht. Abwarten: muß jeßt die 
Loſung jein. Wie er ift, kann der Status da unten nicht bleiben. Leere Kafjen. 
Die Herren Berjchwörer glaubten, ungemein ſchlau zu handeln, ald fie dem 
Hein gefriegten Großherrn zunächft mal einen ordentlichen Happen Land ab» 
nahmen, der alljährlich Millionen eintragen mußte. Mußte? Abd ul Hamid, 
der lange voraus jah, daß der Hale eines Tages jo laufenmwerde, hatte die Bo: 
denernte bis 1902 eingejädelt. Echulden aljo. Dazu Hunderte, die auf Ge⸗ 
heiß der Revolutionäre Amt, Pfründe, Gunft verloren haben, und Tauſende, 
die durch die Brände obdachlos geworden find. Die Freiheit fängt gut an, jagte 
der Mann, derausdervergitterten Zelleim Frühroth auf den luftigen Richtplat 
geführt wurde. Bis jetzt wars der Aufſtand der Intelligenz; mit kaum je erreich⸗ 
ter Geſchicklichkeit und Ruhe vorbereitet und organiſirt. Wenn die Maſſen in 
Bewegung kommen, giebts ein anderes Bild. Welches? Schon wird gemun⸗ 
kelt, die Feuersnoth und der Tod des Kriegsminiſters bewiejen, daß Allah ge⸗ 
‚gen Verfaſſung und Jungtürkenthum ſei. Yildizleute werben und waffnen im 
Hafen ſchlechtes Geſindel. Eine Gegenrevolution iſt eher möglich als die Dauer 
der Nebenregirung, die im Heer alle Zuchtbande lockert und neben den Auto⸗ 
kraten (die gelbe Klapperpuppe braucht man fürs Ausland) einen Konvent 
ſtellt. Das Magierwort Verfaſſung bringt bei und Alles aus dem Häuschen. 
Khalifat und Konſtitution giebt aber nie einen Reim. Rückkehr ins (nicht 
ganz jo hart mehr drũckende) Joch oder Pöbelherrſchaft, Anarchie, Heiliger 
Krieg: ein Drittes erblide ich nicht; eigentlich aljo nur Eins: denn der Mob 
würde dem providentielley Mann den Weg bahnen. Rußland, Perſien, 
Türkei parlamentarifirt. „Tadellos“: heißts beim Frühſchoppen. Als obein 
Volk ſich der Freiheit freuen könne, wenn ſeine Einichiungen ſeinen Bedürf— 
niſſen nicht entjprechen. Wer urtheilen will, muß lange genug hingeſehen ha⸗ 
ben. England wird das nöthige Geld geben (große, vom Rechnunghof zu kon⸗ 
trolirende Geheimfonds wären uns viel nützlicher als Kriegskähne) und ſich 
mit dem Goldhammer das Einflußrohr öffnen. Laß Dir nicht einreden, daß 


10 Be Butunft, 


wir am Bosporus beliebt find. Kein Bein. Werden beſchuldigt, für Lehre und 
Lieferung zu hohen Preis herausgeprekt zu haben. Neugierig auf die Bul⸗ 
garen. Koburg hält zufammen; ergo überzeugt, daß Ferdinand (der zu Len⸗ 
bad) jante, jeder Regirende müffe ein Komoediant fein und für diefe Kunft 
jei er begabter ald alle Berufögenofjen) von London mit heimlicher Liebe und 
rollenden Guineed unterftüßt wird. Dad er den Suzerain, deſſen Armee aus 
den Fugen ift, ſchlagen fann, bezweifeln die Kenner nicht. Ein Rationaliften: 
aufftand, der dem Dömanenreich den alten Glanz und Umfang zurüdgewin- 
nen will. Bulgarien madjt nicht mit.Wer no? Summa Summarum: Wir 
haben unterm Halbmond den Deſpotismus begünftigt, in feiner Bedrängniß 
ihm den Rüden gezeigt, Zweifel an unferer Zuverläffigkeit bewirkt und den 
Briten die Gelegenheit geliefert, Hamid und Aziz „ Krügerd Nachfolger” zu 
nennen, weil dieSultane wie Ohm Paul im Stich gelaffen worden jeien. Bit: 
ter. Sachlich bleibt zu bedenken, daß wir im Orient, im warmen und im fals 
ten, mit monarchiſchen Regirungen leichter auskonimen können ald mit der 
weitwärtd geneigten Demofratie. 

Benezuela fieht Iuftiger aus. Das Land der unbegrenzten Bluffmög: 
lichkeiten dürfte ein Goldbergerepigone es nennen. Kein Heer, feine Regir⸗ 
ung, die feit in der Volksgunſt wurzelt: und doch beinahe jede Großmacht 
jchon frech angerempelt. Wer will um fogeringen Einſatz da8 Spiel mitüber- 
ſeeiſcher Kriegslaft auf fich nehmen? Herr Caſtro, der faft majeſtätiſche Prä- 
fident, kennt ſeine Leute. BonAllem, was die Rechtöverlegung ihm einbringt, 
giebt er den Minijtern und Truppenführern, dem ganzen Circulo de los 
amigos einen anjehnlichen Theil. Die hängen an ihm wie der Fiſch an dem 
Hafen, den der Köder verbarg. Ein famojer Kerl. Sohn eined Kordilleren- 
Ihanfwirthes. Commis in einem deutlichen Handelshaus. Ein Pronuncia- 
mento tıug ihn auf die Höhe. Jetzt Präfident, Generaliffimus, Alles, was 
Menichenbegehr. Läßt die Liebe feines Volkes, das er aus eigener Lenden⸗ 
fraft in allerlei fremden Betten (mußt mich pardonniten; zu ſchön) um ſech⸗ 
zig Köpfe vermehrt hat, nicht allzu dicht an fic) fommen. Wird von Schwär: 
men bewacht und ſchläft auf, zwifchen, unter Stahlplatten. Einer, der in feine 
Melt paßt. Bift ja Soldatenmama. Denfe Dir ein Heer, indem jeder Oberſt 
über Sold und Verpflegungsgelder frei verfügt und vom Senat bejchlofjene 
Formationen, wenn fie ihm die Einfunft jchmälern, auf dem Papier läßt. 
Was in Gotha über die venezolanijcheStreitmadht fteht, ähnelt der Wirklich» 
feit wie Dein Öetreufter dem Befreier Brünnhildend. Die netifte Zeiftung des 
Kujons ift der Denfftein, den er zur Erinnerung anden Sieg Benezuelasüber 
die deutiche Klotte im Hafen von Maracaybo aufgeitellt hat. Zwei deutiche 
Boote waren abends über die ſperrende Barrefür die Nacht ind offene Meer hin 


Morig und Rina. 11 


andgedampft, nachdem fie das Fort zuſammengeſchoſſen und die Beſatzung in 
die Flucht getrieben hatten. Sm Duntel kroch die Bandewieder heran, hißte die 
Venezolanerflagge: und Caſtros Stein fol die Heldenthat veremigen. Diebe? 
Wären leicht aufzuzählen. Die vier modernen Kruppfanonen würden die Lan⸗ 
dung in La Guaira nicht hindern, deutſche Blaujaden die Gebirgspäfle ſchließ⸗ 
lich forciren; und ob man nachher die beiden Negimenter der jelben Benezo- 
lanerbrigadenicht gegen einanderfämpfen jähe, wäre nureine Zrinfgeldfrage. 
Aber was ift aus dem erjchöpften Land zu holen? Keiner will jo recht heran. 
Ueber den dortigen Sedendorff wird ſehr geklagt. Smmerden Allergnädigiten 
auf der Lippe. Wie fommt der Typus hoch? Sternburg, der im Anbeten auch 
recht munterjein fonnte, war(vom Generalkonſul) Botichafter geworden, weil 
er einen Brivatbrief Rooſevelts nad) Berlin geichidt hatte. Der Dann für 
Wafhington: Ichrieb S. M. an den Rand. Einem Gejandten des Kaijerd In⸗ 
timitãt mit Caſtro zutrauen? Nicht dem dümmſten. Das Verdienſt des (aus 
der Dragonerlaufbahn gekommenen) Herrn muß im Stillen geblieben ſein. 
Für die Vertretung holländiſcher Intereſſen ſprach mir fein Grund; mancher 
dagegen. Dreinfeuern oder den Operettenplunder belachen. Viel iſt in dieſem 
Winkel ja nicht zu verpatzen. Aber die Deutſchen ſtöhnen dort laut. 

Nun käme die hohe, höchſte und allerhöchfte Politik an die Reihe. Bitte 
um Nachficht! Der ſchrecklichſte der Schrecken iſt der Zwang, hundertmal Ge⸗ 
fagtes noch einmal herunterzuleiern. Schnell alſo darüber weg. Das Innere 
intereffirt mich ſchon lange nicht tiefer. Ein Bischen mehr oder weniger li» 
beral, fonjervativ, Fatholiich, proteitantiich: gehüpft wie geiprungen. Alle 
Sehler bei ruhigem Wetter leicht zu repariren. Alled farcimentun, wenn 
dem Reichshaus Brandgefahr, Hungerdnoth, Umzingelung droht. So aber 
jebe ichd. Kann nicht anders. Was über Finanzen ſagſt, ift menjchenverftän- 
dig; bitte nur um die Erlaubniß zu zwei Nachträgen. Erſtens: ſoll mit Par⸗ 
teien gemacht werden, die über jede hergehörige Frage verſchiedener Meinung, 
find. Zweitens: Unjere supvri (Adolfus ift der legte Römer) unternehmen 
und fördern immer nur eineSacdhe, wollen bei ſolchem Werk nicht geſtört fein 
und vergeffen, dab Eins aufs Andere und Teded auf Alles zurüdwirkt. Was 
Effeftveripricht, muß erledigt werden ;jo rafchwieirgend möglich. Dann wird 
eine neue Walze eingelegt. Zoll, Blod, Kolonien, Heer, Flotte, Finanzen. 
Wenn Bott den Schaden befieht, zeigt fich wieder, que tout est dans tout. 
Ein Loch in den Strumpfhals gerifjen, um in der Zehengegend eins mit dem 
Faden der jelben Nummer zu flinfen. Stopf’ zu, liebe Life! Wird deshalb 
nie auch nur für ein Weilchen fertig. Seht find die Finanzendran. Wird recht- 
zeitig bedacht, daß bei der Gelegenheit der ganze Neichsförper lahmanniſch 
behandelt, nicht nur auf Symptome munter lo8furirt werden muß ?Berfenne 


as ee 9 each ba) 


nicht, daß Bierſteuer jelbft in unzulänglicher Form ein preußifcher Erfolg ift; 
noch im Auguft galt fie als unerreichbar. Muß harten Kampf gefoftet haben. 
Vieleicht ftedt in Sydow (mit Kanzel und Geldbanf verwandt) mehr, ald 
bis jeßt zu fühlen. Dernburgrenovirung mit Umzug und Selbitbeitrahlung 
faum noch zu fürchten, feit dad Driginal in feiner Pracht erfannt ift. (Mes 
mento: War mal der Held deuticher Nation. Wir bleiben gläubige Kinder.) 
Ueber die ſozialdemokratiſche Krifis hat Dein Chegefährte Worte tieffter 
Weisheit geſprochen. Mir aus der Seele. Bedaure, von Blutsverwandtſchaft 
wegen, dab ihm Recht geben muß; dieſer Zankapfel iſt zwiſchen Pallas Ri⸗ 
nette und ihrem unmwürdigften Knecht aber ſchon ſchrumpelig. Ernſt iſt an 
der Sache der phyſiſche Zuſam menbruch des alten Herrn Bebel; heiter, daß in 
dem Augenblick, wo ſies merkte, die Jugend fich erdreiftete und die frifche Farbe 
der Entſchließung befam. Auf der früheren Höhe hätte der Auguft die humor 
loſen norddeutichen Bathetifermiteinerjchmetternden Rede zueinem unftürm- 
baren Wal zujammengeballt, der Nachwuchs nicht zu mucken gewagt; wiein 
Dresden, wo die feindlichen Zager jchon auf dem felben Fleck waren. Nun 
klangs hohl und heijeraud der großen Trompete; junge Mannſchaft, die Götzen⸗ 
furcht nicht gelernt hat, rüdte vor; der Sieg war errungen. Dffener Proteft 
gegen einen Parteitagsbeſchluß. Das hats noch nicht gegeben Zubilate? Keine 
Urſache. Daß der froftige Marxismus (Volkswirthſchaftliches iſt Adolfi zweit- 
ftärffte Seite) die Engels, Liebfnecht, Bebel nicht lange überleben werde, war 
voraudzufehen. Dad Dogma der vom hellen Leben Abgefehrten, die Gottes 
jterben wollen und im Cirkus noch ausblutiger Bruft ihrer „Sdee” Triumph 
lieder fingen. Ungefähr Ucchriſtenthumsſtimmung Ein Paulus mußte kom⸗ 
men und die reine Zehre weltläufig machen. Ein Halbdußend Eleiner Paul⸗ 
chen thuts heute auch. Diehaben wir nun. Der Reiz der verbotenen Frucht ift 
bin (nicht bei dem amerikaniſchen Schnäpächen, das die Lippe der fait Abs— 
tinenten jo gern ſchlürfte) und lockt Sntelleftuelle nur noch jelten heran. Hirn 
und Magen ded Induftriearbeiterd find (unfere beſte Errungenjchaft) nicht 
mehr jo leer, daß er ftillfigen und fein Schickſal einer fragwürdigen „Ente 
widelung“ überlajfen muß. Staat und Geſellſchaft jehen noch recht robuft 
aus; wer fie nur negirt, bleibt in der Kälte, fern von den lederften Schüſſeln. 
Wieder hat eine apofalyptifche Pforte fi aufgethan. Mitarbeit, Eroberung 
politiijcher Macht fürdie Arbeiter :neufte Parole. Biöhereinegeflumpte Mafle, 
die man aus der Tagesrechnung ſchied und die, bei Licht befehen, unjchädlich 
war. Nun eine zu Kompromifjen und Cintageopfern bereite Schaar. Dein 
Preubeninftinft merkt den Unterſchied; audy wenn nicht an Burns, Jaurès 
und Briand denfft. Wird erft kitzelig, ma mie. Zum erften Mal wieder die 
Möglichkeit wirfjamer Oppofition. Alle Feudalmächte jollten zittern, nicht 
jauchzen. Junker und Großinduftrie (der die Gewerfichaften bald die Eng⸗ 











Moritz und Rina. 13 


liſche Krankheit einichleppen können). Rothe Minifter. Boruffienald Verſuchs⸗ 
feld der nouvelles couches. Schauderft? Fit ja der Lauf der Welt, die unter 
- wechlelnden Monden nicht immer jo bleiben kann, wie die Urväter fieliebten.. 
In Neros Stadt brannten Ehriftenleiber; thronten dann die Nachfolger Petri. 

Keine Angft! Bis Dein Michael wieder im Kalender ſteht, iſts nicht ſo 
weit; kaum, jo lange wir im Licht wandeln. Nur nicht wieder die Lampe unter 
die Frucht halten; beichleunigt die Reifenicht: höchſtens nachher die Fäulniß. 
Zuberfulinpolitifnannte es unſer Fürſt, jeit Koch bei dem haftigen‘Tempp ent« 
gleift war. (Zeitgemäßer:Zeppelinpolitif. ErinnerftDich, dab vor Sahreöfrift 
ſchrieb, der Mann, der ſich, unter Hohn, Luſtren lang geplagt habe, müſſe einen 
ſehr hohen Drden erhalten? Aljonicht etwa Feind des Grafen. Seitdem freilich 
etwasabgefühlt; beſonders durch unkleidfame Haltung nach Barjevald Schlap⸗ 
pe. Macht hieraber nichtd. Frage nur: Mußten diedreiZuftichiffe, weils ſchnell 
gehenjollte, auf Kommando in ſchlechte atmoſphäriſche Berhältniffe? Damit 
das Dũpplerſchanzenfreudenfeuer noch am felben Abend auflodere? Die Sy⸗ 
fteme noch unbewährt; Alles im erften Anfang. Doch gejubelt, gefeiert muß 
jein.) Um des Himmels willen nicht wieder von der rothen Weltwende reden! 
So was wird nurim Stillen. Wenn auf Zeitungmenſchen Einfluß hätte, würde 
fieanflehen, den Zwieſpalt gar nichtweiter zu erwähnen und namentlich nicht 
einer Sefte gegen die andere zu heljen. Das Unflügite, was geſchehen Fönnte. 
Laufen laffen und durch die Finger zujehen. Hoffe, daß auch der Herr Cancel⸗ 
lariusfid; alle Witze über die Durchläſſigkeit des nürnberger Trichters verfneift. 

Unſäglichen Marokkoſchmerz ſoll ich, Regina-Reinette, erneuen? Zu 
langwierig heute. Könnte nur mit den Dokumenten in der Hand beweiſen, 
daß aus einem Fettnäpfchen ins andere getreten ſind. Eilt leider nicht So 
weit, daß die Franzoſen unſere Verſöhnlichkeit loben. Schoen wieder als Sa⸗ 
lonzauberfünftler? Kann, fern vom Schuß, nicht auf Ja oder Rein nehmen. 
Abd ul Aziz, unſer Mann, der auf unantaftbarem Gebietjouverain jein jollte, 
ift weggejagt, von und zuerft preißgegeben und fein Erbe, troß unjeren Exci⸗ 
tatorien, noch nicht anerkannt. Das wäjcht fein Regen und ab. DieNote, die 
auf dad unter franko⸗ſpaniſcher Firma ind Land geſchickte Cirkularſchreiben 
antwortet, wahrt dad deutjche Geficht; täujcht aber Keinen, der Augen und 
Dhren hat. Unjer Trumpf ſtets die Algefiradafte, die eine feindliche Mehr⸗ 
beit durchgedrüct hat; unfere Sorge, daß dieje Mehrheit fich wieder gegen 
und zujammenfindet. Kannft nichts machen, Königliche Hoheit. Und dad 
Streben, en detail herauszujchinden, was en gros nicht zuhaben war, ärgert 
den Welten mehr, ald die Gejchichte noch werth ift. Die alte Wunde ſchmerzt 
wieder. Zwei Sprachrohre, aud denen verjchiedene Tonart klingt. Won Bei⸗ 
jpielen wimmelid. War nie für die Bolitit des Herrn Roſen (wird. für den 
tüchtigen Stemrich, der Berlin jatt haben jo, fandidirt) und hielt mir die 


14 Die Zukunft. 


Naſe vor den joli pot de roses zu, den er damals nad) Parid brachte. Auch 
eine klarer vorbedachte Aktion wäre aber gefährdet worden, wenn im jelben 
Augenblid S. M. fich an die Weftgrenze geftellt und, in befter Abficht, ver⸗ 
steht fich, über die Vogeſen gerufen hätte: „Seid nur hübſch ruhig, Fran⸗ 
zojen; ich bürge Euch für den Srieden; und was Ihr während meiner Ab» 
weſenheit aus Berlin hört, ift verhallender Wortſchall.“ So tft die colmarer 
Rede verjtanden worden. Ohne die wärdimmerhin vielleicht glattergegangen. 
In irgendeinem Stadium giebt einunerwarteterfailerlicher Eingriff jeder dis 
plomatiſchen Aftion einen Knid. Dann kommt Bülow mit dem heifen Bügel» 
eiſen und fängt zu plätten an. („Die Waſchfrau in der Tüte.” Alles da. 
Beſonders brauchbar für internationale Kongreffe und andere Mufter ohne 
Werth.) Dann jagen fiedraußen: Zickzackpolitik; und finden, mit dem Kaiſer 
laſſe fich viel beſſer leben als mit dem Kanzler. Ahnt der Glücksgünſtling in 
Norderney dieſe Gefahr nicht? Die ärgfte, die er zu fürchten hat. Kann aber 
auf die Preſſe rechnen (nad) dem Sartenfeft und der Hymne vielleicht für ein 
paar Wochen auch auf die ausländiſche); die lobt, was der Tag bringt: zuerſt 
den Roſenſtrauß und gleich danach die Kaiſerrede, die ihn entblättert. Alles 
nicht ſehr ſeriss. Doch die Nation iſt beſcheiden geworden. Wie, nach dem letzten 
Krach, das Börſenvolk, deſſen Söhne einander fragten, ob ſie ſchon in ihre 
‚neuen Vermögensverhältniſſe gewöhnt ſeien. Wir finde. Ein Drittel des Be⸗ 
fitzſtandes verloren (mindeſtens); und eben fo geräuſchlos wie im Effekten⸗ 
tempel. Wir wollen nicht haben, was ſchon eingebüßt iſt. Daß ſelbſt Oeſter⸗ 
reichs Doppelaar in neuer Hoffnung die Fänge wetzt. Laſeſt, was Lord Brattey 
über dad Rüſtungfieber jagte? Da zieht was herauf. Toujours en vedette 
bleiben, Majorin Domus! Dad Allerwichtigfte, morgen wie geitern, daß die 
Nachbarſchaft ung zutraut, wir würden im Drang das Schwert ziehen. Wenn 
fie davor nicht mehr Angft haben, können wir die alte Glorie einfamphern. 
Zapfere oder furchtſame Politik: Das allein ift jeßt die Reichslebensfrage. 

Alles Perjönliche mündlich. Noch vor Allerheiligen, hoffe ih. Mein 
letter Inſeltag naht; und die heroiſcheLandſchaft hatmich wiederganz. Siurm, 
Sonne, Regen: ein Märchenreich und der treufte Spiegel nordgermanijcher 
Seele. Wie von Mondgebirgenerlebt man die Sonnenuntergänge. Die Schön- 
heit des Gluthballes ilt Schon banal. Aber eine gelb leuchtende Wolkenwüſte, 
dide Strahlfträhnen wie von einem Riejenjcheinwerfer, ein Gefolgevon Roja» 
wölkchen, die fich in Hochzeiterfehnfud,t zu umjchlingen ſcheinen und fort» 
glänzen, wenn die Kichtipenderin wärmend zu anderen Welten eilt... Und 
eine Frau, eine Mutter, fragt nad) dem Sinn des Lebens? Haft ihn nie ver- 
kannt. Auch die Nächſten niemals. Alte Menſchen! Die laffen einander nicht 
mehr. Nicht mal, wenn fie fo Schlecht behandelt werden wie Dein 


Moritz. 
J 














Ein Künftlerbud. 15 


Ein Künſtlerbuch. 


eute vom Fach werden immer Etwas zu Jagen haben. Richt immer das 
& Entſcheidende. Dad wird davon abhängen, wie der Schreiber als Slünftler 
zur Sache fteht. Entjcheidende Dinge find biöher immer nur von großen Künſt⸗ 
leın gejagt worden. Fromentin und Sievenjon maden feine Ausnahme. Ihre 
Bücher find amuſant und in einer Zeit des Ueberfluſſes an Literatur von Uns» 
berufenen ſtarke Blender. Es genügte, daß fie das Weſentliche ftreiften, um 
für Dokumente gehalten zu werden. Doc verjchweigen fie nicht die Klaſſe 
threr Autoren; und e3 ijt im Grunde die felbe belanglojfe Gejchidlichkeit, Die 
den Schrifien wie den Bildern das Ziel jebt. Nun ift ein neued Buch da⸗ 
zugefommen; von einem Maler über einen Maler. Er heißt Erich Kloffomfti; 
des Buches Titel ift „Daumier“. (bei Piper in Münden). Das Bud ift aus» 
gezeichnet. Man weiß biöher in Deutfchland nicht viel von Daumier und nad) 
Gericault und Delactoix wäre eine Ausftellung de Don Duijole: Malers 
wohl am Plate. Er gilt als Karikaturiſt; es giebt in Berlin und auch fonft. 
an Deutichland gute Sammlungen feiner Blätter. Bon Bildern fehlt außerhalb 
der Nationalgalerie jede Spur und das Wer? der Galerie fordert die Ergänz⸗ 
ung durch ein reiches Pendant. Neben Delacroiz und Corot wäre, jo weit die 
franzöfiſche Kunft in Betracht kommt, nichts dringender zu wünſchen. 

Kloſſowſkis Buch legitimirt ſolche Wünfche. Es zeigt den großen Maler 
Daumier, den univerfellen Künftler. Der Hiſtoriler wird ein Wenig enttäujcht 
fein. Das Bud ift an Daten arm und der Autor hat unterlafien, einen Eins 
blid in Daumierd Entwidelung zu geben; hat ſich fogar zu einer Eintheilung 
nach Motiven entſchloſſen, die auf den erſten Blick Verdacht erweckt. Aber die 
Schuld trifft Daumier, nicht ſeinen Biographen. Ich bin noch mehr als Kloſ⸗ 
jomjfi von der Unmöglichkeit überzeugt, dad Wachsthum des Merkwürdigen 
darzulegen; nicht, weil es fehlt, jondern, weil.e8 fi zu wenig in fihtbaren 
Zeichen äußert. Aehnlich wie bei Mareed, an den man beim Durchblättern 
der vielen Illuſtrationen zumeilen erinnert wird, läuft die Entwidelung auf 
dangen Streden unterirdiſch, verichwindet in einem Berg von unentwindbaten 
Schickſalen und fommt jenjeit3, an unermwarteler Stelle, wieder zum Borfchein, 
jo verändert oder auch wieder jo unveräntert, daß dem Hinweis die plaftis 
ſchen Argumente fehlen müfjen. Kloſſowſti zeigt die Umriffe der Geftalt, dann 
einzelne bejonder8 bezeichnende Bilcer, unter denen daB „Drama“ als Haupt» 
werk im Mittelpankt fteht, dann den romantiſchen Daumier, der Gericault auf 
einem höheren Rideau fortjegte, dann den Schöpfer der Ton Quijoteslegende 
ın der Malerei. In dem Kapitel „Pariſer Bifionen” zeigt Klojjomfti, wie 
Daumier „mit dem Wunjel philojophirt“. Er verjagt fi nicht ein paar 
prachtvolle Interpretationen der Gerichtöfzenen, des „Advokatenduells“, des 
„Defenseur de la veuve“, aber bleibt feinem Meifter treu, indem er ſolche 
Auslegungen nie zum Selbſtzweck werden läßt, ſondern ihren Impuls nur 


16 Die Butunft 


zur ftärkeren Betonung des rein Bildnerifchen benutzt. Der Leſer genießt dieſe 
Erkurfionen ins Poetiſche wie Ruhepuntte, um fich zur ſtärkeren Eifaſſung des 
Problems zu eiholen, und bleibt doch, dank einem feltenen Gefühl für Em⸗ 
pfindungsvaleurs, im Bereich der felben Betradtung. Der Takt ift mir tes 
Buches tieffte Gate Er übertrifft noch das aus langjähriger Vertrautheit mit 
dem Meifter gewonnene Wıflen und den Fleiß in der Zulammenftelluug des 
annähernd vollitändigen Kataloge. Takt in der Dekonomie der Mittel, der 
Daumierd Stärte war. Man jpürt in din vorfichtig gewählten Worten den 
Maler; ich meine den Künftler, nit den Oberflächenanafytifer, der ung in 
Stevenjons Kritik verftimmt. Keine ſehr ftarken, hinftellenden Sätze. Dafür 
iſt des Malerd Verehrung von zu zarter Vietät. Und deshalb ift das Buch viel» 
leicht noch nicht das allerletzie Wort über den Meiſter, deſſen wirkſame Exiftenz 
jet erit beginnt. Aber (was mehr fein kann) dag Diktum einer Generation, 
für die Daumier ein Beginn if. Wan lieft in dem Buch tie Empfindungen 
der Künſtler, die heute dreißig Sabre alt find. Der Enthuſiasmus fagt eben jo 
viel von ihnen wie von dem Gegenstand der Begeifterung. Das Streben, nicht 
gemein zu werden (oder ift ed die Stepfid einer artiſtiſchen Weltanfchnuung?), 
meidet gefliffentlich den ftärkften Ausdruck des Gedankens. Das paßt merk» 
würdig gut für die verjchwiegeniten Seiten des Advolatınmalerd. Diejer Daus 
mier, den feine Zeit für einen Tendenzlünftler, einen Bollsredner, einen Käm⸗ 
pfer neben den Hünften nahm, war feiner Epoche reinfter Artift, dachte noch 
weniger ald Delacroiz, viel weniger ald irgendeiner der Freien von Fontaine- 
bleu an Zved und Nuten des Bildes, war fein einziger Betradter und be» 
gnügte fi, die eigene Seele mit Kunft zu durchtränten. Bis zu Cézanne hat 
fich Niemand weniger gefragt, für wen oder was feine Malerei da war. Die 
Begeifterung über jolche Reinheit der Triebe ift mit der Verehrung der juns 
gen Künftler Frankreichs eng verfnüpft. Sie fteht auch in Kloſſowſkis Bud 
zwiſchen den Zeilen. „Seine Wirkung ald ganze Erfcheinung ift mehr moraliſch 
geblieben,“ heißt es am Schluß. „Seine tieffte Wirkung ift vielleicht der Zus 
funft vorbehalten. Dieje Kunft, die, von feinem Zwed getragen, von feinem 
Bedurfniß ummorben, fih in der Einjamteit erfüllte, gleich einem im Ver⸗ 
borgeren fprudelnden Brunnen, deflen Wafler verjüngen:e Kräfte des Lebens 
bewahren.“ Im Bemußtfein bleibt der leiſe Wunſch übrig, zu erfahren, wie 
weit die moralifche Wirkung geht; der Zweifel, ob mirtlihh der Maler möglich 
gemwejen wäre ohne den Pofitivismus des Satirikers; die Frage, ob da nicht 
ein Ausgleich jtattfand und ob die heutige Generation, der die Zudungen über: 
züchteten Selbftgefühls die Muße zu ordentlichen Bildern ſchmälern, nit zu 
voreilig die meraliihe Seite jenes Ausgleich außer Acht läßt. Der Aulor, 
der nur widerwillig den Pinjel mit der Feder vertaujcht, giebt uns vielleicht 
ald Maler Antwort. 
Julius Meier-Graefe. 





Genie oder Uebermenſch. 17 


Benie oder Uebermenſch. 


Darwin neben Goethe ſetzen, 
Heißt die Majeftät verlegen, 
Majestatem genii! 
Ay Popularifiren birgt in fih die Gefahr des Vulgariſirens. Dadurch 
aber fommt es leicht dazu, die ſachliche Wearterentwidelung und natur» 
gemäße Kriftallifation einer dee zu hemmen, ohne durch deren Verbreitung 
und Verbreiterung weſentliche Vortheile. zu bieten. Was hilft ed, daß ein 
harakteriftiiches Wort wie „der Uebermenſch“ in Aller Mund geräth, wenn es 
tadurd fein geiftiged Gepräge einbüßt? 

Mag der Induftrielle beim Uebermenſchen an eine brutale Energie denten, 
die fich, ledig jedes Gewiſſenszwanges, über das Niveau der bürgerlichen Ges 
ſchäſtsbefhätigung erhebt, der literarifch und biftorifch Gebildete ſich Etwas 
wie eine Addition von Goelhe und Napoleon vorftllin: fo ift damit der 
Sinn der nietjchiichen Lehre eben jo menig in ihrem Kern getroffen wie 
durch die naturwiſſenſchaftliche Auffaflung des Uebermenſchen ald Vertreters 
einer fünftigen Ueberart in darminiftiihem Sinn. Aber auch dort, wo man 
ſolche will kürliche Aue legungen bekämpft, weil man tiefer in das Verſtändniß 
des einſamen Philoſophen eingedrungen iſt, fehlt es an einer reſoluten Antwort 
auf die Frage: Was verſtand Nietzſche unter dem Uebermenſchen? | 

Die Schwefter und Biogrophin Nietzſches ſchreibt: „Das Wort Ueber⸗ 
menſch erjcheint mir nur als ein zufammenfaflender Ausdrud für den höchſt⸗ 
‚gearteten und ftärkjien Menſchen, als eine Bezeidinung für Weſen, die und 
das Dafein rechtfertigen.” Alſo ein Superlativ. Eine Erklärung, die und 
die’ unterfcheitende Gegenfäglichfeit zum Begriff Menſch vermifien läßt. Für 
Peter Gaft ift der Uebermenſch ein Eymbol, das für verjchiedene Menjchen 
verjchiedene Deutungen zuläßt; für Dekar Emald dagegen kein Eymbol, fon» 
dern eine Emanation. Aber auch Emald gelangt, obwohl er den Sinn des Lieber» - 
menjchen im hiftorischen Menſchen, ter Vergangenheit und Zukunſt verbindet, 
zu finden glaubt, zu dem Werlegenheitausiprud: „Der Ucbermenjc iſt bei 
Rietzſche felber nit Ein, fondeın ein ſchilleindes Allerlei, nicht klar abges 
hoben, fondern buntfarbig und polyphon. Der ofielb.jche Junker, der Franzoſe 
dis ancien regime, Nopoleon, Goethe, C.jare Borgia, der helleniſche Philo⸗ 
foph und ter römische Caeſar ftreiten um den gleichen Anſpruch.“ Vielleicht 
liegt die Schuld an dieſer Undeutlichleit eines „ſchillernden Allerlei” weniger 
bei Nietzſche als bei feinen Interpreten. 

Um zunädft den Spuren der Entſtehunz nachzugehen, dürfen wir und 
nicht auf Nietfches unmittelbare Ausfprüche über Ten Uebermenſchen bejchränten, 
sondern müſſen den Gedankengarg verfolgen, auf dem jih ihm allmählich dag 

9 


[ 


18 Die Zukunft. 


Bedürfniß nach einer Bezeichnung einftellte, die aus dem gewohnten Worte 
ſchatz nicht zu decken war und ihn zum Uebermenſchen gelangen ließ. Stommen- 
wir jo zu einer Vorftellung, die durch Fein andere Wort erſchöpft würde, 
dann (aber auch nur dann) dürfen wir unfere Aufgabe ald bewältigt betrachten. 

Den Ausgangspunft bildet der Menich als ethifcher Begriff. Mit dem- 
Namen der Menichlichleit, fo weit er zur Hervorhebung des Hohen, Eigen⸗ 
artigen unfered Weſens im Denken und Fühlen diente, verbanden fi chriſt⸗ 
liche Werthichägungen, jo daß „Humanität“ in einen fchroffen Gegenjat zur 
Natur gerieth. Hiergegen hat Nietzſche ſchon früh Stellung genommen. Seine 
griechiichen Studien hatten ihn mit der Erkenntniß erfüllt, daß der Menſch 
in feinen höchſien und edelften Kräften ganz Natur ift und ihren unheim⸗ 
lichen Doppeldaralter an ſich trägt. Schon im bajeler Kolleg lehrte er über 
den Menihen: „Seine furdtbaren und ald unmenfclich geltenden Befähis 
gungen find vielleicht jogar der fruchtbare Boden, aus dem allein alle Huma⸗ 
nität in Regungen, Thaten und Werlen hervorwachſen kann.” Damals genüjte 
es ihm, zwiſchen antifer und moderner Sumanität zu unterjcheiden. Er nannte- 
die Griechen die humanften Menſchen ter alten Zeit, frog ihrem Zug von 
Grauſamkeit und tigerhafter Vernichtungluſt, und fand, daß diefer Zug uns 
in Schreden jegen müfje, wenn wir ihnen mit dem weiblichen Begriff der 
modernen Humanität entgegentommen. Dieje moderne Humanität, die nicht 
verftehen will, daß es feine wahrhaft fchöne Fläche ohne eine jchredliche Tıefe 
giebt, galt ed, durch eine deutſche Wiedergeburt der antiten Welt zu über⸗ 
winden. Den berufenen Führer beim Kampf um diefe Wandlung, die darauf: 
ausgehen mußte, die Fünftlerifche Lebensauffaſſung an die Stelle der Moral 
zu ſetzen, jah Nietzſche im Genie. Hinweg mit dem: ftumpfen Widerftand der 
Welt gegen ihre Erzieher auf Lulturellem Gebiet, auf daß der deutfche Genius 
nicht länger entwürdigt und entjremdet von Haus und Heimath lebe! So 
ungefähr lautete damals fein Wahlſpruch. 

Nietzſches jo lebhaft hervorquellende Begeilterung und Propaganda für 
Wagner und Schopenhauer hatte ihren Urjprung in dieſer Hochſchätzung des 
Genius und feiner Aufgabe. Nicht umgefehrt ward. Damald erwartete er 
Wunder von Bayreuth. Bon hier follte die Erneuerung der Kultur durch 
die Wiedergeburt der Zragoedie ihren Ausgang nehmen. Aber ed kam anders. 
Er ſah auf dem Hügel von Bayreuth ein Publitum verfammelt, das in der 
Erfüllung bochgeipannter theatraliider Erwartungen jchwelgte, aber durchaus 
nicht gefommen war, um fi vor ter ſchwächlichen Verlogenheit der modernen 
Civilifation loszujagen und die Morgenweihe am Lage des Kampfes zu empfangen. 
Nietzſche war enttäufcht; und zu jeinem Schmerz und Schreden theilte Wagner 
diefe Enttäufchung nicht. Das war enticheidend. Das jchied ihn von Bay» 
reuth und Wagner. Von nun an fehen wir ihn eine jtreng feindliche Stellung 














Genie oder Uebermenſch. 19 


nehmen gegen Alles, mad mit den beftehenden Berbältnifien paltirt. Alſo auch 
gegen die Kunſt. Zunächſt gegen die Kunft des Theaters, die des Volkes be> 
darf, weil ihre Wirkſamkeit der Maſſen bedarf. 

Stand bisher das Genie, über alle Menjchen hinausragend, als ideale 
Erfüllung in der Perſpektive feines Bildes der Zukunft, fo erfährt dieſe aller» 
höchfte Schägung nun einen Umſchlag. Was die Welt Genie nennt, erjcheint 
Nietzſche mit einem Mal ala Karikatur. Schmerzlicher noch ala die körper⸗ 
lihe und geiftige Krüppelhaftigkeit in der Welt empfindet er die Disharmonie 
im Weſen der Größten. Er nennt fie Krüppel, die an Allem zu wenig und 
an Einem zu viel haben. Er erzählt: Ich ſah ein Ohr jo groß wie ein Menſch! 
„Wahrhaftig: dad große Ohr ſaß auf einem kleinen, dünnen Stiel; der Stiel 
aber war ein Menſch!“ Auch bei den Erften und Gıößten findet er „Menſch⸗ 
liches, Allzumenjcjliches”, das es nicht zu reformiren, jondern zu überwinden 
gilt. Glaubte er ehemals, ald Anhänger Wagners, an tie unberingte Macht 
der Leidenſchaft, fo folgte nun, nad dieler hohen Echägung des Dionyfilchen 
mit der Berherrlichung der nächtlichen Tiefe im Weſen der Menſchen, die Lob» 
preifung Apolls. Damit beginnt eine neue Epoche in Nietzſches Lebensanſchauung. 
Durch die „Worgenröthe” mit ihren unausgejprochenen Gedanken angelündet, 
fteigt die „Fröhliche Wiſſenſchaft“ auf, Sonnenhelle verbreitend, damit wir ler⸗ 
nen, an den ganzen Olymp des Scheines zu glauben und das Efitatifche in 
und zu unterwerfen. 

Wir Kinder der Zukunft, ruft er um jene Zeit aus, wie vermöchten 
wir in diefem Heute zu Haus zu fein! Wir find feine Humanitarier! Wir 
teden nicht von unferer Liebe zur Menſchheit! Die verlogene Raſſen⸗Selbſt⸗ 
bewunderung, die befonders in Deutjchland Ideale verengt, ift ihm ein Gräuel 
und er hält ihr zunächſt das Wort. entgegen: „Wir guten Europäer!” Eine 
Chrenbezeichnung für und verpflichtete Erben von Jahrtaufenden, aber fein 
legte3 Ziel. Denn aud „Europa“ bedeutet noch eine Summe von komman⸗ 
direnden alten Werthurtheilen, die und in Fleiſch und Blut übergegangen 
find und einer Höherentwidelung widerftreben. Und fo unterjcheidet er auch 
noch von diejen kosmopolitiſchen Europäern in abhebendem und ehrendem Sinn: 
Heimathlofe, gleichjam als zweite Stufe feiner Aſzendenzlehre. Heimathlofe 
find ihm ſolche Aultur- Individuen, die fi) nicht nur jenjeit3 von Gut und 
Böſe Stellen, jondern auch fi bewußt abwenden von dem Verlangen nad 
einem menſchlichen, mildeften, rechtlichen Zeitalter, weil fie in diejem Ver⸗ 
langen den Ausdrud der tiefen Schmädung und abfintenden Kraft jehen. 
Diele Heimathlofen müfjen, wenn fie ihre Yebensaufgabe richlig erlennen, fich 
nicht nur ala reigiebige und Neiche des Geiſtes fühlen, jondern ald Er⸗ 
oberer. Tenn nur dann haben fie ein Recht, ſich als heimathlos, ala nicht 
mehr zugehörig zu dieſer humanitären Welt zu beirachten, wenn in ihnen das 
Verlangen lebt „nach einer VBeritärfung und Erhöhung des Typus Menſch.“ 

28 


20 Die Zukunft. 


Wer entſpricht dem Ideal dieſer unzeitgemäßen heimathloſen Nicht⸗ 
Humanitarier? Das Genie? Seine erkannte Disharmonie heißt und Nein jagen. 
Die Weiſen? Niepfches plögliche Verherrlichung der Wiſſenſchaft jcheint auf fie 
binführen zu wollen. Nein: auch fie haben tes Volkes Karren gezogen, dem 
Aberglauben und nicht der Wahrheit gedient Iſt es vielleicht nur der Un: 
glaube, jede Art Unglaubend, wojür die Heimathlojen Tämpfen? Tas wißt 
hr befier, meine Freunde, antwortet Nietzſche. Das verborgene Jı in Euch 
ift ftärker ala alle Neins und Bielleichtd, an denen hr mit Eurer Zeit trank 
feid; und wenn Ihr aufs Meer müßt, Ihr Auswanderer, jo zwingt dazu auch 
Euch ein Glaube. Dieje Säge ftammen aus einer Zeit, da Nietzſche für das 
fernite und höchſte Biel noch nicht dad Wort gefunden hatte, fondern um einen 
Namen verlegen war. Daogegen wird und der Weg zu diejem neuen Ideal 
deutlich gewiefen: Aufhebung alles Defien, was der natürlichen Entwidelung 
der menſchlichen Fähigkeiten entgegenftrebt, und Ablöjung des Zufall durch 
eine Zufammenfaffung aller Kräfte zu diefem neuen Zwed. Dad feminine 
deal der modernen Humanität und Mitleidsmoral ijt dieſer größten Er» 
höhung des Kraftbemußtjeind, dieſem freudig bejahenden männlichen deal 
entgegengeſetzt. Die Fürforge der Humanität ift nicht der Höherentwidelung 
als folcher gewidmet, die immer nur in feltenen Einzelnen gipfeln Tönnte, 
fondern ihre Fürſorge dient an erfter Stelle dem Glüdieligkeititreben der 
Allgemeinheit, das immer eine negative Faſſung voraugfegt. Die Aſpirationen 
der Kunſt mit ihrem Theaterſchrei der Leidenschaft zielen nad) dem Verfchrobenen; 
die Philoſophie will Selbftentfremdung. Diefer Weg ter modernen Humanität 
führt daher nicht an ein Ziel, auf dem der Menſch über fich ſelbſt hinaus» 
wächſt, Jondern zum refignüten, aus Klugheit friedfamen und mäßigen, aller 
Umgebung anpafjungfähigen behäbigen ‚legten Menſchen“, der lange und 
langjam lebt. Alſo zu einem Ende ohne Ehre. 

Diefem Niedergang gegenüber fordert Nietzſche, daß der Menſch wieder 
den Pfeil feiner Setniucht über den Menſchen hinausſende, daß er meniger 
and Erhalten und Hegen denke, fondern daran, den Keim feiner höchſten Hoff: 
nungen zu pflegen, geleitet von der Erkenntniß: der Menſch ift Etwas, das 
überwunden werden muß. Das Weſen alles Gejchehens war für Nietjche 
nicht „Wille zum Leben“ (Schopenhauer), fondern Wille zur Steigerung des 
xebens; nicht „Kampf ums Daſein“ (Darwin), fondern Kampf um höheres, 
ſtärkeres Dajein; nicht „Trieb zur Selbjterhaltung” (Spinoza), ſondern Trieb 
zum Selbſtzuwachs. Und aud dad Prinzip „Liebe und Streit” des Empedokles 
fteigerfe ſich für ihn zum Wettlampf um Sieg und Uebermadt. Dabei lag 
ihm die fanatifche Entfeffelung einer fich ſelbſt überftürzenden, Jedermann mit 
tortreißenden Bewegung fern; dad Tempo der Örtechen erſchien ihm bewundern» 
würdig, weil ed ohne Hajt war. Er war mit Darwins Lehre ſchon vertraut, 











Genie oder Uebermenſch. 21 


als Rütimeyir gegen Haeckel auftrat; aber er erklärte, jedes Mißverſtändniß 
ausſchließend: „Meine Vorfahren find Heraklit, Empedokles, Spinoza, Goethe.“ 

Die Wegrichtung zur Höherzüchtung der Menſchheit iſt von Nietzſche 
deutlich gewieſen. Aber auch die Frage, wie wir uns praktiſch die Aufgabe 
jener als heimathlos bezeichneten Nicht-Humanitarier zu denken haben, bereitet 
und feine Schmierigkeit. Ihr fultureller Beruf ift die Gründung einer Dligarchie 
über den Völkern und ihren Intereſſen. Alſo eine Oligarchie der höheren 
Menſchen, die wir und jedod nicht im Sinn unferer beftehenden politischen 
Verhältniſſe auszulegen haben. 

Verlangte Nietzſche Schon vom guten Europäer, daß ihn die Tapferkeit 
von Kopf und Herz auszeichne, jo erwartet er vom höheren Diennichen, daß 
die erlangte Männlichkeit ihn das. größte Maß von Macht über die Dinge 
anftreben lafje. Alles aus innerjter Fülle und Nothwendigkeit. An die Stelle 
des alten Inperativ „Du ſollſt“ hatte ein neuer zu treten: das „Ih muß” 
de Uebermächtigen, Schaffenden. Dieſer Inftinkt ift nicht blind gedacht, fondern 
alles Thun joll Sinn befommen. Er ift nicht zugellos gedacht, denn der Be: 
fehlende fol jeine Kräfte in der Gewalt haben. Aber er ift auch nicht nad: 
giebig gedacht; denn der Schaffende der neuen Werthe darf humanitären An» 
wandlungen nicht unterliegen. Die Herrjcher: Zugend, die Züchter Tugend ift 
die, welche auch über ihr Mitleiden Herr wird, um des fernen Bieles willen. 

Schon wenn wir auf diefe Weife audeinanderliegende Gedanken Nietzſches 
überfichtlich aneinanderreihen, werden wir und bewußt, daß wir in den Bereich 
eined neuen männlichen deals eingedrungen find. Wir vergeflen, nach dem 
„Glück“ zu fragen; denn ung genügt die Ueberzeugung: eine ungeheure Straft 
im Menfchen und in der Menſchheit will fi ausleben. Zıhl und Mächtigkeit 
diefer SKraftentladungen beftimmt den Werth eined LZebendigen. Wir haben 
und dieje Kraft nicht Homophon zu denken, denn der Menſch hat gegenſätz⸗ 
lihe Zriebe und Impulſe in fi großgezüchtet. Wir erkennen mächtig gegen 
einander treibende Inſtinkte und wir nennen Den ſtark, der fie gebändigt 
umjpannt. Der höchſte Menſch wiederum iſt und Einer, der die größte Viel⸗ 
"heit der Triebe und in relativ größter Stärke in fich vereinigt. Vermöge diejer 
Syntheſis iſt er der Herr der Erde. 

Nur dieſe Art geſetzgeberiſcher Menſchen tft zur typifchen Ausgeitallung 
der Menſchen berufen. Sie find die Bildner; und der Heft ift, gegen fie ge- 
halten, nur Thon. Wer die Werthe beftimmt und die auserwählteſten Naturen 
lentt, iſt der höchſte Menſch. Dieſes Jdealbild einer anzuftrebenden Zukunft, 
dieſer über alle Forderungen eines menſchlichen, mildeſten, rechtlichſten Zeit: 
alter, über alle moderne Humanität hinausgewachſene Herr der Erde, der 
neue Werthe nicht nur findet und ſchafft, fondern vermöge feiner Stärfe und 
Größe zum Gejet erhebt, ift der Uebermenſch. 


22 Die Zukunft. 


Der Uebermenſch ift das Genie, das an Feiner Disharmonie leidet, der 
Meile, der Leine Selbſtentfremdung fennt, der Seher, der in feinen Fana⸗ 
tismus verfällt, alfo ein Menſch, der, troß feiner intuitiven Straft, troß feiner 
höchſten Erkenniniß, trog feinen ethiſchen Zielen, troß jeinem Intellektualismus, 
ein harmonifcher Vollmenſch bleibt. Nicht ſchwer, jondern leicht; denn aud 
das Hallyoniſche ift als weſentlich zu diejer Größe gedadit. 

Dem Uebermenfchen ift alles Wiffen nur ein Mittel zum Schaffen. Aber 
auch den Affelt des Schaffenden müfjen wir uns als auf die Höhe gebracht 
denken. „Nicht mehr Marmor behauen!” ruft Niepihe. Der Uebermenſch 
geftaltet am Menſchen jelbit als Stünftler. 

Kein Humaniftifches Zeitalter kann auf die Hervorbringung diejer höchiten 
Blüthe der Männtichkeit hoffen, jondern nur eine höhere Kultur, die einen 
höheren Typus Menſch entwidelt hat. Freilih: Erhöhung ded Typus be: 
deutet zunächſt Erhöhung des Niveau. Aber darüber hinaus giebt ed noch 
eine lette Steigerung: die Hervorbringung jeltener Einzelner, unter Kultur» 
verhältnifien, in denen fie fich einzumurzeln vermögen. Erſt wenn wir und 
diefer Aſzendenz bewußt find, verftehen wir, in welchem Sinn Niegfche vers 
Tündete: Seht, ich lehre Euch den Lebermenfchen! 

Steht das Genie im fchärfiten Antagonismus zur Unkultur feiner Zeit 
und deren Tendenzen, jo haben wir im Gegenjag hierzu den Uebermenſchen 
in feiner harmonischen Syntheſis, bei aller Spontaneität und aller Gegen» 
wirkung im Einzelnen, als naturgerechtes Produkt einer zufünftigen erhöhten 
Kultur zu denken. Im Vebermenfchen vereinigen fi harmoniſch individuelle 
und kommuniſtiſche Kräfte: die tommuniftifchen Kräfte einer zulünfligen Herricher- 
tafte. Hier liegt das Neue in der Vorftellung Niegjches gegenüber dem Genie⸗ 
und Heroenkult früherer Zeiten. Und bier liegt vor Allem auch ein Vorzug, 
den die Nietzſchebekenner jo wenig beachten: der, daß ihr Meijter nicht im 
Individualismus fteden blieb. 

Sch Hoffe, ed ift mir gelungen, jo weit Das bei einem Idealbild übers 
haupt möglich ift, eine fafbare Vorftellung vom Webermenfchen zu geben. 
Dorauf fam ed an. Denn die Gefahr des Mißverſtehens liegt viel weniger 
da, mo der Uebermenſch allzu konkret in darminiftiihem Sinn aufgefaßt wird, 
als in der Verflüchtigung jeder definirbaren Vorftellung überhaupt. Eo, wenn 
Georg Simmel lehrt: „Der Uebermenſch ift nit ein fixittes Endziel, das 
der Entmwidelung ihren Sinn gäbe, jondern der Ausdrud dafür, daß es feines 
folchen bedarf.” Daß der Uebermenſch nicht als eine nach dem Prinzip der 
biologischen Ausleſe im Kampf ums Dafein herangezlichteten Ueberart in der 
Zukunft zu fuchen tft, fondern daß Niegiche die pſychologiſche Empfänglichkeit 
al3 Vorausſetzung des Uebermenjchen anfieht, murde nur vereinzelt verfannt. 
Tiefe Verlennung wurde am Scärfiten von Emald hervorgehoben und be» 





Genie oder Uebermenſch. ' 23 


Fämpft. Dagegen hat aber auch gerade Ewald den Verſuch, zu einer deut» 
slichen Vorftellung zu gelangen, aufgegeben, durch Die Behauptung, der Ueber» 
menfch fein nur eine Potenz im Menſchen. „Der Uebermenſch außer uns ift 
blos eine Negation und fein Gewinn. Der Uebermenſch in amd ift zugleich 
das Objekt und das Subjekt aller Ethik.“ Diefer Ausſpruch Ewalds bedeutet 
‚eine Bankeroterllärung nach verfchiedenen vergeblihen Verſuchen, zu einer 
faßbaren Vorftellung zu gelangen. 

Nein, der Uebermenich ift für Nietzſche nicht „nur ein Mahnruf“, nicht 
nur die unendliche Möglichkeit einer Entwidelung oder ein Poftulat in Pers 
manenz, ſondern ein eihijched Ideal. Ein Ideal, dad, wie jedes, als Phan- 
tafteerzeugniß und voranjchwebt. Nichts, das zwilchen Thür und Angel fteht, 
aber auch nicht, das die Ziellofigfeit zum Ziel erhebt und gleichſam die Un- 
endlichkeit der Entwidelung begrifflich objeltivirt, fondern ein Bild, das unferer 
Vorſtellungskraft auf einer beftimmbaren Kulturftufe als realifirbar gilt. Sagt 
:doh Nietzſche austrüdlih: „Wer Uebermenfch ift unjere nächſte Stufe.” 

Ale Kulturverfeinerung auf Koften der Triebkräfte, wie fie unſere hu⸗ 
mane Ethik anftrebt, hat immer nur die Bervolllommnung unſeres Intellekts 
im Auge; dagegen tritt Nietzſche in feiner Lorftellung des höheren Menſchen 
mit größter Bejtimmtbeit für die Harmonie zwiſchen Geift und Leib ein. Sein 
Mebermenſch ift das Ideal einer ftarten Erfcheinung. Ein principe uomo. „Den 
Menſchen über ſich hinausfteigern, gleich den Griechen, nicht unleiblice Phan⸗ 
-tagmata. Die Lörperliche Etärke foll auf der Seite des größten Gedankens 
fein; ſo lange muß Krieg fein zwiſchen den verſchiedenen Gedanken! Der 
höhere Geift, an einen ſchwächlichen nervöſen Charalier gebunden, ift zu bes 
feitigen. Ziel: Höherbildung des ganzen Leibes uud nicht nur des Gehirns!” 
Das find goldene Worte aus den Entwürfen zum Zarathuſtra, die und den 
Stern feiner Lehre enthüllen. 

War diejer höherwerthige Typus noch niemald da? Gewiß, oft genug 
Schon, fpricht Nietzſche; aber al3 ein Glücksfall, als eine Ausnahme, nicht als 
gewollt. Wan hat ihn ald das Furchtbare empfunden und aus der Furcht 
den umgekehrten Typus gezüchtet: „das Hausthier, dad Heerdenthier, daß kranke 
Thier Menich, den Chriſt.“ Niegjche aber war fchon früh überzeugt, daß man 
durch glüdliche Erfindungen da große Individuum noch ganz ander? und höher 
-erziehen lönne, als es bis jegt durch die Zufälle erzogen wurde. Er vers 
Fannte durchaus nicht, Daß die Menjchheit heute eine ungeheure Kraft mora» 
lifcher Gefühle in fich hat; aber immer mehr verfchärfte fich feine Erkenntniß 
dahin, Daß ihr das Hiel fehle, an dem alle Kraft verwendet werden könnte. 

Mo liegt diejes Ziel? Im Gegenſatz zu dem Amerikaner Draper, der 
«nerfündele, große Menſchen könne, ja, dürfe es nicht mehr geben, blieb Nietzſche 
dei der früh auögejprochenen Veberzeugung: „Das Ziel der Menfchheit liegt 
In ihren höchſten Exemplaren.“ Gr ging jpäter fo weit, die Möglichkeit der 


24 Die Zukunft. 


Erzeugung einzelner großer Menichen als eigentliche Aufgabe der Menſchheit 
zu bezeichnen. „Died und nichtd Anderes ſonſt!“ Können wir da noch einem 
Augenblid im Zweifel fein, daß für ihn der Uebermenſch nicht etwa eine Jeder» 
mann erreichbare Stufe, fondern den höchſten Gipfel in der Beripeltive der 
heute vorjtellbaren Zukunft bildete? Seine (Forderung lautet niemald: Werde 
ein Uebermenſch! Sondern: Trage bei zur Geftaltung einer Kullur, die die Er» 
zeugung einzelner großer Menjchen erhöht, „handle fo, als ob Du den Ueber» 
menſchen aus Dir erzeugen wollteft“. Nietzſche ift daher nicht, wie Theobald 
"Biegler meint, im Widerjpruch gegen Goethe, fondern in voller Uebereinſtimm⸗ 
ung mit defien Mahnung: 

Kaum bift Du fiher vor dem größften Trug, 

Kaum bit Tu Herr vom erften Kinderwillen, 

So glaubft Tu Di ſchon Uebermenfch genug, 

Berjäumft, die Pflicht des Mannes zu erfüllen. 

Nietzſches Lehre vom Uebermenfchen bezwedt, daß das Fernſte die Ur⸗ 
ſache des Heute werde. Niemald handelt e3 fich bei ihm um eine abfchließende 
Vollendung in der Gegenwart. Ob er vom Weibe verlangt, daß jeine Hoff- 
nung heiße: „Möge ich den Uebermenſchen gebären,” oder ob er jagt: „Der 
Freund fei euch ein Feſt der Erde und ein Vorgefühl des Uebermenſchen“: 
immer klingt feine Lehre in die Forderung aus: Ihr jollt Vorfahren werden 
bed Uebermenichen! Das iſt die Aſzendenzlehre Nietzſches. 

Daß wir und ihre Entitehung nicht denken fönnen, ohne daß die Ueber⸗ 
windung der mythologiihen Weltanfhauung durch Darwin vorausgegangen 
war, bringt fie zu ihm in fein Abhängigkeitverhältnig; denn an dieſer Ueber» 
windung haben eben fo gut Höpernid und Keppler, Newton und Harvey und 
die Weltentwidelungtheorie von Kant⸗Laplace mie Tarwind VDelzendenzlehre 
Theil. Darwinismus wäre ed geweſen, wenn Nietzſche auf eine Ueberart hin» 
gewieſen hätte in der Annahme, dieje werde an die Stelle des Menfchen treten. 
Das lag ihm fern. Nicht, mad die Menjchheit in der Reihenfolge der Weſen 
ablölen ſolle, war dad Problem, das ihn beichäftigte, ſondern er betrachtete c3 
ala feine Lebensaufgabe, die Frage neu zu beantworten, welden Typus Menſch 
man züchten ſoll, wollen foll ald den höherwerthigen, liebenswürdigeren, aus 
funftficheren. Man findet in allen feinen Schriften immer wieder die eine neu 
nuancirte Antwort auf dieſe Frage; und die Mahnung. die Müdigkeit Durch die 
Kraft zu überwinden und der verweichlichten Moral unferer Zeit ein männ» 
liches deal gegenüberzuftellen. Das Kraftbewußtſein follte die Rangordnnung,. 
der Individualität neu beftimmen. Das Bewußtſein jchöpferischer Kraft; denn 
„das einzige Glüd liegt im Schaffen: Ihr Alle ſollt mitichaffen und in jeder 
Handlung noch dieſes Glück haben”. 

Das Umſchaffen des Beſtehenden durch Umwerthung aller Werthe im 
Hinblick auf ein höchſtes Ideal iſt die Lehre, die uns Zarathuſtra verkündet: 








Genie oder Uebermenſch. 95: 


Borathuftre, dad Wunſch. Ich Nietiches, ift recht wohl ala eine mögliche Ver⸗ 
förperung des Uebermenſchen zu deuten. Nietzſche hat ſpäter ſelbſt erklärt: 
Hier ift in jedem Augenblid der Menſch überwunden, der Begriff Uebermenſch 
ward hier höchſte Realität; in einer unendlichen Ferne liegt alles Das, was 
bisher groß am Menſchen hieß, unter ihm. 

Nietzſche ging darin über feine Zeit hinaus, daß er nicht mit ihr um 
das Kleine ftritt, jonvern verfündete: Was Ihr ald groß Ichägt, ift nicht groß 
genug. Er bemunderte, daß Goethe eine europäiſche Kultur imaginirte, die 
die volle Erbſchaft der bereit3 erreichten Humanität einfchloß, und erkannte es 
.al3 feine Aufgabe, dieſes europäifche Ideal noch über fi) hinaus zu fteigern. 
Die Entwidelung Nietzſches von der „Geburt der Tragoedie” bis zum „Zara⸗ 
thuſtra“ wird ung überfihtlih und verliert ihre ſcheinbare Widerfprüchlichkeit, 
wenn wir verfolgen, wie an die Stelle des Genies der Uebermenſch tritt. Dort 
eine disharmoniſche, zu der modernen Zeit in fchroffitem Widerjpruch ftehende 
einſame Erfcheinung; hier eine ſynthetiſche Perfönlichkeit, die, jo hoch fie über 
die anderen emporragt, doch feſt und fiher in ter Kultur ihrer Zeit wurzelt. 

Da fih Niepiche immer nur den durch befondere individuelle Eigenfchaften 
hervorragenden Einzelnen als Uebermenſchen vorftellte, jo können wir bei einiger 
Befinnung kaum in den letzien noch möglichen Fehler verfallen, und den Leber» 
menjchen etwa als den Vorfahren einer Fünftigen neuen Art zu denken; denn 
nur das Typifche, nicht das Individuelle, vererbt fi. Der höhere Typus Menſch 
fann daher immer nur als die VBorausfegung ded harmoniſch⸗genial gedachten: 
Uebermenfchen gelten, niemolö aber als deſſen Nachkomme durch Bererbung.- 
Dieje Auffaffung wäre eben fo finnwidrig, wie wenn wir geniale Menſchen 
der Vergangenheit nicht als die Blüthe ihres Geſchlechtes, ſondern als den Ber 
ginn einer künftigen Höherentwidtelung durch Ver.rbung betrachten wollten, un» 
geachtet aller widerfprechenden Erfahrung. 

Niegiches Ausſpruch: „Der Menſch iſt ein Ende“ bezeugt, daß er nicht 
an die Möglichkeit einer neuen Art in darwiniſtiſchem Stun glaubte, jondern- 
den Schöpfungprozeß als vollendet betrachtete. Man mwird deshalb, troß den 
Veriumen Zilles und Anderer, bei Ttietsiche keine weſentliche Uebereinftimmung 
mit Darwin finden können, während man wohl nachzumeilen vermag, daß 
ER wie er dag Mort Uebermenich Goethe verdantt, auch in_befjen Geijt- 

uf, "als er die piychologiiche Timpfänglichfeit für die Vorausfegung einer 
—— des menſchlichen Typus anſah. Heißt es doch ſchon bei Goethe: 
Und umzuſchaffen das Geſchaffne, 
Damit ſichs nicht zum Starren waffne, 
Wirkt ewiges lebendiges Thun. 
Es fol ji regen, ſchaffend handeln, 
Erit fich geſtalten, dann verwandeln; 
Nur ſcheinbar fteht3 Momente ftill. 


Mannheim. Karl Hedel. 
5 


£6 Die Zukunft. 


Selbitmörder. 


$: Seelen ber Selbſtmörder find, wie Ihr wißt, für lange Zeit an bie Steire 
und den Sand unjeres Planeten gefeflelt. Genau fo viel Beit muß ber» 
ftreichen, wie ihnen zu leben vorgeichrieben war, um die Geſetze ber irbifchen Schwer 
Traft don ſich werfen zu können. Die Selbfimdrder hemmen die Bewegung bes 
„großen Kreiſes“ und Halten, allerdings nur für kurze Beit, die Brädeftination 
feines Laufes auf. Bevor nicht die VBerechligung des freien Willens in den Plan 
aufgenommen ift, lönnen dieſe Seelen nicht in den Weltraum entweichen. Sie wer» 
‘ben auf einem einfamen, von Wenigen gelannten Fleckchen Erde untergebradht; 
dort verbarren jie bis zu ihrer Erlöſung. 

Diejes Land Liegt in Sidamerika, norbweftlicd vom fchwülen Patagunien. 
‚Hier beginnen die Stordilleren, die beim Aequater zu höchſten Höhen ftreben, ab» 
zufallen. Als fehle ihnen bie Kraft, fi) aufrecht zu erhalten; erfchlafft ohne die 





Gluth des Aequators, fließen fie nach allen Richtungen aus, gehen in die Breite. 


So entjtand die Hochebene von Ara⸗Meheb, die auf der Karte noch nicht vermerft 
ift. Cie erhebt id) in einer Höhe von 2% Werft mit faft ſenkrechten Wänden. 
Bon Norden nah Süden ift fie längs den Kordilleren 900 Werft lang, in der Pa⸗ 
«zallele 300. 

Oben wachen alte Hornbäume und amerikaniſche Eichen, am Rande trifft 
man Gleditſchien, Robinien, Weißdorn. 

Die Rinde an den Bäumen ift ſchwarz, unfreunblid; in ben Hungerbörfern 
‚der Juden fieht man ſolche Bäume. Sie find verfrüppelt, die Weite mit Ausfag 
ähnlichen fleinen Flechten überzogen, die Stämme fchwarz, Dürr; fie bergen viel- 
leicht eine innere Krankheit; das Laub ift dunkel, unſroh, die Kronen find bei faft allen 
flach, was den Eindrud bejonderer Schwere madht. Die Bäume bilden feine Haine, 
vermeiden jede Annäherung an einander, halten fich abfeits, wie Taubftumme. Ihre 
Schatten fieht man deutlich auf dem fümmerlichen Gras. 

Merkwürdig: hier, auf der Höhe, die ſenkrecht von der Erbe auffteigt, giebt 
es feinen Staub. Ter Wind weht ftumm, Hat alles Leben eingebüßt. Losgeriſſen 
‚vom Brozeß der Zerftörung, von Saat, von irdiſcher Phantajie. 

Da e3 feinen Staub giebt, ballt ſich audy fein Dunft zufammen; die Um⸗ 
riſſe der Dinge find fcharf, beitimmt, Das Abendroth erliſcht ſchnell und bie Nacht 
rückt heran, wie eine düfter ſchwarze Flüfligkeit, die fih vom Himmel nieberjenft. 

Thiere find nicht zu finden. Die legte Schlange vrrſchwand vor breihunbert 
Sahren. Cie wurde von einer giftigen Fliege getötet, die ihr ins Auge ſtach. 
liegen mit langen, jchmalen Leibern, an denen graue und weiße Querſtreifen ab» 
wechfeln. Zwei Jlügel, rund und undurdjiichtig; Das ganze Inſekt viermal größer 
als unjere gemeine Fliege. Ihre Yarven, lange weile Würmer, fehen aus mie 
Trabtfiüde. Sie leben in Haufen faulender Blätter und verpuppen ſich vor dem 
Sonnenaufgang. " 

Tie Nächte find meift Falt. Die flachen Kronen neigen fich, jdyweigen, reden 


Selbftmörber. 9 


won bexlorener, für immer verlorener Hoffnung. Der Mond verkriecht fih nicht 
Hinter die Bäume: ift völlig fichtbar, nadt, ohne Träumerei, ganz hell. Wunder» 
dich wird Einem beim Anblid dieſes Planetenleichnams, der im ganzen Univerſum 
fein Grab für fih finden fann. Die Sterne find matt, ohne Blanz, weil ihnen fein 
Blick aus menſchlichem Auge entgegeneilt. Die giftigen Fliegen fchlafen nicht. Ihre 
zunden Flügel, fo groß wie ein Zehnkopekenſtück, und ber lange Leib zeichnen ſich 
von der Mondicheibe ab und ſehen aus wie ein unbekanntes Luftſchiff, das zum 
Himmel emporftrebt. 


Weißen Schatten, Nebelſtreifen glaͤch, wandeln auf der Hochebene von Ara⸗ 
Meheb die Geſtalten der Selbſtmörder einher. Auf den erſten Blick glaubt man, 
in weiße Decken gehüllte Menſchen zu ſehen. Wenn man aber genauer hinſchaut, 
erkennt man, erſchreckend, etwas Anderes. Unirdiſches. Die Decken ſind aus grober 
Leinwand und in manchen Mondnächten kann man deutlich das Geflecht und die 
Quadrate ber Fäden unterſcheiden. Der Kopf bis hinab zu den Augen, bie Bruſt, 
ber Rüden und bie Füße bis zu den Sohlen: Alles ift verdedt; nur einen Theil 
des Geſichtes (wenn es überhaupt ein Geficht ift), vom Auge bis zum Mund, kann 
man erfennen. Der Gang dieſer Geſchöpfe erinnert an den Hahnentritt. Nirgends 
‚abgerundete, gleitende Bewegungen; die Beften find kurz, abgehadt, wie eine viel. 
fach gebrochene Linie. . 

Die Selbftmörder nähern ſich einander nicht mehr als die Bäume im ſpär⸗ 
lichen Wald; und wie bei den Bäumen, fo ift auch zwifchen ihnen der Raum nie 
größer, als der volle Schatten unbedingt nöthig hat. Darin Tiegt offenbar ein Ge⸗ 
jeg: der Schatten muß fi) ganz auf dem Gras lagern Tönnen. 

Biele find ihrer; dieſer Ueberbleibſel irbiiher Seelen, die das herbe Ent» 
‚jegen bes Selbſtmordes geſchmeckt haben. Langfam ftreifen fie auf ber Hochebene 
von Ara-Meheb umber; am Abend nähern fie fich dem äußerſten Rand und fchauen 
geſenkten Hauptes hinab. Tann wird e8 graufig. Stunden lang ftehen bie weißen 
Geitalten, ohne fich zu regen. Das grelle, unvermittelte Abendroth erliicht, ber 
Mond erfcheint am Himmel, ohne Träumerei, ohne Strahlenfärbung, die ihm von 
unten aus das Menfchenauge verleiht. Das Gewebe der Fäden tritt auf ben langen 
Deden deutlich heror. 

Die Morgenzöthe erfcheint. Die flache Krone des Hornbaumes neigt fich 
unter ben Stößen eines leblojen Windes. Die Geftalten verfteden fich, ziehen ſich 
«ins Innere des Landes zurüd und in ihrem langſamen feierlichen Schreiten ſpürt 
man eine unendliche lichtlofe Verzweiflung, die Tränen und das Entſetzen, Die Hundert» 
taufend Werft von Hier die Häufer und Thüren der Hinterbliebenen umjchweben. 

* 

Wenn im Lande Ara-Meheb neue Anſiedler eintreffen, padt Alle eine ſelt⸗ 
ame Erregung. Das gejchieht bejonders oft in regneriſchen Herbftnäcdhten. Ein 
weißes Gefpenft nach dem anderen erjcheint. Sie beeilen ich fichtlich, aber irgend» 
etwas hält fie am Boden feſt und fie können fi, trog aller Anftrengung, nur 
langſam vorwärtsbewegen. Schmerzlich und komiſch ift e8, ihre grotesten Ber 
wegungen, edigen Geberden, ihren Hahnentritt, die unnüge, fruchtloſe Aufregung 
‚zu beobadjten. Einzelne fallen, weil lie die Tragweite ihrer Bewegungen nicht 
überfjehen konnten. Niemand Hiljt Ihnen aufftchen. Endlich kommen jie zujammen, 


28 | Die Zukunft. 


ftellen fih im Kreis auf, bilden aber Feine Gruppen, ſondern ftehen vereinzelt. 
Eehen fie einen Anfömmling? 

"Warum eilen fie ihm entgegen? Bielleicht erwarten fie Nachrichten aus ferner, 
ferner Heimath, wo an der Piorte der Telegraphenpioften dunkelt, ein Hund belit 
und ber niedrige, verfallene, jet jo innig geliebte Zaun den beftaubten Syringen« 
ſtrauch umſchließt? Oder wollen fie ſelbſt ſprechen, klagen, ſtöhnen, den Kömm⸗ 
ling vorbereiten? 

Doch ſtumm iſt ihr Mund; ſie vermögen nichts zu jagen. Nichts Hören 
fie, nicht3 erfahren fie von den Hinterbliebenen bis zu der Zeit, wo der vorges 
fchriebene Augendlid de3 Todes herannaht und fie erlöft. 

Zange ftehen fie. Tann neigen fie leife das Haupt. Keine andere Geberde 
Bat ihre troftlofe Qual. Mit Heinen, komiſchen Schrittchen bewegen fie ſich fort 
und verbergen ſich wieder. . 

Alle find verſchwunden. Ter Angefommene bleibt allein. Er orientirt fich 
nach irdiicher Gewohnheit mit gleitenden, zulammenhängenden Bewegungen; es 
fällt ihm aber ſchwer. Er verjucht, fih zu afflimatifiren, und bald bat er fich die 
neuen @eberden angeeignet, die Gefte der vielfady gebrochenen geraden Linie. 

Er ſchaut um fih. Einzelne Bäume mit flachen Kronen ftehen da, als hätte 
fte der flache Himmel bejchnitten. Lebloſe Windftöße wehen. Dunkles, hartes Gras. 
Und eine liege mit zunden Flügeln, fo groß wie ein Zehnkopekenſtück, und ge— 
ftreiftem Hinterleib kommt geflogen. Tas weiße Geipenft beugt da3 Haupt und 
gebt ins Gehölz, geht von Baum zu Baum, ſucht Schatten, Behaglichkeit, ein Dach, 
um fich zu vergraben, zu verkriechen. 

Warum Hatte man c$ ſo eilig mit dem Sterben? Hätte man doch bis zum 
Morgengrauen gewartet, unter Dach und Fach diefe regnerifche, unendlich ſchwere 
Nacht verbraht! Nur diefe eine Nacht noch! 

Schlimm ift e8 für Den, der im Winter herlommt. Ein ſcharfer Wind weht 
über die Hochebene, ftürzt in den Abgrund und klettert ſtolpernd wieder hinauf. 
Die Blätter jind abgefallen, die ſchwarzen Gilhouetten der Bäume ſchneiden in 
den weißen Himmel. Wie kalt! 

Denn man fi) umfieht, kann man an die Stämme der Bäume gedrüdte 
weiße Geipenfter erfennen. So verbringen fie den ganzen Winter in Erftarrung. 
Bon Weitem gleichen fie den Puppen eines Riejenichmetterlings. Und in Haufen 
faulender Blätter überwintern die Puppen Der giftigen liege. Trübe, ſchwere 
Tropfen löſen lich von Gezweig und fallen auf die Deden, die Schultern der Selbſt⸗ 
mörber. Mitunter legt fich ein fallendes Blatt auf ihre Föpfe. Cie regen fich 
nicht ... Es ijt ftill, ganz ftill. Die Luft verdichtet fidy, die Dämmerung kommt 
geihlihen. Welch drüdender Himmel! 

Zropfen fallen auf die Gefpeniter, die den Yauf des großen Kreiſes hemmen, 
fallen gleich bitteren, fhiweren Thränen. 


Sankt Petersburg. Oſſip Dymomw. 


IR 











. Uinzeigen. 29 
Anzeigen. 


Fritz Renter-alender auf das Jahr 1909. Dieterichſche Buchhandlung 
in Leipzig (Theodor Meicher). 

Wer nicht nur bie medienburgifch-pommerfche, fondern überhaupt die nieder - 
Deutfche Eigenart in Sprache und Dentweife recht verſtehen und lieben lernen will, 
Ter greift am Beften zu den Werken Reuters, die, längſt jchon in vielen hundert 
taujend Eremplaren verbreitet, feit Ablauf der Schugfrift wohl faft in Jedermanns 
Händen find. Den großen Humoriflen und Herzenskündiger ung menfhlid nah 
3.1 bringen, in traulichften und vextrauieften Verkehr mit ihm zu treien: Dieje 
dankbare und ſchöne Aufgabe hat ſich ein literariiches Jahrbuch geftellt: der „Fritz 
Meutex- Kalender”. Drei Jahrgänge, auf 1907, 1908 und jept 1909, jind erjchienen, 
reich an hübſchen Geſchichten und Gedichten aus bem Nachlaß des Dichters, aus 
denen überall Frohſinn ſpricht; man wirb fie mit Bergnügen und Behagen lejen. 
Uagedruckte Briefe von ihm und feiner Frau Luiſe find Herrliche Dokumente der 
Harmonie bes Ehepaares, das nach Leid und Roth die Fülle des Glückes und Er» 
folges genießen durfte. Wir lernen Beider Charaktere eigentlich erſt durch diefe 
Töftliche Korrefpondenz kennen. Dazu lommen neue Mittheilungen über Reuter. 
Seine Jugend, feine Zugehörigkeit zur jenenjer Burſchenſchaft, feine Feſtungzeit, 
dann feine ungeahnte Entwidelung vom fchalthaften Reimſchmied der „Läujdhen 
un Rimel3* zum unübertreffliken Verfafſer der Ollen Kamellen”, fein ganzer 
IM xdegang bis zu den legten Erbentagen zieht an uns vorüber, erläutert durch 
unzählige größere und Peinere, ernſte und beitere Erinnerungen und Einzelbeiten. 
Un) der „Reuter Kalender” ift fehr billig; er foftet nur eine Marl. Wenn man 
die Portraits betrachtet (manche von Reuter felbft gezeichnete), den Buchſchmuck 
an Abbildungen, Skizzen, GSilhouetten, Fakſimiles, die ganze Tünftleriiche Aus⸗ 
ftattung, fo muß man ftaunen, daß dieſer niedrige Preis zu erreichen war. 

Greifswald. Profeſſor Dr. Karl Theodor Gaedertz. 


% 


Annette Yreiin von Droſte-Hülshoff. Gedichte, heraudgegeben und ein» 
geleitet von Julia Virginia. Hermann Seemann Nachfolger. 

Trofte- Ausgaben giebt es in Menge. Wenn ich mich trogdem unterfangen 
‚h:te, unfere Literatur um eine weitere zu vermehren, fo leitete mich dabei ber 
Wunſch, durch diefe elegant ausgeftattete, mit künſtleriſchem Buchſchmuck verfehene 
‚und doch preiswerthe Elzevierausgabe- auch für mein Theil Etwas zur Verbreitung 
der Werfe unjerer größten Deutichen Dichterin beizutragen. Denn daß fie, feldft in 
Nreiſen, die fich zu ben literarifch gebildeten zählen, noch lange nicht gewürdigt, 
ja, auch nur befannt ifl: dieje traurige Thatſache dürfen wir ung nicht verbehlen. 
Ich habe mich beftrebt, aus der Föftlihen Hinterlaffenichaft der großen Weſtfalin 
jolde Gedichte auszuwählen, die das eigenfte Weien der Dichterin, ihr tief gütiges, 
.cch: weiblicde8 Herz am Schönflen wiederzugeben vermögen. Ihre Lieder religidien 
Inhalts find ausgeichhaltet. Eine noch unbekannte größere Dıicytung, „Des Arztes 
Tod“ (vermutbhlih an den Vater Annettens gerichtet) konnte ich dem Werken 
beifügen; meines Wiſſens ift fie noch in feiner Drofte-Wusgabe enthalten. Möge 
«denn bies Büchlein dazu beitragen, neue fyreunde zu den alten zu werben, auf daß 


* 


30 Die Zulknnſt. 


die prophetifhen Worte unſerer Dichterin mehr und mehr in Erfüllung gehen: 
„Deine Lieder werden leben, wenn ich längft entſchwand: Mancher wird vor ihnen. 
beben, ber gleich mir empfand.” 
Frankfurt a. M. Julia Virginia. 
$ 


Goethe-Kalender auf das Jahr 1909. Zu Weihnachten 1908 herausgegeben. 
von DHo Julius Bierbaum, mit Schmud von E. R. Weiß und zwölf Netz⸗ 
ägungen nach lebensgroßen Steinzeichnungen von Karl Bauer im Dieterichſchen 
Berlag (gegründet zu Böttingen 1760) bei Theodor Weicher in Leipzig. 

Für den vierten Jahrgang des Goethe Stalenders hatte fich ber Herausgeber 
die Aufgabe gejftellt, auß der großen Anzahl überlieferiee Geſprächsäußerungen 

Goethes und aus den dabei mit überlommenen Schilderungen feines Weſens eine 

Urt Umrißbild von Goethe in der Unterhaltung zu geflalten. Er hat (um Das 

fofort zu befennen) bald eingefehen, daß Dies im engen Rahmen bes Goethe alen» 

ders nur jehr unvolllommen möglich ift. Aber auch das undolllommene Bild wird 
in bem Ginn wirten, der bei Begründung und Leitung bes Goethe⸗Kalenders maß» 
gebend war und ift: Goethes Perfönlichkeit in ihrem Reichthum an Lebenswerthen 
und außerhalb jeiner Kunft anzudeuten und den Drang zu immer näherer Be» 
ſchäftigung mit ihr zu weden oder zu fleigern. Der dargebotene Abri will vor 
Allem dazu einzuladen, das volle Bild von Goethe im Geſpräch zu genießen, das 
uns bie große Sammlung vermittelt, die Woldemar Freiherr von Biedermann 
unter dem Titel „Goeihes Gefpräche“ als Unhang an Goethes Werke herausgegeben 
bat. Die leider noch allzu Wenigen, die fie bereitS fennen, werden es bem Her» 
ausgeber am Beten nachzufühlen im Stande fein, wie er auf den Plan verfallen 
ift, Auszüge daraus mitzuiheilen, und fie werden am Ende, wie Vieles fie auch 
vermijjen mögen, gern in engerer Benachbarung begrüßen, was bei Biedermann 
oft weit augeinander liegt. Man Tann freilich gegen das Exrzerpirwejen Dans» 
cherlei einwenben und ber Herausgeber wunbert ſich eigentlich, daß ihm der Vor⸗ 
wurf des Berpflüdens noch nicht gemacht worden ift. Das pars pro toto wider⸗ 
ſpricht der beutichen Gründlichfeit entjchieden. Aber der radikale Grundjag „Alles 
oder nichts“ hat Doch wohl auch jein Bedenkliches. Auf Goethe angewendet, würde 
er bie ungeheure Mehrheit bex Deutfchen zum Nicht8 verdammen; und ber Aſpekt 

Derer, die fi) mit dem goethiſchen All beichäftigen, ift nicht einmal durchweg er» 

freulich zu nennen. Wohl Jeder, der der Welt Goethes einmal nah gefommen ijt, 

wird wünſchen, fie ganz tennen zu lernen; aber man muß ſchon fehr unbeſcheiden fein, 
wenn man babei nicht zu der Erkenniniß gelangt, daß dieſes Unterfangen ein ganzes 

Leben beanſprucht und auch dann nidyt volle Ausfiht auf Erfolg hat. Wir dürfen. 

mit gutem Zug nad) den Verjen feines Wanderliedes handeln: „Daß wir ung in 

ihr zexitreuen, darum tft die Welt fo groß.“ Zum Allumſaſſen find nur Wenige 
geihidt. Freuen wir und, wenn recht viel Einzelnes volle Empfängltchleit bei 
uns findet und ung zuweilen die Gnade beichieden wird, aus dem Cinzelnen das 

Ganze zu ahnen. Das, was man Studium nennt, jcheint folcherlei Ahnung nur 

felten zu vermitteln. Wer fich in Goethes Welt zerftreut, bald feine Schritte dahin, 

bald dorthin kenfend, wie er ſelbſt einmal that: „Ich ging im Walde jo für mid 





Anzeigen. 32 


Hin und nichts zu fuchen, Das war mein Sinn“, Der wird am Meiften Ueber⸗ 
raſchungen, Beglüdungen. erleben. 

Es muß Goethe⸗Forſcher geben. In je höherem Sinn fie Naturforfcher 
find, um fo höher werben wir fie zu jchägen haben. Uber auch die wiſſenſchaft⸗ 
lichen Goethe⸗Kleinkraͤmer thun kein ſchlechthin unnliges Werk. Un Goethe ift nicht 
unintereflent, — au Tas nicht, was bei jebem Anderen uninterefiant wäre. Bir 
find für Alles dankbar, was in diefer Welt entdedt wird. Indem wir und nur: 
als Goethe⸗Dilettanten (zu beutfch: Goethe⸗Liebhaber) belennen, glauben wir aber 
keineswegs, weniger zu fein als die Goethe⸗Gelehrten; denn nicht dad Studium; 
das ihn erklärt, ift es, was dieſen Großen lebendig erhält, jondern die Liebe, die: 
ihn begt und pflegt. Goethe ift ein Edyag, mit dem wir zu wuchern haben. Die 
Gelehrten tbeilen ihn ab, ftellen ihn feft, fonferviren ihn und fuchen etwa noch: 
Berborgenes and Tageslicht zu bringen. Wir erfreuen uns blos daran, aber dieſe 
Freude ift probultiv: in jedem Einzelnen vervielfältigt fie feinen Werth, indem jie 
ihn in perfönlichen Lebenswerih umfegt und damit weiter ausgiebt. Diejer Dilet- 
tantismus jollte bie Grundliebhaberei eines jeden gebildeten Teutichen fein. Selbit- 
feine übrigen Dilettantismen würben dadurch an Gewicht gewinnen. Der Goethe⸗ 
Kalender möchte dazu beilragen und will, wenn ihm Dies gelingt, jeden wiſſen⸗ 
ſchaftlichen Borwurf gern auf fi) nehmen. So: daß er nichts Neues bringt; da: 
er es an Erllärungen, Stellenverweijen fehlen läßt; daß er nicht ordentlich gruppirt 
und überhaupt unſyſtematiſch ift. Diefe Mängel würden ſchwer wiegen, wenn der 
Herausgeber den Goethe Kalender für Goethe. Gelehrte zufammenftellte. Dazu fehlen 
ihm alle Vorausfegungen. Er giebt den Kalender aber auch nit für das genus- 
inirritabile der deutſchen Philifter heraus, die Goethe für ſich beanſpruchen und 
auch ihn gewiſſermaßen ſchematiſch kleinkriegen möchten. Sie befigen „ihren“ Goethe: 
bereit3, den fie etwa fo verftegen wie Famulus Wagner „feinen” Fauſt. Ein 
wirklich jehr inirritables Gefchledht. Kaum, daß bei den Donrern und Bligen des 
Genies die Milch feiner frommen Denkart etwas zufammenläuft. Alle großen 
Männer gehören zu feinen Notbhelfern, fobald fie vom Ruhm fo Hoch über das 
gemürhliche Wolf erhoben find, daß ihre fchredlichen Eigenfchaften ihm nicht mehr 
fihtbar werben. Dieſen Leuten erjcheint ein menfchliher Gentus immer dann erſt 
als göttlich, wenn die Schleifmühle der Zeit (von der Maffe der Philiſter gebreht)- 
ein Zonventionelles Allerweltibeal aus ihm gemacht hat. Das ift das Schidjal der 
Großen; und es liegt gewiß ein Theil ihrer Beſtimmung barin, als Sterne am 
Philiſterhimmel zu leuchten. Auch fo wirken fie noch. Auch der Philiſter⸗Goethe 
iſt noch ein echtes Stüd vom Ganzen. Nur dürfen wir e8 ung nicht gefallen laſſen, 
daß da3 Stüd, das dem Philiſter behagt, und als das Ganze aufgefhwagt wird; 
bürfen es nicht dahin kommen laffen, daß eine Nation, an deren Entphilifterung 
Goethe immer gearbeitet hat und deren Befreiung vom Bhilifter mit feinen befferen 
Mitteln als denen bejorgt werden kann, die wir bei ihm finden, fich ichlechthin. 
am Goeihe der Philifter genügen läßt. Es hat lange Zeit gefchienen, als ob es 
fo fommen follte. Jetzt find Zeichen der VBeilerung vorhanden. Ahr Vorſchub zu 
leiften, ift da8 Hauptziel des Goethe-Stalenders. Er wirb es am Beften exreichen, 
wenn er immer mehr in die Hände der Jugend gelangt. 

Goethe als Erzieher: die deutfche Generation, bie dieſes Wort einmal an. 
ſich wahr macht, wird bie fein, die der deutſchen Geſammtbildung bie größten 


32 Die Zukunft, 


Dienfte leiften wird. Einſtweilen follte fich wenigftens ein Goethebund der Jugend 
bilden: ein Elitecorps oder eine Burſchenſchaft des Geiſtes. Er brauchte (und 
ſollte) Teineswegs Goethefimpelei zu treiben. Im ihm müßte nur bie Ueberzeugung 
thatfräftig fein, daß e8 zu den Zultuxellen Ehrenpunkten eines gebildeten Deutichen 
gehört, das goethifche Erbe zu pflegen. Haben die früheren Generationen deutſcher 
Studenten bad Ideal lebendig gehalten und ins Volk getragen, das feine politijche 
Erfüllung im Deutſchen Reich gefunden hat, fo liegt bei den neuen Generationen 
die Pflicht, diefes Reich zum Reich des nöcthiichen Geiſtes, zu einem deutſchen 
Kultur⸗Imperium zu machen. Für ſie ziemt ſich nicht Goethe ⸗Liebhaberthum, 
ſondern Goethe⸗Jüngerſchaft. Der „Klaſſiker Goeihe* muß für fie zum Lebens⸗ 
meifter werden. Vor Alem haben fie ſich dor der Fabel zu hüten, bie und genarrt 
bat, als wir jung waren: es fet ein Bruch zwiichen dem jungen und bem alten 
Goethe, der junge fei für die ungen, der alte nur für die Alten. Nein: der ganze 
Goethe fol e8 fein! Er irrte fi immer vorwärts; und jo ixıte er immer, wie 
zu feinem, fo zu unferem Heile, — wenn wir nur zu ber großen probultiven To⸗ 
leranz wenigftens ahnend gelangen, die ex lebend, fchaffend bewährt bat in dem 
Sinn: „Wer immer ftrebend fi bemüht.“ Wer Goethe hat, braudt keine „neuen 


Tafeln“. ———— — jenſeits pon Gut und Bole gelebt, 

o weit fie wirflihe Vebenswerihe enthält. Nietlche. ift.nur ein Umweg _ du ihm; 

wann au em HE Tchöner. j 
Sifian. Otto Julius Biexhaum. 


SR 
Der Reinfall von Schaaffhaufen. 


SD: Dresdener Bank und der Schaaffhauſenſche Bantverein haben ihr auf einem 
Scheinehevertrag vom zehnten Dezember 1903 beruhendes unnatürliches Ber» 
bältniß aufgelöft. "Dan nannte die Vereinigung der beiden Snftitute „Intereſſen⸗ 
gemeinichaft“ und fagte, diefe Form fei, ftatt der Fuſion, aus Erwägungen der Spar» 
ſamkeit gewählt worben. Die Provifionen, Die den verfchiedenen Schadchen zu zahlen 
Waren, zwangen zu einer gewiſſen Knauſerei. Manche fagen, es fei keine Che, ſon⸗ 
dern nur ein Berlöbniß gemefen. Das ftimmt aber nicht. Dan verlobt fi) im All» 
gemeinen doch nicht auf dreißig Jahre. Nicht ganz fünf hats gedauert. Hemmungen 
kennt der Konſul und Geheime Kommerzienratb Eugen Gutmann nidt. Davon 
können die Herren von der Verwaltung des Schaaffhaufenihen Bankvereins wohl 
ein Lied fingen. Einem diejer Herren, der früher in der ftaatlichen Hierarchie eine 
anſehnliche Stellung einnahm, ift da8 Singen fogar vergangen. Er konnte die Ver- 
fehrsiitten bes neben der Katholiſchen Kirche refidirenden Bapftes nicht mehr extra» 
.gen und trat eine längere Erholungreife an. Eugen Gutmann ift chen eine Num⸗ 
mer für fi; und man konnte fi) von vorn herein denken, daß er Keinen neben 
oder gar Über fi dulten werde. Säßen dem Echaaffhaufenichen Bantverein ftarfe 
Berfönlichkeiten vor, jo wäre die Snterejjengemeinfchaft entweder gar nicht zu Stande 
gefommen oder ſchon im erften Jahr durchlöchert worden. Die fehr tüchtigen Be⸗ 
amten des Banfvereins haben fich der „einnehmenden“ Berfon des Herrn Konjuls 
fünf Jahre lang untergeordnet; nun Hat er felbft Schluß gemacht. Die Mitgift 





Der Reinfall von Schaaffhauſen. 33 


war aufgezeßrt; wozu noch länger zufammenbleiben? Ein tertius gaudens klei⸗ 
bete im Gejpräch mit einem der leidtragenden Bankvereinsdirektoren feinen „Txof* 
in eine Scherzform, Die fich leider für bie Öffentliche Weiterverbreitung nicht eignet. 
Ins Salonfähige überjegt, würde das Troftiprüchlein ungefähr lauten: „Die Dres⸗ 
dener Bank ließ ſich von Euch bis zur Außerften Grenze fareifiren, hat Euch aber 
das Letzte nicht gewährt, ſondern Euch ſchließlich auf die Hand geſpuckt.“ Das Letzte 
it bier und auch fonft im Leben die Fuſion. Alles Andere hält nicht lange. 
Das Berhälinig war unnatürlich; nicht nur wegen ber verichiedenen Weſens⸗ 
art der beiden Banfen, jondern aud) wegen der Unhaltbarfeit eines gegenjeitigen 
Kontrolrehteds. Man läßt Fremde nicht gern in feine Bücher jehen; und fremb 
mußten die beiden Banken einander bleiben, fo lange nicht eine völlige Verſchmelz⸗ 
ung beichloffen war. Die Dresdener Bank ift, wenn ihre Wiege auch im gemüth» 
lichen Sadjen ftand, eine Großftadtpflanze reinfter Bucht. Der Schaaffhaufeniche 
Bankverein ift die Blüthe des kölniſchen Batriziates. Die Barbenue und der Mann 
aus guier Familie: fertig ift Die Mesalliancee Im Rheinland rümpfte man denn 
auch die Nafe, als mit lautem Yanfarengefchmetter der „Bund für ein halbes Men 
fhenalter” in die Welt hinauspojaunt wurde. „Die Dresdener Bank mögen wir 
nicht. Laßt man die Finger davon; fonft ſuchen wir uns eine andere Bantverbind« 
ung.” Das haben die „Köllichen“ gethan: und jo wurde die Rheiniſch⸗Weſtfäliſche 
Disfontogefelichaft gruß; die einzige deutſche Provinzbank, die ganz auf eigenen 
Füßen ſteht und keinerlei iniime Beziehungen zu den berliner Größen hat. Dancer 
Depofitentunde des Schaaffhaufenihen Bankvereins mag fich der Rheiniſch Wehfä- 
liihen zugewandt haben. Tie Dresdener Bank wollte in Rheinland-Weffalen Ge 
ſchäfte maden und den Bankverein, der ihr dazu verhelfen follte, von ihren öſt⸗ 
lichen Verbindungen profititen laffen. Do ut des. Der Bankrerein gab ſich red» 
liche Mühe, der Dresdenerin am Rhein Belanntichaften zu vermitteln; ob er aber 
im Offen Wejentliches erreiht hat? Die Dresdener Bant hatte das beſſere Theil ere 
wählt. Sie hat die Interna Schaaffhaujens eifrig ftudirt und escomptirt. Ein Ber- 
gleich der Debitoren» und Tepofitenlonten beider Inſtitute (per Saldo und im De 
tail) könnte intereffante Aufıchlüffe geben. Und auch beim Ausgleich der Gewinne 
war Die Dresdener Bank der empfangende, der Banlverein der gebende Theil. In 
Summa hat die Dresdenerin rund 400 000 Mark von dem Lagergenofien als Preis 
für die Duldung einiger Bärtlichfeiten erhalten. Yünf Jahre lang durfte fie fich ber 
fetten Gewinne der Internationalen Bohrgejelichaft in Erkelenz mitfreuen, über 
deren Afrienfapital zum größten Theil der Schaaffhaufenfche Bantverein gebietet. 
In biefer Beit wurden zweimal Dividenden von je 500 Prozent vertheilt. Dem 
Bankverein wäre wohler gewelen, wenn er ben Geſammtbetrag für fich behalten 
Hätte; denn es ift zweifelhaft, ob die Rente der Internationalen ſich auf annähernd 
gleicher Höhe Halten wird. Der didfte Rahm ift jedenfalls abgeichöpft und mit der 
Dresdener Bank geiheilt worden. Die war mit ihrem Antheil aber nicht einmal 
zufrieden, fondern wollte mehr haben. Da gabs denn Streit. Auch jonft mags in 
den Bilanzfigungen nicht immer friedlich zugegangen fein. Schaaffhaufen hat man⸗ 
ches ſchlechte Geſchaͤft gemacht. Die Affaire Hefjelle (Aachener Lederfabrit) fiel in 
Die Zeit ber Intereffengemeinichaft; auch bie koſtſpielige Verbindung mit Dem ehe⸗ 
maligen Generaldirektor Raky von Erkelenz ſtammt aus den Tagen ber jungen 
Liebe. Sole Zransaltionen gingen Eugen dem Katholiſchen natürlich gegen den 
3 


34 Die Zuknnſi. 


Strich; Fama behauptet, er fei manchmal recht grob geworben. Zuletzt kam noch 
die Geſchichte mit der Solinger Bank und der drohende Regreßprozeß gegen ben 
Bankverein. Das bat bem Faß vielleicht ben Boden ausgeichlagen. 

Un die Hibernia-Niederlage, in die ber Bankverein mit hineingezogen wurde, 
denkt der Konful heute wohl faum noch. Tempi passati. Damals aber hieß es: 
„Mitgefangen, mitgehangen“ ; und ber Bankverein, ber im Gefolge der Dresdenerin 
ben fyeldzug pro fisco contra Hibernia mitmachen mußte, wurde im Rheinland 
mit Verachtung geftraft. Damals ſchon glaubte man, bie Trennung von Tiſch und 
Bett ſtehe nah bevor; noch aber fcheuten bie Benofien die Blamage. Sollten fie 
zugeſtehen, daß bie Intereſſengemeinſchaft, deren Vortheile jo laut gerühmt worden 
waren, ſchon bet ber exften Belaftungprobe verjagt habe? In der Dentichrift über 
die „neue. Gemeinſchaft“ hieß es: „Die VBerftändigung der Inftitute ift aus der Er 
wägung hervorgegangen, daß bie Geichäftbereiche ber beiden Banken fich in be⸗ 
fonbers zwedmäßiger Weiſe ergänzen und daß es zu gleihmäßigem Bortheil dienen 
wird, wenn in Zukunft die Gejchäfte gemeinjchaftlich geführt, Die Konkurrenz unter 
einander vermieden und bie vereinten Kräfte nach einheitliden Geſichtspunkten in 
den Dienft bes deutichen Handels und ber beutichen Induſtrie geftellt werben.“ 
Viribus unitis. Schöne Worte; dahinter (neben der Katholiichen Kirche) das Be⸗ 
wußtſein eines guten Geſchaftes und (in der Franzöfiichen Straße) blinden Ver⸗ 
trauens in die Yühigleiten des Kontrahenten. Das war im Dezember 1903. Um 
fiebenzehnten September 1908 wurde in fünfzehn Beilen der ganze Prunkbau zer 
trümmert. „Die biöherige Form der Intereſſengemeinſchaft hat mannichfache Un⸗ 
zuträglichleiten mit ſich gebracht“: damit war bie einft hoch Geprieſene erledigt. 
Denn was ſonſt noch von der „yortdauer der intimen geichäftlihen Beziehungen” 
geiagt wird, genügt höchftens für das Ergögen unreifer Jugend. Der Bruch ift 
nicht zu verbergen. Die dreihundert Millionen Mark Kapital der Deutichen Bank 
hatten Herrn Gutmann geärgert. Deshalb entftand der Pool mit dem Bankverein. 
Die Welt follte wiſſen: Wir haben 400 Millionen. Anfangs hatte das Geſammtkapi⸗ 
tal 284 Millionen betragen (gegen 230 Millionen der Deutfchen Bank). Doch Froſch 
bleibt Froſch, mag er fi) noch fo fehr aufblähen. Und die Deutiche Bank konnte 
fih, im ruhigen Gefühl ihrer Dauerbarleit, an dem großthueriichen Gebahren der 
eitlen Rivalin ergögen. Nun ift der Froſch wieder dünn geworben und kann pros 
biren, ob die Kräfte noch ausreichen, um auf der Leiter emporzullettern. Dresden 
und Schaaffhaufen Haben über ihre Semeftralabichlüffe Günftiges mitgetheilt. Die 
Dresbenerin ſprach von „weientlich höheren Gewinnziffern* und der Bankverein 
konſtatirte eine „nennenswerthe Vermehrung der Geminnergebnifje“. Diefe Refultate 
find noch viribus unitis erreicht worden. Vom erften Januar 1909 ab werden die Er» 
trägniffe wieder getrennt ausgewiejen. Dan kann fich vorftellen, mit welchen ®efühlen 
die Leiter beider Banken in den legten Monaten dieſes Jahres zufammen arbeiten 
werden. Die Abwidelung neuer guter @eichäfte wird vielleicht, wenns irgend möglich 
tft, bis in bie Zeit der getrennten Wirthſchaft vertagt. Dann heißts wieder: Dresdener 
Bank 231, Schaaffhauſenſcher Bankverein 179 Millionen (Altienkpital und Referven). 
Der Schaaffhauſenſche Bankvexein war Ende 1907 die illiquibefle aller Großbanken; 
beträchtliche Zunahme der Acceptverbindlichkeiten und erhebliche Verringerung ber 
am Leichtefien greifbaren Mittel. Dazu kam die ſtarke Steigerung ber eigenen En⸗ 
gagements in Effekten und Konfortialeinzahlungen, neben der bie Erhöhung der 


Der Reinfall von Schaaffhanien. 35 


Debttoren keinen guten Eindrud machen konnte. Der begreifliche Wunſch, ſich von 
der Dresbenerin nicht völlig unterkriegen zu lafſen, Hat ben Bankverein eben zu 
äußerfter Anfpannung feiner Kreditfräfte angeipornt. Dieſes Streben erflärt auch 
Engagements wie das mit Raky gewagte. Der Bankverein muß aljo an eine Ber- 
mebrung feines (145 Millionen Marl betragenben) Aktienkapitals denken oder fich 
jo teainiren, daß zwiſchen Grundkapital, eigenen Engagements, Außenftänben und 
Berbindlichleiten wieder ein geſundes Verbältnig möglich wird. Sole „Selbſt⸗ 
beilung” ift freilich mühenoller als eine Kapitalderhöhung; für die aber die Stunde 
jett allerdings auch nicht fehr günftig wäre. Denn daß ber Bankverein in dem Pool- 
rennen eine Schlappe erlitten hat, ift nicht zu leugnen; da wären Junge Aktien nicht 
leicht unterzubringen. Die Dresbenerin ift ſchön heraus. Was beider Berbindung zu 
lukriren war, hat fie eingefadt; unb mit einer Kapitalerhöhung iſts nicht jo eilig, 
weil ber Status Ende 1907 befler war als der des Vankvereins und der Drang 
nach dem erſten Platz feit der Ausdehnung der Deutihen Bank einftwetlen wohl 
ſchwächer geworben ift. Fazit: bie Dresdener Bank ift geblieben, was fie war, 
und kann allein weiter wirtbfchaften; der Bankverein hat einen Theil feiner Boden: 
ſtaändigkeit verloren und feine Bilanz verfchlechtert, muß alfo verjudhen, Das im Weften 
verlorene Terrain zurädzuerobern, und auf den Often fürs Exfte verzichten. 

Der tertius gaudens {fl (neben der Deutichen Bank) die Berliner Handels⸗ 
Geſellſchaft. Deren Ehrgeiz ging nie ins Schrantenlofe. Mögen die Anderen ihre 
Kapitalpyramiben bis in den Himmel bauen: wir bleiben unten und begnügen uns 
mit dem Schuß unſeres ſchönen Beſitzes, ben ftille Klugheit erweitert. Die Neue 
Freie Preſſe veröffentlichte neulich „Kritifche Heußerungen eines hervorragenden Dit» 
gliedes der berliner Hochfinanz” (Hexen Fürftenberg ift dieſes Mitglied gewiß nicht 
unbelannt) fiber das Ende ber Intereſſengemeinſchaft. Da war die Richtlinie des 
fürftenbergifchen Berwaltungprogrammes erkennbar. Schärffte Eentralifirung. Keinen 
unnötbigen Ballaft von Intereſſengemeinſchaften (bie überall zu Ende gehen werben), 
Filialen und Depofitentafien, die ber &efchäftsleitung Die Kontrole erſchweren., Ueber⸗ 
waden kann nur Der, ber ein Gefchäft in feinen Fundamenten kennt.“ ; Der Sat 
ſollte in jeder Bant über dem Eingang ins Cheffabinet ftehen. (Das Syftem Flrſten⸗ 
berg bat ber Hanbelsgefellichaft ermöglicht, ihr Grundkapital „zufammenzubalten“ 
und die Gefahr ber Berwäflerung zu meiden. Die Erhöhung ihres Kapitals um 
10 Millionen (auf 110) war nöthig, weil fich feit 1903, wo fie das Kapital ver⸗ 
mehrte, ihr Gefchäftsfreis noch wefentlich erweitert bat. ;Die Engagement3 haben 
ſich vergrößert und find in ein Mißoerhältniß zum eigenen Kapital gerathen. Die 
Effekten» und Konfortialengagements nahmen Ende 1907 mit 78 Millionen mehr 
als drei Viertel des Grundkapitals in Anſpruch und bei Debitoren ftanden rund 
180 Millionen aus. Da der Status fih „von ſelbſt“ nicht raſch genug erleichtert, 
ift die Zuführung neuer Mittel zur Kräftigung der Bilanz nöthig. Die 14 Mil⸗ 
lionen, die der Handelsgejellichaft die neuen Antheile bringen, werden ihren Zweck 
erfüllen. Daß bie gefammte Haute Banque bem für die Unterbringung geichaffenen 
Konjortium angehört, ift ein fchönes Zeichen für die dgalitö und fraternite, bie, 
wenns gerabe fo paßt, im Reich ber Großfinanz herrſcht. Solche Konſortialgeſchäfte 
find und bleiben ja die einträglichften Intereſſengemeinſchaften. Ladon. 

4 


3* 


36 Die Zukunft. 


Drei Briefe. 


J. Bankdirektor ſchrieb mir aus der Provinz: 

Sehr geehrter Herz Harden, alljährlich, wenn das Buch herauskommt, in dem bie 
Mitglieder von Auffichträthen ber deutſchen Aktiengefellfchaften zufjammengeftellt find, 
pflegt auch in irgendeinem Blatt ein Artikel zu erfcheinen, in bem über Das „Unwefen“, 
das in der Häufung von Auffichtrathftellen in einer Hand beftehen foll, hergezogen wird. 
Diesmal ftand der Artikel im Berliner Tageblatt vom breißigften Yuguft. Wie gewöhn⸗ 
lich find die Ausführungen möglich dürftig unb oberflächlich. Dem Verfaſſer erſcheint 
als „einer der größten Mängel” des Altienrechts, daßes keine Beftimmung enthält, Durch 
bie eine fo ftarfe Anhäufung verantwortlicher Poſten in einer Hand, wie er fie anfuͤhrt, 
verhindert wird, und er ruft nach bem Geſetzgeber. Worin befteht nun biejer enorme 
Mangel? Darin, daB von den insgefammt eiwa 12000 Mitgliedern deutſcher Yufficht- 
zäthe ganze zweihundert Berfonen zehn und mehr Mandate haben. Da joll der Geſetz⸗ 
geber eingreifen. Und weshalb? Das jagt der Verfaſſer nicht. Doc; er giebt ja auch 
„Brlnbe* an. Alſo erftens ſoll, wie er jagt, Riemand ſich als bloße „Staffage” in einen 
Aufſichtrath wählen laſſen. Sehr richtig. Aber leider ſchlägt der Verfafſer fich ſelbſt da» 
Durch, daß er die Namen der fünfzig Märmer anführt, die mehr als fünfzehn Mandate 





in ihren Händen vereinen. 
Kommerzienrath Georg Arnftebt, Dresden... .-.. . - . 16 
Seh. Kommerzienrath Zrig von Friebländer Yuld, Berlin ... 16 
Friedrich Jay, Leipzig. - - - - vos 16 
Kommerzienrath Heinrich Lehmann, Hallen. ©... ..... 16 
Geheimrath Alfred Lent, Berlin... -.-... 2.2.2... 16 
Dr. Emft Magnus, Berlin... .. 2:22 220er. 16 
Hermann Rofenberg, Berlin... ...-- 220000. 16 
Geh. Kommerzienrath Julius Schalle»-Straßburg ...... . 16 
Dr. Karl Sulzbach, Franffurta.M...... - 2... 2.20. 16 
Mag Trinkaus, Düffeldorf. .....:- 22.2220 16 
Rechtsanwalt Emil Berwe, Breslau... ....22..... 17 
Dr. Richard Bxofien, Mamheim.... ........ 17 
Kommerzienrath Karl zunde,Efien .- .--.--...... 17 
Dr. Mar Korpulus, Breslau................ 17 
Paul vom Rath, Köln... .. 2.2.2.2 core. 17 
Geheimer Juſtizrath Mar Winterfeldt, Berlin .... .. - 17 
Kommerzienrath Dr. Richard Schnigler, Köln... ..... 17 
Dr. Baulvon Shwabadh, Berlin... ...... 2220... 17 
Max Frank, Dresden... "222-2000. ...18 
Geheimer Juſtizrath Maximilian Kempner, Berlin... . . 18 
Geh. Kommerzienrath Alerander von Pflaum, Stutigarı ... 19 
Ludwig Born, Berlin... 22m un eurenne 19 
Eifenbahndirektor a. D. Karl Schrader, Berlin... ...... . 19 
Geheimer Bergrath Dr. Victor Weidmann, Aachen . . . . 19 
Albert Blajchle, Berlin... .. 2: 2.22 co enernnn 20 
Peter Kauffmann, Düffeldorf ...- --.- 22.0000. 20 


Kommerzienrath Georg Arnhold, Dresden... -..- .-. - 21 





Drei Briefe. 37 


Artur Gwinner, Berlin... . 2.2202 nen 21 
Geheimer Seehandlungrath X. Schoeller, Berlin... .. - . 21 
Miniſterialdirektor J. Hoeter, Charlottenburg ........ 22 
Dr. alter Langen, Köln... -- - : 2222er een 22 
Kommerzienrath Peter Klödner, Duisburg . . , - : » » . . 23 
Kommerzienrath Alerandexr Lucas, Berlin... ....... 23 
Geheimrath Martmilian von Kliging, Berlin... .. . . 24 
Geheimer Kommerzienrath Iſidor Loewe, Berlin ....... 24 
Regirungrath Siegfried Samuel, Berlin... ...- -. - . 24 
Generallonful Mar Beer, Granlfutta.M..........- 25 
Generallonful Eugen Landau, Berlin... .......-. 25 
Geheimrath Emil Rathenau, Berlin ............. 25 
Hugo Stinneß, Eflen...-...: 222 2eeerenenenn 25 
Geheimer Regirungzath Richard Witting, Berlin ..... ... . 25 
Juſtizrath Robert Efler, Köln. ...-.--. 220000. 26 
Geheimrath Waldemar Müller, Berlin... ........- - 28 
Oberregirungrath a. D. H. Schröder, Köln... ...-. -. 28 
Sulius Stern, Berlin... - 22200 23 
Kommerzienrath Albert Heimann, Köln... -.-.-.... 29 
&eheimer Kommerztenrath Dr. Buftau Strupp, Meiningen. 29 
Eduard Freiherr von Oppenheim, Köln .....-..-... 30 
Dr. Mag Schoeller, Berlin... ..... 2... ...... 30 
Geheimer Kommerzienrath Eugen Gutmann, Berlin ... .. 35 
Kommerzienrath Louis Hagen, Köln... .......... 42 
Karl Fürftenberg, Berlin... . 22-0 eeeen 44 


Daraus erfieht Jeder, der die Berhältnife auch nur einigermaßen kennt, daß dieſe 
Männer ficherlich nicht lediglich „Staffage” in den Auffichträthen find. . Ferner jollen 
bie Aufſichtrathsſtellen nicht als „reine Geldquelle“ benugt werben. Darliber läßt ſich 
reiten; denn warum foll nicht auch die Nutzbarmachung von Kenntniſſen uud Erfahr- 
ungen in Auffichträthen als Erwerbsquelle nugbar zu machen jein? Niemand kann dere 
langen, daß die Berantwortung unb Arbeit umjonft fein jollen. Darauf kommt es im 
Grunde nicht an; denn gerade bei der Mehrzahl der Männer, die ber Berfafjer anführt, 
Iptelt Die Einnahme aus Auffichtratimandaten keine weientliche Rolle. So weit es ſich 
um Bantdizeltoren handelt, fliegen bie Einnahmen vielfach überhaupt nicht ihnen, jon« 
dern ihrer Bank zu (fo bei der Berliner Handels-Gefellichaft) ; Die Meiften aber könnten 
ihre Arbeitkraft eintröglicher ausnugen und würden, wenn es möglich wäre, gern auf 
das zweifelhafte Vergnügen, in Uufjichträthen zu figen, verzichten. Der Berfafler bes 
eitirten Artikels bat aber auch noch andere „Srünbe*. Ex jagt, bie Auflichtrathäftelle 
dürfe nicht als Mittel dienen, „interne Kenntniffe zu Kursgewinnen auszunägen“. Das 
iſt ein jo niedriger Angriff und einefo dreiſte Berdächtigung der angejehenften Bertreter 
von Induftrie und Handel, daß darauf nicht weiter eingegangen zu werden braucht, weil 
fie fich von jelbft richtet. Bleibt alfo nur noch der Teßte und gewichtigfte Grund, ben ber 
Berfafier allerdings erft bei den Poſten der Auffichtrathsporfigenden anführt; er ſagt, 
es ſei, kaum denkbar“, daß ein Menfch eine Bielheit von Borfigenben neben anderen Mane 
daten wirtfam ausüben könne. Alfo weil Das bem Berfafier, der wohl feine eigene Arbeit« 
Kraft als Maßſtab nimmt, kaum denkbar ift, ſoll der Geſetzgeber eingreifen. Eine ſchöne 


38 Die Zukunft. 


Motivirung. Anderen Leuten, die ben Berhältnifien näher ftehen, ift bie Sache durchaus 
nicht undenkbar; fie find vielmehr überzeugt, daß die in Frage kommenden Berjonen 
ihren Pflichten in vollem Umfang nachkommen, zum Beften ber Gefellichaften, benen fie 
angehören. Wllerbings ift Die Leiftung groß. Solche Arxbeitleiftungen findet man aber 
auch auf anderen Gebieten. Man betrachte, zum Beifpiel, das Lebenswert eines Bixchom. 
Auf einer großen Anzahl verſchiedener, zum Theil fern don einander liegender Gebiete 
warbiejer Mann thätig. Er verfaßte viele wiffenfchaftliche Werke, war außerdem Lehrer 
und Eraminator. Daneben aber gehörte er zu den Führern einer politischen Bartet, trat 
als Redner auf und beiheiligte fich lebhaft an der Erörterung aller politifchen Tages⸗ 
fragen. Weshalb wurde in einem ſolchen Fall nicht nach dem Geſetzgeber gerufen? Iſt 
es nicht auch „Taum denkbar“, daß ein Abgeordneter bei ſolchem Arbeitpenſum im Haupt⸗ 
beruf feinen Waͤhlern gegenüber feine Pflicht thun konnte? Die Antwort ift einfach ges 
nung: weil ed eben ging; weil Die geiftige Kapazität bes Mannes groß genug war, um 
biejen mannichfachen Aufgaben gerecht zu werben. Und das Selbe trifft für den hier be⸗ 
ſprochenen Fall zu. Denn wie alle anderen Berufe, fo verfügen, Bott ſei Dank, auch Handel 
und Induftrieüber genialeundüberragend begabte Männer, die [ehr wohl in derLage find, 
fünfzehn und mehr Aufſichtrathsmandate auszufüllen ; und Die Mehrzahl der in ben Artis 
tel angeführten Namen gehört dazu. Der Berfafler hätte, um feine Behauptungen zu be 
gründen,nachweifen müffen,baßgerade in den Geſellſchaften, denen biefünfzigangeführten 
DMännerangebören, ih grobe Mißftände ergeben haben, und ferner, daß dieſe Mißftände 
entftandenfind, weildieMitglieder des Aufſichtraths in Folge non UeberlaftungibrePflicht 
nicht erfüllt haben. Der Berfaffer hat dieſen Beweis gar nicht verfucht und er wäre ihm 
auch mißlungen. Im Allgemeinen find unjere Altiengefellichaften durchaus ſolid aufe 
gebaut und organifizt, und wenn bei ben 5700 beftehenden Aftiengejellichaften fich Hier 
und da und Mißftände ergeben, jo ift Das nicht zu vermeiden und der Prozentſatz der 
Unfälle muß als niebrig bezeichnet werben. Gerade die Geſellſchaften aber, in denen die, 
fo zu fagen, an den Tageblattpranger geftellten Großindufiriellen und Bankdirektoren 
als Aufſichtrathsmitglieder fungiren, gehören der Mehrzahl nad} zu ben beften Unter» 
nehmungen, auf bie wir ſtolz fein dürfen. Dem Kundigen tft auch durchaus verftändlich, 
weshalb die Aufjichtrathäftellen kumulirt werben müflen und wie bie Aufgabe fich bes 
wältigen läßt. ch jehe davon ab, daß gerade die namhaft gemachten Perfönlichkeiten 
meift viele Hilfskräfte befigen, die ihnen das Material vorarbeiten und alles Mechanifche 
abnehmen. Wefentlicher ift, baß dieſe Herren Durch Die große Zahl der Stellen geradezu 
Spesialiften auf diefen Gebieten werben und deshalb mit einem Blid mehr jehen als der 
ferner Stehende nach langem Studium und daß fiedeshalb überaus ſchnell arbeiten. Ge⸗ 
wöhnlich Haben bie Herren ferner das Geſchäft, das zur Gründung der Geſellſchaft führ- 
te, ab ovo bearbeitet, fämmtliche Verhandlungen mitgemacht, die Sründungsgejchäfte 
geleitet, den Brofpelt entworfen und fo weiter. Deshalb find fie ftet8 jo „im Bilde“, Daß 
meift fchon die bei gut geleiteten ®ejellichoften regelmäßig hergeftellten Monaisbilanzen 
ihnen die Möglichkeit geben, au fait zu bleiben. Sobald eine Ziffer nach der bisherigen 
Entwidelung bes Geſchäftes und im Vergleich zu anderen Bilanzen nicht recht ftimmen 
kann, Fällt e8 ihnen auf. Sofort werden dann Ermittelungen angeftellt und man geht ber 
Sache auf ben Grund. Daneben werden viertel» oder halbjährlich von eigenen Reviſoren 
Prüfungen vorgenommen und Berichte gemacht, die ben Auffichtraih auf dem Laufen» 
ben erhalten unb die in ben Sigungen neben den mündlichen Berichten als Grundlage 
dienen. Das Alles erfordert natürlich Arbeit; aber ein Fürftenberg, Gutmann, Klönne, 

wirna, Kimprewurd Mänrer ihres Echlogcs fir d biefer Arbeit gewachſen. Freilich 





Drei Briefe. 39 


if} ber Beruf des Bankdirektors nicht fo einfach, wie er in ben modernen Romanen er» 
ſcheint, wo ber Herr Ehef vormittags ein paar Stündchen im Bureau veriveilt, „feine 
internen Kenntniffe zu Kursgewinnen ausnfgt” nach ber Börfe gut frühftädt, bann feine 
Maitreſſe Hefucht,abenbs aufeinemDinerAuftern und Sekt ſchlemmi und rieſige Importen 
raucht. Der BVankdirektor von heute kennt keine achtſtundige Arbeitzeit. Er iſt von halb Neun 
morgens (nach einer Fruhſtũcks pauſe) bis ſieben Uhr abends angeſtrengt thätig; und auch 
dann kann er ſichnicht täglich derFamilie oder der Geſelligkeit widmen. Ich weißwenigſtens 
von vielen ber vorhin genannten Herren, daß fie alljährlich mehr als Hundert Nächte im 
Schlafwagen und in Hotels verbringen. Die Männer, die ſolche Anftrengungen ertragen, 
konnen natürlich auch ein entſprechendes Aequivalent beanſpruchen; benn auchhierregelt 
fich Die Bezahlung nach Angebot und Nachfrage. Marche Großbanken würbengern große 
Summen hergeben, um leitende Direktoren zu erhalten. Aber Die Zahl ber geeigneten 
Männerifichrgering. Deshalb find ſchließlich immer bie Selben bei den wirklich großen 
Finanztransaltionen beiheiligt. Wenn der Geſetzgeber bie jo oft verlangte Einſchraͤnkung 
verfügte, wären die Großbanken gendthigt, Strohmänner in die Auffichträthe zu jegen; 
und diejer Zuftand würbe mit ber Zeit unhaltbar werden. In jebem Aufſichtrath pflegen 
berichiebene Intereſſengruppen vertreten zu fein; die Vorbeſitzer, Die Banfgruppen oder 
fonft betheiligte Berfonen und Geſellſchaften. Schidt eine Bankeine untergeordnete Ber: 
ſonlichkeit in den Aufſichtrath, während die anderen Gruppen durch ftarke Köpfe ver» 
treten find, dann leiden ihre Intereflen. Der Strohmann, der jchon intelleftuell und 
Dialeftifch meift feinen Gegnern nicht gewachfen fein wird, hat eine gebunbene Marſch⸗ 
zoute. In ben Sigungen wird die Diskuſſion fich aber jehr oft nicht fireng an die Tages» 
orbiraung halten: und dann kann derStrohmann feine Erklaͤrungen abgeben. DieSigungen 
müffen aljo vertagt werben, Mifverftändnifie entftehen und die Zuftände werden nach 
und nach unerträglich. Diefes Moment aber wird bewirken, daß die Großbanken von 
manchem Gejchäft lieber abjehen werben. Durch die geforderte Maßregel würben alfo 
der Induſtrie bat Kapital und die Mitwirkung der bebeutendften Autoritäten entzogen. 
Das ergäbe keine Förberung, [ondern eine Schädigung des Aftienweiens. Wo will bex 
Tageblatimann denn die Grenze ziehen? Der Eine ift nicht im Stande, zwei Aufſicht⸗ 
rathſtellen auszufüllen; dex Andere kanns auf dreißig verichiedenen Poſten. Da müßte 
alfo ganz willfürlich verfahren werben. Natürlich bin ich mir nicht im Unflaren barüber, 
daß die Forderung populär ift. Die Menge beneidet eben die Aufſichtrathsmitglieder 
um ihre Tantiemen; diefes Gefühl hat ja auch bie Tantiemenfteuex ermöglicht, die ſinn⸗ 
Iofefte und ungerechtefte aller beitehenden Steuern. Was würden wohl bie Berliner jagen, 
wenn bie Stadt Berlin, ſobald fie in Finanznöthen wäre, beichließen könnte und wollte, 
daß die Bewohner einer beliebigen Straße, meinetivegen einer [olhen, wo nur Wohl« 
habende wohnen, von ihrem Einfommen 8 Prozent als Ertrafteuer zahlen? Etwas An⸗ 
bexes ift die Tantiemefteuer auch nicht. Die große Menge weiß eben nicht, daß die Tan 
tiemen nicht immer mühelos erworben werden. Natürlich giebt es auch Aufſichtraths⸗ 
mitglieder, die nicht an ber Arbeit mitwirfen. Auch fie find meiftabernöthig. Es ift wie 
in den Barlamenten. Auch da leiften Einzelne die Arbeit, während bie Anderen das 
Machtverhältniß der Parteien lediglich durch Abftimmung zum Ausdrud bringen. So 
iſts vielfach auch im Auffichtrath. Wenn die Familie des VBorbefiterseines in eine Aftien- 
form umgeftalteten Unternehmens fich, nach dem Umfang ihres Altienbefiges, von fünf 
Stellen drei vorbebält, fo nimmt fie, faute de mieurx, auch einen der Sache fern ſtehen⸗ 
ben, aber zuverläffigen Freund oder Verwandten mit hinein; um jo lieber, wenn ex 
einen fchönen Titel ober eine hohe Stellung dat. Gerade die erwähnten fünfzig Herren 


40 Die Zufunft. 


aber verdienen ihre Tantiemen gewiß nicht mühelos, und wenn Die Arbeitzeit, bie fie oft 
der einzelnen Sache wibmen, audy nicht ſehr lang ift, fo nüten fie oft Durch einen Rath, 
Durch eine Direktive mehr als der ſorgſame Reviſor, ber Monate lang die Bücher prüft. 

Deshalb ſoll man endlich mit dem Gefchrei über die Häufung der Auffichtraths⸗ 
manbate in einzelnen Hänben aufhören. Wenn unjer Altienrecht einer Reform bebarf, 
fo giebt e8 dafür wichtigere Fragen. Im Allgemeinen kann man aber wohl behaupten, 
ba felten ein Geſetz fich jo bewährt hat wie das Aktiengeſetz. Es hat wejentlich zur 
Birtbichaftgröße Deutichlands beigetzagen und wir lönnennurmwünfdgen, daß es feinen 
fegensreichen Einfluß weiter geltend macht, ohne von ben Feinden des Kapitals und der 
Intelligenz in unkluger, Das Wefentliche verfennenber Weije „verbeilert” zu werden. 

* s 


Ein Brief aus Kroatien, der fich gegen ben von bem ungariichen Abgeorbneten 
Zulian Weiß neulich hier über die Rattonalitätenfrage veröffentlichten Artikel wendet: 

Sie werben mir in Ihrer bekannten Freiſinnigkeit, hochgefchägter Herr Harben, 
hoffe ich, geflatten, einige Womente aus dem Verhältniß Ungarns zu Kroatien zu er- 
wähnen, Damitdie jegigen Streitigkeiten, bie [don über hundert Jahrelang dauern, viel» 
leicht Manchen zu der Erkenntniß bringen, daß Alles, was von ungarifcherSeite behauptet 
wird, doch nicht auf feften Erafteinen ruht. In neuſter Beit find öfters Stimmen zu hören, 
bie uus einzeden wollen, daß nur Bdfewichte gegen das zahme, bie Freiheit liebenbe Un⸗ 
garn wilthen. Iſts wirklich jo? Rein. Im Magyarenſtaat ift Bieles faul und Die ungarie 
fen Machthaber find nicht die Lämmlein, für die fie fi) ausgeben. Barum fträubt man 
fi im „Lande der Freiheit” gegen ein wirklich allgemeines und gleiches Wahlrecht? Bei 
ung in Kroatien find alle Barteien Darüber einig, baß das gleiche, allgemeine, geheime 
Wahlrecht eine Erlöfung wäre; wir haben den ganzen Landtag, ohne eine disſentirende 
Stimme, für dieſes Verlangen ber Nation. Die ungariſche Regirung, bie durch den von 
ihr ernannten Banus den größten Einfluß in Kroatien ausübt, läßt aber ſchon anbert- 
bald Jahre nicht zu, daß unſer Barlament tage und freifinnige und bie Verfaſſung ſtaͤr⸗ 
ende Geſetze beichließt. Dieſe Freunde der Freiheit bulden auch nicht, daß ein vom Lande 
tage angenommenes, vom König mit der Vorſanktion verfehenes Gejeg über die Selb» 
ftändigfeit der Richter in Kroatien in Kraft tritt. Die Borlage wurde im März 1907 an⸗ 
genommen; warum haben bie Minifter der die Freiheit jo heiß liebenden Ration bis heute 
die Sanktionirung der Vorlage verhindert? Weiter. Nach ben Gefegen ift jede Regirung 
verpflichtet, fich ein Budget für das kommende Jahr votiren zu laſſen. In Kroatien regirt 
man unter der yirma der Berfafiung, diethatfächlich aberfeit einem Jahr nicht mehrgilt: 
Denn die ungarifcheftegirung läßt dasBolknicht mehr zum Wort kommen. In Ungarn giebt 
e8 viele mächtige Herzen, denen der Hinweis auf das Beſtehen ber Geſetze genägt; ob die 
Geſetze im modernen Sinn oder nach ihrem Buchftaben ausgeführt oder ungerecht ange» 
wenbet werden: darum kümmert fihNiemand,. Schon wird uns Kroaten ja offen gedroht: 
wenn wir fortführen, Die Wahrheit frei zu jagen (mas die Magyaren, Aufhetzen“ nennen) 
müfle „imböheren Staatsinterefje* Die Autonomie Keroatiens für eine Weile aufgehoben 
werben. So lieben diefe Ungarn die Freiheit. Kroatienfämpft um Menichenrechte, Tämpft, 
um leben zufönnen ; die Ungarn ſagen bagegen: Das höhere Staatsintereſſe erheiſcht, daß 
das arme Land noch mehr ausgefogen werde. Die Krönungdiplome und alle Gefege gelten 
ihnen nur als Bapierfegen. Wenn'man einem Bolt, das fich in ſeinen Grenzen entwideln 
möchte, ohne Anderen zu ſchaden, eine fremde Sprache aufdbrängen will, fträubtesfich na» 
türlich gegenjolde@ewaltthat. Dann jagen die Ungarn: Ihr feib Rebellen, wollt ben Staat 
vernichten und müßt mit Härtefter Hand ins Joch gezwungen werben. Wirdürfenaber ver- 


Drei Briefe. 41 


langen, daß unſere alten, verbrieften Rechte geachtet werden. Geſchieht Das nicht, dann 
ditrrfen bie Ungarn ſich nicht mit ihrer Freiheitliebe brüſten und ſich nicht wundern, wenn 
die Rationalitäten, denen Rechtsgarantien, wie wir Kroaten fie haben, fehlen, über ben 
ungariichen Staat und deffen Verhalten gegen Minoritäten laut lagen. 
Dr. &iuro Surmin, 
Mitglied des Krontifchen Landtages und 
bes gemeinfamen Ungariichen Reichstages. 
| * F m 

Der Brief eines Lehrers: 

Ueber die Schuljeindlichkeit der Jugend unjerer Tage find ſchon Ströme von 
Tinte verſchrieben worden. „Mehr Freude an derSchule” : Das iftber allgemeineWunſch; 
mit Hecht fixebt man nad) einer freundlichen Geftaltung des Unterrichtstones, einem 
freundlichen Berbälmiß zwiſchen Lehrer und Schüler. Doc darf man nicht vergeflen, 
Daß noch fo humane Erziehungsgrunbfäge die in ber menfchlichen Natur liegende Ab» 
neigung gegen jeben Zwang in bem heranwachſenden Geſchlecht nicht bejeitigen können. 
Mit diejem Widerftand, diefem Auflehnungdrang wird immer zu rechnen fein. Jetzt ift 
man oft gegen DieSchule ungerecht Sie bedarf ber Berbefjerung, ift aber nicht an allen 
Unvolllommenbeiten unſeres Lebens ſchuld. Schließlich bleibts ja immer an ben Lehrern 
hängen. Das Publikum kennt keinen anderen Schuldigen und Die Schulverwaltung er» 
läßt ober erneuert ihregedrudten „einfchlägigen“ Verfügungen an bie „nachgeordneten“ 
Drgane und ſpricht falbungvoll: „Salvavianimam meam“. Damit tft der Sache aber 
nicht gedient. Das Kapitel der fchriftlichen Urbeiten ift wichtig. Wie ein Alb Laften fie 
auf ber Jugend, dem Elternhaus und ben Lehrern; beionders läſtig ift Die bureaukra⸗ 
tifche Form, wie fie von der Schulbeh srde angeorbnei wird. Eine 5 unter dem Extem⸗ 
porale jegt eine ganze Familie in Schreden. Und ber Lehrer? Wer Woche vor Woche, 
ein Menſchenleben lang, Hundertfünfzig Hefte burchzufehen und zu korrigiren hat, fennt 
beinahe ſchon bie ®räuel der dantiſchen Hölle. Die Zahl der ſchriftlichen Arbeiten könnte 
verringert werben. Und was [eiftet auf dieſem &:biete der bureaukratiſche Geiſt! Da 
fiehts ander aus als in den Autifein und Reben optimiftifcher Schulauflichtbeamten. 
Richt etwa, wenn ein beſonderes Kapitel durchgenommen und innerlich verarbeitet ift, 
fol der unterrichtende Lehrer eine ſchriftliche Arbeit anfertigen laſſen, nein: alle acht (in 
einzelnen Fuͤchern alle vierzehn) Tage. Zu Beginn jedes Schulfemefters werden in allen 
Klaffen Terminkalender angelegt, die ber Direktor, oft auch noch dex Schulrath revidirt 
und die im Voraus beftimmen, an welchem Tag bes Semeſters bie [chriftlichen Arbeiten 
zu liefern find. Morgen dec Aufſatz Nr. 5, in brei Monaten die lateinifche Arbeit Wr. 18. 
Stellt der zenidirende Schufrath dann einmal feft, daß eine Klaſſe ſchon bei Nr. 28, bie 
andere erſt bei 27 angelangt ift, fo monirt er mit rauher Rüge das unverzeihliche Ber» 
gehen. Und da reden Minifterialverfügungen von Bemwegungfreiheit! Obs die giebt, 
mag der Kundige beurtheilen. Sogar in ben ſtorrekturzeichen wirb volle Gleichheit bis 
ins Einzelne verlangt. Ein ganzes Syflem finnreicher Zeichen wird dem Lehrer zur 
Pflicht gemacht. Eden fo iſts beider Rebiſion der Hefte. Die bureaukratiſchen Borfchriften 
gehen bier bis „zur leichtlößlihen Schnur“ (ipsissima verba), mit denen' der Lehrer 
feinen Bad Hefte zufammengebunben abzuliefern hat. In dem felben Geift ift dann bie 
eigentliche Reviſion gehalten. Sie hält vor, daß Urbeit Nr. 5 in jech8, Arbeit Nr. 17 nur 
in drei von dreißig Faͤllen mit 5 cenſirt worden, bei Arbeit Nr. 22 eine Schriftrüge ver« 
geflen ift; und Der Oberlehrer N. Hat bei ber Berbeflerung von Arbeit Nr. 13 gar, einen 
Fehler überſehen! In dieſem Sinn wird vielfach (nicht Überall) Kritikſgeübt. Muß dieſer 


43 Die Zukunſt. 


bureaufratifche Betrieb nicht nach und nad auf den Lehrer abfärbın? Und büßen muß. 
es zuleßt der Schiller. Man verringere die Zahl der fchriftlichen Arbeiten und Aberlaffe 
bem Berantwortlichfeitgefühl des Lehrers, frei zu entfcheiden, monn und wie oft ex 
ſolche Arbeiten fir nöthig Hält. Vie lleicht wird Dann einmal aus der Schule für Lehrer 
und Schiller „das Reich, wo Jeder ftolz gehorcht, wo Jeder fich nur felbft zu dienen 
glaubt, weil ihm das Rechte nur befoblen wird.“ 

Ob auch im Schulbetrieb der Pureaufratismus Unheil wirkt ift von außen ſchwer 
zu beurtheilen; fcheint aber glaublich. Daß von den häuslichen Arbeiten eins der ſchlimm⸗ 
Ren Schulfapitel handelt, fieht Jeder, dem des Vlicdes Schärfe nicht von ermüdender Ge 
wohnheit geftumpft ward. Alle leiden darunter: Schiller, Eltern, Lehrer, Auflichtbeamte. 
Dem Kind wird der ganze Tag verbüftert; ber Spieltrieb getrübt, beffen frohes Walten 
im Licht ber Gejundheit Ermachfenber doch unentbehrlich ift Tie Schönfchreibarbeit tft 
noch nicht gemacht, ber Aufſatz noch nicht ing Reine gefchrieben; und die Bofabeln, Die 
Daten aus Geographie und Geſchichte! Unmöglich, mit unbewölfiem Hirn fich zu tum⸗ 
meln. Ewige Sorge im Elternhaus. „Habt Ihr auch Alles fertig? Seid Ihr fürs Fran⸗ 
zöſiſche fo präparirt, daß ber firenge Herr Ordinarius nicht wieder Grund zum Tabel 
findet ?” Wenn Bater oder Mutter diefen Angftfragen nicht einen beträchtlichen Theil 
ihrer Beit widmet, giebt8 immer wieber Anftoß. Und der Lehrer, dem nichts fo röthig 
ift wie innere Fröhlichkeit, wird durch die ftete Korrelturform verärgert; Iernt ben Bes 
zuf allmählich hafſen, der ohne geduldige Liebe nicht zu tragen noch gar nültzlich zu üben 
ift. Muß esimmerjobleiben? Nein Acht, zehn, zwölf Jahre fipen wir in ber Schule. Und 
was lernen wir in diefer langen Beit? Schaut zurüd: und Beantwortet felbft Euch dann 
Die Frage, ob die im Schulhaus verbrachte Zeit nicht ausreichen mußte, um Die Hirne 
mit dieſem Lernſtoff zu filitern. Wenn man bie Erbolungpaufen riytig bemißt und ver« 
theilt, mag, ohne Schädigung des Schiullers, die Unterrichtädauer noch länger gebehnt 
werden. Dann aber müfjen Lehrer und Echüler mit dem Pflichtwert für diefen Tag fer⸗ 
tig fein; was fie danach flv ihres Geiftes Bildung noch ſhun wollen, muß ihre Private 
ſache bleiben. Und den Eltern darf keine Arbeittontrolpflicht aufgeblirdet werben. Zu 
wünfjchenjift auch, daß feinem Kind je zugemuthet werbe, an einem Tag zweimal in bie 
Schule zu gehen. Barum follen, wenns einen Schulzwed förderlich jcheint, Lehrer und 
Schüler nicht an manchem Tage gemeinjam eine kleine Mahlzeit nehmen ? Sie würdenein" 
ander beſſer kennen, menſchlicher jehen lernen: indenHeranwacdhfenden würde dasSozial⸗ 
gefühl geſtärkt unddie Entwöhnung von den kleinen Sitien(und Unſitten)des Hauſes früher 
und ſchmerzloſer bewirkt, als des Lebens Rauheit ſie zu erzwingen pflegt. Die Hauptſache 
aber ift: feine haͤuslichen Arbeiten. Bas die Schule erreichen will, muß (und kann) fie in 
ihrem Bezirkerreichen. Denkt Euch Lehrer die nachUnterrichtsſchluß ihrem Behagen leben, 
leſen, wandern, an Sport und Geſelligkeit ſich laben können und nie einen Pack korrigirter 
Hefte ins Schulhaus zu ſchleppen brauchen. Eltern, Die ſich ohne Sorge der heimlehrenden 
Rinder freuen dürfen und fie nicht gleicy nach der Mahlzeit an die Arbeit treiben müſſen. 
Schüler, die wiffen, daß vom Ende ber legtenlinterrichtöftunde an der Tag ihnen gehört, 
von feinem Schatten verdunkelt wird. Würdenicht Ulles beffer gehen? Freudigkeit indte 
Gemüthereinziehen ? Die Tagesleiftung mit friiheren Sinnen begonnen werden? Ueber 
Schulreformen wardnie fo viel geredet umd gejchrieben wie jetzt; Kluges und Unkluges. 
Hierift einausführbarer Vorſchlag, der Beſſerung verfpricht. Bielleicht fagen ung Schüler» 
praftifer, wiefiefiber Die Moglichkeitunddie Wirkſambeit dieſes Reformverſuches denken. 








—* — —— ——— m ———— 
Heransgeber und veranmorticher her Redakteur: M. Barden in Berlin. — Verlag ber Zukunft in Berlin. 
Trud von G. Bernftein in Berlim. 





“ Berlin, den 10. Aktober 1908. 


— IS m 





Die Erben von Byzanz. 


or achthundertneunzig Jahren ritt Baflleios der Zweite, der Sohn des 

Romanos und der ſchönen Schankwirthstochter Theophano, durch das 
Goldene Thor in die Hauptftadt ded Dftrömerreiches. Ein funfelnder, glige 
ernder Geis. Die Füße in Goldfandalen, goldene Binden um den Leib, das 
Kreuzſzepter in der zügelnden Hand, in der linken die purpurne Afafia und 
auf dem grauen Haupt die von Prunffedern überwehte Krone. Bor dem Rob 
des Triumphators ſchritten Gefangene: die Töchter ded Bulgarenzaren Sa- 
muel, die Zarin Maria und viele Edle, die Oſtroms Schwert entwaffnet und 
in Ketten gezwungen hatte. Bafileiodfam vom Barthenon; hattevorder Rüd- 
fehr in feine Refidenz der Mutter Gottes Dank und Weihgaben dargebracht 
und durfte jelbft von den ihm Unterthanen nun Dank heijchen. Der wardihm 
in überreichlicher Hülle. Nie hat dad Volk von Byzanz lauter gejauchzt; nie 
aud) war zum Jubel mehr Grund als beim Einzug des Bafileios Bulgarof- 
tonod. Der hatte nicht nur die Bulgaren gemeßelt: hatte den Bulgarenftaat 
getötet, aus der Reihe jelbftändiger Gemeinweſen getilgt und das Reich da« 
mit von dernädhften Gefahr befreit. „Heil dem Bulgarentöter!“ Diejer Dank 
war verdient. Faſt vierhundert Fahre lang hatte der ural-altaiſche Schreden 
Hof und Volf von Byzanz geängftet. Schon unter Herafleios (dem Bafileus 
der exallalio sanelae eruei⸗, deffen Andenken die Kirchen derRömerundder 
Griechen an jedem vierzehnten Septembertag feiern); alödiejen großen Feld» 
heran und Organijator außer Perſern, Avaren und Slaven auch die von der 
Wolga an die Unſerdonau gemanderten Finen hunniſcher Herkunft bedrohten, 
vor deren Anſturm Beliſars ſtarkes Schwert fünfundſiebenzig Jahre vor— 
her die Stadt Konſtantins geſchützt hatte, ſchloß er mit ihrem Häuptling, 

4 


44 Die Zukunft. 


dem Bulgarenkhan Kumwrat, einen Vertrag, der den Dftrömern aus einem 
Feind einen Bundeögenofjen zum Kampf gegen die Avaren wandeln jollte. 
Kuwrat blieb treu und wurde von dem dankbaren Kaijer in den byzantinis 
ſchen Batriziat aufgenommen. Doch fein Sohn Ziperich wollte fich nicht in 
die läftige Feſſel ſolchen Vertrages bequemen und wandte fid) mit rafch zu: 
jammengeballter Macht gegen den vierten Konftantin (Pogonatos), der als 
Erfter den ganzen Umfang der neuen Gefahr erkennen lernte. Auf Oſtroms 
Boden eine ugro-finifche Horde, die aus der Tiefebene Sarmatiend weitwärts 
gewandert und aus dem Winkel zwijchen Donau, Dnijeftr und Schwarzen 
Meer in die Haemusprovinz Moefien vorgedrungen war. Der Kailer, der 
eben erſt arabifche, ſlaviſche, avariſche Angriffe abgewehrt hat, eilt mit allen 
für den Krieg zu Land und zu Waſſer freien Truppen herbei, vermag wider 
den Beind an der unteren Donau aber nichtd auözurichten. Ums Fahr 680 
gründet Iſperich fein Balfanreich; den erften Bulgarenftaat und zugleich das 
erite große Gemeinweſen jlavijcher Zunge. Denn die Hordenjprofjen unters 
jochen die Slavenſtämme der Nachbarſchaft jchnell, verjchmelzen fich den Be- 
fiegten, nehmen deren Sprache an und lafjen die Herren von Byzanz ahnen, 
daß nichtnurvon Aliens Tiefe her die Vernichtung dräut. Slavenftammiplitter 
fonnte der Reichsleib mühelos ausftoßen ;hier aber hattedie für das politifche 
Geſchäftungemein begabte Herrenfaftederineneine@taatseinheitgeichaffen, 
auf die auch der Tapfere nicht ohne Bangniß bliden durfte. Schlimme Er- 
fahrung hats die Erben des Herafleio und die ſyriſchen Kaiſer Oſtroms em⸗ 
pfindengelehrt. Zuftinian der Zweite (deffen Pſychoſe ſich früh in verftiegenem 
Herricherwahn, in der ſchroffen Entlaffung bewährter Minifter, in krankhafter 
Retriebjamfeit und geſchmackloſer Baumuth offenbarte und der, während er 
Alles allein zu machen glaubte, von unfauberen Hofmädjlern am Schnürchen 
gelenft wurde) ift, nach kurzem Waffenglüd, von den Bulgaren gejchlagen, 
dann aus dem Exil, in dad der Volkszorn den von der jchimpflichen Strafe 
des Naſenverluſtes Entehrten gejchidt hatte, von Iſperichs Nachfolger Tervel 
mit einem fino=|lavilchen Heer auf den Thron zurüdgeführt worden. Dasthat 
Tervel gewiß nicht des Lohnes und des Titels wegen, den derKaiſer ihm jpendete; 
thats, um das Reich zu ſchwächen, das unter dem Szepter eines Irren nicht ge⸗ 
deihen konnte. Kaum war Juſtinian getötet und Philippikos gekrönt: da dran⸗ 
gen die Bulgaren wieder mit Feuer und Schwert bis ans Thor von Byzanz. 
Der fünfte Konſtantin (Kopronymos) mußte achtmal gegen ſie ins Feld ziehen 
und hat fie ſchließlich nur für wenige Fahre geſchwächt. Nikephoros verwendet 
zweimal zwölf Monate an die Rüſtung zum Vernichtungäfrieg ; wird in der 


Die Erben von Byzanz. - 45 


Hauptichlacht aber von dem Bulgarenfhan Krum beflegt, der feine Macht 
nun über Thrafien und Makedonien hin dehnt, Adrianopel :cobert und By- 
zang belagert. Sein Tod reitet Oftrom aus Lebensgefahr. Sein Erbe Omortag 
wird bei Mejembria von Leon dem Fünften geſchlagen und muß einen Frie⸗ 
den ſchließen, der dae leicht erhitzte Hunnenblut fitc dreißig Fahre zu gehor- 
ſamer Ruhe verpflichtet. Die Kaiſer ſyriſcher Abkunft haben von ihm nicht 
mehr zu leiden. Erleben nurnod, daß Klemens, ein Schüler des Slaven⸗ 
apvfteld Methodios, den Khan Boris (der jeitdem Michael heißt) tauft und 
in dem dhriftianifirten Bulgarenreich der erfte Bilchof wird. Erft die Arme» 
nierdynaftie muß fi) wieder zum Kampf gegen den Feind im Norden be» 
reiten. Symeon, Michaels Sohn, will nicht Tänger dulden, daß fein Reich 
vor einem Häuflein byzantinifcher Großhändler auögebeutet werde. Fried» 
liye Berhandlung erwirkt nichts und das bedrängte Byzanz verbündet ſich 
den Magyaren, die in Bulgarien einbrechen, alles Erreichbare rauben, auf 
dem Rückweg aber von Symeon gezüdjtigt werden. Einem ftarfen Regenten, 
der die ſchwerſte Kunft gelernt hat: warten zu können. Bei Bulgarophygos 
ſchlãgt er die Griechen aufs Haupt; überfällt in Beſſarabien die Wohnſtätten 
der Magyaren; drängt im Weſten bis an die Adria vor; und nennt ſich fort⸗ 
an den Zaren der Bulgaren und Selbſtherrſcher der Romäer. Ein ſtolzer 
Titel; doch dahinter ſteht auch eine beträchtliche Macht. Thrakien, Make⸗ 
donien, Theſſalien, Epirus, Albanien, diesſeits und jenſeits von der Donau 
anſehnliche Gebiete: dies Alles war dem Zaren Symeon unterthan. Von den 
Serben empfing er Tribut, von dem ſchwachen Oſtrömerkaiſer Konſtantin 
Porphyrogennetos Beiträge zu den Staatskoſten. Und der Metropolit der 
Refidenzftadt Prejlan wurde in den Mang des Patriarchen erhoben, dem 
Griechenpapft in Konitantinopel aljo foordinirt. Die ftaatliche und die firch- 
liche Selbftändigfeit wargefichert; fürdas fino⸗ſlaviſche Erobererreich der Tag 
hellften Glanzeö gefommen. Ein Tag der verdämmern mußte. Die Bona» 
partes vergefjen, im Mahn ihrer Gottähnlichkeit, ſtets, dab auch ihrer Lenden 
Frucht ein Schwächling fein kann; drum währt ihrer Reiche Herrlichkeit nie- 
mals lange. Symeons Sohn Peter muß froh fein, ald Byzanz, dad Serben 
und Kroaten gegen ihn gehebt hat, nach makedoniſchen Schlappen ihm einen 
glimpflichen Frieden und die Hand der Kaijerenfelin Maria gewährt. Der 
Patriarchat wird anerfannt (damit Bulgarien fi nicht etwa der Römerfirche 
des Weſtens zuende); und für politifche Folgſamkeit ſorgt die Byzantinerin 
auf dem Zarenthron. Nifephoros Phokas will dem Reich Symeons den Todes⸗ 


ftoß geben, verbündet fid) drum dem Mosfowiterfhan Swjutojlam, wird von 
4* 


46 Die Zukunft. 


deſſen allzu raſchem Erfolg aber jo geſchreckt, daß er haſtig eine Verſtändi⸗ 
gung mitden Bulgaren erwirktund die Patzinaken zu einem Einfall anſtiftet, 
derdie Ruſſen nach Kiew zurückſcheucht. Doch Swjatoſlaw kehrt wieder, ſchlägt 
die Bulgaren, macht den Zaren zum Gefangenen und will im Sturmjchritt nach 
Philippopel. Eine neue Gefahr für Byzanz; einenochgrößere. Der Armenier Zi⸗ 
miſkes, der auf Theophanos Winkim Ehegemach den alternden Nikephoros ge⸗ 
tötet und von ihm, als Neffe und beſter General des Reiches, die Krone geerbt 
hat, fühlt, daß es ums Leben geht, und überfchreitet, da in Güte von dem wilden 
Ruſſen nichts zu erlangen iſt, mit ſeinem Heer in Geſchwindmärſchen die Hä⸗ 
muspäffe. Swjatoſlaw muß, nach zäher Gegenwehr, vor der römiſchen Kriegs⸗ 
kunſt kapituliren, der Zar wird aus der Gefangenſchaft befreit und Bulgarien 
jauchzt dem Bafileus⸗Retter zu. Mit dem erſten Athemzug des aus ſchwerer 
Roth Erlöften. Schnell folgt die Enttäuſchung. Zimiſkes macht Oſtbulgarien 
und Rordthrakien zu Provinzen des Dftrömerreiches, das die Donau ald Grenze 
braucht, erzwingt das Ende der Eirchlichen Autonomie und geftattet dem ent⸗ 
frönten, aus der Burpurhülle gejchälten Zaren Boris dem Zweiten nur, als 
ein ohnmächtiger Magiſtros weiterzuleben. Einen fino⸗ſlaviſchen Selbftherr- 
icher der Romäer gab ed nicht mehr; und die Kraft ded in Mafedonien und 
Albanien noch erhaltenen weitbulgariichen Zarthums jchien nicht ernftlich zu 
fürdten. Schien. Ald Zimiffes geftorben war und General Bardad Skleros 
zur Rebellion gerufen hatte, wagte Weftbulgarien den Aufitand. Zar Sa- 
muel zieht von feiner Hauptſtadt Ochrida nah Theffalonife; holt aus Lariſſa 
die Gebeine ded Bekenners Achilleus; jet in Thrakien, in Hellas jelbft jeine 
Herrichaft dur; und jcheint außerwählt, dad Reich Symeons zu erneuen. 
Schon tft bei Sofia das Byzantinerheer zeriprengt, Dyrradjion und der 
Küftenftric) an derAdria dem Zarthum einverleibt und den Serben das Joch 
aufgezwungen. Doch Bafileiosift entichloffen, an diefen Kampf Alles zu ſetzen. 
Dreimal muß er weichen; und fehrt immer mit neuem Muth wieder. Er 
ichlägt die bulgarijche Armee in Splitter, läßt fünfzehntaufend Gefangenen 
die Augen ausſtechen, die nicht mit der Waffe in der Hand gefundenen Bewoh⸗ 
ner ded Landes bis nach Armenien jchleppen und fänftigt den Grimm erft, 
als, nad) Dem Tode der Zaren Samuel, Radomir und Wladijlam, die ſtärkſte 
Bulgarenpartei, der Grundadel, demüthig um Gnadefleht. SnOchrida findet 
er hundert Gentner Goldes, Haufen foftbarer Gewänder und die mit Berlen 
gezierte Krone Samueld. Seitdem heißt er Bafileios Bulgaroftonod und ift 
derHeldderNtation. Er hatden Bulgarenftaat ind Herz getroffen und Oftrom 
von dem faſt vier Jahrhunderte lang fortwirfenden Schreden befreit. 





Die Erben von Byzanz. 47 


Unter dem zweiten Bafileios, jagt derphilhelleniſche Hiftorifer George 
Finlay, hat Byzanz den Machtgipfel erreicht. „Auf langer Siegerbahn ließ 
er jeine Adler hin und her jchweben; von der Donaubisan den Euphrat, vom 
armeniſchen Bergland bis an Staliend Küfte. Sein unſchreckbarer Muth, feine 
unerbittlic graufome Wejenshärte, Aberglaube jogar und amufilcher Sinn: 
Alles vereinte fich, um aus ihm den Typus feiner Zeit und feines Reiches zu 
machen. Sein Ziel war: die völlige Einheit des Byzantinerreiched in Eu⸗ 
ropa. Die war nur möglich, wenn Bulgaren und Slaven niedergeworfen 
waren. Sprachenverwandtichaft hatte dieje beiden Feinde Oſtroms zu einer 
Nation verſchmolzen; und jo ange man fie frei athmen ließ, mußte gemein- 
famer Haß fie zum Vorſtoß gegen die kaiſerliche Regirung zufammentitten.“ 
Wenn diefer Kitt aus den Zugen geriffen, der Blod wieder zeibrödelt war, 
durfte der Sieger fich mild zeigen. Diußte; um vor dem Erdreiften Verzwei⸗ 
felnder ficher zu jein. Der harte Bafileios hats erfannt; und danach gehan⸗ 
delt. Die politifche und die kirchliche Verfaſſung des Landes nicht angetaftet; 
Wehr: und Steuerpflicht nicht geändert; die Privilegien des Hochadels be- 
ftätigt; und die Machtiphäre der jelbftändigen Kirche von Dchrida erweitert, 
ftatt fie zu verengen. Warum nicht? Die Zareniprofjen mochten fichs in Kon⸗ 
ſtantinopel wohl fein laffen, die beiten Bulgarenfamilienmitihrem Krieger- 
blut den byzantiniſchen Reichsadel auffriichen. Das konnte dem römijchen 
Oſten und der Armenierdynaftie nur nügen. Sienicht mehrgefährden. Denn 
Byzanz war, anlimfang und Preftige, wieder, was es in der Zeit Juſtinians 
des Erften geweſen war, und braudjte vom Haemus her nichtö zu fürchten: 

Saft zweihundert Jahre jpäter, im Herbſt Oftroms, fam es noch einmal 
zu offenem Konflikt. Iſaak Angelos, ein gewiſſenloſer Feigling, hat den Kom⸗ 
nenenthron geerbt und hauft, weil er fürfeinentäglichen Beitprunfungeheure 
Summen braudt, wie ein Hamfter im Reich. Auf der Balfanhalbinfel laftet 
der härtefte Drud. Nun wird auch noch eine Hochzeititeuereingetrieben. Denn 
Iſaak hat mit den Ungarn, die dem Andronikos das hellenifche Dalmatien ge« 
nommen haben, Scieden geſchloſſen und ſich der(zehnjährigen) Tochter ihres 
Königs vermählt. Wenn der Bafileus ein Jüngferchen aufs Lager zieht, mag 
das Volk bluten. Dem aber wird die Laſt zu ſchwer. Die Bulgarenwaffnen fidh. 
Peter und Joannes Afen, zwei Adelige, die fich der Abftammung von den alten 
Zaren rühmen, treten in Konftantinopel für die Volkswünſche ein; werden 
aber mit kaltem Hohn abgewiejen. Propheten jchleichen durch dad von Kräm- 
pfen geſchüttelte Hämusland und fünden, der Heilige Demetrios habe das von 
VenNormannen gejchändete Grab verlafjen und bereite den Bulgaren die Er— 


48 Die Zukunft. 


löjung aus Knechtſchaft und Fron. In Tirnowo, in der diefem Heiligen ger 
weihten Kirche, ſchwort das Volk den Führern Treue und ruft Joannes Ajen 
zum Zaren der Fulgaren und Griechen aus. Iſaaks Heer ift ftärker; doch der 
neue Zar verhundet fi) den Kumanen, Ichlägt Oſtroms jorglod übermüthi« 
gen Feldhecrn und ftellt, mit Feuer und Schwert, zwilchen dem Balfan und 
der Donau das unabhängige Bulgarenreich wieder ber. Das dritte Zarthum 
der Hunnenerben lebt auf; daslebte in der alten Welt. Zweimal, bei Berroea 
und, nad) dem Sieg über die Serben, bei Arfadiopolie, wird Iſaak von den 
vereinigten Bulgaren, Wlachen und Kumanen befiegt. Den Zaren mordetim 
Balaft ein vertrauter Höfling, den die Schwerter der Zarin mit ihrem Leibe 
belohnt. Auf Kalopetros, der nichtlangeregirt, folgt Kalojoannes, der aus dem 
päpftlichen Rom ſich eine Königäfrone verjchafft (gegen das leichtfertige Ver⸗ 
Iprechen dauernder Union mit Weſtrom krönt ihn der von Innozenz dem Drit: 
ten entfandteKardinal) widerdießriechen wũthet und ihnen einen demüthigen- 
den Frieden aufzwingt, den makedoniſchen Aufftand der Landsleute offen un: 
terftüßt und den Kaiſer Balduin indie Gefangenschaft jchleppt. Ermollte ver⸗ 
gelten, was Bafileios an den Bulgarengethan hatte, überbot den Bulgarofto> 
nodnod an Öraujamfeit undgab fich den Beinamen des Romäoktonos. Bald 
nad) dem Sieg bei Adrianopelifter, vorXheffalonife, geftorben. Die Lanze des 
Heiligen Demetrioß, [prachen aufathmend die Griechen, hat ihn getötet. Doch 
Joannes Ajen, derihm folgte, wurde zunicht Fleinerer Gefahr. Ein erniter, edler 
Fürft, der entſchloſſen war, des Nechtes Hüter zu jein, und fich mit Zug den 
tn Chrifto dem Himmelsfönig getreuen Selbftherricher der Bulgaren nennen 
durfte. Die in Byzanz herrichenden Lateiner wollen, im Bewußtjein ihrer 
Schwachheit, den Orthodoren zum Vormund Balduins ded Iweiten madjen. 
Zar Joannes ift bereit und erbietet fich, den Lateinern Thrafien zurückzuer⸗ 
obern. Ein in anderem Glauben Erwachſener als Verweſer des von franzöfie 
Ihen und venezianiſchen Prieftern überſchwemmten Reiches? Der Klerus 
bäumt fich gegen den Plan. Theodoros Dufas, der Kaiſer von Theffalonife, 
fündigt dem Zaren den Freundſchaftvertrag und bricht mit Franken und Grie⸗ 
chen in Thrafien ein. Bei Klofotnifa wird fein Heer vernichtet, er felbft ge⸗ 
fangen und der Haupttheil des Reiches der Angeli fallt den Bulgaren zu. „Ich, 
Joannnes Aſen, habe von Adrianopel bis nach Dyrrachion alleXändererobert: . 
der Griechen, der Albaneſen, der Serben. Nur die kaiſerliche Reſidenz und 
die S:ädte ringsum blieben den Franken. Doch auch fie unterwarfen ſich mei⸗ 
nem Arm, fannten neben mir feinen anderen Zaren und frifteten nach mei— 
nem Willen ihre Tage, wie Gott befohlen hatte. Denn ohne ihn iſt weder ein 
s 





Die Erben von Byzanz 49 


Werk noch auch nur ein Wort. Ihm ſei in Ewigkeit Ehre. Amen.” Dieje 
Süße ließ Joannes in den Stein der Kathedrale von Tirnowo graben. Er hat 
fi dann gegen die byzantiniichen Kateiner den Griechen verbündet; die Ko- 
alition ift aber gejhlagen und nad) kurzem Beſtand anfgelöft worden. Sein 
Nachfolger verlor Nordmakedonien und in Bulgarien jelbft wichtige Pläbe 
an den klugen und tapferen Batazed.1246. Fimfzehn Jahre danach zog Michael 
der Achte (Palaeologos) in die Stadt Konſtantins ein. Das lateiniſche Kaiſer⸗ 
thum des Oſtens war geweſen. Den Bulgaren, die in Makedonien heimlich 
wieder das Feuer geſchürt hatten, nahm der neue Herr Stenimachos, Philipp⸗ 
opel und die Seeſtädte Anchialos und Mejembria; fie konnten ihre Wuth nur 
an den armen Thrakern auslaſſen, deren Felder bald einer Wüſte glichen. Die 
Osmanenzeit naht. Der ſeit dem Sieg des Serbenkönigs Stephan Uros um 
Kraft und Selbſtvertrauen gekommene Bulgarenſtaat kann keinen wirkſamen 
Widerſtand leiften. Iwan Sisman, der Dritte des Namens und der letzie Zar 
von Tirnowo, muß ſich dem Sultan Murad unterwerfen. Der zerſtört auf 
dem Amſelfeld mit einem Streich die großſerbiſche Staatsmacht. Sein Sohn 
Bajezid macht aus dem Zarthum ein türliſches Paſchalik. In Tirnowo ge- 
bietet der Sultan. Konſtantinopel iſt ſein nächſtes Ziel. Nach langwierigen, 
blutigen Kämpfen erſt erreicht es ein Enkel Osmans. Im Frühlicht des dreißig⸗ 
ſten Maimorgens dringen 1453 die Janitſcharen Mohammeds des Zweiten 
in die Stadt, in der geſtern noch ein Konſtantin befahl. Ueber der Sophienkirche 
erglänzt der Halbmond. Der Traum von Bulgariens Freiheit iſt ausgeträumt. 
Am fünften Oktober 1908 hat ein Wefteuropäer mit feſter Hand nach 
der Zarenfrone gegriffen, die 1393 dem legten Sisman vom Haupt geriffen 
ward. Ein Koburger; ein Enkel des Bürgerkönigs Louis Philippe. Der weiß, 
was er wollen darf, und wählt zum Handeln jchlau feine Stunde. Stambu- 
low hat ihn dem Hohn Europend empfohlen; von ihmerzählt, der eitle Herr, 
der ald Sechsundzwanzigjähriger den Rod ded öfterreichijchen Lieutenants 
auszog, beichäftige fich im Bürftenpalaft nur damit, eine neue Königskrone 
zu zeichnen und vor dem Spiegel ſich im würdigen Tragen des Purpurman⸗ 
tel8 zu üben. Europa hats lange geglaubt; underlebt, daß der füreinen Geden 
und Hohlfopf Ausgegebene ein neued Bulgarien ſchuf, an den wichtigiten 
Höfen Freundichaft warb und die leßten Zeichen türfiicher Oberhoheit wie 
Binfen brach. Baſileios, Symeon, Samuel leben ald Schatten im Bud) der 
Geſchichte Ferdinand hat ſiean den Erben von Byzanz, an dem Iſlam, gerädht; 
Sieger und Befiegte. Noch reicht ſein Zarthum nicht von der Donau bis and 
judliche Meer. Wer weiß, wie lange Mafedonien der Anziehungskraft des 


50 Die Zukunft. 
jungen, jelbjtändigen, verwandten Chriftenftaates widerjtehen fan? Bul⸗ 
garien ift ein Bauernland, in dem nur nod) jpärliche Refte des Großgrund- 
beſitzes aus der Bajchalikzeit zu finden find. Eine Agrardemofratie, deren 
Willensrichtung von der Maffe der Heinen Befiger (fünf bis acht Heltar) be= 
ftimmt wird und die feinen Kampfdeshalb mit jo emfigem Eifer aufgenom- 
men hatwie den gegen dieZandplageded Wuchers. Bauernland, Kriegerland. 
Das Finenblut ift nicht träg geworden. In zwei Kriegen bat der Bulgare 
während der legten dreißig Jahre gezeigt, was er zu leiften vermag. Zwei: 
Hunderttaujend, mit Reſerve undLandwehr dreihunderttaufend Mann; tapfere, 
in ftrenger Zucht gehaltene, gut bewaffnete Truppen. Damitdarfman Etwas 
wagen; braucht man nicht zu warten, bi8der Schlaraffenbraten ausder Pfanne 
dampft. Der Koburger hats längft eingejehen. Bulgarien war, ehe Ddman den 
Griechen Karadſchahiſſar nahmund von Kleinafien her das Palaeologenreich 
bedrohte. Bulgarien joll und will noch jein, wenn derHalbmond endlich ge: 
ſchrumpft ift. Der Khalif iſt freilich auch zwiſchen Sofia und Barna eine Groß: 
macht; iſts bejonderd in Rumelien. Doch ein Khalif, der ald Herrſcher ind 
Haremsdunkel jchlupfen, Rebellen die Regentengewalt außliefern muß und 
heute anbetet, wad er geitern verfluchte? Die Schickſalsſtunde hat geichlagen. 
Der endgiltige Sieg der Zunglürfen vertagt die Erfüllung deö Bulgarenwuns 
ſches in Nebelferne; und fegt eine ftürmijche Reaktion diedreifte Jugend weg, 
ſo ftählt fie dem Sultan den Muth zu neuer Tyrannenihat. Jetzt alfo oder 
in naher Zeit nie. Manche alte Zegitimität ſiehts gewiß nicht ungern, wenn 
den Verbefferern der ijlamijchen Welt unzweideutig bewiejen wird, daß ihr 
haftiger Stnabeneifer die Türkei jchlechter jchirmt, als die Liſt des Armenierd 
im Yildiz vermachte. Bosnien und die Herzegowina find für Franz Sojeph 
ein ftattliched Jubilargeſchenk. An heimlich Verbündeten wirds nicht fehlen; 
mag auch nicht Jeder gern jehen, daß die Osmanenliquidation in den Tagen 
ruffiicher Schwachheit beginnt. Und der Berliner Vertrag? Defien Vater hat 
jelbft gejagt, dab Verträge nur mit der Klaujel ‚rebus sıc startibus‘ gelten. 

Dem ftrogenden, dem weltenden Leib des Dftrömerreiches nahte mit 
Fieberſchauern ſtets eine Krifis, wenn die Bulgaren fich unruhig regten, der 
Slavenfeil fich breiter und weiter vorwärts ſchob. Wird die Erfahrung fidh 
den Erben des Byzantinerſitzes erneuen? Schon ift überall geichäftige Be- 
wegung, wird überallliftig gelogen; [chon spricht man von einem neuen Kon» 
greß (vor dem uns der Himmel gnädig bewahre). Wurden die Großmächtigen 
wirklich jäh überrajcht? Sit, was fihtbar ward, nicht am Ende nur der Theil 
eined Umgehungmanövers? Nach dem erſten Lärm wirds zu prüfen fein. 

$ 


Kurioſa 51 


Rurioſa. 


B bewegen und in einem raſenden Tempo der wunderbaren modern» 
äfthetifchen Kulturepoche entgegen, die uns den großen Stil gebären 
fol. Es ift eine Luft, zu leben. Denn die Geburtwehen des großen Stils 
find nicht etwa fchmerzhaft ſchrecklich, ſondern ſehr Luftig 

Seit drei Jahren jammle ich Dokumente aus der erlauchten Wochen. 
ftube: und ich habe ſchon ein ganzes Auriofitätenlabinet beifammen. Ein Ertra- 
täfterchen darin ift überfchrieben „W. 3. und V. K“ Es enthält ausſchließlich 
Elaborate deutfcher Verlagsbuchhändler, wie fie in den Verlag3-Statalogen zu 
Tage treten. Niemand, dem ich Einblid in diefe von Buchverlegern errichtete 
Nuhmeshalle gewährte, ift ohne die lieblichfte und gewiflefte Zuverficht in die 
Zubunft der deutſchen Dichtung und Kultur von mir gegangen. Denn: „ger 
waltig raujcht der Yorbeibaum, die goldenen Kränze blinken“. Die grauen 
Zeiten, da Berlagäbuchhändler ſchnöd nüchterne Gefchäftsleute waren voll er» 
bärmlicher Angft und Bedenklichkeit, find vorüber. Das Angeficht bemalt mit 
dem Seite rothen Traubenmoftes, in der Rechten einen Thyrjosjtab und in 
der Linken ein Korgbantenraffelbled, tanzen fie, des ſüßen Weines lallender 
Begeifterung mehr ald voll, den von ihnen entdedten jungen Göttern voran 
und erfüllen die Lüfte mit orgiaftiichem Jubelgetöſe. Als Balchos geboren 
worden war, hat ed keine Jolchen Räufche der Berzüdung gegeben wie jegt, 
wenn ein Bändchen Gedichte von einem neuen Poeten erjcheint, der einen feder- 
gewandten Verleger gefunden hat. Möglich, daß die Verzückung fich jo Tor 
loſſaliſch entlädt, weil viele der neuen Poeten in der angenehmen Lage find, 
das ſchöne Büttenpapier und den guten Druck felder bezahlen zu können; aber 
Das ift Schließlich früher auch manchmal vorgelommen und der Verleger ges 
rieth dennoch nicht gleich aus dem Häuschen. Nein: es iſt der große Stil, 
der fih bier ankündet; der neue äſthetiſche Kuliurgeift ift es, der fo jelig tres 
molirt; die Zıit, ſchwar ger von Echönheit und Genie, madt aus den endlich 
einmal beneidenäwerthen Verlagsbuchhäntlern Propheten. Seit eima andert- 
halb Jahren it daS Evo& aber etwas aus der Mode gelömmen. Sei es, 
daß es Doch nicht vıcht gewirkt hat, ſei es, daß höhere Stileinfichten die Schuld 
daran fragen: tie Propheten haben das Tonzen, Thyrjosichwingen und Blech⸗ 
knattern aufgegeben und eine mehr priejterlihe Würde und Teierlichleit ans 
genommen. Ihr Stil wird taziteijch knapp und monumental Eine kleine Weile 
noch: und fie werten ihre Tichterfrönungen nicht mehr auf Papier (wenn auch 
diem, geichöpften), jondern auf kleinen Marmor: und Bronzeplättchen ver» 
fenden. Dann, es ift fein Zmeifel erlaubt, wird der große Stil aber aud) 
endgiltig da fein. Die hier folgende Proflamation (dad jüngfte Stüd meiner 
Sammlung) fündet ihn deutlich an: 


. 52 Die Zukunft. 


„ALS unfer erſtes Verlazswerk erfcheint das erfte Buch eines jungen Dich- 
ters. Wir jehen in den Gedichten Friedrich Stieves eine Bereicherung der deutſchen 
Lyrik. Wir veriprehen uns don biefem Dichter, dab er einer der ganz Großen 
werden wird. Wir verfennen nicht, Daß er manche Raubeit noch zu glätten bat. 
Wir finden neben ben Gedichten ber Eingebung ein paar ber Wbficht. Aber fie 
werden überreich aufgewogen durch feine xeifen Sachen, Gedichte in einer Sprache, 
Die wie Muſik ift, aus farbenprächtiger Phantaſie und einer Geſtaltungskraſt her⸗ 
aus, die feine Herrlichen Bilder in uns zu Anſchauung und Leben erwedt. 

Nebenftehend bringen wir ein Gedicht aus der Sammlung zum Abbdrud. 
Nicht, Daß es die Urt feines Schaffens zeige. Es findet fid) in der ganzen Samm⸗ 
lung keins, daß Dies vermöchte. Jedes Hat feinen beſonderen Gehalt und feinen 
eigenihämlichen Ausdrud. Es fol darum nur einen Schluß auf die anderen zu» 
lafien, den Schluß aufihre Schönheit. Haupt & Hammon, Leipzig, Oftern 1908.“ 

Und nun folgt (ein Beweis dafür, daß Haupt & Hammon ehrliche 
Propheten find) wirklich ein Bediht. Da man aus ihm erjehen kann, von 
welcher Art die ganz Großen der Zukunft fein werden, möge e8 bier ftehen: 


Nächte ſah ich, demantenklar, 

Da meine Seele, der Erde entronnen, 
Klingend hinſchwebie zu fernen Sonnen, 
Königlich frei und wunderbar. 


Reis nur, wenn fie Sterne betrat, 

Wo ſich duftende Zaubergärten 

Sanft in mattgrünem Lichte verklärten, 
Nührte ihr Fuß die Lilienfaat. 


Brunnen Fangen verfonnen im Traum 
ern und nah wie raufchendes Schweigen, 
Fremder Bäume faunendes Neigen 

Wogte lautlos am Himmelsfaum. 


Tämmernde Weiten [chloffen fich auf, 
Sterne wie Feuerkugeln rollten 

Durch die Lüfte jchweigjan und golden, 
Flammend ftrahlten Kometen herauf. 


Und Die Seele floß Tlingend fort, 
Bebte im träumenden Lied der Lüfte 
Und zerfloß wie athmende Düfte 

In der Emigleit ſüßem Akkord. 


Ich werde mich hüten, den Schluß zu verrathen, den ich von dieſem 
Gedichte auf die anderen mache; denn da ich mich ſelber zuweilen lyriſch verſuche, 
könnte ich in den Verdacht kommen, daß ich den Aufſtieg des jungen Dichters 
mit den Augen des neidiihen Nörglers verfolge. Died ift aber gerade das 
Laſter, von dem ich mich rein fühle. Ach wünſche vielmehr allen jungen Poeten 


Kurtofa. 53 


von Herzen, daß fie in die Höhe kommen, und es iſt mir keinekwegs fatal, 
wenn ihnen Dad leichter gemacht wird, ald es uns gejchah, denen nicht gleich 
Ehrenpforten auf Borjchuß errichtet worden find. Rur (und Died auszuſprechen 
ift der Zweck diefer Zeilen) fürchte ich: dieſe allzu freigiebig ertheilten Lorber⸗ 
kränze erſchweren den Aufitieg, ftatt ihn zu erleichtern. Wären es blos Die 
Verlagsbureaux, die fie. verabfolgen, jo wäre die Sache nicht gar jo bedenklich; 
aber man begegnet jegt ähnlicher Voreiligleit im Zuerkennen der höchiten Ehren 
auch bei manden Kritikern. Meine Sammlung enthält wahıhıft erjchütternde 
Beilpiele dafür. Man „fintt in die Kiniee”, man „hat die Empfindung eines 
Srühling®, der ewig fein muß“, man „vergißt, was das Leben augerdem noch 
bat”... kinder, ich glaube: ed fommt kein neuer Stil, jondern eine neue frauen= 
zimmerliche Empfindſamkeit Und, verlaft Euch darauf: die Reaktion ift ein 
neuer Ekel am Lyrifchen. | | 

Aber auch abgefehen von diejer blümeranten Nuance: Hület Euch übers 
haupt etwas mehr vor den großen Worten! Wenn jede HeiYelbeere ald Drange 
proflamirt wird: was wollt Ihr thun, wenn mal wirklich Orangen auf den 
Markt tommen? Ich fürchte jehr, daß die dann H:idelbeeren genannt werden. . 

Das gilt auch von den Herrlichteiten der fünfligen deutichen Schönheit» 
epoche felber. Wo wollt Ihr den Athen hernehmen, fie gebührend bei ihrem 
endlichen Erſcheinen zu begrüßen, wenn hr Eure unge jegt jchon jo unmäßig 
ftrapazirt? Und: fürchtet Ihr nicht, auch das Herrlichſte werde einmal ent- 
täufchen, wenn Ihr die Erwartungen Eures Publilums gar jo hoch Ipannt? 
Sch weiß Ion: Ihr wollt die Seelen vorbereiten, wollt die Sehnſucht wicken, 
wollt diefe Hochipannung der Gefühle erzeugen. Seid eben Propheten. Nun 
je. Propheten haben fich wohl immer Etwas übertrieben geberdet; und ich 
möchte nicht gern zu den kaltſchnäuzigen MWiglern gerechnet werden, die an 
beiliger Inbrunſt nur die manchmal etwas fomijche Pofe ſehen. Aber ich kann 
mir nicht helfen: wern fi ein Spag vor mir aufpluftert, gemahre ich noch 
feinen Adler. Ich kann feine Anftrengung jchägen und geſtehe mir gern, daß 
ed für einen Spatzen eine Leiftung ift, wenn er das Doppelte ſeines Bolumens 
vortäufcht. Will auch gern annehmen, daß dieſes Flügelrappeln das Symptom 
einer inneren Erichütterung ift. Bleibt aber Doch immer die Erjchütterung eines 
Spatzen. Der Ueberſchwang wahrhaftiger Propheten ficht anders aus. Auch 
wir haben ihn erlebt. Berichiedentlih. Walt Whitmann war einer; und ein 
anderer, größerer leuchtet auß den Blättern des Zaratgufira auf. Es iſt ein 
großes Glück und ein Ruhm unjerer Zeit, daß fie mit Ehrfurcht zu laufchen 
verfteht, wenn die Zulunft aus dem feurigen Bufch des Genies tönt. Um 
fo fchauderhafter aber muthet dad Gebahren der gejchäftigen Kleinen an, die 
ein bengaliſches Streichhol; enizünden und fi den Anfchein geben, als jeien 
fie von feherijchen Verzückungen ummabert, „Sadte! Es klemmt fi!“ habe 





54 Die Zulunft. 


ih auf die Mappe gejchrieben, in der ich ſolche Aeußerungen aus der bengalifch 
beleuchteten Gartenlaube wild gewordener Philifter aufbewahre. 

Auch aus ihr fei das legte Stüd mitgetheilt. Es findet fih am Schluß 
einer Schrift, in der der münchener Kunftfrititer Georg Fuchs vom Tanz handelt. 

Hier ift es: „Und fo können wir nicht ſchwanken: wenn wir eine Er⸗ 
ziehung unferer Raſſe zur Kultur anftreben, dann müfjen wir den Tanz vor 
allen anderen Sports, Leibesübungen und Slünften zur Grundlage aller er» 
zieheriſchen und gejellig-feftlihen Einrichtungen wählen. 

Und diefer Erziehungpraxis Vorbilder zu jchaffen: Das ift die Auf⸗ 
‚gabe der Schaubühne, zu deren Errichtung wir und vereinigen wollen. Auf 
ihr erfcheinen uns die fchönften Männer und Frauen, ſchön durch die voll» 
Tommene Harmonie alles Deilen, was unfere Raſſe audzeichnet, und find ung 
völlig die Götter und Heroen, ald die fie der Dichter herniederflehte durch 
die Inbrunſt ſeines Gebeted und als die er fie zuerft geſchaut in der ent- 
rückten Gnade feiner Gefichte. Sie find ganz Das, mas wir Alle fein wollten, 
ach, vergebens ſchmachtend und ringend im niederen Kreis des Jrdifchen; und 
alle ihre Geberten und alle ihre Wirte und alle ihre Worte und alle ihre 
Tänze find jubelentfacdhte Offenbarungen des vollendeten Lebens und der götte 
lihen Würde, der triumpbirenden Schönheit der Seele. 

Wir kleiden fie in Löftliche Gemänder, wir jeten Stronen auf ihre Häupter 
und jtreuen Evelgeftein und Perlen durch ihr Haar; wir fchlingen Ketten um 
das Elfenbein ihrer Hälfe und heften erjchredende Kleinodien an ihre Brüfte: 
die blutigen Achathäupter der Medufen und die grünen Jaspisleiber der Schlangen. 
Wir ſchnüren ihre filbernen Füße in die Schuhe aus Purpur und laſſen fie 
über weiße Felle wandeln. So gefchmüdt follen fie ganz in der Glorie fich 
tegen ald Dad, wozu wir Alle ung im Innerſten geboren fühlen, dem völlig 
zuzumachfen aber feinem Sterblichen gewährt wird. Dort aber, im höheren 
Reich der ungehemmten Rhythmen, ift es worden! Dort tft das —3— 
offenbar. Auf den hundertarmigen Kandelabern leuchten die Kerzen aus ſuß—⸗ 
hauchendem Wachs, Teppiche umſchließen das Halbrund der Bühne, darauf ſeht 
Ahr Sonne, Mond und Sterne, die großen Wundervögel mit Augen von Opalen 
in fcharlachrothen Wipfeln, die fliegenden Brunnen und die weinfärbigen Wellen 
des Meeres An den Seiten werden dichtgejchaarte Chöre fingen und aus der 
Kuppel wird der Tag herniederriejeln in den honiggoldenen Glanz der Kerzen 
und wird fich mit ihm vermengen zu einem Licht auß Klarheit und aus Gluth. 
Solch ein Felt ift Euch bereitet: Kommt und feiert ed mit uns!“ 

Sch liebe dieſes Stück mit der ganzen Liebe des Sammlers, aber über 
der Freude daran fchattet Die Melancolie, die jeder Sammler kennt: Wann 
wird Dir wieder jo was KHöftliches in den Weg laufen? 


Sifun. | Dtto Julius Bierbaum. 


% 


Philoſophenkongreß in Heidelberg. 55 


Philofophenfongreß in Heidelberg. 


ngefähr zweihundertfünfzig Philofophen waren in der erften September» 

hälfte eine Woche lang in Heidelberg beifammen. Was da an Forſchung⸗ 
ergebniffen, an neuen Gedanten, an Anregungen dargeboten wurde, wird fich 
erft überjehen laffen, wenn der gedrudte Kongreßbericht vorliegt. Ich möchte 
aber doch ſchon jetzt die perfönlichen Eindrüde wiedergeben, die chrrakteriftiichen 
Züge der ganzen Tagung herausheben und dabei Manches anbringen, was ich 
in den mitunter jehr lebhaften Diskuffionen nicht jagen konnte, weil die Zeit 
zu kurz bemeſſen war oder weil es mir erft ſpaͤter einfiel. 

In der Reihe der Imternationalen SKongrefie für Bhilofophie war der 
Heidelberger der dritte. Im Jahre 1900 mar Paris, 1904 Genf der Ver⸗ 
fammlungort. Der dritte Kongreß follte auf deutfchem Boden tagen und es 
war zu erwarten, daß die deutfche Philojophie dem Kongreß ihren Stempel 
aufdrüden, ihm das Gerpräge geben werde. Das war nun durchaus nicht der Fall. 
Die angejehenften Vertreter der Philofophie an den Univerfitäten waren fern 
geblieben. Wundt, Heinze und Volkelt aus Leipzig waren eben jo wenig zu 
jehen wie Dilthey, Riehl, Stumpf und Simmel aus Berlin Die marburger 
Schule der Neutantianer war weder durch einen ihrer Meifter (Cohen und 
Natorp) noch au durch einen ihrer begabten Schüler vertreten. Auch Rehmke 
und Schuppe, die Immanenz⸗Philoſophen, waren nicht da. Euden aus Jena 
erichien auf wenige Stunden, an die ich mich allerdings mit großer Freude 
erinnere. Wilhelm Windelband, der Präfivent des Kongreſſes, warjo ziemlich der 
Einzige, der ald namhafter, Schule machender Vertreter der deutichen Philo- 
fophie gelten konnte. Bon den deutjchsöfterreichifchen Univerfitäten war, wenn 
ich nicht irre, nur ein einziger Privatdozent erichienen. Der war ich felbft. 
Dagegen hatten die czechifchen, die ungariichen und die polniſchen Hochſchulen 
mehrere Vertreter entjendet. So waren ed nicht die Deutjchen, fondern die 
Ausländer, die den Ton angaben. Bon den Anglo: Amerikanern, den Trans 
zofen und Stalienern gingen diesmal die Anregungen aus. Das bedeutendite: 
Wort aber, das ich auf dem Kongreß gehört habe, hat doch ein Deutfcher ges 
ſprochen. Das war Ernſt Troeltich, der feine Begrüßungrede mit den Worten 
Ihloß: „Das Leben ijt größer als das Denken.“ Troeltſch hat damit, ohne 
e3 zu wiffen, die Barole für den Kongreß auögegeben. Denn der Kampf zwie 
ſchen Leben und Denten bildete den wejentlihen Inhalt des Streites um bie 
unter dem Namen Pragmatidmus aus Amerika herübergelommene neue phi: 
lofophifche Methode. Diefe manchmal jehr lebhaften Disfuffionen über den 
Pragmatismus bilden den philojophiichen Stern des Kongreſſes. Hier plapten 
die Geiſter aufeinander, hier war Leben und Bewegung. 

Der Pragmatismus ift lebendige altiviftifche, vorwärtäblidende Philo⸗ 


56 Die Zukunft. 


fophie. Er will nicht länger ruhig zufehen, wie eileſene Geifter ihre Zeit und 
ihre Denkkraft auf Probleme verfchwenden, deren Löſung für unjere ganze 
Lebensführung bedeutunglos ift Der Pragmatismus ift in feinem Grundges 
danken uralt; als philoſophiſche Methode aber ift er in den legten Jahrzehn⸗ 
ten in Amerika erfunden worden. Das ift fein Zufall. In Amerika find die 
ftreng wiſſenſchaftlichen Beftrebungen und das praftifche Leben einander näher 
geblieben als bei und. Die amerikaniſchen Philofophen haben von ihren Stu⸗ 
denten viel öfter und viel deutlicher zu hören belommen, daß die Welt im 
philofophiichen Hörfaal und die Welt auf der Straße zwei ganz verichiedene 
Welten frien, zwijchen denen gar kein Zuſammenhang beitehe. Der Amerikaner 
aber, der fih die Zeit nimmt, Philoſophie zu ftudiren, thut es nicht, um 
ainige für das Examen erforderliche Kenntnifje einzufammeln. Er verlangt 
vielmehr von der Philoſophie Richtunglinien für feine Lebentführung, er will 
Beruhigung für feine inneren Kämpfe, er fucht Stlarheit und Ordnung für 
feine Gedantenmwelt. Diefem durchaus idealen und dabei doch im beften Sinn 
praktiſchen Bedürfniffe juchten nun einige amerilanische Denfer entgegenzu: 
tommen. Sie ftellten fi die grundlegende und, wie die Folgen zeigten, zus 
gleich grundftüirzende Frage, was denn der wahre Sinn unferer Borftellungen, 
unſerer Urtheile, unſeres theoretiichen Denkens jei. 

Die entieidende Antwort darauf hat vor etwa dreißig Jahren der 
amerilanijche Logiker und Mathematiker Charles Peirce gegeben. Unjere Urtheile 
und Ueberzeugungen, jo lehrt er, find nichts Anderes als Regeln für unfere 
Handlungmeife. Wenn wir aljo den wahren Sinn und Anhalt eined Ge 
dankens uns ſelbſt zu voller Klarheit bringen wollen, jo müfjen wir verjuchen, 
die Wirkungen dieſes Gedankens auf menjhliche Handlungen zu zeigen. Es 
giebt feine Gedantendiftinktionen, und wären fie noch fo jubtil, die nicht irgend⸗ 
welche praktiſche Unterjchiede bedingen. Wo wir feine ſolchen praftiichen Kon» 
jequenzen nachmeifen fünnen, da ift der Gedanke inhaltlos und befteht nur 
in Wortverbindungen. Die Erfaffung der praftiichen Konfequenzen eined Ges 
dankens ift die Erfaflung feines vollftändigen und einzigen Inhaltes und Sinnes 
Diefed Prinzip von Peirce, diefe Methode der praktiichen Erprobung blieb 
zwanzig Jahre lang unbeadtet. Erſt als William James, der berühmte amı» 
rikaniſche Pychologe, das Prinzip, für das der Name Pragmatismus gewählt 
wurde, fich aneignete und energijch Dafür eintrat, Fam die Sade in Schwung. 
Sohn Dewey in Amerila und %. C. S. Schiller in England wurden be 
geijterte Anhänger der neuen Methode und vertheidigten fie im Verein mit 
James gegen die heftige Polemik, die das neue Prinzip hervorrief. Auch im 
Frankreich und Italien fand der Pragmatismus mehrfach, Anklang; dagegen 
blieb er in Deutjchland jo gut wie unbeadhtet. 

Da traf es fih nun, daß ich durch englifche und amerikanische Beurtheis 





Philoſophenkongreß in Heidelberg. 57 


lungen meines Buches „Der kritiſche Idealismus und die reine Logik“ (Wien, 
1905) darauf aufmerkfam gemacht wurde, daß meine Anfchauungen dem Prag» 
malismus fehr nah ftehen. Das liebenawürdige Entgegenlommen der ameris 
kaniſchen Gelehrten machte mir möglich, die Schriften der Pragmatiften raſch 
tennen zu leinen; und ala im März 1907 William James eine zufammen- 
ſaſſende Darftellung des Pragmatismus veröffentlichte, bejchloß ich, Durch Ueber⸗ 
tragung dieſes Buches die neue Methode in Deutſchland befannt zu maden. 
Die Ueberjegung ift unter dem Zitel: „Der Pragmatismus, ein neuer Rame 
für alte Dentmeihoden“ bei Werner Klinkhardt in Leipzig erichienen: und 
damit wurde es Fachmännern und gebildeten Laien möglich, das Weſen und. 
die Bedeutung der neuen Philojophie kennen zu lernen. Der beidelberger 
Kongreß hat gezeigt, Daß nun auch die deutiche Philojophie vom Pragmatis» 
mus Kenntniß genommen bat, biäher allerdings meift nur, um ihn zu belämpfen. 

Der Pragmatismus will aljo zunächſt eine Art philofophifcher Selektion 
fein. Er will eine Auslefe unter den philoſophiſchen Problemen vornehmen 
und die ragen auäfchalten, bei benen weder dad „Ya” noch dad „Rein“ 
unjere Lebensführung beeinflußt. Damit hängt die andere, mehr pofitive Seite 
der neuen Methode zufammen. Wir jagen mit Troeliih: „Das Leben ift 
größer als das Denken”; und maden Ernft damit, daB Denken ald einen 
Theil und als einen Faktor des Lebens zu betrachten. Alles theoretiiche Er⸗ 
tennen iſt deshalb für uns, wie es Profefior Schiller in feinem Bortrage for- 





wollen, eine für fich beitehende, mit dem reinen Berftand zu erfaflende Welt, 
die mit unferem Fühlen und Rollen nicht? zu thun hat. Die Wahrheit, die 
der Forſcher ſucht, ift nichts Abfolutes, vom Leben Unabhängiges. Die Wahrs 
beit unferer Gedanken befteht vielmehr in ihrer lebendigen Mirkfamteit, in 
ihrem Leben fördernden Einfluß auf das menjchliche Handeln. Dieje neue, 
verlebendigende Auffaſſung des MWahrheitbegriffed bildet den Kern der prag⸗ 
matifchen Lehre; und vielfach hört man den Pragmatismus einfach als eine 
neue Wahrheittheorie bezeichnen. Leicht begreiflich ift nun, daß diefe Wahr⸗ 
heittheorie den Lozikern und Mathematikern gegen den Strich geht. Sind ed 
Doch alte, feſt und lieb gewordene Denkgewohnheiten, die dadurch erſchüttert 
werden. Die Logiker und Mathematiker find überzeugt, daß ihre Süße eine 
abjolute, von jeder Erfahrung ganz unabhängige Wahrheit befigen, und wehren 
fih deshalb gegen die pragmatifchen Zumuthungen. Eo richtete fih denn aud) 
in Heidelberg der Kampf gegen die neue Wahrheittheorie des Pragmatismus. 

Gleich in der Eröffnungfigung begann das Gefecht. Profeflor Yofiah 


58 Die Zukunft. 


Royce von der Harvard» Unioerftät, einer der ernfteften Denker Amerilas, hielt 
einen Vortrag fiber das Weſen der Wahrheit im Lit der neuen Forſchung. 
Royce ftellte eine eigene, tiefgründtg angelegte Theorie auf, die man am Beften 
als voluntariftiiche Erkenntnigtheorie bezeichnen könnte. Im erften Theil feines 
Vortrages gab er jedoch eine Kritik des pragmatiſchen Wahrheitbezriffes und 
an diefen knüpfte die allerdings nur kurze Diskuffion an, in der fi ſchon 
zeigte, daß die Mehrheit der Anmejenden aus Gegnern des Pragmatismus be» 
ftand. Der eigentlihe Sturm brach erft los, als Profefjor Schiller aus Ox⸗ 
ford in einer Sektion feinen Vortrag über den sationaliftiihen Wahrheitbegriff 
hielt. Schiller wies auf die logischen Widerfprüde bin, in die fich der Ratio⸗ 
nalismus verwidele, und gebrauchte dabei einige Frältige Ausdiüde. Die for» 
malen Logiler blieben die Ant vort nicht Shuldig; und jo wurde die Debatte 
immer lebhafter und immer gröber. Aehnliches wiederholte fih am nächſten 
Tag, ala ich felbft in meinem Vortrag über Apriorismus und Evolutionismus 
zu zeigen fuchte, Daß die empirifchsevolutioniftiiche Methode zu neuen That= 
fachen und zu neuen Broblemen hinführe, während der Apriorigmus Probleme 
ablehnt, Probleme verdedt und dadurch bahnſperrend wirkt. Unter den Ber- 
theidigern der alten formalen Logik that ſich beſonders Herr Ztelfon aus Berlin 
hervor, der duch feine temperamentvoll vorgetragene fcharfe Dialektik, durch 
feine reiche Belejenheit und nicht zum Mindeiten durch feine wigige Grobheit 
ſtarke redneriſche Erfolge erzielte. Trotz der lebhaften Oppofition erregte aber 
der Pragmatismus doc in jehr hohem Grade das allgemeine Intereſſe. Die in 
den vom Programm vorgejehenen Sigungen für die Diskuſſion zur Verfügung 
ftehende Zeit erwies fich ald zu kurz und jo wurde auf vielfaten Wunſch eine 
nicht im Programm vorgejehene Erörterung des Pragmatiimud veranftaltet, zu 
der fih über Hundert Theilnehmer einfanden. Schiller verfuchte wieder, die alte 
Logik mit ihren eigenen Waffen zu befämpfen, und fand wiererum dialektifch gut 
gefchulte Gegner. Ich hielt diefe Methode nicht für die richtige und bemühte 
mich deöhalb, auf das Neue, dad Pofitive, das Altioiſtiſche des Pragmatis⸗ 
mus binzuweijen. Dabei habe ich nun nachträglich das Gefühl, daß ich in der 
Bekämpfung der Gegner zu wenig gethan habe. Den Vertretern der alten 
formalen Logik mußte gezeigt werden, daß ihre Konftruftionen tot, welt» 
fremd und unfruchtbar ferien und da der Pragmatiemus darauf ausgehe, eine 
neue, lebendige und Leben fördernde Yogit zu ſchaffen. In dieſem Sinn 
möchte ich hier Einiges nachtragen. 

Ariftoteles hat die Logik als Kanon und ald Organon des wirklichen 
Denkens gefchaffen. Die Beziehung zu den wirklichen Denkakten, wie fie die 
Wiſſenſchaft und dad alltägliche Leben vollzieht, ift bei ihm immer lebendig 
geblieben. „Wenn wir’, jo jagt er ausdrücklich, „die Entftehung der Schlüffe 
durchſchauen und die Fähigkeit erlangen, Schlüffe zu finden, wenn wir ferner 
die wirklich vollgogenen Schlüffe auf die eben angeführten Formen zurück⸗ 


Philoſophenkongreß in Heidelberg. 59 


führen, dann haben wir das Ziel, das fich unjere Unterſuchung geftedt hat, 
erreicht.” Eine wirklich empirifche Logik, wie ich fie plane, wird vielfach auf 
den echten, von der Scholaftit noch unberührten Ariftoteles zurückgehen kön⸗ 
nen. Die Scholaſftik des Mittelalter3 hat das Iogifche Verfahren fehr ver» 
feineıt und dieſes Dentmittel auch dazu benutt, die Dogmen der chriftlichen 
Religion zu beweiſen. Dadurch erhielt die formale Logik eine Art von Weihe. 
Die Reufcholaftiter der Gegenwart, deren Zahl größer ift, als man meint, 
ſpinnen nun aus diejer in gewiſſem Sinn geheiligten Logik fehr zahlreiche und 
jehr feine Fäden und verjchlingen fie zu einem Tunftoollen Gewebe, da3 einen 
\elbftändigen Werth für fich in Anſpruch nimmt. Von der anderen Seite 
helfen die madernen üherempirijchen Mathematiker, die mit nsdimenfionalen 
Mannichfaltigkeiten operiren, den formalen Logikern dazu, ein Drittes Reich 
zu errichten, das zwiſchen Erfahrun liegt. 
Dieſes Reich iſt einge egionen, wo die reinen Formen wohnen. 
Hier bewegen ſich die Logiker mit großer Sicherheit zwiſchen den ewigen zeit⸗ 
tofen Beziehungen. Kein Atom Wirklichkeitſtoff ſtört fie in ihrem Gedanken⸗ 
Hug, ihre Sätze haben unbedingte Giltigkeit und find ganz unabhängig davon, 
vb ihnen in der Erfahrung irgendetwas entipricht. In Graz wurde vor einis 
gen Jahren eine neue Disziplin erfunden, die Gegenitandätheorie, deren Vers 
treter ſich geradezu rühmen, eine „bafeinfreie" Wiſſenſchaft geſchaffen zu haben. 

Wenn nun die Begründer und Bewohner dieſes Dritten Reiches ihre 
Dentgebilde nur in die Welt ſetzten, um fih an deren harmoniſcher Sym⸗ 
metrie zu erfreuen, jo brauchte man fie in ihrem äfihetifchen Vergnügen und 
in ihrem barmlofen Denkſport nicht weiter zu ftören. Die Herren Logiker 
wären dann mit den Göttern Epikurs zu vergleichen, die in den Intermun⸗ 
dien wohnen, fich ungetrübt der Heiterkeit erfreuen, ohne fich weiter um die 
Welt zu kümmern, aber auch ohne zu verlangen, daß die Welt fih um fie 
tümmert. So beſcheiden und anipruchlos find aber unjere reinen Logiker nicht. 
Sie glauben vielmehr, aus ihren ganz inhaltleeren Sägen eine Wiſſenſchaft⸗ 
lehre ausbauen und die Voraugfegungen und Normen alles wiſſenſchaftlichen 
Erkennens unabhängig von der Erfahrung feftitellen zu können. Die Kühnen 
unter ihnen meinen ſogar, daß die Formen unfered Denkens der Natur die 
Geſetze vorjchreiben, und die Allerfühnften wollen die Natur ſelbſt als ein 
Erzeugniß des unanſchaulichen Denkens auffafjen. Gegenüber ſolchen unberech⸗ 
tigten Anfprüchen der Logik und dem noch weniger berechtigten Hochmuth der 
Logiker können wir Empirifer und Pragmatiften und nicht darauf beſchrän⸗ 
fen, wie wir am Liebften möchten, durch pofitive Mfbeit den Werth unjerer 
Methode zu beweifen. Wir müflen auch die Zeit und die Kraft dazu aufs 
bringen, die wahnwigigen Anmaßungen der reinen Logiker zu befämpfen, bee - 
ſonders deshalb, weil jowohl in ihrem Wahnwitz als aud in ihrer Anmaß« 
ung Methode liegt. Diefen Kampf dürfen wir aber nicht mit den Waffen 

- 5 






60 Die Zukunft. 


der alten Logik führen. Das hieße, die unbedingte Giltigkeit der logiſchen 
Formeln jtillfehweigend anerkennen. Wir müflen vielmehr mit aller Energie 
und Entſchiedenheit betonen, daß in den Sägen der alten Logik genau jo viel 
Wahrheit zu finden ift, wie darin allgemeine und bewährte Erfahrung ange⸗ 
iroffen wird. Die Logik muß fi nach der Erfahrung und nad) der Geſchichte 
der Wiffenfchaflen richten, nicht dieje nach jener. Die/ftrengen Formulirungen 
der Logik, die nur abjolut ſichere Schlüffe gelten läßt, find von der lebendi⸗ 
gen Forfchung immer durchbrochen worden. So verbietet die formale Logik 
ten Schluß von der Setzung der Folge auf die Setzung des Grundes. Daß 
diefer Schluß nicht ficher ift, fieht jedes Kind ein. Trogdem find aber durch 
diefe Urt des Schließens die größten Entdedungen gemacht worden. Leverrier 
Schloß aus den Störungen in der Bahn des Uranus auf deren Grund und fühıte 
die Entdedung des Planeten Neptun herbei. Die Phyfiologen jchließen immer 
fo, wenn fie die Funktion eined Organes durch deſſen Elimination bejtimmen. 
(Rundt, deſſen Logik das thatjächliche Denken der Wiſſenſchaft immer berückſich⸗ 
tigt, hat auf die Bedeutung diefer Schlußform aufmerkſam gemadt.) Die Ges 
ſchichte der Wiffenfchaft zeigt uns aljo, daß die Dentphantafte und der Denk⸗ 
inftintt der großen Pfadfinder gar oft auf Wegen gewandelt find, die die formale 
Logik als Irrwege bezeichnet. Man muß den Muth haben, unlogijch zu denken, 
wenn man etwas Neues finden will. Die neufte Logik aber wird immer formaler 
und immer abötrafter. In ihrer ifolirten Selbfificherheit verliert fie immer 
mehr den Zufammenhang mit dem Leben und mit der Wiſſenſchaft. Die neuen 
Vogiker gleichen immer mehr vem Beinen Staatsbeamten, von dem unſer Reftroy 
gejagt hat: „Der Beamte hat nichts, aber Das hat ex ſicher.“ Der Logiker braucht 
niemald in die Yage zu fommen, etwas Falſches zu behaupten; aber fo lange er 
fih in diefer Sphäre der Sicherheit bewegt, find feine Sätze volllommen ir⸗ 
baltleer und bedeutunglos. Deshalb wollen wır die Logik aus der Sphäre der 
toten Gewißheit in dad Reich der lebendigen Mahrfcheinlichkeiten hinüberführen, 
wo fie dem Leben und der Wiflenichaft wirkliche Dienfte leiſten kann. Diele 
neue Logik wird ſich begnügen, Mittel zum Zweck zu fein, und fich entichließen 
müffen, auf die geträumte Selbftherrlichkeit zu verzichten. Mit einer ſolchen 
inftrumentalen Lozik haben ameritanifche Denler wie Dewey und Mark Bald» 
win bereitö begonnen und es iſt hohe Zeit, daß bier weiter gearbeitet werde. 

Der Pragmatismus ift in Heidelberg lebhaft befämpft worden; mir 
dürfen aber doch mit dem Erfolg zufrieden fein. Die Argumente der Gegner 
waren jo ſchwach, daß wir jagen fünnen: Die Gegner ded Pragmatismus 
waren feine wirkſamſten Bertheidiger. Schließlich muß gejagt werden, day der 
Pragmatismus noch im Werden iſt. Der Wahrheitbegriff wird durch um⸗ 
foflende biftorifche Unterfuchungen erft geklärt und die neue Methode auf die 
Ethik und auf die Soziologie angewendet werden müllen. Jedenfalls ijt eine 
Fülle fruchtbringender Arbeit in Ausficht, und während den formalen Lo⸗ 








Philoſophenkongreß in Heidelberg. | 61 


gitern, die fertig find, nichts recht zu machen ift,. werben wir Pragmatiften 
als Werdende für jeden pofiliven Beitrag dankbar fein. 

Wenn auch der Pragmatismus-Streit das bedeutendfte philoſophiſche 
Ereigniß des Kongreſſes war, jo gab es doch daneben einige kulturell wich- 
tige Thatſachen zu beobachten. Erfreulich und interefjant war in bier Be⸗ 
ziehung namentlich die relativ große Zahl der Frangofen, die an dem Kongreß 
theilnahmen. Henri Bergfon, heute wohl der originellftie unter den Philo⸗ 
ſophen Frankreichs, deſſen angekündigtem Bortrag man mit Spannung ent- 
gegenſah, war leider durch Krankheit verhindert, zu fommen. Doch der liebens» 
mwürdige und feinfinnige Emile Boutroug, der gründliche Xavier Leon, der 
Mathematiker und Logiker Louis Couturat, ferner Delbos, Brunſchwigg, Abel 
Rey, Blondel und viele Andere waren da. Der Einfluß deutjcher Denker und 
Dichter auf da3 heutige Frankreich war bei den meiften deutlich zu bemerken. 
Boutrour citirte in feiner deutſch gehaltenen Begrüßungrede Scheffels befanntes 
Lied „Alt Heidelberg, Du feihe” und zwei Stellen aus der Zueignung zu Yauft. 
Die goethiichen Verfe langen fehr eindrudsvoll in dem franzöfiichen Accent. 
Auch in dem Vortrag über die franzöftiche Philofophie der Ieten zwanzig Jahre 
zeigte Boutroug feine Kenntniß und Werthichägung deutjcher Geiſtesart. Kavier 
Leon, der Herausgeber der „Revue de Methaphysique et de Morale“, for, 
derte in einer kurzen Charakteriſtik Fichtes jur Subjkription für das in Berlin 
zu errichtende Fichtedenkmal auf und madte in einem längeren Bortrag in- 
terefiante Mittheilungen über Fichtes Beziehungen zur Tsreimaurerloge. Auch 
der amerikanische Philoſoph Joſiah Royce zeigt ſich ganz durchträntt mit Kants 
und mit Hegels Gedanlenarbeit. Und jo ſprach in Heidelberg die deutſche 
Philoſophie, deren angefehenfte Vertreter dem Kongreß in jo auffallender Weile 
ferngeblieben waren, oft auß dem Munde der Ausländer zu uns, 

Schließlich muß ich noch einer Darbietung gedenten, bie feine Diskuffion 
hervorrief, fondern mit einmülhiger Bewunderung und Dankbarkeit aufge 
nommen wurde: der Beleuchtung des heidelberger Schlofjed, die am Abend 
des dritten September den Gäſten zu Ehre von der Stadtgemeinde veran- 
ftaltet wurde. Auf breiten Nedarjchiffen kamen wir von Ziegelhaufen daher: 
gefahren: und plöglich erftrahlte daß großartige Baumerk vor und in sothem 
sucht und glänzte weit über die Lande. Alles mar entzüdt und bewegt und 
freute ſich dankbar, dies unvergleichliche Schaufpiel eine geraume Weile ge- 
nießen zu dürfen. Das ehrwürdige Erbftüd deufjcher Vergangenheit, durch 
die Mittel moderner Technik in glänzende Beleuchtung gerückt, machte den Zu- 
fammenhang von Alterthum und Gegenwart zu einem einheitlichen, gewaltigen 
und unvergeßlichen Erlebniß. Ernſt Troeltſch bat volltommen Recht: das 
Leben iſt größer und ſtärker als das Denken. 


Wien. Profeſſor Dr. Wilhelm Jeruſalem. 


5 5 


62 Die Zukunft. 


Die Juden in Pofen. 


3: Sahr 1833 wohnten in der Provinz Pofen 70000 Juden. Die Volls⸗ 
zählung am erften Dezember 1905 zeigte, dab ihre Zahl bis auf 30433: 
zurüdgegangen ift. Und wer fi) Mühe giebt, die Stimmung ber Juden von heute 
kennen zu lernen, hört überall: „Nur heraus aus dem Oſten! Unferen Kindern 
fönnen wir es nicht mebr zumuthen, bier zu bleiben“. Aus dem bewundernswerthen 
Optimismus der pofener Juben, der mir ein Stüd Abfäxbung von ber einfligen pol⸗ 
nifchen Leichtlebigfeit bedeutet, klingt e8 grell peffimiftifch heraus: „Für uns giebt es 
hier nur eine böfe Zukunft.” Zahlen reden für fi. Die Provinzialhauptftabt hatte 
in Jahr 1871 unter 10 000 Einwohner 1279 Juden. Diefe gingen bis 1905 auf 
424 zurüd. Es giebt (mit einer einzigen Ausnahme) keinen Ort in der Provinz, 
tn dem Diefer Rückgang ber jüdiſchen Seelenzahl nicht zu Lonftatiren if. Daber 
bleibt aber bemerkenswerth, daß auch der Prozenifah der proteftantiichen Bevöl⸗ 
ferung gerade in den Orten, in denen das Verſchwinden der Juden befonbers auf⸗ 
fält, zurüdgegangen ift. 

Das Bild, das uns bie Entwidelung der Provinz Pojen zeigt, iſt intereifant, 
weil e3 uns beweift, Daß ber bisher nicht glüdliche Kampf bes Deutſchthumes gegen 
das Polenthum doch nicht nad) den rein mechanischen Geſetzen der politifchen Macht 
entjchieden werden Tonnte und niemals auf biefem Weg zu Gunften bes Deutfch- 
thumes zum Austrag gebracht werben wird. Wir fehen ferner, daß Polen und 
Juden gerade aus der Bernachläfiigung des wichtigften Momentes in der Behand⸗ 
lung von Böllerfragen, nämlich der feeliihen Eeite, einen Beiden gemeinſamen 
Nugen gezogen haben: bie Polen, an die Scholle ihrer Heimath gebunden, find 
auf diefer jelbft erftarft; die Juden, die ja nichts an ungaftliches Land feflelt, 
find eben ausgewandert; zu ihrem eigenen Beſten zwar, aber leider fehr zum 
Nachtheil der deutſchen Entwidelung der Oſtmark. 

Zunächft einige Bemerkungen über die geſchichtliche Entwidelung. Der erfte 
Drganijator des Polentfumes war der Arzt Mareinfowfli. Er und alle feine 
Nachfolger, wie jehr auc, ihre Wege außeinandergingen, fahen ein einziges praf« 
tiſches Biel vor ſich. Ste ftrebten danach, die Hiftorifche- luft zwifchen dem Abel und 
dem Proletariat auszufüllen und alle Elemente ſchließlich zu Dem zufammenzufafien,. 
was wir heute als faft fertiges Werk vor uns haben: zu der großen polniſchen 
Republif in Preußen, wenige Stunden vor den Thoren der Reich&hauptitadt. 

Einft wurde die Lücke von den Juden ausgefüllt. Sie waren Handwerker, 
Kaufleute, fpielten auch die Rolle des Vermittlers aller Ein» und Berläufe an ber 
Höfen des polnischen Adels und waren bie Berather in den intimften Familien» 
ungelegenheiten. Bei dem ben Polen früher eigenen Mangel an kaufmännifchen 
Kenntnifjen und bei bem Fehlen jeglichen Anterefjes für die Umfapfragen hatten diefe- 
Juden ein recht gewinnreiches Gejchäft in Händen. Die Bolen dämmerten hin und 
gingen dabei wirthichaftlih immer mehr zurfd, bis die preußiiche Regirung ſie 
aus ihren traumhaften Zuftand mwedte. In den dreißiger Jahren begannen die 
Reprejjulien der Behörden... Aber biermit erwachte zugleich in einigen tüchtigen 


Die Suden in Pofen. 63 


i 

Holniihen Köpfen der Plan, Polens Kampf nicht mehr im Ausland zu führen, 
ſondern zu einem Kampf um bie eigene Scholle und auf ihr ſelbſt zu organifiren. 
Drei Namen repräfentiren nun Anfang und Höhepunkt der Entwidelung von Polens 
Biedergeburi: Marcinlowffi, dem das Bildungprinzip ber Bolen beſonders am 
Herzen lag, Jackowſki und der Probft Wawrzyniak, die das Genoffenfchaftweien 
‚organifirten. Diefe Drei fchufen einen Bürgerftand, der durch Fleiß, Intelligenz 
und Golidität eine wirkſame Waffe in den Händen ber polnifchen Regirung wurde. 
Bortrefflich verftanden fie e8 auch, Belder deutſcher Banken für ihre Genoſſenſchaften 
Flüffig zu machen und durch große Verfchlagenhett die Maßnahmen der Regirung zu 
vereiteln. Der Adel ftand allerdings noch Jahrzehnte lang ſchmollend abfeits. Er 
und die demokratiſchen Volksmaſſen befehbeten einander. Aber wie fpäter burd) 
zichtige Arbeitätheilung eine Ausföhnung zwiichen Demokratie und Klerus gelang, 
fo find heute auch ſchon die erften Pfeiler zu ber Brücke zwifchen Abel und Volk 
‚gebaut. Der Adel thut jetzt mit. Er Hat fich den Genoffenfchaften angefchloffen, 
um den polnijhen Boden gegen den Verlauf an Deutjche zu vertheidigen. Ein 
Berein der vornehmften Polen beichäftigt ſich auch damit, ungefunde Verhältniſſe 
in ihren Kreifen zu janiren. Außerordentlich rührig ift man bei der Arbeit, gegen 
die früheren Lafter der Nation, Spiel und Trunk, vorzugehen, und die Erfolge 
ſollen fehr groß fein. Wir dürfen fchon Heute Jagen, daß das polnische Bolt in 
Preußen, trog allen Differenzen in feinen Reihen, bis auf den legten Mann feft 
organiſirt ift. Senoflenichaften für Ein- und Verkauf und zur Ordnung des Strebit- 
weſens under weiſeſter Benugung gerade deuticher Geldquellen, Schu gegen Verluft 
polniſchen Bodens an Deutfche, mweiteftgehende Einwirkung auf die Erziehung der 
Jugend: dieſes Bild zeigt Heute das preußifche Polen. 

Durch den polniſchen Zuſammenſchluß ift allmählich ein Theil der jüdifchen 
‚Sewerbetreibenden überflüfjig geworden. Der polniihe Boykott griff befonders 
‚empfindlich den Kleinhandel der einen Orte, alfo die große Mafle der Kaufleute 
an, machte fi) dann aber auch dem höher organifirten Getreibe:, Dünger- und 
Maſchinenhandel fühlbar. Aber alle polnische Organifation, auch der Boykott nicht, 
“Hätte unter den Juden nicht fo aufzuräumen vermccht, wenn nicht noch andere 
Momente den Polen geholfen hätten. Denn der freie Handel bleibt immer noch 
leiftungfähig in den Händen gefchulter, umfichtiger, auch einmal etwas wagender 
freier Kaufleute, zumal trog aller Feindihaft der Polen gegen die Juden in 
großen Kreiſen gerade des Mittelftandes ein gewifjes Vertrauensverhältniß zwilchen 
beiden Bölfern von alter Beit her beiteht: „Ich gehe zum Zyd fo und fo“, jagt der 
Pole; und es Klingt, als wolle ex jagen: Zu einer höheren Inſtanz. Für die Erhalte 
ung ber Refte jüdifchen Handels wirkt jerner noch das unausrodbare Mißtrauen jedes 
Bolen gegen den wirthfchaftlich beffergeitellten Volfsgenoflen und die eben jo un« 
ausrobbare Herrenfpielerei gegenüber den niederen. Schließlich kommt in dem höher 
organilirten Handel noch die Krebitbeziehung zwiſchen Juden und Polen in Betracht. 
Sie befonders hindert ben völligen Abbruch der gejchäftlichen Verbindungen. Schr 
»iele Juden Hatten bier tm Dften Geld verdient und fehnten fi num nach der 
großen Stadt. Eifenbahnen und verbeflerter Nachrichtenverfehr ermöglichten ihnen, 
Die Handelsgeſchäfte nach und mit der Oſtmark eben fo bequem von Handelscentralen 
aus zu bejorgen. Die große Zahl an ftubirenden jübdijchen Söhnen bedingte viel» 
fach zunächft den Fortzug der Kinder, die jich in größeren Orten niederlaffen wollten. 


et Die Zukunft. 


onen folgte nicht felten die ganze Familie. Die Provinz Poſen ift die Wiege 
ungezäblter „ureingeborener” Berliner, Hamburger, fyrankfurter geworben. Dazu 
kommt, daß ber jübiihe Handwerker, der im Dften Stadt und Dorf bevölkerte, 
an feinem Leib zuerft die Konkurrenz der Fabrif fühlte und bei feiner Intelligenz, 
rafch die richtigen Wege zu neuen Eriftenzbedingungen fand. Der Weſten und bie 
Neue Welt boten fie ihm. Auch an ber Spige von Handel und Snduftrie und 
in alabemifchen Berufsarten finden wir viele aus Poſen gebürtige Männer, deren 
Geſchichte auf Packoſch, Koften, Znin, Moſchin und fo weiter zurüdgeht. Gie 
famen aus guter Schale und leiften auch in ihrem neuen Wirkungskreis Tüchtiges. 
Schließlich trug die Sperrung der ruffifchen Grenze dazu bei, ganze Handelskreiſe 
der Provinz Üüberfläffig und Snbuftrien eriftenzunjähig zu machen. 

„Die ſtarke Abwanderung der Juden muß man fi nicht nur dann bor 
Augen halten, wenn man das Deutichthum in den Städten ber Provinz Poſen 
überhaupt, fondern auch, wenn man die einzelnen gewerblichen Berufe beurtheilen 
will. So lange die Juden einen großen Theil der ftädtifchen Bevöllerung aus⸗ 
machten, waren fie nicht nur in den Zweigen des Handels, fondern auch in denen 
des Handwerks zu finden und ließen fein ſtarkes polnisches Handwerk auflommen.“” 
(Dr. Leo Wegener: „Der wirthichaftliche Kampf der Deutfhen mit den Polen um 
die Provinz Bofen.”) Aber auch diefer-Gefichtspuntt kann noch nicht das Sinten 
der jüdifchen Bevölkerungziſſer von 70 0000 auf 30433 in fiebenzig Jahren bei 
wachſendem Wohlftand ber Brovinz eıflären; und noch weniger die faft zur Ka⸗ 
Iamität gewordene Unmöglichleit für jüdifche Eltern, ihre Kinder, befunders in ben 
fleinen Orten, an ben Oſten und an das väterliche Erbe zu feffeln. Wir müflen 
alfo noch nach anderen Gründen fuchen. Induſtrie fehlt, wegen der Armuth des 
Bodens an Naturprodukten, dem Dften faft völlig. Sein Lebensnerv ift die Lande 
wirthſchaft. Ihr Werth ift in den legten Jahrzehnten aus den verfchiedenften Gründen 
geftiegen. Der Kampf um den Boden fchuf erhöhte Konkurrenzpreife, Die Intelligenz, 
und der Fleiß der öſtlichen Landwirthe trug zu intenfiver Bewirthichaftung bei, 
bie Schutzzölle ihaten das Ihre. Der Often blüht aljo wieder auf. Und trotzdem 
die übermäßige, weder durch den polniſchen Zuſammenſchluß noch burch allgemeine 
wirtbfchaftlicde Entmwidelung zu ertlärende Abwanderung der Juden! 

Während die Polen jest ihr Monroewerk gleichſam Trönen, indem fie durch 
Judenhetzen den Juden die Refte ber polnifchen Erwerbsquellen zu enireißen trachten, 
gingen die proteſtantiſchen Deutfchen einen anderen Weg. Sie fingen mit Juden⸗ 
hegen an; und heute bemühen fich Fuge Leute, zurfidzuftoppen, weil fie (freilich 
zu ſpät) bie Bedeutung der Juden für die Erhaltung des Deutſchthumes im Diten 
einzujehen beginnen. Bis zu dem Augenblid nämlich, wo die preußiiche Regirung 
ide Anſiedelungwerk begann (1886), konnte fie der polnijchen Bewegung nichts 
Anderes wirkſam entgegenjegen als ihren vorzüglich funktionirendenBeamtenapparat. 
Daß alle gegen die Polen direkt gerichteten Maßnahmen dem Slaventhum nicht 
das Mindefte anthaten, daß die Politik der Nadeljtiche und der Bedrüdungen die 
Polen nur zu mandherlei Opfern perfönlicher Art antrieben und fie noch enger zu⸗ 
ſammenſchmiedeten, ift heute allgemein anerfannt. Der Werdeprogeß Neupolens 
in Breußen wurbe beichleunigt; aber neben diefem Fehler der künſtlichen Beſchleu⸗ 
nigung fommt als untilgbar auf das Konto der Beamtenpolitik die Schwächung 
des Deutfchthumes durch die Verdrängung der Juden. 





Die Juden in Poſen. 65 


Sn der Yubenfrage rechnete man nämlich einfach fo: Wenn wir den Juden 
a'8 Konkurrenten ausfchalten und wenn wir an fetne Stelle einen proteftantiichen 
Deutichen fegen, dann haben wir getvonnenes Spiel. Diefes Spiel hatte aber drei 
ganz mwejentliche Fehler. Den Juden auszujchalten, Tonnte zwar nicht ſchwer fein. 
Dem Bolen ift e8 gelungen; uns wirb es auch gelingen. Aber erftens gab e8 feinen 
dem Juden gleichwerthigen Erſatz dem Polen gegenüber, zweitens hielten fi Polen 
und die übrigbleibenden Juden von dem Neufolonifator beruflich nach Möglichkeit 
fern; Drittens verlor der beutfchproteftantifche Gewerbetreibende durch den Fortzug 
ber Juden gerade: jeine zahlungfähigften Kunden. Denn die Juden bildeten ben 
nationalen und wirthichaftliden Kern des Deutſchthumes. Sie waren aus dem 
übrigen Deutichland hier eingewandert. Neben ihnen lebten nur wenise chriſtliche 


— in der Oſtmark. Sy meit fie,in I 
amberger), gingen fie im Bolenthu 


g mit. Von den Juden dagegen iſt — einzige Familie 
— diile ſind treue Dentfche geblieben. Ihre Umgangsſprache war und 
ift Die deutfche. Freilich waren fie jo weife, neben der beutichen auch die polniſche 
Sprache zu lernen, konnten alfo nicht nur die Händlerrolle innerhalb der Oftmart 
fpielen, fondern auch die natürlichen Wermittler des öftlichen Handels, auch des 
zuflifchen, mit dem Weften werden. Nur wer das Aufblühen des polnifchen Ge⸗ 
werbes jeßt bier beobachtet und weiß, daß dieſe Blüthe exft nad) der Bejeitigung 
ber Juden möglidy wurde, kann ermefien, welchen Werth die Juden für den Often 
hatten. Wenn wir ferner den Poſener als Menſchenſchlag eigener Art beurtheilen 
wollen, als Erziehungprodukt der ganz einzigartigen gefellichaftlichen, wirthichaft» 
lichen und politifhen Berhältniffe, dann dürfen wir uns nicht durch einzelne un 
angenehm in die Augen fallenden Typen beirren laſſen. Volkswirthſchaftlich be» 
beutetet ber Jude des Oſtens einen ftrebfamen, fleißigen, reellen Deutihen. Denn 
nur durch dieſe Einenichaften kann er ſich überhaupt konkurrenzfähig erhalten. Der 
Jude zeigt eine große Neigung, Über die Grenzen feines Berufes hinaus zu wollen 
und zu können. Hier blühen wiſſenſchaftliche Lirkel und Vereine. Bei allen wiffen« 
ſchaftlichen und künſtleriſchen Darbietungen ſieht man Juden auffallend reichlid) 
als Bäfte. Die pofener Akademie hatte im Winterhalbjahr 1906/07 568 evange⸗ 
liſche, 176 katholiſche und 169 jüdifche Hörer; im Winterhalbjahr 1907,03 301 evane 
gelifche, 121 katholiſche und 56 jüdifche Hörer. Ein die judiſche Intelligenz ehrendes 
Verhältniß. Unübertroffen im ganzen Reich find die Juden der Oſtmark auf dem 
Gebiet des Wohlthuns und ber Wohlfahrtpflege. Daraus ift wohl zu erflären, 
daß im neuften ftatiftifchen Bericht jüdifche Fürſorgezöglinge ganz fehlen. 
Einfichtige Berwaltungbeamte haben es längft aufgegeben, die Juden hier 
al$ eine quantitd negligeable zu betradhten. Wan hat erfamt, daß man Die 
Sudenfrage im Often anders beantworten muß als im übrigen Neid. Daß wir 
eine ſolche Ausnahmeftellung dantend ablehnen, bedarf faum der Erwähnung: Aber 
wir merken auch von ſolchem Verſuch abjolut nichts; vielmehr ſehen wir täglich, 
wie durch ſyſtematiſche Agitation untergeordnneter Organe verjucht wird, den Juden 
in allen Erwerbszweigen aus der Konkurrenz auszufchalten. Dieſe wirthichaftliche 
Seite iſt die wichtigfte; denn der offizielle Kampf für das Deutſchthum gegen Die 
Polen ſpielt jich zum größten Theil ja auf dem wirthichaftlichen Gebiet ab. Die 
Grundfrage bleibt: Werden ben deutſchen Juden von den deutſchen Proteftanten 






:66 Die Zukunft. 


Schwierigkeiten im Kampf ums Dafein gemacht und werden ohne Rückſicht auf 
Leiftung chriſtliche den jüdifchen Gewerbetreibenden vorgezogen? Diefe Frage kann 
Niemand verneinen. Uinfere Gegner follten aber bedenfen, ob bie von ihnen unter- 
ftägten Srüdeneyiftenzen den freiringenben Juden gleichwerthig erjegen können. 

Zwei große Organifationen find für die Juden in ber Oſtmark von größter 
Bedeutung geworden: die Grundung der Anfiedelungslommilfion im Jahr 1886 und 
ber im Jahr 1894 gegründete „Verein zur Förderung des Deutichthumes in ben 
Oſtmarken“, nad den Anfangsbuchftaben der Gründer Hanſemann, Kennemann 
und Thiedemann auch H. K. T. Verein genannt. Das Programm bes Hafatismus 
verbient Unerfennung. Cr will dur Stipendien die Ausbildung aller beutfchen 
Gewerbetreibenden fördern. Auch bemüht er ſich, Handwerkern, Kaufleuten, Werzten 
und Redtsanmwälten geeignete Orte zur Niederlaffung nachzumeifen. Die ale Deutfchen 
ohne Unterfchied der Konfeſſion zufammenfaffende Tendenz ift jedoch völlig ver- 
foren gegangen. Die in großer Anzahl aus rein deutſchen Gegenden nach bem 
Dften verfegten Beamten brachten für das Prinzip der deutſchen Bufammenfaffung 
und für die wirthfchaftliche Bedeutung der Juden kein Verſtändniß mit und pflegten 
in dem Berein, bem faft jeder Beamte angehört, ben Antifemitismus. Sie thun 
e3 jest zwar faum mehr offen; in feinem Reſſort aber fchaltet jeder Beamte, wenn 
es irgend gebt, bie Juden bei Lieferungen und Vergebung von Arbeiten aus. Ihnen 
ſchloſſen ſich natürlich alle Gewerbetreibenden an, denen dieje Begünftigung reich. 
lich Vortheil bringt und Die deshalb Antifemiten von Konkurrenz wegen find. Der 
H. K. T.⸗Verein ift alfo Die Berlörperung des praftifchen Judenboykotts geworben. 

Bon bier aus wurbe auch die Anklage gegen die Juden wegen nationaler 
Uuzuverläffigfeit verbreitet. Sie ftügte fih in den legten Jahrzehnten befonders 
feft darauf, daB gerabe in den politifchen Kreifen, denen die meiften Juden ane 
gehören, eine deutlich ausgejprochene Skepſis gegenüber den Maßnahmen der Re⸗ 
girung laut wurde. Das Recht zu foldher Stepfis fcheinen die Urbeutichen heute 
für ſich allein in Anfpruch zu nehmen. 

Ein Wort zur hiſtoriſchen Entwidelung dieſes Mißtrauens. Nach dem Be» 
ginn der antipolnifchen Aera in ben dreißiger Jahren wurden die Juden zunckhſt 
der Spielball zwifchen den einander befämpfenden Parteien, den Deutichen und den 
Polen; fie merkten nicht oder wollten vielleicht nicht merken, daß man fie als eine 
eigene Partei betrachtete. Unter dem polnifchen Drud auf der einen, Dem beutfchen 
Antifemitismus auf der anderen Seite ſchwankten die Juden hin und ber. Nein 
äußerlich zeigt ſich dieſes Schwanken in den Vorgängen bei der Feftfegung der Fa⸗ 
miliennamen. Unter Brüdern nannten ſich ſolche, die mehr polnifche Beziehungen hat⸗ 
ten, mit polnifhen Eigennamen, Die anderen mit deutichen; zum Beifpiel: Samter- 
Szamatulsti, Schwerſenz⸗Schwerſenzki, Smoſchewer⸗Smoſchews ki, Warſchauer⸗War⸗ 
ſchawſki, Plonſk⸗Plonſti. Bald kam die Zeit, wo ſich die Polen von allen Nicht⸗ 
polnifchen losfagten. Bon der Regirung wurden dann die Juden Heute verwöhnt, 
morgen abgeftoßen. Diejer Fehler Hat fi an den Juden und an der Megirung 
in gleicher Weife gerät. Die Regirung hätte durch Zufammenfaffung die politifch 
unerfabrenen Juden an jich feffeln miüffen. Bei dem Hin« und Herftoßen wurden 
die Juden jedoch wirr und planlos, was ſich durch den Mangel an jeder zuſam⸗ 
menfaflenden Organijation unter ihnen jchließlich bis in Die heutige Zeit hinein 
fühlbar machte. Hierzu kam, daß die Juden den driftliden deutſchen Kulturträgern 


Die Juden in Poſen. 67 


eine billige Gelegenheit boten, den Aerger über das Mißglücken aller antipolniſchen 
Maßregeln an einem gebuldigen Prügelknaben auszulafjen. | 

Welchen Einfluß Hatte nun die Thätigkeit ber Anfiebelungstommilfion auf 
‚bie Lage ber Jude? Gie arbeitet jegt feit zwanzig Jahren. Sie ift eine Löniglich- 
preußiiche Behörde. Das bedeutet zunächſt, daß fie gegenüber dem leichter are 
beitenden polniichen Apparat ſchon durch ihre fchwerfällige Organijation gehemmt 
ift. Ihr fehlt völlig der gefunde, praktiiche, die gute Gelegenheit fchnell erfafjende 
Kaufmannsgeiſt Diefer Grundfehler Hat ſich bitter gerädt; die Kinderjahre waren 
fehr koſtſpielig. Die Juden aber wurden dadurch die Leidtragenden in der Ge» 
ſchichte der Anfiedlung, daß diefe, dem Zug der Beit folgend, al ihre Gründungen 
genoſſenſchaftlich aufbaute und dadurch viele Zwiichenhändler ausfchaltete. Bei ber 
Wichtigkeit Diefes Theiles der Darftellung fei es geftattet, einige Beilen der lehr- 
reichen Yubiläumsichrift der Kommiffion felbft wiederzugeben: „Die Anfiedler in 
‚idrer ilolirten Stellung vor Ausbeutung zu fchligen, gab e8 nur ein Mittel: die 
organifirte Selbithilfe, wie fie fi in Genoſſenſchaften findet. Bon der Einführung 
des Genofſſenſchaftweſens in die Anfiedlungen und der nachhaltigen Pflege des ge- 
noſſenſchaftlichen Geiſtes Tieß fi außerdem zugleich eine günftige Wirkung auf 
das Gemeindeleben erwarten. Das Erfte, was in diefer Richtung geichah, war bie 
Gründung deuticher Spar» und Darlehnskaſſen in den neuen Gemeinden... Wie 
ſich aber allgemein im Genoffenfhaftwefen die Erfenntniß Bahn brach, daß es mit 
den Spar» und Darlehnskaſſen allein nicht gethan fei, fo auch im Anjiedlungs- 
‚gebiet. Um den genoflenfchaftlicden Zwed zu exreichen, auch, um Betriebe auf An- 
ſiedlungsgütern zum Nugen der Anfiedlung fortzuführen, war es nöthig, Belriebd» 
genoſſenſchaften (Molkerei⸗, Brennerei⸗Genoſſenſchaften, Ein» und VBerfaufsvereine 
-und jo weiter) einzurichten. Ein Theil der Landwirthe fuchte ſich Dadurch zu helfen, 
daß er den Kaufleuten und Handwerkern Waare und Lohn über die Ernte hinaus 
fchuldig blieb, wodurch Diefe gezwungen waren, von ihrem Großhändler und ihrem 
Fabrikantenten über Gebühr fangen und theuren Kredit in Anſpruch zu nehmen, 
‚und manches gewerbliche Unternehmen konnte nur deshalb nicht gedeihen. Haupt» 
ſächlich aber machte der Landwirih feine Geſchäfte mit dem Getreibehändler. Er 
verlaufte ihm jein Getreide, bezug dafr von ihm Futter und Düngmittel, ver- 
‘handelte ihm fein Sieh, übertrug ihm die Verfiherungen, furz, er bediente ſich 
feiner zugleich al Abnehmers, Lieferanten und Bankiers in laufender Nechnung. 
Das vertheuerte die Wirthichaft und machte fie unüberjichtlich, und Die Folge war 
nicht felten der finanzielle Zuſammenbruch. Der Staat glaubte, in der Anfiedlung 
deuticher Bauern das Mittel gefunden zu haben, Der Uusbreilung des Polenthumes 
zu fteuern. Daher Hatte er bie Pflicht, mit allen ihm zu Gebot ftehenden Mitteln 
die neu bergezogenen Deutichen zu fihern. Das fid) ihm hierfür im Genofjenjchaft» 
wejen das einzige Mittel bot, liegt im Wefen unferer ganzen augenblidlichen wirth⸗ 
ſchaftlichen Anſchauungen, denen ſich zuallerletzt die Regirung verſchließen kann. 
A. Zwanzig Jahre deutſcher Kulturarbeit.“) 

Die Anſiedlungskommiſſion hat der Judenabwanderung ihre Aufmerkſamkeit 
zugewandt und feſtgeſtellt, daß fie zwar unaufhaltſam vorwärts ſchreitet, aber in 
den Städten des Anfiedlungsgebietes langſamer al3 in den anderen Städten. Die 
-Sommilfion ſucht den Grund dafür in der veichlicheren Ermwerbsgelegenheit, die ihr 
"Gebiet gewährt. In Mogilno trat im legten Jahrfünft fogar eine Bermehrung des 


68 Die Zukunft. 


jübifchen Bevölkerunganiheils (um 10 Prozent) ein. Dieſe Verhältniffe werber 
Durch folgende Zabelle Mar: Nach Zahrfünften verlief Die prozentifche Abwanderung 
ber Juden wie folgt: 
1885—90 90-95 95-00 00-05  1885—05 
Anfiedlungfäbte .. — 1181 — 9,45 — 1035 —1562 —- 39,59 
Andere Städte... . — 15,22 — 15,27 —1871 —2164 — 51425 


Die leitende Behörde macht in ihren Bezirken keinen Unterfchieb zwiſchen 
Juden und Ehriften. Hierfür fpricht das von ihr heraus gegebene Berzeichniß ber 
deutfhen Handwerker und Gewerbetreibenden, das jedem Anfiebler als Wegweiſer 
für feine Ein- und Berläufe in die Hand gegeben wird, und außerdem der amt» 
liche Anzeiger der Königlichen Anfiedlungsfommiffion „Neues Bauern-Lanb“. In 
dem Berzeichniß find ſämmtliche jüdifchen Firmen, Aerzte und Anwälte neben ben 
nicht jüdischen Deutichen genannt. Das Berzeichniß mander Ortfchaften macht faft 
den Eindrud einer jüdifchen Geſchäftsliſte. Ter amtliche Unzeiger wird von fehr 
vielen Juden als Annoncenorgan benügt. Daß hier und ba Verwalter ihrem are 
tijemitifchen Herzen durch Ausichallung der Juden Luft zu machen ſuchen, ift 
nicht zu verhindern. Aber e8 ift uns authentiſch bekannt, daß judenfreie Verzeich⸗ 
niffe, die von antifemitifchen Herren eingereicht waren, von der Bentralbehörbe 
beanftandet wurden. 


Es kann feinem Zweifel unterliegen, daB der genoffenfchaftlidhe Handel für 
die eriten Jahre bes Anfieblerlebens in der Oſtmark der rationellfie Betrieb ift. 
Die hier noch fremden Bauern bedürfen der ftaatlihen Stüge; nur fragt ſich, ob 
bieje eine dauernde fein fol oder muß. Denn bei der Berechnung des Anfiedlungs 
und Genofjenfchaftgefchäftes haben wir zunächſt jegt mit einem Minus zu rechnen, 
nämlich dem Berluft felbftändiger deutſcher Eriftenzen zu Gunflen bedürftiger, an 
Zahl allerdings überlegener beutfcher Bauern und Gewerbeizeibender. Wenn die 
Anfiedlungpolitif im Lauf der Jahre fi als gute Berzinfung der vielen Millionen 
erweilen wird und wenn die Unfiedler völlige Selbftändigfeit erreicht haben wer⸗ 
den, dann wird die Abwanderung nicht zu bedauern geweſen jein, jo fchwer die 
geichäftlich Geſchädigten fie Heute auch empfinden mögen. 

Mit den Genoſſenſchaften, Die noch eine breite Eriftenzfläche für den freien 
Verkehr übrig laffen, arbeiten Juden recht reichlich. Trotzdem bleibt vom volks⸗ 
wirthichaftlicden Standpunkt aus zu bedauern, daß im Gange einer vielleicht noth⸗ 
wendigen, ficher aber nicht ftetS und überall glüdlich und gefchidt durchgeführten 
Politik eine im wirthſchaftlichen Kampf bewährte Anzahl von Juden verdrängt 
werden mußte, um einer großen, für viele Jahre hinaus ohne Stüße nicht exiftenz⸗ 
fähigen Maſſe Platz zu machen. Wer nun noch die Refte der Juden verdrängen 
will, Der bedenke vorher, daß die Dftmarlenfrage eine rein wirthſchaftliche ge⸗ 
worden und daß der Jude in der Oſtmark Hiftorich fefter verwurzelt ift als die 
vielen dem hiefigen harten Boden fremden neuen Kulturträger. Auch vergefle man 
nicht, Daß das Benofjenichaftweien, wie Alles im volkswirthſchaftlichen Zeben, nur 
ein vorübergebender Buftand ift, der entweder zum höheren und größeren, über 
die engen Grenzen einer Provinz hinaus reichenden, alfo an nationalen Kämpfen. 
nicht mehr intereſſirten Gejchäftverband führt oder fich auflöft und wieder der freiers 
Konkurrenz weicht. Beide Möglichkeiten bieten dem Deutſchthum nicht gerade die 





Die Juden in Poſen. 69 


gänftigften Chancen. Dabei bleibt die Judenfrage alfo immer ein wichtiger Theil 
der deuiſchen Oſtmarkenfrage. 

Die ökonomiſche Entwickelung ber polniſchen Banten beleuchtet ber von ber 
Bank Braemisloweom (Polniſche Handbiwerkerbanf) herausgegebene Bericht über das 
Jahr 1907. Trotz ber allgemeinen ungünftigen Seichäftslage Hatte die Ban eine 
erhebliche Steigerung bes Geſchäftsverkehrs zu verzeichnen. Berlufle hatte fie nicht, 
fo daß der Reingewinn 483 275,65 Mark beträgt und die Vertheilung einer Divi⸗ 
dende von 7 Prozent vorgefchlagen werben konnte. Die Geſchäftsantheile betragen 
3173 913 Mark; zur Bertheilung der Dividende find alfo 333 987,90 Mark ere 
forderli; dem Reſervefonds follen 87 655 Mark zugefchrieben werben, fo daß er 
nun um 600000 Marf die gefeglich vorgefchriebene Höhe Überfteigen wird. Die 
Entwidelung ber Bank zeigen ein paar Biffern. Zahl der Mitglieder im Jahre 
1900: 2916; 1906: 5075; 1907: 5314. Höhe ber Geichäftsantheile im Jahre 1900: 
1 465 278 Marl; 1906: 4520408 Marl; 1907: 5173 913 Mark. Höhe ber Depo⸗ 
fiten im Jahr 1900: 3 812 248; 1906: 15 060 586; 1907: 15300939 Mark. Wechſel⸗ 
verfehr 1900: 4 680493; 1906: 18 258 432; 1907: 20 116 782 Mar. 

Jeder einzelne Bole, ber Arbeiter wie der Edelmann, ift längft aud auf 
dem Birtbichaftgebiet ein Kämpfer für die gemeinfame nationale Sache geworben. 
Wie anders iſts bei den Deutfchen! Hier überwog bis in die jlingfte Zeit bie Bes 
geilterung des Wortes, die ſich zum engherzig Tonfeffionell trennenden Chauvinismus 
auswuchs, während die wirthichaftliche Seite wenig beachtet wurde. Das iſt von 
um jo größerer Bedeutung, als das Bolentyum vor dem Deutichthum bes Oſtens 
ſchon einen natürlichen Vorſprung bat. Denn jenes befteht faſt ausſchließlich aus 
Leuten, die für den freien Wiriſchaftmarkt Wertbe fchaffen und deren Arbeit dem 
geſammten Polenthum zu Gute kommt, während im Centrum des Deutſchthums ein 
großes Beamtenheer fteht. Auch haben viele eingewanderte Deutiche die Neigung, ihre 
Kaufbedärfnifie in der Heimath oder ſonſtwo im Weften zu deden; beſonders gern thun 
Das die Beamten. Hierdurch wird der deutfche Handel in der Oſtmark geichädigt. 
Und wo es gebt, wirb nit beim Juden gelauft. Die Polen Zonjumiren mehr, 
beziehen Alles aus polnischen Gefchäften und vielfach ift fchon das Eindringen der 
polniihen Konkurrenz in den deutſchen Konſumentenkreis zu merlen. Im Leben 
der Völker beweifen Exfolge die Richtigkeit des Handelns. Die felbftändigen Juden 
werben‘ verdrängt; fie follen Kolonifatoren, bie der Stüge bebürfen, Bla machen. 
Das follte den Leitern der Gejchide unjerer Grenzmarck zu benten geben. 

Wir Aerzte kommen mandmal in die Tage, am Stranfenbett uns fagen zu 
müflen: „Was wir thun, ift falfch.” Das ift für uns bie fürchterlichfte Situation. 
In dieſer Lage tft feit Jahrzehnten bie preußifche Regirung. Aber bie ärztliche 
Kunft ift Jahrtauſende alt. Sie gab uns alte Erfahrungen: Sammlung ber Kräfte 
und Ruhe! Beides wäre auch dem DeutichtHum ber Oſtmark dringend zu wünfchen. 
Jeder Oſtmärker hat feine eigene Antwort auf die Oftmarkenfrage. Es ift ſtets 
ein jchlimmes Zeichen für die Heibarkeit einer Krankheit, wenn fie allwöchentlich 
den Ruhm neuer Heilmittel verkünden hilft. 

Bofen. Dr. med. Karl Kaſſel. 


3 





To Die Zukunft. 


Motorluftfchiffahrt. 


a8 Jahr 1908 ift das bedeutfamite in der Geichichte der Motorluft⸗ 
ſchiffahrt. Wright und Zeppelin find die beiden Namen, die vornehmlich 
dieſem Jahr zu joldem Glanz verhelfen. Zeppelin hat fchon 1907 und 1906 
glänzende Erfolge errungen. Aber erft die einundzwanzigftündige Dauerfahrt 
über eine Entfernung von 650 Kilometer (am vierten Auguft) bat ihn zu 
‚einem der berühmteften Männer der Welt und zu einem der populärften 
Männer der deutichen Nation gemadt. Die erften großen Erfolge der Ges 
„brüder Wright liegen noch weiter zurüd, Wie Beppelin die Leiftungfähigteit 
feines Aluminiumluftichiffes durch die je vierftündigen Dauerfahrten am neunten 
und zehnten Oktober 1906 dem fachverftändigen Auge bemiefen hatte, jo hatten 
fi die Gebrüder Wright ſchon am fiebenzehnten Dezember 1903 durch vier 
‚erfolgreiche Flugverjuche auf ihrem joeben mit einem Motor ausgeſtatteten 
: Drachenflieger von der Löſung des älteften und ſchwierigſten technifchen Bro» 
blemes der Dienfchheit überzeugt. | 

Seit diejen entjcheidenden Tagen hatten die Gebrüder Wright und Graf 
.Zeppelin zu ihrer Erfindung unbedingted Vertrauen. Aber die Welt theilte 
dieſes Vertrauen nicht. Hätten die Verbündeten Regirungen fi) damals ſchon 
von der Leiſtungfähigkeit des Aluminiumluftfchiffes überzeugt, fo hätten fie vom 
Reichstag einen jährlichen Kredit von 20 Millionen Mark verlangen müſſen. 
Dann würde heute Deutichland eine jo mächtige Aluminiumluftflotte befigen, daß 
die marilime Ueberlegenheit Großbritaniens ernftli in Frage geftellt un) die 
militärijche Ueberlegenheit Deutichlands über Frankreich beträchtlich vergrößert 
wäre. Graf Zeppelin hielt nicht? geheim; der breiteiten Deffentlichteit ge» 
ftattete er Einblid in feine Erfolge. | 

Anders handelten die jungen gefchäftsfundigen, unternehmungluftigen 
Tahrradfabrifanten zu Dayton in Ohio. Mit ihren Fahrrädern hatten die 
Gebrüder Wright Ion als Sünglinge die ſchönſten gejchäftlichen Erfolge ge⸗ 
habt. Am Abend des fiebenzehnten Dezember 1903 bejchloffen fie, fich ihre 
Flugmaſchine patentiren zu lafien, um durch Verkauf ihres Patentes an eine 
oder mehrere der europäilchen und amerikaniſchen Regirungen jchnell Millionen 
zu verdienen. Aber fie hatten die Rechnung ohne die Schwerfälligfeit der 
Kriegäminifter und Yinanzminifter gewacdt. Noch Ende September hatte feine 
Regirung auch nur ein Exemplar diejes wunderbarfjten Fahrzeuges erworben, 
das je auf Erden eriftirt hat. 

In den Jahren 1904 und 1905 fegten die Gebrüder Wright ihre Flug» 
verfuche nur im Geheimen fort. Einzelne ausgewählte Zeugen wurden mit» 
unter von ihnen geladen. Als Gleitflieger ohne Motor waren fie in den 
Sahren 1900 bis 1903 in der aeronautiihen Welt rühmlichit befannt ges 





Motorluftſchiffahrt. 7F 


worden. Jetzt entſtand ein Kranz von Sagen um ihre Perſon. Was die 
Welt direlt oder indirekt von ihnen hörte, klang wie ein Märchen aus Tauſend⸗ 
undeine Nacht. Dem Durchſchnittsmenſchen war es leichter, an irgendein Wunder 
zu glauben als daren, daß man ohne Gasballon willlürlich durch die Luft: 
zu fliegen vermag. In den Beitjchriften der Aeronautik lad man, daß am, 
fünfzehnten September 1904 den fliegenden Brüdern geglüdt fei, zum erſten 
Mal im Fluge umzudrehen. Am zwanzigften September 1904 kehrten fie- 
nach Beichreibung eines volllommenen Ktreiſes zum erften Mal an ihren Aus⸗ 
gangspunkt zurüd. Am erften Rovember 1904 hatte ein Wright (fie fuhren da⸗ 
mals noch einzeln) einen Ballaft von fünfunddreißig Stahlftangen an Bord. 

Die wiſſenſchaftlichen Häupter der Aviatit mißbilligten öffentlich die 
Geheimnigfrämerei der amerikaniſchen Gejchäftsleute. Selbſt Kapitän Ferber 
in Frankreich ſchien an ihrer Solidität irr zu werden. Nur der chicogoer 
"ingenieur Chanute, der ihre Beftrebungen feit dem Jahr 1896 auf Grund 
feiner perjönlichen Belanntichaft mit dem damal3 verunglüdten Dito Liliens 
tbal in Berlin als Berather unterftügte, verlor niemal3 da3 Zutrauen zu der: 
Wahrheit ihrer Berichte. | 

Im September 1905 find die Wrights zum erften Mal 15 Stilometer,. 
dann in rajcher Reihenfolge 16'/,, 18 und fchliehlich am fünften Oktober 1905 
39 Stilometer geflogen. Wilbur Wright, der dann in Ye Mans feine Flüge 
unternahm, war «3, der an diefem Rekordtag in 38 Minuten und 3 Sekunden 
über einer Wieſe mäßigen Umfanges fo oft einen Kreis bejchricb, daß die zus 
rüdgelegte Entfernung 39 Kilometer betrug. Die Yahıt fand ihr Ende erft 
nad dem völligen Verbrauch des Brennmateriald. In der Umgegend von. 
Dayion erregten dieje Fahrlen, die den Landleuten am frühen Morgen wie 
am Abend nicht verborgen blieben, großes Auffehen. Die Gebrüder Wright 
beichlofien, ihre in einem einfamen Schuppen vor der Stadt untergebradhte 
Machine audeinanderzunehmen, die Verſuche einzuftellen und Berlaufsver» 
handlungen mit den Regirungen zu beginnen. 

Erft im Lauf des Jahres 1906 wurden die Ergebnifle diejer Fahrten. 
in Deutichland und Frankreich belannt. Jetzt war die Deffentlide Meinung 
überzeugt, daß man e3 mit noch Schlimmerem ald mit einem amerifanijchen 
Bluff zu thun Habe. In deutichen Zeitungen las man bis vor wenigen Monaten 
oft von den „lügenden” (itatt „fliegenden“) „Brüdern“. Das ſtärkſte Miß⸗ 
trauen aber äußerten die Fachleute in der ganzen Welt. 

Als ich im Herbft 1906 daran ging, die künftige Entwidelung Deufjch- 
lands unter dem Geſichtspunkt des Fortſchreitens der Motorluftichiffahrt zu: 
beichreiben (mad in meinem Buch „Berlin-Bagdad, das Deutiche Reich im 
Zeitalter der Luftichiffahrt 1910 bis 1931” gejchah), hielten die Sachver⸗ 
ftändigen den Grafen Zeppelin für einen Optimiften, von deſſen Syſtem bald 


72 Die Zukunft. 


Niemand mehr reden werde, und die Gebrüder Wright für Männer, von denen 
zu fprechen fich nicht lohne. Nach jorgfältiger Prüfung der wiſſenſchaftlichen 
Literatur und aller mir bekannten Thatſachen kam ich zu dem Eırgebnif, daß 
Graf Zeppelin in menigen Jahren mindeſtens einen Tag in det Luft bleiben 
Tönne und daß alle Angaben der Gebrüder Wright über ihre Rekordfahrten 
vollkommen vertrauendmwerth und richtig feien. Sumarom, der ruſſiſche Napoleon 
‚meines Buches, wirft die ruſſiſche Revolution ala Freund der Gebrüder Wright 
and mit Zeppelin Aluminiumluftfciffen nieder. Kaiſer Wilhelm hält am 
eriten Januar 1910 vor feinen Kommandirenden Generalen und Admiralen 
eine Rede, in der er die Forderung eines Kredites von einer Milliarde Marl 
für 30 000 Flugmafchinen und 400 Transport⸗Luftſchiffzüge zeppelinifcher Slon: 
ſtruktion anlündet, um im Nolhfall eine halbe Million Mann in einer Nacht 
über den Kanal nah England werfen zu können. 

Die Fahrt des Grafen Zeppelin (am vierten und fünften Auguft 1908) 
bemweilt, daß fein Aluminiumluftjhiff Nr. 4 mit einer durchjchnittlichen Ge: 
ſchwindigkeit von 54 Kilomelern in der Stunde ununterbrochen ohne Nach: 
fülung von Ga3 oder Benzin zehnmal von Salaid nach Dover und wieder 
zurüdfahren Tann. Die kommenden Aluminiumluftfchiffe des Grafen Beppelin 
werden größer, tragfähiger und jchneller fein. Seit ven Rekordfahrten Orvilles 
Wright (über das Paravdefeld bei Fort Meyer in der Nähe von Wafhington) 
wiſſen wir, daß eine Flugmafchine nicht nur die 35 Kilometer lange Strede 
von Salat? nach Dover, fondern auch in dem jelben Flug wieder zurüdfahren 
Tann. Am einundzmanzigfiten September 1908 iſt Wilbur Wright bei Le Dlar.s 
anderthalb Stunden in der Yuft geblieben und hat rund 90 Kilometer durchflogen. 

Schon jet tragen die Ylugmafchinen der Gebrüder Wright, der Herren 
Farman und Delagrange auch zwei Perfonen. Schon im nächſten Jahr werden 
wir größere Drachenflieger haben, die drei oder vier Perjonen tragen. Eine 
der wichtigften Fragen der militäriichen und politiichen Machtvertheilung in 
der ganzen Welt ift von jet ab die Frage, wie weit die Tragfähigkeit diefer 
nicht von Gas getragenen Flugmaſchine gefteigert werden kann. Werden die 
Drachenflieger auch fünf oder zehn Perjonen über den Kanal Iragen können? 
Ich zweifle nicht, daß es ſchon in zwei oder drei Jahren möglich fein wird. 

England ift feine Sinfel mehr. England no longer Island! Dieſe 
Worte haben nad dem Erjcheinen meines Buches „Das Zeitalter der Motors 
luftſchiffahrt“, aus dem Bruchftüde im London Magazine abgedrudt wurden, 
die Hunde durch die engliiche Preſſe gemacht. Ich hatte ein Kapitel meines 
Buches mit diejer Meberfchrift verjehen. Damals galt dad Wert nur für die 
von Gas getragenen Motorluftichiffe und eigentlich faft nur für die Aluminium- 
luftſchiffe. Heute ift England aud für Flugmaſchinen ohne Gadballon feine 
Sinfel mehr. Schon deshalb wird das Jahr 1908 in der Weltgefchichte dauernd 


Motorluftfgiffahrt, 73 


als der Beginn einer neuen Epoche betracdytet werden. Was nüpt den Brilen 
ihre Seeherrfchaft, wenn fie fich nicht gegen eine Landung durch die Luft ber» 
ankommender feindlicher Truppen oder auch nur gegen eine erfolgreiche Be⸗ 
ſchießung ihrer Kriegshäfen, Kafernen, Werften, Dods und Kriegsſchiffe im 
Kanal und in der Nordfee Ihügen können? 

Je mehr man ſich von der Wahrheit dieſer Thatjache überzeugt, deſto 
fefter wird der Friede gefichert fein. Deutichland gönnt von Herzen den Eng» 
ändern ihren Beſitz und bat aus wirthfchaftlihen Gründen, al Hauptläufer 
der engliihen Waaren und als Hauptverläufer deutjcher Waaren nad Eng⸗ 
land, an einer friedlichen und gedeihlihen Entwidelung des engliichen Welt⸗ 
reiches in all feinen Theilen ein außerordentliches Intereſſe. Aber je mehr 
England die Ergebniffe der Rekordfahrten der Gebrüder Wright und des 
Grafen Zeppelin beberzigt, um jo mehr wird England bereit fein, daB be» 
zechtigte Streben Teutjchlands, feine wirthſchaftliche und politiſche Macht nad) 
dem Maße feiner Beoölterung, feiner Induftrie und feines Reichthumes aus» 
zudehnen, anzuertennen und nicht zu hindern. 

Der Bau einer deutichen Aluminiumluftflotte wird durch die Zerrüttung 
der Neichäfinanzen und das jährliche Riejendefizit des Reichs erfchwert. Das 
Reich jelbft wird fich wahrjcheinlih nicht entichließen, ſelbſt Luftichiffhäfen zu 
- bauen und Berkehräluftlinien einzurichten. Wenn die Heeresverwaltung im 
Krieg die Lokomotiven und Eiſenbahnwagen nicht aus dem Verkehr entnehmen 
Tönnte, wäre es um den Zruppentrandport ſchlecht beftellt. Die Maſſe der für 
den Truppentransport nöthigen Aluminiumluftiiffe muß im Krieg aus dem 
Verkehr zu nehmen fein. Deshalb habe ich am dritten September den „Deuts 
ſchen Berein für Motorluftihiffahrt” gegründet, der fih zur Aufgabe machen 
ſoll, allmählich Verkehrsluftlinien einzurichten. 

Biel ſchneller wird das Reich im Kriegsfall dazu gelangen, große Men⸗ 
gen von Dradenfliegern dem Berkehr zu entnehmen. Während ein großes 
Aluminiumluftfchiff mit der Motorballonhalle eine Milion Mark koſtet, iſt 
ein Drachenflieger ſchon jett für zmanzigtaufend Mark zu haben. Durch die 
große intuftrielle Maſſenfabrikation wird der Preis der Drachenflieger wahr: 
Tıheinlich auf zehntaujend Mark ermäßigt werben. Viele Neute, die heute ein 
Automobil haben, werden einen Drachenflieger anfchaffen. In wenigen Jahren 
wird es Zehntaufende von Drachenfliegern in Deutichland, Defterreich- Ungarn 
und der Schweiz geben. Für den Kriegsfall könnte das Rei um den Preis 
einer Milliarde fi) hunderttauſend Dradjenflieger anſchaffen, von denen jeder 
zwei Perſonen über den Kanal trägt. 

Der von mir begründete „Deutiche Verein für Motorluftichiffahtt” hat 
die Abficht, mit dem Bau eines Drachenfliegers zu beginnen und die Drachen» 
flieger jo bald wie möglich in Deutjchland populär zu machen. Es war ein 





74 Die Zukunft. 


Fehler der Regirung und des deutſchen Kapitaliſten, daß fie nicht Ipäteftena 
im vorigen Jahr den Bebrüdern Wright ihren Neroplan ablauften. Wir könnten 
Ihon jest Hunderte von Drachenfliegern mit außgebilveten Chauffeurs haben. 

Die Gebrüder Wright hatten 1907 bei ihrer Anweſenheit in Berlin dem 
Kriegäminifter angeboten, auf ihrem Aeroplan eine volle Stunde mit 60 km, 
Geſchwindigkeit uud zwei Perfonen an Bord zu fahren. Die zweite Berfon 
jollte durch eine Puppe dargeftellt werben. Erft nach diefer Glanzleiftung, 
hatte das Kriegsminiſterium für den Weroplan und das Recht feiner Vers 
werthung in Deutichland achthunderttaufend Mark zu zahlen. Die Gebrüder 
' Wright Haben am neunten und zehnten September 1908 diefe Vorführung mit 
glängendem Erfolg vor den Augen der amerikaniſchen Militärs und des ameri» 
kaniſchen Kriegäminifter3 unternommen. Wenn dad Reich feit dem Jahr 1898 
den Grafen Zeppelin reichlich mit Geldmitteln unterftügt und wein ed 1907 
den Gebrüdern Wright ihren Dracdenflieger abgelauft hätte, jo wären die 
Rekordtage vom vierten Auguſt und neunten September 1908 früher gekom⸗ 
men und Deutichland hätte den Bortheil davon gehabt. 

Seit dem Jahr 1908 find die Fortſchritte der Motorluftichiffahrt mili- 
täriſch und politiich von größter Bedeutung; und der Staatsmann ift zu bes 
dauern, der richt die Fähigkeit befigt, aus den Veränderungen der Technik 
dıe nothwendigen Konſequenzen zu ziehen. 

Reg.⸗Rath Rudolf Wartin. 


a3 
Anzeigen. 


Konftitution und Komplementät der Elemente, A. Francke, Bern. 2 Marl. 

Während man bisher nur rein Außerliche Kenntniß von den verichiedenen 
Elementen hatte und fich hierbei weder von ihnen felbft noch von ihren Unterſchie⸗ 
den bie geringfte Vorftellung machen konnte, lehrt meine Schrift diefe Elemente 
erft wirklich verftehen; fie jagt, was fie eigentlich find und wie fie fich zu einan- 
ber verhalten. Dabei widerlegt fie die heute noch allgemein giltige Lehre des Agno⸗ 
ftizismus, wonach man die Grundbegriffe Materie und Energie für unbedingt uns 
verftändlich Hält. Ich zeige, daß dieſe Anficht ein gewaltiger Irrthum tft. Weide 
Wörter betreffen die felbe kollektive Einheit und dieſe if, weil fie das einzige, ganz 
allgemeine wirkliche Wefen darftellt, nothwendiger Weile auch das leichteftverftänd- 
liche. An die Stelle der völligen Unbegreiflichkeit bes allgemeinen Grundprinzips 
tritt alfo feine Selbfiverftändlichkeit. Diefe Umkehrung des Urtheils ift eine voll» 
kommene wifienfchaftlicde Revolution. Die Wiſſenſchaft bebarf fortan keiner will⸗ 
firlichen Borausfegungen mehr. Die Ubleitbarleit aus einem einzigen Flaxen und 
felbftverftändlichen Grundbegriff nimmt ihr jede Unficherheit und verleiht ihr einen 
ganz beftimmten Charakter. Die Wiſſenſchaft wird hypotheſenfrei. Die Materie be» 
fteht aus lauter gleichförmigen Atomen. Dieje Erklärung flimmt noch mit der ge» 





. 


Ungeigen. 25 


wöhnlichen Atomiflit überein. Aber meine Atome, befigen ewig Lichtgeſchwindig⸗ 
Teit. Das ift jo neu wie die Bezeichnung ber Materie als „ewiges Licht”. Auch 
zeige ich, daß deſſen ganz maſſive Atome, die Lichtlügelcden ober Lichtpunkte, der 
Schwerkraft nicht unterworfen fein Fönnen und baß ſie wegen ihrer völligen Un⸗ 
veranderlichkeit nothwendig auch abſolut unſichtbar find. Dies zerſtört den Wahn, 
daß die Uratome der Maſſe bisher nur wegen der zu geringen Vergrößerungskraft 
der Mikroſkope unſichtbar geblieben ſeien, und offenbart einen ſchweren Irrthum 
der heutigen Wiſſenſchaft, nämlich bie Häufige Verwechſelung des Abſoluten mit 
dem Relativen oder, anders ausgedrüdt, der geiftigen Maffe mit einen befonderen 
Zuftand von ihr. Ich verfuche, zu zeigen, daß Abfolutes und Relatives einander 
ausſchließen. Jenes ift die Wirklichkeit, Diefes bildet den Begriff der Welt. Die 
Wirklichkeit geht nach ihm über alle weltlichen Dinge, die Erfcheinungen, hinaus. 
Sie if fo für die reine Erfahrung transizendent, aber die nothwendige Voraus⸗ 
fegung für ihr Verftändniß. Sie ift das Urelement, während ihre großen Vor⸗ 
gänge die großen Elemente der allgemeinen Weltorbnung find. Dieſe bilden, je 
nad dem Brad ihrer Allgemeinheit, verfchiebene Kategorien. Das erfte, allgemeinfte 
und abjolute Weltelement betrifft den ewig underänderliden Befammtzuftand aller 
Atome des ewigen Lichtes, mit anderen Worten: bie im Ganzen ewig gleichartige, 
wenn auch unermeßlich mannichfache Durcheinanderftrahlung aller Lichtpuntte. Diele 
wird noch genauer als eine unermeßlich zufammengejehte Doppelftraßlung definirt, 
worin alle Möglichkeiten, von ber größten Einfachheit oder Auflöfung an, dem 
einfachen Lichtftrahl, bis zur größten Zuſammengeſetztheit oder Berbichtung, dem 
dichteften chemifchen Element, in verſchiedenſter Weife räumlich vertheilt find unb 
durcheinanderwirken. Diejer beftimmte Allgemeinbegriff giebt die einfache Löfung 
des bisher noch ungelöften Räthſels ber Elektrizität und bes Elektromagnetismus. 
Die abfolute Weltordnung ift eleftromagnetifh. Damit ift der Zufammenhang 
meiner Auffaffung mit den Schlüffen der induktiven Experimentalforſchung ber- 
geftellt. Denn auch diefe legt allen natürlichen Dingen eine elektromagnetiſche Kon⸗ 
fitution zu Grunde, aber fie kannte bis jetzt ben Begriff des Elektromagnetismus 
erft aus feinen Wirkungen, aber noch nicht feinem wahren Weſen nach. Dieles 
Element erſter Ordnung, der allgemeine Eleftromagnetismus, ober diefe allgemeine 
Sauptordnung ber Maffe zerfällt nun weiter in zwei Elemente zweiter Ordnung, 
nämlich in eine undichte und in eine dichte Hälfte. Die erſte umfaßt alle offenen 
und relativ bewegten, aljo auch noch geiftigen Zuftänbe des ewigen Geiſtes, die 
zweite alle gefchloffenen und relativ unbewegten, alſo körperlichen Erſcheinungen 
feiner unſichtbaren Mafje. Und dieſe beiden @ebtete, das geiftige und das körper⸗ 
liche, zerfallen dann wieder in bie Elemente dritter Ordnung. Hier richtet ſich Die 
Zintheilung nad den drei Prinzipien der Raumvorftiellung, den monodimenfionalen 
Linien, den bidimenfionalen ebenen und ben tridimenfionalen krummen Flächen. 
So entftehen brei geiftige und brei körperliche Elemente. Die drei geiftigen find 
die Yarben, Töne unb Gafe, bie drei Förperlicden die Dämpfe, Flüffigkeiten und 
das Feſte. Mit biefen ſechs find die vier bisherigen Aggregatzuftände erfegt: der 
fteahlende, gasförmige, flüffige und fefte Zuftanb der Materie. Diefe blieben auf 
Grund des Agnoftizigmus ganz unerklärlich; es handelte ſich um oberflächliche 
Beobachtungen, zwifchen denen feine beftimmie Abhängigkeit feftgeftellt werben 
Tonnte, Bei ben ſechs neuen Aggregatzuftänden iſts anders. Die entgegengejebten 
6 


76 Die Bulunft. 


bavon ergänzen einander zu einer Geſammterſcheinung; fie find fomplementär wie 
bie gegenüberliegenden Yarben des Farbenkreiſes. Diefes allgemeine Ergänzung. 
verhältniß nenne ich, im Hinblid auf die brei Förperlicden Zuflände, ba8 große 
Strahlungsgeſetz. Das Komplementälprinzip [pielt auch bei der Ordnung ber nächſt⸗ 
folgenden Kategorie von Elementen, den phyſikaliſchen, den einzelnen Farben und 
Tönen, und ben eigentlichen chemijchen Elementen, eine wichtige Rolle und er- 
ſchließt deren Aufbau und Zufammenbang. An ihnen läßt fich bie Beränberlichkeit 
bes Komiplementätbegriffes beſonders leicht verfolgen. Dabei zeigt ſich. daB die 
Romplementät um fo vollkommener ift, je einfacher die Komplemente find. Mit 
dem Grade ihrer Komplerität nimmt ihre Ergänzungfähigleit ab. Dies erklärt, 
weshalb die Berechnungen der höheren Atomgewichte mit den erperimentellen Daten 
weniger volllommen übereinftimmen als die der niedrigen. Diefe neue Anwenbung 
bes Geſetzes von ber Ergänzung der Gegenſätze wirft auch auf das ſchwierige 
Problem der Balenz Licht. Bor Allem aber bürfte e8 große praltiiche Konſequen⸗ 
zen für die Syntheſe der chemiſchen Elemente haben. Theoretiich können fie nun 
alle aus Licht gemadht werden. Zuvor wird man aber natürlich bie einfacheren 
davon aus ben einfachften chemiichen darftellen ober diefe Durch Abbau aus jenen. 
Erperimentell fcheint die Nichtigkeit meiner Konftitutionformeln für bie chemifchen 
Elemente bereit# durch bie legten Verſuche Sir William Ramfays, ber Lithium 
aus Kupfer bargeftellt haben will, beftätigt zu fein. Diefe Konftitutionformeln 
bringen nämlich jene Elemente zu einander in genetiichen Bufammenbang. Meine 
Arbeit löſt, wie mir ſcheint, auch auf rein logifchen Weg ein in ben letzten Jahren 
von Landolt, Heydweiller und Anderen auf experimentellen Weg bearbeitetes Broblem: 
ob die Summe cdhemifcher Mafjen während ihrer Reaktion veränderlich ſei oder 
nicht. Diefe Frage wurde aufgeworfen, um Die Lehre Lapoifiers pen der Konftanz 
ber Materie experimental als richtig zu erweilen. Ta es fich aber bei diefem Be⸗ 
griff nur um den wägbaren körperlichen Zuftand der Materie handelt und nicht 
um dieſe jelbft, alfo um eine Verwechfelung des Relativen mit dem .Abfoluten, fo 
wurbe das Gegentheil ber Abficht erreicht und damit eine allgemeine Konfterna- 
tion unter den Chemilern hervorgerufen. Diefe wird nun durch den Nachweis bes 
Irrthums gehoben und bewieſen, daß die Wägungen auch ſchon deshalb ganz un⸗ 
nöthig waren, weil die Beränderlichkeit chemifcher Maſſen bei chemifchen Reaktionen 
fchon allein durch das gleichzeitige Auftreten von Wärme und Kälte erwieſen wirb. 
Denn aud bieje unfihtbaren Wirkungen beftehen nach ber neuen Auffafjung aus 
Maſſe; nad der alten beftanden fie nur in Hypothetifchen Schwingungen ber Körper. 
Bern. u Dr. J. 9. Biegler. 

Weltliche Lieder eines Geiftlihen. Verlag Harmonie in Berlin. 

Zur Erläuterung.mögen folgende Säge aus den Aphorismen, die ich dem 
Buch beigefügt Habe, eine Gtelle finden: „Sollte eine gegenwärtige ober fpätere 
Beit mein Wirken als Geiftlicher für Heuchelei erklären, fo bin ich mir wohl be» 
wußt, Die fünfilerifche Seite meines Wejens keineswegs auf Koften meiner religiöfen 
Natur entwidelt zu haben. Bielmehr bin ich ſtolz und glüdlich, für meine Perfon 
Tas zu bejigen, was Vielen ein vergebliches Erſtreben bleibt: biblifchen Gedanken⸗ 
ernjt mit helleniſcher Sinnenfreudigfeit gepaart zu willen. 

Rabbiner Dr. Emil Levy. 











Anzeigen. 77 


Ein Muſenalmanach. Münden 1908, Bavaria: Verlag. 

Eine. Anthologie, die Herbert U. Hahngim Auftrage der Abtheilung 'für 
Literatur und Kunft der Münchener Freien Stubentenfchaft herausgegeben bat. 
Ein ungleichwerthiges Buch, das aber bei aller Diffufität der Talente mit’ feinem 
Sinn für die Wliquottöne eines Boems ſtets auf die gleiche Bibrarionzahl geſtimmt 
if. Aus unendlichen Sehnſüchten fleigen endliche Thaten wie ſchwache Zontainen. 
Diejesgichöne Symbol, von Rainer MariafRilte geprägt, fcheint: mit beſcheidener 
Geberbejihügend dem Bud Talte Kritik fernhalten zu! wollen. Einj überrafchend 
originelle oder flark eniwideltes Talent babe ich aber nicht erlaufchen können. 
Doch mit Staunen gemerkt, wie geſchmackvoll das jüngere Deutichland reimen iger 
ſchmeidig Metren fligen kann. Dabei find diefMotive nicht alltäglicd und einanber 
im Brofil nicht Ähnlich. Aber die Worte find noch nicht aus zwingender Noth ge⸗ 
boren, jelbftfüchtige Erinnerungen an bie Lyrik von Heine bis Hofmannsthal huſchen 
an echt empfundenen Gedanken vorüber, auf die dann der Schatten des Phrafier- 
thums füllt. Uber alles geihmadlos,Robe fehlt und die affeltirte Verkommenheit 
und nad Schnapß ftintende Geſchlechtsgier der Jugend von geftern bat einer mil« 
deren, fiilleren Xiebesfehnjucht und vornehmeren Fühlart Platz gemacht. Daß es 
diefer Menjcyenwandinng achtbaren Ausdruck gefunden bat, leiht dieſem angenehm 
weich pergamentirten Band eine über ben Monat binausreichende Bedeutung. 


5 Selig Stoeffinger. 


Demetrins. Schillers Fragment für die deutfche Bühne bearbeitet und ergänzt 
von Franz Kaibel. E. Pierſons Berlag, Dresden. 2 Marl. 

Zum zebnjährigen Zodestage Schillers (1815)Emwollte Goethe dem veritor- 
benen Freund ein Dentmal fegen: den Demetrius-Torfo ergänzen. In ben fünfe 
äiger Jahren (1858) trat Friedrich Hebbel, auf den Wunſch des Großherzogs von 
Weimar, biefem Gedanken nah. Beide ließen die Idee fallen; Goethe ganz, Hebbel 
zum Theil, denn er fchrieb felbft einen „Demetzius“, der auch Fragment geblieben 
ift, allerdings an Wucht und Größe ber Auffaffung den Schiller nicht erreidht. 
Goethe dachte es und Hebbel Hat e8 ausgeiprocdhen: Man kann eben jo wenig ba 
weiterbichten, mo ein Anderer aufgehört hat, wie man da im gleichen Fall weiter« 
tieben kann. Das ift fider richtig; und e8 war fein Wunder, daß noch Jeder fcheiterte, 
der e8 unternahm „Schiller fertig zu dichten“ (fiehe Laube). Ob ich das nöthige 
dramatiſche Talent babe? Ich glaube es; fonft hätte ich nicht gewagt, mid an 
Schillers Demetrius zu machen. Und dann fam der Hauptgedanke bazu, baß man 
zur diesjährigen Sätularfeier ben größten Dramatiker deuticher Zunge nicht beſſer 
ebren könne als dur den Verfuch, einen feiner jchönften Pläne der Bühne feines 
Bolles zu gewinnen. Denn (Das fei ben prinzipiellen Gegnern einer Ergänzung 
geiagt): das Fragment wird auf der Bühne nie heimifch werben; es bleibt immer 
Kuriofität. Alſo galt es für mid, Schillers Demetrius zu vervollfländigen und ein 
Ganzes zu Ichaffen, ein Werk aus einem Zuge, fein Stüdwerf, kein Flickwerk. Die 
Stoffſammlung war gegeben; ich benutzte fie, aber ich mußte frei Schaffen Lönnen: und 
jo fhrieb ih den erften Alt Schillers, nachdem ich ihn mir Durch wiederholte Dekla⸗ 
mation zu eigen gemacht, nieder, ergänzte die Lüden, ftrich die bühnenfchädlichen 
Längen (braude ich zu jagen, mit wie ſchwerem Herzen?), änderte die Szenenfolge 

6* 


78 Die Zukunſt. 


und ging dom Marfa-Monolog ab weiter, als wäre jener wunderbare Theil meinem 
Kopf entfprungen. Den Reichstag in Krakau nahm ich als Borfpiel, die Marfa- 
fzene (im Klofter) als exfte Szene des exften Wltes, den bie -Bauernaufiritte be⸗ 
fchließen. Der zweite Alt bringt den Gegenjpieler Godunow; die legten Alte ſchil⸗ 
dern des Demetrius Siegeslauf und Untergang. 


Karlsruhe in Baden. Franz Raibel. 


2% 


Elterngewalt. 


ehr geehrter Herr, Harden, ich bitte Sie um bie Erlaubniß zur Publikation eines 
Falles, der mir ein allgemein gefährliches Moment zu illuftriren fcheint. 

Um achten September wurbedieneungehnjährige Gliſabeih Lang von ihrem Ba- 
ter, dem münchener Bildhauer Hermann Lang, nach ber tübinger Pſychiatriſchen Klinik 
gebracht. Ych habe die Elifabeth Lang feit mehr als einem Jahr mehrfach, in neurologi» 
cher Behandlung gehabt und kenne Die Bebeutung ihrer Familie für ihren Zuftand und 
ihr Schickſal. Sie ift abſolut nicht geiftesfrant und anſtaltbedürftig; jet befteht aber bie 
Gefahr einer pſychiſchen Alteration durch den Choc ber Freibeitberaubung an ſich in 
einem beſonders hohen Grabe. 

Das zwingende Motiv, mich an die Oeffentlichkeit zu menden, ift für mich die Er» 
kenntniß, daß die Eniftehung und Bedeutung gerade folder Fälle nur mit einer einzi⸗ 
gen Untexfuchungtechnik, mit ber vom Profeſſor Sigmund Freud neu eingeführten ana⸗ 
lytiſchen Methode, verftanden und kontrolirt werden können und daß dieſe den meiften 
Fachkollegen noch nicht zu Gebot fteht. Die Unterfuchung mit den fonftigen ber Pſychia⸗ 
trie verfügbaren Methoden vermag den bei Elifabeth Lang entſcheidenden Zuſammen⸗ 
bang der piochifchen Zuftandsmöglichkeiten mit ben erlittenen Bebrüdungen nicht nady» 
zuweifen, an denen fie in der Familie fortgejegt zu leiden hatte und denen fie als Min- 
Derjäßrige fo ſchutzlos ausgeſetzt ift, daß jept ihr Wiberftand mit ihrer Ueberführung in 
eine Irrenklinik beantwortet werben konnte. 

Ich Ichalte hier ein,dap bie Methode Freuds in einem Bewußtmachen unbewußt- 
geworbener pfychiſcher Faktoren befteht, Durch deren Wibereintritt in bie Bewußtfeins- 
kontinuität Die irgendwie geftörte Harmonie des pſychiſchen Geſchehens wieber herge- 
ftellt werden ſoll. Freuds Verfahren bewirkt die Löfung von ganz befliimmten Sperrun- 
gen der Affoziationen, die ſich auf affeltive Exlebniffe, befonders der Kindheit, zurld» 
führen laffen, und zwar jpeziell auf Die Axt von affeltiven Momenten, bie ben Charalter 
feelifcher Konflikte tragen. Die aus dem Bewußtſeins zuſammenhang verbrängten und 
darum ftöxenden KonfliltSmomente verlieren igre Prankheit erregende Wirkung, fobald 
fie Dem Bewußtfein bes Batienten erſchloſſen worden find und nur von dem Individuum 
jelbft in Einflang mit der ganzen Perſönlichkeit und ihren führenden Motiven gebradht 
werden tönnen. Mit dem Bewußtwerden unerlebigt abgebrochener Konflilismotiveent- 
fteht die Gelegenheit zur Selbftlorreliur. Der eigentliche Urfprung der krankhaft wir. 
kenden verbrängten Konfliktsmomente ift der bie Kindheit beherrichende Wiberftreit der 
angeborenen individuellen Entwidelungrichtungen mit ben von außen wirkenden Ge- 
ftaltungtendenzen ber Erziehung. 





Elterngemwalt. 19 


Erſt die Erſchließung bes Unbewußten durch Freuds Technik ermöglicht einen 
Einblid in die Konflittspfychologie des Kindesalters und in bie ungeheure pathologifche 
Bebeutung ber Ergiehungfuggeftionen als Urſache der Berbrängungneurofe. Gerade bei 
ben geiftig Rörkften, von früher Kindheit an der juggeftiven Wirkung gegenüber refiften- 
tem Individuen führt der ins Innere verlegte Kampf bes Eigenen gegen bas Fremdezur 
inienfivften Selbftzerjegung und Außert fi in ganz beſonders ſtarken Störungen der 
Harmonie und in Gleichgewichtserfchütterungen. Gerade bei ſolchen Individuen liegt 
in ber pſychoanalytiſchen Therapie die einzige Möglichkeit ber Gefundung. Denn 
jedes Aufdrängen fremden Weſens und Willens durch juggeftiven Einfluß wirft aufben 
patbogenen Grundkonflikt genau im jelben Sinn wie vorher bie Erziehung: wo ſich das 
Sndividualitätmoment einmal das Kindesalter hindurch erhalten hat, da kann es wei⸗ 
terhin durch feine Kraft mehr ausgefchaltet werben und bleibt im unäberwindlichen Ge⸗ 
genjat zu allen Suggeftionen, die überall in folchen Fällen entweder ohne jede Wirkung 
find odergerabe nur die pathogene innere Spannung gefährlich fteigern. Tem gegenüber 
bewirkt das induktive Berfahren ber „Biychsanalyfe“, das rein empirifche Freilegen der 
beftehenden, im Unbetvußten des Einzelnen feftgelegten pſychiſchen Materials die Wie⸗ 
derherftellung einer individuell harmonischen, in einer umfafjenden pſychiſchen Kontie 
nuität fich jelber ganz überſchauenden Perſönlichkeit und beren Eelbftbefreiung von den 
Konflilte exregenden fremden Motiven. Das aber bedeutet eine Annullirung der Er» 
ziehungreſultate zu Bunften einer individuellen Selbftregulirung. Die Konfolidirung 
ber individuellen Werthe bedeutet die Genefung. Ich füge hinzu, daß mir daß eigentliche 
Kriterium der, Geſundheit“ als etwas Relatives gilt, das fich allein für jebes einzelne 
Individuum nach feiner individuellen präformirten Zweckmäßigkeit beſtimmen läßt. 

Es giebt einen Typus beftimmter Neurojeneniwidelung gerade bei den Indivi⸗ 
duen von unverlier barer Eigenart, die von ber frübften Kindheit an für Suggeftionen 
unzugänglid) find und nie von irgendeinem äußeren Einfluß in ihrem innerften Weſen 
verändert werden. Die ganze pſychiſche Entwidelung dieſer Raturen ift typiſch beſtimmt; 
da ihre individualität von der Erziehung niemals zum Verſchwinden gebracht und durch 
Die fremden Elemente erfegt werden Tann, fo bleiben alle überhaupt von außen her ein» 
gedrungenen Motive in fietem Kontraſt mit den eigenen und deshalb auch für immer 
mit dem Charakter von piychiichen Fremdkörpern beftehen und wirken als Erreger un⸗ 
lösbarer Konflikte. Und da nun jeder neue Einfluß der Erziehung die Häufung folcher 
Konflikte, alfo die innereferrifienbeit und Rathlofigkeit vermehrt, ſo kommt e8 unver⸗ 
meibli zum Tauerzuftand des Effektes der Ablehnung, die fich nach der Verſchieden⸗ 
beit der Anlage verjchieden zum Ausdruck bringt, in allen Fällen aber ben Ichärfften 
affeltiven Widerftand bes Kindes gegen feine Eltern fixirt. Der äußere Konflikt verſtärkt 
dann wieder den inneren: und fo vollzieht fich die Entwidelung diejer Kinder in einem 
Fehlerkreis, in dem ſich unvermeidlich beftimimte, ganz bejonbers folgenjchwere Ber 
wußtfeinsipaltungen bilden. 

Eliſabeth Lang ift eine ungewöhnlich hochbegabte Perſönlichkeit von ganz bes 
fonders ftarf marlirter Eigenart. Sie war einem ungewöhnlich ſchweren Kontraſt des 
elterlichen Milieus zu ihrer Wefensrichtung ausgefeht und von ihren Eltern mit der 
Rarren Konfequenz ber Korrekturlofigleit in ganz befonders tiefe Konflikte getrieben 
worden. Dieje Konflikte allein find Urfache ihrer nervöſen Alteration und jeder weitere 
Einfluß des elterlichen Milieus tft eine weitere Untergrabung ihrer Gejundheit. 

Elifabeih Lang ift Mitte vorigen Jahres mit den Symptomen einer intenfiden 


80 Die Zukunft. 


Konfliftöneurofe zu mir gefommen. Ihr Buftand bat fich dann durch eine proviſoriſche 
Analyfe in einigen Tagen fo gebeflert, daß nun auf weiteres Fortſchreiten der Selbft- 
ausheilung zu rechnen war, wenn nur die neuerliche Einwirkung ber ſchädlichen Milien- 
reize verhindert werben konnte. Die Analyſe mußte abgebrochen werben, da ſich Eliſa⸗ 
beth Bang ausihrer Familiefortbegab und München deshalb verlafien mußte. Diebarauf 
folgenden Monate, in denen fie zum erften Mal allein'war, fcheinen, troß vielfach er- 
ſchwerenden Berbältnifien, doch vollauf ben Erwartungen entiprochen zu haben. Am 
Ende vorigen Jahres wurbe Elifabeth Yang von der Familie mit Hilfeeines Berbaftung- 
befehles zuruckgeholt.Ich habe fie am Tag nach ihrer Ankunft in einem relativ befonders 
guten Gefundheitzuftand wiedergelehen. Zur ſelben Zeit bin ich mitihrer Familie befannt 
geworden und babe mich.viele Tage lang vergeblich bemübt, für die beſonderen Beding- 
ungen unb Erfordernifje gerade diefes Falles mit feinen ganz befonderen Gefahren auch 
nur das geringfte Verftändniß zu finden. Run wurde Elifabeth von ihren Eltern in die 
Behandlung eines münchener Kollegen gebracht undjihr verboten, fich}weiter von mir 
behandeln zu lafjen. Da fich ihr Zuftand feit dem neuerlichen Aufenthalt im alten Fa⸗ 
milienmilieu fofort wieder zu verfchlimmern begann, ſo kam fie ohne Wiſſen ihrer Eltern 
von Beit zu Zeit in meine Behandlung. Auch diesmal wurde die Analyje nach einiger 
Beit wieder abgebrochen, weil Elifabeth von ihren Eltern aus München fortgebracht 
wurde. Im Sommer jchrieb fie mir aus einem ſchweizer Sanatorium und gab mir no 
mehrmals Gelegenheit, auf einige Stunden mit ihr zufammen zu fein und wenigftens 
das Allerdringendfte von ihrer Analyje zum Abſchluß zu bringen. Nach unferer legten 
Bufammentunft erhielt ich von ihr Die Nachricht, daß fie Dabei beobachtet worden war. 
Wenige Tage fpäter wurde fie von ihrem Bater aus dem Sanatorium abgeholt und in 
bie tübinger Biychiatrifche Klinik gebracht. Elifadeth Yang jelbft Hat ihr ganzes Ver⸗ 
trauen von Anfang an auf die pfychoanalytifche Therapie gejegt. Sie ift mit allem ver- 
fügbaren Zwang, fo weit es nurirgend möglich war, verhindert worden, ſich an den Arzt 
zu wenden, ber ihr geholfen hatte und dem fie vertraut; fie ift genöthigt worden, Die Kon» 
tinuität Der Behandlung mehrfach zu unterbrechen und fich der ausgeſprochen ſchädlichen 
Wirkung von unvollendet gelafjenen Analyjen auszuſetzen; ic) mar genöthigt, ihr heim⸗ 
lich Hilfe zu dringen, um fie vor diefem Schaden zujbewahren. Dan bat fie in der am 
Meiften gefährdeten Phaſe der durch Die Analyſe Herbeigeführten jeelifchenimmwälzungen 
den ſchwerſten Choes der fortgeſetzten Freiheitberaubung und jegt ber Internirung in 
einer Pſychiatriſchen Klinik ausgeſetzt, obwohl, trotz all dieſen ſchweren Schädigungen, 
Die andauernd günftige Entwickelung ihres pſychiſchen Zuſtandes ſeit Dem Beginn ber 
pſychoanalytiſchen Behandlung ganz unverkennbar hervorgetreten ift. Und das Motiv 
für dieſen unbegreiflichen Mißbrauch der elterlichen Macht (da8 mir aus meinen langen 
Unterredungen mit der Dulter genau befanntift) warnurdieabfolute Berftändnißlofig« 
teit für das Beftehen und die Entwidelungnotäwenbigfeiten der inbivibuellen Eigenart. 
Die repräjentative Bedeutung des Falles, Durch bie er mir das höchſte Intereſſe 
der Allgemeinheit zu verdienen jcheint, liegt im Beweis ber unbegreiflichen Möglich« 
teiten, Die der mißbrauchten elterlichen Gewalt dem Minderjährigen gegenüber von ber 
Geſellſchaft noch eingeräumt find. 
Dr. Otto Groß, 
Dozent ber Biychopathologie an der Univerfität Graz. 


alte 





Lawſon & Co. 81 


fawion & Co. 


B: geit zu Zeit muß man fich daran erinnern, daß bie „American 
drinks“ Alkohol enthalten. Der Yankee jchlärft diefe drinks zum Lund 
und gebt dann an die Börfe. Auf die Widerſtandsfähigkeit bes Einzelnen und auf 
bie Quantität der genofienen Getränke kommts an; erft danach ift die Wirkung 
des Altohols auf bie geichäftlicden Dispofittionen bes Börfenmannes feftzuftellen. 
Züngft erfhienen einige Gentlemen betrunten in Waliftreet, erregten an ber Börfe 
duch auffällige Transaktionen Auffehen und verſchwanden wieder. Die Kursbe⸗ 
wegung war durch Alkohol hervorgerufen worden. Das wurde befannt, nachdem 
die europäifchen Börfen ſchon auf die betrunkene Tendenz reagirt hatten. Bei uns 
that man das Borlommniß mit ein paar Beilen ab. Aber im Ernft: ſtann bie 
Art des amerilaniichen Frübküds Einfluß auf die Börſentendenz haben? Die 
Lebensweije des Einzelnen färbt obne Zweifel auf feine Gefchäftsführung ab. Die 
Brutalität Rockefellers ift durch das Magenleiden erflärlich, bas ihm den Genuß 
der beſten irbifchen Güter verfagt. Für die ihm aufgezwungene Aſkeſe rächt ex fich 
in feiner Art an der Menfchheit. Dan jagt, daß die Neuraftdenie eine Krankheit 
der Dantees fei; eine Folge der Mißhandlung ihres Magens. Das Geſchäft ift da aljo 
wirklich eine Magenfrage; und nun bedenfe man, baß das Leitmotiv für die Stim⸗ 
mung der europäifchen Börfen faft immer in New York fomponirt wird. Alkohol und 
Reuraſthenie aber find ſchlechte Rathgeber. Der boftoner Bankier Thomas ®. 
Lawfon, von bem ich bier fchon mehrmals ſprach, zeigt in feinem Handeln bie 
Birkungen der beiben genannten Agentien. Er legt großen Werth darauf, bie Welt 
an feinen Namen zu erinnern. Jetzt arbeitet er wieber einmal mit Reklame tm 
Barnumfil. Er giebt fidh für den wahren Freund bes Volkes“ aus und veripricht, 
Ale, bie ihm folgen, reich zu machen. Dusch Börfenfpekulation. natärlih. Und er 
iſt dreift genug, bem Publikum eine „allgemeine Haufe” zu garantixen, wenn es 
ihm Hilft, ein beftimmtes Papier in die Höhe zu bringen. Sole Manöver bat 
ber wadere Thomas mehr al3 einmal mit gutem Erfolg (für ſich) veranftaltet. 
Arizona Eonfolidateb- Aktien, zum Beiſpiel, ließ er bis auf 2 Dollars fleigen; und 
am felben Tag flürzte das Papier auf 8 Cents. Das geſchah im Verlauf von zwei 
Stunden. Spielmarlen hat Lawſon felbft einmal dieje Altiengatiung genannt. Yulon 
Goldſhares waren bis auf 9 Dollard aufgeblafen worden und notiren heute fnapp 3. 
Die Amerikaner lachen oft über folche Derwiſchkunſtſtücke. Aber ein großer Theil 
der Lacher fällt immer wieder darauf hinein. In biefen Tagen Iancirte der Boftoner 
die Atien einer unbelannten Gasgefellidhaft, „Bay State Gas Company“, bie an» 
geblidy einen Yreibrief zum Betrieb von Grundftück⸗ Bank und Induſtriegeſchäſten 
befigt. Das Papier ift ungefähr 25 Cents werth. Lawſon hat ben Kurs auf 3 Dol⸗ 
lars und höher getrieben und prophezeit eine Hauffe bis zu 10 Dollars. Wie ein 
Marktſchreier. Rieſenhafte Beitungannoncen, die einen Haufen @eld Foften, üben 
eine wirkſame Suggeftion auf das Publikum. Ntemand glaubt an das Uebermaß 
von Unverfchämtheit, das dazu gehört, ohne felfenfefte Meberzeugung die Leute zu 
phantaftiichen Unternefmungen zu verführen. Der Boſtoner kennt die Menſchen⸗ 
pſiyche. Er iſt nicht umfonft ein Mann von „geiftiger Kultur“, ber in jeinen Muße⸗ 
ſtunden Romane und Yenilletons fchreibt. Keine Liebesgeichichten; oder höchſtens, 
um bie nadie Thatſache, daß auch diefe „Literatur“ nur fpelulativen Zweden dient, 


82 Die Zukunft. 


Teufch zu vexhüllen. Die großen Macher wollen von Thomas Lawfon nichts wiſſen. 
Sie ſchutteln ihn ab; er aber hängt fih an fie. mit paraftärer Dreiſtigkeit und ver⸗ 
ündet feinen Buhörern, daß ber Deltruft auf feiner Seite Hefe. Die Stanbarb 
Dil fol ihm als Folie dienen. Uber die Truftlönige bliden voll Beratung auf 
den emfigen boftoner Spekulanten. Hat er fie doch als Räuber und Verbrecher 
an den Pranger geftellt unb namentlich den Deltruft als eine Lafterhöhle gefchtl- 
dert. Nodefeller und Genoflen galten dem grinnmen Belämpfer „torrupter Vorſen⸗ 
fpefulanten® al3 Wusjauger bes Volles. Als Diebe, bie in die Schaglammer ber 
Nation eingebrochen find und ihr Die angefammelten Reichthümer geftohlen haben. 
Und mit diefen Leuten will Lawfon jest fr&re et cochon fein. Das ift eine Frech⸗ 
Beit, die Bewunderung verdient. Der boftoner Münchhauſen denkt: Als Freund 
bin ih dem Truſt ficher lieber denn als Gegner; alfo verfünde ich dieje Freund» 
ſchaft als feftftehenbe Thatfache. Broadway 26 hatte jedoch für die Größe eines 
folhen Geſchenkes nicht die richtige Empfindung. In den Bureaug bes Deltrufts 
wurde die Parole ausgegeben: „Segen Lawſon!“ Und an der Börje wurde Durch 
ſtarke Verkäufe Lawfons Hauffe gehemmt. Die den Ton angebenden Ftnanzleute 
wollen lieber ihren Intereffen ſchaden als dem verhaßten Lawion zum Erfolg ver» 
helfen. Nicht nur, weil die Berjon, jonbern, weil das Syftem ihnen widrig iſt. 
Wäre diefer Austaufh „Freundfchaftlicher" Gefühle unter Spekulanten ein 
Sammerfpiel, bliebe er alſo auf die Fleine Bühne in ber newyorler Wallſtraße be 
fchräntt, fo hätten wir feinen Grund, ung irgendivie darüber zu erregen. Uber 
zwiſchen Wallſtraße drüben und Burgſtraße üben liegt ein dickes Kabel. Das 
ftellt eine oft jehr unerwänjchte Verbindung ber; und wenn Harlekin Lawſon feine 
Sprünge macht, tanzt die Spekulation auf dem Kontinent Die tollen Bas mit. Ins 
Borſendeutſch übertragen: die newyorker Tendenz ift für Die europäiichen Börfen 
von höchfter Bedeutung. Deshalb muß man ben Leuten Wettermacher, wie Herrn 
Thomas Lawſon, Right Honourable, in ihrer Thätigfeit vors Auge führen. Zu» 
mal, wenn fie jo oft von fich reden machen wie der befagte Gentleman aus Bofton. 
In den letzten Monaten des Jahres 1904 und Anfang 1905 brachte Die newyorker 
Monatfchrift „Everybodys Magazine“, von ber damals eine Dillion Exemplare 
ausgegeben wurde, eine Serie von Aufſätzen, die fich gegen das „Syftem” der Börfen- 
ſpekulanten richteten. Das amerilanifche Nationalvermögen betrage 100 Milliarden 
Dollars (hieß e8 in einem der Artikel) und davon feien mindeftens zehn Milliar- 
den der „Aufblähung des Syſtems“ zugufchreiben. Wenn das Bublitum diefen Pſeudo⸗ 
beftandtheil de3 Nationalvermögens ausgemerzt habe, werbe bag „Syftem” gezwun⸗ 
gen fein, Die Kontrole der großen amerilaniihen Induſtrie aufzugeben. Unter 
dem „Syſtem“ verftand Lawſon die Fabrikation von Börfenpapieren und bie Ber- 
führung bes Publikums, fein Geld in diefen Fünftlich erzeugten Werthen anzulegen. 
Er rieth feinen Lefern alſo, ſich nicht in Börfenipekulationen einzulaffen. Der jelbe 
Mann, befien Geſchäft burin befteht, Die Dummen zum Spehuliren zu verleiten. Er ift 
eins der thätigften Mitglieder bes „Syftems“, das er jcheinheilig verdammt. Ein in 
feiner Unverfrorenheit famojer Kerl. Damals glaubten Manche an den Idealismus des 
Predigers ausBofton.Unbdie „Reinigung“ der amerikaniſchen Berfiherungsgefellichafe 
ten,deren korrupte Wirtbichaft er aufgdeckt hatte, wurbeihmgutgejchrieben. Andere ſahen 
ſchon von Anfang an in dem Vorgehen Lawſons nicht mehr als ein Baiffemandver. 
Der Dann nuste Kenntniffe, die Andere auch befaßen, aus, weil man ihn aus der 


Lawſon & Co. 83 


Berwaltung ber großen Berficherunganftalten binausgedrängt hatte. Innere Hemm⸗ 
ungen kennt er nicht; und fo ſcheut er niemals vor ben Folgen feiner Thaten zurüd. 
Als eine Börjenfirma (Munroe & Munroe) die Aktien der Muttergefellichaft des 
Rupfertrufts, der Boſton & Montana Copper Co., Fünftlih zum Steigen bringen 
wollte (aljo das Selbe that, wad Lawſon nun mit den erwähnten Gas⸗Aktien vor» 
bat), fam Santt Thomas mit Enthüllungen, durchkreugte die Manipulationen von 
Munroe und zwang das Haus, feine Zahlungen einzuftellen. Die Inſolvenz kom⸗ 
promittirte (im Januar 1905) mehrere angejehene Leute. Darunter war ein Bices 
präfibent ber National Eity Bank. Heute „wälht” Thomas Lawfon fleikig min⸗ 
berwerthige Shares, um fie dann vorfichtig „abzuladen“. Diefe Methode, Aktien 
unterzubringen, ift in New York ja üblich. Dan wirb darauf zu achten haben. 
Und Lawfon hat als Romancier dem Publikum in epiicher Breite ben Vorgang 
geiildert. Als fein befannter Roman „Freitag, der Dreizehnte* erfchienen war, 
bot ber Berfafler dem beften Kritiler des Buches 20.000 Dellard. Ob dieſe Prämie 
je bezahlt wurbe, weiß ich nicht. ebenfalls wars eine gute Reklame; und die 
englifhe Preſſe beeilte fi, den Roman als eine Offenbarung zu preifen, deren 
Erfolg der Untergang ber Börfenipekulation fein werde. Der Autor ſelbſt hat da» 
für gejorgt, daß dieſe Wirkung ausblieb. Niedlich ift aber, zu jehen, wie der Prophet 
ber Bdrjenfittenreinheit feine Theorien in die Praxis umfegt. Freilich hat er ſtets 
die Entichuldigung bereit, baß man das „Syſtem“ nur vernichten lönne, wenn 
man e3 benugt. Similia Similibus. Lawſon arbeitet aber nicht etwa mit homöo⸗ 
pathifchen Dofen. Kleine Mittel find bei den Machern in Wallftreet nicht beliebt. 
Man zahlt ja 100000 Dollars für feinen Plag in der Börſe. Die raſche Werth» 
fteigerung ber feften Börfenfige (1000 Stammpläge giebts und trotz dem hohen 
Breis find fie ſchwer zu baden) kann nur durch die Riejenumjäte erklärt werden, 
Deren Schauplag Wallftreet ift. Wer an der Quelle figen will, aus ber die Millionen 
ftrömen, muß. auch gehörig blechen. Die Orcheſterloge ift eben theurer als die Galerie. 
Uber die beati possidentes wollen für die gebradhten Opfer auch Etwas haben. 
Auf dieſen Zufammenhang ber Dinge wird jelten geachtet; man follte feiner ſtets 
gedenfen, wenn man von einem großen atlantifchen Fiſchzug aus Wallfireet Hört. 
Stüngft Hatte die Mallerfirma U. O. Brown & Co. in New NYork ein tolles 
„Ding gedreht”, bei dem fie allerdings ſämmtliche Haare laffen mußte. Die Firma 
war eine der angelehenften; fie hatte einen großen Kundenkreis, der hHauptjächlich 
aus Spekulanten beftand. In letzter Zeit arbeitete fie ftarl in ber Contremine. 
Ihre Kunden waren meift-& la baisse engagirt und wurben weiter zu Blanko⸗ 
verfäufen ermuntert, da die Makler ihnen mit Beftimmtheit einen Kursſturz ver- 
fprachen. (Trotz dem Heiligen Thomas und frinen Riefeninferaten, die eine allges 
meine Haufje ankündeten. Wie leicht in New York Stimmung gemacht wird, zeigt 
Die Thatfache, daß zwei Macher in entgegengefegter Richtung arbeiten lönnen unb 
Beide Befolgichaft finden.) Die Kurje wollten aber nicht, wie Brown & Co. wollten. 
Deren Berpfliätungen wuchlen vielmehr ins Gefährliche; da nicht genug Stüde 
zur Dedung aufgetrieben werden Zonnten, mußte irgend Etwas geichehen. Man 
bereitete aljo einen Coup vor. Ende Auguſt, an einem Sonnabend, jollte die Mine 
fpringen. Am Sonnabend tft die Börfe gewöhnlich nicht ſehr beiucht, befonders im 
Somme. Der offizielle Handel dauert nur zwei Stunden, während jonft fünf 
Stunden „gearbeitet“ wird. Die Vorbedingungen für das Gelingen einer „Ueber- 


84 Die Zukunft 


raſchung“ waren alfo gegeben. Brown & Co. hatten vor, die Kurje „herunterzu- 
hämmern“, und fie rechneten auf Erfolg, weil nur wenige Käufer ba fein wäürben. 
Durch lawinenartige Verkaufordres für die wichtigften Spelulationpapiere jollte 
der Glaube bewirkt werben, ein paar einflußreiche Macher feien Hinter den Coulifſen 
thätig. Auf foldde Weiſe war fhon manche Panik gelungen. Und während des 
allgemeinen Kursſturzes wollten Brown & Co. fi in. aller Gemüthsruhe eindeden. 
Dası wurden vorher Scheinabfchlüffe mit anderen Firmen verabredet, die dafür 
forgen jollten, daß die Anftifter ben Kopf rechtzeitig aus ber Schlinge befämen. 
Trog dem ſorgſam ausgearbeiteten Kriegsplan mißglüdte ber Angriff, weil die 
Börfe fih nicht lange genug -verblüffen ließ. Der Bluff wirkte nur fir Minuten; 
die Kurſe wurden bald wieber geftügt und ließen dann nit mehr an ſich rülteln. 
Die Spekulation hatte Lunte gexochen und war auf ihrer Hut. Nach bem Turnier 
zwiſchen Bailfierd und Hauſſiers wurden die Ritter ber Sontremine tot vom Kampf» 
plag getragen. Die Firma Brown & Co. fah fi gezwungen, ihre Bablungen 
einzuftelen. Und die anftändigen Elemente der VBörfe trugen eine jchöne fittliche 
Enmüftung zur Schau und zerfchnitten zwifchen fi und den Verſchworenen das 
Tiſchtuch. Der Börjenvorftand. aber berief einen Unterfuchungausichuß, der alle 
an dem Schwindel betbeiligten Berionen oder Firmen ermitteln fol. Herausfommen 
wird wohl nicht viel. Erſtens ift e8 nicht rathſam, mächtige Leute zu kompro⸗ 
mittizen; zweitens wäre Die Blosftellung ſachlich unwirkjam: denn was Brown & Co. 
thaten, if etwas Alltägliches. Nur find Andere in der Wahl des Beitpunftes ge⸗ 
fhidter. Uebrigens ift die Bereitwilligleit, mit ber Die Banken ber Spekulation 
Bargeld und Effekten leihen, jchuld daran, daß in New Vorl das Fehlen des 
Termingefchäftes nicht hemmend auf bie ſpekulative Thätigkeit einwirkt. Auch diejer 
Thatjache jollte man bei uns nachdenken. Wir amerifanifiren uns vielleicht rafcher, 
als manches beutfche Kindergemüth heute noch träumt: und eines nicht fernen Tages 
tönnten Schlauföpfe auf die Sprünge kommen, die in New VYork den Leuten fo heiß 
machen. Notabene: fo weit ſolche Sprünge nicht fchon, offiziell oder heimlich, in 
unfere Sitten bein Tanz ums Goldene Kalb aufgenommen worden find. 
Lawſons Treiben und der Anſchlag der Firma A. D. Brown find Beichen 
einer Erholung ber newyorler Börfe; wäre fie noch ſo ſchlaff wie im vorigen Jahr, 
dann wäre ein Feldzug diefer Sorte unmöglid. Dan kann aus ſehr übel duften« 
den Blumen Honig faugen und ſich fogar an dem Treiben des freigiebigen Thomas 
bon Aquino Bofton freuen. Die newyorler Yinanzmänner, tie im Herbfi und 
Winter 1907 die entwertheten Börfenpapiere gekauft haben, würden ihre Freube 
gewiß gern praktiſch zum Ausdrud bringen, wenns nur nicht der boftoner Bankier 
wäre, bem fie dabei die Kaftanien aus dem Feuer holen müßten. J. J. Hill, 
der alte Harrimangegner, bat fich früher einmal mit Lawſon eingelafjen und feine 
angenehmen Erinnerungen an das Sozietätverhältnif behalten. Ueble Erfahrungen 
folcher Axt wirten nach und umgehen das Individuum, dem fie ihre Eriftenz ver- 
danten, mit einem Dunſtkreis, in den Seiner fich bineinwagt. Veſonders dann 
nicht, wenn ein fo gewiegter Spefulant wie James Jefferſon Hill Toftipielige Er- 
fahrungen gemacht hat. Immerhin: wenn Lawſon feine Stimme erhebt, hat man 
fih auf „Ereignifie“ gefaßt zu machen. In diefem Sinn ift er ein Prophet; nur fehlt 
ihm Die Gabe, der Menſchheit Segen zu bringen. Die aber hat den Blid nad) Weften 
gerichtet und harrt voll Erwartung der Dinge, die ba fommen werden Labon. 
Deransgeber und verantwortlicher Redakteur: M. Harden in Berlin. — Verlag der Zutunft in Berlin. 
Druck von &. Bernftein in Berlin. 


Berlin, den 17. Pktober 1908. 
ö⸗— — 


Kongreß? 


Peter Schuwalow: Vous avez le 
enuchemar des eoalitions! 
Bismarck: N&cessairement! 

ein Bolt, jagt Zallmerayer, hat zur Klage über feine Herrſcher mehr 
Grund als die Türken; weil dad regirende Haus die Sundamente der 

alten Sitte, Zucht und Thatfraft verlor, ſchwand die Herrlichkeit des Reiches. 
Mit feinem lebten Athem hat der Albanerfproß Köprülü, der Großweſir Mo: 
hammeds ded Vierten war, dieſen ſchwachen, trägen, wollüftigen Sultan ge: 
warnt: „Schließe Dein Ohr dem Frauengeflüfter; forge, da Deine Schaf: 
fammer, mag auch dad Volt über Ausbeutung feufzen, ſtets gefünt, Dein 
Heer nie unthätig ſei; ein rechter Sultan muß immer zu Pferd figen.“ Os— 
mand Erben haben die Warnung nicht ernftlich genug beachtet. Abd ul Ha- 
mid ift nicht faul noch dumm. Seine jtrupelloje Grauſamkeit ift nach den 
Normen derEuropäermoral (die ald Lehre auch bei und nur felten das Leben 
beftimmt) zu verdammen;; dünft ihn jelbft gewiß aber Khalifenpflicht. Der 
mit der Schwert Mohammeds Gegürtete ift Herr überleben und Tod, Here 
über Sklaven verjchiedenen Ranges und Titels und der politiſche Zweck des 
Khalifates Heiligt ihm jedes Mittel. Heijcht diefer Zweck, dab fünftaufend 
Gläubige gedrofjelt oder in dunkler Fluth ertränft werden, fünf;igtaufend 
Chriſtenſklaven über die Klinge ſpringen: Allah will eö; und den Nachfolger 
ſeines Propheten plagt fein Zweifel. Tod Abd ul Hamid hat weder für volle 
Kaſſen noch fürdie Bereitichaftdes Heeres vorgeſorgt. Das ward jein Berhängs 
niß. Als feinem Arm auch Makedonien zu entgleiten fchien, nahmen die der 
europãiſch gefirnißten Intelligenz verbündeten Häupter der hungernden und 
lungernden Armee ihm dad Weſen der Herrichergewalt. Mit dem Recht der 








86 Die Zukunft. 


Kraft, das ftärker ift als alle in Geſetzbüchern gejpeicherte Sittenlehre. Mit 
dem felben Recht hat dann Bulgarien, Defterreich, Kreta gethan, was die 
Gunſt der Stunde zu thun erlaubte. Kann in Deutjchland dad Gegrein über 
die Gefährdung des Osmanenreiches nicht endlich verftummen? Dieler Sam: 
mer ift nicht von höherer Weisheit erwirkt als vor ein paar Monaten der 
Jubel über den Sieg der jungtürfiichen Rebellen. Eine Nation muß willen, 
was fie will, muß das Ziel kennen, daß fie erreicheri möchte: fonft taumelt 
fie aus einer Stimmung, einer Oeffentlichen Meinung thatlod in die andere 
und verliert dieStoßfraftftetigen Wollend. Wir hielten Abd ul Hamid fürun- 
feren Freund; für den Mann, der mit den beften Biſſen von jeinem Tiſch die 
Deutſchen zufüttern trachtet. Kinderwahn. Der Sultan hofftevon der ftärfften 
Militärmacht des Feſtlandes Schuß vor unbequemen Zumuthungen der an- 
deren Mächte und war bereit, dafür einen leidlichen Preis gu zahlen ;in feinem 
Machtbereich Deutichlande Wirthſchaft mit wirfjamen Mitteln zu fördern. 
Hat unfer Handeln diefe Hoffnung ald richtig erwieſen oder enttäufcht? Ein 
paar Daten drängen fich ind Gedächtniß. Nach ded Kaiſers Landung und Rede 
in Tanger ſah der Iſlam mehr alö je indem Deutſchen Reich jeinen Schüber. 
Die erften Rückzüge (die unſere Diplomatie vielleicht nicht weniger als die 
fremde überrajchten) ließen den Zweifel entitehen, ob dieſer Schu aud an 
Sturmtagen ausreichen, dem Wort ficher dieThat folgen werde. Sm Februar 
1906 ermahnt, auf Erſuchen des Deutſchen Botichafterd, Abd ul Hamid den 
Sultan von Maroffo, auf die Etimme Deutſchlands („prolecirice desMu- 
sulmaı.s*) zu hören; bald danach warnt er, wieder auf deutſchen Wunsch, 
Stalien vor franzöfticher Mächlerei an den Grenzen von Tunis und Tripolis. 
Abd ul Aziz antwortet, er fümmere fihnicht um den Türkenſultan; und Rom 
wird von Barrere und Visconti Venoſta beruhigt. Der Khalif ald williger 
Agent der berliner Bolitif: dieſe Thatjache bleibt dennoch wichtig. Ald am 
fünfzehnten Februar 1906 ein Türkenbataillon die Oaſe Taba in Arabien bes 
legt, glaubt man in faſt allen Kanzleien, diejer kühne Schritt jei von Deutſch⸗ 
land empfohlen und die Hohe Pforte der deutichen Hilfe ficher. „Was wieein 
anglo-türkiicher Konflikt audfieht, ift im Grund ein anglo⸗deutſcher.“ Auch 
im Foreign Office glaubt mans; und läßt drum, nad) kurzem Zaudern, grös 
beres Geſchütz auffahren, als gegen die Mauern von Yildiz nöthig wäre. Am 
dritten Mai legt Eir NicolasO'Conor der Pforte das Ultimatum vor, dad fie 
auffordeit, binnen zehn Tagen ihre Truppen aus der Sinathalbinjel zurüd- 
zuziehen. Admiral Lord CharlesBereöford fährt mit ſeiner Flotte von Malta 
uach dem Piräus; Prinz Ludwig von Battenberg erjcheint mit einer Kreuzer: 





Kongreß? 87 


diviſion im Archipel; das atlantiſche Panzergeſchwader fteuert nad) Gibraltar; 
und in Egypten wird die britiſche Beſatzung haftig verftärkt. Am dreizehnten 
Maitag befiehlt der Sultan den Rüdzug derTruppen. Er hat bei keiner Groß⸗ 
macht Hilfe gefunden. Frankreich war durch den achten Artifel der Declara- 
01 vom achten April 1904 gebunden, der die Unterzeichnerverpflichtet, „de 
s pr&ter ’appui de leur diplomatie pour l’execulion des clauses de la 
presente declaration relalives Al’Ezypte et au Maroe.“ Zumerften Mal 
unterftügtauhRußlandwiedereineDrientforderungdes Britenreiches, mitdem 
edum jede Fußbreite dieſes Bodens ſo lange gehadert hatte,und läßt dieAnftifter 
des mandjchwijchen Krieges ahnen, daß die von Eduard und anderen Feinden 
Deutſchlands erfehnte anglo-ruffiiche Berftändigung nicht mehr unerreichhar 
iſt. Und das Deutjche Reich ?Hat feierlich erflärt, daß es nicht daran dente, den 
Sultan zu ermuthigen oder gar mit Waffengewalt zu unterftügen. England 
fiegt, in Taba wie in Koweit, aufderganzen Linie; über Syrien, Kleinafien, die 
Euphratbezirke kann es nun die Macht dehnen und,wiedenSuezfanal die Land- 
wege nach Indien ſperren. Abdul Hamid hats nicht vergeſſen. Und Alles, mas 
er jeit 1906 erlebte, mußte jein Mißtrauen mehren. Deutjchland, „protec- 
trice des Musulmans“, hat dem Scherifenreich nicht die Vormundſchaft der 
Weſtmächte zu erjparen, die Niederlage feines Schützlings Abd ul Aziz nicht 
zubindern, dierafche Anerkennung deö neuen Sultans nichtdurchzufeßen vers 
mocht. Weder gegen den revaler Plan noch gegen die jungtürkiſche Rebellion 
fam aus Berlin Hilfe. Und täglich wurde Abd ul Hamid gefragt, ob er nod 
länger jeine Hoffnung auf die iſolirte Macht jegen wolle, die feinem ſchwer 
Gelährdeten (Krüger, Abd ul Aziz) ihr Wort halte, ihn jelbft in Arabien und 
am Berjergolf im Stich gelaffen habe undjebt feine jungtürkiſchen Todfeinde 
ummerbe. Gegen theuer bezahlte Erfahrung fommen Troſtſprüchlein und 
ſchöne Schreibereien nicht auf; nicht einmal die (allzu häufigen und allzujen- 
timentalen) Mahnreden des Türfendrillmeifterö Golt. Die Liebe der Muſul⸗ 
manen, die ftatt der Thaten immer nur Worte erhielten, hat fich in Haß ge⸗ 
wandelt und im Reich des Padiſchah ſchwört beinahe Seder darauf, daß die 
Telterreicher, Bulgaren, Kreter den Oftoberfrevel nicht gewagt hätten, wenn 
fie der berliner Zuftimmung nicht ficher gewejen wären. 

Beide Osmanenlager find undverfeindetund aus beidenruft die Wuth, 
„Dentichland ſteckt hinter dem Streich!” Darüber darfder Gerechte nicht ſtau⸗ 
nen. Den Sultan und feine Zeute haben wir enttäufcht und in die Arme Edu⸗ 
ardg getrieben, der ſich in Paris, Algefirad, Koweit, Taba ald den Stärferen 
erwiefen hat und nun thut, als fei die Wahrung des türfilchen Beſitzſtandes 


7* 


£8 Die Zulmit. 


ihm heiligfte Herzenspflicht. DieLiberalenund Demokraten haben ihre Bild- 
ung und ihr@eld (ohne da8Revolutionen eben jo wenig wie Kriege zu gutem 
Ende zu führen find) aus London und Paris bezogen, möchten ihr Vaterland 
den von Mehrheiten beherrichten Weſtſtaaten anähneln, jehen in dem preußi⸗ 
chen Deutſchen Reich den lebten ftarfen Hort des Abſolutismus und find über: 
zeugt, daß in Wien und Sofia nur der berliner Rath befolgt ward, der den 
Zürfen ad oculos demonftriren jollte, daß die Verfaſſung und die Konvent» 
phraſe fie Schlechter Schirme als ein unumjchränft ſchaltender Großherr. Kein 
Wunder, daß Herr von Marſchall, dem der Ertrag zehnjährigen Mühens zer: 
ronnen ift, fi) vom Bosporus an die Seine jehnt, wo er, am Liebften won] 
unter einem anderen Kanzler (der jaTrachenberg heißen könnte), den Verſuch 
„moraliicher Eroberung” inbefjerem Licht erneuen möchte. Auf dieiflamijche 
Karte ift in abjehbarer Zeit für und nicht8 zu gewinnen. Damit muß man ſich 
abfinden, wie mit manchem Berluft. Betheuerungennügen nicht; bringen und 
nur noch tiefer in den Verdacht muthloſer Schwacdhheit. Wenn wir mit dem 
lauteften Eifer verfichern, daß wir von dem böjen Trachten der Türkennach⸗ 
barn nicht gewußt haben: Niemand glaubt und. (Bon dem Wahn, mitWor: 
ten auf das vom Intereſſe beftimmte Denken fremder Völker wirken zufönnen, 
müßte Fürft Bülow fich endlich befreien; dann würde er viel Zeit ſparen und 
ſich nicht wieder zu langwierigen Interviews hergeben, die der Brite mitfüh« 
lemSpötterblid in denAnekdotentheilderZeitungenweift.)DbdasBerfaflung- 
ipiel noch ein Weilchen dauert, die Reaktion früh oder ſpät kommt: aus dem Ori⸗ 
entwerden wir jetzt nichtsholen. Und bald erkennen, wieunflug(daeWortiftnoch 
viel zu höflich)der Entſchluß war, vorEuropens lachendem Auge vonDefterreich 
abzurücken. Legt die Erinnerung anden Traum vom antibritiſchen Weltbünd⸗ 
niß mit dem Iſlam zu anderem Hirngeſpinnſt; fragt die Söhne der Kämpfer 
von Wörth und Sedan, ob die Bagdadbahn zum Pivot deutſcher Politik tauge; 
und gewöhnt Euch wieder, die osmaniſchen Möglichkeiten mit der nüchternen 
Gelaſſenheit Bismarcks zu ſehen., Wenn Rußland ſichfür ausreichend gerüſtet 
halten wird, wozu eine angemeſſene Stärke der Flotte im Schwarzen Meer 
gehört, ſo wird, denke ich mir, das petersburger Kabinet, ähnlich wie es in 
dem Vertrag von Hunkiar⸗Ifkeleſſi 1833 verfahren, dem Sultan anbieten, 
ihm feine Stellung in Konftantinopel und den ihm verbliebenen Provinzen 
zu garantiren, wenn er Rußland den Schlüfjel zum ruffiihen Haufe (Das 
heißt: zum Schwarzen Meere) in der Geftalt eines ruffiichen Verſchluſſes des 
Bosporus gewährt. Daß die Pforte auf ein ruffiiches Protektorat in diejer 
Form eingeht, liegt nicht nur in der Möglichkeit, Jondern, wenn die Sache ge= 





Kongreh? 89 


ſchickt betrieben wird, auch inder Wahrfcheinlichkeit. Der Sultan hatinfrühe- 
ven Jahrzehnten glauben können, daß die Eiferjucht der europäiichen Mächte 
ihm gegen Rußland Garantien gewähre. Für England und Defterreich war 
es eine traditionelle Politik, die Türkei zu erhalten; aber die gladftonifchen 
Kundgebungen haben dem Sultan diefen Rüchaltentzogen, nicht nurin Lon⸗ 
don, Jondern auch in Wien; denn man fann nicht annehmen, daß das wiener 
Kabinet die Traditionen der metternichfchen Zeit (Ypfilanti, Feindſchaft ges 
gen die Befreiung Griechenlands) hätte in Reichitadt fallen laffen, wenn es 
der englijchen Unterſtützung ficher geblieben wäre. Das Defterreich von 1856 
würde ohne die zerſetzende Wirkung ungeſchickter englijcher Bolitik jelbft um 
den Preis Bosniend fich weder von England noch von der Pforte losgejagt 
haben. Ich glaube, daß esfür Deutichland nützlich jein würde, wenn dieRuffen 
auf dem einen oder anderen Wege, phyſiſch oder diplomatifch, fich in Kon- 
Itantinopel feftgejeßt und ed zu vertheidigen hätten. Wir würden dann nicht 
mehr in der Lage jein, von England und gelegentlich auch von Defterreich als 
Hetzhund gegen ruſſiſche Bosporusgelüſte auögebeutet zu werden, jondernab: 
warten können, ob Oeſterreich angegriffen wird und damit unſer casus belli 
eintritt. Wenn man die Sondirung, ob Rußland, wenn es wegen ſeines Vor⸗ 
gteifens nach dem Bosporus von anderen Mächten angegriffen wird, auf 
unjere Neutralität rechnen könne, jo lange Ofterreich nicht gefährdet werde, 
in Berlin verneinend oder gar bedrohlich beantwortet, jo wird Rußland zu⸗ 
nächſt den jelben Weg wie 1876 in Reichftadt einjchlagen und wieder ver- 
Juchen, Defterreich8 Genofjenfchaft zu gewinnen. Das Feld, auf dem Ruß⸗ 
land Anerbietungen machen Eönnte, tft ein jehr weites; nicht nur im Orient 
auf Koften der Pforte, jondern auch in Deutjchland auf unfere Koften. Die 
Zuverläjfigfeit unjeres Bündniſſes mit Defterreich- Ungarn gegenüber ſol⸗ 
hen Verſuchungen wird nicht allein von dem Buchftaben der Verabredung, 
jondern auch einigermaßen von dem Charakter der Berjönlichkeiten und von 
den politiichen und Eonfejfionellen Strömungen abhängen, diedannin Oeſter⸗ 
reich leitend jein werden. Gelingt es der ruſſiſchen Politik, Defterreich zu ges 
winnen, jo iftdie Koalition de8Siebenjährigen Kriegeögegen und fertig; denn 
Frankreich wird immer gegen und zu haben fein, weil jeine Intereffenam Rhein 
gewwichtiger find ald die im Orient und am Bosporus.” Daß Rußland heute 
den Hausichlüffel nicht wider den Willen der Weftmächte einiteden könnte, 
ändert nichts an dem ernten Sinn diejer Säße aus Bismardd Bud. Eine 
aufteo- ruffljch: italiſche Verſtändigung über die nächften Orientfragen ift in 
dem mähriſchen Schloß Buchlau des Botjchafterd Grafen Berchtold Ereig- 


90 Die Zukunft. 


niß geworden. Mit der Möglichkeit der Koalition des Siebenjährigen Krieges 
mindeftend alfo zu rechnen. Und alles Handeln und Unterlafjen der Grob» 
mächte durch den deutſch⸗britiſchen Gegenſatz determinirt. Sch glaube nicht, 
dab Bismarck ald Botjchafter in jolher Lage den Auftrag ausgeführt hätte, 
Kaiſer und Reich gegen den Verdacht intimen Einverftändniffes mit Defter- 
reich zu verwahren. Als Kanzler hätte erö ficher nicht gethan. Dad wäre die 
Türkenfreundſchaft ihm nicht werth gewejen. Auch dad Amt und die Dienft: 
wohnung nicht. Herr von Marichall hatden Auftrag faft erfleht. Ein gewandter 
Parlamentarier und Effektfinder, der nie Diplomatnoch garStaatsmann wird. 

„Ich bin von Seiner Majeſtät dem Deutſchen Kaiſer beauftragt, bei 
der Hohen Pforte entſchieden gegen die Vermuthung zu proleſtiren, daß die 
neuſten Balkanvorgänge auf einer Vereinbarung zwiſchen Deutſchland und 
Oeſterreich- Ungarn oder einer anderen Macht beruhen, und weiter beauftragt, 
zu erklären, dab Deutichland, bevor dieje Ereigniffe eintraten, nicht nach ſei⸗ 
ner Meinung gefragt worden tft.“ So ſtands, ald amtliche Mittheilung des 
Deutichen Botjchafters, im türkifchen Reichdanzeiger, der, nur um dieſen Sat 
ſchnell zu verbreiten, in einer Ertraauögabe erichien. Ob der Kanzler den fai- 
jerlichen Auftrag im Innerſten gebilligt oder nur, wie manchen anderen, als 
einUinvermeidliches hingenommen und weitergegeben hat? Ermußempfun- 
den haben, daß ſolche eifernde Verleugnung uns in der Türkei nicht nüßen 
konnte, in Defterreich"- Ungarn Schaden mußte. Wien weiß zu rechter Zeit zu 
ſchweigen; hat aber ein treues Gedächtniß. „Sie haben ſich als brillanter Se- 
EundantaufderMenjurerwielenund fönnen gleichen Dienftesim gleichen Fall 
auch von mir gewiß ſein.“ Da3lasderDefterreich und Ungarn gemeinfame Mi- 
nifter des Aeußeren am zwölften Apriltag des Jahres 1906. Nun ein ſchrilles 
Dedaven. Franz Ferdinand wird nicht leicht vergeffen, was Deutjchland ihn 
nad) dem eriten Erfolg jeiner von Aehrenthal Plug und tapfer bedienten Ener- 
gie erleben ließ. Die Anderen modjten, weil ihnen nur die Abficht, nicht die 
zur Ausführung gewählte Stunde angezeigt war, ihre Mitwifjenjchaft leug- 
nen (Sollten: joward verabredet und gehörte zum Schladhtplan.) Deutſchland 
durfte nur jagen: „Wir rejpektiren und unterftüßenjeden Schritt, den die ung 
in alter Freundſchaft verbündete felbftändige Großmacht thut und der unfere 
Intereſſen nicht jchädigt, und haben, da von ſolcher Schädigung hier nicht die 
- Redefeinfann, nur zuerflären, dab wirundderfriedlichen Stärfung der Nach— 
barmadıt, die, nad; Bismarcks Wort, erfunden werden müßte, wenn fienicht 
eriftirte, aufrichtig freuen.“ Nicht8 weiter. Dann war in dem Augenblid‘, wo 
Briten, Ruffen, Franzoſen Heuchelzähren in den Bart des Großtürken tropfen 





Kongreß? 9 


ließen, die Feſtigkeit des Zweibundes gezeigt und ein Anſpruch auf die Dank⸗ 
barfeit Defterreichderworben, das fi zum erften Mal wieder auß dem dum⸗ 
pfen Didicht neidiiher Stämme und Stämmchen zu kraftvollem Wirken ins 
Internationale aufgerafft hatte; nach langer Raunzerqual froh wieder des 
Dichters Wort nachſprach: „Der Defterreicher hat ein Vaterland und liebts 
und hat auch Urjach, es zu lieben“. Mußte an diefem hellen Tag juft vom 
Nächſten die bitterfte Kränkung fommen? Daß eine Großmacht Werth auf 
die Berfündung legt, ihr intimfter $reund habe ihr die wichtigite Abficht ver⸗ 
ſchwiegen und ihr Botſchafter (Tſchirſchky, by Jove!) erfahre nur, was am 
Ballplat für bekömmlich gelte, ift ſchon ſeltſam genug. Soll damit etwa die 
bejondere Herzlichkeit des Verhältniffes bewiefen werden? Und glaubt mans 
daß die Staatshäupter und Diplomaten draußen nicht willen, aus welchen 
piychologiichen Gründen dem Deutichen Reich mandye Mittheilung vorent: 
halten wird, die einem als diäfret bis and Ende Bemwährten ohne Bedenken 
gemadjt würde? Nappuyons pas... DieBerleugnung war ein böfer Sehler. 
Der Kaijer mag wünfchen, jeine perfönliche Politik der Turkophilie vor völli= 
gem Scheitern zu bewahren (wad nicht gelingen wird), und fich darüber ge- 
ärgert haben, daß Franz Ferdinand, dem vor der Manöverreiſe Aehrenthal 
dreimal Vortrag gehalten hatte, ihm im Reichsland nicht da8 Staatögeheim- 
nit enthüllte. Das würde den Fehler erklären; die Schuld des Verantwort- 
lichen aber nicht mindern. Der Kanzler mußte den Auftrag ablehnen; durfte 
„unfere Zufunft nicht einen und vorübergehenden Stimmungen der Gegen 
wart opfern“. Davor warnt Bismarck; und fügt den Satz an: „Srühere Herr: 
Icher ſahen mehr auf Befähigung ald auf Gehorſam ihrer Rathgeber ; wenn 
der Gehorſam allein dad Kriterium ift, jo wirdein Anſpruch an die univerjelle 
Begabung ded Monarchen geftellt, dem jelbft Sriedrichder Sroßenichtgenügen 
würde, objchon die Bolitifin Krieg und Frieden zu feiner Zeit weniger ſchwie⸗ 
rig war als heute.“ (DerMann, der fo ſchrieb, war wirklich höchſt unbequem). 

Die in Oeſterreich und in Ungarn Lebenden dürfen, troß diejerleidigen 
Epiſode, gewiß jein, daß ihrer Sreude die ftärfiten Herzen im Deutjchen Reich 
ſich mitfreuen und daß fein mündiger Bolitifer einen Makel an ihrem Han- 
deln findet. Das Preßgezeter über den Vertragsbruch ift ein dummer Rück⸗ 
fall in die Nahahmung des englilchen cant. Noch einmal Bismard: „Die 
internationale Politik ift ein flüffiged Element, dad unter Umftänden feft wird, 
aber bei Veränderungen der Atmojphäre in feinen urjprünglichen Aggregat: 
zuftand zurüdfällt. Die clausula rebus sic stantibus wird bei Staatöver- 
trägen, die Zeiftungen bedingen, ftillichweigend angenommen.” Mag Bri- 


92 Die Bukunft. 


tanien, deſſen Politik die Verträge immer und überall geachtet und ftetönur 
die Berwirklichung fittlicher Ideale erftrebt hat, die jchnöde Berlebung des 
Türkenrechtes bewinfeln und fich felbft den ehrbarften Wandel beicheinigen. 
“ Wir wollen undlieber erinnern, dag im Menfchenbereig der Maffenintereffen 
der Streit herricht und die Stärfe, nad} ihrem Sieg, die ihr nicht paffenden 
Geſetzestafeln zerichlägt und neue prägt, die ihrem Bedürfnif genügen. Die 
Umftände, unter denen Defterreich- Ungarn in Bosnien und der Herzegowina 
eine Pflicht übernahm, haben ſich, ohne fein Zuthun, geändert: auf feitem 
Grund wandelt ed die nicht mehr erfüllbare Pflicht in ein nützliches Recht. 
Die am achten Zuli 1876 zwifchen den Kaijern Alerander und Franz 
Joſeph vereinbarte, am fünfzehnten Sanuar 1877 unterzeichnete Konvention 
von Reichitadt ficherte den Ruffen für ihren Krieg gegen die Türkei die Neu- 
tralitätDefterreich8 und gab Franz Sojeph das Recht, Bosnien und die Herze⸗ 
gowina zu bejegen. Ob ihm damals die Hoffnung vorjchwebte, im Waldge⸗ 
birgsland Erſatz für dad an Italien Verlorene zu finden ? Das aus dem Deut⸗ 
ſchen BundgeworfeneDefterreich mußte gen Südoft blicken, wenn ed demna- 
tionalen Rollen, ohne deifen Einheit Deaks Werk nicht dauern fonnte, ein Ziel 
juchte. In dem von Mouftter über die wirkſamſte Behandlung des „kranken 
Mannes” befragten Aerztefonzil empfahl Beuft, den chriftlichen Balfanvöl- 
fern Autonomie zu gewähren et l’&tablissement d'un self government 
limit& par un lien de vassalile. Europa olle die Türkei erhalten, aber auch 
fontroliren, mit janfter Gewalt zur Vernunft bringen und dem Zarenreich, 
dem dafür ja das Schwarze Meer geöffnet werden fünne, dad Vorredht zum 
Slavenapoftolat entreißen. Andrafjy ging, nad) den Aufftänden der Serben 
und Bulgaren, weiter; er verjuchte, jedem Balkanvolk das dem Bedürfniß 
feiner Individualität Genügendezufichern, erlangte in Paris und Rom die Zu- 
ſtimmung zu dem in ſeiner Note vom dreißigſten Dezember 1875 und in dem 
berliner Memorandum vom dreizehnten Mai 1876 feſtgeſtellten Programm 
der drei Kaiſerreiche und ſah den Weg erſt geſperrt, als die Britenflotte in die 
Beſikabai eingelaufen war und eine Palaſtrevolution Abd ul Hamid auf den 
Thron gebracht hatte Rußland mußte noch einen Krieg gegen den alten Feind 
führen, brauchte dazu die Gewißheit öfterreichiſcher Neutralität und bezahlte 
fie mit dem Recht zur Offupation zweier Zurfenprovinzen. In Reichitadt 
ſchon traf das Dieifatferbündniß dererite Stoß. Lord Derby fordertdiellnab» 
hängigfeit und Unantaftbarfeit des Türfengebietes. Gortſchakow antwortet, 
wichtiger jei die Wahrung der Menjchlichkeit und der Ruhe Europas, das, 
ftatt ded ohnmädjtigen Osmanenreiches, nun für die auf türfiichem Boden 





Kongreß? 93 


ſchmachtenden Chriften jorgen müfje. Noch einmal ftellt, als der Krieg ſchon 
erflärt ift, Lord Derby jeine Bedingungen: im Suezlanal, im Bosporus, in 
den Dardanellen muß Alles bleiben, wie es ift; Englands Intereffeniphäre 
darf weder am Nil noch am Perfiſchen Golf berührt werden ; und der Sultan 
muß Konftantinopel behalten. Gortſchakow garnirt feine Zuftimmung mit 
pomphaften Phrajen. Rußland fiegt, hofft, in dem Großbulgarien des Frie⸗ 
dens von San Stefano fich eine Satrapie in Südofteuropa zu ſchaffen, und 
wird, wie in Nikolais Zeit, wieder enttäufcht. Auf dem Berliner Kongreß zeigt 
fi, daß Rußlands und Defterreich8 Intereffen im europätjchen Drient noch 
immer nicht, wie Pauls robufter Sohn 1853 meinte, identisch find. 

Am achtundzwanzigften Juni, vierzehn Tage nach der erften Sitzung, 
wird über die öfterreichtiche Okkupation verhandelt. Andraſſy erinnert den 
Kongreß an die lange Grenzgefährdung und Unrube, die Deiterreih- Ungarn 
gezwungen habe, hundertfünfzigtaufend bosnische Flüchtlinge aufzunehmen, 
die nicht ind Türkenjoch zurückkehren wollen. Daß die Türkei Noth und Auf» 
ruhr nicht hindern Fönne, jeierwielen; und zu fürchten, daß der Brand bald.alle 
Slavenſtaaten auf der Balfanhalbinfel ergreife. Oeſterreich Ungarn denfe 
nit an eine Annerton, ftrebe nirgends nach Länderzuwachs und werde je- 
dem praftiiche Ducchführbarfeit und dauernde Wirkung verheißenden Be- 
ſchluß zuftimmen. Das iſt das Stichwort für Salisbury. Mit nobler Wärme 
preiſt er die Selbftlofigfeit, die den Gedanken an eine Annerion weit von ſich 
weije, und ſchlägt vor, Defterreichden Auftragzur Bejeßung und Verwaltung 
Bogniens und der Herzegowina zu ertheilen. Europa müffefordern, daß diefe 
Provinzen unter den unmittelbaren Schuß eines mächtigenStaates geftellt wer⸗ 
den, derden Brand zu löſchen und für eine ruhige Entwickelung zu bürgen ver- 
möge; und dieſerStaat könne nur das benachbarte Reich derHabsburg⸗Lothrin⸗ 
ger ſein Waddington empfiehlt, als Vertreter der Franzöſiſchen Republik, den 
Vorſchlag; die Türkei ſei nicht reich genug, um das für Bosnien und die Herze⸗ 
gowina Nöthige zuthun, und würde duch den Befi der viel verlangenden und 
wenigeinbringenden Provinzen nur geſchwächt werden. Graf Corti, Staliend 
Bevollmädhtigter, hat Bedenken, deutetaberan, daherfich einem Befchluß beu⸗ 
gen wird. Gortſchakow (der ſchon in Reichftadt zugeſtimmt hat) ift natürlich 
einveritanden. Bismarck wartet. Jetzt ſteht Karatheodory auf und verliefteinen 
Proteft. Die Türkei kann ihre Provinzen felbft ſchützen, beruhigen und ver- 
walten, ift nur durch den Bertrag von San Stefano gebunden und wird dar- 
über hinausgehenden Machtminderungen um feinen Preis zuftimmen. D'Iſ⸗ 
raeli fragt, ob denn niht Ieder wiſſe, daß noch vor dem Krieg, alfo inbeque- 


9 - Die Zukunft. 


merer Lage, der Sultan den Aufftand inder Herzegowina nichtniederzwingen 
konnte. Europa braucht Ruhe. Dieijt nicht zu erreichen, wenndie Provinzen, die 
bejonderer Obhut und Fürjorge bedürfen, in einen Staatöverband gepferdht 
bleiben, den fie ihrer Weſensart nach zu ſprengen verfuchen müfjen. Run erſt 
ſpricht Bismarck. Bittet die Türken, neue Inftruftion einzuholen, die ihnen ge⸗ 
ftatten werde, fich dem einmüthigen Willen des Kongreſſes zu fügen, der den 
Zerritorialbefig des Sultans ſchon reichlicher bemeſſen habe als der Friede von 
San Stefano. Abftimmung; von der Oeſterreich ſich, als Intereſſent, aus⸗ 
ſchließt. Mit allen Stimmen gegen eine (der Türkei) wird Englands Vorſchlag 
angenommen. Andraſſy erklärt, die Monarchie werde den Auftrag gewiſſen⸗ 
haft ausführen. Und Artikel 25 des Berliner Vertrages erhält den folgenden 
Wortlaut: „Die Provinzen Bosnien und Herzegowina jollen von Defterreich- 
Ungarn bejeßt und verwaltet werden. Da die öſterreichiſch-ungariſche Regi⸗ 
rung nicht wünjcht, fi mit derBermaltung des Sandſchaks von Novibazar zu 
befaffen, der fich zwifchen Serbien und Montenegro nah) Südoften bis über 
Mitrowiga hinaus erftreckt, wird die osmaniſche Regirung dort weiterfunftio- 
niren. Um aber die Aufrechterhaltung des neuen politiichen Zuftandes und die 
ungefährdete Freiheit der Berfehrämege zu fichern, wahrt Oeſterreich- Ungarn 
ih das Recht, im ganzen Umfang dieſes Gebietes, das ein Theil des alten Wi- 
lajets Bosnien iſt, Sarnifonen zu halten und für Handelund Heer fi Straßen 
zu Ichaffen. Die Einzelheiten jollen mit der Türkei geregelt werden.“ 

Der Vorſchlag kam aus England. Wer hat geglaubt, daß Beaconsfield 
ein Proviſorium empfahl? Mag Andraſſy, wie von Paris aus den Times jetzt 
enthüllt worden iſt, in einem geheimen Protokol ſich gegen die unbegrenzte 
Dauer des Mandates verpflichtet Haben: daß die Provinzen nach dreißigjäh⸗ 
tiger Kulturarbeit Defterreichs jean Osmans Erben zurüdfallen könnten, hat 
fein Wefirund fein General des Sultans für denkbar gehalten. In Habsburgs 
Zager war man, diesſeits und jenſeits von derkeitha, zunächſt von derneuen 
Aufgabe durchaus nicht entzückt; konnte ed auch nicht fein, denn Andraſſy felbft 
hatte noch im März gejagt, die Okkupation gehöre nicht zu den Zielen öfter- 
reichiicher Politik und Eönne der Regirung nur durch die Creigniffe aufge: 
drängt werden. (Anderthalb Fahre nad) Reichſtadt; nehmt wenigiten heute 
nicht mehr Alles, was von glatter Diplomatenzunge fommt, flinf für voll- 
wichtige Münze.) Noch im Zuli ift die Oeffentliche Meinung in beiden Reichs⸗ 
hälften ſchroff gegen daseuropäifche Mandat; nur die Kroaten find dafür. Die 
Generale Philippovic, Ivanovic, Szapary haben in dem offupirten Gebiet 
ſaure Arbeit und merfen bald, daß fie die Widerftandsfraft der „Seiner Mas 

















Kongreß? 95 


jeftät dem Sultan in Treue ergebenen Inſurgenten“ unterjchäßt haben. Die 
Volksftimmung ift dem ganzen Unternehmen jo feindlich, daß die Gemein⸗ 
ſame Regirung beichließt, den Vormarſch in den Sandſchak einftweilen um 
ſechs Monate zu verjchieben. Am erften Dezember muß Andrafiy in der Defter- 
reichiichen Delegation die Annahme des Mandates vertheidigen. Die Okku⸗ 
pation werde dauern, bis die Türkei den geleifteten Aufwand erjegen und ver⸗ 
bürgen fönne, da unter ihrer Herrfchaft der Zuftand der Provinzen ſich nicht 
wieder verjchlechtere. „Durch da8 Mandat haben die Mächte die Berechtigung 
unjerer Orientinterefjen anerfannt undauögelprochen, daß ein großed, ſtarkes 
Defterreich eine Nothwendigfeit für Europa ift.“ Sm Verkehr mit den mur: 
renden Abgeordneten mußte er noch immer jeded Wort vorfichtig wägen; zu 
einem Kaiſer und König hatte der vom Berliner Kongreß Heimfehrende ge⸗ 
jagt: „Sch bringe den Schlüffel, der und dad Drientthor öffnet.” 

Dreibig Jahre nach Andraſſy jprach, über den jelben Gegenftand, Frei: 
herr Zera von Aehrenthal zu der Defterreichijchen Delegation. Ruhigund Har; 
muthig und ernft. Mancher Kollege mag von diefem Minijter lernen, der das 
Wort jo hoch unmöglich ſchätzen kann und nur redet, wenner von einem Han 
deln Rechenichaft geben muß. „In dreißigjährigerraftlojer Arbeit hat unſere 
Verwaltung die ihr in den beiden Provinzen aufgebürdeten Pflichten erfüllt. 
Sie hat indiefem fürden Frieden jo gefährlichen Wetterwinfel Ruhe und Ord- 
nung gefichert, das Fulturelle und wirthichaftliche Niveau der Bevölferung 
mefentlich gehoben und eine modern denfende Generation herangezogen. Nun 
ift es Zeit aud dieſen Ergebnifjenunferer Berwaltungarbeitdie Konjequenzen 
zu ziehen, den Bürgern beider Provinzen Eonftitutionelle Einrichtungen zu ge= 
ben, die ihrem Bedürfnif entiprechen, undfo den Bewohnern die Möglichkeit 
zur Mitwirkung an der adminiftrativen Thätigkeit zu jchaffen. Die über die 
ftaatörechtlichen Verhältniffe befiehende und von außen geförderte Verwirr⸗ 
ung der Köpfe mußte aber von der&inführung des neuen Regime bis zu der 
Stunde abmahnen, wo jeder Zweifel an der vollen Souverainetät über das 
befette Gebiet bejeitigt war.” Alle Rechte auf den Sandjchaf (Garnijonen, 
Handelöwege, Militärftraßen) werden aufgegeben; diebeiden Provinzen aber 
dem Reich einverleibt Im Sandſchak mag die neue Ddmanenregirung jelbit 
für Drdnung ſorgen. Defterreich zieht feine Truppen zurüd und behält ſich 
nur den Bau der Bahnitrede Umac-Mitrowita vor. Ein ſchwächerer, min» 
der tapferer Minifter hätte fich den Verzicht auf Novibazaraldeine Konzeſſion 
an die Türkei und an Europa aufgejpart. Aehrenthal hat ſich zu bismärcki⸗— 
ſcher Offenheit entichloffen. Er will zahlen, was nöthig ift; doch nicht einen 


96 Die Zukunft. 


Heller mehr. Auch den nicht Saturirten ſo viel gönnen, wiefeinöfterreichifches 
Intereſſe irgenderlaubt. Rußland kanns im Meerfäfig nicht längeraushalten: 
Aehrenthal ift für die Deffnung der Gitterthür. Stalien langt nad) einem 
Hafen auf der Balkanküſte derAdria : Defterreich wird fich der Aenderung ded 
neunundzwangigften Artikels im Berliner Vertrag nicht widerjeßen. Der gab 
Antivari und jeinen Küftenftric dem Fürſtenthum Montenegro, ſperrte den 
Hafen den Kriegsſchiffen allerNtationen, verbot jede Art von Befeitigung und 
übertrug die Polizeirechte den öjterreichiichen Küſtenwachtſchiffen. Da ift die 
Möglichkeit eines für Italien ungemein wichtigen Gewinnes, eined, der, wenn 
Deiterreich den Nachbar ihn einftreichen läßt, beweift, daB die in Deſio und 
Buchlau vereinten Ercellenzen doch weiter gefommen find, ald manin Berlin 
wähnte; jonft würde von der Thür, die Albanien öffnet, ficher nicht ein Riegel 
weggeichoben.Clara pacta, boni arnici. Deiterreich will aufder Haemushalb- 
injel Handel treiben und erklärt bündig, daß es Saloniki nicht für ſich begehrt. 

Und darum Räuber und Mordbrenner? Darum Weltgetöfe, Börſen⸗ 
panik, Kriegägeichrei? Was ift denn gejchehen? Nichts Fürchterliches. Bul⸗ 
garten, deſſen Fürſt ald Generalgouperneur von Oftrumelien dem Sultan 
untergeben, in feiner Hauptwürde de facto (freilich nicht de iure) jouverain 
war, hat fich für unabhängig erflärt. Das war es durch die Macht der That⸗ 
lachen längft geworden; Hatte Gefandtichaften gehalten, Verträge geſchloſſen, 
Krieg geführt, ohne je nach derWillendmeinung des Titularoberherrn zu fra» 
gen. Die alte Türkei hat amTag von Tirnowo nur einen Schemen verloren; 
die neue vielleicht eine Hoffnung. Die gerade mußte den Koburger zum Ent- 
ſchluß drängen. Er durfte nicht warten, bi8 die Größenjucht einer eritarften 
Türkei wieder von Bhilippopel und Sara Zagora zu träumen begann. Auch 
Defterreih mußte zulangen, ehe ihm der Löffel in taftender Hand zerbrad). 
Sollten die Bosniafen fid ind Zürkenparlament jehnen, zwijchen zwei Ber: 
faffungftaatendiedem rothen Peter Unterthanen beneiden oder, troß der Ober» 
hoheit de8 Sultans, ihre Bertrauendmänner nad) Wien oder Belt abordnen? 
Srgendwie mußte endgiltige Ordnung gemacht, die Form der gewandelten 
Nothmwendigkeit angepaßtwerden. Der Sultan hat in Bosnien und der Herze: 
gowina ſeit 1878 nichts mehr zu fagen; und fchon zwei Sahre danach jchrieb 
Bluntjchli, der in den beiden Provinzen entftandene Widerſpruch des Weſens 
gegen die Form der Staatd- und Rechtsordnung müſſe den Zerfall der macht⸗ 
und finnlojen Form erwirfen. Bleibt noch Kreta; dad im Diadem des GroB- 
herrn doch audh fein Edelitein von zuverläjfiger Leuchtkraft mehr war. Die In- 
ventur ergiebt, daß dieZürfeinurverloren hat, was fie längſt nicht bejaß, und 
zurückgewonnen, was ihr verloren ſchien: den Sandſchak. Wozu alſo der Lärm? 





Kongreß? 97 


Um mit der facia feroce Schwankende einzuſchüchtern und mit weit- 
hin hallendem Geheuldie Ohren zu füllen, diefonft zu früh auf leiſeresGeräuſch 
lauſchen Fönnten. Die unterNifitad und Peters glorreichen Szeptern haufen= - 
den Hammeldiebe, Schweinemäfter und Scherenjchleifer mögen brütllen, mit 
Zunge und Speichel Krieg führen, dem entſchwundenen großjerbiichen Schat- 
tenreich nachtrauern, den Erben Karageorgä oder den Fürſten der Schwarzen 
Bergefortjagenund allesgepumpte Geld aus Flintenläufen in die Luft fnallen. 
Macht nichtö; ein paas Deutichmeilter oder Honveds bräcdhten die Sippe zur 
Raijon. Auch die Komoedie der Großmächte braucht die Nerven nicht zu er- 
Ichreden. Keiner hat Etwas geahnt noch gar gewußt. Feder fett die Moral: 
trompete ans Maul, zwifchen deifen Zähnen noch Die Faſern des geftern geſtoh⸗ 
Lenen Bratend kleben. Keiner will den Nationalhelden derZürfenrenaifjance 
verdächtigwerden. Sederlegtdie Hand aufdieBruftundruft, wieim Klafjen- 
zimmer, wenn ein übles Lüftlein herweht, die beftürzte Kleinmannichaft: „Ich 
ward nicht!" Zum Weinen? Zum Lachen. Ganz ernft zu nehmen ift in all 
dem Lärm nur die Propaganda der Weſtmächte für einen neuen Kongreß. 

Was ſoll der? Bulgaren, Bosniaken, Kreter unter die Janitſcharenherr⸗ 
ſchaft zurückzwingen? Daran ift nicht zu denfen. Davon dürfte gar nicht die 
Rede ſein. Das berühmte Gleichgewicht ift geftört (eigentlich nurim Balkan⸗ 
revier, wo Bulgarien aus der ruſſiſchen in die öfterreichiiche Machtiphäre ge- 
zogen, und im Reid) des Dualismus, wo Wien für den Kampf gegen Budapeft 
geitärkt worden ift) und Verträge, die längft in Beben hingen, find noch an 
einer neuen Stelle durchlöchert worden. Sft da etwa der große Gegenitand zu 
fuchen, um den Europa fich regen und feine Staatsköpfe anftrengen ſoll ? Si- 
cher nicht. Ob Rußland mit Britanien, Defterreich, Stalien über die den reſti⸗ 
renden Drientfragen zu findende Antwort jet wirklich ganz einig ift: Das 
läßt ich leicht, ohne den Riefenapparat eined Kongrefjes, feftitellen. Auch, 
ob England im Ernit eine ftarfe Türkei wũnſcht (Peteröburg und Wien kön⸗ 
nen immer nur eine ſchwache wünjchen) oder mit diefem Köder am Nil und 
bei Bender Abbas zu angeln hofft. Das nämlich ift im Grunde die einzige 
Frage, aufdieedanfommt: Welche Sroßmächte wollen heute eine ftarfe, welche 
eine ſchwache Türkei? Einem Kongreß aber würde vielleicht ganz Anderes zuge: 
muthet. Richt nur die Erörterung deregyptiichen Kapitulatienen und des Ori⸗ 
entchriftenjchußes (den Herr Clemenceauſchließlich doch nicht jo ficher bejorgt 
wie der Heilige Ludwig). Ein von den Weftmächten unter Eduards Führ- 
ung erzwungener Kongreb kann nur den Zwed haben, die Ueberbleibjelläjtiger 
Bündniffe zu lodern und Deutichland in unbequeme Lagen zu bringen. Tod) 
das Deutſche Reich hat ein ſtarkes Heer und ein gut verwahrted und provian⸗ 
tirted Haus und braucht nicht jeder Ladung in unfichered Gelände zu folgen. 

s 


98 Die Zukunft. 


Magifter Saufhards Lebenslauf”) 


Je galante Zeitalter zeigt ſich von ſeiner Kehrſeite in dem tragikomiſch 
grobianiſchen Rupelſpiel eines Menſchenlebens aus den Niederungen, wie 
es die Selbſtbiographie des Magifters Laukhard mit ſchrankenloſefter Offen⸗ 
beit darſtellt. Ein Fahrender Schüler, ein wuſter Geſell, ein verbummelter 
Student der Gottesgelahrtheit, hat er auf Deutſchlands Hohen Schulen ge⸗ 
zecht, randalirt und gefochten; als ewiger Kandidat zog er in bunter, abenteuer⸗ 
licher Geſellſchaft herum, Jäger und Sellermeifter war er auf adeligen Gütern; 
nach Haufe „eingeheimft” und wieder flott gemadt, rafft er fih zum Mas 
gıftereramen auf und dozirt Eurze Zeit in Halle. Haltlos verfintt er wieder 
in den Sumpf und von den Manichäern gehegt, in dumpfer Zerrüttung, hoff. 
nunglos, wird er Soldat. | 

Und auch diefe neue Rolle wechjelt in mannichfachen Spielarten. Er ift 
preußiicher Musketier, franzöftfcher Ueberläufer, Sand» Eulotte, Stranfenwärter 
im Wilitäripital Jean Jacques zu Dijon, dann dient er bei den Emigranten und 
ſchließlich in der Reichdarmee bei den ſchwäbiſchen Kreißtruppen. Und fein 
Xebendgang verliert fi, nach mißlungenen Berjuchen, eine bürgerliche Exiſtenz 
in Deutichlaud zu gewinnen, im Dunteln und Unſteten. 

Ein traufer Lebenslauf voll der Begebenheit und immer mitten im Wirbel 
der Zeit. Und fein Held ein Verlorener und Geſcheiterter zwar und haltlos 
und willensſchwach, niemals der Yührung über fein Leben mächtig, aber dabei 
kein Gewöhnlicher. Ein Menſch der Beobachtung und der fcharfen Blide für 
Inneres und Yeußered, durch Erfahrungen aller Wege wiflend geworden und 
aus den Abgründen und Schlammtiefen des Lebens erkenntnißvoll in den Fege⸗ 
jeuern der Herzen. Einen Blick für die Relativität der Dinge erwirbt er, der 
inn fpäter die Franzöſiſche Revolution überlegen und weitichauend beuriheilen 
löägt. Und zu fich ſelbſt bewahıt er immer eine kritiſche Diftanz: unbeftoden 
fieht er feiner verfahrenen Eriftenz ind Geficht und ftellt fie fih und den Ans» 
deren dar, kalt, Bart, als ein Erperimentator; gleich weit entfernt vom. Bes 
Ibönigen wie von weichlicher Zerfnirichung eines Büßenden und Beichtenden: 
fein tolftoischer Sünder, jondern eher ein Menſch von der Retif-Rafle, der 
am eigenen Leibe mit unerjättlicher Wißbegier ein coeur developpe humain 
belaufcht. Doch konſtatirt er Dabei mehr, ald daß er grübelnd den Zuſammen⸗ 
hängen und Berfnüpfungen nachforſcht. 


— — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — 





*) Magiſter F. Ch. Laukhards Leben und Schickſale. Bearbeitet vom Dr. Victor 
Peterſen. Verlag von Robert Lutz in Stuttgart. 








Magiſter Laufhards Lebenslauf. .99 


Dies Lebenafpiel und feine Bühnen mußten tie Liebhaber menſchlicher 
Kuriofitäten anziehen; und Achim von Arnim empfahl feinem Freunde Bren- 
tano ſehr dringend die Lecture. Laukhard ſah alle Situationen und Schau⸗ 
pläge perjönlich, frifh und neu an; feine regen Sinne erfaßten Dinge und 
Menihen immer gegenftändlih, mit allem Beiwerk, mit dem Ton und 
ber Farbe des Geſchehens Er padt die Szenen mit einem dramatiſthen Griff 
und gern fprengt er in die chroniftiihe Schilderung dialogiſche Partien ein, 
worin er dann die Perjonen, pfälziiche Bauern, öfterreichiiche Werber, ariftos 
kratiſche Fanfarons, rafjelnde Renommiſten und honorige Bierburfchen, ver« 
Ichlagene Kuppler, Fahrende Leute des Jahrmarktes, ja, auch hiftoriiche Per⸗ 
fönlichkeiten, wie den Parteigänger der Revolution, den Repräfentanten Dengel, 
den Ankläger von Straßburg Eulogius Schneider, den Prinzen Louis von 
Preußen leibhaftig charatteriftiih agiren läßt und in Dialekt, Austrud und 
Manier anjchaulich gegenwärtig mat. 

Seine tulturelle Ausbeute giebt das Bud in zwiefadher Form: erflend 
ald ein Studentenfpiegel, zweitens ala ein Soldatenfpiegel vom Ende des 
großen Jahrhunderts. Was Zacharige in der Epopoe vom Renommiften bes 
ſchreibt, die beiden feindlichen UniverfitätHeerlager, das des wüften ziegenhainer 
Comment von Jena und Gießen und daß der feinen und fuperfeinen Petit - 
Maitrrd von Ööttingen und Leipzig: Das ftellt fich bier in faftigen Wirklich 
teitaugjchnitien zur Schau. Und Laufhard gehört natürlich zu den comment. 
etrlihen Burfchen von Jena und Gießen in gelber Lederhoſe, hohen Stiefeln, 
grünem Flauſch mit rothem Sragen, die den Hicber auf dem Gtraßenpflafter 
weten und, nenn der Kopf durch das Bier „heroiſch“ geworden, mit Randal 
die nächtlichen Strafen unfiher madıen. 

Pfeifenqualm und Schnapsdunft dumpfer Sneipen, der brüllende Yarm . 
rüder Späße ift in diefen Schilderungen zu fpüren, parodiſtiſch wird in folcher 
Schänke ein Kompendtum über die Zotologie gelefen und Laukhard feierlich 
zum Professor Zotologiae ernannt. 

Auch auf der Straße wird fommerfirt, auf der Sirafe werden die Men» 
ſuren audgetragen, nachdem der Kontrahent dem Gegner feine Herausforderung: 
„Pereat N. N., der Hundsfott, der Schweinskerl“ ins Fenſter geichrien hat. 

. Die Berbindungform ift damals die der Erden und vornan fteht l’ordre 
de l’amitie, der Amiziftenorden. In dieſes Treiben bringt Laukhard ein neues 
Vergnügen, das Stomoedienjpielen, und wir ſehen jegl die wüſten Burfchen von 
Biegen unter feiner Regie Lejfingd „Zungen Gelehrten”, den „Bramarbas“ 
von Holberg, den „Berftreuten” aus dem komiſchen Theater der Franzoſen mimen. 
Als Theater dient das Philofophiiche Auditorium, da der Telan die Benutzung 
des Theologifchen ald eine Entheiligung verboten hatte. 

Auch Jena mit dem Bummel auf die Törfer, die dad Kommersbuch 


100 Die Zukunſt. 


verberrlicht, Lichtenhain, Ziegenhain, die Delmühle und die Rajenmühle, wo 
die Schläger klirren, fteigt lebendig auf und Schelmufffli-Erinnerungen giebts, 
wenn wir dem Karreſſiren der Burfchen mit ihren „Scharmanten” und „Steller- 
menſchern“ zujchauen. 

Laukhard achtet aber nie einfeitig nur auf die Rauhbeinigkeit und die 
Sumpferei, fondern er hat für alle Lebensäußerungen und Gewohnheiten ein 
Auge. So befchreibt er ausführlich den fteifen und hochmüthigen Ton des wetz⸗ 
larer Adels und in Zuſammenhang damit die Prozeffion der Empfindfamen nach 
dem Grab Jeruſalems (1776). Vorher lajen fie die Zeiden des jungen Werther 
vom „Herrn von Goelhe”. Dann gingen fie, Alle ſchwarz gekleidet, mit einem 
Schwarzen Flor vor dem Geſicht und mit Wachslichtern, an das Grab, fangen 
und warfen Blümchen darauf. 


Und dann kommt das Begenftüd zu den Bildern der Renommiſten, die 
Ausfchnitte aus dem Petit Maitre-Xeben der [uperfeinen Univerfitäten Göt⸗ 
fingen und Leipzig, wo ed um den Comment „ſchofel“ beftellt ift, „die Kerls 
Wein und Punſch faufen, fich alle Tage frificen laſſen, fich mit wohlriechender 
Pomade einjchmieren und Eau de Lavende, jeidene Strümpfe anziehen, 
ind Stonzert gehen und den Menſchern die Pfoten küſſen.“ 


Laukhards Leben und feine Spiegelung rüdt in größeren meltgeichicht« 
lichen Zufammenhang, ala er ſozial tiefer ſinkt, als aus dem hallenfer Magifter 
und Dozenten, der er in einer jchnell vorübergehenden Periode der Zuſammen⸗ 
taffung geworden, ein gemeiner Soldat und Mugsketier wird. 


Tief verichuldet, von allen Mitteln entblößt, in dumpfem Trotz gegen 
das Schickſal, entichließt er fich zu dem Verzmeiflungfchritt. Seine Beobachtungs⸗ 
gabe und feine Schilderurgstunft bleibt ihm auch in diefer neuen Sphäre 
treu. Und wie er vordem Typen und Bilder aus der afabemifchen Welt leb⸗ 
haft und farbig feitgehalten, fo zeichnet er jett in jein Skizzenbuch die jonder- 
barften Exemplare aus feiner neuen Umgebung, jo das Original von einem 
preußifchen Unteroffizier, der eben jo bibel» wie fluch⸗ und trunkfeft ift und der 
bier in feiner Lieblingpofition firirt wird: „am Dfen hockend mit dem Seiten: 
gewehr und den blauen Mantel um, eine ſchwarze Pudelmüge auf dem Kopf, 
die Brille auf der Naſe, die Schnapäpulle vor fi und an einem dien wollenen 
Strumpf ftridend.” 

Weit über ſolch Genrehaftes hinaus geht dann aber ver Anhalt der 
folgenden Lebensblätter. Laukhards Feder erhält nun große Motive und einen 
großen Stoff. Den großen König fieht er zum erften Mal 1784 bei einer 
Revue und es wird ihm ein Erlebniß: „Sein Anblid erfchütterte mich durch 
und dur; ich hatte nur Auge und Sinn blos für ihn. Auf ihn- war ich 











Magifter Laukhards Lebenslauf. 191 


amd Alles Lonzentrirt. Viele taufend Perfönlichleiten in eine einzige umges 
tchmolzen! Ein Heer, eine Handlung.“ 

Und dann befommt Laukhard, der immer das Abenteuerliche gejucht, 
Antheil an dem größten weltgeſchichtlichen Abenteuer, an der Franzöoͤſiſchen 
Revolution, in doppelter Rolle ald Soldat der Champagne-Armee und dann 
als Weberläufer mitten im Herd der Ereigniſſe. 

Die Gräuel des Krieges, der Seuchenherd verpefteter Lager, der Blut» 
und Wundenjammer verwahrlofter, abgerifjener Truppen findet in ihm einen 
Wirklichkeitmaler von unerfchrodenem Naturalamus. Sein Schidfal verjchlägt 
ihn dann hinüber nah Frankreich und aus nächſter Nähe kann er nun den 
hölliſch brodelnden Zerfegungprozeß der Revolution betrachten. Er fieht auf den 
Nlägen der Städte überall das Schaufpiel der Guillotine, bereit fteht die 
Mordmaſchine, das Meſſer immer hoch. Und er felbit jchlüpft mit genauer 
Noth darunter durd. 


Nach fo mancherlei Verwandlung, nach der Tracht des gießener Renom⸗ 
miften, des preußifchen Musketiers, ericheint jet dad Koſtum der Sans- 
Culottes auf dem Plan mit der Müte à la r&publique von blauem Tuch 
mit rothem Rand und weißer Kante, dazu die Kolarde und die Inſchrift: 
Mort aux Tois. 

Und aud in diefer Maske ‚bleibt Laukhard inmitten tollen Wirbels als 
Chronift kritiſch gerecht und unbefangen. Fein bemerkt er, zum Beilpiel, wie 
den Franzoſen der neue Ton rauher mwiderborftiger Tugend ſchwer falle, wie 
fie viel mehr Mühe hatten, ihre Artigkeiten und verbindlichen Komplimente 
abzulegen als ihre Religion: „Lieber hätten die Muscadins den lieben Gott 
geläftert ald ein Tsrauenzimmer ohne Schmeichelei vorbeigelafien.” 

Für die gewaltigen fozialen Ummälzungen hat er, der in feiner Heimath 
den Zwang und die Vergewaltigung dur die kleinen Deipoten jo genau 
Iennen gelernt, einfichtigeö Berftändniß. Und gleich weit vom einem unteifen 
Enthufiegmus wie von einer weichlicden Angſt vor dem Blutvergießen, fteht 
er hier nothwendig gejepmäßige Progefie auf dem Grunde des Chaos. Fruh 
erfennt er auch mit kombinatoriſchem Ausblid, wad dies Alles werden will 
und daß die Republit „in ihrer fürdterlihen Größe” doch nur auf einen 
Sınzigen warte, der fie zum Eigenthum nähme und, ala Führer, fie zu Welt 
firgen fortreißen werde. 

Ein verlommened Leben, dad im Dunkeln verläuft; doch durch feine 
acht zudten Blige. Felix Boppenberg. 


u 


Bayreuth. 





103 Die Zukunſt. 
Ahene wieder übt das Bewußtſein, in Bayreuth zu weilen, den alten Zauber 
aus. Der erfte Bang bes Wagnerfreundes gilt dem Haufe Wahnfried. Durdy 
‚einen fchattigen Zaubgang gelangt man zu ihm; links und rechts breitet ſich weicher, 
warmer Rafen aus, ber dem Auge ſchmeichelt. Da liegt e8 wieder im hellen Morgen- 
fonnenfchein, freundlich und vornehm, mit großen Wandflächen und iparfam ver⸗ 
tbeilten Fenftern, das in ben berfömmlichen Formen eigenwillig erfonnene Heime 
Nichards Wagner. König Ludwigs VBüfte, in einem Gartenrondell vorgelagert, 
bildet den Mittelpuntt des Bildes. Das Haus bient ihr als Folie, faft ald ob 
nit die Büfte um bes Haufes, fondern das Haus um ber Büfte willen da fei.. 
Auf den Stufen, die zu Wahnfried emporführen, find einige Hunde gelagert. Lang. 
außsgeftredt liegen fie halb fchlafend auf der Matte; offenbar alte, gutmüthige Thiere, 
deren Beruf mehr Darin liegt, ben Eintreienbden willlommen zu heißen durch freund» 
liche8 Schnupperun und Schwanzwedeln, als ihm zu wehren. Ein herrihaftlider- 
Diener in rad und weißer Binde fteht zu jeder gewinfchten Auskunft willig bereit. 
Das fo oft nothwendige „Nein“ verfüßt er ben vielen Allzu-Wißhegierigen durch 
große Verbindlichkeit. Eine freundlich blidende junge Dame von zarter Geſtalt, 
vielleiht sin Sproß ber Familie, bewegt fih in und vor dem Haus wie deſſen 
guter Genius. Sie trägt ein barrettartiges rothes Hütchen auf ben blonten Haaren, 
iR elegant gelleidet, erfcheint bald bier, bald dort, ein harmloſer Schmetterling. 
an der Stätte ernfter Kunft. Ein Dann in mittleren Jahren, glatt raftıt wie ein 
Amerilaner und angethban mit einem gelben, auffallenden Ueberrod, verläßt raſch 
Haus und Sarten. Ex fieht aus, als ob er auf vertrautem Boden ftehe und am Eade 
gar leicht ungemütblich werben könnte. Die Menſchen fonmen unb geben. Manch⸗ 
mal ericheint einer der Intimen des Hauſes, gebt ficheren Schrittes die Treppe- 
Hinauf und verihwindet im Dunkel des Flures, beneidet von den Anderen, benen 
es verwehrt bleibt, die inneren Räume des Heiligthumes zu betreten. Ernſte Ge» 
fihter, die den Stempel der geiftigen Arbeit tragen und denen man zutrauen möchte,. 
daß ihnen die Beichäftigung mit Wagners Lebenswerk zur Herzensfache geworden. 
tft, find faft gar nicht zu fehen. Hier überwiegen die Typen des großen Meile» 
publitums, Leute, wie man fie in Interlaken, Luzern, vor Allem aber in Berlin W. 
findet. Sie verweilen einen Yugenblid, ſchwatzen Dies und Jenes, bejehen fich- 
neugierig bes Meifters mühſam gewonnenes Heim, wie fie fih acht Tage zuvor 
don Snterlafen aus die Jungfrau bejehen haben, und kehren dann befriedigt in 
ihr Hotel zurüd. Es ift der internationale Reichthum, der ſich vor dem Haus- 
Wahnfried verfammelt und den Manen Richards Wagner feine Huldigung darbringt. 
Wie aber ift es ım Inneren beitellt, in der fünftlerifchen Werkſtatt, von der 

aus einft die deutiche Opernbühre reformirt wurde? Elf Jahre ift es ber, daß. 
mir vergönnt war, in Bayreuih zum erftien Mal den „Barlifal* hören zu dürfen. 
Ich kam damals von Berlin, war überfüttert und überſättigt mit Muſik, faft lahm 
gelegt in allen rezeptiven Inſtinlten und empfing doch einen tiefen, unvergeßlichen. 
Eindrud, zwar nit vom erften, aber Doch vom zweiten Aufzug, bejonders aber 
von den Kundry Szenen des dritten. Wenn ich mich recht erinnere, war es die- 
Brema, die bamals den wagneriſchen Geift in feiner ganzen Reinheit und Größe: 


Bayreuth. 103 


verförperte unb bem Hörer eindringlich zum Bewußtſein brachte, bak er an einen 
Stätte der erhabenfien Kunſtübung weile. 

Das war vor elf Jahren. Seitdem Hat fi "Manches im Haufe Wahrfrieb- 
geänbert; leider nicht zum Buten. Frau Cofima, bes Meifters ebenbürtige Gattin, 
die berufene Hüterin und Pflegerin ber gzoßen Tradition, iſt, wie man hört, von 
der Leitung der Feſtſpiele zurfdgeireien. Damit hat nun enbgiltig bie Hexrichafb 
ber Epigonen begonnen. Derer, die wohl ben Namen, aber nicht in ber ſelben 
Stunde auch den Geift bes Meiſters geerbt haben. 

Wenn man bie diesjährige Parfifalaufführung (ich habe bie letzte gehört). 
aus einiger zeitlichen Entfernung rückſchauend überblidt, fo ſchrumpft fie zum Er⸗ 
ſchrecken zufammen; ber Erinnerung bietet fich Feine fefte Handhabe; ber ganze Vor⸗ 
gang ericheint wie eine gleichfürmige graue Fläche obne ragende Gipfel, ohne: 
labende Thäler. Es wäre leicht, zu fpotten, Ties und Jenes ins Lächerlidde zu 
sieben, bie Zwerge zu zeichnen, wie fie ſich in der Werlfiait des Rieſen vergebens- 
mit feinem Handwerkszeug abmühen. Es ift aber gewiß beifer, darauf zu ver- 
zichten. Die ganze Sache ift viel zu ernft; e8 handelt ſich um ein Heiliges Gut, 
das durch Spott und Wige nicht entweiht werben fol. Auch gegen die einzeluen.: 
Darfteller ſoll nichts gejagt werben. Clarence E. Wbitehill Hieh dem Amfortas eine- 
ergreifende Maste, die Züge des leidenden Chriftus; Felix von Kraus fang ben. 
Gurnemanz vortrefflich; der Parfifal wurde von Alois Hadwiger fchlicht und na» 
tärlich verförpert. Nicht bie Darfteller find es, die für bie Monotonie bes Ganzen 
verantwortlich gemacht werden müfjen, fondem die Leitung, bie mufilafifche und. 
faeniiche, die den Geſammtcharakter der Aufführung beflimmte. 

Ber am Dirigentenpult faß, weiß ich nicht. Der Bettel gab darüber keine: 
Auskanft; und auf das Gerede der Leute zu hören ober gar ben Späher zu machen, 
iſt der Kritiker nicht verpflichtet. Wir haben es in diefem Fall mit einer unbe⸗ 
lannten, im Berborgenen waltenden Macht zu thun. Ganz gewiß war es aber 
ein vortrefflicher Muſiker, einer der erften feines Faches, ein Meifter ber Dirigenten“ 
technif und beruflich⸗exakten Arbeit. Wer Orcheſter⸗Einſätze von fo padenber Kraft 
zu geben verfleht, wie es hier beim Beginn der Schwanen-Epifobe im erſten Akt 
geſchah, wer die grandiofe Inftrumental Einleitung zur Klingsor⸗Szene mit fo viel 
Zemperament, Wucht und verzehrender Gluth auszuftatten weiß, Der hat fein bes 
beutendes Können erwieſen. Und Doch: bei Allebem, bei aller tabellofen Beherrſchung 
Des technifchen Apparate, bei aller Eraftheit und zu Zeiten hervorbrechenden Energie 
war ber verborgene Kapellmeifter kein Rarjifal- Dirigent, jedenfalls keiner, ber dem 
Geiſt und ben Traditionen Bayreuths ganz zu entfprechen vermodte. In anders 
gearieten Aufgaben mag er Audgezeichnetes leiften; hier mußte ex verjagen. Denn 
e3 gebrach ihm an der allererften und wichtigſten geiſtigen Eigenfchaft des Parfifal- 
Dirigenten großen Stiles: an der Fähigkeit, ein weit ausgebehnted Ganzes, das. 
fig meift in getragenem, gehaltenem Ausdrud bewegt, Überfichtlich zu geflalten und, 
lebendig zu führen. Nidt mit Unrecht Hat man vom Barfifal fchon gejagt, daß 
er ein einziges großes Adagio fei. Die fchwierigfte Aufgabe aber, die dem re» 
produzirenden Muſiker geftellt werben kann, ift eben die Belebung großer Flaͤchen 
von getragenem Charakter. Tas Allegro ſpielt fich, fo zu fagen, von ſelbſt. Und 
an biefer Klippe iſt unfer Dirigent gefcheitert. Er verftridte fich ins Detail, verlor 
Die beherrfchende Leberficht über das Ganze, verftand es nicht, die eigentlichen Höhee 

8% 





104 Die Zukunſt 


puntte bes wagneriichen Melos mit ber ihnen eniiprechenden Breite hervorzuheben, 
veriagte Deshalb an den bebdeutenditen Iyrifchen Stellen, wirkte gerade hier mager 
und kleinlich; und fo ergab fi) unter feiner Hand ein eintöniges mufilalıfches Ge⸗ 
fpinnft, ein ohne Ende fich Hinziehender, ſchablonenhaſt gemufterter Teppich. Richard 
Wagners Drama zerfloß zur anfcheinenb formlofen, ungegliederien Mafje. Sonder- 
bar deutlich bob fich aus diefem Einerlei im erfien Aufzug ein belebendes Moment 
ab. Ter Akapella ˖ Einjag ber Knabenflimmen aus der Höhe der Kuppel („Der Glaube 
lebt, die Taube ſchwebt“) gefhah mit einer auffallenden Frijche. Der Unterleiter, 
der dieſen Einfa gab, mochte fithlen, wie nothwendig tem Ganzen eine lebhaftere 
Farbe fei, und Hatte nun beg anerfennenswerthen Muth, der Vorſchrift ber Bar- 
titur gemäß gerade diefer, den weichen Gefühlserguß befonders nahelegenden Stelle 
eine bellere Nuance zu verleihen. Doch er drang mit feiner beſſeren Einficht nicht 
Durch; bald gewann wieder der einförmige Ton bie Oberhand. Nicht wenig trug 
auch das äußere Gebahren der Gralsriiter dazu bei, die Würde der Szene faft in 
ihe Gegentheil zu verfehren und den befannten Heinen Schritt thun zu laſſen, 
der vom Eıhıbenen zum Lächerlihen führt. Diefe Gralgıitter waren allzu gut 
Disziplinixt, fo gut, Laß fich felbft ihr intimes Seelenleben in uniformer Weiſe 
äußerte. Die Belümmerniß um Amfortad ließ fie alle wie Puppen in der gleichen 
Stellung, das Haupt auf die Hand geitüßt, verharren; und aud bie Löſung des 
Bannes erfolgte auf automatifhem Wege. Als fih dann endlich der Vorhang 
nach der unjaniten Entfernung Parſiſals und dem Verklingen der Stimme von 
oben fchloß, war es, als ob ein laſtender Alb weiche; die muſikaliſch⸗ſzeniſche Viſion 
war faft zur Dual gavorden; ftatt der Erhebung hatte fie Bedrüdung gebracht. 

Ter zweite Aufzug trägt mehr als der erſte ein opernhaftes Gepräge. Die 
B:ihmörung ber Kundry durch Klingsor fchließt ſchon in der Dichtung ein romantiſch⸗ 
typifches Element ein, das auch einer früheren Entwidelungftufe angehören Fönnte. 
Die diesmalige Darftelung ſchien an &röße der Auffafjung Binter Dem zurückzu⸗ 
bleiben, was vor elf Jahren geboten worden war. Damals wirkte das Erfcheinen 
ber mit dem Fluch beladenen Kundry unheimlich überzeugend. Die Geftalt ftie bei 
ihrem Emportauden einen jurchtbaren, marferjchätternden Schrei aus, ihr Klage» 
geheul war das eines Dämons, ber, gelöft von allen Banden und Rüdfichten der 
Menichlichkeit, ſein grenzenloſes Weh in die Welt binaustobt wie ein auf den Tod 
verwundetes Thier. Jetzt fand die Tarftellerin der Kundry zu fo ungefittetem Bes 
nehmen nicht die Kraft. Ihr Schrei war abgedbämpft zu Dem, was aud) an einem 
Königlich preußiſchen Hofiheater noch als ſchicklich gelten darf, ihr Klagegeheul war 
kein Geheul mehr, jondern ein bürgerliches Wimmern. Und auf diefen, der elemen« 
saren Kraft beraubten Ton war die ganze große Verjührungfzene abgeftimmt. Auch 
das Enfemble der Blumenmädchen, einft der höchſte Stolz und die hervorragendfte, 
Beitridendfte Leiftung Bayreuth, wirkte zwar wieder erfreulich und anziehend, beſaß 
aber nicht mehr die Hinreißende, fchlechthin zwingende Kraft wie früber. 

Noch mehr Eeeinträdhtigt im Ganzen erjchien vielleicht der dritte Aufzug. 
Hier erreichen Dichtung und Muſik ihren Gipfel. Die künftleriche Eigenart bes 
Werkes ift aber von der zarteften Beichaffenheit, erfordert das liebevollite Ver⸗ 
ftändniß und bie gıößte Behutfamleit, wenn fie auf der Bühne zur ſinnlichen Ex 
fcheinung kommen fol. Eine Linie, eines Haares Breite find hier enticheidend. 
Wird in der Wiedergabe das Richtige getroffen, jo wirkt dieſer dritte Aufzug er⸗ 








Bayreuth.“ 105 


greifend. Wenn fich ber Krampf in Kundry löft, wenn fie tief das Haupt ſenkt 
und zu weinen beginnt, dann faßt der Menſchheit ganzer Jammer bes Hörers Herz; 
ex ſelbſt muß weinen, von Mitgefühl gepadt. Deutlich erinnere ich mich noch des 
unvergeßlichen Eindrudes, den gerade d’efe Szene vor elf Jahren machte. Tas 
neue Bayreuh ſcheint fo außerordentlicher Wirkungen nicht mehr fähig. Der ganze 
Dritte Aufzug erftidte, fo zu jagen, in fich ſelbſt, in der Kraftlofigkeit, Die zur Kontraſt⸗ 
Iofigfeit wird und nun das Individuell ˖ Einzelne nicht zur Entfaltung tommen läßt. 
Selbſt ber unverwüſtliche ChHarfreitagzauber jprach nicht wie fonft. Das Melog 
ließ fiy nicht mehr greifen, Ohr und innerer Sinn waren durch all das Gleichmoß 
zu ſehr ermüdet, e8 war zu viel der Eanftheit auf ber Bühne und im Orchefter. 
Auch der Parfifal (inag ex feinem Gejammtcdaralter nach noch jo Hoch Über anderen 
Opernwerken fiehen) gehört eben doch ins Gebiet der Kunſt und bleibt Damit bem 
allgemein giltigen fünftlexiichen Gefet von der Nothwendigkeit des Kontraftes unter» 
worfen. Auch Bilder des Fra Ungelico können Den, ber ihrer viele fieht, durch 
Die Ueberfillle der Sanftmuth ermüben. Bas mit großer Sorgfalt ausgebachte, in 
eine zauberhaite Beleuchtung gerüdte abichließende Bild (die voll jehnfüchtiger In» 
Brunft und Hingebung zum endlich enthülten Gral aufblidenbe Nitterjchaft) faßte alle 
vorausgegangene Frömmigkeit noch einmal in fich zufammen und erhob fie zur Botenz, 
wirfte aber fuft raffinirt, wie die effeftvolle Schlußgruppe einer großen religiöfen Oper. 
Sp leid es mir thut und fo ungern ich e8 ausfpreche: im Intereſſe der Sache 

muß gefagt fein, dab diefe ganze Parſifal⸗Aufführung unter dem Zeichen der Eine 
förmigfeit ftand. Dagegen bejaß fie den einen großen Vorzug: fie wahrte in der 
Hauptfache den Abel und die Reinheit des Stiles. Dadurch ftand fie in mohl« 
täuendem Gegenſotze zur Aufführung des „Qohengrin“, die ſich noch weiter von 
Dem enifernte, was man fonft unter bayreuthen Geift zu verſtehen pflegt. Im 
Lohengrin mußte ſchon bie Belegung einiger Rollen befremden. Es liegt mir fern, 
ehrlicdes Streben und achtenswerthes Können kränken zu wollen. Ich möchte bem 
erireter ber Hauptrolle, den ich gehört habe, nicht wehthun. Ex befigt eine ftatt- 
liche Redengeftalt, Schöne ſtimmliche Mittel und ift mit Leib und Seele bei ber 
Sache. Er giebt. was er nur geben kann, und darf von fich fagen, daß er in feiner 
Art vollftändig in ber Rolle aufgehe. Mutter Natur hat ihm jedoch den intim nach⸗ 
ſchaffenden Seift verjagt, all fein Mühen und Ringen verhilft ihm nicht zur wahren 
Snnerlichkeit, er bleibt in Geſang und Spiel allzu viel an der bloßen Boje haften 
unb bietet fo im Wejentlichen nur die Maske des Lohengrin, nicht aber beffen 
Seele. Eben jo wenig entipcach ber Bertreier ded Telramund den großen An⸗ 
fprüchen, bie im Feſtſpielhauſe zu Bayreuth berechtigt und nothwendig find. We⸗ 
jentlich Höher ftanden bie Vertreterinnen der Elja und Ditrud: Frau Fleiſcher⸗ 
Ebel und Edith Walker. In diefen beiden Damen lebte noch Eiwas von der alten 
Tradition. Ueber ben Darfteller be3 Königs, Allan C. Hindley, ein abfchließendes 
Urtheil zu fällen, bürfte kaum ftatthaft fein, denn Diefem Sänger war es gar nicht 
vergönnt, zu geben, was ex vielleicht geben wollte. Er war nicht Herr und König 
der mufifalifchen Situation, ſondern ein gehetztes Wild, ein Knecht, und zwar ber 
Stnecht bes Kapellmeifters, der ihn erbarmunglos vor fich Ber jagte über Stod und 
Stein und ihm gar nicht die Möglichkeit ließ, das in feiner Aufgabe liegende In⸗ 
time, Warme und Gemüthvolle zum Ausdrud zu bringen. Die gute Leitung einer 
Dper bedeutet ein Bufammenwirfen aller Faltoren im Eonftitutionellen Sinn bei 


106 Die Zukunft. 


voller Selbſtändigkeit jebes Einzelnen und gewahrtem höchflen Reſpekte vor dem 
Doarfieler. Wo der Kapellmeifter aber zum Tyrannen wird, wo er felbftherrlich 
ben Darfieller an bie Wand drückt, da erftidt alles inbividuelle Xeben, ber Sänger 
TaHlt fi eingeengt und gebemüthigt: fait ber leuchtende Stern zu fein, um ben 
alles Andere fi) dreht, wird er zu dem am Sängelbande gejührten Sinblein. 

Und damit fonmen wir wieder zum Allerwidtigften: zu dem muſikaliſchen 
Reiter ber Aufführung. Wie er bie unb wer er war, blieb offiziell unbefannt; der 
. Bettel gab darüber wiederum feine Auskunft. Jedenfalls fehlen er eine wejentlich 
anders geartete mufitalifche Natur zu fein als ber Leiter bes Barfifal. Beigte ſich 
Diefer als einen ausgezeichneten Muſiker von reiffter Technik und reinem Gefühl, 
fo muß vom Leiter bes Lohengrin gefagt werden, daß feine Technit nicht ganz 
ausreichend war und fein mufifalifhes Fühlen zur theatralifchen Aeußerlichkeit 
neigie, wobei noch das Eine zu bedenken bleibt, daß der Lohengrin ben Dirigenten 
vor eine ungleich leichtere und lIohnendere Aufgabe fiellt als der Parfifal. Schon 
das Borfpiel konnte feine allzu großen Hoffnungen erweden. Wllerdings mochte 
hier der Umftand im ungfinftigen Sinn mitwhlen, daß das tiefgelegte, verbedte 
Orchefter für die Klangwirkungen des Lohengrin nicht förderlich ift. E8 war gewiß 
nicht die Schuld des Dirigenten allein, daß dem Orcheſterklang Friſche, Kernhaftig⸗ 
feit und Glanz fehlten, daß ihm bei allzu großer Glätte etwas Totes, Mattes an» 
baftete, wie wenn nicht jedes einzelne Inſtrument von einem lebendig fühlenden 
Menſchen gefpielt, fondern etwa die Pfeifen einer Orgel zum Tönen gebracht würe 
den. Wenn aljo die Mattigfeit und Leblofigkeit bes langes nicht dem Dirigenten 
allein zur Laſt gelegt werden foll, jo trug er body bie Verantwortung für den gan» 
zen Bufchnitt des Vortrages, für die oft übergroße, aufbringlich-Fleinliche Deut⸗ 
Yichleit mancher Details und für die Neigung zur füßlichen Verſchleppung. Ueber⸗ 
all fehlte Die männliche, ihrer Kraft bewußte Führung. Der im wahren Sinn muli» 
kaliſche Hörer mußte jich alsbald unbefriedigt fühlen, das innere Gleichgewicht des 
muſikaliſch⸗dramatiſchen Erfaflens war geftört, das poetijch- [zenifche Intereſſe über⸗ 
wog. Der Dirigent bes Lohengrin jchien ungeeignet für Hufgaben größten Stiles. 

Befonders deutlich zeigte ſich jeine Eigenart in ber Behandlung der Chöre. 
An fih waren fie vortrefflich ftudirt, viel beſſer, als es fonft auch an unſeren erften 
Bühnen zu gefchehen pflegt. Durch den Stab eines feinfühlenden Dirigenten hätte 
dieſer Chor zu glänzenden Thaten geführt werden lönnen. Der bayreuther Kapell⸗ 
meifter benutzte aber leider die Fügſamkeit und Gelenkigkeit bes ihm in die Hand 
gegebenen vielföpfigen menjchlichen Inſtrumentes im unkunſtleriſchen Sinn, vergaß 
alle Vornehmheit und trug viel zu did auf. An den Iyrifchen Stellen zwang er 
den Chor zur Rührfamkeit, und wie ja immer ber nothwendige Gegenpol der Rühr⸗ 
ankeit das affeklirte Pathos zu fein pflegt, jo ftanden auch Hier der Sentimentalität 
zajende Tempi und gewaltiame Eruptionen gegenüber Dadurch entftand ein er- 
mübendes Gleichmaß höchiter Eraltation. Die ganze Bühne war er/üllt mit heftig 
geftitulirenden, aufgexegten wilden Männern, die fich blähten in der felbftgefälligen 
Ueberzeugung ihrer Wichtigkeit und Unübertrefflichkeit, leider auch einmal an Die 
Nampe vorftürzten und brüllten wie nur je zu des feligen Meyerbeer Zeiten. So 
ſchmerzlich es Bielen ins Chr Klingen mag: Der Lohengrin ift gerabe in der Dar- 
ftelung Bayreuth8 zur „Großen“ Oper geworden, Bayreuth ift zu dem Punkt zus 
züdgelehrt, an dem Wagners reformatorifches Wirken einſetzte, e8 pflegt nun jelbR 
den Geift, ben zu belämpfen er fein ganzes Leben geopfert bat. 


Bayreuth, 107 


Das ging auch hervor aus ber Art ber fzenifchen Aufmachung und Regie 
Cührung. An glänzenden Szenerien war nichts geipart, nichts an prädtigen Ko⸗ 
ftümen und vielfach wechſelnden, effeltvoll ausgebachten Sruppenbilbern. Auch hier 
aber fehlte der weife und zart abwägende Sinn; war an Ueppigfeit jo viel geihan, 
"DaB ein ernfter Sinn es jeufzend ald Zuviel erfannte. Man mußte ſich geſtehen, daß 
Bayreuth mit alten, verbrauchten Mitteln arbeite. Was Wagner vor fünfzig Jahren 
-in beiligem Born über bie Oper Meyerbeers gefchrieben bat, Das läßt ſich in vollem 
Maß nun wieder auf die Leiftungen bes alternden Bayreuth anwenden. Wagner 
-ftellt die Thatſache feft, daß im des „Großen“ Oper die individuellen Berfönliche 
:feiten wieder in buntichedige, maflenhafte Umgebung ohne Mittelpuntt verſchwim⸗ 
men: „Als diefe Umgebung”, fährt ex fort, „gilt uns in ber Dper ber ganze 
ungeheure fzenijche Apparat, der dur Maſchinen, gemalte Leinwand und bunte 
‚Kleider und als Stimme des Chores zufchreit: ‚Sch bin Sch und feine Oper ift 
außer mir!“ Mit diefen Worten hat Wagner zugleich eine treffende Eharalteriftil 
und Kritik der Lohengrin-Wufführung gefchrieben, wie fie Bayreuth jetzt bot. 

Bezeichnend für den Geift bes Dirigenten war, daß ex fogar bie den Tages» 
arbruch verkündenden Yanfaren im zweiten Aufzug mit Gefühl blafen ließ. Auch 
Die unilormen Bewegungen der das Nahen Elſas verkündenden Edelknaben mögen 
Hier noch erwähnt fein als ein Symptom dafür, bis zu welchem Grade die Stilie 
fuung in Bayreuth zur Schablonifirung geworden ift. Die vier Edelknaben be» 
anügten fich nicht damit, thr Sprüchlein klar, deutlich und innig berzufagen, ſondern 
fühlten fich verpflichtet, alle vier im gleichen Moment auf das Münfter hinzuzeigen, 
Damit auch ber beichränttefte Hörer ganz gewiß verftehe, was fie zu verkünden 
baden. Man ſchätzt an leitender Stelle in Bayreuth die Beſucher ber TFeftipiele 
offenbar nicht fchr hoch ein, da man es für nothwendig hält, ihrem Berftändniß 
Durch ſo draftiiche Mittel zu Hilfe zu kommen. Gewiß fehlte e8 der Aufführung 
nicht an ergreifenden Momenten. Eo übte das Nahen und die Ankunft Lohengrins 
eine unwiberfteblihe Wirkung aus. Das Enjemble war in allen Einzelheiten glän⸗ 
zenb ftubirt, der Dirigent riß die ganze auf der Bühne fluthende Menge mit fi) 
fort, das immer erneute Vordrängen ber von bem Wunder Ueberwältigten ver» 
feßte ben Hörer in athemloje Spannung. Solche Eindrüde kehrten auch im weiteren 
"Verlauf der Aufführung noch wieder. So gern man bereit fein mag, Dieje ein« 
zelnen, vielleicht durch lange fpezielle Hebung erworbenen virtuofen Momente 
anzuerfennen, jo muß im Ganzen leider doc) bie zuvor gräußerte Meinung auf- 
recht erhalten bleiben. Wird diejer Geift in Bayreuth weiter gepflegt, dann werden 
die Vorftellungen im Feitipielhaus bald als ein Mufter dafür gelten, wie man 
Wagner nicht aufführen jol. Mancher, der fich heute Wagnerianer nennt, wird 
mir dieſes Urtheil verübeln und ihm unſachliche Motive unterftellen. Mag ers 
+hun; ich weiß, Daß ich nur der Sache dienen will. Wenn Bayreuth auf der Höhe 
dleiben will, muß es fich in allexerfter Linie die thörichten Wagner Janatiler vom 
Leibe halten. Sonft wird es rajch mit ihm abwärts gehen. Das internationale 
Reiſepublikum wird ihm zwar gewiß noch Jahre lang treu bleiben, denn es hält 
feft an Dem, was e3 einmal zur Mode erhoben Bat, ſelbſt wenn es fich für fein 
Geld langweilt. Aber der lebendige Fünftleriiche Geift wird ſchwinden und jo das 
“degentbeil von Dem entitehen, was Wagner jelbft wollte und erſtrebte. 


Ulm. Baul Moos. 
5 





‘108 Die Zukunft. 


Maſchinenäſthetik. 


ER techniſch ftiliftifche Kraft der modernen Zeit wird mit ver größten Ein» 
dringlichleit an den heutigen Maſchinen offenbar. Auch die früheren 
Kulturen beſaßen Maſchinen; ſchließlich ift jedes, auch noch fo einfache Werk⸗ 
zeug eine Majchine. Aber was dieſes moderne Mafchinenzeitalter von den 
früheren Stulturen unterfcheidet, ift der Umftand, daß die heutige Zeit ihre ent⸗ 
ſcheidende Lünftlerifche oder ftiliftiiche Marke nur durch die Mofchinen em⸗ 
pfängt. Dad war früher anders. Früher empfing felbft die Mafchine den Orna⸗ 
mentftil der dekorativen Kunſt; fie war einem Hausgeräth ähnlich gehalten, 
das man mit Schmudformen verfah. Das Handwerkzeug, eine Stanone, ein 
Hausmöbel au3 der Barodzeit, fic trugen alle die Ornamentik ihrer Zeit. Trotz 
den Maſchinen war die Erzeugung der früheren Zeit Handwerkskunſt. Heute: 
ift auch das Handwerk Maſchinenkunſt. Nichts ift, wofür nicht die Maſchine 
den Großiheil der Arbeit, und fei e8 auch nur der ftofflichen Zubereitung, 
übernimmt uud von vorn herein den formalen Zujchnitt beftimmt. Wie immer, 
war auch der Uebergang vom Handwerksſtil zum Mafchinenftil, der fih in ter 
Mitte des neungehnten Jahrhundert vollzog, Dadurch charafterifirt, daB die 
techniſche Neuerung ſich noch eine Weile der alten, eritarrenden Formenſprache 
bedienie, ehe fie den Muth und die Entjchloffenheit fand, fich ihrer eigenen, 
ipezifiichen Ausdrudsmitel zu bedienen. Die Majchine befiimmt die Formen 
des guten Gejchmades, der fih an das Sachlichkeitprinzip hält. Sie zwingt 
den entmwerfenden Künftler, von vorn herein an die metallenen Hände zu ders 
fen, die den zeichneriichen Gedanken in dad Material übertragen. Die Technik 
hat den Vorrang über die Kunft gewonnen und dieſe auf neue Pfade ge» 
drängt. Die neuen Schönheitbegriffe, eine neue Aeſthetik muß bei der Technik 
einfegen und die Begriffe der Sadjlichleit und der Zwedvollendung zu den 
obersten Grundfägen erheben. In München iſt ein Techniſches Mufeum, das- 
interefjante Auffchlüfle über ein Lünftleriich noch viel zu wenig gewürdigtes 
Gebiet eröffnet, über die techniihen Erfindungen und nftrumente der ver» 
gangenen Zeit. Sie enthalten die Borgefchichte des Maſchinenzeitalters und 
bemeifen, daß der neue äjthetifche Gedanke im Keim immer dageweſen it. 
Vom hiſtoriſchen Stilzwang befreit, zögern wir keinen Augenblid, in diejen 
Erſcheinungen Kunftformen zu enideden, die fich faft mit biologifcher Noth⸗ 
wendigkeit enwidelt haben. Beſonders finnfällig wird der Sadjlichkeitftil in 
den modernen Fahrzeugen, an denen fi eben jo gut wie an den neuen Groß⸗ 
konſtruktionen die neue Maſchinenäſthetik erweilen läßt. 

Es ift die Trage, ob eine Sache noch ſchön ift, weil fie zweckmäßig ift. 
Ein edles Fahrzeug, leicht und doch folid gebaut, aus Mahagoni oder Nutz⸗ 
holz, finnteich Zonftruist und raffinirt bequem, im höchiten Grade zwedmäßig: 








Maſchinenaͤſthetik. ‘109 


wer würde es nicht ſchön heißen? Es befriedigt unjer äfthetifches Empfinden: 
in jo außreichendem Maß, dab wir dieſem Gebilde zu feiner Vollkommenheit 
weder Etwas hinzugeben noch hinwegnehmen mödten. Zwar hatten Gala» 
wagen früherer Jahrhunderte auch reichlichen ornamentalen Zubehör, der eigent» 
lich nicht unbedingt zum Weſen der Sache gehörte. Die fpanifche Hofetiquette 
bat manche Spuren in den höfifchen Galaerfcheinungen, felbft bis in die heutige 
Zeit, binterlaffen. Aber feit wir ſelbſt nicht mehr die Allongeperüde tragen, 
haben wir keinen Anipruch, diefe ornamentalen Zuthaten als da3 Werthmaß. 
der Schönheitbegriffe zu wählen. Denn wir dürfen nicht vergeflen, daB auch 
dieſe Prunkwagen in ihrer weſentlichen Erfcheinung von der Konſtruktion bes 
Dingt waren, die im neunzehnien Jahrhundert unverhüllt in die Erfcheinung. 
getreten ift und in diefer Form erjt der Schlichtheit und Sadlichleit unſeres 
Weſens, unlerer Kleidung und dem Hausrath, wie ihn die bodenftändige Tras 
dition vorgebildet hat, angemefien ijt. Aus dem felben Grunde verdient da3 
Fahrrad, ala fchön bezeichnet zu werden. Schön ift duch das Automobil, eine 
gute Schnellzugslolomotive, ein trefflich eingerichteter Gijenbahnmwagen, ein 
Dampficiff, ein Rennbot. Was an einem Ruderbot ift? Nichts Auffälliges. 
Nehmen mir ein Achterbot: ein jchmales, leichtes Gehäufe, mit Zedernholz 
geplant, etwa fünfzehn ‘Meter lang, mit breiten Auädlegern für Riemen oder 
Ruder, mit Roll» oder Gleitfiken, um die Armmuskel durch die Arbeit der 
Beinmuskel beim Rudern zu unterftügen, eine höchſt finnreiche organiſche Ber» 
bindung der Kräfte nach dem Prinzip des kleinften Mitteld, wodurch die Muskel» 
leiftung dur die Steigerung des Auftriebes und die Werminderung der 
Neibungwiderftände nicht nur weiſe gejchont, jondern zugleich zur ftärkiten 
Kraftäußerung befähigt wird. Dieſes fachlihe Denten hat die Fahrzeuge zu: 
Drganen auögebildet, die geradezu menjchlich bejeelt find. Unſere Fahrzeuge 
verkörpern ein Stüd unſeres Nervenlebend. Es ift ein Irrglaube, daß Sach⸗ 
lichkcit zur Unperjönlichkeit führe. Im Gegentheil: die Sachlichkeit allein gemährt 
weitgehende perjönlihe Differenzirung. Von dem primitiven, ungelenten Eins 
baum bis zu dem nervös beweglichen Nuderbot liegt eine unheure Summe: 
geiftiger Arbeit, die den Dingen unfere menſchliche Phyfognomie nach dem: 
Grad unferer Geiftesfähigleiten aufdrüdt. Nicht in der Architektur, jondern in 
den Fahrzeugen, in der modernen Verkehrstechnik [piegelt ſich unjere Kultur. 
Wenn wir nad) dem Stil unferer Zeit fragen: hier haben wir ihn. Hier ift 
ein Stil entwidelt worden, der unjere Wejenheit unvermittelt ausdrüdt. Im 
Wagenbau ift die Portraitgalerie von individuell ausgebildeten Typen kaum 
zu überfehen. Zwiſchen dem nordifchen Karriol und der Stoolkjärre bis zu dem 
eleganten Char-a-bancs und den ländlich vornehmen Mailcoaches liegt eine 
ganze Welt fünftlerifcher Phantafie, die lediglich nach Nothwendigkeiten arbeitet 
und ausſchließlich auf ſachlichen Grundlagen perjönliche Unterſcheidungmerkmale 





‘110 Die Zukunft. 


‚auöbildet. Hier ift gejundes organische Wachſthum. Ganz ähnlich Hat die Auto⸗ 
mobilinduftrie zahlreiche Typen von Kraftfahrzeugen entwidelt, den verfchieden» 
ertigften perfönlichen Bedürfnifien Rechnung tragend. In groben Umtriffen ange 
deutet, vereinigen fi im Automobil drei befannte, jelbftändige Erſcheinungformen 
zu einem neuen Gebilde: der Wagenbau mit feinem formalen Wefen, daB 

Prinzip der Stettenradüberfegung des Yahrrades und die Dynamik des Motors 
als willlommener Erſatz animaliiher Muskelarbeit. Die hochentwidelte Tra⸗ 
‚dition des Wagenbaues nützt dem Automobil als äfthetifch wirkender Erſcheinung. 
Auf diefer Grundlage war ed möglich, daß dad Automobil in wenigen Jahren 

‚jeine Form ausbildete, die heute fchon als einwandfrei gelten kann. Hier jehen 
wir wieder, wie die formaläfthetiiche Ausbildung genau wie bei allen anderen 
Verkehrseinrichtungen fi aus ſachlichen Nothwendigkeiten ergiebt. Die erften 
‚Automobile machten noch den unbeftiedigenden Eindrud von Wagen, denen 
‚die Pferde auögelpannt worden find. Bald aber gewann das Kraftfahrzeug die 
‘Form, zu der es fich im Intereſſe der Schnelligfeit und zur Ueberwindung 
der Quftdrudwiderftände auswachſen mußte, indem fih der Motor in einen 
ſchmalen vorderen Bau hineinfhob und das Ganze die Form der fchnellen Bes 
wegungstörper, wie des Vogels, des Fiſches und der Echiffe, befam. Auch 
die Luftichiffe müfjen fi nach und nad zu ähnlichen Formen ausbauen, die, 
aus Nothwendigkeit entftanden, durchaus äfthetiich empfunden werden können. 
Das Problem des lenkbaren Luflichiffes ift formal der Löſung ziemlich nah; 
‚zur effeltiven Durchführung fehlt nur, daß der Motor in der Luft leicht genug 
fei, um nicht zum Auftrieb in einem zu argen Mißverhältniß zu ftehen. Die 
Analogie mit dem Vogelbau ift ganz leicht au finden, wenn wir etwa die 
Möwen beobachten, die von der Nordjee ter Waſſerſtraße entlang bis hierher 
‚an dad dresdener Elbgelände ftreichen oder die auf einem anderen Weg die 
Mafjerlandfchaften der Donau beleben. In der heutigen Form erwedt das 
Automobil nicht mehr die ftörende Empfindung, daß eine Borfpannung fehle. 
Hinzu fommt nocd der nicht zu unterſchätzende Gewinn des in der ganzen 
Verkehrstechnik entwidelten Erfordernifjed der Gediegenheit in Dlaterial und 
Arbeit. Der Chäffis des Automobils, auf dem der Motor und das Gehäufe 
ruht, muß von ganz außerordentlicher Beichaffenheit fein; und die Unforderungen, 
die in dieler Beziehung an die Stahlinduftrie geftellt werden, find fehr groß. 
"Das bat fein Gutes, wenn man die wirthichaftlihe Tragweite bedenit, die 
die qualifizirte Arbeit für die betheiligte Arbeiterfchaft hat. Schundinduftrie 
mit ihren demoralifirenden Folgen ift bier ausgeſchloſſen. 

Der Bau der modernen Schnellzugslokomotive ift von den felben formalen 
Ruckſichten beftimmt. In der nürnberger Austellung von 1906 ftand eine Schnell» 
zugslofomotive von Maffei, in die fich nicht nur Zechniter, fondern auch die 
‚Zünftlerifch gefchulten Aefthetiler verlieben mußten. Sie war für Geihwindig- 


% 


Meafchinenäfthetit. 411 


Ceiten bis zu bundertfünfzig Stilometer pro Stunde gebaut, weshalb der Führer- 
tand, die Rauchkammerihür und die Verkleidungen vom Dom und von den 
aufßenliegenden Cylindern als Windfchneiden ausgebildet waren. Ihr Profil 
gli am Vordertheil der Bruft eines Vogels. Man konnte auch an den zum 
Flußftich eingerichteten Bau eines Schiffer oder eines Fiſchlopfes denken. Sie 
war augenſcheinlich zum liegen (wenn auch auf ebener Fläche) beftimmt. Ihre 
Beftimmung war jo finnfällig, daß es zu ihrer Schönheit nicht? Anderen bes 
durfte. Der Weg von der Empireform der erften Yolomotive zur vollendeten 
Sachlichkeitform von heute bezeichnet eine Gntwickelung, bei der wir nur ges 
wonnen haben. Auf diefe Art haben fih in unferer Zeit neue Schönheite 
begriffe entwidelt, die wejentlich aus der Vorftellung harmoniſcher Sadhlichkeit 
und Zweckmäßigkeit entipringen. Bir lönnen einen noch fo geichmüdten Gegen» 
ftand nicht jchön heißen, wenn er feine Zmwedbeftimmung unvolllommen aus⸗ 
drüdt. Dagegen wirkt der Ausdruck der Wahrhaftigkeit und der Bediegenheit 
immer wohlthuend; und je volllommener und reiner diefer Ausdrud ift, deſto 
befriedigender wird unſer Schönheitempfinden fein. Dabei ſpricht vielfach ein 
ethiſcher Grundſatz mit, der die Züge und Maskerade verabicheut und im lebten 
Grund auch in der Kunſt und in der Kunftfreude mitwirkt. 

Das mächtige Llebergewicht, das vor Allem die Ingenieurkunft und die 
Verkehrstechnik in dem öffentlichen Intereſſe erlangt hat, erklärt fih zum großen 
Theil daraus, daB auf diefen Gebieten ohne Ruhepaufe geiftig gearbeitet und 
um den Foriichritt gerungen wurde. Die Stellmadjyer oder Wagenbauer, die 
Fahrradtechniler, die Botbauer, die Majchineningenieure, die Automobilfabri« 
Tanten, die Schiffsfonftrufteure haben geiftig gearbeitel; was fich in dem jelben 
Umfang von der Architeltur nicht jagen läßt. Es ift weſentlich bequemer, 
überlieferte ftiliftifche Motive fpieleriich anzuorpnen, ald das Leben in fo in» 
tenfiver Weile nach feinen unerjchloffenen Bedürfnifien zu befragen, wie e8 
duch die moderne Technik geichieht, die das menſchliche Dafein thatjächlich 
durch eine große Zahl wundervoller Organismen reicher gemacht hat. Die 
Technik bat nicht nur unſere Erkenntnifſe, fondern auch unfere Fähigkeiten, 
Den ganzen menjchlichen Machtbezirk ermeitert und und Kräfte gegeben, die 
noch vor fünfzig Jahren Märchenträume waren. 

Hter alfo, auf dem technifchen Gebiet, liegen die Keime einer neuen 
Arditeltur. In der Technik handelt fich3 im legten Grund um die Her» 
ftellung von Kontakten mit der Natur außerhalb uns, um die Erweiterung 
des Machtbezirted unferer Organe und Nerven. Unfere Stimme und unfer 
Arm molle über den Dzean reichen, wir wollen Länder verbinden, räumliche 
and zeitliche Entfernungen verkürzen, durch das Kabel, den Schnelldampfer, 
Die Straftfahrzeuge, durch mannichfache Berkehrdeintichtungen, Durch Schienens, 
Brüden,, Zunnelbauten, durch Organidmen aller Art, deren Form aus der 


112 Die Zukunft. 


Nothwendigkeit und der fachlichen Beſtimmung hervorwächſt, durch keinerleß 
vorgefaßten Stilbegriff aus der Vergangenheit belaſtet. Hier alſo iſt Leben. 
Ein neuer Begriff der Raum» und Formgebung entiteht, ein neuer Architektur⸗ 
begriff, ein neuer Schönheitbegriff. 

Blojewig. Joſeph Auguſt Lux. 


e¶ t] 


Ein neuer Shakeſpeare. 


Shakeſpeare in dentſcher Sprache. Herauſsgegeben und zum Theil neu über⸗ 
ſetzt von Friedrich Gundolf. Verlag von Georg Bondi in Berlin. 
Als Probe ein Bruchftüd der zweiten Szene aus dem dritten Akt des Coriolan. 

Coriolanus: 
O gute, doch ganz unbedachte Edeln. 
Ihr würdigen, doch ſorgloſen Senatoren! 
Was ließt Ihr Hydra einen Diener wählen, 
Der mit dem unverſchämten Soll, nur als 
Des Unthiers Horn und Lärm, Muth Hat, zu ſagen, 
Er wol’ aus Eurem Strom ein Rinnfal machen, 
Aus Eurer Qurchfahrt feine! Wird er mädtig, 
Dann dudt in Eurer Thorheit. Wird ers nicht, 
Erwacht aus drohender Milde. Seid Ihr weile, 
Thut nicht wie jeder Narr. Sonſt laßt ſie ſitzen 
Aufs Polſter neben Euch. Ihr ſeid Plebejer, 
Wenn ſie Senat ſind, und ſie ſind nichts Mindres, 
Wann bei der Stimmen Miſchung ihrer durchſchlägt 
Als Hauptgeſchmack. Beamte wählen fie, 
Und folche wie Den, der jein „Sol” hinſtellt, 
Sein mafjenmäßig „Soll*, vor ftrengern Stuhl, 
Als je den Griechen einer dräute. Zeus! 
Es drüdt die Konfuln tief, mir ftöhnt die Seele, 
Bu willen: wenn zwei Herrſchgewalten daftehn 
Unb feine oberfte, wie bald Berwirrung 
In beider Lücke dringen kann und eine 
Bernichtet Durch die andre. 
Cominius: 

Wohl, zum Markt! 
Coriolanus: 
Ver je den Rath gab, Korn aus Vorrathshäufern 
Umfonft zu geben, wies gebräuchlich war 
Manchmal in Griedenland — 
Menenius: 

Gut, gut, nichts davon! 
Eoriolanus: 
Obwohl das Volk dort freiere Macht gehabt — 


Ein neuer Shaleſpeare. 113 


Ich ſag', Der nährte Ungehorſam, atzte 
Des Staats Verderb. 
Brutu$: 

Nun, fol das Volk die Stimnte 
Dem geben, ber fo fpricht? 

Coriolanus: | 

Ich gebe Gründe, 

Mehr werth als ihre Stimmen. Korn (ſie wiſſens) 
War nicht ein Lohn; weils ihnen ſicher blieb, 

So dienten ſie nie drum. Zum Krieg gepreßt, 

Selbſt wenn des Staates Nabel angerührt ward, 

Zog man ſie kaum durchs Thor. Die Art von Dienſt 
Verdient nicht Korn umſonſt. Im Kriege ſelbſt 
Eprach Meuterei und Abfall, wo ſich meiſt 

Ihr Muth gewielen, nicht für fie. Aus Klagen, 

Die fie oft wider ben Senat erhoben, 

Aus lauter ungebornen Gründen flammte 

Nicht unfre freie Spenbe. Gut, was alſo? 

Wie foll ber Hundertfältige Wanft verdaun 

Die Gnaden des Senats! Laßt Thaten äußern, 

Was ihren Worten gleichfieht: „Wir verlangtens, 

Wir find der größere Kopf, aus wahrer Furcht 

Gab man uns, was wir wollten.” Wir erniedern 
Das Weſen unjexer Stellung, daß das Pad 

Zucht unfre Sorgen nennt; und bald erbricht es 

Die Shlöffer des Senats und drinnen baden 

Die Kräben auf die Adler. 


Menenius: - 
Kommt, genug! 
Brutuß: 
Genug im Uebermaß! 
&oriolanus: 


‚Rein, nehmt noch mehr. 
Was man bei Göttern oder Menichen Ichwöre, 
Beſiegle meinen Schluß. Dies Doppel-Herrfein, 
Wobei der Theil mit Grund verachtet, jener 
Ganz finnlos ſchmaͤht, wo Adel, Würbe, Weisheit 
Nur durch das JZa und Nein beichließen können 
Des allgemeinen Unverſtands — Ties muß 
Die wahre Roih verfäumen und verfällt 
Haltlojer Schwachheit. Sperrt man fo bie Biele, 
Bird nichts zum Biel getban. Drum bitt’ ih Euch, 
Ihr, bie Ihr minder feig fein wollt als Klug, 
Die Ihr das Grundgefüg des Staats mehr liebt, 
Als eine Aendrung daran jcheut, das edle 
Dem langen Leben vorzieht und den Körper 


114 - Die Zukunft. 


‚ Gelähelicher Arznei ausfegen wollt, 

Der ohne fie des Todes iſt: reißt plöglich 

Die Maflenzunge aus, daß fie die Süße, 

Für fie ein Gift, nicht led. Der Schimpf an Eudy 
Berfegt ben rechten Weift und raubt dem Staat 
Die Unantaftbarkeit, die ihm gebührt: 

Darf er bo nit nah Wunſch das Gute thun, 
Weil ihn das Schlimme hemmt. 


Brutus: 

Er ſprach genug. 
Sicinius: 
Er ſprach wie ein Verräther und ſoll büßen 
Wie die Verraͤther. 


Eoriolanus: | 
Tropf Du! Trotz erdrück Dich! 
Was fol das Volk mit ben Tribunenglagen? 

Weil e8 von ihnen abhängt, ſchwindet fein 

Gehorfam vor dem höheren Stuhl. Im Aufrubr, 
Als nicht ein Mecht, Tondern ein Zwang Geſetz warb, 
Da bat man fie gewählt. Zur beffern Stunde. 
Sprecht aus, dab Das, was Recht ift, Recht fein muß; 
Werft ihre Macht in Staub. 


Und ein Fragment aus Antonius und Mleopatra, 
(Antonius und Ero$.) 
Antonius: 
Eros, Du fieh mich doch? 
Eros: 
Ja, edler Herr. 
Antonius: 
Oft ſchaun wir eine Wolke drachenhaft, 
Oft Dampf wie einen Bären oder Löwen, 
Wie thiirmige Burg, wie überbängenden Fels, 
Gablige Gipfel, blaues Vorgebirge 
Mit Bäumen drauf, bie niden in die Welt, 
Reden den Blid mit Luft. Du jahft die Zeichen; 
Sie find Gepräng bes ſchwarzen Abends. 
Eros: 
Ja, Herr. 

Antonius: 
Was jetzt ein Pferd iſt, noch indem Du denkſt, 
Verwiſcht der Zug und macht e8 unbeftimmt, 
Wie Waffer ift im Waffer. 


Eros: 
So iſts, Her. ° 





Ein neuer Shaleipeare. 


Antoniu$: 
Mein guter Knab Eros, jet iſt Dein Feldherr 
Grab fol ein Körper. Hter bin ich Antonius, 
Doch darf die fee Form nicht halten, Anabe. 
Krieg führt’ ich für Egyupten. Und bie Königin — 
Mir dien, mein war ihr Herz, benn ihr war meines, 
Das, ba es mein war, fih Millionen andre 
Nachzog, verlorne jetzt — fie, Eros, kartete 
Mit Caeſar ab und fpielte meinen Ruhm 
Falſch, für des Feinds Triumph. 
Rein, wein’ nicht, lieber Eros; uns bleibt: enben 
Uns durch ung jelbft. 
(Mardian tritt auf.) 

D Deine ſchnöde Herrin 

Hat mir mein Schwert geraußt. 


Mardian: 


Antonius, nein! 
Die Herrin liebte Dich und mengt ihr Schickſal 
Mit Deinem ganz. 
Antonius: 
Fort, frecher Hämling, ſchweig! 
Sie hinterging mich und ſoll des Todes ſterben. 
Rardian: ° 
Tod läßt von Einem ſich nur einmal zahlen. 
Sie bat beglichen. Was Du thuen weollteft 
Geſchah in Deine Hand. Ihr lebte Wort 
Bar: Marc Unton. Edelfieer Marc Anton! 
Dann brach ein Irennend Schluchzen mitten durch 
Antonius’ Namen. In ihn theilte ſich 
Ihr Herz und Mund: fie gab daß Leben auf, 
So Deines Namend Grab. 
Antonius: 
Toi alſo? 


Mardian: 
Tot. 


Antonius: 

Eros, ſchnall' ab! Das lange Tagwerk iſt 

Gethan. Wir milſſen ſchlafen. .. (Zu Mardian.) Geh frei aus — 
Das zahlt Dir reich die Müh. Geh. (Martian ab.) Aus! Zieh aus. 
Des Ajox fiebenfaher Schild wehrt nicht 

Den Sturm don meinem Herzen. Birft, mein Leib, 

Herz, einmal fei zu ſtark für Dein Gefäß, 

Zerſchell Dein ſchwach Behäus. Schnell, Eros, fchnell. 

Nichts mehr vom Kriegsmann! Schartige Stüde, geht, 

Ihr wart edel getragen. Weg ein Weilden! (Eros ab.) 

Ih hol’ Dich ein, Kleopatra, unb weine, 


‚1155 





416 Die Zukunft. 


Daß Du verzeibfl. So muß es fein, benn nun 
Iſt alle Frift Qual. Seit bie Yadel aus ift, 
Tieg bin und fchweif nicht weiter. Alle Müh nun 
Tilgt, was fie fchafft, ja, felbft Die Kraft verftridt 
Sich in der Wucht. Siegle, 's ift Alles fertig. 
Eros! ... Ich fomme, Königin... Eros!... Wart' noch. 
Wo Seelen ruhn auf Blumen: Hand in Hand 
Erftaune unfer freudiger Gang die Geifter, 
Dido und ihr Aeneas ſtehn gefolgios 
Und all die Schaar ift uns. . . Komm, Eros! Eros! 
(Eros fommt zurüd.) 
Eros: 
Was will mein Herr? 
Antonius:. 
Seit Kleopatra ſtarb, 
Lebt' ich in ſolcher Unehr, daß die Götter 
Der Schande ekelt. Mich, der mit dem Schwert 
Die Welt bezirkt, auf Neptuns grunem Rüden 
‚Mit Schiffen Städte ſchuf, verdamm' ih, daß mir 
Muidh einer Frau fehlt; minder edlen Sinns 
ALS fie, die Caeſarn fagt burch ihren Tod: 
Mein Sieger bin ich felbit. Eros, Du ſchworſt, 
Wenn das Bebiirfnig käm', das wahrlich jetzt 
Gekommen iſt, und ich ſaͤh' Hinter mir 
Die unausweidhlihe Verfolgung von 
Unbil und Grauſen, dab auf mein Geheiß 
Du dann mich tötet. Thus: die Zeit ift da. _ 
Du trifft nit mich. Eaefar ifts, den Du jchlägft. 
Verfärb bie Wangen nicht. 
Eros: 
Ihr Götter, wahrt mich! 
Ich thun, was all die Partherpfeile, trotz 
Der Feindſchaft, fehlten und nicht konnten? 
Antonius: 
Eros, 
Willſt Du im großen Rom vom Fenſter zufehn, 
Wie Dein Herr fo den Arm verichräntt und fügjam 
Den Naden beugt, fein Angejiht vom Ausbruch 
‚Der Scham gebudt, indeß ber Raͤderthron 
Bor ihm den Caeſar glückhaft zieht und brandmarkt 
Den Schmäßlichen, der folgt? 
Eros: 
Ich wills nicht ſehn... 
Der Ueberſetzer: Fried rich Bundolf 


J 





Die Ulbaner. 117 


Die Albaner.*) 


Ibanien, das 1660 Duadratmeilen große, zwiſchen Montenegro, Bosnien, Ser» 

bien, Altjerbien, Makedonien, Griechenland und bem Adriatiſchen Meer 
liegende Küitenland mit 2 330 000 Einwohnern,**) von denen 1 750 000 echte Are 
nauten fein dürften, liegt wie ein Seil mitten zwifchen ben vipalifivenden Slaven 
und Griechen der Ballanhalbinjel, verdrängt allmählich die Serben aus Altferbien, 
verhindert die Berbindung zwiichen den zwei ferbiichen Staaten (Serbien und Mon- 
tenegro) und macht zugleich jede ftantlihe Drganifation der Türken unmöglich. 

Diejes Bolt ift ber lebte Neft eines Urvolkes, ber fih in ben Stürmen bon 
zweitaufend Jahren in jenen Felſen erhalten bat; von dieſem Sig hat er auch 
feinen Namen Stipetari: Leute von ben Tyellen, von ben Bergen. Die Sprache 
der Stipetaren ift ein Urzweig des inbogermanifchen Sprachftammes (Hahn), aber 
fie ift jegt mit jo vielen fremden Elementen vermilcht, daß man in 1000 Wörtern 
100 griechiſche, 50 tärkiiche, 160 Lateinische, 20 jerbifche, 130 beutfhe und 540 
Wörter der Uripradhe findet. Eine geichriebene Literatur hatten die Skipetaren bis 
in die legten Dezennien des neungehnten Jahrhunderts nicht. Der ferbifche Philoſoph 
Doffitiie Dbrabopic hat gegen Ende des achtzehnten Jahrhunderts vorgefchlagen, 
die albaniſche Sprache mit ferbiihen Buchſtaben zu fchreiben. Biel mehr Erfolg, 
bejonder3 in Südalbanien, hatte bie griehiiche Propaganda, bie darauf Binzielte, 
für das Stipetariiche griechifche Buchftaben einzuführen; ba aber bie Stipetaren 
(befondexrs im Süden) alle Griechiſch verftehen, auch das Griechiſche außerhalb der 


*) „Die türkiiche Revolution und ihre Ausfichten“: fo heißt eine Schrift, die 
Dr. Wladan Georgewitſch, ber (den Leſern ber „ Zukunft” aus feinen Auffägen über das 
Enbe ber Obrenowitich bekannte) Minifterpräfident Milans und Alexanders von Ser- 
bien, in Den nächften Tagen bei ©. Hirzelin Leipzig erfcheinen läßt. Geneſis und Wirkung 
der Revolution find darin von einem Ballantenner, der Serbien in Konftantinopel ver⸗ 
treten bat und auch aus der Beit diefer Thätigleit manches Interefſante zu erzählen weiß, 
tlar Dargeftellt. Hier wird, als Probe der Darftellungart, ein Abfchnitt veröffentlicht, in 
dem Georgewitſch über das viel genannte, Doch wenig gelannte Bolt der Albaner ſpricht. 
Einen „vollen Erfolg” der Revolution hält er nur für möglich, wenn fünfBedingungen 
erfüllt werden. Erftens ; ein Aufſtand der Alttürken, der fich nur auf die verſtockten Araber, 
Kurden oder Albaner ftügen könnte, muß rafch und mit möglich geringen Opfern an 
Menichenleben niedergefchlagen werben. Biweitens: die Regirung muß die Berfaffung 
im liberalen Sinn ausgeftalten, die zum Rationalbemußtfein gelangten Böller befrie- 
digen und für die Gleichheit der Pflichten, Nechte, Sreibeiten im ganzen Oſsmanenreich 
forgen. Drittens: Modernifirung ber ganzen Reichsverwaltung, insbejonbere der Fi⸗ 
nanzen, ber Bolizei und bes Gerichtsweſens. Biertens: bie jungtürkiſchen Führer dar 
den ſich für die Beruhigung und Befriedigung der Baltanftaaten einzufegen. Funftens: 
Die Großmächte halten ihr Verfprechen, der Türkei für das fchwere Reformwerk Zeit zu 
laffen und fte nicht mit eigennügigen Plänen zu ftören. Da biefe fünfte Bedingung nicht 
erfällt worden iſt, muß Herr Georgewitſch eigentlich heute Schon annehmen, baf Die Re» 

solution nicht zu vollem Erfolg führen kann. 
**) Derwiſch Hima, ber Redakteur der „Ulbanie” in Brurelles, behauptet, 

aß die Zahl ber Skipetaren volle drei Millionen beträgt. 
9 





118 Die Zukunft. 


eigenen Familie als Verlehrsſprache dient, jo ſchreiben fie auch in griechijcher Sprache. 
Im Norden und im Weften des Landes bat bie italienifhe Propaganda viel für 
bie Ausbreitung des Italieniſchen gethan. Noch mehr zerrifien wurbe das Bolt 
der Skipetaren durch bie Verbreitung der derichiedenen Religionen unter ihnen, jo 
daß Heute die Albaner beinahe zu gleihen Theilen dem mohammedaniſchen, bem 
griechifch-orthobogen und dem römiſch⸗katholiſchen Glauben angehören. 

Die Geſchichte dieſes zweitaufenb Jahre alten Volkes ift fehr kurz. In der 
Schlacht am Kofjowofelbe (zwiichen Serben und Türfen) am fünfzehnten Juni 1389, 
in der fowohl der ferbifche als auch der türkiſche Kaiſer fielen, verblutete außer 
der ganzen ferbiichen „großen“ und „Eleinen‘ Wriftofratıe auch der Kern bes alba- 
nifchen Heeres. Die Slanzzeit der albanifchen Geſchichte Mnäpft fidh an den Namen 
Stander Beys (Georg Kaftriota), ber 1443 bis 1467 heldenmütbig und glüdlich / 
gegen die ganze Macht der Türken fämpfte. Erſt 1478 wurde ganz Albanien tärkifche 
Provinz und bie Skipetaren fingen an, die mohammedaniſche Religion anzunehmen, 
um in tärkiihe Militärdienfte eintreten zu Tönnen. Ste gaben ben Türken viele 
tücdhtige Heerfährer. Sinan Paſcha, der bei der Eroberung Arabien durch Selim 
den Exften fiel, war ein Albaner; eben fo der Schöpfer der neuen türkifchen Literatur: 
Kemal Bey. In dem langen Befreiungskrieg ber Griechen traten die mohammes 
daniſchen Skipetaren auf bie Seite der Türken, während die chriftlichen Skipetaren 
zufammen mit ben riechen fochten (Sulioten). In dieſem Kampfe fanden viele 
Skipetaren ben Untergang, während die Griechen von ben Großmächten gerettet 
wurben. Das trieb bie Skipetaren zu offenem Aufruhr gegen die Türket, die, nach 
dem Frieden von Adrianopel, ihre ganze Macht gegen Albanien Lehren mußie, um 
den Urnautenaufftand zu bezwingen. Das gelang ihr endlich, nachdem der Groß⸗ 
weſir vierhundert albanifche Häuptlinge auf fein Ehrenwort zu einer Konferenz nad, 
Monaftir gelodt. und dort hatte enthaupten laffen. Beim erfien Verſuch der Pforte, 
auch aus Albanien Rekruten auszuheben, brach ein neuer Aufftand der Albaner 
aus (1843) und wiederum mußte die ganze tärliiche Macht, unter Omer Paſcha, 
gegen Albanien gejhidt werden. Schon 1847 fams zum dritten Aufſtand der 
Stipetari, der nur mit Waffengewalt unterdrückt werden konnte. Noch heute ift 
die türkiſche Herrichaft Über Albanien eine nur nominelle. Exit wenn die Eiſen⸗ 
bahn von ber ferbifchen Grenze bis San Gisvani bi Medua ausgebaut fein wird, 
ift eine faktiſche Herrichaft der Türkei über diefe Provinz möglich. Aber gerade 
deshalb find Die Albaner gegen alle Eifenbaßnprojelte, gegen das öfterreichifche 
(Uwac⸗Mitrowitza) wie gegen daS ſerbiſche (Donau-Adriatiiches Meer). 

Die erfte Regung des Rationalbewußtfeins bei den Skipetaren tritt 1878 
auf, als der fpätere Großweſir Ferid Paſcha noch einfach Ferid Bey Blona hieß 
und mit noch einigen albanijchen Notabeln ohne Unterfchieb der Religion einen 
Berein gründete, um „nationale und kulturelle Bmwede” der Sfipetaren zu pflegen. 
Erſt jegt entftand das ffipetarifche Alphabet, wurde die erfte fEipetarifche Zeitung, 
„Drita“ (Licht) in Konftantinopel gegründet und zugleich wurden einige nationale 
Schulen in Albanien eröffnet. Der griehiihe Patriarchat in Konſtantinopel Hatte 
fojort begriffen, daß diefe nationale Bewegung in Albanien dag mühjame Wert 
der Hellenifirung der Skipetaren vernichten mußte, daß felbft die Halbe Million 
der ſchon fabrizirten „Alvanophonen“ in Gefahr war, für das Griechenthum ver- 
loren zu geben, und fand bald Mittel und Wege, um dem Gultan zu beweifen 








Die Albaner. 119 


daß bie albaniiche Bewegung auf eine Loſtrennung Albaniens von ber Türkei ab» 
jiele. Die Folge war die Auflöfung der albaniſchen Schulen und bes National» 
vereins in Konftantinopel. Die „Drita” mußte ihr Erfcheinen in Konftantinopel 
einftellen; die Redaktion der fkipetarifchen Zeitung wurde nad Butareſt verlegt, 
wo fi ein neuer nationaler Berein bildete, um einige dreißig Bücher in albaniſcher 
Sprache druden und heimlich in Albanien veribeilen zu laſſen. Auch in Wien 
entftand ein albaniichex Verein. Jetzt tauchten mehrere albanifche Zeitungen im 
Ausland auf, denen allein in Stalien Schwierigkeiten gemacht wurben. 

Ueber bie weitere Entwidelung biefer albantichen nationalen Bewegung be» 
richtete Derwiſch Hima, ber Herausgeber ber „Albanie* in Bruzelles: In Albanien 
fegte fich die Bewegung, gefördert Durch bie von außen wirkenden Einfläffe, im 
Geheimen fort und bildeten ſich fogar heimlich Lokallomitees. Im Jahr 1905 
grünbeteder ehemalige türkiſche Gymnaſialprofeſſor Bajo Topulli im Wilajet Monaftir 
bas Komitee für die Freiheit Ulbaniens, das bald über ganz Albanien Verbreitung 
fand und die von außen fommenden Bücher und Schriften mit vielem Geſchick und 
mit großem Erfolg, ohne daß es die türkiſche Regirung hindern konnte, verbreitete. 
Einer der eifrigfien Helfer Topullis war der albanifche Dichter N. Srameno. Das 
Komitee für die Freiheit Ulbantens follte eine weitere Bebrüdung ber albaniſchen 
Ration durch ſerbiſche, bulgariiche und griedhifche Banden und bie türkifche Ver⸗ 
waltung verhindern und das Volt aufllären. Mehrere vornehme Albaner, die 
dieſe Bewegung durch Geld unterfiügt hatten und ben türkiſchen Behörben ereichbar 
waren, wurden nach Kleinafien verbannt und lehren jegt, nach der Generalamneftie, 
in ihre Heimath zurück. Die Erfolge, welche die Jungtürken erzielt haben und 
bie in ber Wiebereinführung ber Berfaffung gipfeln und zum größten Theil nur 
durch die wirkſame Unterftügung der Albaner erreicht werden Eonnien, veranlafjen 
nun die Albaner, die Berwirklihung der ihnen vor - Ausbruch der Bewegung von 
den Jungtürlen gemachten Berjprechungen zu verlangen. Die Hauptforberungen 
ber Jungtürken zielen neben der bereit3 bewilligten Berfaffung auf eine Decentra⸗ 
Iifatton der Verwaltung mit dem Programm: Die Türkei den Türken. Dem jtellen bie 
Albaner die Forderung gegenüber : Albanien den Wlbanern unter türkischer Oberhobeit ! 

Die Albaner Haben eine Erklärung veröffentlicht, deren Hauptſätze lauten: 

„Wir erfireben vor Allem die Anerkennung der albaniſchen Sprade unb 
Rationalität durch die Regirung, gleiche Rechte für die Ulbaner der drei Bekennt⸗ 
niffe, innere Organifation Albaniens auf decentraliſtiſcher Grundlage unb Autos 
nomie der ortbodoren albanifchen Kirche. Unſere adriatiſchen KKüften wollen wir 
dem wachſenden Einfluß Staliens entziehen. Wir werden barüder wachen, daß 
bie jungtärfiiche Bewegung nicht in einen nationaliftifchen Chauvinismus außarte. 
Diefe Bewegung untexicheibet ſich dadurch ganz deutlich von unſerer nationalen, 
daß fie dahin firebt, die Suprematie bes türkifchen Elementes und des Iſlam im 
Reich zu fichern, während wir enıfchlofien find, unjexe Rationalität gegen bie Ueber- 
griffe anderer Nationalitäten und insbefondere gegen die ſlaviſchen und belleni- 
ſchen Zeitelungen zu vertheidigen. Wir wollen, daß es feinen Unterjchied bex Rechte 
zwiſchen mohammedaniſchen, katholiſchen und orthodoxen Albaneın gebe. Wir wollen 
die Gewiffensfreiheit und Gleichheit aller Bekenntnifſe vor einer Regirung von 
unbedingtem Laiencharakter. Dies find die wichtigſten Punkte unſerer Forderun⸗ 
gen. Das cibilifirte Europa wird fie ohne Nüdhalt billigen. Es ſoll wifien, daß 


9* 


120 Die Zukunft. 


der albanifchen Nation Raſſenhaß und religöjer Haß fernliegt, da fie eine ſtarke 
und friedliche Nation ift unb nur die Schranten ftürzen will, die eine ungerechte 
Hegirung dem Fortichritte ihrer geiftigen und wirthſchaftlichen Entwidelung ent» 
gegengeftellt Hat. Weber Griechen noch Bulgaren, weber Serben noch Türken: 
wir find glbanifhe Nationaliften und wir wollen, daß die AlbanerjHerren ihres 
Landes und ihrer Geſchicke feien.” | 

Diefe Erftärung findet darin ihre Begründung, daß die geiftigeu Yührer 
der albaniſchen Nationalbewegung fürchten, der „haupiniftifch“ gefinnte Theil unter 
den Jungtürken werde bie den Albanern gemachten Verſprechungen nicht halten. 
Die Beſorgniß wurde auch durch bie Anſprache Enver Beys in Saloniki genäbrt, 
in der er alle unter türkifcher Herrichaft ſtehende Nationen erwähnte, nur die Al- 
baner nicht, obwohl fie etwa brei Millionen Seelen zählen und das wichtigſte 
Element bes türkiſchen Neiches in Europa ausmachen. 

Die meiften Jungtürken ſehen heute noch den Albaner iflamitifcher Religion 
als einen Türken an, ber ſich ald Albaner fühlt; fo kommt es auch, daß die Griechen 
bie ortbodoren Albaner als Griechen reflamiren Die jungtürlifche Bewegung be 
gann in albaniſchen Ortfchaften, wie Rezna, Ochrida, Struga, und bie geiftigen 
Führer im jungtürkifchen Lager find albanifcher Abkunft und fühlen fi auch als 
Albaner. Das ift beim Urtheil über die Situation zu bedenten. 

Die Ulbaner wollen num in Albanien eine alle drei Konfelfionen umfafjende 
Nationalpartei ſchaffen, die bie bisherige Thätigleit der in» und ausländifchen 
Komitees fortfegen und das nationale Bewußtjein bes Volkes heben unb auf An 
erlennung der nationalen Rechte dringen fol. Dieſe Nationalpartei ift fchon im 
Entftehen und wirkt beim Volk auftlärend im Hinblid auf Die bevorjtehenden Wahlen. 
Die gewählten Abgeordneten ber albaniſchen Nationalpartei werben beim Zufammen- 
tritt des Barlaments ihren nationalen und Eulturellen Forderungen Ausdruck ver- 
leiden. Sollte ihnen nicht die gewünfchte Unerfennung werben, fo txeten bie al⸗ 
baniſchen Abgeorbneten in bie jchärfite Oppofition. 

Die Behauptung, der von Defterreich geplante Bau ber Sandſchakbahn werbe 
von den Albanern als „Erfüllung eines langjährigen Wunſches“ freudig begrüßt 
werben, ift unbaltbar. Die Mächte, die fich fiir den Bau von Eifenbabnen durch 
Albanien intezeifixen, wiffen, wie e8 mit biefem „langjährigen Wunſch“ ber Skipetaren 
ſteht, und laſſen ſich durch ſolche Angaben nicht tänfchen. - 

Ich habe die Deliderata ber Sktpetaren aufgezählt, um die Schwierigleiten, 
bie das neue Regime in der Türkei erwarten, von allen Seiten zu beleuchten und 
um ben jungen Yübrern der neuen türkifchen Bewegung zu zeigen, daß ein Ber 
fuch, die verſchiedenen Völker in der Türkei zu entnationalifiven, nicht nur auf bie 
ſchaͤrfſte Oppofition der Slaven und ®riechen, fondern auch der Skipetaren ftoßen 
würde, alfo einer Nation, die von ber Welt bis vor Kurze für bie befte Stüße 
bes Türkenthumes in Europa gehalten, ja, von ben Türken jelbft als eigenes Fleiſch 
und Blut betrachtet wurbe. 


Belgrad. Dr. ®ladan Georgemitid. 


» 





Ballanforgen. 121 


Baltanforgen. 


SR: fih8 in dem ſüddſtlichen Winkel Europas xegt, muß man flet$ intere 
nationale Berwidelungen fürchten. Der Kuchen, den fich die Großmächte da 
unten reſervirt haben, fol möglichft lange unangefchnitten bleiben, weil eine der 
anderen nicht das größere Stüd gönnt. Nun hat der Sohn der Hugen Klotilbe 
ih zum Selbſtherrſcher aller Bulgaren ausgerufen und der greife Onkel in Wien 
Bosnien und bie Herzegowina feinem Reich angegliedert. Beide Ereignifje können 
uns im Grunde höoöchſt gleichgiltig fein. Ob Ferdinand Fürft oder Zar ift, ob im 
Bosnifchen die Habsburger ober Osmans Nachkommen zur Erbfolge bereihtigt find: 
wa3 gehts und an? Am elften Januar 1886 fagte Bismard im Neichdtag: „Was 
if uns benn Bulgarien? Es tft uns vollftändig gleichgiltig, wer in Bulgarien regirt 
und was aus Bulgarien überhaupt wird.” Sollte Das Heute nicht mehr gelten? 
Die Börfen, beſonders die parifer, ſchienen e8 zu glauben; in allen Fugen Trachte 
ed und bie Stimmung war Stunden lang fo, als ſei der Befehl zur Mobilmachung 
{don gegeben. Die Huge Börfe! Wenn Türken und Bulgaren nun wirklich auf 
einander losjchlägen: fiele die täxfifche Staatsichuldennerwaltung Barum in Trümmer? 
Am achtundzwanzigſten Mubarrem 1299 (nad chriftlicher Rechnung am achten De» 
zember 1881) trat ber berühmte Irade in Kraft, der die Gläubiger des Osmanifchen 
Reiches in ben fiheren Port einer internationalen Kommilfion führte. Und bie 
Berwaltung ber Dette Publique Ottomane hat feitbem den Gläubigern nie Grund 
zur Beſchwerde gegeben. In dieſe Periode fielen die fchlimmen Jahre 1895 bis 
1897. Armeniſche Wirren; Run auf die Osmanenbank; allgemeine Finanzkrifig; 
griechiich-türkifcher Krieg, Der Schuldendienft wurde trog Alledem nicht geftört 
und die Amortifirung ber Serientitre8 und Türkenloſe ging ruhig weiter, wie im 
tiefften Frieden. Auf die Türkei find bie Augen der ganzen Welt gerichtet. Bul⸗ 
garien, Serbien, Bosnien und die Herzegowina: folder Kleinfram kann bas Kapital 
faum ernſtlich interefjiren. Im Osmanenreich aber hat Europa ftarfe Yuthaben. 
Renten, Induſtrie und Eifenbahnen haben fremdes Geld in fich aufgefogen. Die 
Kurszettel geben Aufſchluß über die Bahl und Urt der türkifchen Papiere, die an 
den großen euxopäifchen Börfen notirt werben; und man mußte fürchten, daß dieſe 
Berheiligungen duch Friegeriiche Berwidelungen geihädigt würden. Frankreich 
empfindet in ſoltchen Stunden die Thorheit des eifernben Wetibewerbes um bie Gunſt 
des Schuldenmachers am Goldenen Horn bejonders jchmerzlich. Zeigt fich am ferniten 
Horizont die Deutiche Bank ober die Deuiſche Orientbank, jo wird bie parijer Finanz 
unrubig. Das jchöne Recht, ber Hohen Pforte Vorſchüſſe zu gewähren, läßt man 
ſich nicht gern ftreitig machen. Neulich erft gabs Aerger, weil die Deutiche Orient» 
bank in der Konkurrenz um die Gewährung eines Vorſchuſſes von 200 000 Pfund 
an bie höchſt glorreiche Regirung des Khalifen gefiegt hatte. Osmanenbank, Banque 
be Baris, Credit Lyonnais wollen ba8 Monopol für türkifche Finanzgefhäfte. Nur 
ungern bulbet man bie Deutiche Bank als Rivalin. Paris ift der Mittelpuntt des 
Handels in türkiſchen Papieren. Bon der Unifizirten Anleihe des Jahres 1903 
(Sefammibetrag rund 32 Millionen Türkifche Pfund) find mindeſtens zwei Drittel 
in franzöfifchem Beſitz. Nur die Türkenlofe find in Frankreich, England und Teutfche 
land ziemlich gleichmäßig verbreitet. Da die Franzofen und Engländer als Türken⸗ 
befiger die Priorität haben, fo wechleln fie im Präfidium der Staatsſchuldenver⸗ 


122 Die Zukunft 


waltung ab. Deutichland, befien Vertreter lange Geheimrath Dr. Rudolf Lindau 
war, hat keinen Antheil am Vorfig. Könnten nun bie der Dette Publique Otto- 
mane verpfändeien Einkünfte burch einen Krieg fo geſchmälert werden, daß der 
Schuldendienſt Darunter leiden müßte? Das allein war zunächſt die Frage. 

Die ftärkfte Sicherung ber türkiihen Staatsgläubiger beruht in ihrer Inter⸗ 
nationalität und in ber Thatfache, baß Frankreich zwei Milliarden in Turbanwer⸗ 
tben angelegt hat. Das ift bie befte Nüdverficherung für Die Anderen. Dann kommt 
England mit feinem council of foreign bondholders, der nicht mit fi jpaßen 
läßt. Die englijchen Sinanzleiter werben wohl dafür jorgen, daß die der türkijchen 
Staatsfhhuldenverwaltung überwiefenen Einkünfte nicht angetaftet und daß bie ru⸗ 
melifchen und bulgarifchen Tribute enbli an Die Türkei und deren Gläubiger ge 
zahlt werden. Dftrumelien follte drei Zehntel feiner jährlichen Einkünfte an Die 
Turkei abliefern. Man hatte eine Jahresſumme von 260 000 Türkiihen Piund feſt⸗ 
gefegt, die der Dette Publique ausgezahlt werden jollte. In Wirklichkeit haben 
die Zahlungen abex niemals Diejen Betrag erreicht, jondern find im Jahresdurchſchnitt 
nicht über 115000 Pfund Hinausgegangen. Hier find neue Abmachungen nöthig, 
wenn das ftaatsrechtliche Verbältnig Bulgariens zur Türkei gelöft if. Der Ver⸗ 
waltungratb der Dette muß hindern, daß bie Gläubiger durch Bulgarien geichä- 
digt werben. Diefe Forderung gilt auch für den bulgarifchen Tribut, der Die Abe 
Hängigfeit Bulgariend von der Türkei zu finanziellem Ausdrud dringen follte. Die 
Signatarmächte des Berliner Vertrages batien die Aufgabe, diefen Tribut zu norr 
miren; haben ſich aber dreißig Jahre lang dieſer Pflicht entzogen. Die tärkifchen 
Angelegenheiten galten eben nie als dringlich; die Orientaliſche Frage wurde als 
ſchleichende Krankheit betrachtet. Statt des WBulgarentributes wurden der Dette 
Publique bie Einnahmen aus dem Tabalzehent (100 000 Pfund jährlich) über⸗ 
wielen. Jet muß die Tributfrage beantwortet werden. So lange das Suzeraine- 
tätverbältniß beftand, konnte man mit einem gewilfen Recht von der Türkei bie 
Leiſtung provijorifcher Zahlungen für bie der Dette verpfänbete bulgariſche Abe 
gabe verlangen. Heute kann fie fagen: Haltet Eu an Bulgarien! Das neue 
Königreich muß zunächſt alfo neue Anleihen aufnehmen, um feinen Berpflichtungen 
gegen die Türkei und deren Gläubiger nachzufommen. Wo werben bie Bulgaren 
Selb finden? Die bulgariſche Staatsfchuld betrug am erſten Januar 1908 rund 
470 Millionen Franck... In Berlin wird eine jehsprozentige bulgariſche Staats⸗ 
anleihe, leider auch eine fünfprozentige Anleihe der Stadt Sofia notirt. (Leider; 
um einem „dringenden Bedürfniß” abzuhelfen, wurde die Stadtanleihe im Yrübjahr 
1906 zum Kurs von 94 bei ung eingeführt und ift jept underfäuflich.) Daß bie bul- 
garilden Staatsanleihen Hypothelarifch gefichert find, ift ein fchlechter Troft an 
dem Tag, wo das jüngfte Barenreich neue große Anleihen aufnehmen muß. Ob 
es das nöthige Geld befommt? London ift an bulgarifhen Papieren viel mehr 
intereffirt al$ Berlin; und an der Themfe geben bie Meinungen einftweilen recht 
weit auseinander. Manche fagen, Bulgariens Kredit fei beſſer als je; Unbere, zu 
denen die mächtige Bantfirma Baring Brothers gehört, erllären: „Nicht einen 
Pfennig für den Ufurpator.” Werden fpäter aber wohl mit fich reden lajien. An 
das Geld ift auch bei bex Enticheidung liber Krieg oder Frieden wohl zuerft gebacht 
worden. In die Balkankanalbetten ift aus allen Teilen Europas ja Geld gefloffen. 
Die Hauptfache aber ift und bleibt die Türkei. Danach kommt Rumänien. Alles 
Andere, auch das bankerotte Griechenland, zählt daneben kaum. 








Ballaniorgen. -123 


Die deutſchen Banken haben fi in ben legten Jahren eifrig um Orientge⸗ 
fchäfte bemüht. Deutiche Bank, Dresbener, Nationalbank für Deutichland, Handels» 
gejellichaft und Undere müfjen natürlich wünfchen, daß ba unten Fein gefährlicher 
Brand entfieht. Man Hatte von bem Fonftitutionellen Regime am Goldenen Horn 
viel erhofft. Das Ende ber Pumpwirthſchaft ohne Budget ſchien nah. Und ſchon 
fah man vom Haus ber Stantsfchulbenverwaltung nad dem Finanzminifterium 
{Mali&) eine Bxrfde geichlagen, über die bald bie Beifter ber Ordnung in das Haus 
der osmanischen Finanzen einziehen würben- Was find Hoffnungen, was jind 
Entwürfe! Wenn eine Ultiengefellichaft fanirt wird, pflegt man das Aftienlapital 
zu verkürzen, zufammenzulegen und dann durch neues Geld wieder auf ben sta- 
tus quo zu bringen. Der erſte Theil einer Sanirung wäre aljo bei ber Türkei 
durchgeführt: die Zufammenfaffung bes urfprünglichen VBefigftanbes (Bosnien, Her⸗ 
jegowina, Kreta find geftrichen worden); und bie Wiederauffüllung bes Stamm 
Tapital8? Wirb die auch kommen? Die Abtretung des Sandſchaks Novibazar wäre 
fhon Etwas. Doc zur vollen Sanirung fehlt noch das Widhtigfte. Cash, cash 
down! Bielleiht macht das Khalifenreih, wie Ali Baba mit ben vierzig Räubern, 
ſchließlich kein fchlechtes Geſchäft. Warten wird noch eine Weile ab. Bor einigen 
Wochen hieß es, bie türkiſche Regirung wolle die im Jahr 1903 begonnene Unis 
fizirung ihrer Anleihen fortfegen und zu Ende führen. Die Sinanzrefoım bes 
Sabres 1903 erſtreckte fi nur auf einen Theil der osmaniſchen Staatsichulden. 
Die vier Serien ber dor 1878 aufgenommenen Anleihen wurden durch ein einheite 
liches Bapier erjegt. Eine allgemeine Untfigirung fest natürlich eine gebeflerte Finanz⸗ 
und Wirthſchaftlage voraus; und diefe Borausjegung ſchien gegeben, ſeit die Türkei 
fih anſchickte, allmählich in bie Bahnen eines modernen Wirthſchaftſtaates einzu⸗ 
biegen. Die großen deutſchen Induſtriegeſellſchaften, bejonders die eleftxotechnie 
fen, bliden fchon lange gierig auf das Reich Oſsmans bed Großen. Elektriſches 
Ticht, elektrifizirte Straßenbahnen in der Türkei: ba wäre eine Chance. Bor dieſes 
Ausfichtfenfter haben die legten Ereigniffe eine Garbine gezogen; Doch darf man 
nicht vergefien, daß es fih bisher nur um bie Sanktionirung von Zuftänden han⸗ 
delt, bie als Thatfachen längſt Bingenommen waren. Der Lärm war arg. Nach 
einem Weilchen kann aber Alles wieder in Ordnung fein. Firß Erſte wenigftens 

Im Drient bat europäifches Kapital bie Hauptarbeit geleiftet. Die Eiſen⸗ 
bahnen find mit frembem Geld gebaut worden. Die anatoliihen Bahnen unb die 
Bagbabbahn find die Domäne der Deutihen Bank. Ueber ihr thront als Schutz⸗ 
geift bie Berwaltung der Dette Publique; fie erhebt die als Bürgfchaft der Streden- 
einnahmen ber Geſellſchaft überwiefenen Zehente beftimmter Brovinzen. Die Bagbab- 
bahn ift ein Zankapfel; England und Frankreich möchten fie Dem deutichen Kapital 
geen entreißen. Bon den fruchtbaren Gefilden Mejopotamiens foll der beutiche 
Bionier ferngehalten werden. Das gehört mit zu dem Plan, der dad Deutiche Reich 
auf feinen Befig von heute beichränten will. Da mag es an Vebervölferung zu 
Grunde gehen. England hat ſich ſchmollend einit von der Betbeiligung an der Bag» 
babbahn zurüdgezogen. Nicht für immer; nur bis zu dem Tag, wo es ben dam- 
ned Germans einen Snüppel zwiichen bie Beine werfen könnte. In den Eroͤrte⸗ 
zungen über Urfacye und Wirkung der neuften Balkanverſchwörung ift bie Bagdadbahn 
Saum erwähnt worben. Merkwilrdig. Mindeſtens mußte man doch an die Beziehungen 
mancher londoner Große zu ber heiß umftrittenen Bahn denken. Die Rechte Deutſchlands 





134 Die Zukunſt. 


find da nicht ſtabilirt wie ein bronzener Fels. Die der Deutichen Bank vor zwanzig Jah⸗ 
ren ertheilte Konzeſſion zum Bau einer Bahn in Kleinaſien berubte auf der perfönlichen 
Freundſchaft zwiſchen Wilhelm und Abb ul Hamid. Doch Sympathien find gebrech⸗ 
liche Sockel für Verträge; ihre ewige Dauer iſt ja nicht verbürgt. England weiß ganz 
genau, warum es fich fo beeilt hat, den Sultan feiner zärtliden Theilnahme zu 
verſichern. Deutichland joll, um ber Bagdadbahn willen, im Yildigpalaft kalt ge⸗ 
ſtellt werden. Das ſcheint mir der Bwed ber Uebung zu fein. Die Bagdadbahn 
ift viel wichtiger als die Orientbahnen. Die Betriebsgefellihaft ber Orientaliſchen 
Eiſenbahnen ift ein öfterreichtiches Aktienunternehmen, an bem auch beutfches, fran⸗ 
zoſiſches und ſchweizeriſches Kapital (Bank für orientaliiche Eifenbahnen in Zürich) 
betbeiligt ift. Die Gefellichaft hat die Konzeffion zum Betrieb der Haupteifenbahne 
ftreden in ber europäifchen Türkei. Eigenthümerin der Bahnen iſt die Türkei, die 
im Jahr 1957 in alle Rechte ber Sejellichaft eintreten fol. Die tft bis dahin nur 
Pächterin. Bulgarien hat nun auf die oftrumelifche Strede der Drientbahn Be⸗ 
flag gelegt und die Beamten vertrieben. Ein Gewaltaft gegen die. Türkei unb 
Die Altionäre. Die haben natürlich proteftirt und eine Entſchädigung verlangt. 
15 000 Francs täglich. Die Hohe Pforte Hat die Mächte zum Einfchreiten aufge 
fordert; mit Recht, weil nicht nur türkiſche, fondern auch deutſche, franzöfifche und 
ſchweizeriſche Intereſſen auf bem Spiel ftehen. Das neue Barenreich Bulgarien wird 
feinesUnabhängigleit.dadurdy bewetien, daß es die geraubte Bahnftrede, über die 
übrigens aud der „Drient-Erpreß" fährt, nicht wieder herausgiebt. Die Geſell⸗ 
ſchaft wird eine angemeflene Entfhädigung für den gewaltiam verftaatlichten Theil 
ihrer Linien zu fordern haben. Hoffentlich erleben die betheiligten Stapitaliften dabei 
nicht eine zweite Auflage der Transvaalbahnaffaire. Hier können die Diplomaten 
ihre Talente zeigen. Bulgarien fol eine Abfindung von 150 Millionen Francs 
geboten Haben. Die müßte natürlich das Ausland aufbringen. Im Banzen läme 
der bulgarifche Finanzbedarf nach dem Staatsitreihh auf 250 bis 300 Millionen 
Francs. Das wären die Regiekoſten, die das fremde Kapital zu bewilligen hätte. 
Ferdinands Königsfrone ift nicht billig. Und diesmal ift Fein Zar⸗Befreier zu 
finden, der dem Koburger die Kaſtanien aus bem Feuer Holt. Die Dampfbahn, 
bie der elektriſche Funke ſchon am Neben bebrobt, bleibt bis ans Ende ihrer Tage 
ein Teufelswerk. Sie führt die Völfer zufammen, aber nicht immer zur Freund 
ſchaft. Und wo fie Bionierdienfte geleiftet Hat, da hodt der Neid auf ihren Schwellen. 
Bon der Bagbabbahn her broht ftet3 ein casus belli und eine® Tages wirb über fie 
zu verhandeln fein, wie heute über die bulgarifche Orientbahn. Faft könnte man 
ihon behaupten, daß die Drientfrage heute eine Eifenhahnfrage geworben ift. 
Privatintereffen haben ſich, wie immer in folder Zeit, ins Spiel gemengt. 
Auf die Frage, welche Thatfachen die Panik jchufen, deren Schauplag Paris und 
London am neunten Oftobertag waren, giebt Die Politik feine zureichende Antwort. 
Die Furt vor dem Krieg war ſchon ſchwächer geworden; und ein Kongreß Fönnte 
Unbehagen, aber nicht Panik erflären. Der brennende Wunſch, ben Beginn der 
Soldminenhauffe zu Hören? Den eben wieder im Kafferncirtus Aufatymenden tft 
die freude raſch verborben worden. Die Hauptihuld trägt wohl das Gewimmel 
der \tleinen, die an den Kursſchwankungen verdienen wollen. Der Wahnſinn bes 
modernen Afıienfpield hat Methode; an Tagen der Erregung lernt man, wenn mans 
vergelien Hatte, immer wieder erfennen, daß es Wahnfinn ift. Ladon. 








Derausgeber und verantwortlicher Redatteur: DM. Harden in Berlin. — erlag ber Zukunft in Berſtu. 
Druck von G. Bernftein in Berlin 





Berlin, den 24. Pkiober 1908. 
MI m 





Die Meerengen. 


er Sultan, jchrieb Boris Alexejewitſch Galizyn an Peter, feinen Zög- 

ling und Herrn, „betrachtet das Schwarze Meer als fein Haus, in dem 
Fremde nichts zu ſuchen haben, oder ald eine im Harem allen Blicken verbor- 
gene Jungfrau; er würde eher feinen Truppen den Befehl zum Krieg als an= 
deren Mächten die Erlaubniß zur Fahrt durch dieſes türkiiche Binnenmeer 
geben.“ Das war der Pontos Euxeinos wirklich bis zum Ende des fiebenzehn: 
ten Jahrhunderts. Wer Byzanz hatte, war Herr des Pontos; jeit der Türken⸗ 
than auf dem Stuhl des Bafileus ſaß, durfte zwiſchen Balkan und Kaufajus 
nur die Halbmondflagge wehen; und jo wichtig dünkte die Erben Moham— 
meds diejer Beſitz, dab ſchon unter Muftafa dem Zweiten, um die Zeit des 
Friedens von Karlowig, ein türfifcher Staatömann warnend rief: „Wenn 
fremde Schiffe je das Recht zu freier Fahrt auf dem Schwarzen Meer durch- 
ſetzen, ſchlägt dem Osmanenreich die Sterbeftunde.“ Diefe Weisſagung darf 
man (wie die meiften) nicht wörtlich nehmen. Aus den Dampfteffeln derruf: 
fiſchen Slotte zieht der Dualm über den Pontos hin: und noch immer jehen 
wir die Großmächte um die ungejchmälerte Lebensdauer der Türfei bemüht. 
Doch ſchon 1683, ehe Peter in Aſow den Cchlüffel zu einem Nebenthor des 
Schwarzen Meeres einftedtte, jprad) der baumburger Chorherr Boyjel von 
dem Sultan ald von einem Kranfen, dem zehn Aerzte (foviele finds jetzt faum) 
mit Diagnofen und Heilmitteln nahen; undein Jahre danach verglich der Bri⸗ 
tenbotichafter Sir Thomas Roe das Reid; Muftafas dem Leib eines fiechen 
Greiſes, der fich und Andere über die Gefahr ſeines Zuftandes täujche. (Soalt 
ift dad winzed word vom Kranken Mann.) Aſow, das der zweite Mohammed 


den Rachfahren Tamerlandabgenonimen hatte, ift zwölf Jahre nach dem Fries 
10 


126 Die Zukunft. 


denvon Ronftantinopelwiedertürfiich geworden und erft Münnichhat, mit An- 
nad Heer, den Flecken ander Donmündung, nad) ſechsmonatiger Belagerung, 
endgiltig dem Reuffenreich erobert. Im Frieden von Belgrad mußte Mahmud 
ihn, 1739, den Moskowitern abtreten und konnte fienur noch zur Schleifung der 
Feftungwerke verpflichten. Vorher hatte Monteßquien gejchrieben:J’aivuaver 
etonnement lafaiblessedel’empire desOsmanlins. Cecorpsmalade ne 
sesoutient pas par unr&gime douxettempere,maispardesrem&des vio- 
.lents qui l’&puisent elle minent sans cesse. Avant deux sieelescetem- 
pire scrale Ih&ätre destriomphes de quelqueconquerant. Nachher ſpöõt⸗ 
telteToltaire, er ſeinoch lange nicht ſo krank wie der Türke. Seit die im Harem 
geborgene Jungfrau von den Ruſſen begehrt, der Pontos den Fremden nicht 
mehr axeinos, ſondern euxeinos ward, dämmerte der Khalifenherrlichkeit der 
Abend; war die unantaſtbare Selbſtändigkeit des Türkenreiches dahin. Ka⸗ 
tharina hats ſchon im dritten Luſtrum ihrer Regirung erreicht. Der Vertrag 
von Kutſchuk-Kainardji gab 1774 ihrer Handelsflotte dad Recht zu freier 
Schiffahrt im Schwarzen Meer, das, ald neun Jahre jpäter der Tatarenkhan 
gefchlagen und die Krim erobert war, zwei Staaten an feinen Ufern herrichen 
ſah, aljo nicht mehr ein türkifches Binnenmeer genannt werden konnte. Auch 
nicht ein mare clau-un? Die Ruſſen fönnen hinein, doch nicht heraus. Der 
Eultan hält den Bosporusſchlüſſel feft in der Hand und ſperrt noch immer 
den Weg, der über Aſow und die Krim nad) Byzanz führen jollte. Rußland 
darf im Schwarzen Meer thun, was ihm beliebt, und ift da unangreifbar; 
darf ed aber nicht auf der ind Mittelmeer führenden Straße verlaſſen und em» 
pfindet, noch unter der großen Zerbiterin, die Schmach joldjer Käfigfreiheit. 
Der Bontos muß Rußlands Binnenmeer werden: nad) dem Frieden von Safly 
wards in Moskau, in Beterd Stadt das Feldgejchrei lärmender Patrioten. 
Bonaparted Einfall in Egypten und die vor und nach der Gründung 
des napoleonijchen Kaiſerreiches bis anı die Drientpfortedrängende Jakobiner⸗ 
gefahrverbündetnachlangem Haderdem EultandenZaren. KatharinasSohn 
Paul ſchickt Selim dem Dritten die mit viertaufend Mosfowitern bemannte 
Flotte nad) Konftantinopel, um ihm bei der Abwehr franzöſiſcher Angriffe zu 
helfen: und nun öffnen fid) Dardanellen und Bosporus endlich ruffilchen 
Kriegsſchiffen. Endlid;einmal. Das Schutzbündniß währt nicht lange; bald 
liegen die Erben'von Byzanz, der im Befigrecht wohnende und der über den 
Pontoslugende, wieder in Streit. Bonaparte het, nad) Aufterlig, den Sultan 
in den dritten Krieg gegen Rußland und erliftet, inZilfit, Aleranders ſchwär—⸗ 
merijchanbetente Freundſchaft. Wilden mit wachſendem Ungeſtüm geforder- 











x 


Die Meerengen. 197 


ten Preis aber nicht zahlen. Hardenberg läßt feinen alten Blan der Türkeitheis 
lung durch Kaldreuth wieder vorbringen; Rußland [ol Bulgarien, Rumelien, 
ein Stũck der Donaufürftenthümer und die Meerengen belommen, Oeſterreich 
überBosnien, Serbien, Dalmatien herrfchen, Frankreich denStaat derHellenen 
und die Inſeln jeinem Imperium einfügen. Doch was konnte Alerander, nad) 
Iena, von Preußens Beiftand noch hoffen? Zur Erfüllung feines brünftigen 
Phantaftenwunfches vermag nur der allmächtige Korſe ihm zu helfen. Der ift 
dem Sultan verbündet und, im Nimbus feiner Siege, am Goldenen Horn 
jo ftark, daß General Sebaftiani, fein Gefandter, den Aufruhrverſuch des 
engliichen Kollegen mit einem Wort niederzwingt: die Britenflotte, die Ar« 
buthnot, um den franzöfiichen Einfluß zu dämmen, ins Marmarameer ges . 
rufen hat, muß unter dem Feuer türfifcher Batterien abdampfen, Englands 
politiiche Moral, die und jegt wieder ſchöne Reden preifen, wird von dieſer 
Epiſode aus grell beleuchtet: die Sultane jollen in ihren Eniſchlüſſen frei, 
die Meerengen allen $remden gejchloffen jein, jo lange dad englijche Inter» 
eile nicht darunter leidet; nicht eine Stunde länger. Hofft man in London 
den winzigiten Bortheil davon, dann mag irgendein Admiral Duckworth fein 
Geſchwader bis dicht an die Mauern von Yildiz ſteuern. Noch ift, im Früh—⸗ 
ling 1807, der dreifte Handſtreich mißlungen. Aber Selim, den haftige Re- 
formfucht den Altgläubigen verhaßt gemacht hat, kann fich nicht halten und 
wird am fiebenundzwanzigften Maitag entthront. Während einer Truppen- 
ſchau, an der Aleranderd „Paradomanie” fi) in Tilfit weidet, erhält Napo⸗ 
leon von Sebaftiani die Meldung. Armee und Bolf gegen den Sultan, der 
ji wider das Verhängniß nicht zu bäumen wagt, und vor Osmans Reid) 
wieder die Gefahr ficheren Berfalld. „Die Vorfehung jelbft jendet mir dieje 
Botichaft, um mir zu zeigen, dab die Türkei nicht mehr lebensfähig ift!“ So 
ruft (nad) Savaryd Bericht) Bonaparte; und erflärt, Selims Sturz löfe ihn, 
löje jein Gewillen von allen Banden und geftatte ihm, der nicht der Pforte, 
ſondern nur diefem Sultan fich verpflichtet habe, der Drientfrage nach freiem 
Ermeſſen die Antwort zu juchen. Wie mag dad Schwärmerauge Aleranders, 
der neben ihm hielt und Sebaftianid Rapport lejen durfte, aufgeleuchtet has 
ben! Für kurze Zeit freilich nur. Der Imperator (der, wie Champagny an 
Gaulaincourt fchrieb, die Türken nie geliebt, immer für ſchädliche Barbaren ge- 
halten hat) wurde zwar jentimental und ſchien bereit, dem neuen Freund alles 
Erſehnte gern zu gewähren. Er hatte im Decident Grenzen und Throne ver: 
rückt und war berufen, auch im Drient nun nad) feinem Belieben Ordnung zu 


Ihaffen. Rußland durfte zu diefer organifatorifchen Arbeit mitwirken; dod) 
10% 


128 Die Zukunft. 


dad Tempowollte er jelbft beftimmen. Hier begann Aleranders Enttäuſchung. 
Die Türken, jo dozirt Laetitiad Sohn dem Enkel Katharinad, gehören nicht 
nach Europa, find auf unferem hellen Erdtheil ein häßlicher Fleck und müſſen 
nad) Aften zurückgedrängt werden. Aber langjam; ganz langjam. Einftwei 

len darf man fie nur „Eomprimiren” ; ihnen ein paär Provinzen nehmen, in 
denen fienodh beläftigen, Doch nicht mehr herrichen. Eine richtige Theilung wäre 
heute noch eine allzu gefährliche Operation, die zunächft den franfo:rujfifchen 
Bund lodern, die Freunde in einen Snterefjenftreit verwickeln fönnte. Rußlarıd 
mag ſich des Befiped der Moldau und der Walachei freuen, vielleicht aud) vom 
Bulgarenland einen Feten für fich abreiben. Frankreich kann ih in Bosnien 
Dalmatien, Albanien, Griechenland jättigen. Vielleicht; ganz ficher ift er ſei⸗ 
ner Sache nicht (mon systeme. sur la Turquie chancelle et est au mo- 
ment de lomber ſchreibt er an Talleyrand). Fühlt, zum erften Mal, tief aber 
die Nothwendigfeit des Friedens, der ihm doch, jobald dad Drientproblem 
Europa aufrüttelt, wieder entgleiten muß. Wennd unvermeidlich wird, wenn 
England mit anderen Mitteln nicht zu bändigen ift und er im Baltikum oder 
auf Aſiens altem Boden die ruſſiſche Macht gegen den Todfeind braucht, 
bleibt feine Wahl: muß er dem Zaren den Weg an das Ziel feiner Sehnjucht 
bahnen. Noch abermödhte er ihn mit einer Hoffnung füttern. Unaufſchiebbare 
Pflicht ruft nach Paris. Alerander hat feinen Beſuch zugefagt. Da fann man 
in aller Ruhe über den großen Gegenitand weiterreden. Pauls Sohn ſchlürft 
gierig den Zaubertranf, den der Korſe fredenzt. Begehrte nicht ſchon Katha- 
rina den moldo⸗walachiſchen Zuwachs? Der Goffudar, der dem Reich dieje 
Beute bringt, braucht jelbit nach Niederlagen nicht zu zittern. Und Alerander 
Pawlowitſch glaubt fich des Freundes ſicher; „ich erwarte feinen allzu ftarfen 
MWiderftand gegen meine Auffaſſung (ſchreibt er an Peter Zolftoi), denn fie 
entjpricht dem Sntereffe und der Meinung des Kaiſers“. Frankreich wird 
zwilchen der Pforte und Rußland zu vermitteln juchen. Iſt ein anftändiger 
- Friede nicht zuerlangen, ſo muß man wiederan die Theilung denfen; fürdErfte 
aber darf diefer Gedanke noch nicht ans Licht. Daß er in Tilſit erörtert wurde, 
bezeugt De Clercq (Ttecunil des traites de la France) durch die Anführung 
der Süße, die ausſprechen, dab die beiden Katjer, wenn der gewünfchte Sriede 
nicht durchzuſetzen tft, „fich verftändigen werden, umalle europäijchen Provin» 
zen des Osmanenreiches, außer Rumelien und der Stadt Konjtantinopel, dem 
drüdenden Türkenjoch zu entreißen.“ Mit dem erniteften Eifer muß zunächſt 
aber, auch in Xondon, Alles verjucht werden, pour procurer ä 'humanité 
le bienfail de la pa x (wie es im vierten Artifel destilfiter Geheimvertrages 





Die Meerengen. 129 


vom fiebenten Suli 1807 beißt). Am neunten Juli, vor der Abreife nach Kö: 
nigöberg, empfiehlt Napoleon der Türkei die Beichleunigung des Waffenſtill⸗ 
ftanded. Vier Monate danach diktirt er einen Zuſatz zu der an Caulaincourt zu 
jendenden Inftruftion und jagtdarin, erwünſche, der Zürfei ihren Befigftand 
zuerhalten, im Rothfall fichaber mit Rußland allein, ohne Defterreich8 Drein⸗ 
rede, über den Theilungplan zu verftändigen. „Da8Xiebfte wäre dem Kaiſer, 
wenn die Türken in friedlihem Befit der Walachei und der Moldau bleiben 
fünnten; da er aber den Zaren ſo feſt wie möglich an fich knüpfen möchte, würde 
er ihm die beiden Provinzen, gegen eine in Preußen zu juchende Kompenſation, 
ſchließlich überlaffen. Er fteht dem Gedanken an eine Theilung ded Türken» 
reiches jehr fern, hält ihn jogar für verhängnißvoll, will aber nicht, daß Ste 
ihn im Geſpräch mit demZaren undmitdeffen Minifterrüchaltlosverdammen. 
Sie ſollen nur nachdrücklich auf die Motive hinweiſen, die für die Vertagung 
iprechen. Dieſer uralte Plan des ruſſiſchen Ehrgeizes kann Rußland an und 
fitten: deshalb müfjen Sie fich hüten, den Peteröburgern Muth und Hoffnung 
ganz zu nehmen.” Ehe dieje Inſtruktion an die Newa gelangt, hat Alerander 
mit England gebrochen und in Paris, durch den Mund Savarys, des Herzogs 
von Rovigo, aldTheilzahlung die Donaufürftenthümer verlangt. Schon fühlt 
auch Rapoleon, dab er Etwas thunmuß, um den Zaren fefter an ſich zubinden. 
Savary hat ihm berichtet: „Der Kaiſer und jein Minifter GrafRumanzow 
find unſere einzigen zuverläſſigenFreunde in Kußland; es wäre gefährlich, dieſe 
Wahrheit zu verſchweigen. Das Volk würde gern wieder nach den Waffen grei⸗ 
fen und für einen Krieg gegen Frankreich neue Opfer bringen.“ Verſtimmt man 
den impulfiven Selbſtherrſcher, ſo kann Rußland, das in ſeinem Verhältniß 
zu Frankreich zwiſchen Hitze und Froft, Intimitätund Haß hin und her ſchwankt, 
morgen zum Feind übergehen. Das muß verhindert und dennoch die Theil⸗ 
ung der Türkei aufgeijchoben werden. Sonft wird die Beute des Adlerd zu 
lein. Bosnien, Albanien, Griechenland, Epirus: für Frankreich wärend Ko- 
Ionien, nicht Provinzen. Seit Bonaparte in Kairo war, fieht er Egypten als 
einen Theil des Sranzojenreiches. Noch aber ift die Zeit zur Rückeroberung 
nicht gelommen. Läßt er den Kranken Mann jebt fterben, dann langt der 
Britenleu, deſſen Brante bis nach Malta, Sizilien undin die Adria reicht, nach 
dem in der Todeöftunde des Khalifates herenlojen Gut. Bevor ein franzöli« 
ſches Heer in Konftantinopel und Saloniki wäre, hätte England die Hand 
auf Saypten, Cypern, Kandia, vieleicht auf die Dardanellen und dadganze 
Küftenland der Osmanen gelegt. Dieje Erwägung, jchrieb Champagny, hat 
den Hauptgrund geliefert, den der Kaiſer gegen die Thetlung der Türfet an- 


130 Die Zulunft, 


führt. Mag der Zar aljo in der Walachei und der Moldau bleiben; der Herr 
des Decidentd wird fich den Landfetzen, der ihm zur Entihädigung gebührt, 
nicht aus dem Osmanenleib jchneiden, ſondern Schlefien nehmen. Das war 
beichloffen, ald Saulaincourt in Petersburg Savary ablöfte. In der eriten 
Inſtruktion, die er empfing, fteht der Sag: „Preußen hätte dann nur noch 
zwei Millionen Einwohner; genügen dieetwa nicht für dag Glück des Königs- 
hauſes und muß e8 ſich nicht, in feinem eigenften Interefje, jo ſchnell wie mög- 
lich in die äußerfte Refignation und in die Rolle einer Heinen Macht gewöh—⸗ 
nen, da alles Mühen, den verlorenen Rang zurüdzugemwinnen, den preußi- 
ſchen Stämmen nur nußloje Sehnjucht und Qual bereiten könnte ?“ (So hat, 
einunzwanzig Jahre nad) Fritzens Tod, ein Kondottiere über Preußen zu 
ſprechen gewagt. Discite, moniti!) Schlefien? Das würdeden von Warſchau 
aus reorganifirten Bolenftant ftärken. Niemals. Caulaincourt findet für die- 
jen Plan weder beim Zaren noch beiRumanzow Gehör und muß im Februar 
1808 feinem Herrn melden, daß Aleranderan der Donau bleiben, über Schle- 
fienabernichteinmalredenwill, Daß er den Sanftenniejofiniter jah. „Wenn 
wir Berlin gefordert hätten, wäre die Wuth vielleicht Fleiner geweſen.“ 

Die Meldung ſällt in eine der hellften Stunden des Riejenhirne. Aus 
zornigem Auge blickt Bonaparte auf dad Inſelreich, dad nicht zu überlilten, 
nicht ind Herz zu treffen ift. Wenn ers in Aſien zu treffen, in Sndien ihm die 
Aorta zu zerjchneiden vermöchte! Dachte erdaran ſchon, alderden Ruflen Kon» 
ftantinopel weigerte, weil der Befiß diefer Stadt die Weltherrſchaft fichere? 
Jetzt denkt er dran; ahnt die Wahrheit ded Wortes, da an den Mauern von 
Konftantinopel der Kampf um Indien beginnt; und träumt feinen größten 
Caeſarentriumph. Rußland und Frankreich zu gewaltiger Anftrengung ver: 
eint, die Türkei zerftückt, Berfien und Afghaniften unterworfen und von den 
Hodplateauy am Euphrat mit der ungeheuren franfosruffiichen Heermajie 
durch raſch bezwungenes Barbarenland bis an den Indus. Wer weiß, obdiejer 
endlos jcheinende Weg nicht ſchneller and Ziel führt als der kurze Pas de Ca: 
lai8? Der tolle Baul Betrowitich hatte in feinen legten Lebenstagen den Ge: 
danken an einen frankosruffiichen Kriegszug durch Afien gehätjchelt. Seitdem 
ift derSultan der freund Bonaparteögemworden, hat der Perſerſchah vonihm 
Drillmeiſter für jein Heer erbeten, Hilfe gegen England angeboten und ſich 
(in einem von dem perfilchen Sondergejandten in Warſchau unterzeichneten 
Bertrag) verpflichtet, einem gegen Indien marjchirenden Sranzofenheer ale 
guter und getreuerBundeögenofje freien Durchzug zu geltatten. Das warfeine 
Zagerpoffe: General Sardane wird nach Perſien geſchickt, um den Vertrag 








Die Meerengen 131 


ratifiziven zu lafjen und die Möglichkeit ſolchen Heereözuges zu prüfen. Und 
nun ift auch der Weiße Zar Napoleons Freund geworden. Frankreich, Ruß⸗ 
land, Perfien: damit konnte man die Briten mindeftens einfchüchtern und 
zu Berhandlungen treiben, die ihr Hochmuth noch immer weigerte. Doch der 
Zar heiſcht Bezahlung. Ihm zu Liebe den Kranken Mann töten? Nein. Noch 
iſts zu früh. Da Alerander von dem fchleftichen Plan nichts hören will, muß 
man ihn hinhalten und inzwifchen Defterreich zu umgarnen ſuchen. Ruß⸗ 
lands Herrichaftüber die Donaufürftenthümer, hat Bonaparteeinmal zu Kle⸗ 
mend Metternich gejagt, bereitet die Baſis, auf der Frankreich und Defterreich 
fih eines Tages verſtändigen werden; wenn dieRuffen inKonftantinopel ftehen, 
braucht Ihr und gegen fie, brauchen wir Euch, um dad nöthige Gegengewicht 
berzuftellen. Kaiſer Stanz ift fein Mann kräftiger Initiative; muß fich aber 
jagen, daßer nicht müßig zufehen darf, wenn der Türke, in demereinenjchwa- 
Ken und drum bequemen Nachbar ungern verlöre, erdrofjelt und ausgeraubt 
wird. Kür jeden Fall ift Wien durd) Metternich nun vor dem ruſſiſchen An- 
ſchlag gewarnt. Zur jelben Zeit erhält Caulaincourt die Weifung, den Wün- 
ſchen des Zaren noch weiterentgegenzufommen und feineunüberwindliche Ab- 
neigung von dem Plan der Türkeitheilung zu verrathen. Da, unter dem Eins 
drud der ftolzen Throntede, die dad Britenparlament eröffnet, ſchäumt das 
Blut des Korfen heiß auf. Der alte Feind muß endlich vernichtet werden. Aler: 
ander heilcht Bezahlung? Er ſoll fiehaben. Selbft wenn er den höchſten Preis 
fordert. Am zweiten Februar jchreibt ihm Napoleon: „GegenRußland ſpüre 
ich nicht die leiſeſte Regung der Eiferjucht; ich wünjche ihm Ruhm, Glüd 
und Gebietszuwachs. Mit allen Kräften will ich ihm bei jeder Vorſchiebung 
ſeiner Grenzen nach der Schwedenjeite helfen. Wenn wir fünfzigtaufend Mann, 
Rufen, Sranzofen, vielleicht auch ein paar Defterreicher, über Konftantinopel 
nach Aften ſchicken, zwingen wir England vor dem Kontinent auf die Knie. 
Wer ein jo hohes Ziel erreichen will, muß alles Nothwendige vorher verein: 
baren; dazu bin ich bereit. Am erſten Mai fönnen unjere Truppen in Afien, 
fann auch ein ruſſiſches Herr in Stockholm jein Dann werden die aus der 
Levante verjagten, in Indien bedrohten Briten unter der Wucht der Ereignifje 
vernichtet, mit denen die Atmoſphäre geladen jein wird.“ Das Bild ift nicht 
ſchön; aber der Rhythmus der Rede fann einen Alerander hinreißen. Und 
Ihon wird die dalmatiſche Armee verftärft und befohlen, in Epirus die Lan— 
dungmöglichkeiten, in Albanien die Heerftraßen genau zuftudirenundim öſt— 
lichen Winkel des Mittelmeeres A les für den Kriegsfallvorzubreiten. In einem 
Brief an Decrès deutet der Kaifer den Eniſchluß an, durch die Türfeinad) In— 


132 Die Zulunft. 


dien zu ziehen. Und Zolftoi hört (nach einer Wuthſzene, in der er geſchworen 
bat, Preußen und Warſchau an dem jelben Tag zu räumen, wo Rubland 
jeine Truppen aus der Walachei und Moldau zurüdzieht) den Sa: „Bin 
ich erft am Euphrat, dann giebt auf dem Weg nad; Indien fein Hemmniß 
mehr; daß diejed Unternehmen den Alerander und Tamerlan mißlungen ift, 
beweift gar nicht8: man muß eben Befferes leiften als fie.“ Der Held von 
Marengo, Nufterlig, Jena, Friedland, Tilfit darf fo jprechen; darf fich für 
ein Schlachtfeld rüften, das von der Dftjee bis nad) Kleinafien, vom Atlan« 
tiſchen bis an den Indiſchen Ozean fich dehnen ſoll. Einen !ourbillon du 
monde fieht er voraus; diefer Weltwirbel wird Britanien entfräften, ent⸗ 
muthigen und zur Anerfennung der neuen Smiperatorenmadht zwingen. Der 
auf Sanft:Helena Eingeferferte hat beftritten, daB er je bereit geweſen jet, 
Konftantinopel („dad durch feine Lage zum Centrum der WVeltherrichaft be= 
ſtimmt iſt“) den Ruſſen auszuliefern. Doch wir wilfen von Tolftoi, Metter- 
nid; und Rarbonne, daß der Kaijer dazu bereit war. Wenn Alerander ſich nur 
um diejen Preid zu dem von Saulaincourt geforderten Keulenjchlag auf das 
Haupt Britaniad entſchloß, jollte erihn haben. Frankreich würde, zu jeiner 
Sicherheit, dann die Dardanellen bejegen odervon Defterreich bewachen laſſen. 
Der Pontos Eurginos ein ruffiicher, vom Dardanellenwädhter im Nothfall 
zu ſchließender, da8 Mittelmeer ein franzöfilcher See: Das war das legte Ziel 
des Korjen. Rußland konnte von ihm den Schimmer der Byzantinererbichaft 
haben, nie deren weſentliche Macht. Er wollte ihm die Donaumündungen 
ohne Serbien, Bulgarien ohne Rumelien, Konftantinopel ohne die Darda⸗ 
nellen geben. Zu Narbonne hat er gejagt: „Jai voulu refouler amicale- 
imentlaRussie ın Asie: je lui ai offert Constantinople.* Sn Alten ſollte 
ed England dad Xeben ſchwer machen, in Südofteuropa ſich an der vorgeſcho⸗ 
benen Flanke Defterreichd zerreiben. Dann war $ranfreich im Mittelmeer uns 
gefährdet und aus der europäiſchen Hegemonie fürd Erjtenicht zu verdrängen. 

Caulaincourt hat ausführlich erzählt, welche Wonneſchauer den Zaren 
beim Xejen des Briefed vom zweiten Februar jchüttelten. Alerander, der ge» 
ftern nod) mit den Donaufürjtenthümern zufrieden war, fieht ſich heute ſchon 
als Herrn von Byzanz, auf dem von Katharina vergebend begehrten Si, als 
den Heros, der den alten Traum der Ahnen in Wirklichfeit wandelt. „Voilä 
de srandes cho-es!“ „Voi'ä le graı d homme!“ „Voilä lo style de Til- 
sit!“ Noch abends, auf dem Hofball, die jelbe Ekſtaſe. Leis aber meldet fich 
bald das Mißtrauen. Mas wird aus Echlefien? Iſts am Ende nicht beffer, 
au& Konjtantinopei eine Freie Stadt zu machen? Dafür ift Rumanzow frei- 


Die Meerengen. 133 


lich nicht zu haben: er verlangt Konftantind Stadt mit dem Doppelverſchluß 
am Bosporus und in den Dardanellen; dann mag Oeſterreich dad ganze Ser- 
bien anneltiren und Makedonien und Rumelten mit Frankreich theilen, dem 
außerdem Bosnien, Syrien, Egypten zufallen fol. Ohne die Meerengen it 
die Berftändigung aber nicht möglich. Auch nicht mit Alerander. Der hat 
feinen Bortheil erfannt. Seit hundert Jahren ftrebt Rußlands Ruhmſucht 
nad; Konftantinopel, Rußlands Intereſſe nach den Meerengen. Beides hat 
die Eiferfucht der europäischen Mächte ihm ſtets geweigert. Set hat nur mit 
Dem einen Mann zu rechnen, der Reiche zerftört und Reiche gründet: und dies 
jer font Allmächtige ift im Kampf gegen England auf ruffiiche Hilfe ange: 
wiejen. Solche Gunſt der Stunde fehrt nie vielleicht wieder. Nur ein Tropf 
gäbe da nach. Doch der Botjchafter ift nicht minder zäh. Halbe Tage lang ſitzt 
er dem Örafen Rumanzomw, der die Minifterien des Auswärtigen und ded Han⸗ 
dels leitet, gegenüber; und die beiden Männer, die nach kurzer Debatte über 
die Bergebung ungeheurer Flächen einig find, fommenvon der „Katzenzunge“ 
(jo nennt der Ruſſe die Halbinſel Gallipoli) nicht los Noch einmal befturmt 
Saulaincourt, im März, den Zaren ſelbſt; erhält aber die Antwort: „Nehmt 
inAfien, was Ihr wollt; wennich die Meerengennichthabe, iſt Alles, was Ihr 
mir geben fönnt, werthlos." Nun fann der Botichafter nicht länger zweifeln. 
Am ſechzehnten März fchreibt er an feinen Kaiſer: „Cure Majeftät mag Ita» 
lien, vielleicht jogar Spanien Ihrem Reich eingliedern, neue Dynaftien und 
Königreiche gründen, für die Sroberung Egyptens die Mitwirkung der za= 
riſchen Land und Seemacht fordern, alle erdenklichen Bürgfchaften verlangen, 
mit Defterreich jeded beliebige Zaufchgeichäft machen und einer Welt einen 
Platzwechſel aufzwingen: das Alles wird Rußland, nach meiner Heberzeugung, 
ruhig mitanſehen, wenn es Konſtantinopel und die Dardanellen bekommt.“ 
Er dat, im Sommer, die Debatte wieder aufgenommen und aus Aleranderd 
Mund noch einmal gehört: „Sc brauche den Schlüffel zu meinem Haus. 
Wenn Frankreich die Dardanellen hat, verliere ich mehr, ald ich gewinne.” 
In Erfurt ift von dem Theilungplan, der den Hauptgegenftand der Zwie— 
ſprache liefern jollte, danngar nicht mehr geredetworden. Alerander und Ru- 
manzom hatten erfunnt, daß die jelbftändige Erpanſion ind Donauland grö- 
heren Nutzen verheibe als ein weitichichtiges Syftem fombinitter@roberungen, 
dad dem Freund aud Weften jchliehlich doch den Löwentheil eintragen mußte. 

Zwei Sabre nad) der von Arbuthnot und Ducworth verjuchten Ueber: 
rumpelung hat (in dem Vertrag vom fünften Januar 1N09) Sultan Mah— 
mud der Zweite ſich verpflichtet, allen Mächten, ohne Ausnahme, die Meer: 


134 Die Zukunft. 


engen zu ſperren. Nur unter der Bedingung, daß „dieſe alte Regel des Os⸗ 
manemeiches“ nicht durchlöchert wird, will England den Eingang nicht wieder 
forciren. Seitdem gehören die Schlüffel nicht mehr dem Herrn der Pforte; 
ftrebt der in Europa gerade Uebermächtige nach der Herrichaft über den Bos⸗ 
porus and die Dardanellen. Als Mahmud die Ruffenflotte zum Schuß gegen 
Ibrahim Paſcha ans Goldene Horn gerufen und hinter dem Wall der auege⸗ 
ſchifften Moskowiter den Rebellen abgewehrt hat, muß er, am zehnten Juli 
1833, den von Orlow entworfenen Vertrag unterjchreiben, der ihm auch für 
den Fall neuer Fährniß Rußlands Beiftand fichert und als Entgelt nur for- 
dert, daß fein fremdes Kriegsſchiff unter irgendeinem Vorwand je in Die 
Dardanellen einfahren darf. Dieſes Verlangen war nöthig geworden, weil 
die Hohe Pforte im fiebenten Artikel des Vertrages von Adrianopelveriprochen 
hatte, diejeit1809 geltende Meerengeniperre wieder aufzuheben und die Durch 
fahrt allen Schiffen zu geftatten, die aus rujfijchen Häfen fommen oder nach 
ruſfiſchen Häfen fteuern. Aljo wicht nur denen, die Rußlands Flagge zeigen. 
Eine läftige Klaufel; die der Zujabartifel zum Vertrag von Hunfiar-Sjfe- 
leffi denn auch befeitigt hat. Seit dem zehnten Juli 1833 war Rußland Herr 
der Meerengen; ed hatte, nady Guizots Wort, aus dem Türfen einen Klienten 
gemacht, der das in einen rujfiichen See umgemwandelte Schwiarze Meer be- 
wachen und jedem möglichen Feinde des Zaren das Thor ſperren, ihm jelbftaber 
ohne Murten öffnen mußte, wenn er Schiffe und Soldaten ind Mittelmeer jen- 
den wollte. Derbritifche Rival hat dieſes Vorrecht nicht lange geduldet. Palmer⸗ 
fton regirt. Hat den Schluffel zum Rothen Meer ſchon in die Taſche geitedt: 
Aden, das Gibraltar des Oſtens, ift englifch geworden. Indem Streit zwiſchen 
Mahmud und Mehemed Ali hat er natürlich die Partei der Türken gegen den 
Egypter genommen. Doch Hafiz, der Zürfenfeldherr, wird in Juni 1839 von 
Mehemeds Sohn Shrahim gejchlagen, weil er, wider den Rath ded Haupt» 
mannsMoltfe, verfäumt hat, das Egypterheer bei einem Umgehungvperſuch in 
der Flanke anzugreifen, und ſich, abermals gegen den Rath Moltkes (derdeöhalb 
aus ſeinem Amt ſcheidet), weigert, die Truppen in die feſte Stellung am Euphrat 
zurüdzuführen. Noch ehe die Schreckenskunde ind Serail gelangt, ſtirbt Ptah⸗ 
mud, ein ſchwächlicher Jüngling ſteigt auf den Thron und vor Alexandria 
verbrüdert die türkiſche ſich der egyptiſchen Flotte Was wird nun aus Os⸗ 
mans Reich? Den fünf Großmächten ſcheint es noch immer eine, europäiſche 
Nothwendigkeit“; drum ermahnen ſie es feierlich (in einer Kollektivnote vom 
ſiebenundzwanzigſten Juli 1839), Europas Spruch abzuwarten, ehe ed vor 
dem Rebellen die Waffen ſtrecke. Metternich ſieht ſich ſchon einem Kongreß, 








Die Meerengen. | :135 


deffen Schaupla ja nur Wien fein kann, präfidiren. Palmeiſton hofft, den 
allzu fiegreichen Egypter, den Frankreich jchonen möchte, zu demmhigen und 
zu ſchwächen, da erleider nicht mehrganz zu vernichten ift. Breußen will unter 
allen Umftänden neutral bleiben und fich auf moralijche Unterſtützung aller 
Berjuche beſchränken, das Orientproblem friedlich zu löjen. Und Rußland? 
Die Tage Bonapartes find faft ſchon vergefjen. Auf dem Thron Aleranderd 
figt Nikolai; ein Mann ganz anderen Schlaged. Der merkt, dab er allein im 
Drient nicht viel erreichen kann, und will fi mit England verftändigen. 
Ernftlich oder um liftig einen nußbaren Schein zu Schaffen? Der Goſ⸗ 

judar tft auf Europens Boden derlegte Tyrann. Denn Abd ul Medjid hat, auf 
den Rath Reſchids, der als Gejandter in London die Macht der Preſſe ſchätzen 
lernte, die Unterthanen mit einer Muzı a Charta beglüdt, in der Gleichheit 
vor dem Geſetz, Sicherheit der Berjon und ihrer. Habe, geringere und gerechter 
zu vertheilende Kriegädienft- und Steuerlaft und andere ſchöne Dinge zugeſagt 


waren. Wenn Du, erhabener Herr, diejen Hattijcherif von Gülhane unter dem 


Donner der Geſchütze beichworen und and Licht gebracht haft, wird das ganze 
Abendland Dich rühmen und auf Drudpapier Dir beicheinigen, dab Du noch 
liberaler denkit ald Dein Gegner Mehemed Ali; ob und in weldhem Umfang 
das Verſprechen eingelöft wird, fönnen wir in gemächlicher Ruhe dann über: 
legen. So mag Reſchid geiprochen haben. Sin Schlaufopf, den auch Abd ul 
Hamid wohl nody bewundert und deffen Kunftftüc bis in unſere Tage fort: 
wirt. Sobald dieZürfei jeitdem in enge Bedrängniß gerieth, hat der Sultan . 
Reformen odergar eine andere Berfaffung eingeführt, die ihm aus allen Flach⸗ 
ländern des Liberalismus den einem Gonfaloniere der Kreiheit gebührenden 
Ruhm heimtrug und von der im Bereich des Halbmondes nicht mehrlange die 
Rede war. Für ſolche Mittel war Nikolai nicht flinf und nicht feig genug; die 
ließ er getroft. den Sklavenjeelen der Weſtanbeter. Er wollte Selbftherricher 
bleiben; doch auf feiner ſchwarzen Erde nicht länger die Vogelſcheuche jein, 
von der in Europa alle freden Spaten ihr Spottlied Jangen. Dad war durch 
ein Bündniß mit&ngland vielleicht zu erreichen; ſonſt nicht. Und wenn er die 
geloderte ten: corılialederßeftmächtenöllig zeritörte, war das jakobiniſch 
verſeuchte Sranfreich ohne Schwertitreich zududen. Erlehnt Metternichs Ein- 
ladung zum Kongreß jchroff ab und läßt Balmerfton durch Brunnowjagen, er 
jeibereit, den Vertrag von Hunkiar-Iſkeleſſi durch ein neues Abfommen zu ers 

ſetzen, das in Friedenszeit beide Meerengen ſchließt, nad) Ausbruch eineöTür- 

fenfriegedjeder Großmacht geftattet, vier Schiffeind Marmarameer zujchiden; 

nur Rußland ſoll, als der berufene Schutherrder Pforte, das Recht haben. adıt 


136 Die Zukunft. 


Schiffe nach Stambul zu ſenden. Balmerfton runzeltdie Stirn; findetdenBor- 
ſchlag aber diskutabel und verfammelt,im Februar1840,dielondoner Vertreter 
der großen Mächte zu europäiſchem Rath. Das Osmanenreich ſoll erhalten, der 
rebelliſche Paſcha auf Egypten und einen ſyriſchen Kreis beſchränkt werden. 
Wuthausbruch in Paris. Das treuloſe Albion hat uns verrathen; mit einem 
Lande, das ſich in den Dienſt Rußlands erniedert, ift eine enlente cordiale 
nicht mehr möglich. Am fünfzehnten Juli ind Britanien und Rußland, Oe⸗ 
fterreich und Preußen einig. Mehemed Alt wird gezwungen, fih mit &gypten 
und dem Paſchalik Affon zu begnügen; die Meerengen bleiben im Srieden ge⸗ 
ſchloſſen und werden im Kriegsfall nad) Vereinbarung geöffnet. Frankreich 
war von den Berathungen ausgeſchloſſen Das Land Bonaparted! Der Volks⸗ 
zorn brauft auf, Thiers fordert einen Kriegäfredit. läßt Anleihen ausſchrei⸗ 
uen und Truppen ausheben, Louis Philippe jelbft, der bedäcdhtige Krämer, 
zetert, jo lange Frankreich ijolirt fei, file Europa auf einem Pulverfaß, und 
Louis Napoleon wähnt die Stunde zu einem zweiten Kronenraubverjud 
gefommen. Balmerfton ift an unhöflichen Widerſpruch nicht gewöhnt. Noch 
einmal fladert ‘der alte Feuerbrand auf. „Was die vier Mächte fordern, ift 
nicht vom Cigennuß, jondern nur von der Gerechtigkeit diktirt“, jchreit der 
jfrupelloje Xord über den Kanal; und erwirkt drei Wochen danady ein Zu- 
jabprotofol, in dem die Vier feierlich erklären, dab fie im Orient nichts 
für fich erftreben. Vergebens. Schon hat an der ſyriſchen Küfte die Ko⸗ 
operation der $lotten Englands und Defterreichd begonnen. Dieje Vorſtell⸗ 
ung erträgt Thierd nicht. Lieber im Rhein als im Rinnftein fterben, ruft er; 
und ſchickt an Guizot nach London eine Snftruftion, in der ed heißt: „Fragt 
von Kadir bis an die Ufer der Dder und der Elbe die Völker: und fie werden 
Euch antworten, daß der Bund der Weſtmächte zehn Fahre lang den Frieden 
gewahrt, die Unabhängigkeit der Staaten gefichert und die Freiheit der Völ⸗ 
fer niemals gefährdet hat.“ Dieſer Bund jei num zerriffen und durch eine der 
Koalitionen erjeßt, die Europa allzu lange mit Blut bejudelt haben. Mit 
der Warnung vor nationaler Schande, vor unabwajchbarer Beſchmutzung 
der von der Revolution eroberten Reichskleinodien noch auf der Zippe fällt 
der Minifter (den fein zager König heimlich geftoßen hat), Guizot bildet das 
neue Kabinet;und fannerleichtertaufathmen, als bald danach, in den erſten No⸗ 
vembertagen, die Meldung von den ſyriſchen Siegen der Verbündeten kommt 
und ein paar Wochen ſpäter der tapfere Kommodore Napier die Unterwerfung 
Mehemeds erzwingt. Eine für den Gallierſtolz ſchmerzliche Entſcheidung; 
doch eine Entſcheidung Jetzt kann Frankreich das Märzprotokol unter⸗ 
ſchreiben, das dem Paſcha Egypten als vererbbaren Beſitz und Akkon für 


Die Meerengen. N 137 


Lebendzeit zujagt. Kann es auch über die Hauptfrage der Orientpolitik 
fich mit den vier Mächten einigen. Der Kondoner Vertrag (convention des 
Jdersoits) vom dreizehnten Juli 1841 beftimmt, daß in Friedenszeit jedem 
nicht der Türkei gehörigen Sriegsjchiff die Meerengen verriegelt find. Ruß⸗ 
lands Kriegsichiffe dürfen nach diejer neueren Völkerrechtsſatzung nicht an- 
ders behandelt werden als die jedes chriſtlichen Reiches. Ausnahmen darf die 
Hohe Pforte nur für die leichten Fahrzeuge der Gejandtichaften zulafien; jede 
Signatarmacht hat da8 Durchfahrtrecht für ein Schiff diejer Klaffe. Sieg 
Ruplands? Nefjelrode, Nikolais Kanzler, hats behauptet. „Rur zum Schein 
ift der von England und Frankreich jo heftig befämpfte Vertrag von Hunkiar⸗ 
Iſkeleſſi vernichtet worden. Der neue, von allen Mächten anerkannte Ber: 
trag, der den Kriegsichiffen die Dardanellen ſchließt und und gegen jeden An- 
griff von der Seefeite fichert, verewigt in anderer Form dad Weſen dei alten 
Abkommens.“ Das fteht in der Denkichrift, die Neffelrode feinem Herrn am 
fünfundzwanzigiten Jahrestag jelbitherrijcher Regirung vorlegte; hat aber 
mehr die Tonfarbe des Jubiläums als der Wahrhaftigkeit. Zwar war der 
Pontos jetzt ein ruſſiſches Binnenmeer, wieerin Beterd Zeit ein türliſches gewe⸗ 
ſen war; dochwieder, wie nach demVernag vonKutſchuk⸗-Kainardji, ein Waſſer⸗ 
fäfio ohne Ausgang ind Freie. Am Goldenen Horn leuchtet nun England die 
Sonne. Der Leu dringt fiegreich inAfien und Afrika vor und der Khalif muß 
froh fein, wenn ihn die Tate ftreichelt. Britanien hat Frankreich verloren 
(deſſen Julikönigthum unter Guizots verhaßtern ministere ılel’&lrangeı hin- 
fümmert), herrichtunangreifbaraber, ein Bierteljahrhundertnach Bonapartes 
Sturz, im Mittelmeer und am Indus; und ald Brunnom in Zondon eine 
Berftändigung über die afiatiſchen Machtſphären Rußlands und Englands 
anregt, fieht er um Wellingtond und Palmerſtons Mundwinkel ein froftiges 
Lächeln. Wer ſich aufeinem Großgut die Erſte Hypothek geſichert hat, braucht 
die Verftändigung mit den Darleihern kleiner Beträge nicht zu beeilen. 

Der Meerengenvertrag jollte nicht eine Garantie, doch eine Anerfenn- 
ung deöungejchmälerten Sultansrechtes jein: „uniepreuvemanif stedu ır- 
: pect que les puissances porlent A l’ir.violahilite de ses droils souver- 
nins.“ Dieſe ſouverainen Rechte müßten dem Großherrn geſtatten, nad) jeinem 
Belieben die Meerengen zu öffnen und zu ſchließen. Er darfs nicht; hat ſich 
den Signatarmächten zu einer Regel verpflichtet: iſt an der empfindlichſten 
Stelle feines Rechtsbezirkes alſo nicht mehr frei. Daran hat auch der Krim« 
frieg nichtd geändert. Der dritte der „Bier Punkte“, über die Ongland, Sranf- 
reich, Defterreich fi am achten Auguft 1854 geeinigt hatten, forderte die Re⸗ 
vifion dedMeerengenvertrages. Auch im Bontod Euxeinos jollte Rußland nicht 


138 Die Zukunft. 


mehrallmädhtig jein: jonft erzwang ed eined Tageddoch den Seeweg nach Kon- 
ftantinopel: Deshalb wurde die numerijche Begrenzung der im Schwarzen 
Meer heimiſchen Flotte verlangt. Rikolai lehnte die Zumuthung wüthend ab. 
Nach Rußlands Niederlage bei Inkerman legt deröfterreichiiche Generalſtabs⸗ 
chef Freiherr von Heß dem Kaiſer $ranz Joſeph eine Dentjchriftvor, indererer« 
flärt,aufdemBalfan ei jetzt, da Rußlanddie Donaumündung verloren habe,et- 
was für Oefterreich Nothwendiges oder auch nur Nũtzliches nicht mehr zu erlan⸗ 
gen. Sechs Tage danach weiß man in der Hofburg, daß der Zardie Bier Bunfte 
annimmt. Sebt könnte Defterreich fich von den Weſtmächten löfen, denen die 
Furcht vor einem ruffiihen Angriff auf die Donaufürftenthümer e8 zu ver- 
bünden droht. Doc Graf Buol:-Schauenftein will diejed Bündniß und be- 
ftimmt, nach dem Anerbieten jeined Rüdtritteö, Franz Joſeph am zweiten 
Dezember zur Unterjchrift. Louis Napoleon ift jelig: auch Haböburg gehört 
nun, wie dad engliſche Haus Hannover, zu feinem Concern. Friedrich Wil: 
helm möchte am Liebften jein HeergegenDefterreich mobil machen und jchreibt, 
noch als der erfte Aergerverraudht ift, an den Herzogvon Koburg: „Nach dem 
frechen Hintergehen durchOeſterreich unterhandle ich mitder Macht nicht mehr; 
die Lehre war zu ſtark.“ Nikolai läßt das Bild des Kaiſers von Defterreich aus 
ſeinem Arbeitzimmer entfernen und ſchenkt eine Statuette, die den jungen 
Franz Joſeph darſtellt, vor Zeugen ſeinem Kammerdiener. Sobiefli und ich 
(ſo pfaucht er den Vertreter Habsburgs an) waren die dümmſten aller Polen⸗ 
könige; ſonſt hätten wirDefterreich nicht ausderZürfennoth gerettet. WasFranz 
Joſeph zu Gortihafow und Edwin Manteuffel über feine friedlichen Abfichten 
jagt, verhaltt faft ungehört. Sein eigener Generalſtabschef glaubt an einen 
nahen Dffenfivfrieg gegen Rußland. Sn einem Brief an Buol ſpricht Heß 
die Meberzeugung aus, dab der Plan der Weſtmächte, Rußland zurBermin- 
derung ſeiner Bontosflotte und zur Dedarmirung der Binnenmeerfüfte zu 
nöthigen, auch nach einer völligen Riederwerfung des Zarenreiched mißlingen 
werde. Drei Donate danach, al in Wien der Kongreß der fünf Mächte tagt 
und dem Zaren die Gewalt überd Schwarze Meer nehmen will, erhebt Feldzeug⸗ 
meifter Heß noch einmaldie warnende Stimme. „Jede Kraft papierener Trak⸗ 
tate ſchwindet in Augenbliden der Kriſis.“ (So hat|päterBismard geiprodhen; 
und Alois von Aehrenthal hat nach dem Wort des muthigen Landsmannes ge⸗ 
handelt.) Rußland wird Schiffe und Küſtenforts bauen, jobald es wieder die 
Kraft dazu hat; und ein kluger Staatsmann meidet nutzloſe Eingriffe in das 
Souverainetätrecht einer Großmacht, die ſolche Schmach ſtets zu rächen ſuchen 
wird. Mag der Zar im Schwarzen Meer jo viele Schiffe halten, wie ihm be» 
liebt: er fann Europa nichtfchaden, wenn die Großmächte an derbulgarifchen 


Die Meerengen. 139 


Küfte oder am Bosporusaudgang einen ftarfen Kriegöhafen anlegen. Heß 
empfiehlt ferner, von der Moldau an die ganze öfterreichifche Grenze zu be» 
feftigen; ſolche Verſchanzung wäre ein befjerer Schub als „alle Traktatsbe⸗ 
dingniffe, die,iheoretilch viel veriprechend,dennod) lange vor dem erften Ka⸗ 
nonenſchuß bereild gebrochen find und ſomit zu nichtd werden“. Drouyn de: 
l Huys bemüht fich, dranz Joſph für die Ideen Napoleons zu gewinnen (dev 
zuerft felbft'nach Wien kommen wollte, „pour faire marcher mon jeune: 
empereur a’Autriche®). Ohne rechten Erfolg. Der Gedanke, Rußland 
aus dem Pontos zu verjagen, mußte fallen und der franzöfiiche Minifter mit 
Buols Hilfe einen Bertrag entwerfen, der Rußland und der Türkei im Schwar- 
zen Meer gleiche Rechte, den Signatarmächten die Befugniß gab, in dieſem 
Meer je zwei Sregatten zu halten. Nur den Ruffenjoll der Bosporusausgang, 
den die Anderen benutzen dürfen, gejperrt ſein; nur ihnen iſt bei Gefahr des 
Kriege jede Vergrößerung der Flotte verboten. Wird nun Friede? Nein. 
Nikolai ift tot, fein weihmüthiger Sohn Alerander hat gelobt, den Nanıen 
Sottorp nicht mit entehrenden Bedingungen zu befleden, und jeit dem Fe⸗ 
bruar ift Balmerfton, der jäheSiebenziger, Premierminiiter. Der möchteden 
Meerengenvertrag zerfeen, die ruſſiſche Kriegsflagge aus allen ſüdoſteuro⸗ 
pãiſchen Gewãſſern verbannen, Sebaftopol jchleifen: und überredetraich auch 
Louis Napoleon zur Fortſetzung des Krieged. Franz Joſeph will nicht weiter: 
gehen. Heß fordert wieder die Befeftigung des Hafens von Varna, eine See⸗ 
feitung am Bosporus und eine ftarle Schanzenkette von Krakau bis Salat. 
Doc Defterreich hat nicht mehr mitzureden. Am zwölften Juni 1853 ergeht 
an dad Dberfommando der Befehl, dad Heer auf den Friedensſtand zurüd- 
zuführen und fid) dann aufzulöjen. Am achten September fällt der Malo- 
kowthurm. Sebaftopol, dad Bollwerk des Schwarzen Meeres, ift in der Hand 
der verbündeten Ruſſenfeinde. Jetzt fordert Defterreich jelbft die Neutra- 
lifirung. des Pontos; weder ruffiiche noch türfijche Kriegsſchiffe dürfen da 
weilen; die Häfen nicht militäriſch befeftigt werden; alle vorhandenen Be» 
feftigungen find zu jchleifen. Wenn Frankreich nicht heimlich geholfen hätte, 
wäre ed Nikolais Erben noch übler ergangen. Am dreißigſten März 1856 iſt 
der Pariſer Friede zur Unterſchrift fertig. Der Sultan erklärt, „daßerdesfeften 
Willens ift, in Zukunft den ald alteRegel feines Reiches unwandelbar feitge- 
ſtellten Grundſatz aufrecht zu erhalten, der den Kriegsichiffen aller Mächte 
ſtreng unterjagt, in die Meerengen einzulaufen; }o lange die Pforte Srieden 
hat, wird Seine Majeftät fein fremdes Kriegsichiff in die Meerengen laffen“. 
Die übrigen Mächte verpflichten fich, „dieje Willensbeſtimmung ded Sultand 
zu achten und fich das verkündete Prinzip zur Richtſchnur zu nehmen“. Aus» 


140 Die Zuknnfti. 


nahmen werden nur für je zwei leichte Kriegäfchiffe jedes Signatarftantes 
gemacht, die beftimmi find, an den Donaumũndungen die Freiheit der Fluß⸗ 
ſchiffahrt zu wahren. Rußland tft feine Donaumacht mehr; ift im Pontos und 
im Alows Meer ohne Fahrzeug und Feſtung. Britantentriumphirt. Der Krim⸗ 
krieg hat die Herrichaft des Union Jack beſſer gefichert, al8 Relfon und Napier 
vermodht hatten; und der Kranke Mann braucht im feft verichloffenen, dop⸗ 
pelt verriegelten Haus fortan nicht vordem grimmen Proteftor zu zittern. 
Drei Luſtren lang hatdiejer Zuftand gewährt. Als Frankreich geichlagen 
war, ſchriebGortſchakow an ſeinen Agenten nach Tours:, Der Krimkrieg undder 
Pariſer Friede von 1856 waren die erften Schritte auf dem Weg zu all dem Un⸗ 
heil, deſſen verhängnißvolle Folgen wirjeßt in dem wankenden Erdtheiljehen. 
WelcheRegirung morgen auch inFrankreich herrichen mag: jede muß an derTil⸗ 
gung der Schuld mitwirken, die ein ſchädliches politiſches Syſtem gehäufthat.“ 
Beuſt hatte ſchon 1867 verſucht, den Ruſſen die Pontosfreiheit zurũckzugeben, 
Mouſtiers Zuſtimmung aber nicht zu erreden vermocht. Am einunddreißigſten 
Oktober 1870 ſagt Gortſchakow in einer Cirkulardepeſche an die europäiſchen 
Regirungen: „SeineMajeltätder Kaiſeraller Reuſſen kann ſich nicht längeran 
die BeſtimmungendesPariſer Vertrages gebunden erachten, die RußlandsSou⸗ 
verainetätrecht im Schwarzen Meer einſchränken.“ An der Themſe berathen 
die Mächte. Der Londoner Vertrag vom dreizehnten März 1871 beftätigt 
noch einmal dieconvention desdetroitsvon 1841, giebt, im zweiten Artifel, 
aber dem Sultan das Recht (la faculie), „in Friedenszeit den Kriegsſchiffen 
der befreundeten und verbündeten Mächte die Meerengen zu öffnen, wenn die 
Pforte eö für nöthig hält, um die Ausführung des Pariſer Vertrages zu fihern 
undihre Integritätgegen Angriffezujchügen. "Wieder eine Ausnahme ;wieder 
eine Klaujel, die mißverftanden werden fonnte und mißverftanden worden ift. 
Artikel 63 des Berliner Vertrages von 1878 fchafft kein neues Meerengenrecht, 
jondern beitätigt da8 1841,1856 und 1871 Bereinbarte. Dreizehn Jahre ſpä⸗ 
ter giebt (ineinem turfosruffifchen Sondervertrag, alfo nicht mehr unter Kon- 
trole und Garantie der Großmächte) die Pforte den unter der Handelöflagge 
fahrenden, meift zu Militärtrandporten benutzten, abernichtarmirten Schiffen 
der,, Sreimilligenflotte” Rußlands die Meerengen frei. Der Irade vomzehn- 
ten Dezember 1895 geftattet den Signatarmächten des Barifer und des Ber: 
liner Bertrageß, je ein zweited Geſandtſchaftſchiff leichter Sorte durch die Dar⸗ 
danellen laufenzu laſſen; diefe Schiffe dürfen da aber nicht Anker werfen. Den 
Anſpruch anderer Mächte, Stationjchiffe dichtan die Dardanellenjchlöffer her⸗ 
anzuſchicken, hat derSultan zurüdgemwielen. Muß ers jetzt den Nuffenerlauben ? 
$ . 











Europätfe Erpanfion. 141 


\ 
Europäifche Erpanfion.”) 

Ey die Erdrinde, fo weit wir fie kennen, aus einer Anzahl übereinander» 

gelagerter Schichten beiteht, in deren Entſtehung fih die Gefchichte der 
allmählichen Erkaltung un) Verwitterung des Maleriald niedergefchlagen hat, 
aus dem fie gebildet ift, jo haben ſich auf diefem phy ikaliſch⸗chemiſchen Be⸗ 
jtmd ihred Dajeind wiederum Reſte der menfchlichen Geſchichte in taufend 
Formen von verjchiedenen Sedimenten niedergefchlagen; und nur Das unter 
fcheidet fie auf den eriten Blid von den natürlichen Sedimenten, daß fie, wir 
glauben ed, nicht eine niedergehende, ſich auflöfende, ſondern eine aufwärts 
gerichtete, fteigende Entwidelung erkennen laſſen. Dieſe Sedimente lagern 
überall, auch auf dem Boden der Meere, wenn aud hier und meift unzu» 
gänglich; und mit ganz bejonderen Empfindungen fährt darum wohl ter ges 
ſchichtlich denkende Reifende über Stellen großer Seeſchlachten oder über Stätten 
eined ehemals regen Handelsverkehrs zu Waller, von denen feine Welle mehr 
redet und doch die Vhantafie träumt, und ihm läutet ed aus der Tiefe, gleich 
als ob, wo nur Menſchen zur See fih einmal in Streit und freude begeg⸗ 
neten, die Gloden Vinetas erklängen. Das Feſtland aber ift überall ausges 
füllt mit prähiftoriichen Reiten. Wo immer der Forſcher den Spaten anjett, 
Da findet er fie; und aus den Gejammtaudgrabungen hin über den Erbball 
wird dereinft eine ganze vorgeichichtliche Vergangenheit unſeres Geſchlechtes 
zu neuem Leben im Gedächtnis der Menfchheit erfiehen, von der uns heute 
nur erft Bruchitüde zugänglich find. 

Dieſe Sedimente find aber jehr ungleich veriheilt. An manchen Stellen 
werden nur bünne und ärmliche Zeugniffe primitiver Kulturen gefunden; anders⸗ 
wo bedeutet vielleicht jeder Fund nad einen Foitſchritt in der Erlenntniß 
‚großer und hoher menſchlicher Entwidelung und fomit im befonderen Sinn 
auch einen Erwerb noch für die Zulunft. Man Lönnte jagen: So ungleich 
wie das phyſiſche Niveau der Ecdrinde mit feinen Gebirgen und Ebenen, feinen 
Hoch⸗ und Fiefländern ift auch das Niveau der gefchichtlihen Weberlieferung. 

Und noch ein engerer Zufammenhing beiteht weithin zwiſchen Phyſiſchem 
und Geiftigem. Wer über zahlreihe Völker hinblidt, Der wird erftaunt fein 
‚ber die Abhängigkeit ihrer Schidjale und ihrer Branlagung von den geo⸗ 


*) EmBruhftüd aus dem dritten (die Geſchichte ber Zeit von 1815 bis 1908 ber 
Bandelnden) Band von Ullſteins Weltgeſchichte“, Der noch im Oftober bei Ulftein & Co. 
ecſcheinen fol. Die Thatjache, daß der heute berühmteſte Hiftorifer Deutfchlands mit» 
arbeitet, und Die Urt der geichichtphilufophiichen Daritellung Lamprechts (von der def» 
Halb eine etwasgrößere Brobe gegeben werden mußte) beweiftfchon, daß es fich Hier nicht 
um Buchmacdherei handelt, fondern um ein Werf, das aus dem noch |pärlich bebauten 
Boden deutſcher Univerſalgeſchichte in anjehnliche Höhe aufragt. 


11 


142 Die Zukunft. 


grapbifchen Bedingungen. Bor Allem die Raffeeigenichaften, die ftärkiten Aon⸗ 
ftanten der heutigen geiftigen Welt, find legten Endes wohl von foldhen Bes 
dingungen abhängig; und jo iſt es nicht ohne tiefen Sinn gemwejen, wenn Vor» 
ftellungen, die einer der geijtreichiten Geographen des neunzehnten Jahrhun⸗ 
dert3 an diefe Zufammenhänge Inüpfte, Anlaß zu einer neuen Auffaffung und 
Eintheilung der Weltgejchichte gegeben haben. Aber auch die großen uns bes 
fannten Kulturkreiſe der menjchlihen Gedichte ordnen ſich nach Eniftehung- 
herd und primitivem Ausbreitungsgebiet nicht zum Geringiten geographiichen 
Bedingungen ein. | 

In der Neuen Welt, die fo lange einen für fich beitehenden Bereich 
menschheitlicher Entwidelung bildete, liegen alle Kulturkceiſe, der mexikaniſche, 
der peruanifche, der der Chibchas, tropiſch oder fubtropiih und in beträcht⸗ 
lihen Höhen und nur wanig bat fich ihr Gebiet in die Tiefen erweitert; am 
Eheſten nad) dem Meer zu, nad) den Gebieten relativer Kühle und relativer 
Feuchtigkeit hin. Nicht anders find die älteren Kulturkreiſe der alten Welt 
gelegen. Die der öftlihen Hälfte des großen kontinentalen Zufammenhanges, 
den Aften, Europa und Afrika bilden, haben in den großen Flußthälern des 
Indus und Ganges wie ded Hoangho ihre Heimath: an fruchtbaren Stellen 
üppigen oder wenigftend friſchen Pflanzenlebend und einer urfprünglich reichen 
Thierwelt. Und ein Aehnliches mag auch für die weſtliche Hälfte der alten 
Melt gelten, mag ed fih nun um die Heinafiatifchen Gruppen von Urkulturen 
im Zwifchenlande des Tigiis und Euphrat oder um dad Land des Wild oder 
um die zerriffenen europäiſchen Geftadeländer ded Mittelmeeres oder jelbft um 
jenen nordafrtlanıschen mediterranen Ktüftenrand handeln, den man, entiprechend 
dem Begriffe Kleinafier, pafjend Kleinafrika genannt hat. Ueberall fommen 
fruchtbare Gebiete ſchon recht füdlicher Xage in Betracht und ergiebt fich vor 
Allen ein reichliches Dajein von Waſſer; mie denn noch heute in jeglichem 
Siedlungsgebiete der Welt, an jedem noch fo kleinen Orte zulünftiger menſch⸗ 
liher Beftedlung zunächſt Wafler verlangt wird. Um die weftlihen Kultur» 
freife der alten Welt aber lagern jich Wülten und ſchwer zugängliche Rand⸗ 
gebirge, die ind „Innere der Kontinente führen, wie nicht minder um die Ge: 
biete der Nulturfreife des Oſtens. 

Von diejen urfprünglichen Stulturfieifen bir find dann jüngere etwas 
anderen geogtaphijchen Weſens entwidelt worden, die man wohl, geographiſch 
mie -gejchichtlich, jelundäre nennen fönnte; fo die der japanifchen, der malai» 
iſchen, der cıntrals und mefteuropärfchen, kurz, der heutigen europäiſchen Kultur. 
Dabei hat fich, ijt es erlaubt, hier einige eınjtweilen nur proviſoriſch gemachte 
Beobachtungen zu äußern, bei der tropifchen Entwidelung folcher ſekundärer Kul⸗ 
turen eher ein Verfall, bei der Entwidelung in ftrengere Gebiete der ge» 
mäßigten Zone hin eher eine Steigerung menschlicher Kulturformen ergeben. 





Europälihe Expanſion. 143 


Wie Dem aber auch fei: in der heutigen gejchichtlichen Welt handelt 
es fich vornehmlich um zwei Kulturkreiſe, den oftafiatifch-japanifchen und den 
europãiſchen; man dürfte bei einiger Uebertreibung englifchen Rationalftolzes 
auch jagen: den europäilch-englifchen, oder bei einigem Betonen germanifchen 
Raſſeſtolzes: den europäiſch⸗teutoniſchen, wobei unter Teutoniſch nach einem 
englifhen und vornehmlich nordamerikanischen Sprachgebrauche, den wir uns 
in Deutichland werden aneignen müſſen, Nord» und Südgermanen (Standis 
naven, Deutiche, Niederländer) Angelfachien-Engländer und die tolonialen Teus 
tonen vornehmlih Rordamerilad und Aujtraliend zujammengefaßt werden. 
Bon diefen beiden heute an erfter Stelle aktiven Kulturkreiſen aber ift es 
wiederum vornehmlich der europäifche, der, auf Grund einer Kullur, die doch 
wohl, ald Ganzes, jegliche Kultur früherer Zeiten und Völker qualitativ wie 
namentlidy quantitatio überragt, enticheidend eingegriffen hat. Denn auch auf 
den oftafiatijchen Kreis ift er nicht ohne Einfluß geblieben, wenn er auch nicht 
dazu gelangt iſt, ihn politifch zu beherrichen, und wenn auch jeit dem acht» 
zehnten Jahrhundert vornehmlich, wie jchon einmal in den Zeiten des Sinkens 
der antıden Welt, zahlreiche und fteigend wichtigere Einwirkungen von dieſem 
Kreis auf den europäiſchen ausgegangen find. 

So iſt es innerlich begründet, wie es auch freilich unferem europäiſchen 
Haffenfinn jchmeichelt, eine Weltgejchichte von heute mit der Gejchichte der 
Erpanfion diejes Kreiſes, namentlich in neueren und neueften Zeiten, über die 
Welt abzuſchließen. Und eben unter diefem Gefichtäpunit läßt ſich noch ein 
bejondered Wort für den alten und fo oft getadelten Begriff der „Weltge- 
ſchichte“ einlegen. Iſt ed nicht wirklich der Erdball (Das heißt: die Welt in 
menſchlichem, gefchichtlichem Sinn), der von der europäilchen Exrpanfion erfüllt 
wird? Handelt es fich nicht hier zum erſten Mal um eine Weltgeſchichte im 
zecht eigentlichen, greifbaren, anfchaulichen Sinn? Findet hier nicht eine Durch» 
aus berechtigte Erweiterung des geographilchen Begriffs „europäifcher Kultur⸗ 
freis” (alle Kulturkreife find naturgemäg nach dem Raum, ben fie füllen, bes 
nennt, alſo geographischen Charalters) auf den geographifchen Begriff „Welt“ 
ftatt? Wir Deufche haben die doppelte Bezeichnung Univerfalgejchichte und 
Weltgeſchichte und wir follten und unter den neuen Verhältniſſen der jüngften 
europäiichen Expanfion, die natürlich auch neue Begriffe fordert und damit 
neuer technijcher Worte bedarf, daran gewöhnen, unter Weltgeichichte die Ges 
fchichte der europäiſchen Exrpanfion und des weſtaſiatiſchen⸗mittelmeeriſchen Kul⸗ 
turkreiſes, auf dem dieſe gejchichtlich fußt, zu verjtehen, ganz in Anlehnung 
an den biöher praktifch für das Wort herfömmlichen Umfang; die Gefchichte 
der gejammten Menſchheit aber follten wir als Univerfalgejchichte bezeichnen. 

Die ältere Entwidelung des heutigen europäijchen Kulturkreiſes kann hier 
nur mit zwei Worten geftreift werden, unter Gefichtäpunften, deren Darlegung 

11* 


144 Die Zukunft. 


für das eingehende Verſtändniß der jüngeren Perioden und Borgänge nolhs 
wendig ift. Den Kern der Völtermafle des europäiichen Kulturkeiſes haben 
von je her die Teutonen gebildet. Gewiß fp’elen daneben Kelten und Slaven, 
‘ne den Germanen in der Eigenentwidelung wenigſtens ihrer wirthichafte 
lichen Kultur um etwa zwanzig Generationen voraus, Dieje um etwa eben Jo 
viel zurüd, eine beträchtliche Rolle. Allein nicht fie haben jenen Bereich, den 
Garten gleichſam des vorderaftatifch-mittelmeerifchen Kulturkreiſes, in dem fich 
Helleniömus und) römiſches Imperium trafen, definitiv durchbrochen und er» 
jtürmt, auf deffen Einnahme fih das Befondere der europäiſchen Kultur auf 
baut, fo weit es der Folge der weltgejchichtlichen Begebenheiten verdankt wird. 
Und nicht fie ftehen darum auch in der Mitte der europäilden Kultur, infos 
fern fie durch die von der Antike unterftügte Eigenentwickelung der in ihr aufs 
gegangenen Völker an erjter Stelle gebildet worden iſt. Der Beweis aber, 
doß dieſes Gentrum von je her die Teutonen einnahmen, kann nicht nur aus 
politiihen Ereigniffen, wie der Uebernahme des Kaiſerthums dur die Deuts 
ſchen, geführt werden, denn hier läßt fi immer von der Einwirkung bes 
fonderer Umftände, von Dem, was man geihichtlicden Zufall nennen kann, 
Iprechen; er erhellt ficher vielmehr aus der Thatſache, daß in den romano» 
teltifchen Miſchoölkern, fo namentlich den Stalienern und Franzoſen, mie unter 
den ſtark gemifchten Engländern die Kraft der Entwidelung immer in den 
Gegenden und Etämmen gelegen hat, die eine ſtarke Miſchung mit teutoni« 
jchen Elementen erlebt haben, wie aud der langmährenden Beherrfhung der 
heute größeren flaviichen Kultur erft durch die Rormannen, dann durch bie 
Deutfchen der baltifchen Länder. | 

Die Völkerwanderungen, in deren Verlauf die Völkermiſchungen in 
Europa eintraten, deren Vollendung die Vorbedingung für die Entwidelung 
bed eurepäiichen Kulturkreiſes mar, haben, jo weit die Teutonen in Betracht 
famen, etwa anderthalb Jahrtauſende gedauert. Sie beginnen in jenen grauen 
Zeiten, da, vielleicht vier oder fünf Jahrhunderte vor Chriftus, germanifche 
Füße zum arten Mal den Boden zmwilchen Elbe und Wefer betraten und ger» 
manifche Roffe zum erften Mal den Rhein durchſchwammen. Sie endeten mit 
den legten Ergüffen nordgermaniſcher Volkekraft in den äußerjten Süden, mit 
dem Auftauchen der Normannen an den Hüften ded Mittelmeeres, mit der 
Begründung ded unteritalifch-fizilifch-epirotiihen Normannenreiche8 und der Er⸗ 
richtung des lateiniſchen Kaiſerthumes in Konjtantinopel. Sie find anfangs 
vornehmlich zu Yande verlaufen, fie haben zuerſt die fcharfe Grenzbildung des 
Imperiums nördlich der Alpen veranlagt und hiben defjen Grenze dann, von 
Diten her beginnend, in den Ereignifien jener Völkerwanderung, die die ältere 
biftorifche Lehre meift allein tennt, bis zu dem Grade überſchwemmt, daß fie 
durch alle europäilchen Hüftenländer des WMittelmeered, ja, durch den weltlichen 


Europätihe Expanſion. 145 


Rordrand Afrikas ihre Wellen getrieben haben. Sie fanden jpäter zu Waſſer 
ftatt, trafen nun vor Allem die atlantifchen und mittelmeerifchen Küften Europas 
und Kleinafiens, führten aber auch die großen Ströme hinauf tief ind Binnen» 
land des Kontinentes hinein, bis zu dem Grade, daß in ihrem Verlauf eine 
Durdkquerung des Welttheiles faft da, wo er am Breitejten war, zwifchen Ofifee 
und Schwarzem Meere, gelang. Die erjte Phaje des Verlaufes war dabei 
politiiy durch Bildung von Zributärftaaten auf dem Boden des Kaiſerreiches, 
und zwar der byyantinifchen wie der weftlichen Hälfte, getennzeichnet: fo find 
die Bothenitanten an der Donau und auf der Baltanhalbinfel, jo die Gothen⸗ 
und Langobardenftaaten in Stalien, wiederum die Gothenftaaten in Süpfrant» 
reih und Spanien, der Frankenſtaat im nördlichen Gallien, ber Bandalens 
ftaat im nördlichen Afrika entftanden. 

Den Abichluß diefer Deipotien, in denen urzeitlic-demakratiiches Gers 
manentbum und Verwaltungreſte des römijchen Abjolutismus wunderlih und 
in oft Doch vieldurchdachten Bildungen Durcheinanderwogten, bildete das Reich 
der Slazolinzer, man darf jagen: Pippins und Karld des Großen. Es ift 
Ion injofern eine hiſtoriſche Landmarke, ald in dem Augenblick jeiner Dolls 
endung fpäteftend die Wanderungen der Teutonen zu Lande aufhörten und 
die Seewanderungen um jo mehr begannen; ſchon in den Ipäteren Zeiten Karla 
des Großen hat das neue Univerjalreih von den Angriffen der Normannen zu 
leiden gehabt. Es bildet aber namentlich auch infofern den Abjchluß der früheren. 
Periode, als in ihm eine ftaatliche Bildung auftritt, die zum exften Mal durch 
längere Zeit hin antite und teutonifche Kultur zu vermählen ſucht und auch 
wirklich zum Theil vermählt und eben darin die erfte dauernde Grundlage für 
die Exrvanfion einer europäiichen Kultur fpäterer Jahrhunderte ſchafft. Inſofern 
ift es gleichaam von Vorbedeutung, wenn für die Zeit wenigſtens Karls des 
Großen in der That von mittelalterlihem Imperialismus und auch von dem 
Erwachen einer chriftlidrantilsteutonischen Exrpanfion nad Norden und Oſten, 
ja, auch nad Süpdmeften, nach Spanien zu geſprochen werden Tann. Noch 
mehr zu einem Wendepunft von höchfter weltgefchichtlicher Bedeutung wird die 
Zeit der Karolinger durch Ereignifje,.die, vom Standpunkt des europäiſchen 
Betrachterd aus gejehen, zunächſt einen mehr negativen Charakter aufmeifen. 
Auf dem Boden des römischen Imperiums war neben der neuen teutonifchen 
Kultur noch eine andere, im Südoften, in polarer Xage aljo zu dem in Bildung 
begriffenen fränkiſchen Weiten, aufgetaucht: die arabijche. Und ed war auf 
dem Wege der Entwidelung einer neuen Religion geſchehen, dem fruchtbarften 
und furchtbarften weltgefchichtlihen Weg, den es giebt. Dieje Kultur hatte 
in rapidem Siegeslauf die aſiatiſche wie die afrifanifche Geſtadeſeite der ihr 
benachbarten WMittelmeergegenden eingenommen und filh auch faft aller weit 
nach Süden tragenden Punkte des europäiſchen Nordgeftades, Spaniens, zum 


146 Die Bulimft. 


Theil Siziliens und Süditaliens und Moreas bemädtigt. Im Beginn des 
achten Jahrhunderts drangen ihre Pioniere, Piraten und Krieger, zu Lande bis 
an die Riviera, in Gallien die Rhone hinauf bis nach Lyon und Autun und 
nicht minder in Septimanien vor, während fie gleichzeitig die Herrichaft des 
byzantinifchen Reiches bedrohten; im böchften Grade agreifiv erwies fich dieſe 
Diagonale Gegenkultur gegenüber der in Bildung begriffenn europäilchen und 
die Gefahr war nicht gering, daß diefe und mit ihr Chriftentyum und Teu⸗ 
tonismus dem Andrang erliegen könnte. Da hat eben das Frankenreich, Karl 
Martell und jeine Reiterei, der Heilige Martin von Tours und chriftlicher 
Glaube in der Schlacht von Tours und Poitierd die Wagfchale zu Unguniten 
des Iſlam und des Araberthumes geſenkt. Beide blieben feitdem immer mehr 
auf die afrikaniſche und aftatifche Seite des Mittelmeeres beſchränkt. Allein 
bier jegten fie fihh um fo mehr feſt; und indem fie im dauernden Gegenfag 
zum europäifchen Kulturkreis blieben, bilpete ihr Areal eine undurchdringliche 
Maſſe, die den Verkehr zwiſchen den Welten des europäifchen und des indifchen 
und oftafiatiichen Kulturkreies, wie er feit Alexander dem Großen in den 
Togen des Helleniämus und in den Zeiten ded römiichen Imperiums immer 
mehr erblüht war, auf lange hin aufhob: ein Vorgang von größter weltge⸗ 
ſchichtlicher Tragweite. 

Der europäifche Kulturkreis, der damit auf fih begrenzt war, trat nun 
in die recht eigentlich mittelalterlichen Jahrhunderte feiner Gefchichte. Der Urzeit 
mehr oder minder entwachſen, entwidelten feine Völker die charakteriftichen 
Zeichen mittelalterlicher jeelifcher Gebundenheit: die Schwächen einer noch ges 
ringen äußeren Welterfahrung in dem Vorherrſchen eines analoyiftiihen Schließens 
und damit Autorität» und Wunderglaube in allen ihren (namentlich) auch ſug⸗ 
geftiven) Formen und die Schwächen einer noch geringen inneren Welterfahrung 
in dem Mangel einer eigentlichen Erziehung, in den für und grotesfen Formen 
ritterlicher Abenteurerluft und ungebändigter Willensalte felbft auf dem Gebiet 
ver Politik. Es war die feelifche Dispofition, deren eine Offenbarungreligion 
mit einer Wunderüberlieferung und einem ſakramentskräftigen Klerus bedurfie; 
und ſo erjcheint die ſeeliſche Gebundinheit der Zeit vor Allem ala Unterordnung 
unter die Bevormundung der Kirche. Nichts ift hierfür bezeichnender ald die 
Vermiſchung politiicher und geiftlicher Betrachtungmeije zu Gunften der Kirche 
und deren Ausprägung fogar in geiftlihen Staaten, wie dem Batrimonium 
Petri und den Ordensſtaaten verjchiedener Länder; auch der ftärkfte Verſuch, 
die Mauern des Iſlam zu erjchüttern, wie er in den Kreuzzügen erfolgte und 
die Hauptaftion der Zeit und des Kulturfreifes, dieſen ald Ganzes betrachtet, 
darftellt, wird etwa nicht der Einficht von defien Schäplicdhkeit, fondern dem 
Zufall verdankt, daß die Heiligen Stätten des Chriſtenthumes im Wachtbereich 
der iſlamitiſchen Welt gelegen waren. 


. . 


Europäifge Expanſion. 147 


Im Gebiet des Wirthichaftlebens, von dem aus am Cheften durch Ent» 
widelung neuer pigchiicher Reize eine Wandlung des beitehenden Seelenlebens 
der Gebundenheit zu erwarten war, war das Zeitalter zunächſt durch natur» 
wirthſchaftliche Zuftände gekennzeichnet. Die Ausbeutung des Bodens im Aders 
bau bildete die durchaus regelmäßige Norm wirthichaftlicher Thätigleit, Grund» 
befiß war die einzige durchgehende Form des Reichtyumes und Handel und 
Verkehr wie Stoffveretlung beftanden zwar, bildeten aber nur einen Anhang 
der Bollsmwirthichaft und zu einem nicht geringen, wenn auch bei den einzelnen 
Völkern verfchieden großen Theil ein Behältniß von WUeberlieferungen aus 
den einft viel höher entwidelten Lebensformen antiker Wirthichaft. Dabei vers 
fteht fi, wie ein folcher Zuftand, indem er die thätigen Kräfte ifolirte, eben 
jenes geringe Maß von Erfahrung aufrecht erhalten und immer von Neuem 
bedingen mußte, aus dem nicht zum Geringiten die gebundene ſeeliſche Haltung 
des Zeitalters hervorging. Aber gerade in diefem Zuſammenhang war auch 
das weſentlichſte Mitiel zur Aenderung, zum Yortichritt gegeben. Indem die 
Naturalmirthichaft, nach demokratiſcher Sitte der Urzeit von den Teutonen 
wenigſtens in gleihwerthigen Bauernwirihſchaſten getrieben, überall zu organis 
Sotorifchen Formen höherer Art fortichritt, indem fi Zuftände einer landreichen 
Aderausbeutung in Grundherrichaft und Pachtherrichaft neben dem einfachen 
Bauerngut bildeten, war auch die Möglichkeit größerer Erſparniſſe durch die 
Landreichen, den Adel, die Fürften, vielfach wohl auch die heranwachſenden 
Städte gegeben und damit die Voraudfegung zu ftärkerer Entwidelung der 
Induſtrie. Denn nun war es möglid, von den Erſparniſſen, wie fie anfangs 
in Raturprodulten, fpäter wohl auch in Geld vorlagen, Menſchen zu ernähren, 
die ihre Kräfte vernehmlich oder ausjchließlich der Stoffveredlung widmeten. 
Es war damit ſchließlich ein jehr einfaches Prinzip des Fortſchrittes, das fich 
hier geltend machte. Aber nur jehr allmählich und langſam, wenn auch ſchließ⸗ 
lich fundamental verändernd, trat es in Wirkung. 

Leichter war es da ſchon, einmal gemachte Erjparnifje zum Erwerb irgend» 
eines fremden Manufaltes aufzuwenden, das ein jpärlicher, nach Haufirerart, 
doch in verhältnigmäßig foftbaren Waaren betriebener Handel von meiter Ferne 
herbrachte: eined Stüdes Brofat ſarazeniſchen Urfprunges, eines römifchen Reiher3 
zur Vogelbeize, eines Sklaven vielleicht gar, den zumal in den jüdlichen Ges 
genden dad nahe Afrika oder Alien liefern konnte. Und fo liegen die Anfänge 
des Handels allerdings entwidelungdgejchichtli früher ald die der Induſtrie. 
Aber man fieht wohl, daß der Handel organisch dem eigenen Wirthichaftleben 
des Kulturkreifed doch erjt dann ganz angehören konnte, wenn er ſich vom 
Bertrieb der eigenen Produkte, ſei es der Induſtrie, fei es auch des Acker⸗ 
baues oder der olkupatoriſchen Thätigkeiten, des Fiſchfanges, der Pelzthierjagd 
and jo weiter nährte; mochte er auch in feiner zunächſt halb exotiſchen Thätig⸗ 


148 . Die Bulunft. 


keit durch leife. Beziehungen zum indifchen Drient, wie, fie Die Areuzzüge immer» 
hin wieder eröffnet hatten, ſchon vorher verftärft fein. 

Diefer Moment eigenjtändiger Eniwidelung des Handel innerhalb des 
europäifchen Kulturkreifes felbit trat aber nun überall, früher oder fpäter, vom. 
dreizehnten zum fünfzehnten Jahrhundert ein; und er bezeichnete felbftuerftänd- 
lih den Durchbruch eined neuen Wirthichaftlebend und auch eine neue Möz⸗ 
lichleit der Erpanfion. Dabei kann hier freilich nicht erzählt werden, welche 
Fäden im Einzelnen nun auß der jet entſtehenden Geldwirthſchaft mit ihrem 
Städteweien, mit ihrem bald fih vollziehenden Uebergang vom Handwerk zu 
höheren Formen indujftrieller Probuftion, mit ihrem auffommenden Geldhan del 
neben dem Waarenhandel in die geiftige Entwidelung des europäiſchen Kultur 

zeifed Hinüberreichen. Es muß genügen, hier nur tie Worte: Uebergang zum 
individualiftiichen Seelenleben oder zur geiftigen Befreiung des Individuums, 
Renaiffance, Humanismus und vor Allem Reformation zu nennen und mit 
dieſen wenigen Worten den Eintritt eines völlig neuen feelifchen Zeitalter8 an» 
zudeuten; jenes Seitalterd, dad die Entwidelung vom fünfzehnten bis zum 
achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert umfaft bat und aus dem ſich erit 
die legten fünf bis acht Generationen zu wiederum noch. höheren Formen pſy⸗ 
hilchen Dafeind emporzuringen begonnen haben. 

... Die Trage, ob fich der europäiſche Kulturkreis bis zum vollen Leber» 
gang zur Geldwirthſchaft (aljo bis zur Vollendung der wichtigften Stadien dieſer 
Wirthſchaft im Verlauf des fiebenzehnten und achizehnten Jahrhundertd) erweitert 
babe, wird von jedem Angehörigen diejes Kreiſes immer mit dem freudigften Ja 
beantwortet werden. Denn ungeheuerlich geradezu war dieje Erweiterung ſchon 
bis zum Schluß dieſer Zeit, etwa bis zu Cool8 Fahrten um die Welt, und 
die Welt ift eben durch fie erit ganz entichleieıt worden. Weld eine Gülle 
geichichtlicher Gefichte Thon von den erſten keltiſchen und germanijchen Wander⸗ 
ungen der Vorzeit an über SEreuzzüge und Agrarkolonijation des hohen Mittel» 
alter8 hinweg bis zu der Großthat des Stolumbus; vor Allem aber von da 
wieder über die Entwidelung der portugiefifchen Stolonialherrjchaft und der 
ſpaniſchen Weltgewalt zu den großen maritimen Ereigniffen der niederländiſchen 
Geſchichte und zu der Ausbildung der kolonialenRivalität zwiſchen Srantreih und 
England mit dem faft endlofen Ringen derbeiden Nationen gegen einander!... Das 
Motiv menihlicher Erpanfion, das am Fruheſten aufgetreten jeinmag, das jedenfalls 
denelementarjten Eindrud macht, ift da8 der Erweiterung des Nahrungſpielraumes. 
Innerhalb des Bereiches der europäiſchen Erpanfion, insbefondere der Ausdehnung, 
der Teutonen, beiteht darüber Fein Zweifel, daß es dad frühefie war. Un- 
mittelbar, in direlten Quellen, ift von der ewigen Landnoth der Germanen vor: 
und nach Beginn der chriftlihen Aera die Nede. Dabei war diefe Landnoth 
im Ganzen noch die Noth einer nomadiſchen Kultur. Gewiß fuchte man auch- 


Enwopdiige Expanfion 149 


neue Streden zum Aderbau; vor Allem aber handelte es fih um Weidepläge 
für das zahlreiche Vieh; umd jo weit man agrarijche Ausdehnung ſuchte, waren 
die Borftellungen von ihr auch noch durch nomadifche Anfchauungen mit be« 
dingt und daher äußerft cxtenſiv. Nicht nur Neuland, ſondern weitelte Exr- 
panfionftredten, quam latissimos fines zu haben, war daher der Munich 
jeder germanifchen Völferfchaft. Und diefe weiten Streden, wie fie allein be» 
ſonders fruchtbaren jahren der Viehzucht oder beſonders günftigen Zeiten der 
Vollsvermehtung genügen fonnten, wurden nicht nur in der Nachbarſchaſt, 
im Anſchluß an fchon angeeignete Gebiete geſucht. Die Stämme hatten noch 
nicht im heutigen Sinn des Wortes eine Heimath; leicht hoben fie den Fuß: 
von dem vielleicht vor Kurzem erft beiretenen Boden; ihre Verfaſſung war 
noch nicht mit irgendeiner Gegend irgendwie verwachſen, fie war vielmehr eine 
tein perjonale, eine unter europäilchen Lebensbedingungen überallhin tran?» 
portable Verfoffung. Und jo verftanden fie ihre Expanſion nicht als von irs 
gendeinem feiten Bunte aus centripelal, jondern als Erpanfion quand même, 
unter Uebergang auch ded ganzen Stammes gegebenen Falls in andere Länder, 
Klimate, Breiten. Eben diefe Eigenjchaften und Anfchauungen find die fundas 
mentalen Borausfegungen der teutoniihen Wanderungen gemejen und ihrem- 
Bereich entwachſen die höchſten Ideale teutonijcher Urzeit, die Ideale des 
fohrenden Kriegers, ded Reden. | | 

Ga ift jelbftverftändlich, daß dieſer jeeliiche und wirtbichaftlich-praktifche- 
Zuſtand nicht beibehalten werden konnte, fobald der Aderbau als Volksbe⸗ 
Ihäftigung und Volksſitte überwog, jobald man völlig ſeßhaft geworben mar. 
Jegt wurden Sietlungdtolonien weit weg von der Heimath auf fremder Erde, 
womöglich gar unter fremdem Bolt eine Auönahme; felten erhoben fi) über» 
haupt auf einmal ganze Maſſen zum Wandern, wie etwa unter der Wirkung. 
lotaler Hungersnöthe, denen man entflob, ttatt fie durch noch unmögliche Zur 
fshr von Getreide zu dämpfen, oder auch unter der Wirlung großer religiöfer: 
Gedanken; durchaus dad Gewöhnliche wurte, daß einzelne oder kleine Genoſſen⸗ 
Ichaften wanderten, und fie wanderten nicht jo fehr aus wie ab. Das Centrum: 
der Befiedelung, mie es einmal gebildet worden war, blieb alfo erhalten; und 
die Abwandernden fuchten ten erften günftigen, agrarifch brauchbaren Platz in 
der Nachbarſchaft. Es war dad für das eigentliche Mittelalter charakteriſtiſche 
Stadium der bloßen Erweiterung des Nahrungfpielraumes. Und man fieht 
wohl, dat dieje Umflände unter allen europäifchen Völkern wiederum den Teu⸗ 
tonen und indbejondere den Deutichen zu Gute kommen mußten. Denn die 
Romanen, darunter auch die Franzoſen und die Engländer (die Slaven zählen. 
um dieſe Zeit erft bedingt zu den europäiichen Kulturvölkern) waren in Län⸗ 
dern alter römifcher Civilifation jeßhaft, die ſchon lange und gründliche Zeiten 
inneren Ausbaues hinter fich hatten; und die Grenzen der Bereiche diefer Rar 





150 Die Zukunft, 


‘tionen waren dicht von anderen Völkern befiebelt. Die Deutichen aber waren 
im Beſitz eines erft jehr extenfiv verbeimathlichten Landes; und öftlich von den 
Grenzen ihres Volksbereiches ſtreckten fich, noch viel weniger umfallend be: 
fiedelt, Ianghin Tlavifche Gebiete, die fich leicht dem höheren Wirthichaftleben 
deutſcher Einwanderer erichloffen. Und fo hat denn Deutichlend, in diefer Zeit 
recht eigentlich die Hochburg des Teutonismus, vom neunten bis zum vier 
zehnten Jahrhundert ununterbrochen eine zunehmende Erweiterung de3 Nahrung: 
fpielraumes feiner Bewohner erlebt; zuerft im inneren Ausbau der Heimath, 
zwiſchen deren alte Siedlungen Neudorf um Neudorf gefchoben wurde, dann 
in jener gewaltigen Beftedelung und Germanifirung des ſlaviſchen Dftend, des 
Landes zwilchen Elbe, Oder und Meichjel und die Donau hinab, in der, im 
Verlaufe vornehmlich des zwölften bis vierzehnten Jahrhunderts, erſt mehr 
ald zwei Fuünftel des heutigen deutſchen Bodens gewonnen worden find. 63 
Jind Vorgänge und Thatfachen, die noch immer mächtig nachwirken, fie bes 
dingen den heutigen Unterfchied zwilhen Dem, mad man gewöhnlihd Süd» 
und Norddeutich nennt, was man befjer AltmutterländifchsDeutich und Stolonial« 
Deutſch nennen würde; ihnen erft wird jener heutige Volksreichthum der Deut» 
ſchen verdankt, der ihnen eine nicht zu überjehende Stelle im Getriebe ber 
Weltpolitik fichert; von ihnen aus erft wird die Bildung des heutigen Deuts 
jchen Reiches, defjen führender Staat Preußen urfprünglid rein folonial war, 
in wichtigen Beziehungen verjtändlich. 

Die geldwirthſchaftlichen Zeiten des fünfzehnten big ochtzehnten Jahr» 
hunderts haben die Erweiterung des Nahrungipielraumes nicht mehr an erfter 
Stelle durch Befietelung neuer Länder und Gegenten geſucht. Da fie den 
Verkehr und feine Mittel in der Durcbildung des Geldwejens, dem Ausbau 
der Straßen zu Waſſer und zu Land und in der Vermehrung der Transport» 
mittel, indbefontere auch der Vergrößerung der Schiffszeſäße ſchon bis zu einer 
gewiſſen Höhe entwidelten, fo lag für fie eine Erweiterung des Nahrungſpiel⸗ 
raumes durch Transport von Nahrungmilteln und ihren Uequivalenten, vor⸗ 
‚nehmlich folcher befonderd werthvoller und wenig volumindjer Art, wie der 
Edelmetalle, in die Heimath näher. Zu Eiedelungen in der Fremde wurde 
nur von Einzelnen gejchritten, die fih in ter Heimath bedrängt oder dellaffirt 
fühlten, — wenn auch die weltgejchichtliche Wirkung ſolcher Siedelungen, die 
nicht felten aus idealen und daher beſonders wirkſamen Motiven hervorgingen, 
eine jehr beträchtliche geweſen tft. Das Beitalter der Siedelungskolonien in zus 
nächſt nur wirthichaftlicher Kultur begann vielmehr erjt wieder von dem Augen» 
-blid an, da die gefteigerten Verlehrömittel den Trandport größerer Menſchen⸗ 
maſſen geitatteten; ein Moment, der in der europäifchen Exrpanfion erſt im 
auf des neunzehnten Jahrhunderts völlig eintrat. 

Neben Roth ijt Ehrzeiz, neben der Erweiterung des Nahrungfpielraumes 





Europälfe Expanfion. i51 


„ASroberungtrieb gewiß eines der elementarſten, ftändig fortwirkenden Motive 
menſchlicher Exvanfion. In der. Ürzeit des werdenden europäiichen Kultur⸗ 
treiſes, aljo vor Ullem bei den Teutonen, finden fich für die Bethätigung diefes 
Motives ſchon völlig ausgeprägte fefle Formen. Die ältefte von dieſen ift der 
‚einfache Raubzug; feine Organifation ift am Beflen von Caeſar gefchildert wor⸗ 
den. Gelegentlich einer der großen politiichen Berfammlungen einer Völker⸗ 
"Schaft erhebt fi irgendein anerkannter Krieger, verkündet, er werde einen Raub» 
zug zu beftimmter Zeit und in beftimmter Richtung unternehmen, und wirbt 
"Theilnehmer. Der Zug erfolgt dann ald Privatunternehmen gleihjam des Hel⸗ 
den, doch unter offiziöfer Billigung der Völterfchaft, der er angehört. Die 
Form 'ift von hohem Interefſe, denn fie enthält Momente der Expanſion, die 
im Bereich teutonijchen Lebens bis in die Gegenwart beftändig wiederfehren. 
Nach diefem Prinzip waren die niederländischen Handeldcompagnien noch des 
- frebenzehnten Jahrhunderts nicht minder als die großen Gompagnien Englands 
Seit dem fiebenzehnten und achtzehnten Jahrhundert, insbefondere auch die Dft: 
indifche Sompagnie begründet: private Jnitiative unter offiziöfer Billigung (und 
Stontrole) der Deffentlichleit. Und laſſen fih nicht noch die Prinzipien der 
deutſchen Erpanfion in bismarckiſchen Zeiten auf diefe Form zurüdführen? Das 
aber ift für diefe Form von Anbeginn bis zur Gegenwart beseichnend, daß 
fie fi zunächſt nur für Raub und Handel eignet: von Alters her und im 
Verkehr mit niedrigen Völkern auch heute noch vielfach ſynonyme oder wenige 
ſtens naheftehende Begriffe. Wo es darauf ankommt, Yand dauernd zu beſetzen 
und zu gewinnen, fäut diele Form hinmeg; die öffentliche Gewalt, die hinter 
dem Unternehmen ftcht, muß direkt hervortreten. 

Das Heerlönigthum, die zweite Form der erobernden Expanſion teutoni« 
fer Urzeit, Tann man vielleiht ald aus der erften abgeleitet anjehen. In 
diefem Fall würde der unternehmende Held nicht nur Genoffen des eigenen 
Volkes, ſondern aud Einzelne und Gruppen von Angehörigen anderer Völker⸗ 
fchaften am fich gezogen, diefe zu einer beitändigen Macht verſchmolzen und mit 
ihnen beftimmte neue Gebiete, unter mehr oder minder ftarfer Unterjochung ihrer 
Einwohner, erobert haben. Es iſt ein Fall, deflen Verlauf, wenn auch nicht 
Entftehung, wir in der Gefchichte Arioviſts deutlich vor uns jehen. Aber eine 
etwas andere Entſtehung des Heerlönigthums ift auch denlbar und kam that» 
fächlich vor, wie das nicht minder einleuchtende und fidere Schidjal Marobods 
erweift. Ein Stamm, bier die Marlomannen, fonnte fih in feiner gefammten 
Kıaft erheben und unter der ſtändigen Führung eined Helden, dem man vers 
:traute, neue Site erobern. Das Heerkönigthum mit den aus ihm abgeleiteten 
ſehr mannichfachen Formen ift die eigentlihe Expanſionweiſe der teutonifchen 
- Bölterwanderungen zu Lande oder zur See geweſen. Und infofern ift es jelbft 
‚amd find feine Folgen Ericheinungen von weltgefchichtlicher Bedeutung. 


152 Die Zukunft. 


.. Das Motio der Expanſion, das im Mittelalter zu den biöher beſprochenen 
Motiven der Erweiterung des Nabrungfpielsaumes und der ehrgeizigen Erober⸗ 
ung hinzukommt, ift das religiöſe; noch mehr ald das Etoberungmotiv führt 
e3 von ter gemeinen Nothdurft der Dinge ab in höhere, gleichjam menſchlichere 
Sphären der Geſchichte. Auch erfährt ed allmählich, in feinen fpäteren Ent» 
widelungformen, eine Yäuterung, die es zu immer gemwaltigeren und zugleich 
edleren Leiftungen innerhalb der geichichtlichen Welt fähig macht, entſprechend 
der Entwidelung der Religion ſelbſt zu ftet3 lautereren Formen einer verinner» 
lichten Frömmigkeit. 

Im eigentlichen Mittelalter ift das religiöſe Motiv natürlich noch durch» 
aus an die Kirche und das beitehende Shrifteniyum gebunden; jo wirkt es fich 
in ſtark äußeren Vorgängen, im Eintreten zunädft für die Ideale der kirch⸗ 
lichen Inftitutionen, aus, jo weit diefe in die Firne weilen und dadurd cr: 
panfiv wirken. Das Aeußerlichite wohl, was in diefem Zujammenhang aufe 
treten konnte und zum Theil wenigftens im europäifchen Mittelalter aufgetreten 
üt, ift der Trang nad dem Beſitz von wunderthätigen Reliquien und nach der 
Eroberung der Hriligen Stätten, in denen fi die Offenbarung abipielte, find- 
Fahrten zum Raub von Heiligenbildern, wie fie das griechiſche Mittelalter ſah, 
find die Kreuzzuge. Davon, was dieſe für die europäifche Erpanfion bedeu⸗ 
telen, ift Schon andeutend geiprochen worden; doch blieb ed nicht bei dem Kampfe 
gegen den Iſlam und defien Schwächung und noch viel weniger bei der bloßen 
Befignahme der Heiligen Stätten: weitaus wichtiger war die allgemeine Er⸗ 
weiterung des geiftinen Horizontes; und eben in diefem Punkt machte fi) der 
im Sterne geiftige Charakter diefer Art der Erpanfion geltend. 

Dabei blieben die großen Kreuzzüge nicht die einzige hierher gehörige 
Erſcheinung; neben ihnen gab ed in Deutfchland Kreuzzüge gegen die Slaven, 
in Spanien Kreuzzüge gegen die Mauren. Man fieht aber zugleich, wie ſich 
bei ihnen das urjprüngliche Kreuzzugsmotiv abwandelt. Nicht nach Heiligen 
Stätten trachtete man im Lande des Gegners; aber jo jehr man diefes aus rein: 
egoiftiichen Motiven der Eroberung begehrten mochte, jo veiflocht fich doch hier⸗ 
mit eben der Gedanke einer primitiven Miffion. In der That ift es dann der 
Mijfiongedante geweſen, der im fpäteften Mittelalter und noch mehr feit dem 
ſechzehnten Jahrhundert, dem gelegentlich noch immer die Idee des Kreuzzuges 
nicht fern ftand, den Kreuzzugsgedanken abgelöft hat; und es wäre eine Ichöne- 
Aufgabe, darzuftellen, was die europäifche Expanfion eben den jüngeren Abfichten 
und Erfolgen der Mijfionen zu.danten hat. Bezeichnend ift im Allgemeinen für 
ihren Verlauf, daß auch fie wiederum immer geiftiger und dadurch reiner und 
edler wurden. Wie verband ſich doch ſchon mit der portugiefiichen und faft nod> 
mehr mit der ſpaniſchen Erpanfion faft untrennbar, ja, vielfach beherrſchend, 
der Gedante der Miffion! Die Verwaltung der ſpaniſchen Kolonien war faft 








Europäiſche Erpaniion. 153 


mehr geiftlich als weltlich; wie denn die Kirche der nahezu einzige Kulturträ⸗ 
ger im Bereiche diejer Kolonien war. In Paraguay haben die Sefuiten einen 
eigenen Staat gebildet und an einzelnen Punkten des oftindifchen Beſitzes der 
Portugieſen fehlte nicht viel daran, daß fie es gleich weit gebracht hätten. Aber 
dies portugiefifche und ſpaniſche Chriftentyum war rauh und roh, faft mehr 
Kern als Schale, und die Stonzelfionen, die es dem Faflungvermözen der Ein- 
geborenen machte, bemegien fich auf einer häufig recht tiefen Linie ſeines mittels 
alterliden Charalierd. Schon das Miſſionchriſtenthum der Franzoſen, obwohl 
auch katholiſch, war viel freier; und wie mild find erft die früheiten proteftans 
liſchen Miffionen, unter ihnen freilich vor Allem die befonders hochftehender 
Selten, der Herrnhuter etwa oder der Mähriſchen Brüder, aufgetreten. 

Wie aber aud der Gedanke der chriſtlichen Miſſion gemendet werden modte: 
felbft in feinen früheſten Formen haftet ihm doch das Mort „Gebet hin und 
dehret” und darin ein Moment der Intoleranz (freilich Damit eben auch der Ex⸗ 
ponfion) an. Und fo verfteht fih, wie in den Zeiten friner hauptſächlichften 
und weiteften Wirkfamleit, im jechyehnten und fiebzehnten Jahrhundert, im 
europäischen Mutterland noch keine volle kirchliche und konfeſſionelle Toleranz 
berrfchen Tonnte; weder die Katholiken noch die Broteftanten haben fie gefannt. 
Ader eben aud dieſem Zufammenhang ergab ſich wiederum ein neue religiöfes 
Motiv der Expanſion. Selten, deren Glaube ihnen jedes Verbleiben in der 
Heimath verbot oder wenigſtens verleidete, wurden hinnuägetrieben in alle Weiten 
der Welt und irugen günftigen Falls nicht nur ein veredeltes Chriftenthum, 
fondern auch einen ganzen Ausjchnitt gleichjam der europäifchen Kultur mit ſich; 
denn auf ihren Schiffen befanden fih nit Abenteurer und Deklaffirte oder 
Argehörige nur der agrariihen Schichten oder der Schichten okkupaloriſcher 
Thätigleit, Bergleute, Jäger, Fiſcher, jondern fie bildeten in fich, in weiter fos 
zialer Abftufung ihrer Mitglieder, einen Mikrolosmos ihres Volkes. So find die 
Hugenoiten jchon des jechzehnten Jahrhunderts ausgewandert, ſie freilich meift 
in zu dünnen Mengen und darum ohne Erfolg; jo wanderten feit dem fieben» 
zehnten Jahrhundert Angehörige engliiher Selten aus und an ihre Pfade und 
Siedlungen haben fi die mädtigiten Expanſionen genüpft, welche die Aus» 
breitung des europäifchen Kulturlreiſes aufweiſt. Mit dem Zeitalter des Sub» 
jetivismud aber, mit der Möglichkeit, auf anderem Wege alö dem allein der 
Annahme der chriftlichen Ueberlieferung, zu feſter Weltanſchauung und reiner 
Frömmigkeit zu gelangen, fanden fi) auch andere, religiöäsethiiche oder auch 
nur noch eihifche Motive der Erpanfion ein, jo das ter Stlauenemanzipation 
und dad der ethilchen und intelletuellen, auch hygieniſchen Vervollkommnung 
der niederen Raſſen. Sie ftehen im engen Zujammenhang mit dem ganzen 
neuen Geelenleben des Subjeltivigmus. 

Leipyig, u . Profeſſor Dr. Karl Lampredt. 


154 Die Zutunft. 


Die Gefchichte vom Brunnen und vom Wieſel. 


or Wlters lebte eine Dirne, fein und wohlgeftaltet an Leib und ihr Ange» 

ſicht leuchtete von Schönheit. Sie war im Haus ihrer Verwandten aufge» 
wachſen unb mwurbe wie ein eigenes Kind gehalten. Ihre Mutter, bie Gott mit: 
großer Bahl von Jahren gejegnet Hatte, lebte bei ihrem Sohn Ephron. Der war 
ein Burpurhändler in der Stadt Alla. Die Dirme aber hieß Mehetabel. 

Und es geſchah, daß Mehetabel fi jehnte unb ihr Herz verlangte nad 
ihrer betagten Mutter. Da wuſch und falbte fie ihren Leib und zog ihr Feierkleid 
an, aus feinftem Byfſus gewebt, und ſchmückte fi mit Goid und Berlen, daß fie 
in das Haus ihres Bruders gehe und ihre Mutter fie jegne. Die Stabt Alta aber 
war eine Tagereife von dem Fleden entfernt, in bem Mehetabel bei ihren Ver⸗ 
wanbten wohnte. Dieſe waren bejorgt um bie Dirne und wollten fie nicht ohne 
einen Knecht ziehen lafien, auf daß ex fie geleite und Speife und Trank mit ſich 
nehme. Mebetabel aber war von ftarlem Muthe und beſchloß, allein zu gehen, und 
verfah fich mit Wegzehrung. Sie brach bei ber Morgenröthe auf und der Weg 
führte auf niebriger Yelfenküfte am ruhenden Meer entlang, das von der Farbe bes 
Himmels wibderglänzte. Und die Dirne trant den frifchen Hauch des Meeres, warb 
guter Dinge und dankte ihrem Schöpfer mit einfältigem Herzen für ben frühen Tag. 

Aber der Mittag fam und die Sonne ſchien heiß auf bie Dünen und über 
dem blaumogenben Deere brütete weißer Dunft. Da wurde Mebetabel ber Weg 
ſchwer. Die Füße fchmerzten von dem glühenden Sande; fie öffnete bas Kleid 
über ihrer Bruft, Doch empfing fie keine Kühlung und ihre Zunge war verbortt. 
Da ſah fie in der Ferne einen Brunnen und neben ihm ein paar Feigenbäume. 

Als fie den Brunnen erreicht Hatte und der Schatten des Laubbaches fie 
umfing, fiel fie auf ihre Kaie, ruhte eine Weile, erquidte fi an ber mitgenommenen 
Speife und wollte ihren Durft aus dem Brunnen ftillen. Doch fiehe: ber Brunnen 
war jehr alt, auf feinen Umfaflungmauern war Moos und nur ein Seil Bing her⸗ 
unter. Der Eimer aber, der zum Schöpfen diente, war von ben Holzwürmern zer- 
ſtört. Mehetabel neigie fich über den Hand des Brunnens und fah in ber Tiefe 
das Waſſer. Dicht Über dem Waffer führte ringsum ein Weg von Stein, ba man 
fich hinabbeugen und ſchöpfen Tonnte. 

Die Dirne nahm die goldenen Spangen bon ihren Füßen, ſchürzte ihr Kleid 
bis an den Gürtel, aljo daß fie das Geil mit ben Knien umklammern modte, und 
ließ fi in den Brunnen hinab. Da fie aber aus ihren Händen getrunten hatte 
und an dem Geil wieber Hinaufwollte, gebrach ihr die Kraft und ihres Herzens 
Angft warb groß. Ein Schreden kam über fie. Sie fah fich gefangen und der Tod 
{dien ihr gewiß. Und fie weinte und Hagte ſehr und ihre Stimme drang aus dem 
Brunnen als ein Geichrei des Jammers. 

Es begab ficy aber, daß des jelbigen Weges ein Jüngling z0g; und ba er 
die Stimme des Klagend vernahm, hemmte er jeine Schritte und trat an die Um⸗ 
faflung des Brunnens. Er beugte fich über das Gemäuer und rief: „Wer bift Du, 
deflen Stimme Bier Hagt? Bift Du ein Menſch oder ein Böfer Geift? 

Mebetabel richtete fich auf und ſprach mit weinendem Munde: „Erreite mich?! 
Ich bin aus Menichenweibes Schoß. Ich ließ mich in den Brunnen hinab, meinen 
Durſt zu löfchen, und finde nun nicht Kraft, wieder binaufzufteigen.“ 





Die Geihiäte vom Brunnen und vom Wieſel. 155- 


Als der Züngling bie liebliche Rede eines Weibes hörte, erzitterte ihm 
das Herz und er ſprach: Ich will Dich erzeiten, jo Du mir ſchwörſt, daß Du 
eine Jungfrau bifl. Biſt Du aber cine Berftoßene oder eine Buhlerin, jo will ich 
Dich nicht erreiten.” 

Und Mebeiabel antwortete ihm: „Niemand lag mir zur Seite noch bat mich 
je eines Mannes Hand berührt.” | 

Des Junglings Herz freute fih und er fprady von Neuem: „Schwöre mir, 
daß Du fo lieblich bift wie die Stimme, bie zu mir dringt.” 

Mebetabel aber entgegnete: „Wie Tann ich Dir ſchwören, daß ich von lieb» 
licher Geftalt Bin? Der Keujchheit darf ih mich rühmen, aber bie Schönheit bes 
Leibes iR Gottes Geſchenk. Yhn frage darum, o Fremdling!“ 

Da erfannte der ZJlngling aus ihren Worten ihren Sinn und Herz und 
jeine Begierde erwachte, ihren Liebreiz mit feinen Augen zu ſchauen. Ex ſprach: 
„Shwöre mir, daß Du mein Weib werden wilft, jo will ich Dich heraufziehen.“ 

Mehetabel rief: „Ich ſchwöre es Dir, denn Du erretteit mich vom Tobe.” 

Und fie hielt fi am Seile und der Züngling zog fie aus dem Brunnen. Sie’ 
hatte aber ihr Angeficht mit dem Schleier verhült und ihr Kleid war don dem 
Moder und ben Flechten des Brunnens beſchmutzt. Und ihre Hände waren roth 
und gefchiwollen von der Härte des Seiles. Darum ſprach fie zu bem Jüngling: 
„Bebor ich Dein Weib werbe und Du mein Angeficht ſchauſt, laß mich meine Hände: 
fühlen und mein Kleid reinigen.“ 

Der Züngling fagte: „Thu jo. Ich will meine Augen abwenden, wie es ſich 
geziemt.“ Und er jchöpfte für fie in einer Schale Waſſer aus dem Brunnen. 

Darauf verbarg fi die Dirne Hinter den Feigenblättern und legte ihr Un⸗ 
texfleid und ben Mantel ab, damit fie ſich einige. 

Die Augen des Jünglings aber wurden müde, auf das Meer zu ſchauen 
und auf deſſen Blinken und der Drang, ſich umzuwenden, ward mächtig in ihm. 
Und er ftaunte, ba er zwifchen den Tyeigenbäumen die Pracht ihres Leibe ge⸗ 
wahrte, bie reinem Silber gli, daß er zu fich felber ſprach: „Wahrlich, dieſes 
Mädchen Hat mir Bott gefandt!” Und er fchritt hinab an das Meer, bis daß die 
Brandung ihm die Füße nebte, ımd breitete feine Urme aus zu inbrünftigem Gebet. 
Und wie ihm noch fein Herz voll war der Gilte feines Gottes, fiehe: da legte fich 
janft ein Arm auf jeine Schulter und die liebliche Stimme ber Dirne ſprach bes 
mithigen Sinnes: „Hier-bin ich.” | 

Der Jüngling wandte fi und ftredte feine Hände aus nach ihr, zug ihr 
Haupt an jih und ſprach: „Gott hat Di mir zum Geſchenke gemacht.” Und fie 
nannte ihm Kamen und Herkunft und ſchwor, ihres Verjprechens eingebent: „So, 
wie ich vor Dir ftehe, will ich Dein Weib werden und kein Arges ift an mir. Sage 
aber auh Du mir, wer Tu bift und woher Du ftammift.“ 

„Ich bin Eleazar, der Sohn Benhanang, und bin ein Priefter Gottes aus 
ber Stadt Jefat. Nichts hindert mich, Dich zum Weibe zu nehmen.” 

Da löfte Mehetabel die purpurnen Riemen ihrer Sandalen und ſprach: „Ich 
bin Teine Magd und will Dir gehorjam fein.“ Und fie legten ihre Hände zufame 
men und verfchwuren fich Beide. Weil aber Niemanb weit und breit war, ber fie 
hören Konnte, fo fragte die Dirne den Züngling: „Wer aber fol Zeuge zwiſchen 
ung jein?" 


156 | Die Zukunft. 


An biefem Augenblide geſchah es, daß ein Wiefel vorüberlief, das Nahrung 
fuchen wollte. Und ber Briefter ſprach zu Mebetabel: „Bei dem allmädjtigen Gott, 
diefer Brunnen, aus bem ich Dich erretiet Habe, und dieſes Wiefel, fie follen uns 
„Beugen fein!“ 

Die Dirne antwortete: Es jet alfo, mein Gebieter.“ 

Dana nahm ihr Elenzar vom Angeficht den Schleier, und als ber Glanz 
ihrer Augen und Die Holdfeligleit ihres Mundes ihn traf, verneigte er fi vor 
ihr; dann Füßte er fie und fprach fröhlichen Herzens: „Dein Weib bift Du!” Und 
trug fie in ben Schatten der Feigenbäume. Und breitete feinen Mantel aus unb 
bedte den Eaum feines Kleides über ihr Haupt. Und Hielt fie in feinen Armen 
‚und lag bei ihr nad Weiſe der Bäter, auf daß fie Eins würden und Gott ihnen 
Samen erwecke. 

Und ſtanden auf. Und der junge Vriefler geleitete Mehetabel ein Stüd noch 
ihre Weges und zog bann feine eigene Straße. 

... Als Mehetabel in das Haus ihres Bruders kam, waren Alle, Die fie ane 
faben, vol hoher fyreude und wurden froh ihrer Zuft, denn das Glüd ihres Her- 
‚zens war in ihren Augen und ftrömte wie ber Geruch bes Salböls von ihren 
Lippen. Daß fie aber das Weib bes jungen Briefters gemorben war, verichwieg 
fie und offenbarte e8 quch ihrer Mutter nicht. 

Ihre große Schönheit aber wurde ruchbar unter ben Leuten, und wer ihr 
begegnete in dem Schmud ihrer Jugend und in bem Föftlichen leid ihrer Scham 
and Zucht, Der rühmte fie. Bon ihrer Schönheit erfuhr auch Amaſa, ein reicher 
und angefehener Züngling. Und er ſandte Brautwerber in das Haus bes Burpur- 
händlers, der fie freundlich aufnahm und, wie e8 Brauch war, bewirißete. Doch 
Mebetabel verihmähte Amaſas Werbung. Darüber verwunderten ſich ihre Mutter 
und ihr Bruder und Alle, die fie kannten, gar fehr und ſchaliten fie eine thörichte 
Dirne und nahmen Nergerniß an ihr. 

Und als fund ward, daß fie dem Amaſa fich geweigert Hatte, da kamen 
"Andere und meinten, e8 würde ihnen beffer ergehen, unb Lleideten ſich in koſtbare 
Gewänder und prieien ihr Hab und But und fandten ihr Geſchenke. Aber fie Alle 
wies Mehetabel von fich und ließ Die Gefchenfe wieder in das Haus der Freier bringen. 

Da wurde ihr Bruder zornig, benn Die ihm freunde gewefen waren, wurden 
nun feine Feinde, dba fie vermeinten, Daß er an feiner Schwefter Beginnen Theil 
Babe. Und er ſprach zu ihr: „Du Hochmüthige, die Du uns Gram unb Kummer 
bereiteft, entfage Deinem trogigen Sinn oder ich will Dich bemüthigen und Dich 
dem Beitler vermählen, der an der Thür unferes Haujes Almojen heiſcht.“ 

Mebetabel jah ihn an und erwiderte: „Was drobft Du mir? Mein Leben 
ift nicht in Deiner Hand.“ Und fie verhillte ihr Haupt unb weinte. 

Es waren aber vier Monde vergangen und das junge Weib ſprach zu fich: 
„sh wähne wohl, einen Traum geträumt zu Haben, denn es kommt nicht mein 
Gatte, daß er mid in fein Haus hole, noch bin ich gejegneten Leibes und kein 
Kindlein regt fi) unter meinem Herzen.“ 

Eleaſar Hatte ihr beim Abſchied einen Starabäus in goldener Kapſel ge⸗ 
geben. Den trug WMehetabel verborgen zwiidhen ihren Bıüften. Und fo oft fie 
ihn anſah und ihn küßte, Iprach fie mit Weinen: „Hat meinen Batten ein wilbes 
Ihier zerriflen oder ein Räuber ihn exichlagen oder hat ihn ſchwere Krankheit bes 
fallen? Doc Gott ift mit ihm und ich will warten, daß er komme.“ 





Die Geſchichte vom Brunnen und vom Wieſel. 157 


Ihr Bruder aber war ein harter Mann, und als er von Neuem fie brängte 
unb peinigte unb mit Gewalt fie einem ihrer Freier zum Weihe geben wollte, ba 
weinte unb fchrie fie und ſchor fi Das Haar, daß fie fich entftelle, ſaß in Aſche 
und vernadläffigte ihre leibliche Plege. Unb dba ex nicht von ihr abließ mit 
Scelten und Schmählen, war ihres Herzens Angft überaus groß, daß fie fchrie 
wie ein Thier der Wildniß. Und ftellte fich gleich einer Beſeſſenen, zerkratzte ihr 
Geſicht und zerriß ihre Kleider, alſo daß fi) Alle von ihr hielten und bei ſich 
ſprachen: „Ein böjer Geiſt ift in fie gefahren. Der Herr bat ihren Hochmuth beftraft.” 

Mehetabel aber rief zu Gott: „Wende Dein Ungefiht zu mir und richte 
Deine Augen auf meinen Jammer, dem Du bift ein barmberziger Gott!” Und 
verzagte in all den Tagen bes Elends nimmer. 

Eleafar aber war feine Straße gezogen und kam am anderen Abend gen 
Ufu. Und hielt Eihlehr bei einem Freunde und wurde’ froh feiner Gaftfreundfchaft. 
Es war am Tage des Neumonds. Yadeln brannten auf ben Söllern 'und über 
Die Geländer mit ihren Kränzen lehnten nach fröhlicdem Mahl Männer und Weiber 
in Feſtkleidern. Auf dem Markt waren koſtbare babylonifche Teppiche ausgebreitet. 
Und die Jumgfrauen ber Stadt tanzten zur Muſik der Flöten den Heiligen Reigen. 

Der Priefter aber gewahrte unter ihnen ein Mäbchen von herrlichem Abel. 
Die Flechten ihres Haupthaares waren mit zierlichen Binden umwunden und dufteten 
von koſtlichen Delen. Und ba fie tanzte und ihre wogenden Brüfte bog und ihre 
Lippen voll Jauchzens waren, ftodte Eleafar der Sinn ob ber fo großen Schön- 
heit ihres Leibes. Und enibrannte zu ihr, denn er war ſchwachen Herzens, vergaß 
Mehetabel, jein Weib, und ging zu ber fhönen Tänzerin. Er reichte ihr eine 
Scale mit rothem Wein und Gewürzen, baß fie ihre Lippen netzte, und ſprach 
mit ihr. Und erfuhr, daß fie die Tochter bes reichen Kaufmannes Harim war 
und daß fie Yofabeath hieß. 

Da auch er ein ſchöner und flattlicher Zlingling war, neigie fi) ihm bie 
Dirne zu und gewann ihn lieb. Und ber Priefter blieb bei feinem freunde, bis der 
Bollmond war. Da hielt er um Joſabeath an und der Tag ihrer Hochzeit ward be» 
Fimmt. Der Kaufmann lud viele Bäfte zum Hochzeitmahl, daß fein Haus von Mufit 
uud Geſang und Yauchzen widerballte, und bewirthete fie fieben Tage; und ben 
Armen gab er viel Almofen und Kleider. Nach diefer Zeit Lehrte ber Briefter 
wit Joſabeath zuräd in die Stabt feiner Väter, wohnte dajelhft unb lehrte das 
ort Gottes. Und bas Boll hing an ihm. 

Nach drei Monden fühlte fi) Joſabeath ſchwanger, unb als ihre Zeit ger 
kommen war, gebar fie einen Sobn, ein rothhaariges Knäblein. Der wuchs heran 
zu der Eltern Luft und war gar ein feines Kind. Da aber Joſabeath morgens 
einmal bor ihrem Haufe faß und das Knäblein zu ihren Füßen fpielte, fiehe: da 
kam ein Wieſel, biß es in Die Hand, und che Nacht warb, ſtarb e8 einen harten Tod. 
Und Joſabeath flug fi an bie Bruft und ihre Klage durchſchallte das Haus und 
Niemand konnte fie tröften. 

Eleajar, ber Priefter, aber erſchrak jehr, denn feine Augen wurden ihm auf⸗ 
geiban und feine Miſſethat fiel Aber ihn wie Feuerflammen. Er weinte vor Gott 
bitterlich und flehte zu ihm, feine fchwere Sünde ihm zu vergeben. Bott aber 
Batte abgethan feine Barmberzigleit und hüllte fich in den Mantel feines Zornes, 
um ben Knecht zum zweiten Mal zu züchtigen und fein Blut von ihm zu fordern. 

12 


158 - Die Zukunſt. 


Sofabeath wurde abermals fchwanger, und als ihre Zeit gekommen war, 
gebar fie wieder einen Sohn, ein rothhaariges Rnäblein. Und er wuchs heran, 
batte fröhliche Augen und war ein Kind von eiligem Weſen, daß feine Mutter 
Noth Hatte, ihn vor Schaden und Gefahr zu behüten. Und da e8 eines Tages 
geihah, daß der Knabe auf bem Hofe ben Ball ſchlug mit feinen Geſpielen und 
im Lauf und Sprung nicht des Brunnens achtete, der in ber Mitte des Hofes 
war, ftärzte ex über das fchmale Bemäuer, fiel in die Tiefe hinab unb ertrant. 

Als Joſabeath Dies erfuhr, rang fie die Hände über ihrem Haupt und ſchrie 
laut auf und Hagte fich felbft und ihren Gatten hart an, daß ihre Kinder eines 
unnatürlichen Todes geftorben feien, und ſprach: „Wahrlich, Dies iſt Gottes Hand! 
Und kann nicht ohne die Schuld unſerer Seelen fein.” Und ba fie ſah, daß Eleaſar 
erblich und Thränen aus feinen Augen ftürzten, legte jie mit Zlehen die Hände 
auf ihn und rief: „In Deinem Antlig jehe ich Deine Schuld! Erzäßle mir Deine 
Thaten und verjchweige mir nicht, warum Gott uns aljo zu ſtrafen kommt und 
uns Jammer über Jammer zu koſten giebt.” 

Da bekannte ihr Elenfar Alles. Sie zerriß ihr Keib über der Bruſt und 
löfte ihre geflochtenen Haare; und zur felben Stunde wandte fie fih von ihm. 

Der Prieſter that Buße im Staub, mit wundem Herzen. Dann nahm er 
fein Neifelleid und den Stab und ging in die Stadt, wo Mehetabel, fein erftes 
Weib, bei ihrem Bruder wohnte. Und er vernahm, daß ſie irren @eiftes fei. Des 
entfegte fich feine Seele über die Maßen. 

Er ging aber zu Mehetabel und exblidte fie in ihrer großen Roth und zer- 
knirſchte ſich vor Scham und Neue. Und warf fi} nieder neben ihr und ſchrie: 
„Ich bin Eleafar, der Briefler, Dein Gatte!“ 

Aber Mehetabel ftieß ihn von fi und Fehrte ihr Angelicht zu der Wanb. 

Da hob er von Neuem feine Stimme und rief: „Ich bin Eleafar, ber 
Priefter, Dein Gatte!“ Und erzählte ihr mit ftammelnden Lippen, wie ex ſich 
ſchwer verfünbigt Hatte und ein anderes Weib gefreit, das ihm zwei Kinder ge» 
boren, aber ba8 eine hatte ein Wiefel gebiflen, daß es ftarb, und das andere war 
in den Brunnen gefallen und ertrunfen. 

Und als aus Mehetabel! Munde immer noch kein Wort der Rebe kam, 
ftredte er feine Hand aus und fie ſah den Fingerreif glänzen, den fie beim Ab» 
ſchied ihm gegeben hatte. 

Da wußte fie gewiß in ihrem Herzen, daß es Eleajar, ihr Gatte, war, unb 
Gewalt des Lebens kam über fie. Ste erhob ihr Angeficht und ſprach: „Warum 
weineft Du? Du bift es, ber meine Seele aus dem Tode gerifien bat. Stehe auf 
und laß uns fröhlich fein!” 

Als aber ihre Mutter und ihr Bruder und Alle, bie fie kannten, ihre Ge⸗ 
ſchichte erfahren hatten, da fam ein Staunen über fie und fie priefen laut bie 
wunderbare Treue bed Weibes. 

Mebetabel folgte ihrem Gatten in jein Haus und bie Schönheit ihres Leibes 
Tehrte wie Blumen des Frühlings zurüd. In der erften Nacht, da fie Elenfar an 
fidy 30g, empfing fie von ihm und nad) neun Monden gab fie einem Knaben das 
Xeben. Den hießen fie Barnabas, ben Sohn des Troftes. 


Tresden. Ernſt Altkirch. 
unge 


Selbftanzeigen. 159 


Selbitanzeigen. 


Die Idee der gerechten Vergeltung in ihrem Widerſpruch mit der Moral. 
Um, Kerler. 60 Pfennige. 

Im Segenfag zu einer pſychologiſtiſchen Behandlungweiſe fuche ich nach ob⸗ 
jektiver Metbobe die Stellung ber Strafe im Geiſtesleben zu beflimmen, wobei fich 
die gerechte Vergeltung, abjolut genommen, al3 ein durchaus moralwidriges Brinzip 
berausftellt, das mit ber „jittlihen Weltordnung* oder ber Gerechtigfeit gar nichts 
zu thun bat. Es gelang mir, Die Frage ber gerechten Vergeltung von ber Stellung 
zur Willensfreiheit ganz unabhängig zu maden, was von befonderem Werth fein 
bärfte, da die Willensfreiheit gerade in unferer Zeit zu ben umftrittenften (und 
noch lange nicht exledigten) Problemen gehört. In Form eines Referates habe 
ih zur Illuſtrirung und Belebung eine kurze Darkkellung der modernen kriminal⸗ 
politifchen VBeftrebungen mit eingeflochten, jo daß der Leſer auch über alles Wifjens- 
werthe aus der Strafrechtsreform Auskunft erbält. 

Ulm. . Dietrich Heinrich Kerler. 


Der Komoediantenroman. Bon Paul Scarron. Mit einer Einleitung von 
Franz Blei. Georg Müller in München. 

Baul Scarron war ein kleiner Abbe, der öfter ind Wirthshaus ging als 
in die Meſſe und lieber ben Iufiigen Mäbchen feiner Kumpanei Küffe gab als ben 
frommen Damen des Adels die Kommunion. Dan Tann fogar jagen: Der zier- 
lie Scarson war in jungen Jahren ein Trunfenbold, Mädchenläufer, Spieler 
und Bambocheur gewejen, der den Degen loder in ber Scheide hatte. (Man ftach 
fi Damals wegen einer Bagatelle ab.) Es wear ja auch nur das Kleine Kollet, 
das Scarron nahm, und dies verpflichtete nicht zu einem indlich«tugendhaften Lebens⸗ 
wandel, fondern zur Eleganz, zu Buber auf den Wangen, zu Schuhen mit goldenen 
Schnallen. Der Abbe trägt (und trug bis zur Revolution) den Degen wie ein 
Krieger und bie Spigen wie ein Hoflavalier; fo hat ex Ausfehen und Bortheile 
dreier Stänbe und alles Glück bei ben Frauen, die VBeichte und Liebe, Frömmig⸗ 
feit und Ausichweifung in Einem zu haben meinten, hatten fie einen Chypre duftenden 
Abbe im Bett, wie die Marion de l'Orme den Abbe Scarron. Dem gefiel dieſes 
eben um jo mebr, als er keine frohe Kindheit gehabt Hatte; und er brachte viele 
epikuriſche Talente dafür mit, deren Entfaltung die Zeit günftig war: in ber :rfien 
Hälfte des fiebenzebnien Jahrhunderts hingen noch Sonnenfäben der Renaiffance in 
ber Luft, beſonders der franzöſiſchen. Ein Talent nur befaß Scarron nicht: im 
Spiel zu gewinnen. Er verfpielte immer bis aufs Hemd in der Geſellſchaft von 
Sendery, Triftan I’Hermite, Rotrou, — Dichter und Spieler und Säufer alle Drei. 

Da traf ihn dad Schickſal. Seine Stiefmutter brachte mit ihren Kindern 
die häuslichen Berhältniffe in Die von ihr gewünfchte Ordnung, überzeugte Ecarrons 
Bater, ber die Dichter liebte und fo auch feinen Sohn, dat es mit Dem fo nicht 
weitergehe, daß ex vielmehr eine folibe Präbende brauche und zu einem Biſchof 
mäfje. Die Robe fam Scarron zu früh über fein Heines Kollet. Irgendein fettes 
Kanonikat wänfchte ex fich ja, für bas Alter; aber fo weit war er mit feinen drei⸗ 
undzwanzig Jahren noch lange nicht, als er bem Zwang und ber Roth doch nach⸗ 

12° 


160 Die Zukunft. 


geben mußte. Charles II be Peaumanoir, Biſchof von Mans, erflärte fich bereit, 
den jungen Ubb& als Gehilfen (pour domestique) anzunehmen, und verhieß ihm 
für fpäter eine Pfründe. Als nah einer letzten durchzechten Nacht Scarron bie 
Poſtkutſche erfleiterte, die ihn nad) Mans bringen follte, tröftete ihn die Berficherung 
der ihn bis an den Wagen geleitenden Genoſſen, daß man in ber Brovinz Maine 
gut efje, wenig über den Summer, Paris verlaffen zu müffen, die Freunde und 
die rauen, und bie Nächte mit Beiden. Und feine Nteifegefellichaft war ſchon ganz 
erbärmliche Brovinz: alte afthmatifche Landpfarrer, Kaufleute, ein paar bide Weiber, 
Landjunker in dunkelfarbigen QTuchröden. Aber er fand in feinem Biſchof einen 
geiftvollen Herrn, ber einen vorzüglichen Tiſch führte, und balb Geſellſchaft, bie 
ihm bebagte, bald auch die Gelegenheiten zu der feiner Natur fo nothigen Libertinage. 
Das half ihm über die noch weiter beftebenbe Melancholie feines Exils hinweg. 
Und ein Anberes noch: der Roman comique, ben er bier zum Theil erlebte, zum 
anderen imaginirte. In feinem Bud, das er nach feiner Nüdtehr von Mans erft 
ſchrieb, fteht die Rancune gegen bite pedantiſche und langweilige Brovinzgefellichaft, 
fein Zorn auf die gens d'église und feine heimliche Liebe für das fahrende Bott 
ber Romoebianten, deren Leben damals, wie Bruscambille fagte, sans souci et 
quelques fois sans six sous war, was es auch wohl geblieben ift bis auf Heute. 
Ber Werth darauf legt, wird im Romvebiantenroman bas einzig vorhandene unb 
befte Dokument ber Provinzlitten und Gewohnheiten ber Schaufpielernomaben bes 
fiebenzehnten Jahrhunderts finden. Es ift aber auch das legte Buch gallifcher Art, 
wenn jo zu bezeichnen erlaubt if, was im Gargantua Rabelais' feinen ſtärkſten 
Ausdrud, im Bantagruel fein Symbol fand. Schon zeigt ja Scarrons Roman bie 
exften Anzeichen der franzöftfchen Befittung, in einem die Derbheit entfchuldigenben 
Vort, in einem preziöfen Euphuismus ber Gefühle bei den eingefchalteten Ropellen. 
Ganz naiv, wie bei dem Meiſter, tft die Ausgelaffenheit nicht mehr. Scarrons 
Leben fällt in die Zeit der Wandlung; er erlebte noch bie Diktatur bes Hofgeichmades 
unter dem bierzehnten Ludwig. Er bat feinen Roman nicht vollendet; vielleicht, 
weil ex den natürlichen Ton dafltr nicht mehr fand, vielleicht, weil ex ihn für un« 
zeitgemäß hielt, vielleicht auch, weil er dem Diorama feines Erlebten feine roman⸗ 
Baften Schlüfle erfinden wollte. Denn feine Figuren finb nad bem Leben, das 
teine Fabel dat. Ein Scarronforicher bat fi die Mühe nicht verdrießen laſſen, 
Die wahren Berfonen bes Komoebiantenzomanes berauszubringen, bie bem Schöpfer 
zu Modell fanden. Und die Literaturgeichichte hat Scarrons Vorbilder feftgeftellt 
in den fpaniihen Romanen, dem Gusman b’Alfaradhe, dem Lazarille be Tormes. 
In den Sinn aber, wie wir es verſtehen, war die franzdfiiche Literatur nie eine 
originale. Das Wort Driginal if im Franzöfiſchen faft eine Veleibigung. Aber 
die fremde Anregung gab Meifterwerlen das Leben. Man blättere in ben gleiche 
zeitigen Romanen, nein, man höre nur die Titel: Der Große Cyrus, Ibrahim Bafla, 
— und Scarrons Originalität wirb ganz beutlich werben. 

Richt nur ben Roman brachte Scarron aus ber Provinz zurüd, fondern 
auch die Gicht (ober was es fonft geweien fein mag, das ihn hinfort zum Krüppel 
machte, ber feinen Nabel nicht fehen, kein Glied fonft als bie Singer bewegen 
fonnte). Wie er dazu kam, erzählen nur Anekdoten. Aber ber arme Cul-de-jatte 
verlor bie Laune nicht; wenn er auch manchmal nachdenklich wurde, fo war es 
nur für eine Meine Weile; denn Marion war noch immer eine fchöne Frau und 


Selbftanzeigen. 161 


die jüngere Ninon war e8 erfi recht und Beide waren feine Freundinnen unter 
vielen. In feinem halbdamaftenen Zimmer brauchte er auf Befuche nicht zu warten, 
der Doyen des malades de France, wie er fi in einem böfen Bamphlet gegen 
bie Samilie feiner Stiefmutter nannte und in den vielen Gedichten, in benen er 
um Benfionen betitelt, einem Brauch ber Zeit mehr folgend als der Noth (ſchmach⸗ 
vol if diefer Brauch höchſtens für die Ungebettelten). Es ging Scarron nidt 
ſchlecht, er brauchte nur mehr, als ihm feine Pfrlinde und die Komoedien und 
burlesken Gedichte, Die er ſchrieb, eintrugen. 

Eines Tages kam zu dem Krüppel ein Mädchen, beftellte weinend Grüße 
von irgendwern, weinend, da ed über feinen gelben KRattunrod längft hinausge⸗ 
wachſen war und fich darob ſchämte. Briefe diejes Mädchens an eine Freundin las 
Scarron danach; Briefe, Die ihn rührten. Er fah die Kleine wieder und beichloß, 
fie zu beirathen. Die rau, bei der das Mäbchen wie eine Magd war, half dazu, 
aus Hat auf das hugenotiſche Kind, dem fie alles Böſe wänjchte und nichts 
Schlimmeres finden Tonnte als diefen gottlofen Krüppel. Scarron verkaufte feine 
Bräbende um breitaufend Pfund und gehörte nicht mebr ber Kirche. Und heirathete 
das Mädchen, Françoiſe d’Aubigne, berey Großvater der berfimte Verfaſſer bes 
Divorce satirique, deren Bater ein Falſchmunzer und Mörber war und bie unter 
dem Namen der Madame de Maintenon Königin von Frankreich wurde. Dies 
aber ift Das Zweite, was Scarrons Namen populär erbielt. 

Scarzon wollte eine Pflegerin, die [hön anzufchauen war. Wohl dachte er vor 
ber Ebeichließung an mehr. Machte phantaftiiche Pläne, nach den Antillen zu 
gehen, wo er, wie man ihm fagte, wieder gejund würbe. Er blieb in Paris und 
blieb das unglüdliche 8, das ex war. Die junge Frau trat ihre Krankenwärter⸗ 
Relle in der Hochzeitnacht an. Was fie veranlaßt Bat, Scarron zu heirathen, wird 
dürftig genug gewefen fein: eine Verſorgung wollte die Vielgehetzte; nach Amerika, 
wo fie geboren war, follte fie zurüid, was fie nicht wollte. Der Charakter diejer 
Frau, bie, um bie Weiße ihrer Haut zu erhalten, fich die Ader fchlagen ließ, bie 
mit Rinon unter einer Dede lag, das Weib eines armen Dichters war und bann 
einen König und ein Reich beberrichte, das Edit von Rantes, bie Dragonnaben 
in ben Gevennen vorbereitete, dieſe Frau wirb nicht ganz beutlicy zu machen fein; 
fie ſcheint jebesmal eine Undere. Wäre Francoife d'Aubigné nach Amerika zurück⸗ 
gekehrt, jo hätte Louis XIV. weiter in Ballets getanzt, wie Karl. Stuart feinen 
Kopf behalten hätte, wäre Erommell nad Jamaika gefahren, wie er wollte und nicht 
fonnte, da ihm die Schuhe fehlten. , 

„Was bringt Ihre Frau in bie Ehe mit?” fragte der Notar Herrn Scarron. 
Der fagte: „Zwei große, fehr eigenfinnige Augen, eine prachtvolle Büfte, ein paar 
ſchöne Hände und viel Geiſt.“ Damit (und es war viel) mußte fidy der Strüppel 
begnügen; mit bem Anblid und Hören biefer ſchönen Dinge „Du follteft ein Kind 
von ihr haben,” fagte ihm fein Freund Moͤnage. Scarron wandte fih an feinen 
Kammerbiener: „Mangin, würbeft Du gern meiner Yran ein Kind machen, wenn 
ich e8 befehle?” „Wenn Sie e8 wünjchen, gnäbiger Herr, und mit Gottes Hilfe, ge» 
wiß.“ Doch er liebte jeine Frau zärtlich und feine einzige Sorge galt ihrer Zu⸗ 
huft für den Fall feined Todes... Er ftarb im Jahr 1660 inmitten feiner wei⸗ 
nenben Leute: Ihr werbet nie jo über mich weinen, wie Ihr über mich gelacht habt.” 

Münden. | Franz Blei. 
$ 


162 Die Zukunft. 


Börfenherbft. 


in Glülck, daß wenigſtens die Ballons fleigen“: jo jagten die Börfinner, als 

in ber zweiten Oktoberwoche bie Kurſe um die IWette fielen. Dabei hatte 
die Woche gut angefangen. Nach den Trauertagen, bie kurz vorher bie Seelen aufe 
waͤrts blidender Spekulanten bis in die tiefften Tiefen erjchättert Hatten, wärmte 
nun ein verfpäteter indian summer bie verängfteten Gemüther und Iodte zu neuen 
Thaten. Die Freude dauerte kaum drei Tage. Dann z0g wieder Striegsgewölt her⸗ 
auf. Sicheres erfuhr man nicht; der Bericht von heute wiberjpracd; dem von geftern. 
Bald follte Bulgarien, bald Serbien rüften; am nädften Morgen erllangen wieder 
Friebensichalmeien. Für die Börſe war im Grund nur die Frage wichtig, ob es 
noch tiefer bergab gehe. Die Thatſache, daß, zum Beiſpiel, die Beſitzer Deutſcher 
Reichsanleihe und Preußiicher Konfols den Ballanlärm mit einem Berluft von 
faft 150 Millionen Markt bezahlt hatten, ermutbigte nicht gerade zu kühner Hoff- 
nung. Die Rursverlufte find zum Theil natürlich auf bem Papier geblieben; zu 
Maffenverfäufen deuticher Renten iſts nicht gelommen. Aber auch bie Einzelver- 
läufe, ohne die der Kurs ja nicht gefallen wäre, zeigen abermals, wie gering die 
Widerſtandsfähigkeit unferer Standarbpapiere if. Englands Konfols und Frank⸗ 
reichs Rente erging es freilich nicht beſſer als den beutjchen Anleihen; die beiden 
Ausländer pflegen fi aber von ſolchen Anfällen raſcher zu erholen. 

Bar das Balkanſpektakel wirklich der Grund der Banit? Ich zweifle. Auch 
ohne Ferdinand und Aehrenthal wäre es wahricheinlich rückwärts gegangen. Die 
Börſen find innerlich nicht gefeftigt. In Berlin nüßt eine kleine Baiſſepartei jede 
Gelegenheit aus und bupirt durch flinfe Blanfoverfäufe bie Tagesipekulation, Die 
ahnunglos in die von den Contremineuren angelegten Laufgräben binabfleitert. 
Richt immer gelingtS ber Gegenpartei jo prompt, die Baiſſiers aus ihren Stel- 
lungen zu vertreiben wie in dem (bier geſchilderten) Kampf um ben Markt der 
Sciffahrtaftien. Diefe Erinnerung lehrt übrigens, wie raſch die Wetterfahne auf 
bem Börjenhaus fih dreht: Heute würbe wohl Niemand ſich beeilen, Padetfahrt- 
aktien der Sontremine zu entreißen. Ballin bat feit dem einundzwanzigften Juni 
manche Illuſion zerftört. Vielleicht Hätte er wieder vom überheizten Dampffeflel 
geiprochen, wenn ihm nicht Die Sorge zu tief im eignen Haus niftete. Da verliert 
man die Luſt, ih um neue Bonmots für die Börfe zu bemühen. Der könnte es 
nit Schaden, wenn fie fi einmal mit ihrer Verdauung beicdhäftigte; denn es fieht 
fo aus, als Habe fie große Poften unverbauter Engagements im Magen. Der 
Kursfturz auf dem londoner Minenmarkt war eine Warnung, die nicht nur für 
die Stod Exchange galt. Auf die Ziffern der Soldausbeute, die in ben erften neun 
Monaten biejes Jahres faft jchon die Höhe der Geſammtproduktion bes Jahres 
1907 erxeicht Hatte, gründete fi) eine allgemeine Haufle in Goldihares. Seit Drei 
Monaten jah man in Yondon und BarisEhei den Südafrikanern wieber vergnügte 
Gelichter. Am neunten Oktober fanden die Halkyonifchen Tage ein jähes Ende. Der 
Rafferncirtus war, wie mit einem riefigen Befen, am Abend von allen Hauffeengage- 
ments gejäubert. Hier find Die Yolgen einer Ueberſpekulation, noch gerade zur rechten 
Beit vor der Medioliquidation, befeitigt worden. Inzwiſchen hat ſichs ja gebeflext, Die 
Stirnen der Goldmänner find wieder entwölft und der Transvaal gilt als fanirt. 
Vorher aber gab es eine allzu große Menge unhaltbarer Engagements in London 





Borſenherbſt. 163 


amd Paris. In New York gehdren fie zum eiſernen Inventar der Börfe. Gerade jetzt 
Kört man ja nichts Beunrubigendes von brüben. Trotzdem leuchtet nicht eitel Sonnen- 
ſchein über bem newyorler Börfenhaus. Große Bolten amerilanifcher Baptere find 
von Europa hinubergekommen. London bat fich Träftig erleichtert; und nun muß 
Die uewwyorler Finanz fehen, wie fie mit ihren Effeltenichägen ins Reine kommt. 
Ob die Papiere im Publikum unterzubringen find oder ob fie in bie Safes ber 
Banken eingeiperrt werben müfjen: Das ift eine für die Geftaltung ber newvorker 
„Tendenz“ nicht ganz ımwichtige Frage. Die Effekten, die Europa dem Mutter 
Jand zurädgefchidt hat, müfjen natürlich bezahlt werden. Im Allgemeinen erledigt 
‚die nordamerikaniſche Union ihre Verpflichtungen in naturslibus. Das if für fie 
Der bequemfte Weg. Diesmal aber werben die Getreibelieferungen zur Glattflellung 
Der europäiichen Guthaben kaum ausreichen. Man wirb alfo gezwungen fein, @olb 
nad) Europa zu jchiden. Das fuchen die Amerifaner dann wieder zu fich herüber⸗ 
Zuziehen; fie forciren die Warenausfuhr oder beglüden die europäiichen Märkte 
mit neuen Emifjionen. Ob das zweite Mittel jett anzuwenden jein wird, ift recht 
zweifelhaft. Sicher aber könnte mand.mit ber Erporivermehrung verfuchen. Das 
wäre ein bedeutfamer Schritt, der gerade jett für uns ſehr wichtig werden könnte. 

Das deutfche Eifengewerbe iſt von einer Kriſis heimgeſucht. Am lebten 
Dezembertag verſchwindet das Rheinifch-Weftfäliiche Roheiſenſyndikat; und am erften 
Olktober haben die „freihänbigen” Werkäufe für die Zeit nach dem erften Januar 
1909 begonnen. Biele Abſchlüſſe ergaben weſentlich niedrigere Preife. Eine Folge 
Des freien Wettbewerbes, der ben Verkäufer an Feine beſtimmten Normen bindet. 
Die Thatſache, daß die großen Firmen mit eigenen Verkaufsbureaux arbeiten oder 
fich ihre eigenen Händler angeſchloſſen haben, reizt bie Fleineren erſt recht zu freier 
BPreisgeſtaltung. Nicht nur bei uns, ſondern auch in England und Amerika wartet 
man unrubig auf die Folgen des Verſchwindens der deutſchen Roheiſenverbände. 
Die Börfe reagirte bis jegt nur leife auf diefes nicht leicht zu nehmende Moment; 
meiſt nur, wenn gerade mal ein beſonders unglnftiger Bericht aus dem Weſten 
vorlag. Wirtbichaftlihe Probleme Hält man fich gern vom Hals. Einer von den 
4anz Schlauen im Higighaus meinte neulih: „Wenn uns Alles fo Wurſcht wäre 
wie die Induſtrie, brauchten wir überhaupt nicht an die Börfe zu gehen. Ob ba 
draußen ein Roheiſenſyndikat exriftirt oder nicht, ift für unfer Geſchäft ziemlich ſchnuppe.“ 
Ein ſchöner Standpunkt; ben die ſtursbewegung aber zu rechtfertigen fcheint. Wer 
sie Montankurſe denen vom Anfang des Jahres vergleicht, darf nicht glauben, ein 
geirenes Bild der wirklichen Berbältnifie vor fi} zu haben. Das Vermögen joll 
nicht verkürzt werden. Schön. Uber dann foll man auch einfehen, baß bie Fünft« 
liche Erbaltung eines der Induſtrielage nicht entfprechenden Kursniveaus in ber 
erften unzubigen Stunde gefährlich werben kann. Der Mangel an Konfequenz in 
der Geftaltung ber Kurſe zeigt fich befonders bei Papieren, beren Dividendencoupon 
auf den dreißigſten Juni lautet. Die Dividenden für das Jahr 1907/08 find meift 
‚geringer als die des vorigen Jahres. Nun vergleiche man einmal die Kurſe vor 
der Rormizung der neuen Dividenden mit den fpäteren Rotizen. Phoenix ftanb 
am zweiten Januar, aljo nad) einer Dividende von 17 Prozent, 168; jetzt, bei einer 
Divibenbe von 11 Prozent, fteht3 175. Harpen im Januar 194,25 (nach 12 Prozent 
Divibenbe), jetzt 200,40, (bei 11;Brozent); Hoeſch 210,60 (bei 18) und 214,50 (bei 
14 Brozent); Rheinftahlattieni160,25_(bei 15) und 168,30 (bei 11 Prozent). Man 


164 Die Zukunſt. 


tönnte fagen, un bie Jahreswende feten, megen ber abnormen Seldthenerung, bie 
Kurfe zu niedrig geweſen. "Diefer Einwand könnte aber nicht die ganze Seltſam⸗ 
feit ſolcher Ruxsgeftaltung erllären. Die Montaninduftrie Hat fürs Erſte nicht viel 
zu hoffen. Die Sejellfchaften müffen zufehen, wie fie mit der neu geichaffenen Form 
bes Verkehrs fertig werben. Raum benkt man noch ber Tage, ba Eiſen⸗ und Kohlen⸗ 
altien bie Stimmung determinixten. Tempi passati. Die Feld⸗ Wald» und Wiefen- 
attie ift durch Spezialitäten verdrängt worden. Man kann die Entwidelung bier viel⸗ 
leicht mit der im Waarenhausbetrieb vergleichen. Leber Wertheim, Tieg und Jandorf 
ſteht das Baflagelaufhaus, Die Vereinigung von Speztalgefchäften; und über ber Mon- 
tanaktie fteht das Eleftrizitätpapier. Die Bolt und Ampdre bes elektriichen Stromes- 
machen den Kalorien ber Kohle ben Hang ſtreitig. Und bie Spekulation lebt ſchon gauz 
im elektriſchen Zukunftſtaat. Die Herren Börfianer ſind die gefährliäften Umſtürzler. 
Mit der Emſigkeit des gewerbemaßigen Ausverkäufers ſorgen fie für die Räͤumung und 
Wiederbeſetzung der Throne. Jetzt iſt die Elektriziiät on vogue. Die nächſten Divi⸗ 
denden ſind dabei nicht ſo wichtig wie die kommenden Geſchäfte. Seit Beginn des 
Jahres gewannen A. E.G. 29, Siemens & Halske 31 und Schuckert 21 Prozent. Dieſer 
Werihzuwachs verpflichtet zu beſonders günftigen Abſchlußziffern. Enttäuſchungen 
wirds da wohl kaum geben. Siemens ſoll große Geſchafte in Ausſicht haben; bet 
einem ift, wie man hört, die Eyanib-@efellichaft in Berlin und Die Deutfche Bank 
beteiligt. Es handelt fi) um bie Errichtung einer Kaltftidofffabril an Der Alz 
in Südbayern, Über beren Bedeutung bie Cyanid⸗Geſellſchaft ſchon vor Jahr und 
Tag eıne Denkſchrift veröffentlicht hatte. Die richtete fi) an bie Adrefſe der bayeri⸗ 
[hen Regirung und Batte den Zwed, bie fchwerfällige Maſchinerie des Bureaukra⸗ 
tismus in raſchere Gangart zu bringen. Ueber bie Wichtigkeit ber Gewinnung von 
Salpeter aus dem Stidftoff der atmofphäriichen Luft ſprach ich hier ſchon. Waſſer⸗ 
kraft und Elektrizität liefern ber neuen SInduftrie das Rohmaterial. Und Süb⸗ 
bayern mit feinen abertauſend unausgenligten Pferbeträften ift ein befonbers aus» 
fihtreiches Gebiet für die neue Salpeterinduftrie. Siemens und die Cyanid⸗Ge⸗ 
fellichaft an der Alz kommen hoffentlich ſchneller ans Biel als die Badiſche Anilin- 
fabril. Die VBörfe escomptirt in den Kurſen der Eleftzizitätaltien auch ſchon bie 
Möglichkeit einer Elektrifizirung der Eifenbahnen und die wohlthätige Wirkung der 
zu fchaffenden Elektrobank, von der man draußen doch noch recht wenig weiß. Wenn. 
die bisher gemachten Angaben richtig find, werben bie an ber Gründung bethei- 
ligten Finanzinſtitute kein fchlechtes Geſchäft machen; fie fichern fich eine recht gün⸗ 
ige Dauerverzinfung für beftimmte Kapitalien. Die Banken brauchen überhaupt 
mit ber Situation nit unzufrieden zu fein. Die Effekten- und KKonfortialbefänbe- 
find gereinigt worben, und was an neuen Emijfionen unterzubringen war, bat ben 
Weg ins Publilum gefunden. Der; Dedel wird vom Sirupfaß natitrlich nur für 
bie ganz Intimen abgenommen; ber nicht zum Haus Gehörige, deſſen Aftivlegiti- 
mation nur auf Neugier lautet, muß ſich begnügen, das Faß von außen zu be 
wundern. Da der Bilanztermin naht, wird das Mögliche gethan, um die Kurfe zır 
halten; doch die Banten Haben fich ſchon „Liquide gemacht" und deshalb weniger 
Neigung zu Interventionen. Sie glaubten jedenfalls, für die letzte Jahresparade 
diesmal früher als fonft fertig zu fein und feiner „Reinigung* mehr zu bedürfen. 
Indder legten Zeit aber hat man bier und da doch den Seufzer gehört: „Wenns 
fo weiter geht, ſchimpfirt das legte £ Duartal uns bie ganze Geſchichte“ Ladon. 


Deransgeber ui und veranmmortlicher yer Bebafteur: MN. darden in Berlin. — Berlag der x Bufunft i in Berlin- 
Zrud von G. Bernitein in Berlin. 











Berlin, den 31. Phiober 1908. 
— II 








Sriede in Ehren. 


sine ſuddeutſche Zeitung ließ ſich am dreizehnten Oktober „von gut une 

terrichteter Seite” aus Berlin unter Anderem melden: „In Wien hat 
man den, Dank für Algeficad‘ . . . man kann fagen: mit freudiger Rührung 
aufgenommen.“ Dem Fürften Bismarck, dem berufenften Interpreten des 
deutfch:öfterreichiichen Bündnifjes, hat eine Auffafjung dieſer Art, die an mittel» 
alterliche Gefolgichaftfitten und Schwurbrüderichaften erinnert, ferngelegen. Und 
romantiſche Gefühle hat er nicht ald Grundlage dieſes Bundniſſes angejchen. 
Er meinte, daß nadte ntereffenfragen zu diefem Bundniß geführt haben und 
daf nur nadte Jnterefienpolitit Defterreih-Ungarn im gegebenen Fall zur 
Bündnißtreue bewegen können. Er ſagt daher über dieſes Bundniß in feinen 
„@edanten und Erinnerungen“: „Seine große Nation wird je zu bewegen jein, 
ihr Beftehen auf dem Altar der Vertragätreue zu opfern.” „Das ultra posse 
nemo obligatur kann durch Beine Vertragsklauſel außer Kraft geſetzt werden.“ 
„Es läßt fi) daher, wenn in der europäiſchen Politit Wendungen eintreten, 
die für Defterreich- Ungarn eine antideutſche Bolitit ald Staatörettung erjcheinen 
Iafien, eine Selbftaufopferung für die Vertragdtreue eben fo wenig erwarten, 
wie während de3 Krimktieges die Einlöſung einer Dankespflicht erfolgte, die 
vielleicht gewichliger war ald daS Pergament eined Staatövertraged.” „In 
der Beurtheilung Deſterreichs ift es auch heute noch ein Itrthum, die Möge 
ligeit einer feindfäligen Politit auszuſchliehen.“ „Aber feine Garantie (des 
Raiferd Franz Jojeph) ift eine rein perjönliche, fält mit dem Perſonenwechſel 
hinweg.“ Bisher hatte man ſich in Deutſchland mit dem Gedanken vertraut ges 
macht, daß ein Wechſel in den bundesfteundlichen Beziehungen Deutihlands 
und Defterreich8 für die Dauer der Regitung Franz Joſephs nicht zu erwarten 
ſei. Immerhin muß es auffallen, daß die Haltung des offiziellen Frankreich 

13 


166 Die Zukuuſt. 


in den legten Wochen eine Defterreich-Uingarn merkwürdig freundliche war 
und daß auf Frankreichs Anregung eine feierliche Rechtöverwahrung gegen die 
Annırion Bosniend und der Herzegowina aus dem Slonferenzprogramm ges 
ftrichen wurde. Ob und welche Vereinbarungen zwilchen den Kabineten von 
Paris und Wien beftehen, läßt fich heute nicht feftftellen. Immerhin darf die 
Haltung des Oeſterreichiſch⸗ Ungariſchen Boifchafterd in Paris, Grafen Kheven⸗ 
bhüller, in der Trage des deutich-franzöfifchen Zwifchenfalle von Cajablanca 
ald erftes Symptom fich verfchiebender Beziehungen betrachtet werden. Diele 
Stellungnahme, die einer Desavouirung des verbündeten Deutihen Reiches 
gleichlommt, wideripricht um fo mehr den Formen, die verbündete Mächte unter 
einander zu wahren pflegen, ald in Ddiejem Tall die Rechtslage klar (und 
zwar zu Guniten Deuiſchlands) if. Vom Standpunft des internationalen 
Rechtes aus betrachtet, ftehen die Fremdenlegionäre nichtsfranzöfilcher Nationalis 
1ät zu Frankreich in einem rein civilrechilichen Verhältniß und ed kann daher, 
theoretifch genommen, in Maroklo, wo das Recht der Kapitulationen herrjcht, 
fein franzöfiiches Militärgericht rechtälräftig über fie urtheilen; noch weniger 
natürlich, wenn durch Kontraktbruch (Defertion) eine Löſung dieſes rein civil» 
rechtlichen Verhältniſſes eintritt. 

Man irrt wohl nicht, wenn man zwifchen dieſer Üüberrafchenden Haltung 
Defterreichd und der wenige Tage vorher durch die oßmanijche Regirung ver: 
öffentlichen Erklärung des Deutichen Botjchafterd, in der Defterreich allein die 
Verantwortung für die Annerion zugeichoben wurde, einen kauſalen Zuſammen⸗ 
bang ſucht. Dem aufmerkjamen Beobachter konnte allerdings ſchon ſeit einer Reihe 
von Jahren die Thatjache nicht entgehen, daß die Beziehungen zwilchen Frank⸗ 
reich und Defterreich allmählıd einen Grad befremdender Intimität erreichten, 
defien vorletle8 Symptom der Aufenthalt ded franzöfiichen Finanzminiſters 
Gaillaug in Budapejt war. Wie weit man am Ballplag von der Annahme 
entfernt ift, Defterreich8 Haltung in Algefirad könne ald Deutſchland geleifteter 
Sefundantendienft am Quai d’Orfay aufgefaßt werden, geht am Beiten aus 
der Interview mit einer Perjönlichleit aus der nächſten Umgebung de3 Frei» 
herrn von Aehrenthal (Gagern?) hervor, die der „Temps“ veröffentlichte: 
„L’Autriche-Hongrie lui a prouve ses sentiments amicaux au cours 
de l’affaire marocaine et notre politique continue a s’inspirer des 
mömes dispositions.* (So foll es alſo noch weitergehen.) 

Unter dieftn Umständen darf man ſich wohl fragen, gegen wen eigert« 
lih das deutjchröfterreichiiche Bündniß fi richtet. Diefe Trage iſt in einer 
friedfertigen Zeit zwar unangenehm, aber berechtigt; da Bündniſſe zur Forts 
Dauer ihrer Exiſtenz eines Zıeles, aljo auch eines Gegners bedürfen. 

In einem offenbar infpiriiten Artikel de mailänder „Corriere della 
sera* vom fünfzehnten September 1908 (Andrea Torre gezeichnet) wurde die 


Friede in Ehren. 167 


Thatfache erwähnt, daß neulich von einer Seite (und zwar nicht von Stalien 
aus) der Verſuch gemacht wurde, Defterreich in eine engliſch⸗franzöfiſch ſpaniſch⸗ 
italieniſche Wittelmeerentente bineinzuziehen, die feine Unabhängigfeit von 
Deutichland garantirt hätte. Der Verſuch ſei aber gefcheitert. Damals. Seit- 
dem hat die vielleicht nicht ganz echte Erregung, die man an der Themfe in 
den legten Wochen zur Schau trug, Fraktur gefprochen und Deſterreich⸗Un⸗ 
gern die Schwäche des Stüßpunttes fühlen laſſen, den es in feinem Bundes» 
verhältnig zu Deutichland hat. Und wenn in der öfterreichifchen Preſſe die 
Zuſammenkunft von Buchlau mit der denkwürdigen Kaiſerzuſammenkunft von 
Alexandrowo verglichen wird, „wo dämmernd der Keim des Rückoerſicherung⸗ 
vertiaged zwiſchen Deutjchland und Rußland bereit aufftieg” (Neue Freie 
Preſſe vom elften Oftober), jo mag jhon in dem Wörtchen „bereitö” dem 
Gefühl Ausdruck gegeben fein, daß auch in Buchlau der Gedanke an Bes 
ziehungen geftreift wurde, die, für Deutichland „zu komplizitt“, dem Erben ber 
Kaunitz und Metternich den Schlaf nicht rauben dürften. 

| Das Bewußtſein, auf Deutſchlands werkthätige Hilfe bei der Verfechtung 
feiner Baltaninterefien, vitaler Intereſſen des feit 66 nach Dften gedrängten 
Defterreichd, nicht zählen zu können, hat Aehrenthal wohl veranlagt, gleich 
von vorn herein, alien und Rußland zu Liebe, auf den Vormarſch nach 
Saloniki zu verzichten; und wenn nach dem Zufammentriit der Stonferenz 
Antivari der italienijchen Flotte offen ftehen wird, dann wird manchmal die 
Geſchäftsleiter Deiterreich- Ungarns das Gefühl befchleichen, daß die Lauheit 
des Bundeögenofien diefe Opfer unumgänglich machte. 


In den legten Wochen wurde, ohne daß Deutichland irgendwie nach ter 
einen oder der anderen Richtung in den Vordergrund trat, von den Ententes 
mächten ein Konferenzprogramm ausgearbeitet. Auch hier hört man wieder 
den Grundton herausklingen, der durch alle Ereigniffe der europäiſchen Politik 
der legten drei Jahre zieht: all diefe Vorgänge Ipielen fi ohne Dlitwirkung 
des Deutfchen Reiches ab. Verträge werden geſchloſſen, alte Divergenzen werden 
beglicden: und jedesmal fcheint Deutfchland, defien leitende Staatdmänner in 
folchen Fällen fih auf Neutermeldungen als Berichtsquelle angemwiejen jehen, 
aus der Erwägung auszuſcheiden. Wenn auch Durch die legte Erklärung Mars 
ſchalls mit impulfiver Hand nicht nur in Konſtantinopel der Geipeniterjchatten 
Macchiavells, den das Ausland in Erinnerung an vergangene Zeilen durch 
die Wilhelmſtraße Streichen ſah, definitiv gebannt ift, jo müßte Doch der ftärlften 
Militärmacht der Melt gegenüber ein ſolches Vorgehen fonjequenter Jgnoruung 
immerhin noch gefährlich, ja, wahnwigig ericeinen ... 

Wenn trogdem an diefem Modus mit fcheinbar gutem Gıfolg bisher 


13* 


168 Die Zubmft. 


feitgehalten wurde, fo Tann der Schlüfjel zu diefem Räthſel nur in einer ge» 
heimen Schwäche des Deutichen Reiches zu fuchen fein. Man glaubt in London, 
auf Grund pfychologiſcher Erwägungen, die fih allmählich bei ſämmtlichen 
Kabineten Europas Eingang verichafft haben, daß Deutichland, troß allen kriege⸗ 
riſchen Drohungen, im legten Moment einem Waffengang immer ausweichen 
werde; „pacifiste et timide“. 

Algefirad war der Prüfftein; und nah Schluß ter Sonferenz wies 
Drummond in der Libre Parole höhnend auf das „epouvantail de l’Europe*, 
die deutſche Vogelfcheuche, die jegt Keinen mehr fchreden Tönne. Heute, wo, 
trog dem in Marokko geltenden Recht der Kapitulationen, Deutiche, die den 
Schuß des Deutichen Konſuls angerufen und erhalten haben, unter ben Augen 
eines Stonfularbeamien der deutjchen Gewalt entrifien und in franzöfiiche Haft 
gebracht werden können, ohne daß innerhalb vierundzwanzig Stunden ihre 
vorläufige Freilaſſung erwirkt wird, muß in ganz Europa der Glaube neue 
Nahrung gewinnen, daß der deutſchen Kriegäbereitichaft ein effentielles Moment 
fehlt: rer Wille, im Notbfalle loszufchlagen. Welche Bedeutung diefer glaub» 
haft gemachte Wille haben Tann, fehen wir an den kleinen Baltanftaaten, 
deren ganze Bedeutung in der Glaubhaftmachung eben ſolchen Willens ruht. 

Bei diefem Mangel der Kriegöbereitichaft ift unjere Bundnißfähigkeit 
gemindert. Die Erkenntniß, daß bewaffnete Unterftügung von und nicht zu 
gewärtigen fei, bat Defterreich eben fo wie die Türkei gezwungen, fich nad 
anderen Verbindungen umzuſehen. 


Der Grundjag „Friede in Ehren“, der in den legten Jahren jehr laut 
verkündet wurde, ift vielleicht gerade deshalb mißveritanden und ala unbe 
dingtes Friedensbebürfniß gedeutet worden, weil er mit mehr oder minder 
tönenden Kriegsdrohungen alternirte. Und Freund und Feind fcheinen nun 
mit der Thatfache zu rechnen, daß der Begriff „in Ehren”, weil fubjeltio, 
in feinen Grenzen ſehr erweiterungfähig ift. 

Wenn demnach in der deutſchen Publiziſtik feit geraumer Zeit ein ge 
wiſſes Unbehagen über unfere internationale Lage entitanden tft und in Klagen 
über die unglüdliche Hand unferer auswärtigen Vertretungen feinen Ausdrud 
findet, jo darf man nicht vergeflen, daß bismärdiiche Alluren nur in Bers 
bindung mit marjchbereiten Armeecorps erträgli und erfolgreich find und 
daß das Beheimnif der Erfolge bismärckiſcher Politit auch in den Friedens» 
jahren, die der Aufrictung des Reiches folgten, zum guten Theil in dem 
überall feftgewurzelten Glauben berubte, daß Deutfchland im Nothfall einen 
neuen Waffengang nicht fcheuen würde. 

Mangel an Sprachkenntniß und unverbindliche Umgangsformen find 


Heimarbeit. 169 


wicht etwa Fehler, die bei deutfchen Diplomaten öfter als bei anderen zu finden 
find. Und der Diplomat, der durch die fpöttifch-unverfchämte Frage: „Where 
are your ships?“ Deutjchland zu den jet fo beklagten maritimen Ans 
$trengungen geftadhelt hat, wäre mit dem Fluch der Lächerlichteit beladen, wenn 
die Entichlofienheit Englands, eventuell an die ultima ratio zu appelliven, 
eines Beweiſes bedürfte. 

Soll die Periode Iatenter diplomatifcher Mikerfolge Deutſchlands, die 
gur Auflöfung oder zum Strieg führen werden, ein Ende nehmen, jo muß das 
Ausland wieder willen, daß hinter jeder Initiative der deutichen Regirung 
«vielleicht kein Berbündeter, aber) die geſammte deutiche Streitmacht fteht. 

Schloß Moos. Graf Max Emanuel von Preyſing, 
Erblicher Reichsrath. 


—* 


Heimarbeit. 


ie franlfurter Heimarbeitausſtellung iſt in Nr. 15 der „Zukunft“ vom 

Herrn Ober⸗Regitung⸗Rath Dr. Karl Bittmann einer Kritik unterzogen 
worden, die aus mehrfachen Sründen zu einer Entgegnung berausfordert. Die 
gefetliche Regelung der Heimarbeit wird eine der wichtigften ſozialpolitiſchen 
Aufgaben des Neichätaged im kommenden Winter fein. Die die Heimarbeit 
behandelnden Geſetzesvorſchläge find bekanntlich bisher unerledigt geblieben, haupt» 
ſächlich wohl wegen der auferordentlichen Schwierigfeiten, auf die man immer 
wieder jtößt, wenn man verjudt, ein jo vielgeftaltiged und unbeitimmbares 
Etwas wie die Heimarbeit mit Geſetzesparagraphen zu erfaſſen. Mit dem ſchwer 
zu behandelnden Stoff wird fich zunächſt die mit der Prüfung der Gewerbe» 
ordnungnovelle betraute Reichſstagskommiſfion und fpäter der Reichstag jelbft 
befafien müfjen. Es kann nicht ausbleiben, daß man bei den Debatten über 
die Regirungvorfchläge oft auf die „Lehren“ der beiden großen deutichen Heim» 
erbeitausftellungen, der berliner und der frankjurter, hinweiſen wird. Beide 
find ja auch von Regirungvertretern wie von Parlamentariern eingehend be» 
fihtigt worden. Es ift daher von Wichtigkeit, daß über die Bedeutung und 


470 Die Zukunft 


den Werth der Darbietungen beider Außftellungen volle Klarheit geichaffen 
werde. Dazu kommt no, daß in verjchiedenen anderen Städten de3 In» 
und Auslandes weitere Heimarbeitausftellungen geplant werben; da ift ed von 
Nuten, wenn Genauere über die Entftehung und die Eigenart der älteren 
Ausftellungen bekannt wird, damit frühere Fehler vermieden und neue Fort⸗ 
ſchritte gemacht werden können. 

Bittmanns Aufjag ift leider nicht geeignet, dad Weſen der Heimarbeit» 
außsitellungen ertennen zu laflen. Er geht in feiner Kritik der Frankfurter Aus⸗ 
ftellung, der der größte Theil ſeines Aufſatzes gewidmet ift, von vielen faljchen 
Auffaffungen aus und gelangt dann naturgemäß zu fchiefen Urtheilen. Da 
er aber auf Grund langjähriger eigener TForichungen auf dem Gebiet der Heims 
arbeit als bejonders ſachkundig anzufehen ift, fo befteht die Gefahr, daß feine 
einfeitige und wenig wohlwollende Beurtheilung der frankjurter Heimbeitauds 
ftelung als maßgebend hingeftellt und damit der Werth der: frankfurter Ar: 
beiten, die einen (wenn auch nur befcheidenen) Beitrag zur Reform der Heim- 
arbeit bilden follten, beeinträchtigt wird, falls feine Richtigftellung erfolgt. 

Als Mitglied des Borftandes der frankfurter Ausftellung und als 
Vorfigender ihres „Wiſſenſchaftlichen Ausſchuſſes“ glaube ich, eine Reihe von 
Irrthümern, die auf Grund von Bitimannd Darftellung entftehen müflen, be 
richtigen und genauer darlegen zu können, worin die Bedeutung der frank» 
furter SHeimarbeitausftellung beſteht. Zur Formulirung der „Lehren“ ver 
franffurter Veranftaltung ift ed allerdings noch zu früh; dazu bedarf ed noch 
des Abjchluffes der Heimarbeit Monographien, mit deren Herausgabe ich be- 
Ichäftigt bin. 

Die Eigenart der frankfurter Heimarbritausftellung bejtand vor Allem 
in zwei Punkten: der räumlichen Begrenzung der Unterfuhungen und der 
Mitwirkung von Vertretern der Unternehmer. 

Bon dem eriten Merkmal nimmt Bittmann überhaupt nicht Notiz. Der 
Werth der frankfurter Unterfuchungen beruht aber zum großen Theil auf ihrer 
räumlichen Begrenzung; fie erftredten fih befanntlid nur auf das „rhein« 
mainijche” Wirthichaftgebiet. Dieſe Beichränkung ermöglichte eine gewiſſe Bol: 
ftändigfeit. Dad große Verdienſt der berliner Ausjtellung beitand darin, daß 
fie die allgemeine Aufmerkſamleit auf die ſchweren in vielen Heimarbeitzweigen 
beitehenden Uebelftände lenkte und den Willen zur Reform ſtärkte. Ein Mangel 
dieſes erften bedeutſamen Verjuches, in großem Maßſtabe fozialpolitiichen An: 
Ihauungunterricht zu ertheilen, war aber, Daß die Sammlung der Ausftellungs» 
gegenftände mehr oder weniger von Zufällen abgehangen hatıe und mun 
daher nicht mußte, ob die entworfenen, zum Theil recht traurigen Bilder typiſch 
geien. Die berliner Ausftellung warf, wie PBrofeffor Stein es ausdrüdte, eine 
Fülle von Fragen auf, ohne aber darauf Antwort zu geben. Die Begrenzung 


Heimarbeit. 171 


der frankfunter Unterjuchungen auf das rhein-mainifche Wirthichaftgebiet er» 
mözlichte deſſen genauere Durchforſchung und eine Berüdfichtigung aller auf» 
findbaren Arten von Heimarbeit. Thatjächlich ift die Bollftändigkeit der Unter« 
fuchungen angeftrebt worden, und menn auch dieſes Ziel nicht ganz erreicht 
wurde, jo fann man doch ruhig fagen, daß man ihm jehr nah gelommen ift. 
Nachdem alle Spuren verfolgt worden find, aus denen auf das Borhandenjein 
von Heimarbeit gejchlofjen werden konnte, kann man ficher fein, daß alle wich» 
tigeren und faſt jämmtliche minder wichtigen Zweige der Heimarbeit im rheins 
mainiſchen Wirthichaftgebiet, das etwa ein Yünfzehntel des Deutichen Reiches 
Reiches ausmacht, unterfucht worden find; und die Unterfuhungen in den eins 
zelnen Gegenden und Berufen find auch überall jo genau und gründlich gewefen, 
dat wir bei den entworfenen Bildern angeben können, ob fie „typijch“ find 
oder nicht. Auf die vorhandenen Mängel komme ich nachher zurüd. Zunächſt 
mußte bier feftgeftellt werden, daß in Frankfurt für ein Tleineres Gebiet Ant» 
mworten auf die Fragen gegeben wurden, deren Beantwortung in Berlin an« 
nefichtö der Größe des LUnterfuchungägebietes überhaupt nicht möglich war. 
Das fcheint mir nicht unmefentlich zu fein. 

Das zweite Merkmal der frankfurter Ausftelung war die Mitwirkung 
der Unternehmer. Bittmann fteht diefer Mitarbeit ſehr ſteptiſch gegenüber; 
wenn ich ihn recht verſtehe, ficht er jogar im Fehlen diefer Mitarbeit in Berlin 
einen Vorzug; aus der Noth macht er eine Tugend. An Berlin wurde nad) 
Bittmann eine „Leitung von nur irgend erreichbarer objektiver und fubjeltiver 
Unparteilichleit” geboten, einer Unparteilichkeit, die durch die Mitwirkung der 
Unternehmer „nicht übertroffen werden konnte”. Ich muß geitehen, daß mir 
diefe Behauptung ganz unverftändlich ift. Hier handelt es fich, mohl gemerkt, 
nicht um Mängel der Ausführung, fondern um den Grundfaß ſelbſt. Ans 
gaben, die auf Ausſagen einer Intereſſentengruppe, nämlich der Arbeiterjchaft, 
beruhen, jollen mehr Anſpruch auf Glaubwürdigleit und Objektivität haben ala 
jolche, bei deren ‘Sormulirung auch die G:geninterejlenten, die Unternehmer, mit» 
gewirkt haben? Gelten nicht auch in der wiflenichaftlihen Forſchung die Worte: 
„Eines Mannes Rede ift keines Mannes Rede“ und „Audiatur et altera 
pars“? Hält Bittmann die Unternehmer für weniger glaubwürdig als die 
Arbeiter? Oder beirachtet er die Unternehmer hier ala Angeklagte? Er giebt 
feine Gründe an. Sonderbar ift allerdings, daß er es bei der frankjurter 
Ausftellung bemängelt, wenn hier und da, nämlich wenn im zuftändigen ach» 
ausſchuß Feine Einigung erzielt werden konnte, einjeitige Angaben der Unter» 
nehmer (ousdrüdlich als folche bezeichnet) auf den Etiketten zu finden waren, 
während er doch nicht den geringften Anſtoß daran nimmt, daß bei der berliner 
Ausftellung alle Angaben einfeitig waren, nämlich von Arbeitern herrührten. 

Die Zheilnahme der Unternehmer an den Arbeiten der „Fachausſchüſſe“ 


172 | Die Zukunft. 


und an der anderen Borbereitung der Seimarbeitausftellung verjchaffte uns 
eine Reihe werthvoller Hilfsträfte. Wenn auch viele Unternehmer das Mipß- 
trauen, dad fie gegenüber unſerer fozialpolitiichen Arbeit hegten, nicht über- 
winden konnten und jegliche Mitwirkung, einzelne fogar die Auskunftertheilung 
ablehnten, fo haben doch viele andere, an ihrer Spige der unermüdliche Vor⸗ 
figende des Außftellungvorftandes, Herr Fabrikant J. H. Epftein, in opfer⸗ 
williger Weile, mit Sachlenntniß und Intereſſe, in den Gentralausfchüfien wie 
in den Fachausſchüfſen mitgearbeite. Man kann fogar jagen, daß ohne die 
Dipferwilligleit einer großen Reihe fozialpolitifch interejfizter Frankfurter Unter⸗ 
nehmer, die einen Garantiefonds gründeten, die Ausſtellung überhaupt nicht 
zu Stande gelommmen wäre; denn die Arbeiterorganifationen hatten die Zahlung 
von Beiträgen zur Beitreitung der erheblichen Koſten der Ausſtellung abges 
lehnt und die Zufhüfle der Stadt Frankfurt und benachbarten Gemeinden 
hätten ‚nicht außgereicht; fie deckten nur etwa ein Drittel ver Koſten. Nach⸗ 
dem dad Unternehmen finanziell fichergeftellt war, fragte ed fih, in welcher 
Weiſe Arbeiter und Unternehmer am Beiten zur Mitwirtung herangezogen 
werden follten. Da hielt man für das Beite, fie nicht nur durch die willen» 
ſchaftlichen Mitarbeiter ausfragen und um die Lieferung von Ausftellungs- 
gegenitänden bitten zu lafjen, fondern auch geeignete Vertreter der beiden In⸗ 
terefientengruppen als ſolche in ein engered perjönliches Verhältniß zu unferem 
Unternehmen zu bringen. So entitanden die, Fachausſchüſſe“ (Das heißt: die 
mit der Unterfuchung der einzelnen Heimarbeilzweige betrauten Ausſchüſſe), die 
aus einem unparteiifchen, meift wiſſenſchaftlich gefchulten Leiter und Vertretern 
der beiden Intereſſentengruppen bejtanden. Durch die Wahl in die Ausfchüfie 
glaubte man das Intereſſe der beiheiligten Perfonen an dem Werk zu fteigern 
und ihr Berantwortlichkeitgefühl zu ftärken. Die Vertreter der Tinterefienten, 
Unternehmer wie Arbeiter, haben die unparteiischen Leiter der Ausfchüffe bei 
der Aufftellung des Arbeitplanes, der Lieferung der Adrefien von Heimarbeitern, 
der Beurtheilung technifcher ragen, der Begutachtung der gefammelten Mate» 
rialien, der Feſtſtellung zahlreicher Thatjahen und jo weiter wejentlich unter« 
ftügt; natürlich nicht alle in gleichem Maß, fondern mit vielen Unterfchieden, 
entiprechend ihrer Sachkunde und ihrem fozialen Inlereſſe; vielfach wirkten 
Konkurrenzrücfichten, Mangel an Zeit und allerlei perſönliche Zufälligleiten 
ftörend. Schwer mar es oft, die geeigneten Perſönlichkeiten ausfindig zu 
machen und fie für die Mitarbeit zu gewinnen. Doch beiteht gar kein Zweifel 
daran, daß die willenichaftlichen Mitarbeiter den zu den Fachausjchüffen ges 
börenden Unternehmern (und eben jo den Arbeitern) eine Fülle von werth» 
vollen Mittheilungen verdanken, die fie allein überhaupt nicht oder nur mit 
große Mühe erlangt haben würden. Wenn ſich Wängel zeigten, fo lag Das 


Heimarbeit 173 


wicht an der gemeinfamen Arbeit der Intereſſenten, ſondern daran, daß mir 
nicht genug geeignefe Sinterefienten zur Mitarbeit heranziehen Tonnien. 

Daß unfere Arbeit durch die Bildung der vielen Fachausſchüſſe ſchwer⸗ 
fällig geworden ſei, kann ich nicht zugeben; ich bin der Ueberzeugung, daß 
die Anweſenheit der Intereſſenten oft die Teitftellung der Thaiſachen, die 
Beleitigung von Zweifeln und die Aufklärung von Mißverſtändniſſen erleichtert 
dat. Es mag vorgelommen fein, dat ein Unternehmer oder ein Arbeiter Ber 
denten getragen bat, in Ge;enmwart des Gegeninterefienten dieje oder jene Aus⸗ 
fage zu maden; dann war es Sache des Neiterd des Ausſchuſſes, dem ſolche 
Bedenken faum entgehen konnten, fi nad den gemeinfamen Sigungen durch 
vrivates Befragen der Betheiligten genauer zu unterrichten. Die Arbeiter» 
vertreter ftanden übrigen? nur felten in einem Abhängigkeitverhältnig zu den 
Unternehmervertretern; e8 waren zum Theil Gewerkichaftbeamte oder Fabrik» 
arbeiter, die Fachkenntniſſe beſaßen. Heimarbeiter ſelbſt zur Mitwirkung in 
den Ausfchüffen zu bewegen, erwies ſich in vielen Fällen ala unmöglich. Die 
Burbführung des Grundfages der „PBarität” war oft ſchwer, manchmal un» 
möglid; mandem Mitarbeiter haben mir leider feine fachverftändigen Berather 
an die Seite jtellen können. Wo aber Parität vorhanden war, da hat fie 
fih auch bewährt und die Unterſuchungen gefördert. 

Die Ungabe, die nah Bittmann ein münchener Fabrikbefiger gemacht 
bat, daß die Arbeitgeber die ausgeſtellten Gegenſtände geliefert und die Arbeiter 
ausgeſucht haben, die fie herftellen mußten, ift durchaus irreführend und für 
die weitaus größte Mehrheit der Fälle nicht zutreffend. Einige Fälle des 
Ausſuchens der gejchicdteften Arbeiter und Arbeiterinnen zur Anfertigung der 
audzuftellenden Gegenftänte find vorgelommen, fo, wie ausdrücklich in der 
„Beſchreibung“ hervorgehoben, in der Pofamentenherjtelung. In anderen Fällen 
ift «8 in den Fachausſchüſſen über dieſe Frage zu Auseinanderfegungen zwiſchen 
Arbeitern und Unternehmern gelommen; aber es ift den unparteiifchen Bor» 
figenden faft immer gelungen, eine Klärung und Verftändigung herbeizuführen. 
Die Mannichfaltigkeit der Fälle ließ fih auch nicht immer an den oft ın ıhrer 
Zahl begrenzten Audftellungsgegenftänden ausreichend darftellen ; zur Ergänzung 
amd Erläuterung der Angaben auf den Etikeiten mußten eben die „Bejchreibungen“, 
in denen dad Fragebogenmaterial verarbeitet mar. mit herangezogen werden. 
Die Ausftellungdgegenftände find allerdings zum größten Theil von den Fabri⸗ 
tanten geliehen oder gejchentt worden, die Ausftellungleitung, der dadurch 
erheblihe Koften erſpatt wurden, hatte allen Grund, den betheiligten Firmen 
für diefes Entgegentlommen dankbar zu fein; in vielen Fällen, namentlich 
bei der Ausftellung von Halbfabrilaten, hätten wir ohne ten guten Willen 
der Firmen überhaupt feinen Auäftellungsgegenjtand erlangen fönnen. Die 


174 . Die Zukunft. 


Etikettirung erfolgte dann in der Sitzung des Fachausſchuſſes oder durch den 
wifienichaftlichen Leiter. Uebrigens hält ja auch Bittmannd Gewährsmann, 
der münchener Yabrifant, den von uns eingejchlagenen Weg, die Heranziehung 
der Unternehmer, troß feinen Bedenten für „zweifellos richtig”. 

Daß melnfach Zweifel laut wurden, ob die Arbeitzeit immer richlig an» 
gegeben fei, darüber wird fih Niemand wundern, der weiß, mie verichieden 
die eigenen Angaben der SHeimarbeiter und Seimarbeiterinnen über die zur 
Herftellung eines Gegenftandes nothmendige Arbeitzeit lauten und wie vers 
ſchieden die Leiftungfähigfeit der Einzelnen ift. Wenn die Heimarbeiter vielfach 
felbft nicht wifjen, wie lang die Arbeitzeit ift, dann ift ed nicht erjtaunlich, 
daß die Schägungen Fremder ſtark von einander abweichen; und es fcheint 
in der menſchlichen Ratur zu liegen, daß dann die eine Partei die andere der 
Verfchleierung oder der Beichönigung der Thatfachen besichtigt. Die bei Nach⸗ 
prüfungen gemachten Erfahrungen haben mic, ſolchen Anjchuldigungen gegen: 
über ſehr fteptifch geitimmt. 

Ich habe ſchon mehrfach die Schwierigkeiten der Durchführung unferer 
Grundfäße und der fonjequenten Anwendung unferer Diethoden erwähnt. Diele 
Schwierigkeiten lafien ih faum tiberichägen und wir find und auch immer 
darüber Bar geweſen, dab die Ergebniffe unjerer Forſchung Iroß allen Bes 
mühungen nur „Stücdwert” fein fönnten, wie ich Das ja auch in meinem Bor» 
wort zu den „SKurzen Beichreibungen” betont habe. Bittmann ftellt eine Reihe 
von idealen Forderungen für die Ausmahl und Etikettirung der Ausſtellungs⸗ 
gegenftände, die Abfaffung der „Bejchreibungen” und für Anderes auf. Ich kann 
ihn nur verfichern, daß auch die Leiter der Frankfurter Ausſtellung ſolche Ideale 
hatten und ihr Möglichftes zu deren Erreichung gethan haben, daß ihnen aber 
ſchließlich in vielen Fällen nur die Wahl blieb, ob fie ganz auf die Ausftellung und 
die Veröffentlichung verzichten oder wenigftens dag vorhandene, mit vieler Mühe 
gefammelte Material, wern ed auch lüdenbaft und nicht frei von Mängeln 
jei, der Deffentlichleit mittherlen jollten. Wir haben ung für das Zweite ent» 
Ihieden, indem wir aleichzeitig das Publilum, jo meit ed im Rahmen uns 
jerer Beranftaltung möglich war, auf die vorhantenen Lücken und Mängel auf- 
merlfam madten und und der Hoffnung hingaben, man würde das Geleiltete, 
das in der That eine erhebliche Bereicherung unferes Wiſſens darſtellt, dankbar 
anerfennen und nicht immer nur die Rüden bemerfen. 

Bittmann, den die Lüden ſtard verſtimmt haben, bewegt fi übrigens 
bei feiner Kritit in MWiderfprüchen. Einmal ftellt er gewiſſen Mängeln der 
„Stifette” und der „Beichreibungen“, auf die ich felbit aufmerkſam gemacht 
hatte, die „lange Zeit, die für die Vorbereitung der Ausftellung verfügbar war, 
und den erftaunlichen Apparat von Ausſchüſſen“ gegenüber und findet das 
Mißverhältniß unverftändlid. Dann wieder wirft er und vor, daß die Er⸗ 


Heimarbeit. 175 


hebungen unferer Fachausfchüffe, unferen „eng begren ten Aufträgen entiprechend“, 
„taum begonnen, auch fchon wieder beendet” fein mußten, daß wir uns die 
Arbeit „viel zu leicht gedacht” hätten und daß „hier ſchon Urtheile gefällt und 
Berichte gefchrieben“ wurden „in einem Stadium, da der Kachmann fich bes 
kennen muß, daß er noch in den an Irrthum fo reichen Anfängen der Res 
zeption ftehe.” Doc will ich bei den Widerſprüchen, in die fih Bitimann 
verwidelt, und den Mikverftändnifien, die ihm bei der Beurtheilung der Ver⸗ 
bältnifje unterlaufen, nicht länger verweilen, fondern mich nur furz zu der 
fachlich wichtigen Trage der Länge unſerer Vorbereitungzeit äußern. Hier will. 
ich Bitimann gern das AZugeftändnig machen, daß die und zur Verfügung 
ftehende Zeit recht knapp bemefjen war. Zunächſt mußte, nachdem der, Aus» 
ſtellungplan gefaßt war, eine genügende Anzahl von Perjonen für das Un» 
ternehmen intereffirt werden; ed mußte eine Organiſaton gejchaffen und ein 
Garantiefonds gebildet werden. Erſt als diefe Grundlage, hauptjächlic durch 
die Bemühungen der Herren J. 9. Epflein und Profeſſor Stein, geichaffen 
war, fonnte im Februar 1907 zur Drganijation der wifjenjchaftlichen Arbeiten. 
ein bejonderer Ausſchuß gebildet werden. Diejer „wiffenfchaftlihe Ausschuß“ 
bat dann im Lauf der nächſten Donate einen genaueren Arbeitplan entworfen, 
einen Fragebogen ausgearbeitet, die Grundfäge für die Unterfuchungen und 
für die Sammlung und Etilettirung der Ausftellungdgegenitände aufgeftellt 
und die zahlreihen Unterausichüffe eingelegt. Wie jchwierig und zeitraubend 
gerade diefe Arbeit war, wird man verftehen, wenn man bedenft, daß wir 
über fünfzig nur freiwillige Mitarbeiter zur Leitung der zum Theil jehr lang» 
mierigen, fchmwierigen und oft recht unangenehmen Unterjuchungen gewinnen 
mußten. Für dieſe Leiter der Fachausſchüſſe mußten dann weiter geeignete Beis 
ſitzer aus Unternehmer» und Arbeiterfreifen gefunden werden. Wie viele Bes 
iprechungen, Briefe und Reifen waren dazu nothwendig! Für mande Heim» 
arbeitzweige konnten erft im Herbſt, ja, erſt im Winter geeignete Bearbeiter 
gefunden werden. Ich bin ald Vorfigender des „Wiffenichaftlichen Ausſchuſſes“ 
ſehr bald für eine Hinausfchtebung der Eröffnung der Ausftellung eingetreten; 
aber die Verlängerung der Friſt um ſechs Monate, bis zum erfien April 1905, 
erwied fich nod) immer als faum ausreichend. In Folge mander perjönlichen 
Verhältniffe und fachlichen Hinderniffe (die Heimarbeit ruht vielfah im Som» 
mer) fonnten nicht alle Mitarbeiter, die zum großen Theil beruflich ſtark in 
Anſpruch genommen waren, die Vorbereitungze.t voll auönügen; und fo häuften 
fi in den legten Monaten und Wochen vor dem erften April die Arbeiten 
der einzelnen Fachausſchüſſe jo, daß ich fehr oft im Jatereſſe der Mitarbeiter 
und der Sache mwünjchte, eine nocymalige Hinausſchiebung des Beginns der Aus⸗ 
ftelung beantragen zu dürf.n. Das war jedoch aus praktiſchen Gründen unthun⸗ 
lich. Nach einer gewaltigen Kräfteanſpannung, befonder3 in Folge der Energie 


176 Die Zulmft. 


und des Geſchickes des Leiter der lokalen Ausftellungarbeiten, des Herrn 
E Schreiner, ift ed ja dann auch gelungen, die Waffe der eingelieferten Ge: 
genftände und Etileite, angemeflen georbnet, zum feitgejegten Termin zur Aus- 
ftellung zu bringen. 

Bittmanın dürfte gründlich im Irrthum fein, wenn er meint, „mit vier 
bis ſechs ftrebfamen Jüngern der Bolkswirthichaft” („denen man Zeit und 
Gelegenheit gegeben hätte, fi in die Hausinduftrie ded erfaßten Gebietes zu 
vertiefen”) hätte man das Selbe, ja, jogar „etwas ganz Anderes“ leiften können. 
Da unterfchägt er doch die gethane Arbeit gewaltig. An „ſtrebſamen Füngern 
der Volks wirthſchaft“ hat es unter unjeren Mitarbeitern nicht gefehlt; neben 
ihnen haben viele praftifch erfahrene und wiſſenſchaftlich tüchtig geichulte Pers 
onen 'mitgewirkt, allervingd auch einige für ſolche Unterfuchungen nicht bes 
ſonders vorgebildete „Dilettanten”. Das geringichägige Urtheil Bittmanns über 
die Leiter der Fachausſchüſſe, die „die hart im Raum fich drängenden Sachen 
und die weit audeinandermohnenden Gedanken nicht immer unter den Gefichtö- 
punlt der Einheit zu bringen vermochten”, ift ungerecht und falſch. Es find 
ſogar außerordentlich viele tüchtige Kräfte gewefen, die ſich an den Unter 
ſuchungen betheiligt haben, viel mehr, ald wir anfangs zu hoffen wagten; für 
zahlreiche Branchen hätte man kaum in ganz Deutichland beijer qualifizitie 
Mitarbeiter finden können. 

Aber Bittmarın hat überhaupt „in den Darbietungen des Unternehmens, 
der Ausftellung und den Beichreibungen, von einem wifjenichaftlichen Einfluß 
wenig” gefunden. Wir fcheint: er hat den Wald vor Bäumen nicht gejehen. 
War nicht jede Thatjache, die auf den Etiketten oder in den Beichreibungen 
als Ergebniß der Unterfuchung der jegigen Lage der Heimarbeiter im rhein« 
mainiſchen Wirthfchaftgebiet veröffentlicht wurde, ein Bauftein, wenn aud) oft 
nur ein Heiner, zur Aufrihtung ded Gebäudes der Wiſſenſchaft? Die Leiter 
der Außftellung haben es für ihre Pflicht gehalten, jolche Baufteine zu liefern, um 
auf diefe Weile eine haltbare Grundlage für die Heimarbeit-Gejeßgebung zu ſchaf⸗ 
fen. Hierin, in diefer wiſſenſchaftlichen Arbeit, nicht in der bloßen Erregung des 
Mitgefühls für die Leiden und Entbehrungen vieler Heimarbeiter, ſahen fie 
ihre Aufgabe. Seinem ift bisher, auch Bittmanıı nicht, gelungen, nachzuweiſen, 
daß eine irgendwie erhebliche Anzahl der vielen mit großer Mühe gefammelten 
„Bauſteine“ nicht haltbar, daß die wiſſenſchaftliche Arbeit mangelhaft war. 
Ich glaube, über die gegen die Angaben der Fachausſchüſſe vorgebrachten Re» 
klamationen und Über die Grenzen der Leiftungfähigfeit der Ausſchüſſe befjer un⸗ 
terrichtet zu fein als irgendein Anderer, und ich habe ſelbſt oft der erften 
Prüſung der An,aben und der Nachprüfung der Beanftantungen beigewohnt ; 
ih kann nur verfichern, daß die Zahl ter aufgedeckten Irrthümer verſchwin⸗ 
dend gering war und daß dad Gefammtbild, dad fih aus dem aufmerliamen 


Heimarbeit. 177 


Studium der Etiketten und Beichreibungen ergab, durch die Berichtigungen 
nicht geändert wurde. Ein Eingehen auf alle Einzelheiten ift wegen der Knapp⸗ 
heit de3 bier zur Verfügung ftehenden Raumes unmöglid. Wenn fich unter 
den Beanftandungen Bittmannd nicht wenige befinden, die nur gelegentliche 
Ungefchidlichleiten oder kleine Ungenauigleiten des Ausdruckes in den „Ber 
fchreibungen” und die Beuriheilung einiger Thatjachen durch einzelne unferer 
Mitarbeiter betreffen, jo ſehe ich auch darin nur ein Anzeichen dafür, daß zur 
ſachlichen Beanftandunz der Angaben wenig Anlaß war. Als Herausgeber der 
„Beichreibungen” habe ich allerdinge, um möglichite Vollftändigkeit und Ein- 
beitlichfeit zu erzielen, den Mitarbeitern eine größere Zahl von Aenderungen, 
Zufägen und Streichungen vorgeichlagen; aber ich hielt es für richtig, jedem mit 
ter Verantwortung für da3 Gefchriebene auch eine möglichft große Freiheit 
der Darftellung zu lafien. Daß die Zufammenftellung und Beurtheilung der 
Thatſachen fehr verfchiedenartig mar, fann nicht wundern, wenn man bedenkt, 
daß unter den Leitern der Ausſchüſſe Angehörige ber verfchiedenften politifchen 
Barteien, Handelskammer⸗ und Arbeiterfetretäre, höhere Verwaltungbeamte und 
Zandbürgermeifter, Yandpfarrer und Lehrer, erfahrene Praktiker und junge 
Studirende waren. Nichts wäre verfehlter geweſen, ald wenn man hier Alles 
durch eine Schablone hätte preffen wollen. Ich. habe nur, um dem Leſer 
einen Anhalt zur Beurtheilung zu geben, dafür gejorgt, daß neben dem 
Namen auch der Bauf und der Wohnort des Mitarbeiter genannt wur: 
den. Die nothwendige Einheitlichleit wurde zunächſt durch den gleichen Willen 
Aller, der Wahrheit zu dienen, bergeftellt, dann aber auch durch einheitliche 
Anwerfungen (Richtlinien, Fragebogen) für die Unterfuchungen und durch zahl» 
reiche private und öffentliche Beiprechungen unjerer Ziele und Arbeiten Ob 
es hierbei, „für die Thätigkeit des Wifjenfchaftlichen Ausſchuſſes“, „an einer 
zufammenfafjenden, ?ritifchen und, wenn nöthig, rüdfichtlofen Initiative ges 
fehlt“ bat, wie Bittmann meint: Das mögen, da es mic) perjönlich betrifft, 
Andere enticheiden. Ich will nur bemerken, daß „Rüdfichtlofigkeit” wohl nir- 
gendwo fo wenig am Plaß geweſen wäre wie bei unferem Unternehmen, wo 
ed fo fehr auf den guten Willen, auf Liebe zur Sade und Opferwilligkeit 
antam. Hier konnten nur beftändige Rüdjichtnahme auf alle möglichen in- 
dividuellen Wünfche, unendliche Geduld und zähe Energie an das Ziel führen. 
Bei „Rüdfichtlofigkeit” wäre die Schaar unferer Mitarbeiter fehr bald in alle 
Winde zerftoben und die Ausftellung nicht eröfjnet worden. 

In den Erörterungen über die Schäden der Heimarbeit ift oft aud von. 
ganz niedrigen Stundenlöhnen, etwa von zwei biß drei Pfennig, die Rede. Es 
war nicht unwichtig, feftzuftellen, daß fo niedrige Säge nur in fehr wenigen. 
Fällen, unter ganz bejonder3 ungünftigen Umftänden, vorkommen, wie, zum 
Beifpiel, bei der Beſchäftigung von nahezu Arbeitunfähigen. Daher mar es 


178 Die Zukunft. 


keineswegs üherflüffig, im Gegentheil Iehrreich, in der Fileiſttickerei zwei Ge: 
genftände mit einem Stundenlohn von anderthalb Pfennig auszuftellen;, die 
Erklärung des abnorm niedrigen Satzes gab die Bemerkung auf den Etiketten, 
Daß die Heimarbeiterin eine alte blinde Frau war. Bittmann jagt dazu: „Blinden« 
beihäftigung, meine ich, gehört nicht in eine Heimarbeitaußftellung.” Die Heim⸗ 
arbeit ift eben oft die legte Zuflucht der Invaliden, der Krüppel und Kranken. 
Darum fann auch die von Bittman beanftandete Bemerkung einer Mitarbeiterin, 
dab der fchlechte Gejunpheitzuftand der von ihr befuchten Heimarbeiterinnen 
zum größten Theil auf perjönliche Veranlagung und ſchlechte Wohnungver: 
hältniſſe zurüdzuführen fei, ihren guten Sinn haben. Aehnlich verhält es fich 
mit anderen von Bittmann Eritifirten Aeußerungen über die gejunpbeitlichen 
Berhältniffe von Heimarbeitern. Wie fchwer ift gerade hierbei die Feſtſtellung 
von Urſache und Wirkung! „Handgreifliche Beıfpiele von Ungeprüftem und Un» 
fritiichem” in der Ausfiellung fieht Bittmann ferner darin, daß ein Mit: 
arbeiter fchrieb, der Dunſt des Kleifter bei der Herftellung von Bapierfäkhern 
und das Herumfliegen der nicht feit am Papier haftenden giftigen Farben⸗ 
theile ſei ihm als gefundheitichädigend angegeben worden, und nicht „wagte“, 
e3 felbft jo zu nennen; eben fo darin, daß der Bearbeiter der Cigarrenindus 
ftrie fagte, die hausinduſtrielle Herftellung der Gigarren fei aus der „Wert: 
ftattarbeit“ hervorgegangen. Bittmann erklärt dieſe Angabe jür „nicht richtig” 
und jegt ftatt Werkftattarbeit „Fabrifarbeit”. Aus dem Zujammenhang ergiebt 
fi aber klar, daß Werfftattarbeit hier nichts Anderes bedeutet als Fabrilarbeit. 

Bittmann belehrt und weiter ausführlich, wie wir unjere „Schauwerk⸗ 
ftätten” hätten einrichten follen. E3 ift erjtaunlich, welchen Mangel an pralti- 
ſchem Blid er dabei bekundet. Wir haben die Frage reiflich geprüft und find 
und bald darüber klar geworden, daß in den Schaumerfftätten nichts Anderes 
als die Technik der Arbeit, die Übrigens intereflant genug ift, gezeigt werden 
konnte, daf aber jeder Verſuch, auch die fozialen und wirthichaftlichen Ver⸗ 
hältniffe in ihnen darzuftellen, an den großen perſönlichen und ſachlichen 
Schwierigkeiten der Ausführung fcheitern und nur zu einem unwürbigen und 
lächerlichen Komoedieſpielen führen würde. Wie fann man ernfthaft verlangen, 
wir follten im Ausftellungögebäude neben anderen eıne „Koje“ mit einer Haſen⸗ 
haarſchneiderei herjtellen und zehn Wochen lang den Bejuchern darin Gelegen- 
heit geben, „mit eigenen Augen“ zu fehen, „wie ſich Thierfelle und Haſen⸗ 
haare, Schmug und Staub in einer kleinen Küche auönehmen, auf deren Herd 
für Dann und Kinder dad Mittageſſen brodelt”. Wir hätten dann natürlid, 
um realiftifch zu fein, auch die nöthige Anzahl Kinder für diefe Koje enga- 
giren, für das nöthige Stinvergejchrei und auch wohl für den Ausbruch von 
Schatlach oder Diphtherie in der Koje forgen müflen. Aber ich bin über« 


Heimarbeit. 179 


zeugt: wie wahrheitgetreu mir es auch gemacht hätten, Biltmann hätte doch 
dabei noch „Ungeprüftes und Unkritiſches“ entdeckt. 

An unferen Photographien bat er zu bemängeln, daß fie, gerade weil 
es Photographien feien, „nur mit ſtarkem Vorbehalt ald Darftellungen der 
Wirklichkeit gewürdigt werden“ könnten. Sollten wir aber wegen der Mängel 
photographifcher Aufnahmen, die doch jeder ernithafte Befucher der Ausſtellung 
fannte, ganz auf die Ausftellung von Photographien verzichten? | 

Berächtlih bemerlt Bittmann dann weiter, die Wusftellungleitung babe 
„fh der Illuſion hingeben“, fie werde durch die Arbeitgeber die Verkaufs⸗ 
preife der auägeftellten Gegenitände erfahren und auf den Etiketten anbringen 
fönnen, und jei dann enitäufcht worden. Auch darin irrt er gründlich; fo 
wenig welterfahren waren die Ausjchüfle, in denen hervorragende Kaufleute 
und Fabrikanten, Gewerbeinjpeltoren, Gewerkſchaft- und Handelskammerſe⸗ 
Iretäre ſaßen, nicht. Vielleicht ift über keinen Punkt jo lange debattirt worden 
wie über die Frage der Verkaufspreiſe; auch Bittmanns Gründe gegen die Stel- 
lung der Trage find im Boraus eingehend gewürdigt worden. Die Gründe 
für die Stellung der Trage, auch wenn nur wenige Antworten zu erwarten 
feien, überwogen ſchließlich. 

Aehnlich verhielt es ſich mit den übrigen Bedenken und Anregungen 
Bitimanns; fie ſind ſchon während unſerer vorbereitenden Arbeit von uns 
erwogen worden. Unerklärlich iſt uns das mangelnde Wohlwollen des Kritikers, 
der in Frankfurt nur das abſolut Vollkommene geſucht zu haben ſcheint, während 
er gern bereit war, in Berlin die „obwaltenden Schwierigkeiten, ſachlichen Un⸗ 
zulänglichkeiten und menſchlichen Gebrechen“ zu berückſichtigen und das ber⸗ 
liner Werk als ein höchſt gelungenes, kaum zu übertreffendes zu preiſen. 

Zu unſerer Freude ſteht Bittmann mit ſeinem abfälligen Urtheil über 
die frankfutter Heimarbeitausfiellung faſt allein. Sachkundige Beurtheiler, 
die fi die Mühe gegeben haben, auch die großen Schwierigfeiten, mit denen 
wir zu kämpfen hatten, kennen zu lernen und zu würdigen, haben, wenn fie 
auch für die Unvofllommenheiten unferer Leiflung nicht blind waren, doch in 
unſeren Darbietungen fo viel entdeden können, daß fie von unjerer Arbeit 
eine wirkliche Förderung der wiſſenſchaftlichen Erkenntniß und der Sozialteform 
erwarten. Eine befondere Genugthuung war e8 für uns, daß gerade die wiflen- 
ſchaftlichen Xeiter der berliner Heimarbeitausjtellung zu den Erſten gehörten, 
die unjerem befcheidenen Werk dieſe Anerlennung zollten. 


Ftankfutt a. M. Profeſſor Dr. Paul Arndt. 





» 


180 Die Zukunft. 


Segeita. 


ein Bergen erhebt fih auf einfamen Wieien der Tempel. 
Einige meinten, fo fchön fei fein anderer. Höflich beiſtimmend, nidte Egon 
Reichert und ſchwieg. Sie flugien. „Was haben Sie denn nur gegen ihn?“ 

„Er ſpricht mich nicht an. Das Heißt: doch, als rührend ſchönes Tandichafte 
liches Bild. Belonders von Weitem. Es war doch wundervoll, als plöglich in ber 
Ferne, wie eine Erfcheinung, der griechiiche Säulentempel dort in der fiillen Berg» 
welt erfchien. Hell beleuchtet, dahinter auf den Höhen fliegende violette Schatten, 
aufgethürmte weiße Wolfen und ein Vordergrund von alten Dliven. Und jest finde 
ich überaus reizvoll, wie das Gras im Tempelraum fprießt, mit weißen Blumen 
beflernt, wie die ftrengichönen grünen Schatten der Säulen auf ben Rajen fallen. 
Aber e8 ift ein feelenlofes Gebaͤude, fein Tempel: cr blieb unfertig, war nie geweiht. 
Hter ift Niemand in Ehrfurcht erjchauert, hier wurden Feine geftammelten Gebete 
erhört, hier duftete fein Weihrauch, erhob fi Fein marmornes Bild. Die Ver⸗ 
bannten haben feiner nicht mit fehnfüchtiger Liebe gedacht. Es ift ein gutes Bei⸗ 
ſpiel doriſcher Architektur, ein anmuthiges antik.idylliiches Bild.” 

Er führte fie nach dem Abhang. „ft Diefer gewundene Felspfad nicht feſ⸗ 
ſelnd? Dirje lamm mit dem raufhenden Waſſer. Mit diefer Tempelſchlucht waren 
gewiß verloren gegangene jchaurige Eagen verknüpft.“ 

Sie zogen nach der Akropolis. 

„Bolitiich“, fagte Profeſſor Kretichmann, „hat Segefta einen üblen Klang. 
Bweimal hat fie furchtbare Kriege auf ihrem Gewiſſen. Es war auch undornehm, 
wie man den Athenern Sand in die Augen ftreute. Als fie Athen um Hilfe an 
gingen, fhidte man Vertrauensmänner hierher, um über Die Ausſichten und über 
die Yinanzlage ins Klare zu fommen. Die Geſandten wurden föftlich bewirthet. 
Diefe naive Diplomatie war gewiß fchon bei den GSifelern im Gebrauch. Außer» 
dem wurden jedoch die Athener Durch die erborgte Pracht vieler goldenen Brunte 
geräthe gröblich getäufcht.* 

Bon der Akropolis jahen fie umher. „Ungefähr dort, am Fiume Freddo“, 
fagte Egon Reichert, „war bie große Schladht am Krimiſos. Dir tft dieſe Schlacht 
befonders fympathifch; vermuthlich waren einige meiner Vorfahren dabei.“ 

Spradlojes Erjtaunen. 

„Ya, wir find aus Spanien.“ Schaubernd: „Mit Denen vom Dften haben 
wir auch nicht Das Allergeringfte gemein. Nach den neuften Unterfuchungen waren 
bie jpanifchen Juden keineswegs Hebräer, fondern Sarthager, die während. ber 
fpäteren römijchen Herrfchaft fich zu den monotheiftifhen Lehren der Synagoge 
befannten. ch Habe ja gar nichts Befonderes für die Bunier übrig; wahricheinlich 
hätte ich andere Raſſen bevorzugt. Leider wurbe ich nicht befragt. 

Diefe Schladht am Krimiſos war pitorest. Sie erinnern fih an Timoleon, 
diefe Sdealgeftalt unter den Herrihern von Syralus. Er ging gegen die immex 
mächtiger werdenden Karthager vor. Dieje rüfteten ein gewaltiges Heer. Nicht, wie 
fonft üblich, kämpften fremde Söldner. Iberer, Selten, Ligurer. Diesmal zog bie 
Heilige Schaar, die Blüthe des farthagifchen Adels, „rash, inconsiderate, fiery, 
voluntary“, in das Feld. Es ift eine der vielen Schlachten, in denen nicht das 
ftärlere Heer, nicht Die gerechte Sache, wohl aber der tücdhligfie Feldherr fiegte. 


Segeſta. 161 


Die Karthager rückten in ſechsfacher Uebermacht vor. Erſt kamen die Streit⸗ 
wagen, dann die unüberſehbare Zahl der patriziſchen Krieger. Sie trugen ſchwere, 
Praͤchtige Ruſtungen und glänzende, weiße, rieſige Schilde. Hinter ihnen kamen 
die Sölbnermaffen. Raſch ging Timoleon ihnen entgegen; ein erbitterter Stamıpf 
entipann fi. Die behenden Griechen drangen verwirrend in die Reihen. Das Wetter 
Half ihnen, ein jtürmifcher Gewitterregen peitichte den Feinden ins Geficht; bie 
fchwere Rüftung erwies fich als verbexblich; wer auf dem ſchlammigen Boden ftürzte, 
TZonnte fi) nicht erheben. Sie fämpften gut, aber die Griechen drangen vor und 
auf der Flucht ertranten die Ritter im Fluß oder verfanfen in den aufgeweichten 
Ufern. Es war ein vollftänbiger Sieg. Eine Menge von Gold und Silbergeräthen 
fand fi im verlafjenen Lager, um das Zelt des Timoleon Häuften ich herrlich 
‚getriebene Schilde und die koſtbarſten Panzer. In den Baläften von Karthago 
jchrie man in verzweifelndem Schmerz, rang die Hände und raufte ſich das Haar.” 

Sie fahen auf das weite Land und fiellten die einzelnen Punkte feit. „Dort 
ift aljo das Schlachtfeld von Calatafimi“, jagte Yrig von Rochen. „Lieber Kretſchmann, 
erzählen Sie uns doch Über Garibaldi; wie er die Bourbonen ſchlug.“ 

Brofeffor Kretichmann jah Egon Reichert an. „Wiffen Sie Beſcheid?“ „Gar 
nicht.“ „Weshalb”, fragte Fritz Lochen, „follte uns Garibaldi eigentlich weniger 
interefjixen als Dyonifius oder Roger von Loria?“ 

„Sie haben Recht”, gab Profeſſor Kretſchmann zu. „Warum befdäftigen wir 
uns jo einfeitig mit dem alten Italien?“ 

„Das Leben iſt eben um zwölf Monate im Jahr zu kurz gerathen,“ meinte 
Egon Meichert. 

Bon griedhifhen Theater jahen fie auf die fchöne Ebene mit den fernen 
‚Bergen und Vorfprüngen ber Küfte, mit den Buchten des veildhenblauen Meeres. 

„Merkwürdig“, jagte Profefjor Kretihmann, „daß nıan noch immer wagt, 
den Alten Sinn für landichaftliche Schönheit abzufprechen. Mit welchem raffinirten 
Berftändniß haben fie bier und in Taormina bie Lage des Theaters ausgeſucht!“ 

Egon Reichert wurde etwas rabbiat. „Weil der Durchſchnittsaſſeſſor ober 
Snduftrielle oder Oberlehrer feine Ferien zum gefunden Hochgebirgskraxeln ver- 
-wenbet, weil er landfchaftlichen Reiz nach der Meterhöhe bemißt, weil Natur ohne 
klotzige Ungethüme von Gebirgsitöden ihm nur ‚Gegend‘, nicht ‚Landichaft‘ ift, 
darum fieht er auf die feinftfühlenden Nationen der Exde, denen Hochgebirge ‚hor- 
ridus‘ war, herunter. Die Alten, auch ihr Abglanz, die Renaiſſancemenſchen, hatten 
ja vollendete Empfindung für landſchaftlichen Reiz Wie find bie Tempel von 
Yegina, von Sunium in die Gegend hereinfomponirt, wie fein, wenn auch ohne 
Heberichwänglichkeit, die Andeutungen in ihren Gedichten, wie verftanden fie, alle 
anmutbigen Verbindungen von Meer und Flur und Hain, von fernblauen Bergen 
und quellenreichen Waldichluchten zu genießen! Jedes Zimmer im Landhaus eines 
Reihen war nach einem bejonderen Wusjchnitt der umgebenden Natur gerichtet. 
Laſſen ji) unfere Architekten Hierauf ein und verlangen es die Vefteller? Wir Dio- 
. bernen verſenken ung belanntlich in die Natur; unjere Billen, Badeorte und Sommer» 
frijchen fchänden und vernichten alle landichaftlihe Echönheit. Die Alten hingegen 
Baben durch ihre Eäulengänge und Treppen und Baluftraden und Statuen, durch 
Zauberhafte Gärten die Natur Eelebt und verichönt. Gewiß: ihr unendlich fubtiles 
:Raturgefühl hatte Rüden; fie überſahen, daß auch das Hochgebirge, auch öde Haiden 

14 


182 Die Zukunft. 


und farblofe Nordſeedünen äfihetiiche Reize befigen. Sie waren durch formale Liniene 
Ichönbeit verwöhnt: jo überſahen fie ben Zauber einer ſchwankenden Stimmungemoe 
tion. Goethe war dem modernen Stimmungslultus nicht ungugänglich. Ueber Nebele 
fchleier und Schluchtengeheimnifie hat er talentvoll gefchrieben. Sein Gefühl für Lande 
ichaft war allfeitig; Doch nähert er fich dem der Antike unendlich mehr als bem Lande 
fchaftideal ber vorhin ſchon erwähnten Induſtriellen, Oberlebrer und NAffefforen.* 

Profeffor Kreifchniann hatte Das, wonach er ſtrebte, gefunden. „Dort ift: 
der Eryxberg. Bon bier aus fah man ben hochheiligen Aphroditetempel leuchten. 
Die Segeftaner lebten angeſichts ihrer Göttin.” 

„Sie hatten Freude am Schönen“, meinte Egon Reichert. „Eine alte, kunſt⸗ 
volle, eherne Artemisftatue war ihr Stolz; die Punier hatten fie nach Karthago 
verfchleppt, Ecipio Afrikanus gab fie ihnen wieder. Sie war im firengen Gtil; 
in der Linken hielt fie eine Fackel, den Bogen in der Rechten. Der Berüuchtigtſte 
aller römiichen Statthalter, Verres, erbat fich die berühmte Diana von Segefta; 
man wußte, was bevorftand, Fonnte fich jedoch nicht von der Statue trennen. Da 
. quälte Verres die Bürger bis aufs Blut, mit Abgaben, Frondienften und Prozeſſen. 
Endlich gaben fie nach; boch fand fich Fein Segejtaner, der um noch fo hohen Lohn 
das Standbild vom Sodel entfernen wollte. Aus Lilybaeum mußte man einen 
Barbaren Dingen. Die Matronen und Yungfrauen umftanden ihre Heilige Artemis 
weinend, falbten fie, befxänzten fie, brachten ihr Weihrauch dar. Bis dort hinaus, 
wo das Stadtgebiet aufhört, gaben fie ihr, klagend, das Geleit. 

Noch ein anderer Zug. In der frühen Blüfhe der fizilianifchen olonien: 
betheiligte ſich Philippos aus Kroton an einem Feldzug, In Olympia hatte ex 
einft gefiegt und er galt für den fchönften Mann der Hellenen. Er fiel im Sampf. 
Da errichteten die Segeftaner, um feine Schönheit zu ehren, ihm ein Denkmal— 
Dorthin kamen Männer und Frauen und brachten Opfer dar. Bei uns wird viel 
über Schönheit geredet und noch mehr über fie geſchrieben. Dabei handelt es ſich 
in Wirklichkeit eher um theoretifche Aeſtheiik und um Kunftkritif, Die echtefte Schön⸗ 
heit, Die der Menſchen, der Tiere, der Pilınzen, der Flüſſe und Seen und Felien, 
wird merfwürdig wenig beachtet. Als Fönnten die Menjchen ſämmtlich nur ſprechen 
und hören, nicht aber fehen, ald müßten fie nichts von der Freude der Augen. 
Schönheit wird eigentlich nur bei jungen Mädchen und jungen Frauen erwähnt; 
da fpielen ja recht nahliegende Nebenmotive mit. Männliche Schönheit ift ziemlich 
verpönt; nur etwa bei einem Kaijer läßt man jie gelten. Wenn Frauen die Schön» 
beit eines Mannes hervorheben, ärgern fi) alle anwefenden Herren und meinen 
höhniſch, als handle es ſich um einen lächerlichen Mufel, nicht um einen beglüdenden. 
Borzug: ‚Ad ja, Damen gefällt fo ein Aeußeres wahrfcheinlih.‘ Griechen wäre 
folder Stumpjfinn unfaßbar. Sie würden fagen: Dabei wird bei Euch jahraus, 
jahrein auf Hunderten vun Kathedern Aeſthelik folgerichtig zerg'iedert, in Hunderten. 
von immter neu erjcheinenden Büchern den weiteſten Kreiſen vorgelegt. Habt Ihr 
feine Augen? ... Kennen Sie vielleicht,” fragte ex den Brofeflor Kreiſchmann, 
„den engliſchen oder vielmehr irifhen PHilolugen Mahaffy?” 

„Nur dem Namen nach.” 

„Er Hat fein und vernünftig Über das jchwierige Gebiet antiker Knaben 
ſchönheit geſchrieben. Er fchildert den faft mädchenhaft zarten Charakter der Knaben⸗ 
erziehung. Beſcheidenheit, unfchuldige Reinheit, achtungvolle Rüdfichtnahme wurben- 


— — 


Segeſta. 183 


verlangt.. Stets waren fie unter den Augen der Päbagogen; die Jünglinge wurben 
vor jedem uneblen Lufthauch bewahrt. Denken Sie an den Autdrud des himm⸗ 
liſchen Ephebentypus der riechen, an den faft melandoliichen Duft fanft zurüd« 
haltender Bartheit. So die Erosftatuen, bie in den Gymnaſien ftanden. Dabei 
feine Verweichlichung: Muſik, Dichtkunſt und Tanz wurben gepflegt, aber vor Allem 
richtete ſich ber Ehrgeiz auf die höchſte Entwidelung von Kraft, Gewandtheit, Aus« 
dauer und Muth. Doch Hat felbft jene Portraitftatue eines jungen Fauſtkampfſiegers 
der Phibias- Zeit eine milde, ſchwermüthige Schönheit. So anziehende Jünglinge 
Hat noch niemals die Welt gejehen. Auch heute wird in ben ‚beiten reifen‘ verheira⸗ 
theter Herren Die Gegenwart lieblicher, feingebildeter, unjchuldiger junger Damen nicht 
nur anregend, ſondern gewiffermaßen aufregend empfunden. Obwohl Yeber weiß, 
daß unmoralifche Berwidelungen aus dem Vexrkehr entfiehen könnten, würden ſelbſt 
die firengflen Sittenrichter dieſe Afthettich verfeinernde Würze der Geſelligkeit nicht 
verbannen. So war es nicht nothmendig das Beichen lafterhafter Triebe, wenn 
ebrbare Männer fich über eine neue Schönheit, über einen Jüngling, der zum erften 
Mal im Gymnaſium erſchien, unterhielten. Dürfen Doch aud) die würbigften Familien⸗ 
väter unter den Barlamentariern nach einer Cour bie Erfcheinung einer bildhübfchen 
jungen Borgeftellien mit Wärme fhildern. Wenn bei dem Gaftmahl, das Callius 
auf feiner am Piraeus gelegenen Billa gab, einige Säfte durch die Schönheit bes 
jungen Autolyfus jo geblendet wurden, daß fie zuerft ſprachlos faßen, jo braucht 
Das nur lebhafte äfthetiiche Empfänglichkeit zu bedeuten. 

Für die großen Feſtzüge der Athener wurden auch die Breife nur nach ihrer 
Schönheit gewählt. Ihr Anblid verurfachte den Zuſchauern eine helle Freude. 
Liebliche Kinder anzufehen, war ihnen ein fünfllerifcher Genuß. Die reichen Römer 
und Römerinnen umgaben fid) mit nadten Heinen Rindern, den „delicae“, den 
„eonlusores“, wie fie fi) aud mit Blumen und Statuen umgaben. Diefer äſthe⸗ 
tiſchen Augenweide entipringen ja alle Putten und Amoretten des Alterthumes, 
der Renaiſſance, des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts ... Wenn ich 
bie entzlidenbe Schönheit Kleiner Kinder genieße, im Bann der Reize diefer Linien, 
diejer Farben, diefer Beten die Augen nicht von ihnen zu laffen vermag, dann 
jagen bie Eltern, die ihre Eprößlinge vergöitern und andere Kinder faum beachten: 
‚Ah Gott, wie rührend, er hat alſo doch ein Herz! Er fehnt fi) nach dem ihm 
verfchloffenen Yamilienglüd.‘ Daun flüftern Die Bekannten zufammen und dreimal 
führe ich Die jelbe junge Dame zu Tiſch. Das erbittert mich und ich verreife nach dem 
Süden. Dft erbaue ich mich im Zoologijchen Garten an der wunderbar ausdruckt⸗ 
vollen Schönheit der Raubthierlinien, an der Grazie der Heinen Antilopen, an 
bem fyarbenreiz exotiſcher Vögel. Treffen mich dort Freunde, die der Provinz 
Berlin zeigen müffen, fo find fie erftaunt, vermuthen zuologifche Intereſſen oder 
eine ärztlich verordnete Bemegungskur. Der Genuß des Sehens ift heute nur 
noch als verliimmertes Rudiment vorhanden.” 

Sie kamen an einer herrſchaftlichen Beligung vorbei. In einer Ede erhob 
fi) ein feubaler Thurm. Vor der Villa war ein ſchmiedeeiſernes Thor; in üppiger 
Fülle umhüllte es eine Bignonia mit großen weißen Blüthen, mit Blutstropfen im 
Kelch. Der Weg war mit Gras bewachſen, bie grünlich blauen Läden waren ge» 
ſchloſſen. Ste pflüdten jih Sträuße der herüberhängenden Kanten. 

Marie von Bunfen. 


14* 


s 


184 Die Zukunft. 


Franz Stud. 


Se find jegt gerade zehn Jahre ber, feit meine Monographie über Stud 
niedergeichrieben wurde. Zehn Jahre: in unjerer launenhaften Zeit eine 
Spanne, während der fi die Kunſt und die Kunftanichauung vermuthlich 
öfter verändert hat-ald früher in einem Jahrhundert. Wenigſtens auf dem 
Bapier, dad den Zummelplag für jene vierundzwanzig Größen abgiebt, die, 
bald fo, bald fo zufammengeftellt, immer neue Legionen von Geiftesverfündern 
bilden. Doc das Schidfal der Kunſt wird nicht in Wortgefechten entfchieden, 
Sondern von Werten gelrogen; und auch eine varietälüfterne Zeit erlebt in der 
Kunſt längft nicht jo viele „Epochen“, wie fie glauben machen möchte und viel» 
leicht jelber glaubt. Was fich entwidelt, jpringt nicht. An der Kunſt unierer 
Zeit ift nur eine befondere Neigung zu Seiteniprüngen bemerkbar und auch 
an diefen betheiligten fich nicht jo jehr die Künftler wie die Kuniterklärer, die 
fih heutzutage mit der jelben Vorliebe ald Berwandlungsfünftler produziren, 
mit der ihre Vorgänger ein monumentales Verharrungvermögen bewährten. 
Eie fommen damit augenfcheinlich einem Bedürfniß ihres Publitums entgegen, 
ta, wenn es auch ganz gewiß nicht ausſchließlich aus Snobs befteht, fo doch 
ſicherlich ſtark ſnobiſtiſch unterwachſen iſt. Mußte man fih früher allzu oft 
über das Gebahren und den Einfluß jener Temperamente beklagen, für die 
der vorwärtetreibende Künftler den Gildennamen der „Hilfäbremfer“ in An» 
wendung brachte, jo fünnte man heute, im Gegenſatz dazu, von der Gilde der 
fritiichen Chauffeurs reden, die dem Motor ihres nie ruhenden Novitätenbe- 
dürfnifjes unausgefegt die höchite Geſchwindigkeit abnöthigen (und dabei uns 
ausgeſetzt die lauteften Lärmtrompeten ertönen lafſen). 

Es giebt zweifellos auch Künjtler, die von dieſem Wefen beeinflußt 
werden. Ihr Talent, allzu irritabel nervös, kommt nicht recht zu fich ſelber 
in dem unaudgefegten Begehren, mit Dem Schritt zu halten, was es fi als 
„modern“ aufjuggeriren läßt, während dieſes Moderne doch nur dad Modiſche 
ift. Diefe Begabungen haben etwas Keuchendes. Es fehlt ihnen der lange 
Athen, der nicht blos für die Kunft des Geſanges eine Nothwendigkeit ift. 
In tem Beltreben, um jeden Preis intereflant zu fein, werden fie allzu oft 
abfurd und im allzu heftigen Bemühen nah Driginalität verlieren fie ihre 
Natur. Immer „berechtigen fie zu den ſchönſten Hoffnungen“: erfüllen fie aber 
nie, weil in ihnen jelber der Hoffaung daß feite Ziel fehlt. Man kann fagen: 
fie fommen nie aus der Periode ded Etimmmechjeld heraus; und Das macht 
fih bei einem Wann ſchließlich Tomiih, obwohl das Phänomen immerhin „ins 
terefjant” bleibt. 





Franz Etud, 185 


Es ift eine bebauerliche Zeitericheinung, die damit feftgeftellt werden 
mußte: fie offenbart auch auf dem Gebiete der Kunft die Zeitkrankheit Nervo⸗ 
flät, Die durchaus etwas Anderes ift ald die jedem Sünftler in einem gemwifien 
Grade angeborene „Reizſamkeit“. Leider hänzt eine andere Zeiterfcheinung das 
mit zujammen, die nicht weniger unerfreulich ift: die Nervofität im Publikum. Sie 
iſt der Nährboden des Snobiamus. Ein Snob ift ein Menfch mit perverjem Kunſt⸗ 
injtinlt. Der gerade Trieb zum Kunftgenuß münfdt, in diefem aufzugeben. Er 
Jucht die Kunſt ala Troft, Bereicherung, Sammlungskraft. Sein Streben ift, die 
Kunft zu finden, die ihm in diefem Sinn gemäß ift.. Hat er fie gefunden, 
fo bleibt er ihr freu: und um fo treuer, je mühlamer das Suchen war, das 
bier immer ein Lernen ift: auch ein Sichlelbftlennenlernen und Sichauäbilden, 
Anders der pervertirte Trieb zur Kunſt. Er will im Genuß nicht aufgehen, 
fondern fidy an ihm aufregen. Nicht Liebe, fondern Eitelkeit, jucht er weder 
Zroft, Bereicherung noch Sammlung, fondern Kigel, Beipiegelung, Zerfireuung. 
Eine beitimmte, ihm gemäße Kunſt braucht er darum nicht zu fuchen, denn 
jede neue Kunft gewährt ihm, was er braucht, nachdem die jeweils lebte Mode 
fih an ihm erſchöpft hat. Wer bleibt einer Mode treu? Die Boraudfegung 
zum Modemitmachen iſt die Untreue. Mitmachen: Das ifts. Daher: fein Ler⸗ 
nen, jondern Annehmen. Am Wenigften aber ein Sichfelbftfennenlegnen und 
Sichausbilden. Wozu auch? Es handelt fih darum, nicht auch Einer, ſondern 
Einer von Vielen zu jein. So jtrebt der Snob nicht nach Perfönlichkeit, jondern 
nach Allure. Die Kennerallure, die Allure des Verzüdten, die Ueberwinderallure 
wechſeln, je nach dem kritiſchen Zufchneider, munter mit einander ab. 

Man kann aud von diefem Phänomen, das gleichfalld Etwas von einer 
abnorm dauerhaften Stimmmedjjelperiode an fich hat, jagen, daß es fchließlich 
fomifch wirkt. Aber jein epidemilches Auftreten ift nicht unbedenklich. Krank⸗ 
. heiten find, auch wenn fie fomijche Symptome haben, nie wejentlich ſpaßhaft 
Wenn das Snobthum noch weiter um fich greift, iſt zwar nicht unſere Kunſt⸗ 
entwidelung ernftlicy gefährdet (denn diefe beruht auf Sträften der Geſund⸗ 
heit, die ftärter find als alles Angekränkelte eines fchließlich vorübermehenden 
„Zeitgeiſtes“), aber dad Verhältniß zwiſchen Kunftfchaffenden und Kunſtge⸗ 
nießenden Tann dadurch doch recht fatal beeinflußt werten. Und auch der 
ftärkften ſchaffenden Kraft fehlt. eine mehr ald wünſchenswerthe: eine noth⸗ 
wendige Hilfe, wenn ihr der innere Einklang mit den aufnehmenden Kräften fehlt. 

Zum Glüd hat es den Anfchein, daß die äfthetifche Epilepfie des Snobis⸗ 
mus nicht im Zunehmen, fondern im Abſchwellen begriffen ift. Ald Symptom 
dafür darf angemerkt werden, daß troß etlichen Verfuchen, auch die Kunft Stucks 
zum alten Eiſen zu werfen, die Schäung biejes Künftlerd immer mehr ins 
Weite gedrungen ift. Diefer Erfolg ift freilich dad ſicherſte Mittel, einen 
Künftler bei den Snobs um jeden Reſpekt zu bringen; aber mit diefem Er⸗ 


186 Die Zukunft, 


folg wird der Künftler gleichzeitig in die glüdliche Lage verjebt, fi um Re⸗ 
Ipeft oder Verachtung des Snobthums nicht mehr kümmern zu müflen: er be» 
findet fih in einer Höhe der Anerkennung, bis zu der die Wellen des Modes 
ſchwankens nicht hinandringen. 

Dort fehen wir nun auf feitem, felbftgefügtem, aus Merten errichtetem 
Poſtament Franz Stud; und wir fehen ihn immer noch auf feine ruhige, un» 
befümmert felbftfichere Art weilerfchaffen. Das Scielen nach der Anderen 
Aıt hat er noch nicht gelernt und er empfängt noch immer die Loſung jeiner 
Kunft aus fich felber und nicht von außen .ber. 

So ift Dem, was vor zehn Jahren gefchrieben wurde, Wefentliches 
faum hinzuzufügen. Nur etwa Dieſes: 

Es gab in diefer Dekade jo Etwas wie eine Sunftpaufe, mährend der 
men eine gewiffe Ermüdung bemerken mochte. Impulsſchwache Bilder ohne 
die gewohnte Tiefe der Farbe und weniger plaftifch, voll und rund fchienen 
Anzeigen abnehmender Straft oder verminderter Luft am Schaffen zu jein. Es 
fehlte forwohl der bezwingende Eindruck des Inſpirirten wie die finnliche Fülle 
und Pracht. Keine Würfe, Jondern Arbeiten: beinahe Penſa. 

Dieſe Paufe, Über die fi) nur Der wundern kann, der für die Machtig· 
keit des vorher Geleiſteten keine volle Empfindung und kein Veiſtändniß für 
das heilſam Nothwendige ſolcher Zwiſchenzeiten der Zurückhaltung hat, ging 
Schnell vorüber. Auf die Werke der halben Kraft folgten wieder ſolche der 
ganzen und in ihnen erjeßte die „Ichenfende Tugend” des Künſtlers überreich» 
lich, was fie eine Weile ſchuldig geblieben war. Zumal das Epvelfteinhafte 
der Farbe ift in ihnen noch tiefer, glühender geworden und aud die zeich⸗ 
neriſche Haltung hat an ſchlechthin klaſfiſcher Sicherheit noch gewonnen. 

Die fterbende Amazone und Salome find die ſchönſten Beweiſe dafür. 
Bon einer Abnahme der fünftleriihen Kraft Stud3 Tann feine Rede jein; 
auch nicht von einer Verminderung feines Reichthumes an geftaltender Phantaſie. 
Geſchwächt fcheint nur fein Trieb ind räumlich Große. Und Dies muß jehr 
bedauert werden bei einem Meifter, der entjchieden die Strafi zu monumentalen 
Schöpfungen befigt. 

Man vermag auch nur ſchwer daran zu glauben, daß fein Begehren, 
fich groß zu äußern, wirklich eingefchlafen ilt. Es wird eher Refignation, 
Verzicht wider Willen fein. Er ſtreckt fich nach der Dede, weil er muß. Seine 
Kunft will ſchmücken: und muß daher auf die Räume Rüdficht nehmen, die 
heute in Brivathäufern künſtleriſchem Schmud zur Verfügung ftehen. Denn 
Stud ift eigentlich kein Maler für heutige Sammler: er brauchte, fih ganz 
zu entfalten, die großen Wandflächen von Baläjten. Nicht um fie al fresco 
au dekoriren; ich glaube nicht, daß ihn Dies reizen würde. Aber er könnte 
(und möchte wohl auch) gleich den alten Venezianern riefige Rahmenbilder 








Franz Stud. 187 


vol Pracht und farbiger Tiefe fchaffen, von denen ganze Säle Glanz und 
Sluth und die große Stimmung fignoriler Lebensbejahung erhielten, — als 
welche recht wenig mit dem intimen Behagen des Sammlerd am Stüdfürftüd 
feiner Liebhaberei gemein hat. | 

Man kann jagen: Stud ift ein Unzeitgemäßer, der zwar die Fähigkeit 
beſitzt, fein Talent mit fehr bejonnenem und ſicherem Takt dem im Grund 
tleinlichen Kunſtbedürfniß feiner Zeit anzupaflen, deſſen eigentlichite, höchſte 
Kraft aber nicht zur Geltung zu fommen vermag, weil feine Zeit feine Auf- 
‚gaben für ihn hat. 

Dieſe Zeit ift, trog den fpargelüppig auficjiefienden „Herrennaturen”, 
‚gar nicht fignoril. Man kann Dad von dem und jenem Standpunlt aus er 
freulich finden: Mit den Augen der Sehnjucht nach einer äjthetiichen Kultur 
angejehen, ift es bebauerlih. So lange nicht das ganze Bolt Tulturadelig, 
ein Demos von lauter Ariftofraten des Geſchmackes ift (und bis dahin iſt 
der Weg noch weit), kann eine wirklich große Kunft nur gedeihen unter dem 
fördernden Schuß wirklich großer Herren, denen Kunft ein Bebürfniß, und 
zwar fomwohl ein rein perlönliches Bebürfnig wie eine Nothwendigkeit von 
Standed wegen iſt: die höchite äußerliche Auszeichnung vor der Mafje, die 
zein äfthetifche Bedürfniſſe noch nicht Tennt. Ein ſolches Bedürfnis hat Vor⸗ 
ausjegungen, die von den Kreiſen nicht erfüllt werden, die heute, jo weit 
äußere Machtmittel in Betracht kommen, die grands seigneurs umfaflen. 
Die wichtigiten dieſer Vorausſetzungen find: Tradition; Sicherheitgefühl im 
Beſiß der Macht; otium cum dignitate; angeborene Adelsbewußtfein; 
Erziehung nicht zum Dilettiren, fondern zum Genuß. In den fignorilen Zeiten 
der Vergangenheit finden wir Dies nicht nur bei den Kunftförberern großen 
Stiled wie Lorenzo Magnifico, fondern auch bei der Wenge der Zleinen Sour 
veraine und regitenden Standesherren; und wir finden es bis hart an den 
Beginn des neunzehnten Jahrhunderts. Seitdem aber giebt e8 in diefem Sinn 
teine wirklich großen Herren mehr; ift die Zeit gefommen, in der Niemand 
mehr Zeit hat: auch die Fürſten nit. Denn, wie beinahe Alles, ift auch 
Die Macht fragwürdig geworden: auch die des Reichthumes. Alles fteht auf 
dem Qui vive. Die Erholungpaujen aber werden begreiflicher Weife mit 
Zeritreuungen ausgefüllt, ſtatt mit Genüffen, die Sammlung erheifchen. 

Es giebt noch Fürſten, die fih als Kunſtförderer fühlen und danach 
bemühen: vestigia terrent, ars fugit. Diejed Stapitel gehört nicht in die 
Kunftzefchichte. Und es giebt reiche Leute, die ſammeln. Sie find Hohen Lobes 
würdig, aber nicht des höchſten. Sie unterftügen die Kunft, aber fie regen 
fie niht an. Abnehmer: nicht Förderer. 

Bleibt der „Staat”. Wer bleibt? Die „Rommiffionen”. Diefes Kapitel 
gehört in das Kurioſitätenkabinet der Kunftgefchichte. 


188 | Die Zutunft, 


Aber gejept auch, der Staat würde (was nicht undenkbar erſcheint, da; 
er in der Architektur entjchieden beifere Wege eingeichlagen hat) monumental 
angelegten Künftlern, aljo auch Malern, monumentale Aufgaben ftelen, fo- 
wäre doch (mie ich nun glaube) für Stud faum viel zu hoffen. Seine Kunft: 
ift nicht für Ale. Das Verdikt des Deutſchen Neichdtages damals, der dem: 
Meiſter feine Entwürfe bezahlte, weil ſich Der nichts abhandeln ließ, ihre 
Ausführung für das Parlamentögebäude aber voll Entjegen ablehnte, ſprach 
mit fiherem Beitinftintt die Wahrheit aus, daß Stucks unzeitgemäße Kunſt 
fich nicht zur Nepräfentation des heutigen deutſchen Gejchmades eignet. Der 
Niederbayer Franz Stuck gehört, wie alle Künftler, die in diefer Zeit Größe: 
haben, zu den guten Europäern, für deren Werke es augenblidlih nur Schlupfs 
winkel, aber feine eigentliche Deffentlichkeit giebt. | 

Möchte ich Doch Lügen gejtraft werden! ch will mich gern ala ſchmäh⸗ 
lich überführten detractator temporis befennen, wenn der alte oter neue 
Adel jenes echte, umfaſſende, fignorile Kunſtbedürſniß beweilt, dad ich bisher- 
zu bemerken noch nicht das Vergnügen hatte, und wenn Werke monumentalen 
Stile3 von Stud3 Hand dur den Staat angeregt und vom Publitum mit. 
allgemeiner Begeifterung begrüßt werden. Es wäre ein prachtvolles Schaufpiel. 

Bis fih der Vorhang dazu erhebt, wollen wir mit unverninderter Freude. 
das Schauspiel genießen, das und der Anblid eines ruhig und redlich Schaffenden 
gewährt, der, wenn auch unter nothgedrungenem Verzicht auf volle Entfaltung 
feiner eigentlichiten Kraft, Werk für Wert jene Schönheit mit lebendigem In⸗ 
halt verkündet, die immer modern (Das heißt: immer Leben) ift, obgleich fie 
manchmal als unzeitgemäß empfunden wird. 


Sifian. — Otto Julius Bierbaum. 


Unſeren jungen Malern fehlt es an Gemuth und Geiſt; ihre Erfindungen ſagen 
nichts und wirken nicht8; fie malen Schwerter, die nicht hauen, und Pfeile, bie nicht: 
treffen; und es dringt fich mir oft auf, al8 wäre aller Geift aus ber Welt verſchwunden. 
Alle Naivetät und Sinnlichkeit ift verloren gegangen. Wie will aber ein Maler ohne 
diefe beiden großen Erfordernifje Etwas machen, woran man Freude haben könnte! Ich 
babe nun ber deutſchen Malerei über fünfzig Jahre zugefehen (ja, nicht nur zugefehen, 
jondern auch von meiner Seite einzuwirken gejucht) und kann jeßt jagen, ba, fo wie 
Alles jept fteht, wenig zu erwarien ift. Es muß ein großes Talent kommen, welches fich 
alles Gute der Zeit ſogleich aneignet und dadurch Alles übertrifft. Die Mittel find alle- 
da und die Wege gezeigt und gebahnt. Es fehlt jet, wie gejagt, weiter nicht8 als ein 
großes Talent; und dieſes, Hoffe ich, wird fommen; es liegt vielei.ht Schon in der Wiege 
und Sie können feinen Glanz noch erleben. (Goethe zu Edermanıt ) 


u— 





Kraft und Stoff in der Technik. 189° 


Kraft und Stoff in der Technik. 


23 der Beherrichung des gegebenen Stoffes oder Materiales beftand die 
niedere Technik. Was und aus dem Alterthum an Wundern der Technik 
berichtet wird, beſchränkt fich falt ausfchließlich hierauf. Um die quantitative‘ 
Beherrihung des Stoffes handelte e3.fich bei der Maffenhäufung, beim Pyra⸗ 
midenbau, bei den Aquädukten, Kanälen. In der qualitativen Behandlung des 
Materiald wurde der Techniker vielfach mehr zum Diener des Künftlerd, fo- 
beim Bronzeguß, der Goldſchmiederei und Waffenherftellung. Aber auch die: 
Chemie hatte hier ihren Antheil; zum Beifpiel: an den Balfamirungmitteln. Die 
hochentwidelte Mathematik rechnete zwar auch ſchon mit Kräften, aber fajt au?-- 
fchließlih mit Schwere und Feftigleit, den ruhenden Kräften der Statik, bie 
zum Baumelen erforderlich waren. - Die ganze mittelalterliche Phyſik hat noch 
wenig mit den bewegenden Kräften der Dynamik anzufangen gemußt. Da: 
gegen bat und dieje Zeit in der Stoffgewinnung und Stoffbearbeitung vor« 
wãrts gebradt. Zuerſt in der Feinmechanik zur Blüthezeit der Zünfte und 
fpäter mit der ausgiebigeren Verwerthung des Eiſens. 

Die dualiftiiche Weltanfchauung verhinderte, daB man auf deduktivem 
oder ſpekulativem Wege zu dem Gedanken der Einheit von Krajt und Stoff, 
der Bermandelbarkeit des Einen in dad Andere gelangte. So wartete die 
Welt Jahrhunderte lang auf einen Zufall, der diefe Möglichkeit praktijch zeigte. 
Hunderte werden die felben Beobachtungen bereit früher gemacht haben. Aber 
erit dad Verſtändniß eined Eingemweihten konnte fie beim Experiment zur induk⸗ 
tiven Forſchung erheben. Dieſer Dann war der deutfche Profeſſor Papin, der 
die Kraft des geipannten Dampfes theoretiih und praftifch ftudirte. Und noch 
gehörte ein Praktiler dazu. Das war James Watt, der von 1765 bis 84 durch 
feine Berbifierung ded Steuermechanismus die Maſchine jo vervollfommneke, 
daß ihre wirthichaftliche Vermendung rentabel wurde. 

Haben diefe beiden Männer nun den Elementen der Natur neue Wege 
gezeigt, gleihjam Möglichkeiten ihrer Bethätigung neu gejchaffen? Rein. Sie 
haben nur, bevor ein anderer Yorjcher der Meyſchheit die wirkliche Einficht 
in diefe Naturvorgänge offenbarte, ihr die Möglichkeit gezeigt, von diefen Vor⸗ 
gängen zu profitiren, fie in einem Theilſtückchen zu lenken und zu beherrfchen. 
Diefer andere Torfcher war Robert Mayer, der 1842 das Geſetz von der Err- 
haltung der Energie aufftellte. Eine Araftart, die Wärme, wird auf dem Um» 
weg über die Elaftizilät eines dehnbaren Gaſes in „mechaniſche Bewegung”, 
alfo eine andere Sraftart, umgewandelt. Jeder brennbare Stoff (der aljo 
Wärme abgiebt) ftellt einen natürlichen Kraftjpeicher dar. Wir nennen diefe 
Kraft latent, ſchlummernd. Die Verbrennung ift aber nichts Underes ala die 
Verbindung des in der Luft reichlich vorhandenen Sauerftoffes mit einem an⸗ 


190 Die Zukunft. 


‚deren Stoff, zu dem er große chemifche Affinität (Anziehungskraft) befigt. Dies 
‘fer Vorgang braucht fich nicht plöglich durch Verbrennung zu vollziehen, fondern 
Tann auch allmählich vor fi gehen; wir nennen ihn dann Oxydation. Wäh⸗ 
rend des langen Beſtandes der Erde ift auf diefem Wege zum größten Theile 
bereit3 ein Ausgleichszuſtand eingetreten. Woher ſoll die Propultion neuer 
‚Kraftfpeicher rühren? Die Natur hat fi da in einer merfwürdigen Form ges 
holfen, denn auch fie brauchte folche Kraftipeicher. 

Man hatte viel zu wenig beachtet, Daß der Lebensprozeß ein Verbrennung» 
vorgang ift. Das Lohlenftoffpaltige Eiweiß des Protoplasına wird mit der 
Athmungluft orydirt und erzeugt auf dem Ummeg über die Spannung der 
eloftiihen Muskeln eine mechanische Bewegung oder Arbeit. Diefe langſam 
gebildete Arbeitkraft hatte man früher ausſchließlich in Geſtalt des menſch⸗ 
lichen und thieriſchen Organiemus zu verwenden verstanden. Die Natur braucht 
aber für ihren Iangfamen Vorgang einen ungeh:uren Borrath des erwähnten 
Brennftoffee. Eo baut fie fi aus ter Nahrung mühjälig Millionen von 
Bellen zum ihierifchen oder pflanzlichen Organismus auf. Wenn ter Tod 
dieſem Spiel ein Ente feht, ift noch ein gewaltiger Reit vorhanden, den der 
Menſch nun mit einem Schlag dur Verbrennung in Kraft überführen kann. 

Das Beſondere der Kohle ift ed, daß bei ihrer Entitehung der tote 
Pflanzenkörper unter Drud und Lufſtabſchluß all der Beimifchungen entledigt 
‚worden ift, die weniger gut brennen. Wir haben aljo eine Konzentration der 
. latenten Kraft auf möglichſt einen Raum und auf mözlicjit geringes Gewidt. 
Mit diefer Erlenntniß war ein gewiffer Abjchluß für den Menjchen erreicht; 
er zehrte hungrig von den reihen Schätzen der Mutter Erde und wurde in 
‚ihrer geſchickten Verwerthung zum Feinſchmecker. 

Doch eines Tages führte die Verwöhnung in Kraftfragen auch wieder 
zu höheren Anſprüchen an den Stoff, Anſprüchen, denen die Natur nicht ge⸗ 
nügte Man half künſtlich nad, wieder ohne zu wiſſen, was man that, und 
neue induktive Forſchung jchenkte und im Stahl ein hochwerthiges Material. 
Lange ftritt man darüber, was er fei. Seine chemijche Zujammenfegung er: 
Härte nicht, Jondern erfchwerte das Räthfel. Er fand in feinem Kohlenſtoff⸗ 
gehalt zwilchen zwei gewöhnlichen Eifenforten. Wieder rechnete man Jahr⸗ 
zehnte lang mit feinen ſtatiſchen Kräften ald etwas Gegebenem, bis man eines 
Tages ſah, daß man fich verrednet hatte. Als an alten Eifenbahnbrüden einige 
Theile barjten, jah man an dem Korn der Brudjitelle, Ta die geheimnißvollen 
Spannungsfräfie innerhalb ded Wlateriales nichts Konftantes waren, fondern 
fi verändert hatten. Die dauernde Vibration der Erfchütterung hatte den 
Stahl wieder in Eijen zurüdoerwandelt. Der Unterfchied zwiſchen Eifen und 
Stahl mußte aljo in der Schihtung und Gruppirung der Metallmoleküle be 
ftehen. Nun jah man, mad man bei ter Stahlfabrifat on gethan hatte. Man 











Kraft und Stoff in der Technik. 191 


Gatte, anders als bei der Kohle, dynamiſche Kräfte in flatifche umgewandelt. 
Die Dynamifchen Kräfte hatte man der Verbrennung der dem Roheiſen bei» 
gemengten Stoffe, Schwefel, Phosphor und Silizium entnommen. Und man 
hatte das Material zu Stahl veredelt, indem man dieſe Kräfte in ihm aufe 
fpeicherte. Leider nicht dauerhaft genug; fie hatten fich bei übermäßiger Bean» 
ſpruchung in der Widerftandsleiftung aufgezehrt. Die Größe dieſer Kräfte, 
die Art ihrer Umwandlung tft und noch unbelannt. Erſt die Zukunft muß 
ſuchen, mit ihnen zu rechnen. 

Aber mit der Möglichkeit des Lünftlichen, mechaniſchen MWiederaufbaues 
hochwertiger Stofformen war der Kreislauf gefchloffen, den der Menſch 
eröffnete, al3 er von diefem Speicher der Natur zehrte. Das Bild von der 
Einheit zwiſchen dynamiſchen und ftatifchen Kräften, zwilchen der äußeren Bes 
wegung und der inneren Qualität des Stoffes, war fo klar ertennbar ge 
worden, daß fein Dualiẽmus mehr an unferer Weltanichauung rütteln kann. 

Und nad) diejer Einficht häuften fich Ericheinungen, deren Nchnlichteit wir 
bisher Uberſehen hatten. Wir können damit hoffen, auch bald hinter dad Ge» 
beimniß der immanenten Kräfte zu fommen: der dauernden Einwirkung eines 
Stoffes auf andere ohne fichtbaren Kraftverluft. Hierher gehören der Magnet» 
Umus, die Ausftrahlungen des Radiums, die Erjcheinung des eleltriichen 
Stromes im Leiter und ähnliche Vorgänge, für die es bißher nur recht zweifel⸗ 
bafte Erklãrunghypotheſen giebt. 

Zur Erleichterung der Betrachtung habe ich die Eleltiizilät bisher aus 
dieſem Gedankengang ausgefchaltet. Scheint doch diefe myſtiſche Kraft recht 
eigentlich die Dermitilung zwilchen Statit und Dynamik zu bilden. Hier 
mit der Hilfe des Magnelismus aud mechanischer Bewegung erzeugt oder wies 
der bewegend, dort galvanisch aus chemifchen Stoffen entftehend und fie im 
Altumulator wieder neu mit latenten Kräften erfüllend, erjcheint fie beſon⸗ 
ders zum Neuaufbau von hochmwerthigen, kraftſpeichernden Stoffen berufen. 
Schon erzeugt fie und das Kalziumkarbid und bald wird fie in der fünft- 
lichen Stilftoffgewinnung felbft der geheimften Schöpfung organifcher Natur, 
der Zellbildung, künſtlich nachhelfen. Denn auch der Dünger ift ein Kraft⸗ 
fpeicher gleich der Kohle. Zange fchien fie uns die wiſſenſchaftliche Erklärung 
tiefer Vorgänge zu veriprechen, als die Elektrolyſe zu Berechnungen über die 
Vanderung ter onen fchritt. Im osmotiſchen Druck der beweglichen Flüſſig⸗ 
keiten iſt eine Form innerer ftofflicher Spannungen gegeben, die fich ſtets jo» 
fort in Bewegung umfegen muß, nämlich in die Diffufion. 

Ob die Elekrigität und nun auf dieſem Gebiete zur Erkenntniß führt 
oder nicht: ihre eigentliche Bedeutung für Weltanjchauungfragen liegt anders» 
wo. Eie ift die einzige Kraftform, die und eine Vergeiftigung des Stoffes zu 
bieten verſpricht. Was dem Menſchen in Wort und Schrift die Sprade ift, 


193 b Die Zukunſt. 


Das vermag fie der Materie zu werben, eine Absttaktion, die unabhängig! 
macht von Ort und Zeit, die das Prinzipielle an die Stelle des individuellen 
fegt. An die Stelle des körperlichen Transporte tritt im Telephon die Neu⸗ 
erzeugung des Tones in der Ferne, viel einfacher, ald wir Aehnliches im Geld⸗ 
verfehr durch Gutſchreiben auf Poſtanweiſung oder Bankkonto erreihen. Zum: 
Ton iritt die Uebertragung von Form und Bild im Yernjchreiber und Fern: 
jeher. Und wenn wir mit Taujenden von Pferdeftärten gewaltige Maſſen 
durch Ternübertragung mechanisch bewegen: welche Funktion oder Wefenheit 
des Stoffes bleibt dann ſchließlich noch an den Ort gebannt? 

Fühlen wir und alltäglich von der Sonne her viele Lichtjahre weit mit 
einer gewaltigen Straftmelle überfluthet, jo vertieft fih uns der Unſterblichkeit⸗ 
gedanke vom Uebergang unferer perjönlichen Seelentraft durch Diffufion auf 
unjere Ummelt und durch Fernzeugung auf die Nachwelt. Das ift die fchöne 
Harmonie der Empfindung, zu deren Aufbau der harte Daſeinskampf, das 
Verbrennen und Wiederauferftehen in der fühl berechnenden Technik fo viel 
pofitive Arbeit geleiftet bat. 


5 Dr. Hermann Haſſe. 


Hypotheien jind Gerüfte, die man vor Dem Gebäude aufführt und die man ab». 
trägt, wenn das Gebäube fertig tit; fie find dem Arbeiter unentbehrlich; nur muß er das 
Gertift nicht für das @ebäude anfehen. Wenn man den menfchlichen Beift von einer Hy⸗ 
potheſe befreit, die ihn unndıdig einjchräntte, Die ihn nötbigte, falich zu fehen, falſch zu 
fombiniren, zu grübeln, fiait zu ſchauen, zu fophiftifixen, flaft zu urteilen, fo hat man 
ihm fchun einen großen Dienft erzeugt. Er fieht die Phänomene freier, in anderen Bere 
bältniffen und Verbindungen, er ordnet fie nach feiner Weife und er erhält wieder bie 
Gelegenheit, jelbft und auffeine Weifezu irren, eine @elegenbeit, die unſchätzbar ift, wenn 
er in der Folge bald Dazu gelangt, jeinen Irrthum felbft wieder einzuſehen... Mit den 
Anfichten, wenn fie aus der Welt verichwinden, gehen oft Die Gegenftände jelbft ver- 
loren. Kann man doch in höheren: Sinn jagen, daß bie Anficht der Gegenftand jei.... 
Ter gemeine Wiſſenſchaftler Hält Alles für überlieferbar und fühlt nicht, daß Die Nie» 
drigkeit feiner Anfichten ihn ſogar Das eigentlich Ueberlieferbare nicht faffen läßt... 
Das Kiffen heruht auf der Kenntniß des zu Unterfcheidenden, die Wiſſenſchaft auf ber 
Anerkennung des nicht zu Unterfcheidenden.... Was in die Erfcheinung tritt, muß ſich 
trennen, um nur zu ericheinen, Das Seirennie fucht ſich wieder und es kann fi) wieder 
finden und vereinigen; im niederen Sinn, indem es ſich nur mit feinem Entgegenſtellten 
vermifcht, mit ihm zufammentritt, wobei die Erſcheinung Null oder menigftens gleiche 
giltig werd. Die Vereinigung kann aber auch im höheren Sinn geicheben, indem das 
Getrennte ich zuerft fteigert und Durch die Berbindung der gefteigerten Seiten ein Drittes, 
Neues, Höheres, Unerwartetes Hervorbringt... Wenn wir ein Phänomen vorzeigen, 
fu jieht der Andere wohl, was wir ſehen; wenn wir ein Phänomen ausſprechen, befchrei» 
ben, beiprechen, fo überfegen wir es ſchon in unfere Menſchenſprache. Was hier ion 
für Schwierigkeiten find, was für Mängel ung bedrohen, iſt offenbar. (Goethe.) 














Brummell. 193 


Brummell.*) 


SS: Heimath eines Richelieu Tann keinen Brummell gebären. Mögen bie beiben 
berühmten Beden einander an menſchlicher Eitelkeit gleichen: fie jind ver» 
ſchieden in Allem, was zwei Raſſen irennt, was den Geift einer Gefellichaft aus⸗ 
wadht. Der eine gehörte der nervig.blutvollen Raffe Franfıeihs an, die in den 
Ausbrüden ihres Ueberſchwanges bis an bie Außerfien Grenzen geht. Der andere 
fammte von ben Männern be3 Nordens, die, lymphatiſch und bleich, kalt wie das 
Meer ericheinen, defjen Söhne fie find, .die aber auch aufbraufen lönnen wie das 
Meer, jenen Norbländern, die ihr farrendes Blut durch bie Flamme der geifligen 
Geträafe (high-spirits) zu erhigen lieben. Bei gegenfäglichen Temperamenten bes 
taßen body Beide ein tüchtiges Stüd Eitelfeit und ließen ſich unbeben’lich von ihr 
in ihren Handlungen beftimmen. So fordern fie den Tadel der Sittenlehrer heraus, 
Die die GE telfeit veruriheilen, ftatt fie einfady an ihrem Plage zu verzeichnen und 
zu begreifen. Kann man ſich darliber wundern, wenn man bedenlt, daß diefe Em⸗ 
pfindung feit adhtzehnhundert Kahren unter dem Drud ber weltvirachtenden dee 










*) Fragmente aus Barbeys Werk, Vom Tant ythum und von &.Brummell“,das 
Herr Richard Schaulal ins Dentfche Überfept hat und bei Beorg Müller in München er⸗ 
jcheinen läßt. Der Verfaſſer des befannteften und graziöfefien neuen Dandybuches („Les 
ben und Meinungen der Herrn Andreas von Balıhefler) war für diefe Aufgabe beſon⸗ 
ders geeignet. Wie er ſie ſieht, was ihm die Pflicht des „wahrhaftigen Leberfegers* ſcheint, 
fagt erim Vorwort: „Er joll nur überjegen, wozu er die lebhafte Neigung des Wahlver⸗ 
wandien begt; er fol nur überſetzen, wo er ſich gerüſtet weiß; ex ſoll jo überſetzen, DaB 
er in exfler Linie ein achtbares deutſches Werk hervorgebracht zu haben ſich berühmen, 
dürfe “ Ueber Barbey(der 1808 geboren wurde, 1344 den „Brummell” ſchrieb und 1889 
Rarb) fagter: „Bartcys ‚Brummell‘ ift eine Dichtung. Daran können die Hiftorifchen 
Yüzge, Die aus Jeſſe geichidt erlefenen Anekdoten nichts ändern. Im Dandyıhum, in dem 
kalten, gelafjenen Zumwarien, dem unbewegten Zuſehen, wie die Anderen fich ereifern, 
mußte der hoffenbe, entiäufchte und immer wieder hoffende, ber ungerechte, unbedingte, 
unbeſonnene Barbey Tas erb.iden, was ihm ſtets entſchwand, wenn erbrauflosftürmte, 
e3 zu fafjen. Es ift ein Baradoron, daß der Sanguinifer die Pſychologie des Phlegma⸗ 
nikers gefchrieben bat, glänzend geſchrieben hat und daß diefer Phlegmatiler, wie ihn 
‚tee Andere nicht müde wird, zu fchildern, den Sanguiniker erſt richtig erfaſſen läßt. 
Denn der Brummell Barbry8 ift vor Allem Barbeys Brummell. Nicht Byrous Worte, 
nicht Jeſſes jorgfäliige Materialien haben Vrummell unfterblidy gemacht. Dies hat der 
intuitive Eflay des intereffanteften aller franzöfiichen Kritiker geihan.... Ein Kavalier 
in der Berbannung ber öden Neuzeit: fo ftebt Jules Barbey d’Aurevilly vor ung. Ein 
vollendeter Kavalier, dieſer ftetö wie imgerafften Mantel Hinfchreitende Journalift. Aber 
ein Hein Wenig Kavalier im Rampenlicht, für ein verachtetes Parterre, das beileibe nicht 
feh en darf; fonft müßte man fih3 erſchaffen aus dem gierigen Bedürfnig nad) Bubli- 
tum, wie Brummell, der Rarr, jeine große Beit heraufbeſchwor als ein armjäliger Ko⸗ 
moediant des allerflüchtigfien Lebens: des Lebens der Beziehungen.” Das Buch feflelt 
‚und blendet, e8 fommt für einen wichligen Theil beutfcher Leſer juft zu rechter Zeit: alſo 
darf man anneßmen; daß ihm-dieerjehnte Breite des Erfolges heute nicht fehlen wird. 


194 Die Zukunft. 


des Chriſtenthumes fieht, Die noch immer auch über nichts weniger als chriſtliche 
@emüther ihre Herrſchaſt behauptet? Hegen übrigens nicht faft alle geiftreichen 
Leute irgendein Boruriheil, zu befien Yüßen fie reuig Buße thun für ihren Geiſt? 
Das erflärt, wie Menfchen, bie fi für ernit halten, weil fie nicht lachen können, 
über Brummell nicht anders als Abel zu veden im Stande find. Das viel mehr 
noch als der Barteigeift erklärt die Unduldſamkeit eines Chamfort gegenüber Riche⸗ 

lieu. Er Hat ihn mit feinem fchneidenden, bligenden, ätzenden Geiſt angegriffen 
wie mit einem vergifteten Dolch aus Kriſtall. Dadurch Hat der Atheiſt Chamfort 
feine Abhängigkeit vom Bann ber hriftlichen Idee befundet; weil er jelbft ein eitler 
Menſch war, konnte ex es dem Gejühl, unter bem ex.litt, nicht verzeihen, daß 
Andere Süd daraus zu fchöpfen wußten. 

Denn wie Brummell und mehr jogar als Brummell Hat Richelieu alle Arten 
von Ruhm und Vergnügen genoffen, wie fie die Meinung der Leute gewährt. Beide 
haben, indem fie dem Trieb der Eitelkeit (lernen wir das Wort ohne Abſcheu aus» 
fprechen) gehorchten, wie man den Trieben des Ehrgeizes, ber Liebe gehorcht, Er- 
folge erzielt; aber bier ftodt die Rergleichung. Nicht nur im Temperament find fie 
verfchieben. Auch die Gefellichaft, von der fie abhängen, kommt in ihnen zur Er⸗ 
fHeinung und läßt fie zu einander in Gegenjaß treten. In Richelieus unbezähm- 
barem Turft nach Unterhaltung hatte die Geſellſchaft die Zügel fallen laflen; in 
Brummell laut fie gelangmeilt an der Stange. Dort Ungebundenheit, hier Heuchelei.. 
Su biefer zwiefältigen Anlage muß man vor Allem den Unterfchieb fuchen zwiſchen 
der Geckerei eines NRichelieu und dem Dandysmus Brummells. 

Brummell war nur ein Dandy. Wichelieu aber, wie fehr fi in ihm auch 
der Schlag von Geden verkörpert, den fein Name vertritt, war doch dor Allem ein 
großer Herr inmitten einer erfchöpften Ariftofratie Er war Heerführer in einem 
militärifhen Land. Er war ſchon in einer Beit, da fich die entfeflelten Sinne ftolz 
in ben Befig ber Macht mit dem Gedanken tbeilten und die Sitten nicht verboten, 
was Vergnügen gewährte. Auch außerhalb Deſſen, was er war, bleibt Richelieu 
doch immer Richelieu. Er Hatte Alles für fih, was im Leben Macht giebt. Läßt 
man ben Dandy weg: was bleibt dann von Brummell? Er war zu nichts Anderem 
fähig; aber auch nicht weniger als der größte Dandy feiner Zeit und aller Zeiten. 
Sn dem joztalen Miſchmaſch, den man höflich Geſellſchaft nennt, iſt faft immer ent» 
weber das Schidjal flärfer als die Fähigkeiten oder find die Fähigleiten dem Ge⸗ 
fchted überlegen. Uber bei Brummell gab es, was felten vorfommt, feinen Zwie⸗ 
fpalt zwifchen Natur und Schidjal, zwiſchen Anlage und Glück. Mehr Geift, mehr 
Reidenfchaft: Das war Sheridan; größeres Dichterthum (benn Brummell war Dich⸗ 
ter): Das war Lord Byron; viel mehr vom großen Herrn: Das war Darmouth 
oder noch einmal Byron. Yarmouth, Byron, Sheridan und fo viele andere ihrer 
Beitgenofjen, berühmt auf alle Weife, find Dandtes gewejen, aber noch etwas mehr. 
Brummell befaß diefes Mehr nicht, das bei dem Einen Leidenſchaft war oder Genie, 
bei dem Anderen hohe Geburt oder ein ungeheures Vermögen. Er gewann durch 
biefe Mängel. Denn beichränft auf die Kraft, die ihn einzig auszeichnete, erhob er 
fih zum Wang eines Dinges: er war der Dandysmus felbft. 

Das ift faft eben fo fchwer zu beichreiben wie zu erklären. Die Geifter, Die 
an den Dingen immer nur die unwichtigfte Seite ins Auge faflen, bilden fich ein, 
Dandythum fei vor Allem die Kunft der Kleidung, eine glüdliche und kühne Herr» 





Brummell. 198 


fchaft auf dem Gebiete des Anzugs, der äußerlichen Eleganz. Sicherlich gehört Das 
Dazu; aber ber Dandy ift mehr*). 


\ 


°) Alle Welt, fogar bie Engländer, irren darin. Erſt jüngft hat einer, Tho⸗ 
mas Carlyle, ber Autor deö Sartor resartus, ſich verpflichtet gefühlt, über Dandy⸗ 
thum und Dandies in einem Buche zu fprechen, das er Philofophie der Kleidung 
(Philosophy of clothes) nennt. Aber Carlyle hat mit dem trunkenen Griffel eines 
Hogarih einen Mobelupfer entworfen und darunter gefchrieben: Das tft der Dan 
dysme! &3 war nicht einmal feine Karikatur. Denn die Karikatur übertreibt Alles 
und unterdrückt nichts. Die Karikatur ift das Zerrbild der Wirklichkeit; und der 
Danbysme ift wirklich, im menſchlichen, fozialen und geiftigen Verſtande. Es ift 
nicht ein Anzug, der allein fpaziren geht: es ift eine befiimmte Urt, ihn zu tragen, 
bie das Dandythum bedingt. Man kann in ſchlechtem Anzug ein Dandy fein. Lord 
Spencer war ficherlich ein Dandy; und fein Rod hatte nur einen Schoß. Freilich 
batte er ihn adgeichnitten und fo das Ding daraus gemacht, das feitben feinen 
Ramen trägt. Eines Tages (würde man es für möglich halten?) hatten die Dane 
Dies fogar den Einfall der Schäbigkeit. Und zwar eben unter Brummell. Gie 
waren auf dem Gipfel der Unverſchämtheit angelangt; fie konnten nicht weiter. Da 
beliebte e8 ihrer Laune, einer wirklich „bandesten“ Zaune (ich weiß fein anderes 
Wort dafür), ihre Nöde, ehe fie fie anlegten, in der ganzen Länge des Stoffs ab⸗ 
ſchaben zu laſſen, bis dieſer nur nod) eine Art von Spige war, ein duftiger Haud). 
Sie wollten in ihrem eigenen Zuft fchreiten, biefe in Wolfen Thronenden. Das 
Verfahren war befonders heifel und langwierig und man bediente fich babei einer 
Slasicherbe. Das ift ein Fall von wahrhaftigem Dandysmus. Der Anzug ſpielt 
da gar feine Rolle. Er kommt gar nicht mehr vor. 

Ein anderes Beilviel: Brummell trug Handſchuhe, die die Form feinen 
Hände wie naffes Neſſeltuch hervortzeten ließen. Uber nicht in der Vollendung dieſer 
Handſchuhe, die die Umriſſe der Nägel wie am nadıen Finger wieſen, beftand das 
Dandythum, fondern darin, daß fie von vier befonderen Künftleın bergeftellt wur⸗ 
‚ben, dreien für die Hand, einem für den Daumen. *) 

Thomas Carlyle, der noch cin anderes Buch geichriehen Hat, das „Die Hel« 
Den” heißt und worin er den Helden al8 Dichter, als König, als Schriftfieller, als 
PBriefter, ald Propheten und ſogar als Gott ſchildert, hätte uns auch den Helden 
der müßigen Eleganz geben können, den Helden als Dandy. Uber Das hat er ver⸗ 
geflen. Das, was cr Übrigens im Sartor resartus im Allgemeinen von den Dane’ 
bieß fagt, die er mit dem plumpen Wort Sefte (dandiacal sect) bezeichnet, zeigt 


*) Ich Habe die löhliche Abficht, hier deutlich und verftänblich zu fein. Ich will fogar- 
die Gefahr der Lächerlichleit nicht fcheuen und eine Anmerkung zu einer Anmerkung maden. 
Für Kaunitz, der, ohne Engländer zu fein (freilich war er ein Oefterreicher), fic) den Tandies 
am Meiften nähert burch die Ruhe, die Sleichgiltigleit, Die majeftätifhe Bosheit und den grau«- 
amen Egoiämus (er pflegte zu Sagen: „Ic habe lkeinen Freund“; und er war ftolz darauf; weder 
der Tobesfampf noch das Ableben Maria Thereſias konnten ihn dazu bringen, die Aufftch- 
ſtunde früher anzufehen oder die Zeit, bie er feinem unbefchreiblichen Anzug wibmete, aud) 
nur um eine Minute zu Türzen), Fürſt Kaunitz mar keineswegs ein Tandy, wenn er ein fei- 
denes Mieder anlegte wie die Anbalufierin AUlfreds de Muffet, aber er war es, wenn er, um 
feinem Haar genau den „richtigen Ton” zu verichaffen, burch eine Reihe von Gemädern 
ſchritt, deren Zahl und Größe er berechnet hatte, und Lakaien ihm, indem er hindurchſchritt, 
nur während biefes Hindurchſchreitens mit Puberquaften die Berüde pubderten. 


496 Die Zukunft. 


Der Tandysme ift eine ganze Urt, zu fein, und man ift nicht Danby blos 
im äußerlich, Törperlih Sichtbaren. Es ift eine Art, zu fein, Die völlig aus Ueber⸗ 
‚gängen beflebt, wie e8 in einer ſehr alten und fehr verfeinerten Gejelichaft immer 
ift, einer Gefellfchaft, wo die Komoedie jo felten wird und ber Anftand ſich gegen 
die Langeweile Taum behauptet. Nirgends hat fich die Gegnerfchaft zwiichen den 
Anftandsregeln und ihrem Gejchöpf, der Langeweile, im innerfien Kern der Eitte- 
fo Heitig fühlbar gemacht wie in England, nirgends wie in biefer von der Bibel 
und dem Buchflaben bes Rechts Eeherrichten Geſellſchaft; und vielleicht ftammt aus 
dieſem erbitterten Streit, der ewig ift wie ber Kampf zwifchen Tod und Eünde bei 
Milton, die tiefgründige Eigenart diefer puritaniſchen Geſellſchaft, die in der Ein- 
bildung Elariffe Harlomwe hervorbringt und in der Wirklichfeit Lady Byron*). Wenn 
einmal ber Sieg entichieden fein wird, dürfte wohl auch die Art, zu fein, die man 
Dandysme nennt, wefentliche Aenderungen erfahren haben, denn fie ift eben durch 
dieſen endlofen Streit zwiſchen Anftand und Langeweile bedingt.**) So iſt eg eine 
der Konfequenzen des Dandysmus, einer feiner wejentlichen Charakterzüge (defier: 
fein hervorragendſter Charakterzug), immer das Unerwartete herborzubringen, Tas, 
was ber an das Joch der Regeln gewöhnte Geift vernünftiger Weife nicht er⸗ 
warten fann. Die Ercenirizität, aud) ein Erzeugniß des engliichen Bodens, bringt 
es gleichfall8 hervor, aber auf eine andere Weife: frech, wild, blind. Es iſt eine 
ganz perjönliche Auflehnung gegen die keftehenbe Ordnuug, mandymal gegen bie 
Natur; fie grenzt hart an die Verrücktheit. Der Dandysmus tändelt mit der Regel 
und zeipeltirt fie dennoch. Er leidet unter ihr und rächt ſich an ihr, während er 
fi ihr fügt; er beruft fich auf fie, während er ihr entſchlüpft; er beherricht fie 
and läßt fi) von ihr beberrfchen. Ein Doppelipiel in ftetigem Wechſel. Um es 
fpielen zu lönnen, muß man all die Gefchmeibigfeit befigen, die die Grazie auf 
macht, wie Die Regenbogenfarben des PBriemas zufammen den Dpal ausmaden. 

Und Das war ed gerade, was Brummell befaß. Er beſaß die Grazie, wie 


zur Genüge, daß der englifche Jean Baul mit feinem verworrenen beutfcten Blid 
nichts von ben fcharfen, Lalten Zügen bemerkt hat, die Brummell „find*. Er bätte 
Davon geichrieben mit der Tiefe jener Kleinen franzöfifchen Geichichtichreiber, Die im 
Beitfchriften von alberner Wichtigtäuerei Brummell ungefähr fo beuribeilt Haben, wie 
es Schufter und Schneider zu Stande gebracht Hätten, deren Dienfte er verſchmähte, 
Buweis®rofchen-Künftler, die ihre eigene Büfte mit dem Federmeſſer aus dem Zeig 
einer Windfor- Eeife jchneiden, die Einem zum Bad zu jchledht wäre. 

*) Ein Beijpiel aus ber Welt der Echriftfiellerinnen: die Memoiren ber 
Miß Ailin über Elifabeth;: Meinungen einer aud) im Sıil pedantifchen Bruben 
fiber eine prude Bedantin. 

**+) Es bedarf feiner weiteren Erörterung der eigenthümlichen Qangemeile, 
die das Mark der engliichen Geſellſchaft verzehrt und ber fie vor Geſellſchaften, Die 
dieſes Uebel aufreibt, ihre traurige Ueberlegenheit an Sittenderderbniß und der 
Zahl ber Selbfinorde verdankt. Die moderne Rangemeile ift die Tochter der Ana» 
lyſe; aber diefer, unfer Aller Meifterin, gejellt fich, was die englifche Geſellſchaft, 
die reichte der Welt, betrifft, noch die römische Langeweile, die Tochter ber Ueber⸗ 
fältigung; fie würbe, fieht man vom Kaiſerthum ab, das Kapitel Tiberius auf Capri 
bereichern, wenn ber Durchichnitt der Gefellichaften aus ftärkeren Seelen beſtände. 





Brummell, 197 


ſie der Himmel verleiht, der Geſellſchaftzwang freilich oft fälſcht. Genug: er beſaß 
fie; und in ihrem Beſitz kam er dem Reizbedürfniß einer Geſellſchaft entgegen, Die 
fi) Iangweilt und fi nur allzu verdroſſen unter das harte Joch bes Herfommens 
dudt. Er war ein lebendiges Beifpiel für die Wahrbeit, die man ben Menfchen 
der Regel immer aufs Neue wieberholen muß: wenn man ber Phantaſie bie Flügel 
befchneibet, wachjen fie ihr nur noch um die Hälfte länger. Er beſaß bie eben fo 
veizende wie feltene Vertraulichkeit, die an Alles rührt und nichts entweiht. Er bat 
wie mit Seinesgleichen mit allen mächtigen, allen hervorzagenden Menfchen feiner 
Zeit gelebt und fi gewandt bis zu ihnen erhoben. Wo die Beichidteften ge» 
ſtrauchelt wären, erhielt er fih im Gleichgewicht. Seine Kühnheit war Sicherheit. 
Ungeftraft durfte er ans Beil rühren. Man bat gefagt, daß dieſes Beil, befien 
Schneide ex jo oft Berausgefordert hatte, ihn endlich Doch gefchnitten, daß an feinem 
Untergang bie Eitelfeit eines zweiten, eines königlichen Danby, Seiner Majeftät 
des König Georgs, ein Intereſſe gewonnen babe; aber feine Macht war fo groß 
gewejen, daß er fie, wenns fein Wille war, wieber an ſich gerifien Hätte. 

Sein Leben war nur perfönlidder Einfluß, Wirkſamkeit, Etwas alfo, das 
fh kaum erzählen läht. Man jpürt diefe Macht, fo lange fie währt, unb wenn 
fie aufgehört hat, kann man ihre Wirkungen nachweiſen; aber wenn die Wirkungen 
von ber felben Ratur find wie Das, was fie hervorgebracht hat, und wenn fie keine 
längere Dauer haben, ift e8 ein Ding der Unmöglichknit, davon zu berichten. Her- 
tulanum kann man unter ber Aſche wieder auffinden, aber bie Schicht nur weniger 
Sabre bildet über den Sitten einer Geſellſchaft eine Hülle, die bichter iſt als der 
Aſchenſtaub der Vulkane. Die Memoiren, die Geſchichte dieſer Stiten, find feldft 
nicht mehr al3 ein Ungefähr, manchmal nicht einmal Das. Keineswegs aljo wird 
man bie englifche Gejelichaft aus Brummells Tagen deutlich und Tlar, wie e8 ex 
wünfcht wäre, geſchweige denn lebenbig wiedererkennen, niemals Brummells Wirkung 
auf feine Beitgenofien in ihrer Geſchmeidigkeit, ihrer Tragweite begleiten. Der 
Ausſpruch Byrons, er hätte lieber Brummell fein mögen als Napoleon, wird immer 
als eine lächerlihe Affeltation oder als eine tronifche Bemerkung gelten müflen. 
Der wahre Sinn eines ſolchen Wortes bleibt verloren. 

Aber ftatt den Autor des Childe Harold zu ſchmähen, wollen wir ihn lieber 
in feiner fühnen Vorliebe zu verftehen trachten. Ihm, der als Dichter, als Menich 
von Phantafie ermeflen Tonnte, was e8 hieß, bie Phantafie einer heuchlerifchen Ge⸗ 
ſellſchaft, bie ihrer Heuchelei müde geworden war, fo unbedingt zu beherrichen, 
war der Mann, der Dies vermochte, ein Gegenftand der Bewunderung. Es war 
ein Fall von Allmacht eines Einzigen, ber der Artung feines Iaunenbaften Genius 
eher zufagen mußte als jeder andere Fall von unumjchräntter Herrichaft, wie immer 
fie ſich auch barflellen mochte. 

... Georges Bryan Brummell ift in Wehminfter geboren. Sein Vater 
war W. Brummell, Esqu., Privatfelretär des Lord North, ber, felbR ein Dandy, 
wenn es darauf ankam, im Minifterfautenil aus Verachtung zu fchlafen pflegte, 
während bie Redner ber Oppoſition einander in ſtürmiſchen Angriffen überboten. 
Rorth machte das Glück von W. Brummell, ber ein Mann von Ordnung und eben 
fo thätig wie tüchtig war. Die Schmählchreiber, bie über Verberbniß jammern, 
in ber flillen Hoffnung, daß man aud ihre Verderblichkeit auf die Probe fegen 
werbe, haben Lord Noth den Beinamen Gott der Gehälter gegeben (god of emolu- 


15 


1°8 Die Zukunft. 


ments). Dennoch bleibt wahr, daß er, indem er Brummell bezablie, Dienfte be⸗ 
Iohnte. Nah dem Sturz feines Gönners ward W. Brummell in Berkihire Erfter 
Sheriff. Ex wohnte in ber Nähe von Donnington-Caftle, dem als Wohnſitz Ehaucers 
berühmten Ort, und lebte dort als ein Vertreter jener breiten Saftlichkeit, die zur 
üben von allen Völfern nur die Engländer Sinn und Fähigkeit befigen. Er hatte 
feine guten Beziehungen aufrecht zu erhalten gewußt. Unter anderen Berühmt⸗ 
beiten jeiner Beit ſah er Fox und Sheridan oft bei fi. Einer ber erfien Ein« 
driüde bes Tünftigen Dandy war aljo die Atmojphäre biefer bedeutenden und liebens⸗ 
würdigen Menſchen. Sie haben die Holle der ſchenkenden Feen an ber Wiege des 
Kindes geipielt, ihm aber nur die Hälfte ihrer Kräfte geipendet, bie vergänglichſten 
ihrer Fähigkeiten. Kein Zweifel: inbem ber junge Brummell foldye Geifter, die 
glänzendften Vertreter der menichlidden Denkkraft, ſah und hörte, dieſe Beiden, bie 
eben fo gewanbt waren im Geſpräch wie als politiche Redner und deren Wit fidh 
auf ber Höhe ihrer Veredſamkeit hielt, muß er bie Fähigfeiten entfaltet haben, 
Die ihn auszeichneten und die ihn fpäter (um Hier ein von den Engländern gebrauchtes 
Wort anzuwenden) zu einem ber erſten Konverfationiften Englands gemacht haben. 
AL fein Water ſtarb, war er fechzehn Jahre alt (1794). Man hatte ihn 
im Jahr 17% nad Eton geihidt und ſchon dort hatte er ſich, außerhalb bes 
Kreijes ber eigentlichen Stubien, darin herporgethan, worin man fpäter fein aus⸗ 
zeichnendes Merkmal jehen follte. Die Sorgfalt in feinem Anzug und die falte 
Gelaffenheit feiner Manieren trugen ihm von feinen Mitichillern einen Namen ein, 
der damals fehr im Schwunge war. Der Ausdrud Dandy war nämlich noch nicht 
gebräuchlich; die tonangebenden Modeherren hießen Bucks oder Macaronied. Man 
nannte ihn Bud Brummell.*) Nach bem Beugnif eines feiner Zeitgenoſſen übte 
Niemand einen größeren Einfluß auf feine Gefährten in Eton aus als er, Georges 
Eanning vielleiht ausgenommen; aber der Einfluß Cannings war die Folge feine 
lebhaften Geiſtes, feines feurigen Herzens, während der Brummells ſich von minder 
berauſchenden Fähigkeiten herſchrieb. In ihm erfährt das Wort Macchiavells Be» 
flätigung: Die Welt gehört den Talten Geiftern. Bon Eton ging er nach Orford 
und bier warb ihm der Erfolg, zu dem er berufen war. Wa3 an ihm gefiel, waren 
bie Außerlichften Seiten des Geiſtes: denn feine Lleberlegenheit kam nicht auf dem 
Felde mübevoller Dentarbeit zur Geltung, fondern in den Verhältniffen des Lebens. 
Als er Oxford drei Monate nad) dem Tod feines Waters verließ, trat er als Faͤhnrich 
in das Behnte Hufarenregiment ein, das ber Prinz von Wales befehligie. 
Dan hat ſich die größte Mühe gegeben, eine Erklärung bafüx zu finden, 
worauf das lebhafte Gefallen beruht haben mag, das Brummell dem Prinzen vom 
erften Augenblid an eingeflößt hat. Dan bat Anekdoten erzählt, die ber Wieber- 
gabe nicht werth find. Wozu der Tratih? Befleres ſteht zur Berfügung Ein 
Brummell mußte ji die Sympathien des Mannes erwerben, der, wie es hieß, 
auf feine vollendeten Manieren fich mehr einbildete als auf jeine Hohe Stellung. 
Es ift befannt, welcher firahlende Glanz die Jugend bes Prinzen umgab. Und 
er bat Alles daran gefeht, jung zu bleiben. Damals war ber Prinz von Wales 
zweinndbreißig Jahre alt. Seine Schönheit war die Iymphatifche, ftarre Schön« 








*) Buck beißt im Englifchen männlich; aber nicht daS Wort ift unüberfeg- 
bar, fondern der Sinn. 





Brummell. 199 


heit des Hauſes Hannover, aber er war beſtrebt, ſie durch prächtige Kleidung zu 
ſteigern, durch das Fener der Diamanten zu beleben; an Seele und Leib ſtrophulos, 
nichtadeſtoweniger aber noch im’ vollen Beſitz der Grazie, der Babe, die fidh die 
Courtiſanen als die letzte zu erhalten wifjen, hatte Der, der fpäter Georg ber Vierte 
heißen follte, in Brummell einen Theil feines Selbft erkannt, den Theil, der gefunb 
unb hell geblieben war: und hierin liegt das Geheimniß der Gunft, die er ihm 
zuwandte. Es war einfach wie ber Erfolg bei einer Frau. Giebt es nicht Freund⸗ 
idhaften, bie ihren Urfprung in Eörperlichen Eigenfchaften haben, in ber Grazie ber 
Erſcheinung, wie es Liebichaften giebt, die aus ber Seele ftammen, einem unlörper- 
lichen, verborgenen Reiz ihr Dafein danken? So war bie Freundfchaft, bie der 
Prinz von Wales für den jungen Hufarenfühnrich empfand: das einzige Gefühl 
vieleicht, das noch auf dem Grund diefer verfetteten Seele keimen konnte, bie 
allmählich ganz im Körperlichen aufgehen follte. So warf ſich denn die unbeftändige 
Gunſt, die Lord Barrymore, G. Hanger und fo viele Andere, wie fie die Reihe 
traf, 6i8 zur Neige genofien haben, mit ber ganzen Plöglichleit der Laune und 
ber Zeibenichaft der Boreingenommenheit Brummell an den Hald. Auf der be 
rühmten Terraffe von Windſor, in Gegenwart ber anſpruchvollſten Geſellſchaft ward 
er vorgeftellt. Unb bier war es, wo er alles Das wies, was der Prinz von Wales 
an einem Menihen am Meiſten fchägen mußte: blühende Jugend, erhöht durch 
das fichere Benehmen Eines, ber das Leben begriffen zu haben unb gewiß ſchien, es 
ju beherrſchen, bie feinfte und ühnfte Miſchung von Selbftbemußtfein und ſchuldiger 
Ehrfurcht, endlich im Anzug eine nur als Meifterfchaft zu bezeichnende Vollkommen⸗ 
beit, deren Eindruck noch die geiftreich-fchlagfertige Art, wie die Antworten ein- 
ander folgten, verftärkt. 

... Der König der Mobe beſaß Feine anerfannte Geliebte. Auch hierin 
viel mehr Dandy als ber Prinz von Wales, band er fi an feine Frau von Fitz⸗ 
Herbert. Riemals warf diefer Sultan das Taſchentuch. Kein Wahn bes Herzens, 
fein Aufftand der Sinne, nichts, was feine Exfolge Hätte beeinträchtigen ober ver» 
eiteln Fönnen. Sie waren denn auch die eines geborenen Herrſchers. Lob oder Tadel: 
ein Wort von Georges Brummell war damals enticheidend. Bon jeiner Meinung 
Bing Alles ab. Wenn in Stalten ein Mann denkbar wäre, ber eine ſolche Macht 
ausübte: welche wirklich liebende Frau würde fie gelten lafien? In England aber 
dachte, wenn es ſich Darum handelte, eine Blume anzubringen oder ein Geſchmeide 
anzulegen, jelbft eine bis zur Raſerei verliebte Frau viel eher daran, was Brum- 
mell dazu jagen, als was für ein Geſicht ihr Liebhaber dazu machen würde. Eine 
Herzogin (umd man weiß, welches Maß von Hochmuth in den englifchen Salons 
ein Titel feinem Träger verftattet) ſagte mitten unter ben Ballgäften, auf bie Ge 
fahr bin, gehört zu werben, ihrer Tochter, fie follte ihre Haltung, ihr Benehmen, 
ihre Antworten auf das Sorgfältigfte in Acht nehmen, wenn zufällig Dir. Brummell 
fi} hexrbeilafien möchte, fie anzufprechen; in dieſer erſten Phaſe feines Lebens näm- 
ih mifchte ex fily noch unter bie Tänzer und die [chönften Hände verjagten fich 
anderen, um feine Hand nicht zu verjäumen. Später bat er, ganz berauſcht von 
jener Ausnahmeftellung, das Tanzen aufgegeben. Die Rolle eines Tänzerd war 
etwas zu Gewohnliches für ihn. Er erſchien zur Eröffnung des Balls und blieb 
nur einige Minuten; ex ließ feinen Blid über die Berfammlung ſchweifen, gab mit 
flüchtigem Wort fein Urtheil ab und verſchwand, indem er jo das berühmte Brinzip 


15* 


200 Die Zukunft. 


bes Dandysmus zur Anwendung brachte: „So lange Du nicht gewirkt Haft, follft 
Du bleiben; wenn bie Wirkung erzielt ift, geh." Für ihn natürlich war bie Wirkung 
nicht mehr eine Yrage der Dauer. Er kannte bie Macht feines Zaubers. 

... Ullibiabes war zwar fehr hübſch, aber nebenbei audy ein guter Feld⸗ 
herr. Georges Bryan Brummell jedoch beſaß für die Reize bes Solbatenftandes 
feinen Sinn. Er blieb nicht Iange bei den Behnten Hujaren. Das Biel, bas ihm bei 
feinem Eintritt ins Regiment vorgeſchwebt hatte, war vielleicht ernfter, als man 
angenommen hat: es galt, fi dem Prinzen von Wale zu nähern und die Ber 
ziehungen anzuknüpfen, die ihm fo raſch Gewicht verichaffen follten. Es if nicht 
ohne einige Verachtung gefagt worben, bie Uniform babe eine unmwiberftehliche An⸗ 
ziehungstraft auf Brummell ausüben müſſen. Das beißt, einen Dandy aus ben 
Gefühlen eines Kabetten heraus erflären. Ein Dandy, ber Alles mit einem be 
fonderen ®epräge verfieht, ber ohne eine „gewiſſe erlefene Eigenart“ (Kord Byron)*) 
nicht befteht, muß eines Tages ja bie Uniform haffen. Freilich (und Das gilt bei 
viel belangreichexen als Diefer Koſtümfrage) liegt e8 im Weſen einer Exfcheinung 
wie ber Brummells, daß man fie, ift einmal ihre Wirkung geſchwunden, falſch bes 
urtheilt. So lange er lebte, konnten fich die Widerftrebendften dieſem Einfluß nicht 
entziehen; heute aber, bei den herrſchenden Borurtheilen, ift Die Unalyfe einer foldyen 
Berjönlichkeit eine fchwierige pfychologifhhe Aufgabe. Die Frauen werden einem 
Brummell niemald verzeihen, daß er e8 an Grazie mit ihnen aufzunehmen ver» 
mochte; die Männer niemals, daß fie ihm nicht an Grazie gleichen. 

Ich Habe e8 fchon früher gejagt, aber man kann es nicht oft genug wieder» 
bolen: was den Dandy mad, ift die Unabhängigkeit. Sonft müßte e8 Geſetze**) 
bes Dandysme geben; aber es giebt eben feine. Der Dandy ift ein Wagenber; aber 
bei aller Waghalſigkeit verläßt ihn fein Takt nicht, er weiß fich rechtzeitig zurück⸗ 
zubalten und zwiſchen Eigenart und Ueberipanntheit den berühmten Durchichnitis- 
punkt Pascals zu finden. Das ift der Grund, warım fi Brummell nicht bem 
Zwang ber militärifchen Regel fügen konnte, die auch eine Art von Uniform if. 
So betradhtet, mag er einen unausſtehlichen Dffizier abgegeben haben. Mr. Zeile, 
ein wunderboller, nur allzu gewiffenhafter Ehronift, erzählt mehrere Anekdoten von 
der Unbotmaßigkeit feines Helden. Erjdurchbricht Die Reihen während ber Uebungen, 
gehorcht den Befehlen feines Oberſten nicht prompt; aber auch der Oberft fieht unter 


*) Nur ein Engläuder Tonnte ſich eines ſolchen Wortes bedienen. In Frank⸗ 
reich bat die Eigenart Feine Heimath, man verſagt ihr Feuer. und Wafler, man 
haßt fie wie ein adeliges Merkmal. Sie bringt die mittelmäßigen Leute auf, Die 
immer bereit find, Denen, bie „anders“ find als fie, einen jener ftumpfen Bifje zu 
verjegen, Die nicht zerreißen, aber beichmugen. Sich in nichts von allen Anderen 
zu unterfheiden, gilt eben fo für die Männer wie |für bie jungen Mädchen bie 
Regel aus der Hochzeit des Figaro: Sei geachtet, es ift nötbig! 

**) Gaͤbe es folche, jo ‚wäre man Dandy, indem man fie befolgte. Jeder, 
der wollte, Fünnte Dandy fein. Man hätte eine Vorſchrift zu beachten; fonft nichts. 
Zum Unglüd aller gejellihaftlich ehrgetzigen jungen Leute ift Dem nicht ganz }o. 
Bweifellos giebt es im Stapitel Dandythum einige Prinzipien unb Ueberlieferungen ; 
alles Das aber iſt von der Phantafie beherricht: und Phantaſie zu Haben, darf ſich 
nur Der erlauben, dem fie fteht und ber fie durch den Gebraud, rechtfertigt. 





- Brummell. 301 


dem Bauber. Er fchreitet nicht gegen ihn ein. In drei Jahren iſt Brummell Ka⸗ 
pitän. Blöglic erhält fein Regiment Befehl, in Mancheſter Garniſon zu beziehen: 
und nur deshalb verläßt ber jüngfte Kapitän des glänzendflen Regiments ben 
Dienf. Er fagte dem Prinzen von Wales, er habe ſich nicht von ihm entfernen 
wollen. Das klang liebenswürbdiger, als einfach „London“ zu fagen; benn in erfter 
Reihe war es London, was ihn zurüdhielt. Hier war fein Ruhm geworden; bier 
war er bodenfländig, in biefen Salons, wo ber Reichtum, die Muße und ein bis 
ins Letzte verfeinerter Lebensftil bie liebenswitrdigen Affeltationen erzeugen, die 
das Natürlie erjegt haben, Die Perle bes Dandysmus, nach der Yabrifftabt 
Manchefler verſchlagen: Das ift eben fo ungeheuerlich wie Rivarol in Hamburg. 

Er rettete die Zukunft feines Aufes: er blieb in London. Er nahm eine 
Wohnung in Chefterfielb-Street Nr. 4, gegenüber Georges Selwyn, auch einem 
Geſtirn am Himmel ber Mode, das ihm erbleichend hatte weichen müſſen. Sein 
Vermögen, immerhin anſehnlich genug, war nicht auf ber Höhe feiner Stellung. 
Andere und ihrer viele unter biefen Söhnen von Lords und Nabobs entfalteten 
einen Luxus, der ben Brummells hätte vernichten müſſen, wenn Das, was nicht 
dentt, Das, was denkt, zu vernichten im Stande wäre. In der Art, wie Brummell 
Aufwand trieb, war mehr Klugheit als Glanz; ein Beweis mehr für die Sicher- 
beit dieſes Geifteß, der den Prunk der Farben ben Wilden überließ und ber [päter 
das große Ariom ber Kunft des Anzuges fand: „Gut gelleibet fein, Heißt: nicht 
auffallen.” Bryan Brummell Hatte immer gute Pferde, einen ausgezeichneten Koch 
und ein Heim, wie es fich eine frau, die Etwas vom Dichter beſäße, einrichten 
würde. Er gab ausgezeichnete Diners, bei benen bie Tifchgenoffen eben fo erlejen 
waren wie die Weine. Wie feine Landsleute, in dieſer Epoche zumal,*) pflegte auch 
er bis zur Berauſchung zu trinken. Mit feinem Mräftigen, fchwerblütigen Körper ver⸗ 
langte ihn aus ber Einförmigfeit dieſes müßigen engliichen Dafeins, dem ber Dandy 
nur zur Hälfte entrinnt, heraus nach der Erregung jener anderen Welt, die ſich 
dem Trinker erſchließt, einer Welt, beren Puls rafcher fchlägt, die klangvoller an 
Zönen ift und von Lichtern glänzt. Aber auch dann, den Fuß fchon im wirbligen 
Abgrund ber Trunkenheit, vergab er ſich nichts; fein Scherz blieb immer innere 
halb ber Grenzen des Schidlichen und niemals fiel feine Eleganz aus der Rolle. Man 
Denkt unwillfiixfih an Sheriban, befien Rame ſich Einem immer wieder auf die 
Zippen drängt, fobald man das Wort Ueberlegenheit ausfprechen will. 

... Brummell bat der Kunſt des Anzugs, wie fie ber große Ehatham**) pflegte, 
weitaus geringere Wichtigfeit beigelegt, ald man glaubt. Seine Schneider Davidſon 
und Meyer, aus benen man mit ber ganzen Dummheit ber Unverſchämtheit die 
Bäter feines Ruhmes bat machen wollen, Haben in feinem Leben keineswegs ben 


*) Alle tranken fie, die Thätigften wie die Müßiggänger, von ben Lazzaroni 
Der Salons angefangen (den Dandies) bis zu den StaatSminiftern. „Trinken wie 
Bitt und Dundas“ ift ſprichwörtlich geblieben. Wenn Pitt trank, die große Seele, 
die die Liebe zu England erfüllte, aber nicht ftillte, fo gefchah e3 aus dem Durfte 
nad Abwechjelung. Gerade bie Stärkften fuchen oft ihre Natur von ihrer Richtung 
abzulenten; leider aber geht fie nicht immer auf dieſe Abficht ein. 

+) Der einzige aus der Geſchichte befannte Mann, der groß geweſen ift, 
obne einfach zu fein. 


202 Die Bukunft. 


Platz eingenommen, ben man ihnen anweift. Hören wir lieber Lifter: er zeichnet 
nad dem Leben. „Der Gedanke, feine Schneider Fönnien auch nur das Geringſte 
zu feinem Anſehen beitzagen, wiberftrebte ihm; wenn er fi auf Etwas verlafien 
bat, fo war es ein vollendet ficheres Benehmen, der Heiz vornehmer Höflichkeit, 
Gaben, die er in hohem Grade bejah.” Es Täßt fich nicht leugnen, daß er fidh, 
als er noch am Anfang feiner Laufbahn ftand, wie es feinen Außerlichen Veftrebungen 
entiprach, mit der Form in allen ihren Erjcheinungen befonders befaßt bat; es war 
ja die Zeit, da Eharles Kor, ber Demokrat, offenbar blos als einen Totletteeffeft, den 
höfiſchen rothen Abja in die englifche Geſellſchaft brachte. Brummell wußte jehr 
wohl, daß bie Kleidung eine heimliche, aber darum nicht minder thatjächliche Wirkung 
gerade auf die Menfchen ausübt, bie fie von der Höhe ihres unfterblichen Geiſtes herab 
mit der größten Seringfchätung behandeln. Später aber hat ex fich, wie Lifter erzählt, 
dieſer Lieblingbeihäftigung feiner Jugend entſchlagen, ohne ihren Gegenſtand völlig 
außer Acht zu laffen; er that dafür, was feiner Erfahrung und Beobachtung gemäß fich 
als ziemlich erwies. Er war auch dann noch flet3 tadellos in feinem Anzug, aber er 
dämpfte die Farben feiner Kleider, vereinfachte ihren Schnitt und trug fie, ohne 
daran zu denfen*). Auf diefe Weije gelangte ex auf den @ipfel der Kunft, wo 
fie wieder Ratur wird. Aber (und Dies bat man leider gänzlich überſehen) Die 
Mittel, deren er fih zur Wirkung bedtente, waren anderer, vornehmerer Art. Man 
bat ibn als ein blos vom Bhyfiihen aus zu werthendes Weſen betrachtet und es 
war im @egentbeil das Geiftige, was ſogar die ihm eigene Art von Schönbeit 
beflimmte. Wirklich fiel ex auch viel weniger durch bie Regelmäßigkeit feiner Züge 
auf als durch den Ausdrud. Wie Alfieri hatte er faft rothes Haar; und ein Sturz 
vum Pferd bei einer Attaque hatte bie griechifche Linie feines Profils gefchäbigt. 
Die Urt, wie er ben Kopf trug, war jchöner als jetn Geficht; und feine Haltung (die 
Phyſiognomie des Körpers) übertraf an Vollendung feine Formen. Hören wir 
Kifter: „Ex war weder ſchön noch häßlich; aber feine ganze Perfönlichkeit war 
böchfte Feinheit und Ironie und fein Blid von einer unglaublich durchdringenden 
Schärfe." Manchmal freilich Eonnten dieje hellſichtigen Augen vor Bleichgiltigkeit 
geradezu erftarren und in biejer @leichgiltigfeit war nicht die Spur von Verachtung; 
fo ſchickt es ſich ja für den volllommenen Dandy: bie fihtbaren Dinge diefer Welt 
reichen nicht an ihn heran. Seine pracdhtvolle Stimme ließ bie englilche Sprache 
fo fhön ins Ohr fallen, wie fie den Augen und dem Denken ſich barftellt. Hören 
wir nochmals Liſter: „Er that nit fo, als ob er furzfichtig wäre, er Tonne jebodh, 
wenn bie Anmwefenben nicht das Anfehen befaßen, das feine Eitelkeit beanſprucht 
Hätte, den rubigen, aber jchweifenden Blid annehmen, ber an Jemand entlang 
geht, ohne ihn zu erkennen, den Blick, ber nirgends Hält und fich nicht halten läßt.“ 

So war ber Beau Georges Bryan Brummell. Ich, ber ich ihm bieje Seiten 
widme, babe ihn im Alter gefehen und man erkannte auch damals noch, was er in 
feinen glänzendften Fahren geweien fein mußte; denn der Ausdruck ift von ber Zahl 
der Runzeln unabhängig und ein Mann, ber vor Allem durch feine Phyfiognomie 
merkwürdig ericheint, ift minder fterblich als ein Anderer. 

SulesjAmedee Barbey b’Aurepilly. 


*) Wie wenn fie ohne Gewicht wären. Ein Dandy darf, wenn es ihm ber 
liebt, zehn Stunden mit feinem Unzug zubringen, aber ift er einmal beendigt, vergißt 
er ihn. Sept iſt e8 Sache der Anderen, zu bemerken, daß er gut angezogen ift. 

s 





Seifenblafen. 203 


Seifenblajfen. 


[8 die Begeiferung fiber Deutſchlands Wirthſchaſtkraft den höchſten Punkt 
erreicht hatte, gab es fir die Phantaſie nur ein Biel: ben Truft nach ame⸗ 
ritaniſchem Mufter. Das Zufammenballen großer Kapitalmafien jchien ber Weisheit 
letzter Schluß; unb Alle jagten dem Truftphantom nach, Finanzleute und Inbuftrielle. 
ber auf flüchtiger Kugel enteilte bas Glück. Keiner konnte es faffen. Ueber Leichen 
ging die Jagd. Schließlich ermatteten die Hurtigen Jäger; und num gilts, den Saldo 
zu finden. Die Liquidation der Aera des Trufigedantens bat begonnen. Man könnte 
mit bem Bruch zwiſchen Dresden und Schaaffhaufen anfangen, wenn hier nicht noch 
bie Beſonderheit der Intereſſengemeinſchaft dazu käme, die einen Theil der Schulb 
an bem Ylasto trägt. Aber die Grundidee war doch: einen Kapitalriefen zu fchaffen, 
deſſen Große über den Atlantic hinweg auch den Yankees imponiren follte. Und 
fo darf man biefe Eptfode dem Kapitel, daS von des Truſtwahns Schidfalen Handelt, 
Hinzufügen. Dann kam ber Jabresabichluß des Phoenix; das zweite Fiasko einer 
Sapitallonzentration. Das Jahr 1907/08 mußte die erſte Brobe auf bie Richtig⸗ 
feit bes Trufterempels (zuerſt Fufton mit dem Hörber Berein, dann Uebernahme 
bes Bergwerks Nordſtern) bringen. Das Aktienkapital von 100 Millionen Mark 
war zum erfien Mal voll zu Dividende berechtigt; Ergebniß: 6 Prozent weniger. 
Durch die Bereinigung mit Hoerde und Nordftern wurde aus der Altiengejellichaft 
Phoenix ein Phoenix⸗Truft. Die Fuſion mit Nordfiern allein forberte eine Er⸗ 
böhung des Aktienkapiſals um 28 (auf 100). und bie Aufnahme einer Anleihe von 
20 Millionen. Heute hat der Concern ein Betriebskapital von rund 136 Millionen. 
Mit der Herftellung neuer Aftien und Obligationen iſts allein aber nicht gethan. 
Man braucht audy eine Nentabilität. Dividenden laſſen fich nicht aus der Erbe 
Rampfen; und bie für Nusnahmeverhältnifie gefchaffenen truftartigen Gebilde Tönen 
sıux unter Ausnahmekonjunkturen gedeihen. Die kann ein. beuticher Kapitaltruſt 
uicht verbitegen. Uns figt bie Solibität zu tief im Blut. Anders bei ben Yantees, 
Denen es nichts verichlägt, wenn mal eine Rieſenſeifenblaſe plagt. Man jchüttelt 
fich; und bläft eine neue auf. Der Phoenix mußte für ben Nordſtern einen unge 
Heuerlichen Preis zahlen. Wie e8 gemacht wurbe, babe ich Hier ſchon gezeigt. Da 
iR von vorn herein im Kapitalban ein Hohlraum, der unter Umftänden gefährlich 
werben Tann. Die Verwaltung fieht es ein und fchreibt deshalb von Dem viel zu 
«heuer erworbenen Bergwerk tüchtig ab. Damit läßt ſich fchließlich der Hohlraum 
ausfüllen; aber e8 gebt auf Koften ber Dividende. Und ber Zubel fiber das Ent» 
ftehen des zweitgrößten beutfchen Montanconcerns ift ſchnell verhallt. 

Die That fieht man nie fo nüchtern wie ihre Konfequenzen. Dem beutfchen Mon⸗ 
tantzuft, der an der Spige marſchirt, wird wohl auch bald vor feiner eigenen Größe ' 
Bang werben: dem Rieſen Gelfenlirchen, bem einft an ber ſtählernen Rüſtung bie 
Beinſchienen fehlten. Heute ift er von oben bis unten in einen Panzer gehüllt, 
der ungefähr 208 Millionen Mark geloftet Hat. Die ſetzen fich aus Aktienkapital, 
Obligationen und Referven zujammen. Je theurer die Ruſtungen, defto koſtſpie⸗ 
Iiger natürlich, auch die Aufgabe, fie hieb⸗ und ftichfeft zu erhalten. Die Biertel- 
milliarde wird alſo vol gemacht werden. Damit kommt Gelſenkirchen unferem größten 
Finanzinſtitut, der Deutſchen Bank, nah. Das tft ber Elou ber beutichen Induſtrie. 
Höher hinaus Hat fie ſich noch nie verfliegen; und bie höchften @ipfel des Kapital⸗ 





204 Die Zukunft. 


gebirges, die der Yankee leichtfüßig erFlettert, werben ihr noch lange umerreichbar 
bleiben. Da oben, in ber dünnen Quft, Tönnen nur Leute atimen, denen bas Blut 
nicht fo langſam durch Die Abern rollt wie den foliden Deutichen. Schon die Kapital- 
mafle mit dem Firmazeichen Gelfenkirchen ift dem deutichen Wirthichaftlörper zu 
ſchwer. Daß die Bergmwerkgeiellihaft neues Geld aufnimmt, zeigt, wie unbequem 
die praktiſche Ausgeſtaltung ber Truftidee bei uns if. Dabei hat Gelſenkivchen ben 
Konftrultionfehler, der in ber bloßen Intereſſengemeinſchaft mit Schale und bem 
Aachener Hütienverein lag, durch die völlige Fuſion mit Beiden befettigt. Die Form 
der Jntereffengemeinfhaft ift, nach der Meinung bes wigigften Bankenkönigs, zum 
Sterben verurtheilt. Der Satirifer vom Gendarmenmarkt (ich meine nicht Schiller) 
bat fi) and Bropbezeien gemacht und den Intereffengemeinjchaften in der Induſtrie 
das ſelbe Schidfal geweisjagt, das den Bund Dresben-Schanffhaufen gefprengt Hat. 
Die loſen Concerns im Chemifchen und Elektrotechniſchen Gewerbe werben, fo ſpricht 
er, an dem Ehrgeiz ber Direktoren fcheitern. Wenn irgendein neuer Artikel ein- 
geführt wird, möchte ihn jeder Direktor fir feinen ram; ftatt die Heibungflächen 
zu verkleinern, jchafft man neuen Zändftoff heran. So denkt ein Finanzmaun, der 
in engften Beziehungen zur Elektrizität fteht; und gerade diefe Induſtrie könnte 
als Beiſpiel für die kritiſtrte Form der lojen Vereinigung dienen. Hier leben mehrere 
Trufis neben einander, bie ein (nicht mehr geheimes) Schuglartell abgeſchlofſen 
haben. Die drei großen Eoncerns (A. E.⸗/G., Siemens⸗Schuckert, Lahmeyer) und 
Die ihnen geichäftlich nahen Firmen haben vereinbart, ſchädliche Preisunterbietungen 
zu vermeiden. Die Schugverbandsmitglieder geben bei öffentlich ausgeichriebenen 
Aufträgen gemeinfam dor, fügen ihren Koftenanichlag auf gemeinjam feſtgeſetzte 
Bedingungen und theilen ſich bann, je nach ihrer Spezialität, in bie Ausführung 
der Arbeit. Die badiiche Staatshahnverwaltung bat, zum Beifpiel, den Auftrag 
zum Bau einer elektriſchen Bollbahn an vier verichiedene Firmen vergeben. Jede 
Geſellſchaft Hat einen Thell der Beftellung auszuführen. Dadurch ſchmälert fidh 
natürlich der Verdienſt des einzelnen Unternehmens; aber jo fommen wenigfiens 
mehrere Unternehmer an bie Schüffel, während fonft nur einer gegeflen, bie Nach⸗ 
barichaft zugefehen Hätte. Und die Preife werben nicht ins Ruinöſe gejchleudert. 
Auch das Schutzkartell Focht freilich mit Waſſer. Man Hat fi noch nicht völlig - 
von dem Gedanken gelöft, daß auch die nicht zum Berband gehörenden Yirmen ein 
Dafeinsrecht haben, und darum Fühlung mit den Außenfeitern gefucht. Die Schup- 
bereinigung tft im Grunde doch nur ein Notbbebelf; auf den Truft wird eben nicht 
mehr gerechnet. Den Deutfchen fehlt die Gabe, Rapitalmaffen jo zu regiren, daß 
die Symmetrie mit den äußeren Verbältniffen nicht geflört wird. Dazu kommt 
noch der Haß des Durchſchnittsmenſchen gegen bie Berfönlichkeit. Der ift im ge 
fhäftliden Leben eben fo heiß wie in der Bolitil, Literatur und Kunſt. Trufis 
verlangen aber ftarke Köpfe, denen Eleinlicher Widerftand nicht die Arbeit erfchwert. 
Ein Direktor läßt fıd vom anderen nicht gern ausftehen. Wer wills ihm ver- 
benfen? Und wenn bie Direktoren einig find, kommen die Aktionäre, die Teine 
„genialen“ Thaten wunſchen. Die Grenzen der Entwidelungmöglichkeiten find ein⸗ 
mal gezogen; wer fie keck überfchritten Hat, muß zurüd. Zwängen ihn nicht bie 
„Hinterhände”, fo doch ſicher die Konjunkturen mit ihren wechjelnden Launen. 
Wie die Hunde auf den Hafen, fo lauern die Elektrizitätgefellichaften auf die Elektri⸗ 
fijirung der Eifenbahnen. Wo ift der Truft, der ohne Wimpernzuden den Dinger 





Seifenblajen. ‘ 205 


entgegenfieht? Da giebts nur Konkurrenten, die vor Ungebuld zappeln. Glaubt 
bei dem Anblid noch Jemand, daß ber amerikaniſche Truft bei ung eine Zukunft 
Hat? Manche ſehen in ber geplanten Gründung einer Elektrobank einen Fortſchritt 
zur Konzentration in der eleftrotechnifchen Induſtrie. Ich würde darin vielmehr 
ben Berzicht auf bie abfolute Einheit erbliden. Die Trennung von Yabrilation 
und Yinanzirungthätigleit. Die if an ſich ganz nüplich; aber fie beruht eben auf 
dem Prinzip: „Los vom Truſt!“ Die Elektrobant ſoll Aufträge finanziren. Das 
beißt: für Die von der Bank ausgegebenen Obligationen, die wiederum dazu bienen, 
den Eieftrizitätgefellichaften Betriebsmittel zuzuführen, bürgen bie Forderungen, bie 
die beteiligten Firmen an ihre Auftraggeber haben. In erfter Linie kaͤmen Gut⸗ 
haben bei Staaten und Gemeinden in Betracht, deren pupillarifche Sicherheit feſt⸗ 
ſteht. Das Ganze ift eine Art der Disfontirung von Buchforberungen, wie fie 
mehrfach theuretifch erörtert, in ber Praxis aber noch nicht erprobt wurde. Ob 
Die Elektrobank ihren Zweck erfüllen wird, die Fabrilationgefellichaften von der Un⸗ 
annehmlichkeit finanzieller Transaktionen in fyällen bes Kapitalbedarfs zu befreien? 
Die Zeit muß e8 lehren. Wer ben Truft für ficher hält, braucht ſolche Bank nicht. 

Im Lande der Dichter und Denker Spielt auch bie fpefulative Phantafie eine 
Rolle. Eine neue Anregung: ein neues Luftſchloß. Dieſe Luftichlöffer find meift 
jehr theuer; auch wenn fie nicht von einer Kataſtrophe zerftört werden. Schon eine 
Ernüdterung genligt, um Millionen in Bewegung zu bringen. Die bloße Mög⸗ 
lichkeit, dab mit der Elektrifizirung der Vollbahnen in abjehbarer Zeit begonnen 
wird, gab den Kurſen ber Elektrizitätaltien einen ftarfen Stoß nad) oben. Be 
jonnene warnten vor übexeilter Kapitalijirung in weiter Ferne liegender Chancen. 
Bis die Geſellſchaften lohnende Aufträge biefer Art bekommen, können noch viele 
Sabre vergehen. Die Sefammtlänge der deutichen Eifenbahnen beträgt ungefähr 
33 000 Kilometer. Man bebenfe, wie viel Zeit vergeben wird, bis dieſes Schienen» 
nes für ben eleltrijchen Betrieb brauchbar ift. Aber die Phantafie läuft mit dem 
elettrifchen Funken um bie Wette. Der ift feines Zieles freilich ficherer. 

Ich weiß nicht, ob Albert der Große in Hamburg, der Herr ber Ballinie, 
Beute ſchon zugeben wird, daß auch der Leiftung feines Hirns Grenzen gezogen find. 
Keine fo engen wie dem von Patrizierftol; gelähmten @efchäftsgeift ber Hanfeaten 
an der Weſer; immerhin: Grenzen. Die beiden großen beutfchen Rhedereien ge» 
hören mit zum „accaparement en Allemagne“. So bat ein Franzofe bie kapi⸗ 
taliftifche Konzentration in Deutfchland genannt. „Wucherifche Anhäufung von Ka⸗ 
pital.” Sein feined Wort; aber, wenn man fo will, auf jeben Truſt anwendbar. 
Die beiden Schiffahrtgejellichaften haben zufammen ein Kapital von mehr ald 400 
Millionen (mit Anleihen und Neferven). Nach dem Yankeemaßſtab ift Das noch 
feine Summe, die Reſpekt einjlößt; aber im Nahmen begrenzter Möglichkeit fiebt 
ſichs ſchon ganz niedlich an. Diefer Kapitaltoloß Hat den Truftgebanten nur fehr 
unbolllommen verlörpert. Man muß von den beiden Hälften der Naumarchie jebe 
für fich betrachten. In Hamburg regirt Einer, der ein Truftfönig fein könnte. Einer, 
ders gewagt bat, mit ber ganzen berliner Haute Banque Schindluber zu fpielen. 
Freilich rücht fich die beleidigte Großmacht nun dadurch, daß fie ſich um bie Packet⸗ 
fahrtaktie nicht im Mindeften befümmert. Mag die fid im Souterrain einlogtren, 
wenns ihr in ber Beletage zu theuer if. Aber den Kurs ftügen? „XS nich!" Ballin 
iſts Bomabe. Was gebt ihn ber Kurs an? Was kümmern ihn überhaupt bie Aktio⸗ 


206 . Die Zukunft. 


näre? Schön: zahlen wir im nächſten Jahr Teine Dividende! Nun könnte aber ein 
Tag kommen, wo Ballin erklärt: „Ych mache nicht mehr mit”. Das fürchtet Mancher; 
denn die HAL wurzelt mit ihrer beften Kraft in ber Perfönlichleit bes Herrn Ge⸗ 
neralbireltors. Hat Der die Möglichkeiten ber’ deutichen Wirthſchaft überſchätzt, ſo 
werben bie Aktionäre ben Irrthum zu bezahlen Haben. Balltı hat fih, wie immer 
im Herbft, interpiewen lafien; diesmal aber oßne ben üblichen Schwung gefprochen. 
Richt Ausbau, fondern Einihräntung. Das Llingt wie müde Reſignation. Steine 
neuen Rurusdampfer mehr; Abbruch ber älteren Schnellbampfer, um ben neuen 
Schiffen Konkurrenten vom Hals zu ſchaffen; ein gemäßigtes Bauprogrammı aller 
am transatlantifchen Verkehr beteiligten Linien; gemeinjame Aufftellung eines ver- 
nünftigen Fabrplanes. Kurz: Befreiung bes Schiffahrtgewerbes von der Laſt einer 
Meberproduftion an Dampfern. Die Hochkonjunktur bat wie ein Treibhaus ge 
wirkt. Unb nun wimmelis auf den großen Routen von Schiffen, die für die Er⸗ 
tengsfähigkeit der anftänbigen Rhedereien eine ftete Gefahr bilden, Man muß alio 
Zonfolidiren. Da ift das berühmte Wort, das im Seemannsdeutich „die Flagge 
ftreihen” beißt. Die Rhedereien follen Schugverbände bilden, deren Zweck ber Auf. 
kauf und das Abbrechen aller Schiffe von beſtimmtem Alter zu fein bat. Das Ka⸗ 
pital ift, wie man in Defterreich jagt, abmallirt worden. Da gabs keine Hemmun⸗ 
gen; denn man mußte den Yankees zeigen, daß man fchlieglich auch nicht fo ganz 
ohne ift. Wo ftand gefchrieben, daß die Truſts Aleingut der Amerikaner bleiben 
mäfjen? Deutfchland trat mit in Die Schranken und kanterte ab. Broken down. Beim 
Lloyd ſiehts noch ungemüthlicher aus als bei der Hapag. Die Bremer hatten nicht 
das Glück, Aufträge zu Neubauten wieber zurüdziehen zu lünnen. Die neuen Dampfer 
möüffen abgenommen und bezahlt werden. Die Tilgungfriften werben jetzt ja möglichft 
bequeme fein und die Geſellſchaft zunächſt nicht allzu ſchwer belaſten. Allgemein aber 
heißts, der Lloyd ſei in übler Lage; man ſprach fogar Schon von der Möglichkeit einer 
Sanirung. Das böfe Wort verklang freilich ſchnell. Lehrt aber, welches bange Ge» 
fühl der Unblid der kranken Kapitalriefen auflommen läßt. Immer deutlicher zeigt 
fich eben, daß Manches, was man in den legten Jahren ald „Errungenfchaft“ pries, 
zu den Dingen gehört, von denen e8 befler wäre, wenn fie nicht beftünben. Die 
Einrichtungen und Sitten bürfen nicht nur Glanzzeiten angepaßt fein, ſondern müffen 
auch am Alltag, ſogar an kritiſchen Tagen ihre Lebensfähigfeit erweiſen. Das ift 
bier und dba bei uns vergeffen worden. In den legten Wochen ſprach die Börfe 
viel von Kriegsmöglichfeiten. Die erſten Alarmnachrichten aus dem Drient warfen 
die Kurfe; die der (in Orientgeſchäften beſonders ſtark engagirten) Deutschen Want 
in einer Stunde um 5 Prozent. (Mm höchſten ifraelitiihen Feiertag. Direktor 
Mantiewig, in dem Biele den heimlichen Kaifer der „Deutfchen” jehen und ber das 
Börfeninftrument jedenfalls beſſer als feine Kollegen fpielt, fol recta aus der Syna- 
goge in die Burgftraße geholt worden jein. Und wird wohl einigermaßen Darüber 
geftaunt haben, daß man eines winzigen Angebotes wegen das erfte deutſche Papier, 
ohne es zu halten, jo jäh fällen ließ. Oder war Abficht, was wie Ungeſchicklich⸗ 
teit ausfah? Das gehört aber in ein anderes Kapitel.) Die Börſe bat fih danm 
noch ſchneller beruhigt als die Diplomatie. Weil fie mehr Nafe bat? Aber man be» 
denke einmal, wie es im Burgſtraßentempel ausjehen würde, wenn wirklich ein unfere 
Intereſſen, politifche und wirthichaftliche, nah berührender Krieg ausbräche. Welche 
Widerftandstraft dann die „Riefen“ zeigen würden. Und mir ſcheint, Daß man, beſon⸗ 
ders heute, auch an ſolche Möglichkeit Schwarzer Tage vorausdenten muß. Labon. 
Derausgeber und veranttnortlicher Redakteur: M. Harden in Berlin. — Berlag ber Zutunft in Berkt«. 
Trud von G. Bernftein in Berlin. 














Berlin, den 7. November 1908. 


— —— — 





Gegen den Kaiſer. 
Thatbeſtand. 


m achtundzwanzigften Oktoberabend ſtand in der londoner Zeitung 

The Daily Telegraph ein Artikel, der den Titel „The German Em- 
peror and England“ trug und als personal interview bezeichnetwar. Der 
Verfaſſer ließ den Deutſchen Kaifer in direkter Rede zu einementamtelen brie 
tiichen Diplomaten ſprechen. „Ihr Engländer ſeid völlig verrüdt. Oft und 
laut habe ich Euch gejagt, daß einer der heißeften Wünfche meined Herzend 
der ift, mit England in befter Freundſchaft zu leben. Falſchheit und Arglift 
find meinem Weſen fremd und mein Handeln bemeilt die Wahrhaftigkeit 
meiner Worte. Daß Ihr fie mißdeutet und mir nicht glaubt, empfinde ich al 
eine [were perfönliche Beleidigung. Ein großer Theil Eurer Preſſe warnt 
dad Bolt, die Hand, die ich Euch hinftrede, zu faffen, und behauptet, meine 
andere Hand halte einen Britanien bedrohenden Dolch. Ich kann immernur 
wiederholen, daß ich Englandd Freund bin. Aber ich bin in meinem Land mit 
diejem Gefühl in der Minorität. In breiten Schichten Deutichlands, unten 
und im Mittelftand, ift die Stimmung Euch unfreundli. Mit aller Kraft 
arbeite ich an der Befjerung unjerer Beziehungen: und Ihr ſeht in mirden Erz⸗ 
feind. Während des ſũdafrikaniſchen Krieges war Deutſchland von bitterfter 
Feindſchaft gegen Euch erfüllt. Deffentliche und private Meinung kehrte ſich 
wider England. Was aber that ich? Wer hat denn der Rundreiſe der vonden 
Buren Abgeordneten, die eine europäijche Intervention gegen Euch erwirfen 
follten, ein Ende gemacht? Ich. Die Leute waren in Holland und Frankreich 
bejubelt worden und auch das deutſche Volk hätte ihnen gern Kränze gewunden. 
Schaberweigertemich, ſie zuempfangen: und jofort hörtedieAgitation aufund 

16 


308 Die Zukunft. 


Eure Feinde konnten nichts ausrichten. Als in Südafrika der higigfte Kampf 
tobte, forderten die Regirungen von Rußland und Frankreich uns auf, gemein⸗ 
fam vorzugehen und die Beendung des Krieged zu erzwingen; fie meinten, 
die Stunde ſeigekommen, wo man England bis inden Staub erniedern könne. 
Ich antwortete, Deutichland werde nie an der Vorbereitung einerRiederlage 
Britaniend mitwirken, nie für eine Politik zu haben fein, die e8 in einen Kon⸗ 
flift mit einer Seemacdht vom Rang Englands zu bringen vermödte. Im 
Archiv des Schloffed Windjor lirgt dad Telegramm, in dem ich damals der 
Königin Victoria den Plan Eurer Feinde und meine abweijende Antwort 
meldete. Daß ift noch nicht Alles. In der Schwarzen Woche (im Dezember 
1899), als Eure Fehlſchläge fich Häuftenundein Brief meiner verehrten Groß⸗ 
mutter den tiefen Kummer ihreö&emüthes verrieth, begnügte ich mich nicht 
mit einer ſchnell meine Sympathie außdrüdenden Antwort, jondern that noch 
mehr: ich ließ von einem meinerÖffiztere die Kopfzahl und die Pofition der 
in Südafrika auf beiden Eeiten fechtenden Truppen feftftellen, entwarf nach 
diefen Angaben den unter ſolchen Umftänden für Englands Intereſſen taug⸗ 
lichften Feldzugsplan und ſchickte ihn, als mein Generalftabihngebilligt hatte, 
nach England. Auch diejes Dokument liegt in Windſor Caftle. Und mein 
Kriegsplan glich in allem Wefentlichen dem vomLordRobertsdann mit Erfolg 
auögeführten. Handelt jo ein geind Englands? Aber Ihr ſagt, unſer Flotten— 
bau bedrohe Euch. Nein: Wirbrauchen eine große Flotte, um unferen Handel 
und unjere anderen Intereffen zu jchügen. Der Kreis diefer Intereſſen wird 
ſich nodj erweitern. Wir müſſen un für die Auseinanderjegung vorbereiten, 
die im Stillen Ozean (früher, ald Manche glauben) nöthig werden wırd. Ja⸗ 
pans rajcher Aufiticg und Chinas Erwachen zeigt, welche Aufgaben ım Fernen 
Dften von den europätichen Mächten zu bewältigen find. Um für den Kampf 
um die Zukunft des Stillen Ozeans in Bereitichaft zu fein, brauchen wir eine 
ftarfe Flotte. Wenn in diefem Kampf einft britische und deutjiche Gefchwader 
für die jelbe Sache ftreiten, wird auch England ſich der Thatſache freuen, daß 
Deutſchland fich eine große Flotte geihaffen hat.“ Das ift der Hauptinhalt 
der personal interview. Ein Seitenpfad deö Gefpräches hatte nach Maroffo 
geführt. Der Kaiſer beftritt, daß Deutichlands haftiged Eintreten für Muley 
Hafıdvondem Wunſch bewirkt worden ei, denWeſtmächten am Atlas den Weg 
zu |perren, und behauptete, Frankreichs Konful fei viel früher als Deutjch- 
lands von Tanger nach Fez, in dieRefidenz dei neuen Sultang, zurückgekehrt. 

Als die Interview (am neunundzwanzigften Dftober) in Deutjchland 
befannt wurde, glaubten einfältige Gemüther, Meinung und Wort des Kai⸗ 











Gegen den Kaiſer. 209 


ſers jeien gefälfcht, entftellt oder mindeftens durch groben Vertrauensbruch 
and Licht gebracht worden. Die Enttäufchung kam ſchnell. Wolffs Telegraphi⸗ 
ſches Bureau und die Norddentiche Allgemeine Zeitung übernahmen den Ar» 
tifel des Daily Telegraph. Damit war der Wortlaut beglaubigt; war auch 
erwiejen, dab der Kaijer die Verbreitung wũnſche. Nun brach der Sturm los; 
drinnen und draußen. Wuth und Hohn, Geheul und Gelächter im Ausland; 
überall. (Nur ein paar britiiche Schlauföpfe, die unjere Machtquellen ganz 
verjchüttet jehen möchten, lobten diefriedliche Abficht Wilhelms, dereben doch 
Britenblut in den Adern habe.) Sn Deutichland eine leidenichaftliche Empör: 
ung, wie fie ein Halbjahrhundert lang nicht erlebt ward; in Nord und Süd; 
in allen Ständen; auch in der Armee. Niemald war über den Kaijer laut 
jo geredet, nie noch jo gejchrieben worden. Daß der Reichäfanzler von der 
Interview und von dem Willen zur Veröffentlichung nicht8 gewußt habe, galt 
ald gewiß. Perjönliched Regiment, Abjolutismus, impulfives Handeln, ro» 
mantiſche Bolitif, Pflicht des verantwortlichen Berathers: all die alten Leit⸗ 
motive hörten wir wieder; nur war dad Orcheſter diesmal viel größer und 
ſpielte fortissimo. Was wird der Kanzler thun? Er muß gehen. Dem Kat» 
ler jagen, daß jolche Heberrumpelungen den Erfolg des Reichsgeſchäftes ver: 
eiteln und daß Gewiſſen und Selbftadhtung ihm raſchen Rücktritt befehlen. 
Vielleicht Hat er daran gedacht. Sicher feinem Herrn harten Tadel nicht er⸗ 
Ipart. „Was wollen Sie denn nun wieder von mir? Dieömal habe ich Sie 
ja fogar gefragt. Und Sie haben die Veröffentlichung gebilligt: unter dem zu⸗ 
ftimmenden Bericht fteht Shr B.“ Ungefähr jo mag die Antwort gelautet 
haben. Am legten Dftoberabend erfuhr der Erdkreis, daß der ftaijer Dad Ma- 
aujfript an den Kanzler geſchickt und die Veröffentlichung erſt geitattet habe, 
ald deſſen Zuftimmung eingetroffen war; dieje Zuftimmung ftüßte ſich aber 
nicht auf eigene Kenntniß, jondern aufein Gutad;ten des Auswärtigen Amted; 
wenn der Kanzler dad Manujfript ſelbſt nelejen hätte, wäre ed mit jeinem 
Willen nicht veröffentlicht worden; da er die ihm unterftellten Beamten mit 
jeiner VBerantwortlichkeit decken müſſe, habe er jeinen Abjchied erbeten und 
nach deſſen Ablehnung die Erlaubniß zur Veröffentlichung des Thatbeitandes 
erwirkt, „um ungerechten Angriffen auf Seine Majeftät den Kaijer den Boden 
entziehen zu können“. Das ftand in der Norddeutſchen Allgemeinen Zeitung, 
wurde in alle Erdtheile telegraphirt und trug aus allen ung das Echo fröh- 
lichen Gelächters heim. Wahr oder unwahr, hieß es am nächſten Tag: der 
Kanzler, unter dem ſolche Zuftände möglich wurden, muß morgen vom Schau 
platz verſchwinden. Am erften, am zweiten Novembertag hieb Alles in blin= 
16* 


210 Die Zukunft. 


der Wuth auf den Kanzler ein. Auf den Liebling der Prefje. Der ift an denz 
ganzen Unbeil ſchuld. Derhat und Schandeund Spott eingebracht. Der muß 
fort: denn jein Anfehen ift hin und fein Kredit für immer pernidhtet. Bon 
dem Kaifer war faum noch die Rede. Die Meute bellte auf faljcher Fährte. 


Die Nebenfragen. 


Veber dieUnzulänglichfeit der inder Rorddeutjchen veröffentlichten Er- 
klärung braucht man fein Wort mehr zu verlieren. Der Autor war offenbar 
um alles Augenmaß, allen Refpeftvorder Mutteriprache gefommen. Kopflos. 
Hat vielleicht auch nicht die ganze Wahrheitgejagt. Aber nicht (wie noch heute 
unter Deutjchen und Fremden die Mehrheit glaubt) einfach gelogen, jondern 
den Vorgang jo dargeftelli, wie ihn die Akten erweilen. Der Kaifer ift in Ro⸗ 
minten, der Kanzler in Norderney, der Staatdjefretär ded Auswärtigen in 
Berchtesgaden. Unter den Schriftftüden, die aus Oftpreußen an die Nordfee 
gelangen, ift ein Brief des Geſandten Freiherrn von Rücker⸗Jeniſch, der wäh- 
rend der Heilen des Kaiſers die internationalen Angelegenheiten vorzutragen 
und die Verbindung mit dem Kanzler und dem Auswärtigen Amt herzuftellen 
hat. Ein dem Fürſten Bülow verwandter Herr: da, verhieß die Hoffnung, 
geht gewiß Alles glatt. Ex jchicht ein Manuffript, deſſen Veröffentlichung 
Oberſt Stewart Wortley, der Herr auf Higheliff, ald nüßlich empfohlen und 
der Kaijer gebilligt hat, und fragt, „im Allerhöchiten Auftrag”, ob der Kanz⸗ 
ler etwa Grund zumWiderjpruch finde. Keine Andeutung, daß ed fich um eine 
Interview, um bejonderd Wichtiged handle. (Wußte Freiherr von Rücker⸗Je⸗ 
niſch nicht, was er weitergab? Mußte er den Vetter nicht auf die Bedeutung 
der Sache hinweilen? Und diefem im aftiven und im paffiven Sinn bequemen 
Millionär hatte man für nahe Zeit einen Botjchafterpoften erften Ranges 
zugedadht.) Englifch, dünne Blättchen, Schlechte Schrift: Fürft Bülow hat feine 
Luft, den Artikel zu lejen. Was der Kaijer fürnüglich und Jeniſch mindeftens 
für publizirbar hält, Tann zu ernften Bedenken doch kaum Anlaß geben. Herr 
von Müller, der das Reich im Hang vertritt und jegt zur Dienftleiftung nad} 
Norderney befohlen ift, erhält den Auftrag, da8 Manuffript zu Prüfung und 
Berichterftattung and AuswärtigeAmt zu fenden. Wer ift da zuftändig? Der 
Dezernentder Preßabtheilung ift beurlaubt. Der Unterſtaatsſekretär noch nicht 
lange im Amt. Als zuverläffigfter Aftentennergiltinder Politiſchen Abtheilung 
GeheimrathKlehmet. Der befommt WortleysBlättchen, meint,erfollenurprüs 
fen, ob die Angaben richtig feien, und meldet, er jehe fein Bedenken, das gegen 
die Rublifatton ſpreche. (Cin Beamter, der faft anderthalb Sahrzehnte inder 








Gegen den Kaifer. 211 


Politiſchen Abtheilung ift, würdig befunden ward, in Algeſiras am Konferenz⸗ 
tiſch zu fitzen, dort freilich für ſeine Beſcheidenheitvon dem Herrn Tardieu mit 
verdächtigem Lobſpruch geſpeiſt wurde, aber nicht ſo blind ſein kann, daß er eine 
Bombe für ein Oſterei hält. Cr mußte merken, was er da vor fich hatte; mußte 
auch die Küden und Mängel der Angabenerfennen.) Dieſer Bericht, derjeinen 
Berfaffer als untauglich zu jelbftändiger Arbeitermweift, geht nach Norderney. 
Herr von Müller legt ihn mitdem Manuffript, das er noch immer nicht lieft, 
nicht einmal flüchtig anblättert, zu den für die Unterjchrift fertigen Sachen 
und der Kanzler fett, ohne zu ahnen, wad er thut, unter den nun hiftoriſchen 
Namen Klehmet ſein B. Erledigt. Norderney: Rominten- Higheliff- London. 
Die Herren Jeniſch, Müller, Klehmet jcheinen mir jchuldiger als der Kanz- 
ler. Hatten fie Angft, fich die Finger zu verbrennen? Scheuten alle Drei den 
Zorn deö Herrn, der ſich zwar zu einer $rage bequemen, eineverneinende Ant« 
wort aber nicht hören mochte ? Wahrjcheinlich. Auch den Fürften Bülow hat 
mehr ald Papier und Schrift wohl die Furcht vor dem Aerger gejchreckt, der 
hinter den dünnen Blättchen lauern konnte. Gewiß wieder ein Verſöhnung⸗ 
artifel mit den Schönften Betheuerungen undallzu perfönlichem Accent. Nicht 
gerade angenehm. Wer aber jelbft vor ein paar Wochen mit einer engliſchen 
Interview fo tief ind Fettnäpfchen gerathen ift, kann fich mit feiner Voraus» 
fit publiziftiicher Wirkungen nicht brüften. Vielleicht mußte dem Kanz⸗ 
ler daran liegen, feinen Herrn (der von der Schweigfamfeit Defterreichs juft 
verftimmt war und den Empfang Szögyienyis hinausſchieben wollte) für 
wichtige Entjcheidungen bei guter Zaunezu erhalten. Daß erftumm geblieben 
wäre, wenn er geahnt hätte, was Wortley ans Licht zu bringen trachtete, darf 
jelbft der Feind ihm nicht zutrauen; ſelbſt der$reund aber, daß erfleinen Kon» 
fliften gern ausbiegt. Der Kaifer, ein ald Gentleman befannter Britenoberft, 
Vetter Jeniſch und der Altennibelung Klehmet: gar ſo ſchlimm konnte die Sache 
nicht ſein. Und man muß die Widerſtandskraft für den Balkanſtreit ſparen. 

Eine wunderliche Geſchichte; keine fürchterliche. Das Merkwürdigſte 
dünkt mich, daß in den Wochen, die zwiſchen der Rundreiſe und der Veröffent⸗ 
lichung des Manuffriptes Tagen, weder der dem Kanzler verwandte Freiherr 
von Jeniſch noch der dem Preßbureauchef benachbarte Geheimrath Klehmet 
von dem zu erwartenden Kanalfeuerwerk ſprach. Iſts nicht der Rede werth, 
wenn der Deutfche Kaijer ſich in direfter Rede an Englands Bolf wendet und 
Staatögeheimniffe entjchleiert? Unbeträchtlicheres jpricht ſich unter Kollegen 
ſonſt ſchnell herum. Wer hatte hier ein Intereffe daran, zujchweigen und den 
Kanzler ungewarnt zu laffen? Später mag auf jolche Fragen geantwortet 





2123 Die Bulunft. 


werden. Seht gehts um Gröbered. Die Maßgebenden werden künftig nicht 
mehr ſämmilich zurfelben Zeit verreifen, das Auswärtige Amt mird eine mo» 
dernere Organifation, die Politiſche Abtheilung endlich einen Direktor bes 
kommen. Berjehen und Dummbeiten werden auch dann möglich bleiben. Der 
Chef war wieder einmal zu janft. Wollte er die Geſchichte in allen fünf Erd: 
theilen außjchellen lafjen, dann mußte er zugleich auch Die Leichen der Schul⸗ 
digen ferviren. Aber die Klehmetiade giebt Keinem dad Recht, dad Aus⸗ 
wärtige Amt für ein Rarrenhaud, die darin arbeitenden Räthe für Idioten 
zu erflären. Diejes Geſchäft könnten wir unferen Feinden überlafjen, gegen 
deren Wiühlarbeit die jetzt Gejchmähten in diefem unruhvollen Herbit fich bis 
zur Krafterſchöpfung zu wehren hatten. Uebertragt den all ind Sournaliftt- 
ſche. Der Verleger oder Hauptlapitalift reicht ein Manuffript zur Prüfung 
ein. Rechnet natürlich darauf, daß ed angenommen wird; will aber jeine Be⸗ 
Iheidenheitund Korreftheitzeigen. Der erite und der zweite Redakteur drüden 
fid) von der Entjcheidung weg; weil fielinheil wittern und ſich Zupiterd Blitz 
allzu nah fühlen. Der Nachtredakteur, an den die Brüfungpflicht abgejchoben 
wird, ahnt, was ihm dräut, und läßt fein Bedenken wach werden. Nach der Ver⸗ 
öffentlichung entfteht ein Sturm: und der Chefredakteur jagt (mit gutem Ge⸗ 
willen), wenn der Inhalt des Manuffriptesihm befannt geworden wäre, hätte 
erKopfund Kragen dran geſetzt, den Drud zu hindern Wir haben Aergereder- 
lebt. Wer zwei Zuftren lang in den höchiten Tönen den Herrn, den Grafen, den 
Fürften von Bülow gepriejen hat, darfihnmwegendiejerarmfäligen Sache nicht 
mit verächtlicher Rede zur Thür hinausweiſen. (Standen aufden Blätterngar, 
wiegeraunt wird, lobende Randbemerfungen ded Kailers, jo ift Alles erklärt.) 
Eine armjälige Sache iſts. Bon den Vertheidigern vorgezerrt, um von 
der Hauptfrage abzulenken. Höliich Eluge Briten wollten die Beröffentlihung: 
drum wäre ie mit oder ohne Zuftimmung des Kanzlers irgendwo möglichge- 
worden. Und hat denn erft die Veröffentlichung und gejchudet? Nur fie? Je— 
der patriotilche Brite, der Wilhelms Worte hörte, war verpflichtet, fie derfte- 
girung feiner Heimath mitzutheilen. Jeder hätte ed gethan. Dann war das 
Unheil gejchehen. Daß es and Licht fam, war noch das Beſte für und. Denn 
nun fieht auch die Maſſe, dieallzu lange blind blieb, die Gefahr; undkann ſich 
wehren. Wenn Herr Klehmet nicht Beamter wäre, dürftenwirglauben, er habe: 
fichentichloffen, feinem Volk den jchweriten, den heilfamften Dienft zu leiften. 
Die in der Norddeutichen Allgemeinen Zeitung veröffentlichte Erklä— 
rung war ungeſchickt, aber nicht feig. Hatte fie wirklich, wie auf hunder! Bläte 
tern behauptet ward, den Zweck, Angriffe vom Kaifer abzuwehren? „Unges 
rechte Angriffe” (jo fteht8 im Text); die vorausſetzten, daB der Kaifer die 


Gegen den Raifer. 213 


Meinung deöBerantwortlichen nicht erfragt habe. Nur folche. Alſo Angriffe 
von der faljchen Seite. Die anderen hältder Kanzler nicht fürungeredht, ſon⸗ 
dern mehri ihre Wucht noch. Denn er fagt vor allem Volk, daß er der Ver⸗ 
öffentlichung des Artikels nicht zugeftimmt hätte, wenn ihm der Inhalt be⸗ 
kannt geweſen wäre. Damit ift feftgeftellt, daß der Kaiſer vor Fremden Säße 
geſprochen und zur Publikation beftimmt hat, die der Kanzler dem Reichs⸗ 
intereffe jchädlich findet. Ungemein ſchädlich: denn er glaubt, dad Verjehen 
feiner Beamten nur durch das Angebotjeines Rücktrittes ſühnen zufönnen. Da 
ift ein Marfftein, den der Abendwind nicht ummehen wird. Iſt da8 Ende der 
Monarchenmyſtik. Seit dem erften Novembertag des Jahres 1908 darf Fein 
Deutſcher Kaiſer ausſprechen, dab er vonGottes befonderer Gnade erleuchtet jet. 
Denn der vierte Kanzler des Reiches hat offen geſagt, daß er vonjeinen Vortra⸗ 
genden Räthen ficherere ErfenntnißdespolitiicHNothwendigenund Möglichen 
fordern dürfe als von dem Träger der Krone. Nach feiner Ueberzeugung mußte 
Herr Klehmet willen, dab die von Wilhelm dem Zweiten geſprochenen Worte 
dem Reichögeichäft jchaden würden. Und weil der Schade jo ungeheuer ift, 
wollte der höchfte Chef jelbft den Kehler deö Untergebenen büßen. Auf der 
Bafis diejer Ueberzeugung haben Kaijer und Kanzler fich geeinigt. 

Mubte man danad) den Rücktritt des Kanzlerd fordern? Fürft Bülow 
ift fein Schöpferifcher Geift und hat viele Fehler gemacht; aber aus ihnen ge: 
lernt und in den ſchlimmſten Tagen der Türkenkriſis gegen manche äußere 
und innere Schwierigkeit fich nicht Ichlecht gehalten. Er führt wichtige Ver⸗ 
bandlungen und dürfte in diejer ernften Stunde nur weggefcheucht werden, 
wenns ganzunvermeidlich wäre. Der Blick auf die Kandidatenlifte weckt keine 
Sehnfucht. Herr von Mackenſen hat fich einft um die Zeitung des Tatterfall 
beworben und ift dann ein tüchtiger Gorpefommandant geworden. Das be: 
weilt noch nicht, daß er ein brauchbarer Reichäfanzler würde. Für diejed Amt 
fonnteund heuteder fähigfte General nicht taugen, weil erdie Gewohnheit, vor 
dem Allerhöchſten Kriegäheren ftramm, mit der Hand an der Hojennaht, zu 
itehen, nicht mehr abzulegen vermöchte. Der Herzog von Trachenberg hat im 
ſchlefiſchen Oberpräfidium gezeigt, dat erdie Folgen feined Handelnsund Un- 
terlaffend nicht vorausfieht Fürſt Fürfienberg ift ein öfterreichijcher Kavalier: 
und dererfte Beamte deö Deutjchen Reiches muß doch wohl in Deutichland er- 
wachjen fein. Freiherr von Marjchall, den ein ſtarkes Konjortium von jelt: 
jamer Miſchung ftübt, hat in Konftantinopel und im Haag die Hoffnung 
enttäufcht und mürde Faijerliche Wünſche ftetö eben fo fügſam erfüllen wie 
an dem Tag, da in jeinem Zimmer Paul Kayjer nach Diktat die Depeche an 


212 Die Bulunft. 


werden. Seht gehts um Größeres. Die Maßgebenden werden künftig nicht 
mehr jämmtlich zurjelben Zeit verreijen, dad Auswärtige Amt wird eine mo⸗ 
dernere Drgantjation, die Politiſche Abtheilung endlich einen Direktor bes 
fommen. Berjehen und Dummbeiten werden auch dann möglich bleiben. Der 
Chef war wieder einmal zu ſanft. Wollte er die Geſchichte in allen fünf Erd: 
theilen ausjchellen lafjen, dann mußte er zugleich auch die Leichen der Schul⸗ 
digen ferviren. Aber die Klehmetiade giebt Keinem dad Recht, dad Aus⸗ 
wärtige Amt für ein Rarrenhaud, die darin arbeitenden Räthe für Idioten 
zu erllären. Diejes Geſchäft könnten wir unferen Feinden überlafjen, gegen 
deren Wühlarbeit die jebt Gejchmähten in diefem unruhvollen Herbft ſich bis 
zur Krafterjchöpfung zu wehren hatten. Uebertragt den Fall ind Journalifti⸗ 
Iche. Der Verleger oder Hauptfapitalift reicht ein Manuffript zur Prüfung 
ein. Rechnet natürlich darauf, daß es angenommen wird; will aber jeine Be⸗ 
icheidenheitund Korrektheit zeigen. Der erſte und der zweite Redakteur drüden 
fich von der Entjcheidung weg; weil fieinheil wittern und ſich Jupiters Blitz 
allzu nah fühlen. Der Nachtredakteur, an den die Brüfungpflicht abgeichoben 
wird, ahnt, was ihm dräut, und läßt fein Bedenfen wachwerden. Nach der Ber- 
öffentlichung entfteht ein Sturm: und der Ehefredafteur jagt (mit gutem Ge⸗ 
wilfen), wenn der Inhalt des Manujffriptesihm befannt geworden wäre, hätte 
erKopfund Kragen dran gejeßt, den Drud zu hindern Wir haben Aergeres er⸗ 
lebt. Wer zwei Zuftrenlang in den höchſten Tönen den Herrn, den Grafen, den 
Fürften von Bülow gepriejen hat, darfihn wegen dieferarmfäligen Sache nicht 
mit verächtlicher Rede zur Thür hinaudweifen. (Standen aufden Blätterngar, 
wiegeraunt wird, lobende Randbemerfungen ded Kaifers, ſo ift Alles erklärt.) 

Eine armjälige Sache iſts. Bon den Bertheidigern vorgezerrt, um von 
der Haupffrage abzulenfen. Hölliſchkluge Briten wollten die Veröffentlichung: 
drum wärefie mit oder ohne Zuftimmung des Kanzlers irgendwo möglichge- 
worden. Und hat denn erjt die Veröffentlichung und gejchudet? Nur fie? Je— 
der patriotiihe Brite, der Wilhelms Worte hörte, war verpflichtet, fie der Re— 
girung feiner Heimath mitzutheilen. Jeder hätte ed gethan. Dann war das 
Unheil gejchehen. Daß es and Licht Fam, war noch dad Beſte für und. Denn 
nun fieht auch die Maffe, dieallzu lange blind blieb, die Gefahr; undfann fich 
wehren. Wenn Herr Klehmet nicht Beamter wäre, dürften wir glauben, er habe 
ſich entſchloſſen, ſeinem Volk den jchweriten, den heilfamften Dienft zu leiften. 

Die in der Norddeutichen Allgemeinen Zeitung veröffentlichte Erflä- 
rung war ungeſchickt, aber nicht feig. Hatte fie wirklich, wie auf hundert Dläte 
tern behauptet ward, den Zweck, Angriffe vom Kaiſer abzuwehren? „Unges 
rechte Angriffe“ (fo fteht8 im Text); die voraußfekten, daB der Kaijer die 


Gegen den Raifer. 213 


Meinung deöBerantwortlichen nicht erfragt habe. Nur ſolche. Alfo Angriffe 
von der falſchen Seite. Die anderen hält der Kanzler nicht für ungerecht, jon- 
dern mehrt ihre Wucht noch. Denn er jagt vor allem Volk, daß er der Ber- 
öffentlichung des Artifeld nicht zugeftimmt hätte, wenn ihm der Inhalt bes 
fannt gewefenwäre. Damit ift feftgeftellt, daß der Kaiſer vor Fremden Süße 
geiprochen und zur Publikation beftimmt hat, die der Kanzler dem Reichs: 
intereſſe ſchädlich findet. Ungemein ſchädlich: denn er glaubt, dad Verjehen 
feiner Beamten nur durch da8 Angebotjeines Rücktrittes ſühnen zu können. Da 
ift ein Marfftein, den der Abendwind nicht umwehen wird. Iſt das Ende der 
Monarchenmyſtik. Seit dem erften Novembertag des Jahres 1908 darf fein 
Deutſcher Kaiſer ausſprechen, daß er von Gottes beſonderer Gnade erleuchtet jei. 
Denn der vierte Kanzler des Reiches hat offen geſagt, daß er von ſeinen Vortra⸗ 
genden Räthen ficherere Erkenntniß des politiſchKothwendigen und Möglichen 
fordern dürfe als von dem Träger der Krone. Nach ſeiner Ueberzeugung mußte 
Herr Klehmet willen, daß die von Wilhelm dem Zweiten geſprochenen Worte 
dem Reichögeichäft jchaden würden. Und weil der Schade jo ungeheuer ift, 
wollte der höchfte Chef jelbft den Fehler des Untergebenen büßen. Auf der 
Baſis diefer Ueberzeugung haben Kaijer und Kanzler fich geeinigt. 

Mubte man danad; den Rüdtritt des Kanzlers fordern? Fürſt Bülow 
ift fein [chöpferifcher Geift und hat viele Fehler gemacht; aber aus ihnen ge: 
lernt und in den ſchlimmſten Tagen der Türfenfrifis gegen manche äußere 
und innere Schwierigkeit fich nicht ichlecht gehalten. Er führt wichtige Ver- 
Bandlungen und dürfte in diejer erniten Stunde nur weggefcheucht werden, 
wenns ganzunvermeidlich wäre, Der Blid auf die Kandidatenlifte wecktkeine 
Sehnfucht. Herr von Madenfen hat ſich einft um die Leitung des Tatterfall 
beworben und ift dann ein tüchtiger Gorpelommandant geworden. Das be- 
weilt noch nicht, daB er ein brauchbarer Reichskanzler würde. Für dieſes Amt 
kõnnte uns Heute der fähigfte Generalnichttaugen, weil erdie Gewohnheit, vor 
dem Allerhöchften Kriegäherrn ftramm, mit der Hand an der Hojennaht, zu 
jtehen, nicht mehr abzulegen vermöchte. Der Herzog von Trachenberg hat im 
ichlefiichen Oberpräfidium gezeigt, daß erdie Folgen ſeines Handelndund Un- 
terlaffend nicht vorausfieht. Fürſt Fürſtenberg ift ein öfterreichijcher Kavalier: 
und dererfte Beamte des Deutjchen Reiched muß doch wohl in Deutichland er- 
wachjen jein. Freiherr von Marjchall, den ein ftarfed Konjortium von jelt- 
famer Miſchung ftüht, hat in Konftantinopel und im Haag die Hoffnung 
enttäufcht und würde kaiſerliche Wünſche ftetö eben jo fügjam erfüllen wie 
an dem Tag, da in jeinem Zimmer Baul Kayſer nach Diktat die Depeiche an 


214 Die Zukunft. ' 


Paul Krügerjchrieb. Bon ihm hat ſchon Bismarck gejagt, jein Brogramm be⸗ 
fteheausden fünf Morten: „In omnibus wie Seine Majeftät!" Beffere Män- 
ner wären zu finden; würdenam Ende aber nicht gejucht. Den Fürſten Bülow 
muß man morgen vielleicht wieder befämpfen. Geſtern haterbewiefen,daß er, 
wenns nicht anderögeht, fleißig und muthig ſein kann. Spät; doch für dieſe Ab- 
rechnung iſt jetzt nicht Muße. Und jede Kanzlerkrifis lönnte in den dunklen Tas 
gen der Kaiſerkriſis die Aufmerkſamkeit nur vom wichtigſten Punktablenken. 


Die Hauptfrage. 

Die Kaiſerkriſis iſt Allen ſichtbar geworden. Seit ſechzehn Jahren ward 
hier gefagt, daß fie kommen müſſe, wenn erwachender Maſſenmuth zur Wahr⸗ 
haftigkeit nicht ein Wunder wirke. Seit dem März des Jahres 1890 hatte die 
mächtigſte deutſche Stimme fie angelündet. War Bismarck ein verbitterter 
Greis, der ind Amt zurüd wollte? Hat er nicht Alles, was gejchehen ift, vor⸗ 
ausgeahnt? Wirmüffen dafür jorgen, dab nicht auchjeine düfterfte Prophezeis 
ung noch erfüllt wird. Wirwollennichtneue Sündenbödeindie Wüſte ſchicken; 
nicht betitelte und befternteHerren zu Prügelfnaben machen. DieHalbmänner, 
deren jchädlicher Einfluß Sahrzehnte lang, Unheil zeugend, fortgewirkt hatte, 
find bejeitigt. Was fie angerichtet haben, fieht jedes ungetrübte Auge. Db die 
Spurihres Trachtens je ganz wegzuwiſchen fein wird, bleibt fraglich. Doch der 
Ring iſt geſprengt. Und unzulänglicdeRathgebernijten ich überallein. Jetzt hat 
die Nation mit dem Kaijer zu reden. Rur mit ihm. Die Fehler der Handlanger 
verichwinden neben der furchtbaren Gefahr, dieer heraufbeichworen hat. Dem 
Reich heraufbeichworen hätte, auch wenn Feind der vor Britenohren von ihm 
geiprochenen Worte gedrudt worden wäre. MerktdieKurzfichtnochimmernidht, 
dab die Veröffentlichung der Interview in dem traurigen Stüd deutſcher Ge⸗ 
Ichichte der einzige Akt iſt, deruns Troſt gewähren kann? Daß in dem Streitum 
dad Beſtimmungrecht des deutſchen Volkes die Hauptfrage nur lauten darf: Hat 
der Deutſche Kaiſer die Sätze, die der britiſche Oberſt ihm zuſchrieb, geſprochen? 

Er hat ſie geſprochen. Konnte ſie ſprechen. Und hat, als er ſie las, in 
ihnen den Ausdruck ſeines Denkens und Wollens erkannt Seine Abſicht war, 
den Briten zu ſagen, daß er ſie herzlicher liebe, als der Mehrheit ſeiner Lands⸗ 
leute erwünſcht ſei; daß er ihr Reich vor dem Zuſammbruch bewahrt, in tief⸗ 
ſter Noth ihnen, die im Landkrieg rathlos waren, den wirkſamen Feldzugs⸗ 
plan geliefert, die heimlich wühlende Feindſchaft der (ihnen jetzt eng befreun⸗ 
deten) Mächte vereitelt, die Einladung in einantibritijches Bündniß nicht nur 
abgelehnt, jondern, trogdem fie Berfchwiegenheit bedingte, nach London ges 


Gegen den Kaiſer. 215 


meldet habe; und daß die deutiche Flotte zum Kampf gegen Sapan und Chi⸗ 
na beftimmt jei. Die Mehrheit der Deutichen hatt England (aljo Habt Ihr 
die Kriegsgefahr vor der Thür und die Wahl, ob Ihr morgen losjchlagen 
oder noch haftiger Dreadnoughts bauen wolt). Wenn ich die rujfiichen und 
franzöfifchen Anerbietungen, die im Vertrauen auf unfere Diskretion nad) 
Berlinfamen, nicht abgewieſen und flinfmeiner Großmutter mitgetheilt hätte, 
wäre es Euch ſchlecht gegangen (überlegt aljo, ob Rußland und Frankreich 
zuverläjfige Sreunde find). Um Euch aus der Ohnmacht zu helfen, habe ich, 
der hödhfte Kriegäherr des deutjchen Heeres, einen Feldzugsplan für die bris 
tiſche Armee ausgearbeitet (alfo dieNeutralitätpflicht verlegt) und dem Großen 
Generalftab zur Prüfung übergeben (aljo die Zeit meiner Flügften Offiziere 
in Englandö Sntereffe belaftet). Meine Flotte baue ich, um für den Kampf 
um den Stillen Ozean ftarf zu werden (alfo merft Euch, daß wir da große 
Ambitionen haben, und erzählt den gelben Männern, daß wir ihnen ans Leben 
wollen). Das hat Wilhelm der Zweite, Deuticher Kaiſer und König von Preu- 
ben, vor Engländern gefagt. Daß Einer, der ſich der Macht entkleiden will, 
ſo ſpräche, wäre noch zu begreifen. Auch ihm müßte ſtaatsmänniſcher Sinn 
empfehlen, die Herricherhoffnung ded Erben nihtim Keim zu zerftören. Daß 
Einer, der weiterregiren will, fich draußen fo um alles Vertrauen, um allen 
Glauben an ſeine Eignung fürdieeinfachftenAufgaben der Politifgebradht hat, 
tftohne Beilpielinderneuen Gefchichte. Ohne Beilpiel auch die Wirkung diefer 
Worte auf dem weiten Rund der Erde. Angeln, Romanen, Slaven, Mon» 
golen ftehen gegen ung vereint. Vom Weißen bid zum Gelben Meer Wuth 
und Hohn. Wenn das Balkangewitter vorbeigezogen ift, werden behende Ver⸗ 
mittler in Wien leis anfragen, ob Oeſterreich⸗ Ungarn noch Zuft habe, allein 
mit diefem Nachbar im Schmollwinfel zubleiben. Und vielleicht die Antwort 
hören, daß die richtige Einſchätzung der berliner Diskretion ſchon aus der Zeit 
dererſten englifchen Snterviem Wilhelms ftamme. Deshalb ſei dem Bundes⸗ 
genofjen ja auchüber Bosnienund die Herzegowina nichts andertraut worden. 

Hill der Katjer und König der Krone entfagen? Ingeringerer, innicht 
jelbft verfchuldeter Fährniß hat fein Großvater daran gedacht Den Enfel 
wird fein Frauenwunſch und feine Volksdrohung drängen. Sein Wide iſt frei. 
Doch er darf fich nicht darüber täuschen, dab jeine Volksgenoſſen jet gegen 
ihn find und daß fein Kanzler fi, der alte nicht noch ein neuer, halten kann, 
der nicht aud dem Munde des Kaiſers die Bürgſchaft unverbrüchlicher Selbft- 
beiheidung bringt. Die muß Deutichland fordern. Auch dad Haus Hohen: 
zollern. Zn diefer graujam ernften Stunde noch. Sonft wird es zu ſpät. 

*F 


216 j Die Zukunft. 





Die Unverbefferlichener Leyır aumzrce 


an mag heute aufichlagen, was man will: eine ZTageszei 

Monatsichrift, eine Romanfammlung, Biographilches oder Theoretifches: 
ftetö die jelben Klagen über unfere Schulen. Ic kenne viel von diejer Schul⸗ 
literatur; aber jeder Tag bringt mir neue Belrätigungen, felbjt da. wo ich fie 
gar nicht ſuche. So fchlage ich heute im Bayernland im Wartezimmer eines 
Zahnarzted mechanisch die eıfle auöliegende Zeufchrift auf; und mein erfter 
Blid fällt auf einen Aufſatz: „Aus dem Tagebuch, eines Lehrers“. ch fange 
zu lefen an und es drängt mich fogleich, ganze Seiten abzufchreiben. 

Der kennt fi aus! Wo mag der Dann im Amt fein? Genau fo 
babe ichs nämlich erlebt. Grlebt jo bis in die kleinen Zufälligfeiten hinein. 
Sonderbar, daß ſich die Dinge unter gleichen Umftänden auch jo ganz gleich⸗ 
artig entwideln. Xeider nennt fich der Lehrer nit. Aud Das ift typiſch. 
Würde er die Schule im üblichen Tyeftftil loben, jo thäte ers gewiß unter 
Namensnennung; diejed Belenntnit aber mußte, weil ihm der Matel der Auf» 
richtigkeit anhaftet, ohne Vateisnamen ind Leben treten. Der Mann fchimpft, 
wie es heute jeder normale Lehrer thut. Er ſchimpft aud Herzendbedürfnig, 
aus Weberzeugung, mit einer wahren Wolluft, mit dem Bemußtlein, daß 
Schimpfen in feiner Lage das einig Anftändige, Rothwendige, Paflenve ift. 
Ihn verlangt, den Mann kennen zu lernen, der daB beilfame Schimpfen 
ırfunden hat. Er möchte ihm ein Denfmal jegen mit zwei Inſchriften: „Dem 
unbefannten Wohlthäter” und: „Subordination ift das fortzejegte und mit 
Erfolg gekrönte Bemühen, dümmer zu erfcheinen, als der Vorgeſetzte iſt“. Er 
Ihimpft auf das Gymnaftum, Ten ganzen Lehrbetrieb und feine Lebenoͤformen 
und wollte doch ruhig fritifch die Frage erwägen, die ihm Kummer madt, 
mad wohl das letzte Motiv, der eigentlihe Grund eben dieſes Hıfled gegen 
dad Gymnafium fei. Noch wenige Tage vorher hatte er Eugen Richterd Auto» 
biograohie ärgerlich wegnelegt, weil er auf den Saz ftieß: „Hätte ich fonft 
freie Zeit, alle meine Kraft würde ich darauf verwenten, um wenigftend die 
heutige Gymnafialjugend befreien zu helfen von einem überfommenen falfchen 
Bildungsgang”. E3 fiel ihn, dem Lehrer, jchwer auf Herz, daß dem Gym- 
naftum immer deutlicher auch in der „Schönen“ Literatur die Rolle des Prügel⸗ 
jungen zugewielen wurde. Er hatte viele Romane dieſer Aıt gelefen. Mathieu 
Schmwann: „Heinrih Emanuel”; Emil Strauß: „Freund Hein”; Hermann 
Hefe: „Unterm Rad“; aud Birrbaums „Genacle der Mauleſel“; und nun 
kommt ihm noch das geijtvolle „Schülertagebuch” von Walther Unus in die 
Hänte. Er wollte fih anfangs echt oberlchreriich auch darüber entrüften, aber 
bald fchimpfte er mit den fingirten Gymnaſiaſten um die Wette; denn er kann 
nit anders: ter Mann hat cben einfad Recht, jedenfalld Recht vom Schüler »- 





Die Unverbefierlichen. 917 


ſtandpunkt aus. Cicero? Ein unausftehlicher Schwäger. Die Anabaſis? Ein» 
fah zum Rauslaufen öde. Eben ſolche,Ketzereien über Caeſar, Bergil, Horaz 
(„warum nicht lieber gleich DOpig?“) Die „Fürchterlihe" Minna von Barnhelm. 
„Ber Beichichtunterricht? Namen und Zahlen. Religionftunde? Staatsdogmen, 
Religiondogmen, Schulvogmen, lauter heilige Dinge, auf die man fo wenig 
treten darf wie auf die umzdunten Rafenpläge. .Wemorirfalat mit Salböl.” 
Run folgt vereintes Schimpfen von Schüler und Lehrer auf den rüpelhaften. 
Zon, den Bolizeiton, SKafernenton der Lehrer; Schimpfen .auf die Aufficht⸗ 
bonzen und das Eyftem: Zellengefängniß mit Unteroffiziersäuffiht. Summa 
debetur puero reverentia? Jawohl, Ihr Phrafendrefcher! Yernt aber erit 
einmal mit einem Gymnaftaften fprechen; mit einem jungen Mann aus autem 
Haus. Dann Entrüftung über die jelbitgefällige Tantenmoral und ihr Ge⸗ 
barm vom „Ermit des Lebens”; ala ob das Leben je wieder jo freudlod würde 
wie unter Eurer Obhut in der goldenen Schulzeit. Wuth Über die dumme 
Belehrung: „An Deinem Alter, mein Sohn, hat man überhaupt noch fein 
Urtheil.” Mein Direktor (zwei Chrenmänner nehmen Das auf ihren Eid) 
Ihärfte feinen Primanern ein, vor dem vierzigften Lebensjahr dürften fie 
überhaupt nicht felbft denken, fondern hätten den Gedanken der älteren Leute 
nur nachzudenken. Zum Schluß die Abfertinung: „Es fehlt Ihnen eben am 
fittlichen Bemußtfein, am fittlichen Wollen, am fittlihen Verantwortungsgefühl.“ 
Wir kennen Das jetzt ganz genau: „Wangelnde fittlihe Reife!“ 

Ja, jo find fie! Ich erlebte ed genau fo; und fo fchmerzhaft deutlich, 
daß ichs bis ind Grab nicht vergefjen werde. 

Bor dreißig Jahren erichienen aus Spencerd Education „Aphorismen“ 
und darin die Säge: „Aftefe ſchwindet aus der Erziehung und aus dem Lesen. 
Härte erzeugt Härte, feines Benehmen (gentleness) erzeugt feines Benehmen. 
Der freie (independent) englifche Knabe ift Bater des freien englijchen Mannes: 
Ihr könnt Diefen ohne Jenen nicht haben. Glücksgefühl ift dad wirkſamſte 
Stärtungmittel. Spiel ift befier ald Turnübungen. Der Erfolg in der Welt 
hängt mehr von der Willenzftärte ab als von Gelehrfamfeit. Weberbildung 
(over-education) ift ftetö verderblich.“ 

Aus tiefen Iapidaren Sätzen jpricht dad Denken des ganzen engliſchen 
Volkes. England hat nicht die Staatöfchulen mit ihrer fouverainen, bureaus 
kratiſchen Erziehungmweisheit, die dem deutichen Volt wie aus den Wolfen 
herab ald Gnadengabe zuertheilt wirt; e3 hat feine voltsthümlichen, den Ber 
dürfnifien der Zeit und des Ortes angepıpten Stadt: und Gemeindeſchulen. 
Die find, objeltiv betrachtet, recht mäßig, aber fie entiprechen genau den Bes 
dürfniffen und Wünfchen ihres Volkes. Und Das ift doch wohl die Haupt» 
ſache. Daher ift auch England, das thecretiich ſich lange nicht jo eifrig um 
Erziehung bemüht wie Deutichland, bei aller Bemunderung vor deutfcher Gründ 


2318 Die Zukunft. 


lichkeit und Gelehrſamleit, doch froh bei feiner eigenen [chlicgteren Praxis. Man 
ift dort auf fein Erziehungweſen eben jo ftolz, wie wir über unferes traurig 
find. Mas England nur an Erfolgen im politifchen und fozialen Leben er- 
singt, jchreibt es feinen Erziehungkgrundſätzen zu. Erſt neulich ſagte ter Lord 
Cromer: „Der Deutjche, der Ftanzoſe mag gründlicher belehrt fein, aber der 
Mangel an Kenntniſſen des Engländerd wird reichlich aufgewogen durch Die 
Tühigleit, zu regiren, durch die Bereitwilligteit, Berantwortungen zu über» 
nehmen, durch die Fähigkeit, fich den ungemöhnlichiten Lebenslagen anzupafien. 
In diejen Fähigkeiten übertrifft der Angeljachfe alle anderen Kationen, weil 
die Atmojphäre der Freiheit, in der er aufwächſt, feiner Perfönlichkeit eine 
unverfümmerte Entwidelung verbürgt.” 

Unfere deutjchen Berufserzieher tennen das Alles. Denn fie haben die 
Briefe von Ludwig Wieſe über die engliſche Erziehung gelefen. Die päda⸗ 
gogiſchen Schriften von Tode und Spencer find ihnen, wenn nit dem Worts 
laut nad, jo doch aus ihrem Kolleg über Pädagogik oder aus dem Pädagogiſchen 
Seminar verlraut Sie haben ein fo reiches Wiflen, daß gerade dadurch der 
Wurſch eingefchläfert ift, irgendeine Erkenntniß nun auch felbftthätig in die 
Wirklichkeit umzufehen. Das Wiſſen genügt ihnen. Im Dienft folgt man dann 
der amtlichen Anweilung und verzichtet Flüglich auf den Luxus eigener Ueber⸗ 
jeugungen, die Einen nur in den Üüblen Ruf bringen könnten, ein unbequemer 
Untergebener zu fein. Und fo jchleppt fi unfere alte, müde Pädagogik von 
Geſchlecht zu Geſchlecht fort, zum Unfegen ter Jugend und des ganzen Volles. 
Es bleibt bei Dem, was Paul de Lagarde ſchon fefiftellte: „Drei Dinge find 
der Ertrag unjerer Bildung: ſchlechte Augen, gähnender Efel vor Allem, was 
war, und Unfähigkeit zur Zukunft.” Wan bat ed eben fertig gebracht, die 
Schule vom Leben zu trennen. Sie erſcheint dem Schüler nit mehr ala 
nothwendige Durchgangsſtufe und Vorbereitung, ſondera als traurige Zwangs⸗ 
und Trefluranitalt, die zum Leben nur in loderer Beziehung ftebt. 

Die höhere Lehrerſchaft wird ſehr köje, wenn man an ihrem „Idealis⸗ 
mus“ zweifeli; aber fie muß ſich gefallen lafjen, daß das Volk fie hart Eritifirt, 
ihre Arbeit meift ablehnt, daß ihr auch von ihren freunden geringe Be: 
theilQung an der theoretijden und praftifchen Erforfchung der Kindernatur 
nicht ohne einen gemiffen Tadel nachgefagt werden darf (Wilhelm Münd)). 
Sie verhartt in den ftarren ſchematiſchen Feſſeln der Theorie, in der geift- 
tötenden, entmannenden Wonotonie ihrer Praxis. Wo Bildung des Gemüthes, 
Erſtarkung der Perlönlichkeit Ziel und Pilicht fein müßten, da werden die 
zarten Triebe der fintlihen Seele immer wieder dem Fabrikbetrieb und dem 
bureaufrahichen Geiſt ſehr fleifiger, ſehr pünttlicher und pflichttreuer, aber ſehr 
unftcier und jehr unperjönlider Erziehungbramter übermittelt. 

In unjeren Dutzendſchulen heißt ed: „Sich fchinden und Andere ſchinden“. 


Die Unverbefferlichen. 219 


Bei und tft das Scinden Selbfizwed. Dan nennt diefe Art moderner 
Alketit „Berufstreue”. Die Probekandidaten müflen fie gleich in ihrer ganzen 
Bitterni kennen lernen. Da hatte, zum Beilpiel, Einer Dienft von acht bis 
neun Uhr und um ein Uhr ift Konferenz; er fragt den Direktor beſcheiden, 
ob er nicht davon fern bleiben dürfe, denn er wohne eine Stunde weit und 
verliere den ganzen Vormittag. Na, Der fam jhön an! „Berlieren?” Da er 
doch das Recht und das Glüd hatte, in der „Anitalt” weilen zu dürfen! Und 
ald er trogdem die Frage wagte, mas er denn in der Konferenz zu thun habe, 
da er doch nicht mitiprechen dürfe, erhielt er die Inappe Belehrung: „Lernen!“ 

Unf den Wunſch des Lehrerfollegiumg, daß ihm die mechanische Schreib» 
arbeit für die Cenfuren abgenommen werden möge, erhielt es die Belehrung: 
„Ich Habe als Direktor auch viel zu jchreiben und mußte als Dberlehrer auch 
immer die Genjuren mit eigener Hand ſchreiben.“ Alſo der jelbe Grundfag, 
den unfer Anonymus fehr reipeftlod ala „infam dumm” bezeichnet: „Warum 
follt Ihr es befier haben als ich?“ Wobei noch vergefien bleibt, daß der Di- 
reltor nicht zweiundzwanzig, fondern zwölf Stunten giebt und für feine viel» 
leicht größere Arbeit auch höheren Sold bezieht. Aber der Grundfag lautet 
den Jungeren gegenüber ſtets gleih: „Was? Ahr wollt Erleichterung haben? 
Uns ift die Jugend auch verfalzen und verfaut worden; wartet nur, Ihr Bande, 
wir wollen fie Euch verfalzen und verjauen. Nichts, gar nichts ſoll Euch ges 
Ihentt werden: jede Dummheit, die an und verübt worden tft, ſoll auch an 
Euch verübt werden. Ihr follt Staub frefien wie wir. Ihr ſollt büffeln, weil 
wir büffeln mußten. Ihr follt angefchrien werden, weil wir angeſchrien wor⸗ 
den find!” Tas nennt man dann Erziehung zur Pflichterfüllung und thut, als 
ob man felbft daran glaute. 

Arbeiten lernen ſoll das Kind in der Schule, lernen, jeine Pflicht thun. 
Gewiß: Seine Pflicht, nicht Eure, Ihr Unbelehrbaren! Habt Ihr noch nicht 
gelernt, daß jedes Leben feine eigenen Gejege in fich trägt und fich durch Eigen« 
bewegung entwidelt? Daß es fi bilden und formen m:ll nad) dem noch un» 
veritandenen, dunklen Sinn fiiner Natur? Glaubt Ihr wirtlid, von außen 
ber mit Euren plumpen Händen Leben formen zu lönnen? hr wart fo ent» 
süftet, als ich Euch Pflihtbanaujen nannte. Ih kann, aller Entrüftung zum 
Trotz, mir davon nichts abhandeln laffen, und wenn Ihr auch jammert, daß 
dadurch die Fundamente der Schule ind Wanken geriethen. Eine Pflichter: 
fülung, die zu Schülerfelbfimorden treibt, werde ich ſtets befämpfen. est 
leſe ich, daß Eduard Gol dbeck gegen den „Henker Drill“ jchreibt. Recht jo! „Nutz⸗ 
holz, Nupholz ſoll Alles werden. Di: Bäume und die Menden! Mas 
fümmert die Welt das Wollen und Sehnen des Lebendigen? Sie nennen es 
Pflicht. O, diefe verfluchte Pflicht! Dieſe verdammte Lüge und Heuchelei! Giebt 
ed denn eine andere Pflict für junges Leben, ald fich zu entfalten, zu wachen, 


220 Die Zulunft. 


zu blühen, damit einft aus allen Anlagen einmal das Befte werde? Und da 
konſtruiren fie eine Pflicht, die jo lahm und fo greifenhaft iſt wie ihr ganzes 
eben, wie all ihr Thun und Treiben!” So klagt Einer, der auch die ver- 
bajte Schule hinter fich ließ, weil er fich nicht weiter die ſchönſten Lebens jahre 
verhunzen laſſen wollte, weil er erfannt halte, die Schule fei nicht der Weg, der 
ind Leben führt, die formale Pedanterie der Lehrer nichts Anderes ala eritarrte 
Drillpragid: Schablone, nämlich Heinrich Emanuel in Mathieu Schwanns Roman. 

Em Blüd nur, daß die Einficht mehr und mehr um fich greift, daß es 
mit ten deutſchen Schulen fo nicht weiter gehen darf. „Wo ift ein großer und 
ſchöpferiſcher Menich in diefer Zeit, der feiner Schulzeit nicht Flut?" So fragt 
Scheffler, Einer der Wenigen, die ein Elared, fchmerzliches Empfinden von der 
Unlul:ur haben, die und von Staates wegen aufgezwungen wird, und mit dar» 
über finnt, wie die verderblichen Fehler unjerer Drillanftalten und die gefährliche 
Macht des Schulmeifterd gemindert werten können, „der achtungmerth durch feinen 
Fleiß tft, jeinen Pflichteifer und feine Bedürfniglofigkeit, ſchädlich aber durch 
fein trockenes Philiſterthum und die Verkinderung (Gegenfat zu mannhafter Akti⸗ 
vität) feines ganzen Weſens.“ Der Lehrer, der Pflichtbanaufe, „verzichtet Für 
ſich jelbft darauf, ein Handelnder und fidh lebendig Hinaufentwidelnder zu fein. 
Nur für die Anderen ift er da; aber weit entfernt, damit den Idealen ein Opfer 
. zu bringen, verdient er ſich eben dadurch den leiſen Spott aller Thätigen.“ Bor» 
trefflid. Mit der Zeit bat die deutſche Schule die befte Volksweisheit für ſich 
in Thorheit umzuwandeln vermodt. Wie aus Tem griechiſchein Gymnaftum, 
einer Bildungftätte Förperlicher Tüchtigkeit, das deutfche Gymnaſium, eine Brut: 
anftalt für lünſtige Kanzliften und Philoloyen, wurde auch fonft Vernunft 
zu Unſinn, Wohlthat zu Plage. „Jung gewohnt, alt geihan?” Jung gewohnt, 
tägli in der Bibel zu leſen, Gebote, Glaubensſätze, Sprüche, Katechismus⸗ 
lehren aufzufagen; und was alt gethan? Bibeln, Katechismus, Gefangbud und 
Kirche gefliffentlih gemieden. Jung gewohnt, Yeifinge, Goethes, Schillers 
Schöpjungen zu ftudiren, fıitifiren, analyfiren, paraphrafiren; und was alt 
gethan? Die Klaſſiker als Prunkſtücke, ſchön gebunden, Jahre lang unberührt 
auf dem Bücerbord gelafjen. Yung gewohnt, täglich zwei bis drei Stunden 
den Geift im alten Hellad und Rom fpaziren zu führen; und was alt getan? 
Die alten Autoren im Wafchlorb auf ten Boden getragen. Jung gewohnt, 
von Stunde zu Stunde in ftrenger Penfenzutheilung und unter fremdem Willen 
zu arbeiten; und was alt gethan? Auch hier haben wir die Kontraftwirkung: 
eine Auflehnung aller jelbjtändigen und ſtarken Perjönlichfeiten gegen dieſen 
lyranniſchen Geiſt der Erziehung, ter genau jo wirkt, wie es Spencer geprägt 
bat: savageness begets savageness; happiness is the most powerful 
of tonies. Gerade diefer Mangel an happiness bei der aufgezwungenen 
Menge von Pflichten und Arbeiten hat zur Folge, daß die Jugend mürrifch 








Die Unverbefierlien. 221 


und faul wied, unfähig, die Bergangenheit zu verftehen, die Gegenwart freudig 
zu genieken, noch unfähiger, eine Zukunft herbeizuführen. 

Und Das ald Schlußergebniß folder Opfer an Kraft, Zeit und Geld! 

Ein füßer Troft ift uns geblieben: wir haben uns in unferer Jugend 
auh ſchinden müflen. Und wo liegt nun die Wurzel alles Uebeld? Wir haben 
eine krankhaſte Hochachtung vor allem hiſtoriſch Gewordenen. Wir meinen, 
daß Aller, was einmal befteht, vernünftig und werth fer, fortgubeltehen oder, 
wie der Gebildete jagt, fich hiftorifch fortzuentwideln. Ach weine ‚dagegen, ed 
giebt jeher viel Unfinniges, das vernichtet werden muß. e 
Titan ba 9 a ls Mama Die macht 
ſich ganz von ſelbſt. Alles Neue, alles Reformatorifche wurde von den Zeil» 
genofien als Bruch der Tradition empfunden und eben deshalb belämpft. Die 
Gegner jeder Neuerung, die Konjervativen, brauchen ein ſolches Schlagmoit, 
ihr Gewiſſin zu beruhigen. Ihr Eintreten für die hiſtoriſche Entwidelung, 
bedeutet daher meiſt: Stillfiand. Hätten Chrifius, Caejar, Konftantin, Karl 
der Große, Luther, Friedrich, Napoleon, Bismard auf die hiftoriihe Ent» 
widelung gewartet, die Weltgejchichte mürte sin chinefifched Tempo angenommen 
habın. Bon felbft entwickelt ſich nichts. Immer müfjen fih Menjchen finden, 
bie die — ſchaffen, die einer Idee Ausdruck und Realität geben. AU 





zimmer blieben und nad der noch jo umftürzenden Straftleiftung des Ne 
formators noch jedesmal heraudgefunden und bemwielen haben, daß ed jo kom⸗ 
men mußte. In unferem Schulweſen zeigt ſich diefe Beobachtung ald eben fo 
richtig wie auf jedem anderen Gebiet. 

Luther und feine Helfer brachen die Tradition jäh ab, die der Geifts 
tihleit alle Erziehung des ungelehrten Volkes überwielen halte, und jchufen 
die Volls- und Bürgerfchulen. Das thaten fie ohne Anlehnung an ein älteres 
Vorbild, ganz aus dem Bebürfniß ihrer Zeit heraus. Wir finden dieje Ent⸗ 
midelung jett jehr vernünftig und datiren von ihr den Aufſchwung der Volks⸗ 
bildung und zum großen Theil die Entwidelungmöglichleit unjerer modernen 
profeftantifch- deutichen Kultur. Die hiftorifche Entwidelung ift am Beſten vers 
bürgt, wenn jede Zeit, unbefümmert um Wünfche, Eintichtungen und Gedanken 
der Großväter, ihre eigenen Bedürfniffe und Wünſche befriedigt. Wir lafjen un» 
firen Vorfahren Alles, was ihnen gehöite. Wir find feft überzeugt, daß fie beſſer 
als wir mußten, wie fie fich ihr Leben zu bauen hatten. Wir haben ihnen Tabei 
nicht hineingeiprochen, bitten nun aber auch um die gleiche Ruckſicht. Welche 
Schulen wir heute in Deutfchland brauchen, darüber kann uns fein Menſch der 
Vergangenheit belehren. Tas müffın wir ſelbſt und wir allein wiſſen, weil wir 
allein tie Nebenäbedingungen kennen, für tie unlere Jugend vorzubereiten iſt. 


222 Cie Buhmit, 


Die Gründung unſeres Neiched war ein Bruch der Tradition, ein ger 
waltiger Sprung in eine neue Welt hinein Die Schule machte diefen Sprung 
nicht mit, fondern wartete auf ihre immanente hiftorifche Entwidelung. Kein 
Wunder, daß fie zurüdblieb. Das ift die Urſache all der berrichenden Unzu⸗ 
friedenheit und Schuloerdroffenheit Schuf die N:uaufrichtung des teutichen 
Notionalftaates Son einen neuen Ausgangspunkt für die Entwidelung unſeres 
Volkes, fo ift Die Zeit Doch wieder weiter voraus. Set Sedan und Paris ift wie⸗ 
der ein neued Menfcenalter nachgerädt, für dad tiefe Kämpfe ſchon ber Bude 
geſchichte angehören. Die inzwilchen raſtlos arbeitende Entwidelung der Tednit, 
das Wachsthum der Benölterung, der leichtere Beſitz und Gedankenaustauſch 
mit tem Ausland durd früher ungeahnte Verkehrsm tiel, der Uebergang vieler 
Staaten vom Adarbau zur Induſtrie: al Das hat die Xebensverhältnifie und 
Zebensbedingungen völl:g umgeſtattet Aber die Schulen blieben im Weſent⸗ 
lichen, wie fie gemejen waren. Die Volksſchulen zumal. Theobald Ziegler jagt: 
„Die Schulen ftehen regelmäßig auf dem Standpuntt des eben zu Ende gehen 
den Zeitalters; fie leben in den Anfichten und den der Väter, die ihre 
Gründer waren; ihre Einrichtungen und Ordnungen ftellen im Wefentlicen 
die Anfchauungen der zu Grabe gehenden Beneration dar.” Wenn Tas die 
Regel ift, jo ift unjere Brit noch hinter dieſer Regel zurüdgeblieben und Stadt. 
ſchulrath SKerjchenfteiner in Münden bat Recht mit feiner Behauptung, daß 
die Schulen wohl noch nie jo fehr Hinter ihrer Z-it zurüdgeblieben find mie 
jegt in Deutjchland. Im Anfang des fechyehnten Jahrhunderts fchrieb ein dem 
Kloſter entiprungener Mönch ein religiöjes Lehrbuch für Die deutjchen Stınder. Das 
mar damal3 eine Fühne Neuerung, das Entzüden aller Freidenler und Fortſchritts⸗ 
männer, Aller, die der Zukunft dienen wollten. Dieſes Buch, Das nun bald 
fein fünfhundertjähriges Jubiläum feiern wird, ift nod) heute dad Hauptlehr⸗ 
buch der deutſchen Volksſchulkinder. Zwar ift ter Inhalt ſchon fo veraltet, 
daß die Eltern faft jeden einzelnen Sag daraus für fich ablehnen; zwar ift die 
Sprade dem heutigen Menſchen nur noch ſchwer verjtänälich, zumal der Land» 
jugend und den Polenkindern, einerlei: die Kinder müſſen die moderig und 
ſchimmelig gewordenen Speilen binunterwürgen. Wie höhniſch würden mir 
lachen, wenn ung Einer Nehnliches aus Chinas Schulweſen berichtete! 

Zu diefem Iutherifchen Katechismus, den ich an Liebſten nur nod in 
Staatäbibliothefen fühe, fommen viele gleich veraltete Kırchenlieder von myſti⸗ 
ſcher Ueberſchwänglichkeit, mit der eine [lichte Jugend beim beften Willen 
nicht anzufangen weiß. Alles übirlebt. Die Bibelglaubigkeit dankt ihr Dafein 
nur noch dem zähen Beharrungvermögen, dem Gejege der Trägheit. Es iſt 
ein rein äußerlich ang.predigte8 und vom Schulmeijter eingeprügeltes Denken 
und Reden. Dan bleibt dabei, weil man zu bequem für einen Kampf ift oder 
weil man ein aufgellärte Volk fürdtet. „Es ift einleuchtend genug”, ſchrieb 


J 








Die Unverbeflerlichen. 223 


Preußens großer König, „daß die Regirung ſchlechterdings fein Recht über die 
Meinungen der Bürger bat . . Sobald jede Art, Gott zu verehren, frei ift, 
herijcht überall Ruhe.” Heute findet unfer preußiiches Kultusminiſterium dieſen 
Gedanken zu modeın, zu umftürzlerifcy und kehrt zurücd zur Praxis des Mittels 
alter®, das religiöſe Toleranz nicht kennt. Während die Lehrer Trennung von 
— und Schule Dr befteht Minifter Holle Darauf, daß in der Schule Staat 


ttche M ihrem * ommen. dk inneniũ bat —— — 


— des Religionunterrichtes auf Roften de des 3 Deutichen eidjehen in 
Mies nd der Erfolg? Eine unteligiöfe, ‚antinafionple — alte, 

Beraltet ift der ganze Spracbettieb unjerer Schulen, der, flalt von der 
lebendigen Kinderſprache, von der ftarren Grammatik ausgeht; veraltet ift das 
Wortwiſſen, der Gebächtnißdrill, der ganze Formalismus; veraltet der ganze 
Bildungbegriff mit jeiner Hochachtung vor der Vergangenheit; veraltet die Schul⸗ 
disziplin und Schulmoral, der unerbiltliche Lehrplan mit feiner ftrengen Penſen⸗ 
vertheilung, die patagraphenreiche Schulordnung, der Rohrſtock und Arreftzettel. 

Der Schulorganismus müßte alſo ganz neu, nach den Geſetzen der Pfy⸗ 
hologie aufgebauf werben. Das Schulziel ift bedingt durch die Bebürfnifie 
Der menfdlichen Teelfhaft. Es hat fich zu richten auf moralifche, geiftige, 
foziale und praßtifche Vorbereitung für das öffentliche Leben. Das befte Mittel, 
alle gefunden Kräfte zu entwideln, ijt mwerkthätige Arbeit, beſonders im ‘Freien. 
Dadurch erwirbt das Kind Sachkenntniß, lebendige Raturanichauung, Befrie⸗ 
digung des Wiffenstriebes, lernt jelbitändig denken, urtheilen, ſprechen, empfin⸗ 
den, gewinnt Staunen vor den Wundern der Schöpfung, Ehrfurcht vor dem 
Unerforfchliden (Religion), gewinnt Naturliebe, Heimathliebe, Baterlandliebe ; 
dazu gefunde Sinne, Kraft, Gelundheit, Schönheit und Lebensfreudigkeit. So 
haben wir Reformer es fchon feit Jahren geforbert. 

Aber die Unverbeflerlihen wifien nicht? davon und unverrüdbar bleiben 
ihnen die Ziele der preußiſchen Schule: Abtrichtung zum Chriftenglauben, zur 
yürftentreue, zur Vaterlandliebe. Das wäre zu erreichen, wenn man es nicht 
jo geräuſchvoll erftrebte, fondern frei wachen ließe. Aber fchon gilt es vielen 
deutichen Eltern gar nicht mehr ald durchaus erftrebenäwerth. Diefe meinen, 
die Schule folle ihnen gefittete Menſchen erziehen, nicht nur chriſiliche. Fürſten⸗ 
treue aber ift eben jo wenig lehrbar wie Vaterlandliebe. Diefe zarten Regungen 
der freien Seele entziehen fich der plumpen Dreffurtechnit. Auch beiteht kein 
Bedurfniß nach mehr Menſchen von der Sorte, die Paul de Lagarde ald Hurra» 
canaille bezeichnete. Sein Warnruf blieb leider unbeachtet, aber ſeine Vorausſage, 

u Brutjtätten_eined lauten Pjeudopatriotiämug, 


hal auä ben Schulen, bie man zu Brutjtätten eines lauten Pfeubopatı 
gemacht habe, feine Männer erwacien würden, ift traurig in Erfüllung gegangen, 
Steglig. Profellor Dr. Ludwig Gurlitt 





17 — 


224 Die Zukunfſt. 


Außlands Bahnbau in Sibirien. 


ie Sibiriſche Bahn, das großartigfte verlchrstechniidhe Unternehmen im weiten 

Barenreich, ift mit ruſſiſchem Geld von der ruffifhen Regirung gebaut worden; 
fogax die verwendeten Materialien mußten, fo weit es möglich war, ruſſiſchen Ur⸗ 
fprunges fein und als Beamte und Arbeiter durften nur Ruffen angeftellt werden. 
Was biefe Borjchrift zu bedeuten Hatte, erfennt man aus ber Thatjache, daß 6000 
Beamte unb 100 000 Arbeiter an bem Bahnbau befchäftigt waren. 5400 Kilometer 
Schienenweg in einem entlegenen, rauhen, auf weite Streden fehr jchiwierigen, viel» 
fach ſtark coupizten Gelände wurben in dem kurzen Beitraum von neun Jahren 
fertiggeftellt; der bis dahin ſchnellſte Bahnbau (die erfte kanadiſche Pacifichahn mit 
4700 Kilometern) batte zehn Jahre gebauert. 

Ein kaiſerliches Hanbfchreiben vom fiebenzehnten März 1891 orbnete den 
Bau ber „Großen Sibiriihen Bahn“ an. Am legten WMaitag bes felben Jahres 
that dann in Wladiwoſtok der Sroßfürft-Thronfolger Nikolai Alexandrowitſch den 
erften Spatenfih. Im September 1897 konnte ber öftlichfte Theil der geplanten 
Linie, bie 721 Werft lange Uffuribahn von Wladiwoftol nad Chabaromwila, dem 
Betrieb übergeben werden. Anfang 1898 wurbe der 3048 Werft lange weitliche 
Theil von Tſcheljabinſk, der Anichlußftation ans europäifhe Bahnnetz, bis nach 
Irkutſk eröffnet, die eigentliche „Sibtrifche Bahn“; 1899 fuhr man von Moskau 
ſchon bis an den Bailaljee und Ende 1899 fogar mit ber „Zransbailalbahn” bis 
Stretenff, 1069 Werft hinter Irkuiſk; für die Fahrt über den 64 Kilometer breiten, 
im Süden von fteilen Telsgebirgen umrahmten Bailaljee wurden damals nod 
Dampfjähren benugt. Als die Sidirifche Bahn jo weit fertig war, ſahen die polie 
tiſchen Zuflände in Oftafien fhon anders aus als 1891. Deshalb wurde der Plan, 
fo weit ber öftliche Theil der Bahn in Frage fam, geändert. Die Bahn follte an⸗ 
fangs über Stretenſk durch das Schilfa- und Umurthal nad) Chabarowſk Iaufen und 
dort in bie ſchon fertige Ufjuribahn einmünden. Jetzt aber bot fi} eine Gelegen⸗ 
beit, Wladiwoſtok auf einem fürzeren Weg zu erreichen, durch ben die Ufjuribahn 
(wenigftens für den Verkehr nach Europa) überflüſſig wurde. 

Denn am achten September 1896 hatte Rußland, das längit begehrlich aui die 
Mandichurei und insbeſondere auf die Kwantung-Halbinfel mit dem wichtigen Fort 
Arthur blidte, mit ber Hinefijchen Regirung einen Vertrag Über den Bau der „Chines 
fiiden Oſtbahn“ abgejchloffen, die von einer Station der Transbailalbahn quer 
durch die Mandichurei an die Uffuribahn führen follte; Dadurch wurde die Amur⸗ 
bahn unnöthig. Die Chineſiſche Oſtbahn war ein rein ruffiiches Unternehmen, das 
von ber Ruſſiſch ChHinefifhen Bank finanzirt wurde. Cie begann an ber ruſſiſch⸗ 
chineſiſchen Grenzftation Mandichuria und führte, 1440 Werft lang, bis zur Grenz⸗ 
ftation PBogranitichnafa. Beide Endpuntte waren anfangs zwar nicht als Stationen 
der Sibiriſchen Bahn in Augficht genommen; aber ber Anſchluß ar bie bereit 
fertigen Theile der Transbailal- und der Uffuribahn wurde Durch kurze Berlängerungen 
erreicht: don ber Transbaikalbahn zweigte eine 324 Werft lange Anſchlußſirccke 
bei der Station Karinftaja nah Mandſchuria ab und eine 91 Werft Iange neue 
Bahn Pogranilfchnaja-Setrizewo ftellte die Verbindung der Chinefifchen Oſtbahn 
mit. der Uffuribahn ber. Die neu zu bauende Bahnlinie Karinſkaja⸗Ketrizewo war 
alfo 1855 Werft Iang. Da nun die ganze Amurbahn und auch Theile der Trans⸗ 








Rußlands Bahnbau in Sibirien. 295 


Gailale und der Uffuribahn überflüffig wurben, verkürzte fidh bie auf 6858 Werft 
veranichlagte Sibiriſche Bahn um 1332 Werft, glfo fa um den fünften Theil. 

Der Bau ber „Ehinefifhen Oſtbahn“ wurbe am erften Oktober 1898 be» 
gonnen, am einundzwanzigſten Oktober 1901 beendet. Inzwiſchen hatte aber Ruf⸗ 
land feine erpanfiven Wünfche in DOftafien weiter erfiredt. China hatte die Awantung⸗ 
Halbinfel mit Bort Arthur und Talienwan an Rußland „auf eine Yrift von fünf- 
undzwanzig Jahren“ abgetreten und erlaubt, daß von ber Kwantung⸗Halbinſel ein: 
Bahnlinie durch die Mandichurei an die Ehinefiihe Oſtbahn herangeführt werbe. 
Diefe neue Linie, die Südmandſchuriſche Bahn“, wurde fogleih in Angriff ge- 
nommen und war bereits Enbe 1902 bis Port Arthur beiriebsfähig. Sie Hat eine 
Länge von 980 Werft und zweigt in Charbin von ber Oftbahn ab. 

Bis dahin Batte fich die oftafiatiiche VPolttif Nußlandbs nad) Wunſch entwidelt; 
in wenigen Jahren waren große Yortichritte gemacht worden, bie von höchfter 
Bedeutung für die Zukunft fein tonnien, und ber neuertvorbene Beſiz ſchien fortifi- 
katoriſch und verkehrstechniſch gelichert. Der Krieg gegen Japan vereitelte alle 
Hoffnungen. Im Feuer von Liaujang, Mukden, Port Arthur und Tſuſhima brad) 
gie ruffifche Herrichaft auf der Awantung⸗Halbinſel zufammen und auch dem ruſſiſchen 
Eindringen in die Mandſchurei wurde ein Riegel vorgejhoben. Daß Rußland 
denno in Portsmouth einen leidlich ehrenvollen Frieden erzielte, hatte es im 
Weſentlichen feiner Sibirifchen Bahn zu danken, bie ihm ermöglichte, rajch immer 
neue Menfchenmaffen auf den Kriegsichauplag zu werfen und Dem erſchöpften Japan 
noch lange ben Ertrag des Sieges zu befireiten. Während bes Krieges hatte fich 
die Sibiriſche Bahn als ein kaum zu überſchätzender Beſitz erwieſen. Die zwei 
Milliarden Mark, die Rußland vor dem Krieg in feine oftafiatifche Unternehmung 
(Bahnbauten, Hafenanlagen, Flußregulirungen, Straßenbauten und fo weiter) hin⸗ 
eingeftedt hatte, waren kein zu hoher Einſatz. Während des Krieges war es audı 
gelungen, die Unterbrechung des Schienenftranges am Bailaljee zu befeitigen und 
die Dampffähre auszufchalten (die man übrigens während des langen jtbirifchen 
Binters 1903/04 burch eine bireft über die weite Eisfläche bes Sees führende 
Schienenverbindung erſetzt batte). Die Baikalbahn durchbrach in einer Geſammt⸗ 
länge von 243 Werft das ſchwierige Terrain am Südufer des Sees und überwand 
bie zabllofen Gebirgsbäche und ſteilen Felsſchluchten mit Hilfe von 33 Tunnels 
und 210 anderen Kunſtbauten (Brüden, Ueberführungen), fo daß genau auf je 
einen Werft durchjchnittlich ein Ingenieurwerk diefer Art entfiel. Nach fieben- 
jährigen Borarbeiten hatte man im Frühjahr 1902 den Bau der Baikalbahn be- 
gonnen; im Herbft 1904, während des Srieges, wurde das impofante Werk, das 
mehr als 210 Millionen Mark gefoftet hatte, vollendet. 

Der Werth der Sibiriihen Bahn Hat fich in Friedenszeiten nid,t minder 
deutlich al3 im Kriege gezeigt. Die ganze civililirte Welt Tann fich der Verkehrs⸗ 
erleihterung freuen. So wird die Boft zwifchen Welt: oder Mitteleuropa und 
Dftafien jet meift über die Sibiriſche Bahn geleitet, weil diefer Weg um mindeſtens 
eine Woche kürzer tft ald der durch den Euezlanal oder über Nordamerika. Auch 
der Bafiagierverfehr zwiſchen Europa und Oftafien wendet fi mehr und mehr ber 
Eihiriichen Bahn zu, weil die Reije da fürzer und billiger iſt; felbft verwöhnte 
Reifende ziehen .die Landlinie dem alten Seeweg vor, auf dem die Reife faft un 
das Dreijache theurer ift als in der Erſten Klaſſe der Sibiriſchen Bahn, bie deu 

17* 





226 Die Zufunft, 


mobdernften Reiſekomfort bietet. Die guten Leiftungen bes Bahnbetriebe3 haben 
dad Mißtrauen verjcheucdht und man barf annehmen, daß ber Menfchen- und Eiller> 
verfehr auf diefer Stede rafch zumehmen wird. Won den auf diefem Weg bejör: 
derten Frachtgütern find 42 Prozent Getreide aus dem weftlichen und mittleren 
Sibirien, das über die ruſſiſchen Oftfeehäfen ins Ausland geht; auch Fleiſch, Ge⸗ 
flügel und Butter werden in gewaltigen Mengen von der Bahn aus dem Land ge- 
führt; im Durchgangsverkehr nach Europa ift der hinefifche Thee beſonders wichtig. 

Dem Zarenreich ſichert die Sibiriſche Bahn das unentbehrliche Mittel zur 
Erſchließung und Kultivirung feines großen aftatiichen Länderkomplexes; fie ift die 
bisher einzige große Verkehrsader, um die Mafjen der fibirifchen Bodenfchäge nutz⸗ 
bar zu machen. Sept kann nicht mehr, wie früher fo oft, in ber Gegend des Baikal⸗ 
jeed das Getreide auf dem ‘Feld verfaulen, weil die Bauern in der ungemein frucht⸗ 
baren Gegend, wenn fie ihren eigenen Bedarf gededt haben, nicht willen, was jie 
mit dem Ueberjluß an Himmelsfegen beginnen jollen, und fich deshalb die Mühe 
des Emtens erjparen, während andere Theile des weiten Reiches und vor Allem 
das vielfach getreidearme Oftfibirien vielleicht unter Hungersnoth leiden. Jept 
Tann and) ber ungeheure Holzreihthum der riejigen ftbiriichen Wälder ausgenügr 
werben, wenn Europa Holz braudt. Und endlich kann man auch an eine rationelle 
Ausbeutung der ſibiriſchen DMinerallager benten. 

Die Leiftungfähigkeit der bisher nur eingleifig ausgebauten Sibirifchen Bahn 
wird natürlich wachen, fobald der zweigleilige Ausbau von Ticheljabinit dis Man- 
dſchuria beendet ift, den ein tm Jahr 1908 der Duma vorgelegier Geſetzentwurf 
fordert und für den 377 Millionen Mark verlangt werden. Nach der Bollendung 
ves zweiten Gleiſes fol, jo hofft man, die Reife von Paris nad) Wladiwoſtot 
nur noch zehn Tage dauern. 

Von der ſtrategiſchen Bedeutung der Sibiriſchen Bahn und der anderen 
ruſſiſchen Bahnbauten in Oſtaſien war ſchon die Rede. Die Verhältniſſe haben ſich 
freilich feit dem Friedensſchluß in einer für Rußland recht unbequemen Weiſe ger 
ändert. In Bortsmouth hat Rußland außer feinem „Pachtgebiet“ auf ber Kwantung⸗ 
Halbinfel auch den ſüdlichen Theil der Südmandſchuriſchen Bahn, bis zur Station 
Kmangstihöng-tfu, an Japan abgetreten; außerdem verpflichteten fich beide Theile, 
die in der Mandſchurei befindlichen Eifenbahnen nicht für ihre ftrategifchen Maß⸗ 
nahmen zu benugen. Steht nun auch biefe Beftimmung für den Fall eines zweiten 
Krieges zwifchen Rußland und Japan nur auf bem Papier, fo ift fie doch für die 
zuffifche Regirung nicht gerade bequem. Noch unangenehmer mußte ihr der Ueber- 
gang eines Theiles der Südmandſchuriſchen Bahn an Japan fein, denn biefer 
Schienenſtrang, beffen Anlage firategifche Rüdfichten empfahlen, dient nun dem 
Feind und würde im Kriegsfall den Japanern erleichtern, an die Chineſiſche Ofte 
bahn heranzukommen und Wladiwoftol und das Uſſuri⸗Gebiet abzufperren. 

Die militärifche Unficherheit der Lage hat Rußland beftimmt, eine neue Bahn 
verbindung mit Wladiwoſtok anzuftreben, die ausfchließlich ruſſiſches Gebiet bes 
rühren follte. Dan kam auf das alte Projekt der Amurbahn als des Berbindungs«- 
ıttedes zwiichen der Transbaifal» und der Ufjuri-Bahn zurüd. Natürlich bätte 
ere ſolche Bahn faſt nur ftrategiichen Werth; in Friedenszeiten wird der Verkehr 
von und nah Wladiwoſtok die viel kürzere Linie der Ehinefifchen Oſtbahn vur- 
ziehen. Wegen der ungenfigenden Rentabilität wollte fich auch Tein Unternehmer 











Rußlands Bahnbau in Sibirien. 227 


zum Bau und Betrieb der Amurbahn bereit finden, obwohl die ruſſiſche Negirung, 
wider ihre fonftige Gewohnheit, auch da8 Ausland zum Wettbewerb aufforberte. - 
Da mußte alfo wieder der Stant eingreifen. Die revolutionäre Bewegung und 
ber ſchlechte Zuflanb der Finanzen verzögerten ben Bau; erſt im November 1906 
hat der Minifterrath die Mittel bewilligt. Die Abficht, die Amurbahn vom End» 
»unkt der Transbaikalbahn, Stretenft, zunächft durch das Schilkathal nach Petrow⸗ 
flaja und dann am Amur entlang über Blagowefchtichenit nah Chaboromila zu 
führen, ließ man aus militärifchen und finanziellen Gründen fallen. Die Bahn 
ſoll jegt fchon in Nertfchenft von der Transbaikalbahn nordwärts abzweigen und 
etwa 150 Werft nördlih vom Schilka- und Amurthal nad Chaboromjka führen, 
wobei fie außer verichiebenen Nebenflüflen des Amur auch das Chingan-Gebirge 
überwindet, Petrowſkaja und Blagoweichtichenif rechts liegen läßt und ben Haupt» 
firom vor Chaboromifa überhaupt nur an einer Stelle, bei Paſchkowo, berührt. 
Das wichtige Blagoweſchtſchenſk wird vermuthlih Durch eine Zweigbahn an bie 
Hauptlinie angeichloffen werden; Doc, find ſür den öftlichen Theil der Amurbahn 
bie endgiltigen Baupläne noch nicht beichlofjen. Die Koften ber 1884 Werft Iangen 
Bahn werden zund 375 Millionen Mark betragen. Der Weftabfchnitt bis zum 
Sejathal fol 1911, der Oftabfchnitt bis Chaborowſka 1912 fertig fein. Diefer Bahn 
will man fogleich zwei ©leife geben. Duma und Reichsrath Haben dem Borfchlag der 
Regirung zugeftimmt. (Bu den vielen gewicdhtigen Gegnern des Planes gehört Graf 
Bitte.) Doch Hat die Duma die Bedingung geitellt, ba nur ruffiiche Ingenieure, Be: 
amie und Arbeiter beim Bahnbau beichäftigt werben und auch dad Material aus Ruß⸗ 
Iand ftamme. Einftweilen hat bie Bahn, wie erwähnt wurbe, nur militärische Bedeut- 
ung; auch jür die Wirtbfchaft aber wird fie von Jahr zu Jahr werthvoller werben. 
Wie bie mieiften Gebiete Sibirieng befigt nämlich auch da8 Amurthal Naturalſchätze 
‚aller Art, die aber bisher zum weitaus größten Theil unverwerthet bleiben mußten, 
weil eben die Möglichkeit fehlte, fie billig und bequem zu transportixen unb dem 
Welthandel zuzuführen. So ift der außerordentliche Fifchreihthum des Amur 
bisher ohne nennenswerthen Nugen geblieben; die Vorkommen von Kohle, Eifen 
und Graphit in der Amurgegend, in der gewiß aud eine abbauwürdige Goldmenge 
zu finden tft, haben, wegen der ſchlechten Transportverhältniffe, noch feinen Untere 
nehmer angelodt; ber fruchtbare Boden, der eben fo gute Ernten verfpricht, wie ° 
man fie in Weit- und Mitteljibirien vielfach erzielt, trägt heute nur wenig Getreide, 
weil man für die über den lofalen Bedarf hinausgehenden Mengen feine Ber- 
wendbungmöglichleit hätte. Der Wafjerweg genügt nur für einen befcheidenen Fracht⸗ 
verkehr, obwohl der ftattlihe Amur und aud der viel wallerärmere Schilka im 
Sommer dem Auge eine anjehnlihe Schiffahrt und im Winter eine prachtvolle 
Schlittenſtraße bietet. Arch zwei Landftraßen, welche die ruſſiſche Regirung vor 
‚mehreren Jahren (von Stretent nad Blagomwenjchiichenit und von Chabarowſka 
bis zur Stanize Michailo⸗Sſemenowſtkaja) anlegen ließ, tragen zur wirthfchaftlichen 
Hebung des Amurdiftriltes nur wenig bei. Wlle Hoffnungen richten fich deshatb 
auf die Amurbahn. Vielleicht ift die Thatſache, daß fich in den legten Jahren 
immer mebr Xapaner im Amurdiftrift anjiedeln, der befte Beweis für die Wichtig- 
keit diefer Provinz. ALS jicher darf man annehmen, daß in vier bis fünf Jahren. 
wenn die Amurbahn fertig ift, von Chaboromjfa aus, wo die Bahn vom Amure 
&hal rechts abſchwenkt und in die nad Wladimoftot führende Uffuri-Bahn über» 


228 | Die Zukunft. 


net, eine weitere Zweigbahn amurabwärts bis zur Mündung geführt werden wirb 
in deren Nähe bie ruſſiſche Hafenftadt und ftarfe Feſtung Nikolajewſk liegt. Auch 
aus diefem noch unbedeutenden Ort kann, irog feiner Lage an einer fat ſechs 
Monate lang vereiften Ylußmündung, im Lauf ber Zeit Etwas werben. 

Das Selbe darf man (wenn man von den ungebeuren Tundren bes arkt⸗ 
ifchen Nordens abjieht) von faſt allen fibirifchen Bezirken jagen, tn bie eine Eiſen⸗ 
bahn geführt wird. Faſt überall find Mineralien, thieriiche Produkte, Getreide und 
Holz in ungeheuren Dengen zu ernten, zu erjagen unb zu ergraben. Auch im 
Ausland verbreitet ſich diefe Erfenntniß immer mehr und zieht unternehmungluſtige 
Männer in das zwar raube und eifig kalte, aber zu Unrecht vielfach als unwirthlich 
verſchriene Land. Da ift zunächſt der oft erdrterte, jeßt als ausführbar erfannte 
amerilanifche Plan, Amerika und Afien durch eine Bahn zu verbinden, die von 
ter nörblichften Station der Sibirifhen Bahn, Kanft, im Weiten des Baikalſees, 
nah Nordoften abzweigen, über Jakutſk und durch Norboftfibirien nad der 
Tſchuktſchen⸗HPalbinſel und der Beringsfiraße verlaufen, unter dieſer Straße im. 
einem Zunnel hingehen, Alaska und Kolumbien durchqueren und in Bancouver 
Anſchluß an die transkontinentale Bahn Kanadas finden fol. Der Plan fchien dem 
erften Blick abenteuerlich. Die Bahn müßte in Sibirien ja durch beinahe menſchen⸗ 
leere, unfultivirte Gebiete gehen, durch die Sumpflandbichaften der ungeheuren nord⸗ 
fibirifchen Tundren, durch Gegenden, die klimatiſch zu den ungünftigften der ganzen 
Erde gehören; nah bei Jakutsk, das von der Bahn berührt werden foll, in Werchojanſk 
liegt der Stältepol der Erde, wo dag Thermometer im Winter manchmal auf — 70 Grad 
Celſius fällt, während im Sommer die Hige bis zu + 40 Grab feigt; ferner führt 
die Bahntrace duch das rauhe Stanowoj⸗Gebirge, das wegen feines fürchterlichen 
Klimas während bes größten Theils des Jahres überhaupt nicht paffirbar if, und 
durch die Tichultichen-Halbinfel, die Flimatifch vieleicht noch ungfinftiger geftellt ift als 
Daß feiner ftrengen Winter wegen berüchtigte Nachbarland Alaska. Was erwartet man 
bon einer ſolchen Bahn, der ſich ein Neifender doch freiwillig faum anvertrauen 
wird? Wie fann man hoffen, daß die 1100 Millionen Mark, auf die man den Bau 
der 7500 Kilometer langen Bahn und des Tunnels unter der Beringsftraße ver» 
anfchlagt, fich jemals auch nur annähernd rentiren werden? Und warum greifen 
die Ruſſen nicht mit beiden Händen zu, wenn ameritanifche Unternehmer folchen. 
Bahnbau anbieten, der Rußland felbit feinen Pfennig koſten joll? 

Wer dieje Fragen beantworten will, muß bedenken, baß der Norden und 
befonders der Nordoften Sibiriens ein an Diineralien aller Art ungewöhnlich reiches 
Land ift und daß die Tichuktfchen-Halbinfel vielleicht noch mehr Gold birgt als 
Alaska. Am Oberlauf der Lena und des enifjei, an der oberen Tungujla und- 
am Witim wird beute fchon viel Gold gewonnen (zwei Drittel der gelammten. 
Jahresproduktion Rußlands); Diefe Ausbeute läßt ſich noch beträchtlich jteigern. 
"m Unterlauf der Lena bat man ferner große Kupfer» und Koblenlager entdedt, 
tic bisher nur aus Mangel an Transportmitteln nicht ausgebeutet werden konnten. 
Dazu fommt der unerfhöpflide Waldreihihum Sibiriens, dem in ber nördlichen 
gemäßigten Zone nur die Wälder Kanadas an Ergiebigkeit verglichen werden können. 

Die einzige Bedingung, die den Ruſſen von den Umerilanern geftellt wird, 
ijt Die Veberlafjung eines 24 Kilometer breiten Landfireifeng auf beiden Seiten bee 
Bahn zur beliebigen Verwendung, auch zur bergmänniichen Ausbeutung. Die For⸗ 


Rußlands Bahnbau in Eibirien, 2:9 


derung. ſcheint befcheiden: ein 24. Kilometer breites Streifen. eines. zur Beit ganz 
wertblofen, unbenupten Yandgebietes als einzige Kompenfation für einen Bahnbau 
von Milliarbenwertd. Doch die Amerilaner wiflen, welde Schäße dieſes Land 
birgt. Seit Jahren haben fie ihre Ingenieure zum Studium bes Landes und zur 
Erforſchung ber „geeignetften” Bahnlinie binnusgefandt; und wenn fie jegt mit 
allen Mitteln danach fireben, 1100 Millionen Mark jür das Projekt Hinauszumwerfen, 
fo kennen fie fiher ganz genau ben Gegenwerth. Eine viele taufend Kilometer lange 
Bahn und einen Unterfeetunnel von geradezu märchenhaften Dimenfionen baut man 
an ber Grenze des Polarkreiſes nicht ind Blaue hinein. Daß vom Paflagierverfehr 
auf abjehhare Zeit bier nichts zu erwarten ift, weiß der Yankee genau; aber er 
möchte wohl gern noch einmal ein Geſchäft machen wie bei ber Erwerbung Alaskas, 
aus bem ex jest in jedem Jahr allein an Gold faft den ganzen Kaufpreis heraus⸗ 
wirtbichaftet, der 1867 für die Ueberlaffung des Landes an Rußland bezahlt wurde 
(7 Millionen Marl). Ob Amerita mit dem Bau diefer fibtrifchen Bahn nicht viel- 
leicht auch noch politiiche Abfichten von der ſelben Art verfolgt, die e8 bei ber E⸗⸗ 
werbung der Philippinen begte? Die Möglichkeit wirthichaftlicher Invaſion in Oſt⸗ 
alien wäre mit höherem Preis nicht zu theuer bezapli. 

Sn Rußland ahnt man wohl den wahren Beweggrund, der das amerilanifche 
Konfortium zu feinem lodenden Anerbieten treibt, und vermuthet mit Recht, daß 
die Ueberlaſſung bes Landftreifens ben Amerikanern die Hauptfadhe ift. Deshalb 
blidt man einftweilen aus kühlem Auge auf den Plan. Im Sommer 1907 hat ber 
Zar bie Konzeſſion rundweg verweigert. Trogdem kann es natürlich noch zu einer 
Berftändigung fommen. Der intereffantefte Theil dieſer Sibirien⸗Alaſska⸗Bahn wäre 
ber Tunnel unter der Beringsftraße. Ein folder Tunnel unter dem Meer ift bis⸗ 
ber noch nirgends gebaut worden. Daß nun an der Grenze des Polarkreijes, in un⸗ 
wirthlichſter, kulturferner Gegend ein Unterjeetunnel von nicht weniger als 60 Kilo» 
meter Länge als erfter ber Welt entftehen fol, ein Tunnel, der nur auf ben beiden 
mitten in ber Beringsftraße gelegenen Diomedes⸗Inſeln unterbrochen würde, zeigt, 
mit welcher Kühnbeit die Amerikaner vorgeben. 

Die Sibirien⸗Alaska⸗Bahn Hätte mit den größten klimatiſchen Widerwärtig» 
teiten zu Tämpfen. Doc würde fie den eigentlichen Polarkreis nirgends über- 
ihreiten oder erreichen; auf der Tſchuktſchen⸗Halbinſel käme fie ihm freilich fehr 
nah. Dan Tann fie daher, fireng genommen, noch nicht zu den eigentlichen arkt⸗ 
ishen Bahnen rechnen, zu denen man Doch, neben den kurzen Bahnlinien in Alaska, 
auch bie bisher nörblichfte Bahn der Erde, die Dfotenbahn in Norwegen, rechnen 
muß, obwohl diefe klimatiſch viel günftiger geftellt ift als die nicht-arktifchen Bahnen 
Sibiriens. Aber auch in Sibirien wird e8 demnädjft eine rein arktijche Bahn ge- 
ben, Die dann bie nörblichite ber Erbe fein wird; denn wenn fie ſich auch nirgends 
fo weit nad) Rorden erftredt wie bie Ofotenbahn in ihrem einen Endpunkt Narvik, 
fo liegt fie do im Durchſchnitt nördlicher und reicht, im Gegenfag zu ihr, nir⸗ 
gends unter ben Polarkreis hinab. 

Ein in Rußland jehr befannter Sroßunternehmer, der Ingenieur Knorre 
bat die Konzeflion zum Bau der „BolarUraleifenbahn“ erhalten, die durch die 
nörblichften Ausläufer des Ural einen Schienenweg von Puſtozerſk an der Mun⸗ 
dung ber Betihora nad Obdorſk an der Mündung des Ob bieten wird. Die ganze 
Bahnlinie ift nur 400 Werft lang; daß fie bisher, obwohl fie feit Jahrzehnten ge⸗ 





430 Die Zukunft. 


plant war, noch nit gebaut worden tft, Itegt an bem unglinftigen Klima und ber 
ſchlechten Bodenbeſchaffenheit der zu durchfahrenden Strede. Sie würbe nach und 
von den weftfibtrifchen Städten einen Verkehr ermöglichen, ber Bis in die neufte 
Beit undenkbar ſchien. Alle Verſuche, zu Schiff von ben europäifchen Meeren bis 
zur Mündung des Ob unb des Jeniſſei und in die Ströme ſelbſt hineinzugelangen, 
blieben lange exfolglos, weil ber berüdhiigte „EiSteller“ bes Kariſchen Meeres jedes 
Fahrzeug feRhielt, das an der fibirifchen Küfte gegen Oſten vorzudringen trachtete. 
Da entdedte man in den fiebenziger Jahren (Nordenſtjöld Hatte das Hauptverdienſt 
daran), Daß dieje Dteerestheile, Die man im Früh⸗ und Hochſommer nicht zu paffiren 
vermocht hatte, im Spätjonimer die Durchfahrt zu geftatten pflegen. Diefe Wahr⸗ 
nebmung gab dem Berkehr von den nordeuropäiſchen Meeren nach dem Ob und Je⸗ 
niffei durchs Nördliche Eismeer in den legten Jahrzehnten des vorigen Jahrhun⸗ 
deris eine gewiſſe Bedeutung. Seit 1899 bat er wieder nachgelafjen; freilich waren 
hieran wentgex klimatiſche Urfachen fchuld als die ruffifche Zolpolitik, die Damals 
die früher zur Hebung dieſes Verkehrs gewährte Zollfreiheit der auf dem Seeweg in 
Nordſibirien eingeführten Waaren wieder aufhob. Dadurch wurde bie Fahrt durchs 
Eismeer, die ohnehin durch ungewöhnlich hohe Seeverfiherungstoften belaftet war, 
unrentabel. Unter dieſer Entwidelung der Dinge litten natürlich die fibirijchen 
Handelscentzen; und da in manden Jahren (1905 und 1907) die Fahrt durchs 
Kariſche Meer doch recht ſchwierig und gefahrvoll war, fam man in Rußland auf 
den Gedanken, ben fibiriichen Handel im Gebiete des Ob und Irtyſch, vielleicht 
auch bes Seniffei durch den Bau mit Hilfe der Polar-Uraleifenbahn zu heben. 

Die Schiffahrt bis zur Betihora-Mündung und jpeziell nach Buftozerfk, dem 
Endpunft der geplanten Bahn, ift von den europälfchen Häfen aus meift nur vier 
Monate Iang möglich. Im Vergleich mit dem direkten Seeweg nad) der Mündung 
bes Ob, ber gewöhnlich nur anderthalb Monate lang offen und, weil die große 
Samojeden⸗ oder Jalmalhalbinſel bavorliegt, jehsmal fo lang wie die neue Bahn- 
ftrede ift, wird alfo der Schienenweg fehr beträchliche Vorzüge bieten. Der Schifls- 
verfehr auf dem Ob und feinem mächtigen Nebenfluß Irtyſch aber ift, je nadh ber 
geographiichen Breite, überall fünf bis acht Monate lang möglid und gerade in 
den großen Getreibegebieten am Oberlauf der beiden Flüffe beſonders günftig ge» 
ftellt. Der Weg zwifchen Dbbdorjf an der Mündung bes Ob und dem bejonbers 
wichtigen Handelscentrum Barnaul am oberen Ob ift 3000 Werft lang und wird 
von einem fräftigen Schleppdampfer, der 240 000 Bud Fracht zu fchleppen Hat, 
firomaufwärts in fünfzehn Tagen, ſtromabwärts in zwölf Tagen zurüdgelegt. 

Die Endpuntte der Bahn werden große Hafenanlagen erhalten, die mit dem 
Bahnbau felbft 40 Millionen Rubel koſten jollen. Im Berhältniß zu der wirth- 
ihaftlihen Bedeutung ber Bahn iſt dieſe Ausgabe gering. Natürlich wirb bie 
Bolar-Uralbahn, wie die Amurbahn und die Sibirien-Alasfa-Bahn, faſt nur dem 
Bfterverfehr dienen und deshalb zunächft wohl auch nur während bes kurzen 
jidiriihen Sommers im Betrieb fein. 

Meine Skizze giebt nur einen Theil der Pläne, mit denen die ruſſiſche Re⸗ 
girung in Sibirien vorzugehen beabſichtigt. Huch von der faſt myftiich gewordenen 
„Nordöſtlichen Durchfahrt* iſt fun die Nede. Das mag fürs Erfte in den Be⸗ 
reich der Bhantafie gehören: ficher ift, daß Rußland endlich an die Ausmünzung feiner 
ſibiriſchen Exrdfchäge denkt und die Koften des dazu nöthigen Bahnneges nicht ſcheut. 


5 Dr. Rihard Hennig. 








Die Ungläubigen. 231 


Die Ungläubigen.*) 

Croire tout d&couvert est une erreur profonde, 
C’est prendre l’horizon pour les bornes du monde. 

Lemierre. 
5 Menſchen leiden buchſtäblich an einer geiftigen Kurzſichtigkeit. Ihr Horie 
zont bedeutet ihnen die Grenze der Welt, wie Lemierre richtig fagt. Neue 
Thatſachen, neue Ideen blenden fie und flößen ihnen Abfcheu ein. Keine Aenderung 
ſoll in dem täglichen Kreislauf der Dinge eintreten. Die Gefchichte des Fortſchrittes 

des menſchlichen Wiſſens ift ihnen nur ein toter WBuchftabe. 

Die Kühnneit der Forſcher, der Erfinder, der Umftürzler ift in ihren Augen 
verbrecheriſch. Yür fie ift Die Menjchheit immer fo geweſen wie heute; es giebt 
für fie feine Steinzeit; bie Erfindung bes Feuers, ber Häufer, der Wagen unb 
Eifenbahnen exiſtirt nicht für fie, eben fo wenig wie bie Entbedungen ber Wifjen- 
ihaft und die verfchiedenen Geifteäfragen überhaupt. Fiſchblut fließt in ihren 
Adern und fogar die Berwandtichaft mit den Mollusten ift noch nachweisbar. 
Behaglich figen fie in ihren breiten Fauteuils und die Ruhe und Yufriebenheit 
diejer vortrefflichen Bürger ift unzerſtörbar. Sie faflen e8 nicht, baß der Grund 
aller Naturphänomene ein unbelanntes Etwas birgt; der bloße Austaufd von 
Borten befriedigt fie. Warum fällt ein Stein zu Boden? „Weil er von ber Exrde 
angezogen wird.” Dieſe Antwort genfigt ihrem Ehrgeiz; fie glauben, verſtanden 
zu haben. In allen Jahrhunderten, auf allen Stufen der Civiliſation begegnet 
man ſolchen Leuten. Kühl leugnen fie alle unerflärlichen Dinge und haben flet8 
ein fertiges Urtheil Über die unergründliche Organifation bes Weltalls bereit. Ehen 
fo gut Fönnten zwei Ameifen ſich über die Geſchichte Frankreich oder über Die 
Entfernung dee Sonne unterhalten. Wir wollen die Geſchichte durchblättern und 
einige Beifpiele anführen. 

Die Schule des Pythagoras Hatte ſich von ben gewöhnlichen Vorftellungen 
fiber die Natur frei gemadt; fie nahm zuerſt den Begriff von der täglichen Be⸗ 
wegung unferes Planeten auf, womit die abjurbe Borftellung, die einen grenzen- 
lofen und unenblicyen Himmel binnen vierundzwanzig Stunden fi um einen uns. 
bedeutenden Buntt drehen ließ, hinfällig wurde. Daß ficy die allgemeine Stimme 
gegen diefe geniale Idee empörte, tft felbftverftändlich. Man kann nicht verlangen, 
daß ſich ein Nilpferd zu Adlerhöhen aufichwingt. Uber die Macht des allgemeinen 
Boruribeiles war jo groß, daß jelbft überlegene Geifter nicht fähig waren, fich 
zu diefer Wahrheit zu erheben, Geifter von fo glänzender Intelligenz wie Platon 
und Archimebes, ſelbſt Hipparch nicht und Ptolemäus, die Aftronomen. PBtolemäus 


—— — 





*) Ein Abſchnitt aus dem Werk, Räthſel des Seelenlebens“, das der berühmte 
Aſtronom Camille Flammarion bei Julius Hoffmann in Etuttgart erſcheinen läßt. Der 
Direktor der Sternwarte in Juviſy jpricht darin über Die Phyfiologie des Gehirns, über 
Zelepathie, Bedanfenübertragung, Einwirkungen der Seelen auf einander, über Hallu- 
zinationen, Hellfehen und die weite Welt des Traumes. Das Buch wird nicht weniger ſtark 
wirlen alsFlammarions(im ſelbenVerlag erſchienene), Unbekannte Naturkräfte“; es wird 
die überlebenden Nichtsalsmaterialiſten ärgern und den von metaphyſiſcher Sehnſucht 
Erfüllten den Troſt bringen, daß auch, Männer der Wiſſenſchaft“ mit ihnen empfinden. 


232 Die Zukunft. 


Bricht fogar in lautes Gelächter aus über dieje „Narretei” und bezeichnet bie Theorie 
bon der Bewegung ber Erde als „völlig lächerlich“, zavu yelordrarov. Diefer 
Ausſpruch wirft ganz braftiih. Man flieht förmlich einen feiften Domberm ſich 
ſchütteln und winden übex eine fo fpaßige Zumuthung. Gott, ift Das Tomild! 
Die Erbe dreht fih! Die Byihagorüer find gefchlagen: ihr eigenes Haupt iſt verdreht. 

Sokrates muß den Schierlingäbecher leeren, weil er den Aberglauben jeiner 
Beit abgefchüttelt hatte. Anaxagoras wird verfolgt, weil ex die Behauptung auf 
ſtellt, Die Sonne fei größer als ber Peloponnes. Zweitauſend Jahre fpäter wird 
Galilei verfolgt, weil ex die Größe des Weltigftemes und die unbedeutende Klein 
beit unſeres Planeten lehrt. Mit Iangfamen Schritten geht e8 auf der Suche nad) 
der Wahrheit vorwärts: und die menſchlichen Leibenfchaften und bie herrſchende 
Blindheit bleiben fich in allen Zeiten gleich. 

Trotz allen ſich bäufenden Beweiſen der modernen Aftronomie ift aber der 
Zweifel noch immer nicht vertilgt. Haben wir nicht in unferen Bihliothelen aus 
dem Jahr 1806 ein Werl, das gegen die Bewegung der Erbe eifert und deſſen 
Verfaſſer erllärt, er werde nie zugeben, daß fich die Erde „wie ein Kapaun am 
Bratipieß” dreht? Diefer gute „Kapaun“ war übrigens ein Mann von @eift (maß 
ja Unwifjenheit nicht ausfchließt) und Mitglied des Inftitutes, Mercier mit Namen, 
befannt durch fein Tableau de Paris, und gerade ihm Hätte man wirklich ein 
richtiges und umfafienderes Urtbeil zutrauen können. 

Ich feldft wohnte einft einer Sigung ber Acad&mie des Sciences bei. € 
war on dem denkwürdigen Tag, da der Phyliter Du Moucel den verjammelten 
Gelehrten den Phonographen Edifons vorführte. Als der Apparat, nad) beendeter 
Erklärung, nun zu reden begann, erhob fich einer der Alademiler, ein älterer Herr; 
durchdrungen von klaſſiſcher Bildung, voll edler Empörung über bie Frechheit des 
Neuerers, ftürzte er fich auf den Vertreter Edifons, padte ihn an der Gurgel und 
ſchrie: „Sie Schuft! Glauben Sie, wir laffen und von einem Bauchredner zum 
Betten halten!“ Es war Monſieur Bouillaud. So gejchehen am elften März 18783. 
Sechs Monate jpäter, am dreißigften September, in einer ähnlichen Sigung, hielt 
es Monfieur Bouillaud für feine Pflicht, nach einer eingehenden Prüfung des 
Apparates die Erklärung abzugeben, er fet überzeugt, daß es nur eine gejchidte 
Bauchrednerei fei; „man fünne doch unmöglich annehmen, daß ein ſchäbiges Metall 
den edlen lang der menſchlichen Stimme wiedergeben könne.“ Seiner Meinung 
nad) war aljo der Phonograph nichts als akuftifches Gaukelſpiel. 

Als Lavoifier die Luft in ihre Beftandtheile zerlegte und entbdedte, daß fie 
vornehmlich aus zwei Safen, dem Sauerftoff und dem Stidftoff, befteht, rief Diele 
Entdedung einen Sturm der Entrüftung hervor. Ein Mitglied der Academie 
des Sciences, der Chemiker Baume (Erfinder des Uräometers) bielt an der alten 
Wiſſenſchaft der vier Elemerte unbeirrt jeft und eiferte lehrhaft: „Die Elemente 
oder Grundtheile der Körper find von den Phyiilern aller Jahrhunderte und aller 
Nationen erfannt und feftgeftellt worden. Es ift nicht zuläffig, Daß bie Elemente, 
bie jeit zweitaufend Jahren als ſolche erkannt find, heute in die Kategorie ber zu- 
Tammengejegten Subftanzen eingereiht werben; und man barf bas Verfahren, Luft 
und Waffer in feine Beftandtheile zu zerlegen, ruhig als unficher hinftellen; ganz 
abjurdes Geſchwätz, um nicht noch mehr zu fagen, ift es gar, bie Eriftenz von 
Feuer und Erbe als Elemente zu leugnen. Die den Elementen zugeiprochenen 





Die Ungläubigen. 233- 


Eigenfchaften ſtimmen mit den bis heute erreichten chemifchen und phyſiſchen Kennt⸗ 
niffen überein; fie haben als Bafis für eine Unmenge Entbedungen und Theorien 
gedient, eine glänzenber als die andere, und man würde diefen Lehren alle Glaub⸗ 
wärbigfeit nehmen, wenn Feuer, Waffen, Luft und Erde nicht mehr als Elemente 
gelten follten.“ Seutzutage weiß jedes Sind, daß biefe einft fo fanatiſch verthei⸗ 
digten vier Elemente als ſolche nicht exiftixen und daß die modernen Chemiler 
im Recht waren, als fie Waſſer unb Luft in ihre Beſtandtheile zerlegten. Das 
„Feuer“, biefer deus ex machina ber Natur und bes Lebens für Baume und 
Konforten, hat nur in der PBhantafıe ber Profefioren eriftirt. 

Und felöft Lavoifier, der große Chemiker, gehört zu Denen, bie „Alles beſſer 
wiſſen“. Ex fchrieb einſt einen fehr gelehrten Bericht an die Acad&mie, in dem 
er den Beweis liefert, daB Steine nicht vom Himmel fallen Tünnen. Nun war 
aber der Meteorfall, ber ihm bie Beranlafjung zu feiner Schrift bot, in allen 
Einzelheiten genau beobachtet worben: man hatte das Aufleuchten gejehen, den 
Knall gehört, das Meteor fallen jeden, noch ganz glühend aufgefunden und dann 
der Academie zur Prüfung vorgelegt. Diefe aber ließ durch ihren Berichterftatter 
erfläzen, bie Sache fei unglaubwürdig und nicht wahr. Seit Taufenden von Jahren 
waren fchon Steine vom Himmel gefallen, Hunderte verläßlicher Zeugen hatten 
ih für die Echtheit des Phänomens verbürgt, mehrere Meteore lagen in Kirchen, 
Wujeen und Sammlungen aufbewahrt; und noch fehlte bis ans Ende des vorigen 
Jahrhunderts Dex freidentende Menſch, der dieſen Thatfachen hätte zur Anerkennung 
verhelfen können. Schließlih kam er: Chlabni. Ich klage weder Lavoiſier noch 
ſonſt Einen an; nur die Tyrannei der Vorurtheile verdamme ich. Man glaubte 
nicht, man wollte nicht glauben, daß die Steine vom Himmel fallen könnten. Der 
begrenzte Berftand wehrte ſich gegen biefen Glauben. 

Einer ber felbfiändigfien und unterrichtetften Geifter bes fiebenzehnten Jahr» 
hunderts war Gafjendi. Ein dreißig Kilogramm fchweres Meteor fällt 1627 in 
der Brovence bei hellem Tag nieder: Gaſſendi fieht es, berührt und unterfucht 
es und führt es auf ein unbelanntes Exrbbeben zurüd. Die gelebrteften Profefloren 
zur Zeit Baffendis ſtimmen darin völlig überein, daß die Sonne feine Yleden 
haben Fönne. Das Brodengefpenft und die Fata Morgana werben, ehe fie erklärt 
find, von vielen Menfchen geleugnet. Und noch gar nicht fo lange ift e8 her (1890), 
daß die gefammte Acadsmie des Sciences die Erfcheinung bes Kugelbliges leugnete; 
auch das Mitglied, das über feine Entftehung genau Beſcheid wiſſen follte. 

Die Gefhichte bes Fortfchrittes ber Wifienfchaft zeigt ung, daß Die größten 
Refultate oft ganz einfachen Beobachtungen entipringen. Keine Erfahrung follte 
auf dem Gebiete des wiſſenſchaftlichen Stubiums unbeobadhtet bleiben. Welche 
glänzende Veränderung hat bie Elektrizität im modernen Leben hervorgebracht! 
Ter Telegrapb, das Telephon, das eleftrifche Licht, die Motore und Berwanbtes. 
Ohne Elektrizität wären die Nationen, die Städte, die Sitten ganz anders gewor⸗ 
den; der Eiſenbahnverkehr Hätte fich nicht fo entwickeln können; ftünden die Sto, 
tionen nicht in unaufhörlicher Verbindung: wie könnten bie Züge fo ſicher aufihren 
Bleifen Hin und Her eilen? Und bie ärmliche Wiege diefes ftolzen Genius if nur 
von jpärlichem Licht beichienen; kaum ahnt man bie tommende Morgenröthe. Man 
erinnert fi an bie Bouillon aus Froſchſchenkeln für Madame Galvani (1791). 
Galvani Hatte Lucie Galeozzi, die hübſche Tochter feines ehemaligen Profeſſors, 


234 Die Zutunft. 


geheirathet und liebte fie zärtlih. Sie lag ſchwerkrank in Bologna. Der Arzt hatte 
ihr eine Bouillon aus Froſchſchenkeln verordnet und Galvani hatte bie Bereitung 
ſelbſt übernommen. &8 heißt, daß ex, auf jeinem Balkon fiend, bereit3 eine Un- 
zahl Fröſche enthäutet hatte und ihre abgetrennten Schenkel am Eifengitier biejes 
Ballons mit Meinen Kupferhaken, bie er zu feinen Erperimenien zu benutzen pflegte, 
befeftigte. Plöglich jah er zu feinem größten Erftaunen, daß die Froſchſchenkel in 
tonvulfivifhe Zudungen geriethen, fo oft fie mit dem Eiſen des Balkons in zu- 
fällige Berührung kamen. Galvani (PBrofeffor der Phyſik an der Univerfität von 
Bologna) ging nun mit feltenem Scharffinn diefem Phänomen nach und entbedie 
bald die Bedingungen, unter denen er es ftet3 bewirken Tonne. 

Wenn wir Froſchſchenkel abhäuten, jehen wir weiße Fäden: die Schentels 
nerven. Widelt man diefe Nerven in ein Binnblättchen und legt fie, noch im Zu- 
stand der Biegſamkeit, auf eine Supferplatte, jo ziehen fich bei ber Berührung des 
Zinns mit dem Kupfer die Nerven zufammen und ein leichter Gegenftand, ben 
man oben auf bie Platte gelegt Hat, wird mit ziemlicher Kraft fortgefchleu:ert 
werden. Ein Zufall brachte Galvani die Entdedung; ihm verdanken wir Die Er⸗ 
finbung, bie jegt feinen Namen trägt („Salvanismus*) und bie wieber andere nad) 
ſich 308, die des voltafchen Stromes, der Balvanoplaftit und anderer Verwerthung⸗ 
möglichleiten der Elektrizität. 

Die Beobachtung des bologne'er Gelehrten wurde (nur einige ernfthafte 
Forſcher Ichentten dem Phänomen die verdiente Aufmerkſamkeit) allgemein mit un- 
geheurem Gelächter aufgenommen. Der arme Erfinder war ganz niedergefchlagen. 
„Ich werde“, fo fchreibt er 1792, „von zwei verfchiebenen Parteien angegriffen, 
von den Weijen und von den Dummen. Den Einen wie ben Underen bin idy ein 
Spott und man nennt mich den Tanzmeifter der Fröſche. Trogbem weiß ich, daß 
ich eine neue Naturfraft entdedt babe.“ 

Und ift nicht zur felben Zeit in Paris durch die Academie des Sciences 
und die Mebizinifche Fakultät der menſchliche Magnetismus geleugnet worden? 
Auch dann noch, als Jules Lloquet eine vorher magnetifirte Frau ſchmerzlos an 
Bruſtkrebs operirte. 

Wie hat Guy-Patin und die gefammte Fakultät mit ihrem beienden Sar- 
kasmus Harvey für feine Entdedung der Blutcirkulation gequält! 

Die Geichichte vom Marquis de Yoffroy und von Fulton, die das Dampf⸗ 
ſchiff erfanden und Doch nicht den Spott einer albernen Menge zu befiegen ver- 
mochten, ift zu befannt, als daß es nöthig wäre, fie hier nochmals aufzutifchen. 

So erging es faft allen Erfindern. Einer meiner Landgleute aus Haute 
Marne, Philippe Lebon, Crfinder der Gasbeleudtung (1797), ftarb 1804 am 
Tage der Kaijerfrönung, ohne die Ausnügung feiner Idee erlebt zu haben. Man 
Hatte natürlich eingemendet, Daß eine Lampe ohne Dot nicht brennen könne. Zus 
erft wurde dann Die Gasbeleuchtung 1805 in Birmingham eingeführt; 1813 in 
London und erjt 1318 in Paris. 

Als die erften Proben mit der Eiſenbahn gemacht werden ſollten, firäubten 
fih die Ingenieure und wiejen nad, daß die Lolomotiven unmöglich von der 
Stelle kommen Fönnten und ihre Räder fi) immer nur um fich jelbft Drehen wür⸗ 
den. In der Deputirtenfammer dämpfte Arago 1838 die Fühnen Erwartungen der 
Anhänger der neuen Erfindung; er führte Die Trägheit der Materie, die Zähig⸗ 





Die Ungläubigen. 235 


feit der Metalle, den Widerſtand ber Luft ins Treffen. „Die Geſchwindigkeit“, 
iegte er, „ift groß, aber lange nicht fo groß, wie man gehofft hat. Streiten wir 
a3 nicht um Worte. Man fpricht von vorausfichtlicher Zunahme des Transportes. 
Im Jahr 1836 beitrug die Totalfumme für Transportkoſten in Frankreich 
2 203 000 Francs. Wenn nun alle Eifenbahnen ausgebaut werden und aller Trans» 
port durch Lokomotiven erfolgen wixd, fo werben ſich die 2 803 000 auf 1052 000 
Francs vermindern. Das bedeutet einen jährlichen Berluft von 1751000 Francs. 
Tas Lanb verliert alſo beiläufig zwei Drittel der Einnahme aus den Transport» 
unkoſten. Laſſen wir alfo diefe Bhantafiegebilde. Zwei parallele Eijenftränge fönnen 
ber Sascogne fein neues Gepräge geben.“ Und bie ganze Rede geht in dieſem 
Ton weiter. Man fieht: wo es fich um neue Ideen handelt, werben die größten 
Geijter ir. Thiers meinte: Ich gebe ja zu, daß die Eifenbahnen die Beförderung 
bon Reiſenden etwas erleichtern werden, wern der Gebrauch auf einige ganz kurze 
Linien in ber Nähe großer Städte, wie Paris, beſchränkt bleibt. Man braudt 
feine weiten Streden." Proudhon fagte, „es jet eine triviale und lächerliche Be⸗ 
Bauptung, daß die Etfenbahnen ber Verbreitung von been dienen Tönnten”. In 
Bayern erflärte das Königliche Medizinische Kollegium auf Befragen, daß der Bau 
der Eifenbabnen ein großes Verbrechen gegen bie öffentliche Geſundheit wäre, denn 
eine jo fchnelle Bewegung würbe bei ben Reiſenden Sehirmerfchütterung, bei ben 
Zufchauern aber Schwindelanfälle erzeugen; und das Kollegium empfiehlt dringend, 
an beiden Seiten der Schienen Scheidewände in der Höhe ber Wagen aufzurichten.. 

AS der Vorſchlag, ein unterfeeiiches Kabel zwiſchen Europa und Amerila 
ju legen, 1853 gemacht wurde, ſchrieb Babinet, eine unferer größten Autoritäten 
in der Phyſik, Eraminator an ber Polytechniſchen Schule, in die Revue des Deux 
Mondes: „Ich Tann dieje Pläne nicht ernfthaft nehmen; die Theorie bes elektriſchen 
Stromes zeigt unwiberlegbar deutlich die Unmöglichkeit einer ſolchen Uebertragung, 
jelbft wenn man nicht mit dem Strom rechnet, der ſich von felbft auf einer fo 
langen elektriſchen Strede bildet und ſich fchon auf der kurzen Reife von Dover 
nach Calais fühldar madt. Das einzige Mittel, die alte und die neue Welt zu 
berbinden, ift, Die Veringftraße zu paffiren, vorbei an den Farderinfeln, Island, 
Grönland und Labrador.“ 

Der Geologe Elie de Beaumont, ftändiger Sekretär ber Academie des 
Sciences (gefiorben 1874), bat fein Leben lang den vorfintfluthlichen Menſchen 
‚ geleugnet. In den „Comptes rendus de l’Acad&mie des Sciences“ fann man 
in dem Bericht vom breizehnten Juli 1873 nachlefen, daß bei der Ernennung eines 
Korzejpondenten Darwin zurüdgewiejen wurde, um einem Herrn Loven Aufnahme 
zu ſchaffen. In England verweigerte 1841 die Königliche Gefellfchaft eine Er⸗ 
innerungtafel für den berühmten Joule, der mit Mayer bie Thermodynamik bes 
gründet bat; und Thomas Young, ber mit Fresnel die Theorie von der wellen» 
förmigen Bewegung bes Lichtes aufftellt, wird von Lord Brougham verladht und 
verſpottet. In Deutihland fieht Mayer feine unfterbliche Entdedung von allen 
offiziellen Gelehrten höhniſch kritifirt, er verliert den Glauben an fich ſeibſt und 
füixzt fi aus dem Fenfter. Ein Wenig fpäter wäre er mit offenen Armen aufe 
genommen worben. Der große Eleftriter Ohm wird von feinen deutjchen Beil» 
genofien als Narr verfpottet. Als Franklin ber Königlichen Geſellſchaft in London 
feine Erfahrungen über die Fühigkeit einer Eifenftange, die Elektrizität der At⸗ 


236 . Die Zunft. 


mofphäre abzuleiten, mittheilte, war ein Heiterkeitausbruch die einzige Antwort 
und die gelehrte Berfammlung verweigerte rundweg, ben Vortrag drucken zu lafien. 

Was hat fih bei ber Erfindung des Fernrohres abgeipielt! Niemand be 
griff feine weittragende Bedeutung und noch ein halbes Jahrhundert [päter weigert 
fih der ausgezeichnete Aftronom Helvetius, Gläfer feinen Inſtrumenten einzufügen, 
‚weil er fürchtete, fie Zönnten die Genauigkeit der Bofittonbeitimmungen Binbern. 

Und ſolche Beifpiele könnte man ad infinitum anführen. 

... Auguste Comte und Littréͤ haben der Wiflenfchaft ihren beftimmten, ihren 
.„pofitiven“ Weg vorgezeichnet: nicht$ anerkennen, was man nicht jeher, nicht fühlen, 
nicht hören kann, was uns unjere Sinne nicht klar bezeugem-Lönnen; und nicht 
nach ber Erkenntniß des Unerlennbaren ftreben. Und feit einem halben Jahr⸗ 
Hundert verfolgt die Wiſſenſchaft blind Diefen vorgejchriebenen Weg. Wenn wir aber 
das Zeugniß unferer Sinne prüfen, entdeden wir, daß fie und volftändig täufden. 
Wir fehen Sonne, Mond und Sterne um ung kreiſen: es ift faljch. Wir berühren 
fefte Körper: es giebt Feine. Wir hören harmoniſche Töne: die Luft führt uns 
nur ftumme Wellenbewegungen zu. Wir bewundern die Farben» und Lichteffelte, 
bie vor unferen Augen das farbenprädhtige Schaufpiel der Natur entwideln: in 
"Wahrheit giebt es weder Licht noch Farben, nur Schwingungen des Aethers find 
vorhanden, und indem ſie unſeren optifchen Nerv treffen, erwmeden fie uns exft die 
Zichteindrüde. Wir verbrennen ung Die Füße am feuer: nur in unferem Gehirn 
ift das Gefühl des Schmerzes entflanden. Wir reden von Wärme und Kälte: es 
giebt im Weltall weder Wärme nod) Kälte; nur Bewegung. So betrligen ung die 
Sinne über die Wirklichkeit. Empfindung und Wirklichkeit find nicht das Selte. 

Das tft noch nicht Alles. Unſere armen fünf Sinne find fehr mangelhait: 
fie laffen uns nur eine Heine Unzahl Bewegungen empfinden, aus denen jich das 
Leben des Univerfums zufammenfegt. Um Dies ein Wenig zu erklären, will ıdı 
bier wiederholen, was ich vor einem Dritteljahrhundert in „Lumen* ausſprach: 
„Bon der letzten akuſtiſchen Empfindung, die unjer Ohr erreicht (der Schall madıt 
36 850 Schwingungen in der Sekunde), bis zur erften optischen Empfindung. bie 
unfer Auge aufnimmt, 400 000 000 000 000 Lichtſchwingungen in der jelben Zeit 
einheit, fönnen wir nichts wahrnehmen. Während eines verhältnißmäßig großen 
Zeitraumes find unfere Sinne demnach ganz unthätig. Hätten wir noch andeıe 
Saiten auf unferer Leier, 10, 100, 1000 Saiten, die Harmonie ber Natur müste 
fi uns viel mannichfacher enthüllen.“ Iſt nun die Beugenjchaft unferer Sinu: 
trügerifch, fo ift fte daneben auch höchſt unvollkommen. Wir haben feinen Grund, 
uns viel einzubilden und ung auf eine angeblich pofitive Philoſophie zu berufen; 
wir müffen uns eben mit Dem begnügen, mas wir haben. Der religiöje Glaube 
fagt zum Berftand: „Mein einer Freund, Du haft nur eine Laterne, die Tir 
leuchtet. Löſche fie aus und vertraue Dich meiner Führung an.” Dies tft aber 
unfer Motto nit. Wir haben zwar nur eine Yampe und noch dazu eine recht 
fchlechte; aber wer jie auslöfcht, müßte in völliger Blindheit herumtappen. Tie 
Bernunft (richtiger: die Urtheilsfraft) cl immer und überall unfer Führer fein. 
Wir baben feinen anderen. Doch dürfen wir Die Willenfchaft nicht in einen engen 
Kreis feitbannen. Ich greife nochmals auf Augufte Comte zurd, gerade weil er 
der Gründer der modernen Schule und Überhaupt einer der größten Geiſter des 
neunzehnten Jahrhunderts ift. Er will die Aftronomie in die Willensgrenze feiner 





Die Ungläubigen. 237 


Zeit einjchließen; wie abfurb! Er fchreibt: „Wir begreifen, daß man bie Form, 
die Entfernung, die Bewegung ber Sterne fiudiren kann, aber man wird niemals 
ein Mittel finden, um ihre chemifche Zujammenfegung zu beflimmen.“ Diefer 
berühmte Philoſoph ftarb 1857; fünf Jahre jpäter wurde durch die Speltralanalyfe 
die hemifche Zuſammenſetzung der Geftirne fetgeftellt und jeder Stern nad} feinen 
chemiſchen Beſtandtheilen Haffifizirt. - 

Eben fo behaupteten die Aftronomen des fiebenzehnten Jahrhunderts, daß 
die heben Planeten nicht eriftiren Tönnten. Das Unbekannte von geflern wirb 
zur Wahrheit von heute. Es wäre Übrigens ein Irrthum, wollte man annehmen, 
daß nur Gelehrte (gewifie Gelehrte) fich diefer Denkträgheit ſchuldig machen. Die 
große Mehrzahl der Menfchen verfällt in den felben Fehler. Das menſchliche 
Gehirn bleibt fi) immer gleich, ob es fich num um Gelehrte, Schriftfteller, Künftler, 
Magiſtratsperſonen, Bolitiker, Handwerker, Taglöhner oder Nichtsihuer handelt... 
In gewiſſer Hinficht ift dieſer Widerftand, dieſe Halsftarrigleit, diefer Eigenfinn 
übrigens entichuldbar. Im erften Moment kann man weder die Größe noch den 
Berih einer neuen Sache abwägen. Die erften Dampfichiife fuhren ſchlecht und 
blieben Hinter der Leiftungfähigfeit der Segler zurfd. Die erften Gaslaternen 
gaben wenig Licht und rochen jehr unangenehm. Die Erde ſchien wirklich feſt und 
ftabil zu fein, Luft und Waſſer fchienen Elemente. Es Hang unnatürlih, daß 
Steine vom Himmel fallen follten. Tie erſten elektriſchen Nachrichten blieben Dunkel 
und unzufammenbängend und die erften Eifenbahnen entgleiften jämmtlih. Das 
Genie und die Erfindung eilen ber Zeit voraus. Ganz natürli, daß die Zeit⸗ 
genoſſen ba zurückbleiben und nicht fogleich verftehen können. 

Dft genug ift auch daß Neue noch nicht ganz erfannt, ungenau und unflar 
erfaßt und erfordert eine ungemein fchrvierige Analyje. Durch wie viele Schwierig « 
leiten, unter wie vielen Bezeichnungen mußte fi der menſchliche Magnetismus 
durhfämpfen, ehe er feinen heutigen wiflenfchaftlichen Stand erreichte! Wie ift 
er von Charlatanen mißbraudt worden, bie mit der Leichtgläubigfeit der Dlenge 
ſpielien! Wie viel Betrug, wie viel Hinterlift, wie viele infame Lügen find unter 
dem Namen des Magnetismus und des Spiritismus aufgetreten! Und welde 
geilen diefe Schwindbler zu erfinnen wiflen! Da kann man das reſervirte Weſen 
der Gelehrten zum Theil wenigftend gar wohl verftehen. 

Welch ungeheures, erftaunliches Yeld bes Willens hat uns nicht die erft 
kürzlich gemachte Entdedung ber Röntgenftrahlen erfchloffen! Durch einen undurdy- 
ichtigen @egenftand fehen! In das Innere eines verfchlofienen Koffers! Das 
nochengerüft eines Armes, eines Fußes, eines Körpers durch Fleifch und Kleidung 
hindurch! Eine ſolche Entdedung fteht mit unferen alten, anerfannten Erfahrungs 
gen in vollem Gegenfag. Diejes Beilpiel fpricht jehr zu Bunften des Arioms: 
Es ift eine unmwiffenfchaftliche Behauptung, daß die Wirklichkeit nicht über Die Grenzen 
uniexed Erkennens und unferer Beobachtungen hinausreicht. 

Das Telephon überträgt das Wort in bie Ferne; nicht durch Tonwellen: 
nur durch die eleftriiche Bewegung. Wenn wir mit Hilfe einer Röhre von Paris 
nad Marjeille fprechen Tönnten, fo würbe unfere Stimme 3%, Minuten brauchen, 
um an ihren Beftimmungort zu gelangen, eben fo viel Zeit die Antwort, fo day 
ein geiprochenes Wort 7 Minuten Zeit beanjpruchen würde. Wir denfen richt 
darüber nach, aber vom Standpunft unjerer alten Wahrnehmung (vor diefen Er⸗ 
findungen) aus betrachtet, fcheint das Telephon eben fo abfurd wie Die X⸗Strahlen. 





238 Die Zukunft. 


Man ſpricht von ben fünf Pforten unferer. Erfenntniß: Geſicht, Gehör, 
Geruch, Gefühl und Geſchmack. Diele flinf Pforten, fpeziell die Drei leuten, machen 
uns nur einen Fleinen Bruchtheil der Außenwelt zugänglich. Ohr und Auge zeichen 
ziemlich weit; eigentlich ift e8 aber nur das Licht, das uns mit bem Univerſum 
verbindet. Denn was eriftirt außer dem Licht? Die Lichtempfindung wird auf 
unferer Netzhaut bevorgerufen durch Schwingungen, die fich mit einer Geſchwindig⸗ 
feit von 400 Zrilltonen (das äußerfte Roth im Lichtipektrum) bis zu 756 Trillionen 
(da8 äußerfte Biolet) in ber Sekunde bewegen. Ste find längft genau gemefien. 
Ueber unb unter diefen Aetherſchwingungen giebt e8 noch andere, die für uns nid! 
wahrnehmbar find. Unter dem Roth giebt e8 dunkle Wärmevibrationen; Aber dem 
Violet chemiſche, aktinifcde, photographirbare Schwingungen, alle dunkel. Biee 
andere find uns ganz unbelannt. Ich will Hier eine Türzlich erfchienene Zuſammen⸗ 
ftelung don Str William Crookes beifügen und fie weiter ausführen und ergänzen. 
Die Tabelle Hellt die wahrjcheinliche Reihenfolge bex Phänomene bes Weltalls dar 


und zeigt gleichzeittg Die Lucken in unferem ixbifchen Wahnehmungvermögen. Nehmen 


wir eine bie Sekunde anzeigenbe Uhr und verboppeln wir jebesmal die Schläge, 
jo erhalten wir folgende Serie: 


Stufe 1 2 
2 4 
3 8 
4 16 
5 32 
6 64 
Ä 7 128 
8 256 Tone 
9 512 
10 1024 
15 32 768 
20 1.048 576 
25 83 554432 unbefannt 
30 1073 741 824 Eleltrizilat 
35 34 359 738 368 
1.099 511 627 776 | unbelannt 
45 35 184 372 088 832 
48 981 474 976 710 656 


49 562 949 953 421312 
50 1125 890 906 842 624 
55 36 028 797 018 963 968 


Lit*) 


56 72.057 594.037 927936 unbetannt 
57 144115 188.075 855 872 
58. 288230 376 151 711 744 
59 576460 732 303 423 488 
60 1152921 504 606 846 976 
61 2305 843.009 218 693 952 
62 4611 686.018 427 387 904 

63 9223 372.036 854 775 808 h unbetannt, 


X«Strahlen 


u zz 2 v5 0 8 TR a GT Br A CR RT a 2 


*) Die Licht», Wärmes und hemifchen Strahlen von Infraroth bis Ultraviolet. 





Die Ungläubigen. 239 


Beim fünften Brad, von der Einheit an gerechnet, betreten wir dad Ge 
biet, wo die Schwingungen ber Atmofphäre als Töne zu uns gelangen. Bir fin» 
den da bie tieffte muſikaliſche Baßnote. Wählen wir einen ſehr tiefen mufilalifchen 
Zon, jo unterjcheiben wir bis zu einem gewiffen Grabe die elementaren Schwing- 
ungen, trotzdem ber Ton einheitlich bleibt (jonft wäre er nicht mufilaliih). Se 
tiefer der Ton, fagt Helmholtz, defto genauer unterſcheidet dad Ohr das pulfirende 
Bibriren bes Aethers. In den folgenden zehn Stufen fteigen bie Schwingungen 
in der Sehnde von 32 auf 32768; jede Verdoppelung wiederholt die felbe Note 
eine Dftade höher. Der höchſte Tun hat 36 000 Schwingungen in ber Sekunde und 
mit ihm endet das Gebiet ber Töne für das menjchliche Gehör. Es giebt aber ficher 
mit befierem Gehör begabte Thiere, die noch Töne zu hören vermögen, beren Vi⸗ 
brationgeſchwindigkeit dieſe Grenze überfchreitet. 

Wir betreten nun ein Reich, in dem bie Schnelligleit der Schwingungen 
außerordentlich raſch fleigt, und das vibrirende Medium ift nicht mehr bie grobe 
Atmofpbäre, fondern ein feineres Element: ber Weiher. Es giebt Vibrationen noch 
unbelannter Art. Dringen wir weiter vor, jo gelangen wir in bie Sphäre der 


elektriſchen Strahlen.*) 
Dann folgt die Region von Grab 35 bis zu Grad 45 mit 34 Milliarden 


359 Millionen bis 35 Trillionen 184 Milliarden Schwingungen in der Sekunde. 
Diefe Region ift ung unbelannt; wir kennen bie Thätigleit dieſer Vibrationen nicht; 
aber daß fie vorhanden find, können wir nicht mehr bezweifeln. 

Nun nähern wir uns dem Neich des Lichtes, den Schwingungen ber Grade 
48 bis 50. Die Lichtempfindung, aljo die Schwingungen, die für uns fichtbar find, 
liegen in ber engen Grenze von 400 Trillionen (rothes Licht) bis 756 Trillionen 
(vigletes Licht) eingeichloffen, machen aljo nicht ganz einen Grad aus. 

Die Naturphänomene, bie und beftändig umgeben, vollziehen fich aljo unter 
der Thätigleit unfichtbarer Kräfte. Der Waflerbampf, befien Wirken für das Klima 
jo wichtig if, bleibt unſichtbar. Die Wärme iſt unfichtbar; eben fo finds bie Elel- 
trizität unb bie hemifchen Strahlen. Das Sonnenſpektrum, bas die Gefammtheit 
aller ſichtbaren Strahlen in fih fchließt, kennt heute Jeder. Wenn man einen 
Sonnenſtrahl durch ein Prisma auffängt, fo erhält man in dem Prisma ein bunte 
farbiges Band, das von Roth bis Violet geht. Viele Linien durchziehen es; Die wich 
tigften bat man mit Buchſtaben U bis H bezeichnet: es find die Abforptionlinien 
ber in ber Sonnenatmofphäre verbrennenden Subſtanzen und bie Linien, die de 
Baflerbampf ber Erbatmofphäre verurfacht. Man kennt ihrer heute Taufende. Häl 


*) Die Entladung einer Leydeper Flafſche in eine Spule ſehr feiner und 
{ehr langer Fäden läßt elektriſche Schwingungen eniftehen, die Helmholtz (1869) 
und nach ihm noch andere Forfcher beftimmt haben; fie ſchwanken von 1000 bis 
10.000 in ber Sekunde. Herb gelang es, 1888, Vibrationen der felben Art, und 
zwar 100000 in ber Sekunde, herborzurufen und ihre Ausbreitung zu ſtudiren. 
Diefe Schwingumgen pflanzen fi im Wether fort, woburd fie fi) von ben 
LKlangſchwingungen unterfcheiben, die fi nur in der groben Materie, in Luft, 
Baffer, Holz und fo weiter fortpflanzen Tünnen. Man nimmt au, baf fie ihrer 
Natur nach mit ben Vibrationen der Wärmeflrahlen fübereinftimmen, was Mar- 
well (1867) ausgeiprochen Hat. (Thomfon: Conferences.) 

18 


240 Die Zufunft. 


man ein Thermometer links zum fihtbaren Spektrum, jenfeit8 vom Roth, fo wird 
es fleigen: ein Beweis, Daß ba für uns unfichtbare Wärmeltrablen vorhanden find. 
Legt man eine photographtiche Platte dagegen an bie rechte Seite, jenfeits vom 
Biolet, fo wird man Einbrüde erhalten: ein Beweis für das Borhandenfein un 
fichtbarer chemiſcher Strahlen von lebhafter Thätigfeit. Wichtig ift Hier: Unficht« 
bare Körper lönnen fichtbar werben, fo Uran und fchwefelfaures Chinin, Beide 
in der Dunkelheit durch Belichtung mit ben (unfihtbaren) ultravioleten Strahlen. 

Man beftimmt heute alle biefe Strahlen nad) der Länge ihrer Wellen, näm- 
!th dem Raum, ben eine Welle während der Dauer einer Schwingungperiobe durch⸗ 
eilt. Obgleich die Längen der Lichtwellen ziemlich gering find, kann man fie doch 
beute mit Diffraktionfpiegeln mit ſehr großer Genauigkeit beſtimmen. 

4. Wir leben in drei Dimenfionen. Gabe es Wefert, bie nur in zwei Die 
menfionen leben könnten, auf der Fläche eines Kereiſes, auf einer Ebene, fie wären 
in Diefen zwei Dimenfionen gefangen, in die Grenzen des Biereds, bes Kreiſes 
eingejchlofjen. Würde man ihnen eine dritte Dimenfion und die Fähigkett, ſich in 
ihr zu bewegen, geben: mit größter Leichtigleit würden fie ihre alten Grenzen über» 
fchreiten. Auch wir find von den ſechs Flächen bes Würfels eingeichloffen: gäbe 
man ung eine vierte Dimenfion und die Möglichkeit, in ihr zu leben, wir würden 
die Schwelle unſeres Gefängniſſes fo leicht überfchreiten wie ein Menich einen Strich 
am Boden. Wir können diefen Ueberraum (n“) wohl eben fo wenig begreifen, wie 
ein Weſen, das auf der Ebene (n®) lebt, den Kubikraum (n®) zu faffen vermag; 
aber wir haben nicht das Recht, biefe vierte Dimenfion zu leugnen. 

Wir haben in unjerem irdiſchen Leben gewiſſe unerflärte Fähigkeiten, ge 
wife unbewußte Sinne. Wie finden die Wandervögel wieder den Weg zu ihren 
alten Neftern zurüd? Warum findet ein Hund den Weg zu feinem Herrn oft viele 
Bundert Kilometer weit? Wie faſzinirt die Schlange den Bogel, bie Eibechie ben 
Schmetterling? Die Weſen anderer Welten mäfjen eben mit anberen Sinnen be» 
gabt fein als wir. Abfolut wiffen wir gar nichts. Unfere Urtheile find nur relativ 
und darım unvolllommen und unzuverläffitg. Die wiſſenſchaftliche Weisheit beftebt 
alfo Hauptfähli darin, im Berneinen fehr vorfichtig zu bleiben. Wir müffen be⸗ 
fcheiden fein. „Der Zweifel ift ein Zeichen der Beicheidenheit”, fagt Arago; „ex 
bat felten dem Fortichritt der Wiſſenſchaft geichadet. Man foll aber nicht das Gelbe 
von der Ungläubigkeit jagen.“ 

Es giebt noch eine große Anzahl unerklärter Thatſachen, Die alle in ein un» 
befanntes Gebiet gehören. Die Zelepathie oder das Fernfühlen, Die Erfcheinungen 
ober Manifeftationen Sterbender, Gedantenübertragung, das Sehen im Traum 
oder Somnambulismus bei gefhlofienen Augen von Gegenden, Orten, Ereignifien, 
das Weisfagen der Bufunft, die Antündigungen und Borahnungen, gewifie jeltene 
magnetijche Fülle, die undbewußten Diktate durch Tiſchklopfen, unerflärbare Ge⸗ 
räufche, die Sputhäufer, die Lepitationen, bie dem Geſetz ber Schwere enigegen- 
wirten, das Bewegen und Fortbringen von Gegenftänden ohne Berührung und 
von ſcheinbar materialifirten Kräften (fo abſurd es Tlingt) und viele andere bizarre 
und jest noch unerflärlide Bhänomene erregen unſere Aufmerkſamkeit. 

Halten wir nur baran feft, daß Alles, was wir beobadhten und prüfen wollen, 
natürlich ift; daß wir ruhig, mit wiſſenſchaftlicher Kaltblütigfeit, ohne Vorurtheil, 
ohne Geheimnißfrämerei ftudiren müflen, genau als handle es ſich um Aſtronomie, 








Die Hohkönigsburg. 241 


Vhyſik oder Phyfiologie. Das Hebernatärliche eriftirt nicht, Alles ift von der Natur 
eingefchlofien, das Belannte und das Unbelannte. Eflipjen, Kometen, Sternfchnuppen 
galten auch einmal für übernatürlich, als Zeichen göttlichen Bornes, ehe man ihre 
Geſetze kannte. Das Wunderbare, Ungewöhnliche, Unerklärte nennt man oft über- 
natürlich. „Unbelannt” wäre der richtige Ausdruck. 

Gewiß wird Mancher fagen: „Nie werbe ich an diefe Unmöglichkeiten glauben! 
Ich glaube nur an Raturgefege und diefe find doc befannt genug.“ Das heißt 
dann fo Handeln wie die bie alten Geographen, die auf ihre Weltkarten bei den 
Säulen Des Herkules fchrieben: „Hic deficit orbis“, bier endet die Welt, ohne zu 
ahnen, daß in dem unbelannten Weften boppelt fo viel Land lag, wie fie in ihrer 
Beichränktheit ahnten. Alle menſchlichen Kenntniſſe könnte man mit einer winzig 
fleinen Inſel, die von einem grenzenlos weiten Ozean umgeben if, vergleichen. 

Wir haben noch viel, ſehr viel zu lernen. 

Juviſy⸗Paris. Camille Flammarion. 


2% 


Die Hohkonigsburg. 


2 Hohtönigäburg bei Schletiftadt ift der Vollendung nah. Der Landes» 
ausfchuß und das Neich haben zum Bau der Burg beträdtlihe Sum⸗ 
men bewilligt. Man hat dort mit Zreibhaustechnit Ruinen neued Leben ent» 
blühen laffen und mit erftaunlich geſchmacklos inizenistem Theaterprunk, der, 
weil aus dem fchönfärbenden Rampenlicht ind grelle Pleinair (und gar noch 
bei nimmer erſchöpftem Regenwetter) gerifien, unjagbar tomoedienhaft wirkte, 
die „Einweihung“ gefeiert. Eine Beurtheilung der rensvirenden Ruinenrui⸗ 
nirung zu geben, ift nicht meine Abficht. Die Trage, ob die Wiederherftellung 
fünftlerifch ſchätzbar fein kann, jcheidet hier aus. Nur darum handelt fichs, 
ob diefer Aufbau ein treued Bild des Alten jei, dad im Wandel der Zeiten 
ftürgte. Herr Bodo Ebhardt behauptet: Das Bild ift treu. Ihm hat allerhöchite 
Gnade den „ehrenden Auftrag“ ertheilt, die Burg aufzubauen. Es war, ich 
ſagte es fchon, ein theurer Spaß. (Man verftehe unter Spaß aber nicht etwa „übler 
Scherz“.) Als man vom deutjchen Volt im März wieder eine Rate von fünf 
undfiebenzigtaufend Mark forderte, habe ich darauf hingewieſen, daß ein Ur⸗ 
bild der alten Burg gefunden fei, und gefadelt, daß man dem Kaiſer dieſen 
Fund verheimlicht habe. Offiziös befiritt man nad vierzehntägigem Befinnen 
die Wahrheit meiner Ausfage; in der „Germania“ veröffentlichte ich darauf den 
Brief im Wortlaut, der bekundet, daß der Sailer das Vriginalbild nicht ſah. 
(63 fam an den Abfender in einem Zuftande zurüd, daß man meinen Tonnte, 
es ei, wie die Kodizes der Palatina, in Schwedenhänden, nicht aber in einem 
Keiferlichen Geheimen Stabinetfgewelen.)! 

Dieſes Bild wurde im Herbft 1907 vom Berlagsbuchhändler Paul Heik 
unter den Beftänden feiner Firma, die, im Buchgewerbe ſeit Jahrhunderten 

18* 


2342 Die Zukunft 


thätig, in Straßburg anfällig ift, gefunden und von Autoritäten als unbe- 
zweifelbar anertannt. Herr Ebhardt aber machte Bauernbürgermeifter des Elſaß 
und andere harmlofe Seitgenofien mobil, um diefen Holzichnitt für unzuver⸗ 
läffig zu erflären. Barum? Seine Wiederaufbautheorie wird in einem wich» 
tigen Punkt umgeftoßen: er bat den Burgfried vieredig geftaltet und der Holz- 
Schnitt zeigt auf quadratiihem Sodel einen koniſchen Thurm. Der unfehlbare 
Architekt forderte triftigere, forderte urkundliche Bemeife. 

Bon diefem Bild alſo ſprach ich am zwölften März im Neichdtag. Bald 
danach wurde ein zweiter wichtiger Fund gemacht. Meine vor der größten im 
Reich denkbaren Deffentlichleit gefprochenen Worte hatten Beranlafiung ger 
geben, daß die Zeitungen fich mit der Angelegenheit befaßten. Im „Welt- 
fpiegel“ des Berliner Tageblattes wurde die Burg in ihrer jegigen Geftalt 
abgebildet und daneben der alte Holzfchnitt reproduzirt. Das Blatt fam durch 
Zufall als Einwidelpapier in die Hand eines Mannes, den das Burgbild ver» 
blöüffte: er erinnerte fich, eine Elfenbeinplateite mit der jelben Anficht zu be 
fiten. Er bot fie Herrn Heik an; und nun fehen wir, daß deſſen beide Bil- 
der genau übereinftimmen. Kerr Ebhardt aber erflärte die Plakette für eine 
moderne Fälſchung und Herrn Heitz und mich für bedauernſswerthe Opfer leicht» 
gläubiger Vertrauensſeligkeit. Er meinte, die Bilder könnten eben fo gut den 
Kreml oder die Wartburg darftellen. (Warum nicht gleish die Gralaburg?) 
Alſo meldeten eö die Hofblätter des Herrn Scheel. Weitere luſtſame Mäch⸗ 
lereien will ich bier nicht ſchildern; nur fagen, daß Herr Ebhardt meine Theil» 
nahme an dem Handel dadurch zu entwürdigen fuchte, daß er erzählte (ver- 
trauenswerihe Menſchen melden mirs), ich fei Herrn Heik verwandt. Den 
kannte ich aber bis zum fiebenundgwanzigiten Auguft gar nicht und bin ihm 
weder geichwägert noch fonft gefippt. Wenn es wahr ift (mie in den Zei⸗ 
tungen gemeldet wurde), daß Herr Ebhardt in feinem dem Kaiſer vor anſehn⸗ 
licher Deffentlichleit gehaltenen Vortrage gejagt bat, ich habe dieje Plakette im 
Reichätag „ald Beweis gegen die Anficht des Wiedererbauerd angeführt”, fo 
wäre Das eine Flüchtigkeit, die ernſthafte Männer in ernfthaftem Meinung- 
taufch meiden follten. Herr Ebhardt müht ſich redlich (das Wort foll feine mo» 
raliſche Klaſſifizirung, fondern ſynonym mit „eifrig“ fein), Herrn Hei und mich 
zu widerlegen. Er bat alle Bibliothefen und Archive erfucht, nach alten Bildern 
zu forfchen, die ihm Hilfe bringen könnten. Das Glüd war ihm nicht hold. 
Poſitives fand er nicht. Seine Stärle war nörgelnde Negation. Uns aber 
lächelt Fortuna. Der alte Sebaftion Münfter giebt in feiner Cosmographey 
ein Bild der Hohlönigsburg, die im Elſaß heute noch „Kinzburg” beißt. Die 
Ausgabe von 1598 bietet auf der Seite dexLIII (Boltor E. Major am badler 
Mujeum fand fie in den letzten Dftobertagen) eine Anficht von „Hohn Küng» 
ſperk“, die, von Nordweſten geichaut, den von Holzjchnitt und Blafetten dar: 
geftellten koniſchen Bergfried zeigt. Und eine hinzugefligte Bejchreibung des 





Parität in Preußen? 213 


elfäffer Bergbaues in Leberthal weist auf die Thatfache hin, daß unmittelbar 
nah dem Bauerntrieg in der Nähe der Burg zwei Thalſenkungen Schächte 
bargen:=,im Meußloch“. Das deutet auf die Schlacht zwifchen Ratten und 
Mäufen, die der Meiſter des Holzſchnittes (der Petrarca⸗Illuſtrator Hans 
Weiditz ) ergötzlich zu Füßen der Burg entwickelt. Bei genauerem Suchen fand 
ih bei Münfter noch ein Bild. Auf der Seite deLXIIII bietet er eine Anſicht 
von Schlettftadt. Im Hintergrimde ragt ald Ruine die genau bezeichnete Hoh⸗ 
Tönigäburg, zeritört, ausgebrannt, aber — der Thurm ift und. Man vers 
gleiche: daß erfte Bild ift auß der Zeit des Bauernkrieges, das zweite, um 
mit Herrn Ebhardt zu reden, jo „von 1600 herum”. Holzſchnitt und Plakette 
erhalten durch diefen Fund neue Beweistraft. Den guten Sebaftian Münfter, 
deſſen Illuſtrationen als getreue anerlannt find, kann man nicht der Fälſchung 
zu unſeren Gunſten besichtigen. 

Was wird nun gejagt werden? ch bin nicht neugierig. Weiß ich doch, 
dag man ich in Straßburg am Tag der Kaiſerparade erzählte, über Holz. 
ſchnitt und Plakette fei das Wort gefallen: „E3 darf die Burg nicht fein.” 
Das glaube ich nicht, meine aber: Irren ift menſchlich. Auch bei Denen, die 
nicht im Gewühl der Dienge mühſam ringend voranſchreiten, fondern, aller 
Künfte Tundig, von den Höhen der Menſchheit Maecenatengunft gewähren. 

Dr. Maximilian Pfeiffer, 
Mitglied des Reichätages. 
| 


Darität in Preußen? 


ie neuen Pfarrbefoldungsgejege mit ihren Anhängjeln bringen eine jtarle 
Benachtheiligung der preußiichen Satholiten, die über 35 Prozent der 
Gefammtbevölterung ausmachen; fie erhöhen die ſchon vorhandene Jmparität. 
Denn die Vorlagen ohne Aenderung verabfchiedet werden, jo fällt an frei- 
williger Staatäleiftung für kirchliche Bebürfniffe auf den Kopf der katholiſchen 
Bevölterung etwas über 45, auf den Kopf der evangelifchen nahezu 90 Pfennig 
pro Jahr; mit anderen Worten: der katholiſche Bevölkerungtheil wird im 
Kapitel der ftaatlichen "Zufchüffe um über 6,3 Millionen Mark zurüdgejegt. 
dur einen angeblich paritätiichen Staat ift ſolche ungleiche Behandlung der 
Konfeffionen kein Ruhmesblatt| 
Die in dieſer Zahl zum Ausdruck gelangende Imparität fällt am Meiſten 
auf bei der Bejoldung der Pfarrer. Nach der Vorlage erhält der evangelijche 
Pfarrer der Klaſſe I und II in fünfunddreigig Dienftjahren folgende Bezüge: 
Dienſtjahr 1 bis 3:........... 7200 Mark 
„ 4 „ 6:..:2 200000 8400 , 
„ TH Ionen 960 „ 


341 Die Zukunft. 


Dienftiahr 10 „ 12:.......... 11 100 Mark 
„ 13 „ 15:.......... 1260 „ 
„16. 18: .......... 1410 „ > 
» 19 „ 21:.......... 1560 
P 22 „ 24:.......... 16800 „ 
» 25 35:.......... 60 000, 
In 35 Dienftjiabsen: . ... . 155 400 


Wie ftellt ſich Dem gegenüber der katholiſche Pfarrer der jelben Klaſſe 
tn fünfunddreißig Dienftjahren nah dem Entwurf? 


Dienftiahr 1 bis 3:... 222.00 5400 Mark 
" Ge ı 6 „ 
„ 1 Be Ver 660 „ 
„ 10 „ 12:...:2 2200. 750 _ 
. 13, 15: . ... ...... 8400, 
16 „ 18:.......... 930 . 
ri 19 „ 2l:.. 2222200. 1020 „ 
„ 22 5 2:2... 20er 0en 11100 „ 
» v1 Baer 1: Po 400 „ 
Sn 35 Dienftjahren: .... 104 500 


Der katholiſche Pfarrer bleibt aljo im dieſem Zeitraum um 50 900 Mari 
Gehalt zurüd; er bezieht durcchichnittli im Jahr 1454 Marl weniger Gehalt 
als der evangeliſche. Dieſe ungleiche und ungerechte [Behandlung läßt ſich 
auf keine Weife rechtfertigen; denn im preußifchen Etat felbft?find die Bfarrer 
beider Belenntniffe an den Strafanftalten’im Gehalt gleichgeftellt; im Reichs⸗ 
haushalt findet man keine Differenzirung. Bayern bat in diefem Jahr die 
volle Sleichftellung der Pfarrer beider Stonfeffionen durchgeführt. Da darf 
man fich der Erwartung hingeben, daß das „proteftantifche” Preußen die Tathos 
lichen Geiſtlichen nicht fchlechter behandeln wird, als das „katholiſche“ Bayern 
die evangelifchen Pfarrer behandelt hat. Gegen diefe Elementarforderung der 
Parität, die der preußiſche Episkopat ſchon vor zehn Jahren erhoben hat, wird 
man nicht den lächerlichen Einwand von der Ehelofigkeit der katholiſchen Pfarrer 
verjuchen wollen; der Staat hat biöher bei feinem Stand auf die perlönlichen 
Verhältniffe des Einzelnen bei der Gehaltszumeſſung Rüdjicht genommen. Die 
unverheiratheten Staatsſekretäre Kraetke und Nieberding werden auch nicht 
ſchlechter geftellt al3 die verheiratheten Staatsſekretäre. Bei den großen An- 
jprüdden, die Charitas, Sozialpolitit und Wiſſenſchaft an die amtirenden katho⸗ 
liichen Pfarrer ftellen, bei den vielen erfolgreichen Arbeiten, die fie im Intereſſe 
des Staatswohles leiften, und angeficht3 der ungeheuren Werthe der ſäkulariſirten 
Ktischengüter wird der Preußijche Landtag gewiß die Gelegenheit nicht verfäumen, 
wo der Beweis zu führen ift, daß Preußen ein paritätiſcher Staat fein mil. 

Mathias Erzberger, 
Mitglied des Reichstages. 


Derausgeber und verantwortlicher R Redakteur. M. Harben im Berlin. — — Berlag ber Bufunft in Berlin. 
Drud von G. Bernftein in Berlin. 














Berlin, ven 14. Rovember 1908. 


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Gegen den Raifer. 
1.) 
Deklaranten. 


er Lorber! hängt heute niedrig und der&pazirgänger fann leichte Kränze 

bequem erreichen. Abjolutiömus, perjönliches Regiment, Redfeligkeit, 
verfpäteted Schwanentitterthum, impulfive, Taunifche, romantifche Politik: 
fo abgegriffene Wortipielmarfen erfaufen dem geiftlojen Redner dröhnenden 
Rafjenbeifall. Wer das Nahen der Kaijerkrifis früh erkannt, fait zwei Jahre 
zehnte lang vor ihr, trotz Schmähung, Bermögensichädigung, Einfperruna, 
als vor der drohenden Reichögefahr furchtlos gewarnt hat, Der braucht ſich 
jegt nicht in Schweiß zu fchreien, um den Applausipendern zu bemeijen, daß 
ihm im Dunftfreis der Majeftät feige Scheu nicht für immer die Kehle zu» 
geſchnũrt Hat. Der darf ruhig reden; gelafjen wie Einer, der von unbeftrittes 
nen, umbeftreitbaren Thatſachen jpricht. Sind fiebeftritten morden? Sind fie 
zu beſtreiten ? Nicht Einer hats auch nur verjucht. Im weiten deutichen Land 
nicht ein irgendwie Beträchtlicher, dem Fronpflicht nicht das Kreuz fo nutz⸗ 
loſen Mũhens aufzwang. So weit find wir. Endlich. Und dürfen aufathmen: 
denn der Erdkreis merkt nun wieder, dab auf deutichem Boden nichteine Heerde 
lebt. die der Wink des Hirten auf eine fahle Dühnenflippe treibt oder in den 
Stall pfercht. Daß germanijche Volkheit im Dualm der Städteden Stolz freier 
Saſſen noch nichtverlernt hat ; daß fie nach ſelbſtherrlichem Ermeffen ihr Ver⸗ 
trauen giebt und nimmt; und, wenn Nothwendigfeit befiehlt, dem Haupt der 
in ihrem Bereich mädjtigften gamilie mit unüberhörbarerStimme, wie Hiobs 
Gott einftdem wilden Der, zuruft: „Bis hierher durf Deine Gewalt reihen 





*) ©. „Bufunf.” „om jiebenten Y.veınber 1908. 
10 


246 Die Zukunft. 


und nicht um Fußes Breiteje weiter!" Das ift gejchehen. Dader Wunſch treuer 
Herzen, Die Mojeftät möge fid) wieder mit Wolken leiden und in Dunftwiein 
Windeln wideln, unerfüllt geblieben ift, im Gebraus üppigen Hoflagerlebend 
wohlgarnicht vernommenward, habentaufend jchrille Stimmen von dem Kai- 
fer und König Gehör erzwungen. Sn den rauhen Chor Mang eine fromm 
mahnende Weiſe hinein; wie ind Feuergeläut der umflorte Ton einer Toten⸗ 
glode. DerBorftand der Konfervativen Bartei hat eine Erklärung veröffent- 
licht, in der gejagt wird: „Wir jehen mit Sorge, daß Aeußerungen Seiner 
Majeftät des Katjerd, gewiß ſtets von edlen Motiven audgehend, nicht jelten 
dazu beigetragen haben, zum Theil durch mibverftändliche Auslegung, un= 
jere Auswärtige Politik in ſchwierige Lage zu bringen. Wir balten, geleitet 
von dem Beftreben, das faiferliche Anjehen vor einer Kritik und Diskuffion, 
die ihm nicht zuträglich find, zu bewahren, und von der Pflicht bejeelt, das 
Deutiche Reich und Volk vor Berwidelungen und Nachtheilen zu ſchützen, 
und zu demebrfurchtvollen Ausdruck ded Wunjches verbunden, daß in ſolchen 
Aeußerungen fünftig eine größere Zurüdhaltung beobachtet werden möge.” 
Eine Totenglode. Die einen ehrwürdigen Wahn zur leten Ruhſtatt geleitet. 
Ein König von Gottes Gnaden dürfte nie getadelt, niemals zu „größerer Zu⸗ 
rũckhaltung“ gemahnt werden. Der wüßte befjer ald jeder Andere, mad ihm 
ziemt, wad dem Lande frommt. Der fünfte Rovembertag des Sahres 1908, 
der dieſe Erklärung gebar, ift aus Preußens Gefchichte nicht mehr zu tilgen 
und die Männer, die und ihnerlebenließen, verdienen Danf; trogdem fie nicht 
Alles thaten, was die Noth der Zeit zu thun drängte. Wie dünnes Spinnen- 
gewebe nur umfleiden die Kurialien und Klaujeln die ernftefte Rüge. Diele 
Erklärung kann nichtverhallen und muß fortwirfen wie eine That. Der Nebel⸗ 
nıond ſah feine nüglichere. Und die Männer, die fich dazu entichloffen, haben 
den Kranz, der Tapferen lohnt, niht in bequemem Schlendern erreicht. 

Bor zwanzigSahren, beim Sohannitermahl in Sonnenburg, hat Wil⸗ 
helm der Zweite die „Edelfter des Volkes“ als feine zunerläffigften Helfer ge- 
rühmt. Sechs Sahre danach ſprach er inder Krönungftadt preußijcher Könige: 
„Wieder Epheu ich um den knorrigen Eichſtamm legt, ihn ſchmückt mitjeinem 
Laub und ihn ſchũtzt, wenn Stürme eine Krone durchbrauſen, ſo ſchließt fich der 
preußiſche Adelum mein Haus.“ Der ſichtbarſte Theil des Adel hat vor der Ant⸗ 
wort auf die Reichslebensfrage ſo langegezaudert, daß die kaiſerliche Katachreſe 
an Sätze erinnern mußte, die Goethe ins Buch ſeines Erlebens jchrieb: „Wie 
die Molluöfen feine Knochen, jo hat der Epheu feinen Stamm, mag aber gern 
überall, wo er ſich anſchmiegt, die Hauptrolle jpielen. An alte Mauern gehört 


Gegen den Kaiſer. II. 247 


er Hin, an denen ohnehin nichtö mehr zu verderben ift, von neuen Gebäuden 
entfernt man ihn billig; die Bäume ſaugt er aus und am Allerunerträglich 
ften ift er mir, wenn er an einem Pfahl hinaufklettert und verfichert, hier jet 
ein lebendiger Stamm, weil er ihn umlaubt habe.“ Die Zeit ift vorbei. Der 
Adel will nicht länger anfchmiegjamer Epheu ſei. Nicht blind, wie ihm zuge- 
muthet ward, durch Died und Dünn folgen. Die Buch, Erffa, Heydebrand, 
Kröcher, Manteuffel, Mirbach, Rormann, Bappenheimfüblen, daß ihre Kafte 
verloren wäre, wenn fie fich jeßt noch völlig von dem Empfinden der Nation 
Ihiede. Sie haben Brüder und Bettern, Söhne und Schwiegerföhne in der 
Armee und in der Verwaltung, find dem Hofbann erreichbar: und fprechen 
dennoch deutlicher ald irgendwo eine bourgeoije Gruppe. Muthig und (des⸗ 
halb) Aug. Hat Wilhelm fie. gehört? Begriffen, wie tief das Volksgemüth er: 
regt fein mußte, ehe der Freiherr von Manteuffel, der Präfident des Preußi⸗ 
ſchen Herrenhaufes, ſich entichloß, jeinen Ramen, einesfozial und wirthichafte 
li bedrohbaren Mannes, ald erften unter die Rüge zu ſetzen? Die um den 
Kaiſer und König find, waren jeit Jahren verpflichtet, jo zu ihm zu ſprechen 
wie die elf Deklaranten. Ihm zu jagen, wie im Reich über ihn gedacht werde; 
in den Baläften der Bundesfürften und im Bauernhaus, auf dem Landfi 
der Junkerfamilien und im Prunkzimmer ded reichen Städters, im Kafino 
und in der Fabrik. Dann wäre der Wunſch, den die Deflaranten, umdiligen- 
tım zu zeigen, ihrer Mahnung anhängten, vielleicht zu erfüllen: dürfte man 
über das Geſchehene ſchweigen. Jetzt darfs nicht jein. Um des Reiches willen. 
Rod ift nichts gewirkt, nicht8 gejühnt, nichts verbürgt. Iſt durchaus nicht 
fiher, daß nad) ein paar Wochen das alte Leid nicht wieder die Volkskräfte 

lähmt. Das aber darf nicht fein. Um des Reiches, auch um des Kaiſers willen. 


Der Bertheidiger. 

„Meine Herren! In von einander abweichenden Faſſungen haben Sie 
mir die Frage vorgelegt, ob ich von dem am adjtundzwanzigften Oktober in 
der londoner Zeitung The Daily Tel--„raph erjchienenen Artikel ‚Der Deuts 
Ihe Kaiſer und England‘ Kenntniß genommen habe und was ich zur Ver⸗ 
hinderung ähnlicher politiich unbequemer Ereigniſſe zu thun gedenfe. Sie 
haben damit von Shrem unbeftreitbaren Recht zur Interpellation der Ver⸗ 
bündeten Regirungen und ihres Exekutivorgans, des Reichskanzlers, Gebrauch 
gemacht; ich habe mein eben ſo unbeſtreitbares Recht, den Tag zur Beant⸗ 
wortung der Interpellation zu beſtimmen, ausgeübt. Daß ich die Beantwort—⸗ 


ung um einige Tage verſchob, war nicht etwa in dem Wunſch begründet, mich 
19* 


248 Die Zukunft. 


irgendeiner Berantwortlichfeit zu entziehen — Sie werden in meiner fangen 
Dienftzeit Teine Tatjache finden, die auch nur meinem fchroffften Gegner das 
Recht zu ſolchem Verdacht giebt —, jonderri durch dad für mich pflichtgemäß 
allein maßgebende Reichsintereſſe bedingt, das mir verbot, eine an Dornen 
und Stadheln, wie man fürchten mußte, nicht armeöffentlidye Debatteindem 
Augenblick herbeizuführen, wo wir mit einer fremden Großmacht immerhin 
beifle Verhandlungen, wenn auch über eine an fich nicht ſehr beträchtliche 
Angelegenheit, zu führen hatten. Nationale Pflicht und Klugheit gebieten, in 
ſolchen Augenblicken inneren Hader nicht zu öffentlichem Ausdrud kommen 
zu lajjen. Ein Leiter der internationalen Politik, der daran nicht rechtzeitig 
dachte, hätte damit bewiefen, daß er im engften Pflichtenfreis feines Amts: 
berufes ein Fremdling geblieben ift, und würde, jo hoffe ich, von dem Un- 
willen der deutjchen Volfövertretung weggefegt werden. Au eine andere 
Hoffnung verhehle ich Ihnen nicht: die, daß in der Frift, die ich zu erbitten 
genöthigt war, im Schoß der Mehrheit pofitive Vorfchläge reifen würden, 
über die zu ſprechen fruchtbarer und förderlicher jein könnte als uber den mehr 
oder minder fraftuollen Ausdruck eined in feinem Ziel unficheren Zornes. 
Solche Borichläge find bisher nicht an mid; gelangt. Aber die Frift ift ver- 
ftrichen, ein äußeres Hinderniß nicht mehr vorhanden; und ich freue mid, 
daß ich der Nation heute Rede Stehen Tann. Denn, meine Herren, bei aller 
Achtung vor dem Hohen Haufe: ich habe dad Bewußtfein, daß ich in diejer 
erniten Stunde nicht um die Zuftimmung von noch jo anjehnlichen Fraktionen 
zu werben, jondern mich mit der Nation auseinanderzujeßen habe, zu deren 
Bertretung Sie, meine Herren, hierhergejandt find. Artikel 29 der Reiche: 
verfafjung jagt: ‚Die Mitglieder des Reichstages find Vertreter des geſamm— 
ten Volkes.‘ Ich bitte Sie, diefen Fundamentalſatz unjerer Berfaffung Heute 
fich befonders feft einzuprägen und auch in der Erregtheit einer vielfach zu 
laut ald ‚Senfation‘ angefündeten Sigung nie zu vergeffen, dab Deutſchland 
für Alled verantwortlich gemacht wird, was der Reichstag in joldyer Stunde 
ſpricht. Insbeſondere erfuche ich Sie, fo nachdrücklich, wie ichs vermag, bei 
der Beurtheilung des Verhaltens fremder Nationen undStämme perfönlichenn 
Gefühl nicht freien Lauf zu laffen, jondern ſich jelbft diejenige Zurückhaltung 
aufzuerlegen, die Sie von einem anderen Faktor des Reichölebend fordern. 
Sie wollen dad Reich vor Schaden bewahren. Hüten Sie fi, ihm mit un- 
gezügelter Zunge neuen Schaden zuzufüg.n! 
Den Herren Snterpellanten antworte id}: 
1. Ich kenne den Artifel des Dai'y Telegraph. 


Gegen den Kaifer. Il. _ ‘249 


2. Ich werde Alles, was in meiner Kraft fteht, thun, um die Wieder- 
holung ähnlichen Aergerniffes zu verhindern, und werde mich in dieſem Be⸗ 
mühen durch Teinerlei Rüdficht auf mein perſönliches Behagenlähmen laffen. 

3.Solite, wider mein Erwarten und wider dad Erwarten deödeutjchen 
Volles, ſolche Wiederholung nicht zu verhindern fein, jo werde ich aus dieſer 
Thatjache jofort die äußerte perjönliche Konfequenz ziehen. Das heißt: ohne 
jeded Sänmen und Schwanken meine Aemter in die Hand zurüdlegen, aus 
der ich fie empfangen habe und die fie zu vergeben hat. 

Die Erläuterung diejer drei Sätze wird Ihre Zeit nicht allzu lange in 
Anjpruch nehmen. | 

Zunächſt ein Wort pıo domo mea; für mid) und meine Mitarbeiter. 
Cie willen, daß der Borwurf, Seine Majeftät der Kaijer habe ſich ohne Be- 
fragung des Reichskanzlers zur Erlaubniß der englifchen Publikation ent- 
Ihlofien, völlig unbegründet ift und daß in dem Fall, der ung beichäftigt, das 
Reichsoberhaupt gegen den Wortlaut der Berfaffung nicht im Geringften ver- 
ſtohen hat. Sie wiſſen ferner, daß die Abficht Seiner Majeftät, mein Urtheil 
einzuholen, durch ein Berfehen unwirkſam geworden ift. Durch ein Verſehen, 
meine Herren; nicht durch ein Berfagen des Apparated. Uns ift vorgeworfen 
worden, daß wir in der kritiſchen Zeit nicht in Berlin waren; dem Leiter des 
Auswärtigen Amtes noch bejonders, daß er in der Zeit, wo der Reichskanzler 
nicht in Berlin weilte, Urlaub genommen habe. Dieje Anjchuldigungen find 
nicht zu halten. An Fleiß und Hingebung hat der mannichfach bewährte Herr, 
der damals dad Auswärtige Amt leitete, es niemals fehlen lafjen. Sein Amt 
it feine Sinekure; jein Dienft, den ich aus Sahre langer Praxis genau fenne, 
it jogar ungemein anftrengend. Auch Herr von Schoen ift jelten vor zwei Uhr 
nachts ind Bett gefommen; und gegen acht Uhr früh mußte er jchon wieder 
die eingelaufenen Depejchen gefichtet und geprüft haben, um fie dem Kaijer 
bei deſſen Morgenbejuch vorlegen und erläutern zu können. Erbedurftedrin- 
gend des Urlaub; und wenn er ihn nur während der Anwejenheit des Kanz- 
lerö nehmen dürfte, müßte er auf die Auſsnützung der in unjerer Zone anges 
nehmen Jahreszeit verzichten. Denn in diejer Sahreszeit iſt der Kanzler faft 
immer fern von Berlin. Berdient er dedhalb Tadel? Nach meiner Weberzeu« 
gung antwortete ih: Nein. Seit elf Jahren bin ich in der (doch wohl allzu 
heftig verjchrienen) Wilhelmftraße thätig; feit acht Fahren Reichöfanzler. 
In diefer Zeit glaube ich mir dag Recht erdient zu haben, auch an mich zu 
denfen, jo weit ſolches Denken mit dem Reicheinterefje vereinbar ift; und das 
Reichsintereſſe leidet nicht darunter, daß ich weientlich länger als die meiften 











20 Die Zukunft. 


meiner Landsleute Seeluft athme. Ich bin in Norderney nicht ‚auf Urlaub‘, 
nicht procul negotüs, ſondern erledige täglich ein jehr ſtarkes Arbeitpen- 
ſum, erledige Alles pünktlich, was der Dienft von mir verlangt. Das ift nicht 
wenig. Da ich feinen Anſpruch auf blinden Glauben habe und gern beweife, 
daß ich in dem Reichstag einen jedem anderen gleichberechtigten Faktor 
unſeres politiichen Lebens jehe, bin ich bereit, Shrer Kommilfion den Nach⸗ 
. weiß zu erbringen, dab meine Abmwejenheit die Geſchäftsführung nicht er- 
jchwert, ihr Zempo nicht verlangjamt, e8 vielleicht ſogar befchleunigt: denn 
die Derringerung der hier Cmpfängen gemidmeten Zeit läßt mir an der Nord⸗ 
jee mehr Muße zu jchneller Erledigung der Arbeit. Einen untüchtigen Karz- 
ler mögen Ste mid) nennen; ein fauler bin ich nicht. Und gerade in diefem 
Jahr habe ih am Meer ein fo großed Arbeitquantum zu bewältigen gehabt 
und nad) beftem Können bewältigt, daß jchon die Summe der Aftennummern 
Manchen von Ihnen am Ende zum Erftaunen bringen wird. Was und ab- 
hielt, nad) Berlin zurüdzufehren, als der Himmel ſich im Dften umzog, ift 
nicht Schwer zu ahnen: wir fürdhteten, der Staatöjefretär und ich, durch be- 
jchleunigte Heimfehr an einer Panikſtimmung mitzuwirken, zu der fein An- 
lab war und die Wirthichaftgüter der Nation wenigftend für eine Weile in 
ihrem Werth herabjegen fonnte. Wir glaubten, durch die Dauer unjerer Ab⸗ 
wejenheit anzudeuten, dab troß der bedrohlichen Wolfenbildung im Hoch⸗ 
und im Spätfommer ein europätjches Gewitter nicht zu erwarten fei. 

Das Verſehen jelbft will ich nicht beſchönigen; es ift jehr arg. Unge- 
heuerlich und beijpiellos wird unbefangene Gerechtigkeit eönicht nennen, wenn 
fie vorher bedacht hat, daß jelbit in den beften, modernften Organifationen, 
die wir haben, in denen der Grobinduftrie und der Banken (denen die un- 
jerer Staatdämter ſich leider noch nicht im erwünjchten Umfang anzupafjen 
vermodhten), Irrthümer und jogar ſchlimme Bermögeneichädigungen, Kon: 
tenfehler und Defraudationen, nicht immerzu vermeiden find. Aber ich denke 
durchaus nicht daran, Ihnen ein Platdoyer vorzutragen, da8 die Zubilligung 
mildernder Umftände empfiehlt. XNih humani a me alienum puto. Daßein 
Minifter faum den vierten Theil der in fein Reſſort gelangenden Aftenftücke 
lefen fann, willen Sie aud dem Munde ded vom Genie und vom Fleiß in 
bisher unerreichter Weile bedienten Stantömannes, der Deutichlandd erfter 
Kanzler war und im deffen Schatten wir Alle Pygmäen gleichen. Aud er 
mußte fich mit feiner gigantifchen Arbeitfraft auf die ihm Untergebenen ver: 
lafjen. Daß ein Beamter den Umfang und die Bedeutung des ihm erteilten 
Auftrages unterjchäßt, ein anderer ein mit bejonderer Sorgfalt zu prüfendes 








Gegen den Kaifer. N. 251 


Manuffript in eine Altenmappe legt, in die ed nicht gehört, ift jehr bedauer- 
lich; giebt aber Keinem das Recht zu einer Paufchalverurtheilung einer Be- 
amtenſchaft, der ich dad Zeugniß ausſtellen muß, daß fie fleißig, gewiſſen⸗ 
haft, ſachkundig ihren Dienit thut und die nur ein Feind ded Reichesgrund- 
108 vor unfreundlich gefinnten Horchern diskreditiren wird. Als der Fehler 
entdeckt war, habe ich die Perjonalveränderungen angeordnet, die mir noth- 
wendig ſchienen. Organiſatoriſche Maßregeln werden rajchfolgen. Ueber alle 
dieſe Dinge können wir jprechen, wenn die Etats des Reichskanzlers und ded 
Auswärtigen Amtes zu erörtern find. Dann werde ich Shnen jede Auskunft 
geben, die Sie wünschen, und mich freuen, wenn Sie audführbare Reform: 
vorichläge machen. Gern Ihnen, unter den erforderlichen Kautelen, audy den 
Beweis liefern, daß die Sache ſich genau jo abgeipielt hat, wie fie in der 
Norddeutſchen Allgemeinen Zeitung dargeftellt worden ift, daß ſich zu dem 
Verſehen aljo nicht etwa noch Unwahrhaftigfeit gejellt hat. Jetzt mehr dar- 
über zu jagen, jeheint mir unnützlich; ſcheint mir fogar ſchädlich. Denn wir 
haben mit unvergleichlich Wichtigerem zu thun. Um dad Verſehen, deijen 
Folgen jo unbequem waren, zu jühnen, habe ich, ald oberiter Chef des Rei» 
jortd, meinen Rüdtritt angeboten. Der Kaijer hat gewünſcht, daß ich im 
Dienft bleibe. Der Verſuch, gegen diefen Wunfch meine Berabichiedung zu 
erzwingen, wäre mir bejonderd unftatthaft indem Augenblid erjchienen, wo 
Seiner Majeftät durch ein Berfehen der mir unterftellten Beamten Aerger 
bereitet und von der vorurtheilenden Deffentligen Meinung Unrecht gethan 
worden war. Sch habe mich dem Wunſch Seiner Majeftät aljo gefügt. 

Was zur Sühnung und zu künftiger Verhütung ſolches Verſehens im 
engeren Bereich meineö Amtes gejchehen Tann, tft geichehen und wird, fobald 
von irgendeiner Seite dazu nutzbare Anregungen fommen, weiter geſchehen. 
Damit aber ift weder Ihr Wunſch noch meine Amtöpflicht erfüllt. Denn wir 
haben, Sie, meine Herren, und ich, die Heberzeugung gemeinjam, dab nicht 
nur ſchädliche Publikationen, jondern auch ſchädliche Aeuberungen, die von 
der höchſten Reichsſpitze her kommen, verhütet werden müſſen Wenn fie im 
Land monarchiſcher Einrichtungen verhütel werden können. 

Aus der vielbeiprocyenen und, nicht mit Unrecht, vielgetadelten Er» 
Märung der Norddeutſchen Allgemeinen Zeitung — ja, meine Herren, ich gebe 
dem Verfaſſer dieſer Erklärung’ jelbit eine jehr ſchlechte Cenſur und ſage offen, 
daß feine Geſchicklichkeit all zu weit hinter jeiner Wahrhaftigkeit zurũckblieb — 
iſt Ihnen befannt, daß ich der Abficht, das von Seiner Majeftät vor dem Ohr 
britifcher Bäfte Gejagte zu veröffentlichen, widerjprochen hätte, wenn dad 


352 Die Zukunft. 


Manuffript mir, wie der Kaiſer wünfchte, vorgelegt worden wäre. Ich habe 
für nöthig gehalten, diejem Entſchluß zum Widerſpruch, trogdem er incon- 
crelo nicht mehr wirkſam werden konnte, öffentlich Ausdrud zu geben. Ob 
ich mic) damit ald einen feigen Kleber, einen für das Klima von Byzanz ge- 
eigneten Gunſtſtreber erwieſen habe: diefegruge mögen Siejelbit beantworten. 

Sätze, deren Veröffentlihung man, ald dem Reichsintereſſe ſchädlich, 
gern verhindert hätte, kann man nicht billigen. Sch müßte fein Deutfcher ſein, 
wenn ich nicht tief bedauerte, dab dieje Sätze geiprochen, vor Bürgern eines 
fremden Staated gejprochen wurden. Ich müßte im Lebensnerv meiner Mann⸗ 
heit getroffen worden jein, wenn die Furcht vor perfünlichem Ungemad) den 
Ausdrud diejed Bedauernd nicht auf die Kippe treten ließe. Und der Deutjche 
Kailer, deffen Intereſſe unlöslich mit dem des Reiches verbunden ift und der 
Ichon deshalb nie etwas dem Reich) Schädliches wollen kann, lebt nicht im Ne⸗ 
- bel dynaftiicher Befangenbeit, nicht im Samiliengefühl der über nationale 
Grenzen hoch erhabenen Olympier, fondern iſt ein guter Deutjcher, ein ſo gu⸗ 
ter wie irgendeiner auf dem Erdenrund, und wurzelt jo feft im deutjchen Bo- 
den, daß er defjen leifejte Erjchütterung bis in die feinften Wejendfafernem- 
pfindet. Dad, meine Herren, ift nicht eine vage Vermuthung. Das ift unum—⸗ 
ftößliche Gewißheit. Als ſolche wird auch Ihr Urtheil fie erkennen, wenn ich 
Ihnen fage, daß der Kaiſer jelbfi die Wirkung jeinerWorte, wie wir Alle, als 
dem Reichsgeſchäft ungünftig empfindet und darum bedauert, dieſe Worte ge- 
ſprochen zu haben. Aus freiem Entſchluß hat Seine Majeftät, ehe ich noch 
einen dahin zielenden Wunſch andeuten fonnte, mid) beauftragt, in jeinem 
Namen diejed Bedauern hier vor dem Volk auszuſprechen. Ich glaube nicht, 
daß ein Kaiſer und König von ftarfem Machtbewußtſein mehr zu thun ver- 
mag, um die Trübung des zwiſchen derNation und ihm unentbehrlichen Ber- 
trauenöverhältnifjes zu befeitigen. Rückhaltlos aber jage ich auch, daß in die- 
jem Tal, nad) Allem, was gejchehen war, der Kaifer und König nicht went- 
ger thun durfte. Dad Eingeftändniß eines Irrthums ehrt jelbft den Höchſten, 
wenn er auf feiner Höhe geirrt hat. Und an der fünftlichen Erhaltung des 
ſchon recht fadenjcheinig gewordenen Wahnes, der behauptet, Könige könnten 
nicht irren und jeien in ihrem Weſensſtoff den Göttern ähnlicher als den Men⸗ 
jchen, — an diejer gegen alle Zeichen der Zeit gerichteten Arbeit mitzuwirken, 
‚müßte ich ablehnen; gerade weil das monardhijche Gefühl inmir ftarf geblie- 
ben ift. Sch jehe in dem Monarchen einen fehlbaren Menichen mit menſch⸗ 
lichen Mängeln und Irrthumsmöglichkeiten, einen Menſchen mit ſeinem Wi⸗ 
derſpruch, und habe darum nie und nirgends die Ueberzeugung verborgen, 











Gegen den Kalfer. II. 253 


daß der Königsgedanke gefährdet ft, wenn der König in feiner menſchlichen 
Schwachheit dem Auge allzu fichtbar wird. 

Niemals und nirgends. Daß ich ſolche Rede, mahnende und warıtende, 
nicht in Shren Horbereich dringen ließ, war meine Pflicht. Es gibt verſchie⸗ 
dene Arten des Selbitmorded, meine Herren; ed giebt auch den Selbftmord 
des Rufed. Ohne mit der Wimper zu zucken, habe ich mitangejehen, Jahre 
lang, wie meine Geftalt, deren Höhenmaß ich wirklich nicht überſchätze, von 
der gejchäftigen Xegende in das Zerrbildeinedglatten, lächelnden, immernad)- 
giebi.en Hoffchmarogers umgewandelt wurde. Dad Treugefühl verbot mir, 
meine Bemühungen im perjönlichiten Dienft Seiner Majeftät zu meinem 
Vortheil ins Licht zufegen. Vorder Wahl, zu Gunſten des Kaijerdein Schmäch» 
ling oder auf Koften des Faiferlichen Anjehens ein Mann von Eifen zu ſchei⸗ 
nen, babe ich nie gezaudert. Wenn es eine Nachwelt der Mühe werth dünkt, 
wird fie die Spur meines Mühend aus der Verfchüttung auögraben und, im 
Beſitz beſſerer Thatſachenkenntniß, mir vielleicht ein milderer Richter jein ald 
die Mitwelt, die unter läftiger, aber aud) vom Stärfften nicht wegzuzaubern- 
der Echwierigfeit feufzt. Auch vom Stärkſten nicht: wir habens erlebt. 

Sie dürfen mir glauben, daß Eınem, der in jeiner Jugend dag Ideal⸗ 
bild eines deutjchen Kanzlerd dicht vor dem Auge hatte, der Weg zu einer 
Refignation, wie ich fie hier andeuten mußte, nicht leicht geworden ift. Ein 
großes, ein ſchweres Stück dieſes Weges habe ich hinter mir. Wo dad Reiche- 
intereffe, das Gewiſſen und das Bedürfniß nachSelbſtachtung von dem Weiter» 
ichreiten abmahnen, da muß auch der Refignirende Halt machen. Wer von 
mir den Verſuch erwartet, mit advolatorijchen Künsten zu rettem, was die 
unbeirrbare Logik deö nationalen Empfindens als unretibar verworfen hat, 
Der wird an diejem Zuthertag eine Entläufchung erleben. Auch ein neben 
dem großen Reformator zum Zwerg Zufammenjchrumpfender darf jagen: 
‚Hier ftehe ich. Sch kann nicht anders. Und auch ihm hilft wohl ein Gott. 

Mit meinen Landsleuten theile ich den ſehnſüchtigen Wunſch, daß der 
Zuftand, deffen neuftes Symptom und hier bejchäftigt, nicht länger währe. 
Mit ihnen theile ich die Erkenntniß, daß die Unzufriedenheitjehr groß gewor⸗ 
den ift und daß der Groll die beiten Gemüther verdüftert. Insbeſondere der 
Groll darüber, daß der im Reid, Höchfte, der mehr ald jeder Andere auf das 
Vertrauen der Nation angewielen ift, vor Fremden eine Tarftellung gegeben 
hat, die unfere ſchon vorher, unter ähnlichen Umftänden, ſchwierig gewordene 
Lage noch unbequemer macht und deren objektive Richtigkeit obendrein vom 
Zweifel angenagt werden fonnte. Ich habe die zuverfichtliche Hoffnung, daß 


! 


254 Die Zutunft, 


dieſes Erlebniß ſtark genug fein wird, um das Reich und den Kailer vor der Wie- 
derholung jo ſchmerzlichen Irrthumes zu ſchũtzen. Willen Sieein ſtärkeres Mit⸗ 
tel: ith willesempfehlen, wenn edauch mir wirkſam jcheint, und fürdie Anwen⸗ 
dung freudig meine Perſon einjegen. Niemals freilid für eine Aenderung un⸗ 
ſerer Reichsverfaſſung. Wenn irgendwo, muß e8 bier heißen: Principiis ob- 
sta! Die Verfaſſung des Reiches giebt allen zugemeinfamem Wirfenberufenen 
Kräftendasihnengebührende Recht. StattfieimAerger muthwillig anzutaften, 
jollten wir und in dem Bemühen vereinen, ihren Geift lebendig zu machen. 
Dieſer Geift will nicht, daß der jeweilige Ausdrud wechſelnder Stim⸗ 
mung, daß die ganz perjönliche Auffaſſung eines Einzelnen die Richtlinie deut- 
ſchen Handelns beftimme, da8 Schicjal von ſechzig Milionen deutfcher Men- 
ſchen feftlege. Und weil der nad) Artikel 15 der NReichöverfaffung vom Kaiſer 
zu ernennende Kanzler zum Hüter dieſes Geiſtes beftellt ift, darf er nach der 
Erfahrung der legten Wochen nicht länger verſchweigen, dab die vom Reichs⸗ 
oberhaupt gejprochenen und gejchriebenen Worte den nationalen Willen nicht 
binden, jondern nur als individuelle Aeußerungen des erften deutichen Fürften 
‚zu betrachten und als jolche zu werthen find. Der Kaijer ift durch Pflicht und 
Recht berufen, dad Reich völßerrechtlich zu vertreten, Bündniffe mit fremden 
Staaten zu jchließen, Gejandte zu beglaubigen und zu empfangen, zur Ab» 
wehr eines auf dad Bundeögebiet oder deſſen Küften erfolgten Angriffed den 
Krieg zuerflären, die Reichögejege audzufertigen, zuverfünden und deren Aus⸗ 
führung zuüberwachen, die Reichöbeamten zu ernennen und erforderlichen Fal⸗ 
les zu entlafjen. Sn allen diefen Fällen werden die Anordnungen und Verfü⸗ 
gungen des im Namen des Reiches handelnden Kaijerg erſt durch die Gegen⸗ 
zeichnung des Reichskanzlers giltig, welcher dadurch die Verantwortlichkeit 
übernimmt (Artifel17). Wo dieje Gegenzeichnung dedallein Verantwortlichen 
fehlt, da fehlt auch das wirkſame Kaijerrecht; da find die Aeuberungen desun- 
verantwortlichen Reichsoberhauptes nicht anders aufzufaſſen und in ihrerTrag⸗ 
weite nicht höher einzuſchätzen als das geſprochene oder geſchriebene Wort einer 
durch Rang und Erlebnißfülle intereſſirenden Perſönlichkeit. Das ſage ich mit 
beſonderem Nachdruck dem Theil der ausländiſchen Preſſe, der in durchſichtiger 
Abſicht den Glauben zu ſchaffen verſucht, die deutſche Nation ſei in Unfreiheit 
einem einzigen, willkürlich waltenden Wille:: unterthan. Rein, meine Herren: 
die deutſche Nation hat fich in Krieg und Frieden, durch Tapferkeit und Tüch⸗ 
tigfeit dad Recht erftritten, fich ſelbſt ihr Schidjal zu ſchmieden; und was in 
Deutichland geichehen ſoll, wird durch den zufammenmirfenden Willen feiner 
Stämme und feiner Fürften heftimmt. Das mögen auch die Regirenden hören. 








© ‘gen den Sailer. II. 255 


Bon dem Recht, den Reichskanzler zu entlafjen, wird Seine Majeftät 
Gebrauch maden, wenn ihr meine Auffaffung von den Pflichtenund Rechten 
des Kaiſers und des Kanzlerd nicht gefällt und ihr ein Maß defenforiichen 
Eifers nöthig ſcheint, dad mein Gewiſſen nicht zu leiften vermag. Nicht die 
geiegliche Befugniß zwar, aber die Möglichkeit, mich vom Plage zu vertrei⸗ 
ben, haben aud) Sie, meine Herren. Dem unzweideutigen Ausdrud Ihres 
Tadels, Ihres Mibtrauend werde ich jofort weichen. Nicht jo ungern, wie 
Mander von Shnen glaubt. Sch habe zu leben, bin nad} jeder Richtung ja- 
turirt und würde heute lieber alömorgen mich in ein behagliches Privatleben 
zurüdsiehen, wenn ich nur an mich denken dürfte. In einer der heutigenirgend- 
wie ähnlichen Situation werden Sie mich nie wieder vor ſich jehen. Die Ver⸗ 
antwortlichkeit für einen Kanzlerwechjel muß ich in dem Augenblid aber An- 
Deren überlafjen, wo eine unaufſchiebbare Auseinanderjegung begonnen hat, 
die durch meine Erfahrung, durch meine Routine (ich wähle das anfprud;- 
Lojefte Wort) immerhin entgiftet und erleichtert werden fann. 

Dieſe Auseinanderjegung zwiſchen der Ration und demgefrönten Boll: 
ftreder ihred Willens wird zur Verftändigung, zur Erneuung und Befefti- 
gung ded alten Treuverhältniljes führen. Weil fie, bei Defahr des Reichs⸗ 
lebend, dazu führen muß. Und fie wird und nicht Schwächen, jondern weſent⸗ 
Lich ftärken. Der Widerjpruch, der laut (oft leider zu laut) geworden ift, fam 
richt aus undeutſcher Nörgelfucht, auch nicht aus Mihvergnügen an Bolf, 
Staatöform und heimiſchem Weſen, Jondern aus leidenſchaftlichem Patrio⸗ 
tismus der dad Reich vor Schaden geſchũtzt und die ſchönſte Germanentugend, 
Die Treue, oben und unten gegen Wurmfraßgefichertwiffen will. Geliebt oder 
gehabt. in einem Net von Bündnißverträgen oder in ftolzer&injamteit: das 
Deutiche Reich lädt feiner Macht nicht ungeftraft ſpotten. Wer etwa zweifelt, 
dab Deutſchland den Muth und die Kraft hat, jeden Angriff auf feine Chre 
und auf jeinen Befit mit der Wucht einmüthigen Wollend abzuwehren, Der 
mag fich vor ſchmerzhafter Enttäufchung hüten. 

Was Sie zur Befeitigung ſolcher Zweifel zu thun vermögen, jollten 
Sie, meine Herren, nicht unterlajjen. Ich glaube, daB Sie nad; meiner rück⸗ 
haltlos offenen Beantwortung Shrer Sragen die Probe, deren Möglichkeit 
ich Ihnen andeutete, wagen und jede weitere Erörterung mit ihrer verbit: 
ternden Wirkung vertogen fünnten. Und ichwürde einen Erfolg, nicht meiner 
Perſon, fondern des Reichsgedankens, darin jehen, wenn die patriotijche Mehr⸗ 
heit dieſes Hohen Hauſes ſich von der Antwort aufdie Interpellationen befiie: 
digt erflären und damit vor der neugierig laujchenden Welt beweijen würde, 


256 Die Zukunft. 


daß fie, wie die mit ihr im Reichsgeſchäft thätigen Beamten, von zitternder 
Furcht vor dem Reichsoberhaupt zwar frei ift, die ihm ſchuldige Ehrfurcht 
aber vor Schmälerung bewahren will, jo lange es irgend geht.” 

So (ungefähr), dachte ich, würde der Reichöfanzler am zehnten No- 
vembertag die Interpellationen der Reichötagäparteien beantworten. (Die 
fingirte Rede ift in den erften Morgenſtunden gejchrieben und vor demSiß- 
ungbeginn in der „B. 3. am Mittag” veröffentlicht worden.) So konnte er 
Iprechen, wenn eramnahen Ende der Kriſis die Gefundung ſah, fich nicht darum 
zu befümmern brauchte, ob der Advent ihn noch im Amt finden werde, und 
nur an eine vom Urtheil der Geſchichte zu billigende Haltung denken durfte. Er 
bat nicht jo geiprochen. Weil er um jeden Brei auf dem jonnigen Platz blei- 
ben und für diegeit bürdelofer Muße die Gunft des Herm bewahren wollte? 
Dder weil er die Situation Schlimmer fieht, als ih ihm zutrauen mochte? Er 
ijt zu Hug, um fi) darüber zu täujchen, daß ihm das am letzten Dftoberabend 
in der Norddeutſchen Allgemeinen Zeitung Veröffentlichte niemals verziehen 

werden kann. Nie vergeſſen, dab ergejagt hat, von feinen Bortragenden Räthen 
dürfe er ficherere Erkenntniß des politiich Nothwendigen und Möglichen for- 
dern ald von dem Träger der Krone. Der dazu tolfühn genug war, follte 
nun wieder wie eine Schranze fchlottern, wo ſichs um die Reputation und den 
Abgangsapplaus handeli? Unglaublich. Fürft Bülow konnte ſich auf die Of: 
fiztalvertheidigung befchränfen, mit dem vom höchften Reichsbeamten zu for» 
dernden Takt dad unverantwortliche Handeln des Kaijers tadeln und abwar⸗ 
ten, ob der unzufriedene Klient wagen werde, ihn dad Mandat zu entziehen. 
Zuft in diefer Stunde wäre jelbit Einem, für den ed feine Hemmung giebt, 
der Entſchluß nicht leicht geworden, einen Kanzler, der nicht gehen will, weg- 
zuſchicken. Doch leicht oder ſchwer: er fonnte gefaßt werden. Wer fürchtet, daß 
fein Scheiden das Unheil bejchleunigt und mehrt, muß bleiben. Muß verju- 
den, jein Bleiben zu fichern. Auch wenn er ſich dadurch um einen wirfjamen 
Geſtus bringt. Das hat er allzu redlic; gethan. Der Kanzler hat nie fo leiſe, 
jo pußlos, jo behutjam geiprochen, jo vorfichtig jeden Effekt gemieden. Red⸗ 
nerei ift jonft feine Sache (und der Reichätag, in dem faum Einer aud) nur 
ſprachtechniſch zulänglich ift, macht fie ihm bequem). Diesmal muß er wohl 
einen vorher niedergejchriebenen Zert auswendiggelernt haben: denn er blieb 
in der Schriftiprache fteden, ald er die „nachſtehende“ Erklärung anfündete. 
Wie ein von neidilchen Bliden Eingejchüchterter bog er jeder Beifallsmög⸗ 
lichfeit aus und lieferte eine Eraftloje, matte Rede. Weil er bleiben will; noch 
bleiben zu müffen glaubt. Was ihn zur Wahrung perſönlicher Würde nöthig 


Gegen den Kaifer. II. 257 


dünkte, hatte er in der Rorddeutichen gethan. Nun mochte er dem Neichötag 
und der Ration mißfallen: wenn er nur nicht von feinem Wädhterpoften 
weichen mußte. Die Tonart, in derer die Interpellation beantwortete, ſcheint 
mir der Beweis einer jehr düfteren Prognofe. Möglich, daB ich irre; daß es 
wirfich noch einen Gejättigten giebt, der unter ſolchen Umftänden gern Kanz⸗ 
ler bleibt. Einerlei. Wir haben mit dem Kaiſer zu {hun und nicht Zeit, indie 
Salten der Kanzlerpiyche zu leuchten. Wäre ein befjerer Mann bereit: auch 
dann noch würde ich jeßt den Sturz des Fürften Bülow nicht wünſchen. Wenn 
für die Fehler des fünfzigjährigen Reichshauptes der verantwortliche Prügel- 
knabe abgeftraft wird und die Sache dann als erledigt und hinlänglich ge- 
jühnt gilt, fo gerathen wir in einen Zuftand, den das Reich nicht fo lange er- 
tragen könnte wie der Kaijer und der nicht die Konſequenz, jondern die Ka⸗ 
rifatur des in Deutichland geltenden Berfafjungrechtes wäre. Die Zahl der 
in die Wüfte gejandten Sündenböde ift jeit 1888 |chon allzu groß geworden. 

Am vierzehnten November 1906 hat Zürft Bülow im Reichstag ge- 
lat: „ Ein gewiljenhafter, ein feiner moraliichen Verantwortlichkeit fich be- 
wußter Kanzler wird nicht im Amt bleiben, wenn er Dinge nicht zu verhin- 
dern vermag, die nach feinem pflichtgemäßen Ermeſſen das Wohl des Reiches 
wirktich und dauernd jhädigen. Wären ſolche Dinge vorgelommen, jo wür⸗ 
den Sie mich nicht mehr an diejer Stelle jehen.“ Er hat die Schäßung des 
Schadens aljo feinem „pflichtgemäßen Ermeſſen“ vorbehalten ; unddarf, da 
ernoch auf ſeinem Eckplatze ſitzt, nicht zugeben, dab des Reiches Wohl „wirklich 
und dauernd“ geſchädigt iſt. Er hat die, verhängnißvolle Wirkung“ derfaijer- 
lichen Interview nichteinen Augenblick verkannt; findet den Schaden, groß“, doch 
„nicht fo groß, daß er nicht mit Umficht wieder ausgeglichen werden könnte“; 
ein „Unglüd” darfmandnennen,nicht „eine Kataſtrophe“. Wörterbuchfragen. 
Auch die Wirkung einer Kataftrophe fann übrigens, mit Umſicht wieder audge: 
glichen werden" Wir find befcheiden. Und genügt die Feſtſtellung, daß durch den 
Deutichen Kailer „großer Schade”, eine „verhängnißvolle Wirkung”, „ein 
Unglüd” ins Deutſche Reich gefommen ill. Das iſts nach dem pflichtgemäpßen 
Ermeſſen des Kanzlerd. Bernhards Fürften von Bülow, der vor zwei Jahren 
an der felben Stelle gejagt hat: „Ein gewilienhafter, ein jeiner moralijchen 
Berantwortlichkeit fich bewukter Kanzler wird nicht im Amt bleiben, wenn er 
Dinge nicht zu verhindern vermag, die nad) feinem pflichtgemäßen Ermeſſen 
das Wohl des Reiches wirklich und dauernd jchädigen." Was „dauernd“ ges 
\hädigt hat, lehrt erſt der Rũckblick. Wenn jeeine Handlung ausfah, als müſſe 
fie weit in die Ferne wirken, fo iſts die von Wilhelm jelbft beftätigte; iſts die 


258 Die Zukunft. 


Art, wie der Kaiſer über feine Landsleute, feine Thaten und Abfichten und 
über die Beheimniffe deuticher Diplomatie vor Engländern geplaudert hat. 
Der gewiffenhafte Kanzler, der in elfjährigem Mühen jo gefährliche Dinge 
nicht zu hindern vermocht hatund dennoch im Amt bleibt, muß die Kataftrophe 
jehr nah glauben und deehalb bereit fein, lieber als feine Kontrolmacht das 
Bertrauen in jeine Gewifjenhaftigfeit gemindert zu jehen. 

Fürſt Bũlow, muß bezweifeln, dat alle Einzelheiten aus den Geſprächen 
des Kaiferd im Daily Telerraph richtig wiedergegeben worden find." Muß 
er? Dann muß er bezweifeln, daß der Kaijer im Stande ift, die Richtigkeit 
ihm zugefchriebener Sätze zu prüfen. Wilhelm hat das vom Oberft Stewart 
Mortley eingeſchickte Manuffriptgelejen und lobend gloffirt; hat die Wieder: 
nabe feiner Worte aljo richtig gefunden. Der Vertheidiger Seiner Majeftät 
erzähltung, wederder Kaiſer noch der Große Seneralftabhabe jemals einen de- 
taillirten Plan zum Kriege gegen die Buren ausgearbeitet, geprüft, nad) Eng⸗ 
land geichidt. Was über den Kanal |pedist wurde, waren „Aphoriömen“, 
„rein akademiſche Gedanken über die Kriegführung im Allgemeinen, ohne 
praktiſche Bedeutung für den Gang der Operationen und für den Ausgang 
des Krieges“. Solche Gedanken hätten in die Briefe Wilhelms an Großmama 
ficher jehr gut gepabt und Grandy hätte in ihren legten Greijentagen jolchen 
Kurius in Strategie und Taktik gewiß gern durchſchmarutzt. Rur: das nette 
Hiftörchen läßt ſich nicht halten. Im Daily Trlegı aph ftand: Ich ließ von 
einem meiner Offiziere die Kopfzahl und die Pofition der in Südafrika auf 
beiden Seiten fechtenden Truppen feltftellen, entwarf nad dieſen Angaben 
den unter ſolchen Umftänden für Englands Intereſſen tauglichften Feld zugs⸗ 
plan und ſchickte ihn, ald mein Generalftab ihngebilligt hatte, nach England. 
Auch dieſes Dokument liegt in Windjor Caftle. Und mein Kriegöplan glich 
in alem Mefentlihen dem vom Lord Roberts dann mit Erfolg auögeführten. 
Handelt jo ein Zeind Englands?" Dieſen Wortlaut hat Wilhelm geprüft 
und richtig gefunden. Und der Kriegsplan, auf den der Katjer fich als auf das 
ftärkfte Beweismittel jeined Rechtes auf dankbare Britenliebe beruft, ſoll nie- 
mals entftanden jein? Trotzdem in London und Berlin derOffizier genannt 
wird, der die Ziffern herbeigeichafft hat? Trotzdem der Kaiſer davon ſprach? 

Weiter. Im Mai 1899, jagt der Kanzler, „haben wir den Buren keinen 
Zmeifel darüber gelaffen, dat fie im Fall eined Krieges allein ftehen würden“. 
Mag jein. Da kam die Warnung eben zu ſpät; und die Buren, die Murawiew 
auf eine Intervention hoffen ließ, glaubten, Deutjchland werde fich die gute 
Gelegenheit nicht abjperren, im Bunde mit den Nachbarn aus Oft und Welt 








Gegen den Kaiſer II 2:9 


die britijche Hegemonie vom Feftland abzufchütteln. Das mußten fie glau- 
ben, jeit Freiherr von Marſchall im Reichstag den Werth unjerer jüdafrika- 
nijchen Intereflen jo hoch eingejchäßt und der Kaifer in der Depeiche an Paul 
Kıüger das Deutſche Reich eine den Burenftaaten befreundete Macht genannt 
hatte, die ihnenauf Anrufhelfen werde. Dieje Depeſche hat die deutiche Wirth⸗ 
ſchaft etwa hundert Millionen Mark gefoftet; „das Wohl des Reiches alio 
wirflich und dauernd gefchädigt“. Dieje unnöthige, mureiner Stimmung Luft 
Ichaffende Depefche hat die Briten auf Sahre hinaus erbittert. Und als die 
Buren dann Hilfe erbaten? „Wer hat denn der Rundreife der von den Buren 
Abgeordneten, die eine europäijche Intervention gegen Euch erwirfen ſollten, 
ein Ende gemacht? Ich. Ich weigerte mich, fie zu empfangen: und fofort 
hörte die Agitation auf und Eure Feinde konnten nichts ausrichten.“ So hats 
der Kaiſer gefagt, gelejen, verbreiten laſſen. So will ers in die Geſchichte 
bringen. Kann der Hinmeid auf die Warnung, die im Mat 1899 uber den 
Haag nad Pretoria ging, den Groll über jolches Handeln ſchwichtigen? 
Daß der Kaifer den franko⸗ruſfiſchen Bündnißvborſchlag jeiner Groß» 
mutter meldete, joll, jagt der Kanzler, nicht der Rede werth ſein., Die Sache 
war längft befannt. (Xebhaftes Hört! Hört!)“ Längft? Seit Wilhelm der 
Zweite fie in Geſprächen, die derenglijche Sournalift Bafhford vor einem Fahr 
veröffentlichen durfte, befannt gemacht hat. Auf dieſe Gejpräche, nach denen 
fremden Mächten in Berlin nicht mehr die Gewährunbedingter Verjchwiegen- 
heit zus bieten fei, haben fich die Wiener berufen, als ihnen vorgehalten wurde, 
dad ed freundſchaftlich geweſen wäre, Deutjchland früher als Andere auf die 
Annerion Bodniend und der Herzegowina vorzubereiten (Hört! Hört!) „Die 
ficherfte Polititik ift wohl diejenige, die feine Indiskretionen zu fürchten 
braucht.” Sprenfel für die Droffeln. Jede Politit muß Indisfretionen fürdh- 
ten; ſelbſt die redlichfte. Die Bülows wie die Bismarcks; Aehrenthals wie 
Metternichs. Was hätte der Kanzler gethan, wenn ic) vor vierzehn Tagen 
bier den Brief gedruckt hätte, der aus Cafablanca die Geheimgeichichte des 
Konfularftreites brachte? Wozu ift Paragraph 92 ind Strafgejeßbud: auf- 
genommen worden, wenn die ficherite Politik (die wir für unfer gutes Geld 
doch wohl verlangen dürfen) Indisfretionen nicht zu ſcheuen hat? Auch die 
jauberften und jolideften Banken und Induſtriegeſellſchaften bergen Geſchäfts⸗ 
geheimniſſe; und der Generaldirektor oder Auffichtrathöpräfident, der fie ohne 
Bereinbarung entichleierte, käme um Sitz und Kredit. „DieMittheilung konnte 
berechtigt fein, wenn von irgendeiner Seite verjucht worden war, unjere Ab⸗ 
fichten zu entitellen oder unjere Haltung zu verdächtigen.”“ Nachdem Bekennt⸗ 


260: Die Zukunft. 


niß zu ſolchem Grundſatz willgürft Bülow für das Reich noch Geſchãfte machen? 
Wenn Deutſchlands Haltung verdächtigt wurde, durfte der DeutſcheKaiſer, ſtatt 
fich auf die Entkräftung des Verdachtes zu beſchränken, den Plan, der in em⸗ 
bryoniſchem Zuſtand ausPetersburg nach Berlin gekommen und unter der Vor⸗ 
ausſetzung unverbrüchlicher Diskretion dem Leiter des Auswãärtigen Amtes mit⸗ 
getheilt worden war, dem Auge der davon bedrohten Macht entſchleiern ?Solche 
Staatsmoral gäbe dem Botſchafter Recht, der vor ungefähr zwanzig Mo— 
naten ſagte, das Deutſche Reich ſei nicht mehr bündnißfähig. Erftens alſo ift 
derWille zur Intervention der Großmutter Vicky aus einer Depeſche des En⸗ 
kels Willy bekannt geworden; und damals, Herr Kanzler, konnte „von einer 
Enthüllung“ doc) wohl „die Rede fein“. Zweitens haben Gejpräche, die mit 
kaiſerlicher Erlaubniß veröffentlicht wurden, in den Jahren 1907 und 1908 
die Thatſache dieſer Enthüllung ins hellſte Licht gebracht. „Im Archiv des 
Schloſſes Windſor liegt da8Telegramm, in dem ich der Königin Victoria den 
Plan Eurer Feinde und meine abweijende Antwort meldete." Und der Nutzen 
des Verſtoßes gegen die Spielregel der Diplomatie, den der Mandant ver» 
dienftlich, der Mandatar „unter Umftänden mindeltens erflärlich* findet? 
Hat er und Britaniend Liebe erworben ?Rubland und Frankreich, einft „Eure 
Feinde“, waren ſchon im Algefiragjahr dem Inſelreich innig gefellt. 
DerKaifer hat vor Briten gejagt, die Mehrheit der Deutichen jei gegen 
England. Gejagt, Deutichland baue jeine Flotte, um für den Kampf um die 
Zufunft des Stillen Ozeans in Bereitichaft zu fein. So iſts mit jeiner Ers 
mächtigung gedruckt worden. Der Vertheidiger ftellt fich, als jet die Wieder- 
gabe ungenau oder falfch. „Wir denfengarnichtdaran, uns im Stillen Ozean 
auf maritime Abenteuer einzulaſſen.“ Vielleicht dünkt ihn der Kampf um die 
Zufunft dieſes Ozeans Fein Abenteuer. An diefen Kampf hat der Kaiſer ge- 
dacht;aneinen Kampfanglo-deutichergegen oſtaſiatiſche Geſchwader. Danach, 
nach dem Buddhabild, der Hunnenrede, der ſteten Warnung vor der, gelben 
Gefahr” wird Nippon auch vom geſchickteſten Beſchöniger leider nicht leicht zu 
überzeugen ſein, daß es in dem Deutſchen Kaiſer einen Freund zu ſehen habe. 
„Wären die materiellen Dinge in der richtigen Form im Einzelnen bekannt 
geworden, ſo wäre die Senſation keine große geweſen.“ Sie ſind in der rich⸗ 
tigen Form bekannt geworden; genau in der Form, in der ſie der Kaiſer bekannt 
werden laſſen wollte; die er überwacht und gebilligt hat. Und wäre die trau⸗ 
rige Senſation das Ergebniß unrichtiger Einzeldarftellung: welches Urtheil 
wäre dann über den verantwortlichen Geſchäftsführer zu fällen, der mit der 
Berichtigung vom neunundzwanzigſten Oktober bis zum zehnten November 











Gegen ben Kaiſer. IL. 26] 


‚gewartet hat? Trotzdem er die „verhängnißvolle Wirkung“ der kaiſerlichen 
Interview fofort erfannte? Wie groß und wie nah muß dem Zürften Bülow 
die Kataftrophengefahr jcheinen, da der Verwöhnte dad Wagniß auf ſich 
nahm, ſo brũchiges Entlaftungbeweismaterial ind Reichshaus zu tragen! 
Am erſten November Ipricht lächelnd der Kaiſer: „Na, Bernhard habe 
ic) herausgehauen!“ Durch die Erlaubniß zur Veröffentlichung des That- 
beitandes, der erwies, daß die londoner Publikation an die Zuftimmung ded 
Kanzlers gebunden fein jollte. Am zehnten November will der Stanzler vers 
gelten. „Ich verftehe, daß der. Kaijer, gerade weil er fich bewußt war, immer 
eifrig und ehrlich an einem guten Berhältnig zu Englandgearbeitetzuhaben, 
ſich gekränkt fühlte durch Angriffe, die jeine beiten Abfichten entftellten. Sft 
man doch jo weit gegangen, feinen Intereſſen für den deutichen Schiffbau ge⸗ 
heime Abfichten gegen englifche Zebendinterejjen unterzufchteben, an dieer nie 
gedacht hat.” „Immer“ und „nie“ find Wörter, in deren Anwendung der über 
Wilhelm den Zweiten Sprechende vorfichtig fein ſollte. Fürſt Bülow nimmt 
als erwieſen an, was erft zu erweilen wäre; aber nicht zu erweifen iſt. Er 
jollte fich hüten; aud) gutgemeinte Brovofation kann gefährlich werden. Und 
Eduards Köcherbirgt noch manchen Papierpfeil. Dem Enkel des Koburgers und 
der Welfin iſts ſo ziemlich mit allen DingenHimmels und der Erde ſo gegangen 
wie mit den aeronautiſchen Verſuchen des Grafen Zeppelin. Jahre lang hater 
über die Arbeit des Grafen ungemein ſchroff abgeurtheilt, ihm, der gerade da⸗ 
mals der Hilfe gar dringend bedurfte, die Reichequellen nicht geöffnet und iſt 
heftig geworden, wenn der Name des Erfinderögenanntwurde. Jetzt, nad) Er⸗ 
folgen, die den Sachverftändigften noch nicht zur Urtheildfindung genügen, ift 
ihm „die Vorzüglichkeit des ftarren Syſtems über alleZweifelerhaben“ (noch 
im Hochſommer ward einnicht diöfutirbarer Infinnn); ift der Graf „dergrößte 
Deutiche ded zwanzigften Jahrhunderts“ (dad nächftens ing achte Lebensjahr 
tritt), „der Bezwinger der Lüfte” und der Würdigite, den Hohen Orden vom 
Schwarzen Adler zu tragen; denn er (der vorgeftern Bervehmte, den mannod) 
nad) dem echterdinger Tag nur unter Aufficht arbeiten laſſen durfte) „batung 
an einen neuen Entwidelungpunft des Menſchengeſchlechtes geführt undeinen 
der größten Momente in der Entwidelung der menjchlichen Stultur erleben 
laſſen.“ Das klingt. SchwarzerAldler. Accolade. Küſſe auf beide Baden. Vor 
allem Volk. Und wenn diejer Bringer neuen Heils und echter Höhenfulturvier 
Wochen vor jeinem fiebenzigften Geburtätag geftorben wäre, hätte der Deut: 
ſche Kaiſer ſich an ihn als an einen dilettirenden Narren erinnert, beidejjenWtenn- 
ung die Achſel zuckte. Ein Beiſpiel für viele, die uns den Kopfjchüttelnließen, 
20 


262 Die Zukunft. 


feit Bismard „noch ſechs Monate verſchnaufen“ jollte. So ward aud) mitdene 
Verhältniß zu fremden Völkern; befonders zu England. „Der Dreizad ge⸗ 
hört in unfere Fauſt!“ „Der Admiral des Atlantijchen Dzeand grüßt der 
Admiral des Stillen Ozeans“ (um deſſen Zukunft nun, da der Herr Admiral 
Nikolai Alerandrowitich fi in Bort Arthur den Schnupfen geholt hat, im 
Bund mit Albion und, wie ed jcheint, aud) Amerika gefämpft werden joll)._ 
„Auf dem Erdball feine Entſcheidung mehr ohne Mitwirkung ded Deutichen 
Kaiſers!“ „Hohenzollern-Weltherrichaft.” „Deutichlandinder Welt vornan!“ 
Konnten ſolche Worte dem Brite lieblich Elingen? Und jchlimmere find ge— 
Iprochen worden; viel jchlimmere gejchrieben. Iſt Engländern zu verargen,,. 
daß die hißige Werbung um dieLiebe der Mohammedaner und der Yankees, 
daß die Volitifirung der Bagdadbahn, die als gunſtloſes Geſchäftsunter⸗ 
nehmen die City nicht beunruhigt hätte, ihr Mißtrauen wedte? Daß fie der 
Märnichttrauen, Deutjchland dehne fein Steuerrecht bis an den BezirfderBer- 
mögensfonfiäfation, nur um feinen Handel zu ſchützen, trachte nur deöhalb, 
neben dem ſtärkſtenLandheer fich eine jeinenKolonialbefig inslingeheure über- 
wachjende *Flotte zu ſchaffen? Kriegsichiffe, deren Stapellauf mit Schlachtge⸗ 
ſängen und hellen Sanfaren der Grobererhoffnung gefeiert wird? Ohne Ber- 
ftändigung über die Grenzen der Seemacht feine aufrichtige Freundfchaft mit: 
England. Niemals. Denn für England iſts die Lebensfrage, ob eödieungefähr=- 
dete Herrichaft über die Meere behält; und ed muß Seden halfen, derd zwingt, 
noch ſchwerere, theurere Rüftung auf fich zu nehmen. Und die anglo⸗deutſche 
Konfliftsgefahr wirftüberden Erdfreishin und beftimmtin Drient und Occi⸗ 
dent die Gruppirung der Mächte. Das könnte jeder Nüchterne wiljen. Wozu 
dann die ſtete Umwerbung, die den ftolzeften Deutichen längft auf die Nerven 
fällt? Seit dad Tempo des Flottenbaues nad) jähem, leider allzu fuggeftivem 
Entſchluß beichleunigt worden ijt, fteht Deutjchlands internationale Politik 
unterwidrigem Geſtirn. Und was wird die Häufung der finanziellen und der 
politischen Schwierigkeiten jchlieglich erreichen ? Was die Kamilienpolitif in 
der Burenkriegszeit erreicht hat: neue, vorher unahnbare Koalitionen. 

Nur ein für die bedächtige Konitruftion und die ftille Abwidelung po⸗ 
litiicher Geichäfte völlig ungeeinnele8Temperament Fonnte ſich darüber tãu⸗ 
ſchen. Bor Fremden, ein Kaijerund König, jo jprechen, daß dem Echo der Weg. 
perriegelt, vor dem amerifanijchen Interviewer Hale das Manujfriptzurüdge- 
zogenwerden muß, damit durch den Kaijerder Deutjchennicht neues Aergerniß 
in die Welt komme. Konnte hoffen, ein Herrenvolf vonalter Kulturund politi=- 
chem Genie dadurch zu gewinnen, dab man, ald Erbe nachgewachſener Macht, 





Gegen den SKaifer. II. 263 


ihm jagt: „Wennih&uchdamaldnichtgerettet hätte,wäre es Euch mijerabelge- 
gangen“ ; und zuverftehen giebt, wie die Gnade des Berwandten der Unfähig- 
keit inKolonialfriegenergrauter Kriegerausdem Sumpf geholfen hat;einem 
Volk zu veritehen giebt, deifen im Verkehr mit Deutſchland empfindlichfter 
Punkt dad Bewußtjein militäriſcher Schwachheit ift. Wer fo oft, jo furchtbar 
geirrt hat, kann Vertrauen in feine Eignung zum Amt eines Reichsgeſchäfts⸗ 
führers niemald mehr heiſchen. Fürft Bülow hat, um nicht nur in der un- 
Dankharen Rolle ded Vertheidigerd vor dem Thing aufzutreten, gelagt: „Die 
Einfidt, daß die Veröffentlichung dieler Aeußerungen in England nicht die von 
Seiner Majeftät dem Katjer erwartete Wirkung gehabt, in Deutichland aber 
tiefgehende Erregung und jchmerzliched Bedauern hervorgerufen hat, wird 
(diefe fefte Ueberzeugung habe ich in dieſen ſchweren Tagen gewonnen) Seine 
Majeſtät den Kaijerdahin führen, fünftig auch in feinen Privatgeſpächen fich 
DiejenigeZurüdhaltung aufzuerlegen, die für eineeinheitliche Bolitik, fürdie 
Autorität der Krone eine unerläßliche ift. Wäre Dem nicht fo, dann könnte 
weder ich noch einer meiner Nachfolger die Werantwortung tragen.“ Im⸗ 
merhin faft jo tapfer wie die elf Deflaranten. Aber hat der Kaiſer die tief- 
gehende Erregung und das ſchmerzliche Bedauern denn mitgefühlt? Auch nur 
bemerft? In Edartdau (die wiener Blätter meldeten ausdrücklich, dab er fich 
ſelbſt angejagt habe, nicht jpontan eingeladen worden ſei) ſchoß erdrei Dutzend 
Hirſche, die ihm an den Stand getrieben wurden. Sn Donaueſchingen freute 
er fi) an Fuchsjagd und Sabaret. Deutichland las ed, während Leid und Groll 
son Sid nad) Nord ſchlich. Und während die vom Volf Abgeordneten ſich 
zu einem Gerichtätag verfammelten, wie das Reich ihn nie erleben zu müfjen 
geglaubt hatte, wurde aus der Zeppelinftadt berichtet, Seine Majeftät jei „in 
beſonders fröhlicher Stimmung“. Zurüdhaltung in Privatgejprächen? „Der 
Kailer“, ſagte Bismarck, „ift anders ald wir. Er möchte alle Tage Geburts⸗ 
‚tag haben und nimmts wie Beleidigung auf, wenn ihm maleiner verregnet.“ 

... „Keiner ſoll die Warnung vergeſſen, die und Allendieje legten Tage 
gegeben haben. Aber ed ift Feine Urſache, eine Faſſungloſigkeit zu zeigen, Die 
bei unjeren Öegnern die Hoffnung erwedt, das Reich jei im Inneren und auch 
nad außen gelähmt.” So ſprach der Kanzler. Wo jah er Fafjunglofigfeit? 
Selbft die Blindheit ift nun gewarnt. Das Reich hat fi) nach dem erſten 
Schred aus der Lähmung gelöft und iſt ſtärker als jemals jeitzwanzig Jahren. 


2% 


20* 


264 


Die Zukunft, 


Slammenfa. 


Stgeunerballade. 


5] er Dollmond erhob fih aus feiner Ruh 
Und zwanzig Seuerhen glühten. 
Slammenfa, wer ift fo ſchön wie Du? 

Tanz, tanz auf den filbernen Blüthen! 
Flammenka jpringt auf, ihr Tambowin Plirtt, 
Schon hebt fie die Süße, die nadten, 

Und Wladis lodt mit der Kiedel; fie girrt 
Und Brotfo podt zu den Takten. 


Da fonmen fie Alle: das .Kind und der Greis, 

Der Mann läßt Ambos und Pfropfenn, 

Die Srauen, die Mädchen, es fließt fidh der Kreis, 
Sie heben die Hände und Plopfen: 
Das ift ein befferer Zeitvertreib, 

Als jhwitend am Sener zu ſchanzen! 

Slammenfa, Du bift das fchönfte Weib! 
Slammenfa, wie fchön Pannft Du tanzen! 


Flammenka tanzt. Ihrer Glieder Sammt 

Glänzt auf, es klingt das Gefcdhmeide, 

Die bronzenen Hniee das Nödlein umflammt, 
Rothleuchtende, Inifternde Seide. 
Flucht, Wirbel und Sprung und lodendes Spiel, 
Furcht, Bitte und Trotzgeberde, 
Berb ftrafft fie fih auf; nun ift fie am Stel: 
Dann tanumelt fie felig zur Erde. 


Dod tanzt fie im Dorf, dann fammelt fie ein, 
Kehrt eilenden Fußes zurüde, 

Strent lahend umher bein Feuerſchein 

Die Grofhen und Silberftüde: 

„ehmt! Nehmt! Wie gerne jchenft’ ih Euch Gold 
And funfelnde Edelfriftalle!” 

Slammenfa, wie aut bit Du! Und fo bold! 
Flammenka, wir lieben Didy Alle! 


Der Mond fteigt fteil. Doch fern im Bol; 
Hebt Wladis die feufzende Geige; 

Sie Plagt und fleht: und Slammenfas Stolz 
Schmilzt hin und fie jbleicht durch die Zweige. 
Die Siedel that einen Jubeljchrei, 

Ihr Jauchzen erlofh im Dunfel: 

Und unter dem Sclebdorn ſaßen 5wei, 
Umbläht von Mohn und Ranunkel. 





Flammenla. 


Doch Brotko, der Jähe, lauert und lauſcht 

Und lockert den Dolch, den blanken; 

Seis kriecht er heran und das Bnfchwerf rauſcht, 
Es brechen die Hopfenranken. 

Schon blitzt das Eiſen kalt durch die Luft; 

Doch Wladis weiß ſich zu hüten: 

„Mei iſt Flammenka, wehr' Did, Du Schuft! 
Mein ift fie, ich lady’ Deinem Wüthen!“ 


„Nicht Dein! Nicht Dein! Flammenka bin ich! 
$lammenfa! Werft fort die Waffen! 

Und wen ich liebe, Dem fchenfe ich mid | 
Mit Euch hab’ ich nichts mehr zu fchaffen.“ 
Doch Wiadis und Brotko haderten wild 

Und fluchten ſich hin zu den Selten, 

Als hoch um des Mondes goldenes Bild 
Silbern die Sterne .fich ftellten. 


Stumm finft die acht. Doch ftärferer Rauch 
Entwölft fi dem ſchlaſloſen Lager; 

Brotfo wirbt Sreunde und Wladis aud: 

Der Haß ift ein hungriger Xager. 

Schon Plafft der tanjendjährige Stamm, 

Bis in die Wurzel zerfplittert, 

od ehe über des Oſtens Damm 

Das erfie Morgenroth zitiert. 


Die Sonne erhob .fidy, der Mond verfant. 
Noch weiß fi die Wuth zu verhüllen: 
Flammenka wandelt die Straße entlana, 
Im Dorfe das Körbchen zu fällen. 

Da zudt die Kohe des Haffes rings 

Empor mit Knirfchen und Sifchen: 

Zehn Feuerchen rechts, zehn Seuerchen linfs 
Und leer läuft die Straße dazwifchen. 


Hier Wiadis! Hier Brotfo! Bereit des Gefedts, 
Belanern fih ſtumm die Gewehre, 

Ein Graben Iinfs, ein Graben rechts, 

Dumpf blinten Piftolen und Speere. 

Bier Brotfo! Hier Wladis! Der Himmel glüht roth. 
Die Straße läuft glatt zwifchen Beiden. 

Da fommt Slammenfal Sieg oder Tod! 

Flammenka, Du mußt Dich entfcheiden! 


Sie ftußt, das Körbchen entfällt ihr, fie wanft, 
Es rollen Groſchen und Stüber, 


266 Die Zukunft. 


Sie biltet, fie fleht, fie taumelt und ſchwankt 

Die Straße herüber, hinüber; 

Doc hart bleibt der Haf und der frefiende Zorn: 
Es dürften nad Blut die Genofien, 

Den Singer am Drüder, das Auge am Korn, 
Die Sauft um das Eifen gefchlofien. 


’ 


Und ftärfer, flärfer beſchwört fie den Feind, 
Sie eilt und Pämpft für das Keben, 

Sie ringt die Hände und droht und weint, 
Flucht, Wirbel und Sprung wird ihr Streben. 
Schon ſenkt ſich hier, dorten ein Büchfenlauf; 
Sie wird nicht müde, zu fpringen. 
Flammenka tanzt! Der Mond fteigt herauf, 
Sie tanzt, um den Tod zu bezwingen. 


Schon wagt es ein Alter und pocht den Taf; 
Da zerreißt fie die Hüllen, fie gleiten, 

Sie flattern in Segen: Flammenka tanzt nadt! 
Wer denft noh an Blutfampf und Streiten? 
Sie heben die Hände und pochen laut, 

Baf, Zorn und Zwietracht entweichen, 
Flammenka tanzi, eine nadte Braut, 

Sie tanzt mit dem Tode, dem bleicyen. 


Und fchneller treibt fie der PFlopfende Chor, 
Flammenka tanzt Stunde um Stunde, 

Steil ftieg der Mond am Himmel empor, 
Sie tanzte mit blafjem Munde. 

Sprung, Wirbel, ein Schrei: und ihrem Blick 
Entlohten anaftvolle Flammen. 

Da warf ihr der Tod den Kopf ins Genid 
Und fching fie tüdıfdy zufammen. 


Sur Eiche fchritt Brotfo, den Strid in der Band, 
Und hat fein Leben agelajjen; 
Doh Wladis 309 mit der Geige durchs Land 
Und fpielte auf Märften und Gaſſen. 

- „Wer kennt Slammenfa? Still ſchläft fie im Wald. 
Schöner wie fie war Keine. 
Sterben mödt' ih! Der Wind weht fo Palt! 
Deine, Du Siedel, weine!“ 


Wandsbef, Ewald Gerhard Seeliger. 





KL 2 


Handelsſachverftändige. 267 


Handelsſachverſtändige. 


3: meinem Auffag „PBrozeßreform“ empfahl ich, eine Feſtſtellung de3 That⸗ 
beftanbes als Kontrole vor dem Erlaß bes Urtheils protokolariſch zu er⸗ 
möglichen, bamit vermieden werbe, daß das nach Wochen ſchriftlich begründete Ur- 
theil wichtige Feſtſtellungen der mündlichen Verhandlung (oft, um ba® ab irato 
geſprochene Uriheil zu rechiferligen) unter den Tiſch fallen läßt. Heute möchte ich 
dafür fprechen, daß in ber Handelsgerichtäbarfeit die Richter mehr ihrem eigenen 
tichterlichen Gefühl folgen mögen al8 Sachverftändigen; bejonders, wenn dieſe Herren 
über Gebräuche vernommen werben. Für den Gab, daß Recht vexrjährtes Unrecht 
it, dürften ſich nirgends fo viele Veiſpiele finden Iaffen wie in ber Judikatur, bie 
ih auf Handelsgebräude fügt. Was tft in Deutfchland Handeltgebrauh? Wo 
fängt der Mißbrauch, die ſchlechte Sitte an? Und in wie viele Widerjprüche ver⸗ 
widelt fich der Sachverjtändige, dem man auf den Zahn fühlt? 

Segen Wanrenbezeichnungen wie „Eichelkaffee“, „Malzkaffee“, „Deuticher 
Cognac” ließe ſich Schließlich noch nicht viel jagen. Dex Ausländer, der nicht Deutſch 
iv icht, Hat es ſich eben ſelbſt zugufchreiben, wenn er, Durch das von ihm gelefene 
ort Slaffee verführt, Etwas Tauft, das mit Kaffee nur den Namen gemein bat. 
Auf den Ausländer nimmt das Gefeg Feine Rüdjiht und für den Deuſſchen ſind 
folge Bezei;nungen Handelsgebrauch; er weiß (oder muß, nach Anficht des Richters, 
wiffen), daß „Eichellaffee“ nicht etwa, wie „Kaiferkaffee” oder „Bärenlaffee”, eine 
beitimmte Miſchung eines befannten Kaffeegroßhaujes, ſondern überhaupt Fein Kaffee 
ift. Etwas, das ben Kaffee gefahrlos erfegen ſoll. 

Berliner Weinhändler ärgern ſich Über die Bezeichnung „Apfelwein“. Dabei 
dergefien fie, daß ihnen ber zweite Abſatz des Paragraphen 16 im Geſetz zum 
Schutz ber Waarenbezeichnung dazu dienen muß, die ehrwärdigen Namen Nüdes» 
beim und Johannisberg für irgendwoher gekommene Weine zu mißbrauchen, da 
„die Verwendung von Namen, welche nach Handelsgebraud nur zur Benennung 
gewiffer Waaren dienen, ohne deren Herkunft bezeichnen zu follen”, erlaubt ift. 
Ein Bitchen weither giholt ift ja Diefer Handelsbraudh; und ein Publikum, dem 
er faum im ganzen Umfang befannt ift, läßt fi) nur deshalb wohl gefallen, daß 
ihm für sheures Geld ein Johannisberger vorgejegt wird, der Kohannisberg nie 
geiehen hat, wahriheinlih auch nicht einmal ein Rheingauwein ift. (Das neue 
Beingefeg will hierin wenigftens Wantel fdaffen. Darob große Entrüftung bei 
manchen Reinhändlern, die behaupten, ihre ganze Eriitenz hänge von dieſem unreellen 
Brauch ab. Bor ſolchem Belenntniß follte ein anftändiger Kaufmann fich hüten.) 

Die deutfchen Richter, denen oft jebe Fühlung mit den Bedürfniſſen des 
praftifchen Lebens fehlt, befonders die Kenntniß der Wege, die der Handel, das 
„nothwendige Uebel“, geht, müfjen fi auf Gutachten faufmännifh Sachverftän. 
Diger verlaffen. Diefe Sacverftändigen werden von Korporationen, in denen nur 
Kaufleute figen, vorgefchlagen und vom Präjidenten des Gerichtsjiges beftätigt. 
Ihre Gebühren find feftgefegt; nicht allzu niedrig, wie zugegeben werden fol, aber 
doch recht befcheiden für praktiſche Geſchäftsleute, die mit ihrer Urbeit unb mit 
ihrer Beit markten, nur an Barzahlung gewöhnt find und denen nicht ſyſtemaliſch 
don Beginn an das preußifche Beamtengefühl für Theilzahlung in Ehre anerzogen 
wurde. Sanz unabhängige Kaufleute, die felbft einem größeren Betrieb vorftehen 





968 Die Zukunft. 


muſſen, drängen ſich nicht dazu, für Stundenlohn den Gutäachler zu ſpielen. Me:it 
ſind Vermittler ohne eigene Geſchäfte in die Liſten eingetragen. Von ihnen ſoll nicht 
behauptet werben, daß fie weniger mit Handelsgebräuchen vertraut find us bie 
Inhaber größerer Geſchäite; vieleicht find fie fogar im VBelig ſchnellerer Auffaflung- 
fäbigfeit, da fie ja mit fo vielen Geſchäftsleuten der Brauche arbeiten, fo viele be» 
friedigen müſſen. Gerade biefer Umſtand mindert aber auch die Garantie für die 
Unabhängigkeit und Unparteilichkeit folder Gutachten. 

Man wird antworten, baß die Richter und die Barteien in der Wahl ter 
Sachverſtändigen nicht beichräntt find. Um aber den richterlichen Glauben an die Zr⸗ 
verläjfigfeit eines gerichtlich vereidigten Sachverftändigen zu erichättern, dazu gehört 
mehr als der Hinweis, baß er Konkurrent oder von der Konkurrenz abhängig ie‘. 
Das Gefühl einer Partei, der Sachverſtändige fei voreingenommen, genügt bein 
Richter nicht; an die Befangenheit eines auf Unparteilichkeit vereideten und ae 
wiffermaßen beamteten Gutachters wird er erit glauben, wenn ihm Thaiſachen be» 
wiejen werden. die den Sachverſtändigen diequalifiziren. Das iſt meift fchwer. 

In jolden (nicht jelten vorfommenden) Situationen wird bei den Handel}: 
fenaten die richterliche Unpartetlichkeit der Handelsrichter manchmal dad Richtige 
treffen, da ſie geſchäftskundig find, wifjen, daß Keiner aus feiner Haut heraus fann, 
und, gegen jich felbft ffeptifch, nicht daS felbe Gefühl für den Nimbus der Gerichts 
faverftändigen haben wie der von gerichtliher Autorität durchdrungene Beruſe⸗ 
zichter. Aber auch die Handelsrichter verfagen bei dem Verſuch objeftiver Rechis⸗ 
findung; fie übeftimmen fogar den unintereffirten Berufsrichter, wer.n ber Handel: 
gebrauch in Frage fommt, wenn Neues, Ungebräuchliches ſich gegen das Alıe, den 
Gebrauch, darchſetzen will, — mag das Neue auch Hunderimal befjer fein. 

Ber ausgefahrenen Gleiſen die jelbR gefundenen Wege vorzieht und nach befier 
Einficht anders Handelt als die Mehrheit ber jeder Tradition treuen Sfaufleute, Ter 
ſtelle ſich erſt gar nicht einem von bem Ulten blind ergebenen Sachverfländigen be⸗ 
rathenen Gericht: er wird doch nur den Epruch eines Parteirechtes vernehmen. 

Nehmen wir einen Fall, ber oft wiederfehrt. Starfe Berufsorganijatioren 
ftreiten mit einem Dutfider der Branche. Seine Geihidlichkeit ift ihnen unbequem, 
jeine neuen Methoden, Aufträge zu erzielen, ärgern fie; Alles an dieſem Geſchäfis⸗ 
betrieb ift neu und ſchon deshalb unangenehm. Es fommt zu Prozeſſen. Der Richter 
muß fi mit den Hanbeldgebräuchen befannt machen. Sein Berather, fein Lehrer 
ift der vor Bericht berufene Sachverſtändige; natürlich ein am Ort wohnhafter 
Kaufmann der jelben Branche. Da er nur Vermittler ift, wahrſcheinlich nicht mu⸗ 
organifirt, ift er als einer Bartei zugehörig ſchwer zu erweiſen; trogbem aber gan; 
Bartei: denn meiſt find es feine Kunden, die Leute, von denen feine Exifienz of 
hängt, Die auf der einen Seite ftehen. Wie fein Gutachten ausfält, kann man jich 
vorftellen; wenn er einen Handelsbraud fo Lommentiren kann, baß das Ungekanrie, 
das Neue den Anjchein einer beabfihhtigten Unlauterkeit erhält, dann wird ber 
Handelsrichter nicht gleich merken, woher der Wind weht. Die Umftände ſprechen 
in ſolchem Fall aber deutlich dafür, daß dem Einen gegen die Menge ber Anderen 
fein Recht nie werben kann. Woher fol er ben unparteiiſchen Sachverfländige:t 
holen, wenn nur in alter Praxis ftehende Kaufleute zum Gutachter berufen fin? 

In diejen Fällen, fcheint mir, wäre etwas mehr graue Theorie noch immer 
sicht jo ſchlimm wie die parteiifche Praxis. Man ſchilt den grünen Tiſch und vergiit. 


Taft. 269 


daß von ihm die großen und von allem Perſönlichen freien Gedanken kommen und 
dat das Recht nichts mit praftiichen Intereſſen gemein haben fol. Was Haudels⸗ 
gebrauch, was Handelsmißbrauch ift, Könnten, beſſer als die Korporationen ber 
Kanjleute, bei denen ftetS das Intereſſe mitiprechen und das Urtheil, beim beften 
Willen, parteiifch färben wird, die Handelshohfchullehter enifheiden. Sie kennen 
die Gefchichte des Handels, feiner Ujancen und Mißbräuche und find auf allen 
Merkantilgebieten zı Haus. Warum follen fie nicht an der Handelsgerichtbarkeit 
mitwirfen? Sie find dazu doc eher geeignet als Leute, die mit allen Faſern am. 
vraktiſchen Handelderwerb hängen und von ihrem perfönlichen Intereſſe nicht los⸗ 
tommen Tönnen. Alle Theorie ilt grau? Die fi mit dem komplizirten Weſen bes 
Handels beidhäftigt bat, kann nicht gar fo grau fein. Der Theoretifer fol un 
parteiiich die Praxis fehen, wie fie jett ift, Hier und anderswo, wie jie früher war 
und fpäter feia wird, und dem Richter ein klares Referat liefern. Der Handelsmiß⸗ 
brauch, den der jegt berufene Sachverſftändige mitgemacht hat, an ben er gewöhnt 
war und den er Handelsgebraud, nennt, wird dann in feinem richtigen Licht cr» 
feinen und der nicht im Intereſſengetriebe ftehende Fachmann wird fagen, welcher 
Handelsgebrauch fich vor dem Recht halten fann. Denn das Recht ſoll regiren. Nicht 
ein Recht, das eine fittlich mehr oder minder fragwürdige Praxis im Lauf ber Beit 
fi zu ihrem Bortheil geichaffen bat, fontern der unwanbdelbare Gedanke des Mif- 
brauch vom Brauch ſcheidenden Rechtes. Mißbräuche werben nicht badurdy gerecht» 
fertigt, daß eine Gruppe ſich bei ihnen wohlfühlt, weil fie ihr nügen. 


Ernft Walter. 
IR 
Taft. - 


SR im Howard Taft ift am dritten November mit einer großen Mehrheit 
zum Brälidenten der Vereinigten Staaten von Amerika gewählt worben. 
Die republilanische Partei ift fiegreich geblichen, weil fich, nad den Enthüllungen 
des „ſehr ehrenwerthen“ Zeitungmannes Hearft, herausgeſtellt hatte, daß Die Sonne 
der Standard Dil Company ihre belebenden Strahlen ſowohl republifanifchen wie 
demofratifchen Berirauensmänr ern gefpendet hatte. Neben den Republikanern Foraker 
und Sibley ftehen die Demofraten Haslell und Bailey. Diele vier Senatoren hatten 
nicht ganz einwandfreie Beziehungen zum amerilanijchen Oeltruſt. So gli ſich 
die Sache aus und die Bryanleuıc hatten den Anhängern Tafts nichts vorzuwer⸗ 
fen. Run ift die Frage: Wird fich die wirthichaftliche Struktur der Vereinigten 
Staaten irgendwie ändern, wenn Roojevelt das Weiße Haus in Waſhington vere 
lafien Hat? Eind auf handelzpolitiihem Gebiet wefentlihe Verjchiebungen zu er» 
warten? Die beiden mächtigen Stüßen, auf denen der Bau der amerikaniſchen 
Wirthſchaft ruht, find die Trufig und der Bolltarif. Veide Faktoren find mit eitte 
ander verbunden; nur Hinter einer gigantiihen Zollmauer konnten die Induſtrie⸗ 
und Finanzeyklopen gedeihen. Im Iuftdidt verichloffenen Kaum lonſerviren jie 
ihre Kraft. Will man die ihnen nehmen, fo braucht man nur friiche Luft vom 
Meer in das Kaftell hineinwehen zu lajlen. Wird Taft der ftarfe Mann fein, der 
die Mauern einreißt, den Luſtzug erleichtert und Hand an den Dingley- Tarif legt? 


270 Die Zukunft. 


Der neue Herr bat erflärt, daß er an ber Politik des Vorgängers feſthalten 
und Roofevelts Abfichten weiter durchzuführen ſuchen werde. Und die wichtigfie 
der noch nicht erledigten Nummern in Teddys Katalog ift die Unterbrüdung der 
Truſts. Willtam Howard Taft Hat fi) auch für eine Bolltevifion verbürgt. Er 
ſagte in feinem Wahlaufruf: „Die republitanifche Bartei erklärt ſich in unzwei⸗ 
deutiger Weiſe für eine Nevifion bes Bolltarifs in einer Eondertagung bes Kon⸗ 
grefles, die unmittelbar nad dem Amtsantritt des neuen Präfidenten ftaltfinden 
fol.” Das ift ein Verſprechen; und Taft fordert feldft, baß ter Präſident halte, 
was der Kandidat gelobt hat. Wird ers? An feinen guten Willen ift nicht zu 
zweifeln; aber Das allein bürgt nicht dafür, daß ber That Erfolg beidieben ifi. 
Nach Allem, was man von Taft weiß, iſt er feine fo ftarle Perſönlichkeit wie 
Rooſevelt. Er ift Epigene; fein Borgänger war ber Begründer der Dynaftie „Kraft. 
Mayr“. Und Teddys Lanzen zerfplitterten wie Glas an ber ſtahlharten Rüftung 
der Trufts. Der jugendfriſche rougb rider Theodor Rooſevelt hat feine Kraft an 
dem alten Dyspektiler John D. Rodefeller und dem graubaarigen Eifenbahntlönig 
E. H. Harriman fruchtlos erprobt. Das Alter hat bie Jugend bejiegt. Wie war 
Das möglih? Weil in ben Trufts die ſtarken Wurzeln ber Kraft des amerikaniſchen 
Wirthichaftlebens ruhen. Alte Bäume kann man nicht ausreißen, ohne in ihrer 
Nachbarſchaft das Erdreich aufzumühlen und alles Leben, das ficy boıt rezte, zu 
vernichten Die Hundingseiche, die Dur das Haus hindurchragt. Die mädhtigfe 
Finanzgruppe in der norbamerilanifchen Union ift heute die Standard Dil Come 
pany mit Rodefeller und Harriman. Wer bie Trufts wirkſam befämpfen will, muß 
den Einfluß dieſes Giganten (an Kapital und forrumpirender Kraft) befeitigen. 
Neben dem Deltzuft fteht Die Oruppe 3. B. Morgand. Mit fouverainer Macht herr 
ihen die beiden Gewaltigen über Finanz, Snduftrie und E:fenbahnen. Wer fid 
aufzulehnen fuchte, wurde geftürzt. So ging es ben Goulds, Vanderbilts, Hill, bem 
ftärkiten Gegner Harrimans, und dem befannten Sllinoismann Fiſh, der Doch Roth⸗ 
ſchilds Majeftät Binter fich Hatte, al$ er zum blutigen Etiauß gegen ben Al. 
belieger Harriman auszog. Er kontrolirt Heute ein Schienenneg von mehr al3 
65 000 Engliſchen Meilen Länge (das gefammte Eifenbahnentontingent des Deutſchen 
Reiches umfaßt 55 000 Kilometer) und vereinigt in feiner Hand ein Kapital von 
4 Milliarden Dollars. Kann Taft hoffen, einen ſolchen Rieſen nied:rzuringen? 
Vielleicht erinnert man fidy noch der ftarfen Ausdrücke, die Roofevelt vor etwa 
anderthalb Jahren gegen Rodefeller, Morgan und Harriman gebraudte. Den alten 
Harriman nannte er einen „höchſt unerwänichten Bürger der Bereinigten Staaten”; 
nnd diefer „höchſt unerwünſchte“ Bürger ift heute der mächtigſte Mann in den 
„Stoaten”. Was fümmeris ihn, ob der Herr, der in Wafhingion die „Shake hands“ 
Des Volkes erwidert, Noofevelt oder Taft heiß? Er wird feinen Kampf mit Hill 
um Chicago und den Nordpacific mit allen exlaubten und unerlaubten Mitteln 
führen, als ob e8 feine Interjtate Commerce Commiſſion zur Oberauſſicht über die 
Eiſenbahnen gäbe, und wird über Zwirnsjäden fiher nicht ftolpern. 

Schon feit zwanz’g Jahren werden Reformen in der Bermaltung ber ameri⸗ 
Tanifhen Eiſenbahngeſellſchaſten gefordert; bejounders laut, feit das auslänbilde 
Kapital fi an den Transportunternehmungen der Union fo reichlich betheiligt. 
Wed Zaft gelingen, was Rovjevelt verjagt blieb: die „grobe Mißverwaltung, bie 
Fälſchung der Ausweiſe und andere lingehörigleiten” zu befeitigen? Die von der 





Taft. 271 


„Zwilcenftaatlichen Handels kommiſſion? angeordneten Nenerungen ſind zur Farce 
herabgewitrdigt worden. Die Rechenſchaftberichte ber amerilaniſchen Eiſenbahnen 
find heute nicht weniger verlogen und bieten noch immer die Möglichkeit pein⸗ 
lichſter Ueberraſchungen für bie Altionäre. Eine Gefellichaft, die, nach dem Bericht, 
einen Ueberſchuß ausweilt, kann Bald danach in bie Hände des receiver fommen. 
Bon der Dividende bis zum Konfursverwalter ift in Amerila nur ein Echritt. 
Wird es William Howard Taft gelingen, den von den „insiders“ getriebenen Miß⸗ 
bräuchen zu feuern? Die „insiders“ find die Mitglieder der Verwaltung, die Leute, 
die an ber Srippe figen. Die outsiders ſind die Wltionäre, bie Leute, die ihr 
Geld hergeben und niemals erfahren, was bie insiders Hinter den Eouliffen treiben. 
Piel Gutes natürlich nicht. Sie beichließen Abkommen mit anderen Geſellſchaften, 
an denen fie durch Aftienbefig intereffirt find. Gie gewähren diefen Geſellſchaften 
Sontervortheile und kürzen dadurch die Dividenden der Altionäre. Wird der neue 
Präfident den insiders da8 Handwerk legen? Dann müßte er ein Verbot durch⸗ 
drüden, das den Mitgliedern einer Eifenbahnverwaltung unterjagt, fi an Unter» 
neßmungen zu betbeiligen, die Die Dienfte ber Eifenbahnen in Anipruch nehmen. Das 
find befonder8 Spebditionfirmen. Aber diefe Art der geihäftlichen Anzucht ift ein 
weientlicher Theil des amerikaniſchen Wiribicgaftlebens. Die Vanlen und Ber« 
ſicherungsgeſellſchaften arbeiten Hand in Hand mit den Induftrieverbänden und die 
Truſts maden mit den Eifenbahnen gemeinfame Sache. Harriman, der mehr als 
ein Drittel des amerikaniſchen Eiſenbahnnetzes unter feine Kontrole gebracht Hat, 
iit zugleich ein Hauptmacher der Standard Oil⸗Gruppe. Die Kraft, die nöthig wäre, 
um dieſes Gewebe zu zerreißen, fcheint man Zaft nicht zuzutrauen; fonit wäre 
feine Wahl nit ald Hauſſemotiv ausgenugt worden In Wallftreet haben die 
Zeute feine Nafen und wiffen zwiichen Rooſevelt und deſſen Nachfolger zu unter» 
iheiden; wiſſen, daß der Schliler felten die Kraft und noch jeltener die juggeftive 
Wirkung bes Meifterd bat. Standard Dil hatte fich vor der Wahl für Taft erklärt. 
Die Republikaner behaupteten, voll Entrüftung, Das fei geſchehen, um ihren Kandi⸗ 
daten in Mißkredit zu bringen. Die Deltruftmänner lachten. Als ob fie von Taft mehr 
zu erwarten gehabt hätten ald von Bryan! Dit der fitiliden Entrüflung der Dantees 
wird die Rodefeller-&ompany fertig; alfo konnte ihr gleichgiltig fein, ob Der oder 
Jener auf den Bräfidentenftubl gelangte. Dem Schwankenden aber nimmt unfer alter 
Freund Thomas W. Lawſon aus Bofton die legten Zweifel. Tie Wahl fchien ihm 
eine gute Gelegenbeit, nicht nur in amerilanifhhen und englifhen Zeitungen, ſon⸗ 
dern auch in deutſchen Blättern feine befannten Rieſenreklamen loszulaſſen. Und 
Thomas ruft dem Kapital der ganzen Welt zu: „Der Radifalismus ift tot. Rooſe⸗ 
veit ift überwunden. Taft hat geſiegt.“ Für den neuen Bräfidenten ift dieſer Aufruf 
nicht ſchmeichelhaft. Niemand Hört gern von ſich jagen, dab man ihn nicht zu 
fürchten brauche. Und Lawſon kündet der Neuen und Alten Welt, Taft fei unge» 
fährlig und werde nicht, wie Rovfevelt, durch tolle Reden gegen die Oberen Bier- 
hundert Syinanapaniten bewirken. Und unfer guter Thomas geht gleich in medias 
res und fordert feine geliebten Mitmenſchen zu einer fräftigen Spekulation iu 
amerikaniſchen Effeften auf. Er ſchwört bei allen NRothhelfern, daß „die Leiter ber 
großen Eijenbaßnlinien, bie ihre Ueberfchüffe in Papieren anzulegen haben, bie 
Breife in die Höhe bringen werden und daß der wildefte Hauffemarft, den bie 
Belt jemals gefehen hat, zur Thatjache werden wird.” Tommy ift ein Gemuͤths⸗ 





272 Die Zukunft. 


atblet (wer zweifelt daran?), der „viele Zaufendbollarnoten für Inſerate“ aus 
giebt, nur „um bem Bublitum die lage des amerikaniſchen Effektenmarktes zufchildern, 
damit die vielen Anlage ſuchenden Sapitaliften die Gewinne einftreichen können, die 
fonft nur Wenigen zufallen wilrden. Denkt darüber nad; und überzeugt Euch ın 
ben dreißig Tagen, bie der Wahl folgen, ob ich Recht habe.” So ſpricht ber un⸗ 
eigennügige Thomas; und es tft nicht unwahrfcheinlich, daß ber Sieg Tafts wirt: 
lich fo e8comptirt wird, wie ber Bofloner vorausgelagt Bat. Iſt Doch ben republika⸗ 
nifhen Wählern bie Berficherung gegeben worden, daß gleich nad) der Wahl tes 
Roofeveltmannes in allen Fabriken die Arbeit in vollem Umfang wieder aufge- 
nommen werde. Als ob nur die Bahlcampagne an der wirthichaftlichen Depreifion 
ſchuld geweien ſei! Der legte Duartalsausweis des Etahlirufts, ber einen eiras 
befjeren Ueberichuß brachte als die vorangegangenen Abſchlüfſe, wird, sub spec.e 
ber Neuwahl, natürlich in den Hinimel gehoben, während Die geringe Neigung ein 
zeiner Kupferleute (wie Lewiſons von der Uniteb Metald Selling Company), ſic 
begeiftern zu laffen, als „Ipelulativer Skeptizismus“ gebrandmarft wird. 
Bezeichnend für den Sanguinismus der Yankees ift dad Berhalten ihrer 
Finanzleute in Saden der Notenbantreform. Die war vor Jahr und Tag die 
fhwerfte Sorge der amerilaniichen Geſchäftswelt. Niemand glaubte, daß eine Ge⸗ 
fundung der Verhältniffe ohne die vorangegangene Eanirung des Notenbankweſens 
möglich fei. Die American Bankers Affociation, die im vorigen Jahr, auf ihrer 
Tagung in Wilantic Eıty, nur von dem Wunjch erfüllt fchien, den Vereinigten 
Staaten möglichſt bald eine Eentralnotenbanf zu befcheren, hat ſich bei ihrer dics⸗ 
jährigen Zufammenkunft in Denver nur ganz flächtig mit der Reformangelegen« 
heit befchäftigt; als babe fie ichon heute nur noch Hiftorifche Bedeutung. Daß die 
Nationalbanten und die Truſt Companies die Zeit der Rekonvaleſzenz im Ganzen 
gut überftanden haben, darob iſt die VBruft des wagemuthigen Yankees ftolz ge⸗ 
ſchwellt. Kein Grund mehr zu Sorge. Nach der Wahl braucht man dem euro⸗ 
päiſchen Kapitel neue Emijfionen nicht länger zu eriparen. Die Geldplethora, tie 
auf den großen Geldmärkten des europäilchen Wirthichaftfontinents herrſcht, und 
die Abſchüttelung des Jakobiners Roofevelt: ber ſmarte Yankee hofft auf herrlide 
Tage. Ein Glüd, daß wir faturixt find; die Jahreszeit ift ſchon zu weit vorgeſchritten, 
unt Die Betheiligung an neuen amerilaniichen Effeftengefchäften noch reizvoll er⸗ 
fcheinen zu laffen. Immerhin ift auch bei ung nicht jede Bank und jeder Kapitalılt 
abfolut waflerdicht, nicht jeder und jede vor ber Näffe bewahrt geblieben. Beim 
Jahreswechſel wird wohl manche Trodenlegung nöthig werden. Die ausgebörrien 
amerifanifchen Eifenbahngefellfchaiten find jchon längft auf den Yugenblid verfeilen, 
der ihnen die Möglichkeit bietet, fi) wieder einmalan europäiſchem Geld zu legen. 
Mit einer von Angſt nicht ganz freien Spannung blidt Europa auf bie 
nächſte Entwidelung der ameritanifchen Verhäliniffe. Das Kapital bat fich wieder 
zuſammengeſchloſſen und manche Riſſe, die [pefulative Ausſchreitungen zurüdgelafien 
hatten, jind verklebt worden. RNun will man in ben legten beiden Monaten des 
Jahres nicht aufs Spiel gejegt jehen, was man fi vorher mühjam zurücercobett 
hat. Wird der Yankee Ruhe halten? Wenns nad) Thomas W. Lawjon geht, ſtellt 
er dic Welt auf den Kopf. And der Boltoner ift Einer, ber in feine Zeit papt. 
Daß er die Schellenlappe trägt, wollen Viele nicht jehen. Wenn er nun doc Recht 
bebielte und man nicht mit dabei gewefen wäre! Nie Lönnte man ſichs verzeihen. 











Saft. 273 


Ten Berlinern fehlt Lie ausichweifende Vhantafie der newyorker Macher; dor des 
Wahl Haben fie an die Bebeutung des dritten Novembertages für die weſtliche 
Halblugel kaum gedacht. Kaum fo viel bavon geiprodhen wie vom Tode bes einft 
becdgepriejenen Großſpekulanten Jakob Platichel. Als Taft gewählt war, begnügte 
ih die Epelulation mit einer Keinen Spezialhauſſe in Amerikanern und Schiffahrt« 
aktien. Das dauerte nicht lange. Die leidige Politik vertrieb bald jebe gute Laune. 
Tie reichte gexade noch zur Fabrizirung bed Börfenwiges: „Die Taftieite (die Futter» 
jette bed Rodes) fieht ziemlich Ichäbig aus“ Daß Taft fih auf „graft“ reimt 
und daß graft gerade die Eigeuſchaft des amerifaniihen Wirthichaftlörpers ift, 
Le der Erbe Rooſevelts, gleich dem Zeflator, belämpfen will: au Bas wurde 
ron den Börſenetymologen herausgefunden. Die Burgftraßen: Beripathetifer blieben 
ziemlich rubtg und warteten auf weitere Neußerungen aus Wallftreet, Die zeigen 
jullten, ob c8 den Zünftlern gelingt, das Publikum wieder in bie Spekulation zu treiben. 

Wenn die TruftS die Uebermacht behalten (woran nicht zu zweifeln ift), wird 
VER vilion des Tarifg ein frommer Wunſch bleiben. Wie ed unter Bryan geworden 
wäre: Darüber braucht man fich jegt nicht den Kopf zu zerbrechen. Der Status, der am 
dritten November hergeftellt wurde, gilt nun für vier Jahre. Was dann kommen wird, 
braucht uns einftweilen nicht zu befümmern. Im März 1909 tritt der neue Prä- 
hdent fein Amt an und dann begimmt bie Berathung der Tarifxeform im Kongreß. 
Tamit ift noch gar nichts bewirkt. Die Tariffrage wirb nicht im Weißen Haus, 
ſondern auf dem Kapitol beaniwortet. Wenn Repräfentantenhaus und Senat nicht 
vell:n, nügt alle Energie bes Präfidenten nicht®. Der Kongreß hat das letzte Wort; 
und da in beiden Häufern die Anhänger des Hochichupzolles die Mehrheit haben, 
jo kann man jih ungefähr denken, wie die Tarifrevifion ausfehen wird. Der feit 
ei Jahren geltende Dingley Tarif ift ein Bollungeheuer, neben dem ber Mac 
Kinley⸗ Tarif wie eine harmloſe Kinderfibel wirtt. Auf folder Vaſis ruht ber Handels» 
rerfche zwiſchen Deutſchland und den Bereinigten Staaten; doch wurde, um ung 
den guten Willen zu zeigen, im vorigen Jahr ein Handelsproviſorium beichlofjen, 
das mwenigftend zum Schein Erleichterungen gewährt. An einen Handelsvertrag 
it, fo lange Dingley Trumpf bleibt, nicht zu denken; beshalb wurftelt man mit 
Trovijorien fort Die Yankees mahen dabei befjere Geſchäfte als ihre Partner, 
denen fie auch durch allerlei Bolldyicanen das Leben zu verjüßen ſuchen. Robus 
sic stantibus ftieg der Export ber Bereinigten Staaten nach Deutichland im legten 
Rednungjahr von 256 auf 276 Millionen Dollars, während die deutſche Einfuhr 
in die Union don 161 auf 142 Millionen Dollars zurüdging. Die amerilantichen 
Aqrarier haben den deutfchen confratres gegenüber alſo Recht behalten; und wenn 
ihnen nun eine Aenterung ihres Zollſyſtemes zugemuthet fol, fo kann die nur 
darin beftehen, daß an die Stille des autonomen Tarifes ein Doppeltarif mit 
Meximal⸗- und Minimalfägen tritt. Cui bono? Natürlich zum Beſten ber Yankees. 
Tie brauchen nur die heute geltenden Einheitfäge zu Minimalfägen zu machen: 
dann find fie ſchön Heraus und die greenhorns find die Belämmerten. Was bleibt 
cv von den Hoffnungen auf Taft? Die Thatfache, daß der Mann zweiundeinen- 
basben Gentner wiegt und unter ſolchem Fettpolſter nur für eine maßvoll rubige 
Lchensauffoffung Raum haben fann. Ein freundliches Geſchick erhalte ihm fein 
volles Gewicht; dann wirds weder Kovallerieatiaquen gegen die Trufts noch Finanz 
hiien (als Begleitericheinungen temperamenteller Eraftäußerungen) geben. Ladon. 


274 Die Zukunft. 


Monarchen-Erziehung. 


I KronenträgernläutendieömaldieSilvefterglodenein düſteres Trau⸗ 
erjahr ein. Für die kommenden Hofbälle ſind die Galerien und Säle 
glänzend renovirt, in den Kadettenſchulen find eifrig Menuet⸗-Kurſe abge: 
halten worden, doch jchon der erfte Monat drängt ein drohendes Datum in 
die feitliche Luft aufgefriſchter Rokofo- Herrlichkeit. Am einundzwanzigften 
Januar wird ein Jahrhundert verftrichenjein jeit dem Tage, da Ludwig der 
Sechzehnte daS Haupt unter die Guillotine legen mußte und die Legitimität 
(im Sinn Talleyrands) den Kopf verlor. Derb und brutal prebte damald der 
Alchermittwoch fich vor den Karneval und Camille Desmoulind fand das 
freche Wort, da8 dem Denken der Schredendgmänner die epigrammatilde 
Saffung gab: Un roi meurt, iln’ya pas un homme de moins! 

&8 half dem armen Ludwig Capet nicht, daß er noch auf dem Schaffot 
feine Unjchuld betheuerte. Gewiß: er war fein Tyrann und fein Verbreder 
gewejen; er hatte ed, wie man wohl jagt, gut gemeint. Mitallerlei techniſchen 
Spielereien, mit Schmiedefünften und Uhrmacherarbeit hatte er ſich die Zeit 
vertrieben, war auf die Jagd gegangen und hatte Rehböde geſchoſſen, nie» 
mals aber in Hirjchparfgelüften gejchwelgt und redlich glaubte er feiner Re» 
gentenpflicht zu genügen, wenn er von unverantwortlichen Rathgebern, von 
den Polignacs und Genofjen, fich über die Stimmung des Landes unterrid» 
ten ließ. Seine Hofhaltung verichlang ungeheure Summen und Neder, der 
frühere Bantier und Syndifus, der mit Turgots Finanzreform jehr großthat, 
fand doch nicht den Muth, feinem König die Wahrheit zu jagen. Der arme 
Ludwig verlor den Kopf und die Krone, weil er durch fremde Augen geſchaut, 
durch fremde Ohren gehört und feinen hohen Beruf ald eine Sinefure be 
trachtet hatte, die man zwijchen zwei Jagden verjehen fünne. Seine perjön 
liche Schuld war gering: denn zu dem Gefühl der Verantwortlichkeit war er 
nicht erzogen worden, und ald der Inerfahrene den Thron beftieg, da mochte 
erglauben, diemonarchie absolue,temperee par des chansons, laſſe fich 
noch ein hübjches Weilchen aufrecht erhalten. Seine Vorgänger aber, all die 
füderlichen und leichtfertigen und anmaßlichen Herren, hatten den Ader be» 
ftellt; und ald ein blutendes Opfer fiel, der ſich für einen reichen Erben ge: 
halten hatte. Vergebens waren die Lehren der Gefchichte, waren die Anrufe 
der Warner geweſen; vergebend hatte Dante in feinem Tractatus de mon- 
archia das Sdeal eines Weltherrichers gezeigt, vergebens Rouffeau den un- 
barmberzigen Fürſtenſpiegel Macchiavellis dad Buch für Republikaner ge: 








Monarchen⸗Erziehung. 275: 


nannt; jelbft Voltaired Dde an den König, deren Tendenz doch mehr nad) 


Frankreich noch als nad) Preußen wies, war ohne Echo verhallt. Gefällige 


Fälſcher lagerten aufden Stufen des Thrones, jeded organiſche Band zwifchen 
Bürften und Volk war zerriffen, und ald aus dem Blut, dad den Grève⸗Platz 


düngte, eine neue Form der Alleinherrichaft wieder emporftieg, da wares eine 


monarchie parvenue, ein Regiment von des Demos Gnaden, und ein ge- 


nialer Brecher alter Tafeln, ein brutaler Condottiere aus Korfifa, ftülpte mit: 


herriſchem Griff die Krone aufs Haupt. 
Die Revolution richtete ſich nicht eigentlich gegen das Königthum; fie 
entiprang der jozialen Ungleichheit, die Ariftoteles früh, in einem zu wenig 


gelejenen Buch, die Duelle allerRevolutionen genannt hat; und fie hätte den‘ 


Thron von Frankreich nicht geftürzt, wenn Ludwig der Sechzehnte zum Mon» 
archen erzogen worden wäre. Der ſchwache Bergnügling aber aus der verlot- 
terten Raffe fand feine Mannheitnicht einmal in der Stunde, da in den rhyth⸗ 
miſchen Reigen der Hoftänzer die Carmagnole hineinheulte, und zum leßten 


Gange nodyfchritt er ahnunglos, in dem Olympiergefühl, immer und überall 


dad Rechte gethan zu haben. 

In diefem Olympiergefühl lauert auf die gefrönten Häupter diegrößte 
Gefahr. Der byzantinische Koder hat mit feiner Beftimmung, daß des Königs 
Wille Geſetz jein ſolle („Quod principi placuit, legis habet vigorem“) 
nicht nur das alte Deutjche Neich zerftört: er Hat auch in den Monarchen ge⸗ 
fährliche Triebe gewedt, die mitunter verhängnibvoll an den afiatiſchen Ur⸗ 
iprung des Königögedanfend erinnern. Ein Fürftenfohn wächft nicht wie ein 
anderer Sterblicher auf; der Kampf und die Sorge, die und mit jedem neuen 
Tag neue Erfahrungen bringen, bleiben dem Prinzen erſpart; und jo man« 
nichfach find die Anſprüche, die anjeine Repräjentation, an feine Beherrſchung 


äußerer Formen geftellt werden, daß für eine tiefer reichende Bildung wenig. 


Zeit übrig bleibt und oft genug eine dilettantijche Geſchicklichkeit aushelfen 
muß. Mit diefem flüchtig erworbenen Befit nun befteigt der vielleicht faum 
mannbar Gemwordene den Thron und joll eine Aufgabebewältigen, die Kennt⸗ 
niß von Menjchen und Dingen, Reife des Urtheild und felbftlofe Bejcheiden- 
beit verlangt. Sm beften Fall hat er aud der Geichichte Etwas gelernt, fennt 
den Kategoriichen Imperativ der Pflicht und hat eine forgfältige Erziehung 
erhalten; aber eine Erziehung für den Vorhof des Königspalaftes, nicht für 
den wechjelnden Anfpruch eined neuen Berufed. Auch der fleibigfte und am 
Beften begab:e Stadett beherrfcht nicht die Lehren der Strategie; auch der tüch⸗ 
tigfte Prinz lann von feinem Gouverneur nicht dad Herrſchen erlernen. Erſt 


276 Die Zulunft. 


nach der Thronbefteigung beginnt für ihn die Lehrzeit. Und das Volk, dad zu⸗ 
nächſt faft immer die Föniglichen Messages of Love, dieThronreden und die 
verheißenden Programme der Huld, mit „Vertrauen“ aufnimmt, das Bolf 
Datjpäterdieernftere Pflicht, dafür zu forgen, daß der König ſich jelbft erziehen 
Tann. Jede theoretifche Monarchen Erziehung wird nußloß bleiben (Seneca 
war der Lehrer des Rero!); nur durch eigene Erfahrung, und am Meiften 
durch ſchlimme, lernen die Könige diefer Welt. 

... Deutſchland ift mit nationalen Heimfuchungen fo ſchwer geprüft 
worden, daB ihm die Berpuppung der Geldwirthſchaft in republifantiche Ge⸗ 
wande vielleicht erfpart werden wird. Das Deutjche Reich und der Deutliche 
Kaijer find an einem Tage geboren und das Bedürfniß nad} einer Aenderung 
der Staatöform ift heute, wo die wirthichaftliche Bewegung allen Ingrimm 
aufjaugt, eigentlich nirgends vorhanden. Selbft dieSozialdemofratie würde 
einer bürgerlichen Republik höchſtens deshalb den Vorzug geben, weil der 
Raubbau gieriger $inanzleute dann den Untergang der herrichenden Geſell⸗ 
ſchaft rafcher herbeiführen müßte. Eine direlte Gefahr für die Monarchie ift 
nicht zu entdecken. Und dennocd würde Der fi einer bewußten Täufchung 
ſchuldig machen, der behaupten wollte, daß heute der monarchiſche Gedanke 
bei und noch fo fefte Wurzeln hat wie vor fünf Jahren. Die ruhige Sicher- 
heit ift fort und mit wachfender Beängftigung fragt die Nation, wie der 
Deutjche Kaiſer fich erziehen wird. 

Demofthenes hat in einer jeiner Philippifen die Athener verjpottet, 
die immer zu dem Wahne neigten, in zwei Tagen fönnten ſich alle ihre Wünſche 
erfüllen. Bon ähnlichen Vorftelungen mag Wilhelm der Zweite beherricht 
gewejen fein, als er die Krone ergriff, und in jeiner Nähe hat ed wohl nicht 
an Bolignacd gefehlt, die ſolchen Glauben gefliffentlich zu nähren ſuchten. 
Er jonnte fid) in dem rühmlichen Plan, jeinem Reid) und Europa ein Re⸗ 
formator zumerden, und aldjein ungeſtümer Drang ſich an einem Felſen ſtieß, 
juchte er dieſes Hinderniß zu zerſchmeitern. DerWiderftand Bismarcks gegen 
eine zweite Reiſe nach Nom und Peteröburg weckte Empfindlichkeiten, jeine 
vorfichtige Sfepfis in der Behandlung der Arbeiterfrage ärgerte den Elan des 
jungen Monarchen. Undendlich wurde dad ungeheure Wagniß unternommen: 
Bismarck fiel. Am anderen Tag fragte, wie nad Mazarind Tode, die Welt: 
An wen follen wir und nun wenden? Und Wilhelm der Zweite zögerte nicht 
mit der Antwort Ludwigs des Vierzehnten: An mich! 

Damals ſah Europa ein klägliches Schaufpiel: nicht eine Partei hielt 
dem Geſtürzten die Treue; alle beeilten fich, in die wärmende Nähe der neuen 





Monarhen- Erziehung. 977- 


Sonne zu fommen. Ein verlogenes Jubelgeſchrei begrüßte das Ende des per- 
ſönlichen Regimentd; und im Weften und Often begannen unfere Feinde, von 
einer Epiſode deutſcher Gröhe zu jprechen. Seitdem hat fich die widrigfte 
Schmeichelei an den Kailer herangedrängt und ed ihm beinahe unmöglid) 
gemacht, die wahre Stimmung ded Landes zu erfennen. Sophofles, der die 
alten und die neuen Herren doch beiler noch als unſer Wildenbruch Fannte, 
hateinmalgejagt, auch der frei Geborene werde in der Nähe der Könige ſchnell 
zum Sflaven. Wir haben erlebt, wie die Strahlen der kaiſerlichen Gnade jede 
Regung jelbitändigen Denkens wegjengten und wie die Geblendeten fich be» 
eilten, für weiß zu erflären, was fie geftern für ſchwarz ausſchrien. Jetzt if 
«3 einer Clique gelungen, die Dinge fo darzuftellen, als ob die Unzufrieden- 
heit nur von dem großen Regiſſeur im Sachſenwald injzenirt worden jei, 
und als fürzlich da8 Gerücht von einer neuen Partei in die Zeitungen drang, 
die ihre Spitze gegen den Kaijer richten ſolle, da wurde gejchwind gleich wie- 
der die Parole auögegeben: Eine antifaiferliche Partei, alſo eine ParteiBis⸗ 
marck! Weil einige reiche Leute, unter geſchickter Benutzung der unter der 
Reichsrinde fühlbaren Stimmungen, eine politiſche Rolle zu ſpielen wünfchen, 
wird der alte Kanzler als Schwarzer Mann hingeſtellt. 

Dieſen dummen Lügen fönnteman in behaglicher Ruhe zuſehen. Neuen 
Barteien wird, wie neuen Schönheiten im Balljaal, immer Allerlei nachge- 
redet, bis fie jelbit in der Läfterecke Sitz und Stimme gefunden haben. Viel 
gefährlicher ift die Empfindung, daß die Wahrheit heute nicht mehr an den 
Thron gelangt, daß der Kaiſer, von Höflingen, Strebern und politiichen Mit⸗ 
telmäßigfeiten umgeben, gar nicht erfährt, wie jeder feiner Schritte mit Miß- 
trauen verfolgt, jede jeiner Handlungen mit unmwilligen Kommentaren be- 
gleitet wird. In diefer nebeligen Atmoſphäre wirkt jedes rückhaltloſe Wort 
wie eine Befreiung; daher der nachhallende Erfolg der jorgfällig abgewoge⸗ 
nen Rede des Herrn von Bennigjen, die für einen Oberpräfidenten feine ge- 
ringe Leiſtung, an ſich betrachtet aber doch nur ein mattes Echo der Volksangſt 
war; daher dad Hinübergleiten der Wählermafjen in den Radikalismus, das 
auf dem Parteitag der Konſervativen jo ſeltſam fich offenbart hat. DieMenge . 
wünſcht immer dringender Rückſichtlofigkeit und fie wird ungeduldig, weil 
fie fieht, daB die Führer an diplomatische Spielereien foftbare Zeit vertändeln. 
. Der Mangel an Aufrichtigkeit, dem er überall begegnet, hindert den 

Kaiſer (oder erſchwert ihm mindeftenß), feine Erziehung fortzuführen und 
zu vollenden. Er hat eine Reihe von werthuollen Erfahrungen gemadit, die 


ihm gewiß nicht verloren find, und er würde raſch weitere Erfahrungen ſam⸗ 
21 


378 Die Zukunft. 


meln, werm die Barteien fich nicht um die Wette in den Staub würfen, um 
dem vorwärts Schreitenden den Weg zu veriperren. Die Sreifinnigen zeigen, 
unter aufdringlich Ioyalen Verrenkungen, das Beftreben, fi in regirung- 
fähigen Zuftand zu halten (mit Ausnahme Richters und feiner Leute, die 
ftolze Hoffnungen auf dereinftige Fackeltänze längſt ſchon begraben und fich 
an die gar nicht undanfbare Rolle der Mibvergnügten im düfteren Mantel 
gewöhnt haven). Die Nationalliberafen, denen vom Kaftanienwald manch⸗ 
mal der®ind gute Witterung zuträgt, laviren geſchickt und haben rechtzeitig 
ſich nad} einem politiſchen Entoutcad umgelehen, der fich bei jedem Wetter: 
mwechjel vermerthen läßt. Das Centrum fühlt fich ald Heren der Lage und 
ſcheint im Begriff, durch unerwartete Halsftarrigfeit in der Militärfrage der 
Regirung eine deutliche Mahnung am feine Macht zulommen zu lafjen. Die 
Haltung der Konjervativen endlich iftvon der beftändig wachſenden Angft vor 
einerliberalen Aera diktirt. Sede Bartei möchte den Kaijer für ihre Zwecke ein- 
fangen, ihn, wie Bismarck einmal jagte, ald Hofpitanten in ihren Reihen jehen. 
Das verfehrtefte Epiel ift dad der Konferpativen; jchon deshalb, weil 
fie viel zu verlieren, ihre Nachbarn aber nur zu gewinnen haben. Es ift ein 
Märchen (und einjchlechterjonnened obendrein), daß in Preußen und Deutſch⸗ 
land eine fonjervative Bartei nur von der Gnade der Regirung leben kann; 
wäre dad Märchen Wahrheit, dann ftände ed übel um den Staat und das 
Reich, wo an der Erhaltung und organifchen Fortbildung des Beftehenden 
Niemand mehr intereffirt wäre. Eine gouvernementale Partei hat heute jehr 
wenig Audficht auf Erfolg, weil die Minifter von Denen, die hinter den par 
lamentariſchen Schweifwedlern ftehen, meift geringgejchäßt werden und weij 
die Perſon des Monarchen noch in einer Entwidelung begriffen tft, deren Ab- 
ſchluß fich heute nicht annähernd überbliden läßt. Wohl aber könnte eine kon⸗ 
jervative Partei gerade jegt Anhang und Einfluß gewinnen, wenn fie ent- 
ſchloſſen wäre, der Opportunität feine Opfer, auch dad fcheinbargeringfte nicht, 
zu bringen und mit verfchränften Armen ruhig den kommenden Ereigniffen 
entgegen zu jehen. In der Politik, wie in der Xiebe, muß man ſich immer 
ſuchen lafjen; wer dem Anderen nachläuft und mit werbender Geberde andeu- 
tet, daß er zu zärtlichen Dienften bereit tft, Der ftößt bald auf Sleichgiltigkeit 
und feine Gunft ſinkt im Preiſe. Es hat lange gedauert, bis die ſchwerfällige 
Intelligenz des Grafen Caprivi fich dieſes Verhältniffes zu den Konſervati⸗ 
ven bewußt geworden ift; jet endlich fcheint er dahinter gekommen zu fein 
und der bei einem Manne von jo geringen Leitungen doppelt befremdliche 
Zon leijer Verachtung, mit dem er neuerdings konſervative Bedenken abzu- 








Monarchen⸗Erziehung. 979 


thun pflegt, jollte den Herren der Rechten doc) nachgerade zeigen, daß fie auf 
dem beiten Wege find, fich jelbft zuentwerthen. Wennder Reichskanzler weiß, 
daß er fie immer haben kann, wird er ſich herzlichwenig um ihre Wünfchebe- 
kümmern; und dad Bemühen, durch ein möglichft weites Entgegentommen 
den Kaiſer von dem Experiment einer liberalen Regirung abzubringen, wird 
durch eine Entwerthung der konſervativen Partei ganz gewiß nicht gefördert. 
Kluge Bolitiker, die über den nächſten Sonntag hinausbliden, würden in 
aller Behagiichkeit abwarten, wie der jogenannte entjchiedene Liberalismus 
dadurch zu leben aufhört, daß erzu herrſchen beginnt und die völlige Unfähig⸗ 
feit beweift, auf der brüchigen Grundmauer feiner dofirinären Programme 
bewohnbare Heimftätten für Menjchen aufzubauen. Verfannte Genies find 
immer mit einem geheimnißvollen Reiz geſchmückt; man muß ihnen die Ge⸗ 
legenheit nicht verjagen, fich im hellften Lichte der Deffentlichkeit einmal nad) 
Herzendluft zu blamiren. 

Eben jo wenig aber darf man einem Monarchen die Möglichkeit ſchmä⸗ 
lern, Erfahrungen zu ſammeln. Innerer Befi will erworben, nicht ererbt, 
aus Büchern erlefen oder ald ein Geſchenk gefälliger Freundſchaft hingenom⸗ 
men fein. Mit dem Feuer hat beinahe noch jeder König gefpielt, auch der, 
deſſen blutiger Schatten und an der Schwelle des neuen Jahres drohend und 
warnend begrüßt: auf dem Fleinen Theater in Trianon erſchien Figaro mit 
jeinem törlichen. Hohn und an den pathetiich grollenden Chorftrophen der 
Athalia regte die lüderliche Hofgefelichaftfich angenehm auf. Der arme Lud⸗ 
wig Capet hatte nicht Zeit, fich jelbft zu erziehen; er hörte die dumpfen Erd» 
ſtöße nicht und fein erſtes Erlebniß war auch fein letztes. Seinen gefrönten 
Vettern aber ift er nicht umſonſt geftorben, wenn fie aus feiner Geſchichte ler⸗ 
nen, dad eines Volkes Vertrauen, das echte, dad aus dem Ürtheil und nichtaus 
unflaren, flüchtigen Gefühlen ftammt, nur durch eine ftrenge erzieherifche Ar⸗ 
beit erworben und bewahrt werden kann, und wenn fie, ftatt von einem my» 
ſtiſchen OIympierbewußtjein, von der Erfenntniß ſich durchdringen laffen, daß 
erſt mit dem Beſitz der Macht und der Krone die Zeit ihrer Lehrjahre beginnt. 

% 

Diefer Artikel (ein franzdfifche Zuftände behandelnder Abſatz ift Diesmal weg⸗ 
neblieben) erſchien hier am legten Dezembertag bes Jahres 1892. Der Berfafler wurbe 
der Majeftätbeleidigungangellagt.DieBegründung des freifprechenden Urtheils begann 
mit den Sägen: „In dem Artikel findet man eine Reihe unzweifelhafter Wahrheiten. 
Die Ehrfurcht vor einem Furſten zeigt fich nicht darin, bag man ihm byzantinifc zu 
Fußen liegt und ihm ſchmeichelt, fondern die wahre und echte Ehrfurcht vor dem Mon⸗ 
archen erweiſt fich darin, daß man auch ihm gegenüber die Wahrheit hochhält, voraus 

. 21* 





280 Die Zukunſt. 


geſetzt, baß man ihr Feine ftrafbare Form giebt. Der Angeflagte vertritt ben Grundge⸗ 
danten, baß, wie jeber nach Vollkommenheit trachtende Menſch nie aufhören bürfe, an 
fich ſelbſt zu arbeiten, fo auch jeber Monarch nad) feiner Thronbefteigung fich dieſem 
Bert berSeldfterziehung widmen müffeund daß die Öyzantiner und gefälligen Fälſcher, 
die biefen Selbſterziehungprozeß durch Mangel an Aufrichtigkeit und Abiperrung der 
Bahrheit vom Thron hindern oder erfchweren, weder für den Monarchen noch für Die 
Allgemeinheit Gutes wirken." Das Schidfal des Richters, der dieſes Urtheil verkündete, 
if befannt. Da der erfte Jahrgang ber „Zukunft“ vergriffen ift, Tieß der Herausgeber 
biefen Artikel und ben folgenden („Köntg Phaeton“ vom fünfzehnten Dftober 1892) 
noch einmalbruden; um baran zu erinnern, wielange die Erörterung ſchon währt, die end⸗ 
ich num, enblich vom Athem politifcher und nattonaler Maffenleidenfchaft umweht wirb. 


2% 


Rönig Phaeton. 
ge Nachthimmel ein lichter Streif, zwifchen zwei helleren Punkten ein 


matt beleuchteter Steg: die Milchſtraße nennen die Menjchen ihn und 


einen ſchönen Mythos erjannen fie, fein mildes Dammern zu erklären. Doch 


die Mythen auch, die herrlichften felbft, blühen ab, wenn ihrer Wurzel nicht 


neued Erdreich aufgejchüttet wird. Und weil der dunftende Herbft, der nad) 
klarem Tage die Nebel emporfcheucht, nachdenklich ftimmt und weilundneuer: 
lich anbefohlen ward, rüdwärts jchreitend den Weg der Geſchichte nun abzu- 
wandeln, deshalb vielleicht fam mird in den Sinn, dem Mythos der Milch⸗ 
ſtraße nachzugrũbeln und, anlojen Fabelnalter Sänger vorbei, zudem Sehnen 
mich hinzufühlen, das erft den Mythos gebar. 

* 

Sm Sagenlande, das man Arkadien nicht heiben darf, weil es von un- 
ruhigem Wünſchen im Tiefſten erſchũttert war, hatte König Merops geherrſcht, 
ein freundlicher Mann mit gütigem Blick und ein Herr, der die Zeichen der 
Zeit wohl erfannte. Sn einem verblätterten Buch hatte er gelejen, der Tagſei 
nah, wo aud den güldenen Kronen man Goldthaler prägen würde, mit dem 
Bildniß einer neuen Prinzelfin, die den neuen Namen Demofratia empfan- 
gen jollte. Und da er buchgläubig war und holder Schwachheit geneigt, ſah er 
mit milden Mißtrauen immer die Krone an und ihrem myſtiſchen Winken 
lächelte er in Wehmuth. Nicht zu majeftätiichen Gletſchern flattertejein Ehr⸗ 
geiz ; jein Gotteögnadenthum, von dem bejchränktere Ahnen dad Heil erwartet 
hatten, jchlug er gering an und heilchte für Reden und Handeln eben nur das 
Maß von Achtung, deſſen Reden und Handeln aud würdig waren und dadfein 
Beritändigerdem repräjentativen Manne desVolkes weigern durfte. Uebrigens 


König Phaeton. 381 


verichloß er fich Feinem guten Rath, wußte Hug hinter Klügere zu verſchwin⸗ 
den und prunfte und prahlte nie mit einer Detailfenntniß, die er nach dem 
Gange feiner Erziehung und in der prächtig deforirten Enge feiner Balaft- 
eriftenz doch nicht erworben haben konnte. Er wareinguter König in ſchlimmer 
Zeit. Und Die da wünfchten, gegen die drohende @efahreinerOchlofratie dag‘ 
monarchiſche Weſen erhalten zu jehen, die priejen ihn hoch und feufzten, als 
er zu fterben fam. 

Ihm folgte der junge Sohn. Der hieß Phaeton und feinem Ruhm hat- 
ten Geberdenſpäher und Geſchichtenträger längft ſchon die Paulegerührt; ein 
windiger Schreiber, von der Zunft Einer, die mit Federund Tinte damals das 
alte Weglagererhandwerk aufzunehmen begann, hatte ihn dem Großen Aler- 
ander verglichen, ein Magifter dem Caeſar; jedes unbedachte Wort, dad ihm 
entfuhr, wurde ald wunderfindliche Weißheit durch alle Gaſſen getutet und 
ein Lärmen vollführt, da von der phaetonifchen Aera das Volt fich ein Un- 
erhörtes erwarten mußte. Die Bedäcdhtigen ftanden bei Seite und dämpften 
ihre Befürchtung, denn ind Schwabenalter: mußte ja Phaeton wachjen, ehe 
ihm noch gelingen fonnte, den reichen Schatz zu verftreuen, den Merops jor- 
gend gehäuft hatte, und jo feit ftand im Fabellande die Monarchie, dad eine 
junge Zaune fie nicht gleich zu erichüttern vermochte. Und ald fie gar hörten, 
wie der neue Herr immer wieder gelobte, in allen Stücken dem weijen Merops 
und feinem Beiſpiel nachtrachten zu wollen, da ſchwand auch ausder Bedäch⸗ 
tigen Sinn die letzte Furcht und dem Zubel des Volkes lächelten fie freundlich. 

Es geſchah aber, daß König Phaeton andere Könige bejuchte: und da 
vernahm er übel Flingende Wahrbeit. An den Kronen nagte gefräßigerRoft, 
der vor Edelmetall ſcheu ſonſt zurückkroch, und zum Gaſte jprachen diemüden 
Herrfcher, wie zu Zarathufta feeinft, dem Weifen, gejprochen hatten: „Dieler 
Ekel würgt mich, daß wir Könige jelber falſch wurden, überhängt und ver 
kleidet durch alten vergilbten Großväter⸗Prunk, Schaumünzen fürdie Dümm⸗ 
ften und Schlauften und wer heute Alles mit der Macht Schacher treibt! Wir 
find nicht die Erften — und müſſen es doch bedeuten: dieſer Betrügerei find 
wir endlich ſatt und efel geworden. Es giebt fein härtered Unglüd in allem 
Menſchen⸗Schickſale, ald wenn die Mächtigen der Erde nicht auch die erften 
Menſchen find. Da wird Alles faljch und jchief und ungeheuer.“ Biel noch 
von ſolcher Art mußte Phaeton hören; und er erfannte, wie ein trauriged 
Sterben des Königegedanfend durch die vom Glauben geirrte Welt Ichlich. 
Hier jah er dumpfe Dummheit auf ſtolzem Thron, dazerrten hitige Spieler 
und gierige Dirnen an einer Krone, dort entjanf das Szepter einer von un- 


! 


280 Die Zukunſt. 


geſetzt, daß man ihr Feine ſtrafbare Form giebt. Der Angeklagte vertritt ben Grundge- 
danken, bag, wie jeder nach Vollkommenheit trachtende Menſch nie aufhören bürfe, an 
fich ſelbſt zu arbeiten, fo auch jeder Monarch nach feiner Thronbefteigung fich dieſe m 
Werk der Selbſterziehung widmen müffeund Daß bie Byzantiner und gefälligen Zälicher, 
bie diefen Seldfterziehungprozeß durch Mangel an Aufrichtigleit und Abiperrung der 
Wahrheit vom Thron hindern ober erfchweren, weder für ben Monarchen noch für Die 
Allgemeinheit Gutes wirken.” Das Schidfal des Richters, ber dieſes Urtheil verkündete, 
ift befannt. Da der erfte Jahrgang der, Zukunft“ vergriffen ift, ließ ber Herausgeber 
dieſen Artikel und den folgenden („Stönig Phaeton“ vom fünfzehnten Oktober 1892) 
noch einmaldruden; umbaran zu erinnern, wielange bie Erörterung [yon währt, die end⸗ 
lich num, endlich vom Athem politifcher und nationaler Maffenleidenichaft umweht wirb. 


2% 
Rönig Phaeton. 


Nachthimmel ein lichter Streif, zwifchen zwei helleren Punkten ein 
matt beleuchteter Steg: die Milchſtraße nennen die Menjchen ihn und 
einen ſchönen Mythos erjannen fie, jein mildes Dämmern zu erllären. Doch 
die Mythen audy, die herrlichiten jelbft, blühen ab, wenn ihrer Wurzel nicht 
neues Erdreich aufgefchüttet wird. Und weil der dunftende Herbft, der nach 
klarem Tage die Nebel emporſcheucht, nachdenklich ftimmt und weilunsneuer- 
lich anbefohlen ward, rückwärts jchreitend den Weg der Geſchichte nun abzu⸗ 
wandeln, deöhalb vielleicht fam mird in den Sinn, dem Mythos der Milch⸗ 
ſtraße nachzugrũbeln und, anlojen Fabeln alter Sängervorbei, zudem Sehnen 
mich hinzufühlen, dad erft den Mythos gebar. 
* 

Sm Sagenlande, das man Arkadien nicht heißen darf, weil es von un⸗ 
ruhigem Wünſchen im Tiefſten erjchüttertiwar, hatte König Merops geherrſcht, 
ein freundlicher Mann mit gütigem Blick und ein Herr, der die Zeichen der 
Zeit wohl erkannte. In einem verblätterten Buch hatte er geleſen, der Tag ſei 
nah, wo aus den güldenen Kronen man Goldthaler prägen würde, mit dem 
Bildniß einer neuen Prinzeſſin, die den neuen Namen Demokratia empfan⸗ 
gen ſollte. Und da er buchgläubig war und Holder Schwachheit geneigt, ſah er 
mit mildem Mibtrauen immer die Krone an und ihrem myſtiſchen Winken 
Lächelte er in Wehmuth. Nicht zu majeftätiichen Gletichern flatterte jein Ehr⸗ 
geiz; fein Ootteögnadenthum, von dem beichränftere Ahnen dad Heilerwartet 
hatten, jchlug er gering an und heifchte fürReden und Handeln eben nur das 
Map von Achtung, deſſen Reden und Handeln auch würdig waren und das kein 
Berftändigerdem repräjentativen Manne desVolkes weigern durfte. Uebrigens 





König Phaeton. 381 


verichloß er fich feinem guten Rath, wußte Flug hinter Klügere zu verſchwin⸗ 
den und prunkte und prahlte nie mit einer Detailkenntniß, die er nach dem 
Gange jeiner Erziehung und in der prächtig dekorirten Enge jeiner Valaft- 
exiſtenz doch nicht erworben haben konnte. Er war ein guter König in ſchlimmer 
Zeit. Und Die da wünjchten, gegen die drohende Gefahr einer Ochlokratie das 
monarchiſche Weſen erhalten zu jehen, die priefen ihn hoch und ſeufzten, ald 
er zu fterben kam. 

Ihm folgte der junge Sohn. Der hieß Phaeton und feinem Ruhm hat- 
ten Geberdenipäher und Geſchichtenträger längft ſchon die Baufegerührt; ein 
windiger Schreiber, von der Zunft Einer, die mit Feder und Tinte damals das 
alte Weglagererhandwerk aufzunehmen begann, hatte ihn dem Großen Aler- 
ander verglichen, ein Magifter dem Caeſar; jedes unbedachte Wort, das ihm 
entfuhr, wurde ald wunderkindliche Weiöheit durch alle Gaſſen getutet und 
ein Zärmen vollführt, daß von der phaetoniſchen Aera das Volk ich ein Un⸗ 
erhörted erwarten mußte. Die Bedächtigen ftanden bei Seite und dämpften 
ihre Befürchtung, denn ind Schwabenalter mußte ja Bhaeton wachen, ehe 
ihm noch gelingen fonnte, den reihen Schab zu verftreuen, den Merops ſor⸗ 
gend gehäuft hatte, und fo feft ftand im Fabellande die Monarchie, dab eine 
junge Zaune fie nicht gleich zu erichüttern vermochte. Und ald fie gar hörten, 
wie der neue Herr immer wieder gelobte, in allen Stirden dem weiſen Merops 
und feinem Beilpiel nachtrachten zu wollen, da ſchwand auch ausder Bedäch⸗ 
tigen Sinn dielette Furcht und dem Jubel des Volkes Tächelten fie freundlich. 

&8 geſchah aber, daß König Phaeton andere Könige bejuchte: und da 
vernahm er übel Flingende Wahrheit. An den Kronen nagte gefräßigerRoft, 
der vor &delmetall ſcheu ſonſt zurũckkroch, und zum Gafte jprachen diemüden 
Herrſcher, wie zu Zarathufta Heeinft, dem Weiſen, geſprochen hatten: „Diefer 
Ekel würgt mich, daß wir Könige jelber faljch wurden, überhängt und ver- 
kleidet durch alten vergilbten Großväter⸗Prunk, Schaumünzen fürdie Dümm⸗ 
iten und Schlauften und wer heute Alles mit der Macht Schacher treibt! Wir 
find nicht die Erften — und müffen e8 doch bedeuten: diefer Betrügeret find 
wir endlich ſatt und efel geworden. Es giebt fein härteres Unglüd in allem 
Menſchen⸗Schickſale, ald wenn die Mächtigen der Erde nicht auch die erften 
Menjchen find. Da wird Alles faljch und jchief und ungeheuer.“ Biel noch 
von jolcher Art mußte Phaeton hören; und er erfannte, wie ein Irauriges 
Sterben des Königsgedankens durch die vom Glauben geirrte Welt ſchlich. 
Hier jah er dumpfe Dummheit auf ftolzem Thron, dazerrten hitige Spieler 
und gierige Dirnen an einer Krone, dort entjanf dad Szepter einer von un- 


. 282 Die Zukunft. 


heimlicher Krankheit! zermorſchten Hand.’ Das Schlimmfte aber war, daß 
die Könige jelbft nicht mehr an ſich glaubten und zufrieden waren, wenn 
hinter hohen Gittern, die man Konftitutionen hieß, fie ein behagliches Leben 
inreichen Gewanden und bei ftandeögemäßer &rnährung verbringen durften. 

Anders hatte Phaeton, ganz anders, fich feine Sendunggeträumt Bon 
Dtto dem Großen hatte er gelefen, dem der Statthalter Petri den Eid der 
Treuegeleiftet, und’ von Otto dem Dritten, den man dad Weltwunder nannte 
und der auf feine Siegel prägen ließ: Renovatio Imperii Romanoruntı. 
Warum ſollte er nicht, deſſen winzigftem orte die Erde doch lauſchte, ein 
neued Weltwunder werden und mit friihem Glanze die Römerfrone um- 
golden? Aufdenam Meiften gefährdeten Thron warer gelebt. Und dann erft, 
aljo lautete des Einfiedlerd alte Berfündung, wenn den gefährdetiten Thron 
der gefährlichfte Schmärmer beftiegen habe, werde offenbar werden, daß die 
Borjehung den Königsgedanken verworfen hat. Phaeton fühlte ſich Mannes ge⸗ 
nug, um der Welt zu bemweifen, wiefern dieſe Todedftunde der Monarchie nodı 
war. Mit dem alten Weſen wurde raſch aufgeräumt; jchlichte Einfachheit 
löfte laute Pracht, ftille Zurüchaltung kühnes Hernortreten ab und der König 
lächelte leife, jo oft man ihm von feinem Vater ſprach. Sein Vater! Nicht 
eines Menſchen Sohn mochte er fein: nur ein Gott, Helios allein, der pradt- 
voll Strahlende, konnte aus feiner Mutter Klymene Schoß ihn gezeugt 
haben, denn göttlicher Art empfand er ſich voll und göttlicher Ddem blähte 
ihm trogigeNüftern. Darin lag ja der Fehler, daß Merops in milder Schwäche 
zu früh fich des Gottesgnadenthumes entkleidet und dad farbloje Gewand 
eines gejchäftigen Berwalterd angethan hatte; fein Beilpiel hatte die anderen 
Könige verführt und mit monarchiſcher Pracht (der neue Herr ah es wohl) 
war aud) monarchiſche Macht nun gewichen. Der Vater hatte empfunden, 
daß er der Erfte der Menjchen nicht war, und drum mochte ers auch nidt 
Icheinen; der Sohn klammerte ſich anden Schein und wollte der Menjchbeit 
zeigen, dab er das Sein auch beſaß und der Erfte der Menfchen drum aud 
heißen durfte. Alte Rumpellammern thaten fich auf, vermoltete Herrlichkeit 
wurde eilig wieder tragfähig gemacht, ein eifriger Wettbewerb entitand um 
neue Zierath und neuen Schmud und den ftolz aufgepußten König blöftedie 
Heerde der Höflinge unterthänigft an: Heil Phaeton, Heilihm, dem Wunder 
der Welt, dem Neufchöpfer des alten Reiches! Und König Phaeton war höchſt 
froh und allerhöchft zufrieden; denn er wußte ja nicht, der Aermfte, daß es 
außer den Höflingen in feinem Lande noch Menſchen gab. 

Das erfuhrer auchnicht, ald er fich ernftlich nunand Beherrſchen machte, 
Geſetze entwarf, Reformpläne ſpann und immer bedacht war, dad Univerjum 





" König Phaeton. 283 


an jeine, des Allumfafferd, wachlame Eriftenz zu gemahnen. Die Heerde 
der Höflinge nämlich, der längft jchon auch von den Miniftern Alles, was 
ſich im Amt halten wollte, zugelaufen war, hatte einen wundervoll ſchlauen 
Zauber erdadht, ded Königs Gewifjen in Ruhe zu wiegen, Für gute Worte, 
. für Geld, und auch, weil von den Parteien ſtets eine fich freute, wenn die ans 
dere die Ruthe befam, fanden ſich immer einige Schreiber, im Sagenlande 
oder auch in der Nachbarſchaft, die den Föniglichen Schritten Beifall jpende- 
ten; und ihre Zahl wuchs an. Denn ein König, der jo viel zu jchreiben giebt, 
an dem man mit Zeilen jo viel verdienen kann: Das ift eine Seltenheit, im 
Sagenlande jogar, und ſolchen Schreibermonardhen muß man wohl loben. 
Diefe Kobjchreibereien nun wurden, in jauberen Ausjchnitten ſauber zufam- 
mengellebt, dem Könige vorgelegt, auf dab er erfahre, wie feinen Weg die 
Deffentlihe Meinung mitwohlwollenden Wünſchen und zuverfichtlicher Hoff- 
nung begleite. Und wiederum war König Phaeton höchſt froh und allerhöchſt 
zufrieden; denn er wußte ja nicht, der Aermite, dab ed außer den Höflingen 
und außer den Schreibern in feinem Zande noch Menjchen gab. 

Es gab noch Menſchen; und allgemad wurden fie ungeduldig. Sahre 
lang hatten fie im Fabellande ruhig gelebt, den alten Merops ehrfürchtig ge- 
grüßt, um fein perjönliches Thun und Laffen aber fich nicht befümmert und 
immer am Abend gewußt, wie am anderen Morgen der®ind pfeifen werde. 
Damit ward nun vorbei: haftig wurde regirt, haftig gelebt und fein Baro- 
meter half den rathlod nach Wetterzeichen Ausfpähenden. Am Meiften aber 
verdroß fie, daß nun dad hohe Bitter, dad man die Konftitution hieß, durch⸗ 
feilt und durchfägt wurde, da man den König jet immer und überall jah 
und der nun verlangte, von ihm, von dem Gottentjproffenen, müßten Die 
Menjchen fich, ohne nah Weg und Richtung zu fragen oder zu forjchen, wil« 
lenlos leiten lafjen, einem Ziel entgegen, deſſen Geheimniß der Kührer im 
Buſen barg. Bon den Fabellandleuten meinten die Alten, zu jolchen Experi⸗ 
menten feien fie nichtmehr jung genug und ein König ſei doch am Ende aud) 
nur ein Menich und meiftens an Reife und Einfiht gleichalterigen Menſchen 
nicht gleich, weil Die im Kampfe des offenen Lebens ganz andere Erfahrung 
doch Sammeln. Die Zungen aber unter den Sabellandleuten, denen dad kecke 
Selbſtvertrquen ded Führers gar gewaltig imponirte, weil er mit jeiner AU: 
wiffenheit den Alten die Augen ausftach, die Sungen forderten (und ſchließ⸗ 
lich ftand ja auch ihnen Leib und Leben auf dem Spiel) eine Probe: Bift Du 
in Wahrheit Gotted Sohn, wohl, ſo zeige und Deine Kraft! Helios, den Du 
ald den Vater anjprichft, hat allen Menſchen, den Armen auch und den Elen⸗ 

den, da Licht getheilt, daß ihrer nicht Einer im Dunkel blieb. Befteige Du 








284 Die Bulunft. 


jeinen goldenen Wagen, bringe in Hütten, wo Dunfel jet laftet und breft- 
hafte Trũbſal, das Licht zurüd und die Freude am Leben: und niederfinfen 
mollen wir gern in den Staub und mit Deinen Höflingen um die Bettejan- 
betend rufen: Heil Phaeton, Heil ihm, dem Wunder der Welt, dem Neu⸗ 
jchöpfer des alten Reiches! Ä 

Ein erſtes Wunder gejchah: der Ruf drang bis an den Thron. Und,da 
die Luftfahrt perfönlichen Neigungen ded Königs entſprach, da ihm dunkel 
auch die Höhe des Einſatzes aufdämmern mochte (dem eine Rüdtehr zum 
alten Eyftem des Merops gab ed nicht mehr und nur Sieg oder Tod bot noch 
das Schickſal dem Königsgedanken), jo wurde dem Wünſchen der Jungen Er: 
füllung und gefährlichen Höhen trieb der waghalfige Lenker die jcheuenden 
Roffe zu. Auf güldenem Gefährt im Burpur der Jüngling: jauchzend jah 
der&rdball da8Schaufpiel, dad auf die verdüfterte Weltimmer helleren Glanz 
zurückwarf, immergleißenderen, — bis züngelnde $lammen emporledtenund 
in tollem Zunfengeftiebe die ganze durchmottete Herrlichkeit dann verjanf. 
Inwildem Sagen hatteda8 Geſpann den leichten Hütten der Armen allzu wär- 
mende Strahlen entjandt, lichterloh flackerte das Gebälf und in heulendem 
Sammer wälzte ed aus den Höhlen fidh in die Gafjen: der ganze Troß der 
Elenden, die das Licht gefehen hatten und denen im Dunkel nun daß lehte 
Lager in Aſche fanf. 

Als der Rauch ſich (ed war tief in der Nacht) endlich verzog, war in der 
Runde von Roffen und Lenker nichts mehr zu erblicken. &8 gab feinen König 
mehr, denn Phaeton hatte mit brennender Deutlichkeit die Menſchen gelehrt, 
daß die Vorſehung den Königdgedanken verworfen hat, da auf den gefähr- 
detiten Thron fie den gefährlichiten Schwärmer gelangen ließ. Zum geſchäf⸗ 
tigen Verwalter berief man nun einen Bürger: im Purpur war ja nicht gött⸗ 
liche Macht ; und ein ſchwarzer Rod in viel billiger als Hermelin. 


Am Nachthimmel ein lichter Streif, zwiſchen ei helleren Punkten 
ein matt beleuchteter Steg: die Milchſtraße nennen die Menſchen ihn und 
einen [hönen Mythos erfannen fie, fein mildes Dämmern zu erklären. Tort 
fuhr Phaeton entlang, jpricht wohl der Vater zum Sohn; doch fein Vermeſſen 
jtrafte der allgewaltige Zeus. Deffen Blit jchleuderte ihn in ded Eridanos 
Tiefen. Phaeton aber, heute willen wird, war ein König, der ein verblichene? 
Sottedgnadenthum zu der Eonne emporführen wollte. Und Der ihn ſchlug, 
war nicht Zeus, der Hochmögenden immer noch lächelte. König Phaeton fiel 
durch den alten 1 Chronos. Sein Vernichter wat der rãchende Gott der Zeit. 





— — — 
Herausgeber und verantwortlicher Redalteur: m. Darden in n Berlin. — Verlag der ber Bufanft in Verlm . 
Truck von G. Bernſtein in Berlin. 





Berlin, den 21. November 1908. 
SI Mn LT 


Segen den Raifer. 


NL *) 
Perfönlihes Regiment. 

rmand Auguftin Louis Graf von Gaulaincourt, Herzog von Vicenza, 

ftebt, ald Gejandter Napoleons, vor Alerander dem Erften und ſpricht: 
„KRonftantinopel ift ein jo wichtiger Punkt, daß fein Beſitz und die Dardar 
nelenöffnung Cure Majeftät zum zwiefach geficherten Herrn des ganzen Han« 
dels mit der Levante, mit Indien fogar machen würde. Auf diefer Bafis ift 
eine Verftändigung nicht möglich.“ Der Zar antwortet: „Wenn die Türken 
fort find, ift Konftantinopel nur noch eine Brovinzftadt am Endpunkt des 
Neiched. Die Geographie will, daß ichs habe; gehörts einem Anderen, jobin 
ich in meinem Haufe nicht mehr Herr. Und Ihr Kaijer wird zugeben, daß die 
Anderen nicht darunter leiden, wenn ich den Echlüfjel zu meiner Hausthür 
babe.“ Gaulaincourt: „Diefer Cchlüffel öffnet und ſperrt auch Toulon und 
Korfu; öffnet undfperrtden Welthandel.* Alexander: „Manfann aber Bürg« 
ſchaft dafür leiften, daß dieſer Weg niemals und unter feinen Umftänden dem 
Handel irgendeiner Macht geſchloſſen werden darf." Gaulaincourt: „Solde 
Bürgſchaft wäre werthvoll, wenn Eure Maitftät ewigregirten; doch die Vor⸗ 
ficht gebietet, daß bei einem Abkommen, das den Weltgefchicen die Bahn 
weißen ſoll, der. Kaiſer feinem Neich jede erdenlliche Sicherheit verſchafft. Wird 
der Nachfolger Eurer Majeſtät der Freund, der Bundesgenoſſe Frankreichs 
fein? Kann Eure Majeſtät dafür bürgen? Graf Numanzow bemüht ſich, 
Rußlands Zulunft für ae Fälle zu fihern. Bei allem guten Willen, das Eurer 
Majeftät Angenehme und Nügliche zu thun, kann der Kaifer in einer Sache 

*) €. „Zufunft” vom fiebenten und vom viergehnten Rubember 1908. 

22 








286 Die Zukunft. 


von diejer Bedeutung nicht die Snterejjen Frankreich opfern.” Alexander: 
„Sch wünjche nichts fehnlicher als die Verftändigung. Wenn Ihr aber den 
größeren Theil nehmt und alle Folgen dieſes weltgejchichtlichen Ereigniſſes 
für Euren Vortheil wirken, muß ich wenigftend den Nuten haben, den die 
Geographie mir giebt. Der ift übrigeng viel kleiner, als Ihr denkt. Der Kailer 
fann die Dardanellen nicht für fi wollen. Will er fie einer Macht geben: 
warum nicht mir? Welchen Schaden brächte e8 ihm?" Saulaincourt: „Eure 
Majeftätwäredann vor der Thür von Korfuund Toulon.“ Alerander: „Lange 
‚nicht jo nah wie Ihr derThür von Portsmouth und England den Thüren von 
Breft und Cherbourg.“ Saulaincourt: „Deshalb find wir auch Rivalen; jelbit 
in Sriedengzeit. Vielleicht werden wir nie befreundet, ficher nie Bundesge⸗ 
nofjen fein. Eure Majeftät wünjcht doch, dab wir Freunde bleiben. Das iſt 
nur möglich, wenn der Nuten des Einem dem Anderen nicht ſchadet. Nach der 
Abficht des Miniſters ®rafen Rumanzow ſoll Rußland die eigentliche Levante⸗ 
macht werden; was ed da an neuem Landbeſitz erwirbt, wird mit dem weiten 
Zarenreich feit verbunden. Das Gleichgewicht, das den Frieden erhält, hört 
dann auf. Ssranfreich an den Dardanellen, jelbit in Konftantinopel: davor 
braucht Niemand zu zittern. Für Frankreich wäreesein ferner Befig, Etwas wie 
eine Kolonie. In Rußlands Hand wäre diejer Befit eine Geftihr.” Aleran: 

der: „Sch kann mein Reich nicht in unbequemere Xage bringen, als fie ihm 
durch die Nachbarichaft der Türken bereitet ift. Wenn Sranfreich die Darda⸗ 
nellen hat, verliere id), mag auch Konftantinopel ruſſiſch fein, mehr, ald ich 
gewinne.“ 1808. Das Gejpräd läft die Standpunkte und Pläne der Gegner 
klarerkennen, die einander ihre Sreundichaft betheuern. Weder Frankreich noch 
Rußland jol überdie Meerengenherrichen; und noch weniger jolld, nad) Bei⸗ 

der Willen, England. Was jonit aus der Türkei wird: dieje Nebenfrage er» 

regt nirgends die Geilter der Stantemannjdajt. Keine Großmacht befennt 
fih für den Ijlam; feine will für feine Erhaltung, fein ungehemmtes Foıt> 
leben aufEuropas Boden die ſchwere Bürgichaft übernehmen. Auch der Korſe 
nicht. Im erſten Merger über die londoner Parlamentsreden hat er verjudt, 

den Zaren, den der gefrönte Barvenu Monsieur mon fıere nennen darf, in 

ein Bündniß gegen England zu locken. „Nur großes, weitausblickendes Han: 

deln kann uns noch den Frieden ſichern und unjer Syftem feftigen. Eure Ma⸗ 

jeftät muß die Kopfzahl und die innere Kıaft des ruſſiſchen Heeres mehren. 
Was id an Beiltand leiften kann, leifte ich gern und aus redlichem Herzen. 

Denn ich hege gegen Rubland nicht Eiferfucht, ſondern wünjche ihm Ruhm, 

Glück und ein erweiterted Dachtgebiet. Wir hätten, Beide, lieber-friedliche 


Gegen ben Raifer. III. 287 


Tage in unferen weiten Reichen verlebt und ung bemüht, fiedurch die Künſte 
und durch die Wohlthaten der Verwaltung noch mehr zu beleben und zu be= 
glüden. Doch die Feinde der Welt wollen ed nicht. Wider unjeren Willen 
mũſſen wir größer jein. Weisheit und Politik rathen, den Befehl der Vor⸗ 
jehung audzuführen und dem unwiderftehlichen Gang der Ereigniffe zu fols 
gen. Dann wird dad Pygmäengewimmel, dad nicht einfehen will, daß den 
Borgängen von heute ähnliche nur im Buch der Gefchichte, nicht in den Zei» 
tungen des vorigen Jahrhunderts zu ſuchen find, fihendlich beugen und dievon 
EurerMajeftät und von mir befohlene Bewegung mitmachen: und die Völker 
Rußlands werden ſich ded Ruhmes, des Wohlitandes, des Glückes ald des 
Ertrages jo großer Ereignijfe freuen. Vielleicht wars ein Bischen Kleinmuth, 
der und Beide trieb, einen ficheren Befi einem befjeren Zuftand vorzuziehen; 
doch da England nicht will, müfjen wir und in die Erkenntniß gewöhnen, da 
die Epoche der großen Wandlungen und des groben Gejchehend gefommen 
ift.” Der Plan wurde nicht ausgeführt, die Türkei nicht getheilt, weil Ruß⸗ 
lands und Frankreichs Intereffen im europätjchen Orient ſchon damals unver⸗ 
einbar waren. Aber Bonaparte hatte das Recht, jolchen Plan zu entwerfen und 
mit dem Einſatze feiner Perſon zu vertreten. Denn er fühlte, dab England 
Alles an den Verſuch wagen würde, ihn unfchädlich zu machen; und er durfte 
auf fefterem Grund ald derSonnenfönig jprechen: „Der Staatbin ich.“ (Der 
aus den Gewittern der Safobinerrevolution gerettete Staat, dem der Caeſar 
ausAjaccio die Form gab.) Das durfte jelbit der Rufjenzar nicht. Begnügte 
fich meift auch damit, feines Minifterd Rede majeftätiich zu wiederholen. 
Dreiunddreibig Jahre danach wird, unter Palmerftond Aufpizien, der 
Meerengenvertrag geſchloſſen. Die Unantaftbarkeit der Türkei ift num ſchon 
„politiſches Axiom“; die Meerengenſperre jcheint auch in Friedenszeit den 
fünf Großmächten nöthig. Auf Preußens Thron fit Friedrich Wilhelm der 
Bierte, von dem David Friedrich Strauß gejagthat: „Ein berliner Philoſoph 
hat ihn neulich einen hiſtoriſchen Geift genannt. Mag ihm der Geift der Ge⸗ 
ſchichte eine jolche Zäfterung vergeben! Aber jo viel ift richtig: Jener Fürſt 
war recht eine Verkörperung des neunzehnten Jahrhunderts, ſofern ed dad acht⸗ 
zehnte verleugnet. Weberfluß an Geift, aber Mangel an Menjchenverftand; 
Gefühl nur gar zu viel, aber Charafter doch gar zu wenig; mehr Edelmuth 
als Nechtlichkeit; Andacht ohne Ernft der Gefinnung; vornehme gejchichtliche 
Liebhaberei ohne gefunden gejchichtlichen Trieb, ohne die Luſt und die Kraft, 
von dem Blättern indem bunten Bilderbud) der Bergangenheit hinweg einen 
männlichen Schritt in die Zukunft hinein zu thun. Und kann man denn einen 
22* 


288 - Die Zukunft. 


Geiſt Hiftorijch nennen, der zwar das Mittelalter zu verftehen und zu lieben 
meint, abex dad Zeitalter Friedrichs und Joſephs, der deutjchen Bernunft- 
kritik und der franzöſiſchen Staatsumwälzung verfennt, ja, jelbit an einem 
Luther und Calvin eigentlich nur von ihrer rückwärts, dem Mittelalter zuge> 
fehrten Seite ſich angefprochen fühlt? Es gehört zu den unwillfürlichen Ber« 
dienften, deren der romantijche König fich manche erworben hat, ſelbſt der blö- 
deiten Faſſungskraft gezeigt zu haben, wohin unſer Sahrhundert mit ſolcher 
Verleugnung ded adhtzehnten fommt. Berdumpfung und begonnene Fäulniß 
auf allen Gebieten, in Staat und Kirche, Schule und Wiflenichaft, war das 
Erbe, das die Negirung Preußens antrat." Ungefähr eben jo hat, aus anderer 
Weltanſchauung, Treitichfe über den König geurtheilt. „Zu allem Herrlichen 
ſchien er geboren; verſchwenderiſch hatte ihm die Natur Kopf und Herz aus⸗ 
gerüftet;nurjene einfadgen, maſſiven Gaben, die den Staatsmann auömadıen, 
blieben ihm verjagt. Shm fehlte der Sinn für dad Wirfliche, der die Dinge: 
fieht, wie fie find, und der geradaus dad Welentliche treffende jchlichte Dien- 
Ihenverftand. Wie jchwer fiel e8 doc) diefem Künftler der Rede, deſſen ge- 
ſprochenes Wort jo Viele beftach, in jeinen Denkſchriften und Briefen beftimmt 
zu Jagen, wadereigentlid wollte! Durcdhgehäufte Ausrufungzeichen und zwei» 
und dreifache Unterftreichungen fuchte er zu ergänzen, was er troß feiner 
jeltenen Sprachgewalt nicht ausdrücken fonnte; der Elare Geift bedarf jolcher 
Kıüden nicht, weil er durch den Bau feinerSäge den Leſer zwingt, die Worte 
richtig zu betonen. Ihm fehlte auch die frijche Kraft des Wollens. In ſorg⸗ 
lofer Heiterkeit jchritt er durch das Leben; fraft der Weihe feines könig⸗ 
lichen Amtes, Eraft jeiner perfünliden Begabung glaubte er, alle Melt weit 
zu überjehen, und ed gefiel ihm zuweilen, feine Abfichten in ein ahnungvolles 
Dunkel zu hüllen, durch halbe, unklare Worte die Fleinen Sterblichen in Ber: 
wirrung zu jegen. Ohne durchgreifende Willenzfraft, ohne praftifchen Ver⸗ 
ftand, bleibt er doch ein Selbftherricher im vollenSinn. Niemand beherrichte 
ihn; aller Glanz und alle Schmach jeiner Regirung fiel auf ihn jelbft allein 
zurüd. Auf den Widerjpruch jeiner Räthe ließ er wohl einen Zieblingpları 
plötzlich fallen und dann jchien ed eine Weile, als ob die Gedanken in diefem 
unruhigen Kopfe wechſelten wie die Bilder im Wandelglad: bis fich endlich 
mit einem Mal zeigte, dab der König an feinem urfprünglichen Plan mit 
einer ſeltſamen ftillen Zähigkeit feftgehalten hatte und trog Allem, was da⸗ 
zwifchen lag, zu ihm zurüdfehrte. Er gab nicht auf und jeßte wenig durch.” 
Wenig aud) von feinen Drientplänen. Das Bisthum Serufalem, das an ge 
weihter Stätte für die Union der Chriſtenkirchen zeugen jollte (und von den 





Gegen den Katfer. III 989 ı 


Liberalen früh als das unhaltbare Werk, diplomatiſcher Romantik” verfpot- 
tet wurde), fümmerte ein Halbjahrhundert lang hin und mußte ſchließlich 
dem Britenanſpruch geopfert werden. Und diefer Wahn des Königs hatte 
Preußen in Kriegdgefahr gebracht, aus der nur “in unrũühmlicher Rückzug es 
retten konnte. Tie Zeit des perjönlichen Regimentes war eben verftrichen und 
die Bolköftimme heijchte ihr Recht. Die wollte Friedrich Wilhelm nicht ho: 
ren. Zwar pried er die britijche Freiheit; mochte fie jeinen Preußen aber nit 
gewähren. Die führte jein Königswink herrlichen Tagen entgegen. Vergeben 
warb er in ſchimpflicher Demuth um Englands Liebe; juchte vergebens fich der 
modernen Weltanjchauung derfühlen Kaufleuteanzupaffen,dieinden Haupt: 
ſtädten der Weftmächte die Beſchäfte beforgten. Der Enttäufchung entwuchs die 
Wuth; und der Wüthende ift bald vereintamt. Sm Drientundim Dccident hat 
Friedrich Wilhelm nichts erreicht. „Preußen Itand in der diplomatiſchen Welt 
jo einſam wie ſeit Jahren nicht. Sein König hatte verftanden, in furzerZeit die 
alten Freunde Defterreich und Rußland mit Mißtrauen zu erfüllen; er hatte 
mit jeinen Freundſchaftwerbungen in England wenig Anklang gefunden. Und 
faum war die Kriegägefahr vorüber, jo bemerft man bald, da Preußen jetzt 
auch an den Kleinen deutſchen Höfen weniger geachtet war als einft unter dem 
alten König. Die ruhige Würde des Vaters erwedte Vertrauen, die bewegliche 
Seichäftigkeit des Sohnes ZweifelundArgwohn.” So weitward, nachTreitſch⸗ 
kes Urtheil, Schon im Sahr 1843. Drei Sabre nad) dem Rauſch des Huldi- 
gungfefted. Am fünfzehnten Dftober 1840 fteht, auf dem in Gold und Burpur 
prangenden Anbau des Echlofjes, vor dem Ihronder König und |pricht zudem 
Volk, das die mitFlaggentuch geſchmücktenTribünen fültund ausdenzenftern, 
von den Dächern auf ihn blickt: „Wollen Sie mir helfen und beiſtehen, die 
Eigenſchaften immer herrlicher zu entfalten, durch welche Preußen mit ſeinen 
vierzehn Millionen den Großmächten zugeſellt iſt, nämlich: Ehre, Treue, 
Streben nad Licht, Recht und Wahrheit, Vorwärtsſchreiten in Altersweis⸗ 
heit zugleich und heldenmüthiger Sugendfraft? Wollen Sie in diejem Stre⸗ 
ben mich nicht verlaffen noch verfäumen, ſondern treu mit mirausharren durch 
gute wie durch böje Tage: o, dann antworten Sie mirmitdem klarſten, ſchön⸗ 
ften Laute der Mutterjprache, antworten Sie mir ein ehrenfeftes 3a!" Aug 
abertaujend Kehlen dröhnt der erbetene Laut über den Schloßplatz. Und der 
König jauchztauf: „Dieſes Ja war für mich! Das ift mein Eigen! Das laffe 
ich nicht! Das verbindet und unauflöslich in gegenjeitiger Liebe und Treue! 
Das giebt Muth, Kraft, Getroftheit! Das werde ich in meiner Sterbeftunde 
nicht vergeſſen!“ Schon ein Jahr danach gehen Jacobys „Bier Fragen, be: 


290 Die Butunft. 


aniwortetvon einem Oftpreuben“, durchs bang ſchweigende Land. Wieder zwei 
Jahre: undder Königiftin Preußen, ift in Europa vereinſamt. Seine Schuld? 
Die Folge des perfönlihen Regimentes, gegen das drinnen und draußen der 
Genius der Bolfheiten fich aufbäumt? Er wills nicht glauben. Kann nicht. 
Hält fich für verfannt, für mißverftanden und ſchnöd verleumdet. (Bunjen 
fragt: „Wenn man ihn verftände, wie fönnte man ihnbegreifen?") Noch im 
Inni 1847 ſchreibt er, im Zorn über diewiderjpenftigen „Unterthanen“, anden 
Rand eined Berichte: „Ungezogene Kinder zurrechten Zeitdie Ruthe fühlen zu 
laſſen, iſt ſchon durchSalomon und Sirach empfohlen.“ So lange währt die Ver⸗ 
blendung. At Monate danach muß, im abgeſperrten, ſpärlich erhellten Palaft 
die ſelbe Hand haſtig die Todesurkunde des preußiſchen Abſolutismus ſchreiben: 


An meine lieben Berliner! 


Durch mein Einberufung Patent vom heutigen Tage habt Ihr das Pfand der 
treuen Sefinnung Eures Königs zu Euch und zum gefammten deutfchen Vaterlandeem⸗ 
pfangen. Nach war ber Jubel, mit dem unzählige treue Herzen mich begrüßt Hatten, nicht 
verballt, fo mifchte ein Haufe Ruheſtörer aufrügrifche und freche Forderungen ein und 
vergrößerte fich in dem Maße, ald die Mohlgefinnten fich entfernten. Ta ihr ungeflümes 
Bordringen bis ins Portal des Schloſſes mit Necht arge Abfichten bejürchten ließ und 
Beleidigungen wider meine tapferen und treuen Soldaten ausgefioßen wurden, mußıe 
der Plat durch Kavallerie im Schritt und mit eingeftedter Waffe geiänbert werden und 
zwei Gewehre der Infanterie entluden ſich von felbit, Gottlob: ohne irgend Jemand zu 
treffen. Eine Rotte von Böjewichtern, meift aus Fremden beftehend, die fich feit einer 
Woche, obgleich aufgejucht, boch zu verbergen gewußt hatten, haben diefen Umftand im 
Sinne ihrer argen Pläne durch augenfcheinliche Lüge verdreht und die erhigten Ge⸗ 
müther von Bielen meiner treuen und lichen Berliner mit Rachegebanfen um vermeint- 
lich vergoffenes Blut erfüllt und find fo die gräulichen Urheber von Bluivergießen ge» 
worden. Meine Truppen, Eure Brüder und Landsleute, Eaben erft Dann von der Waffe 
Gebrauch gemacht, als jie durch viele Schüffe aus der Königsfiraße dazu gezwungen 
wurden. Das ficgreiche Vordringen der Truppen war die nothwendige Folge davon. 

An Euch, Einwohner nmieiner geliebten Vaterſtadt, ift e8 jezt, größerem Unheil 
borzubeugen. Crfennt, Euer König und treufter Freund beihmört Euch Darum, bei 
Allenı, was Euch Heilig ift, den unfeligen Irrtum! lehrt zum Frieden zurüd, räumt die 
Barrifaben, die noch ftehen, hinweg und entjendet an mich Männer, voll bes echten alten 
berliner Getfte3 mit Worten, wie jie fit) Eurem Könige gegenüber geyiemen: und ich 
gebe Euch mein Königliches Wort, dad alle Straßen und Pläge fogleich von den Trup⸗ 
pengeräumt werden jullen und die militärifche Belegung nur auf Die nothwendigen Ge⸗ 
bäude, des Schlofjes, des Beughaufesundwenigeranderer, und auch da nur aufkurze Zeit, 
bejchränft werben wird. Hört die väterliche Stimme Eures Königs, Bewohner meines 
treuen und ſchönen Berlins, und vergeffet das Geſchehene, wie ich es vergeſſen will und 
werde in meinem Herzen, um der großen Zufunft willen, die unter Dem Frieder 8-Segen 
Gottes für Preußen und durch Breußen für Teutjchland anbrechen wird. 

Eure liebreiche Königin und wahrhaft treue Mutter und Freundin, die fehr lei⸗ 








Gegen den Kaijſer. HI. 291 


tDend darnieder liegt, vereint ihre innigen, thränenreichen Bitten mit benmeinigen. Ge⸗ 
ſchrieben in der Nacht vom achtzehnten zum neungehnten Diärz 1848. 
Friedrich Wilhelm. 
Fünfzig Jahre jpäter. Rußland hat vorgeichlagen, den Prinzen Georg 
von Öriechenland zum Gouverneurvon Kreta zuernennen. Aufdiefem Boften, 
bat Abd ul Hamid erwidert, werde er nie einen $remdling dulden. Dennod) 
wird, ald in Kandia der Britenfonjul während eines Straßenkampfes von 
wüthenden Mufulmanen getötet worden tft, die fremde Beſatzung auf Kreta 
verftärft und die Pforte gezwungen, ihre Truppen von der Inſel zurüdzu> 
ziehen. Am dreibigften Oktober 1898 jpricht in Bethlehem der Deutjche Kaiſer 
zu den evangeliichen Pfarrern: „Auf die Mohammedaner fann nur das Leben 
der Chriften Eindrud machen. Daß fie vor dem chriftlichen Namen feine 
Achtung haben, fann ihnen fein Menſch verdenfen. Bolitifch reißt man, unter 
allen möglichen Borfjpiegelungen, ein Stück nach dem anderen von ihnen weg, 
wozu man gar feine Berechtigung hat.“ Acht Tage danad) antwortet er in 
Damaskus auf die Anfprache des Echeichd: „Angefichtd der Huldigungen, 
die und hier zu Theil geworden find, ift ed mir ein Bedürfniß, für den Em: 
pfang zu danken, für Alles, was in allen Städten dieſes Landes und entgegen» 
getreten tft, vor Allem zu danfen für den herrlichen Empfang in der Stadt 
Damaskus. Tief ergriffen von dieſem überwältigenden Schaufpiel, zu gleicher 
Zeit bewegt von dem Gedanken, an der Etelle zu ftehen, wo einer der ritter- 
lichten Herrſcher aller Zeiten, der große Sultan Caladin, geweilt hat, ein 
Nitter ohne Furcht und Tadel, der oft feine Gegner die rechte Art deö Ritter: 
thumeslehren mußte, ergreifeich mitfgreuden die&elegenheit, vorallen Dingen 
Seiner Majeftät dem Eultan Abd ul Hamid für feine Gaftfreundichaft zu 
danken. Möge Seine Majeftät der Sultan und mögen die dreihundert Mil- 
lionen Mohammedaner; welche, auf der Erde zerftreut lebend, in ihm ihren 
Khalifen verehrten, Defjen verfihert fein, daß zu allen Zeiten der Deutfche 
Kaijer ihr Freund fein wird.” Zu allen Zeiten. Das ift ein feſtes Verſprechen. 
Drei Wochen vorherift das Gerücht von einem anglosdeutjchen Vertrag durch⸗ 
gelidert und der Reichöfanzler hat den Wunſch der Kolonialgeſellſchaft (die 
für Krügers Transvaalſtaat fürchtet), den Wortlaut zu veröffentlichen, mit der 
Derufung auf „feitftehende diplomatifche Gepflogenheiten und wichtige po- 
litiſche Rücfichten“ abgelehnt. Krifenftimmung. Nikolai Alerandromitich hat 
dieAbrüftungempfohlen. Bei Faſchoda wird eineneue Reibungfläche zwifchen 
England und Frankreich fichtbar.. Hat das Deutiche Reich wirklich den Briten 
Südafrika fammt der Delagoabai überlaffen, dann ifl Frankreich Koloniale 


.292 Ä Tie Zukunft. 


macht bedroht; wird die Republik die Kolgen der Unflugheit püren, die, al& 
Hanotaur gefallen war, den deutſchen Borjchlag einer Berftändigung über Die 
oftafiatiichen ragen unbeantwortet ließ. Chamberlain rühmt in Wafefield- 
dad neue anglo: deutiche Abkommen aldeinen wichtigen Erfolg der Unioniſten⸗ 
regirung und verfichert die „deutjchen Kreunde”, dab England ihnen nie zu» 
muthen werde, für englijche Sntereffen Opfer zu bringen. Schon am Xord- 
mayordtag aber erwähnt Saliöbury in der Guildhall die Freundſchaft mit 
Deutichland nicht mehr; erinnert er andie Möglichkeit eined um dad Türken⸗ 
erbe entbrennenden Krieges, für die Britanien ſeine Seemacht ftärfen müſſe. 
Was ift geichehen? Der Deutjche Kaifer ift ald Zriumphator durch das Oe⸗— 
manenreich gezogen und hat dem Iſlam ungefährdeted Zehen verbürgt. 
Perſönliches Regiment. Kaum Einer hatte gewußt, welches Unheilda 
wuchs. Einer, ders ahnte, ftöhnte, ald der Plan der Drientreije auftauchte, 
im Sadjfenwald, feine Trompete ſei leider durchſchoſſen; jonft hätte er mit 
letzter Zungenfraft noch das alte Warnerlied wieder geblajen. Und wäre ge- 
wiß wieder nicht gehört worden. Hier wurde gefragt, ob man wirklich glaube, 
daß die Weitmädhte ftill zujchauen werden, wenn der Deutiche Kaiferverfuche, 
im Orientalle anderen Herrichergeftalten zu überftrahlen; ob der Bapft nicht 
fürjein Broteftoratörecht, Defterreich- Ungarn für ſeinen Balfanhandel fürdh- 
ten werde. Vergebend. Hundert Pojaunen preifen die hohe Bedeutung der 
Reife. „Auf Allerhöchſten Befehl” wird, als kehre ein vom Sieg gefrönter 
Kreugritter heim, ein feierlicher Einzug veranftaltet. Am erften Dezembertag 
fteht Herr Kirchner barhäuptig, troß ſchlechtem Wetter, am Brandenburger 
Thor, redt die Denkerftirn in die Höhe des Pferdekopfes und giebt, im Na= 
men der „braven Bürgerjchaft”, dem Danfgefühl und dem Huldigungbe- 
dürfniß der Reichshauptſtadt mannhafte Worte. Fünfzig Jahre nach Achtun d⸗ 
vierzig; und Wilhelm nennt, wie der Großohm, die Stadtgenoſſen „meine 
lieben Berliner“. In der Thronrede wird die Reiſe ausführlich erwähnt; wird 
auch gefagt, dem Deutichen Kaijer (deffen Titel und Macht doch nicht aus den 
Wolken, jondern aus der verjailler Spiegelgalerie ftammt), jei „die Gewalt 
von Gottes Gnaden verlichen”“. Wie in der Zeit, da Zions Herrlichkeit durch 
den Traum Friedric, Wilhelms |pufte. Um die aufhorchenden Weſtmächte 
rajch zu beruhigen, verfichert Graf Bülow, der Staatöjefretär, im Reichstag, 
die Drientreije hade nicht die „ihr untergejchobenen Motive und Ziele” ge: 
habt. „Deutichland hat im Orient feine direkten politiichen Intereſſen.“ 
Zu den Reden von Bethlehem und Damaskus ftimmt die neue Zonart nicht. 
Dahinter ftedt Etwas, denkt man in London; denfts in Paris. Vergeſſen 





Gegen ben Ralfer III. 293 


ift die Glũckwunſchdepeſche, die Wilhelm prompt nach KitchenerdSudanfieg: 
an die Großmutter ſandte; iſt alle Artigkeit, die er eifernd Sranzojen erwies: 
Delcaffe Flopft, noch mit ſchüchternem Finger, beiSalisbury und Curzon an. 
„Seht Ihr nicht, was Euch bevorfteht? Uns Allen? Um die Liebe der Muſul⸗ 
manen wirbt der Imperator, weil er will, daß fie in der jeinem Trachten 
günftigen Stunde die britiſche Herrſchaft vom Erdball abſchütteln. Die Bag- 
dadbahn, für die er fich wie ein Auffichtrathömitglied oderein anderer Acqui⸗ 
fiteur eingejegt hat, ſoll ihm den trockenen Weg nach Indien fichern. Und dag 
der haftige Flottenbau nicht von der Nothwendigkeit des Handelsſchutzes ge: 
boten ift, brauche ich Euch nicht erft zu beweijen." Mo die Wuth über Wil- 
helms Telegramm an Baul Krüger nadhzittert, muß ſolche Warnung wirken. 
Durch die Dreyfusfrifisund den Bureufrieg wird die &ntwidelung verzögert. 
Englands Mibtrauenijtaber niemehrgejchwunden. Auch nicht, ald der Enfel 
der Großmutter den Plan zur Vernichtung der Buren geſchickt und auöge- 
plaudert hat, dag Nubland und Franfreich ihn in einen antibritiichen Con⸗ 
cern ziehen wollten. Nie wieder. Die Mäd;te, von denen 1808 Gaulaincourt - 
gejagt hatte, fie fönnten niemals Bundesgenoſſen werden, und die noch bei 
Faſchoda, noch in den Tagen bei Kadyjmith und Mafefing unverfühnbar 
Ichienen, befreunden ich, verloben fidh gegen die „deutſche Gefahr“. Weil der 
Deutiche Kaiſer Bofeidond Dreizad und dad Weltarbitrium für fich geheiicht, 
die Buren zum Kampf ermuntert, die gelbe gegen die weiße Menjchheit auf: 
geitachelt, nach oſtaſiatiſchem Befig die Hand geftredt, fic den Admiral des 
Atlantiichen Ozeans genannt, im Khalifat und im Scherifenreich die Rolle 
des Ijlamretters an ſich gerifjen hat. Nur deshalb... Berfönliches Regiment. 

Deſſen Werk war die franfosrufliiche, die franfosbritijche, die anglo- 
ruſſiſche Verſtändigung. Was unmöglich fchien, wurde Ereigniß. Totfeinde 
verjcharrten den alten Haß und ſchworen einander Treue. Wertrieb ſie in ſo jelt- 
ſame Bundesgenoſſenſchaft? Warum ſah einReich, das Tag vor Tag ſeine fried⸗ 
liche Abſicht betheuerte und von keiner Beute je einen ſaftigen Fetzen erſchnappte, 
ſich plötzlich auf allen Seiten von Feindſchaft umringt? Weil das Haupt dieſes 
Reiches zu oft den Mund geöffnet, zu oft mit der Ankündung großer That, mit 
Verheißung, Drohung, Werbung den Erdkreis beunruhigt hatte und weil 
ſchließlich Jeder die Einkreiſung des Ruheſtifters wünſchte. Daß dieſer Kreis 
nicht undurchdringlich iſt, zeigt ſich, als das Meerengenrecht wieder ſtreitig 
wird. Den Ruſſen iſt, als Entſchädigung für die in der Straße von Tſchili 
und am Perfiſchen Golf beſtattete Hoffnung, die Deffnung der Dardanellen 
zugelagt. Bon Eduard; der in Mafedonien und am Goldenen Horn den Tür⸗ 


294 Die Zukunft. 


"fen zeigen will, daß fie von dem Deutſchen Kaiſer nicht mehr zu erwarten ha⸗ 
ben als die Marokkaner. Allesift fertig und abgemacht: da ftürmen die am Trog 
der Weſtmächte gemäſteten Jungtürken ans Ziel und der Osmanenſtolz fladert 
in jo dicken Feuergarben auf, daß die drei Verbündeten fürchten, beim Zugrei⸗ 
fen fich die Finger zu verbrennen. Rußland muß warten. Und auf Albions 
Gewinnkonto iſt einſtweilen nur der deutſche Preſtigeverluſt zu buchen. Schon 
aber naht eine neue Ueberrajchung. Franz Ferdinand und Aehrenthal haben 
dad Fürchten nicht gelernt. Da Rußland warten muß, können auch fie aufden 
Sandſchak und auf Saloniki fürd Erſte verzichten; ftecden aber Bosnien und 
die Herzegowina ein. Britania kreiſcht zornig auf; weil fie fühlt, daß einge» 
fichert ſcheinendes Gejchäft ihr zu entgleiten droht. Wird Rußland geduldig 
bleiben, der heißen Welle der Slavenwuth fich entgegenftemmen, wenn 
Defterreich: Ungarn draußen die Serbenjaat zerftampft und fi} aldjouveraine 
Balfangroßmadt vor die Zürfenthür jeßt? Kann die Verjchiedenheit der In⸗ 
terefjen nicht dad fein geiponnene Neb der Verträge lodern? Britania muß 
laut‘Freilchen: fonft wittern die Kontrahenten Verrath; glauben die Ent- 
täufchten, Eduard jei in Sich! oder Marienbad Mitwiſſer des wiener Planes 
geworden. Rußland will eine ſchwache, Frankreich eine ftarfe Türkei; denn in 
Sranfreich liegen ungefähr vier Milliarden Turbanwerthe und große Boften 
anderer Balfanpapiere. Wo England gern die Kriegäfurie losgekettet fähe 
braucht, in Südoſteuropa, die Franzöſiſche Republik friedliche Ruhe. Köft fich 
der neue Dreibund fo Schnell? Zuerft verfucht man, Deutichland von Defter- 
reich wegzuloden. Doc Herr Iswolſkij ift allzu täppiich; und Fürft Bülow 
“hat die Konjunktur erkannt. Dejterreid) vertritt auf dem Balfan unfer Inter: 
effe; nicht aus Gefälligkeit, nicht etwa als „brillanter Sefundant” (folder 
Dienft würdenichtdauern), jondern, weil da8 Dehnungbedürfniß die Doppel« 
monarchie zwingt, den Mächten unbequem zu werden, die Deutjchland ein- 
kreiſen wolten. Nur ein Blinder würde in diejer Siunde den Wien mit Berlin 
verbindenden Draht durchichneiden. Herr Iswolſkij wird in der Wilhelm» 
Straße mit Kalter Küche bewirthet und muß dem londoner Mandanten melden, 
daß zwiſchen den verbundeten Katjerreichen jetzt nicht Zwietracht zu ftiften ift. 
Zum erften Mal befommt Deutſchland wieder Luft; heilt fich über ihm der 
Himmel. Frankreich, das Greys Kongreßplan durch die Bublifation vereitelt 
hat, muß, al8 Türfengläubiger, die auftro-deutjche Orientpolitik in diejer 
Stunde der britifchen vorziehen. Kommt der große Spieler im Budingham- 
palaft um feinen Gewinn? Das darf nicht fein. Noch hat er die ftärkfte von 
einen Künftennichtangewandt. Das dreimal glühende Licht wirkt ficher. Wil⸗ 


Gegen den Kaiſer. III. 295 


helms Tijchreden werden im Daily Telegraph veröffentlicht: und ſchnell ift 
der Kreis wieder geichloffen. Rußland, Frankreich, die Niederlande, China, 
Sapan, Auſtralien, die Afrikander, Amerika jelbft wenden fih in wildem Grimm 
gegen den Deutjchen Kaifer; und der Grimm wandelt fidh bald in Hohn. Als 
den ſchwerſten Anjchuldigungen der verdammende Sprud) gefolgt ift, fragen 
die Briten noch ſpöttiſch, wem fie denn nun glauben ſollen: dem Guildhall⸗ 
redner, der betheuert hat, daß die deutſche Nation ihres Kaiſers Liebe zu Eng⸗ 
landtheile, oderdem Gaſt auf Higheliff, der, nody im jelben Monat, die Diehr- 
Heit der deutichen Landsleute der Feindjchaft gegen England anklagte. 

Der Kreis ift wieder geichloffen. Gemeinjamer Widerwille ift jtärfer 
ald die Sucht nad) Augenblicövortheil. Alle mißtrauen dem Deutſchen Kais 
fer, ausallen Eden züngelt der Hohn nad ihm: und wir haben feine Waffe, 
die ihn wirkſam vertheidigen Fönnte. In den jfandinanijchen Ländern ſogar 
iſt offiziös erflärt worden, feit man Wilhelm fo fenne, wie er fich in der In⸗ 
terviem ſelbſt dargeftellt habe, müffe man von ihm abrüden und inden Bris 
tenconcern eintreten. Und der Zjlam? Abd ulHamid und Abd ul Aziz willen, 
wa? berliner Rede werth ift. Muley Hafid ift noch nicht anerkannt; trogdem 
wirs vor neun Wochen ſtürmiſch forderten. Der engliſche Bremierminiiterver> 
ſpricht den Franzoſen Hilfe für den Fall naher Fährniß. Und Sir Erneſt Caſ⸗ 
ſel, Eduards Freund und Freundinherberger, bejorgt in Paris das neue Tür⸗ 
fenanleihegefchäft. Das eine Beiſpiel zeigt den fichtbaren Segen des perſön⸗ 
lihen Regimentes. Jedes der zwanzig Unheilsjahre, die hinter ung liegen, 
hat ihn jedem machen Ange gezeigt. Warum iſt Deutjchland, das, trotz feiner 
Kraft, im diefer Zeit Keinem aud) nur das winzigfte Stüd genommen hat, 
vereinjamt und ringsum gehaßt? Weil es fich von demunfteten Willen eines 
Kaiſers lenken ließ, der feinen Blutötropfen eines Staatsmannes in ſich hat. 
Neun Zehntel aller Schwierigkeiten, die das Reich hemmen, hat die perjön« 
liche Politik dieſes Kaiſers bewirkt. Sie zu enden, ehe von ihr, wie Bismarcks 
trũber Blick ahnte, dad Reich zerſtört ward, ift nationale Pflicht. Bonaparte 
hatte fi mit dem Schwerte den Weg auf den Thron gebahnt und zwar nicht 
den Landbefitz, doch den Phantaſieſchatz und den Striegerruhm eines nach An- 
erkennung dürftenden, faum der Lilienfron entlaufenen Volkes für die Dauer 
gemehrt. Dem Lande, das er allein vor den Bütteln Europens zu ſchützen 
vermochte, durfte er, jo lange die Schladhtenfortung ihm lachte, den Willen 
jeines hemmungloſen Genius aufzwingen. Friedrich Wilhelm der Viertewar 
ein Ihmächlicher Schöngeift, der den ftarfen Mann jpielen wollte und deffen 
krankes Hirn wähnen mochte, Fritzens Preußen ſei für die Freiheit noch nicht 





:296 i Die Zufunft. 


reif. Wilhelm der Zweite, der vierzig Jahre nach der Revolution auf den 
Zollernthron kam und im Reich fein Monard) ift, hatder Nation nie Rützliches 
geleiftet und für jeinen Willen dennoch die höchfte Geltung verlangt. Nun 
fieht erdie Ernte. Wenns ihn, nach allem Geſchehenen, möglich dünft, wirder 
die Krone auf feinem Haupt behalten. Doch niemald wieder darf an feinem 
Willen dad Schidjal des Deutſchen Reiches, deutſcher Menſchheit hängen. 


Gerichtätag. 


Daß ed foniewiederwerden dürfe, ift im Reichstag nicht deutlich genuz 
audgeiprochen worden. Anftändige Reden. Staunend blidten die Fremden von 
den Tribünen herab. Werſich um ſo großen Segenftandregt, Ver, hatten fiege- 
dacht, kann nicht ſo gelaſſen, jo ohne Temperamentäfarbe jprechen wieein Bud: 
getfritifer. Nunerlebten ſies dennoch. Leidenſchaftund Perſönlichkeit laſſen ia 
nicht herbeizaubern. Wir müſſen mit der unverwiſchbaren Thatſache zufrieden 
ſein, daß kein einzigervom deutſchen Volk abgeordneter Mann gewagt hat, den 
Kaiſer zu vertheidigen. Alle haben ihn ſchuldig geſprochen: Adelige, Bourgeoie 
und‘Proletarier (nurderHerzog von Trachenberg ſprachauch diesmal wieder wie 
Einer, der ſich in Bereitſchaft halten will, und nöthigte dadurch feine Frak— 
tion, ihm den minder behutjamen Sreiherrn von Gamp ind Gefecht nachzu—⸗ 

chicken); und ald der Eluge Herr von Heydebrand, der in Preußen jelbft fait 
ein König ift, gejagt hatte, lange ſchon habe im Volke fich der Unmuth uber 
daß kaiſerliche Weſen und Handeln angefammelt, war für die Majeftät nihte 
mehr zu hoffen. Daß am zweiten Tag da8 Hohe Haus wieder von der leidigen 
Lachluſt und Wigeljucht gepacft wurde, war zu bedauern. Muß man in jede: 
Etundeladhen, weil die Zunge eines Kollegen ein paarKonſonanten verwedjjelt? 
Herr von Kiderlen, den an Praktikerbegabung und an Jägerwitterung reich 
ften unjerer Diplomaten, einen Dann, der wohl längft Botjchafter wäre, 
wenn ihn der edle Liebenberger nicht beim Kaiſer verflaticht Hätte, wie einen 
Zölpel begröhlen, weil er eine häbliche Wefte trägt, der Schwabenmundart 
fich nicht entwöhnthat und fich in die undankbare Pflichtloden lie, in dieſer 
Debatte das Auswärtige Anıt zu vertheidigen, deſſen Arbeit er jeit vierzehr 
Fahren dod) aus dem Auge verlor? Ein Parlament, das einem Kaiſer impe 
niren will, müßte fich beijer in Zucht halten. Allzu harte Rüge fonnteaberdas 
Anfehen des Volkshaufens jchmälern, das wir jeßt mehr als je brauchen. Die 
Kaiſerkriſis hat eerft begonnen und ihr Ernft verpflichtet ung, alle zur Dit 
wirkung am Reichögeichäft berufenen Faktoren, Kanzler, Bundesrath, Reicht: 
tag, zu ftärfen, fo lange fie zu muthiger That entſchloſſen jcheinen. Und beſſer 








Gegen den Kaifer. III 297 


iſts immerhin ja geworden, jeit Eugen Richter bet ſeinem Sturmlauf gegen: 
die kaiſerliche Allverwaltung vor Boetticherd blaß bebenden Lippen verein⸗ 
famt blieb. Biel beffer. Heute ſpürt Jeder, dab dem Baterlande die Gefahr 
droht, in den jämmerlichen Zuſtand zurüdyufinfen, wo e8 (nad) dem Wort 
ded treuen Görres) „auf einerSeite wie vom Schlagfluß gelähmt tft, auf der 
anderen im Beitötanz fich bewegt und, während die eine Hälfte afthenijch in 
dumpfen, leeren Träumen brütet, die anderg hyperſtheniſch in phantaftijchen, 
ausihweifenden Delirien fih abmüdet”. Da die Wahrheit endlich au dem 
legten Schleiern gefchältwerden muß, damit dem jungen Reich die Monarchen- 
tragoedie erfpart bleibt, die das Kunftgebild aus Menjchenhand nicht o leicht 
überftünde wie der Xeib des alten, einheitlichen, im Weſenskern gefunden 
Preußenftaates. Wir find weiter gekommen; viel weiter, ald noch unterm 
Herbftmond zu hoffen war. Alle Barteien haben den Kaiſer ſchroff getadelt. 
Der Kanzler hat gejagt, dab durch die Interview Wilhelmd;, großer Schade”, 
„eine verhängnißvolle Wirfung”, „ein Unglück“ entftanden jei und daß der 
Kaijer ſich fortan die Zurücdhaltung auferlegen müffe, „die für eine einheits 
tihe Politik, für die Autorität der Krone eine unerläßliche ift“. Seitden Ta⸗ 
nen der Stuartd ward einem Gelrönten Aehnliches faum je mehr angethan. 
Der Reichstag hat endlich wieder von der Nation Danf verdient; und 
man follte nid,t länger mit ihm darüber hadern, daß er noch nicht die Kraft 
zu einmüthiger Sorderung fand. Eine, dierechtsund links geuügt hätte, wäre 
zu dünn geweſen. Mit einem Manifeft, einem Verſprechen, wäre nichts er⸗ 
teicht; nicht einmal mit der allzu märzlichen Bitte, „das Geſchehene zu ver- 
geſſen“. Neue Wortkünſte? Wir haben an denaltengenug. Das Königthum, 
ihrieb Lagarde, „iſt zu verſchiedenen Zeiten verſchieden aufgefaßt worden. 
Jetzt wird jo leicht Niemand mit dem myſtiſchen Unſinn früherer Tage kom⸗ 
men: Alle werden einig darüber fein, daB der König der VBertrauendmann 
der Nation ilt. Ein Königthum deutjcher Art ift nur denkbar, wenn des Königs 
Perſönlichkeit de8 Höchften ausgebildet und mit alem Reihthum reinen Wol⸗ 
tens, fragefähigſter Lernbegier, unſchwankender Einficht, der Verantwortung 
bewußtefter Demuth bis an den Rand gefüllt ift.Weh dem Menjchen, derje- 
mals den Thron zum Genießen mißbrauchte: verſcherztes Vertrauen wird nie 
zurückgewonnen.“ Auch unausgeſprochene Forderungen können vernehmbar 
ſein. Der Kaiſer hatte ſeit dem neunundzwanzigſten Oktobertag zur Ueberleg⸗ 
ung Zeit. Er konnte an den Rand eines Berichtes, der vom Kanzler oder vom 
Reichstag kam, einen Satz ſchreiben, wie ihn ſein Großvater unter Roons 
Bericht vom erſten März 1861 geſchrieben hatte: „Für Ihren Freimuth ges 


298 | Die Zunft. 


bührt Shnen mein Dant für ewige Zeiten!“ Dann war, ohne Zwang, gelei- 
ftet, was die Forderung erlangen konnte. Er hats nicht gethan. Er war über 
die „Schimpferei” der Preſſe und desParlamentes empört, überzeugt, daß, fein 
Volk“ anders denke, und fand ſich vom Kanzler unzulänglich vertheidigt. 
Mehralsden Berziht aufeinen Beichluß, einedem Kaijer vorzulegende 
Forderung muß manden Mangel an Detailkenntniß bedauern, dendieBerhand: 
lungen enthüllten. Wer die Reden hörte oder lad, erfuhr nicht, welche Reid: 
ſchädigung vor der Interviewvon Higheliffdem Reichshaupt nachzuweiſen ge⸗ 
weſen jei. Wiffen die Abgeordneten davon nichtö? Oder ſchweigen fie, weile 
den illuminirten Weg in die Wüfte mit Subelrufen betreten haben? Barum 
leben einem Volk von ſechzig Millionen Menſchen, einem Starten, fleibigen, ehr: 
lichen Bolf, das jeit dem Geburtötag feiner Einheit auf der Erde nichts Be: 
trächtliches erobert, nur verlorene Brojamen aufgejammelt hat, nicht ũberal. 
Freunde? Warum ift es, das feinem Nachbar dad Erbe entreißen, feiner Raſſe 
den Bodenraum raubenwill, nichtummworben? Diejer Frage war im Reichstag 
die Antwort zu finden. Die ganze Jammergejchichte diejer zwanzig Jahre zu 
erzählen, ihres Irreng, ihrer Räuſche, ihrer unfruchtbaren Geſchäftigkeit, und 
Ihlichtundernft dannaudzujprechen, was jedem guten Deutjchen längftauf der 
Lippe liegt: dab niemals nod) hochgemuth unternommene Berfuche trauri» 
ger mißlungen find als die Wilhelms des Zweiten und daß die Vertrauen? 
jumme, die dem Unbewährten, ald dem Infel des treuen Reich&haußhaltere, 
bewilligt ward, bis auf denletten Heller nun aufgebraucht ift. Schon im Als 
gefirasfrühling faft aufgebraucht war. Wenn ſichs nur um Feſte, Hofpomp, 
Rednerei und unbedachteTifchgejprächegehandelt hätte, wäre unfere Lage nicht 
jo unbequem geworden; fünnte Deutſchland noch einmal vertrauen leinen. 
DieMinifter des Königs von Preußen, die indie Hauptftadt berufenen 
Bertreter der Bundeöftaaten haben einftimmig den Kaiſer getadelt. Der Saal. 
in dem der Bundesrathsausſchuß tagte, hat das Gelöbniß vernommen, die 
Zerrüttung des Reiches, auch wenn fie von dem unfteten Sinn und der Kurz: 
ficht eines erften Reichsfürften drohe, mit aller Kraft abzuwenden. Kanzler, 
Bundedrath, Neichätag, Preußens Refjortleiter: Alle einig. Die zum Ewigen 
Bund vereinten Souveraind, Beamtenjchaft, Heer und Flotte müffen ftumm 
bleiben, jo lange ed irgend geht. Dürften fie reden: der Rügerchor wäre nod) 
ftärfer geworden. Ein Minifter, Geheimrath, Offizier, Snduftriedirektor, Ge— 
ichäftsführer, der jo von allen Inftangen verurtheilt würde, müßte vom Platz 
weichen. Und hier ward ein Kaifer. Dem wurde gejagt: Der Beamte, der 
das von Dir vor Sremden Geſprochene, von Dir Gelejene und überjchwäng: 


Segen den Kaiſer. III. J 299- 


lich Gelobte nicht vor dem Licht bewahrt hat, ift unfähig, eined wichtigen 
Amtes Bürde weiterzutragen. Dem wurde gerathen, fich ſchleunig zu ändern. 


Le rois’amuse. 


Als der verhängnißolle Artikel im Daily Telegraph erſchienen war, 
empfahl der Kaijer den Refruten in zorniger Rede ftrenge Selbftzucht. Als 
Deutſchland in Scham und Schmerz erbebte, ging er auf die Jagd. Zuerſt 
nach Eckartsau, wo er fi dem Erzherzog Franz Ferdinand ald Gaft ange: 
lagt hatte. Die Frau des Schloßherrn lag, mit ſchwerer Influenza, in Kindes 
nöthen. Der Mann mußte ihr, für die er derHoffnung aufebenbürtigeNad- 
kommenſchaft entjagt hat, fern bleiben und für dad Jagd- und ZTafelvergnüs 
gen des hohen Gaſtes forgen. Das Baar lebt einfach, wie andere Edelleute 
auf dem Land. Run mußten Automobile herbei (der Kaiſer braucht ein Halb- 
dußend für fich und fein Gefolge) ; mußte aus dem Waldrevier das Wild zu⸗ 
jammengetrieben, dad Schloß zu Prunf und Luftbarfeit gerüftet werden. 
Wir lajen, daß Franz Ferdinand die Flinte nicht in die Hand nahm; daß 
Wilhelm an einem Tag drei Dutzend Hirſche ſchoß und in fröhlichſter Stim⸗ 
mungwar; auch die kleinen Unbequemlichkeiten, die er in dem nichtvom Auge 
der Herrin bewadhten, für jo pomphafte Zeftenichteingerichteten Schloß hin: 
nehmen mußte,wurden leider gemeldet. Dann gings nach Donauelchingen zum 
gürften Mar Egon von Fürftenberg. Ob der muntere Kavalier ſich diesmal 
eine Wachsnaſe geklebt hat, die er in der Wärme des Kerzenlichtes langſam 
abtropfen ließ, erfuhren wir nicht; diejes Kunſtſtückchen fol ihm früher viel 
Beifall eingebracht haben. Sogar die Zahl der geſchoſſenen Füchſe blieb uns 
verborgen. Mancherlei aber vernahmen wir. Aus Berlin und aus Frankfyrt 
waren Bänkeljänger gerufen worden, die Couplets vortrugen. An den Aben- 
den, wo Europa die Berichte über die Kaijerdebatte des Reichstages las. Die 
höchſten und hohen Herrichaften amufirten fich königlich (vielleicht auch Eaijer- 
lich). In dem jelben Blatt der Frankfurter Zeitung ftanden zwei Depefchen, die 
einanderergänzen. „AusDonauejchingen meldetdie Badijche Preffe: DemKai⸗ 
jer wurde Dinstag abends gegen neun Uhr der ftenographiich aufgenommene 
Reichötagöbericht durch dag Telegraphenamt in Donaueſchingen zugeftellt. 
Gegen zwölf ihr nacht wurde darauf für faiferliche Depeichennochmalseine 
einftündige telegraphiiche Gerbindung hergeſtellt.“ Und im Inieratentheillas 
man: „Sranffurtd Uniontheater vor Deutſchlands Kaifer! Das Uniontheater 
wurde vom Fürften Fürſtenberg eingeladen, am Dindtag vor Seiner Ma⸗ 
jeftät dem Deutichen Kaiſer in Donauejchingen eine Separatoorftellung int 





300 Die Zukunft. 


Muſikſaal des Schloſſes zu veranftalten. Wir erhalten darüber heute folgen- 

des Driginaltelegramm: ‚Zweiftündige Borftellung im Schloß zu Donau» 
eſchingen vor dem Deutjchen Kaifer, dem Fürften Fürftenberg und dem Gra⸗ 
fen Zeppelin mit jenfationellem Erfolg nachts um halb ein Uhr beendet. Der 
Kailer und die hohen Herrichaften applaudirten ftürmilch und ſprachen in 
perjönlicher Unterredungihredanfbare Anerfennung fürdasbrillantgemählte 
Programm und die tadelloje Vorführung aus.“ Vorher hatle ein in Berlin 
ſehr befannter Gabaretier mit zwei Gefährten der Jagdgeſellſchaft einen fro⸗ 
hen Abend bereitet. Geſchmacksſache. Da an Bord der „Hohenzollern“ Mas 
trojenfapellen, vermummte Goupletjänger, Damenkomiker, Salonzauberer, 
Gedankenleſer, jogar Generale als Sancantänzer gern gejehen find, mag ol: 
ches Biervergnügen auch an der Donau munden. König Lear und Frau Al⸗ 
wing wären nichtd für müde Zäger, die nad) ded Tages langer Mühe wader 
gezecht haben. Nur jollte Einer, den der berliner „Schwarze Kater“ und das 
franffurter Uniontheater erfreut, modernen Europäern liebernicht vorſchrei⸗ 
ben, an welchem Kunftborn fie ihren Durft zu ftillen haben. Einerlei. Jagd, 
Frühſtück im Wald, Tafelmufit, Tingeltangel, ausgelaſſene Heiterkeit: der 
Kaijerund König wollte feinen Zweifel darüber laſſen, daß ihn die im Reichs- 
haus anberaumte Gerichtsfigung nicht bekümmere. Kanzler, Bundesrat, 
Neichdtag, Stantöminifterium betrauern des Reiches Noth und fordern den 
Thronenden auf, das Anjehen der Krone fortan beffer zu wahren; das Land 
bebt in Krämpfen und kann feinen ®ram nicht, kann feine Scham nicht länger 
bergen; aus jpöttifchem Auge blickt der $remdling über die Gtenzeund ſcheint 
zu fragen, ob, was er da fieht und hört, ſich wirklich im Reich Wilhelms und 
Bismarcks ereigne. Der Kaifer will der Welt beweiien, daß ſolches Getriebe 
ihm nicht eine Abendftunde verdüftert. „Mein Kurs ift der richtige und er 
wird weitergefteuert.” Der Kaijer jagt, ſchlägt fich, wenn der Bänfeljang einen 
ſaftigen Wit bringt, auf den Schenkel und lacht, daß die Scheiben zittern. Der 
Kaijer ift Iuftig. Das ift fein Recht. Er ahnt nicht, was draußen wird. 

„Die Fand iſt eine der finnlichen Bergnügungen, die denLeib bewegen 
und dem Geift nicht8 jagen. Dan verfolgt mit wildem Eifer ein Thier und 
hat,eine graufame Freude daran, ed zu töten. Sch weiß, daß große Männer 
die Sagdleidenjchaftlich geliebt haben. Auch fie hatten ihre Fehlerund Schwä- 
hen: laßt ung, ftatt fie im Kleinlichen zu fopiren, ihrer Größe nahahmen. 
Die Jagd, wirft man ein, ift gefund, hilft zu hohen Fahren und ziemt, als 
ein harmloſes Vergnügen, den großen Herren, die dabei ihren Kummer ver- 
geſſen, ihre Pracht entfalten können und im Frieden das Bild des Krieges er⸗ 











Gegen den Kaiſer. II. 301 


blieten. Ich denke garnicht daran, ein maßvolles Vergnũgen zu verdammen; nur 
vergeſſe man nicht, daß jolche Nebung nur den Zügellojen nöthigift. Und muß 
man Alles thun, wad ein langes eben verheißt? Die Mönche leben meiftlän» 
ger als andere Menſchen: joll man deshalb Mönch werden? Nicht darauf 
fommt ed an, daß der Menſch bis in Methuſalems Alter träge und unfrucht⸗ 
bare Tage hinjchleppe; je mehr er jich feinen Gedanken überläßt, defto mehr 
Gutes und Nützliches wird er leiften, defto reicher wird alfo fein Leben werden. 
Bon allen Luftbarkeiten ift die Sagd übrigens die für Fürften ungeeignetfte. 
Shre Herrlichkeit können fie auf hundert andere, den Bürgern viel nüßlichere 
Arten zeigen;undjchädigtdie Ueberfülle des Wildes den Landmann, ſo kann die 
Pflicht, dieThierezutöten, bezahlten Sägern überlafjen werden. Fürften dürf« 
teneigentlichnur eine Bejchäftigung kennen; nur danach trachten, fich zu bilden, 
Kenntniffe zufammeln, regirenzu lernen, damit fie ihren Beruf fichererfaffen 
und injeiner Ausübung fonfequent handeln. Um ein großer Heerführer zu wer⸗ 
den, braucht man nicht Jäger zu fein. Guftav Adelf, Turenne, Marlborougb, 
Prinz Eugen, denen Keiner den Ruhm geſchickter Generale beitreiten fann, 
waren nicht Säger; auch von Caeſar, Alerander, Scipio überliefert dad Buch 
der Geſchichte und feine Sagdleiftung. Inder Armee müßte man die Jagd jo- 
garverbieten, weil fiezu Unordnung auf den Märjchen verführt. Den Fürften 
mag man die Sagd verzeihen, wenn fiediefeBergnügendartjelten wählen und 
nur ald Erholung von ihrem ernften und oft recht traurigen Geſchäft betrach« 
ten. Sch will fein anftändiged Vergnügen verbieten. Aber die Bemühung, gut 
zu regiren, den Staat zur Blüthe zu bringen, ale Künfte zu ſchützen und zu 
fördern, ift fiherdad größte Vergnügen; und der Fürſt ift zu beklagen, der ein 
anderes braucht.” Das find Sätze aus dem „Antimacchiavell“ Fritzens von 
Preußen. Der, jagt man, fein Ofenhoder, fein ſchlapper Kerl war. 

Wilhelm jagt mehralsjeit derinheildzeit Ludwigs des Sechzehnten wohl 
je ein Regirender; und eine Jagdart, die in kurzen Stunden Dugende, Hun⸗ 
derte von Thieren zurStrede bringt, ift von edlem Waidwerk recht fern. Wer 
fich das Wild in Nudeln vor die Flinte, die Standgabel hepen läßt undallen 
Komfort eined üppigen Hofes in den Wald mitnimmt, braudjt weder Aus- 
dauer noch überlegene Lift. Aus dem Hofbericht müßte feftgeftellt werden, 
wie viele Tage im Zahr der Kaiſer auf der Jagd verbringt. Er reiſt und zer⸗ 
ftreut fich überhaupt ein Bischen viel. Eduard macht meift Gejchäftsreijen, von 
denen er Etwas heimbringt; geht er an die Seeoder indie böhmiſche Quellen» 
ftadt, dann lebterwie einreicher Prioatmannund lernt dabei Leute kennen, die 
ex fonft nicht fieht. Der bewegliche Victor Emanuel macht ſich aufjeiner Halb- 

23 


302 Die Zukunft. 


infel zu ſchaffen und ſucht im Gewühl zu verſchwinden. Selbft der alte Franz 
Joſeph lebt in Iſchl faum anders als ein wohlhabender Feldzeugmeifter. 
Nur Wilhelm zieht immer mit dem ganzen Imperatorprumt durch die Welt. 
DieſeFreudewäre ihm zugönnen, wenn ihrnichtein höchftgefährlicherIrrthum 
erwüchle. Wo was zu ſchauen iſt, jammeln fichGaffer. Wo das Auge fi umfonft 
jättigt, ift die Hand zum Applaus, die Kehle zum Jubel bereit. Den Weni⸗ 
gen, die ihm vom Unmuth ded Volkes zu jprechen wagten, hat der Kaijer 
lachend geantwortet: „Sie find wohl nicht von hier? Aufmeinen Reijen jehe 
ich doch, wie das Volk denkt. Zeitungjchreiber und Parteibonzen nörgeln. Die 
Nation jauchzt mir zu.“ Leider: weil ihr Jubel nicht aus dem Herzen kommt; 
nur aus heftig erregten Sinnen. Auch dem Perjerihah würde zugejauchzt, 
wenn er in folcher Pracht einherkãme. Die Reizmittel des Caeſarismus wecken 
in jeder Maſſe die Luſt, mit Hand und Mund wenigſtens in dem Ausftatt⸗ 
ungſtück mitzuwirken, das da durch die Straßen geführt wird. Werben dem 
in ewiger Glorie Spazirenden aber nicht haltbare Liebe. Der Kaiſer hat ſich 
einſt einen ‚Richter in&mpfängen” genannt. Dieſe Empfänge werden ſorgſam 
inſzenirt und oft vorher mit Statiſten durchprobirt, bis „Alles klappt“. Das 
Schauſpiel ift ohne Eintrittögeld zu genießen: fein Wunder, daß die Menge 
herbeiftrömt. Nachdem grauen Alltag ein buntes Vergnügen: „Hurra!” Am 
Abend freutder Kaijerfich dann des Kinematographen, derden Ompfangenen 
und die Empfänger im Bild zeigt. „Wie mein Bolf heute wieder gejubelt 
hat, als ed mich ſah!“ Und ift glüdlich. Wenn der Dalailama in der Kutjche, 
der Afghanenemir auf dem Pferd gejeifen hätte, wäre der Subel vielleicht 
noch lauter geworden. Was er werth war, könnte Wilhelm jett willen. 

Nicht der Jagd nur, den Einzugsfreuden und dem Bänfelvergnügen 
waren die dunklen Novembertage geweiht. Als am berliner Königsplatz der 
Gerichtstag dämmerte, ließ dad Kommando der Hochſeeflotte an alle Gefechts⸗ 
einheiten eine Verfügung ergehen, die offenbar der Friegäherrlichen Initiative 
entftammt. Left fie; und lobet den Herrn, der Alles weiälich verfüget. 

Kiel, den zehnten November 1908. 

Seine Majefiät der Kaijer haben befohlen, da& dag Hurrarufen innerhalb des 
einzelnen Schiffes abiolut gleihmäßig unter Hochnehmen der Mügen zu erfolgen habe. 
Beim Paradiren und Hurrarufen ift daher nach folgendem Befehl zu verfahren: Es find 
Boften mit Binfflaggen auf beiden Brüdennoden, auf derHütte, am Bug, am Hed und 
an fonft geeigneten Stellen des Schiffes auiguftellen. Aufdas Kommando: „Drei Hurras 
für... .* werben die Flaggen hochgenommen. Gleichzeitig verläßt die rechte Hand ber 
paradirenden Leute das Geländer und geht an den Mügenrand. Auf das erfte Kommando 
„Hurra“ gehen bie Wintflaggen nieder, das Hurra wird wiederholt, während die Miltzen 
durqh Streden des echten Ylrmes unter einem Winkel von eiwa fünfundvierzig Grad 
kurz hochgenommen und, fobald das Hurra verflungen tft, unter Rrümmung des Armes 








Gegen den Kaiſer. III. 303 


Zur vor bie Mitte des Oberlörper8 genommen werden. Gleichzeitig geben bie Wink⸗ 
FHaggen wieder body. Beim zweiten und dritten Hurra wird entfprechend verfahren; num 
werden die Rügen nad) dem britten Hurra nicht wieder vor die Mitte bes Oberkörpers 
genommen, jondern kurz aufgeſetzt, worauf bie rechte Hand wieder auf ihren Platz am 
©eländer geht. 


Bet der bevorſtehenden Anwejenheit Seiner Majeftät des Kaijers zur Refruten- 
vereidigung tft bereits nad) dieſen Beftimmungen zu verfahren. Fr 


bon Holgendorff. 
Am fiebenzehnten November wollt der Kaijer in Kiel die Rekruten 
vereidigen. Der wichtige Erlaß ward gewiß im Donauſchloß bejonnen. 


Was mir wollen. 


„Es ließ mir feine Rube: ich mußte reden“, jchrieb Friedrich Wilhelm 
der Vierte an Thile. Könnte auch fein Großneffe gejchrieben haben. Er muß 
reden. Und Riemand hat das Recht, ihn zu hindern. Rur: die Nation will für 
feine Reden nicht länger verantwortlich jein. Für von ihm Geſprochenes und Ge⸗ 
fchriebenes nicht. Denn fie glaubt nicht, da der faft Fünfzigjährige fich än⸗ 
dern, „fih Zurüdhaltung auferlegen“ könne, Ald er darum erfucht worden 
war, fam das ZeppelinipeltafulumaldZrugantwort. Wurde der alte Graf vor 
allem Volk aufgefordert, jo rajch wie möglich neue Luftſchiffe zu bauen. Wars 
um fo raſch? Der Brite fragtd; und erwidert jelbft: Weil der Kaijer uns an 
den Snielleib will. Das ift gedruckt worden. Da haben wird aljo wieder. Ein 
Seichäftsmannruftnicht über den Markt, waservorhat. Ein Deutſcher Kaiſer, 
der Die Kriegsſchiffe für Meer und Luft nicht jchnell genug fertig haben kann, 
magtaujendmalbetheuern, daß er nichts Arges gegen Britanien finnt: kein Eng⸗ 
länder wirds ihm glauben. Das Reichsgeſchäft fordert ein politiſches Tempera⸗ 
ment,nichtein dramatiſches. Der Kaiſer langt nach der Augenblickswirkung und 
freut fi, als wäre die Welt eine Schaubũhne, an Worteffekten, Gruppenbildern, 
Abgängen und Aktſchlüſſen. Wir freuen uns nicht daran; haben für ſolches 
Vergnũgen höchftens von Acht bis Zehn abends Zeit. Wirwollen die Geſchäfts⸗ 
Leitung ungefchmälert Politikern gefichert wiſſen, dieüber den Augenblick hin⸗ 
aus denken und jedes Thuns, jedes Unterlaſſens Folge bis and Endeermeſſen. 
Die fich nicht ſtets vor dem Photo⸗ oder Kinematographen fühlen. Gründlich 
vorgebildet find und alle Stunden des Tages (und, wirds nöthig, auch der 
Nacht) ihrer Arbeit hingeben. Denn ohne zu arbeiten, von früh bis ſpät, kann 
heute ſelbſt ein Genie nicht regiren. Für einen Jupiter, der aus der Wolke her⸗ 
vorblitzt, danken wir. Wollen endlich in gleich ftarferRüftung mit den Riva- 
len um das Lebensrecht kämpfen. And Leuten, diean die Staatsſpitze nicht tau⸗ 
gen, nicht auf ewig unlöslich verbunden fein. Uns die Möglichkeit wahren, takt» 


na 


304 Die Buhmft. 


Iofe, ungeſchickte oderfompromittirte Menſchen wegzujagen. Solche Möglidy- 
keit bleibt nur, wenn diefe Menjchen nicht im Purpur geboren find. 
Damaskus, Kiautichou, Tanger. Krüger, Stoeffel, Witte, Loubet, Go- 
luchowſki, Tweedmouth, Hill, Wortley, Hale.. Wer zählt die Völker, nennt 
die Namen? Wir haben genug. Schon müffen Manujfripte, die Bekenntnifſe 
des Kaiſers enthalten, heimlich zurüdigelauft werden (und in England liegt 
noch gefährlicher Sprengftoff in Fülle). Schon müffen wir knirſchend hören, 
wien WeftminfterderPremierund die ehrenwerthen Abgeordneten das Reichs⸗ 
haupt inoffenerSigunghöhnen. Wirmollennicht mehr. Wilhelm der Zweite 
hat bewiejen, daß er zur Erledigung politiicher Gejchäfte ganz und gar un 
geeignet ift; hundertmal bewiejen, dab ihm jelbft bei günftigfter Marktkon⸗ 
junftur fein Abjchlußgelingt. Er mag viele Fähigkeiten haben; diefe fehlt ihm 
völlig. Und hätte er den Keim in fich, jo fände er, der Soldat und Seemann, 
Theologeund Hiftoriker, Malerund Aefıhetifer Dichter und Komponiſt, Säger 
und Yachtman, Prediger, Maſchinentechnikerund Regiſſeur iſt, nicht die Muße, 
dieinnereStille,ohnedienichtö hienieden zureifenvermag.L’universsouston 
regne: Das paßte vielleicht in die Zage des Sonnenkönigs. Heute würde durch 
die Ubiquitäteines Herrſchers nur Aergerniß gegeben. Wer mag dennimmervon 
Einem hören, in jedem Morgen⸗ und Abendblatt neidiſch ſeines Erlebens Spur 
finden? Wirwollen auch nicht, daß der Kaiſer ſeine Standarte über die Wälle 
einer Feftung wirft, die für uns werthlos iſt und deren Schanzen wirdann doch 
ſtürmen müſſen, um die Standarte zurückzuholen. Gehts wie bisher weiter, 
jo müſſen wir einen Krieg führen, um die verlorene Achtung wieder zu er⸗ 
werben und und vom Fluch der Heerdenlächerlichkeit zu löſen. Das wollen wir 
nicht. Ein langwieriges Schaufpiel nur: da wäre der Blutpreis zu Hoch. 
Der Kaifer ift nicht Monarch. Das Reich itt jouverain; nicht der Kai⸗ 
jer. Der darf dad Reich nicht ohne die Zuitimmung Sachoerftändiger binden. 
Und diefe Sachverftändigen dürfen nicht gezwungen fein, drei Viertel ihrer 
Kraft immer erft an die Beantwortung der Frage zu verwenden, wie ihr ver- 
nünftiged Planen dem Kaijer plaufibel zu machen iſt. Wir wollen nicht Tag 
vor Tag in unjerem Kulturgefühl gebildeter Europäer durch Redeund Schrift 
beleidigt fein. Wir wollen Staatögeheimniffe wahren. Fremden weder fchmei- 
cheln noch drohen. Unwahrbhaftigkeit, Gaukelſpiel, Byzantinerprunf veradh- 
ten. Wieder bündnibfähig werden. Ung vor Händeln hüten, unvermeidliche 
“ aber ohne feiges Jagen auöfechten. Und nie ohne Deckung zu weit vorwagen, 
nie aber auch vor einer Gefahr oder einem Bluff zurüd'weichen. Diefer Wille 
ſchon zwingt die alte Reichskraft herbei. Und die alte Achtung kehrt wieder, ſeit 
bewiejen ift, daß der Deutjche auch gegen den Kaijer noch zu wollen wagt. 
5 





Verſe. 305 


Derſe. 


Religion. 


aß, in dieſer tiefverſchwiegnen Vacht, 
Mich, erfüllt vom Strom der Ewigkeiten, 
Ihres Mantels blumenſchwere Pracht 
Keuſch erzitternd auseinanderbreiten. 


Wunder über Wunder löſt ſich los 

Aus dem Band der ſchwankenden Umhällung. 
Jäh entfluthet dem entblößten Schoß 

Diefer Nacht die herrlichſte Erfüllung. 


Kichtgrün fiehft Du junge Wälder fiehn 
Auf den goldnen Sternen, die erwaden, 
Und Du ahneft: Gottes Hände gehn 

Durch die Kronen, die Dicy überdachen. 


Sieh! Dort zieht auf filberbleihem Quell 
Deiner Wünfce Bot mit ficherm Kiele, 
Ringsum wird die Weite himmlifch hell, 
Klar im £ichte grüßen Dich die Fiele 


Was verworren war, wird rein und mild, 
Alle Harfen wiflen felige Lieder 

Und Dir if, der Gottheit Gnadenbild 
Zeigt, im Tiefften Dein, die Lippen nieder. 


Kranz der Hände. 
Ein fcheuer Knabe, durft’ ich, tiefftes Weſen 
Der einfam dunfeln Seele in den Bänden, 
Aus ihrer Adern Plarem Spiegel lefen. 


Aus bleichen, kranken, die wie Seufzer enden, 
Aus weichen, fchlanfen, die wie Sliederblüthen 
Wolluſt und Süße durchs Gemach verfchwenden, 


Und aus den eifenharten, kraftdurchſprühten 


gäuften, die ſich im Schmiedefeuer regen, 
Und aus verfchlungnen, die der Liebe glühten. 


806 


Die Zukunft. 


Diel Bände find auf meinem Banpt gelegen, 
Mandy’ Bände fühlt ich meine Stirn umkrallen. 
Ein bleicher Kranz von Fluch, doch and; von Segen. 


Sch aber bin fo fern von ihnen allen, 
So feltfam, märdenfeltfam fern von ihmen, 
Die ſich nody immer falten oder ballen, 


Und feh dem Zeigen zu mit foldgen Mienen: 
Daß Luft und Haß mir nur ein leifes Spiel fd 
Und alle Hände allen Bänden dienen. 


Und weiß zwei Bände, die mein letes Stel find, 
äwei Priefterhände im verhällten Garten, 
Darin die Wipfel von den Winden fühl find... 


Und muß nur gehn, zwei Bände zu erwarten. 


VNachtwandler. 


Leiſe, leiſe, traumumfangen, 
Caſt' ich durch verklärtes Dunkel. 
Einer Ahnung ſüßes Bangen 
Füllt mein Herz mit Lichtgefunkel. 


Aimmer weiß ich, wie ich fchreite, 
Und ich laufch’ nicht, was ich finge. 
Grenzen ſchweben hin ins Weite, 
Schatten reichen ſich die Dinge. 


Ewig will ich jetzt vergeflen, 

Daß am Ziel mir Kränze winken; 
Wonne, tief und unermeflen, 
Kühl’ ich, fchweigend hinzufinfen. 


Aus des Tages Haft und Sülle 

Ruft mich fühle Nacht der Beifter. 
Seben wädft aus Trug und Hülle: 
Den es träumt, Das tft fein Mleifter. 


Baus Müller. 


8 





\ 


Reue Steuern. 307 


Neue Steuern. 


= aß die Sanirung ber Reichsfinanzen und bie Fortführung ber Soztalpolitif 
nur nad ſtarker Anzapfung des im großen Gebiet der Bollswirthichaft ar- 
beitenden Kapitals möglich fein foll, will den durch neue Steuerprojelte Bebrohten 
nicht einleuchten. Wer kanns ihnen verdenken? Sie ſehen ja, daß der Haß gegen, 
das „mobile Kapital” nicht nur nicht verichwindet, fondern in immer neuen Auf⸗ 
lagen erfcheint. In ber Zeit der römifchen Caeſaren wurben Sflaven, bie dem 
Herm werthvolle Dienfte geleiftet hatten, manchmal getötet, Damit fie nicht der 
Hybrig verfielen. Das Kapital ift der moderne Sklave des Fiskus, der auch Cae⸗ 
farengelüfte fennt. Nur fchlägt er den dienfiwilligen Heloten nicht mit einem Streich 
tot, fondern zchrt ihn allmählich auf. Jeder Tag gebärt jet neue Steuerpläne, 
Und wenn die Erfindungsgabe der Herren Fiskale beftenert werden könnte, wären 
die Sydow und bie Aheinbaben bald geborgen. Mit befonderer Begeifterung wurde 
die neue preußiiche Gejellichaftfteuer und die fürs Neich geplante Gas⸗ und Eleltri- 
zitätfteuer begrüßt. Die Borlage des preußiichen Finanzminiſters will Aktienge⸗ 
ſellſchaften, Berggemertichaften, Eingetragene Genoſſenſchaften und Konjumdereine 
auf eine neue Art befteuern. An Urgumenten und Gegengründen (diefe natürlich 
nur zum Zweck fofortiger Erledigung) fehlts dem Entwurf nit; eine gefchidte 
Ürbeit, die unter der Leitung eines firmen Sieuermannes beraeftellt worden ift 
und wohl ohne ernfte Fährniß in den Hafen gelangen wird. Der Börje war bie 
ganze Steuerouperiure farcimentum. „Nur keine fünftliche Aufregung. Wenn die 
2500 Akttengejelichaften in Preußen bis jegt 22 Millionen Darf Steuern aufs 
gebracht haben, dann werden fie an 44 Millionen auch nicht zu Grunde gehen.“ 
Und die Gas⸗ und Elektrizitätftener? „Die ift ja fo blödfinnig, daB fein Menſch 
uns zumuthen kann, an das Blech zu glauben.“ Schnell fertig ift die Börje mit 
Dem Wort. Aber diesmal wird ber bewährte Cynismus kaum helfen. Die Altien« 
fteuer läßt Sich nicht einfach mit der Erflärung abthun, daß die betroffenen Ge⸗ 
fellichaften fie „ſchon aushalten“ werden. Das erinnert an die befannte Geſchichte: 
„Die Stadt ift rubig; aber die Leute machen Spektakel.“ Die Altiengejelichaften 
werden nicht viel jagen; aber bie Altionäre werden den Mund auftäun. Und da 
ein Altienunternehmen noch immer aus einem Konglomerat einzelner Aktien be» 
fteht, jo wird, wenn bie Aktionäre die Konſequenzen aus den Vorgehen des Fiskus 
ziehen und ihre Papiere verkaufen, von den Steuerobjetten nicht viel übrig bleiben. 

Der Attionär zahlt Steuer aus feinem Einfommen an Dividenden: Die 
Aktiengeſellſchaft als ſolche muß den Gewinn auch verfteuern; und natürlich wirft 
die Höhe ber Steuer, die vom Ueberſchuß abgezogen wird, auf die Dividende. Alſo 
haben wir hier eine Doppelbefteuerung ber Altie. Die Ausfiht auf die Erhöhurg 
der . Brivateinfommenfteuer bereitet Denen, die im glüdlichen oder unglüdlichen 
Befis von Divibendenpapieren find, auch nicht gerade Vergnügen. Man ſollte glaus 
ben, daß die Intimität der Beziehungen des Attionärs zu feiner Gejelichaft und 
deren Ueberſchüſſen nicht beſtritten werden könne. Der preußiſche —— — 
aber fagt (in der Begründung zu feinem Steuergeſetzentwurf): „Bei ber Altien⸗ 
gejellichaft ift der Zufammenbang zwiſchen bem Aktionär und der Geſellſchaft fo 
loſe, daß er die Befteuerung ber Gejellichaft nicht als eine ihn felbft treffende Ber 
loftung empfinbet. Die Borftände der Altiengejelichaften find im Allgemeinen bes 





808 Die Zukunft. 


firebt, an bie Aftionäre in ben einzelnen Jahren möglichft gleichmäßige Dividen⸗ 
ben zu vertheilen. In der Höhe der Dividende wirb daher bie durch bad Bes 
fellfchaftfteuergefeg den Wltierigefellichaften auferlegte, im Berhäliniß zum Gewinn 
nicht beträchtliche Steuermebrleiftung überhaupt nicht zum Wusbrud gelangen, fo 
Daß die Aktionäre in. ihren Bezügen nicht gejchmälert werben.” Dieje Exrflärung 
wird mit- der apobiktiichen Beſtimmtheit des Befegesparagraphen abgegeben; vor⸗ 
her war die Thatjache, daß die Gefellihaften mit befchränkter Haftung von ber 
neuen Steuer frei bleiben, mit der fisfalifchen Abneigung von einer Doppelbe⸗ 
jteuerung begrlindet worden. Daß bie Interpretation des Berhältniffes zwiſchen 
Aktionär und Dividende nicht den Reiz der Neuheit habe, wird Niemand fo leicht 
behaupten. Sehen wir zu, was die Praxis dazu jagt. Nach dem geltenden Modus 
zablen die Aktiengefellichaften eine Staatseintommenfteuer, die 3 bis 4 Prozent 
des Reingewinnes beträgt, ohne daß dabei das Verhältniß des Ueberfchufles zum 
Grundkapital berüdfichtigt wird. Ob die Geiellichaft, die 100000 Marl Gewinn 
zu verfteueru hat, Diefen Ertrag mit einem Ultienlapital von einer oder von zehn 
Millionen Mark erzielte, tft einerlei. Der ſteuerliche Tribut beträgt in beiden Füllen 
3000 bis 4000 Marf, obwohl bei dem Hleineren Unternehmen der Bewinn 10, bei 
dem größeren nur 1 Prozent des Grundlapitald auemacht Darin lag von vorm 
herein ein Fehler des alten Syitems, der aber auch ohne eine fo riefige Mehr⸗ 
beftenerung, wie ber neue Entwurf fie will, befeitigt werden konnte. Rünftig wird 
die Höhe der Steuer nad dem prozentualen Verhältniß von Ueberſchuß und Grund⸗ 
kopital ahgeftuft. Eine Art Dividendeniteuer alfo, mit ber Einfchränfung, daß der 
autgemiejene Neingewinn niemals voll an die Aklionäre vertheilt wird, fondern 
ſich noch allerlei Abzug gefallen lafien muß. So werben die nicht gefeglichen Rüde 
lagen (Alles, was über das geſetzlich vorgejchriebene Minimum hinaus den Re 
ferven zugewiefen wird) Dem Reingewinn entnommen. Die zur Anfammlung von 
Reſervefonds gehäuften Beträge müfjen mit berfteuert werden. Tiefer Zwang wird 
viele Befellichaften beitimmen, ihre Rejerven weniger reichlich zu bemeſſen, um Die 
fteuerliche Mehrbelaftung dadurch, zu Bunften der (troß Nheinbaben) auf Divi⸗ 
denden angemiejenen Aftionäre, auszugleichen. Steuerfrei find die „zulälligen Ab- 
jhreidbungen”. Solche und Ähnlich unklare Begriffe werden den zur Anwendung 
und Uuslegung ber Steuervorfchriften eingefegten Beamten [päter mande frobe 
Stunde bereilen. Das Belek bietet gleichſam eine Prämie auf niedrige Abſchreib⸗ 
ungen. denn e3 bedroht Wbichreibungen, die das „geſetzlich zuläflige” Maß üben 
fteigen, als „verichleierte wirkliche Bermögensrüdlagen”, mit der Berjteuerung. Zu 
niedlich Ueber dem neuen Geſetz follte al$ Motto der Sag ftehen: „Hütet Euch 
vor Reſcrven!“ Der Steuerfisfal will die Altiengefelfhaften einfach zwingen, ihre 
Ueberſchüſſe möglichft ungefchmälert als vertheilbare Gewinne auszuihütten und 
die bisher geübte Praxis der inneren Beiellichaftfeftigung aufzugeben. Ein wunder⸗ 
volles Prinzip, das die ganze „Aftienmoral“ über den Haufen wirft. Die Statiftik, 
Die dem Berfaffer des Steuerporlage zu einem prozentualen Durchſchnittsüberſchuß 
bon rınd 11 Prozent verhiljt, fann auf abjolute Wahrheit kaum Anfpruch erheben, 
ba andere Berechnungen niedrigere Biffern ergeben haben Dagegen wirb fich nicht 
viel ausrichten laſſen; denn die neuen Steuerläge find ftabilirt und werben mit 
der fanatifchen Begeifterung des heulenden Derwiſchs verteidigt werben. Die heute 
no übliche „Reſpektfriſt“ bis zu 344 Prozent Dividende fällt künftig weg. Je 





Rene Steuern 809 


des Gewinnprogenichen muß verfteuert werden. Im Durchichnitt überfteigt ber 
neue Steuerfaß den alten um mehr als bas Doppelte Das läßt fih an jedem bes 
Iuebigen Beiipiel nachweifen. Die Deutiche Bank zahlte für 1907 an Steuern und 
Abgaben 2 38 Millionen. Bei einem Gewinn von rund 80 Millionen oder 15 Pro» 
zent des Aktienfapital® wirbe die Bank künftig 6,8 Prozent oder 2,04 Millionen 
Stantöfteuer zu entrichten haben. Dazu Hundert Prozent Tommunalfteuern und 
andere Abgaben: macht zufanmen mehr als 4 Millionen, alſo 2 Prozent der Didi⸗ 
Denbe. Nun muß man weiter bebenten, baß die allgemeinen Untoften von Jahr zu 
Fahr wachen; und dann bringe man den Muth auf, zu fagen, Die Dividenden der 
Uhtionäre werden durch bie „unerheb:iche” feuerliche Mehrbeloftung nicht berührt. 
Bei ber Allgemeinen Eleltrizität-&efelichaft fteigt die Steuer von rund 1 Millton 
auf 2 Millionen (bei dem Weberfchuß von 1906/07) File die Laurahütte ift der 
Steuerzuwachs auf beinahe 400 000 Marl veranichlagt worden; ftatt der 420 000 
möüflen nun 810 000 Mark (oder 2./, Prozent des Akltienkapitals) dem Fisfus bins 
gelegt werden. Man darf ohne Uebertreibung behaupten, daß bie neuen Steuern Die 
Dividenden ber preußiichen Akliengeſellſchaften um etwa 1%, Prozent kürzen müffen. 
Wer das entftehende Rififo, die Gefahr laxer Bilanzirungporfchriften, nicht fieht, 
wills eben nicht jehen. Hinzu fommt die Angft dor überreichlichen Kapitalver⸗ 
mwöäfjerungen. Die neue Steuer berechnet fidy nach dem prozentualen Verhältniß 
bes Reingewinnes (die Vorlage ſpricht bald von Ueberfhuß, bald von Betriebs⸗ 
gemwian, bald endlih von Reingewinn. Kunterbunt durdeinander Als ob man 
im preußifchen Finanzminiſterium von den burch das Handelsgeſetzbuch eingeführten 
Bezeichnungen feine Ahnung hätte) zum Wltienfapital. Der Höchſtſatz von 7,4 Pros 
zent wird bei 18 Prozent Gewinn erreicht. Nun ift die Sache fehr einfach: 180 000 
Mark Gewinn mahen auf 1 Milton Mart Altienlapital' 18 Prozent aus, auf 
2 Millionen dagegen nur 9 PBrogent. Im eiſten Fall beträgt bie Steuer 7,4 Pro» 
zent, im zweiten Fall nur 5,6 Prozent. Alſo verdünne man die Altienfapitalien 
nad Kräften; das bei der Ausgabe neuer Aktien erzielte Agio braucht ja nicht 
mit verfteuert zu werden. Bei berwäflerten Kapitalien hört aber die Stetig⸗ 
Reis der Dividende, bie Herr von Rheinbaben als eine unveränderliche Größe zu 
jhägen ſcheint, auf. Die Entwerthung ber Aktienrente ift vielleicht Tas bedenklichſte 
Moment der ganzen Steueraktion Denn eine Verminderung der Dividenden löſt 
natürlich feine Sympathie, jondern nur ben Wunfch aus, die Aktien los zu werben. 
Niemand kann gezwungen werben, feine Bapiere zu behalten; alfo muß es zu Maſſen⸗ 
vecfäufen kommen, bie den Kurs berumerdifiden. Da wırd man nicht mehr von 
„buhmäßigen” Verluſien fprechen, die das Kapital betzoffen haben; wer Hunderte 
von Millionen verioren bat, fühlt den Schaden. Damit bezahlt das in den preußiſchen 
Attiengejellichafien inveftirte Bermögen der Bevölkerung bie vom Fiskus gewünſchten 
22 Millionen Mark an Mehreinnahmen aus der Gefellichaftfteuer. Lohnt der Auf⸗ 
wand wirklich den Erfolg? Mir ſcheint, daß gerade Breußen feinen Grund hätte, 
blind auf die Erlangung neuer Steuern loszugehen. Die Berfürzung des Akıtonär- 
gewinnes, die Durch das neue Beleg bewirft werben muß, rächt ſich bei der Ein» 
fommenfleuer. Wer weiß, welcher Ueberfchuß der R-girung fchließlich bleibt? 
Bei den Gejellichaften, Die durch großen Aktienbefig an anderen Unternehmen 
dauernd betheiligt find, wird die Doppelbefteuerung bejonders fühlbar. Zunächſt 
wird der Reingewinn der Untergejellicgaft veritenert; dann im Ueberfchuß der Eentrale 


810 Die Bukmft. 


noch einmal. Die finanziellen Truſtgeſellſchaften find von biefer Doppelbelaftung 
mehr als andere bedroht. Die Deutiche Bank befigt die Aktien anſehnlicher Provinz» 
inftttute (Bergiſch⸗Maͤrkiſche Bank; Schlefiiher Bankverein; Hannoveriche Bank). 
Dieie Banken find nicht völlig in Die Deutiche aufgegangen; fie haben fich ihre Selb- 
ftändigleit bewahrt und werden alfo zur Steuer herangezogen. Die Doppelbefteuerung 
befteht natürlich heute ſchon und wirb nicht erft Durch das neue Geſetz geſchaffen. 
Wichtig ift nur, daß die Erhöhung der Steuer Unternehmen, die Intereſſengemein⸗ 
ſchaften mit anderen haben, Doppelt trifft. Der Effekt ift eine neue Schmälerung 
der Dividende; denn die Ueberichüffe aus den dauernden Betheiligungen find Tür 
sen Geſammtertrag manchmal recht wichtig. Statt der Betheiligung wird man 
fpäter vielleicht die Fuſion wählen. Und man bat fi doch nicht ohne Grund ge= 
fcheut, die Amerikaniſirung unſerer Geſchäfte noch weiter zu führen. Die Steuer- 
furcht verſcheucht aber ſchnell alle Bedenken. Es lebe die Konzentration! Eine vor⸗ 
fichtige Berwaliung wird ihre Ueberſchüfſe mit allen Mitteln vor ber Steuerbehörde 
zu fhügen ver uchen. Und Karl Fürſtenberg wird das vun ihm jüngft propbezeite 
Ende aller Intereſſengemeinſchaften viel raſcher nahen ſehen, als e8 ohne die thätige 
Mitwirkung des preußiichen Finanzminiſters zu erwarten war. Schon find ben be» 
drobten preußiſchen Aktiengefellichaften Rächer“ erftanden. Gewichtige Leute, Die 
zur Schaffung einer Reichsdividendenſteuer aufrufen. Die hat natürlich gerade noch 
gefehlt; und Herr von Rheinbaben fieht nun, wie gefährlich e8 ift, ben Kollegen 
bom „Reich“ zu zeigen, auf welche Art man feine Einnahmen vermehrt. 
Auch die Gas: und Klektrizitätfteuer hat der Börſe feine Angft gemacht. 
Entweder, fagt fie, find die Keiter ber Eleftrizitätgefellichaften vorher gefragt worden: 
dann ſchadet die Steuer nicht: oder fie find wirklich fo entrüftet, wie fie ſcheinen: dans 
wird nichts aus der Geſchichte. Und eine, Verbrauchsſteuer“ wird ja Doc auf den 
Konfum abgewälzt. Bleibt die Frage, ob durch die Bertheuerung ber beiden nicht 
nur dem Luxus, fondern zum größten Theil induftriellen Zweden dienenden Licht» 
und Sraftquellen die Einnahmen der Erzeuger und der Verbraucher ſich fo ändern 
fönnen, daß die Entwidelung baburch gehemmt wird. Diefe Frage kann nicht ver⸗ 
neint werden. Und manche @efellichaft, der die erhöhte preußtiche Aftienfteuer droht, 
fol nun auch im Neich noch mehr gejchröpft werden. Der eleltxijche Strom ift 
durch taufend Sanäle in das gewerbliche Leben eingedrungen. Die Uebertragumg 
ber elektriſchen Kraft von einer Gentrale ermöglicht dem kleinſten Betrieb und dem 
entlegenften Ort bie Benugung der Eleltrizität. Im Bergwerkbetrieb, in der chemiſchen 
Induſtrie, bei ben Straßen: und Borortbahnen ift der elektriſche Strom das Leben 
fpendende Element. Aber nicht jedes Unternehmen rentirt fo, daB es eine ſtarke 
Beriheuerung feiner Kraftquelle vertragen kann. Man denke, zum Beijpiel, an die 
Straßenbahngefellihaften, von denen manche jegt ſchon ihr Kapital unzulänglich 
verzinjen. Gollen fie den Yahrpreis erhöhen, um die Steuer auf das Publikum 
abzumälzen? Die legte Enticheibung liegt bei den Verbrauchern. Können fie höhere 
Ausgaben für Gas und Elektrizität tragen: gut; fonft wiıd der Konjum jich ver- 
ringern und dann find die Produzenten bie Leidtragenden ... AU diefe Steuerpläne 
wären mit größerer Gelaffenheit Hinzunehmen, wenn man ficher jein tönnte, daß 
unferer Wirthichaft herrliche Tage bevorftehen. Wer aber verbüggts? Wenn nicht 
gute Politik gemacht wird, ift auf gute Gefchäfte jelhft unter wolkenlos heiterem Him⸗ 
mel nicht zu rechnen. Und auf gute Bolitit Hofft man bei ung kaum noch. Ladon. 
$ 








Un den Kaiſer vor zehn Jahren. 311 


An den Kaiſer vor zehn Jahren.“) 
urer Majeftät 

> Geftalthat in deneben verftrichenen Tagen öfter als fonft noch die Blicke 
der Bürger auf fich gelenkt. Mit ehrlicher Freude ward es von ernft geftimm- 
ten, dem lauten Gaſſenlärm und der Prunkſucht abholden Deutichen begrüßt, 
als befannt wurde, der Kaifer habe das ſeltſame Anfinnen abgelehnt, die 
furze, vielfach von ſchlimmen Irrungen und Wirrungen erfüllte Zeitipanne 
jeiner Regirung durch ein geräufchvolles Feft zu feiern, und ſchlicht und ftill 
nur, al? ein fromm gläubigerChrift, der Hoffnung Ausdruck verliehen, Gott, 
der über dieſe zehn erften Fahre hinweggeholfen habe, werde aud weiter bel» 
fen. Das klang wohlthuend in dad vom teten Feitlärm überjättigte Ohr und 
nährte den tröftenden Glauben, die leidige Luft an Subelchören, gepußten und 
erleuchteten Häufern, an Menjchenipalieren und buntem Fahnenpomp ent- 
ftamıme einer unterhalb des Thrones gelegenen Region. Dann kam die Kunde, 


*) Bor acht Tagen habe ich hier zwei Aufiäge aus dem Jahr 1892 abgedruckt, Die 
beweijen, daß an dieſer Stelle rüh und deutlich genug gefagt worben ift, was (leider) ges 
fagt werden mußte. Kür dieie Erinnerung haben freundliche Leſer mir gedanlt. Heute 
bringe ich eine andere, die perjünlicher jcheint. Nur jcheint. Der perfönliche Anlaß, der 
mich im Juni 1898 zu dem Brief an den Kaiſer beſtimmte (bie Eröffnung eines Ver ah⸗ 
rens wegen Majeftätbeleidigung, die in dem Artifel „Budel-Majeftät” gefunden werden 
follte), it längft verjchmerzt. Ich bin Damals zu ſechs Monaten jFeftung verurtheilt more 
den; nicht wegen des zuerft infriminirten Wrtifels, in dem das Gericht feine Beleidigung 
fand, aber wegen eines Satzes (den ich deshalb weglaffen mußte) aus dem hier reprodu> 
zirten Brief, eines Satzes, der aus dreizehn Wörtern beftand, und wegen einer Fabel, an 
der heute jelbft der bigigfte Brofurator nicht mehr Anftoß nähme. Berfchmerzt; nicht 
leicht freilich. Der Brief lehrt aber, wie damals die Redefreiheitgefnebelt war; lehrteinen 
BZuftand erfennen,dem das jet von Aller Augen erblidte Unheil entfeimen mußte. Noch 
ein Anderes lehrt bie Rüdichau: daß ſchon damals über die ſelben Uebel zu flagen war, 
die ung heute hart drüden. Schon vor zehn Jahren. Und warum wurden fie nicht lauter, 
nicht nur an einer fichtbaren Stelle beklagt? Warum fandennichtalle Organe der Oeffent⸗ 
lihen Meinung den Muth zur BWahrhaftigfeit? Der Brief giebt die Antwort: weilnicht 
Jeder frei von Koch bourgeoifer Unternehmerbedenken war, benen die Störungder Kon 
junkturruhe der fchredlichfte aller Schreden fchien, nicht Zeder Luft Hatte, ſich Der Sche» 
rerei eines Strafverfahrens auszuſetzen, das, jelbft wenn «3 am Ende ergebnißlos blieb, 
große Opfer an Bei, Nervenfraft, Geld forderte. Private Brofitfucht und Bequemlich⸗ 
feit zeugten die Deffentliche Meinung, die das Volk und den Kaiſer trog. In der Zeit, 
da Deutichlands Bürger ihre äußere Haltung dem Geiſt der „Woche“ anpaßten, ihre in⸗ 
uereStimmung ausdem „Simpliziffimus” empfingen,indiefergeitunwärdigerSchwad- 
heit haben wirs jo herrlich weit gebracht, wie nun uffenbar waıd. 1892, 1898, 1908. Das 
Heft vom fünfundawanzigiten $uni 1898 ift faum noch zu haben; und Einer, der rathen 
und warnen will, hat das Recht, zu bewetien, daß ex die Pflicht nicht verjäumt hat. 





812 | Die Zukunft. 


mehr als zwei Millionen erwadhjener, zur Mitwirkung an den Reichsgeſchäf⸗ 
ten nach der Verfaſſung berufener Männer hätten bei der Wahl ihre Stimme 
für die internationale, in ihrem beſonderen Sinn revolutionäreund nad) eige⸗ 
nem Bekenntniß antimonarchiſche Sozialdemofratieabgegeben; und erſchreckt 
fragte Mandher, wie diefe Botſchaft wohl auf den Träger der Krone wirken 
werde, der in den chärfften und fchroffften Wendungen dad Volk jo oft zum 
Kampf wider dieſe Partei aufrief und nun erleben muß, daß gerade während 
feiner Regirungzeit die Zahl ihrer Anhänger fich faft verdreifacht hat. Uns 
gefähr um die jelbe Stunde erfuhr man, der Monarch habe fich öffentlich zu 
einem Gefühl „tiefer Achtung vor den eraften Wiſſenſchaften“ bekannt; mar 
freute fich diejeß modernen Bekenntniſſes und glitt gern über die heikle Frage 
hinweg, ob ed an die rechte Stelle gerichtet, ob an dem Begnadeten nicht viele 
mehr nur die technijche Geſchicklichkeit und die Gabe, fremde Leiftungen fich 
behend anzueignen und fie Laien elegant vorzuführen, zu rühmen war. Richt 
jo erfreulich Elang das Glaubensbekenntniß, das Eure Majeftätvor den ver⸗ 
jammelten Mitgliedern Ihrer Hoftheater abzulegen für gut hielten. Biele 
Kunftverftändige und fünftleriich Empfindende können die dort ausgeſpro⸗ 
chene Anficht nicht theilen, da8 Theater folle „eine Der Waffen des Herrſchers 
jein und pädagogilch-patriotifchen Zweden dienen; fie können nicht finden, 
daß die Leiftungen der berliner Hofbühnen „in allen Ländern mit Bewun- 
derung” betrachtet werden, jondern fällen gerade über die neuften Leiſtun⸗ 
gen diejer Bühnen ein jehr hartes, ein rũckhaltlos verdammendes Urtheil und 
rathen jedem Ausländer, die deutſche Theaterkunſt an anderen Stättentennen 
zu lernen; fiefind auch nicht, wie Cure Majeftät, der Meinung, daßvon „Ma- 
terialismus und undeutſchem Weſen“ unjerer Bühne heute die ſchlimmften 
Gefahren drohen, jondern find überzeugt, daß ed die Aufgabe de jetzt leben⸗ 
den Geſchlechtes ift, feiner vom Determinismus, von der Entwidelunglehre 
und allen übrigen Ergebnifjen der eben erft von Eurer Majeftät gepriejenen 
eratten Wiſſenſchaften beherrichten Weltanſchauung den künſtleriſchen Aus» 
drud zu fuchen und zu finden; fie glauben, daß die von außen, namentlich 
von Norden, Dften und Welten, gelommenen Anregungen für dad Werden 
unferer Dichtung von ſchwer zu überſchätzendem Werth gewejen find und 
dab es für die deutſche Kunft förderlicher und deshalb auch im höchſten Sinn 
patriotifcher ift, diefen Anregungen großer Europäer zu folgen, ald pomphaft 
aufgepußten Dilettantendramen, nur weil fie dynaſtiſche Legenden lärmend 
zu kurzem Scheinleben geftalten, die Theaterthüren zu öffnen. Doch da fein 
Vernünftiger dem Kaijer das Recht zu freifter Ausſprache der eigenen Mein- 


Un den Kaiſer vor zehn Jahren. 313 


ung beftreiten kann, wurden auch dieje fremd klingenden Worte mit der ger 
ziemenden Ehrerbietung hingenommen. Aehnlich war da8 Empfinden, das 
bald darauf die in Potsdam vor der Front dereibregimenter gehaltene Rede 
hervorrief. Die Klage des Sohnes, der den Schmerz über den Berluft des 
Großvaters und Vaters noch nicht verwunden hat, wecte jyumpathifchen Wis 
derhall und die Klage des Königs, der ſich lange verkannt wähnte, überrajchte 
durch einen aus diejem Munde neuen Ton trübfinniger Refignation. Raſch 
aber meldeten fich doch auch diesmal Bedenken. Hat wirklich nur das Heer 
zuerſt an den dritten Kaijer im Deutjchen Reich geglaubt, ift gerade ihm nicht, 
mehr als irgendeinem anderen deutichen Fürften, dieweitüberwiegende Mehr» 
heit des Volkes mit froh liebendem Bertrauen, wie nur je ein Bräutigam der 
Braut, entgegengelommen? Iſt wirklich die Armee „die Hauptjtüße des Lan⸗ 
ded und des Thrones“, von dem doch in der Volkshymne gejungen wird, daß 
ihn auf ſteiler Höhe nicht Rofje noch Reifige fichern, daß nur des freien Man⸗ 
ned unerzwungene Liebe ihn wirkſam zu hüten vermag? Und kann ed heut- 
zutage, in der Zeit der allgemeinen Wehrpflicht, überhaupt nützlich fein, daß 
Heer, durch defjen ftrenge Schule jeder waffenfähige Mann zu gehen hat, als 
eine in fich abgejchloffene, zu begrenzende Kafteneinheit in einen Gegenfat 
zu der Mafle des Volkes zu bringen? Der Armee hat, wie Eurer Majeftät 
befannt ift, auch die große Mehrheit der zwei Millionen Männer angehört, 
die jebt für die Sozialdemokratie geftimmthaben; auch fiethaten im Waffen⸗ 
rod ihre Pflichtund eigneten fi) da den vieleicht wichtigften Theil der Fähig⸗ 
keiten an, die fie nunzu brauchbaren Werkzeugen einer antimonarchiſchen Be⸗ 
wegung machen: den blinden Gehorſam, die ftraffe Disziplin und die Beſchei⸗ 
deuheit,die fich damitbegnügt, in einem riefigen Majchinenbetrieb ein kleines, 
unfcheinbared Rädchen zu jein. Wenn die Armee den jungen Kaiſer mit ges 
troſtem Vertrauen begrüßte, dann kam dieſes Vertrauen aus der inftolzer Ju⸗ 
gendkraft prangenden Generation, die damals das Heer bildete und heute, ob⸗ 
wohl fie zum großen Theil Sozialdemokraten wählt, noch nicht aus dem 
Heeresverbande geſchieden iſt. Der Gegenſatz, den der Kaiſer zu ſehen glaubt, 
iſt, ſo dachte das Volk, in der Wirklichkeit unſerer deutſchen Zuſtände, die keine 
Prätorianer kennt, nicht vorhanden. Und kaum war das Staunen über dieſe 
Rede verhallt, da kam auch ſchon die Nachricht, wieder ſei ein Blattkonfiszirt, 
wieder ein Verfahren wegen Majeſtätbeleidigung eingeleitet worden. Wie viele 
Prozeſſe ſolcher Art werdenwirnocherleben? Wird die Sozialdemokratienicht 
ttiumphirend nächſtens die Ziffer veröffentlichen, die mit Majeftätprogefjen 
in diefen zehn bangen Fahren erreicht worden ift, und auf ihre Art jo dad 


314 Die Zunft. 


Subiläum feiern? So fragte man flüfternd ringsum. Und Die ſich das ver⸗ 
botene Blatt, in dem fie Yürchterlichesfinden zu müffen erwartet hatten, ind» 
geheim noch verfchaffen konnten, jchüttelten, beinahe enttäufcht, die Köpfeund 
fragten beängftigtweiter: Iſt es möglich, daß in einem modernen Lande Solches 
geſchieht, möglich, daß der Deutſche Kaiſer ſich durch dieſen harmloſen Artikel 
beleidigt fühlt, der offenbar geſchrieben wurde, um einen häßlichen und ge⸗ 
fährlichen Verdacht von der Majeftät abzulenken? Sollen wir in der Stick⸗ 
Iuft der &unuchenpreffe den freien, erfrifchenden Athemzug mählich verlermen, 
der dad Germanenthum Sahrhunderte lang Kraft Ichöpfen lie? Wieder ver« 
ſtand dad Volk jeinen Kaiſer nicht, wieder erwachte, wie jo oft ſchon, ſeit Cure 
Majeftätdem Vater aufden Thron gefolgtift, dieSorge, ob nicht binnen kurzer 
Frift die monarchiſche Entwidelung uns ſchwere Krijen heraufführen werde. 

Das konfiszirte Blatt ift die „Zukunft“, der angeblich das Majeität- 
recht verlegende Antifel ift von mir gejchrieben. Da die Angelegenheit mich 
alſo leider jehr perjönlich betrifft, bitteich um die Erlaubniß, zunächſt darüber 
Iprechen zu dürfen. Ste*) werden gleich jehen, daß eö ſich nicht, wie es jcheint, 
um eine perjönliche, dad öffentliche Intereſſe nicht berührende Sache, jon= 
dern um ein jehr ernſtes Symptom handelt. 

Als der dad erfte Tahrzehnt Shrer Regirung endende Tag nahte, lad 
man in manchen Blättern präludirende Artifel, nach deren Schilderungen im 
Deutichen Reich Alles über jeden Begriff herrlich beftellt jein müßte. Kein 
Schatten einer Verftimmung zwiſchen Kaijer und Volt, keine Spur einer 
Minderung des deutichen Anjehens in derWelt, — im Gegentheil: ein wun⸗ 
derpolled Wachſen, Blühen und Gedeihen unterdem Szeptereined Monarchen, 
den die große Mehrheit der Nation in überjchwänglicher Liebe verehrt und 
um den ringsum und alleBölfer der bewohnten Erde beneiden. Mir wurden 
jolche Artikel, wurden Gedichte und Anzeigen von Zubiläumöwerfen, die buch» 
händlerijche Spekulation zu dieſem Tage jpenden zu jollen glaubte, in ganzen 
Haufen ind Haus geſchickt. Sie ärgerten mich; denn fie widerjprachen der 
Wahrheit, auch der jubjektiven, zu der die Verfaſſer fich unter vier Augen be⸗ 
fennen würden. Soll, jodadhteich, dad alte, unwürdige Spiel fortgejeßt, ſollen 





*) Wenn ich mirim Folgenden geftatte, den Kaiſer einfady in der üblichen Plural⸗ 
form der bürgerlichen Geſellſchaft anzureden, jo weiß ich, daß dieje Form nicht bem 
Kurialftil entfpricht, bemerfe aber, für ftrebfame Staatsanwälte, daß fte in ber füge» 
nannten getragenen Rede längft Heimathrecht erworben hat und daß Georg III. von 
England ſich von Junius und jeldft der ſpaniſche Philipp von Poſa jo anreden ließen, 
ohne darob beleidigt oder auch nur verfiimmt zu fein, 





An den Kaiſer vor zehn Jahren. | 815 


die unheilvollen Berjuche, den Kaiſer über die wahre Stimmung zu täufchen, 
auch bei diefem Anlaß erneuert werden? Das Bolt ift mißtrauiſch; es kratzt 
gern, nach neugieriger Kinder Art, von flimmernden Gegenftänden den Gold⸗ 
firniß ab, glaubt gern, daß auch die durch ihre Geburt hoch über die Maſſe 
Erhöhten Kleiner Menſchenſchwäche zugänglich find, und Fichert vergrrügt, 
wenn ed unter dem Purpur die Fleiſchfarbe entdedt. Es will einen Herrn 
haben, aber dieſes Herrn Weſenheit ſoll ſich von der eigenen nicht allzu jehr 
unterjcheiden. Werden ihm nun Schriften gezeigt, die den Monarchen im 
niederften Schranzenftil verherrlichen, dann ift e8 ſchnell mit der Anficht bei 
der Hand, joldhe Hymnen müßten doch wohl nad; dem Geihmad des Be 
jungenenjein. Und diefe Meinung muß jelbftim Hirn derBerftändigen Wurzel 
\hlagen, wenn ihnen geſchwätzig erzählt wird, der Gefeierte habe ſich „huld- 
volift zur Entgegennahme" eines Buches „bereit erflärt“, in dem er als ein 
auf allen Gebieten menſchlicher Bethätigung zur Meifterfchaft Herangereifter 
geichildert wird und defjen Abjah die Unternehmer im Proſpekt durch die Be⸗ 
merkung zu mehren juchen, die Lifte der Befteller werde Ihrer Majeftät der 
Kailerin unterbreitet werden, die einen Theil ded Ertrages wohlthätigen 
Werken zuwenden wolle. Ein folcher Proſpekt, einer von vielen, wurde mir, 
mitrecht unfreundlichen®lofjen einesBernunftmonardhiiten verjehen, gefandt 
und ftimmte den Sinn zu allerlei ernften Gedanken. Es ift nicht möglich, 
dachte ich, daß der Kailer an dieſen Dingen, die jo übel nach Byzanz duften, 
im Innerſten Freude hat, nicht möglich, daß ed ihn befriedigen fann, wenn 
er erfährt, in derThiergartenftraße, wo man doch feinen Grund hat, fich für 
den Bau neuer Broteitantijcher Kirchen befonders zu erwärmen, ſeien jo und 
jo viele Sremplare von Zeuten gefauft worden, die ihretamen vor da8 Auge 
feiner rau bringen möchten, — wie es ihm auch nicht angenehm jein kann, 
dab auf Plakaten und in Thenternotizen jein hoher Titel zu Reklamezwecken 
mißbraucht wird. Er läßt wohl, weil er fie nicht hindern Tann, den Dingen 
ihren Lauf, lobt vielleicht auch den Eifer der Unternehmer; aber einer innerften 
Neigung entipricht ſolches Gebahren ficher nicht. In dieſe Stimmung wehte 
der Zufall die Erinnerung an Laboulayes reizvolle Märchen vom Prince- 
Caniche hinein. Das weltberühmte, durch Geift und Örazieentzüdende Bud) 
ihildert, wie ein edler Fürftenfohn allen Verſuchen der Byzantiner, ihn zu 
verblenden und zum Tyrannenwahn zu erziehen, ſiegreich widerfteht, weil 
die Erfahrungen, die er jelbft macht — der Märchendichter läßt fie ihn als 
Pudel machen —, ihn zu ganz anderer Anſchauung und zu weijer Selbtbe- 
ſcheidung führen. Hyazinth hat als fünfzehnjähriger Prinz, deſſen Geiſt eine 


316 . Die Zukunft. 


ſchlechte Tradition verwirzte, die eigene Kraft überjchäbt, jeiner Körperftärle 
und namentlich jeiner Intelligenz zu viel zugetraut, aber er findet fich, als er 
auf den Thron gelangt ift, bald jelbft und wird nicht nur ein guter König, 
nein: ein Mufterbild moderner Monarchentugend. Da hatte ich ja, was ich 
brauchte, um die auch in loyalen Gemüthern entftandenen Zweifeljchnellund 
Hoffentlich für immer zu verſcheuchen. Wilhelm der Zweite gleicht, wenn er 
ihm je glich, nicht mehr dem Prinzen, gleicht, wenn mein Blic nicht trügt, 
noch nicht dem König Hyazinth: er fteht in der Mitte des von jedem tem» 
peramentvollen, mit einem reichen Erbe beſchenkten Monarchen zu durch⸗ 
mefjenden Weges und erſt das zweite Regirungjahrzehnt kann über fein Cha⸗ 
rafterbild volle Klarheit jchaffen. Jetzt aber, gerade jebt, nad) dem von der 
Profitſucht bewirkten Subiläumslärm und nach den Wahlen, ſchien mir die 
Stundegefommen, wo man andeuten durfte und follte, wie eine ſympathiſche 
Monarchenperjönlichleit dad Herandrängen byzantinijcher Kiebedienerei em- 
pfinden muß, wie fie dad Maß ded eigenen Weſens viel richtiger und viel be- 
jcheidener zu beftimmen weiß als der Troß der Heinen Leute, die fie, gefchäftig 
wedelnd, umdienern, weil fie dabei einen fetten Biffen oder mindeftend einen 
Huldbeweis zu erſchnappen hoffen. Der in der Kleinen Fabel jkizzirte König 
weiſt allzu hitzige Bewunderer in ihre Schranfen zurüd und befennt fich zu 
Anfichten, die jeden Monarchen zieren müßten. In der Märchenwelt könnte 
er jo ſprechen, wie ich ihn ſprechen lieb, fönnte er auch die Einftampfung von 
Schriften befehlen, deren Geruch ihm nicht wohlgefällig ift. In dergemeinen 
Wirklichkeit hat der moderne Monarch dieſe Macht nicht, ſpricht er auch wohl 
vor Privatperjonen aus einer ihm fremden Geſellſchaftſchicht nicht feine ge: 
heimften Gedanken aus. Iſt e8 aber beleidigend, anzunehmen, daß auch ein 
moderner Monarch über byzantinijche Regungen im Innerften wenigftens ſo 
denkt, wie der zum Muth der Wahrheit gereifte König Hyazinth in der Zabel 
darüber ſpricht? Iſt ed eine Verlegung ded Majeitätrechted, wenn man dem 
Volk jagt, es folle den Monarchen nicht für Erjcheinungen verantwortlich 
machen, die er gewiß mit nicht geringerem, vielleicht mit größerem Unwillen 
fieht, ald die Maſſen jelbft fie jehen? Kann ed im Jahre 1898 einem Mon= 
archiſten im Deutjchen Reich verboten jein, in einer kleinen Sabel, deren Held 
der wärmften Eympathien würdig ift, zu zeigen wie eine edle, durch ſchmerz⸗ 
liche Erfahrung geläuterte Monarchennafur allzu befliffene Berherrlihimgen 
als unerfreulich empfindet, — jchon, weil fie fühlt, daß ſolche unerbetenen 
Dienfte dem Volkein faljches, gefährliches Bild ihres Mejend geben können? 

Diefe drei Fragen hat ein von der Staatsanwaltichaft veranlaßter 





An den Kaiſer vor zehn Jahren. 317 


Amtsgerichtsbeſchluß bejaht. Anno 1898. Wer an die neue und neuſte Ge⸗ 
richtspraxis nicht gewöhnt iſt, wird ſtaunend forſchen, wo denn die Beleidi- 
gung der Majeftät in einem Artikel wohl zu finden fei, in dem der Kaiſer 
nicht mit einer Silbe erwähnt wird und in dem er, wenn jein Weſen wirklich 
der Pudel: König verkörpern jollte, doch nur in der anmuthigften Geftalt er⸗ 
Ichiene. Und der Forſcher wird weiter fragen, ob ein Märchen, das in Frank⸗ 
reich vor einunddreißig Jahren, in der ſchlimmften Zeit der er napoleonijchen 
Büdhercenfur, in den Tagen des erbitterten Bolizeifampfes geg gegen Nocheforts 
Lanterne, unbeanftandet blieb, heute im Deutſchen Reich den Thatbeftand 
eined Majeftätverbrechens enthält, — vielleicht auch, ob nicht viel eher die 
Annahme beleidigend gewejen wäre, der Kaiſer könne mit innerem Behagen 
auf die üppig and Licht wuchernden byzantiniſchen Künfte blicken, könne fich 
freuen, wenn er lieft, daß er auf allen Gebieten menſchlicher Bethätigungein 
Meifter ift, könne am Ende gar befriedigt ſchmunzeln, wenn der von feinem 
Wink abhängige Theaterintendant ihm ind Geficht zu jagen wagt: „Nur 
unter den Augen Eurer Majeftät, nur dem weiſen Rath, denallzeit das Rich« 
tige treffenden Anweifungen, dem hohen und feinen Kunftverftändnik, dem 
umfafjenden®iffen Eurer Majeftät ift es möglich gemwejen, die Königlichen 
Theater jo weit zu bringen, daß ihre Aufführungen, wie ich jagen darf, mit 
wenigen Audnahmen wohl jederzeit ald Barade- und Feftuorftellungen vor 
Eurer Majeftät gegeben werden könnten.“ Die Annahme, ſolches Gerede 
*Tönne den Kaiſer erfreuen, würde auch ich heute noch für ungerecht, für belei- 
digend halten; fie zu entwurzeln, war der Zweck der kleinen Kabel; und faum 
Etwas fonnte mich mehr überrafchen als der Verfuch, in ihr eine Kränkung 
des Kaiſers zu finden. Da ich aber recht oft ſchon dad Objekt der vivijeftori- 
chen Bemühnngen ſtrebſamer Stantdanwälte geweſen bin, habe ich mich in 
die dunklen Gedankengänge ſolcher Herren nachgerade hineinfühlen gelernt 
und fann mir auch jetzt ſchon ungefähr vorftellen, wie fie ihre übereilte An⸗ 
Tlageipäterbegründen werden; bei folchen „Begründungen“ wird faft immer 
ja nad) dem Sat Edmonds Scherer verfahren: „Rien n’est plus repandu 
que la faculté de ne pas voir ce qu’il ya dans un article,el.d’y voir ca 
guin’y est pas.* Ein Herr in der Robe wird fich aljo am feſtgeſetzten Tage 
des Termined vom Sit erheben, das Barett aufftülpen und jprechen: „Der 
Angeklagte macht geltend, er habe einen der höchften Eympathie würdigen 
Monarchen geichildert und ihn Worte Iprechen laſſen, die jedem Herrjcher zur 
Ehre gereichen müften. Das ift unbeftreitbar richtig, wird auch von der An« 


Tlagebehörde natürlich nicht beitritten. Da aberdem Angeklagten befanntwar, 
24 


318 Die Zukunft. 


dab unſeres Kaiferd Majeftät nicht jo zu reden geruht haben, wie er jeinen 
Fabelkönig reden! läßt, wollte er einen Vergleich heraufbeſchwören, der die 
Allerhöchfte Perſon zu verhöhnen und verächtlich zu machen voll und ganz 
geeignet ift. Er wollte ſagen: So müßte ein guter Monarch ſprechen, — fragt 
Euch, IhrLeſer, alfo ſelbſt, ob Einer, der nicht jo jpricht, ein guter Monarch 
fein kann!‘ Der Angellagte hat demnach die Abficht, des Kaiſers Majeftät 
herabzuſetzen, "in ſein Bewußtſein aufgenommen; er hat freilich, aus dem Ge⸗ 
fühl einer Vorſicht, die man weniger höflich auch Feigheit nennen könnte, die 
Folgerungen feinen Leſern überlaſſen, mindeſtens aber mit unbeftimmten 
Dolus gehandelt und deshalb habe ich, im Intereſſe der durch ſolches Treiben 
gefährdeten Rechtsordnung, zu beantragen“.. und jo weiter. Vorher aber wird 
ex ſich emſig bemühen, dem Gerichtshof zu beweiſen, alles Ungünftige, was 
über den Prinzenknaben Hyazinth geſagt iſt, müffe unbedingt auf den Kaiſer 
bezogen werden, während die überaus günftige Schilderung des Königs Hya⸗ 
zinth für, das Urtheil gar nicht in Betracht kommen fönne... Sch will nicht 
erſt fragen, ob ſolche Gefinnungriecherei, ſolches Schnüffeln nad} Anjpielun- 
gen überhaupt derRechtöpflege eined modernen Landes würdig ift, nicht prü- 
fen, was mit ſolchen Waffen gegen Treitſchkes Charatteriftil Friedrich Wil 
helms des Vierten audzurichten gewejen wäre. Aber ift dem begründenden 
Staatdanwalt der Unterschied zwilchen dem Märchenftil und den Xebensfor- 
men unjerer Alltäglichfeiten denn wirklich unfaßbar? Weib er nicht, daß im. 
der Märchenmwelt, wo Baum und Buſch, wo Alles, was freucht und fleucht, 
mit menschlicher Stimme und menſchlichem Intelleft begabt ift, jedes han- 
delnde oder leidende Weſen auöfprechen darf und muß, was ed in der Wirk- 
lichkeit ſchweigend fühlen würde? Und hat er nicht einmal bemerkt, da ich: 
felbft in der Märchenform noch ausdrücklich jagte, der Bericht über die Rede 
des Königs entftamme wahrjcheinlich einem Organ der Umſturzpartei (einer 
märchenländifchen Umfturzpartei, die, nach alter Legendenfitte, den König 
gegen die Kamarilla auszufpielen verſucht), während dad unter minifterieller 
Verantwortlichkeit redigirteRegirungblatt feine Silbe davon mittheilte Mit 
faft zu derber Deutlichfeit wies dieſe Bemerkung den Leſer doch darauf hin, 
nicht in offiziellen Berichten etwa dad Echo des Empfindend zu ſuchen, das 
in der Seele eines Monarchen lebt, und ſich durch die Kahlheit jolcher Be: 
richte nicht den Glauben an den guten Geſchmack eines Regenten rauben zu 
laſſen. . . Wenn man den kleinen Artikel jo verſteht, wie er gedacht ift und 
von Unbefangenen nur aufgefaßt werden kann, aufgefaßi worden ift: wo 
bleibt dann die Epur einer beleidigenden Abficht oder Wirkung? 





An den Kaifer vor gehn Jahren. 319 


Ich jehe dem Prozeß feelenruhig entgegen. Roh find wir am Ende doch 
nicht,ſo weit, dag man im Deutſchen Reich Richter finden könnte, denen die- 
jer Artikel hinreichenden Stoff zu einer Verurtbeilung böte. Wären wir jo 
weit, dann hätten wir allzu redlich den Hohn des Auslandes verdient, das 
Ichon jeßt von dem Khalifat Deutichland fich höhniſch zu raunen’erdreiftet. 
Dann wäre der alte Ruhm deutſcher Rechtöpflege im Fundament erjchüttert 
und Treitſchkes wehmüthiges Wort furchtbare Wahrheit geworden, daß eine 
ernfte Publiziftik bei uns nicht mehr möglich ift. Dann müßten wir auf ge- 
frummten Knien um gnädige Wiedergewährung der alten Präventivcenſur 
betteln, deren Auftände im Vergleich mit den heutigen paradiefifch zunennen 
wären. Aber wir find nicht jo weit, Tönnen fo weit nicht fein, — und deöhalb 
will ich nicht bärmlich über die neue ſchwere Schädigung jammern, nicht fra⸗ 
gen, ob der Anblick ſolcher Prozefie die zufammenfchrumpfende Schaar der 
monarchiſch Gefinnten mehren und die Fremden lehren kann, wie herrlich 
unter dem Szepter des dritten Kaiſers in Deutjchland Wohlfahrt und, Frei⸗ 
beit blüht. Eine Enttäufcgung ift diesmal jelbft dem Beifimiften nicht denk⸗ 
bar; denn dad Gericht, das mich verurtheilte, ſpräche damit ja aus, mein 
Slaube an den guten Geſchmack und den befcheidenen Sinn des Monarchen 
fei unberechtigt gewejen. Sch werde mir diefen Glauben durch feine Tölpelet 
des Mebereifers zerftören laffen und nicht wanfend werden, wenn zur Ab» 
wechſelung auch einmal ein juriftiſcher Staatöbeamter das Bedürfnik fühlt, 
fich im hellften Licht zu blamiren. Sch werde weiter derieberzeugung leben, 
daß Wilhelm der Zweite jo denkt, wie ich Laboulayes Hyazinth ſprechen ließ. 
Und wenn ich offiziell und ungweideutig darüber belehrt werden follte, daß 
er wider Erwarten nicht jo denkt, dann werde ich mir jagen: Er kennt die 
Stimmung des Volkes nicht, hält, was Fünftliche Mache, was der Brunft- 
Schrei der nach Gunft oder nach Vortheilgierigen Profitwuth ift, für das Echo 
der Wahrheit und glaubt, der Volksſtimme, mag fie ihn mit der Schmeidhel> 
ſucht der Liebe auch nach feinem Gefühl überjchäten, den Weg zu jeinem Ohr 
nicht verſperren zu dürfen... Und hier wird die jcheinbar private zuröffentlichen 
Angelegenheit; hier mündet die Klage des Einzelnen in die Bejorgniß eines 
großen und wichtigen Theiled der deutjchen Volksgemeinſchaft. 

„Site“, jo ſprach Sunius einft zum dritten Georg, „es ift das Unglück 
Ihres Lebens und die tieffte Urfache der unheilnollen Erfcheinungen, die wir 
unter Ihrer Regirung erleben mußten, dab Sie die Sprache der Wahrheit 

- nicht hören, fie in den Klagerufen Ihres Volkes nicht belaujchen können. Noch 


find wir bereit, alle bejammernöwerthen Vorgänge zu vergeffen und auf das 
24* 


| 320 Die Zukunft. 


natürliche Wohlwollen Ihres Weſens die ftolzeften Hoffnungen zu jeßen. 
Weit find wir von dem Gedanken entfernt, Shre Abficht könne übel, könne 
auf die Zerftörung der Grundrechte gerichtet fein, auf denen alle bürgerliche 
und politifche Freiheit in Ihrem Lande beruht. Nährten wir einen für Ihr 
Anjehen ald eines gewifjenhaften Königs jo ſchimpflichen Verdacht, dann 
würden wir für unjere Vorftelungen ſchon längft nicht mehr den Ton de- 
mäthiger Klage wählen. Englands Bolt hält dem Haufe Hannover die 
Treue, nicht, weil es eine Familie der anderen vorzieht, jondern, weil esüber⸗ 
zeugt ift, dab für die Erhaltung feiner bürgerlichen undreligiöjen Freiheiten 
die Herrichaft diefer Familie nothwendig war und tft. Ein Fürft, der dem 
böjen Beilpiel der Stuarts folgen wollte, follte gerade durch dieſes Beifpiel 
belehrt und gewarnt werden und, ftatt fich ftolz feines hohen Königätitel zu 
rühmen, lieber ftill bei fi) bedenken, dab Kronen in Revalutionen nichtnur 
gewonnen, nein, auch verloren werden können.“ Die Verhältniffe lagen in 
mancher Beziehung damals in England anders ald heute im Deutjchen Reich; 
und mir fehlt die Kraft, die ded Junius Stimme weithin durch die Lande 
trug. Richt zum Wortführer der deutichen Nation bin ich berufen, fondern 
nur, wie ich vor ſechs Jahren ſchon fchrieb, zu der Role des Knaben, der in 
Anderſens Märchenfatirevon des Kaiſers neuen Kleidern dem von den Schran- 
zen belogenen Monarchen die Wahrheit jagt. Das habe ich, jo weit meine 
Kraft ed erlaubte, oft gethan, ganzdireltund unzweideutig, ohne Berhüllung 
und mit einer Schärfe, die der jegt infriminirte Artifel nicht annähernd er- 
reicht. Vielleicht wurde diejer harmloje, nah an allzu zärtlicheö Vertrauen in 
die Urtheilöfähigkeit eines perjönlich mir doch Unbekannten ftreifende Arti- 
fel auch nur herausgeſucht, auf daß man den Richtern vorreden könne, e8 ſei 
meine Art, Bosheit in die Falten eines Fabelgewandes zu wideln. Wenn 
dieje freundliche Abficht beftünde, würde fie vereitelt werden. Man greife 
den ſchärfſten Artifel heraus, den ich je über ein Wort, eine Handlung Wil- 
helms des Zweiten gefchrieben habe, Flage mich als Verfaffer diejes Artikels 
an: und ſehe zu, ob jelbit in der erregten Rede die gute Abficht jo verfannt 
werden kann, dab eine Berurtheilung möglich wird. Aber man wage wenig- 
ftens, diefen Weg offen zu bejchreiten. Soll ich ſchon wiederum vor dem Rich⸗ 
terftehen, dann willicy nach meinen ernften Bemühungen, nicht nad} einer im 
Märchenreich erwachjenen Unbeträchtlichkeit, beurtheilt fein. Sm Deutjchen 
Reich ift heute, wie einſt im Englanddes Junius, nichts wichtiger als daß an einer 
Stelle mindeſtens noch die ſubjektiver Ueberzeugung entſpringende Wahrheit 
rũckhaltlos ausgeſprochen wird; vielleicht dringt ſie dann doch auf die Höhe des 





An den Kalfer vor zehn Fahren. 321 


Thrones. Man kann mir durch fortgefeßte Tracafferien, durch Verbote, An⸗ 

Magen und Konfisfationen, dad Leben völlig verefeln, mich, dergernden Reft 
feiner Nervenkraft retten möchte, zur &inftellung meiner Thätigfeit zwingen. 
So lange ich aber noch Athem habe, jo lange ich auf diefem Boften nicht von 
dem befjeren Mann, den ich herbeiſehne wieden Befreier, abgelöft werde, wird 
nicht, gar nichts, mich hindern, audzufprechen, waßift. Und wenn der Wunſch, 
mid) ind Gefängniß zu bringen, endlich erfüllt, wenn auch jeder Andere, der 
noch ein offened Wort zu jagen wagt, unſchädlich gemacht würde: was wäre 
dann gewonnen?... Schopenhauer jchrieb einmal: „‚Die Wahrheit ſteckt 
tief im Brunnen‘, hat Demofritos gejagt und die Jahrtauſende haben es ſeuf⸗ 
zend wiederholt. Aber es ift fein Wunder, wenn man, jobald fie heraus will, 
ihr auf die Finger ſchlägt.“ Mich mag man in täppiſchem Eifer auf die Fin- 
ger ſchlagen, meinetwegen auch auf den Kopf; an mir liegtnichts. Damit man 
aber fieht, daß mid) das Ausholen zum Schlagenochnidytiwie einen Sammer» 
mann erjchlottern läßt, will ich, was mir wahr fcheint, wenigftend gründlich 
fagen, — auf die Gefahr, der Strebjamfeit neues, Material 'zu[neuen „Bes 
gründungen“ zu liefern." 

Sie werden, Herr Kailer, ſchmählich jeit Sahren belogen. Die Stim- 
mung ift nicht fo, wie fie Ihnen geichildertwird, ift vielmehr ſo, daß die wãrm⸗ 
ften Anhänger der Monardjie fiebefümmert, mitwachfender Bejorgniß jeftn. 
Ihnen hat man, wie ic) annehme, gejagt, zuerft habe die von Friedrichsruh 
geipeifte Bismardfronde, dann die Agrarfronde gegen Shr Anfehengewühlt; 
Beider Tüde, jo fahren die Tuſchler wohl fort, ſei ſiegreich längft durch die 
Macht Shrer ftrahlenden Perjönlichkeit überwunden, der fich der Erdkreis in 
Bewunderung beuge, und nun ſchalle, außerhalb des Lagers der rothen Rotte, 
nur eine hell jauchzende Stimme des Jubels über Shre Reden und Thaten 
durch dad deutiche Land. Als Beweisſtücke werden Ihnen dann wahrſcheinlich 
Zeitungausfchnittenorgelegt, aus denen das höchſte Lob Ihnen entgegenklingt. 
Das Alles ift unwahr. Die Subelartifel werden bei Parteiführern beftellt, 
Denen man ind Ohr flüftert, es jei für die Fraktionzwecke nüglich, den Kaijer 
bei guter Laune zu erhalten, oder fieentftammen dem Gejchäftsfinn derBour- 
geoifie, die aus Plusmacherfucht um jeden Preis die Ruhe bewahrt wiſſen 
möchte und erft ungeberdig werden wird, wenn eines häßlichen Tages derfleinfte 
Konflikt die Schachermachei und deren heiligſte Güter bedroht. Die Leute, 
die, weil der Brotherr es heiſcht, dieſe Artikel ſchmieden müſſen, glauben kein 
Wort von Dem, was ſieſchreiben; fie fiten, während an Daumen und Zeiger 
finger noch dieZintenfpur lebt, abends im Wirthhaud underzählen einander 


322 Die Zukunft. 


Kaijeraneldoten. Genau dad Selbe thun die Offiziere in den Kafinos, idie 
Beamten in den Minifterien und Bräfidialbureaur. Die Eonjervativen Ab» 
geordneten, die in dröhnendem Prologpathos ihre monarchiſche Gefinnung 
betheuern, haben ihrem Gutönachbar eben den neuften Hofllajch über Sie 
mitgetheilt. Die Herren;vom Hofdienft, die Ihnen aufwarten, haben aus dem 
Simpliziffimus oder dem Kladderadatſch in wonnigem Behagen eben eine 
möglichft gepfefferte Anſpielung auf Ihre lebte Soldatenrede geſchluckt. Und 
die Richter, die eben einen Beleidiger der Majeftät ind Gefängniß ſchickten, 
jhlürfen grinjend beim Frühſtück den neuſten Kaiſerwitz ein, der geftern in 
einer Gejellichaft hoch betitelter Männer von Mund zu Munde ging. Dat 
jolche erbärmliche Heuchelei;dem deutichen Boden entleimen konnte, dünkt 
Sie undenkbar. Thun Sie den Männern nicht Unrecht, von denen ich ſprach! 
Sie find Ihnen treu, lieben die Snftitutionen, deren Vertreter Sie find, und 
wären glücklich, wennfienieeinunfreundlich ritiftvendes Wortüberden Mon⸗ 
archen hören müßten. Aber fie hören ed überall; denn wo heute zwei Mon- 
archiften, die einander,der Denunziantenichmacdh nicht für fähig halten, bei- 
ſammen ſitzen, da wird diejeg Thema berührt; muß ed berührt werden, weil 
faft jeder öffentliche Vorgang, jedes politifche, wilfenjchaftliche oder fünftle= 
rilche Ereigniß den Betrachter ſchnell auf Sie und Ihre Stellung zur Sache 
zufüidführt. Wenn alle Leute, die bei joldem Anlaß gegen die firenge Aus» 
legung des Strafgejeßes verftoßen, von Ihren Staatsanwälten der Majeflät- 
beleidigung angeklagt würden, ſäße bald die ganze Elite des deutſchen Volkes 
hinter Kerfermauern und die Welt würde beflommen dann erkennen, daß 
Treitſchke Recht hatte, ald er zu Jſagen pflegte, jeder ehrliche Royaliit ſündige 
heutzutage mindeitensjeinmal in jedem‘ Monat gegen den Majeltätparagra= 
phen.Stedürfen nicht zürnen, wenn von dieferallgemeinenStimmung nachund 
nad) auch die Männer angeftedt worden find, die in Ihrem Namen das Recht 
ſprechen, Rekruten drillen und Verfügungen ins Land gehen laſſen. Keine Bis⸗ 
mardfrondeund keine Agrarfronde hat dieſeStimmung erzeugt: eine Reihe un⸗ 
ſeliger Mißgriffe und Mißverſtändniſſe hat fie geſchaffen und Bismarck hat, mit 
ſeinem weit vorausſchauenden Blick, nur früher als Andere die dräuend herauf⸗ 
ziehende Gefahr erkannt. Laſſen Sie mich über die Urſachen der monarchiſchen 
Kriſis heute ſchweigen. Sch habe ſie oftzu ſchildern, oft die Hinderniſſe einer Ver⸗ 
ſtändigung aus dem Wege zu räumen verſucht und es ſcheint mir nicht gezie⸗ 
mend, in direkter Rede jetzt hier früher Geſagtes zu wiederholen und einem Kai⸗ 
ſer ins Geſicht vorzurũcken, was er nach meiner Anſicht in ſeinem Wandel etwa 





. Un den Kaiſer vor zehn Sahren. 323 


verfehlt haben könnte. Eins nur will und muß ich noch jagen: Die monarchiſche 
Mehrheit des Volkes fürchtet, daß die Freiheit Ihres Auges durch eine Binde 
gehemmt ift, die ſchlaue Höflingskunſt der Liebediener fältelte und ſchlang, 
und daß, wenn diefe Binde nicht ſehr bald entfernt wird, die Möglichkeit har- 
moniſchen Zufammenwirfens von Kaiſer und Bolt raſcher und völliger ver» 
nichtet werden muß, als Sie in der königlichen Einſamkeit ded Hofgetriebes 
Heute noch zu ahnen vermögen. 

Das ift meine Wahrheit, ift die Wahrheit, die taufend ernfte, ihrem 
Kaijer treu ergebeye Männer täglich ausftöhnen und in deren Dienft auszu⸗ 
harren fie mich in ergreifenden Briefen beichwören. Nicht mir, dem unbe⸗ 
quemen Schreiber, ſollen Sie glauben. Fragen Sie Ihre Minifter, und wenn 
Die nicht Hipp und klarantworten, Shregreijen, in den Ruheſtand verabſchie⸗ 
deten Offiziere. Die werden nichtlägen, werden im Angeficht des Todes nicht 
die unmännifche Sünde auf, fich Iaden, die der alte General Pape vor ein 
paar Fahren Hochverrath in Reihe und Glied genannt haben joll. Tragen 

ie den Fürſten Bismarck, Herrn Bronfart vun Schellendorff, Aug in Auge 
fogar den Freiherrn von Stumm, ob die Stimmung nicht genau fo iff, wie 
ich fie hier geichildert habe, ob nicht die Grundmauern ded monarchiſchen 
Füũhlens jacht jchon zu wanken beginnen und nur die Heuchelei noch, der oft 
verhöhnte Cant, das Delorum wahrt. Fragen Sie Ihre gefrönten Vettern, 
die Bundedfüriten, wie e8 in ihren Staaten ausfleht und weldye Erwägungen 
während der legten Jahre in den zur Reichsgründung opferfroh vereinten 
Dynaftienerwachjen find. Wer Ihnen die Dingeandersdarftellt, lügt injeinen 
Hals oder hat nie Gelegenheit gehabt, dieBerhältniffe in der Nähe zufehen. 
Und wenn Sie über Einzelheiten wahrhaftig unterrichtet jein wollen: laſſen 
Sie ſich von dem Reltor der Alma Mater erzählen, wie von den berliner ala- 
demijchen Lehrern Shr Wort beurtheilt worden ift, Schule, Univerfität und 
Theater hätten „Werkzeuge des Monarchen” zu jein; und fragen Sie auf 
Ehre und Gewiſſen den Grafen Bolko zu Hochberg, ob er wirklich glaube, 
Sie jeien der Einzige, deſſen Leitung und Weiſung die Hofbühnen fördern 
Tonne. Rufen Sie:die bemährteften Vertreter der exakten Wiſſenſchaften und 
des Heeres herbei und fordern Sie von ihnen hüllenlofe, unge hminfte Wahr- 
heit. Berjammeln Ste die vorragendften Künftler um Ihren Thron und 
laſſen Sie fie, als wären fie unter fich und unbelauſcht. über die Wirkung 
Ihres Einfluffes auf die deutiche Kunftgeftaltung fprechen. Wenn ſich aud 
Alledem dann ergiebt, daß ich das reine Bild der Wahrheit wifjentlich ent⸗ 


324 Die Zukunft 


ftellt, ihre Züge bübiſch verzerrt habe, dann wird es Zeit fein, den ungedul⸗ 
digen Bütteln zu winfen... Aber mir bangt — ſoll der Batriot jagen: leider? 
— nicht vor dem Nahen ſolcher Fährlichkeit. 

... Zwei Männer, denen ‚Genie und Erfahrung das tieffte Dunkel 
monarchiſchen Weſens erhellte, haben über die heute wohl wichtigfte Königs: 
pflicht gute, einander ergänzende Worte gefunden. Bonaparte jagte: Un rot 
n’est pas dans la nature; il n'est que Jans la civilisation. Iln’en est 
pas de nu; il ne saurait &tre qu’habille. ‚Und Bismarck fügte, ohne viel- 
leicht Rapoleond Wort zu kennen, die beſſer pointirte Xehre hinzu, ein moderner 
Monard) jolle jich jo jelten wie möglich ohne minifterielle Bekleidungſtücke 
zeigen. Thut er ed, wie ed fein Recht ift, dennoch), dann darf er jich über die 
Wirkung ſolchen Wagemuthes nicht wundern; dann muß er auf feine Rede 
großmüthig auch die®egenrede dulden; muß der nadt Einherfchreitende ge⸗ 
ftatten, daß hier und da ein Knabe ihm zuruft: Herr König, Shr jeid ja nackt! 
Solder Ruf mag mandem Ihüchternen Gemüth jfandalöd ſcheinen; der 
Rufer darf jich aber mit Auguftinus tröften, der meinte, wenn eine Wahr: 
heit ſtandalös jei, müffe man, um fie hören zu fönnen, den Sfandal ebenin 
den Kauf nehmen. Da ſich fein Befferer meldete, habe ich gewagt, die Wahr- 
heit zu jagen, — und dad Wagniß dünft mich, offen geftanden, nicht einmal 
allzu groß. Die Zeiten find ja längft vorbei, wo Karl der Zehnte Berryers 
Bedenken lächelnd mit dem Wort abmwehren konnte: „Sch bedarf feiner Er⸗ 
fahrung. Sie halten mein Beginnen für tolfühn; aber Gott fteht mir täg- 
lich durch Mittheilungen bei, über deren Urſprung ich mich nicht täuſchen 
kann.“ Die Gefchichte der Dynaftien hat gelehrt, daß jeder Monard) der Er⸗ 
fahrung bedarf, und der Märchendichter hat gezeigt, wie ſolche Erfahrung 
die Befreiung aus dem Bannkreis des Schranzenthumes zu bringen vermag. 
Wer Zaboulayes Pfaden folgte, kann, auch Das lehrt nun ie Erfahrung, 
heute im Deutjchen eich eines Majeftätverbreddens angeklagt werden. Aber 
kann man, Herr Kailer, einen Monarchen mehr ehren, das feite Vertrauen 
in feine reine, den edelften Zielen zugewandte Abjicht beffer beweiſen ald da = 
durch, dab man offen den Glauben befennt, er wolle die Wahrheit hören ? 

Dapjie, vonkeinerSchranfe, keiner ſpaniſchen Wand, feiner Lakaien⸗ 
kunſt gehemmt, Ihr Ohr erreichen möge, wünfcht aufrichtig und in Ergebenheit 


25.6. 1898. M. H. 
was 








Derausgeber und. verantwortlicher Redakteur: M. Harbden in Berlin. — Bering der Zukunft in Berlta 
Druck von G Bernftein in Berlin. 





Berlin, den 28. Rovember 1908. 
— II - - 





Waffenftillitand. 
Majeftät. 


% den Apofteln bin ich der geringfte; bin eigentlich, weil ich die Ge- 
- HN meine Gottes verfolget habe, unwürdig, ein Apoftel zu heißen. Aber 
von Gotted Gnade bin ich, was ich bin. Und feine Gnade an mir ift nicht ver⸗ 
geblich geweſen, jondernich habe viel miehrgearbeitetdenn fie Ale; doch nicht 
ich 1hat fo, jondern Gottes Gnade, die mit mir iſt.“ Diefe Sätze ſchrieb Baulus 
an die Korinther. Als Saulus hatte er mit Drohen und Morden lange wider 
die Jünger des Heren geſchnaubet. War auf dem Weg nad) Damaskus dann 
vom Lichte des Himmels umloht und zum Glauben an den Chriſtus bekehrt 
worden. Und geftand in Demuth drum den Korinthern, daß er geirrt underft 
durch den gnädigen Willen des höchſten Herrn den Pfad ind Land der Wahr- 
heit gefunden habe. Vierhundert Fahre jpäter, als Neftorius von Konftan- 
timopel dad Menfchliche vom Göttlichen des Chriftus trennen wollte, als Cy-— 
riſlus von Alerandria ihm entgegentrat und, um die irdijche Abfunft des 
Galilãers zu heiligen, die Anbetung derjungfräulichen Mutter als neuen Kult 
heiſchte, ward nach Epheſus ein Konzil einberufen und in diejer im Erleben 
des Paulus wichtigen Stadt dad alte pauliniſche Wort zu neuer Geltung ges 
bracht. Cyrillus fiegt über die Neftorianer; und die verſammelten Biſchöfe 
ſetzen die Worte „Dei zratiu“ vor ihren Titel: werfen ſich ald demüthige 
Knechte unter die Gnade dek Herrn. Die neue Formel (die, jeit der übermädh- 
tig gewordene Bija of vonRom das Amt des StatthaltersChrifti an ſich ge⸗ 
riſſen hatte, erweitert ward und nun lautete: „Dei (t .\pos olicae Sedis 
gralia“) blieb lange den Trägern geiftlicher Würde vorbehalten. Ind Welte 
liche follen die Karlinger, die fic der Abjtammung vom meer Biſchof Ars 
i 2 


326 Die Zukunft. 


nulph rühmen durften, fie eingeführt haben. Vom fünfzehnten Sahrhundert 
an ift der Herricher, der unumjchränft über da8 Leben und Die Habe der ihm 
Unterthanen gebietet, „von Gottes Gnaden“. Noch nicht jeder darf ſich, Ma- 
jeftät“ nennen. Die Majı st.ıs rei publicae und populi romani war aufdie 
Smperatoren, die ded Staated crhabene Hoheit verförperten, war jpäter auf 
die Kaijer im Römijchen Reich Deutjcher Nation übergegangen; wurde den 
Königen aber bis ind jechzehnte Jahrhundert beftritten. Noch im Friedensver⸗ 
trag von Sambrai heißt nur Karl der Fünfte Majeftät. Heinrich der Zweite 
von Frankreich, der Dann Katharinend von Medici, lieh fid) bald danach von 
Montinorency und deſſen Hofklüngel jo nennen; offiziell wurde erft Franz 
dem Erften (im Frieden von Crepy) der Titel „Königliche Majeftät“ zuer- 
fannt. Europa fieht allerchriftlichite (Frankreich), allergnädigfte (most pra- 
cious; England), Fatholifche (Spanien), allergetreufte (Portugal), apoftoli- 
Ihe (Ungarn) Majeftäten; und aleftügen den Rechtsanſpruch ihrer Erhaben- 
heit auf Gottes Gnade. Nur dem Himmelsherrn, ſprechen fie, find wir, die von 
ihm die Krone empfingen, verantwortlich und nirgends durch Menſchenſatzung 
in unſerem Handeln gehemmt. Aus dem Worte der Demut) ward ein hoch⸗ 
müthiged Wort; aus dem Bewußtfein der Abhängigkeit non dem umwölkten 
Willen ward der Wahn, mit dem Goldreif göttliche Allweißheit erhalten zu 
haben, die den Gekrönten über den Troß gemeiner Sterblichen hoch hinauf- 
hebt. Die Völfer nahmen dad neue Wejen geduldig hin. Hatte nicht Roms 
ftolze Bürgerjchaft jelbft die Gewalt und die Würde des Staated einem Ein» 
zelnen, dem Auguftus, überwiejen? Kinderpolfheiten wollen nicht nach dem 
Rath kühler Vernunft einen höchften Vertreter ihrer Intereſſen küren; wollen 
nur Einem huldigen, den Gottes Odem gnädig umhaudjt. Der überfinnliche 
Urſprung des Königsberufes wird nicht beftritten. Das Wort aus dem Korin⸗ 
therbrief hatnun anderen Sinn. In williger Geduld beugen die Völkerfich unter 
diejanfte,fajtlieber noch unter die harte Hand der Majeltät vonGottes Gnaden. 

Wie ſolche Majeltät ausjuh, lehrt die Geſchichte auf hundert Blättern. 
Wieſie ausſehen jollte, lehrt, befonders eindringlich, Boſſuets Politique tiree 
{4 s prop es paroles de V’Erriiure Sainte. Wir find weit vonderdumpfen 
Melt Samuels, des Furchtſamen, der Iſraels von Gott abtrünniged Volk vor 
dem König warnte. „Eure Söhne wird er nehmen zu feinen Wagen und zu 
Reitern, die vor feinen Wagen hertraben; fie werden feine Kriege führen, 
ſeine Aecker beftellen, ihm Waffen und Rüftzeug jchmieden und Geräth ferti« 
gen müffen. Eure Töchter wird erzu Köchinnen, Bäckerinnen, Heilgehilfinnen 
machen. Eure beiten Aecker, Weinberge und Delgärten wird erjeinen Knechten 





Waftenftillftand. 377 


geben, Eure feinften Tünglinge aber, Eure Knechte, Mägde und Eſel für fein 
Geſchäft verwenden. Bon Allem, wad er Euch läßt, von der Ernte und von 
den Heerden, wird er ein Zehntel nehmen. Ihr werdet feine Knechte werden. 
Solches Recht habt Ihr von dem König zu erwarten.” Boſſuet denkt nicht an 
einen König, der den Herrn des Himmels auf der Exde entthront hat („Sie 
haben mich verworfen, daß ich nicht mehr König uberfiefei” ‚Ipricht Sahme zu 
Samuel), jondern an die allerchriftlichite Majeftät, die unten dem Wink und 
unter der Hut ded dreieinigen Gottes fteht. „Denn die Könige handeln als 
Diener Gottes, von dem alle Macht fommt, und find hienieden feine Statt⸗ 
halter. Der Königsthron ift der Thron Gottes, nicht eines Menjchen. Des 
halb ift die Perjon des Königs heilig, und wer fie mit frevler Hand antaftet, 
läftertÖott. Siefind vom höchften Herrn geſalbt und auserwählt, den Willen 
der göttlichen Majeftät auf der Erde zu vollftreden. In der Ehrfurdt, die 
man den Königen zollt, ift ein religiöſes Element; ſchon Zertullian hat ges 
fagt, daß wir in ihnen die Wahl und das Urtheil Gottes ehren, der ihnen die 
Herrſchgewalt über die Völker gegeben hat. Weil diefe Gewalt ihnen aber 
von oben fommt, dürfen die Könige fie nicht nach willfürlicher Laune an⸗ 
wenden, jondern mit Gewifjenhaftigfeit und Zurüdhaltung; fie fchulden Gott 
ja von der Anwendung ftechenichaft. Zitternd müſſen fie ihres Amtes walten 
und ſtets bedenken, wie graufig dad Verbrechen wäre, wenn fie die von Gott 
ihnen verliehene Macht zum Böfen gebraucdgten. Wer von Gott die Macht 
bat, muß wie Gott herrichen: edel, uneigennübig, wohlthätig. Die Könige 
mögen ihr Ohr der Wahrheit öffnen, daß fie echten Ruhm nur erwerben 
fönnen, wenn fie nicht für fich jelbft und für ihren Vortheil, ſondern für das 
Pohl derBölfer leben. Ein König, dernicht nüßt, nicht für das Wohl des Vol⸗ 
kes forgt, ift ein jchlechter Dienerdes Herrn und wird eben jo beitraft wieeiner, 
der gewaltthätig im Lande hauft. Auch Undank des Volkes darf die Güte des 
Königs nicht mindern. Noch weniger darf er perfönlichem Empfinden ge 
horchen; niedarfihn Laune, Abneigung vonnod) Hinneigung zu Perſonen und 
Dingen beherrſchen. Nurdie Bernunftfollihnleiten. Je nad) dem Vortheildes 
Volkes fol er fein eben der Gefahr ausſetzen oder vor ihr bewahren. Einem 
verhaßten König droht in der nächſten Stunde derlintergang. Wieder König 
die Hand von unfchuldigem Blut rein halten fo, fo fol er auch die Zunge 
hüten, die nicht mindergefährliche Wunden jchlägt. Ueble Nachredeund dreifte 
S pottjucht kleiden den König noch häßlicher al8 jeden Anderen. Was ift von 
einem König zu erwarten, der die Zunge nicht zügeln kann und deſſen Rede 
unaufrichtig ift? Daß die Königsmacht abjolut ift, beweift nicht, daß fie will⸗ 


25* 


328 Die Zukunft. 


fürlich angewandt werden dürfe. Die ganze Staatögewalt Dem zu übertra: 
gen, der an ihrer Erhaltung und Wahrung dad größte Intereffe hat, ift ver: 
nünftig. Aber auch die Königefind dem jelben Geſetz unterworfen wie andere 
Menſchen; und findvor anderen zu höchfter Gerechtigkeit verpflichtet. Die Zu⸗ 
muthung ungerechten Handelnd müſſen fieablehnenund diefed Einenurfürd: 
ten: Unrecht zu thun. Furchtlos müſſen fie jonft fein, von feftem Charafter 
und Muth. Gefeftet auch gegen den Anfturm der Günftlinge. Unbeirtbar in 
reiflich erwogenem Entſchluß. Meinungwechſel, Weichheit, Unentichloffenheit 
taugen nicht auf den Thron. Wer ſich einſchüchtern läßt, ift Fein rechter König. 
Die Schwierigkeit der Gejchäftsführung kann nur durch unermüdliche Arbeit 
überwunden werden. Eigenfinn ift nicht Feſtigkeit. Wer auf dem Thron um 
jeden Preis feinen Willen durchzuſetzen trachtet, wird den Völkern zur Gottes: 
geißel. Sturrheit kann, wie Weichheit, zum Verhängniß werden. Drebe Did 
nicht nach jedem Wind, mahnt der Prediger Salomo; aber auch: Verſuche 
nicht, den Lauf eines Fluſſes zur Umkehr zu zwingen! Willſt Du über ein Volk 
herrſchen, fo beherriche zunächſt Dich jelbft; dämme Laune und Leidenſchaft. 
Einer, der fi) große Mad,t wünjcht, muß fich, nad) dem Wort des Augufti- 
nus, vorher einen unbiegjam graden Willen wünjchen. Darf auch den Schein 
der Schwachheit nicht ſcheuen. Solde Scheu wäre die ärgſte Schwäche. Fefter 
Mille ift die Srucht der Weisheit. Weisheit und rechte Vernunft helfen den 
Fürften zu allen Gütern, die fie brauchen. Den weifen König, der fich zurüd: 
hält und nur da, wo ed nothwendig wird, kraftvoll handelt, ehrt Feder gern. 
Diejer König kennt die Geſetze und die Geichäfte; kennt nor Allem aber aud) 
fich ſelbſt. Nicht Alles ſchickt fi, für Ale. Drum muß man willen, wozu 
man fich eignet. Mancher würde für ein beftimmtes Geſchäft ſehr gut pafjen 
und wird dennoch verächtlich, weil ex fi} einem widmet, für dad ernichtpaßt. 
Seine Zehlerund Mängelerfennen:wer Diederreicht, ift wichtigerWiſſenſchaft 
voll. Die von Schmeichlern umlagerten Könige erreichen dieſes Ziel jelten. 
Sie Jollten nicht nur auf die alten Propheten hören, fondern in Jedem, der 
ihnen Fehler und Mängel ihre Weſens zeigt, den von Gott zur Enthül ung der 
Wahrheit Bejandten jehen. Magder Mund, der unbequeme Wahrheit ſpricht, 
ihnen gefallen oder mißfallen : nur wer Tadel verträgt, darffich der Herrſchaft 
über fichjelbft rühmen. Die Kunft der Rede joll dem König nichtein verſperttes 
Gebiet jein. Doch darf er auch nicht zu viel reden. Ein Wäſcher, heißts im CF 
kleſiaſtes ift nicht beffer denn eine Schlange, die unbeſchworen fticht. Wer zu 
unrechter Zeit redet, wird nicht nur Jäftig, ſondern ſchadet geradezu. Ein Nart, 
fagt Salomo, macht viele Worte über Geweſenes und über Das, was nad) 





Waffenſtillſtand. 329 


ihm ſein wird: und von Beidem weiß der Menſch doch nichts. Der König muß 
Herr feiner Zunge jein. Schweigen zu fönnen, iſt feine wichtigfte Pflicht: denn 
ohne Wahrung des Geheimniſſes frommt auch der nüglichfte Entſchluß nicht 
und ohne Schweigiamteit ift feine Kraft. Wer viel redet und wenig hält, Der 
it wie Wolken und Wind ohne Regen, So ſtehts unter den Sprüchen Salo⸗ 
mos. Und ferner: Wer feine Zunge nicht im Zaum halten kann, ift wie eine 
offene, der Mauern beraubte Stadt. Viele Könige haben durch verwegene, 
unbedachte Rede Unruhe geftiftet. Drum rief der weife Priefterfönig: Leget 
ein Schloß auf meine Lippen und ftellt Wächter um meinen Mund, auf daß 
meine Zunge mich nicht verderbe! Der König joll nicht glauben, daß er Alles 
jehe, Alles wilfe, mit jeinen Augen auskomme und des Rathes nicht bedürfe. 
Er braucht Berather und muß dafür forgen, daß dieje Berather in voller Frei⸗ 
Beit vor ihn hintreten dürfen. Der befte Berather ift die Zeit: fie entichleiert 
die Geheimniſſe und liefert die Gelegenheiten. Der Rũckblickauf Vergangenes 
lehrt Künftiges klar erkennen. Geht nichtüber den von Euren Ahnengezogenen 
Grenzftrich hinaus und wahrt die Grundſätze, auf die einft die Monarchie ge 
baut wardund aufdenen fiegutgeruht hat: auch dieje Weisheit lehrt Salomo. 
Und im Deuteronomium find die Großen vor dem Glauben an Vogelſchauer, 
Zauberer, Geilterbejchwörer, Totenbefragergewarnt. Hütet Euch, Shr Könige 
der Erde, die Trüger, die fich Aftrologen, Zeichendeuter, Geifterfeher nennen, in 
Eure Nähe zulaffen! Wähnet auch nicht, daß Eure Majeftätin dem Bomp, der 
um Euch iſt und deſſen Glanz den gemeinen Mann blendet, offenbar wird. Die 
Majeftät ift das Bild der göttlichen Größe, die in dem König wirkt. Der 
König tft nicht als Privatmann anzufehen; er gehört derDeffentlichfeit. Das 
ganze Staatsweſen ift in ihm lebendig, des ganzen Volkes Wille in jeinen 
einbegriffen. Die Majeftät hat er von Gott. Der gab fie ihm zum Heil der 
Bölfer, die der Führung durch eine Höhere Macht bedürfen. Gebraucht drum, 
Ihr Könige, kühnlich Eure Macht: denn fie ift göttlichen Uriprunges und dem 
Menſchengeſchlecht heilfam ;bleibtinihrem Befigaberdemüthig. Sm Inner- 
ften läßt fie Euch ſchwach. Troß diefer Macht könnt Ihr fündigen, müßt Ihr 
fterben. Und vor Gottes Thron bürdet fie Euch nur eine noch ſchwerere Ver⸗ 
antwortungauf." DieſeSätze ind ausden zehn Büchern des Werkes zuſammen⸗ 
getragen, dad Bofjuet,der Biſchof von Meaux, der Kronprinzenerzieher, feinem 
Zöglinggewidmethat. Siegenügen zu dem Beweis, daß auch er, derdie chrift- 
liche Majeftät mit dem Auge des Auguftinus jah, den Kaijern und Königen 
nicht Allmacht, Allwiſſenheit, Allgegenwart zujchrieb. Daß ihm die Völkernur 
noch nicht reif für die Aufgabe ſchienen, ihres Schickſals Ring ſelbſt zu ſchmieden. 


330 | Die Zuknuſt. 


Die aber fühlten ach, im Weſten wenigftens, reif; fanden fich mündig 
und langten aus jchwüler Myſtik in die fühle Klarheit der Vernunftatmo⸗ 
Iphäre. Der Brite jchritt tapfernoran. Während des Kampfes zwiſchen Sad). 
fen und Franken, zwilchen der Weißen und der Rothen Roſe hattein Angelland 
tyranniſche Willkür geherricht, dem Recht Gewalt angethan und dad Parlament 
in ein Schattendafein gefnebelt. Als nad) dem Tod Elifabeths der Schotten: 
könig Safob,der Sohn Martens Stuart undihres Darnley, den Angelnthron 
beitiegen hatte, jah Britanien einen neuen Monarchentypus. Der Mann, 
den Schmeichler den britiihen Salomo nannten, mochte den Sat de Se— 
neca, daß nicht der Staat dem König, jondern der König dem Staat gehöre, 
nicht anerfennen; er verachtete den weilen Lehrer und eiferte dem tollen Schü: 
ler nach: ſchwelgte beinahe neronifch in üppigen Prunkfeſten und im Arm 
ſchlanker Zunglinge, hajchte nach dem Ruhm des Literaten und des Theolo: 
gen und tröftete fich im Kreid der Freunde an den Künften der Zauberer und 
Geifterbejchwörer. Er war unftet, treulos, geſchwätzig, feig, von ſchwächlichem 
Willen: der Prototypus des im Geſchlechtsempfinden Angefränfelten. Wollte 
aber den allmädjtigen, allwiſſenden, allgegenwärtigen Vater des Volkes mi: 
men, jede fein Königsrecht hemmende Schranfe wegräumen und den ihm 
Unterthanen ſich in der Glanzrolle des Statthalters Guttes zeigen. Seine 
„Opera“ vertheidigen den Abfolutiömus der Königägewalt; die Werke jeiner 
Regirung haben erreicht (was die Häujer York und Plantagenet nicht vermocht 
hatten), dab der Brite der Frage nachzudenken begann, ob ed vernünftig fe, 
die ganze Staatsmacht Einem anzuvertrauen und indem fuchtelnden, ſchwatz⸗ 
enden, ſchmatzenden Komoediantenden Träger göttlicher Önadeanzuftaunen. 
Jakob ſelbſt kam noch glimpflich davon ; hat wederdiefre ne Anmaßung jeined 
Sottähnlichfeitwahnes noch die Liebſchaften mit den Kerr und Konjorten ge: 
büßt. Als jein Sohn Karl aber (1628)dem Haus der Lords zurief, er ſchulde 
für fein Handeln nur Gott Rechenſchaft, ald er zwölf Jahre lang ohne Parla: 
ment regirte, auch den Privy Council, die Berfammlung aller hohen Beam: 
ten, nicht berief, Jjondern mitfeiner Kamarilla die Geſchäfte bebrütete, brach das 
Unwetterlos. Ein Volk ohne König, ſprach dad Unterhaus, können wir und oor: 
ftellen, nicht aber einen König ohne Bolf. The kin; kan (lo no wrong: Dad 
beißt nicht, Alles, was der König thut, ſei Recht, jondern, dem König fei ver: 
wehrt, Unredjt zu thun, und er müfje deöhalb, wenn er fidy in den Grenzen 
jeiner Macht halte und nıcht, nach Bractons Wort, aus einem Statthalter 
Gottes fich in einen Satandpriefter wandle, immer und überall dad Rechte 
thun. Die Gewalt hat er vom Volk; hat fie nur jo lange, wie er dem Geſetz, 








Waffenſtillſtond. 331 


das über ihm ift, gehorcht. Dieſen Rechtszuſtand dankt England dem klaren 
Blick ſeines Adels; den muthigen, auch zum Opfer muthigen Baronen, denen 
Pitt ſpäter ſo beredt den Dank des freien Volkes ausgeſprochen hat. Und es 
war früh entſchloſſen, dieſen Idealbefitz fich nicht verfümmern zu laſſen. Karl 
heiſcht Vertrauen (confidence) und wüthet, wenn im Barlament Argwohn 
(jealou:y) laut wird. Er verfichert das Haus der Gemeinen jeinerväterlichen 
Liebe (M«ssagrs of Love), beruft fich feierlich aber auf jeineSounerainetät 
und hofft, mit unuerbindlichen Redensarten die Helfer zu ſchwichtigen. Ver- 
nebend. Sir Edward Coke, der greife Vertreter des britiichen Rechtsbewußt⸗ 
ſeins, ruft ihm zu: „Auf zärtliche Botſchaft ift fein Verlaß. Auch nicht auf 
mündlicheBetheuerung ded Königs. Ich will Seiner Majeftätnicht mibtrauen. 
Auf unfereBeichwerde, die bis ind Einzelne begründet ift, hat der Königaber 
nicht mit allgemein giltigen Verficherungen zu antworten, ſondern mit einer 
. Urkunde, die auf jeden Punkt unſeres Proteftes eingeht. Souverainetät iftein 
ſchönes Wert; taugf aber nicht in dad Nechtögebäude, das unter Mitwirkung 
des Parlamented errichtet worden ift, und kann deſſen Grundmauern nad) 
und nad) lodern. Unſer Rechtruhtauf der Magna Charta; und dieſer ſtramme 
Bur ſche duldet feine ſouveraine Gewalt über ſich.“ Dieſe Worte wurden bei der 
Berathung der Pı tition of Right geſprochen. Die Warnung des erſten Rechts⸗ 
lehrers verhallt ungehört. Und am dreißigſten Januartag des Jahres 1649 
verblutet, vor dem Schloßthor von Whitehall, Karl Stuart auf dem Schafot. 


Das Wetter zieht weiter; zieht, langſam, über den Kanal. Auch im Land 


Ludwigs des Heiligen bröckelt der alte Glaube, nagt der Holzwurm im über⸗ 
lieferten Gebälf. Auch hier fol der König fortan nicht nur dem Himmels— 
herrn, joll er dem vom Bolf beichlofjenen Gefeß verantwortlich fein Wie die 
erften Stuarts, jo haben auch die lebten Louis in ihrem Reich ein Bachtgut ge: 
fehen, deſſen Einkünfte des Königs Taſchengeld, deſſen ſechsundzwanzig Mil- 
lionen Bewohner dem König hörig ſind; einen Jagdgrund, auf dem launi— 
ſche Willkür birſchen und feiſtes Wild vor die Schußgabel treiben darf. Lud⸗ 
wig der Sechzehnte giebt für ſeine Hofgarden in jedem Jahr acht, für ſeinen 
Stall ſechs Millionen Livres aus; ſeine Jagdliebhaberei koſtet alljährlich un- 
gefähr zwölfhunderttauſend Francs. (Im Verlauf von vierzehn Jahren hat 
er mehr als zweihunderttauſend Thiere getötet; an einem Tag, dem letzten 
Augufttag des Jahres 1781, nach eigener Aufzeichnung vierhundertſechzig.) 
Die Hofhaltung des Königs und ſeiner Verwandten, in der fünfzehntauſend 
Perſonen beſchäftigt find, verſchlingt fünfundvierzig Millionen: den zehnten 
Theil der Staatseinnahmen. Bon 1775 bis 1789 hat der König 1562 Tage 


[4 





332 Die Zukunft. 


auf der Sagd, 370 auf anderen Reilen und Außflügen verlebt. Am fünften 
Oktober 1789 fchreibt er in fein Tagebuch: „Sagd bei Chatillon; 81 Stück er⸗ 
legt; durch die Ereigniffe unterbrochen.” Die Ereignilfe: damit war der Pa⸗ 
rifermarfch nach Verjailles gemeint; das erfte unüberhörbare Grollen der 
Revolution. Noch am zwölften Oktober hat er in Port: Royal auf Hirſche ge 
jagt. Drei Sahre und dreiMonate vergehen: und Ludwigs Haupt liegt unter 
dem Fallbeil. Boffuet hat zu innerer fäuterung gemahnt, Robedpierre, nach 
Cromwells Beiipiel, des Eiſens Schärfe verordnet. Aus dem Inſularvorgang 
war, ſpät freilich, ein europaijche8 Datumgemworden. Und ald Bonaparte, aus 
einer Korjenfamilie, deren plebejiichen Urſprung jeder Schüler nachweiſen 
konnte, den Thron der Lilienkönige beftiegen hatte, mußte (nach dem Bropheten- 
wort Joſephs de Maiftre) allen Königen ein neuer Morgen Dämmern. Kein 
heller. Die Bernunft ſaß zu Gericht, grinſte höhnisch, wenn von den Ange- 
Ihuldigten Einer ſich auf Gottes bejondere Gnade, die in ihm wirke berief, 
und wollte nur eine Majeftät noch anerfennen: die vom Bolfe fommt, für 
Thun und Laſſen, Eieg und Niederlage dem Volk verantwortlich ift. 

Fritz von Preußen Hatte, ald ihm von Paris und Verjailled erzählt 
ward, gejagt, wenn er König von Frankreich wäre, würde er zunächſt einen 
anderen König ernennen, der an feiner Stelle den Hof zu halten hätte:denn 
die zur Huldigung bereiten Nichtöthuer brauchen einen Faulpelz, der fich hul⸗ 
digen läbt. Der Sohn des gefrönten Korporals hat die Lehre Maflillons 
beffer ald Ludwig der Fünfzehnte verftanden. Schon ald Jüngling die Für: 
ften vor dem ſchwächenden Wahn gewarnt, die Völker jeten für fie, nicht fie 
für die Völker geichaffen. Und bis an jeined Lebens Ende die Warnung oft 
wiederholt. „Die Könige haben auf diefer Welt nur die Aufgabe, die Men- 
ſchen glücklich zu machen, und müſſen mit dem Blut ded Volfes, ald des Kör- 
pers, defjen Seele fie find, mit dem Blut der Bürger geizen, in denen fie ihr 
Ebenbild jehen. Die gute Meinung, die ich von den heute regirenden Kö⸗ 
nigen habe, läßt mich hoffen, daß fie verdienen, die Wahrheit zu hören. Das 
beite Lob ſpendet Der ihnen, der vor ihrem Ohr offen alle das Königthum 
erniedernde, Menjchlichkeit und Gerechtigkeit ſchändende Laſter eines Königs 
zu tadeln wagt.” Mit diejen Säben jchließt der „Antimacchiavell”. „Glaube 
nicht, daß Dein Land für Dich gefchaffen ward, fondern fei gewiß, daß die 
Vorſehung Dich auf die Welt fommen ließ, um dieſem Volk dad Glück zu 
bringen. Denke an feinen Wohlſtand ſtets eher ald an Dein Vergnügen. Der 
Erdfreis wird Dich bewundern, wenn Du dem Nuten des Volkes Deine 
Wünſche zu opfern weißt." („Fürſtenſpiegel“; Lehrbrief an den jungen Her« 


„ Waffenftillftand 333 


zog Karl Eugen von Bürttemberg.) „Der König muß fich oft an die Stelle 
des armen Manned verfeben und fich fragen, was er, unter ſolchen Lebens⸗ 
bedingungen, vom Monarchen wünjchen würde. Wenn der König feine Pflicht 
erfüllen will, darf er nie vergefjen, daß er ein Menſch ift, wie der Geringfte 
der ihm Unterthanen, und ald erfter Diener des Staates jo redlich, Flug und 
uneigennüßig zu handeln hat, ald müſſe er in der nächften Stunde den Mit« 
bürgern von jeiner Verwaltung Rechenjchaft geben.” („Ueber die Formen der 
Regirung und die Pflichten der Könige.”) Den Urfprung der Souperainetät 
findet er in dem menjchlichen Streben nach feftem, für Alle gleichen Geſetz, 
Er rühmt den englijchen Parlamentarismuß, der dem König alle Kraft zum 
Guten, doch Feine zum Schlechten laſſe, ald dad Mufter verftändiger Re: 
girung Aendert im Kirchengebet die Worte „Ihro Majeftät unſerm theu⸗ 
erften König“ in „ Deinen Knecht, unferen König.“ Und fchreibt mit beſcheide⸗ 
nemStolz in fein Zeftament: „Die Staatseinfünfte habeich wie die Bundes» 
lade betrachtet, die feine profaneHand berühren darf. Was ich für mich brauchte, 
war in feinem Sahr mehr als zweihundertzwangigtaufend Thaler. Bon den . 
öffentlichen Einnahmen habe ich niemal8 meinem Privatgebraud) Etwas zu⸗ 
gewendet.” Mit Hobbes ſpricht er: Salus populi supremalex e:to! Schreibt 
an D’Alembert: „Die Hauptpflicht des Fürſten ift, taugliche Geichäftsleiter 
zu wählen.” Kenntkein Borurtheil. „Königefind Menſchen wie andere; haben 
nur Wichtigered zu thun. Wer fich für bejonderd merkwürdig halt, meint in 
feiner Eitelkeit, die Welt wolle jede Kleinigkeit erfahren, die ihn angeht. Wer 
immer regirt hat, ift, wie ein Gott, an den Weihrauch gewöhnt und müßte 
verſchmachten, wenn ihm das Lob verjagt bliebe. Der König nennt fich zwar 
‚Mir, ift aber nicht etwa vielfach da. Wie der Herrgott während der Meffe, 
jo dürfte auch der König fich ftetd nur in feiner Herrlichkeit zeigen.” So ſpricht 
er. Rod) ald grämlicher Greid. Und wirkt fo ſtark auf die Feinde jelbit, daß 
Leopold der Zweite an Marie Chriftine jchreibt: „Auch der &rbfönig ift nur 
ein Beamter feined Volkes." Da ift die Ernte aus frigifcher Saat. 

Daß über Preußen, während von Weft her derSturm heulte, der Him⸗ 
nel hell blieb, war dasVerdienft des Königs, derneuen Geiſt in die alte gorm 
goß, und des Volles, das noch nicht wollengelernt hatte. Auch unterdem dicken 
Lüdrian und Wunderfucher nicht lernte. Nach dem Tag von Jena noch fi im 
Pferd) der Unterthänigfeit leidlich wohl fühlte. Einen König nad) dem Her- 
zen Boſſuets hätte ed angebetet (und vielleicht gar gemerkt, daß er, troß Auf⸗ 
flärung und Bernunftberrichaft, dem Monarchen von Srigend Gnaden ziem— 
lich nah verwandt ift); Friedrich Wilhelm der Dritte aber war ein allzureiz- 


334 Die Zukunft. 


Iofer, allzu untöniglich Heinmüthiger Herr. Als in der vorigen Woche ter 
hundertite Geburtötag der preußiſchen Städteordnung gefeiert wurde, fagte 
im berliner Rathhaus der König: „Mit der Gewährung der Selbſtverwalt⸗ 
ung hat mein Ahn feinem Bolt einen Beweis ſeines Vertrauens gegeben und 
an die geiftigen und fittlichen Kräfte des Bürgerthums appellirt.” Ward jo ? 
Friedrich Wilhelm hat fi) um die Reform der Stadtverwaltung nicht ge⸗ 
fümmert. Erſt als Alles fertig war, erfuhr erd aus dem Immediatbericht der 
Minifter Schroeiter und Stein ;unddiefer Bericht verſchwieg, damit der König 
nicht die Unterfchrift weigere, den Theil, den militärijche Mißbräuche andem 
Verfall der Etädte haiten. Dem Bürgertum vertraute, an dad Bürgerthum 
appellitte in der Zeit ſchwerer Noth Freiherr vom Stein (den Wilhelm der 
Zweite nicht erwähnte) ;nichtder König. Derhatte im Sommer die Vorſchläge 
der Triumpirn Stein, Scharnhorft, Gneifenau ablehnt, den Gedanken des Frei⸗ 
berrn,die Nation zum Aufſtand zu bewegen, weit von fich gewielen und vertraute 
demFranzoſenkaiſer mehr als dem eigenen Volk. Dem im Bürgertfumbeliebten 
Miniſter wich er aus, hörte gern, daß die Höflinge ihn ſchalten und höhnten, daß 
Hardenberg und Goltz gegen ihn wühlten, und entließ ihn fünf Tage nach der 
Sanktion der Städteordnung aus feinem Dienſt. Der undankbare König bes 
dachte nicht, ob dieſer Mann der Nation nützen könne; war froh, denlinbequemen 
mit guterManier loszuwerden. Und dürfte von einem preußiſchen Mtinifterpräs 
fidenten, der jeinem König eine $eftrede zu liefern hat, drum nichtgelobt wer: 
den. Eine winzige Majeftät. Die fich klüglich aud) im Schatten hielt. Auf 
den dritten Friedrich Wilhelm folgt der vierte. „Keiner Macht der Erde Joll 
je gelingen, mich zu bewegen, dad natürliche, gerade bei uns durch feine innere 
Wahrheit jo mächtig machende Verhältniß zwilchen Fürft und Volk in ein 
fonventionelles, fonftitutionelleözu wandeln. Bon Gott allein habe ich meine 
Krone und nur ihm bin ich von jeder Stunde meiner Regirung Rechenſchaft 
ſchuldig.“ So ſpricht er. Muß unter der ſchwarzrothgoldenen Fahne umher: 
reiten, vor den Zeichen Ber Rebellen den Hut ziehen, unter die Urkunde der Ver⸗ 
fafjung feinen Namen ſetzen. Die Bureaufratie hat er jein eben lang gehaßt 
(vor Herren dieſes Schlaged dürfen jelbft umfeitete Byzantinerfie ungefährdet 
beipötteln);ihreernfte Formenſtrenge nie gewürdigt, ihr ftolzes Pflichtbewußt⸗ 
ſein als, Dieneranmaßung“ getadeltund nichteingejehen, um wie viel früher 
er ohne ihre treue Arbeit von der fteilen Höhe geglitten wäre. Der Rauſch der 
Huldigungtage war ja faum auögeichlafen: da merkten die Berliner ſchon, 
mitwem fiejegt zuthun hatten, und verzerrten des Königs ftete$ormel „Das 
gelobe und ſchwöre ich” in den Schnodderwiß: „Das jlobe ick ſchwerlich!“ Die 


MWaffenftifftand. 335 


* Majeftät war vom vluch der Lächerlichfeit umkrallt. Der König von Gottes 
Gnaden zur Zielicheibe des Pöbeljpottes geworden. Und juft diejer Monarch 
hatte fich an den Myſtikerwahn verloren, in einer gemandelten Welt könne er 
ein andered Gotteögnadenthum, als in demüthigem Sinn es Paulus einft, 
der Apoftel geringfter, träumte, er allein zu neuem Leben erweden. 


Lyſis? 

Am fiebenzehnten Novemberabend laſen wir im amtlichen Theil des 
Reichdanzeigerd die folgenden Süße: „In der heute dem Reichöfanzler ge- 
währten Audienz hörte der Kaijer einen mehrftündigen Vortrag des Fürften 
von Bülow. Der Reichäfanzler Schilderte die im Anſchluß an die Veröffent- 
Jichungdeg Daily Telegraph‘ im deutſchen Bolf'hervorgetretene Stimmung 
und ihre Urſachen; er erläuterte ferner die Haltung, die er in den Verhand⸗ 
lungen des Reichstages über die Snterpellationen eingenommen hatte. Teer 
Kaijernahm dieDarlegungen und Erklärungen des Reichöfanzlerö mitgroßem 
Ernſt entgegen und gab jeinen Willen dahin fund: Unbeirrt durch die von 
ihm ald ungerecht empfundenen Webertreibungen der öffentlichen Kritif, er: 
blide ex jeine vornehmfte Faiferliche Aufgabe darin, die Stetigkeit der Boli- 
tik des Reiches unter Wahrung der. verfaffungmähigen Verantwortlichkeiten 
zu fihern. Dem gemäß billigte der Kaifer die Ausführungen des Reichöfanz- 
lers im Reichdtag und verficherte den Fürſten von Bülow jeined fortdauern: 
den Bertrauend.” Seit diefer Abenditunde hoffen gläubige Herzen wieder. 
Hat das Fieber, dad zwanzig Tage lang den Leib Deutichlands fchüttelte, um 
ein paar Gradtheildhen von jeiner ungefunden Hiße verloren. 

Der Tert ift genau zu prüfen. Der Vortrag war nicht mehrftündig; 
haft fait genau hundert Minuten gedauert. „Sm Anſchluß an die Beröffent- 
lichung deö ‚Daily Telegraph*” ift die Stimmung „hervorgetreten”. Alſo 
nicht durch fie erft geſchaffen worden (der Stil ift Ichlecht, der Sinn aber un- 
äweidentig) und deshalb find ihre Urjachen zu jchildern. Das thut der Kanz: 
ler; und erläutert die Haltung, die erim Reichötag „eingenommen hatte”. 
Erläutert, warum er am eriten Tag nicht anders ſprach, am zweiten ſchwieg. 
Daß der Kaijer ihm „mit großem Ernſt“ zuhörte, brauchte nicht offiziell er- 
wähnt zu werden. Sollte er ladyen? Lächelnd dad Damenwort wiederholen, 
eine Sompagniewerdegenügen, um den Reichstag zurRaijon zu bringen? Er 
Lätte fich ſelbſt aufgegeben, wenn er nicht ernfthaft geblieben wäre. Und was 
fundetjein Wille? Manches, was ihm öffentlich vorgeworfen worden ift, dünkt 
ihn übertrieben und deshalb ungerecht. (Natürlich. Wann hat ein jo hart Ge⸗ 


336 Die Bulunft. 


tadelterjeanderdempfunden? Und konnte er,aldKaijer zugeben, daß jeder Vor⸗ 
wurfind Schwarzetraf? Iſts nicht genug,daßerjeden, ohne Rachſucht zu zeigen, 
hinnahm? An diejer Wortverbrämung zuzupfen, iftunflug.) Trotzdem erkennt 
er, daßdie, verfaſſungmäßigenVerantwortlichkeiten“ (derPlural iſt ſeltſam; die 
Reichsverfaſſung kennt nureine Verantwortlichkeit: des Kanzlers; der nicht das 
Recht hätte, fie mit dem Kaiſerkollegialiſch zu theilen) künftig gewahrt werden 
müffen, weil fonft die Stetigfeit der Reichöpolitif nicht zu fichern ift. Befinnt, 
was Ihr hörtet. Wilhelm, der jeit zwanzig Fahren Kaiſer ift, jagt, die Reichs⸗ 
politik müffe ftetiger, die von der Berfaffung beftimmte Berantwortlichleitge> 
wahrt werden. Kannermehrjagen? Schwereren Fehl, vor Europens geſpitztem 
Ohr, auch nur andeuten ? Die Politik warnicht ftetig, weil zwei Leitungen den 
Verkehr mit den fremden Mächten vermiltelten: eine kaijerliche und eine des 
Kanzlerd. Bon nun an ſoll die Erefutivmacht, dad Recht zu Handlung undthat- 
gleihem WortnurdemBerantwortlichen zuftehen. Daswird im Reichsanzeiger 
amtlich verfündet. Und das Wichtigfte kommt noch: „Der Kaifer billigt die 
Ausführungen des Reichskanzlers im Reichätag.“ Was ſprach Deifen Mund ? 

Die Interview, ſprach er, hat „großen Schaden“, eine „verhängnih- 
volle Wirkung“, ein „Unglüd“ ind Reich gebracht. In den Hauptpunften 
war dad von Wilhelm zu dem Oberft Stewart Wortley und zu dem Journa⸗ 
liften Harold Spender (dem Bruder Alfreds, derdie „ Westminster Gazette“ 
redigirt) Gejagte, von Wilhelm Gelejene, Gelobte, mit der Druderlaubniß 
and Licht Gelaſſene nicht richtig. Kein Burenfriegsplan: „akademiſche Er- 
örterungen über die Kriegführung im Allgemeinen“. Keine Entjchleierung 
von Staatögeheimniljen: „berechtigte Mittheilung, weil verſucht worden war, 
unjere Haltung zu verdächtigen". Kein Kampf um die Zukunft des Stillen 
Dzeand: „wir denken gar nicht daran, und im Stillen Ozean auf maritime 
Abenteuer einzulaſſen.“ Und die Angabe, die Mehrheit der Deutjchenjeigegen 
England, laſſe ſich auch nicht Halten. Der Kaiſer müſſe ſich auch in ſeinen Privat: 
geſprächen die Zurückhaltung auferlegen, die für eine einheitliche Politik und 
für die Autorität der Krone unerläßlich iſt. („Auch“, nicht: „nur” in feinen 
Privatgeſprächen.) Sonft könne fein KanzlerdieVerantwortung tragen. Das 
hat Fürſt Bülow gejagt. Das hat der Kaiſer gebilligt. Und dieje Billigung 
iſt im Reichdanzeiger dem Erdkreis gefündet worden. Wer mehr fordert, ver- 
gibt, daß ein Kailer nicht reden kann wie ein Kutſcher. Noch wie ein ſlaviſcher 
Sünder, der dad Kreuz auf fi nimmt und von der Gemeinde der Rechtgläu⸗ 
bigen Verzeihung erbittet.Bergißt auch, dab der Reichstag nach langem Gerede 
nichts poftulirt und die ganze Laſt dem Kanzler aufgepadt hat (der, weiler fie 





Baffenftillftand. 337 


nicht mitfleidjamem Geftusabwarf, jogar von einem Stallmädhtigen und von 
anderen $reunden des ungemein thätigen Donnerdmärders geiholten ward). 
Sch muß dieBerfaffung fünftig höher achten, beffer fürdie ftetige Einheit der 
Bolitif forgen, mich vor jeder Ingerenz in den Rechtsbezirk ded allein Ver⸗ 
antwortlichen hüten; ich habe Falſches erzählt, dem Reich großen Schaden 
gethan und darf nicht mehr fo viel reden: Einer, der Kaijer und König blei- 
ben will, fonnte nicht härtere Sühne gewähren. Einem, dem zwanzig Sahre 
lang gejagt worden ift, daß er ald Affyriologe eben jo riejengroß jei wie als 
Techniker, ald Prediger und Regiffeur jo hoch übers Mittelmaß aufrage wie 
als Segler und Aeſthetiker, ald Regent die ftärkften Kräfle der berühmteften 
Abnen in fich vereine, einem jo mit Schmeichelei Meberfütterten muß dieje 
Erklärung ſchwer geworden fein. Sie ift ohne Beijpiel in der Geſchichte mo» 
Derner Fürſten. Sit eine Urkunde, die nie vergilben kann und im Erleben des 
Reiches und des deutſchen Königsrechtes wirklich ein, Markſtein“; ein papier- 
ner: der dennoch wie Erz dauern und bezeugen wird: Wilhelm, von Gottes 
Gnaden Kaijer und König, hat fich vor dem Willen der Nation gebeugt. 
Sic; unter die Kritik des Kanzlers geftellt, den er zu ernennen hat, und 
vor allem Volk laut gejagt: Sein Tadel wargeredht und ic) muß anders wer⸗ 
den. Eine Bürgschaft hat er freilich nicht gewährt. Welche auch? Die Reichs⸗ 
verfaffung bedarf Feiner Aenderung; fie giebt dem Bundespräfidenten, dem 
„Neutrum“ und „Charaftermajor“, nicht zu vieleRechte. Das, den Kanzler 
zuernennen, kann der Reichstag leicht dadurch unwirkſam machen, daß er einem 
Kanzler, der ihm nicht paßt, das Gehalt oder auch dad ganze Budget weigert. 
Die Reichöverfaffung bietet dem Volkegenug; nur muß mit vielregerem Eifer 
als bisher für die Wahrung ihres Geiftes geforgt werden. In Preußen ifte 
anderd; wo aber ift die Bartei oder Koalition, die auch nurdaran denken kann, 
Preußen zu modernifiren? Der König von Preußen ift Monarch; der Kaijer 
iſts nicht. Aus Preußend Boden wächſt dem prinsus inter pares eine Macht 
zu, die zum Mißbrauch verleiten fünnte. Da droht eine Gefahr. Die fidh vor 
dem Mehrheitwillen ducden, dürfen aber nicht Elagen, wenn dieje Mehrheit 
Andered will ald fie. Erzwingt in Breußen das Wahlrecht, zermalmt Konſer⸗ 
vative und Gentrum zwilchen dem blaßrofigen und dem blutrothen Mühl« 
ftein der Demokratie: und jchließt dann mitdem König einen neuen Vertrag, 
der Euer Sehnen ftillt. Ginftweilen iſts nicht zu erreichen; und nur Kinder 
langen nach Unerlangbarem. Was ſonſt? Ein bündiges Berjprechen, artig zu 
fein und „ed nicht wieder zu thun“ ? Das wäre das Ende aller Kaijerei. Seit 
dem fiebenzehnten Stovemberabend ift aus dem Majeſtätgedanken ein beträcht- 





338 Die Zukunft. 


liches Stück herausgebrochen; eins, dad niewieder eingefügt werden kann. Dad 
ift nicht des Volkes Schuld, fondern des Kaijerd. Weh Dem, der wähnt, mad 
da, nad) zwanzig Sahren in zwanzig Tagen, verloren ward, ſei je zu erjeßen! 
Wilhelm hat den Kampf, zu dem Mancher ihn bereit glaubte und der 

ihm von Hofmarodeurs empfohlen ward, nicht ausgefochten. Dad war ver- 
ftändig. Denn das Reich ift in den vier Quftren ded Schwankens und Wan⸗ 
fene, Zaudernd und Plauderns fo ſiech geworden, daß es ſolchen Kampf kaum 
heil überftanden hätte. Wilhelm hat (wie auf anderem Feld Fürſt Bülow) 
gethan, was fein Intereffe gebot. Wer ihm dafür Dankeshymnen fingt, be: 
weiſt nur, daß er politiich unmündig geblieben ift und nicht verftanden hat, 
um weldjes nationale Gut gelämpft wird (beweiſts auch, wenn er im Reiche» 
tag die ftattliche Faſſade des Parteiführers zeigt). Hierift gar nichts zu danken. 
Iſt weder für Bertrauen noch für Vergeſſen in den Himen [don Raum. Ber- 
trauen will durch Thaten erworben fein; Worte, ſelbſt folche härteſter Selbſt⸗ 
züchtigung, genügen nidht. Am Geburtstag derStädteordnung hat Wilhelm 
der Zuverficht Ausdrud gegeben, daß „an tigiben Tagen aufiteigende Wolfen 
ihren Schattenniemalötrennend zwifchen mich und mein Volk werfen werden“. 
(Zwiſchen mein Bolf und mich: wäre richtiger geweſen; denn vor dem König 
wardadBolf, nach dem König kann das Volk fein umd es hat ihn, nach Fritzens 
Wort, nur gefürt, um für Recht und Gefeß einen höchften Hüter zu haben, den 
perſönliches Intereſſe an des Landes, des Volkes Sorge und Sehnfucht binden 
muß.) Der Schatten liegt wie ein Bahrtuch zwiſchen Volk und Herrjcher. Der 
Wunſch, dab er fie, die unlöslich geeint jein jollten, nicht für immer trenne, 
darf nicht vergeffen lehren, was dieſer Herrſcher dieſem Volke angethan hat. 


Hale. | 

Einem deutichen Zeitungfchreiber hat der Deutjche Kailer des Herzend 
Schrein nie nod) entriegelt. Engländer, Amerikaner, Romanen fanden den 
Weg zu ihm. Auch ein Bejchwerdepunft: die biß zur Ummerbung gehende Be⸗ 
günftigung der Ausländer. Mancher deutfche Künftler, Gelchrte, Induftrielle, 
Kaufmann gäbe ein Jahr ſeines Lebens hin, um Wunſch und Planen ins Ohr 
des Kaiſers zu bringen. Kann aber nicht erreichen, wad den Armour, Menier, 
Stienne, Gunsbourg in den Schoß fällt. Das Anjehen der Deutjchen wird 
\hmaler, wenn ihr Repräjentant fie jeltener als Fremde in feine Nähe zuläßt. 
Unter den Amerifanern, die and Ziel famen, warauch der Journalift William 
Bayard Hale. Zwei Stunden lang hat der. Kaijer zu ihm geiprochen. Was er 
da gejagt hatte, ſollte veröffentlicht werden ; nach dem Willen des Auswärtigen 





Waffenftillſtand. 339 
1 


Amtes, dem der Bericht vorgelegt worden ſein ſoll, in einer Monaiſchrift erſten 
Ranges. Nach dem Iondoner Dftoberjfandal mühten die Leiter des Amtes fich 
haftig, die Veröffentlichung zu hintertreiben, und ftimmten (mitwelchen Argu⸗ 
menten, ſei hier nichtunterfucht) den Berlag de8,C nturyMagazine“ wirklich 
zum Verzicht auf den fetten Biffen. Run find wichtige Theile des Berichtes 
in Buligerd newyorfer Zeitung „World“ dennoch and Licht gekommen. 
Was Wilhelm dem für Zeitungen ſchreihenden Slergyman gejagt ha⸗ 
ben ſoll, klingt beim erften Hören unglaublich. Horcht! England hat, da es 
fi) den Sapanern verbündete, die Sache der weißen Raſſe verrathen und wird 
in naher Zeit für dieſe Sünde zu büßen haben. Der Krieg um die Zukunft des 
Stillen Ozeans ift nicht lange mehr zu vermeiden. Wenn zwilchen den Ber- 
einigtenStaatenund Sapan der blutigeKampf beginnt, muß England wählen. 
Bleibt ed dem Bündnihvertrag treu und fit für die Gelben, jo wird es in 
der weißen Welt verhaßt und verliert mindeftend inAmerifa feine Kolonien; 
daß Auftrakien und Neufeeland ihm auf diefen Wegnichtfolgen würden, zeigt 
ſchon die Einladung, die das Sternbannergeichwader jüngſt an ihre Küſten rief. 
Läßt ed die Japaner im Drang allein, fo ſchürt deren wüthende Enttäuſchung 
in Indien die fortglimmenden Funken; in ganzen Stößen liegen Prollama⸗ 
tionen in Tokio fertig und der Aufruhr wäre das Werk kurzer Wochen. Dieſe 
gefährliche Wahl wird den Briten nicht erſpart. Und wer, wie Deutſchland, 
unter britiſchem Hochmuth leidet, wer, wie Wilhelm, vom König Eduard zwei 
Fahre lang „geſchnitten“ worden ift, muß wünſchen, daß dieſe Entſcheidung 
nicht zu lange hinausgeſchoben werde. Mit den Vereinigten Staaten ift das 
Deutiche Reid; einig. Beide werden, mit der Hilfe der Mohammedaner, die 
für diefen Fall mit deutjchen Gewehren bewaffnet, von deutichen Offizieren 
erzogen find, gegen die anglo-japanijche Koalition fämpfen, fie niederzwin« 
gen und ſich China verbünden, deffen Gebiet unantaftbar und allen Völkern 
offen fein jo. Als Preis verlangt Deutfchland nur Egypten und dad Recht, 
den Türken das Heilige Land zu entreißen. Dann droht von Aſien feine „gelbe 
Gefahr” ‚bleibt Europa auch vor dem Schreden britiicher Hegemonie bewahrt. 
Das Bolf, das denjchnöden, niederträchtigen Krieg gegen die Buren geführt 
hat, ift von Gotted Zorn bedroht. Mit Frankreich wird, wenn der Britenleu erft 
aus der Hand frißt, Deutichland fich leicht verftändigen. Britanien ift ein 
finfendes Neich und fein König... Auf Eduards Haupt hageln die Pfeile. 
Alles erfunden, heißts in Berlin; nie hat Wilhelm auch nur ein ähn- 
lich Hingended Wort geiprochen. DieDffiziöfen ſagens; der Kanzler wieder: 
holts und unterftreicht die Ableugnung noch dic. Das befiehlt ihm die Pflicht. 


340 ‚Die Zukunft. 


Und England dankt ihm, daß er fie jo pünktlich erfüllt und dem Foreign Of- 
fire dadurch die leidige Nothwendigfeit eripart, in Berlin um Aufklärung 
des unfreundlichen Altes zu bitten. Ift aber wirklich Alles erfunden? Trotz⸗ 
dem Handichrift und Korrekturen des Herrn Hale in Pulitzers Millionen: 
blatt fakfimilirt zu fehen waren? Keiner glaubts. „Nach allgemeiner Anficht 
tft der Bericht glaubwürdig. Erläßt den Kaiſer zwar nicht in dererften Perſon, 
nicht in direkter Rede Iprechen; giebt aber ungefähr ein Dubend feiner Aus 
fprüche, die eben fo heftige Feindſchaft gegen England wie higige Freundſchaft 
für Amerifa verrathen. Die Interview war ſehr lang und wir werden wohl 
nod) mehr von ihr erfahren * (Daily Chronicle.) „Als Here Hale dem Aus⸗ 
wärtigen Amt dad aud dem Munde des Kaiſer Gehörte mitgetheilt hatte, hieß 
es dort, ſchon die leiſefte Andeutung könne die Welt inden unfeligften aller Krie: 
ge reißen; unverantwortlich, nleinten die Offiziöjen, jet, dab der Kaijer die 
Zaunen jeined Temperaments nicht jorgjamer eindämme. Ob Herr Hale jetzt 
leugnet odernicht: daß der Bericht korrektiſt, unterliegtnicht dem leijeften Zwei⸗ 
fel.“ (Standard.) „In Deutſchland wird der Bericht natürlich für falfcherflärt; 
er giebt das Gehörte aber treulich wieder. Bald nad dem Frieden von Ports⸗ 
mouth famen ein paar Kongrebmitglieder aus Waſhington nad) Berlin, wo 
der Kaiſer fie empfing. Er ſprach rüdhaltlos offen zu ihnen, batfie aber drin 
gend, nichts von dem Gehörten an die Deffentlichfeit gelangen zu laſſen. Was 
er ihnen jagte, war, in die Sprache der Alltagspraxis übertragen, genau ſo wie 
das jetzt in Amerika Gedruckte.“ (MornirgPos!.) Undjo weiter. Bon allen fir 
die Urtheildfindung Wichtigen zweifelt im Innerften Keiner an der richtigen 
MWiedergabedeößejpräces (nichteinmalHenrStead, derWeltfriedendapoftel). 
Sie zu beftreiten, Fonnte das Patriotengefühl uns drängen: Deffen Regung 
diesmal aber unwirkſam bleiben müßte. So jpricht Wilhelm der Zweite. In 
ſolchem Umfang wird er von wechjelnden Stimmungen beherrfcht. Mir wären 
verpflichtet, die Möglichkeit zu leugnen, daß der Deutiche Kaijer, der fünfzig 
Fahre alt ift und jeit zwanzig Sahren regirt, zu einem Fremden bei erfter Be⸗ 
gegnung fo ſprechen könne, — wenn wir nicht leider wüßten, daß er jo ſpricht, 
zu Bielen ſchon ſo geſprochen hat. Das Yankeeblut mag Einzelnes übertrieben 
haben. Egyptend Eroberung wäre, zum Beiſpiel, nur denkbar, wenn wir Malta 
und mindeftens eine Seite der Heraklesſäulen bejäßen, alſo ſämmtliche Groh⸗ 
mächte Europas für und gewonnen oder überwunden hätten. Doch was nützt 
die Beleuchtung folder Mängel? Was die derbfte Ableugnung? Der Einn 
ift, mag Herr Hale, aus triftigen Gründen, noch fo laut über Fälſchung zetern, 
richtig wiedergegeben. Zu vieleLeute leben, die ſolche Gedanken, faftinderfelben 
Faſſung, auf Wilhelms Lippegefunden haben; auch in Deutfchland zu viele. 





% 


Waffenjtillitand. 341 


Und dieStunde ift für Heine Dementirfünfte zu ernft. Zu trächtig von 
Unbeilöfrucht. Wortleyund Etienne, Spender und Hale: ftetd nur Symptome 
des jelben Leidens. So lebt das Deutiche Reich. Seit zwanzig Iahren. 


Salus populi. 


BWennwirheuteleugnen, werden wirmorgenüberführt. Wennwirheute 
aufathmen, ſchnürt morgen neuer Gram, neue Scham und die Kehle zu. Je 
ſchneller das Gift heraudeitert, je rafcher der im Inſelreich gehäufte Spreng⸗ 
ftoff zerpraffelt, um fo befjer für Deutfchland. Wir könnens dem Kaifernidjter- 
ſparen. Warum erfparteerundnichtdie Wahl, zuerftanihn oder ans Reich zuerft 
zu denfen? Er hat in den beiden Interviews Britanien, Rußland, Frankreich, 
Japan, Holland, dieTürfeigefränkt, ale Anderen mißtrauiſch gemacht und in 
Amerika, woer ſo eifernd Kiebegelät hatte, nur Ha und Hohn geerntet. Vorbei. 
Zwei Mögkichkeiten boten ihihm. Erkonntedem Reid) da8 Opfer freiwilliger 
Abdankung bringen oder auf das Amt des Geſchäftsführers verzichten, fürdader 
nicht paßt und das heute keinem Gekrönten und drum Unentfernbaren zufallen 
darf. Dieſen Verzicht hat er öffentlich ausgeſprochen; braucht unſer Vertrauen 
in ſeine Politikerfähigkeit alſo nicht mehr. Darf, wie jeder Gentleman, aber 
fordern, daB feinem Wort geglaubt wird. Er will nicht in Boffuets, nicht in 
Fritzens Sinn ferner noch deutſches Schickſal regiren, Jondernderftillthronende 
König und Kaiſer reifer und ſelbſtbewußter Völker ſein, die mit ſeinen Ahnen 
Verträge geſchloſſen haben. Ob ers vermag, müſſen wir in Geduld abwarten. 
Doch entjchloffenjein, jedem Schritt, deraufden Weg ind Unglüd zurüdführen 
fönnte, und wuchtig entgegenzuftemmen. Nicht Friede ift: Waffenftillftand. 

Auch Deutfchlands Volk nmuß fih ändern. Dem Tand, dem Prunkſchau⸗ 
ſpiel, der Titelſucht entjagen, dem Schmeicheldienftfich entwöhnen, ſeine Grund⸗ 
rechte gebrauchen, dem König und Kaiſer imponiren lernen. Wer kennt denn 
die Verfaſſung gründlich? Wer nur von Denen, die fie jetzt umftülpen oder 
flidenmöchten? Siegenügtdem Bedürfniß noch; mit geringeren Rechten und 
Machtmitteln hat. Britaniend Barlament die Stuarts unter den Willen des 
Geſetzes gebeugt. Striecht nicht vor dem Kaiſer noch haltet Euch fern von ihm 
mie, ın der Sterbeitunde, Chinas Edle von dem Himmelafohn, defjen Siech⸗ 
bett Keiner nahen darf und der in Aſiens Hofpomp einfam verrödhelt. Seht 
ihn menſchlich; den Menjchen. Wenn an feinem Willen aud) nie wieder das 
Schidjal deutſcher Menſchheit hängen darf: ein guter Vertreter leuchtender 
Reichshoheit kann diejer Impreſſionable, mit jeinem wirbelnden Eifer, feiner 
fluthenden undebbenden Einbildnerfraft, morgen noch werden. Macht esihm 

26 





342 Die Zukunſt. 


leicht; unüberwindlich ſchwer nur die Erfüllung des jäh etwa auffladernden 
Wunſches, wieder in den Bereich nüchterner Geſchäfte hineinzutojen. Ringt 
ihm Achtung ab; die Erkenntniß, daß Shrficherer, als er that, aus der Summe 

des Möglichen das Nothwendige herautrechnen könnt. Und ſprecht gelafjen 

dann, mit artiner Tapferkeit, zu den Fremden: „Daß Euch des Kaiſers Zunge 

gekränkt hat, jchmerzt und. Daß er in der Stunde des Scheltendund Drohens 
eben jo ehrlich war wie in der des Werbens und Streichelnd, braucht Ihr nicht: 
zu glauben. Wir wifjend. Fragt fortan nicht immer nur ihm nad. Meint 
nicht, Shr Briten, weil feine vom Onkel gereizten Nerven von Weltfataftro- 
phen träumten, für die Abwehr deutſcher @robererheere &uchrüften zumüfjen. 
Im Bannkreis ſolchen Spufes müßte Euer Rohlftand, wieunfer jüngerer, ver⸗ 
fiechen; undtrog der Intereffenipaltung find wir doch Verwandte und nicht für 
ewige Zeit vor der gelben, der braunen und ſchwarzen Menſchheit in fiherer Hut. 
Menn Ihr die Hoffnung aufgebt, ſechzig Millionen arbeitjamer, geftählter und 
geſchulter Menſchen jewiederaldarme Vettern aus dem Kontinentalwinfel be⸗ 
handeln zudürfen, werden wirundeineßTagedauch überdieglotteverftändigen. 
Weil wir müſſen. Beide. Schon denkt mancher Ernüchterte wieFritz von Preußen 
einft. ‚Sch glaube nicht, daß wir uns je überreden laſſen dürfen, eine Ktieggma⸗ 
rine zu ſchaffen. Den großen Flotten Europas würde unſere doch nie an Kraft 
gleichen; und wenn wir weniger Schiffe haben als andere Nationen, ift die 
- Ausgabe nutzlos. Um das für die Flotte nöthige Geld aufzutreiben, müßten 
wir am Landheerknauſern. Mir aberſcheint nüglicher, die ftärkite Armee Euro— 
pad zu haben als unter den großen Seemächten die ſchwächſte zu fein.‘ (Ex- 
pose du gourernement prussien, des principes sur lesquels il roule, 
avec quelquesreflexionspolitigques.) Luftſchiffe werdet Ihr nichtlangſamer 
bauen als wir. Wollt Ihr, weil wir Euch vereinfamt jcheinen und auf der See 
und in der Luft noch fern vom Ziel unbedachter Sehnſucht ſind, für ein Jahr⸗ 
hunderteinmuthiges, mit gefährlicher Schnelle ſich mehrendes Volk Euch ver⸗ 
feinden ? Einem habt Ihrfürchterliches Planen zugetraut. Erbligt nicht mehr: 
wird Euch mit Donner nicht mehr aufichreden; ein Kaiſer wie andere Kaijer 
werden. Merkts Alle, in Weft und Dft! Wie Wilhelm über eine Berjon, eine 
Sache denkt: daran hängt von morgen an die Entjcheidung nicht. Der Ver⸗ 

Such, ihn durch Schmeichelet zu födern oder durch Bluff einzuſchüchtern, ver= 

heißt nicht Tänger Lohn. Wer mitdem Deutſchen Reich Geſchäfte machen will, 

muß die Stimmung des deutfchen Volkes errechnen. Wer dem Deutſchen Reich 

Schaden oderSchandeftiften mil, auf die einmünhigeAbwehrvom deutjchen: 
Volkgefaßt ſein. Daswillinernfter Stille mit ſtarkem Arm jeiner Kinder land. 
beftellen. Und fein Kaiferhataufdie Möglichkeit verzichtet, Unrechtes zuthun.” 

s 











Eine Löniglide Revolution. 343 


Eine Fönigliche Revolution. *) 

3: Speifefanl des Schloſſes Hufpudftab bei Stocholm fand ber Tiſch für ein 

Trinkgelage gebedt; eine oftindifche Bowle mit grünen Släfern; Gipspfeifen 
und Zabalspalete. Aber mitten auf dem Tiſch ftand ein Blumentopf mit einem 
pyramidenformig gefchnittenen und mit Bändern geſchmückten Lorberbaum. Drei 
zothe Mügen von ungewöhnlicher Form waren auf Släfer gepflanzt; blutroth waren 
fie und glichen in der Form den Bluhen der Atelei oder näherten ſich der Hirien- 
Tappe, womit ber griechifche Paris abgebildet wird, alfo etwa der phrygiſchen Miüße. 

In einem fchwarzen Lederſofa jaß Eraf Adolf Ludwig Ribbinz, Hauptmann 
bei ber Leibgarde, vierundzwanzig Jahre alt, Sohn des Reichsrathes, Gouverneur 
bed Herzogs Friedrich Adolf. 

Am Saal auf und ab ging ber ſechsundzwanzigjährige Klaus Friedrich Hcrn, 
der Sohn von Friedrich Horn, dem früheren Freunde Guſtavs bes Dritten, ber ge« 
beten hatte, ſich zur Erinnerung an die gelungene Revolution von 1772 Guftapds« 
freund nennen zu bürfen, Die Erlaubniß aber nicht befam. Der junge Horn, der 
Schwärmer, ber Dichter, hatte dor einigen Jahren als Major der Feitungartillerie 
feinen Abfchied genommen und ſaß jegt als Majoratsherr auf Hufpudſtad. 

Die beiden jungen Männer erwarteten Jemand, denn fie hatten die guten 
Dinge auf dem Tiſch noch nicht angerührt. Um fich für die Situng in Stimmung 
zu bringen, ſprach Horn im Aufundabgehen, vielleicht auch, um einer fteigenden 
Unruhe entgegenzumwirfen. „Ya, unfer Dichter Thorild ift in England, ſcheint aber 
feinen froben Glauben an die Rettung des Menfchengefchlechtes verloren zu haben.” 

„Warum ift er nicht nad) Paris gegangen? Tas ift der rechte Ort feht!“ 

„Baris? Wie weit find fie Dort gelommen?* 

„30 viel weiß ih: Die Maigejege wurden im vorigen Jahr aufgehoben, 
die Notabelnverſammlung konnte nichts ausrichten und jegt find die Stände zu- 
fammengerufen; Neder hat am Neujahrstag fein Resultat du Conseil abgegeben 
und dadurch die ganze Faͤulniß bloßgelegt “ 

„So? Thorild war wohl ein Seher, der geabnt Bat, was kommen wirb, 
Erinnerft Du Did: ‚Die Weltherrſchaft muß durch eine unfihtbare Regirung ge» 
ſchehen. Das ift der Beruf der Genies; deren fichtbares Heer find bie Helden. 
Das Biel ihrer gemeinfamen Thätigleit ift, die Menfchheit gegen ihre Unterdrüder 
zu waffnen, Die Erde zu befreien oder, kurz und gut, Thoren zu ftärzen und Schelme 
zu fchlagen, bie nicht nach gewöhnlichem Menſchenrecht gerichtet werben können, die 
frech und offenbar die menſchliche Seligkeit verhindern; alle Kriecher und Schmeichler, 
alle feigen Bäter ber Knechtſchaft, Könige und Minifter, für die Geſetzbrechen nichts 
bedeutet; Priefter, die friechend und jafagend Gott, Volk und Eid verraten; Ge⸗ 
lehrte und Talente, die auf einen Wink Würde und Ehre, Natur und Wahrheit 
opfeın.‘ Erinnerft Du Dich?“ 

„Ob ich mich erinnere? ... Andarftröm läßt warten... .” 





*) Ein Abſchnitt aus bem Band „Schrebijche Miniaturen“, ben Herr Emil Sches 
ring, Strindbergs unermüdlicher Apoftel, überfegt hat und bei Georg Müller in München 
erſcheinen läßt. Einem Bande der auch den Strindberg ber Hiftorien wiedererkennen läßt. 

26* 


314 Die Zukunft. 


„Aber er kommt fider. Kannſt Du mir jagen, warum Andarfiröm ben 
König fo unmenſchlich haft?“ 

„Er war ja einmal Page; möglich, daß der Haß baber datirt. Aber einen 
haſſenswürdigen Menichen Hafjen, ift kein Fehler für mich; jo Biele lieben den 
Elenden aus Intereſſe . . .* 

„Elender? Nein! Aber die Treulofigfeit, Unredlichkeit, Charalterloſigkeit 
in Berfon! Weißt Du, als er feinen finifchen Krieg nöthig hatte, verlag ex im 
Rath einen Brief vom Ruſſiſchen Geſandten, ließ aber Die verjühnenden Ausdrücke 
der Freundſchaft fort. Solche Dinge maden ihn verhaßt. Und doch war dieſer 
Mann groß bei der Revolution von 1772. Er rettete Echweben aus ber tiefften 
Erniedrigung. Rutfiiche, Englifche und Franzöſiſche Gefandte beitimmten Die Aus. 
fhußwahlen; ter Schwede war buchſtäblich ein für den Meiſtbieienden angewor⸗ 
bener Soldat.“ 

„Soll man gut von einem Feind ſprechen?“ 

„Das ſoll man lernen und daraus ſehen, wie tief er geſunken iſt. Vergiß 
nicht, daß er die Marter und Die außerordentlichen Gerichte abſchaffte, die Hause 
fuhungen verbot, Drudfreiheit und Gewerbefreiheit gab.“ 

„Nein, aber der Augenblid iſt Ichlecht gewählt ... Warte, bis er tot ifi!... 
Hör mal: haft Du die Thlir geichlofien?“ 

„Kein, alle Thüren ftehen offen; fo will ichs. Meine Frau if auf Beſuch 
bei Verwandten und meinen neugierigen Bedienten babe ich in die Stadt gefickt.” 

„Wer ift Andarftröm? Gein exotiſcher, aber ſchöner Kopf Hat nicht einen 
nordiihen Zug.” 

„Sein Stammvater hieß Deplen und weigerte fi), ben Abel anzunehmen; 
dann kommt ein Franzofe mit Namen Zuttje, einem wahrfcheinlich verftümmelten 
Namen; und im erfien Zweig des Etammbaumes findet man eine ſchottiſche Frau 
Honong ... Dazwiſchen ein folder Wirrwarr von Etieflindern, Adoptivfindern, 
daß man nicht weiß, ob er wirklich von Adel ift. Doch wer fragt danach, ob ber 
Henker Ahnen hat?“ 

„Iſt er nur Henker? Iſt er nicht, wie wir, von ben’ Geiftern der Beit ergriffen, 
welche die Luft wie Gewitter reinigen? Hat ex nicht, wie wir, für Rouſſeau und 
Thorild geihwärmt?” 

Andarftröm ftand an ber Thür des Saale und zog die Filzſohlen aus, 
welche die Verſchworenen benutzten, um an den Schritten Unbefugte von Einge- 
weihten unterjcheiden zu lönnen. Er war ein fiebenundzmanzigjähriger Mann mit 
einem fchönen Kopf, der dem des Hadrian nicht unähnli war, Reich, vornehm 
verheirathet, Vater mehrerer Kinder; er führte ein geordnetes Familienleben und 
machte den Eindrud eines ſoliden Mannes. 

Nachdem fi die Freunde durch Handichlag begrüßt Batten, fehten fie ſich 
flumm an den Tifh, und bedeckten ſich mit den ſeltſamen Mügen, die fie den Dogen 
von Venedig ähnlich madten. 

„Willft Du ein Schreibzeug haben, Jakob?“ begann Horn. 

„Nein, banle, wir ſchreiben nichts!“ 

„Willfſt Du alfo fprechen, Jalob?“ 

„Sch will ſprechen, bitte Euch aber, auf Befuch gefaßt Zu fein, damit Ihr 
E ıxe Befichter im Baum baltet und der Eintretende nicht ſchleunigſt davon ablieft. 








Eine Tönigiige Revolution. 315 


Wie Ihr wißt, legten über Hundert Offiziere ihre Degen bem König zu Süßen 
und weigerten jich, gegen Rußland zu kämpfen, weil der Krieg wahnwitzig und 
ungerecht jei. Der König floh, als man ihn feffeln wollte, nad) Haus. Dann brach 
ber daͤniſche Krieg aus, wurde aber in Göteborg durch die Intervention von England 
und Preußen erftidt. Dank ber finifchen Verrätherei gegen Schweben bat der König 
feine Bopularität wieder gewonnen. Das Volk begrüßte bie heimkehrenden Offiziere 
am Hafen mit Shimpfworten; und als Karl be Geer fie in Schug nahm, wandte 
fih das Bolt vom Herrenhaus ab und dem König zu. Damit ift ber Staatsſtreich 
fiher und man erwartet ihn jeden Tag.” 

„Er muß verhindert werden!” rief Horn. 

„Warte einen Augenblid! Ter Zweck des ruſſiſchen Krieges war, bie Schulden 
des Königs mit der Schuld bes Meiches zu verquiden; ba Das aber nicht gelang, 
fondern die Reichsſchuld um zwanzig Millionen ftieg, verjuchte ers mit abenteuer» 
licher Rolitif. Er bemoht fi um ein Subfidienbiindniß mit der einen Madt nach 
der anderen, fogar mit Spanien, um zu Gelb zu fommen; er hat Angelhafen nad 
der polnijchen Krone ausgelegt; er behauptet, durch feine däniſche Königin ein 
Erbrecht auf die däniſche Krone zu haben; er bat Pläne mit Norwegen. Das ift 
eine Art Saligula; und wird er Alleinberrfchex, dann ift Schweben verloren.“ 

„Wie ift denn unfere Stellung?“ fragte Ribbing. 

„Die Unzufriedenheit ift fo verbreitet, von oben bis unten, daß wir nur 
dem aufgeflärten Willen Ausdrud geben, wenn wir die Erefution in bie Hand 
nehmen. Denkt Euch: er wagte es nicht, feinen eigenen Bruder Friedrich Adolf 
nah Finland zu fenden, weil er fich nicht auf ihn verlaffen konnte. Herzog Karl 
erhielt Schreiben von ben Finen, die ihm den Sroßfürften anboten; und ein Gerücht 
lief, der Herzog jei in eigener Sadje don Finland mit der Flotte nach Karls⸗ 
frona abgejegelt.“ 

„Aber die Verſchwörung?“ 

„ES giebt zwei Verſchwörungen. Die große allgemeine, die den König ab» 
fegen und Herzog Karl als Thronfolger Haben will, und die Heine, die... .“ 

„Bei welcher ift denn Bechlin?“ 

„Das weiß man nie. Er wünfdt wohl, daß das Beil fällt, will aber, daß 
e3 Binter feinem Rücken geſchieht. Doch babe ich dafür gejorgt, Daß er kompro⸗ 
mittixt wird; dann iſt fein Rückzug unmöglid. Was die Chancen bes Königs 
angeht, fo Hat er große Ausfichten auf ein Gelingen. Da aber Alles, was ber 
Mann thut, pervers ift, fo bat er diesmal zwei Priefter zu Handlangern: Wallgpift 
und Nordin. Er glaubt nicht mehr an Religion als Voltaire, aber er benutzt jie. 
Als er in Mora war und als Bauer verfleidet Guſtav Wafa mimte, nahm er zuerft 
das Abendmahl; das Schwein! Ta habt Ahr aber bie Briefter! Der VBürger- 
ſchaft will er Privilegien geben, wie den Bauern. Die lleinen Leute führt er an 
der Naſe herum, indem er die Strafe für Kindesmord mildert: da habt Ihr die 
Mägbe! Schließlich Hat ex bie alte görgijche Sache entdedt. Der ſchwediſche Staat 
bat feit dem Tode Karls des Zmölften mit den görtziſchen Erben progeffirt, um 
eine vermeintliche Forderung herauszubelommen. Jetzt aber bat die Unterſuchungs⸗ 
fommiffion gefunden, daß der ſchwediſche Staat ben görtziſchen Erben fiebenzig- 
taufend Reichs thaler ſchuldet. Was jagt Ihr dazu? Der König benugt natürlich 
die Konjunktur und läßt bezahlen. Damit hat ex den Geräderten zehabilitirt und 


346 Die Zukunft. 


bie Holfteiner gewonnen. Daß Karl ber Zmölfte babei Etwas abkriegt, freut nur 
die Ruſſenfreunde, die im Wugenblid Legion find... Ihr ſeht alfo, daß dieſes 
Mannes Garn burchgeichnitten werben muß, weil es nicht geordnet werben fann.” 

„Wie foll feine Revolution benn vor ſich geben?" fragte Ribbing. 

„Dur Verhafiungen natürlich. Dein Vater, Klaus Horn, ift auf ber Bro» 
ffriptionlifte roth angeftrichen.” 

„Mein Bater, Guſtavs Freund, ber ihm bei der Revolution von 72 Half? 
Man Hat feine Freude mehr am Leben, wern man fieht, wie Alles heruntergezogen - 
und fehleht gemadt wirdi" 

„Das darf aber feinen Einfluß auf Deinen Entſchluß Haben, Klaus! Weder 
Freundſchaft no Feindſchaft darf den Richter beftechen.“ 

„Was foll geſchehen?“ unterbrady Ribbing. 

„Was that Brutus, als Caeſar die Freiheit mordete?“ 

„Und Tas wilft Du thun?“ 

„Ja! Aber Du bift Hauptmann der Garde, Ribbing, und mußt mir helfen!” 
„Mebr als gern! Haft Du einen Plan?” 

„Viele; und fie ändern ſich nach feinen Winkelzügen. Er ſchläft aus Furcht 
nicht zwei Nächte mehr im felben Zimmer. Bur Zeit wohnt er auf Schloß Drott⸗ 
ningholm, wo General Armfelt mit dem Bauernregiment in Quartier liegt. Dorte 
bin fährt der König in der Naht auf Ummegen... . Stil, Bechlin ift da! ch höre 
ihn fchnaufen. Er kennt nicht die Treppen, denn er ift noch nie hier gewejen. 
Jetzt zieht er den Pelz aus; den Fuchspelz. Oft legt er ben nicht ab... Still!“ 

General Pechlin ftand in der Thür. „Störe ih?” fragte ber jeht neun» 
undfehzigjährige General, ber fchon feinen vierten Negenten erlebte. 

„Rein, wie fönnt Ihr Das benten?” antwortete Andarftröm. „Ihr feib 
erwardet und willlommen. Gebt Eu, Herr General.” 

Der Alte fegte fich und muflerte die Geſellſchaft und die Requifiten. „Horn und 
Ribbing! Hm! Der junge Horn ftammt ja aus der Familie Nachisund- Tag! Hieß 
bavon nit Einer Mons Bengtsion, ber Engelbrecht ermorbete? Gewiß! Und Der 
junge Ribding ftammt von den Follungern und ben Stures, alfo von ben Waſas, 
ba Guſtav der Erfte ein Sture war.“ 

„Sa“, antwortete Ribbing, „Das hat feine Nichtigkeit; aber mein Stamm 
vater, Peter Ribding, war Richter bei bem Blutbad von Linföping, als Horns 
Stammvater zum Tode veruxtheilt, doch auf bem Schafott begnadigt wurde.” 

„Sa Ihr gerade von einem Blutbad ſprecht“, unterbrad, ihn Andarfiröm: 
„ih erinnere mich an einige Ribbings, die in Jönköping entbauptet wurden, zur 
ſelben Zeit, wo das ſtodholmer Blutbad ſtattfand.“ 

Das Geſpräch, das ſich eigentlich ausgeſponnen hatte, um Das zu der» 
bergen, von dem man ſprechen mußte, aber nicht recht wollte, war von bem blutigen 
Stoff, an den Alle dachten, nicht losgefommen; gegen feinen Willen hatte man 
geiagt, was mun verheimlichen wollte Dan fühlte fi) auf einmal verrathen und 
eine peinliche Pauſe entftanb, die Undarfirdm beenden zu mäffen glaubte. 

„Wißt Ihr, General, dat Böran Pers ſon hier auf Hufvudſtad gewohnt bat?” 

„Das wußte ich nicht!“ 

„Sa, ber Rankeſchmied bat hier gehauft; und er foll noch heute ſpuken.“ 

„Spuken?“ Pechlin griff den Spuk auf, um das unangenehme Wort Ranke⸗ 





Eine königliche Revolution. 3 47 


ſchmied zu fireidhen, das fein flänbiges Beiwort war und das Andarfiröm in ben 
Augen des Alten gelefen haben mußte. Da aber ber Spuk nichts mehr abwarf, 
griff ber Alte nach einem Stoff, ber näber lag, um die peinlicden Hintergedanten 
abzuleiten. Was für Raucdhmügen haben die Herren dba aufgefegt?“ 

„Bas ift bie lebte pariſer Mobe*, antwortete Andarftröm. 

„Und biefer Strauh? Iſt Das ein Maibaum? So früh im Jahr?“ 

„Rein, Das'ift ein fogenannter Freiheitbaum.“ 

„Hm, hm!... Wie ift es mit ber Freiheit im alten Echweben?* 

„Die Einen nehmen ſich die Freiheit, zu tyrannifiren; die Anberen aber... 
Nein, General, wir wollen feine Komoedie fpielen! Wir haben von dem Komoe⸗ 
dianten auf dem Thron genug.” 

Pechlin liebte offene Sprache nicht; die nannte er brutal; darum verfchloß 
er fih und that, al$ habe er nichts gehört. Andarftröm aber ließ ihn nicht los, 
fondern zwang ihn an den Abgrund, 

„Seid Ahr darauf gefaßt, morgen verhaftet zu werden?“ fragte er. 

„Ich werde ja immer verhaftet, fobald eine Unruhe fühlbar wird!“ autwors 
iete dex General ausweichend. 

Andarftzöm wurde ungeduldig und bejchloß, Die Pulvertonne in Brand zu 
fieden, um Leben in den Alten zu bringen. 

„Wenn aber ber König ftirbt, jo fommt Ihr mit bloßex Haft nicht weg!” 

„Stubt? Woran follte ex fterben ?“ 

„An einem Schuß oder an einem Sud, bermuthe ich.“ 

„Was Tag! 39? Handelt es jih um... Nein, dann mache ich nicht‘ mit! 
Ih bin fein. 

„Bas it zu ipät bedacht, General!“ 

„Was, in Jeſu Namen, ſagt Ihr! Wenns wahr iſt, jo zeige ih Euch an!“ 

„Das ift bereit$ getan“, antwortete Andarfirdm. „Ich babe unfer Aller 
Kamen angegeben, außer einzelnen.“ 

„Unb meinen au?” 

„Euren zuerft. Uebrigens, General: bei Eurem Alter müßtet Ihr willen, baß es 
feine Geheimniſſe giebt. Wir befigen ja die Liften des Königs, ſowohl von Denen, 
die verhaftet werben follen, wie von Denen, die verhaften follen. Da aber Alles 
und Alle voll. Falſchheit find, fo glaubt Fein Menſch an unfere Verſchwörung. Man 
ahnt wohl, dat e8 Mißvergnügte girbt, und man weiß, daß eine Regiments⸗ 
veränderung geplant wird, aber an unfere Abfichten glaubt Niemand.” 

„Uber Das if ja eine Komoedie!“ 
„Wir ſpielen Komoedie mit dem größten Komoedianten, der, je auf einem 
Thron gefeflen hat.” 

„Wenn er nur nicht mit Euch Tragoedie fpielt! Wißt Ihr, baß er mich 
auf dem Weg hierher beinahe überfuhr? Es war am Sabbatsberg. Und er grüßte: 
Guten Tag, alter Freund, wohin wilit Du? Ich will nad Hufpudftad, antwortete 
id. Grüße die Verſchworenen! rief er mir nad. Wenn er herkommt! Ex liebt 
dramatifche Szenen und ift wenigftens nicht bang.” 

„Das ift er; aber er verbirgt feine Furcht hinter einer angenommenen Frei⸗ 
müthigfeit. Und er verläßt fich auf feine Fädigkeit, die Menfchen zu bezaubern; 
deshalb glaube ich, er kommt hierher, um ung zu befehren.“ 


348 Die Zukunft. 


„dann ‚möchte ich aber vorher geben!” 

„Das dürft Ihr nicht!“ 

„Sind denn bie Thüren geichloffen?” 

„Rein, aber wir haben zwei dreifirte Bluihunde, Die auf Befehl Euh wie 
einen geichoffenen Hafen beim Kragen nehmen und apportiren.“ 

„Daß ih mich von biefen jungen Leuten anführen ließ! Daß ich ein folcher 
Thor war . 

„Teint ein Glas, rauht eine Pfeife und jeid Philoſoph, Herr General! 
Hört, was Thorild fingt: 

Freiheit! hallten die nordiſchen Verge. 

Und Freiheit war ihres Himmels Laut; 

Helden lachten, trogend dem Schichſal, 

Wenns Mädchen im Thalgrunde fang. 
Schickſal trübte fih; thürmende Wolfen 

Gleich wölbte ber Himmel in jchwarzer Nacht. 

Trau! Trau! Trau! brüllten die Xügen 

Aus Wollen. Das Bitternde fiel.“ 

„Bravo!“ war vom Korridor zu hören. 

„Das ift der König!” flüflerte Pechlin. Alle erhoben ſich. 

In der Thür ftand die Meine, elaftiiche Perſon, die weniger durch Verſtand 
und Staatsklugheit ald durch perſönliche Liebenswärdigfeit und geminnendes Ve» 
nehmen das Schidjal Schwedens nun bald achtzehn Fahre gelenlt Hatie. Friedrich. 
bes Großen Schweilerfohn, Guſtav der Dritte, Schüler Boltaires und Rouſſeaus, ber 
das Baterland thatfächlich von ausländiſchem Subſidienjoch befreit hatte,ein Dichter, 
ber das Leben als ein Theaterſtück behandelte und jelbft in allen Rollen auftrat; 
unter Ranken und Intriguen erzogen, früh an Berftellung gewöhnt, ohne andere 
Richtſchnur für feine Handlungen als einen angeborenen guten Willen und viel 
Humanität; ein Mann, ber nicht boshaft war, der Feinden verzeihen und Unrecht 
vergefjen konnte; ein aufgeflärter Dejpot, der im Grund allein die ganze Oppo- 
fition bildete; ein Paradoxer, deifen befte Thaten Echelmenflreichen gliden und 
deſſen fchlimmfte Etreiche wie die Früchte des guten Herzens ausfahen; vor Allen 
aber ein Komoediant und ein Dellamator. 

Die Szene, die er jetzt ſah, gefiel ihm; fein Entree war gut vorbereitet; 
er hatte ſelbſt das Stichwort gebradt und war nun in der Role. Ein banaler 
Gruß Hätte den Alt zeritört; darum ſprang er mit beiden Füßen in den Stoff hin⸗ 
ein; e8 handelte ſich ja um den Dichter Thorild, den er einmal bemunbert, nad» 
geahmt, gefördert hatte. Die Verſe fortjegend, deflamirte er: 

„Auf ftand Engelbrecht, ſchlug auf den Felſen 
Sein Schwert: und ein Feuerfunfe flog; 
GStedte taujend Morgenroths Ylammen 

Bum Tag unferer freiheit in Brand! 

Die Verſe find nicht fehlerfrei, aber Das thut nichts. Und mehr habe id 
nicht behalten!“ 

ALS Niemand zu antworten wagte, übernahm er die Leitung und beſchloß, 
die anwejenden Perſonen mit feiner Zauberruthe zu berühren: ließ fih am Tiſch 
nieder, nahm ein Glas und begann die magifche Sigung. 





- Eine königlie Revolution. 349° 


Pechlin aber, der die königliche Magie kannte, machte fih Hart und bewaffnete 
ih mit jeiner Zunge, bie ſowohl ſcharf wie giftig fein Fonnte. . 

+  Andarftröm wurde verichloffen und nahm eine refignirte Miene an, die be⸗ 
deuten mochte: Schwag Du nur; ich komme doch! 

„Hier figt alfo mein alter Freund Pechlin“, begann der König, „und kon⸗ 
fpirixt, wie gewöhnlidh, aber ungewöhnlich genug mit der Jugend. Nun, worüber 
konſpirirt Ihr? Wißt Ihr nicht, daß ich der erſte Verfhwörer im Reich bin? 
Daß ich Euch die Freiheit gegeben babe, vor Allem die Druckfreiheit?“ 

„Die Drudfreibeit unter ber Cenſur des Buchdruders“, unterbrach ihn Pechlin. 
„Und Halldin, der gegen den Branntwein fihrieb, hätte beinahe feinen Kopf ver» 
loren. Es ift lange her, feit Majeftät von der Drudfreiheit fchrieben, fie ſei ein 
Segen, ba fie ben Regenten über die Sefinnung des Volkes unterrichte! Unb biefe- 
Worte: ‚Wäre der Drudfreibeit fon im vorigen Jahrhundert erlaubt worden, 
den Regenten über jein wirkliches Wohl aufzullären, dann Hätte vielleicht König 
Karl der Elfte nicht auf Koften ber Sicherheit ſolche Geſetze erlaſſen, die bei uns 
die Königsmacht verhaßt gemacht haben‘.* 

Der König konnte Pechlin nicht böſe werden, weil der General eine fo netie 
Art hatte und zu den Menſchen gehörte, denen man (warum, weiß man nidt) 
nicht böfe werden kann. Er wäre ed auch jegt nicht geworden, wenn er nicht ein 
turzes, Halb unterbrüdtes Lachen, in das Einer von ter Geſellſchaft ausbrach, 
gehört Hätte; Den hatte ex nicht bemerkt, weil er fo ſaß, daß der König ihn nicht 
jehen konnte. Es war Undarfirdöm, der jest erft ſichtbar wurde. 

Die Miene, die der Köntg machte, war ganz ımbeicjreiblich; fein Geſicht 
verwandelte ſich und verlor alle Beherrſchung; die Muskeln fprangen über einander, . 
die Augen Trochen in den Kopf binein, als fuchten fie einen Winkel, ih zu ver⸗ 
bergen; der Kehlkopf, der über der Halsbinde zu fehen war, ſprang auf und nieter 
Uud der ganze Mann fah aus, als wolle er ſich ſelbſt ausbrecen. 

Die Urfache dieſes Hafjes zwiichen den Beiden ift nie ermittelt worden. Man 
wollte ihn einer angeborenen Anitpathie zuichreiben: „Sie waren geborene Feinde.“ 
Andere wollten ihn von Andarfirzöms Pagenzeit datiren; damals foll der Zunge Zeuge 
von Etwas geworden ſein, das Guſtav um jeden Preis verbergen wollte Ein 
Memoirenfchhreiber Hat angedeutet, Andarfiröm jet in die ſchlimme Ehegeſchichte des 
Königs verwidelt geweien und habe der Königin Witwe als Zeuge gedient. Genug: 
biefe Beiden konnten nicht im felben Zimmer fein. Und der König fühlte, daß 
er hinaus müſſe, um nicht zu erftiden. Uber einen guten Abgang zu finden, der 
nicht wie eine ſchimpfliche Flucht ausjah: da war die Schwierigteit. 

Pechlin, der Erfahrung und Geiſtesgegenwart beſaß, wußte, wie gefährlich 
es if, einen Menichen zum Aeußerſten zu bringen, und fand die goldene Brüde. 
„Deajeftät Tennen die legten Nachrichten aus Paris?“ 

„Nein“, antwortete der König, nur um eine neue frage herbeizuführen und 
ein neues Geipräd in Gang zu bringen. 

Andarftxöm, der helfen wollte, erhob fi, um den Kachelofen durchzurühren. 
„Der Dritte Stand darf die Doppelte Anzahl in die Nationalverfammlung entſenden!“ 

„Bravo!“ rief der König. „Das ift ber Hauptpunkt! Dann ift ber Abel 
vernichtet; und den Weg müfjen wir gehen! Das ift ganz mein Regime. Die 
Burgerſchaft, ber Kern der Nation, muß heran und das Alte, Morſche muß fallen. 


850 Die Zukunft. 


Thorild und ih, wir haben es geahnt und Sie werben fehen, meine Herren (jet 
_ wurde ber Abgang vorbereitet). Sie werden fehen, meine Herren, wie bie ſchwediſche 
Freiheit (er zog einen Handſchuh an, um den Aufbruch einzuleiten) von dem Tag 
Datirt, an bem das Herrenhaus fein Beto gegen ben Dritten Stand, und natürlich 
auch den Bierten, verliert! (Er griff nach feinem Glas, um ein Wohl auszubringen.) 
"Wenn ich Cie aus Scherz bie Verſchworenen genannt babe, fo zähle ih Sie zu 
meinen Verſchworenen: wir Tonfpirizen gegen die bevorrechtigten Stände, gegen 
bie Bebrücder des Landes, gegen die Kleinen Tyrannen. Und wenn id, vom Geiſt 
ber Beit belebt, meinem treuen Wolf deſſen Freiheiten und echte wiederſchenle, 
-fo bin ich den rechten Weg gegangen, und zwar an ber Epige; bin ein Mann 
ber Revolution, ich wie Sie, wie der edle franzoſiſche Dritte Stand. Tarum, meine 
Freunde, entzünde ich dieſes Tranlopfer auf dem Beiligen-fyeuer diejed Haufes, in 
dem ein Staatdmann von Genie, ich meine ben verfannten Göran Persfon, als 
Nathgeber feines aufgellärten Monarchen gelebt und gelitten hat. Göran Bersfon 
kämpfte gegen. ben Adel, an der Seite feines vollsfreunblichen Herrn. Darum babe 
ih) auch, wie Sie wiffen, meine Herren, aus der Hand des finfteren Könige Johann 
das Szepter brechen und es dem Bauernkönig Erich geben laflen! (Jetzt goß er 
ben Inhalt des Glaſes aufs Feuer, daß die Flammen ziichten; damit hatte er Ver⸗ 
anlafjung erhalten, fih vom Stuhl zu erheben und ben anderen Handſchuh an⸗ 
zuzieben.) Und jegt, meine Herren, meine Freunde (ex zog fi) nad ber Thür 
zurück, rüdwärts, in ber Urt der Ballettänzer), lade ih Sie zu morgen in ben 
Neichsfaal. Dort empfange ich die vier Stände und dort werden wir, wenn bie 
Freiheit in Gefahr ift, einander gegen die Tyrannen beifleben; wir Alle, bie wir 
‚Hier verfammelt find (dabei machte der Zauberer eine Bolte mit bem Kartenſpiel 
und zauberte die ernfte Bedeutung der ganzen Situation mit einer franzöfifchen 
Abgangsphrafe fort, die Lächeln und Applaus hervorrufen mußte), jofern fich nicht 
General Behlin wie gewöhnlich wegen vorfichtigen Benehmens verhaſten läßt!” 

Er fragte mit dem Fuß, verabfchiedete die Geſellſchaft mit einer Handbe« 
wegung, die Applaus verlangte; und er war glüdlih au8 dem Zimmer Heraus, 
als wirfli der Applaus losbrach: für das ausgezeichnete Spiel und den groß- 
artigen Iynifhen Humor, Um fih an feinem Triumph, zu weiden, trat der König 
wieder in bie Thäröffnung und verbeugte fich nad Schaufpielerart mit der Hanb 
-auf dem Herzen, aber mit einem jatanijchen Tächeln in den Augen, das ganz deut⸗ 
lich fagte: „Ihr Gänſe beißt mich Fuchs nit! Ihr wollt Komvedie mit mir 
ſpielen!“ Damit verfhwand er. 

„Ein Teufelskerl!“ rief der General, der mit offenem Wunde dageſeſſen 
(hatte. „Ein Teufelsterl! Kann Der ben Leuten das Geſicht verlehren? Wir Re 
volutionäre! THorild und ich! Und Göran Persjon obendrein! Was fagt Ihr Dazu?“ 

„Laßt ihn jchwagen*, antwortete Andarftröm. „Mich verhert er nicht. Aber 
der Apfel ift noch nicht reif * 

... Einige Stunden [päter war der König auf Schloß Drottningholm, im Zimmer 
vor ber großen Schlafftube. Die Thür zum Schlafzimmer fland auf und man fah 
‚den großen, vergolbeten Alfoven, der wie das Profzenium zu einem Theater gebaut 
‚und mit Draperien und Vorhängen bekleidet war. Links vom Bett war eine Loge, 
in der Trabanten ben königlichen Schlaf bewachten; der war etwas unruhig gewor⸗ 
‚den nach dent legten ruſſiſchen Krieg, als die eigenen Difiziere den Monarchen hatten 


Eine königliche Revolution. 351 


verhaften wollen. Das Schlafzimmer, das jet ein Schreden für ihn geworben war, ' 
batie er zum Wrbeitzimmer und Salon umgeſchaffen, in ber Mbficht, die Leere zu 
füllen, bie ein am Tag unbenugter Raum bat. Jet wurde ber bevölfert don ben 
Eindräden des Tages; es ſaßen Erinnerungen an Klänge au ben ‚Wänden, und 
wo eine menſchliche Stimme geſprochen hatte, war die Zuft Iebenbig und gejellig. 
Und ein Zimmer, in dem man bie heilige Arbeit geleiftet bat, ift vom Weihwaſſer 
erfüllter Pflichten gereinigt. Nur in dem Eingefchloflenen, Unbeweglichen eniftehen 
dieje Verdichtungen, die fi zu Geſpenſtern materialifizen. Der klare Inſtinkt bes 
im Dunkeln bangen Menfchen Haite ihn zu dieſem Mittel gegen Unruhe und Schlaf. 
Iofigfeit geführt. Jetzt beſprach der König mit feinem Guünſtling Armfelt bie 
große That von morgen: den Staatsfizeich. 

Armfelt war fein Staatsmann; nur ein ſchöner Offizier. Allzu ſchön, um 
Mann zu fein. Aber er verehrte feinen Monarchen; jegt lag ex mit feinem Re⸗ 
giment auf Drottningholm, um bes Königs Berfon zu fehlten. Verzogen und zu⸗ 
dringlich, Hatte ers fi im Sofa bequem gemacht und fpielte den geduldig zu» 
hörenden Freund, der ba8 ihm geſchenkte Vertrauen nicht erwidern kann. 

„Bas meint Du zu dieſer Verſchwörung?“ fragte der König, der eben bie 
Feder binlegte. 

„Das ift nichts", antwortete AUrmfelt, der das Thema Verſchwörung fatt 
halte. „Die ganze Jugend fpielt ja heute mit dem Gedanken ber Revolution. 
Das hat nichts zu bedeuten.“ 

„Meinft Du?“ 

„Sie deflamiren in ihren Klubs; wenn Du aber zufhlägft, wird es ftil. 
Du kennſt den Schweden. Anno 72 war es etwas gefährlicher, denn damals gingit 
Du mit dem Abel gegen die Bolfsverfammlung; diesmal gehft Du mit dem Pobel 
‚gegen den Abel: und da iſt der ‚Erfolg ganz ſicher.“ 

„Allerdings. Aber trotzdem ich für bie unteren Siände fühle, bin ich als 
König doch Edelmann; und daß fi die Meinen von mir zurüdziehen, ift nicht 
erbaulich. Die Oper fteht Teer, zu meinen Empfängen kommt Niemand; bie Königin 
und Andere vom Hofe bleiben unjichtbar; auf meine Brüder Tann ich mich nicht 
verlafien. Schauerlich ift dies Leben.” 

„Sa, mandhmal; aber Das pflegt vorüber zu gehen. Haft Ba Etwas ge» 
fehen, das nicht vorüber geht?“ 

„Du haft Recht. Als ich vor meinen eigenen Leuten übers Meer floh, war 
ich nicht fröhlich; ich glaubte, e8 fei zu Ende mit Leben und Freude. Als ich aber 
nah Haufe fam, zog man mid im Schlitten zum Schloß hinauf... .* 

„seine Eigenliebe! Das hatte ich inſzenirt! Als aher ber Hauptfchuldige 
Bingerichtet werben follte, weigerten fi die Dffiztere, den Soldaten ben Befehl 
zur Erelution zu geben.” 

„Davon habe ich nichts gehört!“ 

„Nein, man wollte Dich fchonen; aber Du mußt bie Stimmung Iennen.” 

Der theilnehmende Freund Eonnte ſich nicht verfagen, fich für feine Mühe 
dann und wann durch einen Meinen Uebergriff zu entichädigen; und wer fchlechte 
Nachrichten in dee Tafche bat, kann Trumpf fpielen. 

Der König hatte das unangenehme Gefühl, der Unierliegende zu fein, und 
wollte wieder in die Höhe. „Die brei Stände Habe ih! Olof Olsſon, Graf Ferſens 
Pachter (iſt Das nicht köſtlich ?), habe ich zum Sprecher des Bauernftande3 gemacht.“ 


352 Die Zukunft. 


„Aber Olof Olsſon iſt krank; er bat zu viele Diners mitgemacht.“ 

„ft er krank? Du weißt immer mehr ald ich! Der Sprecher des Bürger 
ftandes ift Freimaurer; Du kannſt mir glauben: wir haben ihn eingemauert. Und 
Schlädhter Nordſtröm, Rittmeifter der Bürgerkavallerie, hahaha... Der fpringt für 
Geld nicht ab. Er läßt fi) von den Barbeofjizieren grüßen, weil die Bürgerfchaft 
jegt Rang erhalten bat.“ 

„3a, Du, Haft gut vorgeſpannt!“ - 

„Aber Eins fehlt: nervus rerum gerondarum!“ 

„Das ift Geld! Schick fofort nach Appelgpift!* 

„Hierher foll er Tommen? Nein, dann gehen wir lieber zu ihm Hinauf.“ 

„Gehen wir!” 

Der König und Armfelt zogen fih an und gingen in den Raıf hiaus, um 
auf Um» und Hinterwegen die Scheidewaſſerfabrik aufzufuchen. 

Es gab wirklich auf Drottninghalm eine Salpeterfäurefabrit, die jedoch als 
Schild für eine weniger jaubere Hantirung oder für ihrer zwei diente. Bon feinem 
großen Oheim Fritz von Preußen hatte Guftad gelernt, Krieg mit falſcher Münze 
zu führen. So Hatte er zum rujfifchen Krieg vom Mechanifus Kapitän Appelgpift 
aus ber Scheidewaflerfabrit ſowohl ruſſiſches Papiergeld, jogenannte Langröde, 
wie auch Goldftüde, bie nicht aus Gold waren, anfertigen laſſen. Das war Zitte 
der Zeit; und mit der Philoſophie der Aufklärung Tonnte man ja alles Unverant- 
wortliche verantworten. Die Seele bes Unternehmens war der vom Vorurtheil 
freie Udolf Friedrich Mund, ber ben ehrlichen Auguſt Nordenjkjöld, den Alche⸗ 
miften und Swedenborgianer, unter feinen Schuß genommen und audgebeutet hatte. 
Nordenftjöld Hatte in der Scheidewaflerfabrit Gold gemacht, feften Glaubens, und 
unter jeiner Führung fabrizirten Die Anderen ihr falſches Gold. NIS ber edle 
Schwaͤrmer aber enidedte, wozu fein guter Name benugt wurbe, floh er. 

ALS ſich jegt ber König und Armfelt, mißtrauifch wie alle Geheimnißkrämer, 
in Die Fabrik jhlichen und die Thüren, damit der Rauch abziehe, offen fanden, 
blieben fie ftehen, um zu laufchen, denn fie hörten Stimmen im Laboratorium. 

Kapitän Appelgvift faß mitten in der Rauchwollke und ſprach zu feinem Ge 
hilfen Bergklint: „Daß man niemals dahinter kommt, ob Die Alchemiften Gold 
gemacht Haben oder nicht, deutet an, die Vorfehung laſſe e8 nicht zu, daß dies Ge⸗ 
beimniß fich verbreite, denn es wäre für die Menſchheit verberblich. Der edle 
Nordenſtjold glaubte blind und er hatte bei feinem Goldmachen die Abficht, das 
ſchnöde Metall zu entwertben und damit Alle zum Arbeiten zu zwingen. Jetzt joll 
Ihr meine Begrändung hören, Bergklint. Der Heilige Thomas von Aquino makte 
Gold aus Kupfer, Silber aus Antimon. Run wißt Ihr, zu einem gelben Metall, 
Bronze oder Meiling, iſt Kupfer und ein weißes Metall nöthig. Es ift alſo Kupfer, 
das uns das weiße gildt. Ihr wißt aber aud, daß man aus bloßem Kupfer und 
Bint Tein Meifing erhält; e8 muß auch Kohlenpulver dabei fein. Diefe Kohle 
ſcheint Etwas mitzutheilen, das wir nicht wiffen. Wis Thomas Silber und Kupfer 
zuſammenſchmolz, machte er ein edles Eilber-Meiling, das von Antimon figitt 
wurbe. Geber, ber Araber bes achten Jahrhunderts, nahm Kupfer und Zink und 
firirte Beides mit Arfenil. Der Schwede Payfull arbeitete mit Quedſilber, Eiſen 
und Antimon. Urban Hjärne, der nicht leichtgläubig mar, erhielt den Auftrag. 
Payfuls Methode zu prüfen. Der jchaflinnige und gelehrte Dann wurde über 


Cine Töniglide Revolution. 353 


zeugt, daß Paykull Gold gemacht habe; feine Aeußerung liegt in Handichrift' auf 
der Königlichen Bibliothek. Swedenborg ſchmilzt Kupfer und Antimon, ſchüttelt es 
mit Quedfilber und defiillirt e3 fpäter. Was haben wir gemacht? Wir haben ſech⸗ 
zebn Theile Kupfer, ein Theil Zink und fieben Theile Platine genommen; und 
damit haben wir eine Art Gold, das die gewöhnliche Probe mit kaltem Scheide- 
waſſer üderfieht. Warum erſcheint das Kupfer nicht in feinem blauen Schmud, 
wenn das Echeidewaffer fommt? Weil das edle Blaıina das unedle Kupfer ver» 
wanbelt und es von feiner grünen Erde, von der bereits Plato ſpricht, befreit Hat. 
Wißt Zhr, Bergklint, ich fange zu glauben an: wir find nicht Falſchmünzer, fone 
wir haben wirtli Gold gemadt.“ 

„Meifter”, antwortete Bergflint, „fo tft meine Meinung geweien; mandhmal 
aber glaube ich e3 nicht. Es giebt allerdings viele Arten Gold und das Könige 
wofjer ift feine Brobe; denn wenn ih in Schwefeläther das Goldſalz löje, das 
aus echtem Gold in aqua regia entitanden ift, jo erhalte ich ein Gold, das nicht vom 
Königswaſſer angegriffen wird. Es ift aljo Gold, aber es ift fein Gold.“ 

Draußen waren Füße zu hören, die den Schnee abtraten. Der König drängte 
Armfelt in eine offene Kohlenfammer Hinein, denn fie wollten ſich nicht gern ſehen 
lafien. Gleich darauf ftürzte ein Herr durch den Korridor und unmittelbar ins 
2 boratorium hinein. Der Rauch reizte ihn zuerft zum Huften, aber auch zur Wuth, 
denn er fchlug mit feinem Stod auf Tiſche und Bänke, während er zu Wort zu 
kommen fudhte. 

„Wer war Das?“ flüfterte ber König. 

„Das war Mund!” antwortete Armfelt. 

Und nun gabs im Laboratorium einen Auftritt, als feien die Retorten eye 
Hlodirt und das Dad, eingefirzt. Der wegen jeiner Roheit befannte Graf Mund 
heulte: „Hi mir, Menſch, in Jeſu Namen! Nette mich vorm Satan! Worum es 
ih Handeli? Der verfluchte Aron Iſaak hat mich in Finland angegeben, baß ich 
47000 Neichsthaler in jchlechter Münze unter die Leute gebracht habe.“ 

„Was fol ich Dabei machen?“ fragte Appelgvift. 
„Du follit fagen, Tu Habeft das falide Beld von Shelbon befommen!* 

„Rein, Here Braf, Eheldon ift ein Ehrenmann .. .“ 

„Das ijt mir einerlei! Du mußt die Sahe auf Dih nchmen! Dann kannſt 
Du nachher fliehen!” 

„Lügen und fliehen? Das thue ich nicht!” 

Eine neue Erplofion folgte, bei der diesmal der Stod die erſte Geige fpielle. 
Und Rufe, Halos, Sprünge begleiteten. „Ach töte Dich!“ war das einzige deutliche 
Wort, das die Laufchenden hören konnten. 

Da aber ertönte ein neuer Laut: ein Schnauben und Saufen, wie wenn man 
einen Krahn öffnet. Ter Raum füllte fich mit weißen Dämpfen. Mund fchrie: „Ich 
erfiide, Siftmifcher!" Dann lief er zum Korridor hinaus und verfchwand. 

Bergklint Hatte die Glaspfropien aus den Deftillirapparaten gezogen und 
da3 frefiende Scheidewaffer hatte den Feind in bie Flucht gejagt, während Meifter 
und Adept fi in die Bugfap:lle gerettet hatten. 

„Armfelt”, flüfterte der König, „dieſe Geſchichte iſt gefährlih! Damit wir 
micht hineingemifcht werben, ziehen wir uns in guter Orbnung zurüd.“ 

Sie gingen ben felben Weg hinaus, den fie gefommen waren. Bald waren 


354 Die Zukunft, 


fie draußen im Park. Der König blieb ftehen und ſprach gleichfam zu den Ster- 
nen: „Alfo morgen! Und ohne Geld! Wenn wir Gold gemadt hätten, ohne eſs 
zu wiſſen!“ 

. Die Großkirche von Stodholm ſtand offen am Alltag, denn die große 
Deputation ber drei nichtabeligen Stänbe follte fich Hier verfammeln, um zum König 
aufs Schloß Hinaufzuziehen. 

Das alte Haus dom Zarl Birger fand da mit feinen Erinnerungen: eine 
illuſtrirte ſchwediſche Befdhichte im Auszug. Magnus Eriksſons fiebenarmiger Leuchter 
bon den Folkungern; Sankt Georg und ber Drache der Stured; Meifter Olofs Graf - 
ftein; die Tafel der Erinnerung an die Wahrzeichen, bie Guſtav Waſa warnten; Olofs 
des Heiligen Hut unb Sporen aus ber Kirche von Drontheim; Adler Salvius’ Altar- 
ſchrank; Ehrenſtrahls jüngſtes Gericht. Und alle die unfihtbaren Erimmerungen. 
Magnus, ber Folkunger, wurbe hier gelrönt; Chriftian der Tyrann, Königin Ehriftine, 
Karl der Zwölfte und Andere. Und bie Grabfteine, eine ganze Bibliothel von 
Steinſchriften. 

Unter Sankt Georg mit dem Drachen gingen Horn und Ribbin in halb⸗ 
lautem Geſpräch auf und ab, während fie Darauf warteten, daß fich die Deputation 
verſammele. „Freund Ribbing“, fagte der gefühlvolle und rechtfchaffene Horn, „ich 
habe den König im Ritterhaus fprechen hören und kann nicht leugnen...“ 

„Kannft? Mußt!“ 

„Nein, Recht muß Recht bleiben, wenn auch die Welt einhürzt! Vedenke 
doch: er erfegt die Rathskammer durch ben höchſten Gerichtshof, bei dem der König 
nur zwei Stimmen bat, während bie Nichtadeligen Stimme und Sig befommen. 
Das ift demokratiſch. Alle Nichtadeligen erhalten das Recht, freien Grund und 
Boden zu erwerben. Das ift Revolution! Verdienft, nicht Geburt foll bei der Ve⸗ 
förderung gelten. Das find Andarftröms Lehren.” 

„Aber der Abel befteht auch aus Menichen!” 

„der Adel befteht, aus Menichen! Uber die Anderen find auch Menichen. 
Und wie bat er nicht die ewigen Beſchuldigungen der Verfhwendung zurückgewie⸗ 
en! Er hat ja zum Theil die Schulden Karld des Zwölften geerbt! Der Ber- 
ftörer Schwedens lebt ja noch als Quälgeiſt jeines Bolles! Nein, Ribbing, ich kann 
nicht mehr mitmachen!“ . 

„Abwarten!“ 

Jetzt hatten fich Menſchen in ber Kicche verfammelt; unter ihnen war General 
Pechlin zu fehen, obwohl er ſich unlichtbar zu machen ſuchte. ALS er in die Nähe 
von Horn und Ribbing kam, that ex, als betrachte er eine Grabſchrift, und ſprach 
babet, ben beiden Freunden immer den Rüden kehrend: „Undarftröm if nad) Goth⸗ 
land geflohen. Oder gereift. Einige jagen, aus Furt vor Verhaftung; Andere 
meinen, ihm feien Strupel gelommen, nadjdem er den König im Witterhaus habe 
fprechen hören. Das bewieje, daß er felber nicht reif ift, wenn er ſich von leerem 
Geſchwätz anführen läßt. Dean höre nur: ‚Ein gleich freies Bolt muß gleiches 
Recht auf Yrund und Boden im gemeinfamen Vaterland Haben; aber (da fommt 
ein aber!) bem Abel bleibt bas alleinige Recht auf Freigüter‘; und fo weiter. Ober: 
‚Nur Berdienft und Fähigkeit gelten bet der Beförderung, doch (da kommt ein 
doch!) werden dem Abel die höchſten Neichsämter vorbehalten! Dann werben bie 
Privilegien bes Abel von 1723 beftätigt; doch nur, fo weit fie dieſer Sicherheit» 





Eine löniglie Revolution. | 355- 


alte nicht widerſprechen. Das ift ja Schwindel! Nein, ich hätte Andarfirdöm mehr 
zugetraut. Lebt wohl, Yünglinge! Um Elf beginnen bie Berhaftungen.” 

Damit war er verſchwunder. | | 

‚Som fland betrübt da, al3 babe er allen Glauben und alle Haltung ver⸗ 
loren. „Pechlin ift ein Dämon“, fagte er. 

„Rein, ex tft ein einfacher Ränkefchmieb, ber arbeitet, um zu zerfiören; aber 
der König ift ein Teufel der Unreblichkeit, der nie den geraden Weg gehen kann, 
aus purer Neigung, den krummen zu gehen.“ ı 

„Und Andarftröm?* 

„Andarftröm ift wohl in die Wüfte hinausgegangen, um fih auf feinen 
Beruf zu bereiten; aber ex kommt wieber! So gewiß ich lebe. Geduld, Horn!“ 

Sept verjammelten fi bie Teputationen der drei unadeligen Stände, um 
ins Schloß Hinaufzugeben. Die beiden Freunde zogen fich in ben Chor zurüd, 
um die befannten Geſichter zu betrachten, als ſich ein Mitverſchworener zu ihnen: 
Bindurchdrängte. 

„Pechlin ift verhaftet!” flüftert er. „Auch Ferien und De Geer und Andere. 
Sch Babe die Regirungform in ber Taſche, unfere Regirungform . . . Jetzt gebe 
ih nach Haus und verbrenne fie! Folgt mir! Unfere Sache ift verloren!“ 

„Borläufig ja”, antwortete Ribbing. „Aber bewahre bie Regirungform; 
Herzog Karl wird fie einmal benugen !* 

Der König ftand an einem Fenſter des Schloffes, zum Ausfahren gefleidet, 
und betrachtete jeine Hauptftabt, die bort fonnig und lächelnd in bem ſchönen Mate 
morgen lag. Armfelt trat unangemeldet ein, weil er gerufen war. 

„Bas wilft Du von mir?” fragte er; da erblidte er auf dem Tif einen 
großen Kranz von Palmen mit gelben und blauen Bänbern. 

„Du ſollſt mich in bie Ritterholmskirche begleiten und einen Kranz aufs 
Grab meines Freundes Dlof Olsſon legen. Das war ein artiger Mann, unjer guter 
Sprecher vom Vauernftand; ex ftarb zur rechten Beit, jo gelegen, Daß ich fein Be- 
gräbnig zu meinen @unften benugen Tonnte.* 

„Das Begräbniß war ja köſtlich“, antwortete Armfelt etwas verftimmt. 
„Graf Ferſen ift verhaftet und fein Pächter wird im ferſenſchen Grabchor begraben. 
Das wirkte auf die Bauern, ift aber auch ſchon wieder vorbei.” 

Der König, ber zum Fenſter Hinausgejehen hatte, unterbrach ihn. „Was 
it Das für eine Voltsverfammlurg auf der Brüde?* 

Armfelt näherte fi dem Fenſter. „Das find Ferfen und De Geer, Die aus 
dem Gefängniß kommen!” 

„Aber das Boll ruft ja Hurra!“ 

„Ia. jo iſt das Volk! Und darum bite ih Dich, nicht mehr mit Dlof Olsſons 
Leiche zu ſpielen. Ich bitte Dich!” 

„Bift Du bang? Iſt meine neue Revolution nicht gelungen, und zwar ohne 
Blutvergiehen?” 

„Hier zu Lande haben nur Könige Revolution gemadt: ber große Guſtav, 
der Harie Karl der Eifte und... .“ 

„Ich! Es ift Töntgtreues Volk, das gehorchen will.“ 

„Verlaß Dich nicht darauf! Und zeige Deine natürlichen Freunde nicht!” 

„Bi Du nicht Demokrat?” 


-356 Die Suhnt. 


„Nein, ich bin Edelmann. Das bift Du auch. Keiner glaubt an Teinen De» 
mokratismus. Sie find erwacht, wie in Paris.” 
„Was ift in Paris gefchehen?“ 

„Weißt Du Das nicht?" 

„Nein . 

„Die Stände find nufämmengetreten: ber König ift nach Verſailles geflohen, 
:die Revolutton hat begonnen!“ 

„su des Himmel! Namen: was fagft Du?“ 

„Sa, fiehht Du: Ludwig fpielte audy den Liberalen!” 

„Nein, fieh dortbin: fie tragen Ferjen und De Geer im Triumph.“ 

„Nimm Dir die Warnung zu Herzen, Guftab der Dritte, fonft fehen wir 
niemals Guſtav den Vierten auf dem Thron.“ 

Des Königs Geſicht wurde fchmal. „Was fagft Du? Du au? Das iſt das 
‚dritte Mal, daß ich diefe Worte höre. Geftern, nachts, fagte fie mir bie Lenormand.” 

„Du bift zu der Wahrfagerin gegangen?” 

„Ih kam als Neugieriger zu ihr und ging als Zweifler; jegt aber glaube 
ich. Armfelt, ſchaff den Kranz fort, und fage, daß man ausfpannt! Es wird Ernft.“ 

„Endlich! Laß mid; Dich zu dieſer Entdedung beglädwünichen. Es ift immer 
Ernft geweſen, Du aber Haft e8 als Spiel genommen; als eine Komoebie, währenb 

es eine Tragoebdie ift.“ 

„Dein Freund, wenn Du, wie ich, zwilchen Ränten, Intriguen und Masten» 
fpiel herangewachſen wärft, wenn Du, wie ich, die Kehrſeiten der Menichlichkeiten ge» 
feben, wenn Du erfahren hätteft, was ich erfahren, Tönnteft Du das Leben nicht mehr 

ernſt nehmen. Wenn ich mid) einmal von einem edlen Gefühl hinreißen ließ, fo 
ftand immer Einer grinfenb dabei. Wenn ich die Dual ber leidenden Menſchheit 
litt, daß mein Herz weinte, dann lachte ber Haufe. Alles, was ich heilig und ernft 
nahm, wurde vom Schidfal in Spott und Hohn gewandt. Wenn ich wohlmwollte, 
that ich übel! So nahm ich denn das kyniſche Leben kyniſch. Slaube mir: es ver⸗ 
dient nichts Beſſeres! Swedenborg bat wohl Recht: Das Leben ift eine Hölle und 
Die Drenfchen find Teufel; denn unfere Aufgabe ſcheint zu fein, einander zu quälen, 
‚die Liebften und Nächften zu quälen.“ 

„Sit Dir nichts heilig?“ 

„Nein, ich Habe nichts Heiliges gejehen, das fich nicht unbeilig gezeigt hätte; 
nichts! Und wenn man vom Weinen müde geworben ift, lacht man. Das ift immer 
noch befiex, als ausgelacht zu werden, wenn man Thränen im Auge Hat.” 

„Urmer Buftap!” 

„Oui, Monseigneur! Berbrenne ben Kranz; dann gehen wir hinunter und 
-frühffiden!...... Es wird Iuftig fein, zu fehen, wie mein Better Ludwig mit bem 
fouverainen Volle Komoedie fpielt.” 

„Nimm Did in Acht!” 

„Ah was!” 

Er drehte fih auf feine gewöhnliche Art um; diefe Geberde follte bebeuten, 
bat er Allem gleihmüthig den Rücken kehre; vielleicht auch, daß ex lächelnd, in 
‚einer Pirouette, über Dornen und Eteine tanze. 

Stodholm. Auguſt Strindberg. 


5 











Bud der Jugend. 357 


Buch der Jugend. 


Bud der Jugend. 9. Heller & Co. Wien. 10 Bogen. Preis: 1 Krone. . 
(Wirklich nur: eine Krone; nur achtzig Pfennige für einen Band von zehn 
Bogen. Diefer merkwürdige, unter dem Batriarchenbart nie alternde Herr 
Herman Bahr muß immer mad Beſonderes haben. Seht möchte er, daß 
jeder Gymnaflaft fein neues Buch in der Zafche trage. Darum giebt er den 
Band fo billig, in dem er allerlei ältere Arbeiten noch einmal ans Nicht 
bringt. Aufjäte über das „wirkliche Leben“, die Wahlen in Defterreih, den 
Singer Gottes, Über Gottfinder, Mütter, Mufit und Lecture; Charalteriftiten 
Beethovens, Stelzhamers, Dlbrichd und Anderer. Ob die Gymnaflaften das 
Bud, das im Weihnachtmonat erſcheinen ſoll, lefen werben, mag zweifelhaft 
fein; daß den Erwachſenen der Band manche Stunde guter Anregung ber 
reiten wird, ift gewiß. Im November find von Bahr Übrigens bei S. Fiſcher 
zwei Bände erfchienen: ein Novellenbuch und der Roman „Die Rahl“.) 


An Herrn Karl Mofer (den Heinen Sohn des Künflers Kolo Moſer). 


Nun trittſt Du beute, lieber Karl, ſchon ins britte Jahr. Zwei ganze Jahre, 
dent, biſt Du ſchon alt! Da will ich Dir dies Buch, welches ber Jugend ift, zu. 
fhreiben, um meine Hochachtung für Dich auszubrüden. Diefe it um ein Jahr 
jünger ald Du. Boriges Yahr begann fie, hier auf dem Semmering, in Eurem 
Garten, rechts vom Heinen Teih, an ben Rojen. Da fand ein weißes Wagerl, 
Du lagft zappelnd, bie Sonne fchien. Die Sonne, der Teich, bie rothen Roſen, 
das weiße Wagerl, Deine zappelnden Beine, ber Kies: dies Alles war jo hell, hatte 
aber einer dunklen Punkt, nämlich jene düfter hütende Dame bei Dir, weldhe Du 
die NRänd nennft. Als fie nun mich erblidte, der, vom blauen Haufe ber, auf Deine 
Karofie 108 fam, trat ihr großer, breiter ſchwarzer Schatten vor Di Hin, griff 
noch Deinem Kappl und zog das Kappl und ſchwang das Kappl, auf mich zu, 
und bog Dir den Kopf vor und ſprach: „Mach ſchön Diener, Karli! Mad ſchön 
Diener!” Eigentlich aber ſprachs ſies nicht, jondern fang es mehr, in einem fröm« 
melnden, halb Iodenben, Halb klagenden Ton, daß es wie eine lullende Litanei Durch 
die gligernbe Luft floß: „Mach ſchön Diener, Karli! Mac ſchön Diener!" Doc 
da begab es ji, da Dir Dies gar nicht einflel; fondern Du befamft ein rothes 
Gefiht vor Born und die biden Patſchen ballten fich zur Fauſt; 658 warft, Das 
fah man, wäßrend fie, mit Deinem Kappl winfend, immer noch grinjend bat, in 
jener tädifchen, füßen Freundlichkeit, die die Nänds in der ganzen Welt haben: 
„Mad Ihön Diener, Karli! Mad ſchön Diener!” Es half ihr nicht. Du wollteft 
nicht. Sieht Du: Dies hat Dir meine Hohadtung zugezogen. Da begann fie. 
Und deshalb fei Dir heute, lieber Karl, dies Buchl dargebracht, das zur Jugend 
geht. Denn ich bin Dex, weißt Du, der in Defterseich auf der anderen Seite bes 
Wagerls Heht und gegen die Nänäs ift und eine andere Titanei für die Jugend 
bat, nämlich die: „Mac keinen Diener, Karl! Nie follft Du und Niemandem den 
Diener maden!” Natürlich find da die Nänäs alle ſehr böfe auf mich; und Die 
Nänds glauben ja noch, die Macht in Defterreich zu Haben. Es ift aber eine zer. 

27 


358 Die Zukunft. 


ſchoſſene und durchlöcherte Macht, die fie in den dürren, alten Händen haben, und 
morgen wird fie in den Staub gefunfen fein. Und wenn dann bie Nänäs ver- 
trieben find und Reiner mehr einen ſchönen Diener macht, dann werben aus Euch 
Menſchen werben. Auf diefe Menſchen warte ih. Und mein ganzes Sein und Thun 
ift immer nur ein foldhes ahemlos ausgefiredtes Warten auf die menichlichen 
Menichen In Defterreich. Beeilt Euch doch ein Bischen, beeilt Euch, heranzuwachſen; 
ich habe nicht mehr fo biel Zeit. Ich möchte jo gern erleben, daß eine Jugend 
kommt, bie mich erkennt unb fpricht: „Seht, ba ift Dex, der auf Defterreich ge⸗ 
wartet hat!” 

Denn wenn Dir bie Nän&s jagen, daß ich ein fchlechter Defterreicher ſei: 
Das ift eine Züge, lieber Karl. Ich bin nur kein „Patriot“. Ein „Patriot“ ift, 
wer fo wenig von unſerem Land und feinen Leuten Hält, Daß ex ihnen nicht zu- 
traut, an Eutopa theilnehmen zu Lönnen, fondern es nöthig findet, fie noch in 
den alten barbariichen Zufänben wilder VBergangenheiten zum Schuge zurück⸗ 
zußalten. Werth der, Patriot“ von Gerechtigkeit, Freiheit und Dienichlichkeit Hört, 
fagt er: „Wiffens, geehrter Herr, Das wär Alles recht fchön, aber bei uns geht 
Das Halt nicht; wir find noch nicht fo weit.” Ich aber meine Dies nicht, ſondern 
meine: Wir find ſchon fo weit, wir Tönnten es ſchon wagen, zu Europa zu ge 
hören. Deshalb bin ich Yein „Patriot“. Ja, ich meine fogar, baß wir, in ber Wirth» 
fchaft, in den Kunſten, in der Wiſſenſchaft, überall, an Weit, Talent und Gemüt 
fo ſtark find, ed mit allen Völkern aufzunehmen und in freier Menſchlichkeit neben 
allen zu beſtehen. Wenn wir trotzdem bet ben anderen wenig Achtung haben, ſie 
überall vorlaſſen müſſen und immer noch im Winkel find, fo muß es am unferen 
Einrichtungen fein, bie und den Athem nehmen. Dieſe find nämlich fo, baß fie 
ben Defterzeicher Bindern, Die Kraft zu haben, bie er bat. Mich aber quälts, Je⸗ 
dem anzufehen, wie er durch fie rebuzixt wird, und wenn ich im Auslanbe dem 
nachfichtigen Lächeln begegne, das Jedem erfcheint, ber ſich als Defterreicher be 
Zennt, wird mir Heiß vor Wuth und Scham unb ih möchte weinen, daß wir ihnen 
nicht zeigen lönnen, wer wir find und was wir haben. Aber die „Batrioten” Iaffen 
es ja nicht zu, weil, jagen fie, „Das lauter ſolche überjpannte Ideen find, die für 
unfer armes Land nicht taugen“. Nein, ein folder „Patriot“ bin ich gar nicht, 
ich danke ſehr; exft wenn biefe „Batrioten” ausgerottet find, wirb unfer großes, 
ſtarkes, wunderbares Defterreich, daß jegt nur in unferer Sehnfucht, in unferer in- 
neren Gewißheit if, exrft dann wird es erjcheinen. So lange muß es warten. Es 
wartet auch auf Euch, Karl! Es wartet auf bie Jugend. Auf eine andere Yugenb: 
die jung fein wird. 

3 kann Euch nur, wünſchen: Habt ben Muth zu Deflerreich! Seit Sabren 
zufe ih hinaus: Habt ben Muth zu Defterreich! Noch mein letztes Wort wird 
fein: Habt den Muth zu Oeſterreich! Defterreich iſt noch nirgends als in unferer 
Sehnſucht und in unferer Zuverſicht. Tieflin ben arbeitenden Menfchen verftedt 
ift Deflerreich. Eine junge Jugend muß kommen, es zu heben. Dann wird, wenn 
es ericheint, von unjerem frohen Weſen ein Leuchten über bie Bölfer fein. Schlagt 
bie „Batrioten” tot, auf daß endlich Defterreich leben kann! Glaubt an Oeſterreich! 
Hofft auf Oeſterreich! Denn!Defterreich ift in Dir, Jugend! Sei nur, was Du bift, 
laſſe von Dir niht_ab_und lerne Dein Weſen vollbringen, mit geballter Fauſt! 


Semmering. s Herman Bahr. 





Reich und: Biündesftaaten. 359 


Reich und Bundesitaaten. 


Fe 70 der Berfaffung bed Deutfchen Reiches lautet: „Bur Veftreitung aller 
gemeinjchaftlichen Ausgaben dienen zunächit die etwaigen Ueberfchüffe der 
Borjahre fowie bie aus ben Böllen, den gemeinſchaftlichen Verbrauchsſteuern und 
aus dem Poſt⸗ und Telegraphenweien fließenden gemtinichaftlichen Einnahmen. So 
weit die Ausgaben durch diefe Einnahmen nicht gebedt werden, find fte, fo lange 
Reichäfteuern nicht eingeführt find, durch Beiträge ber einzelnen Bunbesftanten nach 
Maßgabe ihrer Bevolkerung aufzubringen.” Dieſer Artikel ift das böfe Schickſal 
der beutfchen Reichsfinanzen geworben. Er flabiltrt bie Abhüngigkeit des Reiches 
von ben Bunbesfianten und hat ſchließlich Die Umkehr diefes Bexrhältniffes bewirkt. 
Er ift ſchuld daran, daß das Meich Hunderte von Millionen Mark ſich ſelbſt ent⸗ 
zog unb biefen Verluſt dann durch ein plump ausgebildetes Syſtem des Schulden⸗ 
machens zu Torrigiven verfuchte. Der berfihtigte Artilel 70 Hanbelt von ben Ma⸗ 
tritularbeiträgen, bie auch In fchlechtem Ruf ſtehen. Sie boten ben Anlaß zu der 
Franckenſteinſchen Klauſel, Die tm Jahr 1879 das Licht bes Reichstages erblickte. 
Und der legte Verſuch, dad Syſtem ber Matrilularbeiträge zu mobernifiren und fie 
mehr zum Objekt praktiſcher Finanzwirthſchaft als zum Gegenftanbe ber Kritik zu 
machen, ging von bem Stantöfelretär des Reichsſchazamtes, Freiheren von Stengel, 
aus. Die Lex Stengel vom Mai 1904 ſchnitt ber liebenswürdigen clausula Fraucken- 
fein zwar Arme und Beine ab, ließ aber den Kopf unberührt. Und fo erfreuen 
wir uns heute noch einer Inſtitution, die aus den Tagen flammt, da der Begriff 
„Deutiches Reich” zur hohlen Formel Hinabgefunfen war, mit der man keinen er⸗ 
wachienen Menſchen aus bem Bau Ioden konnte. Das alte Romiſche Reich Deut- 
ſcher Nation war ein in ſich morjcher Körper, der nicht die Kraft befaß, auch nur 
den geringften Sinanzbebarf zu befriedigen. Da mußten benn die von ben Reichs⸗ 
angehörigen aufzubringenben Matritularbeiträge die Mittel zur Dedung außer 
gewöhnlicher Ausgaben liefern. In erfter Linie kamen bier die Gelder zum Krieg. 
führen in Betracht. Dex Deutſche Vund übernahm die Einrichtung ber „Beiträge“ 
für Faälle außerorbentlichen Bedarfs; und fo find fie in die Berfafiung bes Norb⸗ 
dentfchen Bundes und von ber in die Reichsverfaſſung gefommen, wo fie ein para» 
ſitäͤres Dafein führen. Sie ehren am Anfehen des Neiches, das, im lehten Grunde, 
auf feinem Srebit beruht. Und wir haben ja eben erſt gehört, wie thöricht man 
in England und Frankreich bie Finanzlage des Deutichen Reiches beurtheilt. 

Durch die mangelhafte Regelung ber finanziellen Beziehungen zwiſchen Reich 
und Einzelfinaten ift ein großer Theil der Mifere, unter Der wir leiben, bewirkt 
worden. Fünf verfchiebene Berfuche wurden (feit 1879) unternommen, um die 
Finanzen bes Reiches zu reorganiſiren; und jeder Verſuch endete mit einem Fiasko. 
Daran war nicht allein Mangel an Sparjamteit ſchuld, fondern aud die Zähig- 
teit, mit der man an der Frandenfleinfchen Klauſel feſthielt. Auch der Entwurf 
bes Schapfetretärd Sydow befeitigt die Matrikularbeiträge nicht; vereinfacht fie 
aber: als einzige Heberweifungfteuer follen die Neineinnahmen aus dem Zwiſchen⸗ 
handel des Reiches mit Branntwein beftehen bleiben. Die Borausfegung ift natür- 
lih, dab der Reichstag das Reichsbranntweinmonopol annimmt. Die Matrikular⸗ 
beiträge haben eine merlwurdige Entwidelung binter fi; urſprünglich waren fie, 
wie aus dem Baflus „fo lange Reichsfteuern nicht eingeführt find“ herborgeht, als 
27° 















300 Die Zukunft 


eine proviſoriſche Einrichtung gedacht. Die Einzelftaaten follten zahlen, fobald die 
Einnahmen bes Reiches zur Dedung ber Ausgaben nicht langten. Dann fam Das 
zweite Stabtum mit der Franckenſteinſchen ſtlauſel. Die Bundesftaaten follten num 
ben Löwenantheil an den Einnahmen haben, während das Reich ſich mit einer 
firirten Summe aus bem Ertrag ber Bölle und der Tabakſtener begnügen mußte. 
Damit brach die Beit ber tiefften Erniebrigung des Reiches an, das finanziell zum 
bloßen Schenten herabgewürdigt wurbe. Denn bie clausula Franckenſtein verfünbete 
ben Grundfag: Erſt die Bunbesftaaten, dann das Reich. Die „Ueberweifungen” 
eines Haupttheils der Neichdeinnahmen an die Einzelftaaten (außer den Böllen und 
der Tabakfleuer wurben fpäter in bie Franckenſteinſche Klaufel noch die gelammten 
Branntweinfteuern und die Neichsftempelabgaben einbezogen) follten dem Neichdtag 
die Möglichkeit Bieten, fich in den jährlich feftzufegenden Matrifularbeiträgen einen 
„beweglihen Faktor“ der Neichdeinnahmen zu fihern. Hätte man einfach gefagt: 
„Dem Meich bleibe, was bes Reiches ift, und die Bunbesftanten mögen mit ihren 
Erträgen fchalten, wie fie wollen“, daun hätte der Reichstag auf der Habenfeite 
ber Bilanz nichts mehr zu beftimmen. Die wäre dann eben durch die jeweilige 
Höhe der Einnahmen beftimmt; und das „Bewilligungrecht“ käͤme nur bei ben 
Ausgaben zu Wort. Da das beutfche Parlament aber als fein vornehmſtes Recht 
betrachtet, das Budget Jahr vor Jahr im Soll und im Haben feftzufegen, jo mußte 
die Möglichleit offen gelaffen werden, auch auf bie Einnahmen Einfluß zu ge- 
winnen. Das Mittel zu diefem Zwed ſind die Matritulaxbeiträge, bexen Höhe fich 
erftens nach der Summe ber Heberweifungen bes Reichs an die Bunbesfinaten und 
zweitens nach dem Bebarf ber Reichskaſſe richtet. Mit den wachjenden Einnahmen 
aus Zöllen und Abgaben hat das Meich feinen Status nicht verbeffert; der iſt 
immer jchlechtex geworden; denn die vermehrten Heberfchliffe werden ben Bundes⸗ 
ftaaten überwiefen, die fie allerdings in der Geſtalt von Matrikularbeiträgen an 
das Reich zurüdichieben. Aber die Form, in der Das geſchieht, ift eben ein Zeichen 
der Abhängigkeit und Schwäche ber Gentralftelle. " Der Artikel 70 ber Reichsſsver⸗ 
fafjung follte da8 Motto tragen: „Lerne leiden, ohne zu Hagen.” Auf diefe dem 
Reich aufgezwungene Refignatton waren alle Berfuche, die Finanzen zu reformiren. 
Beftimmt. Vielleicht bringt Einer Humor genug auf, über die in ihrer Komplizirt- 
beit beinahe komiſche Axt der Sinanzgebahrung zwiſchen dem Schagamt in ber 
Wilhelmftraße und den fünfundzwanzig Yinanzminifterien in ben Einzelſtaaten 
laden zu können. Das ift nämlich jo Etwas wie ein Schieberamſch: erft ſchiebt 
das Neich den Staaten die „Ueberwetfungen“ zu, dann fchieben bie Staaten bie 
Ueberweifungen wieder zurüd. Man kompenſirt; unb nur bie „Spigen“ werben wirt. 
lich bezahlt. Das find die über den durch Ausgleich getilgten Betrag hinausgeben- 
den Aniprliche der Reichskaſſe. Bis ins Jahr 1897 Haben die Einzelflanten vom 
Reich mehr befommen, als fie zurückzahlten. Seitbem aber find die Matrikular⸗ 
beiträge ftet3 größer geweien als Die den Bundesſtaaten überwiefenen Summen. 
Daß diefer Umftand die VBegeifterung für dad Reich nicht geftärkt hat, läßt ſich 
benten. In München, Dresden, Stuttgart, Karlsruhe gilt das Reich als läftiger 
Koftgänger, dem man in den Bunbeöparlamenten die unfreundlichiten Zeugnifie 
ausftelt. „Wozu haben die Deutjchen eigentlich das Neich, wenn fie ſichs nichts 
foften lafien wollen?“ So fragte einmal ein Ausländer, ber mit ungeheucheltem 
Erftaunen die Verhandlungen eines Landtaged über die finanziellen Beziehungen 
zwifchen dem Präſidium und ben Mitgliedern ded Bundes verfolgt Hatte. 








Reich und Bunbesftaaten. 361 


Die Nachtheile der Franckenſteinſchen Klauſel ſollten durch bie Lex Stengel 
befeitigt werben. Durch dieſes Geſetz wurde beftimmt, daß bie Einnahmen auß 
den Zöllen und ber Tabalfteuer unverkürzt bem Reich verbleiben und nur noch 
ber Reinertrag ber Branniwein-Berbraudydabgabe, ber Maiſchbottich⸗ und Braunt- 
weinmaterialfteuex und verichiedener Stempelabgaben an die Bımdesftaaten zu 
üderweifen fei. Ein wirklicher Fortſchritt war damit nicht gemacht. Statt ber 600 
Millionen wurden nur noch 400 Millionen Hin und hergefhoben: Das war Alles. 
Die genial ausgedachte Umbucherei blieb Heftehen und wird weiter, als Zeichen 
unzulänglicher Würbigung des Neichägebantens, bie „Organifation” unferer Finan⸗ 
jen zieren. Die Borlage bed Schatzſekretärs Sydow bringt nämlich, wie ich ſchon 
jagte, für bie Matrikularbeiträge nur bie eine Neuerung, baß die Ueberweiſung 
ber Stempelabgaben geftrichen und ber binüberzufchiebende Boften auf den Vrannt⸗ 
weinhanbeldertrag befchräntt werden fol. In Zahlen ausgebrüdt, heißt Das: 
Künftig werben nicht mehr 400 Millionen, fonbern nur noch 220 Millionen ger 
jhoben. Die Matritularbeitxäge find das gejegnete Thier, dem man den Schwanz 
Stück vor Stück abbadt. Eine Feſtſegung des Höchſtbetrages ber von ben Einzel» 
ftaaten zu leiftenben Emolumente würbe die Lage des Reiches noch unbequemer 
machen; denn bei einem Fehlbetrag von zwei Milliarden für das nächte Jahr⸗ 
fünft (nadh der Berechnung ben Reichsſchatzamts) wäre heute noch nicht voraus 
zuſehen, wie body die Anforderungen des Koſtgängers der Bundesftaaten” ich 
ſtellen können. Hinzu kommt nod, daß für unproduktive Zwede keine Anleihen. 
aufgenommen werben follen. Die Vorausſage, daß nach Ablauf von fünf Fahren 
die fünfte Milliarde ber Reichsſchulden voll fein werde, hat, trotzdem die Zins⸗ 
zahlung Leicht wäre, nicht nur Herrn Sydow einen gewaltigen Schreden eingejagt. 

Seit dem Jahr 1890 hat fih die Reichsſchuld faft vervierfacht und es war 
nit möglich, auch nur ben Heinften Theil der Eumme zu tilgen. Tas ift das 
bedenkliche Moment: die Unmöglichkeit rationeller Unleihetilgung, wie fie in muſter⸗ 
giltiger Weife England durchgeführt hat. Obwohl bie jährliche Tilgungsquote bei 
uns nur auf %/, Prozent feſtgeſetzt wurde, Hat man noch gar nicht angefangen. 
Auf die umerfreuliche Seite bes Reichsſchuldenweſens gehört auch ber hohe Berrag 
ber Schwebenben Schuld, bie, nach amtlicher Auslegung, nur eine „berfchleierte 
dauernde Schuld“ ift. Nichtfundirte Schulden dürfte es in geordneten finanziellen 
Berhältnifien überhaupt nicht geben. Der Bump von heute auf morgen gehört 
mehr zu den Requifiten füböftlicher Staatstunft ald nad) Mitteleuropa. Aber im 
Deutichen Reich hat ſich das Syſtem eingebürgert, weil bie Matrilularbeiträge das 
chroniſche Defizit zur Öffentlichen Einrichtung machten Und Fehlſummen lafjen ſich 
eben nicht immer durch bie Herangiehung der Einzelftanten beden. Die verfügen 
auch nicht über unerfchöpfliche Einnahmequellen, mehr als einmal haben fie verfagt. 

Das Reich foll nun Feine Schulden mehr machen und für die allmähliche 
Bejeitigung ber alten Anleihen forgen; es joll ferner feine Einkünfte vermehren, 
unter gleichzeitiger Erhöhung ber non ben Einzelftanten zu leiftenden Beiträge; bie 
Einzeltanten erhöhen igre Steuern, um fi) für die Mebrleiftung an das Reich zu 
kräftigen. Richt nur zu biefem Bwed; aber auch an im muß man benfen. Die 
Tinanzlage der Einzelſtaaten ift für das Reich natürlich von höchſter Bedeutung; 
denn fie find das Rückgrat im Reichskörper. Wenn bas Heich einmal in ernſtliche 
Schwierigleiten geriethe, müßten bie Bundesftanten für Alles auflommen. Das 


362 — Die Zukunft. 


ergiebt fi aus der Struktur des Geſanmtkorpers von ſelbſt. In der Schweiz 
und in den Vereinigten Stanten von Nordamerika tritt bie Zufammengehörigfeit 
bes Ganzen und feiner Theile noch heller ans Licht als im Deutfchen" Reich, weil 
bie Selbftänbigkeit ber einzelnen lieber von außen nicht fo ſichtbar tft. Die Einzel- 
ftaaten dürfen in ihren Einkünften nicht auf Koſten des Reiches geichmälert werden, 
weil fie Pflichten zu erfüllen haben, für bie das eich nicht auflommen könnte. 
Streicht man bie Ueberweifungen an die Staaten, fo wirb beren Einkommen nicht 
verfürzt; denn die ihnen von ber Reichskaſſe überwiejenen Millionen milſſſen bie 
Einzelftaaten ja, in der Geſtalt der Matrikularbeitäge, an ben Abſender zurüd- 
gehen laffen. Die Boten des beutichen Volkes wollen fi aber zu dieſer Streichung 
nicht entichließen. Sie fürdyten die Antaftung ihres Budgetrechtes und "fordern 
wenigftens ein Aequivalent. Das ſoll in ber Einführung einer Reichſseinkommen⸗ 
ſteuer beſtehen. Damit kommen wir wieder auf ben erwähnten Artilel 70 ber Reichs⸗ 
verfaffung zurüd, der von „Neichöfteuern“ fpricht. Gemeint find natüxlich direkte 
Reichsſteuern; denn indirekte giebts ja ſchon längfl. Die wichtigfte direkte Reicht 
fteuer wäre bie Einfommenfteuer, bie jegt ben Einzelftanten vorbehalten ift. Die 
And zum guten Theil auf direkte Steuern angewieſen, weil bie wichtigſten inbtreften 
Abgaben bem Reich zufließen. Die Einkommenſteuer ift im Vermögen ber Staaten 
auch ein „beweglicher Faktor“, ben fie brauchen, um ſich mehr Geld zu ſchaffen. 
Da nun die Einzelftanten, um ihre ſozial⸗ finang« und wirthſchaftpoliliſchen Pflichten 
erfüllen zu Lönnen, wachiende Aufwendungen machen müfien, brauchen fie bie „dehn- 
bare” Einfommenfteuer. Die Summe der direkten Steuern, bie ben beutichen Bundes 
ftaaten im Jahr 1907 zugefloffen find, belief fich auf rund 540 Millionen. Fir 
ben Wegfall Diefes Poſtens müßte Erſatz geichafft werben. Der wäre nur in neuen 
Anleihen zu finden. Die Schulden der Einzelſtaaten witrden fich alfo, über ihre 
normale Vermehrung hinaus, aljährlih um ben Betrag erhöhen, ber fonft burd 
bie Eintommenfteuer aufgebracht wurde. Die Minderung ber Einnahme würde von 
einer Erhöhung ber Schuldenlaft begleitet. Die Gefammtichuld ber Einzelftaaten 
betxägt etwa 19 Milliarden. Das ift kein allzu hoher Betrag; aber er trägt doch 
ſchon Hocgebirgscharakter, ber vor ben Gefahren allzu Mihner Klettertouren warnt. 
Das Reich; könnte einem Abſturz nicht ruhig zufehen; denn es ift an bie Bundes⸗ 
Raaten angefeilt und damit, unreitbar, mit deren Wohl unb Web verleitet. Eine 
Reichseinkommenſteuer würbe eine finanzielle Schwächung der Reichtangehörigen 
bringen, die vermieden werben muß. Und es ift gar nicht einzufehen, warım «6 
nicht ohne Nequivalent gehen fol. Der Reichstag behält fein Budgetrecht auch, 
wenn bie Einnahmen jeiner Ingerenz entzogen find. Denn fo lange er fiber bie 
Ausgaben zu beftimmen bat, if er de facto Herr des Etats. Man ftelle alſo das 
Reich auf eigene Füße, befeitige die Matrikularbeiträge und beſchränke die finanzielle 
Mitwirkung der Einzelftaaten auf die Fälle außerorbentlichen Bebarjes, fiber die 
vom Barlament zu entfcheiden wäre. Dann bliebe bem Neichätag ein großer Ein- 
fluß auf die Einnahmequellen des Reiches gewahrt und die beſchämende Thatſache 
ftänbiger Alimentirung durch die Einzelftnaten könnte verſchwinden. Wirb außer 
dem für eine xationelle Schulbentilgung geforgt, fo müßte es mit bem Teufel zu⸗ 
gehen, wenn das Deutfche Reich nicht endlich einmal fo weit in bie Höhe kame, dab 

es fich in feinem Haufe ſelbſt ehrfam und austömmlich zu ernähren bermag. Ladon. 


7 — IB 


Derausgeber und verantworilicher Redakteur: M. Darden in Berlin. — ZBerlag ber Zururaft i in Berlin. 
Trud von G. Bernitein in Verlin. 

















Berlin, den 5. Derember 1908. 
— ö— — — — 





Krieg ꝰ 
Blood isthicker than water. 


5 er Lärm, derunterm Windmond die Kaiferfrifis umheulte, Hat das Ohr 
der Deutſchen getäubt und ihren Gegnern zur Grledigung alter und 
neuer Gejchäfte Zeit gelaffen. Vieleicht hatte ein Kluger den Herren Stewart 
Wortley, Harold Spender und William Bayard Hale vorgejchrieben, wann 
ihre Bomben plagen follten. Ein Zufall kanns faum fein, daß fiejuft platzten, 
als Deutſchland zum erften Mal wieder freier zu atymen begann: weil im 
nahen und im fernen Oſten der Concern Eduards zu brödeln ſchien. So, er⸗ 
zählte in der Wandelhalle des Palais Bourbon ein Eingemweihter den lieben 
Kollegen, ſolls fortan immer gemacht werden: wenn über dem Deutjchen 
Reich der Himmel fich heilt, muß der in England gehäufte Zündftoff zu einer 
Erplofion helfen. Noch find wir nicht bis zur Guerilla der petits papiersges 
langt, zu der Beröffentlichung faiferlicher Privatbriefe, aus denen ein Feuer 
auffladern und an den Höfen, in den Kanzleien und Parlamenten die Hirne 
erhigen könnte. Fürs Erfte hat der Inhalt zweier Interviews genügt. Den 
fandte der Draht um den Globus: und über Deutſchlands Flur jah e8 wieder 
finfter aus. Drei Reichderlebnifje waren feitdem zu verzeichnen. Den Sran- 
zoſen, die 1905 noch um jeden Preis fich dem berliner Zorn zu entziehen ſuch⸗ 
ten, ift der Muth gewachjen und fie haben im Nöhricht von Gafablanca ge 
fiegt. Möglich, daß fie die gerechtere Sache verfochten; daß unfer Konful, der 
Blankopäffe ausgab und für dieNationalität der mit ſolchem Papier Ausge- 
ftatteten deshalb nie recht bürgen konnte, aud) in anderen Bekundungen unbes 
dacht war. Mit diefer Möglichfeit mußte man in Berlin früh genug rechnen; 
durfte nicht fordern, was nicht durchzuſetzen war, noch fich ſelbſt dann das 
(bis in Marſchalls zweite Blüthentraumzeit verihmähte) Allheilmittel der 
Pazifiziſten, das Haager Schiedägericht, verjchreiben. Herr von Schoen, der& 
28 


364 Die Zukunft. 


that, hätte triftigeren Grund zu einem Abſchiedsgeſuch ald der Unterftaats- 
jefretär Stemrich, der an dieſer Schlappe eben fo unſchuldig ift wie an dem 
Snterviewärgernib. Eine Schlappe iſts. Aber aus Marokko ift für und nichts 
mehr zu holen, jeit der Kaiſer dreimal eingegriffen, dem Generat de Lacroir 
(nad; Delcafjes Sturz), dem Militärattahe Marquis de la Guiche (am Vor⸗ 
abend der Konferenz) feiner Willen zur Nachgiebigfeit enthüllt und in den 
Tagen von Algefiras die Räumung der gewählten Pofition befohlen hat. 
Marokko ift, ob Abd ul Aziz oder Abd ul Hafid Sultan heißt, dem franzö⸗ 
ſiſchen Einfluß nicht mehr zu ſperren; und ein weiſer Staatsmann jollte ſich 
mit diefer unverwifchbaren Thatſache abfinden, ftatt Gallias Leib mit Nadel⸗ 
ftihen in Wuth zu kitzeln. Das zweite Erlebnik war die jähe Verſchlimmer⸗ 
ung der Balfanfranfheit. Das dritte der zwilchen den Vereinigten Staaten 
und Sapan gejchlofjene Bertrag. Drei Folgen der Interviewe, die Wilhelm 
gewährte und and Licht fommen lieb. Marokko war längft ein verlorener 
Poſten. Das am Balfan und am Stillen Ozean Geſchehene Iodert die Wur⸗ 
zel alten Glaubens und verrüdt feinen taumelnden Blicken den Horizont. 
Im Frühlenz des Jahres 1907 hielt faft die ganze Diplomatenzunft 
einen Krieg zwiichen Sapan und den Vereinigten Staaten für unvermeidlich). 
Wartet nur, hieß ed: während im Haag die zweite Friedendkonferenz tagt, 
krachen im Stillen Ozean die Schiffsgeſchütze; während hinter dicken Doppel- 
thüren die Kontingentirung der Wehrmacht beſchwatzt wird, verſucht Nippon, 
dad die Grenze militärijcherkeiftungfähigfeit beinahe erreicht hat, aufgradem 
Weg oder über Honolulu ans Ziel feines Sehnens zu gelangen. And Ziel al» 
ten Sehnend. Seit Jahrhunderten hat die pazifiiche Feſtlandsküſte die Ja⸗ 
paner gelodt. Schon der Shogun Seyaju, der den Handel des Injelreiches 
heben undihm Kauffahrer Schaffen wollte, ſchickte Geſandte und Handeldagen- 
ten nad) Merifo hinüber; und der Dehnung Drang ward erft gehemmt, als 
1636 den japaniſchen Schiffen jede Landung an fremden Küften verboten, den 
Auswanderern Todesſtrafe und Vermögenskonfiskation angedroht worden 
war. Angeljachjen knüpfen, in gewandelter Zeit, die abgeriljenen Fäden wie: 
der zujammen. Kommodore Berry erziwingt 1854 den Handelövertrag von 
Kanagama, der die Häfen von Shimona und Hafodate dem amerifanlichen 
Handel öffnet. Drei Luſtren danad) ift die erite transamerikaniſche Eifen- 
bahn gebaut, die Atlantis dem Stillen Dzean durch einen Shhienenftrang ver: 
bunden; Dftafien aus jedem Bezirf der Neuen Welt leicht erreichbar. China 
ſchläft. Japan aber hat ſich aus der Lähmung der Shogunatscpodhe gelöft 
und, unter Mutſuhitos fräftiger Herrichaft, in Verfaffung und Wirthichaft 
weltlichen Vorbildern nachgetrachtet. Rur von Japan aus ift der oftafiatifche 











Krieg? 365 


Markt zuerobern. Das fieht der Yankee; und mühtfichredlich um die Freund⸗ 
Iaft der dem Tenno Unterthanen, denen er fich noch näher fühlt, feit die 
Philippinen, Guam, die Sandwidinjeln amerikaniſch find und Dampfer⸗ 
linien die Möglichkeit rajchen Verkehrs fihern. Jahre lang geht Alles gut. 
Die Amerikaner halten fich derGruppefern, die Sapan um den Ertrag des über 
China erfämpften Sieges prellt; ziehen fich im Borerfrieg früh aus der Front 
zurüd;; und hüten ſich klũglich, China zur Hingabevon Pachtland zu zwingen. 
Als Rußland, gegen den Rath des weilen Li- Hung: Tichang, ſũüdwärts vorgeht 
und die Thür, durch die der Weg aufden Aftatenmarktführt, zu ſchließen droht, 
als Wilhelm gar fidh den Admiral des Atlantifchen, Nikolai den Admiral des 
Stillen Dzeand nennt, muß, wie Sohn Bull, auch Uncle Sam die Schwächung 
des Zarenreiches wũnſchen. In Tokio füllt fich der Kriegsſchatz mitamerifani- 
ſchem Geld. In den Vereinigten Staaten werden Oyama, Nogi und Togo wie 
Nattonalhelden bewundert; in Japan Rooſevelts Tochter, der Staatsſekretär 
Zaft (dev nun Rooſevelts Nachfolger wird) und der &ilenbahngebieter Harris» 
man wie fouveraine Fürften empfangen. Bald danach erfaltet die Sreund- 
Ihaft. Am jechöten September 1906, als in Portsmouth (New Hampihire) 
der ruffilch-japanische Friedensvertrag unterzeichnet ift, erhält der Präfident 
der Vereinigten Staaten aus London und aus Berlin Glüdwunjchdepeichen. 
König Eduard gratulirt ihm „zu dem guten Ausgang derFriedenskonferenz, 
zu dem Sie jo weſentlich beigetragen haben“. In der Depeiche des Deutichen 
Kaifers iſts ſchon ein „großer Erfolg, der Ihren unermüdlichen Anftrengun: 
gen zu verdanfen tft; die ganze Menjchheit muß fidh vereinen und wird Dies: 
auch thun, um Ihnen für die große Wohlthat, die Sie ihr erwiejen haben, zu 
danken”. Dieſes Lob Elingt Herrn Theodor, klingt befonderd wohl dem kũh⸗ 
leren Staatsſekretãär Root allzu laut. Die Antwort, die aus Wajhington nad) 
Berlin fliegt, jucht den Deutſchen Kaiſer den Sapanern für den Friedensſchluß 
mitverantwortlicdy zu madjen. Wilhelm nimmts gern hin; erzählt amerifani- 
ſchen Abgeordneten, er jei vom Zaren gebeten worden, die Friedenskonferenz 
anzuregen, und habe fid) deöhalb an Rooſevelt gewandt, der dann die äubere 
Führung der Sache übernahm; prophezeit, Japan werde mit feinen billig ar- 
beitenden Menſchenmaſſen die Weiben von den oftafiatijchen Märkten dran- 
gen, die offene Thür ſchließen und nur zu überwinden fein, wenn alle weißen 
Völker ſich zum Kampf gegen dieGelbeGefahrverbünden. So jprichter zufrem= 
den Barlamentariern, die er zumerften Mal fieht und die jedes Imperatdren⸗ 
wort natürlich brühwarm in die Brefje bringen. Amerikas portsmoutherSchuld 
ſcheint geringer. Der Philippinenarchipel nicht mehr gefährdet. DerPazififator 
hatnichtan den Dank der Menjchheit, ſondern an den Pazifiſchen Ozean gedacht 


28* 





366 Die Zukunfi. 


und zumFriedensſchlußgedrängt, damit Fapan nichtallzumächtigwerdeund bie 
zur Abwehrnochnichtgerüfteten Vereinigten Staaten bedrohen fünne. Portär- 
thurund die Hãlfte von Sachalin mochte es haben; abernichteine Kopeke. Wem 
es die Burde der Kriegskoften weiterſchleppt, iſts den Amerikanern nicht ſehr ges 
füßrlih. Darf nur nicht gereiztwerden. Der Wunſch der American Federation 
of Labor, den Japanern die Einwanderung eben jo ſchwer wie den Chineſen 
gemacht zu jehen, wird nicht erfüllt. Man möchte die Sreundicheft nicht dem 
Raſſenſlolz opfern. Da wird in San Franzisko einem Sapanertnaben ber 
Platz neben weißen Schulfindern gemweigert. Auch aufder Eijenbahn will der 
Amerilaner nicht mehr neben den Gelben fiben; in Meetingd und Zeitungen 
werden Sonderwagen für dieSapaner verlangt. Der Bräfident mahnt zu ge= 
duldigerRuhe; in der Botjchaft vom dritten Dezember 1906 jagt er, diereiche 
Ernte, die dem amerikanischen Handel in Oftaften reife, werde nur einzu⸗ 
heimjen fein, wenn der weiße den gelben Mann gut behandle. Auch vom der 
anderen Seite wird Eintracht empfohlen. Bicomte Aoki, der Sapan in Wa⸗ 
ſhington vertritt, preift im Geſpräch mit dem jeßt weltberühmten Herrn Hale 
den Nuten der Raſſenmiſchung: „Orient und Occident werden in gemein« 
famer Arbeit eine Civiliſation fchaffen, die milder, duldſamer und werthvoller 
jein wird als je bisher irgendeine”. Vergebend. Im Dftober 1906 ſchließt der 
Board of Education in Kalifornien chineſiſche, japanijche, koreaniſche Kin» 
der von den öffentlichen Schulenaus. Ein Jahr danach kommts in Bancouver 
zu einer Straßenſchlacht zwiſchen Weißen und Gelben. Die kaum noch ver» 
narbte Sapanerwunde bricht auf. Amerika hat Hetrn Sergej Iuljewitih Bitte 
und den anderen Moslowitern zugejauchzt; hat dad Inſelvolk ind Joch eines 
ſchlechten Friedensvertrages und ſchwerer Steuerpflicht gezwungen. Und nun 
jollendie Männer, die China und Rußland niedergemorfen und den Erdball mit 
ihrem Ruhm erfüllt Haben, aufdem Boden der jungen Republik wie Peſtkranke 
gemieden, jchlechter ald ein pechſchwarzer Mädchenſchänder behandelt werden ? 

Die Diplomatenzunft glaubte an den Krieg. Hier wurde (im März 
1907) daran erinnert, dab fie, die mehr auf Perjonalien ald auf naturhiſto⸗ 
riſche Nothwendigkeiten achtet, oft ſchon geirrt habe. Noch konnte der Tag nicht 
nahen, an dem Weihe einen Exrdiheil den Gelben räumen müffen. Auch gabs 
eine Großmacht, die allen Grund hatte, dieſen Krieg zu hindern. Der anglo» 
japanijcheBertrag vom zwölften Auguft 1905 verpflichtet die Kontrahenten, 
in Oftafien und Indien den Frieden zu wahren und zu feltigen, die Unab⸗ 
hängigfeit und Ununtaftbarfeit Chinas zu ſichern, für die Freiheit des Han- 
dels im Reich der Mitte zu jorgen, ihre Lerritorialrechte und Sonderinter- 
eifen in Oftafien und Indien einander zu verbürgen. Wird eine der beiden 





Krieg? 367 


Mãchte durch einen nicht provozirten Angriff in einen Krieg gedrängt, in dem 
fie ihre Territorialrechte oderihre Sonderintereffen zu vertheidigen hat, jo muß 
ihr die andere Macht ohne Säumen Hilfelleiften und nad) gemeinjamer Krieg⸗ 
fũhrung auch zum Friedensſchluß fich ihr vereinen. In einer an Sir Charles 
Hardinge adreſſirten Rote hat Lord Lansdowne nahdrüdlich auf die engen 
Grenzen bingewielen, die diefer zweite Vertragsartikel der Bündnißpflicht 
zieht. Daß Amerika dad Inſelreich des Oftens aus freiem Willen, ohne durch 
japanijche Brovofation dazu gezwungen zu fein, angreifen werde, war ftets 
unwahricheinlich. Was Japan auf den Sandwidhinjelnundin Kalifornien er- 
ftrebt, fällt nicht in den Bereich oftaflatifcher Territorialrechte und Sonder- 
intereffen. Ein Krieg zwiſchen Amerifaund Sapan würdedie Britenaljo nicht, 
wie Wilhelm glaubt, vor die Wahl ftellen, der weißen Menfchheit oder dem 
gelben Bundeögenojjen die Treue zu brechen: nur zur Abwehr eined Japan in 
feinem anerfannten Befitgefährdenden Angriffes find fieverpflichtet. Smmer- 
bin müßte ſolcher Kriegihnen höchſt unbequem fein. Siegt Amerika, jo wird die 
ftärkfte Landmacht, auf die fie (gegen Rußland, gegen meuternde Hindu und 
Mohammedaner,indireftjogar gegen Deutjchland) rechnen dürfen,gejhwächt, 
vielleicht zum Bankerot getrieben. SiegtSapan, jo gehören Kanada, Britiſch⸗ 
Guayana und Auftralien zu den Ueberwundenen und alleangelfächfiichen Ste 
delungen am Stillen Ozean werden vonder gelben Fluth überſchwemmt. Keind 
der beiden Imperien darf allzu rajch wachlen; und dem Sieger wäre eben jo 
Ichneller Machtzuwachẽ gewiß wie nach dem Krieg gegen Spanien den Ameri⸗ 
Tanern, nad) Mukden und Tſuſhima den Sopanern. Diehat Englandam gol⸗ 
denen Halfterband. Und feit Sahren bemüht es ſich um die Freundſchaft der 
Bereinigten Staaten. Ealidbury fam im Venezuelaftreitden Bünjchen Cleve⸗ 
land8undOlneysweitentgegen. Chamberlain empfahl das Bũndniß derangels 
ſächſiſchen Brüder. Mochte ſichs um Panama oder Alaska, um Neufundland 
oder Samaila handeln: Britanien zeigte ſtets den Eiferdeöguten Willens. Als 
der Botſchafter Sir Mortimer Durand in Wajhington nicht rafch genug vor⸗ 
wärts fam, wurde er durch James Bryce (den Verfaſſer ded Werkes „The 
American commonwealth“) erjeßt, der den Smperialiften Roofevelt für 
die Begrenzung der Wehrmacht gewann. Was fo mühfam gefät war, follten 
die tollkũühnen Leute von Nippon nun zerftampfen? Nein. Zwiſchen dem Ver: 
wandten und dem Verbündeten darf ed nicht zum Krieg fommen. „Amerika 
will einStaatenbund werden, in dem nur für Amerikaner Raum ift und Alle 
für Einen ftehen. Gelingt, foift Britifch-Nordanıerifa und Britifch: Guayana 
verloren. Amerifa ift veich genug (und ſcheint entjchloffen), eine Flotte zu 
bauen, die fich mit der Englands zu meffen vermag. Und diefe Flotte kann, 


368 Die Zukunft. 


‚wenn der (in Kriegszeiten nach Yanteebelieben zu ſperrende) Panamakanal 
fertig ift, auf zwei Weltmeeren vonnaher Bafidaudoperiren. Nienod) dräute 
der gludlichiten Injel jo ungeheure Gefahr. Ein Riejengebiet von kaum erft 
zu ahnendem Reichthum, das ih wirthichaftlich ſelbſt genügt und feine poli« 
tiſche Kraft zur Einheit zufammenballt; ein ganzer Erdtheil, der einem Willen 
gehorcht und dem Feind Nahrung und Kleidung, Weizen und Baumwolle 
verjagt. Und diejer neue Kontinent rüftet fich num für die Handelsherrſchaft 
im fernen Dften; will feine Waaren von Manila aus nad) Südchina werfen 
und ſich im Norden eineZunnelverbindung mit Aften ſchaffen. Da wird eine 
Welttyrannis möglich. Die andere Gefahr ift Heiner; doch nicht zu verachten. 
Wenn Japan Geld befommt, wird ed zu mächtig. Ein Britanien ded Erd» 
oftens; und, mit feiner zähen Flinkheit, feiner Nachahmerkunſft und billigen 
Arbeit, auf den Maffenmärkten neben Sonathan derftärkfte Konkurrent. Wie 
ſchũtzt Albion fich gegen ſolche Lebenögefahr ? Am Ende hats die Gelegenheit 
ſchon benußt, die Spitze des panamerikaniſchen Gedankens zu ftumpfen, einen 
Strich durch die deutſche Atlantisrechnung zu machen und die Maklerprovi⸗ 
fion einzujädeln.“ Dieſe Sätze waren hier damals zu lefen. England (jo 
war ihr Sinn) wird im Pazifiſchen Ozean den Krieg, den die Zunft jchon für 
unbezweifelbar ficher hält, verhüten; weils ihn um jeden Preiöverhüten muß. 
England hatihn verhütet; und der Glaube der Diplomatengilde hat 
‚wieder einmalgeirrt. Leicht wars nicht, den Raffenzorn gudämpfen. Das fran⸗ 
fo-japanifche Abfommen vom zwanzigften Suni 1907, dad dem gelben Kon- 
trahenten den indodhinefifchen Waarenmarkt und den parifer Geldmarft öff⸗ 
nete, mehrte den Hochmuth der neuen Großmadht. Verträge mit Englandund 
Frankreich, China und Rußland: in ſolchem Befigrecht läßt fich ruhig woh⸗ 
nen ; von jo feftem Stützpunkt aus iſt das Wageftüd eined Krieges gegen Nord⸗ 
amerika nicht mehr allzu gefährlich. Sapan kann fich auf feiner Höhe nur 
halten, wenn e8 reiches Land und bares Geld erwirbt. Beides tft von Amerika 
zu haben. Sft der Banamafanal erft eröffnet, die amerifaniiche $lotte mo: 
dernifirt und geftärft, dann wird Manila der Stapelplaß fürdie Hauptmärkte 
Oſtaſiens und Nippon ift um fein Erbrecht betrogen. Jetzt oder. nie: heißt die 
Lofung. Die Geſchäftsführer der Franzöſiſchen Republik hören fie. Denken der 
Dienfte, die ihnen die Herren Roofevelt und White in den Tagen von Alge: 
ſiras geleiftet haben; fürchten, durch das mit Japan gefchloffene Bündniß die 
Gunſt der Yankee zu verfcherzen, und erbieten fich zur Bermittelung zwiſchen 
Wafhington und Tofio. Werden zwar mit höflichem Dank (und der Moti- 
virung, daß eine unmittelbareBerftändigungnod) möglichſcheine)abgewieſen; 
ſchließen bald danach aber mit den Vereinigten Staaten einen Handel: und 





% 


Krieg? ‘369 


Schiedövertrag. Die zur Bermittelung berufene Macht hält fi im Dunkel. 
Alle Adjazenten des Stillen Ozeans fühlen ſich von Japan bedroht und find 
deöhalb auf ein gutes Verhaltniß zu &ngland angewieſen. Doch Mutjuhitos 
Volk ift ftolger ald je; und der Subel, der die amerikaniſche Flotte in Auftra» 
lien und Neufeeland empfängt, verräth, wie heftig im commonwealth das 
Raſſengefühl erregt ift. Schon Haben Auftralier gefragt, was ihnen die Bri« 
tenflotte denn nüße, wenn fie nureinen der dem Mutterland fernen Kolonie 
werthlofen Krieg (gegen Deutjchland) orbereite, denallein fürAuftralien wich: 
tigen (gegen Sapan) aber nicht führen wolle. Darf England warten, bis der im 
, Großen Ozean gefammelte Vertrauensſchatz den Amerikanern zufällt? Dann 
ift daöGreater Britainnur nod) ein ſchöner Traum. England muß handeln. 
Leid; ohne fich fehen zu laffen. In Waſhington ift man mit der Sicherung 
des stalus quo zufrieden. Wie aber find in Tokio die nach neuer Heldenthat 
Lüfternen zu firren? Das vermöchte nur die Furcht vor einer unitberwinds 
lichen Koalition. Herr Roofevelt hat vorgejorgt. Als die Kunde gefommen 
war, dad Volk von Nippon mache die Amerifaner für den fchlechten Frieden 
verantwortlich, hat er mit weithin geredtem Arm nad) Berlin gezeigt: und 
Wilhelm that ihm wirklich den Gefallen, fich jelbft zur frühften Förderung 
des Planes zubefennen und die Gelben noch einmaldem Abſcheu der Chriſten⸗ 
heit zu empfehlen. Fünf Trümpfe fann Eduard nun gegen den Neffen aus: 
Ipielen: das Buddhabild, den Vergleich mit den Hunnen, die Führung im 
Boxerkrieg, die Pachtung von Kiautjchou und die neufte Warnung vor det 
Gelben Gefahr. Damit ift Etwas zu machen. Noch nicht genug. Flinke Sn: 
terpiewer werden auf die Fährte gejebt:. und bald hat der Kailer ihnen den 
Entſchluß auögeplaudert, mit Amerika und China gegen Sapan zu gehen. So 
ziemlich das letzte Geheimniß deuticher Diplomatie; einen der Pläne, die 
in der Minute der Entjchleierung unausführbar werden. In Budingham 
Palace reibt fi Einer die Hände. Läßt dann in Tokio fragen, ob man dem 
eine halbe Menichenmilliarde zufammenfnüpfenden Dreibund trößen wolle, 
und in Wajhington, ob die Gemeinſchaft mit jo redjeligen Partnern Profit 
bringen fünne. Nein. Nun kann die Sternbannerflotte an der Küfte des Dai 
Nippon landen; dürfen die Eieger von Manila und Tſuſhima ſich in Thees 
häuschen und Hafenfchänfen verbrüdern. Herr Wiliam Bayard Halehat Alles, 
was er aud dem Munde des Kaiſers vernahm, dem Präfidenten fofort mit» 
getheilt. Zur Vorbereitung des Pacificvertraged war aljo Zeit. Zehn Tage 
nach der Beröffenilichung der zweiten Interview wird er unterzeichnet. 
Fünf Artikel. Die beiden Mächte wollen die friedliche Entwickelung 
ihres Handelöverfehrd im Stillen Ozean mit aller Kraft fördern, ihre Terri⸗ 


870 Die Zukunft. 


torialrechte achten, in China, deifen Unabhängigkeitund Unantaftbarfeit (nach 
Hays altem Programm) gefichert fein jo, allen Nationen gleiches Recht ein» 
räumen und fid im Fall droßender Gefahr über die zur Abwehr nöthigen 
Maßregeln verfländigen. Ein Bertrag nad) dem Mufter des franfo-japanis 
chen, der auch aktiven Schub des chineſiſchen Befitzſtandes verheißt. Rooſe⸗ 
velts letzter Erfolg; ſein größter. Die Vereinigten Staaten opfern faſt nichts; 
nur ihre Bahnſpekulanten müſſen dem Verſuch entſagen, durch Tarifkniffe 
Handelsvortheile zu erliſten Die Einwanderung der gelben Männchen wird 
nicht erleichtert. Und Japan hat die Yankeeherrſchaft über die Bhilippinenund 
Hawaii feierlich anerkannt. Hat fi mit dem stalus quo, denjeinerpanfiver 
Drang eben noch unerträglich fand, jet beichieden. Weil ed mußte. Woher 
dad zur Düngung der verdorrenden Wirthſchaft oder gar zu neuem Krieg 
nöthige Geld nehmen, wennsaus London, Parid und New York nicht zu holen 
ift ? Den Kraftreft braucht das unter faum tragbarer Schuldenlaft jeufzende 
Reich ded Sonnenaufganges für die Eritiichen Tage, die China zu erwarten 
bat. Der Schattenfaifer und feine energiiche Mutter, die das Reich mit vers 
ſchmitzter Mandſchuſchlauheit regirte, find aus dem Palaft in die Gruft ſpe⸗ 
dirt, eined Kindes Vormund gebietet den vierhundert Millionen : wer weiß, 
wie bald der Nachbar da zu thun befommt? Ohne das deutſche Schredigefpenft 
hätten Zenno und Gerontenrath ſich dennoch nicht ind enge Gehäus diejed 
Bertraged geduct. Nun mußte es fein. Amerika, Deutichland, China: auch 
ein Heroenvolf kãme dagegen nicht auf. Lieber die Hoffnung auf die Erpan- 
fion gen Weſt einfargen. Auferftehen wird fie nicht. Seder Monat mehrt die 
Amerilanermadt; und wenn der Panamakanal fertig ift, hat Japan verfpielt. 

DerPritenleu mag fidh behaglich räkeln; wie nachderlederften Mahl» 
zeit. Wieder ein Eieg. Wieder einer, der ohne Hingabe von Blut und Gut 
erftritten ward. Ein leijer; der dennod) aud Sydney, Audland, Vancouver, 
Kalfutta in Subeltönen widerhallen wird. Die Marftfreiheit inDftafien ge⸗ 
wahrt; die gelbe Fluth gedämmt; der Kolonialbefig im Stillen Ozean ge⸗ 
fichert; Nordamerifa, China und Auftralien durch die Mediation zu Dant 
verpflichtet; und dem Deutjchen Reich wieder ein feſter Riegel vorgejchoben. 
Rußland, Frankreich, Amerifa haben jegt mit Sapan Verträge geichloffen. 
Mer ſagt noch, England habe, da e8 fich den Snfulanern des Ditend verbün- 
dete, die Sache der weiten Raſſe verrathen? Der Deutjche Kaifer ſagts. Der 
aber wollte ja jelbft mit den Chineſen gegen ein weißes Herrenvolf ind Feld 
ziehen; und muß erleben, daß die Jahre lang jo zärtlich von ihm ummorbenen 
Bürger der Vereinigten Staaten mit Iapan ſich zu Schuß und Truß einen. 

Hinter Eduard, Root und Noofevelt darf Herr Hale nicht vergeſſen 





Krieg? | 371 


werden. Die ihm gewährte Interview hat ärgereölinheil gewirkt als die vom 
Daily Telegraph enthüßte. Sapan haßt in uns den Feind, derd um die Frucht 
de8 Friedens von Shimonoſeki gebracht, in den Frieden von Portsmouth ge⸗ 
nöthigt und durch Drohung in die Intereſſengemeinſchaft mit Amerika ges 
ſcheucht Hat. In Oftafien find Briten, Ruffen, Franzoſen, Amerikaner, Chine⸗ 
fen, Sapaner aſſoziirt; einſam nur wir. Der deutfche Kaufmann wirds fpüren. 
(Um ihm in China wenigitend den Weg befjer zu bahnen, jollte man die Ge⸗ 
legenheit deö Thronwechſels benußen, um Kiautſchou zurüczugeben; che es 
und höhnilch abverlangt wird und wir mitdem Pachtland noch ein neue Stüd 
internationaler Achtung verlieren.) Und in den Vereinigten Staaten feinen 
Erſatz finden. Wer während derlegten Wochen amerikanische Zeitungen lejen, 
amerikaniſche Wihblätter betrachten mußte, weiß, was die Werbung da er» 
langt hat. Die Sranzofen hatten immer behauptet, Herr Roofevelt habe, als 
er mit den Admiralen Dewey und Lord Charled Beresford zufammenjaß, von 
einem Sternbannerfrieg gegen Deutjchland ald von einer in naher Zufunft 
unvermeidlichen Nothwendigkeitgeſprochen. Das flingt heute ſchon faftglaub» 
licher al8 die Prophezeiung Wilhelms, die Angeljachien der Neuen Welt wer⸗ 
den fich gegen die der Alten einft dem Deutſchen Reich verbünden. Briten und 
Amerikaner find verjchiedenen Temperament; verftehen einander nicht leicht 
und gerathen manchmal in lauten Zwift. Doch bleibts ein Kamilienzant, bei 
dem Einer dem Anderen nicht and Leben will. Den Franzoſen jelbit, die ihnen 
- tm Weſen ähnlicher find und deren La Fayette mehr für fie that ald Preußens 
großer Fritz, hättendie Amerikaner niegegen England geholfen. Blut iſt dicker 
als Waſſer: Eduards Neffe hat die Wahrheit des Wortes, das er jo oft, ohne 
ein Echo zu weden, über den Kanal rief, im Stillen Ozean nun beftätigt ge⸗ 
funden. Wieder jteht er am Grab einer Illuſion. Britania hat die gelbe Fauſt 
von der Yankeekehle geichmeichelt, geſchreckt und den Pacificvertrag durchge: 
ſetzt. Wir? Mit dem Evangelium von Wilhelmöhaven, mit der gepanzerten 
Fauft, dem Fritzendenkmal, dem Profefforenimport, den Hulddepejchen haben 
wir aus Oft und Weft nichts Brauchbared eingehandelt. England ift nicht in 
der Klemme. In Beling regirt der Sühneprinz. In Tokio flucht das Volk den 
Deutichen. Und der Japanerliebling Taft zieht ind Weiße Hand, 


Thereadinessisall. 

Wie vor zwei Jahren, wird auch jet von den zünftigen Diplomaten 
ein naher Krieg prophezeit. Dieömalein europäifcher. An der Donau ſoll die 
Surie entfeffeltwerden. Wiedie Gruppirung wird, weiß mannod) nicht ;wettet 
aber-auf Krieg. Weil England ihn zu wollen ſcheint und die Südſlaven nicht 


372 Die Zutunft. 


mehr zu halten find, jeit Franz Joſeph die Balkanprovinzen ſeinem Reich einver- 
leibt hat. Vor hundert Jahren ſchrieb Bonaparte an den Geſandten nach Peters⸗ 
burg: „Le fond de la grande question est foujours la: Qui aura Con- 
stantinople?* Und ein paar Wochen danach, aus Bayonne, an Champagny, 
den Minifter des Auswärtigen, er ſolle Oeſterreich in der Preſſe als einen des 
Kredites unwürdigen Etaat ſchildern laffen. Beide Briefitellen könnten von 
geftern ftammen. Wieder wird um Konftantinopelgeftritten ; und Oefterreich 
hörte aus dem Bereich der Weftmächte Unfreumdlicheresald je vielleicht inden 
jechzig Sahren, die feit Ferdinands Abdankung verftrichen find. Vorbereitung 
zum Balfanfrieg, heißts; die Annerion Bosniens und der Herzegowina joll 
gerächt und über die Meerengen fürs nächte Sahrhundert verfügt werden. 
Bon wen verfügt? Von England natürlih. Cui bono? Die Antwort will 
nichtüber die Lippe. Wer bisher non einem Balkankrieg jprach, dachte aneinen 
Feldzug der chriftlichen Balfanvölfer, der nicht jaturirten Slaven, gegen den 
Padiſchah. Danach fiehts jegtnichtaus. Serbien und Montenegro haben licher 
feine 2uft, Rırmänien und Bulgarien faum einen zureichenden Grund, ihr Heer 
gegen die Türken zu ſchicken. Soll der Balfanbundplan Miland und George: 
witſchs wieder aufleben? Der Serbenpeter und Nifita von den Schwarzen 
Bergen mögen dafür zu haben fein. König Karol und Zar Ferdinand wären 
wunderliche Zagergenofjen der jungtürfifchen Armee. Und gegen wen ſoll dieſer 
Krieggeführtwerden? Gegen Defterreich«- Ungarn, weils gethan hat, wasſchon 
der Vertrag von Reichftadt ihm zu thun erlaubte und was jpäter (in der Zeit 
des Berliner Kongreffes) ein auftrosruffiiches Sonderabfommen ausdrudlid 
gebilligt Hat? Defterreich ift nicht zu weitgegangen, jondernnicht weitgenug: 
außer Bodnien und der Herzegomina fonnte es auch den Sandſchak von Rovi- 
bazarbehalten. Das warjein verbrieftes Recht;und Aehrenthals einzige unkluge 
Handlung war, daß er den Sandſchak nicht bis zum Tag der Kompenſationen 
behielt. Darum Räuber und Mörder? Einerlei: der Krieg, heißts, iſt gewiß. 

So heißts immer, wenn England irgendeinem Unbequemen Angſt ein⸗ 
jagen will. Wer ſoll den Krieg denn bezahlen? In Konſtantinopel, Belgrad, 
Cetinje find die Kaffenleer. Frankreich, derreiche Bankier derſchlechten Zahler, 
hat Türken und Slaven fürsErſte wohl genug geliehen; ungefährachtzehn Mil» 
liarden Francs. Bleibt Großbritanien. Das aber kaum ernſtlich den Wunſch 
haben kann, mit ſeinem Geld eine NiederlageOeſterreichs (die, ſelbſt wenn die 
Kriegsbereitſchaft ſo mangelhaftift, wie erzählt wird, durchaus noch nicht ſicher 
wäre) zu erkaufen. Und doch hört man täglich von neuen anglo: türfijchen In⸗ 
timitäten. Ein britifd;er Admiral wird, mit einen großen Stab britiſcher Of⸗ 
fiziere und Ingenieure (die vonder Pforte dad Dreifacheihres Heimathſoldes 





Krieg? 373 


erhalten) die Türkenflotte reorganifiren. Dieſe Flotte hat nur Werth, wenn 
die Meerengen dem Osmanenreich bleiben. Das wäre nur unter englifcher 
Garantie möglidh. Sol die etwa bewilligt jein? Ja, jagt der parijer Jung⸗ 
türfenhäuptling; England hat ung gegen jede Gefahr afjekurirt. England, 
das die Türken mitSad und Pad aus Europa jagen wollte? Das Land Glad⸗ 
ftones, der alleatrocities ins Ungeheure übertrieb, um dem Iſlam ſeine Wuth 
ind Antlitz ſpeien zu fönnen? Das Land Salisburys, der Abd ul Hamid den 
rothen Sultan und den großen Mörder nannte? Greys, der Makedonien aus 
dem Reich Osmans reißen wollte und den Rufjen die Meerengen zugelagt 
hatte? Unglaublich. Aber in allen Hauptitädten |prechen Englands Botichaf- 
ter wie am Goldenen Horn der greife Großweſir. Herr Burton, der Präſident 
des britiſchen Balfanfomiteed, dad den gladftonijchen Türkenhaß geerbt hat,. 
wird in Konftantinopel wie ein Erlöfer gefeiert. England giebt Vorſchüſſe, bes 
fommt Aufträge und zeigt Berftimmung, wenn in Effen oder Düffeldorf 
Munition für das Heer beftellt wird. Drei Monate nach dem Tag von Reval, 
der den Entſchluß zur Liquidation der Tũrkei reifen ſah. Dieſen Wandel kann 
der Sieg der Jungtürken, ein vielleicht nicht einmal dauernde Herrichaft ver⸗ 
heißender Sieg, allein nicht erflären. Wenn England nad) fünfzig Sahren die 
Krimkriegspolitik wieder aufnimmt, will e8 den alten Feind treffen, den es 
damals traf. Rußland. Dem aber ifts jebt ja verbündet? Rußland ſoll auch 
nicht von dem Balfanbund befämpft werden; ſoll ihn führen. Gegen Oeſter⸗ 
reich. Defien Schwächung wäre den Briten nicht jehr wichtig. Wichtiger die 
Gewißheit, dat Rußland, wenn ed von den zuverläffigen Truppen entblößt 
würde, raſch in Revolution und Anarchie zurücfiele. Dad Zarthum, derruſſiſche 
Slam könnte dann nicht lange die Kraft bewahren. Rußland müßte in Theil- 
fürftenthümer und Republifen zerfallen, die fich mitanderen Slavengebilden 
zu einem Stantenbund fnüpfen lieben und weder bis an den Berfilchen Golf 
noch gar bis nach Indien mit ihrer Stoßgemalt zu langen vermöchten. Ein 
feiner Blan; wohlausgejonnen. Nur: verwünſcht gejcheitoder herzlich dumm? 
Nach heißem Mühen hat Großbritanien eine ententecordiale mit Rußland 
erreicht (dad auf abjehbare Zeit an einen Zug nad) Indien nicht denken fann): 
und follte die hundertvierzig Milltonen Menſchen fich freiwillig jet wieder 
verfeinden?InZagen, da der Gedanke an die Auseinanderfegung mit Deutjch« 
land das britilche Handeln bis ind Kleinfte beftimmt? Ineinem Gelände, wo 
Frankreich, ald Gläubiger der Türfen und Slaven, fi) von Rußland nicht 
trennen, aljo nicht im Bund der Weſtmächte bleiben könnte, wenn zwiſchen 
Walfiſch und Bären wieder der Streitbegönne? Unglaublid. Daß England 
die Ruſſen in einen Krieg gegen Oefterreicy- Ungarn heben, die zariſche Macht 


374 Die Zukunft. 


brechen undrißfiren will, Frankreich anden Feind zu verlieren. Denn dem liftt- 
‚gen Bernichter des Zarenreiches könntejelbft Herr&lemenceau, heute noch Edu⸗ 
ards Legat auf dem Feftland der Ungläubigen, die Treue nicht halten. 

Sm Indobritiichen Kaijerreich, hinter deffen Bergmaner der Eroberer 
nicht mehr jo forgenlos lebt, wie die offizielle Wahrheit mohlerzogener Be⸗ 
richterftattung glauben läßt, befennen vierundfechzig Millionen Menichen ſich 
zu Mohammed. Deren Empfinden brauchte Englands Negenten nicht zu be⸗ 
kũmmern, jo lange fie der Hindu ficher waren, in der tjlamijchen Welt von 
einer Europäermacht nicht überboten wurden und ſich im Glanz ded Tyrannen- 
befehders jonnen durften. Das ift vorbei. Seit er erfuhr, was Farbige gegen 
Weiße vermochten, träumt der Hindu von Freiheit und Selbitbeftimmung; 
und wenn dieje unüberjehbare Maſſe aus jolhem Zraum zu dem Entſchluß 
erwacht, das von einem Herrenhäufleinihraufgezwungene Joch abzufchütteln, 
könnte ſelbſt Kitcheners Eiſenhärte dem Anprall nicht länger widerſtehen als 
dem Wirbelſturm ein Rohr. Die Schutzherrſchaft über die muſlimiſche Welt 
hat der Deutſche Kaiſer eifernd erſtrebt. Und in Konſtantins Stadt ſollen vom 
Volk Abgeordnete ſich zur Berathung der Reichsnoth verſammeln. England 
fieht ſich in neuer Rage; inunbequemer. Blickt es Fühl auf den Osmanenlenz, 
dann muß es mehr als bisher noch um Indien bangen; und hilft es ihm zu 
früher Frucht, dann muß es fürchten, daß die egyptiſchen und die indobriti« 
chen Mufulmanen die jelbe Hilfe heilchen. Dieſes Dilemma entjchuldigt die 
Schwanfungen und Unklarheiten der Iondoner Bolitif. Sn Reval wollte fie 
eine bid zur Ohnmacht ſchwache Türkei. Will fie jeßteine ſtarke? Danndürfte 
fie ihr nicht morgen ſchon die gefährliche Kraftprobe eined Krieges zumuthen. 
Und doc) Jah ed Wochen lang aus, al ſei diejer Krieg das Ziel der Briten 
wünſche. Unnatürliche Gemeinjchaft und unverftändliche Feindſchaft wurde 
fihtbar. Frankreich, dad nur daran denken dürfte, feinen türkischen und fer- 
biſchen Schuldnern die zur Erholung nöthige Ruhe zu fihern, bleibt neben 
Britanien, das diefe Ruhe liitig zu ftören jucht. Rußland hadert in grobem 
Ton mit Delterreich, das ihm die Meerengen doch nicht weigern würde, und ver⸗ 
fteiot fich (wenigftendin feiner offiziöjen Preffe) zu gorderungen, die in Paris 
ärgern und die Erledigung des oft vertagten Anleihegeichäftes wieder hinaus- 
ſchieben maffen; fcheint in den Balfanhändeln auch den Briten faum noch fo 
nah wiein der Zeit des Nfabafonfliftes, ald (vor dem acco: d anz!o-russe) der 
Botihafter Sinomjerw Englands Sache beim Sultan führte. Einig find Alle 
nur, wenn Defterreichd Sünde gerügt und mit graufam rächender Strafe be» 
droht wird. Und dieſe Einigfeitlenftden Blickauf eine noch nicht beachtete Spur. 

Seit in Wien der Beſchluß verkündet ward, die vor dreißig Jahren in 





Krieg? 375 


Enropas Auftrag okkupirten Provinzen dem Reich einzugliedern, bringt bei⸗ 
nahe jeder Tag neues Ungemach über Oeſterreich- Ungarn. Daß die Serben 
des Königreicht8 und Montenegrog, denen eing Lebenshoffnung beftattet war, 
wũthend auffreifchten und allerlei Unfug trieben, ift zu begreifen. Nicht ſo 
leicht, daB der Reuſſenkaiſer den zuchtloſen Jungling, der für Bapa Peter daß 
Batriotengefuchtel leiftet, zu ſich kommen ließ. Doch Nikolai Alerandrowitich. 
erfährt längſt nicht mehr, was ſich vor dem goldenen Bitter ſeines Käfigs er⸗ 
eignet (nicht einmal, was der Heilige Synod über Raskolnikenrechte beſchließt), 
und jah in dem cerebraftheniichen Maulhelden vielleicht einen zum Marty⸗ 
rium bereiten Siavenapoftel. Defterreich konnte die Wallfahrtberichtelächelnd: 
zu den Berjonalaften der Herren Karageorgewitſch legen. Erlebte dann aber: 
Schlimmeres. Schimpf aus Britanien, Rußiand, Frankreich, Stalten. In der 
Türkei werden öfterreichiiche Schiffe nicht entfrachtet, öfterreichiiche Waaren 
nicht gefauft; für den Lloyd und den ganzen Balfanhandel ein ſchwer zu ver 
ſchmerzender Ausfall. Branfreich wird um Bermittelung erfucht: und verfagt 
fie. Italienische Studenten bieten den Wienern ein Spektakel, bei dem Blut 
fließt (und das vorher in einem dem Einfluß des Botfchafters Barrère zu» 
gänglichen mailänder Blatt angefündet worden war). InZtalien und Iſtrien 
folgen Demonftrationen gegen Defterreich ; und man merkt wieder, wieheftig 
die beiden Völker einander haffen, die nurder Bündnikvertragnod; vor blutigen 
Händeln bewahrt. Auch die Gzechen regen ſich nun; in Prag wird gegröhlt, 
geprügelt, geipien und geftochen; fteigt daS Gelübde zum Himmel, der An- 
nexion mit aller Zungenfraft zumiderjprechen. Täglich wird irgendmoher eine- 
Mobilmahunggemeldet. Snduftrieund Handel, denen das Glück, nach langer: 
Abkehr, wieder lächelt, müflen mit naher Kriegsmöglichkeit rechnen; und die 
wiener Vörſe fieht Schwarze Tage. Aufruhr in Böhmen; Unraft und Sorge 
imganzenkand.AlsjeiDefterreich, ſonſt AllerLiebling, plößlich dem Menſchen⸗ 
geichlechtein Sräuelgeworden. Weil es zwei Provinzen anneltirt hat, dielange 
ſchon fein waren und die der Sultan jelbft für verloren hielt. Oder weil es, 
ald einzige Großmacht, noch zu Deutichland hält und in Südoſteuropa das 
ſchöne Rund der Einfreifunglinie für ein Weilden aus der Form gebracht 
hat? Möglich, dab unter Defterreichd Firma Deutjchland von Boykott und 
Aechtung getroffen werden, daß dem Iſlam gezeigt werden jo, wie verlaffen 
und verhaßt dieſes Reich heute ift. Wahricheinlicher, daß fichs nur um einen 
Bluff handelt, einen Einſchüchterungverſuch, der die wiener Negirung lehren 
mag, wie ſchwer dem Sreunde Deutſchlands das Leben gemacht werden fann. 
„Britanien, Nubland, Frankreich, Stalien, Epanien, Portugal, Ddmanen- 
rei, Skandinavien, Holland, Amerika, China, Sapan: Allesinunjerem Con⸗ 


"376 Die Zukunft, 


cern vereint. Bequemt auch Ihr Euch, bei uns zu wohnen: und jede Sünde 
gilt gleich als geſühnt. So aber Einer mit Deutjchland hauft, ift jede Hand 
wider ihn und feines Prieſters Segen löft ihn von jeiner Bein.“ 

Solche Abficht würde dad jonft Unerflärbare erflären (nebenbei audh, 
warum am Stillen Ozean die Friedenäftiftung jo beijchleunigt wurde). Euro: 
pad Geſchwür reift an der Nordſeeküſte. Alles politiiche Handeln und Planen 
rechnet mit dem unfreundlichen Berhältniß, das zwiſchen England und dem’ 
Deutichen Reich entitanden ift. Die britiiche Staatöflugheit Fann in diejer 
Stunde feinen anderen Krieg wünjchen ald einen, der Deutichland in Lebens⸗ 
gefahr reißen könnte. Ein Balkankrieg, der und in die Bundeögenofjenpflicht 
zwänge, müßte ſeltſam ausjehen und Ruffen und Türken (zwei Iſlams) in 
eine Bewegung bringen, deren Ende nicht abzujehen und deren Wirkung an 
der Beripherie des britischen Weltreicheö merkbar wäre. Das Ziel ift auf für» 
zerem undgefahrlojerem Weg zu erreichen. Fürden Kriegsfall muß Englands 
Wunſch fein, uns jede Möglichkeit einer Kandmachtentfaltung abzujchneiden 
(etiwa durch eine Intervention Europas, die dad Gebiet der Franzöfiſchen Re⸗ 
publif, jo lange fie nicht losichlägt, dem Heer des Nachbars ſperrt und die 
Neutralitätrechte Belgiens, Hollands und der jfandinanifchen Staaten mit 
Waffengewalt jhübt) und auf dem Waſſer zu tjoliren. Holt ed zu ſolchem 
Streich aus? Faft möchte mand glauben. Die Zeichen häufen fich. Ueberall 
werden Fädchen angefnüpft, Bündniffe und Berftändigungen bewirkt, glim- 
mende Funken auögetreten. Die Veröffentlichung der Interviews. Der fon- 
zentriiche Angriff auf Defterreich. Das Alles drängt zu der Bermuthung, daB 
die große Kraftprobe bald gewagt werden jol.&romer, Roberts, Rothſchild, 
drei Lords ſehr verjchiedenen Schlages, ſprechen offen aus, daß fte deu anglo⸗ 
deutjchen Krieg für unvermeidlich halten. Der Homeruler Birrel und der 
Sriedeneprediger Stead erflären, Deutichlande Rüftung zwinge die Briten, 
jede für den Slottenbau geforderte Summe zu bewilligen. Im Haus der Lords 
bat Roberts, der berühmteſte Soldat des Inſelreiches, eine Refolution bean- 
tragt, die der Regirung zur Pflicht macht, ohne Säumen ein Zandheer zu 
ſchaffen, das zur Abwehr eines deutichen Einfallsverſuches ſtark genug iſt. Der 
Marichall jcheint an die Möglichkeit einer Invafion zu glauben. Scheint. 
Vielleicht dachte er weniger an Abwehr als an Angriff; weniger an die eng⸗ 
liſche Küfte ald an Badajoz und Waterloo. Bor hundert Sahren, als Welling⸗ 
ton in Spanien fämpfte, konnte er feine geſchwächten Cadres nicht mit an= 
jehnlichen Landsleuten auffüllen. Dem oft wiederholten Ruf zu den Waffen 
folgten im Verlauf von fünf Monaten des Jahres 1808 nurdreitaujend Eng 
länder; und der&rjat mußte ſchließlich aus den Gefängniffengeholtwerden. 





Krieg? 377 


Daß ed da an Manneszucht fehlte und derSieger alle Begierden frei durch die 
erſtürmten Städte hinraſen ließ, ift begreiflich. Schlechte Soldaten waren, die 
Engländer nicht; Treitſchke ſelbſt, der WellingtonsLeiſtung doch recht kühl wãgt, 
jagt von ihnen: „Wunderbares vermochten die athletiſchen Körper mit ihrem 
altengliichen Borermuth, ihrer Muskelkraft und Ausdauer zu leiften, wenn: 
der Drillſergeant fie einige Sahre lang unter feine Fuchtel genommen hatte; 
unwiderftehlich wirkte der Bayonnetteangriff der Hünengeftalten der Garde 
oder der muchtige Angriff der ſchweren Reiter auf ihrengroßen, edlen Roſſen.“ 
Freilich: nur der dritte Theil der Mannichaft ftammte aus England. Daran 
mag Roberts gedacht haben; auch an die Klage der Franzoſen, daß England 
ihnen zu Land nicht nügen könne. AlleBewohner des Staates find deſſen ge⸗ 
borene Bertheidiger, ſprach Scharnhorft. Daß Britanien fich mit ungeheuren 
Koften über Nacht ein großes Söldnerheer ſchaffen will, deutet in die Richt: 
ung feiner Abficht. Bon hundertſechs Lords haben vierundfiebenzig für die 
Rejolution geftimmt. Kaum denkbar ohne dieZuftimmung des Königs. Und 
am nächften Tag wurde im „Standard“ gefragt, ob England, ftatt fich im 
Wettrüſten mit dem Deutſchen Reich, dad für die Kontingentirung der Wehr: 
macht nicht zu haben jet, zu ruiniren, nicht jchon jegt dad Schwert ziehen folle. 

Dad Recht zur Antwort auf dieje Frage hat nur der Brite. Bevor ers 
thut, ſollte er ermägen, ob das Deutſche Reich, mit dem er fortan zu thun ha- 
ben wird, noch in jedem Weſenszug daß ſelbe ift, dad ihm Aergerniß gab; ob 
ihm nöthig jcheint, perfönlicher Fehler wegen (die nicht immer nur diedjeits 
vom Kanal zu verzeichnen waren) zwei große Nationen in Zodfeindichaft zu 
verhetzen; ob er wähnt, daß Deutichland eine Niederlage wie eine heilſame 
Züchtigung hinnehmen würde, und ob das nicht überall unverwundbare Welt- 
reich ein von Kämpfen gegen die ſtärkſte Kontinentalmacht ausgefülltes Men⸗ 
ſchenalter herbeilehnen fann. Viceadmiral Galfter hat in diefen Tagen ge- 
rathen, neue große Linienſchiffe erft zu bauen, wenn die Erfahrung gelehrt 
bat, wie fie am Beiten zu bauen find; und den im Flügften Sinn patriotifchen 
Sat geſprochen: „Das Flottengeſetz darf und nicht zwingen, gegen die Ver⸗ 
nunft zu handeln.” Vielleicht erwirkt die Technik mit ihren Zweifelöfragen 
eine Berftändigung. Vielleicht beruft der Reichstag Sachverſtändige in feine 
Kommilflon und prüft, auf dem feften Grund der Gutachten, die Haltbarkeit 
des Flottengejeßes nod; einmal. Neun Zehntel deödeutichen Volkes ſähen einen 
anglosdeutjchen Krieg wie ein internationales Unglüd nahen. Würden ihn 
nie provoziren. Nie aber auch ihm furchtſam ausweichen. Britanien muß 
wilten, wasihm frommt; obs, nach den Königen, nicht die Völfer mit einander 
verjuchen jollten. Britanien hat freie Wahl. Wir warten geduldig. 

5 


378 Die Zukunft 


Bußtag. 


&' diefen Tagen politifcher Auseinanderjegungen ift Alles gefagt worden, 
mas der Augenblid forderte. Eins nur blieb ungefagt. Tıogdem eine 
Anklage der anderen folgte, ift über dad Hanteln von Kaifer und Kanzler 
nicht oft hinaus, ift faft nirgends auf die Schuld der ganzen Nation gewieſen 
worden. Und doc) wäre es gut gemwefen, die Abrechnung mit Selbftprüfungen zu 
beginnen. Wie der große Feldherr ein Heer nicht von Sieg zu Sieg zu führen 
vermag, es träge dern den Willen und die Kraft zum Sieg ſchon in fi, wie. 
ein Regent bie Quellen des Reichthums voller fließen machen Tann, es fet 
denn, daß das ganze Volk ungeduldig fchon des Reichthums harrt, jo vermag 
auch der mächtigfte Fürft eine ganze Nation nicht verderblichen Kataſti ophen 
entgegenzuführen. wenn fie ſelbſt nicht die Vorbedingungen dazu ſchafft, ja, 
wenn fie felbft Erſchutterungen nicht heimlich herbeiſehnt. In der That ſitzt 
im deutſchen Volkskörper, ala Folge jäher Ueberernähtung, eine ſchlimme ſtrank⸗ 
heit. Sie zu überwinden, erwecken die guten Jaſtinkte der Gefundheit num 
ein dunkles Verlangen nad läuternden Rationalleiden. Dieje dem Bewußt⸗ 
fein freilich enirüdte Verlangen, dem auch jetzt Ter Anlaß noch nicht genügte 
und das ein Yeußerfied will, weil nur dieſes noch helfen kann, mag ch fein, 
was auch jetzt wieder liftig die Ration in ihre alte Lebensweiſe zurüdlodt. 
So nur ift zu erllären, daß troß der ernften Mahnung Alle nun zur emfigen 
Güteranhäufung zurüdtehren, ald handle es fich wirklich nur um den Fehler 
eines Einzelnen und nicht um ein Krankheitſymptom, das Jeden angeht. 

Seit einigen Jahrzehnten hört daß deutjhe Volt die innere Stinsme 
höher gearteter Menichlichleit nur ungern; darum ift es auch jo unmillig immer 
über die von außen kommende Mahnung. Wander Warner hat im kleinen 
oder großen Kreile dad Selbe empfunden, was Paul te Lagarde genau vor 
dreiundzwanzig Sahren, auch an einem Zotenfeite, als. Abjchluß einer noch 
beute faſt unbelannten politiichen Erzieherthätigkeit in ſchöne Form faßte: 

„3 Habs gejagt und abermals gejagt: 

auch Hörten rings die Männer in der Runde. 
Die Einen riefen Ya, doch mit dem Munde, 
die Anderen haben nie ein Nein gewvayt. 





Die Guten faul, die Beften ganz verzagt, 
und feine Hand bot fi zum Heilgen Bunbe. 
D großer Bott, wie ferne ift die Stunde, 
in der des neuen Lebens Sonne tagı!“ 
Ale Fehler faft, die dem Kaifer nun mit Recht vorgeworfen wurden, 
find Nationalfehler geworden. Unſer Volk hat fich jelbft die Bitterfeit der 
eben erlebten Tage bereitet. E3 ift feit fünfzehn Jahren mit der Politik zu⸗ 


Bußtag. 379 


frieden, die uns den Kataſtrophen immer näher führt; es wollte dieſen Weg 
geführt fein, will es noch heute. Wäre vom erſten Tage der Regirung Wil⸗ 
helms des Zweiten ab die Nation anderen Sinned geweien als er, fo hätte 
er nie die Macht gehabt, uns dahin zu leiten, wo wir nun ſtehen. Nur 
Menige haben widerſprochen; Viele haben ed gehen lafien, wie es ging; die 
Meiften aber waren überzeugt, gut regirt zu werben. Die Oppoſition hat fich 
immer darauf bejchräntt, Eingelnes, Zufällige® und Nebenſächliches nach den 
Leitjätzen der Parteivogmen zu bemängeln. Eben dieſen Kaiſer wollte die un» 
endlich arbeitjame, aber in kalten Erwerbsinſtinkten täglich tiefer verfintende 
neudeuljche Ration. Ihrem raftlofen Materialismus entjpricht der rubelofe 
Materialismus Wilhelms des Zweiten. Fürſt und Volk find gleichmäßig den 
Suggejtionen der Duantitäten unterlegen und Beide verftehen gleich Schlecht 
den Adel der Qualität; Beide begeiftern fih für Erpanfion, für die An» 
häufung von Machtmitteln, für den Befig an Arbeit, Geld, Wiſſenſchaft oder 
Kunſt, nur um des Befiged willen; Beide verwechjeln fortgejegt Civilifirung- 
werthe mit Kulturgütern, überjchägen die Phänomene des fihtbaren Erfolges 
und find ganz einig in der Abwehr der fill wirkenden ariſtokratiſchen Geiſtes⸗ 
gemalten. Dieje Zeit ift ganz unſauſtiſch. Es iſt eine Zeit ungeheurer Güter- 
anbäufung und kühnen Unternehmerthumes, glüdlofer Emfigkeit und eiliger 
Genußgier. Das deutſche Volk diefer Jahrzehnte ift ſtark, ja, beinahe groß 
im Materiellen und nicht eine Spur von Trägheit ift in ihm; aber es ift ohne 
Tiefe. Kühn ift e8 ohne Brazie, Fräftig ohne Schönheit, klug ohne Weisheit, 
tugendhaft ohne ſchöpferiſche Sittlichkeit, gehorfam ohne frei dienende Ehr⸗ 
furcht. Immer find wir noch in Gründerjahren und jchon darum gefällt der 
Nation die Gründggpoliit, ber Parvenu⸗Imperialismus. Bien de t Zeile 
IE der Klaifer der er_merfantilen Ünterelfen, ı materlattſiſch Troß Teiner Romantit, 

unperlönfih Troß feiner „Impulfivität”, ein Wille und "ein Selbfigefübl, voch 
ohne höheres kritiſches Bemuftlein und barum ohne feiteß Ziel, ein Denich 


des Augenblicks ohne geniale Inſtinkte und ein Genußtemperament ohne Ge- 
Ihmadstultur. Ein Kaiſer ded allgemeinen Induftrie-Allufonismus, ein Fürft 
aller {Fehler des Ueberganges. Der im Lande heute allmädhtige Kaufmann hat 
ihn mit beleidigender Zärtlichkeit feinen „beften Geſchäftsreiſenden“ genannt. 
Diefer gelrönte „Befchäftsreifende” ift es, dem die geichäftlich gewordene Nation 
jo lange zugejubelt hat, denn unter feinem Regime ift fie reich geworden; ihn 
ſchilt fie-jegt, da fein Fehler die Geſchäfte zu ſchädigen droht. 

. Aber Individuen und Bölter leben zugleich zwei Leben. Hinter all 
diefen Sichtbarkeiten ift ein Gebiet, mo der Kategorijche Imperativ unumſchränkt 
herrſcht. Er, eine göttliche Gewalt, fteht, verfleivet ala Gewiſſen, ald Geſundhekt⸗ 
inftintt, als höherer Selbfterhaltungtrieb, wie ein transſzendentales Subjelt 
hinter dem Lebenswandel der Einzelnen und der Allgemeinheiten. Auch hinter 


2) 


330 Die Zulunft. 


dem Neben und Treiben unferer Nation fteht er in diejer Stunde. Ta3 
Gemifien des deutfchen Volkes beginnt merkbarer wieder, fich zu regen. Wieder 
meldet fich die Ahnung, daß ein Furſt der Nation zur Zuchtruthe werden fann. 
Man beginnt, zu fühlen, wie arm in all unferem Reichthum wir den Manen 
unferer Vergangenheit gegenüberftehen und daß nur aufwühlende, nach innen 
weijende Leiden den Deutichen wieder fich felbft zurückgeben können; der 
Genius der Raſſe flüftert und zu, daß die Tage der Wiedergeburt nur nach 
ſchweren Sataftrophen fommen werden. Denn am Größten war der Deutiche 
ftel3 im Unglüd. Nie zögerte er dann, zur eigenen Lebensbürde noch die Ber» 
antwortung für die ganze Menfchheit auf fi zu nehmen. Es mag nun vor» 
fommen, daß dad Individuum auf einem lange beichrittienen Weg innehält, 
um „ein neued Leben“ zu beginnen. Niemals kommt Das aber bei ganzen 
Völkern vor, weil die dazu nothwendige Uebereintunft nicht zu Stande kommen 
kann. Zum Lehrmeifter der Rationen wird nur dad aus der Nothwendigkeit 
geborene Ereigniß, die urfächlich herbeigeführte Kutaftrophe. Eben jett wurde 
uns eine Warnung; ſchnell aber ift da3 furchtbare Symptom wieder zum Guten 
gedeutet worden. Denn die Nation weiß in ihrem ihr ſelbſt unverſtändlichen 
Gefühl, daß fie mehr braucht ald eine Warnung, Stärlered ald nur Wetter» 
leuchten. Sie will das große, reinigende Gemitter. 

Das wird kommen. Ein furdtbarer Krieg wahrjceinlich und Ichwere 
Niederlagen. Die Prädeftination des Kaiſers iſt noch nicht in allen Theilen 
erfüllt. Unſere Söhne werden, geben in dem Moment, wo fie die Früchte 
diefer Zeiten genießen wollen, für die Sünden der Väter mit Leben oder 
Gefundheit, unfere Töchter mit Unfruchtbarkeit bezahlen müflen. Auch weiter» 
bin wird fi die Verkündigung des alten Pilger erfüllen, wie fie fih zur 
Hälfte ſchon erfüllt hat: „Sehen Sie,die Deulſchen können das Elück und 
die Größe nicht recht vertragen Ihre Art Idealität ruht auf Sehnſucht. 
Wenn fie ed einmal haben. und num nichtd mehr zu fehnen iſt, jo werden fie 
frivol werden, die Hände reiben und jagen: Unjere Heere habens ja bejorgt, 


feien wir jest, recht gemeine, ‚Genuß. und Geldhunde mit außgeftredter Zunge. 
f — 


Aber nehmen wirs auch nicht zu ſchwer; eine anfländige Dlinorität wit 
eine Nation kann jo Y —EXX es bedar 
und das wird lommen in einem neuen Krieg, dann werden wir und aufraffen 
müſſen, die legte Faſer daran fetenund dann wirds wieder befier und vecht werden “ 
Lache Jeder folcher Betrachtungen, der noch Heiterkeit in fich hat, Tem 
ein freied Gelächter noch glüdt in diejer Zeit, die zu äußerſter Thätigleit zwingt, 
den Starken wie den Schwachen, über deren Arbeit aber kein Himmel blaut 
und die die Guten und Reinen nicht fennen will. Wo ift der heilige Segen 
diefer Werth auf Werth häufenden Arbeit? Es ift, ald wäre ein Fluch über 
fie geſprochen. Und auch ich glaube: den kann nur Blut und Eijen löfen. 


Friedenau. e Karl Scheffler. 











Efitafe und Bekenntniß. 381 


Efitafe und Befenntniß.*) 


nfer menfchliches Veberisgeiriebe, das Altes einläßt, das ganze Licht und die 
ganze Muſik, alle Tollheiten bes Gedankens und alle Barianten bes Schmer⸗ 
363, die Fülle des Gedachtniſſes und die Fülle der’ Erwartung, it nur Einem ver- 
Tchlofien: der Einheit. In jedem Blid blinzeln heimlich, taufend Blicke mit, die ſich 
ihm nicht verſchwiſtern wollen, jebes jchöne reine Staunen wird don taufend Er⸗ 
innerungen verwirrt unb noch in das ſtillſte Leid zifcheln taufend Fragen. Das 
Getriebe ik üppig und karg, ed häuft und verfagt das Umfangen, es baut einen 
Wirbel von Begenfländen und einen Wirbel von Gefühlen, Wirbelmand zu Wirbel. 
wand, daß ed gegen einander und über einander fliegt, und läßt uns hindurch 
gehen, diefen unferen Weg lang, ohne Einheit. Das Getriebe läßt mich bie Dinge 
Haben und die Ideen dazu, nur nicht bie Einheit: Welt oder Ich, gleichviel. Ich, 
Die Welt, wir, — nein, id) Welt bin das Entrüdte, das nicht zu Faſſende, nicht zu 
Erlebende. Ich gebe dem Bündel einen Namen und fage Welt zu ihm; aber ber 
ame ift keine Einheit, die erlebt wird. Ich gebe dem Bündel ein Subjelt uud fage 
Ich zu ihm; aber das Subjekt ift keine Einheit, die erlebt wird. Name und Subjekt 
find bes Getriebes und mein ift Die Hand, die fich ausſtreckt — ind Leere. 
Aber Das ift der Gottesſinn bes Menfchenlebeng, Daß das Geiriebe eben 
Doch nur das Außen ift zu einem unbefannten und alleslebendigften Innen und 
Daß diejes Innen fi nur der Erfenntniß, bie eine Tochter des Getriebes iſt, nicht 
aber der ſchwingenden und fich befreienden Seele zum Erlebniß verfagen Tann. 
Die Seele, die fih ganz gefpannt hat, das Betriebe zu fprengen unb ihm zu ent- 
xirmen, bie iſt e8, welche die Gnade der Einheit empfängt. Sie mag einem lieben 
Menfchen begegnen oder der Landichaft eines wilden Steinhaufens: an bdiefem 
Menſchen, an dieſem Steinhaufen entzündet jich die Gnade und die Seele erlebt 
ariht mehr ein Einzelnes, um das taufend andere Einzelne ſchwirren, nicht ben 
Drud einer Hand oder den Blid der Felſen, fondern fie erlebt die Einheit, die 





*) Die Einleitung in ein Buch, das Herr Dr. Martin Buber, unter dem Titel 
„Ekitatiiche Konfeffionen” (bei Eugen Diederichs in Jena), eriheinen läßt. Der Grund» 
gebante, der zu ber Sammlung trieb, läßt fi faum klarer ausdrüden, als in der Ein« 
Leitung und dem (bier angefchlofjenen) Vorwort gefchehen ift. Der Name des Autors, 
Dem wir die ungewöhnlich ſchönen und feinen Bücher „Die Geſchichten bes Rabbi Nach » 
mann“ und „Die Legende des Baalichem“ zu banken haben und der „Die Geſellſchaft“, 
eine Sammlung fozialpiychologiiher Monographien, herausgiebt, birgt dafür, dar 
aud diesmal eine werthvolle Babe zu erwarten ilt. Den Wunſch, Einleitung und Vor⸗ 
wort bier zuexft zu veröffehtlichen, habe ich um fo lieber erfüllt, als über dag Weſen der 
Eiftaje noch nicht viel Haltbares gejagt worden ift; trug Allem, was gerade in neuerer 
Zeit über Johannes von Ruysbroef, den Doktor exstaticus, ang Licht gebracht murdr. 
Vielleicht das Befte hat Renan in den Kapiteln über Paulus geleiftet („Les commo- 
tions cerebrales produisent parfois une sorte d’effet retroactif et troublent 
<completement les souvenirs des moments qui ont pr&cede la crise“). Hier aber 
Läßt Dex Santmler in den verjchiedenften Kulturzonen ung ekſtatiſche Zuftände beftimn: - 
3er Menſchen miterleben. Nicht die Piychologie, Phyſiologie, Pathologie diefer Me:.- 
schen will er ung zeigen, fondern ihr Erlebniß uns noch einmal erleben laffen. 

29* 


35% Die Sulunft, 


Welt: fich felber. Alle ihre Kräfte fpielen, alle Kräfte geeint und als Eins gefühlt, 
und milten unter ben Sräften lebt uud firahlt der geliebte Menſch, der geichaute 
Stein: ſie exlebt die Einheit des Ich und in ihr die Einheit von Ich und Welt; 
nicht mehr einen Inhalt, ſondern Das, was unendlich mehr tft als aller Inhalt. 

Und doch ift aud) Dies der Seele noch nicht eine ganze freiheit. Sie hat 
es nicht aus ſich, ſondern von bem Anderen empfangen und das Andere iſt in 
der Hand bes Getriebes. So kann irgenbein Vorgang bes @etriebes — ein Ge⸗ 
Dante, der das Geficht des Geliebten, eine Wolke, bie das Geſicht bes Felſens ver» 
wanbelt — Macht Über fie gewinnen und ihre Einheit verderben, daß fie wieder 
verlaffen und gefnechtet fteht im Wirbel ber Gefühle und ber Gegenftände. Und 
auch in dem reinen Augenblid ſelbſt kann es erfdheinen wie ein Zerreißen, wie 
ein Hervorſchauen: und ftatt ber Einheit find zwei Welten und ber Abgrund und 
die ſchwankſte aller Brücken darüber; oder das Chaos, das Gewimmel ber Fin⸗ 
ftemiß, das feine Einheit Tennt. 

Allein ed giebt ein Erlebniß, das aus der Seele felber in ihr wäh, ohne 
Berührung und ohne Hemmung, in nadter Eigenheit. Es wird und vollendet fi 
jenſeits des Getriebes, vom Anderen frei, den Anderen unzugänglicdh. Es braucht 
feine Nahrung und Fein Gift kann e8 erreichen. Die Seele, die in ihm flieht, ſteht 
in fich felber, Hat fich felber, erlebt ſich ſelber — ſchrankenlos. Nicht mehr, weil 
fie fich ganz an ein Ding ber Welt bingegeben, fich ganz in einem Ding ber Welt 
gefammelt Bat, exlebt fie fich als die Einheit, jondern, weil fie ſich ganz in fih 
eingejentt bat, ganz auf ihren Grund getaudt ift, Kern und Schale, Sonne und 
Auge, Becher und Trank zugleich. Diefes allerinnerlichfte Erlebniß ift es, daB bie 
Griechen Ekſtaſis (Das ift: Hinaustreten) nannten. 

Wenn wirklid die Religion, wie man fagt, ſich „entwideli” bat, fo fann 
man als ein weſentliches Stadium dieſes Borganges die Wandlung anfehen, die 
fih in der Auffafiung Gottes vollzogen bat. Zuerft fcheint der Menſch mit dem 
Namen Gottes vornehmlich Das erklärt zu haben, was er an ber Welt nicht ver 
ftand, dann aber immer öfter Das, was ber Menfch an fidh nicht verftand. Co 
wurbe die Ekſtaſe (Das, was der Menſch an ſich am Wenigften verftehen konnte) 
zu Gottes höchfter Gabe. Jenes Phänomen, das man nad einem optifchen Be 
griff als Projektion bezeichnen kann, das Hinausftellen eines Innerlichen, zeigt ſich 
in feiner reinften Geſtalt an ber Efftaje, die, weil fie das Innerlichſte if, am 
Beiteften Hinausgeftellt wird. Der Gläubige bes chrifllichen Zeitalters Tann fie 
nur an den Polen jeines Kosmos lokaltfiren: er muß fie Goit zufchreiben oder 
dem Teujel. Noch Zeanne de Cambray fchreibt an ihren VBeichtvater: „Ich bin 
genöthigt, Euch die innere Noth befannt zu machen, worin ich mich feit Euerm 
legten Zuſpruch befunden babe, da Ihr mich noch immer im Bweifel lafjet, ob es 
Gott oder der Teufel jei, der mich regirt. Iſt es ber Teufel, fo ift al mein Gebet, 
worin ich mich nunmehr ſiebenunddreißig Jahre geübt habe, zu nichts nüsglid.” 
Über nicht blos jene Beiten, bie das Leben zwiſchen Göttliches und Teufliſches auf 
ıheilten, weil jie die Macht und Weite des Menſchlichen nicht Tannien, haben die 
Innerlichkeit der Ekſtaſe nicht erfaßt: e8 giebt faſt feinen Efftatifer, ber nicht fein 
Scherleben als Gotterleben gedeutet Hätte (und wie fehr man Gott auch zu ver 
innerlichen fuchte, ganz ins Ich, als deffen Einheit, Hat ihn faum Einer genommen). 
Das jcheint mir im Weſen des Erlebnijjes begründet zu fein. 

Sm Erleben der Ekſtaſe felbft weift noch nichts nach innen ober außen. 





Ekſtaſe und Bekenntniß. >’3 


Der die Einheit von Ih und Welt erlebt, weiß nichts von Ich und Welt. Denn 
6io beißt es in den Upanifchaden) wie Einer, von einem geliebten Weibe um⸗ 
ſchlungen, lein Bewußtfein Hat von Dem, was außen oder innen ift, fo auch hat 
der Geiſt, von dem Urſelbſt umfchlungen, lein Bewußtfein von Dem, was außen 
ober innen if. Aber der Menſch kann nit umbin, auch noch das Subjektivſte, 
Freiſte, nachdem e8 gelebt worben tft, in die Kette bes Getriebes einzuftellen und Dem, 
was zeit und feſſellos wie die Ewigleit Durch die Seele fuhr, eine Heine Vergangen- 
Beit, bie Urfache, und eine Kleine Bukunft, bie Wirkung, anzufchmieden. Je eigener 
und gelöfler aber das Erlebniß ift, um fo ſchwerer muß e8 fein, e8 in ben Kreis des 
Anderen, Gebundenen einzuftellen, um fo natürlicher und unwiderlegbarer, es Einem 
zuzuſchreiben, ber über der Welt und außer aller Bindung if. Der Menſch, ber in ben 
Funktionen ſeiner Körperhaftigkeit und Unfreiheit einberftapft Tag um Tag, empfängtin 
der Ekſtaſe eine Offenbarung ſeiner Freiheit. Er, der nur differenzirtes Erleben kennt 
— Erleben eines Sinnes, bes Denlens, des Willens, mit einander verfnüpft, aber 
doch geichieden und in diefer Scheidung bewußt —, erfährt ein undifferenzirtes 
Erleben: das Erleben bes Ich. Ueber ihn, der immer nur Einzelnes von ſich 
empfindet und weiß, Begrenztes, Bedingtes, geräth das Wetter einer Gewalt, eines 
Ueberichwanges, einer Uinenblichleit, in der aud feine urfprünglichfte Sicherheit, 
Die Schranke zwiſchen ihm und dem Anderen, untergegangen iſt. Ex kann dieſes 
Erlebniß nicht dem allgemeinen Geſchehen auflaben; er wagt nicht, e8 auf fein 
armes Ich zu legen, von dem er nicht ahnt, daß es das Weltich trägt; jo hängt 
er e8 an Gott. Und was er von Gott meint, fühlt und träumt, geht wieder in 
feine Eiftafen ein, ſchüttet fi in einem Schauer von Bildern und Klängen über 
fie aus und fchafft um das Erlebniß der Einheit ein vielgeftaltiges Myſterium. 
Die elementare Vorftelung darin ift die einer (mehr oder minder körper⸗ 
Haft gedachten) Bereinigung mit Bott. Ekſtaſis ift urſprünglich: Eingehen in den 
&st:*), Enthufiatmos: Erfüllt fein vom Gotte. Eſſen des Gottes, Einatbmen des 
göttlichen Feuerhauchs, Liebegeinung mit bem Gott (diefe &rundform ift aller 
ipäteren Myfif eigen geblieben), Neugezeugiwerben, Wiedergeburt durch den Gott, 
Auffahrt der Seele zum Gott, in ben Gott, find Geftalten dieſer Borftellung. 
Baulus weiß nicht, ob feine Seele in dem Leib oder außer dem Leib war; und 
Haj Gaon weift eine Meinung ber Menge zurüd, wenn er von dem Adepten, der 
die zehn Stufen überwunden Hat, fagt: „Dann dfinet fih ber Himmel vor ihm; 
nicht, daß er in ihn aufftiege, jondern in feinem Herzen geſchieht Eimas, wodurch 
er in ba8 Schauen der göttlihen Dinge eintritt.” Und wie weit auch der Weg 
tft, der von Diefem zu den PBlatonifern, zu den Sufis, zu den deutſchen Gottes⸗ 
freunden führt: auch bei ihnen lebt immer noch der Gott, mit bem bie Elftafe ver- 
einigt. Nur in indifhen Urworten (und vielleicht hernach noch von Einzelnen in 
feltener Rebe) wird das Ych verkündet, das eins mit dem AU und die Einheit ift. 
Bon allen Erlebnifien, von denen man, um ihre Unvergleichbarfeit zu kenne 
zeichnen, ſagt, fie fönnten nicht mitgetheilt werden, ift die Efftafe allein ihrem Weſen 


*) Bu ben bei Dieterih, „Eine Mithrasliturgie“ (dieſes Buch, das ein Ver⸗ 
mächtniß tft, darf hier nicht unerwähnt bleiben), angeführten Belegen für die Auf« 
fafjung Gottes als des pneumatijchen Elementes, in dem der Gläubige fteht, follte 
Sielleicht noch der ſpätjüdiſche Gottesname Makom (Das ift: Ort) Herangezogen 
sverben, der wie bie legte Spur eines urzeitlichen Bildes erfcheint. 


384 Die Zukunft. 


nad das Unausſprechliche. Sie ift es, weil ber Menſch, dex fie erlebt, eine Einheit 
geworben ift, in bie feine Zweiheit mehr bineinreicht.” | 

Das, was in ber Efftafe erlebt wird (wenn wirkli von einem Was ge» 
redet werben barf), ift bie Einheit des Ich. Aber um als Einheit erlebt zu were 
den, muß das Ich eine Einheit geworben fein. Nur ber vollkommen Geeinte kann 
die Einheit empfangen. Nun ift er fein Bündel mehr: er ift ein Feuer. Nun find» 
ber Inhalt feiner Erfahrung, und das Subjelt feiner Erfahrung, nun find Welt 
und Ich zufammengeflofien. Nun find alle Kräfte zufammengefgwungen zu einer 
Gewalt, nun find alle Funken zulammengelodert zu einer Flamme. Run iſt er 
dem Getriebe eniziidt, enirüdt ins ftillfte, ſprachloſeſte Himmelreich; entrüdt auch 
ber Sprache, bie das Getriebe fich einft in ber Mühfal ſchuf zu feiner Botenmagb 
und bie, feit fie Jebt, ewig nach dem Einen, Unmöglichen verlangt; ihren Fuß zu 
fegen auf den Naden bes Getriebes und ganz Gedicht zu werben, — Wahrheit, 
Reinheit, Gedicht. 

„Run |pricht” (To Heißt e8 bei Meifter Eckhart) „bie Braut im Hobenliede: 
Sch babe überftiegen alle Berge und all meine Vermögen, bis an die dunkle Kraft 
des Vaters. Ta hörte ich ohne Laut, da fah ich ohne Licht, da roch ich ohne Be⸗ 
wegen, ba fchmedte ich Das, was nicht war, ba fpürte ich Das, was nicht befland. 
Dann wurde mein Herz grumdlos, meine Seele lieblos, mein Geiſt formlos und 
meine Natur wejenlos. Nun vernehmet, was fie meint! Daß fie fpricht, fie habe über- 
ftiegen alle Berge, damit meint fie ein Ueberfchreiten aller Rede, die fie irgend 
üben Tann aus ihrem Vermögen, — bis an die dunkle Kraft des Waters, wo alle 
Rede endet.“ J | 

So ganz über die Bielheit des Ich, über das Spiel der Sinne und bes 
Denfens gehoben, ift der Efftatifer auch von der Sprache geichieben, die ihm nicht 
folgen Tann. Gie ift als eine Speicherung von Zeichen für die Affeltionen und 
Nöte des Menfchenleibes entfianden; fie ift gewachfen, indem fie Zeichen bildete 
für die empfindbaren Dinge in Nähe und Ferne des Menfchenleibes; fie ift der 
werdenden Denfchenjeele nachgegangen auf immer heimlicheren Wegen und Bat 
Namen geformt, gelöthet, zijelixt für bie trogigften Künfte und für die wildeften 
Myſterien der Taufendfältigen; fie hat ben Olymp bes Menfchengeiftes-erfiirmt, 
nein, fie hat ben Olymp bes Dienfchengeiftes gemacht, indem fie Bildingrt auf Bild- 
wort thürmte, bis auch noch die höchſte Aufgipfelung des Gedankens im Worte 
ftand; und Solches thut fie und wird fie thun; aber fie fann immer nur von Einem 
empfangen, Einem Genüge thun: der zeichenzeugenden Vielheit bes Ich. Niemals 
wird fie in das Neich der Efftafe eingehen, welches das Reich der Einheit ift. 

Sprache ift Erkenntniß: Erkenntniß der Nähe ober der Ferne, der Empfindung 
oder der Idee, und Erlenntniß ift das Werk bes Getriebes, in ihren größten Wundern 
ein gigantifches Koordinatenſyſtem bes Geiftes. Uber das Erleben ber Ekſtaſe 
tit fein Erkennen. 

Das ift der Sinn Deffen, was wir in dem Buch des Hierothos (des Syrers 
Stefan bar Subaili?) lefen; des jelben Hierotheos, fo weit wir urtheilen bürfen,. 
von dem es in den areopagitiichen Schriften heißt, er habe das Göttliche nicht blos 
erfahren, fondern auch erlitten, cu wovov vadwv ala xar radwv ta Yera — 

„Mir ſcheint es recht, ohne Worte zu jagen und ohne Erkenntniß zu ver⸗ 
ftehen Das, was über Worten und Erkenntniß ift: Diefes, meine ih, if nidi& 
Anderes als das geheime Echweigen und bie myftifche Rube, die das Bewußtſein 


&Efftafe und Belennmiß. 385 


Bernichtet und bie Formen auflöſt. Suche denn, im Schweigen und im Geheimniß, 
jene vollfommene unb urfprüngliche Vereinigung mit dem weienhaften Urgut.” 

Aber nicht blog feiner früheren Wielheit gegenüber ift, Dex die Eiftafe erlebt, 
eine Einheit geworden. Seine Einheit iſt nicht relativ, nicht vom Anderen begrenzt: 
ſie ift grenzenlos, denn fie ift die Einheit von Jh und Welt. Seine Ginheit ift 
Einfamtett, bie abfolute Einſamkeit: die Einfamkeit Deſſen, der ohne Grenzen ift. 
Er hat das Andere, die Anderen mit in fich, in feiner Einheit: als Welt; aber er 
Hat außer fi Teine Anderen mehr, er bat feine Gemeinfchaft mehr mit ihnen, 
feine Gemeinfamteit. Die Sprache aber if eine Funktion der Gemeinjchaft unb 
fie kann nichts als Gemeinſamkeit fagen. Auch das Berfönlicäfte muß fie irgendwie 
in das gemeinfame Erlebniß der Menſchen Aberführen, irgendwie aus biefem zu- 
rechtmiſchen, um es auszufprecdhen. Die Ekſtaſe fteht jenfeits vom gemeinfamen Er- 
lebniß. Gie ift bie Einheit, fie ift die Einſamkeit, fie ift die Einzigkeit: die nicht - 
überführt werben kann. Ste ift der Abgrund, den kein Sentblei mißt: das Unfagbare. 

In jener Stelle bes großen parifer Zauberbuches, die den Upathanatismos, 
die Weifung an ben Myften zur höchften Weihe, der Neugeburt zur Unfterblichkeit, 
“enthält, wird ibm gefagt: „. . . Sehen wirft Du aber, wie die Götter Dich an« 
hliden und gegen Dich heranftärmen. Du aber lege fogleih ben Zeigefinger auf 
ben Mund und ſprich: Schweigen, Schweigen, Schweigen, — Symbolon des leben« 
Digen, unvergänglichen Gottes, beſchütze mich, Schweigen! ... Wenn Du nun bie 
obere Welt rein und einfam erfchauft und feinen der Bötter oder Engel heran⸗ 
ftürmen ſiehſt, bereite Di, zu hören Krachen gewaltigen Donners, daß Du er» 
fchüttert wirft. Du aber ſprich wiederum: Schweigen. Gebet: Ich bin ein Stern, 
Der mit Euch die Bahn wandelt und aujleuchtei aus der Tiefe.“ 

Das Schweigen ift unjer fhügendes Symbolon gegen bie Bötter und Engel 
Des Getriebes: unfere Hut wider feine Irrgänge, unfere Reinigung wider feine 
Unreinheit. Wir jchweigen das Erlebniß; und es ift ein Stern, ber bie Bahn 
mwandelt. Wir reben e8; und es ift bingeworfen unter die Tritte des Marktes. 
Bir find dem Herrn ftill: da macht er Wohnung bei und; wir fagen Herr, Herr: 
da haben wir ihn verloren. Aber fo gerade ift ed mit und: wir mülſſen reden. 
Und nnfere Rebe wölbt einen Himmel über uns, über ung und bie Anderen einen 
Himmel: Dichtung, Liebe, Zukunft. Aber Eins ift nicht unter diefem Himmel; 
Das Eine, das noththut. 

Das Bewußtfein ftellie die Eiftafe hinaus in der Projektion; der Wille ftellt 
fie zum anderen Mal hinaus in dem Berjuch, das Unfagbare zu jagen. Auch das 
innerlichfte Erlebniß bleibt vor dem Triebe zur Veräußerung nicht bewahrt. ch 
glaube an die Efftajen, die nie ein Laut berührte, wie an ein unfichtbares Heilig« 
thum ber Menfchheit; die Dokumente Derer, die in Worten münbeten, liegen vor 
mir. Hier find Menfchen, die ihre Einjamleit, die höchfte, die abfolute, nicht ex» 
trugen, die aus dem Unendlichen, das fie erlebt hatten, mitten ins Endliche fliegen, 
aus ber Einheit mitten in Die wimmelnde Bielheit. Sobald jie ſprachen, fobald 
fie (mie e8 ber Rede Borfpiel zu fein pflegt) zu ſich fprachen, waren fie fchon an 
‚ ber Rette, in ben Grenzen; der Unbegrenzte ſpricht auch nicht zu ſich, in fi, weil 
au in ihm keine Grenzen jind: Teine Vielheit, feine Zweiheit, Fein Du im Ich 
mehr. Sobalb fie reden, find fie fhon der Sprache verfallen, die Allem gewachjen 
ift, nur nicht dem Grund des Erlebens, der Einheit. Sobald fie fagen, jagen fie 
ſchon das Unbere. 


336 Die Zuhunft. 


Es giebt freilich ein allerſtillſtes Eprechen, das nur Dafein mitiheilen, nicht 
befchreiben will. Es ift fo Hoch und Mill, als fei e8 gar nidht in der Sprache, 
fondern wie ein Heben ber Lider im Schweigen. Es übt keiue Untreue, denn es 
fagt nur aus, daß Etwas ift. 

Diefer kundige Rebner und Kirchenmann, Bernhard von Clairvaug, hält 
einmal plotzlich mitten in der Predigt inne und fagt dann leife, nicht prablend 
und auch nicht demüthig (es ift Fein Kunſtgriff, ſondern bie Erinnerung hat ihn 
überfommen und bie Rede zerbrach tn feinem Munde): Fateor et mihi adven- 
tasse verbum: Ich befenne, daß auch mir das Wort genaht tft. Sodann ſpricht 
er weiter, eimas lauter wohl, aber doch die wieder Einlaß verlangenbe Kunft mit 
ſchlichter Seele bezwingend: wie er fühlte, daB es ba war, wie er ſich entjimnt, 
daß e8 da geweien iſt, wie er geahnt hatte, baß es kommen würde, und wie er 
doch Kommen unb Gehen. nicht empfand. Wie es durch keinen Sinn eintreten 
fonnte, das Unfinnliche, wie es nicht aus ihm ſelbſt ftammen konnte, das Boll- 
tommene. „Wenn ich Binausfchaute, fand ich es jenſeits alles meines Außen; wenn 
ich Hineinfab, war e8 meinem Innerſten innerlider. Und ich exfannte, daß es 
wahr ift, was ich gelefen hatte: daß wir in ihm leben, uns bewegen und find; 
aber Der ift glüdfelig, in dem es ift, der don ihm lebt, ber durch es bewegt wird.“ 
Ich glaube ihm fein Velennen. Ich fühle, daß er einft, als er noch nicht wie 
heute reden konnte, Stunden Hatte, da auch er das Göttliche erlitt. Und all bie 
ſchamloſe Bierlichkeit feines Redens tft mir dadurch erfauft, daß er fo von feiner 
Stunde berichtet, daß er das Wort nicht ben Worten zum Fraße hinwirft, fondern 
für dag Wort mit feinem Schweigen zeugt wie ein Märtyrer mit feinem Blut. 

Bon biefem Sprechen führen viele Stufen zu jenem Erzählen von Gott und 
feinen Gaben, das nicht erfchridt und nicht umfehrt, fondern jagt und jagt. Es 
ift nicht weniger redlich, feine Sprache Klingt nirgends gefprungen, wir willen, 
daß es nicht lügt, fondern Gemeintes befennt. Aber bie Stille fehlt ihm, und 
wo feine Stille if, da if Die Stimme der Nothwendigkeit wie eine Stimme ber 
Billlür zu hören. 

Schon das Phänomen der Projektion felbft — daß Einer, ber fein Ich 
erlebt hat, ſich und Anderen verklindet, er habe Gott erlebt — muß Manchem als 
Willkür erſcheinen: dem Gottloſen als die Willkür eines überflüfſigen Theismus 
(oder unreinen Pantheismus), dem Frommen als die Willfüir der Ueberhebung 
und Blasphemie. „Und wenn fie”, ſagt Jeremy Taylor, der ein viel zu feiner 
Geift war, um fich zu empören, ftatt zu verftehen, „Entzüdungen leiden fiber die 
Laſten und bie Stüge der Vernunft Hinaus, leiden fie, fie wiffen nicht waß, und 
nennen es, wie e8 ihnen beliebt (they suffer they know not what, and call it 
what they please).“ Und doch ift ba in Wahrheit keine Willkür, ſondern Roth 
und Nothmwendigfeit. 

Willkürlicher noh muß der Inhalt der stonfelfion des Ekſtatikers erſcheinen, 
vor Allen Dem, ber nicht an ber eigenen Seele die Tragoedie erfahren hat, Die 
aus dem Zufammentreffen bes Triebes nach Veräußerung des Innerlichfien und 
Perſönlichſten mit ber gegebenen Menſchenſprache entfteht: den Kampf des Irra⸗ 
tionalen mit bem Nationalen, ber ohne Sieg und Nieberlage endet, in einem 
befchriebenen Blatt Papier, das dem jehenden Auge das Siegel eines großen 
Leidens zeigt. | 

Boffuet, ein Geijt weit geringerer Ordnung ald Taylor und ein Liebhaber 





Ekſtaſe und Belenntniß. . 387 


der Logik (fo lange das Dogma durch fie nicht gefränft wird), will die Ekſtatiker 
mit dem Wig der Aufdedung eines Widerfpruches vernichten. Sie jagen, fo ruft 
er aus, bie Betrachtung jchließe nicht allein alle Bilder im Gedächtniß und alle 
Spuren im Gehirn aus, fondern auch jede Idee und jede geifitge Erſcheinung; 
und während fie Das jagen, find fie gezivungen, es niederzureißen, nicht allein 
in Hinficht auf die geiftigen Erſcheinungen und Ideen, fondern auch in Hinficht 
auf bie lörperhaften Bilder felbft, da ja bie Bücher, in denen fie fie ausſchließen, 
davon erfüllt find. 

Su der That: ein Widerſpruch in aufgedeckt. Aber was kann er für die 
Beurtbeilung von Menſchen bedeuten, bie ihr Leben in ber Bein eines ungeheuren 
Wideripruches verbringen: des Widerjpruches zwifchen dem Exlebniß und dem 
Getriebe, aus dem fie emporfliegen und in das fie wieder Hinabftürzen Mal für 
Mat? Das ift der Widerſpuch zwifchen der Ekſtaſe, die nicht in das Gedächtniß 
eingeht, und bem Verlangen, fie für das Gedächtniß zu reiten, im Bild, in ber 
Jede, in der Konfeifton. 

Sa, es ift wahr: der Efftatiler kann das Unſagbare nicht fagen. Er jagt 
das Andere, Bilder, Träume, Geſichte; die Einheit nicht. Er redet, er muß reden, 
weil das Wort in ihm brennt. Der nicht zu ben Menichen redete, hat zu jich 
geredet; er war heiligex, weil er nach außen einfam blieb; aber vielleicht blieb er 
einfam, weil e8 ihn nicht fo fchlug und fließ, Botichaft zu den Anderen zu tragen; 
die unmögliche Botidhaft? 

Er lügt nicht, ber in Bildern, Träumen, Gefichten von der Einheit rebet, 
von der Einheit ftammelt. @eitalten und Klänge, bie, aus feinem Sottgefühl ge» 
boren, um daß Urerlebniß Freiften, find in feinem Gedächtniß geblieben: rings um 
den treibenden Brand, ber allein als Spur bes Erlebniſſes felbft in ihm lebt; 
vielleicht mifchen fich, aus dunklen Sphären feiner Seele tauchend, andere @eftalten 
und Klänge darein, von benen ex nicht weiß, woher fie kommen, und nad denen 
er greift, um ſich felbft zu verftehen. Denn er verfteht ſich vicht; und doch ift in 
ihm das Verlangen erwacht, das in der Efftafe erlofchen war: fich zu veriteben. 
Er fagt die Geftalten und Klänge, und merkt, daß er nicht das Erlebniß fagt, 
nicht den Grund, nicht die Einheit, und möchte innehalten und kann nicht und 
fühlt die Unfagbarkeit wie ein Thor mit fieben Schlöffern, an dem er rüttelt, und 
weiß, daß es nie aufgehen wird, und darf nicht ablafien. Denn das Wort brennt 
in ihm. Die Efitafe ift geftorben, hinterrüds ermordet von ber Zeit, die nicht 
will, baß man ihrer fpotte; aber fterbend bat fie das Wort in ihn geworfen: und 
das Wort brennt in ihm. Und ex xedet, rebet, er kann nicht fchweigen, es treibt 
ihn die Flamme im Wort, er weiß, daß er es nicht fagen Tann, und verſucht es 
doch immer und immer, bis feine Ceele erſchöpft ift zum Tode und das Wort 
ihn verläßt. Dies ift die exaltatio Deſſen, ber in das Getriebe zurüdgelehrt ift 
und fi mit ihm nicht abfinden kann; Dies ift feine Erhebung, die Erhebung eines 
Redenden: der Erhebung des Dichter verwandt, geringer als fie im Belig, ge- 
waltigex im Dafein. Dies ift die Spannung zum Sagen des Unjagbaren, eine 
Arbeit am Unmöglichen, eine Schöpfung im Dunkel. Ihr Werk, die Konfeffion, 
trägt ihr Zeichen. 

Und doch ift das Sagenwollen bes Efjtatifers nicht blos Ohnmacht und 
Stammeln: auch Macht und Melodie. Er will der ſpurloſen Efftafe ein Gedächtniß 
ſchaffen, das Beitlofe in die Zeit hinüberretten; er will die Einheit ohne Vielheit 


388 Die Zulunft. 


zur Einheit aller. Vielheit machen, Der Gedanke an ben. großen Mythos erwacht. 
ber. durch die Beiten ber Menfchheit geht: von der Einheit, bie zur Vielheit wirb, 
weil fie ſchauen und gefchaut werden, erfennen und erkanni werben, lieben und 
geliebt werden will und, felbft Einheit bleibend, fich als Bielheit umfaßt; von dem 
Ich, das ein Du zeugt; von dem Urjelbft, das fidh zur Welt, von der Gottheit, 
die fi zum Gotte wanbelt. Iſt ber Mythos, den Beben und Upanifchaden, Midraſch 
und Kabbala, Platon und Jeſus kündeten, nit das Einnbild” Defien, was ber 
Ekſtatiker erlebt? Haben bie Meifter aller Zeiten, die ihn ſchufen und immer wieber 
neu fchufen, nicht aus ihrem Erlebniß geihöpft? Denn auch fie haben die Einheit 
erfahren; und auch fie find aus der Einheit in bie Vielheit gegangen. Aber wie 
ihre Ekſtaſe nicht das Hereinbrechen eines Unerhörten war, das die Eeele über- 
wältigt, ſondern Einfammlung und tieffte® Quellen und eine Bertrautheit mit benz 
Grunde, fo lag auf ihnen das Wort nicht wie ein treibender Brand: es lag auf 
ihnen wie die Hand eines Vaters. Und fo lenkte es fie, das Erlebniß einzuthun, 
— nicht als Ereigniß in das Wetriebe, nicht ald Bericht in bie Runde der Zeit, 
fondern es einzuthun in bie That ihres Lebens, es einzumwirken in ihr Werl, daraus 
neu zu dichten ben uralten Mythos und es fo Hinzufegen nicht als Ding zu den 
Dingen ber Erde, fondern als einen Stern zu den Sternen des Himmels. 

Aber if ber Mythos ein Phantasma? Iſt er nicht eine Offenbarung der 
letzten Wirklichkeit des Seins? Iſt nicht das Erlebniß des Ekſtatikers ein Sinn⸗ 
bild des Urerlebniſſes des Weltgeiſtes? Iſt nicht Beides ein Erlebniß? 

Wir horchen in uns hinein: und wiſſen nicht, welches Meeres Rauſchen 


wir hören. . 
— 


Borwort. 

Die hier gefammelten Mittheilungen von Menfchen über ein Erlebniß, das 
fie als ein tibermenfchliches empfanden, find weder um einer Definition no ums 
einer Werthung willen zufammengeftellt worden, fondern deshalb, weil in ihnen 
die Gewalt des Erlebniffes, da8 Sagenwollen des Unfagbaren und die vox hu- 
mana eine dentwürdige Einheit gejchaffen haben. Was von biejen Elementen 
deugte, mad das Zeichen bes Wortes trug, ift mir der Aufnahme werth erſchienen. 

Es ift mir nit darum zu thun, die Efftafe „einzureihen“. Was mich an» 
gebt, ift Tas an ihr, was nicht eingereiht werden kann. Gewiß Bat auch fie eine 
Geite, durch bie fie in den kauſalen Zuſammenhang ber Vorgänge eingeftellt wer. 
ben Tann; aber die ift nicht der Gegenftand dieſes Buches. Der Efftatifer mag 
pſychologiſch, phyſiologiſch, pathologiich erklärt werben; uns ift Das wejentlich, was 
jenfeit3 der Erklärung bleibt: fein Erlebniß. Hier hören wir nicht ben Begriffen 
zu, die Ordnung fchaffen wollen auc noch in ben dunlelften Verfteden; wir lauſchen 
dem Sprechen eines Menjchen von feiner Seele und von feiner Seele unausſprech⸗ 
lichſtem Geheimniß. 

Es iſt wie mit der Freiheit des Willens. Gewiß: die große Weltorientirung 
darf feine Lucke haben. Gewiß: Alles iſt determinirt. Aber dieſer Menſch bat ſich 
frei gefühlt. Widerlegt fein Gefühl mit Euren Begriffen! Beweiſt, daß ſein Ge» 
fühl eine Täufchung ift: wie ber Theologe beweift, daß Gott if, weil Alles eine 
Urſache Hat und alfo auch bie Welt eine Urfache haben muß. Ihr lacht ben Theo⸗ 
logen aus: die Kauſalität gelte nur innerhalb dev Erfahrung; aber vielleicht ifk 








Ekſtaſe und Bekenntniß. | 3% 


das Erlebniß eben Tas, was jenfeild der Erfahrung fteht: weil es vor ber Era 
fahrung fteht. Ich bin die bunfle Seite des Mondes; Ihr wiffet um mein Dajein,. 
aber was Ihr für die helle feftfeget, gilt für mich nicht. Ich bin der Heft der‘ 
Gleichung, ber nicht aufgeht; Ihr mögt mich mit einem Beichen belegen, aber auf» 
löfen könnt Ihr mich nidht. You would pluck aut the heart of my mystery ?” 
Diefer Menjch hat. fi frei gefühlt; hat Freiheit, Gottesfreiheit über feinem Han- 
ten gefühlt. Eine Täufchung? Gut benn, fo ift bie Täufchung Das, was ung an 
ihm wefentlich ift. 

So ift es mit der Elftafe: das Wort gebt uns an, das Wort bes Ich. 

SH bringe in diefem Buch auch Aeußerungen "einiger Menfchen, bie zu 
Denen gehören, welche man krankhaft nennt. Wie die Täufchung an ber „Wahrheit“, 
io wird bie Krankheit an ber „Geſundheit“ gemefien. Aber mich intereſſirt nicht, ob 
ein Arzt, der die Unna Betterin unterſuchen würbe, fie al3 bufterifch befände; mich ˖ 
intereffirt, wie diefes Frauenzimmer aus der Noth jeiner Seligkeit rebet. Ich weiß 
nicht, was ber Wahnſinn ift; aber ich weiß, bat ich da bin, die Stimme des 
Menſchen zu hören. 

Alſo Aftheliich? Nein, auch nicht äfthetifch. Ich meine nicht Die Worte, nicht, 
ob fie ihn gejagt find, ich meine das Wort. Dies ift eine andere Schönheit als 
bie bes-Hefthetifchen: die Stimme des Menjchen, die tn meinen Ohren fchallt. 

Des Menſchen; unb ich weiß nichts mehr von Graden, von dev Rangord⸗ 
nung ber Geifter. Da ſind Plotin, ber Hohe, und Uttär, ber kühnſte ber Dichter, 
da {ft Balentinos, der heimliche Dämon einer Zeitenwende, und dba Ramakriſhna, 
durch den fi) das ganze Inderthum in unferen Tagen noch einmal offenbaxt hat, 
da iſt Symeon, der byzantinifche Freund’ und Sänger Gottes, und da Gerlach 
Peters, fein niederländifcher Bruder, jung und flerbensfrob und meinem Herzen 
viel näher als der Abmirabilis; und da, neben ihnen, ift dieſe Hirtin, Alpais (die: 
mir faft ſchon zu Flug rebet), da ift diefe wilde Bauernmagd, Armelle, da find bie 
Camifarden, die mir richtig beichten, von Sünde und Erlöfung, da find dieſe ein⸗ 
fältigen vertiebten Nonnen, da find diefe ungelenken Bürgersleute, bie ihre Wunder⸗ 
mär berftammeln, Hans Engelbredht und Hemme Hayen. Da find fie bei einander, 
mit einander, in ber Gemeinjchaft Derer, die von jenem Abgrund zu erzählen 
wagten; ich lebe mit ihnen, ich höre ihre Stimmen, ihre Stimme: die Stimme des 
Menfchen. 

Man wird verftehen, warum ich, nur das Eine ſuchend, von bem Vielen, [ehr 
Bielen, das ich in.den Jahren bes Suchens zuſammenbrachte, nur biefes Wenige hier 
aufgenommen babe. Warum ich nicht aufgenommen Habe: alle nichtſubjektiv gehal- 
tene Rede über bie Efftaje (ih Habe aber aus einzelnem fcheinbar Unperfönlichen. 
das Berfönlichfte herauszufdfen verſucht und überdies in einem Anhang einige be« 
deutende Dofumente nichtfubjeftivex Neußerung aus Völkern und reifen, die im. 
Haupttheife nicht berüdfichtigt werben Tonnten, zuſammen mit einem Stüd aus bem. 
„Zraftat von Schweiter Katrei”, ben ich in diefem Buch nicht miffen wollte, bei» 
gefügt); jo fehlen Hier Philon und Proflos, Kabaſilas und die Biktoriner, Ruys⸗ 
broet und Johannes vom Kreuze; alle Beichreibungen von Bifionen nichtfubjel- 
tiven Charaliers; Das ift: in denen nicht ein wefenhaftes Wirken oder leiden bes 
Schauenden ſelber fich darftellt (mit Ausnahme einer Viſion der Birgitta, bie ganz. 
jubjektiv exfcheint, obwohl fie felbft faft unbetheiligt ift); darum find auch fo merk⸗ 





390 Die Zuluuſt. 


mwürdige Menfchen wie Joahim von Floris, Marguerite d'Oyngt, Zuſter Hadewyd 
unberüdfichtigt geblieben, insbefonbere auch jene Topographen ber Vifion von Swe⸗ 
denborgs Axt, deffen ungeheure fpirituale Diarien mir nur eine ungeheure Ber- 
wunderung geſchenkt baden; Alles in ſcholaftiſcher oder rhetoriſcher, aljo in mittel- 
barer Weiſe Gefagte; alle autobiographiſchen Wittheilungen über Efftafen als Ge 
genftand ber Kuriofität und ber Analyfe (Cardano fcheint mir hier der Eigenthüm- 
tichfte zu fein); alles Dichterifche, das fich als eine Rhythmiſirung des Erlebniſſes 
erweiſt (au Jacopone, mir Einer ber Liebften, muß ich Hierher zählen, wogegen 
id) Altar, Rumi, Symeon, Mechthild von Magdeburg, Seufe glaubte aufnehmen 
zu bürfen; eine Scheidung, die ich nicht durch die Formulirung eines Kriteriums, 
jondern nur durch die Aufforderung zur Prüfung vertreten kann und Die mir für 
Jacopone nicht leicht geworden ift); alle Piychologifirung des Erlebniffes, Tas iſt 
‚jene Art bes Berichtes, die das Erlebniß wie einen Borgang bes Kaufalzufammen- 
hanges beichreibt, es objektivirt, nicht aus feiner fortwirfenden Gewalt, ſondern 
aus einem Melapituliren, einem Darüberbenten rebet, gleichſam nicht das Nach⸗ 
bild, fondern das Erinnerungbild betrachtet; verwandt damit ift die Haffifizirende 
"Darftellung ber berühmten Therefa, von der ich nur das Subjeftibfte und auch das 
nit ohne Widerftreben aufgenonmen Habe. 

Weggeblieben ift auch alles Fragmentariſche, das nicht zur Geſtalt der Aus⸗ 
ſprache einer Perfönlichteit gediehen ift; hiervon babe ich namentlich bie indijchen 
und gnoſtiſchen Stüde und ein reiches Material aus ſlaviſchen Selten nur ungern 
unberüdfichtigt gelaffen (wie ich überhaupt von dem Vielen, das ich aus neueren 
Selten gefammelt habe, nur bie eine Samifarben-Ronfelfion als vepräjentatin ge 
bracht babe; aus ben älteren fchten mir nur Einiges aus dem urchriftlichen Ketzer⸗ 
thum zu weſenhaſt, um fehlen zu dürfen). 

Wenn ich nber Überall das Unmittelbare fudhte, jo babe ich doch die In: 
miftelbarkeit der Ueberlieferung nicht zum Grundſatz für die Aufnahme gemadit. 
Ich habe Konfeffionen einbezogen, die nicht von dem Mittheilenden jelbft, fondern 
don Menfchen feiner Umgebung niedergeichrieben worben find (die Worte Rama 
kriſhnas und Anberer, insbefondere viele Dokumente ber Klofterefftafe find von 
diefer Art), zuweilen von ſolchen, die irgendwie an feinem Erlebniffe theilnahmen, 
jo jenes ſeltſame Zeugniß einer Efftafe zu Zweien, das von dem Beichtvater der 
Katharina von Siena herrührt; einzelnes Anonyme, das der Unterfuchung wider 
ftand (der Sarg von Bloßheit und eine Viſion des unbelannten „Ebdeltnaben‘); 
ja, auch manches offenbar Legendäre, in dem Worte des Efftatifers weiterlebten, 
durch die Treue, die Generationen von Gläubigen bem Worte Halten, unverkennbar 
bewahrt (fo die erſten Sufis, Aegidius von Aſſiſi). _ 

Vollftändigleit irgendeiner Art babe ich nicht angeftrebt. Jeder Grund 
typus ſchien mir durch wenige bedeutende Stüde hinreichend verireten. Nur ein 
Gebiet habe ich mehr berüdfichtigt, ald e8 das Gleichmaß bed Buches verlangie: 
die Flofterefftafe. Das habe ich gethan, weil mir hier in der Äußeren Gleichjörmig. 
-feit einer Snftitution, ja, in der einer Regel ein wunderbar mannichfaches Leben 
entgegentrat, weil es ſich mir hier am Klarſten zeigte, wie das innerlichſte Et⸗ 
lebniß des Menſchen zugleich daS allgemeinfte und das perjönlicäfte ift, das, an 
dem er fich zugleich ganz als die Kreatur und ganz als ein unwieberholbar Ein⸗ 
ziges befundet. Wie etwa in vier Jahrhunderten vier italienifche Frauen einandtt 








Ekſtaſe und Belenntniß. 39} 


folgen: in ber Zeit Duccios und der legten Byzantiner die Iontemplative, geftalte 
fremde Angela, in ber Beit Giottos die mit ihrem ganzen Körper inbränftige 
Sienefin, in der Beit ber Hocrenaiffance bie ruhevolle, klare, ſelbſtgewiſſe Caterina: 
Fiesca von Genua, in Der Beit bes Barocks die alle Schranken überfiärmende 
Madbdalena. Oder im ganz engen Raum und in einer kurzen Beitfpanne: wie in: 
bem Klofter Töß bei Winterthur, wahrfcheinlich neben einander, Zwei find, die Sofia. 
von Klingnau, die nur fi, und die Jübi Schultheiß, die nur die Welt erleben 
fann, aber die Erſte nicht etwa Einzelnes von fich, fondern in Allem ihr ganzes 
Ich, und die Zweite nicht etwa irgendwelche Dinge, fondern in allen bie ganze 
Welt: wie Beide eigentlich das Gelbe erleben und wie verjchieden. Noch Manches 
diefex Art wirb man in den Dokumenten der Kiofterefftafe Anden Zönnen. - 

Schlimmer erfcheint mir eine andere Ungleichmäßigkeit: daß tch aus dem 
Drient viel weniger bringe ald aus dem abındländiichen Chriſtenthum. Das liegt 
ja zunädhft daran, baß mir die meiften orientalifhen Sprachen unzugänglich und 
baß, zum Beilpiel, von den perſiſchen Texten nur fehr wenige in eine europäifche 
Sprache übertragen find. Aber da ift noch etwas Anderes: mir fcheint, daß das 
afiatiſche Schriftthum verhältnigmäßig wenige eigentliche Konfeſſionen enthält. Die 
Eiftafe if im Orient eine viel häufigere, gewühnlichere, fo zu jagen normalere 
Erſcheinung als in Europa; ihre Aeußerung gebt daher, ſtatt in ein befonderes 
Bekenniniß, irgendwie in bie Werte des Tages ein, in einen Vers ober in ein 
Thongefäß; man fann fie von perliichen Zweizeilern, von Kinefifchen Bafen ableſen. 
Kur jelten ſchafft fi das Erlebniß eine eigene Straße. Dazu kommt, daß der 
Drientale nicht, wie dex Europäer, das Erlebniß als bag feine in emporgehobenen 
Händen vor feinen Blick bält; er ſuhlt: Tiefes wird erlebt. 

Dies mag zur Erflärung Deffen, was in diefem Buch ftebt, und Deſſen, 
was darin fehlt, genügen. Ich muß noch Einiges über die Art bemerken, wie ich 
die Texte behandelt habe. Daß ich Auszüge bringen, unmwefentliche' Stellen weg⸗ 
laſſen mußte (ſie find ftetS durch Punkte bezeichnet), ift in ber Intention bes Buches 
begründet. Die lyriſchen Stüde Habe ich in Proja Übertragen, da nur in ihr jene 
Art von Treue, Die ich brauchte, möglich war. Borbandene deutfche Hebertragungen 
babe ich nur in zwei Fällen benugt, wo id) mir das Original nit verichaifen 
fonnte, in einem, wo ich einen perfiihen Text in Teiner anderen Uebertragung vor⸗ 
fand, und in einen, wo für einen indifchen Tert eine Haffiiche beutfche Uebertragung 
(die Paul Deuffens) vorlag. Die Ausgaben und Uebertragungen, die ich benupt 
babe, jind am Schluß genannt. 

Biographien der Menſchen, von denen die Konfellionen ftanımen, habe ich 
nicht beigefügt. Ihre Lebensumftände haben mit Dem, was hier von ihnen ge- 
geben wird, nicht$ zu thun. Nur Zeit und Sphäre babe ich angegeben, um bie 
Einftellung der oft wenig befannten Berfonen in ben Weg ber Menichheit zu er» 
leichtern. Wo Weiteres immerhin erwünicht fein Tönnte, wird man einen Inappen 
Siteraturhinweis in den bibliographiichen Notizen finden, fo weit er nicht ſchon 
durch die Nennung von Ausgaben oder Uebertragungen, die auch Nachricht über 
bie Lebensumflände bringen, hinreichend gegeben war. 


Beblendorf. Dr. Martin Buber. 


2% 


392 Die Zukunft. 


Bankenſchickſal. 


3: ben Schichten bed Kapitalgebirges ift e8 dadurch zu Berichiebungen gelomizer, 
daß bie Oberſchicht mit ihrem Schwergewidht Die untere auf die Seite ge 
‚drängt bat. Unter bem Großkapital lagert in dünnen Streifen ber nicht Fonzentrirte 
Kapitalbefig. Der weicht dem Drud der Laſt oder vereint ſich im Lauf der Zeit 
mit der Oberſchicht. Wenn eine Provinzbank in Exiſtenzbedrängniß geräth, beſchäftigt 
man ſich zunächft mit der „Moral von der Geſchichte“. „Wer iſt ſchuld daran?“ 
wird gefragt; nit: „Was ift ſchuld?“ Einer, dem das Feld verhagelt ift, dentt 
natürlich zuerft an feinen Schaden. Das ift menſchlich. Und erflärt Die Bedeutung, 
die der Unterfuchung der Negreßmöglichleiten beigelegt wird. Die Verwaltung muß 
fir den Schaden auffommen, ben fie aus eigenem Verſchulden Aftionären und Gläu⸗ 
bigern zugefügt bat; und das Emiflionhaus wird in Anſpruch genommen, wenn 
es wifjentlih werihlofe Papiere auf den Markt brachte. Dann regnet es Grob⸗ 
beiten. Die befam ber Schaaffhaufeniche Bankverein von ben in ihren heiligfteu 
‚Sejühlen gekräntten Aktionären der Solinger Bank zu hören. Schaaffhaufen hat 
auch allzu viele Reinfälle; und höchſtens einen Glücksfall: daß nad) der Solinger 
Bank die Bonner Bank für Handel und Gewerbe kam. Dazwiichen Die Sache der 
mainzer Firma Gebrlider Oppenheim und danach die Inſolvenz des Hildesheimer 
Banlhauſes J. F. Hngemann. AU diefe Kataftrophen im Verlauf weniger Wochen. 
Hier muß man doch wohl fragen: „Was ift ſchuld?“ In Solingen, Mainz und 
Bonn Mangel an Borficht bei der Gewährung von Kredit. Solingen und Bo 

zeigen ſogar Spuren von Leichifinn. Die Grenze zwiichen Unvorſichtigkeit und Hybris 
iſt beim Kreditgeſchäft ſchwer zu ziehen. Jeder Exzeß iſt zu tadeln; aber es kommt 
auch auf die Motive an. Wer auf üppigen Fluren wandelt, braucht ſich nicht nah 
jedem Halm zu bilden; vom Stoppelfelb aber ntmmt man gern Alles auf, was noch 
Frucht trägt. Den Banken und Banliers dıiaußen wird das Geſchäft nicht leicht 
gemacht. Die feifte berliner Spinne hat Stadt und Land in ihr Net gezogen. 
Ueberall giebt Filialen und Drpofitenfaffen; und bie Bankenconcerns faugen alles 
Erreichbare an Geld und Chancen auf. Wie fol da ber’ Bankier oder die kleire 
Aktienbank das im Betrieb arbeitende Kapital anjtändig verzinfen? Noch Eins kommt 
Hinzu. Gin pjychologifches Moment. Das nit zu erfchätiernde Bertrauen des 
Tleinen Sparers und Gewerbeireibenden in die bodenfländigen Bankfirmen. Tas 
Heimatbhgefühl wird auf Alles libertragen, was von der Heimath umiaßt wird. Tie 
Filiale der Großbank wird erſt aufgefucht, wenn das Lolalinftitut verfazt hat. Und 
die Stunde folder Enttäufhungen brauft nicht wie ein Sturmwind durchs ganze 
Land, der überall die Blüthen des Vertrauens knickt, ſondern die Kränkung bleibt, 
mit al ihren materiellen Nadjıheilen, in den Grenzen des Heimathbezirkes Ost 
Baben etwa die Bankinjolvenzen in Marienburg, Sligingen, Bamberg die Leute ir 
Solingen und Bonn gewarnt? Nein. Die Piyche der vom Unglüd nicht Betroffenen 
bleibt unberührt. Die Spargelder wandern in bie staffen der Lokalbanken und Bantiers: 
und fo lange es bei guten Dividenden und hohen Zinfen bleibt, wird jeder Verſuch. 
Mißtrauen zu fäen, zornig zurückgewieſen. Nirgends fühlt man ſich bıffer berathen 
als vor den Schaltern der heimathlichen Bank oder im Gefchäftdraum bes Bantıer:. 
Das Perjonal der Großbanken trägt noch immer zu ſehr das Bewußtſein der Un— 
fehlbarkeit zur Schau, Hier und da aud eine gute Bortion Beamtendünkels. B:i 


Bankenſchichſal. 393 


der Bonner Bank bat bie katholiſche Kirche eine Rolle geſpielt. Der Klerus bat in 
Finanzgefdäften keine glüdiide Hand. Merfvürbig. Der Peterspfennig ift nach 
verunglüdten Spekulationen oft ſchon in die profane Welt zurfdgewandert,; und 
die Depofitengelder der von Eugen Bontoug einft in Paris gegrünbelen Union 
Generale Rammten zum großen Theil aus den Tafchen frommer Katholifen. Ter 
Zuſammenbruch diefer Schwindelbank entriß bem Vermögen ber „Toten Hand” viele 
Hundert Millionen. Pie Bonner Bank war eine katholiſche Bank. Die Müniter- 
Tirche in Bonn hatte große Summen’in das Inſtitut gefedt. Das katholiſche Kranfen« 
Haus, Bereine und andere klerikale Anftalten find Gläubiger ber zufammengebrochenen 
Bank. Tazu die vielen Heinen Handwerker und Gewerbetreibenden: treue Centrums⸗ 
wähler, denen die zarten Beziehungen zwifchen Beichtftubl, Kanzel und Depofiten« 
taffe beinahe zu der feit der Kindheit umfaßten Religion zu gehören fchienen. 
Die Bonner Bank für Handel unb Gewerbe Hat mit 7%, Millionen Mark 
fremder Gelder gearbeitet (nach ber Bilanz vom Dezember 1907), denen 4 Millionen 
Aktienkapital und Meferven gegenüberfianden, während bie greifbaren Mittel die 
ganz unzureichende Summe von 1,66 Millionen ausmachten. Diefe Faktoren ftanden- 
aljo in einem argen Mißverhältniß zu einander. Trotzdem gab die Bank einzelnen 
Firmen fehr reichlichen Kredit. Eine gobesberger Baufirma fehuldet 3 Millionen; 
dem Gerolfieiner Schloßbrunnen wurde beinahe 1 Million Freditirt. Solche Kredit» 
bewilligungen geben weit fiber .bie Grenze hinaus, bie der Bank durch ihr eigenes 
Kapital gezogen war. Und ber Ausgleich jollte burch forcirten Betrieb des Depo⸗ 
fitengefchäfts beiwirlt werden. Das Riſiko muß dem Kapital angemeflen fein; es 
zädt fih immer, wenn gegen biefes wichtige Prinzip gefündigt wird. Uber man 
Hat gut reden, wenn das Waffer verfchüttet if. Die Bonner Bank gab ſiets an⸗ 
ftändige Dividenden; 9 bi8 12 Prozent. Dadurch verbreiterte fie ihr Anjeben. Und 
dann beitand fie feit 1875. Ein Menfchenalter gilt allein jchon als gute Bürgſchaft. 
Wie ward denn in Leipzig? Wer die Leipziger Bank angetaftet hätte, wäre für 
kaum noch zurechnungfähig gehalten worden. In Bonn wars ähnlich. Niemand 
lieg fich folches Ende träumen. Aufſichtrath und Vorſtand erklärten, die Liquidas 
tion der Bank ſolle vorgefchlagen werben, weil „die flüffigen Mittel der Geſellſchaft 
feitgelegt” ſeien. Das waren fie Ende Dezember 1907 aud Icon; und man hätte 
mit den Verſuchen, das auf den Sand gerathene Schiff wieder flott zu maden, 
nicht ein ganzes Jahr warten jollen. Ein paar Großbanken (Schaaffhaufenfcher 
Bankoerein, Rheinifch- Weftfäliiche Disfontogejellfchaft, Bergiſch⸗ Märkifche Want, 
Barnıer Bankverein) wollten fich bes bonner Inſtitutes annehmen. L’union fait 1a 
force: die Großen ſtilrzen fic nicht mehr einzeln auf die Beute und fuchen ein- 
ander die Knochen fixeitig zu machen (memento Kreuznach), fondern fie arbeiten 
in holder Eintradt. Ganz wie die Großmächte auf dem Ballan. Das lernt ſich 
mit der Seit. Aber aus ber Hilfsaltion ift nichts geworden. Der Aufſichtraih 
ber Bonner -Banf weigerte fi, die Garantie für den dritten Theil der Depofiten- 
‚gelder zu übernehmen. Damit ift nicht gejagt, daß die kierikalen Kunden der ın- 
folventen Bank nicht doch ihr Lager künftig bei den Kezern aufichlagen. Aktie: 
tapital und Reſerven find bei der bonner Snfolvenz wohl verloren; insgeſammt 
mehr als 4 Millionen. Ein anfländiges Sümmchen. Der Grundftüdmarkt hut 
unter dem Unglüd der Bonner Bank mitzuleiden. Am Rhein wachien nicht nur 
Reben, fonbern auch Terrainſpekulanten. Köln hat von allen deutichen Stäbten 





394 Die Zutanft. 


wohl zuerft die Werthzuwachsſteuer eingeführt. Und in Bonn if im dem lebten 
Sahren viel gebaut worden. Die Bonner Bank Hat Bauunternehmern: Kredit ge⸗ 
währt, ohne genügende Sicherheiten zu befommen. Als das Baugefchäft fodie, 
wars. um die Bonität der im Baugefchäft ftedenben Außenſtände geichehen. 

Im größten Unglüd giebts oft aber verfühnende Momente. Bei der Bonner 
Bank hat ein Yuftizrath für den Humor gejorgt. In der Vorverſammlung der be- 
troffenen Altionäre und Glaubiger brachte er fein „unerfchütterliche8 Bertrauen“ in bie 
Bonner Bank zum Ausdrud. Er rieth denn Gläubigern, ben Muth nicht zu verlieren; 
denn ex fei fejt überzeugt, daß nicht nur die Einlagen gerettet, ſondern auch an ben. 
Altien keine Spargrofchen verloren werden würden. Als beweisfräftiges Beilpiel 
für die Nichtigleit feiner Auffafjung führte der gläubige Juriſt die „große Banf von 
England“ .an, die fi „vor einigen Jahren in genau der felben ſchwierigen Lage 
befunden babe wie heute die Bonner Bank“. Das ift fein Witz: fo ſprach ein afa- 
bemifch gebildeter, reifer Dann zu einer großen Verſammlung; und fein Wiberfpruc 
kam aus der treuen Heerde. Die Bank von England, das erfte Finanzinſtitut der Welt, 
der Mittelpunft des internationalen @eldverfehrs, mit der Bonner Bank verglichen! 
Was fein Beritand der Berftändigen fieht, Das über in Einfalt... Mag ben Bonnern 
der fromme Sinn erhalten bleiben: Befleres können die Banken fich kaum wünſchen. 

Mit Bonn trauert die Bifhofsftabt Hildesheim um verlorenes Geld. Die 
Banlfirma 3 %. Hagemann mußte ihye Zahlungen einftellen. Der Berluft wird 
auf 1 bis 2 Millionen Marl gejchägt; und man nimmt an, daß bie Eläubiger 
nicht mehr als 20 Prozent herausbelommen werben. Die Firma hatte fich in allerlei 
Gründungen (Kali, Thon, Ziegel) ftarf engagiert und den reis ihrer fpelulativen 
Unternehmungen weiter gezogen, als ihre Kräfte geftatteten. Die Betbeiligung 
einiger angefehenen SInftitute (Berliner Handelsgeſellſchaft, Hildesheimer Bant, 
Hannoverſche Bobentrebitanftalt) an einzelnen Transaktionen Hagemann beweijen, 
baf man der Firma Bertrauen fchenkte. Und gerabe folches Vertrauen bewirkt oft, 
dat Privatbantiers ihre Leiftungfähigteit überfchägen und ein an fich folides Ge⸗ 
ſchäft durch „großzügige* Unternehmungen ruiniren. Aber man fol, wie id) ſchon 
fagte, ſolche Exeigniffe nicht mit Moralinfäure behandeln. ! Den Heinen Banken und 
Bankiers in der Provinz bringt das „Iegitime“ Bankgeſchäft eben nur nod ſo 
fpärliche Früchte, daß fie mal riskiren müflen, einen großen Wurf zu thun. Verfehlt 
diefer Wurf fein Ziel, fo muß ins Gras gebiffen fein; denn „mit bes Geſchides 
Mächten ift kein ewiger Bund zu flechten.“ Wers freilich fo gut hat, wie ber Ge⸗ 
heime Kommerzienrath Leopold Koppel, in Firma Koppel & Eo., Der barf ſich 
auf die Feftigkeit des Bundes mit dem Schidjal verlaffen. Welche unerſchoͤpfliche 
Duelle neuer und lohnender Ideen ift, zum Beiſpiel, die Deutliche Gasglühlicht⸗ 
geiellichaft! Was ift da nicht allein an den Emiffionen ber legten zwei Jahre ver⸗ 
dient worden! Der Gefammtinugen aus Provifionen und Kursgewimuen ift für die 
Beit von 1905 bis Ende 1907 mit 2 Millionen Mark nicht zu hoch veranfclagt. 
Und dieſer ftattliche Ertrag ift zum größten Theil der Bankfirma Koppel & Er. 
zugefallen. Das Feſthalten an ber Auergefellichaft hat fich gelohnt. Die hat jeht 
eine Dividende von 35 Prozent (13 mehr als im vorigen Jahr) verheißen. Das 
gab beinahe eine Senfation. Zumal im Hinblid auf die neue preußiſche Gefellichait- 
fteuer und die im Reich geplante Gasfteuer wirkte bie Erhöhung der Dividende 
wie eine ftolze Herausforderung. Doch kam nod Etwas nad. Die Sasglählict- 





Barröre. ' 396 


geiellichaft ift wieder einmal in Gelbnöthen. &ie braucht im Banzen 6,60 Mil- 
Iionen, von denen, für Dringendfte, zunächſt 2 Millionen eingegablt werben follen. 
Die verfügbaren Fonds betragen, nach einer Aufftellung im jüngft veröffentlichten 
Geihäftäbericht ber Geſellſchaft, 2,30 Millionen. Fir die Sewinnvertheilung aber 
jind 2,70 Millionen erforderlich; die Dividende kann aljo exft aus dem Ertrag ber 
neuen Altienemiffion gezahlt werben. Das wirb mit Tühler Offenheit zugegeben; 
in dem „Sinanzplan“, ber im Rechenſchaftbericht veröffentlicht wirb, heißt es, daß 
eine Million Mark „zur Vorbereitung für die zur Divibendenzahlung im neuen Jahr 
tontrahizte Bankichuld“ gebraucht wird. Unter foldden Umständen erfcheint die Er⸗ 
böhung ber Dividende doch mangelhaft motivixt; aber was kümmern einen fmarten 
Banker die Motive, wenn ſichs darım Handelt, neue Aktien auf den Markt zu 
bringen? In unferem Fall ift eine befonders feine Aufmachung geplant. Die fünf« 
progentigen BorzugSaltien, bie ausgegeben werben, follen fir das erſte Jahr eine 
Cyiravergütung von 60 Marl pro Aktie erhalten. Das beißt: auf bie Aktie von 
1000 Mark werden 60 Mark zurüdgezahlt, fo daß ber Kaufpreis eigentlich mır 
940 Mark beträgt. Da das Handelsgeſetzbuch die Ausgabe von Aktien unter Bari 
verbietet, Hilft man fig mit ber Sratififation. Run kommt ed barauf an, wie bie 
Bulaffungftelle über dieſes neufte Reklamemittel denkt. Für das Emiſſionhaus ift 
die Entſcheidung ſehr wichtig; befin wenn Alles Klappt, giebts da mieber einen 
fetten Biſſen zu erhafhen. Was nämlich von den neuen Borzugsaltien zu 94 Pro⸗ 
zent nicht übernommen wird und ber Bankfirma Koppel & Co. bleibt, Das kann 
fpäter, wenn die Altien exft einmal zugelaffen find, mit einem „zänftigen" Kurs⸗ 
gewinn abgeftoßen werben. So Hat ſich die Deutſche Gasglühlichtgeſellſchaft als 
eine milchende Kuh von feltenee Ergiebigkeit erwieſen; und ihr Büdhter, Geheim⸗ 
rath Leopold Koppel, darf mit einem frommen Blick auf bie weniger erfolgreichen 
Standesgenofſen in ber Provinz ausrufen: „Wohl mir, daß ich nicht bin wie Diefe!* 


Ladon. 
N 


Barriere. 


aben Sie von der „Affaire“ des Barons Alliotti, des ttalieniichen Bots 
Ichaftrathes in Paris, gehört? Der Herr ift Antiquitäten-Amateur und 
- erwies öfters feinen Freunden die Gefälligkeit, für Objekte, die fie los fein 
wollten, einen Käufer zu finden. So hatte er die Gobelind eines gewiſſen 
Herrn Sacco an den Mann gebracht. Statt mit Zeichen der Dankbarkeit wurde 
er von dem Herrn mit Beleivungen aller Art überhäuft, ſogar ſchmutziger 
Profitinacherei befchuldigt. Um fich zu vertheidigen und ein unrühmliches Ende 
feiner! Karriere zu vermeiden, mußte er fi) an die franzöfiichen Gerichte wenden. 
Die parifer Zeitungfchreiber, deren Sachverſtändniß in Moralfragen über jeden 
Zweifel erhaben ift, fielen fofort über Alliotti her und machten aus der Sache 
einen Skandal; beſonders ftreng war natürlich L’Humanite, dad von Jean 
Jaur&s redigiste Blatt, dad fragte, ob ein Botſchaftrath zugleich Trödler fein, 
dürfe und ob der Mann denn nicht von feiner Negirung bezahlt werde. 
s 30 





396 Die Zukunſt. 


Nun ift mir aus diplomatischen reifen ein anderer Tröbler bekannt. 
Steine Zeitung bat ihm bisher Moral gepredigt und er fiht feft auf feinem 
Voften. Bielleicht weiß die „Humanite“ nichts davon; aber anderen Zeitungen 
ift ganz gut Belannt, daß Herr Camille Barrere, Gefandter der Franzoͤfiſchen 
Republik am Hof des Königs von Stalien, mit alten Violinen handelt. „Sa, 
wird denn der Mann nicht von feiner Regirung bezahlt?“ So würde die 
Humanit& fragen, wenn Herr Barrere ein Italiener oder Deutfcher“ wäre. 
Er wird bezahlt; ſehr gut fogar. Als er Herrn Billot in Rom ablöfte, galt 
feine erſte Sorge der Gehalterhöhung. Fuͤr die Repräſentation befommt er 
dreihunderitaufend Franes; fo viel hat kaum je ein Staat feinem Bertreter 
zu freier Verfügung überlafjen. Und trotzdem wird mit alten Beigen gehandelt. 

Mancher Lejer weiß vielleicht nichts Nechtes von dem Botfchafter Barrere. 
Schade. Eine fo interefiante Berfönlichteit müßte allgemein bekannt jein. Doc 
man befümmert fih heute weniger um die Diplomaten ald um die Könige und 
Kaifer, die faft immer unterwegs find, perfönlich Ententen vermitteln und ein« 
ander in Toaften coram publico preijen oder warnen. Diefe Betriebſamkeit 
verträgt fich zwar ſchlecht mit der Berfafjung, namentlich mit der älteften im 
Europa; aber fie gefällt und nährt den Glauben, dab die Diplomaten über- 
flüffig geworben find. Das ift nicht richtig. Der moderrie Diplomat muß 
nur anders arbeiten als der auß alter Schule. Früher wurde die internationale 
Politik faft ausfchließlich Hinter den Thüren der Kanzleien gemacht und der 
Maſſe fo lange verborgen, wie es den Miniſtern paßte. Der Diplomat hatte 
fich in der fremde eigentlich nur mit dem Hof und der Regirung zu beichäftigen; 
da Eonnte er fpioniren und intriguiren; wenn da fein Einfluß durchdrang, 
war er Sieger. Heute muß er auf die Deffentlihe Meinung horchen, die 
wirthſchaftlichen und fozialen Verhältniſſe des Volles, bei dem er beglaubigt 
ift, durchforſchen und feine Fühlfäden nad) allen Seiten außftreden: jonft kann 
er auf munzbare Erfolge nicht hoffen. Hofeinfluß und Kanzleiintriguen: Das 
ift vieux jeu; jegt gilts, auf die, Parlamente und auf die Prefie zu wirken. 
So machts Herr Barröre. Auf diefem Gebiet der modernen Diplomatie ift 
er unerreiht. Seine Kollegen wirken neben ihm wie lebende Anachtonismen, 
Nur er weiß, wie e3 heute gemacht werden muß. Der Deutiche Botjchafter 
(ich bedaure, daß ichs in einer deutſchen Zeitfchrift jagen muß) leidet am Meiften 
unter dem Vergleih, Er ift ein fteifer Ariftofrat, oft, auch im Verkehr mit 
den Auswärtigen Amt, zu wenig verbindlich, zu ſtarr und hält fih von all 
den Leuten fern, die, wenn fie auch heute nicht im Amt find, doch politiichen 
Einfluß haben. Der franzöfiiche Kollege dagegen kocht auf allen Feuern. 

Herr Barrere war Mitglied der parijer Commune und rühnt fich feiner 
Ablunft von Bertrand Barrere, den Macaulay „daB feigfte, graufemfte und 
unehrlichfte Mitglied ded Comite de Sant& Publique“, einen „Hofipion und 


Barräre 397 


Königamörder” nennt. Bertrand Barrere endete im Elend (nach einem erfolg. 
loſen Berfuch, unter Napoleon auf die Höhe zu kommen); Gamill. Barröre 
hats vom Communard bis zum Botfchafter gebracht. Iſt aber Demokrat ge 
blieben. So fagt er. Demokratiſche Sitten hat man freilih faum an ihm 
wahrgenommen. Bon den Mitgliedern der franzöfifchen Kolonie in Rom fieht er 
die Millionäre am Liebften und ärgert fi, wenn einer dieſer Reichen nicht 
in den Palazzo Farneſe kommt. In Kairo fam er als Gejandter einmal als 
Heinrich der Vierte auf einen Maskenball. Ein franzöfiicher Sjournalift, der 
ein römiſches Blatt redigirte, war erftaunt, den Vertreter einer Republik in 
der Tracht eines Monarchen zu ſehen, und fragte in einer Zeitung, ob Herr 
Barräre die tote Monarchie gar fo fehr liebe. Diefen Wig hat ihm der Diplo» 
mat nicht verziehen; vielleicht, weil er eine wunde Stelle getroffen hatte. Ginetlei. 
Ankunft, Charakter und Liebhabereien des Herrn Barrdre mögen Stoff zu 
Spötteleien liefern: die Intereſſen Frankreichs hat er in Rom mit Geſchick⸗ 
lichteit ımd Erfolg vertreten und. dad Vertrauen, dad ihm die parifer Res 
girungen ſeit elf Jahren entgegenbringen, ift vollauf vervient. ' 

Er fam 1897 nah Rom und führte zunächft die fchon ziemlich weit- 
gediehenen Vorarbeiten zu dem frantositalienifchen Handelävertrag zu gutem 
Ende. Zu einem für Frankreich guten Abſchluß; Italiens Export hat er nicht 
genüßt. Trotzdem wurde der Vertragsabichluß mit großem Lärm gefeiert nnd 
die Franzoſenfreunde fchrien, man müfje der Republik für ihr Wohlwollen dank⸗ 
bar fein. Das fchienen auch unfere Minifter zu glauben. Sie blidten nur noch 
nad Paris und kamen, Schritt vor Schritt, fo zu dem Mittelmeerablommen, 
defien erfte Früchte in Algefirad fichtbar wurden. In der Zeit Bismard3 und 
Griäpis war fein Reich bei uns jo hochgeſchätzt worden wie Deutfchland; und 
der gute Wille der Minifter Rudini und Bisconti-Benofte hätte nicht aus⸗ 
gereicht, um diefe Stimmung zu ändern. Die Hauptarbeit hat Barrdre ges 
leiftet. Er hat viele Leute von Gewicht für Frankreich gemonnen und ift der 
mahre Schöpfer der franto-italiihen Freundſchaft geworden. 

Ich behaupte nun nicht, daß die breihunderttaufend Francs, die Herr 
Barröre in jedem Jahr zu freier Verfügung bat, zum Zweck der Beitechung 
verwendet worden feien. Niemand weiß jo recht, wohin fie geflofien oder ger 
fidert jein können. Raufchende Feſte und prunkvolle Empfänge giebts im Pa⸗ 
lazzo Yarneje nicht; für die Nepräfentation kann alſo nicht beſonders viel aus» 
gegeben werden. Doch dem Gerede fehlt der ftügende Beweis (der hier freilich 
ſchwer zu erbringen wäre); und jo kann man nur fagen, daß Botjchafter, Prefie 
und Bolitifer gut zufammen gearbeitet haben, um eine franzgofenfreundliche 
Stimmung in Jtalien zu ſchaffen. ESpielverderber hatte Herr Barrere nicht 
zu fürchten. Auch das Deutjche Reich, das doch ein Intereſſe an der Erhaltung 
der italienifhen Sympathien haben mußte, that nichts, um die Arbeit dieſes 

30° 


398 Die Zukunft. 


emſigen Botſchafters zu erichweren, der geichäftliche und intelleltuelle Verbin⸗ 
ungen aller Art fuchte und fand und jeden feiner Erfolge an allen Eden auß⸗ 
pofaunen ließ. Er weiß, wie man Deffentlihe Meinung macht. Jedes Ge⸗ 
ichäft, daB er abſchließt, mag ſichs um Finanz ober Runft Handeln, wird wit 
dem nöthigen Trara verzeichnet. Er weiß auch, was die Eigenliebe des Stalie- 
ner3 an täglicher Nahrung braucht. Und wo die Gefahr eines‘ Mißverſtänd⸗ 
nifſes oder: Serwürfnifies entfteht, ift er ſofort zur Stelle und beſchwichtigt 
die Gemüther. An Drganen fehlts ihm ja nicht. Seine Sade wird mit Rad 
drud vertreten. Warum fo eifrig? Mein Gott: er ift eben beliebt. 

Sin leife® Unbehagen tft dennoch fpürbar. Man bewundert den ge 
ſchickten Eifer, mit dem Barrere für fein Land arbeitet, denkt manchmal aber 
fchon wieder der Zeiten, da Frankreichs Geſandte fich als Proteltoren in Jtalien 
aufipielten und, zum Beiſpiel, die Vertreter Louis Rapoleons in Turin und 
Florenz fich Freiheiten geftatteten, die heute unerträglich wären. Herr Barrere 
ift ein moderner Menſch und kennt die Grenzen des jegt noch Möglichen. Im⸗ 
merbin hat man bemerkt, daß er bei Strijen des rämiichen Minifteriums feine 
Hand im Spiel Batte und heimlich die parifer Finanz mobil machte (deren 
Liebling befanntlic) der Abgeordnete Luigi Luzzatti ift). In ſolchen Zeiten 
fieht der unermübdliche Botjchafter von früh bis ſpät Politiler zur „Beiprechung” 
bei fih; und bat dennoch Muße, fi) um die Prefle und die Depeichenbureaug 
zu fümmern: denn die Art, wie fie die Ereigniſſe darftellen, ift ja böchft 
“ wichtig. Aber auch fonft ift er wachſam. Bon feinem römiſchen Obfervatorium 
aus betrachtet er die internationale und beſonders die vatikaniſche Politik und 
berichtet feiner Regirung flink Alles, was zwar nit in die Zeitung fommt, 
ihm aber von feinen Agenten mitgetheilt wird. 

Die italienifche Regirung weiß es; will aber Ruhe haben, mit Barröze, 
der in der Prefie fo viele Freunde hat, gut ftehen und die Pariſer nicht ver- 
ftimmen. Gebt es fo weiter, wird der Botfchafter nicht in feinem Treiben 
geflört, dann wird eines Tages vom Dreibund gelten, wad von dem Sol⸗ 
daten galt, der in die Schlacht zog, als er,fchon tot war. 

Und bei all ver Arbeit bat Barrere noch Zeit, alte Geigen einzuhan⸗ 
deln? Sa. Herr Renucci, den er zum Franzöfiichen Konſul in Rom gemacht 
bat, joll ihm ſehr billige Violinen verjchafft haben; aber auch andere Leute 
haben fich bemüht, für ihn folche Inſtrumente aufzutreiben. Iſt der Werth 
zweifelhaft, fo wird aus dem Palazzo Farneſe bei Herrn Silveftre, den pa⸗ 
riſer Geigenfabrilanten und Kenner, angefragt. Da giebtB alfo kein Rifiko. 
Diejer Botichafter, der lieber zu wenig als zu viel bezahlt, kennt wirklich alle 
Sorten des Geſchaͤftes (auch des politiichen) und paßt famos in die Del. 


I — 


Oeransgeber und verantwortlicher Redakteur: M. . Harden in Berlin. — Verlag der Sutuntt in Berlin. 
Trud von G. Bernftein in Berlin. 














‚Berlin, den 12. Degember 1908. 
ö⸗ — 


Miniſterverantwortlichkeit. 


er Weiterſchlag vom fiebenundzwanzigſten Oftober hat dem Ruf nad 

Schaffung flantörechtliher Garantien für eine verftärkte Diniftervers 
antwortlicteit ein neues Echo gewedt Die Forderung ftammt nicht erft aus 
den Tagen der Reichsdecadence wurde, als Kotrelat der Underantwortlichteit 
des Staatsoberhaupteß, oft erhoben, häufig beſprochen viel befchrieben. Hier, 
aud verſchiedenen Zeiten und bid heute noch geſchiedenen Lagern, ein paar 
Proben über Dinifter und Monardentedht. 

I Thatſächliches. 

„Dem Raifer fteht die Ausfertigung und Verkündigung der Reichtgefege 
und die Uebermachung derjelben zu. Die Anordnungen und Verfügungen des 
Kaiferd werden im Namen des Reiches erlafjen-und bedürfen zu ihrer Gıltig« 
keit der Gegenzeichnung bed Reichskanzlers, welcher dadurch die Verantwort⸗ 
lichteit übernimmt.” (Artikel 17 der Reichsverfaſſung.) 

. 

„Ganz allein kann fid) die Frage darum handeln, melde Rechte und 
bereit jegt für die Durchführung dieſer Berantwortlickeit gegeben find; mögen 
fie in diefem Augenblid nod begrenzt fein, fie find bereits vorhanden; fie 
And in der Verfaflung felbft in einer gemifjen Beſchränlung ausdıüdlic an» 
eitannt Wenn die Verfafjung und einmal fagt: eine derartige Terantworts 
lichteit dec Reichsbehörden gegenüber tem Reickstage beitent, jo giebt die Ver⸗ 
fafſung aud die Zufiherung, und tiejenigen Mittel, die zur Durchführung 
d’ejer Verantwortlichkeit dienlich find, nicht vorzuenthalten.“ (Abgeordneter 
Hähnel in der Reichttagäsfigung vom neunten März 1278.) 

* 

„Diefe (Hähnels) Behauptung findet man auch ſonſt häufig, aber fie 
ift unrichtig Nach der Reichsverfaſſung ift der Reichskanzler nur einer moralis 
ſchen, einer politiſch⸗parlamentariſchen Verantwoitlichteit unterworfen. Der 

31 


400 Die Zukunft. 


Artikel 17 begründet Feine rechtliche Verantwortlichleit; er |pricht nur ein por 
litifches Prinzip von großer praftifcher Bedeulung aus und deutet mit feiner 
Silbe an, daß dieſes Prinzip noch eine befondere rechtliche Außgeftaltung erfahren 
oll.“ (Richard Paſſow, Das Meilen der inifteroerant wortlichkeit in Deutſchland 


„Durch ein bejondereö Geſetz werden die Berantwortlichleit und das 
zur Geltendmachung derjelben einzuhaltende Verfahren geregelt.” Antrag von 
Bennigfen im konftituirenden Reichstag 1867. Der Antrag wurde abgelehnt. 


* 

„Als der Verfaffungentwurf für den Norddeutſchen Bund zuerft zur 
Kevifion gelangte, Da war der Reichsklanzler durchaus nicht mit den bedeutung. 
vollen Attributioren audgeftattet, die ihm durch den einfachen Sa, der fidh 
heute im Artitel 17 der Verfoffung befindet, zugefchoben find. Er ift Damals 
durch eine Abſtimmung in dad jegige Maß hineingewacdjen, während er vor« 
ber einfach Das war, was man in Franffutt in bundestäglichen Zeiten einen 
Bräfidialgefandten nannte, der feine Inſtruktionen von dem preußiſchen Mi⸗ 
niner der Auswärtigen Angelegenheiten zu empfangen hatıe und der nebenbei 
das Präſidium im Bundesrath hatte. Nun wurde die Bedeutung des Reichs» 
fanzlerd plößlich zu der eines kontraſignirenden Minifterd und nach der ganzen 
Stellung nicht mehr eined Unterftaatsjefretärd jür deutliche Angelegenheiten 
ım auswärtigen preußilchen Winifterium, wie es urlprünglich die Meinung 
war, jondern zu der eined leitenden Reichsminiſters heraufgeichoben.” (Bis- 
mard am fünften März 1878 im Reichetag) 


„Die Verantwortlichkeit des Heichötanglers ift nur ein holitiſches Prinzip, 
das feiner Verwirklichung durch Rechtsſätze noch harrt, welches aber doch ala 
ſolches nicht ganz mirtunglos iſt, ſondern die fogenannte politische oder patla⸗ 
mentariiche Verantmwortlichleit begründet. Die praktiſche Folge beiteht im We⸗ 
jentlihen darin, daß der Neichöfanzler ſich der politifchen Nothwendigkeit nicht 
ıntziehen kann, auf Angriffe gegen Jeıne Gejchäftsführung im Bundesrat) und 
Reichstag Rede zu ſtehen.“ (Laband: Das Staatsrecht des Deutfchen Reiches ) 


* 


11. Broblematijches. 


„Auch in Bezug auf die Unverantwortlichkeit feiner Regirunghand⸗ 
lungen ift die Unverleglichfeit ded Königs im Königthum und zunädft ſchon 
in ſeiner Xebenölänglichkeit enthalten. Regiren und verantwortlich fein, gleich⸗ 
zeitig gedacht, find Widerſprüche; nun erſcheint für den lebenslänglichen Hert ſcher 
des Zeitpunkt jeiner Berintmwortlichkeit vor Menſchen nimmer. Wo aber bleibt 
ter Schutz Ter mit den Stänten verabıedeten Gefete, wenn Niemand hernach 
für die Verlegung einfteht? Politiſche Erfahrung hat hier einen Ausweg ge: 
funden. Ein Gericht fann über Regirunghendlungen dadurch allein ergehen, 








Miniſterverantwortlichkeit. | 401 


daß ein Unterthan fie ſich zu eigen macht und ihre Verantwortung auf eigene 
Gefahr übernimmt. Darum muß in jedem Staat, der zwilchen dem Willen 
des Fürften und dem Gejege unterjcheidet, der nothwendigen Forderung der 
fürftlihen Macht, daß fie einen Antheil an der Gefeggebung habe, die eben: 
falls nothmwendige Forderung der geſetzlichen Freiheit gegenüberjtehen, daß der 
Herrſcher Staatöminifier anftelle und dem Wolfe befannt made, welche für 
die Geſetzmaͤßigkeit jeder Regirungmaßregel bürgen .... Die Amtathätigkeit 
der Winifter geht den ganzen Staat an. Stein Bunder daher, Daß man bie 
Winifter ald in höherem Grade verantwortlich betrachtet; verantwortlich nicht 
blos für die Bejeglichkeit, jondern auch für die Zweckmäßigkeit ihrer Hand⸗ 
lungen. (F. C. Dahlmann: Die Politil. 


„Die Miniſterverantwortlichreit Hat überhaupt nicht die Tendenz, den 
Monarchen am Regiren zu hindern, fondern nur, dafür au forgen, daß der den 
Geſetzen und Intereſſen des Staates widerftreitende perfönliche Wille deflelben, 
die Willkur, keine Vollziehung finde; die Minifterverantwordlichleit ſoll dem 
Furſten nicht die Macht eniziehen, jondern den Gebrauch Derjelben in den 
Schranken der Pflicht fidern.“ (Samuely: Das Prinzip der Miniſterver⸗ 
antmwortlichkeit in der Tonftitutionellen Monardie.) 

* 


„Auch fteht bei jener Verantwortlichteit ein würdiger Minifter zugleich 
geihügt gegen unziemende und beleidigende Angriffe, fefter als bei einer Staats» 
ordnung, wo nur Hofgunft ihm die Dauer feiner Stelle verblirgt und Engel der 
Finfterniß ihn umſchweben.“ (Klüber: Deffentliches Recht des Deutichen Bundes.) 

* 


„Es ſoll der Miniſter Souffre-douleur des Monarchen fein“; jedoch 

„nut da und nur fo, wo und wie es ausdrüdlic und ganz bejonders feftgejegt ift.“ 

(Buddeus: Die Minifterverantwortlichleit in der konftitutionellen Monarchie.) 
% 


„Le prince lui m&medoit sesoustraire Al’action etsebornerä&un 
röle passif. (3. Cherbulieg: Theorie des garanties constitutionelles.) 
* 

„Ce n’est pas un homme, c’est un pouvoir neutre et abstrait 
au dessus de la religion des orages. Ich habe erklärt, daß zu der Un» 
verleglichkeit der königlichen Gewalt nothwendig die Unmöglichkeit unfähigen 
Handelns gehöre. Daher darf er überhaupt nicht handeln, wo ein Uebel ftatt» 
haben Tann.” (Benjamin Conftant: Cours de politique constitutionelle.) 

* 

„Die Verantwortlichkeit der Miniſter bedarf zur Rechtſertigung nicht 
der Handlungunfähigleit der Stantsoberhäupter und rer vollftändig freien 
Thätigkeit der Erefutivorgane. Es iſt ein Trugichluß, zu jagen: meil die Mis 
nifter verantwortlich find, müflen fie auch die Regirungfunttionen ſelbſtändig 

31* 


402 Die Zukuuſt. 


ausüben können. Es ift auch ganz überflüffig, den Sag: the king can do 
no wrong bucdftäblic wahr zu maden. Es ſoll nichts meiter fein als ein 
politifches Prinzip mit der Aufgabe, die Integrität des Souveraind zu fichern 
und die politiichen Kämpfe von ihm fernzuhalten.” (9. v. Friſch, Die Ber: 
antwortlichleit der Monarchen und hödjiten Wagiftrate.) 

% 


Menn man oft gegen den Monarchen behauptet, daß ed durch ihn von 
der Zufälligteit abhänge, wie e8 im Staat zugehe, da der Monarch übel ge 
bilvet fein könne, da er vielleicht nicht werth fei, an der Spite des Staates 
zu ftehen, und daß ed widerfinnig fei, daß ein folder Buftand als ein ver: 
nünftiger exiftiren Tolle: fo ift eben die Voraudfegung hier nicht, daß es auf 
die Beionderheit des Charakters ankomme. Es ift bei einer vollendeten Or 
ganifation des Staates nur um Die Spige formellen Enticheidend zu thun, 
und um eine natürliche Feſtigkeit gegen die Leidenfchaft. Wan fordert Daher 
mit Unrecht objektive Eigenfchaften an dem Monarchen, er hat nur Ja zu 
jagen und den Punkt auf das % zu ſetzen. Denn die Spige ſoll fo fein, daß 
die Befonderheit des Charakters nicht dad Bedeutende ift . . Die Monardıe 
muß feft in fich felbft fein, und was der Monarch nod über dieje legte Ent: 
ſcheidung hat, ift Etwas, das der Partikularität anheimfällt, auf die «3 nicht 
ankommen darf. Es kann mohl Zuftände geben, in’ denen diefe Partikularität 
ollein ouftrilt, aber alddann ift der Etaat noch Fein völlig ausgebilteter oder 
fein wohl konfttluirter. (©. W. Fr. Hegel: Philoſophie des Rechtes.) 

Li 


„Aber, Herr Abgeorpneter Hausmann, wir unterjcheiden uns doch noch 
in einer anderen Auffaflung: für Sie ift der Kaiſer eine Einrichtung, für ung 
ift er eine Perfon.” (Der Fonfervative Abgeordnete von Oldenburg am eljten 
Movember 1908.) , 

„Wir in Preußen haben das Recht rer Minifteranklage abgelehnt, weil 
ed eben die Dlinifter unjeres Königs find.” (Julius Stahl.) 

* 


„Es ijt ja befannt, daß heute überall die fogenannte politische Miniſter⸗ 
verantwortiichteit, Die ununterbrochen von den Parlamenten gehandhabt wird, 
die Durch Winifteranklage vor einem Staatägerichtähof geübte fogenannte ftaate: 
rechtliche Verantwortlichkeit in den fonftitutionellen Monarchien thathächlich 
erſetzt hat. In Deſterreich, zum Beijpiel, erjchöpfte ſich bisher die fichtbare Be: 
deutung ter ftaatsrechtlichen Berantwortlichkeit darin, daß ein Antrag auf Minifter- 
anllage im Reichsrath ald Demonftration oder Obitruftionmiltel gebraucht 
merden tonnte. In anderen Staaten mit fein audgeflügelten Berantwortlichkeit: 
gelegen ift ed bieher nicht einmal zu folchen mehr oder minder gelungenen 
Scerzen gelommen.” (Jellinek: Verfafjungänverung und Berfaffungwandlung.) 

* 








Minifterverantwortlichteit. 403 


„La responsabilit& qui est censde r&gir les rapports parla- 
mentaires n’aboutit qu’& lirresponsabilit6 generale.“ (Dftrogorftt: 
La democratie et l’organisation des partis politiques.) 

% R ” 

„Ecerire en töte d’une charte, que le chef est irresponsable, 
c’est mentir au sentiment publique, c’est vouloir etablier une fiction, 
‘qui s’est trois fois evanouje au bruit des revolutions.* (Rapoleon III. 
am vierzehnten Januar 1852.) 


„Ich: ‚Eure Königliche Hoheit haben im ganzen Staatöminifterium Feine 
einzige ſtaatsmänniſche Kapazität, nur Mittelmäßigkeiten, beichräntte Köpfe.‘ 
Der Regent: ‚Halten Sie Bonin für einen beichräntten Kopf!‘ Ich: ‚Das 
nicht; aber er kann nicht ein Schubfach in Ordnung halten, viel weniger ein 
Minifterium. Und Schleinig ift ein Höfling, fein Staatsmann.‘ Der Regent 
empfindlih: ‚Halten Sie mich etwa für eine Schlafmüge? Mein Auswärtiger 
Winifter und mein Sriegäminifter werde ich felbit fein, Das verfiehe ich.‘ 
Ich Ddeprezirte und fagte: ‚Heut zu Tage kann der fähigite Xandrath jeinen 
Kreis nicht verwalten ohne einen intelligenten Kreisſekretär und wird immer 
auf einen folchen halten; die preußijche Monarchie bedarf des Analogen in viel 
höherem Maße. Ohne intelligente Minifter werden Eure Königliche Hoheit in dem 
Ergebniß feine Befriedigung finden.‘“ (Bismard: Gedanken und Erinnerungen.) 

*% ’ 

„Ich habe natürlich während der bewegten und gelegentlich ftürmifchen 
Entwidelung unferer Politik nicht immer mit Sicherheit vorausfehen können, 
ob der Weg, den ich einfchlug, der richtige war, und doch war ich gezwungen. 
jo zu handeln, ald ob ich die fommenden Ereigniſſe und die Wirkung der 
eigenen Entihließungen auf fie mit voller Klarheit vorausjehe. Die Trage, 
ob dad eigene Augenmaß, der politiiche Inſtinkt, ihn richtig leitet, iſt ziemlich 
gleichgiltig für einen Minifter, dem alle Zweifel gelöft find, fobald er durch 
die Zönigliche Unterjchrift oder durch eine parlamentarijche Mehrheit jich ger 
dedt fühlt, man fönnte jagen, einen Miniſter katholiſcher Politik, der im Befig 
der Abjofution ift, und den die mehr proteftantifche Frage, ob er feine eigene 
Aojolution hat, nicht kümmert. Für einen Minifter aber, der feine Ehre mit 
der des Landes vollftändig identifizirt, ift die Ungemißheit des Erfolges einer 
jeden politiichen Entſchließung von aufreibenvder Wirkung. . Dem jedesmaligen 
Minifter die Verantwortlichkeit für das Geſchehene aufzuerlegen, ift für mon⸗ 
archifche Auffaffungen der nächltliegende Ausweg. Aber ſelbſt wenn die Form 
des Abjolutismus der Form der Verfaſſung Platz gemacht hat, ift die foge: 
nannte Minifterverantwortlichkeit feine von dem Willen ded Monarchen unab» 
hängige. Gewiß kann ein Minifter abgehen, wenn er die königliche Unter⸗ 
Ichrift für Das, was er für nothwendig hält, nicht erlangen kann; aber er 


404 Die Zukunfſt. 


übernimmt durch fein Abtreten die Verantwortlichleit für die Konſequenzen 
deffelben, die vielleicht auf anderen Bebielen vicl tiefgreifender find ala auf 
dem gerade ftreitigen.” (Bismard: Gedanken und Erinnerungen.) 
v 

„„Zieht man aus Allem die Summe, fo iſt von der juriſtiſchen Ver⸗ 
antwortlichteit der Miniſter nur wenig Rugen zu erwarten. Wir haben bier 
eine Lücke in der preußiichen Gelehgebung, die ich audgefüllt ſehen möchte, 
um den radilalen Schreiern, die beftändig Davon reden, wir hätte feinen ge: 
fiherten Rechtsboden unter den Füßen, um denen einmal den Mund zu ftopfen. 
Aber man foll fich nicht zu viel davon verfprechen. Dieſe ganze Lehre von 
der juriftiichen Berantwortlichkeit der Minifter gehört in die Zeit der Schloffer 
und Rotted, in eine überwundene Epoche konftitutioneller Doktrin.“ (Heinrich 
von Treitſchke: Politik.) 


„Vie Anklage der IRinifter ift das äußerſte Mittel des Widerftandes, ich 
nenne es das Schwert der Stände; fie dürfen es nicht leichtfinnig ziehen, nicht 
wie ein Rappier zu Syechterftreichen brauchen. Die wirtjamfte Berantwortlichteit 
wird geräufchlos täglich gehandhabt von einem auf jein Gemeinwejen aufmerk⸗ 
ſamen Bolte; fie erhebt ihie Stimme in der Prefle, in der jährlichen Prüfung der 
Stände, verftärkt fie in der Beichwerdeführung.” (F. C. Dahlmann: Politik.) 

*% 


1678, in dem Prozeß gegen den Lordſchatzmeiſter Grafen von Danty, 
Iprach das englifche Unterhaus zum eriten Mal den Grundfag aus, daß ein 
Minister nicht nur für die Gefeglichkeit, jondern aud für „honesty justice 
and utility* feiner Handlungen hafte. 

* 


„Wenn man erwägt, daß das Recht einen objektiven, abjoluten Maß: 
ftab für die Beurtheilung einer Handlung gewährt, während die Frage nach 
der Utilität einer Maßregel nur nach ſubjektivem Ermeſſen zu entfcheiden ift, 
wenn man bedenkt, daß die zu Eonftatirende Rechtäverlegung elwas in fich 
Abgejchloffenes daritellt, daS Verhalten einer Maßtegel zum Staatöwohl da» 
gegen ſehr oft erit in der ungemifjen Zukunft feine Löſung findet, jo gelangt man 
zu dem Schluß, daß die Ausdehnung der Staatdanklage auf Mifregirung nicht zu 
billigen jet, daß damit Die Minifterverantwortlichkeit, ftatt ein ficherer Schuß ver⸗ 
fafjungmäßigen Regiments zu bleiben, zu einer Handhabe der Parteipolitik herab- 
finten müßte.” (Fr. Haud: Die Lehre von der Minifterverantwortlichteit.) 


„Die große Entwidelung der politifchen oder parlamentarifchen Minıfier- 
verantmwortlichleit, der unermeßliche Einfluß der Deffentlichkeit, die Kritit und 
Kontrole, der alle Regirunghandlungen im Parlament, in der Prefie, in Ver⸗ 
jammlungen und Bereinen, an Biertifchen, auf Kegelbahnen und fo weiter 
unterworfen werden, bat die Bedeulung der rechtlihen Dinifterverantwort: 


Minifterverantwortlicjleit. | 405. 


lichkeit .in erheblichem Grade gefchmälert. Sein Minifter kann fich der Pflicht 
entziehen, öffentlih über alle von ihm getroffenen Maßregeln Rede zu ftehen, 
auch wenn feine poftive Berfaffungbeftimmung ihn dazu verpflichtet. Diele 
Enthaltung der parlamentarifchen Thaͤtigkeit, ihre Erfiredung auf alle Vers 
waltungägebiete, die Ausbildung des politiichen Zeitungweſens, die. Schnellig- 
teit der Nachrichtenbeförderung gehöre in des Hauptſache erft der zweiten 
Hälfte des neunzehnten Jahrhundert an. Sie. haben zur Folge, daß Die 
politifche Verantwortlichkeit die juriſtiſche ganz in den Schatten geitellt und 
entbehrlich gemacht bat.” (P. Zaband in der Deutjchen Juriftenzeitung.) 
* 


„Die wirkſame Verantwortlichkeit: Das iſt die öffentliche jährlich wieder» 
fehrende unummundene, unbeſchränkte Diskuffion; tie wirkliche Verant wort; 
lichkeit: Das ift jene Deffentlihe Meinung, die in unſeren Tagen nicht mehr 
die fechfte, fondern Die erfte der Großmächte genannt werden muß. Stine 
Regirung hat in den modernen Verhältniffen Beitand, die auf Die Dauer vor dem 
Ausſpruch dieſes Berichtes nicht bejteht. Dieſes Gericht ift in Wahrheit die höchſte 
enticheidende Kaflationinftanz.” (Sybel am dDreiundzwanzigiten März 1867 ) 


„Ich geitatte mir, gegenüber den Ausführungen ded Herrn Abgeordnetin 
Singer erft recht darauf hinzuweiſen, daß, menn er ſich innerhalb der ver- 
faffungmäßigen Grenzen halten will, er nur den Herrn Reichskanzler angreifen 
kann und niemand 'anders. Wenn wir hier im Reichätag. meine Herren, fort⸗ 
gefeßt dahin kämen, daß man über die Perſon des verantwortlichen Reichs⸗ 
kanzlers hinaus andere Perfonen angreift, jo lägen darin die Reime ſchwerer 
Konflikte. Ich möchte alfo dringend bitten, Daß wir gegenfeitig unjere ſtaats⸗ 
rechtliche Stellung achten. Wir find bereit, Ihnen Tag für Tag bier als 
Kugelfang zu dienen: zielen Sie aljo, bitte, nur nad) und.” (Graf Boladomity 
im Neichötag am neunundywanzigften Januar 139%.) 

%* 


„sn Staaten, mo das Parlament bereit3 auf breiterer oder ſchmälerer 
demofratifcher Bafis aufgerichtet ift, find nicht mehr bloße Vertröftungen auf 
Berbeflerungen des Syſtems möglih. Bellen Wirkungen zeigen fih dann, 
ftet8 der Eigenart eines jeden Volkes angepaßt, in definitiver Mleife. Da 
fann ed ih dann heraußftellen, daf ein folhes Parlament nicht im Stande 
ift. die Führung der Nation zu übernehmen. Sein großes Volk fteht feiner 
Repräfentation jo fühl gegenüber, wie das deutiche Bolt dem Deutſchen Reichs- 
tag, der zu den politifch ſchwächſten parlamentarischen Gebilden zählt. Das 
liegt aber keineswegs, wie mohl behauptet wird, an dem Maße des ihm zu: 
gebilligten Rechtes — mit och viel geringerem haben kontinentale Parlamenıe 
die Herrichaft an fih zu ziehen gewußt — fondeın in erfter Linie in der That» 
ſache, daß er, in mehr als ein Dugend Parteien gejpalten, nicht geeignet ift, 
irgendwie dem einheitlichen Willen der Nation Ausdruck zu geben. Darum 


408 7 Die gutunſt 


vermag er auch nicht, feinen Willen ols einen gleihwerthigen dem der Reichs⸗ 
regirung an die Seite zu fielen. Die deutiche ſtaatsrechtliche Theorie, welche 
den Reichſtag nicht an den Herrichaftbefugniften des Reiches 1heilnehmen 
lägt, fondern ihn nur ala ein einichräntendes Element zu der mit aller Herricher» 
macht ausgerüfteten Regirung hinzutreten Iafien will, fie entipricht den thats 
fächlicden politiichen Verhältniffen durchaus. Und Das würde auch mi Ein⸗ 
führung der Verhältnißwahl, mit einer billigeren Eintheilung der Wahlkreiſe 
und anderen von verjchiedenen Seiten geforderten Neuerungen nicht anders 
werden, da es in abjehbares Zeit ganz ausgeſchloſſen ift, Daß irgendeine 
Partei zum Siege gelangen könnte. Daher haben aucd Forderungen, wie die 
nach parlamentarifchen Reichgminifterien, wenn fie überhaupt noch erhoben werben, 
ein em doktrinären Charakter: einem durch unverjöhnliche Gegenfäge in 
dauernde Minoritäten gejpaltenen Parlamente muß eine außerparlamentarijche, 
zwar nicht parterloje, aber immerhin auf fein feites Barteiprogramm eingeſchworene 
Regitung noch immer wünſchenswerther erſcheinen als eine auf faulen Kompro⸗ 
miſſen unnaturlicher und daher gebrechlicher parlamentariſcher Koalitionen bes 
ruhende. In keinem Lande der Welt würde eine parlamentariſche Regitung 
eine fo erbitieıte Oppoſition finden wie im Deutſchen Reich. wo nur Durch 
völlige Umbildung der Parteien und Verſchmelzung der Fraltionen zu großen 
Gruppen eine Aenderung angebahnt werden fönnte. Wie Dem auch fein mag: 
die Gefchichte des Deutichen Reiches bat gelehrt, dab auch ein durchaus Demos 
fratifched Parlament keineswegs mit Nothwendigket das Schwergewicht des 
Staates in ſich zu verlegen vermag. Thatjächlich fteht im Teuiſchen Reich pie Re: 
girung tem Neichötag viel unabhängiger gegenüber, als ed in manchen Staaten 
mit einer auf befd,ränttem und abgeftufiem Wahlrecht aufgebauten Abgeoıdneten» 
fammer der Fall iſt.“ (Jellinek: Verfaffungänderung und Verfaffungwandlung » 
* 

„Als König von. Preußen iſt der Kaiſer Mitbeſitzer ter Reichsgewalt, 
mie jeder andere deutſche Bundesfürſt, aber als Landesherr des hervorragend» 
ſten und sröften der Mitgliedsſtaaten thatſächlich wie rechtlich primus inter 
pares Als Kaiſer nimmt er im Verfaſſungorganismus des Reiches eine dop⸗ 
pelte Stellung ein: einmal theilt er mit der Gefammthert der Verbündeten 
Negirungen die Nerchdjouverainetät, ıft alleiniger Inhaber einzeiner Therle Der 
Centtalgewalt; fodann ijt er unmittelbar durch die Reichsoerfaſſung, aljo aus 
ergenem Rechte, in Perfon zur Ausübung mejentlicher Beftandtheile ter Reichs» 
gemalt berufen, die proprio Jure der Geſammtheit der fünjundzwanzig Staaten 
ſouveraine zuftehen, tjt aljo inſoweit Delegator der Reichsgewalt, Der dauernde Re⸗ 
gent des Reiches an Stelle des handlungunfähigen Souverains.. Die Verfaflung- 
form des neuen Deuiſchen Reiches iſt demnach eine lonfıitutionelle, monarchiſch 
beſchränkte Ariſtokratie.“ (Dr, R. Fiſcher: Das Recht des Deutſchen Kaiſers.“ 


wu 


Die Zulımft Polens. 407 


Die Sufunft Polens. 


eit dim Spätiommer 1905 hat George Cleinow von Peitersburg aus über 

die innere Ummandlung Rußlands Berichte geſchickt, deren ftrenge Sad): 
Iichteit das Vertrauen auf ihre unbedingte Zuverläffigkeit erweckte. Im legten 
Trühjahr hat er „unter der Führung von Anftedelungfpezialiften” die Provinz 
Poſen bereift und nun auch Über die dort empfangenen Eindrüde den „Grenz⸗ 
boten“ berichtet. Im einleitenden "Artikel fagt er, der Hauptinhalt des Dfts 
markenproblems fcheine ihm fo zu bezeichnen: „In DOftelbien hat fi ein Wirth» 
ſchaſtstypus, der Iandwirtbichaftliche Großbetrieb, nicht befähigt erwieſen, den 
gewaltigen, durch unfere inpuftrielle Entwidelung ‚bervorgerufenen ortfchritten 
zu folgen Dieſe Thatſache fand ihren Ausdrud in einem ſtarken Abftrom von 
geiftigen und ?örperlichen Arbeitkräften aus allen ſozialen Schichten der Oſt⸗ 
mark und von Geldmitteln, mas wieder eine allmähliche Verlümmerung aller 
Theile der ofielbiichen Wirthichaft zur Folge Hatte. Die preußifche Staats» 
regirung ſuchte nun dem vorhandenen Träftigeren MWirthichaftätypus, dem 
bäuerlichen Kleinbetriebe, die Stellung zu verfchaffen, die ihm wegen der ein» 
mal vorhandenen Yage gebührte, die einzunehmen ihn aber politiiche und jo» 
ziale Boruriheile hinderten Das konnte nur gefchehen durch Uuftheilung einer 
“ganzen Zahl von großen Gütern, beſonders der ſich im Niedergang befinden- 
den. und durch Anfegung von Bauern aus andereh, kultivirteren Gegenden.“ 
Dieje Auffaffung des Oſtmarkenproblems unterfchreibe ich; den ſich daran 
fchließenden Sägen könnte ich nur mit Einfchränfungen beiftimmen; doc fommt 
bi den Berichten Cleinows wenig auf die vorauegeſchickten und eingeitreuten 
arundfäglichen Betrachtungen an. Dad Wejentliche find dieſe Berichte jelbit, 
die fich Durch die ſelbe Genauigkeit und Objektivität auszeichnen wie die aus 
Außland. Und dad Selbe gilt von des Verfaſſers joeben (bei Grunow ın 
Leipzig) erſchienenem Buche „Die Zukunft Polens“. Nach einem Rüdblid auf 
die Geſchichte Polens ftellt «8, auf eine Fülle urkundlichen Wateriald und auf 
eigene Wahrnehmungen geftügt, die Fürſorge der rujfiichen Regirung für Das 
Wirthſchaftleben im „Zarthum Polen” und diefes Wirthichaftleben jelbft dar. 
Die Wafıregeln nun, in denen jich diefe Fürforge betundet, „das Gar: 
t-nipalier”, an dem fich die Pflanze Volkswirthſchaft emporranten foll, tragen 
einen ganz eigenthümlichen Charakter. Diejen eigenthümlichen Charalter erzeugt 
„das unfinnige Bejtreben, wirthicaftlihe Angelegenheiten ausſchließzlich nach 
politifchen Gefichtöpuntten zu behandeln”. So will die Regirung zwar den 
Bauernitand heben: fie hat feine Zahl vermehrt und begünjtigt ihn gegenüber 
dem Adel, auf deſſen Schwächung, ja, Vernichtung fie ausgeht, aber zugleich 
feffelt fie den Bauernitand, indem fie ſtatt wirklicher Sılbftverwaltung der 
Kreiſe und Gemeinden nur deien Schein gejtattet, wirthſchaftliche Drganifas 


408 Die Zukunft. 


tionen aber, jo weit fie fie nicht ganz verhindern Tann, wenigftend nach Mög- 
lichteit erſchwert. «Das Verhalten der Regirung den Benofienichaften gegen» 
über (und was in Beziehung auf Befchräntungen für Rußland im Allgemeinen 
gilt, Dad gilt für Polen immer in verftärttem Maße) wird durch die fol« 
gende Stelle aus einem Immediatbericht des Reichdrathes an den Haren cha- 
rakterifirt: „Die herrſchende Gefeggebung hat die Freiheit der Privatperjonen 
ſehr befchräntt, ſolche Geſellſchaften, Vereine, Genoſſenſchaften und andere frei» 
willige Vereinigungen zu bilden, die, auf längere Zeit abgejchlofien, der Er⸗ 
reichung 'eincd Ziele mit vereinten Kräften dienen follen. Ehe zur Bildung 
einer Genofjenichaft gefchritten werden Tonnte, war eine vorläufige Geneh- 
migung der Regirung nothwendig; erfi nach Ertheilung der Erlaubniß durften 
die Vorarbeiten für die zu bildende Geſellſchaft in Angriff genommen werten. 
Ohne ſolche Genehmigung beftehende Bereinigungen wurden als gefegwidrige 
Geheimgeſellſchaften behandelt ohne Rückſicht auf die von ihnen verfolgten 
Biele. Für Ueberiretungen diefer Beftimmungen wurden Strafen bis zu Zwangs⸗ 
arbeit verhängt. Um dennoch den Bedürfnifien des gewerblichen Lebens ge- 
recht zu werden, hat die Regirung die Initiative zur Einrichtung von Ge 
nofienichajten felbft übernommen.” Das gejchah 1895. Aber. fchreibt Cleinow, 
„die an verichiedene bureaukratiſche Inſtitutionen mit zum Theil hochtönen⸗ 
den Kamen angeichlofienen Genofjenichaften und Vereine tragen deshalb den 
Stempel aller bureaukratiſchen Einrichtungen und genießen in feinem Theil 
der Geſellſchaft volles Vettrauen.“ Weitere Ausflüffe des verlehrten Grund» 
jages find: die Pragis, die Höheren Beamtenftellen nit mit fachmänniſch aus⸗ 
gebildeten Perjonen, fondern, weil man vor Allem blinden Gehorfam will, 
mit Offizieren zu bejegen, und die Behandlung der Verfehrämittel (beſonders 
bei Audgeftaltung des Bahnneges); da entſcheiden nicht die wirthichaftlichen Be⸗ 
dürfnifje der Bevölkerung, fondern politifche und militäriihe Erwägungen. Das 
zulegt Angeführte hat auch zur Folge, daß die Bauern ihre Produfte nicht felbft 
auf den Markt bringen, jondern nur durch die Vermittelung der judiſchen 
Händler abjegen können. So leidet das gejammte Wirthichaftleben unter dem 
beitändigen Widerftreit der wirtbichaftlichen und der politiſchen Ziele der Res 
girung, und obmohl dieſe Ziele vorwiegen und die ihnen dienenden Kräfte und 
Maßregeln ſtark genug find, das Wirthſchaftleben ſchwer zu ſchädigen, wer» 
den auch fie gründlich verfehlt: was fi an dem „Spalier” emporranft, ift 
eıne polnijche Nationalwirthſchaft, die nicht dem Ruflenftaat, jondern der pol» 
niiwen Nationalidee dient, diejer dee, die 1863 fo gut wie vernichtet war 
und die nicht wieder auffommen zu lafien der Hauptzweck aller Maßtegeln 
war, mit denen feit diejem Jahr dad Weichielgebiet von Peteräburg aus bes 
glüdt worden ift. Diefer doppelte Mißerfolg legt die nicht nur für Rußland 
wichtige Trage nah, ob nicht die Grenymarkenpolitif, die in der Zeit der Karo» 











Die Zukunft Polens. 409 


Kinger, der. Dttonen und Heinriche für Deufichland einen guten Sinn batte, 
in unferer heutigen Staatsordnung und Wehrverfafjung und beim heutigen 
Weltverkehr ein finnlofer und zweckwidriger Anachronismus jei. 

Man muß die ausführliche Beichreibung der einzelnen Feſſeln, die eine 
wunderbare Regirungweisheit dem polniihen Wirthfchaftleben anlegt, bei 
Gleinow leſen, um diefe Weisheit zu würdigen. Ihr zum Trotz machen die 
Polen Fortfchritte. Namentlich in Mafovien und Kujavien „giebt ed einzelne 
polniſche Güter, die fi) mit den beften Wirthfcpaften Sachſens mefien fünnen“. 
Und was die Bauern beinfft, fo betreiben „auch die Aermiten die Feldwirth 
ſchaft mit möglichfter Genauigkeit. Wer ruffiiche und polnifche Bauernfelder 
geſehen bat, wird den Unterfchied zwiſchen beiden bemerkt haben. Der pol» 
niſche Bauer ſucht vielleicht Ion aus angeborenem Schönheitfinn eine ſchöne, 
gleihmäßige Aderfurche zu ziehen, hält feinen Boden von Steinen und Un- 
kraut rein. Die Adergeräthe find viel beffer und moderner ald die in Ruß» 
land verwandten.” Und das Bauernland wächſt beftändig der Fläche nad), 
wenn auch nicht im Verbältnik zum Wachsthum der bäuerlichen Bevölterung, 
was unmöglich wäre, denn diefe hat fi unter dem Drud der auf Bernicht- 
ung der polnifchen Nationalität abzielenden Politit in einem Menſchenalter 
verdoppelt. (Alle einzelnen Angaben Cleinows find mit dem erforderlichen 
ftatiftiichen Beweismaterial verjehen). Die Unmöglichkeit, alle dem bäuerlichen . 
Stand Angehörige in ausreihendem Maß mit Yand zu verforgen, erzeugt ein 
zablreiched Halb» und Ganzproletariat, von dem ein Theil Arbeit und Brot 
jenfeit3 von der Grenze fucht, aber die Heimat meift nur für eine Weile 
verläßt und zum Theil auch nad Jahre langer Abmwefenheit mit Erſparniſſen 
zurüdtehtt. Obwohl diefe Erſparniſſe nicht unbedeutend find (die der „Sachſen⸗ 
gänger” werden für das Jahr 1904 auf 11,4 Millionen Rubel gejhätt), fieht 
Cleinow nicht in ihnen den widtigften Vortheil, den die Auslandarbeit der 
polnischen Rationalwirthichaft bringt, jondern, in Uebereinftimmung mit anderen 
Kennern diejer Verhältnifie wie Kaerger, darin, dat die Wanderarbeiter in der 
Fremde ſparſamer, überhaupt wirthſchaftlicher, fleißiger, energifcher, intelligen: 
ter und fozialer, genofjenichaftlihem Zufammenichluß, gemeiniamem Wirten 
genreigter werden und daß fie dieje erworbenen Eigenſchaften in der Heimath 
verbreiten, wo übrigens ſchon vorher Deutide und Juden die fih bei der Ber 
handlung, die fie von der ruſſiſchen Regirung erfahren, um ihrer Exiſtenz 
willen polonıfiren müflen, an der Disziplinirung der Polen gearbeitet hatten. 
Daß tiefe mehr und mehr gelingt, ift eine fchlagende Widerlegung der von 
Raffentheoretilein wie Dito Ammon und Alerander Tille vertretenen, auf die 
Lehre des Biologen Auguft Weismann geftügten Anfiht, dat Tüchtigkeit und 
Untüctigfeit der Individuen wie der Völker lediglich von dem ererbten, uns 
veränderlihen HKeimpladıma abhänge und Erziehung, Ernährung, Klima, Wohn» 





410 Die Zukunft. 


ort, fozialer Zuftand, Verkehr mit Nachbarn, überhaupt die Ummelt daran 
nichts zu ändern vermöge. Wit befonderer Ungunft wird von der ruffiichen Re⸗ 
airung die Heine Shlachta behandelt, der ärmere Landadel, deſſen Güter den 
Umfang von Bauerngütern nicht oder nur wenig Üüberfteigen; und gerade diefer 
Adel fcheint fih zum Kern der polnifchen Nation entwideln zu wollen. Richt 
nur behauptet er, allen Berationen zum Trog, feinen Grundbefig, fondern 
er läht auch feinen überzähligen Söhnen eine jorgjame Ausbildung angedeihen, 
deren Grund gewöhnlich der Drtögeiftliche legt; diefe Söhne ftudiren mit Hilfe 
von Stipendien, werden Handwerker, Kaufleute, Banktbeamte, verdrängen die 
bis vor Kurzem meift deutſchen Gutsverwalter der Magnaten aus ihren Stellen 
und begründen fo einen intelligenten bürgerlichen Mittelftand. 

Aber auch der hohe Adel ift nicht etwa tot, jondern lebt und kräftigt 
fih in engem Bund mit der Haute Finance. In diejer unterjcheidet Sleinom 
zwei Gruppen. Die lodzer, die der für den Meltmarkt arbeitenden dortigen 
Induſtrie dient, tft nicht an die Entwidelung der polniſchen Rationalwirtb- 
ſchaft gebunden und fördert darum auch nicht die nationalpolnifchen Beftrebungen. 
Die warfchauer dagegen „ftebt und Fällt mit der polniichen Gejellichaft, weil 
fie auf dem polniſchen Markt fußt. Die früheren Thoraverehrer Stronenberg, 
Epftein, Nathanſohn find nicht römische Katholilen geworden, um der ruſſiſchen 
Negirung eine Freude zu bereiten, fondern nur, um in der polnischen Geſell⸗ 
Ichaft feiten Fuß zu faflen. Das ift ihnen gelungen. Aehnlich liegt die Sache 
bet den früheren Deutfchen Schwede, Borman, Rau, Lilpop, Fuchs und An⸗ 
deren “ (Sehr intereffant ift die Beichreibung des ruffiich-polnifchen Juden» 
thumes, in dem einem furdjtbar elenden Proletarist Ariftotreten gegenüber 
ftehen, „deren Rennpferde mit denen der Grafen Samojjti, Kraifinfti, Kwilecki 
Gurt an Gurt laufen ”) Natürlich find- es auf beiden Seiten nicht nationale, 
jondern rein wirthſchaftliche Intereſſen gemejen, weldye die Haute Finance 
und die Magnaten zujammengeführt haben. Etwa zehn Jahre nach dem tiefen 
Sturz von 1860 bis 1864 „fing die dünne Oberſchicht der Polen mit der 
Hilfe der jüdischen Finanzariſtokratie an, modern zu wirthichaften, ihre Kräfte 
in realer Belhätigung zu verwerthen und zu ftählen”. Wie dieje wirtbichaft- 
liche Thätigleit, die anfangs Abkehr vom revolutionären Nationalismus be» 
deutete, fi) allmählich nationalıfirt Hat, bis zulegt alle Geſellſchaftſchichten, 
alle Klaffen alle politiihen und ſozialen Parteien fih einmüthig im Streben 
nach dem großen nationalen Ziel zufammenfanden, kann nicht mit wenigen 
Worten ar gemacht werden. Die polnifchen Gründungen, dad Bankweſen, 
die Kreditinftitute, Die landwirtbichaftlichen Vereine und Genoſſenſchaften werden 
in dem Buch ausführlich behandelt. Sehr viel hängt natürlich von dem Ger 
neralgouverneur ab. So famen die Gründungen von Aktiengefellichaften erit 
unter Schumalow in Fluß, weil er einen Artikel der Inſtruktion für den 
Generalgouverneur etwas anders auslegte als jeine Vorgänger. Wittes Finanze 





Die Zukunft Bolens. 411 


politit war der Entwickelung der polniſchen Induſtrie günftig. Mit der Polen⸗ 
freundlichfeit der Gouverneure fteigen und fallen die Kurſe der polnischen 
Bapiere Eins der für die zulünftige Entwidelung Polens günftigen Symptome 
ift, daß das Weichlelgebiet neben dem Nordweſtgebiet des Reiches den geringiten, 
das innere Rußland den höchften Alkoholverbrauch hat. 

Dieſe Entwidelung läßt fich natürlich nicht voraußfehen; gewiß ift nur, 
daß zwei entgegengefeßte Tendenzen auf fie einwirlen werden. „In dem Maß, 
wie fi das polnifche Kapital an den Handeläunternehmungen mit Rußland 
betheiligt, muß das wirthichaftliche Intereſſe der Polen an Rußland fteigen; 
in dem felben Maß wächſt auch die Möglichkeit einer Ausſöhnung zwiſchen 
den Polen und den Ruffen, ohne große Konzeifionen von den Ruſſen noth: 
wındig zu machen. Wiederum ericheint und ſolche Vröglichkeit um fo geringer, 
je ftärker ſich folhe Wirthſchaftorganiſarionen entwideln, die fi von den 
rujfiſchen Geldquellen, wie von der Staatöbant, frei halten können, weil fie 
ausſchließlich auf die inneren Märkte Polens angewieſen find.” Dieſe Organi⸗ 
fationen werden eben in dem Buch beichtieben. Die Polen haben, wird am 
Schluß gefagt, ſolche Schöpfungen nicht allein aus fidh hervorgebracht; fie find 
durch den Zuftrom von Deutfchen dazu angeregt und befähigt worden. Dieſes 
hervorheben, heiße nicht, die Polen herabſetzen; vielmehr liege eine hohe An: 
eriennung ihrer Kraft in dem Hinweis auf die Thatfache, Daß fie den wirth⸗ 
Ichaftlich überlegenen Germanen nicht unterlegen find, fondern diefe polonifirt 
und deren Kulturmacht in fi aufgenommen haben, ohne ihre eigenen nationalen 
Eigenthümlichkeiten einzubüßen. Die rujfifche Regirung, fcheint mir, müßte 
ed al3 einen ganz bejonders beſchämenden Mikerfolg empfinden, daß die von 
ige angeftrebte Ruſſifizirung der Deutichen in deren Polonifirung umgelchlagen 
tft und dadurch dad Polenthum nicht wenig geftärkt hat. 

Reife. , Karl Jentſch. 

Nach einemlegten Aufſtandsverſuch undeinemlegten Appellandie Waffen mußte 
d e unglüdliche Republik jich dem Steger unterwerfen. Um neuer Rebellion vorzubeugen, 
war ein Mann voneijerner Fauſt und bewährter Geichidlichkeit nöthig. Katharina dachte 
an Siewers. Er hatte in London den armen Boniatomifi fennen gelernt, der damals 
das einfache Leben eines jüngeren Sohnes führte, und fand ihn nun in Warſchau als 
einen ſchon halb entthronten König, deifen völligen Sturz er herbeiführen follte. Sie. 
wers batie Dualen aller Art auszuftehen. Er mußte eine cdle Nation erdrofjeln, einem 
beſſeren Rojes würdigen König die Krone nehmen. Mußte er die Ehren, mit denen er 
überhäuft, Die Huldigungen, die in feiner Perſon der ruſſiſchen Macht dargebracht wur⸗ 
den, nicht halfen? Gewiß Hätte er jich beeilt, diefe efle Laſt abzufchütteln, wenn er nicht 
das Bewußtjein gehabt Hätte, für die Sache der Menſchheit, für Polens eigene Sache 
einzutreten. Mit unerbittlier Strenge führt er die Befehle aus, die aus Petersburg 
lommen, big er die Nation und den König blutend, mit zerfegtem Leib, ind Lager des 
Giegers führen fann, als ginge es auf die Schlachtbant. (Waliſzewjki: Katharina 11.) 

ð 


412 Die Zukunft. 


Hütet Euch vor Hebbel! 


er Segen, den ein Genie fiber die große. Maſſe feiner Ration bringt, 

hat. oftmald feinen Schatten in dem verderblichen, hemmenden oder gar 
ſchädlichen Einfluß, den es auf die mit ihm ftrebenden Slünftler feiner Zeit 
oder die Nachfahren in feiner Kunft ausübt, die der geiftigen, Uebermacht des 
Meifterd erliegen, indem fie ihn nachahmen. So bat Wickelangelo die ganze 
bildende Kunft Italiens bis auf unfere Tage, nach einem Ausſpruch Segan- 
tinis, derd am Beiten willen mußte, gelähmt, weil feine ſtarke Eigenart Jeden, 
der nach ihm malte oder meißelie, ergriff, unterjochte und, ihn um feine eigene 
Perſönlichkeit bringend, zur „michelangeleöten” Manier verführt. So hat 
die „Shatelpearomanie”“ (von Grabbe 1825 am eigenen Leibe erfannt und 
beichrieben) mehr Kräfte, Talente und Seelen vermüftet und vernichtet als 
alle übrigen Manien und Krankheiten zufammen genommen. Und jo ift ſchließ⸗ 
lih, um das legte Beilpiel aus einer dritten Kunft zu nehmen, die Wirkung 
Wagner auf unfere heutigen Komponiften eine eben ſo gewaltige wie zauber« 
haft verderbliche. Es ift bezeichnend, daß der Einfluß eines genialen Künſtlers 
auf feine Gefährten oder Schüler um fo größer und mächtiger fein wird, je 
ftärker die perfönliche Eigenart oder die ganz befonderen Merkmale diejes Genies 
beroortreten und den Schwächeren blenden und bannen. Wie denn beiläufig 
die Einmwirtung Goethes, dieſes Meered aus vielen Flüflen, durchweg eine 
viel ſchwächere, ftillere und meniger ſchädliche geweſen ift ald etwa bie ver 
genannten drei Gewaltigen, deren Eden und Eigenthümlichkeiten mehr ins 
Auge |pringen und leichter und ftärker den Nachitrebenden in Berfuchung führen. 

Ein folder Berführer mit einer ftark ausgeprägten Eigenart und Darum 
von größter Gefährlichkeit für die von ihm Beeinflußten ift Friedrich Hebbel, 
ın dem das literarifche Deutſchland heute feinen größten Dramatiker verehrt. 
Und es ift zu befürdten, daß, wenn fein Werk und feine Form ald Grund: 
lage jedes weiteren dramatiſchen Schaffens bei und gepriejen wird, wie es 
in faft täglich neu erjchemenden Broduren und Artikeln über ihn geichieht, 
dre Wirkung Hebbels auf unjer Drama zur Verfnöcherung, zum Barod und 
zum völligen Verfall führen wird. 

Zunächſt hat fi Hebbels Uebermacht rein ald Intelligenz dadurch er⸗ 
wiejen, daß feine Anfichten über die dramatiſche Kunft, feine „Theorien über 
dad Drama” heute wohl von der gefammten Kritit, wenn nicht veritanden, 
jo doch verehrt, wie Worte des Eoangeliums oder wie vor Xejfing die Säge 
des jeligen Ariftoteles angeführt und zur Nachahmung empfohlen werden. Schon 
Emil Ruh empfand dieje intellektuelle Neberlegenheit Hebbels als eine Gefahr, 
als er ihn in den Tagen des Zwiſtes zmilchen Beiden ein „Gedankenraub⸗ 





Hütet Eu vor Hebbel! 413 


thier“ nannie, dem ‘er fpäter dann allerdings völlig wieder zum Opfer gefallen 
ift. Aus diejer Superiorität des Verſtandes bei Hebbel ift wohl auc die 
feltfame Beeinflufiung zu erflären, die Dito Ludwig, diefe esfte Dichterleiche 
auf dem Meg Hebbels, durch Den erfuhr, dem er fich immer. wieder, wie Laokoon 
rer Schlange, vergeblich zu entziehen fuchte, den er jogar mit dem gräßlichften 
theoretifchen Schimpfwort einen „Nichtdramatiker“ fchalt, um fchließlich felbft 
in der Wahl feiner wenigen tragifchen Stoffe in die Abhängigkeit Hebbels 
zu gerathen. Je mehr ein dramatischer Dichter, wie eben Otto Yudmig, zum 
Grübeln über die Kunft, die er betreibt, neigt, je mehr in ihm die Reflerion 
die Raivetäf, um Sciller8 Worte zu nehmen, überwuchert, um jo mehr ift 
er für den Einfluß Hebbeld ala einer Krankheit empfänglid. 

Bleiben wir zunächſt bei ter Einwirkung Hebbels auf die Kritiker und 
Richter in äfiherischen Dingen, die ihn heutzutage als Kenner und Xehrmeifter 
in der dramatifchen Kunſt mit dem gleichen Ungeſtüm feiern, wie ihre Bor« 
gänger ihn feiner Zeit ald Stümper und ungeſchickten Lehrling verjpotteten, 
Seine fih mit dem Weſen und dem Stil ded Dramas befaflenden theores 
tiſchen Auffäge, die jegt als Fibel für alle Dramatiker gepriefen werden, find 
zum Theil polemifch gehalten (gegen Profeſſor Heiberg, gegen Julian Schmidt 
und fo weiter), zum Theil pro domo gejchrieben, um feine Stoffe und ihre 
bejondere Behandlung vor ſich und vor den üfthetifchen Richtern feiner Zeit 
zu rechtfertigen. Diefe theoretifchsäfthetiichen Arbeiten Hebbeld beruhen in der ' 
Hauptjache auf dem Studium der Philofophie und Aeſthetik Hegeld, die recht 
dazu geichaffen war, einen dialektiſchen Geiſt wie Hebbel gefangen zu nehmen. 
Er hat Died jelbit mehrfach abgejtritten, ja, hat gelegentlich gegen Hegel pole 
mifist, aber ein Vergleich mit den Philojophemen, ja, ſelbſt mit dem deutich- 
lateiniſchen Stil Hegels, der damals Übrigend das ganze denfende Deutſchland 
beherrſchte, bemeift die flarke geiftige Abhängigkeit Hebbels von dieſem „dunklen 
Unfinnichmierer”, wie ihn Schopenhauer in heiligem Zorn genannt hat. Ja, 
während Goethe, wenn er fchuf, die philofophiich:äfthetiicden Errungenichaften 
eines Kant als jelbjiverftändlich und darum läſtig abjtreifte, während Schiller 
ihnen immerhin noch kritifch gegemüberftand, gerieth Hebbel völlig in das ihm 
fo vertraute numertrte Zabyrinth Hegels; und niemald hat ein Dichter fich 
mehr an feinen Stomplementärphilojophen gehalten. Hegels ganzes philoſophiſches 
Verfahren oder feine Technik mit Theſe, Antithefe und Syntheſe war ihm ja 
geradezu aus der Seele gejproden; und faft alle Einfälle Hebbels, von denen 
feine „Zagebücher” ftrogen, beruhen im legten Grund auf ter Anwendung 
dieſer erhabenen und lächerliden Spielerei. Diejes ewige „Mit drei Kugeln wer⸗ 
fen“, die zum Schluß zujammen wieder aufgefangen werden, ermüdet ſchließ⸗ 
lich mehr, als ed ergößt; jeder Leſer der „Tagebücher“ wird ed an fich erfahren 
haben. Und es vernichtet das Selbftdenten, das Beſte, was man überhaupt 


vom Leſen hat, weil es eben jede Kopfarbeit eines Dritten ausſchließt, da ihm 
Alles ſchon vorgemacht, vorgedacht wird, jo daß die häufige Lecture der „Tage: 
bücher” Hebbels eine geifttötende, weil überfütternde Beichäftigung ift. 

Die Thefe oder die Formel, die für Hebbel aus feinen theoretiſchen 


‘ Unterfuchungen über dad Drama und die Zragoedie ermachlen ift, bat er in 


ihrer Quinteflenz wohl am Schönften in den Diftihen „An den Tragiter“ 
auögedrüdt, vie jo lauten: 

„Bade ben Menſchen, Tragoede, in jener erhabenen Stunde, 

Bo ihn die Erde entläßt, weil er den Sternen verfällt, 

Wo das Geſetz, das ihn felbft erhält, nach gewaltigem Kampfe, 

Endlich dem höheren weicht, welches die Welten regirt! 

ber ergreife den Punkt, mo Beide noch ftreiten und hadern, 

Daß er dem Schmetterling gleicht, wie er der Puppe entichwebt.“ 
Das ift, in Verſe gebracht, die dramatiſche Formel Hebbels, die Lehre von 


. der dee des Individuums und der Idee des Univerfumd oder Abjolutums 


(Hegel), welche beiden Ideen fih im Drama wie zwei reife berühren und 
dann fchneiden müflen. Dies ift dad Rezept, das nach der Anficht unferer 
meiften Stritifer einfach befolgt werben muß, um ein gutes Drama zu Stande 
zu bringen. Es ift, wie man fieht, ein ziemlich allgemein gehaltene Programm, 
ein äfthetifcher Lehrſatz, wie ihn Hebbel für fein Drama post hoc oder propter 
hoc aufgejtellt hat, der das Gebiet des dramatifchen eng begrenzt und eigent: 
Ih nur auf den Punkt im Ei beichräntt und alle Blätter und Früchte und 
Zweige vom Baum abjchneidet, um feine fahle Form klar zu zeigen. Dazu 
Tommt, daß diefe dramatische Grundformel, wie übrigens alle äfthetifchen Grund» 
jäge, mögen fie fich noch fo ftabil dünten, höchſt labiler Ratur ift. Indem 
ihre Anwendung doch immer wieder von dem Erkenntnißvexmögen oder der 
„Weltanſchauung“ des fie befolgenden Dramatikers abhängt, der „Die erhabene 
Stunde”, dad „Gele, dad feinen Helden erhält“, oder „das höhere, welches 
die Welten regirt“, immer wieder nach feinem Herzen ala feiner Normaluht 
oder nach dem Grade feiner Erkenntniß berechnen und richten muß. Diele 
Ertenntniß aber iſt ganz abhängig wieder von der philofophifchen Erkenninif 
feiner Zeit, jo daß und Heutigen, zum Beilpiel, fchon die beiden Geſetze de? 
Einzelnen und der Welten, die Hebbel fah, in eins zufammenfallen und wir 
bereitd ein ganz anderes tragifches Empfinden haben. 

Darum wird jeder Tragıker den für ihn „fruchtbarften Moment“, mie 
Veſſing ihn beim Maler nannte, anders jehen und anders geftalten. So daß 
die ganze Schulmeisheit Hebbels, wie fie in diejen Diftichen und in feinem 
„Wort über das Drama” oder in feinem „Vorwort zur Maria Magdalena” 
widerklingt, darauf hinausläujt, daß dad Drama dramatifch ſei. Dieſe richtige, 
weile Forderung aber auf eine Grundformel, die für alle Dramen gelten muß, 
zu bringen, iſt Blödfinn oder Wahnfinn. Wie es denn felbjt für die Ardı- 





Hütet Euch vor Hebbel! 415 


teliuxr, dieſe Dramatik der Materie, eine allgemeine Grundformel, feinen Ein» 
Heitftil giebt und der Baumeifter, wie jeder Lehrling weiß, bei einem Gebäude 
die Statif auf MWahrfcheinlichleitrechnung gründen muß. Wie viel mehr noch 
(Hebbel, höre Dies in Deinem Grabe!) muß Died erft bei der Dramatik ge- 
ſchehen, wo Menfchen und nicht Steine das Baumaterial find. Darum erfcheint 
diefe von Hebbel formulirte enge Erkenntniß von dem Weſen ded Dramas 
höchft zwedlos, es fei denn, man gebraudt fie, um mit diejer toten Krücke 
Alles, was lebendig einherfchreitet, zufammenzufchlagen. Wie Diejed denn zu 
Zeiten oft gejchehen fol. 

Zum Zweiten paßt diefe Formel, wie jüngft noch Baul Ernſt mit 
Schmerzen feltftellen mußte, nur auf Außerft wenige dramatische Kunſtwerke 
und widerlegt ſich damit eigentlich von felbft. Hebbel felbft bat fe in feinem 
ftärkiten Drama, in den „Nibelungen“, wo er den ewigen Epos folgte, völlig 
umgangen. Sole allgemeinen äfthetifchen Regeln, die fortwährend von Aus- 
nahmen lächerlich gemacht werden, dürften, wie alle „Wahrheiten“ nach Ibſens 
Wort, nicht älter ald zwanzig Jahre werden. Nun aber friftet das Wort 
und der Begriff „Drama“ von Hebbeld Gnaden, neumodifch geworden, jein 
zähes Dafein weiter, nicht anders, als ob die dramatiſche Kunſt eine exakte 
Wiſſenſchaft wäre. Diefes Wort prangt nun ald Bogeljcheuche auf dem Anger 
der dramatiſchen deutichen Poefie an der Stelle, wo einftmal3 die drei Ein» 
heiten des Ariftotele-Boileau ftanden, bis Leſſing fie vernichtete. Gegen diefe 
ftumpffinnige Tyrannei des Normaldramas, diefer modernen Meifterfinger« 
dHorheit in Deutjchland, kann nicht laut genug Einipruch erhoben werden. 

Hebbels Nefthetit war eine lediglich für fi und zu feiner Sicherung 
gegen feine Gegner zurechtzemachte, eine leidenfchaftliche Selbftvertheidigung, 
die völlig ungeeignet iſt, ald Katechismus für andere Dramatiter zu gelten. 
Man denke nur an einen ber oberjten äfthelijchen Grundſätze Hebbels, der von 
der Behandlung der Charaktere ſpricht und den Dito Ludwig von ihm über» 
nommen und nur zu einem Heinen Theil an Shatejpeare bewiefen hat. „Die 
Sharaktere”, jagt Hebbel, „dürfen in keinem Fall als fertige erfcheinen, die 
nur noch allerlei Berhältniffe durch» und abfpislen und wohl äußerlih an 
&lüd oder Unglüd, nicht aber innerlich an Kern und Wefenhaftigfeit gewinnen 
und verlieren Tönnen. Ties ift der Tod des Dramas, der Tod vor der Ge: 
burt.“ Man fieht: mit dem dunklen Wort „Trama” wird man, wie zu des 
feligen Gottichall Zeiten mit dem Wort „Handlung“, ger idezu bang gemacht; 
und Moliere allein mit feinen von vorn herein fertigen Typen, dem Geizhals, 
Zautuffe, Mifanthrop und fo weiter, widerlegt diefed Zodesurtheil Hebbels 
mit heiterem Lachen. „Ja“, höre ich hier rafende Hebbelianer einmwerfen, „Das 
maz vordem verjtattet geweien fein. Aber feit dem Meifter müffen eben feine 
errungenen neuen dramatijchen Grundſätze jedem weiteren dramatischen Schafen 


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416 Die Zulunft. 


zu Grunde gelegt werden.” D, Ihr thörichten Gößendiener, wollt Ihr Eure 
ſcholaſtiſche Snechtfchaft auch auf unfer Theater, diefe freiefte Stätte für vie 
Kunft, ausdehnen, auf der Jeder bei uns jeit Leſſing Das probiren darf, was 
er mag? Hat nicht gerade dieſe unfere Freiheit vom Regelbuch unfere Schau 
bühne lebendig erhalten, fo weit fie nicht durch Tapitaliftiiche Unkultur oder 
Unzulänglichleit des Betriebsperfonald um ihren hohen Sinn gebracht wurde? 
Und ſoll Hebbels Art, zu dramatifiren, „a“ und „o* für unfere Theaterdichter 
werden, fo gebe ich Euch mein Wort, daß in hundert Jahren unjer Theater 
an Eintönigkeit eingegangen iſt. 

Das eine Beilpiel von der verfchievenen Behandlung der Charaktere im 
Drama bei Hebbel und bei Moliere mag zeigen, wie thöricht e3 ift, einem 
Wort und einem Begriff, wie dem von Hebbel auf den Thron erhobenen 
„Drama“, abjolute Macht beizulegen. Es lehrt gleichzeitig au, wie die Technik 
des Dramas von jedem einzelnen Dramatiter verfchieden gehandhabt wird, 
wie ed für den Aufbau eined Dramas feine einzelne beſtimmte Form giebt 
und wie e3, jelbft für einen Hebbel, eine Bermefienheit und eine Thorheit ift, 
eine ſolche Form feftlegen zu wollen. Man gewöhne ſich endlich doch in Deutſch⸗ 
land daran, was Niegiche allen mit fünf und mit mehr Sinnen Begabten vor- 
gepredigt hat, daf die Aeſthetik gar keine jelbftändige, fondern eine abgeleitete 
und angewandte Wiffenfchaft ift, daß man noch gar nicht oder immer wieder 
nicht weiß, mas ſchön, noch gar, was dramatiich ift. Mögen immerhin unjere 
Seichmadsrichter, Solche, die fi) dafür ausgeben und die man vergeflen wırd 
wie Gervinus, der befanntlih E. &. A. Hoffmann wegen feines mangelnden 
Dispofitiontalentes, das nichts bilden und gliedern könnte, nicht zu den richtigen 
Romanfchreibern verjegte, mögen fie immerhin mit dem Kunſtwort „Drama“, 
wie es Hebbel geſchaffen hat und mie fie es heute veritanden haben, wie die 
Schneider mit der Elle weiterhantiren. Aber die dramatiſche Produktion unjerer 
Zeit ſelbſt fol nicht an den Theorien Hebbeld erkrankten und erlahmen. Die 
‚ dramatischen Dichter follen nicht vor diefer bedeutenden Intelligenz und ſtarken 
Ueberredungstraft Hebbels ihr Eigenes verlieren und, taub gemacht oder ein 
geihüchtert durch das Geſchrei der ihm heute anhängenden äfthetifchen Schrift« 
jteller, ihre Dramen nad) dem Xeiften des „großen Dithmarfchen” zurechthämmern. 
Die Gefahren Hebbels für jeden durch den geichlofienen Bau feines Dramas 
Ergriffenen find mannichfache. Er wird zunächſt leicht dazu verführt, wie 
der Meifter über dem Gerüft und Grundriß den Ausbau zu vernachläffigen 
oder den äußeren Rahmen, wie Died Hebbel mehrfach, jo in „Heroded und 
Mariamne”, geihan hat, liebevoller als dad ganze Bild zu behandeln. Died 
iſt das Schulmeifterliche, Unkünftlerifche, Gebundene bei Hebbel, daß er ſo 
oft und fo deutlich in feinen Dramen als feinen Bildern von Menſchen auf 
die Prinzipien Hinweilt, die er als ihr Erichaffer ihnen zu Grunde gelegt hat, 








Hütet Euch vor Hebbel! 417 


fo daß mir ung immer wieder an den Knochen des dramatifchen Stelets 
beit ihm jtoßen müflen. Seinen Grundſätzen vom Drama und feinen Ideen 
zu Liebe wird das Menfchliche aus feinen. Geitilten geopfert. Sie werden 
nur ald Ornamente auf die Wand feiner Ideen, die fie klar machen und „illus 
fteiren” follen, hingemalt. So fommt «8, daß feine Dramen reine Stilifirun« 
gen find im Gegenſatz zu der dem Leben zugewandten, meinelwegen „natu⸗ 
raliſtiſchen“ Art Shakeſpeares, zu dramatifiren. 

Es ift oft faft unerträglich, anzufehen und anzuhören, wie der Denker 
Hebbel dem Dichter ind Werk hineinpfufcht und der Demiurgos zu feinen Ge- 
ſchöpfen vernehmlich ſpricht: „Bis hierher und nicht weiter!" Mo bei Shafes 
ſpeare, bei Sopholles, ja, noch bei Schiller (denkt an den legten Akt von 
„Wallenſteins Tod“!) die göttlichen Paufen find, wo man das Schickſal über 
dem Helden wie über und Allen raufchen hört, da taucht bei Hebbel meift 
aus der Ziefe jener vermaledeite deutſche Zeigefinger auf, der anfängt, an dem 
tragifchen Opfer vorbei ind Publikum zu weilen, und deſſen Befiter predigt: 
„Seht Ihr, Das kommt davon, wenn Einer feine Grenzen überfchreitet! 

In diefer Deutlichlert, mit der ex ſich vor feine Figuren hinftellt und 
in der er manchmal nur noch von Grillparzer oder von Schiller in feinen ſchwäch⸗ 
ten Stüden (vergeßt den „Parricive” niemals!) übertroffen wird, liegt Hebbels 
nzößte Schwäche. In diefem Punkte hat er von dem von ihm jo vergöfterten 
Shalefpeare gar nicht? gelernt. Das Moralifche, „Zumoralifche”, wie er es in 
eıner Selbftleitit genannt hat, in feinen Stüden drängt ſich immer wieder 
ſchön hervor und giebt feinem Drama die verführeriihe Rundung, die nicht 
lediglich dem Inneren überlaffen, fondern von dem Weifter noch von aufen 
dialektiſch herumgefchmiedet wird. Auch bier zeigt fich Hebbel, wie in feinen 
„Tagebüchern“, ald Der, der Alles macht, als ein Faltotum. Er zeigt dem Be: 
ichauer feiner Dramen nicht, wie vor ihm Shakeſpeare und nad ihm Ibſen, nur 
ten zeriprungenen Ring, den der Zuhörer ſelbſt in feinem inneren zufammen- 
bringen foll und will, Rein: Hebbel fügt ihn jelber hörbar wieder zujammen, 
als fei ed ein Verbrechen, einen Riß zu zeigen, der fich nicht wieder von jelbft 
ſchlöfſe und fchließen muß. Etwas von der konſervativen Angft Hegels haftet 
ihm hierbei an und es kommt ihm jelbit nicht darauf en, den Sprung, den 
das ungezügelte Germanenthum in die Welt riß, am Schluß der „Nibelungen“ 
mit dem Chriftenthum, dem er den Sieg giebt, zu bepflaftern, eine Thorheit, 
die ihm fein Germane verzeihen mag. 

Abgeſehen von diejem Noralifiren und Raifonniren, einem Gift, das Hebbel 
in zweiter ſtarker Doſis in die deutjche Dramatik trug (die erſte ward ihr von 
Schiller eingegeben), bedeutet er eine große Gefahr für den Epigonen in ber 
Art und der Kunft feiner Motivirung. Flößt feine Moral vor Allem dem 
waderen Bürger und Staatsmenſchen Ehrfurcht ein, jo macht die Geſchicklich⸗ 


32* 


418 | Die Zukunft. 


keit und logiſche Rothwendigleit, mit der er feine Charaktere motioist, den 
ftärfften Eindrud auf den denkenden Menſchen. Hier ift Alles (namentlich in 
der „Benoveva”, im „Gyges“ und in „Herodes und Mariamne“) Schritt vor 
Schritt berechnet und gefolgert. Könnte man ſein Verfahren im Motiviren in 
Zahlen überjegen, feine glatt auögeführten Nechenerempel würden jeden Mathe: 
matifer ergößen. Punkt für Punkt führt er feine Figuren und an ihnen die 
Handlung weiter. Keine Zufälligleiten des Lebens, wie fie bei Shafeipeare 
immer wieder vorkommen (Beifpiele: das Richtüberbringen des Briefes des 
Lorenzo an Romeo, die Ermordung des Polonius durch Hamlet und ſo weiter), 
noch Zufälligkeiten des Charakters (das klaſſiſche Beiſpiel: die Todesfurcht des 
Prinzen von Homburg) ſtören bei Hebbel die glatte Rechnung. Wit eiſerner 
Nothwendigkeit feiner logischen Prinzipienführung (nicht etwa der Ratur feiner 
Kreaturen) verläuft Alles wie auf dem Papier; Individuum und Unioerfum 
werden in Proportion gejegt und dann an einander aufgelöjt, bis fein Reit 
mebr übrig bleibt. Die Helden Hebbeld werden jämmtlich dialektiih von ihm 
umgebracht und mit ſpitzen Thefen und Anthithefen totgeftochen; nie werden 
fie einfah von dem Scidfal, in das fie verfnotet find, abgemwürgt, fondein 
mit Gründen langjam, Glied vor Glied, von ihrem Dichter kalt oder ftumm 
gemacht. Man braucht nur an den entfeßlichen dialektiſchen Schluß von „Agnes 
Bernauer”, fonit einer der präctigften Schöpfungen Hebbel3, oder an die rein 
vernunftmäßige Abjchlahlung des Kandaules zu denten, um Das zu ver 
ftehen. Und der tiefe Ausſpruch Nietzſches, dem Hebbel übrigens ftel3 em 
Fremder blieb, in feiner erften Arbeit: „Die Geburt der Tragoedie aus dem 
Geifte der Muſik“ (hört!), wird Einem auf einmal ganz klar; ich meine dın 
Ausſpruch, den Nietzſche an Euripides im Gegenfag zu Aiſchylos beweiſt: „Die 
Dialektik war und iſt der Tod der Tragoedie.“ 

Zum Teufel mit der geprieſenen Ebenmäßigkeit oder „Geradlinigleit“, 
wie man jet jagt, in den Charakteren Hebbels, zum Henter mit der ftrengen 
logiſchen Gejegmäßigfeit im Aufbau feiner Handlung und zum Satan mit 
der regeldetrimäßigen Kaujalität, mit der er feine Menjchen zur Welt oder 
zum Schickſal bringt! Ich will nicht die Drähte fehen, an denen der Dichter 
feine Gefchöpfe in der Hand hält, ich will, daß diefe Gejchöpfe wie Blumen 
oder Bäume in die Welt hinauswachſen und nicht nur dem Sinn, fondern 
au dem Irrſinn des Dafeins, wie wir Menſchen alle, unterworfen find. Ich 
will nicht immer ald Horizont über ihnen die philofophifch erworbene Weli⸗ 
enihauung des Dichter jehen, unter Der die Menſchen Hebbels wie gebüdte 
und gedrüdte Riefen einhergehen, bis fie fi) den Kopf an ihr zerftoßen. Ich 
will nicht das Uhrwerk aus ihnen herausgenommen jehen und mir vordemon⸗ 
itriren lafjen: Bei jo und fo bejchaffener Veranlagung muß dies Individuum 
jo und jo auf fein Geſchick reagiren. Eben jo wenig wie ich bei einem Schnip- 


Hütet Euch vor Hebbel! 419 


mer? noch die Hobelfpähne ſchauen möchte, die an ihm waren. ch will auf der 
Bühne gar nicht durchaus immer die höchft problematische Geſetzmäßigkeit des 
Geſchehens im Menichen und außer ihm beweifen hören; die fireng logiſch aufs 
gebauten Charaktere des Dramas, die jeder Dandy im Theater verladen kann, 
wirkten fchließlich leicht langweilig, Flach, Schematifch und unlebendig. Was Jean . 
Paul der Unendliche ſchon mit Schmerzen oft bei Schiller, fo in den „Piccolo⸗ 
mini“, feitftellte. Das ift ja der ewige, bis heute noch nicht abgeblafte Reiz Shake⸗ 
fpeares, da er die Menfchen mit ihrem Für und Wider, mit ihren unlogiſchen 
Verkürzungen in ihrem Charakter und den gewaltjamen, tiefer ald „die reine 
Vernunft” vermillelten Uebergängen, mit ihren Schrullen und ihrem „Spleen“, 
mit ihren fie jelbft überrafchenden plöglichen Veränderungen in ihrem Weſen 
aufgezeichnet hat. (D Percy, o Lear, o jeltfame Ophelia!) Daß er, mit einem 
Wort, nicht Alles in ihrem Charakter vernunftgemäß verbunden hat, daß er ihre 
Widerſprüche nicht jcheute und daß er nicht immer Alles „mofivirt” Bat. 
Hebbel Tonnte fi darin gar nicht genug thun; und hier ift ein Grund 
dafür, warum feine Werke dem Theater fo lange fern geblieben und noch heute 
nicht eigentlich volksthümlich geworden find. Goethe bat den Fehler des zu 
viel Motivirend für die Bühne in einem befannten Geſpräch mit Eckermann 
richtig erfannt, in dem er feine „Natürliche Zochter” „eine Kette von lauter 
Motiven nennt, was auf der Bühne kein Glück machen könne“. Hebbels Dien- 
ſchen und Werke find nun geradezu mit fortwährenden Dlotivirungen aufger 
pumpt, die ſich meift in Monologen entladen oder in dem für uns heute, 
außer etwa bei kurzen komiſchen Bointen wie bei Shakeſpeare, wie bei Moliere 
oder der Stegreiflomoedie, unleidlich gewordenen „Bei Seite Sprechen”. Bor 
Allem „Herodes und Mariamne” ift eine Kette von unzähligen in einander 
wie Zahnräder eingreifenden oder auf einander folgenden Motivirungen; und 
ich behaupte dreift, daß Fein Menſch im Theater diejem veräftelten und ver» 
Ichlungenen feeliichen Prozeß ftet3 und ganz genau folgen kann. In dieſem 
Stüd wirkt die ausgetüftelte Motivirung bi zur Unnatur ärgerlich nnd 
ſchädigt die edle tragiſche Wirkung, die mit dem Problem gegeben war. Große 
Zeidenfchaften durch kleine Beweggründe zu motioiren, erjcheint ung im Theater, 
wo unjer Gefühl oft viel ſchneller läuft und lauter fpricht als unſer Verſtand, 
überflüfftg und lächerli. Wie denn etwa Jagos Haß gegen Othello oder Buttlers 
Reid auf Wallenftein und viel wahrjcheinlicher einfach aus ihrem Weſen ges 
macht wird, das eben ein Theil von ung felbft ift, ald durch Die nebenfächliche 
äußerliche Motivirung, daß der Mohr dem Weibe ded Jago nachgeftellt oder 
daß der Generaliſſimus den Brief, drin Buttler um den Grafentitel bat, nicht 
beim Saijer befürwortet hat. („Wallenfteind Tod”; eine auf der Bühne für 
uns heute geradezu komiſche Szene). Laßt Euch nicht, Ihr dramatifchen Dichter, 
um Eud wie einſtmals Hebbel anzureden und zu berathen, durch fein Bei» 


420 Die Bukunft, 


jpiel oder durch die Hugen Worte Derer, die feine Theorie jetzt preiſen, ver⸗ 
‚führen, Alles oder möglichft viel in Euren Dramen zu motiviren! Laßt Euch 
nit zu Advokaten Eurer Geſchöpfe machen, fie zu erklären oder zu vertheidi« 
gen! Laßt Euch nicht dazu überreden, das Leben, dies vielgeftaltige, wechſelnde 
Ungeheuer, um Euch und in Euch in eine ganz beftimmte fünfedige Form zu 
bringen! Sucht nicht krampfhaft nach einem Problem und fehiebt nicht Allem 
eine Idee unter, jene verwünfchte deutiche Krankheit, die Goethe, der völlig 
immun gegen fie war, für alle Zeiten verlacht hat! Denkt nicht immer, wenn 
Ihr an Eurem Drama baut und malt, an den Grundriß noch an den Rahmen, 
der darum kommen foll und den Eure jeweilige Weltanfchauung, die von der 
Hebbels jo verjchieden fein muß wie 1900 von 1850, von jelbft darum legen 
wird. Laßt Euch gejagt fein, daß Hebbels dramaturgifche Regeln, jofern fie 
nicht äſthetiſche Elementarregeln find, nur für ihn und fein Werk pafien und 
daß der Philojoph Hebbel, der dieje Formeln für fi und feine Zeit als Wahr⸗ 
heiten erkannt hatte, dem Künftler und Bildner Hebbel nur gefchadet hat. So, 
wenn er feine Fabel auf Grund feines Problems, das er ihr unterjchob und 
hineinwob, vernadjläffigte. Dies ift der zweite Grund, warum er auf dem 
Theater noch nicht populär geworden ift und ed nie werden wird. Hebbel 
verachiete, die einzigen „Nibelungen“ wieder auögenommen, über dem Problem, 
dad er drin fah, die äußere Fabel, den Mythos, der nach Ariſtoteles den 
wichtigften Beftandiheil der Tragoedie ausmacht. (Uebrigens ift es nicht un 
wahrſcheinlich, aus der Wahl feiner Stoffe zu jchließen, daß Hebbel, der Auto» 
didakt, das Wort Mythos des Ariftoteles in unjerem fpäteren feierlichen Sinn 
nahm. MO wödos heit zunächſt einfach „Erzählung“, „Gerede“.) So wurde 
Hebbeld Dramatik fchlieklich, analog der Mufit Wagners, eine Programm: 
dramatif, indem er nämlich immer darauf fann, jeine Menſchen auf ihre (oder 
befier: feine) Ideen wie Blumen auf Draht zu ziehen, feine Fabel, die er fand, 
in ein Problem zu bringen und Spiel und Gegenjpiel noch fogar ideell weiter 
dadurch zu vertiefen, daß er in ihnen zwei ganze, einander widerfireitende Kul⸗ 
turen gegenüberjtellte (jo in der „Judith“, jo in „Gyges“, fo in den „Ri: 
belungen“). Dieje drei hyperdramatiſchen Forderungen Hebbels, fliehe fie, 
Dramatiker unferer Zeit, ala Fußfchlingen, die Dich unbedingt zu feinem Epi⸗ 
gonen machen, und fürchte fie, wie der Chrift die Sünden wider den Heiligen 
Geift, weil fie Deine Kunft in Feſſeln und Regeln legen wollen! 

... Und nun, kluger Friedrich Hebbel, Du nicht unwerth unjerer ans 
deren großen Friedriche, laß uns nach dieſer Schachpartie einander die Hände 
drüden! Du weißt, wie ich Dein Syftem als schola dramatica verachte und 
wie ih Dich ald Kunſtler verehrte. 

Düfieldorf. Herbert Eulenberg. 


% 


Das unrettbare Ich. 421 


Das unrettbare Ich. 


| Zei im Hotel Bellevue in Dresden, Blid auf bie Elbe. Eva figt am Fenfler, 

in ein Buch vertieft. Arthur tritt aus dem Schlafzimmer ein und bleibt 

einen Augenblid, lächelnd und eritaunt, an der Thür ſtehen; dann nähert er ſich 
leife und küßt Eva uf das Haar.) 

Eva (leicht zufammenfahrend): Ach ... Du biſts! Sie legt das Buch raſch 
bei Seite.) 

Arthur: Warſt Du aber vertieft! Angeſichts dieſes famoſen Blickes und 
dieſes nicht minder famofen... (er weiſt auf ben zierlich gededien Fruhſtückstiſch). 

Eva: Du wurdeſt mit Deinem beautifying ja gar nicht fertig ... 

Arthur: Beautifying . .. . ih muß mich doch rafixen . 

Eva: Das jehe ich volllommen ein. Darf ih Did um ben Honig bitten ? 

Urthur: Und was haft Du denn ba bis zur Selbftvergelienheit gelejen? 

Eva: Ach ... nichts. 

Arthur: ao was ſehr Intereſſantes. Kann ich das Geheimniß nicht 
erfahren ? 

Eva: Aber ja, mein Herr und Gebieter. Ich höre fo was wie Ungebuld ‘ 
in Deiner Stimme; aljo... Wie hieß es gleich? „Die Weltanſchauung eines mobernen 
Raturforicherg.“ 

Arthur: Ach, eins von meinen Büchern. Offen geitanden: daß Dich Das fo 
-interejfirt hat ... 

Eva: Gott... ein Sag. Ich habe ja natürlich nur geblättert. 

Arthur: Ein Say? 

Eva: Ja, der hat mir zu denken gegeben. 

Arthur: Zu denfen? Und dabei fiehft Du fo entzüdend aus wie immer. 
Willſt Du mir nicht fagen . . .? 

Eva (zögembd): Vielleicht ift e8 das Beſte. (Sie fteht auf und holt bas 
"Buch, in welchen fie dann blättert.) 

Arthur: Jetzt bin ich aber wirklid) neugierig. 

Eva: Es ift nicht fo gefährlich. Nur ein Sa, wie gejagt. Alſo bitte, bier! 

Arthur: Bitte, ließ vor; ich muß das Ei präpariren und die Schale hat 
‚wieder eine Höllentemperatur. 

Eva: Ich leſe nicht gern var. 

Urthur: Uber Kind, einen Say .. .! 

Eva: „Das Jh ift unrettbar.” 

Arthur: Ach fo! Das ift von Mad. Frappant formulirt. Faſt unmillen- 
fchaftlich; mit fihtlicher Freude am Epigramm. Pour &pater le bourgeois. 

Eva: Wer tft Mad? 

Arthur: Bedeutender Phyſiker und PHilofoph dazu. Weiter weiß ich eigent- 
lich auch nichts von ihm. 

Eva: Alfo höremal: „Nicht das Ich ift ein Primäres, fondern Empfindung» 
elemente bilden ein Ih. Wenn ein Ach zu empfinden aufhört, wenn ein Ich 
ſtirbt, fo Hat nur eine ideelle dentöfonomifche, Feine reelle Einheit aufgehört, zu 
weſtehen.“ 

Arthur: Verſtehſt Du Das? 





422 Die Zulknuſt. 


Eva: Es dämmert mir fo. Etwa: es giebt wohl Töne, aber fein Klavier 

Arthur: Sehr nieblid. Allerdings müſſen wir uns das Klavier als 
bewußtes Wefen denken. Aber ich weiß nicht, warum Dich diefer Sag fo intero 
eifirt bat. 

Eva: Intereſſirt? Exrichüttert hat er mich. Ich weiß, Du liebſt Leine ſtarken⸗ 
Worte, aber ih muß es fagen: aufs Tiefſte erfchüttert. 

Arthur: Ja, ich fehe erſt jetzt, daß Du nicht tft. 

| (Baufe.) 

Arthur: Verzeih, Du ſcheinſt es wirklich ganz ernft zu meinen. Bil Der- 
Di nit ein Bischen deutlicher crllären? 

Eva: Ja, fiehft Du denn bie Konſequenzen nicht? 

Arthur: Die Konjequenzen bes Sates? 

Eva: Ya. 

Arthur: Gott, weißt Du, ich habe fo viele ernite Gedanken geleſen, daß 
ich keinen mehr ernſt nehme. 

Eva: Nun, dieſen nimmſt Du doch vielleicht ernft. Es wäre wenigſtens fehr- 
ungalant, wenn Du e3 nicht thätet. Denn wenn bas Ich unrettbar ift, dann ſcheint 
mir die Ehe . . . finnlos. 

Arthur: Ka, Eva, Du kennſt eben ſolche Bücher zu wenig. Das find rein 
theoxetifche Betrachtungen . 

Eva: Alfo völlig werthlos? 

Arthur: Im Gegentheil, überaus wertvoll; aber man barf nicht gleidy- 
praktiſche Schlüffe aus ihnen ziehen. 

Eva: Berzeih’, aber theoretiſche Betrachtungen, aus denen ich keine prale 
tiſchen Schlüſſe ziehen kann, ſind doch werthlos. 

Arthur: Alſo gut, ziehen wir Schlüſſe. Nun? 

Eva: Wenn ich nur ein (wie heißt es?) „Empfinbungsfompleg” bin, dan. 
bin ich doch etwas ganz Fließendes, nicht? 

Arthur: Gewiß, ein perpetuum mobile. Ein Meer. 

Eva: Ja, und die Treue? 

Artbur:... Safe... 

Eva: Nun ja, wir haben uns doch Treue geſchworen. 

Arthur (fie entzlidt betrachtend): Wie wundervoll Dir erröthen kannſt! 

Eva (ladend): Solche pathetiihen Wendungen machen mich immer ver— 
legen. Aber nun ſage mir, ift denn da Trene möglich? Können wie trgenbweldhe - 
Verantwortung für uns übernehmen? 

Arthur: Nein. 

Eva: Giebt e8 denn überhaupt feinen „Charafter”? 

Arthur: Weißt Du, ich bin Fein Philoſoph. Ich Tann die Sache nur aus 
meiner pſychologiſchen Erfahrung heraus beurtbeilen. Meiner Anſicht nad) giebt: 
es einen Charakter. Wir bleiben immer die Selben. Es muß alſo wohl doch ein 
Subſtrat in ung geben . 

Eva: Ein Subftrat? 

Arthur: Einen Stoff, eine Dualität, enfin, irgend Etwas, das flabil iſt. 

Eva: Nun ja, unfere Seele oder (Seele fagt man ja wohl nicht mehr) bas- 
ganze . 


Das unttibare Ich. 423 


Arthur: Das ganze Syſtems unferes Ichs. 

Eva (entmuthigt): Ich finde, das Alles find Redensarten, 

Arthur: Ja, die Spratift arm und plump, bat ſchon ber gute Riccaut geſagt. 

Eva: Ich bin recht traurig. 

Arthur: Aber Hundchen! (Er reicht ihr bie Hand über ben Tiſch ſie er⸗ 
greift fie und bält fie feſt.) 

Eva: Na, nit fo furchtbar. Uber ich dachte, es gebe Treue. Schon das 
Wort ift fo ſchön, fo blau. Himmelblau. Und ich hatte mich ſchon ſo darauf 
gefreut, mit Dir alt zu werden. 

Arthur: Wird auch ſehr hübſch. Ein kleines weißes Häuschen mit grünen 
Fenſterladen. Abends figen wir Hinten im Garten und fehen nach dem Feld hin⸗ 
fiber, wo bie letzte Sonne auf ber Scholle liegt. 

Eva: Und die Sloden läuten... Damit iſts nun nichts, denn wer weiß, 
was Du dann für ein „Empfinbungstompler“ bit? 

Arthur: Run, ich glaube, ich fann für mich einſtehen. Mid wir Du 
nicht wieder 108. 

Eva: Die Wiſſenſchaft macht doc fehr arm. Eigentlich Hatten die Leute 
früher Recht, daß fie die ketzeriſchen Bücher verbrannten. | 

Arthur: Ja, Das war eine Föftlicdhe Zeit. 

Eva: Wie lebt man nur mit einer folcden Lehre? 

Arthur: Wie mit allen Lehren: man vergibt fie. 

Eva: Und alle Gefege und fo was? Das ift doch dann ber reine Unfinn. 
Ich Habe mal gelejen, daß man früher ungetveue Frauen lebendig begrub .. . 

Arthur: Gräulich, nicht? 

Eva: Nein. Das verſtehe ih. Aber das unreiibare IH... 

Arthur: Ra, rein theoretifch geſprochen, wirft Du mir Doch zugeben, daß 
es unfinnig if, fi im Jahr 1890 zu verpflichten, eine Frau im Jahr 1900 noch 
3:2 lieben? 

Eva (ladend): Ein Bischen guter Wille ift natürlich nöthig. Jedenfalls 
weiß ich, wenn Du nur einen Augenblick aufhörteft, mich zu lieben... . 

Urtdur: Was dann? 

Eva: Ich will e8 lieber nicht ausfprechen. 

Arthur: Dann muß ih Dir ein Geftändnig machen. Diejer Augenblid 
war ſchon da. 

Eva (verlegt): So. Wir find hente drei Wochen verbeirathet. Und wann, bitte?” 

Arthur: Ich Hatte neulich unfinnige Zahnfchmerzen. Du warft fehr freund⸗ 
lich zu mir und ftreichelteft mein Haar. Ich hätte Dir dankbar fein müflen, aber 
ih empfand nur Ungebuld und Teindfäligfeit gegen Did. Ein paar Sekunden 
tpäter gabft Du mir Waſſer und es wurde beſſer. Da üiberfam mich mit einem. 
Maf eine wunderbar wohlige Ruhe, ich Tiebte Dich mit der füßeften, reinften Bärt« 
lichkeit, ih nahm Dich in meine Arme... 

Eva: Bitte, bilte! 

Arthur: Ich nahm Dich in meine Arme (er zieht fie an fich), küßte Dich⸗ 
die Welt verſank und ich fühlte: Das Ich ift unretibar, 

Eduard Goldbeck. 
es 


4 21 Die Zukunft. 


Die Familie Lowoſitz.“) 


uf den großen Fenſtern bes Hörfaals brannte bie Nachmittagsfonne. Sie lieh 
Millionen von Staubatomen auf ihren fchrägen Streifen tanzen und fdhien 
in die Geſichter ber Studenten, daß fie bie Augenlider blinzelnd ſchließen mußten. 
Die Czechen, die in den rüdwärtigen Bänken bei einander faßen, ließen die Köpfe 
"Hängen, um anzubeuien, baß fie fih nur mit Milhe wach erhielten. Der legte Sat 
bes Bortragenden war noch nicht verhallt, als fie fih fchon erhoben und geräufd- 
voll nad) dem Ausgang ſtrebten. Aber da fie die Deutichen ‚Profit‘ rufen hörten, 
tehrten fie wieder um und warfen ein grolfendes ‚Schande‘ in die zuftinnmenden 
Laute. Solche Ausbrüche waren in dem Kolleg des Profefſors Werner keine Selten⸗ 
heit. Vor vier Monaten hatte er durch die Behauptung, die Kunſtdenkmäler Prags 
trügen einen germaniſchen Charalter, den Zorn feiner ſlaviſchen Bubdrer erregt. 
Sie waren in ben Abendſtunden durch die Stabt gezogen, hatten unter Pereat⸗ 
gefchrei im Rarolinum und in ber Wohnung des Beleidigers eine Anzahl Fenfler- 
icheiben eingeworfen und waren mit Bublitum und Polizei Hanbgemein geworden. 

Und die Szene war noch unvergeſſen. Die Kunde, für den nächften Vortrag 
des Kunfthiftorilers fei eine feindfälige Kundgebung geplant, hatte ſich verbreitet. 
Als dann die nationalen Demonftranten herangekommen waren, hatten fie die Zu⸗ 
gänge zum Hörfaal durch die gefammte Burfchen- und Finlenſchaft befegt gefunden. 
In einem regelzechten Kampf waren fie in die Flucht geichlagen worben. Seitdem 
Herrſchte in aufgeregten Beiten ſtets eine ftarfe Spannung im Nubitorium des Bro- 
fefjord Werner. Dan behauptete, bie Czechen gingen mur hinein, um Skandal zu 
machen. Inzwiſchen hatte der von ber Regirung befürwortete Plan, bie Hochſchulen 
zu utraquifizen, die Gegenjäge noch fchärfer zugeſpitzt. Die Deutſchen wehrten ſich 
mit allen Kräften gegen diefe Echmälerung ihrer Rechte. Der fonntägliche Graben⸗ 
bummel ber Eouleurftubenten, ber immer mehr die Bedeutung eines hochpolitifcen 
Ereigniſſes gewann, reizte dagegen die Empfindlichleit der Gegner ſtets aufs Neue 
und wurde meift Durch einen Rachealt vergolten. Und in biefem Augenblid fühlten 
fig die Slaven durch die Rektorenwahl, die wieder einen Deutfchen an bie Spipe 
des Profefforenlörpers ftellte, ſchwer beleidigt. So war bie Luft mit Zändftoff an- 
gefüllt. Und es fchien, als wolle er ſich no im Beiſein Werner wild entladen. 
Schon flogen Blide hin und wieder. So drohend, als foliten ihnen Thätlichkeiten 
folgen. Da beftieg ber Brofeffor, der ſchon an ber Thür geſtanden Hatte, noch ein 
mal das Katheder. 

„Meine Herren”, fagte er in einem Ton, ber zwifchen Herzlichleit und Würbe 
die Mitte hielt, „id bin beinahe fchon ein alter Mann. Trotzdem Habe ich ein 
"Berjtändnig für die Wallungen der Jugend. Uber bedenken Sie, die Univerfität, 
ber Hort ber Wiſſenſchaft und Forſchung, darf nicht der Tummelplag nationaler 
Xeidenichaften werden. Es wäre ihr Verderben. Darıim bitte ih Sie: Halten Cie 
Frieden mit einander. Weberlafien Sie bie Kämpfe ben Männern, bie das Ver⸗ 
trauen ihrer Mitburger Dazu auserwählt bat, die ſtaatlichen Geſchicke mitzulenten.” 


s *) Ein. Bruchftüd aus dem Roman, ben Frau Augufte Haufchner, die Verfaflerin 
der ftarfen Bücher „Daatjes Huchzeit* und , Kunſt“, bei Egon Fleiſchel & Eo. erfcheinn 
ließ und der als literarifche Leiftung, nicht nur in biefer Zeit wieberauffladernder Native 
nalitätfämpfe zwiſchen Deutichen und Slaven, ernfte Beachtung verbient. 





Die Familie Lowojitz. 425 


Die Ezechen, die aus bem Spruch die Mißbilligung ihrer Haltung heraus 
zu hören glaubten, brachen: in ein Murren aus, in das fich ein paar leiſe Pfiffe 
mifchten. Aber die Deutfchen, gleichſam ala wollten fie Damit den Willen des Pro- 
feſſors ehren, beachteten die Herausforderung nicht, verließen fchweigend das Ger 
bäude und fanden fich erſt auf der Straße wieder zu einander. Inmitten einer Gruppe 
deuiſchnational Gefinnter fland auch Rudolf und betbeiligte ſich lebhaft an der 
aufgeregten Unterhaltung. Das Intereſſe, mit dem man feine Worte hörte, bewies, 
daß ex ſich in diefem Kreis eines gewiffen Anſehens erfreue. Auf einem fonber» 
baren Umweg war er dazu gelangt. Im Frühjahr wars geweſen, da hatte er Milena 
und zwei ihrer Kolleginnen, Anninka und Steffi, zum Volksfeſt Fidlovatſchla nad) 
Nufle Hinausbegleitet. Unterwegs hatte ex ſich mit feiner Freundin durch einen 
Wortwechjel entzweit. Um fie zu ärgern, war er draußen ausſchließlich mit ber 
blonden Anninka gegangen. Sie hatte würfeln müffen, ſich wiegen laffen und nach 
der Scheibe ſchießen. Er Hatte ihr Orangen und Zuckerln gelauft und im Kaſperl⸗ 
theater neben ihr gefeflen. Als er ben Vorhang ber Bube gelüftet hatte, in bie fie 
eingetreten waren, um das Kalb mit ben ſechs Füßen zu bewundern, hatte er Die 
beiden Anderen vermißt und fie erft nach langem Suchen beim Ringelipiel wieder 
aufgefunden. Steffi ſchon hoch zu Roß und Milena im Begriff, einen Holzſchimmel 
zu befteigen, wobei ein junger Mann ihr ſehr galant behilflich war. Mit einem rafchen 
Ruck Hatte Rudolf fie zurüdgerifien und ihrem Beſchützer, in dem ex den verhaßten 
Corpsſtudenten Miller erfannie, hochmüthig zugerufen: „Ich verbiete Ihnen, dieſe 
Dame zu beläftigen.“ 

Ohne diefen Zuruf zu beachten, Hatte Miller fih vertraulich zu Milena ger 
wendet: „Bitt, Gnädige, belieben aufzufteigen; höchſte Eijenbahn.“ 

Während das Mädchen unfchlüffig ftehen geblieben war, hatte Rubolf feinem 
Gegenüber mit einem „Unverfchämter Ferl” ins Geficht gefchlagen. 

Am nächſten Tag hatte er Riedel mit ber Bitte überrafcht, ihm, mit Pollak 
zufammen, in einem Ehrenhandel beizuftehen. Die Echwere der gegenfeitigen Be⸗ 
leidigung verlange eine Forderung auf Säbel. Trot feiner Freude an der ihm 
zugedachten Würde hatte der Technifer geglaubt, eine Warnung nicht zurüdhalten zu 
‚dürfen. „Sie, der Miller ift ein guter rechter und Sie haben boch licher noch feinen 
Säbel in der Hand gehabt. Aber Sie wiſſen ja, Sie haben das Recht, fich ſechs 
Wochen lang einzupaufen.* Und fein Erftaunen war gewachſen, als er erfuhr, daß 
Lowoſitz regelmäßig bie Fechtſchule befuche und feiner Fähigkeiten ficher jei. 

Wirklich war es ihm gelungen, den Gegner nad ein paar Gängen durch 
einen Kopfhieb fampfunfähig zu machen, ohne felbft eine Verwundung bavonzu= 
:txagen. Seitdem bewunderte ihn Niebel über alle Maßen. Und da ber Grund bes 
Zweikampfes geheim gehalten worben war, wurde fein politiicher Charalter don 
Leinem bezweifelt. Rudolf galt feitdbem als Borkämpfer für die deutichnationale 
Sade. Er widerſprach diefer Legende nicht. Yühlte er doch Die Liebe zu deutſchem 
Stan und Weſen in gleihem Maß in fi) erſtarken wie die Zärtlichkeit für feine 
Baterfiadt Als ex jegt, nad einem kurzen Abfchied von den Kameraden, an ber 
Bruſtung der Karlsbräde lehnte, kam ihm ein Vers, den er dor Kurzem in Bren⸗ 
tanos Drama „Die Gründung Prags“ gefunden Halle, ins Gedächtniß: 

f „a, wie des Bergftroms Sohn, der blanle See, 
r Liegt fie gebetiet in der Sonne Glanz 


426 Die Zukunft. 


Und wie verfteinte Bogen ringsum ch’ 

Ich ſtolzer Schlöffer, Hoher Tempel Kranz. 

Sie jauchzen lichtſtolz in der Sonnenhelle: 
Brag, Prag. Du unſeres Glanzes Ehrenichwelle.” 

Sa, wundervoll bift Du, mein PBrag, dachte er, als fein Blick über bie 
durch wiederholte Wolkenbrüche hochangeſchwollene Moldau zum jenjeitigen Ufer 
ging. Bu bem fanftauffteigenden Abhang, an dem entlang die Häufer und Paläfte 
bes Adelsviertels ben fteil aufrngenden Hradſchin umbrängen, deſſen Scheitel bie 
Königstrone ber alten Hofburg trägt. Schlank ftand bie Silhouelte des Sankt Veit⸗ 
bomes gegen den fahlen Himmel. Ein gelbes Licht umipielte die grünſchimmernde 
Kuppel der Thomasfirche, umriß bie Linien bes Thurmpaares, das fich auf der 
Strahower Stiftskirche erhob, und ließ das Weiß der Georgskirche grell aus dem 
Gewirr ber Farben leuchten. Rudolf dachte: „Die Kirche und der Adel gaben Dir 
Dein herrliches Gepräge, unter ihnen blübte Dein Deutichthun auf! Wird es ihnen 
nun die Niederlage danken?” 

Er'war vor einem der Etandbilder ftehen geblieben, die von ihrem Stein" 
fodel herab auf die Karlsbrücke bliden. Bor der Statuengruppe ber „Bifion der 
Heiligen Luitgardis“, deren myſtiſche Symbolif und maleriihe Wirkung er be 
ſonders liebie. Aber das Gewühl der Menjchen, die, fi um ihn ſchoben und ihn 
fließen, zwang ihn, voranzugehen. | 

Die Feier des Fronleichnamsfeftes Hatte viel Landvolk in die Stadt ges 
zogen. Die Steige waren dicht befegt. Bon Frauen, Die eim Buntes Tuch um den 
Kopf und ein zweites, in das der Säugling eingebunden war, um die Schultern. 
geichlungen trugen. Bon Dlännern mit Bundeln auf bem Rüden, beren Beine in 
boden Stulpenftiefeln ftedten und die nicht mehr ganz fiher auf den Füßen fanden. 
Bon fonnenverbrannten, barhäuptigen jungen Mäbdeln in lofen Baummolljaden, 
die Arm in Arm mit unterfegten, braunbäutigen Burfchen gingen. Alle fchrien 
und joblten, als ob fie heftig mit einander zanften, riefen die Kinder, die zurlids 
geblieben waren. Und Alles im cyechiichen Idiom. Auch die Weiber, bie ſich den 
Stanbbildern der Heiligen und beſonders dem des Schugbeiligen Böhmens, dem 
Johann von Nepomul, zu Füßen warfen, plärrten czechiiche Gebete. 

Sept kam ein Trupp von Sünglingen vorbei. In grauen Hofen, rothen 
Hemden, auf dem Filzbarrett die Hahnenfeder. Es waren Sokloliften, Mitglieder 
des czechiſchen Turnvereing, deren e8, wie man fagte, im Land an fünfzigtaujend 
gab, des Rufes der zührer harrend, um als Revolutionarmee ‚gegen die Unter. 
drüder ins Tzeld zu ziehen Die Menge winkte ihnen zu. Sie erwibderten bie Grüße. 
„Slava!“ „Nazdar!“: fo ging es zwiſchen ihnen Bin und ber. Und Rudolf ſah wie 
in einem Spiegel das Deutſchthum Prags jo von Slaven überflutbet, wie er jetzt 
felbft von der Menjchenfluth umbrandet war. Ein Schmerz, ber etwas Körperliches 
Batte, jchnitt in fein Herz bei bem Gedanken, daß in diefen Stätten Die geliebte 
Diutteriprache einst verlöfchen könne. 

Wie eine Fortjegung dieſer Gedankenkette traf ihn ießt e ein Anruf: „A jak 
se mäte, pane Lowosici.“ 

Der alte Ptatſchek firedte ihm die Hand entgegen. Ex habe ben Feiertags⸗ 
zug benugt, um ſich nad dem Buben umzuſchauen, erzählte er. Grad babe er ihn 
aus dem Klementinum herausgeholt. Die Freude an bes Sohnes zulünftigem: . 





Die Yamilte Lowofiy. 427 


Stand verlärte des Bauern leberfarbenes Geficht. Wenzel war verlegen. Er ver- 
Heimlichte dem Vater jeine Abſicht, das Alumnat nur als Freitiſch zu benugen. 
Wie, wenn Rudolf, bem er fi cinmal vertraute, ihn jegt verriethe! Er fing an, 
won Uniderfitätangelegenheiten zu ſprechen. Dann warf er bin: „Gehſt Du aufs 
Begräbniß ?- . 

„Ber if denn geftorben?“ 

„3b Hab gemeint, Du weißt. Der Hruſa. Borgeftern in ber Früh.“ 

Rudolf war Aufrichtig erfchroden. Bon der Bellerung getäufcht, bie bes 
Kranken Buftand vor einer Woche zeigte, war er länger als gewöhnlich wegge⸗ 
blieben. Nun blieb ihm nichts mehr übrig, als ihm bie legte Ehre zu ermeifen. 

Zwiſchen bem Berftorbenen und ihm batte fi ein feltiamer Zuſammen⸗ 
Hang gebildet. Die Unterhaltung in der Iudifchen Küche war ihm fo lange nach 
gegangen, bis ex fich entichloffen hatte, den Typographen wieder aufzujuchen. Er haıte‘ 
ihn auf feinem Feldbett ausgefiredt gefunden, in einem Zuſtand völliger Ent» 
kräftung. Wit Hilfe eines jungen Mebiziners, den er durch Pollak kannte, Hatte 
er ihm die Aufnahme ins Kranlenhaus vecfchafft und ihn ſpäter, als Hruja wieder 
arbeitfähig wurbe, unterftügt, fo weit ſein Tajchengeld es zuließ. 

Diefe Liebestdaten Hatten Hrufas Bitterkeit nur noch gefteigert. Seine Em⸗ 
Poͤrung gegen die Ungerechtigkeit der Weltordnung, die den Einen jo furdtbar 
reich (Das blieb Rudolf in feinen Augen) und die Anderen fo elend arm fein ließ. 
Trotzdem war er gegen den ungleihen Gefährten allmählich zutraulicher geworden, 
batte ihm bie Werfe von Marz, Liebknecht und Laffalle geliehen und ihn fogar 
einmal zu einer fozialiftifchen Berfanmımlung mitgenommen. In ber Hinterftube 
einer Kneipe ber Vorſtadt Zizkow hatte fie ftattgefunden. Den ganzen Abend über 
Hatten Wachtpoſten vor dem Haus geitanden, um die Genoſſen vor einer Ueber» 
zafhung durch die Polizei zu fchügen. Biel Thörichtes und Unreiſes war da 
geredet worden. In Worten und in Forderungen hatte man das Blut der Be⸗ 
figenden ftrommeije vergoffen. Mehr noch als diefer aufglühende Haß hatten die 
Schilderungen des allgemeinen Elends, Die er Hrufa dankte, Rudolf aufgefchredt. 

Man war nicht hartherzig im Haufe Zowofig. Daß man Verwandte unter- 
ftägte und den jüdiichen Gemeindearmen Half, war felbitverftändlih. Aber auch 
an Undersgläubige wurbe jeden Freitag ausgetheilt. Zwei Kreuzer jedem Bettler, 
fo lange der Gulden reichte. Im Uebrigen fand man fi damit ab: Unterjchiede 
in der Lebensitellung muß es geben. Das ift unabänberlid. Der Arme fühlt es 
auch nicht jo; er ift$ nicht anders gewöhnt. 

Nie wäre es Mathilde eingefallen, daß den Dienftboten, die fie gut bezahlte 
und auskömmlich ernährte, von denen fie aber ungemejlene Arbeit und ſtlaviſche 
Unterwerfung verlangte, das gleiche Menſchenrecht zufomme wie ihr. Und erft 
rürzlich Hatte Rudolf mit angehört, wie Onkel Jakob fi mit Entrüftung über eine 
Handeldfammerjigung ausgeiprodhen hatte, in der von jungezechiicher Seite For⸗ 
derungen für die Urbeiter erhoben worden waren. Kürzere Arbeitzeit, Gelegenheit, 
fih fortzubilden, und Einrichtung von zıbrifinipeftoren. Natürlich hätten bie 
Fabdrikanten ſich gewehrt. Es wäre aud) geradezu lächerlich, ihnen zuzumuthen, 
ih einen Menſchen auf den Hals zu jegen, der ihnen ben Beirieb ausfpioneu 
un) die Arbeiter gegen fie aufwiegeli würde. 

So war Rudolf bisher ohne Kenntniß ber jozialen Frage feinen Weg gr» 





428 Die Zukuuſt. 


gangen. Nun Tlaffte plöglich der Boden unter feinen Füßen. Er ſah in abgrund- 
tiefes Elend, hörte von Kapitaliftenäbermuth und Arbeiterausbeutung, erfuhr von 
Männern, die unerichroden ihre eigene Freiheit wagten, um für die Armen und 
Elenden zu. fämpfen. Das rübrte Alles auf, was an Auflehnung gegen die Ge⸗ 
fellihaft lange in ihm gährte. Für bie Unterdbrüdten einzutreten, ſchien ihm jo 
fehr das oberfte Gebot, daß ihm Philofophie, Sprachforſchung und kunſtleriſche 
Bildung dor dieſer harten Wirklichleit verblaßten. Er fing an, ſich felbft jeden 
unnötbigen Aufwand zu verfagen, und litt unter bem Abſtand, der fid trotzdem 
zwiſchen feiner und der Lebensweife feiner neuen Freunde zeigte. 

Die Vorftellung: „Hrufa ift gewiß mit einem Bmweifel gegen mich aus der 
Welt gegangen”, war ihm ein fcharfer Stachel. „Was hat der arme Kerl davon, 
daß ich ihm ein paar Handvoll Erde in bie Grube werfe?“ 

Als er Ptatichels begegnete, war er auf dem Weg in die Schwimmſchule 
gewefen und hatte beabfichtigt, von dort aus feine Familie in der Kaifermühle zu 
befuchen. Der Vater und die Schweitern waren in diefem Sommer wieber in die 
Zandwohnung gezogen. Der Großmutter zu Liebe. Um ber alten Fran, die, 
vom Schlag getroffen, fich nicht mehr rühren konnte, noch ben Genuß der freien 
Zuft zu gönnen. Die beichräntte Zimmerzahl Hatte nicht geftaitet, Rudolf mitzu- 
nehmen. Er wohnte in ber Stadt und hätte fich wohl felten bei den Seinen jehen 
Iaffen, wenn ihm Kamilla nicht gedauert hätte. So oft er Sam, nahm er fie zum 
Spazirgang mit unb erzählte ihr von feinen Stubien und Gedanken. Sie Bing 
ſtets aufmerfjam an feinen Lippen. Uber wenn er, jelbft gefelfelt, fie mit einem 


ernſten Problem beichäftigt glaubte, kam fprunghaft eine thörichte Bemerkung. 


„Du, Haft Du ſchon Otto Felbftein in feinem Panama gefehen? Nein, was 
mir bie Dttilie vorgeftern wieder Komiſches gefchrieben bat!” 

Das verdroß ihn; doch rührte es ihn wieder, wie fie, troß ihrer eigenen 
Entbehrung, für bie Anderen fühlte. Namentlich für ben Vater. Der, ſelbſt ein 
kranker Mann, die Launen feiner Mutter zu ertragen hatte. 

„Du glaubft nicht, was wir Alle ausftehen. Mich hat fie geftern, genau ge⸗ 
rechnet, zwanzigmal vom Effen weggefchidt. Immer hat fie etwas Unberes wollen.” 

„Barum thuſt Dus?“ 

„Aber Das ift doch meine Pflicht.“ 

Rudolf verichwieg ftetS den Widerſpruch, zu dem ihn ſolche Worte reizten. 
Kamilla Hätte ihn doch nicht verſtanden. Er fagte fidh: fie empfindet anders, fie 
fühlt ben Albdrud nicht wie ich. 

Ihm waren bie Stunden, die er in diefer Seelenftidiuft athmen mußte, ein 
Martyrium. Die Großmutter befonders war ihm ein Schreden. Wie fie in ihrem 
abgetragenen Kleid, die alte Spigenhaube auf der fuchfigen Berüde, in ihrem Roll- 
ſtuhl hockte. Die hagere Geſtalt gebeugt, nichts Lebenbiges in bem fleiſchloſen 
Geſicht als die fharfen Mugen, die lauernd von Einem zum Anderen fchweiften. 
Cine Dunkelheit ging von ihr aus, von ihrem bumpfen Schweigen, in bem ber 
Born zu brüten ſchien, daß fie ſterben müfle und die Anderen leben bleiben durften. 

Jeder Anlaß, dieſen Anblid zu vermeiden, war Rudolf willlommen. De 
er erfuhr, die Beftattung bes Typographen jet auf fünf Uhr angefegt, war er 
fofort entichlofien, den Beſuch in der Kaifermühle auf morgen zu verſchieben und 
nach dem Schwimmbad gleich in die Stadt zurückzukehren. 





Die Yamilie Lowoſitz. 420 


Auf dem Friedhof fand ex ein zahlreicheres Gefolge, als er erwartet Hatte. 
Außer einigen Anverwanbten bed Verſtorbenen und den alten Weibern, bie feinen. 
Leihenzug verjäumten, ben alten Ptatichel, dem es wohl nicht darauf ankam, en: . 
welchem Ort ex mit feinem Xungen beifammen war. Auch Zeh und Hyka waren 
da. Und ein Häuflein von Berufsgenoſſen Hrufas, die in einer Art von Sokol⸗ 
tracht, Sammetbarette auf ben Köpfen, hinter einem Banneriräger fchritten. So 
waren alle Richtungen der czechiichen Nation vertreten. Und wenn fie fich auch 
in Gegenwart des Deuiſchen nicht befriegten, fo fehlte e8 doch nicht an verfiimmen« 
ben Momenten. Hyka drehte Ptatichel auffällig ben Rüden zu. NIS einer der. 
Barettgefhmüdien dem Kameraden einen kurzen Nachruf hielt unb ihn ein Mit-- 
glied ber nad) Millionen zählenden Familie der Unglücklichen und Enterbten nannte, 
entfernte jich der Alumne und fein Vater. Der Jungezeche Hyfa jedoch trat an 
das Grab und feierte in dem Entichlafenen den treuen Sohn ber czechiichen Nation, 
deffen Hände Waffen herbeigetragen Hätten in bem Krieg gegen bie Unterbrilder. 

Rubolf war feinem Nebenbuhler lange nicht begegnet. Hyka und ech hatten 
nach abgelegtem Rigorofum mit ber Univerfität nichts mehr zu fchaffen. Und Milena. 
hatte es offenbar geſchickt verftanden, ihre verfchiedenen Verehrer von einander fern 
zu Balten. Mit diefem häßlichen Gedanken fam dem Deutichen das Bemußtfein, 
daß er nicht hierher gehöre. Ihm war, als fühle er die Blicke Aller feinbjälig 
auf fih ruhen. Jetzt kam Hyla näher und fragte: „Was verichafft ung benn Die 
Ehre, einen beutfchen Studenten zwifchen ung zu fehen?“ | 

„Die Menicenliebe*, ſagte Rudolf kurz. Und abſichtlich taltlos fegte er 
hinzu: „Ich bin wohl ber Einzige von den Anwefenden gewefen, der fi um ben 
Berftorbenen bei feinen Lebzeiten gefümmert hat.“ 

Hyka biß fich auf bie Lippen. ‘ech aber, von den Beiden die feinere Natur, 
meinte: „E8 wäre übrigens nur zu wünfchen, daß wir ung öfter i in Eintracht zu⸗ 
fammenfänden.“ 

Rudolf gab ihm bie Höflichkeit zurüd. „Wir hätten ficher nichts dagegen.” 

„Wirklich,“ rief Hyka fehr laut, ohne fih an die Heiligkeit des Dites zu 
lehren; „aber warıım hegt Ihr bann immer gegen ung? Wenn man Eure Zeilungen 
lieſt, möchte man glauben, in Brag werden alle Tage ein paar Deutfche totgefchlagen.” 

Die Anverwandten hatten ſich bereits entfernt. Ihnen folgten die Männer 
in ber Sokoltracht hinter ihrem Bannerträger. Auch die drei jungen Leute fchidten 
fi an, den Friedhof zu verlaffen. 

„Es ift wirklich komiſch, wenn Ihr uns vorwerft, baf wir heben,“ ante 
wortete Lowoſitz. „Wahrfcheinlich left Ahr niemals Eure Blätter.“ 

„Wir heben nicht; wir veriheidigen ung nur”, ſchrie Hyfa. Jech ſtimmte zu. 

„So?“ rief Rudolf. „Ich follte meinen, Ihr hättet Euch im Augenblick 
nicht zu beklagen. Die Sprachverordnung habt Ihr durchgeſetzt, überall baut man 
Euch Schulen und jegt verlangt Ihr noch die Zmweitheilung unferer Univerfität.“ 

„Eurer? Wieſo Eurer? Sie ift vor fünfhundert Jahren von einem böh⸗ 
miſchen König für Das böhmiſche Volk gegründet worden. Dann habt Ihr ung 

herausgedrängt. SZahrhunderte lang habt Ihr uns unfer Recht geraubt.” 
| Hyka war ftehen geblieben und fuchtelte mit jeinen Händen in der Luft 
besum. „Sie find doch Einer von ben Teutfch-Rationalen, Here Lowoſitz. Na, 
alfo jehen Sie! In Prag gehts mit den Czechen wie in Straßburg mit ben Deutichen. 





430 Die Zuhmft. 


Es war erfi Tlavifh und dann war e8 eine Weile deutih und jegt wirbs Halt 
‚wieder flavifch.” 
ech, der bemerkte, daß Lowoſitz ganz blaß geworben war, fam feiner Ant- 


wort rafch zupor. „Wenn Sie gerecht find, müflen Sie uns zugeben, baf wir in 


unferen Wunſchen fehr befcheiden find. Wir verlangen nur die gleichen Rechte, 
trotzdem wir unfer zwei Drittel der Bevöllerung find.“ 

Hyla fiel ihm ins Wort: „Und Ihr müßtet uns erft beweifen, baß wir 
-inferiorer find als Ihr. Ihr beruft Euch immer auf Eure reichen Onkel. Auf 
‚Goethe, Schiller, Kant und Bott weiß wen. Selbſt muß man Etwas in der Taſche 
haben: dann fann man fi) brüften. Man muß die Leiftungen der Deutih:Böhmen 
und der Ezechen an einander meſſen, wenn man enticheiden will, wer inferior ift.“ 

' Sn ihrem Eifer hatten fie fi dicht an Lowoſitz gebrängt. 

Er dachte: „Zwei gegen Einen; werben fie mich jet niederihlagen?“ And 
umfaßte fefter feinen Stod, Ironiſch fagte er: „Es war mir ein Vergnügen, 
mich in Eintracht mit Ihnen zujammengefunden zu haben, meine Herren; ich Habe 
‚die Ehre.” Mit langen Schritten trennte ex fih von den Beiden und madte feinem 
Groll in Selbſtgeſprächen Luft. Die Empfindlichkeit gegen bas Körnchen Wahr⸗ 
"heit, das in Jechs Vorwürfen gelegen hatte, machte ihn noch wüihender. 

Er dachte: „Einerlei; zwiichen uns Deutichen giebt e8 eben Feine fünfle- 
riſchen Grenzen. Das ift es ja, was ung unfere Sprache fo werihooll macht, daß 
fie uns über unjere enge Heimath hinaus mit den größten Geiſtern berbinder.” 
Er war ganz bei ben Intereſſen der Parteien. Seinen Freunden, die ihn oft zu 
lau im Kampf fchalten, Hätte fein Eifer in diefem Augenblid genügt. 

Jetzt hörte er von Weiten ein Hämmern und Klopfen. Auf dem Roßmarft 
wurden die Altäre fir die (yronleichnamsprozeifion des nächſten Tages aufgeridhter. 
"Arbeiter nagelten bie Ballen an einander, befleibeten fie mit weißen Tlichern, ume 


‚gaben jie mit Tannenreiferfränzen. Und die Straßenkinder tummelten ſich in aus⸗ 
gelaſſenen Spielen zwiſchen ben Breifern und Stangen, vor benen fie ſich morgen, wer.n 


fie, im Feftihmud prangend, gebeiligte Gefäße trugen, in Andacht beugen würden. 
Rudolf jagte fih: „Nicht Ihr, die Ihr Götzendienſt mit dem Bilde des 


WMenſchenſohnes treibt, dürft Euch Chriften viennen. Im Sinn Chriſti handeln 
‚nur die Männer, die ſich in Heimlicyleit und in Gefahr vereinen, wie einit bie 


erften ChHriften in den Katalomben, und die den.Gejegen irogen, um ben Letzieu 
und Berlafjfenen zu helfen.“ Innerlich gelobte er fidy wieder diefer Religion dis 
Menſchenmitleids, deren Kenntniß er Dem dankte, der draußen in ber dunklen 


Erde ruhte. Der Groll, ben er vorhin empfunden hatte, ſchien ihm Hein. 


Er mußte plöglich ftehen bleiben und Athem hofen: jo arg beklemmte ihn 


bie Hiße. Der Himmel war noch immer dunfel. Nicht von Gewitterwolten, deren 


Entladung Kühlung bringen konnte. Ein mißfarbiger, ſchwerer Tunſt verfinfterie 
die Yuft. Ein Gemiſch des Rauches, der aus den zahlreichen Fabrikſchornſteinen 
ftieg, und des diden Stauhes, der auıf dem Straßenpflafter lag. Den ganzen Sommer 
über lag biefe jchwarze Dede auf der Stadt. Und man wußte: von oben, vom 


Hradſchin oder dem Belvedere aus, könne man die Sonne feinen ſehen. 


Nudolf dachte: „To ift der Bero, auf den ich fteigen könnte, um mich über 


‚allen Streit und Hader zu erheben, der wie eine ſchwarze Dede auf dem Leden 
liegt? Und von dem aus mir dag Licht der Reinheit leuchten würde?“ 


— Auguſte Hauſchner. 








Emil Rathenau. 431 


Emil Rathenau. 


n dem Jahr, in dem die U C:© ihr fünfundamanzigjähriged Jubiläum 
feierte, hat ihr Generaldirektor Emil Rathenau das fiebenzigite Les 
bensjahr vollendet. Am elften Dezember 1838 wurde er in Berlin geboren. 
Auf Emil Rathenau paßt das Wort Theodors Fontane: „Sn nichts zeigt fich 
Das Benie jo fiher ald im kühnen Weglaſſen anfcheinend unerläßlicher Dinge.“ 
Der Generaldireltor der A E-& ift in feinem Leben niemals ein Kleinigkeit» 
Trämer gewejen. Er hat immer den „großen Wurf gehabt” und ift einer von 
den Findlingen, die auf der Moräne der Durchſchnittsexiſtenzen in die Höhe 
zagen. Ein Arbeiter, deſſen Intelligenz und Willensſtärke außergewöhnliche 
Dimenfionen zeigen. Ein Schaffender, der mit intuitiver Sicherheit das Kom» 
mende vorausfah und mit feinen Ideen um ein Bierteljahrhundert früher am 
Biel war als die in bedächtigem Gedantenfluß fich vorwärts bewegenden Heer» 
denmenfchen. In der Zeit, da die Scheu vor dem „Dampfroß“ nod nicht 
gänzlich überwunden war, baute Rathenaus Phantafie fich bereits eine neue 
Melt im Reich der Elektrizität. Der junge Mafchinenbauer, der, nach viers 
jähriger Lehrzeit in der Maſchinenfabrik Wilhelmshütte bei Sprottau, am 
Anfang der jechziger Jahre als leitender Ingenieur beim Lolomotiventönig 
Borfig gearbeitet hat, ift der Dampfmafchine nicht lange ireu geblieben. Wäre 
er nicht3 weiter ala ein tüchtiger Dlafchinenbauer geweſen, jo würde er heute 
wahrjcheinlich auf dem Altentheil bei Borfig figen. Oder er hätte feine Ma⸗ 
ſchinenfabrik behalten, fie ſpäter in eine Aktiengefellichaft umgewandelt und 
ſich mit dem beicheidenen Ruhm eines. ,freirefignirten” Auffichtrathsvorfigenden 
begnügt. In Emil Rathenau aber jtedte mehr ala der bloße Grips des tüch⸗ 
tigen Kaufmanned und Yabrilanten. Da war eine ganze Welt, die aus dem 
Hirn des thatendurftigen jungen Technikers geboren werden ſollte. Und der 
Wille, fie hinzuftellen, unterftüßte die Intelligenz. Rathenau datirt den Be 
ginn feines eigentlichen Lebenswerkes erſt von feiner Verheirathung mit der 
Elektrizität. Das ift beicheiden; denn ſchon mit den Früchten der Ingenieur: 
laufbahn könnte mancher Kleinere fich ein Ruhmesgärtlein außftaffiren. Die 
Jahre, die Emil Rathenau in England zugebracht hatte, find nicht ohne 
Spuren geblieben. Aus den Werkitätten von John Penn & Co. in Green, 
wich, Eafton, Amos & Sons, South World brachte er die Pläne zum Bau 
ter erften taufentpferdigen Exrpanfionmajchine mit. Da ſah Wander ſchon 
die Tape des Löwen. Und die Majchinenfabrit Weber in Berlin, die Ra⸗ 
thenau gemeinfam mit einem Freunde erworben hatte, zeigte im Kleinen die 
33 





432 Die Zukunft. 


Züge der Hundertmillionengefellichaft, über die der fiebenzigjährige Yüngling 
heute noch das Szepter ſchwingt. Die Mafchinenfabrik galt als ein „glänzend 
geleitetes” Unternehmen, bem die Staatöbehörden oft Aufträge zugehen lichen. 
Die Fabrik wurde Ipäter an eine Altiengefellichaft verfauft: und nun beginnt 
Nathenaus eigentliche Laufbahn. Das war gleich nad) dem Krieg von 70. 
Meber die Periode bis zur Gründung der AU EG gab mir Rathenau felbft 
einige Auffchlüffe Ich beiuchte ihn und wollte Etwas über fein Leben von 
ihm hören. „Sa, wiflen Sie, mein Lieber, fiebenzig Jahre in fünf Minuten 
zufammenzuprefien: Das ift eigentlich ’n Bischen viel verlangt.“ Ra, und 
überflüffige Zeit bat Emil Rathenau ja auch heute noch nicht. Jede Minute 
bat ihre Beitimmung. Aber über der Sanduhr thront die Freundlichkeit feiner 
Sitten; und fo flofien viele Minuten durch das Stundengled, ehe ich daB 
pruntvolle Heim der A &® verlieh. 

„Als ich meine Maſchinenfabrik weggegeben hatte, war ich gang frei. 
Ih mußte mich nun fragen, waB ich anfangen follte. Berlin hatte zu der 
Zeit aufgehört, dem Mafchinenbau neue Anregungen zu bieten. Dazu famen 
ſchlechts Arbeitverhältnifie. Die Löhne waren hoch, eben jo hoch wie in Ame⸗ 
title. Dadurch wurde die Yabrifation unrentabel. Ach jagte mir damals 
ſchon, daß man warten müffe, bis eine ganz neue Technid aufgelommen ei. 
Eine Technik, die ermöglichen würde, an Loftipieliger Menſchenkraft zu fparen 
und an deren Stelle automatische Energie zu jehen. Ein einzelner Arbeiter 
mußte im Stande fein, eine ganze Anzahl von Werkzeugen zu bedienen. 
Amerika brachte mir die Offenbarung. Auf der Ausftellung in Philadelphia 
im Jahre 1876 fah ich, wie weit und die Amerilaner voraus waren und wie 
ſehr Deutichland unter den Nachwehen des Grunderkrachs gelitten hat. Was 
die Deutihen damals auögeftellt hatten, war mehr ala power. Die Yan- 
feed ftanden auf der Höhe des Mafchinenbaues. Sich ftopfte mir Augen, Ohren 
und Taſchen voll, jo daß ich mit Dem, was ich nach Europa berüberbradte, 
eine ganze Reihe neuer Jnduſtrien hätte Ichaffen lönnen. Ich wollte mich 
aber zunäcft auf Eins bejchränfen: aufs Telephon. Das hatte ich zum erften 
Mal in Philadelphia gefehen; und nun dachte ich daran, in Berlin eine Te⸗ 
lephonfabril zu errichten. Diefen Gedanken verwarf ich jedoch bald wieder. 
Wichtiger als eine einzelne Fabrik fchien mir der Bau und die Einrichtung einer 
Telephoncentrale. ich beabfichtigte ganz einfach, die Einführung des Tele⸗ 
phons in Berlin in private Entreprife zu nehmen. Da machte mir der da⸗ 
malige Polizeipräfivent von Madai einen Strih dur die Rechnung und 
fagte: Quod non! Nee, mein Sohn, Det jeht nicht. Wat Sie da wollen, 
Det is'n Regal. Madai meinte aljo, ich mürde mit meinen Telephonplänen 
in ftoatliche Privilegien eingieifen. Auch bei dem Reichdpoftminifter Stephan, 
den ich für meine Abfichten zu intereſſiren ſuchte, hatte ich zunächſt fein Glüd. 





Emil Ratbenau. 433 


Er rieth mir ab. ‚Lafien Sie die Hände davon. In ganz Berlin giebt drei« 
undzwanzig 2eute, die Telephonanfchluß haben wollen. Damit kommen Sie 
doc nicht weit.“ Sich legte deshalb, gezwungen, meinen Plan flrd Erſte ad 
acta und ging auf Reifen. Nach Frankreich und Italien. Später, zur Er⸗ 
bolung, mit Frau und Stindern, nach dem Engadin. Dort, in dem Beinen 
Badeort Alveneu, lernte ich Werner Siemens kennen. Wir ſaßen uns bei 
Tiſch gegenüber. Und auf einem Spazirgang ſetzte ich ihm meine Toren aus⸗ 
einander. Stephan Hatte mir inzwilchen nad dem Engadin gefchrieben, er 
ſei anderer Anficht geworden. Ich folle nach Berlin zurückkommen und dort, 
auf Koften des Reiches, eine Telephoncentrale einrichten. Mit Siemens aber 
Iprach ich nicht nur davon, fordern von einer neuen Sache, die mich ſtark 
beihäftigte. Ich war in Paris geweien und hatte dort die Beleuchtung in 
der Großen Oper mit Ediſons Gluhlampen gefehen. Nun ſchlug ich Siemens vor, 
das neue Licht in Berlin einzuführen und den Anfang mit der Leipzigerſtraße 
zu machen.” Rathenau unterbrach fih hier, um mich auf die Wichtigkeit des 
eben erwähnten Faktums aufmerffom zu machen: „Werten Sie ſichs wohl: . 
Das war die erfte Anwendung ber elektriſchen Beleuchtung in größerem Stil; 
in der Leipzigerftraße. Nach meiner Nüdlehr aus dem Engadin richtete ich 
zunächſt die erſte Telephoncenirale ein. Ich hatte zu dem Zweck mein eigenes 
Bureau im Reichöpoftamt in der Franzoöfiſchenſtraße. Inzwüchen hatte ich mid 
auch mit dem Dberingenieur der Firma Siemens & Halske, Herrn von Hefner- 
Altened, wegen der Glühlampe in Berbindung gefeht. ch fagte ihm, daß wir 
die neue Beleuchtung in Berlin einführen wollten und daß ich mit Werner 
Siemens darüber geiprochen habe. Darauf Altenel: ‚Hat Ahnen denn ber 
Alte auch gejagt, wie man Das machen fol?‘ Ich wußte, was ich zu thun 
hatte. Ich fuhr nach Paris und erwarb dort von der Compagnie Con- 
tinentale Edison das Recht zur Einführung der ediſonſchen Glühlampe in 
Deutihland. Wir gründeten dann eine Studiengeſellſchaft, aus der, nach einem 
Jahr, die Deutiche Ediſon⸗Geſellſchaft für angewandte Elektrizität hervorgina. 
Dos war der Anfang der AE⸗G. Bon da ab ift meine Entweidelung dur 
den Werdegang der AEG fihtbar geworden.“ 

In der That: die Allgemeine Elektrizität⸗Geſellſchaft ift von dem Ramen 
Rathenau nicht zu trennen. Ihre Größe ift der Ruhm ihres Schöpfers, defien 
Seen durch die riefigen Maſchinen in von Jahr zu Jahr fteigende Erfolge 
umgeformt worden find. Emil Rathenau ift, wie alle großen Menſchen, bes 
fcheiden und aniprudlos. Ohne Pathos, einfach und fchlicht, ſchilderte er mir 
eine Periode feines Lebens, die Errungenſchaften von größter Bedeutung ums» 
Schloß. Die Einführung des Telephons und der eleftriichen Glühlampe. Mancher 
hätte die Gelegenheit zu einem Loblied auf die eigene Größe benugt. Aber 
der „Urberliner” Emil Rathenau, der fich in zwangloſer Unterhaltung gern 

33" 





4341 Die Zukunft. 


mal des berliner Jargons bedient, hat kaum Verſtändniß fr pathetiiche Ueber⸗ 
ſchwänglichkeiten. Dabei find alle Schöpfungen der AEG auf ihres Generals 
direktors Initiative zurüdzuführen. Soll ich an den genialen Ausbau der 
Starkſtromtechnik, an die Erſchöpfung aller Möglichleiten der eleltriichen Be- 
leuchtung, an die Einrichtungen für Kraftübertragung und an bie elektriſchen 
Gentralen erinnern, die unter Rathenaus Leitung gejchaffen worden find?! Das 
Subildum ‚der AEG gab mir Gelegenheit, über all dieſe Erfolge bier zu 
Iprechen. Ich müßte alfo Geſagtes wiederholen, wollte ich noch einmal die 
Phaſen der Entwidelung der größten Elektrizitätgefellichaft der Welt Ichildern. 
Rathenau hat ſtets den richtigen Blid für das Große gehabt. Vielleicht in⸗ 
ſtinktiv; aber ich meine, man fegt diefe Fähigkeit herunter, wenn man fie In⸗ 
ftintt nennt. Das ift nicht nur Sache des Gefühle, fondern Arbeit des Ber- 
ftandes. Die Gabe, dad Gejehene mit rafch auftauchenden Projekten zu ver: 
Inüpfen. So ward beim Xelephon, jo bei der Blühlampe, bei der Dynamo 
majchine, bei den Straftübertragunganlagen. Stetö ging Rathenau aufs Ganze. 
Kleinlihe Bedenken wurden mit einer einzigen Handbewegung befeitigt. „Wit 
alten Mitteln habe ich niemals angefangen. Wenn ich ſah, daf die vor⸗ 
handenen Mittel nicht mehr außreichten, wartete ich, biß ich neue fand.” Man 
mag darüber ftreiten, wer höher zu ftellen fei: der Erfinder oder der geniale 
Praktiker, der die Erfindungen der Welt erſt ſchenkt. Jedenfalls ſetzt die Er- 
kenntniß des Werihuollen und Brauchbaren in der Technik und die Fähigkeit, 
daB Errungene zu verwerthen, ein ganze Bündel bedeutender Eigenichaften 
voraus, während beim Erfinder oft nur eine einfeitige Stärke vorhanden ift. 
Emil Rathenau ift ein vermenichlichter Truft. Sein Kopf produzirt und fein 
Wille führt aus. Die elektrotechniſche Induſtrie in Deutichland, die heute auf 
der Höhe ihrer Leiftungen fteht, verdankt ihr Befted dem Genie Rathenaus. 
Die genialen Schöpfungen Wernerd Siemens dürfen nicht verdunfelt werden. 
Aber Emil Rathenau ift der Dann der That; und das Jahrhundert der 
Technik werthet den Willensmenſchen bejonders hoch. Als Rathenau neulich 
den Vorfchlag machte, man folle ein Kuratorium zur weiteren Durchführung 
der Pläne Zeppelins jchaffen, fand er mehr abfüllige ala zuftimmende Be» 
urtheilung. Man warf ihm Beinlichen Brotneid vor. Wie niedrig ift damit 
die Perfönlichkeit dieſes Mannes eingejchägt worden! So kümmerliche Motive 
find ihm wohl nie für fein Handeln beftimmend geweien. Was ihn in dieſem 
Falle, wie auch ſonſt ſtets, leitete, war der Wunſch, die neue Errungenschaft 
der Technik am Beiten der Allgemeinheit nugbar zu machen. Rad diejem 
Prinzip hat er die 1E-& geleitet. Sie jollte ein ungerjtörbarer Zähler im deutſchen 
Nationalvermögen werden. Daher die Anwendung der viel geſchmähten The⸗ 
faurirungpolitif; die ſcheinbar ſchroffe Abwehr der Aktionärwünſche; die oft ges 
tadelte, Geringſchätzung der Intereſſen des Einzelnen”. Aber der Erfolg hat Rathe⸗ 





Emil Ratdenau. 435 


nau Recht gegeben. Die AC-& fteht heute feiter denn je;und ihr Generaldireftor 
bat für alle Bedenken, die das „Schachtelſyſtem“, die vielfachen Verknüpfungen 
verschiedener Gefelfchaften innerhalb eines Concerns, hervorruft, nur ein mits 
leidiged Lächeln. „Wir find prima; und wer das Gegentheil behauptet, Der 
redet Blech.“ 
| Die Ueberlegenheit der Amerikaner, die Rathenau ſchon auf der Aus⸗ 
ſtellung in Philadelphia, im Jahr 1876, erkannt hatte, verführte ihn doc) 
nicht, die Truftidee a tout prix bei uns zur Geltung zu bringen. Er hat 
an der Grenze des Erreichbaren Halt gemacht und ſich damit begnügt, vie 
AE⸗Gezu einem in fich jo weit gefetigten Ring zu jchmieden, daß fie feiner 
lei Konkurrenz mehr zu füchten hat. Wos nicht anders geht, einigt man ſich 
eben mit Siemens & Haläte. Auch die Schöpfung einer Elektrobank ift ſchließ⸗ 
lich ihm zu danken. Der ganzen Zähigkeit des Thatmenſchen Rathenau bes 
durfte ed, um die Idee zum Siege zu führen. „Alle find gegen mich ger 
weſen. Die Banliers, weil fie eine Stonlurrenz witterten; und manche Leiter 
anderer Gejellichaften, weil fie an einem Erfolg zweifelten. Aber ich glaube 
daran; und Sie follen mal jehen, daß ic Recht behalte. Wan hat mich 
eben einfach) nicht veritanden, deshalb find mir überall Bedenken ent- 
gegergeitellt worden.” Was Emil Rathenau mit jeiner jüngften Gründung, 
der „Elektro⸗Treuhand Aktiengeſellſchaft“, beabfichtigt, jcheint auch der Außen⸗ 
welt noch nicht klar zu fein. Im Grunde iſts nur eine Wiederholung des 
alten rathenaufchen Grundſatzes, der Induſtrie, durch Schaffung vereinfachter 
Arbeitmethoden, das Dafein zu erleichtern. „Sehen Sie, da wandern Jahr 
für Jahr enorme Wärmemengen aus den Fabrikſchornfteinen. Das ift eine 
Vergeudung von Nationalvermögen. Hunderte von Millionen würden zum 
Kapital binzugefchlagen werten können, wenn wir erft jo weit wären, daß 
die koſtſpielige Kohle immer mehr ‚eingekreift‘ würde. Das ift aber nur mög» 
lid, wenn das Anmwendunggebiet der Elektrizität erweitert wird. Gelingt 
es mir, die Rentabilität der Induſtrie zu heben, fo diene ich damit dem 
Nationalwohlftand. Und diefer Gedanke hat mich bei der Errichtung der 
Elektrobank geleitet. Ich will Staaten, Gemeinden, Gensfienichaften, Fabri⸗ 
tanten, Landwirthen Gelpmittel zur Verfügung ftellen, damit fie bei fich elek⸗ 
trifche Betriebdanlagen errichten, vergrößern oder verbeflern können. Was die 
Hypothekenbanken im Grundftüdverlehr und für den Baumarkt find, Tas ſoll 
die Elektrobank für daB gefammte wirtbichaftliche Leben fein. Die Hypothelens 
banten verfchaffen fich das Geld, da3 fie hergeben, durch Ausgabe von Pfand» 
briefen; wir emitliren Obligationen.” Und Emil Rathenau begeifterte fich, 
während er ſprach, mehr und mehr für feine dee, die er gegen eine Welt 
von Vorurtheilen vertheidigt und durchgeſetzt hatte. Er begriff nicht, wie man 
einen Gedanken, defien Tragweite felbft der beichränttefte Geift erfafien müſſe, 


436 Die Buhenft. 


durch Bleinliches Bekritteln um den beften Theil feiner Wirkung bringen 
fonne. Rathenau vergikt, daß nur Auserwählten die Babe geſchenkt ift, das 
Weſen der Induſtrie im Innerſten zu erfaflen und ihre Nothwendigkeiten 
vechtzeitig zu erlennen. Deshalb juchen die Einen hinter der Elektrobank nur 
ein neues „Privatgeichäft” der AE⸗G, während die Anderen in ihr ein ber» 
flüffiges Möbel ſehen. Emil Rathenau ift kein Held der jentimenialen Phrafe. 
Er ſchafft Leine Wohlthätigkeitanitalten, jondern weiß, wo er bleibt. Die 
Elektrobank ſoll der A E⸗G Aufträge zuführen. Aber ihr öffentlicher Zweck 
ift, die induftrielle und landwirthſchaftliche Rente, durch Berbilligung der Pro⸗ 
dultionmethoden, zu verbeflern. Cine feine Kombination: man zieht Ruten 
aus dem Bortheil, den man Anderen ſchafft. „Gewiß: Auswücje werden 
fih auc hier zeigen. Wo giebt es die nicht? Aber wir haben ein Sicherheit» 
ventil: die Obligation. Auf deren Anfehen ruht die ganze Sache. Und hinter 
der Obligation muß eben Jemand ftehen, deſſen Kredit prima ift. Das Darf 
die AC-& wohl von fi behaupten. Und weil Dad eben nicht Jeder kann, 
deshalb werden neue Gleltrobanten nicht wie Pilze aus der Erde fdhiehen.“ 

Die Idee verdient, zu fiegen. Und ein Wann wie Rathenau, der nie⸗ 
mals den Vorwurf leichtfinniger Finanzgebahrung auf fich geladen bat, darf 
die Weberzeugung von der Güte jeined neuen Unternehmens jo ftark unter» 
ftreichen, wie ers mir gegenüber that, ohne den Lleinlihen Borwurf der Stims 
mungmache auf fich zu laden. Als Emil Rathenau zu Beginn der fieben- 
ziger Jahre nad) Amerita ging, um neue techniihe Methoden zu juchen, leitete 
ihn der Wunfch, die Arbeit rationeller und das Erzeugnif der Arbeit billiger 
zu geitalten. Heute iftö der jelbe Weg wie damals. Nur ift aus dem Sucher 
ein Schöpfer geworden. So hat fich der Kreis der Gntwidelung geſchloſſen. 
Und er ift aus einem Guß, ohne Fehler und Sprünge. Der Siebenzigjährige, 
der auf ein Leben der Arbeit und der Erfolge zurüdbliden kann, hätte fich 
das Necht erlämpft, müde zu fein. EB war ein hartes Ringen. Die dee, 
die dem eigenen Hirn leichtfüßig entjpringt, hat oft ſchwere Mühe, ſich den 
Weg durch das Geſtrüpp fremder Köpfe zu bahnen. Und ſchließlich erlahmt 
bei jolcher Arbeit ſelbſt ein ftarler Körper. Wenn Emil Rathenau einft daran 
denken follte, die Zügel des Gejchäfts aus der Hand zu legen, je wird da 
Wert ohne den Meifter fortbeitehen; denn er ift reſtlos in dem Riejenuntere 
nehmen aufgegangen, dad er gejchaffen hat. Ein Genie der Arbeit, der That« 
fraft und des Schaffens; und ein treuer Diener feiner Pflicht. 


KL: 


Serausgeber und veraumwortliher Redatteur: DM. Harden in Berlin. — Berlag der Zukunft iu Berlin. 
Druck von G. Bernitein in Berlin. 


Radon. 














Berlin, den 19. Pejember 1908. 
ö 7° EG 


Topifa, 


er deutſche Himmel hängt jeßt voll von Fonftitutionellen eigen. Sie 
„ find zwar vorerft einigermaßen verftimmt; die minifteriellen Bögen 
ſcheinen mit Seife, ftatt mit Kolophonium, geſchmiert, und locken nur heiſere 
Zöne hervor. Aber was thuts? Man fragt nicht mehr, ob Dies oder Jenes 
gut, zweckmäßig, verftändig, man fragt nur, ob ed fonftitutionell ſei. Hier ift 
man fonftitutionell, indem man beftehenden Verhältniſſen Rechnung trägt; 
dort ift man konſtitutionell, indem man beftehende Berhältniffe nicht achtet; " 
bier hält man ſcheinbar da gegebene Wort, umi Eonftitutionell zu feinen. 
Konftitutionel: ſchreits in allen Kammern. Konftitutionell: wiſperts an als 
len Höfen. Auf der Bierbanf, hinter dem Dfen, in Eiſenbahnwagons und auf 
Bauernkarren, überall dreht ſich das Geſpräch um das Wort ‚Fonftitutionell‘; 
überall fragt mar: Was ift fonftitutionell? Nun wohl denn, Ihr Konftitus 
tionellen: ih will Euch auf Eure Fragen eine Antwort geben, die Hörner 
und Zähne Haben joll. Ich will fie Euch zeigen, diefe fonftitutionelle Mon« 
archie im Thierreich, mit dem Alleinherriher an der Spite, der fogar feine 
eigenen Kinder tötet, um fich auf dem Thron zu erhalten, mit der erblichen 
Pairie, geſtützt auf die Nichtverpflichtung zur Arbeit, mit dem armen, gedrüd: 
ten Volk, das feine rührende Sorge auf die Pflegung der Kinder und die Er. 
nährung.der Nachkommenſchaft richten muß und das nur zuweilen auß der 
Stlaverei ſich aufrafit, um aufs Neue wieder darin zuverfinfen. Ich weiß zwar 
wohl, daß Ihr darum doch nicht Flüger werdet; Ihr glaubt der Stimme der 
Natur jo wenig, wenn fie durch die Thiere, wie wenn fie durch die Menjchen 
ſpricht. Ihr Habt das Seufzen des Volfes in feinem Unglüd, die Donner 
ftimme feines Zornes in feiner Erhebung nicht gehört: Ihr hört nicht das 

34 


438 Die Zukunft. 


dumpfe Braufen, das unter Euren Füßen durchzieht und den Boden des 
alten Europa mit leiſen Schwingungen durchzittert.“ Siebenund fünfzig 
Jahre fr vergangen, jeit Karl Vogt, der nach der Rebellenzeitin die Schaar 
der Relchsregenten erhöht worden war, dieſe Sätze ſchrieb. Jetzt paſſen ſie bei⸗ 
nahe wieder. Daß im Deutſchen Reich Wilhelms des Zweiten die Wahrung 
fonftitutionellen Geiftes laut gefordert wird, iſt gut; warnnöthig und fann 
nüßlich werden. Bor demconventional cant de Ronftitutionalismud aber 
müffen wir un hüten. Keine perjönliche Politik des Katferd mehr, die dad 
Reich bindet; das Volk, das jelbft ſich den Werth ſchuf, will felbft auch fein 
Schickſal geftalten: ſo heißt nun die Loſung. Das Selbſtachtungbedürfniß 
bat fie auf Aller Lippe gedrängt. Und fie wird nicht verhallen. Wer zur Rück⸗ 
fehr in die Patriarchalfitten, in die freundliche Gewohnheit des Kıypto- 
abjolutismus räth, gefährdet die Zukunft des Herricherhaufes mehr als die 
des Neiches. Das wird ſich helfen. Die Dynaftie aber fönnte den Schmerz 
einer verlaffenen Braut fennen lernen. Könnte: went der pfiffige Menichen- 
verftand, den die Hohenzollern in. die Mark mitbrachten, völlig verfiecht und 
die Kraft ihnen genommen wäre, mit Innermeidlichem fi) abzufinden. Dad 
wird nicht fein. Doch iſt des Sehnens Ziel nun erreicht? Nein. Was fortan 
geſchieht, ſoll nicht nur „Eonftitutionell” jein, ſondern aud „gut und verftän 
dig”. Mit gedoppeltem Eifer muß die Nation wachen. An jedem Abend ſich, 
an jedem Morgen fragen, ob gethan worden ift, was gethan werden mußte; 
und nicht eher fich zum Schlummer hinftreden noch haftig an die Erwerbs« 
arbeit eilen, als bis dieſe Lebensfrage bejaht ward. Kein Kaijer iſt jebt füt 
Irrthum und Fehler haftbar zu machen. Kein Kanzler entbürdet die Nation 
von der&ewifjendnoth. Für alled Gejchehen ift dad Volk nun verantwortlidh: 
\ * . 
Der Reichstag? Man ſoll ihn jeßt ſchonen; fein Unjehen nicht ſchmä⸗ 
lern. Wir brauchen ihn für die Zeit der Lyſis. Dürfen aber nicht verſchweigen; 
daß er im Gelände internationaler Politik noch immer, faft bei jedem Schritt: 
ſtrauchelt. Was im Reichätag, während der &rörterung ded Hauöhaltes, über - 
die Lage des Reiches gejagt wurde, war dürftig oder ſchädlich. Zwei Beifpiele: 
Fin Abgeordneter erfreut das Ausland mit der alten Mär von der Kriegs⸗ 
partei, deren Haupt in der Wilbelmftraße.ein Wirklicher Geheimer Rath ge: 
wejen jei. Die Mär ift alt und bleibt ewig unwahr; doch wenn ſie ſelbſt rich“ 
tig wäre: ein Bolitifer dürfte in ſolcher Stunde niemals fo ſprechen. Ein an⸗ 
derer Abgeordneter erklärt, ein anglo-deutſches Abkommen über die Slotten- 
jtärfe müffe Deutichland demüthigen. Warum denn? Grobe Reiche können 


Topila. 469 


fich, wie große Banken und Induftriegejellfchaften, über den Umfang ihrer: 
Meadjtmittel.verftändigen, ohne daß eins dadurch irgendwie gedemüthigt wird: 
oder auch nur ſcheint. Demüthigung wäre es, wenn wir einer Koalition wichen, ! 
die und geböte, die Seerüftung einzuftellen. Doch eine dem freien Willen zweier. 
Großmächte entſtammende Bereinbarung, dievonbeiden Seiten Konzeffionen: 
bradte? Großbritanien hat auf dem Meer, Deutfchland auf dem Rande die; 
Uebermacht. Daiftein anftändigerAuögleich möglich; Unmöglich wäre er, wenn 

Deutichland nurjeine Flotte hätte, diefich mit der Englands nochnicht meflen: 
Tann; nie können wird. Aber e8 hat vier Millionen wehrfähiger Männer: 
alfo Beträchtliches zu bieten. Ein Bolitifer darf das heute odermorgen Noth⸗ 
wendige nicht verjchreien; nicht ind Land hinausrufen, ein Vertrag, den die: 
Roth der nächften Woche vielleicht herbeifehnt, fei nur um den Preis einer 

Demüthigung zu erfaufen. Oft genug war in den legten Jahren Grund, vor-. 

demüthigender Nachgiebigkeit zu warnen. Da jchwieg der Reichätag. Nahım, 
Alles hin; fand Alles herrlich. Set ſucht er den vernünftigften Geſchäftsab⸗ 
{chluß, den wir in diefem Augenblid erreichen. könnten, zu hindern. Iſt er bes; 
reit, noch mehr zubewiligen, als der Voranſchlag für dad Iahr 1909 fordert? 
Für das Heer 817, für die Marine 411 Millionen Mark. Fünf Viertelmil⸗ 
liarden. Am Heer ift nichts zu erfnaujern; und die Slotte ſoll raſch wachſen. 
Jede Klaſſe, Gruppe, Sntereffengemeinjchaft wehrt fich gegen neue Steuern. 
Woher das Geld nehmen? Spart, heißts täglich. Dochdieeinzige Erſparniß⸗ 
möglichfeit wird dem Volk von den patriotifchen Abgeordneten verefelt. 

Als im. Lenz des Jahres 1900 das Flottengeſetz vom Reichstag ange⸗ 
nommen war, .beicheinigte der Kaijer fich in einer Depeiche, daß fein „Stre= 
ben zum Beſten des Vaterlandes anerfannt werde”, und fügte den Sat hins 
zu: „Run aber unermüdlich weiter, daß die begonnene Arbeit bald vollendet 

‚ wird; dann wollen wir auch auf dem Wafler Frieden gebieten.“ Arbiter: 
mundi: die Sehnſucht langte nach der Weltrichterrolle. Damals waren hier 
Sätze zu lejen, die noch nicht veraltet find. „Db ed im deutichen Vaterland 
Bürger giebt, die heute noch glauben, ein neuer, herrlicher Morgen jei ange— 
brochen, heute noch, trotzdem dad Kraftverhältniß der Großmädhte durch die 
Flottenvermehrung nicht im Geringften verändert wird, von den Schlacht⸗ 
Ichiffen des Kaifers Wundererwarten? Dad wäre möglich; denn die jehr ein= 
fache Angelegenheit ift ind Reich der Myſtik entrüdt worden. Das gute-Ge- 
ſchäft der leßten Sahre hat die@Geifter verwirrt. Ein Nüchterner würde jagen: 
Mir find aufden Maffenerport angemiejen und brauchen für die dazu nöthige 


34* 


440 Die Zukunft. 


imperialiftiiche Politik Schutzſchiffe umd überfeeifche Stubpunfte. Eo hört 
mand auch oft im Privatgeſpräch; öffentlich aber Llingt ed aus einer anderen 
Zonart. Da müfjen wir civilifiren, Chriftenthum und Gefittung hinaustra- 
gen, einer gewaltigen Vitalität die ihrgebührende Seegeliung ſchaffen und die 
übers Meer verfchlagenen Deutichen vor Fährlichkeit ſchirmen. Ed tft die Weile, 
die ſchon Garlyle und Ruskin jo unerfreulich ind Horchende Ohr Flang. lieber- 
haupt handelt ed fich bei der ganzen Geſchichte ja nur um denetwasipät unter» 
nommenen Verſuch, den englifchen Imperialismus inunjer geliebtes I eutfch 
zu überjehen. Barum auch nicht? So fragen dieLüfternen. Wir müflen eben 
zur See ſo tar! werden, dah wir England ausdem Rang der erſten Welthandels⸗ 
macht verdrängen können. Ein allerliebfter Gedanke. England hat ſeinen alten. 
Reichthum, feineblühendenKolonien und eineKapitaliftenreferve, die in Roth⸗ 
fällen niemals verſagt. Und außer England giebt es noch Rußland mit ſeiner 
Fülle ungehobener Bodenſchätze und feinen billigen Arbeitern und Nord- 
amerifa, das für die Kohle, das Getreide der Snduftrieftaaten, ein Drittel 
des in Deutjchland verlangten Preiſes bezahlt. Thut nichts: Deutichland wird- 
die erfte Welthandeldmacht werden, wenn ed nur genug Schiffe baut. Gegen 
jolden Wahn ſoll man nicht kämpfen; ihn wird bald die Erfahrung durch» 
löchern. Dem Urſprung der Vorſtellungen nachzuſpũren, ift immer ſchwer; 
und eine transſzendentale Topik nach kantiſchem Mufter würde den Modernen 
recht rückſtändig ſcheinen. Soll es aber unmöglich fein, das Ziel zu erkennen, 
dad den vom Zwang der Vorfiellung Beherrichten der Blick zeigt? Die loci 
communes, auf denen die Wünjche wachen, fünnen dem fuchenden Auge 
nichtentgehen. Was alſo ſoll die Weltwende beicheren, dieundverfündet ward ? 
Welche Wunder bringt der neue Morgen auf goldenem Sonnenwagen aus 
der Meereötiefe herauf?" Bald find neun Jahre feitdem vergangen. Uner- 
müdlich ift auf dem Waſſer weitergearbeitet worden. Der Wunder warten wir 
noch. Können nod) immer nicht Frieden gebieten“, der dem Reich frommt. 


Das kann nur Einer, dem die Nachbarſchaft den Entſchluß und die 
Kraft zur Kriegführung zutraut. Der ſich von feinem Bluff jchreden, die That 
nicht hinter dem Wort zurückbleiben läßt, nie mehr verſpricht, als er halten 
will, und vom Freund in der Noth ſtets zu finden iſt. Das konnte Deutſchland 
in der Zeit des Berliner Kongreſſes. Wir? Paul Krüger, Abd ul Aziz, Abd 
ul Hamid zeugen wieder uns. Soll Alois von Aehrenthal ſich ihnen geſellen? 

„Die verſäumten Gelegenheiten, welche in die beiden Zeiträume von 
1786 bis SOG und von 1842 bie 1802 fallen, find den Zeitgenoſſen nur felten 











Zopila. 44l 


verftändlich geworden; noch jeltener ift die Verantwortlichkeit dafür fofort 
richtig verteilt worden. Erft die Ausſchũttung der Archine und die Denfwürdig- 
feiten Mithandelnder und Mitwilfender jehten fünfzig bis hundert Jahre 
fpäter die Deffentliche Meinung in den Stand, für die einzelnen Mißgriffe 
dad rpwrny Leüdns, die Gabelung auf den unrichtigen Weg, zu erkennen. 
Friedrich der Broße hinterließ ein reiched Erbe von Autorität und von Glau⸗ 
ben an die preußijche Politif und Macht. Seine Erben konnten, wie heute der 
neue Kurs von der&rbjchaft desalten, zweiSahrzehnte hindurch davon zehren, 
ohne ſich über die Ehwächen und Irrthümer ihrer Cpigonenwirthichaft klar 
zu werden; noch in die Schlacht von Jena hinein trugen fie ich mit der Ueber: 
ſchätzung des eigenen militärijchen und politifchen Können. Erft der Zuſam⸗ 
menbruc der folgenden Wochen brachte den Hof und das Volk zu dem Be⸗ 
wußtſein, daß Ungeſchickund Irrthum in derStaatöleitung obgewaltethatten.“ 
1786 bis 1806, 1842 bis 1862, 1888 bi8 1908: zum dritten Mal warend 
juft zwei Sahrzehnte. Bismarcks Propheienfinn hats geahnt. Hört ihn drum 
weiter. „Die Entjcheidung über Wege und Abwege liegt oft in minimalen, 
aber einjchneidenden Wendungen, zuweilen ſchon in der Tonart undder Wahl 
der Ausdrücke eines internationalen Aktenſtückes. Schon bei geringer Abwei⸗ 
‚Hung von der richtigen Linie wächft die Entfernung von ihr oft fo rapid, daß 
‚der verlafjene Strang nicht wieder erreicht werden kann und die Umkehr bis 
zu dem Gabelpunft, wo er verlafjen wurde, unausführbar ift. Das übliche 
Amtögeheimnih deckt die Umftände, unter denen eine Entgleiſung ſtattge⸗ 
funden hat, Menjchenalter hindurch; und dad Ergebni der Unklarheit, in 
‚welcher der pragmatilche Zuſammenhang der Dinge bleibt, erzeugt beileiten- 
den Miniftern, wie Das bei manchen meiner Vorgänger der Fall war, Gleich» 
giltigfeit gegen die ſachliche Eeite der Geſchäfte, ſobald die formale durch kö⸗ 
nigliche Unterjchrift oder parlamentariſche Vota gedeckt erjcheint... Der reine 
Abjolutiömus hat immer noch dad Gute, daB ihm ein Gefühl der Verant- 
wortlichfeit für eigene Thaten bleibt. Gefährlicher ift der durch gefügige Par⸗ 
lamente unterftüßte, der feiner anderen Rechtfertigung ald der Verweiſung 
auf die Zuftimmung der Majorität bedarf." Wir habens leidend erlebt. 

Sollen wirs noch länger erleben? Werbei der&rörterung des Verhält⸗ 
niſſes zu Oeſterreich den erſten deutſchen Kanzler citirt, muß draufgefaßt ſein, 
daß ihm Bismarcks mißtrauiſches Warnerwort entgegengehalten wird. „Der 
Kaiſer Franz Joſeph iſt eine ehrliche Natur; aber das öfterreichifch:ungarifche 
Staatsſchiff iſt von ſo eigenthümlicher Zuſammenſetzung, daß ſeine Schwan⸗ 
kungen, denen der Monarch feine Haltung an Bord anbequemen muß, fich 


442 Die Zukunſt. 


kaum im Boraus berechnen laffen. Die centrifugalen Einflüffe der einzelnen 
Rotionalitäten, dad Ineinandergreifen der vitalen Intereſſen, die Oeſterreich 
nach der deutfchen, deritaltenifchen, derorientaliichen und der polnischen Seite 
.. hin gleichzeitig zu vertreten hat, die Unlenkſamkeit des ungariſchen National» 
geiftes und vor Allem die Unberechenbarkeit, mit der beichtuäterliche Einflüſſe 
die politijchen Entſchließungen freuzen, legen jedem Bundeögenofjen Deiter- 
reichs die Pflicht auf; vorfichtig zu fein und die Intereffen der eigenen Unter: 
thanen nicht ausſchließlich von der öfterreichiichen Politif abhängig zu machen. 
‚Sind die Rüdwirkungen der wechjelnden Ereigniffe und Situationen auf die 
Entſchließungen des wiener Kabinets für die Dauer unberechenbar, jo tft es 
auch für jeden Bundesgenofjen Oeſterreichs geboten, auf die Pflege von Be: 
ziehungen, aus denen fich nöthigen Falls andere Kombinationen entwideln 
liegen, nicht abjolut zuverzichten“. Oft hat er ſo geſprochen; jehr oft gewarnt, 
leichten Herzens für Defterreich- Ungarn zu.optiren. Aber, all in feinem Trüb⸗ 
ſinn, aud) nicht geahnt, in welche Lage zehn Jahre nach feinem Tode das Reid 
‚gerathen fein werde. Dem bleibt heute feine Wahl. Angenehm iſts ja nicht, 
dem Haus Haböburg- Lothringen zu Hilfeverpflichtet zu jein und von ihm ſich 
in Zahlung geben zu lafjen, wie die Bankier jagen. Die jagen auch: Hütet 
Euch, im Balfangebiet den Defterreichern vorwärtd zu helfen, und ſeid be 
ſonders zufrieden, wenn die Serben fich ihnen verfeinden; ifts für und denn 
‚nicht ein Segen, daß ein and, in dad wir jegt jährlich Waaren im Werth von 
fünfunddreigig Millionen Mark einführen und dad Kohle, Kupfer, Bich, 
Bleifilbererze hat, fid) unferem Konkurrenten |perrt? Während des auftros 
ſerbiſchen Zollfrteges hat unfer Import fich faft vervierfacht; feid alfo froh, 
wenn zwilchen Wien und Belgrad die Feindſchaft einen unüberbrüdbaren 
Graben zieht. Das Elingt vernünftig; iſts aber nicht. Wir müſſen die Folgen 
. alter und neuerZehler tragen; und deshalb auch auf unbequemen Wegen mit 
Defterreichgehen. Das wird ſich in Südoft fättigen oder verfuchen, der deutjchen 
Frage eine andere Antwort zu finden, ald fie 1866 und 1870 gegeben wurde. 
Mit diefer Möglichkeit hatſchon Bismard gerechnet. Nur, jo lange er im Amt 
war, gehofft, Deutſchland werde für den Nothfall immer die Nuffen haben. 
Die gehören nun zu Eduards Concern, der Defterreich ummirbtund umdroht. 
Mit allen Mitteln. Die Guinee rollte nad Serbien, Montenegro, ind 
Osmanenreich (wo der Präfident des britiichen Balfanfomitees mächtiger ift 
als der Großweſir): und überall regte ſichs raſch gegen Defterreich. Staliener- 
putſch in Wien, Gzechenfrawall in Brag, Waarenboylott in der Türkei. Sir 
Edward Grey ſchüttelt unwillig dad Haupt; Herr Iswolffij zeiht den wiener 


Topita. 443. 


Kollegen der Unaufrichtigkeit; Herr Bichon weigert den Vermittlerdienft; 
Herr Giolitti drũckt die Hand des Abgeordneten Fortis, der gegen Defterreich, 
als den Erzfeind Staliend, zum Kampf gerufen hat (und, da er vom Bolt 
wie ein Herodbejubeltward, übermorgen wieder Minijterpräfidentjein kann). 
Auf allen Seiten wird Defterreich geängftet; wird ihm bewiejen, wie unbe⸗ 
haglich fich8 draußen in der Kälte mit Deutichland lebt. Und die umzingelte 
Großmacht muß in diejen mit liſtiger Grauſamkeit geführten Krieg eine Poſi⸗ 
tion nach der anderen räumen. Ste hat denFeind im Land. Für die Serben wirkt 
dieSolidarität der ſlaviſchen Intereſſen; und Graf Franz Then, der den Wahl⸗ 
reformator Freiherrn von Beck beſeitigt hat, macht ſeine Leute auch gegen den all» 
zu hoch geftiegenen Aehrenthal nun mobil: Der Reichskath will der Annexion 
nicht fo fchnell, wie in ſolchem Drang nöthig wäre, zuftimmen ;will Kompenfa- 
tionen herausprefjen und zunächft wiſſen, unter welchen Bedingungen in Böh⸗ 
men der Waffenftillftand vereinbart werden ſoll. Der beiden Neichshälften 
gemeinjame Minifter des Auswärtigen ift waffenlos und muß fidy duden. 
Serbienund Montenegro: der begreifliche Zorn Enttäufchter verfladert wohl 
raſch. England: traditioneller Freundſchaft fieht der Weile Manches nad. 
Frankreich: der Gläubiger allerSlaven und Türken darf fich nicht in die Hitze 
wagen.Stalien:am Endeiftönicht ſo bös gemeint. Rußland: Mißverſtändniſſe. 
Die Jungtürken: vermögen gewiß nichts wider die Rachſucht der Mohamme⸗ 
danermaſſe. Und die Magyaren, die Boenien und die Herzegowina für dad 
Neichder Stephanskrone heifchen, laſſen jpäter noch mit jich reden. Was kühn 
begann, bog längft in den Bereich zaghafterBernünftelei ab. Warum? Weil 
die- Hoffnung auf Deutſchlands Hilfe verfümmert ſcheint. War und ijt man 
in Berlin entichloffen, Deiterreich, wenn es von einer Koalition angegriffen 
oder zum Kampfgezwungenwird, mitderganzen Wehrmacht zuunterftügen? 
Dann war Herr. von Schoen wieder einmal Eluggenug, nicht klug zu jein, als 
er mit eifernder Heftigfeit im Neichötag-den Verdacht abwehrte, Deutichland 
habe in Wien Waffenhilfe angeboten. Er mußte jagen: „Wir wünjchen, daß 
Defterreich Ungarn feinen Belig ohne Krieg fichern könne; dürfen aber fei- 
nen Zweifel an unjerer Entſchloſſenheit auflommen laſſen, im Nothfall dem 
Berbündeien den Beiltand zu gewähren, auf den er Aniprud) hat.” Weil erd 
nicht jagte, weil auch aus des Kanzlerd (flügerer) Rede fein Stahl hervor: 
bligte, mußte Baron Aehrenthal, fnirfchend wohl, feine Taktik ändern. 
Ueber die Annerion wird mit Europa nicht verhandelt; eine Konferenz 
nicht beſchickt, aufder man ung jolche Verhandlung zumuthen könnte; undder 
Botichafter aus dem Osmanenreich abberufen, wenn die Zungtürfenregirung 


444 Sie Zutanft. 


das Boyfottgebotnicht ſchleumig zu brechen vermag. So ftolz Elang das wiener 
Programm. Was iſt draus geworden? Oeſterreichs Waaren find in der Tũrkei 
geächtet, Oeſterreichs Schiffe können weder ihre Ladung löſchen noch Heim⸗ 
fracht erhalten: aber Markgraf Pallavicini bleibt in Konftantinopel. Bleibt 
und verhandelt mit der Pforte. Auch in Beter&burg und London würd verhan- 
delt. Und Herr Iswolſkij läßt offiziös „Die weife Mäßigung der wiener Re⸗ 
girung” preifen. Das ift Wermuth. Die höchſt geſchickte und an Unterord» 
nung gewöhnte Preſſe Oeſterreichs möchte den Rückzug maskiren. Kanns aber 
nicht. Vor der Habsburgergruft in der Kapuzinerkirche ſprach Bonaparte das 
Wort: „Vanitatum vanitas, — hors la force!“ Dieſe Kraft, die allein Gelt⸗ 
ung wirft und vor Ungebühr ſchützt, hat Defterreich: Ungarn diesmal nicht ge⸗ 
zeigt. Von Kleinen (Serbien und Montenegro) und Großen (Italien und Eng⸗ 
land, Rußland und der Türkei) Alles ſänftiglich hingenommen. Und fich dann 
zu Verhandlungen bequemt, die es vorher mit der nationalen Ehre unverein⸗ 
bar genannt hatte. Das wird fein Schwarzgelber je vergefjen. Und Franz Fer⸗ 
dinand wird ſich ald Kaifer noch der Hinderniffe erinnern, die feiner erften 
ſichtbaren Negententhat entgegengethürmt wurden und die der Bundeöge- 
noffe mit jchöner Rede ihm nicht überwinden half. Welchen Werth hat ein 
Bündniß, das für den Nothbedarf einer Schidjaläftunde nicht ausreicht ? 
Auch die muthigfte Bolitif hätte die Knochen des pommerjchen Gre⸗ 
nadierd nicht ernftlich gefährdet. Und fie wären im Ichlimmften Fall nicht 
eined Gaufeljpieles wegen der Kugel audgejegt worden. Deutichland muß 
wieder beweilen, dab eödieäuberften Konjequenzenfeined Handelns und Wol⸗ 
lens nicht ſcheut und bereitift, fürden Gefährten, derihm vertraut, das Schwert 
zu ziehen. Das glaubt Keiner mehr, feit wir am Baal, am Sinai, am Atlas 
der Blutprobe ausgewichen find und die mit Hätſchelworten gefütterten und 
zu feder That geftachelten Freunde fühl im Stich gelafjen haben. Die Ge⸗ 
legenheit war günftig. Nicht fremden Intereffen hätte der Kampf gegolten, 
ſondern dem Beweis, dab die deutſche Bundesgenofjenichaftnod dem von der 
ganzen grobmächtigen Meute Imheultendie< clbitändigfeitfichert. „England 
und Rußland, Italien und die Türfei, Peter und Nikita: Sechs gegen Zwei. 
Mähnt Ihr, und damit zu ſchrecken? Wer Defterreich hindert, fein Baltan- 
haus zufchließenund feft zuverrammeln, Derhatmitung zu thun. Shrwißts; 
nunenticheidet.” Das hättegewirkt. DernüchterneHerrStolypin hättedemra- 
seurdes Nuswärtigen Schweigen geboten, HerrTittonifich hinterdiegilbende 
Bündnißurkunde verſteckt, Herr Asquith gefunden, dab Gladſtone die Türken 
eigentlich ganz richtig beurtheilte, und der Serbe ſein Flintenpulver in die 


Topika. 445 


Nachtluft verknallt. Und im ganzen Orient hätte man fich gejagt: „Dieſe 
Deutſchen zu Freunden zu haben, ift doch was werth. Die Anderen ftopfen 
and mit Verſprechungen, pumpen wohl auch mal Geld; die Deutichen ſetzen 
das Leben ein und haben die ſtärkſten Batatllone.” Keiner hätte dad Habs⸗ 
burgerheer angegriffen und Defterreich wäre unter deutſchem Batronat and 
Ziel jeiner Wünſche gelangt. Dann ftünde Deutjchland groß vor dem Iſlam. 
Jetzt? DerBritenconcern fann einen neuen Sieg buchen ‘den ftillften nicht den 
unwichtigſten. Den Defterreichern ift bewiejen worden, wad aus Deutichland zu 
holen ift; und fiewerden die Lektion nicht vergeffen. Als Schlauföpfenatürlich 
aber thun, als feien fie mit Gott und dem Rachbar nie fo zufrieden gemejen. 
* j . 
Das Deutjche Reich Hat nach zwei Jahrzehnten ſpottſchlechter Politik 
noch einen Trumpf: fein Heer. Entwerthet ed den, läbt es merken, daß es ihn 
unter feineniimftänden ausjpielen werde: was bleibt dann? Richt ein zuver⸗ 
läffiger Gefährte. (Defterreich, das mit geichmälertem Anjehen Ungarn nicht 
bändigen und fi} im Orient nicht fättigen kann, wird in aller Stille wärmes 
renUnterſchlupfſuchen.) Um und anftändigen und einträglichenSrieben zu wah⸗ 
ren, müſſen wir zeigen, daß wir zum Krieg bereit find. Keiner wird Händel mit 
uns ſuchen, wenn Jeder weiß, daß ſchließlich gefochten werden muß. Auch Eng⸗ 
land nicht. Das dankt ſeine kontinentalen Erfolge unſerer Willensſchwäche; der 
Gewißheit, daß jede Einſchũchterung inBerlin wirkt. Zwei Taze nach Bismarcks 
Entlaſſung ſchrieb Chlodwig Hohenlohe in ſein Tagebuch:, Diner im Weißen 
Saal. Der Kaiſer hielt eine Rede zu Ehren der Königin von England und des 
Prinzen vonWales (deſſen Sohn dieInveſtitur als Ritter desSchwarzen Adlers 
erhalten hatte) und erwähnte die Ernennung zum engliſchen Admiral (deſſen 
Uniform er trug) und die Waffenbrüũderſchaft in der Schlacht von Waterloo; 
auch hoffte er, daß dieenglijche Slotte mit der deutichen Armee gemeinfam den 
Triedenerhalten werde. Moltfefagte:, Ein politiſchLied, ein garftig Kied‘ ;aud) 
ſprach erdie Hoffnung aus, daß dieſe Rede nicht in dergeitung erſcheinen werde.“ 
Sie iſt nicht erſchienen Doc Eduard hat fie gehört. Waterloo und derFriede lor 
ver. Heute hat er Alle, Ruſſen und Franzoſen, Yankees und Japaner, Ita⸗ 
liener und Oeſterreicher, Türken und Chineſen, Romanen und Niederländer, 
Südſlaven und Sfandinaven. Und würde trogdem morgen dem Deutjchen 
Reich jedevernünftige Konzeffion machen, trotz Alledem einen Vertrag mit ihm 
ſchließen, der beiden Reichen den Beſitzſtand verbürgt, wenn es ihm, zugleich 
mit dem Entſchluß, Britanien und fich jelbft unnügliche Aufgabe fortan zu 
eriparen, den feljenfeiten Willen erkennen ließe, im Nothfall fein Lebensrecht 
und die Wiederkehr des alten Reſpektes mit blankem Schwert zu erftreiten. 
s 





‚446 Tie Zukunft 


Der Bordifche Rnoten. 

. $; Veröffentlihung der engliſchen und amerikaniſchen Interviews des 
| Katjesd hat dem deutichen Bolt und, feiner Prefſe für einen Augenblid 
‚ven ſchon lange erfolgten Niederbruch der deutichen auswärtigen Politik zum 
Bewußtfein gebracht. Wohl aus Reſpekt vor. dem Träger der Strone wurde 
für den. Mißerfolg feiner Politik in erfter Reihe fein nicht: Eonftitutionelles 
Vorgehen als Urſache angeführt. Wer fich diefer Auffafjung guten Glaubens 
angeſchloſſen hätte, würde irven. Gerade die Neigung und die Möglichkeit, 
von konftitutionellen Banden fich zu befreien, hätte einem ftastämänntfch ver- 
anlagten Herrſcher Gelegenheit geboten, weit über den Durchſchnitt hinaus auf 
internationalem Gebiet, das immer die Domäne einzelner bejonders ftarker 
Perfönlichkeiten bleiben wisd, für das Wohl des Landes zu wirken Der Ber 
‚gleich mit noch lebenden Herrichern drängt ſich auf. i 

Jetzt ſcheint fich,- da die ftrengfte fonftitutionelle Zutückhaliung ge- 
-wahrt werden jol, in Prefie und Reichttag das Gefühl zu zegen: Nun muß 
ch Alles, Alles wenden. Wer über den innerften Grund der Mikerfolge 
kaiſerlicher Politik, die zum Theil (Das muß heute geſagt werden) auch die des 
deuiſchen Volkes war, ſich klar geworden iſt, kann dieſe Hoffnung nicht hegen 
Der tiefſte Grund aller Mißerfolge war das Friedensbedürfniß des Kaiſeis; 
ein Bedürfnig, mit dem er im deutſchen Volk nicht allein ſtand. Wenn dieſer 
Friedensdurſt (fo darf mans wohl nennen) durch rafch auf einander folgende 
Initiativen, denen im entſcheidenden Moment immer wieder befcheidene Nach» 
giebigleit folgte, zum öffentlichen Geheimniß ward, fo wurde darin nicht der 
Fehler felbit fichtbar, fondern nur eine Verjchlimmerung des Fehlers. Die 
turch die kaiſerliche Politik gejchaffene Lage ift jo unbequem, daß unter Dem 
Motto „L’Allemagne se recueille“ dad Reich aud den Wirrniſſen, die es 
fih in zwanzig Jahren geſchaffen bat, nicht mehr gerettet werden fann. 

Am vierten Dezember brachte. die Augsburger Poftzeitung, das führende 
Drgan des bayerifchen Gentrums, einen (mohl von einem informirten Groß⸗ 
deuffchen jtammenden) Artikel „Die Gefährdung des deutich.öfterreichifchen 
Bündnifjes“, der mit den folgenden Sägen ſchließt: „Das Bündniß zwifchen 
Deutſchland und Defterreih-Ungarn, wie e8 bis heute beftanden, hat jeinen 
inneren Werth verloren; darüber muß man fi) auch in Deutichland klar wer- 
den. Das Deutfche Reich muß der verbündeten Monarchie wirkliche moralifche 
und materielle Bortheile bieten; ſonſt laffen fih die zehn Möller diejes Rei- 
ches nicht länger in dem Bündniß halten. Hierüber wird man fi in Berlin 
jo jchnell wie möglich entſcheiden müſſen.“ Nun hat allerdings in den legten 
Zagen Fürſt Bülow zweimal im Reichstag mit Emphaje Defterreid: Ungarn 
der unbedingten Bündnißtreue Deutſchlands verfihert. Man kann annehmen, 








Der Gordiſche Knoten. ‘447 


daß der Reichskanzler genau wußte, was demit geſagt fein follte. Ob alle 
Mitglieder des Neichätaged, die diefe Worte mit Beifall begleiteten, geneigt 
:waren und fein. werden, die :lehten Kouſequenzen einer foldhen Erklärung zu 
ziehen, foll bier nicht erörtert werden. Wenn man den Willen zur Bündnif« 
treue aus den Phraſennebeln löft, fo zeigt fih in ihm der Entichlug, auf 
:Srund eine gefchriebenen Bertraged die gefammte Kriegsmacht und Finanz⸗ 
kraft des Reiches in den Dienft des verbündeten Staates zu ftellen, aljo der: 
Wille, m einem Strieg, den Deiterreihh gegen Rußland und die Türkei oder 
‚gegen Rußland und. Italien zu führen hätte, mitzulämpfen. Iſt der Stanzler, 
‚der Reichätag, dad Volk dazu bereit? Das muß in letter Stunde erwogen 
werden. Sie ftehen am Scheidemeg. e 

Der Reichölanzler jcheint die Bündnikireue im Sinn der alten Phraſen⸗ 
politit aufzufafien. Denn während er im Reichstag Treue ſchwor, hat er, nah 
im Wejentlihen unwiderſprochen gebliebenen konſtantinopler und nemydrler Mel- 
"dungen, die den Beifall ded größten Theiles der deutſchen Preſſe fanten, dem 
Freiheren von Achrenthal dringend gerathen, fi mit der Türkei, jelbit unter _ 
Dpfern, zu verfiändigen, und fich gar noch beeilt, Defterreich® Gegenpart, der 
‚osmanischen Regirung, von diefem Schritt Kenntniß zu geben: aljo die Po» 
fition de3 Bundeögenofien doppelt geihwädht. Das alte Spiel; diesmal im 
Tonftitutionellen Gewand. Zeigt fih auch in der Hofburg der Schatten Krügerd? 

Das Ziel der Iondoner Politik bleibt, dem alten Kaijer, der in Iſchl 
das Werben Englands noch zurüdwies, ad oculos zu demonftriren, daß ohne 
Englands Hilfe dem Habsburgerreih kein Erfolg blühen kann und daß für 
Englands Freundſchaft das nach Frieden dürſtende Deutjchland keinen Erjag 
bietet. Mit einem Bundedgenofjen (im wahren Sinn des Wortes) wie Teutſch⸗ 
land kann Deiterreiy Ungarn Serbien, Montenegro und alle nicht marſch⸗ 
bereiten Großmächte in die Schranken fordern; und wenn er mit ter Waffe 
bedroht wäre, müpte der ganze Concern Eduard3 zujammenbrechen. Ohne: 
ftarke und haltbare Stüße aber wird Defterreih-Ungarn zu einer Rachgiebig⸗ 
Zeit genöthigt fein, deren Folgen nur durch eine andere (willig oder unmillig 
gewählte) Drientirung feiner ausmärtigen Politik ausgeglichen werden könnten. 
Iſt Defterreich gezwungen, ſich zu „artangiren“, jo ift das Bündnig mit 
Deutichland werthlos geworden. Dejterreich braucht Die vier Millionen deuticher 
Soldaten und kann um dieſen Preis fih an der Seite eines gehakten Bundes» 
genofien halten; les bons offices fann ed mit größerem Bortheil von anderer 
Seite beziehen. Das fcheinen die guten Leute vergeffen zu haben, die fich im Deut⸗ 
ſchen Reichätag mit Herrn von Schoen glüdlich fühlten, als er mit zweifach unter: 
ftrichenem Nein erhobenen Hauptes die Unterjtellung zurüdmwies, der Deutiche 
Kaiſer hate durch das Angebot militäriiher Hilfe dem bedrängten Bundes» 
genofien den Naden geftählt. Drei Tage vorher hatten Regitung und Par⸗ 
lament auß Berlin den Treuſchwur an die Donau und die Leitha gefandt und in 





— 


448 WMie Zukumuft. 


Der Neuen Freien Preſſe (um nur ein Blatt zu eitiren) war dieſes Belöbnig mit 
vem Hinweis auf die vier Millionen deutfcher Soldaten froh begrüht worden. 
Schon hat der offiziöfe Peſter Lloyd das franzöftfche Volt an die Dienfte 
erinnert, die Franz Joſeph der Republik geleiftet habe, als er ablehnte, den 
Bundnißfall als gegeben zu erachten, wenn. Frankreich der einzige Angreifer 
jei. Wie denken fich die Herren, die, erft Durch die Interviews und beren 
Veröffentlihung alarmirt, in der Wahrung konftitutioneller Formen den reiten» 
den Talisman erbliden, die Stellung Deutichlands einer Koalition gegenüber, 
der Deiterreich fern zu bleiben teinen Grund mehr hätte? Wollen fie warten, 
bi3 der königliche Spieler an der Themfe die Katten auf den Tifch legt? 
Dann würde ed beißen: „Match! Habt Ihr noch einen Stih?“ 
Kriegeriiche Verwidelungen zu vermeiden: dieje Aufgabe ift, wenn es 
fd um ein Volk von ſechzig Millionen handelt, auch ohne ftaatömännifche Be⸗ 
gabung zu bewältigen. Insbeſondere dann, wenn dabei Preftigeverlufte, denen 
materielle folgen müflen, in den Kauf genommen werden. Iſt man aber 
darüber Flar, daß das Preftige eine Reiches nicht mit der Schminke einer Lebe⸗ 
dame, fondern mit dem Kredit eined Handelshauſes zu vergleichen ift? Und daß 
die Erfchütterung dieſes Kredite ſchließlich auch die centrifugalen Sträfte entfejleln 
muß, die Biamardd eiſerne Hand in den Wunderbau des Reiches bannte? 
Die legten zwanzig Jahre haben die auömärligen Beziehungen des 
Deutichen Reiches zu einem Gordiſchen Knoten verwidelt. England wird uns 
nicht Zeit laffen, ihn zu entwirren, und konftitutionelle Garantien genügen nicht, 
ihn zu löjen. Er muß, wie der in Gordium von Alexander, dDurchhauen werben. 
Schloß Moos. Graf von Preyjing, 
Erblicher Reicyärath. 


Erinnerung.*) 


EA die Schwelle des bibliichen Alters überfchritten hat, foll den Blick 
nicht emportichlen zu den Höhen, die er in der Jugendfraft erftürmen 
zu müjfen gemeint hat und die fich jegt in unerreichbarer Ferne vor ihm aus» 
breiten. Wie ein Wanderer muß er rüdwärts den langen Weg überjchauen, 
den er zurücgelegt bat. Diefer Weg führt oft über anmuthiges Gelände; 
manchmal auch an Abgründen entlang zu dem Punkt, an dem Erlebniffe von 
faft drei Vierteljahrhunderten wie ein Panorama vorüberziehen. 

Als ich die Lebensreiſe antrat, gab es in. unferer Vaterftadt ein inter» 
effantes Erlebniß: tie Vollendung der erften preußijchen Eijenbahn. Die Ber⸗ 
liner jollen in billen Haufen kegesftert zum Po:sdamer Thor hinausgepilgert 


*, Aus der (nicht veröffentlichten) Rede, die der genialifche Schöpfer der Allge⸗ 
meinen Eleftrizitätsejellichaft, Deutſchlands erfier Induftrieller, am Abend feines fic= 
benzigiten Geburtstages vor den in feiner Wohnung vereinten Freunden hielt. 








Erinnerung. 449 


fein, um den Zug nad Steglih abfahren zu fehen. Biel zu langſam (nad 
heutigen Begriffen) bewegte er fi vorwärts, ohne Schlafs und ohne Speiſe⸗ 
wagen; und doch war die Eifenbahn ein gewaltiger Fortſchritt gegen die Poft- 
Zutfche, in der mein Bater aus der Ukermark ald Züngling, meine Mutter als 
Kind mit ihren Eltern aus der Mark hierher überſiedelten. 

Als ich noch nicht zehn Jahre alt war, vernahm ich Unter den Linten, 
an der Stelle, wo heute das Dentmal de3 Alten rigen fteht, den General⸗ 
marſch, der die Revolution von 1848 einleitete, und über Barritaden hinweg 
erreichte ich das elterlihe Haus, von deflen Fenſtern ich dann dem Kampf 
zufag Er endete mit dem Rüdyug der Truppen durch den Monbijougarten 
Über die Spree. Ein Jahr vorher Halte ich die Schreckniffe einer Hungers⸗ 
noth im Kartoffelkrieg miterlebt. 

Da weder Terpſichore noch andere Muſen an meiner Wiege geſtanden 
zu haben ſchienen, reiſte ich auch ohne ihr Gelen in die Lehre nach Schlefien. 
NMeine lieben Soufinen werden bezeugen, wie befchämt ich in der blauen 
Bloufe und mit den zerjhundenen Händen mittags mich an der Terrafje vor 
beifchlich, auf der fie mit ihren Freundinnen an diefer Verlegenheit ſich ergößten. 
Aber übel haben fie es nicht mit mir gemeint; denn fie ſchmückten mein Heim 
mit zärtlicher Fürforge und machten es für die langen Winterabende wohnlich. 
Auch reichten fie mir an den Tiſchen ihrer Eltern ſtets die beften Biſſen. 
Aus den Armen des Proletariates befreite mich des Königs Ruf zu den 
Waffen. Ich eilte fchleunig nach Berlin; aber am Tage nach der Geſtellung 
wurde der Friede von Billefranca gefdlofjen, der Befehl zur Mobilmachung 
aufgehoben. Die Ausfiht auf den erträumten Kriegsruhm war gejchwunden. 

Statt nah. Schlefien fuhr ich in die welfifche Hauptftadt, um die Theorie 
einer praktiſchen Bethätigung zu ergründen, die mich viereinhalb Jahre lang 
feftgehalten hatte. Auch dorthin folgte mir das Verhängniß. Der Kampf 
der Bolytechniter um die alademijche Freiheit führte nicht zum Sieg und mit 
einigen freunden rettete ich mich in die freie Schweiz. 

Mit dem Diplom eines „richtiggehenden” Ingenieurd nahm mid Borfig, 
der Sohn des Begründers, in feine Yofomotivfabrif auf; und nach dreimonatiger 
Tätigkeit überreichte er mir als Weihnachtgeſchenk eine Rolle harter Thaler, 
mit Denen ich damals ein Königreich mir kaufen zu können einbildete. 

Ueber meinen Aufenthalt in England will ich hier nur fagen, daß ich 
in einer berühmten Schiffsmaſchinenfabrik mein Glück verſuchte. Trotz „Ichmaler 
Koft und wenig Geld“ bleibt mir diejer Aufenthalt unvergehlih; und meinen 
Eltern wurde es nicht leicht, mich zur Ruckkehr in die Heimath zu überreden. 
Hier kaufte ich eine Beine Mafchinenfabrik mit einem großen Garten, afjoziırte 
mich meinem AJugendfreund und führte wenige Jahre danach Fräulein Mathilde 
Nachmann zur Trauung in den Römer. 


Geheimer Baurath Dr.Ing. Emil Rathenau. 
s 





450 Die Zukunft. 


Die beiden Birken. 


ie Birke, von der unfere haturwiflenschaftlichen Leheblicher reden und 
Iprechen, und eine Birke, wie fie auf ber Haide wächſt, find etwas 
durchaus von einander Verſchiedenes; ed kann Teinen größeren Gegenfag geben 
ald den Gegenſatz zwifchen dem natürlichen Ding, das da als Birke in finn- 
-fälliger Erſcheinung vor meinen Augen fteht, und dem Wortbegriff Birke, mit 
dem ſich. unſere Botaniker beſchäftigen. © 

Es ift nothwendig, daß wir uns bei allen unferen Unterfuchimgen und 
Betrachtungen iminer diefen volllommenen Gegenjag von „ber” Birle und 
„einer“ Birke vergegenwärtigen und uns feiner bewußt bleiben. Vielleicht ift. 
es gerade unjer Verhängniß und die Quelle zahllofer Berwirrungen und Miß⸗ 
verftändnifie, dak wir an diefen tiefen Unterſchieden und Gegenjähen zunädit 
achtlo8 vorübergehen. Denn wenn unjere Naturwiſſenſchaft etwa in Bauſch 
und Bogen von fi behauptet, daß es ihr ganz allein um die Betrachtung 
und Erfafjung der Welt unferer unmittelbaren Erfahrung und der finnlicen- 
Wirklichkeit zu thun ſei und fie all ihre Wiffen nur aus ihr herzuleiten ſuche, 
fo täufcht fie fich damit über ihre wirklichen Prinzipien hinweg, von denen 
fie biöher ftet3 beherrjcht worden ift. Sie unterliegt dann gerade einer folchen 
Verwechſelung von Birke und Birke, von Begriff und finnlicher Ericheinung. 
Sn der That iſt unfere Raturmwiflenichaft vor allem Anderen eine Lehre von 
einer begrifflich erfaßten, begrifflih umgefosmten Natur; und es ift gerade 
nicht die unmittelbar wirkliche Erfahrungmelt, fondern eine Welt der Natur 
einheiten, Urfachen, Prinzipien und Gefege, eben der Raturbegriffe, die nach 
ihren eigenen Behauptungen von ihr erkannt werden fell. 

Die Menichen aber, die fi mit den wirkliden Naturdingen felbft be⸗ 
Ichäftigen, wie etwa unfere Pflanzenzüchter, ftehen nur in einem jehrrloderen 
Bündniß mit den Menſchen der Naturbegriffswifienihaft. Aus den Lehr 
büchern der Botanik können fie nichts erfahren und entnehmen, was ihnen bei 
ihren Verſuchen und Arbeiten um die Erzeugung neuer Arten und Formen 
etwa von Nupen wäre. Sie jtehen vielmehr zu dieſer Disziplin der Natur 
begriffe genau in dem ſelben Verhältnig wie der Künjtler zu einem Lehrer 
und einem Lehrbuch der Aeſthetik. Und wie ein Poet zu dichten und zu ſchaffen 
vermag, ohne durch die Schulen folcher Kunftphilofophie und Kunſtwiſſenſchaft 
gegangen zu jein, jo hat auch ein Pflanzenzüchter oder ein Chemiter, der in 
jeinem Yaboratorium neue Verbindungen herftellen will, eigentlich nichts mit der 
Naturwiſſenſchaft der Prinzipien und Geſetze zu jchaffen. 

Das Wort Birke birgt völlig gegenfägliche Bedeutungen in fi. Unſere 
„einheitlichen untheilbaren” Wiffenfchaften ſchließen dennoch alle, jede für fi, 





- 





Die beiden Birken. 451" 


immer wieder zwei völlig verſchiedene Richtungen in ſich ein, die genau in demi 


felben Berhältnif zu einander ftehen wie die Birke ald Begriff und die Birke ala 
ein Gegenitand der finnlichen Erſcheinungwelt. Die eine wiſſenſchaftliche Dis⸗ 
ziplin hält iht ganzes Augenmerk auf die unmittelbaren Thatfachen, Vorgänge, 
Dinge der Wirklichkeit gerichtet, während die andere es mit den beſonderen 
Begriffen davon zu thun haben will. Wie das Wort Birke, fo ift auch das: 
Wort Wiſſenſchaft ein doppeltjinniges Wort, dad immer zugleich auf dieſe 
zwei höchſt gegenjäglicden Funktionen innerhalb jeden wifjenfchaftlichen Bes 
triebes hinweift.: Es giebt, zum Beilpiel, eine von uns als Chemie bezeichnete 
Wiſſenſchaſt ımd eine Gruppe von Menfchen, von und Chemiler genannt, bie: 
ſich mit der Unterſuchung der Naturftoffe und ihren Berwandlungen beſchäftigen. 
Diefe Chemie legt mir nun einmal Gegenftände auf den Tiſch, Wetalloibe, 
Metalle, Schwefel, Phosphor, Ratrium, Eifen, Silber, Blei, organifche Körper, 
Stärke, Zuder, Proteinftoffe, finnlich greifbar wirkliche Objekte; ein andereö 


Mel aber ſpricht fie auch von Atomen, Molekülen, aus denen angeblich dieſe 


Subftanzen zujammengejegt find, ohne daß fie mir diefe doch fo wie jene un⸗ 
mittelbar zeigen kann. Und mie ich bei dem Klange des Wortes Birke von 
vorn herein durchaus nicht weiß, ob damit der Begriff Birte gemeint ift oder 
ob ich mir darunter einen beftimmten, einzelnen, nur einmal vorhandenen Birken» 
baum vorftellen foll, jo kann ich auch dem’ bloßen Wortlaut Atom noch nicht: 
entnehmen, ob ich darunter den Atombegriff zu verftehen habe oder ob damit 
auf ein vorhandenes einzelnes kleinſtes Theilchen hingewieſen werden joll. Die 
beiden jo gegenjäglichen Bedeutungen des Wortes können fietd mit einander 
verwechjelt und vertaufcht werden, wenn ich nicht meine Aufmerkſamkeit klar 
und bewußt auf diefe Verwechfelungmöglichteit gerichtet halte. Thatfächlich‘ 
aber werden fie immer von und durcheinandergemworfen, da eben unſere bis⸗ 
herige Wiflenfchaft, unſer ganzes wiſſenſchaftliches Bewußtſein an dem in jedem 
einzelnen Wort eingeichlofienen Gegen» und Doppellfinnen, an ihren Doppelts 
werthen einſtweilen noch blind vorüberging. | 

Die Medizin begeichnen wir bald als Wiſenſchefi. bald als Kunſt. 
Und jo wird Alles, was wir einmal als Wiſſenſchaft anſehen, das andere Mal 
von und unter dem Begriff Kunft zuſammengefaßt. In einem Ehemiler, in 
einem Zechniler können wir ſowohl einen Gelehrten, einen Mann der Wiſſen⸗ 
ſchaft, wie einen Stünftler jehen. Wohin rechnen ‚wir die Erfinder, die Ent⸗ 
deder? In Wahrheit handelt ed fich hier überall um durchaus und völlig ver» 
jchiedene geiftige Bethätigungen und der ung geläufige Gegenjag zwiſchen einem 
ſchaffenden Künftler und einem Kunftgelehtten, einem Aeſthetiker wiederholt 
fih immer wieder. Einem „Theoretiker“, der auf das Begriffliche all fein 
Interefſe fonzentrirt, fteht immer ein Praktiker gegenüber, dem ed nur um 
Wirklichleiten zu thun ift; und in welchem Berhältniß und in welchen Be: 


- 


453 Die Zuhunft. 


ziehungen nun Theorie und Praxis zu einander ftehen, der Birkenbegriff und 
die finnlich einzelne Birkenerfcheinung: Das ift noch ein jehr dunkles Problem. 

Ich behaupte nun, daß unfere Erkenntnißtheorie, unjere Denklehre ein 
eigenthümliches letztes Intereſſe daran befigt, und dieſe Unterfchiebe zu verwirten. 
und uns gerade mit einem Rebel einſchließt, der und hier ftet3 in Finſter⸗ 
niffen tappen ließ. Ein Raturbegriff und ein Naturding wird von und durch⸗ 
einandergeichacdhtelt und ein Naturding bald für einen Naturbegriff und ein 
Raturbegriff wieder fir ein Raturding audgegeben und gehalten. Sie liegen 
doch nur im Wort zufammen; dad Wort macht hier Feine Unterſcheidungen 
und der jelbe Wortlaut fteht ſowohl als Zeichen für den Begriff wie für das 
einzelne Ding. Das Wort, dad Sprechen, das laute Denken, ftellt und des⸗ 
halb eine Falle. An und liegt es, daß mir in diefe Falle nicht hineingerathen, 
und vom Wort nicht verftriden lafien, jondern hinter feiner ſcheinbaren Einheit 
die ganz verfchiedenen Sinne und Bedeutungen fuchen. 

Auf den Unterfchied zwilchen einer Birke, die da auf dem Felde wirklich 
wächft, und einer Birke, die ein Begriff ift und von der unfere botanifchen 
Zehrbitcher fprechen, habe ich hingewiefen. Hat es wirklich fo viel Werth, daß 
wir auf diefen Unterfchied achten? Iſt «3 für uns zuleht nicht gleichgillig, ob 
wir es trennen und audeinanderhalten oder zufammenbringen und vereinigen? 
Sollen wir den Streit darum nicht den Stubengelehrten überlafien? Für uns 
Kinder des Lebens erblüht daraus nicht Frucht. no Gewinn und wir können 
- feiner vielleicht entrathen. 

Run: diejes Heine Wort Birke mit feinem Doppeljinn ſchließt jchon 
die Sage aller Fragen in fich ein und alle Probleme, die den menſchlichen 
Geift jemals gequält haben, ftrahlın von Bier aus. Unſer ganzıd Leben 
mit allen feinen innerlichften Beziehungen, Auffafiungen, Bethätigungen und 
Gefühlen, mit feinen Willen und Beftrebungen wird allein dabyrd beitimmt, 
wie wir uns bier entjcheiden und wie wir bier ſehen können. 

Diefe beiden Birken find in den Garten unſeres Lebens ala die beiden 
Schickſalsbäume hineingepflanzi; und Alles hängt zuletzt davon ab, daß wir 
richtig handeln, daß wir wiflen, von welchem Baum wir unſer Dafein pflüden 
follen., Schon die alte Bibel ftellt und mit ihrem erſten Kapitel vor dieje Frage. 

Die Birke, die da grün auf dem Felde wächſt oder im Winter Tabl 
ihre Aeſte ftredt, ift der Baum des Lebens; und der paradiefiihe Lebensbaum 
ift überall um Dich, heute jo gut da wie in bibliſch⸗mylhiſchen Zeiten. Suche 
ihn nur nicht in Gottesländern, fondern auf dem Hof und vor Deiner Thür. 
Die Birke jedoch, die ein Begriff ift und von der unſere bofanijchen Lehr⸗ 
bücher |prechen, ift der Baum der Erkenntniß. Und ob wir nun den Baum 
des Lebend oder den Baum der Erkenntiniß ala unſer Allerheiligſtes anjehen 
und verehren follen: Das ift eben die tiefite und bedeutfamfte Frage. 








Die beiden Birlen. 453 


Darum wird e3 zur höchften Wichtigkeit, zwiſchen der Birke, die auf 
dem Felde wächſt, und einer botaniſch⸗naturwifſenſchaftlichen Birte zu unter 
ſcheiden, eine Birke, die eine Raturform, und eine Birke, die ein Bernunft« 
begriff ift, außeinander zu halten. In diejer einen Unterfcheidung zwiichen Birke 
und Birke liegt bereitö Alles ausgedrüdt, mas jemals über die Verfchiedenheit 
von Vernunft und Natur gejagt worden iſt und gejagt werden kann. Die 
legten, tiefften Gegenjäge ftoßen bier auf einander und der große vieltauſend⸗ 
jährige Kulturkampf der Menjchheit ift bisher nichts ala ein einziger großer 
Kampf zwilchen ihrer Ratur und ihrer Vernunft geweſen. Hier müflen mir 
wiſſen, hier mühlen wir unterjcheiden und enticheiden. Db wir an die Natur 
oder an die Vernunft glauben: Das macht uns, wie der alte Paradieſesmythus 
ſagt, entweder zu Göttern oder zu Verdammten, zu Exlöften oder. zu ewig 
Leidenden. In Dem, wie fie die beiden Birken fieht, liegt dad große Wiſſen 
der Menichheit. 

Der Unterfchied diejer zwei Birken, von denen die eine eine Raturform, 
ein Gebilde der Sinnenwelt ift und von uns zunäcdft als das Wirklichſte aller 
Wirklichen empfunden wird, während die andere ein Begriff und eine Vernunfts 
form ift, völlig unmittelbar, finnlich nur ald Wort eriftirt: dieſer Unterjchied 
ift zugleich auch ſchon der Unterſchied zwiſchen zwei ganzen Welten. 

Bon je ber, fo weit unfere fulturelle Weltanjchauung zurüdreicht, haben 
mir eine Raturmwelt und: eine Bernunftwelt gegen einander aufgebaut. In 
jener blüht eben die Bitte, wie fie Überall auf den Feldern wäcdft, ein Baum 
des Lebens, der ung nährt und kleidet; bier fteht fie ald Erkenntnißbaum auf- 
gerichtet; ftatt der Bilder und Erjcheinungen wohnen hier Begriffe, Abötraltionen, 
graue, fchattenhafte, ſchematiſche Weſen, die uns niemals zu einer Erfahrung 
werden können. Doc unjer ganzes Aulturdenten wurzelt darin, dieſe Ber» 
nunftwelt, dieſes begrifflich-abätrafte Sein über jene Naturwelt hoch empor» 
zuheben. Das Denten fett überhaupt damit ein, die Raturwelt, die Sinnenwelt 
mit Acht und Bann zu belegen, al3 eine große Sünde zu brandmarken und 
Dagegen die eigene Welt der Beariffäformen als die erſt wahre und wirklihe - 
Welt aufzujtellen. Und zu den Geiftern, die jo die Ratur auf dem Altar 
der Vernunft, die wirklich lebendige Erfcheinung auf dem Altar der Abstraktion 
geopfert haben, ſehen wir, heute wie früher, als zu unferen erleuchtetfien Führern 
empor; und noch immer erjcheint uns nichts fo jelbftverftändlich wie die Ber» 
achtung alle Natürlichen. 

Die Welt diefer Begriffe wurde der Menjchheit zur Gotteswelt, zu einer 
höheren und volllommeneren Seinälphäre, zu einer Urſprungswelt, aus ber 
die finnlihen Erfcheinungen hervorgegangen find, zu einer Idealwelt, zu ber 
fie fi) emporbewegen muß. Zu ihr blidte fie hin ala zu einem Lande ber 
Einheit, welche die vielen Dinge wirklich lebendig in fich fchließt. In diefer 

35 





454 - Die Zulunſt. 


anderen, der abstrakten, vernünfligen Welt, die eben Leine Naturwelt ift, ſollen 
wir nad den Urſachen der finnlich,lebendigen Welt fuchen; und die Geſetze, 
die Prinzipien, die Regeln, welche diefe Natur beherrſchen, die eigentlichen - 
Mächte, die unſer Dafein lenken und beitimmen, find eben die Weltbegriffe. 
Die Örundforderung unferer ganzen Kulturweltanſchauung, unferer Philoſophien 
und all unferer Wifenfchaften befteht nun darin, diefe Urfachen und Geſetze 
unfered Dafeind aufzudeden, die Welt zu begreifen, Das heit: hinter die finn= 
liche Welt in diefe begriffliche Welt einzubringen und jene in ihrem wahren, 
ihrem abstrakten Sein, in ihrer „Bernunfl” zu durchichauen. Denn es ift eben 
der Baum der Erkenntniß, den wir zu unlerem Baum der Erlöjung machten, 
und nicht die Birke, die auf dem Felde wächſt, fondern jene, die ala Begriff 
in uns egiftirt, ward für und zum eigentlihen Weltenbaum. 

Die folgerichtigfte, am Klarſten und Schärfften durchgeführte Behauptung 
und Lehre dieſes Vernunfterkenntnißmenſchen gipfelt deshalb durchaus noth⸗ 
wendig darin, daß die natürliche und finnlidhe Welt nur in einer Täuſchung 
befteht, die Birke dort auf dem Felde eigentlich ganz und gar nicht exiftirt. 
Und fo find, wenn auch nicht im diefer radilalen Entichlofienheit des indiſchen 
Denkens, doch unjere europäiſchen Erlenntnißiheoretiter darüber volllommen 
einig, daß die Vernunftkritik, nicht aber die einfache Sinnenanfchauung uns 
darüber belehrt, wie und was die wirklichen Dinge find. Unjere rein finnlichen 
Anſchauungen bilden danach eine einzige Stette der Täufchungen; und nur für den 
naiven Realiften, den Bauern, den Paganen, den’ Ungebildeten, der durch die 
Schule unferes Denkens nicht hindurchgegangen ift, bildet die bloße Erſcheinung⸗ 
welt die volle objektive Wahrheit, die Wirklichkeit alles Wirklichen. 

Doch wie, wenn man nun einmal in völliger Umkehrung ſpräche? Wenn 
Einer die ganze Grundporausfegung unjerer Weltanfchauung, die UÜridee un- 
ferer Vernunft, dad erfte Prinzip, von dem unjere Wiflenichaften ausgeben, - 
verwirft? Nicht die Ratur täufcht uns, fondern die wirkliche Duelle aller uns 
jerer Täufchungen, Irrungen und Verzweiflungen war von je ber nur die 
Vernunft. Nicht Tie Vernunft ift das Mehr und Höher ald die Natur, ſon⸗ 
dern nur innerhalb diefer eine durchaus untergeordnete Macht. Der vieltaufend- 
jährige Menjchheitkulturfampf zwiſchen Natur und Vernunft. kann nur endın 
mit der völligen Niederlage der Vernunft. 

Der Eikenntnißmenſch, der ung die Lehre von den zwei Welten, von 
dem völligen Andersjein einer natürlich: ſinnlichen Erjcheinungmelt und einer 
abstrakt-vernünftigen Urgrund- und Uebermwelt brachte, er allein muß in ans 
überwunden werden. Diefe höhere Welt der Einheit, der Gejege, der Urjachen, 
des Meltbegriffes eriftirt überhaupt nicht; und die große Zäufchung, der tiefſte 
Wahn der Wenfchheit b:fteht einzig und allein darin, daß er fie ald wirklich ange» 
nommen bat, fei ed nun als göttliche Idee oder ald Naturfraft und Stoff. 


Die beiden Birken. 455. 


Eine bloße Fiktion, eine reine Fatamorgana, eine völlig phantajtiiche, durch 
nichts begründete Behauptung fieht am Anfang unjerer Vernunftweltanſchau⸗ 
ung, am Beginn unferer Wiflenfchaften. indem wir einem Zrugbild ftets 
nachgelaufen find, indem wir völlig gleichgiltige, inhaltleere Verftandesformen 
für ideale, höhere Wirklichleiten, Gottes, und Naturgejege hielten, haben wir ' 
immer Tantalus- und Denaidenarbeiten verrichtet. Und ganz vom felbft ge . 
riethen wir auf den Wegen des Erkenntnißmenſchen überall in die Sümpfe 
einer. Yerfinndmelt, in die Vexirgärten ſogenannter Welträthjel. Und unferen , 
Philoſophien und Wiſſenſchaften thut nur dad Eine noth, daß fie ihre Thorbeig 
durchſchauen und nicht länger mehr die mathematifche Weltformel oder den 
MWeltbegriff oder die große Einheit hinter und in den Dingen oder die Ratur- ' 
geſetze oder den reinen Stoff und die reine Kraft entdeden wollen. Der Che: 
miler, der in feinem Laboratorium das Atom wirklich finden will und der dem 
Problem nachgrübelt, wie nun eigentlich aus den unveränderlichen Stoffeins . 
heiten veränderliche Stoffe entitehen, ift eben ein arıner Fatamorgana-Rarr . 
und figt in der Falle der Vernunft: die Birke, die dort auf dem Felde wächft, 
däht fie aus der Birle.hervorgehen, die ein Begriff ift und nur als Wort in 
den Nehrbüchern der Botanik fteht. Ä 

Durch unferen Vernunftglauben find wir aus unferem Mittelpuntt ge⸗ 
bracht und mit der Natur in Zwieſpalt gerathen. All unſere menſchlichen Ein⸗ 
richtungen mußten zu Vernunftorganiſationen, zu un⸗ und mwidernatürlichen 
Einrichtungen werden; und die wahre Urſache unſeres menjchlichen Leidens 
iſt allein der widernatüitliche, der Vernunftmenih in und. Stets halten wir . 
gerade Das für wahr und wirklich, mad am Wenigiten wahr und wirklich iſt, 
und ziehen unüberjteiglihde Mauern und Grenzen, die nur in unſerer Fiktion 
beftehen. Mit diejen Fiktionen führen wir Menjchen einen unabläffigen Strieg 
gegen einander und die bitterften Leiden fügen wir und damit immer felbft 
zu. Noth thut ung nur, daß wir zu der abjoluten Wahrheit des biblifchen 
BVaradiefegmythos wieder hingelangen können. Als der Menſch vom Baume 
der Erkenntniß pflüdte und am Lebensbaum vorüberging, die Vernunft ftatt 
der Natur zu feiner Gottheit machte, beirog er ſich felbft; und all fein Dafein 
war von diefem Augenblid an ein Leben in Dual und Mühe, in ewigen Uns 
fruchtbarkeiten. 


Wilhelmshagen. Julius Hart. 


- 





35*® 


426 Die Zukunft. 


Raroline Mathilde und Struenfee.*) 


SM: tiefer Bewegung übernehme ich dieje Pflicht, die das Wohl Ihrer Mao 
jeftät der Königin und der Wille Seiner Majeflät des Königs mir auf» 
exlegt. Die Würbe biefer Hohen Perfonen, die Wichtigkeit und bie Folgen ber Sache, 
mein aufrichtiger Wunſch, meine Bfliht und Schuldigfeit zu thun, und eine natürliche 
Furcht, Dies nicht völlig zu Tönnen, rechtfertigen meine Beforgniß zur Genlige. 

Die Königin den Purpur ablegen zu jehen, vom Thron niederfteigen und 
gleich dem Geringften ihren Schutz durch das Geſetz fuchen: giebt e8 ba wohl über- 
bqupt ein Beifpiel, das rührenber die Unbeſtändigkeit der menſchlichen Slüdfelige 
feit widerſpiegelt? Sie, in beren Berfon wir das Blut fo vieler Könige ehren, feht 
unter dem Verdacht, dieſes Blut entehrt zu haben. Sie, welcher der König Herz 
und Hand gab, wird don ihm, ber ihr verjprach, ihr Herr und VBertheidiger zu 
fein, angellagt. Sie, Die durch einftimmigen Ruf des Volles ben Namen der Landes⸗ 
mutter erhielt, wird von Denen gerichtet, deren Blut mit Freuben für fie fließen 
würde. So unglüdlic ift die Königin Karoline Mathilde und fie allein unter den 
bänifchen Königinnen. 

In dem Alter und mit all den Eigenfchaften, bie ihr Glück zu fichern ſchienen, 
fieht fie jth am Rande eines Adgrundes, in dem ihre Ehre, ihre Würde und ihre 
Ruhe verloren wäre. Welche Borftellung! An einem Tage den Gemahl, bie Kinder, 
das Reich zu verlieren, diefen Bexluft, zu überleben, verdächtigt, angeflagt, in Ge⸗ 
fahr, durch eine lange Reihe von Jahren das traurigfie Leben friften zu müſſen: 
giebt es Aberhaupt etwas Graufameres fix Herzen, die au denken und zu fühlen 
ım Stande find? 

In dieſer Weife betrachtete die Königin ihr Schidfal und fo beichrieb fie es, 
als ich die Ehre Hatte, ihr meine Aufwartung zu machen. Ich müßte verzweifeln, 
fagte Ihre Majeftät, wenn meine Abfichten etwas Anderem als dem Wohle des 


*) Die Schugfchrift, die der Advokat Uldall für feine Klientin, Die Königin Karo⸗ 
line Mathilde von Dänemark, dem Gericht einreichte. Sie wirb in bem Buch veröffent- 
licht, dag Herr Fielſtrup, unterdem Titel „Ehefheidungprogeß zwiichen König Chriftian- 
dem Siebenten und Königin Karoline Mathilde”, bei Otto Janke in Berlin erfcheinen 
läßt. Die Vorgefchichte bes Scheidungprozeifes ift befannt und in jedem Hiſtorienbuch 
nachzuleſen. Herr Fjelftrup hat in der Univerfitätbibliothek von Chriftiania neue Doku⸗ 
mente gefunden, die er für fein Werk benugt Hat und in extenso abdrudt. In dem Vor⸗ 
wort fagter: „Ueber bie Hauptpunfte in diefem ominöfen Brozeß haben wohl niemals 
ernitlicye Zweifel beftanden und e8 wird nun ben Leſern übexlaffen, zu beurtheilen, ob 
dieſer Beitxag zu der recht umfangreichen Literatur der Struenfee-Periode von Ve⸗ 
deutung ift oder nicht.“ Dieje Trage wird wohl überall bejaht werben. Das Buch ift ſehr 
intereffant, bringt die merfwürdige Hofrevolution in neues Licht und bietet auch an 
„Spannung” mehr ald mancher Roman. Fielftrups Schlußurtheil lautet: „Die Alten 
de3 Scheidungprozejjes mäfjen Karoline Mathilde jeder Aehnlichkeit mit einer Heiligen 
berauben; nicht leugnen läßt ſich aber, daß fie einen wichtigen Beitrag zu ber pfycholo⸗ 
aiihenCharafteriftilder dreiHauptperfonen dieſes merkwürdigen Ehedramas geben: bes 
geiſtee kranken Alleinherrichers, des ehrgeizigen Vorfämpfers ber intelligenten Defpotie 
und der beißhlätigen jungen Stönigin, der dieWahl zwiſchen Beiden nur allzu leicht ward.” 


Karoline Mathilde und Struenfee. 457 


:Mönigs und bes Landes gegolien hätten. Und wenn ich vielleicht etwas undorfichtig 
gebanbelt haben jollte, fo müßte mein Geſchlecht, mein Alter und mein Stand mir 
Als Entfcauldigung dienen. Niemals glaubte ich in ſolchen Verdacht kommen zu 
können, unb fcheint mein Gefländniß ihn auch zu beftärken, jo weiß ich mid) trotz⸗ 
„dem unſchuldig. Das Geſetz will, daß ich Aberführt werde, mein Gemahl hat mir 
‚ben Schuß des Geſetzes gelafien und ich Hoffe, daß es durch ben Mund der Richter 
extennen wird, daß ich mich feiner nicht unwürdig gemacht babe. 

Ich führe die Worte Ihrer Majeftät jo an, wie die Königin fie felbit ges 
{prochen bat; wie gern möchte ich aber zugleich die Geminhsbewegung ausbrüden, 
mit der fie geiprochen wurben, bie Yreimüthigfeit, die ihnen größere Bedeutung 
verlieh, die rührende Stimme, deren Recht es zu fein ſchien, Mitleid zu fordern, 
Das Niemand ihr verfagen Tann, ohne die Menichlichleit zu beleidigen *). 

. Man. führt gegen Ihre Majeſtät die Heiligkeit und bie Pflichten an, die 
Das Band zwiſchen ihr und ihrem Gemahl nach fich ziehe, daß das Ehebett des 
Königs unbefledt fein müffe, daß feine Ehre, die Ehre und das Wohl feines Hauſes 
und feines Volkes e8 verlange: aber biefe Wahrheiten greifen fie nicht an, viel- 
mehr beweifen fie die Nothwendigkeit der genauften Ueberzeugung, ehe man glauben 
ann, daß Ihre Majeftät gegen fie gehandelt bat. Ye wichtiger die Bflichten, die 
fie zu erfüllen hatte, je fchredlicher die Folgen ihrer Uebertretungen, je beſſer ihr 
Beides befannt geweſen ift, befto klarer müſſen auch die Beweiſe fein, daß bie 
Königin wirklich gefehlt Hat. Wodurch, jo Tann man wohl fragen, wirb bie Ehre 
des Königs, feines Haufes und Volkes am Beften bochgebalten? Dadurch, daß die 
Königin als ſchuldig erlannt wird? Oder ſucht man dieſe Ehre nicht beffer in ihrer 
Unſchuld? Hat Zhre Majeftät vielleicht niemals erkannt oder erfüllt, was fie fidy 
‚jelök, ihrem Gemahl und feinem Volke ſchuldig war? Dder wird nicht zugegeben, 
daß fie dor bem Zeitraum, bon dem die Anſchuldigung ausgeht, fich ale eine zärtliche 
Mutier, eine liebevolle Semahlin und eine würdige Königin gezeigt Hat? Hält 
man für möglich, daß Ihre Majeftät auf einmal ſich felbft fo vollftändig vergefien 
hat? Sollte fie, die damals ihr Vergnügen in der Keufchheit und Tugend, in der 
Hochachtung und Tiebe des Königs und des Landes ſuchte, in einem einzigen Augen» 
dlid fo edle Gefühle aus dem Herzen verbannt haben? 


*) In den Aufzeichnungen Ulballs über jeine Geſpräche mit Karoline Dias 
thilde auf Kronborg Heißt es: Die Königin war angenehm; jie Hatte einen jchönen 
Teint und lebhafte Augen. Der Mund. war wohlproportionirt; Doch war bie Unter- 
Aippe zu groß und nieberhängend. Ste war gut gewachien, für ihre Größe aber 
viel zu ſtark und fett. Sie fprach eben fo gut Daniſch wie th, item Franzöſiſch, 
-Englifh und etwas Stalienifch.“ Ueber den Charakter Karoline Mathildes jchreibt 
Aldall, daß „man nicht Alles glauben könne, was fie fagte”, aber er fügt Hinzu, 
daß er „deutlich fühlte, wenn fie mir bie Wahrheit erzählte oder bas Gegentheil“. 
Schon von ihrer früheften Jugend Hatte fie eine Neigung zu Berftreuungen und -- 
Genäflen; fie war freunblid und liebenswürdig, „wenn fie e8 fein wollte”, aber 
‚auch heftig und zu Haß und Rache geneigt. Namentlich in den legten Jahren 
ihres Aufenthaltes in Dänemark gewann ihre Heftigfett die Oberhand; fie wollte 
-ihren Willen burchfegen und in ihrem Kreife die Alleinherrfherin fein. Gegen ihre 
‚Untergebenen war fie aber im Allgemeinen freundlich und aufichtig, manchmal 
wielleicht mehr zutraulich, als gut war. 


458 u Die Zutunft. 


Herr Rammer-Abvofat Bang führt im eigenen und im Namen bes Konigt 

Drei verfchiebene Beweife gegen bie Königin an: bie Erflärung bes Grafen Striueniee, 
das Geftänbnig Ihrer Majeftät und fhließlich, da er wußte, daß die beiben Be⸗ 
weife nicht ausreichten, die Zeugen. 

Allerdings Hat Graf GStruenjee am einundzwanzigfien und am fänfunb- 
awanzigften Februar diefes Jahres laut den Alten eine für Ihre Majeſtät hochſt 
beleidigende Erklärung abgegeben; aber daß er die Ehrerdietung verlegt hat, bie 
er der Königin ſchuldig war, baf er, entweber aus unbegränbeter Furchte) oder in 

Berwirrung, vielleicht auch index Hoffnung, fi) zu retien, wenn man bie Königin 
in feiner, Sache für intereffirt halten würde, oder aus anderen Bründen Zinge an- 
gegeben bat, bie unglaubhaft find: das Alles kann einem als ihm ſelbſt ſchaden. Welche 
Glaubwurdigkeit verdient e8 wohl, daß er, trogbem bie Königin ihn ihres Ver⸗ 
trauend würdigte, fi) erbreiftet haben [ollte, es fo weit zu mißbrauden, daß Ihre 
Mojeftät fi Dies gefallen laſſen follte, daß e8 in zwei Jahren gefcheben fein folte, 
bei Hofe, unter den Augen bes Königs, vor fo vielen Perfonen? Nicht die Ehre 

"einer PBrivatperfon, gefhweige denn die ber Königin kann unter ſolchen Beſchul⸗ 
Digungen leiden, die von einem AngeHagten ohne Eid vorgebradht und aller Wahr⸗ 
fcheinlichlett bar find. Herr Kammer⸗Advokat Bang giebt auch zu, daß bie Er- 
Märung bes Grafen Struenfee an und für ſich nicht von Bedeutung gegen bie Köni- 
gin fei. Er fucht deshalb fie durch das Geftändniß zu verftärken, das Ihre Ma» 
jeRät am neunten März diefes Jahres von der Nichtigfeit der Erklärung gemacht 
bat, und durch ihre Antwort, daß fie das ihrem Gemahl gegebene Eheverſprechen 
gebrochen unb dadurch ihr Eherecht verwirkt habe, welches er dann nach Buch 1, 
Kapitel 15, Artikel 1 als einen vollgiltigen Beweis betrachtet haben will. 

Allerdings ift nicht zu leugnen, daß das eigene Geftänbniß nach allen Ge⸗ 
fegen in civilibus die vollkommenſte Beweismethode ift; wo es fi aber um ein 
Berbrechen handelt, hat es nicht bie felbe Beichaffenheit und in Sachen von ber 
Natur ber vorliegenden verwirft das bäniiche Geſetz diefe Methode ganz und gar. 
Es genügt nicht, fagt das Geſetz, Buch 3, Kapitel 16, Artitel 15, daß eine Perſon, 
“welche angeklagt wird, felbft geſteht; ſondern der Kläger joll ben Ungellagien ge⸗ 
börig vor Gericht laden und es dort triftig beweifen. Das Geſetz fordert aljo an⸗ 
dere Beweife, und ba Seine Majeftät der König will, daß dem Geſetze bei ber 
Enticheidung diejer Sache und der dazu gehörigen Veweiſe Folge geleitet werde, 
ergiebt fich von jelbft, daß bie Königin nicht weniger als der niedrigfte Untertban 
die von Ihrer Majeität rellamirte Rechtsmohlthat genießen foll. 

Die Buchftaben des Geſetzes find Flar und jeine Meinung ift durchaus nicht 
zweifelhaft; es würde deshalb überjläffig fein, die Urjachen zu unterfuchen, welche 
die daͤniſchen Gejeggeber zu diefer Anordnung veranlaßt haben Fönnten; nämlidy,. 
ob nicht das Anichen und die Macht, welche das Geſetz bem einen Geſchlecht dem 
anderen gegenüber giebt, Furcht vor Mißbrauch auf der einen und allzu große- 
Fügſamkeit auf der anderen Seite, die Sorge, die gefährlichen Solgen von Ueber» 
eilung und lUnüberlegtbeit und Uchnliches einen Antheil daran gehabt haben. Da 


9 Allgemein nahm man an, daß die Inquiſitionkommiſſion, um Stzuenfee 


einzuihäcdtern, ihm die Folter in Ausiicht geftellt habe; in diefer Beziehung if. 
jedoch nichts Zuverläſſiges befannt. 


In 


Karoline Mathilde und Eirmeniee. 459 


aber Herr Kammer⸗Advokat daran erinnert, daß Ihre Majeftät ſich nicht auf dieſes 
Benefizium berufen könne, weil es ſich auf zwei rationes legis ftilgt, von denen 
eine auf die Königin -pafle, muß ich die Unrichtigfeit dieſes Schluſſes beleuchten. 

Wenn das Geſetz jagt, es genfige nicht, daB die Berfon, die angeflagt wird, 
felöft bekennt, fo hat Dies wohl darin feinen Grund: weil man oft findet, daß 
VBiele von ſich lügen, bamit der Eine vom Anderen befreit werde, ımb Dem Schaben 
anthun, mit bem ex oder fie geflindigt zu haben behauptet; daß bieje aber nicht 
die einzigen Urſachen find, aus denen das Gefeh- das eigene Belenntniß vermwirft, 
zeigt es deutlich, indem gleich nad) den angeführten Worten noch Binzugefligt wirb: 
‚oder aus anderem Grunde. Wenn auch das Geſetz deshalb nur ausdrüdlich einige 
der Urſachen zu diefer Anordnung angiebt, fo iſt es doch Far, baß außer ihnen 
noch verfchtedene andere vorgelegen haben, und das Benefizium, das dem Ange⸗ 
klagten gewährt wird, fommt deshalb auch der Königin zu, ob fie ed auf rund 
ber Motive, die das Geſetz anführt, oder derer, die nicht angeführt find, rellamirt®). 

Sch gehe deshalb weiter zu der dritten Klaſſe ber Beweife, bie aus ber Er⸗ 
Aärung ber als Zeugen vorgeführten Perſonen beftehen. Ihre Majeftät hat mir 
befohlen, zu erflären, fie verlange nicht, daß die Zeugen von Neuem geladen ober 
in meiner Gegenwart verhört werden; da aber ihr Befehl mir zugleich auferlegt, 
zu beobadıten, wozu mir ihre Erflärungen ſonſt Beranlaffung geben, muß ich nad) 
diefer Richtung Hin dorerft einige Bemerkungen machen. 

Es ift ein wichtiger Umftand, daß Feiner der gehörten Zeugen ald Grund 
für feinen erften Verdacht gegen die Königin etwas Anderes angiebt als das Stadt⸗ 
gerücht, das er gehört zu haben behauptet. Niemand weiß, von wen dieſes Ge⸗ 
rücht gefommen ift oder aus welchem Anlaß es verbreitet wurde; aber bevor das 
Gerücht bereit allgemein bekannt war, wurde der Königin nichts bavon gejagt. 
Da nun die meiften Zeigen fländig um die Königin waren und nicht Anlaß fan- 
den, in ihrem Umgang mit bem Grafen Struenfee etwas Beleidigendes für fie zu 
finden, fo ift Har, daß das Benehmen ber Königin fogar zu ber Zeit, als das Ge⸗ 
xücht ſchon verbreitet war, tabelloß geweſen iſt. Welch betrügerifcher Zeuge das 
Gerücht ift, weiß Jeder; es fügt fich oft auf gar nichts und erwirbt allein da⸗ 
duch Macht und einige Glaubwürdigkeit, daß e8 allgemein wird. Wie ſchlüpfrig 
aber auch fein Grund fei: e8 Hinterläßt doch, jelbft bei den vorfichtigften und am 
Beften denfenden Menichen, einen Verdacht, ber ihnen die Handlungen der Per⸗ 
fonen, die das Gerücht betrifft, in einem ganz anderen Lichte als zuvor erfcheinen 
1äßt. Die Borftellung davon, daß das Gerücht vielleicht wahr fei, die Vegierde, 
darüber Gewißheit erlangen zu wollen, veranlaft eine Beobachtung von Dingen, 
bie bis dahin die unjchulbigften waren und ohne Nachdenfen betrachtet wurden; 
und ift vielleicht wirklich eine Zweideutigkeit zu entbeden, fo ift man ohne weitere 
Unterſuchung mit dem Urtbeil fertig. 

So ift es auch Hier den Zeugen ergangen. Dem trogdem fie, bevor das Ge⸗ 





*) Es iſt nicht unwahrfcheinlidy, daß Uldall auf das ziemlich verbreitete Ge⸗ 
rücht zielt, man follte der Königin eingebildet haben, daß ihr Geſtändniß nach dem 
Geſetz keine Bedeutung haben werde, daß es aber Struenjeeß Leben retten winde, 
(„que cet aveu sauvait la vie & Struenaee“, wie man in Falkenſtjolds Mes 
motren [102] Tieft). ’ i 


460 Die Zukunft, 


rücht auftauchte, Teine Urfache fanden, die Königin zu verbächtigen: kaum kommt es 
ihnen zu Obren, als fie auch ſchon bei jedem Schritt neuen Anlaß bazu zu finden 
icheinen. Das if um fo bedeutungvoller, als die Sammerleute ber Königin, nach- 
dem fie von bem Gerücht Kenuntniß erhalten hatten, augenfcheinlich nicht die Bore 
fiht beobachtet haben, die ihre Pflicht geweien wäre: flatt Ihre Majeflät gleich 
davon zu benachrichtigen, ftellten fie erſt verſchiedene Unterſuchungen darüber au, 
und irogdem fie fein wirkliches Kriterium fanden, welches das Gerücht verftärfen 
tonnte, waren ihre Borurtheile. doch ſtark genug, um ihnen Alles verbädhtig er⸗ 
ſcheinen zu laſſen. Als Ihre Majeftät Dies erfuhr, betrachtete fie e3 ohne Zweifel 
als ein Verfagen ber Treue, bie fie ihr beweifen mußien, und der guien Meinung, 
die fie von ihr hätten haben müſſen. Sie ſchraänkte deshalb ihren Umgang mit ihnen 
und das Vertrauen ein, das fie vorher zu ihnen gehabt Hatte. Die Kammerleute 
wurben hierdurch gefränkt und zeigten einen Verdruß, ber fie naturgemäß die Haut» 
Iungweife Ihrer Majeftät noch ſchärfer als zuvor beurtheilen ließ*). 

Befonders in Frau Schyttes Zeugniß find zwei Beifpiele hierfür; erſtens, 
wenn fie behauptet, daß die Beſſerung Ihrer Majeſtät nur vierzehn Tage nad) der 
Warnung angedauert haben joll, wonach es ſchlimmer geworden fein fol als zuvor 
(trogbem Frau Blichenberg fagt, daß ſie einige Wochen darauf bei Hofe war, in 
welchem Beitraum fie nichts bemerkte); und zweitens, wenn Frau Schytte den Aus⸗ 
drud gebraucht, daß die Königin mit einem Riegel dor einer der Thüren auf 
Friedrichsberg, der nicht vorgejchoben werden konnte, jehr beſchäftigt geweſen jei. 
Daß die Königin dieſen Niegel ausgebefiert haben wollte, Lönnte eine um jo ume 
ſchuldigere Urſache haben, ald Frau Schytte ſelbſt geiteht, ba fie keinen Befehl 
Hatten, ihn vorzufchieben; aber die Redensart, daß die Königin fehr damit be⸗ 
fhäftigt fei, ift außerordentlich unpaffend und zeigt eine Animofität, Die einem 
Zeugen fern jein muß. 

Da Ihre Majeftät alſo auch in den Berfonen, die in ihrer nächſten Um⸗ 
gebung waren, jo ſcharfe Beobadhter Hatte, ift e8 Tein Wunder, daß der Eine aus 
Diefem, der Andere aus Jenem Schlüffe gezogen hat, die zur Beftätigung der Mein- 
ungen beitrugen, von denen fie [yon vorher eingenommen waren. 

Es giebt feine Unfchuld, welche bei einer fo verbädhtigenden Unterſuchung nicht 
unterliegen müßte, und das Geſetz, das die Folgen davon vorausgefeben und an⸗ 
erfannt bat, ba Jeder in feinem Haus und unter feinen Dienern ficher fen muß, 
befiehlt deshalb auch, daß ſolche Zeugen nicht beachtet werben follen.**) 

*, Falkenſtkjold fchreibt in feinen Memoiren, daß die Spionage ber Kammer⸗ 
leute an und für fich genügen müßte, um fie als Zeugen auszufcheiden. . 

+) Das däniiche Geſetz König Chriſtians bes Fünften, Bud 1, Kapitel 13, 
Artikel 16, lautet: „Willige Beugen, als Gatie, Gattin, Kinder, Sefinde, Geſchwiſter 
oder eben fo nah beſchwägerte follen nicht angefehen werden, es fei denn, daß 
feine anderen Zeugen zu haben find, befonders bei Totſchlag, Gewaltthaten ober 
ähnlichen Sachen, denn dort follen Die Zeugniß ablegen, die Davon wiſſen.“ Artilel 17 
lautet: „Wie willige Zeugen follen auch Diejenigen betrachtet werben, bie felhft 
bei der That geweſen find, pon weldyer fie Beugniß ablegen ſollen.“ Artikel 32 
lautet: „Auch nach Jahresfriſt darf fein Zeugniß. darüber abgelegt werben, was 
aus dem Mund eines Underen gehört worben ift." 





® 
Karvaline Matjilde und Strueniee. 461 


Fragt man jedoch, welche die Thatſachen ſind, nach denen ˖eine unerlaubte und 
Bis zum Aeußerſten getriebene Vertraulichkeit zwiſchen der Königin und dem Grafen 
Struenſee nad Erklaärung ber Zeugen bewiejen werden kann, fo find deren feine. 
Daß bie Königin ihn gnädig und mit Vertrauen behandelt hat, wird nicht ges 
leugnet; aber wer. bat wohl gefehen oder gehört, daß er bie Grenzen der Ebrerbietung 
überfchritten habe? Wer hat wohl jagen lönnen, da die Königin Die Treue ge- 
brochen Hat, bie fie ihrem Gemahl ſchuldig war, ober eine Handlung angeben, 
womit bie Gewißheit eines folchen Verbrechens bewiejen wird? Und beflätigt nicht 
das Schweigen Uller über faktiſche Beweiſe die Wahrheit Defien, was Jungfer Voye 
fagt, nämlich, daß ſie niemals etwas Unanftändiges bei der Königin geſehen habe? 

Wenn es hoch fommt, jo berufen ſich die Zeugen auf ihre Vermuthungen: 
fie ſchließen, fagen fie, daß Struenſee lange bei der Königin war, weil fie nicht 
gerufen wurden; e3 ſchien ihnen, als ob die Königin und Struenfee fehr veriraut 
mit einander waren. Über auf was Unberes fügen fich diefe Bermutbungen als 
auf das Gerücht und auf die Macht, die dieſes über ihre Einbilbungstraft beſaß? 

Hauptfächlich auf die Gnade, Die Ihre Majeftät gegen Struenfee zeigte, 
ftügen fi) der Berbadht ber Zeugen und die Wirkungen, die daraus entftehen: er 
fei Beftändig um die Königin gewefen, beißt es, und in ihrer Geſellſchaft. War er 
‚aber nicht auch in der Geſellſchaft des Königs und mußte das Vertrauen der Königin 
zu ihm nicht naturgemäß aus dem Vertrauen entfiehen, womit Seine Majeftät 
ihn ſelbſt beehrte? Die Königin beruft ſich in diefex Beziehung zu ihrer Recht⸗ 
fertigung auf dad Sentiment ihres Gemahles. Weldy berebter Beweis von der 
Gnade Seiner Majeftät file Struenfer find nicht die Aemter, bie ihm anvertraut 
wurden, und der Stand, in weldden er erhoben wurbe? 

Eben fo, wie er das Bertrauen des Königs erwarb, fuchte er es auch bei 
ber Königin zu verdienen. Die Treue, bie er ſtets dem König gegenüber zeigte, 
‚die Sorgfalt, die er für die Königin bei ihren Unpäßlichleiten an den Tag legte, 
die Ergebenhett, mit ber er eine ftändige Harmonie zwifchen den Majeftäten ſchein⸗ 
bar aufrecht zu erhalten fuchte, und vor allen Dingen der Wille des Königs, ihre 
·Geſetz, ließ fie glauben, daß fie ihn ohne Gefahr ihres Vertrauens würdigen könne. 
Seine Uemter als Kabinetsminifter und als Kabinetsſekretär der Königin verlangten 
feine fändige Gegenwart und es ift deshalb Fein Wunder, wenn er an der Gnade 
«der Königin einen größeren Theil gehabt hat als ein Anderer. 

Aber, fagt Herr Kammer-Advolat, nicht nur wegen der Bertraulichleit gegen 
Struenfee wird bie Königin angeklagt. Die Hauptfache bleibt, daß biefe Ver⸗ 
teaulichkeit fo weit gegangen ift, daß dadurch ihr Gemahl entehrt wurde Um 
Das zu beweijen, beruft ex ſich auf einige Data ber Zeugen. 

Bevor ich zum Ueberfluß die meiften und wichtigften diefer Zeugen durch⸗ 
‚gehe, muß ich außer den ſchon gemachten Bemerfungen noch die höchft nothivendige 
Anmerkung machen: um mit Zeugen für oder gegen zu beweifen, gehören nadı 
dem Geſetz nicht weniger als zwei Berfonen, die nach dem Artikel 7 übereinftimmende 
Eide abgelegt haben und die mit Sicherheit in ber ſelben Sache bezeugen können. 
Denn deshalb find ja die Beweife des Kammer⸗Advokaten Bang, jo weit fie nicht 
bereitö beſprochen find, in zwei gewöhnliche Klaſſen einzutbeilen; einige können 
nämlich als Beweije überhaupt nicht angeführt werben, während andere nicht Das 
cheweilen, was von ihnen gefordert wird. 


! 


4 


46% “ Die Zukunft, 


Zur erſten Sorte gehören bejonders a) bie Exflärungen bes Leibmedikus 
Berger, bes Grafen Brandt und bes räuleins von Eyben, jene, weil fie ohne EI 
und von Angellagten abgelegt find, und die lete, weil aus ihrer Antwort Etwas wie 
eine Klage gegen die Königin durchicheint, als ob Ihre Majeftät fie für eine ge» 
fährliche Berfon gehalten Haben, jollte, und fchließlih, weil Ihre Majeſtät ver» 
fihert, ihr niemals eine ſolche confidence gemacht zu haben, wie ihre Antwort 
erwähnt, ſondern bat Alles, was bie Königin ihr gefagt babe, bie folgenden, für eine 
Dame, bie ſich über jeden Verdacht erhaben wähnt, jehr natürlichen Worte geweſen 
find: daß es ribtcul fei, Struenfee eines fo unbegründeten Gerüchts wegen zu 
abanbonniren. Bu diejer Klaffe gehören noch mehrere Umftände, baf nämlich 
b) in Schleswig eine Treppe von den Zimmern ber Königin zu Struenſees ge» 
führt haben fol, denn bie Beugin 4 fagt nur, daß fie es gehört habe; c) daß die 
Königin auf Friedrichäberg in einer Nacht aus Struenfees Zimmern gelommen if 
(die Zeugen 8 und 20 fagen, fie fei Die Treppe hinaufgelommen, und natärlid könnten 
fie nicht wiffen, von wo fie fam und ob fie ba bei einer der Damen gewejen jet); 
d) daß Struenfee nachts auf Friedrichäberg einen Rod anzog und ins Kabinet 
der Königin ging, denn die Beugen 18, 19 und 20 fagen, fie wiflen nidht, wohin 
ex ging; e) daß die Königin einmal in der Kammer Struenfees gejehen jein 
follte, denn Zeuge 20 fteht biermit allein; f) daß Ihre Majeſtät geſagt haben 
fol, fie kehre fich nicht an das Gerede ber Leute, denn bie Zeugen 6 und 20 find 
Aber die Zeit uneinig und ſtimmen aud) fonft nicht überein; g) daß Graf Struenfee 
den Hauptfchläffel zum Schloß befommen hatte, denn Dies ift nicht nach Ordre ber 
Königin gefchehen; h) daß die Königin einmal von ihm foignirt wurbe, als fie 
Schmerzen in der Seite hatte, und daß er zu der Zeit allein in ber Nacht dage⸗ 
wefen jet, denn Zeuge 2 fleht mit dieſer Ausfage allein da; i) ba Ihre Majeftät 
zur Romoedie gegangen jet, weil Struenfee darum gebeten babe, worüber jedoch 
‚Fräulein Trolle, die zugegen gewefen fein fol, nicht3 weiß; k) Daß fie wohl⸗ 
riechenden Puder gebraucht habe, die Kammerjungfern fie auf dem Mastenfeft aus 
dem Geſicht verloren Haben und Dergleidhen mehr, benn ſolche Kleinigkeiten wären 
Ihrex Majeflät niemals zur Laft gelegt worden, wenn nicht die Zeugen vorein⸗ 
genommen gewejen mären. 

2. Im Bereich der anderen Klaffe von Beweifen ſtützt fich Herrammer-Abvolat 
beſonders auf eine Erklärung, die Frau VBlichenberg, Frau Schytte und Jungfer 
Beterjen über die Deffnung der Thür zur Eremitage abgegeben haben, und über 
ihre Proben mit Wachs im Schlüffel und Puder im Gang, über die Spuren, bie 
‚dort und im Gemach gefunden fein follten, und über den Buflandb bes Bettes zu 
einer Beit, wo der König, wie fie glaubten, nicht dageweſen fei und wo ber Riegel 
dor feiner Thür war. Selbſt wenn alle diefe Umftände ganz zuverläfftg wären, 
fo würden fie doch noch nicht die Schuld Ihrer Majeftät beweifen; bagegen geben 
Die Beugen ein Datum an, das beftätigt, wie wenig Anlaß dies Alles zum Ber» 
dacht geben Tann. Die Zeugin Frau Blichenberg jagt nämlich, daß in ber Beit, 
‚ In der dies Alles paſſirt fein fol, die Kammerjungfern dicht vor der Thür des 
Schlafgemaches der Königin lagen und daß fie freien Zutritt ins Zimmer hatten: 
wie unglaublich ift e8 aber bann, dab Ihre Majeftät fich fo weit erponirt Haben 
jollte, wie e8 der Fall wäre, wenn fie etwas fo Unerlaubtes in einer ſolchen Situation 
geihan hätte! Wird jeder Punkt näher unterjucdht, jo hatte Ihre Majeſtät dom 





Karoline Matbilde und Strueniee. ‚463. 


erſten Zag an, wo fie biexher kam, ben Schlüfjel zur Thür der Eremitage. Frau 
Schotte irrt, wenn fie fagt, die Königin babe ihn fpäter verlangt, und fie hat ihn, 
wenn auch felten, einige Male benugt; wobei e8 ‚möglich ift, daß vergefien worden 
‚if, die äußere Thür zu Ichließen. Daß das Wachs im Schläffel oder im Schloß. 
ober das Papier in der Thür dadurch herausfallen mußte, if natürlich; und bie 
Zeugen können nicht fagen, daß der Schlüffel gebraucht und bie Thlix allein während- 
" Der Racht geöffnet worben iſt. Und weshalb kann es nicht eben fo gut am Tage gefcheben. 
- fein, bevor fie danach fahen? Die Spuren von Puder dürften eben fo wenig Auf» 
merkſamkeit verdienen. Ber Stammerbiener Torp jagt, daß feine Station in ber 
Eremitage fei, unb der Kammerbiener Hanfen fol nach der Erflärung von Jungfer 
Beterfen ihr einmal die Thür offen gezeigt haben, was beftätigt, Daß mehrexe: 
Männer in biefen Bang famen. Es wird auch nicht erklärt, von wo die Spuren. 
tamen ober ob fie biß zur Thür der Königin gingen; auch haben die Zeugen nicht 
gehört, ob Jemand in der Nacht bort hinausgegangen ift. Eben fo verhält es 
fi) mit ben angegebenen Spuxen auf bem Teppih. Die Zeugen erflären, biefe 
Epuren rührten von Puder ber, der draußen lag; aber fo unjauber würde Doch 
Graf Struenfee nicht in der Nacht zur Königin gefommen fein. Die Spuren follen 
am Morgen gefunden fein; aber find die Zeugen auch jiher, daß fie nicht ſchon 
am Tag ober Abend zuvor dba waren oder daß ber König, defien Leute ben Schlüffel 
zum Gang draußen hatten, nicht dort gewefen fein fann, ohne bei ber Königin 
gejehen worben zu fein? Wohl fagen fie, fie wüßten, wann ber Sönig dba war; 
aber worauf Rütt fich biejes ihr Wiſſen? Ihre Majeftät verfichert, es fei den 
Sammerleuten um fo unmdglicher, Das zu wiſſen, als der König felbft nicht wollte,. 
daß e8 ihnen befannt werde, weshalb ſie felbft zum König ging, wenn fie ſich 
zurfdgezogen hatten. Daß der Riegel vor bie Thür geihoben worden ift, geſchah 
aud lange dor dieſer Epoche; und es geſchah manchmal nad, einem Kleinen Difput 
zwiſchen den Majeftäten, aber meiftens geſchah es, weil bie Königin fürchtete, daß 
entweder der ſchwarze Knabe oder bie Hunde plöglich zu ihr hineinkommen Könnten, 
wodurch fie einige Male fehr alterirt worben war. Wenn hierbei was Geheimniß⸗ 
volles geweſen wäre, fo hätte ber König wohl der Erſte fein müffen, e8 zu bemerfen. 

Da aljo auch diefer Punkt als Hauptgrund fortfällt unb das Uebrige nicht 
weniger auf lauter Suppofitionen beruht, hoffe ich, in Bezug auf das Uebrige 
mid um fo fürzer faflen zu können. Die Anweiſung ber Zimmer auf dem Schloß. 
für den Grafen Struenfee ift gar nicht nach der Ordre der Königin erfolgt. Wie 
Die Urſache, weshalb das Kabinet der Königin als Schlafgemach eingerichtet wurde, 
die war, ben König während ber Beit, wo die Königin bie Prinzeffin ſelbſt nährte, 
nicht zu inkommodiren, fo verſicherte die Königin auch, Hierzu vorher die Erlaubniß 
des Königs in feinem Gemach auf Friedrichsberg begehrt zu haben. 

Wenn einige der Zeugen Ihre Majeftät entkleidet geſehen haben, wenn fie 
fich vielleicht hat baden ober umkleiden laffen, wenn fie ohne Hilfe der Sammer- 
leute ſich jelbft abends entkleibet bat (mas jedoch nach der Erflärung des Zeugen 6- 
im legten Jahr nicht gefchehen ift, wozu bie Schwangerfchaft ber Sönigin bie 
Urſache war), fo tft dies Alles fein erimen, fo lange Niemand fagen kann, daß. 
Struenjee oder ein Anderer dabei zugegen gewejen ift; im Gegentheil find alle: 
Zeugen darüber einig, daß die Königin immer jehr wenig Aufwartung verlangte. 
Eben ſo wenig kann man ſich barüber wundern, dab Graf Struenfee mit der 


463 “ Die Zukunft. 


‚Königin allein geweſen ift ober bei ihr gefeflen hat, wenn ex im Auftrag des Königs 

oder auß anderem Anlaß aufzumwarten kam. Die Leute blieben dann, nad ber 
+ErHärung ber Jungfer Gabel, in dem Gemach, in bem fie fidh befanden, und man 
muß aus der Ausſage der Frau Blichenderg unb ber Jungfer Boye fchliehen, 
daß Eine von ihnen nachts vor dem Schlafgemach der Königin fchlief. 

Benn Ihre Majeftät mit ihren Leuten über Liebe geicherzt hat, fo kann 
‚man doc nicht daraus ihre Sentiments beurteilen; denn jelbft ein Cato müßte 
Dabei verlieren. Daß fie die Abficht gehabt haben follte, mit bem Grafen Struenſee fort- 
zureiſen, ift eine Legende, bie fich felbft bementirt, da man behauptet, Dies gefitrchtet 
zu haben, nicht in der Beit, wo die Matroſen auf Hirſchholm waren (denn in biefer 
‚Zeit, fagen bie Zeugen, fei die Königin ganz indifferent geweſen), fondern in den 
Tagen, wo ber Ochfe auf Friedrichsberg preiägegeben wurde, denn bamal3 lag 
ja gar fein Grund zur Furcht vor. 

Als Medikus konnte Graf Steuenfee beim Accouchement ber Königin eben 
fo gut zugegen fein wie Berger, und was man erzählt (daß die Königin nach ber 
Gntbindung das Portrait angejehen haben fol), ift zum Theil allein eine Ber- 
mutbung der Beugen unb zum Theil auch unzuverläffig, da Zungfer Boye fagt, 
ſie babe der Königin einen Kalender geliefert, in den fie auch ſah, trogbem Jungfer 
Boye meint, baß darin ein Portrait gelegen habe. 

Wenn die Königin Etwas von Struenfee gekauft bat, ift Solches auch ganz 
gleichgiltig; und wenn fie ihm Geſchenke gemacht hat, fo zeigen ja Lönigliche Berjonen 
oft ihre Gnade in biefex Weife. Daß fie in der Wlteration, Die das Ereigniß vom 
fiebenzehnten Januar verurjacdhen mußte, mit ihm. zu ſprechen begehrte, ift nichts 
weniger ald wunberlih; und daß fte einmal auf Kronborg nach ihm gefragt hat, 
zeigt um fo weniger eine Tendrefie, als Taufende die felbe Frage gefellt Haben, 
‚Die ihn niemals gefehen Hatten. 

Ich Übergehe das übrige AUngeführte als Dinge, die entweber unbedeutend 
find ober die Königin nicht angehen oder auf die zu antworten nit anfländig 
wäre. Es genügt, daß alle Dinge, jeder Umftanb genau für fih beiradhtet, keinen 
Beweis dafür liefern, daß Ihre Majeftät das ihrem Gemahl gegebene Treuever- 
ſprechen gebrochen hat. Wahre und wirkliche Beweiſe, nicht verichiebene ſelbſt⸗ 
‚gemachte Schlüffe, fordert das Gefeg; und follte e8 anbers fein, jo müßte Ihre 
Majeftät Magen, daß ihr Stand und ihre Hoheit, die fie vor diefer Gefahr fichern 
müßten, gerade die Urſache ihres Unglüdes wurden. 

Ich hoffe alfo, die Unfchuld Ihrer Majeftät der Königin an den Tag ge» 
bracht zu haben. Ihre Majeftät hofft, daß ihr Gemahl nur ihre Nechtfertigung 
wünfche; fie ift auch don der vorfichtigen und unparteiiſchen Denkart ihrer Richter 
‚überzeugt. Aus diefen Gründen erwartet fie, den Urtheilsſpruch zu erhalten, den 
ihre Würbe, bie Ehre des Königs und das Wohl bes Landes erfordern. 

Ich erfühne mich daher, in ihrem Namen allerunterihänigft gu beantragen: 

Daß Ihre Majeftät die Königin Karoline Mathilde von,der Anklage Seiner 
Majeflät in biefer Sache freigefprochen werde. 

Sn der Kommiſſion auf Chriftiandborg, am zweiten April 1772. 


Uldall. 
2 | 











— — — —— — —— — 


Henrik Etefiens. 465- 


Henrif Steffens. 


Henrik Steffens: Lebenderinnerungen. Jena, bei Eugen Diederichs. 

In zehn Bänden erzählt ber nordifch-beutiche Denker feine Sefchichte weit⸗ 
läufig unler dem Titel „Was ich erlebte”. Ex verjudht darin, von einem höheren 
Geſichtspunkt aus, nad dem Vorbild von „Dichtung und Wahrheit”, die Wechſel⸗ 
wirfung der Welt und eines Einzelnen darzuftellen, da8 Typifhe und Symbolis 
iche feines Dafeins jeft zu Halten. Doc, während Goethe fein Leben mit ber inneren 
Anſchauung zur Kunftform zujammenfaßte, ordnete Steffens die biographiſchen 
Mafien durch den Begriff zu einer Urt Halbphilofophie, die trümmerhaft bleiben 
mußte, weil fie aus der Vergewaltigung des Stoff3 durch ein falſches Formprinzip 
hervorging. Ein Leben wird nicht vom Begriff beherricht; es umfaßt Bilder und 
Kräfte, die nur durch Goethes Verfahren zu einem organischen Ganzen werden können. 

Steffens’ Werk hat Werth durch viele Einzelheiten und durch feine unbebingte 
Hingabe an den Geiſt, der Welt und Gott bewältigen will und Eitelleiten und 
Seibftfüdhte in frommem Eifer auflöft. Freilich ſchaute er auch weg von Allem, 
was an bie Erfcheinung bindet, überfichtig His zur Blindheit. Die Jagd nach dem 
Ding an fi war bie Leidenschaft jener Tage, der nur Goethe fich entzog, obwohl: 
fein tiefer Trid, „im Bejonderen das Allgemeine zu jeben“, fein Antheil daran ift. 
Die großen Bertreter der damaligen deutſchen Seele Hatten ein anderes Wirklich-- 
teıtgeflihl als mir und lebten im Unbebdingien, Das Jeder anders benannte und 
ordnete. Auch Steffens’ Vuch iſt erfüllt von dem Trieb: alles Erlebte in ein Ge⸗ 
dachte binauszuprofiziren, die Leidenfchaften in Streben, die Zufälle in Rothe 
wendigfeiten, die Bedürfniſſe in Ideale umzudeuten. In diejer Hiforifchen Luft 
athmet es und ift eins ihrer bezeichnendften Beugnifie. 

Anziehender ift an der Biographie Dem heutigen Geſchlecht mit feinem regeren 
Farben. und Formenfinn, feinem Dichteren Thatfachengefühl gerade das Individuelle, 
Einmalige, was dem Berfafjer nur Unterlage für Spefulation oder Traum bot. Durch 
Steffens’ Gedächtniß jchreiten alle wichtigen Geftalten jener an Sinn für bas In» 
divtduelle fo armen, an großen Individualitäten fo reichen Welt wie im einem 
ſilbrig-dünnen Wether; ein bleicher, aber deutlicher Geifterzug. Sie ſind in ihren 
augenblidlichen Geberden feftgehalten, in Anekdoten oder Geſammtbildern, und ihr 
Bejonderes ift herausgebracht, mit oder gegen den Willen bes Beſchreibers. Steffens 
war in die allmädhtigen Schickſale feiner Zeit verjlochten; je reiner und geiftiger er 
ſelbſt fich zu den großen Ereigniffen flellte, defto befler taugte er zum Medium. 
Ihm eigenthlimlich ift, daß außer ben Seelenummälzungen auch die harte politis 
Ihe Wirklichkeit in fein Dafein unmittelbar eingriff und daß er, als Einer von 
Wenigen, daS Gleichgewicht zu finden wußte zwiſchen dem pHilofophiichen Pathos 
und bem politifchen. Mit feinem Antheil an den Befreiungstriegen fteht er neben 
Fichte in der vorderfien Kämpferreihe Derer, denen gerabe der Geift jelbft Waffe 
wurbe im Kanıpf gegen die weltlichen Mächte. Ein tiefgefaßtes Deutichthun, eine 
teligidös und metaphyſiſch begründete Staatsgejinnung bewahrte feinen Patriotis⸗ 
mus vor der Trodenheit und inneren Armuth der durchichnittlichen Freiheitſängerei, 
die nur an dem Drud und ber Erregung bes Augenblides ftarf ward und ihre Träger 
(wie bie Arndt und Jahn) nachher zu fo kümmerlichen oder barbariichen Geſellen. 
einſchrumpfen ließ. 


466 : Die Bufuüft. 


Nach dem philoſophiſchen und politifhen Eturm ergab Steffens fi noch 
‚in. fpäteren Jahren einem religtöfen Treiben, in den zugleich fiebrigen und müde 
Mebergangsjahren von dem klaſſiſch⸗romantiſchen Zeitatter zum bismärdiichen. 

- Die ſymboliſchen Namen in feinem Leben find Goethe, Schelling; Blücher, 
Gneifenau, York; Friedrich Wilhelm der Vierte: deutſche Literatur und Philu- 
fophie, Freiheitkriege, politifchreligidie Myſtik. Auf diefem breiten Grund fpielt 
ſich fein Leben ab, dieſe reiche Welt ift ber Gegenftandb feiner Biographie, Die wir 
(ich babe an ber Herausgabe mitgewirkt) durch Bufammendrängen und Hervorheben 
der zugleich finnbilblichen und gefchichtlih bezeichnenden Momente farbiger und 
dichter machen wollen. . Er jelbft ift dabei nur das Medium, in dem jene Fülle ſich 
individuell bricht und formt; dadurch befommt fie ein eigenes Geſicht und wird 
lebendiger als durch bie befte Darfiellung der Nachgeborenen. 

Zwiſchen ber Auswahl und dem Original ift der Hauplunterfchied, dab für 
uns Steffens’ Leben Werth Hat als Spiegel feiner Bett, während ihm die Zeit 
Spiegel feines eigenen Daſeins ift. Geine Biographie bedeutet für ung nicht als 
Ganzes Etwas, fondern nur, injofern fie Träger großer Inhalte ift; und wenn 
er das Recht Hatte, Alles wichtig zu nehmen, was auf ihn wirkte, jo haben wir 
dte Pflicht, auszuſcheiden, mas nicht auf uns wirft. Sein Subjekt ift fein von 
‚benen, die um ihrer ſelbſt willen neben den beherrichenden Geftalten und Gewalten 
fich ebenbürtig behaupten oder deren ſonnenhaftes Auge Dingen durch das bloße 
Sehen und Spiegeln Bedeutung giebt. Er war ein Menſch zweiter Ranges mit - 
‚eigener Seele, mit eigenen Sinnen, mit eben fo großer Empfänglichfeit wie Wied. z- 
gabekraft, von genügender Höhe, um Zuſammenhänge weit und gründlich zu Aber- 
[hauen und die Größen richtig abzumägen, unbefangen gebildet genug, um das 
ihm Fremde zu begreifen. Bemweglich war er und Doch auch eigenwillig wachſam 
auf Eindräde aus; mit einer gewiffen Heftizleit des Aufnehmen und eben darı.nı 
zum Aufnehmen geeigneter als ganz glatte und fubftanzlofe Seelen (wie etwa Varn⸗ 
hagen), in denen fein Eindrud leidenschaftlich haftet. Er war wie weicher Ton, 
‚aber doch nicht wie Molfe und Galler. Bon feinen meiften Geiflesperwandtcu 
unterfcheidet ihn der treuberzige, ja, täppifche Drang nad) @eredjtigfeit, ber Mangel 
an eigentlicher Angriffsiuft und Medifance, welche die nöthige Ergänzung der un 
bedingten Forderungen und hochgeſpannten Anſprüche in jener Beit ſcheint. Ein 
nordifch-ungelentes und etwas wolliges Temperament hatte ex mitgebracht; und er 
gelangte nicht bis zu derjenigen Verdichtung feines Kernes, durch die Schellirg 
metalliſcher, Fraftvoller, Durchgearbeiteter, aber auch bösartiger wurde Ferner 
fehlte ihm die Beweglichkeit und Flugkraft der eigentlichen Romantiker, der No 
valis und Schlegel, jo daß er fein Leben lang etwas zwitterhaft zwiſchen roman⸗ 
tiſchem Dichter und fpefulativem Denker ftand. Zum Dichter hatte er zu viel un⸗ 
geitalte Zdealitäten und vage Begriffe, zum Philojophen zu wenig Helligfeit und 
Ordnung, zum Forſcher zu wenig Stoff und Thatfachenfunde. Kurz, er hatte in 
jeder geiftigen Provinz mehr Bejigungen, als er bewirthichaften konnte; überall 
mehr Einfälle und Kombinationen als Material, mehr Anfprüche als Rechte, mehr 
Rechte ald Macht. Zum Glüd merfte er von dieſer halb rührenden, halb lächer⸗ 
lien Etellung felbft nichts. Außer dem Gefühl feiner (wenn auch zu feinen Zwecken 
unzureichenden, fo doch an fich großen) Begabung des Zufammenraffens, worin er 
Schellings nicht unwürdiger Schüler ift, war ihm eine gewiſſe Selbfigefälligkeit 














Henrik Steffens. 4:7. 


gegeben, die e8 ihm in dem „Abgrund feines Subjelt3“ wohl fein ließ und Die dem 
Autobiographen wenigftens infofern zu Gut kam, als er fi) mit ben @ängen und 
Gründen feine Inneren vertraut machte und Drbnung brachte in das Gewoge 
feiner Abſichten, Meinungen und Begeifterungen. Und dann hatte gerade für ſolche 
problematischen Talente Schellings Naturphilofophie die Bahn aufgerifien, wo fie 


ſich angeregt beihätigen Tonnten, ohne gleich ihre Unzulänglichleit zu merken. Auf 


dieſem frifchen Boben ließen ſich mit vielverfnüpfender Phantafie (Steffens’ Stärke) 
aus wenig Stoff Syfteme bauen; ba konnte er fein ungeftaltes Dichtertfum im 
weiten Spielraum zegen, an anverbraudhtem Material ſich üben und an philojophi« 


jchen Formen fi zum Syflematiler fpielen. Noch war Selbftlontrole nicht möge . 


lich und nöthig und die Entbederfreude that das Ihre. Das .Entzüden, womit 
Steffens die Leiftung Schelling# begrüßte, galt nicht nur ber Eröffnung eines neuen 
geiftigen Spielraumes überhaupt, fondern war noch dex befondere Jubel des Jüng- 
dings, ber feinen Beruf gefunden Hat. 

Im Grund war Steffens trog allen Nothlagen ein glüdlicher Menſch; nicht 


ar, weil er fo ganz im Geift lebte (Das Hielt damals meift feine Schidjalß- und - 


Seelengenoflen unter dem tragifomifchen Drud von außen aufredht und Heiter, 


während die wenigen erlagen, denen .eine gejchärfte Sinnlichkeit und Leidenſchaft 


verliehen war, wie Kleift und Hölderlin, wenn fie nicht gewiffenlos und bös wurden 
wie Friedrich Schlegel): er hatte auch dem Schidjal gegenüber, al8 Temperament, 
eine anftändige Sicherheit, jo daß ihm in den enticheidenden Augenbliden nie Muth 
und Haltınig fehlte. Dieje gläubige Sicherheit ift auch der Boden ber eigenthlim« 
lichen Myſtik, zu der fich in fpäteren Jahren die Schwärmerei feiner Jugend bes 
ruhigt hat. Wie fait alle nur Halb produktiv, aber vielfältig Vegabten war er ein 
Schwärmer; denn das verglidte Hingabebedürfniß ift bei mehr intelletuellen als 


pafjionellen Menſchen meift die Unruhe der unbeichäfligten oder nicht recht bes _ 


Ihäftigten ‚Kräfte; nicht Drang und Noth des Fanatikers, Erotiferß oder Thäters, 
fondeın Gewölk des Träumerd. Davon blieb fpäter eine friedevolle Gedankenhelle 


in Steffens Seele zurüd, durch die am lichten Nachmittag noch all bie norbifchen 


und jugendlichen Geſpenſter zogen. Er ſchloß Frieden mit den Machtfaktoren feiner 
Umwelt und brachte es fertig, in einer fühlen Luft von Unwirklichkeit zu leben, 
worin alle Thatbeftände eintauchten. Sein begrifflich geruhſamer Myfizismus ift 
nur ein auf die Spige getriebener, umgeſchlagener Rationaliemus (ähnlih wie 


bei Schleiermacher und der Staatsphilofophie Hegel). Gleichgewicht brauchte er - 


immer; mit dem labilen begann er, bis er einen Schwerpunkt in ber Naturphilo» 
ſophie und in einer feften Stellung gefunden hatte; dann blieb er im inbifferenten 
und ordnete alle Wirklichleiten um fich ber nad) feinem frommen inneren zug. 
So geſtimmt und bejchwichtigt, fchreibt der Greis jeine Erinnerungen, von einer 
fülbernen Ferne aus, mit ber fanften Witrde des Gerechten, der für fich nichts mehr 
rwartet, ſich mit Gott und mit der Welt im Reinen fühlt und der Zukunft feine 
beffere Babe anzubieten weiß als das ftille Bild eines im Geiſt bewegten und 
ins Geiſt ausgeglichenen Lebens. 
Darmftabt. Dr. Friedrich Gundelfinger. 


2% 


.. 





468 Die Zukunft. 


Beichwerde. 


or ungefähr dreiundzwanzig Jahren erhielt ich eines Tages von Frau 

Cofima Wagner die Anfrage, ob ich ihr für kurze Zeit die Briefe an- 
vertrauen wolle, die Richard Wagner an mich gefchrieben habe. Ein Zweck 
mar in dem Brief nicht angegeben und mein Herz weit davon entfernt, zu 
argwöhnen, «3 Tünne eimas Unrechtmäßiges mit den Briefen gejchehen; jo 
padte ich die Briefe alle ein und fandte fie „zur Einſicht“ nad Bayreuth an. 
Frau Cofima Wagner. 

Einige Tage fpäter fragten mich Franz Bet und Albert Riemann im 
Opernhaus, ob auch an mich die Aufforderung ergangen fei. Als ich bejahte, ſagten 
mir beide Kollegen, es ſei ihnen nicht im Traum eingefallen, die Briefe Frau. 
Wagner zu fenden. Das machte mich ftugig; daß man fi) an meinem @igen- 
thum vergreifen Tönne, wollte ich nicht denken. Nach einigen Wochen oder 
Monaten erhielt ih die Briefe auch zurüd. Fein fauber in Meiner Mappe 
geordnet, geſchmückt mit einer Photographie Wagners, die mir große Freude 
bereitete. In meiner Naivetät triumphirte ich über meine Kollegen: denn bie 
Briefe waren unverfehrt wieder in meinen Händen. 

Am dreißigiten November 1908 erhalte ich durch eine Angeige in ber 
Zeitſchrift „Muſik“ Kenntniß von der bevorftehenden Heraudgabe ſämmtlicher 
Briefe Wagners an feine ünftler. Frau Cofima Wagner hatte mich, ala fie 
mir die Briefe abborgte, nicht gefragt, ob fie kopitt werben dürften, mir auch 
nicht gefchrieben, zu welchem Zweck fie die Briefe gebrauchen wolle. Daß ich 
fie ihr dann nicht gegeben hätte, ift jelbjtverftändlich. Daß man meinen guten 
Glauben (man wolle fie nur einfehen) mißbraucht, mir zu diefem Zweck mein 
Eigentyum damals abgeborgt hatte, fand nun freilich deutlich genug vor mir. 

“ Sofort fchrieb ich den genauen Sachverhalt an die „Muſik“, der ich 
verbot, meine Briefe Wagners zu veröffentliden. Man antwortete mir in einem 
langen, begütigenden Brief: daß die an mich gerichteten Briefe „die fchönften 
Perlen“ der Sammlung feien; „jollten diefe Briefe fehlen, wäre dem Bande 
der ſchönſte Schmud genommen“; und jo weiter. Dan babe auch fchon Herrn 
Erich Kloß benachrichtigt, der mit der Herausgabe betraut ſei. Er werde auch 
noch an mich fchreiben. 

Am erften Dezemberabend telegraphirte ih an Herrn Rommerzienrath 
von Groß nad Bayreuth: 

„Ich erſuche Sie, Haus Wahnfried zu benachrichtigen, da ich nicht ge- 
ftatte, mein Eigenthum (Das heißt: die Briefe Richard Wagners an mic) 
ohne mein Wiffen und Wollen zu veröffentlichen. Mit herzlichem Dant und 
Gruß Lilli Lehmann.” Um zweiten Dezember früh erhielt ich von Herm 
Erich Kloß den folgenden Brief: „Sehr geehrte gnädige rau! Soeben fchreibt mir 
Herr R. Schufter von Ihren an ihn gerichteten Zeilen. Ich möchte Inen nmädft 





Beihwerbe. ' 469 


mittheilen, daß ich bei der Herausgabe der Stünftlerbriefe in den beften Glauben 
gehandelt habe, der Veröffentlichung ftehe nicht? im Wege. Diefer Anfict 
" war man au in Wahnfried. Bor Allem wollen Sie von meiner literarifchen 
Gewiſſenhaftigkeit als Iangjähriger im Dienjt der Sache des Meifters fiehenver 
Scriftiteller erwarten, daß Alles ausgemerzt ift, was der Deffentlichleit nicht 
frommt. Ich würbe mich aufrichtig freuen, wenn Sie mir Gelegenheit geben, 
Sie in diefer Angelegenheit zu befucdhen, da ich im Hinblid auf die edle Ge- 
meinſamkeit der Künftlerbriefe eine volle Harmonie erzielt zu haben münjche. 
Darf ich in diefem Sinn um eine geneigte Antwort bitten?“ Ich mußte Herm 
Kloß anmworten, daß ich ſehr bedaure, ihn nicht jehen zu können, weil ich um 
vier Uhr verreifen müfje und erft am jechdten Dezember wieberlehren werde. 

Umlelf Ahr erhielt ich den folgenden Brief von Fräulein Eva Wagner: 
„Liebe und hochgeehrte Frau, foeben erfahren wir zu unferer Weberrafchung 
und unjerem lebhaften Bedauern, daß Ihnen mit dem im Erjcheinen begriffenen 
Band ‚Bayreuther Briefe‘ nicht die freudige Auszeichnung zu Theil wird, melde 
wir jämmtlichen bier vereinigten Künftlern zugedachten und welche auch als 
ſolche von allen begrüßt wird! Und fo beeile ich mich, Ihnen, hochgeehrte 
Frau, abfeild von der Rechtsfrage (welche Feine ift, da wir das Eigenthums⸗ 
recht auf die Briefe meines Vaters befigen), zu jagen, wie ſehr wir Dies bes 
Hagen und wie entgegen ſolches Ergebhiß unferer Abficht ift. Hatten wir doch 
ein ehrendes, ruhmvolles Denkmal gerade auch Ihnen damit errichten wollen, 
während ein Auslaſſen Ihrer Perjönlichkeit einer unbegreiflihen Nichtachtung 
gleichgelommen wäre. Dieſes war unfere Auffafjung bei der Bublilation und 
geben wir und der Hoffnung bin, daß bei ruhiger ſtenntnißnahme Sie fi ihr 
berzlich anſchließen werden. Empfangen Sie, hochgeehrte rau, mit dieſem 
aufrichtigen Wunſch den freundlichen Gruß meiner Mutter ſowie die Verficherung 
meiner auögezeichneteften Hochachtung und Ergebenheit 

Eva Wagner.“ 

Keiner der drei Schreibenden hat verjucht, fich auch nur mit einem Wort 
zu entichuldigen und damit, mwenigitend jcheinbar, dad Unrecht gutzumachen 
oder doch abzuſchwächen. 

Daß das Net zur Veröffentlihung von Briefen, jo weit fie überhaupt 
urheberrechtlich geichüht find, allein der Familie, den Erben, zufteht, brauchte 
mir Riemand jagen. Das wußte ih. Es lag auch nie in meiner Idee, diefe 
Briefe, die mir ein werthvoller Schag find, zu veröffentliden. Wenn die 
Familie die Briefe aber nicht hat, kann fie fie nicht veröffentlichen, ohne ſich bittend 
vorher an die Befiger zu wenden und ihnen offen zu jagen, zu welchem Zweck 
fie die Briefe haben wolle. Will ter Eigenthümer die Briefe nicht hergeben 
(aus irgendeinem ihm wichtig fcheinenden Grunde), jo kann ich mir nicht 
denfen, daß ihn irgendeine Macht der Welt dazu zwingen könnte. Außer» 
Dem gilt das Recht zur Veröffentlichung für die Erben ausſchließlich für Briefe, 


36 


470 “ Die Zukunft. 


die „Schriftftüde” im Sinn des Urheberrechtes find; und Frau Coſima Wag⸗ 
ner weiß aus Crfahrung, daß die Gerichte im Allgemeinen nicht geneigt find, 
Briefe als urheberrechtlich gejchügt anzujehen. 

Wie kommt nun ein mir ganz fremder Wann, wie Herr Erich Kloß, 
dazu, Wagners Briefe an mich jo einzurichten, daß fie vielleicht nur noch 
Bruchftüde find? Auch Herrn Kloß hat feine litorariſche Gewiſſenhaftigkeit nicht 
vor Mißgriffen bewahrt; eine Stelle in einem an mich gerichteten und nur 
für mich allein beftimmten Brief über meinen einftigen, einzig in feiner Ge⸗ 
ſangskunſt daftehenden Stollegen Franz Beß bat er nicht fortgelajien. Diele 
Stelle mußte die Familie auf3 Schmerzlichite berühren und fie giebt mit den. 
einstigen bayreuther Verhältniffen nicht" Vertrauten Gelegenheit zu unberech» 
tigten, unbegründeten und bedauerlihen Angriffen. 

Kennt mich Herr Kloß, kennt er mein Weſen, mein Denken, mein Thun? 
Kannte er Richard Wagner, wie wir ihn kannten? Stand er in dem ſelben 
fünftlerischen Verhältniß zu ihm wie wir, jeine Künftler? Kann er die Ver⸗ 
bältniffe beurtheilen, tan er das Stünftlerthum mit feinem Enthufiasmus von 
der Partei der hinterlaffenen Familie wirklich trennen? Und weiter frage ih: 
Wie lommt Fräulein Eva Wagner dazu, ftatt einer Entſchuldigung mir einen 
ſolchen Brief zu ſchreiben? 

Haus Wahnfried kann felbitichaffenden Künftlern, die mit Richard Wagner 
lebten und gemeinjam fchufen, fein Denkmal ſetzen. Die Berehrung und Liebe, 
die und Alle damals dort und überall, wo wir feine großen Werke wieder» 
gaben, begeifterten, half ihm, jein Werk lebendig vor fich eritehen zu fehen. 
Das ift unfer Denkmal. Diefe innerfte Befriedigung hat uns glüdlich gemacht 
und mit Stolz erfüllt; nicht die an und gerichteten Briefe thaten es, die da⸗ 
mals mit jo dankbarem Herzen geichrieben und empfangen wurden und bie 
nur als eine Auslöjung unjerer beften Innerlichkeit und ala Schlußftein jener 
großen Zeit gelten Lönnen. 

Vielleicht hätte auch ich meine Einwilligung zur Veröffentlichung einzelner 
meiner Briefe gegeben, wenn man mich darum erjucht hätte. Da Died nicht 
gejchehen iſt, muß ih Haus Wahnfried einer unloyalen Handlung anklagen. 
Niemals kann ich den Erben Wagneis daB Recht zu diefer Art der Aneig- 
nung einräumen, die mein Gefühl beleidigt. 

Grunewald. Lilli Lehmann. 

Den Wunſch der Geſangsmeiſterin, dieſe Beſchwerde zu veröffentlichen, habe ich 
gern erfüllt. Kein Unbefangener kann dieſen Groll grundlos nennen. Wer die von einem 
ihm theuren Menſchen an ihn gerichteten Briefe verborgt, kann nicht mit der Möglich⸗ 
feit rechnen, fie ein Bierteljahrhundert ſpäter gedruckt, jedem Auge preisgegeben zu fehen. 
Der arge Mißgriff wäre gewiß vermieden worden, wenn Frau Coſima noch bie zur Ge⸗ 
ſchaftsleitung nöthige‘ Kraft hätte.‘ Doch auch in Bayreuth herrſcht ja einneuer Bharan... 





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Herausgeber und verantwortlicher Redakteur: M. Harben in Berlin. — Verlag ber Zuknnft in Berlim 
Zrud von G. Bernitein in Berlin 

















Berlin, den 26. Dejember ii 1906; h 
— IT 7 


















BAUER: 


Beten wacht noch. Wenn der Zudenhefti wieder die Ebune Yehchtet? Hl 
muß für das Bafjahopfer die erfte Garbe der neuen Getſte entkbtnt dda”" 
einjährige Lamm für das Feftmahl bereitet ſein! Hiftig Hat ſichs von Fräß- 
bi8 ſpãt in den Häufern geregt. Almählich verhalf nun det Lrnt. ‚Dee drei·⸗ 
zehnte Niſantag ift verlebt. Leiſe zittern die Delhäumztorite im: v 
leiſe fickert der Kidron zu Thal. Auch das Häuflein das det Gulilãer vonder 

Abendtafel aus der Stadt des Tempels bis ind Vorwerl Gethſemane geführt‘ 
bat, ift ftil geworden. Der Meifter betet in ſeinem Herzen; die Geſellen ha⸗ 
ben ſich mũd hingeftredt. Da wird die Nacht ploötzlich laut. Fuckelbrand lo⸗ 
dertz ſchwere Schritteundrauhe Stimmennahen. Häfen diirchfudt en dert Hbf. 
ZTempelwächter mit Stäben, römiſche Legionäre mit Schwertetn; an lfyeke 
Spitze Judas aus Kariot. Der hatte, als Dreizehntet, mit den Meifter am ® 
Tiſch gejeffen und den Schergen nun den Drt gezeigt, wo fie ihn fahen koͤnn⸗“ 
ten, ohne die Stadt aus dem erften Schlaf zu wecken Haftbefehl vom'Sans“" 
hedrin. Der Schred rüttelt die Trägften auf. Was vermöchten fie wider die” 
Büttelihaar? Die Aengftlichen fliehen. Einer, Simon Pehrus aus Kapet⸗ 
naum, hat eineWaffe und verwundet Malchus, den Diener des höchſten Brie: " 
fterd. Doch der Meifter mehret ihm; giebt jelbft fich gefangen und läßt fich"" 
ohne Widerftand in Hanans Haus führen. In diefer Nacht noch wollen Ka:' 
japhas, der Hohepriefter, und deſſen allmächtiger Schwiegervater Hanan dert‘ ' 
Feind deö alten Glaubens verhören. Im Saal brenneit zwei Kerzen; in einem 

Verſchlag lauſchen zwei Zeugen. Behartt der Bolföverführer- in ſeinen Ketzet " 
wahn, wiederholt er die Läfterung ehtwürdiger Lehre, ſo zerren bie Zeugen 

ihn vor Tribunal und am nächſten Morgen muß der Vertreter des Caeſar 

37 





472 Die Zukunſt. 


Auguftus im Prätorium ein Todedurtheil beftätigen. Smmer war es fo; und 
fol alfo bleiben. Petrus ift dem Meifter nachgefchlichen und hat ich Eingang 
ins Haus verfchafft. Die Nacht ift falt. Er möchte fich an dem euer wärmen, 
vor dem die Knechte fich räfeln. Da wird er erfannt. Einer jah ihn unter den 
Geſellen des mesith, der jegt vor Kajaphas fteht; ein Anderer, als in Geth⸗ 
jemane jeine Waffe den Malchus traf. Fäuſte ballten ich gegen ihn und dem 
Leibe dräut Lebendgefahr. Mit feuchtfroftigen Schuppen befriecht ihn die 
Angft. Hier ifts anders ald draußen unter der vom Sonnenlicht ftrahlenden 
oder filbern geftirnten Kuppel des Himmelödomes. Ganz anders als in der 
friedjamen Ebene am warmen Sordanbeden Genezareth, ald auf all den Fel⸗ 
dern, in deren Furche der gütige Sämann biöher fein Korn geftreut und von 
denen er für jeine Tenne geerntet hat. In jedem Gewölbwinfel lauert hier 
der Feind; einer, wider deſſen übermächtige Roheit der Geift nichts wirken 
fann. Wem frommt hier Wahrhaftigkeit? Wie Schäflein, ſprach in Kaper- 
naum einft der Meifter, ſende ich Euch mitten unter die Wölfe; drum ſollt 
Ihr ohne Zalfch zwar fein, wie die Tauben, müßt an Schlauheit aber den 
Schlangen gleichen. Dämmert nicht eben der Zag, der die Nothwendigfeit 
ſolchen Gebotes erweift? Nie jchien verfchlagene Schlangenfunft nöthiger. 
„Du ſchritteſt mit dem Galiläer die Straße!” Eine Magd jprichtd. Eine an⸗ 
dere: „Neben dem Jeſus aus Nazareth hat Dich mein Auge erblickt!“ Den 
Befenner träfe da8 Schwert; ſchlüge ſchnell wohl, ehe noch der Menſchenwelt 
das Licht wiederfehrt, der Haß des Gefindes zu Boden. Petrus leugnet. „Mit 
Dem, den Ihr nennet, hatte ich nie Gemeinſchaft.“ Verleugnet mit Schwur 
und Fluch dreimal den Herrn, dem er fich für Lebenszeit angelobt hat. Nach 


dem drilten Abſchwur grüßt auf dem Hof der Hahn frähend den erwachenden 
Tag und der Hall dringt bis in dad Gemach, dad Knete und Mägde am 


‚Herdfeuer vereint. Dringt durch die Ohrmuſchel ſchrill in Petri Hirn und 
wect dieCrinnerung anWorte, die, auf dem Weg nad) Gethjemane, Meifter 
und Gejell zu einander gejprochen haben. „Euch werde ich bald nun, Allen, 
ein Aergerniß jein.” „Und würdeft Dus Allen, jo, Herr, doc nimmermehr 
mir.” So jelbftgefällige Zuperficht ziemt ſchwacher Menjchheit nicht. „Nim⸗ 
mermehr Dir? Und gerade Du wirft in diefer Nacht noch, eheder Hahn kräht, 
mich dreimal verleugnen!” Scherzt der Herr? Will er des Schülers Herz prü= 
fen? „Niemals, und hinge mein Leben dran, werde ich Dich verleugnen!“ 
Und hats dennoch gethan; dreimal. Aus Furcht? Um ſich dem Werk des Men- 
ſchenſohnes zu erhalten ? Keiner bedrohtihn mehr. Frei geht er. Weintdraußen 
aber bitterlich. Leber des jchlotternden Fleiſches Schwachheit? 


— 











- — 


Betrus. 473 


Heldenhaltung hat da8 Erleben ihn nicht gelehrt. In der anmuthigen, 
warmen Landjenfung am Weftufer des Tiberiasſees ift er aufgemachfen. Die 
Flora aller Zonen gedieh hier (nad) der Erzählung des Joſephus) unter mil: 
dem Himmel. Bäume, die jonft nur im Norden fortlommen, ftanden zwi« 
ſchen der ftarren Pracht tropiicher Pflanzen und das unter ſanfter Sonne hei- 
miſche Geſträuch trug vom Lenz bis in den Winter Blütheund Frucht. Der - 
Blick fieht den Hermon jein weißes Haupt in den Himmel heben; doch in der 
Ebene iſts immer warm umd faſt immer Ipiegeln die Waſſer das reine Blau 
des unumwölkten Sirmamented. Haft immer; Sturm, der die Sordanbetten 
zerwühlt, pflegt raſch zu verbraufen. Die Wellen zerrinnen, des Geftades Bo- 
ten ſchlucken den Schaum und der Paradieſesfriede kehrt den Ufern des Gali—⸗ 
läermeereö zurüd. Hier lebt ſichs leicht. Kein harter Kampf ums Dajein, der 
an der Seele Schwielen entftehen läßt. Schwere Arbeit ift nicht zu Teiften. 
Jeden, der nicht ganz müßig bleibt, nährt der filchreiche See. Sorge hat den 
Sinn der Uferbewohner niemals verdüftert: Heitere Menſchen finds, die in 
Eintracht mit der Natur leben, von griechiſcher Givilijation und deren Zwei- 
felöfragen nie erreicht wurden und ruhig, ohne gierende Haft, ind jacht poch⸗ 
ende Herz jchlürfen, wa der Tag ihnen bietet. Wenn fie dad Netz ausgewor⸗ 
fen haben und die Strömung, der vom Gebirg herwehende Hauch den Kahn 
leiſe fchaufelt, träumen fie Stunden lang vor fich hin und üben im Traum | 
einbildneriiche Kraft. Sind beffer jo für die Aufnahme neuen Glaubens be> 
reitet ald die von früh bis ſpät Thätigen, die, um den Gewinn nicht zu ſchmä⸗ 
lern, des Denkens Faden nicht dem Gegenftand ihrer Mühemaltung ent 
fnüpfen dürfen. Behagliche Muße gebar ihnen Sehnjucht, die, ohne heftige 
Geſten, wie mit zarter Kinderhand nur, in den Himmel langt. Unter ſolchen 
Menfchen fühlt Jeſus fich wohl. Bon Nazareth hat ihn das Mißtrauen der Sipp⸗ 
Ichaft, Verwandter und Ortögenoffen, vertrieben. Kein großes Wunder gelang 
da, meldet Marfus;nureinzelneSieche wurdenvonder Breit befreit. DerWuns 
der zeugende Glaube mollte in diejer Heimatherdenicht wadhjen. „Der Davids 
Sohn? Deſſen Familiefennen wiı Alleja; Eltern, Geſchwiſter und Schwager. 
Kleine Leute. Der Vater einZimmermann; auch der Bruder ſchwitzt in enger 
Sron. Und ihn ſelbſt ſahen wir werden; wiljen, daßeranderen Judenfnaben im 
Weſen glich, und fonnen deshalb, wollen auch nicht glauben, daß ihm plötzlich 
heiligende Weisheit und Kraft zum Heilt bringerwerk wuchs. Woher käme fie 
Einem von und?” So ward ringsum geflüſtert. Mutterund Geſchwiſterſuch— 
ten der Laſt jolcher VBerwandtichaft durch die Andeutung ledig zu werden, der 


I 7 


Sinn ded Sohnes und Bruders jei nicht recht gejund. Die Wuth des nazares 


31? 


474 Die Zukunft. 


niſchen Pöbels will ihn vom Felsgrat ftürzen. Jeden Großen, denft derichlecht: 
Aufaerrommene, jucht der Klũngel der Nachſten ins eigene Mittelmaß nieder⸗ 
zudrüden. Läßt von lächelnder Lippe das Wort fallen: „Schwerer aldanders- 
wo iſts in der Heimath, im Kreis der einen, als Prophet Geltung zu fin= 
den.” BVerzichtet auf Zeichen, die Ungläubigen doch nichtö bedeuten fönnten, 
und wendet den Schritt wieder ind freundlichere Klima von Kapernaum, wo 
der Glaube an das Reich Gottes ſchon fnofpt. Am Liebiten weilt er hier im 
Hans zweier Brüder, dieaud Bethſaida inden Nachbarort übergefiedelt waren. 
Andreas, der jüngere Bruder, führt dem Kömmling, den er wohl am Jordan 
“chon in der Gemeinde des Täufers jah, Petrus, den älteren, zu. Der haufte 
mit Weib und Kindern, hatte auch ſeine Schwieger bei ſich; und Alle trach⸗ 
teilen, dad Häuschen dem Saft zum Heim zumachen. Nirgends fand der Lehrer 
fleißigere, guten Willens vollere Schüler. Die Brüder blieben Fiſcher und 
hatten dennoch ftetö Zeit für des Meifters Wortund Werk. Meine Lehre, ſpricht 
er, macht Euch zu Menfchenfifchern. Petrus und die Söhne deö wohlhaben- 
den Filherdgebedaeus, Jakobus und Johannes, werden jeine Lieblinge; ihnen 
vertraut er an, was über dad Denkvermögen und die Glaubendfraft der An⸗ 
deren leicht hinaudginge. Und von den Dreien ift ihm Petrus der Nächſte. 
Ein Mann von ſchlichtem Menjchenverftand undredlichem Wollen. Aufrichtig, 
auch wo ed ihm ſchaden könnte. Feder Entjelbftung und Hingabe fähig; nie 
auf feinen Vortheil bedacht; froh, wenn er fich im Dienft quälen darf. Und 
immer dabei myftiihem Wahn fern und der Menſchenſchwachheit bald be: 
wußt. DerbequemfteWandergefährte. Der tüchtigſte Lehnsmann. Kein Held. 
Und der Mund diejed Treuften hat in der erften ernften Fährniß den 
Herrn dreimal verleugnet? Den er, aufdem Weg nad) Caeſarea Philippi, 
des lebendigen Gottes gejalbten Sohn genannt hat? Damals ſprach Jeſus zu 
ihm: „Selig bift Du, Simon, Jonas Sohn; denn Dieſes hat nicht Fleiſch und 
Blut Dir offenbart, Jondern mein Bater im Himmel.” Gab ihm zum Reich 
Gottes den Schlüffel und damit Gewalt, für Zeit und Ewigkeit, für Erde und 
Himmel nad) feinem Ermefjen zu binden und zu löjen, zu ſchließen und zu 
öffnen. Spielte, nad} feiner Bädagogengewohnbeit, mit dem Wort und jagte: 
„Petrus heibeft Du (Das tft: der Fels); und auf diefen Feljen will ic; meine 
Gemeine gründen und die Pforten der Hölle jollen fie nicht überwältigen.” 
Hat im Grau ded vierzehnten Niſanmorgens der Feld gewanft, den der Mei⸗ 
jter, der Kenner alles irdiſchen Weſens, für feine Kirche tragfähig fand ? 
Feuer hatte er, aber wenig Feſtigkeit, jagt Dayid Friedrich Strauß, der 
im Froſt hart gewordene Bernünftler ; erinnert an Petri Haltung in Hanans 





Pe. | 435 


Haus und im Streit zwiſchen Heiden und Judenchriſten und fragt mit mürri⸗ 
ſchem Spott, wodurch juſt Dieſer den Ruhm der Felſenhaltbarkeit verdient 
habe. Glaublich dünkt ihn (weil die Evangelienüberlieferung an dieſer Stelle 


einſtimmig iſt), daß Petrus in der kritiſchen Zeit ſchwach geworden ſei; wahr: 


ſcheinlich ſogar, daß Jeſus das allzu eitle Selbſtvertrauen des Jüngers mit 
ſtrafender Zunge geißelte; unglaublichaber und nurfür den Zweck der Mythi⸗ 
ſirung erſonnen die raſche Folge von Verfündung und That. „Das Unglück, 
der Miberfolg in dem Leben eines Gottesmannes ift zunächft immer ein An» 
ſtoß, jofern die natürliche Vorausſetzung die iſt, daß der Gottgeliebte, der 


-Gottgejandte auch von Gott gefördert fein werde; und dieſer Anftoß will be- 


jeitigt, die Verneinung der höheren Sendung, die in dem Unglüd zu liegen 
fcheins, wieder verneint jein. Eine ſolche Verneinung liegt darin, wenn der 


Gottesmann das Unglüd, das ihn treffen wird, vorherweiß und vorherver- 


kündet.“ In der dünnen Quft diefer Hegelhöhe kann Phantaſie, das zarte 
Seeldhen, nicht athmen. Und bei Renan, der fie jonft gern herbergt, iſt dies⸗ 
mal fein Obdach für fie. Der tadelt (jänftiglich, nad) feiner Art) den Kehl 
des Füngerd,den „diegute Natur aber bald dad Unrecht erkennen ließ“. Das mag 
entſchuldigen; kann nicht erklären. Des Meiſters Irrung nicht noch des Geſellen. 

Petrus iſts, der, mit dem Muth der Einfalt, die Deutung ſchwer ver⸗ 


ſtändlicher Gleichniſſe heiſcht. Der den Herrn anfleht, fich zu ſchonen und den 


Machtbereich der Hoheprieſter und Schriftgelehrten zu meiden. Der auf dem 
Berggipfel drei Hütten bauen will, auf daß neben Moſes und Elia in einer 
Jeſus wohne. Der meint, ſiebenmal eines Bruders Sünde zu vergeben, ſei 
wohl genug. Fragt, was Denen werde, die, um dem Herrn zu folgen, Alleöver- 
laſſen haben. Nach Jeſn Weiſung ſtracks auf dem Waſſerging, vor dem Wind⸗ 


ſtoß aber erſchrak und, da er zu ſinken fürchtete, den Meiſter zu Hilfe rief. 


Ueberallhin ihm nachſchritt, in die wüſteſte Stätte und in den Vorraum des 
Gerichtöhaufes. Nie von ihm zu weichen noch je fich an ihm zu ärgern ver: 


ſprach. Und vor jeder Probe doch von Zweifeln angenagt ward. Sahs in dem 


Gemüth der Anderen im Wirbeljoneuen Erlebend etwa anderd aus? Die Elf 
bargen klüglich, was fie vor des Führers Auge Fleingläubig ericheinen laffen 
fonnte; nur Petrus ſchickte die bangen Zweifel des Herzens auf feine Zunge. 


‚Und Ehrlichkeit, die ih unvermummt hinaudwagt, gefällt wahrhaft Großen. 


Dielen, denkt der. Herr, blendet Schein nicht; nur die Leiſtung überzeugt ihn, 
den dad jchweigjame Gewerbe (Schwaß würde die Fiſche aus dem Netzbezirk 
icheuchen) gewöhnt hat, derBeweiöfraft de8 Worted zu mibtrauen. Iſt erein» 
mal überzeugt, dann hält er und dauert wie Felsgeſtein; dann darf man das 


416 \ Die Zukunft, 


Haus derneuen Gemeine auf ihn bauen. Das Leben ließe er, wenn das Opfer 
nöthig, wenns nüßlich wäre. Zwingt Nothwendigkeit, räth Nützlichkeit nicht 
zum Martyrium, dann ſpart er ſich, ohne langes Gefpreiz, für die Sache, 
Der dient er, ald der Herr himmelan gefahren ift, in Pontus, Klein: 
afien, Galatien, Rappadofien, Bithynien;dient ihr in Antiochia, Korinthund 
Rom nach beftem Vermögen. Und iftlange das Haupt der ind Weite wachen: 
den Chriftengemeinichaft. Kein Barteimann. Ein feit dem Herrn Anhangen: 
der, der deffen Werk erhalten will und in jeder fritiichen Stunde deshalb zum 
Frieden, zueinträchtiger Sammlung mahnt. Zugütig vielleicht, um den Billen 
je härten zu lernen. Sn dem Drang, alle Wünſche zu erfüllen, vielleicht zu 
jchnell bereit, von einem Grundfaß zu weichen und jeder Gruppe zuzufagen, 
was fie erbat. Säge werden aus Wörtern gefügt und Wörter verfallen; wenn 
nur gejchieht, was der Tag heijcht. Ihr Strenggläubigen könnt Eüch vom 
Zudengeift nicht löfen und fordert deöhalb laut die Pflicht zur Beſchneidung? 
Sollt fie haben. Du, Paulus, jagft, dad fienicht durchzuſetzen ift? 3ch ehreund 
liebe Deine Feuerſeele zu jehr, als daß ich ihrer Warnung mein Ohrſchließen 
könnte. Rur feinen Zwift in der Chriftenheit! Mag Paulus das praeputium 
des Belehrten por dem Meſſer bewahren und den älteren Glaubensgenoſſen 
ind Evangelium der Beichneidung pferchen: wenn nur des Meiſters Vermächt⸗ 
niß fich mehrt. Dieſer Hoffnung lebt Petrus. Zuerft in Jeruſalem; dann, nad) 
dem Beilpiel ded Paulus, den er wie einen neuen Heildnd bewundert, auf 
Baftoralreijen, die ihm über Paläftinas Grenzen hinausführen, und jpäter 
auf allen Wanderungen des ald Erbpflicht erfannten Apoftolates. Mit ihm 
zieht jein Weib, feine Gehilfin (fo alt iſt das Urbild desverheiratheten Evan- 
gelienmiſſionars); und wo eröfür fich und für den Anhang braucht, wirft er 
wohl wieder dad Netz aud und fängt den Darbenden mohlfeilen Süßwaſſer⸗ 
fiſch. Petrus und Paulus haben einander geliebt. Noch als fie im Jahr 04 
in Antiochia zujammentrafen, war die Freude des MWiederjehens groß und 
aufrichtig. Der janfteFudenapoftel trotzt dem Geſetz und ſpeiſt mitdenGen- 
tiles, die Paul, der ftarfe Heidenmiffionar, um ſich ſchaart. Da kommen aus 
Jeruſalem die Boten des Fafobuß, der fich den Bruder des Herrn und das 
Oberhaupt der zwöf Zünger nennt, und fünden, chriſtlicher Gotteögelahrtheit 
dürfe ſich nur Einerrühmen, der in derHeiligen Stadt gemejen fei, dem Apoſtel⸗ 
fürften Gehorſam gelobt und von ihm einen Kreditbrief empfangen habe. 
Priefterautoritätoder Glaubensrecht der freien Perfönlichfeit : zum erften Mal 
wird hier die frage geitellt, die anderthalb Zahrtaufende danach der Kirche 
zum Verhängniß ward, in ihre Grundmauer den unlittbaren Spalt riß. 








Petrus. 47 


‚Giebt daB Bemwußtfein, Sejus erlebt, von ihm Erleuchtung empfangen zu ha- 


ben, das Recht zur Predigt oder bedarf ed dazu eines Erlaubnißſcheines? Die 
Noth der Stunde fand den Sohn Jonas abermals ſchwach. Frieden um jeden 
Preis: ift jeine Lojung. Weder mit den Boten des Jakobus mag er noch mit . 
den Paulinern hadern. Seine putzloſe Gradheit würde non Beiden überrannt. 
Er verſchanzt fich in Einſamkeit; möchte es mit feiner Bartei verderben; ent- 
ſchließt ich nach kurzem Zaudern aber, den Berfehr mit Unbejchnittenen aufzu= 
geben. Kein gemeinſames Mahl mehr. Entgemeinſchaftung alſo: Exkommuni⸗ 
kation. In $lammengarben prafjeltBaulsZornauf., So Du, der einZudebift, 
heidniſch lebeſt, nicht jüdijch: warum willft Du die Heiden zwingen, jüdifch zu 
leben ?" In Jefu iſt das Heil, nicht in dem Geſetz; von dem hatund Jeſus befreit. 
Petri Herz iſt gewiß mitdemZürnenden ;doch die Zunge läßter nicht für ihn zeu⸗ 
gen. Gäbe jonft ja am Ende gar Aergernib. Schweigen und Abwarten: noch 
immer das Schicklichſte; wenn Jakobs Boten fort find, wird man weiterjeheh. 
Die Apoftel konnten in Streit gerathen, hüteten fich aber vor endgiltigem 
Bruch. Im Bereich der Syrerlirche mochte zwiſchen den Parochien der Be⸗ 
Ichnittenen und der Unbejchnittenen der Grenzſtrich noch fichtbarer werden: 
die Häupter der Miſſionen tauſchten von Zeit zu Zeit freundlichen Gruß. Nicht 
von Betrus wird Paul als Apoftat und leichtfertiger Trüger geächtet. Petrus 
vehmt ihn nicht; findet ſich mitihm ab. Um der heiligen Sache willen. 
Sieben Sahre nad) dem antiochiſchen Ritualftreit ift er in Rom. Die 
Stadt, deren Reiz Gnoftifer und Mathematiker, Chaldarer und Thaumas 
turgen aller Art anzieht und Iſraels reiche Söhne weftwärts lockt, darf nicht 


Aänger ohne Vertreter der jerufalemijchen Glaubensgemeinſchaft jein. Zog 


Petrus aus, um den Magier Simon zu widerlegen? Trieb ihn der Geift, dem 
Heidenapoftel zu folgen und die faljche Lehre zu befiegen, wie das Licht die 
Finſterniß, Wiffen die Unwiſſenheit befiegt, und den Zeidenden jein Heilmittel 
anzubieten? Bon Korinth her, wo jein Eifer die Sudendhriften zu neuer Zu> 
verficht ftärkt, lommt ernah Nom; und findet dort Paul. Den Gegner, den 
er bewundern muß und dem er ſich in andädhtiger Liebe zu Jeſus verbunden 
fühlt. Den ſoll erbefämpfen; DendarfdiegrelleSudenjprache des Troſſes ſogar 
ſchmähen. Der bleibt dennoch ſtets der Bruder im Glauben an den Gekreuzigten. 
Erſt nachPeters Todetobt ſichcin der Apokalypſe) die Wuth der Judenchriſten ge⸗ 
gen Paulus ungehemmt aus. So langeer lebt, ſuchter dem lauteſten Haß zu weh⸗ 
ren. Er hats leicht. Werin Rom, dervon der Vorſehung zurWeltſchicksſalswiege 
beſtimmten Stadt, der Chriſtenkirche vorſteht, iſt vom Nimbus alter und 
neuer Herrlichkeit umleuchtet. Daß auch er ihr, ein armer ſyriſcher Fiſcher, die 


428 Die Zukunft. 


Werheihung kün ftigen Säkularglanzes bringe, fonnte dieurbswichtahnen, als 
sein Fuß fiebetrat. Die Welthauptftadt muB auch zur Hauptitadt der Chriften- 
sheit werden; und der Jünger, der bier herrjcht, thront über allen anderen 
Apoſteln. Gegen ihn aber waffnet ſich auch die Kerntruppe der Ungläubigen. 
Welcher Römer ertrüge den Anblick diefer Sudenchriften, denen Satan jelbft 
dad Neid) Caeſars zu regiren jcheint, die Neros blinferide Refiden; Babylon 
ſchelten, mit verdüfterter Mine durch die Neihen der fröhlich Schmaufenden 
ſchleichen, den Zempeln Zerftörung finnen und mit ihrem Weltuntergang: 
wahn die heitere Renaifjanceftimmung trüben *’WBer fich vom Wirth fo unter» 
Icheitet, mit dem ſchwarzen Geſpinnſt feines Aberglaubeng jo alled Erreich- 
bare umflort, ift jeder Schandthat verdächtig. Und das dunkle Gewimmel 
breitet ficd von Tag zu Tag. Wohlerzogene Leute blicken verächtlich auf die 
Afaten und jprechen den Namen nicht aus, den die Sefte fich giebt. Das ge- 
heine Bolt heißt fie Chriften, berichtet Tacitus; und aus dieſer Maffe refru- 
tirt fiefich reichlich. Was will da werden ? Iſt dieſes Unkrautes Wurzelunausjät- 
bar, da es, jo oft mand mähte, üuppiger uur emporjchießt? Hof und Gejell> 
ſchaft werden unruhig; des Pöbels Argwohn wird aufdie Feinde der Menſchheit 
gelenkt. DieChriftenfind Brandſtifter, Brunnenvergifter, Kinderſchlächter; fie 
unterwühlen den ragenden Sig des Kaiſers und hetzen die Sklaven zum Auf« 
ruhr. Und diefe tũckiſche Brut haben wir nor den Juden geſchützt? Hängt fie; 
ſpeit ihnen Geifer ind Antlitz; zeichnet igrem gefreuzigten Spelunfengott einen 
Eſelskopf. Bergebend mahnt Baul, der Obrigkeit unterthan zu fein und jelbft 
harten Drud hinzunehmen. Lehrt Peters milde Galiläerjeele die Ruhe ala 
erfte Bürgerpflicht. Rom hält Beide für Heuchler. Hört, wie aus dem Dunkel 
die Hoffnung auf das Nahen des Meſſias emporftöhnt, emporjubelt; Deſſen, 
der als Befreier kommen wird; als Erlöſer gefnechteter Maffen. Und ift ſchon 
enſchloſſen, den Schreden in rother Fluth wegzuſchwemmen. 

Petrus ſucht in feinen Epifteln an die verfprengten Ehriften den Ber- 
dacht zuentfräften. „Haltet, als Fremdlinge, ald Heimloje, aufehrbaren Wan⸗ 
del, damit Alle, die Euch aldllebelthäterverleumden, Eureguten Werkeſehen. 
Gehorchet, um ded Herrn willen, dem König und jeinen Hauptleuten. Zollt 
Sedem gebührende Achtung ; liebetdie Brüder; fürchtet Gott; ehretden König. 
Zeigt Euch alö freie Menſchen; nicht als Solche, denen die Freiheit nur, wie 
ein Mantel, böſes Trachten verbergen hilft. Und Ihr, Sflaven, jeid unterthan 
Eurem Gebieter; nicht demgütigen menjhlichfühlendennur, nein: auch dem 
argen. Denn begnadet iſt, wer fürfjeinen Glauben Ungerechtes erleidet. Sefus, 
derfür&ud litt, ſei Euch Vorbild. Da ergefränft ward, fränfteer Keinen ;ver- 


1 














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Petrus. 419 


get Miß handlung nie mit Drohung ; ftellte jeine Sache dem gerechten Richter 
anheim. Seid fröhlich indem Bemußtjein, das Leid ded Herrn mitzuleiden, und 
‚empfindet als Glück die Schmähung, die Euch der Name des Gejalbten ein» 
trägt.“ Bergebend. Ald Nero am neunzehnten Iuli 64, um das Schaujpiel 
des Brandes von Zroja zu erleben, Rom zum Flammenmeer gemacht Hat, de» 
nunzirt er die Chriſten, erpreßtihnen auf der Folter das Geftändniß der Brand» 
ftiftung und läßtfie unter Höllenqualen verröcheln. Sind fie nicht Feinde der 
Bilder, von denen die Stadt gleißte? Kümdete ihre Weisfagung nicht, die 
Menfchenwelt werde in Feuer vergehen? Sauchzten nicht Etliche von ihnen, 
als die Flammen am Leib der Kaijerftadt aufzüngelten? Brüfteten fi} mit 
der Verwirklichung deöProphetenwortes? Sperrtfie in den feuchteften Kerker. 
Werft fie den wildeften Beftien zum Fraß vor. Schnürt fie im Amphitheater 
anPfähleundlaßt die nackten Leiberpeitſchen, bis die Feuersbrunſt das Fleiſch 


verzehrt hat. Lebende Fackeln mögen uns, fterbende, leuchten. Keufche Chris» 


ftenjungfrauen nehmt, reißt ihnen das Gewand von den feinen Gliedern, 
bindet ihr Haar an die Hörner wüthender Stiere und ſchleift fie, vor taujend 
gierigen Augen, jo durch den Cirkus. Die Schönften wird des Kaiſers Ma» 
jeftät jelbft beim großen Gartenfeft ſchänden; nicht Mädchennur: aud) Jungs 
linge. Im Fell eines wilden Thieres fättigt er fich vor Aller Blid an ihnen. 
Wie groß die Zahl Derer war, die jo umfamen, ift faum zu errechnen Und 
von Rom flogen die Funken deöftiebenden Haſſes bis nach Kleinaften hinüber. 
Ueberall wurde der Chriſt verfolgt, angeſchuldigt, als hostis deorum alque 
hominum, als humanigen: risinimicus zur härteſten PBön verurtheilt. Mor⸗ 
dete dieſer Fanatismus, den ein irrer Komoediant aufgepeitſcht hat, um von 
ſeinem caeſariſch ungeheuren Verbrechen die Aufmerkſamkeit abzulenken, 
auch die feindlichen Brüder Peter und Paul? Nächte Nero an ihnen, daß fie 
ihm zwei Liebchen, eine Sklavin und einen Luſtknaben, befehrt hatten? Die 
Götter wiſſens Menfchenhand hat nur verzeichnet, daß Petrus den Martyr- 
tod ftarb; und wahrjcheinlich ift, daß Paulus das felbe Schidjal fand. Der 
Fischer aus Kapernaum, der fein Weib hinrichten ſah, ward gefreuzigt; um 
noch im Tod nicht zu nah an den großen Nazarener zu rüden, bat er und er⸗ 
langte, dab die Füße an die Spitze des Kreuzes genagelt wurden und der Kopf 
herabhing. Nie durfte er auch von fern nur dem Meiſter ähneln. Wollte noch 
iterbend, als Nömerbijchof, nur Diener fein und der heiligen Sache hörig. 
Ob der Tod die Beiden zur felben Zeit in ſein Schattenreich ri? Den 
E anften und den Starken? Petrus, der fich in dem Pflichtenfreis des Juden⸗ 
‚ miffionard befchied, und Paulus, der den Seftenglauben zurWeltreligion ge> 


J 


. 480 Die Zuluntt. 
‚ weitet hat? Die Legende hat fie ald Sterbende noch einmal vereint. Und zu 


einandergehören fle, die Schöpfer de3 neuen Rom, wieRomulus undRemuß. 
Mit des Glaubens Schild und Schwert haben fie einander den Boden ftreitig 
gemacht, jede eroberte Fußbreite geſchirmt; doch nie aufgehört, über Die Wälle 
des Barteimahnes hinweg einander den Gruß brüderlicher Liebe zu enden. 
Beide brauchte die junge Kirche. In dem Judaeochriſtianismus (Peter), jagt 
Renan, lebte der konſervative Sinn, ohne den nichts Haltbares wird; in dem 
Hellentsmus (Pauls) die Tendenz zum Fortſchritt, die erft dad rechte Leben 
Ipendet. „Aus dem Kampf gegnerifcher Gewalten entſteht das Leben. Wo fich 


kein Lüftchen regt und Alles beim Alten bleibt, ift der Tod eben ſo nah wie im 


rajenden UngemwitterderRevolution.* Inder Zeit derXegendenbildung haben 
die erften Sahrhunderte dem Heidenapoftel gehört. Paulus war, der große 


.Theologe,bisinsjechöte Säkulum der Vollender hriftlicherMetaphyfif. Dann, 


im Mittelalter, verbleicht feines Namens Glanz. Petrus überftrahlt ihn; der 
Biihofvon Rom,derpappasder Ehriftenheit. Dem ließderHerrdieSchlüffels 
gewalt. Was er hienieden bindet und löft, Das ift auch fürd Himmelreich ge= 
bunden und gelöft. Petrus und Rom: die untrennbar aneinandergejchmies 
deten Namen bedeuten die höchfte Macht, die Sterblichen je über die Geiſter 
gegeben ward. Petri Nachfolger find die Päpſte, unter deren Winf der Erd- 
kreis erbebt, die Könige auf die Knie zwingen, Kronen zerbreigen, Staaten, 
wie ed ihnen gefällt, blühen und welfen laſſen, auf die Mähne des Leun und 
den Schuppenleib des Drachens den Fuß jeßen und den Himmel entriegeln 
oder jperren. Göttern näher ald Menſchen. Erft als, beim Dämmern der Re⸗ 
formation, die Allmacht der Päpſte ſchwindet, fommt wieder Bauli Zeit. 
Das Genie des Welimannes, dem bei Damaskus die Gnade der Er- 
leuchtung ward, hat für das Mad sthum der Chriftengemeinde mehrvermocht 
ald der national begrenzte Geift deö armen, einfältigen Bijcherd von Geneza- 
reth. Viel mehr. Paulus hat den Stifter ded neuen Bundes nichtgefannt und 
warſchon deshalb zu zärtlicher Rückſicht auf das beſondere Wollen des Meiſters 
niemals verpflichtet. Konnte auch deshalb aber nicht Ahnherr der höchſten Hir⸗ 
ten werden. Dazu taugte nur Einer, der dem Herrn auf der Weide nah war. 
Der den Duft ſeines Weſens mit ſich über die Erde trug. Der Aermſte, Ein⸗ 
fältigſte am Beſten, jo lange die Urchriſtenlegende fortwirken jollte. „Das 
Himmelreich gleicht einem Neb, das ins Meergeworfenift, damit fich allerlei 
Ceethierart darin fange; wenn es aber voll ift, jo ziehen fie ed heraus an das 
Ufer, fiten und lefen die auten Filchlein in ein Gefäß zujanımen und werfen 
die faulen weg.“ Alſo bat Jeſus am Galiläermeer gefprochen. Und den &öh- 














P. trus. 481 


nen Jonas verheißen, fie zu Menſchenfiſchern zu machen. Glaubten fie ihm 
jogleich? Lukas berichtet, der Meifter habe zuerft in Petri Kahn gepredigt und 
dann gerathen, hinauszuftenern, um einen Zug zu thun. Herr (fo läßt der 
dritte Evangelift den Simon Petrus ſprechen), wir haben uns die ganze Nacht 
hindurch gemüht und nichts gefangen; doch auf Dein Wort will ich dad Ne. 
noch einmalauöwerfen. Da ſeien nun ſo viele Filche gefangen worden, daB zwei 
Schiffe voll wurden und Petrus in Aengſten auf die Knie ſank und fih der Sünde 
zieh. „Bürchte Dich nicht ;denn fortan wirft Du Menfchen fangen.“ Nun erſt folgt 
ihm der Ueberzeugte. Läßt aber dad Handwerk nicht, das ihn und die Seinen 
nährt. Noch nach den Tode des Lehrers fiſcht er im Tiberiasſee mitden Freunden. 
Wieder bleibt das Netz leer, bis Jeſus fie beräth. Als Petrus hört, daß der Herr 
zurückgekehrt ſei, kleideter fichmit dem Hemd und wirft ſich, den Auferſtandenen 
zu umfangen, ins Meer. Zieht dann hundertdreiundfünfzig große Fiſche and 
Land; „und wiewohl ihrer jo viele waren, zerriß dad Neß nicht.” Hunderte 
dreiundfünfzig verjchiedene Fiſcharten, bemerkt zu dieſer Stelle der Kirchen» 
vater Hieronymus, giebt es nach der Feſtſtellung gelehrter Autoren, insbes 
ſondere des Oppian aus Kilikien; und die Erzählung (im Evangelium Jo— 
hannis) bedeutet und, daß die Apoſtel alle Menjchenjorten aud dem Meer des 
wilden Zebeng in die Seligfeit zogen; Reiche und Arme, Vornehme und Ges 
ringe; aus jeder Schicht die Würdigften. An diefem Fang hatte Petrus einen 
beträchtlichen Theil. Viele gute Fijchlein las er in das Gefäß der Glaubensge⸗ 
meinſchaft zuſammen. Und prahlte niemald mit feiner Zeiftung. Drum Hat zu 
ihm, am jelbigen Tag des großen Fijchfanges, der heimgekehrte Hirt zu dreien 
Malen geiprochen: „Weide meine Lämmer!“ Shnalfo fi) zum Erben geſetzt. 

Warum gerade ihn? Weil Diefer von feitem Menjchenverftand war, 
weltlichem Gejchäft nicht fremd und doch ftillen Weſens; raſch zur That und 
dennoch in Demuth bejcheiden. Weil Diefer zu fragen wagte, wo die Anderen 
ſcheu verftummten, und, wo fie gläubige Andacht heucheln zu müffen wähn- 
ten, jeinem Zweifel eine Zunge lieh. Hilft der Nazarener wirklich zu reichem 
Fang? Schreitet er auf dem Wafjer wie aufdem feiten Boden der Erde? 
Kehrt er ald Körper uns, nicht als Schatten nur, aus der Gruft zurück? Im: 
mer.will Diejer Beweis. Taugt deshalb nicht für das heiligfte Amt, deſſen 
Verweſer in der Bifion die Wahrheit erfennen und nicht vom Augenſchein 
noch vom betaltenden Finger den Beweis der Richtigkeit forden muß. Doch 
um fo befjer für irdijche Arbeit, die ftetige Ruhe, Abwägung aller Möglich— 
keiten, Klare Einficht in das für die Alltagspraxis Nothwendige, Eifer und 
Schmiegſamkeit verlangt. Der für ſolche Arbeit nügliche Glaube fommt nur 


482 Die Zukunft. 


aus Zweifeln. Was einmal bewieſen ift, kann leicht auch Anderen bewiejen 
werden, wenn an ſolchem Beweisdie Bekehrung hängt. Was die Ekſtaſe offen» 
bart hat, ift nur für Einen; läßt fich nicht weitergeben; nur vom Genie der 
Welt als Vorſtellung aufzwingen (und ein kluger Organifator ftellt die geniale 
Ausrahme nie in ſeine Rechnung). Diefer wird jein Net einziehen, wenn über: 
mächtige Öefahr droht; und es, tft fie vorübergehujcht, mitruhiger Hand wie- 
der auswerfen. Irdiſches wird er bedenfen, ehe er bindet und löft. Und iftda- 
bei der Kühnfte: folgt dem Hertn bis in die Flur des Vriefterpalaftes. 

In Hanand Haus weint Petrus bitterlich. Nicht, weil er den Herrn ver» 
leugnet hat (frommte es denn dem Lehrer, wenn der Schüler mit ihm aud der 
Beitlichfeit jchritte?), jondern, weil er entſchwundener Weisheit gedentt, die 
ihn jorichtig auch diesmal erfannt, fo gütig in feines Menjchenwejens Schran⸗ 
Ten gewiejen hat. „Mit Dir in den Tod”: hatte er eifernd gerufen. Undmerft 
nun, wie thöricht ed wäre, Einem au folgen, der aufjeinem himmelanfteigen« 
den Wege fein Gefolge braucht, brauchen kann; wie unnützlich der Kampf gegen 
das Rudel des Pfaffengefindes; wie vermeſſen der Wunjch, Dem Unvergleidy- 
lihen im Schidjal zu gleichen. Weilder Große jeine Lehre big and Endeleben, 
mitjeinemBlutaufdürrem Boden die junge Saatdüngen muß,darfein Kleiner 
fich in die Martyrpojereden? Menſchen zu fiſchen und aufder TriftdieLämm- 
lein zu weiden, ift ihm befohlen. Diefem Gebot hat er fi, ohne Schwärmer⸗ 
überſchwang und ehrgeizigen Geſtus, zuerhalten. Und thuts. Murrtnicht, da er 
denZehn als der nach Judas aus KariotunzuverläffigfteZüngerericheint. Nicht, 
als Paulus zuerſt, dann auch Jakobus ihn vom erſten Platz wegzuſchieben 
trachtet. Al8dem helleniſchen Heidenapoſtel das Glücklächelt. Zu oft ſaher, wie 
des Herrn Verheißung Wirklichkeit wurde, um je nun noch zweifeln zu können. 
Das Hirtenamt, die Cchlüfjelgewalt, das Recht zu Bindung und Löſung für 
Zeit und Ewigfeit nimmt ihm aud) die Gewaltthat des Stärkſten nit. Still 
fit er, betreut in der Enge die Heerde; oder jorgt, daß in feinem Reh feine 
Mache fich Iockere. Duckt fich vor dem Unmetter und hebt, wenns verrollt ift, 
zu neuem Mächterblict auf den Kreis der Pflichten das Haupt. Schidt ſich, ein 
ven Erfahrung Gezaufter, in jede Zeit und mißt die Kraft, bevdr erfie einfeßt. 
Nichtein Held, den Goldglanz umfprüht und Drommeten umjubeln, daß der 
Feind vorihm zage. Gin fchlichter Mann, derdas Gute will, wenn es frommem 
Gifererreichbarift, Händel ſcheut, doch in unvermeidlichen ſich wader halt und 
für eine Sache Icht, nicht fürden Spiegelruhm feiner citlen Berjon. Ein Mann 
aus dem Vol, der an felbitlofes Dienen gewöhnt ward und unbeneidet den 
ſchmalen Zpaltöffnendarf,durdh den derAipoftelerbein dieBapftglorie jchreitet. 

s 








Tagebuch eines Schülers, 43 


‘ Tagebuch eines Schülers. 


En Progymnafiaft jollte man eigentlich anfangen, ein Wenig ernithaft über 
> das Leben nachzudenken. Run: Das gerade will ich verſuchen. Einer 
unferer Lehrer heißt Wäcli. Ich muß immer laden, wenn ih an Mähli 
dente; er ift doch zu komiſch. Er giebt immer Übrfeigen, aber dieje ſeltſamen 
Ohrfeigen thun gar nicht web. Der Mann hat es noch nicht gelernt, richtige, 
gutfigende Obrfeigen zu geben. Er ift der gutmüthigſte, drolligfte Menſch der 
Welt; und wie ärgern wir ihn! Dad ift nicht edel. Wir Schüler find über 
haupt feine vornehmen Raturen; ung fehlt vielfach das ſchöne abmeſſende Takt⸗ 
gefühl. Warum ftürzen wir uns mit unſerem Wit eigentlich gerade über einen 
Wächli? Wir haben wenig Muth; wir verdienten einen Inquiſitor zum Vor⸗ 
gejegten. Iſt Wächli einmal vergnügt und heiter, dann benehmen wir uns ſo, 
daß feine muntere, zufriedene Stimmung augenblidlich Davonfliegen muß. Sit 
Das richtig? Kaum. ft er zornig, fo lachen wir ihn nur aus. Ach, es giebt 
Menſchen, die im Zorn ‚jo komiſch find; und gerade Wächli jcheint zu dieſer 
Sorie zu gehören. Des Meerrohres bedient er ſich nur.ganz jelten; er ift ſehr 
jelten in folder Wuth, daß er nöthig bat, zu dieſem widerwärtigen Mittel 
zu.greifen. Did und groß. ift er von Geitalt und fein Geficht ift purpurroth. 
angelaufen. Was joll ic; noch ſonſt von diefem Wächli jagen?! Im Allge- 
meinen, fcheint mir, bat er feinen Beruf verpaßt. Er follte Bienenzüchter fein 
oder jo Etwas. Er thut mir leid. 

Bloch (jo Heißt unfer Tsranzöfifchlehrer) ift ein langer, dürrer Menich 
von unſympathiſchem Weſen. Er hat die Lippen und die Augen mödte man 
auch dick und aufgeblnfen nennen; fie ähneln den Lippen. Er jpricht boahaft 
und geläufig. Dad hafje ich. ch bin fonft ein ganz guter Schüler, aber bei 
Bloch habe ich, meiftend nur Miferfolge zu verzeichnen. Das kommt jedens 
fall3 daher, daß diejer Menſch mir das Lernen verleivet. Man muß ein uns 
empfindlicher Kerl fein, um bei Bloch gut und‘ brao dazuftehen. Nie kommt 
er aus fich heraus. Wie verletend ift Das für und Schüler, empfinden zu 
müffen, daß wir ganz außer Stande find, diefe lederne Briefmappe von Menſch 
irgendwie ärgern zu können. Er gleicht einer Wachsfigur und Das hat etwas 
Unheimliches und Schredlichet. Er muß einen häplichen Charalter haben und 
ein. abjcheuliches Familienleben führen. Gott behüte Einen vor fol einem 
Vater. Mein Bater ıjt ein Juwel: Dad empfinde ich befonders lebhaft, wenn 
ich Bloch betrachte. Wie fteif er immer vafteht: jo, als wenn er zur Hälfte 
aus Holz und zur Hälfte aus Eiſen wäre. Wenn man bei ihm nichts kann, 
jo höhnt er Einen aus, Andere Lehrer werden doc wenigftend wüthend. Das 
tyut Einem wohl, denn man erwartet ed. Ehrliche Entrüftung macht einen jo 


484 Die Zukunft 


‚guten Eindrud. Nein, kalt fteht er da, dieſer Bloch, und konſtatirt Lob oder 
Tadel. Sein Lob ift fchmierig, denn es erwärmt Einen gar nicht ; und mit 
feinem Tadel weiß man nichts anzufangen, denn er fommt aus ganz trodenem, 
gleihgiltigem Mund. Bei Bloch verwunſcht man die Schule; er ift auch gar 
fein rechter Xehrer. Ein Lehrer, der die Gemüther nicht zu bewegen verftebt.. 
Aber was rede ich da? Thatſache ift, daß Bloch mein dtanfiſchlehrer iſt. Dos 
iſt traurig, aber es iſt eine Thatſache. 

Neumann, genannt Neumeli: wer möchte‘ fich nicht wälsen vor Lachen, 
wenn von diefem Nehrer die Rede ift? Neumann ift unfer Zuinlehrer und 
zugleich unſer Schönfchreiblehrer; er hat rothes Haar und finftere, vergrämte, 
ſpitze Geſichtezuge. Er ift vielleicht ein fehr, fehr unglüdliher Menid. Er 
ärgert fich immer jo wahnfinnig. Wir haben ihn vollftändig in unferer Hand, 
wir find ihm volllommen überlegen. Solche Menſchen, wie er, flößen feinen 
Reſpekt ein; zumeilen Furcht, nämlich dann, wenn fie vor Zorn den gefunden 
Verſtand zu verlieren feinen. Er kann fich gar nit ein Bischen beherrſchen, 
ſondern jagt fcheinbar ale feine Empfindungen bei jeder Eleinften Gelegenheit 
in ein Zoch hinab, in den Aerger. Gewiß geben wir ihm Aerger⸗Anlaß. Aber 
warum hat er jo lächerlich rothes Haar? So vortreffliche Bantoffelheldmanieren ? 
Einer meiner Schulkameraden heißt Junge; er will Koch werden, fagt er. 
Diefer Zunge bat einen fo herrlich auägeprägten Hintern. Muß er nun Rumpf 
beuge machen, fo tritt der Hintere von Junge noch toller zum Vorſchein. Da 
lacht man eben; und Neumann haft das Lachen furdtbar. Es ift ja auch 
etwas Scheußliches, jolc ein ganzes, ineinandertönended und gellendes Klafſen⸗ 
gelächter. Wenn eine ganze Klaſſe nur fo herauslacht: zu was für Mitteln 
muß dann ein Lehrer greifen, um fie zu befänftigen? Zur Würde? Das nüpt ihm 
gar nichts. Ein Neumann hat überhaupt feine richtige Würde. ch liebe die 
Turnftunde fehr und den lieben Junge möchte ich küflen. Man lacht fo gern 
unmäßig.e. Zu Junge bin ich artig; ich mag ihn fehr gern. Ich gehe oft mit 
ihm jpaziren; und dann reden wir vom bevoritehenden, erniten Neben. 

Rektor Wyß ift eine baumlange Erjcheinung von foldatifcher Haltung. 
Wir fürdten und achten ihn; diefe beiden joliden Empfindungen find ein 
Bischen langmeilig. Ich kann mir die Reftoren von Progymnajien jegt gar 
nicht mehr anders vorſtellen ala jo, wie diejer Rektor Wyß ausſieht. Uebrigens: 
zu prügeln verfteht er ausgezeichnet. Er nimmt Einen aufs Knie und haut 
E:ren füschterlich durch; nicht gerade barbarifch. Die Prügel von Wyß haben 
etwas Drdnungsgemäßed; man hat, während man dieſe Diebe zu Toften bes 
kommt, das angenehme Gefühl, es fei eine vernünftige, gerechte Strafe. Da: 
durch gefchieht nichts Entjegliched Der Mann, der jo meifterlich prügeln kann, 
muß gewiſſermaßen human ſein. Ich glaube Das auch. 


— — — — — — — — — — — —————————— GET — — — —————— ——— — 








Tagebudy eines Schuͤlers. 485 


Eine ganz fonderbare Figur und ein feltenes Lehreregemplar, wie mir 
fcheint, ift Herr Jalob, der Geographielehrer. Ex gleicht einem Ginfiedler oder 
einem finnenden alten Dichter. Er ift über fiebenzig Jahre alt und bat große, 
leuchtende Augen. Er ift ein ſchöner, prachtvoller Alter. Sein Bart reicht ihm 
bis auf die Bruft herab. Was muß diefe Bruft nicht Schon Alles empfunden 
und gekämpft haben! ch, ald Schüler, muß mir unmillfürlih Mühe geben, 
fo Etwas in Gedanken mitzuerleben. Es ift grauenhaft, zu denken, wie vielen 
Jungen diefer Mann fon die edle Geographie eingepräpt bat. Und viele 
diefer Jungen find jept ſchon erwachſene Menſchen; fie ftehen längft mitten 
im Xeben und mancher von ihnen wird feine Geographie⸗Kenntniſſe vielleicht 
haben brauchen können. An der Wand, dicht neben dem alten Jakob, den wir 
übrigens Kobi nennen, hängt die Landkarte, jo daß man fih Jakob ohne 
dazugehörige Yandfarte gar nicht mehr vorftellen kann. Da fieht man daS zer» 
riſſene, vielfarbige und vielgeftaltige Europa, das breite, große Rußland, das un: 
heimliche, weit fich ausdehnende Aften, das zierliche, einem ſchöngeſchwänzten 
Bogel ähnliche Japan, das in die Merre hinausgeworfene Auftralien; Indien 
und Egypten und Afrika, das Einen fogar auf der lörperlofen Karte dunkel 
und unerforjcht anmuthrt, dann Nord» und Südamerita und die beiden räthjel« 
haften Pole. Ja, ich muß fagen, ich liebe die Geographieſtunde leidenſchaftlich; 
ich lerne da auch ganz mühelos. Es ift mir, als ſei mein Veritand ein Schiffs» 
Tapitänsverftand: fo glatt geht ed. Und wie weiß der alte Jakob durch Ein» 
flechten von abenteuerlichen Geſchichten aus Schulung und Erfahrung diefe 
Stunde intereffant zu machen! Dann rollen feine alten, großen Augen viel» 
fagend bin und her und es ift Einem, als kenne diefer Mann alle Länder 
und alle Meere der Erde aus eigener Anichauung. In keiner anderen Stunde 
ftrogen wir Schüler jo von mitempfindender Phantaſie. Hier erleben wir jedes» 
mal Etwas, hier horchen wir und find ftill; freilich: ein alter, erfahrener 
Menſch redet zu uns und Das zwingt eben zur Aufmerkſamkeit ganz von felber. 
Gottlob, dag wir hier im Brogymnafium keine ganz jungen Xehrer haben. Das 
wäre nicht zum Audhalten. Was kann ein junger Mann, der felber faum erft 
das Leben geichaut hat, mitzutheilen und anzuregen haben? Ein folder Menſch 
kann Einem’nur kalte, oberflächliche Kenntnifje beibsingen oder et muß dann eine 
feltene Ausnahme fein und durch fein bloßes Wejen zu bezaubern willen. Lehrer 
fein: Das ift jedenfalls fchwer. Gott, wir Schüler machen ja jolche Anſprüche. 
Und wie abjcheulich wir eigentlich find! Sogar über den alten Jakob machen 
wir uns zu Zeiten luſtig. Dann wird er fürchterlic) zornig; und ich kenne 
nichts Erhabeneres al3 den Zorn diefed alten Schulmeifterd. Er zittert an 
allen feinen gebredhlichen Gliedern furchtbar und unmillfürlich ſchämen wir ung 
nachher, ihn gereizt zu haben. 


— — mi — — — — — — — — — ——— — — —ú — — — 


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486 Die Zukunft, 


Unfer Beichenlehrer heißt Lanz. Lanz follte eigentlich unfer Tanzlehrer 
‚ fein; er Tann fo prädtig. hin und berhüpfen. Apropod: warum erhalten wir 
feinen Zanzunterricht?. Ich finde, mar thut gar nit, uns zur Anmuth und- 
zu einem fchönen ‚Benehmen zu bewegen. Wir find und bleiben fehr wahr» 
fheinlich die reinen Flegel. Um auf Lehrer Lanz zurüdzulommen: er iſt unter 
den. Lehrern der jüngite und zuverſichtlichſte. Er bildet fi ein, wir hätten 
Reſpekt vor ihm. Mag- er felig werden mit diefem Gedanken. Uebrigens 
Eennt er gar feinen. Humor. Ec ift fein Schullehrer, jondern ein Dreffeur;. 
er ‚gehört in den Citkus. Das Hauen macht ihm, wie es fcheint, ſeeliſches 
Vergnügen. Das ift brutal: mir haben daher Urfache, ihn zu neden und zu 
verachten. Sein Vorgänger, der alte Herr Häufelmann, genannt Hüfeler, war 
ein Schwein; er mußte das Unterzichtgeben eine Taged aufgeben. Diefer 
Hüſeler erlaubte ſich ganz fonderbare Dinge. Ich jelbit fühle noch immer auf 
meiner Wange feine alte, Inöcherne, widerwärtige Hand, mit welcher er in der 
Stunde uns Sungen.geftreichelt und geliebloft hat Als er fih dann heraus» 
nahm, was keine Feder beichreiben Tann, wurde er. jeined Amtes enihoben. 
Nun haben wir Lanz. Jener war abicheulich, Diefer aber ift eitel und grob. 
Kein -Lehrer! Lehrer dürfen nicht. jo von fich felbjt eingenommen jein.. 
Unſer Iuftigfter und tühnfter Schulfamerad- heißt Frig Kocher. Dieſer 
Kocher ſteht meiſt in der Arithmetikſtunde von der Bank auf, hebt den Zeige 
finger dumm in die Höhe und bittet Herrn Bur, den Rechenlehrer, ihn doc 
hinausgehen laſſen zu wollen; er babe den Durdlauf. Bur jagt dann, er 
wifle jchon, was Fritz Kocher Durchlauf zu bedeuten habe, und ermahnt ihn, 
ruhig zu fein. Wir Anderen lachen dann natürlich gräßlich; und (0 Wunder!) 
bier fteht ein Lehrer, der einfach mitlacht. Und jonderbar: Das flößt uns 
faft augenblidlih Achtung und Vorliebe für diejen fellenen Diann ein. Wir 
verſtummen mit Xachen, denn Bur veriteht es meijterlich, unfere Aufmerlſam⸗ 
keit fofort wieder für die ernften Dinge zurüdzugewinnen. Sein Lehrerernft 
bat etwas Bezaubernded und ich glaube, Das kommt daher, da Bur ein. 
Mann von außerordentlicher Aufrichtigleit und Charalterftärke it. Wir laufchen. 
auf feine Worte gelpannt, deun er kommt un fajt räthjelhaft Hug vor; und 
dann iſt er nie ärgerlich, er ijt, im Gegentheil, immer lebhajt, fröhlich und 
munter, da dürfen wir das glürliche Gefühl haben, jeine Schulpflicht ſei dieſem 
Mann angenehm. Das fchmeichelt und eben ganz gewaltig und wir glauben, 
ihm dankbar dafür fein zu müflen, daß er in ung feine Vebendverbitterer und 
Quälgeifter erblidt, und führen und brav auf. Wie lomiih Tann er fein, 
wenn e3 ihm darum zu thun ift! In jolden Fällen empfinden wir aber 
auch, daß er fih nur uns zu Liebe ein Wenig verwandelt, um und einen 
billigen, unjchädlichen Spaß zu gönnen. Wir fehen, daß er faft ein Künitler 











Tagebud eines Schülers. 487 


ift; wir merken, daß er und achtet. Er ift ein prächtiger Kerl. Und wie man 
“bei ihm faßt und lernt! Er weiß den unkörperlichſten, unfinnlichften Dingen 
Form, Sinn und Inhalt zu geben, daß ed eine wahre freude ift. Den Frig 
Kocher, den ein anderer Lehrer verdammen und verfolgen würde, hat er gern 
wegen der unglaublichen Gerifienheit feiner Einfälle. Das fcheint mir bes 
deutend, daß ein fo tüchtiger, erfahrener Mann mit der fpigbübifchen Lümmel⸗ 
haftigkeit fompathifiren fann. Es muß eine noble, große Seele in Bur fteden. 
Er befigt Güte und Heiterleit. Daneben ift er ſehr energiih. Er macht uns 
faft Alle in verhältnigmäßig kurzer Zeit zu fchneidigen Rechnern. Dabei bes 
handelt er die Dümmeren unter uns jchonend. Diefen Bur zu ärgern, würde ° 
uns nie einfallen; fein Auftreten läßt gar nicht an jo Etwas auch nur denken. 

Herr von Bergen war früher unfer Turnlehrer; jegt ift er Verficherung- 
agent. Möge er gute Geichäfte machen! Er hat wohl jelbft gefühlt, daß er 
zum Erzieher nicht taugt. ine hochelegante Erſcheinung. Was aber nüßen ' 
einem Schuljungen gutfigende Hofen und kleidſame Nöde? Er war übrigens 
nicht fchlecht; er gab nur zu gern „Tatzen“. Der Sohn eines Schlächtermeifters 
mußte dem Herrn von Bergen immer die arme Bleine Tage darhalten, um einen 
Icharfgezogenen, beißenden Meerrohrhieb darauf zu empfangen. ch erinnere 
mich noch, und nur zu deutlich, wie mich Das empörte. ch hätte damals dem 
fein gelleideten, parfumirten Duäler den Stopf abfchlagen mögen. 

Sch will meine Galerie ſehenswerther Lehrerbilvder mit Doktor Merz 
abichliegen. Merz ift unter ſämmtlichen Lehrern fcheinbar der gebildetite, er 
ichreibt ſogar Bücher; aber diefer Umftand hindert feine Schüler nicht, ihn 
von Zeit zu Zeit lächerlich zu finden. Er ift Gefchicht- und zugleich Deutſch⸗ 
Lehrer; er hat einen übertrieben hohen Begriff von Allem, was Hajfiich ift. 
Alaſſiſch ift aber biömweilen auch fein Betragen. Er trägt Stiefel, als wenn 
er in die Schlacht reiten wollte; und in der That: es ſetzt oft in der Deutſch⸗ 
ftunde wahre Schlachten ab. Er ift Hein und unjcheinbar von Figur; nimmt 
man dazu die Stanonenitiefel, jo muß man lachen. „Junge, je Did. Du 
haft eine Fünf!“ unge ſetzt fih; und Herr Merz notirt eine grimmige, das 
Zeugniß entftellende Fünf. Einmal hat er fogar der ganzen Klaſſe eine große, 
allgemeine Fünf gegeben und dazu gefchrien: „Ihr widerjegt Euch, Schurten? 
Ihr wagt, Euch gegen mich aufzulehnen? Mofer, bift Du der Rädelsführer? 
Ja oder nein?“ Moſer, ein tapferer, von uns beinahe vergötterter Junge, 
erhebt fi) vom Play und jagt in grollendem, unjäglich komiſchem Ton, er 
laſſe fich nicht Rädelsführer jagen. Wir fterben vor Lachen, wir wachen wieder 
von diefem fchönen Tod auf und fterben ein zweite Mal. Merz aber jcheint 
feinen klaſſiſchen Verſtand verloren zu haben; er geberdet fich wie unfinnig, 


38 


488, u Die Zukunft. 


ex tennt verzweiflungooll mit feinem Gelehrienkopf gegen die Wanb, er fuchtelt 
mit den Händen, er jchreit: „Ihr vergiftet mir das Leben, Ihr verderbt mir 
dad Mittageſſen, Ihr macht mich verrüdt, Ihr Halunten, die Ihr fein! Ges 
fteht es: Ihe trachtet mir nach dem Leben!” Und er wirft fich der Länge 
nach auf den Boden. Wie jchredlih! Man follte es nicht für möglich halten, 
Und wir, die wir ihm dad Mittageſſen verderben und verfalzen, wir erhalten 
von ihm die evelften Anregungen. Wenn er von den alten Griechen erzählt, 
leuchten feine Augen binter den Brillengläfern. Sicher begehen wir ein großes 
Unrecht, den Mann zu jo wilden Auftritten zu veranlaffen. Sin ihm ver» 
einigt ſich Schönes und Lächerliches, Hoh-3 und Dummes, Vortreffliches und 
Kläglihes. Was können wir dafür, daß tie Zahl Fünf uns keinen jonder- 
lichen Schreden einzujagen vermag? Sind wir verpflichtet, vor heiliger Scheu 
zu fterben, wenn Einer von ung das „Glüd von Edenhall” von Ludwig Uhland 
rezitiren muß? „Setz Did, Du haft eine Fünf!“ So geht es zu in der 
Dentſchſmande. Wie wird es im ſpäteren Leben zugehen? Das frage ich mich. 


Robert Walfer. . 
s . 


Der Menich wirkt Alles. was er vermag, auf bie Menfchen durch feine Berjön- 
lichkeit; Die Jugend am Stärkften auf die Jugend; unb Bier entfpringen auch bie reinften 
Wirkungen. Dieje jind es, welche Die Welt beleben und weder moraliſch noch phyſiſch aus⸗ 
fterben lafien... Sobald man in Geſellſchaft ift, nimmt man vom Herzen ben Schlüffel 
ab und fledt ihn in die Taſche; Die, welche ihn fteden lafjen, find Dummtlöpfe... Tas 
ift ber glüdlichfte Menich, ber das Ende feineß Lebens mit dem Anfang in Verbindung 
fegen ann... Seine Umgebung, felbft die gemieinfte nicht, fol in uns das Gefühl des 
Göttlichen ftören,das ung überallhin begleitenund jede Stätte zu einem Tempeleinweiben 
kann... Es kann wohl fein, daß der Menſch durch öffentliches und Häusliche Geſchick zu 
Beiten gräßlich gedroſchen wird; allein das rückſichtloſe Schickſal, wenn es Die reichen 
Garben trifft, zerfnittert nurdas Stroh; die Körner aber jpüren nichts davon und ſprin⸗ 
gen luftig auf der Tenne Hin und wieber, unbeklimmert, ob fie zur Mühle, ob fie zum 
Saatfelb wandern... Der Rückblick auf fo mancherlei Situationen, Die man durchlebte, 
die Erinnerung an fo viele Stimmungen, in Die man ſich verfegt fühlte, macht ung gleich» 
fam wieder jung; und wenn man fühlt, daß man mit ben Jahren vielleicht anlleberjicht 
und Geſchmack gewonnen bat, ſo glaubt man, einigen Erfag zu ſehen, wenn fich Energie 
und Fülle nach und nach verlieren will... Fremde Kinder: wir lieben fie nie fo jehr als 
die eignen; Irrthum, Das eigene Kind, ift uns bem Herzen ſo nah... Der thörichtfte von 
allen Irrthümern ift, wenn junge gute Köpfe glauben, ihre Origiyalität zu verlieren, in» 
dem fie das Wahre anerkennen, das von Anderenfchon anerfanntworbden... Der Menſch 
Tann fich nie kennen lernen, jich nie rein ale Objekt betrachten. Andere fennen mich beſſer 
als ich mich ſelbſt. Nur meine Bezüge zur Außenwelt kann ich fennen und richtig wür- 
digen lernen; darauf ſollte man fich beſchränken. Mit allem Streben nach Selbſtkenntniß, 
das bie Priefter, bad die Moral uns predigen, kommen wir nicht weiter im Leben, ge 
langen weder zu Refultaten noch zu wahrer innerer Beſſerang ... Wißt: verfälicht ift 
Alles, was ung von der Natur trennt. (Goethe.) 


* 

















Der Heilige Mime, 188 


Der heilige Mime.“) 


elafimns ein Mime war, 

Wie alle anderen Mimen waren: 

Des Ernftes und der Tugend völlig bar, ' 
Jedoch in allen Kaftern fchauderhaft erfahren. 
Nicht auf der Bühne nur: alltags fogar 
"Chät er mit Schminfe, Lippenroth nicht fparen 
Und Pränfelte fein lichtgefärbtes Baar. 

Kurz: allen Frommen war Belafimi Gebahren 
Ein Aergerniß und Jeglichem war Plar, 

Er werde als ein feifter Höllenbraten 

Dereinft dem Teufel in die Sauft- gerathen. 





Jedoch, was that Das dem Gelafimo? 

Er war ein Heide, und als Beide fo 

Don Grund verftodt, daß es ihn doppelt freute, 
Ein Laſterknecht und Wolüftling zu fein, 

Weil er dadurdy des Anftoßes ein Stein 

War auf dem Wege aller frommen £eute, 


Audy waren Die in jener böfen Seit 

(Als Diofletian, der Schändliche, regirte) 

In fo veradytet fhwacher Minderheit, 

Daß ihr Gemurmel Niemanden genirte. 

Seus faß als Sonnengott im Tempel’ breit 

Su Baalbef, den nody nicht das Kreuzbild zierte: 
Zu Baalbef in der alten Götzenſtadt, 

Da dies Mirafel fi} begeben hat. 


Deut ift der Ort ein jämmerlicher Sleden, 
Wo niedre Bedninenhütten fidh 

Im Scatten riefigen Mauerwerfs verfteden, 
Aus dem fi, fhön und ungeheuerlich, 
Gewaltige Säulen quadernmädtig reden: 
Des Tempels Reſte, der verfanf, verblid. 
Dod damals ftand er noch und um ihn her 
Die große Stadt des großen Jupiter. 


Man ging auf Straßen, die gepflaftert waren 
(Wo mag das Pflafter hingefommen fein?), 
Dorbei an Boldjchmiedläden, an Bazaren, 
Botels, Bordells (und Mander trat audy ein), 


*) Aus ber Sammlung „Sonderbare Geſchichten“, die (ſchlicht und nobel aus⸗ 
geftattet) zur Weihnacht bei Georg Müller in München erfcheint und vieleicht beflex als 
fett Stilpes Beit ein anderes Bud) den echten Bierbaum von allen Seiten fehen lehrt. 

. 38* 


4% 


Die Zuknunft. 


Man ſchob fi, drängte ſich mit Legionaren 
Aus Rom und Syrien; Griechen, frech und fein, 
Slanirten zwifchen Juden und Phönilern 

Und andern Dolksgenofien: noch antifern. 


Man amufite fi: beim Zeus! Und mwiel 
Man tanzte; flug den Ball; man jente; fah- 
Entzüädt vom fihern Site Menſch und Dieh 
In wilden Kämpfen ſich verbluten; ja, 

Man hatte den Genuß, am Kreuze Die 
Gepfählt zu fehn, die „Christo gloria“ 
Doreiltg fangen, ftatt Jovi, dem Dater. 

Und außerdem gabs mehr denn zehn Cheater. 


Davon im feinften war Gelafſimus 

(Als erfter Held verfieht fich) engagirt. 

Auch war er Regiffenr (Praepositus), \ 
In allen Bombenwirkungen verfirt. 

Bet jeder Premiere hat am Schluß 

Man ihn hervorgerufen: applaudirt, 

Bis er erfchien und fidy mit edler Neigung 
Rechts, links verbeugte als zur Dankbezeigung. 


Kein Wunder: wenn man foldhe Beine hat 

Wie Selafim und Augen fo voll Seuer, 

Daß jede Dame in der großen Stadt, 

Als wär ihr Herz ein Strohſack, eine Schener 
Doll dürren Heus, in Slammen ftand, ſchachmatt 
Dor Liebe zu dem füßen Ungeheuer, 

Alltäglich brachte ihm der Stadtpoftbote 
Dreihundert Briefe, meiftens rofarothe. 


Die Meinen Mädchen in der füßen Zeit 

Der erften Schwellung gruben um die Wette 
In Wads den Namen, trugen unterm Kleid 
Auf bloßer ruft ihn; feine Statuette 

Aus Alabafter lag, gebenedeit 

Durch mandyen Kuß, in mandem Badfifcybette, 
Indeß die mehr fchon vorgefchrittenen Damen 
Anftatt des Bilds den Mimen felber nahmen. 


Und auch die Rezenfenten wagtens, ihm 

Nicht zu Predenzen: ihren Wermuthbecher. 

Der blutige Schmul felbft hieß ihn Seraphim 
(Er, dem fonft alle Mimen ſchäbige Schädker). 
So kams, wies mußte: unfer Selafim 

Wurde von Tag zu Lage eitler, frecher. 

Man durfte wirklich bald fchon Denen glauben, 
Die zweifelten an feines Birnes Schrauben. 


Der heilige Mime. 


Er fprah nur noch per „Wir”, er ließ ſich nur 
Noch von Aetiopiern in Sänften tragen, 

Und wenn er wirfli einmal Wagen fuhr, 

So wars vierfpännig und im Mufchelwagen; 
‚Die Frau des Gouverneurs fogar beim our 
-Kieß er vergeblich warten und ihr fagen: 

Er habe heute Befleres zu thun, 

Dod morgen werd er dazufein geruhn. 


Vatürlich wählte er die Stüde aus, 

In denen er dem Publikum fidy zeigte, 

Und ftrih und änderte: es war ein Graus, 

‚Daß mandyer Autor jähen Tods erbleichte. 
Dann fchrieb er felbfi ein Drama. Das hieß „Laus 
Imperatori“. Das Gehirn erweichte 0 
Jedwedem, der es ſah. Ihm ift der Orden 

Für Kunft und Wiffenfchaft geworden, - 


Dod, wies nun beim Cheater ging (und geht): 
Manch Stüd gefällt zwar, weil der Herr Derfaffer 
Beim Publitum in großer Liebe fteht: 

Jedoch gefällt es — durd, Wie Wind und Waſſer 
‚Sf Bunft des Publifums: verfließt, verweht, 
‚Wenns darauf anfommt. Fragte an der Kaf er: 
„Wie ift das Haus heut?” ward zur Antwort ihm: 
‚„Laus zieht nit — leer!” Das kränkte Gelaftım. 


Laus zieht nicht! dachte düfter er bei ſich: 

Das Edelfte; das ib zu geben habe, 

‚Gilt ihnen nichts, Was zieht denn eigentlich? 
Soc ich vielleicht mit meiner Mimengabe? 

Ad nein, ich fühls: fie wolln ganz einfach mich: 
Ich bin nichts weiter als ihr Sreudenfnabe. 

Im Grunde werd ich fchauderhaft verfannt. 

«© Dolf, o Welt, wie feid Ihr degoutant! 


Gelaftmus, beleidigt im Genie, 

Derftel in ungewohnte böje Zanne. 
‚Erfizwar fie gran, dann ſchwarz: Melancholie 
Saß faltig über jeder Augenbraune, 

Schon floh der Mime zur Philofophte; 
Und bald erhob fi ringsum das Beramte: 
Selafimus der Schöne hat den Spleen: 

Er abonnirt das Weisheitmagazin, 

Man läcdelte; und hinter den Conliffen 
(Wenn id fo fagen darf, da, wie befannt, 
Es feine gab) ward mancher Wit geriſſen; 
‚Denn Mimen waren immer medifant, 


491 


498 


Die Zukunft, 


Perfid, gemein und Palanerkefliffen: 
Schon wurde Beraflit der Dunfle er genannt. 
Bald wird er, dachten froh die Konkurrenten, 
In einem Ziervenfanatorinm enden. 


Der Berr Direftor madıte feine Witze. 

Dem wars zu ernft dazu. Das leere Baus 

Erzeugte im Gemüth ihm Siedehite 

Und all fein Sorn galt dem Antor der „Laus“. 

„Du haft den Orden, ich die leeren Sitze. 

Das paßt mir nicht!” fo rief er wüthend aus. 
„Beichränfe Dich auf Deine fchöne Waden 

Und laß das Dichten! Denn es bringt mir Schaden.” 


So lernte Gelafim die Wahrheit koſten, 

Daß jeder hohe Seffel wadlig ift 

Und daß auch .goldne £orberblätter roften; 
Bewirft fie Mißerfolg mit feuhtem Mift. 

Am Liebſten hätt er den verlornen Poften 
Sogleich verlaffen ohne Kündigungfrift, 

HBätt ihn nicht, Schuldenlaft gefeflelt ehern 
Wohl an ein Schod von grimmen Manicyäern. 


Und er ging in ſich und begann, zu grübeln: 
Was hab id nun von meiner Eitelfeit ? 
Derworfen bin ich, machtlos allen Uebeln, 
Gebundnem Opferthiere gleich, geweiht: 

Das Unglüd übergieft mich wie aus Kübeln, 

Wo ift der Gott, der gnädig mich befreit? 
Erleuhtung! Kann mid Srömmigfeit nody retten, 
So frequentir’ ich gern die Heiligen Stätten. 


Er thats. Sort von den Philofophen ging er 
Strads zu den Prieflern: und mit offner Hand,. 
Als Tempelfpender und als Opferbringer; 

Bei allen Göttern ward er Supplifant. 

Kaum hatte Raum der rieflge Opferzwinger 
für all das Dieh, von Gelaſim gejandt. 

Die Priefter lächelten: Kein Menſchenmagen 
Kann eines Mimen Srömmigfeit ertragen. 


Jedod gewährten fie ihm alle Gnaden 
Der Götter, die er flehentlich erbat. 

Er durfte ſich im Denustempel baden; 

Des Seus ©rafel gab ihm dunflen Rath; 
Er af, zu viel beinah, geweihte Sladen; 
Trug Amulette im Safra’format. 

Balf Alles nichts. Es blieb die alte Leier: 
In feinem Herzen brauten Xebelfchleier. 








Der heilige Mime, 493 


Da, eines Tags, nach endlos langer Probe 

Zu einem neuen Stüde, fam zu ihm, 

Befcheiden wartend vor der Garderobe, 

Ein junges Mädchen, flüfternd: „Gelafim! 

Kies diefes Buch, zu Jefu Ehrifti Cobe 

Derfaßt vom Patriardyen Joachim!“ 

Der Mime dadyte: Sonderbares Mädchen! 

Bringt keinen Kiebesbrief, bringt ein Traftätchen | 


Da war fie audy ſchon weg. Im Korridore 

Sah Belaflm nur einen Schleier wehn 

Aus dunfelgrauem, ſchwarzgeſäumtem Slore. 

Er blieb betroffen eine Weile flehn. 
„Die ift doch ficher nicht aus unferem Ehore ....... 

So einen Flor hat man hier nie gejehn“, 

Sprach er für fi; „mir wird nicht ganz gehener 

Bei diefem dunkelgrauen Abentener.” 


Und warf das Buch hin zu den Schminfedofen, 

Als Mebe Sauber dran und dunkler Fluch 

Don unheimlihen Mäcten: namenlojen. 

Und warf darüber noch ein ſchwarzes Luc. 

Und ging nach Haus mit fliehenden Schritten, großen, 
Als flög, ein Schatten, hintet ihm das Buch. | 
Und war bedrüdt, verwirrt: umhergerifjen 

Don Ahnungen, Mahnungen, wie in Sinfterniffen. 


Er warf fit hin aufs üppige Nuhebette 

(Don Baalbefs Bosheit wurde es genannt: 
Palaestra Gelasimusarum); hätte 

Im Sclafe gern das Buch, den Flor gebannt. 

Dod heute war es eine Unrnhftätte, 

Um die herum ein Beer Dämonen ftand, 

Die bald das Bud und bald den Schleier ſchwangen 
Und in der Siftel: „Lies! Kies] Kies doch!” fangen., 
Der Mime fprang empor und in die Tolle 

uhr wild die Hand, vernichtend die Srifur. 

„Ih will nicht!” fchrie er auf in Grimm und Grolle, 
„Ich lefe feine Pöbelliteratur! ' 
Kann ich nit ſchlafen, lern ich! Meine Rolle, 
Erlöfe mi von der Sefatur! 

Der Geift der Katafomben fei vertrieben 

Dom Geift des Seus mit fcharfen Jambenhieben!“ 
Und er verfenfte fi mit heftigem Fleiße 

Ins Studinm. Er lebte, was er las: 

Denn es begab fi wunderlicher Weife, 

Daß feine Rolle wie ein Spiegelglas 


- 494 


Die Zutunft, 


Den Trubel wiedergab, der ihn im Kreife 
Jetzund herumtrieb. Jede Phrafe fa, 
Als hätt er felbft fie aus ſich hochgehoben, 
Ehriftum zu läftern, Jupitern zu loben. 


Er hatte einen Feldherrn zu tragiren, 

Dems, wie nicht wenigen, ergangen war, 

Daß ihn der Battin zartes Perfuadiren 

Sum Chriften machte. Doch nicht ganz und gar; 
Denn, wies im Drama fam zum Peripetiren, 
Erhob er mächtig fidy wie Joris Aar | 

Und fand in höchſt dramatifhen Donnerwettern 
Den Weg zurüd zu feinen alten Böttern. 


Das fchmedtel Und der Mime deflamirte 

Sid alle Wirfung aus der bangen Bruft; 

Das Heer Dämonen, das ihn fo torquirte, 
Bat vor den Derfen auf die Flucht gemußt. 
Gelafimus der Heide triumphirte 

Sum letter Mal und glaubte felbftbewußt, 

Er felber habe, wie fein Held, gefunden 

Den Weg zum Beil und endlichen Gefunden. - 


Am nädften Morgen falbte er und fchminfte 
Sid ganz wie einft. Ein ftrahlender Apoll 
Bing er zur Probe. Auf der Straße winfte 
Er allen Mädchen, heitrer Laune voll, 

In Blid, Bewegung, Haltung das diftinfte 


“ Erobererair, das Jeder haben foll, 


Der Srauen gefallen will und Maffen lenfen, 
Daß fie im Zug nad feinem Willen fchwenfen. 


And auf der Probe war er ganz der Alte: 
Die Derfe ftrömten wie ein Wafferfall; 

Im Dolfsgetümmel feine Stimme fchallte 
Wie Donnerton im raufchenden Regenfhwall: 
Und wie zum Kreuze er die Säufte ballte 

Und wie er rief: „Surüd in Deinen Stall, 


- Aus dem Du kamſt, verzerrter Gott der SPlaven!“ 


Da wars, als wenn das Kreuz Blißfchläge trafen. 


Der Herr Direktor fchloß ihn an den Bufen: 
„Du haft Dich wieder, o Selafime! 


Mein theurer Sreund! Ich ſchwörs bei allen Mufen: 


So ſchlechthin göttlich fah ich Keinen je. 

Es ift fonft gar nicht meine Art, zu fchmufen, 
Doch hier erflär ichs: gleich der Aloe 

Blüht Deine Kunft jet, Deine geniale. 

Wir fpielen das Stüd gewiß an hundert Male,“ 





Der heilige Mine. 


Befürmt von Bändedrüden und von Phrafen 
Gefalbt, geölt mit allen Parfumerien 

Der Schmeichelei (den werthen Mimennafen , 
Das lieblihfte Odenr), umfurrt, umſchrien, 
Umtanzt beinah von Huldigungefftafen, 
Dermodte unier Beld ſich faum zurückzuziehm 
Sur Garderobe, wo er ſich die Schminfe 

Dom Antlig wufh. Da drüdt es auf die Klinke. 


Der leife Sant erfchredte ihn. Betroffen 

Sah er fih um. Dod Niemand war zu fehn. 
Indeß ftand angelweit die Chüre offen 

Und draußen hörte einen Schritt er gehn. 

Er fprang zur Schwelle, auf der Sunge fchroffen 
Derwünfchungruf. Da blieb das Berz ihm ftehn. 
Drei Spannen weit vor ihm im Korridore 

Stand regunglos das Mädchen mit dem $lore. 


Welch Angefiht! Die ftygifche Proferpine, 
Rückwäris den Blick gewandt zum Duterhaus, 
Exſchũtterte nicht fo durch Blick und Miene, 

Sah nicht fo fchmerzenvoll anmnthig aus, 

„Wer bift Du?” rief Selafimus. „Ich diene 
Dir namenlos”, fprady fie; und einen Strauß 
Aus Wüftendifteln vor ihm niederlegend, 
Derfhwand fie, leis im Behn den Flor bewegend. 


Der Mime bücdte tief fich zu den grauen 
Staubvioletten Blüthen. Krrieend nahm 

Er das Geſchenk, wie feines je von Staunen, 
So viel fie ihm ſchon ſchenkten, zu ihm fam. 
Und es erfüllte ihn mit Luſt ein rauen, 
mit Wolluft eine wunderfame Scham. 

‚Er fhämte ſich der Sreude am Applaufe, 
Nahm Strauß und Buch und ging bewegt uach Hauſe. 
Ich laß es hingeftellt fein, ob die Worte 

Des großen Patriarhyen Joachim 

Es waren, die mit Geiftesfraft die Pforte 
Sum Evangelium öffneten vor ihm. 

Genug: zu des Direftors Grimm und Torte 
Scrieb Tags drauf einen Brief ihm Gelafim, 
mit dem die Rolle er zurüc ihm fandte; 
„Derlei zu fpielen, bin ich außer Stande.” 
‚Empörung; Wüthen; Rechtsanwalt; Berichte; 
Replif; Duplik; Baalbefs „Diarium“ 

Hatte nit Raum mehr für die Weltgefchichte, 
Denn ſchnuppe war durchaus dem Publifum, 


Die Zukunft. 


Cd 


Was fonft gefhah. Es wünſchte blos Berichte 
&ur großen Lis contra Gelasimum. 

Das Urtheil fam: Der Mime ift verhalten, 
Zu fpielen, eventuell mit Brachialgewalten. 


Der große Tag erfhien. Don zwölf Gendarmen 
Ward Gelafim zum Schauplatz esfortirt. 

Man ſchminkte (welche Prozedur!) den Armen 
Öewaltfam und per vim ward dito er friflrt, 

In fein Kofüm geftedt und ohn Erbarmen 

Bieß es: „Avanti! Und: Stichwort parirti® 

Er dachte fih: Das Alles läßt fih zwingen; 

Wer aber zwingt die Nlachtigal, zu fingen? 


Man ftieß ihn auf die Bühne. Solch ein Toben 
Ward nie vernommen, wie es da erfcholl. 

Die Riefenmenge hatte fi} erhoben 

And ſchrie ihm Willkomm. Don Derehrung ſchwoll 
Ein ganzes Meer ins Herz ihm. Gottes Proben 
Sind fürdterlih: Der arme Mime, toll 
Saft vom Applaus, doch innerlidy in Banden 

Des Unbegreifliden, hat furdtbar ausgeftanden. 


Die £ippen bebten. Wie um eine Wunde 

Sn preflen, lag auf der bewegten Bruſt 

Das Bändepaar. Es irrien in der Kunde 

Die Blicke rathlos, feines Fiels bewußt. 

Schon ſchwieg der Willtomm. Aus dem ſtummen Munde 
Der Menge drohte mitleidlos: Du mußt! 

Und dabei brodelten in feinem armen Kopfe 

Der Rolle Worte wie in einem Uudeltopfe. 


Wohl hätte er fie jetzt entlaffen wollen: 

Er konnte nit. Die Zunge war ihm (five. 
Schon hob im Publitum fi Murmeln, Grollen, 
Gewittriſch wälzte fi ein Wollenetwas her. 

Noch ein Moment: und alle Donner rollen, 

Denn von Derehrung weiß das Dolf nichts mehr, 
Wenn der Derehrte troßt. Gleich wird es bligen!. 
Den Herrn Direftor fah man deutlich ſchwitzen. 


Da: welde Wandlung! Wie von innren Sonnen. \ 
Erleuchtet, öffnet Gelafim den Mund: 

Er Ipricht. In feinen Worten rinnen Wonnen: 

Der Selöherr thut die Seligkeiten fund 

Don Chrifti £ehre. Balfamüberronnen 

Fühlt fi} das Publifum, bis auf den Grund 





Der Heilige Mime. 


Entzũckt, erfchüttert, völlig hingeriffen 
Don diefer Spracde füßen Dämmerntiffen. 


Was war gefhehn? Was öffnete die Chore 
Der Rede unfrem Mimen? Weiter nidts, 

Als daß er auf der mittleren Empore 

Das ftille Leuchten fah des Angefidhts 

Don jenem Mädchen mit dem grauen Slore. 
Doch darin war die Fülle allen Lichts 

Für feiner Seele bange Duntelheiten: 

Geh Deinen Weg! Die Gnade wird Did; leiten. 


Und fo gefhahs. Er fpielte nicht: er lebte, 
Was in der Rolle des Bekehrten fland. 

Als ob der Beiland in ihm felber webte 

Der Didterworte leudhtendes Gewand, 
Umfloß es ihn wie Licht, das ihn umfchwebte 
Und hob und trug: in der Derheifung Land. 
Dod als die Rolle abwich von den Pfaden 
Des Krenzes, fam die Fülle erft der Gnaden. 


Es war nicht Einer, der die scöne & faire 

Des Stüds nicht aus der Zeitung fchon gewußt: 
Die große Szene zu der Götter Ehre, 

In der der dumpfe Katafombenwuft 

Dertrieben ward von Jovis heiligem Speere. 


Man freute fi darauf mit um fo größerer £ufl, 


Als man bereits die allzu füße, matte 
Kreuzlimonade etwas über hatte. 


Es waren ja Heiden: Beiden im Cheaterl 
© armer Gelafim, wie wird es Dir ergehn! 


Die Gnade leuchtet Dir. Jedoch an einem Krater. 


Sie made blind Dich, nicht hinabzufehn! 
Getroſt! Ein Berz war bei ihm, das zum Dater 
Der Liebe betete, ihm beizuftehn. 

Wie flärfender Chan fiel in das giuthverdorrte 
Der; himmelher ihm jedes ihrer Worte. 


Ein Plarer Held, aufrecht, mit ſtarken Schritten, 
Betrat Gelafimus den Schauplatz. Groß 

Schritt er zum ſchwarzen Krenze, das inmitten 
Don unterirdifhen Gräbern ſtand. Getos 
Beidnifchen Dolfs, beflürmte ihn mit Bitten, 
Suräczufehren in der Götter Schoß. 

Dies war der Auftaft. Stille nun. Dann wollte 
Die Rolle, daß dem Kreuz er fluchen follte. 


407 


498 Die Zutuuft. 


Er aber Pniete nieder. Und er legte 

Auf Chriſti Suß die Stirme: ganz entrüdt, 
Indeß die Lippen im Gebet er regte. 

Dann hob das Haupt er, lächelte verzüdt, 

Stand ruhig auf, fchritt ruhig vor, bewegte 
Vicht eine Miene, bis er, tief gebädkt, 

Das Krenz des Schwertagriffs füßte, lippenbebend, 
Die ganze Seele in den Kuß hingeben?d. ° 


Das Publitum, durdy diefe Pantomime 

Dor Staunen faft um den Derftand gebracht, 
Scwieg noch. Aur Einer rief: „O Gelaftme*) 
Was haft Du mir aus meinem Städ gemachtl!“ 
Der Didyter wars. Doch nun, ottave rime, 
Fieht Euch zurück, denn das Gewitter Fracht. 
Bis hierher ging es mit den fteifen Stanzen; 
Jetzt aber müffen freie Ahythmen tanzen. 


Wie wenn vorm erften Stoß des nahenden Sturms die Blaͤtler 
Don Pappelbäumen zu zittern beginnen und rafcheln, 
Lief durch die Maſſen, 

Die ſteinernen Gaſſen 

Der Sitze entlang, von den Senatoren⸗ 

Subſellien bis zu den höchſten Emporen, 

Ein Surren und Summen, 

Ein Schurren und Brummen, 

Ein flirrendes Flüſtern, 

Ein Schnauben aus Nüſtern, 

Ein heißes Hauchen, 

Ein pfeifendes Pfaucen, 

Ein Schnarren und Schnarchen 

Ein Knarren und Knarden, 

Ein Stimmengemirre, Geſchwirre, Geflirre: 

Don allerhand widrigen Tönen furzum 

Ein höllifches Pandämonium. 


So flimmen im Ocrcheſter disharmoniſch 

Die Inſtrumente Bläfer, Streicher, Schläger, 
Des Mannes harrend, der als Luftdurchſäger 
mit feinem Taktſtock fommt, auf daß frmphonifch 
Das Ganze werde. Doch, man weiß es ja: 
Zuweilen zeigt fich reichlich kakaphoniſch 

Stau Muſika. 


*) Man muß es bem Dichter zu Gute halten, daß er falſch betont. Er 
#ammte nicht aus Rom, fondern aus Serufalem. 








Der heilig: Mime. 


Als Boflapellenmeifter Seiner Majeftät 

Des Publifums in diefem Fall fungirte 

Ein hagerer Priefter, der den Dorfitz zierte 

In Baalbets Sittlichkeitfoztetät, 

Die nicht Moral allein in ihrem Wappen führte, 
Sondern auch Schub der Religiofität. 
„Silentium!“ trähte der Dürre fchrill: 

Und glei wars fill: 


Sodann hub an 

Der magre Mann: 

„Derruchtter Bube, was ficht Dich an, 
Unfere heilisftien Güter zu verhöhnen? 
Beftellt zum Dienfte der Kamönen, 

Haft das Theater Du entweiht 

Sum Schauplat fcheußlicher Derfommenheit. 
Du hafts gewagt, Didy zu befennen 

Sn einer Lehre, die fo niedrig ift, 

Daß (graufer Aberwib, nicht auszunennen!) 
Sie einen Inden, namens Chrift, 

Als Bott verehrt, den römifche Juſtiz 
Derurtheilt hat zum Malefiz- 

Krenzgalgen, und verehrft {was jedem Braven 
Mit Schauder padt: das Moarterholz der Sflaven. 
Beim Zens! Die Frechheit kann nicht weitergehnt 
Im Xiedrigen das Göttliche zu fehn, 

Die ewigen, großen 

Götter vom Thron j 

Berabzuftoßen 

Und, Blasphemie, als Gottes Sohn 

An ihre Stelle einen Schwerverbrecher, 
Beftraft nad; heiligem römiſchem Recht, 

Su fegen: was bisher auch freder 
Anarchifcher Pöbelwahn fich erfredht: 

Dies ift der Gipfel! Seit die Welt befteht, 
Ward fo der heiligen Wahrheit Majeftät 
Nicht ins Geſicht gefpien! 

(Bier machte eine Paufe, 

Begierig nah Applaufe, 

Der orthodore Mann. 

Der ſetzte prompt und pünktlich ein 

Mit Bravorufen, Toben, Schrein. 

Dod als das Publifum genug gefcrien, 
Sing er aufs Neue an:) 


„Du liegft noch immer auf den Knien? 
Steh auf, ich fage Dir, fteh auf! 


Die Zulunft. 


Dem Troßigen wird nicht verziehn 

Und die Gerechtigkeit nimmt reißend fchnellen Kauf, 
Stößt fie auf Störriſchkeit: 

Nur wenn zur rechten Zeit 

Der Sünder in fich gehet, 

Geſchiehts vielleicht, 

Daß fie, erweicht, 

Wenn er recht innig flehet, 

Ihm gnädiglich verzeiht.“ 

(Dies fagte er in jenem Ton, 

Der, falbenfeimig, allen Pfaffen, 

Als fei ihr Mund zum Salbennapf gefchaffen, 

Wie Schmalz entfchwappt feit Olims Seiten fchon.) 


Und es ward totenftill. Das Publifum 

Swang feine Bier zurüd: aus Spannung flumm, 
Nicht aus Derzicht auf das geliebte Toben. 

Die Beftie hatte ſchon das Pranfenpaar erhoben, 
Sum Sprung gefedert lag der Rüden frumm. 
Die Taufende waren Eins: ein Dieh geworden 
Und diefes Dieh, geeint aus Wuth, 

War geil auf Blut 

Und ledte 

Die £ippen fchon und biedte 

Die Zähne zum erfehnten Morden. 


Doch diefes Ungethüm, wie wild es fah 
Und wie fein Athem feuchte: 

Für unfern Knieer war es gar nicht da. 
Er fah nur Licht und Leuchte: 

Ihr Berz: wie aus Rubinenglas 

Ein Keldy es ihm bedeudhte, 

Doll von dem Blute Golgathas. 


Und hordh: es hob ein Swiegefang 

Aus feinem Mund und ihrem fidh, 
Geichwifterlich, 

Als wie aus einem Munde: 

Der Plang nicht Plagend, Mang nicht bang, 
Klang felig, felig, felig, Mang 

Wie fehrende Kiebesfunde: 

„Mein Berzverlangen! 

Mein Armumfangen! 

Auf der Weide meiner Liebe holdfeliges Lamm! 
Ich athme Did aus, ih athme Dich ein, 

Du mein Morgenwind, Abendwind, Sonnenfcein! 





En ⏑ — 


—4 


Der heilige Mime. 


(Er) Süße Braut, (Sie) Säßer Bräutigam, 
Don Jeſus mir gegeben 
Sum bittern Tod, 
Dielfüßerm Leben! 
Ballelujah | 

Der Hodyzeit entgegen 
Auf blutigen Wegen 
Seidfelig zu gehn, 

Gieb, gieb Deine Bände! 
Wir werden Ihn fehn: 
An Weges Ende 

Wird Jefus ftehn! 
Ballelnjah! 

Wird Jeſus ftehn! 

mit feinem Hochzeitfegen. 
Jeſus! Liebe! 

Jeſus! Liebe! 

Soli Christo gloria!* 


Kaum daß der Beiden Gloria verflungen, 
Bat ſich ein ungeheurer Unheilston 

Dem Taufendmäulerungethüm entrungen: 
Der ſchwoll vom £ibanon zum Antilibanon. 
Und: Die von Ehriftus eben noch oefungen, 
Warn aud bei ihm im Paradiefe fchon: 
Das wilde Chier hat heulend fie erfchlagen. 
Genaures wußte Niemand auszufagen. 


Serriffen lagen fie auf biutigem Steine: 
Ein Haufen unkenntlichen Sleifchs, zerfebt; 
Zwei lebende Körper einft: als Leiche eine, 
Wie auf dem Badebrett brutal zermeßt. 
Der Präfident vom Sittlichfeitvereine 
Beklagte es tief, dag das Geſetz verlett 
Durch Dolfeseigenmädhtigfeit geworden. 
"Er war prinzipiell für offizielles Morden. 


Die Menge felber, wie jie fidy geſpalten 

In Individuen: Feine Beftie nım, 

Hein, lauter Biederleute: ungehalten 

War fie nicht minder ob fo wüſtem Thun. 
Man rief entrüftet, dag die Gaſſen fchallten: 
„Wo blieb denn unfer Polizeitribun?* 

Dann lief mit rothen Köpfen man nad Haufe. 
Und fehr bewegt verlief die Dejperjanfe. 


Indeſſen ſenkte fi violenfarben 


„Die Dämmrung nieder auf die Stadt von Stein; 


Die Zufunft. 


Dann fam die Vacht mit ihren Sternengarben , 
Und Ind zur Ruhe und zur Wolluſt eim: 

Die bunten Lupanarlaternen warben 

Wie jede Yadıt zur Eiebe und zum Wein; 
Und mander ftarfe Geiſt, in Liebeshite, 
Derübte auf die toten Chriſtenſchweine Witze. 


So ıfi das £eben. Bis im Grab wir liegen, 
Beichreiten eine Erde wir aus Dred. 

Uur die Gedanken und Gefühle fliegen. 
Hermann Conradi proflamirte Ted: 

Nur wer das Leben überfinft, wird fiegen!” 
Doch, frag’ ich: Hat dies Siegen einen Swed? 
JR, recht befehn, die bintige Martyrfrone, 
Gleichviel um was, am Ende dod nicht ohne? 


Wie wird das Leben heute überfiunfen! 

So fiegreih, daß uns Uebelfeit erfaßt. 

Geſtank, Du ſiegſt! Die Welt ift januchetrunfen. 
Ihr Bott heißt Bauch, ihre Gottesdienſt heißt Maß. 
Geheimnißvoll bedienen uns die Sunfen 

Der Aetherkraft. Jedoch es ſcheint verpaßt 

Der Anſchluß an die höchſte Hochſpannleitung. 
Sogar Begeiſterung ſtinkt: ſtinkt nach der Zeitung. 


Genug davon! Mich als Savonarola 

Hier aufzufpielen, liegt mir völlig fern. 

Ich haffe ihn. Auch zieh ih Emil Hola 

Dem großen Srenfien doch noch vor. Die Herrn, 
Die zum Erbrechen auf der Pianola 

Choräle treten, ſchlecht und fubaltern, 

Beleidigen mein Gerudysorgan nicht minder 

Als jene Bauchlakain im Slanzcylinder. 


Sie preifen Chriftum hunderttaufendzeilig: 

Ihr Tintenfinger weift auf ihn verzüdt; 

Und weil fie quabblig weich wie Laich und langeweilig, 
Hat fie der deutfche Ernft mit Ruhmfalat geſchmückt. 
Erſchien ihr Herr und Heiland heute: eilig 

Erfärte dies Gefchleht ihn für verrüdt. 

Er aber nähme an den weißen Bäffchen 

Unfänftlich diefe Wonnemwinfeläffchen. 


Er war die Liebe. Ja. Doch nicht die Jane, 

Die fpülihtduldfam in den Pfaffenteog 

Jedweden Quark befördert: nicht die fchlane, 

Die bald als Szepter flug, bald fi wie Binfe bogt 


Der heillge Mime. 


"Die zornige £iebe war er, Schwert und Klaue 
Der Waffenlofen: furz: Bein Cheolog. 

Dod, weil er wirklich himmelgroß geweien, 
gäßt fi} aus feiner Lehre Alles Iefen 


Andy unfer liebes Chriftenthum. Wer immer 

Sid Chrift nennt, thuts mit Net. Es ruht auf ihm, 
Wie fönnt es anders fein, ein Fleiner Schimmer 

Ans Jefu Herzen. Döllig legitim 

Iſt diefer Titel. Wird er Herzensflimmer 

Zu Rauſch und Auffhwung, wie bei Gelaſim, 

So ift er mehr: iſt Geift von Chrifti Geifte, 

Und fei and Wahn dabei das Allermeifte. 


Wahn? Was ift Wahn! Was fo im Menfchen zündet, 
Daß er zur Slamme wird, die fich verzehrt, 

Sum Gluthfteom, der aus feliger Sreiheit mündet 

Ins AH, ins Nichts: von feiner Anaft befchwert, 

Durch That das Wort; Wo ift Dein Stachel, TodP verfündet, 
ft mehr als alle faule Wahrheit werth. 

Schwer ift das Sterben. Wers als Meifter leiftet: 

Den Tod zur Kunft madıt, Der ift gottdurchgeiftet. 


So ward ein Mime heilig, weil am Ende 

Don vieler Eitelfeit und Narretei 

Sein £eben er wie eine Opferfpende 

An Gott gab. Ganz egal, ob er der Rechte fei, 
“Ob ein Jdol gewefen. Seine Hände 

Wuſch Berr Pilatus, dem das Volksgeſchrei 
Wie aufgewirbelter Schmuß vorfam, und fragte, 
Worauf fein Bott, jedoch die Zeit bald Antwort fagte. 


Wahr ift, was wirft. Der große Baal war Wahrheit; 
Der große Zeus desgleihen: Jahwe aud: 

Und Chriftus, fommend aus der großen Klarheit, 

Daß Jene tot, hat mit der Liebe Hand, 

Der problematifhen, in Offenbarheit 

In Nichts vertrieben ihrer Opfer Rauch. 

Wahr ift der Geift, der wirfend fuveräne, 

Dogma ift Aas. Wer liebt Das? Die Hyäne. 


Gelafimus, den heiligen Mimen, haben 
Die Chriften Baalbeis noch in gleiher Nacht 
In Mariamna feierlich begraben. 
Auch Jene haben fie dorthin gebracht, 
Die ihn erfüllte mit des Ölanbens Gaben; 
Doch ihres Namens wurde nicht gedacht. 
39 


503 


Pafing. 


Die Zukunft. 


Dergefien ift fie: eine Xamenlofe. 
Denn Gelafim befaß die größere Pofe. 


So fließt denn leider diefe Novellette 

| Moralifch zwar, doch etwas angeedt: 

Selbft in Kegenden gehts wie beim Ballette 
Nicht nach Derdienft blos zu, nein, nach Effelt: 
Wer vorne tanzt, Der nur wird vom Parfette 
Beoperngudt und mit Applaus bededt. 

Ob Heiligen,, ob braune Kaffenfcheine: 

Die Bintergrundtalente kriegen Peine. 


Gleichviel: Jungfrauen mit der Gloriole 

Giebts ohnehin ſchon eine große Schaar, 

Indeß ein Mime mit der Tänzerfohle 

Als Heiliger ein großes Xlovum war; 

Die Kirdye brauchte ihn zum Seelenwohle 

Der Mimenfchaft, die, wäre fie heiligenbar, 

Am Ende in Derlegenheiten fäne, - 
Wen fie beim Berrgott fich zum Fürſprech nähme. 


Zwar fagt man, daf fie nicht fehr häufig beten, 
Die untenher das Licht der Rampe trifft, 

Daß fie, gottlofer faft noch als Poeten, 

Doll find von aller Sfeptizismen Gift. 

Das ift Derleumdung: fehlen die Moneten, 

Iſt man viel frömmer als im Damenftift 

Im Rei der Schminke. Und fie fehlen häufig: 
Drum ift den Mimen Beten fehr geläufig. 


Wenn fi der Monat neigt zum fahlen Ende, 
Hat Selafim unendlich viel zu thun. 
Am Anfang weniger. Dann läßt die Hände 
Gemäthlid er im heiligen Schoße ruhn 
Und überdenft die eigene Kegende: 
Es ift, wies war, war eheden, wie nun: 
Der Menſch hats mit dem Beten nicht fehr eilig, — 
Sch wurde felbft auch ultimo erft Heilig. 
Otto Julius Bierbanm. 


SEID 











Tantiemeberechnung. PIE) 


Tantiemeberechnung. 


DS: Altiengefellichaft ift fo fouverain, da fie ſich Geiegeberrecte anmaßt. 
| Sie ſchafft fih ein Gewohnheitrecht, daS mit ben Tobifizixten Beftimmungen 
nicht im Einklang ſteht. Man ſieht darüber hinweg, bis einmal die Nafe auf ir 
gendein Vorkommniß ftößt, da3 keinen ganz lieblichen Geruch ausfirömt. Dann 
wundert man ih, daß man Solches nicht ſchon Längft gerocdhen babe. Mit einem 
fo befchaffenen Riechorgan war ein Aktionär der Schlegelbrauerei in Bochum aus⸗ 
geftattet. Er erzählte in der Generalverfammlung, was er wahrgenommen habe, 
und opponirte gegen Die von der Verwaltung geübte Tantiemenberechnung. Da 
it nämlich bei der Tantieme des Wuffichtrathes eine zu auferorbenilichen Ab⸗ 
fchreibungen ausgeworfene Summe mit in den Gewinn einbezogen worben, nach 
dem die Vergütung des Kontrolorganes berechnet wurde. Der Aktionär vertrat 
die Anficht, daß fämmtliche Abſchreibungen und Nüdlagen tantiemefrei bleiben 
müßten; einerlei, 06 fie vom Roh⸗ oder vom Heingewinn abgezogen würben. Der 
Opponent mit dem feinen Riecher Hatte Necht; aber die Berfammlung ging zur 
Tagesordnung Aber und faßte einen ungefeglichen Beſchluß. Kein Menſch bat fich 
darum gekümmert, weil man an das fouveraine Recht der Aktiengeſellſchaft, über 
die Urt der Tantiemenberechnung zu beflimmen, glaubt. Was in Bochum geſchah, 
ift Schon Hundert» und taufendmal vorher gefcheben, ohne daß eine Stimme ſich 
Dagegen erhob. Aus Unwiffenheit und Bequemlichkeit ſchweigt man und läßt Be- 
fchlüffe zu, die dem Geſetz und ber Judikatur des höchften beutfchen Gerichtes 
wiberjprechen. Der bochumer Aktionär bat ben Finger auf eine Wunde gelegt, 
von deren Ausdehnung er fich wohl keinen Begriff machte. In Bochum hat ſichs 
ja nuc um die paar Taufend Mark gehandelt, die der Auffichtratd zu dem ihm 
Gebührenden noch befam. Da mögen Biele denken: „Einer folchen Bagatelle wegen 
Lärm zu Schlagen, lohnt ſich nicht." Das ift ja bas Schlimme: die Bagatellen über⸗ 
fieht man, und erfi wenn Kataſtrophen daraus geworben find, rührt man fich. 
Borfchriften Über die Berechnung der Tantieme kannte das alte Handels 
geſetzbuch nicht. Erft der neue Kodex bat fie geichaffen. Die Paragraphen 237 und 
245 handeln von ihnen. Die Beftimmung lautet: „Wird den Mitgliedern des Bor« 
ftandes ein Antheil am Jahresgewinn gewährt, fo tft der Antheil von bem nad 
Bornahme fämmtlicher Abichreibungen und Rüdlagen verbleibenden Reingewinn 
zu berechnen.“ Und beim Auffichtrath kommt noch Hinzu, baß auch „ein fir die 
Altonäre beftimmter Betrag don vier Prozent des eingezahlten Grundlapitals” 
vom Gewinn abzuziehen ift, bevor die Berechnung der Tantieme erfolgt. In bei- 
den Fällen find „jämmtliche Abichreibungen und Rüdlagen” von dem tantiene- 
pflihtigen Gewinnbetrag abzuziehen. Die Kommentatoren bes Handelsgeſetzbuches 
(Staub, Pinner, Malower, Stranz) und das Reichsgericht haben Feinen Zweifel 
darüber gelaffen, daß nicht nur die gejeglichen Abfchreibungen und Rüdlagen, fon« 
bern auch die freiwilligen Leiftungen dieſer Axt tantiemefrei zu bleiben haben. Tas 
gilt ſür alle Reſervefonds und Abſchreibungen. Tropdem bat die Berwaltung der 
Schlegelbrauerei in Bochum außerordentliche Abfchreibungen mit in die Tantiemen» 
berechnung eingezogen und die Beneralverfammlung hat durch ihren Beſchluß dieſes 
Berfahren fanktionirt. Hinzu kommt, daß in dem Statut ber Brauerei ausdıüd- 
lich gejagt ift, der Auffichtrath erhalte 10 Prozent vom Reingewinn nach „Bor« 
39* 


506 Die Zukunft. 


nahme jämmtliher Abjchreibungen und Rüdzahlungen*. Wäre in ben Sagungen 
borgejchrieben, daß außerorbeniliche Abſchreibungen nicht abzuziehen feien, fo märe 
felbft diefe ausdrückliche Einfchränkung ungiltig, weil fie bem Gefeg wideripräche. 
Aber von einer befonderen Abmachung Über außerordentliche Abjchreibungen ift 
da gar nicht die Rede. Das Geſez ift alfo einfach gröblich verlegt worden. 
Richt in dieſem einen Fall und nicht in ber Behandlung der Abfchreibungen 
allein. Viel mehr noch in der Urt, wie man mit dem fogeanuten Gewinnvortrag 
verfährt. Gehört der zu den Wildiagen und bat er dann tantiemefrei zu bleiben? 
Der Gewinnvortrag ift ein Theil bes Reingewimes, ber nicht mit vertheilt, fon» 
bern zurüdgelegt und im nächften Jahr verwendet wird. Er ift eine Reſerve, Die 
zur jeweiligen Aufrundung des Gewinnes dient. Bur Schaffung einer gewiſſen 
Gleihmäßigfeit der Dividenden. Man fagt fih: „Er ift nüglich, einen Theil des 
Gewinnes zurüdzubehalten, weil man nicht weiß, was das nächfte Jahr bringt.” 
Iſt das Erträgniß des fommenden Jahres niedriger, als ber biesmalige Gewinn 
war, jo kann man doc die felbe Dividende ausfchütten, wenn man eimen ordent⸗ 
lihen Gewinnvortrag zur Berfügung Hat. ebenfalls handelt es ſich bei dieſer 
Summe ftet8 um einen Betrag, der nicht gleich veribeilt wird, über deſſen Schid- 
jal vielmehr immer exft das Ergebniß bes nächſten Jahres beftimmt. Daran muß 
feftgehalten werden; benn bieje Eigenſchaft bes Gewinnvortrages verleiht ihm den 
Charakter der Rucklage, des Rejervefonds. Nun wenden Manche ein, gegen bie 
Bedeutung des VBortrages als einer Reſerve Ipreche die Thatſache, daß es befon- 
dere Dividendenergänzungfonds gebe. Aber dieſe Rücklagen find doch nur in ver 
einzelten Yällen zu finden, während der Gewinnvortrag eine allgemein übliche 
Einrichtung ift. Dividendenergängungfonds giebt es meift nur da, wo die Speziali« 
firung ber eigentlichen Referven in gejegliche und gefonderte Rüdlagen erſchöpft ift 
und der Wunjch, weitere Fonds zu fchaffen, neue Bezeichnungen aufgebracht hat. 
Der Ergänzungfonds fol einen eifernen Beſtand bilden, über befien Berwenbung 
nicht nach Ablauf jedes Geſchäſtsjahres befchloflen wird, fondern der für unvor⸗ 
bergejehene Fälle“ da if. Ueber den Gewinnvortrag aber wird eo ipso Jahr dor 
Jahr Beihluß gefaßt. Ex bat nicht das feierliche Ausfehen eines offiziellen Re 
jervefonds, ift aber darum doch eine Rüdlage im Sinn bes Gefepes. Wenn ein 
niedriger Neingewinn durch einen hohen Vortrag aus dem vergangenen Jahr er» 
gänzt und Dadurch die Möglichkeit geichaffen wird, die Dividende unverändert zu 
laffen, obwohl fie, nach dem gefchäftlichen Erträgniß bes Berichtäjahres, ermäßigt 
werden müßte, jo ift Das ein Borgang, der nur bem kritiſch blidenden Auge bes 
merldar wird. Wenn es dagegen heißt, zur Ergänzung bes auszufchüttenben Ge- 
winnes jet ein beftinımter „Refervefond8” herangezogen worden, fo fällt Das Je⸗ 
dem auf, der von ber Thatfache Kenntniß befommt. Deshalb vermeiden viele Ge⸗ 
jellihaften, Nüdlagen, die der Erhaltung der Dividende dienen follen, als „Res 
jerven” zu bezeichnen oder befondere Fonds dafür in die Bilanz einzufegen; fie 
erhöhen lieber den Gewinnvortrag und fihern ſich damit gegen die Einwirkung 
eines Konjunkturrüdganges auf die Dividende. Dft wird der Vortrag fpäter ja 
durch einen nachlommenden Berluft aufgezehrt. Dann ift fein Dafeinszwed mit ber 
duch ihn bewirften Verringerung der Unterbilanz erfült. Man würde zu hart 
urteilen, wenn man den geſchilderten Modus als eine beabfichtigte Täufchung ber 
Aktionäre verwürfe. Denen wird ja doch nicht verheimlicht, daß der Gewinnvortrag 











Tantiemeberechnung. 507 


des vorangegangenen Jahres mit in den zu vertheilenden Gewinn einbezogen wird‘ 
Und aus der Gewinns und Berluftrechnung tft erjichtlich, wie groß der Ertrag des 
Geihäftsiahres war. Daraus kann jeber Geſcheite fi ein Bild von der Mitwirkung 
bes vorgetragenen Gewinnzeftes an ber Dividende machen. Die Altiengefellichaft 
Friedrich Krupp in Eſſen (um nur ein Beiſpiel anzuführen) hat in biefem Jahr 
ihren Gewintvortrag von 100000 auf 11, Millionen Mark erhöht und die Zu- 
weilungen an bie offiziellen Reſervefonds um 3,80 Millionen ermäßigt. Die Divi- 
dende aber ging von 10 auf 8 Prozent zurüd. Nun find die Altien der Gejell- 
ſchait Krupp ja nicht im Handel; die Bilanz bes Unternehmens Hat alfo mehr 
internes Interefſe. Trotzdem werben bie Hiffern allgemein beachtet, weil es fich 
um die größte deutiche Induſtriefirma handelt. Welche Gründe werden aljo bie 
effener Berwaltung beftimmt haben, den Gewinnvortrag beträchtlich zu verſtärken 
und die Dotirung der Nejerven einzufchränten? Das Geſchäftsjahr 1907/08 ſchloß 
mit einem geringeren Ertrag ab als das vorige; die Dividende mußte um 2 Prozent 
ermäßigt werden. Noch läßt ſich nicht vorausſehen, wie das Jahr 1908/09 aus⸗ 
fallen wird. Wahrfcheinlich nicht beffer als das Berichtsjahr. Um die Dividende mit 
einem Präferbatid gegen weitere Anftedungen durch ſonjunkturkrankheiten zu ver⸗ 
jehen, ift jetzt ſchon ein anfehnlicher Betrag des diesjährigen Gewinnes auf neue 
Nechnung vorgetragen worden. Beinahe 1 Prozent des Aktienkapitals. Das ift 
fürs nächte Jahr. Und da die Auffüllung der Reſerven bei einem Unternehmen 
wie Krupp nicht allzu haflig betrieben zu werden braucht, fo bat man ihnen Dies» 
mal nur 2 Millionen (ftatt 5°/,. wie im Vorjahr) zugeführt. Jedem, alfo auch 
den paar Altionären der Yirma Krupp, ift das Hemd näher als ber Mod, bie Er⸗ 
haltung einer angemefjenen Rente bes inveftizten Kapitals wichtiger als ber deko⸗ 
rative Schmud des Ultienhaufes mit Studornamenten. Deshalb wäre es taktifch 
faljch geweien, für weitere Lonjunkturſchwankungen durch Stärkung der nominellen 
Refervefonds, ftatt durch Erhöhung des „greifbaren” Gewinnvortrages, vorzujorgen. 

Der Gewinnvortrag gehört aljo zu den Rüdlagen; ex ift weder eine ver- 
ſteckte Reſerve noch ein Mittel zur Täufchung arglofer Aktionäre. Unb da er eine 
Nüdlage ift, fo bat er, gemäß den Beftimmungen des Geſetzes, tantiemefrei zu 
bleiben. Das heißt: bei ber Berechnung der Tantieme für Vorftand und Aufſicht⸗ 
rath Darf der Theil des Gewinnes, ber auf neue Rechnung vorgetragen wird, nicht 
mit in den Ralkul einbezogen worden. Denn die Baragraphen 237 und 245 bes 
Handelsgefegbuches prechden von dem „nach Bornahme ſämmtlicher Abichreibungen 
und Rüdlagen verbleibenden Neingewinn.“ Wenn eine Gefellichait einen Rein⸗ 
gewinn von 100000 Mark erzielt bat, unter Burechnung eines Bortraged von 
10 000 Warf, und 15 000 Mark auf neue Rechnung vorträgt, fo ift die Tantieme 
nad) dem Betrag von 85000 Mark zu berechnen. So wills das Beleg. Der alte 
Bortrag ift, nach Ablauf bes Geſchäftsjahres, zum vertheilbaren Reingewinn hin⸗ 
zugelommen und Tann nun mit Tantieme belegt werden. Nur was nicht vertheilt 
wird, Hat tantiemefrei zu bleiben. Das ift logiich und gerecht. Was die Aktionäre 
nicht al8 Dividende erhalten, Das können Borftand und Auffichtrath doch gewiß 
nicht als Tantieme beanſpruchen. Bei anderer Auffafjung müßte auch ber Verluſt⸗ 
bortrag aus früheren Jahren bei der Berechnung der Tantieme unberüdjichtigt 
bleiben, während er den Altionären, denen er den Reingewinn fchmälert, unanges 
nehm fühlbar wird. Wenn ein Reingewinn bon 100 000 Mark da tft und ein