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Full text of "Drei Jahrhunderte russischer Geschichte. Ueberblick der russischen Geschichte seit der Thronbesteigung der Romanow bis heute (1598-1898)"

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Russlands Herrscher seit 1613. 
1. Romanow, 


E} 
IL Gottorp« 





t, Michail Pedorowäsch (168-1645. 2 Aloxol Michaflowätsch (1615-176). 
% Fedor I. Alexejowitsch (irs—ioxh. 4. Iwan V. Alexeiewitsch (1682-1689). 
3 Peter I. der (rose Alexejewitseh (1687-1725, % Katharina L Alexejewnu 
ITS-1T 7. Potor IL Alexejewitsel (1-70). R Anna 1 Jwanowna 
a0. % Iwan VL are ne) Wit: 10 Elisaberh Potrawmn 
fl 1762). 

Mi, Peter HL Hedorowitsch (ITGN; F2. Katharina II . 1% Pant L 
I fisch (17961801) 14 Alexunderl. Pawlowsitsch (1801-1825) 15. NikulausL Paw- 
1% Aloxanıter IK Nikolajmitnoh (RK —1N81). 17, Aleyandor IL 

bee (1551-2698). IR Nikolaus IL Alexandrwwitsch (seit 1898). 












DKM 
Kic} 


Inhalt. 


Vorwot 22200. 
I. Bis zu Peter dem Grossen 
II. Peter der Grosse . le 
II. Katharina I., Peter II. und Anna . 
IV. Ein Jahr mit zwei Regentschaften 
V. Die letzte Romanow. Sn 
VI. Der erste Gottorp 
VII. Katharina II. 
VIII. Paul. . 
IX. Alexander I.. 
X. Nikolaus I. 
XI. Alexander II. . 
XII. Alexander III. . 
XII. Nikolaus II. . 


Druckfehler. 


8. 14: Zar Alexei Michailowitsch starb 1676, nicht. 1671. 





nd — 


sämmtlicher Selbstherrscher seit Michail Fedorowitsch zu- 
sammengestellt. Endlich ist eine Karte des europäischen 
Russland und der kaukasisch-armenischen Landestheile 
beigegeben. die das allmälige Anwachsen des Reiches seit 
Peter dem Grossen bis in unsere Tage zeigt. von einer 
Karte des asiatischen Russland mussten wir Abstand 
nehmen. 

Von Kriegen ist in einer russischen Geschichte gar 
viel die Rede. mehr als von Frieden. Möge es nun von 
günstiger Bedeutung sein. dass mein Buch mit dem 
Friedensmanifeste aus St. Petersburg. der epochemachend- 
sten Weltfriedenserklärung aller Jahrhunderte. zusammen 
trifft! Ich sage mit Murawjew: man muss den sich 
überstürzenden und übertrumpfenden Rüstungen, die alle 
Nationen erdrücken und die der Wissenschaft Millionen 
entziehen. um sie dem Moloch der Zerstörung zu opfern. 





ein Ende in Frieden bereiten: in einer Neuordnung der 
Dinge werden dann die Staaten auf den Prineipien des 
Rechtes und der Billigkeit fester ruhen als auf Bayon- 
netten und Kanonen. Das walte Gott! Und Ihr Monar- 
ehen der ganzen Welt! lasset den Friedenskongress, wenn 
er zusammentritt. nicht verstreichen. ohne auch gegen die 
überhandnehmende Anarchie Vorkehrungen zu treffen; er- 
hebet das Schwert, das Gort Euch gegeben, gegen die 
Nihilisten und Anarchisten. treffet sie und gebet Euren 
Völkern äusseren und inneren Frieden! 


Lugano. 28. August 1898. 
Villa Ysenburg. 


Arthur Kleinschmiät, 















von wo nur einer wieder heimkehrte. Selbst unbe- 
‚mit Lesen und Schreiben, sorgte er bei seinem 
ne Fedor Borissowitsch für eine damals vorzügliche 

hung und liess, ein Freund der Kartographie, für 
die erste Reichskarte, den bolschoi tschertesh, ent- 
‚ von der nur Kommentare erhalten sind. Im Heere 
waren 2500 Fremde, Boris nahm die tüchtigen Leute. wo er 
‚sie fand, mochten es Russen oder Ausländer sein, begünstigte 
sehr Kaufleute und Industrielle aus Livland, England u. s. w., 
liebte den Umgang mit deutschen Aerzten, und im Aus- 
lande fand dies alles grosse Anerkennung, ein Königsberger 
‚Gelehrter verglich ihn mit Numa Pompilius, der Professor der 
Rechte Tobias Lontzius pries ihn in einem Briefe als Vater 
des Vaterlandes, Fürsten der Aufklärung und gottgesandten 
Reformator. Das russische Volk hingegen betrachtete die 
Neuerungen voll Unwillen und die Nationalen frugen den 
Patriarchen Hiob: „Warum schweigst Du, heiliger Vater, 
und siehst dem allem ruhig zu?“, der Olerus erachtete 
das Erlernen fremder Sprachen nicht nur für überflüssig, 
sondern selbst für verwirrend und der Reinheit des Glaubens 
gefährlich, man wollte von allem Fremden nichts hören. 
Die Kirche, der Adel, das Heer und das Volk hassten den 
westeuropäisch gesinnten Zaren. Da brach 1601 eine 
grauenhafte Hungersnoth aus, welche bis 1604 währte und 
100000 Opfer kostete; während die Regierung Sorge trug, 
dass die fremden Gesandten nichts davon erfahren sollten, 
und während sie ihnen Ueberfluss an Lebensmitteln zur 
Schau stellte, stieg die Wuth gegen Boris. Da gab sich 
Grischka Ötrepjew*), ein entlaufener Mönch, für den von 
Boris 1591 ermordeten Zarewitsch Dmitri, den Stiefbruder 
des Zaren Fedor I., aus, fand rasch Glauben und Anhang, 
und Boris starb plötzlich am 13. April 1605. Seine Wittwe, 
Maria Grigorjewna Skuratow, und sein Sohn, Fedor Il. Bo- 
rissowitsch, wurden alsbald ermordet, seine engelschöne 
Tochter Xenia, die er vortrefflich hatte heranbilden lassen 
und nach Dänemark verheirathen wollte, musste die Coneu- 
bine Otrepjews werden. Dieser aber wurde als Zar Dmitrii 


*) Noch heute halten ihn Blanche für den echten Dmitri. 











ıs Schlepptau Polens zu bringen. Als Wassili die 
Leibeigenen bessern wollte, verhinderten es die 
; sie und das Volk waren ihm abhold; Polen 


es kam zum Aufstande, Wassilii hatte alle 
eingebüsst, das Volk und die Gebrüder Lja- 
W ‚aus Ruriks Blut zwangen ihn, am 17. Juli 1610 
 abzudanken*); obwohl die Bojaren und der Patriarch oppo- 
‚nirten, blieb es dabei und die Bojaren übernahmen die Re- 
‚gierung, da die Führer der Erhebung sich nicht damit be- 
fassen wollten. Die nun folgende Zeit, das Meshdu-zarstwo, 
war voll Wirren, vier Parteien stritten um die Herrschaft, 
eine duvon unter dem Fürsten Gnlitzin erkor sogar den 
en Thronfolger Wladislaw zum Zaren und lieferte 

Moskau aus. Eine nationale Erhebung aber liess 
nicht auf sich warten; trotz seiner achtzig Jahre rief der 
Patriarch Hermogenes zam Kampfe für Kirche und Un- 
abhängigkeit auf, die Mönche des hochheiligen Troitza- 
Klosters vertheidigten es unerschroeken sechzehn Monate 
gegen ein Heer von 30. 000 Polen. der patriotische Fleischer 
von Nishnii-Nowgorod, Kosma Minin, sammelte ein Heer, 
an dessen Spitze ein Rurikide, Fürst D. M. Posharski, 
ein ausgesprochener Gegner fremder Einflüsse, trat und 
in dem nur Russen Dienst fanden; dies Heer rückte auf 
Moskau los, im Oktober 1612 wurden die Polen dort in 
blutigem Kampfe zum Abzuge gezwungen — Mittelruss- 
land war zwar frei, aber eine Wüste. 

Man stritt nun lange, wer Zar werden solle, und 
einigte sich endlich am 21. Februar 1613 auf den jungen 
Sohn Philarets, Michail Fedorowitsch Romanow (ge- 
boren 1596). Sein Vater, der Bojar Fedor Nikititsch 
Romanow, ein Neffe Iwans IV. des Schrecklichen, war 
1601 unter dem Namen Philaret Mönch, dann Metropolit, 
seine Mutter Xenia Schestow unter dem Namen Marfa 
Nonne geworden, seit 1610 befand sich Philaret in polnischer 


*) Er starb in Polens Gewahrsam auf Schloss Gostin bei Warschau 
am 22. September 1612, seit 17. Januar 1608 vermählt mit Marla Pe- 
trowna, Fürstin Buinossow-Rostowaki, die nach seinem Sturze Nonne 
in Seusdal wurde. 


NER N 


I. Bis zu Peter dem Grossen. 


den Zaren bevormundenden Bojurenrathes: bis zum 
(1684) hatte „der Richelieu Russlands“ den be- 
‚enden Einfluss in allen Geschäften; umsonst aber 
e er dem Sohne die Hand einer dänischen Prinzessin 
chaffen. Nach der Anlegung genauer Schreiberei- 
bücher, eines Katasters, wurde zwar ein Abgabensystem 
eingerichtet, doch liessen sich die Beamten bestechen und 
‚die härtesten Steuern lasteten auf den zur Bestechung 
unfähigen Armen; den verachteten Gesetzen musste wieder 
Geltung verschafft werden; die bisher von Gut zu Gut 
ziehenden Bauern büssten die Freizügigkeit ein und wurden 
vom Zaren den Gutsherren zugetheilt, glebae adseripti. 
Besondere Aufmerksamkeit wandten Zar und Patriarch 
dem Heerwesen zu; sie liessen in Schweden, damals der 
ersten Kriegsmacht, in Dänemark, Holland und den Hanse- 
städten Offiziere und Gemeine anwerben, Kriegsbedarf 
beschaffen und allerhand Geschäftsleute miethen, hüteten 
sich aber vor der Berührung mit katholischen Landen, um 
nicht den Papiemus nach Russland einzuschleppen, wo 
Papst und Polen gleich verhasst war, und verboten 
Reisen ins Ausland. Ueber die Strelitzen, die umgemodelt 
wurden, setzten sie verdiente Soldaten, nicht hohe Adelige, 
entfremdeten somit Heer und Adel einander und alle 
Strelitzen mussten heirathen, um Krieger zu erzeugen, 
ihre Söhne durften nur Strelitzen werden, Unter der 
Leitung von Engländern, Holländern und Deutschen 
entstanden Kupfer- und Erzgruben, Glashütten, Pulver- 
mühlen und Fabriken, aus Goslar kamen Kupferschmelzer, 
aus Nürnberg Giesser, welche die Anstelligkeit der Russen 
zu loben alle Ursache fanden, und drei Jahre lang arbei- 
teten Deutsche und Russen unter des Nürnbergers Jesains 
Zinkgräff Leitung an einem auf 25000 Thaler geschätzten 
Throne für Michail. Ein österreichischer Mönch legte bei 
Astrachan den ersten Weinberg an und bald hörte man von 
viel Weinbau. In Sibirien entstanden viele Städte, Holländer 
führten in verschiedenen Gegenden des Reichs solide 
Stadtmauern auf. Die Postbehörde (jumskoi prikas) trat 
ins Leben und es wurde bestimmt, wieviel Pferde jeder 
Beamte unterwegs auf Dienstreisen beanspruchen dürfe; 













uerobern, und belagerte Ssmolensk nach dem Muster 
is bei Breda, aber König Wladislaw IV., Michails 
onrival, eilte herbei, hetzte zugleich die Ta- 
r Krim Russland auf den Leib und zwang das 
Heer zur Kapitulation vom 14. Februar 1634, 
‚den Kopf kostete; da Moskau abermals be- 
musste Michail am 5. Juni 1634 zu Paljanowka 
‚auf der Basis von Dewulina (s. oben) Frieden schliessen 
und Polens Grenze war keine 300 Kilometer von Moskau 
entfernt. Michail hatte nun am Kriege genug und um- 
sonst schrieb ihm Gustav Adolph von der Gefahr, welche 
"Westeuropa und den protestantischen Mächten Seitens des 
Kaisers und des Katholieismus drohe; ohne Begriff von 
der Tragweite dieses Weltkampfs zwischen zwei in seinen 
Augen ketzerischen Religionen blieb er bei Seite. Als 
die donischen Kasaken ihm 1642 die von ihnen eroberte 
Türkenfestung Asow zum Geschenk anboten, schlug er sie 
aus, um keinen Krieg mit der Pforte zu bekommen, be- 
fall ihnen die Räumung und beliess so die Donmündung 
in türkischem Besitze. Ohne Philaret schwach und unbe- 
deutend, milde, uber ein roi faindant, starb Michail, der 
erste Romanow-Zar, am 28. Juni 1645*). Obschon keine 
Erbfolgeordnung vorlag, folgte ihm wie selbstverständlich 
sein einzig überlebender Sohn zweiter Ehe, der sechzehn- 
jährige Alexei Michailowitsch (geboren 1629). 

"Weich und unselbstständig, von keinem Philaret be- 
rathen, der strengste Beobachter religiöser Vorschriften, 
stand Alexei wohl fünf bis sechs Stunden bei dem Gottes- 
dienste, liebte aber das Vergnügen mehr als das Regieren 
und überliess letzteres seinem vertrauten Erzieher, dem 
von Ehrgeiz und Habsucht besessenen und dabei beschränk- 
ten Boris Iwanowitsch Morosow. Der Günstling hielt die 
Grossen und selbst die Verwandten von ihm fern, verheira- 
thete ilın 1648 mit der Tochter eines armen Adligen, Maria 
‚Jljinischna Milosslawski, und nahm selbst deren Schwester; 


*) Gemahlinnen: I) 1624 Maria Wladimirowna, Fürstin Dolgoruki, 
starb 17, Januar 162%; 2) 1626 Jewdokia Lukianowna Streschnew, 
starb 28. September 1645, 
























n, die Ukase der Grossfürsten von Moskau, Gut- 
und Urtheilssprüche der Bojaren und jene älteren 
bücher. Schon 1649 war das Gesetzbuch, die 
je*, fertig, wurde am 3. Oktober einer aus Geist- 
Adeligen und Bürgerlichen bestehenden Landes- 
vorgelesen, ‚von Allen ohne Berathung unter- 
schrieben und blieb, so unvollkommen es war, die einzige 
Entscheidungsquelle, die Basis des russischen Rechts. 
Alexei errichtete, um seine absolute Macht zu verstärken, 
„die Kammer der geheimen Angelegenheiten“, nur aus 
Personen bestehend, eine Art Geheim- 
polizei und ein Präservativ gegen Revolten. 

In der diplomatischen Welt machte es ein gewisses 
Aufsehen, als „der Grossfürst von Moskau“ 1648 als 
Allürter Schwedens in den westphälischen Frieden ein- 
geschlossen wurde, der letzte ins europäische Concert 
Eintretende. Alexei wollte Russland Schweden und Polen 
gegenüber zur Geltung bringen und mit Polen um Klein- 
russland kämpfen; darum unterstützte er die Saporoger 
Kasaken unter ihrem Hetman Chmelnicki gegen Polen, 
gab ihnen 1652 die Rechte der ukrainischen Kasaken, 
gestattete ihnen Ansiedelungen, aus denen z. B. Oharkow 
entstand, versprach ihnen offiziell Schutz und nahm 1654 
in Perejaslawl unter Bestätigung ihrer Privilegien ihren 
Eid der Treue entgegen; seitdem nannte er sich „Herr 
von Kleinrussland“, doch musste er dies Land erst mit 
dem Schwerte erkämpfen. Darum erhöhte er Russlands 
Wehrkraft im Anschluss an Westeuropa. warb englische, 
schottische und andere Offiziere, Techniker u. dergl. an, 
vermehrte die verschiedenen Waflengattungen trotz der 
Wuth der Strelitzen auf die fremden „Soldaten“, und 1649 
erschien in russischer Uebersetzung Leonhard Fronspergers 
Werk über den Infanteriedienst, Er brachte fünf neue 
Regimenter auf die Beine, die aber in Polen und vor 
Ssmolensk wenig genug leisten sollten, besser bewährten 
sich die fremden Oorporale in der Unterweisung. Da 
brach 1654 in Moskau und auf dem Flachlande eine Pest 
aus, die stellenweise 85—90 % hinraffte, aber wiederum 


Bi 















r " wirthschaftliches Leben, eine wesentlich 
ing. Wenig Jahrzehnte nach Guttenbergs Er- 
x druckte man 1491, zumal in Krakau, Bücher mit 
4 en Lettern, 1517 wurde in Prag die erste russische 
‚gedruckt und bei dem nach Wilna übersiedelnden 
Drucker ‚ging Peter Matislawetz, der erste russische Buch- 
drucker, in die Schule; während erst 1564 die erste 
Druckerei in Moskau entstand, druckten die polnischen 
und kleinrussischen Gebiete lange Zeit viel mehr als die 
grossrussischen, die fast nur geistliche Bücher druckten, 
und im Schulwesen war ebenfalls der slawische Westen 
Moskowien weit voraus: Kleinrussland wurde zur Sehule 
Grossrusslands, doch blieb bei der grossen Verschieden- 
heit beider Länder ein Gegensatz bestehen, Kleinrussland 
behielt Sonderrechte und eine eigene politische Existenz, 
die Vereinigung war bis in die Tage Katharinas II. nur 
eine Art Personalunion. Die widerspänstigen Don-Kasaken 
unter Stenka Rasin mussten in furchtbarem Kampfe be- 
siegt, Rasin 1671 hingerichtet werden, doch führte diese 
Episode Reibungen mit der Pforte herbei, die sich in 
Kleinrussland einmischen wollte; 1672 eroberten die Türken 
Kamjeniee und einen Theil Podoliens und 1674 raffte sich 
Alexei zum Kriege auf, dessen Preis die Festung Tschi- 
girin bildete, doch starb er vor Beendigung des Krieges. 
Sehr wichtig war unter Alexei die Kirchenreform; hier- 
bei war der leitende Kopf und sein erster Helfer der 
Patriarch Nikon, ein Bauernsohn voll Energie, ein 
administratives Talent und Alexei geistig weit über- 
legen, aber hoffürtig hielt er die Anmassung der Kirche 
dem Selbstgefühl des Staates entgegen, so dass der 
Kampf der zwei Schwerter entbrennen musste und 
sich die Unhaltbarkeit einer Zweiherrschaft ergab. 
Nikon veranstaltete eine Revision der heiligen Schriften, 
um irrige Neuerungen seiner Vorgänger abzuschaffen, und 
setzte die Berichtigung der altslawonischen Bibelüber- 
setzung und Liturgie nach dem ursprünglich griechischen 
Texte ins Werk. Bald entstand ein Schisma, die Geist- 
lichen widersetzten sich dem Reformator, der ihr Nivenu 


m 















1. Bis zu Peter dem Grossen. 


s wieder verloren und «0 konnte 1728 der Jüt- 
Bering nochmals die „Beringsstrasse“ auffinden. 
ste russische Kanzler, Ordin-Naschtschokin, hatte 
wie sein Gebieter ein offenes Auge und trat für den Fort- 
‚schritt ein, desgleichen Alexeis Günstling, der Bojar Mat- 
wejew, ein grosser Anhänger des Westens (Sapadnik). 
unbekümmert um den Hass der Altrussen. 1669 starb 
die Zerin Maria, die dem Gemahle zehn Kinder geschenkt 
hatte, und er heirathete 1671 Natalie Kirillowna Narischkin, 
die ihm neben zwei Töchtern Peter den Grossen gebar; 
als er aın 29. Januar 1671 starb, folgte ihm ohne Kapi- 
tulation sein Sohn Fedor IL. Alexejewitsch. 

Ein milder, segensreicher Herrscher setzte Pedor den 
ererbten Türkenkrieg fort, bis er im Januar 1681 im Frieden 
von Baktschisarai Kiew und dessen Gebiet rechts des 
Dnjepr behielt, die Pforte allen Ansprüchen an die west- 
liche Ukraine entsagte, das Land der Saporoger Kasaken 
unter Russlands Oberhoheit blieb und beide Contrahenten 
sich verpflichteten, zwischen Dnjepr und Dnjestr keine 
Festungen unzulegen. Simesn Polozki, sein kleinrussi- 
scher Erzieher, hatte Pedor III. eine gute Schulung ge- 
geben, Fedor konnte polnisch und lateinisch und machte 
sogar Verse, Polozki schrieb geistliche Dramen, die da- 
mals Staunen erregten, heute freilich ungeniessbar sind, 
übersetzte weltliche Bücher ins Russische, leitete seit 
1670 die neue Hofbuchdruckerei, übte viel Einfluss auf 
die Anfänge der russischen Literatur und machte den 
Entwurf zu der 1682 in Moskau gegründeten slawonisch- 
griechisch-lateinischen Akademie; als er starb, liess ihm 
sein dankbarer Schüler eine Grabschrift in Keimen setzen. 
Fedor förderte die durch kleinrussische Gelehrte vertretene 
Bildung und das Schulwesen trotz der Anfeindung des 
grossrussischen Clerus, und kaum hatte er sich 1680 mit 
der Polin Agafja Ssemenowna Gruschezka verheirathet, als 
er mit der Einführung polnischer Sitten und Trachten bei 
Hof, mit der Anlegung von Schulen nach polnischem 
Muster begann, ja sogar religiöse Gebräuche umänderte. 
Die Furcht der „Nationalen“ vor einer neuen Polonisirung 
Russlands war masslos, ging aber vorüber, als Agafja 


Bi 


Su ESRR ERBE 


II. Peter der Grosse. 


ie Regentin Sophia Alexejewna war eine staatskluge 

Frau, eine Intriguantin, welche ihre Mitregentin Na- 
talie Kirillowna, Peters Mutter, rasch verdrängte: sie 
wurde die eigentliche Herrscherin und nannte sich seit 
1684 unverblümt „Selbstherrscherin“ von ganz Russland: 
sie plante sogar Peters Erınordung, wollte den Thron be- 
steigen und ihren Geliebten, den „grossen Galitzin“, hei- 
rathen. Für Russland war es eine traurige Fügung. dass 
seine beiden grössten Reformer sich als Todfeinde be- 
kämpfen mussten. anstatt zusaınmen wirken zu können. 
Fürst Wassilii Wassiljewitsch Galitzin, Sophias 
Grosskanzler und Generalissimus, war ein ausgesprochener 
sapadnik, ein Freund und Förderer westeuropäischer 
Bildung, ein selten unterrichteter Mann: er gestattete den 
Protestanten den Bau steinerner Kirchen in der Vorstadt 
(sloboda) von Moskau, in der er lange vor Peter als Gast 
aus- und einging. bot den aus Frankreich vertriebenen 
Hugenotten in Russland Asyl, kümmerte sich nicht um 
die Proteste fanatischer Pfaffen und stiess bornirte Alt- 
russen oft genug zurück. begünstigte hingegen die besser 
gebildeten kleinrussischen Geistlichen und Gelehrten; er liess 
Gelehrte und Bücher aus Griechenland kommen, hatte in 
seinem prachtvollen Hause eine Bibliothek und wissen- 
schaftliche Instrumente, und seine feinen Formen entzückten 
die fremden Diplomaten. mit denen er fliessend Latein 
sprach. Im Besitze ungeheurer Machtvollkommenheit, 
fand er sich anfangs durch die Intriguen des Strelitzen- 
obersten, des Fürsten Chowanski, gehemmt. der mit Hilfe 





mm m m 


18 II. Peter der Grosse. 

Frühreife. mit elf Jahren körperlich wie geistig wie ein 
Achtzehnjähriger. und Sophia schaute mit wachsendem Arg- 
wohn auf seine Soldatenspiele. Sie reizte die Strelitzen. 
über die ihr Liebhaber Schaklowitoi befehligte. zur Em- 
pörung und zur Ermordung Peters auf. er aber wurde 
zeitig gewarnt und entfloh mit seiner ihm im Januar 1689 
angetrauten Gemahlin Jewdokin Fedorowna Lopuchin und 
nur fünf Leuten in der Nacht zum 18. August 1689 
von Preobrashensk in das Troitzkische Kloster, das in 
besonderer Verehrung stand: ihm folgten die Mutter und 
die Poteschnije. Er rief die von fremden Offizieren be- 
fehligten regulären Regimenter herbei, fast alle kamen 
und wurden beschenkt. ein grosser Theil des Adels und 
das Strelitzenregiment Sucharew kamen auch, dax Kloster 
wurde in Vertheidigungszustand gesetzt und Sophia nebst 
Schaklowitei für Hochverräther erklärt. Galitzin kam nicht. 
Als Sophia sah, wie sich die Dinge zu ihren Ungunsten 
gestalteten. wollte sie einleiten, Galitzin machte sich auf 
den Weg. Peter aber stiess Beide zurück und fand 
volle Billigung seiner Schritte durch den von ihm benach- 
richtigten Mitzaren Iwan. Die Führer der Rebellion 
wurden verhaftet, Sophia selbst gab Schaklowitoi preis 
und die Schuldigen gestanden unter der Knute; Schaklo- 
witoi wurde hingerichtet. mehrere stark Gravirte hatten 
dasselbe Loos oder wurden nach Sibirien verwiesen. Sophia 
verlor die Regentschaft und kam in das Nowo-Dewitschii- 
Kloster unter strenge Aufsicht der Poteschnije. Dem 
grosssen Galitzin rettete sein bei Peter in Gunst stehender 
Vetter, Fürst Boris A. Gaalitzin. mit Mühe das Leben, er und 
sein Sohn büssten alle Aemter und Habe ein und wurden 
nach dem hohen Norden verbannt. wo der grosse Staats- 
mann erst am 2. Mai 1714 im Bezirke von Pinega starb.*) 
Peter hielt mit Mutter und Gattin am 9. September 1689 einen 
'Triumphzug in Moskau und wur seitdem Alleinherrscher, 
wenn auch Iwan nominell bis zu seinem am 29. Januar 1696 
eintretenden Tode Mitzur blieb und in allen Erlassen 
Iwans Name dem Peters voranging. An Stelle Galitzins 





*) Kleinschmidt, Der grosse Galitzin, in „Westermanns 
Monatsheften“, September 1897. 


x II. Peter der Grosse. 





der Zeit rollte über die Verfechter des Veralteten hin, 
es gab kein Zurück! mehr. und Peter war wohl der ge- 
lehrigste Schüler des Neuen. überall und an allem lernend 
und alles verwerthend. Er war von Naturell roh, seine 
Reformen waren roh. roh war auch das Material, mit dem 
er zu rechnen hatte: er liess seine Russen in ehernem 
Griffe die eherne Faust spüren, scheute kein noch so 
despotisches Mittel. reformirte mit Knute und Beil, griff 
an manches dem Volke Heilige und bekämpfte, unbeirrt 
von den Abmahnungen seiner eigenen Familie, den Geist 
der Abschliessung auf Tod und Leben: er warf das plunder- 
hafte Ceremoniell, die abgöttische Verehrung und Isolirung 
des Thrones von sich, wollte arbeiten, aber auch sein Leben 
geniessen und sich selbst nicht einsperren. Als inkarnirter 
Autokrat riss er Russland nach Westeuropa, setzte Russ- 
land an die Stelle von Moskowien, den russischen Kaiser 
an die Stelle des Moskauer Zaren. Von Wichtigkeit für 
die Civilisirung war die Sloboda Moskaus, in der wir dem 
grossen Galitzin begegneten und in der sich Peter gern 
mit seinen Günstlingen aus der Fremde, dem Genfer 
Lefort und dem Schotten Gordon, tummelte: aus ihr fand 
er nachher den direkten Weg nach seinem Paradiese 
St. Petersburg. Von Lefort und Gordon berathen, re- 
organisirte Peter das ganze Heerwesen: was wollte das bis- 
herige Heer gegen eine Militärmacht wie Schweden bedeuten! 
jetzt erst entstand eine wahre Armee. Im Jahre 1698 hatte 
das Preobrashenskische Regiment vier und das Sseme- 
nowskische drei Bataillone, von denen jedes in vier Füsilier- 
kompagnien zerfiel, ausserdem hatten beide Regimenter je 
eine Grenadierkompagnie und das Preobrashenskische noch 
eine Bombardierkompagnie. Beide Regimenter rekrutirten 
sich vorwiegend aus dem Adel, zählten auch viele Fremde und 
dienten als Pflanzschule für Armeeoffiziere: man diente in 
ihnen als Gemeiner, um in der Armee Offizier zu werden. und 
wer in ihnen Offizier ward, war zwei Grade den Armee- 
offizieren voraus (Kaiserliche Verfügung vom Februar 1722). 
Als 1696 eine Strelitzenverschwörung, der Sophia nahe stand. 
ausbrach, unterdrückte sie Peter mit barbarischer Härte 
und vertheilte die Strelitzen an Russlands Grenzen. 





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Meer, doch liess sich sein Plan, aus dem Hafen einen 
‚grossen Handelsplatz zu machen, nicht ausführen. Asow 
sollte die Basis für weitere Operationen gegen die Pforte 
werden, es wurde zur russischen Stadt, wie seine Moscheen 
zu russischen Kirchen wurden. Peter dachte an eine 
Flotte auf dem Schwarzen Meere, das ihm als Verkehrs- 
strasse nach Westeuropa dienen sollte; 1699 fuhr ein 
russischer Gesandter auf russischem Kriegsschiffe nach 
Konstantinopel, bis zur Meerenge von Kertsch yon einer 
Esendre begleitet, und die unerhörte Kühnheit erweckte 
im Serail, vor dem das Schiff unter Abgabe von Salven 
Anker warf, grosse Bestürzung:; das Schwarze Meer blieb 
zwar noch ein Jahrhundert von russischen Schiffen frei, 
doch die einmal angeregte Orientfrage wurde mit der Zeit 
ein Mittel zu grossen Eroberungen und zu intimerer An- 
näherung an Westeuropa. 

Unbekümmert um seine Altrussen und ihre Abneigung, 
hegte der Zar längst den Wunsch, Europa mit eigenen 
Augen zu schen, was noch keiner seiner Vorgänger 
gethan hatte, und bestimmte für die Zeit seiner Abwesen- 
heit eine Verwesung unter dem Fürsten Romodanowski. 
Nachdem er eine von Sophia geschützte Strelitzenverschwö- 
rung 1697 unterdrückt hatte, reiste er im März 1697 mit 
270 Mann ab, nicht als Zar, sondern als „Oberkomman- 
deur Peter Michailow“. als Begleiter der glanzvollen 
Gesandtschaft, an deren Spitze Lefort stand und bei der 
viele Preobrashenzen und Ssemenowzen waren. Die bis- 
herigen russischen Gesandtschaften hatten in Europa einen 
höchst ungünstigen Eindruck hinterlassen, man nannte die 
Gesandten „Halbthiere*,. diesmal war es anders, die Er- 
lebnisse der Gesandtschaft von 1697 wirkten phänomenal 
auf Peters Entwickelung und die Reise selbst gab den 
Anstoss zu den bald so häufig werdenden Reisen von 
Russen zu touristischen oder zu gelehrten Zwecken. Sie 
ging durch Liv- und Kurland nach Brandenburg, wo zwar 
der kurzsichtige und gezierte Friedrich III. an dem unge- 
hobelten Peter Anstoss nahm, sich aber doch zum Abschlusse 
eines geheimen Defensivbündnisses gegen Schweden ver- 
stand, während die Kurfürstinnen von Brandenburg und 


_ 


II. Peter der Grosse. 








Andere die ihm gewordene Creirung zum Oxforder Ehren- 
Be Hauptsächlich interessirten ihn technische Rin- 
gen und Fertigkeiten und das Seewesen. Auf die 
ıgländer machte er freilich den Eindruck eines Sonderlings. 
engagirte er aus Holland und England, dann 

aus Italien Künstler, Gelehrte, Ingenieure, Schiffsleute, 
Handwerker u. A. Adam Weide, Major im Preobrashenski- 
schen Regimente, wurde nach Wien geschiekt, um als 
„Militüragent“ alle Neuerungen im österreichischen Heere 
kennen zu lernen und die Militärstatuten zu studiren; ihm 
folgte Peter selbst, über Sachsen reisend, aber auch Leo- 
pold L. liess sich nicht zum Türkenkriege bewegen. Peter 
wollte nun noch Italien bereisen, da kam die Nachricht, 
die Strelitzen hätten eine Verschwörung gewagt, um- 
fassender und gefährlicher als alle früheren. Peter musste 
nach Hause, unterwegs berieth er noch mit August dem 
Starken, Polens neuem Könige, wegen des Kriegs gegen 
Karl XI, und im September 1698 traf er in Moskau ein, 
um das Schwert der Rache zu schwingen. Gordon hatte 
die Rebellion bereits gebändigt, die Preobrashenzen und 
Ssemenowzen hatten ihm so gute Hilfe geleistet, dass Peter 
sie reich belohnte und sie zur Leibgarde erhob. Peter 
hielt ein schreckliches Blutgericht, hieb selbst manchem 
Strelitzen den Kopf ab und ohrfeigte Menschikow, der 
sich zum Henker schlecht anstellte. Sophia war wieder 
‚der Mitschuld verdächtig, darum liess Peter vor ihrem 
Kloster 130 Schuldige aufhängen, viele Hunderte wurden 
gehrandmarkt und nach Sibirien geschickt, Etwa 1700 
Rebellen endeten unter dem Beile. Der Zar behandelte 
Sophia und ihre ältere Schwester Marfa in rohester Weise. 
Sophia musste im Moskauer Jungfrauenkloster den Schleier 
nehmen und starb 1704 als „Nonne Susanna“, Marfa wurde als 
„Nonne Margarethe* ins Kloster zu Alexandrowo geschickt, 
in dem sie 1707 starb, Lefort hatte Peter mit Mühe abge- 
halten, seine Stiefschwestern und seine ihm längst verhasste 
Gemahlin, die starrrussische Jewdokia, zu tödten. Der 
Zar erklärte Jewdokia für am Aufstand mitschuldig, 
entzog ihr den Sohn Alexei Petrowitsch und verstiess 
sie am 1. Oktober ins Pokrowsche Kloster zu Ssusdal, wo 


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a: IE! Paten der’Grönsd: j 






E. II. Peter der Grosse. 


lichkeit erhielt weitgehenden Einfluss, zu Peters besten 
Mitarbeitern zählten die Kirchenfürsten Dmitrii von Rostow, 
Stephan Jaworski und besonders Feofan Prokopowitsch 
von Pskow: ursprünglich Katholik und Jesuitenschüler, 
seit 1716 in St. Petersburg lebend, dankte Prokopowitsch 
seine Kenntnisse dem Studium protestantischer Theologie, 
den Schriften Paul Gerhards und las mit Vorliebe die 
Werke Descartes‘, Bacons und Buddeus': er entsetzte sich 
über die Trägheit und Unwissenheit des grossrussischen 
Clerus, förderte, Peter unentbehrlich, dessen geistliche wie 
weltliche Pläne und wurde die Seele der Synode. 

Da für Russland der Besitz einer Seeküste im Westen 
von hoher Wichtigkeit war. so führte Peter, vereint mit 
Polen und Dänemark. gegen Schweden einen Krieg, 
der 21 Jahre dauerte; sein grösster General war Graf 
Boris Petrowitsch Scheremetew (j 1719), sein grösster 
Sieg der bei Poltawa, der Ehrentag seiner Garde- 
regimenter, und im Nystädter Frieden erwarb Peter im 
September 1721 Livland. Esthland, Ingermanland, Karelien, 
Wiborg und Kexholm; Schweden sank zur Macht zweiten 
Ranges herab: Peter, nun Herr der Ostsee, dachte mehr als 
je an Polens Theilung. Die Balten übten bald bemerk- 
baren Einfluss aus und sollten ihn lange Zeit behaupten: 
damals galten die Ostseelande für ein Vorbild und waren 
Russland weit voraus, ihre Städte hatten einen ge- 
sunden unabhängigen Mittelstand und kräftige Gilden. Die 
Gründung $t. Petersburgs im Jahre 1703 war Peters Meister- 
stück, an dem er mit fieberhafter Rührigkeit arbeitete, es 
war der Brückenkopf zum Verkehre mit Westeuropa, eine 
durchaus weltliche kosmopolitische Stadt, nicht wie Moskau 
kirchlich und national, in und um St. Petersburg breiteten 
sich Gärten aus, es wurde Peters „Paradies“ und hatte 
gepflasterte Strassen. Die Grossen mussten sich in 
St. Petersburg anbauen. der Senat wurde dahin verlegt, 1714 
auch die Residenz und 1724 die Akademie: rasch wuchs 
die Stadt empor, wurde das Centrum des russischen Handels 
und aus ihrem Samen schossen Odessa und andere Plätze 
auf. Während des nordischen Krieges hatte Schweden 
die Türken in Peters Rücken gehetzt, nur durch Ka- 


82 II. Peter der Grosse. 

saken endeten mit blutiger Ahndung. der Generalfeld- 
marschall Graf Scheremetew unterdrückte 1706 mit eiserner 
Strenge die Rebellion der Kasaken und der letzten Stre- 
litzen, Fürst W. W. Dolgoruki 1707—1708 die der Ka- 
saken: am gefährlichsten war die Erhebung der Don- 
Kusaken unter ihrem treulosen, in Sage, Dichtung und 
Malerei unverdient verherrlichten IHetman Mazeppa. der 
seinen Wohlthäter Peter im November 1708 verrieth und 
gemeine Sache mit Karl XTI. machte. von Menschikow 
jedoch völlig besiegt wurde und sich im Oktober 1709 
vergiftete. 

Peter sehnte sich lange schon nach einer zweiten 
Reise in die Ferne, diesmal wollte er die Welt zugleich 
seiner geliebten Katharina zeigen. Er reiste 1716 ab und 
widmete neben Industrie und Handwerk Kunst und Wissen- 
schaft besondere Aufmerksamkeit: Holland, Frankreich 
und Deutschland wurden besucht. Peter kaufte um 
hohen Preis die weltberühmte anatomische Sammlung des 
Amsterdamer Professors Fredrik Ruysch. das minera- 
logische Kabinet (iottwaldse. Sebas Sammlung von 
Land- und Seethieren und legte so den Grund zum Peters- 
burger Naturalienkabinet: er sans Stunden lang bei den 
Malern, von denen er den Marinemaler Silo besonders 
liebte, machte grosse Bilderkäufe und verschmähte es nicht. 
Auktionen selbst anzuwohnen: mancher der herrlichen 
Niederländer in der Eremitage stammt aus dieser Periode. 
In Paris, im Mittelpunkte feingesitteter Geselligkeit. war 
gar viel Neues zu sehen und Peter drung mit bewunderns- 
werthem Scharfblick in den Kern der Dinge ein, sich 
nach allem erkundigend. Nach dem Muster der Pariser 
Gobelinfabriken liess er nachher in Russland welche an- 
legen, in der Sorbonne sprach er über konfessionelle 
Fragen und erklärte eine Karte Russlands für unrichtig. 
mit dem berühmten Geographen Guillaume Delisle be- 
handelte er geographische Probleme, und die Akademie 
der Wissenschaften ernannte ihn zu ihrem Mitgliede: 
während Ludwig XIV. stets gegen Russland gestimmt war. 
was für Frankreich nur ungünstig sein konnte, finden wir 
jetzt den ersten ausgesprochenen Russenfreund in Frank- 


3 IL Poter der Grosse, 


‚altrussischen Partei, während Peter im Auslande weilte, 
1716 zu seinem Schwager. dem Kaiser Karl VL. und jetzt 
wusste Niemand seinen Aufenthalt. Peter sandte Vertraute 
in Europa umher, um ihn aufzuspüren und unter Androhung 
schwerster Strafe zur Rückkehr zu zwingen ; endlich ent- 
deckten ihn der Capitän Rumjanzow und der Senator 
Tolstoi auf dem Castelle St. Elmo in Neapel, sagten ihm 
die Verzeihung des Vaters zu und nahmen ihn mit sich, 
Am 21, Oktober 1717 war der Vater nach St. Petersburg 
heimgekehrt, hatte eine Untersuchung gegen Alexei und 
seinen Anhang eingeleitet und das Verfahren, ihn vom 
Throne auszuschliessen, war in vollem Gange, als der Sohn 
am 3. Februar 1718 in Moskau eingeliefert ward. Es zeigte 
sich, dass die altrussische Partei seit sieben Jahren in aller 
Stille wähle, um Poters Reformen zu untergraben und 
Russland aus dem Lichte Europas in die Dämmerung 
Asiens zurückzuführen; auch ergaben sich in der Ver- 
waltung grosse Unterschleife und Unredlichkeiten, die 
besonders während Peters Reise Platz gegriffen hatten, 
und im Volke herrschte darüber grosse Verstimmung. 
Während der Zar strenges Gericht gegen die Beamtung 
und zumal ihre Spitzen hielt, traf er die Altrussen 
tödlich in seinem Sohne: Alexei Petrowitsch musste vor 
einer Versammlung der Grossen am 4. Februar auf den 
Thron verzichten, anstatt seiner wurde Katharinas Sohn 
Peter Petrowitsch Zarewitsch. Untersuchung und Verhör 
ergaben, dass Alexei das blinde Werkzeug der Altrussen 
gewesen, zahllose Verhaftungen erfolgten, die Meist- 
gravirten wurden zu Tod gemartert oder enthauptet, 
auch den Erzbischof von Rostow schützte sein geistliches 
Gewand nicht, er hatte die Zarin-Nonne Jewdokia und 
eine Halbschwester Peters, Maria Alexejewna, in die Ver- 
schwörung verwickelt. viele Andere wurden geknutet, ver- 
stümmelt, mit Verlust von Rang und Vermögen verbannt. 
Da Jewdokia beschuldigt wurde, sie habe ihren Sohn auf 
den Thron erheben wollen und habe im Kloster ein Ver- 
hältniss zum Bojaren Glebow unterhalten, so wurde Letz- 
terer gespiesst, sie selbst von Peter geknutet und im 
April 1718 in ein Kloster zu Neu-Ladoga geschleppt, 


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88 II. Peter der Grosse. 

sogenannte „Testament“ Peters ist eine Erfindung Napo- 
leons, um im Jahre 1812 Russland zu verdächtigen, Peters 
orientalische Politik blieb auch ohne Testament die Richt- 
schnur seiner Nachfolger, er starb am 8. Februar 1725 ohne 
Testament und ganz unvorbereitet in seinem „Paradiese“. 
Tolle Ausschweifungen hatten seine Gesundheit frühe zer- 
rüttet, er erreichte wie Napoleon I. nicht das 53. Lebens- 
jahr. Durch Reformen auf tausend Gebieten entriss Peter 
das bisher von Europa geringgeschätzte Russland auf ewig 
der asiatischen Barbarei, machte es unter dem Staunen der 
Mitwelt zur gefürchteten Macht und die Geschichte hat 
das Epitheton „des Grossen“ trotz aller seiner Schwächen 
und Fehler ihn bestätigt; im hohen Pflichtgefühl für den 
Staat war er ein Vorläufer Friedrichs des Grossen. Er war 
der populärste und durchgreifendste Herrscher Russlands, 
Russlands Vater und Reformator, der grösste Romanow. 


“0 IM. Katharina I., Peter II. und Anne. 


Iw. Buturlin, der wirkliche geheime Rath und Senator 
Graf Peter Andrejewitsch Tolstoi, der geistvolle west- 
fälische Pfarrerssohn Geheimrath Baron Andrei Iw. 
Ostermann, dessen Nützlichkeit für Russland Peter noch 
auf dem Sterbebette gepriesen hatte, und der holsteinische 
Gesandte von Bassewitz: ohne an die Töchter des Zaren 
Iwan V. auch nur zu denken, traten sie für die Thron- 
folge Katharinas ein, handelten rasch, stützten sich auf 
die beiden Garderegimenter, die von grossem Einflusse 
werden sollten, bestachen deren Offiziere und führten die 
vornehmsten derselben nebst anderen Männern von Gewicht 
in den Palast; hier entfernten sie Katharina vom Todten- 
bette. wo sie nichts mehr nützen könne, und brachten sie 
in die Mitte der Verschworenen. Auf ihre Krönung und 
Salbung durch Peter sich berufend. betonte sie selbst ihr 
Thronfolgerecht und gab die Versicherung ab. sie sei weit 
entfernt, ihren Stiefenkel Peter Alexejewitsch vom Throne 
ausschliessen zu wollen, werde ihm vielmehr denselben 
vererben; sie hatte es an Geldern und Versprechungen von 
Würden und Aemtern nicht fehlen lassen und besonders 
bei der Garde Anhang geworben. Auch das Haupt des 
Clerus, der feile Erzbischof Feodosius von Nowgorod, der 
wegen Betheiligung am Prozesse des Zarewitsch die 
Rache des Sohnes fürchten musste. trat, was hochwichtig 
war. auf ihre Seite, in der stillen Hoffnung, unter ihrer 
Regierung werde die von Peter so schr beschränkte geist- 
liche Machtfülle wieder zu gewinnen sein; als er den 
Schwur ablegte, er werde die gekrönte Wittwe auf dem 
Throne erhalten, folgte die Versammlung dem Beispiele. 
Katharina versicherte sich des Reichsschatzes und der 
Citadelle, die heilige Synode und viele Grossen, die kaiser- 
liche Leibwache traten auf ihre Seite, die Garderegimenter 
umzingelten den Palast. denn die Soldaten sahen in Ka- 
tharina das Soldatenweib, die ihresgleichen gewesen war, 
die Feldgenossin ihres geliebten Väterchens. Sobald der 
Tod des Kaisers bekannt gegeben wurde, liess Buturlin 
die Trommeln rühren: vergebens versuchte der Präsident 
des Kriegskollegs Generalfeldmarschall Fürst Repnin ein- 
zuschreiten, er war ohne allen Einfluss und Menschikow 








4 IN. Katharina I.. Peter IT. und Anna. 2 + 


ging weg. nur einen Geschäftsträger zurücklassend: Frank- 
reichs Rolle war auf lange an Oesterreich übergegangen. 
Eine britische Flotte. die vor Reval kreuzte. zwang die 
russische zur Unthätigkeit. In Polen unterstützte die 
Kaiserin die bedrückten Dissidenten und unter dem Vor- 
wande. sie werde für sie einschreiten. hielt sie lange 
Zeit Truppen in Kurland bereit. doch geschah letzteres 
hauptsächlich Menschikow zuliebe: „der Fürst“. wie man 
ihn kurzweg nannte. wollte Herzog von Kurland werden, 
welches Land mit dem Tode des greisen Ferdinand. des 
letzten Ketteler. vakant werden musste: ihm zu gefallen. 
schloss Katharina ein Bündniss mit Friedrich Wilhelm I. 
in Preussen gegen August den Starken von Polen. der 
Kurland seinem Bastarde. dem berühmten Marschalle 
Moritz von Sachsen. zuwenden wollte: der russische Ge- 
sandte in Warschau arbeitete für Menschikow. dieser trat 
selbst voll Insolenz in Mitau auf und führte Truppen in 
die Stadt. die Stände aber wählten trotzdem im Juni 1726 
Moritz: Menschikow tobte. befahl eine neue Wahl, drohte 
mit einem Heere und mit Sibirien und verletzte die Wittwe 
des früheren Herzogs Friedrich Wilhelm. die Herzogin Anna 
Iwanowna. derart. dass er auf ihre Klage in St. Peters- 
burg vor eine Kommission gestellt wurde: bei seiner All- 
macht ging er freilich straflos aus der Untersuchung hervor. 

Unter seiner Freundin Katharina omnipotent. wollte 
der Fürst es auch nach ihrem Tode bleiben: er suchte 
sich nach allen Seiten sicher zu stellen und ebnete 
die Bahn zur Verheirathung seiner älteren Tochter 
Maria mit dem Thronerben. dem Grossfürsten Peter 
Alexejewitsch. unbekümmert um ihre bereits eingegangene 
Verlobung mit dem Grafen Sapieha. einem Geliebten 
Katharinas: Karl Vl. und sein Gesandter versprachen ihm 
ihre Unterstützung und vergebens arbeitete der Herzog 
von Gottorp dagegen, dem dadurch die Thronfolge seiner 
Gemahlin Anna Petrowna bedroht erschien. Der Gross- 
fürst beugte sich, wenn auch sehr ungern, vor Menschikows 
Autorität und bekannte einmal: „Ich muss zu dem Fürsten 
gehen und meinen Bückling machen, damit ich auch 
etwas werde: sein Sohn ist sehon Lieutenant, ieh bin noch 


II. Katharina I., Peter I. und Anna. “ 





Stellungen empor, verschwägerte sieh mit den Stroganow, 
Potemkin, Litta, Bagration, Sapieha, Korff, Woronzow, 
Pahlen und erlosch im Mannesstamme 1793 in dem Ge- 
sandten am neapolitanischen Hofe, Grafen Paul Martino- 
witsch, Die Schwestern Katharinas I. hatten sich eben- 
falls in St. Petersburg eingestellt; Christine „Samuilowna“ 
kam 1725 mit ihrem Manne, dem litauer Bauern Simon 
Heinrich, und mit ihren Kindern an und alle erhielten den 
Namen Hendrikow; obwohl ohne jede Bildung, wurde er 
Kammerherr und reich begütert ; die Alten blieben römisch- 
katholisch, die Kinder wurden griechisch-katholisch, im 
Mai 1742 erhob Kaiserin Elisabeth die nahen Verwandten 
in den erblichen Grafenstand mit dem Namen Hendrikow 
und sie heiratheten in die ersten Familien, wie sie die 
ersten Aemter und Würden empfingen; die Heirath mit 
einer Tochter des alten Bauern führte Tschoglokow, der 
selbst ein Bauernsohn war, in das Amt eines Kammerherrn 
und schliesslich in das des Oberhofmeisters der Grossfürstin 
Katharina Alexejewna. 1725 kam auch die jüngere 
Schwester der Kaiserin. Anna, die Frau Michael Joachims, 
eines Bauern aus Grosspolen. mit den Ihren nach St. 
Petersburg und empfing den Namen Jefimowski, bedeu- 
tendes Vermögen und Ansehen; Kaiserin Elisabeth erhob 
die Familie im Mai 1742 zu erblichen Grafen, und während 
das Bauernpaar römisch-katholisch blieb, wurden die Kinder 
griechiseh-katholisch; die Söhne und Enkel des zum 
Kammerherrn beförderten Bauern nahmen Stellungen 
ersten Ranges ein. Wie diese Alle Emporkömmling, 
kannte Fürst Menschikow, dem Karl VI. das schlesische 
Fürstenthum Kosel jetzt zu Lehen gab, keine Grenzen 
seiner Machtgier, kümmerte sich nichts um den Höchsten 
geheimen Rath und um die anderen Mitglieder des Peter II. 
beigegebenen Conseils, sondern riss alle Macht an sich, 
band sich an keinerlei Schranken, liess sich zum Gene- 
ralissimus und Admirale ernennen, um über die Kriegs- 
macht und Flotte verfügen zu können, schaffte das Cabinet 
ab und verwerthete den Kaiserknaben für seine Zwecke. 
Er wies ihm seinen eigenen Palast auf Wassilii-Ostrow 
anstatt des Winterpalais zur Wohnung an und liess nur 


50 5 III. Katharina I., Peter II. und Anna. 


würdigsten politischen Autodidakten. Peter II. kannte 
keine Gnade für Menschikows Familie. erst Kaiserin Anna 
gestattete 1731 dem Sohne und der jüngeren Tochter die 
Heimkehr aus Sibirien: der Sohn, das Pathenkind Peters 
des Grossen und der holländischen Generalstaaten, erhielt 
nur einen Bruchtheil des märchenhaften väterlichen Reich- 
thums zurück und wurde Fähnrich im Preobrashenskischen 
Garderegimente, zeichnete sich später als General gegen 
die Türken und die Schweden aus, wurde Gouverneur von 
Moskau. bei der 'Thronbesteigung Kathurinas II. General 
en chef und starb. mit einer Galitzin verheirathet, 1764: 
die Tochter war in Bauerntracht aus dem Exile angelangt. 
sehr gütig von Anna empfangen worden. die sie zu ihrem 
Hoffräulein ernannte und im Februar 1732 mit dem 
Generale Gustav Biron. dem jüngeren Bruder ihres Ge- 
liebten. vermählte: sie starb aber schon im Oktober 1736 
mit 24 Jahren. 

Mit Menschikows Sturz hatte Peter II. lediglich den 
Herrn gewechselt und anstatt eines hochgenialen Mannes 
eine Mittelmässigkeit gemeinster Sorte eingetauscht. Fürst 
Alexei Grigorjewitsch Dolgoruki war von Men- 
schikow zum zweiten Gouverneur des Kaisers bestimmt 
worden, trug aber zu Menschikows Untergange in erster 
Linie bei; ebenso ehrgierig wie bornirt. Stockrusse und 
ein Todfeind der petrinischen Reform. unterstützte er voll 
Servilität den Hang des kaiserlichen Knaben zum Müssig- 
gange. zu nichtigem Amüsement. beschäftigte ihn mit 
Jagden und nahm ihn häufig auf längere Zeit nach seinem 
bei Moskau gelegenen Landsitze Gorenki, wo ihn nur die 
Familie Dolgoruki umgab: er wurde Überhofmeister 
Nataliens und trat 1728 in den Höchsten geheimen Rath, 
Peter II. überhäufte ihn und die Seinen mit Gunstbeweisen. 
Sein Sohn, Fürst Iwan Alexejewitsch. ein gutmüthiger, 
nicht unbegabter Jüngling ohne Prineipien und ohne 
Willenskraft, dabei einer der lüderlichsten Patrone des 
ganzen Hofs, wurde von ihm zum Kameraden seines 
Zöglings bestimmt, war bald sein unzertrennlicher Gesell- 
schafter und verführte ihn zu Ausschweifungen. Mit 
16 Jahren Oberkammerherr und Major im Preobrashenski- 








‚politischen Rückhalt zu geben, dachte Fürst Iwan an die 
Ehe mit Jugushinskis Tochter. Der Kaiser aber, der 
sich. von Maria Menschikow gelöst hatte, sollte der 

'hn des alten Dolgoruki werden; dessen schöne 
Tochter, die siebzehnjährige Fürstin Katharina Alexejewna, 
hatte zwar ihr Herz bereits verschenkt, was aber frag 
die Ehrsucht von Vater und Bruder dunach? Sie musste 
dem Grafen Melissimo entsagen, wurde am 30. November 
1729 zur Braut bestimmt und am 11. Dezember als „Ihre 
Kaiserliche Hoheit die Herrin-Braut“ feierlich mit Peter 
verlobt. der ihr mit derselben Eiseskälte wie seiner 
ersten Verlobten begegnete: die Hochzeit wurde auf den 
30. Januar 1730 anberaumt und Oberhofmeisterin sollte 
des Fürsten Alexei Schwester, die Bojarin Ssaltykow, 
werden. Alles aber kam anders als die Menschen planten. 
In Peters kurzer Regierung kam abermals der Ge- 
danke an eine Theilung Polens zwischen den Höfen 
von Moskau, Wien und Berlin zur Sprache; mit China 
erfolgte 1727 ein Handelsvertrag, der Russlands seit 1655 
gestattete Einfuhr nach Peking bedeutend erhöhte und 
als Stapelplätze des gegenseitigen Handels das russische 
Kiachta und das chinesische Maimatschin festsetzte; im 
Februar 1729 wurde in einem Vertrage mit Persien die 
russische Grenze über den Kur hinausgerückt. Aus- 
schweifung zerrüttete frühe die Gesundheit Peters Il., bei 
dem Feste der Wasserweihe erkältete er sich, die Poeken, 
denen auch seine Schwester erlegen war, traten hinzu 
und nach „Väterchen Ostermann“ verlangend, starb der 
letzte männliche Sprosse der Romanow am 30. Januar 1780 
im fünfzehnten Lebensjahre. 

Die Dolgoruki waren über den drohenden Verlust ihrer 
Allgewalt ausser sich, Allgemein war die Bestürzung über 
das unvermuthete frühe Ableben, keinerlei Fürsorge war für 
die Nachfolge getroffen worden. Wer sollte sie erhalten? 
Der Höchste geheime Rath, die obersten Würdenträger und 
die Generalität traten sofort zusammen und begannen zu 
berathschlagen. Niemand sprach vom Thronrechte des 
Erbprinzen von Holstein-Gottorp (des späteren Kaisers 
Peter III.) als Sohnes der 1728 verstorbenen Grossfürstin 


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der geninle Zögling en von Barden 
Spitze des Hofes, der un Pronk selbst den von Ver- 
ee ee ern in den Öber- 
‚stellen der Verwaltung waren Deutsche, die Deutschen 
„schienen Russland gopachtet zu haben. Ein sächsischer 
"Diplomat berichtete 1792 nach Hause, von einer alt- 
russischen Partei sei gar keine Rede mehr, und mit ver- 
'haltener Wuth sahen die Russen dem Treiben der Fremden 
während Birons Regiment, der Bironowschtschina, zu; der 
Olerus sah mit Entrüstung Protestanten im Rathe der 
Kaiserin, sie aber war nicht willens, den Clerikern Einfluss 
zu gewähren. Ostermann und Münnich rasteten nicht, bis 
Anna 1732 die Residenz nach St. Petersburg zurück- 
verlegte, Ostermann bewog sie 1731 zur Auflösung des 
Höchsten geheimen Raths und der Senat erhielt wieder 
die alte Bezeichnung des dirigirenden, wurde aber in seiner 
Machtsphäre wesentlich verkürzt, Alle Angelegenheiten 
gingen durch „das Kabinet“ der Kaiserin und die eigent- 
liche Regierung führten drei Kabinetsminister; neben dem 
ersten, dem Reichskanzler Grafen Golowkin, stand der 
weit wichtigere Graf Ostermann, nach Golowkins Tod im 
Januar 1734 der leitende Staatsmann mit dem sicheren 
Griffe des grossen Diplomaten und seltener Kenntnis 
europäischer Verhältnisse; als dritter Kabinetsminister er- 
scheint der ebenso eharakterlose wie unfühige Fürst Alexei 
Michailowitsch Tscherkasski: neben ihnen war Münnich 
unentbehrlich, kannte er doch besser als jeder Zweite das 
Heerwesen; er organisirte das Ondettenkorps, sorgte für 
Gleichstellung ausländischer und einheimischer Offiziere 
im Soldverhältnisse, bewies in den Feldzügen Annas die 
Waffentüchtigkeit Russlands und seine Berechtigung zur 
Grossmacht. Zum eigenen Schutze, zumal der vielseitig 









58 11. Katharina I., Peter II. und Anna. 

lobt mit der liebreizenden ältesten Tochter des General- 
feldmarschalls Grafen Scheremetew. Natalie Borissowna. 
und wurde heiss geliebt: da man die Abneigung der 
Kaiserin Anna gegen die Dolgoruki kannte. rieth man 
Natalie, Iwan abzusagen, doch wies sie diese Zumuthung 
unwillig ab, heirathete ihn in Gorenki am 17. April 1730 
und ging am 20. mit ihm nach Beresow in die Verbannung. 
Anfangs hielt man den Fürsten furchtbar hart, allmälig 
erleichterten die Beamten sein Loos etwas. er verkehrte 
mit den Offizieren der Garnison, mit den Geistlichen und 
Einwohnern des Ortes; er hatte sich gebessert, war ein 
musterhafter Gatte und Vater, ein frommer Christ ge- 
worden, fiel aber bald in das alte Schwelgerleben zurück. 
Die Fürstin ertrug die härtesten Entbehrungen und widınete 
sich ganz der Erziehung ihres im April 1731 geborenen 
Sohnes Michail. Da hinterbrachte der von ihrer Schwä- 
gerin zurückgewiesene Tischin einige unvorsichtige Aeusse- 
rungen Iwans dem Gouverneur in Tobolsk, dieser schickte 
einen Kapitän Uschakow ab, um Iwans Verhalten zu 
prüfen; die Aeusserungen erhielten Bestätigung und man 
schleppte Iwan mit seinen Brüdern Nikolai und Alexei. 
seinen Freund Owzyn, den Rächer der Ehre Katharinas, 
und viele Leute aus Beresow 1738 nach Tobolsk; kaum 
war Iwan weggeführt, so gebar Natalie ihr zweites Kind, 
Dimitrii, welcher später an Nervenzerrüttung litt — wohl eine 
Folge ihres Gemüthszustands. Die Untersuchung in Tobolsk 
war kurz. aber schauderhaft; man wendete die Folter an. 
Iwan wurde während der Untersuchung an Händen und 
Füssen gekettet und an die Mauer geschmiedet, 19 Leute 
wurden als seine Mitschuldigen bestraft. geknutet. in ferne 
Gegenden verschickt oder zu gemeinen Soldaten gemacht. 
einer wurde enthauptet. Iwan brach körperlich und 
geistig zusammen und sprach in verwirrtem Zustande un- 
sinniges Zeug. erzählte Dinge, nach denen man gar nicht 
frug. wie dass er das Testament Peters IL. gefülscht habe: 
es kam zu einer neuen Untersuchung. in die auch die 
anderen Dolgoruki hineingezogen wurden. Seinem Bruder 
Nikolni wurde 1739 die Zunge ausgeschnitten und man 
sperrte ihn ins Ssolowetzkische Kloster. aus dem ihn Elisa- 


—— 


11. Katharina 1, Peter IT. und Anna. 









anerkennen zu wollen, verweigert haben, kurzum der ehr- 
liche und wahrheitsliebende Mann, den der Herzog von 
in seinen Denkwürdigkeiten „den bedeutendsten 

des Moskauer Bojarentkuma* nennt, verlor im 

Januar 1732 die Freiheit, alle Aemter und Güter und 
wurde auf die Festung Iwangorod hei Narwa gebracht, 
am 23. November 1739 als Verschwörer gegen Anna und 
Biron zu lebenslänglicher Einsperrung im Ssolowetzki- 
schen Kloster verurtheilt, jedoch die Thronbesteigung 
Elisubeths, seiner Pathin, gab ihm die Freiheit wieder 
und er starb als Generalfeldmarschall und Präsident des 
Kriegskollegs 1746. Sein Bruder, der Senator Fürst 
Michail Wladimirowitsch, wurde 1730 nach Borowsk, 1731 
nach Narwa, 1739 in das Ssolowetzkische Kloster verbannt 
und 1741 zurückberufen. Weit schlimmer erging es seinem 
Vetter, dem Oberhofmeister Fürsten Wussilii Lukitsch: er 
verlor nicht nur im April 1780 sein Vermögen, alle Würden 
und Aemter und wurde auf Lebenszeit nach dem Ssolo- 
wetzkischen Kloster verbannt, sondern 1739 nach Nowgorod 
gebracht, als sei er ein Verschwörer gegen Anna und ihren 
Liebling, wurde dort gefoltert und am 19. November 1739 
auf dem Töpferfelde hingeriehtet. Dasselbe Geschick er- 
eilte die Brüder des in Beresow verstorbenen Alexei, die 
Geheimräthe Fürsten Sergei und Iwan Grigorjewitsch, 
während ihre Schwester Alexandra Ssaltykow 1730 Nonne 
werden musste; Sergei, dem früheren Gesandten in War- 
schau, wurden 1730 alle Güter bis auf eines konfiscirt, 
1735 besserte sich seine Lage auf Verwendung seines 
Schwiegervaters, dos Senatora Baron Schaffirow, 1739 
erlangte er vollen Pardon und sollte eben als Botschafter 
nach London gehen, als der Process gegen seine Familie 
wieder begann und man ihn als am gefälschten Testamente 
Peters II. mitschuldig verhaftete; mit ihm litt sein Bruder 
Iwan, sie wurden in Nowgorod gefoltert und auf dem 
Töpferfelde am 19. November 1739 hingerichtet. Nie viel- 
leicht wütliete das Racheschwert wilder gegen eine Familie! 
Anna wmisstraute längst dem ebenso klugen wie ver- 
schlagenen Senator Fürsten Dmitrii Michailowitsch Galitzin, 
von dem wir schon hörten ; er mied den Hof, so viel es thun- 


a 


den Krieg mit. 
ihn aber erst im April 1736, nachdem 
‚Felde stand; während des Kriegs ver- 
‚se Moskau: mit den eüdlichen Gebieten 


i Nisserfol - 
Diplomasio Ben die Siege und den Uebergang über 
den Prutlı za Schanden. zwang Karl VI. zu einem Separat- 
vertrage und Russland, das nun allein stund, musste sich 
Frankreichs Willen fügen: Biron bestimmte Anna hinter 
ee Münnichs,. auf den er eifersüchtig war, zur 
ebigkeit. Wührend an 100000 Soldaten ihr Leben 
S hatten, brachte der Friede von Belgrad am 
2 Felt 1739 Russland nur Asow; überdies mussten 
Asows und Taganrogs Befestigungen geschleift werden, 
Russland durfte keine. Flotte auf dem Schwarzen Meere 
halten und russische Kaufleute durften ihre Waaren nur 
auf türkischen Schiffen verladen; alle Eroberungen des 
überaus mühevollen Veldzugs mussten herausgegeben 
werden. Und für dieses erniedrigende Abkommen dankte 
"Anna noch Ludwig XV. und seinem Botschafter in Konstan- 
tinopel. dem Marquis de Villeneuve, trat auch mit dem 
Versailler Hofe wieder in engere Beziehungen. Schon im 
April 1738 hatte sie den Fürsten Antiochus D. Kantemir 
zum bevollmächtigten Minister in Versailles ernannt, am 
11. Dezember d. J. erhob sie ihn zum ausserordentlichen 
Botschafter; der merkwürdige Orientale mit dem seltenen 
Sprachtalente, wohl der früheste unter Russlands modernen 
Dichtern, fand für seine literarische Musse in Frankreich 
ein reiches Feld, befreundete sich und korrespondirte 





Aa 






















n Schwedens Feindseligkeiten zu u begegnen, 
27. Dezember 1740 mit Friedrich dem Fa: ‚einen 
Vlaweree ‚auf 20 Jahre. Münnichs anmassendes Be- 
men erweekte ihm lauter Feinde, Ostermann und 

{ kin. entzogen ihm die Führung der auswärtigen und 
der inneren Angelegenheiten. Anna wurde seiner über- 
drüssig und ertheilte ihm, als er in seinem Aerger die 
Entlassung, einreichte, dieselbe im März 1741 mit Ver- 
gnügen, theilweise auch Oesterreich zu liebe, da Münnich 
preussisch gesinnt war; sie grub mit Münnichs Sturz sich 
und ihrem Hause selbst das Grab, am liebsten hätte sie 
ihn wohl gar nach Sibirien deportiren lassen. Wie Biron 
setzte sie die Garderegimenter hintan, denen Elisabeth so 
scher zu schmeicheln wusste. Einen gefährlichen Peind 
hatte sie an Frankreichs Politik; damit Russland nicht 
in der Lage wäre, Maria Theresia im Erbfo joge zu 
unterstützen, hetzte Frankreich, kein Geld sparend, ihm 
Schweden auf den Leib und Schweden richtete eine zum 
| Aufruhrgegen „ie Fremden“ offen auffordernde Erklärungan 
das russische Volk; hiermit war es nicht genug, der Bot- 
schafter de la Chötardie vertheilte Geld unter die russischen 
Soldaten, um sie gegen die Regentin aufzuwiegeln und 
für Elisabeth zu stimmen, unter der er Frankreich zur 
| führenden Rolle in St. Petersburg zu verhelfen hoffte. Als 
| Werksenge dienten ihm eine Reihe Glücksritter, wie der 
| Leibarst Elisabeths L’Estoog, ihr geliebter Kammerjunker 
M. J. Woronzow, A. und P. J. Schuwalow, Elisabeths Günst- 


















Mutter Juliane von Dänemark, der jüngsten Schwester 
Anton Ulrichs, im Juni 1780 nach Horsens im Inneren von. 
Jütland übergeführt, erhielten russische Pensionen und 
on in Zurückgozogenheit («. Stammtafel I). Vom Tode 

. werden wir noch hören. Eine nichtswürdige 
Kommission hatte über Ostermann, Münnich, Golowkin 
und die anderen Rathgeber der Regentschaft abzuurtheilen. 
Ostermann wurde trotz Krankheit dem härtesten Verhöre 
unterzogen und als erwiesener Staatsverräther zum Rade 
verurtheilt; am 29. Januar 1742 führte man „das Väterchen 
Ostermann“ Peters IL in einem Fuhrmannsschlitten im 
Schlafrocke zum Schaffot, vier Soldaten trugen ihn auf 

den Stuhl und man verlas ihm das Urtheil, das er voll 

Ruhe mit einer Art Verwunderung anhörte; bereits lag 

PR er auf dem Blocke und der Henker packte ihn, als der 
Senatssekretär verkündete, das Leben sei ihm geschenkt 

und er sei zu ewiger Verbannung in Sibirien verurtheilt: 

üg forderte Östermann von den Soldaten seine Perücke 

und seine Schlafmütze, stülpte beide auf, knüpfte Hemden- 

kragen und Schlafrock wieder zu und zeigte in seinen 

Zügen keine Veränderung. Aller Güter und Würden be- 

raubt, wurde er im Bette in den Schlitten geschafft, der 

ihn Tags darauf nach Beresow brachte; seine beherzte 

Gattin, Marfa Iwanowna Streschnew, begleitete ihn. Dort 

wo Menschikow geendet hatte, starb auch Ostermann am 

31. Mai 1747, worauf die Wittwe zurückkehrte; noch ist 

sein Grab wie das Menschikows erhalten. Sein Neben- 

buhler Münnich wurde zur Viertheilung verurtheilt, be- 

| stieg, olne mit der Wimper zu zucken, am 29. Januar 
| das Schaffot, wurde begnadigt, aller Würden und Güter 






















IV. Bin Jahr mit zwei Regentschaften. L} 





beraubt und auf ewig nach Pelym verbannt; in Kasan 
begegnete sein Schlitten dem seines nach Jaroslawl über- 
siedelnden Todfeindes Biron, Beide grüssten lautlos ein- 
ander und Münnich bezog in Pelym Birons Wohnung; 
volle 20 Jahre hauste er hier, von seinen Wächtern stets 
betrogen, gab mathematischen Unterricht und bestellte sein 
Gärtchen; seine Gattin, eine Freiin von Maltzan, starb in 
Pelym. Golowkin, den Podagra und Chiragra plagten, 
wurde aller Würden und Güter verlustig erklärt, man 
brachte auch ihn im Bette zum Schaffot, Elisabeth schenkte 
ihm am 2. Februar 1742 das Leben und verbannte ihn 
auf ewig nach Nishnii-Kolymsk; seine weit beherztere 
Gattin, eine Fürstin Romodanowski, Cousine der Kaiserin 
Auna, begleitete ihn und pflegte ihn aufopfernd, ob- 
wohl Elisabeth ihr den Fortbezug aller Rechte für den 
Fall ihres Bleibens verbürgt hatte, und kehrte erst mit 
seiner Leiche 1766 zurück; zu seinem harten Geschicke 
hatte sein eigener Schwager, der spätere Generalfeld- 
marschall Fürst N. J. Trubetzkoi, wesentlich beigetragen. 
Löwenwolde, Mengden und viele Andere mussten nach 
Sibirien wandern, mancher bedeutende Fremde verliess 
jetzt und nachher Russland, z, B. Oberst von Manstein, 
der Mathematiker Euler, James Keith und Graf Woldemar 
von Löwendal, die späteren Marschälle Preussens und 
Frankreichs. Wiederholt revoltirten Soldaten gegen aus- 
ländische Offiziere und ermordeten sie „aus Patriotis- 
mus“, mit den Soldaten theilten den Fremdenhass das Volk 
und der Clerus und unter den Fremden galt der Hass 
vor allen den Deutschen; mit ihrer Autorität in Russland 
schien es auf ewig vorbei zu sein, Unter Schmähungen 
auf die ketzerischen Fremden liessen die Kirchenfürsten 
der Intoleranz die Zügel schiessen und erhoben das 
Triumphgeschrei: „Nun sind Ostermann und Münnich am 
Felsen Petri zerschellt; alle Altäre und Götzenbilder, sie 
wie die heidnischen Baalspriester und ihre Bekenner wird 
"Gott vernichten.“ Stand doch der Clerus, trotzdem Peter der 
Grosse gelebt hatte, im Ganzen noch auf der alten Stufe! 


== 


V. Die letzte Romanow. 





W“ denn Elisabeth Petrowna fromm? Sie war es rituell, 
indem sie den kirchlichen Satzungen buchstäblich 
nachkam, sie mit berechneter Auffälligkeit erfüllte, grosse 
Wallfahrten in Seene setzte, eine tiefe Ehrfurcht vor den 
Geistlichen zur Schau trug*): dafür pries sie der Olerus als 
„die Feindin Beelzebubs und seiner Engel“, dafür vergab 
er ihr die Sünden, die sie befleckten. Die armenischen 
Christen wie die mohamedanischen Tataren wurden be- 
drückt, die Juden „als Feinde Christi* aus Russland ver- 
trieben, obwohl der Handel schwer darunter litt. es kam 
zu hoftigem Zusammenstosse mit den Raskolniks, Um die 
tief stehenden Geistlichen auf ein höheres Niveau zu 
bringen, wurden viele Verfügungen getroffen; mit Knute 
und Kette bestrafte man unbotmässige oder trunksüchtige 
Popen und Mönche, die Klöster mussten Zöglinge in die 
geistliche Anstalt in Moskau senden, in der freilich die 
tollste Scholastik des Mittelalters gelehrt wurde. Am 
6. Maui 1742 fand Elisubeths Krönung in Moskau statt, 
der Erzbischof von Nowgorod überreichte ihr auf Kissen 
Mantel und Krone, die sie selbst anlegte, und ausser 
zahlreichen Avancements und Standeserhebungen wurden 
viele Wohlthaten ertheilt, Strafen erlassen, Verbannte 
zurückgerufen, auch wurde die Todesstrafe abgeschafft, 
Elisabeth wandte sie nie an, liess aber um sa mehr 
knuten und ihre grausame Natur fand Genüge an zahl- 
reichen Verurtheilungen zum Abschneiden der Zunge, der 
Nase oder der Ohren und an der Verschiekung der 
Gebrandmarkten zu Kronsarbeiten. Ihre Leutseligkeit 


*) Zur Herstellung des kostbaren Reliquienkastens in der Kathe- 
drale der heiligen Dreieinigkeit im Alexander-Newski-Kloster St. Peters- 
burgs bestimmte Elisabeth im Jahre 1752 den ersten Ertrag des 
Kolywanschen Silberbergwerks, 1800 Kilogramm. 








2. V. Die letzte Romanow. h | 











eintrat, da das russische Heer in grosser Zerrüttung war; 

de la Chötardie blieb nichts übrig; als für Schweden ein- 
zutreten, das Kubinet von Versailles nahm einen Russland 
feindlichen Charakter an, verbündete sich mit dem von 
Kopenhagen und schürte in Konstantinopel, Elisabeth verlor 
das Vertrauen zu dem Botschafter, dem seine Bezieh: 

zu LEstocq nichts nützten. Elisabeth trat dem Frie- 
den von Breslau zwischen Maria Theresia und Friedrich 
dem Grossen bei, verweigerte aber Letzterem die persön- 
liche Garantie für Schlesien. Schweden musste seinen 
Eigensinn hart büssen, bei Helsingfors streckte sein 
Heer im September 1742 vor den Eroberern Finnlands 
die Waffen und am 18. August 1743 erfolgte der Friedens- 
schluss von Äbo: Russland behielt an finnländischen Ge- 
bieten die Festungen Frederikshamn, Wilmanstrand und 
Nyslot, die Parochie Pyltis, die Provinz Kymmenegard 
und alle Plätze an der Mündung des Kymmene-Flusses 
sammt den Inseln gegen Süden und Westen dieses Flusses 
(109 Quadratmeilen). Jahrzehnte lang blieb nun der Kym- 
mene die Grenze zwischen Russland und Schweden, der 
Friede war aber eigentlich nur ein Waffenstillstand. Bei 
der Wahl eines Thronfolgers in Schweden arbeitete Russ- 
land der Kandidatur des Kronprinzen von Dünemark ent- 
gegen und setzte seinen Kandidaten, den Fürstbischof von 
Lübeck, Adolph Friedrich, Prinzen von Holstein-Gottorp, 
den Vetter des Grossfürsten Peter Fedorowitsch, im Juli 
1743 durch. So hatte das Haus Gottorp die Anwart- 
schaft auf die Kronen von Russland und Schweden, Russ- 
lands Einfluss in Stockholm war befestigt, Schweden 
durfte seine die Krongewalt einengende Verfassung nieht 
mit einer starken monarchischen Institution vertauschen, 
Russland litt keine Kräftigung der Monarchie und inter- 
venirte sogar mit einem Heere, als König Friedrich von 
Schweden einen dahin abzielenden Versuch wagte. Unter 
Elisabeth hatte den müchtigsten Einfluss der frühere 
Barbier und Wundarzt Johann Hermann L’Estocg 
aus Celle, ihr Leibarzt, jetzt wirklicher Geheimrath und 
Generaldirektor der medicinischen Kanzlei, polnischer und 
seit 1744 durch Kaiser Karl VII. Reichsgraf; in Fehde 


V. Die letzte Romanow. 7a 


Die Gattin des Oberhofmarschalls Bestushew-Rjumin, Anna 
Gawrilowna Golowkin. verwittwete Gräfin Jagushinski, 
welche über die eitle Kaiserin gespottet hatte, wurde auf 
L’Estoegs Befehl in jener Nacht als Verschwörerin ver- 
haftet, geknutet, der Zunge beraubt und nach Jukutsk 
verbannt, wo sie starb; ihr Gatte theilte ihr Loos nieht, 
kein Verdacht war gegen ihn rege und er heirathete bei 
ihren Lebzeiten wieder; auch Sophie von Lilienfeld u. A, 
erlitten in jenem Herbste entsetzliche Strafen, Botta, der zu 
seinem Glücke gerade in Berlin war, wurde auf Elisabeths 
Wunsch abberufen. Nirgends herrschte grössere Freude über 
die gescheiterte „Revolution“ als in Paris und de la Chötardie 
erreichte es, dass man ihn mit neuen Creditiven, in denen 
zum ersten Male der russische Kaisertitel neben dem 
Zurentitel angewendet war, als Botschafter nach St, Peters- 
burg schickte, wo er im Dezember 1743 anlangte und sofort 
nene Intriguen spann, um sich Elisabeth unentbehrlich zu 
machen und den Grafen Bestushew-Rjumin zu stürzen, 
Bestushew aber sah ihm auf die Finger, während er 
sich durch die Huldigung L'Estoeqs immer mehr ein- 
wiegen liess, perlustrirte im schwarzen Kabinete alle 
Depeschen des Marquis, es gelang sorgsamen Forschungen, 
auch den Schlüssel seiner Chiffreschrift zu entdecken, und 
als Bestushew-Rjumin Rlisabeth zeigte, wie der Marquis 
sie mit Intriguen umgab und sie mit Missachtung be- 
handelte, wie er nach allen Seiten Bestechungsgelder aus- 
streute, um sie zu umlauern, riss ihre Geduld: Uschakow, 
der Chef der Geheimkanzlei selbst, theilte am 17. Juni 
1744 dem Marquis mit, er habe binnen 24 Stunden 
‘St. Petersburg und alsbald Russland zu räumen, die 
Fürstin zu Anhalt-Zerbst erhielt eine scharfe Rüge und 
nahezu wäre die Verlobung des 'Thronfolgers mit ihrer 
Tochter zurückgegangen, was ja für Beide ein Glück ge- 
wesen wäre, Russland freilich um seine grösste Kaiserin 
gebracht hätte; diese Spannung glieh sich aus und am 
1. September 1745 war in St. Petersburg die Hochzeit. 
L’Estoeg ging zwar aus dem Sturze der französischen 
Partei mit heiler Haut davon, er war aber im ge- 
'heimen Rathe der letzte Anhänger Frankreichs und 


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82 V, Die letzte Romanow. 

eifrige Korrespondenz, er lieferte ihm Materialien zu seiner 
Geschichte Peters des Grossen®). Seit 1746 war Graf 
Kirill Grigorjewitsch Rasumowski Präsident der kaiser- 
lichen Akademie der Wissenschaften, obwohl erst 18 Jahre 
alt; die ganze Akademie war im damaligen Russland eine 
Anomalie, Bisher hatten Deutsche an ihrer Spitze gestanden, 
‚Rasumowskis Ernennung entsprach der nationalen Strömung, 
freilich hatte er keine Ahnung von dem, was er eigentlich 
zu thun habe: der für ihn die Arbeit leistende Teplow 
schrieb an Rasumowskis Lehrer Strube: „Die Akademie 
ist ohne Akademiker, die Kanzlei ohne Mitglieder, die 
Universität ohne Studenten, die Vorschriften sind ohne 
Autorität, im übrigen herrscht eine bis jetzt unheilbare 
Verwirrung“; an der Akademie der Wissenschaften war 
fortwährend Krieg der Nationalen unter Lomonossow, der 
Intrigue und Gewalt anwendete, und der Fremden, deren 
Haupt der ehrgeizige Schumacher, der wahre Gründer der 
Akademie, war; vergebens suchte Rasumowski Euler, 
Kraft und beide Bernoulli**) für St. Petersburg zu ge- 
winnen, nur Friedrich Heinrich Strube de Pyrmont siedelte 
aus Berlin dahin über, lehrte Rechtswissenschaft und regte 
die Akademie 1748 an dahinzuwirken, dass die jungen 
Russen anstatt des römischen das russische Recht studiren 
sollten; er schrieb in französischer Sprache einiges über 
Naturrecht und russisches Recht, seine Arbeit „Sur l’Ori- 
gine et les changements des lois russiennes“ |sie!] ist der 
bald in Vergessenheit gerathene Embryo einer systema- 
tischen Darstellung der Geschichte der russischen Gesetz- 
gebung und ein Vergleich derselben mit der dänischen und 
der schwedischen; nur in einer handschriftlichen russischen 
Vebersetzung erhielt sich seine „Kurze Anleitung in den 
russischen Rechten“. An der Moskauer Universität gab 
es volle zehn Jahre nur einen juristischen Professor, 


*) Aus Frankreich liess er sein Hansgeräthe und seine Kleider 
kommen. 

**) Daniel Bernoulli, der grosse Physiker, war 1725-38 Pro- 
fessor in St. Petersburg gewesen und dann nach Basel gegangen, sein 
Bruder Johann, der Mathematiker, hatte es nur von 1789-88 in 
öt. Petersburg ausgehalten. 





—— — 


V. Die letzte Romanow. 85 





‚Philipp Heinrich Dilthey (+ 1781). Rasumowski zwang 
die geistlichen Seminare in St. Petersburg, Moskau und 
. ihre besten Schüler auf seine Akademie zu 
schieken, befahl die Uebersetzung und den Druck nütz- 
licher Bücher und das Erscheinen einer Monatsrevue, die 
als „Monatliche Bemerkungen aus St. Petersburg“ seit 
1755 unter der Redaktion des berühmten Historikers und 
Rektors der Moskauer Universität @. F. Müller erschien. 
Lomonossow, in steter Fehde mit Schumacher, der Rasu- 
mowskis rechte Hand blieb, arbeitete an einem Atlas 
Russlands, Stählin leitete die Abtheilung für Künste, 
Tanbert Druckerei und Bibliographie an der Akademie. 
Voltaire wurde auf seinen Wunsch korrespondirendes Mit- 
glied der Akademie der Wissenschaften. Rasumowski 
wollte auch in Baturin eine Universität gegründet sehen 
und besprach dies Thema mit J. J. Schuwalow, die deut- 
schen Universitäten sollten zum Vorbilde dienen, doch 
trat das von Teplow 1760 sorgfältig ausgearbeitete Projekt 
nie ins Leben, obschon ja Kleinrussland mit seiner vor- 
geschritteneren Kultur den Gedanken sehr nahe gelegt hatte. 
Einer von Russlands frühesten Historikern war der Ge- 
heimrath Wassilii Nikititsch Tatischtschew, früher Gouver- 
neur von Örenburg und Astrachan, mit seiner „Russischen 
Geschiehte‘, einem für damalige Tage und Verhältnisse 
hochbedeutsamen Werke: er verfasste auch 1739 ein sehr 
modern ungehauchtes „Testament“, d. h. Lebens- und 
Religionsvorschriften für seinen Sohn. Tredjukowski hatte 
an der Sorbonne Philosophie und Theologie studirt und 
zuvor in Holland französisch gelernt, Lomonossow hatte 
in Deutschland deutsch gelernt und Naturwissenschaften 
studirt, Woronzows Neffe, der feingebildete Alexander 
Romanowitsch Woronzow, Bruder der Fürstin Daschkow, 
war eine Zeit lang in der Chevaux-lögers-Schule in Ver- 
sailles und nahm bei Voltaires Sekretär Arnould Privat- 
unterricht in der französischen Literatur. 
Der italienische Baumeister Graf Rastrelli erbaute in 
St, Potersburg 1744—48 das Anitschkow-Palais an der 
Fontanka für den Günstling Rasumowski, das Pagencorps, 


führte den Bau des Winterpalais seit 1754 weiter und 
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V. Die letzte Romanow. €“ | 
vollendete es 1762 unter Katharina II.; 1748 begann der 

Bau des Ssmolnij-Klosters für Waisenmädchen, aus dem 
Katbarina IT. 1765 eine Erziehungsanstalt für solche machte, 
Zarskoje-Sselo wurde zur Residenz ausgebaut, das Palais 
Stroganow und andere Prachtbauten Rastrellis wie anderer 
Meister schmückten St. Petersburg, in Moskau baute 
Rastrelli seit 1749 „das Winterpalais* im Kreml. 

‚Und in der aufstrebenden Metropole Peters des Grossen 
entfaltete sich eine Günstlingswirthschaft eigenthümlichster 
Art, Schon im Jahre 1731 war ein schöner Kleinrusse bei 
den Hofsängern angestellt worden, der zwar seine Stimme 
rasch verlor, aber durch seine Gestalt Elisabeths Herz ge- 
wann; als ihr Geliebter, der Sergeant Schubin, wegen un- 
vorsichtiger Aeusserungen im Januar 1732 geknutet, ver- 
stümmelt und nach Sibirien geschickt worden war, nahm 
er, Alexei Grigorjewitsch Rasumowski, seine Stelle 
ein und erhielt die Verwaltung von Blisaberhs Gütern ; die 
Regentin Anna ernannte ihn zum Kammerjunker Elisa- 
beths, diese erhob ihn, als sie Kaiserin geworden, sofort 
zum Kammerherrn, Generallieutenant und bei ihrer Krönung 
zum Oberjägermeister, schenkte ihm Güter und Fabriken, 
und liess seine Mutter, die Wittwe eines Kasaken, kommen; 
man steckte „die Rasumicha“ in Hofkleider, schminkte 
und puderte sie und als sie vor dem Empfange durch 
Elisabeth in einem Saale warten musste und sich in der 
ungewohnten Pracht im Spiegel sah, fiel sie auf die Knive, 
in der Meinung, die Kaiserin stehe vor ihr; sie wurde 
Ehrendame derselben, fühlte sich aber am Hof unbehag- 
lich und ging nach Kleinrussland zurück. ihre Söhne 
Alexei und Kirill und ihre Enkelin Jewdokia Danilownn 
blieben bei Hof, um ihr Glück zu machen. Da Alexei 
den Mangel einer wirklichen Bildung an sich empfand, 
liess er Kirill durch Teplow und Adadurow, den ersten 
Russen an der Akademie der Wissenschaften. erziehen, 
unter Teplows Leitung in Königsberg, Berlin (bei Euler) 
und Göttingen studiren, Deutschland und Italien bereisen, 
und Kirill kam 1745 als feiner Oavalier zurück, An Alexei 
hatte sich der sehlaue Bestushew-Rjumin enge ange- 
schlossen, um durch ihn Elisabeth leiten zu können, und 









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[ V. Die letzte Romanow. | 





Präsident der geheimen Kanzlei, war der gefürchtete 
Grossinquisitor des Reichs und seit 1754 Oberhofmarschall 
des Grossfürsten-Thronfolgers, Peter wurde 1756 General- 
feldzeugmeister und war nicht wenig stolz auf die Er- 
findung einer neuen Haubitze, die sich im Siebenjährigen 
Kriege bewährte; seiner schrankenlosen Habsucht fröhnte 
Elisabeth durch Ueberlassung der einträglichsten Stellen 
und Monopole, die ihm jährlich viele Hunderttausende an 
Rubeln einbrachten. Beide Brüder waren Frankreichs er- 
klärte Anhänger. Neben dem Hofe Elisabeths stand „der 
junge Hof“. Der Grossfürst-Thronfolger Peter Fedoro- 
witsch war als unentwickeltes Kind aufgewachsen, liebte 
die Gesellschaft der Lakaien mit ihren schmutzigen Nei- 
gungen und scheute vor jedem ernsten Denken zurück, er 
konnte noch als junger Mann Stunden lang mit Bleisoldaten 
spielen oder Thiere quälen. Die Grossfürstin-Thronfolgerin 
Katharina Alexejewna war zwar um ein Jahr jünger, sah 
«ber in ihm ein Kind und fand kein Glück in der Ehe; 
sie hatte ihren Geist frühe durch Lektüre geschult, las 
mit 15 Jahren die Vitae Plutarchs, manches von Cicero 
und Plato, schrieb ein „Porträt der fünfzehnjährigen 
Philosophin* und las dann, was ihr unter die Finger ge- 
rieth, während Peter fast nichts las; er hinderte sie frei- 
lieh auch nicht, sich zu bilden. Besonders zogen histo- 
rische Werke sie an. sie studirte Brantöme, Baronius, 
Montesquieu, Voltaire, Bayles Dietionnaire, Diderots und 
d’Alemberts Encyelopedie, die Briefe der Frau von Sevigne 
u. A., und vertraute ihre Betrachtungen über viele Fragen 
des geistigen und des öffentlichen Lebens ihrem Tage- 
buche an; anfangs berieth sie oft der preussische Gesandte 
Axel von Mardefeld, seitdem aber ihre Mutter nach 
Deutschland zurückgekehrt war, wandte sich Katharina 
allmälig von Preussen ab, spielte die Russin und näherte 
sich Bestushew-Rjumin; die Politik gewann für sie stei- 
gendes Interesse, sie plante in ihrer Langeweile Reformen 
auf vielen Gebieten und fand eine geistesverwandte 
Freundin in Katharina Romanowna, Fürstin Dascehkow, 
die noch viel jünger als sie, aber ebenso wissbegierig und 
reformlustig war. Katharina fand auch die Liebe, nach der sie 


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Y. Die letzte Romanow, Eu 





sich sehnte und die ihr Peter nicht bot. seit 1753 in den 
Armen ihres Kammerherrn Ssergei Wassiljewitsch Ssaltykow 
und seit 1756 in denen des schönen Polengrafen Stanislaus 
‚Poniatowski, während Peter von dem plumpen Reize der 
älteren Schwester der Fürstin Daschkow, Elisabeth Roma- 
nowna Woeronzow, unwiderstehlich gefesselt war. Kehren 
wir nun zur auswärtigen Politik zurück. 

Friedrich II. von Preussen hatte nach dem Worte 
"Walpoles seit dem Breslauer Frieden die Wage Europas 
in Händen, was in gleichem Masse Maria Theresia, 
Elisabeth und Ludwig XV. verdross; Bestushew-Rjumin 
hasste ihn und fand Preussen weit gefährlicher denn 
Frankreich, Elisabeth kannte Friedrichs beissende Be- 
merkungen über sie und verabscheute ihn, seine Frei- 
geisterei diente ihr zu scheinheiliger Entrüstung, zur Be- 
tonung ihrer Gottesfurcht. Als er im Jahre 1745 ein 
Bündniss mit ihr schliessen wollte, lehnte sie ab, denn er 
habe mit dem zweiten schlesischen Kriege den Frieden 
gebrochen und es ergebe sich kein casus foederis; der 
Quadrupelallianz von Warschau zwischen Grossbritannien, 
den Generalstaaten, Oesterreich und Sachsen zu Friedrichs 
Vernichtung (8. Januar 1745) trat sie zwar nicht bei, hin- 
gegen wurde in St. Petersburg am 2. Juni 1746 die 
Offensiv- und Defensivallianz von 1726 mit Oesterreich 
auf 25 Jahre erneuert, wobei man gegen Preussen und 
die Türkei abhob; Russland und Oesterreich versprachen 
einander 30000 Mann für den Fall, dass eines von ihnen 
einen Angriff erlitte, und die Bereithaltung weiterer 
30 000 Mann, Maria Theresia wollte nach Wiedererwerbung 
ihrer schlesischen Gebiete zwei Millionen rheinische Gulden 
an Elisabeth bezahlen und Elisabeth verhiess in einem 
Zusutze, sie würde im Nothfalle aus besonderer Freund- 
schaft umsonst noch weitere 6000 Mann stellen, die bei 
dem Haupthilfscorps am Rhein oder in den Niederlanden 
kämpfen sollten. falls nämlich die Seemächte auf eigene 
Rechnung ein russisches Hilfscorps von 24000 Mann in 
Sold nähmen. Im Jahre 1747 schlossen die Seemüchte 
mit Russland Subsidienverträge, wonach ein russischer 
Heer von 30000 Mann in ihren Sold zur Vertheidigung 











kant. 


» 





— 


ss V. Die lötzte Romanow. 





der Niederlande treten sollte, auch erneuerte Russland, 
welches sich 1745 mit Schweden allürt hatte, 1746 die 
Allianz mit Dünemark. Während der Botschafter Maria 
Theresias, von Pretlack, das ganze Vertrauen Elisabeths 
gewann, war Frankreich seit Juni 1748 bei ihr diplomatisch 
gar nicht vertreten, ohne dass eine Kriegserklärung erfolgt 
wäre. Der Generalfeldzeugmeister Fürst W. N, Repnin 
führte die Hilfstruppen durch Deutschland dem Rheine 
zu, starb aber auf dem Wege und der Abschluss des 
Aachener Friedens von 1748 verhinderte, dass sie zur 
Aktion gelangten; sie kehrten, ohne einen Schuss abge- 
geben zu haben, in ihr Vaterland zurück. L’Estoegs 
Sturz entzog Preussen die letzte Stütze an Elisabeths 
Hof, Bestushew -Rjumin frohloekte und im Oktober 1750 
wurden die bereits gelockerten diplomatischen Beziehungen 
zwischen beiden Mächten abgebrochen. Im Jahre 1753 
schloss Russland eine geheime Konvention mit Oesterreich 
gegen die Türkei, den Schützling Frankreichs, Elisabeth 
aber wollte sich Frankreich wieder nähern, der Reichs- 
vicekanzler Graf Woronzow war im Gegensatze zu seinem 
Rivalen Bestushew-Rjumin diesen Wünschen nicht abhold, 
Ludwig XV. nebst seinem Geheimkabinete (Le Secret 
du Roi) schiekte mehrere geheime Emissäre nach Russ- 
land, und der Kaufmann Michel war der erste Mediator 
zwischen den Souveränen. Im August 1755 nahm die ge- 
heime Staatskonferenz in Wien bei ihrem Beschlusse, im 
Frühjahr 1756 Preussen den Krieg zu erklären, Russlands 
und Frankreichs Hilfe als gewiss an, am 30. September 
schloss Bestushew mit dem britischen Gesandten Williams 
einen Subsidienvertrag, der Grossbritannien 70000 Mann 
zur Verfügung stellte, und Bestushew setzte voraus, dass sie 
gegen Preussen verwendet würden, Elisabeth aber machte 
den Vertrag im Februar 1756 zu nichte, Friedrich II. 
wurde durch den ihn bewundernden Grossfürsten -Thron- 
folger von Bestushews Muchinationen unterrichtet und 
schloss im Januar 1756 mit Georg II. den Neutralitäts- 
vertrag von Westminster, eine kapitale Niederlage für 
Bestushew. Letzterer rieth immer wieder zu Preussens 
Demüthigung und rechnete auf die Erwerbung Ost- 


b 


w— . 


V. Die letzte Romanow. “0 





‚preussens. Oesterreich und Frankreich schlossen am 
1, Mai das Freundschafts- und Vertheidigungsbürdniss 
von Versailles und Elisabeth versprach ihren Beitritt zu 
demselben sowie im Kriegsfalle 80000 Mann, wofür ihr 
nach Friedrichs Besiegung Ostpreussen zufallen sollte; 
am 11. Januar 1757 trat sie bei und rief aus: „Dieser 
Bösewicht soll nicht mehr lange regieren!" Im Bep- 
tember 1756 hatte sie den Ritter Douglas uls französischen 
Diplomaten offen empfungen, sie sandte einen Geschäfts- 
träger nach Versailles und unter Woronzows Aegide führte 
der so häufig irrthümlich als Frau bezeichnete Chevalier 
d’Eon®), Douglas’ Sekretär, die geheime Korrespondenz 
beider Monarchen, zugleich Bestushews Autorität unter- 
grabend. In der St. Petersburger Konvention vom 2. Pe- 
bruse 1757, welche das Bündniss von 1746 erneuerte, 
einigten sich Oesterreich und Russland über die gemein- 
same Kriegführung zum Zwecke „der Demüthigung“ 
Friedrichs, und am 2. Juli erschien der Marquis de 
UHöpital als ausserordentlicher und bevollmächtigter Bot- 
sehafter Frankreichs in St. Petersburg, die diplomatischen 
Beziehungen traten wieder in vollen Zug, des Kanzlers 
Bruder Michail Petrowitsch Bestushew-Rjumin, der bis- 
herige Oberhofmarschull, ging als ausserordentlicher Bot- 
sehafter nach Versailles. Der Generalfeldmarschall Stepan 
‚Fedorowitsch Apraxin führte 83000 Mann nach Preussen, 
erzwang die Kapitulation von Memel, seine Leute hausten 
wie die Hunnen und am 30. August 1757 besiegte er den 
Feldmarschall Lehwald bei Gross-Jägerndorf, unterliess 
es aber, in Königsberg einzurücken, Elisabeth war schwer 
erkrankt, ihr Ableben stand in Aussicht; da wollten 
Apraxin und sein intimer Freund Graf Bestushew-Rjumin 
es nicht mit dem Nachfolger verspielen; Bestushew hasste 
Peter Fedorowitsch, den Verehrer Friedrichs IT, hatte 
alles gethan, um seine Ehe zu vergiften, hatte ihn be- 
ständig bei Elisabeth verdächtigt, sein Ansehen unter- 
graben und Katharinas Untreue begünstigt, er dachte 
selbst an Peters Ausschliessung vom Throne und an die 


*) Kleinschmidt, Chevalier d’Eon, in „Europa*, Leipzig 1882. 


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Te] 


“ V. Die letzte Romanow. 





Nachfolge von Katharinns Sohn Paul Petrowitsch unter 
ihrer Regentschaft, gewann Apraxin, den Hetman Rasu- 
mowski und andere Männer von Einfluss für seine Pläne; 
als aber Elisabeth jetzt erkrankte, galt es, sich Peter zu 
verpflichten, und auf Bestushews Ordre kehrte Apraxin 
über den Niemen zurück. Des Kanzlers Feinde, voran 
Woronzow und die Schuwalow, machten nun gegen ihn 
und Apraxin mobil, die Repräsentanten Ludwigs XV. und 
Maria 'Theresias erhoben geharnischte Vorstellungen. Bli- 
sabeth war genesen und voll Enträstung über die willkür- 
liche Handlung Apraxins. Sie entzog ihm im September 
den Oberbefehl, entkleidete ihn aller Würden und liess 
ihn in einem Landhause bei St, Petersburg interniren, wo 
er während des Verhörs vor dem Kriegsgerichte im August 
1758 plötzlich starb. Seine Papiere stellten den Kanzler 
blos; am 25. Februar 1758 wurde Bestushew-Rjumin ver- 
haftet, am 10. März aller Aemter und Würden entsetzt, 
als Hochverräther zum Tode verurtheilt, jedoch aın 
16. April zur Verbannung nach dem Gute Goretowo (bei 
Moshaisk), welches er der Familie Mussin- Puschkin ge- 
stohlen hatte, begnadigt, wo der Heuchler ein Andachts- 
buch schrieb. Der nichtige Graf Woronzow wurde im 
Februar 1758 Reichskanzler, einen Reichs-Vicekanzler be- 
stellte man nicht. Katharina, deren Mitschuld an Bestushews 
Intriguen unzweifelhaft war, wurde von ihm nicht ver- 
rathen, doch traute ihr Elisabeth nicht, hielt sie einige 
Zeit unter strenger Aufsicht und vergab ihr erst nach 
reumüthigem Kniefalle. Apraxins Nachfolger, der General- 
feldmarschall Wilim Wilimowitsch Fermor (aus englischer 
Familie) zog am 22. Januar 1758 in Königsberg ein und 
liess am 24, dem Geburtstage Friedrichs IL, Elisabeth 
daselbst für Ostpreussen huldigen, hauste barbarisch in 
der Mark, wurde deutscher Reichsgraf, aber bei Zorndorf 
am 25. August von Friedrich und Seydlitz völlig ge- 
schlagen, im Oktober stand kein Russe mehr auf deut- 
schem Boden. Graf Peter Ssemenowitsch Ssaltykow kam 
im Sommer 1759 mit einem Heere an die Oder, schlug 
Wedell am 23. Juli bei Kay. nahm Frankfurt, vereinigte 
sich mit den Oesterreichern unter Loudon und besiegte 


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B- 


— 


_V. Die letzte Romanow. [1 





Friedrich am 12. August in der blutigen Schlacht von 
‚Kunersdorf, freilich unter eigenem grossem Verluste; nur 
die Zwietracht Ssaltykows und Loudens rettete Friedrich 
nach dieser Niederlage vor der Vernichtung; zum General- 
feldmarschalle befördert, zog Ssultykow nach Polen ab 
und da auch er das Auge auf den Thronfolger gerichtet 
hielt, that er im Jahre 1760 gegen Preussen nichts von 
Belang. Elisabeth wollte den Krieg nicht enden lassen, 
ohne eine Gebietserweiterung zu erhalten, und schloss in 
diesem Sinne am 1. April 1760 in St. Petersburg einen 
neuen Vertrag mit Oesterreich, der ihr Östpreussen ver- 
hiess. Im November d. J. ertheilte sie einem Geliebten 
aus ‚der Jugendzeit, dem armseligen Generalfeldmarschalle 
Grafen Alexander Borissowitsch Buturlin, den Oberbefehl 
über die mit den Oesterreichern vereinte russische Armee 
in Preussen, doch wagte Buturlin bei allem Preussenhasse 
keine Schlacht gegen Friedrich, liess ihn 1761 im „Hunger- 
lager“ von Bunzelwitz in Ruhe, um nicht Loudon einen 
Dienst zu erweisen, zog im September auf Posen ab und 
liess nur 20000 Mann unter dem Grafen Zachar Grigorje- 
witsch Tsehernyschew bei Loudon. Im Oktober 1760 
hatten die Generale Tschernyschew und Tottleben Berlin 
besetzt, eine Kontribution erhoben und viele Etablissements 
zerstört, sich aber weit gesitteter als die Kroaten des oester- 
reichischen Streifcorps benommen und waren nach wenigen 
Tagen abgezogen, nach langer Belagerung ergab sich 
Kolberg am 16. Dezember 1761 dem Corps des Grafen 
Peter Alexandrowitsch Rumjanzow. Wiederholt hatte 
Elisabeths Gesundheitszustand ihren Tod in nahe Aussicht 
gestellt; die vorsichtigen Höflinge rückten dem Thron- 
folger immer näher, und dieser liess Woronzow wenige 
Tuge vor Elisabeths Ende wissen, er dürfe unter ihm 
Kanzler bleiben, Woronzow legte sich zu Bette und stellte 
sich krank, um aus der Ferne gesicherter handeln zu 
können. Wie bei Elisabeths Mutter beschleunigte bei ihr 
die Trunksucht das Ende, sie starb in Gegenwart beider 
Rasumowski am 5. Januar 1762 und in ihr erloschen die 
Romanow in direkter Linie. Friedrich der Grosse, der 
wiederholt dem Vorleser de Catt und anderen Vertrauten 


” V. Die letzte Romanow. 


gegenüber seinem Gefühle gegen „le Catin du Nord“ Aus- 
druck gegeben hatte, jubelte über das Ableben seiner 
intimsten Feindin und hätte den dasselbe meldenden russi- 
schen General von Hordt fast umarmt, während Ludwig XV. 
in ihr seine wärmste Freundin verlor. Ihr Gatte, Graf 
Alexei G. Rasumowski, bezog sofort das Anitschkow- 
Palais, allen Anscheine nach war ihre Ehe kinderlos 
geblieben, alle gegentheiligen Behauptungen sind Mythen. 


gab ihm seinen eigenen St. Audress-Ordon und den Stab 
des Generalfeldmarschalls, konnte ihn aber nicht be- 
stimmen, das preussische Pxereitium im russischen Heere 
einzuführen. Peter besuchte mit seinem edeldenkenden 
Generaladjutanten Gudowitsch im April 1762 Iwan VI. in 
Schlüsselburg und war tief bewegt vom Anblicke seines 
unglücklichen Vorgüngers, dessen Schicksal er buld 
theilen sollte, Gegen Alexei G. Rasumowski, der nie 
sein Freund gewesen, benahm er sich voll Güte: er be- 
stätigte ihm seinen ganzen Besitz, ertheilte ihm die er- 
betene Entlassung, besuchte ihn oft und nahm u.a. das 
Geschenk einer Million Rubel an; den Hetman Kirill 
G. Rasumowski hingegen konnte er nicht leiden, an ihm 
liess er im Qualme des Tabakkollegs seine Launen aus, 
er behandelte den Sybariten als Hofnarren und wollte 
ihn zwingen, das preussische Reglement peinlich zu be- 
folgen, Kirill sagte ihm hingegen, als Peter über die Er- 
nennung zum preussischen Generalmajor jubelte: „Eure 
Majestät können dem Könige durch die Ernennung zum 
russischen Feldmarschalle danken“, und schloss sich immer 
enger Katharina an. Peter ernannte die Brüder Schu- 
walow alsbald zu Generalfeldmarschällen, obwohl alle 
Schuwalow ihn am liebsten vom Throne ausgeschlossen 
gesehen hätten, wie er wohl wusste; den Kammerherrn 
Schuwalow überhäufte er mit Gunst, den Kanzler Bestushew- 
Rjumin hingegen liess er im Exile. Woronzow blieb 
Kanzler, hatte aber wenig Einfluss und musste sich im Juni 
den Fürsten A. M. Galitzin als Reichsvieekanzler gefallen 
lassen. Am Schlimmsten war die Lage der jungen Kaiserin, 
die ihr Gemahl hasste; sie vergalt ihm übrigens diesen 
Hass nicht nur von Herzen, sondern entschädigte ihr Herz, 
das Peter nicht ausfüllen konnte, anderwärts; an die Stelle 
Poniatowskis trat „der schönste Mann des Nordens“, Grigorii 
Grigorjewitsch Orlow, ein Frauenbezwinger von Ruf, 
glühende Leidenschaft verband die Beiden und am 22. April 
1762 wurde ihnen ein Sohn geboren *). Peter behandelte 


“ VL Der erste Gottorp. 





*) Alexei Grigorjewitsch „Romanow“ erhielt bald den Namen 
Bobrinski, wurde sorgfältig erzogen, von Kaiser Paul als Bruder be+ 


I 





| 


“ VI. Der erste Gottorp. 





voll Selbstgefälligkeit, Eigensinn und blinder Selbst- 
bethörung: so grub er mit eigenen Händen sein Grab. 
Er wollte alle Heiligenbilder aus den Kirchen entfernen, 
nur Christum und Maris ausnehmend, wollte den Geist- 
lichen einfache schwarze Kleider oktroyiren und in seinem 
Palais eine protestantische Kirche einrichten; die entrüstete 
Geistlichkeit protestirte nicht nur, sondern hetzte die Be- 
völkerung überall gegen ihn auf und brachte ihr Gemüth 
in geführliche Wallung; als dann Peters Verfügung wegen 
der Kirchengüter erfolgte, verfasste der Erzbischof Arssenü 
von Rostow eine geharnischte Bittschrift, die Peter in 
'Wuth versetzte. Während der Kaiser die Russen in ihrer 
Religion beleidigte und den Protestanten aus Kiel hervor- 
kehrte, stiess er die Russen auch in ihrem Nationalgefühle 
vor den Kopf und bevorzugte blindlings alles Deutsche; 
gegen das Französische, das unter Elisabeth die grosse 
Rolle gespielt hatte, zeigte er heftige Abneigung, wie er 
denn die französischen Schauspieler sofort vom Hofe weg- 
schiekte und Breteuil hintansetzte; unter den fremden 
Diplomaten waren ihm der britische Minister Keith und 
der preussische Baron von der Goltz am liebsten. Er löste 
sofort die Leibkompagnie des Preobrashenskischen Regi- 
ments auf, beleidigte sämmtliche Garderegimenter, die sich 
doch als die Prätorianer Russlands vorkamen, stellte seine 
holsteinische Garde über alle und hielt sie als Vorbild 
hin, ernannte seinen Vetter, den Prinzen von Holstein- 
Gottorp, zum Generalfeldmarschalle und zum Obersten der 
Garde zu Pferd, wollte die Uniform der Regimenter ab- 
ändern und äffte in allem Preussens Einrichtungen nach, 
wie er denn Friedrich den Grossen geradezu vergötterte; 
sein Heer sollte das Abbild des preussischen werden. Wie 
Katharina die Kirche für sich gewann, obwohl auch sie 
Protestantin gewesen war, so gewann sie das Heer für sich, 
obwohl sie Deutsche war, sie schmeichelte ihm, besonders 
den verletzten Garden, stand in innigster Fühlung mit den 
Soldaten durch Grigorii G. Orlow und seine vier Brüder, 
die fast alle in der Garde dienten und sich ihr mit Leib 
und Seele widmeten. Zahlreiche Offiziere nahmen den 
Abschied, andere murrten und wollten von dem Kriege 








nicht 1, Ohötardies Rolle von 1 1781, en 
XV, der Herzog von Choiseul und der Graf 
Broglie in ihren Depeschen an ihn aufs Schärfste 
'rügten, er reiste vielmehr Ende Juni dem kommenden 
Binatsstreiche aus dem Wege. Peter bereitete im Schlosse 
Oranienbaum den Krieg gegen Dänemark vor, seine Hol- 
‚steiner waren bei ihm; er hatte zwar Verdacht auf einige 
Leute am Hofe, wie auf den Artilleriehauptmann Grigorii 
Orlow. und setzte Kundschafter über sie ein, Katharina 
aber sammelte in Peterhof alle Fäden zur Verschwörung. 
während ihr Sohn Paul mit seinem Oberhofmeister Nikita 
Iwanowitsch Panin im Sommerpalsis zu St. Petersburg 
& blieb; Panin war übrigens durch die reizende Koketterie 

‚der Pürstin Daschkow für die Revolution gegen Peter ge- 

wonnen, dachte aber nicht an Katharinas Thronbesteigung, 

sondern. an die seines Zöglings Paul. Neben Katharina 

die bei weiten interessanteste Persönlichkeit der Ver- 

schwörung war die neunzehnjährige Fürstin Katharina 
















*) Praskowju Alexandrowna, geborene Gräfin Rumjanzow, ebenso 
schön wie intrigunnt, Vertraute Katharinas, begünstigte ihre Ver- 
bindung mit Orlow wie später mit Potemkin, hatte selbst ein stür- 
misches Herz, wurde 1773 Staatsdame Katharinas IT., machte ihr aber 
Korsakow-Rimskoi abspänstig, wurde 1779 verwiesen und starb 1786. 
Sie war die Schwester des „Turenne Russlands®. 

**) Ausser Iwan VI. ist Peter III. der einzige ungekrönte 
mssische Kaiser; seine Absetzung erschien den Russen, weil er nie 
gekrönt worden, viel begreiflicher, wie es woll sonst gewesen wäre, 














‚das seine und hielt einige Momeı 
Potemkin und sein Glück datirte von diesem. 
licher als die andere; der alte Münnich rieth een, 
mit seiner Suite nach der Hauptstadt zu begeben, . 2 
riethen zur Flucht zu den Truppen nach Narwa oder nach 
Holstein, Finnland, Ukraine ete., er entschied sich endlich 
zur Führt nach Kronstadt, doch gab Admiral Talysin 
‚Befehl, ihn nicht aufzunehmen, die kleine Flottille wurde 
vom Geschütze der Festung bedroht. Peter musste umkehren 
und er fuhr nach Oranienbaum. Einer um den Anderen 
verliess ihn, der Kanzler Woronzow, der charakterlose 
Generalfeldmarschall Fürst Trubetzkoi u. A. huldigten der 
Kaiserin. Münnich spornte vergebons Peter zum Wider- 
stande an, vergebens riethen ihm seine Holsteiner Soldaten 
dazu, er schrieb statt dessen demüthige Briefe an die che- 
| brecherische Rebellin und bat sie, ihm zu gestatten, dass er 
j sich mit seiner Freundin Woronzow und mit seinem General- 
adjutanten Gudowitsch, dem Throne entsagend, nach Hol- 
| stein zurückziehe: seine feigen Gusuche blieben ohne 
Antwort. Sein verrätherischer Kammerherr aber, Ismailow. 
verhaftete ihn am 10. Juli in Oranienbaum, erzwang die 
Abdankungsakte, die er sogleich Grigorii G. Orlow und 
dem Vieekanzler Fürsten Galitzin überlieferte, und brachte 
seinen Gefangenen nach Peterhof. Katharina verweigerte 
„dem gewesenen Kaiser‘ die erbetene Zusammenkunft 
und Ismailow transportirte ihn, weil in Schlüsselburg noch 
keine Wohnung eingerichtet war, nach dem Schlosse 
Ropseha bei Peterhof; seine holsteinischen Truppen wurden 
| entwaffnet. Katharina hielt am 11. Juli einen triumph- 
artigen Einzug in St. Petersburg, und von Meinertzhagen, 


en 
































104 Vi. Der erste Gottorti. 

Misshandlungen durch ihn, den Fürsten F. 8. Barjatinski 
und Teplow endete der Unglückliche am 17. Juli in 
Ropscha; ein Munifest belehrte das Volk, er sei an 
Hämorrhoidalcholik gestorben, und unter Hintansetzung des 
üblichen Ceremoniells wurde er am 21. Juli neben der un- 
glücklichen Regentin Anna Leopoldowna im St. Alexander- 
Newski-Kloster begraben, nicht wie alle anderen Kaiser 
in der $t. Peter- und Pauls-Kathedrale. Ohne Peters Mord 
anzuordnen, billigte ihn Katharina aus vollem Herzen und 
war voll Dankbarkeit gegen die Mörder, die Fürstin Dasch- 
kow beklagte das Ereigniss wegen der Rufs ihrer grossen 
Freundin*), Katharina erheuchelte masslosen Schmerz, 
schien die Vergebung in Person zu sein und suchte an 
raffinirter Heuchelei ihres Gleichen. Sie fühlte sich aller 
Ketten ledig, die unumschränkte Selbstherrscherin eines 
Riesenreiches, und dachte nicht daran, ihrem Sohne die 
Krone zu überlassen, wie Panin geträumt hatte. 


*) „Madame, es ist ein zu plötzlicher Tod für Ihren und meinen 
Ruhm !“ sagte sie, und die Familie Orlow schwur und hielt ihr töd- 
liche Feindschaft. 





















‚Gebot, im Herrschen scheute sie vor keinem nach so 
schlechten und unedlen Mittel zurück; sie tauschte zwar 
mit Voltaire Lobschriften über die Freiheit und über 
die Menschenrechte aus, sie pries zwar Montesquieus 
Geist der Gesetze und seine Persischen Briefe mit ihrer 
scharfen Kritik in Inuten Tönen, vergötterte sich jedoch 
selbst und erblickte in der Abhängigkeit zweier Welten 
das einzig würdige Fussgestell für ihren ewigen Ruhm. 
Vielleicht einzig unter allen Frauen, war sie vollendete 
Courtisane, vollendete Kaiserin. Mit- und Nachwelt sollten 
sie als schöpferisches Genie bewundern, der Beifall eines 
Friedrichs des Grossen, eines Joseph II. schmeichelte ihr 
ebenso wie der eines Voltaire, der da gesagt hat: „Ich 
weiss, man wirft ihr einige Kleinigkeiten wegen ihres 
Mannes vor, das sind aber Familienangelegenheiten, in die 
ich mich nieht mische; übrigens ist es nicht nachtheilig, 
wenn man ein Unrecht wieder gut machen muss, das Ie- 
nöthigt grosse Anstrengungen, damit das Volk Einen 
achten und bewundern müsse.“ Katharina wollte that- 
sächlich in Russland Civilisntion verbreiten; wo sich aber 
die Kultur nicht durchsetzen liess, sollte wenigstens der 
Schein, die Tünche, gegeben werden. Mit ihren Staats- 
männern, Freunden und Günstlingen konferirte und korre- 
spondirte sie beständig über Plüne, Erfordernisse und Ein- 
richtungen; erschwert wurden ihre Arbeit und ihr Erfolg 
durch die Bornirtheit der Anschauung und dureh die Ab- 
neigung gegen das Neue seitens ihres Volkes, wie schon 
Peter der Grosse denselben Hemmnissen begegnet war; 
die Veberwindung derselben sollte aber und musste ihren 
Ruhm erhöhen, wie sie im Jahre 1769 dem Bildhauer 
Falconet schrieb: ganz allmälig machte sie den Russen 
das, was gut, vernünftig und werthvoll war, durch die 
zwingende Macht der Gewohnheit angenehm und wünschens- 
werth. Mit unerschütterlicher Ueberzeugung lehrte sie 
das Glaubensbekenntniss ihrer absoluten Muchtfülle und 
wies Gedanken einer aristokratischen Beschränkung ihrer 
Macht nach schwodischem oder polnischem Muster, wie 
Graf Nikita Iwanowitsch Panin u. A. sie hegten. mit der 
Rücksichtslosigkeit Anna Iwanownas diktatorisch ab, 


k 














ee ae „in ‚allem da ee 
ern den Russen gab und weil das Haus Holstein 
so on Einfluss in allen Reichsangelegenheiten be- 
sass“*), sie herrschte, weil sie die Russin spielte**). 
„Eine Deutsche, gesetzt, klarblickend, methodisch, weniger 
‚sentimental als Maria Theresia und humaner als Friedrich, 
«.. Deutsche von Race und von Charakter, ward sie zur 
‚grossen russischen Souveränin® (Sorel). Aus Berechnung 
schmeichelte Katharina stetig den ihr von Natur fremden 
Russen; Russland stand an der Spitze aller ihrer Pläne, 
aller ihrer Gedanken, sie umgub sich fast nur mit Russen, 
so oft sie auch als Kaiserin ihre Geliebten wechselte, so 
fiel ihre Wahl doch fust nur auf Russen — und doch 
‚geboten ihr der Verstand und das Leistungsbedürfniss, bei 
‘Wahl der Vollstrecker ihres absoluten Willens nicht nach 
dem Heimathsscheine, sondern nach dem Talente zu 
fragen, und sie nahm auch tüchtige Fremde mit Freuden 
in Dienst, wie sie mit ihrem scharfen Auge die Fühigsten 
aus allen Parteien und Schattirungen herausfand und 
herausgrifl, wie Napoleon 1. über diesen Unterschieden 
stehend und danach nicht fragend. In ihrer absoluten 
Gemüthskälte liess sie auch die treuesten Diener und Räthe 
fallen, sobald ihren eigenen Absichten damit gedient ward, 
und als Meisterin in Verstellung und Lüge verbarg sie 
nicht nur das wahre Gesicht ihrer Wünsche und Pläne, 
sondern versprach und erklärte gar manchmal das Gegen- 
theil dessen, was ihr Kopf und Sinn beschäftigte, eine 
*) Kleinschmidt, Vom Tode Peters II, bis zum Tode 
Iwans VI. 
**) Kleinschmidt, Katharina II. als Civilisatorin, in „Deutsche 
Zeit- und Streitfragen*. Nene Folge. 5. Jahrgang. Heft 80, Ham- 
burg 1891, 


b 









| 





VI. Katharina II. “ | 








f der Religionsgeschichte und der Philosophie nach England 
und wollte den geistlichen Nachwuchs der westeuropäischen 
Kultur nähern. Als der Erzbischof Arssenii her 
in einer scharfen Denkschrift gegen die Säkularisation und 
die Willkür protestirte, überantwortete ihn die heilige 
Synode als Majestätsbeleidiger der Kaiserin, man brachte 
ihn gefangen nach Moskau, auch die Intervention des 
Kanzlers Bestushew-Rjumin rettete ihn nicht, Katharina 
husste ihn als falschen Propheten, Lügner und Hochver- 
räther; er verlor sein Amt, wurde zum Mönch degradirt 
und im Mai 1763 in ein Kloster an der Mündung der 
Dwina eingeliefert. Freilich waren politische Hinter- 
gedanken mit im Spiele, als Katharina in Polen die Sache 
der Dissidenten verfocht; sie duldete selbstverständlich 
keinerlei Uebergriffe der römischen Geistlichkeit und stellte 
sich Papst und Papstthum absolut unabhängig gegenüber. 
ignorirte gleichsam das Dasein des Papstes und dachte 
nicht an ein Konkordat mit ihm, löste die katholischen 
Mönche in ihrem Reiche völlig vom Papste und von den 
in Rom sitzenden Ordensgeneralen und suchte aus den 
Katholiken treue russische Unterthanen zu machen; als 
der Papst selbst den Jesuitenorden aufhob und die katho- 
lischen Mächte denselben verboten, liess sie gleich Priedrich 
dem Grossen die Jesuiten unbeirrt im Lande und wusste 
es wohl zu verhindern, dass sie ihr gefährlich werden 
könnten: infolge der französischen Revolution emigrirten 
viele nach Russland, wo vornehme Familien sie mit Vor- 
liebe zu Erziehern ihrer Kinder nahmen. Ebenso gütig 
schützte Katharina Protestunten, Mohammedaner und 
Juden, sie verbot den Orthodoxen die Propaganda unter 
den Andersgläubigen, erlaubte Herrnhutern und Menno- 
niten, sich anzusiedeln: sie organisirte die griechisch-unirte 
Kirche im Hinblick auf deren Wiedervereinigung mit der 
orthodoxen, die aber unter ihr nicht erfolgte: die Ras- 
kolniks wurden voll Milde behandelt und Katharina war 
der gunz irrigen Ansicht, bei besserer Bildung des Volks 
werde es in 60 Jahren keine Sekten mehr geben. Die 
grosse Optimistin musste eben auch manche Täuschung 
erfahren! 





FE, N 





eg 
**) nn seinen Sohn Peter, der ihn am 


sie sich den Weg zur späteren Annexion Kurlands. Graf 
‚Bestushew-Rjumin gab ihr manchen Wink und Rath in 


Hasse der Familie Orlow weichen, der Vieekanzler Fürst 
Galitzin, der im April 1764 ein Bündniss mit Preussen 
unterzeichnete, hatte nie Einfluss besessen, hingegen stand 
Graf Panin unter dem bescheidenen Titel eines „ersten 
Mitglieds des Kollegs der auswärtigen Angelegenheiten“ 
von November 1763—1781 an der Spitze der ganzen aus- 
wärtigen Politik. Die Haltung der Regierung gegen 
Frankreich war unter der französischer Kultur so zuge- 
neigten Fürstin geradezu feindlich, es war. wie Rambaud 


*) Kleinschmidt, Vom Tode Peters Ill. ete. 
**) Ernst Johann starlı am 29. Dezember 1772 und der rnasische 
"Hof trag um den einstigen Regenten Russlands acht Tage Trauer. 














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| 
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4 



















und der alte B 


a te Te 
‚der Athlet, er wolle mit G 


stützte ihn mit seiner List, verfasste 
der Nation“ eine Bittschrift an Katharina, 
wieder verheirathen, doch setzten der 
der Hetman Rasumowski, Panin, Tsc 
den Bestrebungen Orlows geschlossenen s 
, und bei der Verschwörung der Garden 
1762 (s. oben) riefen dieselben, Orlow solle nie „ 
(Krone) tragen. Am 4. Oktober 1762 erfolgte 
die Krönung Katharinas mit demselben Ceremoriältie 
bei Elisabeth, der Oberdirektor der Bautenkanzlei Iwan 
Iw. Betzkoi, der natürliche Sohn des Generalfeldmarschalle 
Fürsten J. J. Trubetzkoi, hatte eine Krone mit 58 Brillanten 
und 75 grossen Perlen im Werthe von zwei "Millionen 
Rubel herstellen lassen *); eine Reihe von Gnadenerlassen 
und Erhöhungen erfolgte, vor allen die Kreirung der Ge- 
brüder Orlow zu erblichen Grafen, Fest reihte sich an 
Fest. Aber selbst jetzt feierten die Verschwörungen nicht, 
man entdeckte sie jedoch zeitig; sie beabsichtigten Katlıa- 
rinas Entthronung und die Erhebung Iwans VI. oder Pauls, 
Dutzende von Gardeoffizieren wurden verhaftet, allgemeines 
Missvergnügen herrschte; unter den Verschworenen war auch 
ein Helfershelfer vom 9. Juli, der Offizier F. A. Chitrow, 
der allerlei unvorsichtige Reden geführt und sich auf die 
Fürstin Daschkow u. A. berufen hatte, er und seine Ge- 
nossen wurden abgesetzt, zu ewigem Schweigen über ihre 
Verschwörung verpflichtet und verbannt; auf Anfrage 
Katharinas an die Fürstin wegen des Komplots traf eine 
beleidigende Antwort ein, welche zur zeitweiligen Ver- 
weisung derselben nach Riga führte. „Diese Dame“, so 
sagt der holländische Minister von Meinertzhagen in seinem 
Sekrete vom 26, Juli 1763, „hat gar zu frei ihre Gefühle * 
gezeigt und, sich auf die Gunst der Kaiserin stützend, den 
ersten Minister spielen wollen. ... Ich glaube, ihre Ent- 
fernung ist absolut nöthig, wenn man Ruhe und Stille 













®) Russkaja Starinn, März 1883. 


u 













118 VII. Katharina IL 
deren wenigstens damit nichts zu thun haben.“ 
Katharina begriff Rasumowski sehr wohl und sagte zu 
Woronzow: „Der Greis errieth meine Absichten und ent- 
sprach meiner Erwartung“, sie erwies ihm lebenslang 
fürstliche Ehren und entsagte dem Projekte einer Ehe 
mit dem Unterthanen*). Iwan VI. aber, den so mancher 
Verschwörer als Prütendenten aufwarf, sollte ihr nicht 
länger Unruhe bereiten, es wurde ein Gaukelspiel ver- 
anstaltet, das mit Iwans Tod in Schlüsselburgs Kasematten 
abschliessen musste; sie hatte Ordre gegeben, ihn im 
Falle eines Befreiungsversuchs zu tödten, und als der 
Lieutenant W, Mirowitsch vom Ssmolensker Infanterie- 
regimente einen solchen machte, überfielen die Wüchter 
den Sohn des Unglücks im- Sehlafe und ermordeten ihn 
am 16. Juli 1764; in perfidester Weise war der Mord ein- 
gefüdelt und ein kaiserliches Manifest vom 28. August be- 
lehrte die Russen über das schwarze Verbrechen „des 
Ungeheuers Mirowitsch“, der am 26. September in St. 
Petersburg enthauptet wurde — seit 1741 die erste Ent- 
hauptung in Russland. Iwan wurde in Schlüsselburg in 
aller Stille beigesetzt, Katharina hatte keinen Prätendenten 
mehr zu fürchten! 

Die Verschwörungen hörten jedoch nicht auf und 
galten fortan der Erhebung Pauls an die Stelle seiner 
Mutter, so 1768 die des Offiziers Tschoglokow, eines 
Vetters der Kaiserin Elisabeth (nach Sibirien verbannt) 
und Anderer. Katharina setzte sich auf dem Throne 
Peters des Grossen, dessen Geist auf sie übergegangen 
schien, immer fester und verdrängte jeden Anspruch an 
Selbständigkeit neben ihrer Autokratie; als Graf Kirill 
G. Rasumowski die Würde des Hetmans der Dnjepr- 
Kasaken in seiner Descendenz erblich zu machen plante, 
nahm sie ihm im November 1764 unter Erhebung zum 
Generalfeldmarschalle Amt und Einkünfte, liess die Het- 
manswürde unbesetzt, hob die freie Verfassung der Ka 
saken auf und machte die Ukraine zur russischen Provinz, 


*) Nach dem ausgezeichneten Werke von A. Wassiltschikow, 
Les Kazoumowski. Edition frangaise par A. Brueckner, T. 1, Halle 1898. 


1. — 


VII. Katharina IT. ur 


‚deren Civilverwaltung unter völliger Umgestaltung der 
Verhältnisse an kaiserliche Behörden überging; so war 
Kleinrussland einverleihbt. Rasumowski legte auch das 
Präsidium der Akademie der Wissenschaften nieder. 
welches Graf Wladimir Grigorjewitsch Orlow, der jüngste 
‚Bruder des Günstlings, ein anmassender und beschränkter 
Pedant, übernahm, führte, seinen Bruder Alexei 1771 be- 
erbend, das üppigste Sybaritenleben und wurde Potemkins 
Freund*). Die Verfassung der Ostseeprovinzen wurde 
von Katharina wesentlich beeinträchtigt und sofort von 
Kaiser Paul am 28. November 1796 restituirt. Die Macht 
des Senates wurde von Katharina sehr beschränkt, sie 
entkleidete ihn aller politischen Bedeutung. machte ihn 
zu einer Behörde zweiten Ranges und theilte ihn in sechs 
Departements ein, während sie den Generalprokureur des 
Senats zum Leiter der gesammten inneren Verwaltung 
machte und ihm 1781 in Geldsachen auch den Ober- 
prokureur der Synode unterstellte; Generalprokureur war 
von 1764 bis 1792 Fürst Alexander Alexejewitsch Wja- 
semski, ein nichtswürdiger Geselle, zugleich Finanzminister, 
KReichsschatzmeister, Justizminister, Mitglied des geheimen 
Staatsrathes u. s. w., er trieb nach allen Riehtungen hin 
Betrügerei, Bereicherung und Missbrauch; als er einmal 
in einer Senatssitzung zu dem Grafen Peter Iwanowitsch 
Panin, an ein Wort Peters des Grossen erinnernd, sagte: 
„Ihr vergesset, dass ich nach diesem Ausspruche das Auge 
des Reiches bin“, antwortete der General: „Nichts da, der 
graue Star des Reiches!“ Sein Nachfolger Graf A. N. Sa- 
moilow war ganz untauglich, aber ein Neffe Potemkins. 
Vergebens bemühte sich Graf Peter Iw. Panin, Nikitas 
Bruder, eine Zierde des Senats, dieser Behörde eine 
höhere Bedeutung zu bewahren, Katharina kümmerte sich 
nicht um die «ristokratischen Wünsche der Brüder Panin; 
Graf Nikita Petrowitsch hatte ihr ein Projekt vom 
8. Januar 1763 vorgelegt, worin ihr eine kaiserliche Raths- 
versammlung zur Mithilfe anempfohlen ward, „damit die 
Macht nutzenbringend wirken möge*, sie hatte es zwar 


*) Er starb im Januar 1808. 





18 VII. Katharina If, 





unterschrieben, aber noch selbigen Tages zerrissen, und 
der von ihr im Jahre 1768 geschaffene (Geheime) Staats- 
ratlhı, dem sie vorsass, empfing zwar die Oberaufsicht über 
alle Staatsangelegenheiten, in ihm wurde alles Wichtige 
'berathen, alle Reyierungszweige wurden von ihm aus 
besser organisirt, er entbehrte aber des Charakters einer 
obersten Stelle der Gesetzgebung. Seit Peter dem Grossen 
nannte man die Privatkanzlei des Herrschers das Cabinet, 
unter Peter II. wurden demselben eine Privaterbgüter- 
kanzlei und die kaiserliche Vermögensverwaltung unter- 
geordnet, in der seit Elisabeth die Bergwerke eine grosse 
Rolle spielten; letztere bildeten unter Katharina II. den 
einzigen Geschäftsgegenstand des Oabinets, sie errichtete 
am Cabinete ein geographisches Departement für Karten, 
das Paul der Expedition der Reichsökonomie überwies, 
und trennte ihre Privatkanzlei vom Cabinet. Sie hob die 
meisten Kollegien, d. h. Ministerien auf und übertrug 
deren Geschäfte Kallegialbehörden in den Gouvernements, 
der Generalprokureur stieg allmälig zum ersten Minister 
empor, indem er Justiz, Inneres und Finanzen leitete. 
Einer von Katharinas besten Rathgebern war der Balte 
Jakow Jefimowitsch Sievers (von Paul in den Grafenstand 
erhoben), der sie zur Einschränkung der Fulter bewog: 
mit ihm schuf Katharina 1775 die Statthaltereiverfassung, 
eine der Verwaltung sehr förderliche systematische Orga- 
nisation, keine eigentliche Selbstverwaltung, da die vom 
der Kaiserin geplante und durchgeführte ständische Ein- 
richtung zur Verstärkung der absoluten Krongewalt dienen 
sollte; Katharina übertrug die Verwaltung den Provinzial- 
kollegien unter Gouverneuren, gab der Provinz und dem 
Distrikte (ujesd) getrennte richterliche und administrative 
Lokaleinrichtungen; 1781 änderte sie mancherlei ab, er- 
richtete 40 Gourernements, beseitigte die petrinische Ein- 
theilung in Provinzen und bildete aus mehreren, meist 
aus zwei Gouvernements ein Generalgouvernement, eine 
Statthalterschaft, deren Inhaber mit weitgehender Voll- 
macht ausgestattet wurde. Die Statthaltereiverfassung von 
1775 blieb, von Modifikationen abgesehen, die Grundlage 
der Lokalverwaltung. Katharina bestand 1783 auf ihrer 


i 





Be VIE. Katharina IT. 18 
Einführang auch in Esth- und Livland und machte der 
‚dortigen Verfassung ein Ende, so verzweifelt die Balten 
‚auch dnrüber sein mochten. Die Balten sollten keine 

= Sonderstellung haben, „sie sind“, so schrieb Katharina an 
„Unterthanen des russischen Reichs; ich bin 

nicht Kaiserin von Livland, sondern aller Reussen“, doch 
erkannte sie gern die hohe Blüthe der baltischen Lande 
an. Den Östseeprovinzen entstammte eine lange Reihe 
‚hervorragender Männer der katharinischen Zeit, unter den 
Diplomaten sehen wir Budberg, Pahlen, Sievers, Stackel- 
berg, Igelstroem, Keyserlingk, unter den Generalen Michel- 
son, Derfelden, Essen, Buxhöwden, Benckendorff, unter den 
Gelehrten Baumeister, H. Storch, B. Bergmann; Hart- 
knochs Verlag in Riga war eine Macht auf dem Bücher- 
markte, olıne dass an eine Konkurrenz durch St. Peters- 
burg oder Moskau zu denken gewesen wäre; unter den 
besten Aerzten waren die Balten, wie denn Schulinus im 
Bozirke von Dorpat seit 1756 die Schutzpockenimpfung 
über ein Jahrzehnt vor Dimsdale ausübte. Die Balten 
waren Lehrmeister der Russen wie früher die Polen und 
die Kleinrussen. Versuche zur Selbstverwaltung, die Ka- 
tharina unternahm, misslangen, durch den Gnadenbrief 
von 1785 erhielten die russischen Städte die ständische 
Organisation, die sie trotz aller Fehler bis 1870 be- 
wahrten. In den russischen Städten führte Katharina die 
Einrichtung von Ehrenbürgern ein, die Alexander I. auf- 
hob, Nikolaus I, aber 1832 als in den Städten vornehmste 
Klasse wieder einführte, um der Ueberfuthung des Adels 
aus den unteren Ständen entgegen zu treten. Den russi- 
schen Adel versorgte Katharina am Hofe, in der Be- 
amtung und im Heere, sie gab ilım neuen Ansporn durch 
‚die Stiftung des militärischen $t. Georg- und des St. Wla- 
dimir-Ordens (1769 und 1782), während sie im Sinne 
Peters L. den altehrwürdigen Adel durch häufige Kreirung 
neuer Adeliger, durch Einschiebung von Parvenus dis- 
kreditirte. Durch den Gnadenbrief vom 2. Mai 1785 be- 
freite sie alle Edelleute vom persönlichen Dienste, von 
der Kopfsteuer, von Einquartirung und von körperlicher 
Strafe, gab ihnen das Privileg, Landgüter und Leibeigene 


— 


180 VII. Katharina TI. 





zu besitzen, und gewisse Vorzüge in der Rangordnung, auch 
war sie bestrebt, dem russischen Adel nach Vorbild des 
baltischen einen korporativen Charakter zu geben; jedes 
Gouvernement bekam eine Adelsversammlung, die einen 
Adelsmarschall wählte. Um der überhandnehmenden Ver- 
sumpfung des Adels zu steuern, sorgte Katharina für 
bessere Erziehung seines Nachwuchses dureh Kadetten- 
häuser für die Söhne, durch Fräuleinschulen, wie z. B. 
das Ssmolny-Kloster, für die Töchter; für ihre grossartigen 
Erziehungsanstalten errichtete sie zwei Vormundschafts- 
räthe in St. Petersburg und Moskau. 

Zeitlebens nahm Katharina viel Interesse am Er- 
ziehungswesen, dessen Reform sie aufrichtig erstrebte, in 
einer überall verbreiteten, nutzentragenden Volksbildung 
sah sie den Grundstein des Gebäudes, freilich blieben die 
unteren Klassen im ganzen ein schlechtes Material. Der 
Geheimrath Iwan Iwanowitsch Betzkoi, ein feingebildeter 
Mann, der Katharinas Korrespondenz mit Madame Geoffrin, 
der schöngeistigen Freundin des Königs Stanislaus Ponia- 
towski, einfädelte, war ein Verehrer der „spielenden Me- 
thode“ des Unterrichts und entwarf in diesem Sinne die 
Pläne zu den grossen Brziehungshäusern in beiden Haupt- 
stüdten, mit seinem Zuthun entstanden die reich dotirten 
Findelhäuser in Moskau und St. Petersburg (1763 und 
1772), und 1777 schrieb er nach französischem Muster „Le 
Systöme complet de l'öducation publique“; nach dem 
Muster von Saint-Cyr richteten er und Clere die adeligen 
Fräuleinschulen (s. oben) ein, die Katharina oft besuchte 
und über die sie sogar mit Voltaire korrespondirte, nach 
Rousseaus Emile wurden allerhand Versuche an der Jugend 
gemacht, Da an Schulen grosser Mangel herrschte, be- 
fahl Katharina 1775 „den Kollegien der allgemeinen Für- 
sorge“, für die Gründung von Schulen in allen Städten 
und grösseren Orten zu sorgen, und errichtete 1778 das 
Oberschulkollegium, doch blieb ihr Geheiss unerfüllt, man 
hatte weder Lehrer noch Bücher. Kaiser Joseph II. er- 
zählte Katharina im Jahre 1780 in Mohilew so begeistert 
von der Reorganisation des oesterreichischen Schulwesens, 
dass sie sich zur Nachahmung entschloss; sie errichtete 


E al 


u 


VIL Katharina II. 121 








1781 in St. Petersburg unter priesterlicher Leitung sieben 
einklassige Volksschulen, die schon im ersten Jahre 
486 Schüler aufzuweisen hatten, Das ganze Reich sollte 
der Wohlthat theilhaftig werden, darum ernannte Kathariaa 
im September 1782 eine Kommission zur Gründung von 
Volkssehulen und stellte an ihre Spitze ihren gewesenen 
‚Geliebten, Peter Wassiljewitsch Sawadowski; dieser Klein- 
russe, ein Schüler des Jesuitenkollegs in Orscha und der 
griechischen Akademie in Kiew, besass gründliche Kennt- 
nisse in den alten Sprachen, galt für einen Gelehrten. 
war aber so faul, dass Graf Stroganow sagte, er mache 
es noch besser als der liebe Gott, er thue sechs Tage 
nichts und ruhe doch am siebenten aus; ihm traten jetzt 
mehrere Gelehrte zur Seite, unter ihnen der Mann, der 
eigentlich die ganze Arbeit that, der vom Kaiser seiner 
Freundin überlassene Serbe Jankovics de Mirievo. Am 
1. Oktober 1782 bestätigte Katharina seinen Lehrplan, 
die meisten Schulbücher, welche die Kommission heraus- 
gab, hatten ihn zum Vater, er bereitete die ersten Lehrer 
vor, die St. Petersburger Schulen konnten schon Anfang 
1783 zweiklassig werden und am 13. Dezember d. J. er- 
öffnete die dortige vierklassige Hauptvolksschule ihre 
Thätigkeit. Die Bestätigung des Volksschulstatuts vom 
5. August 1786 machte die Schulreform für ganz Russ- 
land obligatorisch und dies Statut verfügte die Eröffnung 
vierklassiger Hauptvolksschulen mit auch lateinischem 
Unterrichte in den Gouvernementsstädten, zweiklassiger 
Volksschulen in den Kreisstädten. Am 22. September 1786 
erfolgte die Trennung des ersten Lehrerseminars, an dem 
man auch Griechisch trieb, von der St. Petersburger 
Hauptvolksschule, es entliess im Jahre 1789 die ersten 
64 Zöglinge, hielt sieh aber nur bis 1801 und Lehrer- 
seminare für die einfachen Volksschulen traten nie ins 
Leben. Auf der von Jankovics gebrochenen Bahn schritt 
Kosodawlew weiter, unter seinem Vorsitze gab die Kom- 
mission von 1782—1796 28 Lehrbücher heraus, fast nirgends 
tauchte jedoch eine Dorfschule auf und in den Städten 
fehlte es, da der Fiskus nichts beisteuerte, un Geld, so 
war denn wenig Tröstliches zu bemerken. Die Kommission 





VII. Katharina IT. 





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warf nun plötzlich ihr Augenmerk auf die baltischen Pro- 
vinzen, die Regierung machte aus den Schulen in Dorpat 
und Riga Hauptvolksschulen, errichtete das Katharineum 
in Riga mit nur russischem Unterrichte und liess die 
russischen Schulbücher ins Deutsche übersetzen, während 
sie grösstentheils aus dem Deutschen ins Russische übersetzt 
worden waren ; die Ostseeprovinzen hatten eben die besten 
Schulen in ganz Russland, wie selbst Graf Dmitrii A, Tolstoi, 
der Minister der Volksaufklärung, und Katkow zugeben. 
Für das höhere Schulwesen entwarf der gefeierte Diderot 
einen Plan, er rieth auch zur Gründung einer Universität, 
die diesen Namen verdienen möchte, denn die „Universität“ 
an der St. Petersburger Akademie der Wissenschaften war 
keine, wie ihr Rektor Lomonossow zugestand:; 1783 stu- 
dirten an ihr nur zwei Jünglinge, die nichts wussten und 
der Fürstin Daschkow abwechselnd je eine Woche 
Schreiberdienste leisteten, 1796 drei. Sie erlosch, die von 
Diderot angeregte kam nicht zu Stande und die von Sievers 
befürwortete Wiederherstellung der im Jahre 1710 einge- 
gangenen Dorpater Universität hatte keine Folge. Katharina 
erriehtete Schulen für Ingenieure, für Schifffahrt. für 
Handel, Militärschulen und 1773 die Bergakademie, die 
zumal für den Ural von grösster Bedeutung ward; in den 
siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts erreichte die 
Silberausbeute den Höhepunkt (über 1700 Pud)*) und 
zu Ende des Jahrhunderts lieferten die Kupferhütten 
wenigstens 200000 Pud: der Reichthum der Familien 
Stroganow und Demidow, der Fugger und Welser Russ- 
lands, wurde sprichwörtlich und sie thaten alles, um den 
Handel und Verkehr ihres Vaterlandes zu heben. „Credit“, 
meinte Prokopii Akinfiewitsch Demidow, „ist das Funda- 
ment bei jedem Beginnen“ und in seiner Freigiebigkeit, 
die keine Grenzen kannte, gab er zum Demidowschen 
Erziehungs- und Waisenhause in Moskau und zur Commerz- 
schule über eine Million Rubel, von ihm ging der Ge- 
danke aus, die erste Leihbank in Russland zu errichten, 
Und die Stroganow, die schon 1722 in Kasan Peter den 


*) Ein Pud gleich 40 Pfund. 


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12 VIT. Katharina IL 


glauben, dass die Sache 80 ist, sonsten habe ich gedacht, 
dass diese Courage ein jeder Strassenjunge in England 
besitze.“ Die gute Gesellschaft beeilte sich, dem ge- 
‚gebenen Vorbilde nachzuahmen, in einem Monate wurden, wie 
Katharina sagt, in St, Petersburg mehr Menschen geimpft, 
als in Wien in einem Jahre, Dimsdale hatte in beiden 
Hauptstädten übergenug zu thun und wurde reich, in 
allen Gouvernements, auch in Sibirien, war das Impfen 
im Gange, nur die Raskolniks, die Mohammedaner und 
ein Theil des niederen Volks blieben unbelehrbar: voll 
Humor schrieb Katharina an Tschernyschew, Niemand 
könne das Impfen abwarten, es sei jetzt Modesache. Die 
Zahl der Westeuropa mit Stipendien bereisenden Medi- 
einer wuchs an, im Jahre 1768 fand die erste medieinische 
Doktorpromotion in Russland, die des Finnländers G.Orräus, 
statt, der berühmte J. G. von Zimmermann vermittelte 
den Eintritt vieler deutschen Aerzte in russische Dienste, 
der englische Leibarzt Elisabeths und Peters, James 
Mounsey, schrieb 1762 eine Instruktion für alle Aerzte im 
Reiche und arbeitete einen Gesetzentwurf über ihre Rang- 
ordnung aus, Leibarzt Katharinas und im höchsten Masse 
bei ihr und in der Aristokratie angesehen war John Roger- 
son; unter den Aerzten begegnen wir vielen Balten und 
anderen Deutschrussen, der Unterricht an der medieinischen 
Schule am Kalinkin-Krankenhause in St. Petersburg wurde 
deutsch gegeben, auch russische Aerzte von grosser 
Tüchtigkeit traten jetzt auf, die zum Theil umfangreiche 
Schriften und Gutachten über die Moskauer Pest von 1771 
hinterlassen haben. Die Pest wüthete im Juli und August 
1771 entsetzlich in Moskau und raffte Hunderttausende 
hinweg, das Volk umdrängte ein wunderthätiges Mutter- 
gottesbild, um seine Hilfe zu erfiehen, und die Seuche 
grif durch die Ansammlungen immer mehr um sich, der Erz- 
bischöf Ambrosii wollte darum das Bild fortschaffen lassen, 
musste aber mit seinem Leben dafür zahlen ; mit Waffen- 
gewalt musste das wüthende Volk, das in den Aerzten 
Verbündete der Seuche sah, niedergeworfen werden, wobei 
Hunderte blieben. Katharina schiekte tüchtige Aerzte 
und ihren Favoriten Grigorü @. Orlow, um den Exeessen 


2 d 








126 VII. Katharina II. 

aus den besten Rechtsgelehrten“ (sechs Theile, 1817—1819), 
und im Jahre 1826 erschien Hilarion Wassiljews Werk 
„Neueste Anleitung zur Kenntniss der russischen Gesetze“. 
Katharina war erst einige Wochen regierende Kaiserin, 
als sie im Senate die Schöpfung einer Kommission für 
Gesetzgebung forderte und zum Chef derselben den wirk- 
lichen Geheimrath Fürsten Jakow Petrowitsch Schachows- 
koi. bekannt als Memoirenverfasser. ernannte. Die Frage 
wollte jedoch nicht vorwärts rücken. Katharina liess sich 
so leicht nieht abschrecken. denn sie wollte ihre Aera mit 
einem modernen Gesetzbuche eröffnen. die liberale Mit- 
welt sollte über ihre Leistung staunen und alle Intelligenz 
ihres Reichs sollte ihr bei der Arbeit dienstbar sein: sie 
selbst entwarf eine weitläufige Instruktion mit Auszügen aus 
Montesquieu und aus Beccaria. diese Instruktion zeugte 
in allen Punkten von der französischen Aufklärungs- 
philosophie und von dem Einflusse der westeuropäischen 
Publicistik. Katharinn arbeitete zwei Jahre daran und 
berieth sich mit Orlow. Panin u. A., sie feilte immer 
wieder daran. um es als ihr eigenstes Kind Gelehrten und 
Staatsmännern des In- und des Auslandes vorführen zu 
können. und der Haupttheil der Instruktion trug das 
Datum des 30. Juli 1767. des Vorabends der Eröffnung 
der gesetzgebenden Versammlung: die Instruktion wurde 
in verschiedene fremde Sprachen übersetzt*). Trotz aller 
philanthropischen Anwandelungen derselben blieb übrigens 
die Verfasserin die Autokratin de pur sang und dachte 
nie an die Einschränkung ihrer Allgewalt zu Gunsten der 
Giesammtheit. Sie erreichte ihren Zweck. die Welt in 
Staunen zu versetzen. vollständig. weit mehr noch als 
mit der Impfung: der französische Minister Herzog von 
Choiseul. den Katharina wegen seiner fortgesetzten poli- 
tischen Intriguen „den Kurscher Europas“ nannte, setzte 
die zum Theile äusserst liberale Instruktion auf den 
Index der verbotenen Bücher. während Voltaire seine Be- 
wunderung in einem Briefe an den russischen bevoll- 








*ı Pie interessanteste Ausgabe ist die St. Petersburger von 1770 
in Latein, Deutsch, Französisch und Russisch. 





m VIL Katharina IT. 

haben, sie dienen zum Wohle des Menschengeschlechts.. .. 
Wäre ich Papst, so würde ich Montesquieu heilig sprechen.“ 
Genaue Studien hatte sie auch in William Blackstones 
berühmten Commentaries on the laws of England gemacht, 
ja sie sagte, sie wisse in manchen Stücken ebenso viel 
oder mehr als Blackstone. Friedrich der Grosse empfahl 
ihr die Gründung einer Rechtsakademie, es kam zwar 
nicht dazu, doch sorgte Katharina dafür, dass junge Russen 
in Deutschland, zumal in Leipzig, Jura und Anderes 
studirten; ihre Studien wurden durch Inspektoren über- 
wacht, die Kaiserin selbst verfasste für diese Stipendiaten 
eine eingehende Instruktion und einen Studienplan; 
Studieneindrücke solcher Art, der Einblick in höher 
stehende Staatsgebilde und Kulturverhältnisse klangen 
deutlich wieder aus dem Buche Radischtschews, des Direk- 
tors der 8t. Petersburger Zollbehörde, „Reise von Peters- 
burg bis Moskau“ (St. Petersburg 1790); dasselbe imitirte 
Sternes Buch „Yoriks empfindsame Reise“, erschien der 
Kaiserin unter dem Eindrucke der französischen Revo- 
lution staatsgeführlich und wurde verfolgt, „weil es die 
französische Pest der Auflehnung gegen die Obrigkeit 
weiter verbreite“. Die fremden Diplomaten blickten mit 
Staunen auf den Fleiss Katharinas, der britische Bot- 
schafter z. B., Sir George Macartney, führte wegen ihrer 
legislatorischen Projekte eine eifrige Korrespondenz mit 
dem Staatssekretär der auswärtigen Angelegenheiten, 
Henry Seymour-Conway. Am 14. Dezember 1766 erschien 
das kaiserliche Manifest wegen der Einberufung einer 
gesetzgebenden Versammlung; Deputirte von Senat und 
Synode, aus den Kallegien und den Kanzleien, aus allen 
Kreisen und Städten sollten nach Moskau kommen, ihre 
lokalen Anliegen mittheilen und am Gesetzbuche mit- 
arbeiten. Man wählte 564 Deputirte und gab ihnen nach 
französischem Muster Cshiers mit, welche Katharina über 
alle Bedürfnisse und Anliegen unterrichteten; predigte sie 
als Repräsentantin der allgemeinen Menschenrechte das 
Princip der Gleichheit, so betonten hingegen viele Cahiers 
lokale berechtigte Eigenthümlichkeiten und Privilegien. 
Sehr mangelhaft war für den Gang der Verhandlungen 





180 VII. Katbarina II. 





und Wulf, die Deputirten Ursinus, eine hervorragende 
Kapacität, und Gadebusch aus Dorpat, Schwartz aus Riga 
und Strahlborn aus Narwa. Von ihrem Verhalten betreffs 
der Bauernfrage werden wir alsbald sprechen. Die Sitzungen 
der Versammlung wurden mit der Zeit seltener und am 
18. Dezember 1768 schloss der Präsident, der grosse General 
Alexander Iljitsch Bibikow, dieselbe mit der Verlesung eines 
kaiserlichen Ukas, der als Grund des Schlusses den Türken- 
krieg bezeichnete; mit den Ergebnissen zufrieden, äusserte 
Katharina: „Die Gesetzgebungskommission hat Mir durch 
ihre Verhandlungen Licht und Kenntnisse gegeben über 
‘das ganze Reich; von da ab wussten Wir, mit wem Wir 
es zu thun haben und für wen Wir sorgen müssen“ *), 
Die Spezialkommissionen blieben noch bis zum 4. De- 
zember 1774 zusammen, wo ein Ukas sie auflöste; die 
Hauptintelligenz war also noch sechs Jahre bei voller 
Arbeit; wahrscheinlich nahm die Regierung an den liberalen 
Anwandlungen der Kommission Anstand und Katharina 
nebst ihrer Umgebung dachten zu konservativ, um nicht 
bei jeder Reform die äusserste Vorsicht für das erste 
Gebot zu halten. Jedenfalls war das Beginnen mit der 
Kommission keineswegs eine Farce, es warf vielmehr, wenn 
es auch Torso blieb, Schlaglichter auf die ganze legis- 
latorische Thätigkeit Katharinas; Sievers hatte aber doch 
zu sehr geschwärmt, als er Katharina bei Ankunft der 
„Instruktion® geschrieben, künftige Jahrhunderte würden 
dieselbe Russlands goldene Bulle nennen. Niemals gab 
Katharina den Wunsch nach der Kodifikation auf, dachte 
vielmehr viel darüber nach, konnte aber nicht damit zu 
Stande kommen. 

Katharina beschäftigte sich viele Jahre mit dem Ge- 
danken an Aufhebung der Leibeigenschaft; die Lage der 
Bauern war unter den Nachfolgern Peters des Grossen 

*) A. Brückner, Die Verhandlungen der „grossen Kommission* 
in Moskau und St. Petersburg 1767—1768, in „Russische Revue‘, 
Band 22; B. von Bilbassoff, Katharina II., Kaiserin von Russland, 
im Urtheile der Weltliteratur, übersetzt von Th. Schiemann, 2 Bde. 
Berlin 1897; Ssergejewitsch besorgte die wissenschaftliche Heraus- 
‚gabe der Materialien der Kommission. 





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] 132 VII. Katharina IL 


] Katharina unterbreitet und von ihr mit Noten versehen*); 
er würde seine Bauern freigelassen haben, wenn er alles 

Land als sein Eigenthum hätte behalten können. Graf 
Nikolai Petrowitsch Scheremetew, der grösste Wohlthäter 

der Armen und reichste Privatmann, hatte 200000 Leib- 

| eigene, was einem Jahreseinkommen von 800000 Rubel 
| entsprach **), .er erklärte sich 1767 der Kaiserin gegenüber 
für die Aufhebung der Leibeigenschaft, sobald sie die- 

selbe durchsetzen könnte: er war so vorurtheilsfrei, dass 
er eine Leibeigene geheirathet hatte, die an seinem Privat- 
theater Schauspielerin gewesen. Katharina kam von ihren 
humanen Anwandlungen bald zurück; ihr Wort „Freiheit, 
Seele aller Dinge, ohne dich ist alles todt. Ich will Ge- 
horsam gegen die Gesetze, aber keine Sklaven!“ blieb 
Wort. Die zahllosen Kronbauern, welche sie unter ihre 
Günstlinge vertheilte, wurden deren Leibeigene; ein kaiser- 
licher Ukas verbot den Bauern, ihre Herren zu verklagen, 
diese hingegen durften ihre Leibeigenen nach Sibirien 
schieken oder als Soldaten einstellen; 1773 suspendirte 
Katharina zwar das Recht der Verschickung und der Ab- 
gabe zur Zwangsarbeit, aber schon in den achtziger Jahren 
war es wieder im Gange und erst Alexander L hob es 
auf; den Gutsherren verlieh Katharina die ausgedehnteste 
Gerichtsbarkeit und erweiterte ihre Befugnisse, wenn sie 
auch bisweilen gegen allzu grosse Willkür einschritt, wie 
sie 1768 die Gräfin Darja Ssaltykow, eine Bauernplackerin 
schlimmsten Schlags, zur Ausstellung am Pranger und zu 
ewiger Gefangenschaft verurtheilte. Während der gesetz- 
gebenden Versammlung in St. Petersburg kam die Frage 
der Emancipation der Bauern im Mai 1768 nur zufällig 
aufs Tapet, die Leibeigenen selbst waren ja mundtodt, 
hatten nicht wie die freien Bauern Vertreter wählen 
dürfen, und die Herren behaupteten zumeist mit dem 
Dichter Ssumarokow, die Bauern gehörten in die Leib- 


*) Ssomewski, Die Bauernfrage unter Katharina II. in Briefen 
‚ler Fürsten D. A. und A. M. Galitzin, in „Russkaja Starina“, 
August 1988. 

”*) Russkaja Starina, Dezember 1880. 









wie der Haushund an die Kette und der 


laut, voran die des Historiker« Fürsten Michail 
jowitsch Schtscherbatow, der in einem Aufsatze 
' die Verschlechterung der Sitten in Russland klagte 
Be. ein Herz für das Elend des gemeinen Mannes 
Schtscherbatow betonte, die Bauern seien Menschen 

wie die Herren und man dürfe sie nicht einzeln wie Vieh 
verkaufen, auf diesen Einzelverkauf legte er das Haupt- 
‚gewicht, ohne ihn freilich abstellen zu können; der Adels- 
deputirte von Koslow, Lieutenant Korobjin, verlangte, auf 
viele Bedrückungen hinweisend, Beschränkung der Macht 
der Gutsherren über die Bauern und Schutz des bäuer- 
lichen Eigenthums durch Gesetze; ein wahrer Sturm der 
Entrüstung erhob sich gegen den kühnen Volkstribunen, 
zu einer Abstimmung kam es gar nicht. In den „Gedanken 
über den Bauernstand“ schlug der Syndikus Gadebusch 
aus Dorpat einen verbesserten Rechtsstand der Leibeigenen 
vor, der esthländische Landratlı Baron Ungern-Sternberg 
erwarb sich Verdienst durch Formulirung der Rechte, die 
man den Bauern bewilligen könne, drang aber auch ‚nicht 
durch. Es blieb Alles beim Alten. Sievers sann immer 
noch nach, wie die Leibeigenschaft in ihren schädlichen 
Wirkungen wenigstens begrenzt werden könnte, und unter 
Katharinas hinterlassenen Papieren fand sich ein um- 
füssender, von ihr mit Notizen versehener Entwurf über 
Emaneipation der Kronbauern, 1776 hatte sie die Schrift 
des Pastors Grossmann über das den Bauern zu gebende 
Grundeigenthum prümiirt, und bei Verfügung der Statt- 
haltereiverfassung (8. 118) hegte sie die Hoffnung, besser 
als bisher über Missbräuche und Willkürnkte von Guts- 
herren gegen die Leibeigenen unterrichtet zu werden. 
Der bevollmüchtigte Minister Ludwigs XVL, Marquis 
de Vörae, schreibt: „Die Absichten der Kaiserin gingen 
noch weiter und sie fasste, mit dem Vorsatze, die Leib- 
eigenschaft allmülig abzuschaffen und zugleich die Gewerb- 
thätigkeit in Aufnahme zu bringen, den Entschluss, gegen 
eine sehr geringe Abgabe einer gewissen Einwohnerzahl 
in den verschiedenen Städten jährlich das Bürgerrecht zu 


1 in den Bauer; es wurden aber auch andere 


| 


184 VII Katharina II. 





verleihen, Dieser zweckmässige Plan hatte aber nicht 


den Erfolg, den sich die Kaiserin versprach.* Katharina 


entrieth der Ausdauer und der Opferwilligkeit, um die 
Schwierigkeiten, die der Emaneipation im Wege standen. 
zu beseitigen, sie scheute sich vor einer radikalen Reform 
der Agrarverhältnisse. Später ging sie unter Potemkins 
Einfluss noch einen Schritt zurück: von Missbräuchen, wie 
sie jetzt eintraten, hatte das in den polnischen Theilungen 
‚erworbene Weissrussland unter polnischer Herrschaft nichts 
verspürt, in Kleinrussland opferte Katharina die Bauern 
dem Adel, schaffte deren Freizügigkeit ab und führte am 
3. Mai 1783 die Leibeigenschaft für anderthalb Millionen 
bisher freier Bauern ein; dieselbe Frau, die das Wort rab 
(Sklave) aus der russischen Sprache strich, machte mit 
einem Pederzuge anderthalb Millionen in Kleinrussland 
zu Sklaven! In enger Verbindung mit der harten Lage 
der Bauern in Russland standen die wiederholten Bauern- 
aufstände, vor allem aber der höchst gefährliche Aufstand 
Pugatschews. Die Bauern erwarteten ihr Heil von Ver- 
änderungen, die Raskolniks waren unversöhnliche Feinde 
der strammen Herrschaft, die Kasaken am Jaik und am 
Don wollten ebenso wenig davon hören und sehnten sioh 
nach Abschüttelung des Joches. Die Regierung überwand 
im Jahre 1771 rasch den Aufstand der Kasaken am Jaik 
und der Kalmyken, von denen viele nach China aus- 
wanderten, um so mehr sollte ihr der Aufstand Puga- 
tschews zu schaffen machen. 

Jemelian Pugatschew, ein donischer Kasak, der im 
Siebenjährigen und im türkischen Kriege wacker gefochten 
hatte, war in enge Beziehungen zu den Raskolniks ge- 
treten, war der Haft entflohen und gab sich für Peter III. 
aus, von dessen wunderbarer Rettung er ein Märchen ver- 
breitete; ohne lesen und schreiben zu können, war er für 
Artillerie- und Pestungswesen beanlagt. hatte natürlichen 
Verstand und etwas Imponirendes; er äffte Hofhalt und 
Administration nach, umgab sich und seine Frau mit 
einem Hofstaate, mit Würdenträgern und Kollegien und 
verkündete, er ziehe nach St. Petersburg zur Bestrafung 
seiner kaiserlichen Gemahlin und zur Thronerhebung seines 


| 


VIE. Katharina II. 185 


Sohnes Paul. Das Schlimmste war, dass er einen Bauern- 
krieg entzündete, der seine Wirbel vom Don bis Moskau 
20g. dass er gegen die Sklaverei der Bauern auftrat und 
die Herren überall aufhängen liess; seine natürlichen An- 
hänger und Mitschuldigen waren die Leibeigenen und die 
allgemeine Unzufriedenheit. Entlaufene Bauern, desertirte 
Soldaten, fanatische Sektirer, rebellische Kasaken, Hüchtige 
Verbrecher, Räuber, alles lief ihm zu und er wurde bald 
selbst zum Instrumente ihrer ungezügelten Leidenschaft. 
Dem Falle der Festung Jajzk im Herbste 1773 folgte der 
Uebergang einer Reihe von Festungen und Städten und 
unter allgemeiner Begeisterung stieg Pugatschews Erfolg, 
mit ihm der Preis, den Katharina auf seinen Kopf setzte 
(erst 500, dann über 24000 Rubel). Der Adel entfloh, 
Pugatschew zog Baschkiren, Tataren, Wotjüken, Kir- 
gisen u.s. w. an sich und schlug russische Heere, während 
er selbst gegen 16000 Mann kommandirte. Im Dezember 
1773 stellte ihm die Kaiserin den hochverdienten General 
en chef Alexander Iljitsch Bibikow entgegen, derselbe be- 
gann von Kasan aus seine Thätigkeit, schlug Pugatschew 
mehrfach, starb aber plötzlich am 20, April 1774; auch der 
unter ihm befehligende Fürst Nikolai Michailowitsch Galitzin 
hatte gegen Pugatschew Erfolge, mit Pugatschew aber sym- 
pathisirte der Bauer bis nach Moskau hin, Pugatschew er- 
oberte am 22. Juli Kasan, dessen Erzbischof sich verdächtig 
benahm, und beging die entsetzlichsten Greuel. Mit fast 
diktatorischer Gewalt wurde ihm am 9. August der General 
en chef Graf Peter Iwanowitsch Panin entgegen geschickt, 
unter dem der tapfere Oberst Michelson das Hauptverdienst 
am endlichen Erfolge hatte. Nach einer schweren Nieder- 
lage entfloh Pugatschew nach Süden, seine Banden ge- 
riethen in Auflösung; Michelson und General Ssuworow, 
der bald s0 berühmt werden sollte, umstellten ihn, seine 
eigenen Genossen lieferten ihn, um Gnade für sich zu er- 
langen, am 14. September in Jaizk gebunden an Ssuworow 
ein und er wurde am 21. Januar 1775 in Moskau hin- 
gerichtet. 

Katharina bildete zu ihrer persönlichen Sicherheit das 
Polizeiwesen in sorgfültigster Weise neu aus, wenn sie 


VII. Katharina If. 


‚auch die Aufhebung der geheimen Kanzlei dureh Peter III, 
am. 19, Oktober 1762 bestätigte; eine ungewöhnliche Aus- 
gestaltung wurde dem geheimen Polizei- und Spionir- 
systeme zu theil, es sollte ja alles in ihrer centralisirten 
Administration zu ihrer persönlichen Kenntniss gelangen: 
sie schritt energisch gegen Missbräuche, Betrug und Hab- 
gier der hohen wie der niederen Beamten ein, bestrafte 
mit Wort und That feile Richter, „die den geheiligten 
Ort, an dem sie im Namen des Allmächtigen des Rechts 
pflegen sollten, in einen Markt verwandelten“, studirte 
eingehend das Processverfahren gegen jeden dieser Uebel- 
thäter und erstrebte mit ehrlichem Eifer die Einführung 
besserer Rechtszustände. Beccarias Werk „Dei delitti e 
delle pene® machte auf sie tiefen Eindruck, sie wollte die 
Anwendung der Folter beschränken, weil „jeder Ge- 
folterte im Fieber spreche und nicht wisse, was er sage“, 
doch wollte die Justiz nichts von Beseitigung der Ab- 
schreekungsmittel hören und erst 1801 fiel die Folter weg. 
Die Finanzmassregeln, welche sie zumal während des 
kostspieligen türkischen Krieges traf, waren für Handel 
und Wandel verderblich, sie machte zum Nachtheile des 
Volkes das Kronmonopol auf den Verkauf von Brannt- 
wein für die Kronkassen ergiebiger und schliesslich 
zahlten ihr die Monopolpächter für die Erlaubniss, die 
'Trunksucht des Volkes auszubeuten, jährlich kaum weniger 
als Ys der gesammten Staatseinkünfte. Seit 1768 wurde 
Papiergeld ausgegeben, das unfundirt war und mit dem 
das Reich allmälig sinnlos überfluthet wurde; die Bank- 
notenpresse stieg zum Range einer Haupthilfsquelle der 
Krone empor und das Kupfer wurde anstatt des Goldes 
und des Silbers zur legalen Valuta gemacht, Die im Jahre 
1789 verordnete Steigerung der Kopfsteuer um die Hälfte 
erhöhte zwar die Einkünfte auf 24 Millionen Rubel, stei- 
gerte aber nicht wenig die Unzufriedenheit, die durch die 
häufigen Kriege so drückenden Rekrutirungen riefen heftige 
Erbitterung hervor und kosteten nach Bernhardis Mit- 
theilung allein in Alt-Grossrussland fast Yo der männ- 
lichen Arbeiter, Die Stnatseinkünfte wuchsen schliesslich 
auf 60 Millionen Rubel, freilich erforderte der Stants- 











VIE Katharina II, 187 





"haushalt 1796 70—80 Millionen; im Jahre 1768 betrug 
die Gesammtausfuhr nur 21 Millionen Rubel, 1798 
‚63 Millionen, 

Zur Belebung des Handels wurden viele Kanäle ge- 
‚graben, wobei Graf Sievers der Kaiserin bester Berather 
war. Sievers stellte durch den Oginski-Kanal die wich- 
tige Verbindung zwischen dem Pripet und dem Niemen 
her, sodass die Ostsee und das Schwarze Meer sich be- 
rührten, und vollendete unter Paul den schon im Jahre 
1770 projektirten Sievers-Kanal zwischen der Msta und 
dem Wolchow,. Katharina legte der Verbindung des 
Kaspischen mit dem Weissen Meere besonderen Werth bei, 
ein in russische Dienste getretener Holländer Jan Pieter 
van Suchtelen, Generalmajor im Geniewesen (später finn- 
ländischer Graf), machte ihr die Entwürfe und mittels 
des Nord-Katharinenkanals wurden die Dwina und die 
Kama verbunden. Katharina suchte Handel wie Industrie 
neu zu beleben, verfuhr aber mehr ruckweise als syste- 
matisch; junge Leute aus Archangelsk wurden in das Aus- 
land gesandt. um sich Handelskenntnisse zu erwerben, die 
in Russland eingewanderten Brüder Anthoine knüpften 
zwischen den Häfen von Südfrankreich und denen des 
Schwarzen Meeres Handelsbeziehungen an*). die Kaiserin 
wollte eine Seehandelsgesellschaft errichten, den Handel 
im Mittelmeere heben und die Türken aus dem Schwarzen 
Meere verjagen, Sewastopol, einer der schönsten Häfen, 
erschien ihr der geeignete Brückenkopf nach jenem Kon- 
stantinopel, auf dessen Erwerbung sie immerdar abzielte. 
Bie verfasste eine Abhandlung über „die Manufakturen“ 
und erwog die Vortheile des Transithandels zwischen 
einerseits China und Indien, anderseits Westeuropa, im 
Hinblicke auf den asiatisch-amerikanischen Handel gründete 
sie 1764 die japanesische Navigationsschule, 1785 erschien 
ein neues Seerecht mit Schifffahrtsordnung. 

Katharina selbst pries die Ordnung, die unter ihr in 
Russland herrsche, und behauptete, alles gedeihe. In 

*) Anuthioine und Barral hatten viel Verdienste um die Entwicke- 
lung der russischen Industrie, 


-— — 


138 VII. Katharion I. 





einem Briefe von 1781 prahlte sie: „Ich baue bei mir 
etliche hundert Städte“; man erblicke, so sagte sie, statt 
Wüsteneien reiche Dörfer, blühende Gegenden und in 
ihnen glückliche, wohlhabende Menschen, dieser Um- 
schwung sei das Verdienst ihrer buchstäblich ausgeführten 
Anordnungen. Die Trugbilder, welche ihre Umgebung ihr 
vorspiegelte, stachen sehr vortheilhaft gegen die er- 
schreckend wahren Schilderungen des Fürsten M. M. 
Schtseherbatow (s. oben) ab; wenn sie Russland bereiste, 
sollte sie nur heitere Eindrücke empfangen und über die 
wahre Lage ihres Volks belogen werden, und Niemand 
verstand dies besser als Potemkin, dessen gemalte Dörfer 
und geputzte Bauern, die man schleunigst von Ort zu 
Ort weiterschiekte und immer wieder in geeigneter Ent- 
fernung aufstellte, in ihr die Vorstellung erweckten, 'Taurien 
sei unter ihm ein Paradies geworden. Und wenn sie im 
Jahre 1794 dem Baron Grimm ihre Technik bei der 
Städtegründung schilderte und den Ruhm der Städte- 
gründerin in Anspruch nahm, s6 glichen ihre Schöpfungen 
gar häufig „Potemkinaden*, wie man nach Potemkins 
Theatereffekten derartige officielle Täuschungen genannt 
hat, und Fürst Ligne spottete, ihre Städte seien ohne 
Strassen, die Strassen ohne Häuser und die Häuser ohne 
Dächer, Thüren und Fenster. Der Widerspruch von Lüge 
und Wirklichkeit zeigte sich recht schlagend bei Potemkins 
Schöpfungen Nikolajew, Simferopol, Sewastopol und Jeka- 
terinoslaw; „der Ruhm Katharinas“, wie die Stadt genannt 
ward, sollte ein zweites Rom oder Athen werden, Potem- 
kins Palast strotzte von Luxus, eine Universität sollte 
alsbald errichtet werden und ihre Kanzlei bestand seit 
1786 — sie selbst aber kam nie zur Welt; auch Potem- 
kins Schöpfung Cherson, das Katharina einen Koloss 
nannte, wurde nie der gewaltige Kriegshafen, den er 
daraus machen wollte. Nur Odessa brachte es mit seinem 
völlig internationalen Charakter zu einem der gross- 
artigsten Weltemporien und wurde für den Getreide- 
export nach Westeuropa ausschlaggebend; seine Haupt- 
blüthe setzte aber erst nach Katharinas Tod an und die 
goldene Frucht zeitigten französische Emigranten, die 


| zur 


VII. Katharina IT, 180 





Gouverneure de Ribas, Herzog von Richelieu und Graf 
Langeron. 

Katharina wollte auch die Mutter des kleinen Mannes 
heissen. Der russische Bauer sollte Arbeitslast be- 
kommen und sich mit der Ordnungsliebe befreunden 
und als seine lehrmeister hierin sollten die Fremden 
dienen; unter Ertheilung bedeutender Privilegien zog Ka- 
tharina fremde Ansiedler ins Reich; schon 1763 treffen 
wir eine eifrige Korrespondenz über solche Einwanderung 
mit Wjasemskis Vorgänger als Generalprokureur des 
Senats, dem ebenso begabten wie charakterlosen Alexander 
Iwanowitsch Glebow, und mit dem Kanzler Grafen Wo- 
ronzow, im August 1763 wurde eine Vormundschafts- 
kanzlei für Ausländer bestellt. Sobald die Anwerbung im 
Auslande organisirt war, siedelten sich meistens Deutsche 
an, 1766 sassen schon etwa 5000 im heutigen Gouverne- 
ment Ssaratow. wo im Juli 1764 die erste Kolonie Jeka- 
terinenstadt gegründet worden war. Es entstanden Ko- 
lonien in den öden und doch s0 fruchtbaren Landstrecken 
an der Wolga, der Ssamara und der Wolotschnaja wie 
in Ingermanland und in Livland, dieselben verdankten ihre 
Blüthe nicht den Privilegien, sondern ihrer Betriebsamkeit, 
ihrer Intelligenz, dem lutherischen Bekenntnisse, dem sie 
folgten, während sie lange Kümpfe um ihre Existenz mit 
den Kirgisen und Kalmyken bestehen mussten, Im Jahre 
1774 allein kamen an 26000 Fremde an. Der russische 
Bauer nahm sich an den fleissigen Kolonisten kein Vorbild 
und so sprang der grelle Gegensatz in die Augen, der 
z.B. zwischen dem sauberen, blumigen Sarepta und dem 
benachbarten reizlosen und faulen Zarizyn herrschte ; Sarepta 
war übrigens eine handeltreibende Kolonie der Herrnhuter, 
Es ergaben sich füst keine Berührungspunkte zwischen 
den Eingeborenen und den Kolonisten; die Religion, 
vor allem aber der Umstand, dass die Fremden freie Leute 
und die russischen Bauern Leibeigene waren, verbot die An- 
passung deutscher Muster an die russischen Agrarverhält- 
nisse. Franzosen waren anfünglich in grosser Anzahl als 
Kolonisten erschienen, doch erwiesen sie sich bald unfähig, 
Hüchteten vor der schweren Feldarbeit in die Städte und 





146 VIE. Katharina IL. 


‚zerstreuten sich durch ganz Russland ala Köche, Modisten. 
Friseure und — Sprachlehrer, die bei gänzlicher Unwissen- 
heit die Hauslehrer des Landadels wurden und die Kinder 
in ihrem Patois unterwiesen, Puschkin hat in seiner 

! „Hauptmannstochter“ diese Gattung in Beaupr& verewigt. 
In Sibirien ging die Kolonisirung im ulten Style weiter, 
was besonders dem Gouvernement Tobolsk zum Segen 
gereichte. 

Besonders wiehtig für die Annäherung an Westeuropa 
sollte die Post werden. Erst im Verlaufe des 18. Jahr- 
hunderts nahmen die Russen selbst eigentlichen Antheil 
an der Postverwaltung, die bisher meist in deutscher Hand 
ruhte, und unter Katharina Il, war der Kleinrusse Alexander 
Andrejewitsch Besborodko, in dessen elephantenartigem 
Körper die verschlagenste Seele hauste, neben anderen 
hohen Aemtern auch Generalpostdirektor; er traf eine 
Fülle umsichtiger und durchgreifender Reformen, die 
Kaiserin wollte die Post auch in den Dienst ihres Volkes 
stellen und erklärte: „In allen europäischen Staaten kann 
der letzte Mensch ebenso gut wie der erste Beamte den 
Anspruch erheben, dass seine Briefe schnell und sicher be- 
fördert werden.“ Wie weit war man doch seit Possosch- 
kows Klagen von 1701 über die Einrichtung der Post 
(s. 8. 31) vorgeschritten!! 

Die Zahl der Landtruppen betrug schon im Jahre 
1762 über 606000 Mann, sie waren ausdauernd, voll Bifer 
und Tüchtigkeit, fremden Beobachtern imponirten vorzüg- 
lich die Artillerie und die Infanterie, welche der Marquis 
Silva 1778 in einem Buche über den Türkenkrieg von 1769 
„eine Mauer“ nannte; die in Verfall gerathene Flotte, Peters. 
Schöpfung, stieg auf 45 Linienschiffe, während Katharina 
auf Schöpfung einer tüchtigen Handelsflotte ausging. 

Wie stand es nun diesen realen Faktoren der Regierung 
gegenüber mit Wissenschaft, Literatur, Kunst unter Ka- 
tharina II.? Der kaiserlichen Akademie der Wissenschaften 
schenkte sie grosse Aufmerksamkeit, von 1768—1783 sass 
eine Kommission zusammen, die für Uebersetzung von 
Büchern ins Russische 5000 Rubel jährlich ausgeben durfte, 
und am 8. Februar 1783 wurde die verabschiedete Herzens- 








— 


— 


142 VII. Katharina IT. 





60 Mitglieder haben sollte, unter dem Präsidium der 
Fürstin; auch diese Akademie blühte auf*). Der Initiative 
der Monarchin verdankte das Wörterbuch der russischen 
Sprache seine Entstehung, welches von 1789 bis 1799 in 
sechs Bänden erschien und unter Nikolaus I. umgesrbeitet 
wurde, an ihm bearbeitete die Fürstin Daschkow drei 
Buchstaben und Katharina gab ergänzende Anmerkungen 
zum ersten Bande, Mitarbeiter waren auch Dershawin. 
Knjashnin, von Wisin, Schuwalow. Nur in 500 Exem- 
plaren wurde ein „Wörterbuch aller Sprachen und Dia- 
lekte* in zwei Bänden (1787—89) gedruckt, dessen Her- 
ausgabe Pallas, der Verfasser der epochemachenden „Zoo- 
graphia Rosso-Asiatien“, überwachte und auf dessen 
Grundlage Klaproth später seine „Asia polyglotta* heraus- 
gab; dieses Wörterbuchs halber trat Katharina mit Fach- 
männern des In- und Auslandes in Verkehr. Linguistische, 
sprachvergleichende Studien **) zogen sie mächtig an, wie 
Jakob Grimm schon hervorhob, F. Adelung und J. Grot 
haben diese Seite ihrer Forschungslust eingehender Wür- 
digung unterzogen. Katharina suchte fremde Gelehrte und 
Schriftsteller von Ruf nach Russland zu ziehen; so eifrig 
sich auch Friedrich der Grosse bemühte, Euler in Berlin 
zu halten, so ging Euler doch im Jahre 1766 nach St. Peters- 
burg zurück und blieb dort bis zum Tode, Böhmer doeirte 
am Cadettenkorps Seerecht, dem Geographen A. F. Büsching, 
Prediger an der lutherischen St. Petri-Kirche in St. Peters- 
burg und Freunde Münnichs, verleideten Intriguen bald den 
Aufenthalt und er ging 1765 nuch Berlin, doch bewahrte 
Katharina ihm als zuverlüssigem Ehrenmanne stets ein 
gütiges Andenken. Es gelang ihr nicht, den Kriminalisten 
Beccaria zur Uebersiedelung zu bewegen, umsonst be- 
stürmte sie d’Alembert*®*), er möge die Erziehung des 
Thronfolgers übernehmen, während der Waadtländer 


*) Der Minister der Volksaufklürung, Graf Uwarow, verleibte sie 
1835 der Akademie der Wissenschaften ein. 

**) Herder schrieb in Riga „Ueber den Ursprung der Sprache“ 

“*) Kobeko hält die Aufforderung für eine Komödie, um 
Katlıarinas aufgeklärte Ansichten von den französischen Akademikern 
bewundern zu lassen. 


A 


VII. Katharina IT, 148 
Laharpe später die Erziehung ihrer Enkel Alexander und 
‚Konstantin leitete. Unter den Franzosen, die nach Russ- 
land kamen, um ihr Glück zu machen, benahmen sich 
einige so arrogant, dass Katharina äusserte: „Man scheint 
sich einzubilden, wir gingen noch auf allen Vieren, und 
ist hergekommen, um uns zu zeigen, wie man auf den 
Hinterfüssen stehen kann“; da war der Akademiker Abbe 
Chappe d’Auteroche, der in seiner „Voyage en Siberie* 
(2 Bde., 1768), einem sehr viel Tüchtiges enthaltenden 
Buche, manches erzählte, was Katharina als Herabsetzung 
Russlands auffasste; sie interessirte sich sehr für die 
Widerlegung des Buches, den „Antidote“ von 1770, Bil- 
bassow betont aber ausdrücklich, dass sie den Antidote nicht 
verfasst habe*). Gabriel Sönae de Meilhan, der 1789 aus 
Frankreich emigrirte, bot sich Katharina als Historiograph 
an; wenn sie ihn auch wegen seiner staatsmännischen 
Prütentionen auslachte und sich vergebens bemühte, ihm 
klar zu machen, dass er die Geschichte eines ihm fremden 
Volkes gar nicht schreiben könne, so liess er «ich doch nicht 
belehren; nachdem er sie in geschmacklosester Schmeichelei 
(St. Petersburg 1791) mit der „St. Peters-Kirche* in Rom 
verglichen hatte, was sie als nicht zehn Sous werth 
charakterisirte, fiel seine Geschichte Russlands so kritiklos 
aus, dass Katharina froh war, als er Russland wieder ver- 
liess; auch Mercier de la Riviere sonnte sich in ihrer 
Nähe. Bei allem, was sie that, warb sie um den Beifall 
der Welt und da Frankreich in dieser den Ton angab, so 
zeichnete sie in erster Linie Pariser Gelehrte, Literaten 
und Künstler aus und beschenkte diese Apelles und 
Homere ihres Ruhms fürstlich. Als in Frankreich die 
Eneyklopädie verboten wurde, unterzeichnete sie auf die- 
selbe, Schuwalow bot in ihrem Auftrage im November 1762 
Voltaire und Diderot an, die Encyklopädie in Riga fort- 
zusetzen; Katharina schwärmte für Denis Diderot und lud 
ihn, Voltsire und J. J. Rousseau zur Vebersiedelung nach 
Russland ein; sie lehnten zwar ab, Diderot aber war einen 
Monat ihr Gast und wurde sehr gefeiert; da er kein Ver- 


*) Katharina IL im Urtheile der Weltliteratur, 


—User 


144 VI. Katharina IT. 





mögen hatte und seine Bibliothek verkaufte, um seine 
einzige Tochter ausstatten zu können, so kaufte die 
Kaiserin für 15000 Franes die Bibliothek und beliess ihm 
nicht nur den lebenslänglichen Gebrauch, sondern besoldete 
ihn noch als Aufseher mit jährlich 1000 Franes, für 
welchen Edelmuth ihr d’Alembert grosse Anerkennung 
zollte. Durch Diderot bewog sie den Waadtländer Etienne 
Maurice Faleonet, den Schüler Lemoines, zur Reise nach 
St. Petersburg, um ihrem Vorgänger und Vorbilde Peter 
dem Grossen ein würdiges Denkmal zu schaffen; der 
Meister kam 1766 mit seiner bedeutendsten Schülerin 
Marie Anne Collot, seiner nachmaligen Schwiegertochter, 
Katharina empfing ihn wie einen lange erwarteten Freund, 
er bekam ungehinderten Zutritt, sie unterhielt sich Stunden 
lang mit ihm, sie schrieb ihm von ihren Reisen aus, und 
ihr Briefwechsel *) zeugt für das schöne Dichterwort, dass 
Geistesfürst und Purpurträger, beide auf der Menschheit 
Höhen wandelnd, mit einander zu gehen berufen seien. 
Faleonet und die Collot schufen die wunderbare Reiter- 
statue Peters**), die nach mühevollster Arbeit im August 
1782 enthüllt werden konnte, nachdem der Guss 1775 
beendet war. „Ihr Ross“, s0 schrieb Katharina dem 
Künstler, „sprengt geradeswegs auf die Nachwelt zu*, 
Intriguen aber, die zumal Betzkoi verschuldete, ent- 
fremdeten sie Faleonet, der mit seiner strikten Aufrichtig- 
keit und Wahrheitsliebe wenig Glück machte und 1778 
Russland 'verstimmt verliess. Die Kaiserin verehrte auf- 
richtig Buffon, dessen Epoques de la nature ihr Baron 
Grimm zugesandt hatte; von Buffons genialer Auffassung 
der Naturgeschichte, von diesem „Non plus ultra des 


*) Er füllt den 17. Band der von der k. russischen historischen 
Gesellschaft herausgegebenen Sammlung |Sbornik] (St, Peters- 
burg 1880). 

**) Der Kopf ist von der Collot, die auch die Büsten Katharinas, 
Pauls und seiner Gemahlin Natalie, des Filrsten Orlow, Diderots u. A. 
modellirte und 1767 Mitglied der k. Akademie der Künste wurde. Die 
Statue ist nnvergleichlich schöner als die Statue Peters, welche Graf 
Rastrelli unter Elisabeth goss und die Paul I. 1800 vor dem alten 
Michallowschen Palais aufstellte. 


\ 





—o— 


146 VII. Katharina IT. 


Kaspischen Meere, bei deren Verfolgung er in tatarische 
erento fiel*), Pallas**) gab den vierten Band 
seiner Reisebeschreibung und die Werke des Rigensers 
Anton Johann Güldenstädt nach dessen Tod heraus; 
G. F. Müller bahnte durch seine Reisen eine Geschichte 
der Entdeckung Sibiriens an, Steller und Krashennikow 
beschrieben Knmtschatka, Rytschkow und Lepechin unter- 
nahmen Expeditionen, Georgi bereiste mit Pallas Russland 
und mit Falk Sibirien. Katharina unterstützte in jeder 
Weise diese Unternehmungen, welche vielfach noch un- 
erforschte Theile ihres unermesslichen Reiches in physi- 
kalischer und geographischer Hinsicht ans Lieht zogen, 
neben ethnographischen und „rchäologischen Resultaten 
die Kenntniss der Geschichte förderten und bei den ver- 
schiedenen Völkerschaften reiche Ausbeute für ihr ver- 
gleichendes Wörterbuch ergaben. Solche Forscher stiessen 
naturgemäss auf noch unbenutzte Quellen der Reichs- 
geschichte, für die nun eine grosse Zeit anhob; neben 
Stritter schrieben über russische Geschichte der Reichs- 
historiograph H. Fr. Müller und August Ludwig Schloezer, 
der eigentliche Begründer der russischen Geschichte, 
welcher die Nestorsche Chronik herausgab: unter dem 
Pseudonyın „Haigold“ publieirte er auch nach dem Vor- 
bilde von Webers „Verändertem Russland“ 1767 ein „Neu- 
verändertes Russland“, eine Sammlung von Verfügungen 
Katharinas II. Mit diesen Deutschen rangen die Russen 
um den Preis des Verdienstes, Nowikow gab die alt- 
russische Bibliothek heraus und hrachte die „Moskauer 
Zeitung“ in hohe Blüthe, Golikow sammelte über Peter 
den Grossen riesiges Material und schrieb über ihn ein 
grosses Werk, Fürst Michail Michailowitsch Schtscher- 
batow schrieb eine russische Geschichte und bewies, wenn 
er auch des weiten historischen Bliekes entbehrte, doch 
grossen Fleiss; voll Vorurtheil gegen die Resultate der 
petrinischen Reform und ein sehr scharfer Beurtheiler der 


*) Er starb darin 1774. 
**) Er erhielt von Katharina grossen Besitz in dor Krim, kehrte 
aber 1810 in die deutsche Heimath zurück. 





148 ö VI Katharinn IT. 


könnte sagen, ich würde für die Arheit bezahlt, so viel 
‚Sorgfult. Arbeit, Intelligenz und Scharfsinn wende ich 
daran“, und als sie in ihren russischen Geschichtsstudien 
bei dem Grossfürsten Dmitri IV. Donskoi angelangt war. 
schrieb sie an Grimm: „Keine Geschichte liefert bessere 
und grössere Menschen als die unsrige, ich liebe sie bis 
zur Narrheit“; im Jahre 1788 schrieb sie demselben: „Ich 
arbeite seit einiger Zeit wie ein Pferd und meine vier 
Sekretäre können nicht mehr ausreichen, ich muss ihre 
Zuhl erhöhen. Ich bin ganz Schreiberei geworden und 
meine Gedanken zergehen zu Tinte. Mein Lebiag habe 
ich nicht so viel geschrieben.” Die französische Revolution 
stiess sie, wie wir später hören werden, ab und es war 
ihr in der Geschichte des Mittelalters am wohlsten; „es 
war®, sngt Brückner, „als hätte die französische Revolution, 
welche den Institutionen des Mittelalters den Krieg er- 
klärt hatte, die über die Ereignisse seit dem Jahre 1789 
verbitterte Kaiserin genöthigt, sich in längst vergessene 
Jahrhunderte zu retten. Empört über den Baseler Frieden, 
durchaus Partei nehmend gegen die Revolution, flüchtete 
Katharina aus der Aufklärungsliteratur zu der Chronik 
des Nestor, schrieb Exkurse über die Warägerfrage und 
ging in alle Einzelheiten der ersten Zeit des russischen 
Staates ein.“ „Ich lese“, schrieb sie, „und durchblättere 
sogar kein Buch, das nieht wenigstens 300 Jahre zählt; 
aus allen anderen lerne ich nichts und leere Vermuthungen 
stehen mir am Hals.“ Sehr empfindlich war sie gegen 
ihr ungünstige historische Darstellungen: sobald sie gehört, 
dass der französische Gesandtschaftssekretär 0, ©. de 
Rulhiöre ein Werk über die Thronrevolution vom Juli 1762 
verfasst und in Paris vorgelesen habe, suchte sie die Ver- 
nichtung des Manuskripts zu erreichen oder es aufzukaufen, 
dies gelang ihr nicht, obwohl ihr Diderot behilflich war, 
hingegen verpflichtete sich Rulhiöre, das Werk nicht während 
ihres Lebens erscheinen zu lassen; dass in den Oeuvres 
posthumes Rulhieres (Paris 1792) so viel Gehässiges und 
Wahres über sie stand, verdross sie nicht wenig, und 
sobnld sie todt war, erschien jenes Werk (Paris 1797), 
dem 1807 seine vierbändige Histoire de lanarchie de Pologne 


| 


ST 








150 VIEL Katharina If, 
Verherrliehung der ersten russischen Unternehmung gegen 
Konstantinopel, auch Cimarosa setzte für sie einiges in 
Musik; manche ihrer Stücke wurden ins Deutsche über- 
setzt, ein Theil erschien, vermehrt um Stücke Dmitriew- 
Mamonows, Bögurs u. A., als „Theätre de l’Hermitage* 
1799 in 2 Bänden in Paris im Drucke. 

Katharinas Hochgenuss war die Lektüre hervorragender 
Schriftsteller, gleichviel welcher Nation; als ihr Marmontel 
seinen Roman Bälisaire überschickte, übersetzte sie mit 
einigen Herren vom Hofe denselben ins Russische, für Moliöre 
war sie schr eingenommen und behauptete, aus ihm das 
Misstrauen gegen die Aerzte geschöpft zu haben, Corneille, 
Raeine, Voltaire und die Eneyklopädisten zogen sie mächtig 
an und von Beaumarchais’ Barbier de Seville sagte sie: 
„Wenn ich einst Cüsar sehe, werde ich ihm diese Lektüre 
empfehlen*. Als sie die Schriften Chr, Fr. Nieolais las, 
staunte sie über die Feinheit und Anmuth der deutschen 
Sprache, sie fand viel Freude an seinem „Sebaldus Noth- 
anker“ wie an Thümmels „Wilhelmine“ und dessen „Reise 
in das mittägliche Frankreich“ und übermittelte Thümmel 
eine Medaille; sie nannte die „Allgemeine deutsche Biblio- 
thek“ in Nicolais Verlag „ein Archiv an Genie, Ironie und 
allem, was Geist und Vernunft erheitert* und gestand: 
„Diese teudeske Literatur lässt die ganze übrige Welt 
weit hinter sich und marschirt mit Riesenschritten“; frei- 
lich liebte sie in ihren Aussprüchen den Superlativ, für 
den Gährungsprocess aber, den unsere Literatur damals 
durchmachte, bewies sie mehr Verständniss als Friedrich 
der Grosse, wenn sie auch von Lessing, Schiller und Goethe 
keine Notiz nahm; sie empfahl Grimm die Lektüre der 
„Abderiten* Wielands, „die wunderbar das Zwerchfell er- 
schütterten“, und das gefeierte Buch des Arztes Johann 
Georg Ritter von Zimmermann „Ueber die Einsamkeit“ 
war ihr nach Lanskois Tod eine Seelenstärkung, sie sandte 
dem Autor einen kostbaren Ring und eine Medaille mit 
ihrem Bilde und korrespondirte seitdem (1785) mit ihm 
bis 1791, er lehnte jedoch ihre Einladungen nach St, Peters- 
burg stets ab. Klang es nicht unwillkürlich aus dem 
Ilerzen der russifieirten Anhaltinerin: „Ach was hat doch 









I 


Wü Katharina II. 





chland in diesem Momente für Leute von Verdienst !* 
Wr aber auch Shakespeare, Gibbon, Richardson 
en in ihren Händen, daneben Cervantes und 
M ‚ die arabischen und die indischen Fabeln des 
"Lokman und Bidpai, sie übersetzte aus Plutarch Aleibiades’ 
Leben und machte zu Coriolan Notizen, Pindar war ihr kein 
‚Fremder. Und Russland selbst stellte eine Reihe literarisch 
namhafter, zum Theile ganz origineller Männer auf, denen 
\ a ihre Begünstigung in vollem Maasse zuwandte, 
während sie ihren Vertrauten das Recitiren von Versen 
Tredjakowskis als Strafe auferlegte. Alexander Petro- 
witsch Ssumarokow, der Direktor des russischen Theaters, 
persönlich unangenehm und streitsüchtig, une töte chaude*), 
aber als Dramaturg von Katharina sehr hoch gestellt, 
schrieb seine Drumen, von denen „Semira“, wohl dus 
beste, „Mstislaw“ und „Dmitri der Usurpator“ in fremde 
‚Sprachen übersetzt wurden. Und von Enthusiasmus durch- 
glüht, trat Russlands Klopstock, Gawriil Romanowitsch 
Dershawin, auf die Scene, der Dichterfürst vor Puschkin; 
seine Ode „Das Bild Felizas“ **), welches viele Personen am 
‚Hofe verhöhnte, getiel Katharina ungemein, sie gab ihm eine 
goldene Tabaksdose und ein reiches Geldgeschenk und 
wusste den Verspotteten Abschriften mit Unterstreichung 
der auf sie bezüglichen Stellen zukommen zu lassen; 
durch die Ode „Feliza“, die er bei ihrer Krönung zu ihrem 
Preise gedichtet, hatte er die der Schmeichelei höchst zu- 
gängliche Frau gewonnen; sie konnte übrigens auf den 
Mann stolz sein, dessen Ode „Gott* (Bog) durch die Welt 
flog und in viele Sprachen übersetzt wurde, und Alexan- 
der II. begriff diesen Stolz und wies auf dem Denkmale, 
dus er 1873 durch Mikieschin in $t. Petersburg seiner Ahn- 
frau errichten liess, dem Dichter einen ehrenvollen Platz 
an; unter Alexander I, dessen Geburt er durch eine Ode 
gefeiert, wurde der Poet Justizminister, Neben solchen 





*) So nennt ihn Katharina 1765 in einem Briefe an ihren ver- 
trauten Geheimsekretär Adam W. Olsufjew. 

**) Von Kotzebue ins Deutsche übersetzt (Reval 1799); Kotzebue 
übersetzte auch Dershawins „Traumgesicht des Mursa“ (St. Peters- 
bang 1792) und seine elf Gelichte zusmınmen (Leipzig 1798). 


ing VI. Katharina IT. 


Grössen der Poesie regten sich noch Manchem die 
Schwingen, um zum Olympe empor zu fliegen; da waren 
Dershawins Freund Wassilii Wassiljewitsch Kapnist, der 
Odendichter, der gern gelesene Dramatiker Wladislaw 
Alexandrowitsch Öserow, Uheraskow, der „die Rossiade*, 
„den Kampf bei Tsehesme* zur Verherrlichung Orlows, 
den „Numa Pompilius“ und andere Lobeserhebungen ver- 
fasste; der Trugiker Jakow Knjashnin, der mancherlei 
geschrieben, hinterliess, als er arm starb, die historische 
Tragödie „Vadim von Nowgorod*, eine Verherrlichung des 
Kampfes der Republik Nowgorod um ihre Freiheit gegen 
die Moskauer Grossfürsten; auf Bitten seiner Wittwe liess 
die Fürstin Daschkow das Werk im Jahre 1795 auf Kosten 
der Akademie der Wissenschaften drucken, ihre Peinde 
aber redeten Katharina II. ein, das Stück sei ein Triumph 
der Revolution, und dasselbe wurde von Henkershand ver- 
brannt; Katharina, die ohnehin über die Fürstin, welche 
den freimüthigen Schriftsteller Radischtschew protegirt 
hatte, aufgebracht war, behandelte sie nun so verletzend, 
dass sich dieselbe aufs Land zurückzog, sie sah Katharina 
nie wieder! Als Hippolyt Fedorowitsch Bogdanowitsch 
in seiner „Duschenka“ Lafontaines Psyche nachahmte, 
überhäuften ihn Katharina und das Publikum mit Gunst- 
bezeugungen, nuch die Fabeln Ohemnitzers, des Veber- 
setzers von Gellerts Fabeln, erinnerten an Lafontaine und 
waren die Vorläufer Krylows. Nikolai Michailowitsch Karam- 
sin schrieb, schon als Jüngling in den deutschen Autoren 
belesen, bevor er Historiker wurde, Novellen und Ge- 
dichte, gehörte lange dem um Nowikow*) gruppirten 
Kreise junger Dichter und Denker, „der Gesellschaft der 
Freunde der Wissenschaft“, an, war mit 22 Jahren, als er 
nach Westeuropa reiste, „eine Art Encyklopädie der 
schönen Literatur Deutschlands, Frankreichs, Englands“ #*); 
allbekannt machten ihn seine „Briefe eines russischen 


*) Nowikow (s. 8.146) war Verlagsbuchhändler, sstirischer Dichter 
und Uebersetzer. 

**) Brückner in seiner vortzefllichen „Europälsirung Russlanda* 
(Gotha 1888). 





\ Bunnlangen. Daran aha 
en 
‚Jugend heraus, von Wisin übersetzte 
*, hatte glänzenden Erfolg mit seinen 
‚Brigadier“ und „Das Muttersöhnchen“, 
hen Moliöre und brachte von seiner 
Reise gereiftes Urtheil und reiche Kennt- 





















von Elisabeth im Jahre 1758 errichtete Akademie 
X E auf Wassilii-Ostrow trug ein ganz französisches 
jepräge, legte aber für das Kunstinteresse in Russland 
Keim, ihr war ein Gymnasium beigegeben; Katharina 
ndete im November 1764 eine kaiserliche Akademie 
n Künste (Malerei, Skulptur und Architektur). 
oi wurde ihr Präsident; als Vorbereitungsanstalt 
Fünelbe errichtete er ein Erziehungsinstitut mit 
h n Studienplane und füllte es aus dem 
Mos ‚Findelhause und aus den niederen Klassen, mit 
welehem Materiale die französischen Lehrer unverantwort- 
lieh umsprangen, die Schüler überliessen sich jeder Zügel- 
losigkeit; bis zum Ausbruche der französischen Revolution 
gingen sie nach ihrem Examen zu weiterer Ausbildung 
‚auf Reisen, in den Jahren 1760 bis 1788 lebten im ganzen 
sechzig auf Kronskosten im Auslande; machte aueh Betzkoi 
mit seinen Erziehungsmaximen Fiasko, so fusste doch der 
"Kunstsinn unter dem Adel und in weiteren Kreisen Fuss. 
| ‚Kaiser Joseph II. und König Gustav III. wurden Ehren- 
‚mitglieder der Akademie, die grosse Privilegien erhielt, 
nach den Plünen von de la Mothe und Velten wurde 
1765—68 das Prachtgebäude der Akademie an der Newa 
aufgeführt. Als etwas Unerhörtes durfte es gelten, dass 
Graf Mussin-Puschkin, der 1794 Betzkoi als Prüsident 
folgte, aber schon 1797 abging, eine Prämie von 200 Rubel 
für das beste Kunstwerk auswarf, und sein Nachfolger 
unter Kaiser Paul, Graf Alexander Ssergejewitsch Stro- 
‚ganow, war, wie wir später hören werden, ein Kunstmäcen 
ersten Ranges. Die bildende Kunst fand an der Monarchin 
‚eine aufrichtige Schätzerin mit offener Hand, sie be- 


B.. Fr 








er BE 


. Katharina IT. 156 





liess sie nach Plünen de la Mothes und Guarenghis das 
burgähnliche Marmorpalais bauen, das nach dreizehn- 
jähriger Arbeit bei Orlows Tod noch nicht vollendet war 
und durch Katharina von Orlows Erben zurückgekauft 
wurde*), an der Fagade stand: „Als Zeichen der Dank- 
barkeit!“ ; im Jahre 1783 liess sie für den Fürsten Potemkin 
den Taurier den taurischen Palast erbauen, der bei seinem 
Tode an die Krone zurückfiel. Der Hofarchitekt Vallin 
de la Mothe baute für sie selbst 1765 das „kleine Winter- 
palais“, das mit dem Winterpalais durch eine fliegende 
Brücke verbunden wurde, sie nannte es gern ihre 
Eremitage; bald ward es zu enge und der kaiserliche 
Akademiedirektor Velten begann 1773 den Bau einer 
zweiten Eremitage, in der Katharina am liebsten weilte; 
nachdem sie die Copien des Tirolers Ohristoph Unter- 
berger von Ruphaels Loggien im Vatikan für 45000 Gulden 
gekauft hatte, baute Guarenghi die Raphael-Galerie und 
1780 erhob sich das Fremitage-Thonter, Katharina kaufte 
für die Eremitage und ihre anderen Schlösser kostbare 
Kunstwerke, vor allem schon 1763 die werthvolle Bilder- 
sammlung des von Friedrich dem Grossen mit Undank 
helohnten patriotischen Berliner Kaufmanns Gotzkowski, 
1769 die Galerie des sächsischen Premiers Grafen Brühl, 
1772 die des Marquis de Crozat und 1779 die Sir Robert 
Walpoles mit ihren herrlichen Van Dycks, sie bestellte 
Bilder bei Raphael Mengs und Reynolds wie bei den Russen 
Lossenko und Matwejew und kaufte durch Mengs, Grimm, 
Reifenstein. Diderot, Falconet und andere Correspon- 
denten und Agenten bei Versteigerungen u, # w. viel 
Kostbares. Sie erwarb die Sammlungen Schuwalows und 
Lyde-Browns an griechisch-römischen Skulpturen, des 
Herzogs von Orleans an Cameen, Potemkin schenkte ihr 
den berühmten Pfau-Automaten. Den grössten Theil 
seiner jetzigen Pracht verdankt ihr auch Zarsköje-Saelo, 


*) Unter Panl bewohnte der gowesene König von Polen, Stanislaus 
Ponistowski, Orlows Vorgänger, das Marmorpalais und starb darin; 
unter Nikolaus I. wurde es dem Grossfürsten Konstantin Nikolajewitsel 
geschenkt. 


14 VII. Katharina IL 





für ihren Enkel das Alexanderschloss 
‚nd hier weilte sie. wie schon Elisaberh. gern in der 
KEremitage. hier schuf sie das grosse kaiserliche Prunk- 
“lee; Peterhof. die Schöpfung Peters des Grossen. 
aurde durch sie erweitert und Rinaldi baute 1770 Gatschina 
für den Fürsten Orlow. dem Katharina den Meierhof ge- 
‚chenkt hatte: sie kaufte Gatschina nach Orlows Tod zu- 
rark und gab es mit Pawlowsk und einigen Dörfern ihren 
Sahne Paul. der mit Vorliebe in Gatschina residirte. bis 
er den Thron bestieg. 
Für Musik war Katharina wenig begabt und es gebrach 
lv an wirklichem Verständniss: sie bekannte offen: „Ich 
eterhe vor Lurt, Musik zu hören und zu lieben: aber was 
Will «mir? es bleibt Geräusch und damit basta!“. sie 
echerzke, nie wolle einen Preis für ein Mittel wider „Un- 
emphindhehkeit für Harmonie“ auswerfen: die Oper aber 
elite sie, benonders die komische; acht Jahre lang wirkte 
der grosse Komponist Paisiello in St. Petersburg, die 
Hurtenmrie in einer seiner komischen Opern war ihr ganzer 
Uenehmmek, sie verkehrte persönlich mit ihm und mit der 
Promadonna Todi; letztere entzog durch Intrigue auf längere 
wit Kuthnrinas (nnde ihrem Hofkapellmeister Giuseppe 
Kurti num Wuenzn und er ging auf ein ihm von Potemkin 
penchenkten Dorf in der Ukraine. gewann aber 1793 ihre 
amt wieder, erhielt die ulte Stellung und 1795 den Adel. 
Au Kuthnrinn® Mof herschte der feingeistige Ton, den 
Frankreich“ Aufklärung angab. Unvergleichlich verstand 
wie om, einen Diderot und einen Grimm zu feiern und zu 
unterhalten, ala »ie 1773 ihre Gäste waren, wie zwanglos 
verkehrte “ie mit ihnen und anderen Auserwählten in den 
hahlenden Gemüchern der Eremitage! Selbst ein Welt- 
und Mofinann wie der Fürst von Ligne konnte nicht 
Warte genug finden. um die schillernde Konversation 
Ikutharinna (os Grossen“, wie er sie nannte, auszudrücken, 
af Kepne war entzückt von „der imponirenden Königin, 
dcr hiehenawirdigen Privatfrau“, Und nicht nur Katharina 
« in dieser Welt französischer Aufklärung, ihre 
ge unterhielten ebenfalls den regsten Verkehr mit 
Auelindenn. die Würsten Orlow. VPotemkin und Subow, 


zer erbaute -i 



































VIT. Katharian IT. 157 

Graf Dmitriow-Mamonow zogen ausländischen Verkehr 
jedem russischen vor, bei den Woronzow begegnete man 
Lafermibre, Nicolai, Rogerson und Casteleienla; Graf 
Andrei Kirillowitsch Rasumowski, des Hetmans Sohn, ein 
Schüler Schloezers, bildete sich zum Kosmopoliten aus, 
die Stroganow und Narischkin setzten alles daran, halbe 
Pranzosen zu werden, und der Hof war nahe daran, seine 
Nationalität zu verleugnen, als die französische Revolution 
die Begeisterung dämpfte. Der stete Austausch geistiger 
Beziehungen zwischen Westeuropa und Russland entband 
neue elektrische Ströme, neben dem Sein war freilich gar 
viel Schein und Blendwerk; wenn Katharina sich mit 
Grimm und Diderot Stunden lang unterhielt, wenn sie 
einmal mit Grimm sieben Stunden der Reihe nach über 
Literatur, Philosophie, Staatswissenschaft, Nationalöko- 
nomie, Gesetzgebung, Völkerglück und Freiheit sprach, 
so stand sie doch nicht einen Augenblick an, das direkteste 
Gegentheil von ihren Reden in die That umzusetzen, und 
wenn sie Diderot noch so sehr bewunderte, so fügte sie 
doch hinzu: „Diderot ist in vielen Hinsichten hundert, ih 
manchen erst zehn Jahre alt“, während er nach Rumbauds 
Wort „die Philosophie auf dem Throne sitzend und die 
Enoyklopädie selbst im Triumph mitten im Pompe des 
Winterpalais“ in ihr sah, Ihre Arbeitskraft war ungewöhn- 
lich, die Elastieität ihres rastlosen Geistes setzte immer 
neue Hebel in Bewegung, von frühe sechs Uhr bis in die 
späte Nacht organisirte und administrirte sie, im Lesen 
und Schreiben kannte sie kein Mass, es kam keine Müdig- 
keit über ihr Auge, keine über ihre Hand, so viel Ukase, 
Manifeste, Entwürfe und Briefe aus letzterer hervorgingen. 
Gerade ihr Briefwechsel ist ein unvergängliches Monu- 
ment ihres Geistes, ihrer Schlagfertigkeit und staunen- 
erregenden Vielseitigkeit, sie setzte ihren Ehrgeiz darein, 
in der Kunst des Briefschreibens es den Besten ihrer Zeit 
und aller Zeiten gleich zu thun. Im Briefwechsel erholte 
sich ihr Geist von der Mühsul der Stantsgeschäfte, der 
Briefwechsel war ihr Bedürfniss für Gefühl und Gemüth. 
Sind ihre Briefe an Voltaire, Diderot und Grimm lite- 
rarische Leistungen, so verfolgen sie bei allen schön- 


EEE | 


158 VIE Katharina IL. 





geistigen Reflexionen, bei aller gefälligen humorbeseelten 
Causerie, in der sie ja ihres Gleichen suchte, die geheime 
Absicht, alle Welt von den humanen und eivilisatorischen 
Bestrebungen der Frau zu unterhalten, die auch in Frank- 
reich die Souveränin der Geister werden wollte, sodass das 
Zeitalter Kathorinas TI. das Ludwigs XIV. und St, Peters- 
burg Versailles ablöse. Ihre Briefe sind zahllos; alle 
geben Zeugniss von feinem Weltton, weiblicher Anmuth 
bei männlichem Verstande, alle bekunden ein 

sprochenes literarisches Talent, übernl] dringt hervor die 
Lust an Scherzen, die aprudelnde Laune und ein liebens- 
würdiges Temperament: wie weich sie empfinden konnte, 
verrathen vor allem ihre im Russkii Archiv 1870 veröffent- 
liehten Briefe an Fräulein Lewschin. Sie schrieb gleich 
fliessend russisch, deutsch und französisch, der Abb& Maury 
behauptete sogar, ihre französischen Briefe überträfen 
selbst die Briefe Voltaires, und auch Rambaud weiss nicht, 
welchen von Beiden der Vorzug an geistreichem Gehalte 
gebühre, ihr Deutsch erinnert Karl Hillebrand an die un- 
verwüstliche Kernhaftigkeit der „Frau Rath“. Die Briefe 
an den Fürsten Ligne, den kosmopolitischen Witzbold par 
excellence, gleichen einem Brillantfeuerwerke Voltaireschen 
Esprits, und welehe Mannigfaltigkeit der Stimmung ent- 
bindet in unserer Seele die Korrespondenz mit Madame 
Geoffrin von 1763—68! Die Korrespondenz mit Voltaire*) 
läuft von 1763—1777, der Moses des Unglaubens sollte 
Katharinas publieistischer Anwalt vor dem Forum Europas 
sein; er, der weit mehr als «der officielle Ludwig XV, 
Frankreichs Gebieter war, sollte ihr die Huldigung einer 
Welt in den Schoss legen; ihre Beziehungen zu Voltaire 
waren weniger augenfällig und darum wohl dauerhafter 
und harmonischer als die Voltaires zu Friedrich dem 
Grossen, ihrem Rivalen im Mäcenatenthume französischer 
Literatur und Kunst: der gewandteste Schmeichler der 
Zeit, nannte Voltaire Katharina „die Semiramis des 
Nordens“, während ihr seine Geschichte Peters des Grossen, 


*) Fast in alle Sprachen aus dem Französischen (Paris 1785) 
übersetzt, erste russische Uebersetzung 1802. 


— -— 


VII. Katharina IT, 150 





ihres Vorbildes, über die Massen gefiel; er schrieb ihr: „Mein 
Herz gleicht dem Magnete, es dreht sich nach Norden!*, 
dichtete das bekannte „O’est du Nord aujourd'hui que 
nous vient la lumidre!“, und frug bei ihr an, ob sie den 
Namen Juno, Minerva, Venus oder Üeres führen wolle, 
worauf sie heiter erwiderte, sie verzichte auf jede Namens- 
veränderung, denn ihr genüge Katharina und die Göttinnen 
seien, wie ihr dünke, fragwürdiger Natur. War in den 
Augen des schlauen Philosophen von Ferney Katharina 
die Vorkämpferin der Civilisation, wenn auch auf stark 
realistischer Basis, so war er ihr der Patriarch Europas, 
der Bildner ihres Verstandes und ihres Herzens; da er 
nicht lebend nach Russland gekommen war, da sie ihn 
nie gesehen und da selbst die Ueberführung des Todten 
auf Hindernisse stiess, so befahl Katharina Grimm, Vol- 
taires Bibliothek und Papiere für sie anzukaufen, und ver- 
anlasste eine neue Ausgabe seiner Schriften; sie wies im 
Jahre 1779 dem Sekretär Voltaires Vannier eine Pension 
von 5000 Frances an und konnte sich noch nach Jahren 
mit dem Gedanken, Voltaire sei todt, nicht vertraut 
machen, „Sage ich der Gott des Behagens“, so schreibt 
sie, „80 ist dies ein Synonym für Voltaires Namen; die 
Alten würden ihn unter die Götter versetzt und ihm das 
Behagen überwiesen haben“. Das Meisterstück ihrer Korre- 
spondenz aber sind wohl die zahlreichen Briefe an den 
Baron Melchior Grimm in Paris, den sie umsonst 1773 in 
Russland fesseln wollte, Beide standen 23 Jahre im ver- 
traulichsten Briefwechsel, der sich auf derselben hohen 
Temperatur hielt. Der liebenswürdige Meister der Onuserie 
war ihr literarischer und artistischer Geschäftsträger, vor- 
mittelte für sie den Ankanf von Kunstwerken, Sammlungen, 
jeder Art geistigen Rüstzeugs, sandte ihr Neuheiten des 
Büchermarktes, schrieb ihr Berichte über neue französische 
Bücher, besorgte ihre Auszeichnungen an Gelehrte, Künstler 
und Literaten, zahlte ihre Unterstützungsgelder aus und 
bezog selbst grosse Summen für sich, seine Familie und 
die seiner Freundin, der Madame Epinny; als er in der 
Revolution sein Vermögen verlor, ersetzte es ihm die 
Kaiserin. Es bestand eine Art geistiger Wahlverwandt- 


1m VII. Katharina H. 


‚haft zwischen diesen zwei Deutschen. die in fremdes 
Erdreich verpflanzt worden waren. darum herrschte zwischen 
ihnen trotz aller servilen Phrasen Grimms der originellste 
Ton der Vertraulichkeit: Grimm nannte seine Krank- 
heit „Nord -Minervenkrankheit- und _Katharinensucht“. 
sie _die Kaiserin aller Herzen wie aller Reussen“. St. 
Petersburg „die Hauptstadt des Ruhms und der Unsterb- 
lichkeit“. er erklärte ihre Briefe für „Himmelsthau und 
göttliches Manna-. er hatte zwar in seiner Wohnung 
19 Büsten und Porträts der „Minerve Zarsko-Selienne“. 
der „Immortelle-. bettelte aber stets um weitere: wenn 
ihr seine oft recht geschmacklosen Huldigungen behagten. 
so unterbrach dieselben manchmal ein höchst unceremo- 
nieller Naturlaut. Grimm stand nicht an. ihre Briefe „einer 
iserlichen Ollapotrida- zu vergleichen und sie selbst 
‚einen ganzen Kerl“ zu nennen. Ihre Briefe an Grimm 
werfen. wie Hillebrand hervorhebt. viel Licht auf ihre 
Persönlichkeit. 

Ihr Hof war der Schauplatz beständiger Intriguen 
und Rivalitäten. das Aufkommen und der Abgang der 
Günstlinge der sinnlichen Frau beschäftigte alle Welt. das 
Amt des Günstlings wurde geradezu zum Hofamte, be- 
rechtigte zu einer bestimmten Wohnung in nächster Nähe 
ihrer Appartements. zu gewissen Ehren. Würden und Ein- 
nahmen. wie es gewisse Verpflichtungen mit sich brachte. 
Grigorii Grigorjewitsch Orlow, der Favorit bei 
dem Staatsstreiche vom Juli 1762. mit seiner lückenhaften 
Bildung. seiner Oberflächlichkeit und brütalen Ehrsucht, 
war noch immer nicht zufrieden. obwohl er mit Würden, 
Titeln. Ehren und Reichthümern überhäuft und von Kaiser 
Joseph II. im Oktober 1772 zum Reichsfürsten, von ihr 
zur „Durchlaueht“ erhoben worden war: er*) und seine 
Brüder bezogen von 1762—83 17 Millionen Rubel baar an 
Geld und Werthsachen und 45000 Leibeigene („Seelen“). 
Der Fürst wurde ihr allmälig lästig **), im September 1772 








*) Er schenkte ihr den Riesendiamanten Nadir-Schahs, den „Orlow“, 
der 480000 Rubel kostete. 

**, Fürst Orlow starb im April 1783 wahnsinnig und Katharina 
schrieb seinem Bruder Alexei: „Ich hatte an ihm einen Freund, mit 


VII. Katharina II. 101 





ersetzte ihn nach dem kurzen Interreguum Wissötzkis auf 
Panins Veranlassung der schöne Gardelieutenant Alexander 
Ssemenowitsch Wassiltschikow, ım schon im Mai 1774 
in Grigorii Alexandrowitsch Potemkin einen Nach- 
folger zu erhalten. Noch weit ehrgeiziger als Orlow, ein 
Intriguant reinsten Wassers. wusste Potemkin sich eine un- 
hedingte Herrschaft über dies liebende kühne Weib zu er- 
obern, behandelte sie brütal und muchte sich ihr unentbehr- 
lich, indem er sie scheinbar gegen Verschwörungen schützte; 
trotz seiner mittelmässigen Begabung suchte er lie Geschäfte 
an sich zu reissen und ihr leitender Rathgeber zu werden; 
wie ihr Dämon schritt er neben ihr einher und entfremdete 
sie immer mehr ihrem Sohne Paul. Er strebte nach ihrer 
Hand und da er diese nicht erhielt, nach Polen. Kurland, 
Dacien, unersättlich in seinen Wünschen: sie erhob ihn 
1775 zum Grafen, Joseph II. im März 1776 zum Reichs- 
fürsten, und für die lügnerische Blüthe, in der er ihr die 
Krim zu zeigen wusste (Potemkinade), erhielt er im Juni 1797 
den Titel Tawritscheskii (von der Krim, Taurien); seine 
Herrschaft kostete ihr über 50 Millionen Rubel. Als er 
ihre Sinne nicht mehr fesselte, schmeichelte er ihrer 
Phantasie mit kriegerischen Bildern, Eroberungsträumen 
und abenteuerlichen Unternehmungen, blieb ihr Ratlıgeber, 
beherrschte Panin zum Trotze ihre Politik und suchte 
die Liebhaber für sie aus, um dieselben rücksichtslos zu be- 
seitigen, sobald sie ihm zu einHussreich zu werden drohten ®). 
Seit November 1776 war der General Peter Wassilje- 
witsch Sawadowski Günstling, den Kaiser Franz II. 1794 
zum Reichsgrafen und Kaiser Paul im April 1797 zum rus- 
sischen Grafen erhob, doch schon 1777 ersetzte ihn Potemkin 
durch den Serben Ssemen Gawrilowitsch Soritseh, der 
sich auf dem Hofparket nicht halten konnte und 1778 durch 
den Katharina sehr werthen General Iwan Nikolaje- 
witsch Rimskoi-Korssakow, ein Kleinrusse wie Sawa- 


Buch beweine ich ihn; ich fühle in vollem Masse die Grösse des Ver- 
lustes und werde niemals seine Wohlthaten vergessen“, 

*) Potemkin starb am 18. Oktober 1791, Manche glauben an eine 
geheime Ehe mit Katharina und verlegen die Trauung auf Herbst 1774 
oder Aufang 1775 in die Kirche des Simonowklosters zu St. Petersburg. 

A Kleinsohmidt, Veberbl. d. rum. Gesch. «. 1504. 11 





162 VII. Katharina IF, 


dowski, abgelöst wurde: er sang so schön NEE, 
tigall®, rühmt Katharina, er aber betrog sie mit der Ge- 
mahlin des Oberkammerherrn Grafen A. 3. Stroganow und 
wurde im Oktober 1779 nach Moskau verwiesen; er hatte, 
wie Fürst Schtscherbatow klagt, bei den Frauen die 
Wollust entwickelt, was wohl bei Katharina nieht mehr 
nöthig war. Sein Nachfolger als „Generaladjutant“, welchen 
Titel der Favorit meistens erhielt, wurde Potemkins Ad- 
jutant Alexander Dmitrijewitsch Lanskoi, ein Mann 
von vollendeter Schönheit, dessen Aera ihm sieben Millionen. 
Rubel abwarf; im Gegensatze zu den meisten Favoriten 
hielt er sich von Staatsgeschäften und Hofintriguen fern, 
widmete sich der Kaiserin allein und sie hat ihn geliebt 
wie keinen zweiten, bewachte aber auch eifersüchtig seine 
Wege; auf Grimms Antrieb fing, als Lanskoi in die 
Schweiz reiste, der durch Mirabenus Leidensgesehichte 
bekannte Pariser Polizeilieutenant Le Noir Lanskois 
Korrespondenz mit einer in Frankreich zurückgelassenen 
Schönen ab. Lanskoi starb schon mit 26 Jahren am 
7. Juli 1784 und Katharina war der Verzweiflung nahe, 
man liess ihr zur Ader und rief schleunigst Potemkin 
herbei; sie betrauerte Lanskoi wie eine Wittwe und liess 
über seinem Grabe auf dem Sophia-Friedhofe in Zarskoje- 
Sselo eine Kirche der Kasanschen Mutter Gottes erbauen, 
liess sich aber doch bald Potemkins Adjutanten Alexander 
Petrowitsch Jermolow zuführen, Diesem folgte im Juli 
1786 der elegante, eitle und eigennützige, aber sehr witzige 
und auch literarisch thätige Alexander Matwejewitsch 
Dmitriew-Mamonow, der seine Macht über Katharina 
ausnützte, um sich schamlos zu bereichern; als Katharine 
seinen Liebeshandel mit der Fürstin Schtscherbatow ent- 
deckte, betrieb sie zwar selbst im Juli 1789 ihre Ehe, duldete 
aber nicht, dass Mamonow in St. Petersburg blieb, Ka- 
tharina zählte jetzt 60 Jahre und wählte zum Geliebten 
den 22 jährigen Lieutenant bei der Garde zu Pferd, Platon 
Alexandrowitsch Subow: man witzelte, sie nehme 
keinen Adjutanten mehr, sondern habe sich der Philosophie 
Platons in die Arme geworfen, jedenfalls liebe sie nur pla- 
tonisch. Subow war ein tüchtiger Violinist und Katharina 





b 








— 


VII. Katharina IT. 168 





liess ihn Quartette und Kammereoncerte bei ihr ver- 
anstalten, wobei sie auf ein Zeichen von ihm, das Quartett 
sei zu Ende, wartete, um zu applaudiren. Selbst Potemkin 
konnte Subow nicht verdrängen, so wüthend er auch über 
dessen Einfluss war; Subow mischte sieh in alle Staats- 
geschäfte, ohne etwas davon zu verstehen, wurde zum 
Werkzeuge des schlauen Diplomaten Markow, bereicherte 
sich in unwürdigster Weise, leitete seit 1792 die auswärtigen 
Angelegenheiten, stürzte den verdienten Sievers, wurde 
1798 Reichsgraf und im Juni 1796 durch Franz Il. 
Reichsfürst, seine schmähliche Wirthschaft beeinträchtigte 
wesentlich den Ruhm der letzten Jahre Katharinas IL 


In der auswärtigen Politik war Katharina II. vom 
Glücke ungewöhnlich begünstigt. Dies zeigte sich als- 
bald gegenüber Polen und der Pforte. Der Tod Augusts III, 
von Polen und Sachsen bot den gewünschten Anlass, 
ihren Einfluss in Polen zu erhöhen; sie traf Verabredungen 
mit Friedrich dem Grossen, war gleich ihm gegen die 
Wahl eines Erzherzogs, des Prinzen Conti und des Prinzen 
Xavor von Sachsen, welehe Oesterreich und Frankreich be- 
trieben, hingegen für die Wahl eines Piasten ohne grosse 
Verbindungen. Dabei verfolgte sie mit Panin den Ge- 
danken, dem Bunde Oesterreichs und Frankreichs und 
dem bourbonischen Familienpakte einen Nordischen Bund 
entgegen zu stellen; derselbe sollte Russland, Preussen, 
Grossbritannien, Schweden. Dänemark, Sachsen und die 
kleinen deutschen Staaten umfassen, sollte verhindern, 
dass die Ruhe im Norden bedroht werde wie dass die 
Monarchie in Schweden erstarke, denn um keinen Preis 
wollte sie zugeben, dass die Wasa nutokratische Gewalt 
erlangten: Schweden wie Polen mussten schwach bleiben. 
Als geeignetsten Kandidaten für den polnischen Thron 
empfahl Katharina dem Preussenkönige ihren früheren 
Geliebten Stanislaus Poniatowski, dessen absolute Be- 
deutungslosigkeit sie am besten kannte. Polens Krone 
durfte nicht erblich werden, die Polen ruinirende Ver- 
füssung musste fortbestehen, auf den Reichstagen blieben 


nach wie vor das liberum veto und die Stimmeneinheit 
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164 VII. Katharina IT. 

in Geltung, die bewaffnete Macht durfte nicht vermehrt 
werden, und bei heuchlerischer Betonung ihrer Friedens- 
liebe hielt Katharina Truppen zum Einräcken in Polen 
an der Grenze bereit. Graf Keyserlingk und Fürst 
Nikolai W. Repnin, ihre Gesandten in Warschau, wühlten 
und sie selbst erklärte, falls die Wahl nicht nach ihrem 
Wunsche ausfalle, werde sie alle Kräfte, „die ihr die Vor- 
sehung in die Hand gegeben habe“, anwenden; von 
Stanislaus aber forderte sie, dass er das Interesse Russ- 
lands stets als das seinige ansehe, denn durch Stanislaus 
wollte sie in Warschau, dureh Biron in Mitau regieren; 
ihre Gesandten hingegen gaben die feierliche Versicherung, 
Katharina denke weder an eine Theiluug Polens noch 
werde sie den Versuch einer solchen von irgend Jemandem 
dulden; Keyserlingk, Repnin und der preussische Ge- 
sandte gaben dem Primas am 27. Dezember 1763 dasselbe 
Versprechen, am 11. April 1764 aber schlossen Russland 
und Preussen eine Defensivallianz und eine geheime Kon- 
vention, Katharina schiekte Truppen, unter deren Druck 
Stanislaus zum Könige gewählt wurde, die Grossen er- 
hielten Bestechungsgelder und Auszeichnungen, der Reichs- 
tag erkannte den russischen Kaisertite] an. Russland und 
Preussen kamen am 22. Juli überein, bei der Republik 
und bei dem Könige für alle Dissidenten*) einzutreten, 
ihnen freie Ausübung ihrer Religion u. s. w. zu verschaffen; 
jeder Verfassungsreform, wie Stanislaus’ Oheime, die wahr- 
haft patriotischen Fürsten Ozartoryski, solche im Sinne 
hatten, widersetzten sich Katharina und Friedrich aufs 
Schroffste, Polen sollte ja nicht erstarken; Repnin behan- 
delte die Gegner Russlands mit Brutalität und schloss mit 
Stanislaus ein Schutz- und Trutzbündniss. Lediglich aus 
politischen Beweggründen unterstützten Katharina und 
Friedrich die Reklamationen der Dissidenten; es bildeten 
sich Konföderationen orthodoxer. katholischer und pro- 
testantischer Dissidenten, von denen die katholische in 
Radom unter dem Gegner der Üzartoryski, dem Fürsten 


*) Die griechisch-katholische und die protestantische Bevölkerung 
in Polen, 


VIL Katharina IT. 166 





Karl Radziwill, die bedeutendste war; allmälig brachte 
es Polen auf 178 Konföderationen. Stunislaus schloss sich 
auf Katharinas Weisung der litauischen von Radom an, 
die damit zur Generalkonföderation erhoben wurde, der 
im Oktober 1767 in Warschau eröffnete Reichstag stand 
unter dem Drucke eines russischen Heeres, Fürst Repnin 
liess die den russischen Zielen entgegen arbeitenden Bischöfe 
von Krakau und Kiew und zwei Landboten durch Gre- 
nadiere aufheben, nach Russland schleppen und ihre 
Güter einziehen. Eine Delegation und bald der Reichstag 
selbst unterschrieben sümmtliche Wünsche Repnins, Repnin 
schloss mit dem Primas Podoski den „ewigen Vertrag“ 
vom 24. Februar 1768, der Polens neue Verfassung unter 
Russlands Schutz stellte, das liberum veto bestätigte und 
den Dissidenten die Gleiehstellung mit den Römisch- 
Katholischen verlieh. Hiermit war Russland der Herr in 
Polen. Friedrich hatte dazu tüchtig mitgeholfen, den 
Sieg aber gönnte er Katharina nicht, er wollte zwar ihr 
selbständiger Allürter sein und schloss mit ihr am 4. Mai 
1767 eine geheime Konvention in Moskau, „nie aber, 
so lange ihm die Augen offen stünden, wollte er ihr Sklave 
werden“, und mochte von Panins Vorschlag, Preussen 
solle dem Nordischen Bunde beitreten, nichts hören. 
Die Polen geriethen immer tiefer in Katharinas Netz. 
Die Generalkonföderation von Radom hatte sich aufgelöst, 
aus ihren Trümmern erstand aber die Konföderation von 
Bar unter den Grafen Potocki, Pulawski und Krasinski, 
daneben die Konföderationen von Lublin, Haliez und 
Krakau; hinter diesen standen Oesterreich, Frankreich 
und die Pforte, Russlands Gegner, vor allen der Staats- 
sekretär der auswärtigen Angelegenheiten in Versailles, 
der Herzog von Choiseul. Stanislaus rief gegen die Kon- 
föderirten russische Truppen herbei, Repnin, welcher das 
Kommando übernahm, schlug Jene wiederholt, die Ukraine 
schwamm in Blut, Bar und Krakau gingen den Kon- 
föderirten verloren, bei der Verfolgung von Haidamaken 
und saporogischen Kasaken durch die Russen wurde die 
tatarische Stadt Balta in Brand gesteckt, was die Spannung 
mit der Pforte erhöhte und bald zum Türkenkriege führte. 





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Die Hoffnung der Konföderirten auf letzteren war trüge- 
risch, die Protektion Frankreichs und Oesterreichs nützte 
ihnen gar wenig, wenn ihnen auch Choiseul Geld und 
Offiziere schiekte. Repnins Nachfolger, Fürst M. N. Wol- 
konski. drang vor und nahm fast alle Festungen in 
Polen, Der Versuch der Konföderirten, Stanislaus auf- 
zuheben, scheiterte im November 1771 und schadete ihnen 
vor ganz Europa, während Wolkonskis Nachfolger, von 
Saldern. in seinem Uebermuthe keine Grenzen kannte; 
überall geschlagen, zerstreuten sich die Konföderirten im 
Jahre 1772. Frankreich hatte mittlerweile die Türken auf 
Russland gehetzt, Choiseul und Vergennes, der Botschafter 
am Divan, waren unablässig thätig gewesen und der Brand 
von Balta führte im Oktober 1768 zur Kriegserklärung 
durch Mustapha II. und zur Einsperrung des russischen 
Gesandten Obreskow in die „Sieben Thürme*. Vergennes 
sandte den Baron Tott an den Khan der Krim, um die 
Tataren zum Einfalle in Neu-Serbien zu bewegen, der 
1769 unter grosser Verheerung erfolgte, 

Katharina begrüsste den Krieg als Gelegenheit zu neuem 
Ruhme, suchte aber vergebens Friedrich den Grossen zur Be- 
theiligung daran zu bestimmen; vom Ausgange des Krieges 
musste auch Polens Schicksal abhängig werden. Ueber die 
Annäherung Friedrichs an Kaiser Joseph IL. brauchte sie 
nicht beängstigt zu sein, denn Friedrich selbst lag sehr viel 
an der Erneuerung des Bündnisses mit ihr. Am 2. Pebruar 
1769 hatte Friedrich den Plan einer Theilung Polens auf- 
gezeichnet, er schrieb ihn dem sächsischen Grafen Lynar zu, 
war aber selbst der Autor; er sandte ihn nach St. Peters- 
burg, liess ihn aber fallen, als Panin zu schwere Bedingungen 
stellte, und erneuerte am 23. Oktober 1769 sein Bündniss 
mit Russland bis zum April 1780; seine Begegnungen mit 
Joseph Il. in Neisse und Mährisch-Neustadt erhöhten 
seinen Preis in $t. Petersburg bedeutend. Katharina 
sandte im Jahre 1769 den Fürsten Alexander Michailo- 
witsch Galitzin, dem alle militärischen Talente fehlten, 
als Oberbefehlshaber gegen die Türken, er schlag den 
Grossvezier bei Chotin und nahm, als er eben abberufen 
wurde, im September diese Festung, sein Heer besetzte die 


166 VII. Katharina IT. 





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VIL Katharina II, 16 


Moldau und Walachei. „Der Turenne Russlands“, Graf Peter 
Alexandrowitsch Rumjanzow, der bisher nur die zweite 
Armee gegen die Türken geführt, erhielt nun den Ober- 
befehl der grossen Armee, entfaltete seine ganze Energie, 
siegte in den glorreichen Schlachten von Larga und Kaghul 
über die an Zahl weit überlegenen Türken und Tataren, 
brachte Ismail zum Falle und fand, zum Generalfeld- 
marschalle befördert. den Weg an die Donau; sein Nach- 
folger bei der zweiten Armee, Graf Peter Iwanowitsch 
Panin, des Ministers Bruder, besetzte Bessarabien, eroberte 
die wichtige Festung Bender und brachte die Tataren 
von Jedissan und Budjak durch den Vertrag vom 
17. August 1770 zur Unterwerfung unter Russland. Graf 
Alexei Grigorjewitsch Orlow, der Katharinas Herzen theuer 
war, regte bei ihr den Gedanken einer Expedition zur 
See an, sie schickte zwei Geschwader unter Spiridow und 
Elphinstone ab und ernannte Orlow, der nie eine Scha- 
luppe geführt hatte, zum Generaladmirale der Flotte im 
Archipel; Orlow trieb die Mainoten zum Aufstande gegen 
die Türken an, verhiess in hochtönenden Manifesten den 
Griechen Befreiung vom türkischen Joche, und Voltaire ver- 
kündigte schon die Wiederauferstehung Athens und Spartas; 
als Morea in vollem Aufstande war, fuhr jedoch Orlow ab und 
überliess die Bevölkerung der türkischen Rache. In der 
Nacht zum 7. Juli 1770 steekten der Admiral Spiridow und 
die britischen Offiziere Elphinstone, Greigh und Dugdale, 
während Orlow müssig in seiner Kajüte sass, die türkische 
Flotte bei Tschesme in Brand, den Lohn hierfür erntete 
Orlow, der das höchste Zeichen der Tapferkeit, den St, 
Georgs-Orden I, Klasse, und den Ehrennamen Tschesmenskü 
erhielt. Der Schrecken in Konstantinopel war ungeheuer, 
Tott setzte rasch die Dardanellen in Vertheidigungs- 
zustand, Orlow aber verlor mit Besetzung der Inseln des 
Archipels die Zeit und so ging die Gefahr einer Ein- 
fahrt der Flotte durch die Dardanellen vorüber. General 
Tottleben drang an das Schwarze Meer vor, die Kabardei 
wurde unterworfen, der Kaukasus und Montenegro erhoben 
sich gegen die Pforte. Fürst Wassilii Michailowitsch 
Dolgoruki, Panins Nachfolger bei der zweiten Armee, 





1 VIE. Katharina II. 





schlug 1771 den Khan der Krim, erstürmte Perekop und 
eroberte binnen 14 Tagen die Krim, wofür er ausser dem 
St. Georgs-Örden I. Klasse den Beinamen Krimskii erhielt, 
auch brachte er die tatarischen Mursen zur Anerkennung 
der russischen ÖOberloheit. Vergebens bemühte sieh 
Friedrich, der solchen Erfolgen inissgünstig zusah, der 
Pforte den Frieden mit Russland zu verschaffen, die 
Kaiserin liess sich in ihrem Siegeslaufe nicht aufhalten 
und stellte die Friedensbedingungen immer höher: Fried- 
rich fürchtete, es könne ein europäischer Krieg aus- 
brechen, und wollte nicht zulassen, dass Russland zu 
mächtig und dem europäischen Gleichgewichte gefährlich 
werde; auch Oesterreich wollte letzteres nicht ruhig mit- 
ansehen, sondern den Siegeslauf Katharinas wufhalten, 
und besetzte schon im Juli 1770 die Zips, Kaunitz suchte 
Friedrich zu bestimmen, dass er, mit den Oesterreichern 
vereint, die Russen aus Polen verjage, wobei er Kurland 
und Semgallen davon tragen könne. Katharina hatte 
Friedrichs Bruder, den Prinzen Heinrich, im Herbste 1770 
nach $t. Petersburg eingeladen und behandelte ihn voll 
Auszeichnung; als sie sah, dass Oesterreich polnisches 
Gebiet besetzte und Preussen diesem Beispiele folgte, 
sagte sie im Januar 1771 zu Heinrich: es scheine, in 
Polen brauche man sieh nur zu bücken, um ein Stück 
Landes aufzuheben; Panin freilich wollte nichts von Polens 
Zerstückelung wissen, er gönnte es Russland allein. 
Als aber Friedrich „den Iynarschen Plan“ abermals in 
St. Petersburg einbrachte, ging Katharina darauf ein, 
Maria Theresia wollte Polens Theilung nicht und schloss 
im Juli 1771 ein heimliches Bündniss mit der Pforte, doch 
verstummten ihre Bedenken vor der Ländergier ihres 
Sohnes Josephs IL, und des Fürsten Kaunitz, welche einer 
Theilung Polens zustimmten. Am 15. Januar 1772 schlossen 
Russland und Preussen geheime Konventionen wegen der 
Theilung (unterzeichnet am 17. Februar), Oesterreich trat 
mit hohen Anforderungen auf, deren Empfehlung in 8t. 
Petersburg Friedrich übernahm, den Polen fehlte jede 
Macht gegen die Vergewaltigung, Katharina verfuhr mit 
seltener Schlauheit, Grossbritannien, Frankreich und die 


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VII, Katharina IT, 109 
Pforte thaten nichts für Polen und s0 konnte am 5. August 
1772 in St. Petersburg die Theilungsakte zwischen Russ- 
land, Oesterreich und Preussen von Panin unterzeichnet 
werden; russische Truppen besetzten sofort die von Ka- 
tharina ausgesuchten Gebiete, für deren Verwaltung sie 
schon im Mai 1772 eine Verordnung verfasst hatte. Russ- 
land erhielt bei der ersten Theilung Polens die 
Wojewodschaften Witebsk und Mastislaw, die halbe Wo- 
jewodschaft Poloozk und ein Gebiet längs des Dnjepr, 
1975 Quadratmeilen mit 1800000 Seelen. Russland hatte, 
wie wir im Verlaufe unseres Ueberblicks sahen, seit Jahr- 
hunderten gesucht, sich auf Polens Unkosten auszubreiten, 
Katharina hatte die feindliche Stellung beider Staaten vor- 
gefunden, sie nicht erst geschaffen, und handelte ganz im 
Geiste ihrer Vorgänger auf dem Throne, wenn sie Polens 
Schwäche benutzte. Unter dem Drucke der Heere der 
drei Mächte und unter der Wirkung von Bestechungs- 
geldern erkannten Stanislaus und der Reichstag im 
September 1773 die Theilungsverträge an, und nun über- 
liessen Russland und Preussen, sich nicht weiter um 
die Dissidenten kümmernd, dieselben ihrem Schicksale; 
sie hatten ja ihre Schuldigkeit gethan! übrigens behielten 
sie das Recht freier Religionsausübung. Mit grossem 
Verdrusse erfüllte die Revolution in Schweden, welche 
Gustav II. zur Kräftigung der Krone mit französischer 
Unterstützung im Jahre 1772 ausführte, Katharina und 
Friedrich, Schweden war fortan ein zu fürehtender Nach- 
bar und Katharina gerieth, mit Polen und der Türkei be- 
schäftigt, in Sorge, Kronstadt und St. Petersburg möchten 
einem schwedischen Angriffe ausgesetzt werden und ihm 
nicht Stand halten können. Sie betrieb darum ernstlich 
die Einleitung eines Friedens mit der Türkei, aber die zu 
Fokschani am 13. August 1772 begonnenen Unterhand- 
lungen führten zumal wegen des Dünkels des ersten 
Bevollmächtigten Grafen Grigorii G. Orlow zu nichts, der 
Waffenstillstand lief am 2. Oktober ab und der Krieg wurde 
fortgesetzt. Rumjunzow blokirte schliesslich den Gross- 
vezier in dessen Lager bei Schumla und zwang ihn zum 
Frieden von Kutschuk-Kainardschi, der am 


— 


176 VII. Katharina II. 





21. Juli 1774 in Rumjanzows Zelt auf einer Trommel 
unterzeichnet wurde. Die Pforte erkannte die vollkommene 
politische Freiheit und Unabhängigkeit der Tataren der 
Krim, des Kuban und des Budjak an, wodurch deren Ab- 
hängigkeit von Russland angebahnt wurde, trat Kertsch, 
Jenikale, Asow, Kinburn und beide Kabardeien an Russ- 
land ab, gestattete den russischen Handelsschiffen freie 
Fahrt auf dem Schwarzen Meere und versprach, die 
russischen Kaufleute auf gleichem Fusse mit den fran- 
zösischen, d. h. der meist begünstigten Nation, zu behandeln; 
sie zahlte 4% Millionen Rubel Kriegsentschädigung und er- 
kannte den russischen Kaisertitel an; Russland gab seine un- 
deren Eroberungen heraus. Aus diesem Friedensinstrumente 
leitete Russland später das Schutzrecht über die griechisch- 
orthodoxen Christen im ganzen türkischen Reiche ab und 
so wurde der 21. Juli 1774 der Geburtstag der orien- 
talischen Frage. Der oesterreichische Internuntius Baron 
'Thugut erkannte den grossen Nutzen dieses Friedens für 
Russland und äusserte: „Jetzt ist die Zarin in Stambul 
Befehlshaberin, der Sultan dort nur noch Miethsmann. 
dem, sobald man will, die Wohnung gekündigt wird..... 
Russland wird, wann immer es ihm beliebt, am Schwarzen 
Meere landen können; von seiner neuen Grenze bei 
Kertsch aus kann es in 48 Stunden ein Armeekorps bis 
unter die Mauern Konstantinopels führen.“ Katharina 
veranstaltete 1775 eine grossartige Friedensfeier auf dem 
Chodynka-Felde bei Moskau, worüber sie an Grimm 
schrieb und eine Broschüre in Berlin veranlasste, feierte 
den Generalfeldmarschall Rumjanzow mit kaiserlicher 
Liberalität und gab ihm den Ehrennamen Sadunaiskii (der 
über die Donau Gegangene). Der Friede, welcher am 
24. Januar 1775 ratifieirt wurde, führte trotzdem nicht zu 
friedlichen Verhältnissen, denn Russland machte alsbald 
den Versuch, für angebliche Handelsschiffe, die thatsäch- 
lich Kriegsfregatten waren, die Durehfahrt durch die Dar- 
danellen zu erzwingen, baute Kriegsschiffe für den Dnjepr, 
ordnete den Bau von Festungen an der türkischen Grenze 
wie Üherson ete. an und suchte auf türkische Unkosten 
nach Südwesten vorzudringen. Als Etappe zu einem neuen 


VIE Katharina nn. ım 





Türkenkriege, der ja kommen musste, sollte Polen Ka- 
tharina dienen; sie garantirte Polens unselige neue Ver- 
fassung und Integrität und bediente sich des permanenten 
Reichsraths der Vierzig zu ihren Intriguen. Friedrich der 
Grösse that alles, um das Bündniss mit ihr aufrecht zu 
erhalten, im April 1776 kam Prinz Heinrich wieder nach 
St. Petersburg, erzielte aber wegen Polens keine Ver- 
einbarung, Potemkin erhielt den Schwarzen Adler-Orden 
und Preussen leitete die Verlobung des verwittweten 
'Thronfolgers mit einer württembergischen Prinzessin ein, 
deren Vater wie einst der Katharinas II. preussischer General 
war. Unter lauter Intriguen brachte Katharina die Krim 
allmälig in ihre Gewalt, der türkische Einfluss machte 
dem russischen Platz, 1777 erfolgte die widerrechtliche 
Besetzung von Perekop. ein neuer Krieg mit der Pforte 
stand in Sicht, doch verhütete die Vermittelung des fran- 
zösischen Botschafters in Konstantinopel, Grafen de Saint- 
Priest, den Ausbruch und im Juli 1779 bestätigte die Kon- 
vention von Ainali-Kawak den Frieden von 1774; Russ- 
lands Schützling Schahin-Ghirai wurde als Khan der 
Krim, deren Unabhängigkeit wiederum bekräftigt wurde, 
vom Sultan investirt, der russische Handel erlangte neue 
Vortheile. 

Das Verhältniss Russlands zu Feankreich besserte 
sich nach dem Tode Ludwigs XV., der bevollmächtigte 
Minister am russischen Hofe, Marquis de Juigne (seit 
1775), wurde sehr freundlich behandelt, die Kaiserin näherte 
sieh Oesterreich und Frankreich; Panin hielt am Bündnisse 
mit Preussen und Grossbritannien fest. doeh kreuzten 
seinen Einfluss manchmal der jeweilige Günstling und 
Östermanns Sohn, der höchst beschränkte Graf Iwan 
Andrejewitsch Ostermann, der 1775 Galitzin als Reichs- 
vieekanzler gefolgt war. Als der bayerische Erbfolgekrieg 
ausbrach, sah sich Russland in der Lage, Preussen be- 
waffnete Hilfe leisten zu müssen, denn Katharina hatte 
mit Friedrich 1764, 1769 und 1777 Allianzverträge und 
1772 eine Militärkonvention abgeschlossen; sie übte darum 
gleich Ludwig XVI. in Wien eine Pression zu Gunsten 
des Friedens aus, ihr langjähriger Gesandter in Wien, 


= 


12 VIT. Katharina It. 





Fürst Dmitrii Michailowitsch Galitzin®), erklärte Maria 
Theresia und Joseph IL, im Fulle der Friede nicht er- 
folge, müsse Katharina Friedrich Truppen schicken ; dies 
wirkte und auf dem Teschener Kongresse vermittelte der 
mit dem Befehle dieser Truppen bereits betraute Fürst 
Nikolai Wassiljewitsch Repnin. der frühere Gesandte in 
Polen, mit dem französischen Bevollmächtigten Baron 
Breteuil den Frieden vom 13. Mai 1979; Russland war 
fortan Garant des Teschener und des Westfälischen 
Friedens und benutzte diese Rolle zur Einmischung in 
die inneren Angelegenheiten des deutschen Reichs. In ihrer 
selbstherrlichen Natur fühlte sich Katharina seit lange durch 
die britische Herrschaft auf dem Ocean verletzt, Gross- 
britanniens Willkürakte gegen die Schiffe der neutralen 
Staaten erbitterten sie immer mehr und als der amerika- 
nische Befreiungskrieg begann, erwärmte sie sich nicht 
wie Panin für Grossbritannien, sondern näherte sich unter 
Potemkins Einfluss Frankreich, dem Alliirten der Ameri- 
kaner, und doch gab das Cabinet von St. James Potemkin 
50000 Pfund Sterling und überschüttete seine fünf Nichten, 
die ihn durch Schönheit und Verstand beherrschten **); mit 
Brillanten. Katharina lehnte die Allianz der Briten ab, 
Als die Spanier ein holländisches in Archangel befrachtetes 
und ein russisches Handelsschiff anhielten und nach Oadix 
führten, forderte Katharina von ihnen Genugthuung, und 
durch die Erklärung vom 11. März 1780 proklamirte sie 
die schon 1778 von Vergennes angeregten Prineipien der 
Rechte der Neutralen; sie sammelte bei Kronstadt eine 
Flotte und notifieirte sofort den Cabinetten von Frankreich, 
Spanien und Grossbritannien ihre Erklärung, worauf 
Frankreich und Spanien ihr alsbald beipflichteten. Die 
Briten hingegen waren verstimmt. Spanien gab Satis- 
faktion und Katharina betrieb nun die Liga der Neutralen 
oder der bewaffneten Neutralität, der zuerst im Juli 1780 
Dänemark, dann Schweden, die Generalstaaten, Preussen, 
Oesterreich, Portugal und Beide Sicilien beitraten., Die 


*) Gönner Mozarts, Freund der Künste, 
**) Er liess sie 1775 alle nach St. Petersburg kommen, 


VIE. Katharina II. 1m 


bewaffnete Neutralität ist dem Kopfe Katharinas, nicht 
Panins entsprungen; Schiffen mit neutraler Flagge sollte 
der Handel mit kriegführenden Mächten, ausgenommen 
der Handel mit Kriegsbedarf, fortan gestattet sein. Und 
Katharina hielt die britische Diplomatie dergestalt in der 
Schwebe, dass dieselbe ihre Orientpläne nicht zu stören 
wagte. 

Um seine Phantasien in die Wirklichkeit umzusetzen, 
steuerte Potemkin, den Bilbassow unserer Ansicht nach weit 
überschätzt, einem neuen Türkenkriege zu, Katharina stand 
völlig unter dem Banne des Athleten; auch war ja ihr Ideal 
‚der Sturz des osmanischen Reichs, die Eroberung Konstan- 
tinopels und die Errichtung eines griechischen Kuiserthums 
unter ihrem zweiten Enkel Konstantin Pawlowitsch, der 
eine griechische Amme erhielt; die Griechen setzten eben- 
falls ihre ganze Hoffnung auf Katharina, die allein Athen 
und Sparta zu neuem Leben führen könnte, wenn sie die 
Türkenherrschaft vernichtete, und sie kokettirte mit den 
Griechen, zumal bei persönlichen Begegnungen. Potemkin 
hoffte, dass bei der Ausführung dieses „griechischen Pro- 
jektes" für ihn ein Königreich Dacien abfallen würde. 
Katharina und Joseph näherten sich einander, um eine 
Verständigung über gemeinsame Eroberungen auf der 
Balkanhalbinsel zu treffen; Joseph wollte die alte Maxime, 
man müsse die Türkei erhalten, aufgeben, wollte Preussen 
um das russische Bündniss bringen und sieh mit Ka- 
tharina innig allüren; sie legte längst keinen Werth mehr 
auf das Bündniss mit Friedrich, der nicht ihr Diener 
sein wollte, begann ihn sogar zu hassen. Bo hatte Joseph 
leichtes Spiel. Er reiste im Mai 1780 als Graf von Falken- 
stein zu Katharina nach Mohilew, erneuerte hier im Juni 
die alte Freundschaft Russlands und Oesterreichs auf 
Kosten Preussens und der Türkei und wurde dann in 
Moskau und St. Petersburg als Gast grossartig gefeiert. 
Katharina erwartete für ihre orientalischen Pläne Josephs 
Unterstützung und wollte seine Ländergier von der Türkei 
auf Italien ablenken; sie sprach darum von der Theilung 
Europas in ein östliches Kaiserreich mit der Hauptstadt 
Konstantinopel und in ein westliches mit der Hauptstadt 


174 VE. Katharina IT. 





Rom; Joseph lauschte zwar verbindlich ihren Träumereien, 
sah aber die wahre Sachlage unter der schimmernden 
Decke und hatte vor Russlands Macht keine besondere 
Furcht; Katharina wur glücklich über den auf Joseph 
erzielten Eindruck und blieb ihm bis zu seinem Tode 
warm zugethan. Ein wirkliches Bündniss zwischen Ka- 
tharina und Joseph unterblieb, da Erstere die Gleich- 
stellung mit dem Kaiser beanspruchte, was gegen das Her- 
kommen verstiess, und so wurden die Abmachungen über eine 
Defensivallianz im Mai und Juni 1781 in Briefform ge- 
troffen. Im Mai 1781 versprach dann Joseph, er werde die 
Pforte anhalten, ihre Verträge zu erfüllen, und werde, falls 
sie den Frieden breche und eine Invasion in Russland 
versuche, ihr den Krieg erklären und ebenso viel Truppen 
wie die Zarin marschiren lassen, wobei er auf gleiche 
Entschädigung rechnete; sollte eine andere Macht während 
des Kriegs Russland angreifen, so werde der Kaiser mit 
seiner ganzen Macht Russland Hilfe bringen und nur nach 
gemeinsamer Verständigung wolle er Frieden oder Waffen- 
stillstand schliessen, welche selben Versicherungen Ka- 
tharine gab. Diese Abmachungen erschreekten die 
preussische Partei in St. Petersburg, voran Panin; im 
September 1780 war der Prinz von Preussen sehr lau 
empfangen worden und hatte die Erneuerung der Allianz 
nicht erreichen können, worüber der oesterreichische Ge- 
sandte Graf Cobenzl frohlockte, und im September 1781 
trat Panin, den Potemkin um allen Einfluss gebracht hatte, 
ab, ohne dass ein offener Bruch mit Preussen erfolgte: Panins 
Verabschiedung geschah in sehr ungnädiger Weise, wobei 
wohl sein reges Interesse an Paul in besonderem Masse 
mitwirkte. Als Grossfürst Paul 1782 Westeuropa bereiste, 
vermied er Berlin, nahm aber einen auffallend langen 
Aufenthalt in Wien und sein Besuch in Versailles be- 
siegelte die Aussöhnung mit Frankreich; Katharina unter- 
stützte die Wahl des Erzherzogs Maximilian zum Kondjutor 
in Köln und Joseph füdelte die Verlobung seines Neffen 
Franz mit der Schwester von Pauls zweiter Gemahlin ein; 
Katharina intervenirte auch für die Einleitung des Friedens 
zwischen Frankreich und Grossbritannien. 





VIE Katlıarina IL 175 

Von Russland geschürt, brach in der Krim ein Auf- 
stand der Tataren aus und Katharina rechnete bei seiner 
Ausnützung auf Josephs Beihilfe: Joseph erklärte seine 
Bereitwilligkeit und Katharina schrieb ihm am 21. Sep- 
tember 1782. um ihm die Gefahrlosigkeit eines neuen 
Türkenkriegs und ihre Beschwerdegründe vorzutragen und 
ihn zu einer geheimen Konvention wegen Fixirung der in der 
Türkei zu machenden Gebietserwerbungen zu veranlassen. 
Es sollte ein für ewige Zeiten unabhängiger Staat Dacien 
aus Moldau, Walachei und Bessarabien gebildet und einem 
Fürsten griechischer Konfession, wobei Katharina nur 
an Potemkin dachte, übergeben werden, Joseph sollte 
die Grenze zwischen Oesterreich und der Türkei be- 
stimmen, Katharina beanspruchte für sich nur Otschakow 
und den Landstrich zwischen dem Bug und dem Dnjestr 
nebst einer oder zwei Inseln des Archipels zur Sicherung 
des russischen Handels, doch erwartete sie, sobald die 
Befreiung Europas von den Osmanen erfolgen könnte, 
Josephs Mitwirkung hierzu wie zur Wiederherstellung 
des griechischen Kaiserthums unter Konstantin, wobei 
bestimmt ward, dass derselbe niemals die russische und 
die griechische Kaiserkrone zugleich tragen dürfe. Joseph 
beantwortete diese Eröffnungen mit der Aufstellung so 
hoher oesterreichischer Gegenforderungen, dass sie in St. 
Petersburg unangenehm berührten; Katharina musste vor- 
erst „das griechische Projekt“ fallen lassen. Die aus- 
wärtige Politik leitete jetzt in erster Linie Potemkin. 
unter ihm Ostermann und Besborodko; Fürst Grigorü 
Alexandrowitsch Potemkin war in der Politik olıne 
Genie wie ohne Moral, hielt sich aber für einen ausser- 
ordentlichen Menschen; alles ging nach seiner Laune und 
er schonte Niemanden, so hoch derselbe auch stehen 
mochte, er gebot neben Katharina in Russland und ent- 
nahm nach Belieben den öffentlichen Kassen Gelder ohne 
Abrechnung®). Bei Panins Entlassung hatte der Reichs- 
vicekanzler Graf Ostermann die auswärtigen Angelegen- 
heiten übernommen, doch war er ohne bestimmenden Ein- 


.) Denkwürdigkeiten von A. M. Turgenjow in „Russkaja 
‚Starina*“, November 1588. 





—— 


176 VII. Katharina IT. 





Huss und wurde immer mehr in den Schatten gedrängt: 
ein verschlagener Kleinrusse hingegen, Alexander Andreje- 
witsch Besborodko, dessen hervorragende stautsmännische 
Begabung, unterstützt durch ein phänomenales Gedächtnis, 
dessen rasche Denkfähigkeit und grosse Thätigkeit frühe 
bemerkt worden waren, leitete unter dem hescheidenen 
Titel eines Mitglieds des Kollegs des Aeusseren die Ge- 
schäfte; er war zwar Potemkins stiller Feind, hütete sich 
aber, diese Gefühle laut werden zu lassen, besass grossen 
Einfluss bei Katharina, war von Oesterreich gewonnen 
und seit 1784 Reichsgraf. Katharina beschloss nun, sich 
der Krim zu bemächtigen, Joseph unterstützte sie zwar 
nicht mit Truppen, wirkte aber auf diplomatischem Wege 
für sie auf den Divan ein: ihre Intriguen hatten glänzenden 
Erfolg, ihre Soldaten zogen in der Krim ein, der Khan 
Schahin-Ghirsi trat am 19. April 1783 gegen ein Jahr- 
geld die Krim, den Kuban und die Halbinsel Taman an 
Katharina ab und mit der Einverleibung dieser Gebiete 
war die letzte Spur der mongolischen Eroberung Russ- 
lands ausgelöscht; unter barbarischer Metzelei zwang 
Potemkin die Tataren zum Gehorsam. In demselben Jahre 
brachten russische Intriguen die georgischen Fürsten- 
thümer Kacheti und Karthli zur Unterwerfung. Abdul- 
Hamid 1. wollte zwar wegen der Eroberung der Krim zum 
Schwerte greifen, Frankreich, Oesterreich und Preussen 
aber vermochten ihn, von diesem Vorhaben abzustehen, 
Saint-Priest in erster Linie wirkte darauf hin, und so be- 
stätigte der Sultan am 8. Januar 1784 die Abtretung der 
Krim, Kubans und Tamans und schloss eine Friedens- 
und Freundschaftskonvention mit Katharina. Katharina 
bildete aus der Erwerbung das Gouvernement Taurien. Nun 
hatte Russland endlich die Herrschaft auf dem Schwarzen 
Meere und freie Fahrt auf allen türkischen Flüssen. 
Der Grossherzog Peter Leopold von Toskana sagte, 
Russland werde fortan das Schwarze und das Kaspische 
Meer beherrschen und könne jederzeit Konstantinopel be- 
deohen, die Diplomaten prophezeiten, Katharina werde 
nächstens Otschakow angreifen, der uns von Tschesme 
bekannte Admiral Samuil Karlowitsch Greigh schrieb ein 








VII. Katharina IT. 197 
Gutachten über einen Angrif! auf die Dardanellen, der 
Reis-Effendi anderseits betonte, die Türken würden sich 
lieber in Stücke zerreissen lassen, als den Russen den 
ruhigen Besitz der Krim gönnen. Der neue bevollmäch- 
tigte Minister Ludwigs XVI. Graf Louis Philippe de 
Sögur, gewann die besondere Gunst Katharinas, Potem- 
kins und des Hofes, stellte Potemkin die für Russland 
grossen Vortheile eines Handelsvertrags mit Frankreich 
ins glänzendste Licht und erreichte im Januar 1787 den 
Abschluss eines solchen auf dem Fusse der gegenseitig 
meist begünstigten Nationen; keinem seiner Vorgänger 
seit 1629 war ein soleher Erfolg gelungen. Sögur begleitete 
Katharina mehrmals auf der Reise, durfte dabei in 
ihren Wagen einsteigen und wusste sie vortreflich zu 
unterhalten. Während Katharina noch zu Lebzeiten 
Friedrichs des Grossen den aus Berlin ergangenen Vor- 
schlag einer preussisch-russisch-türkischen Allianz ablehnte 
und Preussen unter dem neuen Könige in Konstantinopel 
gegen sie thätig war, sondirte Besborodko im November 
1787 Segur wegen einer Tripelallianz gegen die Türken, 
und als der neue Türkenkrieg herankam, schlug Russland 
Sögur die Bildung einer Quadrupelallianz von Russland, 
Frankreich, Oesterreiell und Spanien vor, die sich gegen 
die Türkei und Schweden wie auch gegen Grossbritannien 
und Preussen kehren sollte; Sögur unterstützte diesen 
Antrag bei Montmorin, dem Minister des Aeusseren, Mont- 
morin nahm den Gedanken im Principe an, dämpfte aber 
Sögurs Enthusiasmus, Spanien lehnte ab und so unterblieb 
die Allianz, Katharina unterstützte Josephs Projekt der 
Erwerbung Bayerns, rieth den Generalstaaten im Jahre 
1784 vom Kriege gegen ihn ub, war eine Gegnerin des 
Fürstenbundes Friedrichs und jeder Einigung der deutschen 
Regierungen und deutschen Interessen zu einem Ziele. 
Sie wollte sich von Potemkins Verwaltung in der Krim 
und am Schwarzen Meere, über die man Arges munkelte, 
persönlich überzeugen und lud Joseph zu einer Begegnung 
in Cherson, der Schöpfung Potemkins, ein, wobei auch Sögur 
sie begleitete: König Stanislaus stiess in Kanew zu ihr, er- 
reichte aber keinen förmlichen Bündnissvertrag und ver- 


A. Kleinsehmidt, Uoberbi. d. rum. Gesch. u. 1806. 2 

















Feind, den Grafen Rumjanzow-Sadunaiskü, zu stürzen; die 
Täuschung Katharinas gelang, wie wir schon berichteren, 
vollständig, Potemkins Blendwerke berückten sie und sie 
gab ihm in Charkow im Juni 1787 den Ehrennamen Tawri- 
tscheskii (8.161). Joseph und Katharina redeten wenig von 
Geschäften, Katharina dachte fortgesetzt an einen Türken- 
krieg, während Joseph die Hoffnung hegte, die Pforte 
nachgiebig stimmen zu können. Potemkin wollte den Krieg 
um jeden Preis, obwohl unter seinem Regimente — or 
war Grossadmiral auf dem Schwarzen Meere und Prä- 
sident des Kriegskollegs — Flotte und Heer in Zerrüttung 
waren; er hetzte den Gesandten am Divan, Bulgakow. 
auf, russische Emissäre wühlten in den rumänischen. 
griechischen und slawischen Gebieten der Pforte und in 
Aegypten, und auf den in der Krim errichteten Triumph- 
bogen stand die den Türken bedrohlich klingende Inschrift 
„Strasse nach Byzanz!“ Joseph nannte die ganze Reise 
eine Hallucination, erkannte aber, wie rasch man von dem 
Prachthafen Sewastopol in Byzanz sein könne: nichts be- 
wies schlagender die Komödie Potemkins als der erbürmliche 
Zustand, in dem Russland in den gerade von seiner Ruhm- 
sucht heraufbeschworenen Türkenkrieg eintrat, Die Pforte 
verlor schliesslich die Geduld, stellte an Russland ein un- 
annehmbares Ultimatum, forderte im August 1787 von 
Bulgakow die Restitution der Krim ete. und sperrte ihn 
auf die Verweigerung seiner Unterschrift hin in die „Sieben 
'Thürme“, erklärte den Krieg und ihre Heere rückten sofort 
ins Feld. Das Herz fiel Potemkin in die Schuhe, da die 
Rüstungen noch nicht beendet waren, er rieth zur Riumung 
der Krim, Katharina aber sprach dem Feigen Muth zu 
und zeigte sich als tapferer Staatsmann, Ihre Lage wurde 
sehr bedrängt, denn nicht nur fielen die Türken in die Krim 
ein, sondern auch Friedrich Wilhelm Il. suchte Polen um 


VII. Katharina TI. ım0 
Danzig und Thorn zu bringen und Gustav II. schlug aus 
Katharinas Noth Kapital. Katharinas Gesandter in Stock- 
holm, Graf Andrei Kirillowitsch Rasumowski, ein Bohn des 
Hetmans, hatte dort mit den grollenden Aristokraten gegen 
den König dergestalt komplotirt, dass dieser auf seiner 
Abberufung bestand: Gustavs Ultimatum vom Juli 1788 
an Katharina, das einen sehr scharfen Don einhielt, forderte 
auch die Abtretung Südfinnlands und Kareliens wie die 
Entwaffnung der russischen Flotte im Baltischen Meere 
und wollte Schwedens Mediation im Türkenkriege auf- 
drängen; ohne die Antwort abzuwarten, begann Gustav 
die Belagerung von Nyslot und Frederikshamn und würde 
vielleicht Livland haben wegnehmen können, wenn er sieh 
nicht mit jenen Festungen aufgehalten hätte. Gustav und 
Katharina befehdeten sich gegenseitig in masslosen Mani- 
festen: letztere blieb in St. Petersburg, zu dessen Ver- 
theidigung rüstend, und die Seeschlacht bei der Insel 
Hogland am 17. Juli 1788, die Gustav als Sieg feierte, 
blieb unentschieden; Admiral Greigh bedeckte sich noch- 
mals mit Rahm*), Gustavs Flotte konnte nicht vordringen 
und eine in seinem Lager ausbreehende Adelsverschwörung 
(Bund von Anjala) zwang ihn zur Heimkehr nach Stock- 
holm. Schweden hielt an seinem alten Bündnisse mit den 
Türken fest. auch Preussen wollte ein Bündniss mit ihnen 
schliessen und Katharina traf militärische Schritte auch 
gegen diese Eventualitäten. Gustav trieb die Dänen aus 
Norwegen hinaus, befestigte im Februar 1789 durch einen 
zweiten Staatsstreich die Monarchie auf Kosten der Aristo- 
kratie und führte mit frischem Muthe den Krieg gegen 
Katharina weiter; ihr Oberbefehlshaber gegen Schweden, 
Gräf Valentin Platonowitsch Mussin-Puschkin, unter dem 
Paul den Krieg mitmachte, erreichte nichts und wurde im 
Anfang 1790 abberufen. Mit Katharina vereint, kämpfte 
Joseph gegen die Türken, war aber fortgesetzt un- 
glücklich; auch die Russen hatten anfangs keinen Erfolg, 
erst im December 1788 nalım Potemkin Otschakow durch 
Sturm, wofür er den höchsten militärischen Orden erhielt, 


*) Er starb im Oktober 1788. 





198 


10 VII. Katharina II. 

die Stadt wurde geplündert und viele tausende von Türken 
niedergemetzelt; Graf Ssaltykow eroberte Chotin. Im 
Jahre 1769 hatten die Russen grössere Erfolge gegen die 
Türken, nicht nur wurden Akkjerman und Bender ge- 
nommen, sondern die Russen siegten auch, vereint mit den 
Oesterreichern unter dem Prinzen von Sachsen-Koburg, in 
den grossen Schlachten bei Fokschani und bei Martineschti 
am Rymnik; sie standen unter dem grössten Feldherrn, 
den Russland jemals gehabt, unter Alexander Wassilje- 
witsch Ssuworow, einer ebenso wilden und leidenschaft- 
lichen wie genialen Natur; für diese Siege erhob ihn 
Joseph zum Reichsgrafen. Katharina zum russischen Grafen 
mit dem Beinamen Rymnikskii*). Auf russischer Seite 
fochten eine Reihe französischer delleute, unter ihnen 
der spätere Herzog von Richelieu. Die Schweden ver- 
suehten umsonst Frederikshamn zu nehmen, das Seegefecht 
bei Oeland am 26, ‚Juli 1789 blieb unentschieden, hingegen 
besiegte der russische Admiral Prinz von Nassau-Siegen 
die schwedische Scheerenflotte am 24. August bei Ruotschen- 
sulmi und am 1. September bei Högfors. Preussen trat, 
auf Katharinas und Josephs Siege eifersüchtig, im Juni 
1790 in ein Bündniss mit Selim III. und nach Josephs 
Tod sinigte sich Kaiser Leopold II. mit Grossbritannien, 
Preussen und den Generalstaaten in der Reichenbacher 
Konvention vom 27. Juli 1790 zur Erhaltung des türkischen 
Reiches; es trat, während die russische Flotte über die 
türkische Erfolge errang, im September 1790 ein Waffen- 
stillstand auf neun Monate zwischen Kaiser und Sultan 
ein. Der Balte Friedrich Wilhelm von Buxhöwden über- 
schritt im Jahre 1790 die schwedische Grenze, schlug 
zwei Generale, entsetzte Frederikshamn und Wiborg, der 


*) 8suworow hatte viele Neider und sie bewogen Katharina, ihm 
am heiligen Abende den St. Andreas-Stern nicht zu geben; an diesem 
Abende isst; der gemeine Mann Sterne zum Gedächtnisse des Sterns der 
Weisen. Sauweorow berührte, von den Umtrieben unterrichtet, bei dem 
Festmahle keine Speise und antwortete auf Katharinas Frage, warum 
er nicht esse: „Ich sehe keine Sterne, Majestät!" Da lachte sie, nahm 
ihren eigenen St, Andreas-Stern ab, legte ihn auf seinen Teller und 
sagte: „Jetzt, Graf, wirst Du essen.” (Russkaja Starina, Juni 1880.) 































m VIL. Katharina IT. 181 
Prinz von Nassau schloss die schwedische Flotte im 
Wiborger Sunde ein, doch schlug sie sich durch und zer- 
störte in der Schlacht bei Swenskasund am 9. und 
10, Juli die russische vollständig. St. Petersburg war 
neuerdings gefährdet und Gustav lud seine Hofdamen über- 
_ müthig zum Balle nach Peterhof ein. Russland aber wie 
Schweden sehnten sich nach Frieden und am 14. August 
1790 kam derselbe in Werelae auf der Basis des status 
quo ante bellum zu Wege: Katharina war froh, einen Fuss 
aus dem Sumpfe gezogen zu haben, wie sie un Potemkin 
‚schrieb, Schweden hatte seine Kriegsopfer unnöthig ge- 
bracht; Katharina that nun alles, um ein Bündnis mit 
Schweden zu erzielen, korrespondirte selbst mit dem von 
ihr verhöhnten Gustav III. und Schweden schloss sich fortan 
eng an Russland: Gustav wollte mit ihr der Revolution 
in Frankreich, die jetzt seine Aufmerksamkeit vor allem 
beschäftigte, entgegen treten. Des Kriegs mit Schweden 
‚enthoben, warf sich Katharina mit verstärkter Gewalt auf 
_ die Türken. Ihre Truppen eroberten Kilia und Sauworow, 
‚der gleichsam die Exekutive des bequemen Potemkin war, 
erstürmte am 22. Dezember 1790 dus feste Ismail, wo er 
ine abscheuliche Metzelei und Plünderung gestattete; 
Stambul zitterte vor seinem Namen. Auch im Kuban und 
Kaukasus hatten die Russen Erfolg. Leopold II. zog sich 
aus dem Türkenkriege zurück und schloss zu Sistowa 
‚mit der Pforte Frieden, Katharina hingegen setzte den 
_ Krieg fort, Fürst Repnin (s. oben) siegte wiederholt, vor 
‚allem bei Matschin am 9. Juli 1791, der Admiral F. F. 
Uschakow schlug die türkische Flotte mehrmals und ver- 
_ nichtete sie schliesslich nahezu bei Kaleri-Burnu im August 
1791: so blieb den Türken nichts übrig als Frieden zu 
essen; am 9. Januar 1792 gewann Katharios im 
jen von Jassy Otschakow und einen öden Landstrich 
hen dem Bug und dem Dnjestr, letzterer bildete 
die Grenze gegen die Türkei; die Abtretung der 
wurde bestätigt. Aus den Trümmern der zerstörten 
enfestung Hadshibei erstand Odessa mit seinem ganz 
ationalen Charakter, das seinen Aufschwung in orster 
Linie Fremden wie Langeron, Richelieu, Ribas verdankte, 


m 


108 VIE Katharina I. 





eines der eraten Weltemporien wurde und die kommerzielle 
Vermittelung mit Westeuropa besorgte, Dus ganze Nord- 
ufer des Schwarzen Meeres war nun russisch und alle 
Versuche der Türken, wieder in den Besitz der Krim zu 
kommen, blieben fruchtlos. 

Polen schien sich aus seiner Zerfahrenheit erholen zu 
wollen; in der Hoffnung auf die Unterstützung des Ka- 
tharina sehr unsympathischen Friedrich Wilhelm II. be- 
schwor König Stanislaus die Verfassung vom 3. Mai 1791. 
Katharina aber, die schon an eine zweite Theilung Polens 
dachte, erhob alsbald durch ihren Gesandten Bulgakow 
Vorstellungen gegen die Verfassung, die sie als Kriegs- 
erklärung betrachtete: (ie russischen Parteigänger schlossen 
am 14. Mai 1792 gegen die Verfassung die Konföderation 
von Targowieze ; Katharina sandte letzterer ein grosses Heer 
in die Ukraine zu Hilfe und nannte die polnischen Patrioten 
kurzweg Jakobiner. Preussen, der Kaiser und der Sultan 
thaten nichts für dieselben, Stanislaus sah sich genöthigt, 
die erboste Kaiserin um Frieden zu bitten, den sie ihm 
nur gegen den Verzieht auf die Polen so heilsame Ver- 
fassung vom 3. Mai und gegen den Beitritt zur Kon- 
föderation von Targowieze (23. Juli 1792) gewährte, 
Russland schlug in Berlin eine neue Theilung Polens vor, 
auf die Friedrich Wilhelm weit bereitwilliger als das 
Wiener Cabinet einging. so wenig Sympathie er auch 
für Katharina hegte; die Russen besetzten im August 1792 
Praga. Am 14. Juli hatten Russland und Oesterreich eine 
Defensivallianz geschlossen, in der Polens Verfassung von 
1773 und seine Integrität garantirt waren, am 7. August 
Russland und Preussen eine Defensivallianz gleichen 
Charakters. Im Einverständnisse mit Katharina sandte 
Friedrich Wilhelm im Januar 1793 den General von Möllen- 
dorf? mit Truppen an die Westgrenze Polens und ein 
Manifest erklärte gleissnerisch diesen Akt als nothwendig, 
um in dem von Aufwieglern durchwühlten Lande die Ordnung 
herzustellen; die Preussen besetzten Posen, Gnesen und 
Kalisch, im April Danzig und Thorn, die Russen unter 
dem Generale Igelstroem näherten sich Grodno und 
Niemand kümmerte sich um die Proteste des unglück- 


_VIL Katharinn II. 188 





lichen Polenvolkes. Der Reichstag wurde durch russische 
Manoeuvres aufgelöst und ein neuer nach Grodno berufen. 
‚auf dem der russische Gesandte von Sievers eine rücksichts- 
lose Sprache führte, Unter heuchlerischer Verbrämung und 
unter Berufung auf das ihnen und dem Kaiser gemein- 
same Interesse schlossen Russland (Graf Ostermann) und 
Preussen (Graf von der Goltz) um 23. Januar 1793 in 
St. Petersburg den Vertrag über die zweite Theilung 
Polens, der bis Ende März Geheimniss blieb und 
dann in Wien grosses Befremden erregte: preussische 
und russische Patente kündeten nach der Okkupation 
den Polen die Besitzuahme der Gebiete als für die 
eigene Sicherheit nöthig an und der Reichstag in 
Grodno sollte den Gewaltakt sanktioniren, Am 7. und 
9, April hatte sich Russland des noch polnischen Theils 
der Ukraine, Podoliens, der Osthälfte Wolhyniens, der 
Hälfte der Wojewodschaften Nowogrodek und Brzesk, 
des Restes von Polock und Minsk (4553 Quadratmeilen 
mit 3011688 Seelen) bemächtigt. Stanislaus wurde 
nach Grodno gesehleppt, wo der Reichstag am 17. Juni, 
von russischen Truppen umstellt, zusammentrat; J. J. von 
Sievers trat mit unerhörter Brutalität auf, um die Ver- 
sammlung einzuschüchtern, aber trotz aller Vergewaltigung 
und trotzdem der Reichstag grösstentheils aus Russisch- 
gesinnten bestand, sprach sich eine ritterliche Minorität 
‚gegen die Verstümmelung scharf aus; freilich half ihr dies 
nichts und am 22. Juli willigte der Reichstag durch einen 
Vertrag mit Sievers in die Abtretung ein. Mit gleicher 
Brutalität trat Sievers für Preussens Forderungen ein und 
erzielte im September ihre Anerkennung. Am 16. Oktober 
schlossen Russland und der Rest von Polen ein Bündnis. 
Bald aber kam es unter der Führung des edlen Thaddäus 
Koseinszko zur allgemeinen Erhebung der geknech- 
teten Polen gegen Russland und Preussen, aus Paris 
wurde geschürt. Kosciuszko erhielt am 27. März 1794 die 
Diktatur und trotz aller Bemühungen des Gosandten 
von Igelstroem, des Nuchfolgers von Sievers, überzog die 
Verschwörung das ganze alte Polen. Die Russen mussten 
Krukau räumen, Koseiuszko besiegte den General Tor- 


1a VII. Katharina If, - 

massow am 4. April bei Raclawice, was ganz Polen 
elektrisirte, am 17. brach der Aufstand in Warschau aus, 
Igelstroem und Arssenjew mussten aus Warschau und 
Wilna weichen. Die Feinde rückten aber von allen Seiten 
auf Polen los, Krakau fiel in preussische Gewalt und nach 
kurzer Zeit hatte Russland Polen gehändigt: Ssuworow 
besiegte und fing Koseiuszko am 10. Oktober in der 
Schlacht von Maciejowice, erstürmte Praga am 4. November 
unter grauenhaftem Gemetzel und zog, zum Generalfeld- 
marschalle ernannt, am 8. in Warschau ein. Stanislaus wurde 
nach Grodno geschickt, Koseiuszko kam in St. Peters- 
burg in strenge Westungshaft. Kaiser Franz II. hatte 
sich eng an Russland angeschlossen und Katharina ver- 
werthete meisterhaft die Antipathie Oesterreichs gegen 
Preussen, am 3. Januar 1795 erfolgten ein Sondervertrag 
und eine geheime Erklärung zwischen beiden Cabineten, 
'Thugut verzögerte immer noch die Mittheilung des 
ersteren an Preussen, obwohl ja die dritte Theilung 
Polens darin beschlossen war und diese unter Preussens 
Betheiligung stattfinden sollte: erst am 9. August legten 
die Gesandten Russlands und Oesterreichs den Vertrag in 
Berlin vor und Friedrich Wilhelm erklärte sich am 
15. August zum Beitritte bereit. Am 18. Februar hatte 
Russland auch mit Grossbritannien ein Bündniss ge- 
schlossen und so bildete sich die Tripelallianz Russlands, 
Grossbritanniens und Oesterreichs vom 28. September 1795 
aus. Katharina bewirkte schliesslich ein Einvernehmen 
zwischen den uneinigen Mitschuldigen Oesterreich und 
Preussen und am 24. Oktober 1795 erfolgten die Konventionen 
zwischen Russland, Oesterreich und Preussen wegen der 
dritten Theilung Polens. Russland, welches bereits 
Litauen und Kurland besetzt hatte, erhielt Litauen mit 
Wilna, Kowno und Grodno, alles Land bis zum Niemen 
und zum oberen Bug, Kurland, 2085 Quadratmeilen 
mit weit über einer Million Seelen: Stanislaus dankte 
am 25. November ab und lebte fortan mit einem Jahr- 
gehulte in Grodno; erst unter Paul wurde am 26. Januar 
1797 die definitive Theilungskonvention in St. Petersburg 
unterzeichnet. 80 verschwand Polen, das einst die Rolle 





VIT. Katharina IT. 186 





einer Macht ersten Ranges gespielt, sang- und klanglos 
aus dem europäischen Concerte, Russland hatte bei den 
drei 'Theilungen den Löwenantheil davon getragen: die 
Wojewodschaften lüngs des Dnjepr, Livland, Kurland, die 
noch polnisch gebliebene Ukraine, den grössten Theil von 
Sumogitien und ganz Wolhynien, über 8500 Quadrat- 
meilen, die nan mehrere russische Gouvernements bildeten, 
mit 4%s Millionen Seelen. 

Bisher regierte in Kurland der jämmerliche Herzog 
Peter; es herrschten bestündige Fehden zwischen dem 
Herzöge, dem Adel und dem Bürgerstande, alle drei 
suchten bald in Warschau, bald in St. Petersburg Sehutz 
und Hilfe. Katharina trieb solange ein souterränes Spiel, 
bis der Landtag Kurlands am 18. März 1795 sich. für die 
Einverleibung in Russland uussprach. Graf Ostermann 
forderte Peter auf, nach St. Petersburg zur Kaiserin zu 
kommen, stellte ihm sein Palais zur Verfügung, Peter 
kam und musste am 28. März für sich und seine Nach- 
kommen auf Kurlund und Semgallen verzichten, die Russ- 
land einverleibt wurden, er erhielt ein Jahrgehalt von 
25.000 Dukaten für sich und seine Töchter und die Neben- 
linie Biron-Wartenberg bezog für ihren Verzicht auf das 
Herzogthum eine ‚Jahresrente von 36000 Thalern*). 

Katharina sah in Friedrich Wilhelm IL trotz der 
polnischen Gemeinschaft ihren Gegner, Friedrich Wilhelm 
fürchtete das Europa bedrohende Ueberhandnehmen ihrer 
Macht und unterstützte heimlich ihre Gegner ; auch Franz 11. 
war weit kühler gegen sie als sein Oheim Joseph Il, 
und die Beziehungen beider Cabinete kühlten sich ab, 
wenn auch Franz den letzten Günstling der männerfrohen 
Frau, Platon Alexandrowitsch Subow, im Jahre 1796 zum 
Reichsfürsten erhob**), Katharina war zwar niemals 
eine Freundin der Briten gewesen, an der Losreissung 


*) Vgl. das im, gleichen Verlage erschienene Werk von Baron 
Alfons Heyking, Aus Polen» und Kurlanda letzten Tagen. Memoiren 
des Baron Karl Heinrich Heyking (1742—179), Berlin 1897. 

**) Eigenthümlich berührt es, dass diese Autokratin eine Reihe von 
Standeserhöhungen durch den römischen Kaiser vornehmen liess, an- 
statt sie selbst zu vollziehen. 


Vebergahe der Bastille meldete, erkannte d 

reich für Russland nicht mehr in Betracht komme und j 
Allianz beider Reiche ein Traumgebilde sei; ‚sie wurde 
gegen Frankreich immer kühler, wenn sie auch dessen 
Minister Sögur gewogen blieb; sie tadelte unverblümt 
Segurs unpassenden Jubel über den „Bastillesturm“, wie 
das Ereigniss vom 14. Juli 1789 damals und heute noch 
verlogener Weise heisst, sah aber mit Kummer Sögur im 
Oktober scheiden; Genet, der Bruder der bekannten Ma- 
dame Campan. blieb als Geschäftsträger am russischen 
Hofe. Nach den Oktobergreueln prophezeite Katharina 
Ludwig NVI das Schicksal Karls 1. Stuart und ergriff 
höchst unzufrieden mit der allgemeinen Gleichheit. die 
in Frankreich mit so viel Geschrei ihren Einzug hielt, 
immer entschiedener für den König Partei. In der Gazette 
de eve liess sie die Revolution schomangslos 
geisseln, die eigene Presse wurde genau überwacht, frei- 
sinnige Russen wurden polizeilich beobachtet und ihr 
Briefwechsel perlustrirt. die Emigranten wurden mit offenen 
Armen aufgenommen und Katharina hoffte, der König 
werde aus Paris flüchten können: um so tiefer war der 
Eindruck, den das Scheitern seiner Plucht auf sie machte. 
Der Verfolgung des Trauerspiels „Vadim von Nowgorad* 
von Knjashnin erwähnten wir bereits, Radischtschew, von 
lem wir auch schon sprachen (8. 128), wurde abgesetzt 
und nach Sibirien verwiesen, Nowikow im Mai 1792 ver- 
haftet und in Schlüsselburg eingesperrt, seine Buchhand- 











lung und Druckerei geschlossen, die Martinisten. unter 
ihnen der Brigadier J. W. Lopuchin, wurden wie er im 
Mai 1792 verhaftet. Katharina entfernte Voltaires Büste aus 
ihrem Cabinete, wollte von Rousseau niehts mehr hören und 
betrachtete argwöhnisch die Fürstin Daschkow, die nach 
wie vor für Freiheit schwärmte. Dem Geschüftsträger 
Genet verbot sie im August 1791 das Erscheinen am Hofe, 
sie wollte nur mit dem Könige und nieht mit einer anti- 
monarchischen Nationalversummlung zu thun haben; in der 
Konstitution von 1791 sah sie einen der Majestät ange- 
thanen Schimpf, in der Nationalversammlung einen Haufen 
von Usurpatoren und Frevlern, sie empfing Genet nicht, 
hingegen die geheimen Agenten Ludwigs und seiner Brüder, 
der Häupter „des auswärtigen Frankreich“, und noch weit 
sehroffer stellte sich ihr Sohu der Revolution und Frankreich 
entgegen, Paul erklärte es 1791 geradezu für eine Pflicht aller 
Souyeräne, die den neuen Gesetzen folgenden Franzosen 
aus ihren Staaten zu vertreiben, „weil sonst binnen zwei 
Jahren ganz Europa umgestürzt sein würde“. Katharina 
verurtheilte die Nachgiebigkeit Ludwigs, seinen Eid auf 
die neue Verfassung und verbot ihren Ministern, irgend 
ein Papier von Genet anzunehmen: Besborodko drängte 
sie im Gegensatze zu Ostermann zu immer schrofferer 
Haltung. Sie unterzeichnete mit Gustav IIL schon im 
Oktober 1790 den Vertrag von Drottningholm und trieb 
ihn beständig gegen Frankreich ins Feuer, ebenso spornte 
sie den Kaiser und den König von Preussen an, sie selbst 
aber opferte nichts für einen Kreuzzug gegen die Revolu- 
tion. Im Dezember 1791 gestand sie Ostermann, sie wolle 
Oesterreich und Preussen gegen Frankreich engagiren, um 
die Ellbogen frei zu haben und in ihren Unternehmungen 
nicht gehindert zu werden. Auf den Brief des französi- 
schen Adels hin, der ihr für ihr Interesse am Königsthrone 
dankte, schrieb sie; „Die Sache der Könige ist die des 
Adels, kein Adel kein Monarch“ und sie beauftragte den unter 
Subow ullmächtigen Geheimrath Markow im Kollege der 
auswärtigen Angelegenheiten, in demselben Sinne zu 
schreiben, was grosses Aufschen, um das es ja Katharina 
stets zu thun war, erregte. Als Gustav III, der leiden- 


b 


188 VII. Katharina IT. 





schaftliche und ritterliche Kreuzfahrer gegen 
tion, im März 1792 ermordet worden war, a 
die Jakobiner Frankreichs des Attentats und schrieb an 
Rumjanzow: „Ich habe Posto gefasst und meine Rolle ist 
angewiesen. Es ist meine Sache. die Türken, die Polen 
und Schweden zu bewachen.“ Genets Lage ke 
unangenehmer. wie er wiederholt dem auswi 

in Paris mittheilte. Katharina rief schliesslich ah 
und ihren Geschüftsträger aus Paris ab und wies Genet im 
Juli 1792 aus Russland aus, wo nun Patot d’Orflans die 
Generalkonsulatsgeschäfte besorgte. Sie rief die Russen aus 
Frankreich heim und verweigerte der Republik vom Sep- 
tember 1792 die Anerkennung, In der Frankreich ver- 
heerenden Anarchie erblickte sie eine Gefahr für Russland 
und für ganz Europa; von Gefühlspolitik konnte ja bei ihr 
nie die Rede sein. Auf die Nachricht von Ludwigs Hin- 
richtung musste sie sich aber zu Bett legen und war ausser 
sieh vor Entrüstung über die Franzosen, die man „durch- 
aus bis auf den Namen ausrotten müsse“; sie erliess am 
19, Februar 1793 einen Ukas an den Senat zum Zwecke des 
Abbruches der diplomatischen Beziehungen zu Frankreich 
und der Ausweisung aller Franzosen, welche nicht einen 
Eid schwuren, in dem die gegenwärtige französische Re- 
gierung und die Revolutionsideen in Frankreich verdammt 
wurden; die Namen der Schwörenden, etwa 1000 an Zahl. 
wurden in der St. Petersburger Zeitung veröffentlicht und 
sie waren dadurch der Rückkehr ins Vaterland beraubt: 
Katharina verbot den Russen, in Frankreich zu reisen. 
untersagte im April die Rinfuhr einer Reihe Waaren aus 
Frankreich, sperrte die russischen Häfen für französische 
Schiffe und verbot den russischen Kaufleuten das Einlaufen 
in französische Häfen, sie suspendirte alle Wirkungen des 
Handelsvertrags mit Frankreich von 1787 bis zur Wieder- 
herstellung der legitimen Autorität und jugte Patot 
d’Orflans nebst allen französischen Konsuln aus dem 
Reiche. Sie nahm den Grafen von Artois. den Prinzen 
von Cond& und die Emigranten huldreich auf, erkannte 
Imdwig XVII und 1795 Ludwig XVII. als König an und 
empfing seine Vertreter; Graf Artais bemühte sich, Laharpe. 


VII. Katharina II. 189 





den freigeistigen Erzieher ihrer Enkel, zu stürzen, aber 
thatkrüftige Unterstützung lieh sie den Emigranten nicht, 
sie opferte wenig Geld und keinen einzigen Soldaten; 
während sie Oesterreich, Preussen und Schweden gegen 
Frankreich anfeuerte, schob sie Polen in ihre Tasche. 
Viele Emigranten blieben Jahrzehnte in Russland, wie z. B, 
der Herzog von Richelieu, viele wurden Erzieher in vor- 
nehmen Familien. die dadurch zu halben Franzosen heran- 
gebildet wurden, der baltische Einfluss trat wie unter 
Elisabeth hinter den französischen zurück. 


Sehr traurig war das Verhältniss Katharinas zu ihrem 
Sohne und Thronfolger Paul Petrowitsch, es gestaltete 
sich immer frostiger. Beide standen sich schliesslich als 
Feinde gegenüber; sie bereitete ihm fortgesetzte Demüthi- 
gungen, entzog ihm sogar die Erziehung seiner Kinder, 
griff zum Lehramte und schrieb für sie kleine sentimentule 
Schriften; Paul liebte seinen Vater, verachtete und hasste 
seine Mutter, in der er dessen Mörderin, die Thronräuberin 
am Vater und an ihm selbst sah. 

Paul, der seit 1760 unter Panins Leitung stand, 
wuchs in einer sittenlosen Gesellschaft auf, von der 
Mutter mit Spionen umstellt, es war eine vergiftete 
Jugend. Ungestraft durften ihre Günstlinge ihn beleidigen, 
man hielt ihn in Sklaverei, fern von allen Regierungs- 
geschäften. Panin machte kein Kunststück mit seiner 
Leitung und der Paul beigegebene Freiherr Karl Magnus + 
von der Osten-Sacken kümmerte sich kaum um seine 
Erziehung, wie er auch später uls Lehrer Konstantins blut- 
wenig leistete. Panl besass gute Anlagen. war fromm und 
gerecht, offen und bieder und hasste die am Hofe seiner 
Mutter herrschende Korruption, er entwickelte gesunde 
politische Anschauungen, war wie sein Vater für Preussen 
begeistert und hatte grosse Vorliebe für das Militär. 
Seine Untugenden wuchsen jedoch über die Vorzüge 
hinaus, woran vor allem die Spionage der Mutter schuld 
‚war; zerstreut und fahrig, übereilt in Sympathie und 
Antipathie, liess er sich von Launen, Rechthaberei, Hals- 
starrigkeit, Jühzern und Rücksichtslosigkeit beherrschen, 


wu 


au sich, seine Mutter machte Paul auf“ 
misstrauisch und 1776 zereiss (der di 








bereitete der Zarewna frühe Kummer, doch sche 
als habe jene sich ihm nieht ergeben, sondern 
einem platonischen Verhältnisse und bei der hier. 
geblieben; die Nelidow ging einige Zeit,.um P: 
folgungen zu entgehen. ins Kloster und kehrte dann an 
‚den Hof zurück, wo ihr auch Marin Fedorowna dauernde 
Freundschaft bewahrte, obwohl Paul auch als Kaiser ihr 
huldigte. Katharina hatte eine überspannte Liebe zu 
ihrem ältesten Enkel Alexander, den sie, was bald öffent- 
liches Geheimniss wurde, an seines Vaters Statt zum 
Thronerben einsetzen wollte; frühe suchte sie ihm Elisa- 
beth Alexejewna von Baden zur Gemahlin aus, um ihn 
von Ausschweifungen zurückzuhnlten; überhaupt verfolgte 
sie bei den Heirathen in ihrer Familie den Plan, dem 
Grossfürsten deutsche Prinzessinnen zur Ehe zu geben, 
was der Freiherr vom Stein die Anlage einer „Stuterei* 
in Deutschland nannte; dadurch musste Russlands Einfluss 
an den deutschen Höfen ungemein steigen; dies blieb auch 
in der Folge Hauspraxis der Gottorpschen Kuiserdynastie. 
Obwohl Alexander auf die Absicht seiner Grossmutter, 
ihm an Thron über den Vater hinaus zu hinterlassen, 
einging, belauerte ihn der argwöhnische Paul un- 


Berteehe Katharina verfasste Papiere, in denen sie Pauls 








Be . 


VI. Katharina m. amt 





Ausschliessung vom Throne und seine Verbannung nach 
dem Schlosse Lohde in Esthland verfügte, und übergab 
sie der Obhut des Reichsvicekanzlers Grafen Besborodko, 
der sie nach ihrem Hintritte Paul sofort zur Vernichtung 
auslieferte. 

Ohne jeden Grund begann Katharina 1796 Krieg 
mit Persien, wie auch Peters des Grossen letzter Feldzug 
Persien gegolten hatte; sie wollte wohl die Gebiete jenseits 
des Kaukasus sich unterwerfon und so Konstantinopel 
einen Schritt näher rücken; zweifelhafter ist, ob sie an die 
Eroberung Persiens und an die Vernichtung der britischen 
Herrschaft in Indien dachte. Graf Valerian Alexandro- 
witsch Subow, der jüngere ihr sehr liebe Bruder ihres 
geistlosen Favoriten, führte als General en chef ein starkes 
Corps über den Kaukasus. verbreitete überall Schrecken. 
vabm Derbend und die Westküste des Kaspischen Meeres, 
fiberschritt den Araxes und Aderbeidschan lag vor ihm 
offen, als Katharinas Tod den Feldzug beendete. Um 
Schweden gänzlich an Russlands Politik zu fesseln. leitete 
der von den Brüdern Subow begünstigte Graf Arkadi 
J. Markow Unterhandlungen zur Verlobung der reizendon 
Grossfürstin Alexandra Pawlowna mitdem Könige Gustav IV. 
Adolph von Schweden ein, der König kam nach St, Peters- 
burg. die Feste nahmen kein Ende, Markow setzte den 
Heirathskontrakt auf, wonach „die Königin* ihrem ortho- 
doxen Glauben in Schweden treu bleiben dürfe. und der 
ganze Hof war am 21. September 1796 um die auf dem 
Throne sitzende Kaiserin geschart. um des Königs Unter- 
sehrift zu erwarten; dieser aber verweigerte sie. Ausser 
sich vor Wuth, schlug Katharina Markow, riss Krone und 
Mantel ab und sunk, leicht gelähmt, vom Throne; der 
König verliess St. Petersburg. Der Unfall vom 21. Sep- 
tember war bereits vergessen, die Kaiserin hatte im 
Freundeskreise der Eremitage die Freude wieder walten 
lassen und sich an den Witzen ihres ersten Spassmachers, 
des Kammerherru Narischkin, belustigt, als der Schla 
sie am 17. November 1796 in ihrem Cabinete rührte; sie 
starb nach einigen ohne Bewusstsein und ohne Sprache 
verbrachten Stunden, Paul eilte mit seinem Günstlinge 


BE 








198 VII. Katharina II. 
Rostoptschin auf die Nachricht ihrer tödlichen Erkrankung 
aus Gatschina herbei, seine Freude nicht verhehlend: ihr 
Tod gab ihm neues Leben. er war endlich frei, war 
Kaiser. Die Civilisatorin Russlands hatte ihr Reich um 
10000 Quadratmeilen vermehrt: während ihres Lebens nicht 
sonderlich beliebt, wurde sie nach dem Tode der Lieb- 
ling der Nation. Was die grosse Fürstin aus eigenster 
Initiative ins Leben geführt hat, bleibt ein geheiligtes 
Eigenthum ihrer Russen. Ihr Kopf war ein Universum. 
die gesammte Encyklopädie menschlichen Wissens war 
ihre Welt: von dem glänzenden Generalstabe bedeutender 
Geister umringt. die sie in ihren Dienst gebannt hatte, 
entrollte sie vor dem in Bewunderung aufglühenden Erd- 
balle das Banner von Bildung und Civilisation und ver- 
breitete ein freilich oft genug gefärbtes Licht über ihre 
glorreiche Regierungszeit. 


104 VII. Paul, 





‚ wenn er Unbilden seiner Vorgängerin bemerkte und 

ra durch eigene Güte in den Schatten stellen konnte, 
ähnlich der Haltung Friedrich Wilhelms II, gegenüber dem 
Andenken Friedrichs des Grossen. Seine Selbstüberhebung 
sprach sich in dem Worte aus: „In Russland ist nur der- 
jenige vornehm, mit dem ich spreche, und zwar nur, #0 
lunge ich mit ihm spreche“; fuhr er aus, so mussten ulle 
Wagen anhalten und die Insassen aussteigen, um ihm, 
sei eg auch in Koth oder Schnee, knisend ihre Ehrfurcht 
zu erweisen. Presse und Theater wurden strengstens 
überwacht, die Einführung von Büchern und Musikalien 
aus Europa verboten, die Russen von ihren Reisen heim- 
gerufen und kein Franzose durfte nach Russland hinein, 
wenn nicht sein Pass von einem der Bourbons unter- 
zeichnet war. Man konnte eine Rache an seiner Mutter 
in der Thronfolgeordnung vom 16. April 1797 sehen: die- 
selbe setzte das Recht der Erstgeburt und die Linear- 
erbfolge fest und verfügte, dass erst nach dem Erlöschen 
aller von Paul abstammenden männlichen Linien weibliche 
Suceession in der Linearerbfolge eintreten dürfe; der 
‚Thron sollte nur durch Geburt, nicht durch Anverwandt- 
schaft auf Einen übergehen und die Adoption sollte aus- 
geschlossen sein; hiermit war die Thronfolgeordnung 
Peters des Grossen, die so viel Thronumwälzungen be- 
günstigt hatte, beseitigt und auf legitimistischem Wege 
abgelöst. Bei Beisetzung seiner Mutter liess er den Sarg 
seines Vaters aus dem St. Alexander-Newski-Kloster holen, 
neben dem ihrigen aufbahren und beiden die gleichen 
kaiserlichen Ehren erweisen; Paul hatte eine furchtbare 
Scene mit dem Mörder seines Vaters, dem Grafen Alexei 
Orlow-Tachesmenskii, dann befahl er, der Graf solle hinter 
Peters Sarg einhergehen und die Kaiserkrone tragen. 
Halbtrunken lief Orlow zum Oberceremonienmeister 
Walujew, schimpfte ihn aus. weil er glaubte, dieser 
habe es so angeordnet. und lehnte wegen Schwäche in 
den Füssen ab; als der Hof in dem Kloster versammelt 
war, bemerkte der Kaiser sofort, dass ein anderer Herr 
die Krone trug, und frug Walujew, warım es Orlow 
nicht thue; auf die Antwort hin, Orlow habe wegen 





VI. Panl, 1er 





richtet voll Entrüstung®): „Im Verlaufe weniger Stunden 
war die ganze Staats- und Rechtsordnung umgeworfen ; 
alle Sprungfedern der Staatsmaschine wurden ausgerenkt 
und verschoben; alles wurde durcheinander geworfen, das 
unterste zu oberst gekehrt, und so blieb es vier Jahre 
hindureh. Die höchsten Stellen erhielten Leute, welche 
kaum lesen konnten, welche ganz ungebildet waren und 
nie Gelegenheit gehabt hatten, irgend etwas das Gemein- 
wohl Förderndes zu sehen; sie kannten nur Gatschina 
und die dortigen Kasernen; sie hatten nichts anderes ge- 
than, als auf dem Paradeplatz exereirt, nichts anderes ge- 
hört als die Trommel und die Signalpfeife. Ein Lakai 
des Generals Apraxin, Kleinmichel, wurde beauftragt, Feld- 
marschälle in der Kriegskunst zu unterrichten. Sechs oder 
sieben damals in Petersburg befindliche Feldmarschälle 
sassen an dem Tische unter dem Vorsitz des ehemaligen 
Lakaien, weleher den in vielen Feldzügen ergrauten Heer- 
führern in gebrochenem Russisch die sogenannte Taktik 
beibrachte!“ Paul gefiel sich in solchem werthlosen 
Garnisonsdienst, wobei die Soldaten ob geringfügiger Ver- 
gehen todtgeprügelt wurden, in Wachtparaden, in den 
kleinen Kunstgriffen der Kaserne, im Soldatenspielen, in 
lauter abgeschmackten Aeusserlichkeiten des Militärwesens 
— Beweise seiner grossen Beschränktheit! Ebenso zweck- 
los waren seine Manoeuvres und die von ihm verfügten 
Truppendislokationen, wie er z. B, das sibirische Dra- 
gonerregiment aus Derbend nach Tobolsk versetzte, wo 
es nach schweren Verlusten — alle Pferde fielen — und 
grossen Entbehrungen zwei Jahre darauf eintraf**), 

Paul hatte alsbald nach seiner 'Thronbesteigung viele 
politische Verbannte aus Sibirien zurückgerufen, war gegen 
die Polen gütig aufgetreten, überwies ihrem letzten Könige 
das Marmorpalsis in St. Petersburg als Wohnung, be- 
suchte Kosciuszko in Schlüsselburg und gab ihm wie 
seinen Mitgefangenen noch 1796 die Freiheit wieder, ihn 


*) Abgedruckt iu dem anonymen Buche von R. R, Kaiser Pauls I, 


Ende, Stuttgart 1897. 
”*) Kaiser Pauls I. Ende. 


Ve 


pr — 


Tag YIL Paul. 








reich beschenkend. Ein erklärter Feind der Kriegslust 
der vorigen Regierung, befahl er sofort, ohne den General 
en chef Grafen Valerion A, Subow zu benachrichtigen. 
‚den unter demselben dienenden Generslen den Heimmarsch 
aus Persien und ertheilte Subow den eingereichten Ab- 
schied, Wo es irgend anging, handelte er in direktem 
Gegensatze zu seiner Mutter, deren Verfügungen umzu- 
stossen ihm eine Herzensfreude war. Er gab Oesterreich 
Versicherungen seiner Freundschaft, verweigerte ihm je- 
doch Hilfstrappen gegen die Franzosen, die unter Bona- 
parte den italienischen Siegeszug antraten, und rief seine 
Flotte, die sich mit der britischen vereinigt hatte, zurück; 
sein Gesandter in Berlin. Stepan Kolytschew, erklärte 
dem Könige von Preussen, sein Gebieter beabsichtige 
keinerlei Vergrösserungen, und gab dem Gesandten Frank- 
roichs, Caillard, zu verstehen, Paul wünsche in Frieden 
mit der Republik zu leben und die kriegführenden Mächte 
zum Friedensschlusse zu bestimmen; Paul wollte der 
Schiedsrichter Europas werden und liess durch Ostermann 
in einem Rundschreiben an die europäischen Mächte die 
Versicherung seiner Menschenliebe und seines Abscheus 
gegen weitere Kriege geben. Während er viele Ver- 
änderungen einführte, beförderte Paul in vollendeter Ge- 
dankenlosigkeit verdienstlose Leute und jagte verdienstvolle 
davon; momentanen, oft sehr verschrobenen Einfällen mit 
abschreckender Brutalität folgend. wurde er zum herz- 
losen Desnoten. Hieran trugen seine Günstlinge die 
Hauptschuld. 

Bei weiten der beste unter ihnen war Fedor Was- 
siljewitsch Rostoptschin, den er alsbald zum Prä- 
sidenten des Kriegakollegs machte, obgleich derselbe nichts 
von der Kriegsverwaltung verstand; rasch lebte sich Ro- 
stoptschin in seine neue Aufgabe ein und hat die Armee 
reorganisirt. die in Italien, in der Schweiz und in Holland 
die Franzosen bekämpfte;: Paul langweilte sich ohne 
Rostoptschin, der ihn amüsirte, ohne dass Paul ihn liebte; 
Rostoptschin machte den Possenreisser, karikirte seine 
Gegner und Rivalen und kam, so oft er auch in Ungnade 
fiel, immer wieder in Gunst; er war von unbändiger Elır- 


VI. Panl. 18 


gier und unergründlicher Verschlagenheit, schmeichelte 
Pauls Launen und stieg im März 1799 zum Grafen, im 
Oktober 1799 zum ersten Präsidenten des Kollegs der 
auswärtigen Angelegenheiten auf. Rostoptschin erröthete 
nieht, sich mit Iwan Pawlowitsch Kutalssow zu ver- 
binden. Dieser, ein Türke, war 1770 in russische Gefangen- 
schaft gerathen, getauft, Barbier. schliesslich Kammer- 
diener und Garderobier Pauls geworden, der ihm seine 
volle Gunst schenkte; Besborodko leitete Paul durch 
Kutaissow, der politisch völlig unfähig war. Paul liebte 
Besborodko nicht, in dem er einen lästigen Mentor sah, 
weil der Reichskanzler seinen Extravaganzen mitunter das 
Gegengewicht hielt, und doch schmeichelte aueh Besborodko 
Pauls Launen in unwürdiger Weise; am 27. Mürz 1797 
hatte Paul aus Anlass seiner Krönung erklärt, Besborodkos 
Haus in Moskau besitzen zu wollen, sofort verkaufte er es 
mit allem Mobiliar an Paul für 650000 Rubel und der ganze 
Hof zog am 8. April in dasselbe ein; auf einen Wink Pauls 
hin liess Besborodko den herrlichen Park um das Haus 
in einer Nacht fällen und in einen Exercierplatz umwan- 
deln. Kutaissow wurde im Mani 1799 Graf und 1800 
Oberstallmeister des Kaisers. Ssuworow machte sich oft 
bitter genug über ihn lustig*). Die Schauspielerin Che- 
valier, seine Mätresse, die er auch Paul zuführte, be- 





*) Als Paul 1799 dem Sieger Italiens Kutaissow zur Bewill- 
kommnung entgegen sundte, stellte sich Ssaworow an, als kenne er 
dessen Laufbahn nicht und frag ihn nach dem Ursprange seiner hohen 
Stellung; als ihm Kutaissow alles erzählt hatte, klingelte Ssuworow 
seinem Kammerdiener und sagte zu diesem: „Troachka, ich wiederhole 
Dir täglich, Du sollst nicht mehr trinken, nicht mehr stehlen, Da willst 
aber nicht auf mich hören. Sieh einmal den Herrn da an; er war wie 
Du Kammerdiener; da er aber nie betrunken war und nie stahl, 30 ist 
er hente Oberstallmeister Seiner Majestät, Ritter aller russischen Orden 
und Reichsgraf! Suche diesem Vorbilde nachzueifern!“ — Ein an- 
deres Mal begegneten sich Beide im Corridore des Winterpalais; #0- 
bald Seuworow den Gimstling erblickte, verbeugte er sich bis zum 
Gürtel vor einem Ofenheizer. Ganz erstaunt frug Ihn Kutaissow: 
„Was thut Ihr, Fürst? Das ist ein Öfenheizer!“ „Um Gottes willen“, 
entgegnete Ssuworow, „Du bist Graf, jch bin Fürst; bei des Zaren 
Gnade weisst Du ja nicht, was der da für ein grosser Herr wird, und 
da ist es nöthig, sich vorher mit im gut zu stellen,“ 











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VE. Paal, a 


ei Andrejewitsch Araktschejew. Arak- 
s0 hoch er auch unter vier Kaisern stieg, 


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revoltirende Grausamkeit im Heere einreissen, selbst 
Offiziere wurden geschlagen und viele Gemeine todt- 

:; Araktschejew war schlecht unterrichtet, allseitig 
verhasst, verfolgte heimtückisch Jeden, der ihm im Wege 
stand, war feige und von Grund aus bösartig; auch er fiel 
wiederholt bei Paul in Ungnade, seinen grössten Feind 
besass er in dem Balten Pahlen, der Paul verhängnissvoll 
werden sollte. Peter Ludwig (Peter Alexejewitsch) 
Freiherr von der Pahlen war bei der Vereinigung 
Kurlands mit Russland sehr thätig gewesen, hatte die 
Gunst des Fürsten Subow genossen und war Gouverneur 
von Kurland geworden; ein Opfer des Spielteufels, ohne 
sittlichen Halt, treulos und verschlagen, dabei tapfer bis 
zur Verwegenheit, gewann er Gunst und Vertrauen des 
Kaisers, der ihn zuerst verabschiedet hatte, wieder, erhielt, 
won Kutaissow begünstigt, im April 1798 die Stellung 
eines Generals der Cavallerie, im August d, J, die des 
Militärgouverneurs von St. Petersburg, die zuvor Arak- 
tschejew und Buxlıöwden bekleidet hatten, wurde General- 
inspektor der Cavallerie, im März 1799 Graf, war als 
Generaldirektor der Post Herr aller Staats- und Privat- 
geheimnisse und vereinigte im Besitze dieser und anderer 
Aemter eine ungewöhnliche Fülle von Macht und Autori- 
tüt; er lenkte Paul meist nach seinem Willen und arbei- 


E03 VIE Panl. 


tote dabei unablässig an seinem Sturze. Und dieser 
konnte nicht ausbleiben, die Offiziere vor allen litten zu 
sehr unter Pauls Behandlung und dem Fluche der Lächer- 
lichkeit, mit dem er sie belud; der schwedische Gesandte 
schrieb seinem Könige*): „Paul pflegt die Offiziere fortzu- 
jagen, «Is habe er es mit Lakaien zu thun. Der letzte 
Rest von esprit de corps geht bei diesem Stande dadurch 
verloren. Wer irgend etwas Ehrgefühl hat, wird den Hof 
und die Armee fiehen. Jede allzu grosse Spannung, wie 
die gegenwärtige, muss eine Erschlaffung zur Folge 
haben.“ Ssablukow, ein russischer General, berichtet in 
seinen 1865 erschienenen Memoiren: „Alles, was an point 
«’honneur in dem Offizierkorps unter Katharina vorhanden 
gewesen war, stand auf dem Spiele. Die Strafen wurden 
so häufig, dass sie alle Wirkung verfehlten. Alle Polizei- 
häuser und Wachtstuben waren überfüllt bei der Unzahl 
von Arrestanten, Kein Wunder, dass sehr viele Offiziere 
den Abschied nahmen, sich ins Privatleben zurückzogen 
oder in den Civildienst übergingen. Wer zu dienen fort- 
fuhr, war stets in der grössten Gefahr und die Ange- 
hörigen der Offiziere waren beständig in der äussersten 
Besorgniss. Es war, als läge ein Alp auf dem ganzen 
Reiche“; ja er erzählt, die Offiziere hätten stets zur 
Parade einige hundert Rubel mitgenommen, um im Falle 
plötzlicher Verbannung nicht ohne Geld zu sein. Und 
Turgenjew meldet: „Jeden Morgen gingen Alle, vom 
General bis zum Fähnrich herab, zur Wachtparade wie 
zum Blutgerüste. Niemand wusste, welches Schicksal ihn 
dort ereilen werde“. Nach Turgenjews Angaben hat Paul 
12000 Offiziere und Beamte nach Sibirien geschiekt, von 
wo Alexander I, sie sofort zurückrief, in der St. Peter- 
und Pauls-Festung waren bei Pauls Tod 900 Gefangene. 
Turgenjews Chef, der Generalfeldmarschall Graf Nikolai 
Iwanowitsch Ssaltykow, der einstige Aufpasser Katharinas 
bei Paul und diesem auch jetzt wenig hold, da Paul ihm 
die einträglichen Fischereien in der Emba **) zu Gunsten 


*) Kaiser Pauls I. Ende. 
*®) Dieser Finss der Kirgisensteppe milndet ins Kaspische Meer 
und ist sehr fischreich, 


Be 


VII. Paul. 2 





nee entzogen hatte, sagte zu Turgenjew: „Eine 
‚solch heillose Wirthschaft kann nicht lange währen.“ 

- Inder Garde schuf sich Paul auch keine Freunde, indem 
er seine Gatschina-Leute in die Garderegimenter einstellte. 
Das Preobrashenskische Regiment erhielt zwei Bataillone 
aus Gatschina und bestand nun aus drei Grenadierkom- 
pagnien und drei Bataillonen, die Bombardierkompagnie 
desselben wurde abgeschafft und bildete nun mit Kano- 
nieren anderer Regimenter das Leibgarde- Artillerie 
bataillon, Das Ssemenowskische Regiment erhielt eben- 
falls zwei Bataillone aus Gatschina und bestand nun aus 
zwei Grenadierkompagnien und zwei Musketierbataillonen. 
letztere hatten, wie die drei Bataillone der Preobra- 
shenzen, je fünf Kompagnien. Die bisher numerirten 
Bataillone und Kompagnien erhielten jetzt die Namen 
ihrer Befehlshaber und die Bataillone ausser ihren 
unmittelbaren Kommandeuren noch Chefs mit Gene- 
ralsrang. Im Jahre 1797 vermehrte Paul die Preobra- 
shenzen und Ssemenowzen um je ein Bataillon: im 
Jahre 1800 traten aber an die Stelle der Grenadier- 
kompagnien „Flügelkompagnien“, und zwar bei den Preo- 
brashenzen zwei. bei den Ssemenowzen eine, während 
alle Bataillone beider Regimenter fortan Grenadier- 
bataillone hiessen. Das Preobrashenskische Regiment 
hiess fortan nach seinem kaiserlichen Chef Leibgarde- 
Regiment Seiner Kaiserlichen Majestät, das Sseme- 
nowskische Leibgarde-Regiment Seiner Kaiserlichen Hoheit 
Alexander Pawlowitschs. Alexander I. gab beiden be- 
rühmten Regimentern sofort ihren alten Namen zurück, 
sehaffte 1801 die Flügelkompagnien ub und theilte die 
Preobrashenzen in vier, die Ssemenowzen in drei Batail- 
lone ein, im Jahre 1811 aber nahm er den Preobrashenzen 
das vierte Bataillon weg und bildete damit das neue 
litauische Garderegiment (spätere Moskauer Leibgarde- 
Regiment). 

Je argwöhnischer und despotischer Paul wurde, um 
s0 mehr machte sich die Geheimpolizei zu schaffen 
und um so drückender wurde die Oensur; seine Ver- 
suche, die desorganisirte Finanzwirthschaft zu refor- 








Die Regierung Pauls war ein fortgesetzter Kampf gegen 
die in Frankreich herrschenden revolutionären Staatslehren 
und damit derartige Gesinnungen nicht von Paris aus in 
Russland verbreitet würden, untersagte er den Russen das 
Reisen und wollte in Russland keine Fremden sehen, was 
natürlich den Handel sehr beeinträchtigte. Wie Paul 
verabscheute Rostoptschin die Revolution, wie uns seine 
Briefe zeigen**); er nannte die Franzosen „Höllenbrut“ 
und „Universalbriganten“ und warf den europäischen Re- 
gierungen vor, dass sie mit ihrer Uneinigkeit und Saum- 
seligkeit die Zerstörung der Republik aufhielten. Das 
Verhältnis Russlands zu Frankreich wurde frühe ge- 
spannter, zumal wegen des Anfalls der jonischen Inseln 
am die Republik ; Paul zürnte aber auch Oesterreich, dass 
es den Frieden von Campo Formio ohne Benachrichtigung 
an Russland, den Garanten des Teschener Friedens, abge- 
sehlossen hatte. Das Direktorium in Paris unterstützte in un- 
zweideutiger Weise polnische Bestrebungen, Paul hingegen 
nahm das Corps des Prinzen von Oond& in Sold, gewährte 
Tausenden von Emigranten Asyl, Ind als Hort des Legi- 
timismus den aus Braunschweig verwiesenen „Lud- 
wig XVIIL“ im März 1798 nach Mitau ein und erwirkte 
in Wien für Madame Royale die Erlaubniss, im Jahre 
1799 zu Ludwig nach Mitau zu reisen. Er wollte zwischen 
Preussen und Oesterreich vermitteln und mit ihnen wie 
mit Grossbritannien und Dänemark eine Defensivallianz 
gegen die von Frankreich her Europa bedrohende Revo- 
lution schliessen; der als Mediator nach Berlin gesundte 
Generalfeldmarschall Fürst Repnin erreichte nichts, wurde 
in Wien sehr gut aufgenommen, fiel aber bald nach der 


*; Seit der Krönung Baron, 


*) Kleinschmidt, Graf Fedor Wassiljewitsch Rostoptschin, in 
„Historisches Taschenbuch“, 6. Folge, 12. Jahrgang, Leipzig 1892. 


R 








VEL Paal. “ 


Heimkehr bei Paul in Ungnade®). Neue Erbitterung 
gegen Frankreich bemächtigte sich Pauls bei den Nach- 
richten aus Italien; er hörte von der Errichtung weiterer 
Republiken, die natürlich Vasallen des Pariser Direk- 
toriums waren, von der Misshandlung des Papstes, vom 
Einfalle in die Schweiz, von der Eroberung Maltas durch 
Malta war Pauls Achillesferse, die versprengten 
Malteser Ritter hatten nach der Uebergabe Maltas durch 
die französischen Ritter Paul im December 1798 zum 
'Grossmeister gewählt, wogegen der Papst mit Recht pro- 
testirte, denn es war unerhört, dass ein N 
Katholik dem römisch-katholischen Orden vorstehen sollte; 
Paul freute sich grenzenlos über seine Erwählung, er- 
nannte viele Grosskreuze und Ritter, gab den Orden ®*) 
selbst Damen wie seiner Mätresse Lopuchin und hätte sich 
beinahe auf den Tod mit Bayern entzweit, als Kurfürst Max 
Joseph die bayrische Zunge des Ordens aufheben und 
ihre Güter einziehen wollte; da Bayern Russlands Schutz 
Oesterreichs Annexionsgelüsten gegenüber brauchte, lenkte 
Max Joseph ein und der versöhnte Paul verbürgte 
ihm im Vertrage von Gatschina am 1. Oktober 1799 
seinen Besitzstand***). Mit dem Malteserthume Pauls 
ging in Russland Hand in Hand die Ausbreitung des 
römischen Katholicismus, wofür besonders der Oardinul 
Litta thätig war, ihr Hauptgebiet war Weissrussland ; viele 
Leute von Rang traten zur römischen Kirche über, wie 
dies auch unter Alexander 1. geschah; die aus Frankreich 
und der Schweiz vertriebenen Trappisten siedelten sich in 
Weissrussland, Litauen und Polen an, doch kündigte auch 
ihnen Paul schon im Jahre 1800 das Asyl. 
Oesterreich und Grossbritannien spornten Paul zum 
Kriege an, er schloss Bündnisse mit ihnen, mit Neapel 





*) Er wurde im December 1798 mit der Erlaulniss brüsk ent- 
lassen, die allgemeine Armeeuniforın tragen zu dürfen, konnte trotz 
aller Bemühungen um Wiederrerwendung bei Paul nicht mehr zu 
Gunden gelangen und wurde nach Moskau verwiesen, wo er 1801 starb, 

=) Paul gab den Orden Römisch- wie Griechiach-Katholischen 
in freigiebigster Weise, 

=") Kleinschmidt, Der Vertrag von Gatschina, in „Forschungen 
zur Geschichte Bayerns“, Regensburg 1898, 









































jel und Palermo. Ssuworow 
en ein, um durch seine Bizarrerie 
versetzen; anstatt im Bette 
auf Heu, der Botschafterin 
e ein goldenes Herz, ver- 
das Schlüsselchen in seine Tasche; 
lung des Hofkriegsraths Alle ihre 

hm er ein Stück weisser Papier 
'erdutzten: „Wenn mein Hut meine 
de ich ihn verbrennen.“ „Vorwärts 

‚war seine ganze Taktik, der gemäss er 
m Feldzuge handelte. Nach seinem Siege 
er am 29. April in Mailand ein, löste 
Republik auf, gerieth aber alsbald mit 
fkriegsrathe in Konflikt. Nach weiteren 


g ihn in der furchtbaren dreitägigen 
Trebbia, 17. bis 19. Juni, Mantua fiel 
talien war in Ssuworows Händen; mittler- 
die Corps von Rimskoi-Korssakow und Reh- 
‚Schweiz gezogen, um dort, mit den Oester- 
vereint, zu kämpfen. Paul verlieh Ssuworow, der 

h mehr über 'Thuguts Ränke und über die 
des Hofkriegsraths ärgerte, am 19. August 
‚Fürst Italiiekii* (von Italien), auch der König 
pien erhob ihn in den Fürstenstand mit dem 
Oousin du roi*, Mit den Oesterreichern unter Kray 
\ besiegte Ssuworow Joubert und Moreau am 
ist bei Novi, kaum aber hatte Rimskoi-Korssakow 
weizer Boden betreten. als ihm der Erzherzog Karl 
Russland müsse allein die Schweiz vertheidigen, 
zog gehe über den Rhein zurück. Diese An- 

nungen waren dus Werk des Wiener Hofkriegsrathes; 

wüthend aueh Ssuworow darüber sein mochte, so fügte 
e und ging vom Schauplatze seiner Siege, Italien, 
um sich in der Schweiz mit Rimskoi-Korssakow, der 
unterstellt worden war, zu vereinigen; Massen 
hlug, bevor Ssuworow anlangen konnte, Rimskoi- 


Am 22, Oktober kündigte er Franz IT, in derben Worten 
seinen Austritt aus der Konlition an. Zum vollen Bruche 
mit beiden Höfen war nicht mehr weit, Paul rief Sau- 
worow nach Russland zurück und nahm Rasumowski, weil 
er mit Thugut, den er wie den Teufel hasste, zu sehr lürt 
war, den Botschafterposten in Wien; wegen einer Lappalie 
behandelte er den grössten Feldherrn seines Heeres un- 
gnädig; als Ssuworow erkrankte, besuchte Paul ihn nicht; 
Ssuworow starb in St. Petersburg am 18. Mai 1800 und 
Paul gestattete nicht, dass ihm die gebührenden höchsten 
militärischen Ehren bei dem Begräbnisse erwiesen würden, 
sah zu Pferde den Zug an und üusserte: „Sic transit 
gloria mundi!“ *) 

Für einen Menschenkenner von Bonapartes Scharf- 
blick blieb Paul kein Rüthsel; er wusste, dass er sich 
seiner bemächtigen könne, wenn er ihn mit Schmeicheleien 
und Huldigungen umgebe, und Paul ging leicht in die 
Falle. Der Erste Konsul sandte ihm einige Tausend Ge- 
fangene, neu gekleidet und gerüstet, ohne Lösegeld oder 
Auswechslung zurück, übermachte ihm den Degen des 
berühmten Malteser Grossmeisters L'Isle Adam und bot 
ihm die Anerkennung als Grossmeister und den Besitz von 
Malta in dem Augenblieke an, wo die Briten diese Insel 
bald ausgehungert hatten. Paul gewann an Bonaparte 
Geschmack, sein bisheriger Widerwille schlug in volle Be- 
wunderung um, der Genius des Bändigers der Revolution 
blendete den Legitimisten, Paul erblickte in Bonaparte 
den grössten Mann der Zeit, in dem Gebieter Frankreichs 
den künftigen Zaren von Westeuropa: Bonaparte wirkte 
auch durch Preussen auf Paul ein, Preussen übernahm 
die Mediation zwischen beiden Mächten. Oobenzl wurde 
von St. Petersburg verwiesen, Kolytschew,. Rasumowskis 
Nachfolger, verliess im April 1800 Wien, der Bruch war 


*) Der Sterbende fragte den an seinem Bette sitzenden Dichter 
‚Dersbiawin, welche Grabschrift er ihm setzen würde, aud drückte Ihm 
auf die Antwort hin: „Hier liegt Senworow!* lächelnd die Hand. Paul 
dachte bald an ein Denkmal Ssuworows, Koslowaki schuf es im Zopf- 
style und unter Alexander I, wurde es im Mai 1801 in St. Peteraburg 


A, Kleinsohmidt, Usberbl. d. russ. Gesch. u. 1808, 14 


u 


vollzogen und die ganze russische Politik umgewandelt, 
Rostoptschin freilich und Graf Ssemen Romanowitsch - 
Woronzow, der zum halbeu Briten gewordene Botschafter 
in London, Bruder der Fürstin Daschkow, waren über die 
"Wandlung sehr unzufrieden. Rostoptschin frug Woronzow: 
„Wird der Londoner Hof, wenn er sein Augenmerk auf 
den Besitz der Franzosen und Holländer in Indien richtet, 
nieht nach dem Kriege doppelt so reich und mächtig wie 
zuvor sein? wird er, wenn er Gibraltar hat und der Kaiser 
Herr von Malta ist, nicht nach der Zerstörung der fran- 
zösischen und spanischen Marine Herr des Levantehandels 
sein?“ Und doch musste sich der Staatsmann der Laune 
seines Gebieters fügen; am Hofe stritten sich die Parteien 
erbittert mit einander, Rostoptschin sah seinen Rivalen 
im Grafen Nikita Petrowitsch Panin, Pauls Jugend- 
gespielen, der seit Oktober 1799 Reichsvicekanzler war 
und der Annäherung Pauls an Bonaparte widersprach, und er- 
klärte sich wegen dieser Rivalität schliesslich für ein Einver- 
nehmen mit Frankreich, das bei Marengo über das verhasste 
Oesterreich siegte und gewissermassen Ssuworows Leiden 
rächte. Panin rieth Paul zur Allianz mit Franz II, Paul 
aber und Rostoptschin wollten hiervon nichts hören, letzterer 
sprach freilich vom Ersten Konsul noch als vom „Lumpen 
und Abenteurer“. Eine russisch-britische Koalition gegen 
Frankreich, die Dumouriez,. von Mitau kommend, Paul 
vorschlug, scheiterte an Rostoptschin, der an den Er- 
fahrungen mit den bisherigen Konlitionen genug hatte und 
der meinte, Grossbritannien, Oesterreich und Preussen 
seien Russland gefährlicher, als es Frankreich sei. Weil 
Panin die Verfügung des Embargo auf britische Schiffe und 
die Konfiskation aller britischen Waaren missbilligte, wurde 
er im November 1800 entlassen, Rostoptschin benahm sich 
in niedrigster Weise und denuneirte Panin u. A. beständig 
bei dem ohnehin argwöhnischen Kaiser, in dessen Gunst 
er sich noch mehr befestigte. Er rieth ihm in einem 
Memoire*), mit Preussen, Oesterreich und Frankreich die 





210 VIEL Paul, 





*) Revue d'histoire diplomatique, Paris 1889. Paul versah das 
Memoire mit unglaublichen Randglossen. Rostoptschin schrieb auch 


rm — 


VE. Panl. eu 
Türkei zu theilen, eine griechische Republik unter dem 
Protektorute Russlands und dieser drei Staaten zu gründen 
und die bewaffnete Seeneutralität Katharinas wieder her- 
zustellen, um die britische Allmacht zu bekämpfen, und. 
rief ihm zu: seine Regierung werde Russland und das 
neunzehnte Jahrhundert illustriren, indem sie die Kronen 
Peters und Konstantins auf demselben Haupte vereinige, 
Paul ertheilte dem Memoire am 14. Oktober 1800 seine 
Bestätigung und erneuerte am 18. Dezember den Seebund 
der Neutralen; Preussen, mit dem er am 28. Juli in 
Peterhof die Defensivallianz von 1792 erneuert hatte, 
Schweden und Dänemark traten bei. Paul gab sieh auch 
aus Hass gegen die Briten eifrigst dem Gedanken hin, 
ihr Reich in Indien zu zerstören, und wollte auf diesem 
Alexanderzuge Georgien, das er 1801 Russland einverleibte, 
als Station nach Indien benutzen. Er rief den ihm ver- 
hassten Woronzow vom Londoner Posten ab, wüthend 
über die Einnahme Maltas durch die Briten und über ihre 
Weigerung, ihm Malta abzutreten, legte Embargo auf ihre 
Schiffe in seinen Häfen und brach völlig mit Georg IIL, 
der nun eine Flotte in die Ostsee schickte. Paul, der 
sich mit Bonaparte über „den grossen Plan“ gegen Gross- 
hritannien verständigte, wollte ein Heer unter Knorring 
über Khiwa und Bochara an den oberen Indus vordringen 
lassen, der 1799 zum Grafen erhobene Ataman der doni- 
sehen Kasaken, Fedor Petrowitsch Denissow, sollte über 
Örenburg nach Khiwa und Bochara, an den Indus und 
endlich an den Ganges marschiren, wofür ihm „alle Reich- 
thümer Indiens“ als Lohn versprochen wurden; an der 
Spitze eines zweiten aus Russen und Franzosen zu gleichen 
Theilen zusammengesetzten Heeres sollte Massöna stehen, 
die Franzosen sollten sich bei Asterabad mit den Russen 


seinem Freunde, dem Fürsten Zizianow: Russland sollte bei der 
Theilung der Türkei die Moldau, Rumelien und Konstantinopel erhalten, 
den Rest sollten Preussen und Oesterreich haben, die zugleich Gebiets- 
tänsche machen möchten, Griechenland und die Inseln sollten eine 
Bepublik werden, auch Aegypten an Russland fallen, Zizianow sollte 
daun ein russisches Heer durch Persien nach Indien führen und dem 


ganzen britischen Besitz in Indien radikal zerstören. A 


\ 





vereinigen und mit ihnen über Herat, Farrah und Kandahar 
an den oberen Indus marschiren, Daneben verständigte 
sieh Paul mit dem Berliner Hofe wegen der Neuordnung 
der Dinge in Deutschland, wie ein nach seinem Tode auf 
dem Schreibtische gefundener „definitiver Plan“*), von 
ihm unterzeichnet, von Pahlen und dem Fürsten Kurakin **) 
gegengezeichnet, beweist; ebenso traf er wegen Deutsch- 
lands, der Abtretung des linken Rheinufers, der Sükulari- 
sation etc. mit Bonaparte Abrede. Während er rüstete, 
um seine Streitkräfte mit denen Frankreichs verbinden zu 
können, und während er Korfu besetzen liess, jagte er die 
Bourbonen im strengsten Winter, Januar 1801, aus dem 
Reiche, pries Bonaparte als seinen Freund, umgab sich mit 
seinen Bildern und feierte ihn masslos; mancher Emigrant 
wurde ausgewiesen. Pauls auswärtige Politik spiegelte in 
ihrer dilettantenhaften und überstürzten Form seine augen- 
blieklichen Launen und Anwandlungen wieder, Dabei 
wurde Paul täglich unzurechnungsfähiger und seine Wuth- 
ausbrüche häufiger; er nahm auf Niemanden, wer es auch 
sei, Rücksicht; nicht nur wies er in brutalster Weise den 
sardinischen Gesandten Rossi, den britischen Whitworth, 
den oesterreichischen Cobenzl. den bayrischen Reichlin- 
Meldegg aus, er that dasselbe mit „Ludwig XVIIL*, mit 
dem Erbprinzen von Hessen-Rheinfels-Rothenburg und 
mit anderen Fürstliehkeiten. Verschenkte er in toller Ver- 
schwendung Domänen und Bauern, so schickte er ander- 
seits nach Sibirien, wer ihm eben missfiel. Oft fertigten 
seine Geheimschreiber wichtige Erlasse aus, ohne dass er 
die obersten Reichsbehörden vorher davon unterrichtete: 
letztere wurden wie Schuljungen ausgescholten und allen 
Demüthigungen ausgesetzt, oft genug fiel einer in Ungnade, 





*) Wassiltschikow, Les Razoumowski, Band 2, 1, Theil, 
Halle 1893. 

**) Fürst Alexander Borissowitach Kurakin, Pauls bester Freund, 
war seit dessen Thronbesteigung bis 1798 Reichsvicekanzler, leistete 
aber gar nichts; 1798 trat an seine Stelle Besborodkos Neffe, der 
Kleinrusse Viktor Pawlowitsch Kotschubei, seit 1799 Graf, auch er 
war seinem Amte nicht gewachsen, fiel auf Intriguen Rostoptschins 
hin 1799 in Ungnade und wurde durch Panin ersotzt, 





VII. Panl, 213 





um alsbald wieder in Gunst zu kommen, dies wie jenes 
ohne Grund. Kotzebue wurde auf einer Reise in Mitau 
verhaftet und nach Sibirien geschleppt, weil er Schrift- 
steller sei; die Fürstin Daschkow sah sich als Ver- 
schwörerin gegen Peter III, erbitterten Verfolgungen aus- 
gesetzt, lüngere Zeit jagte Paul sie von Gut zu Gut, litt 
sie nieht länger als dreimal 24 Stunden an einem Orte, 
bis ihr die Kaiserin die Erlaubniss erwirkte, ruhig auf 
Troitskoi zu leben; mancher Edelmann wurde in Ketten 
zur Zwangsarbeit fortgeschafft, 

Im März 1800 schrieb Rostoptschin seinem Freunde 
Woronzow*): „Ein- für allemal mögen Sie wissen, dass 
der Kaiser mit Niemandem weder von sich noch von Ge- 
schäften spriebt; er leidet auch nicht, dass man mit ihm 
spreche; er befiehlt und verlangt die widerspruchslose 
Ausführung seiner Befehle, Er kann sich schwerlich ver- 
hehlen, dass er weit davon entfernt sei, geliebt zu werden. 
Man nennt mich einen Minister, ich bin nichts als ein 
Sekretär.“ Am Klügsten handelten diejenigen, welche 
dem Hofe fern blieben und es vermieden, während Pauls 
Regierung Dienste zu nehmen; Graf Ssemen R. Woron- 
z0w”*) blieb nach seiner Verabschiedung als Privatmann 
in London, wo ihn Alexander I, alsbald wieder als Bot- 
schafter akkreditirte, und lehnte das Angebot der Reichs- 
kanzlerwürde ab, sein Bruder Alexander, mit dem Voltaire 
in den Jahren 1760—69 korrespondirt hatte, trat während 
Pauls Regierung nicht in die Oeffentlichkeit; Graf Arkadü 
Iwanowitsch Markow sass, wenn auch unfreiwillig des 
Dienstes entlassen, auf seinen Gütern bei Letitschew, Paul 
hatte ihn sofort aus St. Petersburg ausgewiesen, ihn zum Ver- 
kaufe seines Hauses gezwungen, ihm die von Katharina II. 
1795 geschenkten polnischen Starosteien genommen und 
seiner Mätresse, der Schauspielerin Hus, verboten, ihm 
ins Exil zu folgen; der alte Ostermann, der bei Paula 
Thronbesteigung Markows Papiere versiegelt und ein- 


*) Archiv des Fürsten Woronzow, Bd. 8. 
**) Paul hatte len Woronzow bei seiner Krönung den russischen 
‚Grafenstand verliehen. 


24 VIE. Paul. 





geliefert hatte, erwies sich als Reichskanzler völlig 
unbrauchbar, wurde von Paul im Frühjahr 1797 ent- 
lassen*), da er nicht freiwillig ging, und Besborodko 
wurde Reichskanzler, wie wir oben erzählten®®). Der 
Reichsvicekanzler Panin klagte im Juni 1800 Ssemen W oron- 
20W: „Die schlechte Laune und die Melancholie unseres 
Herrn machen reissende Fortschritte; alles wird, sowohl 
in der inneren Verwaltung wie in der auswärtigen Politik, 
nach augenblicklicher Stimmung oder Verstimmung ent- 
schieden.“ Alles trieb ohne Kompass einher, Panin be- 
mühte sich vergebens, einen Plan oder ein System in die 
auswärtige Politik zu. bringen; momentane Wuthanfälle 
und unberechenbare Gedankenrösselsprünge des Kaisers 
verhinderten jegliche regelmüssige Funktion der Regierungs- 
maschine***); Panin schrieb an Baron Krüdener: „Wir 
sind hier wie Galeerensklaven. Ich suche gegen den 
Strom anzukämpfen, aber meine Kräfte versagen mir.... 
Glücklich derjenige, der wie Sie 2000 Werst von hier 
weilt. Jeden Tag wird ein neues Verbot aufgetischt. 
Bald betrifft es einen Hut, bald eine Hose: man weiss 
nicht mehr, was man anziehen soll.“ Das Briefgeheimniss 
wurde in rücksichtslosester Weise verletzt, Niemand traute 
mehr der Post, die Denuncianten hatten gute Tage, die 
Polizei gefiel sich in Brutalität. Graf Andrei K. Rasumowski 
warnte aus dem Exile in Baturin im Januar seine in Wien 
lebende Gemahlin, der er der Sicherheit halber manchmal 
mit sympathetischer Tinte schrieb +): „Sei ausserordentlich 


*, Ein Pamphlet ınachte Ostermann, der dem nensn Geschlechte 
ein Schatten aus grauer Vorzeit schien, den Vorschlag, er möge den 
Degen Karls des Grossen in Saint-Donis ablösen, Er starb als 
letzter Graf Ostermann am 1. Mai 1811, sein Name und sein Titel 
gingen an seinen Grossneffen Tolstol über, der sich nun Graf Oster- 
mann-Tolstoi nannte, 

”*) Besborodkos Tod wurde vom Leibarzte Rogerson den durch 
Paul erlittenen Kränkungen zugeschrieben. 

*"*) Kaiser Pauls I. Ende, Brückner, Materialien zur Lebens- 
geschichte des Grafen N. P. Panin, Bd. 5. 

# Wassiltschikow, Les Razonmowaki, Band 9, 1, Theil, 
Halle 1898. 


r— 


VI. Paul. 215 
vorsichtig, denn nichts entgeht der Spionage und die 
Angestellten selbst misstrauen einander .... alles liegt im 
Banne des Schreckens, der Inquisition und der Folter.“ 
Die Tage Iwans des Schrecklichen schienen zurückgekehrt 
zu sein; alle Welt wandte sich scheu von Paul ab und 
hoffte auf seinen Thronfolger Alexander, um so mehr als 
auch seine Familie vor dem Tyrannen zitterte. 

Pauls Ehe mit Maria Fedorowna von Württemberg 
war schon lange keine glückliche mehr; Maria hatte unter 
Pauls Beziehungen zu Fräulein Nelidow gelitten, wenn 
die Hofschranzen dieser auf ihre Unkosten huldigten, ull- 
mälig ergab sie sich in ihr Schicksal und schmeichelte 
Katharina Iwanowna, wenn sie etwas bei Paul erreichen 
wollte*). Weit mehr erbitterte sie die Liaison Pauls mit 
Anna Petrowna Lopuchin, der Fürstin Gagarin; unter ihr 
verlor Maria jeden Einfluss und die kaiserliche Familie 
lebte in vollem Zerwürfnisse. Schon im November 1798 
schrieb Rostoptschin an Woronzow: „Man hasst ihn; seine 
eigenen Kinder thun desgleichen; Grossfürst Alexander 
verabscheut seinen Vater, Grossfürst Konstantin fürchtet 
ihn. Seine Töchter, wie jene unter dem Einflusse der 
Mutter, hegen eine Abneigung gegen den Vater. Alle 
lächeln ihm zu und wünschen trotzdem nichts sehnlicher, 
als ihn in Staub verwandelt zu sehen.“ Ob Maria, der es 
an Ehrgeiz nicht gefehlt haben mag, beabsichtigte, mit 
Hilfe der Paul befreundeten fürstlichen Brüder Kurakin **), 
die bei ihm in Ungnade gefallen waren, Katharina II. 
nachzuahmen, ihren Gemahl abzusetzen und Selbst- 
herrscherin zu werden, wie Bernhardi behauptet, ist nicht 
nachweisbar, Paul misstraute ihr jedenfalls und versperrte 
zu seinem eigenen Verderben sein Schlafgemach in dem 
kurz zuvor von Brenna erbauten und Ende 1800 von ihm 
und seiner Familie bezogenen Michailowschen Palais gegen 





*) Die Fürstin Lise Trubetzkoi gab 1896 in Paris die Corre- 
spondenz der Kaiserin mit Fräulein Nelidow aus den Jahren 1791 bis 
1801 heraus; die Nelidow starb 1839 im Samolny-Kloster. 

+") Des gewesenen Reichsvicekanzlers und seines Bruders, des 
gewesenen Generalprokureurs ‚les Senats, Alexei Borisowitsch. 











216 VII. Paul. 





die anstossenden Räume der Kaiserin*); auch soll er 
nach Bernhardi den 1788 geborenen Neffen der Kaiserin, 
den Herzog Eugen von Württemberg**), den er nach 
St. Petersburg kommen liess und übertrieben auszeichnete, 
mit Uebergehung seiner Söhne zum Thronfolger aus- 
erkoren haben; man flüsterte von beabsichtigter Verhaftung 
der Kaiserin und der Grossfürsten Alexander und Kon- 
stantin. Dass Paul seinen Söhnen nicht traute, geht daraus 
hervor, dass sie wenige Stunden vor seiner Ermordung in 
der Palastkapelle vor dem Generalprokureur Oboljaninow 
ihm den Eid der Treue nochmals schwören mussten, Seine 
Wahngebilde arteten immer mehr in Wahnsinn aus und 
ein Ende mit Schrecken erschien darum besser uls 
Schreeken ohne Ende, Pahlen sagte im Jahre 1804 zu 
Langeron: „Keiner von uns war auch nur einen Tag seiner 
Existenz sicher; bald hätten sich überall Blutgerüste er- 
hoben und Sibirien wäre von Unglücklichen bevölkert wor- 
den“, und bald nach der Ermordung Pauls äusserte er 
sich zu dem in Ungnade gefallenen Senator Baron Hey- 
king: „Wir waren müde, die Werkzeuge dieser Akte der 
Tyrannei zu sein, und da wir sahen, dass seine Verrücktheit 
von Tag zu Tag zunahm und in Grausamkeitswahn ausartete, 
blieb uns nur die Alternative, die Welt von einem Ungeheuer 
zu befreien oder in kurzem uns und vielleicht einen Theil 
der kaiserlichen Familie als Opfer des nächsten Wachs- 
thums seiner Wuth zu schen. Patriotismus allein kann 
den Muth verleihen, sich, Weib und Kinder dem grau- 
samsten Tode auszusetzen, um 20 Millionen Unterdrückter, 
Gequälter, Verbannter, Geknuteter und Verstümmelter 
dem Glücke zurückzugeben“ ***). Und schon im April 1799 


*) Unter seinem Schlafzimmer wohnte die Mätresse Gagarin. 
Das Palais erhob sich au der Stelle eines von Rastrelli für die Kaiserin 
Elisabeth an der Fontanka erbauten Sommerpalais und hatte wegen 
Pauls mittelalterlicher Velleitäten Gräben, Bastionen, Zugbricken et«., 
auf den Bastionen standen zwanzig Geschütze, die Thüren waren 
gusseisern; es kostete 18 Millionen Rubel. Seit 1819 befindet sich hier 
die Ingenieurschule. 

»*) Der später s0 bekannte russische General, + 1857. 

***) Bienemann, Aus den Tagen Kaiser Pauls, Leipzig 1886. 
Die Volkszählung von 1796 ergab übrigens 36 Millionen Einwohner, 





VII. Paul. a7 


schrieb Kotschubei an Woronzow: „Ich weiss nicht, wohin 
das führen soll .... Man muss befürchten, dass die Ver- 
trauten, die am ärgsten gemisshandelt werden, irgend 
einen verzweifelten Streich ausführen ..., Für mich steht, 
wie für alle Anderen, Rostoptschin nicht ausgenommen, 
jederzeit ein Wagen bereit. um bei dem ersten Zeichen 
flüchten zu können“*). Die Regierung Pauls erschien 
den Stantsmännern und leitenden Persönlichkeiten damals 


und später als eine Barbarei. die Russland um vier Jahr- . 


hunderte zurückgeworfen habe, als ein Chaos, eine Des- 
organisation ohne gleichen, als eine alles verheerende 
Sichel: sie waren überzeugt, Paul sei geisteskrank. Den 
Fall eines geisteskranken Horrsehers hatte aber das 
russische Staatsrecht nicht vorgesehen, obwohl Iwan der 
Schreckliche gewiss geisteskrank, Iwan V, blödsinnig ge- 
wesen war und Peter III. wahrlich genug zu denken nufge- 
geben hatte; jeder Zweifel an der Zurechnungsfühigkeit des 
Kaisers wäre als Hochverrath geahndet worden, von einer 
Konstatirang der Geistesverwirrung auf ärztlichem Wege 
konnte nicht die Rede sein. Nur eine Verschwörung war 
darum möglich. Dieser Veberzeugung gab Graf Ssemen 
R. Woronzow, einer der schärfsten Verurtheiler von Pauls 
Misswirthschaft, im Februar 1801 in einem merkwürdigen 
Schreiben an Nikolai Nikolajewitsch Nowossilzow ®*) Aus- 
druck ***j: „Sie theilen mir mit, es habe sich ein Sturm 
erhoben und das Schiff müsse zu Grunde gehen, weil der 
Kapitän, toll geworden, die Mannschaft mit Schlägen 
traktire. Die Mannschaft, aus über 30 Personen be- 
stehend, wagt es nicht, sich den Misshandlungen zu wider- 
setzen, weil der Führer schon einen Matrosen über Bord 
geworfen und einen anderen getödtet hat. ... Sie sagen 
indessen, dass es noch eine Hoffnung auf Rettung gebe, 
weil der zweite Führer ein vernünftiger und milder junger 


*) Archiv des Fürsten Woronzow, Bd. 18. 

“*) Nowossilzow hatte bei Pauls Thronbesteigung den Kriegsdienst 
verlassen, lebte, »0 lange Panl regierte, in England den Wissenschaften 
und kehrte sofort nach der Thronbesteigung seines Freundes Alexan- 
der zurück. 

#»*) Archiv des Fürsten Woronzow, Bd. 11, 


u 


218 VIEL Pant, 





Mann sei und das Vertrauen der Mannschaft geniesse. So 
beschwöre ich Sie denn, auf das Verdeck zurückzukehren 
und dem jungen Manne und der Mannschaft vorzustellen, 
sie sollten doch das Schiff, welches sowie auch die Ladung 
zum Theil Eigenthum des jungen Mannes ist, retten; sie 
seien dreissig gegen einen und es sei lächerlich, sich zu 
fürchten, von dem tollen Kapitän getödtet zu werden, 
weil sonst binnen kurzer Zeit alle Matrosen und auch 
der junge Mann von dem Geisteskranken ertränkt werden 
würden ....“ Aber weder Nowossilzow noch Woronzow 
gingen auf das Verdeck und bändigten den Tollen, das thaten 
Andere. Der Reichsvicekanzler Graf Panin und dann 
Graf von der Pahlen, der Militärgouverneur von St. Peters- 
burg, besprachen sich mit Alexander über die Nothwendig- 
keit einer Regentschaft und Alexander stimmte bei, indem 
er das Michailowsche Palais Paul als zukünftige Residenz 
zudachte; die Beredungen begannen etwa im September 
1800 und die Zusammenkünfte Panins mit Alexander 
fanden meist bei Nacht im tiefsten Geheimnisse statt; 
Panins ehrenhafter Charakter bürgt dafür, dass von ihm nie 
etwas anderes als die Einsetzung Alexanders zum Regenten 
geplant wurde. Da fiel Panin in Ungnade, verlor am 
15. November 1800 sein Amt und wurde im Dezember 
auf seine Güter verbannt; später sah Paul ein, dass er 
Panin bitteres Unrecht gethan habe, hob am 28. Februar 
1801 den Verbannungsbefehl auf und gestattete Panin den 
Aufenthalt in beiden Hauptstädten, worauf Panin den in 
Moskau wählte. Pauls Zorn kehrte sich nun gegen Panins 
Verleumder Rostoptschin, Kutaissow hetzte ihn auf, denn 
Rostoptschin hatte den Liebling als einen Schurken de- 
nuneirt, der des Kaisers Gunst verkaufe und willkürlich 
verwertbe; Rostoptschin wurde am 4. März 1801 ver- 
abschiedet und auf sein Gut Woronowo bei Moskau ver- 
bannt. Rostoptschins Entfernung kam dem Gelingen der 
Verschwörung gegen Paul ungemein zu Statten, an seiner 
Stelle wurde Graf von der Pahlen Präsident des Kollegs 
der auswärtigen Angelegenheiten und Generalpostdirektor 
unter Beibehaltung seiner anderen Aemter. Araktschejew 
war bereits in voller Ungnade entlassen und verbannt 


u 


VIIL Paul, 219 





worden, sodass Pahlen, der Leiter des Komplots gegen 
Paul, vier wachsame Augen nieht zu fürchten brauchte, 
Pahlen musste freilich trotzdem mit unendlicher Vorsicht 
operiren, um nicht entdeckt und hingerichtet zu werden, 
‚Paul war voll Argwohn auch gegen ihn: ohne Rostoptschins 
gewohnte Nähe fühlte er sich unsicher und schrieb ihm: 
„Ich habe Dich nöthig, komme schnell zurück!“ und an 
Araktschejew erging noch im Augenblicke vor dem Hand- 
streiche derselbe Ruf. Pahlen aber, der fürchten mochte, 
Araktschejew solle ihn ersetzen, liess der Abreise des 
Couriers zu ihm alle möglichen Hindernisse bereiten und 
beschleunigte die Beseitigung Pauls um zwei Tage; so 
kam Araktschejew in St, Petersburg erst an, als Paul schon 
todt war, sein Schmerz war wahr und wild und er liess ihm 
vor Alexander I. freien Lauf; er versicherte ihm, sein 
Vater wäre niemals das Opfer eines Attentates geworden, 
wenn er bei ihm geweilt hätte, denn nar über seine Leiche 
hätte man zu Paul gelangen können*). Auch Rostoptschin 
kam zu spät, er erfuhr schon in Moskau „den plötzlichen Tod“ 
Pauls, der ihn zwar nicht überraschte, gestand sich aber 
auch, ohne seine Abwesenheit vom Hofe würde Paul noch 
leben, und zeigte den Mördern lebenslang seinen Abscheu, 
ihnen ungerechter Weise Panin beizühlend. Pahlen ge- 
wann Mitverschworene, sobald Alexander ihm versprochen 
hatte, im Vereine mit ihm vorzugehen, Offiziere des 
Ssemenowskischen Garderegiments, dessen Chef Alexander 
war, eine Reihe verbannter, zurückgerufener und wieder fort- 
geschiekter Offiziere der verschiedensten Regimenter u. A., 
besonders aber die Brüder Subow und den General von 
Bennigsen. Pahlen kannte den Hass der Subow gegen 
Paul und ihren Einfluss bei der Garde, Fürst Platon, der 
jetzt Gouverneur des ersten Cadettencorps wurde, er- 





*) Er bewahrte Panl lebenslang das dankbarste Gedächtnis, 
"Wenn er unter den folgenden Regierungen im Sommer den Dienstadel 
um Grasino, seinen Wohnsitz, zum Diner einlud, so stand die Tafel 
an Panls Büste in seinem Garten, ein Platz an ihr blieb frei, an dem 
alle Speisen aufgetragen wurden, bei dem Kaffee goss der Graf die 
erste Tasse am Füsse der Büste aus und nahm dann erst eine für 
sieh, (BRusskaja Starina, 1872.) 


E} YUL Paul. 





niedrigte sich zwar zur feilsten Kriecherei vor Pauls Lieb- 
ling Eugen von Württemberg, trat aber der Verschwörung 
sofort bei, seinem Bruder, dem Grafen Valerian, fiel 
jetzt die Stelle als Gouverneur des zweiten Ondettenkorps, 
dem ältesten, Grafen Nikolai, wieder ein Sitz im Senate 
zu, und Pahlen setzte besondere Erwartungen in Valerian, 
einen gleich ihm berüchtigten Spieler. Levin August von 
Bennigsen, aus althannöverschem Adel, stand seit 1778 
in russischen Kriegsdiensten, wurde unter Paul General- 
lieutenant, im Jahre 1800 aber auf seine Güter verwiesen, 
rasch gewann ihn Pahlen, und Bennigsen hielt sich 1801 
heimlich in St. Petersburg auf. Pahlen selbst blieb die 
Seele der Verschwörung, ein geborener Führer solchen 
Wagnisses, ein Mann ohne Eingeweide; immer wieder ver- 
sicherte er dem Grossfürsten-Thronfolger Alexander, es han- 
dele sich lediglich um die Abdankung und Einsperrung des 
Vaters, nicht aber um seinen Tod, ja er gab Alexander sein 
Ehrenwort darauf, Paul ahnte etwas von einer Konspiration 
und machte Pahlen am 19. März eine Scene, dieser glitt wie 
ein Aal hindurch, beeilte aber die Katastrophe, um nicht 
selbst zu stürzen. Der Charakter des ganzen Kom- 
plots war vorwiegend militärisch, die Kirche hatte diesmal 
gar keinen Antheil, Alexander ging völlig im Schlepptaue 
Pahlens, der mit kältester Zielbewusstheit handelte und 
Offiziere Henkerdienste an dem Geisteskranken thun liess. 
Auch Senatoren und Generale waren eingeweiht, unter 
letzteren die Kommandeure des Preobrashenskischen und 
des Ssemenowskischen Garderegiments, Fürst Galitzin und 
Depreradowitsch, sowie der Kommandeur des Chevalier- 
Garderegiments Uwarow, der Geliebte der Fürstin Lopuchin, 
der Mutter von Pauls Mätresse. Pahlen setzte die Nacht 
vom 23. zum 24. Mürz 1801 als Termin fest und fügte 
einem heftigen Schreiben Pauls an den Gesandten in 
Berlin, Baron Krüdener, wegen Massregeln gegen England 
die vorbereitenden Worte hinzu: „Seine Kaiserliche Maje- 
stät ist heute unpässlich, Es könnte Folgen haben.“ Am 
Abende wurde dafür gesorgt, dass die Ausführer der Blut- 
that berauscht waren, um ohne Bedenken zu handeln; der 
Senator Geheimrath Troschtschinski entwarf ein Manifest, 





r VEIT. Paul, ai 
worin Paul Krankheit halber den Grossfürsten-Thronfolger 
zum Mitregenten annahm, und die Verschwörer trafen um- 
füssende militärische Anstalten zur Unterstützung ihrer 
Aktion, während Paul auf Pahlens Rath die Wache im 
Michailowschen Palais selbst wegschiekte, Zu diesem gingen 
um Mitternacht des 23.24. März 1801 geräuschlos etwa 
60 Offiziere direkt vom Gelage, der Mitverschworene Ge- 
neral Talysin hatte einem Bataillon Preobrashenzen be- 
fohlen, wegen in der Stadt ausgebrochener Unruhen unter 
die Waffen zu treten, im Michailowschen Palais standen 
Ssemenowzen und Cavallerie sollte die Zugänge zum Palais 
von der Newski-Perspektive her besetzen, erschien aber 
erst nach Pauls Tode. Man entwafinete die äusseren 
Wachen und gelungte unter allerlei List in Pauls Schlaf- 
zimmer. Vom Lürm erweckt, sprang Paul aus dem Bette, 
er weigerte sich, abzudunken, wie Bennigsen und Fürst 
Subow forderten, wollte sich zur Wehr setzen und es kam 
zum Handgemenge, Fürst Jaschwill und Skarjatin er- 
drosselten den zu Boden gestürzten Monarchen mit Skar- 
jatins Schärpe, nachdem ihn Nikolai Subow mit einem 
Faustschlage schwer verwundet hatte. Pahlen war der 
Blutthat fern geblieben, er befand sich bei dem angst- 
erfüllten Grossfürsten-Thronfolger und erschien erst nach der 
Ermordung im Palais*). Alexander war über das grauen- 
volle Ende seines Vaters ausser sich, ebenso die Kaiserin- 
Wittwe, die jedoch an die Möglichkeit dachte, jetzt selbst 
den Thron zu besteigen; sie zögerte mit Alexanders An- 
erkennung, sah sich uber dazu „bon gr& malgr&***) ge- 
nöthigt:; sie siedelte in das Winterpalais über, Pauls Leiche, 
die furchtbar zugerichtet war, wurde zum Zwecke der 
öffentlichen Ausstellung mit unendlicher Sorgfalt präparirt 
und die Lüge wurde ausgesprengt, Paul sei am Schlage 
gestorben. Nach Beseitigung der letzten Bedenken hul- 





*) Die Ermordung, die Haltung Pahlens u. s. w. werden übrigens 
in sehr verschiedener Weise dargestellt; wir folgen der im Buche: 
Kaiser Panls I. Ende gegebenen Schilderung. 

##) Langeron, De la Mort de Paul Ier, iu „Revue britannique*, 
‚Jali 1896. 


2 VII. Paul. * 





digten die Garden, der Senat, die Synode, der Hof, alle 
Behörden und Truppen Alexander I. Pawlowitsch. Das 
britische Cabinet verhehlte seinen Jubel über Pauls Be- 
seitigung nicht, der Erste Konsul war in Verzweiflung, 
denn in Paul starb sein wichtigster Verbündeter zum 
grossen Plane der Demüthigung Grossbritanniens; er stand 
darum nicht an, im „Moniteur“ das Cabinet von St. James 
der Anstiftung zum Morde in unzweideutiger Weise zu 
beschuldigen: 


IX. Alexander I. 


M' indecenter Freude begrüssten die St. Petersburger 
die sich rasch verbreitende Nachricht von Pauls Ab- 
leben, das Regiment toller Leidenschaft und rücksichts- 
loser Laune war nun vorüber, Bekannte, ja Fremde um- 
arınten sich auf der Strasse. Man brach mit dem äusseren 
Habitus, den Paul seinen Unterthanen aufgezwungen 
hatte; „man sah Coiffuren & la Titus, der Zopf war ver- 
schwunden:; lange Beinkleider, runde Hüte, Stulpstiefel 
erschienen ungestraft in den Strassen. Man fuhr lang- 
gespannt. Es gab viel Leben und Bewegung ... im Gegen- 
satze zu der Grabesstille, welche so lange geherrscht 
hatte**®). Und dieselbe Freude, dasselbe Gefühl der Sicher- 
heit und der Menschenwürde herrschten im ganzen Reiche; 
man rechnete um so mehr auf die Wiederkehr der Rechts- 
ordnung Katharinas IL, als Alexander in seinem Thron- 
manifeste versprach, im Geiste seiner Grossmutter regieren 
zu wollen. Graf Alexei G. Orlow, der im Exile in Dresden 
lebte, jubelte über Pauls Ende und behauptete in einem 
Briefe an Woronzow nach London, auch die Dresdener, 
„hoch und niedrig, freuten sich alle unbändig“; er kehrte 
wie Kotschubei aus Dresden ins Vaterland zurück, wohin 
Alexander die vom Vater Verbannten überhaupt zurück- 
rief. Auch im Auslande begeisterte man sich für die 
Thronumwälzung, unser Klopstock begrüsste Alexander 
als den Schutzengel der Menschlichkeit und sang: 


*) Kaiser Pauls I. Ende. 


. 


2 IX. Alexander I. 





„Her vom der Ostsee bis gen Sinas 
Ocean herrschet ein edler Jüngling. 
Der hat des Namens Flecke vertilgt“*,. 


Was aber Alexander I. Pawlowitsch für Russland 
und für die Welt werden würde. konnte Niemand aus 
dem Charakter und dem Vorleben des Grossfürsten-Thron- 
folgers schliessen. Die Erziehung des beanlagten Alexander 
wurde nominell vom Grafen Nikolai Iwanowitsch Ssaltykow. 
einem geistig bedeutungslosen und zum Erzieher unfähigen 
Höflinge. geleitet: nur auf seine Bereicherung und auf die 
Begünstigung seiner Kinder bedacht. spielte derselbe eine 
lächerliche Figur**ı und hatte wenig Einfluss auf seine 
Zöglinge Alexander und Konstantin. Ihr Untergouverneur 
und wirklicher Erzieher war seit 1783 der Waadtländer 
Frederie Cesar Laharpe. ein theoretischer Schwärmer für 
die menschliche Freiheit, religiös wie politisch ohne Vor- 
urtheil. begeistert von der in seinen Augen unerreichten 
französischen Literatur und von Rousseaus Ideen. ein 
Schöngeist von nur mittelmässiger Begabung; er gewann 
die Liebe seiner Schüler und beeinflusste Alexanders weiche 
Natur auf Dauer seines Lebens: er machte aus ihm einen 
Gefühlsschwärmer ohne jede Tiefe. einen Humanitäts- 
prediger in der Wüste. einen gleich Katharina II. nach 
äusserem Scheine. nach Blenderei Strebenden. einen Mann 
versteckten Herzens. einen Byzantiner. wie Napoleon I. 
Alexander genannt hat: er unterliess es. bei ihm das 
Pflichtgefühl. den Drang. sich im Wissen zu vervoll- 
kommnen und zu befestigen. anzuregen, richtete sich ge- 
fügig nach Katharinas sentimentalem Programme, liess sie 
bestündig die Hand auf Alexander halten, und so stellten 
sich als Resultat der Erziehung seichte Oberflächlichkeit, Ge- 
fühlsduselei, ungründliches und ungeordnetes Wissen, Eitel- 
keit, Selbstgefälligkeit, Unzuverlässigkeit heraus ***). Unter 
Alexanders Lehrern waren hervorragende Köpfe wie Pallas, 


*) Kleinschmidt, Alexander I. von Russland, in „Unsere Zeit“, 
Neue Folge, 13. Jahrgang, Leipzig 1877. 

**, Tolstoi in „Russkaja Starina“, Januar 1873; Schiemann, 
ebenda, Dezember 1880. 

***) 1798 verliess Laharpe Russland. 


m A 


IX. Alexander T. E03 





Kraft und Michail Nikititsch Murawjew, der für Alexander 
und Konstantin noch heute als Klassisch geltende histo- 
tische, philosophische und moral-ästhetische Schriften ver- 
fasste, aber der Energie enthehrte und sich zu sehr im 
Fahrwasser der Philanthropie bewegte. Alles in allem 
strengte diese Rousseausche Erziehung die geistigen 
Kräfte wenig an und steeute mit spielender Hand allerlei 
Samen in die jungen Köpfe, Alexanders Lage war 
schwierig. denn er stand zwischen (der Grossmutter, die 
ihn vergötterte und über den Sohn hinaus auf den Thron 
berufen wollte. und diesem Sohne, seinem Vater. der ihn 
argwöhnisch beobachtete und bei seiner Erziehung kein 
Wort mitsprechen (durfte: so kaum er frühe auf den Weg 
der Verstellung, der Doppelzüngigkeit, er falschen Mienen. 
der Heuchelei von Liebe und Freundschaft, von Ergebung 
und Menschenfreundlichkeit. Der Vater war mit Leib und 
Seele Paradesoldat, der Sohn zeigte wenig ernste Neigung 
zum Soldatenstande, wenn er auch, seit sein Vater regierte, 
das Ssemenowsche Garderegiment führte. Seine sehr frühe 
geschlossene Ehe mit der engelsguten Prinzessin Rlisabeth 
Alexejoewna von Baden trug die glücklichsten Aspekten, 
es gab kein schöneres Paar, denn Alexander war eine 
prächtige Erscheinung. Elisabeth voll Liebreiz, und doch 
lagen bald Trauer und Welmuth über ihrem Glücke; nach 
dem raschen Ableben zweier Töchterchen blieb die Ehe 
kinderlos, Alexander vergalt die unbegrenzte Liebe Elisa- 
beths mit offener Untreue und überliess sich dem Zauber 
anderer Frauen; unter diesen fesselte ihn am meisten 
Maria Antonowna. Fürstin Swjatopolk-Uzetwertinska, eine 
wunderbar schöne Polin, die seit 1791 Hoffräulein Ka- 
tharinas Il. war; mit Elisabeth gleichalterig, hatte sie den 
Oberjägermeister Dmitrii Lwowitsch Narischkin geheirathet, 
der übrigens so wenig wie sie jemals politischen Einfluss 
gewann; während Alexander zu ihren Füssen lag, huldigte 
der gleichfalls verheirathete Konstantin ihrer Schwester, 
der Fürstin Jennnette, die auch seit 1791 Hoffräulein war, und 
wollte sich scheiden lassen, um sie heirathen zu können, 
doch gab seine Familie dies nicht zu: Alexanders Ver- 
A Kleinschmide, VeberbL d. sum, Gesch. n, 1098, 15 




















u 


Be _ IX. Alesanier I. er 
immer wusgespielt®). Zugleich erwirkte Maria Pedorowna 
die Entfernung des Fürsten Subow**) auf seine Güter. 
Bemigsen, der nun allein stand und jeder Verbindung mit 
den leitenden Kreisen entbehrte, wurde durch Maria eben- 
falls bald beseitigt, Alexander schickte ihn als General- 
gouverneur nach Litauen, nachdem er ihn noch ausser der 
Reihe zum Generale der Cavallerie befördert hatte, Die 
deei mit Alexander zur Absetzung Pauls solidarisch Ver- 
bundenen hatten somit IIof und Residenz verlassen: 
Panin blieb übrig***) und erfreute sich des vollen Ver- 
trauens Alexanders, weit weniger schuldbelastet an dem 
Handstreiche als Alexander selbst, obwohl er einst die 
Regentschaftsfrage zuerst angeregt hatte, Am 2. April hatte 
der in St. Petersburg eingetroffene Panin die auswärtigen 
Angelegenheiten übernommen. Alexander bewies ihm grosse 
‚Huld. jedoch litt sein Binfluss auf ihn und die Kaiserin- 
Mutter sehr bald. Alexander liess ihn für die Ermordung 
Pauls büssen, untergrub seine Stellung bei Maria, der er 
wohlweislich seine eigene Betheiligung am Regentschafts- 
plane verschwieg, und veranlasste Panin im September 
1801, seine Entlassung zu nehmen; entschlossen, ihm nie 
mehr ein Amt zu übertragen, misstraute er ihm, liess ihn 
wie Subow von der Geheimpolizei überwachen und liess 
diese über ihre Erfahrungen täglich an den „nichtoffiziellen 
Ausschuss“ berichten, denn er fürchtete, Panin werde 
such gegen ihn wie gegen Paul komplotiren. Panin 
empfand die Beaufsichtigung sehr peinlich und ging auf 
Reisen, im August 1804 erfolgte seine Verbannung nus 
St. Petersburg, alle seine Schritte zur Rechtfertigung blieben 
sowohl unter Alexanders wie unter Nikolaus’ Regierung 
erfolglos, in Acht und Bann starlı Paninf) im April 1837. 

Da Alexander nicht der Mann war, um allein und 
ganz auf sich gestellt zu regieren, so löste ein neues 
Triumvirat das erste ab; heissblütige Vertreter moderner 





*) Er starb am 27. Februar 1826, 

**) Er starb an 19. April 1628, 

**) Panin-Materialien, Bd. VI. 

#) Panin-Materinlien, Bd. VII, 189% 





IX. Alexander L El 


‚besteigung aus England herbeieilte; die Altrussen hassten ihn 
ii Verehrer der Institutionen des Inselreichs 

und als Gegner Frankreichs, er hielt es mit den Tories und 
war im Herzen wenig liberal, wenn er sich auch bisweilen 
einen liberalen Anstrich gab; mit seinen ausgebreiteten 
Kenntnissen war er dem Justizminister eine treffliche 
Stütze und sass auch im Comitd bei dem Ministerium der 
- Volksaufklärung: die Kaiserin-Mutter war ihm sehr zu- 
gethan, wie vor allem ihr Testament vom 27. November 
1827 *) bezeugt, in dem sie ihn Nikolaus I. auf die Seele 
band. Alexander hing mit Schwärmerei an dem Fürsten 
Adam Ozartoryaki, der seinen Einfluss zu Gunsten Polens 
zu verwerthen trachtete, dem Kaiser stets vorhielt, Russ- 
land habe in schändlicher Weise den glorreichen Polen- 
staat vernichtet und Mit- wie Nachwelt werde ihn an- 
beten, wenn er dies Unrecht wieder gut mache und Polen 
wieder aufbaue. auf dessen Krone Czartoryski wohl selbst 
»pekulirte; die Korrespondenz Beider mit einander, welche 
mit Ozartoryskis Memoiren (2 Bünde, Paris 1887) erschien, ist 
eine wichtige Quelle für Alexanders Regierung. Neben dem 
„nichtofficiellen Comit&* besassen viel Einfluss bei Alexan- 
der sein Lehrer Laharpe, der von 1801—1802 in St. 
Petersburg lebte, Kotschubei, Galitzin und Araktschejew. 
Graf Viktor Pawlowitsch Kotschubei war ein erklärter 
Freund der britischen Zustände, bildete seinem Alter nach 
das Bindeglied zwischen den älteren Staatsmännern und 
Alexanders junger Umgebung, genoss allgemeines Ver- 
tenuen, hatte ausgezeichnete Gemüthseigenschaften, aber 
wenig Energie und Arbeitskraft, er hatte seine Erziehung 
in Genf, Paris und London genossen, die russischen Verhält- 
nisse aber waren ihm ziemlich fremd geblieben. Alexanders 
‚Jugendgespiele war der bei Hof erzogene Fürst Alexan- 
der Nikolajewitsch Galitzin gewesen, dem man später 
manchmal unverdient den Beinamen seines Vorfahren „der 
grosse Galitzin“ gegeben hat; Alexanders Kammerjunker 
während der Prinzenjahre, wurde er nun des Kaisers Lieb- 
lingsgesellschafter. verbrachte die Abende bei dem Kaiser- 


*) Kusskaja Starina, Januar 1889. 


IX. Alexander 1. E75 


konvention mit Grossbritannien; beide Theile machten 
Zugeständnisse, Russland, das den Grundsätzen des Bundes 
der bewaffneten Neutralität entsagte, die weit grösseren, 
und Alexander verzichtete auf Malta wie auf die Gross- 
meisterwürde des Malteser-Ordens; die Konvention fand 
hei den Russen wenig Beifall. Keineswegs aber gedachte 
Alexander sich für das britische Interesse mit Frankreich im 
Kriege zu messen. In dem neuen Grossmeister des Malteser- 
Ordens Tomasi aus Siena, den er bei Pius VII. durchsetzte, 
hatte er ein Werkzeug, das ihm im Mittelmeere gegen 
Geossbritanniens Vebermacht gute Dienste leisten sollte, 
und die russischen Truppen blieben auf den jonischen 
Inseln, da die Briten den Rittern Malta nicht einräumten. 
Zwar misstraute Alexander dem Ersten Consul und 
glaubte, er suche Russlands Bündniss nur zum Angriffe 
gegen Grossbritannien, doch schiekte er den Grafen 
A. J). Markow als Gesandten nach Paris; um auch mit 
Oesterreich, das Paul so sehr vor den Kopf gestossen 
hatte, wieder anzuknüpfen, ging Murawjew-Apostol im 
Sommer 1801 in geheimer Mission nach Wien und 
Rasumowski wurde wieder Botschafter daselbst. Bei 
Alexanders Krönung in Moskau, am 27. September 1801, 
vertrat General Duroc den Ersten Oonsul, hingegen nahm 
Letzterer Markow gegenüber einen ziemlich hoffärtigen 
Ton an, rühmte Pauls Regierung, tadelte aber das über- 
triebene Interesse Russlands am „Zaunkönige von Bar- 
divien“ und die Erniedrigung Frankreichs zur Stellung 
„einer Republik Lucen“. Alexander und Bonaparte 
schlossen am 8. Oktober 1801 in Paris Frieden und am 
11.d.M. eine geheime Konvention; sie verpflichteten sich 
in letzterer, sie wollten die Vertheilung der Entschädigung 
an die links des Rheins in Verlust gerathenen weltlichen 
Fürsten in Uebereinstimmung vornehmen und gemeinsam 
Italien ordnen, in Deutschland aber darauf achten, dass ein 
richtiges Gleichgewicht zwischen Oesterreich und Preussen 
geschaffen werde und dass Bayern, Württemberg und 
Baden bei der Vertheilung besondere Begünstigung er- 
hielten; sie erkannten die Republik der Sieben (jonischen) 
Inseln an, Frankreich versprach die Räumung Neapels; 


e 





Er IX. Alexander I. 





beide Cabinete wollten sich mit den Mitteln beschäftigen, 
auf diesen Grundlagen den allgemeinen Frieden zu he- 
festigen, in den verschiedenen Welttheilen ein gerechtes 
Gleichgewicht herzustellen und die Freiheit der Meere zu 
sichern: sie machten sich zu Diktatoren der Welt, zu 
Schiedsrichtern in Deutschland, und es kündigte sich 
bereits die Politik von Tilsit und Erfurt an, Frankreich, 
welches in Luneville mit Franz 1., in Amiens mit Georg III. 
Frieden schloss, fühlte sieh Buanlani gögenüber ge- 
waltig; Alexander verwirrte sich in Bonapartes Fäden, 
bestimmte zwar mit ihm die Loose für die deutschen 
Fürsten, wurde aber mehr und mehr in die zweite Linie 
gedrängt, die Fürsten und Diplomaten umbuhlten Talley- 
rand weit mehr als Markow; erlangte Alexander für die 
verwandten Häuser von Baden, Württemberg und Hossen- 
Darmstadt reichen Zuwachs an Lahd und Leuten, »0 
wollte doch vor allem Frankreich sich in ihnen militärisch 
werthvolle Klienten schaffen, und dass Alexander trotz 
alles Zusammengehens mit Bonaparte ihm Steine in den 
Weg warf, zeigte seine in Berlin gestellte Aufforderung, 
der König möge Hannover besetzen. Preussen klammerte 
sich an ihn und un Bonaparte; um 10. Juni 1802 kamen 
Alexander und Friedrich Wilhelm III, in Memel zusammen, 
Aın 24. August übergaben die Gesandten von Russland 
und Frankreich der Reichsfriedensdeputation in Regens- 
burg den zwischen beiden Cabinetten verabredeten Ent- 
schädigungsplan vom 3. Juni und am 26. Dezember trat 
Russland dem Vertrage Frankreichs mit Oesterreich bei. 
Wegen Sardiniens hutte Bonaparte Markow hart an- 
gelassen; „ich wundere mich“, rief er ihm zu, „dass Ihr 
Hof sich in die piemontesischen Affären mischt, während 
ich über die persischen schweige*, worauf ihm Markow 
erwiderte; „Pranzösische Kugeln fliegen nie bis Persien, 
russische aber können bis Piemont Hiegen‘; Alexander 
liess den won Paul und Ssuworow ritterlich gehaltenen 
König fallen und Piemont wurde im September 1802 
init Frankreich vereinigt, Schr unliebsam vermerkte der 
Zar Bonapartös beständige Eingriffe in Italien, während 
sich Bonaparte üher Umtriehe französischer Emigranten 


#4 


—— — u 


1X. Alesamiler T. EN | 





unter russischer Protektion bitter beschwerte und gegen 
dieselben rücksichtslos vorging. 

Der russische Gesandte Graf Markow begegnete Bona- 
parte mit unverhohlener Abneigung, bewegte sich mit offen- 
kundiger Vorliebe in den Salons des Faubourg Saint- 
Germain, stimmte völlig mit den Legitimisten überein, war 
voll Interesse an Oesterreich und führte dem Ersten Consul 
wie Talleyrand gegenüber eine manchmal rücksichtslose 
Sprache; er allein von allen Gesandten legte um Bonaparton 
Schwager. den General Leclere, keine Trauer an, Bona- 
parte machte ihm wiederholt polternde Scenen und for- 
«lerte seine Abberufung; als sie schliesslich im Novemhor 
1803 erfolgte, geschah sie in Markow höchst schmeichel- 
hafter Weise und er schürte auf der Heimreise in Wien 
gegen den Ersten Consul, wie er spüter besonders nach 
Enghiens Ermordung Alexander aufstachelte, auf den er 
übrigens keinen persönlichen Einfluss erlangte*). Vorerst 
vertrat nur ein Geschäftsträger Russland in Paris, der nicht 
weniger entschiedene Peter von Oubril. Die Ermordung des 
Herzogs von Enghien versetzte den russischen Hof in die 
grösste Entrüstung, Marin Fedorowna reizte ihren Sohn. der 
ohnehin auf Bonaparte ärgerlich war, noch mehr an, der Hof 
hüllte sich in Trauerkleider und in ihnen ging Alexander 
hei einem grossen Empfange schweigend an dem französi- 
schen Gesandten General Hedouville vorüber. Alexander trat 
auf dem Regensburger Reichstage als Garant der deutschen 
Verfassung auf, protestirte in einer am 7. Mai 1804 durch 
den Ministerresidenten von Kläpfel überreichten Note 
gegen die Verletzung des deutschen Reichsgebietes und 
des Völkerrechts und erwartete, freilich vergebens, von 
allen deutschen Staaten ein einmüthiger Auftreten gegen 
Frankreich; nur Schweden und Grossbritannien erhoben 
mit ihm Protest, Oubril übergab am 12. Mai in Paris 
sine Genugthuung fordernde Note, worauf Talleyrand und 
Bonaparte unverschämte Antworten gaben, auf die von 





#) Er starb, seit 1821 Reichsrath, am 29. Januar 1827 In St. Petora- 
burg: der Sturz Napoleons war seine höchste Genngihaung: „ie fade, 
Io polison Markow* war gerücht, 


ii i 





' 


IX. Alesander 1. 2 





Mühe gab, Alexander mit Napoleon auszusöhnen, schlossen 
Fürst Ozurtoryski, der Leiter der auswärtigen Politik, und 
der Geheimrath D. P, Tatischtschew am 6. November in 
St. Petersburg mit dem oesterreichischen Botschafter Grafen 
Philipp Stadion eine Defensivallianz ab, die einer offen- 
siven aufs Haar glich, am 14. Januar 1805 folgte das 
Bündniss Russlands mit Schweden und am 11. April in 
St, Petersburg das Bündniss Russlands mit Grossbritannien, 
von dem Stadion nichts wusste, Man sprach darin von 
einer „allgemeinen Liga der Staaten Europas“, von der 
Verpflichtung Frankreichs, ganz Italien, Hannover und 
ganz Norddeutschland zu räumen, die batavische und die 
helvetische Republik unabhängig zu erklären und den 
König von Sardinien zu restauriren, die Briten sollten für 
je 100000 Soldaten 1250000 Pfd. Sterl. Subsidien be- 
zahlen, Alle Versuche, auch Preussen zur Conlition her- 
überzuziehen, blieben erfolglos, Friedrich Wilhelm TIL. 
gefiel sich in seiner ruhmlosen Neutralität, hingegen trat 
Oesterreich am 9. August in St. Petersburg dem britisch- 
russischen Bündnisse offen bei. die Tripelallianz war fertig. 
In Russland war der Krieg gegen Frankreich unpopulär 
und auch Ozartoryski hütte ihn gern vermieden, Rostop- 
tschin schrieb missbilligend: „Unser Kaiser, der schon die 
Masern und die Blattern gehabt hat, will es noch mit den 
Engländern und den Oesterreichern versuchen“ und schob 
dann läppischer Weise, als die Uoalition von 1805 un- 
glücklich war, wie 1799 alle Schuld auf „die Deutschen*. 
Friedrich Wilhelm machte im September gegen Russland 
mobil, die Verletzung des Ansbacher Gebietes durch 
Bernadottes Durchmarsch zum Kriegsthenter aber führte 
hei ihm zu anderen Ansichten, er gestattete Jen Russen 
den Durchmarsch durch preussisches Gebiet und empfing 
Alexander am 25. Oktober als seinen Gast, Alexander 
entsagte Czartoryskis gegen Preussen feindlichen Absichten 
und am 3. November unterzeichneten Ozartoryski, von 
Alopäus und Fürst Dolgoruki den Potsdamer Vertrag mit 
Preussen, das eine bewaffnete Vermittelung zwischen der 
Osalition und Napoleon versuchen und eventuell nach 
ihrem Scheitern der Coalition beitreten sollte; die then- 


Bu i \ 


hoc! DENT, 





tralische Scene am Sarge des alten Fritz zwischen Alexan- 
der und dem preussischen Königspaare bekräftigte den 
Vertrag. 

Mittlerweile setzten sich die russischen Streitkräfte in 
Bewegung. Graf Peter Alexandrowitsch Tolstoi sollte 
mit 20000 Mann bei Stralsund landen, sich mit Schweden 
und Briten vereinigen und Hannover besetzen; der Admiral 
Ssenjawin sollte sich mit den Briten verbinden und mit 
20.000 Mann in Neapel landen, Truppentheile wurden zum 
Zwerke der Bewachung an den türkischen und den 
preussischen Grenzen postirt; das Hauptlieer stand unter 
dem Befehle des Generals Michail llarionowitsch Gole- 
nischtschew-Kutusow und sollte sich mit dem oester- 
reichischen Generalquartiermeister von Mack vereinigen; 
als aber die Vorhut in Braunau am Inn eintraf, erfahr sie 
Macks schimpfliche Kapitulation von Ulm, Starke Streit- 
kräfte sammelten sich in Mähren unter dem Grafen 
F, W, von Buxhöwden, dort befand sich Alexander selbst 
mit Czartoryski. Nowossilzow und Stroganow, dort standen 
die Garde und die besten Regimenter. Unter Gole- 
nischtschew-Kutusow dienten der ritterliche Fürst Peter 
Iwanowitsch Bagration, Dmitrii Ssergejewitsch Dochturow 
und „der Mürat Russlands“, Michail Andrejewitsch Milo- 
radowitsch. Am 11. November schlug Golenischtschew- 
Kutusow mit den Oesterreichern Mortier bei Dürrenstein, 
Bagration hielt unter entsetzlichen Verlusten Murat am 
15. und 16. bei Hollabrunn auf, damit Golenischtschew- 
Kutusow seinen Rückzug nach Mähren ausführen konnte: 
am 18. vereinigte sich Golenischtschew-Kutusow mit der 
Armee Buxhöwdens und mit den Oesterreichern in Olmütz, 
während Napoleon in Brünn stand; Alexander und Franz 
waren bei ihren Heeren, die zusammen etwa 82000 Mann 
stark waren. Mit massloser Ueberhebung und Gering- 
schätzung schauten die russischen Offiziere auf die Oester- 
reicher und auf „den Corsen Buonaparte“: ein hoffärtigen 
von verstocktem Nationaldünkel beherrschter Mann, Fürst 
Peter Petrowitsch Dolgoruki, stellte die Besiegung Bo- 
napartes seinem kaiserlichen Freunde als ein Kinderspiel 
hin und benahm sich, mit einem Schreiben an „das Ober- 


—— 


haupt des französischen Volkes“ abgesandt, ihm gegen- 
über mit lücherlichem Dünkel; ebenso unglücklich berietl 
‚der von Paul zum Grossfürsten- Cüsarewitsch erhobene 
Bruder und präsumtive Thronfolger Konstantin den leicht 
verleiteten Bruder. Die „Dreiksiserschlacht“ von Austerlitz 
am 2, Dezember endete mit Napoleons glünzendstem 
Siege, um Alexander deklamirte man von oesterreichischem 
Verrathe und Niemand sprach von der Fortsetzung des 
Kriegs, der Zar und seine prahlerischen Rathgeher waren 
absolut entmuthigt; Alexander kümmerte sich nicht weiter 
um seine Alliirten, zog mit seinem Heere ab, hielt sich 
pünktlich an die von Napoleon vorgezeichneten Etappen, 
rief seine Truppen aus Italien und Hannover heim und gab 
den König von Sardinien wiederum preis. Auch Preussen sah 
sieh von Alexander preisgegeben und schloss mit Napoleon 
Jen schimpflichen Vertrag von Schönbrunn, Oesterreich 
musste sich zum Frieden von Pressburg bequemen. 

Da das britische Cabinet den Frieden mit Na- 
poleon zu wünschen schien und Russland sich isolirt 
fühlte, wünschte Fürst Uzartoryski auch für Russland den 
Abschluss eines Friedens und d’Oubril wurde mit dahin 
zielendem Auftrage nach Paris gesandt, Napoleon benutzte 
Jie Verworrenheit der russischen Politik, machte Oubril 
durch lange Konferenzen mürbe und Oubril unterzeichnete 
am 20. Juli 1806 in Paris ohne britische Betheiligung 
mit dem General Clarke einen Vertrag, dessen Haupt- 
punkte die Einräumung der Bocche di Cattaro*) an 
Frankreich, die Erklärung der jonischen Inseln und Ragusus 
zu unabhängigen Republiken, die Anerkennung der Un- 
abhängigkeit und Unverletzlichkeit der Türkei und der 
Abzug aller französischen Truppen aus Deutschland binnen 
drei Monaten waren: in geheimen Artikeln trafen Russland 
und Frankreich Abrede über spanisches Gebiet und in- 
frigirten gegen Preussen. Auf dies alles ging Oubnil ei, 
weil Talleyrand ihn ängstigte, im Weigerungsfalle sei 
Oesterreich verloren. Auch Czartoryski betonte in einer 

*) Die Russen unter Admiral Ssenjawin hatten diese im März 
1806 besetzt. 


Ki 





d die Leiheigenschaft der Bauern hin, aus denen 
eindringender Feind Kapital schlagen würde. x 
der jedoch war anderer Meinung, er entliess dem nd 
nach Wilns, seiner Pflanzstätte für die polnische Restuu- 
ration, und ernannte im Juli 1806 den Freiherrn Andreas 
J. von Budberg zum Minister der auswärtigen Angelegen- 
heiten; dieser Feind Napoleons näherte sich Preussen 
und die Erklärungen Friedrich Wilhelms III. und Alexan- 
ders in Charlottenburg und Kamennyi-Ostrow vom 
1. und 24. Juli widersprachen ebenso direkt dem Pariser 
Vertrage Friedrich Wilhelms mit Napoleon vom 15. Februar 
1806, wie sie als Anbahnung eines russisch - preussischen 
Bündnisses gelten konnten und die Räumung Deutsch- 
lands seitens der französischen Truppen als höchst dring- 
lich hinstellten. Alexanders Minister ausser dem Handels- 
minister Grafen Rumjanzow waren gegen Napoleon, Rum- 
janzow wurde von Napoleons Grösse geblendet und 
erkannte nur im Bunde mit ihm dus Heil des Vaterlandes, 
Budberg erliess zur Rechtfertigung der Nichtratifikation 
des Oubrilschen Vertrages (s. 5. 240) ein Cireular an die 
europäischen Regierungen und griff die Schöpfung des 
Rheinbundes, die Knechtung Italiens, die Beeinträchtigung 
der Alliirten Russlands durch Napoleon offen an, während 
sich die Stellung Russlands zur Pforte und zu Persien 
durch französische Intriguen immer feindlicher gestaltete, 
Der französische Botschafter am Divan, General Sebastiani, 
schürte nach Kräften gegen Russland, schlug den Einfluss 
des russischen Vertreters Italinski ganz aus dem Felde, 
veranlasste Selim IM. zur Anerkennung Napoleons als 
Kaiser und zur Sperrung von Bosporus und Dardanellen 
für russische Schiffe. Die Pforte verletzte eine Reihe mit 
Russland getroffener Abmachungen, setzte die russen- 
feeundlichen Hospodare der Moldau und Walachei, Murusi 
und Ypsilanti, im August 1806 auf Drängen Sebastianis 
ab, wurde aber durch die Drohungen der Botschafter Russ- 
lands und Grossbritanniens, das sich engstens mit Russland 
alliirt zeigte, im Oktober zu ihrer Wiedereinsetzung ge- 


N 















Sud) besser arrondirt ct, ar Rhein- 
te beseitigt und aus Deutschland eine kon- 
Föderation gemacht werden; man hoffte auf 
ıluss Oesterreichs, Grossbritanniens, Schwedens 
u emarks. wollte in diesem Falle Oesterreich Tirol 
d die Mineio-Linie, Grossbritannien eine Erweiterung 
des welfischen Hausbesitzes in Deutschland verschaffen; 
an dachte auch an Entschädigung der Oranier, der 
von Sardinien und von Neapel und erwähnte der 
t und Unabhängigkeit der Türkei. Oesterreich, 
ien und Schweden thaten aber keine Schritte 
K m Anschlusse au Preussens und Russlands 
n] gen Napoleon, desto energischer lenkte dieser 
Osterode aus das Rad der Geschiehte; er vertheidigte 
i opel gegen die Briten. zog Verstärkungen aus 
‚lien und aus Norddeutschland an sich heran und köderte 
 leichtglüubigen Polen, am 14. Juni vernichtete er 
ns Heer in der Schlacht bei Friedland, wo Bennig- 
n 20000 Mann verlor. Bennigsen zog hinter den 
und rieth Alexander. sofort Waffenstillstand zu 
n; Alexanders Mutlı schwand ebenso rasch dahin 
5 nach Austerlitz; ihm graute bei dem Gedanken, 
on könne Russlands Boden betreten und Polen könne 
nz er meinte, er habe für Preussen genug geopfert, 
ohne den auf ihn blind vertrauenden König zu 
tigen, Napoleon um einen Neil der 
insohmidt, Ueberbi. d. rum. Gesch. «. 1ER. 








































"Wort von Potsdam und Kydullen und 
Politik ein: gegen Grossbritannien war er al 


feindsolig gestimmt, seit das Cabinet von St. 
neues Anlehen von 150 Millionen nicht garantı 


erschienen ihm Filze und Krämer. Obne Budberg 
toryski und Nowossilzow. seine bisherigen 
befragen, entschloss sich Alexander zur Zusam! 
Napoleon; vom Cäsarewitsch Konstantin Pawlowitsch, von 
Fürst Lobanow-Rostowski, Bennigsen, dem Reichsvice- 
kanzler Fürsten Kurakin u. A. begleitet, erschien er am 
25. Juni in Tileit und hatte mit Napoleon auf einem 
Flosse auf dem Memel eine lange Unterredung unter vier 
Augen: Napoleon beutete Alexanders Ehrgeiz und seine 
Abneigung gegen das knauserige Grossbritannien sehr 
geschickt aus, stellte ihm freie Hand in Finnland und auf 
der Balkanhalbinsel in Aussicht, hielt ihm vor, Russ- 
lands Heil liege nur im Bündnisse mit Frankreich, und 
lockte ihn mit dem Anerbieten einer gemeinsamen Diktatur 
über Europa. Alexander wurde aus seinem Feinde sein 
bewundernder Freund und vertauschte die Rolle des Vor- 
kämpfers für Völkerrecht und Völkerfreiheit mit der weit 
einträglicheren des Theilnehmers an Raub und Völker- 
knechtung. Er bat zwar Napoleon unter Thränen, Preussen 
zu schonen, unterliess aber jeden Versuch, seinen Bitten 
energischen Nachdruck zu geben; derart lag er im Banne des 
Imperators. Beide Kaiser verhandelten am liebsten olne 
Zuziehung ihrer Diplomaten und Alexander sah ruhig mit an, 
wie Friedrich Wilhelm und die Königin Louise von Napoleon 
mit Spott und Vorwurf behandelt wurden; so ritterlich seine 
Worte klangen, so selbstsüchtig war seine Handlungs- 
weise, Napoleon beschäftigte ihn mit Paraden und Revuen, 


























Be Be 











E75 IX. Alexander I. : 
u 
reich auffordern; sollte die Pforte binnen drei Monaten 
nicht Frieden schliessen, so wollten die beiden Kaiser 
ihr alles europäische Gebiet mit Ausnahme Rumeliens 
und Konstantinopels entziehen, eine Theilung desselben 
zwischen ihnen ward vorgesehen. Russland dachte an 
Bessarabien, die Donaufürstenthüämer und Bulgarien bis 
zum Balkan. Napoleon opferte die alten Bundesgenossen 
Frankreichs, die Türkei und Schweden, der Freundschaft 
Russlands, Alexander trat, obgleich die russischen Roh- 
produkte hauptsächlich nach England gingen, der Kon- 
tinentalsperre bei und ruinirte den Handel Russlands; das 
Reich wurde mit Banknoten überschwemmt, alles ent- 
werthete und tausende von Familien wurden bankerott. 
Jetzt aber schwamm man in Tilsit in Entzücken, die 
Truppen beider Kaiser fraternisirten und gaben einander 
Feste mit viel Getränk und viel Gerede. 

Alexanders Frontwechsel in Tilsit führte naturgemüss 
zum Wechsel der massgebenden Persönlichkeiten in der 
Politik; die Napoleon und Frankreich feindlichen Rath- 
geber und Diplomaten verloren ihr Amt. Nowossilzow, 
bisher Alexanders Universalgehilfe, sah sich von ihm ge- 
mieden*) und im November 1807 in schroffster Form ver- 
nbsehiedet; um dieselbe Zeit erhielt Kotschubei „leidender 
Gesundheit wegen“ unbestimmten Urlaub, Stroganow schied 
aus dem Oivildienst und trat als Generalmajor in das 
Heer ein, Ozartoryski und Budberg traten ab. Rasumowski 
wurde als Botschafter abberufen, blieb aber als Privat- 
mann in Wien, wo sich die Napoleon feindliche Gesell- 
schaft um ihn krystallisirte; Kurakin aber, der sich für 
den Friedebringer Europas hielt, ein Mann ohne Festig- 
keit des Charakters und der politischen Ueberzeugung, 





*) Am 28. September 1807 schrieb Sarary aus St, Petersburg: 
„Nowossilzow bleibt zu fürchten; »tets des Kaisers Freund, jat er 
liberal nach englischer Art und träumt nur davon, die britischen 
Institutionen in Russland zu importiren; er iat hierin lächerlich,* 
Nowossilzow reiste längere Zeit, verkehrte in Wien vorzüglich mit 
Engländern, intriguirte und sammelte Nachrichten zur Verwendung 
seiner Regierung. (Ungedruckte westfklische Gesandtschaftsberichte 
aus Wien.) 


I. 


IX. Alexander 1, 





ersetzte ihn auf dem Wiener Posten. Die vornehme Welt 
in St. Petersburg und Moskau verdammte wie Woronzow 
in London u, A. die Allianz mit Napoleon, die Kaiserin- | 
Mutter war seine Todfeindin und umgab sich mit Emi- 
granten und Anhängern der britischen und oesterreichischen 
Interessen; man tadelte unverblümt die Unterwürfigkeit | 
unter Napoleons Willen, der Alexander sogar veranlasste, | 
„Ludwig XVIIL“ und seine Familie in Wiederholung der 
Grausamkeit Pauls aus Mitau auszuweisen*); man sah 
mit Entrüstung die rücksichtslose Ausnützung der russi- 
schen Freundschaft durch den Korsen, seine Hinterlist 
gegen die Bourbons in Spanien. Der durch seine Be- 
theiligung an Enghiens Ermordung doppelt ungeeignete 
Gesandte Savary, Herzog von Rorigo, fand bei der Ge- 
sellschaft einen ausgesucht feindseligen Empfang, in den 
Buchlüden lagen viele Schmähschriften gegen Frank- 
reich; auch Savarys Nachfolger Caulaincourt, Herzog von 
Vicenza, litt unter dem Odium der Mitwisserschaft an 
Enghiens Katastrophe und wurde mit eisiger Kälte be- 
handelt; Graf Peter Alexandrowitsch Tolstoi. der im 
November 1807 als Gesandter bei Napoleon ukkreditirt 
worden war, verkehrte fast ausschliesslich im Faubourg 
Saint-Germain, reizte Napoleon durch sein achroffes Be- 
nehmen und warnte Alexander vor dem Tilsiter Freunde. 
Die Missstimmung gegen Alexander trieb die wunder- 
lichsten Blüthen, man sprach selbst von Alexanders Be- 
seitigung, der Admiral Nikolai Ssemenowitsch Mordwinow, 
„der russische Cato*, redete ihm freimüthig ins Gewissen 
und Karamsin bereitete schon seine Denkschrift an Alexan- 
der „Das alte und das neue Russland® vor. Wie Rambaud 
in seiner „Geschichte Russlands“ betont, war die russische 
Literatur der Zeit überwiegend antifranzösisch, Trauer- 
wie Eustspiele, Oden wie Fabeln, Revuen und Tages- 
blätter griffen die Franzosen und die Nachäffung fran- 
zösischer Moden an, der grosse Fabeldichter Iwan Andreje- 
witsch Krylow verhöhnte sie in seinen Lustspielen „Die 
Mädchenschule“ und „Der Modeladen“, Oserow erinnerte 


*) Ludwig ging im November 1807 nach England. 


= 
























der Väter gegen die Fremdherrschaft, Krjukowski feierte 
dieselben in seinem Trauerspiel „Posharski“, beide gleich- 
sam als Hinweis auf baldige neue Kämpfe gegen einen 
fremden Gewalthaber, Wassilii Andrejewitsch Shukowski 
besang die Thaten des russischen Heeres von 1806; viel- 
leicht am leidenschaftlichsten sprach sich Pauls einstiger 
‚Günstling, Graf Rostoptschin, in Brief, Theaterstück und 
Brochure in mustergiltigem Französisch wie in Russisch 
gegen die Pranzosen aus; 1807 erschienen die ironische 
Erzählung „O die Franzosen!“, das Lustspiel „Nachrichten 
oder der lebendige Todte“, sowie anonym das Pamphlet; 
„Laute Gedanken auf der rothen Treppe“: unter Schmäh- 
ungen der französischen Ehrsucht versprach Rostoptschin 
seinen Landsleuten den Sieg, falls sie, ihrer Heldenahnen 
würdig, tapfer fechten würden, dann werde „der Feind, 
der gekommen sei wie ein brüllender Löwe, wie ein 
hungriger Wolf zühnefletschend entfliehen“. Freilich hielten 
die Russen trotz aller Tiraden an ihren französischen 
Gouverneuren und Gouvernanten, Köchen und Friseuren, 
an Pariser Moden und Lastern fost. 

Nach Budbergs Abgang war das auswärtige Amt dem 
bisherigen Handelsminister Grafen Nikolai Petrowitsch 
Rumjanzow, dem Sohne des grossen Sadunaiskii, über- 
tragen worden; Rumjanzow hatte sehon 1806 zum Bunde 
mit Napoleon gerathen und blieb bis zu dessen Sturz im 
Banne seiner gewaltigen Grösse, er schwärmte für Frank- 
reich und verfasste seine offiziellen Erlasse in französischer 
Sprache, aus der sie erst ins Russische übersetzt werden 
mussten, war sehr wenig begabt und unzuverlüssig; er 
wurde zwar 1809 auch Reichskanzler, hatte aber sehr wenig 
Einfluss auf Alexander, der seine Nullität durchschaute. 
Massgebend für die inneren Angelegenheiten wurde der 
Geheimrath M. M. Speranski, von dem wir später aus- 
führlich berichten werden; er konnte als der Erbe des 
Triumvirats Nowossilzow, Stroganow, Czartoryski bezeichnet 
werden und war der allmächtige Universalgehilfe des Zaren, 
Speranski hatte im Gegensatze zu Rostoptschin, Karamsin 
und so vielen Anderen eine grosse Vorliebe für Frank- 


Pan | 


1807 in seinem Dmikri Donskoit ande Helken ia 


ı A u 


IX. Alexander I. 








reich, ‘hatte sich an der französischen Publieistik geschult, 
Montesquieu und Condorcet zu seinen Lieblingen erwählt 
und bewunderte das riesenhafte Genie Napoleons, wie 
dessen legislatorische Begabung, als deren Ausdruck 
der Code Napoldon vorlag. Araktschejew und den Alt- 
russen war der Reformer ein Stein des Anstosses, an 
dessen Beseitigung sie unermüdlich arbeiteten; Araktsche- 
jews Einfluss bei Alexander war im Steigen, seine 
Verbesserungen im Artilleriewesen, welche diese Waffe 
auf die Höhe der französischen hoben, gewannen ihm 
die Anerkennung des Gebieters und er wurde im Januar 
1808 Kriegsminister, um alsbald gegen Schweden zu 
rüsten. 

Als die Briten über das wehrlose Dänemark herfielen 
und Kopenhagen beschossen, bezeichnete Alexander am 
7. September 1807 sämmtliche mit ihnen abgeschlossenen 
Vertrüge als aufgehoben und erklärte ihnen am 6. No- 
vember den Krieg; der Handel litt entsetzlich unter dem- 
selben, im September 1808 fiel die Mittelmeerflotte unter 
Admiral Ssenjawin im Tajo in die Hände der Briten, 
welche die Schiffe erst nach fünf Jahren wieder heraus- 
gaben; während Russland britische Schiffe beschlagnahmte, 
blokirte eine britische Flotte die russische in der Ostsee, 
Weil Schweden keinen Selbstmord begehen wollte und 
der Kontinentalsperre nicht beitrat, überfiel Alexander dies 
Reich; Gustav IV. Adolph hatte dem Schwager in 
beleidigender Weise den St. Wladimir-Orden zurückge- 
schickt, als derselbe mit Napoleon, „dem Thiere der Apo- 
kalypse“, wie Gustav in seiner verdrehten Mystik ihn nannte, 
Freundschaft geschlossen hatte, und war einen Subsidien- 
vertrag mit den Briten eingegangen. Im Februar 1808 rückte 
Graf Buxhöwden ohne Kriegserklärung in Finnland ein, 
in einer Proklamation wurde der Bevölkerung gerathen, 
sich „ihren Freunden und Beschützern“ nicht zu wider- 
setzen, hingegen für den vom Zaren zu berufenden Landtag 
Abgeordnete zu wählen*). Nach zehn Monaten war ganz 
Finnland erobert, im Mai hatte die für uneinnehmbar 


*) Bamband, Geschichte Russlands (s, oben). 




















finnländischen Soldaten im schwedischen unter Be- 
ee man fasste auf den 

In festen Fuss, Fürst Bagration u. A. brachten 
nene Truppen, der Livländer Michail Bogdanowitsch 
Barclay de Tolly führte die ihm unterstellten über 
das Eis des bothnischen Meerbusens in abenteuer 
lichem Wagemuthe nach Schweden. In Stockholm brach 
im März 1809 ein militärischer Aufstand aus, der 
König wurde verhaftet und mit seiner Descendenz des 
Thrones verlustig erklärt, der Thronräuber, sein Oheim, 
bestieg am 6. Juni als Karl XII. den Thron. Der Krieg 
mit Russland endete am 17. September 1809 im Frieden 
von Frederikshamn: Russland erwarb Finnland, _ West- 
bothnien bis zum Torneä und einen Theil der Alands- 
inseln, 5472 Quadratmeilen mit 898500 Seelen. Alexander 
berief den finnländischen Landtag, bestätigte dem Lande 
im Mürz 1809 die alte schwedische Verfassung und die 
Universität in Äbo, die Nikolaus I. im Jahre 1827 nach 
Helsingfors verlegte, wo sie noch blüht; der Landtag 
hatte schon am 29. Februar in Borgä Alexander als 
„Grossfürsten von Finnland“ gehuldigt. 1811 bestätigte er 
das Land als Grossfürstenthum Finnland in den Grenzen, 
die es vor dem Nystädter Frieden von 1721 besessen 
hatte. Obwohl Finnland im Kriege erobertes Land war, 
behauptete es mehr uls jedes andere Gebiet sein politisches 
Sonderdasein, das wohl am besten als Realunion zu be- 
zeichnen ist”); in der Bevölkerung lebte ein starkes 
Heimaths- und Nationalgefühl fort, Finnland erwies sich 
in der Förderung kultureller Aufgaben als Musterland; 
es erfreut sich heute noch grosser administrativer und 
logislativer Vorzüge, geniesst finanziell und militärisch eine 
privilegirte Sonderstellung und 1886 wurde seinen Ständen 
das Recht der Initiative bei der Gesetzgebung von 


zurückgetri 


*) L. Mechelin, Das Staatsrecht des Grossfürstenthnms Finm- 
land, Freiburg 1. Br, 1889; Kleinschmidt, Das rmwische Staatsrecht 
und seine Geschichte (s. oben). 


IX. Alexander 1. y | 


. 1X. Alexander I 20 
Alexander III. zuerkannt. Seit 1809 ist der Kaiserliche 
Senat für Finnland Finnlands höchste administrative und 
riehterliche Behörde, die bis 1826 bestehende finnländische 
Kommission wurde aufgehoben, das Centralorgan der 
höchsten Verwaltung ist der in St. Petersburg wohnende 
Minister-Staatssekretär für Finnland. Auf dem Landtage 
herrschte lange ein durchaus ständischer Geist, von Adel 
und Intherischer Geistlichkeit getragen; Finnland hat auch 
heute sein eigenes Heer und seine eigenen Finanzen. 
Napoleon hatte in Tilsit Alexanders Begehrlichkeit 
nach türkischem Gebiete entzündet, dachte aber nicht 
danach, seine Verheissung erfüllen zu wollen. Während 
Ssenjawin Tenedos genommen und Graf Gudowitsch im 
Juni 1807 am Arpatschai in Armenien den Seraskier von 
Erzerum derart geschlagen hatte, dass er dafür den Feld- 
marschallsstab erhielt, leitete Oberst Guilleminot laut dem 
Tilsiter Frieden die Mediation zwischen Russland und der 
‚Pforte ein und erzielte am 24. August den bis 21. März 1808 
laufenden Waffenstillstand von Slobosia (bei Giurgewo): 
die Russen sollten die Moldau und Walachei binnen 
35 Tagen räumen, die Feindseligkeiten auf asiatischem 
Boden einstellen und die Türken sollten ihre Schiffe 
zurückerhalten. General Casimir Baron Meyendorft, ein 
Balte, ratificirte rasch den Vertrag und begann mit 
der Räumung, wurde jedoch verabschiedet und der Zar 
verweigerte die Ratifikation; er sandte nach den Donau- 
fürstenthümern als Oberbefehlshaber den greisen General- 
feldmarschall Fürsten A. A. Prosorowski, der aber gegen 
die Türken nichts leistete: Sebastiani hetzte den Divan 
gegen Grossbritannien auf, die Russen blieben zwar in den 
Fürstenthümern, konnten aber in den dauernden Besitz 
nicht eintreten, Alexander sah seine Erwartungen auf 
türkische Beute betrogen, war ärgerlich über das vor 
seiner Thür aufgebaute Grossherzogthum Warschau und 
beunruhigt über Napoleons beharrliche Festsetzung in 
Preussen, die denselben zum Herrn des Kontinents machte, 
und wies ihn ab, als er Schlesien als Aequivalent für 
die Fürstenthümer forderte, Napoleon aber brauchte ihn 
und machte ihm neue Versprechungen; er behauptete, mit 








0 IX. Aloxander I. “ 


ee 
Selims III. Tod seien seine Verpflichtungen gegen die 
Pforte erloschen, er könne ihm gegen Mahmud IT. freie 
Hand lassen und lud ihn zu einem in Erfurt abzuhal- 
| tenden Kongresse ein, auf dem sie als Schiedsrichter 
Europas tagen wollten. Der wetterwendische und bei 
allem Misstrauen leichtgläubige Zar war sofort gewonnen; 
auf der Durchreise rieth er dem Königsberger Hofe, 
nachgiebig gegenüber Napoleon zu sein, und war von dem. 
Patriotismus Steins und Schladens unangenehm berührt; 
vergebens mahnten sie ihn, Europas Befreier zu werden, er 
wollte lieber Europas Mitgebieter sein. Begleitet vom Oäsare- 
witsch, von Rumjanzow. Speranski, Fürst A. N. Galitzin 
u, A. traf er im September in Erfurt ein, wo sich ein 
Parterre von Königen um beide Kaiser gruppirte; vier 
Wochen lang redeten Beide Worte der innigsten Freund- 
schaft und eilten von Fest zu Fest, von einander un- 
zertrennlich: dass die Macht auf Napoleons Seite weit mehr 
als auf der Alexanders lag, konnte man nicht unschwer 
erkennen. Alexander that nichts zur Milderung der aber- 
mals erschwerten Lage Preussens, sein Augenmerk rich- 
tete sich nur auf die Türkei, wie Napoleon hauptsächlich 
auf Spanien abzielte; auf Napoleons Wunsch schickte der 
Zar den Fürsten Kurakin in besonderer Mission nach Wien, 
um dort die Anerkennung von Napoleons Bruder Joseph 
als König von Spanien zu erwirken, that auch ver- 
mittelnde Schritte zum Frieden bei dem britischen Kabinete: 
trotz aller Gefülligkeit aber versagte er Napoleon die 
Hand seiner Schwester Katharina in der Form, dass er 
ihn mit seinem Begehren an die Kaiserin-Wittwe Maria 
Fedorowna, seine Feindin, wies. Am 12. Oktober unter- 
zeichneten Champagny. der französische Minister des 
Aeusseren, und Rumjanzow in Erfurt einen Vertrag, der 
das Tilsiter Bündniss erneute; Russland und Frankreich 
versprachen einander, nur gemeinsam auf der Basis des 
uti possidetis Frieden mit ihren Feinden zu machen, d. h. 
für Russland die Anerkennung des Eigenthumsrechts an 
Moldau, Walachei und Finnland, für Frankreich die An- 
erkennung der neuen Verhältnisse in Spanien; da Gross- 
britannien diese Anerkennung niemals gewähren würde, 


IX. Alezander I 


2 ee een wen 
mit den Briten zu verwickeln. Insgeheim verahredeten die 

Kaiser, sie wollten bei der Pforte gemeinsam unterhandeln; 
im Gegensatze zu Alexanders Hoffnungen musste er jetzt 
mit Napoleon der Pforte ihren ganzen Besitzstand mit Aus- 
nahme der Donaufürstenthümer garantiren; im Falle 
eines Kriegs Oesterreichs mit Napoleon sollte Alexander 
Letzterem, im Falle des Anschlusses Oesterreichs an die 
Türkei gegen Russland Napoleon Alexander helfen. Alexan- 
der erkannte Joseph als König von Spanien an, erwirkte 


Napoleons Wunsch berief er Tolstoi von Paris ab und 
ersetzte ihn durch den früheren Reichsvicekanzler Fürsten 
Kurakin, einen Anhänger der Kontinentalsperre und der 
engen Allianz beider Höfe. Am 14. Oktober schied Ale- 
xander von seinem Wirthe Napoleon, dem Auscheine nach 
befreundeter als je, im Inneren aber voll Misstrauens und 
Aergers, von Napoleons Unaufrichtigkeit überzeugt; er 
hatte wiederum Konstantinopel nicht erlangt; „den 
Schlüssel, der die Thür zu seinem Hause öffnen sollte*, 
hatte man ihm nicht gegeben. Auf seinen Befehl hin 
verschaffte ihm bald darauf Kurakin auf dem Woge dor 
Bestechung Kopien von Napoleons geheimen Plänen; aus 
diesen ersah er, dass Napoleon nicht rasten würde, bie 
Russland, „der natürliche Gegner Frankreichs, der natürliche 
Allürte Oesterreichs", allen Einfluss auf die Gebiete diesseit« 
der Düna und des Dnjepr verloren habe und bis os nicht 
mehr die Herrschaft Frankreichs im Mittelmeore gefährde, 
Oesterreich gegen Frankreich aufstachele, in Polen, 
Schweden, Türkei und Deutschland nach der gehiotenden 
Rolle strebe und Preussen Hilfe biete. Trotz dieser Ent- 
hüllungen harrte Alexander auf Napoleons Seite aus und 
trotzte der antifranzösischen Meinung seines Volkes. 
Vergebens bemühte sich Friedrich Wilhelm IIl., der im 
December 1808 bei Alexander als Gast weilte, ihn für eine 
Defensiv-Tripelallianz mit ihm und Kaiser Franz I, zu 
gewinnen; Alexander verrieth ihm, er sei verpflichtet, 
Napoleon bei einem Kriege gegen Oesterreich zu unter- 


1 





wo IX. Alexander I. 








stützen, und rieth ihm, denselben Weg einzuschlagen, was 
der König ablehnte, Im Jahre 1809 wies Alexander das 
Ansinnen des Botschafters Fürsten Schwarzenberg, als 
Oesterreichs Allüürter mit in den Krieg gegen Napoleon 
zu ziehen, zwar zurück, war aber weit entfernt, die Ver- 
nichtung Oesterreichs zu wünschen, und sagte bedauernd 
zu Schwarzenberg, er müsse leider seinem Versprechen 
gemäss für Napoleon fechten; Schwarzenberg entnahm 
der Haltung des Zaren, derselbe werde eventuell nur 
einen Scheinkrieg führen, und so kam es wirklich, Der 
General Fürst Ssergei Fedorowitsch Galitzin®) führte im 
Mai 1809 32000 Mann nach Galizien, wich aber nach 
besten Kräften dem Zusammenstosse mit den Oester- 
reichern aus, hielt sich von den verbündeten Truppen des 
Warschauer Staates unter Poniatowski und Dombrowaki 
möglichst fern und beobachtete Polen weit mehr als 
Oesterreich, mit den Polen beständig in Misshelligkeit: er 
rieth Alexander, Napoleons polnischen Umtrieben ent- 
gegen zu treten und sich als Wiederhersteller Polens zu 
manifestiren, doch fürchtete der Zar die Unbeständigkeit 
der Polen und die üble Einwirkung auf Litauen, Ale- 
xander war höchst unzufrieden mit den Abmachungen des 
Wiener Friedens vom 14. Oktober 1809, der das Gross- 
herzogthum Warschau so sehr verstärkte, liess sich aber 
ala Miethling Napoleons den galizischen Kreis Tarnopol 
mit 400000 Seelen abtreten. 

Russland wäre aus dem Türkenkriege gern aus- 
geschieden, wenn es eine sichere Beute davon getragen 
hätte; vorerst hatte man aber nur vage Versprechungen 
erhalten. Die Briten, die mit Mahmud II. Frieden ge- 
schlossen hatten, und die Oesterreicher riethen ihm zur 
Verwerfung der russischen Forderungen, Mahmud fasste 
frischen Muth und der Krieg begann von neuem; trotz 
alles Drängens des Zaren leistete Fürst Prosorowki 
nichts, nach seinem Tode führte Fürst Bagration interi- 
mistisch den Oberbefehl, eroberte eine Reihe Festungen 


*) Gönner des Dichters Krylow, der längere Zeit bei ihm lebte 
und seine Kinder unterrichtete, 


IX. Alexander I. 259 


an der Donau, wurde aber vom Grossvezier bei Tartaritza 
geschlagen; im Februar 1810 ersetzte ihn der jugendliche 
Graf Nikolai Michailowitsch Kamenski, in dem Alexander 
den ersten Feldheren Russlands sah, ein ebenso ver- 
wegener wie jeder Menschenkenntniss entbehrender, un- 
mässig arroganter Mann, aber alle in ihn gesetzten exor- 
bitanten Erwartungen schrumpften zu dem einen Siege von 
Batyn (7. September 1810) zusammen. Da der Bruch 
mit Napoleon jetzt schon zu erwarten war, rief der Zar 
Kamenski ab, um ihm die zweite Armee gegen diesen zu 
übergeben, da starb Kamenski im Mai 1811. Sein Nach- 
folger, der bedächtige und vorsichtige Michail Ilariono- 
witsch Golenischtschew-Kutusow, einst Ssuworows rechter 
Arm. war vom Glücke ungemein begünstigt, schlug den 
Feind wiederholt, jagte den Grossvezier am 13, Oktober 
in die Flucht, nahm ihn mit einem Theile seiner Armee 
am 8. December auf dem linken Donauufer gefungen und 
vernichtete die Truppen auf dem rechten Ufer*), begann 
dann Friedensverhandlungen mit der Pforte und zog sie 
auf heimlichen Ratlı des Reichskanzlers in die Länge, 
um seine Truppen nicht zu frühe gegen Napoleon ver- 
wendbar werden zu lassen; hierüber war der Zar ärgerlich 
und ernannte anstatt seiner den wackeren Admiral Paul 
Wassiljewitsch Tschitschagow zum Oberbefehlshaber. Be- 
vor derselbe den Öberbefehl antreten konnte, wollte 
Golenischtschew-Kutusow den Feldzug zu Ende führen: 
er belehrte die türkischen Bevollmächtigten darüber, dass 
Napoleon dem Zaren die Theilung der Türkei angebotenhabe, 
auch die Briten riethen den Türken zum Frieden und so 
wurde derselbe in Bukarest am 28. Mai 1812 abgeschlossen: 
Russland, das auf die Donaufürstenthümer verzichtete, er- 
hielt Bessarabien mit den Festungen Chotin und Bender, 
der Pruth bildete von seinem Eintritte in die Moldau bis 
zur Mündung in die Donau die Grenze zwischen Russland 
und der Türkei; es war eine Erwerbung von etwa 
880 Quadratmeilen, vorläufig im Südwesten die letzte auf 


*") Er warde hierfür Graf, am 10, August 1812 nach dem Frieden 
von Bukarest Fürst mit dem Prädikate „Durchlaucht“, 











und einfahren und die ganze Donau beschiffen, russische 
Kriegsschiffe nur bis zur Mündung des Pruth die Donau 
befahren. Tschitschagows Sehnsucht, noch vor der Rati- 
fikation des Friedens nach Konstantinopel marschiren zu 
dürfen, blieb ungestillt. Dem Friedensschlusse mit Schwe- 
den war am 8. April 1812 ein Bündniss mit diesem Staate 
gefolgt, in dem ihm Alexander als Ersatz für Finnland 
das dänische Norwegen versprach, und der Friede von 
Gulistan beendete am 12. Oktober 1813 den langen Krieg 
mit Persien: Russland erwarb dauernd Daghestan und 
Schirwan. Wir wollen hier noch erwähnen, dass im Jahre 
1821 die Russen Alaska, die Nordwestküste von Nord- 
amerika, welche eine russisch-amerikanische Pelzkompagnie 
schon 1799 besetzt hatte, zu ihrem Rigenthum erklärten; im 
Jahre 1867 verkaufte Alexander Il, Alaska für 7200000 Dol- 
lars an die Vereinigten Staaten von Nordamerika. 


Vom ersten Tage seiner Regierung an hatte Alexander I, 
im Inneren seines Reiches reformirt, hatte sich mit wahrer 
Heissblütigkeit auf Reformen gestürzt; er erklärte, die 
Gewalt sei nur dann reehtmässig, wenn sie aus dem 
Gesetze herrühre, hob „die geheime Expedition auf, 
welche, ohne einem Gesetze zu unterstehen, ohne allen 
Beweis Verdächtige nach Sibirien, in die Kasematten oder 
nach entfernten Gütern senden durfte, verbot das Quälen 
der Angeklagten und die sogenannten „schonungslosen“ 
Strafen, liess die von Paul errichteten zahlreichen Galgen 
mit den Namen der kriminalrechtlich Verurtheilten fallen, 
befreite Priester und Kirchendiener, Edelleute und Gilde- 
mitglieder von körperlicher Züchtigung. Bücher- und 
Zeitungseensur wurde gemildert, man durfte nach Belieben 
ausländische Bücher einführen und nur ausnahmsweise 
kam eines auf den Index, die von Paul geschlossenen 
nichtstaatlichen Pressen wurden wieder geöffnet: wie Pauls 
abgeschmackte Kleiderordnung, wurde das Verbot des 
Fremdenverkehrs nach Russland und des Reisens der 
Russen in das Ausland beseitigt, Alle Verwaltungschefs 


Pa 


IX. Alexander I, 25 


mussten dem Kaiser specificirte Rechenschaftsberichte ein- 
liefern, die er drucken liess. die Steuern wurden ermüssigt, 
die Ausgaben des Hofhalts beschränkt. Alle Produkte des 
Reichs sollten ungehinderte Ausfuhr geniessen, sobald sie 
einen Zoll gezahlt hatten, Dem Adel und den Munieipali- 
täten wurden alle Vorrechte bestätigt. 

Die Frage von der Aufhebung der Leibeigenschaft 
stand auf der Tagesordnung, so lange Alexander regierte; 
Speranski zumal begünstigte sie. Alexanders Beschluss, 
ferner keine „Seelen“ mehr zu verleihen, und sein Verbot, 
freie Leute zu Leibeigenen zu machen, stellte die Lage der 
Kronbauern sicher und jährlich sollte die Krone für eine 
Million Rubel Land mit Leibeigenen kaufen; im Februar 1803 
bestätigte ein kuiserlicher Ukas die zwischen Gutsbesitzern 
und Leibeigenen freiwillig abgeschlossenen’ Befreiungsver- 
träge. Der Zar und die wenigen für die Befreiung der Bauern 
Eingenommenen dachten an Befreiung nur ohne Bewilligung 
von Grund und Boden, sie erreichten nichts; unter ihnen 
war derselbe Fürst Alexander Ssergejewitsch Menschikow, 
der sich unter Nikolaus und Alexander II, weiter gehenden 
Bestrebungen widersetzen sollte. Sehr abweisend äusserte 
sich der Minister und Admiral Alexander Ssemenowitsch 
Schischkow, und Rostoptschin schrieb auf die Kunde hin, 
Graf Ssergei Petrowitsch Rumjanzow, der jüngere Bruder 
des Reichskunzlers, lasse seine Leibeigenen freie Acker- 
bauern werden *), höhnend dem Fürsten Zizianow: „Gewiss 
hat Rumjanzow Lust, entweder zum vierten Male in Dienst 
zu treten oder zwei Ellen blauen Bandes**) zu erhalten. 
Doch ach! — er ist mit einer Tabuksdose nbgelohnt! Du 
kannst Dir selbst vorstellen, welche Aufregung dies alles 
in Moskau erzeugte: ja die Abendbetstunden hörten auf, 
weil die Vorleser den neuen Retter des Menschen- 
geschlechts, d.h. Ssergei Petrowitsch, ausschimpften“ ***). 
Dershawin und Karamsin waren entschiedene Gegner der 


*) Er bot ihnen die Freiheit an, wenn sie ihm die Ascker ab- 
kaufen wollten, und zerfiel darliber mit seinen Standesgenossen. 

**) Dar St, Andreas-Orden wird am blanen Bande getragen. 

=*+) Memoiren des Senators Ssolowjew in „Russkaja Starinn“, 
1880 und 1881. 








interessirte sie zwar sehr, doch begriff 
unbedingt A sein solle, 

‚Jahre 1818 die allmälige Befreiung der Bene 
‚sönlichem Loskaufe vor, nach dem Alter der Loszı 
sollte das Muss des Loskaufs vom 2. bis 40, L 
proportionell erhöht und vom 40. bis 60. Le 
proportionell herabgesetzt, Kinder unter zwei Ji 
Greise über 60 Jahren sollten en 

winow setzte für den persönlichen Loskauf sehr hohe Preise: 

für ein Kind vom zweiten bis fünften Jahre 100 Rubel, 
für Erwachsene von 30 bis 40 Jahren 2000 Rubel, für 
solche von 50 bis 60 Jahren 500 Rubel; nur sehr 
| Bauernfamilien, vielleicht 100 in ganz Russland, 
| solche Preise bezahlen. an 10000 Rubel für Thron Doakaaf | 
opfern können. Fürst Menschikow (s. oben), Graf Michail | 
Ssemenowitsch Woronzow und die Brüder Nikolai und | 
Alexander Iwanowitsch Turgenjew unterzeichneten ein 
Schreiben, es möge sieh eine dem Ministerium des Inneren 
zu unterstellende Gesellschaft zum Zwecke der allmäligen 
Befreiung der Bauern von der Leibeigenschaft bilden, 
dasselbe gelangte 1820 an Alexander L Ks blieb aber 
auch unter ihm meist beim Alten. Pauls Verbot, Leib- 
eigene zur Versteigerung auszubieten und die Familien- 
glieder somit auseinander zu reissen, wurde erneut, trotz- 
dem aber fanden, wie N. 1. Turgenjew versichert, fast 
unter den Fenstern des kaiserlichen Palastes derartige 
Versteigerungen stutt. 1823 wurde der Verkauf von 
„Seelen“ ohne das Land untersagt. Die Krone sollte 
| fortan keine „Seelen“ mehr zum I,ohne geleisteter Dienste 
verschenken, die Kaufleute sollten keine Leibeigenen be- 















sitzen dürfen, dies Recht kam nur dem Adel zu, hingegen 
durften die Kaufleute Landbesitz erwerben, die Domänen- 


| Fa \ 4 


— 


bauern durften gegen Entrichtung von Grundzins das { 
Gleiche, beide ohne Leibeigene. Durch freiwilligen Be- ) 
schluss gaben die Ritterschaften von Esthland, Kurland 

und Livland 1816, 1818 und 1819 ihre Leibeigenen frei, 

was Alexander bestätigte. Schon 1804 hatte der ein- 

sichtige Adel Livlands ein Statut geschaffen, welches den 

Bauern ein gewisses Anrecht an den Grund und Boden 

in der Weise zusprach, dass die von jedem Bauernhofe 

zu leistende- Frohnde fest bestimmt und dem Bauern in 

gewissen Grenzen ein erbliches Nutzungsrecht an seinem 

Hofe zugesichert wurde; seit der Aufhebung der Leib- 

eigenschaft wurde der persönlich befreite Bauer Frohn- 

arbeiter und aller Grund und Boden blieb den Herren, 

die Bauern erhielten kein Land, mussten vielmehr das 

Herrenland als Pächter oder Tagelöhner bebauen; im 

Ganzen blieb das Verhältaiss von Gutsherrn und Bauern 
befriedigend. x 

Sehr milde behandelte Alexanders Regierung die 
Raskolniks; nachdem die bisher verfolgten Duchoborzen 
ein eingehendes Glaubensbekenntniss eingereicht hatten, 
gewährte Alexander ihnen Duldung und siedelte sie in 
Taurien an, von wo sie Nikolaus im Jahre 1841, 3000 an 
Zahl, nach einem Hochplateau in Transkaukasien überführte. 
Der Öberprokureur der heiligen Synode, Fürst Alexander 
Nikolajewitsch Galitzin, begünstigte geradezu das mystische 
Treiben der Sektirer, besuchte ihre excentrischen Versamm- 
lungen und machte Propaganda für die mystische Literatur 
in Russland, zumal so lange er Minister der Volksauf- 
klärung war. 

Alexander beschäftigte sich eingehend mit Mann- 
faktur und Handel xeines Reichs, der freilich durch den 
blinden Anschluss an Napoleon und die Kontinentalsperre 
schwer litt. Er erliess ein Reglement für die Seefahrt, 
frug häufig den alten J. J. Sievers (s. oben) um Rath, 
was uch Sievers’ Nachfolger als Generaldirektor aller 
Wasserverbindungen, der nachmalige Reichskanzler Graf 
Rumjanzow. zu tlun pflegte, gab im Juni 1804 dem die 
Msta und den Wolchow verbindenden Kanale den Namen 
„Sievers-Kanal“ und schuf manchen neuen Wasserweg: 

A. Kieinsehmidt, Usberbl. d russ. Gesch. u. Inos, 17 


IX. Alexander I. 








IX. Alexander T. au 


im Südosten der Beringsstrasse und kehrte 1818 heim, 
worauf Rumjanzow seine Reisebeschreibung mit Karten 
1821 auf eigene Kosten drucken liess; 1823—1826 machte 
Kotzebue seine dritte Weltreise (die erste als Seekadet 
unter Krusenstern) und besuchte in erster Linie die Süd- 
see, In Rumjanzows Aufteag untersuchte der Archäologe 
Strojew in den Jahren 1817—20 das Innere Russlands, 
Rumjanzow reiste selbst in gleicher Absicht und entdeckte 
bei Orscha das Grab eines Rurikiden; die Leidenschaft 
nach Alterthümern war seine einzige und sie war, wie er 
selbst sagte, ungefährlich. Er sandte Ricord, dem Be- 
fehlshaber in Kamtschatka, Gelder, um diejenigen Tschuk- 
tschen zu belohnen, welche im Norden der Beringsstrasse 
lokale Forschungen vornehmen würden, und gab 1819 
Summen zur ersten Reise der Benmten in Alaska. 

Das russische Unterrichtswesen stand noch auf niederer 
Stufe, Alexander theilte das Reich in sechs Schulbezirke 
(St. Petersburg, Moskau, Dorpat, Charkow, Kasan und 
Wilna), an deren Spitze ein Kurator (popetschitel), betraut 
mit der Sorge für das Schulwesen, stand; meist waren 
es sehr angesehene Persönlichkeiten, z. B. in Wilna Fürst 
Ozartoryski und seit 1824 Nowossilzow, in Moskau Fürst 
Galitzin. Die Normalschulen wurden theilweise nach 
Bell-Lancasterschem Systeme eingerichtet, man schuf Be- 
zirksschulen und Gymnasien *). geistliche Schulen, denen 
man als Einkünfte den Ertrag aus dem ausschliessliehen 
Verkaufe der Kerzen in den Kirchen überwies**), man re- 
formirte die geistlichen Akademien und Seminare, obwohl 
viele Pfaffen es mit scheelen Augen ansahen. Die Uni- 
versitäten in Moskau, Wilna und Dorpat wurden völlig 
erneuert; Paul. der Wiederhersteller der alten Verfassung 
der Ostseeprovinzen, hatte schon die Wiederherstellung 
der 1710 in Pernau erloschenen, einst »0 berühmten Uni- 
versität Gustav Adolphs 1798 in Angriff genommen, Alexan- 
der bestätigte seine Verfügungen und im April 1802 wurde 
die Universität Dorpat eröffnet, wofür Graf J. J. Sievers 


*) In Odessa entstand das Richelien-Lyerum. 
*") Rambaud, Geschichte Russlands, 











IX. Alexander I. So 





Kotschubeis, hinter dem Speranski stand, ein Ukas die 
kollegialen Einrichtungen am Ministerium des Innern; da 
Kotschubeis Motive auf sämmtliche Kollegien anwend- 
bar waren, erfolgte allmälig die Aufhebung aller. Zum 
Kriegsminister ernannte Alexander den General der 
Infanterie Ssergei Kusmitsch Wjasmitinow, einen Mann 
ohne Talent, ohne Initiative und ohne Einfluss, der den | 
Vortrag bei Alexander meist dem Grafen Karl A. Lieven | 
überliess*); Marineminister wurde der Admiral Nikolai 
Ssemenowitsch Mordwinow, ein hervorragender Arbeiter 
und. vortrefflicher Mensch, den aber Tschitschagow und 
die eigene scharfe Zunge schon nach drei Monaten ver- 
drängten. Die auswärtigen Angelegenheiten fielen mit 
dem Amte des Reichskanzlers dem Grafen Alexander 
Romanowitsch Woronzow zu, der sich meist nach den 
Wünschen Ozartoryskis riehtete**). Das Ministerium des 
Inneren, das durch Ukas vom 30. Juni 1804 in drei De- 
partements getheilt wurde, kam an den Grafen Viktor 
Pawlowitsch Kotschubei, unter den Ministern von 1802 
den einzigen persönlichen Vertrauten des Zaren; Justiz- 
minister wurde der Dichter Dershawin, ein sehr schlechter 
Jurist, der von Nowossilzow geleitet ward, Finanzıninister 
der Grossschutzmeister Graf Alexei Iwanowitsch Wassiljew, 
ein Mann von unsträflichem Charakter. Graf Nikolai 
Petrowitsch Rumjanzow übernahm das Portefeuille des 
Handels, unter ihm war der Wucher der Handelsbeamten 
ein öffentliches Geheimniss, er liess sie rauben und ver- 
mehrte selbst sorglich sein grosses Vermögen ***); er hob 
den Handel am Schwarzen Meere, belebte den Verkehr 
in In- und Ausland und gründete in St. Petersburg eime 
Schule für Schiffbau. Das Ministerium der Volksaufklärung 


*) Im Januar 1808 ersetzte ihn Araktschejew, im August 1818 
wurde Wjasmitinow Graf, er starb im Oktober 1819. 

**) Woronzow war sehr konservativ und für den alten Kollegial- 
charakter der Verwaltung eingenommen; auch sprach er bei der Re- 
organisation des Senats wie Troschtschinski für die Wiederverleihung 
seiner alten Machtstellung. Er legte 1804 seine Aemter nieder. 

"=, Schiemann, Kaiser Alexander Pawlowitsch und sein Hof 
1804, in „Russkaja Starina*, Dezember 1880, 









kanzler Graf Rumjanzow müsste präsidiren ; so 
Ministercomit4 ein besonderes Tribunal, was viel 
hervorrief, Karamsin, Troschtschinski u. A. äusserten 
unverhohlen und Speranski wollte die Abschaffung 
Comitös; nun übertrug eine kaiserliche Instruktion 
%. Juli 1811 an die Minister die dem Ministereomit& zu- 
stehenden Dinge dem Senate und man sprach nieht mehr 
vom Comitö, so lange Speranski am Ruder war. Die In- 
struktion vom 7, Juli, sein Werk, gab den Ministerien die 
Organisation, die sie im Ganzen noch haben; an der Spitze 
jedes Ministeriums steht ein vom Kaiser unmittelbar er- | 
nannter Minister, der die ganze Macht der Verwaltung in 
sich concentrirt, neben ihm sehen wir einen oder mehrere 
Adjunkten, Departements und Kanzleien; an den Ministerien 
wurde ein Rath des betr. Ministers ete. eingeführt. Die 
Minister wurden verantwortlich und ihre Zahl später vermehrt, | 
Alexander I. restaurirte den Senat, den Paul nur als 
obersten Gerichtshof belassen hatte, an der Spitze der Ver- | 
waltung, beschränkte ilın aber auf die Rolle als „Bewahrer 
der Gesetze“; da die aktive Verwaltung 1802 an die Mini- | 
sterien kam, so musste sich der Senat mit der Verw: 
justiz begnügen; seine Initiative wurde lahm gelegt. die 
Minister wurden von ihm unabhängig, er spielte nur als 
höchster Gerichtshof des Reiches eine hervorragende Rolle, 


9) In selnar Sagen zeitweilig Boüffeur am | St. Peterabungen 
Hoftheater, 
**) Von ihm später. 









IX. Alexander I, Ei 


Bumjanzows Antrag, den Senat in eine oberste Re- 
gierungs- und in eine oberste Justizkummer zu trennen, 
fand keinen Anklang, 1864 aber kam man darauf zurück. 
Laut Ukas vom 20, September 1802, der noch heute den 
Boden der Senatsverfassung bildet, erhielt der Senat die 
Funktion der Aufsicht, seine Ukase werden als Ukase 
der souveränen Gewalt ausgeführt, er muss aber streng 
nach dem Gesetze entscheiden und der Kaiser kann den 
Willen des Senats anhalten; der Senat fungiert nie in 
corpore, keine allgemeine Senatsversammlung existirt, der 
Senat repräsentirt nur die Vereinigung einiger ganz 
isolirten Kollegien, die in besondere Departements und 
in allgemeine Versammlungen zerfallen *). 

Alexander wollte eine besondere Institution schaffen, 
die ihn bei der Gesetzgebung berathen sollte, und be- 
stimmte durch die Instruktion (nakas) vom 17. April 1801 
die Kompetenz, die Organisation und den Geschäftsgang 
des Reichsraths; derselbe sollte sich nur mit Angelegen- 
heiten der Gesetzgebung beschäftigen, doch konnten auf 
kaiserliche Ordre hin auch richterliche Angelegenheiten 
an ihn gebracht werden, ja seit 1804 beschäftigte er sich 
fast ausschliesslich mit letzteren. Dies änderte sich, als 
Speranski mit seinem Plane einer das ganze Btaatswesen 
umfassenden Reorganisation hervortrat. Speranski dachte 
sich den Reichsrath nicht als spezielles Organ der Gesetz- 
gebung, sondern als die allgemeine Ooncentrirung sämmt- 
licher Funktionen der höchsten Verwaltung, als den Lenker 
der Regierung; der Reichsrath, gewissermassen der Anfang 
der Reorganisation des ganzen Systems, sollte die Gesetz- 
gebungsfunktionen einem Staatsrathe abtreten und selbat 
die Regierung führen, Regierungsrath werden. Doch kam 
es nicht so weit**). Als der Reichsrath Neujahr 1810 
reorganisirt war, bildete er lediglich ein spezielles 
Organ für Gesetzgebung, in ihm coneentrirte sich die 
Funktion der Gesetzgebung. Als Institution, um dem 
Kaiser zur Ausführung seiner Regierungsfunktionen an 





*) Korkunow, Russisches Staatsrecht (s. oben), 
®"*) Korkunow (ebenda). 














kaiserliche Ernennung Mitglieder des R 
Minister, die, so lange sie Minister sind, 
können ju jeden Augenblick von dem 
lassen werden; der Kaiser kann Jedermann in den 
rath berufen, doch rekrutirt sich derselbe stets 
Grossfürsten, dem Adel und den höchsten w. 
Würdenträgern, fast immer aus Staatsdienern, und nie war 
ein orthodoxer Geistlicher darin; sehr oft wurde der 
Reichsrath zur Versorgungsanstalt verabschiedeter Grössen 
des Staatsdienstes. Die Zahl der Mitglieder ist unbestimmt, 
im Jahre 1810 betrug sie 35, später im Durchschnitte 
doppelt so viel und mehr, der Gothaer Hofkalender von 
1898 giebt als heutigen Stand mit Ausnahme einiger 
Grossfürsten und aller Minister 59 an, weit mehr Ciyilisten 
als Militärs; der Kaiser ist Präsident des Reichsraths, er- 
nennt aber einen an seiner Stelle Präsidirenden. Der 
Reichsrath besteht aus dem Plenum, dem der Kaiser oder 
sein Vertreter präsidirt, und den Departements, die ihre 
eigenen Präsidenten haben; solcher Departements giebt 
es zwar vier, jedoch fungiren nur drei: @ 

Civil- und geistliche Angelegenheiten und Reichsökonomie, 
das für Militärsachen ruht. Zum Geschüftskreise des 
Reichsraths gehört die Herausgabe der allgemeinen und 
der besonderen Gesetze, die Zusammenstellung des Ver- 
zeichnisses der Staatseinnahmen und Staatsausgaben und 
ihre Prüfung. die Betreibung gerichtlicher Untersuchungen 
und die Uebergabe an das Gericht bei Schuldigen aus 
den drei höchsten Rangklassen. Nominell kam dem 
‚Reichsrathe auch das Recht der Mitwirkung bei Kriegs- 
lürungen, Friedensschlüssen, allgemeinen inneren Mass- 


dam 



















IX. Alexander I. E3 


regeln in ausserordentlichen Fällen und in pressanter Aus- 
führung der bestehenden Gesetze zu. doch hatte er that- 
sächlich damit nichts zu thun; hingegen stehen ihm noch 
einige gerichtliche Funktionen zu, er ist die höchste 
Gerichtsinstanz für Dinge, die aus den allgemeinen Senats- 
versammlungen an ihn gelangen; auch unterliegen ihm 
alle Dinge, die ihın der Kaiser speziell überträgt, und in 
ihm eoncentriren sich alle Finanzgeschäfte des Reichs. 
So blieb es bis zur Gerichts-Reorganisation von 1864 
(s. unten). Zur Abfassung der Gesetze stellte Alexander 
1810 neben den Reichsrath eine besondere Kommission. 
die Nikolaus 1826 aufhob, um ihre Geschäfte der neu 
errichteten zweiten Abtheilung der kaiserlichen Privat- 
kanzlei zu übertragen*). Auch bestehen am Reichsrathe 
ein Spezialcomit6 zur Prüfung der Beschwerden über die 
von den Departements des Senats gefüllten Entschliessungen 
und die Reichskanzlei unter dem hochwichtigen Reichs- 
sekretär, Als Alexander I. am 13. Januar 1810, d.h. zu 
Neujahr, den Reichsrath eröffnete, betonte er in einer von 
Speranski*®) entworfenen Rede als sein höchstes Ziel, 
die Wohlfahrt seines Reiches möge auf gesetzlicher Grund- 
lage beruhen, und pries den köstlichen Segen guter Ge- 
setze für ein Land. Die Schöpfung des Reichsraths war 
ein merkwürdiger Akt, sie bedeutete einen Schritt aus 
der Selbstherrschaft zur wahren Monarchie hin, der Kaiser 
aber, der diesen Schritt vollzog, war unzuverlässig; „er that 
alles, was er that, nur halb; zu schwach zum Regieren, war 
er doch zu stark, um sich regieren zu lassen“ ***), 

Wer war denn Speranskif). der mit der Wünschel- 


*) Am d. Februar 1882 wurde aus dieser die neben dem Reichs- 
rathe stehende Kodilikationsabtheilung, die der Kaiser ausschliesslich 
mit der Vorbereitung von Ergänzungen und neuen Ausgaben des Sswod 
und mit der chronologisch geordneten Herausgabe der gesammten 
Gesetzsammlung seit 1649 betraute, 

**) Speranski erhielt: an diesem Tage den neuen Posten des 
Reichssckretärs, 

*") N. K. Schilder, Kaiser Alexander I., sein Leben und seine 
Regierung, Bd. 3, St. Petersburg 1897. 

%) Kleinschmidt, Graf Speranski, in „Beilage zur Allgemeinen 


Zeitung“, München 1848, 





206 IX. Alexander I. 





ruthe ein neues Russland schaffen wollte? Eines Dorf- 
popen Sohn, genoss Michail Michnilowitsch Speranski 
die geringe Bildung einer Priesterschule, lehrte dann 
Mathemathik, Plıysik und Philosophie am Seminare des St. 
Alexander-Newski-Klosters, verliess aber den ihm nicht 
zusagenden geistlichen Stand und ging als dritter Privat- 
sekretär zu dem Generalprokureur des Senats, dem Fürsten 
Kurakin (s. oben), in dessen Kanzlei er buld der beste 
Arbeiter war. Er wurde die rechte Hand des Staats- 
sekretärs Troschtschinski, Abtheilungsvorstand des Ministers 
des Innern, Grafen Kotschubei, Staatssekretär und Sekretär 
am Reichsrathe. Mehr und mehr gewann er das Ver- 
trauen Alexanders, dem er geradezu unentbehrlich wurde, 
war seit 1807 sein Universalgehilfe und wurde in Erfurt 
von Nupoleon ungemein ausgezeichnet; er besass nicht 
nur eine Arbeitskraft, die keine Rast und keine Ermüdung 
kannte, sondern vor allem einen staatsmännischen Blick 
wie kein zweiter Mann in ganz Russland, eine rasche Auf- 
fassungsgabe, die Intuition des Genies. Ein Freund Frank- 
reichs und ein Bewunderer der sozialen und rechtlichen 
Verhältnisse, die aus der Revolution von 1789 geboren 
worden, studirte er neben Montesquieu und Condorcet die 
Verfassungsarbeiten des unermüdlichen Metaphysikers der 
Revolution, des Abb6 Sieyös, und die Schöpfungen Na- 
poleons auf juristischem Gebiete. Speranski war die 
treibende Kraft bei der Einrichtung der Ministerien, wie 
wir oben zeigten, Speranski arbeitete mit an der Neu- 
gestaltung des Senats, und sein Projekt erlangte im 
Reichsrathe die Mehrheit, wurde aber jetzt und auch 
nach einer neuen Prüfung unter Nikolaus nicht aus- 
geführt, Speranski war der Vater des Gedankens, das 
ganze Stantswesen umzuformen, Speranski schuf den 
Reichsrath und wurde zu Neujahr 1810 der erste Reichs- 
sekretär; sein Ansehen im Reichsrathe war so gross, dass 
sich kein Minister setzte, bevor Speranski zur Sitzung 
erschienen war; er schaltete de facto ohne den Titel als 
erster Minister ®). 


*) Ungedruckte weastfüllsche Geaandtachaftsberichte, 





neue Frankreich vor seiner Seele stand; ihm fehlten zwar 
tiefgehende Kenntnisse in Staats- und Volkswirthschaft, 
trotzdem ging er an die Reorganisation der Finanzen, 
von Fachleuten unterstützt, und operirte seit 1810 mit 
Geschick; er setzte einen Theil des alles überschwemmenden 
Papiergeldes ausser Cours, führte einen Tilgungsfonds ins 
Leben, stellte das Budget fest, sprach für die Einführung 
neuer Steuern zum Zwecke der Bürgschaft und für die 
Veröffentlichung der Einnahmen und Ausgaben, Als Leiter 
der Verwaltung im Grossfürstenthum Finnland und als 
Kurator der Universität Äbo trat er für die finnländischen 
Sonderrechte warm ein; auf die Hebung des Unterrichts 
in ganz Russland legte er hohen Werth; er breitete die 
Bekanntschaft mit den klassischen Sprachen weiter aus, 
reorganisirte die Priesterschulen und 1809 die geistliche 
Akademie in St. Petersburg, deren Schüler er gewesen 
war, und sorgte für die Erhöhung des Schulfonds. Vor 
allem beschäftigte ihn der Wunsch, an die Stelle der 
Gesetzlosigkeit hei tausend Gesetzen eine möglichst ein- 
fache und doch allumfassende Gesetzgebung und volle 
Sicherheit des Rechts zu setzen; er sah im Code Napoldon 
(den höchsten Ausdruck fortschrittlicher Gesetzgebung, trat 
mit französischen Juristen in Verbindung, und der 1809 
von ihm als Präsidenten der Gesetzgebungskommission 
veranlasste Entwurf eines Oivilgesetzbuchs verräth grosse 
Abhängigkeit vom Code*). Um letzterem überhaupt die 
Möglichkeit der Anpassung auf Russland zu geben, musste 
die Leibeigenschaft fallen, wofür nun Speranski eifrigst 
bei Alexander eintrat. Er wollte, wie Rambaud hervar- 
hebt, einen dritten Stand schaffen, die Zahl der Adligen 


“ 
*) 1810 erschien das Personen- und Sachenrecht, 


i 





_ ——— 


208 IX. Alexander L 





einschränken und eine Art Pairschaft aus den grossen 
Familien bilden. All diese Reformen und Pläne erweckten 
ihm zahllose Feinde im Adel, im ÜClerus, im Volke, 
manches private Interesse, manche persönliche Einnahme 
ward durch sie gefährdet, und die einzige Stütze, die der 
grosse Reformminister besass, war der wankelmüthige Ge- 
bieter; wie lange wird er ihn halten? 


Die Freundschaft von Tilsit-Erfurt konnte nicht stich- 
haltig sein und erkaltete in der That frühe; gar vielerlei 
waren die Ursachen, die Wirkung aber gleich. Das Gross- 
herzogthum Warschau mit seiner Verfassung von 1807, 
seinem 1869 erweiterten Gebiete und seinem Heere wirkte 
auf Alexander geradezu beängstigend; er beklagte sich 
bei Napoleon über die Heraufbeschwörung des polnischen 
Gespenstes, und Napoleons Versicherung, er denke nicht 
an die Wiederaufrichtung des polnischen Reiches und der 
Name Polen solle offiziell gar nieht gebraucht werden, 
verscheuchte sein Misstrauen nicht: Napoleon hinwider 
tadelte das eigenthümliche und dem Verdachte volle Be- 
rechtigung bietende Verhalten der russischen Heerführung 
in Galizien im Feldzuge von 1809. Napoleon hatte seiner- 
zeit „den Freund“ um die Hand seiner Schwester Katharina 
gebeten, die Kaiserin-Mutter aber verlobte sie im Januar 
1809 und im August d.J. erfolgte die Heirath mit dem Prinzen 
Georg von Oldenburg, ihrem Vetter; als Napoleon sich 
dann um ihre Schwester Anna bewarb, schützte man in 
St. Petersburg deren körperliche Unreife vor (sie zählte 
erst 14 Jahre) und Alexander wies ihn abermals an die 
Kaiserin-Mutter. Napoleon verquiekte die Werbungs- 
affäre mit der polnischen Frage; uuf Alexunders Begehren 
hin, er solle ihm die Garantie geben, dass Polen nicht 
restaurirt werde, erklärte er sich dazu bereit, wenn er 
Anna zum Weibe erhalte: er glaubte wohl diesmal keine 
Abweisung zu finden, bemühte sich aber für alle Fülle 
auch in Wien um eine Erzherzogin. Am 28. Dezember 
1809 hielt er nochmals um Anna an und Caulaineourt 
unterzeichnete die gewünschte Garantie wegen Polens am 
4. Januar 1810; Alexander erbat wiederum Bedenkzeit, 








IX. Alexander I. er 


Verwieklung, dass ihm der Kampf mit Napo- 
leon ae schwierig erscheinen musste, er war ohne 
Allürte; konnte er sich nicht in den Polen; die auf 
Napoleon hofften, Allirte gegen ihn werben? Vor dem 
Kriege von 1805 hatten ihn Czartoryskis eindringliche 
Rathschläge, denen Laharpes Humanitätslehren einen ge- 
wichtigen Rückhalt gaben, auf den Gedanken geführt, das 
Königreich Polen in seinem alten Umfange wieder her- 
zustellen, es als Einheitsstant unter russischer Oberhoheit 
konstitutionell zu regieren; jetzt kam er darauf zurück. 
Unter Polens Feldzeichen wollte er gegen Napoleon 
kämpfen, als König von Polen wollte er sein getreues 
Volk gegen Napoleon führen; er wollte Oesterreich für 
den Verlust Galiziens durch die Donaufürstenthümer ent- 
schädigen, die er freilich selbst noch nicht hatte, wollte 
die Russland gehörigen polnischen Gebietstheile dem Gross- 
herzogthume Warschau einverleiben und aus Warschau. 
Galizien und Polnisch- Preussen ein Königreich Polen 
machen; die Jesuiten und die katholische Kirche in 
Polen, die über Nupoleons Misshandlung des Papstes und 
seine Gewaltakte gegen die Kirche empört waren, sollten 
ihm gegen Napoleon Hilfe leisten. Fürst Ozartoryski rieth 
ihm jedoch vom Kriege gegen Napoleon offen ab und 
benahm ihm die Hoffnung auf eine Erhebung der Polen 
in russischem Interesse. Alexander entwarf nun mit 
General von Phull, einem sehr gelehrten, aber wenig 
praktischen Taktiker, den Feldzugsplan : alle Schritte seines 
Kabinetts, von Napoleon andere Entschliessungen wegen 
Polens und Oldenburgs zu erzielen, misslangen; Lauriston 
anderseits erhielt eine Instruktion, die Russlands Gelüst 
nach Ausbreitung am türkischen rechten Donauufer und 
eine Aussöhnung Russlands mit Grossbritannien als Kriegs- 
fälle bezeichnete. Hatten schon Napoleons Worte vom 
24. März 1811 an das Oberhandelskolleg in Paris den 
Bruch mit Russland deutlich angekündigt, s0 war nach 
der öffentlichen Seene, die er dem Fürsten Kurakin am 
15. August bereitete, kein Zweifel mehr möglich; der Reichs- 
kanzler Rumjanzow aber nahm dies pöbelhafte Auftreten 
ruhig hin und leugnete im Oktober d. J. alle Gelüste nach 











m IX. Alexander I. 





Polens Herstellung wie alle Rüstungen rundweg ab, 
Preussen bot Alexander ein Bündniss gegen Napoleon 
an, die Missionen von Scharnhorst und von dem Knese- 
beck führten aber nicht zu einem solchen, Scharnhorst 
erreichte nur am 17. Oktober die von ihm mit Rumjanzow 
und dem Generale Barclay de Tolly abgeschlossene Militär- 
konvention von St. Petersburg, Alexander überliess Preussen 
sich selbst, Und so blieb Friedrich Wilhelm keine Wahl, 
er wurde am 24. Februar 1812 Allüirter Napoleons, dem 
sich Oesterreich am 14. März ebenfalls anschloss, freilich 
in St. Petersburg vertraulich versichernd, es werde nur 
zum Schein am Kriege gegen Russland theilnehmen. 
Wiederholt sandte Alexander seinen Flügeladjutanten 
Alexander Iwanowitsch Tsehernyschew mit Handsehreiben 
an Napoleon, doch konnte auch Tschernyschew die Miss- 
stimmung nicht ausgleichen: durch Bestechung von Beamten 
des Kriegsministeriums erlangte er hingegen im Februar 
1812 wiehtige Nachweise über die Grosse Armee, die gegen 
Russland marschiren sollte. Die von Napoleon abhängige 
Presse fing um diese Zeit an, die Ehrgier des russischen 
Kabinetts in grellsten Farben zu beleuchten, und Lesur 
gab in seinem Werke „Des Progrös de la puissance russe 
depuis son origine jusqu'au commencement du dix-neuviöme 
siecle“ 1812 das sogenannte „Testament Peters des Grossen“ 
heraus, welches nichts wie eine Erfindung Napoleons war 
(s. 8.37). Dem Bruche zwischen den Allürten von Tilsit- 
Erfurt gingen als Sturmvögel eine Reihe Ereignisse vor- 
aus. Bei dem Nenjuhrsempfange von 1812 am Hofe König 
Jonchims in Neapel gerieth der russische Gesandte Fürst 
Dolgoruki wegen des Vortrittes mit dem französischen 
Durand in Streit und griff an den Degen, worauf es zum 
Duslle kam*), dem alsbald ein weiteres zwischen dem 
französischen Generale Exeelmans und dem russischen 
Gesandtschaftssekretär in Neapel, von Benckendorff, folgte, 


Alexanders liberale Anwandlung war längst im Wan- 
ken; er bereute bereits die Reformen in der Verwaltung, die 

*) Ungedrmekte westfälische Gesandrsehnfteberichte ans München 
(Geh, Staatsarchiv in Berlin). 


las IX. Alexander I. Ex 


er unter Speranskis Führung unternommen hatte, und ver- 
hinderte ihre Ausgestaltung; er sah in der Errichtung der 
Ministerien. wie Schilder*) nachweist, eine Versündigung 
gegen seine Pflicht, die von den Vorfahren ererbte unum- 
schränkte Selbstherrschaft seinen Nachfolgern ungeschmälert 
zu linterlassen, und beklagte die Schöpfung des Reichs- 
raths; aus dem Vertrauen zu Speranski wurde Misstrauen, 
nus der Neigung Abneigung. Speranski war kein Höfling, 
hingegen offen und aufrichtig bis zur Unvorsichtigkeit; 
in Wort und Brief sprach er sich über des Gebieters 
Eigenheiten und Schwächen aus, was diesem entstellt und 
vergrössert hinterbracht wurde; wie durfte in den Augen 
des Autokraten sein Knecht es wagen, von seinem eng- 
begrenzten Horizonte, von seiner Unaufmerksamkeit bei 
dem Vortrage seiner Räthe, ja von seiner körperlichen Eitel- 
keit zu reden! Der misstrauische, eigenliebige und selbst- 
gefällige Kaiser verzieh nichts weniger als solehen Spott und 
solchen Zweifel an seiner einzigartigen Grösse, er erblickte 
in Speranskis Ehrlichkeit Verrath an seiner Freundschaft, 
schnödesten Undank, wenn er auch recht wohl wusste, 
dass bei Speranski niemals der leiseste Gedanke von Ver- 
rath Platz greifen konnte. Speranski hatte, wie wir oben 
erzählten, zahllose Feinde unter allen Klassen, man ver- 
dächtigte ihn als Vnterlandsverräther und verkappten 
Illuminaten, aber noch zu Neujahr 1812 verlieh ihm der 
Zar das grosse Band des St. Alexander- Newski- Ordens. 
Karamsin, einer seiner Hauptgegner, liess durch die gleich- 
gesinnte Grossfürstin Katharina Pawlowna, Prinzessin von 
Oldenburg. dem Kaiser, als er in Twer war**), seine 
Schrift „Alt- und Neurussland in politischer und bürger- 
licher Beziehung“ überreichen: die Schrift war eine Ver- 
urtheilung der liberalen Ideen des Kaisers und schilderte 
das allgemeine Misstrauen gegen Speranskis Reformpolitik ; 
der Reaktionär Karamsin spielte in diesem Falle eine recht 
unwürdige Rolle und süete in fruchtbaren Boden. Ebenso 
sprachen Araktschejew. Rostoptschin, Gurjew u. A, die 


*) Kaiser Alexander ete. (3. oben). 
*, Prinz Georg von Oldenburg war dort Generalgouremeur. 
A. Kleiuschmidt, Uobarbl, d. um. Gesub. 5, 1598. 18 


— 


274 IX. Alexander L 


öffentliche Meinung war am Vorabende des Kriegs gegen 
Frankreich hochgradig erregt und lud ausserdem das 
Odium aller unbeliebten Regierungsverfügungen auf Spe- 
ranski als Autor ab: sie bezeichnete ihn als Vaterlands- 
verräther, als Verkäufer der Staatsgeheimnisse an Napoleons 
Agenten, und er bedurfte nur eines Funkens,. um alles in 
Brand zu setzen. Bei einer riesenhaften Intrigue, deren 
Füden Alexander selbst hielt. spielten der Polizeimeister 
(ieneraladjutant Balaschow, der General Graf Armfeldt 
und ein französischer Emigrant de Vernögues bedeutende 
Rollen, während die seit Dezember 1811 im Winterpalais 
heimlich geführten Unterredungen Alexanders mit de 
Sunglen*), dem Kanzleidirektor Balaschows, diesem unbe- 
kannt blieben. Alexander wollte Speranski erschiessen 
lassen; er liess am Abende des 28. März 1812 den Aka- 
demiker Parrot rufen. der ihn beispiellos aufgeregt fand, 
und frug ihn um seine Meinung wegen dieses Vorhabens. 
Purrot war so bestürzt, dass er erst Tags darauf seine 
Antwort brieflich dahin abgab. Alexander möge Speranski 
sehonen und wenn derselbe, was ihm durchaus nicht be- 
wiesen scheine, schuldig sei. ihn vor die gesetzlichen Ge- 
richte stellen**), Alexander opferte den Reformer der 
öffentlichen Stimmung: als derselbe am 29. März des Kaisers 
Kubinett verliess. hatte er, wie er selbst sagt. „des Kaisers 
“Thrünen auf den Wangen“, Alexander rief ihm noch an 
der Thüre nach: „Lebe nochmals wohl. Michail Michailo- 
witsch ***)!“ Und gleich darauf verhaftete man Speranski, 
den Reichssekretür Magnitzki u. A.. Alexander entsetzte 
Sperunski am 29. aller Aemter und verwies ihn nach 
Nishnii-Nowgorod. Die Nation jubelte darüber, man feierte 
Sperunskis Sturz als „ersten Sieg über die Franzosen“, 
warf ihm in Nishnii-Nowgorod die Fenster ein und die 
Beamten wichen ihm wie einem Ansteekenden aus: die 
Polizei hingegen bewachte ihn streng. Er zeigte im Besitze 





®\ Vgl. Sanglene Memoiren, aus dem Russischen übersetzt in 
„Bibliothek russischer Denkwürdigkeiten“, Bd. 1. Stuttwart 1894. 

** Alexander erhielt den Brief am 3%. März. 

*=®. Schilder .a. oben‘. Kleinschmidt, Graf Speranski. in 
„Beilage zur Allgemeinen Zeitung”, München, Juli 1898. 


a 


IX. Alexander I. 





seines reinen Gewissens grosse Scelenstärke; die Durch- 
suchung seiner Papiere ergab nicht den mindesten Anhalt 
gegen ihn, trotzdem schleppte man ihn nach der Einnahme 
Moskaus im September 1812 nach Perm, von wo er ein 
‚Rechtfertigungsmömoire an Alexander schickte und ihn im 
Juli 1814 beschwor, „den Rest seiner elenden Tage” auf 
einem Gütchen bei Nowgorod, das seiner vergötterten 
einzigen Tochter gehörte, verleben zu dürfen, Alexander 
‚gestattete es und rief ihn mitten aus seinen gelehrten 
Studien in den Stantsdienst zurück, ein Ukas vom Sep- 
tember 1816 sprach ihn von aller Schuld frei, er wurde 
Civilgouverneur von Pensa, wo er sich durch Rechtliehkeit- 
und Umsieht bald beliebt machte; beglückt schrieb er 
seinem Freunde Tewkelew: „Mein Geschick hatte die 
merkwürdige Eigenthimlichkeit, dass ich während dieser 
ganzen Zeit nicht einen Freund verlor, ja noch einige neue 
hinzu erwarb, und diese Eroberung ist, wie Kinder in 
alten Tagen, die reizvollste und köstlichste*),“ Der Kaiser 
schenkte ihm grosse Ländereien, und allgemeine Be- 
friedigung**) erweekte im Mai 1819 Speranskis Berufung 
zum Generalgouverneur des ganz verwahrlosten Sibirien; 
nachdem sein vorzüglicher Verwaltungsplan für dies uner- 
messliche Gebiet von Alexander gebilligt worden war, um 
1822 ins Leben zu treten, kehrte er im März 1821 nach St, 
Petersburg zurück, wo er in die Kommission für Sibirien und 
in die Gesetzgebungskommission des Reichsraths eintrat. 
Erst unter Nikolaus werden wir ihm wieder un erster Stelle 
begegnen. Bernhardi klagt mit gutem Recht bei Sperans- 
kis Sturz: „Dass das Schicksal eines Staatsmanns und 
darüber hinaus die gesammte innere Politik des russischen 
Reiches in solcher Weise an Spinnfüden hängen konnte, 
erinnert an die Zeiten der Kaiserinnen Anna und Bli- 
sabeth.“ 

An Speranskis Stelle wurde Graf Armfeldt, ein er- 
bitterter Gegner Napoleons, der leitende Rathgeber 
Alexanders; am 27. März aber hatte Alexander den Reichs- 

*) Penss, am 28. Januar 1817 (Russkaja Starina, Nov. 1880). 


*®) Russkaja Starina, Nov. 1881. 
18% 











‚gereist. 

neuen Muth. und riefen auf einer Genen 
Warschau die Wiederherstellung des Königreichs | 
aus. Napoleon drang ohne eigentliche Krieg 
am 25. Juni bei Kowno in Russland ein, ihm fo 
aus „zwanzig Völkern‘ zusai Heer 
647000 Mann, Alexander besass nicht ein Drittel 

| Zahl, die Heeresverwaltung zudem war schlecht, es 
| an Transportmitteln und vor allem an einem Napaloon, 
ebenbürtigen Feldherrn. Das Nordheer am Niemen wurd 
von dem Kriegsminister*) Michail Bogdanowitsch Barel 

de Tolly, einem Livländer, geführt, der den misstrauise 
Altrussen gegenüber von vornherein einen schweren 
| hatte; über das Südheer oder die zweite Armee | 
| der Armenier Fürst Peter Iwanowitsch Bagration, ein a 
| gesprochener Feind der Franzosen **), gesetzt; auf di 
| äussersten rechten Flügel an der Düna stand Graf 
zu Sayn-Wittgenstein. auf dem äussersten linken Mlexan-. 
der Petrowitsch Tormassow, der den Oesterreichern ent- 
| gegen treten sollte; Tormassow erhielt später grosse Ver- 
| stärkungen von der Donauarmee aus unter dem Admirale 













| *) Als Kriegsminister hatte er viele Missbränche nnd veraltete 
Dinge in seinem Ressort beseitigt, die Kriegszucht befestigt und am 
| Feldzagsplan von 1812 mitgoarbeitet ; jetzt trat er dar Portefenille an 
den Fürsten Alexei Iwanowitsch Gortschakow, Ssuworows Neffen, ab, 

*®) Laut Brief Savarys vom September 1807, 


ce 4 








IX. Alexander I, a 


Paul Wassiljewitsch Tschitschagow. Alexander erkannte 
jetzt erst, wie unzulänglich seine Streitkräfte zumal für 
den Beginn des Feldzugs waren, und betrieb darum eine 
Volksbewaffnung im grossen Style, Adel und Kaufmann- 
schaft steuerten voll Patriotismus bei, um Landwehren auf- 
zubringen, und enorme Gelder kamen zusammen. Alexanders 
einstiger Gouverneur Graf Sealtykow organisirte ein On- 
vallerie-Regiment zu zehn Schwadronen in Moskau und 
Kasan *), Graf Matwei Alexandrowitsch Dmitriew-Mamonow, 
der Sohn von Katharinas Favoriten, formirte gin Cavallerie- 
Regiment zu fünf Schwidronen in Ulanenart, Nikolai 
Nikititsch Demidow ein Regiment zu Fuss, alle auf eigene 
Kosten; die Kirche bot alle Mittel der Erregung auf, um 
die Gemüther zum Aeussersten zu entflammen, zeigte, in 
welch entsetzlicher Gefahr das Allerheiligste, der orthodoxe 
Glaube, sich befinde; die Leibeigenen selbst begeisterten 
sich für die Vertheidigung des vaterländischen Bodens 
gegen die Premdlinge. Der Zar erliess eine zündende 
Proklamation, die Erinnerungen an das Jahr 1612, an die 
Befreiung von der polnischen Fremdherrschaft, an Posharski 
und Minin (s. $. 4) wachrief, In Drissa an der Düna 
wurde ein verschanztes Lager aufgeworfen, aus dem Phull 
„ein zweites Torres Vedras“**) machen wollte; Barclay 
de Tolly hatte statt dessen gerathen, sich ins Innere 
zurückzuziehen und das Land, durch das Napoleon mar- 
schiren würde, zur Einöde zu machen, Napoleon rückte 
in Wilna ein und die Polen kannten in ihrem Enthusias- 
mus keine Grenzen. Alexander war aus dem Hauptquartiere 
nach der Residenz zurückgekehrt und somit war die Ge- 
fahr beseitigt, dass durch seine Einmischung ein zweites 
Austerlitz erfolgen könne. Am 8, August vereinigten sich 
die Heere Barclays und Bagrations nach manchem Strausse 
mit dem Feinde bei Kazani, ihre Truppen waren empört 
*) Nach seinem Tode 1816 wurde es mit: dem Irkutskischen Husaren- 
regiment, vereinigt. Auch (er ledige Kammerherr Graf Peter Iwano- 
witsch Ssaltykow opferte grosse Summen für Aufstellung von Soldaten. 

**) Wellingtons Vertheidigung des verschanzten dortigen Lagers 
gegen Massöna bildete den Wendepunkt des Kriegs anf der pyrenäischen 
Halbinsel. 





—— 






IX. Alexander I, Ei 
man dürfe um keinen Preis Moskau preisgeben und dem 
Bösewichte Bonaparte freie Bahn lassen; er rief zum Schutze 
des „Mütterchens“ Moskau die „Drushina“ auf. Gole- 
nischtschew-Kutusow entfachte den religiösen Fanatismus 
im Heere und umgab sich mit dem vollen Pompe der ortho- 
doxen Kirche; das Heer communieirte und wunderthätige 
Bilder machten die Runde durch die knieenden Reihen, 
Aber die furchtbare Schlacht bei Borodino (an der Moskwa) 
am 7. September endete mit der Niederlage Golenischtschew- 
Kutusows*) und mit seinem Rückzuge; Rostoptschins Pro- i 
klamationen waren keine Soldaten und er machte sich 
bereits mit dem Gedanken vertraut, „die Mutter Moskau, 
welche das Volk getränkt, genährt, bereichert habe“, 
lieber zu vernichten als sie dem Feinde preiszugeben, 
Der Oberfeldherr gab Moskau auf und schlug die Strasse 
nach Rjasan ein; Rostoptschin liess das Werthvollste 
von Moskau fortschaffen und schrieb am 13. dem Kaiser: 
„Ich bürge mit meinem Kopfe dafür, dass Bonaparte 
Moskau ebenso leer finden soll wie Ssmolensk .... Russ- 
land wird schaudern, wenn es die Räumung Moskaus er- 
führt, wo sich die ganze Grösse Russlands concentrirt und 
wo der Staub von Eurer Majestät Vorfahren ruht. Ich 
folge der Armee. Ich führe alles mit fort; mir bleibt nur 
übrig, das Vaterland zu beweinen.“ Am 14. verliess er, 
über Golenischtschew-Kutusow entrüstet, die „heilige Stadt“ 
und sagte draussen zu seinem jugendlichen Sohne Ssergei: 
„Grüsse Moskau zum letzten Male, in einer halben Stunde 
steht es in Plammen“**. Kaum war am 14. Napoleon 
im Kreml abgestiegen, so brach an allen Enden der von 
Rostoptschin vorbereitete***) Brand aus, alle Lösch- 
anstalten waren fortgeschafft worden und Moskau brannte 





*) Bagration wurde töüdtlich verwundet und starb in Simi am 
U. September 1912, Golenischtachew - Kutusow wurde Generalfeld- 
marschall und behauptete, die Schlacht gewonnen zu haben. 

**) Oeuvren inöditea du Comte Rostoptchine, Paris 1894. 

*#**) Rostoptschin leuguete spliter die Urheberschaft des Brandes 
ab, um in Russland, wo ihm Tausende als dem Zerstörer ihrer Habe 
‚grollten, eine freundliche Aufnahme zu finden, als er von Paris heim- 
kehrte; trotzdem bleibt der Brand sein eigenstes Werk, Alexander 























bis zum 20. September, der ungeheuerlichste Brand 
neuen Zeit; Napoleon rettete sich nach dem Petrow 
Schlosse, aus seinem plündernden Heere entwich alle D 
eiplin und der Russe beherzigte Rostoptschins letzte . 












rufe: „Vertilget das ausländische Ungeziefer en . 
die Leichname den Wölfen und Raben. Moskau wird sich 
dann wieder schmücken, seine goldenen Thurmspitzen und 
seine steinernen Häuser zeigen; die Nation wird von allen 
Seiten herbeiströmen. Beklagt unser Vater Alexander 
Pawlowitsch die Millionen für den Aufbau des steinernen 
Moskau, wo Er Sieh mit dem heiligen Oele gesalbt und 
wo Er mit der Zarenkrone gekrönt worden ist? Er hofft 
auf Gott den Allmüchtigen, auf den Gott der russischen. 
Erde.... Er ist der Vater und wir sind Seine Kinder: 
und der französische Bösewicht — ist der ungetaufte Feind. 
Dieser ist bereit. seine Seele zu verkaufen, Er war bereits 
Türke, ist nach Aegypten gezogen und hat Moskau ge- 
plündert.... In noch nicht zwei Wochen wird er Pardon 
erbitten, Ihr werdet ihn aber nicht erhören, sein Ende ist 
nahe. Er verzehrt alles wie eine Heuschrecke.... Ver- 
zuget nicht, russische Soldaten unterstützen Euch; ver- 
nichtet den ausländischen Pöbel, das schmutzige Unge- 
ziefer.... Wer aber von Euch den Bösewichten dient, .. , 
überliefert sich den Gerichten und fällt der Verachtung 
anheim; seine Seele wird mit den Bösewichten*) in der 
Hölle sein und wird im Feuer brennen, wie unsere Mutter 
Moskau gebrannt hat.“ Napoleons Lage in Moskau wurde 
eine verzweifelte, die russische Regierung lehnte jede 
Unterhandlung ab und or erging sich in lauter haltlosen 
Plänen; die Zeit verstrich und der Winter, Alexanders 
fürehterlicher Alliirter, nahte mit Riesenschritten. Schwarzen- 






vergab ihm deu Brand niemals, hingegen verzieh er zu Rostoptschins 
Verdruss gar Vielen, die sich 1812 schlecht gehalten hatten, und der 
Graf meinte: „Ea wäre gar nicht übel, wenn Eure Majestät bisweilen 
den Knüppel Peters des Grossen aus der Kunstkammer holten.“ 

*) Es bleibt psychologisch interessant, dnss Rostoptschin sich 1816 
unter diesen Bösewichten in Paris niederliess, bei ihnen bis 1893 lebte 
und seine Arbeiten in vollendetem Französisch schrieb. 


IX, Alexander I. ai 





berg und Reynier operirten in Polen glücklich gegen Tor- 
massow, die russische Flotte aber trat unter den Schutz 
der Briten, Golenischtschew-Kutusow lag in starker Stellung 
bei Tarutino und sein Sieg über den König von Neapel 
bei Winkowo am 18. Oktober verschloss Napoleon die 
Strasse nach Rjasan, durch die Erfolge bei Malo-Jarosla- 
wetz am 23. und 24. d. M. sperrten ihm die Russen auch 
die Strasse nach Kalugs; so blieb ihm nur die ver- 
wüstete Strasse nach Ssinolensk übrig, wenn er den Rück- 
zug antrat, und auf ihr trieben allerlei bewaffnete Banden, 
Bauernhaufen. Kasaken ihr Spiel, der Bauer Gerassim 
Kurin aus Pawlowo gebot über 5800 Gleichgesinnte, die 
jede Marter gegen den Feind für erlaubt hielten, Tausende 
fielen bei dem Rückzuge unter dem Knüppel, der Mist- 
gabel, der Sense u. s. w., wurden ertränkt, verbrannt oder 
aufgehängt; auch Frauen traten unter die Waffen. Und 
welche kecken Thaten vollführten Parteigänger wie 
Denis Wassiljewitsch Dawydow, der gefeierte Dichter der 
Husarenlieder, Alexander Nikititsch Ssesslawin, Konstantin 
Christophorowitsch von Benckendorf u. A.! Am 18. Ok- 
tober begann der Abzug des Feindes aus Moskau, Napoleon 
zog am 19. ab, der Marschall Mortier sprengte vor seinem 
Abmarsche den Kreml, was übrigens nur theilweise ge- 
lang*). Die Marschülle Ney und Davout und der Vice- 
könig von Italien wurden am 3. November bei Wjasma 
von Miloradowitsch hart bedrüngt und die Russen be- 
merkten tüglich mehr den Verfall des feindlichen Heeres. 
das unter Hunger und Kälte litt; Golenischtsehew-Kutusow 
vermied darum einen entscheidenden Schlag gegen Napo- 
leon und wartete lieber die Selbstauflösung des Heeres ab. 
Am 9. traf Napoleon in Ssmolensk ein, doch auch hier 
konnte er nicht bleiben; er erfuhr von Wittgensteins Sieg 
bei Techaschniki über Victor und Saint-Oyr, sah die Linie 
Dwina-Dnjepr fortan für unhaltbar an und zog unter harten 
Einbussen weiter. Anstatt ihn zu zerschmettern, gab 
Golenischtschew-Kutusow ihm auch bei Krassnoi am 17. 
*) Das von Rastrelli für Elisabeth Petrowna gebaute Palais z. B. 
ging zu Grande, 








Es 
bildete sich „das deutsche Comite“, das die Deutschen 
gegen Napoleon uufzustacheln suchte und von Steins 
hohem Geiste beseelt war; ihm gehörten ausser Stein an 
Prinz Georg von Oldenburg (s. oben), der wieder zu 
Gnaden gekommene Graf Kotschubei, Steins wärmster 
Anhänger, und der bei Alexander einflussreiche General- 
adjutant Graf Karl Andrejewitsch Lieven, und wenn auch die 
Geschäfte des Comites sehr pedantisch von Statten gingen, 
so wirkte doch Stein unablässig auf Alexander dahin ein, 
Napoleons baldigen Untergang als unvermeidlich anzusehen, 
Alexander verfiel nicht wie früher der ihn so rasch be- 
schleichenden Entmuthigung, er wies vielmehr die Er- 


®) Für Krasanoj erhielt er den Beinamen „Ssmolenskvi* und den 
St, Georgen-Örden I, Klasse. 

**) Seit November 1812 Graf. 

“) Tschitachagow wurde ılaflir in der Presse masslos angegriffen 


und verleumder, 












mahnungen Rumjanzows, des Cäsarewitsch und der 
Kaiserin-Mutter, mit Napoleon Frieden zu schliessen, von 
sich: seit dem Brande der heiligen Zarenstadt hatte die 
Religion sich seiner Seele bemächtigt und in Moskaus 
Flammen schmolz der Gürtel, an dem ihn Napoleon ge- 
halten. Sein Jugendfreund Fürst A. N. Galitzin (s. oben) 
verwies ihn an die Bibel als den Urquell alles Trostes und 
alles inneren Friedens, weckte in ihm die Neigung zu 
geistlicher Selbstbetrachtung und führte ihn bald auf die 
Bahn der Mystik; Alexanders reizbare Phantasie erhob 
sich über die Grenzen des Erkennbaren und Bogreiflichen, 
er, Galitzin und Karl Lieven huldigten mystischen Ge- 
bilden. Ein Ukas vom 18. Dezember 1812 gestattete die 
erste russische Bibelgesellschaft unter Galitzins Vorsitz *) 
und in der kommenden Nacht reiste der Zar wieder zum 
Heere ab. Im fluchtähnlichen Rückzuge Napoleons sah 
er weniger die Tapferkeit seiner Soldaten, das Verdienst 
seiner Generale, den erfolggekrönten einmütbigen Wider- 
stand seines Volkes, die Hilfe des Winters als Gottes 
Hand, welche die Wolken zürnend zerriss, um an dem 
korsischen Prevler ein Züchtigungsgericht zu halten. 

Mit der Räumung Russlands durch die Franzosen war 
der „vaterländische Krieg“, wie die Russen ihn nennen, 
eigentlich zu Ende und die meisten riethen, man solle 
von weiterem Kriege ablassen, Westeuropa möge auf 
eigene Faust den Kampf gegen Napoleon weiterführen ; 
sie dachten, an ihrer Spitze der Reichskanzler und der 
Öberfeldherr, an sich allein und nicht an die Allürten; 
der Freiherr vom Stein aber stand neben Alexander, trieb 
ihn an, den Kampf gegen Napoleon bis zu dessen Ver- 
nichtung weiter zu führen und als endgiltiger Sieger gemein- 
sam mit den Alliirten Buropn neu zu organisiren, und der 
Zar folgte diesem treuen, grossen, patriotischen Rathgeber 
zu seinem Ruhme. Er verzichtete auf die Ausdehnung 
seines Gebietes bis zur Weichsel hin und spornte, obwohl 
er die Lücken seiner Armee recht wohl kannte, Golenisch- 
tschew-Kutusow, den ängstlichen Ounetator. den er nicht 


*) Nikolans I, Iüste sie 1826 auf, 











siumten es, dem durch Yorks Abfall gesch 
Mncdonatd den Rückzug auf Königsberg at 
Hatte Alexander bei den Polen für se 
Enthusiasmus erwartet, so war dies eine 







auch diese nichts für seine Suche, Dem Fürsten C 
wollte eine Personalunion Polens mit Russland 
fallen, er rieth Alexander zur Uebertragung der ] 
des restituirten Polen auf den Grossfürsten Mi 
dessen grosser Jugend er auf die Regentschaft s 
Alexander aber verwarf diese Auskunft unbedingt und hielt: 
an der eigenen Candidatur für den Thron Polens fest, = 
November 1812 trug Alexander durch den [ 
General von Boyen Friedrich Wilhelm IH. ein Offensiv- ı 
Defensivbündniss an, im Januar 1813 machte der König | 
den Flägeladjutanten von Natzmer Alexander das | 
Angebot und siedelte. um freier zu sein, nach Breslau me 
Oesterreich wollte vom Kriege gegen Napoleon noch nichts 
hören, auch fürchtete Metternich die: Brdrückung Odeler un) 
reichs durch den russischen Koloss. Aus den Verhand- | 

| 

| 

| 














lungen zwischen Alexander und Friedrich Wilhelm wurde 
erst etwas, als Ersterer Stein und den Staatsrath von 
Anstett*) nach Breslau schiekte; Friedrieh Wilhelm und 
sein Staatskanzler von Hardenberg nahmen einen Bündniss- | 
entwurf Anstetts unverändert an, Scharnhorst schloss am | 
27. Februar in Breslau mit Anstett, Hardenberg am 28. 

in Kalisch mit dom Fürsten Golenischtschew-Kutusow ab; 





*) Direktor der diplomatischen Kanzlei Golenischtschew-Kutusows, 








—— - 


IX. Alexander I. 








beide Mächte gingen ein Schutz- und Trutzbündniss ein, 
„um Europa frei zu machen“ und um Preussen in dem ihm 
gebührenden Umfange wieder herzustellen; Russland ver- 
sprach die Stellung von 150.000, Preussen von 80 000 Mann 
und Beide wollten nur gemeinsam handeln, nur gemeinsam 
Frieden schliessen; insgeheim verbürgte sich Russland, es 
werde die Waffen nicht niederlegen, bis Preussen wieder 
im Stande vor 1806 sein würde; Beide wollten Oesterreich, 
Grossbritannien und Schweden von dem Kalischer Bündnisse 
unterrichten. Der Graf zu Sayn-Wittgenstein drang über 
die Oder vor, von York gefolgt. und z0g um 11. März in 
Berlin ein, am 17. besetzten Kasaken Hamburg, der kecke 
Parteigänger Baron Tettenborn brach die ersten Ringe 
aus dem Rheinbunde, indem er die Herzoge von Mecklen- 
burg zum Ausscheiden bewog. Alexander traf am 15. März 
in Breslau bei Friedrich Wilhelm ein, der nun Napoleon 
den Krieg erklärte, und am 19. März schlossen Stein und 
Graf Karl Robert von Nesselrode*) russischer Seits mit 
Scharnhorst und Hardenberg den Breslauer Vertrag; der- 
selbe richtete an alle deutschen Fürsten den Aufruf zum 
Anschlusse und drohte ihnen nach Verstreichen eines be- 
stimmten Termins, wenn sie Napoleon nicht verlussen 
würden, mit der Absetzung, verkündete auch die Er- 
riehtung eines Oentralverwaltungsrathes für die von den 
Allürten zu besetzenden Gebietstheile. Am 7, April wurde 
in Kalisch eine Militärkonvention zwischen Preussen und 
Russland abgeschlossen. Noch bedrohlicher für Napoleons 
deutsche Fürstengefolgschaft klang der vom Fürsten 
Golenischtschew-Kutusow am 25. März aus Kalisch erlassene 
Aufruf; mit pathetischen Worten vom Rechte der Völker 
an die Freiheit und mit sehr verworrenen politischen 















*) Sohn des einstigen russischen Ministers in Lissabon. Der 
Beichskanzler Graf Rumjanzow war, als Napoleon Russland überflel, 
1812 um seine Entlassung eingekommen und litt schwer an körper- 
lichen Leiden, jedoch bewilligte ihm der Kaiser erst am 16. August 1814 
den Abschied und Rumjanzow lebte fortan lediglich der Wissenschaft, 
Nessolrode aber stand während des Kriegs mit Napoleon unter dem 
Titel eines Staatssekretärs an der Spitze der Staatskanzlei, einer der 
fühigsten und routinirtesten Arbeiter auf dem Felde der Diplomatie, 





mit ı len Prenaıt besetzte, entthront und Sachsen mit 
Preussen getheilt. Golenischtschew-Kutusow rückte in 
‚alter Langsamkeit am 7. April von Kalisch vor, erreichte 
24. die Elbe und starb am 28. in Bunzlau; Graf 
erhielt. den Oberbefehl, ohne dazu befähigt 
zu sein, und sah sich durch die persönliche 
des Zaren und einen Kriegerath unter Diebitschs Leitung 
fortgesetzt gehemmt. 

Am 2. Mai erlitten die Russen und die DraseaahR 

Niederlage von Lützen (Grossgörschen), während Russland 

mit Oesterreich wegen dessen eventuellen Anschlusses in 

Unterhandlung trat und Graf Stadion im russischen Haupt- 

\ gquartiere erschien; als Caulaincoort als Unterhändler Na- 

poleons bei Alexander direkt erschien, wies ihn dieser am. 

| 20. Mui un Stadion: an diesem und dem folgenden Tage 

aber siegte Napoleon bei Bautzen über die Allürten, sein 
Hochmuth wuchs wieder und die Lage Preussens schien 

| höchst gefährdet. Anstatt Wittgensteins erhielt Barclay 

de Tolly am 25. Mai den Öberbefehl, Wittgenstein, Gross- 

| fürst Konstantin und auch Blücher mit den Preussen 

wurden ihm unterstellt, und Barclay sprach sich sofort 

für den Rückzug nach Polen aus, was Blüchers Ansichten 

durchaus zuwider lief; Barclay hatte keine 45000 Mann 

| mehr zusammen und sah die Beschaffung von Kriegs- 

bedarf und Lebensmitteln immer mehr erschwert, Trat 

keine Waffenruhe ein, so war das Kalischer Bündniss be- 

graben, die Allürten brauchten sie ebenso nöthig wie 

Napoleon; am 4. ‚Juni schloss Caulaineourt, Herzog von 

Vieenza, in Poischwitz einen Waffenstillstand bis zum 

















u" 





| 


IX. Alexander L 


20. Juli mit dem Generaladjutanten Grafen P. A, Schuwalow 
(Russland) und dem General von Kleist (Preussen) ab und 
Barelay benützte denselben zur Ergänzung der Mängel 
seiner Mannschaften. Unter Steins Einwirkung schloss 
Hardenberg am 14. Juni in Reichenbuch mit Lord Stewart 
einen preussisch-britischen Subsidienvertrag und Tags 
darauf erfolgte ebenda ein solcher zwischen Nesselrode, 
Anstett und Viseount Catheart: Grossbritannien barg die 
russische Flotte und bezahlte an Russland 1833334 Pfd. 
Sterl. Subsidien, übernahm auch die Hälfte eines von 
Russland und Preussen ausgegebenen Bundespapiergelds 
von 5 Millionen Pfd, Sterl., Oathcart drang in Nesselrode 
und Hardenberg, sie möchten Oesterreich zur Allianz hin- 
überziehen. Alle Annäherungen und Versuchungen Na- 
poleons wurden von Alexander abgewiesen, hingegen 
wollten Alexander wie Friedrich Wilhelm den Abschluss 
eines Friedens und stellten Napoleon sehr milde Be- 
dingungen: Wiederherstellung Preussens und Oesterreichs 
in ihrer früheren Macht, Auflösung des Rheinbundes und des 
Grossherzogthums Warschau, Restitution der Nordseeküste, 
Unabhängigkeit von Holland, Spanien und Italien; Oester- 
reich machte, um dem Kriege mit dem Schwiegersohne 
des Kaisers aus dem Wege zu gehen, ihm noch günstigere 
Bedingungen, einigte sich aber im Reichenbacher Vertrage 
am 27. Juni*) mit Preussen und Russland endlich dahin, 
in den Krieg einzutreten, falls Napoleon die Bedingungen 
bis zum 20. Juli nicht annehme; Oesterreich und Russland 
sollten je 150000, Preussen 80000 Mann stellen und man 
wollte nur gemeinsam unterhandeln. Napoleon nahm die 
Mediation Oesterreichs an und erklärte sich am 30. Juni zur 
Beschickung eines Friedenskongresses in Prag bereit der 
Waffenstillstand wurde bis zum 10. August verlängert und 
am 11. Juli begann der Prager Kongress, zu dem Alexander 
Anstett absandte. Napoleon nahm gegen Oesterreich eine 
so beleidigende Haltung an, dass von einem friedlichen 
Abkommen nicht die Rede sein konnte: er zögerte mit der 
Antwort auf Metternichs Ultimatum und Metternich theilte 


*) Abgeschlossen zwischen Stadion, Hardenberg und Nesselrode. 











a ee el und A. P. Jermolow, 









he ib Franz I. und Friedrich Wilhelm 
diesem Heere; bei dem schlesischen Heere unter 
standen Graf Langeron, Baron Fabian Wilhelm von 
Osten-Sacken. Graf P. P. Pahlen, Baron Korff und 
Saint-Priest, bei dem Nordheere unter dem Kronprinzen 
Karl Johann (Bernndotte) von Schweden Freiherr Fer- 
dinand von Wintzingerode, Graf Michail Ssemenowitsch. 
Woronzow, Tschernyschew und Benckendorff (s. oben). 
Der Sieg Napoleons über Schwarzenberg bei Dr 
(27. August) war sein letzter in Deutschland ; der 29. und 
30. August hingegen waren grosse Ehrentage für Russ- 
land: Ostermann-Tolstoi schlug den General Vandamme in 
der Schlacht von Kulm, wobei er einen Arm verlor, und nahm 
Vandamme gefangen; den Ruhm des Tages theilten mit ihm 
Herzog Eugen von Württemberg, Pauls einstiger Günst- 
ling, Barclay und Miloradowitsch, nebst Kleists Preussen, 
die Verluste an Leuten aber waren enorm. Der Kaiser 
überhäufte Führer und Mannschaften mit Auszeichnungen. 
Am 9. September schloss Nesselrode mit Hardenberg und 
Metternich in Teplitz neue Allianzverträge, jedoch kam 
es nicht zu rückhaltlosem Finvernehmen der drei Kabinette, 
sie waren über die Warschauer Frage uneinig, Russland 
und Preussen drängten im Kampfe gegen Napoleon voran, 
Oesterreich aber und ebenso Grossbritannien hielten 
zaudernd zurück. Ein Handstreich des keeken Tscherny- 
schew mit Benckendorff und einigen tausend Mann zu Pferd 
genügte am 30. September zur Einnahme Onssels, von wo 
König Jeröme entwichen war, und Tschernyschew erklärte 
das Königreich Westfalen für aufgelöst*), musste freilich 
am 4, Oktober wieder abziehen, aber Westfalen brach 


*) Kleinschmidt, Geschichte des Königreichs Westfalen (s. oben). 







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IX. Alexander I. 289 
mit der Völkerachlacht bei Leipzig zusammen. Bei Leipzig 
zeigte Alexander grossen persönlichen Muth, der General- 
quartiermeister K, F, von Toll besonders hatte ihn zum 
Vorrücken auf Leipzig gedrängt, wo Bennigsen, um 
17. Oktober mit 60000 Mann eintreffend, wesentlich zum 
Siege beitrug*). Metternich verhinderte Sachsens Ein- 
verleibung in Preussen, Alexander aber lehnte jede Be- 
gegnung mit dem an Napoleon festhaltenden Könige 
Friedrich August entschieden ab und Fürst Repnin-Wol- 
konski wurde Generalgouverneur Sachsens für das Central- 
verwaltungsdepartement unter Stein. Bayern und die an- 
deren Rheinbundsstaaten verliessen Napoleon; schlossen 
mit den Alliirten Verträge und im November 1813 zogen 
die allürten Monarchen in Frankfurt am Main ein; aus 
dem nationalen Kriege war längst ein Interessenkrieg 
geworden. 

Metternich, der in Alexander einen halben Jakobiner 
sah, hatte über die Fortsetzung des Krieges völlig andere 
Ansichten wie er und war für möglichste Schonung Napo- 
leons, mit dem er im Einvernehmen Nesselrodes, Schwarzen- 
bergs und Lord Aberdeens am 9. November in neue Unter- 
handlungen eintrat, aber wiederum verwarf Napoleon 
durch Ablehnung der Anträge aus Frankfurt selbst seine 
Karten. Die Allürten erliessen die Frankfurter Prokla- 
mation vom 1. Dezember, die Frankreich und seinen 
Kaiser von einander schied, Alexander berieth mit Ab- 
geordneten der Schweiz die Grundlagen eines neuen 
Schweizer Bundes**), verweigerte Caulaincourt eine Audienz 
in Freiburg und ermunterte seine Truppen zu neuen 
Thaten; Wintzingerode süuberte mit Bülows Preussen 
Holland von den Franzosen und ging am 13. Januar 1814 
bei Düsseldorf über den Rhein, um sich an der Invasion 
in Frankreich zu betheiligen; Pozzo di Borgo ging nach 


*) Er wurde dafür Graf, ebenso Barclay de Tolly; Miloradowitsch 
war es schon im Mai 1813 geworden. 

**) Labarpe hielt über die Schweizer Verhältnisse den Zaren auf 
dem Laufenden und Letzterer sah mit Widerwillen, dass Oesterreich 
einer Reaktionspolitik in der Schweiz Boden schaffen wollte. 


A. Kieinschmidt, Usberbi. d. russ. Gesch. u. 1208. 18 


kun 


290 IX. Alexander I. 





London, um die Regierung zu thatkräftigerem Auftreten 
zu ermuntern, und am 22. Januar traf Alexander in 
Schwarzenberg» Hauptquartier zu langres ein: bei der 
grossen Uneinigkeit, die hier zwischen Staatsmännern und 
Generalen der alliirten Mächte herrschte, hielt er an der 
strikten Fortführung des Kriegs bis aufs Messer fest, 
weder Denkschriften noch Konferenzen konnten ihn anderen 
Sinnes machen; er ging zusammen mit Stein, Gneisenau, 
W. von Humboldt und Blücher und erklärte geradezu, 
wenn die anderen Mächte nicht weiter vorrücken wollten, 
so würde er den Krieg fortan allein führen; Friedrich 
Wilhelm schloss sich ihm nun an. Oesterreich aber er- 
reichte, dass auch während des Krieges Unterhandlungen 
spielten und dass ein Friedenskongress in Chätillon-sur- 
Seine tagen sollte. 

Osten-Sacken war am Neujahrstage bei Mannheim 
über den Rhein gegangen und hatte am 20. Januar Toul 
genommen, am 27. aber drängte Napoleon ihn bei Saint- 
Dizier zurück. worauf er am 29. Pahlen bei Brienne 
zurückwarf und Osten-Sacken, der mit ihm um den 
Besitz Briennes rang, fast gefangen nahm. Ein Theil von 
Wittgensteins Cavallerie, die Grenadiere Rajewskis u. a. 
Truppen verstärkten Blüchers Heer und Alexander, welcher 
der oesterreichischen Heerführung misstraute, drang darauf, 
(lass Blücher am 1. Februar bei Ja Rothiere kommandirte. 
7u diesem grossen Siege Blüchers über Napoleon halfen 
die Russen wacker mit, nach demselben trennten sich 
Blücher und Schwarzenberg neuerdings, was Napoleon 
rettete; Blücher wandte sich mit Osten-Sacken und der 
Infanterie Z. D. Olsufjews nach der Marne. Der Zar hatte 
zum Kongresse in Chätillon den Grafen Andrei K. Rasu- 
mowski, von dem wir mehrfach hörten, abgesandt, Beide 
hielten die Unterhandlungen mit Napoleon, den sie hassten. 
für zwecklos, den Frieden nur in Paris für möglich und 
waren ärgerlich über den Rifer Lord Castlereaghs. mit 
Napoleon rasch Frieden schliessen zu wollen. Napoleon 
besiegte Olsufjew am 10. Februar bei Champaubert und 
nahm ihn wie Poltaratzki gefangen, am 11. schlug er 
Osten-Sacken bei Montmirail, von Sieg zu Sieg eilend: er 


| 





IX. Alexander I. 8 





glaubte, die schlesische Armee nicht mehr fürchten zu 
müssen, und warf sich auf die böhmische. Die Unglücks- 
fülle der schlesischen Armee machten auf Alexander Ein- 
druck und stimmten ihn einem Friedensschlusse geneigter, 
Nesselrode redigirte in Troyes mit Metternich, Hardenberg 
und Castlereagh Friedensbedingungen zur Vorlage an 
Cnulaincourt, Napoleons Bevollmächtigten in Chätillon, 
Am 17. Februar zersprengte Napoleon Wittgensteins Vor- 
hut unter Pahlen bei Nangis und drängte ihn am 21. 
bei Bar-sur-Aube zurück; nach der Niederlage von 
Montereau am 18. Februar wich Schwarzenberg die Seine 
aufwärts zurück und rief Blücher um Hilfe an. Alexander 
protestirte in Bar-sur-Aube gegen Schwarzenbergs fort- 
gesetzten Rückzug und drohte, falls der Fürst sein Pro- 
gramm nicht ändere, mit der Vereinigung seiner und der 
preussischen Truppen mit Blüchers Heere; dieses setzte sich 
wieder in Marsch nach Paris und übernahm die eigentliche 
Aktion. In Lusigny wurden zwar Konferenzen über einen 
Waffenstillstand gehalten, wobei Russland durch den Grafen 
P. A. Schuwalow vertreten war, doch führten sie zu nichts. 
Am 27. Februar schlugen Graf zu Sayn-Wittgenstein und 
Fürst A. J. Gortschakow Oudinot bei Bar-sur-Aube, aber 
Schwarzenberg verfolgte den Sieg nicht. Napoleons ver- 
wegener Trotz und unbelehrbare Anmassung veranlassten 
Russland, Grossbritannien, Oesterreich und Preussen, am 
1. März in Chaumont*) eine Offensiv- und Defensivallianz 
auf zwanzig Jahre abzuschliessen; sie versprachen einander, 
je 150000 Mann unter den Waffen zu halten und vom 
Kriege nicht abzulassen, bis das gemeinsame Ziel erreicht 
sei; Grossbritannien gah grossartige Subsidien; in Geheim- 
urtikeln normirten die Mächte ihr Programm, dessen Be- 
dingungen für Frankreich sehr günstig waren. Napoleon 
machte auf den Vorschlag der Grenzen Frankreichs vor 
1792 am 15. März so unbescheidene Gegenforderungen, 
dass die Vertreter der Allürten am 18. die Verhandlungen 
für geschlossen erklärten und der Kongress von Chätillon 
am 19, endete. Neue Erfolge hatten ihn mit neuem Starr- 


*) Rasumowski vertrat Russland 





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E} IX. Alexander I. 


sinne erfüllt. Am 7. März hatte er den Russen Woronzows“ 
bei Craonne schwere Verluste zugefügt), auch bei Laon 
hatten sie grosse Einbusse, am 13. zersprengte Marmont 
bei Rheims ein russisch-preussisches Corps unter dem 
Grafen Saint-Priest**) und Letzterer erlag seinen Wunden. 
Die Niederlage und der Verlust des Jugendfreundes ver- 
fehlten ihren Eindruck auf Alexander nicht, seine Phantasie 
zeigte ihm schon Napoleon als endgiltigen Sieger, da traf 
diesen die Niederlage von Arcis-sur-Aube durch Schwarzen- 
berg (20.—21. März) und lediglich dessen Zaudern ver- 
sehuldete, dass Napoleon nicht vernichtet wurde. Mittler- 
weile tauchten Royalisten genug in Frankreich auf, Baron 
Vitrolles drängte sich zum Ohre des Zuren, Bordesux 
proklamirte Ludwig XVII. Die Allürten täuschten Na- 
poleon, er hielt Wintzingerodes Corps, das ihn verfolgte, 
für ihre ganze Armee, diese aber rückte, unter Schwarzen- 
berg und Blücher vereint, am 25. auf Paris los; was 
Gneisenau und Blücher längst gerathen, setzten Pozzo di 
Borgo und Toll bei Alexander durch. Am 25. besiegten 
Pahlen und der Kronprinz von Württemberg, bald darauf 
Alexanders Schwager, die schwachen Corps der Marschälle 
Marmont und Mortier bei La Füre-Champenoise und die 
Division Paethod musste sich ergeben; beide Marschälle 
stellten sich unter den Mauern von Paris zum letzten 
Kampfe auf, der als aussichtslos gelten durfte. Die Mar- 
schälle sahen sich am 30. zur Capitulation 

die für Russland Nesselrode und der Oberst und Flügel- 
„djutant Michail Fedorowitsch Orlow mit ihnen abschlossen; 
Alexander versprach den Parisern alle erdenkliche Schonung 
und hielt am 31. März mit Friedrich Wilhelm IH. und dem 
Fürsten Schwarzenberg seinen Einzug in Paris, mit tollem 
Jubel empfangen, Die schöne Herzogin von Dino, Talley- 
rands Nichte, schwang sich zu einem Kasaken aufs Pferd, 


*, Der achtzehnjührige einzige Sohn fiel hier vor den Augen des 
Grafen Paul Alexandrowitsch Stroganow, des Freundes Alexanders; 
eine Kugel riss ihm den Kopf weg. Auch mehrere Generale fielen. 

*) Er war mit Oondös Oorps nach Russland gekommen und ein 
Freund des Grossfürsten Alexander geworden. 


IX, Alexander I. 29 





die Pariser schienen den Verstand verloren zu haben. Die 
Huldigungen aller Welt, voran der Damen schmeichelten 
nicht wenig Alexanders Eitelkeit, seine Autorität über- 
Nügelte weit die sämmtlicher gekrönten Oollegen, er war der 
Agamemnon der Coalition und an ihn vor allem wandte sich 
das besiegte Frankreich: auf den Strassen wie in den Theatern 
jauchzte ihm alles entgegen, ihm, dem einstigen Freunde 
von Tilsit und Erfurt, jetzt dem Todfeinde Napoleons; 
dachte er wohl nicht mehr an den Augenblick, da er Napo- 
leons Freundschaft ein Geschenk der Götter genannt hatte? 
Als einer der feilen Schranzen Napoleons bedauerte, dass der 
Bar jetzt erst nach Paris komme, wies ihn dieser treffend mit 
den Worten ab: „Ich wäre gern früher gekommen, klagen 
Sie wegen meiner Verspätung nur die französische Tapferkeit 
an!“ und allerorten kolportirte man seinen Ausspruch: 
„Nicht Paris, Bonaparte nur ist mein Feind, die Franzosen 
sind meine Freunde!“ Nur der Intervention des rohen Oi- 
sarewitsch Konstantin und des zum Gouverneur von Paris 
ernannten Generals Osten-Sacken gelang es, das Herabreissen 
der Statue Napoleons von der Vendöme-Säule zu verhüten. 
Alexander wohnte bei Talleyrand, dem Hanptmanne der 
napoleonischen Deserteure, Er erklärte schon am 31. Mürz, 
man werde weder mit „Napoleon Bonaparte® noch mit irgend 
einem Mitgliede seiner Familie unterhandeln, und forderte 
den Senat zur Aufstellung einer provisorischen Regierung 
auf, ohne für die Bourbons Interesse zu hegen; doch log 
man ihm vor. ganz Frankreich sei royalistisch, der Senat 
wartete ihm auf und erhob ihn über Trajan und die 
Antonine, Der Senut setzte Napoleon und seine Dynastie 
am 2. April ab und berief Ludwig XVIH. zum Throne, 
Napoleon dankte am 6. ab und am 11. wurde von seinen 
Bevollmächtigten und denen der Allüirten der Vertrag von 
Fontainebleau unterzeichnet, der Napoleon auf Alexanders 
thörichte Veranlassung hin die Insel Elba als zukünftige 
Residenz und souveränes Land zuwies. Im Einvernehmen 
mit Talleyrand, „dem provisorischen Könige‘, sandte der 
Zar Poz20 di Borgo Ludwig XVII. entgegen, um ihm 
eine Konstitution für Frankreich aus Herz zu legen, er 
warf sich zum Vorkämpfer liberaler Ideen dem legi- 








IX. Alexander I. 





liess, zum zweiten Male die Verwesung. Im November 
1814 erschien er auf dem Wiener Kongresse, umgeben 
von einem glünzenden Stabe von Stantsmünnern und Hof- 
leuten, um, soweit die äussere Erscheinung in Betracht 
kam, die erste Rolle zu spielen; Metternich und Talleyrand 
leiteten ja den Gang der Dinge, Neben Rasumowski 
sehen wir in Wien Nesselrode, Pozzo di Borgo, Anstett, 
den Grafen Giovanni Capodistrias*), 

Balten Grafen Gustar Stackelberg, damaligen Botschafter 
in Wien, und die Fürstin K, P. Bagration, die Wittwe des 
Helden von Borodino **), empfing in ihrem der Koketterie 
und der Intrigue gewidmeten Salon; Rasumowski spielte 
anfangs nur eine Nebenrolle und ordnete die Feste an, 
die der Zar in den herrlichen Räumen der Botschaft**®) 
gab, Nesselrode besorgte die Geschäfte und stand ganz 
unter Metternichs Einfluss, jedoch seit Ende Dezember 
1814 wurden Rasumowski und Öspodistrias mehr hinzu- 
gezogen. Der Zar wollte seine Truppen aus Sachsen 
zurückziehen, Preussen vorläufig die Verwaltung Sachsens 
überlassen, Friedrich August aber in Riga interniren 
und ihn dann anderswo mit Gebiet abfinden, doch 
wusste Talleyrand dies alles zu vereiteln. Friedrich Wil- 
helm warf sich in Alexanders Arme und die sächsische 
Frage lief bald mit der polnischen zusammen; Alexander 
verlangte das ganze Grossherzogthum Warschau, um sein 
Königreich Polen zu schaffen, und Friedrich Wilhelm ver- 
bot am 5. November Hardenberg die fernere Behandlung 
der polnischen Frage mit Grossbritauniens und ÖOester- 
reichs Vertretern, gerieth in offenen Widerspruch mit 


*) Im Jahre 1809 aus dem Dienste der jonischen Republik in 
den russischen übergetreten, war er jetzt Alexanders erklärter 


**) Nach westfälischen Gesandtschaftsberichten aus St, Peters- 
burg von 1809 (ungedruckt) war sie ein natürliches Kind Potemkins 
von seiner Nichte, der Gräfin Skawronski, und nach westfälischen Ge- 
sandtachaftsberichten (ungedrnckt) aus Wien von 1811 und 1812 war 
sie Metternichs Geliebte; sie zählte zu Grossbritanniens begeisterten 
Anhängern in Wien, war durch ihre Abenteuer und Excentrieitäten 
allbekannt, 

=") Diese brannte in der Nacht des 91. Dezember 1814 nieder, 


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IX. Alexander 1. Eu 





um weder ein starkes Preussen noch ein lebensfähiges 
Deutschland aufkommen zu lassen; Alexander billigte 
herzlich die armselige Schöpfung der deutschen Bundes- 
akte vom 8. Juni 1815 und wusste in der Folge seinen 
Einfluss in Deutschland vortheilhaft zu verwerthen; die 
Deutschen liebäugelten mit den Russen, so sehr auch 
Heine und Börne diese Neigung geisselten. Unter La- 
harper*) Einwirkung trat Alexander lebhaft für die Un- 
abhängigkeit der Schweiz ein. Am 3. Mai unterzeichneten 
die Vertreter Russlands, Öesterreichs und Preussens in 
Wien Verträge über die Theilung des Grossherzogthums 
Warschau und am 18. schloss Sachsen mit Russland 
Frieden. Die von Rusumowski, Stackelberg und Nessel- 
rode unterzeichnete Wiener Schlussakte vom 9. Juni 
brachte den grössten Theil des Grossherzogthums Warschau 
an Russland. 

Nachdem Napoleon im April 1814 in Fontaineblenu 
abgedankt, hatte General Dombrowski die Weichsel- 
legionen Alexander zur Verfügung gestellt, dieser hatte 
dem Cäsarewitsch Konstantin den Oberbefehl ertheilt und 
Konstantin hatte in einem Armeebefehl vom Dezember 1814 
die polnischen Truppen aufgefordert, „ihr Vaterland mit 
den Waffen zu vertheidigen und für sein Bestehen als 
Staat einzutreten“, Alexander nahm in einem Schreiben 
an den polnischen Senator Grafen Öginski vom 15. April 
1815 den Titel eines Königs von Polen an und sprach sich 
voll Humanität für die Polen aus; am 21. Juni verkündigte 
der Donner der Geschütze den Warschauern, Polen sei 
von den Todten auferstanden und lebe. Polen wurde ein 
für sich bestehendes, aber auf ewig von Russland untrenn- 
bares erbliches Königreich; es stand bis 1830 in Renlunion 
mit Russland**). Am 27. November 1815 erhielt „das 
Zarthum* Polen eine Verfassung nach dem Vorbilde der 


*) Er war schon 1814 in Langres zu Alexander geeilt. 

#*) Korkunow u. A. behaupten hingegen, es sei seit der 
Wiener Schlussakte Russland unterthan und vom Willen des Herrschers 
abhängig gewesen, und vergleichen seine Rolle mit der Canadas gegen- 
über der britischen Krone, 















& unter Rozniecki; die „Patrioten* 

> Sri Schritte und bald entstanden unter der 
d Verbindungen, im Heere geheime Vereine, lite- 
rarische Genossenschaften, die sich über Polen aus- 
breiteten; an ihrer Spitze erschienen Männer von der Be- 
deutung des Generals Uminski, des von Nowossilzow 1824 
abgesetzten grossen Historikers der Wilnaer Universität 
Joachim Lelewel und des grossen Dichters Adam Mickie- 
wiez, den Nowossilzow aus Wilna nach dem Inneren Russ- 
lands schaffen liess; ihr gemeinsames Ziel wurde die 
'Wiederherstellung Polens in seinem alten Umfange auf 
Unkosten der drei Theilungsmächte von 1772, 1793 und 
1796. Der Cäsarewitsch war zwar den Polen z = 
verletzte sie jedoch oft durch seine Brutalität und dureh 
Missgriffe; Alexander wurde der steigenden Opposition 
gegenüber mit seinen Zugeständnissen an die Polen 
immer zurückhaltender. Seine liberule Anwandlung war 
übrigens längst vorüber. 

Der Sturz Napoleons hatte nach der Freigeisterei der 
Revolutionsepoche den Glauben an das Walten einer höheren 
Macht wieder befestigt und wohl am stärksten wirkten die 
welterschütternden Ereignisse auf Alexander. Eine fromm 
gewordene Lebedame, die Baltin Freifrau Juliane von 
Krüdener*), Wittwe des russischen Gesandten in Berlin, 
hatte auf den Adepten der Baaderschen Theosophie längst 
ihr Auge gerichtet; Jean Paul lehnte es seiner Zeit ab, 
Alexander auf die Verfasserin des sentimentalen Romans 
„Valerie®, deren Urbild sie selbst war, aufmerksam zu 
machen, eine Hofdame der Kaiserin Elisabeth aber, die 
Fürstin Roxandra Sturdza, welche der Mystik zuneigte, 
trat mit ihr in Korrespondenz, und die Freifrau stellte 
nun den eitlen Zaren als „den weissen Engel“ dem Dämon 
Napoleon gegenüber, pries ihn überschwänglich als „den 
allgemeinen Erretter“. Galitzins Mystik hatte Alexander 
zum geeignetsten Präparate für diese modernste Magdalena 
gemacht, sie überraschte ihn während des Peldzugs gegen 






*) Kleinschmidt, Frau von Krüdener, in „Zeitschrift für Ge- 
schichte und Politik“, Stuttgart 1888, 8. Heft. 






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300 IX. Alexander I. 


Napoleon, dessen Untergang sie prophezeit hatte, eines 
Abends spät in Heilbronn, forderte ihn zu so tiefer Busse 
auf, wie sie, die grosse Sünderin, sie am Fusse des 
Kreuzes übe, und Alexander gestand ihr unter einer Fluth 
von Thränen, ihre mahnenden und strafenden Worte seien 
Musik für seine dürstende Seele; in dieser dreist 

Unterredung wurde er ihr begeisterter Schüler; im Juni 
1815 beteten Beide und lasen die Bibel nächtlicher Weile 
zusammen in Heidelberg, dann in Paris, und während sie, 
von Richelieu bestärmt, Alexander zuredete, Frankreich 
im Friedensschlusse gnädig zu behandeln, sprach sie mit 
ihm von einer christlichen Völkerunion und regte ihn zur 
Heiligen Allianz an; Alexander theilte ihr den Entwurf 
einer solchen Akte mit, sie machte daran Korrekturen 
und gab wohl auch der Akte den Namen, der Friedrich 
Wilhelm III. sofort, Franz I. erst nach einigem Bedenken 
zustimmte, Am 26. September schlossen die drei Monarchen 
in Paris die mystische Akte ab, der allmälig fast alle euro- 
päischen Staaten beitraten; die Stifter meinten es ehrlich, 
bald aber wurde der zum Heile der Völker erdachte Bund 
die heilige Fehme des Absolutismus, ein Helfershelfer der 
Reaktion Metternichs und Araktschejews, die jede freiheit- 
liche Regung gewaltsam erdrückten, anstatt eines Segens 
ein Fluch für die Nationen, Laharpes Schüler wurde 
zum Schüler Metternich. Am 20. November 1815 er- 
nenerten die drei Monarchen und der Prinzregent Georg 
von Grossbritannien ihr Bündniss und gelobten einander, 
in wiederholten Zusummenkünften über die Sicherheit 
Europas zu wachen. Talleyrands Sturz und seine Br- 
setzung durch Richelieu war wesentlich durch Alexander 
mit herbeigeführt worden, auch Pozzo di Borgo war 
Richelieu sehr geneigt und so erklärte es sich, dass Russ- 
land auf dem Aachener Kongresse 1818 dafür eintrat, 
Frankreich von der Okkupation zu erlösen, und dass es 
auch für Ermässigung der Kriegskosten sprach; Alexander 
rieth Ludwig XVII bei seinem nunmehrigen Besuche, die 
Presse einzuschränken, denn er meinte: man müsse sich 
vor fünf bis sechs Zeitungsschreibern mehr fürchten als 
vor 200000 Soldaten; zugleich warnte er Ludwig vor den 


BEER — 


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IX. Alexander I. 0 


Umtrieben seines Bruders, Monsieurs, und des „Pavillon 
Marsan“, die ihm geradezu hochverrätherisch erschienen. 
Alexander besuchte selbst den Aachener Kongress und war 
bier für die badische Erbfolgefrage sehr thätig, die ihn als 
Gemahl Elisnbeths von Baden doppelt interessirte, Tetten- 
born erwarb sich dabei grosses Verdienst um Baden: in 
Aachen erschien auch, wie später in Verona, die geistvollste 
Diplomatin Russlands, die Gräfin, spätere Fürstin Lieven ®), 
wiederum eine Baltin, Alexander gewährte ihr, wann immer 
er sie sah, tiefere Einblicke in seine Politik als irgend einem 
seiner Minister und Gesandten, was ihre Stellung und das 
Ansehen Russlands in London, wo ihr Gatte Botschafter war, 
ausserordentlich erhöhte; Abends versammelten sich bei 
ihr die Herrscher und Diplomaten der Kongressmächte, 
Metternich gehörte zu ihren wärmsten Verehrern. In 
Auchen vertraten Capodistrias, Nesselrode und Pozzo di 
Borgo Russland, dessen Herrscher immer weiter vom 
Liberalismus abwich**); er sah mit Schrecken auf die 
revolutionären Regungen in seinen Landen, Ereignisse wie 
die Ermordung des Herzogs von Berry, die Attentate auf 
den russischen Staatsrath von Kotzebue und auf Tbell 
wirkten erschütternd auf ihn ein; er unterstützte Metter- 
niehs Politik und den Geist der Karlabader Beschlüsse, 
verliess den Posten des Agamemnon von Europa und 
reihte sich in die Suite Metternichs ein. wenn er auch 
nach wie vor Frankreich als Gegengewicht gegen Oester- 
reich und Grossbritannien zu verwerthen fortfahr; der 
Todfeind aller Revolution, bebte er beständig vor ihrem 
Phantome; seine grosse Zeit war vorüber, Als die Un- 
rühen in Neapel und anderen Gegenden Italiens Oester- 
reichs Uebergewicht auf der Halbinsel bedrohten und 
Metternich Massregeln dagegen ergriff, schloss sich der 


*) Geborene von Benckendorf. Kleinschmidt, Die Fürstin 
Dorothea Lieven, in „Westermanns Monatsheften“, Oktober 1808. 

”*) Eine russische Verbalnote ans Aachen schlug «ine allgemeine 
gegenseitige Gewährleistung des Besitzstandes aller Mächte der 
Heiligen Allianz und der Legitimität der restanrirten Regierungen 
vor; jede Frage konnte #0 zu einer europäischen werden, was Gross- 
britannien mit Misstrauen bemerkte. 


mw. \ 







d schrie nach Rache für solche Barbarei; 
; Alexandrowitsch Stroganow, ein erklärter Phil- 


‚Greueln gegenüber auf und entging nur mit Mühe der 
Wuth des Pöhels: aber nur vorübergehend unterbrach 
Alexander desshalb die diplomatischen Beziehungen zum 
Divan*); er strich den Fürsten Alexander Ypsilanti, der 
‚sich zuerst in den Donaufürstenthümern gegen den Sultan 
‚aufgelehnt hatte, aus dem Heere, dämpfte die alte Lust 
nach dem Besitze Konstantinopels, versüumte die Gelegen- 
heit, das Schutzrecht über die Christen in der Türkei aus- 
‚zuüben und Hellas vom Islam zu befreien**), Er stand 
allein seinem an ihm irre werdenden Volke gegenüber, 
alle Stände und Klassen fanden sich in der Opposition 
gegen den Bekämpfer der Orthodoxie, man sah Gottes 
‚Strafe in der grossen Ueberschwemmung von 1824 und in 
jedem über Russland hereinbrechenden Unheile, wie bald 
darauf in Alexanders Tod. Der Generalstabschef von 
Diebitsch, welcher bei der Ausbildung des Heerwesens 
Grosses leistete, hatte schon einen Feldzugsplan gegen 
die Türken entworfen, sein Zar aber blieb auf Seite der- 
‚selben. 

Graf Araktschejew, der leitende Günstling, wurde selbst 
von Metternich geleitet. Das „Väterchen Seiner Majestüt* 
wachte mit Argusaugen über Alexanders Sicherheit und 
Leben, spürte jedem Feinde, und wenn er sich noch so 
geheim hielt, nach und führte an der Spitze der Polizei 
ein eisernes Regiment, welches das ganze Reich in Schrecken 
hielt; reiste der Zar ins Ausland, so leitete der Graf die 
Regierungsgeschäfte im Besitze unumschränkter Voll- 













*) Stroganow nahm verbittert den Abschied. 

*®) Während in der Orientfrage Metternich und Canting Rüssland 
feindlich gegenüber standen, befestigte Pozzo di Borgo von neuem 
das Bündniss mit Frankreich, 


Bi ( 


IX. Alexander I. 





auf immer aus ganz Russland nach sich z0g. Sie hatten 
aber mit Erfolg auch die orthodoxe Geistlichkeit gegen 
die Bibelgesellschaft aufgehotzt, Araktschejew und die 
Metropoliten gingen zusammen und nun liess Araktschejew. 
den im Geruche der Heiligkeit stehenden Archimandriten 
Photius®). einen gefährlichen Intriguanten, gegen Galitzin 
wirken; der schwache Zar gab nach, der Metropolit 
Seraphim wurde anstatt des Fürsten Präsident der Bibel- 
gesellschaft. die unter ihm dermassen einschlief, dass ihre 
Einstellung unter Nikolaus I. eigentlich nicht mehr nöthig 
war, Alexander hatte im Jahre 1817 den Oberprokureur 
der heiligen Synode in allen Sachen dem Ministerium der 
Volksaufklärung unterstellt, 1824 emaneipirte er ihn wieder 
davon und im Juni d. J. entliess er Galitzin als Minister 
der Volksaufklärung**); als solcher trat der Admiral 
Alexander Ssemenowitsch Schischkow ein, ein Finsterling, 
der den Unterricht der untersten Klassen des Volks für 
unnütz erklärte, trotz weiter Reisen ein Mann von engem 
Horizonte, ein ausgesprochener Feind aller Reformen, aber 
voll Wissen und Autorität in Beherrschung und Ausbildung 
der russischen Sprache; er war seit 1813 Präsident der 
tussischen Akademie, deren Sitz seit Paul auf Wassilii- 
Östrow war, und diese gab von 1815 bis 1828 „Nach- 
richten* heraus®**); Schischkow bemühte sich, die Gallo- 
manie aus der Literatur auszumerzen, was ihm Händel 
mit Karamsin zuzog, wollte die slawische Sprache und das 
slawische Volksthum vor allen europäischen Mischungen 
bewahren. Er verschärfte jetzt und unter der folgenden 


*) Barssow bringt den interessanten Briefwechsel Galitzins mit 
Photius (Photii) von 1822—1895 in „Rusakaja Starina® 1892. 

**) Trotz aller Intriguen Photius’ blieb Galitzin Generaldirektor 
der Posten und der persönliche Freund Alexander, dem er durch 
Perlustrirung des Briefverkehrs in den letzten Lebensjahren grosse 
Dienste leisten sollte. 

“+, Nikolaus hob die Akademie nach Schischkows Tod am 
81. Oktober 1841 auf, verschmolz sie aber wissenschaftlich und mit 
ihrem Vermögen mit der Akademie der Künste, deren zweite Abtheilung 
sie nun bildete. Schischkows gesammelte Werke (er war anch Dichter) 
erschienen in 14 Bänden 1823—1834; er hinterliess auch Memoiren, 

A, Kisinsehmidt, Ueberbi. d, russ. Gesch. # 1608, zo 


we 






IX. Alexander T. 207 
hochhielt, und sie fünd ihre Vereinigung im „Arsamass“, 
welchen Fürst Peter Andrejewitsch Wjasemski, der grosse 
Liederdichter, mit W. A. Shukowski, Puschkin, Ssergei 
Ssemenowitsch Uwarow*), Dmitrii Nikolajewitsch Bludow 
und Dmitri Wassiljewitsch Daschkow gründete. Nahm 
die periodische Presse ir St. Petersburg bereits einen be- 
deutenden Aufschwung, so war dies noch weit mehr mit 
der in Moskau der Fall; da spielten die hervorragendste 
Rolle Karamsins Zeitschrift „Der Europäische Bote“, 
Makarows „Moskauer Merkur“, Ssergei Glinkas „Russischer 
Bote“, von dem wir oben hei dem Jahre 1812 sprachen, 
Gretschs „Sohn des Vaterlandes“ und der 1818 gegründete 
„Russische Invalide®, alle im höchsten Masse anti- 
französisch. Gab doch Rostoptschin fortwährend seinem 
Hasse gegen Napoleon und gegen die Franzosen den 
drastischsten Ausdruck; im Jalre 1814 schrieb er, ein 
schlechter Prophet vor den Hundert Tagen: „Welches 
Ende hat dieser elende Bonaparte genommen! seitdem er 
zum Konsulate gelangte, seit dem Tode des Herzogs von 
Enghien.... war ich überzeugt, er sei ein Lump*, und später: 
„Die Welt wird nie Ruhe haben, so lunge es eine fran- 
zösische Nation mit Paris als Hauptstadt geben wird. In 
der Rue Richelieu muss Gras wachsen und im Palais 
Royal muss man wilde Hasen schiessen. Man hat 1814 
und 1815 eine schöne Gelegenheit versäumt, um Frank- 
reich ausser Stand zu setzen, Europa fortan zu schaden“, 
endlich ein anderes Mal: „Armes Land! Schufte, Knicker, 
Schelme, Strohköpfe und Canaillenpläne. — Hier brauchte 








*) Sein „Projet A'ane academie asiarique* von 1810 gab den 
Anlass, das Studium der morgenländischen Sprachen in St. Petersburg 
zu pflegen, wo an Universität und an Akademie der Wissenschaften 
Lehrstühle dafür errichtet wurden, or war ein bedentender Orientalist. 
1828 wurde eine vom Ministerium des Aeusseren abhängende orientalische 
Schule gegründet, um Zöglinge für die Diplomatie im Orient heran- 
zubilden. Uwarow war von 1811—21 Kurator der Universität öt. 
Petersburg, seit 1818 Präsident der kais, Akademie der Wissen- 
schaften und war wie Schischkow darauf aus, die russische Sprache 
zur dominirenden, ja zur einzigen im Reiche zu machen; früher liberal, 
wurde er immer reaktionärer. 

or 


bie 









Intendant der $t. Petersburger Hofbühne, Als Historiker 
ragte über Alle der Reichshistoriograph Nikolai Michailo- 
witsch Karamsin hervor, der im Jahre 1818 Alexander 
das erste Exemplar seiner bis 1618 reichenden elfbändigen 
Geschichte Russlands überreichte; auf Karamsins Wunsch 
übernahm Bludow (s. oben) die Herausgabe des zwölften 
Bandes*) und gab denselben, vom Geheimrathe Serbino- | 
witsch unterstützt, im Jahre 1829 nach Karamsins Tod | 
unvollendet heraus; heutzutage ist Karamsins oberflüch- n 
liches Werk veraltet und überholt, seine zahlreichen Irt- 
thümer sind entschleiert, seiner Zeit aber beherrschte es | 
die Geschichtsschreibung und Alexander wie Nikolaus | 
überhäuften den Verfasser mit Huldbeweisen; August | 
Ludwig von Schloezer hatte mit der Herausgabe der | 
Ohronik des Kiewer Mönches Nestor die Hauptquelle der 

älteren russischen Geschichte erschlossen. Seit 1809 war 

für die Geschichtskunde eine Kommission thätig, der 

Borosdin und Jermolajew neben Karamsin angehörten, der 
Reichskanzler Graf Nikolai Petrowitsch Rumjanzow war 

der Mäcen der russischen Literatur und man sprach zu 

dieser Zeit in Europa von der „Rumjanzow-Epoche*. Von 

Jugend auf sammelte Rumjanzow Bücher und Schriften, 

zahlte hohe Summen für Handschriften, manchmal bis zu 

1000 Rubel, und wurde wegen seiner Liberalität „dor 

Kassier der russischen Literatur“ genannt; es gab keinen 
freigiebigeren Gönner für junge Talente, er liess Gelehrte 

auf seine Kosten im Auslande Nachrichten über Russ- 

land aufsuchen und excerpiren, unterstützte sie bei der 
Herausgabe ihrer Arbeiten**) und gab auch fremden 
Schriftstellern, die über Russland schrieben, Gelder; da 

er wünschte, es möge eine vollständige Sammlung der 

Verträge Russlande mit dem Auslande nach Art dos 

Werkes von Jean Dumont veranstaltet werden, so regte 

er unter Verleihung bedeutender Subventionen solche Ar- 

beiten an und errichtete am Ministerium des Aeusseren 


IX. Alexander I. 


*) Er reicht bis zur Thronbesteigung der Romanow. 
*) Im Jahre 1818 beglückwünschte er N. J. Turgenjew zu 
seinem „Versuch über eine Theorie der Steuern“, 


IX. Alexander 1. 





liche Bibliothek der Benutzung übergeben, mit kostbaren 
Werken und Handschriften ausgestattet: Graf Alexander 
Ssergejewitsch Stroganow war ihr Direktor, auch er ein 


wahrer Mäcen. Stroganow gründete in seinem Palaste 


eine Galerie und eine Bibliothek, die er Jedermann zugäng- 
lieh machte, brachte eine reiche Kupferstichsammlung und 
ein Medaillenkabinet zusammen, unterstützte aufstrebende 
Talente und gab als Präsident der kaiserlichen Akademie 
der Künste (1800— 1811) den Künstlern sehr hohe Honorare. 
Unter seiner Leitung vereinigte die Akademie der Künste 
eine Reihe bedeutender Talente, unter den Bildhauern Mar- 
tos, Demuth-Malinowski, Schubin, Halberg und den Grafen 
Pedor Petrowitsch Tolstoi®), unter den Malern „den russi- 
schen Poussin“ Wassilii Schehujew, Andrei Iwanow, Alexei 
Jegorow, den Porträtmaler Dmitrii Lewizki, den Land- 
schaftsmaler Ssemen Schtschedrin, Koslowski. Schtschukin, 
den Porträt- und Historienmaler Wladimir Borowikowski. 
der mit der linken Hand malte, Besssonow, die Porträt- 
und Genremaler Alexander Warnek, Alexei Wenezianow, 
den Stroganow besonders werthen Orest Kiprenski und 
"Worobjew, unter den Architekten Melnikow, Michailow 
und Woronichin, unter den Kupferstechern den gefeierten 
Ignaz 5. Klauber, den Fürsten Uchtomski, Utkin u. A. Auch 
die Grössen der Literatur waren Stroganow liebe Freunde; 
von Wisin las ihm seine Satiren, Bogdanowitsch, der 
Vater des komischen Epos. seine „Duschenka® vor, 
Bortnjanski stand ihm sehr nahe, Dershawin widmete ihm 
Oden, Gneditsch konnte nur mit seiner pekuniären Hilfe 
die Uebersetzung der Iliade vornehmen, Krylow liebte 
ihn ungemein. Als die Kasansche Kathedrale in St. Peters- 
burg mit einem Kostenaufwande von 2Ys Millionen Rubel 


*) Dieser Autodidakt entschloss sich mit 18 Jahren, vom Zaren 
bestärkt, dazu, sein Leben der Skulptur zu weihen, verliess mit 
28 Jahren als Flottenlieutenant den Dienst, arbeitete voll Eifer und 
wurde der grösste Medaillenr Russlands, einer der grönsten Europas, 
malte in Oel und Wasserfarben und gravirte; seit lange Professor der 
Skulptur- und Medaillenrkunst an der Akademie, seit 1880 Adjunkt 
des Präsidenten, starb er, 90 Jahre alt, 1979. Seine Memoiren er- 
‚schienen 1873 in der „Russkaja Starina“. 








2 


1X. Alexander f. Bis 
kümmerte sich nicht um den Staat und schrieb am 23. Sep- 
tember dem Stautssekretär N, N, Murawjew und dem 
Generalmajor Eichler, seine Gesundheit sei derart er- 
schürtert, dass sie die ihm obliegenden Geschäfte, Korre- 
spondenzen und Militärkolonien statt seiner besorgen 
müssten *). Unter Nikolaus werden wir von „der Schlange 





‚Gorynitsch“, wie Volk und Soldaten den Tyrannen von 


Grusino nannten, und von den Kolonien weiteres hören **), 
Am Ende von Alexanders Regierung schätzte man die 
kolonisirte Infanterie und Onvallerie auf 60—80000 Mann, 
in rücksichtslosester Weise arbeitete man auf den Militär- 
staat los. 

Nikolai J. Turgenjew hebt die grosse Wirkung her- 
vor, welche das lange Verweilen der russischen Heere im 
Auslande unter Alexanders Regierung auf Offiziere, Sol- 
daten und Landwehr ausübte und wie diese alle nach der 
Rückkehr die freisinnigen Tendenzen der Fremde in der 
Heimath einzubürgern bestrebt waren. Da man solche 
Ansichten nicht an die grosse Glocke hüngen durfte, 
sondern sie möglichst verhehlen musste, so bildeten sich 
neben der Freimaurerei, die das Haupt neu erhob, Geheim- 
bünde. Der erste um 1817 gegründete „Wohlfahrtsverein® 
erlosch alsbald wieder, ebenso erging es den „freien Ge- 
sellschaften“ unter dem St. Petersburger Militär, deren 
eine Fürst Eugen Petrowitsch Obolenski, Adjutant des 
Generals Bistrom, leitete; auch die Konferenzen, welche 
der Staatssekretär am Reichsrathe Nikolai Iwanowitsch 


*) Russkaja Starina, Oktober 1882, und Memoiren Turgenjews 
in „Russkaja Starina“, Juni 1895. 

**) Er liess in der Kathedrale von Grusino vor Pauls Büste neben 
lem für ihn bestimmten Grabmale Nastasia begraben und setzte 
ihr die Inschrift; „Hier ruht meine fünfundzwanzigjährige Freundin 
Nastasia Fedorowna, im September 1825 von ihren Leuten getödtet*; 
täglich verneigte er sich vor dem Grabe und schwückte es mit frischen 
Blumen. 


Um 1823 wurde von Ssuchotin ein Akrostichon auf ihn gedichtet, 
das unter den Oflizieren der Armee umlief und in dem er als Teufels- 
sohn, Höllensamen, Menschenfresser, Barbar, als schlimmer denn die 
Viper geschildert war. 


u _ 


regiments, verfusste die Statuten des Bundes, dessen Seele 
er wurde: ihm erschien die Republik die wünschens- 
wertheste Form für Russland, Die beabsichtigte Zeit- 
schrift des Bundes blieb Projekt, Der Bund war als- 
bald in sich uneinig, die Einen wollten das, die Anderen 
jenes, die Einen waren für friedliche Reform und höchstens 
für eine Beschränkung der Autokratie, Andere für eine 
Republik, für die Entthronung des Kaisers und seiner 
Familie, ja selbst für den Kaisermord; gefährlich waren 
vorerst weder diese noch jene trotz ihrer Beziehungen zu 
den Hauptstädten und zum Hauptquartiere der zweiten 
Armee in Tultschin (Podolien), Alexander hörte von dem 
Bunde und liess Orlow durch dessen Bruder, den General- 
adjutanten Alexei Fedorowitsch, davor warnen, traf aber 
keine strengen Massregeln gegen den Bund, so sehr ihm 
vor dem Gespenste der Revolution bangte. Michail 
F. Orlow war eben Präsident des Bundes, als sich auf 
der Generalversammlung in Moskau im Januar 1821 eine 
solche Uneinigkeit herausstellte. dass er*). ein Fürst 
Dolgoruki. Glinka u. A. austraten; der Bund löste sich 
bald darnach auf, aus den Trümmern aber enstanden 
gefährliche Verbindungen, welche an friedlichen Reformen 
verzweifelten. „die südliche“ und „die nördliche Gesell- 
achaft***). Besonders bedrohlich war die südliche Ge- 
sellschaft, in der Pestels Einfluss und Entschlossenheit 
dominirten; Pestel dachte an eine Erhebung gegen den 
Kuiser, trat mit unzufriedenen Polen wie Fürst Anton 
Jablonowski in Beziehung und plante Alexanders Er- 






X. Alesander I BT 








*) Orlow kommandirte jetzt die 16. Division bei der Stdarmee 
(zweiten Armee) nnd suchte Lancastersche Schulen bei den Soldaten 
und der städtischen Bevölkerung einzuführen; Alexander war sehr un- 
zufrieden ob seiner Beschäftigung mit der Politik und rief ihm bei 
den Manoeuvres des 6, Armeecorps bei Tultschin im Oktober 1828 vor 
Allen zu: „Ich rathe Euch, General, Euel mehr mit der Euch anver- 
trauten Division als mit den Geschäften meines Reiches zu beschäftigen.“ 
Sofort entsetzte er ihn des Dienstes (Russkaja Starina, April 1881). 

#*) In Wolhynien bildete sich, von den Brüdern Borissow ausgehend, 
die Gesellschaft der „Vereinigten Slawen“, der erste panslawistische 
Versuch zum Zwecke eines Bundes unter allen slawischen Völkern, 





IX. Alexander 1. 

Jüngeren Offiziere der Gardemarine und verabschiedete 
oder zurückgesetzte Offiziere der verschiedensten Regi- 
menter, z. B. der Generalmajor Fürst Ssergei Grigorjewitsch 
Wolkonski, Fürst Obolenski (s. oben), der Oberst Michail 
Michailowitsch Narischkin, der Hauptmann Jakubowitsch 
u. A. Die Verschworenen sprachen so unvorsichtig von 
ihren Wünschen und Plänen, dass die Regierung auf sie 
aufmerksam werden musste, und Pestel witterte Verrath. 
Der Oberbefehlshaber der ersten Armee, Graf von der 
Osten-Sacken, benachrichtigte den Oäsarewitsch Ende 1825 
durch seinen Generalstabschef von Toll, es arbeite eine 
grosse Verschwörung im Heere, man wolle die i 
form ändern, und traf zugleich energische Mittel dagegen. 
General von Diebitsch, der Chef des grossen Generalstabs 
und Generalmajor der Armee, war den Verschwörern be- 
sonders verhasst und sie hatten schon 1824 seine Auf- 
hebung bei einer Revue geplant, jetzt benachriehtigte er 
den die Südurmee befehligenden Grafen zu Sayn-Wittgen- 
stein von der Verschwörung und sandte den General- 
adjutanten Tschernyschew (s. oben) mit Nachrichten darüber 
an Konstantin; ganz auf eigene Faust ergriff Diebitsch 
Mussregeln gegen die Verschwörer in der Südarmee. 

Tiefe Melancholie hatte sich Alexanders in letzterer 
Zeit bemächtigt und, trüber Ahnungen voll, verliess er im 
Herbst 1825 St. Petersburg, um seine schwerkranke Ge- 
muhlin nach dem Süden Russlands zu begleiten; bei ihm 
waren Diebitsch, sein Jugendfreund Fürst Peter Michailo- 
witsch Wolkonski u. A., man erreichte Taganrog am 
23. September 1825 und hier erfuhr Alexander Nüheres 
über die Konspiration. Immer wieder trat ihm vor die 
Seele, wie er Kaiser geworden war; er sah die Liebe 
seines Volkes erkaltet, es sprach von der Ueberschwem- 
mung St. Petersburgs als von Gottes Strafe für des 
Kaisers Gleichgiltigkeit gegen die Griechen, und er trauerte 
über die Verwicklungen, die er seinem Nachfolger hinter- 
lassen würde, wie über so manche getäuschte Hoffnung. 
Er rief Araktschejew zu sich, der aber trotz seiner und 
des ersten Leiburztes, des Baronet Wylie, Drängen nicht 
kam, bereiste die Asowsche Küste und die Krim und 





320 IX. Alexander T. 


besuchte das Grab der Mutter der Heiligen Allianz*) in 
Koreiss. Nach Taganrog zurückgekehrt. wurde er immer 
kränker und am 1. Dezember 1825 starb er an einem 
typhösen Fieber in Elisabeths Armen. noch nicht 48 Jahre 
alt: Fürst Wolkonski führte die Leiche nach St. Peters- 
burg. wo sie am 25. März 1826 in der St. Peter- und 
Paulskirche beigesetzt ward**). Elisabeth wurde hier 
schon am 3. Juli mit „ihrem Engel“. wie sie ihn zu 
nennen pflegte, vereinigt. sie war am 16. Mai 1826 zu 
Belew im Gouvernement Tula ihren Leiden erlegen. 


*) Alexander hatte sich längst den Banden der Frau von Krüdener 
entzogen, kam aber nicht über ihre Prophezeiungen schweren Un- 
glücks hinaus: ihre Bemühungen für die Griechen waren bei ihm er- 
folglos geblieben und auf ihre Briefe kam keine Antwort von ihm. Jetzt 
aber betete er an ihrem Grabe, ernenerte die alte Gemeinschaft und 
liess sich von ihrer Freundin, der Fürstin Anna Ssergejewua Galitzin, 
bei der sie 1824 gestorben war, die ihr für ihn anvertrauten Papiere 
übergeben. Tief ergriffen ritt er von dannen. (Kleinschmidt, Frau 
von Kriüdener, s. 0.) 

**) Araktschejew liess im Jahre 1833 von S. J. Halberg Alexander 
in Grusino vor der Kathedrale ein prachtvolles Broncedenkwal setzen; 
mit Alexanders Tod war sein Reich zu Ende. 





. 


ud X. Nikolaus L 
ein formelles Gesuch an Alexander und e au 
14. Februar seine und Marias Zustimmung, nicht aber 
trotz aller Bitten die Abfassung einer Staatsakte mit 
reehtskräftiger Wirkung. Nikolaus wusste noch immer 
nichts davon. Am 28. August 1823 unterzeichnete endlich 
Alexander ein vom Metropoliten Philaret verfasstes Mani- 
fest, das Nikolaus anstatt Konstantin zum N) 
bestimmte; es wurde wie auch die Bestätigung des Ver- 
ziehts vom 14. Februar 1822 nicht im Reichsrathe auf- 
bewahrt, sondern — der Kaiser liebte ja das Mystische — 
unter der Altardecke der Usspensskischen Kathedrale in 
Moskau deponirt*) und blieb Stantsgeheimniss, Machte 
Alexander auch Nikolaus bisweilen Andeutungen über die 
ihm bevorstehende Stellung, trug er ihm auch, als er 
seine letzte Reise nach Taganrog antrat, einen gewissen 
Antheil au den laufenden Geschäften in der Residenz auf, 
s0 üusserte er sich doch niemals definitiv Nikolaus 
gegenüber. 

Der Grossfürst Nikolaus bewunderte Alexander und 
sah in Konstantin den Phronberechtigten, in seinem Mit- 
schüler Michail den lieben Freund. Auf seine Erziehung 
übte neben der Mutter, die sich als Wittwe mit Werken 
grossartiger Wohlthätigkeit beschäftigte **). die Gross- 
erzieherin und Oberhofmeisterin Gräfin Charlotte Karlowna 
Lieven, ihre intimste Freundin, den grössten Einfluss: sie 
war eine geistvolle Frau von unbeugsamer Konsequenz 
und etwas rauhem Freimuth, Nikolaus und Michail 
hingen an dieser „Grossmama* mit unbogrenzter Ver- 
ehrang, wie schon Kaiser Paul sie kindlich verehrt hatte; 
Marias Testament vom 27. November 1827 gedenkt ihrer 











*) So erzählte Philaret selbst. 

**) Die von ihr geschaffenen Anstalten kamen unter einen „Haupt- 
ratlı der weiblichen Bildungsinstimmte*‘, doch wurde statt dessen im 
Dezember 1873 ein Vormundschaftsrath eingesetzt. Im Jahre 1828 
wurden ihre Anstalten einer vierten Abtheilung der Privatkanzlei des 
Kaisers unterstellt und diese besteht noch als „Privatkanzlei für die 
Etablissements der Kaiserin Maria“, ist sehr ausgedehnten Umfangs, 
bildet an sich ein Ministerium mit mehreren Expeditionen und einem 
Unterrichtscomits; an der Spitze steht ein Generaldirigent. 

gı* 















Konstantin zum Kaiser proklamirend, Wassilkow, rückten 
auf Kiew los, um in neue Verbindung mit den „Vereinigten 
Slawen“ zu treten, wurden aber am 15. Januar bei Usti- 
nowka von den Generalen Geismar und Roth geschlagen, 
Hippolyt gab sich selbst den Tod, Ssergei und Matwei 
sowie Bestushew-Rjumin wurden gefangen, ihre Scharen 
Hüchteten oder ergaben sich. An der Spitze des Kom- 
plots stand nominell Fürst Trubetzkoi als „provisorischer 
Diktator“, für den jedoch Rylejew die Arbeit besorgte; der 
Fürst wurde auf Befehl Nesselrodes bei seinem Schwager, 
dem oesterreiehischen Gesandten Grafen Lebzeltern, vor- 
haftet, fehte Nikolaus auf den Knieen um sein Leben an 
und nahm seine volle Verachtung in den Kauf. Der Prozess 
der „Dekabristen® währte viele Monate. Speranski ging 
Nikolaus mit gutem Rathe zu Hilfe und auf seine Empfehlung 
trat Bludow in die Kommission, welche die Untersuchung 
führte, um alsbald ihr eigentlicher Leiter zu werden; im 
Juni 1826 legte er Nikolaus den ausführlichen Bericht 
über das Ergebniss der Untersuchungskommission vor"). 
Mehr oder minder schwer war die Strafe der zahlreichen 
Rebellen gegen die Autokratie, man theilte sie in Kate- 
gorien ein: nur fünf wurden am 25. Juli gehängt **): Pestel, 
Rylejew, Bestushew-Rjumin, Ssergei J, Murawjew-Aposto] 
und der Mörder Miloradowitschs, Kachowski; bei Rylejew, 
Murawjew und Bestushew operirten die Henker so un- 
geschickt, dass ihre Leiden noch vergrössert wurden. und 
Rylejew höhnte, man könne in Russland nicht einmal 
ordentlich gehängt werden. 85 Verurtheilte wurden zu 
lebenslänglicher resp. zeitweiliger Zwangsarbeit oder zu 
ewiger resp. zeitweiliger Verbannung nach Sibirien ge- 
schickt, nachdem sie degradirt und des Adels verlustig 


X. Nikolans I, 


= 











*) Er wurde bald darauf Minister-Gehilfe des Admirals Schischkow, 
Ministers der Volksaufklärung, und Staatssekretär, 

*) Die Kommission hatte als Strafe Vierthoilung nnd Rad aus- 
gesprochen, Nikolaus begnadigte zum Strange Mehrere Hundert 
warden in Polen verhaftet, des Hochverraths angeklagt und von der 
Kommission verurtheilt, Nikolaus überwies das Urtheil dem polnischen 
Senats zur Revision und dieser »prach zu Nikolaus’ Verdrmas am 
17, Oktober 1828 Alle frei, 












Seine grossen Fehler aber waren NE 
Halsstarrigkeit und Verbohrung in falsche Vorstellungen. 
Im ‚direkten Gegensatze zu dem Freihandelssysteme des 
Cobden, war er ausgesprochener 
wollte alle Fabrikate, die Russland brauchte, in Russ- 
lund gemacht sehen und besteuerte alle vom Auslande 
kommenden so hoch, dass es einem Verbote und einer 
neuen Kontinentalsperre gleichkam. Die russischen Fabri- 
kate wurden naturgemäss schlechter, die Ausfuhr nach | 
England nahm enorm ab, Canerin aber war so unbelehrbar, 
dass er sogar die Einfuhr von Tuch aus Polen verbot, | 
was ihn in heftigen Zwist mit dem polnischen Schatz- 
minister Fürsten Lubecki brachte; die übertrieben strengen 
Gesetze gegen den Schmuggel führten zum Gegentheile, 
der Schmuggel an den Grenzen erreichte den Umfang der 
Gurjewschen „alten, guten Zeit“. Canerin war ein be- 
deutender Administrator und bewahrte Russland vor dem 
Bankerotte, brachte aber Industrie, Handel und öffent- 
lieben Verkehr in Abhängigkeit von der Regierung; 
Staatskredit und Stantseinnahmen stiegen. er sparte die 
Staatsgelder derart, dass er sogar dem Kaiser wiederholt 
Forderungen versagte, und erwarb sein felsenfestes Ver- 
trauen”). Die Neuerungstendenzen Westeuropas waren 
Kaiser und Minister ein Greuel, Cnnerin wünschte Russ- 
land vom Wirthschaftssysteme Europas ganz zu isoliren, 
Beide betrachteten die Eisenbahnen als die Fortpflanzer 
revolutionärer Anschauungen aus dem Westen und doch 
konnte Nikolaus nicht umhin, die orsten Linien St. Peters- 
burg-Zarskoje Sselo und St. Petersburg-Moskau persönlich 
zu eröffnen. Im Dienste der Wissenschaft wurde viel 
Geld verwendet, nirgends aber verschwendet, denn Canerin 
angte; in Russland müsse der Finanzminister die anderen 
Minister „abwischen“. 
Um aller Welt zu zeigen, dass er freiwillig auf den 
Thron verzichtet habe, wohnte Konstantin der Krönung 
des Kaisers und der Kaiserin am 3. September 1826 in 
Moskau an und es war ein ergreifender Augenblick, als sich 


*) Graf 1829, 


| 





— X. Nikolaus I. 38 
der Stimme; „Ihr Blenden! Nicht die Brunnen sind ver- 
giftet, aber Ihr habt mit Euren Sünden Euch selbst ver- 
giftet, Nun betet zu Gott, dass er Euch vergebe und die 
Plage von uns nehme.“ Ein tausendstimmiges „Hurrah! 
Hoch lebe unser Herr und Vater!“ war die Antwort der 
aufrührerischen Menge, und ohne die Verwendung eines 
einzigen Polizeisoldaten war die Bewegung wie mit einem 
Zauberschlage überwunden, Dieser grosse Moment stand 
mir vor der Seele, als ich dem Kaiser in die Augen blickte.“ 
Nirgends aber war Nikolaus eine so wirkungsvolle und 
elektrisirende Gestalt wie vor der Front seiner Truppen, 
die ihn vergötterten und fürchteten. 

Nikolaus war Autokrat vom Scheitel bis zur Sohle 
und betrachtete es als sein Ziel, unbedingter Allein- 
herrscher im Inneren seines Riesenreiches zu werden und 
jede Opposition, wenn auch auf Kosten des Fortschritts, 
auszurotten; er brauchte hierzu eine ihm blind ergebene 
Bureaukratie und stellte auch die Civilverwaltung gewisser- 
massen unter die Aufsicht seiner Generaladjutanten. Zum 
schweren Nachtheile für die Intelligenz wurde die Censur 
rigoros ausgeübt, denn mehr noch als sein Bruder in der 
zweiten Hälfte seiner Regierung sah Nikolaus in allem 
Liberalismus eine bedenkliche Spielart des Revolutionüren, 
Ein Polizei- und Spionirnetz umspannte Russland. An der 
Spitze der gefürchteten dritten Abtheilung der Privat- 
kanzlei des Kaisers stand der Bruder der auch bei Niko- 
laus in höchstem diplomatischem Ansehen gebliebenen 
Fürstin Dorothea Lieven*). Graf Alexander Christophoro- 
witsch von Benckendorff, der ihm am 26. Dezember, wo 
er ihn auf den Senatsplatz begleitet hatte, theuer ge- 
worden war, ein pflichteifriger, ehrenhafter, aber be- 
schränkter Mann; Benekendorff vereinigte in seiner Hand 
die Fäden der ganzen Geheimpolizei, wich nicht von 
Nikolaus’ Seite, machte jede Reise mit und Nikolaus 
äusserte: „Ich bin wohl für Russland zu ersetzen. Bencken- 
dorff aber nicht.“ Allmälig aber setzte er ihm eine Kreatur 
Araktschejews, Kleinmichel, an die Seite, was Bencken- 








*) Kleinschmidt, Die Fürstin Dorothea Lieven (s. oben). 


X. Nikolaus T. ww 
die Universitäten nicht zu Leichen machen wollte, Niko- 
laus berief eine Kommission zur Reorganisirung derselben. 
z0g ihn nicht hinein*) und er trat 1849 ab, von allen 
Ministern seines Departements bis heute hat er am längsten 
das Portefeuille inne gehabt. Es wurde weit schlimmer; 
unter seinen Nachfolgern, dem Pürsten Platon Alexandro- 
witsch Schirinski-Schiehmatow (1850 —53) und Norow, er- 
starrten die Universitäten zu Eis und der witzige Fürst 
A. 8. Menschikow sagte; „Früher schleppte sich die Auf- 
klärung bei uns wie ein faules Pferd herum, immerhin 
aber ging es auf vier Beinen, jetzt aber geht es auf drei 
und das obendrein mit einem störrigen Pferde (norow)* **). 
Nikolaus schenkte hingegen der nationalen Schulung der 
Russen viel Aufmerksamkeit und Pflege, begünstigte das 
Aufblühen der russischen Literatur, besonders der russischen 
Geschichtschreibung und Poesie, und die Ausgestaltung 
des nationalen Theaters. Nikolai Alexejewitsch Polewoi, 
der lange das angesehene kritische Journal „Moskauer 
Telegraph“, dann in St, Petersburg den „Sohn des Vater- 
lands“ herausgab und für die romantische gegen die 
klassische Richtung kämpfte, schrieb seine „Geschichte 
des russischen Volkes“, Michail Petrowitsch Pogodin, der 
Redakteur des „Moskauer Boten“, des „Moskauers“ und 
schliesslich der politisch-literarischen Wochenschrift „Russ- 
kii“, einer der entschiedensten Panslawisten. brachte eine 
grosse Sammlung russischer und slawischer Alterthümer 
zusammen ***), stellte Untersuchungen über den Ursprung 
der Russen, eine viel umstrittene Frage, an, gab sieben 
Bände des „Russischen historischen Magazins“ heraus, 
schrieb Novellen, Tragödien und Geschichtswerke, vor 
allem seine „Untersuchungen, Erläuterungen und Vor- 
lesungen über die russische Geschichte“, und starb 1875 
unter Vorbereitungen zu einer „Geschichte Peters des 
Grossen“; Ustrialow schrieb seine „Geschichte Russlands“, 


*) Ans dem Leben Theodor von Bernhardis, Band 2, 
Leipzig 1898. 

=") Russkaja Starina, 1880, 

***) 1859 kaufte die Regieraung sie theilweise, einen anderen 
Theil vermachte Pogodin seiner Vaterstadt Moskau. 






pe 








X. Nikolaus T. Fr 
Danilewski, Dmitrii Petrowitsch Buturlin®), unter Aloxan- 
der I. Modust Iwanowitsch Bogdanowitsch und Dmitrii 
Alexejewitsch Miljutin. Nikolai Gretsch, aus böhmischer 
Familie, der früher am „Sohn des Valarlandese und am 
„Russischen Boten“ thätig gewesen war, gründete im 
Jahre 1825 mit Faddei Wenediktowitsch Bulgarin die 
„Nordische Biene“ (Ssewernaja Ptschela), eine historisch- 
statistische mit literarischen Feuilletons ausgestattete 
Zeitung, die durch die Mitarbeiterschaft der ersten Schrift- 
steller rasch tonangehend wurde. Wissarion Grigorjewitsch 
Bjelinski, dessen „Literarische Träumereien* 1834 all- 
gemeines Aufschen erregt hatten, leitete den „Moskauer 
Beobachter“ und den kritisch-bibliographischen Theil von 
Krajewskis „Vaterländischen Memoiren“, wurde Mitarbeiter 
an Nekrassows „Zeitgenossen®, war aber vor allem der 
grösste, tiefsinnigste und offenste Kritiker; er machte die 
russische Gesellschaft auf den Werth der vaterländischen 
Literatur aufmerksam und wurde für sie ein Aufklärer, 
er entdeckte Gogols Talent **), vergötterte ihn, verzieh 
ihm aber nicht seine Gleichgiltigkeit, ja Abneigung gegen 
die Bauernbefreiung, die er schon als Student in einer 
Tragödie verlangt hatte, und griff ihn 1847 in einem 
merkwürdigen Briefe im „Polarstern“ an; er vor Allen 
jubelte ja den Bestrebungen des Kaisers Nikolaus für die 
Emaneipation zu. Nach wie vor bekämpften einander die 
Romantiker und die Klassiker, erstere im „Telegraphen*, 
letztere im „Teleskopen“, und im „Moskowiten“ rührten 
sich die Slawophilen. 
Und welch unsterbliche Schar von Dichtern hatte 
Kussland zur Zeit Nikolaus’ I.! Alexander Ssergejewitsch 
Puschkin war von allen der grösste und nationalste, 





*) Ein fanatischer Altrusse, der Uwarow als Minister der Volks- 
aufklärung gefolgt wäre, wenn ihn nicht der Tod ereilt hätte; er 
würde am liebsten alle Universitäten aufgehoben haben ! 

**) Er war ein Todfeind des Absolutismus und nur sein früher 
Tod bewahrte ihn vor den Verfolgungen der dritten Abtheilung, im 
Sommer 1898 aber bei der 50. Wiederkehr seines Todezjahres bereitete 
Ihm die Regierung eine wahre Apotheose in ganz Russland! 

A. Kleinschmidt, Usberbl. d. run. Gesch. u. 1508. 22 


k 
























X. Nikolaus I. u 
lage rechtlicher Denkungsart gegenüber veralteten und 
verderbten Anschauungen in seinem noch zu Alexanders I. 
Zeit geschriebenen und heute noch gern gesehenen Lust- 
spiele „Ein Unglück, Verstand zu hahen* (Gore ot uma) 
und wurde einer der bedeutendsten Dramatiker®): weit 
kühner noch in der Aufdeckung alter Sünden und in der 
Enthüllung der Bestechliehkeit der Beamten war der Klein- 
russe Nikolai Wassiljewitsch Gogol, über dessen bis heute 
unübertroffenes Lustspiel „Der Revisor“ Nikolaus selbst 
bei der ersten Aufführung lachte, bis ihm die Thränen 
kamen, und der sein Talent in der Naturschilderung und 
seine Sehnsucht nach der Natur in „Tarass Bulba“, seine 
gründliche Menschenkenntniss in dem Romane „Todte 
Seelen“ verewigte, leider aber zuletzt in Bigotterie verfiel und 
den Hungertod starb. Gogol that, wie Eugen Zabel sagt**), 
den entscheidenden Schritt aus der romantischen Gefühls- 
schwelgerei zur renlistischen und realen Betrachtung des 
Lebens; aus dem nationalen Gefühle der Romantiker, 
eines Puschkin und Lermontow, wird bei ihm die fana- 
tische Begier, Russland im Besitze der Weltherrschaft 
sehen zu wollen, und doch gesteht er weinend, dass sein 
Vaterland „eine todte Seele“. dass dessen Zustände un- 
haltbar seien, Alexander Herzen, der natürliche Sohn des 
Krösus Jakowlew, wegen Freisinns und socialistischer 
Träumereien wiederholt verwiesen, begann als „Iskander*, 
Iwan Ssergejewitsch Turgenjew mit seinem „Tagebuch 
eines Jügers“ seine merkwürdige Laufbahn. Der Dekabrist 
Alexander Alexandrowitsch Bestushew, der grosse Gegner 
der falschen klassischen Richtung in der russischen Lite- 
ratur, hatte für seine Zeit hobe Bedeutung als Roman- 
schriftsteller, Kritiker und Journalist und stand in der 
Vorderreihe der Dichter zweiten Rangs; er diehtete im 
Freiheit und in Haft***), seine Erzählungen zogen Pusch- 


*) Auch er endete mit 34 Jahren 1829 als Gesandter in Persien 
durch Mord. 
**) Porträts aus dem russischen Literaturleben, in „Unsere Zeit*, 
Jahrgang 1888, 1. Heft, Leipzig. 
”*) Er schrieb sein Gedieht „Andrei Perejasslawski* in einer 
Festung Finnlands bei Nacht, indem er mit den Zähnen in ein Stückchen 
22» 


& 





bewunderte man Pissemskis Romane und über die Ver- 
fasser solcher stieg hoch empor das Talent des jungen 
Socialdemokraten Fedor Dostojewski, der in dieser Zeit 
seine „Armen Leute“ schrieb. Die besten und beliebtesten 
russischen Lustspiele der Neuzeit wurden von Alexander 
Nikolajewitsch Ostrowski geschrieben. Unter den Schrift- 
stellerinnen ist Rostoptschins Tochter hervorzuheben, Gräfin 
Sophia I, Segur, eine Freundin der geistreichen Frau 
Swetschin und gleich ihr zur römischen Kirche über- 
getreten; während sie sich hauptsächlich auf Kinder- 
schriften beschränkte und „Le Balzac des bebes“ wurde, 
war Rostoptschins Schwiegertoehter, Gräfin Jewdokin 
Petrowna, geborene Suschkow, die in russisch und fran- 
zösisch mit gleicher Leichtigkeit dichtete, Meisterin in ver- 
schiedenen Gattungen der Literatur und zählt zu den 
besten Autorinnen ihres Vaterlandes. Alle überholte weit 
die auf den mannigfachsten Gebieten des Wissens bewan- 
derte und in zehn Sprachen schriftstellernde Fürstin Helene 
Koltzow-Massalski, geborene Fürstin Ghika, die unter dem 
Namen Dora d’Istria schrieb, doch fällt ihre Blüthezeit 
unter Alexander IL, sie lebte seit 1855 ausserhalb Russ- 
lands und starb im November 1888 in Florenz*), Auf 
Nikolaus’ Befehl schrieb Alexei Pedorowitsch Lwow die 
russische Nationalhymne „Gott erhalte den Zaren“, bei 
‚deren erster Aufführung in der Hofsüngerkapelle im Jahre 
1833 Nikolaus so entzückt war, dass er Lwow, ihren Direk- 
tor, umarmte und die Hymne mehrfach wiederholen liess. 
Der erste eingeborene Russe, der grosse Opern schrieb, war 
Michail Iwanowitsch Glinka, der Hofkapellmeister und 
Direktor der kaiserlichen Oper, ihm verdankt man „Das 
Leben für den Zaren“ (1836) und „Russlan und Ljud- 
milla“, 

Die Bilderschätze der Eremitage wurden von Nikolaus 
vergrössert, er kaufte die kleine Sarmmlung des verschuldet 
gestorbenen Grafen Miloradowitsch, Theile der Samm- 
lungen der Königin Hortense, des Friedensfürsten, des 

*) Kleinschmidt, Dora d'Istrin, in „Unsere Zeit“, Jahrgang 
1887, 5. Heft, Leipzig. 









X. Nikolans I. BE 


Gesellschaft, zum Oberprokureur der Heiligen Synode; 
nit der Brutalität eines Korporals fanatisirte derselbe die 
orthodoxe Kirche, machte sie zum blinden Werkzeuge 
von Nikolaus’ Uniformitätssucht und leitete sie militärisch; 
er konvertirte gewaltsam Hunderttausende in den Ostsee- 
provinzen, schloss die orthodoxe Kirche gegen jede evange- 
lisirende Richtung hermetisch ab, 4% Millionen unirter 
Griechen traten in Litauen und Weissrussland in den Schoss 
der orthodoxen Kirche zurück, ungeachtet der Proteste 
der Kurie, hingegen liessen sich Raskolniks und Staro- 
werzen trotz aller Gewaltthätigkeit nicht bekehren. Und 
Rom gewann immer neuen Zuwachs in der hohen rus- 
sischen Gesellschaft; eine Tante Protassows, Alexandra 
Petrowna Protassow. verwittwete Fürstin Galitzin, war 
sine der ersten Konvertitinnen unter Alexander I. und 
stürzte sich in die tiefste Bigotterie; sie zog ihre Schwestern 
Katharina P., die Gemahlin Rostoptschins, das Hoffräulein 
Warwara P. Protassow und Wera P. Wassiltschikow mit 
Hilfe Joseph de Maistres, des Abb& Surugues u. a. Jesuiten 
hinüber; Gräfin Sögur (s. oben), die Tochter der Gräfin 
Rostoptschin, und ihre geistvolle Freundin Sophia Petrowna 
Swetschin, geborene Soimonow, traten ebenfalls zu Rom 
über, desgleichen die Kinder der Fürstin A. P. Galitzin®). 
Von letzteren wurde Fürstin Elisabeth Alexejewna Galitzin 
1825 Nonne im Saer& Coeur in Rom und starb 1843 in einem 
Hause dieses Ordens in Amerika und Fürst Augustin 
Petrowitsch, der Sohn von Elisabeths Bruder, ein frucht- 
barer Schriftsteller, trat in den Jesuitenorden ; 1848 liess sich 
ein Vetter desselben, Fürst Pedor Alexandrowitsch Galitzin, 
ein fanatischer Römling, unter die Milizen einreihen, die 
aus Rom zu Karl Albert zogen**), Fürst Iwan Ssergeje- 
witsch Gagarin, ein Verwandter der Frau Swetschin, wurde 
1843 Jesuit als „Pater Gagarin“ und starb 1882; obwohl 
wie „Pater Galitzin“ aus Russland verbannt und in Frank- 
reich lebend, blieb er voll Interesse am alten Vaterlande, 





*), Fallonx gab die Briefe der Swetschin an sie heran 
(Paris 1862). 
**, Er starb alebald 1848 in Bologna. 


| 
| 





Nikolaus sehr beliebt, in der Gesellschaft aber wegen 
seiner beissenden Witze gefürchtet. Für Araktschejew, 
den Günstling Pauls und Alexanders, war kein Platz am 
Herzen Nikolaus’ I. Schon am 26. Dezember 1825 hatten 
ihn Alle im Winterpnlais gemieden, in dem er finster 
blickend erschienen war, und seinem Gesuche vom 1, Januar 
1826 um Enthebung vom Dienste in der kaiserlichen Privat- 
kanzlei und in der Kanzlei des Ministereomitds hatte 
Nikolaus entsprochen; er war über manche Brutalität und 
Eigenwilligkeit des Grafen und seines Bastards, des 
Flügeladjutanten Schumski, entrüstet. Der Graf verlor 
die Direktion der Polizei und ging im Juni 1826 in 
Urlaub*); Nikolaus nalım Neuerungen in den Militär- 
kolonien vor, deren Direktion er ihm bald entzog®®). 
Die Soldaten mussten in den Militärkolonien sehr schwer 
arbeiten und lagen in feuchten Lehmhütten, viele er- 
krankten und starben; wenn aber auch die Soldaten unter 
sich murrten und man Nachts aus dem Lager Stöhnen 
und Aechzen hörte, wenn sie auch keine Oefen hatten, 
um sich zu erwärmen und ihr Zeug zu trocknen, wenn 
selbst bei den Offizieren Spottverse mit der Veber- 
schrift „Das politische Sibirien oder Arbeit für zehn Ko- 
peken“ umliefen, so zogen doch die Leute unter Gesang 
und Musik von der Arbeit heim, um den Vorgesetzten 
zu gefallen und harten Strafen zu entgehen *#*). Arak- 
tschejew Webte es, in diesen „Klausen“ alles im rosigsten 
Lichte zu zeigen, betrog die Besucher, die von allen 
Staaten kamen, um die berühmten Kolonien zu besich- 
tigen, kümmerte sich um jede Kleinigkeit und stöberte 
allem nach, was bei der Unredlichkeit und Faulheit der 


*) Er theilte Nikolaus mit, in welcher Blüthe er die Militär- 
kolonien zurücklasse und in welcher Notlı er selbst sei, worauf Niko- 
laus ihm au Kostbarkeiten und Silberzeug für ca. 39000 Rabel abkaufte; 
auch gab ihm Nikolaus, um ihn bald los zu werden, noch grosse 
Summen. 

#*) Araktschejew blieb nur Präsident des Militärdepnrtements im 
Reichsrathe. 

**#) Erinnerungen von I. L. Ewropens, der Arzt in den Militär- 
kolonien war, in „Russkaja Starina* 187%, 


x. Nikolaus I. ur 
that, um die unter Alexander I. zerfallene Flotte wieder 
zu heben. 

Dem Öberprokureur der Heiligen Synode verlieh 
Nikolaus 1835 die Rechte eines Ministers, der Ober- 
prokureur wurde der Minister im Ressort der orthodoxen 
Kirche, der Vermittler zwischen ihr und dem: Kaiser, was 
seine Macht sehr erweiterte, Das Ministereomit hatte 
unter Alexander nach Araktschejews Laune gehandelt, 
Speranski hätte es nach Araktschejews Sturz gern mit 
dem ersten Departement des Senates verschmolzen, doch 
liess Nikolaus es fortbestehen, um bestimmte gesetzlich 
bezeichnete Dinge zu begutachten; es setzt sich zusammen 
aus dem vom Kaiser auf unbestimmte Zeit ernannten 
Präsidenten, aus Mitgliedern, die ihr Amt dazu berechtigt, 
und nus vom Kaiser ernannten Mitgliedern; in seiner Stel- 
lung ähnelt ihm am meisten der württembergische Geheime 
Rath *); seine Beschlüsse gehen zur Bestätigung an den 
Kaiser und nehmen dann den Charakter als Akte der 
obersten Gewalt an, der genauen Prüfung und Berathung 
halber müssen die Minister die wichtigsten Verwaltungs- 
sachen an das Ministercomit& bringen. Im Jahre 1828 
schloss Nikolaus das Admiralitätskolleg und ersetzte es 
durch den Admiralitätsrath. Die von Alexander I. 1802 
aufgehobene. 1812 aber wieder eingeführte kaiserliche 
Privatkanzlei erlangte unter Nikolaus grosse Bedeutung, 
wurde in sechs Abtheilungen getheilt, die unter einander 
ganz selbständig waren; im Januar 1826 entstand als Er- 
satz für die Kommission für Kodifikation die zweite Ab- 
theilang (Kodifikation), die im Jahre 1882 in die Kodi- 
fikationsabtheilung am Reichsrathe umgewandelt wurde; 
aus der besonderen Kanzlei des Ministeriums des Inneren, 
welche die Staatspolizei handhabte, bildete Nikolaus die 
gefürchtete dritte Abtheilung (Geheimpolizei), die, von 
ihm direkt überwacht, den mächtigsten Einfluss auf das 
ganze Reich hatte; 1828 unterstellte Nikolaus die An- 
stalten der Kaiserin Maria Fedorowna einer vierten Ah- 
theilung (s. oben), am 11. Mai 1836 errichtete er für die 


*, Korkunow {s, oben). 

















| 


X. Nikolaus I. aa 


unter Savigny, dem Führer der historischen Rechtsschule, 
zu bilden und deren Geist nuch Russland zu tragen. Dem 
Grundsatze nachlebend: „Das Gosetz ist für Alle und für 
Jeden ein Pfeiler“, sammelte Speranski unermüdlich Gesetze: 
im Jahre 1830 war der Druck der ersten Sektion der russi- 
schen Gesetze, die Jahre 1649-1825 umfassend, vollendet, 
und 1832 konnte Speranski Nikolnus sein unsterbliches 
Werk, den Sswod sakonow. überreichen, Nikolaus nahm den 
Stern des St. Andreus-Ordens von der Brust und heftete 
ihn Speranski an; ein Ukas erhob den Sswod 1833 zum 
alleingiltigen Rechtsbuche, das Neujahr 1835 eingeführt 
wurde, Im ‚Jahre 1838 schrieb Speranski eine „An- 
leitung zur Kenntniss der Gesetze“, die unvollendet blieb, 
aber 1845 auf kaiserlichen Befehl veröffentlicht wurde; 
seit 1838 Präsident des ersten Departements des Reichs- 
ratlıs und seit Neujahr 1839 Graf, starb der eminente 
Gesetzgeber am 23. Februar 1839. Die Lehrjahre der 
russischen Studenten in Berlin trugen kostbare Früchte 
für ihre Heimath, die Rechtskenntniss hob sich in den 
vierziger und fünfziger Jahren bedeutend, die historische 
Richtung überwog bei den Juristen, mit der Kenntniss 
und dem Verständnisse von Russlands Recht verbreitete 
sich auch die Kenntniss von Russlands Geschichte, man las 
Ewers, Reitz und Usspenski, und als Hauptvertreter der 
russischen Rechtsgeschichte durften Moroschkin, Newolin, 
Kawelin, Bjelajew, Kalatschew und Tschitscherin gelten, 
so wenig günstig sonst die Regierung Nikolaus’ für die 
Entfaltung politischer Ideen in Leben und Literatur war. 
Speranskis Nachfolger und geistiger Erbe, Dmitrii Niko- 
lnjewitsch Bludow, seit 1842 Graf, beharrte auf Speranskis 
Bahn und arbeitete an der Kodifikation redlich weiter; es 
konnte ja auch erst mit der Bauernbefreiung zu einer 
endgiltigen Gestaltung des neuen Russland kommen. 


Nikolaus dachte an die Besserung des Looses der 
Gutsbauern*) und errichtete schon am 18. December 1826 


*) Memoiren des Senators und Geheimraths Jakow Alexandro- 
witsch Ssolowjew (f 1876) in „Russkaja Starina“, 1890— 1881. 





X. Nikolaus I. Sl 
bauern gern von der Leibeigenschaft befreit, welchen 
Wunsch Nikolaus theilte, sonst aber wollte nach Speranskis 
Tod keiner der leitenden Staatsmänner davon wissen ®). 
Zur Prüfung von Kisselews Vorschlügen wurde 1839 ein 
zweites geheimes Comit& unter dem Vorsitze des Fürsten 
Wassiltschikow errichtet, in demselben sassen unter An- 
deren Orlow. Bludow, Menschikow. Kisselew, Graf Wassilii 
Wassiljewitsch Lewaschow und Graf Viktor Nikititsch Panin. 
Als Kisselew diesem Oomit& sein Projekt über die Bauern 
vorlegte, erklärte sich Fürst Menschikow sofort in Wider- 
spruch mit der ganzen Grundlage und es zeigten sich die 
Anfänge jenes Zwistes, der 1861 losbrechen sollte. Das 
zweite Comit& schloss ab, indem ein kaiserlicher Ukas 
vom 14. April 1842 publieirt wurde, der für die allgemeine 
Frage sehr unwesentliche Verfügungen traf: es wurde den 
Gutsbesitzern gestattet, mit ihren Leibeigenen Vergleiche 
zu schliessen und ihnen Eigenthum zu gewähren, ohne 
dass sie dadurch frei wurden; die Leibeigenen erhielten 
das Recht, gegen ihre Herren zu klagen, Im Gegensatze 
zu ihren bisherigen Anschauungen sah die Regierung 
fortan die Befreiung der Leibeigenen ohne Grundbesitz 
als unmöglich an. Menschikow war hierüber sehr un- 
zufrieden; ein Vertreter ausschliesslich ständischer Inter- 
essen, lag er mit Kisselew in fortgesetztem Hader. Dus 
dritte und das vierte geheime Comitö — letzterem prüsidirte 
Nikolaus selbst — in den Jahren 1840 und 1844 ergaben nichts, 
dem fünften und dem sechsten, 1846 und 1848, präsidirte 
der 'Ihronfolger. Ein Ukas vom 20. November 1847 er- 
mächtigte leibeigene Bauern in allen Theilen des Reichs 
zum Ankaufe überschuldeter, zur Versteigerung kommender 
Güter ihrer Grundherren, ja ein weiterer vom 15. März 1848 
übertrug das Recht, unbewegliches Eigenthum zu erwerben, 


*) Kisselew hatte in seinem Departement 18554280 Kronbauern 
und 194500 Kirgisen und Samojeden, reiste oft selbst bei ihmen 
herum, um ihre Lage genau zu studiren, hob auf den Domänen 
Schulwesen, Gesundheitspflege, Industrie, Ackerbau, Landwirthschaft, 
Wohlstand und erzielte die besten Resultate, um Angriffe aller Art 
unbekümmert. 











Kaiser be 
er der Ge 
drgraben. 
4a.- Druzki in 
r Meinung. 
und das er dafiir ein Dankz Katceirale alhiele. 
Der Adel in und um St. Peter-burg wart dem Zaren vor. 
er verfolze den Adel. sei antinational und ein halber 
Dent-cher. und unter dem drucke de- Jahres 1848 ver- 
lengenete Nikolaus vor einer Adel-deputation seine bisher 
geheim behandelten Projekte. bezeichnete sich als „St. 
j “burger Gutsbe- -. trat in ie Reihen dieses Adel 
und e- wurden =ofort einige Ukase. vor allem der vom 
21. November 1847 3. oben . aufgehoben. Der Autokrat 
verzweifelte an der Möglichkeit. die Bauernfrage zu lösen. 
und hielt die Lösung auch in Zukunft für unmöglich. Die 
Lage wurde aber täglich unhaltbarer für die Bauern. für 
die Gutsberren und für den Kaiser selbst **ı. 







Nikaiaıa 


S-mei 




































Nikolaus war eifrig beflissen. jeden fremden Einfluss auf 
Russland auszuschliessen. hingegen den seinen im Auslande 
zu erhöhen. was ihm vortrefflich gelang: unterstützte ihn 


*, Er wurde 1849 Graf. 

”*, Wir haben diese Sache ausführlicher geschildert, um zu 
zeigen, dnss Raınbaud mit Unrecht sagt, die Lebensfrage der Emanci- 
pation habe unter Nikolaus „geschlummert“. 





























— E _ 


X. Nikolans I, 






hierbei in London und nachher in Paris die geistvolle Fürstin 
Lieven*), so waren die Höfe von Wien und Berlin von 
seltener Gefügigkeit, des preussischen zumal fühlte sich 
Nikolaus völlig sicher. Mehr und mehr wuchs in Westeuropa 
die Furcht vor Nikolaus, man zitterte vor dem blutlosen Ge- 
spenste einer Entwickelung des Panslawismus und vor der | 
Erdrückung durch den slawischen Koloss, man sah voll | 
Unruhe nuf die Erhöhung der Wehrkraft Russlands. 
Wenn aber Nikolaus überall russifieirte, so that er es in 
seinem Hause nicht, darum schimpften die bornirten 
Nationalen auf „Karl Iwanowitsch“, wie sie ihn nannten; 
niemals waren am Hofe und im IIeere so viele Balten 
und sonstige Deutsche, niemals so viele bei der Garde, 
in der Cayallerie**) waren die Stellen vom Regiments- 
kommandeur an fast durchgängig in deutschen Händen 
und anderseits waren Nikolaus’ treue Kammerdiener Müller 
und Grimm Deutsche. Am russischen Hofe herrschte 
deutsche Sitte und wurde viel deutsch gesprochen. 

Die Kaiserin Alexandra Fedorowna führte mit Nikolaus 
das glücklichste Familienleben und sah auf ihre blühende 
Kinderschar, ohne sich jemals in die Politik in anderem 
Sinne einzumischen, als dass sie die Verbindung des 
russischen mit dem preussischen Hofe zu bekräftigen be- 
strebt war; sie kränkelte, ihre Nerven waren seit 26. De- 
zember 1825 zerrüttet***), und sie machte nie viel von 
sich reden. Die Ehe ihrer ältesten Tochter Maria mit einem 
Beauharnais erschien Nikolaus als Missheirath und wenn 
er auch den Gemahl und den ältesten Sohn Nikolaus, 
seinen Pathen, am 14. Juli 1839 und am 10. August 1843 
zur „Kaiserlichen Hoheit“ erhob, wenn er auch dies Prä- 
dikat und den Titel von „Fürsten Romanowski® am 
18. Dezember 1852 Marias gesammter Descendenz verlieh, 





*) Kleinschmidt, Die Fürstin Dorothea Lieven (s. oben). 

*®) Nach persönlichen Mittheilungen kompetenter militärischer Seite, 

***) Als sie an jenem Tage den ersten Kanonenachuss hörte, 
zitterte sie mit dem Kopfe, wie der junge Fürst Gortschakow, der 
nachmalige Reichskanzler, gerade iin Winterpalais anwesend, bemerkte, 
and dies Zittern blieb ihr lebenslang; sie trug damals den Grossfürsten 
Konstantin unter dem Herzen und fürchtete für des Kaisers Leben, 

A. Kleinsehmidt, Uoberbl, d. rum. Gesch. u. 1568, E} 


X. Nikolaus I, 





die Grossfürstin Helene Pawlowna, seine Schwägerin, um 
sich, bei ihr traf man die Grössen der Kunst, Literatur 
und Wissenschaft, auch war sie auf politischem Gebiete, 
unter anderem in der Frage wegen der Rimaneipution der 
Bauern, rührig. 


Die auswärtige Politik wurde unter Nikolaus durch 
den Grafen Nesselrode geleitet, der sich zwar dem nbso- 
luten Willen des Autokraten geschmeidig fügte, aber doch 
wohlthätig mässigend einwirkte, wenn Nikolaus zu über- 
mäüthig werden oder allzu rasch vorgehen wollte; seit 
1829 Reiehsvicekanzler, wurde er 1844 Reichskanzler. Mit 
Persien liess sieh nicht lange Frieden halten, auf die 
Nachricht vom Dekabristenaufstande fielen die Perser in 
Russland ein. doch schlug General Alexei Petrowitsch 
‚Jermolow sie ab. Nesselrode war dem Helden des Kau- 
kasus, einem der originellsten Ieerführer, abhold, Nikolaus 
liess sich gegen denselben einnehmen und stellte ihm den 
Generaladjutanten Paskewitsch an die Seite, Diebitsch 
kam bald nach, um die Misshelligkeiten zwischen Beiden 
zu beenden, und erwirkte im April 1827 ‚Termolows Ver- 
abschiedung, doch wurde nicht er, wie er gehofft hatte, 
sondern Paskewitsch Oberbefehlshaber gegen Persien. 
Iwan Fedorowitsch Paskewitsch schlug den Feind wieder- 
holt, erstürmte Eriwan, zog in Tauris ein und schloss mit 
dem persischen Thronfolger am 22. Februar 1828 den 
Frieden von Turkmantschai ab; Russland erhielt die 
Provinzen Eriwan und Nachitschewan, die als „Armenien“ 
einverleibt wurden, nebst einer Kriegsentschüdigung von 
20 Millionen Rubel und den Salinen von Kulpi, die russi- 
schen Unterthanen empfingen Handelsvortheile, die arme- 
nische Kirche trat unter russischen Schutz, der Araxes 
wurde die Grenze zwischen Russlund und Persien, Paske- 
witsch wurde im März 1828 Graf mit dem Beinamen 
„Eriwanskii“. 

Die Ermordung des russischen Gesandten in Teheran, 
des Dichter« Gribojedow (s. $. 339), dureh den Pöhel drohte 
im Februar 1829 zu neuem Kriege zu führen, doch glich 
der persische Thronfolger, der selbst nach St. Petersburg 

u 











X. Nikolaus I. sr 
Grafen*) Diebitsch die Stellung, Diebitsch handelte als 
Chef des Generalstabs über ihn hinaus und verabredete 
alles selbst mit dem Kaiser; wiederholt bat Wittgenstein 
um den Abschied, doch erhielt er ihn nicht und musste 
die Verantwortung für alles Schlimme weiter tragen **). 
Nikolaus leitete selbst die Belagerung von Varna und 
verliess nach dem Falle dieser Festung am 14. Oktober 
das Heer, Weit mehr Erfolg hatte Paskewitsch in Asien; 
er erstürmte am 5. Juli die Festung Kars, eine Anzahl 
anderer Festungen folgten, am 27. August auch Achal- 
ziche, die Strasse von Tauris nach Erzerum war sein. 
Nach weiteren Siegen zwang er Erzerum, die Königin 
Armeniens, einen Stapelplatz des Welthandels, am 9. Juli 
1829 zur Kapitulation und vollendete, mit dem St. Georgs- 
Orden IL Klasse dekorirt und zum Generalfeldmarschull 
ernannt, die Eroberung Armeniens, Am 21, Februar d. J. 
hatte Diebitsch anstatt Wittgensteins den Oberfehl an der 
Donau übernommen, am 11. Juni vernichtete er das Heer 
les Grossveziers bei Kulewtscha, überstieg nun, was noch 
Keiner gewagt hatte, den Balkan und drang fast un- 
gehindert bie Adrianopel vor, vom Kaiser im August 
1829 mit dem Beinamen „Sabalkanskii* ausgezeichnet, 
Am 20. August nahm er Adrianopel und machte Miene, 
auf Konstantinopel vorzurücken, die Pforte jedoch war 
über seinen Siegeszug — Friedrich Wilhelm III, nannte ihn 
den zweiten Hannibal — so bestürzt, dass sie preussische 
Vermittelung nachsuchte und am 14. September den Frieden 
von Adrianopel mit Diebitsch schloss. Die Grenze zwischen 
Russland und der Türkei in Europa blieb dieselbe wie 
vor dem Kriege, nur trat die Pforte an Russland die 
Inseln im Donaudelta ab, in Asien aber erhielt Russland 
die Gebiete von Anapa, Poti, Achalziche und Achalkalaki, 





*) Graf seit 1827, 

**) General N.K. Schilder, Der Krieg Rasslands mit der Türkei 
182%, in „Russkaja Starina“, Januar 1891, Auch Herzog Eugen 
von Württemberg tadelt Diebitacha Verhalten im Jahre 1998 anf 
Bitterste („Der türkische Feldzug von 1838 und seine Begebenheiten“ 
in „Russkaja Starina*, 1880). 


X. Nikolaus I. a 
tember d. J. Graf mit dem Beinamen „Amurskii* wurde. 
Die Briten thaten, was sie nur konnten, um. Russland in 
Asien Widerwärtigkeiten zu bereiten und seine Macht- 
entfaltung aufzuhalten; heimlich unterstützten sie auch 
den Freiheitskrieg der Tscherkessen. 

General A. P. Jermolow (s. 8. 355) war 1817 Ober- 
kommandant in Grusien und des dötachirten kaukasischen 
Corps geworden und verwaltete das Land musterhaft: Be- 
stushew-Marlinski nannte die Heerstrasse, welche Jermolow 
über die Kimme des Kaukasus anlegte, seinen „Simplon“: 
Jermolow baute viel in Tiflis, hob Handel und Gewerbe, bahnte 
dem europäischen Transithandel neue Wege durch Trans- 
kaukasien und eröffnete die Mineralquellen des Kaukasus: 
er hielt die Bergvölker im Zaume und verbreitete Schrecken 
unter den noch nicht unterworfenen. Da erhob sich das 
Muridenthum und kreuzte seinen Weg; die Bergbewohner 
wurden zu willenlosen Werkzeugen in der Hand eines 
Imam, der als Nachfolger Mohammeds galt und Alle 
zum Kampfe für Religion und Unabhängigkeit be- 
geisterte. Nach Jermolows Sturz im April 1827 schlug 
sich Paskewitsch mit ihnen herum und mit Hilfe seiner 
Generale unterwarf er die Lesghier und Daghestan, die 
Verbindung von Cis- und Transkaukasien schien gosichert 
und die Pforten Centralnsiens standen offen. In einer 
Reihe von Feldzügen hoffte Nikolaus den Muridismus zu 
bezwingen, dieser aber erhob immer kecker das Haupt 
und kostete in über zwanzig Jahren Russland viele tausend 
Menschen und Millionen Rubel. In Schamyl erhielt der 
Muridismus 1835 seinen glünzendsten Führer, in ihm ver- 
einigten sieh priesterliche und weltliche Allgewalt, er 
fanatisirte sein Volk wie kein Zweiter, von den Briten 
mit Waffen unterstützt. Graf P. Ch. Grabbe griff im 
Feldzuge von 1839 mit zäher Ausdauer Schamyls Felsennest 
Adul’gho an, nahm es am 15. September und glaubte sich 
sehon Lesghiens Herr, als der entwichene Schamyl den Auf- 
stand neu und bedrohlicher als je organisirte, In St, Peters- 
burg war man mit der Kriegführung im Kaukasus höchst 
unzufrieden, häufig wurden die Generale gewechselt, 
man bequemte sich aber nicht zu riner systematischen 












X. Nikolaus I. E8 





Nikolaus missbilligte den Verfassungsbruch Karls X. 
von Frankreich und die Ordonnanzen Polignaes, war aber 
über den Kronräuber Ludwig Philipp entrüstet und dachte, 
dureh die Türkensiege zur Ueberzeugung seiner Unüber- 
windlichkeit gekommen, an Krieg gegen diesen „Huch- 
würdigen Usurpator und Unterthan der Pöbelmeinung“. 
Er rief alle Russen aus Frankreich heim und verbot den 
Franzosen den Aufenthalt in Russland, um freilich schon nach. 
wenigen Tagen diese Verfügungen zurückzunehmen. Fürst 
Christoph Andrejewitsch Lieven, der Botschafter in London, 
und Graf*) Karl Andreas Posze di Borgo**), der Bat- 
schafter in Paris, Nesselrode und der Cäsarewitsch Kon- 
stantin riethen ihm energisch vom Kriege ab. der Finanz- 
minister Graf Cancrin erklärte ihm offen, er habe kein 
Geld, nach den schweren Opfern im persischen und im 
türkischen Kriege bedürfe das Reich notlıwendig der Rule 
und der Sparsamkeit **). Anders dachten Graf Diebitsch- 
Sabalkanskii, der Kriegminister Graf Tschernyschew und 
der Kaiser selbst, sie waren voll Kriegslust und Nikolaus 
hielt sich für verpflichtet, im Geiste der Heiligen Allianz, 
der Legitimität und der Kontinuität der Throne einzutreten, 
ja bestimmte bereits Diebitsch zum Befehlshaber der 
14. Infanterie- und der 12. Cavallerie-Division für den 
Kriegsfall, sprach auch schon von Nachschub. Diebitsch 
ging nach Berlin, um Preussen zur Mobilisirung gegen 
die Revolution in Frankreich zu bewegen und wegen des 
Durchzugs russischer Truppen durch Preussen nach Holland 
zu unterhandeln, dessen König Wilhelm I. Nikolaus um 
Hilfe gegen die belgische Revolution gebeten hatte; die 





*) Seit 1826 Graf. 

”) Er ohnte längst Karls Sturz und fürchtete ein Bündnis 
Grossbritanniens und Oesterreichs gegen Russland, denn er kannte die 
Feindschaft Cannings und Wellingtons gegen Russland wie Wellingtons 
innige Freundschaft mit Metternich. Im Gegensatze zu Polignae hielt 
Karl X. am Bunde mit Russland fest, Pozzo aber sagte im Jahre 1830 zu 
Engen von Württemberg: „Die Regierung Frankreichs ist ein auf die 
Spitze gestellter Kegel.“ (S. M. Ssolowjew, Pozzo di Borge und 
Frankreich, im „Wjestnik Ewropy*, 1879.) 

*"*) „Zwischen zwei Kriegen“, in „Russkaja Starina*, Juli 1881, 





| 


X. Nikolans 1. os 





Wahnsinns sah, wurde alsbald verdrängt und ein exe- 
kutiver Ausschuss eingesetzt, in dem neben den Fürsten 
Czortoryski, Radziwill und Lubecki Lelewel, Chlopicki u. A, 
anssen, Chlopicki erhielt den Oberbefehl des Heeres. Die 
Stimmung verschärfte sich täglich mehr, Nikolaus lehnte 
jede Unterhandlung mit den Rebellen ab und Konstantin 
trat am 11. Dezember mit seinen russischen Truppen auf 
russisches Gebiet über. Eine Regierung löste in Warschau 
die andere ab, überall entfernte man die russischen Eın- 
bleme und immer wilder tobten die Leidenschaften, die 
in Paris Widerhall fanden®), Am 22. Januar 1831 stellte 
der Landbote Roman Soltyk im Reichstage den Antrag, 
das Haus Romanow vom Throne auszuschliessen, und der 
Reichstag nahm am 25. Januar denselhen mit grosser 
Majorität an; die letzte Aussicht eines Vergleichs war 
vorüber. Polens Wehrkraft Russland gegenüber war un- 
genügend, es fehlte an Gewehren, Pulver und Kanonen, 
was alles Diebitsch in Fülle besnss. Diebitsch wurde am 
2. Februar zum Generalgouverneur des Zarthums Polen 
mit unbegrenzten Vollmachten ernannt und versprach, die 
Revolution mit einem Schlage zu besiegen: trotz seiner 
Proklamationen, die sehr diktatorisch klangen, fühlte er 
sich aber Konstantin, der Polen heiss liebte und der für 
Warschau bangte, zu sehr zu Dank verpflichtet, um nach 
dem unentschieden gebliebenen Kampfe hei Grochow am 
25. Fehruar sofort Praga zu erstürmen und von da aus 
Warschau zu bombardiren; neben der Rücksicht auf Kon- 
stantin war ex die Trunksucht, die ihn um alle Energie 
brachte, überall begleitete ihn ein Kasak mit kaltem 
Punsch und im eigenen Lager spottete man über den 
„Samovar-Feldmarschall“, Der ihm feindlich gesinnte 
Eugen von Württemberg behauptet, Diebitsch habe ab- 
sichtlich Fehler begangen, um Russland in Polen nicht 
siegen zu lassen, doch ist dies nicht anzunelimen; jeden- 
fall beeinträchtigte er seinen Ruhm und bereute später 


*) Pozzo di Borgo beschwerte sich wiederholt bei der fran- 
zösischen Regierung, zumal in den Kammern kriegerische Anträge 
gestellt wurden. 






— 


X. Nikolaus I. so 





Heer die Ordnung aufrecht und Paskewitsch begann mit 
dem Baue einer Citadelle in Warschau. Ein Ukas vom 
26. Februar 1832 hob die Verfassung von 1815 auf und 
erliess „das organische Statut“: Polen wurde russische 
Provinz, das polnische Heer wurde aufgelöst und die pol- 
nischen Rekruten wurden an russische Divisionen vertheilt, 
an die Stelle des Reichsraths trat ein (von Paskewitsch 
1833 eröffneter) Staatsrath, dessen Mitglieder der Kuiser 
ernannte, ohne dass es Polen sein mussten, die Steuern 
wurden nach russischer Art erhoben und nicht mehr für 
Polen speciell verwendet, sondern zu den Gesammt-Ein- 
nahmen des Reichs geschlagen, anstatt der dem Reichstage 
verantwortlichen Minister wurde ein Verwaltungsrath unter 
dem Vorsitze des Generalgouverneurs mit der höchsten 
Verwaltung betraut, Freiheit von Religion und Person, 
Sicherheit des Eigenthums etc, wurden verbürgt. Am 
Reichsrathe in St. Petersburg wurde ein besonderes De- 
partement für Polen errichtet, dus hie 1862 bestand; 
schon am 28. September 1831 wurde für Polen das bis 
1848 amtirende „westliche Comitö* gebildet*). Polizei 
und Censur herrschten streng, der Verkehr mit dem Aus- 
lande wurde erschwert, die geschlossene Universität Wilna 
blieb aufgehoben, in der Festung Nowo-Georgiewsk 
(Modlin) erhielt Polen eine Zwingburg ersten Ranges, 
Flüchtlinge, die trotz des Ausschlusses von der Amnestie 
zurückkamen, mussten mit dem Leben büssen. Um die 
griechische Konfession in Polen zu verbreiten, wurden seit 
Oktober 1835 die konfiseirten Güter an Grosse als Mnjo- 
rate gegeben, deren Besitzer stets orthodox sein mussten; 
die russische Sprache wurde seit 1837 Haupterforderniss, 
um russische Universitäten besuchen oder ins russische 
Heer eintreten zu dürfen, wie seit 1840 zur Bekleidung 
jedes öffentlichen Amtes, Aus den Wojewodschaften 
machte man in den vierziger Jahren Regierungsbezirke, das 
Münzwesen wurde 1842 auf russischen Fuss umgewandelt ; 
in jeder Weise suchte man Polen zu russifieiren. Im 


*) Unter Alexander II. fungirte es nochmals vom 4. Oktober 186% 
bis 19. Januar 1865, 


X Nikolaus I, Bor 





M. P. Lasarew, dem bald eine weitere Plottenabtkeilung. 


folgte. nach Konstantinopel ab, und Murawjew lagerte 
sich mit 18000 Maun zwischen Beikos und Hunkiar- 
Skelessi; Frankreich vermittelte jedoch den Frieden 
zwischen Sultan und Vieekönig, Graf A. P, Orlow ver- 
mochte die Hohes Pforte am 8. Juli zu einer in Hunkiar- 
Skelessi abgeschlossenen Defensivallianz auf acht Jahre, 
der zufolge die Pforte verspruch, auf russisches Verlangen 
fremden Kriegsschiffen die Dardanellen zu sperren, anstatt 
Russland materiell zu unterstützen; das Schwarze Meer 
wurde hiermit zum russischen Binnensee, Die Proteste 
Frankreichs und Grossbritanniens gegen diesen uner- 
warteten Vertrag fruchteten nichts und der Einfluss 
Russlands am Divan war allmächtig, der sehr gewandte 
Gesandte Apollinar P. Butenjew wusste ihn auszunützen 
und band die Pforte durch die Konvention vom 27. Mürz 
1836 noch enger an Russland: Nikolaus spielte den Gross- 
müthigen und die Russen räumten die Donaufürstenthümer, 
nachdem die Türkei ihre Kriegsschuld völlig bezahlt hatte; 
beständig aber musste sich Butenjew mit dem britischen 
Botschafter Lord Ponsonby herumbalgen. Als ein neuer 
Krieg der Türkei mit Acgypten drohte und Frankreich 
letztere Macht auffällig begünstigte, näherte sich Nikolaus 
dem britischen Kabinet, um das Russland längst bedenk- 
liche Bündniss der Westmächte zu sprengen. Sein Ge- 
sandter in London, Baron Philipp Iwanowitsch Brunnow, 
Nesselrodes ausgezeichneter Schüler, war am Zustande- 
kommen der Londoner Quadrupelallianz (Grossbritannien, 
Russland, Oesterreich, Preussen), welche die Integrität 
des türkischen Reiches verbürgte, hervorragend thätig; 
Grossbritannien war von Frankreich gelöst, Frankreich 
isolirt. Doch bereute das Kabinet von St. James bald 
dieses Abkommen, welches Russlands Ansehen am Divan 
noch steigerte, näherte sich Frankreich wieder und durch 
den Meerengen-Vertrag vom 13. Juli 1841 kam Prankreieh 
wieder in den Rath der Grossmächte hinein, während die 
‚Wollthaten der Defensivallianz von Hunkiar-Skelossi für 
Russland aufhörten. David Urquharts Angriffe und Ent- 
hüllungen der ehrsüchtigen Ziele Russlands in dem 


X. Nikolaus I. 


nung verbunden war, und wenige Tage darauf traf Nikolaus 
mit den Herrschern von Preussen und Oesterreich in 
Teplitz zusammen; als Karl X. im November 1836 im 
Exile zu Görz starb, veranstaltete Nikolaus eine Hof- 
trauer von 24 Tagen. 








Noch mehr als seinem Schwiegervater imponirte 
Nikolaus seinem Schwager, dem neuen Könige von Preussen; 
Friedrich Wilhelm IV. bezeugte ihm die ausgesprochenste 
Willfährigkeit und fürchtete ihn; die reaktionär-pietistische 
Hofkamarilla in Berlin sah in dem weissen Zaren den 
Hort der Legitimität und ihren Heiland noch über das 
Grab hinaus; als General P. P. Karzow 1863 Wrangel be- 
suchte, führte ihn dieser vor Nikolaus’ Todtenmaske und 
rief aus: „Zu ihm bete ich täglich. weil er ein Monarch 
und ein Mensch war, wie es keinen mehr gibt.“ Nikolaus 
betrachtete sich als Gottes auserlesenen Streiter zur Ver- 
nichtung der Revolution und schaute mit Misstrauen auf 
seines Schwagers unberechenbare Neuerungslust und 
schwankende Denkart. In den Revolutionstagen von 1848 
und 1849 hielt er sich anfünglieh ganz im Hintergrunde, 
lehnte auch die ihm von Dänemark angebotene Interven- 
tion ab, freilich um nachher Dünemark gegenüber den 
deutschen Mächten zu begünstigen. Als Dünemark um 
die Herzogthümer Schleswig-Molstein mit Deutschland 
rang, liess Nikolaus 1848 an den Küsten eine Flotte er- 
scheinen, die den Dänen manchen Vorschub leistete, ohne 
um Kriege direkt theilzunehmen. Brunnow war bei den 
Londoner Konferenzen im Juli 1850 für die Erhaltung der 
Integrität des dünischen Staates entschieden thätig und 
unterzeichnete am 2, August d. J. das Londoner Protokoll. 
Auf der Monarchenkonferenz in Warschau (s. unten) unter- 
zeichnete Russland am 5. Juni 1851 mit Dünemark ein 
Protokoll über die Kandidatur des Prinzen Christian von 
Glücksburg zum dänischen Throne und Nikolaus ver- 
ziehtete auf sein Vorrecht an denselben als Haupt des 
Gottorper Hauses. Am 8. Mai 1852 unterzeichnete Brunnow 
in London das endgiltige Protokoll in dieser Suche und 
wahrte in einem Geheimvertrage mit Dänemark das even- 

A, Kleinschmidt, Ueberbi. d. rum Gesch. a Io. Ei 





X. Nikolaus I. 
Hilfe und in den ersten Tagen des Februar rückten. 
10.000 Mann in Kronstadt und Hermannstadt ein, wurden 
aber von Bem im März in die Wnlachei zurückgejagt. 
Die Lage Franz Josephs wurde immer gefährdeter, er bat 
Nikolaus um Hilfe und dieser, der fürchtete, Polen könne 
von der Revolution ergriffen werden. ging gern darauf ein; 
er schrieb dem Fürsten Paskewitsch: „Es ist Mein Wille, 
die Mir von der Vorsehung anrertraute Macht dem Kaiser 
von Oesterreich zur Verfügung zu stellen“, sprach wieder- 
holt dem schneidigen Fürsten Windischgrätz seine An- 
erkennung aus und übertrug, nachdem er am 2. Mai mit 
Franz Joseph einen Vertrag geschlossen, Paskewitsch, den 
er gern den „Vater Kommandeur“ nannte, den Oberbefehl 
der Interventionsarmee. Am 21. Mai besprach er sieh in 
Warschau mit Franz Joseph über den Operationsplan und 
am 28, langten die ersten Russen, 20 000 Mann, in Dyrnau 
an. Am 18. Juni ging Paskewitsch mit der gesammten 
Streitmacht bei Dukln über die Karpathen, stiess auf 
keinen erheblichen Widerstand, eine Reihe Städte wurden 
besetzt, am 3. Juli aueh Debreezin; Paskewitsch entfaltete 
ungewöhnlich starke Truppenmassen und operirte 80. vor- 
sichtig, dass Nikolaus ihn nieht für thatkräftig genug hielt, 
In Siebenbürgen kämpften die Generale Lilders und Gro- 
tenhjelm erfolgreich gegen Bem, Lüders nahm Kronstadt 
und Paskewitsch am 17. Juli Waitzen. Die Hauptarmee 
verlor im ganzen Feldzuge nur einige hundert Mann, 
Lüders u, A. viel mehr. Am 21. Juli besetzten Lüders und 
die Oesterreicher unter dem Grafen Olam-Gallas Hermann- 
stadt, nachdem sie Bem geschlagen, auch bereitete Lüders 
bei diesem Orte Bem am 6. August eine schwere Niederlage. 
Der Insurgentengeneral Arthur Görgey schlug zwar den 
Grafen Grabbe bei Onod, Paskewitsch aber überwand einen 
Theil seiner Mannschaft bei Debreezin, das er um 2. August 
nahm, und Görgey, mit der Diktatur bekleidet, fand keinen 
anderen Ausweg, als mit den Russen in Unterhandlungen 
einzutreten: er begann dieselben am 11. August mit dem 
Generale der Cavallerie Grafen Fedor Wassiljewitsch Rü- 
diger, einem Kurländer, und kapitulirte an ihn mit 23000 
Mann am 13. August bei der Ruine Vilagos; auch andere 

Prt 






| 


X. Nikolaus I. ar 





1850 begnadigt*). Nikolaus war von dieser Ang 
tief ergriffen, der Tod seines letzten Bruders, des ge- 
liebten Michail, den die Cholera im September 1849 hin- 
raffte, steigerte seinen Missmuth, sein Haar begann zu 
ergrauen, tiefe Furchen gruben sich in seine Stirn ein und 
Jeder ging ihm aus dem Wege. Während er sich mehr 
ale je in sich zurückzog, benutzte die Reaktion seine 
Verstimmung, um noch schroffer aufzutreten und die Bande 
straffer anzuziehen, 

Voll Ingrimm sah Nikolaus, dass Preussen ein konstitu- 
tioneller Staat wurde und Verhandlungen anknüpfte, um das 
Projekt der deutschen Union durchzuführen; er dachte an 
eine Intervention zu Gunsten der Politik des Fürsten 
Felix Schwarzenberg, ja an einen Krieg gegen Preussen, 
da es ihm nieht gelang, ein Cabinet Gerlach in Berlin 
durchzusetzen. Im Juni 1850 kam er in Warschau mit 
dem Prinzen von Preussen zusammen, zeigte aber offen 
sein Misstrauen gegen die Unionspolitik des preussi- 
schen Cabinets und seine Sympathie für den renktivirten 
Bundestag in der Eschenheimer Gasse. Friedrich Wil- 
helm IV. sandte den Ministerpräsidenten Grafen Branden- 
burg im Oktober 1850 zu Nikolaus naeh Warschau, wohin 
Franz Joseph, der Prinz von Preussen und Schwarzenberg 
kamen; Nikolaus und der Reichskanzler Nesselrode waren 
gegen Brandenburg sehr gnüdig, doch stützten sie sich 
auf die Verträge des Jahres 1815 und widersetzten sich 
Preussens Vergrösserungsplänen; Brandenburg musste auf 
die Union verzichten, sich dem Schiedsspruche des Zaren 
unterwerfen und die „vorläufige* Uebereinkunft vom 
28. Oktober mit Schwarzenberg: eingehen, die seine 
Niederlage und Schwarzenbergs Sieg bedeutete**). Auch 
die Sendung Edwin von Manteuffels nach Warschau 
änderte die Lage nieht. Manteuffel brachte nur die Alter- 


*) Von Nikolaus TI. zu Alexander IIL, Leipzig 1881, und 
Flerowski, Drei politische Systeme, Berlin 1897, beurtheilen die 
Petraschewskische Verschwörung sehr nachsichtig. 

**) Kloinschmidt, Der Ministerpräsident Graf Brandenburg, in 
„Bellage zur Allgemeinen Zeitung“, München, Mai 1892, 














Nikolaus T. 
Wohlwollen behandelt, Napoleons Rache bestand dann in 
seinem Bündnisse mit den Briten. 

Nikolaus war durch seine autoritative Stellung in 
Europa geblendet. Er wollte nicht, dass die Türkei 
ferner fortbestehe, und hätte, da ihr Verfall wie ihre 
Unterwerfung nothwendiger Weise einen europäischen 
Krieg herbeiführen musste, am liebsten in Verständigung 
mit den Briten die Türkei friedlich getheilt, die orien- 
talischen Verhältnisse im Frieden geordnet; dies war sein 
Steekenpferd, wie Baron Meyendorff gesagt hat. Nach 
Nikolaus’ Meinung war die Türkei „ein kranker Mann*, man 
musste sie anders behandeln wie andere Mächte, musste 
sie einschüchtern, um sie gefügig zu machen*). Er be- 
sprach sich mit dem britischen Gesandten Sir George 
Hamilton Seymour, ohne zum Kriege vorbereitet zu sein, 
und glaubte, der Sultan werde sich seinen autokratischen 
Wünschen fügen. Alle Cabinete aber waren voll Neid 
auf Nikolaus’ Macht, die Briten wollten dieselbe schwächen, 
Napoleon wollte Frankreichs Superiorität in der Welt 
rehabilitiren, Oesterreich vergass die Dankbarkeit für die 
Rettung von 1849, ja sein neuer Ministerpräsident Graf 
Buol-Schauenstein hasste Nikolaus persönlich und schürte 
an den Westmächten, In Preussen freilich gab es in den 
leitenden Kreisen eine starke russische Partei, Wrangel 
orklärte seinem Könige: „Wir können nicht anders, wir 
müssen mit Russland gehen“, Nikolaus hatte ja Preussen 
ebenfalls sein Heer gegen die Revolution angeboten, wenn 
er dem Könige aueh rieth, er möge lieber mit eigener 
Hand als mit fremden Bayonnetten den Frieden in seinem 
Lande wieder herstellen, Er rüstete und während Napoleon 
las altfranzösische Schutzrecht über die Katholiken in Pa- 





*) Russland erkannte in Montenegro «eit lange eine schr wichtige 
Position, um seinen Einfluss am Mittelmeere zu erhöhen. Schon Peter 
der Grosse hatte mit Montenegro Beziehungen angeknüpft und 1710 
das Schutzrecht über den kleinen Siawenstaat übernommen; die Win- 
dikas (Herrscher) waren vom russischen Einflusse ganz abhängig und 
Nikolans erkannte Danilo I. am 21. März 1852 als weltlichen erblichen 
Fürsten eines unabhängisen Staates an. 


X. Nikolaus L. 2 


Theoretiker und von Paskewitsch längst als eine Null 
durehsehaut; obwohl ein grosser Mathematiker und ein 
Mann von scharfem Verstande, war er schon durch seine 
ungeheure Zerstreutheit zum Feldherrn nicht geeignet; 
sein Charakter war durchaus chrenhaft*). Die Russen 
hausten in den Fürstenthümern als Herren, die Hospodare 
flächteten und ein russischer Verwaltungsratli unter General 
Baron Budberg leitete seit November 1853 die Geschäfte. 
Frankreich und Grossbritannien einigten sich zu gemein- 
samem Vorgehen gegen Russland und ihre Flotten gingen 
am 14. Juni in der Besika-Bai vor Anker, Nikolaus’ 
Versuche, Grossbritannien von Frankreich zu trennen und 
die deutschen Grossmächte auf seine Seite zu ziehen, 
scheiterten, letztere versprachen ihm nur, neutral zu bleiben, 
falls seine Truppen die Donau nicht überschreiten würden. 
Zwei britische und zwei französische Schiffe warfen auf 
Bitte des Divans am 14. September vor Konstantinopel 
Anker, wogegen Brunnow am 25. d. M. in London pro- 
testirte. Sultan Abdul-Medjid erklärte nun endlich am 
4. Oktober Russland den Krieg und da Gortschakow die 
Donaufürstenthümer nicht räumte, begannen am 17. d.M. 
die Feindseligkeiten. Das Kriegsmanifest Nikolaus’ vom 
1. November kokettirte wieder mit der gebotenen „Pür- 
sorge für die Vertheidigung des orthodoxen Glaubens im 
Oriente“. Die britisch- französische Flotte fuhr in den 
Bosporus ein und als die russische unter dem Viceadmirale 
Paul Stepanowitsch Nachimow die türkische am 30. No- 
vember bei Sinope vernichtet hatte, lief auf Bitten der 
bedrängten Pforte die Flotte der Westmächte am 4, Januar 
1854 aus dem Bosporus in das Schwarze Meer ein, um 
weitere Schritte der russischen Flotte gegen die Türken 
zu verhindern. Napoleon III, machte einen letzten Ver- 
such, den Frieden zu erhalten, indem er am 29, Januar 


®) Gortschakow wurde sehr scharf von N. W, Berg in der „Runskaja 
Starina“, September 1880 und Jannar 1881, mitgenommen, wogegen 
ihn Fürst A. J. Wassiltsehikow, Graf Paul Kotzebne nnd 
sein eigener Adjutant, J.T. Krassowski, in dersellen Zeitschrift in 
Schutz nalımen. 









x. Nikolaus I. Ei 





feste vom 23. April, Russland kämpfo nicht für zeitliche 
Vortheile, sondern für Glauben und Christenthum, die 
'Westmächte aber seien weniger für die Türkei besorgt 
als dass sie Russland schwächen und verkleinern wollten. 
Die Türken schlugen sich tapfer, die Franzosen landeten 
am 31. März bei Gallipoli, die Briten am 14. April bei 
Konstantinopel, der russische Augriff auf Silistria wurde 
zwar von Puskewitsch, der zum Oberbefehlshaber an der 
Donau ernannt worden war, seit Mai selbst geleitet, wollte 
aber weder ihm noch Lüders glücken und Paskewitsch be- 
nutzte seine Verwundung am 9, Juni, um den Oberbefehl, 
der ihm wenig Trende machte, mit aller Verantwortung 
auf den Fürsten M. D. Gortschakow (s. oben) abzuwälzen, 
am 21. Juni musste dieser die Belagerung Silistrias auf- 
heben. Die Verbündeten waren den Russen an Kriegs- 
schiffen ungemein überlegen und konnten sie darum überall 
angreifen. Am 22. April erschien ein starkes westmächt- 
liches Geschwader vor Odessa, forderte den dort be- 
fehligenden General Baron Dmitrii J. von der Östen-Sacken 
auf, die Schiffe im Hafen auszuliefern, und bombardirte 
einen Theil der Stadt zehn Stunden lang, freilich erfolg- 
los; der Viceadmiral Lord Napier begann im Mai mit der 
Blokade Rigas, im finnischen Golfe begannen die Feind- 
seligkeiten bei Ekenäs, am 13. Juni vereinigte sich die 
französische Flotte im baltischen Meere mit der britischen, 
die Viceadmiräle Hamelin und Dundas erklärten am 26. d.M. 
«die Häfen des finnischen Golfs, Kronstadt und St. Peters- 
burg in Blokadezustand; am 8. August landeten die Ver- 
bündeten auf den Alands-Inseln, begaunen am 13. d. M. 
mit der Belagerung von Bomarsund. welche Festung sich 
am 16. ergab. und sprengten sie am 2. September. 
Die Häfen des Weissen Meeres wurden im August 
won den verbündeten Flotten in Blokadezustand erklärt, 
das befestigte Ssolowetzkische Kloster angegriffen, Port 
und Stadt Petropawlowsk in Karntschatka am 31. August 
beschossen, die sibirischen Häfen wurden eingeschlossen. 

Am 3. Juni erliess die oesterreichische Regierung an 
Nikolaus die dringende Aufforderung, die Donaufürsten- 
thümer zu räumen, und der bei ihm in hohen Ehren 





| U  — — 


BE X. Nikolaus I. Ey 
'Gottorp.“ Man redete sich in St. Petersburg immer tiefer 
in die Selbsttäuschung hinein, die Slawophilen durften 
das Wort führen, ja Fürst V, J. Wassiltschikow erklärte 
im Herbste 1854 rundweg in Berlin, der Zar und Russland 
könnten nur in Konstantinopel Frieden schliessen. Nach 
längeren Unterhandlungen befahl Nikolaus im August 1854 
die Räumung der Donaufürstenthämer, die Oesterreich im 
Einverstündnisse mit der Pforte besetzte; die britischen 
und französischen Truppen konnten die Türkei ver- 
lassen und sich auf die Krim stürzen, wo nun der zweite 
Akt des Krieges spielte. Die Zahl der Gegner Russlands 
wuchs noch am 26. Januar 1855 durch den Beitritt Sar- 
diniens, das 15000 Mann unter La Marmora zu den Heeren 
der Westmüchte stossen liess. Einen besonders guten 
Allüirten fanden die Peinde in Nikolaus’ Eigensinn und in 
der Unfihigkeit seines Kriegsministers, des Fürsten Dol- 
goruki*); Nikolaus wollte die gezogenen Gewehre nicht 
einführen und der Feind konnte aus einer Distance 
schiessen, wo an das Ripostiren nicht zu denken war; 
selbst die Garde hatte keinen Begriff von der Fern- 
wirkung des gezogenen Gewehrs, womit sogar die Türken 
bewaffnet waren; als z. B. die ersten Flintenkugeln bei 
Eupatoria die Garde umsausten, waren die Schiessenden 
so weit entfernt, dass man sie anfangs gar nicht er- 
blickte, und man meinte, Bremsen seien die Ursache 
des Geräusches. Während sämmtliche Alliirte gezogene 
Gewehre hatten, waren bei den Russen nur einige Ba- 
taillone Scharfschützen. Die im Juli 1854 unternommene 
Espedition des französischen Brigadegenerals Espinasse 
in die Dobrutscha scheiterte völlig, die Alliirten beschlossen 
nun, Russlands Macht in der Krim anzugreifen, Sewastopol 
zu nehmen und dadurch einerseits der russischen Seemacht 
im Schwarzen Meere den Todesstoss zu versetzen, anderseits 
Konstantinopel von der stetigen Bedrohung durch dieselbe 
zu erlösen; eine Expedition nach Polen, an die Napoleon, 
eine in den Kaukasus, an die das britische Cabinet dachte, 












*) Das Folgende nach Privatnachrichten von russischer militäri- 
scher Seite. 














X. Nikolaus I. Ey 
Graf Münster*) fand ihn tief ergriffen, aber gottergeben, 
Nikolaus betheuerte ihm: „Für den Glauben habe ich 
mein Volk aufgerufen, für den Glauben sind meine Armeen 
marschirt“; er sagte ihm, der Verlust der Krim sei eine 
Möglichkeit, er aber werde von dem, was er für den 
Frieden verlangt habe und verlangen müsse, nicht um ein 
Deut abweichen. „Verliere ich“, so fuhr er fort, „die 
Flotte und Sewastopol, worauf ich ganz vorbereitet bin, 
so bin ich auch ganz darauf gefasst, dass Oesterreich, von 
meiner Lage profitirend, mir den coup de pied de l’äne 
versetzen wird... Sagen Sie dem Könige, dass ich auf 
ihn rechne, dass er Oesterreich wenigstens von dieser 
Infamie abhalten werde. Von einer Alliance der drei 
Mächte ist leider nicht mehr die Rede, hoffentlich lässt 
mich aber der König hierbei nicht im Stich und hält mir 
Oesterreich vom Leibe.“ Während die Allürten einen 
raschen Vorstoss von Norden auf Sewastopol unterliessen, 
der doch zu erwarten war, konnte man sich dort 
einigermassen zur Vertheidigung rüsten und holte in un- 
gemeiner Thätigkeit nach, was bisher verabsäumt worden 
war; unter dem Feuer der Feinde verstärkte der geniale 
Ingenieurgeneral Franz Eduard J. Tottleben, ein Kur- 
länder, die schwache Südfront der Festung, hemmte die 
Belagerungsarbeit der Gegner dureh meisterhafte Gegen- 
massregeln und leistete Wunderbares; der Hafen wurde 
dureh Versenkung eines T'heils der eigenen Flotte gesperrt, 
sodass die verbündeten Schiffe nicht einlaufen konnten: 
von Norden her wurden wiederholt Truppen von Men- 
schikows Armee in die Festung geführt, Am 9. Oktober 
eröffneten die verbündeten Briten und Franzosen — Saint- 
Arnaud war gestorben und Canrobert an seine Spitze ge- 
treten — (lie Belagerung von Sewastopol. Der Kaiser 
ernannte den Fürsten Gortschakow (s. oben) am 8. Oktober 
zum Höchstkommandirenden der Südarmee, der am 
6. d. M. in Belagerungszustand erklärten Gouvernements 
Kiew, Poltawa und Charkow und der Gouvernements 


*) Hugo Graf Münster-Meinhövel, preussischer Militärbevollmäch- 
tigter in St. Petersburg. 


X. Nikolaus I. 


Wien, worauf der dortige Gesandte Fürst A. M.Gortschakow 
am 28. d.M. dem ‚Ministerpräsidenten. ‚Grafen Buol-Schauen- 
stein erklärte, seine Regierung nehme die vier Punkte als 
Ausgangsstelle für Friedensunterhandlungen an. Am 2. De- 
zember schlossen Oesterreich und die Westmächte in Wien 
ein Bündniss und auf Vorschlag Oesterreichs beschloss der 
Bundestag am 8. Februar 1855 einstimmig, ıie Bundes- 
kontingente auf Kriegsfuss zu stellen. Menschikow meinte, 
nicht länger unthätig bleiben zu dürfen, und schickte am 
17. Februar 1855 den Generallieutenant Chrulew gegen 
Eupatoria, Omer Pascha aber schlug den Angriff ab. 
Nikolaus, der bereits kränkelte, hatte nun an Menschikow 
genug, enthob ihn am 2%. Februar des Oberbefehls, gab 
denselben aber nieht, wie er anfangs wollte, Osten-Sacken, 
sondern Gortschakow, der erschreckt an den Kriegsminister 
schrieb: „Ich weiss nicht, welches Verbrechen ich oder die 
Meinen begangen haben, um den Antritt der fatalen Erb- 
schaft zu verdienen, die Menschikow mir hinterlassen hat; 
das Faktum ist aber, dass meine Lage grausamer sein 
wird, falls der Feind etwas bon sens und Nerv hat *),“ 
Im russischen Volke machte sieh grosse Enttäuschung 
geltend; es fand es geradezu unbegreiflich, dass freinde 
Hoere von einem Winkel der Krim aus dus ganze 
heilige Russland in Schach und in Schrecken halten 
könnten. und verlor das Vertrauen zu Nikolaus und 
seinem Systeme; missmuthig und misstrauisch stützte es 
über Härten, die es ruhig ertragen hatte, so lange Niko- 
laus in der Welt den Agumemnon der Könige vorstellte 
und seine Rolle so meisterhaft spielte; jetzt, wo ihn das 
Missgeschick verfolgte und wo eine Hiobsposr um die 
andere durch Russland lief, wandte man sich vom Kaiser 
ab und machte ihn für alles Unheil verantwortlich. Der 
Mann, der so rechtlich dachte, dass er Shukowski, der 
damals Vorleser der Kaiserin-Wittwe Maria Fedorowna 
war, im Jahre 1826 auf die Frage, ob Nikolai Iw. Turgen- 
jew nach Russland zurückkehren dürfe, geantwortet hatte: 
mEragat Du mich als Kaiser, s0 sage ich: ‚Er muss, 


©) Rusakajı Starius, Januar 1888, 
A, Kloinachmädt, Veberbl, d. mm. Gemeli. m. 1005, » 







wöffnet*). Seine letzten deutlichen Worte richteten sich 


un seinen königlichen Sehwager in Berlin, dem sie die 


Kaiserin bestellte: „Sagt Fritz, er solle stets derselbe für 
Russland bleiben und Papas Worte nicht vergessen.“ Er 
nahm Abschied von seiner Familie, von Adlerberg, Orlow 
und anderen Freunden und starb kurz nach Mittag des 
2. März 1855 am Langenschlage**). 

Auf den Verlauf des Krieges übte Nikolaus’ Tod nicht 
den geringsten Einfluss aus, der Krieg ging seinen Weg 
weiter. Tief erschütterte das Ende Nikolaus’ I. den 
Berliner Hof; laut weinend theilte Friedrich Wilhelm IV, 
ihm die Botschaft mit, dann telegraphirte er der ver- 
wittweten Schwester: „Wir grüssen die geliebte Schwester 
unter tausend heissen Thränen mit den Worten des 
Herrn: Selig sind die Friedfertigen, denn sie werden 
Gottes Kinder heissen. Wir umarmen den geliebten Ale- 
xunder und sagen, des geliebten Kaisers Vermächtniss- 
worte ‚An Fritz!‘ sind ein Heiligthum,“ Friedrieh Wil- 
helms grosser Rathgeber und Freund, der Freiherr von 
Bunsen, hatte stets in Nikolaus den Darsteller des Prineips 
der Gewaltthat gehasst, Bernhardi u. A. hatten den 
„Kaiserkultus“ des Berliner Hofs gegeisselt, Friedrich 
Wilhelm aber tadelte Bunsen bitter und versicherte, der- 
selbe werde im Himmel einst Nikolaus Abbitte thun; am 
4. März schrieb er an Bunsen: „Einer der edelsten Menschen, 
eine der herrlichsten Erscheinungen in der Geschichte, 
eines der treuesten Herzen und zugleich einer der höch- 
sten Herren dieser engen Welt ist vom Glauben zum 
Schauen abgerufen worden. Ich danke Gott auf Knieen. 
dass er mich würdigte, bei dem Tode des Kaisers Nikoluus 
tief betrübt zu sein, dass er mich gewürdigt, sein Freund 
im schönsten Sinne des Wortes zu werden und in Treue 
zu bleiben.“ 

*) Am 10. Februar hatte er noch die Bildung von Milizen in ganz 
Russland verfügt. 

**) Das Märchen von einer Vergiftung des Zaren, das sich rasch 
verbreitete, ist absurd, der erste Leibarzt Dr. Mandt gab einen ge- 
nauen Krankheitsbericht herans. 


or 









bei Pestalozzi in der Schweiz dazu geschult hatte; Shukowski 
entwarf einen ausführlichen Lehrplan *), sein Schüler sollte 
kein Gelehrter, sondern ein klarer Kopf mit gesundem. 
Menschenverstande werden, ausgerüstet nieht mit schwer- 
fälligem ihm unnützem Wissen, sondern mit Kenntnias der 
Dinge, die er als Herrscher brauchen würde und kennen 
müsste; hohen Werth legte er der Geschichtskenntniss bei, 
denn die Geschichte muss die vorzüglichste Lehrmeisterin 
der Monarchen sein, sie muss sie lehren, ihre Völker auf 
eine solche Stufe der Erleuchtung zu erheben, dass sie in 
Gesetz und Ordnung die Grundpfeiler des Staates und der 
allgemeinen Wohlfahrt schätzen und verehren; Freiheit 
und Ordnung sind eins. Shukowski und Merder vertrugen 
sich sehr gut, doch Shukowski meinte, sie Beide genügten 
nieht für die eminente Aufgabe, den Thronerben auszu- 
bilden, und rieth, den Grafen Onpodistrias damit zu be- 
trauen, der in ganz Europa verehrt sei, doch unterhlieb 
dies, der Graf trat an die Spitze Griechenlands und als 
Öberleiter der Erziehung wurde der Generallieutenant 
P. P. Uschakow bestellt. der nie den mindesten Einfluss 
gewann. Shukowski arbeitete darauf hin, dass Alexander 
nicht zu ausschliesslich militärische Gesichtspunkte befolge, 
denn das Volk sei kein Regiment, das Vaterland keine 
Kaserne, und er war mit der Art, wie man das Militärische 
ihm beibrachte wie mit der darauf verwandten Zeit sehr 
unzufrieden; desto mehr mass er dem Umstande Werth bei, 
dass Speranski dem Thronfolger anderthalb Jahre Vorträge 
über die Anfangsgründe der Rechtswissenschaft ertheilte 
und ihm klar machte, jedes Recht sei nur so weit Recht, 
als es auf der Wahrheit beruhe, sobald diese der Unwahr- 
heit Platz mache, erlösche das Recht und die Willkür 
beginne; in der Kriegswissenschaft unterrichtete den Thron- 
folger der grosse Militärtheoretiker Baron Henri Jomini 
(s. oben). Graf Cancerin hielt ihm seit Januar 1838 in 
russisch einen Kursus über Finanzwesen und Baron Brun- 


*, 8. 8. Tatischtschew, Alexander IT, im neuen „Bio- 
graphischen Wörterbnch* der „Bnssischen historischen Gesellschaft in 
St. Petersbarg*. 





seitigen. Während Nikolaus’ Reisen Ausland führte 
er die Rogierungsgeschäfte, wiederholt en N 
an andere Höfe, nach dem Jahre 1848 z. B. re 
Görgei und anderen ungarischen Insurgenten das a 
Tode bereits verfallene Leben, jedoch niemals durfte er 
in öffentlichen Dingen ein wichtiges Wort mitreden oder 
Einfluss ausüben, hiervon wollte sein Vater nichts wissen. 
er wollte allein herrschen. Ja die dritte Abtheilung be- 
obachtete genau jeden seiner Schritte. Alexander sah im 
väterlichen Staate so viele Missstände, dass ihn aaa 
zu ihrer Abstellung lebhaft interessirten, 

fesselten ihn die geistreichen Mömoires über aan 
der Verwaltung, welche Peter Alexandrowitsch Walujew, 
damals Staatsrath in Riga, schrieb: Reisen in Südrussland, 
im Kaukasus und in Armenien liessen ihn Gebiete und 
Völkerschaften sehen, die ihm Zeugniss für die schwere Auf- 
gabe ablegten, einst ein bunt gemischtes, der Einheitlichkeit 
in Stamm, Sitte, Gewohnheit, Lebensweise entbehrendes 
Reich zu regieren. In seiner Familie hatte Alexander 
unangenehme Erfahrungen gemacht, indem sein Bruder 
Konstantin mit ihm einen höchst gehässigen Rangstreit 
begann; Konstantin fühlte sich als im Purpur geboren, 
weil Nikolaus zur Zeit seiner Geburt Kaiser, zur Zeit der 
Geburt Alexanders nur Grossfürst war, auf dem Sterbe- 
bette liess Nikolaus Konstantin geloben, in Frieden und 
Treue neben dem älteren Bruder zu stehen — er hatte ja 
selbst an sich das glänzendste Beispiel gegenüber Konstantin 
Pawlowitsch gegeben, Konstantin schwur Alexander sofort 


Er 







XI. Alexander II 








an sich selbst, sah sich als den Sündenbock Menschikows 
und Anderer an und seine Briefe an den Kriegsminister 
zeigen ihn als klagenden Jeremias, als geknickten Greis, 
der sich nach dem Tode schnte: sein Erscheinen in Sewa- 
stopol wurde wegen seiner Misserfolge an der Donau von 
den Truppen mit eisiger Gleichgiltigkeit aufgenommen; er 
dachte im Juni an die Räumung Sewastopols. erwartete 
eine Wendung nur vom Frieden, von der Cholera oder 
von der Pest, und erklärte, seit Poters I. Lage am Pruth 
sei nie ein russisches Heer „ohne seine Schuld“ in solcher 
Lage gewesen; Alexander schrieb ihm immer wieder er- 
muthigend und voll Vertrauen*). Die alliirten Flotten 
unternahmen einen Zerstörungszug gegen die Häfen des 
Asowschen Meeres, eroberten Kertsch und Jenikale am 
24. und 25. Mai, bombardirten und verwüsteten Mariupol, 
Berdiansk, Taganrog ete. Nuchdem Pälhssier Mitte Mai 
anstatt Canroberts das Oberkommando über die Franzosen 
übernommen hatte, kam neues Leben in die Belagerungs- 
arbeiten vor Sewastopol, am 7. Juni eroberten Fran- 
zosen und Briten den Mamelon vert und andere wichtige 
Positionen, ihr Ansturm vom 18. aber wurde abgeschlagen. 
Die Russen erhielten bedeutende Verstärkungen, sahen 
aber immer neue Werke gegen Sewastopol aufführen und 
Gortschakow wie der Kaiser erbliekten die Rettung Sewa- 
stopols nur in einer siegreichen Schlacht gegen die Be- 
lagerer; Gortschakow machte darum am 16. August den 
Angriff an der Tschernaja, der aber abgeschlagen wurde 
(Schlacht bei Traktir). Plissier und Simpsen, der seit 
Raglans Tod die Briten führte, schritten zum Sturm auf 
Sewastopol, nachdem sie mehrere Tage bombardirt hatten, 
der Sturm erfolgte am 8. September, die Russen ver- 
theidigten sich wie Löwen, aber Bosquet und Mac Mahon 
erstürmten den Malakow, eine der Hauptbastionen, was 
Gortschakow veranlasste, die Vertheidigung der 349 Tage 
behaupteten Stadt und Festung aufzugeben, am 10. rückten 


*) Bogdanowitsch, Der Orientkrieg 1858-1856. Der Brief- 
wechsel Gortschakows mit Alexander während des Feldzugs von 1855 
steht in der „Russkaja Starina* von 1888, 














Grossbritannien, Oesterreich und der Pforte*) andauerte, 
versöhnte es sich völlig mit Frankreich und Sardinien, 
Dem ausserordentlichen Krönungsbotschafter Grafen Morny 
betheuerte Alexander, wie sehr er Frankreich liebe und 
wie ihm gerade der Krieg die grosse Sympathie beider 
Völker für einander gezeigt habe, und Graf Kisselew. sein 
Botschafter in Paris, trieb die Vorliebe für Frankreich und 
für Napoleon TII. so weit, dass er, ein Gegner Gross- 
britanniens, am liebsten eine Allianz mit Frankreich ein- 
gefädelt hätte: als er aber Alexander eine Denkschrift in 
diesem Sinne vorlegte, wollte derselbe nichts davon hören, 
für ihn war Napoleon der Genosse des europäischen Radi- 
kalismus, während Alexanders Staatsideen sieh auf der 
Heiligen Allianz als Grund und Boden aufbauten; in 
diesem Gedankengange traf er mit Friedrich Wilhelm IV. 
zusammen, in ihrem Zusammenhalten sahen Beide die 
einzige Rettung Europas vor dem allgemeinen Umsturze 
und vor der Hydra der Weltrevolution. 

Durch eine mit Persien abgeschlossene Vebereinkunft 
kam im Januar 1857 der Gebietsstreifen lüngs der Grenze 
von Türkisch-Armenien zwischen Bajesid (Bajazet) und 
Nuchitschewan an Russland. Gegen die kuukasischen Berg- 
völker wurden grosse Streitkräfte geworfen, doch dauerte es 
noch Jahre, bis man ihrer Herr wurde: Alexander rief den 
Fürsten Murawjew-Karskii, der sich im Kaukasus sehr un- 
beliebt gemacht hatte. ab und ernannte im Juli 1856 unter 
allgemeinem Jubel den Fürsten Alexander Iwanowitsch Bar- 
Jjatinski (s. oben), den Chef des Generalstabs im Kaukasus, 
zum Oberbefehlshaber daselbst; Barjatinski ging mit neuen 
Anschauungen und mit eisorner Willenskraft an die Arbeit, 
behandelte den Kaukasus wie eine Riesenfestung und theilte 
ihn wie seine Truppenmacht (240.000 Mann) in fünf grosse 
Militärbezirke resp. -Kommandos, die unter seiner direkten 
Oberleitung standen. Sein Generalstabschef und bester. 
Mitarbeiter wurde Dmitrii Alexejewitsch Miljutin. Bur- 
Jjatinski wandte seine Hauptthätigkeit der Tschetschnn zu, 
da diese Schamyl hasste, und hierbei leistete ihm der 


®) Die Pforte sandte im August. 1857 einen ständigen Gesandten 
an den russischen Hof. 


kun 








XI. Alexander IE, EEE 








deutende Seemacht, errichtete in Baku einen Kriegshafen, 
drang nach Persien vor und rückte in Turkestan der Ge- 
birgsscheide des indobritischen Reiches immer näher; es 

beherrschte alle Ufer des Aralsees und machte immer neue 
Eroberungen in Centralasien, erwarb ein Gebiet von 
22000 Quadratmeilen zwischen dem Kaspischen Meere 
und China; wo nicht militärische Expeditionen die Wege 
ebneten, geschah es durch wissenschaftliche; man benutzte 
jeden Anlass, um den russischen Einfluss an die Stelle des 
britischen zu bringen und Russlands Autorität bis zu den 
Thoren Indiens zu erweitern. General Romanowski schlug 
den Emir von Bochara am 20. Mai 1866, nachdem Gene- 
ral Michail Grigorjewitsch Tschernajew 1865 siegreich am 
Syr-Darja vorgedrungen war und Taschkend erobert hatte, 
Diese Stadt wurde im September 1866 Russland einver- 
leibt und im November d. J. endete der Krieg mit Bochars, 
welcher Staat Land abtreten musste. Die russische Poli- 
tik nützte mit seltener Schlauheit die Racenfeindschaften 
in Oentralasien und die gegenseitigen Fifersüchteleien der 
Stammesfürsten aus, um alle nach und nach zu über- 
wältigen. Im Juli 1867 wurde ein Gouvernement Turkestan 
organisirt, dessen Gouverneur eine ungemeine Machtfülle 
erhielt, Alexander ernannte dazu den Kanzleidirektor des 
Kriegsministers Miljutin, General Konstantin von Kauf- 
mann. Als sich neue Streitigkeiten mit dem Emir von 
Bochara ergaben, rückte Kaufmann 1868 in dessen Land. 
ein, schlug ihn, eroberte Samarkand und zwang ihn am 
30. Juli zum Frieden; der Emir trat an Russland die 
Städte Samarkand und Katty-Kurgan mit dazu gehörigem 
Gebiete ab und verpflichtete sich zur Zahlung einer hohen 
Kriegskontribution und zu freiem Handelsverkehre für alle 
Russen; die Briten thaten nichts für ihn. Darum wendete 
er sich, als sein Sohn gegen ihn rebellirte, um Hilfe an 
Russland und General Abramow verhalf ihm im Oktober 
1868 zum Siege; um ihn noch mehr an Russland zu binden, 
gab ihm Alexander 1870 den kleinen von Abramow er- 
oberten Staat Scherisebs. Im December 1869 besetzten 
die Russen die Bucht von Krasnowodsk an der Südost- 
küste des Kaspischen Meeres und machten sie zu einem 







u 5 


XI. Alexander IL. 40 









mächtige Khan von Kaschgar, ein Schützling der Briten, 
schloss 1872 Freundschafts- und Handelsvertrag mit Russ- 
land und trat in eine Art Vasnllität; die Russen besetzten 
1871 und administrirten dann das China gehörige und 
von Jakub begehrte Kuldscha-Gebiet, doch wurden die 
Chinesen nach Jakubs Tod wieder Herren der Lage und 
der 1879 mit Russland drohende Krieg wurde durch den 
Vertrag vom 23. Februar 1881 verhütet, in dem Russland 
nur ein kleines Gebiet am Ili-Plusse behielt*). Ohne dass 
China es hinderte, hatten sich die Russen sehon unter 
Nikolaus in der östlichen Mandschurei im Stromgebiete 
des Amur angesiedelt, sie setzten sich aber auch der 
japanischen Insel Sachalin gegenüber und auf ihr selbst 
an den Ufern des Japanischen Meeres fest; an der tatari- 
schen Meerenge entstanden Alexandrowsk und Lasarew, 
am rechten Ufer dos Amur Nikolajewsk. Marinisk u. a. 
Forts, 1857 südlich der Castries-Bai in Port-Imperinl an 
der tatarischen Meerenge ein Etablissement zur Aufnahme 
einer grossen Kriegsflotte. Kamtschatka wurde am 9. De- 
zember 1856 dem ostsibirischen Küstenbezirke einverleibt; 
in Transbaikalien fand der russisch-chinesische Handel 
einen reichen Stapelplatz. Mit China und Japan wurden 
vortheilhafte Grenz- und Handelsvertrüge abgeschlossen, 
die für die ostasintische Frage hohe Bedeutung erlangen 
sollten. Russland nutzte die Bedrohung Chinas durch 
Grossbritannien und Frankreich schlau aus, erzielte den 
Vertrag von Aigun (s. oben), der das linke Amur-Ufer 
an Russland brachte, und nährte die Wirren im Himm- 
lischen Reiche nach Kräften, Nikolai Pawlowitsch Ignat- 
jew, der Gesandte in Peking, erwirkte dort am 14. No- 
vember 1860 einen Zusatzvertrag zu dem von Aigun; die 
Besitzungen Russlands wurden sehr erweitert, die Russen 
erhielten das Schifffahrtsrecht auf alleu südlichen Neben- 
Nüssen des Amur, ihr Besitz ging fortan in der Mandschurei 


*) Russland untergrub damals schon nach Kräften Chinas Stellung 
in der Mandschurei und Mongolei und bediente sich mit Vorliebe zum 
orthodoxen Glauben übergetretener Mandschus als Holfer. 

A. Kleinschmidt, Ueberbl. d. runs. Gesch. #. 108. 26 


in dei Kama uch Wattrag in 
. Die mongolischen Nomaden am 0 






2 t am und das Christenthum breitete sich 

t i deu Burjäten aus. Sibirien wurde immer mar Elli 
zugeführt, die Steinkohlenproduktion verhundertfachte sich. 
‚binnen zehn Jahren, Kupfer- und Silberlager in Ostsihirien 
und ein in der kirgisischen Steppe am Argus-Plusse bei 
Semipalatinsk entdecktes Graphitlager versprachen reiche 
Ausbeute, und Nertschinsk wurde zum Mittelpunkte der 
Handelsbewegung in Sibirien ®*). 


Seit seiner 'Ihronbesteigung war Alexander bemüht, 
die Wunden, die der Krimkrieg Russland geschlagen hatte, 
zu heilen, die Misshräuche, die in ihm zu Tage getreten 
waren, abzustellen und das roral verfüulte Militärwesen 
zu reformiren; Fürst Murawjew-Karskii wurde Präsident 
der Kommission, welehe die Missbräuche im Heere und in 
der Heeresverwaltung untersuchte und deren Resultat im 
Jahre 1859 die Kassirung vieler hoher Beamten war. Am 
27. Mai und am 23. Juli 1856 erliess Alexander eine Amnestie, 
welche den polnischen Flüchtlingen straffreie Rückkehr 
nach Polen gestattete, sie in ihre bürgerlichen Rechte 
wieder einsetzte und ihnen sogar erlaubte, nach Ablauf 
von drei Jahren in den Stantsdienst einzutreten, jedoch 
nur Wenige machten von der Amnestie Gebrauch. Am 
7. September hob der Kaiser bei der Krönung in 
Moskau ***) durch ein Gnadenmanifest eine Reihe Strafen 
auf, gab allen Verurtheilten vom Dezember 1825 die 
Freiheit und ihren Kindern die elterlichen Titel zurück, 
nahm aber die Theilnehmer an der Petraschewskisehen 


*) Des Verkaufs von Alaska an die Vereinigten Stanten von 
Nordamerika geschah oben unter Nikolaus Erwähnung. 

=) Schon 1857 schätzte man die Goldproduktion in Sibirien auf 
47280 Pfund. 

“+, Gortschakow bat den Kaiser, in Anbetracht der schweren 
Opfer der Nation im Kriege von 1853 — 156 die Ausgaben bei der 
Krönungsfeier zu beschränken, Alexander aber hörte nicht anf ihn und 
die Feier kostete 18 Millionen Rubel. u 









XI. Alexander IT. 405 
„ die Kasaken treten mit 18 Jahren ein, sind 
12 Jahre in der Front, davon 4 aktiv und 8 beurlaubt, 
und bleiben 5 Jahre in der Reserve. Laut Gesetz vom 
8, Januar 1879 müssen sieh alle Finnländer mit 21 Jahren 
der Losung unterziehen, dienen aktiv 3, in der Reserve 
2 Jahre, und die Friedensstärke des finnländischen Heeres 
beträgt über 6300 Mann. In dem Marinewesen hatten sich 
Unterschleife aller Art und der ärgste Nepotismus heraus- 
gestellt, des Kaisers Bruder aber, Grossadmiral Grossfürst 
Konstantin Nikolajewitsch, fegte energisch den Augiasstall 
rein. Die Nation brachte durch ihre Opferwilligkeit die 
freiwillige Flotte des Schwarzen Meeres zusammen. 
Dampfschifffahrts- und Handelsgesellschaften bildeten 
sich, auf allen Werften des Schwarzen Meeres herrschte 
frisches Leben, Feodosia (Kaffa) wurde eine bedeutende 
Handelsstadt, die Telegraphenlinien wurden vermehrt, ein 
Eisenbahnnetz überzog mit Hilfe ausländischen Kapitals 
ganz Russland; der Verkehr an der Grenze wie der allge- 
meine Verkehr hoben sich mächtig, indem sie erleichtert 
wurden, Handelsverträge mit dem Auslande förderten 
Handel und Wandel, grossartige Wasserbauten wurden 
unternommen, der Zolltarif vom 23. Juni 1857 hob fast 
alle Einfuhrverbote auf und vereinfachte das Zollsystem. 
Man dachte an eine Verbindung des Schwarzen Meeres 
mit dem Kaspischen, des Amurgebiets mit dem Baikalsee 
und Irkutsk und des Salzsces Elton mit der Wolga, Rigas 
Festungswerke wurden abgetragen und Riga, Libau, Kron- 
stadt und Odessa wurden zu trefflichen Häfen, in Finnland 
wurde der Saima-Kanal vollendet. Reisepässe ins Ausland 
wurden auf fünf Jahre verwilligt und ein Ukas aus dem 
Juni 1860 stellte die Fremden in Russland den Ein- 
geborenen an bürgerlichen Rechten völlig gleich. Der 
Staat entwand sich der Starrheit seiner bisherigen volks- 
wirthschaftlichen Prineipien und handelte nach moderner 
Anschauung. wobei freilich manche Kinderkrankheit zu 
bestehen war und der Schwindel mancher Aktiengenossen- 
schaften grossen Schaden brachte. 
Alexander that viel für den Volksunterrieht, den er 
schon durch den Ukas vom 17. Mai 1856 unter seine be- 


406 X. Alexander 1. 

sondere Obhut nahm. im Volksunterrichte erkannte er die 
ige Gesundung eines Volkes. 
ibeigenschaft beschäftigte er sich 
besonders mit de . über die sieh grosse Meinungs- 
verschiedenheiten ergaben: in ihr äusserten sich zumal der 
amtirende und der gewesene Minister der Volksaufklärung, 
Golownin und Kowalew: Baron M. A. Korff a. A. Die 
Verwaltung der Schulen wurde dureh Gesetz vom 26. Juli 
1864 Unter übe gen und seit 1874 führten 
die Adelsmar diesen  Distriktsunterrichtsräthen 
den Vorsitz; spätere Versuche, die Volksschule der Kirche 
auszulietern. scheiterten. indem sich sogar der Minister 
Graf Tolstoi (s. unten: dagegen erklärte. Die Verhält- 
nisse waren so zerfahren, dass die zahlreichen Reformen 
Alexanders nieht hinreichten. um ein gebildetes Volk zu 
erzielen. das Freiheit von Anarchie unterscheiden und 
erstere zu ertrag würdig gewesen wäre Noch am 
2. Dezember 1879, ge nach dem Eisenbahnattentate. 
xte Alexander zu den Moskauer Behörden. die Sorge 





ug für die 
ung der I 


Grundbedir 
Nach Beseit 









































Mitrel zur Ausrortung des blutigen Geistes des Aufruhrs. 
Die Publieistik wurde zur Lieblingsbeschäftigung aller 
strebenden Talente, hunderte von Zeitungen und Zeit- 
sehriften wurden gegründer. obgleich die Prüventiveensur 
auch für beide Residenzen bis zum 30. April 1865 fort- 
bestand. und die Journalistik entfaltete sieh mehr denn 
je. zumal im Zeitraume von 1861—1867:: die C'ensur wurde 
weit milder gehandhabt als unter Nikolaus. man konnte 
eher die Zustände des Auslandes und die im Inland notlı- 
wendigen Reformen besprechen. eine öffentliche Meinung 
schien sich bilden zu wollen: bald aber zerrannen die 
Hoffnungen, die Censur verfuhr wieder ohne feste Regeln 
und ganz willkürlich. fremde Bücher. die über Ru 
land die Wahrheit sagten, wurden unter Androhung der 
strengsten Strafen verboten. Seit 1867 harte die un- 
abhängige Presse harte Tage, ein Alpdruck lastere 
auf ihr. die Zeitungen wurden höchst  schwe 
befördert und während der „St. Petersbur; 
finsterniss“ von 1869 war Russland fust drei Monate olıne 


















Zeitungen®). ‚Die hereinbrechende . 
sehleuderte die Bücher mehr und mehr zur Seito und 
günstigte die Thätigkeit der Journalisten; dies 1 
geschlecht aber trat alle Form mit Füssen, schlug der 
Autorität ins Gesicht, machte jede Rücksicht als Zeichen 
von Bornirtheit und Servilität lächerlieh und bekundete 
alle Eigenschaft des Sklaven. der die Ketten des Nikolai- 
schen Polizeiregiments abgestreift hatte. Mit Vorliebe 
griffen diese Literaten die herrschende Kirche, ihr ent- 
artetes verachtetes Priesterthum, die Missbräuche der Ver- 
waltung. die Betrügerei des hohen und niederen Beamten- 
thums an und inscenirten geradezu eine Anklageliteratur; 
allmälig sank zwar ihr Binfuss, der Staat aber war gegen 
den Radikalismus und die Revolutionssucht der Presse 
nicht genügend gefestigt, und als Alexander am Abende 
seiner Regierung das konservativ-ofhieiöse Journal „Das 
Ufer“ (Bereg) ins Leben treten liess, um die revolutionäre 
Presse zu bekämpfen und ihr den Boden abzugraben, 
scheiterte er damit, Die im Auslunde erscheinenden revo- 
lutionären russischen Zeitungen, die Werke eines Herzen, 
Iwan Golowin. Fürsten Peter Wladimirowitsch Dolgoruki 
wurden wegen ihrer heftigen Angriffe gegen die Regierung 
mit Begeisterung gelesen und fanden ihr Publikum in erster 
Linie unter den Studenten, Es fehlte dem höheren Unter- 
riehte an jeder festen Grundlage, was Halbbildung und 
Verbildung im höchsten Masse begünstigte, die Univer- 
sitäten und „das junge Russland® riefen immer lauter nach 
Reformen, deren Unausführbarkeit sie nicht behelligte, 
auch Professoren, die militärisch organisirten Bildungs- 
anstalten und viele Offiziere sympathisirten mit dem 
freiheitschwärmenden Studenten. 

Nikolaus hatte in den Universitäten Brutstätten revo- 
Intionärer Regungen gesehen, die durchaus keiner Be- 
günstigung werth seien. Der deutsch-liberale Minister der 
Volksaufklärung E. P. Kowalewski wurde derart ver- 








*) Friedrich Meyer (von Waldeck), Unter dem russischen 
Senpter. Ans den Erinnerungen eines dentschen Pnblizisten. Heidel- 


berg 1904. 


% XI. Alexander IT. 1 
Antonia Diitrijewna®). Graf Dmitri Andrejewitsch 
Tolstoi, der Oberprokureur der Heiligen Synode, erhielt 
im April 1866 dazu das Ministerium der Volksauf- 
klärung; er wollte den Einfluss der orthodoxen Kirche 
auf das Unterrichtswesen erweitern und führte die russische 
Sprache mit Zwang in Polen ein; er wirthschaftete starr 
national, allen Einflüssen Westeuropas abhold, war strenger 
Panslawist und ein Erzfeind Deutschlands; von seiner ge- 
wandten Feder und seiner orthodoxen Einseitigkeit zeugt 
sein bekanntes Buch: Le Catholieisme en Russie (1877). 
Tolstoi hauste mit solcher Willkür Allen gegenüber. die 
seinem alleinseligmachenden Schema widerstrebten, führte 
mit seinen verrannten Verfügungen zu solcher Verlotterung, 
veranlasste die Ausschliessung von so viel meist un- 
bemittelten Studenten von den Universitäten auf Grund 
von Kindereien und Nichtigkeiten, rieth zur Massregelung, 
Einkerkerung und Verschickung so vieler naeh Sibirien, 
dass er wohl den Namen „eines Vaters des Nihilismus“ 
verdiente. Was konnten die Opfer seiner Tyrannei anders 
werden als Nihilisten und Wühler unter ihren Kameraden? 
Dies Proletariat der Intelligenz lebte von kleinen Ver- 
sehwörungen und wühlte unter der männlichen und der 
weiblichen Jugend; ihm gehörten die Freunde des Kaiser- 
imörders Ssolowjew, ihm Russakow und Sheljabow an. 
AI die kleinlichen und üusserliehen Mittel Tolstois gegen 
das Umsichgreifen der Revolution an den Universitäten 
führten zu nichts, die dort gebildete Jugend trug revo- 
lutionäre Ideen in die Bureaukratie hinein, in der diese ein 
gefährliches Gemisch mit der Bestechung und der Un- 





*) Diese sehr gescheidte Dame, welche die Kaiserin immer tiefor 
ins orthodoxe Lager hineinführte, war eine Feindin westeuropäischer 
Kultur, eine leidenschaftliche Vorkämpferin für die Weltherrschaft der 
orthodoxen Kirche und des Slawenthums; sie stand seit 1862 an der 
Spitze der Bestrebungen, die Wiederausstattung der Intherischen Kirche 
der Ostseeprorinzen mit ihren alten Rechten zu hintertreiben, und 
unternahm 1867 einen religiösen Feldzug durch Polen nach Weiss- 
russland, um orthodoxe Mädchenschulen zu errichten; das Kammer- 
Tränlein war der Schrecken liberaler Minister, es hat Walnjews Stellnug 
untergraben. Antonin starb im April 1891. 





ed u 


XL. Alexander II. 









5 BEE 
u 

und Ministern, und legt man selbst einem Kaiser den 
Ausspruch in den Mund: Alle seion in Russland bestech- 
lich, nur er nieht, weil er es nieht brauche! Die zahl- 
reichen und häufigen Berrügereien kleinen und grossen 
Styls nühren den radikalen Geist in der hohen wie in der 
niederen Beamtung und machen die Tschinowniks ver- | 
ächtlieh; im letzten russisch-türkischen Kriege (s. unten) 

wurde auf Unkosten der Führung und der Versorgung des 

Heeres unerhört betrogen, das ganze Proviant- und Kom- 
missariatswesen lag nicht in den Hünden des Kriegs- 
ministers, sondern in denen der habgierigen Kompagnie 
Gregor-Kohn-Horwitz, ja die öffentliche Meinung wagte 

es, des Kaisers Bruder, den Grossfürsten Nikolaus, als 

stillen Theilnehmer an der schmählichen Entwendung des 
Stautsvermögens zu bezeichnen, und man glaubte solcher 
Anklage um so eher, weil Alexander II. den vor dem 
Kriegsgerichte zu Odessa gegen die Kompagnie an- 
gestrengten Prozess niederschlagen liess und die beunstan- 

deten Rechnungen zu bezahlen befahl*). Derartige Vor- 

fälle erschütterten naturgemäss den Glauben an die Re- 
gierung, die Autorität der letzteren; die Gewalt verlor 

ihr angestammtes Pröstige und die höheren Stände, welche 

frivol und träge zusahen oder nach eigener Geltung lüstern 

waren, wollten die kaiserliche Allmacht nicht neu be- 
festigen. Die Unzufriedenheit erfasste Hoch und Niedrig: 
niemand war mehr gesonnen, für die asiatische Allgewalr 

des Zaren einzutreren, die schrankenlose Willkür grau- 

samer, feiler Beamten, bestechlicher Richter zu dulden: 

so lange den Gegnern der Regierung das unerschöpfliche 

Thema der Korruption offen blieb, nützte keine Verschärfung 


*) Der Thronfolger behandelte den Onkel mit offener Missachtung; 
dieser liess zu seiner Rechtfertigung im Jahre 1830 in der Pariser 
„Nouvelle Rerue* einen Artikel über den Krieg mit höchst indixkreten 
Angriffen auf die Staatsinänner and Feldherren Russlands erscheinen, 
der Kriegaminister Miljutin widerlegte ihn in derselben Revne eingehend, 
und im August 1880 verlor der Grossfürst seinen Posten ala Ober- 
‚kommandant sämmtlicher Garden und des St. Petersburger Militir- 
bezirk# au den Thronfolger, bei dessen Thronbesteigung er in volle 
Ungmade Biel. 


Ai 


sition, dass man in St. Petersburg erkaltete, es kam zu 
gereizten Erklärungen und am 29. Dezember 1865 zu einer 
‚heftigen Scene Pius’ IX. mit dem russischen Gesandten, 
Baron Felix Meyendorf, Russland brach am 9. Februar 
1866 seine diplomatischen Beziehungen zum Heiligen 
Stuhle ab und am 4. Dezember d. J. wurde das Konkordat 
mit der Curie durch Ukas aufgehoben. Die orthodoxe 
Kirche wühlte längst gegen die griechisch-unirte, von 
der schliesslich nur noch ein Rest sich in der Diöcese 
Chelm erhielt, aber Graf Tolstoi ruhte nicht, bis auch 
dieser Rest im Januar 1875 mit Gewalt zur orthodoxen 
Kirche zurück gebracht war: in den Salons der Kaiserin | 
versammelte sich eine Clique bigotter Priester und Hof- 

damen, die alles Nichtorthodoxe gnadenlos verfolgten, die 
Lutheranerin von Darmstadt war zur begeistertsten 

Neophytin der griechischen Kirche geworden und ar- 

beitete mit der Gräfin Bludow im Dienste der Pro- 

psganda; sie suchte, frühe verblüht, meist kränkelud und 

nieht mehr im Stande. den weiblicher Schönheit leicht zu- 

günglichen Gemahl zu fesseln, bei der Kirche Ersatz für 

ihr ödes Leben, während sonst die Kirche den höheren 

Klassen in Russland meist nur als notliwendiges Uebel er- 

scheint und man ihr mit Ironie und Missachtung begegnet. 

Polen, Litauen, Weissrussland sollten der Orthodoxie ge- 

wonnen, der Einfluss der römischen Kirche sollte in Polen 

wie im übrigen Russland gebrochen werden, die römischen 

Katholiken wurden einem in $t. Petersburg errichteten 
römisch-katholischen Kollegium unterstellt und dies „geist- 

liche Kolleg“ stand unter dem Erzbischofe von Mohilew; 

die armenisch-gregorianische Kirche steht unter dem 
„katholischen“ Patriarchen von Etschmiadsin und unter 

der von ihm präsidirten Synode. Höchst human war 
Alexanders Regierung für die Juden, unter denen ihm 

viele durch Anschluss an den Nihilismus schlecht ge- 

lohnt haben; er hob die auf ihnen liegenden speziellen 
Rekrutierungslasten auf, stellte gelehrte Juden bei den 

Leitern der Gebiete an, wo es zahlreiche Juden gab, 

und erlaubte den ‚Juden im Jahre 1857, Landgüter zu 

erwerben. 





XI. Alexander II. a 





Er XL Alexander TE 





freie Hand gewinnen und hintertrieb im stillschweigenden 
Einvernehmen mit den meisten urtheilsfähigen Russen, die 
Ungarn nicht vergessen konnten, alle Annäherungsversuche 
Öesterreichs, arbeitete auch 1859 gegen Oesterreich für 
Frankreich, konnte aber die Allianz mit Frankreich nicht 
erzielen. Am 23. Oktober 1859 einigte sich Alexander bei 
der Zusammenkunft in Breslau mit dem Prinzen-Regenten 
von Preussen wegen des Zusammengehens ihrer Cabinete 
in der italienischen Frage: als der von Russland wegen 
derselben vorgeschlagene Kongress nicht zu Stande kam, 
verhielt sich die Regierung anfangs neutral, bald aber 
missbilligte sie die Politik Viktor Emannels und die Ent- 
thronung der Herrscher von Toskana, Parma, Modena und 
Beiden Sieilien, Gortschakow erklärte*): „Es handelt sieh 
hier nicht um die italienische Frage, sondern um das allen 
Regierungen gemeinsame Interesse, um ewige Gesetze, 
olme die keine gesellschaftliche Ordnung, kein Friede, 
keine Sicherheit in Europa bestehen kann .... Es handelt 
sich gegenwärtig nicht um Rechtsfragen, sondern um das 
monarchische Prineip und um die gesellschaftliche Ordnung 
im Kampfe mit der revolutionären Anarchie.“ Im Oktober 
1860 wurde der Gesandte aus Turin abberufen und erst 
am 18. August 1862 erkannte Alexander das Königreich 
Italien an, Vom 22. bis 26. Oktober 1860 weilten Alexan- 
der, Franz Joseph und der Prinz-Regent von Preussen 
zusammen in Warschau, was Russland und Oesterreich 
einander näherte, 

In den türkischen Vasallenstaaten an der Donan 
überwog der russische Einfluss; übrigens ging Russland 
bei den Verhandlungen über die Organisation der Donau- 
fürstenthümer**) einen Weg mit den anderen Grossmächten 
und hielt es ebenso gegenüber den Unruhen in Montenegro 
und in der Herzegowina, während es bezüglich der Donau- 
schifffahrtsakte gegenüber Oesterreich und bezüglich der 





*) Tatischtschew (s. oben). 

#*) Russland neigte im Gegensatze zu Oesterreich der Union der 
Donanfärstenthümer zu einem State Rumänien zu. Vgl. Thourenel, 
Trois Aumdes de la question d'’Orient 1856—1859, Paris 1897, 


XI. Alosander II. ur 
einen modus vivendi mit den Polen zu finden, sie aber 
traten ihm so dreist entgegen, dass er den Kopf völlig 
verlor und dem „Landwirthschuftlichen Centralvereine* 
immer mehr Macht liess; diesem aus den Reihen des Adels 
hervorgegangenen Vereine diente die Landwirthschaft 
lediglich als Vorwand, um sich zu versammeln, politische 
Reden zu halten und Ränke zu schmieden; Graf Andrzej 
Zamoyski, der Vorsitzende des Vereins, hatte weit mehr 
Macht als Gortschakow und am 26.27. wiederholten sich 
die Auftritte in Warschau, wobei fünf Leute getödtet 
wurden. In seiner Rathlosigkeit bewilligte Gortschakow 
den Rebellen alle Worderungen, darunter die Absetzung 
des energischen Polizeidirektors F. F. Trepow, und aus 
"Warschau erging eine Adresse un den Kaiser; dieser ver- 
warf den politischen Theil derselben, versprach hingegen 
administrative Reformen und erliess den Ukas vom 
27, März: an die Stelle des Warschauer Lehrbezirks und 
der geistlichen Abtheilung in der Regierungskommission 
des Inneren und der geistlichen Angelegenheiten trat eine 
selbständige Regierungskommission der religiösen Kulte 
und der öffentlichen Aufklärung unter dem (eneral- 
direktor Marquis Alexander Wielopolski, der im Admini- 
strationsrathe des Königreichs Sitz erhielt; eine allgemeine 
Neugestaltung der Schulen wurde angeordnet, höhere Lehr- 
anstalten wurden gegründet. ein polnischer Staatsrath 
wurde errichtet, Kreis-, Bezirks- und Stadträthe wurden 
gewährt, 'Wielopolski war ein eifriger Patriot und An- 
hänger der panslawistischen Idee, ein Gegner Oester- 
reichs, er wollte wie der Statthalter die Versöhnung von 
Polen und Russen und Alexander billigte das politische 
Programm dieses einzigen Stantsmannes, den Polen damals 
besass; Wielopolski schuf den Staatsrat, leitete pro- 
visorisch die Justizkommission und kümmerte sich nicht 
um die Wuth des blinden Haufens, war aber von Illusionen 
nicht frei. Die nationalen Kundgebungen hörten trotz 
des Ukases nicht auf, man wollte ein selbständiges Polen- 
reich und nannte den Herzog von Leuchtenberg ala Kan- 
didaten für den Thron, es kam zu neuen Demonstrationen 
und am 6. April schloss Gortschakow auf Wielopolskis 
A. Kloinsohmidt, Veberbl. d. russ. Gesch. u, 1598, a 









nicht in Kiselende in. 

13. August machten sie Attentate auf den 
n opolski, den sie in ihrer Verblendung als Ver- 
räther unsahen; Wielopolski vermochte nicht, die intran- 
‚sigenten „Rothen“ zu vernichten und die „Weissen* unter 
‚den ‚Gebrüdern Zumoyski an sich zu ziehen, um sein 
‚System mit Konstantin durchzuführen; die Gebrüder 
am wurden verbannt und gingen nach Paris; das 
Hötel Lambert, in dem Fürst Üzartoryski, der einstige 
Freund Alexanders 1.%), und seine Nachkommen wohnten, 
hoffte auf Napoleon III... ohne den Aufstand von 1863 direkt 
‚zu billigen. Die Regierung hatte die Aushebung zum Militär 
angeordnet und wollte damit besonders die Städter treffen, 
diese emigrirten in grossen Scharen im Januar 1863 in 
die Wälder, es bildete sich eine provisorische National- 
regierung, überall tauchten bewaffnete Banden auf, Ludwig 
Mieroslawski, der alte Verschwörer von 1830, 1848 und 
1849, sollte die militärische Leitung übernehmen, konnte 
sich aber bei den übrigen Führern keine Autorität ver- 
‚schaffen und flüchtete nach seiner Niederlage bei Radzie- 
jewo am 22. Februar. Als sich Preussen im Februar 
durch die Militärkonvention mit Russland in den Kampf 
einmischte, sıh man in Paris hierin einen Bruch der 
Doktrin der Niehtintervention **), das Hötel Lambert erliess 
die Parole nach Polen, man solle mit Wielopolski brechen, 
und in Galizien arbeitete man auf die Unterstützung des 
Aufstandes hin, für den die polnische Presse aberwitzig 
schürte, An die Stelle der unsichtbaren Nationalregierung 
trat am 10. März Marian Langiewiez als Diktator, an sich 
ein kreuzbraver Mensch, aber ohne jedes Talent zum 
Führer und in unmögliche Verhältnisse hinein gedrängt. 
Einige Gefechte entschieden gegen ihn, er musste am 








*) Er starb 1861. 
"*) Preussen zog zwar die Konvention bald zurück, bileb aber 
im engen Verbande mit Russland, und Oesterreich zeigte nieht die in 
Paris erwartete Begeisterung für Napoleons polnische Politik. 
Er 


we 





4 XI. Alexander IE E78 

ten, er wurde Statthalter, Generalkommandant 

‚in Polen, Präsident des Verwaltungsrarhes und 

des Staatarathes, waltete mit eiserner Strenge, bot grosse 
Militär- und Polizeimacht auf und viele Insurgenten endeten 
durch Blei oder Strang, die geheime Nationalregierung 
zahlte, als man sie endlich entdeckte, mit dem Kopfe. Da der 
Generalgouverneur Nasimow in Litauen den Aufstand nicht 
niederzuwerfen vermochte, wurde der bisherige Apanagen- 
minister, General der Infunterie Michail Nikolajewitsch 
Murawjew, der Bruder des Fürsten Karskii, im Mai 1868 
Generalgouverneur der sechs nordwestlichen Gouverne- 
menfs mit ausserordentlichen Vollmachten und regierte 
mit Anwendung des schärfsten Militärdespotismus; den 
Litauern erschienen Murawjew, Galgen und Sibirien Syno- 
nyma, Konfiskationen und Sequestrationen waren alltüg- 
liche Dinge, sehr viele wurden gehängt oder erschossen, 
Murawjew hatte schon 1831, als er den Aufstand in 
Grodno bezwang, gesagt: „Ich gehöre nicht zu den Mu- 
rawjew, die man hängt, sondern zu denen, die hängen 
lassen.“ Berg und Murawjew suchten die nationale 
Stellung von Adel und Olerus zu vernichten, den Bauern- 
stand hingegen auf Russlands Seite zu ziehen und seine 
Lage zu heben; die meisten Klöster wurden im November 
1864 aufgehoben und am 26. Dezember 1865 das gesammte 
Eigenthum der katholischen Kirche eingezogen, der Ein- 
#uss der letzteren wurde gebrochen, ihre Anhänger ver- 
folgt; am 2. März 1864 fiel die Leibeigenschaft in Polen, 
Schon im Juli 1863 war Murawjew der Rebellion ziemlich 
Herr geworden, seine Härte aber fand grosse Missbilligung 
bei Gortschakow wie bei vielen Ministern und Grosswürdnern, 
er konnte nicht im Amte bleiben und ging im April 1865, 
zum Grafen erhoben, ab. Berg blieb in Polen und wurde 
1866 Generalfeldmarsehall. Der amtliche Verkehr in Polen 
wurde russisch eingerichtet, in den Schulen musste russisch 
gelehrt werden, denn man wollte um jeden Preis Polen russi- 
fieiren. Der Staatssekretär für das Zarthum Polen, Nikolai 
Alexejewitsch Miljutin, des Kriegsministers Bruder, war 
ein eminenter Staatsmann und ein Held der Initiative wie 
ein eifriger Mitarbeiter an der Aufhebung der Leibeigen- 


Kunc. 1 

















völlig absorbiren, mit Kummer sah man eine Reihe Re- 
formen, die Alexander II. gewollt, in Härte und Druck 
umschlagen und die Opposition lebte im Stillen fort; 
Polen blieb die Achillesferse Russlands. Graf Berg starb 
um 18. Januar 1874*); sein Nachfolger als General- 
gouverneur, General der Infanterie Graf Paul E. Kotzebue, 
setzte sein Russificirungswerk fort, Das Departement für 
Polen am Reichsrathe in St. Petersburg hatte 1862 weichen 
müssen, Alexander hatte am 25. Februar 1864 ein neues 
‚polnisches Comit& gegründet, dessen Bestehen erst 1866 
kundgegeben wurde, sein Nachfolger schaffte es um 
10. Juni 1881 endgiltig ab. 

In Finnland hatte sich unter Nikolaus eine Miss- 
stimmung gegenüber der Autokratie gezeigt, Alexander IT. 
kam nun dem Lande freundlich entgegen, Nikolaus hatte 
niemals den Landtag des Grossfürstenthums berufen, 
Alexander berief ihn 1863 und eröffnete ihn selbst; es 
war der zweite seit Finnlands Union mit Russland. 
Alexander erneute Finnlands Autonomie und am 28. Februar 
1865 wurde die finnländische Sprache zur offieiellen Landes- 
sprache erklärt, nachdem sie seit August 1863 der ofli- 
eiellen schwedischen gleichberechtigt erklärt worden war, 
Ein Ukas Nikolaus’ vom 3. Januar 1850, die russische 
‚Sprache als officielle in den Ostseeprovinzen einzuführen, 
war nie ausgeführt worden, die Provinzen entwickelten 
sich geordnet und friedlich in liberaler Richtung und das 
deutsche Element erwies sich nach wie vor als äusserst 
segensreich für das russische Reich; ja Alexander erwog den 
ihm vorgetragenen Wunsch nach einer Provinzialverfassung 
für diese Gebiete. Auf Aufforderung des Ministereomites 
erneuerte aber Alexander am 13. Juni 1867 den Ukas 









*) I.W, Seliwanows Memoiren, in „Russkaja Starina“, De- 
zember 1880 und August 1881; Kartzow, Graf F. F. Berg, in „Russkaja 
‚Btarina*, Februar 1898, 





[ =. 














2 ‚solcher kleinen und unvermögenden Dynastien, 
che bestrebt waren, ihre Existenz auf Kosten der 
nationalen Interessen zu verlängern, welche ihre Herrscher- 
pfiehten ohne Sorgfalt vollzogen und den Nimbus des 
monarchischen Princips ebenso kompromittirten, wie ein 
zu zahlreicher und an den Bettelstab gerathener Adel den 
Nimbus der Aristokratie kompromittirt. . . Ich werde 
fortfahren, mit der Revolution in Deutschland zu kämpfen, 
wie ich es bisher that. ... Hoffentlich habe ich hiermit 
Deine Befürchtungen beruhigt. Nichts liegt mir so nahe 
am Herzen als die Befestigung der Bande, welche uns 
verknüpfen.“ In Frankreich natürlich sah man entrüstet 
auf die Haltung des St. Petersburger Cabinets gegenüber 
dem mächtig aufsteigenden Preussen, auf Bismarcks Er- 
folge in Russland. Im Juni 1870 begegneten sich Alex- 
ander und Wilhelm in Ems und am 9. Juli sagte Gor- 
tschakow zum britischen Botschafter*), Russland könne 
über die Macht Preussens keine Unruhe empfinden. Alex- 
ander zeigte sich als warmer Freund Preussens, als der 
Krieg mit Frankreich ausbrach; durch ihn veranlasst, 
hlieben Oesterreich, Italien und Dänemark, wo Russlands 
Einfluss seit der Heirath des Grossfürsten- Thronfolgers 
mit der Prinzessin Dagmar hohe Macht erlangt hatte, 


*) Ramband, Geschichte Rnsslands (#. oben), 


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_— = 


XL Alexander IT. un 









Konstantinopel, die Ausführung des Entschlusses bei 
ihm beschleunigt zu haben*). Am 11. November machte 
Gortschakow dem britischen Botschafter, Sir Andrew 
Buchanan, die erste Mittheilung vom Plane, den Pariser 
Frieden von 1856 in Hinsicht auf das Schwarze Meer aufzu- 
heben, und erregte Bestürzung bei ihm wie bei dem oester- 
reichischen Botschafter Grafen Chotek. Er erliess die am 
15. November publieirte Oirkularnote vom gleichen Tage 
an die Müchte, welche den Pariser Frieden kontrahirt 
hatten, und erklärte ihnen, Russland halte sich an die 
dort stipulirte Neutralisirung des Schwarzen Meeres nicht 
mehr gebunden, mit anderen Worten, Russland beanspruche 
das Recht, seine Kriegsschiffe in das Schwarze Meer ein- 
laufen zu lassen und Seearsenale an dessen Ufern zu er- 
richten. Grossbritannien und Oesterreich waren voll Ent- 
rüstung über Gortschakows Mittheilung, sie fürchteten 
Russlands geheimen Appetit nach den Donaumündungen 
und seine Absicht, sich an der Integrität der Türkei ver- 
greifen zu wollen; sie erliessen diplomatische Proteste 
gegen den einseitigen Rücktritt Russlands von einer völker- 
rechtlichen Stipulation und die öffentliche Meinung in 
beiden Staaten lautete kriegerisch; Gortschakow aber 
deutete die Möglichkeit an, Reservearmeen einzuberufen! 
Die Pforte verhielt sich merkwürdig ruhig, bei der ersten 
Nachricht von der Kündigung hatte sich ihr Botschafter 
in 8t. Petersburg zu Bett gelegt, in aller Stille nach- 
gedacht und dann in Konstantinopel zur Nachgiebigkeit 
gerathen; Rustem-Bey wurde zum Lohne von Alexander 
und Gortschakow gehütschelt, sein Benehmen wirkte 
auf Grossbritannien und Oesterreieh sichtlich beruhigend 
ein. Graf Bismarck schlug am 26. November vor, die 
Frage auf einer Konferenz in London auszutragen, sie 
kam unter dem Vorsitze Lord Granvilles am 17. Jannar 
1871 zusammen, Brunnow, der gerade Botschafter in 
London geworden, vertrat Russland und am 13. März 
wurde allseitig der Vertrag unterzeichnet, welcher Russ- 
land von den Beschränkungen des Artikels 14 des Pariser 





*) Gortschakow bestreitet dies. 








jew®) u. A. führten darin das grosse Wort, Alexander war 
schon als Thronfolger ein Gegner der Massregeln des Mini- 
sters des Inneren (seit 1852), Dimitri Gawrilowitsch Bibikow, 
gewesen, 1855 ersetzte er ihn alsbald durch Ssergei Stepano- 
witsch Lanskoi, einen sehr gewandten und von Standes- 
vorurtheil freien Arbeiter, der olıne Wanken den Willen 
seines Gebieters zu vollstrecken gesonnen war und von seinen 
Grundsätzen niemals abwieh: auch Graf Kisselew genoss 
das Vertrauen Alexanders nieht, man hatte Letzteren stets 
gegen den Ratlıgeber seines Vaters eingenommen und ihm 
versichert, die Domänen könnten weit mehr abwerfen, 
darum liess er ihn am 10. September 1856 abgehen **) und 
ernannte nach kurzem Provisorium den später durch die 
Niederwerfung Litauens (s. 8. 421) allbekannten General 
der Infanterie M. N. Murawjew im Dezember 1856 zum 
Minister der kaiserlichen Apanagen und im April 1857 
auch zum Minister der Reichsdomänen. obwohl er ihn 
weder liebte noch achtete, Alexander bewies dem Adel 
ausserordentliches Vertrauen und wünschte, derselbe möge 
selbst die Bauernbefreiung verfügen, Lanskoi erliess 
Cirkulare an die Adelsmarschälle und Gouverneure, in 
denen der Adel seinerseits die Garanten für die Bei- 
behaltung der Leibeigenschaft, an der er festhalten wollte, 
sah. Als Alexander im März 1856 nach Moskau kam, 
beschwor ihn einer der eifrigsten Anhänger der alten Ver- 
hältnisse, der dortige Generalgouverneur Graf Arssenii 
Andrejewitsch Sakrewski*"*), den Adel wegen des im 
Volke umlaufenden Gerüchts von der Bauernbefreiung zu 
beruhigen; Alexander versicherte im April in Moskau den 
Adeligen offen und unverblümt, der bisherige Zustand sei 
unhaltbar und es sei seine feste Absicht, die Bauern zu 
befreien. denn es sei rathsamer, von oben her die Leib- 


*) Wir folgen hauptsächlich seinen Memoiren in der „Russkaja 
Starina“ von 1880— 1888. 

**) Kisselew wurde im November 1856 Botschafter in Paris. 

**#, So verhasst in Moskau, dass man ihn „Arsenik 1.“ nannte; 
er sahı in jedem Freunde der Emancipation einen gefährlichen Schwärmer 
und hinderte dieselbe, wo immer er konnte, mischte sich in alles ein 
und schaltete despotisch, 









XI. Alexander II. Es 
(krepostnoje prawo) und über die seit Peter dem Grossen 
getroffenen Massregeln zu seiner Begrenzung, und am 
15. Januar 1857 eröffnete ein Geheimcomitö unter des 
Kaisers Vorsitz seine Sitzungen; demselben gehörten an 
Fürst Orlow, Lanskoi, Graf Bludow, der Finanzminister 
Brok*), M. N. Murawjew, Tschewkin. Rostowzow, Graf 
Adlerberg, Nikolaus alter Freund, der Chef der dritten 
Abtheilung der Privatkanzlei des Kaisers Fürst W. A. Dol- 
goruki**), den bei seiner Abwesenheit sein Stabschef 
A. E. Timaschew, der spätere Minister des Inneren, ver- 
trat, und die Mitglieder des Reichsraths Fürst Paul 
Pawlowitsch Gagarin und Baron Modest Andrejewitsch 
Korff; in des Kaisers Abwesenheit präsidirte Orlow und 
er erreichte es, dass die Geschüftsführung des Comitds 
nieht Lewschin, sondern Butkow übertragen wurde. Eine 
besondere Kommission sollte alle Privatprojekte über die 
Bauernfrage prüfen, sie sollte aus Rostowzow, Gagarin 
und Korff bestehen, der Kaiser nahm die Ablehnung 
Rostowzows und Korffs nicht an und die Drei mussten 
nun über hundert Projekte prüfen, wobei ihre Ansichten 
weit auseinander gingen; dann wurden die Arbeiten der 
Drei dem Geheimeomits vorgelegt und von diesem den 
einzelnen Mitgliedern zum Durchlesen gegeben. Rostow- 
zow war im Studium der Frage eminent gewissenhaft, 
Lewschin und Lanskoi arbeiteten voll Fleiss, Alexander 
sprach auch mit Kisselew, dem er in Kissingen begegnete; 
er sagte ihm: „Die Bauernfrage beschäftigt mich un- 
ablüssige. Man muss sie zu Ende bringen, Tch bin mehr 
denn je entschieden, habe aber Niemanden, der mir bei 
dieser wichtigen und keinen Aufschub duldenden Suche 
hülfe.“ Kisselews Eindruck war der, dass man von allen 
Seiten den Kaiser mit Vorstellungen von Hindernissen 





*) Als P. F. Brok Conerins unfühigem Nachfolger, dem Grafen 
Wassilii Fedorowitsch Wrontschenko, 1852 als Finanzminister folgte, 
witzelte Fürst Menschikow: „Unsere Finanzen stehen wirklich schlecht, 
wenn man sehon zu Brok (obrok = Banernzins) seine Zuflueht nimmt.“ 
(Russkaja Starina, 1830.) 

") Früher Kriegsminister. 






mr — 


XT. Alexander IT. 483 





mit dem Generalgouverneur in Wilna, General W. J. Nu- 
simow, der Alexander einst als Thronfolger beigegeben 
worden und ihm innig zugetluun war, unterhandelt, Nasimow 
sollte den Adel einladen, in einer Adresse die Aufhebung der 
Leibeigenschaft vom Kaiser zu erbitten; Nasimow brachte 
im November 1857 die Antwort des Adels nach St. Peters- 
burg: sie lautete s0 wenig befriedigend für die Bauern 
und entsprach Alexanders Wünschen so wenig, dass er 
unter Mitwissen des Geheimeomites am 2. Dezember 1857 
aus Zarskoje-Sselo ein Reskript an alle Gouverneure und 
Adelsmarschälle erliess, um sie über seine Absichten zu 
unterweisen. Die Konservativen wollten nichts davon 
hören und im Januar 1858 endete das Geheimcomite, 
Nun wurde ein Befehl zur Einsetzung des Haupteomitds 
über die Bauernfrage am 20. Januar d. J. veröffentlicht 
und der Kaiser übernahm den Vorsitz, Orlow seine Stell- 
vertretung. Korff trat aus, der Justizminister Graf Viktor 
Nikititsch Panin trat ein, sonst blieb das Comit& das alte 
von 1857, Panins Eintritt verstärkte die ohnehin zahl- 
reichere konservative Richtung, er war ein Edelmann mit 
der Bildung des 19. und den Ueberzeugungen des 17. Jahr- 
hunderts, voller Widersprüche in sich, dabei ein ent- 
schiedener Gegner der Bauernbefreiung mit Grund und 
Boden. Von den zwölf Mitgliedern des Haupteomitds hatte 
Alexander Konstantin, Tschewkin und Rostowzow ge- 
wählt, die anderen waren durch ihre Stellung hinein 
gekommen; un Broks Stelle trat bald sein Nachfolger im 
Finanzministerium Knjashewitsch, Aufrichtig wünschten 
die Emaneipation nur Konstantin. Lanskoi. Bludow 
und Tschewkin; den Konservativen gehörte das Feld. 
Alexander besprach sich besonders offen mit Rostow- 
zow, dem einstigen Dekabristen, den er hoch schätzte 
und den er zum Chef der Militär- Unterriehtsanstalten 
ernannt hatte, Rostowzow aher fühlte sich im Haupt- 
somit6 nicht am Platze und bat immer wieder, freilich 
vergebens, um seine Entlassung: sein Gut im Pskowschen 
Gouvernement war klein, er lebte nie dort, kannte darum 
die Bauern und ihre Bedürfnisse nicht; ein Feind alles Libe- 
ralismus, in dem er eine Gefahr für den Thron und bare 
A. Kleinschmidt, UoberbL d. russ. Gesch. +. 1508, = 





Taanskoi, Gagarin, Rostowzow und Murawjew und Lanskoi 
ging ungeachtet aller Intriguen unentwegt vorwärts. In 
der ersten Hälfte des Jahres 1858 wurden acht, in der 
zweiten 35 Gouvernementscomitös, darunter eine allgemeine 
Kommission in Wilna eröffnet, ihnen folgten bis Ende 
April 1859 noch fünf Gouvernementscomites, darunter eine 
allgemeine Kommission in Kiew, fast allerorten in den 
Gouvernements herrschte grosse Rührigkeit in der Bauern- 
frage, freilich kam os auch zu vielen Streitigkeiten und 
Verzögerungen. Rostowzow erhielt am I. März 1859 den 
Vorsitz in den zwei Redaktionskommissionen wegen der 
Bauernfrage, wobei ihn Murawjew unterstützte, und über- 
nahm im Mai neben dieser schweren Aufgabe noch den 
Vorsitz einer Finanzkommission, welche die finanzielle Seite 
der Bauernfrage erörterte; am 16. März 1859 traten beide 
Redaktionskommissionen bei ihm in $t, Petersburg zu- 
sammen, er arbeitete voll Eifer, erkrankte aber im 
Oktober d. J., seine Kräfte schwanden hin und er starb am 
18. Februar 1860, mit: Hinterlassung einer Art von Bericht 
über die Resultate aller Kommissionen. Alexander sagte: 
„Der Verstorbene hinterliess uns hierin gewissermassen ein 
Testament, das uns heilig sein muss“, liess den Bericht *) 
für die Mitglieder der kaiserlichen Familie, den Reichs- 
rath, das Hauptcomits über die Bauernfrage und einige 
Vertraute drucken **). Panin erhielt nun das Präsidium 
der Redaktionskommissionen, die ihre Arbeiten im Oktober 
1860 mit der Abfassung von fünf Entwürfen allgemeiner 
und lokaler Verfügungen über die Bauern abschlossen; 
die Arbeiten gingen am 22. Oktober zur Prüfung an das 
Haupteomite, Orlow. der mit Panin, Murawjew und 
Butkow die Emaneipationsfrage im Geiste des Konservatis- 


*) Der Bericht steht in „Russkaja Starina“, 1880, 

**) In dem an Panin gerichteten kaiserlichen Dankreskripte vom 
29. April 1861 an alle Kommissionsmitglieder rühmte Alexander 
Rostowzows unsterbliche Verdienste um die Emancipation, auf Ro- 
stowzows Grab liess er eine Medaille mit seinem Bilde „für die Be- 
mühnungen um die Befreiung der Bauern“ niederlegen und er verlieh der 
Wirtwe und deu Kindern am 5. Mai 1851 den Grafentitel. 

sr 


XI. Alexander It. 47 





alle seine Minister und Mitglieder des Rathes. Er wuchs 
unermesslich und sie sanken zusammen. Von nun an hat 
er sieh Unsterblichkeit erworben. Man muss erwägen, 
dass diese Rede nicht von irgend einer Rathskanzlei aus- 
gearbeitet, nicht geschrieben und vorgelesen war — nein, 
es war eine absolut freie Improvisation, der natürliche 
Ausdruck des Gedankens, der lange schon im Kopfe 
reifte.“*) Am 3. März 1861 verfügte Alexander die Er- 
richtung eines Haupteomites zur Organisirung der länd- 
lichen Lage, in welchem Konstantins Stimme sich ener- 
gisch für die Verwirklichung der kaiserlichen Gedanken 
aussprach, und erliess ein Reskript an Lanskoi, in dem 
er anstatt der Gouvernementscomites Gouvernements- 
sessionen über die Bauernsache anberaumte; der Reichs- 
rath hatte den ihm unterbreiteten Vorschlägen in allen 
Punkten zugestimmt und Alexander denselben am 3. März 
die kaiserliche Bestätigung ertheilt; alle Kommissions- 
mitglieder empfingen durch Reskript vom 29. April den 
kaiserlichen Dank, Lanskoi wurde am 5. Mai Graf und 
Panin Ritter des St. Andreas-Ordens, 

Der ‚Jubel des dankbaren Volkes war grenzenlos, es 
bereitete Alexander Oyationen, wo er sich zeigte, Das 
kaiserliche Manifest und Statut vom 3. März, welches 23 
Millionen Leibeigener von Grundbesitzern und vom Hofe 
zu freien Menschen machte, bedeutete einen Bruch zwischen 
der alten und der neuen Ordnung der Dinge, freilich konnte 
der Sieg des Neuen über das Alte nicht unmittelbar ein 
voller Sieg sein, die alten Schäden mussten langsam abge- 
streift werden und das Neue tappte noch unsicher im Halb- 
dunkel, aber das Alte zu erneuern war doch unmöglich 
geworden. Die bisher an die Scholle gefesselten Bauern 
erhielten alle Rechte freier Ansiedler*®), erlangten um 
einen gesetzlich normirten Grundzins die volle Nutzung 
ihres Gehöftes und einer Anzahl Aecker, was sie alles 
kaufen konnten, die Grossgrundbesitzer traten den Bauern 
rosp. den Landgemeinden diese Ländereien ab, die Re- 





*) Patischtschew (s, ohen). 
”) Rambaud (a, oben). 











— 


XI. Alozander IT. h Er 


1861: an Lanskois Stelle aber trat ein ominenter Kopf, 
Peter Alexandrowitsch Walujew, der das Emaneipations- 
work durchzuführen wunderbar geeignet war, wenn es 
auch immerhin besser gewesen wäre, Lanskoi selbst sein = 
Werk ins Leben setzen zu lassen. Walujew steuerte voll 
Mässigung zwischen Seylla und Charybdis, zwischen Re- 
aktion und Ueberstürzung hindurch und wirkte mächtiger 
als jeder Zweite für sociale und administrative Reformen, 

Die Aufhebung der Leiheigenschaft traf den Einfluss 
und die Finanzen des Adels in empfindlichster Weise und 
logte in seinen Kreisen manch nihilistischen Keim; grosse 
Massen aber erhielten urplötzlich eine Freiheit, die sie 
noch nicht zu verwerthen wussten, und geriethen in den 
Dienst des Kapitals oder beuteten den ihnen überlassenen 
‚Grund und Boden unsinnig aus: die Auseinandersetzung 
zwischen Gutsherren und Bauern brachte letztere*) zu 
übertriebenen Erwartungen, sie mussten oft mit Gewalt 
angehalten werden, die ihren bisherigen Herren schuldige 
Entschädigung zu leisten, und anderseits hoffte ein Theil 
des Adels, man werde ihm bei Ertheilung einer Reichs- 
verfassung als Ersatz für seine Einbusse politische Rechte 
gewähren. 

Kaum war die Leibeigenschaft gefallen, so über- 
stürzte sich die nationale, in Moskau ihr Centrum fin- 
dende Partei in ihren Forderungen und Wünschen; sie 
meinte, die Zeit sei da, um alle oceidentale Bildung aus- 
zurotten und unter einem rein slawischen Himmel zu 
leben, und tobte gegen Iwan Ssergejewitsch Turgenjew, 
der ihr schlagend nachwies, ihr gunzes Treiben sei Dunst 
und Rauch. Am 20. September 1862 wurde in Nowgorod 
vor dem ganzen Kaiserhause der tausendjährige Bestand 
Russlands mit ungeheurem Pompe gefeiert und Alexander 
nahm die Miene an, als sei er der Primas der Einen 
grossen slawischen Völkerfamilie, er verlieh vielen hervor- 
ragenden Slawen aus Oesterreich Orden, was dort pein- 











”) Die Aufsicht über die Bauernverwaltung liegt laut Verfügung 
vom 24. Juli 1889 bei den Kantonschefs, den Distriktakommissionen 
und den Provinzialeomitis, in denen sich alministrative and riehterliche 
Funktionen vereinigen. 





= 


XL. Alexander I. Er 
erzielt wurde, er ‚habe ein Drängen nach Reformen wach- 
gerufen, vor dem er selbst wie Goethes Zauberlehrling 
erschreckt zurückgewichen sei, und er sei frühe im Re- 
formiren ermüdet, um drohende Elemente nicht zu ent- 
fesseln — so steht dem entgegen, dass seine reformutorische 
Thätigkeit keineswegs mit der Aufhebung der Sklaverei, 
dem herrlichen Werke, endete, das ihn als Bruder an 
Lincolns Seite stellt (Beide wurden von Landsleuten 
ermordet!), dass sie vielmehr, wenn auch mit Unter- 
brechungen und Schwankungen, fortdauerte und dass er 
in seinen Wohlthaten nie ermüdere. Gewiss hat er manch- 
mal geirrt, hat sich eigensinnig geweigert, eine wirkliche 
strenge Controle der Verwaltung eintreten zu lassen, hat 
sieh zuweilen schwach und energielos gezeigt, meist aber 
trug er keine Schuld an den Dingen; er war vielleicht der 
mildeste Herrscher, den Russland je gehabt hat, war voll 
der edelsten Absichten und seine Devise war „Licht, Recht 
und Freiheit!*, aber seine Concessionen erschienen den 
Unersättlichen ungenügend, den Alterthümlern revolutionär, 
die Unzufriedenheit hörte nicht auf, sein hoher Wille fand 
oft ein niederes Geschlecht. 

Walujew veranlasste Alexander zu grossen Umgestal- 
tungen im inneren Leben Russlands, die erst nach Auf- 
hebung der Leibeigenschaft denkbar waren. Er trennte 
1862 die Justiz von der Verwaltung und die Cabinetsjustiz 
hörte auf, indem der Kaiser am 2. Dezember 1864 die 
Gerichtsreorganisation erliess; die richterliche Autorität 
wurde von der exekutiven, administrativen und legislativen 
Gewalt geschieden, alle Geriehte zerfielen in Friedens- 
und in gewöhnliche Gerichte, die Jury wurde eingeführt; 
letztere freilich erfüllte nicht die in sie gesetzten Hofl- 
nungen, war ein bedenkliches Geschenk bei dem tiefen 
Stande der Bildung und bei der sittlichen Indolenz der 
Massen, oft genug wurden verkehrte Urtheile gefällt. Civil- 
und Oriminalprocess wurden neu geordnet und die Friedens- 
riehter bewährten sich durch schnelle und korrekte Aus- 
übung der Justiz. In dieser Reorganisation sind 
seitdem wesentliche Modifikationen erfolgt, die An- 
wendung der Friedensgerichte war in den verschiedenen 


Dan 





KT. Mexander II. 0 


Alexander griff, von Walujew berathen, auch zu kon- 
stitutionellen Einleitungen; während viele Tausende von 
einer allgemeinen Landesvertretung träumten, erkannten 
Kaiser und Minister deren Unausführbarkeit in Russland. 
Man hatte hier schon zu verschiedenen Zeiten Versuche 
von Selbstverwaltung unternommen, sie waren aber selbst 
Katharina Il. nicht geglückt und konnten nur nach Besei- 
tigung der Leibeigensehaft Leben gewinnen; 1861 erhielt 
der Bauernstand ein fast uneingeschränktes Recht auf 
Selbstverwaltung. Russland stand *) damals im Banne der 
Gesellschaftstheorie von der Selbstverwaltung: Gesell- 
schaften sollten in Distrikt und Gonvernement ihre 
eigenen Interessen besorgen, die Selbstverwaltung erschien 
nicht als private Organisation der Staatsverwaltung, son- 
dern nur als Verzicht des Staates auf die Verwaltung der 
ihm fern liegenden Haushaltsgeschäfte in Distrikt und Gou- 
vernement. Dieser von der Regierung gehegten Ansicht 
waren die Literaten und anfangs auch der Professor A. D. 
Gradowski, Stahls Anhänger, ihren hervorragendsten Aus- 
druck fand die Richtung im Werke „Ueber Selbstverwal- 
tung“, das der Fürst Alexander llarionowitsch Wassiltschi- 
kow**) schrieb. Die Selbstverwaltung hat zur Grundeinheit 
den Distrikt, nicht die Ortsgemeinde und die städtische ist 
von der landschaftlichen wesentlich beeinflusst, wenn auch 
von ihr getrennt. Zu Neujahr 1864 wurden „Landschafts- 
institutionen® in den grossrussischen Gouvernements ein- 
geführt (nicht aber in den polnischen Gouvernements, den 
baltischen Landen, Archangel, Astrachan und Bessarabien), 
man erkannte die Einwirkung der Gesellschaftstheorie 
daran, dass jene Institutionen jeder polizeiliehen und 
obrigkeitlichen Gewalt entbehrten. Allmälig drang aus 
Westeuropa die der Gesellschaftstheorie entgegenstehende 
Regierungstheorie von der Selbstverwaltung nach Russland 
ein, Gneist und L. von Stein fanden Anhang und ihre 





*) Korkunow (&. oben). 

®*) St. Petersburg 1862. Wassiltschikow, der auch manches 
über Landwirthschaft und Grundbesitz schrieb, war bei den Vorarbeiten 
zur Eimaneipation und zu den Landschaftsinstitationen thätig, er 
starb 1881. 








> 


X. Alexander I. \ 
E N ul 
durf nicht wählen und nieht gewählt werden. Die Land- 
schaftsinstitutionen von 1864 waren Walujews Werk, dessen 
Beseitigung alsbald der Wunsch vieler Reaktionäre ward. 
Trotz mancher Eigenthümlichkeiten beruhte die 
städtische Selbstverwaltung auf gleicher Basis. Längst 
hatten sich die Fehler der ständischen Organisation der 
Stüdte herausgestellt, welche ihnen seit 1785, dem Gnaden- 
briefe Katharinas IT. (s. oben), anklebten, schon Niko- 
laus hatte darum St. Petersburg im Jahre 1843 ein neues 
Reglement gegeben, dem sein Sohn 1863 solche für St, 
Petersburg und Moskau und 1864 für Odessa folgen liess; 
aber erst mit der Städteordnung vom 28. Juni 1870 entsagte 
Alexander Il. der ständischen Auffassung. Die Städteordnung 
bestimmte den Abgabencensus und gruppirte die Wähler 
nach der Steuerhöhe in drei Klassen, das Dreiklassen- 
system war Preussen entlehnt und hatte keinen Rückhalt 
an Geist, Tradition und Geschichte des russischen Volkes; 
besonders war Geheimrath A. A. Schuhmacher dafür ein- 
genommen, der an der Spitze des Departements der 
Städteverwaltung im Ministerium des Inneren stand, doch 
machte man so schlechte Erfahrungen, dass Alexander III. 
mit dem Systeme brach und am 23. ‚Juni 1892 eine neue 
Stüdteordnung erliess: an die Stelle des Abgabencensus 
trat der Vermögenscensus, der Stadtrat (duma) wurde 
die repräsentative Versammlung der Stadt, das Stadtamt 
(uprawa) ihr vollziehendes Organ und das aus den Stadt- 
verordneten auf vier Jahre gewählte Stadthaupt (golowa) 
erhielt den Vorsitz in beiden. 
Russland zählt 77 Gouvernements, 18 Gebiete (oblast). 
2 Bezirke (okruga) mit selbständiger Bedeutung und die 
Insel Sachalin, von den Gouvernements abgetheilt sind die 
Städte St. Petersburg, Odessa, Sewastopol und Kertsch- 
Jenikale. denn sie bilden Stadthauptmannschaften und 
stehen direkt unter den Centralbehörden: die Gouverne- 
ments zerfallen in Distrikte (ujesd) und die Distrikte im 
Hinsieht der Polizei in Polizeibezirke (stan); die kleinste 
Einheit ist die Land- oder Dorfgemeinde und die kleinste 
Verwaltungsgrösse der wolost, alle der Besteuerung Unter- 
worfenen im Distrikte und alle Bauern unterstehen den 


k \ 








| 












Meer und Sakataly und drei Bezirke des I 
Kutais verwaltet: Transkaukasien wurde 1890 vom. 

kasus abgetrennt und dem Kriegsminister direkt unter- 
stellt, an der Spitze Turkestans ist ein Generalgouverneur 
mit grossen Vollmnchten, der für die allgemeine Verwaltung 
unter dem Kriegsminister steht. Für Sibirien gelten noch, 
freilich vielfach umgemodelt, Speranskis Verfügungen von 
1822; im Jahre 1882 hob Alexander III, das General- 
gouvernement Westsibirien auf, unterstellte die Gouverne- 
ments Tobolsk und Tomsk dem Ministerium des Inneren 
und bildete aus den Gebieten Akmollinsk, Semipalatinsk 
und Semiretschensk das Generalgouvernement der Steppen, 
1884 schied er aus dem Generalgouvernement Ostsibirien 
die Gebiete Transbuikalien, Amur, am Meere und die Insel 
Sachalin aus, um daraus das Generalgouvernement des 
Amurgebietes zu bilden, und 1887 wurde Ostsibirien zum 
Generalgouvernement Irkutsk*); in Sibirien walten noch 
die Gouvernementsräthe und an die Stelle der Kreisräthe 
traten 1867 Kreispolizeiverwaltungen. Das Gebiet der Don- 
Kasaken gehört zur Verwaltung des Kriegsministeriums, 
seit 1868 steht an der Spitze der Lokalverwaltung ein 
vom Kaiser ernannter Ataman (nakasnii ataman), der den 
Grossfürsten-Thronfolger, den Ataman aller Kasaken, ver- 
tritt; er hat die Civilvollmacht eines Generalgouverneurs und 
das Kommando aller Truppen des Militärbezirks. Als 1876 
die Lundschaftsinstitutionen auch hier eingeführt wurden, 
schien die Sonderverfassung des donischen Heeres bedroht 
und es erhob sich allgemeiner Widerspruch; Alexander II. 
hob deshalb die Landschaftsinstitutionen 1882 wieder auf, 
Land und Heer behielten ihre ultgewohnten Privilegien, 
Walujews Bemühungen verdankte Russland ausser den 
Landsehaftsinstitutionen u, s. w. auch das Pressgesetz von 


”) Heutzutage gibt es nur noch folgende Generalgourermements: 
Moskau, Warschau, Wilna, Kiew, Irkntsk, Amur-Gebiet, Steppen, 
Kankasus md Tarkestan, Finnland hat die Bedeutung eines solchen 
init acht Gouvernements. 





los alles Deutsche, während Walujew Deutschland jü 
gesinnt war: Walujew liebte die deutsche Bildung 


die deutsche Kunst, citirte mit Vorliebe die deutschen 


Klassiker und rühmte ‚sich, er habe Bismarcks Genie 
schon erkannt, als noch alle Welt in Berlin ihn nicht 
gelten lassen wollte. Seit seiner 


Entlassung Mitglied 
des Reichsraths, erhielt Walujew 1872 das Domänen- 


minjsterium und leitete die hochbedeutsame Enquöte über 
den Zustand der Landwirthschaft. wurde im Januar 1880 
Präsident des Ministercomites und hei Alexanders Re- 
gierungsjubiläum im März d. J. Graf®). 

Unter Alexander blieb der Sswod Gesetz, ihm wurden 
aber neue Gesetze angefügt, die ihn theilweise über- 
holten; dies führte zu einem Risse in der Uniformität 
der Gesetzgebung, die Paragraphen harmonirten nicht 
mehr mit einander, es gab genug Widersprüche und 
die Reformen in der Gesetzgebung blieben ohne Ab- 
schluss, wie auch die staatsreehtliche Literatur dieser 
Epoche unvollendete Werke aufweist (J. E. Andrejewski, 
Russisches Staatsrecht, 1866, Romanowitsch-Slawatinski, 
Hilfsmittel zum Erlernen des russischen Stautsrechts, 
1872, und System des russischen Stantsrechts, 1886, 
A. D. Gradowski, Die Prineipien des russischen Staats- 
rechts, 3 Bände, 1875—1883). 

Am 24. November 1861 errichtete Alexander den 
Ministerrath (Ssowet ministrow), um der Thätigkeit der 
einzelnen Minister eine grössere Solidarität unter einander 
zu geben und sie unter des Zaren Augen arbeiten zu lassen: 


*) Unter Alexander II, der ihm nie besonders gewogen war, &r- 
folgte eine Untersuchung gegen ihn auf Betrug etc, er wurde im 
Oktober 1881 entlassen, ging aber völlig gerechtfertigt aus der Unter- 
suchung hervor, trag bei der Krönung den Reichsapfel und erhielt 
den St. Andrens-Orden in Brillanten. Die Nationalen verfolgten iln 
nach wie vor, weil er liberal und reformfreundlich war; er sah voll 
Kummer, wis unter Alexander III. alles zerbröckelte, was Alexander II. 
und er geschaffen hatten. In seinem grosses Aufschen erregenden 
Romane „Lorin* (3 Bde, St. Petersburg 1882, deutsch Leipzig 1882) 
‚gab er seiner roformfreundlichen Gesinnung gegentiber der nationalen 
Reaktion offenen Ausdruck. Er starb im Februar 18%. 

A. Kieinsohmidt, Uoberbi. d. russ, Öosch. «1046. e" 












den Grossfürsten Konstantin, darin zu verwickeln; } 
der aber liess sich nicht beirren und blieb auf der 
der Reform, nur beschränkte er die Presse durch | 
Reskript vom 13. Mai. Das Attentat hatte den Rücktritt 
des Fürsten W. A. Dolgoruki schon am 22. April zur 
Folge*), an seine Stelle trat als Chef der dritten Abthei- 
lung der kaiserlichen Privatkanzlei Graf Peter Andreje- 
witsch Schuwalow, der die Verschwörer sofort entdeckte 
und bald solchen Einfluss erlangte. dass man ihn scherz- 
weise „Peter IV.“ nannte und dass man in ihm Gert- 
schakows einstigen Nachfolger als Reichskanzler witterte, 
ein glänzender Diplomat, Administrator und General. Ob- 
schon Schuwalow alle Massregeln traf, um ein zweites 
Attentat zu verhüten, erfolgte dennoch ein solches in Puris 
gelegentlich der von Alexander besuchten Weltausstellung: 
als Alexander mit Napoleon IH. am 6. Juni 1867 von 
einer Revue zurückfuhr, feuerte der Pole Beresowski die 
Pistole auf ihn ab. wiederum ohne ihn zu verwunden: 
die Gerichte verurtheilten ihn zu lebenslänglieher De- 
portation. Die Entrüstung über diesen Ausbruch pol- 
nischer Rache war eine so allseitige, dass sogar Herzens 
in London resp. Genf erscheinende „Glocke“ im Juli d. J. 
einging: diese und andere von Flüchtlingen im Auslande 
herausgegebene und heimlich in Russland verbreitete 
Zeitungen schürten beständig die Unzufriedenheit, „das 
junge Russland“ zeterte, an den Univerditäten kam es zu 
Krawallen, in den grösseren Städten äusserte sich die 
Gührung besonders 1862 durch zahlreiche Brandstiftungen. 
die man den Nihilisten zutraute. Das Treiben der 
Letzteren fand reiche Nahrung in den verderbten Zu- 
ständen und das grosse Talent der Russen zur Ver- 
schwörung bethätigte sich in einer langen Reihe Studenten- 
und Literatenverschwörungen, der Ingrimm der Gebildeten 
gegen die willkürlichen Verschiekungen der dritten Ab- 
theilung brach sich Luft, führte aber nar zu neuen Opfern. 


*) Die Vergebliehkeit seiner Bemühungen, den Verbindungen 
Alexander Herzens auf die Spur zu kommen, hatte ihm bereits 
des Kaisers Sympathie entzogen. 

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| 


von all den ererbten Hindernissen und Störungen, di 
‚das Vorwärtsschreiten des oceidentalen Verstandes hemmteı 
und Michail Bakunin, der ie Make a 
Jahren, nannte als Zweck des Nihilismus die Zerstörung 
aller Stauten, die Vernichtung der Ojvilisation der Bour- 
geois, die freie Organisation von unten nach oben durch 
freie Vereinigungen, die Organisirung der befreiten Volks- 
massen der ganzen Menschheit und die Herstellung einer 
neuen Welt allgemeinen Menschenthums®). Während 
Herzen sich von Bakunin trennte, ging einer der wil- 
desten Nihilisten, der Fürst Krapotkin**), noch einen 
Schritt weiter als Bakunin; er rief im September 1873 
auf dem Genfer Kongresse der Internationale aus, alle 
bestehenden Staatensysteme seien untauglich, alle Re- 
gierungen und jede Gesellschaftsordnung müssten um- 
gestossen werden, erst wenn dies alles geschehen, dürfe 
das Volk rasten und erwägen, was nun zu thun sei. 
Ein Chaos also war das Endziel, jeder positive Gedanke 
fehlte diesen Unholden! Der Netschajewsche Process gab 
1873 neuen Einblick in die nihilistische Bewegung, immer 
kräftiger entwiekelte sich diese Giftpflanze, Verweisungen 
von Nihilisten kamen immer wieder vor, dienten aber 
nur zur Erhöhung der Wuth und politische Morde wurden 
Modesache, die allgemeine Bewunderung erntete. Wir 
werden davon später hören. 


Seit dem Krimkriege hatte die Tagespresse einen 
ungeheuren Aufschwung genommen und eine grome Zahl 
Revuen war ins Dasein getreten, manche besitzt hohen 
wissenschaftlichen Werth, wie z. B. auf historischem Gebiete 
Peter Bartenjews „Russkii Archiv“ und die „Russkaja 


*) Bakunins fieberhaftes Streben nach der allgemeinen Anarchie 
SSchadete ihm schliesslich bei Karl Marx und den anderen Häuptorn 
er Internationale nud sie schlossen Ihn im September 1872 auf dem 
langer Kongresse, ihrem fünften, aus. Seine Anhänger nannten sieh 
irekt Annrchisten. 

*") Infolge des Socialistenprooesses in Lyon 1882,68 zu fünf- 
Fäihriger Hafı im Centralgefüngnisse zu Clairvanx verurtheilt, wurde 
1885 begnadigt, was Alexander III. gegen en Präsidenten Grävy 
ei (len Minister Freycinet schr erbitterte, 


k en 














8 erweiterte seine Kunstsummlungen 
Und in der Wissenschaft wurde Eminentes | 


es genügt, den Namen des Naturforschers von 
nennen, um eine Aera zu illustriren; Kongresse aller 
Art führten die Gelehrten des Auslandes nach Russ- 
land und die russischen versäumten nicht, deu Besuch zu 
erwidern, um in stetem geistigem Austausche zu bleiben. 


Im Jahre 1875 drohte ein Krieg Deutschlands gegen 
Frankreich und Bismarck sondirte aus Berlin in St. Peters- 
burg. Alexander aber ging nach Berlin und verhütete den 
Krieg, dem auch Kaiser Wilhelm im Gegensatze zu Bismarck 
absolut widerstrebte. Mit dem Aufstande der Herzegowinn 
trat 1875 die orientalische Frage wieder aufs Tapet; die 
Pforte schien dem Aufstande gegenüber machtlos, er konnte 
sich nach Bosnien ausdehnen. Die drei Kaiser verbanden 
sich am 1. August dahin, sie wollten die Insurrektion 
nicht anwachsen lassen, sondern sie durch gemeinsame 
Schritte bei der Pforte, bei den Insurgenten, bei Monte- 
negro und Serbien lokalisiren und Oesterreich sollte als 
auf der Balkanhalbinsel am nächsten interessirt die 
leitende Rolle übernehmen, aber schon um 22. September 
erwiesen sich die Vermittelungsversuche der Kaisermächte 
zwischen den Türken und den Insurgenten als gescheitert. 
Was nützten leere Versprechungen des Divans? damit 
war die Suche nieht auszutragen. Auch der Reform- 
ferman des Sultans vom 12. Dezember befriedigte die 
Kaisermächte nicht, sie einigten sich zu einer von Graf 
Andrassy, dem oesterreichisch-ungarischen Ministerpräsi- 
denten, entworfenen Note vom 30. Dezember an die Pforte, 
der specielle Forderungen wegen Herzegowina und Bos- 
nien vorgetragen wurden: Grossbritannien, Frankreich 
und Italien, die drei anderen Grossmächte, sollten diese 
Forderungen am Divan unterstützen. Am 31, Januar 
1876 überreichte Graf Ziehy, der Internuntius, dem Gross- 
vezier die Note und die Pforte beschloss im Februar, 
die gewünschten Reformen eintreten zu lassen. Aus Russ- 
land und Oesterreich aber erhielten die Insurgenten 
Unterstützung. Lebensmittel, Kriegsbedarf gingen ihnen 


L Peak 





den Sultan Abdul-Aziz ab, was eine neue Niederlage 
Russlands bedeutete, und Murad V., ein Schützling Gross- 
britanniens, wurde am 30. Mai Sultan. Am 8. Juli ver- 
abredeten Alexander und Franz Joseph mit Gortschakow 
und Andrassy in Reichstadt gemeinsame Schritte in der 
Orientfrage, die Grossmächte nahmen der Pforte gegen- 
über eine festere Haltung an, auch in England bildete 
sich unter dem Grafen John Russell eine Liga zu 
Gunsten der unterdrückten Christen und Gladstone schrieb 
seine berühmte Brandschrift über die bulgarischen Greuel. 
In Russland wurde die Sympathie für die Glaubens- 
genossen in Serbien, Bulgarien, Montenegro ete. immer 
lauter, zuhlreiche Freiwillige gingen mit russischen Ofi- 
zieren auf den serbisch-montenegrinischen Kriegsschau- 
platz, ganze Sotnien Kasaken eilten dorthin. 

Die Serben waren wenig vom Glücke begünstigt 
und Fürst Milan rief am 24. August die Vermittelung der 
Grossmächte an, während der geisteskranke Murad V. schon 
am 31. August durch seinen Bruder Abdul-Hamid II. ersetzt 
wurde. Ignatjew und die Gesandten der anderen Gross- 
mächte in Konstantinopel boten am 4. September ihre 
Dienste zur Herbeiführung eines Waffenstillstandes an, 
der den Serben sehr noth that, die Pforte stellte zwar 
ihrerseits Friedensbedingungen, welche die Mächte als 
undiskutirbar bezeichneten, liess aber eine faktische 
Waffenruhe eintreten. Dass Tschernajew in Weinlaune 
am 17. September Milan zum Könige proklamirte, wurde 
in St, Petersburg scharf getadelt. In einer ausserordent- 
liehen Konferenz in Livadia, der ausser dem Zaren der 
Grossfürst-Thronfolger, Gortschakow, Miljutin, Ignatjew, 
Reutern u. A. anwohnten, sprach man sich bereits kriegs- 
geneigter aus, Gortschakow war, wie er behnmuptet®), 
gegen den Krieg gewesen und hätte ihn gern dureh 
Berufung eines Kongresses nach Berlin vermieden ge- 
sehen, unterlag jedoch, Alexander war ebenfulls dom 


*) Russkaja Starina, Oktober 1888. 














vom Testamente Peters des Grossen und von den Pl 
Katharinas II. geschrieben habe, sei Hirngespinnst, ı 
in Konstantinopels Rrwerbung ein Unglück für Russland 4 
und gebe sein Ehrenwort, Konstantinopel nicht an sich zu 
bringen, es sei auch eine Absurdität, dass Russland Indien 
erobern wolle; er werde Bulgarien, wenn es nöthig sei, 
nur provisorisch besetzen, Oesterreich könne dasselbe mit 
Bosnien thun. Ein Schreiben Gortschakows an den Grafen 
Peter A. Schuwalow. der seit 1874 Botschafter in London 
war*), führte gleichzeitig dieselen (Gedanken aus. Auf | 
Wunsch des Zaren erliess Graf Derby, der Staatssekretür | 
des Acusseren, am 4. November ein Rundschreiben an die 
britischen Gesandten bei den Grossmächten, um letztere 
zu ‚einer Konferenz in Konstantinopel einzuladen, Russ- 
land nahm am 9. den Vorschlag an, der Premier Graf 
Beneonsfield hingegen hielt an diesem Tage in der Guild- 
hall einen säbelklirrenden Toast und Alexander sprach 
nun am 10. in Moskau in kriegerischem Tone zu Adel 
und Gemeinderath. denen er versicherte, er werde, falls 
man auf der Konferenz zu keinem Einverständnisse ge- 
lange und falls die Pforte die verlangten Bürgschaften 
nicht gebe, allein vorgehen, ganz Russland folge ge- 
wiss seinem Rufe. Ein Ukas vom 11. verordnete eine 
neue Organisation der Landwehr, am 13. befahl Ale- 
xander, sechs Armeecorps in Südrussland zu mobilisiren, 
und Gortschakow motivirte die Massregel in einer 
Cirkulardepesche an die russischen Gesandten; in einer 
Depesche an Schuwalow vom 19, November setzte er 
Vebereinstimmung und Unterschied zwischen Grossbri- 
tannien und Russland in der Orientfrage auseinander. 
Die Regierung verfügte eine Anleihe von 100 Millionen 
Rubel im Inlande zur Deckung ihrer nusserordent- 

*) Im Januar 1873 bernhigte er, in besonderer Mission auftwetend, 
las britische Cabinet wegen Russlands Expedition nach Kliwa (a, oben), 
un es war sein eifriges Bestreben, Grossbritannien und Russland in 
gutem Einvernehmen zu halten; er fädelte «die Verlobung der Tochter 
des Kaisers mit dem Herzoge von Edinburgh ein und löste, freilich 
mit grosser Mühe 187% ılie heimliche Ele des Grossfürsten Alexei 
Alexandrowitsch mit Alexandrine, der Tochter des Dichters Shukowaki, 


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(la sie gesonnen waren, gar nichts zu thun. 
trat, um sie zur Aeusserung ihrer Meinung zu drängen, 
im März eine Rundreise an die Höfe von Berlin, Paris, 
London und Wien an und legte ihnen ein Protokoll, „eine 
einmüthige Forderung Europas an die Pforte“, zur Zu- 
stimmung vor, in London wurde das Protokoll wesentlich 
abgeändert, zwar am 31. Mürz als Londoner Protokoll von 
allen Grossmächten unterzeichnet, blieb uber erfolglos und 
die Pforte lehnte nochmals jede Forderung und Einmischung 
Europas ab. Nelidow stellte ihr das Protokoll um 5. April 
als Ultimatum zu, sie wies es zurück, Hatten Alexander 
und Gortschakow noch immer aus Friedensliebe mit dem 
Bruche gezaudert, was die meisten Russen längst miss- 
billigten, so konnte nun das ganze Odium des Kriegs auf 
den Starrsinn der Pforte geschoben werden. In einem 
vom Zaren präsidirten Kriegsrathe wurde am 13. April 
die Mobilisirung der ganzen Armee und die Aufstellung 
von Reservearmeen im Norden und Süden beschlossen, 
um gegen jede Eventualität gerüstet zu sein, denn man 
befürchtete, die Briten möchten der Türkei eine Flotte 
schicken. Am 23. verliess Nelidow mit dem Botschafts- 
personale Konstantinopel und Deutschland übernahm den 
Schutz der russischen Unterthanen in der Türkei; am 20. 
reisten Alexander und der Thronfolger nach Kischinew 
ab, von wo Alexander am 24. sein Kriegsmanifest erlioss: 
er erinnerte an alle vergeblichen Bemühungen, den 
Frieden zu bewahren, und spraeh seinen Willen aus, für 
seine leidenden Unterthanen auf türkischem Boden die 
Garantien mit den Waffen zu ertrotzen, die für ihr Heil 
unerlässlich seien. Mit dem Fürsten von Rumänien hatte 
er am 16. April eine Konvention abgeschlossen, die den 
Russen den Durchmarsch gestattete und Rumäniens In- 
tegrität garantirte, worauf Fürst Karl am 20. seine ganze 
Armee mobilisirtee Am 24. überschritt der Grossfürst 
Nikolaus, dem General Arthur Awramowitsch Nepokoi- 
tschizki als Generalstabschef zur Seite stand, den Pruth, 
unter ihm diente der Grossfürst-Thronfolger, diese Süd- 
armee war 250000 Mann stark; den Oberbefehl der Kau- 
kasus-Armee, die ca. 200000 Mann stark war, führte der 


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theater, hatte die Türken am 16. Juni bei D: 


zurückweichen müssen, entsetzte die Citadelle von ! 
{Bajesid) am 10. Juli und zog nach Igdir ee 
Ardahan und die Citadelle von Bajazet blieben - 
scher Hand. Alle Versuche der Türken, sich den Bekipka: 
Passes wieder zu bemächtigen, scheiterten, beide a 
führenden Mächte uber erlitten in diesen Kämpfen, in 

denen sieh General Radetzki besonders auszeichnete, 
riesige Verluste, während Mehemed-Ali Pascha*) dem 
Grossfürsten-Thronfolger im August und September derart 
zusetzte, dass sich derselbe am 5. September hinter die 
‚Jantra zurückzog. Im August rückten zwei rumänische 
Divisionen den Russen zu Hilfe und am 31. August über- 
unhm Fürst Karl den Oberbefehl der russisch-rumänischen 
Cernirungsarmee vor Plewna. Osman Pascha, der Plewna 
ruhmvoll vertheidigte, machte am 31. August einen ver- 
geblichen Ausfall und Mehemed-Ali Pascha, auf dessen 
Schritte vor allen er hinbliekte, erlag am 21. September 
bei Zerkownina dem Generale Tatischtschew, worauf ihn 
Suleiman Pascha im Oberbefehle der Donauarmee ablöste, 
der wenig Glück hatte und nicht dazu kam, sich mit 
Osman Pascha zu vereinigen. Die russischen Heere an 
der Donau und in Asien erhielten grosse Verstärkungen, 
auch die Garden rückten an die Donau. Da zur Siche- 
rung der Einschliessung Plewnas die Einnahme von 
Lowatz nöthig schien, so nahmen die Russen und Ru- 
mänen am 3, September diesen Punkt, grosse Batterien 
wurden vor Plewna angelegt, ein allgemeiner Sturm aber 
am 11. misslang. Den Rumänen glückte es, die vordere 
Griwitza-Schanze zu erstürmen, es war das einzige Er- 
gebniss vierzehn blutiger Tage. Im Hauptquartiere er- 
kannte man, dass Plewna nur durch eine regelrechte voll- 
ständige Einschliessung zu nehmen sei, und der Ver- 
theidiger Sewastopols im Krimkriege, Franz Kduard 
Iwanowitsch Tottleben, den Alexander zum Generalstabs- 


*) Sohn des preussischen Stabstrompeters Detroit, 








14—15. Oktober seine Stellung, nulm einen“ grossen 
Theil des Heeres gefangen, Mukhtar entfloh nach Erzerum, 
welches General Heimann*) eernirte, General Lasarew 
cernirte Kars seit Anfang November und nach längerem 
Bombardement fiel Kars mit gegen 20000 Mann am 
18, November in die Hände Loris-Melikows. In Kon- 
stantinopel wünschte man den Abschluss des Friedens, 
die Briten machten Russland Vorschläge zum Waften- 
stillstande, Alexanders Regierung jedoch beschloss die 
energische Fortsetzung des Krieges. Unter unsäglichen 
Terrainschwierigkeiten, wie sie einst Ssuworow ähnlich 
vorgefunden und bestanden hatte, überschritt Gurko**) 
Ende Dezember den Balkan, Mehemed Ali räumte Sofia, 
das Gurko am 3. ‚Januar 1878 besetzte, um nun auf 
Adrianopel vorzurücken. Ueber verschiedene Höhenzüge 
des Balkan kumen Skobelew und Fürst Mirski herbei, 
Karzow rückte aus dem Trajanspasse nach Philippopel. 
Skobelew, Mirski und Radetzki erstürmten am 9, Januar 
unter schweren Verlusten den Schipka-Pass und nahmen 
das Heer Wessali Paschas, 32000 Mann, gefangen. Fünf 
Kolonnen drangen in Rumelien vor und Gurko zerstreute 
am 16. Januar bei Philippopel das Heer Suleimans, 
das letzte feldtüchtige, am 20. vereinigten sich alle rus- 


*) Dieser besiegte mit Tergukassow am 4. November Mukhtar 
auf der Dewebojun-Höhe bei Erzerum, 

#“*) A. Pusyrewski, Der Balkanübergang der Abtheilung des 
‚Generaladjutenten Gurko im Winter 1877, in Re 1880. 


A. Kleinschmidt, Ueberbl, d. rum. Gesch. & 1306. 


d 











Andrassy, welcher den Russen bisher freie Hand gelassen 
hatte, und Benconsfield wollten die Türkei gemeinsam 
vor dem Untergange schützen, britischer Seits erhielt die- 
selbe fortgesetzt Versprechungen von Unterstützung und 
im Rücken der Russen wurden die Pomaken im Rhodope- 
Gebirge zum Aufstande getrieben. Grossfürst Nikolaus 
20g schwere Geschütze an die Ufer des Marmora-Meeres 
und des Bosporus, um die britische Flotte eventuell zu 
beschiessen; die russische Generalität forderte die Fort- 
führung des Krieges, um Konstantinopel zu besetzen, die 
russische Presse schrie Zeter und pries den Vertrag von 
Sun Stefano als Beweis der Mässigung Russlands, die 
Aufregung war eine allgemeine, In den aufs 
griechischen Provinzen, in Albanien und Bosnien floss 
Blut. Kreta und Thessalien waren in Aufruhr. Sehr un- 
zufrieden mit San Stefano war Rumänien, das Bess- 
arabien nicht für die Sümpfe der Dobrudscha hergeben 
wollte, und es kam zu heftigen Erörterungen zwischen 
Karl und Gortschakows Bevollmächtigten. Ein euro- 
püischer Krieg schien vor der Thüre zu stehen. 

Da trat Fürst Bismarck zwischen die streitonden Par- 
teien; er hatte Russlands Glück bisher mit Freundlichkeit 
verfolgt, jetzt aber hielt er es an der Zeit, gegen Russ- 
lands Vebergewicht zu wirken, und unterstützte die Oppo- 
sition, die britischer und oesterreichischer Seits gemacht 
wurde: um sich Oesterreich mehr zu nähern, rückte er 
von Russland ab, so sehr dies mit Kaiser Wilhelms per- 
sönliehen Gefühlen für Alexander und für Russland in 
Widerspruch stand; in Oesterreich sah er Deutschlands 
Vorhut gegen den Andrang aus Osten. Der russische 
Btaatskredit war bis aufs Aeusserste angespannt, das 

so. 


“ : 






ab, indem er seinen “Erben ‚havete,, Die Dal len 
tobten gegen jede Koncession, welche die Bevollmächtigten 
auf dem Kongresse machten, um einen neuen Krieg zu 
verhüten, und Aksakow nannte die weiter bli 
mässigten Staatemänner olne Umschweife die wahren 
Nihilisten. Für die Pforte um ihrer selbst willen erwärmte 
sich Niemand auf dem Kongresse, man stellte sie eigent- 
lich unter die Kuratel der sechs Grossmächte und diktirte 
ihr unbefragt den Frieden, der freilich weit entfernt war, 
die orientalische Frage endgiltig zu lösen. Der Berliner 
Friede datirt vom 13. Juli 1878 und wurde am 3. August 
allseitig ratifieirt. Von Bulgarien, das ein autonomer 
Tributstaat des Sultans wurde, trennte man das autonome, 
aber dem Sultan direkt unterstellte Ostrumelien ; Rumänien, 
Serbien und Montenegro wurden unabhängige Btanten: 
Bosnien und Herzegowina wurden von den Öesterreichern 
besetzt; Rumänien gab Bessarabien an Russland und erhielt 
dafür die Dobrudscha, die Schlangeninsel und den Land- 
strich von Rassowa bis Mangalia; Montenegro und Serbien 
erhielten Gebietserweiterungen, Griechenland eine Ver- 
sprechung. An Russland fielen in Asien Batum, welches 
zum Freihafen erklärt wurde, Ardahan, Kars und das 
Land der Lasen, die Obhut über die Athos-Klöster wurde 
ihm garantirt. Bulgarien, das ganz unter russischen Ein- 
fuss kam, ging aus Berlin halbirt hervor, Oesterreich 
schob sich wie ein Keil zwischen die Slawenstaaten Serbien 
und Montenegro, Cypern fiel den Briten zu — die Russen 
bliekten enttäuscht und erbittert auf die Rektifieirung des 
schönen Friedens von San Stefano, Gortschakow nannte 
den Berliner Frieden die schwärzeste Seite in seiner Amts- 
thätigkeit und Alexander II. setzte eigenhändig hinzu 
„auch in meiner“ ®). 


*) Denkwürdigkeiten Gortschakows, in „Russkaja Starina“, 
Oktober 1883, 











Der Grundzug im Charakter Alexander» II. 
Milde, seine grossen schönen Augen strahlten Güte aus, 
aber eine gewisse Melancholie hatte sich seit Jahren 
über die edlen Züge gelagert und manchmal brach ein 
Ausdruck der Bitterkeit über den Undank, der ihm be- 
gegnete, über seine Lippen. Wie viel Kummer und 
Jammer musste er erleben! Sein Thronfolger, Nikolai 
Alexandrowitsch, sein Ebenbild, ein vorzüglich beanlagter 
und allgemein beliebter Prinz von liberaler Färbung, 
den er zum Vollstrecker all des Guten ausersalı, 
was ihm zu vollführen nieht mehr bestimmt sei, wuchs 
unter der gewissenhaften Leitung des Grafen 8. G. Stro- 
ganow, dem wir früher als Curator des Moskauer Lehr- 
bezirkes begegneten, heran, wurde aber leidend und erlag 
als Bräutigam der Prinzessin Dagmar von Dänemark 
am 24. April 1865 in Nizza der Auszehrung; es war ein 
furchtbarer Schlag für die zärtlichsten Eltern. Während 
die Braut dem nunmehrigen Thronfolger Alexander 
Alexandrowitsch, dem jüngeren Bruder ihres Bräutigams, 
die Hand reichte, ging die gebeugte und seit Jahren 
leidende Kaiserin immer tiefer in das Lager der Bigo- 
terie, völlig beherrscht von ihrem Beichtvater Basha- 
now, den die Grüfinnen A. D. Bludow, und Natalie 
N. Protassow, ihre Obersthofmeisterin, unterstützten. Die 
Ehe war kinderreich und lange glücklich, dann erkaltete 
die Liebe, andere Frauen fesselten den für Schönheit 
sehr empfänglichen Gebieter, unter ihnen vor allen seit 
1868 die junge Fürstin Katharina Dolgoruki; Alexander 
besuchte letztere alltäglich, nach dem Attentate im 
Februar 1880 zog sie in das Winterpalais und theilte 
dasselbe Dach mit der Kaiserin, die ihr sehr zugethan 
war. Kaiserin Maria erlag ihren schmerzvollen Leiden 
am 3. Juni 1880 und nun entschloss sich Alexander, 
der, ohne sich je vor Attentaten zu fürchten, sein bal- 
diges Ende durch ein Attentat voraussah und voraus- 
sehen konnte, der geliebten Fürstin und ihren Kindern 
‚eine gesicherte Stellung zu geben; er besiegte den Wider- 
willen seiner Pamilie, besonders des Thronfolgerpnares, 





® 







lichkeit seiner Wohnräume zu erhöhen, liess der Ka 
abwechselnd werthvolle Gemälde aus den Galerien 
sich aufhängen. Wie sein Vater hatte er einen aus- 
geprägten Sinn für Freundschaft, der Sohn des Freundes 
seines Vaters, Graf Alexander Wladimirowitsch Adler- 
berg, übernahm 1870 aus den Händen desselben das 
Ministerium des kaiserlichen Hauses und der Apanagen, 
kümmerte sich um die eigentliche Politik blutwenig, 
übte aber einen eminenten Einfluss auf den Freund aus 
und wurde darum gern „Alexander III.“ genannt*). Sein 
Bruder, Graf Nikolai Wladimirowitsch, wurde 1866 General- 
gouverneur von Finnland. Mit Kaiser Alexander II. endete 
auch die Machtstellung der Familie Adlerberg, der neue 
Kaiser entliess die Brüder schon in den ersten Monaten 
seiner Regierung. Alexander war ein guter, aber kein 
starker Charakter, liess sich leicht lenken und hörte auf 
vielerlei Rathschläge, gewöhnlich folgte er dann dem letzten, 
und dass seine Rathgeber häufig unklug oder unwürdig 
handelten, war kein Wunder. Gortschakow, der im Sommer 
1879 die Presse zu den heftigsten Ausfällen auf Deutsch- 
land veranlasste und an verschiedenen Höfen wie vor 
allem in Paris Umtriebe der russischen Vertretung gegen 
das Deutsche Reich begünstigte, dachte immer noch an 
eine Allianz mit Frankreich, wenn er auch, als wolle er 
seine Versöhnung mit der Neuordnung der Dinge be- 
kunden, im November 1879 den Berliner Hof besuchte. 
Seit Jahren aber trat der kleine, eitle und gesprächige 
Mann **), übrigens ein Kunstkenner von grossem Verständ- 
nisse, wenig hervor, Nikolai Karlowitsch von Giers aus 
einer in Finnland ansässigen, seit 1800 in russischen 
Diensten stehenden schwedischen Familie, der sich zu- 
meist in Oentralasien die Sporen verdient hatte, leitete 
seit 1875 das asiatische Departement im auswärtigen Amre 
und war Adjunkt Gortschakows. 


*) A. Horzen u. A. haben ihn über alles Mass verschwärzt, er 
war ein gnter Mensch, machte aber viel Schulden, die Alexander zu 
bezahlen pflegte. 

**) Graf Murawjew nennt ihn in seinen „Denkwürdigkeiten* 
(Russkaja Starina, Jannar 1883) einen „Schwätzer im vollen Sinme*, 


4 












den General Mesenzow. Kurz zuvor hatte man ihm sein. 
Todesurtheil zugeschickt, jetzt verkündete die 
Hoyking und Mesenzow seien „hingerichtet“ worden und 
die Vollstreckung des Urtheils habe der Partei 6000 Rubel 
gekostet*), Ukase der Regierung wie der vom 2. August 
1878 blieben erfolglos, die Abneigung gegen die Kron- 
autorität wuchs rapid, Process folgte auf Process, aber 
auch Attentat auf Attentat, während hunderte von Schul- 
digen durch jenes feste Band, welches Verbrecher ver- 
bindet, der Entdeckung entgingen. In der Nacht vom 
21.122. Februar 1879 erschoss ein Vermummter den Gou- 
verneur von Charkow, Fürsten D. N. Krapotkin, der viele 
Nihilisten bei den Studentenunruhen in Charkow nach 
Sibirien hatte deportiren lassen und dessen Bruder 
(s. oben) einer der ärgsten Nihilisten war; Maueranschläge 
in allen grösseren Städten verkündeten den neuen Triumph 
der Terroristen. Während die Nihilisten Feuersbrünste in 
Orenburg, Uralsk, Irbit, Perm, Moskau und Nishnii-Now- 
gorod veranstalteten, häuften sich die Attentate zumal auf 
Polizeibeamte; man schoss z, B, auf den neuen Chef der 
dritten Abtheilung,. General von Drentelen, und auf den 
Gouverneur in Kiew. General Tschertkow. 

Alexander war im Gegensatze zu seinem Nachfolger von 
aller Attentatsfurcht frei, obwohl er so traurige Erfahrungen 
gemacht hatte und alle Autorität erschüttert sah: da gab der 
Kollegiensekretär Alexander Ssolowjew am 14. April 1879 
fünf Revolverschüsse auf ihn ab, als er am Winterpalais 
lustwandelte; Ssolowjew wurde hingerichtet. aber eine kalt 
erwägende Mordpartei stand hinter ihm und umspannte 
ganz Russland, bis zum Ende blieb er ihr freiwilliges 
Werkzeug. „Land und Freiheit“ veröffentlichte eine Ab- 
handlung über die Wichtigkeit des politischen Mordes 
und verhöhnte die Ohnmacht der Autokratie und ihrer 
Polizeimassregeln. Alexander griff nun zu ausserordent- 
lichen Mitteln, er stattete am 17. April die General- 
gouverneure von Moskau, Warschau und Kiew mit unbe- 
schränkten Vollmachten aus und gab eben solche den in 





*) Rambaud (s. oben). 














walow hatte wiederholt darauf eng 
russischen Verwaltung zu ihrem schweren N; 
der Einheit, es gebe ja auch kein verantwortliel 
des Ministerrathes, und Alexander fühlte immer mehr, ie 
wahr diese Bemerkung sei, er erkannte die | r 
keit einer einheitlichen Gestaltung und dachte, Walujew, 
der seit Januar 1880 Präsident des Ministereomitös und 
der Bittschriftenkommission war und der von ihm im 
wichtigen Dingen oft befragt wurde, sollte für diese Um- 
bildung wirken. Da erfolgte am 17. Februar ein unerhört 
freches Attentat im Speisesaale des Winterpalais, als Ale- 
xander seinen Neffen, den Fürsten von Bulgarien, zu Gast 
erwartete, nur eine Zugverspätung rettete der ganzen 
kaiserlichen Familie das Leben, der Saal und die darunter 
liegende Hauptwache wurden durch Dynamit gesprengt, 
sechzig Soldaten von der Wache wurden getödtet, vierzig 
verwundet. Alexander hob nun das Generalgouvernement 
St. Petersburg auf und errichtete am %4. Februar eine 
höchste Exekutivkommission unter dem Grafen Loris- 
Melikow, dem er diktatorische Vollmachten gab und im 
März auch die Leitung der dritten Abtheilung anstatt 
Drentelens übertrug; auf des Grafen Vorschlag wählte 
Alexander in die Kommission nur liberal denkende und 
des allgemeinen Vertrauens würdige Männer, 

Unter dem Eindrucke allgemeiner Anarchie feierte 
„der Zar-Befreier“ am 2. März sein 25 jühriges Regierungs- 
Jubiläum; die Beglückwünschungen des Reichsraths und des 
Senats hoben vor allen den dauernden Segen der Bauern- 
befreiung, Alexanders eigenstes Werk, hervor und gedachten 
der Justizreform, der allgemeinen Wehrpflicht, der Land- 
schafts- und Städteordnungen, der Organisirung der Reichs- 
kontrole u. s, w. als ewiger Rulmestitel dieser Regierung, 
Der 2. März ging ohne Attentat auf Alexander vorüber, 
obsehon ja die Terroristen ein solches angedroht hatten, 
Tags «darauf aber schoss Mladetzki auf Loris-Melikow*), 


*) Der tapfere kaukasische General Fürst G. D. Orbeliani tele- 
graphirte hierauf dem Freunde: „Gehe keck, die heilige Sache schitzend, 


Ri 





XI. Alexander II. 














Russland®); ein Vertrauter von Loris-Melikow, 
lewski, wurde im Herbst Justizminister. Immer w 
rief man nach einer Verfassung, selbst aus den Kreisen 
des St. Petersburger Adels wurde der Ruf laut; welchen 
Umfang aber die Unzufriedenheit angenommen hatte, be- 
wiesen die Aufschlüsse des grossen Nihilistenprocesses 
vom November 1880. Es galt, ihr vor der Welt den 
Boden der Berechtigung zu entziehen und bescheidene 
konstitutionelle Zugestündnisse zu gewähren. Loris- 
Melikow machte Alexander allmälig mit dem Gedanken 
vertraut, Deputirte der Semstwos nach der Residenz zu 
berufen, um über von oben ihnen vorzulegende Reform- 
vorschläge betreffs der inneren Verwaltung zu berathen; 
an Verleihung einer Verfassung dachte Alexander natür- 
lich nicht, seine Unterthanen in ihren breiten Massen 
hätten sie ebenso wenig begriffen wie 1825 die Russen 
seines Vaters, welche die Konstitution für Konstantins 
Frau gehalten hatten. Die Nihilisten aber und die 
tollsten Schreier nach einer Verfassung wollten keine 
massvolle und parlamentarische, sondern eine radikale 
socialistische, für die keine Regierung die Verantwortung 
hätte übernehmen wollen und gegen welche die fran- 
zösische Revolution von 1789 mit ihrem Chaos ein Kinder- 
spiel gewesen wäre. Alexander legte seinen Entwurf 
einem Ministerrathe vor, dem auch die Grossfürsten an- 
wohnten, und Loris-Melikow, Walujew und der neue 
Finanzminister A. A. Abasa, ein steter Förderer liberaler 
Ideen, sprachen warm für Annahme desselben. Alexander 
verfiel zwar neuen Bedenken, genehmigte aber am 9. März 
den Entwurf, unterzeichnete ihn und befahl am Morgen 
des 13. März 1881 die Binrückung im Regierungsblatte, 
als ihm eben die Entdeckung einer neuen Verschwörung 
gemeldet worden war. Er erwartete das Beste vom Ein- 
drucke der Urkunde, wie er seiner Gemahlin sagte, als er 
zu einer Revue ging; bei der Rückfahrt wurde aber von 


*) Das damals vom Ministerium des Inneren abgezweigte Mini- 
sterium für Posten und Telegraphen wurde von Alexander III. am 
28. März 1881 wieder damit vereinigt. 


1 


480 XI. Alexander II. 





Ryssakow am Michaelsplatze eine Bombe nach seinem 
Wagen geschleudert, zertrümmerte denselben, tödtete oder 
verwundete mehrere Leute; Ryssakow wurde verhaftet, 
Alexander war unverletzt geblieben und rief den zur Heim- 
kehr Drängenden zu: „Lasst mich, ich will nach den Ver- 
wundeten sehen!“ Da flog eine zweite Bombe zwischen 
seine Füsse, eine Reihe Leute fielen, er mit ihnen, beide 
Beine waren zerschmettert, der Leib aufgerissen, das edle 
Gesicht entstellt, er war zerstückt! In das Winterpalais 
getragen, kehrte er einen Augenblick zum Bewusstsein 
zurück, starb aber, ohne ein Wort zu sprechen, bald 
darauf*). Die Nihilisten verkündeten triumphirend den 
Tyrannenmord, das treu zarische Volk trauerte um den 
Zaren-Befreier und fluchte den Unterwühlern der Ord- 
nung und der Ruhe. Bei allen Nationen hallte die Klage 
um den Mann wieder, der das Los des Märtyrers erlitten 
hatte, Graf Beaconsfield nannte ihn im Oberhause den 
wohlthätigsten Fürsten, der je in Russland geherrscht 
habe, und der Premier Gladstone pries am 15. März im 
Unterhause in ergreifenden Worten sein Tagewerk. 


*) Die Fürstin Jurjewski schnitt ihr herrliches blondes Haar ab 
und legte es ihm in den Sarg. Ihre und ihrer Kinder Stellung ward 
unter Alexander III. keine angenehme, unter Nikolaus II. scheint sie 
weit besser zu sein. 





482 XI. Alexander III. 


ehrlich und gewissenhaft. ein unermüdlich fleissiger Be- 
amter. eine solide Natur. sein Familienleben im Anitsch- 
kow-Palais war ein Muster für das ganze Reich, es 
gab keine glücklichere Ehe. der starke Mann liebte 
seine wunderbar schöne Gemahlin mit rührender Innig- 
keit und blickte verklärten Auges auf seine Kinder, ein 
Freund der Musik und selbst ein tüchtiger Cellist, ver- 
anstaltete er bei sich als Grossfürst und als Kaiser ge- 
müthliche Familieneoncerte. die von seltenem Reize waren. 
Von Genialität hatte er keine Spur. er war ohne staats- 
männische Talente. ohne weittragendes Urtheil, ohne 
blendende Vorzüge. ir den Fall einer frühen Thron- 
erledigung Vorkehr zu treffen. musste Alexander. trotz- 
dem er erst 36 Jahre zählte. als sofort nothwendiger 
Akt erscheinen, wie rasch konnte auch ihn Dolch oder 
Dynamit der Nihilisten treffen! er bestimmte darum 
durch Verfügung vom 26. Mürz seinen Bruder Wladimir 
zum Regenten. falls er vor der Mündigwerdung seines 
ültesten Sohnes sterben sollte. Indem er mit dem her- 
gebrachten Systeme brach. politische Verbrecher durch 
ausserordentliche Kommissionen geheim aburtheilen zu 
Inssen. verwies er die Mörder seines Vaters vor die ord- 
entlichen Gerichte: zwei waren bei dem Attentate selbst 
geblieben. Ryssakow aber und drei Andere sowie zwei 
Frauen*) wurden verurtheilt und mit Ausnahme der 
einen Frau trotz aller Drohungen der Nihilisten am 
15. April hingerichtet: die Untersuchung ergab, dass 
Alexander II., wenn er am 13. März einen anderen Weg 
zur Heimfahrt eingeschlagen hätte, auch dort das Opfer 
einer Mine geworden wäre: 1882 fand die Hinrichtung 
eines weiteren Nihilisten statt. 

Da das kaiserliche Manifest vom 10. Mai 1881 ohne 
Mitwissen von Loris-Melikow, Miljutin. Abasa u. A. er- 
lassen worden war. fühlten sie sich verletzt, Loris-Melikow 








*) Selbst Mitglieder der höchsten Gesellschaftskreise gehörten 
za den Nihilisten, letztere wussten ihre Drohbriefe sogar auf den 
Schreibtisch des Kaisers und in den Gürtel der kleinen Prinzen zu 
bringen. 






legte am 16. Mai sein Amt nieder, dasselbe 
Abasa und am 4. Juni Miljutin, der Minister der Vi 
klärung Saburow war im April abgegangen 
Baron Nikolai ersetzt worden. Mit Miljutin und 
jew hatte der Thronfolger einst Zusammenstösse gehabt, 
der Kaiser liess sie aber dieselben nicht entgelten, wie 
wir oben bei Walujew hörten, Loris-Melikow wurde 
Adjunkt des Oberkommandanten der Kaukasus-Armeo, 
Generaladjutant und im Januar 1982 Mitglied des Reichs- 
rathıs®), Miljutin trat bei seiner Verabschiedung auch in 
diese Altersversorgungsanstalt und wurde im November 
1883 bei Gelegenheit seines 50jährigen Dienstjubiläums 
vom Kaiser zum Ehrenpräsidenten der Nikolai-General- 
stabsakademie ernannt, nachdem er bei der Krönung den 
St. Andreas-Orden in Brillanten erhalten hatte**), Abası 
wurde Mitglied des Reichsraths und 1882 in demselben 
Präsident des Departements der Reichsökonomie. Minister 
des Inneren wurde anstatt Loris-Melikows am 16. Mai der 
schlaue Mann, den die Türken den „Vater der Lüge* 
nannten, Graf Nikolai Pawlowitsch Ignatjew (s. oben), ein 
Anhänger des Panslawismus und der russisch-französischen 
Allianz gegen das Deutsche Reieh und gegen Oester- 
reich; ein Diplomat sagte von ihm, er leite den elek- 
trischen Strom des Nihilismus auf den panslawistischen 
Draht, Ignatjew stand bei Alexander in höchster Gunst 
und Alexander hielt ihn für seine Sicherheit unentbehr- 
lich, seine Wahl erstaunte jetzt alle Welt. An Abasas 
Stelle trat ein Protög6 von Loris-Melikow, Abasas Ad- 
junkt Nikolai Uhristianowitsch Bunge, ein Lutheraner, 
der früher in seiner Vaterstadt Kiew Professor gewesen 
war, ein Mann voll Pflichtgefühl. wahrer Moral und 


*) Er starb am 22, Dezember 1888, 

"*) Nikolaus IT. ernannte ihm im September 1898 bei der Eiu- 
weihung des Denkmals seines kaiserlichen Grossraters in Moskau zum 
Generalfeldmarschalle; 1896 war das 50Jährige Offiziersjabiläum und 
am 9. Novembor 1897 der Eintritt Miljatins in den Gemeralstab vor 
#0 Jahren gefeiert worden. 













Zwist und ging im Januar 1882 ab. Am 3 
wurde in Kiew der Oberstaatsanwalt Btrelnikow. 
dieselhe Zeit der Gouverneur von Tran \ 

AU diese Schandthaten und häufig EmiSKERSN N 
rungen gegen Alexander und seine Familie vergifteten 
sein Leben und umdüsterton seinen Sinn: dazu kamen 
die Judenverfolgungen der Jahre 1881 und 1882 mit ihrem 
Gefolge, dem Plündern, worunter die Stadt Bulta am 
ärgsten litt; die Plünderer drohten: „Wir frühstücken die 
Juden, wir essen die Besitzenden zu Mittag und die 
Priester zu Abend“, eine allgemeine Verrohung zog dureh. 
das Land. Mehrfach schob Alexander aus Bicherheits- 
gründen die Krönung auf, bis sie endlich unter allseitiger 
Beklemmung am 27. August 1883 in Moskau stattfand. 
Da der vom Ministerium beabsichtigte Widerstand bis aufs 
Messer zu gefährlich schien, wollte Ignatjew der öffent- 
lichen Meinung einige Zugeständnisse machen; er schlug 
vor, den Bauern Erleichterungen an den jährlichen Kauf- 
abtragungen zu gewähren und Provinzialversammlungen 
in Polen, Sibirien und den Ostseeprovinzen einzuführen, 
auch rieth er, die Bahn Loris-Melikows einschlagend, zur 
Berufung von Abgeordneten der Semstwos nach St. Peters- 
burg. Ignatjew hatte viele Gegner und diese brachten 
seine Vorschläge dadurch zu Fall, dass sie auf seine 
slawophilen Tendenzen, auf seinen Deutschenhass und auf 
die von ihm geduldete Judenverfolgung hinwiesen; die 
von ihnen geweckte Befürchtung, Ignatjew werde einen 
Krieg mit Deutschland herbeiführen, fand ihre Bestätigung 
durch die Brandreden, welche der gefeierte Boulanger 
Russlands, General Michail Dmitrijewitsch Skobelew, hielt. 
Musste Giers die Rede Skobelews zur Feier seines Sieges 
von Geok-Tepe bei dem oesterreichiseh-ungarischen Mi- 
nister des Aeusseren Grafen Kalnoky entschuldigen, so 
erregten Skobelews Worte, die er am 16, Februar 1882 
in Paris an die serbischen Studenten hielt, noch grösseres 
Aufsehen, er drohte ja direkt mit dem bevorstehenden 
Kriege Russlands gegen Oesterreich-Ungarn und Deutsch- 
land und forderte ein Bündniss aller Slawen mit Prank- 
veieh; Alexander, der ilm ins Ausland geschiekt hatte, 












fruchtbaren Chikanen des Panslawismus ein 
aber auch nicht, mit Frankreich zu liebäugeln und über- 
triebene Rüstungen zu billigen. Ein Mitbegründer des 
Dreikaiserbündnisses, wohnte er am %. September 1851 
dem Besuche des Zaren bei Kaiser Wilhelm in Danzig 
an, konferirte hier mit Bismarck, besuchte ihn “ No- 
vember 1882 in Varzin, ging wegen kirchenpolitischer 
Fragen nach Rom und reiste am 24. Januar 1883 nach Wien; 
auf seinen Reisen ins Ausland besuchte er Bismarck am 
11. November 1888 und 7. September 1885 in Friedriehs- 
ruh, war im Januar 1584 der Gast Franz Josephs in Aka 
wohnte den Dreikaiserbegegnungen in Ski 

er mit Bismarek und Kalnoky konferirte, und 1 WE 
(September 1884 und August 1885) bei*); er veranlasste 
die Presse, sich gegen Deutschland massvoller zu ver- 
halten, und trotzte Katkows u. A. Anfeindungen, Mit 
Grossbritannien suchte er ein friedliches Einverständniss 
wegen Afghunistans zu treffen, neue Konflikte wurden 
durch das St, Petersburger Abkommen vom 22. Juli 1887 
über die Grenze Afghanistans beseitigt; im Januar und 
Februar 1884 aber wurde von einer Expedition Merw 
unterworfen und die noch unabhängigen Turkmenen- 
stämme erkannten Russlands Oberhoheit an, wodurch 
Russland Indien bedeutend näher rückte und wohl neue 
Zusammenstösse mit Grossbritannien für spätere Tage 
angebahnt sind. Alexander und Giers hielten zwar am 
Dreikaiserbündnisse fest, verletzten aber Deutschland nicht 


*) Im Juli 1868 erhielt er von Kaiser Wilhelm II. bei dessen 
Besuche in St. Petersburg die Diamanten zum Schwarzen Adler-Orden 
and Wilhelm wie andere auswärtige Fürsten feierten am 26. Oktober 
1888 sein 50 jühriges Dienstjubiläum in auszeichnendster Form, 








Orlow*), der infolge Nichtauslieferung des 
Hartmann durch die französische Regierung 
genügender Beweise im März 1880 tiefvere 
verliess, aber im Mai d. J. nach Beilegung che 
zurückgekehrt war, ein intimer Freund  Peäsi- 
denten Thiers und Grövy und in Paris sehr beliebt; 
Alexander III. rief ihn im Februar 1884 von dort ab und 
schickte ihn als Botschafter an Stelle Peter A. Ssaburows 
nach Berlin, wo er aber nur bis Frühjahr 1885 blieb *®). 
An Orlows ***) Stelle in Paris trat im April 1884 Baron 
Arthur P, Mohrenheim und nun begann die französische 
Regierung ein grosses Lieheswerben um Russlands Gunst: 
Alexander, der sehr französisch gesinnt war, und die 
Chauvinisten in Hof und Gesellschaft kamen den Wer 
bern sehr freundlich entgegen. Die Beerdigung des 
von Alexander Il. als Orakel verehrten Panslawisten 
Katkow veranlasste Deroulöde und Gonpil, den Präsi- 
denten und den Sekretär der französischen „Patrioten- 
liga®, nach Russland zu kommen; Baranow (s. 8. 484), seit 
1882 Gouverneur von Nishnii-Nowgorod, empfing sie im 
August 1887 mit lücherlielen Ehrenbezeugungen, die ihre 
Spitze gegen Deutschland und gegen den Frankfurter 
Frieden kehrten, wofür ihm der Zur im November einen 
Rüffel ertheilte. Und doch hatte Alexander am 26, Mürz 
1887 einen Ukas erlassen, der Fremden verbot, in Russ- 
lands Westprovinzen Grundbesitz zu kaufen, eine Mass- 
regel, die gegen Deutschland abzielte und auf die Bis- 
marck mit Massregeln gegen den russischen Handel und 
im Pebruar 1888 mit der Veröffentlichung des deutsch- 
vesterreichischen Allisnzvertrags antwortete. Dabei ver- 
ständigte sich Bismarck heimlich hinter Oesterreichs 
Rücken mit Russland, er wollte „die Erbfreundschaft“ mit 
Iussland bewahren; Wilhelm II. wünschte 1890 nicht 


*) Sohn des Freundes Nikolaus’ I, der im Mai 1861 wahnsinnig 
gestorben war, 

»*) Graf P. A. Schuwalow löste ihn dann ab, 

”*) Orlow starb in Fontaineblean, wo er seit seinem Rücktritte 
lehte, im Mürz 1885, 










XL. Alexander II. 





wurde möglich, die Universität Dorpat. 
strahlende Leuchte deutscher Wissenschaft, 
fieirt und vertauschte gleich der Stadt, in der 
den Namen mit ‚Jurjew. Für Polen hatte Alexan 
wenig Herz, noch weniger für die polnischen Katholiken, 
Pobedonoszew wollte letztere durehnus zur orthodoxen 
Kirche bekehrt wissen; Gurko führte in Warschau als 
Generalgouverneur und Oberkommandant des Militär 
bezirks ein hartes Regiment. Finnland hielt an seiner 
Sonderstellung erfolgreich fest, erlangte sogar erweiterte 
ständische Rechte (s. oben) und hatte seit 1881 im Grafen. 
Heyden einen trefflichen Generalgouverneur. 

Alexander hoffte auf Unkosten der Bildung und des 
Fortschritts die Liebe seiner Russen zu erobern; stiess er 
das Fremdländische von sich, hemmte er das Leben der 
Ausländer in Russland durch allerlei Zwang, verfolgte er 
die westeuropäische Kultur und suchte ihren unter den 
früheren Herrschern erlangten Einfluss wieder auszutilgen, 
so war er seiner Meinung nach ein echt nationaler Herr- 
scher, ein Vater seiner Russen; er übersah, dass ein Zar 
der Moskowiter nicht mehr zeitgemäss sei und dass man 
mit aller Staats- und Polizeigewalt die Kultur nicht 
mehr ausrotten könne; es gab kein „Zurück!“ für ein 
Weltreich. In seinen Wahnvorstellungen aber bestärkte 
ihn beständig der unheilvollste Rathgeber, sein Arak- 
tschejew. Konstantin Petrowitsch Pobedonoszew, der 
Öberprokureur der heiligen Synode, bemächtigte sich 
mit dem Priester Johann von Kronstadt seiner Seele und 
führte ihn in eine Bigoterie hinein, die seiner Dynastie 
bisher fremd gewesen; obwohl ein tüchtiger ‚Jurist und 
Verfasser historisch-juristischer Arbeiten*), obwohl ein 
glänzender Meister der russischen Sprache, warf sich 
Pobedonoszew mit verhängten Zügeln der blinden Or- 
thodoxie in die Arme und erstickte jede Freiheit im 
kirchlichen und Schulleben, #0 viel an ihm war. Alle 


*) Er unterrichtete Nikolaus II. in der Jarisprndenz und schrieb 
ein grosses Werk über das russische Civilrecht. 









kaiserliche Familie lag unter denselben, der Zur 
selbst bei dem Rettungswerke mit, zog Gemahlin u 
Kinder aus den Trümmern hervor, die Zarin kam, wie 
sie an Schuwalow nach Heidelberg telegraphirte, mit 
einem blauen Auge, die Kinder mit Quetschungen 
davon®), und seitdem trat eine krankhafte Menschen- 
scheu neben der Furcht vor jedem Geräusch und dem 
Bangen vor Attentaten bei Alexander auf, 

Am 4. März 1884 errichtete Alexander das kaiser- 
liche Hauptquartier; es besteht aus dem General- 
kommandanten, dessen Adjunkt und ihrer Suite, aus dem 
Kommandanten, einem Stabsoffizier zu besonderen Auf- 
trügen, dem Leibarzt, dem ersten Hofgeistlichen und der 
Kanzlei und begleitet den Monarchen auf seinen Reisen; 
es hat in seinem Ressort die persönliche Escorte des 
Letzteren und ihm untersteht die Kanzlei für die Bitt- 
schriften an den Kaiser, Bis Juni 1898 war General 
0. von Richter Generalkommandant desselben, seitdem 
ist mit dieser Stellung der Minister des kaiserlichen Hofes 
und der Apanugen, Baron W. B. Fredericks, noch mit- 
betraut. Seit 1883 beschäftigte man sich mit der Re- 
organisirung des Hofministerinms, die am 28. April 1893 
die kaiserliche Bestätigung erhielt; der Hofminister ist 
zugleich Apanagenminister und Ordenskanzler und legt 
nur dem Kaiser Rechenschaft ab, das ÜUentrum dieses 
Ministeriums ist seit 1888 das Cabinet des Kaisers, Am 
10. März 1892 errichtete Alexander an seiner Privatkanzlei 
ein Comite zur Prüfung der Vorschlüge für die von ihm 
zu Belohnenden, 1894 wurde dasselbe in „Oomit6 für den 
Dienst in den Graden des Civilressorts und für Beloh- 
nungen“ umgetauft und Nikolaus IL traf durch Ukas vom 


*) Der Minister der Wegebanten and Verkehrsanstalten, Admiral 
K. N, Possiet, verlor infolge von Borki sein Portefenille, Hübbenet 
erhielt es und hatte es bis Januar 1892 in Besitz, dann übernahm es 
Kriwoschein, der wegen Unregelmässigkeiten im Amte Ende 1894 ent- 
lassen wurde, 


XII. Alexander III. 495 
verständnisse zwischen ihm und dem 'Ihronfolger. sie war 
das Muster einer Gattin und Mutter. Man brachte den 
todtkranken Kaiser aus dem finsteren Gatschina nach 
dem sonnigen Livadia in der Krim und an seinem Sterbe- 
lager verlobte sich der Thronfolger mit der muthigen 
Prinzessin Alix von Hessen, die nach Livadia gekommen 
war, um Russlands Glück neu zu begründen und noch 
fremd dem fremden Manne gegenüber stand: in wür- 
digster Weise ging sie über veraltete Floskeln hinweg 
und trat mit offenen Worten zur orthodoxen Kirche 
über. Und am 1. November 1894 schloss Alexander 
„der Friedensstifter* nach qualvollen Nierenleiden in 
Livadin die Augen, die einstige Thronfolgers-Wittwe 
war Kaiserin-Wittwe. 





XIII. Nikolaus II. 


em finster dreinblickenden Vater, den seine Russen 

kannten, folgte der ihnen und Europa unbekannte 
jugendliche Sohn, eine bescheidene. schwächliche, ein- 
silbige Persönlichkeit. Er hatte 1890/91 eine Weltreise 
mit seinem Freunde. dem Fürsten Jesper Uchtomski*). 
gemacht, deren Erlebnisse I,etzterer 1893 herausgab (ins 
Deutsche übersetzt. Leipzig bei F. A. Brockhaus): in 
Japan hatte ihn ein Fanatiker überfallen, aber Prinz 
Georg von Griechenland. der die Reise mitmachte, hatte 
ihm das Leben gerettet. Jetzt wurde er Kaiser und 
heirathete inmitten der tiefsten Trauer am 26. November 
in St. Petersburg seine holdselige Braut. „Ich will 
nicht nur Nikolaus II.. sondern auch ein zweiter Niko- . 
laus sein“, soll er gesagt haben und er hat dessen 
Mutli geerbt, er fürchtet den Tod nicht, er ist Fatalist 
und weiss, das Schicksal ist unabwendbar. Darum be- 
seitigte er sofort die ängsflichen Absperrungsmassregeln 
des Vaters, ging unter sein Volk, wenn auch Verschwörer 
darunter waren, verbat sich die Bewachung auf Schritt 
und Tritt durch die Polizei, promenirte mit der Kaiserin 
in den Strassen oder fuhr im offenen Wagen; er richtete 
seinen Hofhalt möglichst einfach ein, was mit der üb- 
lichen zarischen Pracht im grellsten Widerspruche stand. 
er erleichterte den Zutritt zu ihm, er las alle Bittschriften 
selbst und arbeitete unermüdlich**). Bei der Krönung in 


*) Herausgeber der St. Petersburger „Wjedomosti“ und seit No- 
vember 1894 Privatsekretär des Kaisers. 

**) In neuerer Zeit: soll Nikolaus etwas ängstlicher im öffent- 
lichen Erscheinen sein, zumal man davon munkelt, ein Dynamitattentat 













XI. Nikalans IT, 


Moskau, am 26. Mai 1896, ereignete sich das gr 
Unglück auf dem Chodinski-Felde, weil der Ob e 
meister und Audere ihre Schuldigkeit verabsäumten, al 
die üblichen Geschenke unter die nach Hunderttausenden 
zählende Menge vertheilt werden sollten; Nikolaus machte 
mit den Schuldigen kurzen Process und veröffentlichte 
unerhörter Weise seine Entschliessung in einem Ukas; er 
erstrebte, was sein Vater vergebens wollte, die Befreiung. 
der Geister in Russland vom Schmutze der Corruption. 
offene Gerechtigkeit. 

Kaum war Nikolaus II. Kaiser, so erlag Giers am 
26. Januar 1895 schweren Leiden. Der Botschafter in 
Berlin, Graf Paul Andrejewitsch Schuwalow, war eben 
von Berlin abberufen worden, um Gurko*) uls General- | 
gouverneur in Warschau zu ersetzen, wofür das jubelnde 
Warschau illuminirte, und Kaiser Wilhelm IL, der mit 
Schuwalow enge befreundet war, hatte ihn bei dem Abschiede 
nicht genug feiern können; an seine Stelle sollte Fürst 
Alexei Borissowitseh Lobanow-Rostowski, seit ‚Juni 1882 
Botschafter in Wien, treten. Nach einem Besuche bei 
dem Papste, der ihm das Grosskreuz des Christus-Ordens 
in Brillanten gab. war Fürst Lobanow-Rostowski im Januar 
1895 für Berlin ernannt, als sich Nikolaus anders ent- 
schloss und ihm im Nebrunr 1895 dus Ministerium der 
auswärtigen Angelegenheiten provisorisch, am 19. März 
definitiv übertrug, zum Botschafter in Berlin aber den 
langjährigen Gesandten in München, Grafen Nikolai von 
der Östen-Sacken, ernannte. Im Oktober 1895 ging Dur- 
nowo als Minister des Inneren ab und wurde Präsident 
des Ministercomitöx, mit der Verwesung des Ministeriums 
wurde Iwan Longinowitsch Goremykin betraut, seit 
Januar 1896 definitiv Minister des Inneren, eine grosse 
Arbeitskraft. Durnowos Vorgänger als Präsident des 
Ministercomit‘s war Bunge gewesen, der zwischen den un- 
einigen Ministern stets vermittelte und unter Nikolaus I. 





sei 1898 bei Einweihung einer Kirche in St, Petersburg gegen ihn und 
seine Familie geplant, aber zeitig entdeckt und vereitelt worden. 
*) Nikolaus ernannte Gurko am 18. Dezember 18 zum General- 
feldmarschalle und richtete ein sehr schmsichelhaftes Reskript an ihm. 
A, Kleinsehmidt, Woborbl, d. rum Ganch, m 116, 32 


4 

















dankte und den: St, Andrens-Orden verlieh, Den ı 
gehenden Einfluss aber auf den jungen Herrscher | 
Mutter, eine die Herrschaft liebende Frau, welche B 
vor die regierende Schwiegertochter, eine sanfte, be- 
scheidene Natur, stellt und der ihr Sohn mit liebevoller 
Pietät anhängt. 

Im Jahre 1896 entschloss sich das junge Kaiserpnar 
nach langem Aufschub zur Antrittsreise an die grossen 
Höfe. Ende August traf dasselbe in Wien ein, wo Niko- 
laus ausgezeichnet gefiel und wo wegen der Balkun- 
halbinsel zwischen den Staatsmännern beider Reiche 
wichtige Abmachungen eingeleitet wurden; in Wien traf 
Nikolaus die Nachricht von den Abschlachtungen armeni- 
scher Christen in Konstantinopel — und der Zar gilt doch 
„für den berufenen Schutzheren der orientalischen Ohristen- 

heit! Tiefbewegt fuhr das Kaiserpaar am 30. August 
nach Kiew, wo der Grundstein zu einer Kirche gelegt 
werden sollte, — da starb Fürst Lobanow-Rostowski*) 
am 31. August plötzlich im Coup& bei Schepetowka, 
vom Schlage getroffen. Wer sollte den bedeutenden 
Diplomaten ersetzen? Graf Paul Andrejewitsch Schu- 
walow, der Generalgouverneur in Warschau. Am 2. Sep- 
tember aber lähmte die Gieht diesem die linke Seite und 
im Dezember musste er sein Amt niederlegen, in dem ihm 
Fürst Imeretinski folgte. Der frühere Adjunkt von Giers, 
Geheimrath N. P. Schischkin, übernahm interimistisch das 
Ministerium des Aeusseren und begleitete das Zarenpaar 
fortan auf der Reise als erster Beirath, In Breslau fand 
im September die Begegnung mit Wilheln II. statt, dem 
sein Grossvater jüngst noch die Freundschaft mit Russland auf 
die Seele gebunden hatte, wie einst Nikolaus I. seinem 
Bohne die Freundschaft mit Preussen, Der Draht zwi- 
schen Berlin und St. Petersburg schien aber zerrissen zu 
sein, Alexanders III. Freundschaft für Frankreieh — er 
zuerst unter Russlands Herrschern hörte die Marseillaise 
stehend und barhäuptig an — war auf Nikolaus II. über- 


*) Er war auch ala Genenloge bekannt. 
Pro 













empfindet, zeigte im August 1898 die Feier d 
von Alexanders II. Denkmal in Moskau, bei der 
erster Linie immer wieder den reichen Segen der | 
hefreiung hervorhob, Den Palen erwies sich Nikolaus von 
Anfang an gnädig, Fürst Imeretinski (s. 8. 499) machte 
den Katholiken trotz der Einsprache Pobedonoszews eine 
Keihe Koncessionen, die polnische Sprache wurde an 
‚den polnischen Gymnasien obligatorisch; als darum das 
Zorenpaar Warschau besuchte, wurde es mit grossem 
‚Jubel empfangen, aber dem Jubel folgte rasch die Er- 
nüchterung, Pobedonoszew gewann neue Macht, die Polen 
wurden wieder als Feinde der Orthodoxie angeschwärzt 
und die Politik der Aussöhnung, die Fürst J. Uchtomski 
beständig empfiehlt, scheint nicht zur Geltung kommen 
zu sollen, wenn auch die städtische Selbstverwaltung mit 
Neujahr 1899 in Polen eingeführt werden soll. 
Pobedonoszew und seine Leute riefen, als die grie- 
chisch-kretische Frage aufs Tapet kam, nach einem 
Kreuzzuge gegen die Türken und nach Unterstützung 
der Hellenen; der dänische Hof. den Nikolaus im 
September 1896 besuchte, um „der Schwiegermutter 
Europas“, der greisen Königin Louise, zum Geburtstage 
zu gratuliren, wollte ihn veranlassen, seinem Lebens- 
retter, dem Prinzen Georg von Griechenland zuliebe, 
Griechenland im Kampfe zu unterstützen, er aber ent- 
schied sich für volle Neutralität und begnügte sich mit 
dem Versprechen, in Georgs Einsetzung zum General- 
gouverneur von Kreta einzuwilligen, wenn Kreta unter 
türkischer Oberhoheit bleibe und Europa die Kandidatur 
Georgs aufstelle. Seit Neujahr 1897 leitete Graf Michail 
N. Murawjew das Ministerium der auswärtigen An- 
gelegenheiten, im April d. J. wurde er definitiv Minister; 
er ist der Enkel des einstigen gefürchteten Diktators in 
Wilna. Im Jahre 1897 erfolgten die Gegenbesuche für 
das vorige Jahr. Im April erschienen Franz Joseph, 
Erzherzog Otto und Graf Goluchowski, der Minister des 
Aousseren, in St, Petersburg, und Franz Joseph wie 
Nikolaus verbürgten einander angesichts des türkisch- 
griechischen Kampfes das Festhalten am europäischen 







XIII. Nikolans IT, at 





Komarow. der in Böhmen in russischer Uniform H 
reden hielt, vom seiner Regierung jedes officielle n 
verboten; sein Organ „Licht“ (Swjet) beherrscht nieht“ 
mehr die Presse. $o findet denn auch die grossserbische 
Idee keine Unterstützung mehr in St. Petersburg. Mit 
Oesterreich aber scheint ein Abkommen getroffen worden 
zu sein, welches die Interessensphäre auf der Balkan- 
halbinsel regelt und Russland für den Fall einer einstigen 
'Theilung Rumänien und Bulgarien zuweist, deren Herrscher 
im Zaren ihren Protektor erblicken. Die andere Welt- 
frage, die sich heute aufrellt, ist die ostasiatische, der 
Krieg Japans mit China hat sie aufgeworfen und Russ- 
land geht in ihr einen Weg mit Deutschland und mit 
Frankreich; China *) ist das moderne Polen, es ist schnitt- 
reif. Im Jahre 1896 sandte Nikolaus auf Bitte des Königs 
von Korea Instruktoren und einen Finanzrath nach dessen 
Residenz Seul und Korean wurde von Japan völlig 
unabhängig. Russland lieh Korea kräftige Hilfe, der Ge- 
sandte in Tokio, Baron Rosen, schloss mit dem japa- 
nischen Minister des Aeusseren Baron Nissi ein Abkommen, 
wonach beide Kaiserreiche Korean gegenüber stets ge- 
meinsam handeln wollen, am 9. Juni 1896 unterzeichneten 
es in Moskau Fürst Lobanow-Rostowski und der Marschall 
Marquis Jamagata. Durch den Vertrag von Peking vom 
27. März 1898 trat China Port-Arthur und Talien Wan 
mit den dazu gehörigen Ländereien und territorialen Ge- 
wässern auf 25 Jahre zur Nutzniessung an Russland ab, 
dessen Truppen schon Tags darauf Besitz ergriffen; Russ- 
land erhielt im Vertrage die hochwichtige Erlaubniss eines 
Eisenbahnbaues, so dass beide Häfen mit der grossen 
transsibirischen Eisenbahnlinie verbunden werden können, 
Die Briten sind über dies Eintreten Russlands in die 
chinesische Theilung ebenso ergrimmt wie über das Ein- 
treten Deutschlands. 


*) Fitrst Uchtomski hat in den neunziger Jnhren als Haupt einer 
ausserordentlichen Gesandtschaft die dominirende Rolle Russlands in 
Peking angebahnt und wurde eine bestimmende Kraft in der ost- 
asintischen Politik. 










seinem Schiffe am 25. August 1897 er t 
warme Antwort musste ihn nun allein befriedigen, 
auch das Manifest nicht ausgeführt, 30 ist es doch, Ras 
Zaren adsgehend, ein diplomatischer Zug von 
Wirkung und sichert Nikolaus, dessen Anfinge auf einı 
gesegnete Regierung hoffen lassen, einen Ehrenplatz in 
der Weltgeschichte. Dass gleichzeitig. mit dem at 
und mit den Feierlichkeiten, in deren Mitte Bauern- 
befreiung stand, die starre Orthodoxie in der Person 
Pobodonoszews verherrlicht wurde, beeinträchtigte die 
Wirkung auf das unbefangen denkende Enropa. 





*) Die Industrienktien stiegen sofort, die Papiere von Maschinen- 
etablissements sanken. Merkwürdigerweise erschien gleichzeitig mit 
dem Manifeste die Verfügung, zwei neue Cadetencorps in Warschau 
und Odessa zu errichten.