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Russlands Herrscher seit 1613.
1. Romanow,
E}
IL Gottorp«
t, Michail Pedorowäsch (168-1645. 2 Aloxol Michaflowätsch (1615-176).
% Fedor I. Alexejowitsch (irs—ioxh. 4. Iwan V. Alexeiewitsch (1682-1689).
3 Peter I. der (rose Alexejewitseh (1687-1725, % Katharina L Alexejewnu
ITS-1T 7. Potor IL Alexejewitsel (1-70). R Anna 1 Jwanowna
a0. % Iwan VL are ne) Wit: 10 Elisaberh Potrawmn
fl 1762).
Mi, Peter HL Hedorowitsch (ITGN; F2. Katharina II . 1% Pant L
I fisch (17961801) 14 Alexunderl. Pawlowsitsch (1801-1825) 15. NikulausL Paw-
1% Aloxanıter IK Nikolajmitnoh (RK —1N81). 17, Aleyandor IL
bee (1551-2698). IR Nikolaus IL Alexandrwwitsch (seit 1898).
DKM
Kic}
Inhalt.
Vorwot 22200.
I. Bis zu Peter dem Grossen
II. Peter der Grosse . le
II. Katharina I., Peter II. und Anna .
IV. Ein Jahr mit zwei Regentschaften
V. Die letzte Romanow. Sn
VI. Der erste Gottorp
VII. Katharina II.
VIII. Paul. .
IX. Alexander I..
X. Nikolaus I.
XI. Alexander II. .
XII. Alexander III. .
XII. Nikolaus II. .
Druckfehler.
8. 14: Zar Alexei Michailowitsch starb 1676, nicht. 1671.
nd —
sämmtlicher Selbstherrscher seit Michail Fedorowitsch zu-
sammengestellt. Endlich ist eine Karte des europäischen
Russland und der kaukasisch-armenischen Landestheile
beigegeben. die das allmälige Anwachsen des Reiches seit
Peter dem Grossen bis in unsere Tage zeigt. von einer
Karte des asiatischen Russland mussten wir Abstand
nehmen.
Von Kriegen ist in einer russischen Geschichte gar
viel die Rede. mehr als von Frieden. Möge es nun von
günstiger Bedeutung sein. dass mein Buch mit dem
Friedensmanifeste aus St. Petersburg. der epochemachend-
sten Weltfriedenserklärung aller Jahrhunderte. zusammen
trifft! Ich sage mit Murawjew: man muss den sich
überstürzenden und übertrumpfenden Rüstungen, die alle
Nationen erdrücken und die der Wissenschaft Millionen
entziehen. um sie dem Moloch der Zerstörung zu opfern.
ein Ende in Frieden bereiten: in einer Neuordnung der
Dinge werden dann die Staaten auf den Prineipien des
Rechtes und der Billigkeit fester ruhen als auf Bayon-
netten und Kanonen. Das walte Gott! Und Ihr Monar-
ehen der ganzen Welt! lasset den Friedenskongress, wenn
er zusammentritt. nicht verstreichen. ohne auch gegen die
überhandnehmende Anarchie Vorkehrungen zu treffen; er-
hebet das Schwert, das Gort Euch gegeben, gegen die
Nihilisten und Anarchisten. treffet sie und gebet Euren
Völkern äusseren und inneren Frieden!
Lugano. 28. August 1898.
Villa Ysenburg.
Arthur Kleinschmiät,
von wo nur einer wieder heimkehrte. Selbst unbe-
‚mit Lesen und Schreiben, sorgte er bei seinem
ne Fedor Borissowitsch für eine damals vorzügliche
hung und liess, ein Freund der Kartographie, für
die erste Reichskarte, den bolschoi tschertesh, ent-
‚ von der nur Kommentare erhalten sind. Im Heere
waren 2500 Fremde, Boris nahm die tüchtigen Leute. wo er
‚sie fand, mochten es Russen oder Ausländer sein, begünstigte
sehr Kaufleute und Industrielle aus Livland, England u. s. w.,
liebte den Umgang mit deutschen Aerzten, und im Aus-
lande fand dies alles grosse Anerkennung, ein Königsberger
‚Gelehrter verglich ihn mit Numa Pompilius, der Professor der
Rechte Tobias Lontzius pries ihn in einem Briefe als Vater
des Vaterlandes, Fürsten der Aufklärung und gottgesandten
Reformator. Das russische Volk hingegen betrachtete die
Neuerungen voll Unwillen und die Nationalen frugen den
Patriarchen Hiob: „Warum schweigst Du, heiliger Vater,
und siehst dem allem ruhig zu?“, der Olerus erachtete
das Erlernen fremder Sprachen nicht nur für überflüssig,
sondern selbst für verwirrend und der Reinheit des Glaubens
gefährlich, man wollte von allem Fremden nichts hören.
Die Kirche, der Adel, das Heer und das Volk hassten den
westeuropäisch gesinnten Zaren. Da brach 1601 eine
grauenhafte Hungersnoth aus, welche bis 1604 währte und
100000 Opfer kostete; während die Regierung Sorge trug,
dass die fremden Gesandten nichts davon erfahren sollten,
und während sie ihnen Ueberfluss an Lebensmitteln zur
Schau stellte, stieg die Wuth gegen Boris. Da gab sich
Grischka Ötrepjew*), ein entlaufener Mönch, für den von
Boris 1591 ermordeten Zarewitsch Dmitri, den Stiefbruder
des Zaren Fedor I., aus, fand rasch Glauben und Anhang,
und Boris starb plötzlich am 13. April 1605. Seine Wittwe,
Maria Grigorjewna Skuratow, und sein Sohn, Fedor Il. Bo-
rissowitsch, wurden alsbald ermordet, seine engelschöne
Tochter Xenia, die er vortrefflich hatte heranbilden lassen
und nach Dänemark verheirathen wollte, musste die Coneu-
bine Otrepjews werden. Dieser aber wurde als Zar Dmitrii
*) Noch heute halten ihn Blanche für den echten Dmitri.
ıs Schlepptau Polens zu bringen. Als Wassili die
Leibeigenen bessern wollte, verhinderten es die
; sie und das Volk waren ihm abhold; Polen
es kam zum Aufstande, Wassilii hatte alle
eingebüsst, das Volk und die Gebrüder Lja-
W ‚aus Ruriks Blut zwangen ihn, am 17. Juli 1610
abzudanken*); obwohl die Bojaren und der Patriarch oppo-
‚nirten, blieb es dabei und die Bojaren übernahmen die Re-
‚gierung, da die Führer der Erhebung sich nicht damit be-
fassen wollten. Die nun folgende Zeit, das Meshdu-zarstwo,
war voll Wirren, vier Parteien stritten um die Herrschaft,
eine duvon unter dem Fürsten Gnlitzin erkor sogar den
en Thronfolger Wladislaw zum Zaren und lieferte
Moskau aus. Eine nationale Erhebung aber liess
nicht auf sich warten; trotz seiner achtzig Jahre rief der
Patriarch Hermogenes zam Kampfe für Kirche und Un-
abhängigkeit auf, die Mönche des hochheiligen Troitza-
Klosters vertheidigten es unerschroeken sechzehn Monate
gegen ein Heer von 30. 000 Polen. der patriotische Fleischer
von Nishnii-Nowgorod, Kosma Minin, sammelte ein Heer,
an dessen Spitze ein Rurikide, Fürst D. M. Posharski,
ein ausgesprochener Gegner fremder Einflüsse, trat und
in dem nur Russen Dienst fanden; dies Heer rückte auf
Moskau los, im Oktober 1612 wurden die Polen dort in
blutigem Kampfe zum Abzuge gezwungen — Mittelruss-
land war zwar frei, aber eine Wüste.
Man stritt nun lange, wer Zar werden solle, und
einigte sich endlich am 21. Februar 1613 auf den jungen
Sohn Philarets, Michail Fedorowitsch Romanow (ge-
boren 1596). Sein Vater, der Bojar Fedor Nikititsch
Romanow, ein Neffe Iwans IV. des Schrecklichen, war
1601 unter dem Namen Philaret Mönch, dann Metropolit,
seine Mutter Xenia Schestow unter dem Namen Marfa
Nonne geworden, seit 1610 befand sich Philaret in polnischer
*) Er starb in Polens Gewahrsam auf Schloss Gostin bei Warschau
am 22. September 1612, seit 17. Januar 1608 vermählt mit Marla Pe-
trowna, Fürstin Buinossow-Rostowaki, die nach seinem Sturze Nonne
in Seusdal wurde.
NER N
I. Bis zu Peter dem Grossen.
den Zaren bevormundenden Bojurenrathes: bis zum
(1684) hatte „der Richelieu Russlands“ den be-
‚enden Einfluss in allen Geschäften; umsonst aber
e er dem Sohne die Hand einer dänischen Prinzessin
chaffen. Nach der Anlegung genauer Schreiberei-
bücher, eines Katasters, wurde zwar ein Abgabensystem
eingerichtet, doch liessen sich die Beamten bestechen und
‚die härtesten Steuern lasteten auf den zur Bestechung
unfähigen Armen; den verachteten Gesetzen musste wieder
Geltung verschafft werden; die bisher von Gut zu Gut
ziehenden Bauern büssten die Freizügigkeit ein und wurden
vom Zaren den Gutsherren zugetheilt, glebae adseripti.
Besondere Aufmerksamkeit wandten Zar und Patriarch
dem Heerwesen zu; sie liessen in Schweden, damals der
ersten Kriegsmacht, in Dänemark, Holland und den Hanse-
städten Offiziere und Gemeine anwerben, Kriegsbedarf
beschaffen und allerhand Geschäftsleute miethen, hüteten
sich aber vor der Berührung mit katholischen Landen, um
nicht den Papiemus nach Russland einzuschleppen, wo
Papst und Polen gleich verhasst war, und verboten
Reisen ins Ausland. Ueber die Strelitzen, die umgemodelt
wurden, setzten sie verdiente Soldaten, nicht hohe Adelige,
entfremdeten somit Heer und Adel einander und alle
Strelitzen mussten heirathen, um Krieger zu erzeugen,
ihre Söhne durften nur Strelitzen werden, Unter der
Leitung von Engländern, Holländern und Deutschen
entstanden Kupfer- und Erzgruben, Glashütten, Pulver-
mühlen und Fabriken, aus Goslar kamen Kupferschmelzer,
aus Nürnberg Giesser, welche die Anstelligkeit der Russen
zu loben alle Ursache fanden, und drei Jahre lang arbei-
teten Deutsche und Russen unter des Nürnbergers Jesains
Zinkgräff Leitung an einem auf 25000 Thaler geschätzten
Throne für Michail. Ein österreichischer Mönch legte bei
Astrachan den ersten Weinberg an und bald hörte man von
viel Weinbau. In Sibirien entstanden viele Städte, Holländer
führten in verschiedenen Gegenden des Reichs solide
Stadtmauern auf. Die Postbehörde (jumskoi prikas) trat
ins Leben und es wurde bestimmt, wieviel Pferde jeder
Beamte unterwegs auf Dienstreisen beanspruchen dürfe;
uerobern, und belagerte Ssmolensk nach dem Muster
is bei Breda, aber König Wladislaw IV., Michails
onrival, eilte herbei, hetzte zugleich die Ta-
r Krim Russland auf den Leib und zwang das
Heer zur Kapitulation vom 14. Februar 1634,
‚den Kopf kostete; da Moskau abermals be-
musste Michail am 5. Juni 1634 zu Paljanowka
‚auf der Basis von Dewulina (s. oben) Frieden schliessen
und Polens Grenze war keine 300 Kilometer von Moskau
entfernt. Michail hatte nun am Kriege genug und um-
sonst schrieb ihm Gustav Adolph von der Gefahr, welche
"Westeuropa und den protestantischen Mächten Seitens des
Kaisers und des Katholieismus drohe; ohne Begriff von
der Tragweite dieses Weltkampfs zwischen zwei in seinen
Augen ketzerischen Religionen blieb er bei Seite. Als
die donischen Kasaken ihm 1642 die von ihnen eroberte
Türkenfestung Asow zum Geschenk anboten, schlug er sie
aus, um keinen Krieg mit der Pforte zu bekommen, be-
fall ihnen die Räumung und beliess so die Donmündung
in türkischem Besitze. Ohne Philaret schwach und unbe-
deutend, milde, uber ein roi faindant, starb Michail, der
erste Romanow-Zar, am 28. Juni 1645*). Obschon keine
Erbfolgeordnung vorlag, folgte ihm wie selbstverständlich
sein einzig überlebender Sohn zweiter Ehe, der sechzehn-
jährige Alexei Michailowitsch (geboren 1629).
"Weich und unselbstständig, von keinem Philaret be-
rathen, der strengste Beobachter religiöser Vorschriften,
stand Alexei wohl fünf bis sechs Stunden bei dem Gottes-
dienste, liebte aber das Vergnügen mehr als das Regieren
und überliess letzteres seinem vertrauten Erzieher, dem
von Ehrgeiz und Habsucht besessenen und dabei beschränk-
ten Boris Iwanowitsch Morosow. Der Günstling hielt die
Grossen und selbst die Verwandten von ihm fern, verheira-
thete ilın 1648 mit der Tochter eines armen Adligen, Maria
‚Jljinischna Milosslawski, und nahm selbst deren Schwester;
*) Gemahlinnen: I) 1624 Maria Wladimirowna, Fürstin Dolgoruki,
starb 17, Januar 162%; 2) 1626 Jewdokia Lukianowna Streschnew,
starb 28. September 1645,
n, die Ukase der Grossfürsten von Moskau, Gut-
und Urtheilssprüche der Bojaren und jene älteren
bücher. Schon 1649 war das Gesetzbuch, die
je*, fertig, wurde am 3. Oktober einer aus Geist-
Adeligen und Bürgerlichen bestehenden Landes-
vorgelesen, ‚von Allen ohne Berathung unter-
schrieben und blieb, so unvollkommen es war, die einzige
Entscheidungsquelle, die Basis des russischen Rechts.
Alexei errichtete, um seine absolute Macht zu verstärken,
„die Kammer der geheimen Angelegenheiten“, nur aus
Personen bestehend, eine Art Geheim-
polizei und ein Präservativ gegen Revolten.
In der diplomatischen Welt machte es ein gewisses
Aufsehen, als „der Grossfürst von Moskau“ 1648 als
Allürter Schwedens in den westphälischen Frieden ein-
geschlossen wurde, der letzte ins europäische Concert
Eintretende. Alexei wollte Russland Schweden und Polen
gegenüber zur Geltung bringen und mit Polen um Klein-
russland kämpfen; darum unterstützte er die Saporoger
Kasaken unter ihrem Hetman Chmelnicki gegen Polen,
gab ihnen 1652 die Rechte der ukrainischen Kasaken,
gestattete ihnen Ansiedelungen, aus denen z. B. Oharkow
entstand, versprach ihnen offiziell Schutz und nahm 1654
in Perejaslawl unter Bestätigung ihrer Privilegien ihren
Eid der Treue entgegen; seitdem nannte er sich „Herr
von Kleinrussland“, doch musste er dies Land erst mit
dem Schwerte erkämpfen. Darum erhöhte er Russlands
Wehrkraft im Anschluss an Westeuropa. warb englische,
schottische und andere Offiziere, Techniker u. dergl. an,
vermehrte die verschiedenen Waflengattungen trotz der
Wuth der Strelitzen auf die fremden „Soldaten“, und 1649
erschien in russischer Uebersetzung Leonhard Fronspergers
Werk über den Infanteriedienst, Er brachte fünf neue
Regimenter auf die Beine, die aber in Polen und vor
Ssmolensk wenig genug leisten sollten, besser bewährten
sich die fremden Oorporale in der Unterweisung. Da
brach 1654 in Moskau und auf dem Flachlande eine Pest
aus, die stellenweise 85—90 % hinraffte, aber wiederum
Bi
r " wirthschaftliches Leben, eine wesentlich
ing. Wenig Jahrzehnte nach Guttenbergs Er-
x druckte man 1491, zumal in Krakau, Bücher mit
4 en Lettern, 1517 wurde in Prag die erste russische
‚gedruckt und bei dem nach Wilna übersiedelnden
Drucker ‚ging Peter Matislawetz, der erste russische Buch-
drucker, in die Schule; während erst 1564 die erste
Druckerei in Moskau entstand, druckten die polnischen
und kleinrussischen Gebiete lange Zeit viel mehr als die
grossrussischen, die fast nur geistliche Bücher druckten,
und im Schulwesen war ebenfalls der slawische Westen
Moskowien weit voraus: Kleinrussland wurde zur Sehule
Grossrusslands, doch blieb bei der grossen Verschieden-
heit beider Länder ein Gegensatz bestehen, Kleinrussland
behielt Sonderrechte und eine eigene politische Existenz,
die Vereinigung war bis in die Tage Katharinas II. nur
eine Art Personalunion. Die widerspänstigen Don-Kasaken
unter Stenka Rasin mussten in furchtbarem Kampfe be-
siegt, Rasin 1671 hingerichtet werden, doch führte diese
Episode Reibungen mit der Pforte herbei, die sich in
Kleinrussland einmischen wollte; 1672 eroberten die Türken
Kamjeniee und einen Theil Podoliens und 1674 raffte sich
Alexei zum Kriege auf, dessen Preis die Festung Tschi-
girin bildete, doch starb er vor Beendigung des Krieges.
Sehr wichtig war unter Alexei die Kirchenreform; hier-
bei war der leitende Kopf und sein erster Helfer der
Patriarch Nikon, ein Bauernsohn voll Energie, ein
administratives Talent und Alexei geistig weit über-
legen, aber hoffürtig hielt er die Anmassung der Kirche
dem Selbstgefühl des Staates entgegen, so dass der
Kampf der zwei Schwerter entbrennen musste und
sich die Unhaltbarkeit einer Zweiherrschaft ergab.
Nikon veranstaltete eine Revision der heiligen Schriften,
um irrige Neuerungen seiner Vorgänger abzuschaffen, und
setzte die Berichtigung der altslawonischen Bibelüber-
setzung und Liturgie nach dem ursprünglich griechischen
Texte ins Werk. Bald entstand ein Schisma, die Geist-
lichen widersetzten sich dem Reformator, der ihr Nivenu
m
1. Bis zu Peter dem Grossen.
s wieder verloren und «0 konnte 1728 der Jüt-
Bering nochmals die „Beringsstrasse“ auffinden.
ste russische Kanzler, Ordin-Naschtschokin, hatte
wie sein Gebieter ein offenes Auge und trat für den Fort-
‚schritt ein, desgleichen Alexeis Günstling, der Bojar Mat-
wejew, ein grosser Anhänger des Westens (Sapadnik).
unbekümmert um den Hass der Altrussen. 1669 starb
die Zerin Maria, die dem Gemahle zehn Kinder geschenkt
hatte, und er heirathete 1671 Natalie Kirillowna Narischkin,
die ihm neben zwei Töchtern Peter den Grossen gebar;
als er aın 29. Januar 1671 starb, folgte ihm ohne Kapi-
tulation sein Sohn Fedor IL. Alexejewitsch.
Ein milder, segensreicher Herrscher setzte Pedor den
ererbten Türkenkrieg fort, bis er im Januar 1681 im Frieden
von Baktschisarai Kiew und dessen Gebiet rechts des
Dnjepr behielt, die Pforte allen Ansprüchen an die west-
liche Ukraine entsagte, das Land der Saporoger Kasaken
unter Russlands Oberhoheit blieb und beide Contrahenten
sich verpflichteten, zwischen Dnjepr und Dnjestr keine
Festungen unzulegen. Simesn Polozki, sein kleinrussi-
scher Erzieher, hatte Pedor III. eine gute Schulung ge-
geben, Fedor konnte polnisch und lateinisch und machte
sogar Verse, Polozki schrieb geistliche Dramen, die da-
mals Staunen erregten, heute freilich ungeniessbar sind,
übersetzte weltliche Bücher ins Russische, leitete seit
1670 die neue Hofbuchdruckerei, übte viel Einfluss auf
die Anfänge der russischen Literatur und machte den
Entwurf zu der 1682 in Moskau gegründeten slawonisch-
griechisch-lateinischen Akademie; als er starb, liess ihm
sein dankbarer Schüler eine Grabschrift in Keimen setzen.
Fedor förderte die durch kleinrussische Gelehrte vertretene
Bildung und das Schulwesen trotz der Anfeindung des
grossrussischen Clerus, und kaum hatte er sich 1680 mit
der Polin Agafja Ssemenowna Gruschezka verheirathet, als
er mit der Einführung polnischer Sitten und Trachten bei
Hof, mit der Anlegung von Schulen nach polnischem
Muster begann, ja sogar religiöse Gebräuche umänderte.
Die Furcht der „Nationalen“ vor einer neuen Polonisirung
Russlands war masslos, ging aber vorüber, als Agafja
Bi
Su ESRR ERBE
II. Peter der Grosse.
ie Regentin Sophia Alexejewna war eine staatskluge
Frau, eine Intriguantin, welche ihre Mitregentin Na-
talie Kirillowna, Peters Mutter, rasch verdrängte: sie
wurde die eigentliche Herrscherin und nannte sich seit
1684 unverblümt „Selbstherrscherin“ von ganz Russland:
sie plante sogar Peters Erınordung, wollte den Thron be-
steigen und ihren Geliebten, den „grossen Galitzin“, hei-
rathen. Für Russland war es eine traurige Fügung. dass
seine beiden grössten Reformer sich als Todfeinde be-
kämpfen mussten. anstatt zusaınmen wirken zu können.
Fürst Wassilii Wassiljewitsch Galitzin, Sophias
Grosskanzler und Generalissimus, war ein ausgesprochener
sapadnik, ein Freund und Förderer westeuropäischer
Bildung, ein selten unterrichteter Mann: er gestattete den
Protestanten den Bau steinerner Kirchen in der Vorstadt
(sloboda) von Moskau, in der er lange vor Peter als Gast
aus- und einging. bot den aus Frankreich vertriebenen
Hugenotten in Russland Asyl, kümmerte sich nicht um
die Proteste fanatischer Pfaffen und stiess bornirte Alt-
russen oft genug zurück. begünstigte hingegen die besser
gebildeten kleinrussischen Geistlichen und Gelehrten; er liess
Gelehrte und Bücher aus Griechenland kommen, hatte in
seinem prachtvollen Hause eine Bibliothek und wissen-
schaftliche Instrumente, und seine feinen Formen entzückten
die fremden Diplomaten. mit denen er fliessend Latein
sprach. Im Besitze ungeheurer Machtvollkommenheit,
fand er sich anfangs durch die Intriguen des Strelitzen-
obersten, des Fürsten Chowanski, gehemmt. der mit Hilfe
mm m m
18 II. Peter der Grosse.
Frühreife. mit elf Jahren körperlich wie geistig wie ein
Achtzehnjähriger. und Sophia schaute mit wachsendem Arg-
wohn auf seine Soldatenspiele. Sie reizte die Strelitzen.
über die ihr Liebhaber Schaklowitoi befehligte. zur Em-
pörung und zur Ermordung Peters auf. er aber wurde
zeitig gewarnt und entfloh mit seiner ihm im Januar 1689
angetrauten Gemahlin Jewdokin Fedorowna Lopuchin und
nur fünf Leuten in der Nacht zum 18. August 1689
von Preobrashensk in das Troitzkische Kloster, das in
besonderer Verehrung stand: ihm folgten die Mutter und
die Poteschnije. Er rief die von fremden Offizieren be-
fehligten regulären Regimenter herbei, fast alle kamen
und wurden beschenkt. ein grosser Theil des Adels und
das Strelitzenregiment Sucharew kamen auch, dax Kloster
wurde in Vertheidigungszustand gesetzt und Sophia nebst
Schaklowitei für Hochverräther erklärt. Galitzin kam nicht.
Als Sophia sah, wie sich die Dinge zu ihren Ungunsten
gestalteten. wollte sie einleiten, Galitzin machte sich auf
den Weg. Peter aber stiess Beide zurück und fand
volle Billigung seiner Schritte durch den von ihm benach-
richtigten Mitzaren Iwan. Die Führer der Rebellion
wurden verhaftet, Sophia selbst gab Schaklowitoi preis
und die Schuldigen gestanden unter der Knute; Schaklo-
witoi wurde hingerichtet. mehrere stark Gravirte hatten
dasselbe Loos oder wurden nach Sibirien verwiesen. Sophia
verlor die Regentschaft und kam in das Nowo-Dewitschii-
Kloster unter strenge Aufsicht der Poteschnije. Dem
grosssen Galitzin rettete sein bei Peter in Gunst stehender
Vetter, Fürst Boris A. Gaalitzin. mit Mühe das Leben, er und
sein Sohn büssten alle Aemter und Habe ein und wurden
nach dem hohen Norden verbannt. wo der grosse Staats-
mann erst am 2. Mai 1714 im Bezirke von Pinega starb.*)
Peter hielt mit Mutter und Gattin am 9. September 1689 einen
'Triumphzug in Moskau und wur seitdem Alleinherrscher,
wenn auch Iwan nominell bis zu seinem am 29. Januar 1696
eintretenden Tode Mitzur blieb und in allen Erlassen
Iwans Name dem Peters voranging. An Stelle Galitzins
*) Kleinschmidt, Der grosse Galitzin, in „Westermanns
Monatsheften“, September 1897.
x II. Peter der Grosse.
der Zeit rollte über die Verfechter des Veralteten hin,
es gab kein Zurück! mehr. und Peter war wohl der ge-
lehrigste Schüler des Neuen. überall und an allem lernend
und alles verwerthend. Er war von Naturell roh, seine
Reformen waren roh. roh war auch das Material, mit dem
er zu rechnen hatte: er liess seine Russen in ehernem
Griffe die eherne Faust spüren, scheute kein noch so
despotisches Mittel. reformirte mit Knute und Beil, griff
an manches dem Volke Heilige und bekämpfte, unbeirrt
von den Abmahnungen seiner eigenen Familie, den Geist
der Abschliessung auf Tod und Leben: er warf das plunder-
hafte Ceremoniell, die abgöttische Verehrung und Isolirung
des Thrones von sich, wollte arbeiten, aber auch sein Leben
geniessen und sich selbst nicht einsperren. Als inkarnirter
Autokrat riss er Russland nach Westeuropa, setzte Russ-
land an die Stelle von Moskowien, den russischen Kaiser
an die Stelle des Moskauer Zaren. Von Wichtigkeit für
die Civilisirung war die Sloboda Moskaus, in der wir dem
grossen Galitzin begegneten und in der sich Peter gern
mit seinen Günstlingen aus der Fremde, dem Genfer
Lefort und dem Schotten Gordon, tummelte: aus ihr fand
er nachher den direkten Weg nach seinem Paradiese
St. Petersburg. Von Lefort und Gordon berathen, re-
organisirte Peter das ganze Heerwesen: was wollte das bis-
herige Heer gegen eine Militärmacht wie Schweden bedeuten!
jetzt erst entstand eine wahre Armee. Im Jahre 1698 hatte
das Preobrashenskische Regiment vier und das Sseme-
nowskische drei Bataillone, von denen jedes in vier Füsilier-
kompagnien zerfiel, ausserdem hatten beide Regimenter je
eine Grenadierkompagnie und das Preobrashenskische noch
eine Bombardierkompagnie. Beide Regimenter rekrutirten
sich vorwiegend aus dem Adel, zählten auch viele Fremde und
dienten als Pflanzschule für Armeeoffiziere: man diente in
ihnen als Gemeiner, um in der Armee Offizier zu werden. und
wer in ihnen Offizier ward, war zwei Grade den Armee-
offizieren voraus (Kaiserliche Verfügung vom Februar 1722).
Als 1696 eine Strelitzenverschwörung, der Sophia nahe stand.
ausbrach, unterdrückte sie Peter mit barbarischer Härte
und vertheilte die Strelitzen an Russlands Grenzen.
®
Meer, doch liess sich sein Plan, aus dem Hafen einen
‚grossen Handelsplatz zu machen, nicht ausführen. Asow
sollte die Basis für weitere Operationen gegen die Pforte
werden, es wurde zur russischen Stadt, wie seine Moscheen
zu russischen Kirchen wurden. Peter dachte an eine
Flotte auf dem Schwarzen Meere, das ihm als Verkehrs-
strasse nach Westeuropa dienen sollte; 1699 fuhr ein
russischer Gesandter auf russischem Kriegsschiffe nach
Konstantinopel, bis zur Meerenge von Kertsch yon einer
Esendre begleitet, und die unerhörte Kühnheit erweckte
im Serail, vor dem das Schiff unter Abgabe von Salven
Anker warf, grosse Bestürzung:; das Schwarze Meer blieb
zwar noch ein Jahrhundert von russischen Schiffen frei,
doch die einmal angeregte Orientfrage wurde mit der Zeit
ein Mittel zu grossen Eroberungen und zu intimerer An-
näherung an Westeuropa.
Unbekümmert um seine Altrussen und ihre Abneigung,
hegte der Zar längst den Wunsch, Europa mit eigenen
Augen zu schen, was noch keiner seiner Vorgänger
gethan hatte, und bestimmte für die Zeit seiner Abwesen-
heit eine Verwesung unter dem Fürsten Romodanowski.
Nachdem er eine von Sophia geschützte Strelitzenverschwö-
rung 1697 unterdrückt hatte, reiste er im März 1697 mit
270 Mann ab, nicht als Zar, sondern als „Oberkomman-
deur Peter Michailow“. als Begleiter der glanzvollen
Gesandtschaft, an deren Spitze Lefort stand und bei der
viele Preobrashenzen und Ssemenowzen waren. Die bis-
herigen russischen Gesandtschaften hatten in Europa einen
höchst ungünstigen Eindruck hinterlassen, man nannte die
Gesandten „Halbthiere*,. diesmal war es anders, die Er-
lebnisse der Gesandtschaft von 1697 wirkten phänomenal
auf Peters Entwickelung und die Reise selbst gab den
Anstoss zu den bald so häufig werdenden Reisen von
Russen zu touristischen oder zu gelehrten Zwecken. Sie
ging durch Liv- und Kurland nach Brandenburg, wo zwar
der kurzsichtige und gezierte Friedrich III. an dem unge-
hobelten Peter Anstoss nahm, sich aber doch zum Abschlusse
eines geheimen Defensivbündnisses gegen Schweden ver-
stand, während die Kurfürstinnen von Brandenburg und
_
II. Peter der Grosse.
Andere die ihm gewordene Creirung zum Oxforder Ehren-
Be Hauptsächlich interessirten ihn technische Rin-
gen und Fertigkeiten und das Seewesen. Auf die
ıgländer machte er freilich den Eindruck eines Sonderlings.
engagirte er aus Holland und England, dann
aus Italien Künstler, Gelehrte, Ingenieure, Schiffsleute,
Handwerker u. A. Adam Weide, Major im Preobrashenski-
schen Regimente, wurde nach Wien geschiekt, um als
„Militüragent“ alle Neuerungen im österreichischen Heere
kennen zu lernen und die Militärstatuten zu studiren; ihm
folgte Peter selbst, über Sachsen reisend, aber auch Leo-
pold L. liess sich nicht zum Türkenkriege bewegen. Peter
wollte nun noch Italien bereisen, da kam die Nachricht,
die Strelitzen hätten eine Verschwörung gewagt, um-
fassender und gefährlicher als alle früheren. Peter musste
nach Hause, unterwegs berieth er noch mit August dem
Starken, Polens neuem Könige, wegen des Kriegs gegen
Karl XI, und im September 1698 traf er in Moskau ein,
um das Schwert der Rache zu schwingen. Gordon hatte
die Rebellion bereits gebändigt, die Preobrashenzen und
Ssemenowzen hatten ihm so gute Hilfe geleistet, dass Peter
sie reich belohnte und sie zur Leibgarde erhob. Peter
hielt ein schreckliches Blutgericht, hieb selbst manchem
Strelitzen den Kopf ab und ohrfeigte Menschikow, der
sich zum Henker schlecht anstellte. Sophia war wieder
‚der Mitschuld verdächtig, darum liess Peter vor ihrem
Kloster 130 Schuldige aufhängen, viele Hunderte wurden
gehrandmarkt und nach Sibirien geschickt, Etwa 1700
Rebellen endeten unter dem Beile. Der Zar behandelte
Sophia und ihre ältere Schwester Marfa in rohester Weise.
Sophia musste im Moskauer Jungfrauenkloster den Schleier
nehmen und starb 1704 als „Nonne Susanna“, Marfa wurde als
„Nonne Margarethe* ins Kloster zu Alexandrowo geschickt,
in dem sie 1707 starb, Lefort hatte Peter mit Mühe abge-
halten, seine Stiefschwestern und seine ihm längst verhasste
Gemahlin, die starrrussische Jewdokia, zu tödten. Der
Zar erklärte Jewdokia für am Aufstand mitschuldig,
entzog ihr den Sohn Alexei Petrowitsch und verstiess
sie am 1. Oktober ins Pokrowsche Kloster zu Ssusdal, wo
_
a: IE! Paten der’Grönsd: j
E. II. Peter der Grosse.
lichkeit erhielt weitgehenden Einfluss, zu Peters besten
Mitarbeitern zählten die Kirchenfürsten Dmitrii von Rostow,
Stephan Jaworski und besonders Feofan Prokopowitsch
von Pskow: ursprünglich Katholik und Jesuitenschüler,
seit 1716 in St. Petersburg lebend, dankte Prokopowitsch
seine Kenntnisse dem Studium protestantischer Theologie,
den Schriften Paul Gerhards und las mit Vorliebe die
Werke Descartes‘, Bacons und Buddeus': er entsetzte sich
über die Trägheit und Unwissenheit des grossrussischen
Clerus, förderte, Peter unentbehrlich, dessen geistliche wie
weltliche Pläne und wurde die Seele der Synode.
Da für Russland der Besitz einer Seeküste im Westen
von hoher Wichtigkeit war. so führte Peter, vereint mit
Polen und Dänemark. gegen Schweden einen Krieg,
der 21 Jahre dauerte; sein grösster General war Graf
Boris Petrowitsch Scheremetew (j 1719), sein grösster
Sieg der bei Poltawa, der Ehrentag seiner Garde-
regimenter, und im Nystädter Frieden erwarb Peter im
September 1721 Livland. Esthland, Ingermanland, Karelien,
Wiborg und Kexholm; Schweden sank zur Macht zweiten
Ranges herab: Peter, nun Herr der Ostsee, dachte mehr als
je an Polens Theilung. Die Balten übten bald bemerk-
baren Einfluss aus und sollten ihn lange Zeit behaupten:
damals galten die Ostseelande für ein Vorbild und waren
Russland weit voraus, ihre Städte hatten einen ge-
sunden unabhängigen Mittelstand und kräftige Gilden. Die
Gründung $t. Petersburgs im Jahre 1703 war Peters Meister-
stück, an dem er mit fieberhafter Rührigkeit arbeitete, es
war der Brückenkopf zum Verkehre mit Westeuropa, eine
durchaus weltliche kosmopolitische Stadt, nicht wie Moskau
kirchlich und national, in und um St. Petersburg breiteten
sich Gärten aus, es wurde Peters „Paradies“ und hatte
gepflasterte Strassen. Die Grossen mussten sich in
St. Petersburg anbauen. der Senat wurde dahin verlegt, 1714
auch die Residenz und 1724 die Akademie: rasch wuchs
die Stadt empor, wurde das Centrum des russischen Handels
und aus ihrem Samen schossen Odessa und andere Plätze
auf. Während des nordischen Krieges hatte Schweden
die Türken in Peters Rücken gehetzt, nur durch Ka-
82 II. Peter der Grosse.
saken endeten mit blutiger Ahndung. der Generalfeld-
marschall Graf Scheremetew unterdrückte 1706 mit eiserner
Strenge die Rebellion der Kasaken und der letzten Stre-
litzen, Fürst W. W. Dolgoruki 1707—1708 die der Ka-
saken: am gefährlichsten war die Erhebung der Don-
Kusaken unter ihrem treulosen, in Sage, Dichtung und
Malerei unverdient verherrlichten IHetman Mazeppa. der
seinen Wohlthäter Peter im November 1708 verrieth und
gemeine Sache mit Karl XTI. machte. von Menschikow
jedoch völlig besiegt wurde und sich im Oktober 1709
vergiftete.
Peter sehnte sich lange schon nach einer zweiten
Reise in die Ferne, diesmal wollte er die Welt zugleich
seiner geliebten Katharina zeigen. Er reiste 1716 ab und
widmete neben Industrie und Handwerk Kunst und Wissen-
schaft besondere Aufmerksamkeit: Holland, Frankreich
und Deutschland wurden besucht. Peter kaufte um
hohen Preis die weltberühmte anatomische Sammlung des
Amsterdamer Professors Fredrik Ruysch. das minera-
logische Kabinet (iottwaldse. Sebas Sammlung von
Land- und Seethieren und legte so den Grund zum Peters-
burger Naturalienkabinet: er sans Stunden lang bei den
Malern, von denen er den Marinemaler Silo besonders
liebte, machte grosse Bilderkäufe und verschmähte es nicht.
Auktionen selbst anzuwohnen: mancher der herrlichen
Niederländer in der Eremitage stammt aus dieser Periode.
In Paris, im Mittelpunkte feingesitteter Geselligkeit. war
gar viel Neues zu sehen und Peter drung mit bewunderns-
werthem Scharfblick in den Kern der Dinge ein, sich
nach allem erkundigend. Nach dem Muster der Pariser
Gobelinfabriken liess er nachher in Russland welche an-
legen, in der Sorbonne sprach er über konfessionelle
Fragen und erklärte eine Karte Russlands für unrichtig.
mit dem berühmten Geographen Guillaume Delisle be-
handelte er geographische Probleme, und die Akademie
der Wissenschaften ernannte ihn zu ihrem Mitgliede:
während Ludwig XIV. stets gegen Russland gestimmt war.
was für Frankreich nur ungünstig sein konnte, finden wir
jetzt den ersten ausgesprochenen Russenfreund in Frank-
3 IL Poter der Grosse,
‚altrussischen Partei, während Peter im Auslande weilte,
1716 zu seinem Schwager. dem Kaiser Karl VL. und jetzt
wusste Niemand seinen Aufenthalt. Peter sandte Vertraute
in Europa umher, um ihn aufzuspüren und unter Androhung
schwerster Strafe zur Rückkehr zu zwingen ; endlich ent-
deckten ihn der Capitän Rumjanzow und der Senator
Tolstoi auf dem Castelle St. Elmo in Neapel, sagten ihm
die Verzeihung des Vaters zu und nahmen ihn mit sich,
Am 21, Oktober 1717 war der Vater nach St. Petersburg
heimgekehrt, hatte eine Untersuchung gegen Alexei und
seinen Anhang eingeleitet und das Verfahren, ihn vom
Throne auszuschliessen, war in vollem Gange, als der Sohn
am 3. Februar 1718 in Moskau eingeliefert ward. Es zeigte
sich, dass die altrussische Partei seit sieben Jahren in aller
Stille wähle, um Poters Reformen zu untergraben und
Russland aus dem Lichte Europas in die Dämmerung
Asiens zurückzuführen; auch ergaben sich in der Ver-
waltung grosse Unterschleife und Unredlichkeiten, die
besonders während Peters Reise Platz gegriffen hatten,
und im Volke herrschte darüber grosse Verstimmung.
Während der Zar strenges Gericht gegen die Beamtung
und zumal ihre Spitzen hielt, traf er die Altrussen
tödlich in seinem Sohne: Alexei Petrowitsch musste vor
einer Versammlung der Grossen am 4. Februar auf den
Thron verzichten, anstatt seiner wurde Katharinas Sohn
Peter Petrowitsch Zarewitsch. Untersuchung und Verhör
ergaben, dass Alexei das blinde Werkzeug der Altrussen
gewesen, zahllose Verhaftungen erfolgten, die Meist-
gravirten wurden zu Tod gemartert oder enthauptet,
auch den Erzbischof von Rostow schützte sein geistliches
Gewand nicht, er hatte die Zarin-Nonne Jewdokia und
eine Halbschwester Peters, Maria Alexejewna, in die Ver-
schwörung verwickelt. viele Andere wurden geknutet, ver-
stümmelt, mit Verlust von Rang und Vermögen verbannt.
Da Jewdokia beschuldigt wurde, sie habe ihren Sohn auf
den Thron erheben wollen und habe im Kloster ein Ver-
hältniss zum Bojaren Glebow unterhalten, so wurde Letz-
terer gespiesst, sie selbst von Peter geknutet und im
April 1718 in ein Kloster zu Neu-Ladoga geschleppt,
_
88 II. Peter der Grosse.
sogenannte „Testament“ Peters ist eine Erfindung Napo-
leons, um im Jahre 1812 Russland zu verdächtigen, Peters
orientalische Politik blieb auch ohne Testament die Richt-
schnur seiner Nachfolger, er starb am 8. Februar 1725 ohne
Testament und ganz unvorbereitet in seinem „Paradiese“.
Tolle Ausschweifungen hatten seine Gesundheit frühe zer-
rüttet, er erreichte wie Napoleon I. nicht das 53. Lebens-
jahr. Durch Reformen auf tausend Gebieten entriss Peter
das bisher von Europa geringgeschätzte Russland auf ewig
der asiatischen Barbarei, machte es unter dem Staunen der
Mitwelt zur gefürchteten Macht und die Geschichte hat
das Epitheton „des Grossen“ trotz aller seiner Schwächen
und Fehler ihn bestätigt; im hohen Pflichtgefühl für den
Staat war er ein Vorläufer Friedrichs des Grossen. Er war
der populärste und durchgreifendste Herrscher Russlands,
Russlands Vater und Reformator, der grösste Romanow.
“0 IM. Katharina I., Peter II. und Anne.
Iw. Buturlin, der wirkliche geheime Rath und Senator
Graf Peter Andrejewitsch Tolstoi, der geistvolle west-
fälische Pfarrerssohn Geheimrath Baron Andrei Iw.
Ostermann, dessen Nützlichkeit für Russland Peter noch
auf dem Sterbebette gepriesen hatte, und der holsteinische
Gesandte von Bassewitz: ohne an die Töchter des Zaren
Iwan V. auch nur zu denken, traten sie für die Thron-
folge Katharinas ein, handelten rasch, stützten sich auf
die beiden Garderegimenter, die von grossem Einflusse
werden sollten, bestachen deren Offiziere und führten die
vornehmsten derselben nebst anderen Männern von Gewicht
in den Palast; hier entfernten sie Katharina vom Todten-
bette. wo sie nichts mehr nützen könne, und brachten sie
in die Mitte der Verschworenen. Auf ihre Krönung und
Salbung durch Peter sich berufend. betonte sie selbst ihr
Thronfolgerecht und gab die Versicherung ab. sie sei weit
entfernt, ihren Stiefenkel Peter Alexejewitsch vom Throne
ausschliessen zu wollen, werde ihm vielmehr denselben
vererben; sie hatte es an Geldern und Versprechungen von
Würden und Aemtern nicht fehlen lassen und besonders
bei der Garde Anhang geworben. Auch das Haupt des
Clerus, der feile Erzbischof Feodosius von Nowgorod, der
wegen Betheiligung am Prozesse des Zarewitsch die
Rache des Sohnes fürchten musste. trat, was hochwichtig
war. auf ihre Seite, in der stillen Hoffnung, unter ihrer
Regierung werde die von Peter so schr beschränkte geist-
liche Machtfülle wieder zu gewinnen sein; als er den
Schwur ablegte, er werde die gekrönte Wittwe auf dem
Throne erhalten, folgte die Versammlung dem Beispiele.
Katharina versicherte sich des Reichsschatzes und der
Citadelle, die heilige Synode und viele Grossen, die kaiser-
liche Leibwache traten auf ihre Seite, die Garderegimenter
umzingelten den Palast. denn die Soldaten sahen in Ka-
tharina das Soldatenweib, die ihresgleichen gewesen war,
die Feldgenossin ihres geliebten Väterchens. Sobald der
Tod des Kaisers bekannt gegeben wurde, liess Buturlin
die Trommeln rühren: vergebens versuchte der Präsident
des Kriegskollegs Generalfeldmarschall Fürst Repnin ein-
zuschreiten, er war ohne allen Einfluss und Menschikow
4 IN. Katharina I.. Peter IT. und Anna. 2 +
ging weg. nur einen Geschäftsträger zurücklassend: Frank-
reichs Rolle war auf lange an Oesterreich übergegangen.
Eine britische Flotte. die vor Reval kreuzte. zwang die
russische zur Unthätigkeit. In Polen unterstützte die
Kaiserin die bedrückten Dissidenten und unter dem Vor-
wande. sie werde für sie einschreiten. hielt sie lange
Zeit Truppen in Kurland bereit. doch geschah letzteres
hauptsächlich Menschikow zuliebe: „der Fürst“. wie man
ihn kurzweg nannte. wollte Herzog von Kurland werden,
welches Land mit dem Tode des greisen Ferdinand. des
letzten Ketteler. vakant werden musste: ihm zu gefallen.
schloss Katharina ein Bündniss mit Friedrich Wilhelm I.
in Preussen gegen August den Starken von Polen. der
Kurland seinem Bastarde. dem berühmten Marschalle
Moritz von Sachsen. zuwenden wollte: der russische Ge-
sandte in Warschau arbeitete für Menschikow. dieser trat
selbst voll Insolenz in Mitau auf und führte Truppen in
die Stadt. die Stände aber wählten trotzdem im Juni 1726
Moritz: Menschikow tobte. befahl eine neue Wahl, drohte
mit einem Heere und mit Sibirien und verletzte die Wittwe
des früheren Herzogs Friedrich Wilhelm. die Herzogin Anna
Iwanowna. derart. dass er auf ihre Klage in St. Peters-
burg vor eine Kommission gestellt wurde: bei seiner All-
macht ging er freilich straflos aus der Untersuchung hervor.
Unter seiner Freundin Katharina omnipotent. wollte
der Fürst es auch nach ihrem Tode bleiben: er suchte
sich nach allen Seiten sicher zu stellen und ebnete
die Bahn zur Verheirathung seiner älteren Tochter
Maria mit dem Thronerben. dem Grossfürsten Peter
Alexejewitsch. unbekümmert um ihre bereits eingegangene
Verlobung mit dem Grafen Sapieha. einem Geliebten
Katharinas: Karl Vl. und sein Gesandter versprachen ihm
ihre Unterstützung und vergebens arbeitete der Herzog
von Gottorp dagegen, dem dadurch die Thronfolge seiner
Gemahlin Anna Petrowna bedroht erschien. Der Gross-
fürst beugte sich, wenn auch sehr ungern, vor Menschikows
Autorität und bekannte einmal: „Ich muss zu dem Fürsten
gehen und meinen Bückling machen, damit ich auch
etwas werde: sein Sohn ist sehon Lieutenant, ieh bin noch
II. Katharina I., Peter I. und Anna. “
Stellungen empor, verschwägerte sieh mit den Stroganow,
Potemkin, Litta, Bagration, Sapieha, Korff, Woronzow,
Pahlen und erlosch im Mannesstamme 1793 in dem Ge-
sandten am neapolitanischen Hofe, Grafen Paul Martino-
witsch, Die Schwestern Katharinas I. hatten sich eben-
falls in St. Petersburg eingestellt; Christine „Samuilowna“
kam 1725 mit ihrem Manne, dem litauer Bauern Simon
Heinrich, und mit ihren Kindern an und alle erhielten den
Namen Hendrikow; obwohl ohne jede Bildung, wurde er
Kammerherr und reich begütert ; die Alten blieben römisch-
katholisch, die Kinder wurden griechisch-katholisch, im
Mai 1742 erhob Kaiserin Elisabeth die nahen Verwandten
in den erblichen Grafenstand mit dem Namen Hendrikow
und sie heiratheten in die ersten Familien, wie sie die
ersten Aemter und Würden empfingen; die Heirath mit
einer Tochter des alten Bauern führte Tschoglokow, der
selbst ein Bauernsohn war, in das Amt eines Kammerherrn
und schliesslich in das des Oberhofmeisters der Grossfürstin
Katharina Alexejewna. 1725 kam auch die jüngere
Schwester der Kaiserin. Anna, die Frau Michael Joachims,
eines Bauern aus Grosspolen. mit den Ihren nach St.
Petersburg und empfing den Namen Jefimowski, bedeu-
tendes Vermögen und Ansehen; Kaiserin Elisabeth erhob
die Familie im Mai 1742 zu erblichen Grafen, und während
das Bauernpaar römisch-katholisch blieb, wurden die Kinder
griechiseh-katholisch; die Söhne und Enkel des zum
Kammerherrn beförderten Bauern nahmen Stellungen
ersten Ranges ein. Wie diese Alle Emporkömmling,
kannte Fürst Menschikow, dem Karl VI. das schlesische
Fürstenthum Kosel jetzt zu Lehen gab, keine Grenzen
seiner Machtgier, kümmerte sich nichts um den Höchsten
geheimen Rath und um die anderen Mitglieder des Peter II.
beigegebenen Conseils, sondern riss alle Macht an sich,
band sich an keinerlei Schranken, liess sich zum Gene-
ralissimus und Admirale ernennen, um über die Kriegs-
macht und Flotte verfügen zu können, schaffte das Cabinet
ab und verwerthete den Kaiserknaben für seine Zwecke.
Er wies ihm seinen eigenen Palast auf Wassilii-Ostrow
anstatt des Winterpalais zur Wohnung an und liess nur
50 5 III. Katharina I., Peter II. und Anna.
würdigsten politischen Autodidakten. Peter II. kannte
keine Gnade für Menschikows Familie. erst Kaiserin Anna
gestattete 1731 dem Sohne und der jüngeren Tochter die
Heimkehr aus Sibirien: der Sohn, das Pathenkind Peters
des Grossen und der holländischen Generalstaaten, erhielt
nur einen Bruchtheil des märchenhaften väterlichen Reich-
thums zurück und wurde Fähnrich im Preobrashenskischen
Garderegimente, zeichnete sich später als General gegen
die Türken und die Schweden aus, wurde Gouverneur von
Moskau. bei der 'Thronbesteigung Kathurinas II. General
en chef und starb. mit einer Galitzin verheirathet, 1764:
die Tochter war in Bauerntracht aus dem Exile angelangt.
sehr gütig von Anna empfangen worden. die sie zu ihrem
Hoffräulein ernannte und im Februar 1732 mit dem
Generale Gustav Biron. dem jüngeren Bruder ihres Ge-
liebten. vermählte: sie starb aber schon im Oktober 1736
mit 24 Jahren.
Mit Menschikows Sturz hatte Peter II. lediglich den
Herrn gewechselt und anstatt eines hochgenialen Mannes
eine Mittelmässigkeit gemeinster Sorte eingetauscht. Fürst
Alexei Grigorjewitsch Dolgoruki war von Men-
schikow zum zweiten Gouverneur des Kaisers bestimmt
worden, trug aber zu Menschikows Untergange in erster
Linie bei; ebenso ehrgierig wie bornirt. Stockrusse und
ein Todfeind der petrinischen Reform. unterstützte er voll
Servilität den Hang des kaiserlichen Knaben zum Müssig-
gange. zu nichtigem Amüsement. beschäftigte ihn mit
Jagden und nahm ihn häufig auf längere Zeit nach seinem
bei Moskau gelegenen Landsitze Gorenki, wo ihn nur die
Familie Dolgoruki umgab: er wurde Überhofmeister
Nataliens und trat 1728 in den Höchsten geheimen Rath,
Peter II. überhäufte ihn und die Seinen mit Gunstbeweisen.
Sein Sohn, Fürst Iwan Alexejewitsch. ein gutmüthiger,
nicht unbegabter Jüngling ohne Prineipien und ohne
Willenskraft, dabei einer der lüderlichsten Patrone des
ganzen Hofs, wurde von ihm zum Kameraden seines
Zöglings bestimmt, war bald sein unzertrennlicher Gesell-
schafter und verführte ihn zu Ausschweifungen. Mit
16 Jahren Oberkammerherr und Major im Preobrashenski-
‚politischen Rückhalt zu geben, dachte Fürst Iwan an die
Ehe mit Jugushinskis Tochter. Der Kaiser aber, der
sich. von Maria Menschikow gelöst hatte, sollte der
'hn des alten Dolgoruki werden; dessen schöne
Tochter, die siebzehnjährige Fürstin Katharina Alexejewna,
hatte zwar ihr Herz bereits verschenkt, was aber frag
die Ehrsucht von Vater und Bruder dunach? Sie musste
dem Grafen Melissimo entsagen, wurde am 30. November
1729 zur Braut bestimmt und am 11. Dezember als „Ihre
Kaiserliche Hoheit die Herrin-Braut“ feierlich mit Peter
verlobt. der ihr mit derselben Eiseskälte wie seiner
ersten Verlobten begegnete: die Hochzeit wurde auf den
30. Januar 1730 anberaumt und Oberhofmeisterin sollte
des Fürsten Alexei Schwester, die Bojarin Ssaltykow,
werden. Alles aber kam anders als die Menschen planten.
In Peters kurzer Regierung kam abermals der Ge-
danke an eine Theilung Polens zwischen den Höfen
von Moskau, Wien und Berlin zur Sprache; mit China
erfolgte 1727 ein Handelsvertrag, der Russlands seit 1655
gestattete Einfuhr nach Peking bedeutend erhöhte und
als Stapelplätze des gegenseitigen Handels das russische
Kiachta und das chinesische Maimatschin festsetzte; im
Februar 1729 wurde in einem Vertrage mit Persien die
russische Grenze über den Kur hinausgerückt. Aus-
schweifung zerrüttete frühe die Gesundheit Peters Il., bei
dem Feste der Wasserweihe erkältete er sich, die Poeken,
denen auch seine Schwester erlegen war, traten hinzu
und nach „Väterchen Ostermann“ verlangend, starb der
letzte männliche Sprosse der Romanow am 30. Januar 1780
im fünfzehnten Lebensjahre.
Die Dolgoruki waren über den drohenden Verlust ihrer
Allgewalt ausser sich, Allgemein war die Bestürzung über
das unvermuthete frühe Ableben, keinerlei Fürsorge war für
die Nachfolge getroffen worden. Wer sollte sie erhalten?
Der Höchste geheime Rath, die obersten Würdenträger und
die Generalität traten sofort zusammen und begannen zu
berathschlagen. Niemand sprach vom Thronrechte des
Erbprinzen von Holstein-Gottorp (des späteren Kaisers
Peter III.) als Sohnes der 1728 verstorbenen Grossfürstin
| k
der geninle Zögling en von Barden
Spitze des Hofes, der un Pronk selbst den von Ver-
ee ee ern in den Öber-
‚stellen der Verwaltung waren Deutsche, die Deutschen
„schienen Russland gopachtet zu haben. Ein sächsischer
"Diplomat berichtete 1792 nach Hause, von einer alt-
russischen Partei sei gar keine Rede mehr, und mit ver-
'haltener Wuth sahen die Russen dem Treiben der Fremden
während Birons Regiment, der Bironowschtschina, zu; der
Olerus sah mit Entrüstung Protestanten im Rathe der
Kaiserin, sie aber war nicht willens, den Clerikern Einfluss
zu gewähren. Ostermann und Münnich rasteten nicht, bis
Anna 1732 die Residenz nach St. Petersburg zurück-
verlegte, Ostermann bewog sie 1731 zur Auflösung des
Höchsten geheimen Raths und der Senat erhielt wieder
die alte Bezeichnung des dirigirenden, wurde aber in seiner
Machtsphäre wesentlich verkürzt, Alle Angelegenheiten
gingen durch „das Kabinet“ der Kaiserin und die eigent-
liche Regierung führten drei Kabinetsminister; neben dem
ersten, dem Reichskanzler Grafen Golowkin, stand der
weit wichtigere Graf Ostermann, nach Golowkins Tod im
Januar 1734 der leitende Staatsmann mit dem sicheren
Griffe des grossen Diplomaten und seltener Kenntnis
europäischer Verhältnisse; als dritter Kabinetsminister er-
scheint der ebenso eharakterlose wie unfühige Fürst Alexei
Michailowitsch Tscherkasski: neben ihnen war Münnich
unentbehrlich, kannte er doch besser als jeder Zweite das
Heerwesen; er organisirte das Ondettenkorps, sorgte für
Gleichstellung ausländischer und einheimischer Offiziere
im Soldverhältnisse, bewies in den Feldzügen Annas die
Waffentüchtigkeit Russlands und seine Berechtigung zur
Grossmacht. Zum eigenen Schutze, zumal der vielseitig
58 11. Katharina I., Peter II. und Anna.
lobt mit der liebreizenden ältesten Tochter des General-
feldmarschalls Grafen Scheremetew. Natalie Borissowna.
und wurde heiss geliebt: da man die Abneigung der
Kaiserin Anna gegen die Dolgoruki kannte. rieth man
Natalie, Iwan abzusagen, doch wies sie diese Zumuthung
unwillig ab, heirathete ihn in Gorenki am 17. April 1730
und ging am 20. mit ihm nach Beresow in die Verbannung.
Anfangs hielt man den Fürsten furchtbar hart, allmälig
erleichterten die Beamten sein Loos etwas. er verkehrte
mit den Offizieren der Garnison, mit den Geistlichen und
Einwohnern des Ortes; er hatte sich gebessert, war ein
musterhafter Gatte und Vater, ein frommer Christ ge-
worden, fiel aber bald in das alte Schwelgerleben zurück.
Die Fürstin ertrug die härtesten Entbehrungen und widınete
sich ganz der Erziehung ihres im April 1731 geborenen
Sohnes Michail. Da hinterbrachte der von ihrer Schwä-
gerin zurückgewiesene Tischin einige unvorsichtige Aeusse-
rungen Iwans dem Gouverneur in Tobolsk, dieser schickte
einen Kapitän Uschakow ab, um Iwans Verhalten zu
prüfen; die Aeusserungen erhielten Bestätigung und man
schleppte Iwan mit seinen Brüdern Nikolai und Alexei.
seinen Freund Owzyn, den Rächer der Ehre Katharinas,
und viele Leute aus Beresow 1738 nach Tobolsk; kaum
war Iwan weggeführt, so gebar Natalie ihr zweites Kind,
Dimitrii, welcher später an Nervenzerrüttung litt — wohl eine
Folge ihres Gemüthszustands. Die Untersuchung in Tobolsk
war kurz. aber schauderhaft; man wendete die Folter an.
Iwan wurde während der Untersuchung an Händen und
Füssen gekettet und an die Mauer geschmiedet, 19 Leute
wurden als seine Mitschuldigen bestraft. geknutet. in ferne
Gegenden verschickt oder zu gemeinen Soldaten gemacht.
einer wurde enthauptet. Iwan brach körperlich und
geistig zusammen und sprach in verwirrtem Zustande un-
sinniges Zeug. erzählte Dinge, nach denen man gar nicht
frug. wie dass er das Testament Peters IL. gefülscht habe:
es kam zu einer neuen Untersuchung. in die auch die
anderen Dolgoruki hineingezogen wurden. Seinem Bruder
Nikolni wurde 1739 die Zunge ausgeschnitten und man
sperrte ihn ins Ssolowetzkische Kloster. aus dem ihn Elisa-
——
11. Katharina 1, Peter IT. und Anna.
anerkennen zu wollen, verweigert haben, kurzum der ehr-
liche und wahrheitsliebende Mann, den der Herzog von
in seinen Denkwürdigkeiten „den bedeutendsten
des Moskauer Bojarentkuma* nennt, verlor im
Januar 1732 die Freiheit, alle Aemter und Güter und
wurde auf die Festung Iwangorod hei Narwa gebracht,
am 23. November 1739 als Verschwörer gegen Anna und
Biron zu lebenslänglicher Einsperrung im Ssolowetzki-
schen Kloster verurtheilt, jedoch die Thronbesteigung
Elisubeths, seiner Pathin, gab ihm die Freiheit wieder
und er starb als Generalfeldmarschall und Präsident des
Kriegskollegs 1746. Sein Bruder, der Senator Fürst
Michail Wladimirowitsch, wurde 1730 nach Borowsk, 1731
nach Narwa, 1739 in das Ssolowetzkische Kloster verbannt
und 1741 zurückberufen. Weit schlimmer erging es seinem
Vetter, dem Oberhofmeister Fürsten Wussilii Lukitsch: er
verlor nicht nur im April 1780 sein Vermögen, alle Würden
und Aemter und wurde auf Lebenszeit nach dem Ssolo-
wetzkischen Kloster verbannt, sondern 1739 nach Nowgorod
gebracht, als sei er ein Verschwörer gegen Anna und ihren
Liebling, wurde dort gefoltert und am 19. November 1739
auf dem Töpferfelde hingeriehtet. Dasselbe Geschick er-
eilte die Brüder des in Beresow verstorbenen Alexei, die
Geheimräthe Fürsten Sergei und Iwan Grigorjewitsch,
während ihre Schwester Alexandra Ssaltykow 1730 Nonne
werden musste; Sergei, dem früheren Gesandten in War-
schau, wurden 1730 alle Güter bis auf eines konfiscirt,
1735 besserte sich seine Lage auf Verwendung seines
Schwiegervaters, dos Senatora Baron Schaffirow, 1739
erlangte er vollen Pardon und sollte eben als Botschafter
nach London gehen, als der Process gegen seine Familie
wieder begann und man ihn als am gefälschten Testamente
Peters II. mitschuldig verhaftete; mit ihm litt sein Bruder
Iwan, sie wurden in Nowgorod gefoltert und auf dem
Töpferfelde am 19. November 1739 hingerichtet. Nie viel-
leicht wütliete das Racheschwert wilder gegen eine Familie!
Anna wmisstraute längst dem ebenso klugen wie ver-
schlagenen Senator Fürsten Dmitrii Michailowitsch Galitzin,
von dem wir schon hörten ; er mied den Hof, so viel es thun-
a
den Krieg mit.
ihn aber erst im April 1736, nachdem
‚Felde stand; während des Kriegs ver-
‚se Moskau: mit den eüdlichen Gebieten
i Nisserfol -
Diplomasio Ben die Siege und den Uebergang über
den Prutlı za Schanden. zwang Karl VI. zu einem Separat-
vertrage und Russland, das nun allein stund, musste sich
Frankreichs Willen fügen: Biron bestimmte Anna hinter
ee Münnichs,. auf den er eifersüchtig war, zur
ebigkeit. Wührend an 100000 Soldaten ihr Leben
S hatten, brachte der Friede von Belgrad am
2 Felt 1739 Russland nur Asow; überdies mussten
Asows und Taganrogs Befestigungen geschleift werden,
Russland durfte keine. Flotte auf dem Schwarzen Meere
halten und russische Kaufleute durften ihre Waaren nur
auf türkischen Schiffen verladen; alle Eroberungen des
überaus mühevollen Veldzugs mussten herausgegeben
werden. Und für dieses erniedrigende Abkommen dankte
"Anna noch Ludwig XV. und seinem Botschafter in Konstan-
tinopel. dem Marquis de Villeneuve, trat auch mit dem
Versailler Hofe wieder in engere Beziehungen. Schon im
April 1738 hatte sie den Fürsten Antiochus D. Kantemir
zum bevollmächtigten Minister in Versailles ernannt, am
11. Dezember d. J. erhob sie ihn zum ausserordentlichen
Botschafter; der merkwürdige Orientale mit dem seltenen
Sprachtalente, wohl der früheste unter Russlands modernen
Dichtern, fand für seine literarische Musse in Frankreich
ein reiches Feld, befreundete sich und korrespondirte
Aa
n Schwedens Feindseligkeiten zu u begegnen,
27. Dezember 1740 mit Friedrich dem Fa: ‚einen
Vlaweree ‚auf 20 Jahre. Münnichs anmassendes Be-
men erweekte ihm lauter Feinde, Ostermann und
{ kin. entzogen ihm die Führung der auswärtigen und
der inneren Angelegenheiten. Anna wurde seiner über-
drüssig und ertheilte ihm, als er in seinem Aerger die
Entlassung, einreichte, dieselbe im März 1741 mit Ver-
gnügen, theilweise auch Oesterreich zu liebe, da Münnich
preussisch gesinnt war; sie grub mit Münnichs Sturz sich
und ihrem Hause selbst das Grab, am liebsten hätte sie
ihn wohl gar nach Sibirien deportiren lassen. Wie Biron
setzte sie die Garderegimenter hintan, denen Elisabeth so
scher zu schmeicheln wusste. Einen gefährlichen Peind
hatte sie an Frankreichs Politik; damit Russland nicht
in der Lage wäre, Maria Theresia im Erbfo joge zu
unterstützen, hetzte Frankreich, kein Geld sparend, ihm
Schweden auf den Leib und Schweden richtete eine zum
| Aufruhrgegen „ie Fremden“ offen auffordernde Erklärungan
das russische Volk; hiermit war es nicht genug, der Bot-
schafter de la Chötardie vertheilte Geld unter die russischen
Soldaten, um sie gegen die Regentin aufzuwiegeln und
für Elisabeth zu stimmen, unter der er Frankreich zur
| führenden Rolle in St. Petersburg zu verhelfen hoffte. Als
| Werksenge dienten ihm eine Reihe Glücksritter, wie der
| Leibarst Elisabeths L’Estoog, ihr geliebter Kammerjunker
M. J. Woronzow, A. und P. J. Schuwalow, Elisabeths Günst-
Mutter Juliane von Dänemark, der jüngsten Schwester
Anton Ulrichs, im Juni 1780 nach Horsens im Inneren von.
Jütland übergeführt, erhielten russische Pensionen und
on in Zurückgozogenheit («. Stammtafel I). Vom Tode
. werden wir noch hören. Eine nichtswürdige
Kommission hatte über Ostermann, Münnich, Golowkin
und die anderen Rathgeber der Regentschaft abzuurtheilen.
Ostermann wurde trotz Krankheit dem härtesten Verhöre
unterzogen und als erwiesener Staatsverräther zum Rade
verurtheilt; am 29. Januar 1742 führte man „das Väterchen
Ostermann“ Peters IL in einem Fuhrmannsschlitten im
Schlafrocke zum Schaffot, vier Soldaten trugen ihn auf
den Stuhl und man verlas ihm das Urtheil, das er voll
Ruhe mit einer Art Verwunderung anhörte; bereits lag
PR er auf dem Blocke und der Henker packte ihn, als der
Senatssekretär verkündete, das Leben sei ihm geschenkt
und er sei zu ewiger Verbannung in Sibirien verurtheilt:
üg forderte Östermann von den Soldaten seine Perücke
und seine Schlafmütze, stülpte beide auf, knüpfte Hemden-
kragen und Schlafrock wieder zu und zeigte in seinen
Zügen keine Veränderung. Aller Güter und Würden be-
raubt, wurde er im Bette in den Schlitten geschafft, der
ihn Tags darauf nach Beresow brachte; seine beherzte
Gattin, Marfa Iwanowna Streschnew, begleitete ihn. Dort
wo Menschikow geendet hatte, starb auch Ostermann am
31. Mai 1747, worauf die Wittwe zurückkehrte; noch ist
sein Grab wie das Menschikows erhalten. Sein Neben-
buhler Münnich wurde zur Viertheilung verurtheilt, be-
| stieg, olne mit der Wimper zu zucken, am 29. Januar
| das Schaffot, wurde begnadigt, aller Würden und Güter
IV. Bin Jahr mit zwei Regentschaften. L}
beraubt und auf ewig nach Pelym verbannt; in Kasan
begegnete sein Schlitten dem seines nach Jaroslawl über-
siedelnden Todfeindes Biron, Beide grüssten lautlos ein-
ander und Münnich bezog in Pelym Birons Wohnung;
volle 20 Jahre hauste er hier, von seinen Wächtern stets
betrogen, gab mathematischen Unterricht und bestellte sein
Gärtchen; seine Gattin, eine Freiin von Maltzan, starb in
Pelym. Golowkin, den Podagra und Chiragra plagten,
wurde aller Würden und Güter verlustig erklärt, man
brachte auch ihn im Bette zum Schaffot, Elisabeth schenkte
ihm am 2. Februar 1742 das Leben und verbannte ihn
auf ewig nach Nishnii-Kolymsk; seine weit beherztere
Gattin, eine Fürstin Romodanowski, Cousine der Kaiserin
Auna, begleitete ihn und pflegte ihn aufopfernd, ob-
wohl Elisabeth ihr den Fortbezug aller Rechte für den
Fall ihres Bleibens verbürgt hatte, und kehrte erst mit
seiner Leiche 1766 zurück; zu seinem harten Geschicke
hatte sein eigener Schwager, der spätere Generalfeld-
marschall Fürst N. J. Trubetzkoi, wesentlich beigetragen.
Löwenwolde, Mengden und viele Andere mussten nach
Sibirien wandern, mancher bedeutende Fremde verliess
jetzt und nachher Russland, z, B. Oberst von Manstein,
der Mathematiker Euler, James Keith und Graf Woldemar
von Löwendal, die späteren Marschälle Preussens und
Frankreichs. Wiederholt revoltirten Soldaten gegen aus-
ländische Offiziere und ermordeten sie „aus Patriotis-
mus“, mit den Soldaten theilten den Fremdenhass das Volk
und der Clerus und unter den Fremden galt der Hass
vor allen den Deutschen; mit ihrer Autorität in Russland
schien es auf ewig vorbei zu sein, Unter Schmähungen
auf die ketzerischen Fremden liessen die Kirchenfürsten
der Intoleranz die Zügel schiessen und erhoben das
Triumphgeschrei: „Nun sind Ostermann und Münnich am
Felsen Petri zerschellt; alle Altäre und Götzenbilder, sie
wie die heidnischen Baalspriester und ihre Bekenner wird
"Gott vernichten.“ Stand doch der Clerus, trotzdem Peter der
Grosse gelebt hatte, im Ganzen noch auf der alten Stufe!
==
V. Die letzte Romanow.
W“ denn Elisabeth Petrowna fromm? Sie war es rituell,
indem sie den kirchlichen Satzungen buchstäblich
nachkam, sie mit berechneter Auffälligkeit erfüllte, grosse
Wallfahrten in Seene setzte, eine tiefe Ehrfurcht vor den
Geistlichen zur Schau trug*): dafür pries sie der Olerus als
„die Feindin Beelzebubs und seiner Engel“, dafür vergab
er ihr die Sünden, die sie befleckten. Die armenischen
Christen wie die mohamedanischen Tataren wurden be-
drückt, die Juden „als Feinde Christi* aus Russland ver-
trieben, obwohl der Handel schwer darunter litt. es kam
zu hoftigem Zusammenstosse mit den Raskolniks, Um die
tief stehenden Geistlichen auf ein höheres Niveau zu
bringen, wurden viele Verfügungen getroffen; mit Knute
und Kette bestrafte man unbotmässige oder trunksüchtige
Popen und Mönche, die Klöster mussten Zöglinge in die
geistliche Anstalt in Moskau senden, in der freilich die
tollste Scholastik des Mittelalters gelehrt wurde. Am
6. Maui 1742 fand Elisubeths Krönung in Moskau statt,
der Erzbischof von Nowgorod überreichte ihr auf Kissen
Mantel und Krone, die sie selbst anlegte, und ausser
zahlreichen Avancements und Standeserhebungen wurden
viele Wohlthaten ertheilt, Strafen erlassen, Verbannte
zurückgerufen, auch wurde die Todesstrafe abgeschafft,
Elisabeth wandte sie nie an, liess aber um sa mehr
knuten und ihre grausame Natur fand Genüge an zahl-
reichen Verurtheilungen zum Abschneiden der Zunge, der
Nase oder der Ohren und an der Verschiekung der
Gebrandmarkten zu Kronsarbeiten. Ihre Leutseligkeit
*) Zur Herstellung des kostbaren Reliquienkastens in der Kathe-
drale der heiligen Dreieinigkeit im Alexander-Newski-Kloster St. Peters-
burgs bestimmte Elisabeth im Jahre 1752 den ersten Ertrag des
Kolywanschen Silberbergwerks, 1800 Kilogramm.
2. V. Die letzte Romanow. h |
eintrat, da das russische Heer in grosser Zerrüttung war;
de la Chötardie blieb nichts übrig; als für Schweden ein-
zutreten, das Kubinet von Versailles nahm einen Russland
feindlichen Charakter an, verbündete sich mit dem von
Kopenhagen und schürte in Konstantinopel, Elisabeth verlor
das Vertrauen zu dem Botschafter, dem seine Bezieh:
zu LEstocq nichts nützten. Elisabeth trat dem Frie-
den von Breslau zwischen Maria Theresia und Friedrich
dem Grossen bei, verweigerte aber Letzterem die persön-
liche Garantie für Schlesien. Schweden musste seinen
Eigensinn hart büssen, bei Helsingfors streckte sein
Heer im September 1742 vor den Eroberern Finnlands
die Waffen und am 18. August 1743 erfolgte der Friedens-
schluss von Äbo: Russland behielt an finnländischen Ge-
bieten die Festungen Frederikshamn, Wilmanstrand und
Nyslot, die Parochie Pyltis, die Provinz Kymmenegard
und alle Plätze an der Mündung des Kymmene-Flusses
sammt den Inseln gegen Süden und Westen dieses Flusses
(109 Quadratmeilen). Jahrzehnte lang blieb nun der Kym-
mene die Grenze zwischen Russland und Schweden, der
Friede war aber eigentlich nur ein Waffenstillstand. Bei
der Wahl eines Thronfolgers in Schweden arbeitete Russ-
land der Kandidatur des Kronprinzen von Dünemark ent-
gegen und setzte seinen Kandidaten, den Fürstbischof von
Lübeck, Adolph Friedrich, Prinzen von Holstein-Gottorp,
den Vetter des Grossfürsten Peter Fedorowitsch, im Juli
1743 durch. So hatte das Haus Gottorp die Anwart-
schaft auf die Kronen von Russland und Schweden, Russ-
lands Einfluss in Stockholm war befestigt, Schweden
durfte seine die Krongewalt einengende Verfassung nieht
mit einer starken monarchischen Institution vertauschen,
Russland litt keine Kräftigung der Monarchie und inter-
venirte sogar mit einem Heere, als König Friedrich von
Schweden einen dahin abzielenden Versuch wagte. Unter
Elisabeth hatte den müchtigsten Einfluss der frühere
Barbier und Wundarzt Johann Hermann L’Estocg
aus Celle, ihr Leibarzt, jetzt wirklicher Geheimrath und
Generaldirektor der medicinischen Kanzlei, polnischer und
seit 1744 durch Kaiser Karl VII. Reichsgraf; in Fehde
V. Die letzte Romanow. 7a
Die Gattin des Oberhofmarschalls Bestushew-Rjumin, Anna
Gawrilowna Golowkin. verwittwete Gräfin Jagushinski,
welche über die eitle Kaiserin gespottet hatte, wurde auf
L’Estoegs Befehl in jener Nacht als Verschwörerin ver-
haftet, geknutet, der Zunge beraubt und nach Jukutsk
verbannt, wo sie starb; ihr Gatte theilte ihr Loos nieht,
kein Verdacht war gegen ihn rege und er heirathete bei
ihren Lebzeiten wieder; auch Sophie von Lilienfeld u. A,
erlitten in jenem Herbste entsetzliche Strafen, Botta, der zu
seinem Glücke gerade in Berlin war, wurde auf Elisabeths
Wunsch abberufen. Nirgends herrschte grössere Freude über
die gescheiterte „Revolution“ als in Paris und de la Chötardie
erreichte es, dass man ihn mit neuen Creditiven, in denen
zum ersten Male der russische Kaisertitel neben dem
Zurentitel angewendet war, als Botschafter nach St, Peters-
burg schickte, wo er im Dezember 1743 anlangte und sofort
nene Intriguen spann, um sich Elisabeth unentbehrlich zu
machen und den Grafen Bestushew-Rjumin zu stürzen,
Bestushew aber sah ihm auf die Finger, während er
sich durch die Huldigung L'Estoeqs immer mehr ein-
wiegen liess, perlustrirte im schwarzen Kabinete alle
Depeschen des Marquis, es gelang sorgsamen Forschungen,
auch den Schlüssel seiner Chiffreschrift zu entdecken, und
als Bestushew-Rjumin Rlisabeth zeigte, wie der Marquis
sie mit Intriguen umgab und sie mit Missachtung be-
handelte, wie er nach allen Seiten Bestechungsgelder aus-
streute, um sie zu umlauern, riss ihre Geduld: Uschakow,
der Chef der Geheimkanzlei selbst, theilte am 17. Juni
1744 dem Marquis mit, er habe binnen 24 Stunden
‘St. Petersburg und alsbald Russland zu räumen, die
Fürstin zu Anhalt-Zerbst erhielt eine scharfe Rüge und
nahezu wäre die Verlobung des 'Thronfolgers mit ihrer
Tochter zurückgegangen, was ja für Beide ein Glück ge-
wesen wäre, Russland freilich um seine grösste Kaiserin
gebracht hätte; diese Spannung glieh sich aus und am
1. September 1745 war in St. Petersburg die Hochzeit.
L’Estoeg ging zwar aus dem Sturze der französischen
Partei mit heiler Haut davon, er war aber im ge-
'heimen Rathe der letzte Anhänger Frankreichs und
|
Mi
—
82 V, Die letzte Romanow.
eifrige Korrespondenz, er lieferte ihm Materialien zu seiner
Geschichte Peters des Grossen®). Seit 1746 war Graf
Kirill Grigorjewitsch Rasumowski Präsident der kaiser-
lichen Akademie der Wissenschaften, obwohl erst 18 Jahre
alt; die ganze Akademie war im damaligen Russland eine
Anomalie, Bisher hatten Deutsche an ihrer Spitze gestanden,
‚Rasumowskis Ernennung entsprach der nationalen Strömung,
freilich hatte er keine Ahnung von dem, was er eigentlich
zu thun habe: der für ihn die Arbeit leistende Teplow
schrieb an Rasumowskis Lehrer Strube: „Die Akademie
ist ohne Akademiker, die Kanzlei ohne Mitglieder, die
Universität ohne Studenten, die Vorschriften sind ohne
Autorität, im übrigen herrscht eine bis jetzt unheilbare
Verwirrung“; an der Akademie der Wissenschaften war
fortwährend Krieg der Nationalen unter Lomonossow, der
Intrigue und Gewalt anwendete, und der Fremden, deren
Haupt der ehrgeizige Schumacher, der wahre Gründer der
Akademie, war; vergebens suchte Rasumowski Euler,
Kraft und beide Bernoulli**) für St. Petersburg zu ge-
winnen, nur Friedrich Heinrich Strube de Pyrmont siedelte
aus Berlin dahin über, lehrte Rechtswissenschaft und regte
die Akademie 1748 an dahinzuwirken, dass die jungen
Russen anstatt des römischen das russische Recht studiren
sollten; er schrieb in französischer Sprache einiges über
Naturrecht und russisches Recht, seine Arbeit „Sur l’Ori-
gine et les changements des lois russiennes“ |sie!] ist der
bald in Vergessenheit gerathene Embryo einer systema-
tischen Darstellung der Geschichte der russischen Gesetz-
gebung und ein Vergleich derselben mit der dänischen und
der schwedischen; nur in einer handschriftlichen russischen
Vebersetzung erhielt sich seine „Kurze Anleitung in den
russischen Rechten“. An der Moskauer Universität gab
es volle zehn Jahre nur einen juristischen Professor,
*) Aus Frankreich liess er sein Hansgeräthe und seine Kleider
kommen.
**) Daniel Bernoulli, der grosse Physiker, war 1725-38 Pro-
fessor in St. Petersburg gewesen und dann nach Basel gegangen, sein
Bruder Johann, der Mathematiker, hatte es nur von 1789-88 in
öt. Petersburg ausgehalten.
—— —
V. Die letzte Romanow. 85
‚Philipp Heinrich Dilthey (+ 1781). Rasumowski zwang
die geistlichen Seminare in St. Petersburg, Moskau und
. ihre besten Schüler auf seine Akademie zu
schieken, befahl die Uebersetzung und den Druck nütz-
licher Bücher und das Erscheinen einer Monatsrevue, die
als „Monatliche Bemerkungen aus St. Petersburg“ seit
1755 unter der Redaktion des berühmten Historikers und
Rektors der Moskauer Universität @. F. Müller erschien.
Lomonossow, in steter Fehde mit Schumacher, der Rasu-
mowskis rechte Hand blieb, arbeitete an einem Atlas
Russlands, Stählin leitete die Abtheilung für Künste,
Tanbert Druckerei und Bibliographie an der Akademie.
Voltaire wurde auf seinen Wunsch korrespondirendes Mit-
glied der Akademie der Wissenschaften. Rasumowski
wollte auch in Baturin eine Universität gegründet sehen
und besprach dies Thema mit J. J. Schuwalow, die deut-
schen Universitäten sollten zum Vorbilde dienen, doch
trat das von Teplow 1760 sorgfältig ausgearbeitete Projekt
nie ins Leben, obschon ja Kleinrussland mit seiner vor-
geschritteneren Kultur den Gedanken sehr nahe gelegt hatte.
Einer von Russlands frühesten Historikern war der Ge-
heimrath Wassilii Nikititsch Tatischtschew, früher Gouver-
neur von Örenburg und Astrachan, mit seiner „Russischen
Geschiehte‘, einem für damalige Tage und Verhältnisse
hochbedeutsamen Werke: er verfasste auch 1739 ein sehr
modern ungehauchtes „Testament“, d. h. Lebens- und
Religionsvorschriften für seinen Sohn. Tredjukowski hatte
an der Sorbonne Philosophie und Theologie studirt und
zuvor in Holland französisch gelernt, Lomonossow hatte
in Deutschland deutsch gelernt und Naturwissenschaften
studirt, Woronzows Neffe, der feingebildete Alexander
Romanowitsch Woronzow, Bruder der Fürstin Daschkow,
war eine Zeit lang in der Chevaux-lögers-Schule in Ver-
sailles und nahm bei Voltaires Sekretär Arnould Privat-
unterricht in der französischen Literatur.
Der italienische Baumeister Graf Rastrelli erbaute in
St, Potersburg 1744—48 das Anitschkow-Palais an der
Fontanka für den Günstling Rasumowski, das Pagencorps,
führte den Bau des Winterpalais seit 1754 weiter und
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[ee
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V. Die letzte Romanow. €“ |
vollendete es 1762 unter Katharina II.; 1748 begann der
Bau des Ssmolnij-Klosters für Waisenmädchen, aus dem
Katbarina IT. 1765 eine Erziehungsanstalt für solche machte,
Zarskoje-Sselo wurde zur Residenz ausgebaut, das Palais
Stroganow und andere Prachtbauten Rastrellis wie anderer
Meister schmückten St. Petersburg, in Moskau baute
Rastrelli seit 1749 „das Winterpalais* im Kreml.
‚Und in der aufstrebenden Metropole Peters des Grossen
entfaltete sich eine Günstlingswirthschaft eigenthümlichster
Art, Schon im Jahre 1731 war ein schöner Kleinrusse bei
den Hofsängern angestellt worden, der zwar seine Stimme
rasch verlor, aber durch seine Gestalt Elisabeths Herz ge-
wann; als ihr Geliebter, der Sergeant Schubin, wegen un-
vorsichtiger Aeusserungen im Januar 1732 geknutet, ver-
stümmelt und nach Sibirien geschickt worden war, nahm
er, Alexei Grigorjewitsch Rasumowski, seine Stelle
ein und erhielt die Verwaltung von Blisaberhs Gütern ; die
Regentin Anna ernannte ihn zum Kammerjunker Elisa-
beths, diese erhob ihn, als sie Kaiserin geworden, sofort
zum Kammerherrn, Generallieutenant und bei ihrer Krönung
zum Oberjägermeister, schenkte ihm Güter und Fabriken,
und liess seine Mutter, die Wittwe eines Kasaken, kommen;
man steckte „die Rasumicha“ in Hofkleider, schminkte
und puderte sie und als sie vor dem Empfange durch
Elisabeth in einem Saale warten musste und sich in der
ungewohnten Pracht im Spiegel sah, fiel sie auf die Knive,
in der Meinung, die Kaiserin stehe vor ihr; sie wurde
Ehrendame derselben, fühlte sich aber am Hof unbehag-
lich und ging nach Kleinrussland zurück. ihre Söhne
Alexei und Kirill und ihre Enkelin Jewdokia Danilownn
blieben bei Hof, um ihr Glück zu machen. Da Alexei
den Mangel einer wirklichen Bildung an sich empfand,
liess er Kirill durch Teplow und Adadurow, den ersten
Russen an der Akademie der Wissenschaften. erziehen,
unter Teplows Leitung in Königsberg, Berlin (bei Euler)
und Göttingen studiren, Deutschland und Italien bereisen,
und Kirill kam 1745 als feiner Oavalier zurück, An Alexei
hatte sich der sehlaue Bestushew-Rjumin enge ange-
schlossen, um durch ihn Elisabeth leiten zu können, und
„ k i
[ V. Die letzte Romanow. |
Präsident der geheimen Kanzlei, war der gefürchtete
Grossinquisitor des Reichs und seit 1754 Oberhofmarschall
des Grossfürsten-Thronfolgers, Peter wurde 1756 General-
feldzeugmeister und war nicht wenig stolz auf die Er-
findung einer neuen Haubitze, die sich im Siebenjährigen
Kriege bewährte; seiner schrankenlosen Habsucht fröhnte
Elisabeth durch Ueberlassung der einträglichsten Stellen
und Monopole, die ihm jährlich viele Hunderttausende an
Rubeln einbrachten. Beide Brüder waren Frankreichs er-
klärte Anhänger. Neben dem Hofe Elisabeths stand „der
junge Hof“. Der Grossfürst-Thronfolger Peter Fedoro-
witsch war als unentwickeltes Kind aufgewachsen, liebte
die Gesellschaft der Lakaien mit ihren schmutzigen Nei-
gungen und scheute vor jedem ernsten Denken zurück, er
konnte noch als junger Mann Stunden lang mit Bleisoldaten
spielen oder Thiere quälen. Die Grossfürstin-Thronfolgerin
Katharina Alexejewna war zwar um ein Jahr jünger, sah
«ber in ihm ein Kind und fand kein Glück in der Ehe;
sie hatte ihren Geist frühe durch Lektüre geschult, las
mit 15 Jahren die Vitae Plutarchs, manches von Cicero
und Plato, schrieb ein „Porträt der fünfzehnjährigen
Philosophin* und las dann, was ihr unter die Finger ge-
rieth, während Peter fast nichts las; er hinderte sie frei-
lieh auch nicht, sich zu bilden. Besonders zogen histo-
rische Werke sie an. sie studirte Brantöme, Baronius,
Montesquieu, Voltaire, Bayles Dietionnaire, Diderots und
d’Alemberts Encyelopedie, die Briefe der Frau von Sevigne
u. A., und vertraute ihre Betrachtungen über viele Fragen
des geistigen und des öffentlichen Lebens ihrem Tage-
buche an; anfangs berieth sie oft der preussische Gesandte
Axel von Mardefeld, seitdem aber ihre Mutter nach
Deutschland zurückgekehrt war, wandte sich Katharina
allmälig von Preussen ab, spielte die Russin und näherte
sich Bestushew-Rjumin; die Politik gewann für sie stei-
gendes Interesse, sie plante in ihrer Langeweile Reformen
auf vielen Gebieten und fand eine geistesverwandte
Freundin in Katharina Romanowna, Fürstin Dascehkow,
die noch viel jünger als sie, aber ebenso wissbegierig und
reformlustig war. Katharina fand auch die Liebe, nach der sie
_
I 2 u 2
Y. Die letzte Romanow, Eu
sich sehnte und die ihr Peter nicht bot. seit 1753 in den
Armen ihres Kammerherrn Ssergei Wassiljewitsch Ssaltykow
und seit 1756 in denen des schönen Polengrafen Stanislaus
‚Poniatowski, während Peter von dem plumpen Reize der
älteren Schwester der Fürstin Daschkow, Elisabeth Roma-
nowna Woeronzow, unwiderstehlich gefesselt war. Kehren
wir nun zur auswärtigen Politik zurück.
Friedrich II. von Preussen hatte nach dem Worte
"Walpoles seit dem Breslauer Frieden die Wage Europas
in Händen, was in gleichem Masse Maria Theresia,
Elisabeth und Ludwig XV. verdross; Bestushew-Rjumin
hasste ihn und fand Preussen weit gefährlicher denn
Frankreich, Elisabeth kannte Friedrichs beissende Be-
merkungen über sie und verabscheute ihn, seine Frei-
geisterei diente ihr zu scheinheiliger Entrüstung, zur Be-
tonung ihrer Gottesfurcht. Als er im Jahre 1745 ein
Bündniss mit ihr schliessen wollte, lehnte sie ab, denn er
habe mit dem zweiten schlesischen Kriege den Frieden
gebrochen und es ergebe sich kein casus foederis; der
Quadrupelallianz von Warschau zwischen Grossbritannien,
den Generalstaaten, Oesterreich und Sachsen zu Friedrichs
Vernichtung (8. Januar 1745) trat sie zwar nicht bei, hin-
gegen wurde in St. Petersburg am 2. Juni 1746 die
Offensiv- und Defensivallianz von 1726 mit Oesterreich
auf 25 Jahre erneuert, wobei man gegen Preussen und
die Türkei abhob; Russland und Oesterreich versprachen
einander 30000 Mann für den Fall, dass eines von ihnen
einen Angriff erlitte, und die Bereithaltung weiterer
30 000 Mann, Maria Theresia wollte nach Wiedererwerbung
ihrer schlesischen Gebiete zwei Millionen rheinische Gulden
an Elisabeth bezahlen und Elisabeth verhiess in einem
Zusutze, sie würde im Nothfalle aus besonderer Freund-
schaft umsonst noch weitere 6000 Mann stellen, die bei
dem Haupthilfscorps am Rhein oder in den Niederlanden
kämpfen sollten. falls nämlich die Seemächte auf eigene
Rechnung ein russisches Hilfscorps von 24000 Mann in
Sold nähmen. Im Jahre 1747 schlossen die Seemüchte
mit Russland Subsidienverträge, wonach ein russischer
Heer von 30000 Mann in ihren Sold zur Vertheidigung
kant.
»
—
ss V. Die lötzte Romanow.
der Niederlande treten sollte, auch erneuerte Russland,
welches sich 1745 mit Schweden allürt hatte, 1746 die
Allianz mit Dünemark. Während der Botschafter Maria
Theresias, von Pretlack, das ganze Vertrauen Elisabeths
gewann, war Frankreich seit Juni 1748 bei ihr diplomatisch
gar nicht vertreten, ohne dass eine Kriegserklärung erfolgt
wäre. Der Generalfeldzeugmeister Fürst W. N, Repnin
führte die Hilfstruppen durch Deutschland dem Rheine
zu, starb aber auf dem Wege und der Abschluss des
Aachener Friedens von 1748 verhinderte, dass sie zur
Aktion gelangten; sie kehrten, ohne einen Schuss abge-
geben zu haben, in ihr Vaterland zurück. L’Estoegs
Sturz entzog Preussen die letzte Stütze an Elisabeths
Hof, Bestushew -Rjumin frohloekte und im Oktober 1750
wurden die bereits gelockerten diplomatischen Beziehungen
zwischen beiden Mächten abgebrochen. Im Jahre 1753
schloss Russland eine geheime Konvention mit Oesterreich
gegen die Türkei, den Schützling Frankreichs, Elisabeth
aber wollte sich Frankreich wieder nähern, der Reichs-
vicekanzler Graf Woronzow war im Gegensatze zu seinem
Rivalen Bestushew-Rjumin diesen Wünschen nicht abhold,
Ludwig XV. nebst seinem Geheimkabinete (Le Secret
du Roi) schiekte mehrere geheime Emissäre nach Russ-
land, und der Kaufmann Michel war der erste Mediator
zwischen den Souveränen. Im August 1755 nahm die ge-
heime Staatskonferenz in Wien bei ihrem Beschlusse, im
Frühjahr 1756 Preussen den Krieg zu erklären, Russlands
und Frankreichs Hilfe als gewiss an, am 30. September
schloss Bestushew mit dem britischen Gesandten Williams
einen Subsidienvertrag, der Grossbritannien 70000 Mann
zur Verfügung stellte, und Bestushew setzte voraus, dass sie
gegen Preussen verwendet würden, Elisabeth aber machte
den Vertrag im Februar 1756 zu nichte, Friedrich II.
wurde durch den ihn bewundernden Grossfürsten -Thron-
folger von Bestushews Muchinationen unterrichtet und
schloss im Januar 1756 mit Georg II. den Neutralitäts-
vertrag von Westminster, eine kapitale Niederlage für
Bestushew. Letzterer rieth immer wieder zu Preussens
Demüthigung und rechnete auf die Erwerbung Ost-
b
w— .
V. Die letzte Romanow. “0
‚preussens. Oesterreich und Frankreich schlossen am
1, Mai das Freundschafts- und Vertheidigungsbürdniss
von Versailles und Elisabeth versprach ihren Beitritt zu
demselben sowie im Kriegsfalle 80000 Mann, wofür ihr
nach Friedrichs Besiegung Ostpreussen zufallen sollte;
am 11. Januar 1757 trat sie bei und rief aus: „Dieser
Bösewicht soll nicht mehr lange regieren!" Im Bep-
tember 1756 hatte sie den Ritter Douglas uls französischen
Diplomaten offen empfungen, sie sandte einen Geschäfts-
träger nach Versailles und unter Woronzows Aegide führte
der so häufig irrthümlich als Frau bezeichnete Chevalier
d’Eon®), Douglas’ Sekretär, die geheime Korrespondenz
beider Monarchen, zugleich Bestushews Autorität unter-
grabend. In der St. Petersburger Konvention vom 2. Pe-
bruse 1757, welche das Bündniss von 1746 erneuerte,
einigten sich Oesterreich und Russland über die gemein-
same Kriegführung zum Zwecke „der Demüthigung“
Friedrichs, und am 2. Juli erschien der Marquis de
UHöpital als ausserordentlicher und bevollmächtigter Bot-
sehafter Frankreichs in St. Petersburg, die diplomatischen
Beziehungen traten wieder in vollen Zug, des Kanzlers
Bruder Michail Petrowitsch Bestushew-Rjumin, der bis-
herige Oberhofmarschull, ging als ausserordentlicher Bot-
sehafter nach Versailles. Der Generalfeldmarschall Stepan
‚Fedorowitsch Apraxin führte 83000 Mann nach Preussen,
erzwang die Kapitulation von Memel, seine Leute hausten
wie die Hunnen und am 30. August 1757 besiegte er den
Feldmarschall Lehwald bei Gross-Jägerndorf, unterliess
es aber, in Königsberg einzurücken, Elisabeth war schwer
erkrankt, ihr Ableben stand in Aussicht; da wollten
Apraxin und sein intimer Freund Graf Bestushew-Rjumin
es nicht mit dem Nachfolger verspielen; Bestushew hasste
Peter Fedorowitsch, den Verehrer Friedrichs IT, hatte
alles gethan, um seine Ehe zu vergiften, hatte ihn be-
ständig bei Elisabeth verdächtigt, sein Ansehen unter-
graben und Katharinas Untreue begünstigt, er dachte
selbst an Peters Ausschliessung vom Throne und an die
*) Kleinschmidt, Chevalier d’Eon, in „Europa*, Leipzig 1882.
vr |
Te]
“ V. Die letzte Romanow.
Nachfolge von Katharinns Sohn Paul Petrowitsch unter
ihrer Regentschaft, gewann Apraxin, den Hetman Rasu-
mowski und andere Männer von Einfluss für seine Pläne;
als aber Elisabeth jetzt erkrankte, galt es, sich Peter zu
verpflichten, und auf Bestushews Ordre kehrte Apraxin
über den Niemen zurück. Des Kanzlers Feinde, voran
Woronzow und die Schuwalow, machten nun gegen ihn
und Apraxin mobil, die Repräsentanten Ludwigs XV. und
Maria 'Theresias erhoben geharnischte Vorstellungen. Bli-
sabeth war genesen und voll Enträstung über die willkür-
liche Handlung Apraxins. Sie entzog ihm im September
den Oberbefehl, entkleidete ihn aller Würden und liess
ihn in einem Landhause bei St, Petersburg interniren, wo
er während des Verhörs vor dem Kriegsgerichte im August
1758 plötzlich starb. Seine Papiere stellten den Kanzler
blos; am 25. Februar 1758 wurde Bestushew-Rjumin ver-
haftet, am 10. März aller Aemter und Würden entsetzt,
als Hochverräther zum Tode verurtheilt, jedoch aın
16. April zur Verbannung nach dem Gute Goretowo (bei
Moshaisk), welches er der Familie Mussin- Puschkin ge-
stohlen hatte, begnadigt, wo der Heuchler ein Andachts-
buch schrieb. Der nichtige Graf Woronzow wurde im
Februar 1758 Reichskanzler, einen Reichs-Vicekanzler be-
stellte man nicht. Katharina, deren Mitschuld an Bestushews
Intriguen unzweifelhaft war, wurde von ihm nicht ver-
rathen, doch traute ihr Elisabeth nicht, hielt sie einige
Zeit unter strenger Aufsicht und vergab ihr erst nach
reumüthigem Kniefalle. Apraxins Nachfolger, der General-
feldmarschall Wilim Wilimowitsch Fermor (aus englischer
Familie) zog am 22. Januar 1758 in Königsberg ein und
liess am 24, dem Geburtstage Friedrichs IL, Elisabeth
daselbst für Ostpreussen huldigen, hauste barbarisch in
der Mark, wurde deutscher Reichsgraf, aber bei Zorndorf
am 25. August von Friedrich und Seydlitz völlig ge-
schlagen, im Oktober stand kein Russe mehr auf deut-
schem Boden. Graf Peter Ssemenowitsch Ssaltykow kam
im Sommer 1759 mit einem Heere an die Oder, schlug
Wedell am 23. Juli bei Kay. nahm Frankfurt, vereinigte
sich mit den Oesterreichern unter Loudon und besiegte
u
B-
—
_V. Die letzte Romanow. [1
Friedrich am 12. August in der blutigen Schlacht von
‚Kunersdorf, freilich unter eigenem grossem Verluste; nur
die Zwietracht Ssaltykows und Loudens rettete Friedrich
nach dieser Niederlage vor der Vernichtung; zum General-
feldmarschalle befördert, zog Ssultykow nach Polen ab
und da auch er das Auge auf den Thronfolger gerichtet
hielt, that er im Jahre 1760 gegen Preussen nichts von
Belang. Elisabeth wollte den Krieg nicht enden lassen,
ohne eine Gebietserweiterung zu erhalten, und schloss in
diesem Sinne am 1. April 1760 in St. Petersburg einen
neuen Vertrag mit Oesterreich, der ihr Östpreussen ver-
hiess. Im November d. J. ertheilte sie einem Geliebten
aus ‚der Jugendzeit, dem armseligen Generalfeldmarschalle
Grafen Alexander Borissowitsch Buturlin, den Oberbefehl
über die mit den Oesterreichern vereinte russische Armee
in Preussen, doch wagte Buturlin bei allem Preussenhasse
keine Schlacht gegen Friedrich, liess ihn 1761 im „Hunger-
lager“ von Bunzelwitz in Ruhe, um nicht Loudon einen
Dienst zu erweisen, zog im September auf Posen ab und
liess nur 20000 Mann unter dem Grafen Zachar Grigorje-
witsch Tsehernyschew bei Loudon. Im Oktober 1760
hatten die Generale Tschernyschew und Tottleben Berlin
besetzt, eine Kontribution erhoben und viele Etablissements
zerstört, sich aber weit gesitteter als die Kroaten des oester-
reichischen Streifcorps benommen und waren nach wenigen
Tagen abgezogen, nach langer Belagerung ergab sich
Kolberg am 16. Dezember 1761 dem Corps des Grafen
Peter Alexandrowitsch Rumjanzow. Wiederholt hatte
Elisabeths Gesundheitszustand ihren Tod in nahe Aussicht
gestellt; die vorsichtigen Höflinge rückten dem Thron-
folger immer näher, und dieser liess Woronzow wenige
Tuge vor Elisabeths Ende wissen, er dürfe unter ihm
Kanzler bleiben, Woronzow legte sich zu Bette und stellte
sich krank, um aus der Ferne gesicherter handeln zu
können. Wie bei Elisabeths Mutter beschleunigte bei ihr
die Trunksucht das Ende, sie starb in Gegenwart beider
Rasumowski am 5. Januar 1762 und in ihr erloschen die
Romanow in direkter Linie. Friedrich der Grosse, der
wiederholt dem Vorleser de Catt und anderen Vertrauten
” V. Die letzte Romanow.
gegenüber seinem Gefühle gegen „le Catin du Nord“ Aus-
druck gegeben hatte, jubelte über das Ableben seiner
intimsten Feindin und hätte den dasselbe meldenden russi-
schen General von Hordt fast umarmt, während Ludwig XV.
in ihr seine wärmste Freundin verlor. Ihr Gatte, Graf
Alexei G. Rasumowski, bezog sofort das Anitschkow-
Palais, allen Anscheine nach war ihre Ehe kinderlos
geblieben, alle gegentheiligen Behauptungen sind Mythen.
gab ihm seinen eigenen St. Audress-Ordon und den Stab
des Generalfeldmarschalls, konnte ihn aber nicht be-
stimmen, das preussische Pxereitium im russischen Heere
einzuführen. Peter besuchte mit seinem edeldenkenden
Generaladjutanten Gudowitsch im April 1762 Iwan VI. in
Schlüsselburg und war tief bewegt vom Anblicke seines
unglücklichen Vorgüngers, dessen Schicksal er buld
theilen sollte, Gegen Alexei G. Rasumowski, der nie
sein Freund gewesen, benahm er sich voll Güte: er be-
stätigte ihm seinen ganzen Besitz, ertheilte ihm die er-
betene Entlassung, besuchte ihn oft und nahm u.a. das
Geschenk einer Million Rubel an; den Hetman Kirill
G. Rasumowski hingegen konnte er nicht leiden, an ihm
liess er im Qualme des Tabakkollegs seine Launen aus,
er behandelte den Sybariten als Hofnarren und wollte
ihn zwingen, das preussische Reglement peinlich zu be-
folgen, Kirill sagte ihm hingegen, als Peter über die Er-
nennung zum preussischen Generalmajor jubelte: „Eure
Majestät können dem Könige durch die Ernennung zum
russischen Feldmarschalle danken“, und schloss sich immer
enger Katharina an. Peter ernannte die Brüder Schu-
walow alsbald zu Generalfeldmarschällen, obwohl alle
Schuwalow ihn am liebsten vom Throne ausgeschlossen
gesehen hätten, wie er wohl wusste; den Kammerherrn
Schuwalow überhäufte er mit Gunst, den Kanzler Bestushew-
Rjumin hingegen liess er im Exile. Woronzow blieb
Kanzler, hatte aber wenig Einfluss und musste sich im Juni
den Fürsten A. M. Galitzin als Reichsvieekanzler gefallen
lassen. Am Schlimmsten war die Lage der jungen Kaiserin,
die ihr Gemahl hasste; sie vergalt ihm übrigens diesen
Hass nicht nur von Herzen, sondern entschädigte ihr Herz,
das Peter nicht ausfüllen konnte, anderwärts; an die Stelle
Poniatowskis trat „der schönste Mann des Nordens“, Grigorii
Grigorjewitsch Orlow, ein Frauenbezwinger von Ruf,
glühende Leidenschaft verband die Beiden und am 22. April
1762 wurde ihnen ein Sohn geboren *). Peter behandelte
“ VL Der erste Gottorp.
*) Alexei Grigorjewitsch „Romanow“ erhielt bald den Namen
Bobrinski, wurde sorgfältig erzogen, von Kaiser Paul als Bruder be+
I
|
“ VI. Der erste Gottorp.
voll Selbstgefälligkeit, Eigensinn und blinder Selbst-
bethörung: so grub er mit eigenen Händen sein Grab.
Er wollte alle Heiligenbilder aus den Kirchen entfernen,
nur Christum und Maris ausnehmend, wollte den Geist-
lichen einfache schwarze Kleider oktroyiren und in seinem
Palais eine protestantische Kirche einrichten; die entrüstete
Geistlichkeit protestirte nicht nur, sondern hetzte die Be-
völkerung überall gegen ihn auf und brachte ihr Gemüth
in geführliche Wallung; als dann Peters Verfügung wegen
der Kirchengüter erfolgte, verfasste der Erzbischof Arssenü
von Rostow eine geharnischte Bittschrift, die Peter in
'Wuth versetzte. Während der Kaiser die Russen in ihrer
Religion beleidigte und den Protestanten aus Kiel hervor-
kehrte, stiess er die Russen auch in ihrem Nationalgefühle
vor den Kopf und bevorzugte blindlings alles Deutsche;
gegen das Französische, das unter Elisabeth die grosse
Rolle gespielt hatte, zeigte er heftige Abneigung, wie er
denn die französischen Schauspieler sofort vom Hofe weg-
schiekte und Breteuil hintansetzte; unter den fremden
Diplomaten waren ihm der britische Minister Keith und
der preussische Baron von der Goltz am liebsten. Er löste
sofort die Leibkompagnie des Preobrashenskischen Regi-
ments auf, beleidigte sämmtliche Garderegimenter, die sich
doch als die Prätorianer Russlands vorkamen, stellte seine
holsteinische Garde über alle und hielt sie als Vorbild
hin, ernannte seinen Vetter, den Prinzen von Holstein-
Gottorp, zum Generalfeldmarschalle und zum Obersten der
Garde zu Pferd, wollte die Uniform der Regimenter ab-
ändern und äffte in allem Preussens Einrichtungen nach,
wie er denn Friedrich den Grossen geradezu vergötterte;
sein Heer sollte das Abbild des preussischen werden. Wie
Katharina die Kirche für sich gewann, obwohl auch sie
Protestantin gewesen war, so gewann sie das Heer für sich,
obwohl sie Deutsche war, sie schmeichelte ihm, besonders
den verletzten Garden, stand in innigster Fühlung mit den
Soldaten durch Grigorii G. Orlow und seine vier Brüder,
die fast alle in der Garde dienten und sich ihr mit Leib
und Seele widmeten. Zahlreiche Offiziere nahmen den
Abschied, andere murrten und wollten von dem Kriege
nicht 1, Ohötardies Rolle von 1 1781, en
XV, der Herzog von Choiseul und der Graf
Broglie in ihren Depeschen an ihn aufs Schärfste
'rügten, er reiste vielmehr Ende Juni dem kommenden
Binatsstreiche aus dem Wege. Peter bereitete im Schlosse
Oranienbaum den Krieg gegen Dänemark vor, seine Hol-
‚steiner waren bei ihm; er hatte zwar Verdacht auf einige
Leute am Hofe, wie auf den Artilleriehauptmann Grigorii
Orlow. und setzte Kundschafter über sie ein, Katharina
aber sammelte in Peterhof alle Fäden zur Verschwörung.
während ihr Sohn Paul mit seinem Oberhofmeister Nikita
Iwanowitsch Panin im Sommerpalsis zu St. Petersburg
& blieb; Panin war übrigens durch die reizende Koketterie
‚der Pürstin Daschkow für die Revolution gegen Peter ge-
wonnen, dachte aber nicht an Katharinas Thronbesteigung,
sondern. an die seines Zöglings Paul. Neben Katharina
die bei weiten interessanteste Persönlichkeit der Ver-
schwörung war die neunzehnjährige Fürstin Katharina
*) Praskowju Alexandrowna, geborene Gräfin Rumjanzow, ebenso
schön wie intrigunnt, Vertraute Katharinas, begünstigte ihre Ver-
bindung mit Orlow wie später mit Potemkin, hatte selbst ein stür-
misches Herz, wurde 1773 Staatsdame Katharinas IT., machte ihr aber
Korsakow-Rimskoi abspänstig, wurde 1779 verwiesen und starb 1786.
Sie war die Schwester des „Turenne Russlands®.
**) Ausser Iwan VI. ist Peter III. der einzige ungekrönte
mssische Kaiser; seine Absetzung erschien den Russen, weil er nie
gekrönt worden, viel begreiflicher, wie es woll sonst gewesen wäre,
‚das seine und hielt einige Momeı
Potemkin und sein Glück datirte von diesem.
licher als die andere; der alte Münnich rieth een,
mit seiner Suite nach der Hauptstadt zu begeben, . 2
riethen zur Flucht zu den Truppen nach Narwa oder nach
Holstein, Finnland, Ukraine ete., er entschied sich endlich
zur Führt nach Kronstadt, doch gab Admiral Talysin
‚Befehl, ihn nicht aufzunehmen, die kleine Flottille wurde
vom Geschütze der Festung bedroht. Peter musste umkehren
und er fuhr nach Oranienbaum. Einer um den Anderen
verliess ihn, der Kanzler Woronzow, der charakterlose
Generalfeldmarschall Fürst Trubetzkoi u. A. huldigten der
Kaiserin. Münnich spornte vergebons Peter zum Wider-
stande an, vergebens riethen ihm seine Holsteiner Soldaten
dazu, er schrieb statt dessen demüthige Briefe an die che-
| brecherische Rebellin und bat sie, ihm zu gestatten, dass er
j sich mit seiner Freundin Woronzow und mit seinem General-
adjutanten Gudowitsch, dem Throne entsagend, nach Hol-
| stein zurückziehe: seine feigen Gusuche blieben ohne
Antwort. Sein verrätherischer Kammerherr aber, Ismailow.
verhaftete ihn am 10. Juli in Oranienbaum, erzwang die
Abdankungsakte, die er sogleich Grigorii G. Orlow und
dem Vieekanzler Fürsten Galitzin überlieferte, und brachte
seinen Gefangenen nach Peterhof. Katharina verweigerte
„dem gewesenen Kaiser‘ die erbetene Zusammenkunft
und Ismailow transportirte ihn, weil in Schlüsselburg noch
keine Wohnung eingerichtet war, nach dem Schlosse
Ropseha bei Peterhof; seine holsteinischen Truppen wurden
| entwaffnet. Katharina hielt am 11. Juli einen triumph-
artigen Einzug in St. Petersburg, und von Meinertzhagen,
en
104 Vi. Der erste Gottorti.
Misshandlungen durch ihn, den Fürsten F. 8. Barjatinski
und Teplow endete der Unglückliche am 17. Juli in
Ropscha; ein Munifest belehrte das Volk, er sei an
Hämorrhoidalcholik gestorben, und unter Hintansetzung des
üblichen Ceremoniells wurde er am 21. Juli neben der un-
glücklichen Regentin Anna Leopoldowna im St. Alexander-
Newski-Kloster begraben, nicht wie alle anderen Kaiser
in der $t. Peter- und Pauls-Kathedrale. Ohne Peters Mord
anzuordnen, billigte ihn Katharina aus vollem Herzen und
war voll Dankbarkeit gegen die Mörder, die Fürstin Dasch-
kow beklagte das Ereigniss wegen der Rufs ihrer grossen
Freundin*), Katharina erheuchelte masslosen Schmerz,
schien die Vergebung in Person zu sein und suchte an
raffinirter Heuchelei ihres Gleichen. Sie fühlte sich aller
Ketten ledig, die unumschränkte Selbstherrscherin eines
Riesenreiches, und dachte nicht daran, ihrem Sohne die
Krone zu überlassen, wie Panin geträumt hatte.
*) „Madame, es ist ein zu plötzlicher Tod für Ihren und meinen
Ruhm !“ sagte sie, und die Familie Orlow schwur und hielt ihr töd-
liche Feindschaft.
‚Gebot, im Herrschen scheute sie vor keinem nach so
schlechten und unedlen Mittel zurück; sie tauschte zwar
mit Voltaire Lobschriften über die Freiheit und über
die Menschenrechte aus, sie pries zwar Montesquieus
Geist der Gesetze und seine Persischen Briefe mit ihrer
scharfen Kritik in Inuten Tönen, vergötterte sich jedoch
selbst und erblickte in der Abhängigkeit zweier Welten
das einzig würdige Fussgestell für ihren ewigen Ruhm.
Vielleicht einzig unter allen Frauen, war sie vollendete
Courtisane, vollendete Kaiserin. Mit- und Nachwelt sollten
sie als schöpferisches Genie bewundern, der Beifall eines
Friedrichs des Grossen, eines Joseph II. schmeichelte ihr
ebenso wie der eines Voltaire, der da gesagt hat: „Ich
weiss, man wirft ihr einige Kleinigkeiten wegen ihres
Mannes vor, das sind aber Familienangelegenheiten, in die
ich mich nieht mische; übrigens ist es nicht nachtheilig,
wenn man ein Unrecht wieder gut machen muss, das Ie-
nöthigt grosse Anstrengungen, damit das Volk Einen
achten und bewundern müsse.“ Katharina wollte that-
sächlich in Russland Civilisntion verbreiten; wo sich aber
die Kultur nicht durchsetzen liess, sollte wenigstens der
Schein, die Tünche, gegeben werden. Mit ihren Staats-
männern, Freunden und Günstlingen konferirte und korre-
spondirte sie beständig über Plüne, Erfordernisse und Ein-
richtungen; erschwert wurden ihre Arbeit und ihr Erfolg
durch die Bornirtheit der Anschauung und dureh die Ab-
neigung gegen das Neue seitens ihres Volkes, wie schon
Peter der Grosse denselben Hemmnissen begegnet war;
die Veberwindung derselben sollte aber und musste ihren
Ruhm erhöhen, wie sie im Jahre 1769 dem Bildhauer
Falconet schrieb: ganz allmälig machte sie den Russen
das, was gut, vernünftig und werthvoll war, durch die
zwingende Macht der Gewohnheit angenehm und wünschens-
werth. Mit unerschütterlicher Ueberzeugung lehrte sie
das Glaubensbekenntniss ihrer absoluten Muchtfülle und
wies Gedanken einer aristokratischen Beschränkung ihrer
Macht nach schwodischem oder polnischem Muster, wie
Graf Nikita Iwanowitsch Panin u. A. sie hegten. mit der
Rücksichtslosigkeit Anna Iwanownas diktatorisch ab,
k
ee ae „in ‚allem da ee
ern den Russen gab und weil das Haus Holstein
so on Einfluss in allen Reichsangelegenheiten be-
sass“*), sie herrschte, weil sie die Russin spielte**).
„Eine Deutsche, gesetzt, klarblickend, methodisch, weniger
‚sentimental als Maria Theresia und humaner als Friedrich,
«.. Deutsche von Race und von Charakter, ward sie zur
‚grossen russischen Souveränin® (Sorel). Aus Berechnung
schmeichelte Katharina stetig den ihr von Natur fremden
Russen; Russland stand an der Spitze aller ihrer Pläne,
aller ihrer Gedanken, sie umgub sich fast nur mit Russen,
so oft sie auch als Kaiserin ihre Geliebten wechselte, so
fiel ihre Wahl doch fust nur auf Russen — und doch
‚geboten ihr der Verstand und das Leistungsbedürfniss, bei
‘Wahl der Vollstrecker ihres absoluten Willens nicht nach
dem Heimathsscheine, sondern nach dem Talente zu
fragen, und sie nahm auch tüchtige Fremde mit Freuden
in Dienst, wie sie mit ihrem scharfen Auge die Fühigsten
aus allen Parteien und Schattirungen herausfand und
herausgrifl, wie Napoleon 1. über diesen Unterschieden
stehend und danach nicht fragend. In ihrer absoluten
Gemüthskälte liess sie auch die treuesten Diener und Räthe
fallen, sobald ihren eigenen Absichten damit gedient ward,
und als Meisterin in Verstellung und Lüge verbarg sie
nicht nur das wahre Gesicht ihrer Wünsche und Pläne,
sondern versprach und erklärte gar manchmal das Gegen-
theil dessen, was ihr Kopf und Sinn beschäftigte, eine
*) Kleinschmidt, Vom Tode Peters II, bis zum Tode
Iwans VI.
**) Kleinschmidt, Katharina II. als Civilisatorin, in „Deutsche
Zeit- und Streitfragen*. Nene Folge. 5. Jahrgang. Heft 80, Ham-
burg 1891,
b
|
VI. Katharina II. “ |
f der Religionsgeschichte und der Philosophie nach England
und wollte den geistlichen Nachwuchs der westeuropäischen
Kultur nähern. Als der Erzbischof Arssenii her
in einer scharfen Denkschrift gegen die Säkularisation und
die Willkür protestirte, überantwortete ihn die heilige
Synode als Majestätsbeleidiger der Kaiserin, man brachte
ihn gefangen nach Moskau, auch die Intervention des
Kanzlers Bestushew-Rjumin rettete ihn nicht, Katharina
husste ihn als falschen Propheten, Lügner und Hochver-
räther; er verlor sein Amt, wurde zum Mönch degradirt
und im Mai 1763 in ein Kloster an der Mündung der
Dwina eingeliefert. Freilich waren politische Hinter-
gedanken mit im Spiele, als Katharina in Polen die Sache
der Dissidenten verfocht; sie duldete selbstverständlich
keinerlei Uebergriffe der römischen Geistlichkeit und stellte
sich Papst und Papstthum absolut unabhängig gegenüber.
ignorirte gleichsam das Dasein des Papstes und dachte
nicht an ein Konkordat mit ihm, löste die katholischen
Mönche in ihrem Reiche völlig vom Papste und von den
in Rom sitzenden Ordensgeneralen und suchte aus den
Katholiken treue russische Unterthanen zu machen; als
der Papst selbst den Jesuitenorden aufhob und die katho-
lischen Mächte denselben verboten, liess sie gleich Priedrich
dem Grossen die Jesuiten unbeirrt im Lande und wusste
es wohl zu verhindern, dass sie ihr gefährlich werden
könnten: infolge der französischen Revolution emigrirten
viele nach Russland, wo vornehme Familien sie mit Vor-
liebe zu Erziehern ihrer Kinder nahmen. Ebenso gütig
schützte Katharina Protestunten, Mohammedaner und
Juden, sie verbot den Orthodoxen die Propaganda unter
den Andersgläubigen, erlaubte Herrnhutern und Menno-
niten, sich anzusiedeln: sie organisirte die griechisch-unirte
Kirche im Hinblick auf deren Wiedervereinigung mit der
orthodoxen, die aber unter ihr nicht erfolgte: die Ras-
kolniks wurden voll Milde behandelt und Katharina war
der gunz irrigen Ansicht, bei besserer Bildung des Volks
werde es in 60 Jahren keine Sekten mehr geben. Die
grosse Optimistin musste eben auch manche Täuschung
erfahren!
FE, N
eg
**) nn seinen Sohn Peter, der ihn am
sie sich den Weg zur späteren Annexion Kurlands. Graf
‚Bestushew-Rjumin gab ihr manchen Wink und Rath in
Hasse der Familie Orlow weichen, der Vieekanzler Fürst
Galitzin, der im April 1764 ein Bündniss mit Preussen
unterzeichnete, hatte nie Einfluss besessen, hingegen stand
Graf Panin unter dem bescheidenen Titel eines „ersten
Mitglieds des Kollegs der auswärtigen Angelegenheiten“
von November 1763—1781 an der Spitze der ganzen aus-
wärtigen Politik. Die Haltung der Regierung gegen
Frankreich war unter der französischer Kultur so zuge-
neigten Fürstin geradezu feindlich, es war. wie Rambaud
*) Kleinschmidt, Vom Tode Peters Ill. ete.
**) Ernst Johann starlı am 29. Dezember 1772 und der rnasische
"Hof trag um den einstigen Regenten Russlands acht Tage Trauer.
|
|
|
|
4
und der alte B
a te Te
‚der Athlet, er wolle mit G
stützte ihn mit seiner List, verfasste
der Nation“ eine Bittschrift an Katharina,
wieder verheirathen, doch setzten der
der Hetman Rasumowski, Panin, Tsc
den Bestrebungen Orlows geschlossenen s
, und bei der Verschwörung der Garden
1762 (s. oben) riefen dieselben, Orlow solle nie „
(Krone) tragen. Am 4. Oktober 1762 erfolgte
die Krönung Katharinas mit demselben Ceremoriältie
bei Elisabeth, der Oberdirektor der Bautenkanzlei Iwan
Iw. Betzkoi, der natürliche Sohn des Generalfeldmarschalle
Fürsten J. J. Trubetzkoi, hatte eine Krone mit 58 Brillanten
und 75 grossen Perlen im Werthe von zwei "Millionen
Rubel herstellen lassen *); eine Reihe von Gnadenerlassen
und Erhöhungen erfolgte, vor allen die Kreirung der Ge-
brüder Orlow zu erblichen Grafen, Fest reihte sich an
Fest. Aber selbst jetzt feierten die Verschwörungen nicht,
man entdeckte sie jedoch zeitig; sie beabsichtigten Katlıa-
rinas Entthronung und die Erhebung Iwans VI. oder Pauls,
Dutzende von Gardeoffizieren wurden verhaftet, allgemeines
Missvergnügen herrschte; unter den Verschworenen war auch
ein Helfershelfer vom 9. Juli, der Offizier F. A. Chitrow,
der allerlei unvorsichtige Reden geführt und sich auf die
Fürstin Daschkow u. A. berufen hatte, er und seine Ge-
nossen wurden abgesetzt, zu ewigem Schweigen über ihre
Verschwörung verpflichtet und verbannt; auf Anfrage
Katharinas an die Fürstin wegen des Komplots traf eine
beleidigende Antwort ein, welche zur zeitweiligen Ver-
weisung derselben nach Riga führte. „Diese Dame“, so
sagt der holländische Minister von Meinertzhagen in seinem
Sekrete vom 26, Juli 1763, „hat gar zu frei ihre Gefühle *
gezeigt und, sich auf die Gunst der Kaiserin stützend, den
ersten Minister spielen wollen. ... Ich glaube, ihre Ent-
fernung ist absolut nöthig, wenn man Ruhe und Stille
®) Russkaja Starinn, März 1883.
u
118 VII. Katharina IL
deren wenigstens damit nichts zu thun haben.“
Katharina begriff Rasumowski sehr wohl und sagte zu
Woronzow: „Der Greis errieth meine Absichten und ent-
sprach meiner Erwartung“, sie erwies ihm lebenslang
fürstliche Ehren und entsagte dem Projekte einer Ehe
mit dem Unterthanen*). Iwan VI. aber, den so mancher
Verschwörer als Prütendenten aufwarf, sollte ihr nicht
länger Unruhe bereiten, es wurde ein Gaukelspiel ver-
anstaltet, das mit Iwans Tod in Schlüsselburgs Kasematten
abschliessen musste; sie hatte Ordre gegeben, ihn im
Falle eines Befreiungsversuchs zu tödten, und als der
Lieutenant W, Mirowitsch vom Ssmolensker Infanterie-
regimente einen solchen machte, überfielen die Wüchter
den Sohn des Unglücks im- Sehlafe und ermordeten ihn
am 16. Juli 1764; in perfidester Weise war der Mord ein-
gefüdelt und ein kaiserliches Manifest vom 28. August be-
lehrte die Russen über das schwarze Verbrechen „des
Ungeheuers Mirowitsch“, der am 26. September in St.
Petersburg enthauptet wurde — seit 1741 die erste Ent-
hauptung in Russland. Iwan wurde in Schlüsselburg in
aller Stille beigesetzt, Katharina hatte keinen Prätendenten
mehr zu fürchten!
Die Verschwörungen hörten jedoch nicht auf und
galten fortan der Erhebung Pauls an die Stelle seiner
Mutter, so 1768 die des Offiziers Tschoglokow, eines
Vetters der Kaiserin Elisabeth (nach Sibirien verbannt)
und Anderer. Katharina setzte sich auf dem Throne
Peters des Grossen, dessen Geist auf sie übergegangen
schien, immer fester und verdrängte jeden Anspruch an
Selbständigkeit neben ihrer Autokratie; als Graf Kirill
G. Rasumowski die Würde des Hetmans der Dnjepr-
Kasaken in seiner Descendenz erblich zu machen plante,
nahm sie ihm im November 1764 unter Erhebung zum
Generalfeldmarschalle Amt und Einkünfte, liess die Het-
manswürde unbesetzt, hob die freie Verfassung der Ka
saken auf und machte die Ukraine zur russischen Provinz,
*) Nach dem ausgezeichneten Werke von A. Wassiltschikow,
Les Kazoumowski. Edition frangaise par A. Brueckner, T. 1, Halle 1898.
1. —
VII. Katharina IT. ur
‚deren Civilverwaltung unter völliger Umgestaltung der
Verhältnisse an kaiserliche Behörden überging; so war
Kleinrussland einverleihbt. Rasumowski legte auch das
Präsidium der Akademie der Wissenschaften nieder.
welches Graf Wladimir Grigorjewitsch Orlow, der jüngste
‚Bruder des Günstlings, ein anmassender und beschränkter
Pedant, übernahm, führte, seinen Bruder Alexei 1771 be-
erbend, das üppigste Sybaritenleben und wurde Potemkins
Freund*). Die Verfassung der Ostseeprovinzen wurde
von Katharina wesentlich beeinträchtigt und sofort von
Kaiser Paul am 28. November 1796 restituirt. Die Macht
des Senates wurde von Katharina sehr beschränkt, sie
entkleidete ihn aller politischen Bedeutung. machte ihn
zu einer Behörde zweiten Ranges und theilte ihn in sechs
Departements ein, während sie den Generalprokureur des
Senats zum Leiter der gesammten inneren Verwaltung
machte und ihm 1781 in Geldsachen auch den Ober-
prokureur der Synode unterstellte; Generalprokureur war
von 1764 bis 1792 Fürst Alexander Alexejewitsch Wja-
semski, ein nichtswürdiger Geselle, zugleich Finanzminister,
KReichsschatzmeister, Justizminister, Mitglied des geheimen
Staatsrathes u. s. w., er trieb nach allen Riehtungen hin
Betrügerei, Bereicherung und Missbrauch; als er einmal
in einer Senatssitzung zu dem Grafen Peter Iwanowitsch
Panin, an ein Wort Peters des Grossen erinnernd, sagte:
„Ihr vergesset, dass ich nach diesem Ausspruche das Auge
des Reiches bin“, antwortete der General: „Nichts da, der
graue Star des Reiches!“ Sein Nachfolger Graf A. N. Sa-
moilow war ganz untauglich, aber ein Neffe Potemkins.
Vergebens bemühte sich Graf Peter Iw. Panin, Nikitas
Bruder, eine Zierde des Senats, dieser Behörde eine
höhere Bedeutung zu bewahren, Katharina kümmerte sich
nicht um die «ristokratischen Wünsche der Brüder Panin;
Graf Nikita Petrowitsch hatte ihr ein Projekt vom
8. Januar 1763 vorgelegt, worin ihr eine kaiserliche Raths-
versammlung zur Mithilfe anempfohlen ward, „damit die
Macht nutzenbringend wirken möge*, sie hatte es zwar
*) Er starb im Januar 1808.
18 VII. Katharina If,
unterschrieben, aber noch selbigen Tages zerrissen, und
der von ihr im Jahre 1768 geschaffene (Geheime) Staats-
ratlhı, dem sie vorsass, empfing zwar die Oberaufsicht über
alle Staatsangelegenheiten, in ihm wurde alles Wichtige
'berathen, alle Reyierungszweige wurden von ihm aus
besser organisirt, er entbehrte aber des Charakters einer
obersten Stelle der Gesetzgebung. Seit Peter dem Grossen
nannte man die Privatkanzlei des Herrschers das Cabinet,
unter Peter II. wurden demselben eine Privaterbgüter-
kanzlei und die kaiserliche Vermögensverwaltung unter-
geordnet, in der seit Elisabeth die Bergwerke eine grosse
Rolle spielten; letztere bildeten unter Katharina II. den
einzigen Geschäftsgegenstand des Oabinets, sie errichtete
am Cabinete ein geographisches Departement für Karten,
das Paul der Expedition der Reichsökonomie überwies,
und trennte ihre Privatkanzlei vom Cabinet. Sie hob die
meisten Kollegien, d. h. Ministerien auf und übertrug
deren Geschäfte Kallegialbehörden in den Gouvernements,
der Generalprokureur stieg allmälig zum ersten Minister
empor, indem er Justiz, Inneres und Finanzen leitete.
Einer von Katharinas besten Rathgebern war der Balte
Jakow Jefimowitsch Sievers (von Paul in den Grafenstand
erhoben), der sie zur Einschränkung der Fulter bewog:
mit ihm schuf Katharina 1775 die Statthaltereiverfassung,
eine der Verwaltung sehr förderliche systematische Orga-
nisation, keine eigentliche Selbstverwaltung, da die vom
der Kaiserin geplante und durchgeführte ständische Ein-
richtung zur Verstärkung der absoluten Krongewalt dienen
sollte; Katharina übertrug die Verwaltung den Provinzial-
kollegien unter Gouverneuren, gab der Provinz und dem
Distrikte (ujesd) getrennte richterliche und administrative
Lokaleinrichtungen; 1781 änderte sie mancherlei ab, er-
richtete 40 Gourernements, beseitigte die petrinische Ein-
theilung in Provinzen und bildete aus mehreren, meist
aus zwei Gouvernements ein Generalgouvernement, eine
Statthalterschaft, deren Inhaber mit weitgehender Voll-
macht ausgestattet wurde. Die Statthaltereiverfassung von
1775 blieb, von Modifikationen abgesehen, die Grundlage
der Lokalverwaltung. Katharina bestand 1783 auf ihrer
i
Be VIE. Katharina IT. 18
Einführang auch in Esth- und Livland und machte der
‚dortigen Verfassung ein Ende, so verzweifelt die Balten
‚auch dnrüber sein mochten. Die Balten sollten keine
= Sonderstellung haben, „sie sind“, so schrieb Katharina an
„Unterthanen des russischen Reichs; ich bin
nicht Kaiserin von Livland, sondern aller Reussen“, doch
erkannte sie gern die hohe Blüthe der baltischen Lande
an. Den Östseeprovinzen entstammte eine lange Reihe
‚hervorragender Männer der katharinischen Zeit, unter den
Diplomaten sehen wir Budberg, Pahlen, Sievers, Stackel-
berg, Igelstroem, Keyserlingk, unter den Generalen Michel-
son, Derfelden, Essen, Buxhöwden, Benckendorff, unter den
Gelehrten Baumeister, H. Storch, B. Bergmann; Hart-
knochs Verlag in Riga war eine Macht auf dem Bücher-
markte, olıne dass an eine Konkurrenz durch St. Peters-
burg oder Moskau zu denken gewesen wäre; unter den
besten Aerzten waren die Balten, wie denn Schulinus im
Bozirke von Dorpat seit 1756 die Schutzpockenimpfung
über ein Jahrzehnt vor Dimsdale ausübte. Die Balten
waren Lehrmeister der Russen wie früher die Polen und
die Kleinrussen. Versuche zur Selbstverwaltung, die Ka-
tharina unternahm, misslangen, durch den Gnadenbrief
von 1785 erhielten die russischen Städte die ständische
Organisation, die sie trotz aller Fehler bis 1870 be-
wahrten. In den russischen Städten führte Katharina die
Einrichtung von Ehrenbürgern ein, die Alexander I. auf-
hob, Nikolaus I, aber 1832 als in den Städten vornehmste
Klasse wieder einführte, um der Ueberfuthung des Adels
aus den unteren Ständen entgegen zu treten. Den russi-
schen Adel versorgte Katharina am Hofe, in der Be-
amtung und im Heere, sie gab ilım neuen Ansporn durch
‚die Stiftung des militärischen $t. Georg- und des St. Wla-
dimir-Ordens (1769 und 1782), während sie im Sinne
Peters L. den altehrwürdigen Adel durch häufige Kreirung
neuer Adeliger, durch Einschiebung von Parvenus dis-
kreditirte. Durch den Gnadenbrief vom 2. Mai 1785 be-
freite sie alle Edelleute vom persönlichen Dienste, von
der Kopfsteuer, von Einquartirung und von körperlicher
Strafe, gab ihnen das Privileg, Landgüter und Leibeigene
—
180 VII. Katharina TI.
zu besitzen, und gewisse Vorzüge in der Rangordnung, auch
war sie bestrebt, dem russischen Adel nach Vorbild des
baltischen einen korporativen Charakter zu geben; jedes
Gouvernement bekam eine Adelsversammlung, die einen
Adelsmarschall wählte. Um der überhandnehmenden Ver-
sumpfung des Adels zu steuern, sorgte Katharina für
bessere Erziehung seines Nachwuchses dureh Kadetten-
häuser für die Söhne, durch Fräuleinschulen, wie z. B.
das Ssmolny-Kloster, für die Töchter; für ihre grossartigen
Erziehungsanstalten errichtete sie zwei Vormundschafts-
räthe in St. Petersburg und Moskau.
Zeitlebens nahm Katharina viel Interesse am Er-
ziehungswesen, dessen Reform sie aufrichtig erstrebte, in
einer überall verbreiteten, nutzentragenden Volksbildung
sah sie den Grundstein des Gebäudes, freilich blieben die
unteren Klassen im ganzen ein schlechtes Material. Der
Geheimrath Iwan Iwanowitsch Betzkoi, ein feingebildeter
Mann, der Katharinas Korrespondenz mit Madame Geoffrin,
der schöngeistigen Freundin des Königs Stanislaus Ponia-
towski, einfädelte, war ein Verehrer der „spielenden Me-
thode“ des Unterrichts und entwarf in diesem Sinne die
Pläne zu den grossen Brziehungshäusern in beiden Haupt-
stüdten, mit seinem Zuthun entstanden die reich dotirten
Findelhäuser in Moskau und St. Petersburg (1763 und
1772), und 1777 schrieb er nach französischem Muster „Le
Systöme complet de l'öducation publique“; nach dem
Muster von Saint-Cyr richteten er und Clere die adeligen
Fräuleinschulen (s. oben) ein, die Katharina oft besuchte
und über die sie sogar mit Voltaire korrespondirte, nach
Rousseaus Emile wurden allerhand Versuche an der Jugend
gemacht, Da an Schulen grosser Mangel herrschte, be-
fahl Katharina 1775 „den Kollegien der allgemeinen Für-
sorge“, für die Gründung von Schulen in allen Städten
und grösseren Orten zu sorgen, und errichtete 1778 das
Oberschulkollegium, doch blieb ihr Geheiss unerfüllt, man
hatte weder Lehrer noch Bücher. Kaiser Joseph II. er-
zählte Katharina im Jahre 1780 in Mohilew so begeistert
von der Reorganisation des oesterreichischen Schulwesens,
dass sie sich zur Nachahmung entschloss; sie errichtete
E al
u
VIL Katharina II. 121
1781 in St. Petersburg unter priesterlicher Leitung sieben
einklassige Volksschulen, die schon im ersten Jahre
486 Schüler aufzuweisen hatten, Das ganze Reich sollte
der Wohlthat theilhaftig werden, darum ernannte Kathariaa
im September 1782 eine Kommission zur Gründung von
Volkssehulen und stellte an ihre Spitze ihren gewesenen
‚Geliebten, Peter Wassiljewitsch Sawadowski; dieser Klein-
russe, ein Schüler des Jesuitenkollegs in Orscha und der
griechischen Akademie in Kiew, besass gründliche Kennt-
nisse in den alten Sprachen, galt für einen Gelehrten.
war aber so faul, dass Graf Stroganow sagte, er mache
es noch besser als der liebe Gott, er thue sechs Tage
nichts und ruhe doch am siebenten aus; ihm traten jetzt
mehrere Gelehrte zur Seite, unter ihnen der Mann, der
eigentlich die ganze Arbeit that, der vom Kaiser seiner
Freundin überlassene Serbe Jankovics de Mirievo. Am
1. Oktober 1782 bestätigte Katharina seinen Lehrplan,
die meisten Schulbücher, welche die Kommission heraus-
gab, hatten ihn zum Vater, er bereitete die ersten Lehrer
vor, die St. Petersburger Schulen konnten schon Anfang
1783 zweiklassig werden und am 13. Dezember d. J. er-
öffnete die dortige vierklassige Hauptvolksschule ihre
Thätigkeit. Die Bestätigung des Volksschulstatuts vom
5. August 1786 machte die Schulreform für ganz Russ-
land obligatorisch und dies Statut verfügte die Eröffnung
vierklassiger Hauptvolksschulen mit auch lateinischem
Unterrichte in den Gouvernementsstädten, zweiklassiger
Volksschulen in den Kreisstädten. Am 22. September 1786
erfolgte die Trennung des ersten Lehrerseminars, an dem
man auch Griechisch trieb, von der St. Petersburger
Hauptvolksschule, es entliess im Jahre 1789 die ersten
64 Zöglinge, hielt sieh aber nur bis 1801 und Lehrer-
seminare für die einfachen Volksschulen traten nie ins
Leben. Auf der von Jankovics gebrochenen Bahn schritt
Kosodawlew weiter, unter seinem Vorsitze gab die Kom-
mission von 1782—1796 28 Lehrbücher heraus, fast nirgends
tauchte jedoch eine Dorfschule auf und in den Städten
fehlte es, da der Fiskus nichts beisteuerte, un Geld, so
war denn wenig Tröstliches zu bemerken. Die Kommission
VII. Katharina IT.
mi
warf nun plötzlich ihr Augenmerk auf die baltischen Pro-
vinzen, die Regierung machte aus den Schulen in Dorpat
und Riga Hauptvolksschulen, errichtete das Katharineum
in Riga mit nur russischem Unterrichte und liess die
russischen Schulbücher ins Deutsche übersetzen, während
sie grösstentheils aus dem Deutschen ins Russische übersetzt
worden waren ; die Ostseeprovinzen hatten eben die besten
Schulen in ganz Russland, wie selbst Graf Dmitrii A, Tolstoi,
der Minister der Volksaufklärung, und Katkow zugeben.
Für das höhere Schulwesen entwarf der gefeierte Diderot
einen Plan, er rieth auch zur Gründung einer Universität,
die diesen Namen verdienen möchte, denn die „Universität“
an der St. Petersburger Akademie der Wissenschaften war
keine, wie ihr Rektor Lomonossow zugestand:; 1783 stu-
dirten an ihr nur zwei Jünglinge, die nichts wussten und
der Fürstin Daschkow abwechselnd je eine Woche
Schreiberdienste leisteten, 1796 drei. Sie erlosch, die von
Diderot angeregte kam nicht zu Stande und die von Sievers
befürwortete Wiederherstellung der im Jahre 1710 einge-
gangenen Dorpater Universität hatte keine Folge. Katharina
erriehtete Schulen für Ingenieure, für Schifffahrt. für
Handel, Militärschulen und 1773 die Bergakademie, die
zumal für den Ural von grösster Bedeutung ward; in den
siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts erreichte die
Silberausbeute den Höhepunkt (über 1700 Pud)*) und
zu Ende des Jahrhunderts lieferten die Kupferhütten
wenigstens 200000 Pud: der Reichthum der Familien
Stroganow und Demidow, der Fugger und Welser Russ-
lands, wurde sprichwörtlich und sie thaten alles, um den
Handel und Verkehr ihres Vaterlandes zu heben. „Credit“,
meinte Prokopii Akinfiewitsch Demidow, „ist das Funda-
ment bei jedem Beginnen“ und in seiner Freigiebigkeit,
die keine Grenzen kannte, gab er zum Demidowschen
Erziehungs- und Waisenhause in Moskau und zur Commerz-
schule über eine Million Rubel, von ihm ging der Ge-
danke aus, die erste Leihbank in Russland zu errichten,
Und die Stroganow, die schon 1722 in Kasan Peter den
*) Ein Pud gleich 40 Pfund.
i E
12 VIT. Katharina IL
glauben, dass die Sache 80 ist, sonsten habe ich gedacht,
dass diese Courage ein jeder Strassenjunge in England
besitze.“ Die gute Gesellschaft beeilte sich, dem ge-
‚gebenen Vorbilde nachzuahmen, in einem Monate wurden, wie
Katharina sagt, in St, Petersburg mehr Menschen geimpft,
als in Wien in einem Jahre, Dimsdale hatte in beiden
Hauptstädten übergenug zu thun und wurde reich, in
allen Gouvernements, auch in Sibirien, war das Impfen
im Gange, nur die Raskolniks, die Mohammedaner und
ein Theil des niederen Volks blieben unbelehrbar: voll
Humor schrieb Katharina an Tschernyschew, Niemand
könne das Impfen abwarten, es sei jetzt Modesache. Die
Zahl der Westeuropa mit Stipendien bereisenden Medi-
einer wuchs an, im Jahre 1768 fand die erste medieinische
Doktorpromotion in Russland, die des Finnländers G.Orräus,
statt, der berühmte J. G. von Zimmermann vermittelte
den Eintritt vieler deutschen Aerzte in russische Dienste,
der englische Leibarzt Elisabeths und Peters, James
Mounsey, schrieb 1762 eine Instruktion für alle Aerzte im
Reiche und arbeitete einen Gesetzentwurf über ihre Rang-
ordnung aus, Leibarzt Katharinas und im höchsten Masse
bei ihr und in der Aristokratie angesehen war John Roger-
son; unter den Aerzten begegnen wir vielen Balten und
anderen Deutschrussen, der Unterricht an der medieinischen
Schule am Kalinkin-Krankenhause in St. Petersburg wurde
deutsch gegeben, auch russische Aerzte von grosser
Tüchtigkeit traten jetzt auf, die zum Theil umfangreiche
Schriften und Gutachten über die Moskauer Pest von 1771
hinterlassen haben. Die Pest wüthete im Juli und August
1771 entsetzlich in Moskau und raffte Hunderttausende
hinweg, das Volk umdrängte ein wunderthätiges Mutter-
gottesbild, um seine Hilfe zu erfiehen, und die Seuche
grif durch die Ansammlungen immer mehr um sich, der Erz-
bischöf Ambrosii wollte darum das Bild fortschaffen lassen,
musste aber mit seinem Leben dafür zahlen ; mit Waffen-
gewalt musste das wüthende Volk, das in den Aerzten
Verbündete der Seuche sah, niedergeworfen werden, wobei
Hunderte blieben. Katharina schiekte tüchtige Aerzte
und ihren Favoriten Grigorü @. Orlow, um den Exeessen
2 d
126 VII. Katharina II.
aus den besten Rechtsgelehrten“ (sechs Theile, 1817—1819),
und im Jahre 1826 erschien Hilarion Wassiljews Werk
„Neueste Anleitung zur Kenntniss der russischen Gesetze“.
Katharina war erst einige Wochen regierende Kaiserin,
als sie im Senate die Schöpfung einer Kommission für
Gesetzgebung forderte und zum Chef derselben den wirk-
lichen Geheimrath Fürsten Jakow Petrowitsch Schachows-
koi. bekannt als Memoirenverfasser. ernannte. Die Frage
wollte jedoch nicht vorwärts rücken. Katharina liess sich
so leicht nieht abschrecken. denn sie wollte ihre Aera mit
einem modernen Gesetzbuche eröffnen. die liberale Mit-
welt sollte über ihre Leistung staunen und alle Intelligenz
ihres Reichs sollte ihr bei der Arbeit dienstbar sein: sie
selbst entwarf eine weitläufige Instruktion mit Auszügen aus
Montesquieu und aus Beccaria. diese Instruktion zeugte
in allen Punkten von der französischen Aufklärungs-
philosophie und von dem Einflusse der westeuropäischen
Publicistik. Katharinn arbeitete zwei Jahre daran und
berieth sich mit Orlow. Panin u. A., sie feilte immer
wieder daran. um es als ihr eigenstes Kind Gelehrten und
Staatsmännern des In- und des Auslandes vorführen zu
können. und der Haupttheil der Instruktion trug das
Datum des 30. Juli 1767. des Vorabends der Eröffnung
der gesetzgebenden Versammlung: die Instruktion wurde
in verschiedene fremde Sprachen übersetzt*). Trotz aller
philanthropischen Anwandelungen derselben blieb übrigens
die Verfasserin die Autokratin de pur sang und dachte
nie an die Einschränkung ihrer Allgewalt zu Gunsten der
Giesammtheit. Sie erreichte ihren Zweck. die Welt in
Staunen zu versetzen. vollständig. weit mehr noch als
mit der Impfung: der französische Minister Herzog von
Choiseul. den Katharina wegen seiner fortgesetzten poli-
tischen Intriguen „den Kurscher Europas“ nannte, setzte
die zum Theile äusserst liberale Instruktion auf den
Index der verbotenen Bücher. während Voltaire seine Be-
wunderung in einem Briefe an den russischen bevoll-
*ı Pie interessanteste Ausgabe ist die St. Petersburger von 1770
in Latein, Deutsch, Französisch und Russisch.
m VIL Katharina IT.
haben, sie dienen zum Wohle des Menschengeschlechts.. ..
Wäre ich Papst, so würde ich Montesquieu heilig sprechen.“
Genaue Studien hatte sie auch in William Blackstones
berühmten Commentaries on the laws of England gemacht,
ja sie sagte, sie wisse in manchen Stücken ebenso viel
oder mehr als Blackstone. Friedrich der Grosse empfahl
ihr die Gründung einer Rechtsakademie, es kam zwar
nicht dazu, doch sorgte Katharina dafür, dass junge Russen
in Deutschland, zumal in Leipzig, Jura und Anderes
studirten; ihre Studien wurden durch Inspektoren über-
wacht, die Kaiserin selbst verfasste für diese Stipendiaten
eine eingehende Instruktion und einen Studienplan;
Studieneindrücke solcher Art, der Einblick in höher
stehende Staatsgebilde und Kulturverhältnisse klangen
deutlich wieder aus dem Buche Radischtschews, des Direk-
tors der 8t. Petersburger Zollbehörde, „Reise von Peters-
burg bis Moskau“ (St. Petersburg 1790); dasselbe imitirte
Sternes Buch „Yoriks empfindsame Reise“, erschien der
Kaiserin unter dem Eindrucke der französischen Revo-
lution staatsgeführlich und wurde verfolgt, „weil es die
französische Pest der Auflehnung gegen die Obrigkeit
weiter verbreite“. Die fremden Diplomaten blickten mit
Staunen auf den Fleiss Katharinas, der britische Bot-
schafter z. B., Sir George Macartney, führte wegen ihrer
legislatorischen Projekte eine eifrige Korrespondenz mit
dem Staatssekretär der auswärtigen Angelegenheiten,
Henry Seymour-Conway. Am 14. Dezember 1766 erschien
das kaiserliche Manifest wegen der Einberufung einer
gesetzgebenden Versammlung; Deputirte von Senat und
Synode, aus den Kallegien und den Kanzleien, aus allen
Kreisen und Städten sollten nach Moskau kommen, ihre
lokalen Anliegen mittheilen und am Gesetzbuche mit-
arbeiten. Man wählte 564 Deputirte und gab ihnen nach
französischem Muster Cshiers mit, welche Katharina über
alle Bedürfnisse und Anliegen unterrichteten; predigte sie
als Repräsentantin der allgemeinen Menschenrechte das
Princip der Gleichheit, so betonten hingegen viele Cahiers
lokale berechtigte Eigenthümlichkeiten und Privilegien.
Sehr mangelhaft war für den Gang der Verhandlungen
180 VII. Katbarina II.
und Wulf, die Deputirten Ursinus, eine hervorragende
Kapacität, und Gadebusch aus Dorpat, Schwartz aus Riga
und Strahlborn aus Narwa. Von ihrem Verhalten betreffs
der Bauernfrage werden wir alsbald sprechen. Die Sitzungen
der Versammlung wurden mit der Zeit seltener und am
18. Dezember 1768 schloss der Präsident, der grosse General
Alexander Iljitsch Bibikow, dieselbe mit der Verlesung eines
kaiserlichen Ukas, der als Grund des Schlusses den Türken-
krieg bezeichnete; mit den Ergebnissen zufrieden, äusserte
Katharina: „Die Gesetzgebungskommission hat Mir durch
ihre Verhandlungen Licht und Kenntnisse gegeben über
‘das ganze Reich; von da ab wussten Wir, mit wem Wir
es zu thun haben und für wen Wir sorgen müssen“ *),
Die Spezialkommissionen blieben noch bis zum 4. De-
zember 1774 zusammen, wo ein Ukas sie auflöste; die
Hauptintelligenz war also noch sechs Jahre bei voller
Arbeit; wahrscheinlich nahm die Regierung an den liberalen
Anwandlungen der Kommission Anstand und Katharina
nebst ihrer Umgebung dachten zu konservativ, um nicht
bei jeder Reform die äusserste Vorsicht für das erste
Gebot zu halten. Jedenfalls war das Beginnen mit der
Kommission keineswegs eine Farce, es warf vielmehr, wenn
es auch Torso blieb, Schlaglichter auf die ganze legis-
latorische Thätigkeit Katharinas; Sievers hatte aber doch
zu sehr geschwärmt, als er Katharina bei Ankunft der
„Instruktion® geschrieben, künftige Jahrhunderte würden
dieselbe Russlands goldene Bulle nennen. Niemals gab
Katharina den Wunsch nach der Kodifikation auf, dachte
vielmehr viel darüber nach, konnte aber nicht damit zu
Stande kommen.
Katharina beschäftigte sich viele Jahre mit dem Ge-
danken an Aufhebung der Leibeigenschaft; die Lage der
Bauern war unter den Nachfolgern Peters des Grossen
*) A. Brückner, Die Verhandlungen der „grossen Kommission*
in Moskau und St. Petersburg 1767—1768, in „Russische Revue‘,
Band 22; B. von Bilbassoff, Katharina II., Kaiserin von Russland,
im Urtheile der Weltliteratur, übersetzt von Th. Schiemann, 2 Bde.
Berlin 1897; Ssergejewitsch besorgte die wissenschaftliche Heraus-
‚gabe der Materialien der Kommission.
m
] 132 VII. Katharina IL
] Katharina unterbreitet und von ihr mit Noten versehen*);
er würde seine Bauern freigelassen haben, wenn er alles
Land als sein Eigenthum hätte behalten können. Graf
Nikolai Petrowitsch Scheremetew, der grösste Wohlthäter
der Armen und reichste Privatmann, hatte 200000 Leib-
| eigene, was einem Jahreseinkommen von 800000 Rubel
| entsprach **), .er erklärte sich 1767 der Kaiserin gegenüber
für die Aufhebung der Leibeigenschaft, sobald sie die-
selbe durchsetzen könnte: er war so vorurtheilsfrei, dass
er eine Leibeigene geheirathet hatte, die an seinem Privat-
theater Schauspielerin gewesen. Katharina kam von ihren
humanen Anwandlungen bald zurück; ihr Wort „Freiheit,
Seele aller Dinge, ohne dich ist alles todt. Ich will Ge-
horsam gegen die Gesetze, aber keine Sklaven!“ blieb
Wort. Die zahllosen Kronbauern, welche sie unter ihre
Günstlinge vertheilte, wurden deren Leibeigene; ein kaiser-
licher Ukas verbot den Bauern, ihre Herren zu verklagen,
diese hingegen durften ihre Leibeigenen nach Sibirien
schieken oder als Soldaten einstellen; 1773 suspendirte
Katharina zwar das Recht der Verschickung und der Ab-
gabe zur Zwangsarbeit, aber schon in den achtziger Jahren
war es wieder im Gange und erst Alexander L hob es
auf; den Gutsherren verlieh Katharina die ausgedehnteste
Gerichtsbarkeit und erweiterte ihre Befugnisse, wenn sie
auch bisweilen gegen allzu grosse Willkür einschritt, wie
sie 1768 die Gräfin Darja Ssaltykow, eine Bauernplackerin
schlimmsten Schlags, zur Ausstellung am Pranger und zu
ewiger Gefangenschaft verurtheilte. Während der gesetz-
gebenden Versammlung in St. Petersburg kam die Frage
der Emancipation der Bauern im Mai 1768 nur zufällig
aufs Tapet, die Leibeigenen selbst waren ja mundtodt,
hatten nicht wie die freien Bauern Vertreter wählen
dürfen, und die Herren behaupteten zumeist mit dem
Dichter Ssumarokow, die Bauern gehörten in die Leib-
*) Ssomewski, Die Bauernfrage unter Katharina II. in Briefen
‚ler Fürsten D. A. und A. M. Galitzin, in „Russkaja Starina“,
August 1988.
”*) Russkaja Starina, Dezember 1880.
wie der Haushund an die Kette und der
laut, voran die des Historiker« Fürsten Michail
jowitsch Schtscherbatow, der in einem Aufsatze
' die Verschlechterung der Sitten in Russland klagte
Be. ein Herz für das Elend des gemeinen Mannes
Schtscherbatow betonte, die Bauern seien Menschen
wie die Herren und man dürfe sie nicht einzeln wie Vieh
verkaufen, auf diesen Einzelverkauf legte er das Haupt-
‚gewicht, ohne ihn freilich abstellen zu können; der Adels-
deputirte von Koslow, Lieutenant Korobjin, verlangte, auf
viele Bedrückungen hinweisend, Beschränkung der Macht
der Gutsherren über die Bauern und Schutz des bäuer-
lichen Eigenthums durch Gesetze; ein wahrer Sturm der
Entrüstung erhob sich gegen den kühnen Volkstribunen,
zu einer Abstimmung kam es gar nicht. In den „Gedanken
über den Bauernstand“ schlug der Syndikus Gadebusch
aus Dorpat einen verbesserten Rechtsstand der Leibeigenen
vor, der esthländische Landratlı Baron Ungern-Sternberg
erwarb sich Verdienst durch Formulirung der Rechte, die
man den Bauern bewilligen könne, drang aber auch ‚nicht
durch. Es blieb Alles beim Alten. Sievers sann immer
noch nach, wie die Leibeigenschaft in ihren schädlichen
Wirkungen wenigstens begrenzt werden könnte, und unter
Katharinas hinterlassenen Papieren fand sich ein um-
füssender, von ihr mit Notizen versehener Entwurf über
Emaneipation der Kronbauern, 1776 hatte sie die Schrift
des Pastors Grossmann über das den Bauern zu gebende
Grundeigenthum prümiirt, und bei Verfügung der Statt-
haltereiverfassung (8. 118) hegte sie die Hoffnung, besser
als bisher über Missbräuche und Willkürnkte von Guts-
herren gegen die Leibeigenen unterrichtet zu werden.
Der bevollmüchtigte Minister Ludwigs XVL, Marquis
de Vörae, schreibt: „Die Absichten der Kaiserin gingen
noch weiter und sie fasste, mit dem Vorsatze, die Leib-
eigenschaft allmülig abzuschaffen und zugleich die Gewerb-
thätigkeit in Aufnahme zu bringen, den Entschluss, gegen
eine sehr geringe Abgabe einer gewissen Einwohnerzahl
in den verschiedenen Städten jährlich das Bürgerrecht zu
1 in den Bauer; es wurden aber auch andere
|
184 VII Katharina II.
verleihen, Dieser zweckmässige Plan hatte aber nicht
den Erfolg, den sich die Kaiserin versprach.* Katharina
entrieth der Ausdauer und der Opferwilligkeit, um die
Schwierigkeiten, die der Emaneipation im Wege standen.
zu beseitigen, sie scheute sich vor einer radikalen Reform
der Agrarverhältnisse. Später ging sie unter Potemkins
Einfluss noch einen Schritt zurück: von Missbräuchen, wie
sie jetzt eintraten, hatte das in den polnischen Theilungen
‚erworbene Weissrussland unter polnischer Herrschaft nichts
verspürt, in Kleinrussland opferte Katharina die Bauern
dem Adel, schaffte deren Freizügigkeit ab und führte am
3. Mai 1783 die Leibeigenschaft für anderthalb Millionen
bisher freier Bauern ein; dieselbe Frau, die das Wort rab
(Sklave) aus der russischen Sprache strich, machte mit
einem Pederzuge anderthalb Millionen in Kleinrussland
zu Sklaven! In enger Verbindung mit der harten Lage
der Bauern in Russland standen die wiederholten Bauern-
aufstände, vor allem aber der höchst gefährliche Aufstand
Pugatschews. Die Bauern erwarteten ihr Heil von Ver-
änderungen, die Raskolniks waren unversöhnliche Feinde
der strammen Herrschaft, die Kasaken am Jaik und am
Don wollten ebenso wenig davon hören und sehnten sioh
nach Abschüttelung des Joches. Die Regierung überwand
im Jahre 1771 rasch den Aufstand der Kasaken am Jaik
und der Kalmyken, von denen viele nach China aus-
wanderten, um so mehr sollte ihr der Aufstand Puga-
tschews zu schaffen machen.
Jemelian Pugatschew, ein donischer Kasak, der im
Siebenjährigen und im türkischen Kriege wacker gefochten
hatte, war in enge Beziehungen zu den Raskolniks ge-
treten, war der Haft entflohen und gab sich für Peter III.
aus, von dessen wunderbarer Rettung er ein Märchen ver-
breitete; ohne lesen und schreiben zu können, war er für
Artillerie- und Pestungswesen beanlagt. hatte natürlichen
Verstand und etwas Imponirendes; er äffte Hofhalt und
Administration nach, umgab sich und seine Frau mit
einem Hofstaate, mit Würdenträgern und Kollegien und
verkündete, er ziehe nach St. Petersburg zur Bestrafung
seiner kaiserlichen Gemahlin und zur Thronerhebung seines
|
VIE. Katharina II. 185
Sohnes Paul. Das Schlimmste war, dass er einen Bauern-
krieg entzündete, der seine Wirbel vom Don bis Moskau
20g. dass er gegen die Sklaverei der Bauern auftrat und
die Herren überall aufhängen liess; seine natürlichen An-
hänger und Mitschuldigen waren die Leibeigenen und die
allgemeine Unzufriedenheit. Entlaufene Bauern, desertirte
Soldaten, fanatische Sektirer, rebellische Kasaken, Hüchtige
Verbrecher, Räuber, alles lief ihm zu und er wurde bald
selbst zum Instrumente ihrer ungezügelten Leidenschaft.
Dem Falle der Festung Jajzk im Herbste 1773 folgte der
Uebergang einer Reihe von Festungen und Städten und
unter allgemeiner Begeisterung stieg Pugatschews Erfolg,
mit ihm der Preis, den Katharina auf seinen Kopf setzte
(erst 500, dann über 24000 Rubel). Der Adel entfloh,
Pugatschew zog Baschkiren, Tataren, Wotjüken, Kir-
gisen u.s. w. an sich und schlug russische Heere, während
er selbst gegen 16000 Mann kommandirte. Im Dezember
1773 stellte ihm die Kaiserin den hochverdienten General
en chef Alexander Iljitsch Bibikow entgegen, derselbe be-
gann von Kasan aus seine Thätigkeit, schlug Pugatschew
mehrfach, starb aber plötzlich am 20, April 1774; auch der
unter ihm befehligende Fürst Nikolai Michailowitsch Galitzin
hatte gegen Pugatschew Erfolge, mit Pugatschew aber sym-
pathisirte der Bauer bis nach Moskau hin, Pugatschew er-
oberte am 22. Juli Kasan, dessen Erzbischof sich verdächtig
benahm, und beging die entsetzlichsten Greuel. Mit fast
diktatorischer Gewalt wurde ihm am 9. August der General
en chef Graf Peter Iwanowitsch Panin entgegen geschickt,
unter dem der tapfere Oberst Michelson das Hauptverdienst
am endlichen Erfolge hatte. Nach einer schweren Nieder-
lage entfloh Pugatschew nach Süden, seine Banden ge-
riethen in Auflösung; Michelson und General Ssuworow,
der bald s0 berühmt werden sollte, umstellten ihn, seine
eigenen Genossen lieferten ihn, um Gnade für sich zu er-
langen, am 14. September in Jaizk gebunden an Ssuworow
ein und er wurde am 21. Januar 1775 in Moskau hin-
gerichtet.
Katharina bildete zu ihrer persönlichen Sicherheit das
Polizeiwesen in sorgfültigster Weise neu aus, wenn sie
VII. Katharina If.
‚auch die Aufhebung der geheimen Kanzlei dureh Peter III,
am. 19, Oktober 1762 bestätigte; eine ungewöhnliche Aus-
gestaltung wurde dem geheimen Polizei- und Spionir-
systeme zu theil, es sollte ja alles in ihrer centralisirten
Administration zu ihrer persönlichen Kenntniss gelangen:
sie schritt energisch gegen Missbräuche, Betrug und Hab-
gier der hohen wie der niederen Beamten ein, bestrafte
mit Wort und That feile Richter, „die den geheiligten
Ort, an dem sie im Namen des Allmächtigen des Rechts
pflegen sollten, in einen Markt verwandelten“, studirte
eingehend das Processverfahren gegen jeden dieser Uebel-
thäter und erstrebte mit ehrlichem Eifer die Einführung
besserer Rechtszustände. Beccarias Werk „Dei delitti e
delle pene® machte auf sie tiefen Eindruck, sie wollte die
Anwendung der Folter beschränken, weil „jeder Ge-
folterte im Fieber spreche und nicht wisse, was er sage“,
doch wollte die Justiz nichts von Beseitigung der Ab-
schreekungsmittel hören und erst 1801 fiel die Folter weg.
Die Finanzmassregeln, welche sie zumal während des
kostspieligen türkischen Krieges traf, waren für Handel
und Wandel verderblich, sie machte zum Nachtheile des
Volkes das Kronmonopol auf den Verkauf von Brannt-
wein für die Kronkassen ergiebiger und schliesslich
zahlten ihr die Monopolpächter für die Erlaubniss, die
'Trunksucht des Volkes auszubeuten, jährlich kaum weniger
als Ys der gesammten Staatseinkünfte. Seit 1768 wurde
Papiergeld ausgegeben, das unfundirt war und mit dem
das Reich allmälig sinnlos überfluthet wurde; die Bank-
notenpresse stieg zum Range einer Haupthilfsquelle der
Krone empor und das Kupfer wurde anstatt des Goldes
und des Silbers zur legalen Valuta gemacht, Die im Jahre
1789 verordnete Steigerung der Kopfsteuer um die Hälfte
erhöhte zwar die Einkünfte auf 24 Millionen Rubel, stei-
gerte aber nicht wenig die Unzufriedenheit, die durch die
häufigen Kriege so drückenden Rekrutirungen riefen heftige
Erbitterung hervor und kosteten nach Bernhardis Mit-
theilung allein in Alt-Grossrussland fast Yo der männ-
lichen Arbeiter, Die Stnatseinkünfte wuchsen schliesslich
auf 60 Millionen Rubel, freilich erforderte der Stants-
VIE Katharina II, 187
"haushalt 1796 70—80 Millionen; im Jahre 1768 betrug
die Gesammtausfuhr nur 21 Millionen Rubel, 1798
‚63 Millionen,
Zur Belebung des Handels wurden viele Kanäle ge-
‚graben, wobei Graf Sievers der Kaiserin bester Berather
war. Sievers stellte durch den Oginski-Kanal die wich-
tige Verbindung zwischen dem Pripet und dem Niemen
her, sodass die Ostsee und das Schwarze Meer sich be-
rührten, und vollendete unter Paul den schon im Jahre
1770 projektirten Sievers-Kanal zwischen der Msta und
dem Wolchow,. Katharina legte der Verbindung des
Kaspischen mit dem Weissen Meere besonderen Werth bei,
ein in russische Dienste getretener Holländer Jan Pieter
van Suchtelen, Generalmajor im Geniewesen (später finn-
ländischer Graf), machte ihr die Entwürfe und mittels
des Nord-Katharinenkanals wurden die Dwina und die
Kama verbunden. Katharina suchte Handel wie Industrie
neu zu beleben, verfuhr aber mehr ruckweise als syste-
matisch; junge Leute aus Archangelsk wurden in das Aus-
land gesandt. um sich Handelskenntnisse zu erwerben, die
in Russland eingewanderten Brüder Anthoine knüpften
zwischen den Häfen von Südfrankreich und denen des
Schwarzen Meeres Handelsbeziehungen an*). die Kaiserin
wollte eine Seehandelsgesellschaft errichten, den Handel
im Mittelmeere heben und die Türken aus dem Schwarzen
Meere verjagen, Sewastopol, einer der schönsten Häfen,
erschien ihr der geeignete Brückenkopf nach jenem Kon-
stantinopel, auf dessen Erwerbung sie immerdar abzielte.
Bie verfasste eine Abhandlung über „die Manufakturen“
und erwog die Vortheile des Transithandels zwischen
einerseits China und Indien, anderseits Westeuropa, im
Hinblicke auf den asiatisch-amerikanischen Handel gründete
sie 1764 die japanesische Navigationsschule, 1785 erschien
ein neues Seerecht mit Schifffahrtsordnung.
Katharina selbst pries die Ordnung, die unter ihr in
Russland herrsche, und behauptete, alles gedeihe. In
*) Anuthioine und Barral hatten viel Verdienste um die Entwicke-
lung der russischen Industrie,
-— —
138 VII. Katharion I.
einem Briefe von 1781 prahlte sie: „Ich baue bei mir
etliche hundert Städte“; man erblicke, so sagte sie, statt
Wüsteneien reiche Dörfer, blühende Gegenden und in
ihnen glückliche, wohlhabende Menschen, dieser Um-
schwung sei das Verdienst ihrer buchstäblich ausgeführten
Anordnungen. Die Trugbilder, welche ihre Umgebung ihr
vorspiegelte, stachen sehr vortheilhaft gegen die er-
schreckend wahren Schilderungen des Fürsten M. M.
Schtseherbatow (s. oben) ab; wenn sie Russland bereiste,
sollte sie nur heitere Eindrücke empfangen und über die
wahre Lage ihres Volks belogen werden, und Niemand
verstand dies besser als Potemkin, dessen gemalte Dörfer
und geputzte Bauern, die man schleunigst von Ort zu
Ort weiterschiekte und immer wieder in geeigneter Ent-
fernung aufstellte, in ihr die Vorstellung erweckten, 'Taurien
sei unter ihm ein Paradies geworden. Und wenn sie im
Jahre 1794 dem Baron Grimm ihre Technik bei der
Städtegründung schilderte und den Ruhm der Städte-
gründerin in Anspruch nahm, s6 glichen ihre Schöpfungen
gar häufig „Potemkinaden*, wie man nach Potemkins
Theatereffekten derartige officielle Täuschungen genannt
hat, und Fürst Ligne spottete, ihre Städte seien ohne
Strassen, die Strassen ohne Häuser und die Häuser ohne
Dächer, Thüren und Fenster. Der Widerspruch von Lüge
und Wirklichkeit zeigte sich recht schlagend bei Potemkins
Schöpfungen Nikolajew, Simferopol, Sewastopol und Jeka-
terinoslaw; „der Ruhm Katharinas“, wie die Stadt genannt
ward, sollte ein zweites Rom oder Athen werden, Potem-
kins Palast strotzte von Luxus, eine Universität sollte
alsbald errichtet werden und ihre Kanzlei bestand seit
1786 — sie selbst aber kam nie zur Welt; auch Potem-
kins Schöpfung Cherson, das Katharina einen Koloss
nannte, wurde nie der gewaltige Kriegshafen, den er
daraus machen wollte. Nur Odessa brachte es mit seinem
völlig internationalen Charakter zu einem der gross-
artigsten Weltemporien und wurde für den Getreide-
export nach Westeuropa ausschlaggebend; seine Haupt-
blüthe setzte aber erst nach Katharinas Tod an und die
goldene Frucht zeitigten französische Emigranten, die
| zur
VII. Katharina IT, 180
Gouverneure de Ribas, Herzog von Richelieu und Graf
Langeron.
Katharina wollte auch die Mutter des kleinen Mannes
heissen. Der russische Bauer sollte Arbeitslast be-
kommen und sich mit der Ordnungsliebe befreunden
und als seine lehrmeister hierin sollten die Fremden
dienen; unter Ertheilung bedeutender Privilegien zog Ka-
tharina fremde Ansiedler ins Reich; schon 1763 treffen
wir eine eifrige Korrespondenz über solche Einwanderung
mit Wjasemskis Vorgänger als Generalprokureur des
Senats, dem ebenso begabten wie charakterlosen Alexander
Iwanowitsch Glebow, und mit dem Kanzler Grafen Wo-
ronzow, im August 1763 wurde eine Vormundschafts-
kanzlei für Ausländer bestellt. Sobald die Anwerbung im
Auslande organisirt war, siedelten sich meistens Deutsche
an, 1766 sassen schon etwa 5000 im heutigen Gouverne-
ment Ssaratow. wo im Juli 1764 die erste Kolonie Jeka-
terinenstadt gegründet worden war. Es entstanden Ko-
lonien in den öden und doch s0 fruchtbaren Landstrecken
an der Wolga, der Ssamara und der Wolotschnaja wie
in Ingermanland und in Livland, dieselben verdankten ihre
Blüthe nicht den Privilegien, sondern ihrer Betriebsamkeit,
ihrer Intelligenz, dem lutherischen Bekenntnisse, dem sie
folgten, während sie lange Kümpfe um ihre Existenz mit
den Kirgisen und Kalmyken bestehen mussten, Im Jahre
1774 allein kamen an 26000 Fremde an. Der russische
Bauer nahm sich an den fleissigen Kolonisten kein Vorbild
und so sprang der grelle Gegensatz in die Augen, der
z.B. zwischen dem sauberen, blumigen Sarepta und dem
benachbarten reizlosen und faulen Zarizyn herrschte ; Sarepta
war übrigens eine handeltreibende Kolonie der Herrnhuter,
Es ergaben sich füst keine Berührungspunkte zwischen
den Eingeborenen und den Kolonisten; die Religion,
vor allem aber der Umstand, dass die Fremden freie Leute
und die russischen Bauern Leibeigene waren, verbot die An-
passung deutscher Muster an die russischen Agrarverhält-
nisse. Franzosen waren anfünglich in grosser Anzahl als
Kolonisten erschienen, doch erwiesen sie sich bald unfähig,
Hüchteten vor der schweren Feldarbeit in die Städte und
146 VIE. Katharina IL.
‚zerstreuten sich durch ganz Russland ala Köche, Modisten.
Friseure und — Sprachlehrer, die bei gänzlicher Unwissen-
heit die Hauslehrer des Landadels wurden und die Kinder
in ihrem Patois unterwiesen, Puschkin hat in seiner
! „Hauptmannstochter“ diese Gattung in Beaupr& verewigt.
In Sibirien ging die Kolonisirung im ulten Style weiter,
was besonders dem Gouvernement Tobolsk zum Segen
gereichte.
Besonders wiehtig für die Annäherung an Westeuropa
sollte die Post werden. Erst im Verlaufe des 18. Jahr-
hunderts nahmen die Russen selbst eigentlichen Antheil
an der Postverwaltung, die bisher meist in deutscher Hand
ruhte, und unter Katharina Il, war der Kleinrusse Alexander
Andrejewitsch Besborodko, in dessen elephantenartigem
Körper die verschlagenste Seele hauste, neben anderen
hohen Aemtern auch Generalpostdirektor; er traf eine
Fülle umsichtiger und durchgreifender Reformen, die
Kaiserin wollte die Post auch in den Dienst ihres Volkes
stellen und erklärte: „In allen europäischen Staaten kann
der letzte Mensch ebenso gut wie der erste Beamte den
Anspruch erheben, dass seine Briefe schnell und sicher be-
fördert werden.“ Wie weit war man doch seit Possosch-
kows Klagen von 1701 über die Einrichtung der Post
(s. 8. 31) vorgeschritten!!
Die Zahl der Landtruppen betrug schon im Jahre
1762 über 606000 Mann, sie waren ausdauernd, voll Bifer
und Tüchtigkeit, fremden Beobachtern imponirten vorzüg-
lich die Artillerie und die Infanterie, welche der Marquis
Silva 1778 in einem Buche über den Türkenkrieg von 1769
„eine Mauer“ nannte; die in Verfall gerathene Flotte, Peters.
Schöpfung, stieg auf 45 Linienschiffe, während Katharina
auf Schöpfung einer tüchtigen Handelsflotte ausging.
Wie stand es nun diesen realen Faktoren der Regierung
gegenüber mit Wissenschaft, Literatur, Kunst unter Ka-
tharina II.? Der kaiserlichen Akademie der Wissenschaften
schenkte sie grosse Aufmerksamkeit, von 1768—1783 sass
eine Kommission zusammen, die für Uebersetzung von
Büchern ins Russische 5000 Rubel jährlich ausgeben durfte,
und am 8. Februar 1783 wurde die verabschiedete Herzens-
—
—
142 VII. Katharina IT.
60 Mitglieder haben sollte, unter dem Präsidium der
Fürstin; auch diese Akademie blühte auf*). Der Initiative
der Monarchin verdankte das Wörterbuch der russischen
Sprache seine Entstehung, welches von 1789 bis 1799 in
sechs Bänden erschien und unter Nikolaus I. umgesrbeitet
wurde, an ihm bearbeitete die Fürstin Daschkow drei
Buchstaben und Katharina gab ergänzende Anmerkungen
zum ersten Bande, Mitarbeiter waren auch Dershawin.
Knjashnin, von Wisin, Schuwalow. Nur in 500 Exem-
plaren wurde ein „Wörterbuch aller Sprachen und Dia-
lekte* in zwei Bänden (1787—89) gedruckt, dessen Her-
ausgabe Pallas, der Verfasser der epochemachenden „Zoo-
graphia Rosso-Asiatien“, überwachte und auf dessen
Grundlage Klaproth später seine „Asia polyglotta* heraus-
gab; dieses Wörterbuchs halber trat Katharina mit Fach-
männern des In- und Auslandes in Verkehr. Linguistische,
sprachvergleichende Studien **) zogen sie mächtig an, wie
Jakob Grimm schon hervorhob, F. Adelung und J. Grot
haben diese Seite ihrer Forschungslust eingehender Wür-
digung unterzogen. Katharina suchte fremde Gelehrte und
Schriftsteller von Ruf nach Russland zu ziehen; so eifrig
sich auch Friedrich der Grosse bemühte, Euler in Berlin
zu halten, so ging Euler doch im Jahre 1766 nach St. Peters-
burg zurück und blieb dort bis zum Tode, Böhmer doeirte
am Cadettenkorps Seerecht, dem Geographen A. F. Büsching,
Prediger an der lutherischen St. Petri-Kirche in St. Peters-
burg und Freunde Münnichs, verleideten Intriguen bald den
Aufenthalt und er ging 1765 nuch Berlin, doch bewahrte
Katharina ihm als zuverlüssigem Ehrenmanne stets ein
gütiges Andenken. Es gelang ihr nicht, den Kriminalisten
Beccaria zur Uebersiedelung zu bewegen, umsonst be-
stürmte sie d’Alembert*®*), er möge die Erziehung des
Thronfolgers übernehmen, während der Waadtländer
*) Der Minister der Volksaufklürung, Graf Uwarow, verleibte sie
1835 der Akademie der Wissenschaften ein.
**) Herder schrieb in Riga „Ueber den Ursprung der Sprache“
“*) Kobeko hält die Aufforderung für eine Komödie, um
Katlıarinas aufgeklärte Ansichten von den französischen Akademikern
bewundern zu lassen.
A
VII. Katharina IT, 148
Laharpe später die Erziehung ihrer Enkel Alexander und
‚Konstantin leitete. Unter den Franzosen, die nach Russ-
land kamen, um ihr Glück zu machen, benahmen sich
einige so arrogant, dass Katharina äusserte: „Man scheint
sich einzubilden, wir gingen noch auf allen Vieren, und
ist hergekommen, um uns zu zeigen, wie man auf den
Hinterfüssen stehen kann“; da war der Akademiker Abbe
Chappe d’Auteroche, der in seiner „Voyage en Siberie*
(2 Bde., 1768), einem sehr viel Tüchtiges enthaltenden
Buche, manches erzählte, was Katharina als Herabsetzung
Russlands auffasste; sie interessirte sich sehr für die
Widerlegung des Buches, den „Antidote“ von 1770, Bil-
bassow betont aber ausdrücklich, dass sie den Antidote nicht
verfasst habe*). Gabriel Sönae de Meilhan, der 1789 aus
Frankreich emigrirte, bot sich Katharina als Historiograph
an; wenn sie ihn auch wegen seiner staatsmännischen
Prütentionen auslachte und sich vergebens bemühte, ihm
klar zu machen, dass er die Geschichte eines ihm fremden
Volkes gar nicht schreiben könne, so liess er «ich doch nicht
belehren; nachdem er sie in geschmacklosester Schmeichelei
(St. Petersburg 1791) mit der „St. Peters-Kirche* in Rom
verglichen hatte, was sie als nicht zehn Sous werth
charakterisirte, fiel seine Geschichte Russlands so kritiklos
aus, dass Katharina froh war, als er Russland wieder ver-
liess; auch Mercier de la Riviere sonnte sich in ihrer
Nähe. Bei allem, was sie that, warb sie um den Beifall
der Welt und da Frankreich in dieser den Ton angab, so
zeichnete sie in erster Linie Pariser Gelehrte, Literaten
und Künstler aus und beschenkte diese Apelles und
Homere ihres Ruhms fürstlich. Als in Frankreich die
Eneyklopädie verboten wurde, unterzeichnete sie auf die-
selbe, Schuwalow bot in ihrem Auftrage im November 1762
Voltaire und Diderot an, die Encyklopädie in Riga fort-
zusetzen; Katharina schwärmte für Denis Diderot und lud
ihn, Voltsire und J. J. Rousseau zur Vebersiedelung nach
Russland ein; sie lehnten zwar ab, Diderot aber war einen
Monat ihr Gast und wurde sehr gefeiert; da er kein Ver-
*) Katharina IL im Urtheile der Weltliteratur,
—User
144 VI. Katharina IT.
mögen hatte und seine Bibliothek verkaufte, um seine
einzige Tochter ausstatten zu können, so kaufte die
Kaiserin für 15000 Franes die Bibliothek und beliess ihm
nicht nur den lebenslänglichen Gebrauch, sondern besoldete
ihn noch als Aufseher mit jährlich 1000 Franes, für
welchen Edelmuth ihr d’Alembert grosse Anerkennung
zollte. Durch Diderot bewog sie den Waadtländer Etienne
Maurice Faleonet, den Schüler Lemoines, zur Reise nach
St. Petersburg, um ihrem Vorgänger und Vorbilde Peter
dem Grossen ein würdiges Denkmal zu schaffen; der
Meister kam 1766 mit seiner bedeutendsten Schülerin
Marie Anne Collot, seiner nachmaligen Schwiegertochter,
Katharina empfing ihn wie einen lange erwarteten Freund,
er bekam ungehinderten Zutritt, sie unterhielt sich Stunden
lang mit ihm, sie schrieb ihm von ihren Reisen aus, und
ihr Briefwechsel *) zeugt für das schöne Dichterwort, dass
Geistesfürst und Purpurträger, beide auf der Menschheit
Höhen wandelnd, mit einander zu gehen berufen seien.
Faleonet und die Collot schufen die wunderbare Reiter-
statue Peters**), die nach mühevollster Arbeit im August
1782 enthüllt werden konnte, nachdem der Guss 1775
beendet war. „Ihr Ross“, s0 schrieb Katharina dem
Künstler, „sprengt geradeswegs auf die Nachwelt zu*,
Intriguen aber, die zumal Betzkoi verschuldete, ent-
fremdeten sie Faleonet, der mit seiner strikten Aufrichtig-
keit und Wahrheitsliebe wenig Glück machte und 1778
Russland 'verstimmt verliess. Die Kaiserin verehrte auf-
richtig Buffon, dessen Epoques de la nature ihr Baron
Grimm zugesandt hatte; von Buffons genialer Auffassung
der Naturgeschichte, von diesem „Non plus ultra des
*) Er füllt den 17. Band der von der k. russischen historischen
Gesellschaft herausgegebenen Sammlung |Sbornik] (St, Peters-
burg 1880).
**) Der Kopf ist von der Collot, die auch die Büsten Katharinas,
Pauls und seiner Gemahlin Natalie, des Filrsten Orlow, Diderots u. A.
modellirte und 1767 Mitglied der k. Akademie der Künste wurde. Die
Statue ist nnvergleichlich schöner als die Statue Peters, welche Graf
Rastrelli unter Elisabeth goss und die Paul I. 1800 vor dem alten
Michallowschen Palais aufstellte.
\
—o—
146 VII. Katharina IT.
Kaspischen Meere, bei deren Verfolgung er in tatarische
erento fiel*), Pallas**) gab den vierten Band
seiner Reisebeschreibung und die Werke des Rigensers
Anton Johann Güldenstädt nach dessen Tod heraus;
G. F. Müller bahnte durch seine Reisen eine Geschichte
der Entdeckung Sibiriens an, Steller und Krashennikow
beschrieben Knmtschatka, Rytschkow und Lepechin unter-
nahmen Expeditionen, Georgi bereiste mit Pallas Russland
und mit Falk Sibirien. Katharina unterstützte in jeder
Weise diese Unternehmungen, welche vielfach noch un-
erforschte Theile ihres unermesslichen Reiches in physi-
kalischer und geographischer Hinsicht ans Lieht zogen,
neben ethnographischen und „rchäologischen Resultaten
die Kenntniss der Geschichte förderten und bei den ver-
schiedenen Völkerschaften reiche Ausbeute für ihr ver-
gleichendes Wörterbuch ergaben. Solche Forscher stiessen
naturgemäss auf noch unbenutzte Quellen der Reichs-
geschichte, für die nun eine grosse Zeit anhob; neben
Stritter schrieben über russische Geschichte der Reichs-
historiograph H. Fr. Müller und August Ludwig Schloezer,
der eigentliche Begründer der russischen Geschichte,
welcher die Nestorsche Chronik herausgab: unter dem
Pseudonyın „Haigold“ publieirte er auch nach dem Vor-
bilde von Webers „Verändertem Russland“ 1767 ein „Neu-
verändertes Russland“, eine Sammlung von Verfügungen
Katharinas II. Mit diesen Deutschen rangen die Russen
um den Preis des Verdienstes, Nowikow gab die alt-
russische Bibliothek heraus und hrachte die „Moskauer
Zeitung“ in hohe Blüthe, Golikow sammelte über Peter
den Grossen riesiges Material und schrieb über ihn ein
grosses Werk, Fürst Michail Michailowitsch Schtscher-
batow schrieb eine russische Geschichte und bewies, wenn
er auch des weiten historischen Bliekes entbehrte, doch
grossen Fleiss; voll Vorurtheil gegen die Resultate der
petrinischen Reform und ein sehr scharfer Beurtheiler der
*) Er starb darin 1774.
**) Er erhielt von Katharina grossen Besitz in dor Krim, kehrte
aber 1810 in die deutsche Heimath zurück.
148 ö VI Katharinn IT.
könnte sagen, ich würde für die Arheit bezahlt, so viel
‚Sorgfult. Arbeit, Intelligenz und Scharfsinn wende ich
daran“, und als sie in ihren russischen Geschichtsstudien
bei dem Grossfürsten Dmitri IV. Donskoi angelangt war.
schrieb sie an Grimm: „Keine Geschichte liefert bessere
und grössere Menschen als die unsrige, ich liebe sie bis
zur Narrheit“; im Jahre 1788 schrieb sie demselben: „Ich
arbeite seit einiger Zeit wie ein Pferd und meine vier
Sekretäre können nicht mehr ausreichen, ich muss ihre
Zuhl erhöhen. Ich bin ganz Schreiberei geworden und
meine Gedanken zergehen zu Tinte. Mein Lebiag habe
ich nicht so viel geschrieben.” Die französische Revolution
stiess sie, wie wir später hören werden, ab und es war
ihr in der Geschichte des Mittelalters am wohlsten; „es
war®, sngt Brückner, „als hätte die französische Revolution,
welche den Institutionen des Mittelalters den Krieg er-
klärt hatte, die über die Ereignisse seit dem Jahre 1789
verbitterte Kaiserin genöthigt, sich in längst vergessene
Jahrhunderte zu retten. Empört über den Baseler Frieden,
durchaus Partei nehmend gegen die Revolution, flüchtete
Katharina aus der Aufklärungsliteratur zu der Chronik
des Nestor, schrieb Exkurse über die Warägerfrage und
ging in alle Einzelheiten der ersten Zeit des russischen
Staates ein.“ „Ich lese“, schrieb sie, „und durchblättere
sogar kein Buch, das nieht wenigstens 300 Jahre zählt;
aus allen anderen lerne ich nichts und leere Vermuthungen
stehen mir am Hals.“ Sehr empfindlich war sie gegen
ihr ungünstige historische Darstellungen: sobald sie gehört,
dass der französische Gesandtschaftssekretär 0, ©. de
Rulhiöre ein Werk über die Thronrevolution vom Juli 1762
verfasst und in Paris vorgelesen habe, suchte sie die Ver-
nichtung des Manuskripts zu erreichen oder es aufzukaufen,
dies gelang ihr nicht, obwohl ihr Diderot behilflich war,
hingegen verpflichtete sich Rulhiöre, das Werk nicht während
ihres Lebens erscheinen zu lassen; dass in den Oeuvres
posthumes Rulhieres (Paris 1792) so viel Gehässiges und
Wahres über sie stand, verdross sie nicht wenig, und
sobnld sie todt war, erschien jenes Werk (Paris 1797),
dem 1807 seine vierbändige Histoire de lanarchie de Pologne
|
ST
150 VIEL Katharina If,
Verherrliehung der ersten russischen Unternehmung gegen
Konstantinopel, auch Cimarosa setzte für sie einiges in
Musik; manche ihrer Stücke wurden ins Deutsche über-
setzt, ein Theil erschien, vermehrt um Stücke Dmitriew-
Mamonows, Bögurs u. A., als „Theätre de l’Hermitage*
1799 in 2 Bänden in Paris im Drucke.
Katharinas Hochgenuss war die Lektüre hervorragender
Schriftsteller, gleichviel welcher Nation; als ihr Marmontel
seinen Roman Bälisaire überschickte, übersetzte sie mit
einigen Herren vom Hofe denselben ins Russische, für Moliöre
war sie schr eingenommen und behauptete, aus ihm das
Misstrauen gegen die Aerzte geschöpft zu haben, Corneille,
Raeine, Voltaire und die Eneyklopädisten zogen sie mächtig
an und von Beaumarchais’ Barbier de Seville sagte sie:
„Wenn ich einst Cüsar sehe, werde ich ihm diese Lektüre
empfehlen*. Als sie die Schriften Chr, Fr. Nieolais las,
staunte sie über die Feinheit und Anmuth der deutschen
Sprache, sie fand viel Freude an seinem „Sebaldus Noth-
anker“ wie an Thümmels „Wilhelmine“ und dessen „Reise
in das mittägliche Frankreich“ und übermittelte Thümmel
eine Medaille; sie nannte die „Allgemeine deutsche Biblio-
thek“ in Nicolais Verlag „ein Archiv an Genie, Ironie und
allem, was Geist und Vernunft erheitert* und gestand:
„Diese teudeske Literatur lässt die ganze übrige Welt
weit hinter sich und marschirt mit Riesenschritten“; frei-
lich liebte sie in ihren Aussprüchen den Superlativ, für
den Gährungsprocess aber, den unsere Literatur damals
durchmachte, bewies sie mehr Verständniss als Friedrich
der Grosse, wenn sie auch von Lessing, Schiller und Goethe
keine Notiz nahm; sie empfahl Grimm die Lektüre der
„Abderiten* Wielands, „die wunderbar das Zwerchfell er-
schütterten“, und das gefeierte Buch des Arztes Johann
Georg Ritter von Zimmermann „Ueber die Einsamkeit“
war ihr nach Lanskois Tod eine Seelenstärkung, sie sandte
dem Autor einen kostbaren Ring und eine Medaille mit
ihrem Bilde und korrespondirte seitdem (1785) mit ihm
bis 1791, er lehnte jedoch ihre Einladungen nach St, Peters-
burg stets ab. Klang es nicht unwillkürlich aus dem
Ilerzen der russifieirten Anhaltinerin: „Ach was hat doch
I
Wü Katharina II.
chland in diesem Momente für Leute von Verdienst !*
Wr aber auch Shakespeare, Gibbon, Richardson
en in ihren Händen, daneben Cervantes und
M ‚ die arabischen und die indischen Fabeln des
"Lokman und Bidpai, sie übersetzte aus Plutarch Aleibiades’
Leben und machte zu Coriolan Notizen, Pindar war ihr kein
‚Fremder. Und Russland selbst stellte eine Reihe literarisch
namhafter, zum Theile ganz origineller Männer auf, denen
\ a ihre Begünstigung in vollem Maasse zuwandte,
während sie ihren Vertrauten das Recitiren von Versen
Tredjakowskis als Strafe auferlegte. Alexander Petro-
witsch Ssumarokow, der Direktor des russischen Theaters,
persönlich unangenehm und streitsüchtig, une töte chaude*),
aber als Dramaturg von Katharina sehr hoch gestellt,
schrieb seine Drumen, von denen „Semira“, wohl dus
beste, „Mstislaw“ und „Dmitri der Usurpator“ in fremde
‚Sprachen übersetzt wurden. Und von Enthusiasmus durch-
glüht, trat Russlands Klopstock, Gawriil Romanowitsch
Dershawin, auf die Scene, der Dichterfürst vor Puschkin;
seine Ode „Das Bild Felizas“ **), welches viele Personen am
‚Hofe verhöhnte, getiel Katharina ungemein, sie gab ihm eine
goldene Tabaksdose und ein reiches Geldgeschenk und
wusste den Verspotteten Abschriften mit Unterstreichung
der auf sie bezüglichen Stellen zukommen zu lassen;
durch die Ode „Feliza“, die er bei ihrer Krönung zu ihrem
Preise gedichtet, hatte er die der Schmeichelei höchst zu-
gängliche Frau gewonnen; sie konnte übrigens auf den
Mann stolz sein, dessen Ode „Gott* (Bog) durch die Welt
flog und in viele Sprachen übersetzt wurde, und Alexan-
der II. begriff diesen Stolz und wies auf dem Denkmale,
dus er 1873 durch Mikieschin in $t. Petersburg seiner Ahn-
frau errichten liess, dem Dichter einen ehrenvollen Platz
an; unter Alexander I, dessen Geburt er durch eine Ode
gefeiert, wurde der Poet Justizminister, Neben solchen
*) So nennt ihn Katharina 1765 in einem Briefe an ihren ver-
trauten Geheimsekretär Adam W. Olsufjew.
**) Von Kotzebue ins Deutsche übersetzt (Reval 1799); Kotzebue
übersetzte auch Dershawins „Traumgesicht des Mursa“ (St. Peters-
bang 1792) und seine elf Gelichte zusmınmen (Leipzig 1798).
ing VI. Katharina IT.
Grössen der Poesie regten sich noch Manchem die
Schwingen, um zum Olympe empor zu fliegen; da waren
Dershawins Freund Wassilii Wassiljewitsch Kapnist, der
Odendichter, der gern gelesene Dramatiker Wladislaw
Alexandrowitsch Öserow, Uheraskow, der „die Rossiade*,
„den Kampf bei Tsehesme* zur Verherrlichung Orlows,
den „Numa Pompilius“ und andere Lobeserhebungen ver-
fasste; der Trugiker Jakow Knjashnin, der mancherlei
geschrieben, hinterliess, als er arm starb, die historische
Tragödie „Vadim von Nowgorod*, eine Verherrlichung des
Kampfes der Republik Nowgorod um ihre Freiheit gegen
die Moskauer Grossfürsten; auf Bitten seiner Wittwe liess
die Fürstin Daschkow das Werk im Jahre 1795 auf Kosten
der Akademie der Wissenschaften drucken, ihre Peinde
aber redeten Katharina II. ein, das Stück sei ein Triumph
der Revolution, und dasselbe wurde von Henkershand ver-
brannt; Katharina, die ohnehin über die Fürstin, welche
den freimüthigen Schriftsteller Radischtschew protegirt
hatte, aufgebracht war, behandelte sie nun so verletzend,
dass sich dieselbe aufs Land zurückzog, sie sah Katharina
nie wieder! Als Hippolyt Fedorowitsch Bogdanowitsch
in seiner „Duschenka“ Lafontaines Psyche nachahmte,
überhäuften ihn Katharina und das Publikum mit Gunst-
bezeugungen, nuch die Fabeln Ohemnitzers, des Veber-
setzers von Gellerts Fabeln, erinnerten an Lafontaine und
waren die Vorläufer Krylows. Nikolai Michailowitsch Karam-
sin schrieb, schon als Jüngling in den deutschen Autoren
belesen, bevor er Historiker wurde, Novellen und Ge-
dichte, gehörte lange dem um Nowikow*) gruppirten
Kreise junger Dichter und Denker, „der Gesellschaft der
Freunde der Wissenschaft“, an, war mit 22 Jahren, als er
nach Westeuropa reiste, „eine Art Encyklopädie der
schönen Literatur Deutschlands, Frankreichs, Englands“ #*);
allbekannt machten ihn seine „Briefe eines russischen
*) Nowikow (s. 8.146) war Verlagsbuchhändler, sstirischer Dichter
und Uebersetzer.
**) Brückner in seiner vortzefllichen „Europälsirung Russlanda*
(Gotha 1888).
\ Bunnlangen. Daran aha
en
‚Jugend heraus, von Wisin übersetzte
*, hatte glänzenden Erfolg mit seinen
‚Brigadier“ und „Das Muttersöhnchen“,
hen Moliöre und brachte von seiner
Reise gereiftes Urtheil und reiche Kennt-
von Elisabeth im Jahre 1758 errichtete Akademie
X E auf Wassilii-Ostrow trug ein ganz französisches
jepräge, legte aber für das Kunstinteresse in Russland
Keim, ihr war ein Gymnasium beigegeben; Katharina
ndete im November 1764 eine kaiserliche Akademie
n Künste (Malerei, Skulptur und Architektur).
oi wurde ihr Präsident; als Vorbereitungsanstalt
Fünelbe errichtete er ein Erziehungsinstitut mit
h n Studienplane und füllte es aus dem
Mos ‚Findelhause und aus den niederen Klassen, mit
welehem Materiale die französischen Lehrer unverantwort-
lieh umsprangen, die Schüler überliessen sich jeder Zügel-
losigkeit; bis zum Ausbruche der französischen Revolution
gingen sie nach ihrem Examen zu weiterer Ausbildung
‚auf Reisen, in den Jahren 1760 bis 1788 lebten im ganzen
sechzig auf Kronskosten im Auslande; machte aueh Betzkoi
mit seinen Erziehungsmaximen Fiasko, so fusste doch der
"Kunstsinn unter dem Adel und in weiteren Kreisen Fuss.
| ‚Kaiser Joseph II. und König Gustav III. wurden Ehren-
‚mitglieder der Akademie, die grosse Privilegien erhielt,
nach den Plünen von de la Mothe und Velten wurde
1765—68 das Prachtgebäude der Akademie an der Newa
aufgeführt. Als etwas Unerhörtes durfte es gelten, dass
Graf Mussin-Puschkin, der 1794 Betzkoi als Prüsident
folgte, aber schon 1797 abging, eine Prämie von 200 Rubel
für das beste Kunstwerk auswarf, und sein Nachfolger
unter Kaiser Paul, Graf Alexander Ssergejewitsch Stro-
‚ganow, war, wie wir später hören werden, ein Kunstmäcen
ersten Ranges. Die bildende Kunst fand an der Monarchin
‚eine aufrichtige Schätzerin mit offener Hand, sie be-
B.. Fr
er BE
. Katharina IT. 156
liess sie nach Plünen de la Mothes und Guarenghis das
burgähnliche Marmorpalais bauen, das nach dreizehn-
jähriger Arbeit bei Orlows Tod noch nicht vollendet war
und durch Katharina von Orlows Erben zurückgekauft
wurde*), an der Fagade stand: „Als Zeichen der Dank-
barkeit!“ ; im Jahre 1783 liess sie für den Fürsten Potemkin
den Taurier den taurischen Palast erbauen, der bei seinem
Tode an die Krone zurückfiel. Der Hofarchitekt Vallin
de la Mothe baute für sie selbst 1765 das „kleine Winter-
palais“, das mit dem Winterpalais durch eine fliegende
Brücke verbunden wurde, sie nannte es gern ihre
Eremitage; bald ward es zu enge und der kaiserliche
Akademiedirektor Velten begann 1773 den Bau einer
zweiten Eremitage, in der Katharina am liebsten weilte;
nachdem sie die Copien des Tirolers Ohristoph Unter-
berger von Ruphaels Loggien im Vatikan für 45000 Gulden
gekauft hatte, baute Guarenghi die Raphael-Galerie und
1780 erhob sich das Fremitage-Thonter, Katharina kaufte
für die Eremitage und ihre anderen Schlösser kostbare
Kunstwerke, vor allem schon 1763 die werthvolle Bilder-
sammlung des von Friedrich dem Grossen mit Undank
helohnten patriotischen Berliner Kaufmanns Gotzkowski,
1769 die Galerie des sächsischen Premiers Grafen Brühl,
1772 die des Marquis de Crozat und 1779 die Sir Robert
Walpoles mit ihren herrlichen Van Dycks, sie bestellte
Bilder bei Raphael Mengs und Reynolds wie bei den Russen
Lossenko und Matwejew und kaufte durch Mengs, Grimm,
Reifenstein. Diderot, Falconet und andere Correspon-
denten und Agenten bei Versteigerungen u, # w. viel
Kostbares. Sie erwarb die Sammlungen Schuwalows und
Lyde-Browns an griechisch-römischen Skulpturen, des
Herzogs von Orleans an Cameen, Potemkin schenkte ihr
den berühmten Pfau-Automaten. Den grössten Theil
seiner jetzigen Pracht verdankt ihr auch Zarsköje-Saelo,
*) Unter Panl bewohnte der gowesene König von Polen, Stanislaus
Ponistowski, Orlows Vorgänger, das Marmorpalais und starb darin;
unter Nikolaus I. wurde es dem Grossfürsten Konstantin Nikolajewitsel
geschenkt.
14 VII. Katharina IL
für ihren Enkel das Alexanderschloss
‚nd hier weilte sie. wie schon Elisaberh. gern in der
KEremitage. hier schuf sie das grosse kaiserliche Prunk-
“lee; Peterhof. die Schöpfung Peters des Grossen.
aurde durch sie erweitert und Rinaldi baute 1770 Gatschina
für den Fürsten Orlow. dem Katharina den Meierhof ge-
‚chenkt hatte: sie kaufte Gatschina nach Orlows Tod zu-
rark und gab es mit Pawlowsk und einigen Dörfern ihren
Sahne Paul. der mit Vorliebe in Gatschina residirte. bis
er den Thron bestieg.
Für Musik war Katharina wenig begabt und es gebrach
lv an wirklichem Verständniss: sie bekannte offen: „Ich
eterhe vor Lurt, Musik zu hören und zu lieben: aber was
Will «mir? es bleibt Geräusch und damit basta!“. sie
echerzke, nie wolle einen Preis für ein Mittel wider „Un-
emphindhehkeit für Harmonie“ auswerfen: die Oper aber
elite sie, benonders die komische; acht Jahre lang wirkte
der grosse Komponist Paisiello in St. Petersburg, die
Hurtenmrie in einer seiner komischen Opern war ihr ganzer
Uenehmmek, sie verkehrte persönlich mit ihm und mit der
Promadonna Todi; letztere entzog durch Intrigue auf längere
wit Kuthnrinas (nnde ihrem Hofkapellmeister Giuseppe
Kurti num Wuenzn und er ging auf ein ihm von Potemkin
penchenkten Dorf in der Ukraine. gewann aber 1793 ihre
amt wieder, erhielt die ulte Stellung und 1795 den Adel.
Au Kuthnrinn® Mof herschte der feingeistige Ton, den
Frankreich“ Aufklärung angab. Unvergleichlich verstand
wie om, einen Diderot und einen Grimm zu feiern und zu
unterhalten, ala »ie 1773 ihre Gäste waren, wie zwanglos
verkehrte “ie mit ihnen und anderen Auserwählten in den
hahlenden Gemüchern der Eremitage! Selbst ein Welt-
und Mofinann wie der Fürst von Ligne konnte nicht
Warte genug finden. um die schillernde Konversation
Ikutharinna (os Grossen“, wie er sie nannte, auszudrücken,
af Kepne war entzückt von „der imponirenden Königin,
dcr hiehenawirdigen Privatfrau“, Und nicht nur Katharina
« in dieser Welt französischer Aufklärung, ihre
ge unterhielten ebenfalls den regsten Verkehr mit
Auelindenn. die Würsten Orlow. VPotemkin und Subow,
zer erbaute -i
VIT. Katharian IT. 157
Graf Dmitriow-Mamonow zogen ausländischen Verkehr
jedem russischen vor, bei den Woronzow begegnete man
Lafermibre, Nicolai, Rogerson und Casteleienla; Graf
Andrei Kirillowitsch Rasumowski, des Hetmans Sohn, ein
Schüler Schloezers, bildete sich zum Kosmopoliten aus,
die Stroganow und Narischkin setzten alles daran, halbe
Pranzosen zu werden, und der Hof war nahe daran, seine
Nationalität zu verleugnen, als die französische Revolution
die Begeisterung dämpfte. Der stete Austausch geistiger
Beziehungen zwischen Westeuropa und Russland entband
neue elektrische Ströme, neben dem Sein war freilich gar
viel Schein und Blendwerk; wenn Katharina sich mit
Grimm und Diderot Stunden lang unterhielt, wenn sie
einmal mit Grimm sieben Stunden der Reihe nach über
Literatur, Philosophie, Staatswissenschaft, Nationalöko-
nomie, Gesetzgebung, Völkerglück und Freiheit sprach,
so stand sie doch nicht einen Augenblick an, das direkteste
Gegentheil von ihren Reden in die That umzusetzen, und
wenn sie Diderot noch so sehr bewunderte, so fügte sie
doch hinzu: „Diderot ist in vielen Hinsichten hundert, ih
manchen erst zehn Jahre alt“, während er nach Rumbauds
Wort „die Philosophie auf dem Throne sitzend und die
Enoyklopädie selbst im Triumph mitten im Pompe des
Winterpalais“ in ihr sah, Ihre Arbeitskraft war ungewöhn-
lich, die Elastieität ihres rastlosen Geistes setzte immer
neue Hebel in Bewegung, von frühe sechs Uhr bis in die
späte Nacht organisirte und administrirte sie, im Lesen
und Schreiben kannte sie kein Mass, es kam keine Müdig-
keit über ihr Auge, keine über ihre Hand, so viel Ukase,
Manifeste, Entwürfe und Briefe aus letzterer hervorgingen.
Gerade ihr Briefwechsel ist ein unvergängliches Monu-
ment ihres Geistes, ihrer Schlagfertigkeit und staunen-
erregenden Vielseitigkeit, sie setzte ihren Ehrgeiz darein,
in der Kunst des Briefschreibens es den Besten ihrer Zeit
und aller Zeiten gleich zu thun. Im Briefwechsel erholte
sich ihr Geist von der Mühsul der Stantsgeschäfte, der
Briefwechsel war ihr Bedürfniss für Gefühl und Gemüth.
Sind ihre Briefe an Voltaire, Diderot und Grimm lite-
rarische Leistungen, so verfolgen sie bei allen schön-
EEE |
158 VIE Katharina IL.
geistigen Reflexionen, bei aller gefälligen humorbeseelten
Causerie, in der sie ja ihres Gleichen suchte, die geheime
Absicht, alle Welt von den humanen und eivilisatorischen
Bestrebungen der Frau zu unterhalten, die auch in Frank-
reich die Souveränin der Geister werden wollte, sodass das
Zeitalter Kathorinas TI. das Ludwigs XIV. und St, Peters-
burg Versailles ablöse. Ihre Briefe sind zahllos; alle
geben Zeugniss von feinem Weltton, weiblicher Anmuth
bei männlichem Verstande, alle bekunden ein
sprochenes literarisches Talent, übernl] dringt hervor die
Lust an Scherzen, die aprudelnde Laune und ein liebens-
würdiges Temperament: wie weich sie empfinden konnte,
verrathen vor allem ihre im Russkii Archiv 1870 veröffent-
liehten Briefe an Fräulein Lewschin. Sie schrieb gleich
fliessend russisch, deutsch und französisch, der Abb& Maury
behauptete sogar, ihre französischen Briefe überträfen
selbst die Briefe Voltaires, und auch Rambaud weiss nicht,
welchen von Beiden der Vorzug an geistreichem Gehalte
gebühre, ihr Deutsch erinnert Karl Hillebrand an die un-
verwüstliche Kernhaftigkeit der „Frau Rath“. Die Briefe
an den Fürsten Ligne, den kosmopolitischen Witzbold par
excellence, gleichen einem Brillantfeuerwerke Voltaireschen
Esprits, und welehe Mannigfaltigkeit der Stimmung ent-
bindet in unserer Seele die Korrespondenz mit Madame
Geoffrin von 1763—68! Die Korrespondenz mit Voltaire*)
läuft von 1763—1777, der Moses des Unglaubens sollte
Katharinas publieistischer Anwalt vor dem Forum Europas
sein; er, der weit mehr als «der officielle Ludwig XV,
Frankreichs Gebieter war, sollte ihr die Huldigung einer
Welt in den Schoss legen; ihre Beziehungen zu Voltaire
waren weniger augenfällig und darum wohl dauerhafter
und harmonischer als die Voltaires zu Friedrich dem
Grossen, ihrem Rivalen im Mäcenatenthume französischer
Literatur und Kunst: der gewandteste Schmeichler der
Zeit, nannte Voltaire Katharina „die Semiramis des
Nordens“, während ihr seine Geschichte Peters des Grossen,
*) Fast in alle Sprachen aus dem Französischen (Paris 1785)
übersetzt, erste russische Uebersetzung 1802.
— -—
VII. Katharina IT, 150
ihres Vorbildes, über die Massen gefiel; er schrieb ihr: „Mein
Herz gleicht dem Magnete, es dreht sich nach Norden!*,
dichtete das bekannte „O’est du Nord aujourd'hui que
nous vient la lumidre!“, und frug bei ihr an, ob sie den
Namen Juno, Minerva, Venus oder Üeres führen wolle,
worauf sie heiter erwiderte, sie verzichte auf jede Namens-
veränderung, denn ihr genüge Katharina und die Göttinnen
seien, wie ihr dünke, fragwürdiger Natur. War in den
Augen des schlauen Philosophen von Ferney Katharina
die Vorkämpferin der Civilisation, wenn auch auf stark
realistischer Basis, so war er ihr der Patriarch Europas,
der Bildner ihres Verstandes und ihres Herzens; da er
nicht lebend nach Russland gekommen war, da sie ihn
nie gesehen und da selbst die Ueberführung des Todten
auf Hindernisse stiess, so befahl Katharina Grimm, Vol-
taires Bibliothek und Papiere für sie anzukaufen, und ver-
anlasste eine neue Ausgabe seiner Schriften; sie wies im
Jahre 1779 dem Sekretär Voltaires Vannier eine Pension
von 5000 Frances an und konnte sich noch nach Jahren
mit dem Gedanken, Voltaire sei todt, nicht vertraut
machen, „Sage ich der Gott des Behagens“, so schreibt
sie, „80 ist dies ein Synonym für Voltaires Namen; die
Alten würden ihn unter die Götter versetzt und ihm das
Behagen überwiesen haben“. Das Meisterstück ihrer Korre-
spondenz aber sind wohl die zahlreichen Briefe an den
Baron Melchior Grimm in Paris, den sie umsonst 1773 in
Russland fesseln wollte, Beide standen 23 Jahre im ver-
traulichsten Briefwechsel, der sich auf derselben hohen
Temperatur hielt. Der liebenswürdige Meister der Onuserie
war ihr literarischer und artistischer Geschäftsträger, vor-
mittelte für sie den Ankanf von Kunstwerken, Sammlungen,
jeder Art geistigen Rüstzeugs, sandte ihr Neuheiten des
Büchermarktes, schrieb ihr Berichte über neue französische
Bücher, besorgte ihre Auszeichnungen an Gelehrte, Künstler
und Literaten, zahlte ihre Unterstützungsgelder aus und
bezog selbst grosse Summen für sich, seine Familie und
die seiner Freundin, der Madame Epinny; als er in der
Revolution sein Vermögen verlor, ersetzte es ihm die
Kaiserin. Es bestand eine Art geistiger Wahlverwandt-
1m VII. Katharina H.
‚haft zwischen diesen zwei Deutschen. die in fremdes
Erdreich verpflanzt worden waren. darum herrschte zwischen
ihnen trotz aller servilen Phrasen Grimms der originellste
Ton der Vertraulichkeit: Grimm nannte seine Krank-
heit „Nord -Minervenkrankheit- und _Katharinensucht“.
sie _die Kaiserin aller Herzen wie aller Reussen“. St.
Petersburg „die Hauptstadt des Ruhms und der Unsterb-
lichkeit“. er erklärte ihre Briefe für „Himmelsthau und
göttliches Manna-. er hatte zwar in seiner Wohnung
19 Büsten und Porträts der „Minerve Zarsko-Selienne“.
der „Immortelle-. bettelte aber stets um weitere: wenn
ihr seine oft recht geschmacklosen Huldigungen behagten.
so unterbrach dieselben manchmal ein höchst unceremo-
nieller Naturlaut. Grimm stand nicht an. ihre Briefe „einer
iserlichen Ollapotrida- zu vergleichen und sie selbst
‚einen ganzen Kerl“ zu nennen. Ihre Briefe an Grimm
werfen. wie Hillebrand hervorhebt. viel Licht auf ihre
Persönlichkeit.
Ihr Hof war der Schauplatz beständiger Intriguen
und Rivalitäten. das Aufkommen und der Abgang der
Günstlinge der sinnlichen Frau beschäftigte alle Welt. das
Amt des Günstlings wurde geradezu zum Hofamte, be-
rechtigte zu einer bestimmten Wohnung in nächster Nähe
ihrer Appartements. zu gewissen Ehren. Würden und Ein-
nahmen. wie es gewisse Verpflichtungen mit sich brachte.
Grigorii Grigorjewitsch Orlow, der Favorit bei
dem Staatsstreiche vom Juli 1762. mit seiner lückenhaften
Bildung. seiner Oberflächlichkeit und brütalen Ehrsucht,
war noch immer nicht zufrieden. obwohl er mit Würden,
Titeln. Ehren und Reichthümern überhäuft und von Kaiser
Joseph II. im Oktober 1772 zum Reichsfürsten, von ihr
zur „Durchlaueht“ erhoben worden war: er*) und seine
Brüder bezogen von 1762—83 17 Millionen Rubel baar an
Geld und Werthsachen und 45000 Leibeigene („Seelen“).
Der Fürst wurde ihr allmälig lästig **), im September 1772
*) Er schenkte ihr den Riesendiamanten Nadir-Schahs, den „Orlow“,
der 480000 Rubel kostete.
**, Fürst Orlow starb im April 1783 wahnsinnig und Katharina
schrieb seinem Bruder Alexei: „Ich hatte an ihm einen Freund, mit
VII. Katharina II. 101
ersetzte ihn nach dem kurzen Interreguum Wissötzkis auf
Panins Veranlassung der schöne Gardelieutenant Alexander
Ssemenowitsch Wassiltschikow, ım schon im Mai 1774
in Grigorii Alexandrowitsch Potemkin einen Nach-
folger zu erhalten. Noch weit ehrgeiziger als Orlow, ein
Intriguant reinsten Wassers. wusste Potemkin sich eine un-
hedingte Herrschaft über dies liebende kühne Weib zu er-
obern, behandelte sie brütal und muchte sich ihr unentbehr-
lich, indem er sie scheinbar gegen Verschwörungen schützte;
trotz seiner mittelmässigen Begabung suchte er lie Geschäfte
an sich zu reissen und ihr leitender Rathgeber zu werden;
wie ihr Dämon schritt er neben ihr einher und entfremdete
sie immer mehr ihrem Sohne Paul. Er strebte nach ihrer
Hand und da er diese nicht erhielt, nach Polen. Kurland,
Dacien, unersättlich in seinen Wünschen: sie erhob ihn
1775 zum Grafen, Joseph II. im März 1776 zum Reichs-
fürsten, und für die lügnerische Blüthe, in der er ihr die
Krim zu zeigen wusste (Potemkinade), erhielt er im Juni 1797
den Titel Tawritscheskii (von der Krim, Taurien); seine
Herrschaft kostete ihr über 50 Millionen Rubel. Als er
ihre Sinne nicht mehr fesselte, schmeichelte er ihrer
Phantasie mit kriegerischen Bildern, Eroberungsträumen
und abenteuerlichen Unternehmungen, blieb ihr Ratlıgeber,
beherrschte Panin zum Trotze ihre Politik und suchte
die Liebhaber für sie aus, um dieselben rücksichtslos zu be-
seitigen, sobald sie ihm zu einHussreich zu werden drohten ®).
Seit November 1776 war der General Peter Wassilje-
witsch Sawadowski Günstling, den Kaiser Franz II. 1794
zum Reichsgrafen und Kaiser Paul im April 1797 zum rus-
sischen Grafen erhob, doch schon 1777 ersetzte ihn Potemkin
durch den Serben Ssemen Gawrilowitsch Soritseh, der
sich auf dem Hofparket nicht halten konnte und 1778 durch
den Katharina sehr werthen General Iwan Nikolaje-
witsch Rimskoi-Korssakow, ein Kleinrusse wie Sawa-
Buch beweine ich ihn; ich fühle in vollem Masse die Grösse des Ver-
lustes und werde niemals seine Wohlthaten vergessen“,
*) Potemkin starb am 18. Oktober 1791, Manche glauben an eine
geheime Ehe mit Katharina und verlegen die Trauung auf Herbst 1774
oder Aufang 1775 in die Kirche des Simonowklosters zu St. Petersburg.
A Kleinsohmidt, Veberbl. d. rum. Gesch. «. 1504. 11
162 VII. Katharina IF,
dowski, abgelöst wurde: er sang so schön NEE,
tigall®, rühmt Katharina, er aber betrog sie mit der Ge-
mahlin des Oberkammerherrn Grafen A. 3. Stroganow und
wurde im Oktober 1779 nach Moskau verwiesen; er hatte,
wie Fürst Schtscherbatow klagt, bei den Frauen die
Wollust entwickelt, was wohl bei Katharina nieht mehr
nöthig war. Sein Nachfolger als „Generaladjutant“, welchen
Titel der Favorit meistens erhielt, wurde Potemkins Ad-
jutant Alexander Dmitrijewitsch Lanskoi, ein Mann
von vollendeter Schönheit, dessen Aera ihm sieben Millionen.
Rubel abwarf; im Gegensatze zu den meisten Favoriten
hielt er sich von Staatsgeschäften und Hofintriguen fern,
widmete sich der Kaiserin allein und sie hat ihn geliebt
wie keinen zweiten, bewachte aber auch eifersüchtig seine
Wege; auf Grimms Antrieb fing, als Lanskoi in die
Schweiz reiste, der durch Mirabenus Leidensgesehichte
bekannte Pariser Polizeilieutenant Le Noir Lanskois
Korrespondenz mit einer in Frankreich zurückgelassenen
Schönen ab. Lanskoi starb schon mit 26 Jahren am
7. Juli 1784 und Katharina war der Verzweiflung nahe,
man liess ihr zur Ader und rief schleunigst Potemkin
herbei; sie betrauerte Lanskoi wie eine Wittwe und liess
über seinem Grabe auf dem Sophia-Friedhofe in Zarskoje-
Sselo eine Kirche der Kasanschen Mutter Gottes erbauen,
liess sich aber doch bald Potemkins Adjutanten Alexander
Petrowitsch Jermolow zuführen, Diesem folgte im Juli
1786 der elegante, eitle und eigennützige, aber sehr witzige
und auch literarisch thätige Alexander Matwejewitsch
Dmitriew-Mamonow, der seine Macht über Katharina
ausnützte, um sich schamlos zu bereichern; als Katharine
seinen Liebeshandel mit der Fürstin Schtscherbatow ent-
deckte, betrieb sie zwar selbst im Juli 1789 ihre Ehe, duldete
aber nicht, dass Mamonow in St. Petersburg blieb, Ka-
tharina zählte jetzt 60 Jahre und wählte zum Geliebten
den 22 jährigen Lieutenant bei der Garde zu Pferd, Platon
Alexandrowitsch Subow: man witzelte, sie nehme
keinen Adjutanten mehr, sondern habe sich der Philosophie
Platons in die Arme geworfen, jedenfalls liebe sie nur pla-
tonisch. Subow war ein tüchtiger Violinist und Katharina
b
—
VII. Katharina IT. 168
liess ihn Quartette und Kammereoncerte bei ihr ver-
anstalten, wobei sie auf ein Zeichen von ihm, das Quartett
sei zu Ende, wartete, um zu applaudiren. Selbst Potemkin
konnte Subow nicht verdrängen, so wüthend er auch über
dessen Einfluss war; Subow mischte sieh in alle Staats-
geschäfte, ohne etwas davon zu verstehen, wurde zum
Werkzeuge des schlauen Diplomaten Markow, bereicherte
sich in unwürdigster Weise, leitete seit 1792 die auswärtigen
Angelegenheiten, stürzte den verdienten Sievers, wurde
1798 Reichsgraf und im Juni 1796 durch Franz Il.
Reichsfürst, seine schmähliche Wirthschaft beeinträchtigte
wesentlich den Ruhm der letzten Jahre Katharinas IL
In der auswärtigen Politik war Katharina II. vom
Glücke ungewöhnlich begünstigt. Dies zeigte sich als-
bald gegenüber Polen und der Pforte. Der Tod Augusts III,
von Polen und Sachsen bot den gewünschten Anlass,
ihren Einfluss in Polen zu erhöhen; sie traf Verabredungen
mit Friedrich dem Grossen, war gleich ihm gegen die
Wahl eines Erzherzogs, des Prinzen Conti und des Prinzen
Xavor von Sachsen, welehe Oesterreich und Frankreich be-
trieben, hingegen für die Wahl eines Piasten ohne grosse
Verbindungen. Dabei verfolgte sie mit Panin den Ge-
danken, dem Bunde Oesterreichs und Frankreichs und
dem bourbonischen Familienpakte einen Nordischen Bund
entgegen zu stellen; derselbe sollte Russland, Preussen,
Grossbritannien, Schweden. Dänemark, Sachsen und die
kleinen deutschen Staaten umfassen, sollte verhindern,
dass die Ruhe im Norden bedroht werde wie dass die
Monarchie in Schweden erstarke, denn um keinen Preis
wollte sie zugeben, dass die Wasa nutokratische Gewalt
erlangten: Schweden wie Polen mussten schwach bleiben.
Als geeignetsten Kandidaten für den polnischen Thron
empfahl Katharina dem Preussenkönige ihren früheren
Geliebten Stanislaus Poniatowski, dessen absolute Be-
deutungslosigkeit sie am besten kannte. Polens Krone
durfte nicht erblich werden, die Polen ruinirende Ver-
füssung musste fortbestehen, auf den Reichstagen blieben
nach wie vor das liberum veto und die Stimmeneinheit
ı1r
u
164 VII. Katharina IT.
in Geltung, die bewaffnete Macht durfte nicht vermehrt
werden, und bei heuchlerischer Betonung ihrer Friedens-
liebe hielt Katharina Truppen zum Einräcken in Polen
an der Grenze bereit. Graf Keyserlingk und Fürst
Nikolai W. Repnin, ihre Gesandten in Warschau, wühlten
und sie selbst erklärte, falls die Wahl nicht nach ihrem
Wunsche ausfalle, werde sie alle Kräfte, „die ihr die Vor-
sehung in die Hand gegeben habe“, anwenden; von
Stanislaus aber forderte sie, dass er das Interesse Russ-
lands stets als das seinige ansehe, denn durch Stanislaus
wollte sie in Warschau, dureh Biron in Mitau regieren;
ihre Gesandten hingegen gaben die feierliche Versicherung,
Katharina denke weder an eine Theiluug Polens noch
werde sie den Versuch einer solchen von irgend Jemandem
dulden; Keyserlingk, Repnin und der preussische Ge-
sandte gaben dem Primas am 27. Dezember 1763 dasselbe
Versprechen, am 11. April 1764 aber schlossen Russland
und Preussen eine Defensivallianz und eine geheime Kon-
vention, Katharina schiekte Truppen, unter deren Druck
Stanislaus zum Könige gewählt wurde, die Grossen er-
hielten Bestechungsgelder und Auszeichnungen, der Reichs-
tag erkannte den russischen Kaisertite] an. Russland und
Preussen kamen am 22. Juli überein, bei der Republik
und bei dem Könige für alle Dissidenten*) einzutreten,
ihnen freie Ausübung ihrer Religion u. s. w. zu verschaffen;
jeder Verfassungsreform, wie Stanislaus’ Oheime, die wahr-
haft patriotischen Fürsten Ozartoryski, solche im Sinne
hatten, widersetzten sich Katharina und Friedrich aufs
Schroffste, Polen sollte ja nicht erstarken; Repnin behan-
delte die Gegner Russlands mit Brutalität und schloss mit
Stanislaus ein Schutz- und Trutzbündniss. Lediglich aus
politischen Beweggründen unterstützten Katharina und
Friedrich die Reklamationen der Dissidenten; es bildeten
sich Konföderationen orthodoxer. katholischer und pro-
testantischer Dissidenten, von denen die katholische in
Radom unter dem Gegner der Üzartoryski, dem Fürsten
*) Die griechisch-katholische und die protestantische Bevölkerung
in Polen,
VIL Katharina IT. 166
Karl Radziwill, die bedeutendste war; allmälig brachte
es Polen auf 178 Konföderationen. Stunislaus schloss sich
auf Katharinas Weisung der litauischen von Radom an,
die damit zur Generalkonföderation erhoben wurde, der
im Oktober 1767 in Warschau eröffnete Reichstag stand
unter dem Drucke eines russischen Heeres, Fürst Repnin
liess die den russischen Zielen entgegen arbeitenden Bischöfe
von Krakau und Kiew und zwei Landboten durch Gre-
nadiere aufheben, nach Russland schleppen und ihre
Güter einziehen. Eine Delegation und bald der Reichstag
selbst unterschrieben sümmtliche Wünsche Repnins, Repnin
schloss mit dem Primas Podoski den „ewigen Vertrag“
vom 24. Februar 1768, der Polens neue Verfassung unter
Russlands Schutz stellte, das liberum veto bestätigte und
den Dissidenten die Gleiehstellung mit den Römisch-
Katholischen verlieh. Hiermit war Russland der Herr in
Polen. Friedrich hatte dazu tüchtig mitgeholfen, den
Sieg aber gönnte er Katharina nicht, er wollte zwar ihr
selbständiger Allürter sein und schloss mit ihr am 4. Mai
1767 eine geheime Konvention in Moskau, „nie aber,
so lange ihm die Augen offen stünden, wollte er ihr Sklave
werden“, und mochte von Panins Vorschlag, Preussen
solle dem Nordischen Bunde beitreten, nichts hören.
Die Polen geriethen immer tiefer in Katharinas Netz.
Die Generalkonföderation von Radom hatte sich aufgelöst,
aus ihren Trümmern erstand aber die Konföderation von
Bar unter den Grafen Potocki, Pulawski und Krasinski,
daneben die Konföderationen von Lublin, Haliez und
Krakau; hinter diesen standen Oesterreich, Frankreich
und die Pforte, Russlands Gegner, vor allen der Staats-
sekretär der auswärtigen Angelegenheiten in Versailles,
der Herzog von Choiseul. Stanislaus rief gegen die Kon-
föderirten russische Truppen herbei, Repnin, welcher das
Kommando übernahm, schlug Jene wiederholt, die Ukraine
schwamm in Blut, Bar und Krakau gingen den Kon-
föderirten verloren, bei der Verfolgung von Haidamaken
und saporogischen Kasaken durch die Russen wurde die
tatarische Stadt Balta in Brand gesteckt, was die Spannung
mit der Pforte erhöhte und bald zum Türkenkriege führte.
je
u
Die Hoffnung der Konföderirten auf letzteren war trüge-
risch, die Protektion Frankreichs und Oesterreichs nützte
ihnen gar wenig, wenn ihnen auch Choiseul Geld und
Offiziere schiekte. Repnins Nachfolger, Fürst M. N. Wol-
konski. drang vor und nahm fast alle Festungen in
Polen, Der Versuch der Konföderirten, Stanislaus auf-
zuheben, scheiterte im November 1771 und schadete ihnen
vor ganz Europa, während Wolkonskis Nachfolger, von
Saldern. in seinem Uebermuthe keine Grenzen kannte;
überall geschlagen, zerstreuten sich die Konföderirten im
Jahre 1772. Frankreich hatte mittlerweile die Türken auf
Russland gehetzt, Choiseul und Vergennes, der Botschafter
am Divan, waren unablässig thätig gewesen und der Brand
von Balta führte im Oktober 1768 zur Kriegserklärung
durch Mustapha II. und zur Einsperrung des russischen
Gesandten Obreskow in die „Sieben Thürme*. Vergennes
sandte den Baron Tott an den Khan der Krim, um die
Tataren zum Einfalle in Neu-Serbien zu bewegen, der
1769 unter grosser Verheerung erfolgte,
Katharina begrüsste den Krieg als Gelegenheit zu neuem
Ruhme, suchte aber vergebens Friedrich den Grossen zur Be-
theiligung daran zu bestimmen; vom Ausgange des Krieges
musste auch Polens Schicksal abhängig werden. Ueber die
Annäherung Friedrichs an Kaiser Joseph IL. brauchte sie
nicht beängstigt zu sein, denn Friedrich selbst lag sehr viel
an der Erneuerung des Bündnisses mit ihr. Am 2. Pebruar
1769 hatte Friedrich den Plan einer Theilung Polens auf-
gezeichnet, er schrieb ihn dem sächsischen Grafen Lynar zu,
war aber selbst der Autor; er sandte ihn nach St. Peters-
burg, liess ihn aber fallen, als Panin zu schwere Bedingungen
stellte, und erneuerte am 23. Oktober 1769 sein Bündniss
mit Russland bis zum April 1780; seine Begegnungen mit
Joseph Il. in Neisse und Mährisch-Neustadt erhöhten
seinen Preis in $t. Petersburg bedeutend. Katharina
sandte im Jahre 1769 den Fürsten Alexander Michailo-
witsch Galitzin, dem alle militärischen Talente fehlten,
als Oberbefehlshaber gegen die Türken, er schlag den
Grossvezier bei Chotin und nahm, als er eben abberufen
wurde, im September diese Festung, sein Heer besetzte die
166 VII. Katharina IT.
_ ai
VIL Katharina II, 16
Moldau und Walachei. „Der Turenne Russlands“, Graf Peter
Alexandrowitsch Rumjanzow, der bisher nur die zweite
Armee gegen die Türken geführt, erhielt nun den Ober-
befehl der grossen Armee, entfaltete seine ganze Energie,
siegte in den glorreichen Schlachten von Larga und Kaghul
über die an Zahl weit überlegenen Türken und Tataren,
brachte Ismail zum Falle und fand, zum Generalfeld-
marschalle befördert. den Weg an die Donau; sein Nach-
folger bei der zweiten Armee, Graf Peter Iwanowitsch
Panin, des Ministers Bruder, besetzte Bessarabien, eroberte
die wichtige Festung Bender und brachte die Tataren
von Jedissan und Budjak durch den Vertrag vom
17. August 1770 zur Unterwerfung unter Russland. Graf
Alexei Grigorjewitsch Orlow, der Katharinas Herzen theuer
war, regte bei ihr den Gedanken einer Expedition zur
See an, sie schickte zwei Geschwader unter Spiridow und
Elphinstone ab und ernannte Orlow, der nie eine Scha-
luppe geführt hatte, zum Generaladmirale der Flotte im
Archipel; Orlow trieb die Mainoten zum Aufstande gegen
die Türken an, verhiess in hochtönenden Manifesten den
Griechen Befreiung vom türkischen Joche, und Voltaire ver-
kündigte schon die Wiederauferstehung Athens und Spartas;
als Morea in vollem Aufstande war, fuhr jedoch Orlow ab und
überliess die Bevölkerung der türkischen Rache. In der
Nacht zum 7. Juli 1770 steekten der Admiral Spiridow und
die britischen Offiziere Elphinstone, Greigh und Dugdale,
während Orlow müssig in seiner Kajüte sass, die türkische
Flotte bei Tschesme in Brand, den Lohn hierfür erntete
Orlow, der das höchste Zeichen der Tapferkeit, den St,
Georgs-Orden I, Klasse, und den Ehrennamen Tschesmenskü
erhielt. Der Schrecken in Konstantinopel war ungeheuer,
Tott setzte rasch die Dardanellen in Vertheidigungs-
zustand, Orlow aber verlor mit Besetzung der Inseln des
Archipels die Zeit und so ging die Gefahr einer Ein-
fahrt der Flotte durch die Dardanellen vorüber. General
Tottleben drang an das Schwarze Meer vor, die Kabardei
wurde unterworfen, der Kaukasus und Montenegro erhoben
sich gegen die Pforte. Fürst Wassilii Michailowitsch
Dolgoruki, Panins Nachfolger bei der zweiten Armee,
1 VIE. Katharina II.
schlug 1771 den Khan der Krim, erstürmte Perekop und
eroberte binnen 14 Tagen die Krim, wofür er ausser dem
St. Georgs-Örden I. Klasse den Beinamen Krimskii erhielt,
auch brachte er die tatarischen Mursen zur Anerkennung
der russischen ÖOberloheit. Vergebens bemühte sieh
Friedrich, der solchen Erfolgen inissgünstig zusah, der
Pforte den Frieden mit Russland zu verschaffen, die
Kaiserin liess sich in ihrem Siegeslaufe nicht aufhalten
und stellte die Friedensbedingungen immer höher: Fried-
rich fürchtete, es könne ein europäischer Krieg aus-
brechen, und wollte nicht zulassen, dass Russland zu
mächtig und dem europäischen Gleichgewichte gefährlich
werde; auch Oesterreich wollte letzteres nicht ruhig mit-
ansehen, sondern den Siegeslauf Katharinas wufhalten,
und besetzte schon im Juli 1770 die Zips, Kaunitz suchte
Friedrich zu bestimmen, dass er, mit den Oesterreichern
vereint, die Russen aus Polen verjage, wobei er Kurland
und Semgallen davon tragen könne. Katharina hatte
Friedrichs Bruder, den Prinzen Heinrich, im Herbste 1770
nach $t. Petersburg eingeladen und behandelte ihn voll
Auszeichnung; als sie sah, dass Oesterreich polnisches
Gebiet besetzte und Preussen diesem Beispiele folgte,
sagte sie im Januar 1771 zu Heinrich: es scheine, in
Polen brauche man sieh nur zu bücken, um ein Stück
Landes aufzuheben; Panin freilich wollte nichts von Polens
Zerstückelung wissen, er gönnte es Russland allein.
Als aber Friedrich „den Iynarschen Plan“ abermals in
St. Petersburg einbrachte, ging Katharina darauf ein,
Maria Theresia wollte Polens Theilung nicht und schloss
im Juli 1771 ein heimliches Bündniss mit der Pforte, doch
verstummten ihre Bedenken vor der Ländergier ihres
Sohnes Josephs IL, und des Fürsten Kaunitz, welche einer
Theilung Polens zustimmten. Am 15. Januar 1772 schlossen
Russland und Preussen geheime Konventionen wegen der
Theilung (unterzeichnet am 17. Februar), Oesterreich trat
mit hohen Anforderungen auf, deren Empfehlung in 8t.
Petersburg Friedrich übernahm, den Polen fehlte jede
Macht gegen die Vergewaltigung, Katharina verfuhr mit
seltener Schlauheit, Grossbritannien, Frankreich und die
E
VII, Katharina IT, 109
Pforte thaten nichts für Polen und s0 konnte am 5. August
1772 in St. Petersburg die Theilungsakte zwischen Russ-
land, Oesterreich und Preussen von Panin unterzeichnet
werden; russische Truppen besetzten sofort die von Ka-
tharina ausgesuchten Gebiete, für deren Verwaltung sie
schon im Mai 1772 eine Verordnung verfasst hatte. Russ-
land erhielt bei der ersten Theilung Polens die
Wojewodschaften Witebsk und Mastislaw, die halbe Wo-
jewodschaft Poloozk und ein Gebiet längs des Dnjepr,
1975 Quadratmeilen mit 1800000 Seelen. Russland hatte,
wie wir im Verlaufe unseres Ueberblicks sahen, seit Jahr-
hunderten gesucht, sich auf Polens Unkosten auszubreiten,
Katharina hatte die feindliche Stellung beider Staaten vor-
gefunden, sie nicht erst geschaffen, und handelte ganz im
Geiste ihrer Vorgänger auf dem Throne, wenn sie Polens
Schwäche benutzte. Unter dem Drucke der Heere der
drei Mächte und unter der Wirkung von Bestechungs-
geldern erkannten Stanislaus und der Reichstag im
September 1773 die Theilungsverträge an, und nun über-
liessen Russland und Preussen, sich nicht weiter um
die Dissidenten kümmernd, dieselben ihrem Schicksale;
sie hatten ja ihre Schuldigkeit gethan! übrigens behielten
sie das Recht freier Religionsausübung. Mit grossem
Verdrusse erfüllte die Revolution in Schweden, welche
Gustav II. zur Kräftigung der Krone mit französischer
Unterstützung im Jahre 1772 ausführte, Katharina und
Friedrich, Schweden war fortan ein zu fürehtender Nach-
bar und Katharina gerieth, mit Polen und der Türkei be-
schäftigt, in Sorge, Kronstadt und St. Petersburg möchten
einem schwedischen Angriffe ausgesetzt werden und ihm
nicht Stand halten können. Sie betrieb darum ernstlich
die Einleitung eines Friedens mit der Türkei, aber die zu
Fokschani am 13. August 1772 begonnenen Unterhand-
lungen führten zumal wegen des Dünkels des ersten
Bevollmächtigten Grafen Grigorii G. Orlow zu nichts, der
Waffenstillstand lief am 2. Oktober ab und der Krieg wurde
fortgesetzt. Rumjunzow blokirte schliesslich den Gross-
vezier in dessen Lager bei Schumla und zwang ihn zum
Frieden von Kutschuk-Kainardschi, der am
—
176 VII. Katharina II.
21. Juli 1774 in Rumjanzows Zelt auf einer Trommel
unterzeichnet wurde. Die Pforte erkannte die vollkommene
politische Freiheit und Unabhängigkeit der Tataren der
Krim, des Kuban und des Budjak an, wodurch deren Ab-
hängigkeit von Russland angebahnt wurde, trat Kertsch,
Jenikale, Asow, Kinburn und beide Kabardeien an Russ-
land ab, gestattete den russischen Handelsschiffen freie
Fahrt auf dem Schwarzen Meere und versprach, die
russischen Kaufleute auf gleichem Fusse mit den fran-
zösischen, d. h. der meist begünstigten Nation, zu behandeln;
sie zahlte 4% Millionen Rubel Kriegsentschädigung und er-
kannte den russischen Kaisertitel an; Russland gab seine un-
deren Eroberungen heraus. Aus diesem Friedensinstrumente
leitete Russland später das Schutzrecht über die griechisch-
orthodoxen Christen im ganzen türkischen Reiche ab und
so wurde der 21. Juli 1774 der Geburtstag der orien-
talischen Frage. Der oesterreichische Internuntius Baron
'Thugut erkannte den grossen Nutzen dieses Friedens für
Russland und äusserte: „Jetzt ist die Zarin in Stambul
Befehlshaberin, der Sultan dort nur noch Miethsmann.
dem, sobald man will, die Wohnung gekündigt wird.....
Russland wird, wann immer es ihm beliebt, am Schwarzen
Meere landen können; von seiner neuen Grenze bei
Kertsch aus kann es in 48 Stunden ein Armeekorps bis
unter die Mauern Konstantinopels führen.“ Katharina
veranstaltete 1775 eine grossartige Friedensfeier auf dem
Chodynka-Felde bei Moskau, worüber sie an Grimm
schrieb und eine Broschüre in Berlin veranlasste, feierte
den Generalfeldmarschall Rumjanzow mit kaiserlicher
Liberalität und gab ihm den Ehrennamen Sadunaiskii (der
über die Donau Gegangene). Der Friede, welcher am
24. Januar 1775 ratifieirt wurde, führte trotzdem nicht zu
friedlichen Verhältnissen, denn Russland machte alsbald
den Versuch, für angebliche Handelsschiffe, die thatsäch-
lich Kriegsfregatten waren, die Durehfahrt durch die Dar-
danellen zu erzwingen, baute Kriegsschiffe für den Dnjepr,
ordnete den Bau von Festungen an der türkischen Grenze
wie Üherson ete. an und suchte auf türkische Unkosten
nach Südwesten vorzudringen. Als Etappe zu einem neuen
VIE Katharina nn. ım
Türkenkriege, der ja kommen musste, sollte Polen Ka-
tharina dienen; sie garantirte Polens unselige neue Ver-
fassung und Integrität und bediente sich des permanenten
Reichsraths der Vierzig zu ihren Intriguen. Friedrich der
Grösse that alles, um das Bündniss mit ihr aufrecht zu
erhalten, im April 1776 kam Prinz Heinrich wieder nach
St. Petersburg, erzielte aber wegen Polens keine Ver-
einbarung, Potemkin erhielt den Schwarzen Adler-Orden
und Preussen leitete die Verlobung des verwittweten
'Thronfolgers mit einer württembergischen Prinzessin ein,
deren Vater wie einst der Katharinas II. preussischer General
war. Unter lauter Intriguen brachte Katharina die Krim
allmälig in ihre Gewalt, der türkische Einfluss machte
dem russischen Platz, 1777 erfolgte die widerrechtliche
Besetzung von Perekop. ein neuer Krieg mit der Pforte
stand in Sicht, doch verhütete die Vermittelung des fran-
zösischen Botschafters in Konstantinopel, Grafen de Saint-
Priest, den Ausbruch und im Juli 1779 bestätigte die Kon-
vention von Ainali-Kawak den Frieden von 1774; Russ-
lands Schützling Schahin-Ghirai wurde als Khan der
Krim, deren Unabhängigkeit wiederum bekräftigt wurde,
vom Sultan investirt, der russische Handel erlangte neue
Vortheile.
Das Verhältniss Russlands zu Feankreich besserte
sich nach dem Tode Ludwigs XV., der bevollmächtigte
Minister am russischen Hofe, Marquis de Juigne (seit
1775), wurde sehr freundlich behandelt, die Kaiserin näherte
sieh Oesterreich und Frankreich; Panin hielt am Bündnisse
mit Preussen und Grossbritannien fest. doeh kreuzten
seinen Einfluss manchmal der jeweilige Günstling und
Östermanns Sohn, der höchst beschränkte Graf Iwan
Andrejewitsch Ostermann, der 1775 Galitzin als Reichs-
vieekanzler gefolgt war. Als der bayerische Erbfolgekrieg
ausbrach, sah sich Russland in der Lage, Preussen be-
waffnete Hilfe leisten zu müssen, denn Katharina hatte
mit Friedrich 1764, 1769 und 1777 Allianzverträge und
1772 eine Militärkonvention abgeschlossen; sie übte darum
gleich Ludwig XVI. in Wien eine Pression zu Gunsten
des Friedens aus, ihr langjähriger Gesandter in Wien,
=
12 VIT. Katharina It.
Fürst Dmitrii Michailowitsch Galitzin®), erklärte Maria
Theresia und Joseph IL, im Fulle der Friede nicht er-
folge, müsse Katharina Friedrich Truppen schicken ; dies
wirkte und auf dem Teschener Kongresse vermittelte der
mit dem Befehle dieser Truppen bereits betraute Fürst
Nikolai Wassiljewitsch Repnin. der frühere Gesandte in
Polen, mit dem französischen Bevollmächtigten Baron
Breteuil den Frieden vom 13. Mai 1979; Russland war
fortan Garant des Teschener und des Westfälischen
Friedens und benutzte diese Rolle zur Einmischung in
die inneren Angelegenheiten des deutschen Reichs. In ihrer
selbstherrlichen Natur fühlte sich Katharina seit lange durch
die britische Herrschaft auf dem Ocean verletzt, Gross-
britanniens Willkürakte gegen die Schiffe der neutralen
Staaten erbitterten sie immer mehr und als der amerika-
nische Befreiungskrieg begann, erwärmte sie sich nicht
wie Panin für Grossbritannien, sondern näherte sich unter
Potemkins Einfluss Frankreich, dem Alliirten der Ameri-
kaner, und doch gab das Cabinet von St. James Potemkin
50000 Pfund Sterling und überschüttete seine fünf Nichten,
die ihn durch Schönheit und Verstand beherrschten **); mit
Brillanten. Katharina lehnte die Allianz der Briten ab,
Als die Spanier ein holländisches in Archangel befrachtetes
und ein russisches Handelsschiff anhielten und nach Oadix
führten, forderte Katharina von ihnen Genugthuung, und
durch die Erklärung vom 11. März 1780 proklamirte sie
die schon 1778 von Vergennes angeregten Prineipien der
Rechte der Neutralen; sie sammelte bei Kronstadt eine
Flotte und notifieirte sofort den Cabinetten von Frankreich,
Spanien und Grossbritannien ihre Erklärung, worauf
Frankreich und Spanien ihr alsbald beipflichteten. Die
Briten hingegen waren verstimmt. Spanien gab Satis-
faktion und Katharina betrieb nun die Liga der Neutralen
oder der bewaffneten Neutralität, der zuerst im Juli 1780
Dänemark, dann Schweden, die Generalstaaten, Preussen,
Oesterreich, Portugal und Beide Sicilien beitraten., Die
*) Gönner Mozarts, Freund der Künste,
**) Er liess sie 1775 alle nach St. Petersburg kommen,
VIE. Katharina II. 1m
bewaffnete Neutralität ist dem Kopfe Katharinas, nicht
Panins entsprungen; Schiffen mit neutraler Flagge sollte
der Handel mit kriegführenden Mächten, ausgenommen
der Handel mit Kriegsbedarf, fortan gestattet sein. Und
Katharina hielt die britische Diplomatie dergestalt in der
Schwebe, dass dieselbe ihre Orientpläne nicht zu stören
wagte.
Um seine Phantasien in die Wirklichkeit umzusetzen,
steuerte Potemkin, den Bilbassow unserer Ansicht nach weit
überschätzt, einem neuen Türkenkriege zu, Katharina stand
völlig unter dem Banne des Athleten; auch war ja ihr Ideal
‚der Sturz des osmanischen Reichs, die Eroberung Konstan-
tinopels und die Errichtung eines griechischen Kuiserthums
unter ihrem zweiten Enkel Konstantin Pawlowitsch, der
eine griechische Amme erhielt; die Griechen setzten eben-
falls ihre ganze Hoffnung auf Katharina, die allein Athen
und Sparta zu neuem Leben führen könnte, wenn sie die
Türkenherrschaft vernichtete, und sie kokettirte mit den
Griechen, zumal bei persönlichen Begegnungen. Potemkin
hoffte, dass bei der Ausführung dieses „griechischen Pro-
jektes" für ihn ein Königreich Dacien abfallen würde.
Katharina und Joseph näherten sich einander, um eine
Verständigung über gemeinsame Eroberungen auf der
Balkanhalbinsel zu treffen; Joseph wollte die alte Maxime,
man müsse die Türkei erhalten, aufgeben, wollte Preussen
um das russische Bündniss bringen und sieh mit Ka-
tharina innig allüren; sie legte längst keinen Werth mehr
auf das Bündniss mit Friedrich, der nicht ihr Diener
sein wollte, begann ihn sogar zu hassen. Bo hatte Joseph
leichtes Spiel. Er reiste im Mai 1780 als Graf von Falken-
stein zu Katharina nach Mohilew, erneuerte hier im Juni
die alte Freundschaft Russlands und Oesterreichs auf
Kosten Preussens und der Türkei und wurde dann in
Moskau und St. Petersburg als Gast grossartig gefeiert.
Katharina erwartete für ihre orientalischen Pläne Josephs
Unterstützung und wollte seine Ländergier von der Türkei
auf Italien ablenken; sie sprach darum von der Theilung
Europas in ein östliches Kaiserreich mit der Hauptstadt
Konstantinopel und in ein westliches mit der Hauptstadt
174 VE. Katharina IT.
Rom; Joseph lauschte zwar verbindlich ihren Träumereien,
sah aber die wahre Sachlage unter der schimmernden
Decke und hatte vor Russlands Macht keine besondere
Furcht; Katharina wur glücklich über den auf Joseph
erzielten Eindruck und blieb ihm bis zu seinem Tode
warm zugethan. Ein wirkliches Bündniss zwischen Ka-
tharina und Joseph unterblieb, da Erstere die Gleich-
stellung mit dem Kaiser beanspruchte, was gegen das Her-
kommen verstiess, und so wurden die Abmachungen über eine
Defensivallianz im Mai und Juni 1781 in Briefform ge-
troffen. Im Mai 1781 versprach dann Joseph, er werde die
Pforte anhalten, ihre Verträge zu erfüllen, und werde, falls
sie den Frieden breche und eine Invasion in Russland
versuche, ihr den Krieg erklären und ebenso viel Truppen
wie die Zarin marschiren lassen, wobei er auf gleiche
Entschädigung rechnete; sollte eine andere Macht während
des Kriegs Russland angreifen, so werde der Kaiser mit
seiner ganzen Macht Russland Hilfe bringen und nur nach
gemeinsamer Verständigung wolle er Frieden oder Waffen-
stillstand schliessen, welche selben Versicherungen Ka-
tharine gab. Diese Abmachungen erschreekten die
preussische Partei in St. Petersburg, voran Panin; im
September 1780 war der Prinz von Preussen sehr lau
empfangen worden und hatte die Erneuerung der Allianz
nicht erreichen können, worüber der oesterreichische Ge-
sandte Graf Cobenzl frohlockte, und im September 1781
trat Panin, den Potemkin um allen Einfluss gebracht hatte,
ab, ohne dass ein offener Bruch mit Preussen erfolgte: Panins
Verabschiedung geschah in sehr ungnädiger Weise, wobei
wohl sein reges Interesse an Paul in besonderem Masse
mitwirkte. Als Grossfürst Paul 1782 Westeuropa bereiste,
vermied er Berlin, nahm aber einen auffallend langen
Aufenthalt in Wien und sein Besuch in Versailles be-
siegelte die Aussöhnung mit Frankreich; Katharina unter-
stützte die Wahl des Erzherzogs Maximilian zum Kondjutor
in Köln und Joseph füdelte die Verlobung seines Neffen
Franz mit der Schwester von Pauls zweiter Gemahlin ein;
Katharina intervenirte auch für die Einleitung des Friedens
zwischen Frankreich und Grossbritannien.
VIE Katlıarina IL 175
Von Russland geschürt, brach in der Krim ein Auf-
stand der Tataren aus und Katharina rechnete bei seiner
Ausnützung auf Josephs Beihilfe: Joseph erklärte seine
Bereitwilligkeit und Katharina schrieb ihm am 21. Sep-
tember 1782. um ihm die Gefahrlosigkeit eines neuen
Türkenkriegs und ihre Beschwerdegründe vorzutragen und
ihn zu einer geheimen Konvention wegen Fixirung der in der
Türkei zu machenden Gebietserwerbungen zu veranlassen.
Es sollte ein für ewige Zeiten unabhängiger Staat Dacien
aus Moldau, Walachei und Bessarabien gebildet und einem
Fürsten griechischer Konfession, wobei Katharina nur
an Potemkin dachte, übergeben werden, Joseph sollte
die Grenze zwischen Oesterreich und der Türkei be-
stimmen, Katharina beanspruchte für sich nur Otschakow
und den Landstrich zwischen dem Bug und dem Dnjestr
nebst einer oder zwei Inseln des Archipels zur Sicherung
des russischen Handels, doch erwartete sie, sobald die
Befreiung Europas von den Osmanen erfolgen könnte,
Josephs Mitwirkung hierzu wie zur Wiederherstellung
des griechischen Kaiserthums unter Konstantin, wobei
bestimmt ward, dass derselbe niemals die russische und
die griechische Kaiserkrone zugleich tragen dürfe. Joseph
beantwortete diese Eröffnungen mit der Aufstellung so
hoher oesterreichischer Gegenforderungen, dass sie in St.
Petersburg unangenehm berührten; Katharina musste vor-
erst „das griechische Projekt“ fallen lassen. Die aus-
wärtige Politik leitete jetzt in erster Linie Potemkin.
unter ihm Ostermann und Besborodko; Fürst Grigorü
Alexandrowitsch Potemkin war in der Politik olıne
Genie wie ohne Moral, hielt sich aber für einen ausser-
ordentlichen Menschen; alles ging nach seiner Laune und
er schonte Niemanden, so hoch derselbe auch stehen
mochte, er gebot neben Katharina in Russland und ent-
nahm nach Belieben den öffentlichen Kassen Gelder ohne
Abrechnung®). Bei Panins Entlassung hatte der Reichs-
vicekanzler Graf Ostermann die auswärtigen Angelegen-
heiten übernommen, doch war er ohne bestimmenden Ein-
.) Denkwürdigkeiten von A. M. Turgenjow in „Russkaja
‚Starina*“, November 1588.
——
176 VII. Katharina IT.
Huss und wurde immer mehr in den Schatten gedrängt:
ein verschlagener Kleinrusse hingegen, Alexander Andreje-
witsch Besborodko, dessen hervorragende stautsmännische
Begabung, unterstützt durch ein phänomenales Gedächtnis,
dessen rasche Denkfähigkeit und grosse Thätigkeit frühe
bemerkt worden waren, leitete unter dem hescheidenen
Titel eines Mitglieds des Kollegs des Aeusseren die Ge-
schäfte; er war zwar Potemkins stiller Feind, hütete sich
aber, diese Gefühle laut werden zu lassen, besass grossen
Einfluss bei Katharina, war von Oesterreich gewonnen
und seit 1784 Reichsgraf. Katharina beschloss nun, sich
der Krim zu bemächtigen, Joseph unterstützte sie zwar
nicht mit Truppen, wirkte aber auf diplomatischem Wege
für sie auf den Divan ein: ihre Intriguen hatten glänzenden
Erfolg, ihre Soldaten zogen in der Krim ein, der Khan
Schahin-Ghirsi trat am 19. April 1783 gegen ein Jahr-
geld die Krim, den Kuban und die Halbinsel Taman an
Katharina ab und mit der Einverleibung dieser Gebiete
war die letzte Spur der mongolischen Eroberung Russ-
lands ausgelöscht; unter barbarischer Metzelei zwang
Potemkin die Tataren zum Gehorsam. In demselben Jahre
brachten russische Intriguen die georgischen Fürsten-
thümer Kacheti und Karthli zur Unterwerfung. Abdul-
Hamid 1. wollte zwar wegen der Eroberung der Krim zum
Schwerte greifen, Frankreich, Oesterreich und Preussen
aber vermochten ihn, von diesem Vorhaben abzustehen,
Saint-Priest in erster Linie wirkte darauf hin, und so be-
stätigte der Sultan am 8. Januar 1784 die Abtretung der
Krim, Kubans und Tamans und schloss eine Friedens-
und Freundschaftskonvention mit Katharina. Katharina
bildete aus der Erwerbung das Gouvernement Taurien. Nun
hatte Russland endlich die Herrschaft auf dem Schwarzen
Meere und freie Fahrt auf allen türkischen Flüssen.
Der Grossherzog Peter Leopold von Toskana sagte,
Russland werde fortan das Schwarze und das Kaspische
Meer beherrschen und könne jederzeit Konstantinopel be-
deohen, die Diplomaten prophezeiten, Katharina werde
nächstens Otschakow angreifen, der uns von Tschesme
bekannte Admiral Samuil Karlowitsch Greigh schrieb ein
VII. Katharina IT. 197
Gutachten über einen Angrif! auf die Dardanellen, der
Reis-Effendi anderseits betonte, die Türken würden sich
lieber in Stücke zerreissen lassen, als den Russen den
ruhigen Besitz der Krim gönnen. Der neue bevollmäch-
tigte Minister Ludwigs XVI. Graf Louis Philippe de
Sögur, gewann die besondere Gunst Katharinas, Potem-
kins und des Hofes, stellte Potemkin die für Russland
grossen Vortheile eines Handelsvertrags mit Frankreich
ins glänzendste Licht und erreichte im Januar 1787 den
Abschluss eines solchen auf dem Fusse der gegenseitig
meist begünstigten Nationen; keinem seiner Vorgänger
seit 1629 war ein soleher Erfolg gelungen. Sögur begleitete
Katharina mehrmals auf der Reise, durfte dabei in
ihren Wagen einsteigen und wusste sie vortreflich zu
unterhalten. Während Katharina noch zu Lebzeiten
Friedrichs des Grossen den aus Berlin ergangenen Vor-
schlag einer preussisch-russisch-türkischen Allianz ablehnte
und Preussen unter dem neuen Könige in Konstantinopel
gegen sie thätig war, sondirte Besborodko im November
1787 Segur wegen einer Tripelallianz gegen die Türken,
und als der neue Türkenkrieg herankam, schlug Russland
Sögur die Bildung einer Quadrupelallianz von Russland,
Frankreich, Oesterreiell und Spanien vor, die sich gegen
die Türkei und Schweden wie auch gegen Grossbritannien
und Preussen kehren sollte; Sögur unterstützte diesen
Antrag bei Montmorin, dem Minister des Aeusseren, Mont-
morin nahm den Gedanken im Principe an, dämpfte aber
Sögurs Enthusiasmus, Spanien lehnte ab und so unterblieb
die Allianz, Katharina unterstützte Josephs Projekt der
Erwerbung Bayerns, rieth den Generalstaaten im Jahre
1784 vom Kriege gegen ihn ub, war eine Gegnerin des
Fürstenbundes Friedrichs und jeder Einigung der deutschen
Regierungen und deutschen Interessen zu einem Ziele.
Sie wollte sich von Potemkins Verwaltung in der Krim
und am Schwarzen Meere, über die man Arges munkelte,
persönlich überzeugen und lud Joseph zu einer Begegnung
in Cherson, der Schöpfung Potemkins, ein, wobei auch Sögur
sie begleitete: König Stanislaus stiess in Kanew zu ihr, er-
reichte aber keinen förmlichen Bündnissvertrag und ver-
A. Kleinsehmidt, Uoberbi. d. rum. Gesch. u. 1806. 2
Feind, den Grafen Rumjanzow-Sadunaiskü, zu stürzen; die
Täuschung Katharinas gelang, wie wir schon berichteren,
vollständig, Potemkins Blendwerke berückten sie und sie
gab ihm in Charkow im Juni 1787 den Ehrennamen Tawri-
tscheskii (8.161). Joseph und Katharina redeten wenig von
Geschäften, Katharina dachte fortgesetzt an einen Türken-
krieg, während Joseph die Hoffnung hegte, die Pforte
nachgiebig stimmen zu können. Potemkin wollte den Krieg
um jeden Preis, obwohl unter seinem Regimente — or
war Grossadmiral auf dem Schwarzen Meere und Prä-
sident des Kriegskollegs — Flotte und Heer in Zerrüttung
waren; er hetzte den Gesandten am Divan, Bulgakow.
auf, russische Emissäre wühlten in den rumänischen.
griechischen und slawischen Gebieten der Pforte und in
Aegypten, und auf den in der Krim errichteten Triumph-
bogen stand die den Türken bedrohlich klingende Inschrift
„Strasse nach Byzanz!“ Joseph nannte die ganze Reise
eine Hallucination, erkannte aber, wie rasch man von dem
Prachthafen Sewastopol in Byzanz sein könne: nichts be-
wies schlagender die Komödie Potemkins als der erbürmliche
Zustand, in dem Russland in den gerade von seiner Ruhm-
sucht heraufbeschworenen Türkenkrieg eintrat, Die Pforte
verlor schliesslich die Geduld, stellte an Russland ein un-
annehmbares Ultimatum, forderte im August 1787 von
Bulgakow die Restitution der Krim ete. und sperrte ihn
auf die Verweigerung seiner Unterschrift hin in die „Sieben
'Thürme“, erklärte den Krieg und ihre Heere rückten sofort
ins Feld. Das Herz fiel Potemkin in die Schuhe, da die
Rüstungen noch nicht beendet waren, er rieth zur Riumung
der Krim, Katharina aber sprach dem Feigen Muth zu
und zeigte sich als tapferer Staatsmann, Ihre Lage wurde
sehr bedrängt, denn nicht nur fielen die Türken in die Krim
ein, sondern auch Friedrich Wilhelm Il. suchte Polen um
VII. Katharina TI. ım0
Danzig und Thorn zu bringen und Gustav II. schlug aus
Katharinas Noth Kapital. Katharinas Gesandter in Stock-
holm, Graf Andrei Kirillowitsch Rasumowski, ein Bohn des
Hetmans, hatte dort mit den grollenden Aristokraten gegen
den König dergestalt komplotirt, dass dieser auf seiner
Abberufung bestand: Gustavs Ultimatum vom Juli 1788
an Katharina, das einen sehr scharfen Don einhielt, forderte
auch die Abtretung Südfinnlands und Kareliens wie die
Entwaffnung der russischen Flotte im Baltischen Meere
und wollte Schwedens Mediation im Türkenkriege auf-
drängen; ohne die Antwort abzuwarten, begann Gustav
die Belagerung von Nyslot und Frederikshamn und würde
vielleicht Livland haben wegnehmen können, wenn er sieh
nicht mit jenen Festungen aufgehalten hätte. Gustav und
Katharina befehdeten sich gegenseitig in masslosen Mani-
festen: letztere blieb in St. Petersburg, zu dessen Ver-
theidigung rüstend, und die Seeschlacht bei der Insel
Hogland am 17. Juli 1788, die Gustav als Sieg feierte,
blieb unentschieden; Admiral Greigh bedeckte sich noch-
mals mit Rahm*), Gustavs Flotte konnte nicht vordringen
und eine in seinem Lager ausbreehende Adelsverschwörung
(Bund von Anjala) zwang ihn zur Heimkehr nach Stock-
holm. Schweden hielt an seinem alten Bündnisse mit den
Türken fest. auch Preussen wollte ein Bündniss mit ihnen
schliessen und Katharina traf militärische Schritte auch
gegen diese Eventualitäten. Gustav trieb die Dänen aus
Norwegen hinaus, befestigte im Februar 1789 durch einen
zweiten Staatsstreich die Monarchie auf Kosten der Aristo-
kratie und führte mit frischem Muthe den Krieg gegen
Katharina weiter; ihr Oberbefehlshaber gegen Schweden,
Gräf Valentin Platonowitsch Mussin-Puschkin, unter dem
Paul den Krieg mitmachte, erreichte nichts und wurde im
Anfang 1790 abberufen. Mit Katharina vereint, kämpfte
Joseph gegen die Türken, war aber fortgesetzt un-
glücklich; auch die Russen hatten anfangs keinen Erfolg,
erst im December 1788 nalım Potemkin Otschakow durch
Sturm, wofür er den höchsten militärischen Orden erhielt,
*) Er starb im Oktober 1788.
198
10 VII. Katharina II.
die Stadt wurde geplündert und viele tausende von Türken
niedergemetzelt; Graf Ssaltykow eroberte Chotin. Im
Jahre 1769 hatten die Russen grössere Erfolge gegen die
Türken, nicht nur wurden Akkjerman und Bender ge-
nommen, sondern die Russen siegten auch, vereint mit den
Oesterreichern unter dem Prinzen von Sachsen-Koburg, in
den grossen Schlachten bei Fokschani und bei Martineschti
am Rymnik; sie standen unter dem grössten Feldherrn,
den Russland jemals gehabt, unter Alexander Wassilje-
witsch Ssuworow, einer ebenso wilden und leidenschaft-
lichen wie genialen Natur; für diese Siege erhob ihn
Joseph zum Reichsgrafen. Katharina zum russischen Grafen
mit dem Beinamen Rymnikskii*). Auf russischer Seite
fochten eine Reihe französischer delleute, unter ihnen
der spätere Herzog von Richelieu. Die Schweden ver-
suehten umsonst Frederikshamn zu nehmen, das Seegefecht
bei Oeland am 26, ‚Juli 1789 blieb unentschieden, hingegen
besiegte der russische Admiral Prinz von Nassau-Siegen
die schwedische Scheerenflotte am 24. August bei Ruotschen-
sulmi und am 1. September bei Högfors. Preussen trat,
auf Katharinas und Josephs Siege eifersüchtig, im Juni
1790 in ein Bündniss mit Selim III. und nach Josephs
Tod sinigte sich Kaiser Leopold II. mit Grossbritannien,
Preussen und den Generalstaaten in der Reichenbacher
Konvention vom 27. Juli 1790 zur Erhaltung des türkischen
Reiches; es trat, während die russische Flotte über die
türkische Erfolge errang, im September 1790 ein Waffen-
stillstand auf neun Monate zwischen Kaiser und Sultan
ein. Der Balte Friedrich Wilhelm von Buxhöwden über-
schritt im Jahre 1790 die schwedische Grenze, schlug
zwei Generale, entsetzte Frederikshamn und Wiborg, der
*) 8suworow hatte viele Neider und sie bewogen Katharina, ihm
am heiligen Abende den St. Andreas-Stern nicht zu geben; an diesem
Abende isst; der gemeine Mann Sterne zum Gedächtnisse des Sterns der
Weisen. Sauweorow berührte, von den Umtrieben unterrichtet, bei dem
Festmahle keine Speise und antwortete auf Katharinas Frage, warum
er nicht esse: „Ich sehe keine Sterne, Majestät!" Da lachte sie, nahm
ihren eigenen St, Andreas-Stern ab, legte ihn auf seinen Teller und
sagte: „Jetzt, Graf, wirst Du essen.” (Russkaja Starina, Juni 1880.)
m VIL. Katharina IT. 181
Prinz von Nassau schloss die schwedische Flotte im
Wiborger Sunde ein, doch schlug sie sich durch und zer-
störte in der Schlacht bei Swenskasund am 9. und
10, Juli die russische vollständig. St. Petersburg war
neuerdings gefährdet und Gustav lud seine Hofdamen über-
_ müthig zum Balle nach Peterhof ein. Russland aber wie
Schweden sehnten sich nach Frieden und am 14. August
1790 kam derselbe in Werelae auf der Basis des status
quo ante bellum zu Wege: Katharina war froh, einen Fuss
aus dem Sumpfe gezogen zu haben, wie sie un Potemkin
‚schrieb, Schweden hatte seine Kriegsopfer unnöthig ge-
bracht; Katharina that nun alles, um ein Bündnis mit
Schweden zu erzielen, korrespondirte selbst mit dem von
ihr verhöhnten Gustav III. und Schweden schloss sich fortan
eng an Russland: Gustav wollte mit ihr der Revolution
in Frankreich, die jetzt seine Aufmerksamkeit vor allem
beschäftigte, entgegen treten. Des Kriegs mit Schweden
‚enthoben, warf sich Katharina mit verstärkter Gewalt auf
_ die Türken. Ihre Truppen eroberten Kilia und Sauworow,
‚der gleichsam die Exekutive des bequemen Potemkin war,
erstürmte am 22. Dezember 1790 dus feste Ismail, wo er
ine abscheuliche Metzelei und Plünderung gestattete;
Stambul zitterte vor seinem Namen. Auch im Kuban und
Kaukasus hatten die Russen Erfolg. Leopold II. zog sich
aus dem Türkenkriege zurück und schloss zu Sistowa
‚mit der Pforte Frieden, Katharina hingegen setzte den
_ Krieg fort, Fürst Repnin (s. oben) siegte wiederholt, vor
‚allem bei Matschin am 9. Juli 1791, der Admiral F. F.
Uschakow schlug die türkische Flotte mehrmals und ver-
_ nichtete sie schliesslich nahezu bei Kaleri-Burnu im August
1791: so blieb den Türken nichts übrig als Frieden zu
essen; am 9. Januar 1792 gewann Katharios im
jen von Jassy Otschakow und einen öden Landstrich
hen dem Bug und dem Dnjestr, letzterer bildete
die Grenze gegen die Türkei; die Abtretung der
wurde bestätigt. Aus den Trümmern der zerstörten
enfestung Hadshibei erstand Odessa mit seinem ganz
ationalen Charakter, das seinen Aufschwung in orster
Linie Fremden wie Langeron, Richelieu, Ribas verdankte,
m
108 VIE Katharina I.
eines der eraten Weltemporien wurde und die kommerzielle
Vermittelung mit Westeuropa besorgte, Dus ganze Nord-
ufer des Schwarzen Meeres war nun russisch und alle
Versuche der Türken, wieder in den Besitz der Krim zu
kommen, blieben fruchtlos.
Polen schien sich aus seiner Zerfahrenheit erholen zu
wollen; in der Hoffnung auf die Unterstützung des Ka-
tharina sehr unsympathischen Friedrich Wilhelm II. be-
schwor König Stanislaus die Verfassung vom 3. Mai 1791.
Katharina aber, die schon an eine zweite Theilung Polens
dachte, erhob alsbald durch ihren Gesandten Bulgakow
Vorstellungen gegen die Verfassung, die sie als Kriegs-
erklärung betrachtete: (ie russischen Parteigänger schlossen
am 14. Mai 1792 gegen die Verfassung die Konföderation
von Targowieze ; Katharina sandte letzterer ein grosses Heer
in die Ukraine zu Hilfe und nannte die polnischen Patrioten
kurzweg Jakobiner. Preussen, der Kaiser und der Sultan
thaten nichts für dieselben, Stanislaus sah sich genöthigt,
die erboste Kaiserin um Frieden zu bitten, den sie ihm
nur gegen den Verzieht auf die Polen so heilsame Ver-
fassung vom 3. Mai und gegen den Beitritt zur Kon-
föderation von Targowieze (23. Juli 1792) gewährte,
Russland schlug in Berlin eine neue Theilung Polens vor,
auf die Friedrich Wilhelm weit bereitwilliger als das
Wiener Cabinet einging. so wenig Sympathie er auch
für Katharina hegte; die Russen besetzten im August 1792
Praga. Am 14. Juli hatten Russland und Oesterreich eine
Defensivallianz geschlossen, in der Polens Verfassung von
1773 und seine Integrität garantirt waren, am 7. August
Russland und Preussen eine Defensivallianz gleichen
Charakters. Im Einverständnisse mit Katharina sandte
Friedrich Wilhelm im Januar 1793 den General von Möllen-
dorf? mit Truppen an die Westgrenze Polens und ein
Manifest erklärte gleissnerisch diesen Akt als nothwendig,
um in dem von Aufwieglern durchwühlten Lande die Ordnung
herzustellen; die Preussen besetzten Posen, Gnesen und
Kalisch, im April Danzig und Thorn, die Russen unter
dem Generale Igelstroem näherten sich Grodno und
Niemand kümmerte sich um die Proteste des unglück-
_VIL Katharinn II. 188
lichen Polenvolkes. Der Reichstag wurde durch russische
Manoeuvres aufgelöst und ein neuer nach Grodno berufen.
‚auf dem der russische Gesandte von Sievers eine rücksichts-
lose Sprache führte, Unter heuchlerischer Verbrämung und
unter Berufung auf das ihnen und dem Kaiser gemein-
same Interesse schlossen Russland (Graf Ostermann) und
Preussen (Graf von der Goltz) um 23. Januar 1793 in
St. Petersburg den Vertrag über die zweite Theilung
Polens, der bis Ende März Geheimniss blieb und
dann in Wien grosses Befremden erregte: preussische
und russische Patente kündeten nach der Okkupation
den Polen die Besitzuahme der Gebiete als für die
eigene Sicherheit nöthig an und der Reichstag in
Grodno sollte den Gewaltakt sanktioniren, Am 7. und
9, April hatte sich Russland des noch polnischen Theils
der Ukraine, Podoliens, der Osthälfte Wolhyniens, der
Hälfte der Wojewodschaften Nowogrodek und Brzesk,
des Restes von Polock und Minsk (4553 Quadratmeilen
mit 3011688 Seelen) bemächtigt. Stanislaus wurde
nach Grodno gesehleppt, wo der Reichstag am 17. Juni,
von russischen Truppen umstellt, zusammentrat; J. J. von
Sievers trat mit unerhörter Brutalität auf, um die Ver-
sammlung einzuschüchtern, aber trotz aller Vergewaltigung
und trotzdem der Reichstag grösstentheils aus Russisch-
gesinnten bestand, sprach sich eine ritterliche Minorität
‚gegen die Verstümmelung scharf aus; freilich half ihr dies
nichts und am 22. Juli willigte der Reichstag durch einen
Vertrag mit Sievers in die Abtretung ein. Mit gleicher
Brutalität trat Sievers für Preussens Forderungen ein und
erzielte im September ihre Anerkennung. Am 16. Oktober
schlossen Russland und der Rest von Polen ein Bündnis.
Bald aber kam es unter der Führung des edlen Thaddäus
Koseinszko zur allgemeinen Erhebung der geknech-
teten Polen gegen Russland und Preussen, aus Paris
wurde geschürt. Kosciuszko erhielt am 27. März 1794 die
Diktatur und trotz aller Bemühungen des Gosandten
von Igelstroem, des Nuchfolgers von Sievers, überzog die
Verschwörung das ganze alte Polen. Die Russen mussten
Krukau räumen, Koseiuszko besiegte den General Tor-
1a VII. Katharina If, -
massow am 4. April bei Raclawice, was ganz Polen
elektrisirte, am 17. brach der Aufstand in Warschau aus,
Igelstroem und Arssenjew mussten aus Warschau und
Wilna weichen. Die Feinde rückten aber von allen Seiten
auf Polen los, Krakau fiel in preussische Gewalt und nach
kurzer Zeit hatte Russland Polen gehändigt: Ssuworow
besiegte und fing Koseiuszko am 10. Oktober in der
Schlacht von Maciejowice, erstürmte Praga am 4. November
unter grauenhaftem Gemetzel und zog, zum Generalfeld-
marschalle ernannt, am 8. in Warschau ein. Stanislaus wurde
nach Grodno geschickt, Koseiuszko kam in St. Peters-
burg in strenge Westungshaft. Kaiser Franz II. hatte
sich eng an Russland angeschlossen und Katharina ver-
werthete meisterhaft die Antipathie Oesterreichs gegen
Preussen, am 3. Januar 1795 erfolgten ein Sondervertrag
und eine geheime Erklärung zwischen beiden Cabineten,
'Thugut verzögerte immer noch die Mittheilung des
ersteren an Preussen, obwohl ja die dritte Theilung
Polens darin beschlossen war und diese unter Preussens
Betheiligung stattfinden sollte: erst am 9. August legten
die Gesandten Russlands und Oesterreichs den Vertrag in
Berlin vor und Friedrich Wilhelm erklärte sich am
15. August zum Beitritte bereit. Am 18. Februar hatte
Russland auch mit Grossbritannien ein Bündniss ge-
schlossen und so bildete sich die Tripelallianz Russlands,
Grossbritanniens und Oesterreichs vom 28. September 1795
aus. Katharina bewirkte schliesslich ein Einvernehmen
zwischen den uneinigen Mitschuldigen Oesterreich und
Preussen und am 24. Oktober 1795 erfolgten die Konventionen
zwischen Russland, Oesterreich und Preussen wegen der
dritten Theilung Polens. Russland, welches bereits
Litauen und Kurland besetzt hatte, erhielt Litauen mit
Wilna, Kowno und Grodno, alles Land bis zum Niemen
und zum oberen Bug, Kurland, 2085 Quadratmeilen
mit weit über einer Million Seelen: Stanislaus dankte
am 25. November ab und lebte fortan mit einem Jahr-
gehulte in Grodno; erst unter Paul wurde am 26. Januar
1797 die definitive Theilungskonvention in St. Petersburg
unterzeichnet. 80 verschwand Polen, das einst die Rolle
VIT. Katharina IT. 186
einer Macht ersten Ranges gespielt, sang- und klanglos
aus dem europäischen Concerte, Russland hatte bei den
drei 'Theilungen den Löwenantheil davon getragen: die
Wojewodschaften lüngs des Dnjepr, Livland, Kurland, die
noch polnisch gebliebene Ukraine, den grössten Theil von
Sumogitien und ganz Wolhynien, über 8500 Quadrat-
meilen, die nan mehrere russische Gouvernements bildeten,
mit 4%s Millionen Seelen.
Bisher regierte in Kurland der jämmerliche Herzog
Peter; es herrschten bestündige Fehden zwischen dem
Herzöge, dem Adel und dem Bürgerstande, alle drei
suchten bald in Warschau, bald in St. Petersburg Sehutz
und Hilfe. Katharina trieb solange ein souterränes Spiel,
bis der Landtag Kurlands am 18. März 1795 sich. für die
Einverleibung in Russland uussprach. Graf Ostermann
forderte Peter auf, nach St. Petersburg zur Kaiserin zu
kommen, stellte ihm sein Palais zur Verfügung, Peter
kam und musste am 28. März für sich und seine Nach-
kommen auf Kurlund und Semgallen verzichten, die Russ-
land einverleibt wurden, er erhielt ein Jahrgehalt von
25.000 Dukaten für sich und seine Töchter und die Neben-
linie Biron-Wartenberg bezog für ihren Verzicht auf das
Herzogthum eine ‚Jahresrente von 36000 Thalern*).
Katharina sah in Friedrich Wilhelm IL trotz der
polnischen Gemeinschaft ihren Gegner, Friedrich Wilhelm
fürchtete das Europa bedrohende Ueberhandnehmen ihrer
Macht und unterstützte heimlich ihre Gegner ; auch Franz 11.
war weit kühler gegen sie als sein Oheim Joseph Il,
und die Beziehungen beider Cabinete kühlten sich ab,
wenn auch Franz den letzten Günstling der männerfrohen
Frau, Platon Alexandrowitsch Subow, im Jahre 1796 zum
Reichsfürsten erhob**), Katharina war zwar niemals
eine Freundin der Briten gewesen, an der Losreissung
*) Vgl. das im, gleichen Verlage erschienene Werk von Baron
Alfons Heyking, Aus Polen» und Kurlanda letzten Tagen. Memoiren
des Baron Karl Heinrich Heyking (1742—179), Berlin 1897.
**) Eigenthümlich berührt es, dass diese Autokratin eine Reihe von
Standeserhöhungen durch den römischen Kaiser vornehmen liess, an-
statt sie selbst zu vollziehen.
Vebergahe der Bastille meldete, erkannte d
reich für Russland nicht mehr in Betracht komme und j
Allianz beider Reiche ein Traumgebilde sei; ‚sie wurde
gegen Frankreich immer kühler, wenn sie auch dessen
Minister Sögur gewogen blieb; sie tadelte unverblümt
Segurs unpassenden Jubel über den „Bastillesturm“, wie
das Ereigniss vom 14. Juli 1789 damals und heute noch
verlogener Weise heisst, sah aber mit Kummer Sögur im
Oktober scheiden; Genet, der Bruder der bekannten Ma-
dame Campan. blieb als Geschäftsträger am russischen
Hofe. Nach den Oktobergreueln prophezeite Katharina
Ludwig NVI das Schicksal Karls 1. Stuart und ergriff
höchst unzufrieden mit der allgemeinen Gleichheit. die
in Frankreich mit so viel Geschrei ihren Einzug hielt,
immer entschiedener für den König Partei. In der Gazette
de eve liess sie die Revolution schomangslos
geisseln, die eigene Presse wurde genau überwacht, frei-
sinnige Russen wurden polizeilich beobachtet und ihr
Briefwechsel perlustrirt. die Emigranten wurden mit offenen
Armen aufgenommen und Katharina hoffte, der König
werde aus Paris flüchten können: um so tiefer war der
Eindruck, den das Scheitern seiner Plucht auf sie machte.
Der Verfolgung des Trauerspiels „Vadim von Nowgorad*
von Knjashnin erwähnten wir bereits, Radischtschew, von
lem wir auch schon sprachen (8. 128), wurde abgesetzt
und nach Sibirien verwiesen, Nowikow im Mai 1792 ver-
haftet und in Schlüsselburg eingesperrt, seine Buchhand-
lung und Druckerei geschlossen, die Martinisten. unter
ihnen der Brigadier J. W. Lopuchin, wurden wie er im
Mai 1792 verhaftet. Katharina entfernte Voltaires Büste aus
ihrem Cabinete, wollte von Rousseau niehts mehr hören und
betrachtete argwöhnisch die Fürstin Daschkow, die nach
wie vor für Freiheit schwärmte. Dem Geschüftsträger
Genet verbot sie im August 1791 das Erscheinen am Hofe,
sie wollte nur mit dem Könige und nieht mit einer anti-
monarchischen Nationalversummlung zu thun haben; in der
Konstitution von 1791 sah sie einen der Majestät ange-
thanen Schimpf, in der Nationalversammlung einen Haufen
von Usurpatoren und Frevlern, sie empfing Genet nicht,
hingegen die geheimen Agenten Ludwigs und seiner Brüder,
der Häupter „des auswärtigen Frankreich“, und noch weit
sehroffer stellte sich ihr Sohu der Revolution und Frankreich
entgegen, Paul erklärte es 1791 geradezu für eine Pflicht aller
Souyeräne, die den neuen Gesetzen folgenden Franzosen
aus ihren Staaten zu vertreiben, „weil sonst binnen zwei
Jahren ganz Europa umgestürzt sein würde“. Katharina
verurtheilte die Nachgiebigkeit Ludwigs, seinen Eid auf
die neue Verfassung und verbot ihren Ministern, irgend
ein Papier von Genet anzunehmen: Besborodko drängte
sie im Gegensatze zu Ostermann zu immer schrofferer
Haltung. Sie unterzeichnete mit Gustav IIL schon im
Oktober 1790 den Vertrag von Drottningholm und trieb
ihn beständig gegen Frankreich ins Feuer, ebenso spornte
sie den Kaiser und den König von Preussen an, sie selbst
aber opferte nichts für einen Kreuzzug gegen die Revolu-
tion. Im Dezember 1791 gestand sie Ostermann, sie wolle
Oesterreich und Preussen gegen Frankreich engagiren, um
die Ellbogen frei zu haben und in ihren Unternehmungen
nicht gehindert zu werden. Auf den Brief des französi-
schen Adels hin, der ihr für ihr Interesse am Königsthrone
dankte, schrieb sie; „Die Sache der Könige ist die des
Adels, kein Adel kein Monarch“ und sie beauftragte den unter
Subow ullmächtigen Geheimrath Markow im Kollege der
auswärtigen Angelegenheiten, in demselben Sinne zu
schreiben, was grosses Aufschen, um das es ja Katharina
stets zu thun war, erregte. Als Gustav III, der leiden-
b
188 VII. Katharina IT.
schaftliche und ritterliche Kreuzfahrer gegen
tion, im März 1792 ermordet worden war, a
die Jakobiner Frankreichs des Attentats und schrieb an
Rumjanzow: „Ich habe Posto gefasst und meine Rolle ist
angewiesen. Es ist meine Sache. die Türken, die Polen
und Schweden zu bewachen.“ Genets Lage ke
unangenehmer. wie er wiederholt dem auswi
in Paris mittheilte. Katharina rief schliesslich ah
und ihren Geschüftsträger aus Paris ab und wies Genet im
Juli 1792 aus Russland aus, wo nun Patot d’Orflans die
Generalkonsulatsgeschäfte besorgte. Sie rief die Russen aus
Frankreich heim und verweigerte der Republik vom Sep-
tember 1792 die Anerkennung, In der Frankreich ver-
heerenden Anarchie erblickte sie eine Gefahr für Russland
und für ganz Europa; von Gefühlspolitik konnte ja bei ihr
nie die Rede sein. Auf die Nachricht von Ludwigs Hin-
richtung musste sie sich aber zu Bett legen und war ausser
sieh vor Entrüstung über die Franzosen, die man „durch-
aus bis auf den Namen ausrotten müsse“; sie erliess am
19, Februar 1793 einen Ukas an den Senat zum Zwecke des
Abbruches der diplomatischen Beziehungen zu Frankreich
und der Ausweisung aller Franzosen, welche nicht einen
Eid schwuren, in dem die gegenwärtige französische Re-
gierung und die Revolutionsideen in Frankreich verdammt
wurden; die Namen der Schwörenden, etwa 1000 an Zahl.
wurden in der St. Petersburger Zeitung veröffentlicht und
sie waren dadurch der Rückkehr ins Vaterland beraubt:
Katharina verbot den Russen, in Frankreich zu reisen.
untersagte im April die Rinfuhr einer Reihe Waaren aus
Frankreich, sperrte die russischen Häfen für französische
Schiffe und verbot den russischen Kaufleuten das Einlaufen
in französische Häfen, sie suspendirte alle Wirkungen des
Handelsvertrags mit Frankreich von 1787 bis zur Wieder-
herstellung der legitimen Autorität und jugte Patot
d’Orflans nebst allen französischen Konsuln aus dem
Reiche. Sie nahm den Grafen von Artois. den Prinzen
von Cond& und die Emigranten huldreich auf, erkannte
Imdwig XVII und 1795 Ludwig XVII. als König an und
empfing seine Vertreter; Graf Artais bemühte sich, Laharpe.
VII. Katharina II. 189
den freigeistigen Erzieher ihrer Enkel, zu stürzen, aber
thatkrüftige Unterstützung lieh sie den Emigranten nicht,
sie opferte wenig Geld und keinen einzigen Soldaten;
während sie Oesterreich, Preussen und Schweden gegen
Frankreich anfeuerte, schob sie Polen in ihre Tasche.
Viele Emigranten blieben Jahrzehnte in Russland, wie z. B,
der Herzog von Richelieu, viele wurden Erzieher in vor-
nehmen Familien. die dadurch zu halben Franzosen heran-
gebildet wurden, der baltische Einfluss trat wie unter
Elisabeth hinter den französischen zurück.
Sehr traurig war das Verhältniss Katharinas zu ihrem
Sohne und Thronfolger Paul Petrowitsch, es gestaltete
sich immer frostiger. Beide standen sich schliesslich als
Feinde gegenüber; sie bereitete ihm fortgesetzte Demüthi-
gungen, entzog ihm sogar die Erziehung seiner Kinder,
griff zum Lehramte und schrieb für sie kleine sentimentule
Schriften; Paul liebte seinen Vater, verachtete und hasste
seine Mutter, in der er dessen Mörderin, die Thronräuberin
am Vater und an ihm selbst sah.
Paul, der seit 1760 unter Panins Leitung stand,
wuchs in einer sittenlosen Gesellschaft auf, von der
Mutter mit Spionen umstellt, es war eine vergiftete
Jugend. Ungestraft durften ihre Günstlinge ihn beleidigen,
man hielt ihn in Sklaverei, fern von allen Regierungs-
geschäften. Panin machte kein Kunststück mit seiner
Leitung und der Paul beigegebene Freiherr Karl Magnus +
von der Osten-Sacken kümmerte sich kaum um seine
Erziehung, wie er auch später uls Lehrer Konstantins blut-
wenig leistete. Panl besass gute Anlagen. war fromm und
gerecht, offen und bieder und hasste die am Hofe seiner
Mutter herrschende Korruption, er entwickelte gesunde
politische Anschauungen, war wie sein Vater für Preussen
begeistert und hatte grosse Vorliebe für das Militär.
Seine Untugenden wuchsen jedoch über die Vorzüge
hinaus, woran vor allem die Spionage der Mutter schuld
‚war; zerstreut und fahrig, übereilt in Sympathie und
Antipathie, liess er sich von Launen, Rechthaberei, Hals-
starrigkeit, Jühzern und Rücksichtslosigkeit beherrschen,
wu
au sich, seine Mutter machte Paul auf“
misstrauisch und 1776 zereiss (der di
bereitete der Zarewna frühe Kummer, doch sche
als habe jene sich ihm nieht ergeben, sondern
einem platonischen Verhältnisse und bei der hier.
geblieben; die Nelidow ging einige Zeit,.um P:
folgungen zu entgehen. ins Kloster und kehrte dann an
‚den Hof zurück, wo ihr auch Marin Fedorowna dauernde
Freundschaft bewahrte, obwohl Paul auch als Kaiser ihr
huldigte. Katharina hatte eine überspannte Liebe zu
ihrem ältesten Enkel Alexander, den sie, was bald öffent-
liches Geheimniss wurde, an seines Vaters Statt zum
Thronerben einsetzen wollte; frühe suchte sie ihm Elisa-
beth Alexejewna von Baden zur Gemahlin aus, um ihn
von Ausschweifungen zurückzuhnlten; überhaupt verfolgte
sie bei den Heirathen in ihrer Familie den Plan, dem
Grossfürsten deutsche Prinzessinnen zur Ehe zu geben,
was der Freiherr vom Stein die Anlage einer „Stuterei*
in Deutschland nannte; dadurch musste Russlands Einfluss
an den deutschen Höfen ungemein steigen; dies blieb auch
in der Folge Hauspraxis der Gottorpschen Kuiserdynastie.
Obwohl Alexander auf die Absicht seiner Grossmutter,
ihm an Thron über den Vater hinaus zu hinterlassen,
einging, belauerte ihn der argwöhnische Paul un-
Berteehe Katharina verfasste Papiere, in denen sie Pauls
Be .
VI. Katharina m. amt
Ausschliessung vom Throne und seine Verbannung nach
dem Schlosse Lohde in Esthland verfügte, und übergab
sie der Obhut des Reichsvicekanzlers Grafen Besborodko,
der sie nach ihrem Hintritte Paul sofort zur Vernichtung
auslieferte.
Ohne jeden Grund begann Katharina 1796 Krieg
mit Persien, wie auch Peters des Grossen letzter Feldzug
Persien gegolten hatte; sie wollte wohl die Gebiete jenseits
des Kaukasus sich unterwerfon und so Konstantinopel
einen Schritt näher rücken; zweifelhafter ist, ob sie an die
Eroberung Persiens und an die Vernichtung der britischen
Herrschaft in Indien dachte. Graf Valerian Alexandro-
witsch Subow, der jüngere ihr sehr liebe Bruder ihres
geistlosen Favoriten, führte als General en chef ein starkes
Corps über den Kaukasus. verbreitete überall Schrecken.
vabm Derbend und die Westküste des Kaspischen Meeres,
fiberschritt den Araxes und Aderbeidschan lag vor ihm
offen, als Katharinas Tod den Feldzug beendete. Um
Schweden gänzlich an Russlands Politik zu fesseln. leitete
der von den Brüdern Subow begünstigte Graf Arkadi
J. Markow Unterhandlungen zur Verlobung der reizendon
Grossfürstin Alexandra Pawlowna mitdem Könige Gustav IV.
Adolph von Schweden ein, der König kam nach St, Peters-
burg. die Feste nahmen kein Ende, Markow setzte den
Heirathskontrakt auf, wonach „die Königin* ihrem ortho-
doxen Glauben in Schweden treu bleiben dürfe. und der
ganze Hof war am 21. September 1796 um die auf dem
Throne sitzende Kaiserin geschart. um des Königs Unter-
sehrift zu erwarten; dieser aber verweigerte sie. Ausser
sich vor Wuth, schlug Katharina Markow, riss Krone und
Mantel ab und sunk, leicht gelähmt, vom Throne; der
König verliess St. Petersburg. Der Unfall vom 21. Sep-
tember war bereits vergessen, die Kaiserin hatte im
Freundeskreise der Eremitage die Freude wieder walten
lassen und sich an den Witzen ihres ersten Spassmachers,
des Kammerherru Narischkin, belustigt, als der Schla
sie am 17. November 1796 in ihrem Cabinete rührte; sie
starb nach einigen ohne Bewusstsein und ohne Sprache
verbrachten Stunden, Paul eilte mit seinem Günstlinge
BE
198 VII. Katharina II.
Rostoptschin auf die Nachricht ihrer tödlichen Erkrankung
aus Gatschina herbei, seine Freude nicht verhehlend: ihr
Tod gab ihm neues Leben. er war endlich frei, war
Kaiser. Die Civilisatorin Russlands hatte ihr Reich um
10000 Quadratmeilen vermehrt: während ihres Lebens nicht
sonderlich beliebt, wurde sie nach dem Tode der Lieb-
ling der Nation. Was die grosse Fürstin aus eigenster
Initiative ins Leben geführt hat, bleibt ein geheiligtes
Eigenthum ihrer Russen. Ihr Kopf war ein Universum.
die gesammte Encyklopädie menschlichen Wissens war
ihre Welt: von dem glänzenden Generalstabe bedeutender
Geister umringt. die sie in ihren Dienst gebannt hatte,
entrollte sie vor dem in Bewunderung aufglühenden Erd-
balle das Banner von Bildung und Civilisation und ver-
breitete ein freilich oft genug gefärbtes Licht über ihre
glorreiche Regierungszeit.
104 VII. Paul,
‚ wenn er Unbilden seiner Vorgängerin bemerkte und
ra durch eigene Güte in den Schatten stellen konnte,
ähnlich der Haltung Friedrich Wilhelms II, gegenüber dem
Andenken Friedrichs des Grossen. Seine Selbstüberhebung
sprach sich in dem Worte aus: „In Russland ist nur der-
jenige vornehm, mit dem ich spreche, und zwar nur, #0
lunge ich mit ihm spreche“; fuhr er aus, so mussten ulle
Wagen anhalten und die Insassen aussteigen, um ihm,
sei eg auch in Koth oder Schnee, knisend ihre Ehrfurcht
zu erweisen. Presse und Theater wurden strengstens
überwacht, die Einführung von Büchern und Musikalien
aus Europa verboten, die Russen von ihren Reisen heim-
gerufen und kein Franzose durfte nach Russland hinein,
wenn nicht sein Pass von einem der Bourbons unter-
zeichnet war. Man konnte eine Rache an seiner Mutter
in der Thronfolgeordnung vom 16. April 1797 sehen: die-
selbe setzte das Recht der Erstgeburt und die Linear-
erbfolge fest und verfügte, dass erst nach dem Erlöschen
aller von Paul abstammenden männlichen Linien weibliche
Suceession in der Linearerbfolge eintreten dürfe; der
‚Thron sollte nur durch Geburt, nicht durch Anverwandt-
schaft auf Einen übergehen und die Adoption sollte aus-
geschlossen sein; hiermit war die Thronfolgeordnung
Peters des Grossen, die so viel Thronumwälzungen be-
günstigt hatte, beseitigt und auf legitimistischem Wege
abgelöst. Bei Beisetzung seiner Mutter liess er den Sarg
seines Vaters aus dem St. Alexander-Newski-Kloster holen,
neben dem ihrigen aufbahren und beiden die gleichen
kaiserlichen Ehren erweisen; Paul hatte eine furchtbare
Scene mit dem Mörder seines Vaters, dem Grafen Alexei
Orlow-Tachesmenskii, dann befahl er, der Graf solle hinter
Peters Sarg einhergehen und die Kaiserkrone tragen.
Halbtrunken lief Orlow zum Oberceremonienmeister
Walujew, schimpfte ihn aus. weil er glaubte, dieser
habe es so angeordnet. und lehnte wegen Schwäche in
den Füssen ab; als der Hof in dem Kloster versammelt
war, bemerkte der Kaiser sofort, dass ein anderer Herr
die Krone trug, und frug Walujew, warım es Orlow
nicht thue; auf die Antwort hin, Orlow habe wegen
VI. Panl, 1er
richtet voll Entrüstung®): „Im Verlaufe weniger Stunden
war die ganze Staats- und Rechtsordnung umgeworfen ;
alle Sprungfedern der Staatsmaschine wurden ausgerenkt
und verschoben; alles wurde durcheinander geworfen, das
unterste zu oberst gekehrt, und so blieb es vier Jahre
hindureh. Die höchsten Stellen erhielten Leute, welche
kaum lesen konnten, welche ganz ungebildet waren und
nie Gelegenheit gehabt hatten, irgend etwas das Gemein-
wohl Förderndes zu sehen; sie kannten nur Gatschina
und die dortigen Kasernen; sie hatten nichts anderes ge-
than, als auf dem Paradeplatz exereirt, nichts anderes ge-
hört als die Trommel und die Signalpfeife. Ein Lakai
des Generals Apraxin, Kleinmichel, wurde beauftragt, Feld-
marschälle in der Kriegskunst zu unterrichten. Sechs oder
sieben damals in Petersburg befindliche Feldmarschälle
sassen an dem Tische unter dem Vorsitz des ehemaligen
Lakaien, weleher den in vielen Feldzügen ergrauten Heer-
führern in gebrochenem Russisch die sogenannte Taktik
beibrachte!“ Paul gefiel sich in solchem werthlosen
Garnisonsdienst, wobei die Soldaten ob geringfügiger Ver-
gehen todtgeprügelt wurden, in Wachtparaden, in den
kleinen Kunstgriffen der Kaserne, im Soldatenspielen, in
lauter abgeschmackten Aeusserlichkeiten des Militärwesens
— Beweise seiner grossen Beschränktheit! Ebenso zweck-
los waren seine Manoeuvres und die von ihm verfügten
Truppendislokationen, wie er z. B, das sibirische Dra-
gonerregiment aus Derbend nach Tobolsk versetzte, wo
es nach schweren Verlusten — alle Pferde fielen — und
grossen Entbehrungen zwei Jahre darauf eintraf**),
Paul hatte alsbald nach seiner 'Thronbesteigung viele
politische Verbannte aus Sibirien zurückgerufen, war gegen
die Polen gütig aufgetreten, überwies ihrem letzten Könige
das Marmorpalsis in St. Petersburg als Wohnung, be-
suchte Kosciuszko in Schlüsselburg und gab ihm wie
seinen Mitgefangenen noch 1796 die Freiheit wieder, ihn
*) Abgedruckt iu dem anonymen Buche von R. R, Kaiser Pauls I,
Ende, Stuttgart 1897.
”*) Kaiser Pauls I. Ende.
Ve
pr —
Tag YIL Paul.
reich beschenkend. Ein erklärter Feind der Kriegslust
der vorigen Regierung, befahl er sofort, ohne den General
en chef Grafen Valerion A, Subow zu benachrichtigen.
‚den unter demselben dienenden Generslen den Heimmarsch
aus Persien und ertheilte Subow den eingereichten Ab-
schied, Wo es irgend anging, handelte er in direktem
Gegensatze zu seiner Mutter, deren Verfügungen umzu-
stossen ihm eine Herzensfreude war. Er gab Oesterreich
Versicherungen seiner Freundschaft, verweigerte ihm je-
doch Hilfstrappen gegen die Franzosen, die unter Bona-
parte den italienischen Siegeszug antraten, und rief seine
Flotte, die sich mit der britischen vereinigt hatte, zurück;
sein Gesandter in Berlin. Stepan Kolytschew, erklärte
dem Könige von Preussen, sein Gebieter beabsichtige
keinerlei Vergrösserungen, und gab dem Gesandten Frank-
roichs, Caillard, zu verstehen, Paul wünsche in Frieden
mit der Republik zu leben und die kriegführenden Mächte
zum Friedensschlusse zu bestimmen; Paul wollte der
Schiedsrichter Europas werden und liess durch Ostermann
in einem Rundschreiben an die europäischen Mächte die
Versicherung seiner Menschenliebe und seines Abscheus
gegen weitere Kriege geben. Während er viele Ver-
änderungen einführte, beförderte Paul in vollendeter Ge-
dankenlosigkeit verdienstlose Leute und jagte verdienstvolle
davon; momentanen, oft sehr verschrobenen Einfällen mit
abschreckender Brutalität folgend. wurde er zum herz-
losen Desnoten. Hieran trugen seine Günstlinge die
Hauptschuld.
Bei weiten der beste unter ihnen war Fedor Was-
siljewitsch Rostoptschin, den er alsbald zum Prä-
sidenten des Kriegakollegs machte, obgleich derselbe nichts
von der Kriegsverwaltung verstand; rasch lebte sich Ro-
stoptschin in seine neue Aufgabe ein und hat die Armee
reorganisirt. die in Italien, in der Schweiz und in Holland
die Franzosen bekämpfte;: Paul langweilte sich ohne
Rostoptschin, der ihn amüsirte, ohne dass Paul ihn liebte;
Rostoptschin machte den Possenreisser, karikirte seine
Gegner und Rivalen und kam, so oft er auch in Ungnade
fiel, immer wieder in Gunst; er war von unbändiger Elır-
VI. Panl. 18
gier und unergründlicher Verschlagenheit, schmeichelte
Pauls Launen und stieg im März 1799 zum Grafen, im
Oktober 1799 zum ersten Präsidenten des Kollegs der
auswärtigen Angelegenheiten auf. Rostoptschin erröthete
nieht, sich mit Iwan Pawlowitsch Kutalssow zu ver-
binden. Dieser, ein Türke, war 1770 in russische Gefangen-
schaft gerathen, getauft, Barbier. schliesslich Kammer-
diener und Garderobier Pauls geworden, der ihm seine
volle Gunst schenkte; Besborodko leitete Paul durch
Kutaissow, der politisch völlig unfähig war. Paul liebte
Besborodko nicht, in dem er einen lästigen Mentor sah,
weil der Reichskanzler seinen Extravaganzen mitunter das
Gegengewicht hielt, und doch schmeichelte aueh Besborodko
Pauls Launen in unwürdiger Weise; am 27. Mürz 1797
hatte Paul aus Anlass seiner Krönung erklärt, Besborodkos
Haus in Moskau besitzen zu wollen, sofort verkaufte er es
mit allem Mobiliar an Paul für 650000 Rubel und der ganze
Hof zog am 8. April in dasselbe ein; auf einen Wink Pauls
hin liess Besborodko den herrlichen Park um das Haus
in einer Nacht fällen und in einen Exercierplatz umwan-
deln. Kutaissow wurde im Mani 1799 Graf und 1800
Oberstallmeister des Kaisers. Ssuworow machte sich oft
bitter genug über ihn lustig*). Die Schauspielerin Che-
valier, seine Mätresse, die er auch Paul zuführte, be-
*) Als Paul 1799 dem Sieger Italiens Kutaissow zur Bewill-
kommnung entgegen sundte, stellte sich Ssaworow an, als kenne er
dessen Laufbahn nicht und frag ihn nach dem Ursprange seiner hohen
Stellung; als ihm Kutaissow alles erzählt hatte, klingelte Ssuworow
seinem Kammerdiener und sagte zu diesem: „Troachka, ich wiederhole
Dir täglich, Du sollst nicht mehr trinken, nicht mehr stehlen, Da willst
aber nicht auf mich hören. Sieh einmal den Herrn da an; er war wie
Du Kammerdiener; da er aber nie betrunken war und nie stahl, 30 ist
er hente Oberstallmeister Seiner Majestät, Ritter aller russischen Orden
und Reichsgraf! Suche diesem Vorbilde nachzueifern!“ — Ein an-
deres Mal begegneten sich Beide im Corridore des Winterpalais; #0-
bald Seuworow den Gimstling erblickte, verbeugte er sich bis zum
Gürtel vor einem Ofenheizer. Ganz erstaunt frug Ihn Kutaissow:
„Was thut Ihr, Fürst? Das ist ein Öfenheizer!“ „Um Gottes willen“,
entgegnete Ssuworow, „Du bist Graf, jch bin Fürst; bei des Zaren
Gnade weisst Du ja nicht, was der da für ein grosser Herr wird, und
da ist es nöthig, sich vorher mit im gut zu stellen,“
. a
VE. Paal, a
ei Andrejewitsch Araktschejew. Arak-
s0 hoch er auch unter vier Kaisern stieg,
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revoltirende Grausamkeit im Heere einreissen, selbst
Offiziere wurden geschlagen und viele Gemeine todt-
:; Araktschejew war schlecht unterrichtet, allseitig
verhasst, verfolgte heimtückisch Jeden, der ihm im Wege
stand, war feige und von Grund aus bösartig; auch er fiel
wiederholt bei Paul in Ungnade, seinen grössten Feind
besass er in dem Balten Pahlen, der Paul verhängnissvoll
werden sollte. Peter Ludwig (Peter Alexejewitsch)
Freiherr von der Pahlen war bei der Vereinigung
Kurlands mit Russland sehr thätig gewesen, hatte die
Gunst des Fürsten Subow genossen und war Gouverneur
von Kurland geworden; ein Opfer des Spielteufels, ohne
sittlichen Halt, treulos und verschlagen, dabei tapfer bis
zur Verwegenheit, gewann er Gunst und Vertrauen des
Kaisers, der ihn zuerst verabschiedet hatte, wieder, erhielt,
won Kutaissow begünstigt, im April 1798 die Stellung
eines Generals der Cavallerie, im August d, J, die des
Militärgouverneurs von St. Petersburg, die zuvor Arak-
tschejew und Buxlıöwden bekleidet hatten, wurde General-
inspektor der Cavallerie, im März 1799 Graf, war als
Generaldirektor der Post Herr aller Staats- und Privat-
geheimnisse und vereinigte im Besitze dieser und anderer
Aemter eine ungewöhnliche Fülle von Macht und Autori-
tüt; er lenkte Paul meist nach seinem Willen und arbei-
E03 VIE Panl.
tote dabei unablässig an seinem Sturze. Und dieser
konnte nicht ausbleiben, die Offiziere vor allen litten zu
sehr unter Pauls Behandlung und dem Fluche der Lächer-
lichkeit, mit dem er sie belud; der schwedische Gesandte
schrieb seinem Könige*): „Paul pflegt die Offiziere fortzu-
jagen, «Is habe er es mit Lakaien zu thun. Der letzte
Rest von esprit de corps geht bei diesem Stande dadurch
verloren. Wer irgend etwas Ehrgefühl hat, wird den Hof
und die Armee fiehen. Jede allzu grosse Spannung, wie
die gegenwärtige, muss eine Erschlaffung zur Folge
haben.“ Ssablukow, ein russischer General, berichtet in
seinen 1865 erschienenen Memoiren: „Alles, was an point
«’honneur in dem Offizierkorps unter Katharina vorhanden
gewesen war, stand auf dem Spiele. Die Strafen wurden
so häufig, dass sie alle Wirkung verfehlten. Alle Polizei-
häuser und Wachtstuben waren überfüllt bei der Unzahl
von Arrestanten, Kein Wunder, dass sehr viele Offiziere
den Abschied nahmen, sich ins Privatleben zurückzogen
oder in den Civildienst übergingen. Wer zu dienen fort-
fuhr, war stets in der grössten Gefahr und die Ange-
hörigen der Offiziere waren beständig in der äussersten
Besorgniss. Es war, als läge ein Alp auf dem ganzen
Reiche“; ja er erzählt, die Offiziere hätten stets zur
Parade einige hundert Rubel mitgenommen, um im Falle
plötzlicher Verbannung nicht ohne Geld zu sein. Und
Turgenjew meldet: „Jeden Morgen gingen Alle, vom
General bis zum Fähnrich herab, zur Wachtparade wie
zum Blutgerüste. Niemand wusste, welches Schicksal ihn
dort ereilen werde“. Nach Turgenjews Angaben hat Paul
12000 Offiziere und Beamte nach Sibirien geschiekt, von
wo Alexander I, sie sofort zurückrief, in der St. Peter-
und Pauls-Festung waren bei Pauls Tod 900 Gefangene.
Turgenjews Chef, der Generalfeldmarschall Graf Nikolai
Iwanowitsch Ssaltykow, der einstige Aufpasser Katharinas
bei Paul und diesem auch jetzt wenig hold, da Paul ihm
die einträglichen Fischereien in der Emba **) zu Gunsten
*) Kaiser Pauls I. Ende.
*®) Dieser Finss der Kirgisensteppe milndet ins Kaspische Meer
und ist sehr fischreich,
Be
VII. Paul. 2
nee entzogen hatte, sagte zu Turgenjew: „Eine
‚solch heillose Wirthschaft kann nicht lange währen.“
- Inder Garde schuf sich Paul auch keine Freunde, indem
er seine Gatschina-Leute in die Garderegimenter einstellte.
Das Preobrashenskische Regiment erhielt zwei Bataillone
aus Gatschina und bestand nun aus drei Grenadierkom-
pagnien und drei Bataillonen, die Bombardierkompagnie
desselben wurde abgeschafft und bildete nun mit Kano-
nieren anderer Regimenter das Leibgarde- Artillerie
bataillon, Das Ssemenowskische Regiment erhielt eben-
falls zwei Bataillone aus Gatschina und bestand nun aus
zwei Grenadierkompagnien und zwei Musketierbataillonen.
letztere hatten, wie die drei Bataillone der Preobra-
shenzen, je fünf Kompagnien. Die bisher numerirten
Bataillone und Kompagnien erhielten jetzt die Namen
ihrer Befehlshaber und die Bataillone ausser ihren
unmittelbaren Kommandeuren noch Chefs mit Gene-
ralsrang. Im Jahre 1797 vermehrte Paul die Preobra-
shenzen und Ssemenowzen um je ein Bataillon: im
Jahre 1800 traten aber an die Stelle der Grenadier-
kompagnien „Flügelkompagnien“, und zwar bei den Preo-
brashenzen zwei. bei den Ssemenowzen eine, während
alle Bataillone beider Regimenter fortan Grenadier-
bataillone hiessen. Das Preobrashenskische Regiment
hiess fortan nach seinem kaiserlichen Chef Leibgarde-
Regiment Seiner Kaiserlichen Majestät, das Sseme-
nowskische Leibgarde-Regiment Seiner Kaiserlichen Hoheit
Alexander Pawlowitschs. Alexander I. gab beiden be-
rühmten Regimentern sofort ihren alten Namen zurück,
sehaffte 1801 die Flügelkompagnien ub und theilte die
Preobrashenzen in vier, die Ssemenowzen in drei Batail-
lone ein, im Jahre 1811 aber nahm er den Preobrashenzen
das vierte Bataillon weg und bildete damit das neue
litauische Garderegiment (spätere Moskauer Leibgarde-
Regiment).
Je argwöhnischer und despotischer Paul wurde, um
s0 mehr machte sich die Geheimpolizei zu schaffen
und um so drückender wurde die Oensur; seine Ver-
suche, die desorganisirte Finanzwirthschaft zu refor-
Die Regierung Pauls war ein fortgesetzter Kampf gegen
die in Frankreich herrschenden revolutionären Staatslehren
und damit derartige Gesinnungen nicht von Paris aus in
Russland verbreitet würden, untersagte er den Russen das
Reisen und wollte in Russland keine Fremden sehen, was
natürlich den Handel sehr beeinträchtigte. Wie Paul
verabscheute Rostoptschin die Revolution, wie uns seine
Briefe zeigen**); er nannte die Franzosen „Höllenbrut“
und „Universalbriganten“ und warf den europäischen Re-
gierungen vor, dass sie mit ihrer Uneinigkeit und Saum-
seligkeit die Zerstörung der Republik aufhielten. Das
Verhältnis Russlands zu Frankreich wurde frühe ge-
spannter, zumal wegen des Anfalls der jonischen Inseln
am die Republik ; Paul zürnte aber auch Oesterreich, dass
es den Frieden von Campo Formio ohne Benachrichtigung
an Russland, den Garanten des Teschener Friedens, abge-
sehlossen hatte. Das Direktorium in Paris unterstützte in un-
zweideutiger Weise polnische Bestrebungen, Paul hingegen
nahm das Corps des Prinzen von Oond& in Sold, gewährte
Tausenden von Emigranten Asyl, Ind als Hort des Legi-
timismus den aus Braunschweig verwiesenen „Lud-
wig XVIIL“ im März 1798 nach Mitau ein und erwirkte
in Wien für Madame Royale die Erlaubniss, im Jahre
1799 zu Ludwig nach Mitau zu reisen. Er wollte zwischen
Preussen und Oesterreich vermitteln und mit ihnen wie
mit Grossbritannien und Dänemark eine Defensivallianz
gegen die von Frankreich her Europa bedrohende Revo-
lution schliessen; der als Mediator nach Berlin gesundte
Generalfeldmarschall Fürst Repnin erreichte nichts, wurde
in Wien sehr gut aufgenommen, fiel aber bald nach der
*; Seit der Krönung Baron,
*) Kleinschmidt, Graf Fedor Wassiljewitsch Rostoptschin, in
„Historisches Taschenbuch“, 6. Folge, 12. Jahrgang, Leipzig 1892.
R
VEL Paal. “
Heimkehr bei Paul in Ungnade®). Neue Erbitterung
gegen Frankreich bemächtigte sich Pauls bei den Nach-
richten aus Italien; er hörte von der Errichtung weiterer
Republiken, die natürlich Vasallen des Pariser Direk-
toriums waren, von der Misshandlung des Papstes, vom
Einfalle in die Schweiz, von der Eroberung Maltas durch
Malta war Pauls Achillesferse, die versprengten
Malteser Ritter hatten nach der Uebergabe Maltas durch
die französischen Ritter Paul im December 1798 zum
'Grossmeister gewählt, wogegen der Papst mit Recht pro-
testirte, denn es war unerhört, dass ein N
Katholik dem römisch-katholischen Orden vorstehen sollte;
Paul freute sich grenzenlos über seine Erwählung, er-
nannte viele Grosskreuze und Ritter, gab den Orden ®*)
selbst Damen wie seiner Mätresse Lopuchin und hätte sich
beinahe auf den Tod mit Bayern entzweit, als Kurfürst Max
Joseph die bayrische Zunge des Ordens aufheben und
ihre Güter einziehen wollte; da Bayern Russlands Schutz
Oesterreichs Annexionsgelüsten gegenüber brauchte, lenkte
Max Joseph ein und der versöhnte Paul verbürgte
ihm im Vertrage von Gatschina am 1. Oktober 1799
seinen Besitzstand***). Mit dem Malteserthume Pauls
ging in Russland Hand in Hand die Ausbreitung des
römischen Katholicismus, wofür besonders der Oardinul
Litta thätig war, ihr Hauptgebiet war Weissrussland ; viele
Leute von Rang traten zur römischen Kirche über, wie
dies auch unter Alexander 1. geschah; die aus Frankreich
und der Schweiz vertriebenen Trappisten siedelten sich in
Weissrussland, Litauen und Polen an, doch kündigte auch
ihnen Paul schon im Jahre 1800 das Asyl.
Oesterreich und Grossbritannien spornten Paul zum
Kriege an, er schloss Bündnisse mit ihnen, mit Neapel
*) Er wurde im December 1798 mit der Erlaulniss brüsk ent-
lassen, die allgemeine Armeeuniforın tragen zu dürfen, konnte trotz
aller Bemühungen um Wiederrerwendung bei Paul nicht mehr zu
Gunden gelangen und wurde nach Moskau verwiesen, wo er 1801 starb,
=) Paul gab den Orden Römisch- wie Griechiach-Katholischen
in freigiebigster Weise,
=") Kleinschmidt, Der Vertrag von Gatschina, in „Forschungen
zur Geschichte Bayerns“, Regensburg 1898,
jel und Palermo. Ssuworow
en ein, um durch seine Bizarrerie
versetzen; anstatt im Bette
auf Heu, der Botschafterin
e ein goldenes Herz, ver-
das Schlüsselchen in seine Tasche;
lung des Hofkriegsraths Alle ihre
hm er ein Stück weisser Papier
'erdutzten: „Wenn mein Hut meine
de ich ihn verbrennen.“ „Vorwärts
‚war seine ganze Taktik, der gemäss er
m Feldzuge handelte. Nach seinem Siege
er am 29. April in Mailand ein, löste
Republik auf, gerieth aber alsbald mit
fkriegsrathe in Konflikt. Nach weiteren
g ihn in der furchtbaren dreitägigen
Trebbia, 17. bis 19. Juni, Mantua fiel
talien war in Ssuworows Händen; mittler-
die Corps von Rimskoi-Korssakow und Reh-
‚Schweiz gezogen, um dort, mit den Oester-
vereint, zu kämpfen. Paul verlieh Ssuworow, der
h mehr über 'Thuguts Ränke und über die
des Hofkriegsraths ärgerte, am 19. August
‚Fürst Italiiekii* (von Italien), auch der König
pien erhob ihn in den Fürstenstand mit dem
Oousin du roi*, Mit den Oesterreichern unter Kray
\ besiegte Ssuworow Joubert und Moreau am
ist bei Novi, kaum aber hatte Rimskoi-Korssakow
weizer Boden betreten. als ihm der Erzherzog Karl
Russland müsse allein die Schweiz vertheidigen,
zog gehe über den Rhein zurück. Diese An-
nungen waren dus Werk des Wiener Hofkriegsrathes;
wüthend aueh Ssuworow darüber sein mochte, so fügte
e und ging vom Schauplatze seiner Siege, Italien,
um sich in der Schweiz mit Rimskoi-Korssakow, der
unterstellt worden war, zu vereinigen; Massen
hlug, bevor Ssuworow anlangen konnte, Rimskoi-
Am 22, Oktober kündigte er Franz IT, in derben Worten
seinen Austritt aus der Konlition an. Zum vollen Bruche
mit beiden Höfen war nicht mehr weit, Paul rief Sau-
worow nach Russland zurück und nahm Rasumowski, weil
er mit Thugut, den er wie den Teufel hasste, zu sehr lürt
war, den Botschafterposten in Wien; wegen einer Lappalie
behandelte er den grössten Feldherrn seines Heeres un-
gnädig; als Ssuworow erkrankte, besuchte Paul ihn nicht;
Ssuworow starb in St. Petersburg am 18. Mai 1800 und
Paul gestattete nicht, dass ihm die gebührenden höchsten
militärischen Ehren bei dem Begräbnisse erwiesen würden,
sah zu Pferde den Zug an und üusserte: „Sic transit
gloria mundi!“ *)
Für einen Menschenkenner von Bonapartes Scharf-
blick blieb Paul kein Rüthsel; er wusste, dass er sich
seiner bemächtigen könne, wenn er ihn mit Schmeicheleien
und Huldigungen umgebe, und Paul ging leicht in die
Falle. Der Erste Konsul sandte ihm einige Tausend Ge-
fangene, neu gekleidet und gerüstet, ohne Lösegeld oder
Auswechslung zurück, übermachte ihm den Degen des
berühmten Malteser Grossmeisters L'Isle Adam und bot
ihm die Anerkennung als Grossmeister und den Besitz von
Malta in dem Augenblieke an, wo die Briten diese Insel
bald ausgehungert hatten. Paul gewann an Bonaparte
Geschmack, sein bisheriger Widerwille schlug in volle Be-
wunderung um, der Genius des Bändigers der Revolution
blendete den Legitimisten, Paul erblickte in Bonaparte
den grössten Mann der Zeit, in dem Gebieter Frankreichs
den künftigen Zaren von Westeuropa: Bonaparte wirkte
auch durch Preussen auf Paul ein, Preussen übernahm
die Mediation zwischen beiden Mächten. Oobenzl wurde
von St. Petersburg verwiesen, Kolytschew,. Rasumowskis
Nachfolger, verliess im April 1800 Wien, der Bruch war
*) Der Sterbende fragte den an seinem Bette sitzenden Dichter
‚Dersbiawin, welche Grabschrift er ihm setzen würde, aud drückte Ihm
auf die Antwort hin: „Hier liegt Senworow!* lächelnd die Hand. Paul
dachte bald an ein Denkmal Ssuworows, Koslowaki schuf es im Zopf-
style und unter Alexander I, wurde es im Mai 1801 in St. Peteraburg
A, Kleinsohmidt, Usberbl. d. russ. Gesch. u. 1808, 14
u
vollzogen und die ganze russische Politik umgewandelt,
Rostoptschin freilich und Graf Ssemen Romanowitsch -
Woronzow, der zum halbeu Briten gewordene Botschafter
in London, Bruder der Fürstin Daschkow, waren über die
"Wandlung sehr unzufrieden. Rostoptschin frug Woronzow:
„Wird der Londoner Hof, wenn er sein Augenmerk auf
den Besitz der Franzosen und Holländer in Indien richtet,
nieht nach dem Kriege doppelt so reich und mächtig wie
zuvor sein? wird er, wenn er Gibraltar hat und der Kaiser
Herr von Malta ist, nicht nach der Zerstörung der fran-
zösischen und spanischen Marine Herr des Levantehandels
sein?“ Und doch musste sich der Staatsmann der Laune
seines Gebieters fügen; am Hofe stritten sich die Parteien
erbittert mit einander, Rostoptschin sah seinen Rivalen
im Grafen Nikita Petrowitsch Panin, Pauls Jugend-
gespielen, der seit Oktober 1799 Reichsvicekanzler war
und der Annäherung Pauls an Bonaparte widersprach, und er-
klärte sich wegen dieser Rivalität schliesslich für ein Einver-
nehmen mit Frankreich, das bei Marengo über das verhasste
Oesterreich siegte und gewissermassen Ssuworows Leiden
rächte. Panin rieth Paul zur Allianz mit Franz II, Paul
aber und Rostoptschin wollten hiervon nichts hören, letzterer
sprach freilich vom Ersten Konsul noch als vom „Lumpen
und Abenteurer“. Eine russisch-britische Koalition gegen
Frankreich, die Dumouriez,. von Mitau kommend, Paul
vorschlug, scheiterte an Rostoptschin, der an den Er-
fahrungen mit den bisherigen Konlitionen genug hatte und
der meinte, Grossbritannien, Oesterreich und Preussen
seien Russland gefährlicher, als es Frankreich sei. Weil
Panin die Verfügung des Embargo auf britische Schiffe und
die Konfiskation aller britischen Waaren missbilligte, wurde
er im November 1800 entlassen, Rostoptschin benahm sich
in niedrigster Weise und denuneirte Panin u. A. beständig
bei dem ohnehin argwöhnischen Kaiser, in dessen Gunst
er sich noch mehr befestigte. Er rieth ihm in einem
Memoire*), mit Preussen, Oesterreich und Frankreich die
210 VIEL Paul,
*) Revue d'histoire diplomatique, Paris 1889. Paul versah das
Memoire mit unglaublichen Randglossen. Rostoptschin schrieb auch
rm —
VE. Panl. eu
Türkei zu theilen, eine griechische Republik unter dem
Protektorute Russlands und dieser drei Staaten zu gründen
und die bewaffnete Seeneutralität Katharinas wieder her-
zustellen, um die britische Allmacht zu bekämpfen, und.
rief ihm zu: seine Regierung werde Russland und das
neunzehnte Jahrhundert illustriren, indem sie die Kronen
Peters und Konstantins auf demselben Haupte vereinige,
Paul ertheilte dem Memoire am 14. Oktober 1800 seine
Bestätigung und erneuerte am 18. Dezember den Seebund
der Neutralen; Preussen, mit dem er am 28. Juli in
Peterhof die Defensivallianz von 1792 erneuert hatte,
Schweden und Dänemark traten bei. Paul gab sieh auch
aus Hass gegen die Briten eifrigst dem Gedanken hin,
ihr Reich in Indien zu zerstören, und wollte auf diesem
Alexanderzuge Georgien, das er 1801 Russland einverleibte,
als Station nach Indien benutzen. Er rief den ihm ver-
hassten Woronzow vom Londoner Posten ab, wüthend
über die Einnahme Maltas durch die Briten und über ihre
Weigerung, ihm Malta abzutreten, legte Embargo auf ihre
Schiffe in seinen Häfen und brach völlig mit Georg IIL,
der nun eine Flotte in die Ostsee schickte. Paul, der
sich mit Bonaparte über „den grossen Plan“ gegen Gross-
hritannien verständigte, wollte ein Heer unter Knorring
über Khiwa und Bochara an den oberen Indus vordringen
lassen, der 1799 zum Grafen erhobene Ataman der doni-
sehen Kasaken, Fedor Petrowitsch Denissow, sollte über
Örenburg nach Khiwa und Bochara, an den Indus und
endlich an den Ganges marschiren, wofür ihm „alle Reich-
thümer Indiens“ als Lohn versprochen wurden; an der
Spitze eines zweiten aus Russen und Franzosen zu gleichen
Theilen zusammengesetzten Heeres sollte Massöna stehen,
die Franzosen sollten sich bei Asterabad mit den Russen
seinem Freunde, dem Fürsten Zizianow: Russland sollte bei der
Theilung der Türkei die Moldau, Rumelien und Konstantinopel erhalten,
den Rest sollten Preussen und Oesterreich haben, die zugleich Gebiets-
tänsche machen möchten, Griechenland und die Inseln sollten eine
Bepublik werden, auch Aegypten an Russland fallen, Zizianow sollte
daun ein russisches Heer durch Persien nach Indien führen und dem
ganzen britischen Besitz in Indien radikal zerstören. A
\
vereinigen und mit ihnen über Herat, Farrah und Kandahar
an den oberen Indus marschiren, Daneben verständigte
sieh Paul mit dem Berliner Hofe wegen der Neuordnung
der Dinge in Deutschland, wie ein nach seinem Tode auf
dem Schreibtische gefundener „definitiver Plan“*), von
ihm unterzeichnet, von Pahlen und dem Fürsten Kurakin **)
gegengezeichnet, beweist; ebenso traf er wegen Deutsch-
lands, der Abtretung des linken Rheinufers, der Sükulari-
sation etc. mit Bonaparte Abrede. Während er rüstete,
um seine Streitkräfte mit denen Frankreichs verbinden zu
können, und während er Korfu besetzen liess, jagte er die
Bourbonen im strengsten Winter, Januar 1801, aus dem
Reiche, pries Bonaparte als seinen Freund, umgab sich mit
seinen Bildern und feierte ihn masslos; mancher Emigrant
wurde ausgewiesen. Pauls auswärtige Politik spiegelte in
ihrer dilettantenhaften und überstürzten Form seine augen-
blieklichen Launen und Anwandlungen wieder, Dabei
wurde Paul täglich unzurechnungsfähiger und seine Wuth-
ausbrüche häufiger; er nahm auf Niemanden, wer es auch
sei, Rücksicht; nicht nur wies er in brutalster Weise den
sardinischen Gesandten Rossi, den britischen Whitworth,
den oesterreichischen Cobenzl. den bayrischen Reichlin-
Meldegg aus, er that dasselbe mit „Ludwig XVIIL*, mit
dem Erbprinzen von Hessen-Rheinfels-Rothenburg und
mit anderen Fürstliehkeiten. Verschenkte er in toller Ver-
schwendung Domänen und Bauern, so schickte er ander-
seits nach Sibirien, wer ihm eben missfiel. Oft fertigten
seine Geheimschreiber wichtige Erlasse aus, ohne dass er
die obersten Reichsbehörden vorher davon unterrichtete:
letztere wurden wie Schuljungen ausgescholten und allen
Demüthigungen ausgesetzt, oft genug fiel einer in Ungnade,
*) Wassiltschikow, Les Razoumowski, Band 2, 1, Theil,
Halle 1893.
**) Fürst Alexander Borissowitach Kurakin, Pauls bester Freund,
war seit dessen Thronbesteigung bis 1798 Reichsvicekanzler, leistete
aber gar nichts; 1798 trat an seine Stelle Besborodkos Neffe, der
Kleinrusse Viktor Pawlowitsch Kotschubei, seit 1799 Graf, auch er
war seinem Amte nicht gewachsen, fiel auf Intriguen Rostoptschins
hin 1799 in Ungnade und wurde durch Panin ersotzt,
VII. Panl, 213
um alsbald wieder in Gunst zu kommen, dies wie jenes
ohne Grund. Kotzebue wurde auf einer Reise in Mitau
verhaftet und nach Sibirien geschleppt, weil er Schrift-
steller sei; die Fürstin Daschkow sah sich als Ver-
schwörerin gegen Peter III, erbitterten Verfolgungen aus-
gesetzt, lüngere Zeit jagte Paul sie von Gut zu Gut, litt
sie nieht länger als dreimal 24 Stunden an einem Orte,
bis ihr die Kaiserin die Erlaubniss erwirkte, ruhig auf
Troitskoi zu leben; mancher Edelmann wurde in Ketten
zur Zwangsarbeit fortgeschafft,
Im März 1800 schrieb Rostoptschin seinem Freunde
Woronzow*): „Ein- für allemal mögen Sie wissen, dass
der Kaiser mit Niemandem weder von sich noch von Ge-
schäften spriebt; er leidet auch nicht, dass man mit ihm
spreche; er befiehlt und verlangt die widerspruchslose
Ausführung seiner Befehle, Er kann sich schwerlich ver-
hehlen, dass er weit davon entfernt sei, geliebt zu werden.
Man nennt mich einen Minister, ich bin nichts als ein
Sekretär.“ Am Klügsten handelten diejenigen, welche
dem Hofe fern blieben und es vermieden, während Pauls
Regierung Dienste zu nehmen; Graf Ssemen R. Woron-
z0w”*) blieb nach seiner Verabschiedung als Privatmann
in London, wo ihn Alexander I, alsbald wieder als Bot-
schafter akkreditirte, und lehnte das Angebot der Reichs-
kanzlerwürde ab, sein Bruder Alexander, mit dem Voltaire
in den Jahren 1760—69 korrespondirt hatte, trat während
Pauls Regierung nicht in die Oeffentlichkeit; Graf Arkadü
Iwanowitsch Markow sass, wenn auch unfreiwillig des
Dienstes entlassen, auf seinen Gütern bei Letitschew, Paul
hatte ihn sofort aus St. Petersburg ausgewiesen, ihn zum Ver-
kaufe seines Hauses gezwungen, ihm die von Katharina II.
1795 geschenkten polnischen Starosteien genommen und
seiner Mätresse, der Schauspielerin Hus, verboten, ihm
ins Exil zu folgen; der alte Ostermann, der bei Paula
Thronbesteigung Markows Papiere versiegelt und ein-
*) Archiv des Fürsten Woronzow, Bd. 8.
**) Paul hatte len Woronzow bei seiner Krönung den russischen
‚Grafenstand verliehen.
24 VIE. Paul.
geliefert hatte, erwies sich als Reichskanzler völlig
unbrauchbar, wurde von Paul im Frühjahr 1797 ent-
lassen*), da er nicht freiwillig ging, und Besborodko
wurde Reichskanzler, wie wir oben erzählten®®). Der
Reichsvicekanzler Panin klagte im Juni 1800 Ssemen W oron-
20W: „Die schlechte Laune und die Melancholie unseres
Herrn machen reissende Fortschritte; alles wird, sowohl
in der inneren Verwaltung wie in der auswärtigen Politik,
nach augenblicklicher Stimmung oder Verstimmung ent-
schieden.“ Alles trieb ohne Kompass einher, Panin be-
mühte sich vergebens, einen Plan oder ein System in die
auswärtige Politik zu. bringen; momentane Wuthanfälle
und unberechenbare Gedankenrösselsprünge des Kaisers
verhinderten jegliche regelmüssige Funktion der Regierungs-
maschine***); Panin schrieb an Baron Krüdener: „Wir
sind hier wie Galeerensklaven. Ich suche gegen den
Strom anzukämpfen, aber meine Kräfte versagen mir....
Glücklich derjenige, der wie Sie 2000 Werst von hier
weilt. Jeden Tag wird ein neues Verbot aufgetischt.
Bald betrifft es einen Hut, bald eine Hose: man weiss
nicht mehr, was man anziehen soll.“ Das Briefgeheimniss
wurde in rücksichtslosester Weise verletzt, Niemand traute
mehr der Post, die Denuncianten hatten gute Tage, die
Polizei gefiel sich in Brutalität. Graf Andrei K. Rasumowski
warnte aus dem Exile in Baturin im Januar seine in Wien
lebende Gemahlin, der er der Sicherheit halber manchmal
mit sympathetischer Tinte schrieb +): „Sei ausserordentlich
*, Ein Pamphlet ınachte Ostermann, der dem nensn Geschlechte
ein Schatten aus grauer Vorzeit schien, den Vorschlag, er möge den
Degen Karls des Grossen in Saint-Donis ablösen, Er starb als
letzter Graf Ostermann am 1. Mai 1811, sein Name und sein Titel
gingen an seinen Grossneffen Tolstol über, der sich nun Graf Oster-
mann-Tolstoi nannte,
”*) Besborodkos Tod wurde vom Leibarzte Rogerson den durch
Paul erlittenen Kränkungen zugeschrieben.
*"*) Kaiser Pauls I. Ende, Brückner, Materialien zur Lebens-
geschichte des Grafen N. P. Panin, Bd. 5.
# Wassiltschikow, Les Razonmowaki, Band 9, 1, Theil,
Halle 1898.
r—
VI. Paul. 215
vorsichtig, denn nichts entgeht der Spionage und die
Angestellten selbst misstrauen einander .... alles liegt im
Banne des Schreckens, der Inquisition und der Folter.“
Die Tage Iwans des Schrecklichen schienen zurückgekehrt
zu sein; alle Welt wandte sich scheu von Paul ab und
hoffte auf seinen Thronfolger Alexander, um so mehr als
auch seine Familie vor dem Tyrannen zitterte.
Pauls Ehe mit Maria Fedorowna von Württemberg
war schon lange keine glückliche mehr; Maria hatte unter
Pauls Beziehungen zu Fräulein Nelidow gelitten, wenn
die Hofschranzen dieser auf ihre Unkosten huldigten, ull-
mälig ergab sie sich in ihr Schicksal und schmeichelte
Katharina Iwanowna, wenn sie etwas bei Paul erreichen
wollte*). Weit mehr erbitterte sie die Liaison Pauls mit
Anna Petrowna Lopuchin, der Fürstin Gagarin; unter ihr
verlor Maria jeden Einfluss und die kaiserliche Familie
lebte in vollem Zerwürfnisse. Schon im November 1798
schrieb Rostoptschin an Woronzow: „Man hasst ihn; seine
eigenen Kinder thun desgleichen; Grossfürst Alexander
verabscheut seinen Vater, Grossfürst Konstantin fürchtet
ihn. Seine Töchter, wie jene unter dem Einflusse der
Mutter, hegen eine Abneigung gegen den Vater. Alle
lächeln ihm zu und wünschen trotzdem nichts sehnlicher,
als ihn in Staub verwandelt zu sehen.“ Ob Maria, der es
an Ehrgeiz nicht gefehlt haben mag, beabsichtigte, mit
Hilfe der Paul befreundeten fürstlichen Brüder Kurakin **),
die bei ihm in Ungnade gefallen waren, Katharina II.
nachzuahmen, ihren Gemahl abzusetzen und Selbst-
herrscherin zu werden, wie Bernhardi behauptet, ist nicht
nachweisbar, Paul misstraute ihr jedenfalls und versperrte
zu seinem eigenen Verderben sein Schlafgemach in dem
kurz zuvor von Brenna erbauten und Ende 1800 von ihm
und seiner Familie bezogenen Michailowschen Palais gegen
*) Die Fürstin Lise Trubetzkoi gab 1896 in Paris die Corre-
spondenz der Kaiserin mit Fräulein Nelidow aus den Jahren 1791 bis
1801 heraus; die Nelidow starb 1839 im Samolny-Kloster.
+") Des gewesenen Reichsvicekanzlers und seines Bruders, des
gewesenen Generalprokureurs ‚les Senats, Alexei Borisowitsch.
216 VII. Paul.
die anstossenden Räume der Kaiserin*); auch soll er
nach Bernhardi den 1788 geborenen Neffen der Kaiserin,
den Herzog Eugen von Württemberg**), den er nach
St. Petersburg kommen liess und übertrieben auszeichnete,
mit Uebergehung seiner Söhne zum Thronfolger aus-
erkoren haben; man flüsterte von beabsichtigter Verhaftung
der Kaiserin und der Grossfürsten Alexander und Kon-
stantin. Dass Paul seinen Söhnen nicht traute, geht daraus
hervor, dass sie wenige Stunden vor seiner Ermordung in
der Palastkapelle vor dem Generalprokureur Oboljaninow
ihm den Eid der Treue nochmals schwören mussten, Seine
Wahngebilde arteten immer mehr in Wahnsinn aus und
ein Ende mit Schrecken erschien darum besser uls
Schreeken ohne Ende, Pahlen sagte im Jahre 1804 zu
Langeron: „Keiner von uns war auch nur einen Tag seiner
Existenz sicher; bald hätten sich überall Blutgerüste er-
hoben und Sibirien wäre von Unglücklichen bevölkert wor-
den“, und bald nach der Ermordung Pauls äusserte er
sich zu dem in Ungnade gefallenen Senator Baron Hey-
king: „Wir waren müde, die Werkzeuge dieser Akte der
Tyrannei zu sein, und da wir sahen, dass seine Verrücktheit
von Tag zu Tag zunahm und in Grausamkeitswahn ausartete,
blieb uns nur die Alternative, die Welt von einem Ungeheuer
zu befreien oder in kurzem uns und vielleicht einen Theil
der kaiserlichen Familie als Opfer des nächsten Wachs-
thums seiner Wuth zu schen. Patriotismus allein kann
den Muth verleihen, sich, Weib und Kinder dem grau-
samsten Tode auszusetzen, um 20 Millionen Unterdrückter,
Gequälter, Verbannter, Geknuteter und Verstümmelter
dem Glücke zurückzugeben“ ***). Und schon im April 1799
*) Unter seinem Schlafzimmer wohnte die Mätresse Gagarin.
Das Palais erhob sich au der Stelle eines von Rastrelli für die Kaiserin
Elisabeth an der Fontanka erbauten Sommerpalais und hatte wegen
Pauls mittelalterlicher Velleitäten Gräben, Bastionen, Zugbricken et«.,
auf den Bastionen standen zwanzig Geschütze, die Thüren waren
gusseisern; es kostete 18 Millionen Rubel. Seit 1819 befindet sich hier
die Ingenieurschule.
»*) Der später s0 bekannte russische General, + 1857.
***) Bienemann, Aus den Tagen Kaiser Pauls, Leipzig 1886.
Die Volkszählung von 1796 ergab übrigens 36 Millionen Einwohner,
VII. Paul. a7
schrieb Kotschubei an Woronzow: „Ich weiss nicht, wohin
das führen soll .... Man muss befürchten, dass die Ver-
trauten, die am ärgsten gemisshandelt werden, irgend
einen verzweifelten Streich ausführen ..., Für mich steht,
wie für alle Anderen, Rostoptschin nicht ausgenommen,
jederzeit ein Wagen bereit. um bei dem ersten Zeichen
flüchten zu können“*). Die Regierung Pauls erschien
den Stantsmännern und leitenden Persönlichkeiten damals
und später als eine Barbarei. die Russland um vier Jahr- .
hunderte zurückgeworfen habe, als ein Chaos, eine Des-
organisation ohne gleichen, als eine alles verheerende
Sichel: sie waren überzeugt, Paul sei geisteskrank. Den
Fall eines geisteskranken Horrsehers hatte aber das
russische Staatsrecht nicht vorgesehen, obwohl Iwan der
Schreckliche gewiss geisteskrank, Iwan V, blödsinnig ge-
wesen war und Peter III. wahrlich genug zu denken nufge-
geben hatte; jeder Zweifel an der Zurechnungsfühigkeit des
Kaisers wäre als Hochverrath geahndet worden, von einer
Konstatirang der Geistesverwirrung auf ärztlichem Wege
konnte nicht die Rede sein. Nur eine Verschwörung war
darum möglich. Dieser Veberzeugung gab Graf Ssemen
R. Woronzow, einer der schärfsten Verurtheiler von Pauls
Misswirthschaft, im Februar 1801 in einem merkwürdigen
Schreiben an Nikolai Nikolajewitsch Nowossilzow ®*) Aus-
druck ***j: „Sie theilen mir mit, es habe sich ein Sturm
erhoben und das Schiff müsse zu Grunde gehen, weil der
Kapitän, toll geworden, die Mannschaft mit Schlägen
traktire. Die Mannschaft, aus über 30 Personen be-
stehend, wagt es nicht, sich den Misshandlungen zu wider-
setzen, weil der Führer schon einen Matrosen über Bord
geworfen und einen anderen getödtet hat. ... Sie sagen
indessen, dass es noch eine Hoffnung auf Rettung gebe,
weil der zweite Führer ein vernünftiger und milder junger
*) Archiv des Fürsten Woronzow, Bd. 18.
“*) Nowossilzow hatte bei Pauls Thronbesteigung den Kriegsdienst
verlassen, lebte, »0 lange Panl regierte, in England den Wissenschaften
und kehrte sofort nach der Thronbesteigung seines Freundes Alexan-
der zurück.
#»*) Archiv des Fürsten Woronzow, Bd. 11,
u
218 VIEL Pant,
Mann sei und das Vertrauen der Mannschaft geniesse. So
beschwöre ich Sie denn, auf das Verdeck zurückzukehren
und dem jungen Manne und der Mannschaft vorzustellen,
sie sollten doch das Schiff, welches sowie auch die Ladung
zum Theil Eigenthum des jungen Mannes ist, retten; sie
seien dreissig gegen einen und es sei lächerlich, sich zu
fürchten, von dem tollen Kapitän getödtet zu werden,
weil sonst binnen kurzer Zeit alle Matrosen und auch
der junge Mann von dem Geisteskranken ertränkt werden
würden ....“ Aber weder Nowossilzow noch Woronzow
gingen auf das Verdeck und bändigten den Tollen, das thaten
Andere. Der Reichsvicekanzler Graf Panin und dann
Graf von der Pahlen, der Militärgouverneur von St. Peters-
burg, besprachen sich mit Alexander über die Nothwendig-
keit einer Regentschaft und Alexander stimmte bei, indem
er das Michailowsche Palais Paul als zukünftige Residenz
zudachte; die Beredungen begannen etwa im September
1800 und die Zusammenkünfte Panins mit Alexander
fanden meist bei Nacht im tiefsten Geheimnisse statt;
Panins ehrenhafter Charakter bürgt dafür, dass von ihm nie
etwas anderes als die Einsetzung Alexanders zum Regenten
geplant wurde. Da fiel Panin in Ungnade, verlor am
15. November 1800 sein Amt und wurde im Dezember
auf seine Güter verbannt; später sah Paul ein, dass er
Panin bitteres Unrecht gethan habe, hob am 28. Februar
1801 den Verbannungsbefehl auf und gestattete Panin den
Aufenthalt in beiden Hauptstädten, worauf Panin den in
Moskau wählte. Pauls Zorn kehrte sich nun gegen Panins
Verleumder Rostoptschin, Kutaissow hetzte ihn auf, denn
Rostoptschin hatte den Liebling als einen Schurken de-
nuneirt, der des Kaisers Gunst verkaufe und willkürlich
verwertbe; Rostoptschin wurde am 4. März 1801 ver-
abschiedet und auf sein Gut Woronowo bei Moskau ver-
bannt. Rostoptschins Entfernung kam dem Gelingen der
Verschwörung gegen Paul ungemein zu Statten, an seiner
Stelle wurde Graf von der Pahlen Präsident des Kollegs
der auswärtigen Angelegenheiten und Generalpostdirektor
unter Beibehaltung seiner anderen Aemter. Araktschejew
war bereits in voller Ungnade entlassen und verbannt
u
VIIL Paul, 219
worden, sodass Pahlen, der Leiter des Komplots gegen
Paul, vier wachsame Augen nieht zu fürchten brauchte,
Pahlen musste freilich trotzdem mit unendlicher Vorsicht
operiren, um nicht entdeckt und hingerichtet zu werden,
‚Paul war voll Argwohn auch gegen ihn: ohne Rostoptschins
gewohnte Nähe fühlte er sich unsicher und schrieb ihm:
„Ich habe Dich nöthig, komme schnell zurück!“ und an
Araktschejew erging noch im Augenblicke vor dem Hand-
streiche derselbe Ruf. Pahlen aber, der fürchten mochte,
Araktschejew solle ihn ersetzen, liess der Abreise des
Couriers zu ihm alle möglichen Hindernisse bereiten und
beschleunigte die Beseitigung Pauls um zwei Tage; so
kam Araktschejew in St, Petersburg erst an, als Paul schon
todt war, sein Schmerz war wahr und wild und er liess ihm
vor Alexander I. freien Lauf; er versicherte ihm, sein
Vater wäre niemals das Opfer eines Attentates geworden,
wenn er bei ihm geweilt hätte, denn nar über seine Leiche
hätte man zu Paul gelangen können*). Auch Rostoptschin
kam zu spät, er erfuhr schon in Moskau „den plötzlichen Tod“
Pauls, der ihn zwar nicht überraschte, gestand sich aber
auch, ohne seine Abwesenheit vom Hofe würde Paul noch
leben, und zeigte den Mördern lebenslang seinen Abscheu,
ihnen ungerechter Weise Panin beizühlend. Pahlen ge-
wann Mitverschworene, sobald Alexander ihm versprochen
hatte, im Vereine mit ihm vorzugehen, Offiziere des
Ssemenowskischen Garderegiments, dessen Chef Alexander
war, eine Reihe verbannter, zurückgerufener und wieder fort-
geschiekter Offiziere der verschiedensten Regimenter u. A.,
besonders aber die Brüder Subow und den General von
Bennigsen. Pahlen kannte den Hass der Subow gegen
Paul und ihren Einfluss bei der Garde, Fürst Platon, der
jetzt Gouverneur des ersten Cadettencorps wurde, er-
*) Er bewahrte Panl lebenslang das dankbarste Gedächtnis,
"Wenn er unter den folgenden Regierungen im Sommer den Dienstadel
um Grasino, seinen Wohnsitz, zum Diner einlud, so stand die Tafel
an Panls Büste in seinem Garten, ein Platz an ihr blieb frei, an dem
alle Speisen aufgetragen wurden, bei dem Kaffee goss der Graf die
erste Tasse am Füsse der Büste aus und nahm dann erst eine für
sieh, (BRusskaja Starina, 1872.)
E} YUL Paul.
niedrigte sich zwar zur feilsten Kriecherei vor Pauls Lieb-
ling Eugen von Württemberg, trat aber der Verschwörung
sofort bei, seinem Bruder, dem Grafen Valerian, fiel
jetzt die Stelle als Gouverneur des zweiten Ondettenkorps,
dem ältesten, Grafen Nikolai, wieder ein Sitz im Senate
zu, und Pahlen setzte besondere Erwartungen in Valerian,
einen gleich ihm berüchtigten Spieler. Levin August von
Bennigsen, aus althannöverschem Adel, stand seit 1778
in russischen Kriegsdiensten, wurde unter Paul General-
lieutenant, im Jahre 1800 aber auf seine Güter verwiesen,
rasch gewann ihn Pahlen, und Bennigsen hielt sich 1801
heimlich in St. Petersburg auf. Pahlen selbst blieb die
Seele der Verschwörung, ein geborener Führer solchen
Wagnisses, ein Mann ohne Eingeweide; immer wieder ver-
sicherte er dem Grossfürsten-Thronfolger Alexander, es han-
dele sich lediglich um die Abdankung und Einsperrung des
Vaters, nicht aber um seinen Tod, ja er gab Alexander sein
Ehrenwort darauf, Paul ahnte etwas von einer Konspiration
und machte Pahlen am 19. März eine Scene, dieser glitt wie
ein Aal hindurch, beeilte aber die Katastrophe, um nicht
selbst zu stürzen. Der Charakter des ganzen Kom-
plots war vorwiegend militärisch, die Kirche hatte diesmal
gar keinen Antheil, Alexander ging völlig im Schlepptaue
Pahlens, der mit kältester Zielbewusstheit handelte und
Offiziere Henkerdienste an dem Geisteskranken thun liess.
Auch Senatoren und Generale waren eingeweiht, unter
letzteren die Kommandeure des Preobrashenskischen und
des Ssemenowskischen Garderegiments, Fürst Galitzin und
Depreradowitsch, sowie der Kommandeur des Chevalier-
Garderegiments Uwarow, der Geliebte der Fürstin Lopuchin,
der Mutter von Pauls Mätresse. Pahlen setzte die Nacht
vom 23. zum 24. Mürz 1801 als Termin fest und fügte
einem heftigen Schreiben Pauls an den Gesandten in
Berlin, Baron Krüdener, wegen Massregeln gegen England
die vorbereitenden Worte hinzu: „Seine Kaiserliche Maje-
stät ist heute unpässlich, Es könnte Folgen haben.“ Am
Abende wurde dafür gesorgt, dass die Ausführer der Blut-
that berauscht waren, um ohne Bedenken zu handeln; der
Senator Geheimrath Troschtschinski entwarf ein Manifest,
r VEIT. Paul, ai
worin Paul Krankheit halber den Grossfürsten-Thronfolger
zum Mitregenten annahm, und die Verschwörer trafen um-
füssende militärische Anstalten zur Unterstützung ihrer
Aktion, während Paul auf Pahlens Rath die Wache im
Michailowschen Palais selbst wegschiekte, Zu diesem gingen
um Mitternacht des 23.24. März 1801 geräuschlos etwa
60 Offiziere direkt vom Gelage, der Mitverschworene Ge-
neral Talysin hatte einem Bataillon Preobrashenzen be-
fohlen, wegen in der Stadt ausgebrochener Unruhen unter
die Waffen zu treten, im Michailowschen Palais standen
Ssemenowzen und Cavallerie sollte die Zugänge zum Palais
von der Newski-Perspektive her besetzen, erschien aber
erst nach Pauls Tode. Man entwafinete die äusseren
Wachen und gelungte unter allerlei List in Pauls Schlaf-
zimmer. Vom Lürm erweckt, sprang Paul aus dem Bette,
er weigerte sich, abzudunken, wie Bennigsen und Fürst
Subow forderten, wollte sich zur Wehr setzen und es kam
zum Handgemenge, Fürst Jaschwill und Skarjatin er-
drosselten den zu Boden gestürzten Monarchen mit Skar-
jatins Schärpe, nachdem ihn Nikolai Subow mit einem
Faustschlage schwer verwundet hatte. Pahlen war der
Blutthat fern geblieben, er befand sich bei dem angst-
erfüllten Grossfürsten-Thronfolger und erschien erst nach der
Ermordung im Palais*). Alexander war über das grauen-
volle Ende seines Vaters ausser sich, ebenso die Kaiserin-
Wittwe, die jedoch an die Möglichkeit dachte, jetzt selbst
den Thron zu besteigen; sie zögerte mit Alexanders An-
erkennung, sah sich uber dazu „bon gr& malgr&***) ge-
nöthigt:; sie siedelte in das Winterpalais über, Pauls Leiche,
die furchtbar zugerichtet war, wurde zum Zwecke der
öffentlichen Ausstellung mit unendlicher Sorgfalt präparirt
und die Lüge wurde ausgesprengt, Paul sei am Schlage
gestorben. Nach Beseitigung der letzten Bedenken hul-
*) Die Ermordung, die Haltung Pahlens u. s. w. werden übrigens
in sehr verschiedener Weise dargestellt; wir folgen der im Buche:
Kaiser Panls I. Ende gegebenen Schilderung.
##) Langeron, De la Mort de Paul Ier, iu „Revue britannique*,
‚Jali 1896.
2 VII. Paul. *
digten die Garden, der Senat, die Synode, der Hof, alle
Behörden und Truppen Alexander I. Pawlowitsch. Das
britische Cabinet verhehlte seinen Jubel über Pauls Be-
seitigung nicht, der Erste Konsul war in Verzweiflung,
denn in Paul starb sein wichtigster Verbündeter zum
grossen Plane der Demüthigung Grossbritanniens; er stand
darum nicht an, im „Moniteur“ das Cabinet von St. James
der Anstiftung zum Morde in unzweideutiger Weise zu
beschuldigen:
IX. Alexander I.
M' indecenter Freude begrüssten die St. Petersburger
die sich rasch verbreitende Nachricht von Pauls Ab-
leben, das Regiment toller Leidenschaft und rücksichts-
loser Laune war nun vorüber, Bekannte, ja Fremde um-
arınten sich auf der Strasse. Man brach mit dem äusseren
Habitus, den Paul seinen Unterthanen aufgezwungen
hatte; „man sah Coiffuren & la Titus, der Zopf war ver-
schwunden:; lange Beinkleider, runde Hüte, Stulpstiefel
erschienen ungestraft in den Strassen. Man fuhr lang-
gespannt. Es gab viel Leben und Bewegung ... im Gegen-
satze zu der Grabesstille, welche so lange geherrscht
hatte**®). Und dieselbe Freude, dasselbe Gefühl der Sicher-
heit und der Menschenwürde herrschten im ganzen Reiche;
man rechnete um so mehr auf die Wiederkehr der Rechts-
ordnung Katharinas IL, als Alexander in seinem Thron-
manifeste versprach, im Geiste seiner Grossmutter regieren
zu wollen. Graf Alexei G. Orlow, der im Exile in Dresden
lebte, jubelte über Pauls Ende und behauptete in einem
Briefe an Woronzow nach London, auch die Dresdener,
„hoch und niedrig, freuten sich alle unbändig“; er kehrte
wie Kotschubei aus Dresden ins Vaterland zurück, wohin
Alexander die vom Vater Verbannten überhaupt zurück-
rief. Auch im Auslande begeisterte man sich für die
Thronumwälzung, unser Klopstock begrüsste Alexander
als den Schutzengel der Menschlichkeit und sang:
*) Kaiser Pauls I. Ende.
.
2 IX. Alexander I.
„Her vom der Ostsee bis gen Sinas
Ocean herrschet ein edler Jüngling.
Der hat des Namens Flecke vertilgt“*,.
Was aber Alexander I. Pawlowitsch für Russland
und für die Welt werden würde. konnte Niemand aus
dem Charakter und dem Vorleben des Grossfürsten-Thron-
folgers schliessen. Die Erziehung des beanlagten Alexander
wurde nominell vom Grafen Nikolai Iwanowitsch Ssaltykow.
einem geistig bedeutungslosen und zum Erzieher unfähigen
Höflinge. geleitet: nur auf seine Bereicherung und auf die
Begünstigung seiner Kinder bedacht. spielte derselbe eine
lächerliche Figur**ı und hatte wenig Einfluss auf seine
Zöglinge Alexander und Konstantin. Ihr Untergouverneur
und wirklicher Erzieher war seit 1783 der Waadtländer
Frederie Cesar Laharpe. ein theoretischer Schwärmer für
die menschliche Freiheit, religiös wie politisch ohne Vor-
urtheil. begeistert von der in seinen Augen unerreichten
französischen Literatur und von Rousseaus Ideen. ein
Schöngeist von nur mittelmässiger Begabung; er gewann
die Liebe seiner Schüler und beeinflusste Alexanders weiche
Natur auf Dauer seines Lebens: er machte aus ihm einen
Gefühlsschwärmer ohne jede Tiefe. einen Humanitäts-
prediger in der Wüste. einen gleich Katharina II. nach
äusserem Scheine. nach Blenderei Strebenden. einen Mann
versteckten Herzens. einen Byzantiner. wie Napoleon I.
Alexander genannt hat: er unterliess es. bei ihm das
Pflichtgefühl. den Drang. sich im Wissen zu vervoll-
kommnen und zu befestigen. anzuregen, richtete sich ge-
fügig nach Katharinas sentimentalem Programme, liess sie
bestündig die Hand auf Alexander halten, und so stellten
sich als Resultat der Erziehung seichte Oberflächlichkeit, Ge-
fühlsduselei, ungründliches und ungeordnetes Wissen, Eitel-
keit, Selbstgefälligkeit, Unzuverlässigkeit heraus ***). Unter
Alexanders Lehrern waren hervorragende Köpfe wie Pallas,
*) Kleinschmidt, Alexander I. von Russland, in „Unsere Zeit“,
Neue Folge, 13. Jahrgang, Leipzig 1877.
**, Tolstoi in „Russkaja Starina“, Januar 1873; Schiemann,
ebenda, Dezember 1880.
***) 1798 verliess Laharpe Russland.
m A
IX. Alexander T. E03
Kraft und Michail Nikititsch Murawjew, der für Alexander
und Konstantin noch heute als Klassisch geltende histo-
tische, philosophische und moral-ästhetische Schriften ver-
fasste, aber der Energie enthehrte und sich zu sehr im
Fahrwasser der Philanthropie bewegte. Alles in allem
strengte diese Rousseausche Erziehung die geistigen
Kräfte wenig an und steeute mit spielender Hand allerlei
Samen in die jungen Köpfe, Alexanders Lage war
schwierig. denn er stand zwischen (der Grossmutter, die
ihn vergötterte und über den Sohn hinaus auf den Thron
berufen wollte. und diesem Sohne, seinem Vater. der ihn
argwöhnisch beobachtete und bei seiner Erziehung kein
Wort mitsprechen (durfte: so kaum er frühe auf den Weg
der Verstellung, der Doppelzüngigkeit, er falschen Mienen.
der Heuchelei von Liebe und Freundschaft, von Ergebung
und Menschenfreundlichkeit. Der Vater war mit Leib und
Seele Paradesoldat, der Sohn zeigte wenig ernste Neigung
zum Soldatenstande, wenn er auch, seit sein Vater regierte,
das Ssemenowsche Garderegiment führte. Seine sehr frühe
geschlossene Ehe mit der engelsguten Prinzessin Rlisabeth
Alexejoewna von Baden trug die glücklichsten Aspekten,
es gab kein schöneres Paar, denn Alexander war eine
prächtige Erscheinung. Elisabeth voll Liebreiz, und doch
lagen bald Trauer und Welmuth über ihrem Glücke; nach
dem raschen Ableben zweier Töchterchen blieb die Ehe
kinderlos, Alexander vergalt die unbegrenzte Liebe Elisa-
beths mit offener Untreue und überliess sich dem Zauber
anderer Frauen; unter diesen fesselte ihn am meisten
Maria Antonowna. Fürstin Swjatopolk-Uzetwertinska, eine
wunderbar schöne Polin, die seit 1791 Hoffräulein Ka-
tharinas Il. war; mit Elisabeth gleichalterig, hatte sie den
Oberjägermeister Dmitrii Lwowitsch Narischkin geheirathet,
der übrigens so wenig wie sie jemals politischen Einfluss
gewann; während Alexander zu ihren Füssen lag, huldigte
der gleichfalls verheirathete Konstantin ihrer Schwester,
der Fürstin Jennnette, die auch seit 1791 Hoffräulein war, und
wollte sich scheiden lassen, um sie heirathen zu können,
doch gab seine Familie dies nicht zu: Alexanders Ver-
A Kleinschmide, VeberbL d. sum, Gesch. n, 1098, 15
u
Be _ IX. Alesanier I. er
immer wusgespielt®). Zugleich erwirkte Maria Pedorowna
die Entfernung des Fürsten Subow**) auf seine Güter.
Bemigsen, der nun allein stand und jeder Verbindung mit
den leitenden Kreisen entbehrte, wurde durch Maria eben-
falls bald beseitigt, Alexander schickte ihn als General-
gouverneur nach Litauen, nachdem er ihn noch ausser der
Reihe zum Generale der Cavallerie befördert hatte, Die
deei mit Alexander zur Absetzung Pauls solidarisch Ver-
bundenen hatten somit IIof und Residenz verlassen:
Panin blieb übrig***) und erfreute sich des vollen Ver-
trauens Alexanders, weit weniger schuldbelastet an dem
Handstreiche als Alexander selbst, obwohl er einst die
Regentschaftsfrage zuerst angeregt hatte, Am 2. April hatte
der in St. Petersburg eingetroffene Panin die auswärtigen
Angelegenheiten übernommen. Alexander bewies ihm grosse
‚Huld. jedoch litt sein Binfluss auf ihn und die Kaiserin-
Mutter sehr bald. Alexander liess ihn für die Ermordung
Pauls büssen, untergrub seine Stellung bei Maria, der er
wohlweislich seine eigene Betheiligung am Regentschafts-
plane verschwieg, und veranlasste Panin im September
1801, seine Entlassung zu nehmen; entschlossen, ihm nie
mehr ein Amt zu übertragen, misstraute er ihm, liess ihn
wie Subow von der Geheimpolizei überwachen und liess
diese über ihre Erfahrungen täglich an den „nichtoffiziellen
Ausschuss“ berichten, denn er fürchtete, Panin werde
such gegen ihn wie gegen Paul komplotiren. Panin
empfand die Beaufsichtigung sehr peinlich und ging auf
Reisen, im August 1804 erfolgte seine Verbannung nus
St. Petersburg, alle seine Schritte zur Rechtfertigung blieben
sowohl unter Alexanders wie unter Nikolaus’ Regierung
erfolglos, in Acht und Bann starlı Paninf) im April 1837.
Da Alexander nicht der Mann war, um allein und
ganz auf sich gestellt zu regieren, so löste ein neues
Triumvirat das erste ab; heissblütige Vertreter moderner
*) Er starb am 27. Februar 1826,
**) Er starb an 19. April 1628,
**) Panin-Materialien, Bd. VI.
#) Panin-Materinlien, Bd. VII, 189%
IX. Alexander L El
‚besteigung aus England herbeieilte; die Altrussen hassten ihn
ii Verehrer der Institutionen des Inselreichs
und als Gegner Frankreichs, er hielt es mit den Tories und
war im Herzen wenig liberal, wenn er sich auch bisweilen
einen liberalen Anstrich gab; mit seinen ausgebreiteten
Kenntnissen war er dem Justizminister eine treffliche
Stütze und sass auch im Comitd bei dem Ministerium der
- Volksaufklärung: die Kaiserin-Mutter war ihm sehr zu-
gethan, wie vor allem ihr Testament vom 27. November
1827 *) bezeugt, in dem sie ihn Nikolaus I. auf die Seele
band. Alexander hing mit Schwärmerei an dem Fürsten
Adam Ozartoryaki, der seinen Einfluss zu Gunsten Polens
zu verwerthen trachtete, dem Kaiser stets vorhielt, Russ-
land habe in schändlicher Weise den glorreichen Polen-
staat vernichtet und Mit- wie Nachwelt werde ihn an-
beten, wenn er dies Unrecht wieder gut mache und Polen
wieder aufbaue. auf dessen Krone Czartoryski wohl selbst
»pekulirte; die Korrespondenz Beider mit einander, welche
mit Ozartoryskis Memoiren (2 Bünde, Paris 1887) erschien, ist
eine wichtige Quelle für Alexanders Regierung. Neben dem
„nichtofficiellen Comit&* besassen viel Einfluss bei Alexan-
der sein Lehrer Laharpe, der von 1801—1802 in St.
Petersburg lebte, Kotschubei, Galitzin und Araktschejew.
Graf Viktor Pawlowitsch Kotschubei war ein erklärter
Freund der britischen Zustände, bildete seinem Alter nach
das Bindeglied zwischen den älteren Staatsmännern und
Alexanders junger Umgebung, genoss allgemeines Ver-
tenuen, hatte ausgezeichnete Gemüthseigenschaften, aber
wenig Energie und Arbeitskraft, er hatte seine Erziehung
in Genf, Paris und London genossen, die russischen Verhält-
nisse aber waren ihm ziemlich fremd geblieben. Alexanders
‚Jugendgespiele war der bei Hof erzogene Fürst Alexan-
der Nikolajewitsch Galitzin gewesen, dem man später
manchmal unverdient den Beinamen seines Vorfahren „der
grosse Galitzin“ gegeben hat; Alexanders Kammerjunker
während der Prinzenjahre, wurde er nun des Kaisers Lieb-
lingsgesellschafter. verbrachte die Abende bei dem Kaiser-
*) Kusskaja Starina, Januar 1889.
IX. Alexander 1. E75
konvention mit Grossbritannien; beide Theile machten
Zugeständnisse, Russland, das den Grundsätzen des Bundes
der bewaffneten Neutralität entsagte, die weit grösseren,
und Alexander verzichtete auf Malta wie auf die Gross-
meisterwürde des Malteser-Ordens; die Konvention fand
hei den Russen wenig Beifall. Keineswegs aber gedachte
Alexander sich für das britische Interesse mit Frankreich im
Kriege zu messen. In dem neuen Grossmeister des Malteser-
Ordens Tomasi aus Siena, den er bei Pius VII. durchsetzte,
hatte er ein Werkzeug, das ihm im Mittelmeere gegen
Geossbritanniens Vebermacht gute Dienste leisten sollte,
und die russischen Truppen blieben auf den jonischen
Inseln, da die Briten den Rittern Malta nicht einräumten.
Zwar misstraute Alexander dem Ersten Consul und
glaubte, er suche Russlands Bündniss nur zum Angriffe
gegen Grossbritannien, doch schiekte er den Grafen
A. J). Markow als Gesandten nach Paris; um auch mit
Oesterreich, das Paul so sehr vor den Kopf gestossen
hatte, wieder anzuknüpfen, ging Murawjew-Apostol im
Sommer 1801 in geheimer Mission nach Wien und
Rasumowski wurde wieder Botschafter daselbst. Bei
Alexanders Krönung in Moskau, am 27. September 1801,
vertrat General Duroc den Ersten Oonsul, hingegen nahm
Letzterer Markow gegenüber einen ziemlich hoffärtigen
Ton an, rühmte Pauls Regierung, tadelte aber das über-
triebene Interesse Russlands am „Zaunkönige von Bar-
divien“ und die Erniedrigung Frankreichs zur Stellung
„einer Republik Lucen“. Alexander und Bonaparte
schlossen am 8. Oktober 1801 in Paris Frieden und am
11.d.M. eine geheime Konvention; sie verpflichteten sich
in letzterer, sie wollten die Vertheilung der Entschädigung
an die links des Rheins in Verlust gerathenen weltlichen
Fürsten in Uebereinstimmung vornehmen und gemeinsam
Italien ordnen, in Deutschland aber darauf achten, dass ein
richtiges Gleichgewicht zwischen Oesterreich und Preussen
geschaffen werde und dass Bayern, Württemberg und
Baden bei der Vertheilung besondere Begünstigung er-
hielten; sie erkannten die Republik der Sieben (jonischen)
Inseln an, Frankreich versprach die Räumung Neapels;
e
Er IX. Alexander I.
beide Cabinete wollten sich mit den Mitteln beschäftigen,
auf diesen Grundlagen den allgemeinen Frieden zu he-
festigen, in den verschiedenen Welttheilen ein gerechtes
Gleichgewicht herzustellen und die Freiheit der Meere zu
sichern: sie machten sich zu Diktatoren der Welt, zu
Schiedsrichtern in Deutschland, und es kündigte sich
bereits die Politik von Tilsit und Erfurt an, Frankreich,
welches in Luneville mit Franz 1., in Amiens mit Georg III.
Frieden schloss, fühlte sieh Buanlani gögenüber ge-
waltig; Alexander verwirrte sich in Bonapartes Fäden,
bestimmte zwar mit ihm die Loose für die deutschen
Fürsten, wurde aber mehr und mehr in die zweite Linie
gedrängt, die Fürsten und Diplomaten umbuhlten Talley-
rand weit mehr als Markow; erlangte Alexander für die
verwandten Häuser von Baden, Württemberg und Hossen-
Darmstadt reichen Zuwachs an Lahd und Leuten, »0
wollte doch vor allem Frankreich sich in ihnen militärisch
werthvolle Klienten schaffen, und dass Alexander trotz
alles Zusammengehens mit Bonaparte ihm Steine in den
Weg warf, zeigte seine in Berlin gestellte Aufforderung,
der König möge Hannover besetzen. Preussen klammerte
sich an ihn und un Bonaparte; um 10. Juni 1802 kamen
Alexander und Friedrich Wilhelm III, in Memel zusammen,
Aın 24. August übergaben die Gesandten von Russland
und Frankreich der Reichsfriedensdeputation in Regens-
burg den zwischen beiden Cabinetten verabredeten Ent-
schädigungsplan vom 3. Juni und am 26. Dezember trat
Russland dem Vertrage Frankreichs mit Oesterreich bei.
Wegen Sardiniens hutte Bonaparte Markow hart an-
gelassen; „ich wundere mich“, rief er ihm zu, „dass Ihr
Hof sich in die piemontesischen Affären mischt, während
ich über die persischen schweige*, worauf ihm Markow
erwiderte; „Pranzösische Kugeln fliegen nie bis Persien,
russische aber können bis Piemont Hiegen‘; Alexander
liess den won Paul und Ssuworow ritterlich gehaltenen
König fallen und Piemont wurde im September 1802
init Frankreich vereinigt, Schr unliebsam vermerkte der
Zar Bonapartös beständige Eingriffe in Italien, während
sich Bonaparte üher Umtriehe französischer Emigranten
#4
—— — u
1X. Alesamiler T. EN |
unter russischer Protektion bitter beschwerte und gegen
dieselben rücksichtslos vorging.
Der russische Gesandte Graf Markow begegnete Bona-
parte mit unverhohlener Abneigung, bewegte sich mit offen-
kundiger Vorliebe in den Salons des Faubourg Saint-
Germain, stimmte völlig mit den Legitimisten überein, war
voll Interesse an Oesterreich und führte dem Ersten Consul
wie Talleyrand gegenüber eine manchmal rücksichtslose
Sprache; er allein von allen Gesandten legte um Bonaparton
Schwager. den General Leclere, keine Trauer an, Bona-
parte machte ihm wiederholt polternde Scenen und for-
«lerte seine Abberufung; als sie schliesslich im Novemhor
1803 erfolgte, geschah sie in Markow höchst schmeichel-
hafter Weise und er schürte auf der Heimreise in Wien
gegen den Ersten Consul, wie er spüter besonders nach
Enghiens Ermordung Alexander aufstachelte, auf den er
übrigens keinen persönlichen Einfluss erlangte*). Vorerst
vertrat nur ein Geschäftsträger Russland in Paris, der nicht
weniger entschiedene Peter von Oubril. Die Ermordung des
Herzogs von Enghien versetzte den russischen Hof in die
grösste Entrüstung, Marin Fedorowna reizte ihren Sohn. der
ohnehin auf Bonaparte ärgerlich war, noch mehr an, der Hof
hüllte sich in Trauerkleider und in ihnen ging Alexander
hei einem grossen Empfange schweigend an dem französi-
schen Gesandten General Hedouville vorüber. Alexander trat
auf dem Regensburger Reichstage als Garant der deutschen
Verfassung auf, protestirte in einer am 7. Mai 1804 durch
den Ministerresidenten von Kläpfel überreichten Note
gegen die Verletzung des deutschen Reichsgebietes und
des Völkerrechts und erwartete, freilich vergebens, von
allen deutschen Staaten ein einmüthiger Auftreten gegen
Frankreich; nur Schweden und Grossbritannien erhoben
mit ihm Protest, Oubril übergab am 12. Mai in Paris
sine Genugthuung fordernde Note, worauf Talleyrand und
Bonaparte unverschämte Antworten gaben, auf die von
#) Er starb, seit 1821 Reichsrath, am 29. Januar 1827 In St. Petora-
burg: der Sturz Napoleons war seine höchste Genngihaung: „ie fade,
Io polison Markow* war gerücht,
ii i
'
IX. Alesander 1. 2
Mühe gab, Alexander mit Napoleon auszusöhnen, schlossen
Fürst Ozurtoryski, der Leiter der auswärtigen Politik, und
der Geheimrath D. P, Tatischtschew am 6. November in
St. Petersburg mit dem oesterreichischen Botschafter Grafen
Philipp Stadion eine Defensivallianz ab, die einer offen-
siven aufs Haar glich, am 14. Januar 1805 folgte das
Bündniss Russlands mit Schweden und am 11. April in
St, Petersburg das Bündniss Russlands mit Grossbritannien,
von dem Stadion nichts wusste, Man sprach darin von
einer „allgemeinen Liga der Staaten Europas“, von der
Verpflichtung Frankreichs, ganz Italien, Hannover und
ganz Norddeutschland zu räumen, die batavische und die
helvetische Republik unabhängig zu erklären und den
König von Sardinien zu restauriren, die Briten sollten für
je 100000 Soldaten 1250000 Pfd. Sterl. Subsidien be-
zahlen, Alle Versuche, auch Preussen zur Conlition her-
überzuziehen, blieben erfolglos, Friedrich Wilhelm TIL.
gefiel sich in seiner ruhmlosen Neutralität, hingegen trat
Oesterreich am 9. August in St. Petersburg dem britisch-
russischen Bündnisse offen bei. die Tripelallianz war fertig.
In Russland war der Krieg gegen Frankreich unpopulär
und auch Ozartoryski hütte ihn gern vermieden, Rostop-
tschin schrieb missbilligend: „Unser Kaiser, der schon die
Masern und die Blattern gehabt hat, will es noch mit den
Engländern und den Oesterreichern versuchen“ und schob
dann läppischer Weise, als die Uoalition von 1805 un-
glücklich war, wie 1799 alle Schuld auf „die Deutschen*.
Friedrich Wilhelm machte im September gegen Russland
mobil, die Verletzung des Ansbacher Gebietes durch
Bernadottes Durchmarsch zum Kriegsthenter aber führte
hei ihm zu anderen Ansichten, er gestattete Jen Russen
den Durchmarsch durch preussisches Gebiet und empfing
Alexander am 25. Oktober als seinen Gast, Alexander
entsagte Czartoryskis gegen Preussen feindlichen Absichten
und am 3. November unterzeichneten Ozartoryski, von
Alopäus und Fürst Dolgoruki den Potsdamer Vertrag mit
Preussen, das eine bewaffnete Vermittelung zwischen der
Osalition und Napoleon versuchen und eventuell nach
ihrem Scheitern der Coalition beitreten sollte; die then-
Bu i \
hoc! DENT,
tralische Scene am Sarge des alten Fritz zwischen Alexan-
der und dem preussischen Königspaare bekräftigte den
Vertrag.
Mittlerweile setzten sich die russischen Streitkräfte in
Bewegung. Graf Peter Alexandrowitsch Tolstoi sollte
mit 20000 Mann bei Stralsund landen, sich mit Schweden
und Briten vereinigen und Hannover besetzen; der Admiral
Ssenjawin sollte sich mit den Briten verbinden und mit
20.000 Mann in Neapel landen, Truppentheile wurden zum
Zwerke der Bewachung an den türkischen und den
preussischen Grenzen postirt; das Hauptlieer stand unter
dem Befehle des Generals Michail llarionowitsch Gole-
nischtschew-Kutusow und sollte sich mit dem oester-
reichischen Generalquartiermeister von Mack vereinigen;
als aber die Vorhut in Braunau am Inn eintraf, erfahr sie
Macks schimpfliche Kapitulation von Ulm, Starke Streit-
kräfte sammelten sich in Mähren unter dem Grafen
F, W, von Buxhöwden, dort befand sich Alexander selbst
mit Czartoryski. Nowossilzow und Stroganow, dort standen
die Garde und die besten Regimenter. Unter Gole-
nischtschew-Kutusow dienten der ritterliche Fürst Peter
Iwanowitsch Bagration, Dmitrii Ssergejewitsch Dochturow
und „der Mürat Russlands“, Michail Andrejewitsch Milo-
radowitsch. Am 11. November schlug Golenischtschew-
Kutusow mit den Oesterreichern Mortier bei Dürrenstein,
Bagration hielt unter entsetzlichen Verlusten Murat am
15. und 16. bei Hollabrunn auf, damit Golenischtschew-
Kutusow seinen Rückzug nach Mähren ausführen konnte:
am 18. vereinigte sich Golenischtschew-Kutusow mit der
Armee Buxhöwdens und mit den Oesterreichern in Olmütz,
während Napoleon in Brünn stand; Alexander und Franz
waren bei ihren Heeren, die zusammen etwa 82000 Mann
stark waren. Mit massloser Ueberhebung und Gering-
schätzung schauten die russischen Offiziere auf die Oester-
reicher und auf „den Corsen Buonaparte“: ein hoffärtigen
von verstocktem Nationaldünkel beherrschter Mann, Fürst
Peter Petrowitsch Dolgoruki, stellte die Besiegung Bo-
napartes seinem kaiserlichen Freunde als ein Kinderspiel
hin und benahm sich, mit einem Schreiben an „das Ober-
——
haupt des französischen Volkes“ abgesandt, ihm gegen-
über mit lücherlichem Dünkel; ebenso unglücklich berietl
‚der von Paul zum Grossfürsten- Cüsarewitsch erhobene
Bruder und präsumtive Thronfolger Konstantin den leicht
verleiteten Bruder. Die „Dreiksiserschlacht“ von Austerlitz
am 2, Dezember endete mit Napoleons glünzendstem
Siege, um Alexander deklamirte man von oesterreichischem
Verrathe und Niemand sprach von der Fortsetzung des
Kriegs, der Zar und seine prahlerischen Rathgeher waren
absolut entmuthigt; Alexander kümmerte sich nicht weiter
um seine Alliirten, zog mit seinem Heere ab, hielt sich
pünktlich an die von Napoleon vorgezeichneten Etappen,
rief seine Truppen aus Italien und Hannover heim und gab
den König von Sardinien wiederum preis. Auch Preussen sah
sieh von Alexander preisgegeben und schloss mit Napoleon
Jen schimpflichen Vertrag von Schönbrunn, Oesterreich
musste sich zum Frieden von Pressburg bequemen.
Da das britische Cabinet den Frieden mit Na-
poleon zu wünschen schien und Russland sich isolirt
fühlte, wünschte Fürst Uzartoryski auch für Russland den
Abschluss eines Friedens und d’Oubril wurde mit dahin
zielendem Auftrage nach Paris gesandt, Napoleon benutzte
Jie Verworrenheit der russischen Politik, machte Oubril
durch lange Konferenzen mürbe und Oubril unterzeichnete
am 20. Juli 1806 in Paris ohne britische Betheiligung
mit dem General Clarke einen Vertrag, dessen Haupt-
punkte die Einräumung der Bocche di Cattaro*) an
Frankreich, die Erklärung der jonischen Inseln und Ragusus
zu unabhängigen Republiken, die Anerkennung der Un-
abhängigkeit und Unverletzlichkeit der Türkei und der
Abzug aller französischen Truppen aus Deutschland binnen
drei Monaten waren: in geheimen Artikeln trafen Russland
und Frankreich Abrede über spanisches Gebiet und in-
frigirten gegen Preussen. Auf dies alles ging Oubnil ei,
weil Talleyrand ihn ängstigte, im Weigerungsfalle sei
Oesterreich verloren. Auch Czartoryski betonte in einer
*) Die Russen unter Admiral Ssenjawin hatten diese im März
1806 besetzt.
Ki
d die Leiheigenschaft der Bauern hin, aus denen
eindringender Feind Kapital schlagen würde. x
der jedoch war anderer Meinung, er entliess dem nd
nach Wilns, seiner Pflanzstätte für die polnische Restuu-
ration, und ernannte im Juli 1806 den Freiherrn Andreas
J. von Budberg zum Minister der auswärtigen Angelegen-
heiten; dieser Feind Napoleons näherte sich Preussen
und die Erklärungen Friedrich Wilhelms III. und Alexan-
ders in Charlottenburg und Kamennyi-Ostrow vom
1. und 24. Juli widersprachen ebenso direkt dem Pariser
Vertrage Friedrich Wilhelms mit Napoleon vom 15. Februar
1806, wie sie als Anbahnung eines russisch - preussischen
Bündnisses gelten konnten und die Räumung Deutsch-
lands seitens der französischen Truppen als höchst dring-
lich hinstellten. Alexanders Minister ausser dem Handels-
minister Grafen Rumjanzow waren gegen Napoleon, Rum-
janzow wurde von Napoleons Grösse geblendet und
erkannte nur im Bunde mit ihm dus Heil des Vaterlandes,
Budberg erliess zur Rechtfertigung der Nichtratifikation
des Oubrilschen Vertrages (s. 5. 240) ein Cireular an die
europäischen Regierungen und griff die Schöpfung des
Rheinbundes, die Knechtung Italiens, die Beeinträchtigung
der Alliirten Russlands durch Napoleon offen an, während
sich die Stellung Russlands zur Pforte und zu Persien
durch französische Intriguen immer feindlicher gestaltete,
Der französische Botschafter am Divan, General Sebastiani,
schürte nach Kräften gegen Russland, schlug den Einfluss
des russischen Vertreters Italinski ganz aus dem Felde,
veranlasste Selim IM. zur Anerkennung Napoleons als
Kaiser und zur Sperrung von Bosporus und Dardanellen
für russische Schiffe. Die Pforte verletzte eine Reihe mit
Russland getroffener Abmachungen, setzte die russen-
feeundlichen Hospodare der Moldau und Walachei, Murusi
und Ypsilanti, im August 1806 auf Drängen Sebastianis
ab, wurde aber durch die Drohungen der Botschafter Russ-
lands und Grossbritanniens, das sich engstens mit Russland
alliirt zeigte, im Oktober zu ihrer Wiedereinsetzung ge-
N
Sud) besser arrondirt ct, ar Rhein-
te beseitigt und aus Deutschland eine kon-
Föderation gemacht werden; man hoffte auf
ıluss Oesterreichs, Grossbritanniens, Schwedens
u emarks. wollte in diesem Falle Oesterreich Tirol
d die Mineio-Linie, Grossbritannien eine Erweiterung
des welfischen Hausbesitzes in Deutschland verschaffen;
an dachte auch an Entschädigung der Oranier, der
von Sardinien und von Neapel und erwähnte der
t und Unabhängigkeit der Türkei. Oesterreich,
ien und Schweden thaten aber keine Schritte
K m Anschlusse au Preussens und Russlands
n] gen Napoleon, desto energischer lenkte dieser
Osterode aus das Rad der Geschiehte; er vertheidigte
i opel gegen die Briten. zog Verstärkungen aus
‚lien und aus Norddeutschland an sich heran und köderte
leichtglüubigen Polen, am 14. Juni vernichtete er
ns Heer in der Schlacht bei Friedland, wo Bennig-
n 20000 Mann verlor. Bennigsen zog hinter den
und rieth Alexander. sofort Waffenstillstand zu
n; Alexanders Mutlı schwand ebenso rasch dahin
5 nach Austerlitz; ihm graute bei dem Gedanken,
on könne Russlands Boden betreten und Polen könne
nz er meinte, er habe für Preussen genug geopfert,
ohne den auf ihn blind vertrauenden König zu
tigen, Napoleon um einen Neil der
insohmidt, Ueberbi. d. rum. Gesch. «. 1ER.
"Wort von Potsdam und Kydullen und
Politik ein: gegen Grossbritannien war er al
feindsolig gestimmt, seit das Cabinet von St.
neues Anlehen von 150 Millionen nicht garantı
erschienen ihm Filze und Krämer. Obne Budberg
toryski und Nowossilzow. seine bisherigen
befragen, entschloss sich Alexander zur Zusam!
Napoleon; vom Cäsarewitsch Konstantin Pawlowitsch, von
Fürst Lobanow-Rostowski, Bennigsen, dem Reichsvice-
kanzler Fürsten Kurakin u. A. begleitet, erschien er am
25. Juni in Tileit und hatte mit Napoleon auf einem
Flosse auf dem Memel eine lange Unterredung unter vier
Augen: Napoleon beutete Alexanders Ehrgeiz und seine
Abneigung gegen das knauserige Grossbritannien sehr
geschickt aus, stellte ihm freie Hand in Finnland und auf
der Balkanhalbinsel in Aussicht, hielt ihm vor, Russ-
lands Heil liege nur im Bündnisse mit Frankreich, und
lockte ihn mit dem Anerbieten einer gemeinsamen Diktatur
über Europa. Alexander wurde aus seinem Feinde sein
bewundernder Freund und vertauschte die Rolle des Vor-
kämpfers für Völkerrecht und Völkerfreiheit mit der weit
einträglicheren des Theilnehmers an Raub und Völker-
knechtung. Er bat zwar Napoleon unter Thränen, Preussen
zu schonen, unterliess aber jeden Versuch, seinen Bitten
energischen Nachdruck zu geben; derart lag er im Banne des
Imperators. Beide Kaiser verhandelten am liebsten olne
Zuziehung ihrer Diplomaten und Alexander sah ruhig mit an,
wie Friedrich Wilhelm und die Königin Louise von Napoleon
mit Spott und Vorwurf behandelt wurden; so ritterlich seine
Worte klangen, so selbstsüchtig war seine Handlungs-
weise, Napoleon beschäftigte ihn mit Paraden und Revuen,
Be Be
E75 IX. Alexander I. :
u
reich auffordern; sollte die Pforte binnen drei Monaten
nicht Frieden schliessen, so wollten die beiden Kaiser
ihr alles europäische Gebiet mit Ausnahme Rumeliens
und Konstantinopels entziehen, eine Theilung desselben
zwischen ihnen ward vorgesehen. Russland dachte an
Bessarabien, die Donaufürstenthüämer und Bulgarien bis
zum Balkan. Napoleon opferte die alten Bundesgenossen
Frankreichs, die Türkei und Schweden, der Freundschaft
Russlands, Alexander trat, obgleich die russischen Roh-
produkte hauptsächlich nach England gingen, der Kon-
tinentalsperre bei und ruinirte den Handel Russlands; das
Reich wurde mit Banknoten überschwemmt, alles ent-
werthete und tausende von Familien wurden bankerott.
Jetzt aber schwamm man in Tilsit in Entzücken, die
Truppen beider Kaiser fraternisirten und gaben einander
Feste mit viel Getränk und viel Gerede.
Alexanders Frontwechsel in Tilsit führte naturgemüss
zum Wechsel der massgebenden Persönlichkeiten in der
Politik; die Napoleon und Frankreich feindlichen Rath-
geber und Diplomaten verloren ihr Amt. Nowossilzow,
bisher Alexanders Universalgehilfe, sah sich von ihm ge-
mieden*) und im November 1807 in schroffster Form ver-
nbsehiedet; um dieselbe Zeit erhielt Kotschubei „leidender
Gesundheit wegen“ unbestimmten Urlaub, Stroganow schied
aus dem Oivildienst und trat als Generalmajor in das
Heer ein, Ozartoryski und Budberg traten ab. Rasumowski
wurde als Botschafter abberufen, blieb aber als Privat-
mann in Wien, wo sich die Napoleon feindliche Gesell-
schaft um ihn krystallisirte; Kurakin aber, der sich für
den Friedebringer Europas hielt, ein Mann ohne Festig-
keit des Charakters und der politischen Ueberzeugung,
*) Am 28. September 1807 schrieb Sarary aus St, Petersburg:
„Nowossilzow bleibt zu fürchten; »tets des Kaisers Freund, jat er
liberal nach englischer Art und träumt nur davon, die britischen
Institutionen in Russland zu importiren; er iat hierin lächerlich,*
Nowossilzow reiste längere Zeit, verkehrte in Wien vorzüglich mit
Engländern, intriguirte und sammelte Nachrichten zur Verwendung
seiner Regierung. (Ungedruckte westfklische Gesandtschaftsberichte
aus Wien.)
I.
IX. Alexander 1,
ersetzte ihn auf dem Wiener Posten. Die vornehme Welt
in St. Petersburg und Moskau verdammte wie Woronzow
in London u, A. die Allianz mit Napoleon, die Kaiserin- |
Mutter war seine Todfeindin und umgab sich mit Emi-
granten und Anhängern der britischen und oesterreichischen
Interessen; man tadelte unverblümt die Unterwürfigkeit |
unter Napoleons Willen, der Alexander sogar veranlasste, |
„Ludwig XVIIL“ und seine Familie in Wiederholung der
Grausamkeit Pauls aus Mitau auszuweisen*); man sah
mit Entrüstung die rücksichtslose Ausnützung der russi-
schen Freundschaft durch den Korsen, seine Hinterlist
gegen die Bourbons in Spanien. Der durch seine Be-
theiligung an Enghiens Ermordung doppelt ungeeignete
Gesandte Savary, Herzog von Rorigo, fand bei der Ge-
sellschaft einen ausgesucht feindseligen Empfang, in den
Buchlüden lagen viele Schmähschriften gegen Frank-
reich; auch Savarys Nachfolger Caulaincourt, Herzog von
Vicenza, litt unter dem Odium der Mitwisserschaft an
Enghiens Katastrophe und wurde mit eisiger Kälte be-
handelt; Graf Peter Alexandrowitsch Tolstoi. der im
November 1807 als Gesandter bei Napoleon ukkreditirt
worden war, verkehrte fast ausschliesslich im Faubourg
Saint-Germain, reizte Napoleon durch sein achroffes Be-
nehmen und warnte Alexander vor dem Tilsiter Freunde.
Die Missstimmung gegen Alexander trieb die wunder-
lichsten Blüthen, man sprach selbst von Alexanders Be-
seitigung, der Admiral Nikolai Ssemenowitsch Mordwinow,
„der russische Cato*, redete ihm freimüthig ins Gewissen
und Karamsin bereitete schon seine Denkschrift an Alexan-
der „Das alte und das neue Russland® vor. Wie Rambaud
in seiner „Geschichte Russlands“ betont, war die russische
Literatur der Zeit überwiegend antifranzösisch, Trauer-
wie Eustspiele, Oden wie Fabeln, Revuen und Tages-
blätter griffen die Franzosen und die Nachäffung fran-
zösischer Moden an, der grosse Fabeldichter Iwan Andreje-
witsch Krylow verhöhnte sie in seinen Lustspielen „Die
Mädchenschule“ und „Der Modeladen“, Oserow erinnerte
*) Ludwig ging im November 1807 nach England.
=
der Väter gegen die Fremdherrschaft, Krjukowski feierte
dieselben in seinem Trauerspiel „Posharski“, beide gleich-
sam als Hinweis auf baldige neue Kämpfe gegen einen
fremden Gewalthaber, Wassilii Andrejewitsch Shukowski
besang die Thaten des russischen Heeres von 1806; viel-
leicht am leidenschaftlichsten sprach sich Pauls einstiger
‚Günstling, Graf Rostoptschin, in Brief, Theaterstück und
Brochure in mustergiltigem Französisch wie in Russisch
gegen die Pranzosen aus; 1807 erschienen die ironische
Erzählung „O die Franzosen!“, das Lustspiel „Nachrichten
oder der lebendige Todte“, sowie anonym das Pamphlet;
„Laute Gedanken auf der rothen Treppe“: unter Schmäh-
ungen der französischen Ehrsucht versprach Rostoptschin
seinen Landsleuten den Sieg, falls sie, ihrer Heldenahnen
würdig, tapfer fechten würden, dann werde „der Feind,
der gekommen sei wie ein brüllender Löwe, wie ein
hungriger Wolf zühnefletschend entfliehen“. Freilich hielten
die Russen trotz aller Tiraden an ihren französischen
Gouverneuren und Gouvernanten, Köchen und Friseuren,
an Pariser Moden und Lastern fost.
Nach Budbergs Abgang war das auswärtige Amt dem
bisherigen Handelsminister Grafen Nikolai Petrowitsch
Rumjanzow, dem Sohne des grossen Sadunaiskii, über-
tragen worden; Rumjanzow hatte sehon 1806 zum Bunde
mit Napoleon gerathen und blieb bis zu dessen Sturz im
Banne seiner gewaltigen Grösse, er schwärmte für Frank-
reich und verfasste seine offiziellen Erlasse in französischer
Sprache, aus der sie erst ins Russische übersetzt werden
mussten, war sehr wenig begabt und unzuverlüssig; er
wurde zwar 1809 auch Reichskanzler, hatte aber sehr wenig
Einfluss auf Alexander, der seine Nullität durchschaute.
Massgebend für die inneren Angelegenheiten wurde der
Geheimrath M. M. Speranski, von dem wir später aus-
führlich berichten werden; er konnte als der Erbe des
Triumvirats Nowossilzow, Stroganow, Czartoryski bezeichnet
werden und war der allmächtige Universalgehilfe des Zaren,
Speranski hatte im Gegensatze zu Rostoptschin, Karamsin
und so vielen Anderen eine grosse Vorliebe für Frank-
Pan |
1807 in seinem Dmikri Donskoit ande Helken ia
ı A u
IX. Alexander I.
reich, ‘hatte sich an der französischen Publieistik geschult,
Montesquieu und Condorcet zu seinen Lieblingen erwählt
und bewunderte das riesenhafte Genie Napoleons, wie
dessen legislatorische Begabung, als deren Ausdruck
der Code Napoldon vorlag. Araktschejew und den Alt-
russen war der Reformer ein Stein des Anstosses, an
dessen Beseitigung sie unermüdlich arbeiteten; Araktsche-
jews Einfluss bei Alexander war im Steigen, seine
Verbesserungen im Artilleriewesen, welche diese Waffe
auf die Höhe der französischen hoben, gewannen ihm
die Anerkennung des Gebieters und er wurde im Januar
1808 Kriegsminister, um alsbald gegen Schweden zu
rüsten.
Als die Briten über das wehrlose Dänemark herfielen
und Kopenhagen beschossen, bezeichnete Alexander am
7. September 1807 sämmtliche mit ihnen abgeschlossenen
Vertrüge als aufgehoben und erklärte ihnen am 6. No-
vember den Krieg; der Handel litt entsetzlich unter dem-
selben, im September 1808 fiel die Mittelmeerflotte unter
Admiral Ssenjawin im Tajo in die Hände der Briten,
welche die Schiffe erst nach fünf Jahren wieder heraus-
gaben; während Russland britische Schiffe beschlagnahmte,
blokirte eine britische Flotte die russische in der Ostsee,
Weil Schweden keinen Selbstmord begehen wollte und
der Kontinentalsperre nicht beitrat, überfiel Alexander dies
Reich; Gustav IV. Adolph hatte dem Schwager in
beleidigender Weise den St. Wladimir-Orden zurückge-
schickt, als derselbe mit Napoleon, „dem Thiere der Apo-
kalypse“, wie Gustav in seiner verdrehten Mystik ihn nannte,
Freundschaft geschlossen hatte, und war einen Subsidien-
vertrag mit den Briten eingegangen. Im Februar 1808 rückte
Graf Buxhöwden ohne Kriegserklärung in Finnland ein,
in einer Proklamation wurde der Bevölkerung gerathen,
sich „ihren Freunden und Beschützern“ nicht zu wider-
setzen, hingegen für den vom Zaren zu berufenden Landtag
Abgeordnete zu wählen*). Nach zehn Monaten war ganz
Finnland erobert, im Mai hatte die für uneinnehmbar
*) Bamband, Geschichte Russlands (s, oben).
finnländischen Soldaten im schwedischen unter Be-
ee man fasste auf den
In festen Fuss, Fürst Bagration u. A. brachten
nene Truppen, der Livländer Michail Bogdanowitsch
Barclay de Tolly führte die ihm unterstellten über
das Eis des bothnischen Meerbusens in abenteuer
lichem Wagemuthe nach Schweden. In Stockholm brach
im März 1809 ein militärischer Aufstand aus, der
König wurde verhaftet und mit seiner Descendenz des
Thrones verlustig erklärt, der Thronräuber, sein Oheim,
bestieg am 6. Juni als Karl XII. den Thron. Der Krieg
mit Russland endete am 17. September 1809 im Frieden
von Frederikshamn: Russland erwarb Finnland, _ West-
bothnien bis zum Torneä und einen Theil der Alands-
inseln, 5472 Quadratmeilen mit 898500 Seelen. Alexander
berief den finnländischen Landtag, bestätigte dem Lande
im Mürz 1809 die alte schwedische Verfassung und die
Universität in Äbo, die Nikolaus I. im Jahre 1827 nach
Helsingfors verlegte, wo sie noch blüht; der Landtag
hatte schon am 29. Februar in Borgä Alexander als
„Grossfürsten von Finnland“ gehuldigt. 1811 bestätigte er
das Land als Grossfürstenthum Finnland in den Grenzen,
die es vor dem Nystädter Frieden von 1721 besessen
hatte. Obwohl Finnland im Kriege erobertes Land war,
behauptete es mehr uls jedes andere Gebiet sein politisches
Sonderdasein, das wohl am besten als Realunion zu be-
zeichnen ist”); in der Bevölkerung lebte ein starkes
Heimaths- und Nationalgefühl fort, Finnland erwies sich
in der Förderung kultureller Aufgaben als Musterland;
es erfreut sich heute noch grosser administrativer und
logislativer Vorzüge, geniesst finanziell und militärisch eine
privilegirte Sonderstellung und 1886 wurde seinen Ständen
das Recht der Initiative bei der Gesetzgebung von
zurückgetri
*) L. Mechelin, Das Staatsrecht des Grossfürstenthnms Finm-
land, Freiburg 1. Br, 1889; Kleinschmidt, Das rmwische Staatsrecht
und seine Geschichte (s. oben).
IX. Alexander 1. y |
. 1X. Alexander I 20
Alexander III. zuerkannt. Seit 1809 ist der Kaiserliche
Senat für Finnland Finnlands höchste administrative und
riehterliche Behörde, die bis 1826 bestehende finnländische
Kommission wurde aufgehoben, das Centralorgan der
höchsten Verwaltung ist der in St. Petersburg wohnende
Minister-Staatssekretär für Finnland. Auf dem Landtage
herrschte lange ein durchaus ständischer Geist, von Adel
und Intherischer Geistlichkeit getragen; Finnland hat auch
heute sein eigenes Heer und seine eigenen Finanzen.
Napoleon hatte in Tilsit Alexanders Begehrlichkeit
nach türkischem Gebiete entzündet, dachte aber nicht
danach, seine Verheissung erfüllen zu wollen. Während
Ssenjawin Tenedos genommen und Graf Gudowitsch im
Juni 1807 am Arpatschai in Armenien den Seraskier von
Erzerum derart geschlagen hatte, dass er dafür den Feld-
marschallsstab erhielt, leitete Oberst Guilleminot laut dem
Tilsiter Frieden die Mediation zwischen Russland und der
‚Pforte ein und erzielte am 24. August den bis 21. März 1808
laufenden Waffenstillstand von Slobosia (bei Giurgewo):
die Russen sollten die Moldau und Walachei binnen
35 Tagen räumen, die Feindseligkeiten auf asiatischem
Boden einstellen und die Türken sollten ihre Schiffe
zurückerhalten. General Casimir Baron Meyendorft, ein
Balte, ratificirte rasch den Vertrag und begann mit
der Räumung, wurde jedoch verabschiedet und der Zar
verweigerte die Ratifikation; er sandte nach den Donau-
fürstenthümern als Oberbefehlshaber den greisen General-
feldmarschall Fürsten A. A. Prosorowski, der aber gegen
die Türken nichts leistete: Sebastiani hetzte den Divan
gegen Grossbritannien auf, die Russen blieben zwar in den
Fürstenthümern, konnten aber in den dauernden Besitz
nicht eintreten, Alexander sah seine Erwartungen auf
türkische Beute betrogen, war ärgerlich über das vor
seiner Thür aufgebaute Grossherzogthum Warschau und
beunruhigt über Napoleons beharrliche Festsetzung in
Preussen, die denselben zum Herrn des Kontinents machte,
und wies ihn ab, als er Schlesien als Aequivalent für
die Fürstenthümer forderte, Napoleon aber brauchte ihn
und machte ihm neue Versprechungen; er behauptete, mit
0 IX. Aloxander I. “
ee
Selims III. Tod seien seine Verpflichtungen gegen die
Pforte erloschen, er könne ihm gegen Mahmud IT. freie
Hand lassen und lud ihn zu einem in Erfurt abzuhal-
| tenden Kongresse ein, auf dem sie als Schiedsrichter
Europas tagen wollten. Der wetterwendische und bei
allem Misstrauen leichtgläubige Zar war sofort gewonnen;
auf der Durchreise rieth er dem Königsberger Hofe,
nachgiebig gegenüber Napoleon zu sein, und war von dem.
Patriotismus Steins und Schladens unangenehm berührt;
vergebens mahnten sie ihn, Europas Befreier zu werden, er
wollte lieber Europas Mitgebieter sein. Begleitet vom Oäsare-
witsch, von Rumjanzow. Speranski, Fürst A. N. Galitzin
u, A. traf er im September in Erfurt ein, wo sich ein
Parterre von Königen um beide Kaiser gruppirte; vier
Wochen lang redeten Beide Worte der innigsten Freund-
schaft und eilten von Fest zu Fest, von einander un-
zertrennlich: dass die Macht auf Napoleons Seite weit mehr
als auf der Alexanders lag, konnte man nicht unschwer
erkennen. Alexander that nichts zur Milderung der aber-
mals erschwerten Lage Preussens, sein Augenmerk rich-
tete sich nur auf die Türkei, wie Napoleon hauptsächlich
auf Spanien abzielte; auf Napoleons Wunsch schickte der
Zar den Fürsten Kurakin in besonderer Mission nach Wien,
um dort die Anerkennung von Napoleons Bruder Joseph
als König von Spanien zu erwirken, that auch ver-
mittelnde Schritte zum Frieden bei dem britischen Kabinete:
trotz aller Gefülligkeit aber versagte er Napoleon die
Hand seiner Schwester Katharina in der Form, dass er
ihn mit seinem Begehren an die Kaiserin-Wittwe Maria
Fedorowna, seine Feindin, wies. Am 12. Oktober unter-
zeichneten Champagny. der französische Minister des
Aeusseren, und Rumjanzow in Erfurt einen Vertrag, der
das Tilsiter Bündniss erneute; Russland und Frankreich
versprachen einander, nur gemeinsam auf der Basis des
uti possidetis Frieden mit ihren Feinden zu machen, d. h.
für Russland die Anerkennung des Eigenthumsrechts an
Moldau, Walachei und Finnland, für Frankreich die An-
erkennung der neuen Verhältnisse in Spanien; da Gross-
britannien diese Anerkennung niemals gewähren würde,
IX. Alezander I
2 ee een wen
mit den Briten zu verwickeln. Insgeheim verahredeten die
Kaiser, sie wollten bei der Pforte gemeinsam unterhandeln;
im Gegensatze zu Alexanders Hoffnungen musste er jetzt
mit Napoleon der Pforte ihren ganzen Besitzstand mit Aus-
nahme der Donaufürstenthümer garantiren; im Falle
eines Kriegs Oesterreichs mit Napoleon sollte Alexander
Letzterem, im Falle des Anschlusses Oesterreichs an die
Türkei gegen Russland Napoleon Alexander helfen. Alexan-
der erkannte Joseph als König von Spanien an, erwirkte
Napoleons Wunsch berief er Tolstoi von Paris ab und
ersetzte ihn durch den früheren Reichsvicekanzler Fürsten
Kurakin, einen Anhänger der Kontinentalsperre und der
engen Allianz beider Höfe. Am 14. Oktober schied Ale-
xander von seinem Wirthe Napoleon, dem Auscheine nach
befreundeter als je, im Inneren aber voll Misstrauens und
Aergers, von Napoleons Unaufrichtigkeit überzeugt; er
hatte wiederum Konstantinopel nicht erlangt; „den
Schlüssel, der die Thür zu seinem Hause öffnen sollte*,
hatte man ihm nicht gegeben. Auf seinen Befehl hin
verschaffte ihm bald darauf Kurakin auf dem Woge dor
Bestechung Kopien von Napoleons geheimen Plänen; aus
diesen ersah er, dass Napoleon nicht rasten würde, bie
Russland, „der natürliche Gegner Frankreichs, der natürliche
Allürte Oesterreichs", allen Einfluss auf die Gebiete diesseit«
der Düna und des Dnjepr verloren habe und bis os nicht
mehr die Herrschaft Frankreichs im Mittelmeore gefährde,
Oesterreich gegen Frankreich aufstachele, in Polen,
Schweden, Türkei und Deutschland nach der gehiotenden
Rolle strebe und Preussen Hilfe biete. Trotz dieser Ent-
hüllungen harrte Alexander auf Napoleons Seite aus und
trotzte der antifranzösischen Meinung seines Volkes.
Vergebens bemühte sich Friedrich Wilhelm IIl., der im
December 1808 bei Alexander als Gast weilte, ihn für eine
Defensiv-Tripelallianz mit ihm und Kaiser Franz I, zu
gewinnen; Alexander verrieth ihm, er sei verpflichtet,
Napoleon bei einem Kriege gegen Oesterreich zu unter-
1
wo IX. Alexander I.
stützen, und rieth ihm, denselben Weg einzuschlagen, was
der König ablehnte, Im Jahre 1809 wies Alexander das
Ansinnen des Botschafters Fürsten Schwarzenberg, als
Oesterreichs Allüürter mit in den Krieg gegen Napoleon
zu ziehen, zwar zurück, war aber weit entfernt, die Ver-
nichtung Oesterreichs zu wünschen, und sagte bedauernd
zu Schwarzenberg, er müsse leider seinem Versprechen
gemäss für Napoleon fechten; Schwarzenberg entnahm
der Haltung des Zaren, derselbe werde eventuell nur
einen Scheinkrieg führen, und so kam es wirklich, Der
General Fürst Ssergei Fedorowitsch Galitzin®) führte im
Mai 1809 32000 Mann nach Galizien, wich aber nach
besten Kräften dem Zusammenstosse mit den Oester-
reichern aus, hielt sich von den verbündeten Truppen des
Warschauer Staates unter Poniatowski und Dombrowaki
möglichst fern und beobachtete Polen weit mehr als
Oesterreich, mit den Polen beständig in Misshelligkeit: er
rieth Alexander, Napoleons polnischen Umtrieben ent-
gegen zu treten und sich als Wiederhersteller Polens zu
manifestiren, doch fürchtete der Zar die Unbeständigkeit
der Polen und die üble Einwirkung auf Litauen, Ale-
xander war höchst unzufrieden mit den Abmachungen des
Wiener Friedens vom 14. Oktober 1809, der das Gross-
herzogthum Warschau so sehr verstärkte, liess sich aber
ala Miethling Napoleons den galizischen Kreis Tarnopol
mit 400000 Seelen abtreten.
Russland wäre aus dem Türkenkriege gern aus-
geschieden, wenn es eine sichere Beute davon getragen
hätte; vorerst hatte man aber nur vage Versprechungen
erhalten. Die Briten, die mit Mahmud II. Frieden ge-
schlossen hatten, und die Oesterreicher riethen ihm zur
Verwerfung der russischen Forderungen, Mahmud fasste
frischen Muth und der Krieg begann von neuem; trotz
alles Drängens des Zaren leistete Fürst Prosorowki
nichts, nach seinem Tode führte Fürst Bagration interi-
mistisch den Oberbefehl, eroberte eine Reihe Festungen
*) Gönner des Dichters Krylow, der längere Zeit bei ihm lebte
und seine Kinder unterrichtete,
IX. Alexander I. 259
an der Donau, wurde aber vom Grossvezier bei Tartaritza
geschlagen; im Februar 1810 ersetzte ihn der jugendliche
Graf Nikolai Michailowitsch Kamenski, in dem Alexander
den ersten Feldheren Russlands sah, ein ebenso ver-
wegener wie jeder Menschenkenntniss entbehrender, un-
mässig arroganter Mann, aber alle in ihn gesetzten exor-
bitanten Erwartungen schrumpften zu dem einen Siege von
Batyn (7. September 1810) zusammen. Da der Bruch
mit Napoleon jetzt schon zu erwarten war, rief der Zar
Kamenski ab, um ihm die zweite Armee gegen diesen zu
übergeben, da starb Kamenski im Mai 1811. Sein Nach-
folger, der bedächtige und vorsichtige Michail Ilariono-
witsch Golenischtschew-Kutusow, einst Ssuworows rechter
Arm. war vom Glücke ungemein begünstigt, schlug den
Feind wiederholt, jagte den Grossvezier am 13, Oktober
in die Flucht, nahm ihn mit einem Theile seiner Armee
am 8. December auf dem linken Donauufer gefungen und
vernichtete die Truppen auf dem rechten Ufer*), begann
dann Friedensverhandlungen mit der Pforte und zog sie
auf heimlichen Ratlı des Reichskanzlers in die Länge,
um seine Truppen nicht zu frühe gegen Napoleon ver-
wendbar werden zu lassen; hierüber war der Zar ärgerlich
und ernannte anstatt seiner den wackeren Admiral Paul
Wassiljewitsch Tschitschagow zum Oberbefehlshaber. Be-
vor derselbe den Öberbefehl antreten konnte, wollte
Golenischtschew-Kutusow den Feldzug zu Ende führen:
er belehrte die türkischen Bevollmächtigten darüber, dass
Napoleon dem Zaren die Theilung der Türkei angebotenhabe,
auch die Briten riethen den Türken zum Frieden und so
wurde derselbe in Bukarest am 28. Mai 1812 abgeschlossen:
Russland, das auf die Donaufürstenthümer verzichtete, er-
hielt Bessarabien mit den Festungen Chotin und Bender,
der Pruth bildete von seinem Eintritte in die Moldau bis
zur Mündung in die Donau die Grenze zwischen Russland
und der Türkei; es war eine Erwerbung von etwa
880 Quadratmeilen, vorläufig im Südwesten die letzte auf
*") Er warde hierfür Graf, am 10, August 1812 nach dem Frieden
von Bukarest Fürst mit dem Prädikate „Durchlaucht“,
und einfahren und die ganze Donau beschiffen, russische
Kriegsschiffe nur bis zur Mündung des Pruth die Donau
befahren. Tschitschagows Sehnsucht, noch vor der Rati-
fikation des Friedens nach Konstantinopel marschiren zu
dürfen, blieb ungestillt. Dem Friedensschlusse mit Schwe-
den war am 8. April 1812 ein Bündniss mit diesem Staate
gefolgt, in dem ihm Alexander als Ersatz für Finnland
das dänische Norwegen versprach, und der Friede von
Gulistan beendete am 12. Oktober 1813 den langen Krieg
mit Persien: Russland erwarb dauernd Daghestan und
Schirwan. Wir wollen hier noch erwähnen, dass im Jahre
1821 die Russen Alaska, die Nordwestküste von Nord-
amerika, welche eine russisch-amerikanische Pelzkompagnie
schon 1799 besetzt hatte, zu ihrem Rigenthum erklärten; im
Jahre 1867 verkaufte Alexander Il, Alaska für 7200000 Dol-
lars an die Vereinigten Staaten von Nordamerika.
Vom ersten Tage seiner Regierung an hatte Alexander I,
im Inneren seines Reiches reformirt, hatte sich mit wahrer
Heissblütigkeit auf Reformen gestürzt; er erklärte, die
Gewalt sei nur dann reehtmässig, wenn sie aus dem
Gesetze herrühre, hob „die geheime Expedition auf,
welche, ohne einem Gesetze zu unterstehen, ohne allen
Beweis Verdächtige nach Sibirien, in die Kasematten oder
nach entfernten Gütern senden durfte, verbot das Quälen
der Angeklagten und die sogenannten „schonungslosen“
Strafen, liess die von Paul errichteten zahlreichen Galgen
mit den Namen der kriminalrechtlich Verurtheilten fallen,
befreite Priester und Kirchendiener, Edelleute und Gilde-
mitglieder von körperlicher Züchtigung. Bücher- und
Zeitungseensur wurde gemildert, man durfte nach Belieben
ausländische Bücher einführen und nur ausnahmsweise
kam eines auf den Index, die von Paul geschlossenen
nichtstaatlichen Pressen wurden wieder geöffnet: wie Pauls
abgeschmackte Kleiderordnung, wurde das Verbot des
Fremdenverkehrs nach Russland und des Reisens der
Russen in das Ausland beseitigt, Alle Verwaltungschefs
Pa
IX. Alexander I, 25
mussten dem Kaiser specificirte Rechenschaftsberichte ein-
liefern, die er drucken liess. die Steuern wurden ermüssigt,
die Ausgaben des Hofhalts beschränkt. Alle Produkte des
Reichs sollten ungehinderte Ausfuhr geniessen, sobald sie
einen Zoll gezahlt hatten, Dem Adel und den Munieipali-
täten wurden alle Vorrechte bestätigt.
Die Frage von der Aufhebung der Leibeigenschaft
stand auf der Tagesordnung, so lange Alexander regierte;
Speranski zumal begünstigte sie. Alexanders Beschluss,
ferner keine „Seelen“ mehr zu verleihen, und sein Verbot,
freie Leute zu Leibeigenen zu machen, stellte die Lage der
Kronbauern sicher und jährlich sollte die Krone für eine
Million Rubel Land mit Leibeigenen kaufen; im Februar 1803
bestätigte ein kuiserlicher Ukas die zwischen Gutsbesitzern
und Leibeigenen freiwillig abgeschlossenen’ Befreiungsver-
träge. Der Zar und die wenigen für die Befreiung der Bauern
Eingenommenen dachten an Befreiung nur ohne Bewilligung
von Grund und Boden, sie erreichten nichts; unter ihnen
war derselbe Fürst Alexander Ssergejewitsch Menschikow,
der sich unter Nikolaus und Alexander II, weiter gehenden
Bestrebungen widersetzen sollte. Sehr abweisend äusserte
sich der Minister und Admiral Alexander Ssemenowitsch
Schischkow, und Rostoptschin schrieb auf die Kunde hin,
Graf Ssergei Petrowitsch Rumjanzow, der jüngere Bruder
des Reichskunzlers, lasse seine Leibeigenen freie Acker-
bauern werden *), höhnend dem Fürsten Zizianow: „Gewiss
hat Rumjanzow Lust, entweder zum vierten Male in Dienst
zu treten oder zwei Ellen blauen Bandes**) zu erhalten.
Doch ach! — er ist mit einer Tabuksdose nbgelohnt! Du
kannst Dir selbst vorstellen, welche Aufregung dies alles
in Moskau erzeugte: ja die Abendbetstunden hörten auf,
weil die Vorleser den neuen Retter des Menschen-
geschlechts, d.h. Ssergei Petrowitsch, ausschimpften“ ***).
Dershawin und Karamsin waren entschiedene Gegner der
*) Er bot ihnen die Freiheit an, wenn sie ihm die Ascker ab-
kaufen wollten, und zerfiel darliber mit seinen Standesgenossen.
**) Dar St, Andreas-Orden wird am blanen Bande getragen.
=*+) Memoiren des Senators Ssolowjew in „Russkaja Starinn“,
1880 und 1881.
interessirte sie zwar sehr, doch begriff
unbedingt A sein solle,
‚Jahre 1818 die allmälige Befreiung der Bene
‚sönlichem Loskaufe vor, nach dem Alter der Loszı
sollte das Muss des Loskaufs vom 2. bis 40, L
proportionell erhöht und vom 40. bis 60. Le
proportionell herabgesetzt, Kinder unter zwei Ji
Greise über 60 Jahren sollten en
winow setzte für den persönlichen Loskauf sehr hohe Preise:
für ein Kind vom zweiten bis fünften Jahre 100 Rubel,
für Erwachsene von 30 bis 40 Jahren 2000 Rubel, für
solche von 50 bis 60 Jahren 500 Rubel; nur sehr
| Bauernfamilien, vielleicht 100 in ganz Russland,
| solche Preise bezahlen. an 10000 Rubel für Thron Doakaaf |
opfern können. Fürst Menschikow (s. oben), Graf Michail |
Ssemenowitsch Woronzow und die Brüder Nikolai und |
Alexander Iwanowitsch Turgenjew unterzeichneten ein
Schreiben, es möge sieh eine dem Ministerium des Inneren
zu unterstellende Gesellschaft zum Zwecke der allmäligen
Befreiung der Bauern von der Leibeigenschaft bilden,
dasselbe gelangte 1820 an Alexander L Ks blieb aber
auch unter ihm meist beim Alten. Pauls Verbot, Leib-
eigene zur Versteigerung auszubieten und die Familien-
glieder somit auseinander zu reissen, wurde erneut, trotz-
dem aber fanden, wie N. 1. Turgenjew versichert, fast
unter den Fenstern des kaiserlichen Palastes derartige
Versteigerungen stutt. 1823 wurde der Verkauf von
„Seelen“ ohne das Land untersagt. Die Krone sollte
| fortan keine „Seelen“ mehr zum I,ohne geleisteter Dienste
verschenken, die Kaufleute sollten keine Leibeigenen be-
sitzen dürfen, dies Recht kam nur dem Adel zu, hingegen
durften die Kaufleute Landbesitz erwerben, die Domänen-
| Fa \ 4
—
bauern durften gegen Entrichtung von Grundzins das {
Gleiche, beide ohne Leibeigene. Durch freiwilligen Be- )
schluss gaben die Ritterschaften von Esthland, Kurland
und Livland 1816, 1818 und 1819 ihre Leibeigenen frei,
was Alexander bestätigte. Schon 1804 hatte der ein-
sichtige Adel Livlands ein Statut geschaffen, welches den
Bauern ein gewisses Anrecht an den Grund und Boden
in der Weise zusprach, dass die von jedem Bauernhofe
zu leistende- Frohnde fest bestimmt und dem Bauern in
gewissen Grenzen ein erbliches Nutzungsrecht an seinem
Hofe zugesichert wurde; seit der Aufhebung der Leib-
eigenschaft wurde der persönlich befreite Bauer Frohn-
arbeiter und aller Grund und Boden blieb den Herren,
die Bauern erhielten kein Land, mussten vielmehr das
Herrenland als Pächter oder Tagelöhner bebauen; im
Ganzen blieb das Verhältaiss von Gutsherrn und Bauern
befriedigend. x
Sehr milde behandelte Alexanders Regierung die
Raskolniks; nachdem die bisher verfolgten Duchoborzen
ein eingehendes Glaubensbekenntniss eingereicht hatten,
gewährte Alexander ihnen Duldung und siedelte sie in
Taurien an, von wo sie Nikolaus im Jahre 1841, 3000 an
Zahl, nach einem Hochplateau in Transkaukasien überführte.
Der Öberprokureur der heiligen Synode, Fürst Alexander
Nikolajewitsch Galitzin, begünstigte geradezu das mystische
Treiben der Sektirer, besuchte ihre excentrischen Versamm-
lungen und machte Propaganda für die mystische Literatur
in Russland, zumal so lange er Minister der Volksauf-
klärung war.
Alexander beschäftigte sich eingehend mit Mann-
faktur und Handel xeines Reichs, der freilich durch den
blinden Anschluss an Napoleon und die Kontinentalsperre
schwer litt. Er erliess ein Reglement für die Seefahrt,
frug häufig den alten J. J. Sievers (s. oben) um Rath,
was uch Sievers’ Nachfolger als Generaldirektor aller
Wasserverbindungen, der nachmalige Reichskanzler Graf
Rumjanzow. zu tlun pflegte, gab im Juni 1804 dem die
Msta und den Wolchow verbindenden Kanale den Namen
„Sievers-Kanal“ und schuf manchen neuen Wasserweg:
A. Kieinsehmidt, Usberbl. d russ. Gesch. u. Inos, 17
IX. Alexander I.
IX. Alexander T. au
im Südosten der Beringsstrasse und kehrte 1818 heim,
worauf Rumjanzow seine Reisebeschreibung mit Karten
1821 auf eigene Kosten drucken liess; 1823—1826 machte
Kotzebue seine dritte Weltreise (die erste als Seekadet
unter Krusenstern) und besuchte in erster Linie die Süd-
see, In Rumjanzows Aufteag untersuchte der Archäologe
Strojew in den Jahren 1817—20 das Innere Russlands,
Rumjanzow reiste selbst in gleicher Absicht und entdeckte
bei Orscha das Grab eines Rurikiden; die Leidenschaft
nach Alterthümern war seine einzige und sie war, wie er
selbst sagte, ungefährlich. Er sandte Ricord, dem Be-
fehlshaber in Kamtschatka, Gelder, um diejenigen Tschuk-
tschen zu belohnen, welche im Norden der Beringsstrasse
lokale Forschungen vornehmen würden, und gab 1819
Summen zur ersten Reise der Benmten in Alaska.
Das russische Unterrichtswesen stand noch auf niederer
Stufe, Alexander theilte das Reich in sechs Schulbezirke
(St. Petersburg, Moskau, Dorpat, Charkow, Kasan und
Wilna), an deren Spitze ein Kurator (popetschitel), betraut
mit der Sorge für das Schulwesen, stand; meist waren
es sehr angesehene Persönlichkeiten, z. B. in Wilna Fürst
Ozartoryski und seit 1824 Nowossilzow, in Moskau Fürst
Galitzin. Die Normalschulen wurden theilweise nach
Bell-Lancasterschem Systeme eingerichtet, man schuf Be-
zirksschulen und Gymnasien *). geistliche Schulen, denen
man als Einkünfte den Ertrag aus dem ausschliessliehen
Verkaufe der Kerzen in den Kirchen überwies**), man re-
formirte die geistlichen Akademien und Seminare, obwohl
viele Pfaffen es mit scheelen Augen ansahen. Die Uni-
versitäten in Moskau, Wilna und Dorpat wurden völlig
erneuert; Paul. der Wiederhersteller der alten Verfassung
der Ostseeprovinzen, hatte schon die Wiederherstellung
der 1710 in Pernau erloschenen, einst »0 berühmten Uni-
versität Gustav Adolphs 1798 in Angriff genommen, Alexan-
der bestätigte seine Verfügungen und im April 1802 wurde
die Universität Dorpat eröffnet, wofür Graf J. J. Sievers
*) In Odessa entstand das Richelien-Lyerum.
*") Rambaud, Geschichte Russlands,
IX. Alexander I. So
Kotschubeis, hinter dem Speranski stand, ein Ukas die
kollegialen Einrichtungen am Ministerium des Innern; da
Kotschubeis Motive auf sämmtliche Kollegien anwend-
bar waren, erfolgte allmälig die Aufhebung aller. Zum
Kriegsminister ernannte Alexander den General der
Infanterie Ssergei Kusmitsch Wjasmitinow, einen Mann
ohne Talent, ohne Initiative und ohne Einfluss, der den |
Vortrag bei Alexander meist dem Grafen Karl A. Lieven |
überliess*); Marineminister wurde der Admiral Nikolai
Ssemenowitsch Mordwinow, ein hervorragender Arbeiter
und. vortrefflicher Mensch, den aber Tschitschagow und
die eigene scharfe Zunge schon nach drei Monaten ver-
drängten. Die auswärtigen Angelegenheiten fielen mit
dem Amte des Reichskanzlers dem Grafen Alexander
Romanowitsch Woronzow zu, der sich meist nach den
Wünschen Ozartoryskis riehtete**). Das Ministerium des
Inneren, das durch Ukas vom 30. Juni 1804 in drei De-
partements getheilt wurde, kam an den Grafen Viktor
Pawlowitsch Kotschubei, unter den Ministern von 1802
den einzigen persönlichen Vertrauten des Zaren; Justiz-
minister wurde der Dichter Dershawin, ein sehr schlechter
Jurist, der von Nowossilzow geleitet ward, Finanzıninister
der Grossschutzmeister Graf Alexei Iwanowitsch Wassiljew,
ein Mann von unsträflichem Charakter. Graf Nikolai
Petrowitsch Rumjanzow übernahm das Portefeuille des
Handels, unter ihm war der Wucher der Handelsbeamten
ein öffentliches Geheimniss, er liess sie rauben und ver-
mehrte selbst sorglich sein grosses Vermögen ***); er hob
den Handel am Schwarzen Meere, belebte den Verkehr
in In- und Ausland und gründete in St. Petersburg eime
Schule für Schiffbau. Das Ministerium der Volksaufklärung
*) Im Januar 1808 ersetzte ihn Araktschejew, im August 1818
wurde Wjasmitinow Graf, er starb im Oktober 1819.
**) Woronzow war sehr konservativ und für den alten Kollegial-
charakter der Verwaltung eingenommen; auch sprach er bei der Re-
organisation des Senats wie Troschtschinski für die Wiederverleihung
seiner alten Machtstellung. Er legte 1804 seine Aemter nieder.
"=, Schiemann, Kaiser Alexander Pawlowitsch und sein Hof
1804, in „Russkaja Starina*, Dezember 1880,
kanzler Graf Rumjanzow müsste präsidiren ; so
Ministercomit4 ein besonderes Tribunal, was viel
hervorrief, Karamsin, Troschtschinski u. A. äusserten
unverhohlen und Speranski wollte die Abschaffung
Comitös; nun übertrug eine kaiserliche Instruktion
%. Juli 1811 an die Minister die dem Ministereomit& zu-
stehenden Dinge dem Senate und man sprach nieht mehr
vom Comitö, so lange Speranski am Ruder war. Die In-
struktion vom 7, Juli, sein Werk, gab den Ministerien die
Organisation, die sie im Ganzen noch haben; an der Spitze
jedes Ministeriums steht ein vom Kaiser unmittelbar er- |
nannter Minister, der die ganze Macht der Verwaltung in
sich concentrirt, neben ihm sehen wir einen oder mehrere
Adjunkten, Departements und Kanzleien; an den Ministerien
wurde ein Rath des betr. Ministers ete. eingeführt. Die
Minister wurden verantwortlich und ihre Zahl später vermehrt, |
Alexander I. restaurirte den Senat, den Paul nur als
obersten Gerichtshof belassen hatte, an der Spitze der Ver- |
waltung, beschränkte ilın aber auf die Rolle als „Bewahrer
der Gesetze“; da die aktive Verwaltung 1802 an die Mini- |
sterien kam, so musste sich der Senat mit der Verw:
justiz begnügen; seine Initiative wurde lahm gelegt. die
Minister wurden von ihm unabhängig, er spielte nur als
höchster Gerichtshof des Reiches eine hervorragende Rolle,
9) In selnar Sagen zeitweilig Boüffeur am | St. Peterabungen
Hoftheater,
**) Von ihm später.
IX. Alexander I, Ei
Bumjanzows Antrag, den Senat in eine oberste Re-
gierungs- und in eine oberste Justizkummer zu trennen,
fand keinen Anklang, 1864 aber kam man darauf zurück.
Laut Ukas vom 20, September 1802, der noch heute den
Boden der Senatsverfassung bildet, erhielt der Senat die
Funktion der Aufsicht, seine Ukase werden als Ukase
der souveränen Gewalt ausgeführt, er muss aber streng
nach dem Gesetze entscheiden und der Kaiser kann den
Willen des Senats anhalten; der Senat fungiert nie in
corpore, keine allgemeine Senatsversammlung existirt, der
Senat repräsentirt nur die Vereinigung einiger ganz
isolirten Kollegien, die in besondere Departements und
in allgemeine Versammlungen zerfallen *).
Alexander wollte eine besondere Institution schaffen,
die ihn bei der Gesetzgebung berathen sollte, und be-
stimmte durch die Instruktion (nakas) vom 17. April 1801
die Kompetenz, die Organisation und den Geschäftsgang
des Reichsraths; derselbe sollte sich nur mit Angelegen-
heiten der Gesetzgebung beschäftigen, doch konnten auf
kaiserliche Ordre hin auch richterliche Angelegenheiten
an ihn gebracht werden, ja seit 1804 beschäftigte er sich
fast ausschliesslich mit letzteren. Dies änderte sich, als
Speranski mit seinem Plane einer das ganze Btaatswesen
umfassenden Reorganisation hervortrat. Speranski dachte
sich den Reichsrath nicht als spezielles Organ der Gesetz-
gebung, sondern als die allgemeine Ooncentrirung sämmt-
licher Funktionen der höchsten Verwaltung, als den Lenker
der Regierung; der Reichsrath, gewissermassen der Anfang
der Reorganisation des ganzen Systems, sollte die Gesetz-
gebungsfunktionen einem Staatsrathe abtreten und selbat
die Regierung führen, Regierungsrath werden. Doch kam
es nicht so weit**). Als der Reichsrath Neujahr 1810
reorganisirt war, bildete er lediglich ein spezielles
Organ für Gesetzgebung, in ihm coneentrirte sich die
Funktion der Gesetzgebung. Als Institution, um dem
Kaiser zur Ausführung seiner Regierungsfunktionen an
*) Korkunow, Russisches Staatsrecht (s. oben),
®"*) Korkunow (ebenda).
kaiserliche Ernennung Mitglieder des R
Minister, die, so lange sie Minister sind,
können ju jeden Augenblick von dem
lassen werden; der Kaiser kann Jedermann in den
rath berufen, doch rekrutirt sich derselbe stets
Grossfürsten, dem Adel und den höchsten w.
Würdenträgern, fast immer aus Staatsdienern, und nie war
ein orthodoxer Geistlicher darin; sehr oft wurde der
Reichsrath zur Versorgungsanstalt verabschiedeter Grössen
des Staatsdienstes. Die Zahl der Mitglieder ist unbestimmt,
im Jahre 1810 betrug sie 35, später im Durchschnitte
doppelt so viel und mehr, der Gothaer Hofkalender von
1898 giebt als heutigen Stand mit Ausnahme einiger
Grossfürsten und aller Minister 59 an, weit mehr Ciyilisten
als Militärs; der Kaiser ist Präsident des Reichsraths, er-
nennt aber einen an seiner Stelle Präsidirenden. Der
Reichsrath besteht aus dem Plenum, dem der Kaiser oder
sein Vertreter präsidirt, und den Departements, die ihre
eigenen Präsidenten haben; solcher Departements giebt
es zwar vier, jedoch fungiren nur drei: @
Civil- und geistliche Angelegenheiten und Reichsökonomie,
das für Militärsachen ruht. Zum Geschüftskreise des
Reichsraths gehört die Herausgabe der allgemeinen und
der besonderen Gesetze, die Zusammenstellung des Ver-
zeichnisses der Staatseinnahmen und Staatsausgaben und
ihre Prüfung. die Betreibung gerichtlicher Untersuchungen
und die Uebergabe an das Gericht bei Schuldigen aus
den drei höchsten Rangklassen. Nominell kam dem
‚Reichsrathe auch das Recht der Mitwirkung bei Kriegs-
lürungen, Friedensschlüssen, allgemeinen inneren Mass-
dam
IX. Alexander I. E3
regeln in ausserordentlichen Fällen und in pressanter Aus-
führung der bestehenden Gesetze zu. doch hatte er that-
sächlich damit nichts zu thun; hingegen stehen ihm noch
einige gerichtliche Funktionen zu, er ist die höchste
Gerichtsinstanz für Dinge, die aus den allgemeinen Senats-
versammlungen an ihn gelangen; auch unterliegen ihm
alle Dinge, die ihın der Kaiser speziell überträgt, und in
ihm eoncentriren sich alle Finanzgeschäfte des Reichs.
So blieb es bis zur Gerichts-Reorganisation von 1864
(s. unten). Zur Abfassung der Gesetze stellte Alexander
1810 neben den Reichsrath eine besondere Kommission.
die Nikolaus 1826 aufhob, um ihre Geschäfte der neu
errichteten zweiten Abtheilung der kaiserlichen Privat-
kanzlei zu übertragen*). Auch bestehen am Reichsrathe
ein Spezialcomit6 zur Prüfung der Beschwerden über die
von den Departements des Senats gefüllten Entschliessungen
und die Reichskanzlei unter dem hochwichtigen Reichs-
sekretär, Als Alexander I. am 13. Januar 1810, d.h. zu
Neujahr, den Reichsrath eröffnete, betonte er in einer von
Speranski*®) entworfenen Rede als sein höchstes Ziel,
die Wohlfahrt seines Reiches möge auf gesetzlicher Grund-
lage beruhen, und pries den köstlichen Segen guter Ge-
setze für ein Land. Die Schöpfung des Reichsraths war
ein merkwürdiger Akt, sie bedeutete einen Schritt aus
der Selbstherrschaft zur wahren Monarchie hin, der Kaiser
aber, der diesen Schritt vollzog, war unzuverlässig; „er that
alles, was er that, nur halb; zu schwach zum Regieren, war
er doch zu stark, um sich regieren zu lassen“ ***),
Wer war denn Speranskif). der mit der Wünschel-
*) Am d. Februar 1882 wurde aus dieser die neben dem Reichs-
rathe stehende Kodilikationsabtheilung, die der Kaiser ausschliesslich
mit der Vorbereitung von Ergänzungen und neuen Ausgaben des Sswod
und mit der chronologisch geordneten Herausgabe der gesammten
Gesetzsammlung seit 1649 betraute,
**) Speranski erhielt: an diesem Tage den neuen Posten des
Reichssckretärs,
*") N. K. Schilder, Kaiser Alexander I., sein Leben und seine
Regierung, Bd. 3, St. Petersburg 1897.
%) Kleinschmidt, Graf Speranski, in „Beilage zur Allgemeinen
Zeitung“, München 1848,
206 IX. Alexander I.
ruthe ein neues Russland schaffen wollte? Eines Dorf-
popen Sohn, genoss Michail Michnilowitsch Speranski
die geringe Bildung einer Priesterschule, lehrte dann
Mathemathik, Plıysik und Philosophie am Seminare des St.
Alexander-Newski-Klosters, verliess aber den ihm nicht
zusagenden geistlichen Stand und ging als dritter Privat-
sekretär zu dem Generalprokureur des Senats, dem Fürsten
Kurakin (s. oben), in dessen Kanzlei er buld der beste
Arbeiter war. Er wurde die rechte Hand des Staats-
sekretärs Troschtschinski, Abtheilungsvorstand des Ministers
des Innern, Grafen Kotschubei, Staatssekretär und Sekretär
am Reichsrathe. Mehr und mehr gewann er das Ver-
trauen Alexanders, dem er geradezu unentbehrlich wurde,
war seit 1807 sein Universalgehilfe und wurde in Erfurt
von Nupoleon ungemein ausgezeichnet; er besass nicht
nur eine Arbeitskraft, die keine Rast und keine Ermüdung
kannte, sondern vor allem einen staatsmännischen Blick
wie kein zweiter Mann in ganz Russland, eine rasche Auf-
fassungsgabe, die Intuition des Genies. Ein Freund Frank-
reichs und ein Bewunderer der sozialen und rechtlichen
Verhältnisse, die aus der Revolution von 1789 geboren
worden, studirte er neben Montesquieu und Condorcet die
Verfassungsarbeiten des unermüdlichen Metaphysikers der
Revolution, des Abb6 Sieyös, und die Schöpfungen Na-
poleons auf juristischem Gebiete. Speranski war die
treibende Kraft bei der Einrichtung der Ministerien, wie
wir oben zeigten, Speranski arbeitete mit an der Neu-
gestaltung des Senats, und sein Projekt erlangte im
Reichsrathe die Mehrheit, wurde aber jetzt und auch
nach einer neuen Prüfung unter Nikolaus nicht aus-
geführt, Speranski war der Vater des Gedankens, das
ganze Stantswesen umzuformen, Speranski schuf den
Reichsrath und wurde zu Neujahr 1810 der erste Reichs-
sekretär; sein Ansehen im Reichsrathe war so gross, dass
sich kein Minister setzte, bevor Speranski zur Sitzung
erschienen war; er schaltete de facto ohne den Titel als
erster Minister ®).
*) Ungedruckte weastfüllsche Geaandtachaftsberichte,
neue Frankreich vor seiner Seele stand; ihm fehlten zwar
tiefgehende Kenntnisse in Staats- und Volkswirthschaft,
trotzdem ging er an die Reorganisation der Finanzen,
von Fachleuten unterstützt, und operirte seit 1810 mit
Geschick; er setzte einen Theil des alles überschwemmenden
Papiergeldes ausser Cours, führte einen Tilgungsfonds ins
Leben, stellte das Budget fest, sprach für die Einführung
neuer Steuern zum Zwecke der Bürgschaft und für die
Veröffentlichung der Einnahmen und Ausgaben, Als Leiter
der Verwaltung im Grossfürstenthum Finnland und als
Kurator der Universität Äbo trat er für die finnländischen
Sonderrechte warm ein; auf die Hebung des Unterrichts
in ganz Russland legte er hohen Werth; er breitete die
Bekanntschaft mit den klassischen Sprachen weiter aus,
reorganisirte die Priesterschulen und 1809 die geistliche
Akademie in St. Petersburg, deren Schüler er gewesen
war, und sorgte für die Erhöhung des Schulfonds. Vor
allem beschäftigte ihn der Wunsch, an die Stelle der
Gesetzlosigkeit hei tausend Gesetzen eine möglichst ein-
fache und doch allumfassende Gesetzgebung und volle
Sicherheit des Rechts zu setzen; er sah im Code Napoldon
(den höchsten Ausdruck fortschrittlicher Gesetzgebung, trat
mit französischen Juristen in Verbindung, und der 1809
von ihm als Präsidenten der Gesetzgebungskommission
veranlasste Entwurf eines Oivilgesetzbuchs verräth grosse
Abhängigkeit vom Code*). Um letzterem überhaupt die
Möglichkeit der Anpassung auf Russland zu geben, musste
die Leibeigenschaft fallen, wofür nun Speranski eifrigst
bei Alexander eintrat. Er wollte, wie Rambaud hervar-
hebt, einen dritten Stand schaffen, die Zahl der Adligen
“
*) 1810 erschien das Personen- und Sachenrecht,
i
_ ———
208 IX. Alexander L
einschränken und eine Art Pairschaft aus den grossen
Familien bilden. All diese Reformen und Pläne erweckten
ihm zahllose Feinde im Adel, im ÜClerus, im Volke,
manches private Interesse, manche persönliche Einnahme
ward durch sie gefährdet, und die einzige Stütze, die der
grosse Reformminister besass, war der wankelmüthige Ge-
bieter; wie lange wird er ihn halten?
Die Freundschaft von Tilsit-Erfurt konnte nicht stich-
haltig sein und erkaltete in der That frühe; gar vielerlei
waren die Ursachen, die Wirkung aber gleich. Das Gross-
herzogthum Warschau mit seiner Verfassung von 1807,
seinem 1869 erweiterten Gebiete und seinem Heere wirkte
auf Alexander geradezu beängstigend; er beklagte sich
bei Napoleon über die Heraufbeschwörung des polnischen
Gespenstes, und Napoleons Versicherung, er denke nicht
an die Wiederaufrichtung des polnischen Reiches und der
Name Polen solle offiziell gar nieht gebraucht werden,
verscheuchte sein Misstrauen nicht: Napoleon hinwider
tadelte das eigenthümliche und dem Verdachte volle Be-
rechtigung bietende Verhalten der russischen Heerführung
in Galizien im Feldzuge von 1809. Napoleon hatte seiner-
zeit „den Freund“ um die Hand seiner Schwester Katharina
gebeten, die Kaiserin-Mutter aber verlobte sie im Januar
1809 und im August d.J. erfolgte die Heirath mit dem Prinzen
Georg von Oldenburg, ihrem Vetter; als Napoleon sich
dann um ihre Schwester Anna bewarb, schützte man in
St. Petersburg deren körperliche Unreife vor (sie zählte
erst 14 Jahre) und Alexander wies ihn abermals an die
Kaiserin-Mutter. Napoleon verquiekte die Werbungs-
affäre mit der polnischen Frage; uuf Alexunders Begehren
hin, er solle ihm die Garantie geben, dass Polen nicht
restaurirt werde, erklärte er sich dazu bereit, wenn er
Anna zum Weibe erhalte: er glaubte wohl diesmal keine
Abweisung zu finden, bemühte sich aber für alle Fülle
auch in Wien um eine Erzherzogin. Am 28. Dezember
1809 hielt er nochmals um Anna an und Caulaineourt
unterzeichnete die gewünschte Garantie wegen Polens am
4. Januar 1810; Alexander erbat wiederum Bedenkzeit,
IX. Alexander I. er
Verwieklung, dass ihm der Kampf mit Napo-
leon ae schwierig erscheinen musste, er war ohne
Allürte; konnte er sich nicht in den Polen; die auf
Napoleon hofften, Allirte gegen ihn werben? Vor dem
Kriege von 1805 hatten ihn Czartoryskis eindringliche
Rathschläge, denen Laharpes Humanitätslehren einen ge-
wichtigen Rückhalt gaben, auf den Gedanken geführt, das
Königreich Polen in seinem alten Umfange wieder her-
zustellen, es als Einheitsstant unter russischer Oberhoheit
konstitutionell zu regieren; jetzt kam er darauf zurück.
Unter Polens Feldzeichen wollte er gegen Napoleon
kämpfen, als König von Polen wollte er sein getreues
Volk gegen Napoleon führen; er wollte Oesterreich für
den Verlust Galiziens durch die Donaufürstenthümer ent-
schädigen, die er freilich selbst noch nicht hatte, wollte
die Russland gehörigen polnischen Gebietstheile dem Gross-
herzogthume Warschau einverleiben und aus Warschau.
Galizien und Polnisch- Preussen ein Königreich Polen
machen; die Jesuiten und die katholische Kirche in
Polen, die über Nupoleons Misshandlung des Papstes und
seine Gewaltakte gegen die Kirche empört waren, sollten
ihm gegen Napoleon Hilfe leisten. Fürst Ozartoryski rieth
ihm jedoch vom Kriege gegen Napoleon offen ab und
benahm ihm die Hoffnung auf eine Erhebung der Polen
in russischem Interesse. Alexander entwarf nun mit
General von Phull, einem sehr gelehrten, aber wenig
praktischen Taktiker, den Feldzugsplan : alle Schritte seines
Kabinetts, von Napoleon andere Entschliessungen wegen
Polens und Oldenburgs zu erzielen, misslangen; Lauriston
anderseits erhielt eine Instruktion, die Russlands Gelüst
nach Ausbreitung am türkischen rechten Donauufer und
eine Aussöhnung Russlands mit Grossbritannien als Kriegs-
fälle bezeichnete. Hatten schon Napoleons Worte vom
24. März 1811 an das Oberhandelskolleg in Paris den
Bruch mit Russland deutlich angekündigt, s0 war nach
der öffentlichen Seene, die er dem Fürsten Kurakin am
15. August bereitete, kein Zweifel mehr möglich; der Reichs-
kanzler Rumjanzow aber nahm dies pöbelhafte Auftreten
ruhig hin und leugnete im Oktober d. J. alle Gelüste nach
m IX. Alexander I.
Polens Herstellung wie alle Rüstungen rundweg ab,
Preussen bot Alexander ein Bündniss gegen Napoleon
an, die Missionen von Scharnhorst und von dem Knese-
beck führten aber nicht zu einem solchen, Scharnhorst
erreichte nur am 17. Oktober die von ihm mit Rumjanzow
und dem Generale Barclay de Tolly abgeschlossene Militär-
konvention von St. Petersburg, Alexander überliess Preussen
sich selbst, Und so blieb Friedrich Wilhelm keine Wahl,
er wurde am 24. Februar 1812 Allüirter Napoleons, dem
sich Oesterreich am 14. März ebenfalls anschloss, freilich
in St. Petersburg vertraulich versichernd, es werde nur
zum Schein am Kriege gegen Russland theilnehmen.
Wiederholt sandte Alexander seinen Flügeladjutanten
Alexander Iwanowitsch Tsehernyschew mit Handsehreiben
an Napoleon, doch konnte auch Tschernyschew die Miss-
stimmung nicht ausgleichen: durch Bestechung von Beamten
des Kriegsministeriums erlangte er hingegen im Februar
1812 wiehtige Nachweise über die Grosse Armee, die gegen
Russland marschiren sollte. Die von Napoleon abhängige
Presse fing um diese Zeit an, die Ehrgier des russischen
Kabinetts in grellsten Farben zu beleuchten, und Lesur
gab in seinem Werke „Des Progrös de la puissance russe
depuis son origine jusqu'au commencement du dix-neuviöme
siecle“ 1812 das sogenannte „Testament Peters des Grossen“
heraus, welches nichts wie eine Erfindung Napoleons war
(s. 8.37). Dem Bruche zwischen den Allürten von Tilsit-
Erfurt gingen als Sturmvögel eine Reihe Ereignisse vor-
aus. Bei dem Nenjuhrsempfange von 1812 am Hofe König
Jonchims in Neapel gerieth der russische Gesandte Fürst
Dolgoruki wegen des Vortrittes mit dem französischen
Durand in Streit und griff an den Degen, worauf es zum
Duslle kam*), dem alsbald ein weiteres zwischen dem
französischen Generale Exeelmans und dem russischen
Gesandtschaftssekretär in Neapel, von Benckendorff, folgte,
Alexanders liberale Anwandlung war längst im Wan-
ken; er bereute bereits die Reformen in der Verwaltung, die
*) Ungedrmekte westfälische Gesandrsehnfteberichte ans München
(Geh, Staatsarchiv in Berlin).
las IX. Alexander I. Ex
er unter Speranskis Führung unternommen hatte, und ver-
hinderte ihre Ausgestaltung; er sah in der Errichtung der
Ministerien. wie Schilder*) nachweist, eine Versündigung
gegen seine Pflicht, die von den Vorfahren ererbte unum-
schränkte Selbstherrschaft seinen Nachfolgern ungeschmälert
zu linterlassen, und beklagte die Schöpfung des Reichs-
raths; aus dem Vertrauen zu Speranski wurde Misstrauen,
nus der Neigung Abneigung. Speranski war kein Höfling,
hingegen offen und aufrichtig bis zur Unvorsichtigkeit;
in Wort und Brief sprach er sich über des Gebieters
Eigenheiten und Schwächen aus, was diesem entstellt und
vergrössert hinterbracht wurde; wie durfte in den Augen
des Autokraten sein Knecht es wagen, von seinem eng-
begrenzten Horizonte, von seiner Unaufmerksamkeit bei
dem Vortrage seiner Räthe, ja von seiner körperlichen Eitel-
keit zu reden! Der misstrauische, eigenliebige und selbst-
gefällige Kaiser verzieh nichts weniger als solehen Spott und
solchen Zweifel an seiner einzigartigen Grösse, er erblickte
in Speranskis Ehrlichkeit Verrath an seiner Freundschaft,
schnödesten Undank, wenn er auch recht wohl wusste,
dass bei Speranski niemals der leiseste Gedanke von Ver-
rath Platz greifen konnte. Speranski hatte, wie wir oben
erzählten, zahllose Feinde unter allen Klassen, man ver-
dächtigte ihn als Vnterlandsverräther und verkappten
Illuminaten, aber noch zu Neujahr 1812 verlieh ihm der
Zar das grosse Band des St. Alexander- Newski- Ordens.
Karamsin, einer seiner Hauptgegner, liess durch die gleich-
gesinnte Grossfürstin Katharina Pawlowna, Prinzessin von
Oldenburg. dem Kaiser, als er in Twer war**), seine
Schrift „Alt- und Neurussland in politischer und bürger-
licher Beziehung“ überreichen: die Schrift war eine Ver-
urtheilung der liberalen Ideen des Kaisers und schilderte
das allgemeine Misstrauen gegen Speranskis Reformpolitik ;
der Reaktionär Karamsin spielte in diesem Falle eine recht
unwürdige Rolle und süete in fruchtbaren Boden. Ebenso
sprachen Araktschejew. Rostoptschin, Gurjew u. A, die
*) Kaiser Alexander ete. (3. oben).
*, Prinz Georg von Oldenburg war dort Generalgouremeur.
A. Kleiuschmidt, Uobarbl, d. um. Gesub. 5, 1598. 18
—
274 IX. Alexander L
öffentliche Meinung war am Vorabende des Kriegs gegen
Frankreich hochgradig erregt und lud ausserdem das
Odium aller unbeliebten Regierungsverfügungen auf Spe-
ranski als Autor ab: sie bezeichnete ihn als Vaterlands-
verräther, als Verkäufer der Staatsgeheimnisse an Napoleons
Agenten, und er bedurfte nur eines Funkens,. um alles in
Brand zu setzen. Bei einer riesenhaften Intrigue, deren
Füden Alexander selbst hielt. spielten der Polizeimeister
(ieneraladjutant Balaschow, der General Graf Armfeldt
und ein französischer Emigrant de Vernögues bedeutende
Rollen, während die seit Dezember 1811 im Winterpalais
heimlich geführten Unterredungen Alexanders mit de
Sunglen*), dem Kanzleidirektor Balaschows, diesem unbe-
kannt blieben. Alexander wollte Speranski erschiessen
lassen; er liess am Abende des 28. März 1812 den Aka-
demiker Parrot rufen. der ihn beispiellos aufgeregt fand,
und frug ihn um seine Meinung wegen dieses Vorhabens.
Purrot war so bestürzt, dass er erst Tags darauf seine
Antwort brieflich dahin abgab. Alexander möge Speranski
sehonen und wenn derselbe, was ihm durchaus nicht be-
wiesen scheine, schuldig sei. ihn vor die gesetzlichen Ge-
richte stellen**), Alexander opferte den Reformer der
öffentlichen Stimmung: als derselbe am 29. März des Kaisers
Kubinett verliess. hatte er, wie er selbst sagt. „des Kaisers
“Thrünen auf den Wangen“, Alexander rief ihm noch an
der Thüre nach: „Lebe nochmals wohl. Michail Michailo-
witsch ***)!“ Und gleich darauf verhaftete man Speranski,
den Reichssekretür Magnitzki u. A.. Alexander entsetzte
Sperunski am 29. aller Aemter und verwies ihn nach
Nishnii-Nowgorod. Die Nation jubelte darüber, man feierte
Sperunskis Sturz als „ersten Sieg über die Franzosen“,
warf ihm in Nishnii-Nowgorod die Fenster ein und die
Beamten wichen ihm wie einem Ansteekenden aus: die
Polizei hingegen bewachte ihn streng. Er zeigte im Besitze
®\ Vgl. Sanglene Memoiren, aus dem Russischen übersetzt in
„Bibliothek russischer Denkwürdigkeiten“, Bd. 1. Stuttwart 1894.
** Alexander erhielt den Brief am 3%. März.
*=®. Schilder .a. oben‘. Kleinschmidt, Graf Speranski. in
„Beilage zur Allgemeinen Zeitung”, München, Juli 1898.
a
IX. Alexander I.
seines reinen Gewissens grosse Scelenstärke; die Durch-
suchung seiner Papiere ergab nicht den mindesten Anhalt
gegen ihn, trotzdem schleppte man ihn nach der Einnahme
Moskaus im September 1812 nach Perm, von wo er ein
‚Rechtfertigungsmömoire an Alexander schickte und ihn im
Juli 1814 beschwor, „den Rest seiner elenden Tage” auf
einem Gütchen bei Nowgorod, das seiner vergötterten
einzigen Tochter gehörte, verleben zu dürfen, Alexander
‚gestattete es und rief ihn mitten aus seinen gelehrten
Studien in den Stantsdienst zurück, ein Ukas vom Sep-
tember 1816 sprach ihn von aller Schuld frei, er wurde
Civilgouverneur von Pensa, wo er sich durch Rechtliehkeit-
und Umsieht bald beliebt machte; beglückt schrieb er
seinem Freunde Tewkelew: „Mein Geschick hatte die
merkwürdige Eigenthimlichkeit, dass ich während dieser
ganzen Zeit nicht einen Freund verlor, ja noch einige neue
hinzu erwarb, und diese Eroberung ist, wie Kinder in
alten Tagen, die reizvollste und köstlichste*),“ Der Kaiser
schenkte ihm grosse Ländereien, und allgemeine Be-
friedigung**) erweekte im Mai 1819 Speranskis Berufung
zum Generalgouverneur des ganz verwahrlosten Sibirien;
nachdem sein vorzüglicher Verwaltungsplan für dies uner-
messliche Gebiet von Alexander gebilligt worden war, um
1822 ins Leben zu treten, kehrte er im März 1821 nach St,
Petersburg zurück, wo er in die Kommission für Sibirien und
in die Gesetzgebungskommission des Reichsraths eintrat.
Erst unter Nikolaus werden wir ihm wieder un erster Stelle
begegnen. Bernhardi klagt mit gutem Recht bei Sperans-
kis Sturz: „Dass das Schicksal eines Staatsmanns und
darüber hinaus die gesammte innere Politik des russischen
Reiches in solcher Weise an Spinnfüden hängen konnte,
erinnert an die Zeiten der Kaiserinnen Anna und Bli-
sabeth.“
An Speranskis Stelle wurde Graf Armfeldt, ein er-
bitterter Gegner Napoleons, der leitende Rathgeber
Alexanders; am 27. März aber hatte Alexander den Reichs-
*) Penss, am 28. Januar 1817 (Russkaja Starina, Nov. 1880).
*®) Russkaja Starina, Nov. 1881.
18%
‚gereist.
neuen Muth. und riefen auf einer Genen
Warschau die Wiederherstellung des Königreichs |
aus. Napoleon drang ohne eigentliche Krieg
am 25. Juni bei Kowno in Russland ein, ihm fo
aus „zwanzig Völkern‘ zusai Heer
647000 Mann, Alexander besass nicht ein Drittel
| Zahl, die Heeresverwaltung zudem war schlecht, es
| an Transportmitteln und vor allem an einem Napaloon,
ebenbürtigen Feldherrn. Das Nordheer am Niemen wurd
von dem Kriegsminister*) Michail Bogdanowitsch Barel
de Tolly, einem Livländer, geführt, der den misstrauise
Altrussen gegenüber von vornherein einen schweren
| hatte; über das Südheer oder die zweite Armee |
| der Armenier Fürst Peter Iwanowitsch Bagration, ein a
| gesprochener Feind der Franzosen **), gesetzt; auf di
| äussersten rechten Flügel an der Düna stand Graf
zu Sayn-Wittgenstein. auf dem äussersten linken Mlexan-.
der Petrowitsch Tormassow, der den Oesterreichern ent-
| gegen treten sollte; Tormassow erhielt später grosse Ver-
| stärkungen von der Donauarmee aus unter dem Admirale
| *) Als Kriegsminister hatte er viele Missbränche nnd veraltete
Dinge in seinem Ressort beseitigt, die Kriegszucht befestigt und am
| Feldzagsplan von 1812 mitgoarbeitet ; jetzt trat er dar Portefenille an
den Fürsten Alexei Iwanowitsch Gortschakow, Ssuworows Neffen, ab,
*®) Laut Brief Savarys vom September 1807,
ce 4
IX. Alexander I, a
Paul Wassiljewitsch Tschitschagow. Alexander erkannte
jetzt erst, wie unzulänglich seine Streitkräfte zumal für
den Beginn des Feldzugs waren, und betrieb darum eine
Volksbewaffnung im grossen Style, Adel und Kaufmann-
schaft steuerten voll Patriotismus bei, um Landwehren auf-
zubringen, und enorme Gelder kamen zusammen. Alexanders
einstiger Gouverneur Graf Sealtykow organisirte ein On-
vallerie-Regiment zu zehn Schwadronen in Moskau und
Kasan *), Graf Matwei Alexandrowitsch Dmitriew-Mamonow,
der Sohn von Katharinas Favoriten, formirte gin Cavallerie-
Regiment zu fünf Schwidronen in Ulanenart, Nikolai
Nikititsch Demidow ein Regiment zu Fuss, alle auf eigene
Kosten; die Kirche bot alle Mittel der Erregung auf, um
die Gemüther zum Aeussersten zu entflammen, zeigte, in
welch entsetzlicher Gefahr das Allerheiligste, der orthodoxe
Glaube, sich befinde; die Leibeigenen selbst begeisterten
sich für die Vertheidigung des vaterländischen Bodens
gegen die Premdlinge. Der Zar erliess eine zündende
Proklamation, die Erinnerungen an das Jahr 1612, an die
Befreiung von der polnischen Fremdherrschaft, an Posharski
und Minin (s. $. 4) wachrief, In Drissa an der Düna
wurde ein verschanztes Lager aufgeworfen, aus dem Phull
„ein zweites Torres Vedras“**) machen wollte; Barclay
de Tolly hatte statt dessen gerathen, sich ins Innere
zurückzuziehen und das Land, durch das Napoleon mar-
schiren würde, zur Einöde zu machen, Napoleon rückte
in Wilna ein und die Polen kannten in ihrem Enthusias-
mus keine Grenzen. Alexander war aus dem Hauptquartiere
nach der Residenz zurückgekehrt und somit war die Ge-
fahr beseitigt, dass durch seine Einmischung ein zweites
Austerlitz erfolgen könne. Am 8, August vereinigten sich
die Heere Barclays und Bagrations nach manchem Strausse
mit dem Feinde bei Kazani, ihre Truppen waren empört
*) Nach seinem Tode 1816 wurde es mit: dem Irkutskischen Husaren-
regiment, vereinigt. Auch (er ledige Kammerherr Graf Peter Iwano-
witsch Ssaltykow opferte grosse Summen für Aufstellung von Soldaten.
**) Wellingtons Vertheidigung des verschanzten dortigen Lagers
gegen Massöna bildete den Wendepunkt des Kriegs anf der pyrenäischen
Halbinsel.
——
IX. Alexander I, Ei
man dürfe um keinen Preis Moskau preisgeben und dem
Bösewichte Bonaparte freie Bahn lassen; er rief zum Schutze
des „Mütterchens“ Moskau die „Drushina“ auf. Gole-
nischtschew-Kutusow entfachte den religiösen Fanatismus
im Heere und umgab sich mit dem vollen Pompe der ortho-
doxen Kirche; das Heer communieirte und wunderthätige
Bilder machten die Runde durch die knieenden Reihen,
Aber die furchtbare Schlacht bei Borodino (an der Moskwa)
am 7. September endete mit der Niederlage Golenischtschew-
Kutusows*) und mit seinem Rückzuge; Rostoptschins Pro- i
klamationen waren keine Soldaten und er machte sich
bereits mit dem Gedanken vertraut, „die Mutter Moskau,
welche das Volk getränkt, genährt, bereichert habe“,
lieber zu vernichten als sie dem Feinde preiszugeben,
Der Oberfeldherr gab Moskau auf und schlug die Strasse
nach Rjasan ein; Rostoptschin liess das Werthvollste
von Moskau fortschaffen und schrieb am 13. dem Kaiser:
„Ich bürge mit meinem Kopfe dafür, dass Bonaparte
Moskau ebenso leer finden soll wie Ssmolensk .... Russ-
land wird schaudern, wenn es die Räumung Moskaus er-
führt, wo sich die ganze Grösse Russlands concentrirt und
wo der Staub von Eurer Majestät Vorfahren ruht. Ich
folge der Armee. Ich führe alles mit fort; mir bleibt nur
übrig, das Vaterland zu beweinen.“ Am 14. verliess er,
über Golenischtschew-Kutusow entrüstet, die „heilige Stadt“
und sagte draussen zu seinem jugendlichen Sohne Ssergei:
„Grüsse Moskau zum letzten Male, in einer halben Stunde
steht es in Plammen“**. Kaum war am 14. Napoleon
im Kreml abgestiegen, so brach an allen Enden der von
Rostoptschin vorbereitete***) Brand aus, alle Lösch-
anstalten waren fortgeschafft worden und Moskau brannte
*) Bagration wurde töüdtlich verwundet und starb in Simi am
U. September 1912, Golenischtachew - Kutusow wurde Generalfeld-
marschall und behauptete, die Schlacht gewonnen zu haben.
**) Oeuvren inöditea du Comte Rostoptchine, Paris 1894.
*#**) Rostoptschin leuguete spliter die Urheberschaft des Brandes
ab, um in Russland, wo ihm Tausende als dem Zerstörer ihrer Habe
‚grollten, eine freundliche Aufnahme zu finden, als er von Paris heim-
kehrte; trotzdem bleibt der Brand sein eigenstes Werk, Alexander
bis zum 20. September, der ungeheuerlichste Brand
neuen Zeit; Napoleon rettete sich nach dem Petrow
Schlosse, aus seinem plündernden Heere entwich alle D
eiplin und der Russe beherzigte Rostoptschins letzte .
rufe: „Vertilget das ausländische Ungeziefer en .
die Leichname den Wölfen und Raben. Moskau wird sich
dann wieder schmücken, seine goldenen Thurmspitzen und
seine steinernen Häuser zeigen; die Nation wird von allen
Seiten herbeiströmen. Beklagt unser Vater Alexander
Pawlowitsch die Millionen für den Aufbau des steinernen
Moskau, wo Er Sieh mit dem heiligen Oele gesalbt und
wo Er mit der Zarenkrone gekrönt worden ist? Er hofft
auf Gott den Allmüchtigen, auf den Gott der russischen.
Erde.... Er ist der Vater und wir sind Seine Kinder:
und der französische Bösewicht — ist der ungetaufte Feind.
Dieser ist bereit. seine Seele zu verkaufen, Er war bereits
Türke, ist nach Aegypten gezogen und hat Moskau ge-
plündert.... In noch nicht zwei Wochen wird er Pardon
erbitten, Ihr werdet ihn aber nicht erhören, sein Ende ist
nahe. Er verzehrt alles wie eine Heuschrecke.... Ver-
zuget nicht, russische Soldaten unterstützen Euch; ver-
nichtet den ausländischen Pöbel, das schmutzige Unge-
ziefer.... Wer aber von Euch den Bösewichten dient, .. ,
überliefert sich den Gerichten und fällt der Verachtung
anheim; seine Seele wird mit den Bösewichten*) in der
Hölle sein und wird im Feuer brennen, wie unsere Mutter
Moskau gebrannt hat.“ Napoleons Lage in Moskau wurde
eine verzweifelte, die russische Regierung lehnte jede
Unterhandlung ab und or erging sich in lauter haltlosen
Plänen; die Zeit verstrich und der Winter, Alexanders
fürehterlicher Alliirter, nahte mit Riesenschritten. Schwarzen-
vergab ihm deu Brand niemals, hingegen verzieh er zu Rostoptschins
Verdruss gar Vielen, die sich 1812 schlecht gehalten hatten, und der
Graf meinte: „Ea wäre gar nicht übel, wenn Eure Majestät bisweilen
den Knüppel Peters des Grossen aus der Kunstkammer holten.“
*) Es bleibt psychologisch interessant, dnss Rostoptschin sich 1816
unter diesen Bösewichten in Paris niederliess, bei ihnen bis 1893 lebte
und seine Arbeiten in vollendetem Französisch schrieb.
IX, Alexander I. ai
berg und Reynier operirten in Polen glücklich gegen Tor-
massow, die russische Flotte aber trat unter den Schutz
der Briten, Golenischtschew-Kutusow lag in starker Stellung
bei Tarutino und sein Sieg über den König von Neapel
bei Winkowo am 18. Oktober verschloss Napoleon die
Strasse nach Rjasan, durch die Erfolge bei Malo-Jarosla-
wetz am 23. und 24. d. M. sperrten ihm die Russen auch
die Strasse nach Kalugs; so blieb ihm nur die ver-
wüstete Strasse nach Ssinolensk übrig, wenn er den Rück-
zug antrat, und auf ihr trieben allerlei bewaffnete Banden,
Bauernhaufen. Kasaken ihr Spiel, der Bauer Gerassim
Kurin aus Pawlowo gebot über 5800 Gleichgesinnte, die
jede Marter gegen den Feind für erlaubt hielten, Tausende
fielen bei dem Rückzuge unter dem Knüppel, der Mist-
gabel, der Sense u. s. w., wurden ertränkt, verbrannt oder
aufgehängt; auch Frauen traten unter die Waffen. Und
welche kecken Thaten vollführten Parteigänger wie
Denis Wassiljewitsch Dawydow, der gefeierte Dichter der
Husarenlieder, Alexander Nikititsch Ssesslawin, Konstantin
Christophorowitsch von Benckendorf u. A.! Am 18. Ok-
tober begann der Abzug des Feindes aus Moskau, Napoleon
zog am 19. ab, der Marschall Mortier sprengte vor seinem
Abmarsche den Kreml, was übrigens nur theilweise ge-
lang*). Die Marschülle Ney und Davout und der Vice-
könig von Italien wurden am 3. November bei Wjasma
von Miloradowitsch hart bedrüngt und die Russen be-
merkten tüglich mehr den Verfall des feindlichen Heeres.
das unter Hunger und Kälte litt; Golenischtsehew-Kutusow
vermied darum einen entscheidenden Schlag gegen Napo-
leon und wartete lieber die Selbstauflösung des Heeres ab.
Am 9. traf Napoleon in Ssmolensk ein, doch auch hier
konnte er nicht bleiben; er erfuhr von Wittgensteins Sieg
bei Techaschniki über Victor und Saint-Oyr, sah die Linie
Dwina-Dnjepr fortan für unhaltbar an und zog unter harten
Einbussen weiter. Anstatt ihn zu zerschmettern, gab
Golenischtschew-Kutusow ihm auch bei Krassnoi am 17.
*) Das von Rastrelli für Elisabeth Petrowna gebaute Palais z. B.
ging zu Grande,
Es
bildete sich „das deutsche Comite“, das die Deutschen
gegen Napoleon uufzustacheln suchte und von Steins
hohem Geiste beseelt war; ihm gehörten ausser Stein an
Prinz Georg von Oldenburg (s. oben), der wieder zu
Gnaden gekommene Graf Kotschubei, Steins wärmster
Anhänger, und der bei Alexander einflussreiche General-
adjutant Graf Karl Andrejewitsch Lieven, und wenn auch die
Geschäfte des Comites sehr pedantisch von Statten gingen,
so wirkte doch Stein unablässig auf Alexander dahin ein,
Napoleons baldigen Untergang als unvermeidlich anzusehen,
Alexander verfiel nicht wie früher der ihn so rasch be-
schleichenden Entmuthigung, er wies vielmehr die Er-
®) Für Krasanoj erhielt er den Beinamen „Ssmolenskvi* und den
St, Georgen-Örden I, Klasse.
**) Seit November 1812 Graf.
“) Tschitachagow wurde ılaflir in der Presse masslos angegriffen
und verleumder,
mahnungen Rumjanzows, des Cäsarewitsch und der
Kaiserin-Mutter, mit Napoleon Frieden zu schliessen, von
sich: seit dem Brande der heiligen Zarenstadt hatte die
Religion sich seiner Seele bemächtigt und in Moskaus
Flammen schmolz der Gürtel, an dem ihn Napoleon ge-
halten. Sein Jugendfreund Fürst A. N. Galitzin (s. oben)
verwies ihn an die Bibel als den Urquell alles Trostes und
alles inneren Friedens, weckte in ihm die Neigung zu
geistlicher Selbstbetrachtung und führte ihn bald auf die
Bahn der Mystik; Alexanders reizbare Phantasie erhob
sich über die Grenzen des Erkennbaren und Bogreiflichen,
er, Galitzin und Karl Lieven huldigten mystischen Ge-
bilden. Ein Ukas vom 18. Dezember 1812 gestattete die
erste russische Bibelgesellschaft unter Galitzins Vorsitz *)
und in der kommenden Nacht reiste der Zar wieder zum
Heere ab. Im fluchtähnlichen Rückzuge Napoleons sah
er weniger die Tapferkeit seiner Soldaten, das Verdienst
seiner Generale, den erfolggekrönten einmütbigen Wider-
stand seines Volkes, die Hilfe des Winters als Gottes
Hand, welche die Wolken zürnend zerriss, um an dem
korsischen Prevler ein Züchtigungsgericht zu halten.
Mit der Räumung Russlands durch die Franzosen war
der „vaterländische Krieg“, wie die Russen ihn nennen,
eigentlich zu Ende und die meisten riethen, man solle
von weiterem Kriege ablassen, Westeuropa möge auf
eigene Faust den Kampf gegen Napoleon weiterführen ;
sie dachten, an ihrer Spitze der Reichskanzler und der
Öberfeldherr, an sich allein und nicht an die Allürten;
der Freiherr vom Stein aber stand neben Alexander, trieb
ihn an, den Kampf gegen Napoleon bis zu dessen Ver-
nichtung weiter zu führen und als endgiltiger Sieger gemein-
sam mit den Alliirten Buropn neu zu organisiren, und der
Zar folgte diesem treuen, grossen, patriotischen Rathgeber
zu seinem Ruhme. Er verzichtete auf die Ausdehnung
seines Gebietes bis zur Weichsel hin und spornte, obwohl
er die Lücken seiner Armee recht wohl kannte, Golenisch-
tschew-Kutusow, den ängstlichen Ounetator. den er nicht
*) Nikolans I, Iüste sie 1826 auf,
siumten es, dem durch Yorks Abfall gesch
Mncdonatd den Rückzug auf Königsberg at
Hatte Alexander bei den Polen für se
Enthusiasmus erwartet, so war dies eine
auch diese nichts für seine Suche, Dem Fürsten C
wollte eine Personalunion Polens mit Russland
fallen, er rieth Alexander zur Uebertragung der ]
des restituirten Polen auf den Grossfürsten Mi
dessen grosser Jugend er auf die Regentschaft s
Alexander aber verwarf diese Auskunft unbedingt und hielt:
an der eigenen Candidatur für den Thron Polens fest, =
November 1812 trug Alexander durch den [
General von Boyen Friedrich Wilhelm IH. ein Offensiv- ı
Defensivbündniss an, im Januar 1813 machte der König |
den Flägeladjutanten von Natzmer Alexander das |
Angebot und siedelte. um freier zu sein, nach Breslau me
Oesterreich wollte vom Kriege gegen Napoleon noch nichts
hören, auch fürchtete Metternich die: Brdrückung Odeler un)
reichs durch den russischen Koloss. Aus den Verhand- |
|
|
|
lungen zwischen Alexander und Friedrich Wilhelm wurde
erst etwas, als Ersterer Stein und den Staatsrath von
Anstett*) nach Breslau schiekte; Friedrieh Wilhelm und
sein Staatskanzler von Hardenberg nahmen einen Bündniss- |
entwurf Anstetts unverändert an, Scharnhorst schloss am |
27. Februar in Breslau mit Anstett, Hardenberg am 28.
in Kalisch mit dom Fürsten Golenischtschew-Kutusow ab;
*) Direktor der diplomatischen Kanzlei Golenischtschew-Kutusows,
—— -
IX. Alexander I.
beide Mächte gingen ein Schutz- und Trutzbündniss ein,
„um Europa frei zu machen“ und um Preussen in dem ihm
gebührenden Umfange wieder herzustellen; Russland ver-
sprach die Stellung von 150.000, Preussen von 80 000 Mann
und Beide wollten nur gemeinsam handeln, nur gemeinsam
Frieden schliessen; insgeheim verbürgte sich Russland, es
werde die Waffen nicht niederlegen, bis Preussen wieder
im Stande vor 1806 sein würde; Beide wollten Oesterreich,
Grossbritannien und Schweden von dem Kalischer Bündnisse
unterrichten. Der Graf zu Sayn-Wittgenstein drang über
die Oder vor, von York gefolgt. und z0g um 11. März in
Berlin ein, am 17. besetzten Kasaken Hamburg, der kecke
Parteigänger Baron Tettenborn brach die ersten Ringe
aus dem Rheinbunde, indem er die Herzoge von Mecklen-
burg zum Ausscheiden bewog. Alexander traf am 15. März
in Breslau bei Friedrich Wilhelm ein, der nun Napoleon
den Krieg erklärte, und am 19. März schlossen Stein und
Graf Karl Robert von Nesselrode*) russischer Seits mit
Scharnhorst und Hardenberg den Breslauer Vertrag; der-
selbe richtete an alle deutschen Fürsten den Aufruf zum
Anschlusse und drohte ihnen nach Verstreichen eines be-
stimmten Termins, wenn sie Napoleon nicht verlussen
würden, mit der Absetzung, verkündete auch die Er-
riehtung eines Oentralverwaltungsrathes für die von den
Allürten zu besetzenden Gebietstheile. Am 7, April wurde
in Kalisch eine Militärkonvention zwischen Preussen und
Russland abgeschlossen. Noch bedrohlicher für Napoleons
deutsche Fürstengefolgschaft klang der vom Fürsten
Golenischtschew-Kutusow am 25. März aus Kalisch erlassene
Aufruf; mit pathetischen Worten vom Rechte der Völker
an die Freiheit und mit sehr verworrenen politischen
*) Sohn des einstigen russischen Ministers in Lissabon. Der
Beichskanzler Graf Rumjanzow war, als Napoleon Russland überflel,
1812 um seine Entlassung eingekommen und litt schwer an körper-
lichen Leiden, jedoch bewilligte ihm der Kaiser erst am 16. August 1814
den Abschied und Rumjanzow lebte fortan lediglich der Wissenschaft,
Nessolrode aber stand während des Kriegs mit Napoleon unter dem
Titel eines Staatssekretärs an der Spitze der Staatskanzlei, einer der
fühigsten und routinirtesten Arbeiter auf dem Felde der Diplomatie,
mit ı len Prenaıt besetzte, entthront und Sachsen mit
Preussen getheilt. Golenischtschew-Kutusow rückte in
‚alter Langsamkeit am 7. April von Kalisch vor, erreichte
24. die Elbe und starb am 28. in Bunzlau; Graf
erhielt. den Oberbefehl, ohne dazu befähigt
zu sein, und sah sich durch die persönliche
des Zaren und einen Kriegerath unter Diebitschs Leitung
fortgesetzt gehemmt.
Am 2. Mai erlitten die Russen und die DraseaahR
Niederlage von Lützen (Grossgörschen), während Russland
mit Oesterreich wegen dessen eventuellen Anschlusses in
Unterhandlung trat und Graf Stadion im russischen Haupt-
\ gquartiere erschien; als Caulaincoort als Unterhändler Na-
poleons bei Alexander direkt erschien, wies ihn dieser am.
| 20. Mui un Stadion: an diesem und dem folgenden Tage
aber siegte Napoleon bei Bautzen über die Allürten, sein
Hochmuth wuchs wieder und die Lage Preussens schien
| höchst gefährdet. Anstatt Wittgensteins erhielt Barclay
de Tolly am 25. Mai den Öberbefehl, Wittgenstein, Gross-
| fürst Konstantin und auch Blücher mit den Preussen
wurden ihm unterstellt, und Barclay sprach sich sofort
für den Rückzug nach Polen aus, was Blüchers Ansichten
durchaus zuwider lief; Barclay hatte keine 45000 Mann
| mehr zusammen und sah die Beschaffung von Kriegs-
bedarf und Lebensmitteln immer mehr erschwert, Trat
keine Waffenruhe ein, so war das Kalischer Bündniss be-
graben, die Allürten brauchten sie ebenso nöthig wie
Napoleon; am 4. ‚Juni schloss Caulaineourt, Herzog von
Vieenza, in Poischwitz einen Waffenstillstand bis zum
u"
|
IX. Alexander L
20. Juli mit dem Generaladjutanten Grafen P. A, Schuwalow
(Russland) und dem General von Kleist (Preussen) ab und
Barelay benützte denselben zur Ergänzung der Mängel
seiner Mannschaften. Unter Steins Einwirkung schloss
Hardenberg am 14. Juni in Reichenbuch mit Lord Stewart
einen preussisch-britischen Subsidienvertrag und Tags
darauf erfolgte ebenda ein solcher zwischen Nesselrode,
Anstett und Viseount Catheart: Grossbritannien barg die
russische Flotte und bezahlte an Russland 1833334 Pfd.
Sterl. Subsidien, übernahm auch die Hälfte eines von
Russland und Preussen ausgegebenen Bundespapiergelds
von 5 Millionen Pfd, Sterl., Oathcart drang in Nesselrode
und Hardenberg, sie möchten Oesterreich zur Allianz hin-
überziehen. Alle Annäherungen und Versuchungen Na-
poleons wurden von Alexander abgewiesen, hingegen
wollten Alexander wie Friedrich Wilhelm den Abschluss
eines Friedens und stellten Napoleon sehr milde Be-
dingungen: Wiederherstellung Preussens und Oesterreichs
in ihrer früheren Macht, Auflösung des Rheinbundes und des
Grossherzogthums Warschau, Restitution der Nordseeküste,
Unabhängigkeit von Holland, Spanien und Italien; Oester-
reich machte, um dem Kriege mit dem Schwiegersohne
des Kaisers aus dem Wege zu gehen, ihm noch günstigere
Bedingungen, einigte sich aber im Reichenbacher Vertrage
am 27. Juni*) mit Preussen und Russland endlich dahin,
in den Krieg einzutreten, falls Napoleon die Bedingungen
bis zum 20. Juli nicht annehme; Oesterreich und Russland
sollten je 150000, Preussen 80000 Mann stellen und man
wollte nur gemeinsam unterhandeln. Napoleon nahm die
Mediation Oesterreichs an und erklärte sich am 30. Juni zur
Beschickung eines Friedenskongresses in Prag bereit der
Waffenstillstand wurde bis zum 10. August verlängert und
am 11. Juli begann der Prager Kongress, zu dem Alexander
Anstett absandte. Napoleon nahm gegen Oesterreich eine
so beleidigende Haltung an, dass von einem friedlichen
Abkommen nicht die Rede sein konnte: er zögerte mit der
Antwort auf Metternichs Ultimatum und Metternich theilte
*) Abgeschlossen zwischen Stadion, Hardenberg und Nesselrode.
a ee el und A. P. Jermolow,
he ib Franz I. und Friedrich Wilhelm
diesem Heere; bei dem schlesischen Heere unter
standen Graf Langeron, Baron Fabian Wilhelm von
Osten-Sacken. Graf P. P. Pahlen, Baron Korff und
Saint-Priest, bei dem Nordheere unter dem Kronprinzen
Karl Johann (Bernndotte) von Schweden Freiherr Fer-
dinand von Wintzingerode, Graf Michail Ssemenowitsch.
Woronzow, Tschernyschew und Benckendorff (s. oben).
Der Sieg Napoleons über Schwarzenberg bei Dr
(27. August) war sein letzter in Deutschland ; der 29. und
30. August hingegen waren grosse Ehrentage für Russ-
land: Ostermann-Tolstoi schlug den General Vandamme in
der Schlacht von Kulm, wobei er einen Arm verlor, und nahm
Vandamme gefangen; den Ruhm des Tages theilten mit ihm
Herzog Eugen von Württemberg, Pauls einstiger Günst-
ling, Barclay und Miloradowitsch, nebst Kleists Preussen,
die Verluste an Leuten aber waren enorm. Der Kaiser
überhäufte Führer und Mannschaften mit Auszeichnungen.
Am 9. September schloss Nesselrode mit Hardenberg und
Metternich in Teplitz neue Allianzverträge, jedoch kam
es nicht zu rückhaltlosem Finvernehmen der drei Kabinette,
sie waren über die Warschauer Frage uneinig, Russland
und Preussen drängten im Kampfe gegen Napoleon voran,
Oesterreich aber und ebenso Grossbritannien hielten
zaudernd zurück. Ein Handstreich des keeken Tscherny-
schew mit Benckendorff und einigen tausend Mann zu Pferd
genügte am 30. September zur Einnahme Onssels, von wo
König Jeröme entwichen war, und Tschernyschew erklärte
das Königreich Westfalen für aufgelöst*), musste freilich
am 4, Oktober wieder abziehen, aber Westfalen brach
*) Kleinschmidt, Geschichte des Königreichs Westfalen (s. oben).
i \
IX. Alexander I. 289
mit der Völkerachlacht bei Leipzig zusammen. Bei Leipzig
zeigte Alexander grossen persönlichen Muth, der General-
quartiermeister K, F, von Toll besonders hatte ihn zum
Vorrücken auf Leipzig gedrängt, wo Bennigsen, um
17. Oktober mit 60000 Mann eintreffend, wesentlich zum
Siege beitrug*). Metternich verhinderte Sachsens Ein-
verleibung in Preussen, Alexander aber lehnte jede Be-
gegnung mit dem an Napoleon festhaltenden Könige
Friedrich August entschieden ab und Fürst Repnin-Wol-
konski wurde Generalgouverneur Sachsens für das Central-
verwaltungsdepartement unter Stein. Bayern und die an-
deren Rheinbundsstaaten verliessen Napoleon; schlossen
mit den Alliirten Verträge und im November 1813 zogen
die allürten Monarchen in Frankfurt am Main ein; aus
dem nationalen Kriege war längst ein Interessenkrieg
geworden.
Metternich, der in Alexander einen halben Jakobiner
sah, hatte über die Fortsetzung des Krieges völlig andere
Ansichten wie er und war für möglichste Schonung Napo-
leons, mit dem er im Einvernehmen Nesselrodes, Schwarzen-
bergs und Lord Aberdeens am 9. November in neue Unter-
handlungen eintrat, aber wiederum verwarf Napoleon
durch Ablehnung der Anträge aus Frankfurt selbst seine
Karten. Die Allürten erliessen die Frankfurter Prokla-
mation vom 1. Dezember, die Frankreich und seinen
Kaiser von einander schied, Alexander berieth mit Ab-
geordneten der Schweiz die Grundlagen eines neuen
Schweizer Bundes**), verweigerte Caulaincourt eine Audienz
in Freiburg und ermunterte seine Truppen zu neuen
Thaten; Wintzingerode süuberte mit Bülows Preussen
Holland von den Franzosen und ging am 13. Januar 1814
bei Düsseldorf über den Rhein, um sich an der Invasion
in Frankreich zu betheiligen; Pozzo di Borgo ging nach
*) Er wurde dafür Graf, ebenso Barclay de Tolly; Miloradowitsch
war es schon im Mai 1813 geworden.
**) Labarpe hielt über die Schweizer Verhältnisse den Zaren auf
dem Laufenden und Letzterer sah mit Widerwillen, dass Oesterreich
einer Reaktionspolitik in der Schweiz Boden schaffen wollte.
A. Kieinschmidt, Usberbi. d. russ. Gesch. u. 1208. 18
kun
290 IX. Alexander I.
London, um die Regierung zu thatkräftigerem Auftreten
zu ermuntern, und am 22. Januar traf Alexander in
Schwarzenberg» Hauptquartier zu langres ein: bei der
grossen Uneinigkeit, die hier zwischen Staatsmännern und
Generalen der alliirten Mächte herrschte, hielt er an der
strikten Fortführung des Kriegs bis aufs Messer fest,
weder Denkschriften noch Konferenzen konnten ihn anderen
Sinnes machen; er ging zusammen mit Stein, Gneisenau,
W. von Humboldt und Blücher und erklärte geradezu,
wenn die anderen Mächte nicht weiter vorrücken wollten,
so würde er den Krieg fortan allein führen; Friedrich
Wilhelm schloss sich ihm nun an. Oesterreich aber er-
reichte, dass auch während des Krieges Unterhandlungen
spielten und dass ein Friedenskongress in Chätillon-sur-
Seine tagen sollte.
Osten-Sacken war am Neujahrstage bei Mannheim
über den Rhein gegangen und hatte am 20. Januar Toul
genommen, am 27. aber drängte Napoleon ihn bei Saint-
Dizier zurück. worauf er am 29. Pahlen bei Brienne
zurückwarf und Osten-Sacken, der mit ihm um den
Besitz Briennes rang, fast gefangen nahm. Ein Theil von
Wittgensteins Cavallerie, die Grenadiere Rajewskis u. a.
Truppen verstärkten Blüchers Heer und Alexander, welcher
der oesterreichischen Heerführung misstraute, drang darauf,
(lass Blücher am 1. Februar bei Ja Rothiere kommandirte.
7u diesem grossen Siege Blüchers über Napoleon halfen
die Russen wacker mit, nach demselben trennten sich
Blücher und Schwarzenberg neuerdings, was Napoleon
rettete; Blücher wandte sich mit Osten-Sacken und der
Infanterie Z. D. Olsufjews nach der Marne. Der Zar hatte
zum Kongresse in Chätillon den Grafen Andrei K. Rasu-
mowski, von dem wir mehrfach hörten, abgesandt, Beide
hielten die Unterhandlungen mit Napoleon, den sie hassten.
für zwecklos, den Frieden nur in Paris für möglich und
waren ärgerlich über den Rifer Lord Castlereaghs. mit
Napoleon rasch Frieden schliessen zu wollen. Napoleon
besiegte Olsufjew am 10. Februar bei Champaubert und
nahm ihn wie Poltaratzki gefangen, am 11. schlug er
Osten-Sacken bei Montmirail, von Sieg zu Sieg eilend: er
|
IX. Alexander I. 8
glaubte, die schlesische Armee nicht mehr fürchten zu
müssen, und warf sich auf die böhmische. Die Unglücks-
fülle der schlesischen Armee machten auf Alexander Ein-
druck und stimmten ihn einem Friedensschlusse geneigter,
Nesselrode redigirte in Troyes mit Metternich, Hardenberg
und Castlereagh Friedensbedingungen zur Vorlage an
Cnulaincourt, Napoleons Bevollmächtigten in Chätillon,
Am 17. Februar zersprengte Napoleon Wittgensteins Vor-
hut unter Pahlen bei Nangis und drängte ihn am 21.
bei Bar-sur-Aube zurück; nach der Niederlage von
Montereau am 18. Februar wich Schwarzenberg die Seine
aufwärts zurück und rief Blücher um Hilfe an. Alexander
protestirte in Bar-sur-Aube gegen Schwarzenbergs fort-
gesetzten Rückzug und drohte, falls der Fürst sein Pro-
gramm nicht ändere, mit der Vereinigung seiner und der
preussischen Truppen mit Blüchers Heere; dieses setzte sich
wieder in Marsch nach Paris und übernahm die eigentliche
Aktion. In Lusigny wurden zwar Konferenzen über einen
Waffenstillstand gehalten, wobei Russland durch den Grafen
P. A. Schuwalow vertreten war, doch führten sie zu nichts.
Am 27. Februar schlugen Graf zu Sayn-Wittgenstein und
Fürst A. J. Gortschakow Oudinot bei Bar-sur-Aube, aber
Schwarzenberg verfolgte den Sieg nicht. Napoleons ver-
wegener Trotz und unbelehrbare Anmassung veranlassten
Russland, Grossbritannien, Oesterreich und Preussen, am
1. März in Chaumont*) eine Offensiv- und Defensivallianz
auf zwanzig Jahre abzuschliessen; sie versprachen einander,
je 150000 Mann unter den Waffen zu halten und vom
Kriege nicht abzulassen, bis das gemeinsame Ziel erreicht
sei; Grossbritannien gah grossartige Subsidien; in Geheim-
urtikeln normirten die Mächte ihr Programm, dessen Be-
dingungen für Frankreich sehr günstig waren. Napoleon
machte auf den Vorschlag der Grenzen Frankreichs vor
1792 am 15. März so unbescheidene Gegenforderungen,
dass die Vertreter der Allürten am 18. die Verhandlungen
für geschlossen erklärten und der Kongress von Chätillon
am 19, endete. Neue Erfolge hatten ihn mit neuem Starr-
*) Rasumowski vertrat Russland
ıy®
u
E} IX. Alexander I.
sinne erfüllt. Am 7. März hatte er den Russen Woronzows“
bei Craonne schwere Verluste zugefügt), auch bei Laon
hatten sie grosse Einbusse, am 13. zersprengte Marmont
bei Rheims ein russisch-preussisches Corps unter dem
Grafen Saint-Priest**) und Letzterer erlag seinen Wunden.
Die Niederlage und der Verlust des Jugendfreundes ver-
fehlten ihren Eindruck auf Alexander nicht, seine Phantasie
zeigte ihm schon Napoleon als endgiltigen Sieger, da traf
diesen die Niederlage von Arcis-sur-Aube durch Schwarzen-
berg (20.—21. März) und lediglich dessen Zaudern ver-
sehuldete, dass Napoleon nicht vernichtet wurde. Mittler-
weile tauchten Royalisten genug in Frankreich auf, Baron
Vitrolles drängte sich zum Ohre des Zuren, Bordesux
proklamirte Ludwig XVII. Die Allürten täuschten Na-
poleon, er hielt Wintzingerodes Corps, das ihn verfolgte,
für ihre ganze Armee, diese aber rückte, unter Schwarzen-
berg und Blücher vereint, am 25. auf Paris los; was
Gneisenau und Blücher längst gerathen, setzten Pozzo di
Borgo und Toll bei Alexander durch. Am 25. besiegten
Pahlen und der Kronprinz von Württemberg, bald darauf
Alexanders Schwager, die schwachen Corps der Marschälle
Marmont und Mortier bei La Füre-Champenoise und die
Division Paethod musste sich ergeben; beide Marschälle
stellten sich unter den Mauern von Paris zum letzten
Kampfe auf, der als aussichtslos gelten durfte. Die Mar-
schälle sahen sich am 30. zur Capitulation
die für Russland Nesselrode und der Oberst und Flügel-
„djutant Michail Fedorowitsch Orlow mit ihnen abschlossen;
Alexander versprach den Parisern alle erdenkliche Schonung
und hielt am 31. März mit Friedrich Wilhelm IH. und dem
Fürsten Schwarzenberg seinen Einzug in Paris, mit tollem
Jubel empfangen, Die schöne Herzogin von Dino, Talley-
rands Nichte, schwang sich zu einem Kasaken aufs Pferd,
*, Der achtzehnjührige einzige Sohn fiel hier vor den Augen des
Grafen Paul Alexandrowitsch Stroganow, des Freundes Alexanders;
eine Kugel riss ihm den Kopf weg. Auch mehrere Generale fielen.
*) Er war mit Oondös Oorps nach Russland gekommen und ein
Freund des Grossfürsten Alexander geworden.
IX, Alexander I. 29
die Pariser schienen den Verstand verloren zu haben. Die
Huldigungen aller Welt, voran der Damen schmeichelten
nicht wenig Alexanders Eitelkeit, seine Autorität über-
Nügelte weit die sämmtlicher gekrönten Oollegen, er war der
Agamemnon der Coalition und an ihn vor allem wandte sich
das besiegte Frankreich: auf den Strassen wie in den Theatern
jauchzte ihm alles entgegen, ihm, dem einstigen Freunde
von Tilsit und Erfurt, jetzt dem Todfeinde Napoleons;
dachte er wohl nicht mehr an den Augenblick, da er Napo-
leons Freundschaft ein Geschenk der Götter genannt hatte?
Als einer der feilen Schranzen Napoleons bedauerte, dass der
Bar jetzt erst nach Paris komme, wies ihn dieser treffend mit
den Worten ab: „Ich wäre gern früher gekommen, klagen
Sie wegen meiner Verspätung nur die französische Tapferkeit
an!“ und allerorten kolportirte man seinen Ausspruch:
„Nicht Paris, Bonaparte nur ist mein Feind, die Franzosen
sind meine Freunde!“ Nur der Intervention des rohen Oi-
sarewitsch Konstantin und des zum Gouverneur von Paris
ernannten Generals Osten-Sacken gelang es, das Herabreissen
der Statue Napoleons von der Vendöme-Säule zu verhüten.
Alexander wohnte bei Talleyrand, dem Hanptmanne der
napoleonischen Deserteure, Er erklärte schon am 31. Mürz,
man werde weder mit „Napoleon Bonaparte® noch mit irgend
einem Mitgliede seiner Familie unterhandeln, und forderte
den Senat zur Aufstellung einer provisorischen Regierung
auf, ohne für die Bourbons Interesse zu hegen; doch log
man ihm vor. ganz Frankreich sei royalistisch, der Senat
wartete ihm auf und erhob ihn über Trajan und die
Antonine, Der Senut setzte Napoleon und seine Dynastie
am 2. April ab und berief Ludwig XVIH. zum Throne,
Napoleon dankte am 6. ab und am 11. wurde von seinen
Bevollmächtigten und denen der Allüirten der Vertrag von
Fontainebleau unterzeichnet, der Napoleon auf Alexanders
thörichte Veranlassung hin die Insel Elba als zukünftige
Residenz und souveränes Land zuwies. Im Einvernehmen
mit Talleyrand, „dem provisorischen Könige‘, sandte der
Zar Poz20 di Borgo Ludwig XVII. entgegen, um ihm
eine Konstitution für Frankreich aus Herz zu legen, er
warf sich zum Vorkämpfer liberaler Ideen dem legi-
IX. Alexander I.
liess, zum zweiten Male die Verwesung. Im November
1814 erschien er auf dem Wiener Kongresse, umgeben
von einem glünzenden Stabe von Stantsmünnern und Hof-
leuten, um, soweit die äussere Erscheinung in Betracht
kam, die erste Rolle zu spielen; Metternich und Talleyrand
leiteten ja den Gang der Dinge, Neben Rasumowski
sehen wir in Wien Nesselrode, Pozzo di Borgo, Anstett,
den Grafen Giovanni Capodistrias*),
Balten Grafen Gustar Stackelberg, damaligen Botschafter
in Wien, und die Fürstin K, P. Bagration, die Wittwe des
Helden von Borodino **), empfing in ihrem der Koketterie
und der Intrigue gewidmeten Salon; Rasumowski spielte
anfangs nur eine Nebenrolle und ordnete die Feste an,
die der Zar in den herrlichen Räumen der Botschaft**®)
gab, Nesselrode besorgte die Geschäfte und stand ganz
unter Metternichs Einfluss, jedoch seit Ende Dezember
1814 wurden Rasumowski und Öspodistrias mehr hinzu-
gezogen. Der Zar wollte seine Truppen aus Sachsen
zurückziehen, Preussen vorläufig die Verwaltung Sachsens
überlassen, Friedrich August aber in Riga interniren
und ihn dann anderswo mit Gebiet abfinden, doch
wusste Talleyrand dies alles zu vereiteln. Friedrich Wil-
helm warf sich in Alexanders Arme und die sächsische
Frage lief bald mit der polnischen zusammen; Alexander
verlangte das ganze Grossherzogthum Warschau, um sein
Königreich Polen zu schaffen, und Friedrich Wilhelm ver-
bot am 5. November Hardenberg die fernere Behandlung
der polnischen Frage mit Grossbritauniens und ÖOester-
reichs Vertretern, gerieth in offenen Widerspruch mit
*) Im Jahre 1809 aus dem Dienste der jonischen Republik in
den russischen übergetreten, war er jetzt Alexanders erklärter
**) Nach westfälischen Gesandtschaftsberichten aus St, Peters-
burg von 1809 (ungedruckt) war sie ein natürliches Kind Potemkins
von seiner Nichte, der Gräfin Skawronski, und nach westfälischen Ge-
sandtachaftsberichten (ungedrnckt) aus Wien von 1811 und 1812 war
sie Metternichs Geliebte; sie zählte zu Grossbritanniens begeisterten
Anhängern in Wien, war durch ihre Abenteuer und Excentrieitäten
allbekannt,
=") Diese brannte in der Nacht des 91. Dezember 1814 nieder,
ku
|. az
IX. Alexander 1. Eu
um weder ein starkes Preussen noch ein lebensfähiges
Deutschland aufkommen zu lassen; Alexander billigte
herzlich die armselige Schöpfung der deutschen Bundes-
akte vom 8. Juni 1815 und wusste in der Folge seinen
Einfluss in Deutschland vortheilhaft zu verwerthen; die
Deutschen liebäugelten mit den Russen, so sehr auch
Heine und Börne diese Neigung geisselten. Unter La-
harper*) Einwirkung trat Alexander lebhaft für die Un-
abhängigkeit der Schweiz ein. Am 3. Mai unterzeichneten
die Vertreter Russlands, Öesterreichs und Preussens in
Wien Verträge über die Theilung des Grossherzogthums
Warschau und am 18. schloss Sachsen mit Russland
Frieden. Die von Rusumowski, Stackelberg und Nessel-
rode unterzeichnete Wiener Schlussakte vom 9. Juni
brachte den grössten Theil des Grossherzogthums Warschau
an Russland.
Nachdem Napoleon im April 1814 in Fontaineblenu
abgedankt, hatte General Dombrowski die Weichsel-
legionen Alexander zur Verfügung gestellt, dieser hatte
dem Cäsarewitsch Konstantin den Oberbefehl ertheilt und
Konstantin hatte in einem Armeebefehl vom Dezember 1814
die polnischen Truppen aufgefordert, „ihr Vaterland mit
den Waffen zu vertheidigen und für sein Bestehen als
Staat einzutreten“, Alexander nahm in einem Schreiben
an den polnischen Senator Grafen Öginski vom 15. April
1815 den Titel eines Königs von Polen an und sprach sich
voll Humanität für die Polen aus; am 21. Juni verkündigte
der Donner der Geschütze den Warschauern, Polen sei
von den Todten auferstanden und lebe. Polen wurde ein
für sich bestehendes, aber auf ewig von Russland untrenn-
bares erbliches Königreich; es stand bis 1830 in Renlunion
mit Russland**). Am 27. November 1815 erhielt „das
Zarthum* Polen eine Verfassung nach dem Vorbilde der
*) Er war schon 1814 in Langres zu Alexander geeilt.
#*) Korkunow u. A. behaupten hingegen, es sei seit der
Wiener Schlussakte Russland unterthan und vom Willen des Herrschers
abhängig gewesen, und vergleichen seine Rolle mit der Canadas gegen-
über der britischen Krone,
& unter Rozniecki; die „Patrioten*
> Sri Schritte und bald entstanden unter der
d Verbindungen, im Heere geheime Vereine, lite-
rarische Genossenschaften, die sich über Polen aus-
breiteten; an ihrer Spitze erschienen Männer von der Be-
deutung des Generals Uminski, des von Nowossilzow 1824
abgesetzten grossen Historikers der Wilnaer Universität
Joachim Lelewel und des grossen Dichters Adam Mickie-
wiez, den Nowossilzow aus Wilna nach dem Inneren Russ-
lands schaffen liess; ihr gemeinsames Ziel wurde die
'Wiederherstellung Polens in seinem alten Umfange auf
Unkosten der drei Theilungsmächte von 1772, 1793 und
1796. Der Cäsarewitsch war zwar den Polen z =
verletzte sie jedoch oft durch seine Brutalität und dureh
Missgriffe; Alexander wurde der steigenden Opposition
gegenüber mit seinen Zugeständnissen an die Polen
immer zurückhaltender. Seine liberule Anwandlung war
übrigens längst vorüber.
Der Sturz Napoleons hatte nach der Freigeisterei der
Revolutionsepoche den Glauben an das Walten einer höheren
Macht wieder befestigt und wohl am stärksten wirkten die
welterschütternden Ereignisse auf Alexander. Eine fromm
gewordene Lebedame, die Baltin Freifrau Juliane von
Krüdener*), Wittwe des russischen Gesandten in Berlin,
hatte auf den Adepten der Baaderschen Theosophie längst
ihr Auge gerichtet; Jean Paul lehnte es seiner Zeit ab,
Alexander auf die Verfasserin des sentimentalen Romans
„Valerie®, deren Urbild sie selbst war, aufmerksam zu
machen, eine Hofdame der Kaiserin Elisabeth aber, die
Fürstin Roxandra Sturdza, welche der Mystik zuneigte,
trat mit ihr in Korrespondenz, und die Freifrau stellte
nun den eitlen Zaren als „den weissen Engel“ dem Dämon
Napoleon gegenüber, pries ihn überschwänglich als „den
allgemeinen Erretter“. Galitzins Mystik hatte Alexander
zum geeignetsten Präparate für diese modernste Magdalena
gemacht, sie überraschte ihn während des Peldzugs gegen
*) Kleinschmidt, Frau von Krüdener, in „Zeitschrift für Ge-
schichte und Politik“, Stuttgart 1888, 8. Heft.
t—
300 IX. Alexander I.
Napoleon, dessen Untergang sie prophezeit hatte, eines
Abends spät in Heilbronn, forderte ihn zu so tiefer Busse
auf, wie sie, die grosse Sünderin, sie am Fusse des
Kreuzes übe, und Alexander gestand ihr unter einer Fluth
von Thränen, ihre mahnenden und strafenden Worte seien
Musik für seine dürstende Seele; in dieser dreist
Unterredung wurde er ihr begeisterter Schüler; im Juni
1815 beteten Beide und lasen die Bibel nächtlicher Weile
zusammen in Heidelberg, dann in Paris, und während sie,
von Richelieu bestärmt, Alexander zuredete, Frankreich
im Friedensschlusse gnädig zu behandeln, sprach sie mit
ihm von einer christlichen Völkerunion und regte ihn zur
Heiligen Allianz an; Alexander theilte ihr den Entwurf
einer solchen Akte mit, sie machte daran Korrekturen
und gab wohl auch der Akte den Namen, der Friedrich
Wilhelm III. sofort, Franz I. erst nach einigem Bedenken
zustimmte, Am 26. September schlossen die drei Monarchen
in Paris die mystische Akte ab, der allmälig fast alle euro-
päischen Staaten beitraten; die Stifter meinten es ehrlich,
bald aber wurde der zum Heile der Völker erdachte Bund
die heilige Fehme des Absolutismus, ein Helfershelfer der
Reaktion Metternichs und Araktschejews, die jede freiheit-
liche Regung gewaltsam erdrückten, anstatt eines Segens
ein Fluch für die Nationen, Laharpes Schüler wurde
zum Schüler Metternich. Am 20. November 1815 er-
nenerten die drei Monarchen und der Prinzregent Georg
von Grossbritannien ihr Bündniss und gelobten einander,
in wiederholten Zusummenkünften über die Sicherheit
Europas zu wachen. Talleyrands Sturz und seine Br-
setzung durch Richelieu war wesentlich durch Alexander
mit herbeigeführt worden, auch Pozzo di Borgo war
Richelieu sehr geneigt und so erklärte es sich, dass Russ-
land auf dem Aachener Kongresse 1818 dafür eintrat,
Frankreich von der Okkupation zu erlösen, und dass es
auch für Ermässigung der Kriegskosten sprach; Alexander
rieth Ludwig XVII bei seinem nunmehrigen Besuche, die
Presse einzuschränken, denn er meinte: man müsse sich
vor fünf bis sechs Zeitungsschreibern mehr fürchten als
vor 200000 Soldaten; zugleich warnte er Ludwig vor den
BEER —
w.
IX. Alexander I. 0
Umtrieben seines Bruders, Monsieurs, und des „Pavillon
Marsan“, die ihm geradezu hochverrätherisch erschienen.
Alexander besuchte selbst den Aachener Kongress und war
bier für die badische Erbfolgefrage sehr thätig, die ihn als
Gemahl Elisnbeths von Baden doppelt interessirte, Tetten-
born erwarb sich dabei grosses Verdienst um Baden: in
Aachen erschien auch, wie später in Verona, die geistvollste
Diplomatin Russlands, die Gräfin, spätere Fürstin Lieven ®),
wiederum eine Baltin, Alexander gewährte ihr, wann immer
er sie sah, tiefere Einblicke in seine Politik als irgend einem
seiner Minister und Gesandten, was ihre Stellung und das
Ansehen Russlands in London, wo ihr Gatte Botschafter war,
ausserordentlich erhöhte; Abends versammelten sich bei
ihr die Herrscher und Diplomaten der Kongressmächte,
Metternich gehörte zu ihren wärmsten Verehrern. In
Auchen vertraten Capodistrias, Nesselrode und Pozzo di
Borgo Russland, dessen Herrscher immer weiter vom
Liberalismus abwich**); er sah mit Schrecken auf die
revolutionären Regungen in seinen Landen, Ereignisse wie
die Ermordung des Herzogs von Berry, die Attentate auf
den russischen Staatsrath von Kotzebue und auf Tbell
wirkten erschütternd auf ihn ein; er unterstützte Metter-
niehs Politik und den Geist der Karlabader Beschlüsse,
verliess den Posten des Agamemnon von Europa und
reihte sich in die Suite Metternichs ein. wenn er auch
nach wie vor Frankreich als Gegengewicht gegen Oester-
reich und Grossbritannien zu verwerthen fortfahr; der
Todfeind aller Revolution, bebte er beständig vor ihrem
Phantome; seine grosse Zeit war vorüber, Als die Un-
rühen in Neapel und anderen Gegenden Italiens Oester-
reichs Uebergewicht auf der Halbinsel bedrohten und
Metternich Massregeln dagegen ergriff, schloss sich der
*) Geborene von Benckendorf. Kleinschmidt, Die Fürstin
Dorothea Lieven, in „Westermanns Monatsheften“, Oktober 1808.
”*) Eine russische Verbalnote ans Aachen schlug «ine allgemeine
gegenseitige Gewährleistung des Besitzstandes aller Mächte der
Heiligen Allianz und der Legitimität der restanrirten Regierungen
vor; jede Frage konnte #0 zu einer europäischen werden, was Gross-
britannien mit Misstrauen bemerkte.
mw. \
d schrie nach Rache für solche Barbarei;
; Alexandrowitsch Stroganow, ein erklärter Phil-
‚Greueln gegenüber auf und entging nur mit Mühe der
Wuth des Pöhels: aber nur vorübergehend unterbrach
Alexander desshalb die diplomatischen Beziehungen zum
Divan*); er strich den Fürsten Alexander Ypsilanti, der
‚sich zuerst in den Donaufürstenthümern gegen den Sultan
‚aufgelehnt hatte, aus dem Heere, dämpfte die alte Lust
nach dem Besitze Konstantinopels, versüumte die Gelegen-
heit, das Schutzrecht über die Christen in der Türkei aus-
‚zuüben und Hellas vom Islam zu befreien**), Er stand
allein seinem an ihm irre werdenden Volke gegenüber,
alle Stände und Klassen fanden sich in der Opposition
gegen den Bekämpfer der Orthodoxie, man sah Gottes
‚Strafe in der grossen Ueberschwemmung von 1824 und in
jedem über Russland hereinbrechenden Unheile, wie bald
darauf in Alexanders Tod. Der Generalstabschef von
Diebitsch, welcher bei der Ausbildung des Heerwesens
Grosses leistete, hatte schon einen Feldzugsplan gegen
die Türken entworfen, sein Zar aber blieb auf Seite der-
‚selben.
Graf Araktschejew, der leitende Günstling, wurde selbst
von Metternich geleitet. Das „Väterchen Seiner Majestüt*
wachte mit Argusaugen über Alexanders Sicherheit und
Leben, spürte jedem Feinde, und wenn er sich noch so
geheim hielt, nach und führte an der Spitze der Polizei
ein eisernes Regiment, welches das ganze Reich in Schrecken
hielt; reiste der Zar ins Ausland, so leitete der Graf die
Regierungsgeschäfte im Besitze unumschränkter Voll-
*) Stroganow nahm verbittert den Abschied.
*®) Während in der Orientfrage Metternich und Canting Rüssland
feindlich gegenüber standen, befestigte Pozzo di Borgo von neuem
das Bündniss mit Frankreich,
Bi (
IX. Alexander I.
auf immer aus ganz Russland nach sich z0g. Sie hatten
aber mit Erfolg auch die orthodoxe Geistlichkeit gegen
die Bibelgesellschaft aufgehotzt, Araktschejew und die
Metropoliten gingen zusammen und nun liess Araktschejew.
den im Geruche der Heiligkeit stehenden Archimandriten
Photius®). einen gefährlichen Intriguanten, gegen Galitzin
wirken; der schwache Zar gab nach, der Metropolit
Seraphim wurde anstatt des Fürsten Präsident der Bibel-
gesellschaft. die unter ihm dermassen einschlief, dass ihre
Einstellung unter Nikolaus I. eigentlich nicht mehr nöthig
war, Alexander hatte im Jahre 1817 den Oberprokureur
der heiligen Synode in allen Sachen dem Ministerium der
Volksaufklärung unterstellt, 1824 emaneipirte er ihn wieder
davon und im Juni d. J. entliess er Galitzin als Minister
der Volksaufklärung**); als solcher trat der Admiral
Alexander Ssemenowitsch Schischkow ein, ein Finsterling,
der den Unterricht der untersten Klassen des Volks für
unnütz erklärte, trotz weiter Reisen ein Mann von engem
Horizonte, ein ausgesprochener Feind aller Reformen, aber
voll Wissen und Autorität in Beherrschung und Ausbildung
der russischen Sprache; er war seit 1813 Präsident der
tussischen Akademie, deren Sitz seit Paul auf Wassilii-
Östrow war, und diese gab von 1815 bis 1828 „Nach-
richten* heraus®**); Schischkow bemühte sich, die Gallo-
manie aus der Literatur auszumerzen, was ihm Händel
mit Karamsin zuzog, wollte die slawische Sprache und das
slawische Volksthum vor allen europäischen Mischungen
bewahren. Er verschärfte jetzt und unter der folgenden
*) Barssow bringt den interessanten Briefwechsel Galitzins mit
Photius (Photii) von 1822—1895 in „Rusakaja Starina® 1892.
**) Trotz aller Intriguen Photius’ blieb Galitzin Generaldirektor
der Posten und der persönliche Freund Alexander, dem er durch
Perlustrirung des Briefverkehrs in den letzten Lebensjahren grosse
Dienste leisten sollte.
“+, Nikolaus hob die Akademie nach Schischkows Tod am
81. Oktober 1841 auf, verschmolz sie aber wissenschaftlich und mit
ihrem Vermögen mit der Akademie der Künste, deren zweite Abtheilung
sie nun bildete. Schischkows gesammelte Werke (er war anch Dichter)
erschienen in 14 Bänden 1823—1834; er hinterliess auch Memoiren,
A, Kisinsehmidt, Ueberbi. d, russ. Gesch. # 1608, zo
we
IX. Alexander T. 207
hochhielt, und sie fünd ihre Vereinigung im „Arsamass“,
welchen Fürst Peter Andrejewitsch Wjasemski, der grosse
Liederdichter, mit W. A. Shukowski, Puschkin, Ssergei
Ssemenowitsch Uwarow*), Dmitrii Nikolajewitsch Bludow
und Dmitri Wassiljewitsch Daschkow gründete. Nahm
die periodische Presse ir St. Petersburg bereits einen be-
deutenden Aufschwung, so war dies noch weit mehr mit
der in Moskau der Fall; da spielten die hervorragendste
Rolle Karamsins Zeitschrift „Der Europäische Bote“,
Makarows „Moskauer Merkur“, Ssergei Glinkas „Russischer
Bote“, von dem wir oben hei dem Jahre 1812 sprachen,
Gretschs „Sohn des Vaterlandes“ und der 1818 gegründete
„Russische Invalide®, alle im höchsten Masse anti-
französisch. Gab doch Rostoptschin fortwährend seinem
Hasse gegen Napoleon und gegen die Franzosen den
drastischsten Ausdruck; im Jalre 1814 schrieb er, ein
schlechter Prophet vor den Hundert Tagen: „Welches
Ende hat dieser elende Bonaparte genommen! seitdem er
zum Konsulate gelangte, seit dem Tode des Herzogs von
Enghien.... war ich überzeugt, er sei ein Lump*, und später:
„Die Welt wird nie Ruhe haben, so lunge es eine fran-
zösische Nation mit Paris als Hauptstadt geben wird. In
der Rue Richelieu muss Gras wachsen und im Palais
Royal muss man wilde Hasen schiessen. Man hat 1814
und 1815 eine schöne Gelegenheit versäumt, um Frank-
reich ausser Stand zu setzen, Europa fortan zu schaden“,
endlich ein anderes Mal: „Armes Land! Schufte, Knicker,
Schelme, Strohköpfe und Canaillenpläne. — Hier brauchte
*) Sein „Projet A'ane academie asiarique* von 1810 gab den
Anlass, das Studium der morgenländischen Sprachen in St. Petersburg
zu pflegen, wo an Universität und an Akademie der Wissenschaften
Lehrstühle dafür errichtet wurden, or war ein bedentender Orientalist.
1828 wurde eine vom Ministerium des Aeusseren abhängende orientalische
Schule gegründet, um Zöglinge für die Diplomatie im Orient heran-
zubilden. Uwarow war von 1811—21 Kurator der Universität öt.
Petersburg, seit 1818 Präsident der kais, Akademie der Wissen-
schaften und war wie Schischkow darauf aus, die russische Sprache
zur dominirenden, ja zur einzigen im Reiche zu machen; früher liberal,
wurde er immer reaktionärer.
or
bie
Intendant der $t. Petersburger Hofbühne, Als Historiker
ragte über Alle der Reichshistoriograph Nikolai Michailo-
witsch Karamsin hervor, der im Jahre 1818 Alexander
das erste Exemplar seiner bis 1618 reichenden elfbändigen
Geschichte Russlands überreichte; auf Karamsins Wunsch
übernahm Bludow (s. oben) die Herausgabe des zwölften
Bandes*) und gab denselben, vom Geheimrathe Serbino- |
witsch unterstützt, im Jahre 1829 nach Karamsins Tod |
unvollendet heraus; heutzutage ist Karamsins oberflüch- n
liches Werk veraltet und überholt, seine zahlreichen Irt-
thümer sind entschleiert, seiner Zeit aber beherrschte es |
die Geschichtsschreibung und Alexander wie Nikolaus |
überhäuften den Verfasser mit Huldbeweisen; August |
Ludwig von Schloezer hatte mit der Herausgabe der |
Ohronik des Kiewer Mönches Nestor die Hauptquelle der
älteren russischen Geschichte erschlossen. Seit 1809 war
für die Geschichtskunde eine Kommission thätig, der
Borosdin und Jermolajew neben Karamsin angehörten, der
Reichskanzler Graf Nikolai Petrowitsch Rumjanzow war
der Mäcen der russischen Literatur und man sprach zu
dieser Zeit in Europa von der „Rumjanzow-Epoche*. Von
Jugend auf sammelte Rumjanzow Bücher und Schriften,
zahlte hohe Summen für Handschriften, manchmal bis zu
1000 Rubel, und wurde wegen seiner Liberalität „dor
Kassier der russischen Literatur“ genannt; es gab keinen
freigiebigeren Gönner für junge Talente, er liess Gelehrte
auf seine Kosten im Auslande Nachrichten über Russ-
land aufsuchen und excerpiren, unterstützte sie bei der
Herausgabe ihrer Arbeiten**) und gab auch fremden
Schriftstellern, die über Russland schrieben, Gelder; da
er wünschte, es möge eine vollständige Sammlung der
Verträge Russlande mit dem Auslande nach Art dos
Werkes von Jean Dumont veranstaltet werden, so regte
er unter Verleihung bedeutender Subventionen solche Ar-
beiten an und errichtete am Ministerium des Aeusseren
IX. Alexander I.
*) Er reicht bis zur Thronbesteigung der Romanow.
*) Im Jahre 1818 beglückwünschte er N. J. Turgenjew zu
seinem „Versuch über eine Theorie der Steuern“,
IX. Alexander 1.
liche Bibliothek der Benutzung übergeben, mit kostbaren
Werken und Handschriften ausgestattet: Graf Alexander
Ssergejewitsch Stroganow war ihr Direktor, auch er ein
wahrer Mäcen. Stroganow gründete in seinem Palaste
eine Galerie und eine Bibliothek, die er Jedermann zugäng-
lieh machte, brachte eine reiche Kupferstichsammlung und
ein Medaillenkabinet zusammen, unterstützte aufstrebende
Talente und gab als Präsident der kaiserlichen Akademie
der Künste (1800— 1811) den Künstlern sehr hohe Honorare.
Unter seiner Leitung vereinigte die Akademie der Künste
eine Reihe bedeutender Talente, unter den Bildhauern Mar-
tos, Demuth-Malinowski, Schubin, Halberg und den Grafen
Pedor Petrowitsch Tolstoi®), unter den Malern „den russi-
schen Poussin“ Wassilii Schehujew, Andrei Iwanow, Alexei
Jegorow, den Porträtmaler Dmitrii Lewizki, den Land-
schaftsmaler Ssemen Schtschedrin, Koslowski. Schtschukin,
den Porträt- und Historienmaler Wladimir Borowikowski.
der mit der linken Hand malte, Besssonow, die Porträt-
und Genremaler Alexander Warnek, Alexei Wenezianow,
den Stroganow besonders werthen Orest Kiprenski und
"Worobjew, unter den Architekten Melnikow, Michailow
und Woronichin, unter den Kupferstechern den gefeierten
Ignaz 5. Klauber, den Fürsten Uchtomski, Utkin u. A. Auch
die Grössen der Literatur waren Stroganow liebe Freunde;
von Wisin las ihm seine Satiren, Bogdanowitsch, der
Vater des komischen Epos. seine „Duschenka® vor,
Bortnjanski stand ihm sehr nahe, Dershawin widmete ihm
Oden, Gneditsch konnte nur mit seiner pekuniären Hilfe
die Uebersetzung der Iliade vornehmen, Krylow liebte
ihn ungemein. Als die Kasansche Kathedrale in St. Peters-
burg mit einem Kostenaufwande von 2Ys Millionen Rubel
*) Dieser Autodidakt entschloss sich mit 18 Jahren, vom Zaren
bestärkt, dazu, sein Leben der Skulptur zu weihen, verliess mit
28 Jahren als Flottenlieutenant den Dienst, arbeitete voll Eifer und
wurde der grösste Medaillenr Russlands, einer der grönsten Europas,
malte in Oel und Wasserfarben und gravirte; seit lange Professor der
Skulptur- und Medaillenrkunst an der Akademie, seit 1880 Adjunkt
des Präsidenten, starb er, 90 Jahre alt, 1979. Seine Memoiren er-
‚schienen 1873 in der „Russkaja Starina“.
2
1X. Alexander f. Bis
kümmerte sich nicht um den Staat und schrieb am 23. Sep-
tember dem Stautssekretär N, N, Murawjew und dem
Generalmajor Eichler, seine Gesundheit sei derart er-
schürtert, dass sie die ihm obliegenden Geschäfte, Korre-
spondenzen und Militärkolonien statt seiner besorgen
müssten *). Unter Nikolaus werden wir von „der Schlange
‚Gorynitsch“, wie Volk und Soldaten den Tyrannen von
Grusino nannten, und von den Kolonien weiteres hören **),
Am Ende von Alexanders Regierung schätzte man die
kolonisirte Infanterie und Onvallerie auf 60—80000 Mann,
in rücksichtslosester Weise arbeitete man auf den Militär-
staat los.
Nikolai J. Turgenjew hebt die grosse Wirkung her-
vor, welche das lange Verweilen der russischen Heere im
Auslande unter Alexanders Regierung auf Offiziere, Sol-
daten und Landwehr ausübte und wie diese alle nach der
Rückkehr die freisinnigen Tendenzen der Fremde in der
Heimath einzubürgern bestrebt waren. Da man solche
Ansichten nicht an die grosse Glocke hüngen durfte,
sondern sie möglichst verhehlen musste, so bildeten sich
neben der Freimaurerei, die das Haupt neu erhob, Geheim-
bünde. Der erste um 1817 gegründete „Wohlfahrtsverein®
erlosch alsbald wieder, ebenso erging es den „freien Ge-
sellschaften“ unter dem St. Petersburger Militär, deren
eine Fürst Eugen Petrowitsch Obolenski, Adjutant des
Generals Bistrom, leitete; auch die Konferenzen, welche
der Staatssekretär am Reichsrathe Nikolai Iwanowitsch
*) Russkaja Starina, Oktober 1882, und Memoiren Turgenjews
in „Russkaja Starina“, Juni 1895.
**) Er liess in der Kathedrale von Grusino vor Pauls Büste neben
lem für ihn bestimmten Grabmale Nastasia begraben und setzte
ihr die Inschrift; „Hier ruht meine fünfundzwanzigjährige Freundin
Nastasia Fedorowna, im September 1825 von ihren Leuten getödtet*;
täglich verneigte er sich vor dem Grabe und schwückte es mit frischen
Blumen.
Um 1823 wurde von Ssuchotin ein Akrostichon auf ihn gedichtet,
das unter den Oflizieren der Armee umlief und in dem er als Teufels-
sohn, Höllensamen, Menschenfresser, Barbar, als schlimmer denn die
Viper geschildert war.
u _
regiments, verfusste die Statuten des Bundes, dessen Seele
er wurde: ihm erschien die Republik die wünschens-
wertheste Form für Russland, Die beabsichtigte Zeit-
schrift des Bundes blieb Projekt, Der Bund war als-
bald in sich uneinig, die Einen wollten das, die Anderen
jenes, die Einen waren für friedliche Reform und höchstens
für eine Beschränkung der Autokratie, Andere für eine
Republik, für die Entthronung des Kaisers und seiner
Familie, ja selbst für den Kaisermord; gefährlich waren
vorerst weder diese noch jene trotz ihrer Beziehungen zu
den Hauptstädten und zum Hauptquartiere der zweiten
Armee in Tultschin (Podolien), Alexander hörte von dem
Bunde und liess Orlow durch dessen Bruder, den General-
adjutanten Alexei Fedorowitsch, davor warnen, traf aber
keine strengen Massregeln gegen den Bund, so sehr ihm
vor dem Gespenste der Revolution bangte. Michail
F. Orlow war eben Präsident des Bundes, als sich auf
der Generalversammlung in Moskau im Januar 1821 eine
solche Uneinigkeit herausstellte. dass er*). ein Fürst
Dolgoruki. Glinka u. A. austraten; der Bund löste sich
bald darnach auf, aus den Trümmern aber enstanden
gefährliche Verbindungen, welche an friedlichen Reformen
verzweifelten. „die südliche“ und „die nördliche Gesell-
achaft***). Besonders bedrohlich war die südliche Ge-
sellschaft, in der Pestels Einfluss und Entschlossenheit
dominirten; Pestel dachte an eine Erhebung gegen den
Kuiser, trat mit unzufriedenen Polen wie Fürst Anton
Jablonowski in Beziehung und plante Alexanders Er-
X. Alesander I BT
*) Orlow kommandirte jetzt die 16. Division bei der Stdarmee
(zweiten Armee) nnd suchte Lancastersche Schulen bei den Soldaten
und der städtischen Bevölkerung einzuführen; Alexander war sehr un-
zufrieden ob seiner Beschäftigung mit der Politik und rief ihm bei
den Manoeuvres des 6, Armeecorps bei Tultschin im Oktober 1828 vor
Allen zu: „Ich rathe Euch, General, Euel mehr mit der Euch anver-
trauten Division als mit den Geschäften meines Reiches zu beschäftigen.“
Sofort entsetzte er ihn des Dienstes (Russkaja Starina, April 1881).
#*) In Wolhynien bildete sich, von den Brüdern Borissow ausgehend,
die Gesellschaft der „Vereinigten Slawen“, der erste panslawistische
Versuch zum Zwecke eines Bundes unter allen slawischen Völkern,
IX. Alexander 1.
Jüngeren Offiziere der Gardemarine und verabschiedete
oder zurückgesetzte Offiziere der verschiedensten Regi-
menter, z. B. der Generalmajor Fürst Ssergei Grigorjewitsch
Wolkonski, Fürst Obolenski (s. oben), der Oberst Michail
Michailowitsch Narischkin, der Hauptmann Jakubowitsch
u. A. Die Verschworenen sprachen so unvorsichtig von
ihren Wünschen und Plänen, dass die Regierung auf sie
aufmerksam werden musste, und Pestel witterte Verrath.
Der Oberbefehlshaber der ersten Armee, Graf von der
Osten-Sacken, benachrichtigte den Oäsarewitsch Ende 1825
durch seinen Generalstabschef von Toll, es arbeite eine
grosse Verschwörung im Heere, man wolle die i
form ändern, und traf zugleich energische Mittel dagegen.
General von Diebitsch, der Chef des grossen Generalstabs
und Generalmajor der Armee, war den Verschwörern be-
sonders verhasst und sie hatten schon 1824 seine Auf-
hebung bei einer Revue geplant, jetzt benachriehtigte er
den die Südurmee befehligenden Grafen zu Sayn-Wittgen-
stein von der Verschwörung und sandte den General-
adjutanten Tschernyschew (s. oben) mit Nachrichten darüber
an Konstantin; ganz auf eigene Faust ergriff Diebitsch
Mussregeln gegen die Verschwörer in der Südarmee.
Tiefe Melancholie hatte sich Alexanders in letzterer
Zeit bemächtigt und, trüber Ahnungen voll, verliess er im
Herbst 1825 St. Petersburg, um seine schwerkranke Ge-
muhlin nach dem Süden Russlands zu begleiten; bei ihm
waren Diebitsch, sein Jugendfreund Fürst Peter Michailo-
witsch Wolkonski u. A., man erreichte Taganrog am
23. September 1825 und hier erfuhr Alexander Nüheres
über die Konspiration. Immer wieder trat ihm vor die
Seele, wie er Kaiser geworden war; er sah die Liebe
seines Volkes erkaltet, es sprach von der Ueberschwem-
mung St. Petersburgs als von Gottes Strafe für des
Kaisers Gleichgiltigkeit gegen die Griechen, und er trauerte
über die Verwicklungen, die er seinem Nachfolger hinter-
lassen würde, wie über so manche getäuschte Hoffnung.
Er rief Araktschejew zu sich, der aber trotz seiner und
des ersten Leiburztes, des Baronet Wylie, Drängen nicht
kam, bereiste die Asowsche Küste und die Krim und
320 IX. Alexander T.
besuchte das Grab der Mutter der Heiligen Allianz*) in
Koreiss. Nach Taganrog zurückgekehrt. wurde er immer
kränker und am 1. Dezember 1825 starb er an einem
typhösen Fieber in Elisabeths Armen. noch nicht 48 Jahre
alt: Fürst Wolkonski führte die Leiche nach St. Peters-
burg. wo sie am 25. März 1826 in der St. Peter- und
Paulskirche beigesetzt ward**). Elisabeth wurde hier
schon am 3. Juli mit „ihrem Engel“. wie sie ihn zu
nennen pflegte, vereinigt. sie war am 16. Mai 1826 zu
Belew im Gouvernement Tula ihren Leiden erlegen.
*) Alexander hatte sich längst den Banden der Frau von Krüdener
entzogen, kam aber nicht über ihre Prophezeiungen schweren Un-
glücks hinaus: ihre Bemühungen für die Griechen waren bei ihm er-
folglos geblieben und auf ihre Briefe kam keine Antwort von ihm. Jetzt
aber betete er an ihrem Grabe, ernenerte die alte Gemeinschaft und
liess sich von ihrer Freundin, der Fürstin Anna Ssergejewua Galitzin,
bei der sie 1824 gestorben war, die ihr für ihn anvertrauten Papiere
übergeben. Tief ergriffen ritt er von dannen. (Kleinschmidt, Frau
von Kriüdener, s. 0.)
**) Araktschejew liess im Jahre 1833 von S. J. Halberg Alexander
in Grusino vor der Kathedrale ein prachtvolles Broncedenkwal setzen;
mit Alexanders Tod war sein Reich zu Ende.
.
ud X. Nikolaus L
ein formelles Gesuch an Alexander und e au
14. Februar seine und Marias Zustimmung, nicht aber
trotz aller Bitten die Abfassung einer Staatsakte mit
reehtskräftiger Wirkung. Nikolaus wusste noch immer
nichts davon. Am 28. August 1823 unterzeichnete endlich
Alexander ein vom Metropoliten Philaret verfasstes Mani-
fest, das Nikolaus anstatt Konstantin zum N)
bestimmte; es wurde wie auch die Bestätigung des Ver-
ziehts vom 14. Februar 1822 nicht im Reichsrathe auf-
bewahrt, sondern — der Kaiser liebte ja das Mystische —
unter der Altardecke der Usspensskischen Kathedrale in
Moskau deponirt*) und blieb Stantsgeheimniss, Machte
Alexander auch Nikolaus bisweilen Andeutungen über die
ihm bevorstehende Stellung, trug er ihm auch, als er
seine letzte Reise nach Taganrog antrat, einen gewissen
Antheil au den laufenden Geschäften in der Residenz auf,
s0 üusserte er sich doch niemals definitiv Nikolaus
gegenüber.
Der Grossfürst Nikolaus bewunderte Alexander und
sah in Konstantin den Phronberechtigten, in seinem Mit-
schüler Michail den lieben Freund. Auf seine Erziehung
übte neben der Mutter, die sich als Wittwe mit Werken
grossartiger Wohlthätigkeit beschäftigte **). die Gross-
erzieherin und Oberhofmeisterin Gräfin Charlotte Karlowna
Lieven, ihre intimste Freundin, den grössten Einfluss: sie
war eine geistvolle Frau von unbeugsamer Konsequenz
und etwas rauhem Freimuth, Nikolaus und Michail
hingen an dieser „Grossmama* mit unbogrenzter Ver-
ehrang, wie schon Kaiser Paul sie kindlich verehrt hatte;
Marias Testament vom 27. November 1827 gedenkt ihrer
*) So erzählte Philaret selbst.
**) Die von ihr geschaffenen Anstalten kamen unter einen „Haupt-
ratlı der weiblichen Bildungsinstimmte*‘, doch wurde statt dessen im
Dezember 1873 ein Vormundschaftsrath eingesetzt. Im Jahre 1828
wurden ihre Anstalten einer vierten Abtheilung der Privatkanzlei des
Kaisers unterstellt und diese besteht noch als „Privatkanzlei für die
Etablissements der Kaiserin Maria“, ist sehr ausgedehnten Umfangs,
bildet an sich ein Ministerium mit mehreren Expeditionen und einem
Unterrichtscomits; an der Spitze steht ein Generaldirigent.
gı*
Konstantin zum Kaiser proklamirend, Wassilkow, rückten
auf Kiew los, um in neue Verbindung mit den „Vereinigten
Slawen“ zu treten, wurden aber am 15. Januar bei Usti-
nowka von den Generalen Geismar und Roth geschlagen,
Hippolyt gab sich selbst den Tod, Ssergei und Matwei
sowie Bestushew-Rjumin wurden gefangen, ihre Scharen
Hüchteten oder ergaben sich. An der Spitze des Kom-
plots stand nominell Fürst Trubetzkoi als „provisorischer
Diktator“, für den jedoch Rylejew die Arbeit besorgte; der
Fürst wurde auf Befehl Nesselrodes bei seinem Schwager,
dem oesterreiehischen Gesandten Grafen Lebzeltern, vor-
haftet, fehte Nikolaus auf den Knieen um sein Leben an
und nahm seine volle Verachtung in den Kauf. Der Prozess
der „Dekabristen® währte viele Monate. Speranski ging
Nikolaus mit gutem Rathe zu Hilfe und auf seine Empfehlung
trat Bludow in die Kommission, welche die Untersuchung
führte, um alsbald ihr eigentlicher Leiter zu werden; im
Juni 1826 legte er Nikolaus den ausführlichen Bericht
über das Ergebniss der Untersuchungskommission vor").
Mehr oder minder schwer war die Strafe der zahlreichen
Rebellen gegen die Autokratie, man theilte sie in Kate-
gorien ein: nur fünf wurden am 25. Juli gehängt **): Pestel,
Rylejew, Bestushew-Rjumin, Ssergei J, Murawjew-Aposto]
und der Mörder Miloradowitschs, Kachowski; bei Rylejew,
Murawjew und Bestushew operirten die Henker so un-
geschickt, dass ihre Leiden noch vergrössert wurden. und
Rylejew höhnte, man könne in Russland nicht einmal
ordentlich gehängt werden. 85 Verurtheilte wurden zu
lebenslänglicher resp. zeitweiliger Zwangsarbeit oder zu
ewiger resp. zeitweiliger Verbannung nach Sibirien ge-
schickt, nachdem sie degradirt und des Adels verlustig
X. Nikolans I,
=
*) Er wurde bald darauf Minister-Gehilfe des Admirals Schischkow,
Ministers der Volksaufklärung, und Staatssekretär,
*) Die Kommission hatte als Strafe Vierthoilung nnd Rad aus-
gesprochen, Nikolaus begnadigte zum Strange Mehrere Hundert
warden in Polen verhaftet, des Hochverraths angeklagt und von der
Kommission verurtheilt, Nikolaus überwies das Urtheil dem polnischen
Senats zur Revision und dieser »prach zu Nikolaus’ Verdrmas am
17, Oktober 1828 Alle frei,
Seine grossen Fehler aber waren NE
Halsstarrigkeit und Verbohrung in falsche Vorstellungen.
Im ‚direkten Gegensatze zu dem Freihandelssysteme des
Cobden, war er ausgesprochener
wollte alle Fabrikate, die Russland brauchte, in Russ-
lund gemacht sehen und besteuerte alle vom Auslande
kommenden so hoch, dass es einem Verbote und einer
neuen Kontinentalsperre gleichkam. Die russischen Fabri-
kate wurden naturgemäss schlechter, die Ausfuhr nach |
England nahm enorm ab, Canerin aber war so unbelehrbar,
dass er sogar die Einfuhr von Tuch aus Polen verbot, |
was ihn in heftigen Zwist mit dem polnischen Schatz-
minister Fürsten Lubecki brachte; die übertrieben strengen
Gesetze gegen den Schmuggel führten zum Gegentheile,
der Schmuggel an den Grenzen erreichte den Umfang der
Gurjewschen „alten, guten Zeit“. Canerin war ein be-
deutender Administrator und bewahrte Russland vor dem
Bankerotte, brachte aber Industrie, Handel und öffent-
lieben Verkehr in Abhängigkeit von der Regierung;
Staatskredit und Stantseinnahmen stiegen. er sparte die
Staatsgelder derart, dass er sogar dem Kaiser wiederholt
Forderungen versagte, und erwarb sein felsenfestes Ver-
trauen”). Die Neuerungstendenzen Westeuropas waren
Kaiser und Minister ein Greuel, Cnnerin wünschte Russ-
land vom Wirthschaftssysteme Europas ganz zu isoliren,
Beide betrachteten die Eisenbahnen als die Fortpflanzer
revolutionärer Anschauungen aus dem Westen und doch
konnte Nikolaus nicht umhin, die orsten Linien St. Peters-
burg-Zarskoje Sselo und St. Petersburg-Moskau persönlich
zu eröffnen. Im Dienste der Wissenschaft wurde viel
Geld verwendet, nirgends aber verschwendet, denn Canerin
angte; in Russland müsse der Finanzminister die anderen
Minister „abwischen“.
Um aller Welt zu zeigen, dass er freiwillig auf den
Thron verzichtet habe, wohnte Konstantin der Krönung
des Kaisers und der Kaiserin am 3. September 1826 in
Moskau an und es war ein ergreifender Augenblick, als sich
*) Graf 1829,
|
— X. Nikolaus I. 38
der Stimme; „Ihr Blenden! Nicht die Brunnen sind ver-
giftet, aber Ihr habt mit Euren Sünden Euch selbst ver-
giftet, Nun betet zu Gott, dass er Euch vergebe und die
Plage von uns nehme.“ Ein tausendstimmiges „Hurrah!
Hoch lebe unser Herr und Vater!“ war die Antwort der
aufrührerischen Menge, und ohne die Verwendung eines
einzigen Polizeisoldaten war die Bewegung wie mit einem
Zauberschlage überwunden, Dieser grosse Moment stand
mir vor der Seele, als ich dem Kaiser in die Augen blickte.“
Nirgends aber war Nikolaus eine so wirkungsvolle und
elektrisirende Gestalt wie vor der Front seiner Truppen,
die ihn vergötterten und fürchteten.
Nikolaus war Autokrat vom Scheitel bis zur Sohle
und betrachtete es als sein Ziel, unbedingter Allein-
herrscher im Inneren seines Riesenreiches zu werden und
jede Opposition, wenn auch auf Kosten des Fortschritts,
auszurotten; er brauchte hierzu eine ihm blind ergebene
Bureaukratie und stellte auch die Civilverwaltung gewisser-
massen unter die Aufsicht seiner Generaladjutanten. Zum
schweren Nachtheile für die Intelligenz wurde die Censur
rigoros ausgeübt, denn mehr noch als sein Bruder in der
zweiten Hälfte seiner Regierung sah Nikolaus in allem
Liberalismus eine bedenkliche Spielart des Revolutionüren,
Ein Polizei- und Spionirnetz umspannte Russland. An der
Spitze der gefürchteten dritten Abtheilung der Privat-
kanzlei des Kaisers stand der Bruder der auch bei Niko-
laus in höchstem diplomatischem Ansehen gebliebenen
Fürstin Dorothea Lieven*). Graf Alexander Christophoro-
witsch von Benckendorff, der ihm am 26. Dezember, wo
er ihn auf den Senatsplatz begleitet hatte, theuer ge-
worden war, ein pflichteifriger, ehrenhafter, aber be-
schränkter Mann; Benekendorff vereinigte in seiner Hand
die Fäden der ganzen Geheimpolizei, wich nicht von
Nikolaus’ Seite, machte jede Reise mit und Nikolaus
äusserte: „Ich bin wohl für Russland zu ersetzen. Bencken-
dorff aber nicht.“ Allmälig aber setzte er ihm eine Kreatur
Araktschejews, Kleinmichel, an die Seite, was Bencken-
*) Kleinschmidt, Die Fürstin Dorothea Lieven (s. oben).
X. Nikolaus T. ww
die Universitäten nicht zu Leichen machen wollte, Niko-
laus berief eine Kommission zur Reorganisirung derselben.
z0g ihn nicht hinein*) und er trat 1849 ab, von allen
Ministern seines Departements bis heute hat er am längsten
das Portefeuille inne gehabt. Es wurde weit schlimmer;
unter seinen Nachfolgern, dem Pürsten Platon Alexandro-
witsch Schirinski-Schiehmatow (1850 —53) und Norow, er-
starrten die Universitäten zu Eis und der witzige Fürst
A. 8. Menschikow sagte; „Früher schleppte sich die Auf-
klärung bei uns wie ein faules Pferd herum, immerhin
aber ging es auf vier Beinen, jetzt aber geht es auf drei
und das obendrein mit einem störrigen Pferde (norow)* **).
Nikolaus schenkte hingegen der nationalen Schulung der
Russen viel Aufmerksamkeit und Pflege, begünstigte das
Aufblühen der russischen Literatur, besonders der russischen
Geschichtschreibung und Poesie, und die Ausgestaltung
des nationalen Theaters. Nikolai Alexejewitsch Polewoi,
der lange das angesehene kritische Journal „Moskauer
Telegraph“, dann in St, Petersburg den „Sohn des Vater-
lands“ herausgab und für die romantische gegen die
klassische Richtung kämpfte, schrieb seine „Geschichte
des russischen Volkes“, Michail Petrowitsch Pogodin, der
Redakteur des „Moskauer Boten“, des „Moskauers“ und
schliesslich der politisch-literarischen Wochenschrift „Russ-
kii“, einer der entschiedensten Panslawisten. brachte eine
grosse Sammlung russischer und slawischer Alterthümer
zusammen ***), stellte Untersuchungen über den Ursprung
der Russen, eine viel umstrittene Frage, an, gab sieben
Bände des „Russischen historischen Magazins“ heraus,
schrieb Novellen, Tragödien und Geschichtswerke, vor
allem seine „Untersuchungen, Erläuterungen und Vor-
lesungen über die russische Geschichte“, und starb 1875
unter Vorbereitungen zu einer „Geschichte Peters des
Grossen“; Ustrialow schrieb seine „Geschichte Russlands“,
*) Ans dem Leben Theodor von Bernhardis, Band 2,
Leipzig 1898.
=") Russkaja Starina, 1880,
***) 1859 kaufte die Regieraung sie theilweise, einen anderen
Theil vermachte Pogodin seiner Vaterstadt Moskau.
pe
X. Nikolaus T. Fr
Danilewski, Dmitrii Petrowitsch Buturlin®), unter Aloxan-
der I. Modust Iwanowitsch Bogdanowitsch und Dmitrii
Alexejewitsch Miljutin. Nikolai Gretsch, aus böhmischer
Familie, der früher am „Sohn des Valarlandese und am
„Russischen Boten“ thätig gewesen war, gründete im
Jahre 1825 mit Faddei Wenediktowitsch Bulgarin die
„Nordische Biene“ (Ssewernaja Ptschela), eine historisch-
statistische mit literarischen Feuilletons ausgestattete
Zeitung, die durch die Mitarbeiterschaft der ersten Schrift-
steller rasch tonangehend wurde. Wissarion Grigorjewitsch
Bjelinski, dessen „Literarische Träumereien* 1834 all-
gemeines Aufschen erregt hatten, leitete den „Moskauer
Beobachter“ und den kritisch-bibliographischen Theil von
Krajewskis „Vaterländischen Memoiren“, wurde Mitarbeiter
an Nekrassows „Zeitgenossen®, war aber vor allem der
grösste, tiefsinnigste und offenste Kritiker; er machte die
russische Gesellschaft auf den Werth der vaterländischen
Literatur aufmerksam und wurde für sie ein Aufklärer,
er entdeckte Gogols Talent **), vergötterte ihn, verzieh
ihm aber nicht seine Gleichgiltigkeit, ja Abneigung gegen
die Bauernbefreiung, die er schon als Student in einer
Tragödie verlangt hatte, und griff ihn 1847 in einem
merkwürdigen Briefe im „Polarstern“ an; er vor Allen
jubelte ja den Bestrebungen des Kaisers Nikolaus für die
Emaneipation zu. Nach wie vor bekämpften einander die
Romantiker und die Klassiker, erstere im „Telegraphen*,
letztere im „Teleskopen“, und im „Moskowiten“ rührten
sich die Slawophilen.
Und welch unsterbliche Schar von Dichtern hatte
Kussland zur Zeit Nikolaus’ I.! Alexander Ssergejewitsch
Puschkin war von allen der grösste und nationalste,
*) Ein fanatischer Altrusse, der Uwarow als Minister der Volks-
aufklärung gefolgt wäre, wenn ihn nicht der Tod ereilt hätte; er
würde am liebsten alle Universitäten aufgehoben haben !
**) Er war ein Todfeind des Absolutismus und nur sein früher
Tod bewahrte ihn vor den Verfolgungen der dritten Abtheilung, im
Sommer 1898 aber bei der 50. Wiederkehr seines Todezjahres bereitete
Ihm die Regierung eine wahre Apotheose in ganz Russland!
A. Kleinschmidt, Usberbl. d. run. Gesch. u. 1508. 22
k
X. Nikolaus I. u
lage rechtlicher Denkungsart gegenüber veralteten und
verderbten Anschauungen in seinem noch zu Alexanders I.
Zeit geschriebenen und heute noch gern gesehenen Lust-
spiele „Ein Unglück, Verstand zu hahen* (Gore ot uma)
und wurde einer der bedeutendsten Dramatiker®): weit
kühner noch in der Aufdeckung alter Sünden und in der
Enthüllung der Bestechliehkeit der Beamten war der Klein-
russe Nikolai Wassiljewitsch Gogol, über dessen bis heute
unübertroffenes Lustspiel „Der Revisor“ Nikolaus selbst
bei der ersten Aufführung lachte, bis ihm die Thränen
kamen, und der sein Talent in der Naturschilderung und
seine Sehnsucht nach der Natur in „Tarass Bulba“, seine
gründliche Menschenkenntniss in dem Romane „Todte
Seelen“ verewigte, leider aber zuletzt in Bigotterie verfiel und
den Hungertod starb. Gogol that, wie Eugen Zabel sagt**),
den entscheidenden Schritt aus der romantischen Gefühls-
schwelgerei zur renlistischen und realen Betrachtung des
Lebens; aus dem nationalen Gefühle der Romantiker,
eines Puschkin und Lermontow, wird bei ihm die fana-
tische Begier, Russland im Besitze der Weltherrschaft
sehen zu wollen, und doch gesteht er weinend, dass sein
Vaterland „eine todte Seele“. dass dessen Zustände un-
haltbar seien, Alexander Herzen, der natürliche Sohn des
Krösus Jakowlew, wegen Freisinns und socialistischer
Träumereien wiederholt verwiesen, begann als „Iskander*,
Iwan Ssergejewitsch Turgenjew mit seinem „Tagebuch
eines Jügers“ seine merkwürdige Laufbahn. Der Dekabrist
Alexander Alexandrowitsch Bestushew, der grosse Gegner
der falschen klassischen Richtung in der russischen Lite-
ratur, hatte für seine Zeit hobe Bedeutung als Roman-
schriftsteller, Kritiker und Journalist und stand in der
Vorderreihe der Dichter zweiten Rangs; er diehtete im
Freiheit und in Haft***), seine Erzählungen zogen Pusch-
*) Auch er endete mit 34 Jahren 1829 als Gesandter in Persien
durch Mord.
**) Porträts aus dem russischen Literaturleben, in „Unsere Zeit*,
Jahrgang 1888, 1. Heft, Leipzig.
”*) Er schrieb sein Gedieht „Andrei Perejasslawski* in einer
Festung Finnlands bei Nacht, indem er mit den Zähnen in ein Stückchen
22»
&
bewunderte man Pissemskis Romane und über die Ver-
fasser solcher stieg hoch empor das Talent des jungen
Socialdemokraten Fedor Dostojewski, der in dieser Zeit
seine „Armen Leute“ schrieb. Die besten und beliebtesten
russischen Lustspiele der Neuzeit wurden von Alexander
Nikolajewitsch Ostrowski geschrieben. Unter den Schrift-
stellerinnen ist Rostoptschins Tochter hervorzuheben, Gräfin
Sophia I, Segur, eine Freundin der geistreichen Frau
Swetschin und gleich ihr zur römischen Kirche über-
getreten; während sie sich hauptsächlich auf Kinder-
schriften beschränkte und „Le Balzac des bebes“ wurde,
war Rostoptschins Schwiegertoehter, Gräfin Jewdokin
Petrowna, geborene Suschkow, die in russisch und fran-
zösisch mit gleicher Leichtigkeit dichtete, Meisterin in ver-
schiedenen Gattungen der Literatur und zählt zu den
besten Autorinnen ihres Vaterlandes. Alle überholte weit
die auf den mannigfachsten Gebieten des Wissens bewan-
derte und in zehn Sprachen schriftstellernde Fürstin Helene
Koltzow-Massalski, geborene Fürstin Ghika, die unter dem
Namen Dora d’Istria schrieb, doch fällt ihre Blüthezeit
unter Alexander IL, sie lebte seit 1855 ausserhalb Russ-
lands und starb im November 1888 in Florenz*), Auf
Nikolaus’ Befehl schrieb Alexei Pedorowitsch Lwow die
russische Nationalhymne „Gott erhalte den Zaren“, bei
‚deren erster Aufführung in der Hofsüngerkapelle im Jahre
1833 Nikolaus so entzückt war, dass er Lwow, ihren Direk-
tor, umarmte und die Hymne mehrfach wiederholen liess.
Der erste eingeborene Russe, der grosse Opern schrieb, war
Michail Iwanowitsch Glinka, der Hofkapellmeister und
Direktor der kaiserlichen Oper, ihm verdankt man „Das
Leben für den Zaren“ (1836) und „Russlan und Ljud-
milla“,
Die Bilderschätze der Eremitage wurden von Nikolaus
vergrössert, er kaufte die kleine Sarmmlung des verschuldet
gestorbenen Grafen Miloradowitsch, Theile der Samm-
lungen der Königin Hortense, des Friedensfürsten, des
*) Kleinschmidt, Dora d'Istrin, in „Unsere Zeit“, Jahrgang
1887, 5. Heft, Leipzig.
X. Nikolans I. BE
Gesellschaft, zum Oberprokureur der Heiligen Synode;
nit der Brutalität eines Korporals fanatisirte derselbe die
orthodoxe Kirche, machte sie zum blinden Werkzeuge
von Nikolaus’ Uniformitätssucht und leitete sie militärisch;
er konvertirte gewaltsam Hunderttausende in den Ostsee-
provinzen, schloss die orthodoxe Kirche gegen jede evange-
lisirende Richtung hermetisch ab, 4% Millionen unirter
Griechen traten in Litauen und Weissrussland in den Schoss
der orthodoxen Kirche zurück, ungeachtet der Proteste
der Kurie, hingegen liessen sich Raskolniks und Staro-
werzen trotz aller Gewaltthätigkeit nicht bekehren. Und
Rom gewann immer neuen Zuwachs in der hohen rus-
sischen Gesellschaft; eine Tante Protassows, Alexandra
Petrowna Protassow. verwittwete Fürstin Galitzin, war
sine der ersten Konvertitinnen unter Alexander I. und
stürzte sich in die tiefste Bigotterie; sie zog ihre Schwestern
Katharina P., die Gemahlin Rostoptschins, das Hoffräulein
Warwara P. Protassow und Wera P. Wassiltschikow mit
Hilfe Joseph de Maistres, des Abb& Surugues u. a. Jesuiten
hinüber; Gräfin Sögur (s. oben), die Tochter der Gräfin
Rostoptschin, und ihre geistvolle Freundin Sophia Petrowna
Swetschin, geborene Soimonow, traten ebenfalls zu Rom
über, desgleichen die Kinder der Fürstin A. P. Galitzin®).
Von letzteren wurde Fürstin Elisabeth Alexejewna Galitzin
1825 Nonne im Saer& Coeur in Rom und starb 1843 in einem
Hause dieses Ordens in Amerika und Fürst Augustin
Petrowitsch, der Sohn von Elisabeths Bruder, ein frucht-
barer Schriftsteller, trat in den Jesuitenorden ; 1848 liess sich
ein Vetter desselben, Fürst Pedor Alexandrowitsch Galitzin,
ein fanatischer Römling, unter die Milizen einreihen, die
aus Rom zu Karl Albert zogen**), Fürst Iwan Ssergeje-
witsch Gagarin, ein Verwandter der Frau Swetschin, wurde
1843 Jesuit als „Pater Gagarin“ und starb 1882; obwohl
wie „Pater Galitzin“ aus Russland verbannt und in Frank-
reich lebend, blieb er voll Interesse am alten Vaterlande,
*), Fallonx gab die Briefe der Swetschin an sie heran
(Paris 1862).
**, Er starb alebald 1848 in Bologna.
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Nikolaus sehr beliebt, in der Gesellschaft aber wegen
seiner beissenden Witze gefürchtet. Für Araktschejew,
den Günstling Pauls und Alexanders, war kein Platz am
Herzen Nikolaus’ I. Schon am 26. Dezember 1825 hatten
ihn Alle im Winterpnlais gemieden, in dem er finster
blickend erschienen war, und seinem Gesuche vom 1, Januar
1826 um Enthebung vom Dienste in der kaiserlichen Privat-
kanzlei und in der Kanzlei des Ministereomitds hatte
Nikolaus entsprochen; er war über manche Brutalität und
Eigenwilligkeit des Grafen und seines Bastards, des
Flügeladjutanten Schumski, entrüstet. Der Graf verlor
die Direktion der Polizei und ging im Juni 1826 in
Urlaub*); Nikolaus nalım Neuerungen in den Militär-
kolonien vor, deren Direktion er ihm bald entzog®®).
Die Soldaten mussten in den Militärkolonien sehr schwer
arbeiten und lagen in feuchten Lehmhütten, viele er-
krankten und starben; wenn aber auch die Soldaten unter
sich murrten und man Nachts aus dem Lager Stöhnen
und Aechzen hörte, wenn sie auch keine Oefen hatten,
um sich zu erwärmen und ihr Zeug zu trocknen, wenn
selbst bei den Offizieren Spottverse mit der Veber-
schrift „Das politische Sibirien oder Arbeit für zehn Ko-
peken“ umliefen, so zogen doch die Leute unter Gesang
und Musik von der Arbeit heim, um den Vorgesetzten
zu gefallen und harten Strafen zu entgehen *#*). Arak-
tschejew Webte es, in diesen „Klausen“ alles im rosigsten
Lichte zu zeigen, betrog die Besucher, die von allen
Staaten kamen, um die berühmten Kolonien zu besich-
tigen, kümmerte sich um jede Kleinigkeit und stöberte
allem nach, was bei der Unredlichkeit und Faulheit der
*) Er theilte Nikolaus mit, in welcher Blüthe er die Militär-
kolonien zurücklasse und in welcher Notlı er selbst sei, worauf Niko-
laus ihm au Kostbarkeiten und Silberzeug für ca. 39000 Rabel abkaufte;
auch gab ihm Nikolaus, um ihn bald los zu werden, noch grosse
Summen.
#*) Araktschejew blieb nur Präsident des Militärdepnrtements im
Reichsrathe.
**#) Erinnerungen von I. L. Ewropens, der Arzt in den Militär-
kolonien war, in „Russkaja Starina* 187%,
x. Nikolaus I. ur
that, um die unter Alexander I. zerfallene Flotte wieder
zu heben.
Dem Öberprokureur der Heiligen Synode verlieh
Nikolaus 1835 die Rechte eines Ministers, der Ober-
prokureur wurde der Minister im Ressort der orthodoxen
Kirche, der Vermittler zwischen ihr und dem: Kaiser, was
seine Macht sehr erweiterte, Das Ministereomit hatte
unter Alexander nach Araktschejews Laune gehandelt,
Speranski hätte es nach Araktschejews Sturz gern mit
dem ersten Departement des Senates verschmolzen, doch
liess Nikolaus es fortbestehen, um bestimmte gesetzlich
bezeichnete Dinge zu begutachten; es setzt sich zusammen
aus dem vom Kaiser auf unbestimmte Zeit ernannten
Präsidenten, aus Mitgliedern, die ihr Amt dazu berechtigt,
und nus vom Kaiser ernannten Mitgliedern; in seiner Stel-
lung ähnelt ihm am meisten der württembergische Geheime
Rath *); seine Beschlüsse gehen zur Bestätigung an den
Kaiser und nehmen dann den Charakter als Akte der
obersten Gewalt an, der genauen Prüfung und Berathung
halber müssen die Minister die wichtigsten Verwaltungs-
sachen an das Ministercomit& bringen. Im Jahre 1828
schloss Nikolaus das Admiralitätskolleg und ersetzte es
durch den Admiralitätsrath. Die von Alexander I. 1802
aufgehobene. 1812 aber wieder eingeführte kaiserliche
Privatkanzlei erlangte unter Nikolaus grosse Bedeutung,
wurde in sechs Abtheilungen getheilt, die unter einander
ganz selbständig waren; im Januar 1826 entstand als Er-
satz für die Kommission für Kodifikation die zweite Ab-
theilang (Kodifikation), die im Jahre 1882 in die Kodi-
fikationsabtheilung am Reichsrathe umgewandelt wurde;
aus der besonderen Kanzlei des Ministeriums des Inneren,
welche die Staatspolizei handhabte, bildete Nikolaus die
gefürchtete dritte Abtheilung (Geheimpolizei), die, von
ihm direkt überwacht, den mächtigsten Einfluss auf das
ganze Reich hatte; 1828 unterstellte Nikolaus die An-
stalten der Kaiserin Maria Fedorowna einer vierten Ah-
theilung (s. oben), am 11. Mai 1836 errichtete er für die
*, Korkunow {s, oben).
|
X. Nikolaus I. aa
unter Savigny, dem Führer der historischen Rechtsschule,
zu bilden und deren Geist nuch Russland zu tragen. Dem
Grundsatze nachlebend: „Das Gosetz ist für Alle und für
Jeden ein Pfeiler“, sammelte Speranski unermüdlich Gesetze:
im Jahre 1830 war der Druck der ersten Sektion der russi-
schen Gesetze, die Jahre 1649-1825 umfassend, vollendet,
und 1832 konnte Speranski Nikolnus sein unsterbliches
Werk, den Sswod sakonow. überreichen, Nikolaus nahm den
Stern des St. Andreus-Ordens von der Brust und heftete
ihn Speranski an; ein Ukas erhob den Sswod 1833 zum
alleingiltigen Rechtsbuche, das Neujahr 1835 eingeführt
wurde, Im ‚Jahre 1838 schrieb Speranski eine „An-
leitung zur Kenntniss der Gesetze“, die unvollendet blieb,
aber 1845 auf kaiserlichen Befehl veröffentlicht wurde;
seit 1838 Präsident des ersten Departements des Reichs-
ratlıs und seit Neujahr 1839 Graf, starb der eminente
Gesetzgeber am 23. Februar 1839. Die Lehrjahre der
russischen Studenten in Berlin trugen kostbare Früchte
für ihre Heimath, die Rechtskenntniss hob sich in den
vierziger und fünfziger Jahren bedeutend, die historische
Richtung überwog bei den Juristen, mit der Kenntniss
und dem Verständnisse von Russlands Recht verbreitete
sich auch die Kenntniss von Russlands Geschichte, man las
Ewers, Reitz und Usspenski, und als Hauptvertreter der
russischen Rechtsgeschichte durften Moroschkin, Newolin,
Kawelin, Bjelajew, Kalatschew und Tschitscherin gelten,
so wenig günstig sonst die Regierung Nikolaus’ für die
Entfaltung politischer Ideen in Leben und Literatur war.
Speranskis Nachfolger und geistiger Erbe, Dmitrii Niko-
lnjewitsch Bludow, seit 1842 Graf, beharrte auf Speranskis
Bahn und arbeitete an der Kodifikation redlich weiter; es
konnte ja auch erst mit der Bauernbefreiung zu einer
endgiltigen Gestaltung des neuen Russland kommen.
Nikolaus dachte an die Besserung des Looses der
Gutsbauern*) und errichtete schon am 18. December 1826
*) Memoiren des Senators und Geheimraths Jakow Alexandro-
witsch Ssolowjew (f 1876) in „Russkaja Starina“, 1890— 1881.
X. Nikolaus I. Sl
bauern gern von der Leibeigenschaft befreit, welchen
Wunsch Nikolaus theilte, sonst aber wollte nach Speranskis
Tod keiner der leitenden Staatsmänner davon wissen ®).
Zur Prüfung von Kisselews Vorschlügen wurde 1839 ein
zweites geheimes Comit& unter dem Vorsitze des Fürsten
Wassiltschikow errichtet, in demselben sassen unter An-
deren Orlow. Bludow, Menschikow. Kisselew, Graf Wassilii
Wassiljewitsch Lewaschow und Graf Viktor Nikititsch Panin.
Als Kisselew diesem Oomit& sein Projekt über die Bauern
vorlegte, erklärte sich Fürst Menschikow sofort in Wider-
spruch mit der ganzen Grundlage und es zeigten sich die
Anfänge jenes Zwistes, der 1861 losbrechen sollte. Das
zweite Comit& schloss ab, indem ein kaiserlicher Ukas
vom 14. April 1842 publieirt wurde, der für die allgemeine
Frage sehr unwesentliche Verfügungen traf: es wurde den
Gutsbesitzern gestattet, mit ihren Leibeigenen Vergleiche
zu schliessen und ihnen Eigenthum zu gewähren, ohne
dass sie dadurch frei wurden; die Leibeigenen erhielten
das Recht, gegen ihre Herren zu klagen, Im Gegensatze
zu ihren bisherigen Anschauungen sah die Regierung
fortan die Befreiung der Leibeigenen ohne Grundbesitz
als unmöglich an. Menschikow war hierüber sehr un-
zufrieden; ein Vertreter ausschliesslich ständischer Inter-
essen, lag er mit Kisselew in fortgesetztem Hader. Dus
dritte und das vierte geheime Comitö — letzterem prüsidirte
Nikolaus selbst — in den Jahren 1840 und 1844 ergaben nichts,
dem fünften und dem sechsten, 1846 und 1848, präsidirte
der 'Ihronfolger. Ein Ukas vom 20. November 1847 er-
mächtigte leibeigene Bauern in allen Theilen des Reichs
zum Ankaufe überschuldeter, zur Versteigerung kommender
Güter ihrer Grundherren, ja ein weiterer vom 15. März 1848
übertrug das Recht, unbewegliches Eigenthum zu erwerben,
*) Kisselew hatte in seinem Departement 18554280 Kronbauern
und 194500 Kirgisen und Samojeden, reiste oft selbst bei ihmen
herum, um ihre Lage genau zu studiren, hob auf den Domänen
Schulwesen, Gesundheitspflege, Industrie, Ackerbau, Landwirthschaft,
Wohlstand und erzielte die besten Resultate, um Angriffe aller Art
unbekümmert.
Kaiser be
er der Ge
drgraben.
4a.- Druzki in
r Meinung.
und das er dafiir ein Dankz Katceirale alhiele.
Der Adel in und um St. Peter-burg wart dem Zaren vor.
er verfolze den Adel. sei antinational und ein halber
Dent-cher. und unter dem drucke de- Jahres 1848 ver-
lengenete Nikolaus vor einer Adel-deputation seine bisher
geheim behandelten Projekte. bezeichnete sich als „St.
j “burger Gutsbe- -. trat in ie Reihen dieses Adel
und e- wurden =ofort einige Ukase. vor allem der vom
21. November 1847 3. oben . aufgehoben. Der Autokrat
verzweifelte an der Möglichkeit. die Bauernfrage zu lösen.
und hielt die Lösung auch in Zukunft für unmöglich. Die
Lage wurde aber täglich unhaltbarer für die Bauern. für
die Gutsberren und für den Kaiser selbst **ı.
Nikaiaıa
S-mei
Nikolaus war eifrig beflissen. jeden fremden Einfluss auf
Russland auszuschliessen. hingegen den seinen im Auslande
zu erhöhen. was ihm vortrefflich gelang: unterstützte ihn
*, Er wurde 1849 Graf.
”*, Wir haben diese Sache ausführlicher geschildert, um zu
zeigen, dnss Raınbaud mit Unrecht sagt, die Lebensfrage der Emanci-
pation habe unter Nikolaus „geschlummert“.
— E _
X. Nikolans I,
hierbei in London und nachher in Paris die geistvolle Fürstin
Lieven*), so waren die Höfe von Wien und Berlin von
seltener Gefügigkeit, des preussischen zumal fühlte sich
Nikolaus völlig sicher. Mehr und mehr wuchs in Westeuropa
die Furcht vor Nikolaus, man zitterte vor dem blutlosen Ge-
spenste einer Entwickelung des Panslawismus und vor der |
Erdrückung durch den slawischen Koloss, man sah voll |
Unruhe nuf die Erhöhung der Wehrkraft Russlands.
Wenn aber Nikolaus überall russifieirte, so that er es in
seinem Hause nicht, darum schimpften die bornirten
Nationalen auf „Karl Iwanowitsch“, wie sie ihn nannten;
niemals waren am Hofe und im IIeere so viele Balten
und sonstige Deutsche, niemals so viele bei der Garde,
in der Cayallerie**) waren die Stellen vom Regiments-
kommandeur an fast durchgängig in deutschen Händen
und anderseits waren Nikolaus’ treue Kammerdiener Müller
und Grimm Deutsche. Am russischen Hofe herrschte
deutsche Sitte und wurde viel deutsch gesprochen.
Die Kaiserin Alexandra Fedorowna führte mit Nikolaus
das glücklichste Familienleben und sah auf ihre blühende
Kinderschar, ohne sich jemals in die Politik in anderem
Sinne einzumischen, als dass sie die Verbindung des
russischen mit dem preussischen Hofe zu bekräftigen be-
strebt war; sie kränkelte, ihre Nerven waren seit 26. De-
zember 1825 zerrüttet***), und sie machte nie viel von
sich reden. Die Ehe ihrer ältesten Tochter Maria mit einem
Beauharnais erschien Nikolaus als Missheirath und wenn
er auch den Gemahl und den ältesten Sohn Nikolaus,
seinen Pathen, am 14. Juli 1839 und am 10. August 1843
zur „Kaiserlichen Hoheit“ erhob, wenn er auch dies Prä-
dikat und den Titel von „Fürsten Romanowski® am
18. Dezember 1852 Marias gesammter Descendenz verlieh,
*) Kleinschmidt, Die Fürstin Dorothea Lieven (s. oben).
*®) Nach persönlichen Mittheilungen kompetenter militärischer Seite,
***) Als sie an jenem Tage den ersten Kanonenachuss hörte,
zitterte sie mit dem Kopfe, wie der junge Fürst Gortschakow, der
nachmalige Reichskanzler, gerade iin Winterpalais anwesend, bemerkte,
and dies Zittern blieb ihr lebenslang; sie trug damals den Grossfürsten
Konstantin unter dem Herzen und fürchtete für des Kaisers Leben,
A. Kleinsehmidt, Uoberbl, d. rum. Gesch. u. 1568, E}
X. Nikolaus I,
die Grossfürstin Helene Pawlowna, seine Schwägerin, um
sich, bei ihr traf man die Grössen der Kunst, Literatur
und Wissenschaft, auch war sie auf politischem Gebiete,
unter anderem in der Frage wegen der Rimaneipution der
Bauern, rührig.
Die auswärtige Politik wurde unter Nikolaus durch
den Grafen Nesselrode geleitet, der sich zwar dem nbso-
luten Willen des Autokraten geschmeidig fügte, aber doch
wohlthätig mässigend einwirkte, wenn Nikolaus zu über-
mäüthig werden oder allzu rasch vorgehen wollte; seit
1829 Reiehsvicekanzler, wurde er 1844 Reichskanzler. Mit
Persien liess sieh nicht lange Frieden halten, auf die
Nachricht vom Dekabristenaufstande fielen die Perser in
Russland ein. doch schlug General Alexei Petrowitsch
‚Jermolow sie ab. Nesselrode war dem Helden des Kau-
kasus, einem der originellsten Ieerführer, abhold, Nikolaus
liess sich gegen denselben einnehmen und stellte ihm den
Generaladjutanten Paskewitsch an die Seite, Diebitsch
kam bald nach, um die Misshelligkeiten zwischen Beiden
zu beenden, und erwirkte im April 1827 ‚Termolows Ver-
abschiedung, doch wurde nicht er, wie er gehofft hatte,
sondern Paskewitsch Oberbefehlshaber gegen Persien.
Iwan Fedorowitsch Paskewitsch schlug den Feind wieder-
holt, erstürmte Eriwan, zog in Tauris ein und schloss mit
dem persischen Thronfolger am 22. Februar 1828 den
Frieden von Turkmantschai ab; Russland erhielt die
Provinzen Eriwan und Nachitschewan, die als „Armenien“
einverleibt wurden, nebst einer Kriegsentschüdigung von
20 Millionen Rubel und den Salinen von Kulpi, die russi-
schen Unterthanen empfingen Handelsvortheile, die arme-
nische Kirche trat unter russischen Schutz, der Araxes
wurde die Grenze zwischen Russlund und Persien, Paske-
witsch wurde im März 1828 Graf mit dem Beinamen
„Eriwanskii“.
Die Ermordung des russischen Gesandten in Teheran,
des Dichter« Gribojedow (s. $. 339), dureh den Pöhel drohte
im Februar 1829 zu neuem Kriege zu führen, doch glich
der persische Thronfolger, der selbst nach St. Petersburg
u
X. Nikolaus I. sr
Grafen*) Diebitsch die Stellung, Diebitsch handelte als
Chef des Generalstabs über ihn hinaus und verabredete
alles selbst mit dem Kaiser; wiederholt bat Wittgenstein
um den Abschied, doch erhielt er ihn nicht und musste
die Verantwortung für alles Schlimme weiter tragen **).
Nikolaus leitete selbst die Belagerung von Varna und
verliess nach dem Falle dieser Festung am 14. Oktober
das Heer, Weit mehr Erfolg hatte Paskewitsch in Asien;
er erstürmte am 5. Juli die Festung Kars, eine Anzahl
anderer Festungen folgten, am 27. August auch Achal-
ziche, die Strasse von Tauris nach Erzerum war sein.
Nach weiteren Siegen zwang er Erzerum, die Königin
Armeniens, einen Stapelplatz des Welthandels, am 9. Juli
1829 zur Kapitulation und vollendete, mit dem St. Georgs-
Orden IL Klasse dekorirt und zum Generalfeldmarschull
ernannt, die Eroberung Armeniens, Am 21, Februar d. J.
hatte Diebitsch anstatt Wittgensteins den Oberfehl an der
Donau übernommen, am 11. Juni vernichtete er das Heer
les Grossveziers bei Kulewtscha, überstieg nun, was noch
Keiner gewagt hatte, den Balkan und drang fast un-
gehindert bie Adrianopel vor, vom Kaiser im August
1829 mit dem Beinamen „Sabalkanskii* ausgezeichnet,
Am 20. August nahm er Adrianopel und machte Miene,
auf Konstantinopel vorzurücken, die Pforte jedoch war
über seinen Siegeszug — Friedrich Wilhelm III, nannte ihn
den zweiten Hannibal — so bestürzt, dass sie preussische
Vermittelung nachsuchte und am 14. September den Frieden
von Adrianopel mit Diebitsch schloss. Die Grenze zwischen
Russland und der Türkei in Europa blieb dieselbe wie
vor dem Kriege, nur trat die Pforte an Russland die
Inseln im Donaudelta ab, in Asien aber erhielt Russland
die Gebiete von Anapa, Poti, Achalziche und Achalkalaki,
*) Graf seit 1827,
**) General N.K. Schilder, Der Krieg Rasslands mit der Türkei
182%, in „Russkaja Starina“, Januar 1891, Auch Herzog Eugen
von Württemberg tadelt Diebitacha Verhalten im Jahre 1998 anf
Bitterste („Der türkische Feldzug von 1838 und seine Begebenheiten“
in „Russkaja Starina*, 1880).
X. Nikolaus I. a
tember d. J. Graf mit dem Beinamen „Amurskii* wurde.
Die Briten thaten, was sie nur konnten, um. Russland in
Asien Widerwärtigkeiten zu bereiten und seine Macht-
entfaltung aufzuhalten; heimlich unterstützten sie auch
den Freiheitskrieg der Tscherkessen.
General A. P. Jermolow (s. 8. 355) war 1817 Ober-
kommandant in Grusien und des dötachirten kaukasischen
Corps geworden und verwaltete das Land musterhaft: Be-
stushew-Marlinski nannte die Heerstrasse, welche Jermolow
über die Kimme des Kaukasus anlegte, seinen „Simplon“:
Jermolow baute viel in Tiflis, hob Handel und Gewerbe, bahnte
dem europäischen Transithandel neue Wege durch Trans-
kaukasien und eröffnete die Mineralquellen des Kaukasus:
er hielt die Bergvölker im Zaume und verbreitete Schrecken
unter den noch nicht unterworfenen. Da erhob sich das
Muridenthum und kreuzte seinen Weg; die Bergbewohner
wurden zu willenlosen Werkzeugen in der Hand eines
Imam, der als Nachfolger Mohammeds galt und Alle
zum Kampfe für Religion und Unabhängigkeit be-
geisterte. Nach Jermolows Sturz im April 1827 schlug
sich Paskewitsch mit ihnen herum und mit Hilfe seiner
Generale unterwarf er die Lesghier und Daghestan, die
Verbindung von Cis- und Transkaukasien schien gosichert
und die Pforten Centralnsiens standen offen. In einer
Reihe von Feldzügen hoffte Nikolaus den Muridismus zu
bezwingen, dieser aber erhob immer kecker das Haupt
und kostete in über zwanzig Jahren Russland viele tausend
Menschen und Millionen Rubel. In Schamyl erhielt der
Muridismus 1835 seinen glünzendsten Führer, in ihm ver-
einigten sieh priesterliche und weltliche Allgewalt, er
fanatisirte sein Volk wie kein Zweiter, von den Briten
mit Waffen unterstützt. Graf P. Ch. Grabbe griff im
Feldzuge von 1839 mit zäher Ausdauer Schamyls Felsennest
Adul’gho an, nahm es am 15. September und glaubte sich
sehon Lesghiens Herr, als der entwichene Schamyl den Auf-
stand neu und bedrohlicher als je organisirte, In St, Peters-
burg war man mit der Kriegführung im Kaukasus höchst
unzufrieden, häufig wurden die Generale gewechselt,
man bequemte sich aber nicht zu riner systematischen
X. Nikolaus I. E8
Nikolaus missbilligte den Verfassungsbruch Karls X.
von Frankreich und die Ordonnanzen Polignaes, war aber
über den Kronräuber Ludwig Philipp entrüstet und dachte,
dureh die Türkensiege zur Ueberzeugung seiner Unüber-
windlichkeit gekommen, an Krieg gegen diesen „Huch-
würdigen Usurpator und Unterthan der Pöbelmeinung“.
Er rief alle Russen aus Frankreich heim und verbot den
Franzosen den Aufenthalt in Russland, um freilich schon nach.
wenigen Tagen diese Verfügungen zurückzunehmen. Fürst
Christoph Andrejewitsch Lieven, der Botschafter in London,
und Graf*) Karl Andreas Posze di Borgo**), der Bat-
schafter in Paris, Nesselrode und der Cäsarewitsch Kon-
stantin riethen ihm energisch vom Kriege ab. der Finanz-
minister Graf Cancrin erklärte ihm offen, er habe kein
Geld, nach den schweren Opfern im persischen und im
türkischen Kriege bedürfe das Reich notlıwendig der Rule
und der Sparsamkeit **). Anders dachten Graf Diebitsch-
Sabalkanskii, der Kriegminister Graf Tschernyschew und
der Kaiser selbst, sie waren voll Kriegslust und Nikolaus
hielt sich für verpflichtet, im Geiste der Heiligen Allianz,
der Legitimität und der Kontinuität der Throne einzutreten,
ja bestimmte bereits Diebitsch zum Befehlshaber der
14. Infanterie- und der 12. Cavallerie-Division für den
Kriegsfall, sprach auch schon von Nachschub. Diebitsch
ging nach Berlin, um Preussen zur Mobilisirung gegen
die Revolution in Frankreich zu bewegen und wegen des
Durchzugs russischer Truppen durch Preussen nach Holland
zu unterhandeln, dessen König Wilhelm I. Nikolaus um
Hilfe gegen die belgische Revolution gebeten hatte; die
*) Seit 1826 Graf.
”) Er ohnte längst Karls Sturz und fürchtete ein Bündnis
Grossbritanniens und Oesterreichs gegen Russland, denn er kannte die
Feindschaft Cannings und Wellingtons gegen Russland wie Wellingtons
innige Freundschaft mit Metternich. Im Gegensatze zu Polignae hielt
Karl X. am Bunde mit Russland fest, Pozzo aber sagte im Jahre 1830 zu
Engen von Württemberg: „Die Regierung Frankreichs ist ein auf die
Spitze gestellter Kegel.“ (S. M. Ssolowjew, Pozzo di Borge und
Frankreich, im „Wjestnik Ewropy*, 1879.)
*"*) „Zwischen zwei Kriegen“, in „Russkaja Starina*, Juli 1881,
|
X. Nikolans 1. os
Wahnsinns sah, wurde alsbald verdrängt und ein exe-
kutiver Ausschuss eingesetzt, in dem neben den Fürsten
Czortoryski, Radziwill und Lubecki Lelewel, Chlopicki u. A,
anssen, Chlopicki erhielt den Oberbefehl des Heeres. Die
Stimmung verschärfte sich täglich mehr, Nikolaus lehnte
jede Unterhandlung mit den Rebellen ab und Konstantin
trat am 11. Dezember mit seinen russischen Truppen auf
russisches Gebiet über. Eine Regierung löste in Warschau
die andere ab, überall entfernte man die russischen Eın-
bleme und immer wilder tobten die Leidenschaften, die
in Paris Widerhall fanden®), Am 22. Januar 1831 stellte
der Landbote Roman Soltyk im Reichstage den Antrag,
das Haus Romanow vom Throne auszuschliessen, und der
Reichstag nahm am 25. Januar denselhen mit grosser
Majorität an; die letzte Aussicht eines Vergleichs war
vorüber. Polens Wehrkraft Russland gegenüber war un-
genügend, es fehlte an Gewehren, Pulver und Kanonen,
was alles Diebitsch in Fülle besnss. Diebitsch wurde am
2. Februar zum Generalgouverneur des Zarthums Polen
mit unbegrenzten Vollmachten ernannt und versprach, die
Revolution mit einem Schlage zu besiegen: trotz seiner
Proklamationen, die sehr diktatorisch klangen, fühlte er
sich aber Konstantin, der Polen heiss liebte und der für
Warschau bangte, zu sehr zu Dank verpflichtet, um nach
dem unentschieden gebliebenen Kampfe hei Grochow am
25. Fehruar sofort Praga zu erstürmen und von da aus
Warschau zu bombardiren; neben der Rücksicht auf Kon-
stantin war ex die Trunksucht, die ihn um alle Energie
brachte, überall begleitete ihn ein Kasak mit kaltem
Punsch und im eigenen Lager spottete man über den
„Samovar-Feldmarschall“, Der ihm feindlich gesinnte
Eugen von Württemberg behauptet, Diebitsch habe ab-
sichtlich Fehler begangen, um Russland in Polen nicht
siegen zu lassen, doch ist dies nicht anzunelimen; jeden-
fall beeinträchtigte er seinen Ruhm und bereute später
*) Pozzo di Borgo beschwerte sich wiederholt bei der fran-
zösischen Regierung, zumal in den Kammern kriegerische Anträge
gestellt wurden.
—
X. Nikolaus I. so
Heer die Ordnung aufrecht und Paskewitsch begann mit
dem Baue einer Citadelle in Warschau. Ein Ukas vom
26. Februar 1832 hob die Verfassung von 1815 auf und
erliess „das organische Statut“: Polen wurde russische
Provinz, das polnische Heer wurde aufgelöst und die pol-
nischen Rekruten wurden an russische Divisionen vertheilt,
an die Stelle des Reichsraths trat ein (von Paskewitsch
1833 eröffneter) Staatsrath, dessen Mitglieder der Kuiser
ernannte, ohne dass es Polen sein mussten, die Steuern
wurden nach russischer Art erhoben und nicht mehr für
Polen speciell verwendet, sondern zu den Gesammt-Ein-
nahmen des Reichs geschlagen, anstatt der dem Reichstage
verantwortlichen Minister wurde ein Verwaltungsrath unter
dem Vorsitze des Generalgouverneurs mit der höchsten
Verwaltung betraut, Freiheit von Religion und Person,
Sicherheit des Eigenthums etc, wurden verbürgt. Am
Reichsrathe in St. Petersburg wurde ein besonderes De-
partement für Polen errichtet, dus hie 1862 bestand;
schon am 28. September 1831 wurde für Polen das bis
1848 amtirende „westliche Comitö* gebildet*). Polizei
und Censur herrschten streng, der Verkehr mit dem Aus-
lande wurde erschwert, die geschlossene Universität Wilna
blieb aufgehoben, in der Festung Nowo-Georgiewsk
(Modlin) erhielt Polen eine Zwingburg ersten Ranges,
Flüchtlinge, die trotz des Ausschlusses von der Amnestie
zurückkamen, mussten mit dem Leben büssen. Um die
griechische Konfession in Polen zu verbreiten, wurden seit
Oktober 1835 die konfiseirten Güter an Grosse als Mnjo-
rate gegeben, deren Besitzer stets orthodox sein mussten;
die russische Sprache wurde seit 1837 Haupterforderniss,
um russische Universitäten besuchen oder ins russische
Heer eintreten zu dürfen, wie seit 1840 zur Bekleidung
jedes öffentlichen Amtes, Aus den Wojewodschaften
machte man in den vierziger Jahren Regierungsbezirke, das
Münzwesen wurde 1842 auf russischen Fuss umgewandelt ;
in jeder Weise suchte man Polen zu russifieiren. Im
*) Unter Alexander II. fungirte es nochmals vom 4. Oktober 186%
bis 19. Januar 1865,
X Nikolaus I, Bor
M. P. Lasarew, dem bald eine weitere Plottenabtkeilung.
folgte. nach Konstantinopel ab, und Murawjew lagerte
sich mit 18000 Maun zwischen Beikos und Hunkiar-
Skelessi; Frankreich vermittelte jedoch den Frieden
zwischen Sultan und Vieekönig, Graf A. P, Orlow ver-
mochte die Hohes Pforte am 8. Juli zu einer in Hunkiar-
Skelessi abgeschlossenen Defensivallianz auf acht Jahre,
der zufolge die Pforte verspruch, auf russisches Verlangen
fremden Kriegsschiffen die Dardanellen zu sperren, anstatt
Russland materiell zu unterstützen; das Schwarze Meer
wurde hiermit zum russischen Binnensee, Die Proteste
Frankreichs und Grossbritanniens gegen diesen uner-
warteten Vertrag fruchteten nichts und der Einfluss
Russlands am Divan war allmächtig, der sehr gewandte
Gesandte Apollinar P. Butenjew wusste ihn auszunützen
und band die Pforte durch die Konvention vom 27. Mürz
1836 noch enger an Russland: Nikolaus spielte den Gross-
müthigen und die Russen räumten die Donaufürstenthümer,
nachdem die Türkei ihre Kriegsschuld völlig bezahlt hatte;
beständig aber musste sich Butenjew mit dem britischen
Botschafter Lord Ponsonby herumbalgen. Als ein neuer
Krieg der Türkei mit Acgypten drohte und Frankreich
letztere Macht auffällig begünstigte, näherte sich Nikolaus
dem britischen Kabinet, um das Russland längst bedenk-
liche Bündniss der Westmächte zu sprengen. Sein Ge-
sandter in London, Baron Philipp Iwanowitsch Brunnow,
Nesselrodes ausgezeichneter Schüler, war am Zustande-
kommen der Londoner Quadrupelallianz (Grossbritannien,
Russland, Oesterreich, Preussen), welche die Integrität
des türkischen Reiches verbürgte, hervorragend thätig;
Grossbritannien war von Frankreich gelöst, Frankreich
isolirt. Doch bereute das Kabinet von St. James bald
dieses Abkommen, welches Russlands Ansehen am Divan
noch steigerte, näherte sich Frankreich wieder und durch
den Meerengen-Vertrag vom 13. Juli 1841 kam Prankreieh
wieder in den Rath der Grossmächte hinein, während die
‚Wollthaten der Defensivallianz von Hunkiar-Skelossi für
Russland aufhörten. David Urquharts Angriffe und Ent-
hüllungen der ehrsüchtigen Ziele Russlands in dem
X. Nikolaus I.
nung verbunden war, und wenige Tage darauf traf Nikolaus
mit den Herrschern von Preussen und Oesterreich in
Teplitz zusammen; als Karl X. im November 1836 im
Exile zu Görz starb, veranstaltete Nikolaus eine Hof-
trauer von 24 Tagen.
Noch mehr als seinem Schwiegervater imponirte
Nikolaus seinem Schwager, dem neuen Könige von Preussen;
Friedrich Wilhelm IV. bezeugte ihm die ausgesprochenste
Willfährigkeit und fürchtete ihn; die reaktionär-pietistische
Hofkamarilla in Berlin sah in dem weissen Zaren den
Hort der Legitimität und ihren Heiland noch über das
Grab hinaus; als General P. P. Karzow 1863 Wrangel be-
suchte, führte ihn dieser vor Nikolaus’ Todtenmaske und
rief aus: „Zu ihm bete ich täglich. weil er ein Monarch
und ein Mensch war, wie es keinen mehr gibt.“ Nikolaus
betrachtete sich als Gottes auserlesenen Streiter zur Ver-
nichtung der Revolution und schaute mit Misstrauen auf
seines Schwagers unberechenbare Neuerungslust und
schwankende Denkart. In den Revolutionstagen von 1848
und 1849 hielt er sich anfünglieh ganz im Hintergrunde,
lehnte auch die ihm von Dänemark angebotene Interven-
tion ab, freilich um nachher Dünemark gegenüber den
deutschen Mächten zu begünstigen. Als Dünemark um
die Herzogthümer Schleswig-Molstein mit Deutschland
rang, liess Nikolaus 1848 an den Küsten eine Flotte er-
scheinen, die den Dänen manchen Vorschub leistete, ohne
um Kriege direkt theilzunehmen. Brunnow war bei den
Londoner Konferenzen im Juli 1850 für die Erhaltung der
Integrität des dünischen Staates entschieden thätig und
unterzeichnete am 2, August d. J. das Londoner Protokoll.
Auf der Monarchenkonferenz in Warschau (s. unten) unter-
zeichnete Russland am 5. Juni 1851 mit Dünemark ein
Protokoll über die Kandidatur des Prinzen Christian von
Glücksburg zum dänischen Throne und Nikolaus ver-
ziehtete auf sein Vorrecht an denselben als Haupt des
Gottorper Hauses. Am 8. Mai 1852 unterzeichnete Brunnow
in London das endgiltige Protokoll in dieser Suche und
wahrte in einem Geheimvertrage mit Dänemark das even-
A, Kleinschmidt, Ueberbi. d. rum Gesch. a Io. Ei
X. Nikolaus I.
Hilfe und in den ersten Tagen des Februar rückten.
10.000 Mann in Kronstadt und Hermannstadt ein, wurden
aber von Bem im März in die Wnlachei zurückgejagt.
Die Lage Franz Josephs wurde immer gefährdeter, er bat
Nikolaus um Hilfe und dieser, der fürchtete, Polen könne
von der Revolution ergriffen werden. ging gern darauf ein;
er schrieb dem Fürsten Paskewitsch: „Es ist Mein Wille,
die Mir von der Vorsehung anrertraute Macht dem Kaiser
von Oesterreich zur Verfügung zu stellen“, sprach wieder-
holt dem schneidigen Fürsten Windischgrätz seine An-
erkennung aus und übertrug, nachdem er am 2. Mai mit
Franz Joseph einen Vertrag geschlossen, Paskewitsch, den
er gern den „Vater Kommandeur“ nannte, den Oberbefehl
der Interventionsarmee. Am 21. Mai besprach er sieh in
Warschau mit Franz Joseph über den Operationsplan und
am 28, langten die ersten Russen, 20 000 Mann, in Dyrnau
an. Am 18. Juni ging Paskewitsch mit der gesammten
Streitmacht bei Dukln über die Karpathen, stiess auf
keinen erheblichen Widerstand, eine Reihe Städte wurden
besetzt, am 3. Juli aueh Debreezin; Paskewitsch entfaltete
ungewöhnlich starke Truppenmassen und operirte 80. vor-
sichtig, dass Nikolaus ihn nieht für thatkräftig genug hielt,
In Siebenbürgen kämpften die Generale Lilders und Gro-
tenhjelm erfolgreich gegen Bem, Lüders nahm Kronstadt
und Paskewitsch am 17. Juli Waitzen. Die Hauptarmee
verlor im ganzen Feldzuge nur einige hundert Mann,
Lüders u, A. viel mehr. Am 21. Juli besetzten Lüders und
die Oesterreicher unter dem Grafen Olam-Gallas Hermann-
stadt, nachdem sie Bem geschlagen, auch bereitete Lüders
bei diesem Orte Bem am 6. August eine schwere Niederlage.
Der Insurgentengeneral Arthur Görgey schlug zwar den
Grafen Grabbe bei Onod, Paskewitsch aber überwand einen
Theil seiner Mannschaft bei Debreezin, das er um 2. August
nahm, und Görgey, mit der Diktatur bekleidet, fand keinen
anderen Ausweg, als mit den Russen in Unterhandlungen
einzutreten: er begann dieselben am 11. August mit dem
Generale der Cavallerie Grafen Fedor Wassiljewitsch Rü-
diger, einem Kurländer, und kapitulirte an ihn mit 23000
Mann am 13. August bei der Ruine Vilagos; auch andere
Prt
|
X. Nikolaus I. ar
1850 begnadigt*). Nikolaus war von dieser Ang
tief ergriffen, der Tod seines letzten Bruders, des ge-
liebten Michail, den die Cholera im September 1849 hin-
raffte, steigerte seinen Missmuth, sein Haar begann zu
ergrauen, tiefe Furchen gruben sich in seine Stirn ein und
Jeder ging ihm aus dem Wege. Während er sich mehr
ale je in sich zurückzog, benutzte die Reaktion seine
Verstimmung, um noch schroffer aufzutreten und die Bande
straffer anzuziehen,
Voll Ingrimm sah Nikolaus, dass Preussen ein konstitu-
tioneller Staat wurde und Verhandlungen anknüpfte, um das
Projekt der deutschen Union durchzuführen; er dachte an
eine Intervention zu Gunsten der Politik des Fürsten
Felix Schwarzenberg, ja an einen Krieg gegen Preussen,
da es ihm nieht gelang, ein Cabinet Gerlach in Berlin
durchzusetzen. Im Juni 1850 kam er in Warschau mit
dem Prinzen von Preussen zusammen, zeigte aber offen
sein Misstrauen gegen die Unionspolitik des preussi-
schen Cabinets und seine Sympathie für den renktivirten
Bundestag in der Eschenheimer Gasse. Friedrich Wil-
helm IV. sandte den Ministerpräsidenten Grafen Branden-
burg im Oktober 1850 zu Nikolaus naeh Warschau, wohin
Franz Joseph, der Prinz von Preussen und Schwarzenberg
kamen; Nikolaus und der Reichskanzler Nesselrode waren
gegen Brandenburg sehr gnüdig, doch stützten sie sich
auf die Verträge des Jahres 1815 und widersetzten sich
Preussens Vergrösserungsplänen; Brandenburg musste auf
die Union verzichten, sich dem Schiedsspruche des Zaren
unterwerfen und die „vorläufige* Uebereinkunft vom
28. Oktober mit Schwarzenberg: eingehen, die seine
Niederlage und Schwarzenbergs Sieg bedeutete**). Auch
die Sendung Edwin von Manteuffels nach Warschau
änderte die Lage nieht. Manteuffel brachte nur die Alter-
*) Von Nikolaus TI. zu Alexander IIL, Leipzig 1881, und
Flerowski, Drei politische Systeme, Berlin 1897, beurtheilen die
Petraschewskische Verschwörung sehr nachsichtig.
**) Kloinschmidt, Der Ministerpräsident Graf Brandenburg, in
„Bellage zur Allgemeinen Zeitung“, München, Mai 1892,
Nikolaus T.
Wohlwollen behandelt, Napoleons Rache bestand dann in
seinem Bündnisse mit den Briten.
Nikolaus war durch seine autoritative Stellung in
Europa geblendet. Er wollte nicht, dass die Türkei
ferner fortbestehe, und hätte, da ihr Verfall wie ihre
Unterwerfung nothwendiger Weise einen europäischen
Krieg herbeiführen musste, am liebsten in Verständigung
mit den Briten die Türkei friedlich getheilt, die orien-
talischen Verhältnisse im Frieden geordnet; dies war sein
Steekenpferd, wie Baron Meyendorff gesagt hat. Nach
Nikolaus’ Meinung war die Türkei „ein kranker Mann*, man
musste sie anders behandeln wie andere Mächte, musste
sie einschüchtern, um sie gefügig zu machen*). Er be-
sprach sich mit dem britischen Gesandten Sir George
Hamilton Seymour, ohne zum Kriege vorbereitet zu sein,
und glaubte, der Sultan werde sich seinen autokratischen
Wünschen fügen. Alle Cabinete aber waren voll Neid
auf Nikolaus’ Macht, die Briten wollten dieselbe schwächen,
Napoleon wollte Frankreichs Superiorität in der Welt
rehabilitiren, Oesterreich vergass die Dankbarkeit für die
Rettung von 1849, ja sein neuer Ministerpräsident Graf
Buol-Schauenstein hasste Nikolaus persönlich und schürte
an den Westmächten, In Preussen freilich gab es in den
leitenden Kreisen eine starke russische Partei, Wrangel
orklärte seinem Könige: „Wir können nicht anders, wir
müssen mit Russland gehen“, Nikolaus hatte ja Preussen
ebenfalls sein Heer gegen die Revolution angeboten, wenn
er dem Könige aueh rieth, er möge lieber mit eigener
Hand als mit fremden Bayonnetten den Frieden in seinem
Lande wieder herstellen, Er rüstete und während Napoleon
las altfranzösische Schutzrecht über die Katholiken in Pa-
*) Russland erkannte in Montenegro «eit lange eine schr wichtige
Position, um seinen Einfluss am Mittelmeere zu erhöhen. Schon Peter
der Grosse hatte mit Montenegro Beziehungen angeknüpft und 1710
das Schutzrecht über den kleinen Siawenstaat übernommen; die Win-
dikas (Herrscher) waren vom russischen Einflusse ganz abhängig und
Nikolans erkannte Danilo I. am 21. März 1852 als weltlichen erblichen
Fürsten eines unabhängisen Staates an.
X. Nikolaus L. 2
Theoretiker und von Paskewitsch längst als eine Null
durehsehaut; obwohl ein grosser Mathematiker und ein
Mann von scharfem Verstande, war er schon durch seine
ungeheure Zerstreutheit zum Feldherrn nicht geeignet;
sein Charakter war durchaus chrenhaft*). Die Russen
hausten in den Fürstenthümern als Herren, die Hospodare
flächteten und ein russischer Verwaltungsratli unter General
Baron Budberg leitete seit November 1853 die Geschäfte.
Frankreich und Grossbritannien einigten sich zu gemein-
samem Vorgehen gegen Russland und ihre Flotten gingen
am 14. Juni in der Besika-Bai vor Anker, Nikolaus’
Versuche, Grossbritannien von Frankreich zu trennen und
die deutschen Grossmächte auf seine Seite zu ziehen,
scheiterten, letztere versprachen ihm nur, neutral zu bleiben,
falls seine Truppen die Donau nicht überschreiten würden.
Zwei britische und zwei französische Schiffe warfen auf
Bitte des Divans am 14. September vor Konstantinopel
Anker, wogegen Brunnow am 25. d. M. in London pro-
testirte. Sultan Abdul-Medjid erklärte nun endlich am
4. Oktober Russland den Krieg und da Gortschakow die
Donaufürstenthümer nicht räumte, begannen am 17. d.M.
die Feindseligkeiten. Das Kriegsmanifest Nikolaus’ vom
1. November kokettirte wieder mit der gebotenen „Pür-
sorge für die Vertheidigung des orthodoxen Glaubens im
Oriente“. Die britisch- französische Flotte fuhr in den
Bosporus ein und als die russische unter dem Viceadmirale
Paul Stepanowitsch Nachimow die türkische am 30. No-
vember bei Sinope vernichtet hatte, lief auf Bitten der
bedrängten Pforte die Flotte der Westmächte am 4, Januar
1854 aus dem Bosporus in das Schwarze Meer ein, um
weitere Schritte der russischen Flotte gegen die Türken
zu verhindern. Napoleon III, machte einen letzten Ver-
such, den Frieden zu erhalten, indem er am 29, Januar
®) Gortschakow wurde sehr scharf von N. W, Berg in der „Runskaja
Starina“, September 1880 und Jannar 1881, mitgenommen, wogegen
ihn Fürst A. J. Wassiltsehikow, Graf Paul Kotzebne nnd
sein eigener Adjutant, J.T. Krassowski, in dersellen Zeitschrift in
Schutz nalımen.
x. Nikolaus I. Ei
feste vom 23. April, Russland kämpfo nicht für zeitliche
Vortheile, sondern für Glauben und Christenthum, die
'Westmächte aber seien weniger für die Türkei besorgt
als dass sie Russland schwächen und verkleinern wollten.
Die Türken schlugen sich tapfer, die Franzosen landeten
am 31. März bei Gallipoli, die Briten am 14. April bei
Konstantinopel, der russische Augriff auf Silistria wurde
zwar von Puskewitsch, der zum Oberbefehlshaber an der
Donau ernannt worden war, seit Mai selbst geleitet, wollte
aber weder ihm noch Lüders glücken und Paskewitsch be-
nutzte seine Verwundung am 9, Juni, um den Oberbefehl,
der ihm wenig Trende machte, mit aller Verantwortung
auf den Fürsten M. D. Gortschakow (s. oben) abzuwälzen,
am 21. Juni musste dieser die Belagerung Silistrias auf-
heben. Die Verbündeten waren den Russen an Kriegs-
schiffen ungemein überlegen und konnten sie darum überall
angreifen. Am 22. April erschien ein starkes westmächt-
liches Geschwader vor Odessa, forderte den dort be-
fehligenden General Baron Dmitrii J. von der Östen-Sacken
auf, die Schiffe im Hafen auszuliefern, und bombardirte
einen Theil der Stadt zehn Stunden lang, freilich erfolg-
los; der Viceadmiral Lord Napier begann im Mai mit der
Blokade Rigas, im finnischen Golfe begannen die Feind-
seligkeiten bei Ekenäs, am 13. Juni vereinigte sich die
französische Flotte im baltischen Meere mit der britischen,
die Viceadmiräle Hamelin und Dundas erklärten am 26. d.M.
«die Häfen des finnischen Golfs, Kronstadt und St. Peters-
burg in Blokadezustand; am 8. August landeten die Ver-
bündeten auf den Alands-Inseln, begaunen am 13. d. M.
mit der Belagerung von Bomarsund. welche Festung sich
am 16. ergab. und sprengten sie am 2. September.
Die Häfen des Weissen Meeres wurden im August
won den verbündeten Flotten in Blokadezustand erklärt,
das befestigte Ssolowetzkische Kloster angegriffen, Port
und Stadt Petropawlowsk in Karntschatka am 31. August
beschossen, die sibirischen Häfen wurden eingeschlossen.
Am 3. Juni erliess die oesterreichische Regierung an
Nikolaus die dringende Aufforderung, die Donaufürsten-
thümer zu räumen, und der bei ihm in hohen Ehren
| U — —
BE X. Nikolaus I. Ey
'Gottorp.“ Man redete sich in St. Petersburg immer tiefer
in die Selbsttäuschung hinein, die Slawophilen durften
das Wort führen, ja Fürst V, J. Wassiltschikow erklärte
im Herbste 1854 rundweg in Berlin, der Zar und Russland
könnten nur in Konstantinopel Frieden schliessen. Nach
längeren Unterhandlungen befahl Nikolaus im August 1854
die Räumung der Donaufürstenthämer, die Oesterreich im
Einverstündnisse mit der Pforte besetzte; die britischen
und französischen Truppen konnten die Türkei ver-
lassen und sich auf die Krim stürzen, wo nun der zweite
Akt des Krieges spielte. Die Zahl der Gegner Russlands
wuchs noch am 26. Januar 1855 durch den Beitritt Sar-
diniens, das 15000 Mann unter La Marmora zu den Heeren
der Westmüchte stossen liess. Einen besonders guten
Allüirten fanden die Peinde in Nikolaus’ Eigensinn und in
der Unfihigkeit seines Kriegsministers, des Fürsten Dol-
goruki*); Nikolaus wollte die gezogenen Gewehre nicht
einführen und der Feind konnte aus einer Distance
schiessen, wo an das Ripostiren nicht zu denken war;
selbst die Garde hatte keinen Begriff von der Fern-
wirkung des gezogenen Gewehrs, womit sogar die Türken
bewaffnet waren; als z. B. die ersten Flintenkugeln bei
Eupatoria die Garde umsausten, waren die Schiessenden
so weit entfernt, dass man sie anfangs gar nicht er-
blickte, und man meinte, Bremsen seien die Ursache
des Geräusches. Während sämmtliche Alliirte gezogene
Gewehre hatten, waren bei den Russen nur einige Ba-
taillone Scharfschützen. Die im Juli 1854 unternommene
Espedition des französischen Brigadegenerals Espinasse
in die Dobrutscha scheiterte völlig, die Alliirten beschlossen
nun, Russlands Macht in der Krim anzugreifen, Sewastopol
zu nehmen und dadurch einerseits der russischen Seemacht
im Schwarzen Meere den Todesstoss zu versetzen, anderseits
Konstantinopel von der stetigen Bedrohung durch dieselbe
zu erlösen; eine Expedition nach Polen, an die Napoleon,
eine in den Kaukasus, an die das britische Cabinet dachte,
*) Das Folgende nach Privatnachrichten von russischer militäri-
scher Seite.
X. Nikolaus I. Ey
Graf Münster*) fand ihn tief ergriffen, aber gottergeben,
Nikolaus betheuerte ihm: „Für den Glauben habe ich
mein Volk aufgerufen, für den Glauben sind meine Armeen
marschirt“; er sagte ihm, der Verlust der Krim sei eine
Möglichkeit, er aber werde von dem, was er für den
Frieden verlangt habe und verlangen müsse, nicht um ein
Deut abweichen. „Verliere ich“, so fuhr er fort, „die
Flotte und Sewastopol, worauf ich ganz vorbereitet bin,
so bin ich auch ganz darauf gefasst, dass Oesterreich, von
meiner Lage profitirend, mir den coup de pied de l’äne
versetzen wird... Sagen Sie dem Könige, dass ich auf
ihn rechne, dass er Oesterreich wenigstens von dieser
Infamie abhalten werde. Von einer Alliance der drei
Mächte ist leider nicht mehr die Rede, hoffentlich lässt
mich aber der König hierbei nicht im Stich und hält mir
Oesterreich vom Leibe.“ Während die Allürten einen
raschen Vorstoss von Norden auf Sewastopol unterliessen,
der doch zu erwarten war, konnte man sich dort
einigermassen zur Vertheidigung rüsten und holte in un-
gemeiner Thätigkeit nach, was bisher verabsäumt worden
war; unter dem Feuer der Feinde verstärkte der geniale
Ingenieurgeneral Franz Eduard J. Tottleben, ein Kur-
länder, die schwache Südfront der Festung, hemmte die
Belagerungsarbeit der Gegner dureh meisterhafte Gegen-
massregeln und leistete Wunderbares; der Hafen wurde
dureh Versenkung eines T'heils der eigenen Flotte gesperrt,
sodass die verbündeten Schiffe nicht einlaufen konnten:
von Norden her wurden wiederholt Truppen von Men-
schikows Armee in die Festung geführt, Am 9. Oktober
eröffneten die verbündeten Briten und Franzosen — Saint-
Arnaud war gestorben und Canrobert an seine Spitze ge-
treten — (lie Belagerung von Sewastopol. Der Kaiser
ernannte den Fürsten Gortschakow (s. oben) am 8. Oktober
zum Höchstkommandirenden der Südarmee, der am
6. d. M. in Belagerungszustand erklärten Gouvernements
Kiew, Poltawa und Charkow und der Gouvernements
*) Hugo Graf Münster-Meinhövel, preussischer Militärbevollmäch-
tigter in St. Petersburg.
X. Nikolaus I.
Wien, worauf der dortige Gesandte Fürst A. M.Gortschakow
am 28. d.M. dem ‚Ministerpräsidenten. ‚Grafen Buol-Schauen-
stein erklärte, seine Regierung nehme die vier Punkte als
Ausgangsstelle für Friedensunterhandlungen an. Am 2. De-
zember schlossen Oesterreich und die Westmächte in Wien
ein Bündniss und auf Vorschlag Oesterreichs beschloss der
Bundestag am 8. Februar 1855 einstimmig, ıie Bundes-
kontingente auf Kriegsfuss zu stellen. Menschikow meinte,
nicht länger unthätig bleiben zu dürfen, und schickte am
17. Februar 1855 den Generallieutenant Chrulew gegen
Eupatoria, Omer Pascha aber schlug den Angriff ab.
Nikolaus, der bereits kränkelte, hatte nun an Menschikow
genug, enthob ihn am 2%. Februar des Oberbefehls, gab
denselben aber nieht, wie er anfangs wollte, Osten-Sacken,
sondern Gortschakow, der erschreckt an den Kriegsminister
schrieb: „Ich weiss nicht, welches Verbrechen ich oder die
Meinen begangen haben, um den Antritt der fatalen Erb-
schaft zu verdienen, die Menschikow mir hinterlassen hat;
das Faktum ist aber, dass meine Lage grausamer sein
wird, falls der Feind etwas bon sens und Nerv hat *),“
Im russischen Volke machte sieh grosse Enttäuschung
geltend; es fand es geradezu unbegreiflich, dass freinde
Hoere von einem Winkel der Krim aus dus ganze
heilige Russland in Schach und in Schrecken halten
könnten. und verlor das Vertrauen zu Nikolaus und
seinem Systeme; missmuthig und misstrauisch stützte es
über Härten, die es ruhig ertragen hatte, so lange Niko-
laus in der Welt den Agumemnon der Könige vorstellte
und seine Rolle so meisterhaft spielte; jetzt, wo ihn das
Missgeschick verfolgte und wo eine Hiobsposr um die
andere durch Russland lief, wandte man sich vom Kaiser
ab und machte ihn für alles Unheil verantwortlich. Der
Mann, der so rechtlich dachte, dass er Shukowski, der
damals Vorleser der Kaiserin-Wittwe Maria Fedorowna
war, im Jahre 1826 auf die Frage, ob Nikolai Iw. Turgen-
jew nach Russland zurückkehren dürfe, geantwortet hatte:
mEragat Du mich als Kaiser, s0 sage ich: ‚Er muss,
©) Rusakajı Starius, Januar 1888,
A, Kloinachmädt, Veberbl, d. mm. Gemeli. m. 1005, »
wöffnet*). Seine letzten deutlichen Worte richteten sich
un seinen königlichen Sehwager in Berlin, dem sie die
Kaiserin bestellte: „Sagt Fritz, er solle stets derselbe für
Russland bleiben und Papas Worte nicht vergessen.“ Er
nahm Abschied von seiner Familie, von Adlerberg, Orlow
und anderen Freunden und starb kurz nach Mittag des
2. März 1855 am Langenschlage**).
Auf den Verlauf des Krieges übte Nikolaus’ Tod nicht
den geringsten Einfluss aus, der Krieg ging seinen Weg
weiter. Tief erschütterte das Ende Nikolaus’ I. den
Berliner Hof; laut weinend theilte Friedrich Wilhelm IV,
ihm die Botschaft mit, dann telegraphirte er der ver-
wittweten Schwester: „Wir grüssen die geliebte Schwester
unter tausend heissen Thränen mit den Worten des
Herrn: Selig sind die Friedfertigen, denn sie werden
Gottes Kinder heissen. Wir umarmen den geliebten Ale-
xunder und sagen, des geliebten Kaisers Vermächtniss-
worte ‚An Fritz!‘ sind ein Heiligthum,“ Friedrieh Wil-
helms grosser Rathgeber und Freund, der Freiherr von
Bunsen, hatte stets in Nikolaus den Darsteller des Prineips
der Gewaltthat gehasst, Bernhardi u. A. hatten den
„Kaiserkultus“ des Berliner Hofs gegeisselt, Friedrich
Wilhelm aber tadelte Bunsen bitter und versicherte, der-
selbe werde im Himmel einst Nikolaus Abbitte thun; am
4. März schrieb er an Bunsen: „Einer der edelsten Menschen,
eine der herrlichsten Erscheinungen in der Geschichte,
eines der treuesten Herzen und zugleich einer der höch-
sten Herren dieser engen Welt ist vom Glauben zum
Schauen abgerufen worden. Ich danke Gott auf Knieen.
dass er mich würdigte, bei dem Tode des Kaisers Nikoluus
tief betrübt zu sein, dass er mich gewürdigt, sein Freund
im schönsten Sinne des Wortes zu werden und in Treue
zu bleiben.“
*) Am 10. Februar hatte er noch die Bildung von Milizen in ganz
Russland verfügt.
**) Das Märchen von einer Vergiftung des Zaren, das sich rasch
verbreitete, ist absurd, der erste Leibarzt Dr. Mandt gab einen ge-
nauen Krankheitsbericht herans.
or
bei Pestalozzi in der Schweiz dazu geschult hatte; Shukowski
entwarf einen ausführlichen Lehrplan *), sein Schüler sollte
kein Gelehrter, sondern ein klarer Kopf mit gesundem.
Menschenverstande werden, ausgerüstet nieht mit schwer-
fälligem ihm unnützem Wissen, sondern mit Kenntnias der
Dinge, die er als Herrscher brauchen würde und kennen
müsste; hohen Werth legte er der Geschichtskenntniss bei,
denn die Geschichte muss die vorzüglichste Lehrmeisterin
der Monarchen sein, sie muss sie lehren, ihre Völker auf
eine solche Stufe der Erleuchtung zu erheben, dass sie in
Gesetz und Ordnung die Grundpfeiler des Staates und der
allgemeinen Wohlfahrt schätzen und verehren; Freiheit
und Ordnung sind eins. Shukowski und Merder vertrugen
sich sehr gut, doch Shukowski meinte, sie Beide genügten
nieht für die eminente Aufgabe, den Thronerben auszu-
bilden, und rieth, den Grafen Onpodistrias damit zu be-
trauen, der in ganz Europa verehrt sei, doch unterhlieb
dies, der Graf trat an die Spitze Griechenlands und als
Öberleiter der Erziehung wurde der Generallieutenant
P. P. Uschakow bestellt. der nie den mindesten Einfluss
gewann. Shukowski arbeitete darauf hin, dass Alexander
nicht zu ausschliesslich militärische Gesichtspunkte befolge,
denn das Volk sei kein Regiment, das Vaterland keine
Kaserne, und er war mit der Art, wie man das Militärische
ihm beibrachte wie mit der darauf verwandten Zeit sehr
unzufrieden; desto mehr mass er dem Umstande Werth bei,
dass Speranski dem Thronfolger anderthalb Jahre Vorträge
über die Anfangsgründe der Rechtswissenschaft ertheilte
und ihm klar machte, jedes Recht sei nur so weit Recht,
als es auf der Wahrheit beruhe, sobald diese der Unwahr-
heit Platz mache, erlösche das Recht und die Willkür
beginne; in der Kriegswissenschaft unterrichtete den Thron-
folger der grosse Militärtheoretiker Baron Henri Jomini
(s. oben). Graf Cancerin hielt ihm seit Januar 1838 in
russisch einen Kursus über Finanzwesen und Baron Brun-
*, 8. 8. Tatischtschew, Alexander IT, im neuen „Bio-
graphischen Wörterbnch* der „Bnssischen historischen Gesellschaft in
St. Petersbarg*.
seitigen. Während Nikolaus’ Reisen Ausland führte
er die Rogierungsgeschäfte, wiederholt en N
an andere Höfe, nach dem Jahre 1848 z. B. re
Görgei und anderen ungarischen Insurgenten das a
Tode bereits verfallene Leben, jedoch niemals durfte er
in öffentlichen Dingen ein wichtiges Wort mitreden oder
Einfluss ausüben, hiervon wollte sein Vater nichts wissen.
er wollte allein herrschen. Ja die dritte Abtheilung be-
obachtete genau jeden seiner Schritte. Alexander sah im
väterlichen Staate so viele Missstände, dass ihn aaa
zu ihrer Abstellung lebhaft interessirten,
fesselten ihn die geistreichen Mömoires über aan
der Verwaltung, welche Peter Alexandrowitsch Walujew,
damals Staatsrath in Riga, schrieb: Reisen in Südrussland,
im Kaukasus und in Armenien liessen ihn Gebiete und
Völkerschaften sehen, die ihm Zeugniss für die schwere Auf-
gabe ablegten, einst ein bunt gemischtes, der Einheitlichkeit
in Stamm, Sitte, Gewohnheit, Lebensweise entbehrendes
Reich zu regieren. In seiner Familie hatte Alexander
unangenehme Erfahrungen gemacht, indem sein Bruder
Konstantin mit ihm einen höchst gehässigen Rangstreit
begann; Konstantin fühlte sich als im Purpur geboren,
weil Nikolaus zur Zeit seiner Geburt Kaiser, zur Zeit der
Geburt Alexanders nur Grossfürst war, auf dem Sterbe-
bette liess Nikolaus Konstantin geloben, in Frieden und
Treue neben dem älteren Bruder zu stehen — er hatte ja
selbst an sich das glänzendste Beispiel gegenüber Konstantin
Pawlowitsch gegeben, Konstantin schwur Alexander sofort
Er
XI. Alexander II
an sich selbst, sah sich als den Sündenbock Menschikows
und Anderer an und seine Briefe an den Kriegsminister
zeigen ihn als klagenden Jeremias, als geknickten Greis,
der sich nach dem Tode schnte: sein Erscheinen in Sewa-
stopol wurde wegen seiner Misserfolge an der Donau von
den Truppen mit eisiger Gleichgiltigkeit aufgenommen; er
dachte im Juni an die Räumung Sewastopols. erwartete
eine Wendung nur vom Frieden, von der Cholera oder
von der Pest, und erklärte, seit Poters I. Lage am Pruth
sei nie ein russisches Heer „ohne seine Schuld“ in solcher
Lage gewesen; Alexander schrieb ihm immer wieder er-
muthigend und voll Vertrauen*). Die alliirten Flotten
unternahmen einen Zerstörungszug gegen die Häfen des
Asowschen Meeres, eroberten Kertsch und Jenikale am
24. und 25. Mai, bombardirten und verwüsteten Mariupol,
Berdiansk, Taganrog ete. Nuchdem Pälhssier Mitte Mai
anstatt Canroberts das Oberkommando über die Franzosen
übernommen hatte, kam neues Leben in die Belagerungs-
arbeiten vor Sewastopol, am 7. Juni eroberten Fran-
zosen und Briten den Mamelon vert und andere wichtige
Positionen, ihr Ansturm vom 18. aber wurde abgeschlagen.
Die Russen erhielten bedeutende Verstärkungen, sahen
aber immer neue Werke gegen Sewastopol aufführen und
Gortschakow wie der Kaiser erbliekten die Rettung Sewa-
stopols nur in einer siegreichen Schlacht gegen die Be-
lagerer; Gortschakow machte darum am 16. August den
Angriff an der Tschernaja, der aber abgeschlagen wurde
(Schlacht bei Traktir). Plissier und Simpsen, der seit
Raglans Tod die Briten führte, schritten zum Sturm auf
Sewastopol, nachdem sie mehrere Tage bombardirt hatten,
der Sturm erfolgte am 8. September, die Russen ver-
theidigten sich wie Löwen, aber Bosquet und Mac Mahon
erstürmten den Malakow, eine der Hauptbastionen, was
Gortschakow veranlasste, die Vertheidigung der 349 Tage
behaupteten Stadt und Festung aufzugeben, am 10. rückten
*) Bogdanowitsch, Der Orientkrieg 1858-1856. Der Brief-
wechsel Gortschakows mit Alexander während des Feldzugs von 1855
steht in der „Russkaja Starina* von 1888,
Grossbritannien, Oesterreich und der Pforte*) andauerte,
versöhnte es sich völlig mit Frankreich und Sardinien,
Dem ausserordentlichen Krönungsbotschafter Grafen Morny
betheuerte Alexander, wie sehr er Frankreich liebe und
wie ihm gerade der Krieg die grosse Sympathie beider
Völker für einander gezeigt habe, und Graf Kisselew. sein
Botschafter in Paris, trieb die Vorliebe für Frankreich und
für Napoleon TII. so weit, dass er, ein Gegner Gross-
britanniens, am liebsten eine Allianz mit Frankreich ein-
gefädelt hätte: als er aber Alexander eine Denkschrift in
diesem Sinne vorlegte, wollte derselbe nichts davon hören,
für ihn war Napoleon der Genosse des europäischen Radi-
kalismus, während Alexanders Staatsideen sieh auf der
Heiligen Allianz als Grund und Boden aufbauten; in
diesem Gedankengange traf er mit Friedrich Wilhelm IV.
zusammen, in ihrem Zusammenhalten sahen Beide die
einzige Rettung Europas vor dem allgemeinen Umsturze
und vor der Hydra der Weltrevolution.
Durch eine mit Persien abgeschlossene Vebereinkunft
kam im Januar 1857 der Gebietsstreifen lüngs der Grenze
von Türkisch-Armenien zwischen Bajesid (Bajazet) und
Nuchitschewan an Russland. Gegen die kuukasischen Berg-
völker wurden grosse Streitkräfte geworfen, doch dauerte es
noch Jahre, bis man ihrer Herr wurde: Alexander rief den
Fürsten Murawjew-Karskii, der sich im Kaukasus sehr un-
beliebt gemacht hatte. ab und ernannte im Juli 1856 unter
allgemeinem Jubel den Fürsten Alexander Iwanowitsch Bar-
Jjatinski (s. oben), den Chef des Generalstabs im Kaukasus,
zum Oberbefehlshaber daselbst; Barjatinski ging mit neuen
Anschauungen und mit eisorner Willenskraft an die Arbeit,
behandelte den Kaukasus wie eine Riesenfestung und theilte
ihn wie seine Truppenmacht (240.000 Mann) in fünf grosse
Militärbezirke resp. -Kommandos, die unter seiner direkten
Oberleitung standen. Sein Generalstabschef und bester.
Mitarbeiter wurde Dmitrii Alexejewitsch Miljutin. Bur-
Jjatinski wandte seine Hauptthätigkeit der Tschetschnn zu,
da diese Schamyl hasste, und hierbei leistete ihm der
®) Die Pforte sandte im August. 1857 einen ständigen Gesandten
an den russischen Hof.
kun
XI. Alexander IE, EEE
deutende Seemacht, errichtete in Baku einen Kriegshafen,
drang nach Persien vor und rückte in Turkestan der Ge-
birgsscheide des indobritischen Reiches immer näher; es
beherrschte alle Ufer des Aralsees und machte immer neue
Eroberungen in Centralasien, erwarb ein Gebiet von
22000 Quadratmeilen zwischen dem Kaspischen Meere
und China; wo nicht militärische Expeditionen die Wege
ebneten, geschah es durch wissenschaftliche; man benutzte
jeden Anlass, um den russischen Einfluss an die Stelle des
britischen zu bringen und Russlands Autorität bis zu den
Thoren Indiens zu erweitern. General Romanowski schlug
den Emir von Bochara am 20. Mai 1866, nachdem Gene-
ral Michail Grigorjewitsch Tschernajew 1865 siegreich am
Syr-Darja vorgedrungen war und Taschkend erobert hatte,
Diese Stadt wurde im September 1866 Russland einver-
leibt und im November d. J. endete der Krieg mit Bochars,
welcher Staat Land abtreten musste. Die russische Poli-
tik nützte mit seltener Schlauheit die Racenfeindschaften
in Oentralasien und die gegenseitigen Fifersüchteleien der
Stammesfürsten aus, um alle nach und nach zu über-
wältigen. Im Juli 1867 wurde ein Gouvernement Turkestan
organisirt, dessen Gouverneur eine ungemeine Machtfülle
erhielt, Alexander ernannte dazu den Kanzleidirektor des
Kriegsministers Miljutin, General Konstantin von Kauf-
mann. Als sich neue Streitigkeiten mit dem Emir von
Bochara ergaben, rückte Kaufmann 1868 in dessen Land.
ein, schlug ihn, eroberte Samarkand und zwang ihn am
30. Juli zum Frieden; der Emir trat an Russland die
Städte Samarkand und Katty-Kurgan mit dazu gehörigem
Gebiete ab und verpflichtete sich zur Zahlung einer hohen
Kriegskontribution und zu freiem Handelsverkehre für alle
Russen; die Briten thaten nichts für ihn. Darum wendete
er sich, als sein Sohn gegen ihn rebellirte, um Hilfe an
Russland und General Abramow verhalf ihm im Oktober
1868 zum Siege; um ihn noch mehr an Russland zu binden,
gab ihm Alexander 1870 den kleinen von Abramow er-
oberten Staat Scherisebs. Im December 1869 besetzten
die Russen die Bucht von Krasnowodsk an der Südost-
küste des Kaspischen Meeres und machten sie zu einem
u 5
XI. Alexander IL. 40
mächtige Khan von Kaschgar, ein Schützling der Briten,
schloss 1872 Freundschafts- und Handelsvertrag mit Russ-
land und trat in eine Art Vasnllität; die Russen besetzten
1871 und administrirten dann das China gehörige und
von Jakub begehrte Kuldscha-Gebiet, doch wurden die
Chinesen nach Jakubs Tod wieder Herren der Lage und
der 1879 mit Russland drohende Krieg wurde durch den
Vertrag vom 23. Februar 1881 verhütet, in dem Russland
nur ein kleines Gebiet am Ili-Plusse behielt*). Ohne dass
China es hinderte, hatten sich die Russen sehon unter
Nikolaus in der östlichen Mandschurei im Stromgebiete
des Amur angesiedelt, sie setzten sich aber auch der
japanischen Insel Sachalin gegenüber und auf ihr selbst
an den Ufern des Japanischen Meeres fest; an der tatari-
schen Meerenge entstanden Alexandrowsk und Lasarew,
am rechten Ufer dos Amur Nikolajewsk. Marinisk u. a.
Forts, 1857 südlich der Castries-Bai in Port-Imperinl an
der tatarischen Meerenge ein Etablissement zur Aufnahme
einer grossen Kriegsflotte. Kamtschatka wurde am 9. De-
zember 1856 dem ostsibirischen Küstenbezirke einverleibt;
in Transbaikalien fand der russisch-chinesische Handel
einen reichen Stapelplatz. Mit China und Japan wurden
vortheilhafte Grenz- und Handelsvertrüge abgeschlossen,
die für die ostasintische Frage hohe Bedeutung erlangen
sollten. Russland nutzte die Bedrohung Chinas durch
Grossbritannien und Frankreich schlau aus, erzielte den
Vertrag von Aigun (s. oben), der das linke Amur-Ufer
an Russland brachte, und nährte die Wirren im Himm-
lischen Reiche nach Kräften, Nikolai Pawlowitsch Ignat-
jew, der Gesandte in Peking, erwirkte dort am 14. No-
vember 1860 einen Zusatzvertrag zu dem von Aigun; die
Besitzungen Russlands wurden sehr erweitert, die Russen
erhielten das Schifffahrtsrecht auf alleu südlichen Neben-
Nüssen des Amur, ihr Besitz ging fortan in der Mandschurei
*) Russland untergrub damals schon nach Kräften Chinas Stellung
in der Mandschurei und Mongolei und bediente sich mit Vorliebe zum
orthodoxen Glauben übergetretener Mandschus als Holfer.
A. Kleinschmidt, Ueberbl. d. runs. Gesch. #. 108. 26
in dei Kama uch Wattrag in
. Die mongolischen Nomaden am 0
2 t am und das Christenthum breitete sich
t i deu Burjäten aus. Sibirien wurde immer mar Elli
zugeführt, die Steinkohlenproduktion verhundertfachte sich.
‚binnen zehn Jahren, Kupfer- und Silberlager in Ostsihirien
und ein in der kirgisischen Steppe am Argus-Plusse bei
Semipalatinsk entdecktes Graphitlager versprachen reiche
Ausbeute, und Nertschinsk wurde zum Mittelpunkte der
Handelsbewegung in Sibirien ®*).
Seit seiner 'Ihronbesteigung war Alexander bemüht,
die Wunden, die der Krimkrieg Russland geschlagen hatte,
zu heilen, die Misshräuche, die in ihm zu Tage getreten
waren, abzustellen und das roral verfüulte Militärwesen
zu reformiren; Fürst Murawjew-Karskii wurde Präsident
der Kommission, welehe die Missbräuche im Heere und in
der Heeresverwaltung untersuchte und deren Resultat im
Jahre 1859 die Kassirung vieler hoher Beamten war. Am
27. Mai und am 23. Juli 1856 erliess Alexander eine Amnestie,
welche den polnischen Flüchtlingen straffreie Rückkehr
nach Polen gestattete, sie in ihre bürgerlichen Rechte
wieder einsetzte und ihnen sogar erlaubte, nach Ablauf
von drei Jahren in den Stantsdienst einzutreten, jedoch
nur Wenige machten von der Amnestie Gebrauch. Am
7. September hob der Kaiser bei der Krönung in
Moskau ***) durch ein Gnadenmanifest eine Reihe Strafen
auf, gab allen Verurtheilten vom Dezember 1825 die
Freiheit und ihren Kindern die elterlichen Titel zurück,
nahm aber die Theilnehmer an der Petraschewskisehen
*) Des Verkaufs von Alaska an die Vereinigten Stanten von
Nordamerika geschah oben unter Nikolaus Erwähnung.
=) Schon 1857 schätzte man die Goldproduktion in Sibirien auf
47280 Pfund.
“+, Gortschakow bat den Kaiser, in Anbetracht der schweren
Opfer der Nation im Kriege von 1853 — 156 die Ausgaben bei der
Krönungsfeier zu beschränken, Alexander aber hörte nicht anf ihn und
die Feier kostete 18 Millionen Rubel. u
XI. Alexander IT. 405
„ die Kasaken treten mit 18 Jahren ein, sind
12 Jahre in der Front, davon 4 aktiv und 8 beurlaubt,
und bleiben 5 Jahre in der Reserve. Laut Gesetz vom
8, Januar 1879 müssen sieh alle Finnländer mit 21 Jahren
der Losung unterziehen, dienen aktiv 3, in der Reserve
2 Jahre, und die Friedensstärke des finnländischen Heeres
beträgt über 6300 Mann. In dem Marinewesen hatten sich
Unterschleife aller Art und der ärgste Nepotismus heraus-
gestellt, des Kaisers Bruder aber, Grossadmiral Grossfürst
Konstantin Nikolajewitsch, fegte energisch den Augiasstall
rein. Die Nation brachte durch ihre Opferwilligkeit die
freiwillige Flotte des Schwarzen Meeres zusammen.
Dampfschifffahrts- und Handelsgesellschaften bildeten
sich, auf allen Werften des Schwarzen Meeres herrschte
frisches Leben, Feodosia (Kaffa) wurde eine bedeutende
Handelsstadt, die Telegraphenlinien wurden vermehrt, ein
Eisenbahnnetz überzog mit Hilfe ausländischen Kapitals
ganz Russland; der Verkehr an der Grenze wie der allge-
meine Verkehr hoben sich mächtig, indem sie erleichtert
wurden, Handelsverträge mit dem Auslande förderten
Handel und Wandel, grossartige Wasserbauten wurden
unternommen, der Zolltarif vom 23. Juni 1857 hob fast
alle Einfuhrverbote auf und vereinfachte das Zollsystem.
Man dachte an eine Verbindung des Schwarzen Meeres
mit dem Kaspischen, des Amurgebiets mit dem Baikalsee
und Irkutsk und des Salzsces Elton mit der Wolga, Rigas
Festungswerke wurden abgetragen und Riga, Libau, Kron-
stadt und Odessa wurden zu trefflichen Häfen, in Finnland
wurde der Saima-Kanal vollendet. Reisepässe ins Ausland
wurden auf fünf Jahre verwilligt und ein Ukas aus dem
Juni 1860 stellte die Fremden in Russland den Ein-
geborenen an bürgerlichen Rechten völlig gleich. Der
Staat entwand sich der Starrheit seiner bisherigen volks-
wirthschaftlichen Prineipien und handelte nach moderner
Anschauung. wobei freilich manche Kinderkrankheit zu
bestehen war und der Schwindel mancher Aktiengenossen-
schaften grossen Schaden brachte.
Alexander that viel für den Volksunterrieht, den er
schon durch den Ukas vom 17. Mai 1856 unter seine be-
406 X. Alexander 1.
sondere Obhut nahm. im Volksunterrichte erkannte er die
ige Gesundung eines Volkes.
ibeigenschaft beschäftigte er sich
besonders mit de . über die sieh grosse Meinungs-
verschiedenheiten ergaben: in ihr äusserten sich zumal der
amtirende und der gewesene Minister der Volksaufklärung,
Golownin und Kowalew: Baron M. A. Korff a. A. Die
Verwaltung der Schulen wurde dureh Gesetz vom 26. Juli
1864 Unter übe gen und seit 1874 führten
die Adelsmar diesen Distriktsunterrichtsräthen
den Vorsitz; spätere Versuche, die Volksschule der Kirche
auszulietern. scheiterten. indem sich sogar der Minister
Graf Tolstoi (s. unten: dagegen erklärte. Die Verhält-
nisse waren so zerfahren, dass die zahlreichen Reformen
Alexanders nieht hinreichten. um ein gebildetes Volk zu
erzielen. das Freiheit von Anarchie unterscheiden und
erstere zu ertrag würdig gewesen wäre Noch am
2. Dezember 1879, ge nach dem Eisenbahnattentate.
xte Alexander zu den Moskauer Behörden. die Sorge
ug für die
ung der I
Grundbedir
Nach Beseit
Mitrel zur Ausrortung des blutigen Geistes des Aufruhrs.
Die Publieistik wurde zur Lieblingsbeschäftigung aller
strebenden Talente, hunderte von Zeitungen und Zeit-
sehriften wurden gegründer. obgleich die Prüventiveensur
auch für beide Residenzen bis zum 30. April 1865 fort-
bestand. und die Journalistik entfaltete sieh mehr denn
je. zumal im Zeitraume von 1861—1867:: die C'ensur wurde
weit milder gehandhabt als unter Nikolaus. man konnte
eher die Zustände des Auslandes und die im Inland notlı-
wendigen Reformen besprechen. eine öffentliche Meinung
schien sich bilden zu wollen: bald aber zerrannen die
Hoffnungen, die Censur verfuhr wieder ohne feste Regeln
und ganz willkürlich. fremde Bücher. die über Ru
land die Wahrheit sagten, wurden unter Androhung der
strengsten Strafen verboten. Seit 1867 harte die un-
abhängige Presse harte Tage, ein Alpdruck lastere
auf ihr. die Zeitungen wurden höchst schwe
befördert und während der „St. Petersbur;
finsterniss“ von 1869 war Russland fust drei Monate olıne
Zeitungen®). ‚Die hereinbrechende .
sehleuderte die Bücher mehr und mehr zur Seito und
günstigte die Thätigkeit der Journalisten; dies 1
geschlecht aber trat alle Form mit Füssen, schlug der
Autorität ins Gesicht, machte jede Rücksicht als Zeichen
von Bornirtheit und Servilität lächerlieh und bekundete
alle Eigenschaft des Sklaven. der die Ketten des Nikolai-
schen Polizeiregiments abgestreift hatte. Mit Vorliebe
griffen diese Literaten die herrschende Kirche, ihr ent-
artetes verachtetes Priesterthum, die Missbräuche der Ver-
waltung. die Betrügerei des hohen und niederen Beamten-
thums an und inscenirten geradezu eine Anklageliteratur;
allmälig sank zwar ihr Binfuss, der Staat aber war gegen
den Radikalismus und die Revolutionssucht der Presse
nicht genügend gefestigt, und als Alexander am Abende
seiner Regierung das konservativ-ofhieiöse Journal „Das
Ufer“ (Bereg) ins Leben treten liess, um die revolutionäre
Presse zu bekämpfen und ihr den Boden abzugraben,
scheiterte er damit, Die im Auslunde erscheinenden revo-
lutionären russischen Zeitungen, die Werke eines Herzen,
Iwan Golowin. Fürsten Peter Wladimirowitsch Dolgoruki
wurden wegen ihrer heftigen Angriffe gegen die Regierung
mit Begeisterung gelesen und fanden ihr Publikum in erster
Linie unter den Studenten, Es fehlte dem höheren Unter-
riehte an jeder festen Grundlage, was Halbbildung und
Verbildung im höchsten Masse begünstigte, die Univer-
sitäten und „das junge Russland® riefen immer lauter nach
Reformen, deren Unausführbarkeit sie nicht behelligte,
auch Professoren, die militärisch organisirten Bildungs-
anstalten und viele Offiziere sympathisirten mit dem
freiheitschwärmenden Studenten.
Nikolaus hatte in den Universitäten Brutstätten revo-
Intionärer Regungen gesehen, die durchaus keiner Be-
günstigung werth seien. Der deutsch-liberale Minister der
Volksaufklärung E. P. Kowalewski wurde derart ver-
*) Friedrich Meyer (von Waldeck), Unter dem russischen
Senpter. Ans den Erinnerungen eines dentschen Pnblizisten. Heidel-
berg 1904.
% XI. Alexander IT. 1
Antonia Diitrijewna®). Graf Dmitri Andrejewitsch
Tolstoi, der Oberprokureur der Heiligen Synode, erhielt
im April 1866 dazu das Ministerium der Volksauf-
klärung; er wollte den Einfluss der orthodoxen Kirche
auf das Unterrichtswesen erweitern und führte die russische
Sprache mit Zwang in Polen ein; er wirthschaftete starr
national, allen Einflüssen Westeuropas abhold, war strenger
Panslawist und ein Erzfeind Deutschlands; von seiner ge-
wandten Feder und seiner orthodoxen Einseitigkeit zeugt
sein bekanntes Buch: Le Catholieisme en Russie (1877).
Tolstoi hauste mit solcher Willkür Allen gegenüber. die
seinem alleinseligmachenden Schema widerstrebten, führte
mit seinen verrannten Verfügungen zu solcher Verlotterung,
veranlasste die Ausschliessung von so viel meist un-
bemittelten Studenten von den Universitäten auf Grund
von Kindereien und Nichtigkeiten, rieth zur Massregelung,
Einkerkerung und Verschickung so vieler naeh Sibirien,
dass er wohl den Namen „eines Vaters des Nihilismus“
verdiente. Was konnten die Opfer seiner Tyrannei anders
werden als Nihilisten und Wühler unter ihren Kameraden?
Dies Proletariat der Intelligenz lebte von kleinen Ver-
sehwörungen und wühlte unter der männlichen und der
weiblichen Jugend; ihm gehörten die Freunde des Kaiser-
imörders Ssolowjew, ihm Russakow und Sheljabow an.
AI die kleinlichen und üusserliehen Mittel Tolstois gegen
das Umsichgreifen der Revolution an den Universitäten
führten zu nichts, die dort gebildete Jugend trug revo-
lutionäre Ideen in die Bureaukratie hinein, in der diese ein
gefährliches Gemisch mit der Bestechung und der Un-
*) Diese sehr gescheidte Dame, welche die Kaiserin immer tiefor
ins orthodoxe Lager hineinführte, war eine Feindin westeuropäischer
Kultur, eine leidenschaftliche Vorkämpferin für die Weltherrschaft der
orthodoxen Kirche und des Slawenthums; sie stand seit 1862 an der
Spitze der Bestrebungen, die Wiederausstattung der Intherischen Kirche
der Ostseeprorinzen mit ihren alten Rechten zu hintertreiben, und
unternahm 1867 einen religiösen Feldzug durch Polen nach Weiss-
russland, um orthodoxe Mädchenschulen zu errichten; das Kammer-
Tränlein war der Schrecken liberaler Minister, es hat Walnjews Stellnug
untergraben. Antonin starb im April 1891.
ed u
XL. Alexander II.
5 BEE
u
und Ministern, und legt man selbst einem Kaiser den
Ausspruch in den Mund: Alle seion in Russland bestech-
lich, nur er nieht, weil er es nieht brauche! Die zahl-
reichen und häufigen Berrügereien kleinen und grossen
Styls nühren den radikalen Geist in der hohen wie in der
niederen Beamtung und machen die Tschinowniks ver- |
ächtlieh; im letzten russisch-türkischen Kriege (s. unten)
wurde auf Unkosten der Führung und der Versorgung des
Heeres unerhört betrogen, das ganze Proviant- und Kom-
missariatswesen lag nicht in den Hünden des Kriegs-
ministers, sondern in denen der habgierigen Kompagnie
Gregor-Kohn-Horwitz, ja die öffentliche Meinung wagte
es, des Kaisers Bruder, den Grossfürsten Nikolaus, als
stillen Theilnehmer an der schmählichen Entwendung des
Stautsvermögens zu bezeichnen, und man glaubte solcher
Anklage um so eher, weil Alexander II. den vor dem
Kriegsgerichte zu Odessa gegen die Kompagnie an-
gestrengten Prozess niederschlagen liess und die beunstan-
deten Rechnungen zu bezahlen befahl*). Derartige Vor-
fälle erschütterten naturgemäss den Glauben an die Re-
gierung, die Autorität der letzteren; die Gewalt verlor
ihr angestammtes Pröstige und die höheren Stände, welche
frivol und träge zusahen oder nach eigener Geltung lüstern
waren, wollten die kaiserliche Allmacht nicht neu be-
festigen. Die Unzufriedenheit erfasste Hoch und Niedrig:
niemand war mehr gesonnen, für die asiatische Allgewalr
des Zaren einzutreren, die schrankenlose Willkür grau-
samer, feiler Beamten, bestechlicher Richter zu dulden:
so lange den Gegnern der Regierung das unerschöpfliche
Thema der Korruption offen blieb, nützte keine Verschärfung
*) Der Thronfolger behandelte den Onkel mit offener Missachtung;
dieser liess zu seiner Rechtfertigung im Jahre 1830 in der Pariser
„Nouvelle Rerue* einen Artikel über den Krieg mit höchst indixkreten
Angriffen auf die Staatsinänner and Feldherren Russlands erscheinen,
der Kriegaminister Miljutin widerlegte ihn in derselben Revne eingehend,
und im August 1880 verlor der Grossfürst seinen Posten ala Ober-
‚kommandant sämmtlicher Garden und des St. Petersburger Militir-
bezirk# au den Thronfolger, bei dessen Thronbesteigung er in volle
Ungmade Biel.
Ai
sition, dass man in St. Petersburg erkaltete, es kam zu
gereizten Erklärungen und am 29. Dezember 1865 zu einer
‚heftigen Scene Pius’ IX. mit dem russischen Gesandten,
Baron Felix Meyendorf, Russland brach am 9. Februar
1866 seine diplomatischen Beziehungen zum Heiligen
Stuhle ab und am 4. Dezember d. J. wurde das Konkordat
mit der Curie durch Ukas aufgehoben. Die orthodoxe
Kirche wühlte längst gegen die griechisch-unirte, von
der schliesslich nur noch ein Rest sich in der Diöcese
Chelm erhielt, aber Graf Tolstoi ruhte nicht, bis auch
dieser Rest im Januar 1875 mit Gewalt zur orthodoxen
Kirche zurück gebracht war: in den Salons der Kaiserin |
versammelte sich eine Clique bigotter Priester und Hof-
damen, die alles Nichtorthodoxe gnadenlos verfolgten, die
Lutheranerin von Darmstadt war zur begeistertsten
Neophytin der griechischen Kirche geworden und ar-
beitete mit der Gräfin Bludow im Dienste der Pro-
psganda; sie suchte, frühe verblüht, meist kränkelud und
nieht mehr im Stande. den weiblicher Schönheit leicht zu-
günglichen Gemahl zu fesseln, bei der Kirche Ersatz für
ihr ödes Leben, während sonst die Kirche den höheren
Klassen in Russland meist nur als notliwendiges Uebel er-
scheint und man ihr mit Ironie und Missachtung begegnet.
Polen, Litauen, Weissrussland sollten der Orthodoxie ge-
wonnen, der Einfluss der römischen Kirche sollte in Polen
wie im übrigen Russland gebrochen werden, die römischen
Katholiken wurden einem in $t. Petersburg errichteten
römisch-katholischen Kollegium unterstellt und dies „geist-
liche Kolleg“ stand unter dem Erzbischofe von Mohilew;
die armenisch-gregorianische Kirche steht unter dem
„katholischen“ Patriarchen von Etschmiadsin und unter
der von ihm präsidirten Synode. Höchst human war
Alexanders Regierung für die Juden, unter denen ihm
viele durch Anschluss an den Nihilismus schlecht ge-
lohnt haben; er hob die auf ihnen liegenden speziellen
Rekrutierungslasten auf, stellte gelehrte Juden bei den
Leitern der Gebiete an, wo es zahlreiche Juden gab,
und erlaubte den ‚Juden im Jahre 1857, Landgüter zu
erwerben.
XI. Alexander II. a
Er XL Alexander TE
freie Hand gewinnen und hintertrieb im stillschweigenden
Einvernehmen mit den meisten urtheilsfähigen Russen, die
Ungarn nicht vergessen konnten, alle Annäherungsversuche
Öesterreichs, arbeitete auch 1859 gegen Oesterreich für
Frankreich, konnte aber die Allianz mit Frankreich nicht
erzielen. Am 23. Oktober 1859 einigte sich Alexander bei
der Zusammenkunft in Breslau mit dem Prinzen-Regenten
von Preussen wegen des Zusammengehens ihrer Cabinete
in der italienischen Frage: als der von Russland wegen
derselben vorgeschlagene Kongress nicht zu Stande kam,
verhielt sich die Regierung anfangs neutral, bald aber
missbilligte sie die Politik Viktor Emannels und die Ent-
thronung der Herrscher von Toskana, Parma, Modena und
Beiden Sieilien, Gortschakow erklärte*): „Es handelt sieh
hier nicht um die italienische Frage, sondern um das allen
Regierungen gemeinsame Interesse, um ewige Gesetze,
olme die keine gesellschaftliche Ordnung, kein Friede,
keine Sicherheit in Europa bestehen kann .... Es handelt
sich gegenwärtig nicht um Rechtsfragen, sondern um das
monarchische Prineip und um die gesellschaftliche Ordnung
im Kampfe mit der revolutionären Anarchie.“ Im Oktober
1860 wurde der Gesandte aus Turin abberufen und erst
am 18. August 1862 erkannte Alexander das Königreich
Italien an, Vom 22. bis 26. Oktober 1860 weilten Alexan-
der, Franz Joseph und der Prinz-Regent von Preussen
zusammen in Warschau, was Russland und Oesterreich
einander näherte,
In den türkischen Vasallenstaaten an der Donan
überwog der russische Einfluss; übrigens ging Russland
bei den Verhandlungen über die Organisation der Donau-
fürstenthümer**) einen Weg mit den anderen Grossmächten
und hielt es ebenso gegenüber den Unruhen in Montenegro
und in der Herzegowina, während es bezüglich der Donau-
schifffahrtsakte gegenüber Oesterreich und bezüglich der
*) Tatischtschew (s. oben).
#*) Russland neigte im Gegensatze zu Oesterreich der Union der
Donanfärstenthümer zu einem State Rumänien zu. Vgl. Thourenel,
Trois Aumdes de la question d'’Orient 1856—1859, Paris 1897,
XI. Alosander II. ur
einen modus vivendi mit den Polen zu finden, sie aber
traten ihm so dreist entgegen, dass er den Kopf völlig
verlor und dem „Landwirthschuftlichen Centralvereine*
immer mehr Macht liess; diesem aus den Reihen des Adels
hervorgegangenen Vereine diente die Landwirthschaft
lediglich als Vorwand, um sich zu versammeln, politische
Reden zu halten und Ränke zu schmieden; Graf Andrzej
Zamoyski, der Vorsitzende des Vereins, hatte weit mehr
Macht als Gortschakow und am 26.27. wiederholten sich
die Auftritte in Warschau, wobei fünf Leute getödtet
wurden. In seiner Rathlosigkeit bewilligte Gortschakow
den Rebellen alle Worderungen, darunter die Absetzung
des energischen Polizeidirektors F. F. Trepow, und aus
"Warschau erging eine Adresse un den Kaiser; dieser ver-
warf den politischen Theil derselben, versprach hingegen
administrative Reformen und erliess den Ukas vom
27, März: an die Stelle des Warschauer Lehrbezirks und
der geistlichen Abtheilung in der Regierungskommission
des Inneren und der geistlichen Angelegenheiten trat eine
selbständige Regierungskommission der religiösen Kulte
und der öffentlichen Aufklärung unter dem (eneral-
direktor Marquis Alexander Wielopolski, der im Admini-
strationsrathe des Königreichs Sitz erhielt; eine allgemeine
Neugestaltung der Schulen wurde angeordnet, höhere Lehr-
anstalten wurden gegründet. ein polnischer Staatsrath
wurde errichtet, Kreis-, Bezirks- und Stadträthe wurden
gewährt, 'Wielopolski war ein eifriger Patriot und An-
hänger der panslawistischen Idee, ein Gegner Oester-
reichs, er wollte wie der Statthalter die Versöhnung von
Polen und Russen und Alexander billigte das politische
Programm dieses einzigen Stantsmannes, den Polen damals
besass; Wielopolski schuf den Staatsrat, leitete pro-
visorisch die Justizkommission und kümmerte sich nicht
um die Wuth des blinden Haufens, war aber von Illusionen
nicht frei. Die nationalen Kundgebungen hörten trotz
des Ukases nicht auf, man wollte ein selbständiges Polen-
reich und nannte den Herzog von Leuchtenberg ala Kan-
didaten für den Thron, es kam zu neuen Demonstrationen
und am 6. April schloss Gortschakow auf Wielopolskis
A. Kloinsohmidt, Veberbl. d. russ. Gesch. u, 1598, a
nicht in Kiselende in.
13. August machten sie Attentate auf den
n opolski, den sie in ihrer Verblendung als Ver-
räther unsahen; Wielopolski vermochte nicht, die intran-
‚sigenten „Rothen“ zu vernichten und die „Weissen* unter
‚den ‚Gebrüdern Zumoyski an sich zu ziehen, um sein
‚System mit Konstantin durchzuführen; die Gebrüder
am wurden verbannt und gingen nach Paris; das
Hötel Lambert, in dem Fürst Üzartoryski, der einstige
Freund Alexanders 1.%), und seine Nachkommen wohnten,
hoffte auf Napoleon III... ohne den Aufstand von 1863 direkt
‚zu billigen. Die Regierung hatte die Aushebung zum Militär
angeordnet und wollte damit besonders die Städter treffen,
diese emigrirten in grossen Scharen im Januar 1863 in
die Wälder, es bildete sich eine provisorische National-
regierung, überall tauchten bewaffnete Banden auf, Ludwig
Mieroslawski, der alte Verschwörer von 1830, 1848 und
1849, sollte die militärische Leitung übernehmen, konnte
sich aber bei den übrigen Führern keine Autorität ver-
‚schaffen und flüchtete nach seiner Niederlage bei Radzie-
jewo am 22. Februar. Als sich Preussen im Februar
durch die Militärkonvention mit Russland in den Kampf
einmischte, sıh man in Paris hierin einen Bruch der
Doktrin der Niehtintervention **), das Hötel Lambert erliess
die Parole nach Polen, man solle mit Wielopolski brechen,
und in Galizien arbeitete man auf die Unterstützung des
Aufstandes hin, für den die polnische Presse aberwitzig
schürte, An die Stelle der unsichtbaren Nationalregierung
trat am 10. März Marian Langiewiez als Diktator, an sich
ein kreuzbraver Mensch, aber ohne jedes Talent zum
Führer und in unmögliche Verhältnisse hinein gedrängt.
Einige Gefechte entschieden gegen ihn, er musste am
*) Er starb 1861.
"*) Preussen zog zwar die Konvention bald zurück, bileb aber
im engen Verbande mit Russland, und Oesterreich zeigte nieht die in
Paris erwartete Begeisterung für Napoleons polnische Politik.
Er
we
4 XI. Alexander IE E78
ten, er wurde Statthalter, Generalkommandant
‚in Polen, Präsident des Verwaltungsrarhes und
des Staatarathes, waltete mit eiserner Strenge, bot grosse
Militär- und Polizeimacht auf und viele Insurgenten endeten
durch Blei oder Strang, die geheime Nationalregierung
zahlte, als man sie endlich entdeckte, mit dem Kopfe. Da der
Generalgouverneur Nasimow in Litauen den Aufstand nicht
niederzuwerfen vermochte, wurde der bisherige Apanagen-
minister, General der Infunterie Michail Nikolajewitsch
Murawjew, der Bruder des Fürsten Karskii, im Mai 1868
Generalgouverneur der sechs nordwestlichen Gouverne-
menfs mit ausserordentlichen Vollmachten und regierte
mit Anwendung des schärfsten Militärdespotismus; den
Litauern erschienen Murawjew, Galgen und Sibirien Syno-
nyma, Konfiskationen und Sequestrationen waren alltüg-
liche Dinge, sehr viele wurden gehängt oder erschossen,
Murawjew hatte schon 1831, als er den Aufstand in
Grodno bezwang, gesagt: „Ich gehöre nicht zu den Mu-
rawjew, die man hängt, sondern zu denen, die hängen
lassen.“ Berg und Murawjew suchten die nationale
Stellung von Adel und Olerus zu vernichten, den Bauern-
stand hingegen auf Russlands Seite zu ziehen und seine
Lage zu heben; die meisten Klöster wurden im November
1864 aufgehoben und am 26. Dezember 1865 das gesammte
Eigenthum der katholischen Kirche eingezogen, der Ein-
#uss der letzteren wurde gebrochen, ihre Anhänger ver-
folgt; am 2. März 1864 fiel die Leibeigenschaft in Polen,
Schon im Juli 1863 war Murawjew der Rebellion ziemlich
Herr geworden, seine Härte aber fand grosse Missbilligung
bei Gortschakow wie bei vielen Ministern und Grosswürdnern,
er konnte nicht im Amte bleiben und ging im April 1865,
zum Grafen erhoben, ab. Berg blieb in Polen und wurde
1866 Generalfeldmarsehall. Der amtliche Verkehr in Polen
wurde russisch eingerichtet, in den Schulen musste russisch
gelehrt werden, denn man wollte um jeden Preis Polen russi-
fieiren. Der Staatssekretär für das Zarthum Polen, Nikolai
Alexejewitsch Miljutin, des Kriegsministers Bruder, war
ein eminenter Staatsmann und ein Held der Initiative wie
ein eifriger Mitarbeiter an der Aufhebung der Leibeigen-
Kunc. 1
völlig absorbiren, mit Kummer sah man eine Reihe Re-
formen, die Alexander II. gewollt, in Härte und Druck
umschlagen und die Opposition lebte im Stillen fort;
Polen blieb die Achillesferse Russlands. Graf Berg starb
um 18. Januar 1874*); sein Nachfolger als General-
gouverneur, General der Infanterie Graf Paul E. Kotzebue,
setzte sein Russificirungswerk fort, Das Departement für
Polen am Reichsrathe in St. Petersburg hatte 1862 weichen
müssen, Alexander hatte am 25. Februar 1864 ein neues
‚polnisches Comit& gegründet, dessen Bestehen erst 1866
kundgegeben wurde, sein Nachfolger schaffte es um
10. Juni 1881 endgiltig ab.
In Finnland hatte sich unter Nikolaus eine Miss-
stimmung gegenüber der Autokratie gezeigt, Alexander IT.
kam nun dem Lande freundlich entgegen, Nikolaus hatte
niemals den Landtag des Grossfürstenthums berufen,
Alexander berief ihn 1863 und eröffnete ihn selbst; es
war der zweite seit Finnlands Union mit Russland.
Alexander erneute Finnlands Autonomie und am 28. Februar
1865 wurde die finnländische Sprache zur offieiellen Landes-
sprache erklärt, nachdem sie seit August 1863 der ofli-
eiellen schwedischen gleichberechtigt erklärt worden war,
Ein Ukas Nikolaus’ vom 3. Januar 1850, die russische
‚Sprache als officielle in den Ostseeprovinzen einzuführen,
war nie ausgeführt worden, die Provinzen entwickelten
sich geordnet und friedlich in liberaler Richtung und das
deutsche Element erwies sich nach wie vor als äusserst
segensreich für das russische Reich; ja Alexander erwog den
ihm vorgetragenen Wunsch nach einer Provinzialverfassung
für diese Gebiete. Auf Aufforderung des Ministereomites
erneuerte aber Alexander am 13. Juni 1867 den Ukas
*) I.W, Seliwanows Memoiren, in „Russkaja Starina“, De-
zember 1880 und August 1881; Kartzow, Graf F. F. Berg, in „Russkaja
‚Btarina*, Februar 1898,
[ =.
2 ‚solcher kleinen und unvermögenden Dynastien,
che bestrebt waren, ihre Existenz auf Kosten der
nationalen Interessen zu verlängern, welche ihre Herrscher-
pfiehten ohne Sorgfalt vollzogen und den Nimbus des
monarchischen Princips ebenso kompromittirten, wie ein
zu zahlreicher und an den Bettelstab gerathener Adel den
Nimbus der Aristokratie kompromittirt. . . Ich werde
fortfahren, mit der Revolution in Deutschland zu kämpfen,
wie ich es bisher that. ... Hoffentlich habe ich hiermit
Deine Befürchtungen beruhigt. Nichts liegt mir so nahe
am Herzen als die Befestigung der Bande, welche uns
verknüpfen.“ In Frankreich natürlich sah man entrüstet
auf die Haltung des St. Petersburger Cabinets gegenüber
dem mächtig aufsteigenden Preussen, auf Bismarcks Er-
folge in Russland. Im Juni 1870 begegneten sich Alex-
ander und Wilhelm in Ems und am 9. Juli sagte Gor-
tschakow zum britischen Botschafter*), Russland könne
über die Macht Preussens keine Unruhe empfinden. Alex-
ander zeigte sich als warmer Freund Preussens, als der
Krieg mit Frankreich ausbrach; durch ihn veranlasst,
hlieben Oesterreich, Italien und Dänemark, wo Russlands
Einfluss seit der Heirath des Grossfürsten- Thronfolgers
mit der Prinzessin Dagmar hohe Macht erlangt hatte,
*) Ramband, Geschichte Rnsslands (#. oben),
vo [ EL
_— =
XL Alexander IT. un
Konstantinopel, die Ausführung des Entschlusses bei
ihm beschleunigt zu haben*). Am 11. November machte
Gortschakow dem britischen Botschafter, Sir Andrew
Buchanan, die erste Mittheilung vom Plane, den Pariser
Frieden von 1856 in Hinsicht auf das Schwarze Meer aufzu-
heben, und erregte Bestürzung bei ihm wie bei dem oester-
reichischen Botschafter Grafen Chotek. Er erliess die am
15. November publieirte Oirkularnote vom gleichen Tage
an die Müchte, welche den Pariser Frieden kontrahirt
hatten, und erklärte ihnen, Russland halte sich an die
dort stipulirte Neutralisirung des Schwarzen Meeres nicht
mehr gebunden, mit anderen Worten, Russland beanspruche
das Recht, seine Kriegsschiffe in das Schwarze Meer ein-
laufen zu lassen und Seearsenale an dessen Ufern zu er-
richten. Grossbritannien und Oesterreich waren voll Ent-
rüstung über Gortschakows Mittheilung, sie fürchteten
Russlands geheimen Appetit nach den Donaumündungen
und seine Absicht, sich an der Integrität der Türkei ver-
greifen zu wollen; sie erliessen diplomatische Proteste
gegen den einseitigen Rücktritt Russlands von einer völker-
rechtlichen Stipulation und die öffentliche Meinung in
beiden Staaten lautete kriegerisch; Gortschakow aber
deutete die Möglichkeit an, Reservearmeen einzuberufen!
Die Pforte verhielt sich merkwürdig ruhig, bei der ersten
Nachricht von der Kündigung hatte sich ihr Botschafter
in 8t. Petersburg zu Bett gelegt, in aller Stille nach-
gedacht und dann in Konstantinopel zur Nachgiebigkeit
gerathen; Rustem-Bey wurde zum Lohne von Alexander
und Gortschakow gehütschelt, sein Benehmen wirkte
auf Grossbritannien und Oesterreieh sichtlich beruhigend
ein. Graf Bismarck schlug am 26. November vor, die
Frage auf einer Konferenz in London auszutragen, sie
kam unter dem Vorsitze Lord Granvilles am 17. Jannar
1871 zusammen, Brunnow, der gerade Botschafter in
London geworden, vertrat Russland und am 13. März
wurde allseitig der Vertrag unterzeichnet, welcher Russ-
land von den Beschränkungen des Artikels 14 des Pariser
*) Gortschakow bestreitet dies.
jew®) u. A. führten darin das grosse Wort, Alexander war
schon als Thronfolger ein Gegner der Massregeln des Mini-
sters des Inneren (seit 1852), Dimitri Gawrilowitsch Bibikow,
gewesen, 1855 ersetzte er ihn alsbald durch Ssergei Stepano-
witsch Lanskoi, einen sehr gewandten und von Standes-
vorurtheil freien Arbeiter, der olıne Wanken den Willen
seines Gebieters zu vollstrecken gesonnen war und von seinen
Grundsätzen niemals abwieh: auch Graf Kisselew genoss
das Vertrauen Alexanders nieht, man hatte Letzteren stets
gegen den Ratlıgeber seines Vaters eingenommen und ihm
versichert, die Domänen könnten weit mehr abwerfen,
darum liess er ihn am 10. September 1856 abgehen **) und
ernannte nach kurzem Provisorium den später durch die
Niederwerfung Litauens (s. 8. 421) allbekannten General
der Infanterie M. N. Murawjew im Dezember 1856 zum
Minister der kaiserlichen Apanagen und im April 1857
auch zum Minister der Reichsdomänen. obwohl er ihn
weder liebte noch achtete, Alexander bewies dem Adel
ausserordentliches Vertrauen und wünschte, derselbe möge
selbst die Bauernbefreiung verfügen, Lanskoi erliess
Cirkulare an die Adelsmarschälle und Gouverneure, in
denen der Adel seinerseits die Garanten für die Bei-
behaltung der Leibeigenschaft, an der er festhalten wollte,
sah. Als Alexander im März 1856 nach Moskau kam,
beschwor ihn einer der eifrigsten Anhänger der alten Ver-
hältnisse, der dortige Generalgouverneur Graf Arssenii
Andrejewitsch Sakrewski*"*), den Adel wegen des im
Volke umlaufenden Gerüchts von der Bauernbefreiung zu
beruhigen; Alexander versicherte im April in Moskau den
Adeligen offen und unverblümt, der bisherige Zustand sei
unhaltbar und es sei seine feste Absicht, die Bauern zu
befreien. denn es sei rathsamer, von oben her die Leib-
*) Wir folgen hauptsächlich seinen Memoiren in der „Russkaja
Starina“ von 1880— 1888.
**) Kisselew wurde im November 1856 Botschafter in Paris.
**#, So verhasst in Moskau, dass man ihn „Arsenik 1.“ nannte;
er sahı in jedem Freunde der Emancipation einen gefährlichen Schwärmer
und hinderte dieselbe, wo immer er konnte, mischte sich in alles ein
und schaltete despotisch,
XI. Alexander II. Es
(krepostnoje prawo) und über die seit Peter dem Grossen
getroffenen Massregeln zu seiner Begrenzung, und am
15. Januar 1857 eröffnete ein Geheimcomitö unter des
Kaisers Vorsitz seine Sitzungen; demselben gehörten an
Fürst Orlow, Lanskoi, Graf Bludow, der Finanzminister
Brok*), M. N. Murawjew, Tschewkin. Rostowzow, Graf
Adlerberg, Nikolaus alter Freund, der Chef der dritten
Abtheilung der Privatkanzlei des Kaisers Fürst W. A. Dol-
goruki**), den bei seiner Abwesenheit sein Stabschef
A. E. Timaschew, der spätere Minister des Inneren, ver-
trat, und die Mitglieder des Reichsraths Fürst Paul
Pawlowitsch Gagarin und Baron Modest Andrejewitsch
Korff; in des Kaisers Abwesenheit präsidirte Orlow und
er erreichte es, dass die Geschüftsführung des Comitds
nieht Lewschin, sondern Butkow übertragen wurde. Eine
besondere Kommission sollte alle Privatprojekte über die
Bauernfrage prüfen, sie sollte aus Rostowzow, Gagarin
und Korff bestehen, der Kaiser nahm die Ablehnung
Rostowzows und Korffs nicht an und die Drei mussten
nun über hundert Projekte prüfen, wobei ihre Ansichten
weit auseinander gingen; dann wurden die Arbeiten der
Drei dem Geheimeomits vorgelegt und von diesem den
einzelnen Mitgliedern zum Durchlesen gegeben. Rostow-
zow war im Studium der Frage eminent gewissenhaft,
Lewschin und Lanskoi arbeiteten voll Fleiss, Alexander
sprach auch mit Kisselew, dem er in Kissingen begegnete;
er sagte ihm: „Die Bauernfrage beschäftigt mich un-
ablüssige. Man muss sie zu Ende bringen, Tch bin mehr
denn je entschieden, habe aber Niemanden, der mir bei
dieser wichtigen und keinen Aufschub duldenden Suche
hülfe.“ Kisselews Eindruck war der, dass man von allen
Seiten den Kaiser mit Vorstellungen von Hindernissen
*) Als P. F. Brok Conerins unfühigem Nachfolger, dem Grafen
Wassilii Fedorowitsch Wrontschenko, 1852 als Finanzminister folgte,
witzelte Fürst Menschikow: „Unsere Finanzen stehen wirklich schlecht,
wenn man sehon zu Brok (obrok = Banernzins) seine Zuflueht nimmt.“
(Russkaja Starina, 1830.)
") Früher Kriegsminister.
mr —
XT. Alexander IT. 483
mit dem Generalgouverneur in Wilna, General W. J. Nu-
simow, der Alexander einst als Thronfolger beigegeben
worden und ihm innig zugetluun war, unterhandelt, Nasimow
sollte den Adel einladen, in einer Adresse die Aufhebung der
Leibeigenschaft vom Kaiser zu erbitten; Nasimow brachte
im November 1857 die Antwort des Adels nach St. Peters-
burg: sie lautete s0 wenig befriedigend für die Bauern
und entsprach Alexanders Wünschen so wenig, dass er
unter Mitwissen des Geheimeomites am 2. Dezember 1857
aus Zarskoje-Sselo ein Reskript an alle Gouverneure und
Adelsmarschälle erliess, um sie über seine Absichten zu
unterweisen. Die Konservativen wollten nichts davon
hören und im Januar 1858 endete das Geheimcomite,
Nun wurde ein Befehl zur Einsetzung des Haupteomitds
über die Bauernfrage am 20. Januar d. J. veröffentlicht
und der Kaiser übernahm den Vorsitz, Orlow seine Stell-
vertretung. Korff trat aus, der Justizminister Graf Viktor
Nikititsch Panin trat ein, sonst blieb das Comit& das alte
von 1857, Panins Eintritt verstärkte die ohnehin zahl-
reichere konservative Richtung, er war ein Edelmann mit
der Bildung des 19. und den Ueberzeugungen des 17. Jahr-
hunderts, voller Widersprüche in sich, dabei ein ent-
schiedener Gegner der Bauernbefreiung mit Grund und
Boden. Von den zwölf Mitgliedern des Haupteomitds hatte
Alexander Konstantin, Tschewkin und Rostowzow ge-
wählt, die anderen waren durch ihre Stellung hinein
gekommen; un Broks Stelle trat bald sein Nachfolger im
Finanzministerium Knjashewitsch, Aufrichtig wünschten
die Emaneipation nur Konstantin. Lanskoi. Bludow
und Tschewkin; den Konservativen gehörte das Feld.
Alexander besprach sich besonders offen mit Rostow-
zow, dem einstigen Dekabristen, den er hoch schätzte
und den er zum Chef der Militär- Unterriehtsanstalten
ernannt hatte, Rostowzow aher fühlte sich im Haupt-
somit6 nicht am Platze und bat immer wieder, freilich
vergebens, um seine Entlassung: sein Gut im Pskowschen
Gouvernement war klein, er lebte nie dort, kannte darum
die Bauern und ihre Bedürfnisse nicht; ein Feind alles Libe-
ralismus, in dem er eine Gefahr für den Thron und bare
A. Kleinschmidt, UoberbL d. russ. Gesch. +. 1508, =
Taanskoi, Gagarin, Rostowzow und Murawjew und Lanskoi
ging ungeachtet aller Intriguen unentwegt vorwärts. In
der ersten Hälfte des Jahres 1858 wurden acht, in der
zweiten 35 Gouvernementscomitös, darunter eine allgemeine
Kommission in Wilna eröffnet, ihnen folgten bis Ende
April 1859 noch fünf Gouvernementscomites, darunter eine
allgemeine Kommission in Kiew, fast allerorten in den
Gouvernements herrschte grosse Rührigkeit in der Bauern-
frage, freilich kam os auch zu vielen Streitigkeiten und
Verzögerungen. Rostowzow erhielt am I. März 1859 den
Vorsitz in den zwei Redaktionskommissionen wegen der
Bauernfrage, wobei ihn Murawjew unterstützte, und über-
nahm im Mai neben dieser schweren Aufgabe noch den
Vorsitz einer Finanzkommission, welche die finanzielle Seite
der Bauernfrage erörterte; am 16. März 1859 traten beide
Redaktionskommissionen bei ihm in $t, Petersburg zu-
sammen, er arbeitete voll Eifer, erkrankte aber im
Oktober d. J., seine Kräfte schwanden hin und er starb am
18. Februar 1860, mit: Hinterlassung einer Art von Bericht
über die Resultate aller Kommissionen. Alexander sagte:
„Der Verstorbene hinterliess uns hierin gewissermassen ein
Testament, das uns heilig sein muss“, liess den Bericht *)
für die Mitglieder der kaiserlichen Familie, den Reichs-
rath, das Hauptcomits über die Bauernfrage und einige
Vertraute drucken **). Panin erhielt nun das Präsidium
der Redaktionskommissionen, die ihre Arbeiten im Oktober
1860 mit der Abfassung von fünf Entwürfen allgemeiner
und lokaler Verfügungen über die Bauern abschlossen;
die Arbeiten gingen am 22. Oktober zur Prüfung an das
Haupteomite, Orlow. der mit Panin, Murawjew und
Butkow die Emaneipationsfrage im Geiste des Konservatis-
*) Der Bericht steht in „Russkaja Starina“, 1880,
**) In dem an Panin gerichteten kaiserlichen Dankreskripte vom
29. April 1861 an alle Kommissionsmitglieder rühmte Alexander
Rostowzows unsterbliche Verdienste um die Emancipation, auf Ro-
stowzows Grab liess er eine Medaille mit seinem Bilde „für die Be-
mühnungen um die Befreiung der Bauern“ niederlegen und er verlieh der
Wirtwe und deu Kindern am 5. Mai 1851 den Grafentitel.
sr
XI. Alexander It. 47
alle seine Minister und Mitglieder des Rathes. Er wuchs
unermesslich und sie sanken zusammen. Von nun an hat
er sieh Unsterblichkeit erworben. Man muss erwägen,
dass diese Rede nicht von irgend einer Rathskanzlei aus-
gearbeitet, nicht geschrieben und vorgelesen war — nein,
es war eine absolut freie Improvisation, der natürliche
Ausdruck des Gedankens, der lange schon im Kopfe
reifte.“*) Am 3. März 1861 verfügte Alexander die Er-
richtung eines Haupteomites zur Organisirung der länd-
lichen Lage, in welchem Konstantins Stimme sich ener-
gisch für die Verwirklichung der kaiserlichen Gedanken
aussprach, und erliess ein Reskript an Lanskoi, in dem
er anstatt der Gouvernementscomites Gouvernements-
sessionen über die Bauernsache anberaumte; der Reichs-
rath hatte den ihm unterbreiteten Vorschlägen in allen
Punkten zugestimmt und Alexander denselben am 3. März
die kaiserliche Bestätigung ertheilt; alle Kommissions-
mitglieder empfingen durch Reskript vom 29. April den
kaiserlichen Dank, Lanskoi wurde am 5. Mai Graf und
Panin Ritter des St. Andreas-Ordens,
Der ‚Jubel des dankbaren Volkes war grenzenlos, es
bereitete Alexander Oyationen, wo er sich zeigte, Das
kaiserliche Manifest und Statut vom 3. März, welches 23
Millionen Leibeigener von Grundbesitzern und vom Hofe
zu freien Menschen machte, bedeutete einen Bruch zwischen
der alten und der neuen Ordnung der Dinge, freilich konnte
der Sieg des Neuen über das Alte nicht unmittelbar ein
voller Sieg sein, die alten Schäden mussten langsam abge-
streift werden und das Neue tappte noch unsicher im Halb-
dunkel, aber das Alte zu erneuern war doch unmöglich
geworden. Die bisher an die Scholle gefesselten Bauern
erhielten alle Rechte freier Ansiedler*®), erlangten um
einen gesetzlich normirten Grundzins die volle Nutzung
ihres Gehöftes und einer Anzahl Aecker, was sie alles
kaufen konnten, die Grossgrundbesitzer traten den Bauern
rosp. den Landgemeinden diese Ländereien ab, die Re-
*) Patischtschew (s, ohen).
”) Rambaud (a, oben).
—
XI. Alozander IT. h Er
1861: an Lanskois Stelle aber trat ein ominenter Kopf,
Peter Alexandrowitsch Walujew, der das Emaneipations-
work durchzuführen wunderbar geeignet war, wenn es
auch immerhin besser gewesen wäre, Lanskoi selbst sein =
Werk ins Leben setzen zu lassen. Walujew steuerte voll
Mässigung zwischen Seylla und Charybdis, zwischen Re-
aktion und Ueberstürzung hindurch und wirkte mächtiger
als jeder Zweite für sociale und administrative Reformen,
Die Aufhebung der Leiheigenschaft traf den Einfluss
und die Finanzen des Adels in empfindlichster Weise und
logte in seinen Kreisen manch nihilistischen Keim; grosse
Massen aber erhielten urplötzlich eine Freiheit, die sie
noch nicht zu verwerthen wussten, und geriethen in den
Dienst des Kapitals oder beuteten den ihnen überlassenen
‚Grund und Boden unsinnig aus: die Auseinandersetzung
zwischen Gutsherren und Bauern brachte letztere*) zu
übertriebenen Erwartungen, sie mussten oft mit Gewalt
angehalten werden, die ihren bisherigen Herren schuldige
Entschädigung zu leisten, und anderseits hoffte ein Theil
des Adels, man werde ihm bei Ertheilung einer Reichs-
verfassung als Ersatz für seine Einbusse politische Rechte
gewähren.
Kaum war die Leibeigenschaft gefallen, so über-
stürzte sich die nationale, in Moskau ihr Centrum fin-
dende Partei in ihren Forderungen und Wünschen; sie
meinte, die Zeit sei da, um alle oceidentale Bildung aus-
zurotten und unter einem rein slawischen Himmel zu
leben, und tobte gegen Iwan Ssergejewitsch Turgenjew,
der ihr schlagend nachwies, ihr gunzes Treiben sei Dunst
und Rauch. Am 20. September 1862 wurde in Nowgorod
vor dem ganzen Kaiserhause der tausendjährige Bestand
Russlands mit ungeheurem Pompe gefeiert und Alexander
nahm die Miene an, als sei er der Primas der Einen
grossen slawischen Völkerfamilie, er verlieh vielen hervor-
ragenden Slawen aus Oesterreich Orden, was dort pein-
”) Die Aufsicht über die Bauernverwaltung liegt laut Verfügung
vom 24. Juli 1889 bei den Kantonschefs, den Distriktakommissionen
und den Provinzialeomitis, in denen sich alministrative and riehterliche
Funktionen vereinigen.
=
XL. Alexander I. Er
erzielt wurde, er ‚habe ein Drängen nach Reformen wach-
gerufen, vor dem er selbst wie Goethes Zauberlehrling
erschreckt zurückgewichen sei, und er sei frühe im Re-
formiren ermüdet, um drohende Elemente nicht zu ent-
fesseln — so steht dem entgegen, dass seine reformutorische
Thätigkeit keineswegs mit der Aufhebung der Sklaverei,
dem herrlichen Werke, endete, das ihn als Bruder an
Lincolns Seite stellt (Beide wurden von Landsleuten
ermordet!), dass sie vielmehr, wenn auch mit Unter-
brechungen und Schwankungen, fortdauerte und dass er
in seinen Wohlthaten nie ermüdere. Gewiss hat er manch-
mal geirrt, hat sich eigensinnig geweigert, eine wirkliche
strenge Controle der Verwaltung eintreten zu lassen, hat
sieh zuweilen schwach und energielos gezeigt, meist aber
trug er keine Schuld an den Dingen; er war vielleicht der
mildeste Herrscher, den Russland je gehabt hat, war voll
der edelsten Absichten und seine Devise war „Licht, Recht
und Freiheit!*, aber seine Concessionen erschienen den
Unersättlichen ungenügend, den Alterthümlern revolutionär,
die Unzufriedenheit hörte nicht auf, sein hoher Wille fand
oft ein niederes Geschlecht.
Walujew veranlasste Alexander zu grossen Umgestal-
tungen im inneren Leben Russlands, die erst nach Auf-
hebung der Leibeigenschaft denkbar waren. Er trennte
1862 die Justiz von der Verwaltung und die Cabinetsjustiz
hörte auf, indem der Kaiser am 2. Dezember 1864 die
Gerichtsreorganisation erliess; die richterliche Autorität
wurde von der exekutiven, administrativen und legislativen
Gewalt geschieden, alle Geriehte zerfielen in Friedens-
und in gewöhnliche Gerichte, die Jury wurde eingeführt;
letztere freilich erfüllte nicht die in sie gesetzten Hofl-
nungen, war ein bedenkliches Geschenk bei dem tiefen
Stande der Bildung und bei der sittlichen Indolenz der
Massen, oft genug wurden verkehrte Urtheile gefällt. Civil-
und Oriminalprocess wurden neu geordnet und die Friedens-
riehter bewährten sich durch schnelle und korrekte Aus-
übung der Justiz. In dieser Reorganisation sind
seitdem wesentliche Modifikationen erfolgt, die An-
wendung der Friedensgerichte war in den verschiedenen
Dan
KT. Mexander II. 0
Alexander griff, von Walujew berathen, auch zu kon-
stitutionellen Einleitungen; während viele Tausende von
einer allgemeinen Landesvertretung träumten, erkannten
Kaiser und Minister deren Unausführbarkeit in Russland.
Man hatte hier schon zu verschiedenen Zeiten Versuche
von Selbstverwaltung unternommen, sie waren aber selbst
Katharina Il. nicht geglückt und konnten nur nach Besei-
tigung der Leibeigensehaft Leben gewinnen; 1861 erhielt
der Bauernstand ein fast uneingeschränktes Recht auf
Selbstverwaltung. Russland stand *) damals im Banne der
Gesellschaftstheorie von der Selbstverwaltung: Gesell-
schaften sollten in Distrikt und Gonvernement ihre
eigenen Interessen besorgen, die Selbstverwaltung erschien
nicht als private Organisation der Staatsverwaltung, son-
dern nur als Verzicht des Staates auf die Verwaltung der
ihm fern liegenden Haushaltsgeschäfte in Distrikt und Gou-
vernement. Dieser von der Regierung gehegten Ansicht
waren die Literaten und anfangs auch der Professor A. D.
Gradowski, Stahls Anhänger, ihren hervorragendsten Aus-
druck fand die Richtung im Werke „Ueber Selbstverwal-
tung“, das der Fürst Alexander llarionowitsch Wassiltschi-
kow**) schrieb. Die Selbstverwaltung hat zur Grundeinheit
den Distrikt, nicht die Ortsgemeinde und die städtische ist
von der landschaftlichen wesentlich beeinflusst, wenn auch
von ihr getrennt. Zu Neujahr 1864 wurden „Landschafts-
institutionen® in den grossrussischen Gouvernements ein-
geführt (nicht aber in den polnischen Gouvernements, den
baltischen Landen, Archangel, Astrachan und Bessarabien),
man erkannte die Einwirkung der Gesellschaftstheorie
daran, dass jene Institutionen jeder polizeiliehen und
obrigkeitlichen Gewalt entbehrten. Allmälig drang aus
Westeuropa die der Gesellschaftstheorie entgegenstehende
Regierungstheorie von der Selbstverwaltung nach Russland
ein, Gneist und L. von Stein fanden Anhang und ihre
*) Korkunow (&. oben).
®*) St. Petersburg 1862. Wassiltschikow, der auch manches
über Landwirthschaft und Grundbesitz schrieb, war bei den Vorarbeiten
zur Eimaneipation und zu den Landschaftsinstitationen thätig, er
starb 1881.
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X. Alexander I. \
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durf nicht wählen und nieht gewählt werden. Die Land-
schaftsinstitutionen von 1864 waren Walujews Werk, dessen
Beseitigung alsbald der Wunsch vieler Reaktionäre ward.
Trotz mancher Eigenthümlichkeiten beruhte die
städtische Selbstverwaltung auf gleicher Basis. Längst
hatten sich die Fehler der ständischen Organisation der
Stüdte herausgestellt, welche ihnen seit 1785, dem Gnaden-
briefe Katharinas IT. (s. oben), anklebten, schon Niko-
laus hatte darum St. Petersburg im Jahre 1843 ein neues
Reglement gegeben, dem sein Sohn 1863 solche für St,
Petersburg und Moskau und 1864 für Odessa folgen liess;
aber erst mit der Städteordnung vom 28. Juni 1870 entsagte
Alexander Il. der ständischen Auffassung. Die Städteordnung
bestimmte den Abgabencensus und gruppirte die Wähler
nach der Steuerhöhe in drei Klassen, das Dreiklassen-
system war Preussen entlehnt und hatte keinen Rückhalt
an Geist, Tradition und Geschichte des russischen Volkes;
besonders war Geheimrath A. A. Schuhmacher dafür ein-
genommen, der an der Spitze des Departements der
Städteverwaltung im Ministerium des Inneren stand, doch
machte man so schlechte Erfahrungen, dass Alexander III.
mit dem Systeme brach und am 23. ‚Juni 1892 eine neue
Stüdteordnung erliess: an die Stelle des Abgabencensus
trat der Vermögenscensus, der Stadtrat (duma) wurde
die repräsentative Versammlung der Stadt, das Stadtamt
(uprawa) ihr vollziehendes Organ und das aus den Stadt-
verordneten auf vier Jahre gewählte Stadthaupt (golowa)
erhielt den Vorsitz in beiden.
Russland zählt 77 Gouvernements, 18 Gebiete (oblast).
2 Bezirke (okruga) mit selbständiger Bedeutung und die
Insel Sachalin, von den Gouvernements abgetheilt sind die
Städte St. Petersburg, Odessa, Sewastopol und Kertsch-
Jenikale. denn sie bilden Stadthauptmannschaften und
stehen direkt unter den Centralbehörden: die Gouverne-
ments zerfallen in Distrikte (ujesd) und die Distrikte im
Hinsieht der Polizei in Polizeibezirke (stan); die kleinste
Einheit ist die Land- oder Dorfgemeinde und die kleinste
Verwaltungsgrösse der wolost, alle der Besteuerung Unter-
worfenen im Distrikte und alle Bauern unterstehen den
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Meer und Sakataly und drei Bezirke des I
Kutais verwaltet: Transkaukasien wurde 1890 vom.
kasus abgetrennt und dem Kriegsminister direkt unter-
stellt, an der Spitze Turkestans ist ein Generalgouverneur
mit grossen Vollmnchten, der für die allgemeine Verwaltung
unter dem Kriegsminister steht. Für Sibirien gelten noch,
freilich vielfach umgemodelt, Speranskis Verfügungen von
1822; im Jahre 1882 hob Alexander III, das General-
gouvernement Westsibirien auf, unterstellte die Gouverne-
ments Tobolsk und Tomsk dem Ministerium des Inneren
und bildete aus den Gebieten Akmollinsk, Semipalatinsk
und Semiretschensk das Generalgouvernement der Steppen,
1884 schied er aus dem Generalgouvernement Ostsibirien
die Gebiete Transbuikalien, Amur, am Meere und die Insel
Sachalin aus, um daraus das Generalgouvernement des
Amurgebietes zu bilden, und 1887 wurde Ostsibirien zum
Generalgouvernement Irkutsk*); in Sibirien walten noch
die Gouvernementsräthe und an die Stelle der Kreisräthe
traten 1867 Kreispolizeiverwaltungen. Das Gebiet der Don-
Kasaken gehört zur Verwaltung des Kriegsministeriums,
seit 1868 steht an der Spitze der Lokalverwaltung ein
vom Kaiser ernannter Ataman (nakasnii ataman), der den
Grossfürsten-Thronfolger, den Ataman aller Kasaken, ver-
tritt; er hat die Civilvollmacht eines Generalgouverneurs und
das Kommando aller Truppen des Militärbezirks. Als 1876
die Lundschaftsinstitutionen auch hier eingeführt wurden,
schien die Sonderverfassung des donischen Heeres bedroht
und es erhob sich allgemeiner Widerspruch; Alexander II.
hob deshalb die Landschaftsinstitutionen 1882 wieder auf,
Land und Heer behielten ihre ultgewohnten Privilegien,
Walujews Bemühungen verdankte Russland ausser den
Landsehaftsinstitutionen u, s. w. auch das Pressgesetz von
”) Heutzutage gibt es nur noch folgende Generalgourermements:
Moskau, Warschau, Wilna, Kiew, Irkntsk, Amur-Gebiet, Steppen,
Kankasus md Tarkestan, Finnland hat die Bedeutung eines solchen
init acht Gouvernements.
los alles Deutsche, während Walujew Deutschland jü
gesinnt war: Walujew liebte die deutsche Bildung
die deutsche Kunst, citirte mit Vorliebe die deutschen
Klassiker und rühmte ‚sich, er habe Bismarcks Genie
schon erkannt, als noch alle Welt in Berlin ihn nicht
gelten lassen wollte. Seit seiner
Entlassung Mitglied
des Reichsraths, erhielt Walujew 1872 das Domänen-
minjsterium und leitete die hochbedeutsame Enquöte über
den Zustand der Landwirthschaft. wurde im Januar 1880
Präsident des Ministercomites und hei Alexanders Re-
gierungsjubiläum im März d. J. Graf®).
Unter Alexander blieb der Sswod Gesetz, ihm wurden
aber neue Gesetze angefügt, die ihn theilweise über-
holten; dies führte zu einem Risse in der Uniformität
der Gesetzgebung, die Paragraphen harmonirten nicht
mehr mit einander, es gab genug Widersprüche und
die Reformen in der Gesetzgebung blieben ohne Ab-
schluss, wie auch die staatsreehtliche Literatur dieser
Epoche unvollendete Werke aufweist (J. E. Andrejewski,
Russisches Staatsrecht, 1866, Romanowitsch-Slawatinski,
Hilfsmittel zum Erlernen des russischen Stautsrechts,
1872, und System des russischen Stantsrechts, 1886,
A. D. Gradowski, Die Prineipien des russischen Staats-
rechts, 3 Bände, 1875—1883).
Am 24. November 1861 errichtete Alexander den
Ministerrath (Ssowet ministrow), um der Thätigkeit der
einzelnen Minister eine grössere Solidarität unter einander
zu geben und sie unter des Zaren Augen arbeiten zu lassen:
*) Unter Alexander II, der ihm nie besonders gewogen war, &r-
folgte eine Untersuchung gegen ihn auf Betrug etc, er wurde im
Oktober 1881 entlassen, ging aber völlig gerechtfertigt aus der Unter-
suchung hervor, trag bei der Krönung den Reichsapfel und erhielt
den St. Andrens-Orden in Brillanten. Die Nationalen verfolgten iln
nach wie vor, weil er liberal und reformfreundlich war; er sah voll
Kummer, wis unter Alexander III. alles zerbröckelte, was Alexander II.
und er geschaffen hatten. In seinem grosses Aufschen erregenden
Romane „Lorin* (3 Bde, St. Petersburg 1882, deutsch Leipzig 1882)
‚gab er seiner roformfreundlichen Gesinnung gegentiber der nationalen
Reaktion offenen Ausdruck. Er starb im Februar 18%.
A. Kieinsohmidt, Uoberbi. d. russ, Öosch. «1046. e"
den Grossfürsten Konstantin, darin zu verwickeln; }
der aber liess sich nicht beirren und blieb auf der
der Reform, nur beschränkte er die Presse durch |
Reskript vom 13. Mai. Das Attentat hatte den Rücktritt
des Fürsten W. A. Dolgoruki schon am 22. April zur
Folge*), an seine Stelle trat als Chef der dritten Abthei-
lung der kaiserlichen Privatkanzlei Graf Peter Andreje-
witsch Schuwalow, der die Verschwörer sofort entdeckte
und bald solchen Einfluss erlangte. dass man ihn scherz-
weise „Peter IV.“ nannte und dass man in ihm Gert-
schakows einstigen Nachfolger als Reichskanzler witterte,
ein glänzender Diplomat, Administrator und General. Ob-
schon Schuwalow alle Massregeln traf, um ein zweites
Attentat zu verhüten, erfolgte dennoch ein solches in Puris
gelegentlich der von Alexander besuchten Weltausstellung:
als Alexander mit Napoleon IH. am 6. Juni 1867 von
einer Revue zurückfuhr, feuerte der Pole Beresowski die
Pistole auf ihn ab. wiederum ohne ihn zu verwunden:
die Gerichte verurtheilten ihn zu lebenslänglieher De-
portation. Die Entrüstung über diesen Ausbruch pol-
nischer Rache war eine so allseitige, dass sogar Herzens
in London resp. Genf erscheinende „Glocke“ im Juli d. J.
einging: diese und andere von Flüchtlingen im Auslande
herausgegebene und heimlich in Russland verbreitete
Zeitungen schürten beständig die Unzufriedenheit, „das
junge Russland“ zeterte, an den Univerditäten kam es zu
Krawallen, in den grösseren Städten äusserte sich die
Gührung besonders 1862 durch zahlreiche Brandstiftungen.
die man den Nihilisten zutraute. Das Treiben der
Letzteren fand reiche Nahrung in den verderbten Zu-
ständen und das grosse Talent der Russen zur Ver-
schwörung bethätigte sich in einer langen Reihe Studenten-
und Literatenverschwörungen, der Ingrimm der Gebildeten
gegen die willkürlichen Verschiekungen der dritten Ab-
theilung brach sich Luft, führte aber nar zu neuen Opfern.
*) Die Vergebliehkeit seiner Bemühungen, den Verbindungen
Alexander Herzens auf die Spur zu kommen, hatte ihm bereits
des Kaisers Sympathie entzogen.
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von all den ererbten Hindernissen und Störungen, di
‚das Vorwärtsschreiten des oceidentalen Verstandes hemmteı
und Michail Bakunin, der ie Make a
Jahren, nannte als Zweck des Nihilismus die Zerstörung
aller Stauten, die Vernichtung der Ojvilisation der Bour-
geois, die freie Organisation von unten nach oben durch
freie Vereinigungen, die Organisirung der befreiten Volks-
massen der ganzen Menschheit und die Herstellung einer
neuen Welt allgemeinen Menschenthums®). Während
Herzen sich von Bakunin trennte, ging einer der wil-
desten Nihilisten, der Fürst Krapotkin**), noch einen
Schritt weiter als Bakunin; er rief im September 1873
auf dem Genfer Kongresse der Internationale aus, alle
bestehenden Staatensysteme seien untauglich, alle Re-
gierungen und jede Gesellschaftsordnung müssten um-
gestossen werden, erst wenn dies alles geschehen, dürfe
das Volk rasten und erwägen, was nun zu thun sei.
Ein Chaos also war das Endziel, jeder positive Gedanke
fehlte diesen Unholden! Der Netschajewsche Process gab
1873 neuen Einblick in die nihilistische Bewegung, immer
kräftiger entwiekelte sich diese Giftpflanze, Verweisungen
von Nihilisten kamen immer wieder vor, dienten aber
nur zur Erhöhung der Wuth und politische Morde wurden
Modesache, die allgemeine Bewunderung erntete. Wir
werden davon später hören.
Seit dem Krimkriege hatte die Tagespresse einen
ungeheuren Aufschwung genommen und eine grome Zahl
Revuen war ins Dasein getreten, manche besitzt hohen
wissenschaftlichen Werth, wie z. B. auf historischem Gebiete
Peter Bartenjews „Russkii Archiv“ und die „Russkaja
*) Bakunins fieberhaftes Streben nach der allgemeinen Anarchie
SSchadete ihm schliesslich bei Karl Marx und den anderen Häuptorn
er Internationale nud sie schlossen Ihn im September 1872 auf dem
langer Kongresse, ihrem fünften, aus. Seine Anhänger nannten sieh
irekt Annrchisten.
*") Infolge des Socialistenprooesses in Lyon 1882,68 zu fünf-
Fäihriger Hafı im Centralgefüngnisse zu Clairvanx verurtheilt, wurde
1885 begnadigt, was Alexander III. gegen en Präsidenten Grävy
ei (len Minister Freycinet schr erbitterte,
k en
8 erweiterte seine Kunstsummlungen
Und in der Wissenschaft wurde Eminentes |
es genügt, den Namen des Naturforschers von
nennen, um eine Aera zu illustriren; Kongresse aller
Art führten die Gelehrten des Auslandes nach Russ-
land und die russischen versäumten nicht, deu Besuch zu
erwidern, um in stetem geistigem Austausche zu bleiben.
Im Jahre 1875 drohte ein Krieg Deutschlands gegen
Frankreich und Bismarck sondirte aus Berlin in St. Peters-
burg. Alexander aber ging nach Berlin und verhütete den
Krieg, dem auch Kaiser Wilhelm im Gegensatze zu Bismarck
absolut widerstrebte. Mit dem Aufstande der Herzegowinn
trat 1875 die orientalische Frage wieder aufs Tapet; die
Pforte schien dem Aufstande gegenüber machtlos, er konnte
sich nach Bosnien ausdehnen. Die drei Kaiser verbanden
sich am 1. August dahin, sie wollten die Insurrektion
nicht anwachsen lassen, sondern sie durch gemeinsame
Schritte bei der Pforte, bei den Insurgenten, bei Monte-
negro und Serbien lokalisiren und Oesterreich sollte als
auf der Balkanhalbinsel am nächsten interessirt die
leitende Rolle übernehmen, aber schon um 22. September
erwiesen sich die Vermittelungsversuche der Kaisermächte
zwischen den Türken und den Insurgenten als gescheitert.
Was nützten leere Versprechungen des Divans? damit
war die Suche nieht auszutragen. Auch der Reform-
ferman des Sultans vom 12. Dezember befriedigte die
Kaisermächte nicht, sie einigten sich zu einer von Graf
Andrassy, dem oesterreichisch-ungarischen Ministerpräsi-
denten, entworfenen Note vom 30. Dezember an die Pforte,
der specielle Forderungen wegen Herzegowina und Bos-
nien vorgetragen wurden: Grossbritannien, Frankreich
und Italien, die drei anderen Grossmächte, sollten diese
Forderungen am Divan unterstützen. Am 31, Januar
1876 überreichte Graf Ziehy, der Internuntius, dem Gross-
vezier die Note und die Pforte beschloss im Februar,
die gewünschten Reformen eintreten zu lassen. Aus Russ-
land und Oesterreich aber erhielten die Insurgenten
Unterstützung. Lebensmittel, Kriegsbedarf gingen ihnen
L Peak
den Sultan Abdul-Aziz ab, was eine neue Niederlage
Russlands bedeutete, und Murad V., ein Schützling Gross-
britanniens, wurde am 30. Mai Sultan. Am 8. Juli ver-
abredeten Alexander und Franz Joseph mit Gortschakow
und Andrassy in Reichstadt gemeinsame Schritte in der
Orientfrage, die Grossmächte nahmen der Pforte gegen-
über eine festere Haltung an, auch in England bildete
sich unter dem Grafen John Russell eine Liga zu
Gunsten der unterdrückten Christen und Gladstone schrieb
seine berühmte Brandschrift über die bulgarischen Greuel.
In Russland wurde die Sympathie für die Glaubens-
genossen in Serbien, Bulgarien, Montenegro ete. immer
lauter, zuhlreiche Freiwillige gingen mit russischen Ofi-
zieren auf den serbisch-montenegrinischen Kriegsschau-
platz, ganze Sotnien Kasaken eilten dorthin.
Die Serben waren wenig vom Glücke begünstigt
und Fürst Milan rief am 24. August die Vermittelung der
Grossmächte an, während der geisteskranke Murad V. schon
am 31. August durch seinen Bruder Abdul-Hamid II. ersetzt
wurde. Ignatjew und die Gesandten der anderen Gross-
mächte in Konstantinopel boten am 4. September ihre
Dienste zur Herbeiführung eines Waffenstillstandes an,
der den Serben sehr noth that, die Pforte stellte zwar
ihrerseits Friedensbedingungen, welche die Mächte als
undiskutirbar bezeichneten, liess aber eine faktische
Waffenruhe eintreten. Dass Tschernajew in Weinlaune
am 17. September Milan zum Könige proklamirte, wurde
in St, Petersburg scharf getadelt. In einer ausserordent-
liehen Konferenz in Livadia, der ausser dem Zaren der
Grossfürst-Thronfolger, Gortschakow, Miljutin, Ignatjew,
Reutern u. A. anwohnten, sprach man sich bereits kriegs-
geneigter aus, Gortschakow war, wie er behnmuptet®),
gegen den Krieg gewesen und hätte ihn gern dureh
Berufung eines Kongresses nach Berlin vermieden ge-
sehen, unterlag jedoch, Alexander war ebenfulls dom
*) Russkaja Starina, Oktober 1888.
vom Testamente Peters des Grossen und von den Pl
Katharinas II. geschrieben habe, sei Hirngespinnst, ı
in Konstantinopels Rrwerbung ein Unglück für Russland 4
und gebe sein Ehrenwort, Konstantinopel nicht an sich zu
bringen, es sei auch eine Absurdität, dass Russland Indien
erobern wolle; er werde Bulgarien, wenn es nöthig sei,
nur provisorisch besetzen, Oesterreich könne dasselbe mit
Bosnien thun. Ein Schreiben Gortschakows an den Grafen
Peter A. Schuwalow. der seit 1874 Botschafter in London
war*), führte gleichzeitig dieselen (Gedanken aus. Auf |
Wunsch des Zaren erliess Graf Derby, der Staatssekretür |
des Acusseren, am 4. November ein Rundschreiben an die
britischen Gesandten bei den Grossmächten, um letztere
zu ‚einer Konferenz in Konstantinopel einzuladen, Russ-
land nahm am 9. den Vorschlag an, der Premier Graf
Beneonsfield hingegen hielt an diesem Tage in der Guild-
hall einen säbelklirrenden Toast und Alexander sprach
nun am 10. in Moskau in kriegerischem Tone zu Adel
und Gemeinderath. denen er versicherte, er werde, falls
man auf der Konferenz zu keinem Einverständnisse ge-
lange und falls die Pforte die verlangten Bürgschaften
nicht gebe, allein vorgehen, ganz Russland folge ge-
wiss seinem Rufe. Ein Ukas vom 11. verordnete eine
neue Organisation der Landwehr, am 13. befahl Ale-
xander, sechs Armeecorps in Südrussland zu mobilisiren,
und Gortschakow motivirte die Massregel in einer
Cirkulardepesche an die russischen Gesandten; in einer
Depesche an Schuwalow vom 19, November setzte er
Vebereinstimmung und Unterschied zwischen Grossbri-
tannien und Russland in der Orientfrage auseinander.
Die Regierung verfügte eine Anleihe von 100 Millionen
Rubel im Inlande zur Deckung ihrer nusserordent-
*) Im Januar 1873 bernhigte er, in besonderer Mission auftwetend,
las britische Cabinet wegen Russlands Expedition nach Kliwa (a, oben),
un es war sein eifriges Bestreben, Grossbritannien und Russland in
gutem Einvernehmen zu halten; er fädelte «die Verlobung der Tochter
des Kaisers mit dem Herzoge von Edinburgh ein und löste, freilich
mit grosser Mühe 187% ılie heimliche Ele des Grossfürsten Alexei
Alexandrowitsch mit Alexandrine, der Tochter des Dichters Shukowaki,
1
1
m
(la sie gesonnen waren, gar nichts zu thun.
trat, um sie zur Aeusserung ihrer Meinung zu drängen,
im März eine Rundreise an die Höfe von Berlin, Paris,
London und Wien an und legte ihnen ein Protokoll, „eine
einmüthige Forderung Europas an die Pforte“, zur Zu-
stimmung vor, in London wurde das Protokoll wesentlich
abgeändert, zwar am 31. Mürz als Londoner Protokoll von
allen Grossmächten unterzeichnet, blieb uber erfolglos und
die Pforte lehnte nochmals jede Forderung und Einmischung
Europas ab. Nelidow stellte ihr das Protokoll um 5. April
als Ultimatum zu, sie wies es zurück, Hatten Alexander
und Gortschakow noch immer aus Friedensliebe mit dem
Bruche gezaudert, was die meisten Russen längst miss-
billigten, so konnte nun das ganze Odium des Kriegs auf
den Starrsinn der Pforte geschoben werden. In einem
vom Zaren präsidirten Kriegsrathe wurde am 13. April
die Mobilisirung der ganzen Armee und die Aufstellung
von Reservearmeen im Norden und Süden beschlossen,
um gegen jede Eventualität gerüstet zu sein, denn man
befürchtete, die Briten möchten der Türkei eine Flotte
schicken. Am 23. verliess Nelidow mit dem Botschafts-
personale Konstantinopel und Deutschland übernahm den
Schutz der russischen Unterthanen in der Türkei; am 20.
reisten Alexander und der Thronfolger nach Kischinew
ab, von wo Alexander am 24. sein Kriegsmanifest erlioss:
er erinnerte an alle vergeblichen Bemühungen, den
Frieden zu bewahren, und spraeh seinen Willen aus, für
seine leidenden Unterthanen auf türkischem Boden die
Garantien mit den Waffen zu ertrotzen, die für ihr Heil
unerlässlich seien. Mit dem Fürsten von Rumänien hatte
er am 16. April eine Konvention abgeschlossen, die den
Russen den Durchmarsch gestattete und Rumäniens In-
tegrität garantirte, worauf Fürst Karl am 20. seine ganze
Armee mobilisirtee Am 24. überschritt der Grossfürst
Nikolaus, dem General Arthur Awramowitsch Nepokoi-
tschizki als Generalstabschef zur Seite stand, den Pruth,
unter ihm diente der Grossfürst-Thronfolger, diese Süd-
armee war 250000 Mann stark; den Oberbefehl der Kau-
kasus-Armee, die ca. 200000 Mann stark war, führte der
E
a
theater, hatte die Türken am 16. Juni bei D:
zurückweichen müssen, entsetzte die Citadelle von !
{Bajesid) am 10. Juli und zog nach Igdir ee
Ardahan und die Citadelle von Bajazet blieben -
scher Hand. Alle Versuche der Türken, sich den Bekipka:
Passes wieder zu bemächtigen, scheiterten, beide a
führenden Mächte uber erlitten in diesen Kämpfen, in
denen sieh General Radetzki besonders auszeichnete,
riesige Verluste, während Mehemed-Ali Pascha*) dem
Grossfürsten-Thronfolger im August und September derart
zusetzte, dass sich derselbe am 5. September hinter die
‚Jantra zurückzog. Im August rückten zwei rumänische
Divisionen den Russen zu Hilfe und am 31. August über-
unhm Fürst Karl den Oberbefehl der russisch-rumänischen
Cernirungsarmee vor Plewna. Osman Pascha, der Plewna
ruhmvoll vertheidigte, machte am 31. August einen ver-
geblichen Ausfall und Mehemed-Ali Pascha, auf dessen
Schritte vor allen er hinbliekte, erlag am 21. September
bei Zerkownina dem Generale Tatischtschew, worauf ihn
Suleiman Pascha im Oberbefehle der Donauarmee ablöste,
der wenig Glück hatte und nicht dazu kam, sich mit
Osman Pascha zu vereinigen. Die russischen Heere an
der Donau und in Asien erhielten grosse Verstärkungen,
auch die Garden rückten an die Donau. Da zur Siche-
rung der Einschliessung Plewnas die Einnahme von
Lowatz nöthig schien, so nahmen die Russen und Ru-
mänen am 3, September diesen Punkt, grosse Batterien
wurden vor Plewna angelegt, ein allgemeiner Sturm aber
am 11. misslang. Den Rumänen glückte es, die vordere
Griwitza-Schanze zu erstürmen, es war das einzige Er-
gebniss vierzehn blutiger Tage. Im Hauptquartiere er-
kannte man, dass Plewna nur durch eine regelrechte voll-
ständige Einschliessung zu nehmen sei, und der Ver-
theidiger Sewastopols im Krimkriege, Franz Kduard
Iwanowitsch Tottleben, den Alexander zum Generalstabs-
*) Sohn des preussischen Stabstrompeters Detroit,
14—15. Oktober seine Stellung, nulm einen“ grossen
Theil des Heeres gefangen, Mukhtar entfloh nach Erzerum,
welches General Heimann*) eernirte, General Lasarew
cernirte Kars seit Anfang November und nach längerem
Bombardement fiel Kars mit gegen 20000 Mann am
18, November in die Hände Loris-Melikows. In Kon-
stantinopel wünschte man den Abschluss des Friedens,
die Briten machten Russland Vorschläge zum Waften-
stillstande, Alexanders Regierung jedoch beschloss die
energische Fortsetzung des Krieges. Unter unsäglichen
Terrainschwierigkeiten, wie sie einst Ssuworow ähnlich
vorgefunden und bestanden hatte, überschritt Gurko**)
Ende Dezember den Balkan, Mehemed Ali räumte Sofia,
das Gurko am 3. ‚Januar 1878 besetzte, um nun auf
Adrianopel vorzurücken. Ueber verschiedene Höhenzüge
des Balkan kumen Skobelew und Fürst Mirski herbei,
Karzow rückte aus dem Trajanspasse nach Philippopel.
Skobelew, Mirski und Radetzki erstürmten am 9, Januar
unter schweren Verlusten den Schipka-Pass und nahmen
das Heer Wessali Paschas, 32000 Mann, gefangen. Fünf
Kolonnen drangen in Rumelien vor und Gurko zerstreute
am 16. Januar bei Philippopel das Heer Suleimans,
das letzte feldtüchtige, am 20. vereinigten sich alle rus-
*) Dieser besiegte mit Tergukassow am 4. November Mukhtar
auf der Dewebojun-Höhe bei Erzerum,
#“*) A. Pusyrewski, Der Balkanübergang der Abtheilung des
‚Generaladjutenten Gurko im Winter 1877, in Re 1880.
A. Kleinschmidt, Ueberbl, d. rum. Gesch. & 1306.
d
Andrassy, welcher den Russen bisher freie Hand gelassen
hatte, und Benconsfield wollten die Türkei gemeinsam
vor dem Untergange schützen, britischer Seits erhielt die-
selbe fortgesetzt Versprechungen von Unterstützung und
im Rücken der Russen wurden die Pomaken im Rhodope-
Gebirge zum Aufstande getrieben. Grossfürst Nikolaus
20g schwere Geschütze an die Ufer des Marmora-Meeres
und des Bosporus, um die britische Flotte eventuell zu
beschiessen; die russische Generalität forderte die Fort-
führung des Krieges, um Konstantinopel zu besetzen, die
russische Presse schrie Zeter und pries den Vertrag von
Sun Stefano als Beweis der Mässigung Russlands, die
Aufregung war eine allgemeine, In den aufs
griechischen Provinzen, in Albanien und Bosnien floss
Blut. Kreta und Thessalien waren in Aufruhr. Sehr un-
zufrieden mit San Stefano war Rumänien, das Bess-
arabien nicht für die Sümpfe der Dobrudscha hergeben
wollte, und es kam zu heftigen Erörterungen zwischen
Karl und Gortschakows Bevollmächtigten. Ein euro-
püischer Krieg schien vor der Thüre zu stehen.
Da trat Fürst Bismarck zwischen die streitonden Par-
teien; er hatte Russlands Glück bisher mit Freundlichkeit
verfolgt, jetzt aber hielt er es an der Zeit, gegen Russ-
lands Vebergewicht zu wirken, und unterstützte die Oppo-
sition, die britischer und oesterreichischer Seits gemacht
wurde: um sich Oesterreich mehr zu nähern, rückte er
von Russland ab, so sehr dies mit Kaiser Wilhelms per-
sönliehen Gefühlen für Alexander und für Russland in
Widerspruch stand; in Oesterreich sah er Deutschlands
Vorhut gegen den Andrang aus Osten. Der russische
Btaatskredit war bis aufs Aeusserste angespannt, das
so.
“ :
ab, indem er seinen “Erben ‚havete,, Die Dal len
tobten gegen jede Koncession, welche die Bevollmächtigten
auf dem Kongresse machten, um einen neuen Krieg zu
verhüten, und Aksakow nannte die weiter bli
mässigten Staatemänner olne Umschweife die wahren
Nihilisten. Für die Pforte um ihrer selbst willen erwärmte
sich Niemand auf dem Kongresse, man stellte sie eigent-
lich unter die Kuratel der sechs Grossmächte und diktirte
ihr unbefragt den Frieden, der freilich weit entfernt war,
die orientalische Frage endgiltig zu lösen. Der Berliner
Friede datirt vom 13. Juli 1878 und wurde am 3. August
allseitig ratifieirt. Von Bulgarien, das ein autonomer
Tributstaat des Sultans wurde, trennte man das autonome,
aber dem Sultan direkt unterstellte Ostrumelien ; Rumänien,
Serbien und Montenegro wurden unabhängige Btanten:
Bosnien und Herzegowina wurden von den Öesterreichern
besetzt; Rumänien gab Bessarabien an Russland und erhielt
dafür die Dobrudscha, die Schlangeninsel und den Land-
strich von Rassowa bis Mangalia; Montenegro und Serbien
erhielten Gebietserweiterungen, Griechenland eine Ver-
sprechung. An Russland fielen in Asien Batum, welches
zum Freihafen erklärt wurde, Ardahan, Kars und das
Land der Lasen, die Obhut über die Athos-Klöster wurde
ihm garantirt. Bulgarien, das ganz unter russischen Ein-
fuss kam, ging aus Berlin halbirt hervor, Oesterreich
schob sich wie ein Keil zwischen die Slawenstaaten Serbien
und Montenegro, Cypern fiel den Briten zu — die Russen
bliekten enttäuscht und erbittert auf die Rektifieirung des
schönen Friedens von San Stefano, Gortschakow nannte
den Berliner Frieden die schwärzeste Seite in seiner Amts-
thätigkeit und Alexander II. setzte eigenhändig hinzu
„auch in meiner“ ®).
*) Denkwürdigkeiten Gortschakows, in „Russkaja Starina“,
Oktober 1883,
Der Grundzug im Charakter Alexander» II.
Milde, seine grossen schönen Augen strahlten Güte aus,
aber eine gewisse Melancholie hatte sich seit Jahren
über die edlen Züge gelagert und manchmal brach ein
Ausdruck der Bitterkeit über den Undank, der ihm be-
gegnete, über seine Lippen. Wie viel Kummer und
Jammer musste er erleben! Sein Thronfolger, Nikolai
Alexandrowitsch, sein Ebenbild, ein vorzüglich beanlagter
und allgemein beliebter Prinz von liberaler Färbung,
den er zum Vollstrecker all des Guten ausersalı,
was ihm zu vollführen nieht mehr bestimmt sei, wuchs
unter der gewissenhaften Leitung des Grafen 8. G. Stro-
ganow, dem wir früher als Curator des Moskauer Lehr-
bezirkes begegneten, heran, wurde aber leidend und erlag
als Bräutigam der Prinzessin Dagmar von Dänemark
am 24. April 1865 in Nizza der Auszehrung; es war ein
furchtbarer Schlag für die zärtlichsten Eltern. Während
die Braut dem nunmehrigen Thronfolger Alexander
Alexandrowitsch, dem jüngeren Bruder ihres Bräutigams,
die Hand reichte, ging die gebeugte und seit Jahren
leidende Kaiserin immer tiefer in das Lager der Bigo-
terie, völlig beherrscht von ihrem Beichtvater Basha-
now, den die Grüfinnen A. D. Bludow, und Natalie
N. Protassow, ihre Obersthofmeisterin, unterstützten. Die
Ehe war kinderreich und lange glücklich, dann erkaltete
die Liebe, andere Frauen fesselten den für Schönheit
sehr empfänglichen Gebieter, unter ihnen vor allen seit
1868 die junge Fürstin Katharina Dolgoruki; Alexander
besuchte letztere alltäglich, nach dem Attentate im
Februar 1880 zog sie in das Winterpalais und theilte
dasselbe Dach mit der Kaiserin, die ihr sehr zugethan
war. Kaiserin Maria erlag ihren schmerzvollen Leiden
am 3. Juni 1880 und nun entschloss sich Alexander,
der, ohne sich je vor Attentaten zu fürchten, sein bal-
diges Ende durch ein Attentat voraussah und voraus-
sehen konnte, der geliebten Fürstin und ihren Kindern
‚eine gesicherte Stellung zu geben; er besiegte den Wider-
willen seiner Pamilie, besonders des Thronfolgerpnares,
®
lichkeit seiner Wohnräume zu erhöhen, liess der Ka
abwechselnd werthvolle Gemälde aus den Galerien
sich aufhängen. Wie sein Vater hatte er einen aus-
geprägten Sinn für Freundschaft, der Sohn des Freundes
seines Vaters, Graf Alexander Wladimirowitsch Adler-
berg, übernahm 1870 aus den Händen desselben das
Ministerium des kaiserlichen Hauses und der Apanagen,
kümmerte sich um die eigentliche Politik blutwenig,
übte aber einen eminenten Einfluss auf den Freund aus
und wurde darum gern „Alexander III.“ genannt*). Sein
Bruder, Graf Nikolai Wladimirowitsch, wurde 1866 General-
gouverneur von Finnland. Mit Kaiser Alexander II. endete
auch die Machtstellung der Familie Adlerberg, der neue
Kaiser entliess die Brüder schon in den ersten Monaten
seiner Regierung. Alexander war ein guter, aber kein
starker Charakter, liess sich leicht lenken und hörte auf
vielerlei Rathschläge, gewöhnlich folgte er dann dem letzten,
und dass seine Rathgeber häufig unklug oder unwürdig
handelten, war kein Wunder. Gortschakow, der im Sommer
1879 die Presse zu den heftigsten Ausfällen auf Deutsch-
land veranlasste und an verschiedenen Höfen wie vor
allem in Paris Umtriebe der russischen Vertretung gegen
das Deutsche Reich begünstigte, dachte immer noch an
eine Allianz mit Frankreich, wenn er auch, als wolle er
seine Versöhnung mit der Neuordnung der Dinge be-
kunden, im November 1879 den Berliner Hof besuchte.
Seit Jahren aber trat der kleine, eitle und gesprächige
Mann **), übrigens ein Kunstkenner von grossem Verständ-
nisse, wenig hervor, Nikolai Karlowitsch von Giers aus
einer in Finnland ansässigen, seit 1800 in russischen
Diensten stehenden schwedischen Familie, der sich zu-
meist in Oentralasien die Sporen verdient hatte, leitete
seit 1875 das asiatische Departement im auswärtigen Amre
und war Adjunkt Gortschakows.
*) A. Horzen u. A. haben ihn über alles Mass verschwärzt, er
war ein gnter Mensch, machte aber viel Schulden, die Alexander zu
bezahlen pflegte.
**) Graf Murawjew nennt ihn in seinen „Denkwürdigkeiten*
(Russkaja Starina, Jannar 1883) einen „Schwätzer im vollen Sinme*,
4
den General Mesenzow. Kurz zuvor hatte man ihm sein.
Todesurtheil zugeschickt, jetzt verkündete die
Hoyking und Mesenzow seien „hingerichtet“ worden und
die Vollstreckung des Urtheils habe der Partei 6000 Rubel
gekostet*), Ukase der Regierung wie der vom 2. August
1878 blieben erfolglos, die Abneigung gegen die Kron-
autorität wuchs rapid, Process folgte auf Process, aber
auch Attentat auf Attentat, während hunderte von Schul-
digen durch jenes feste Band, welches Verbrecher ver-
bindet, der Entdeckung entgingen. In der Nacht vom
21.122. Februar 1879 erschoss ein Vermummter den Gou-
verneur von Charkow, Fürsten D. N. Krapotkin, der viele
Nihilisten bei den Studentenunruhen in Charkow nach
Sibirien hatte deportiren lassen und dessen Bruder
(s. oben) einer der ärgsten Nihilisten war; Maueranschläge
in allen grösseren Städten verkündeten den neuen Triumph
der Terroristen. Während die Nihilisten Feuersbrünste in
Orenburg, Uralsk, Irbit, Perm, Moskau und Nishnii-Now-
gorod veranstalteten, häuften sich die Attentate zumal auf
Polizeibeamte; man schoss z, B, auf den neuen Chef der
dritten Abtheilung,. General von Drentelen, und auf den
Gouverneur in Kiew. General Tschertkow.
Alexander war im Gegensatze zu seinem Nachfolger von
aller Attentatsfurcht frei, obwohl er so traurige Erfahrungen
gemacht hatte und alle Autorität erschüttert sah: da gab der
Kollegiensekretär Alexander Ssolowjew am 14. April 1879
fünf Revolverschüsse auf ihn ab, als er am Winterpalais
lustwandelte; Ssolowjew wurde hingerichtet. aber eine kalt
erwägende Mordpartei stand hinter ihm und umspannte
ganz Russland, bis zum Ende blieb er ihr freiwilliges
Werkzeug. „Land und Freiheit“ veröffentlichte eine Ab-
handlung über die Wichtigkeit des politischen Mordes
und verhöhnte die Ohnmacht der Autokratie und ihrer
Polizeimassregeln. Alexander griff nun zu ausserordent-
lichen Mitteln, er stattete am 17. April die General-
gouverneure von Moskau, Warschau und Kiew mit unbe-
schränkten Vollmachten aus und gab eben solche den in
*) Rambaud (s. oben).
walow hatte wiederholt darauf eng
russischen Verwaltung zu ihrem schweren N;
der Einheit, es gebe ja auch kein verantwortliel
des Ministerrathes, und Alexander fühlte immer mehr, ie
wahr diese Bemerkung sei, er erkannte die | r
keit einer einheitlichen Gestaltung und dachte, Walujew,
der seit Januar 1880 Präsident des Ministereomitös und
der Bittschriftenkommission war und der von ihm im
wichtigen Dingen oft befragt wurde, sollte für diese Um-
bildung wirken. Da erfolgte am 17. Februar ein unerhört
freches Attentat im Speisesaale des Winterpalais, als Ale-
xander seinen Neffen, den Fürsten von Bulgarien, zu Gast
erwartete, nur eine Zugverspätung rettete der ganzen
kaiserlichen Familie das Leben, der Saal und die darunter
liegende Hauptwache wurden durch Dynamit gesprengt,
sechzig Soldaten von der Wache wurden getödtet, vierzig
verwundet. Alexander hob nun das Generalgouvernement
St. Petersburg auf und errichtete am %4. Februar eine
höchste Exekutivkommission unter dem Grafen Loris-
Melikow, dem er diktatorische Vollmachten gab und im
März auch die Leitung der dritten Abtheilung anstatt
Drentelens übertrug; auf des Grafen Vorschlag wählte
Alexander in die Kommission nur liberal denkende und
des allgemeinen Vertrauens würdige Männer,
Unter dem Eindrucke allgemeiner Anarchie feierte
„der Zar-Befreier“ am 2. März sein 25 jühriges Regierungs-
Jubiläum; die Beglückwünschungen des Reichsraths und des
Senats hoben vor allen den dauernden Segen der Bauern-
befreiung, Alexanders eigenstes Werk, hervor und gedachten
der Justizreform, der allgemeinen Wehrpflicht, der Land-
schafts- und Städteordnungen, der Organisirung der Reichs-
kontrole u. s, w. als ewiger Rulmestitel dieser Regierung,
Der 2. März ging ohne Attentat auf Alexander vorüber,
obsehon ja die Terroristen ein solches angedroht hatten,
Tags «darauf aber schoss Mladetzki auf Loris-Melikow*),
*) Der tapfere kaukasische General Fürst G. D. Orbeliani tele-
graphirte hierauf dem Freunde: „Gehe keck, die heilige Sache schitzend,
Ri
XI. Alexander II.
Russland®); ein Vertrauter von Loris-Melikow,
lewski, wurde im Herbst Justizminister. Immer w
rief man nach einer Verfassung, selbst aus den Kreisen
des St. Petersburger Adels wurde der Ruf laut; welchen
Umfang aber die Unzufriedenheit angenommen hatte, be-
wiesen die Aufschlüsse des grossen Nihilistenprocesses
vom November 1880. Es galt, ihr vor der Welt den
Boden der Berechtigung zu entziehen und bescheidene
konstitutionelle Zugestündnisse zu gewähren. Loris-
Melikow machte Alexander allmälig mit dem Gedanken
vertraut, Deputirte der Semstwos nach der Residenz zu
berufen, um über von oben ihnen vorzulegende Reform-
vorschläge betreffs der inneren Verwaltung zu berathen;
an Verleihung einer Verfassung dachte Alexander natür-
lich nicht, seine Unterthanen in ihren breiten Massen
hätten sie ebenso wenig begriffen wie 1825 die Russen
seines Vaters, welche die Konstitution für Konstantins
Frau gehalten hatten. Die Nihilisten aber und die
tollsten Schreier nach einer Verfassung wollten keine
massvolle und parlamentarische, sondern eine radikale
socialistische, für die keine Regierung die Verantwortung
hätte übernehmen wollen und gegen welche die fran-
zösische Revolution von 1789 mit ihrem Chaos ein Kinder-
spiel gewesen wäre. Alexander legte seinen Entwurf
einem Ministerrathe vor, dem auch die Grossfürsten an-
wohnten, und Loris-Melikow, Walujew und der neue
Finanzminister A. A. Abasa, ein steter Förderer liberaler
Ideen, sprachen warm für Annahme desselben. Alexander
verfiel zwar neuen Bedenken, genehmigte aber am 9. März
den Entwurf, unterzeichnete ihn und befahl am Morgen
des 13. März 1881 die Binrückung im Regierungsblatte,
als ihm eben die Entdeckung einer neuen Verschwörung
gemeldet worden war. Er erwartete das Beste vom Ein-
drucke der Urkunde, wie er seiner Gemahlin sagte, als er
zu einer Revue ging; bei der Rückfahrt wurde aber von
*) Das damals vom Ministerium des Inneren abgezweigte Mini-
sterium für Posten und Telegraphen wurde von Alexander III. am
28. März 1881 wieder damit vereinigt.
1
480 XI. Alexander II.
Ryssakow am Michaelsplatze eine Bombe nach seinem
Wagen geschleudert, zertrümmerte denselben, tödtete oder
verwundete mehrere Leute; Ryssakow wurde verhaftet,
Alexander war unverletzt geblieben und rief den zur Heim-
kehr Drängenden zu: „Lasst mich, ich will nach den Ver-
wundeten sehen!“ Da flog eine zweite Bombe zwischen
seine Füsse, eine Reihe Leute fielen, er mit ihnen, beide
Beine waren zerschmettert, der Leib aufgerissen, das edle
Gesicht entstellt, er war zerstückt! In das Winterpalais
getragen, kehrte er einen Augenblick zum Bewusstsein
zurück, starb aber, ohne ein Wort zu sprechen, bald
darauf*). Die Nihilisten verkündeten triumphirend den
Tyrannenmord, das treu zarische Volk trauerte um den
Zaren-Befreier und fluchte den Unterwühlern der Ord-
nung und der Ruhe. Bei allen Nationen hallte die Klage
um den Mann wieder, der das Los des Märtyrers erlitten
hatte, Graf Beaconsfield nannte ihn im Oberhause den
wohlthätigsten Fürsten, der je in Russland geherrscht
habe, und der Premier Gladstone pries am 15. März im
Unterhause in ergreifenden Worten sein Tagewerk.
*) Die Fürstin Jurjewski schnitt ihr herrliches blondes Haar ab
und legte es ihm in den Sarg. Ihre und ihrer Kinder Stellung ward
unter Alexander III. keine angenehme, unter Nikolaus II. scheint sie
weit besser zu sein.
482 XI. Alexander III.
ehrlich und gewissenhaft. ein unermüdlich fleissiger Be-
amter. eine solide Natur. sein Familienleben im Anitsch-
kow-Palais war ein Muster für das ganze Reich, es
gab keine glücklichere Ehe. der starke Mann liebte
seine wunderbar schöne Gemahlin mit rührender Innig-
keit und blickte verklärten Auges auf seine Kinder, ein
Freund der Musik und selbst ein tüchtiger Cellist, ver-
anstaltete er bei sich als Grossfürst und als Kaiser ge-
müthliche Familieneoncerte. die von seltenem Reize waren.
Von Genialität hatte er keine Spur. er war ohne staats-
männische Talente. ohne weittragendes Urtheil, ohne
blendende Vorzüge. ir den Fall einer frühen Thron-
erledigung Vorkehr zu treffen. musste Alexander. trotz-
dem er erst 36 Jahre zählte. als sofort nothwendiger
Akt erscheinen, wie rasch konnte auch ihn Dolch oder
Dynamit der Nihilisten treffen! er bestimmte darum
durch Verfügung vom 26. Mürz seinen Bruder Wladimir
zum Regenten. falls er vor der Mündigwerdung seines
ültesten Sohnes sterben sollte. Indem er mit dem her-
gebrachten Systeme brach. politische Verbrecher durch
ausserordentliche Kommissionen geheim aburtheilen zu
Inssen. verwies er die Mörder seines Vaters vor die ord-
entlichen Gerichte: zwei waren bei dem Attentate selbst
geblieben. Ryssakow aber und drei Andere sowie zwei
Frauen*) wurden verurtheilt und mit Ausnahme der
einen Frau trotz aller Drohungen der Nihilisten am
15. April hingerichtet: die Untersuchung ergab, dass
Alexander II., wenn er am 13. März einen anderen Weg
zur Heimfahrt eingeschlagen hätte, auch dort das Opfer
einer Mine geworden wäre: 1882 fand die Hinrichtung
eines weiteren Nihilisten statt.
Da das kaiserliche Manifest vom 10. Mai 1881 ohne
Mitwissen von Loris-Melikow, Miljutin. Abasa u. A. er-
lassen worden war. fühlten sie sich verletzt, Loris-Melikow
*) Selbst Mitglieder der höchsten Gesellschaftskreise gehörten
za den Nihilisten, letztere wussten ihre Drohbriefe sogar auf den
Schreibtisch des Kaisers und in den Gürtel der kleinen Prinzen zu
bringen.
legte am 16. Mai sein Amt nieder, dasselbe
Abasa und am 4. Juni Miljutin, der Minister der Vi
klärung Saburow war im April abgegangen
Baron Nikolai ersetzt worden. Mit Miljutin und
jew hatte der Thronfolger einst Zusammenstösse gehabt,
der Kaiser liess sie aber dieselben nicht entgelten, wie
wir oben bei Walujew hörten, Loris-Melikow wurde
Adjunkt des Oberkommandanten der Kaukasus-Armeo,
Generaladjutant und im Januar 1982 Mitglied des Reichs-
rathıs®), Miljutin trat bei seiner Verabschiedung auch in
diese Altersversorgungsanstalt und wurde im November
1883 bei Gelegenheit seines 50jährigen Dienstjubiläums
vom Kaiser zum Ehrenpräsidenten der Nikolai-General-
stabsakademie ernannt, nachdem er bei der Krönung den
St. Andreas-Orden in Brillanten erhalten hatte**), Abası
wurde Mitglied des Reichsraths und 1882 in demselben
Präsident des Departements der Reichsökonomie. Minister
des Inneren wurde anstatt Loris-Melikows am 16. Mai der
schlaue Mann, den die Türken den „Vater der Lüge*
nannten, Graf Nikolai Pawlowitsch Ignatjew (s. oben), ein
Anhänger des Panslawismus und der russisch-französischen
Allianz gegen das Deutsche Reieh und gegen Oester-
reich; ein Diplomat sagte von ihm, er leite den elek-
trischen Strom des Nihilismus auf den panslawistischen
Draht, Ignatjew stand bei Alexander in höchster Gunst
und Alexander hielt ihn für seine Sicherheit unentbehr-
lich, seine Wahl erstaunte jetzt alle Welt. An Abasas
Stelle trat ein Protög6 von Loris-Melikow, Abasas Ad-
junkt Nikolai Uhristianowitsch Bunge, ein Lutheraner,
der früher in seiner Vaterstadt Kiew Professor gewesen
war, ein Mann voll Pflichtgefühl. wahrer Moral und
*) Er starb am 22, Dezember 1888,
"*) Nikolaus IT. ernannte ihm im September 1898 bei der Eiu-
weihung des Denkmals seines kaiserlichen Grossraters in Moskau zum
Generalfeldmarschalle; 1896 war das 50Jährige Offiziersjabiläum und
am 9. Novembor 1897 der Eintritt Miljatins in den Gemeralstab vor
#0 Jahren gefeiert worden.
Zwist und ging im Januar 1882 ab. Am 3
wurde in Kiew der Oberstaatsanwalt Btrelnikow.
dieselhe Zeit der Gouverneur von Tran \
AU diese Schandthaten und häufig EmiSKERSN N
rungen gegen Alexander und seine Familie vergifteten
sein Leben und umdüsterton seinen Sinn: dazu kamen
die Judenverfolgungen der Jahre 1881 und 1882 mit ihrem
Gefolge, dem Plündern, worunter die Stadt Bulta am
ärgsten litt; die Plünderer drohten: „Wir frühstücken die
Juden, wir essen die Besitzenden zu Mittag und die
Priester zu Abend“, eine allgemeine Verrohung zog dureh.
das Land. Mehrfach schob Alexander aus Bicherheits-
gründen die Krönung auf, bis sie endlich unter allseitiger
Beklemmung am 27. August 1883 in Moskau stattfand.
Da der vom Ministerium beabsichtigte Widerstand bis aufs
Messer zu gefährlich schien, wollte Ignatjew der öffent-
lichen Meinung einige Zugeständnisse machen; er schlug
vor, den Bauern Erleichterungen an den jährlichen Kauf-
abtragungen zu gewähren und Provinzialversammlungen
in Polen, Sibirien und den Ostseeprovinzen einzuführen,
auch rieth er, die Bahn Loris-Melikows einschlagend, zur
Berufung von Abgeordneten der Semstwos nach St. Peters-
burg. Ignatjew hatte viele Gegner und diese brachten
seine Vorschläge dadurch zu Fall, dass sie auf seine
slawophilen Tendenzen, auf seinen Deutschenhass und auf
die von ihm geduldete Judenverfolgung hinwiesen; die
von ihnen geweckte Befürchtung, Ignatjew werde einen
Krieg mit Deutschland herbeiführen, fand ihre Bestätigung
durch die Brandreden, welche der gefeierte Boulanger
Russlands, General Michail Dmitrijewitsch Skobelew, hielt.
Musste Giers die Rede Skobelews zur Feier seines Sieges
von Geok-Tepe bei dem oesterreichiseh-ungarischen Mi-
nister des Aeusseren Grafen Kalnoky entschuldigen, so
erregten Skobelews Worte, die er am 16, Februar 1882
in Paris an die serbischen Studenten hielt, noch grösseres
Aufsehen, er drohte ja direkt mit dem bevorstehenden
Kriege Russlands gegen Oesterreich-Ungarn und Deutsch-
land und forderte ein Bündniss aller Slawen mit Prank-
veieh; Alexander, der ilm ins Ausland geschiekt hatte,
fruchtbaren Chikanen des Panslawismus ein
aber auch nicht, mit Frankreich zu liebäugeln und über-
triebene Rüstungen zu billigen. Ein Mitbegründer des
Dreikaiserbündnisses, wohnte er am %. September 1851
dem Besuche des Zaren bei Kaiser Wilhelm in Danzig
an, konferirte hier mit Bismarck, besuchte ihn “ No-
vember 1882 in Varzin, ging wegen kirchenpolitischer
Fragen nach Rom und reiste am 24. Januar 1883 nach Wien;
auf seinen Reisen ins Ausland besuchte er Bismarck am
11. November 1888 und 7. September 1885 in Friedriehs-
ruh, war im Januar 1584 der Gast Franz Josephs in Aka
wohnte den Dreikaiserbegegnungen in Ski
er mit Bismarek und Kalnoky konferirte, und 1 WE
(September 1884 und August 1885) bei*); er veranlasste
die Presse, sich gegen Deutschland massvoller zu ver-
halten, und trotzte Katkows u. A. Anfeindungen, Mit
Grossbritannien suchte er ein friedliches Einverständniss
wegen Afghunistans zu treffen, neue Konflikte wurden
durch das St, Petersburger Abkommen vom 22. Juli 1887
über die Grenze Afghanistans beseitigt; im Januar und
Februar 1884 aber wurde von einer Expedition Merw
unterworfen und die noch unabhängigen Turkmenen-
stämme erkannten Russlands Oberhoheit an, wodurch
Russland Indien bedeutend näher rückte und wohl neue
Zusammenstösse mit Grossbritannien für spätere Tage
angebahnt sind. Alexander und Giers hielten zwar am
Dreikaiserbündnisse fest, verletzten aber Deutschland nicht
*) Im Juli 1868 erhielt er von Kaiser Wilhelm II. bei dessen
Besuche in St. Petersburg die Diamanten zum Schwarzen Adler-Orden
and Wilhelm wie andere auswärtige Fürsten feierten am 26. Oktober
1888 sein 50 jühriges Dienstjubiläum in auszeichnendster Form,
Orlow*), der infolge Nichtauslieferung des
Hartmann durch die französische Regierung
genügender Beweise im März 1880 tiefvere
verliess, aber im Mai d. J. nach Beilegung che
zurückgekehrt war, ein intimer Freund Peäsi-
denten Thiers und Grövy und in Paris sehr beliebt;
Alexander III. rief ihn im Februar 1884 von dort ab und
schickte ihn als Botschafter an Stelle Peter A. Ssaburows
nach Berlin, wo er aber nur bis Frühjahr 1885 blieb *®).
An Orlows ***) Stelle in Paris trat im April 1884 Baron
Arthur P, Mohrenheim und nun begann die französische
Regierung ein grosses Lieheswerben um Russlands Gunst:
Alexander, der sehr französisch gesinnt war, und die
Chauvinisten in Hof und Gesellschaft kamen den Wer
bern sehr freundlich entgegen. Die Beerdigung des
von Alexander Il. als Orakel verehrten Panslawisten
Katkow veranlasste Deroulöde und Gonpil, den Präsi-
denten und den Sekretär der französischen „Patrioten-
liga®, nach Russland zu kommen; Baranow (s. 8. 484), seit
1882 Gouverneur von Nishnii-Nowgorod, empfing sie im
August 1887 mit lücherlielen Ehrenbezeugungen, die ihre
Spitze gegen Deutschland und gegen den Frankfurter
Frieden kehrten, wofür ihm der Zur im November einen
Rüffel ertheilte. Und doch hatte Alexander am 26, Mürz
1887 einen Ukas erlassen, der Fremden verbot, in Russ-
lands Westprovinzen Grundbesitz zu kaufen, eine Mass-
regel, die gegen Deutschland abzielte und auf die Bis-
marck mit Massregeln gegen den russischen Handel und
im Pebruar 1888 mit der Veröffentlichung des deutsch-
vesterreichischen Allisnzvertrags antwortete. Dabei ver-
ständigte sich Bismarck heimlich hinter Oesterreichs
Rücken mit Russland, er wollte „die Erbfreundschaft“ mit
Iussland bewahren; Wilhelm II. wünschte 1890 nicht
*) Sohn des Freundes Nikolaus’ I, der im Mai 1861 wahnsinnig
gestorben war,
»*) Graf P. A. Schuwalow löste ihn dann ab,
”*) Orlow starb in Fontaineblean, wo er seit seinem Rücktritte
lehte, im Mürz 1885,
XL. Alexander II.
wurde möglich, die Universität Dorpat.
strahlende Leuchte deutscher Wissenschaft,
fieirt und vertauschte gleich der Stadt, in der
den Namen mit ‚Jurjew. Für Polen hatte Alexan
wenig Herz, noch weniger für die polnischen Katholiken,
Pobedonoszew wollte letztere durehnus zur orthodoxen
Kirche bekehrt wissen; Gurko führte in Warschau als
Generalgouverneur und Oberkommandant des Militär
bezirks ein hartes Regiment. Finnland hielt an seiner
Sonderstellung erfolgreich fest, erlangte sogar erweiterte
ständische Rechte (s. oben) und hatte seit 1881 im Grafen.
Heyden einen trefflichen Generalgouverneur.
Alexander hoffte auf Unkosten der Bildung und des
Fortschritts die Liebe seiner Russen zu erobern; stiess er
das Fremdländische von sich, hemmte er das Leben der
Ausländer in Russland durch allerlei Zwang, verfolgte er
die westeuropäische Kultur und suchte ihren unter den
früheren Herrschern erlangten Einfluss wieder auszutilgen,
so war er seiner Meinung nach ein echt nationaler Herr-
scher, ein Vater seiner Russen; er übersah, dass ein Zar
der Moskowiter nicht mehr zeitgemäss sei und dass man
mit aller Staats- und Polizeigewalt die Kultur nicht
mehr ausrotten könne; es gab kein „Zurück!“ für ein
Weltreich. In seinen Wahnvorstellungen aber bestärkte
ihn beständig der unheilvollste Rathgeber, sein Arak-
tschejew. Konstantin Petrowitsch Pobedonoszew, der
Öberprokureur der heiligen Synode, bemächtigte sich
mit dem Priester Johann von Kronstadt seiner Seele und
führte ihn in eine Bigoterie hinein, die seiner Dynastie
bisher fremd gewesen; obwohl ein tüchtiger ‚Jurist und
Verfasser historisch-juristischer Arbeiten*), obwohl ein
glänzender Meister der russischen Sprache, warf sich
Pobedonoszew mit verhängten Zügeln der blinden Or-
thodoxie in die Arme und erstickte jede Freiheit im
kirchlichen und Schulleben, #0 viel an ihm war. Alle
*) Er unterrichtete Nikolaus II. in der Jarisprndenz und schrieb
ein grosses Werk über das russische Civilrecht.
kaiserliche Familie lag unter denselben, der Zur
selbst bei dem Rettungswerke mit, zog Gemahlin u
Kinder aus den Trümmern hervor, die Zarin kam, wie
sie an Schuwalow nach Heidelberg telegraphirte, mit
einem blauen Auge, die Kinder mit Quetschungen
davon®), und seitdem trat eine krankhafte Menschen-
scheu neben der Furcht vor jedem Geräusch und dem
Bangen vor Attentaten bei Alexander auf,
Am 4. März 1884 errichtete Alexander das kaiser-
liche Hauptquartier; es besteht aus dem General-
kommandanten, dessen Adjunkt und ihrer Suite, aus dem
Kommandanten, einem Stabsoffizier zu besonderen Auf-
trügen, dem Leibarzt, dem ersten Hofgeistlichen und der
Kanzlei und begleitet den Monarchen auf seinen Reisen;
es hat in seinem Ressort die persönliche Escorte des
Letzteren und ihm untersteht die Kanzlei für die Bitt-
schriften an den Kaiser, Bis Juni 1898 war General
0. von Richter Generalkommandant desselben, seitdem
ist mit dieser Stellung der Minister des kaiserlichen Hofes
und der Apanugen, Baron W. B. Fredericks, noch mit-
betraut. Seit 1883 beschäftigte man sich mit der Re-
organisirung des Hofministerinms, die am 28. April 1893
die kaiserliche Bestätigung erhielt; der Hofminister ist
zugleich Apanagenminister und Ordenskanzler und legt
nur dem Kaiser Rechenschaft ab, das ÜUentrum dieses
Ministeriums ist seit 1888 das Cabinet des Kaisers, Am
10. März 1892 errichtete Alexander an seiner Privatkanzlei
ein Comite zur Prüfung der Vorschlüge für die von ihm
zu Belohnenden, 1894 wurde dasselbe in „Oomit6 für den
Dienst in den Graden des Civilressorts und für Beloh-
nungen“ umgetauft und Nikolaus IL traf durch Ukas vom
*) Der Minister der Wegebanten and Verkehrsanstalten, Admiral
K. N, Possiet, verlor infolge von Borki sein Portefenille, Hübbenet
erhielt es und hatte es bis Januar 1892 in Besitz, dann übernahm es
Kriwoschein, der wegen Unregelmässigkeiten im Amte Ende 1894 ent-
lassen wurde,
XII. Alexander III. 495
verständnisse zwischen ihm und dem 'Ihronfolger. sie war
das Muster einer Gattin und Mutter. Man brachte den
todtkranken Kaiser aus dem finsteren Gatschina nach
dem sonnigen Livadia in der Krim und an seinem Sterbe-
lager verlobte sich der Thronfolger mit der muthigen
Prinzessin Alix von Hessen, die nach Livadia gekommen
war, um Russlands Glück neu zu begründen und noch
fremd dem fremden Manne gegenüber stand: in wür-
digster Weise ging sie über veraltete Floskeln hinweg
und trat mit offenen Worten zur orthodoxen Kirche
über. Und am 1. November 1894 schloss Alexander
„der Friedensstifter* nach qualvollen Nierenleiden in
Livadin die Augen, die einstige Thronfolgers-Wittwe
war Kaiserin-Wittwe.
XIII. Nikolaus II.
em finster dreinblickenden Vater, den seine Russen
kannten, folgte der ihnen und Europa unbekannte
jugendliche Sohn, eine bescheidene. schwächliche, ein-
silbige Persönlichkeit. Er hatte 1890/91 eine Weltreise
mit seinem Freunde. dem Fürsten Jesper Uchtomski*).
gemacht, deren Erlebnisse I,etzterer 1893 herausgab (ins
Deutsche übersetzt. Leipzig bei F. A. Brockhaus): in
Japan hatte ihn ein Fanatiker überfallen, aber Prinz
Georg von Griechenland. der die Reise mitmachte, hatte
ihm das Leben gerettet. Jetzt wurde er Kaiser und
heirathete inmitten der tiefsten Trauer am 26. November
in St. Petersburg seine holdselige Braut. „Ich will
nicht nur Nikolaus II.. sondern auch ein zweiter Niko- .
laus sein“, soll er gesagt haben und er hat dessen
Mutli geerbt, er fürchtet den Tod nicht, er ist Fatalist
und weiss, das Schicksal ist unabwendbar. Darum be-
seitigte er sofort die ängsflichen Absperrungsmassregeln
des Vaters, ging unter sein Volk, wenn auch Verschwörer
darunter waren, verbat sich die Bewachung auf Schritt
und Tritt durch die Polizei, promenirte mit der Kaiserin
in den Strassen oder fuhr im offenen Wagen; er richtete
seinen Hofhalt möglichst einfach ein, was mit der üb-
lichen zarischen Pracht im grellsten Widerspruche stand.
er erleichterte den Zutritt zu ihm, er las alle Bittschriften
selbst und arbeitete unermüdlich**). Bei der Krönung in
*) Herausgeber der St. Petersburger „Wjedomosti“ und seit No-
vember 1894 Privatsekretär des Kaisers.
**) In neuerer Zeit: soll Nikolaus etwas ängstlicher im öffent-
lichen Erscheinen sein, zumal man davon munkelt, ein Dynamitattentat
XI. Nikalans IT,
Moskau, am 26. Mai 1896, ereignete sich das gr
Unglück auf dem Chodinski-Felde, weil der Ob e
meister und Audere ihre Schuldigkeit verabsäumten, al
die üblichen Geschenke unter die nach Hunderttausenden
zählende Menge vertheilt werden sollten; Nikolaus machte
mit den Schuldigen kurzen Process und veröffentlichte
unerhörter Weise seine Entschliessung in einem Ukas; er
erstrebte, was sein Vater vergebens wollte, die Befreiung.
der Geister in Russland vom Schmutze der Corruption.
offene Gerechtigkeit.
Kaum war Nikolaus II. Kaiser, so erlag Giers am
26. Januar 1895 schweren Leiden. Der Botschafter in
Berlin, Graf Paul Andrejewitsch Schuwalow, war eben
von Berlin abberufen worden, um Gurko*) uls General- |
gouverneur in Warschau zu ersetzen, wofür das jubelnde
Warschau illuminirte, und Kaiser Wilhelm IL, der mit
Schuwalow enge befreundet war, hatte ihn bei dem Abschiede
nicht genug feiern können; an seine Stelle sollte Fürst
Alexei Borissowitseh Lobanow-Rostowski, seit ‚Juni 1882
Botschafter in Wien, treten. Nach einem Besuche bei
dem Papste, der ihm das Grosskreuz des Christus-Ordens
in Brillanten gab. war Fürst Lobanow-Rostowski im Januar
1895 für Berlin ernannt, als sich Nikolaus anders ent-
schloss und ihm im Nebrunr 1895 dus Ministerium der
auswärtigen Angelegenheiten provisorisch, am 19. März
definitiv übertrug, zum Botschafter in Berlin aber den
langjährigen Gesandten in München, Grafen Nikolai von
der Östen-Sacken, ernannte. Im Oktober 1895 ging Dur-
nowo als Minister des Inneren ab und wurde Präsident
des Ministercomitöx, mit der Verwesung des Ministeriums
wurde Iwan Longinowitsch Goremykin betraut, seit
Januar 1896 definitiv Minister des Inneren, eine grosse
Arbeitskraft. Durnowos Vorgänger als Präsident des
Ministercomit‘s war Bunge gewesen, der zwischen den un-
einigen Ministern stets vermittelte und unter Nikolaus I.
sei 1898 bei Einweihung einer Kirche in St, Petersburg gegen ihn und
seine Familie geplant, aber zeitig entdeckt und vereitelt worden.
*) Nikolaus ernannte Gurko am 18. Dezember 18 zum General-
feldmarschalle und richtete ein sehr schmsichelhaftes Reskript an ihm.
A, Kleinsehmidt, Woborbl, d. rum Ganch, m 116, 32
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dankte und den: St, Andrens-Orden verlieh, Den ı
gehenden Einfluss aber auf den jungen Herrscher |
Mutter, eine die Herrschaft liebende Frau, welche B
vor die regierende Schwiegertochter, eine sanfte, be-
scheidene Natur, stellt und der ihr Sohn mit liebevoller
Pietät anhängt.
Im Jahre 1896 entschloss sich das junge Kaiserpnar
nach langem Aufschub zur Antrittsreise an die grossen
Höfe. Ende August traf dasselbe in Wien ein, wo Niko-
laus ausgezeichnet gefiel und wo wegen der Balkun-
halbinsel zwischen den Staatsmännern beider Reiche
wichtige Abmachungen eingeleitet wurden; in Wien traf
Nikolaus die Nachricht von den Abschlachtungen armeni-
scher Christen in Konstantinopel — und der Zar gilt doch
„für den berufenen Schutzheren der orientalischen Ohristen-
heit! Tiefbewegt fuhr das Kaiserpaar am 30. August
nach Kiew, wo der Grundstein zu einer Kirche gelegt
werden sollte, — da starb Fürst Lobanow-Rostowski*)
am 31. August plötzlich im Coup& bei Schepetowka,
vom Schlage getroffen. Wer sollte den bedeutenden
Diplomaten ersetzen? Graf Paul Andrejewitsch Schu-
walow, der Generalgouverneur in Warschau. Am 2. Sep-
tember aber lähmte die Gieht diesem die linke Seite und
im Dezember musste er sein Amt niederlegen, in dem ihm
Fürst Imeretinski folgte. Der frühere Adjunkt von Giers,
Geheimrath N. P. Schischkin, übernahm interimistisch das
Ministerium des Aeusseren und begleitete das Zarenpaar
fortan auf der Reise als erster Beirath, In Breslau fand
im September die Begegnung mit Wilheln II. statt, dem
sein Grossvater jüngst noch die Freundschaft mit Russland auf
die Seele gebunden hatte, wie einst Nikolaus I. seinem
Bohne die Freundschaft mit Preussen, Der Draht zwi-
schen Berlin und St. Petersburg schien aber zerrissen zu
sein, Alexanders III. Freundschaft für Frankreieh — er
zuerst unter Russlands Herrschern hörte die Marseillaise
stehend und barhäuptig an — war auf Nikolaus II. über-
*) Er war auch ala Genenloge bekannt.
Pro
empfindet, zeigte im August 1898 die Feier d
von Alexanders II. Denkmal in Moskau, bei der
erster Linie immer wieder den reichen Segen der |
hefreiung hervorhob, Den Palen erwies sich Nikolaus von
Anfang an gnädig, Fürst Imeretinski (s. 8. 499) machte
den Katholiken trotz der Einsprache Pobedonoszews eine
Keihe Koncessionen, die polnische Sprache wurde an
‚den polnischen Gymnasien obligatorisch; als darum das
Zorenpaar Warschau besuchte, wurde es mit grossem
‚Jubel empfangen, aber dem Jubel folgte rasch die Er-
nüchterung, Pobedonoszew gewann neue Macht, die Polen
wurden wieder als Feinde der Orthodoxie angeschwärzt
und die Politik der Aussöhnung, die Fürst J. Uchtomski
beständig empfiehlt, scheint nicht zur Geltung kommen
zu sollen, wenn auch die städtische Selbstverwaltung mit
Neujahr 1899 in Polen eingeführt werden soll.
Pobedonoszew und seine Leute riefen, als die grie-
chisch-kretische Frage aufs Tapet kam, nach einem
Kreuzzuge gegen die Türken und nach Unterstützung
der Hellenen; der dänische Hof. den Nikolaus im
September 1896 besuchte, um „der Schwiegermutter
Europas“, der greisen Königin Louise, zum Geburtstage
zu gratuliren, wollte ihn veranlassen, seinem Lebens-
retter, dem Prinzen Georg von Griechenland zuliebe,
Griechenland im Kampfe zu unterstützen, er aber ent-
schied sich für volle Neutralität und begnügte sich mit
dem Versprechen, in Georgs Einsetzung zum General-
gouverneur von Kreta einzuwilligen, wenn Kreta unter
türkischer Oberhoheit bleibe und Europa die Kandidatur
Georgs aufstelle. Seit Neujahr 1897 leitete Graf Michail
N. Murawjew das Ministerium der auswärtigen An-
gelegenheiten, im April d. J. wurde er definitiv Minister;
er ist der Enkel des einstigen gefürchteten Diktators in
Wilna. Im Jahre 1897 erfolgten die Gegenbesuche für
das vorige Jahr. Im April erschienen Franz Joseph,
Erzherzog Otto und Graf Goluchowski, der Minister des
Aousseren, in St, Petersburg, und Franz Joseph wie
Nikolaus verbürgten einander angesichts des türkisch-
griechischen Kampfes das Festhalten am europäischen
XIII. Nikolans IT, at
Komarow. der in Böhmen in russischer Uniform H
reden hielt, vom seiner Regierung jedes officielle n
verboten; sein Organ „Licht“ (Swjet) beherrscht nieht“
mehr die Presse. $o findet denn auch die grossserbische
Idee keine Unterstützung mehr in St. Petersburg. Mit
Oesterreich aber scheint ein Abkommen getroffen worden
zu sein, welches die Interessensphäre auf der Balkan-
halbinsel regelt und Russland für den Fall einer einstigen
'Theilung Rumänien und Bulgarien zuweist, deren Herrscher
im Zaren ihren Protektor erblicken. Die andere Welt-
frage, die sich heute aufrellt, ist die ostasiatische, der
Krieg Japans mit China hat sie aufgeworfen und Russ-
land geht in ihr einen Weg mit Deutschland und mit
Frankreich; China *) ist das moderne Polen, es ist schnitt-
reif. Im Jahre 1896 sandte Nikolaus auf Bitte des Königs
von Korea Instruktoren und einen Finanzrath nach dessen
Residenz Seul und Korean wurde von Japan völlig
unabhängig. Russland lieh Korea kräftige Hilfe, der Ge-
sandte in Tokio, Baron Rosen, schloss mit dem japa-
nischen Minister des Aeusseren Baron Nissi ein Abkommen,
wonach beide Kaiserreiche Korean gegenüber stets ge-
meinsam handeln wollen, am 9. Juni 1896 unterzeichneten
es in Moskau Fürst Lobanow-Rostowski und der Marschall
Marquis Jamagata. Durch den Vertrag von Peking vom
27. März 1898 trat China Port-Arthur und Talien Wan
mit den dazu gehörigen Ländereien und territorialen Ge-
wässern auf 25 Jahre zur Nutzniessung an Russland ab,
dessen Truppen schon Tags darauf Besitz ergriffen; Russ-
land erhielt im Vertrage die hochwichtige Erlaubniss eines
Eisenbahnbaues, so dass beide Häfen mit der grossen
transsibirischen Eisenbahnlinie verbunden werden können,
Die Briten sind über dies Eintreten Russlands in die
chinesische Theilung ebenso ergrimmt wie über das Ein-
treten Deutschlands.
*) Fitrst Uchtomski hat in den neunziger Jnhren als Haupt einer
ausserordentlichen Gesandtschaft die dominirende Rolle Russlands in
Peking angebahnt und wurde eine bestimmende Kraft in der ost-
asintischen Politik.
seinem Schiffe am 25. August 1897 er t
warme Antwort musste ihn nun allein befriedigen,
auch das Manifest nicht ausgeführt, 30 ist es doch, Ras
Zaren adsgehend, ein diplomatischer Zug von
Wirkung und sichert Nikolaus, dessen Anfinge auf einı
gesegnete Regierung hoffen lassen, einen Ehrenplatz in
der Weltgeschichte. Dass gleichzeitig. mit dem at
und mit den Feierlichkeiten, in deren Mitte Bauern-
befreiung stand, die starre Orthodoxie in der Person
Pobodonoszews verherrlicht wurde, beeinträchtigte die
Wirkung auf das unbefangen denkende Enropa.
*) Die Industrienktien stiegen sofort, die Papiere von Maschinen-
etablissements sanken. Merkwürdigerweise erschien gleichzeitig mit
dem Manifeste die Verfügung, zwei neue Cadetencorps in Warschau
und Odessa zu errichten.